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Dänemark dkr 69,95 Frankreich €  7,70 Italien €  8,20 Norwegen NOK  125,– Portugal (cont) €  7,50 Slowakei €  7,70 Spanien €  7,70 Tschechien Kc 229,- Printed in Germany

China geht
ROHSTOFFE
Wie es auch ohne
NONNEN

von Düsseldorf
Das Wunderkloster

jetzt alle ansteckt


kaputt!
Warum die Generation Z
anders arbeiten will – und damit
Wir machen
uns nicht mehr
GESUNDHEIT
Wer Parkinson
bekommen wird
DEUTSCHLAND
Nr. 22 | 27.5.2023
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HAUSMITTEILUNG

Titel | Seite 8

Wie soll in Deutschland künftig gearbeitet werden,


und vor allem: wie viel? Die sogenannte Genera-
tion Z will anders arbeiten – und leben – als ihre El-
Sandra Stein / DER SPIEGEL

tern. Flexible Arbeitszeiten, Homeoffice, pünktli-


cher Feierabend, das sind einige ihrer Forderungen.
Aber es sind nicht nur die Jüngeren, die sich nicht
mehr kaputtmachen wollen, auch die Älteren den-
ken inzwischen über ihre Work-Life-Balance nach,
wie die Diskussion um die Viertagewoche zeigt.
Ein SPIEGEL -Team um die Redakteurinnen Sophia Schirmer und Cornelia Schmergal hat Berufs-
einsteiger, Unternehmerinnen und Ökonomen besucht, um herauszufinden, welche Antworten
sie haben – und wo Konflikte drohen. »Die Generation, die gerade ins Arbeitsleben hineinwächst,
macht ihre Bedürfnisse sehr klar, und sie eckt damit mitunter auch an«, sagt Schirmer. SPIEGEL -
Redakteur Markus Sutera traf die Gründerin Mona Ghazi in einem Coworking-Space in Siegen –
und erlebte eine junge Frau, die gern arbeitet, aber zu ihren Bedingungen. Als der SPIEGEL -
Redakteur das Büro kurz verließ, setzte Ghazi sich erst mal auf den Boden, um zu meditieren.

Kloster | Seite 38

Pfingsten bedeutet für viele vor allem ein langes Wochen-

Benediktinerinnen Angermund
ende. Mancherorts aber bestimmt der christliche Glaube
noch immer den Alltag. Im Katharinenkloster im Düssel-
dorfer Stadtteil Angermund leben seit September Benedik-
tinerinnen. Ihr Orden hat so viel Zulauf, dass ihnen der
Platz in ihrem Kölner Heimatkloster nicht mehr ausreich-
te – und sie kurzerhand eine Dependance eröffneten. »In
Haarverlust?
einer Zeit, in der überall Klöster schließen, ist das eigent-
lich unvorstellbar«, sagt SPIEGEL -Redakteurin Katja Thimm, die fünf Tage bei den Nonnen zu-
brachte. Was reizt Frauen heute noch an einem zurückgezogenen Dasein ohne Partnerschaft und
Jetzt spürbar
Eigentum? Thimm hörte von Frauen, dass sie dort Freiheit und Selbstbestimmung fänden und vie-
les anders machten als Vertreter der Amtskirche. »Zwar hält eine von ihnen, Schwester Emma-
reduzieren!
nuela, die Fäden in der Hand, doch es gibt kaum Hierarchien.«
Mit Koffein, Ginkgo und dem
Rohstoffe | Seite 62 gesunden pH-Wert 5,5

Sie stecken in jedem Smartphone, jedem Computer und ANTI-HAARVERLUST1 SHAMPOO


jedem Auto: Ohne kritische Rohstoffe wie Lithium,
NHE-Pflegeformel regt die Durch-
Thomas Victor / DER SPIEGEL

Kobalt oder Neodym stünde unser Leben still. Noch


dominiert China den globalen Rohstoffmarkt, doch die blutung in der Kopfhaut an
USA und Europa wollen das ändern. Wer gewinnt das aktiviert die Haarwurzel
Rohstoffrennen? Sieben SPIEGEL -Redakteure haben 90 % der Frauen und Männer
sich auf Spurensuche begeben – von einem vergifteten bestätigen: dichteres Haar²
See im chinesischen Baotou bis zu einer Fabrik im säch-
sischen Bitterfeld, die den Standort Deutschland künftig 1 erblich bedingt
2 Klinisch-dermatologische Anwendungsstudie an
unabhängiger machen soll von Lithiumimporten aus China. »Bitterfeld hat schon mal versucht, 40 Männer und Frauen mit erblich bedingtem
sich als Solar Valley neu zu erfinden«, sagt SPIEGEL -Redakteur Claus Hecking (r.) – das ging schief. Haarausfall über 6 Monate; Prof. P. Arenberger,
Hautklinik, 3. Med. Fak. Karls-Univ. Prag 2009
Gelingt es diesmal als Lithium Valley? »Die Versorgung mit kritischen Rohstoffen ist für Deutsch-
land überlebenswichtig. Bitterfeld könnte der Anfang sein.«

Ein Grund zum Feiern in diesen nachrichtlich eher düsteren Zeiten hatten wir in sebamed Produkte sind in über 120 Studien
dieser Woche: Seit fünf Jahren gibt es SPIEGEL+, unser digitales Abonnement. Der dermatologisch-klinisch getestet.
erste Artikel, ein Test, der im Mai 2018 mit dem roten Plus-Emblem erschien: »Wie In Apotheken und Drogeriefachabteilungen.
Zetsche der Zorn von Andreas Scheuer traf«. Zetsche, Scheuer: Namen wie aus
einer anderen Zeit – damals erreichten wir gerade einmal 26 Leser. Inzwischen sind
325.000 Menschen hinzugekommen, so viele Abonnenten und Abonnentinnen ha-
ben derzeit Zugriff auf alle Artikel, Videos und Podcasts auf unserer Website SPIEGEL.de. Wenn
Sie als Abonnent oder Abonnentin des gedruckten SPIEGEL dazugehören wollen: Für 70 Cent
pro Ausgabe mehr gibt es das volle Angebot von SPIEGEL+.
SEBAMED NIMMT IHRE
Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 3 HAUT IN SCHUTZ
INHALT TITEL

8 | Jobwelt Die Generation Z


fordert eine gesunde Work-
Life-Balance ein und verändert
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 22 | 27.5.2023
damit das Arbeitsleben

16 | Patriarchen Was s.Oliver-


Gründer Bernd Freier über
den Wunsch der Generation Z
nach mehr Freizeit denkt

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Der Staat muss


Klimasekten anders Paroli bieten
als mit Razzien

18 | Neue Spuren im Fall der


gesprengten Ostsee-Pipelines /
Arbeitsminister Heil stellte Trau-
zeugen an / Tausende geflüchtete
Kinder ohne Schulplatz
in Deutschland / Der gesunde
Menschenverstand

Patrick Strattner / DER SPIEGEL


22 | Regierung Vertagt die
Ampel den Klimaschutz?

25 | Bayerische Ermittler sehen


in der »Letzten Generation«
eine kriminelle Vereinigung

26 | Koalition SPD-Chef
Weniger Arbeit, mehr Leben Lars Klingbeil will mehr Einfluss
des Staates

JOBWELT Die Generation Z verändert den Blick auf das Berufsleben. Warum sich 28 | Verteidigung Ausbilden ja,
für den Job kaputtmachen, wenn es auch anders geht? Heute fordern liefern nein – warum es in
der Kampfjetkoalition stockt
schon Berufseinsteiger Viertagewochen, Sabbaticals, flexible Arbeitszeiten.
Profitieren davon am Ende auch die Älteren? | 8 32 | Affären Die fragwürdigen
Rüstungsgeschäfte des Vorzeige-
unternehmens Hensoldt

36 | Grüne Nach seinem


Parteiaustritt feiert Tübingens
Oberbürgermeister Palmer
Paul Hennessy / SOPA Images / LightRocket / Getty Images

vor Gericht einen Sieg für seine


Verpackungsteuer

38 | Glaube Warum ein


Kloster in Nordrhein-Westfalen
Matteo Minnella / A3 / Contrasto / laif

so großen Zulauf hat


Florian Generotzky / DER SPIEGEL

43 | Karrieren Die schillernden


Kontakte des Ex-Manns von
Sahra Wagenknecht

44 | Mobilität Der Umbau


zur fahrradfreundlichen Stadt
entzweit Leipzig
Elly Schlein Ron DeSantis Sam Altman
Italiens neue Oppositionschefin Wie der US-Republikaner erst ChatGPT erobert die Welt – aus- 46 | Hochschulen Das Problem
attackiert die Postfaschistin Donald Trump und dann gerechnet sein Schöpfer warnt der Universitäten mit Quer-
Meloni von links. | 82 Joe Biden schlagen will | 79 vor künstlicher Intelligenz. | 70 denkern in den eigenen Reihen

4 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
DEBAT TE SPORT

48 | Diskriminierung Die unter- 87 | Tennis-Topstars /


schätzte Bedeutung von Akzenten Spielen Frauen schlechter
Schach als Männer?

REPORTER 88 | Fußball Talentsuche

Michael Kappeler / picture alliance / dpa


mit der Maschine – KI verändert
52 | Familienalbum / Kommt das Scouting
nach Corona der Handschlag
zurück, Frau Rao? 91 | Karrieren Wie Jan-Lennard
Struff zu Deutschlands neuer
53 | Ein Werbespot und seine Nummer eins im Tennis wurde
Geschichte  Warum Boris
Becker 76.000 Euro aus dem
Fenster warf WISSEN
Wo ist der Klimakanzler?
54 | Untergang Reportage von 92 | Das Geheimnis des
Der Streit um das Heizungsgesetz lähmt die Ampelkoalition.
drei Orten, an denen man Elmshorn-Meteoriten / Analyse:
Auch beim Verkehr geht es nicht voran, und in der Regierung macht
Atomwaffen nahe kommen kann Wie viele Tote forderte
sich Misstrauen breit. Greift jetzt Olaf Scholz ein? | 22
der »Krieg gegen den Terror«?
59 | Kolumne  Alles Gutsch
94 | Medizin Fortschritte bei der
Früherkennung von Parkinson
WIRTSCHAF T
97 | Gesundheit Wie Schweden
60 | Oligarch Usmanow erringt rauchfrei wird
juristischen Etappensieg gegen
deutsche Ermittlungsbehörden / 98 | Geschichte Warum Darwin
Siemens Energy kritisiert die so lange zögerte, seine Evo-
Bundesregierung lutionstheorie zu veröffentlichen

62 | Rohstoffe Gelingt es 100 | Paläontologie Waren


John Moore / Getty Images

Europa, sich aus der Abhängig- die Dinosaurier die erfolgreichsten


keit von China zu befreien? Tiere aller Zeiten?

70 | Technologie ChatGPT-
Erfinder Sam Altman über die KULTUR
Gefahren künstlicher Intelligenz
102 | Neue Musik von Paul Das Gold der Zukunft
72 | Lobbyismus Wie sich die Simon / »Fubar« mit
Für die Energiewende werden Unmengen an Metallen, Erzen und
Finanzindustrie aus dem EU- Arnold Schwarzenegger /
Mineralien benötigt. Doch Europa ist bei vielen kritischen
Lieferkettengesetz herauswindet Tattoo-Kunstprojekt
Rohstoffen von China abhängig – das soll sich jetzt ändern. | 62
104 | Kunst Reiche Privat-
AUSLAND sammler verändern die
Pariser Museumslandschaft
74 | Israels Säkulare demon-
strieren gegen Netanyahu / 108 | Literatur Michel
Armenien und Aserbaidschan Houellebecq äußert sich in
wollen Frieden schließen einem Buch über seinen
verunglückten Kunstporno
Ulrich Gamel / kolber t-press / picture alliance

76 | Russland Mutter und Tante


zweier Wagner-Söldner sprechen 110 | Streaming Warum
über den Tod ihrer Angehörigen »Succession« eine der besten
Serien unserer Zeit ist
79 | USA Schafft es Ron DeSantis,
Präsidentschaftskandidat 112 | Pop SPIEGEL -Gespräch
der Republikaner zu werden? mit Peter Fox über sein Come-
back und kulturelle Aneignung
82 | Italien Die neue
Oppositionsführerin Elly Schlein 115 | Literaturkritik Jennette
will das Land linker machen McCurdys Memoir über ihre Zeit
als Kinderstar KI-Jagd auf die Stars von morgen
84 | Legenden Das bewegte SPIEGEL-TV-Programm | 37 Bestseller | 107 Klubs bieten für Ausnahmetalente wie Jamal Musiala längst
Impressum, Leserservice | 116
Verhältnis von Henry Kissinger Nachrufe | 117 Personalien | 118
100 Millionen Euro und mehr. KI-Firmen wollen helfen, ihr
zum SPIEGEL Briefe | 120 Letzte Seite | 122 Potenzial einzuschätzen. Steht der Fußball vor einer Revolution? | 88

Titelfotos [M]: Michael Kohls, Sandra Stein und Patrick Strattner für den SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 5
Verschleißkosten der Freiheit
LEITARTIKEL Die Razzia gegen die »Letzte Generation« hilft den Aktivisten mehr als den Fahndern – und
verschärft die gesellschaftliche Polarisierung. Ein Rechtsstaat sollte besonnener agieren.

Auch die im Durchsuchungsbeschluss erwähnten


»Drohschreiben an verschiedene Bürgermeister in
Deutschland« taugen, anders als die Bayern meinen, nicht
als Beleg einer »erheblichen Gefährdung«. In diesen Brie-
fen hatten Mitglieder der »Letzten Generation« im März
die Unterstützung ihrer Ziele verlangt und gedroht,
andernfalls für eine »maximale Störung der öffentlichen
Ordnung« zu sorgen. Der Generalbundesanwalt konnte
in diesem Zusammenhang noch nicht einmal eine Nöti-
gung eines Verfassungsorgans erkennen. Und der Bundes-
gerichtshof (BGH) hat in einem ähnlichen Fall schon vor
Jahrzehnten klargemacht, wo der Hammer hängt.
Damals ging es um die Proteste gegen den Bau der
Startbahn West des Frankfurter Flughafens, bei denen
sich Tausende Demonstranten Straßenschlachten mit der
Alexander Pohl / ddp Polizei geliefert hatten. Die BGH-Richter verneinten eine
Nötigung der hessischen Landesregierung. Die sei nur
gegeben, wenn der von den Ausschreitungen »ausgehen-
de Druck einen solchen Grad erreicht, dass sich eine ver-
antwortungsbewusste Regierung zur Kapitulation vor der
Forderung der Gewalttäter gezwungen sehen kann«.
Protest gegen Razzia as dem FC Bayern im Endspurt um die Deutsche Doch selbst wenn es eine realistische Chance gäbe, die
in München
W Fußballmeisterschaft fehlt, scheint bei der Gene-
ralstaatsanwaltschaft München im Überfluss vor-
handen: Selbstbewusstsein und Siegesgewissheit. Jene
»Letzte Generation« als kriminelle Vereinigung zu ver-
folgen, könnte die Sache zumindest politisch nach hinten
losgehen. Denn die Aktion der Münchner Staatsanwälte
Gefühle also, die in der Vereinshymne mit Zeilen wie hilft vor allem den selbstgerechten Aktivistinnen und
»Mia san mia, das ist unschlagbar« besungen werden. Aktivisten. Wer mit Kanonen auf Spatzen schießt, macht
Rund 170 Beamte hatten die Fahnder am Mittwoch in aus Piepmätzen womöglich Falken des Widerstands. Die
sieben Bundesländern in Bewegung gesetzt, um 15 Woh- freudige Empörung der Klimaaktivisten über die Razzia
nungen und Geschäftsräume zu durchsuchen. Bildung legt den Verdacht nahe, dass sich die Protest-Wichtel im
einer kriminellen Vereinigung lautet der Vorwurf gegen Outlaw-Outfit gruselwohl fühlen.
Aktivisten und Helfer der Klima-Protestgruppe »Letzte Auch wenn historische Vergleiche immer hinken:
Generation« im Zusammenhang mit deren Spendenauf- Nichts hat den Terroristen der Roten Armee Fraktion
kommen. Ein Verdacht, der den Ermittlern allem An- (RAF) mehr Sympathisanten beschert als die wütende
schein nach bereits zur Gewissheit geronnen war: »Die Reaktion eines Staates, der jeden Deppen, der einen RAF-
Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung ge- Stern an eine Autobahnbrücke sprühte, mit der Keule des
mäß § 129 StGB dar!«, lautete der Hinweis, mit dem die Paragrafen 129a (Bildung einer terroristischen Vereini-
Behörden am Mittwochvormittag erklärten, warum auch gung) als Terrorhelfer ins Gefängnis prügelte.
die Website der Klimakleber beschlagnahmt und damit So schwer es angesichts der Attacken auf die Nerven
stillgelegt worden war. Wenig später ruderte das Landes- vieler Verkehrsteilnehmer auch fallen mag: Politik und
kriminalamt zurück und löschte die Passage. Der Eindruck Justiz sollten Ruhe bewahren. Rechtsstaatlichkeit ist ein
peinlichen Übereifers blieb. mühseliges Geschäft. Meinungs- und Demonstrations-
Ob von der »Letzten Generation« tatsächlich eine freiheit reichen bis an den Rand des Schwachsinns. Dies
»erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit« aus- auszuhalten, gehört zu den Verschleißkosten der Freiheit.
Wer mit geht, wie im Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Und so schlecht, wie es manchen scheinen mag, ist das
Kanonen auf München behauptet wird, ist umstritten. Denn der Ge- übrige gesetzliche Instrumentarium nicht. Man muss es
setzgeber definiert eine kriminelle Vereinigung als eine, nur konsequent anwenden. Im Straf- und im Zivilrecht.
Spatzen »deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straf- Die von der selbst klebenden Jugend bislang verursachten
schießt, macht taten gerichtet ist«. Dass die »Letzte Generation« mit Schäden in Museen liegen im fünfstelligen Euro-Bereich,
ihren Aktionen Straftaten begeht, ist für viele unstrittig: die Kosten für die Blockade eines Flughafens dürften er-
aus Piepmät- »Sachbeschädigung«, wie das Beschmieren der SPD-Par- heblich höher sein. Angeblich sind die Klimakämpfer
zen womöglich teizentrale, oder »Nötigung« durch Sitzstreiks und Fest- bereit, »Konsequenzen zu tragen«.
klebeaktionen auf Fahrbahnen. Doch Aktionen wie die- Die Betroffenen sollten sie beim Wort nehmen – und
Falken des se sind, jedenfalls in den Augen der Aktivistinnen und Rechnungen schicken.
Widerstands. Aktivisten, lediglich Mittel zum Zweck des Klimaschutzes. Gunther Latsch n

6 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


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TITEL

»WIR HABEN JETZT DAS


PRIVILEG, DASS WIR
MEHR SEIN KÖNNEN ALS
UNSERE ARBEIT.«
Sebastian Buck,
McKinsey-Berater

Der neue Arbeitskampf


TITEL Die Generation Z steigt ins Berufsleben ein – und stellt erst mal Bedingun-
gen: Viertagewochen, Sabbaticals, Homeoffice, sinnvolle Aufgaben. Unerhört?
Keineswegs. Denn auch die Älteren finden Geschmack an diesen Ideen.
Patrick Strattner / DER SPIEGEL

8 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


TITEL

DER JOBWELT Die Generation Z


steigt ins Berufsleben ein – und
stellt erst mal Bedingungen:
Viertagewoche, Sabbatical,
Homeoffice, keine Überstun-

NEUE den. Unerhört? Keineswegs.


Denn auch die Älteren finden
Geschmack an diesen Ideen.

ARBEITSKAMPF
ür eine Nachwuchskraft bei McKinsey werden sollte. Erst seit 2020 ist diese Praxis Seine zentralen Fragen beim Berufsein-
F strahlt Sebastian Buck eine geradezu
irritierende Entspanntheit aus. Zum
Videointerview schaltet er sich aus New York
in Deutschland verboten. stieg: Kann ich trotz Vollzeitjob noch irgend-
Ihm sei es schon immer so gegangen, er- wie ich sein? Lässt der Beruf genug Raum für
zählt Buck, er finde eben nicht nur in einer Freizeit? »Für die Generation meiner Eltern
ein, und er grinst breit, als er erzählt, wie er Sache Erfüllung. Während des Studiums habe war ihr Job ihr Leben«, sagt Buck. »Wir haben
seine Zeit verbringt: bisschen Museum, biss- er nebenbei Trompete gespielt, geschau- jetzt das Privileg, dass wir mehr sein können
chen Broadway, mit Freunden frühstücken spielert, sich für die LGBTQ-Community als unsere Arbeit.«
und abends noch was trinken. In zwei Wo- engagiert. Sebastian Buck gehört zur Generation Z,
chen will er weiterreisen nach Los Angeles, jener Altersgruppe also, die zwischen 1995
danach einen Monat durch Panama und und 2010 geboren wurde – und eigene Vor-
Kolumbien. stellungen mitbringt, wie die Arbeitswelt aus-
Der Job? Kann warten. zusehen hat. Die erwartet, dass sich der Job
Seit knapp zwei Jahren ist Buck bei der an ihr Leben anpasst. Und nicht etwa umge-
Beratungsfirma angestellt, und zum zweiten kehrt. Fragt man sie nach ihren Prioritäten im
»Ich würde einen Job kündigen, wenn er
Mal nutzt er die »Take Time«: Zusätzlich zum mich daran hindert, mein Leben zu Berufsleben, rangiert die Work-Life-Balance
regulären Urlaub können die Beraterinnen genießen.«, zustimmende Arbeitnehmerinnen bei der Generation Z weit oben, direkt nach
und Berater zwischen ihren Projekten eine und Arbeitnehmer aus 34 Ländern, in Prozent dem Gehalt.
Auszeit von bis zu zwei Monaten pro Jahr 18- bis 24-Jährige 58 Im Randstad Workmonitor, einer der größ-
nehmen, am Stück oder phasenweise. Ihr Jah- ten Befragungen von Arbeitnehmenden welt-
25- bis 34-Jährige 54
resgehalt wird entsprechend reduziert und weit, ist das sehr deutlich an den jüngsten
über das gesamte Jahr gestreckt. Im Prinzip 35- bis 44-Jährige 49 Zahlen abzulesen. 58 Prozent der dort be-
hat sich Buck also eine Menge freie Zeit ge- 45- bis 54-Jährige
fragten 18- bis 24-Jährigen sagten, sie würden
41
kauft. einen Job kündigen, wenn er sie daran hin-
Der 23-Jährige kann sich das leisten. Er 55- bis 67-Jährige 40 dere, ihr Leben zu genießen. Und sie belassen
gehört zu jenen High Potentials, um die sich es nicht bei Worten: 38 Prozent gaben an, aus
die Unternehmen gerade reißen. Und McKin- »Ich würde keine Stelle annehmen, wenn ich diesem Grund schon einmal eine Stelle ge-
sey? Muss sich das leisten. Auch wenn durch nicht flexibel in Bezug auf ... schmissen zu haben.
das Modell weniger Berater gleichzeitig zur ... meinen Arbeitsort wäre.« »Wir sagen nicht, dass wir nicht arbeiten
Verfügung stehen, wie es aus dem Unterneh- 18- bis 24-Jährige
wollen, wir wollen es nur unter anderen Be-
45
men heißt. Aber man wolle attraktiv sein für dingungen«, so formuliert es Berater Buck.
den Nachwuchs – der anders offensichtlich 25- bis 34-Jährige 45 »Die ältere Generation ist auch in der Ver-
schwer zu locken ist. Ohne die »Take Time«, 35- bis 44-Jährige 43 antwortung, sich an unsere Bedürfnisse an-
erzählt Buck, hätte er sich nach dem Bachelor zupassen.«
mit 21 Jahren vielleicht nicht für den Job ent- 45- bis 54-Jährige 36 Die Jungen können sich dieses Selbst-
schieden. Die Beraterbranche ist verschrien 55- bis 67-Jährige 33 bewusstsein leisten. Sie werden gebraucht.
für ausufernde Arbeitszeiten, für Überstun- Allein bis 2035, rechnen das Institut für
den, Leistungsdruck. ... meine Arbeitszeiten sein könnte.« Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und
Er sei durchaus bereit, hart zu arbeiten, das Statistische Bundesamt vor, gehen der
18- bis 24-Jährige 50
sagt Buck, in Projektphasen komme er immer deutschen Wirtschaft bis zu sieben Millionen
wieder auf mehr als 40 Stunden pro Woche 25- bis 34-Jährige 48 Erwerbstätige verloren, weil die Babyboomer
– und schon das klingt für die Beraterwelt eher 35- bis 44-Jährige 47 in Rente gehen und immer weniger Junge
überschaubar. Aber er wolle auch Zeit für nachkommen. Und die können die Bedingun-
andere Dinge haben, für Reisen, für Freunde 45- bis 54-Jährige 41 gen diktieren.
und Familie, für seine NGO, mit der er Opfern 55- bis 67-Jährige 39 Jonathan Steinbach, Recruitingchef bei
sogenannter Konversionsbehandlungen hel- Bucks Arbeitgeber McKinsey, berichtet, dass
fen will, Menschen also, deren sexuelle Orien- S Quelle: Randstad-Umfrage; Befragungszeitraum: 18. bis Bewerberinnen und Bewerber jetzt häufiger

30. Oktober 2022; Stichprobengröße: 35.000; Arbeit-


tierung gezielt verändert oder unterdrückt nehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen 18 und 67 Jahren nach flexiblen Arbeitszeiten fragen würden,

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 9


TITEL

nach Teilzeitmodellen und danach, an welchen gekämpft, indem sie bei stagnierendem Freundinnen und Freunde kümmern wollen
Themen sie überhaupt arbeiten würden. Es ist Wachstum und Arbeitskräftemangel einfach und sich womöglich noch gesellschaftlich
eine erstaunliche Wende. »Die klassischen weniger arbeitet.« Bundesjustizminister engagieren – so sieht es die Präsidentin des
Recruitingfragen der letzten Jahrzehnte waren: Marco Buschmann (FDP) Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialfor-
Wie schnell kann ich Karriere machen – und schung (WZB).
wie viel verdiene ich dabei?«, sagt Steinbach. »Wer glaubt, in dieser sich dynamisch ver- Ihre Forderung tat jahrelang niemandem
Die neue Macht des Nachwuchses resul- ändernden Welt mit einer Viertagewoche allzu weh, man lächelte sie freundlich weg,
tiert aus einer einfachen Umkehrung der Ver- durchzukommen, der glaubt auch, dass man weil es schien, als würde sie nie Realität. Nun
hältnisse. Mussten in den Neunzigerjahren im Fußball nach 80 Minuten in die Kabine aber ist sie zum Mainstream geworden, zum
die Absolventinnen und Absolventen dank- gehen kann.« Bayerns Ministerpräsident Teil der Tarifpolitik sogar, und Allmendinger
bar sein, wenn sie einen der eher raren Jobs Markus Söder (CSU) findet sich in einem politischen Kampfgebiet
ergattern konnten, so sind es heute die Unter- wieder. »Das Thema weckt in der Wirtschaft
nehmen, die froh sind, wenn sie qualifizierte »Da kommen 25-Jährige und wollen nur drei offensichtlich Emotionen«, sagt sie. Neulich,
Leute bekommen. Tage arbeiten – dabei haben die das ganze bei einem offiziellen Dinner, da zischte ein
Der inzwischen verstorbene Wirtschafts- Leben noch vor sich.« Europapark-Rust-Chef Verbandsfunktionär in ihre Richtung, die Sa-
wissenschaftler Christian Scholz, der sich als Roland Mack che mit der Viertagewoche, die sei wirklich
einer der Ersten mit der Generation Z aus- Quatsch.
einandersetzte, formulierte es so: »Auch an- »Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit.« Steffen Die Frage, wie viel Einsatz die Arbeitswelt
dere Generationen haben Nein gesagt. Jetzt Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundes- braucht und wie viel den Menschen guttut,
aber wird das Nein akzeptiert.« vereinigung der Deutschen Arbeitgeber- wird gerade neu verhandelt.
Denn es sind nicht nur die Jungen, die an- verbände
dere Arbeitsmodelle einfordern. »Weniger DER KONFLIKT
Arbeit, mehr Leben«, dieser lässige Slogan ist Und so stehen sich zwei Fraktionen gegenüber, Vier Wörter können ausreichen, um sich plötz-
in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die sich relativ wenig zu sagen haben. Die lich im Zentrum eines Generationenkonflikts
und vielleicht ist das die erstaunlichste Er- einen sorgen sich um Wohlstand und Wachs- wiederzufinden. Andrea Nahles hat das erlebt.
kenntnis. Die Selbstverständlichkeiten der tum, sie sehen den Standort durch den Fach- Mitte Februar gab die Chefin der Bundesagen-
alten Arbeits- und Karrierewelt lösen sich auf. kräftemangel bedroht. Die anderen wollen tur für Arbeit (BA), der »Augsburger Allge-
Ganz unabhängig vom Alter. die Arbeit nicht mehr zum Zentrum ihres meinen« ein Interview über die neuen Macht-
Mit der Coronapandemie, als die halbe Lebens machen. verhältnisse auf dem Jobmarkt. Über viele
Republik zwangsweise ins Homeoffice wech- Die Fronten seien inzwischen »völlig ver- Zeilen plätscherte es unaufgeregt dahin. Bis
selte, zeigte sich, dass viele Unternehmen härtet«, sagt die Soziologin Jutta Allmendin- die Frage fiel, wie sie es denn finde, dass »eini-
auch dann funktionieren, wenn ihre Ange- ger, die seit beinahe 15 Jahren für eine ge junge Menschen« bei Einstellungsge-
stellten von zu Hause und zu flexiblen Zeiten Arbeitszeitverkürzung für alle wirbt. Ein sprächen forderten, den Hund mit ins Büro
arbeiten. Wohnung und Büro, Familie und Arbeitsalltag mit 40-Stunden-Woche plus nehmen zu dürfen und keine einzige Über-
Beruf, Job und Privatleben rückten viel näher Überstunden für beide Elternteile passe ein- stunde zu machen. Und Nahles’ umständliche
zusammen und ließen sich, orientiert am per- fach nicht mehr, wenn sie sich zugleich um Antwort endete mit dem Satz: »Arbeit ist kein
sönlichen Gusto, konfektionieren. Das alte ihre Kinder, pflegebedürftige Angehörige, Ponyhof.«
Neun-bis-fünf-im-Büro-Korsett war gelockert.
Und viele Beschäftigte fragen sich seither
offenbar: Geht da nicht noch viel mehr?
Dass die Idee von einer anderen Work-
Life-Balance in der ökonomischen Realität Einwohnerinnen und Einwohner in Deutschland nach Generationen, in Millionen
angekommen ist, zeigte sich spätestens
1,5
Anfang April. Da verkündete Deutschlands
größte Industriegewerkschaft, die IG Metall,
sie wolle in der Stahlbranche für die Vier- Generation Gen Z Gen Y, Gen X Baby- Kriegs- Kriegsgeneration
tagewoche kämpfen, für 32 statt 35 Stunden Alpha Millennials Boomer kinder
pro Woche, bei vollem Lohnausgleich. Es
gehe dabei auch darum, die Branche für jun-
ge Menschen attraktiver zu machen. 1,0
Und der Vorstoß schlägt Wellen. Die SPD-
Co-Vorsitzende Saskia Esken fordert inzwi-
schen gar die Viertagewoche für alle.
Allerdings erwischt die Debatte die Unter-
nehmen in einem sensiblen Moment. Schon
jetzt, rechnet etwa der Wirtschaftsverband
0,5
DIHK vor, gingen den Betrieben in jedem
Jahr 100 Milliarden Euro an Wertschöpfung insgesamt
verloren, weil es an Personal fehlt. Jede Stun- in dieser
de, die weniger gearbeitet wird, gilt vielen als Generation
zusätzliche Bedrohung.
So rasch wie die Ideen der Generation Z 9,6 14,6 13,1 16,4 12,8 9,6 8,0
Karriere machen, so schnell formiert sich da- 0,0
her auch Widerstand. Wortgewaltig und ein
Alter 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
wenig von oben herab. in Jahren
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter,
»Keine Volkswirtschaft der Welt hat je bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter,
Stand: 2022
von 15 bis 67 Jahren: 57 Mio.
erfolgreich um den Erhalt ihres Wohlstands S Quelle: Destatis

10 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


TITEL
»ES GIBT NICHTS,
Es folgte ein gewaltiger Shitstorm. WAS ICH ginn an arbeitete sie nur vier Tage
»Andrea Nahles wird neue Chefin der 40 STUNDEN pro Woche. Auf Teilzeit zu beharren,
PRO WOCHE
Capitol Versicherung«, twitterte MACHEN WILL.« sagt sie, sei ihr damals im Bewer-
SPD-Mitglied und Social-Media-Star Emily Volk, bungsgespräch schwergefallen. Die
Lilly Blaudszun, Jahrgang 2001, in Klimaschützerin 26-Jährige hat keine Kinder, die sie
Anspielung auf TV-Choleriker Strom- betreuen, und keine Angehörigen, die
berg. »Was geht ab bei den Babyboo- sie pflegen muss, sie übt kein Ehren-
mern?«, fragte der Grünen-Bundes- amt aus und auch keinen Nebenjob.
tagsabgeordnete Johannes Wagner, »Vielleicht hatte ich deshalb das Ge-
Jahrgang 1991. fühl, dass ich die Teilzeit mehr erklä-
Dabei hatte sich Nahles eigentlich ren muss.« Über die genaue Stunden-
bemühen wollen, die Jüngeren zu zahl habe sie mit ihren Vorgesetzten
verstehen. Sie ist Jahrgang 1970. So- verhandelt, am Ende hätten sie sich
ziologen zählen sie damit zur Gene- auf 32 Stunden pro Woche geeinigt.
ration X – zu einer Altersgruppe also, Volk sagt, die 80-Prozent-Stelle
die mit der Angst vor Arbeitslosigkeit habe sie gewollt, weil sie einfach nicht
aufwuchs. Auch promovierte Physi- gern viel arbeite. »Mir war schon im-
ker fuhren nach ihrem Abschluss da- mer klar, dass es nichts gibt, was ich
mals Taxi. Wenn heute jemand Angst 40 Stunden pro Woche machen will.«
haben muss, dann sind es Unterneh- Außerdem sei es ihr Versuch, zu einer
men, weil so viele Stellen unbesetzt besseren CO2-Bilanz beizutragen.
sind wie nie zuvor. Tatsächlich gibt es Studien, die einen
Wenn einige Jüngere jetzt öffent- Zusammenhang zwischen kürzeren

Sandra Stein / DER SPIEGEL


lich erklären, dass sie sich lieber um Arbeitszeiten und geringeren Emis-
ihr Privatleben kümmern, wenn sionen zeigen. Der wichtigste Grund
Daten zeigen, dass die durchschnitt- dafür: Menschen, die weniger arbei-
lichen Arbeitsstunden im Land seit ten, haben meist auch weniger Geld
Jahren sinken, dann ist das für die zur Verfügung – sie konsumieren
BA-Chefin ein relevantes Problem. weniger und verursachen daher auch
Eines, das Fragen aufwirft. So sieht ob die Viertagewoche kommt. Die weniger Treibhausgase.
Nahles das. Und schon länger sucht wenigsten hätten sagen können, wel- Auf solche Untersuchungen stützt
sie nach Antworten. che Ausbildung zu ihnen passt. »Wir sich auch Volk. Mit Anfang zwanzig,
Kurz bevor der umstrittene »Pony- sehen gerade nach Corona unter mitten im Bachelor, habe sie angefan-
hof«-Satz fiel, hatte Nahles einem vielen Schulabgängern keine selbst- gen, sich mit der Klimakrise auseinan-
Radiosender verraten, welches Buch bewussten Verhandler, sondern eher derzusetzen. Damals studierte sie
auf ihrem Nachttisch liegt: »Die Welt unsichere 15- und 16-Jährige«, sagt noch Volkswirtschaftslehre, im Mas-
geht unter, und ich muss trotzdem Nahles. Junge Menschen also, die sich ter befasste sie sich mit der Frage,
arbeiten?« heißt das Werk. Digital- vielleicht erschlagen fühlen von der welche Folgen wirtschaftliches Han-
expertin Sara Weber, Jahrgang 1987, Vielzahl an Möglichkeiten und die deln für Umwelt und Gesellschaft hat.
die auch für den SPIEGEL schreibt, noch nie daran gedacht haben, For- Was sie dort gelernt habe, habe sie
wehrt sich darin gegen den »endlosen derungen zu stellen. geprägt: »Ich könnte nicht gegensätz-
Vorwurf der faulen Jugend« – und »Die Generation Z ist keine homo- lich zu dem arbeiten, was ich weiß.«
setzt ihre eigene Geschichte dagegen. gene Gruppe«, sagt Nahles. Und nicht Von montags bis donnerstags gräbt
Wie sie nach einem Burn-out begann, jeder kann es sich leisten, Ansprüche sie sich nun weiter durch wissen-
an der Workaholic-Kultur zu zwei- zu haben. schaftliche Studien zum Klimawan-
feln, und daraus ihre Forderung nach del: Wie wirkt er sich auf Körper und
kürzeren Arbeitszeiten entwickelte. DIE FORDERUNGEN Seele aus, auf Kinder und Jugend-
Das Buch sei »interessant für alle, Menschen als Einheit zu betrachten, liche? Ihren Job, sagt Volk, mache sie
die sich für das Mindset der jungen nur weil sie in einer Altersgruppe sehr gern. In ihrem ersten Jahr habe
Generation interessieren und die sind, das hat schon immer schlecht sie aber auch gemerkt, wie er sie
nicht nur oberflächlich darüber dis- funktioniert. So ähnlich ist das mit manchmal schlauche. Dass sie einen
kutieren wollen«, hatte Nahles gesagt. Menschen, die in Umfragen ankreu- Tag mehr in der Woche Pause habe,
»Es gibt handfeste Gründe, unsere zen, dass ihnen die Work-Life-Ba- helfe ihr. Freitags schlafe sie aus,
heutige Arbeitswelt zu kritisieren.« lance wichtig ist. Der Begriff, der jetzt koche, telefoniere mit Freundinnen,
Doch sosehr sie in sozialdemokra- Konjunktur hat, bedeutet erst einmal radle raus aus Bonn, den Rhein oder
tischer Tradition vieles an der Kritik nur, dass neben der Arbeit Zeit für die Sieg entlang. Artikel zur Klima-
an ausbeuterischen Strukturen, Be- Privatleben bleibt, für Familie, Freun- »DAS THEMA krise leite sie zwar an ihre berufliche
fristungen und Dauerpraktika teilt, de, Hobbys. Was genau sich die Jun- E-Mail-Adresse weiter, lese sie aber
so sehr bleibt ihr das Denken fremd, gen wünschen, wie sie das richtige
WECKT IN nicht.
aus persönlichen Erfahrungen poli- Maß definieren, da gibt es sehr unter- DER WIRT-
tische Forderungen für alle abzu- schiedliche Vorstellungen. DER HEIMARBEITER. Das Zentrum von
leiten.
SCHAFT Luca Heckhoffs Leben misst zwölf
Nahles glaubt, dass die meisten DIE TEILZEITARBEITERIN. Emily Volks Be- OFFENSICHT- Quadratmeter. In seinem WG-Zim-
jungen Menschen ganz andere Pro- rufsleben begann mit einer 80-Pro- LICH EMO- mer in Bielefeld lebt er, lernt er, ar-
bleme haben. Neulich war sie an ihrer zent-Stelle. Im Mai 2022 startete sie beitet er: Bett, Schreibtisch, Kleider-
alten Realschule in Mayen zu Besuch. als Referentin für Nachhaltigkeit bei TIONEN.« leine mit gebügelten Hemden, ein
Niemand habe dort von seiner Work- der Hirschhausen-Stiftung »Gesunde JUTTA ALLMENDINGER, Schrank, beklebt mit Fotos seiner
Life-Balance gesprochen oder gefragt, Erde – Gesunde Menschen«. Von Be- SOZIOLOGIN Freundin – und mit Stickern seines

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 11


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Arbeitgebers. Neben seinem Wirt- lisierung mit sich bringt. »Ich sehe bei Generationen zwar, aber immerhin.
schaftspsychologiestudium jobbt der einigen, inklusive mir, wieder die Ghazi jedenfalls gehört dazu. Und
24-Jährige als Werkstudent bei Rhein- Tendenz zur Selbstausbeutung«, sagt trotzdem hinterfragt auch sie, wie viel
gans. Die Digitalagentur machte sich er. Er sei nun im Grunde die Stechuhr Arbeit eigentlich gut ist.
einen Namen, als ihr Gründer Lasse und derjenige, der darauf achte, dass Ausgewählte Wenn früher das Smartphone
Rheingans, 42, im Herbst 2017 den seine zwölf Angestellten eher 25 als Ergebnisse einer abends klingelte und im Urlaub beruf-
Fünfstundentag bei voller Bezahlung 40 Stunden arbeiteten. Wer 100 Pro- Studie zur Viertage- liche E-Mails eintrafen, sei es ihr
einführte. Inzwischen hat sich Rhein- zent seiner Arbeitszeit im Homeoffice woche in schwergefallen, sich zu entspannen,
Großbritannien
gans fast vollständig auf New-Work- verbringe, laufe außerdem Gefahr, sagt sie. Sie habe sich manchmal müde
Beratung fokussiert, zu den Kunden den Anschluss ans Team zu verlieren. gefühlt, matt, sei nachts wach gelegen.
zählen Bertelsmann oder die Oetker- Eine Kollegin bitte er deshalb jetzt in Inzwischen achte sie mehr auf ihr
Gruppe. Absprache mit ihr, wieder einmal pro Wohlbefinden, ihre Gesundheit, schla-
Heckhoff kam im Januar 2022 als Woche ins Büro zu kommen. der Unternehmen fe jeden Tag acht bis neun Stunden.
möchten die Viertage-
Praktikant dazu. »Als ein Professor Heckhoff sieht die Lösung in der woche nach einer Ihren typischen Tag beschreibt Ghazi
vom Fünfstundentag in einer Biele- richtigen Kommunikation: »Ich muss Versuchszeit so: »Ich wache morgens zwischen
felder Agentur erzählte, dachte ich: eben allen frühzeitig sagen, wann ich beibehalten. sechs und sieben Uhr ohne Wecker
Sieh mal einer an: so was Innovatives wo arbeite.« auf. Zuerst schreibe ich in mein Tage-
in unserer Stadt.« Er schickte eine buch, wofür ich dankbar bin. Nach
Initiativbewerbung. Nach dem Prak- DIE UNTERNEHMERIN. Mona Ghazi ist, einer Sporteinheit im Fitnessstudio
tikum blieb er als studentischer Ju- was man eine High-Performerin frühstücke ich. Zwischen neun und
niorberater, weil ihm die Arbeit Spaß nennt. Mit 14 Jahren begann sie, der Arbeitnehmer
waren zufriedener
zehn beginnt die Arbeit – bis 19 Uhr.
machte – und weil er flexibel arbeiten neben der Schule Betriebswirtschaft mit ihrer Work-Life- Danach treffe ich mich oft mit Freun-
kann, zeitlich, vor allem aber räum- zu studieren, mit 16 gründete sie ihr Balance. den.« Mit denen habe sie vereinbart,
lich. »Ich würde niemals zu einem erstes Unternehmen, jetzt, mit 21, dass nach dem üblichen Catch-up nicht
Arbeitgeber gehen, der mir kein Home- führt sie ihr zweites: Optimo will An- mehr über die Arbeit geredet wird.
office ermöglicht«, sagt Heckhoff. gestellten in Industrieunternehmen Viele Gründer träumen von der
Auch das ist für ihn Teil einer guten ermöglichen, Wissen per App aus- einen Idee, von Einzigartigkeit und
Work-Life-Balance: arbeiten, von wo zutauschen. Ghazi verkörpert das der Arbeitnehmer natürlich vom großen Geld. Ghazi
aus er will. Im vergangenen Herbst Unternehmerische der Generation Z, nahmen einen Rück-
gang von Burn-out-
sagt: »Ich möchte demnächst ein biss-
konnte er seine Freundin zum Aus- ihre Leistungsbereitschaft. In einer Faktoren wie Er- chen aus der Unternehmer-Bubble
landssemester nach Irland begleiten, Befragung des Instituts für Demosko- müdung und Frus- herauskommen.« Eine gute Work-
Onlinevorlesungen besuchen und pie Allensbach stufte sich knapp ein tration wahr. Life-Balance sei ihr wichtiger, als
nebenbei weiter für Rheingans arbei- Drittel der 14- bis 26-Jährigen als reich zu werden. Seit Kurzem boul-
ten. Jetzt ist er wieder zurück in Bie- Workaholic ein, als Person also, die S Quelle: Autonomy-Studie, dert sie. Und sie will sich für einen

Befragungszeitraum: Juni bis


lefeld – und geht dann ins Büro, wenn voll in ihrem Beruf oder in ihrer Aus- Dezember 2022, Tanzkurs anmelden. Auf jeden Fall
er es für sinnvoll hält, etwa wenn ein bildung aufgeht und hart dafür arbei- 61 teilnehmende Firmen mit
insgesamt rund
soll es ein Hobby sein, bei dem der
neues Projekt startet. An vielen tet – etwas weniger als in den älteren 2900 Beschäftigten Spaß im Vordergrund steht.
anderen Tagen bleibt er lieber im Noch etwas ist typisch für ihre Ge-
Homeoffice, um auf dem Weg zwi- neration: Auch Mona Ghazi arbeitet
schen Wohnheim, Büro und Hoch- quasi von überall aus. Vor Kurzem
schule nicht unnötig Zeit zu verlieren. sei sie in Florenz gewesen, mit Freun-
Diese Freiheit wolle er auch in Zu- den, die auch Firmen führen, bald
kunft haben: »Irgendwann will ich werde sie ein paar Tage in Warschau
Familie und nach einer schlechten verbringen. Der Hauptsitz ihrer Fir-
Nacht mit Baby lieber ausschlafen ma ist in Berlin, dort hat sie auch eine
und mir den Arbeitsweg sparen.« Wohnung gemietet. Aber gerade ist
Selbst bei Rheingans mussten sie sie häufig bei ihren Eltern in Siegen.
so viel Flexibilität erst lernen. An- Diese Freiheit, das sei es, was ihr Le-
fangs saßen alle von 8 bis 13 Uhr im bensqualität gebe, sagt sie. Und diese
Büro, dann war Feierabend. In der Freiheit gebe sie auch ihren Mitarbei-
Lockdown-Zeit änderte man das tenden: Bei Optimo entscheidet jeder
Konzept, mittlerweile gibt es Ver- individuell, ob und wie oft er ins Büro
trauensarbeitszeit, die Homeoffice- kommt.
Option wird gern genutzt. Fragt man Ökonomen und Recrui-
Unternehmen müssten endlich terinnen nach der Generation Z, dann
verstehen, dass Leistung und Arbeits- »NIEMALS ZU antwortet niemand, dass die Jungen
zeit nicht gleichbedeutend seien, so EINEM ARBEIT- grundsätzlich nicht mehr leistungs-
sieht Heckhoff das. »Es geht nicht GEBER, DER KEIN bereit seien. IAB-Ökonom Enzo We-
darum, die Arbeitenden längstmög- HOMEOFFICE ber zufolge ist nicht einmal belegt,
lich an den Arbeitsplatz zu binden ERMÖGLICHT« dass sie insgesamt weniger arbeiten
oder gar ins Büro zu zitieren, sondern Luca Heckhoff, wollen als frühere Generationen.
die beste Qualität zu erzielen.« Und Student Auch der Randstad Workmonitor
Christian Protte / DER SPIEGEL

wie man das schaffe, wisse jeder 2023 zeigt: Für eine Mehrheit von fast
selbst für sich am besten. drei Vierteln der 18- bis 24-Jährigen
Es ist das Mantra seines Chefs, das ist der Job nach wie vor ein wichtiger
Heckhoff da übernommen hat. Und Teil des Lebens.
doch sieht Lasse Rheingans auch die Trotzdem gibt es einen Trend: Die
Herausforderungen, die die Flexibi- Jungen wollen zu ihren eigenen Be-

12 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


TITEL

dingungen berufstätig sein, so, wie es zu


ihrem Leben und zu ihren Werten passt. Vie­
le wollen sich nicht mehr kaputtschuften, wie
sie es vielleicht bei ihren Eltern gesehen ha­
ben. Sie wollen Zeit für die Familie und für
Freunde haben. Selbst bestimmen, wann sie
arbeiten, wo und wie viel. Nicht überall ist
das so leicht umzusetzen wie in Digitalberu­
fen und Bürojobs. Ärztinnen, Pfleger und
Lehrkräfte können nicht einfach arbeiten,
wann und wo sie möchten. Und wer nicht
gerade die von der IG Metall geforderte Vier­
tagewoche bei vollem Lohnausgleich be­
kommt, bei dem geht jede Arbeitszeitreduk­
tion mit weniger Gehalt einher – das muss
man sich leisten können.
Der Wunsch nach mehr Leben und weniger
Arbeit aber, bei vielen ist er da. In einer reprä­
sentativen Umfrage des Meinungsforschungs­
instituts Civey im Auftrag des SPIEGEL gaben
mehr als die Hälfte der 18­ bis 29­Jährigen an,
sie wollten tendenziell weniger Zeit mit
Arbeit verbringen als ihre Eltern. 39 Prozent
sagten, sie arbeiteten vor allem zur Existenz­
sicherung; 25 Prozent beschrieben Arbeit
lediglich als Mittel zum Zweck. Der Job als
Erfüllung oder identitätsstiftendes Element?
Nicht so sehr für die Jungen.
Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann
formuliert es so: »Die Erwerbsarbeit hat für
die Generation Z nicht mehr denselben Stel­
lenwert wie für die über 55­jährigen Baby­
boomer.« Er sieht darin auch eine Reaktion

Sandra Stein / DER SPIEGEL


auf die Krisen, mit denen diese Generation
aufgewachsen ist, eine Reaktion auf den rus­ »ZWISCHEN NEUN UND ZEHN
sischen Angriffskrieg auf die Ukraine, den BEGINNT DIE ARBEIT.«
Klimawandel, den Kontrollverlust während Mona Ghazi, Unternehmerin
der Coronapandemie. Das Privatleben er­
scheine vielen als das Einzige, was sie noch
selbst in der Hand hätten. Was also liegt näher, Allerdings bleibt am Ende eine schlichte Woche arbeiten müsse, dem Fortschritt sei
als den Fokus darauf zu legen, das persönliche ökonomische Gleichung: Weniger Arbeit be­ Dank. Auch leidenschaftliche Befürworter
Wohlbefinden in den Mittelpunkt zu stellen? deutet weniger wirtschaftlichen Wohlstand der Viertagewoche glauben, dass mit dem
Auch wenn das eben bedeutet, weniger Zeit für alle. »Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Modell zwar die Arbeitszeit reduziert würde,
und Energie in den Job zu stecken. Mensch sich entscheidet, mit weniger Arbeit Verdienst und Abgaben aber gleich bleiben
auszukommen und dafür auf Einkommen zu könnten. Die Produktivität könnte sogar zu­
DIE SYSTEMFRAGE verzichten«, sagt Fuest. Das müsse man ak­ nehmen: weil unnötige Meetings gestrichen
Neulich saß wieder eine Bewerberin bei Cle­ zeptieren. Aber die Folgen müssten am Ende würden, weil Beschäftigte motivierter seien
mens Fuest, eine hoch qualifizierte Frau mit von allen anderen mitgetragen werden. Im­ und weniger oft fehlten.
Ansprüchen. Ausgesprochen wichtig sei ihr die merhin finanziert sich auch der Staat über Nun, Keynes’ Prognose zumindest ist nicht
»Life­Work­Balance«, habe sie gesagt. So Steuern und Abgaben. Ohne diese Einnah­ aufgegangen. Die Produktivität stieg nicht
jedenfalls erinnert sich der Präsident des ifo­ men gäbe es keine Kitas, keine Schulen, kei­ so schnell wie erhofft. Und sowieso werde
Instituts an die Begegnung. Die Reihenfolge ne Krankenversicherung. Besonders sichtbar vor allem die Industrie durch den Fortschritt
sei bewusst gewählt gewesen: zuerst Life, dann werde das beim Generationenvertrag, sagt produktiver, erklärt Fuest. Bei Dienstleistun­
Work. Eine typische Vertreterin der Genera­ Fuest. Das umlagefinanzierte Rentensystem gen, in Kliniken, Kitas und Altenheimen
tion Z also? Nein, sagt Fuest. Die Kandidatin sieht vor, dass die Jüngeren für die Älteren brauche es aber weiterhin Menschen. Pfle­
hatte den 50. Geburtstag schon hinter sich. aufkommen. »Wenn eine Generation deut­ gerinnen und Pfleger können nicht einfach
Dass angehende Mitarbeitende großen lich weniger arbeitet, gibt es keine Möglich­ schneller pflegen, um dann früher nach Hau­
Wert auf ihre Freizeit und auf Flexibilität leg­ keit, das auszugleichen. Schlimmstenfalls se zu gehen – schon jetzt haben sie oft viel
ten, sei keine Frage des Alters, sagt Fuest, kollabiert das System.« zu wenig Zeit für die Patienten und Senio­
sondern der äußeren Bedingungen: »Früher Die meisten Ökonomen sehen das so. Kür­ rinnen. Gerade dort, wo der Mangel beson­
wäre man bei vielen Arbeitgebern gleich raus­ zere Arbeitszeiten haben in der wirtschafts­ ders akut ist, müssten die wenigen Fachkräf­
geflogen, wenn man im Vorstellungsgespräch wissenschaftlichen Zunft nur wenige Fans. te theoretisch mehr arbeiten. Nur würde sich
zu viel von Life­Work­Balance erzählt hätte. Und wenn alle produktiver werden? Kön­ dann vermutlich niemand mehr für diese
Heute bewerben sich die Unternehmen bei nen technischer Fortschritt und Digitalisie­ Jobs finden.
den Talenten – und nicht mehr umgekehrt.« rung eine Lösung sein? Schon vor knapp Denn es sind eben nicht nur die Jungen,
Schon allein weil sie so wenige seien, könnten 100 Jahren träumte der britische Ökonom die ihre Arbeit so gestalten wollen, dass sie
Berufseinsteiger heute Forderungen stellen, John Maynard Keynes davon, dass die Gene­ zu ihrem Leben passt, zeigt die Randstad­
sagt Fuest. ration seiner Enkel nur noch 15 Stunden pro Studie. Für fast alle Befragten ist die Work­

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Life-Balance wichtig; eine große Mehrheit UND JETZT?


will flexibel arbeiten, die Arbeitszeiten und Wie die Arbeitswelt der Zukunft aussehen
den Arbeitsort also frei wählen. soll, wie sich der Wunsch nach mehr Freizeit
Fachleute des IAB sehen in einem Mehr vereinbaren lässt mit Wohlstand und Sozial-
an Flexibilität deshalb sogar einen Weg, um staat, darauf gibt es keine einfache Antwort.
das Arbeitsvolumen in Deutschland insge- Schon die Organisation der neuen Jobwelt
samt zu erhöhen. Um den Personalmangel ist nicht trivial. Sie berührt auch Vorstellun-
zu bekämpfen, schreiben sie in einer Analyse, gen von Solidarität. Der Ökonom Christian
müsse die Erwerbsbeteiligung dort gesteigert Scholz warnte die Generation Z schon vor
werden, wo sie aktuell noch vergleichsweise Jahren davor, Forderungen zulasten der an-
niedrig sei – bei Menschen ab 60 also und bei deren Mitarbeitenden durchzuboxen: Wer
Frauen. pünktlich Feierabend und freie Wochenenden
Wie das gehen soll? Ältere Beschäftigte haben wolle, könne nicht davon ausgehen,
könne man mit kürzeren und flexibleren dass andere einspringen und die Arbeit im
Arbeitszeiten dazu bringen, länger im Job Zweifel fertig machen. Oder anders formu-
zu bleiben. Frauen müsse man neben zeit- liert: Wer im Berufsleben immer zuerst an

Michael Kohls / DER SPIEGEL


licher auch räumliche Flexibilität bieten, sich denkt, vergrätzt die Kolleginnen und
damit sie sich nebenbei um die Kinder küm- Kollegen.
mern könnten. So ließen sich viele mög- »VIERTAGEWOCHE? Zu beobachten ist das zum Beispiel in vie-
licherweise sogar gewinnen, ihre Teilzeit- KEIN PROBLEM!« len Seniorenheimen. In nahezu keiner deut-
Jessica Hansen,
modelle aufzustocken. Malermeisterin, schen Branche bleiben offene Stellen länger
In der idealen Welt von Soziologin All- Katharina Lenk, unbesetzt als hier. Anders als oft behauptet,
mendinger wiederum nähern sich die Arbeits- Angestellte ist nicht mehr die Bezahlung das Problem.
zeiten von Männern und Frauen an: vier Tage Viele Pflegekräfte sind müde geworden von
pro Woche, 32 Stunden – und danach Schluss. job und Überstunden nicht alles haben kön- unzähligen Einsätzen am Wochenende,
Männer würden also im Schnitt etwas weniger nen, Erwerbsarbeit, Familie, Zeit für die al- Nachtschichten und Feiertagsarbeit.
arbeiten, Frauen etwas mehr. Das Arbeits- ternden Eltern und Raum für die Freunde. Wer sich nach komfortableren Arbeits-
volumen müsste damit nicht sinken, sagt All- Jedenfalls nicht dann, wenn sie weitermachen bedingungen sehnt, nach besseren Aussichten
mendinger, es bliebe annähernd konstant. wie bisher.« für die ganz persönliche Work-Life-Balance,
Sie argumentiert: Würden Paare, würden Wie aber lässt sich der Sorge begegnen, der rettet sich in eines der vielen Zeitarbeits-
Männer und Frauen auf Augenhöhe mit- dass es in Wahrheit viel mehr Arbeitsstunden unternehmen. Diese externen Dienstleister
einander leben, dann müssten sie auch bei und viel mehr Beschäftigte brauche, um die leben davon, die vakanten Stellen in den Hei-
der Arbeitszeit auf Augenhöhe sein. Sie Wirtschaft am Laufen zu halten? Genau das men zu besetzen. Sie locken junge und neue
bezweifelt allerdings, dass nur die Frauen sei »der Puls des Konfliktes«, sagt Allmen- Mitarbeitende damit, dass die sich an ihren
mehr arbeiten müssten und das Problem da- dinger. Die Gesellschaft müsse umdenken, mit Einsatzorten die beliebtesten Schichten aus-
mit gelöst sei. »Wenn beide Eltern voll arbei- neuen Arbeitszeitmodellen über den gesam- suchen können – und für Nacht- und Feier-
ten, wenn sie 200 Prozent geben, kracht das ten Lebensverlauf hinweg. tagsdienste gar nicht erst eingeteilt werden.
Konstrukt zusammen«, sagt sie. »Die Jün- Am Ende bleibe mehr Zeit für das Wesent- Für die Stammbelegschaften wird die Lage
geren haben das oft schon bei ihren Eltern liche, meint Allmendinger: »Das Jahr, in dem damit noch angespannter. Auf die eingesetz-
erlebt.« ich meine Mutter beim Sterben begleitet habe, ten Zeitarbeiter mit ihren komfortablen Kon-
Die aktuelle Debatte drehe sich daher in war für mich genauso wichtig wie damals ditionen sind sie selten gut zu sprechen. Ein
Wahrheit besonders um die Männer: »Auch die erste Zeit mit meinem neugeborenen Heimbetreiber sagt es so: Vor allem »die jun-
Männer merken, dass sie mit einem Vollzeit- Sohn.« gen Leute« brächten mit ihren Ansprüchen
das ganze System durcheinander.
Stößt Flexibilität also an Grenzen? Ist sie
dann zu Ende, wenn an einem festen Ort ge-
arbeitet werden muss, im Zweifel rund um
Durchschnittliche wöchentliche Arbeitsstunden pro Person in Deutschland die Uhr? Die Dementen und Bettlägerigen in
ihren Zimmern kann man nicht sich selbst
Erster Zweiter überlassen. Wo es um Pflege oder Dienstleis-
Weltkrieg Weltkrieg tungen geht, ist Anwesenheit gefragt.
60 1960 2020 »Homeoffice geht da nicht, aber sonst geht
Kinderarbeit wird Die Corona- alles«, so sieht es Laura Bornmann. »Man
1889 in der Bundesrepublik verboten. pandemie zwingt kann überall schauen, wo mehr Flexibilität
Im Deutschen keine Daten viele Betriebe zur
Kaiserreich wird Kurzarbeit.
möglich ist, damit der Job besser zum Rest
40 die erste gesetzliche des Lebens passt.«
Rentenversicherung Die 31-Jährige leitete zweieinhalb Jahre
eingeführt. lang die Abteilung für Personalentwicklung
1918 1956
Der Achtstundentag Übergang zur bei Rewe Dortmund, seit Oktober 2022 ist
wird per Gesetz Fünftagewoche 1993 sie Chefin von Gen Talents, einer neu ge-
20 beschlossen. in der Die bei VW vorübergehend gründeten Personalberatung, die Unterneh-
Bundesrepublik eingeführte Viertage-
woche (nur mit teil-
men bei der Suche nach Nachwuchskräften
weisem Lohnausgleich) rettet unterstützt. Menschen hätten sehr indivi-
30.000 Arbeitsplätze. duelle Ansprüche an einen Job, sagt Born-
0 mann – und die müssten miteinander vereint
werden.
1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020
»Am Ende werden wir noch mehr Flexi-
S Quellen: Destatis, Hans-Böckler-Stiftung bilisierung und Individualisierung brauchen.«

14 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


TITEL

Eine Option für die Zukunft könnten Job-


sharing-Modelle sein, sagt Bornmann. Oder
»WO IST MEHR FLEXIBILITÄT Immer öfter bat sie ihre Mitarbeitenden
daher, auch samstags reinzukommen und da-
– wie in den USA bereits vorgelebt – Teams MÖGLICH, DAMIT DER für irgendwann später einen Tag freizuneh-
von Freelancern, die sich nur für einzelne
Projekte zusammenschließen. Auch inner-
JOB BESSER ZUM REST DES men. Und immer öfter antworteten die:
»Wenn das so weitergeht, habe ich keinen
halb von Unternehmen könne man Projekte LEBENS PASST?« Bock mehr.« Ihr Cousin, ein Fliesenleger,
an Gruppen von Mitarbeitenden verteilen, LAURA BORNMANN, arbeitete damals in Dänemark und schwärm-
die sich dann komplett selbstbestimmt PERSONALBERATERIN te von der Viertagewoche, die sein Chef anbot.
organisieren. Im Juli 2022 postete Hansen bei Facebook:
Versuche, den neuen Ansprüchen gerecht »Jede Woche langes Wochenende! 4 Tage
zu werden, gibt es jedenfalls, über alle Bran- Malermeisterin Jessica Hansen. Damals er- Woche? Kein Problem!«
chen hinweg. Bei McKinsey etwa können zählte die 40-Jährige von der Viertagewoche Natürlich habe sie ein unternehmerisches
Mitarbeitende an vier Tagen im Jahr soziale in ihrem Betrieb – und der Minister versprach Risiko gespürt, sagt sie heute. Die Arbeitszeit
Vereine und NGOs unterstützen, ohne dass ihr nach der Sendung, sich vor Ort ein Bild reduzieren, um mehr Arbeit zu schaffen – wie
ihnen die Zeit vom Gehalt abgezogen wird. zu machen. soll das funktionieren? »Aber ich stand ja
Beraterinnen und Berater können sogar für Nun also lässt er sich von Hansen ins Lager sowieso schon mit dem Rücken zur Wand.«
bis zu ein Jahr zu einer Partner-NGO wech- führen, wo sich Dosen mit Wetterschutzfarbe Am Ende ging ihr Plan auf. Im Frühjahr
seln und werden weiter bezahlt. Der soge- und Lack in den Regalen türmen, weiter in vergangenen Jahres habe sie noch 4 Gesellen
nannte Social Leave sei auf Wunsch der Mit- den Maschinenraum und schließlich zu einem gehabt und Arbeit für mindestens doppelt so
arbeitenden eingeführt worden, heißt es vom großen Holztisch, an dem Hansens Angestell- viele; heute sind es 14 und 3 Azubis. »Das
Unternehmen. te an normalen Tagen Müsli oder Schwarz- Koordinieren der neuen Dienstpläne war an-
Bei der Deutschen Bahn wiederum erstrit- brot frühstücken. Heil setzt sich ans Kopf- strengend, aber das hat sich eingespielt«, sagt
ten die Beschäftigten in Tarifverhandlungen ende, in seinem dunkelblauen Anzug wirkt Hansen. Die Personalkosten seien gestiegen,
ein Wahlmodell: Seit 2018 können sie sich er etwas fehl am Platz. Er will wissen, wie klar, aber ebenso die Produktivität. Außerdem
entscheiden zwischen weniger Stunden pro genau das mit der Viertagewoche funktio- seien jetzt alle motivierter, hilfsbereiter,
Woche, zusätzlichem Urlaub oder mehr Lohn. niere, ob die Maler nicht doch manchmal seltener krank. Insgesamt, so ihr Eindruck,
Der ist möglicherweise ein Anreiz, die Stun- freitags arbeiten müssten. Und: »Gibt es auch habe sich das Arbeitsklima verbessert.
den jener Kollegen abzupuffern, die sich für negatives Feedback?« Klar, sagt Hansen. Erst im März stieß eine neue Malerin aus
die Option »weniger Arbeit« entschieden »Aber für mein Unternehmen war es genau der Generation Z zum Team, die 25-jährige
haben. Und selbst im Fernverkehr, wo orts- das Richtige.« Katharina Lenk. Zwei ihrer Kollegen aus dem
unabhängiges Arbeiten nicht möglich ist, ver- In Wahrheit hat Hansen in ihrem Betrieb alten Job seien zu Hansen gewechselt und
sucht man, New-Work-Ansätze umzusetzen: ein flexibles Modell eingeführt: Wer bei ihr hätten Gutes berichtet, erzählt sie, also sei sie
Bevor Schichten eingeteilt werden, können angestellt wird, entscheidet frei über die ihnen gefolgt. An ihrem neuen Arbeitgeber
Lokführerinnen und Zugbegleiter in einer Arbeitszeit. Vier oder fünf Tage. 30, 32 oder schätze sie die familiäre Atmosphäre – und
App hinterlegen, welche Arbeitszeiten ihnen 40 Wochenstunden. Wer mehr arbeitet, be- dass sie ihre 39 Stunden auf vier Wochentage
am liebsten wären. kommt mehr Geld. Auch der Dienstbeginn verteilen könne.
Die Stadt Wedel in Schleswig-Holstein ist flexibel, einige starten um 6 Uhr, andere
machte im April öffentlich, als erste Kommu- um 8.30 Uhr. DER GESELLE. Und was denken diejenigen, die
ne in Deutschland die Option einer Viertage- Auf die Idee sei sie eher aus Verzweiflung schon seit vielen Jahren bei Hansen arbeiten?
woche anzubieten. Am Klinikum Bielefeld gekommen, so erzählt Hansen es vor dem Genau einen Monat vor Heils Besuch sitzt
soll es von Juli an ein Pilotprojekt geben: Die Besuch. Als sie sich 2012 selbstständig mach- Ingo Schwanke, 49, auf einem umgedrehten
Pflegekräfte der Station für Innere Medizin te, habe sie den Fachkräftemangel schnell zu Farbeimer und sagt: »Ich bin noch diese Ge-
und Rheumatologie sollen dann nur noch an spüren bekommen: »Wir hatten keine Leute neration, ich habe grundsätzlich Bock auf
vier Tagen pro Woche arbeiten, die Schichten und viel zu viel Arbeit.« Arbeit.« Neugierig sei er gewesen, als Hansen
entsprechend auf neun Stunden verlängert mit der Idee der Viertagewoche auf ihn zu-
werden. Dafür müssen neue Dienstpläne er- »DIE GENERA- gekommen sei: »Ich war das Versuchskanin-
stellt und zusätzliche Pflegekräfte angeheuert TION Z IST KEINE chen.« Weniger arbeiten wollte er nicht, aber
werden – ein Aufwand, ohne den man aber HOMOGENE am Freitag freihaben – »warum nicht?«.
eben nicht mehr an gutes Personal komme, GRUPPE.« Seit etwas mehr als einem Jahr leistet
sagt Timo Jost, der stellvertretende Pflege- Andrea Nahles, Schwanke seine 40 Stunden nun also an vier
BA-Chefin
direktor. Tagen ab. »Am Anfang kamen mir die Wo-
Was dazukommt: Früh- und Spätschicht chenenden so lang vor wie Urlaub – total
sollen sich künftig nicht mehr nur um eine geil.« Die gewonnene Freizeit verbringt er
halbe, sondern um zweieinhalb Stunden über- mit dem neuesten Familienmitglied, einem
schneiden. Um etwa Schwerkranke umzu- Labrador. Und seinen jüngeren Sohn holt er
lagern, seien vier Hände besser als zwei. jetzt auch mal freitags von der Schule ab.
»Und so steigern wir mit der Viertagewoche Natürlich spüre er die Zeit auf dem Bau, »im
auch die Qualität in der Pflege«, sagt Jost. Kreuz, im Knie«. Doch nach drei freien Tagen
Das Land, so zeigt sich, ist in Bewegung. fühle er sich ausgeruhter.
Und neben den großen denken auch viele Schwanke kann sich inzwischen kein an-
kleine Betriebe um. deres Modell mehr vorstellen. Sollte er wider
Erwarten noch einmal den Betrieb wechseln,
DIE MALERMEISTERIN. Um kurz vor neun Uhr sagt er, dann nur unter einer Bedingung: »Ich
am 17. Mai fährt Arbeitsminister Hubertus komme nur, wenn du mir eine Viertagewoche
Thomas Pirot / laif

Heil (SPD) im schleswig-holsteinischen bietest.«


Osterby vor, um ein Versprechen einzulösen. Katharina Hölter, Kerstin Kullmann,
Im März war er zu Besuch in der ARD-Talk- Franca Quecke, Sophia Schirmer,
show »Hart aber fair«, gemeinsam mit der Cornelia Schmergal, Markus Sutera n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 15


TITEL

»ICH FINDE PATRIARCHEN Bernd


Freier gründete 1969
die Modefirma
s.Oliver. Was denkt
der Unternehmer

ARBEIT GEIL« über den Wunsch


der Generation Z
nach mehr Freizeit?

Freier, 76, ist für seine Rastlosigkeit bekannt. Kacke rauskommst. Als ich sechs war, muss- SPIEGEL: Etliche Angestellte wollen heute fle-
Er beginnt seine Arbeitstage, wenn die meis- te ich mit meiner Schwester Zeitungen aus- xibel arbeiten, egal wie alt sie sind.
ten seiner Beschäftigten noch schlafen. 2019 tragen. Jeden Tag um halb drei wurden Freier: Viele Wünsche sind nachvollziehbar,
zog er sich aus dem operativen Geschäft wir geweckt. Ich kann Ihnen in Würzburg aber nicht alle sind praktikabel. Ich hatte mal
heraus. Doch keiner der von ihm eingesetzten bis heute jede Straße nennen und die einen Spitzenmanager, der wollte nur drei
Nachfolger hielt sich lange, Freier kehrte Namen der Leute, die damals dort gewohnt Tage die Woche im Unternehmen arbeiten,
immer wieder kurzzeitig auf den Chefsessel haben. Wer wird denn noch unter solchen die restliche Zeit von zu Hause aus und dafür
zurück. Zuletzt im Dezember, als er sich Bedingungen groß? Vielen geht es zu gut. noch dicke Kohle kassieren. Ja, wie soll denn
von seinem CEO Claus-Dietrich Lahrs trenn- Der Papa zahlt die Miete, und es wird viel das gehen?
te. Freier liebt deftige Ausdrücke, gibt aber zu viel vererbt. SPIEGEL: Das mobile Arbeiten ist heute ziem-
kaum Interviews und lässt sich selten foto- SPIEGEL: Sie können der jungen Generation lich verbreitet.
grafieren. kaum vorwerfen, dass es vielen Familien heu- Freier: Aber nicht als Führungskraft! Man
te besser geht als zu Ihrer Zeit. muss doch bei seinen Mitarbeitern sein! An
SPIEGEL: Herr Freier, es scheint, als hätten Sie Freier: Tu ich auch nicht. Was ich sagen will: der Front sein, immer!
ein Problem mit Ihrer Work-Life-Balance. In einer gesättigten Gesellschaft wie unserer SPIEGEL: Können Sie einer Viertagewoche
Freier: Ich habe kein Problem, ich habe Ehr- fehlt es häufig an Biss. Die 20- bis 30-Jährigen etwas abgewinnen?
geiz. Ich finde Arbeit geil. Urlaub kann ich sind besser ausgebildet als jede Generation Freier: Ich kenne die Studien dazu: Angeblich
noch machen, wenn ich nicht mehr auf diesem vor ihr, und sie sind mit einer Selbstverständ- wäre das nicht nur gesünder, sondern sogar
Planeten bin. Wenn ich mal mit meinen Kin- lichkeit international unterwegs, an die Men- effizienter.
dern und Enkeln nach Mallorca fliege, legen schen meines Alters sich erst gewöhnen müs- SPIEGEL: Sie glauben das nicht?
die sich an den Strand, während ich sofort nach sen. Aber sind sie auch ehrgeizig genug? Was Freier: Wenn es klappt und Textilunterneh-
Palma fahre und mir die Geschäfte der Mit- ist ihre Motivation? Ich habe in den Sechzi- men trotzdem noch zwischen drei und fünf
bewerber anschaue. gerjahren neben meiner Ausbildung am Poly- Prozent Gewinn machen – warum nicht? Bei
SPIEGEL: Sie sind 76 Jahre alt, schaffen es aber technikum in einer Modeboutique gejobbt, manchen Mitarbeitern habe ich allerdings
nicht, sich aus Ihrem Unternehmen zurück- um mir für 2000 Mark einen Fiat 1300 leisten das Gefühl, dass sie bereits ihre persönliche
zuziehen. zu können. Heute wollen die Jungen nicht Viertagewoche eingeführt haben: Sie verbrin-
Freier: Ich wollte schon mit Mitte sechzig mal mehr ein eigenes Auto, und mit Blick auf gen den halben Freitag damit, ihr Wochen-
aufhören, habe aber immer wieder die Ver- den Klimawandel haben sie damit mehr als ende zu planen. Den halben Montag lang
pflichtung verspürt, Gewehr bei Fuß zu ste- recht. erzählen sie dann, was sie alles erlebt haben.
hen. Wenn s.Oliver heute pleiteginge, wo- Und diese Idee, dass man ab 17 Uhr keine
von wir weit entfernt sind, hingen nicht nur dienstlichen Nachrichten mehr verschicken
unsere eigenen 7000 Mitarbeiter dran, son- soll ...
dern auch Zigtausende Jobs bei Fabrikanten, SPIEGEL: Das soll dafür sorgen, dass die Leute
Reedereien, Speditionen. Soll mir das egal mal abschalten können. Dafür spricht doch
sein? Wir sind seit 54 Jahren erfolgreich, einiges.
und das soll auch die nächsten 100 Jahre so Freier: Ich schreibe abends um halb elf E-Mails
bleiben. an meine Mitarbeiter in China, dort ist es dann
SPIEGEL: Die jungen Leute in Ihrer Firma … morgens halb acht. Und früh um vier bin ich
Freier: … sind wirklich großartig, aber ver- wieder auf den Beinen, lese Zeitung und ver-
mutlich halten sie mich für verrückt, weil ich schicke im Unternehmen E-Mails mit Artikeln,
so viel arbeite. Die wollen mehr Freizeit, und die man gelesen haben muss. Mittlerweile
wenn ich freitagnachmittags über unseren stelle ich das Programm aber so ein, dass die
Firmenparkplatz gehe, stehen da kaum noch erst zur normalen Arbeitszeit ankommen.
Autos. SPIEGEL: Es muss anstrengend sein, für Sie zu
SPIEGEL: Der Generation Z wird nachgesagt, arbeiten.
Frank Ossenbrink / ullstein bild

dass sie ihr Leben nicht mehr nach dem Job Freier: Viele Tausend Mitarbeiter, die durch
ausrichtet, sondern umgekehrt. Haben Sie die harte Schule von s.Oliver gegangen sind,
dafür Verständnis? profitieren bis heute davon. Ob sie nun für
Freier: Ich bin in einem Bunker ohne Fens- Tom Tailor tätig sind, für Esprit oder noch
ter aufgewachsen, zehn Personen, eine Toi- »NICHT ALLE WÜNSCHE immer bei uns. Wir zahlen gut, aber dafür
lette, keine Badewanne, keine Heizung. Da SIND PRAKTIKABEL.« muss man etwas tun.
ist das größte Bestreben, dass du aus dieser Bernd Freier, Interview: Alexander Kühn n
Geschäftsmann
16 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023
ICH BESCHÄFTIGE 40 MITARBEITER.
DA MUSS DIE LOHNBUCHHALTUNG
SCHNELL UND DIGITAL LAUFEN.
Der Salon H.aarSchneider setzt mit innovativen Konzepten neue
Maßstäbe beim Kundenerlebnis. Dank der Unterstützung seiner
Steuerberatung und den intelligenten Lösungen von DATEV
sind alle Abläufe rund um die Lohnbuchhaltung und das
Personalwesen schnell und digital. So entsteht Freiraum für
das Wesentliche: voll und ganz für den Kunden da zu sein.

Heiko Schneider,
Inhaber Salon H.aarSchneider

GEMEINSAM-BESSER-MACHEN.DE
DEUTSCHLAND

Marijan Murat / dpa


Point of no Return: Im Kernkraftwerk Neckarwestheim hängen Dutzende Schutzhelme bereit – dort hat in dieser Woche der Rückbau von Block 2
begonnen. Er wurde als letzter noch aktiver Reaktor Mitte April vom Netz genommen und besiegelte damit nach 34 Jahren Laufzeit und
375 Milliarden Kilowattstunden produziertem Strom das Aus für die Atomkraft in Deutschland. Neun Milliarden Euro und 15 bis 20 Jahre plant
der Betreiber für den Rückbau. Erst einmal müssen 665 Brennstäbe »abklingen«. Dazu liegen sie mehrere Jahre lang in einem Wasser-
becken, um Temperatur und Strahlenbelastung so weit zu reduzieren, dass ein Weitertransport in ein Zwischen- oder Endlager möglich wird.

Die ukrainische Spur


SABOTAGE Wer hat die Nord-Stream-Pipelines gesprengt? Ermittler verfolgen neue Hinweise.

B ei den Ermittlungen zu den Sprengstoffanschlägen auf die


Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee verdichten sich die
Hinweise auf ukrainische Täter. So sollen die Metadaten
einer E-Mail, die bei der Anmietung der mutmaßlich für den Trans-
nischen Geheimdiensten ausgeführt worden sein könnte und inwie-
weit womöglich Teile des ukrainischen Regierungsapparats im Bilde
gewesen sind. Ende September war es zu den Explosionen an bei-
den Pipelines gekommen. Zwei Stränge von Nord Stream 1 wurden
port des Sprengstoffs genutzten Segeljacht »Andromeda« verschickt unterbrochen, einer von Nord Stream 2. Weitere Indizien, die
wurde, in die Ukraine führen. In der Kabine des Schiffs fanden in Richtung Ukraine weisen, sollen die ukrainischen Besitzer einer
sich großflächig verteilt Reste eines unterwassertauglichen Spreng- polnischen Firma sein, die offenbar in die Anmietung des Schiffs
stoffs. Es soll sich um Oktogen handeln, einen sowohl im Westen als involviert gewesen ist. Hinzu kommt ein Foto auf mutmaßlich
auch im ehemaligen Ostblock weitverbreiteten Explosivstoff. gefälschten Dokumenten, das zu einem ukrainischen Social-Media-
Die vom Bundeskriminalamt gefundenen Spuren decken sich mit Profil führt. Mit dem Sachverhalt vertraute Personen äußerten
Einschätzungen mehrerer Nachrichtendienste, wonach die Urheber zuletzt intern Zweifel, ob diese Indizien als heiße Spur zu betrachten
in der Ukraine zu verorten seien. Dort fragt man sich inzwischen, seien. Die Bundesanwaltschaft wollte sich mit Hinweis auf laufende
ob die Tat von einem unkontrollierten Kommando oder von ukrai- Ermittlungen nicht äußern. AMP, JDL, RHO, ROL, FIS

18 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Mehrheit für Zweck. Laut der repräsenta-
DER GESUNDE MENSCHENVERSTAND
tiven Erhebung unter fast
Sanktionen 5000 Befragten liegt der Zu-
ÖKONOMIE Auch im zweiten stimmungswert für die Maßnah- Dann lieber Trump
Jahr des russischen Angriffs- men in Westdeutschland bei
kriegs gegen die Ukraine befür- 73 Prozent, in Ostdeutschland
wortet die Mehrheit der Deut- bei 56 Prozent. Die meisten Von Markus Feldenkirchen Schutz vor einer angeblichen
schen die westlichen Sanktio- Sanktionsbefürworter finden »woken Indoktrination« in
nen gegen Russland. Das geht sich der IW-Befragung zufolge er zuletzt in Sorge Schulen und Hochschulen.
aus einer neuen Umfrage im
Auftrag des Instituts der deut-
schen Wirtschaft (IW) hervor.
in der Anhängerschaft der
Grünen (91 Prozent), gefolgt
von SPD (85 Prozent), Union
W war, Donald Trump
könnte erneut Prä-
sident der Vereinigten Staaten
Aus Sicht von Kritikern wäre
dies beispielsweise auf ein
Verbot für Lehrkräfte hinaus-
Demnach stehen noch 71 Pro- (80 Prozent) und FDP (74 Pro- werden, kann seit dieser Wo- gelaufen, die strukturelle Dis-
zent der Deutschen hinter den zent). Die meisten Gegner fin- che ein wenig erleichtert sein. kriminierung von Menschen
verhängten Strafmaßnahmen. den sich bei der AfD (66 Pro- Immerhin hat Trump jetzt aufgrund ihrer Hautfarbe oder
72 Prozent der Befürworter zent) und den Linken (45 Pro- einen ernst zu nehmenden ihres Geschlechts zu themati-
glauben, dass die Sanktionen de zent). Hier ist die Partei aller- Konkurrenten für die Vorwahl sieren. Und es sollte insbe-
facto der deutschen Wirtschaft dings gespalten: Während die der Republikaner. sondere Weiße vor allem
mehr schaden als der russi- Mehrheit der ostdeutschen Ge- Ron DeSantis, der Gouver- schützen, was ihnen das Ge-
schen. Trotzdem sind 84 Pro- nossen (58 Prozent) gegen Sank- neur von Florida, hat seine fühl geben könnte, dass sie
zent von ihnen der Meinung, tionen ist, sind 60 Prozent der Bewerbung angekündigt. Das aufgrund ihres ethnischen
die Sanktionen erfüllten ihren westdeutschen dafür. AMA, SRÖ hätte zwar beinahe niemand Hintergrunds, ihres Ge-
verstanden, weil die Erklä- schlechts oder ihrer nationa-
rung live auf Twitter erfolgen len Herkunft »persönliche
Kriegswirtschaft bei Russlands Krieg gegen die sollte, aber der Ton dummer- Verantwortung« für histori-
Ukraine und die Inflation die weise defekt war. Dennoch ist sche Untaten tragen.
der Bundeswehr? Kosten in die Höhe getrieben. seine Kandidatur nicht ohne
VERTEIDIGUNG Die Auslands- Ein weiterer Grund für die Chancen. DeSantis ist ein Über-
einsätze der Bundeswehr sind Mehrausgaben sei die Ver- Der CSU-Politiker Andi
im Jahr 2022 deutlich teurer ge- schlechterung der Sicherheits- Scheuer hat DeSantis neulich
zeugungstäter, er
worden als geplant. In einem lage in Mali, die Landtransporte in Florida besucht. Seither glaubt tatsächlich an
Papier für den Haushaltsaus- teurer gemacht habe. Weitere postet er gemeinsame Fotos die reaktionäre
schuss des Bundestags räumt Preistreiber seien Transporte in und politische Liebesbekun- Politik, die er macht.
das Verteidigungsressort ein, die Einsatzgebiete und der Be- dungen. Wenn DeSantis ihm
dass man für die Missionen im trieb der Feldlager. Die Linken auf Social-Media-Kanälen fol- Zwar konnte ein Gericht
Ausland – etwa in Mali, Irak kritisierten die Mehrausgaben. gen würde, hielte er Scheuer zentrale Teile des Gesetzes
und dem Südsudan – statt der »Die Bundeswehr überzieht vielleicht für einen Stalker. stoppen, doch gefühlt steht
eingeplanten 700 Millionen ihre Kosten jedes Jahr und miss- DeSantis selbst ist kein ameri- Florida kurz vor Einführung
Euro 813,9 Millionen Euro aus- achtet damit die Vorgaben des kanischer Scheuer, sondern der Hexenverbrennung.
geben musste. Das Ministerium Bundestags«, sagt die Haushäl- selbst für aktuelle CSU-Ver- Donald Trump mag ähnli-
begründet die höheren Kosten terin Gesine Lötzsch. Sie habe hältnisse ein Ultraradikaler. che Ankündigungen und
mit den Auswirkungen der Pan- den Eindruck, dass die Bundes- Jedenfalls arbeitet er daran, Sprüche auf Lager haben. Der
demie, Preissteigerungen, Ver- regierung »eine Sonderrolle das Mittelalter zurück nach Unterschied ist: DeSantis
zögerungen bei Lieferketten für die Bundeswehr« eingerich- Florida zu holen. Nicht im scheint tatsächlich an die re-
sowie mit Kapazitätsengpässen tet habe und sich auf eine Art Disneyland, sondern in echt. aktionäre Politik zu glauben,
bei Zulieferern. Zudem hätten Kriegswirtschaft einstelle. MGB So ist er beispielsweise strikt die er macht, sie ist ihm ein
gegen Abtreibungen. 2022 Anliegen, er ist Überzeu-
führte er ein weitgehendes Ver- gungstäter. Trump hingegen
bot von Schwangerschafts- ist nur ein Spieler. Er würde
Nachgezählt abbrüchen nach der 15. Woche auch Freikarten fürs Porno-
ein, sogar dann, wenn die kino verteilen oder für Abtrei-
Häufigkeit, mit der Einwohner Deutschlands mit EU-Nachbarländern Frau vergewaltigt wurde. Die bungen nach der 40. Woche
kommunizieren, in Prozent
täglich LGBTQ-Gemeinschaft wird in werben, wenn er sich davon
Florida zunehmend wie eine einen Vorteil bei der repub-
10
Gruppe von Aussätzigen be- likanischen Basis verspräche.
regelmäßig handelt. Seit vergangenem Jahr Er ist frei von missionari-
19
nie 44
gilt das »Don’t Say Gay«-Ge- schem Eifer. Es geht ihm um
setz, das den Unterricht über den eigenen Erfolg.
sexuelle Orientierung und Donald Trump wäre, so
27 manch- Geschlechtsidentität in Grund- irre das klingen mag, wohl
mal schulen verbietet. das kleinere Übel. Am besten
30 % 17 % Zudem wollte DeSantis
ein sogenanntes Anti-Woke-
wäre allerdings keiner
von den beiden. Sondern
bevorzugen bevorzugen
hierfür das hierfür das Gesetz durchdrücken, zum Joe Biden.
Mobiltelefon Festnetz
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
S Quelle: Europäische Kommission, Umfrage der Europäischen Kommission vom Alexander Neubacher im Wechsel.

12. Oktober bis 7. November 2022; Befragte in Deutschland: 1500

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 19


CHAPPATTES WELT Noch ein Trauzeuge
REGIERUNG Nach der Debatte
um Interessenkonflikte im
Wirtschaftsministerium von
Robert Habeck (Grüne) gibt es
einen anderen Trauzeugenfall –
im Arbeitsressort von SPD-
Minister Hubertus Heil. Er hat
bereits 2018 seinen Trauzeugen
Carsten Stender als Leiter der
Abteilung Europa und Interna-
tionales ins Ministerium geholt.
Der promovierte Jurist Stender
kam aus dem Auswärtigen
Amt. Zuvor hatte er lange in der
SPD-Zentrale gearbeitet,
unter anderem als Justiziar. Der
Wechsel zu Heil, als dessen
Trauzeuge Stender 2005 fun-
gierte, fand ohne Ausschreibung
statt. Allerdings müssen Abtei-
lungsleiterstellen in Ministerien
nicht ausgeschrieben werden,
weil deren Besetzung mit poli-
tischen Beamten auch mit
einem besonderen Vertrauens-
verhältnis zur Hausleitung be-
gründet wird. Heils Ministerium
betonte, neben der juristischen
Tausende Kinder Berlin stehen knapp 1700 junge sollen rund 15 künftige Schüle- Ausbildung Stenders sei dessen
Geflüchtete auf Wartelisten rinnen und Schüler innerhalb »umfangreiche Expertise im
ohne Schulplatz für einen Schulplatz. In NRW der nächsten zwei Wochen internationalen Bereich« aus-
BILDUNG Rund 4000 geflüch- warten mehr als 1800 neu zuge- einen Schulplatz bekommen. schlaggebend gewesen. Zudem
tete Kinder und Jugendliche wanderte schulpflichtige Kinder Die Bundesländer Baden-Würt- sei er »langjähriger politischer
aus der Ukraine und anderen und Jugendliche. Die Hanse- temberg, Hessen und Nieder- Begleiter und Vertrauter des
Ländern werden derzeit in stadt Bremen meldet derzeit sachsen teilten mit, es könne, Ministers« und erfülle »die An-
Deutschland nicht unterrichtet, 130 Mädchen und Jungen ohne wenn überhaupt, nur in Einzel- forderungen an einen politi-
weil Schulplätze fehlen. Das Schulplatz. Im Freistaat Sach- fällen zu kurzen Wartezeiten schen Beamten in Gänze«. Dass
Problem konzentriert sich einer sen ist etwa 380 Kindern und kommen. Ausreichend Schul- er vor rund 20 Jahren Trauzeuge
SPIEGEL -Umfrage in den zu- Jugendlichen noch keine Schule plätze für Geflüchtete melden von Heil war, sei »Ausdruck
ständigen Ministerien und Be- zugewiesen worden – darunter Rheinland-Pfalz, Schleswig- privater Freundschaft«, aber
hörden zufolge auf wenige Bun- sind neben Geflüchteten auch Holstein, Brandenburg, Bayern, nicht ausschlaggebend für die
desländer, vor allem in Berlin andere Zugezogene. In allen das Saarland, Mecklenburg- Ernennung gewesen. Ein Inte-
und in Nordrhein-Westfalen weiteren Bundesländern ist die Vorpommern, Sachsen-Anhalt ressenkonflikt bestehe »in
ist die Lage problematisch. In Lage entspannter. In Hamburg und Thüringen. ANR keinerlei Hinsicht«. MAD, MGB

Linke Beleidigungen ihm öffentlich Sexismus vor. Sie Bayerisches Bimbam ebenso das Gebimmel von Kuh-
trat von ihrem Posten als Vorsit- glocken zu den bayerischen
PARTEIEN Die Staatsanwalt- zende der rheinland-pfälzischen IDENTITÄTSPOLITIK Die Freien Alpen. Leider komme es immer
schaft Trier ermittelt gegen die Linken unter anderem deswe- Wähler wollen Geräusche und wieder zu »Beschwerden von
frühere Landesvorsitzende gen zurück – und aus der Partei Gerüche wie Glockengeläut, Anwohnern, die sich gestört
der Linken in Rheinland-Pfalz, aus. Mallmenn erstattete indes den Hahnenschrei oder den fühlen«, heißt es in dem Papier,
Melanie Wery-Sims. Das be- Strafanzeige gegen Wery-Sims: »Duft nach frischen Brezn« als manchmal durch den »Geruch
stätigte die Anklagebehörde auf Er habe sie nie öffentlich als Kulturgut bewahren. »Wir von frisch gebackenem Brot«.
Nachfrage. Hintergrund ist der »Wixxvorlage« bezeichnet, sie fordern, dass das Sinneserbe im Fraktionschef Florian Streibl
Skandal um wechselseitige Vor- habe ihn »bewusst wahrheits- ländlichen Raum stärker ge- verweist auf Frankreich, wo es
würfe innerhalb des rheinland- widrig« verleumdet. Das wiede- schützt wird«, heißt es in einer seit 2021 Regeln für das Sinnes-
pfälzischen Landesverbands der rum bestreitet Wery-Sims. Die Resolution, die die bayerische erbe gebe. Eine entsprechende
Partei. Der Vorsitzende des Staatsanwaltschaft Trier prüft Landtagsfraktion auf ihrer Bundesratsinitiative aus Bayern
Kreisverbands Rhein-Hunsrück, nun, ob ihre Äußerungen einen Maiklausur verabschieden will. verpuffte, nun fordert die
Roger Mallmenn, soll laut Wery- Straftatbestand erfüllen. Die »Es müssen Lösungen gefunden Fraktion »mit Nachdruck alle
Sims auf Facebook veröffent- Linke versuchte auf Betreiben werden, um Konflikte zwischen anderen Bundesländer auf«,
lichte Fotos von ihr als »Wichs- des Bundeschefs Martin Schir- Anwohnern und Berufsgruppen sich anzuschließen. Die Freien
vorlage« bezeichnet haben dewan, Mallmenn aus der Partei zu vermeiden oder zu bereini- Wähler profilieren sich im
(SPIEGEL 33/2022). Daraufhin zu werfen, das Ausschluss- gen.« Kirchenglocken gehörten Landtagswahlkampf als Stimme
warf die damalige Landeschefin verfahren scheiterte aber. TIL zum Klangbild vieler Dörfer, des ländlichen Raums. FRI

20 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


»Bis zum nächsten gibt. Andernfalls müssten die
Studierenden bis zum nächsten
Semester« Jahr warten. Das wäre schlimm.
Der SPD-Verkehrspolitiker SPIEGEL: Der Präsident des
Martin Kröber, 31, fordert die Verbands der Verkehrsunter-
bundesweite Einführung güns- nehmen rechnet damit, dass
tiger Deutschlandtickets für sich der Preis des Tickets bald
Studentinnen und Studenten. erhöht. Die Bundesregierung
nennt die 49 Euro einen »Ein-
SPIEGEL: Herr Kröber, warum führungspreis«. Sind da 29 Euro
kommen Studierende beim überhaupt realistisch?
Deutschlandticket Ihrer Mei- Kröber: Für eine Preiserhöhung

Sven Döring / DER SPIEGEL


nung nach zu kurz? bräuchte es eine Mehrheit im
Kröber: Weil es für sie noch kei- Bundestag. Die sehe ich aktuell
ne Variante gibt. Es gibt das nicht. Bund und Länder haben
Jobticket, das auch für Azubis sich lediglich eine Tür offen
gilt. Studierende aber können gehalten für den Fall, dass etwa
ihr bisheriges Semesterticket die Spritpreise explodieren.
allenfalls gegen einen Aufpreis SPIEGEL: Angenommen, das
zum deutschlandweit gültigen bundesweite Semesterticket »Ich hatte keine Angst«
49-Euro-Ticket hochstufen. Das wird den Studierenden zu
hingegen funktioniert nur, wenn teuer: Können sie dann ins alte
DIE AUGENZEUGIN Die Altenpflegerin Emely
der jeweilige Verkehrsverbund Semesterticket zurück?
es anbietet. Wo das noch nicht Kröber: Der erste Schritt wäre, Siebert, 24, aus Dresden filmte, wie eine Gruppe
geht, müssen die Studierenden dass die Studierendenvertre- Männer unter einer Hakenkreuzfahne feiert,
zusätzlich zu ihrem Semester- tungen sich für das Deutschland-
ticket ein reguläres Deutsch- ticketmodell entscheiden.
und alarmierte die Polizei. Nun wird sie bedroht.
landticket kaufen, um bundes- Wollen sie ihr altes Semester-
weit zu reisen. So wie bei mir ticket zurück, müssen sie »Ich bekomme gerade laufend ne Aktion ganz furchtbar, von
zu Hause in Magdeburg. mit ihrem Verkehrsverbund Nachrichten: ›Wir finden dich ihnen habe ich leider keinen
SPIEGEL: Das klingt nach einem neu verhandeln. Grundsätzlich und dann kannst du nie wie- Rückhalt. Sie haben Angst,
Durcheinander mit unterschied- wäre das möglich. der deinen Mund aufmachen dass ihnen etwas passiert, sie
lichen Zuständigkeiten bei SPIEGEL: Studierendenvertre- und deine Familie auch nicht.‹ wohnen alle in Döbeln.
Verkehrsverbünden, Ländern tungen fordern eine freiwillige In den rechten Kreisen in Weil ich den Geburtstag
und Hochschulen. Dabei sollte Lösung für alle, nach der man Dresden hat sich offenbar he- meiner Oma nicht noch weiter
das Deutschlandticket kom- entscheiden könnte, ob man rumgesprochen, wer ich bin. crashen wollte, habe ich das
plexe Strukturen vereinfachen. ins Deutschlandticket wechselt Ich gehe deswegen gerade Video erst drei Stunden später
Kröber: Das tut das Deutsch- oder nicht. Ist das machbar? nicht so gern allein auf die auf Twitter gepostet, die säch-
landticket auch in weiten Tei- Kröber: Nein, die Solidarlösung Straße. Aber ich würde immer sische Polizei dort markiert
len. Die SPD-Fraktion hat 2022 eines bundesweiten Semester- wieder so handeln, wie ich und alarmiert. Die sind auch
beschlossen, dass bestimmte tickets für 29 Euro bedeutet, es gemacht habe. Vergangene gekommen, aber die Männer
Gruppen wie Studierende, Azu- dass entweder die ganze Hoch- Woche ist meine Oma 70 hatten die Fahnen schon abge-
bis und Schüler das Ticket für schule mitmacht oder nicht. Nur geworden, und ich war mit ihr hängt. Zum Glück hatte ich
29 Euro bekommen sollen. Das wenn alle mitziehen, kann das und dem Rest der Familie in das Video. Als ich zwei Tage
macht Sinn, denn im Durch- Ticket wirklich so günstig wer- Döbeln spazieren, da kamen später bei der Polizei ausge-
schnitt zahlen Studierende auch den. Einen Ausweg für einzelne wir an ein paar Männern sagt habe, habe ich erfahren,
heute schon um die 30 Euro wird es nicht geben, ebenso vorbei, die sich bei einer Lau- dass mich jemand angezeigt
im Monat für ihr Semester- wenig wie beim Semesterticket. be betrunken haben. hat, weil ich die Gesichter
ticket, da sind 29 Euro für eine SPIEGEL: Im Koordinierungsrat Mir sind die Hakenkreuz- der Feiernden unverpixelt ins
deutschlandweit gültige Fahr- für das Deutschlandticket sitzen und die Reichsadlerfahne Netz gestellt hatte.
karte ein attraktives Angebot. Bund, Länder, kommunale aufgefallen, die sie dort hinge- Manche Leute haben mir
SPIEGEL: Warum wird dieser Spitzenverbände und Verkehrs- hängt hatten. Ich habe die geschrieben, ich hätte sie doch
Vorschlag nicht umgesetzt? unternehmen. Warum bezieht Männer gefragt, ob sie denn einfach feiern lassen sollen.
Kröber: Der Bund hat, obwohl man die Studierendenschaften wüssten, dass das strafbar So etwas erschreckt mich fast
es nicht seine Zuständigkeit ist, nicht mit ein? ist. Einer fragte mich, was ich noch mehr als die Drohungen.
den Ländern angeboten, ein Kröber: Genau das ist ein weite- denn wolle, ich solle abhauen. Zum Glück bekam ich auch
bundesweit gültiges Ticket mit res Problem. Es gibt niemanden, Ich bin bewusst allein zu viel Zuspruch. Die sächsische
1,5 Milliarden Euro der für alle Stu- den Männern hin, weil ich Sozialministerin Petra Köpping
zu unterstützen. Nun dierendenschaften dachte, eine Frau werden sie hat mich ins Ministerium
müssten sich Bund vertretungs- schon nicht schlagen. Aber eingeladen, und die Polizei
und Länder einig wer- berechtigt ist. Umso ich habe alles mit dem Smart- hat die Sache ernst genom-
den, ein solches Ti- dringender brau- phone gefilmt. men. Ich habe schon oft Fah-
cket auch für Studie- chen wir ein solches Das müssen so 15 Leute nen in Gärten gesehen, die
rende auf die Beine Gremium, damit gewesen sein, aber in dem Mo- nicht erlaubt sind, aber vielen
zu stellen. Ich wün- in solchen Fällen die ment hatte ich keine Angst. scheint das egal zu sein. Die
sche mir, dass es bis Studierenden nicht Meine Angehörigen standen gehen einfach daran vorbei.«
Photothek

zum nächsten Semes- Kröber auf der Strecke


um die Ecke und fanden mei- Aufgezeichnet von Kristin Haug
ter eine Lösung dafür bleiben. FIN, JGR

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

Julia Steinigeweg / Agentur Focus

Julia Steinigeweg / Agentur Focus


Andreas Chudowski
Regierungsspitzen Lindner, Scholz, Habeck: Der Vorwurf des Wortbruchs steht im Raum

Die Misstrauens-Koalition
REGIERUNG Ausgerechnet in den beiden wichtigsten Bereichen ist die Klimapolitik der Ampel
zum Erliegen gekommen: im Verkehr und bei den Gebäuden. Die Grünen sind
angeschlagen, die FDP verkämpft sich beim Heizungsgesetz. Löst der Kanzler die Blockade?

Volker Crone / DER SPIEGEL

Streitobjekt Wärmepumpe: Solange das Heizungsgesetz nicht kommt, werden auch andere Vorhaben blockiert

22 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


DEUTSCHLAND

s gibt einen Satz, der im Berliner Regie- Besonders bei jenen, deren Herzensthemen
E rungsviertel zuletzt gesprochen wurde
wie ein Glaubensbekenntnis, von Libe-
ralen und vor allem von Bundeskanzler Olaf
Tempo raus beim Klimaschutz
»Sollte Bundeskanzler Olaf Scholz Ihrer
schon eingetauscht wurden, im Verkehr, im
Umweltschutz, nur um das Gebäudeenergie-
gesetz durchzubekommen – nachdem es nicht
Meinung nach in der Bundesregierung stärker
Scholz. Der Satz geht so: »Kein Gesetz ver- die Führung beim Thema Klimaschutz nur einmal »geeint« war, wie es im parlamen-
lässt den Bundestag so, wie es hereingekom- übernehmen?«, in Prozent tarischen Jargon heißt. Die Koalitionspartner
men ist.« Er ist bekannt als Strucksches Ge- ja unentschieden nein hatten die Verhandlungen immer wieder neu
setz, nach Peter Struck, dem einstigen Ver- aufgemacht, am Ende wurde das Klima-
teidigungsminister der SPD. 68 14 18 schutzgesetz stark aufgeweicht, im Verkehrs-
Es geht dabei stets um jenes Projekt, das bereich hat man den Klimaschutz quasi auf-
technisch Gebäudeenergiegesetz (GEG) heißt, gegeben für diese Legislaturperiode.
draußen auf der Straße Heizungsgesetz, im »Sollte die Bundesregierung das Tempo in der »Was sollen wir Ihnen denn jetzt noch ge-
Klimaschutzpolitik Ihrer Meinung nach eher
Boulevardsound »Habecks Heiz-Hammer«, beschleunigen oder eher verlangsamen?«, ben?«, fragt verzweifelt ein Grüner. Gemeint
in den Worten des FDP-Abgeordneten Frank in Prozent ist auch der eigene Minister, der unbedingt
Schäffler »Atombombe«. dieses Heizungsgesetz wollte. Gemeint ist vor
beschleunigen
Die FDP-Minister hatten dem Gesetzent- gleichermaßen beibehalten
allem aber die FDP.
wurf im Kabinett zugestimmt, sich aber sofort verlangsamen weiß nicht Teile in der grünen Fraktion, auch die Spit-
distanziert. Man halte für grundfalsch, was ze, sind deshalb bereit, sich zu rächen. Man
man da eben beschlossen habe, das war die 32 17 50 werde, so kommt man in der Sitzung Teil-
Botschaft. Es werde im parlamentarischen nehmern zufolge überein, von nun an blo-
Verfahren noch angepasst, wie es ureigenste S Quellen: Civey-Umfragen für den SPIEGEL; Befragungszeit- ckieren, was die Liberalen wollen. Auge um
Aufgabe der Abgeordneten sei. Siehe das raum vom 23. bis 24. Mai; Stichprobengröße: mindestens 5000
Befragte; die statistische Ungenauigkeit der Umfragen liegt bei
Auge, Wärmepumpe um Sektorziele. Das
Strucksche Gesetz. bis zu 2,5 Prozentpunkten betrifft vor allem den Verkehr, wobei die Fra-
Doch dann war davon plötzlich keine Rede ge ist, wie man blockieren soll, was sich so-
mehr. Das Heizungsgesetz erreichte den Bun- Der Klimaminister ist an diesem Mittwoch- wieso nicht bewegt. Während aus dem Ver-
destag erst gar nicht, es wurde vertagt. nachmittag schwer erkältet. Aber er muss sich kehrsministerium von Volker Wissing (FDP)
Es wird nun schwer, das vermutlich meist- im Wirtschaftsausschuss den Fragen der Ab- gestreut wird, man habe Pläne vorgelegt, die
diskutierte Vorhaben der Regierung noch vor geordneten stellen. Wieder einmal geht es ausreichen, um das Klimaziel im Verkehr bis
der Sommerpause im Parlament verabschie- nicht um Klimaschutz, aber trotzdem um fast 2030 zu erreichen, ist man in Wahrheit nicht
den zu lassen. Obwohl es genau so im Koali- alles: einen Mitarbeiter, seinen Ruf, die Hand- nur uneinig, sondern weit weg davon.
tionsausschuss vereinbart worden war, nach lungsfähigkeit des Ministeriums. Am Mittwoch hätten im Kabinett die vom
quälenden 30 Stunden, harten Verhandlun- Neben Habeck sitzt Udo Philipp, der zwei- Verkehrsministerium vorbereiteten Änderun-
gen, schmerzhaften Kompromissen. te Staatssekretär aus seinem Haus, den die gen des Straßenverkehrsrechts beschlossen
Die Grünen reagierten eiskalt. Klimaminis- Opposition abschießen will. Die beiden müs- werden sollen. Doch schon vor einer Woche
ter Robert Habeck sagte: »Ich nehme zur sen sich rechtfertigen für die Besetzung eines hieß es, der Entwurf sei nicht zustimmungs-
Kenntnis, dass die FDP sich nicht an das ge- Start-up-Beirats, für die Aktienfonds und Fir- fähig. Die Grundidee ist simpel: Kommunen
gebene Wort hält an dieser Stelle.« Wortbruch menbeteiligungen seines Spitzenbeamten. sollen an mehr Straßen als bisher Tempo 30
also, sehr viel Übleres kann man dem Koali- Habeck sagt: »Dienstliches Handeln darf verhängen können. Dazu könnte man zum
tionspartner nicht vorwerfen. Im Grunde nicht von einem privaten Interesse geleitet Beispiel Klimaschutz als Ziel für den Verkehr
heißt es: Ihr seid gar keine Partner mehr. werden.« Für Philipp könne er das verneinen. verankern. Das aber will das Verkehrsminis-
Öffentlich wurde die Entscheidung, sich Vor allem die Union ist nicht überzeugt. terium nicht. Dessen Vorschläge halten die
nicht wie geplant in dieser Woche mit dem Sie fragt und bohrt und zweifelt. Es ist ein Grünen wiederum für völlig unzureichend.
Gesetz zu befassen, am Dienstag nach der Tribunal und womöglich nicht das letzte. Zu- Ähnlich sieht es bei der Gesetzesnovelle
Runde der Parlamentarischen Geschäftsfüh- mal CDU und CSU bereits schriftlich nach- für Carsharing-Autos aus, mit dem die Car-
rer der Fraktionen. Gefallen war sie schon gelegt haben. Dem SPIEGEL liegt eine weite- sharing-Flotten bis 2026 CO2-neutral werden
vorher, beim Frühstück der Fraktionsvorsit- re Kleine Anfrage an das Habeck-Ministerium sollen. Oder dem Planungsbeschleunigungs-
zenden. Denn das Thema ist hochpolitisch vor, in der die Unionsfraktion 64 Fragen zu gesetz, mit dem Autobahnen und Bahnstre-
und wirft grundsätzliche Fragen auf: Kann »Personal- und Complianceangelegenheiten cken schneller ausgebaut und saniert werden
diese Koalition noch zusammenarbeiten? Und im Bundesministerium für Wirtschaft und sollen. Auch eine Neuregelung der Lkw-Maut
war es das jetzt mit Klimaschutz, wenn man Klimaschutz« formuliert, es ist bereits die ist bis auf Weiteres vertagt. Die jährlichen
gerade in den wichtigen Bereichen Verkehr zweite. Im Ministerium stöhnt man schon, Mehreinnahmen von bis zu sieben Milliarden
und Gebäude nicht vorankommt? dass man nur noch mit der Beantwortung von Euro fehlen der Bahn.
Wenn es doch noch weitergehen soll, dann Fragenkatalogen beschäftigt sei. Die Beamten sind zunehmend frustriert.
müssten sich wohl andere als die Grünen be- Der neue Energie-Staatssekretär muss sich »So eine Situation habe ich selbst in den blei-
wegen. Die FDP, die womöglich einsehen unterdessen erst einarbeiten. Habeck kennt ernen Zeiten der Großen Koalition nicht er-
muss, dass sie es übertrieben hat mit ihren Philipp Nimmermann noch von früher, er war lebt«, sagt einer von Wissings Leuten. Und
Querschüssen. Oder der Bundeskanzler, der Staatssekretär in Schleswig-Holstein, dann in im Wirtschaftsministerium flucht man über
vor der Erkenntnis steht, dass ihm sein Vize Hessen. Nur mit Klimaschutz und Energie die Winkelzüge im Verkehrsministerium.
die Klimabilanz nicht retten wird, von der das war er bislang eher wenig befasst. Alles keine Unter anderen Umständen würde eine Ko-
Gelingen seiner Kanzlerschaft mit abhängt. idealen Voraussetzungen in einer politisch so alition angesichts dieser Lage einfach etwas
Denn die Grünen, die sich bislang vor al- heiklen Phase. Zeit verstreichen lassen. Dann wartet man
lem für Klimapolitik verantwortlich gefühlt Hinge die Klimapolitik gerade nur an Ha- eben, bis man alles geeint hat, und verabschie-
haben, sind angezählt. Habeck hat mit Staats- beck und seiner Partei, sie wäre wohl zum det dann ein riesiges Paket. Dann geht das
sekretär Patrick Graichen seinen wichtigsten Scheitern verurteilt. Heizungsgesetz eben erst im Herbst durchs
Klimaschutzmann verloren. Ein weiterer In der Grünenfraktion entlud sich am Parlament. Wo ist das Problem?
Staatssekretär wird gerade unter Beschuss Dienstagnachmittag, wenige Stunden nach Das Problem ist das Misstrauen.
genommen. Und das Heizungsgesetz, Ha- der öffentlichen Verkündung der vertagten Dass ein Gesetzentwurf nicht in den Bun-
becks vielleicht größtes Projekt, ebenfalls. Debatte im Plenum, die Wut der Enttäuschten. destag eingebracht wird, obwohl er durchs

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DEUTSCHLAND

Kabinett ist, ist ungewöhnlich, aber nicht »Innovationskraft Europas« sprach er, von
ohne Beispiel. Koalitionen sind daran nicht Milliardeninvestitionen. Einer seiner Nach­
zerbrochen. Schwerer wiegt, dass die Partner folger, sagte Scholz, werde »Deutschland als
sich nicht mehr darauf verlassen, dass das einen der ersten klimaneutralen Industrie­
Wort des anderen gilt. Wortbruch, Habeck staaten der Welt präsentieren«.
hat es ausgesprochen, andere Koalitionäre Fragt man im Umfeld des Kanzlers nach,
sehen es genauso. Schon lange fehle in der bekommt man Erfolge im Stakkato erzählt.
Regierung der gemeinsame Geist, das Lager­ Allerdings ist es so: Fragt man im Umfeld des
feuer, an dem man sich zusammensetzt, wie Kanzlers nach, hat der Kanzler grundsätzlich
es einer der Koalitionäre formuliert. alles im Griff.
Was, fragen sich Grüne und zunehmend Offensichtlich aber dringt er mit der Er­
auch Sozialdemokraten, wenn eine Verschie­ zählung eines neuen Wirtschaftswunders
bung des Heizungsgesetzes in den Herbst nur nicht recht durch, weder in der Koalition noch
bedeutet, dass es dann in die Landtagswahl­ in der Öffentlichkeit. Joe Biden, in Scholz’

Dmitrij Leltschuk
kämpfe in Bayern und Hessen gerät und noch Darstellung so etwas wie sein Bruder im Geis­
stärker parteipolitisch aufgeladen wird? Und te, hat in den USA mit dem Inflation Reduc­
was, wenn es am Ende gar nicht darum geht, tion Act ein Milliardenpaket durchgesetzt,
eine gute Lösung zu finden, sondern darum, nach monatelanger Totalblockade und mit
Neuer Staatssekretär Nimmermann
sie so lange zu verschleppen, bis sie scheitert? beachtlichem Erfolg. Damit hat er Bewegung
Das ist der Verdacht, dem sich die FDP 101 Fragen zugegangen, und offenbar war das in der Wirtschaft angestoßen, sogar so etwas
gerade ausgesetzt sieht. Dass sie jene Taktik auch nie geplant gewesen. Am Donnerstag wie Hoffnung auf eine gute Zukunft geweckt.
nutzt, die Klimawandelleugner perfektioniert reichten die Berichterstatter doch noch einmal Warum funktioniert es in Deutschland nicht?
haben: Delay is the new denial, Verzögern ist 77 Fragen nach, der Druck war zu groß ge­ Ganz sicher fehlt das Geld. Im Kanzleramt
das neue Leugnen. worden. Die FDP musste das Chaos kleinlaut blickt man auf den Milliardenwumms der US­
In der FDP weist man diesen Vorwurf em­ erklären, sie hatte sich unrettbar in Unstim­ Regierung mit Neid – aber auch mit Angst.
pört zurück. Es gibt in der Fraktion zwar eini­ migkeiten verstrickt. Die Sorge vor Abwanderung deutscher Unter­
ge, bei denen Zweifel bestehen, wie viel Klima­ Bei den Koalitionspartnern weckt das die nehmen ist groß. Man überlegt, sie mit einem
schutz sie wirklich wollen. Die Funktionäre Hoffnung, die FDP werde nun etwas verhand­ rabattierten Industriestrompreis zu locken,
beteuern aber, ihnen gehe es nur um inhalt­ lungsbereiter. Fraktionschef Christian Dürr viel mehr ist kaum möglich. Der Klima­ und
liche Verbesserung. »Das Gesetz in dieser immerhin rief seine Leute diese Woche zu Transformationsfonds sei leer, heißt es aus
Form wird keine Mehrheit finden. Aber es mehr Kompromissbereitschaft auf und sagte Kabinettskreisen.
wird ein Gesetz zum klimaneutralen Heizen öffentlich, er sei zuversichtlich, »einigerma­ Vielleicht fehlt es aber auch an politischer
geben, das steht außer Frage«, sagt Fraktions­ ßen zeitnah« substanzielle Änderungen hin­ Entschlossenheit und Risikobereitschaft. Lan­
vize Lukas Köhler. zubekommen. Es sind Schritte, immerhin. ge hatte sich der Kanzler in der Heizungs­
Das vielleicht größte Problem der FDP: In der Fraktion allerdings ist die Stimmung frage öffentlich zurückgehalten. Es schien ihm
Sie spricht nicht mit einer Stimme. Das zer­ schlecht, Abgeordnete reagieren gereizt auf und der SPD ganz recht, dass sich die Kritik
stört die eigene Glaubwürdigkeit, denn selbst das Thema. Derzeit gleiche der Entwurf auf Habeck fokussierte, obwohl die SPD­Bau­
wenn alle guten Willens sein sollten, ist das »mehr dem Grünen­Wahlprogramm als dem, ministerin Klara Geywitz den Gesetzentwurf
Ergebnis von bewusster Verzögerung kaum was im Koalitionsvertrag und im Koalitions­ mit erarbeitet hatte. Dann aber sagte Scholz
zu unterscheiden. ausschuss vereinbart wurde«, sagt Kruse. Es auf dem Petersberger Klimadialog, alte Hei­
Köhler etwa wirbt für einen CO2­Preis, sei einfach ein »schlechtes Gesetz«, sagt ein zungen müsse man nach und nach durch kli­
auch wenn das extrem teuren Sprit bedeuten anderer Abgeordneter. mafreundliche ersetzen: »Diese Wahrheit
sollte. So ist es Beschlusslage. Zugleich aber Die Grünen wollen sich offenbar auf die gehört ausgesprochen.«
sind nicht nur die Anhänger der Partei skep­ FDP nicht verlassen. Der Kanzler müsse sich Mit einem Mal entfaltete die SPD auffäl­
tisch, sondern auch andere wichtige Liberale »zum Anwalt des Verfahrens« machen, ver­ lige Aktivität. Die FDP verweigere sich der
überzeugt, dass man hohe Preise unbedingt langen sie. Aber auch in der SPD dämmert Kommunikation, gehe teilweise nicht mal
verhindern müsse. Beides kann man vertre­ es, dass der fortgesetzte Stillstand in entschei­ mehr ans Telefon, heißt es nun aus den Reihen
ten – nur eben nicht gleichzeitig. denden Klimafragen nicht nur für die Grünen der Sozialdemokraten. Die interne Forderung
Das von Parteichef Christian Lindner ge­ ein Problem ist. Sondern für die ganze Koali­ an die Spitze: Man müsse die FDP jetzt »aus
führte Finanzministerium feierte sich im April tion. Und damit vor allem auch für Scholz. der Schmollecke herausholen«.
in einem Papier, dass es gelungen sei, im Es ist nicht so, dass der Kanzler keine Vi­ Wiebke Esdar, Sprecherin der Parlamen­
Heizungsgesetz »Technologieoffenheit, Wirt­ sion hätte, was den Schutz des Klimas anbe­ tarischen Linken in der SPD­Fraktion, sagte:
schaftlichkeit und soziale Ausgewogenheit als langt. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Da­ »Unser Ziel bleibt, das Gesetz vor der Som­
entscheidende Leitplanken für den Klima­ vos im Januar gab er einen kleinen Einblick merpause zu beschließen, denn die Menschen
schutz im Gebäudebereich zu verankern«. in seine Gedankenwelt. »Wir nehmen die brauchen endlich Klarheit.« Noch deutlicher
Der energiepolitische Sprecher der Fraktion, Dekarbonisierung unserer Industrie ent­ wird Parteichef Lars Klingbeil im SPIEGEL ­
Michael Kruse, dagegen twitterte, von »den schlossen in Angriff«, sagte er da. Von der Interview: »Das Gesetz wird bis zur Sommer­
170 Seiten gehören 120 in die Tonne«. pause verabschiedet und zum 1. Januar in
Dann war da das Strucksche Gesetz, die Kraft treten« (siehe Seite 26).
Ansage, man werde das Heizungsgesetz im Kaum jemand glaubt, dass er so eine An­
Bundestag verändern – bis man verhinderte, sage wagen würde, wüsste er nicht den Kanz­
dass sich der Bundestag damit befasst. »Unser Ziel bleibt, das Gesetz ler hinter sich. Hinter den Kulissen dränge
Und schließlich sind da noch die 101 Fragen der auf eine schnelle Lösung, ist zu hören.
der FDP, die das Klimaministerium angeblich vor der Sommerpause zu Die Zeit läuft: Bis zur Sommerpause kommen
erst beantworten müsse, wie vor einiger Zeit beschließen, die Menschen nur noch drei reguläre Sitzungswochen.
die »Bild« berichtete. FDP­Generalsekretär
Bijan Djir­Sarai wiederholte das eine Woche brauchen Klarheit.« Florian Gathmann, Martin Knobbe,
Serafin Reiber, Jonas Schaible, Christian Teevs,
später. Dabei waren dem Ministerium nie Wiebke Esdar, SPD-Politikerin Gerald Traufetter, Severin Weiland n

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DEUTSCHLAND

JUSTIZ

Mit der Brechstange


Ist die »Letzte Generation« eine kriminelle Vereinigung? Mit einer Großrazzia gehen Fahnder diesem
Verdacht nach. Sie wollen so auch herausfinden, wie sich die Klimakleber finanzieren.

Carla Hinrichs, 26, ist angefasst. In einem Für die Bayern hingegen geht von der line zu schaffen machten: der Transalpi-
kurzen Video, das die »Letzte Genera- Gruppe eine »erhebliche Gefährdung der nen Ölleitung, die von Triest nach Lenting
tion« auf Twitter gepostet hat, spricht sie öffentlichen Sicherheit aus«. Es ist exakt bei Ingolstadt führt. Laut den Ermittlern
mit bebender Stimme. »Man kennt es jene Formulierung, die Union und SPD in durchschnitten die Männer einen Zaun
nur aus dem Film. Plötzlich wacht man einer Begründung für ein Gesetz gewählt und drangen in die Schiebestation der
auf, weil gegen deine Tür gedonnert hatten, mit dem der Bundestag 2017 den Pipeline ein. Zwar sei ihr Versuch misslun-
wird. Und plötzlich steht ein Polizist mit Paragrafen zur kriminellen Vereinigung gen, durch Herumdrücken auf Knöpfen
schusssicherer Weste vor deinem Bett.« überarbeitet hatte. den Öldurchfluss zu stoppen – ihre Aktion
Hinrichs ist eine der führenden Figuren Im Durchsuchungsbeschluss listet das habe aber einen Sicherheitsalarm ausge-
der Klimaaktivisten der »Letzten Genera- Amtsgericht München auf zwei Seiten löst. Dadurch sei der Pipelinebetrieb für
tion«. Die Wohnungsdurchsuchung bei ihr Straftaten auf, die der »Letzten Genera- fünf Stunden unterbrochen worden.
am Mittwochmorgen ist für sie ein Ein- tion« zugeschrieben werden. Darunter et- Großes Augenmerk legen die Fahnder
schüchterungsmanöver des Staates. »Sie liche Fälle, in denen sich Aktivisten auf auf die Finanzierung der »Letzten Gene-
versuchen, mir Angst zu machen«, sagt Straßen in Stuttgart, Frankfurt am Main ration«. Mindestens 1.413.086,07 Euro an
Hinrichs, »weil wir jeden Tag allen vor oder Hamburg festklebten, um den Auto- Spenden hat die Gruppe seit Anfang 2022
Augen führen, dass diese Regierung gera- verkehr lahmzulegen. Oder sich, wie laut Justizakte eingeworben – und soll
de die Verfassung bricht.« Gemeint ist, im Sommer 2022, aus Protest in einem damit Aktivistinnen und Aktivisten das
dass die Politik aus Sicht der Aktivisten Museum in Dresden an die »Sixtinische Begehen von Straftaten ermöglicht haben.
beim Klimaschutz viel zu lasch handelt. Madonna« von Raffael klebten und dabei Auch Gerichtskosten und Geldstrafen sei-
Die bayerische Justiz zeichnet ein völ- den Rahmen des Gemäldes beschädigten. en damit beglichen worden.
lig anderes Bild der »Letzten Genera- Oder, wie im vergangenen Winter, auf das Zunächst liefen die Spenden über den
tion«. Es ist das einer straff organisierten Gelände der Flughäfen Berlin-Branden- Verein Elinor Treuhand e.V. Dabei han-
Truppe mit Hunderten Aktivistinnen und burg und München stürmten – ein Flug- delt es sich um eine vom Wirtschaftsminis-
Aktivsten, die eine »stetig weitere Eskala- zeug mit einem Notfallpatienten konnte terium geförderte Onlineplattform, die
tion« propagiere – und »immer neue erst mit 20 Minuten Verspätung landen. »Gruppenkonten« anbietet – eine Art di-
Arten von Straftaten« begehe. So steht es Mehrere Hundert Personen hätten sich gitalen Sammeltopf für politische Initiati-
im Durchsuchungsbeschluss, den die schon an Straftaten der »Letzten Genera- ven, Selbsthilfegruppen oder Sportmann-
Generalstaatsanwaltschaft München beim tion« beteiligt, heißt es im Durchsuchungs- schaften. Im März beendete Elinor die Zu-
Amtsgericht erwirkt hat. beschluss. Geldstrafen oder Polizei- sammenarbeit mit der »Letzten Genera-
Hinrichs und vier weiteren Köpfen der gewahrsam beeindruckten sie wenig, viel- tion«. Danach verwaltete eine gemeinnüt-
»Letzten Generation« wird darin die mehr sei in Teilen der Gruppe »eine Art zige GmbH für »Klima- und Umweltauf-
Bildung einer kriminellen Vereinigung Märtyrerhaltung« zu beobachten. In klärung« (KUEÖ) das Spendenkonto der
vorgeworfen. Es ist ein schwerwiegender Schreiben an Bürgermeister hätten Akti- Gruppe. Bei ihrer Razzia durchsuchten
Vorwurf, der den Fahndern weitreichende visten eine »maximale Störung der öffent- die Ermittler auch Räume von Verant-
Schritte erlauben kann, um das Innere lichen Ordnung« angedroht, falls ihre wortlichen der beiden Organisationen –
der Gruppe auszuforschen. Auf sicherge- Forderungen nicht unterstützt würden. gegen sie wird wegen Unterstützung einer
stellten Laptops, Handys und USB-Sticks Besonders heben die bayerischen Fahn- kriminellen Vereinigung ermittelt. Ein be-
suchen die Fahnder auch nach etwaigen der eine Aktion von zwei Aktivisten her- merkenswerter Vorgang.
Hinweisen auf »linksradikales, verfas- vor, die sich im April 2022 an einer Pipe- Elinor wies die Vorwürfe über einen
sungswidriges Gedankengut«. Gleichzei- Anwalt zurück. Der Verein stelle wie an-
tig nahmen die Behörden die Website dere digitale Plattformen »lediglich eine
der »Letzten Generation« vom Netz und Software zur Verfügung, ohne sich mit
beschlagnahmten Konten. den Zielen und Handlungen der Vertrags-
Der Rechtsstaat greift zur Brechstange. partner gemein zu machen«. Der Dienst
Ob der Verdacht gerechtfertigt ist oder werde von »hunderten Gruppen« legal
die Ermittler mit der Razzia maßlos über- genutzt. Die Geschäftsführerin von KUEÖ
zogen haben, müssen am Ende Gerichte sagte auf Twitter, es sei »absurd, was ge-
entscheiden. Fest steht schon jetzt: Mit rade passiert«. Sie sehe sich »absolut nicht
dem Vorgehen spitzt sich die Konfronta- als irgendeine Kriminelle an«.
tion zwischen Staat und Aktivisten zu. Auch Ingo Blechschmidt, einer der Be-
Andere Staatsanwaltschaften hatten die schuldigten der »Letzten Generation«,
»Letzte Generation« zurückhaltender be- weist den Vorwurf, er und seine Mitstrei-
Christoph Soeder / dpa

wertet. Die Berliner Ermittler etwa befan- ter hätten eine kriminelle Vereinigung
den: Was die Klimakleber machten, sei gebildet, »vehement« zurück: »Die wirk-
zwar ein »dauerhaftes Lästigwerden«. liche kriminelle Vereinigung sitzt in Ber-
Aber für eine Einstufung als kriminelle lin.« Nach einer Deeskalation zwischen
Vereinigung fehle es an einer »gewissen Staat und Klimaklebern klingt das nicht.
Erheblichkeit« der Straftaten. Polizisten bei Durchsuchung in Berlin Wolf Wiedmann-Schmidt n

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DEUTSCHLAND

wurde diskutiert, wann wir unabhängig


von fossilen Energien sein wollen: 2050,
2045 oder sogar noch früher. Jetzt wird
erstmals nicht mehr über abstrakte Jahres-
zahlen, sondern über den konkreten Weg

»Es gibt keinen geredet. Und da sage ich, es ist falsch, in der
Debatte mit dem Klimaschutz vorzupreschen
und das Soziale quasi hinterherzuwerfen.

1a- oder 1b-Partner« Wir müssen von Anfang an eine Antwort


geben, wie alle dabei mitkommen und sich
sicher fühlen.
SPIEGEL: Die FDP hat beim Heizungsgesetz
KOALITION SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil, 45, über Fehler beim 101 Fragen an Habeck. Scheitert die Wärme-
wende?
Heizungsgesetz, den Dauerstreit in der Ampel und Klingbeil: Es gibt gar nicht die Möglichkeit,
seine Überzeugung, dass der Staat wieder stärker werden muss diese Wärmewende abzubrechen. Deutsch-
land soll bis 2045 klimaneutral werden, raus
aus den fossilen Energien. Nicht zum Selbst-
SPIEGEL: Herr Klingbeil, törnt Sie Politik der- ambitionierten Ziele wie die Grünen. Für uns zweck, sondern damit die nächste Generation
zeit ab? als SPD ist wichtig, dass dabei die soziale Ab- auf unserem Planeten noch gut leben kann.
Klingbeil: Es wäre eine Lüge, wenn ich jetzt federung mitgedacht wird. Damit grenzen wir SPIEGEL: Heißt?
direkt Nein sagen würde. Natürlich ärgere ich uns nicht von irgendwem ab, das ist schlicht Klingbeil: Das Gesetz wird bis zur Sommer-
mich manchmal. Aber meist bin ich froh, dass unsere Grundüberzeugung. pause verabschiedet und zum 1. Januar in
ich mein Hobby zum Beruf machen konnte SPIEGEL: Für den grünen Wirtschaftsminister Kraft treten.
und mitentscheide. Das ist ein Privileg. Robert Habeck läuft es gerade nicht gut, beim SPIEGEL: Die FDP lehnt das bisher ab. Wie
SPIEGEL: Sie wirkten zuletzt zunehmend ge- Heizungsgesetz hakt es. Was ist mit dem eins- kann ein Kompromiss aussehen?
nervt von den Streitereien in der Ampelkoali- tigen Star im Kabinett passiert? Klingbeil: Das muss die FDP jetzt beantwor-
tion. Was ist da los? Klingbeil: Die Wärmewende ist ein gemein- ten.
Klingbeil: Politik ist dann gut, wenn Konflik- sames Projekt, ich mache das nicht an Einzel- SPIEGEL: Ihr ungeliebter Vorgänger Gerhard
te intern geklärt werden und man nach außen nen fest. Aber die Kommunikation war nicht Schröder hat sinngemäß gesagt, es gebe keine
zeigt, dass man hart an den besten Lösungen optimal. Und der öffentliche Streit hat die linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern
für die Bürgerinnen und Bürger arbeitet. Wir Bevölkerung derart verunsichert, wie ich nur gute oder schlechte. Sie dagegen sprechen
büßen Vertrauen ein, wenn wir uns auf offe- es bei wenigen Gesetzentwürfen zuvor erlebt plötzlich wieder von »sozialdemokratischer
ner Bühne ständig zoffen. Beim Heizungs- habe. Es geht jetzt darum, die Debatte zu Wirtschaftspolitik«. Warum?
gesetz gehen wir jetzt in die dritte Runde des versachlichen und Vertrauen zurückzuge- Klingbeil: Der Neoliberalismus ist tot. Wir
öffentlichen Streits. Wir sollten uns alle zu- winnen. sehen die Auswirkungen dieser Politik, wenn
sammenreißen und schnell zu einem Ergebnis SPIEGEL: Ist es aus Ihrer Sicht wirklich nur Züge nicht pünktlich sind oder ausfallen,
kommen. ein Kommunikationsproblem? Oder gab es wenn Lieferketten zusammenbrechen oder
SPIEGEL: Vor ihrem Start haben die Ampel- nicht auch handwerkliche Fehler? man in vielen Ecken des Landes keinen
parteien einen anderen Umgang, eine andere Klingbeil: Es geht um die große Frage: Wie Handyempfang hat. Diese Denke, alles
Kultur versprochen. War das naiv? heizen wir künftig? Diese Frage ist an den dem Markt zu überlassen, hat nicht funktio-
Klingbeil: Die Zeiten haben sich verändert. Küchentischen der Republik angekommen, niert. Deshalb stehen wir jetzt vor einem
Seit dem ersten Tag kämpft diese Regierung alle reden darüber. Es ändert sich da gerade Umbruch. Und es ist mein Anspruch, dass
mit unfassbaren Krisen: dem Krieg in etwas in der Klimadebatte. Die letzten Jahre wir diese neue Zeit sozialdemokratisch ge-
der Ukraine, der Inflation, der Energiekrise. stalten.
Wir verhandeln in der Ampel große ge- SPIEGEL: Im Klartext: Sie wollen wieder mehr
sellschaftliche Konflikte, die wir zum Teil Schrumpfende Volkspartei Staat.
im Koalitionsvertrag noch nicht vorher- Klingbeil: Unbedingt. In der Pandemie hat
sehen konnten. Wir haben auch schon viele SPD-Ergebnisse bei Bundestagswahlen, sich gezeigt, wie etwa reines Profitstreben im
Zweitstimmenanteile in Prozent
wichtige Entscheidungen getroffen, aber Gesundheitssystem zu Engpässen geführt hat.
trotzdem dauern mir manche Dinge einfach Denken Sie zum Beispiel an den Masken-
zu lange. 50 mangel. In China entwickelt sich die Wirt-
SPIEGEL: Wer ist für Sie der schwierigere Part- 45,8 schaft unter einem radikalen Staatskapitalis-
ner, FDP oder Grüne? 40,9 mus. In den USA, dem Land des freien Mark-
40
Klingbeil: Es gibt keinen 1a- oder 1b-Partner. tes, nimmt Joe Biden 450 Milliarden Dollar
So funktioniert eine Koalition nicht. in die Hand, um die Industrie aus Europa
SPIEGEL: Zu Beginn haben viele erwartet: Das rüberzulocken. Das ist staatlich gelenkte In-
30 29,2
wird ein Bündnis Rot-Grün plus FDP. Mittler- 25,7 dustriepolitik. Ich will weder das chinesische
weile klagen insbesondere Grüne: Das ist Rot- noch das amerikanische Modell, aber wir
Gelb plus Grüne. Können Sie das nachvoll- 20 brauchen ein neues Zusammenspiel von Staat
ziehen? und Markt. Ein aktiver Staat, der die Rahmen-
Klingbeil: Das stimmt einfach nicht. Diese Er- Bei der letzten Wahl kam die SPD bedingungen für eine funktionierende Wirt-
zählung hängt ja mit dem letzten Koalitions- 10 wieder etwas nach vorne, aber liegt schaft setzt, zum Beispiel mit einem Industrie-
ausschuss zusammen. Ja, wir sind als SPD damit 20 Prozentpunkte unter ihrem strompreis.
dafür, Straßen zu bauen. Vor allem Straßen, Spitzenergebnis von 1972. SPIEGEL: Der wäre eine riesige Subvention.
die eh längst verabredet sind und wo es nur 0 FDP-Finanzminister Christian Lindner da-
um beschleunigte Verfahren geht. Und trotz- 1949 1972 1990 1998 2021 gegen will im Haushalt massiv kürzen. Passt
dem haben wir beim Klimaschutz die gleichen S Quelle: Bundestag; ab 1990 Gesamtdeutschland nicht, oder?

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DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Entschuldigung, da geht aber nicht


viel. Finanzminister Lindner lehnt den von
Ihnen propagierten ermäßigten Industrie-
strompreis ab, der Kanzler hält sich bedeckt.
Klingbeil: In den vergangenen Monaten sind
mehrfach Vorschläge aus der SPD erst mal als
unrealistisch abgetan worden. Denken Sie nur
an die Übergewinnsteuer oder die Gas- und
Strompreisbremse. Beides wurde später von
der Koalition beschlossen. Wer jetzt einen
Industriestrompreis ablehnt, muss die Frage
beantworten, ob er bereit ist, dass Industrie-
arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen.
Ich bin dazu nicht bereit.
SPIEGEL: Mehr Staat, höhere Steuern, Sub-
ventionen für die Industrie – ist das auch der
Versuch, bei den bevorstehenden Wahlen in
Bayern und Hessen zu punkten, wo die SPD
bislang nicht gut aufgestellt ist?
Klingbeil: Warten Sie mal ab, die Wahlen sind
im Herbst.
SPIEGEL: In Bayern sieht es schon wirklich
schlecht aus, da kämpfen Sie mit der Zehn-
prozentmarke.
Klingbeil: Wenn ich in Bayern unterwegs bin,
vernehme ich große Zweifel an der CSU. Mit
seiner Energiepolitik ist Markus Söder ein
Risiko für den Industriestandort. Er hat zig
Pirouetten gedreht, sich zuletzt auf die Atom-
energie verlassen und den Ausbau der Wind-
energie blockiert.
SPIEGEL: Abseits von Wahlkämpfen funktio-
niert es bei Ihnen aber wieder gut mit der
Union. In der Hauptstadt koalieren Sie neuer-
dings miteinander. Finden Sie das Comeback
der GroKo nicht ein wenig schräg?
Klingbeil: Aus dem Wahlergebnis in Berlin
würde ich kein Comeback der Großen Koali-
tion ableiten.
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Ihre Parteifreundin Franziska Giffey


hatte zwei Optionen, Rot-Grün-Rot oder
GroKo, sie hat sich für die CDU entschieden.
Das nennen wir ein Comeback.
Klingbeil: Die neue Regierung in Berlin ist die
Parteichef Klingbeil: »Markus Söder ist ein Risiko für den Industriestandort« Folge eines Wahlergebnisses, das für uns nicht
gut war. Sie können sicher sein: Niemand in
Klingbeil: Für einen zeitlich begrenzten In- Klingbeil: Ich treffe sogar viele Unternehme- der SPD trauert der Großen Koalition auf
dustriestrompreis stünden aus meiner Sicht rinnen und Unternehmer, die bereit sind, Bundesebene nach.
Mittel aus dem Wirtschafts- und Stabilisie- mehr zu zahlen. In den kommenden Jahren SPIEGEL: In Ostdeutschland ist die Demokra-
rungsfonds zur Verfügung. Wir stehen vor werden riesige Summen ohne Gegenleistung tie in der Krise und die AfD laut Umfragen
einer Phase von 10 bis 15 Jahren der Trans- vererbt, da stellt sich doch die Gerechtigkeits- auf dem Weg zur stärksten Kraft, im kom-
formation. Es geht darum, ob Deutschland frage. Der Ausbau der Infrastruktur und die menden Jahr wird in Thüringen, Brandenburg
ein starkes Land bleibt oder ob wir zuschau- klimaneutrale Transformation der Wirtschaft und Sachsen gewählt. Macht Ihnen diese neue
en, wie die USA, China und andere Player werden Geld kosten. Um das zu bezahlen, Stärke der Rechtspopulisten und Rechtsradi-
wie Indien oder Indonesien uns industrie- müssen starke Schultern mehr tragen. Meine kalen Sorgen?
politisch den Rang ablaufen. Und natürlich Partei wird im Dezember ein entsprechendes Klingbeil: Natürlich besorgt mich das. Bisher
muss der Staat deshalb investieren in Infra- Konzept vorlegen. haben sich die Umfragewerte in Wahlergeb-
struktur, in digitale Netze oder in Energie- SPIEGEL: Wer verkörpert diese Politik für die nissen noch nicht bestätigt. Bei der letzten
und Wasserstoffnetze der Zukunft. SPD? Den Wirtschafts- und den Finanzminis- Bundestagswahl hat die SPD in den ostdeut-
SPIEGEL: Noch mal: Wie wollen Sie das finan- ter stellen nun mal Ihre Koalitionspartner. schen Ländern die meisten Wahlkreise ge-
zieren? Klingbeil: Sie sprechen gerade mit dem SPD- wonnen. Das beste Mittel, um die AfD wieder
Klingbeil: Dafür stellen sich gerade in diesen Vorsitzenden. Und ich rede über unsere so- kleinzubekommen, ist eine Politik, die den
Umbruchzeiten auch Verteilungsfragen neu. zialdemokratische Vision von aktiver Wirt- Leuten zeigt: Wir sehen euch, wir kümmern
Wir müssen sicherstellen, dass der Staat seine schaftspolitik, die Industriearbeitsplätze in uns um eure Probleme, wir haben Respekt
Aufgaben finanzieren kann. den Mittelpunkt rückt, die Klimaschutz als vor euer Lebensleistung. Ich bin davon über-
SPIEGEL: Meinen Sie damit, dass die Reichen Chance sieht. Ich beschränke mich nicht da- zeugt: Dieses Land hat einen festen, demo-
und Besserverdienenden in diesem Land stär- rauf zu sagen, was in der aktuellen Regierung kratischen Kern in der Mitte.
ker besteuert werden sollten? geht und was nicht geht. Interview: Sebastian Fischer, Christian Teevs n

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DEUTSCHLAND

allein da. Zwar haben sich mittlerweile meh-


rere Nato-Länder bereit erklärt, ukrainische
Piloten auf der F-16 auszubilden, auch der
deutsche Verteidigungsminister Boris Pisto-
rius lässt prüfen, wie man logistisch helfen
könnte. Doch mit Lieferzusagen wagt sich in
Europa bislang niemand aus der Deckung,
obwohl außer Belgien die Niederlande, Däne-
mark, Griechenland, Polen, Portugal und Ru-
mänien über F-16-Bestände verfügen. Doch
solange die USA nicht den ersten Schritt tun,
wird sich kein europäisches Land rühren – das
sei beim Treffen der EU-Verteidigungsminis-
ter diese Woche in Brüssel erneut klar gewor-
den, berichten Diplomaten.
Die Bundesregierung hält sich bei dem
Thema zurück. Nachdem Bundeskanzler Olaf
Scholz in Hiroshima von der Ankündigung
der USA überrascht worden war, mühte er
sich öffentlich, möglichst gelassen zu wirken.
Da die Bundeswehr nicht über F-16-Kampf-
jets verfüge, so die Linie des Kanzlers, kon-

Mindaugas Kulbis / dpa / AP


zentriere sich Berlin vorerst weiter auf die
Lieferung von Artillerie und Flugabwehrsys-
F-16-Kampfflugzeuge der
rumänischen und der temen. Erst Mitte Mai, anlässlich des Besuchs
portugiesischen Luftwaffe Selenskyjs in Berlin, hatte er ein 2,7 Milliar-
bei Nato-Mission im den Euro schweres Waffenpaket für die Ukra-
Baltikum ine verkündet. Folglich stehe man nicht unter
Druck, weitere Zusagen zu machen oder gar
die Lieferung von Kampfjets zu unterstützen.
Spätestens beim Nato-Gipfel in Litauen im
Juli wird das Thema allerdings wieder auf den
Tisch kommen. Dass Deutschland dort völlig
blank dastehen will, ist schwer vorstellbar.

Europas Jetlag Hinter den Kulissen wird deshalb diskutiert,


wie man das F-16-Projekt flankieren könnte.
Klar ist, dass Berlin keinerlei Einwände er-
heben würde, wenn die USA ukrainische Pi-
VERTEIDIGUNG Die Ukraine wirbt seit Monaten um F-16-Flugzeuge, die loten auf US-Basen wie in Spangdahlem an
F-16-Jets ausbilden wollen. Von Militärs heißt
USA und andere Länder haben jetzt zugesagt, Piloten auszubilden. es allerdings einschränkend, dass die USA die
Aber liefern sie demnächst tatsächlich Kampfjets aus – und vor allem: Flugausbildung vermutlich im eigenen Land
Würde das überhaupt etwas bringen? durchführen würden, allein wegen der Enge
des Luftraums eigne sich Deutschland nur
bedingt für Trainingsmanöver.
as neue Symbol ukrainischer Stärke die neue Koalition nun helfen will, blieb bis- Der Luftwaffen-Inspekteur Ingo Gerhartz
D verstaubt in einem Brüsseler Museum.
In der großen Flugzeughalle des könig-
lich belgischen Armeemuseums steht zwi-
lang recht vage.
Die belgische Regierung machte zuletzt klar,
dass eine Lieferung von F-16 an die Ukraine
sinnierte Mitte der Woche öffentlich darüber,
dass die Bundeswehr die Infrastruktur für
Übungen bereitstellen und die Ausbildung
schen einer britischen Spitfire und einer deut- für sie nicht infrage komme. Zwar werde man der Piloten unterstützen könne. Dafür brau-
schen Junkers Ju-52 aus dem Zweiten Welt- ukrainische Piloten ausbilden, betonte Ver- che es aber eine »politische Entscheidung«.
krieg der erste einsitzige F-16-Kampfjet, seit teidigungsministerin Ludivine Dedonder vor Wollte Berlin weitergehen, wäre die Abgabe
1979 in Diensten der belgischen Luftstreit- dem Parlament. Die letzten 53 der ursprünglich von Bewaffnung für die Jets anderer Nationen
kräfte, ausgemustert vor fast 30 Jahren, be- 160 F-16 brauchten die belgischen Luftstreit- denkbar. So könnte die Bundeswehr sowohl
deckt von einer beeindruckenden Staub- kräfte aber selbst. Die Nachfolgerin, die F-35, Sidewinder-Raketen für den Luftkampf als
schicht. soll erst ab 2025 in Dienst gestellt werden. auch Präzisionsbomben für Angriffe auf Bo-
In der Debatte über die weitere Unterstüt- Training ja, Lieferung nein – mit dieser denziele abgeben. Sie liegen für den deut-
zung der Ukraine mit westlichem Gerät erlebt Haltung steht die belgische Regierung nicht schen Tornado oder den Eurofighter in den
der betagte Kampfjettyp eine Renaissance. Depots und müssten technisch angepasst wer-
Die Regierung in Kiew drängt die westlichen den. Die Militärs halten dies aber für machbar.
Verbündeten seit Monaten zur Lieferung von Zuerst müsse man aber wissen, wer überhaupt
F-16 für die Flugabwehr, Präsident Wolody- Maschinen liefere – und wie viele.
myr Selenskyi hat dafür eine Kampfjetkoali- Die EU-Mitgliedsländer sind sich aber
tion ausgerufen. Beim jüngsten G7-Treffen im
Allein wegen der Enge des nicht einig in der Frage, ob eine Lieferung von
japanischen Hiroshima kündigte US-Präsi- Luftraums eignet sich F-16 überhaupt sinnvoll wäre. Der nieder-
dent Joe Biden nun überraschend seine Unter- ländische Regierungschef Mark Rutte sieht
stützung an, andere Länder wie Großbritan-
Deutschland nur bedingt darin »kein Tabu«. Wenn er wollte, könnte
nien und Frankreich folgten. Doch wie genau für Trainingsmanöver. er seinen Worten Taten folgen lassen: Der

28 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


DEUTSCHLAND

geplante Verkauf von 18 der 42 F-16 Dassault-Mirage 2000C aus den Acht- die Maschinen könnten den Konflikt
der Niederlande ist kürzlich gestoppt zigerjahren ausbilden möchte, um Massen- weiter eskalieren lassen, der keines-
worden, an Flugzeugen mangelte es diese ausgemusterten Jets dann in den produkt falls in einen »dritten Weltkrieg«
also nicht. Kampf gegen Russland zu entsenden. münden soll, wie der US-Präsident
Kritiker wenden ein, dass die Ukra- Oder ob die Ausbildung auf den Mi- In Dienst befindliche immer wieder betont. Zudem steht
iner die F-16 weder kurz- noch mit- rages an die amerikanische F-16 an- F-16-Kampfjets* von Biden unter Druck, die Militärhilfen
Nato-Staaten
telfristig brauchten. Für den Aufbau gepasst wird. nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.
einer modernen ukrainischen Luft- Die Mirages haben nach Einschät- Der Präsident muss sich im Novem-
USA
waffe sei sie sinnlos, weil schlicht zu zung französischer Militärexperten ber 2024 der Wiederwahl stellen, und
915
alt. Und aktuell gebe es im ukra- nur einen Vorteil: Sie sind verfügbar. nach Lage der Dinge heißt sein Geg-
inischen Luftraum keine russischen Erst kürzlich hat die Armee 13 davon Türkei ner Donald Trump oder Ron DeSan-
Flugzeuge, gegen die die F-16 antreten ausrangiert. Sie gelten als überholt, 260 tis. Vor allem Trump kritisiert Waffen-
könnte. ihr Radar als schwach. Mit neuer Mu- Griechenland lieferungen an die Ukraine als milliar-
Für die Unterstützung einer ukra- nition können sie auch nicht bestückt 154 denschwere Verschwendung von
inischen Sommeroffensive käme die werden, weil die passenden Spreng- Belgien Steuergeldern.
F-16 ebenfalls nicht infrage, weil die körper nicht mehr hergestellt werden. 53 Die USA haben innerhalb von
Ausbildung der Piloten mindestens Eine Lieferung des moderneren Ra- 13 Monaten Militärhilfe im Wert von
Polen
drei bis fünf Monate dauere, wie es fale-Kampfjets dürfte wiederum für 43 Milliarden Dollar für die Ukraine
48
beim Ministertreffen in Brüssel hieß. die französische Armee kaum infrage bereitgestellt. Die F-16-Jets könnten
Außerdem sei Artillerie zur Unter- kommen – sie hat selbst nicht genug Dänemark die Kosten weiter in die Höhe treiben.
stützung von Bodentruppen wichti- davon. 44 Das dürfte ein Grund dafür sein, dass
ger als eine Handvoll Kampfjets. Das Und so richtet sich der Blick der Niederlande Biden bisher nur das Training von
Gerede über die F-16, argwöhnen die Europäer auf die USA, wo Joe Biden 42 ukrainischen Piloten bewilligt hat. Er
Kritiker, sei Symbolpolitik. Tatsäch- in der Frage der Kampfjets einem Portugal würde es offenkundig vorziehen,
lich kann man den Eindruck bekom- eingeübten Muster gefolgt ist. Erst 30 wenn zunächst die europäischen
men, wenn man sich die Debatte in sträubte er sich gegen die Lieferung Nato-Partner ihre Bestände an F-
Rumänien
Frankreich ansieht. schwerer Artillerie, dann von Rake- 16-Jets leeren würden.
17
Der französische Präsident Emma- tenwerfern, dann gegen den Export Die Ukraine jedenfalls macht wei-
nuel Macron will sich offenbar nicht von Abrams-Panzern. Am Ende wil- * insgesamt 1563.
ter Druck auf Europa. Das Land
nachsagen lassen, er sei zögerlich, ligte der Präsident doch immer ein. Dazu kommen weitere, brauche moderne Kampfjets, »um
ausgemusterte Maschinen.
wenn es um militärische Unterstüt- Diesmal aber geht es nicht nur um das unsere Flug- und Raketenabwehr zu
S Quelle: The Military
zung für die Ukraine geht. »Es gibt eigene Kriegsgut, das der Ukraine stärken, Leben zu retten und Zivilis-

Balance 2023
keine Tabus«, tönte der Staatschef überlassen werden könnte. Die USA ten zu beschützen«, schrieb der ukra-
kürzlich, als er im Interview mit dem müssen auch ihre Zustimmung zur inische Außenminister Dmytro Kule-
Fernsehsender TF1 nach französi- Ausfuhr geben, wenn andere Länder ba kürzlich im US-Magazin »Foreign
schen Kampfflugzeugen für die Ukra- F-16 nach Kiew liefern wollen. Policy«. Ein Viertel aller Drohnen
ine gefragt wurde. Allerdings sei dies Im Weißen Haus gibt es schon seit und Raketen, die Russland gegen
»eine theoretische Debatte«, schränk- Monaten Debatten, ob die Kampfjets die Ukraine einsetze, käme nach wie
te Macron ein. den Ukrainern nicht einen entschei- vor durch.
Im Umfeld Macrons heißt es, Se- denden Vorteil auf dem Schlachtfeld Für eine erfolgreiche Gegenoffen-
lenskyjs Forderung nach Kampfjets verschaffen könnten. Der ukrainische sive brauche man Luftüberlegenheit,
sei allzu verständlich. Trotzdem sei Präsident hatte bei seinem Besuch im argumentieren die Ukrainer, zudem
die Debatte verfrüht. Man müsse zu- Dezember in Washington Druck ge- müssten die Getreidelieferungen über
nächst ukrainische Piloten auf west- macht, seither waren Dutzende ukra- das Schwarze Meer abgesichert wer-
lichen Kampfjets ausbilden. Im Élysée inische Parlamentarier in der amerika- Luftwaffen- den. Letztlich würden F-16 in Händen
führt man sogar sprachlich-kulturelle nischen Hauptstadt, um zu erläutern, Inspekteur Gerhartz, ukrainischer Piloten dazu beitragen,
Hürden an, die erst einmal zu über- wie dringend man die Flugzeuge Verteidigungs- Russland vor weiteren Angriffen auf
minister Pistorius:
winden seien: »Die ukrainischen Pi- brauche. Warten auf
Nachbarländer abzuschrecken. Und
loten wurden auf Systemen ausgebil- Doch Biden war aus mehreren eine »politische ohnehin gehe es darum, Russland zu
det, die nicht französisch sind, nicht Gründen zögerlich: Er befürchtete, Entscheidung« zeigen, dass man in der Aufrüstung
der französischen Logik entsprechen. nicht nachlasse. Wie viele F-16 für all
Wenige Piloten sprechen Französisch, das notwendig wären, ließ Kuleba al-
sogar wenige sprechen Englisch.« lerdings offen. In Brüssel und Berlin
Also werden die Ukrainer erst ein- rätselt man deshalb, welche Zahl an
mal mit den französischen Kampfjets Flugzeugen die Ukrainer denn gern
vertraut gemacht. Sie könnten »ab hätten.
sofort« angelernt werden, sagte Ma- Während die Kampfjetkoalition
cron. Tatsächlich werden schon seit langsam wächst, verbreitet das nähe-
Monaten in Lothringen und im Süd- re Umfeld des ukrainischen Präsiden-
westen Frankreichs Angehörige der ten schon das nächste Bedürfnis:
ukrainischen Luftwaffe trainiert. Dort Russland führe seinen Krieg auch zu
lernen sie, was sie machen, wenn Wasser. Die Ukraine brauche drin-
etwa ihr Flugzeug abgeschossen wird. gend Unterstützung, um ihre See-
Zu den Details der neuen Ausbil- streitkräfte massiv aufzurüsten. Nach
Jens Büttner / dpa

dungsoffensive hält sich die Regie- den Kampfjets könnte es also bald um
rung in Paris bedeckt. Etwa zur Frage, Kriegsschiffe gehen.
ob Frankreich die ukrainischen Pilo- Markus Becker, Matthias Gebauer, Leo
ten im Schnelldurchgang auf seinen Klimm, Martin Knobbe, René Pfister n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 29


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[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Aytac Unal / abaca press / ddp, Marijan Murat / picture alliance / dpa(2), Jörg Carstensen / dpa, Qatar News Agency / REUTERS, Lino Mirgeler / picture alliance / dpa, Stefan Boness / IPON / IMAGO, Abubaker Lubowa / REUTERS, DER SPIEGEL
6

3
5

1 | Emir von Katar Al Thani 2 | Hensoldt-Chef Müller 3 | Radar TRML-4D


4 | Bundeskanzler Scholz 5 | Ugandas Präsident Museveni 6 | Luftabwehrsystem Iris-T

Bewährte Partner
AFFÄREN Die Hensoldt AG ist ein Star an der Börse und Hoffnungsträger der »Zeitenwende«
von Olaf Scholz. Nun deuten interne Dokumente auf fragwürdige Provisionen bei Auslandsgeschäften
hin. Zahlte die Firma bei einem Deal in Katar Schmiergeld an die Familie eines Generals?

er Bundeskanzler steht auf einem Hof wagen zum Beispiel, der mit Überwachungs- Ukraine ist eben vieles anders geworden.
D in Ulm und lässt sich Radartechnik
made in Germany vorführen. Das
TRML-4D sieht aus wie ein Kleiderschrank,
technik vollgestopft ist. Olaf Scholz setzt sich
vor die Monitore des »Sensorverbundfahr-
zeugs« und lauscht den Worten eines Hen-
Ohne die Waffenhersteller kann die »Zeiten-
wende« nicht gelingen.
Die Bedeutung der Hensoldt AG war der
der auf einen Militärlastwagen montiert soldt-Mitarbeiters. Bundesregierung schon früh bewusst. Ende
wurde. Es kann Ziele in einem Radius von Nach einem Werksrundgang lobt der 2020 beschloss sie, 25,1 Prozent der Firma zu
250 Kilometern erkennen, was ungefähr der Kanzler die Belegschaft als »Frauen und Män- kaufen, eine Sperrminorität. Die Technik von
Entfernung zwischen Berlin und Hamburg ner, die sich mit großer Intelligenz und großer Hensoldt ist in vielen deutschen Waffensyste-
entspricht. Einsatzbereitschaft darum kümmern, dass wir men verbaut, im Eurofighter etwa, im Leo-
Produziert wird das Radar im Ulmer Werk auf hochpräzise, sehr wirksame Systeme zu- pard 2 oder in U-Booten der Klasse 212. Die
der Hensoldt AG, eines Spezialisten für Ver- rückgreifen können«. Radare aus Ulm bestücken auch das Luftab-
teidigungselektronik. Für den Besucher aus Es wirkt noch immer etwas seltsam, wenn wehrsystem Iris-T, das zurzeit den Luftraum
Berlin und die mitgereiste Presse hat das Olaf Scholz, einst in der Friedensbewegung über der ukrainischen Hauptstadt Kiew schützt.
Unternehmen an diesem Januartag noch mehr sozialisiert, heute die Rüstungsindustrie ho- Der Konzern mit Stammsitz in Taufkirchen
Hightech ausgestellt: einen olivgrünen Kasten- fiert. Doch seit der russischen Invasion in der bei München hat einen rasanten Aufstieg hin-

32 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


DEUTSCHLAND

ter sich, was er – so zynisch es klingen mag – »Wir tun alles, man ihn am besten loswerde, wenn über-
auch Russlands Angriff auf die Ukraine ver- haupt.
dankt. Seit Beginn der Invasion hat sich der um das Korruptionsrisiko Besser kann man die Rolle von Compli-
Aktienkurs fast verdreifacht. Im März zog
Hensoldt in den MDax ein.
zu minimieren.« ance wohl nicht beschreiben. Die Aufpasser
warnen, mahnen – aber können längst nicht
Doch es gibt noch ein anderes, düsteres Solms Wittig, Hensoldt-Chefsyndikus jedes Fehlverhalten verhindern. Ein Beispiel
Kapitel in der Geschichte des Unternehmens. dafür sind Hensoldts Geschäfte mit Uganda.
Im vergangenen Sommer berichtete der Das Land wird seit 37 Jahren von dem Des-
SPIEGEL , wie die Firma ihre Produkte nach poten Yoweri Museveni regiert, der die Zivil-
Saudi-Arabien verkaufte, obwohl die Bundes- gesellschaft unterdrückt und dessen Clique
regierung in der Regel keine Ausfuhren ge- wurde ein Manager von Airbus: Thomas sich hemmungslos bereichert. Hensoldt kam
nehmigte. Interne Unterlagen offenbarten, Müller. 2020 in einer internen Einschätzung zu dem
dass die Sensoren von Hensoldts Tochter- Am Tag nach der Firmengründung legte Schluss, in Uganda gebe es ein »sehr hohes
firmen in Südafrika und Großbritannien ge- die Rechtsabteilung eine Anti-Korruptions- und kritisches Korruptionsrisiko«, »insbeson-
liefert wurden. Richtlinie vor. Darin wurde Müller mit den dere im Hinblick auf den Militärsektor«. Das
Nun offenbaren neue Dokumente das win- Worten zitiert: »Bei Hensoldt sind wir davon hielt den Konzern jedoch nicht davon ab, in
dige Geschäft mit Verkaufsagenten, die für überzeugt, dass eine Kultur der Integrität den Markt vorzudringen.
Hensoldt im Ausland die Türen öffnen. Die dazu beiträgt, unsere globale Wettbewerbs- Uganda biete »Geschäftspotenzial für die
Unterlagen, die dem SPIEGEL von Insidern fähigkeit zu erhalten.« gesamte Hensoldt-Gruppe«, hieß es intern.
zugespielt wurden, zeigen, wie Berater mit Für die Compliance holte der Unterneh- Aus vertraulichen Unterlagen geht hervor,
Verbindungen in höchste Regierungskreise menschef einen ausgewiesenen Fachmann ins wie damals eine lokale Beraterfirma angeheu-
millionenschwere Lieferungen nach Uganda Haus. Der Jurist Solms Wittig wechselte vom ert werden sollte, um Hensoldts Produkte
und Katar einfädelten. Zahlte die Firma bei Gashersteller Linde nach Taufkirchen und anzupreisen. Die Berater hätten Zugang zur
einem Geschäft sogar Schmiergeld an die Fa- wurde Chefsyndikus von Hensoldt. »Ein ein- Armee und zu den Spezialkräften, »die von
milie eines hochrangigen Militärs? zelner Korruptionsfall kann die Zukunft eines Musevenis Sohn geleitet werden, einem Be-
Gemeinsam mit dem Recherchenetzwerk Unternehmens aufs Spiel setzen. Wir tun al- kannten von uns«, schrieb der Leiter der Ge-
European Investigative Collaborations sowie les, um das Korruptionsrisiko zu minimie- schäftsentwicklung Afrika an seine Kollegen.
dem griechischen Projektpartner Reporters ren«, ließ Wittig die Mitarbeiterinnen und Der Präsidentensohn, ein Bekannter von
United und dem israelischen Investigativ- Mitarbeiter wissen. Hensoldt?
medium Shomrim wurden die Unterlagen Wittig, heute 59, war bei Siemens tätig, als
ausgewertet. Auch andere große Namen der der Konzern von der großen Schmiergeld- Muhoozi Kainerugaba ist berüchtigt für sein
deutschen Rüstungsindustrie tauchen darin affäre erschüttert wurde. Er saß im Aufsichts- brutales Vorgehen gegen die Opposition.
auf, etwa der Panzerbauer Krauss-Maffei rat der Commerzbank, über mehrere Jahre Unter seiner Führung sollen die Spezialkräf-
Wegmann (KMW). fungierte er als Präsident des Bundesverbands te vor der letzten Präsidentenwahl im Januar
für Unternehmensjuristen. 2021 Oppositionelle festgenommen und ge-
Der Fall ist ein Lehrstück über die Grenzen Aus internen Unterlagen wird ersichtlich, foltert haben. Kainerugaba wird als Nach-
von Compliance (engl., Regeltreue). In Hen- dass Wittig sich bei Hensoldt immer wieder folger seines Vaters gehandelt. Hensoldt äu-
soldts Richtlinien heißt es, im Konzern gelte in die Geschäfte einmischt. Abschlüsse ziehen ßert sich nicht zu dieser Bekanntschaft. Der
»Null-Toleranz gegenüber jeglicher Art von sich dadurch in die Länge, was nicht jedem Vertrag mit der Beraterfirma sei nicht zustan-
Korruption«. Doch am Ende setzten sich die gefällt. Compliance sei »tödlich« für die Fir- de gekommen.
Verkaufsleute bisweilen durch – und schlugen ma, schrieb etwa der Chef der britischen Bei einem anderen Projekt, der Ausstat-
Warnungen vor möglichen Schmiergeldzah- Tochtergesellschaft an Wittig. Eines der Ver- tung der Luftwaffe, lieferte Hensoldt aber
lungen in den Wind. Hensoldt legt Wert auf fahren bezeichnete er als »totale Zeitver- ohne Zweifel nach Uganda – unter Mitwir-
die Feststellung, sämtliche Geschäfte seien im schwendung«. Ein Mitarbeiter, der nichts kung dubioser Vermittler und trotz dringen-
Einklang mit den »einschlägigen Gesetzen falsch gemacht habe, werde »wie ein Krimi- der Warnung der Compliance-Abteilung.
und Compliance-Regelungen« erfolgt. neller« behandelt. Der Chefsyndikus meldete sich am 11. De-
Wertegeleitet soll die deutsche Außenpoli- Wittig antwortete, Compliance sei eben zember 2020 per E-Mail bei Andreas Hülle,
tik sein, oft genug hat das Außenministerin »keine Autowaschanlage«, in die man sein damals Mitglied im Exekutivkomitee von
Annalena Baerbock (Grüne) in ihren Reden dreckiges Auto fahre und sauber rausbekom- Hensoldt: »Wir haben derzeit einen Fall in
betont. Wenn aber ausgerechnet ein deut- me. Stattdessen helfe man dabei, den »Dreck« der Complianceprüfung, der uns Kopfschmer-
sches Vorzeigeunternehmen mit staatlicher auf dem Auto zu finden, und berate, wie zen bereitet«, schrieb Wittig. Es ging um die
Beteiligung mit diesen Werten gebrochen ha- Lieferung von elf Sensoren an die ugandische
ben sollte, wie es die Dokumente nahelegen, Luftwaffe. Die sogenannten Milds-Block-
wie steht es dann um Deutschlands Glaub- Globale Präsenz 2-Systeme sollen Hubschrauber und Flugzeu-
würdigkeit? ge vor herannahenden Boden-Luft-Raketen
Die Geburtsstunde der Hensoldt AG Standorte der Hensoldt AG und Umsatz 2022 warnen. Dem SPIEGEL liegt eine Bestellung
nach Region, in Mio. Euro
schlug am 28. Februar 2017. An jenem Tag in Höhe von 1,19 Mio. Euro vom November
Produktionsstandorte Vertriebsstandorte
wurde die Holding bei einem Münchner No- 2020 vor – inklusive Aussicht auf weitere Lie-
Umsatz
tar besiegelt. Der Flugzeugbauer Airbus glie- Europa 1452 ferungen.
derte das Geschäft mit der Verteidigungselek- davon Deutschland 1016 Hensoldt war, wie in vielen anderen Fällen,
tronik in die neue Firma Hensoldt aus. Haupt- Nord- nicht der direkte Vertragspartner des End-
gesellschafter wurde zunächst die Beteili- amerika
Asien- kunden, sondern sollte zuliefern – in diesem
gungsgesellschaft KKR. 39 Fall an die israelische Rüstungsfirma Bird
Naher Osten Pazifik
Die Bundesregierung sicherte sich von An- 135 82 Aerosystems.
Afrika
fang an Einfluss auf das neue Unternehmen, Latein- 22 Bird arbeitete vor Ort mit einem zweifel-
zunächst mit einer »goldenen Aktie«, die amerika haften Partner zusammen: Boaz Badichi, laut
ihr das Vorschlagsrecht für zwei Aufsichts- 6 israelischer Presse einer der bestvernetzten
ratssitze garantierte. Erster Geschäftsführer S Quelle: Hensoldt Waffenhändler Afrikas. Er fiel zuvor mit

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DEUTSCHLAND

Geschäften in Äquatorialguinea auf, das eben-


falls seit Jahrzehnten von einem Despoten
2
regiert wird. Der Israeli vermittelte Waffen
dorthin und bildete Polizei und Militär des
Unterdrückers aus.
In Uganda warb Badichis Firmengruppe
laut Unterlagen zwei Jahre lang für das Luft-
waffenprojekt, an dem sich auch Hensoldt
beteiligte. Für den »In-Country Support« war
die Tochterfirma Rinnomoe Kidepo Valley
Safari Lodge Ltd. zuständig, die nach eigenen 1
Angaben eine Luxusherberge in der Savanne 3
errichtete, nun aber bei dem Rüstungsprojekt
behilflich sein sollte.

[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Nic Bothma / picture alliance / dpa, DER SPIEGEL(2), Nikku / IMAGO (2), Michele Tantussi / Getty Images, Denis Balibouse / REUTERS, Sebastian Gollnow / picture alliance / dpa, Holger Leue / Getty Images
Wittig und seine Leute waren alarmiert.
Im Zuge ihrer Prüfung fanden sie heraus, dass
Firmen aus fünf Ländern an dem Deal be-
teiligt werden sollten. Bei der »komplexen
Struktur des Geschäfts« sei nicht klar, ob sich
Hensoldt strafbar mache, heißt es in einer
fünfseitigen internen Präsentation vom De-
zember 2020, die mit einer »roten Flagge« 5
markiert wurde. Ein Warnsignal, das die be-
teiligten Mitarbeiter sensibilisieren sollte. 4
Womöglich sei mithilfe von Steuertricks
Geld beiseitegeschafft worden. Die Juristen
warnten: Es bestehe ein »erhöhtes Risiko,
dass der lokale Partner unzulässige oder sogar
illegale/korrupte Mittel eingesetzt hat, um
den Endnutzer zu seinem eigenen und Birds
(und indirekt Hensoldts) Vorteil zu beein- 1 | Geschäftsmann Al Kuwari 2 | Brüder Labid und Marar al Jundy
flussen«. Klarer kann man einen Schmiergeld- 3 | Ex-Bundeskanzlerin Merkel 4 | Panzer Leopard 2 5 | Artillerieortungssystem Cobra
verdacht kaum äußern.
Hensoldt hatte den Waffenvermittler Ba-
dichi zwar nicht direkt beauftragt. Doch für es in diesem Fall seiner Zustimmung nicht gramme der Bundeswehr allein konnten die
den Fall, dass dessen Firmen bei dem Auftrag bedurft hätte. ehrgeizigen Unternehmensziele wohl nicht
mit Bestechung nachgeholfen haben sollten, Wochen nach der Lieferung, am 7. Juni erfüllen.
könnte für das deutsche Unternehmen ein 2021, verschickte der Hensoldt-Vorstand eine Doch die internationale Expansion des
»rechtliches Risiko« entstehen. Die Verein- Rundmail an die Belegschaft. Die Manager Unternehmens war tückisch. In vielen Län-
barung mit Bird könnte als »Mittäterschaft/ erinnerten daran, dass durch den zuvor er- dern hatte Hensoldt keine Niederlassung und
Beihilfe« ausgelegt werden, so die Compli- folgten Börsengang »noch strengere Anforde- war bei der Akquise auf lokale Partner an-
ance-Experten. »Ohne weitere Prüfungen« rungen und Verpflichtungen« entstanden sei- gewiesen. Deren Methoden lassen sich aber
durch externe Rechtsexperten könnten sie en. »Die Compliance-Vorschriften helfen uns, kaum kontrollieren.
keine Empfehlung abgeben, diese würden vier Regelverstöße zu verhindern, erfolgte Regel- Intern wurde heftig darüber gestritten, wie
bis sechs Wochen dauern. verstöße schnell zu identifizieren und ange- man mit den Vermittlern umgehen sollte.
messen zu reagieren.« Noch einmal betonte Chefsyndikus Wittig und seine Leute mahnten
Das war den Verkäufern in dem Unternehmen der Vorstand seine »Nulltoleranzstrategie«. zur Vorsicht. Die Verkaufsleute dagegen for-
offenbar zu lang. Wenige Tage später buchten Zugleich wurde intern die Marschroute derten vehement den Einsatz von Vermitt-
sie den Auftrag ein und exportierten die elf ausgegeben, dass der Konzern mehr als 50 Pro- lern. »Hensoldt will globaler werden, was
Milds-Systeme, obwohl das Ergebnis der zent seines Umsatzes im Ausland machen sinnvoll ist, aber ohne das Netzwerk der Dritt-
Compliance-Prüfung nicht vorlag: Fünf Sen- sollte. Die schwerfälligen Beschaffungspro- parteien und erfolgsabhängige Verträge wird
soren wurden Ende Februar 2021 und sechs es nicht gehen. Beide sind Marktstandard«,
Sensoren Anfang April geliefert. Als hinterher schrieben sie.
Fragen aufkamen, räumten die Beteiligten Geheimdienst am Apparat Verkäufer gegen Juristen, Umsatzsteige-
ein, dass der Geschäftsprozess bis zur Aus- Seit anderthalb Jahren beschäftigen sich rung gegen Wertekanon – wie schwer es man-
lieferung weitergelaufen sei, ohne dass »wei- die SPIEGEL-Reporter Sven Becker, Rafael chem Unternehmen fällt, diese Balance zu
tere Meldungen über den Stand der Compli- Buschmann und Nicola Naber mit dem halten, zeigt ein weiteres Beispiel vom Persi-
ance-Prüfung ausgetauscht wurden«. Der Rüstungshersteller Hensoldt. Für diese schen Golf.
Liefertermin habe allen vorgelegen, »auch Recherche über dubiose Auslandsge- In Katar feiern die Menschen den National-
der Compliance«. schäfte wollten sie mit einem früheren feiertag jedes Jahr am 18. Dezember mit einer
War die Prüfung also nur für die Galerie? katarischen General sprechen, der Militärparade an der Strandpromenade von
Hensoldt erklärt, dass vor der Auslieferung von Provisionszahlungen profitiert haben Doha. Unter den Augen des Emirs jagen
»keine konkreten Anhaltspunkte für ein könnte. Am anderen Ende der Leitung Kampfflugzeuge durch den blauen Himmel,
rechtswidriges Verhalten vorlagen«. Deswe- ging ein Mann ans Telefon, der sich als gepanzerte Fahrzeuge werden aufgefahren,
gen sei kein Widerspruch erfolgt. Die »er- Mitarbeiter des örtlichen Geheimdienstes und Soldaten marschieren entlang der Cor-
gänzenden Ermittlungen« durch externe Be- ausgab und darum bat, es in Moskau zu niche. Im Jahr 2015 sichteten Waffenblogger
rater hätten letztlich nichts anderes ergeben. probieren. Herr Al Thani sei dort mittler- erstmals deutsche Panzer vom Typ Leopard 2
Wittig lässt über einen Anwalt mitteilen, dass weile als Botschafter seines Landes tätig. sowie Panzerhaubitzen 2000.

34 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


DEUTSCHLAND

Beide Systeme werden von der mittlung von Rüstungsgütern für ihre nagerin eine E-Mail mit entsprechen-
deutschen Waffenschmiede KMW ge- eigene Truppe mitverdient? Das Profiteur den Informationen an Mitglieder des
baut. Trotz der prekären Menschen- »Handelsblatt« berichtete 2019 zu- des Krieges erweiterten Vorstands.
rechtslage in Katar hatte die Bundes- erst über die dubiosen Honorare und Hensoldt hoffte demnach, wieder
regierung unter Angela Merkel fragte: »Schmierte KMW einen kata- Aktienkurs der Elektronik beizusteuern. Intern wur-
(CDU) der Lieferung von 62 Leopard- rischen General?« Das Unternehmen Hensoldt AG, de vorgeschlagen, erneut auf die
in Euro
Panzern, 24 Panzerhaubitzen und bestritt die Vorwürfe. Vor Auftrags- Dienste von MSC zu setzen. Die Fir-
weiterem Kriegsgerät im Wert von vergabe habe KMW diesen Ge- 30 30,80 Euro ma sei eben ein »bewährter Partner
Eröffnungskurs
insgesamt knapp zwei Milliarden schäftspartner einer umfassenden für die katarischen Streitkräfte«, hieß
Euro zugestimmt. Compliance unterzogen. Eine lokale es. Die Berater sollten auch bei der
Die Bücher von KMW waren sei- Kanzlei habe dabei geholfen, Auf- Lieferung von weiteren Cobra-Syste-
nerzeit ziemlich leer, entsprechend fälligkeiten seien nicht gefunden 20 men, Radaren und Aufklärungssyste-
wichtig war der Auftrag. Katar wie- worden. men behilflich sein. Hensoldt rechne-
derum, das im Dauerclinch mit Saudi- Nun kommt heraus: Auch Hen- te mit potenziellen neuen Umsätzen
Arabien und anderen Golfstaaten lag, soldt unterhielt für das Katargeschäft von 88,1 Millionen Euro.
setzte auf das Abschreckungspoten- Beziehungen mit MSC. Das ergibt Hensoldt erklärt dazu, die Verträ-
10
zial der deutschen Waffen. sich aus einer internen Firmenpräsen- ge mit MSC seien »beendet«. Seit
tation aus dem Dezember 2020, die wann, lässt das Unternehmen offen.
Auch Hensoldt lieferte für das Ge- dem SPIEGEL im Entwurf vorliegt. Russischer Angriff Zu den geplanten Geschäften in Katar
schäft zu, anfangs noch als Teil des Sie kursierte damals im Exekutiv- auf die Ukraine äußert es sich ebenfalls nicht. Zu-
Airbus-Konzerns. Zum einen be- komitee, dem erweiterten Vorstand. 0 mindest im vergangenen Jahr fan-
stückte das Unternehmen die Panzer Sogar Vorstandschef Müller sollte das 2021 2022 2023 den sich aber noch einige Vorhaben
von KMW mit seiner Elektronik. Wei- Dokument zugeschickt werden. Da- in unternehmensinternen Kalkulatio-
S Quelle: Hensoldt;
terhin umfasste der Großauftrag auch rin heißt es, Hensoldt habe »erfolg- nen wieder.


Stand: 25. Mai 2023
Radare und das sogenannte Artillerie- reich mit MSC zusammengearbei-
ortungssystem vom Typ Cobra. Es tet«. Und: »Zahlungen an MSC wur- Was wusste die Bundesregierung von
wird in einem Joint Venture mit dem den 2018 freigegeben.« den dubiosen Auslandsgeschäften der
französischen Hersteller Thales ge- Hensoldt räumt auf Anfrage Hensoldt AG? Das Bundesamt für
baut und kann in zwei Minuten bis »Restzahlungen aus Altverträgen« Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle
zu 40 gegnerische Artilleriebatterien ein, die noch aus der Airbus-Zeit ge- (Bafa), das Rüstungsexporte geneh-
ausfindig machen. Die Aufträge sollen stammt hätten. Die Mittel seien frei- migen muss, war in Uganda auf der
für Hensoldt insgesamt ein Volumen gegeben worden, nachdem sie intern richtigen Spur. Nach SPIEGEL -Infor-
von rund 90 Millionen Euro ausge- und extern mithilfe einer Kanzlei und mationen fragten die Beamten nach
macht haben. einer Beratungsfirma geprüft worden der Firmengruppe des israelischen
[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Ivan Vdovin / IMAGO, Timon Cornelissen / Shutterstock, G. Lacz / IMAGO, DER SPIEGEL(3)IMAGO, DER SPIEGEL(3)

Aus internen Unterlagen geht her- seien. Waffenvermittlers Boaz Badichi. Teil-
vor, dass KMW der Hauptansprech- Dennoch steht die brisante Frage te Hensoldt den Prüfern seine Beden-
partner für die Katarer war. Auch im Raum, ob Hensoldt einem katari- ken mit, dass Schmiergeld im Spiel
diesmal arbeiteten die Deutschen mit schen General Zahlungen zukommen gewesen sein könnte?
einer Firma vor Ort zusammen, die ließ. Das Unternehmen hätte nicht Hensoldt sagt dazu, es habe keine
den Deal einfädelte. Ihr Name: Mul- nur jeden Anstand vermissen lassen, 1 | Hensoldt-Jurist »durchgreifenden« Bedenken gege-
Wittig
ti Services Company (MSC) mit Sitz sondern womöglich auch gegen die 2 | Ex-Manager Hülle ben. Und »Verdächtigungen« allein
in Doha. eigenen Regeln verstoßen. Laut einer dürfe man nicht an Behörden weiter-
Als Geschäftsführer der MSC tra- damaligen Direktive mussten Ge- geben. Der Bund genehmigte den
ten zwei vermutlich aus Syrien stam- schäftspartner eigentlich bestätigen, Auftrag schließlich.
mende Brüder mit kanadischem Pass dass sie »nicht unmittelbar, mittelbar Hensoldt wollte immer mehr als
auf: Marar und Labid al Jundy. Bri- oder in sonstiger Weise von Staats- nur ein normales Rüstungsunterneh-
santer waren ihre Hintermänner. 70 bediensteten oder politisch ex- men sein. Wahlweise bezeichneten
Prozent von MSC gehörten einem ponierten Personen beherrscht oder die Firma selbst und ihr Vorstands-
Sohn von General Ahmed Nasser Al verwaltet« werden. chef Thomas Müller das Unterneh-
Thani. Er ist Teil der Herrscherfami- Hatte Hensoldt diese Bestätigung men als »Champion« oder »Porsche«
lie und fungierte als Vize-General- in Katar eingeholt? Das Unterneh- der Verteidigungsindustrie. Seit der
stabschef des Militärgeheimdienstes. men erklärt hierzu, die Direktive russischen Invasion gibt sich der Vor-
Laut Handelsregister war er bei MSC habe nicht »für den konkreten standschef regelrecht staatstragend.
zeichnungsberechtigt. Heute ist er Vorgang« gegolten. Die damals Beim Besuch von Olaf Scholz im
Botschafter Katars in Moskau. beauftragten Unternehmensbera- Ulmer Werk sagte Müller an den
Die restlichen 30 Prozent hielt das ter hätten »nach dem hier vorlie- Kanzler und Aktionärsvertreter ge-
»Qatar Armed Forces Investment genden Kenntnisstand« auch die richtet: »Ihre Firma Hensoldt ist be-
Portfolio«, eine Art Beteiligungs- Eigentümerstrukturen und die Di- reit zu liefern, schnell zu liefern.« Und
gesellschaft der Streitkräfte. Thani rektoren von MSC geprüft. »Konkre- mit viel Pathos fügte er hinzu, Hen-
Abdulrahman Al Kuwari, der Direk- te Sachverhalte einer Korruption sind soldts Produkte seien technologisch
tor des Fonds, war ebenfalls zeich- nicht erkennbar.« »die besten, wirklich die besten elek-
nungsberechtigt bei MSC. Bei den Hensoldt und seine Partner woll- 1 tronischen Systeme zur Verteidigung
katarischen Streitkräften war er für ten das Geschäft mit Katar fortsetzen. unserer liberalen Grundordnung«.
Beschaffungsvorgänge zuständig. In einem weiteren Deal ging es um In Ländern wie Katar oder Ugan-
KMW soll eine Provision in zwei- die Lieferung von bis zu 300 Rad- da reichte dagegen schon die Aussicht
stelliger Millionenhöhe an eine MSC panzern vom Typ Boxer, die 2 auf gute Umsätze.
nahestehende Firma bezahlt haben. KMW gemeinsam mit Rheinmetall Sven Becker, Rafael Buschmann,
Hatten ranghohe Militärs an der Ver- baut. Ende 2020 schickte eine Ma- Nicola Naber, Niklas Olschewski n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

Das Wissen
»Wir setzen auf den
der Besten Trieb des Menschen,
, consectetuer
Steuern zu sparen«
odo ligula eget
ociis natoque GRÜNE Tübingen hat eine Steuer auf Einwegverpackungen eingeführt.
urient montes,
Ein McDonald’s-Restaurant ging dagegen vor Gericht –
felis, ultricies und verlor. Für Boris Palmer ist es ein Triumph nach dem Parteiaustritt.
uis: sem. enim-
t nec, vulputa-
honcus ut, im- Eine Zumutung wollte Tübingens Oberbürger- bald auf Mehrweggeschirr essen kann. Ein
o. Nullam dic meister Boris Palmer, 50, immer sein, ein Pro- Vorbild ist übrigens Frankreich: Dort sind
Jetzt vokateur. Mit seinem Judenstern-Vergleich Einwegverpackungen in Fast-Food-Lokalen
und der Nennung des N-Worts in Frankfurt seit Jahresbeginn verboten, die setzen auf
neu im Ende April ist er zu weit gegangen. Das hat Porzellan. Es ist höchste Zeit, auch in Deutsch-
Handel er zugestanden und nach Jahren des Streits land von der Wegwerfkultur abzulassen.
seine Partei, die Grünen, verlassen. Was er in SPIEGEL: Erklären Sie mal das Prinzip der
seiner Auszeit im Juni vorhat und wie er künf- Verpackungsteuer.
tig Shitstorms vermeiden könnte, darüber will Palmer: Wir setzen auf den natürlichen Trieb
er nicht sprechen. des Menschen, Steuern zu sparen. Wer in Tü-
bingen Kaffee im Einwegbecher oder Pommes
SPIEGEL: Herr Palmer, das Bundesverwal- in einer Pappschale kauft, zahlt pro Verpa-
tungsgericht hält die Verpackungsteuer für ckung 50 Cent Steuer, für ein Besteckteil wer-

Busy is the rechtens. Die Grünen könnten stolz auf Sie


sein. Was Berlin nicht schafft, schafft Tübin-
gen. Bedauern Sie Ihren Parteiaustritt?
den 20 Cent fällig. Das führt dazu, dass die
Menschen nach Mehrweg fragen und lieber
Pfand als Steuer zahlen. Denn Pfand gibt es
new stupid! Palmer: Den bedauere ich in der Tat, weil ich
mich als überzeugter Ökologe immer bei den
zurück, die Steuer nicht.
SPIEGEL: Steuern zu erheben macht unbeliebt,
Warum wir eine neue Kultur Grünen wohlgefühlt habe, ich war dort was sind die Vorteile?
27 Jahre lang Mitglied. Der Austritt hatte aber Palmer: In der Altstadt hatten wir Unmassen
der Arbeit brauchen ganz andere Gründe. Ich freue mich, wenn von Verpackungsmüll. Die To-go-Kultur hat
meine frühere Partei sich an den ökologischen in den letzten Jahren extrem um sich gegrif-
Fortschritten einer kleinen Stadt wie Tübin- fen, das stört viele. Dazu kommt der globale
gen orientiert, deren Oberbürgermeister nun Aspekt des Ressourcen- und Klimaschutzes.
Weitere Themen: eben parteilos ist.
SPIEGEL: Haben Ihnen Grüne gratuliert?
Reputation Palmer: Ich war am Tag des Urteils auf dem
Wenn der gute Ruf bedroht ist Deutschen Städtetag in Köln, da gab es von
vielen Seiten Zuspruch, auch von grünen
Kommunalpolitikern.
SPIEGEL: Ist jetzt Bundesumweltministerin
Technologie Steffi Lemke am Zug?
Lassen Sie Algorithmen Palmer: Die Deutsche Umwelthilfe hat sie be-
reits dazu aufgefordert, aktiv zu werden. Nach
entscheiden dem Urteil benötigt Tübingen diese Hilfe
nicht mehr. Ich hatte die Ministerin ange-
schrieben, uns Kommunen im Prozess vor
Marketing dem Bundesverwaltungsgericht den Rücken
Wie Sie Daten richtig nutzen zu stärken. Leider vergebens.
SPIEGEL: Sie haben es mit McDonald’s auf-
genommen und den Rechtsstreit in zweiter
Instanz gewonnen. Können Sie sich als Big-
Mac-Fan dort noch sehen lassen?
Palmer: Ich hoffe sehr, das muss ich auspro-
bieren. Der Big Mac mit der leckeren Chemie-
Julian Rettig

manager-
Nachrichten soße ist für mich eine Kindheitserinnerung.
Jetzt
* Hier eine App Fußnote. Nequatquia
zweizeilige Das gönne ich mir hin und wieder. Ich würde
downloaden
que a volupta tenita pra nonseque magnatia. mich freuen, wenn ich im Tübinger Restaurant Oberbürgermeister Palmer

36 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


harvardbusinessmanager.de
DEUTSCHLAND

Es ist einfach wahnsinnig viel Energie und


Material, das für wenige Sekunden Nutzung SPIEGEL TV Programm
verschwendet wird. Für unsere Städte ist das
Urteil des Leipziger Gerichts ein Durchbruch,
es ist ein wichtiger Sieg für die kommunale
Selbstverwaltung. Die Gesetzgebung gestat-
tet uns, dass wir unser Müllproblem selbst
lösen dürfen.
SPIEGEL: Ein ökologisches Gewissen lässt sich
nicht verordnen. Viele Kunden zahlen lieber,
als dass sie Mehrwegbecher zurückbringen.
Palmer: Genau deswegen haben wir Einweg
nicht verboten, sondern einen Preisvorteil für
Mehrweg geschaffen. Wer bereit ist, 50 Cent
für Einweg zu bezahlen, der beteiligt sich we-
nigstens an den Entsorgungskosten. Das ist
auch in Ordnung.
SPIEGEL: Es gibt seit Anfang 2023 eine gesetz-
liche Mehrwegpflicht in der Gastronomie.
Warum setzen Sie die Steuer obendrauf?
Palmer: Das Gesetz ist gefloppt, das steht fest.
Es hat dazu geführt, dass der Mehrwegbecher
zwar angeboten wird, aber hinten einsam im

Getty Images
Regal steht. Damit ist die Pflicht erfüllt. Ge-
nutzt wird er deshalb noch lange nicht. Wir
haben jetzt das erste Instrument entwickelt, US-Patrouille in Panama
das wirklich zu Abfallvermeidung führt.
SPIEGEL: In Tübingen greift die Steuer bereits
seit Anfang 2022. Wie kommt sie an? SPIEGEL GESCHICHTE Außengrenzen der Europäischen Union
Palmer: Die Zahl der Betriebe, die Pfand- DONNERSTAG, 1. 6., 20.15 – 21.00 UHR, ist in den vergangenen 20 Jahren
geschirr eingeführt haben, ist explodiert. SKY/VODAFONE um nahezu 1000 Prozent gestiegen.
In keiner Stadt in Deutschland wird auf Kontrollen laufen oft ins Leere, weil
100.000 Einwohner so viel Mehrweg ange- Schattenkriege – Machtpoker es bislang keine wirkliche internationale
boten wie in Tübingen. Uns geht es dabei in der Krise: US-Invasion in Kooperation bei der Strafverfolgung
nicht darum, Einnahmen zu generieren, son- Panama gibt. Ideale Voraussetzungen für zwie-
dern den Abfall zu vermeiden. Am 20. Dezember 1989 marschierten lichtige Geschäftemacher, die auf dem
SPIEGEL: Wird Tübingen jetzt Blaupause für mehr als 20.000 US-Soldaten in Panama Schwarzmarkt Milliarden verdienen.
die Republik? ein, um Militärdiktator Manuel Noriega
Palmer: Da bin ich sehr optimistisch, es wer- und seine Panama Defense Forces zu
den viele nachziehen. In Konstanz haben sie stürzen. NACHT-DOKU
schon einen Vorratsbeschluss des Gemeinde- Nur sechs Jahre zuvor stand er noch auf DONNERSTAG, 1. 6., 0.35 – 1.25 UHR, RTL
rats in der Schublade. Auch andere Kommu- der Gehaltsliste der CIA.
nen sind mit dabei, ihr Vorteil ist: Sie haben Welche Ziele verfolgten die USA mit der Ein Volk auf Droge
nun einen rechtssicheren Satzungstext, um Invasion in Panama?  Innerhalb weniger Jahre ist Kokain
die Steuer einzuführen. zu einer Volksdroge geworden.
SPIEGEL: Sie halten sich auf Facebook und Co. Mittlerweile wird Europa von dem Stoff
zurzeit zurück. Werden Sie sich nach Ihren NACHT-DOKU aus Südamerika regelrecht über-
umstrittenen Äußerungen ganz aus den so- MITTWOCH, 31. 5., 0.35 – 1.25 UHR, RTL schwemmt. Das hat die Suchtprobleme
zialen Medien verabschieden? auch in den deutschen Großstädten
Palmer: Ich habe Anfang Mai die sozialen Schmutzige Geschäfte – weiter verschärft. Dort führen Drogen-
Medien für mich ausgeschaltet und will das der Kampf gegen Cops seit Langem einen fast aus-
erst mal bis Ende Juni so lassen. Ich nehme den illegalen Handel sichtslosen Kampf gegen die Dealer
mir jetzt einen Monat Auszeit, wie angekün- Die Anzahl der beschlagnahmten illega- und ihre Klientel.
digt. Ich habe auf Facebook eine Ausnahme len Waren wie geschützten Tieren an den
gemacht: ein Post zu dem historischen Erfolg
vor dem Bundesverwaltungsgericht. NACHT-DOKU
SPIEGEL: Was steht in der Auszeit an? FREITAG, 2. 6., 0.35 – 1.25 UHR, RTL
Palmer: Das sage ich niemandem, sonst wäre
es keine Auszeit. Ich werde Journalisten- Unternehmen Abriss
anfragen genauso abschalten wie das Dauer- Von fachgerechter Entkernung über
getrommel auf Facebook. Entsorgung von sensiblem Sondermüll
SPIEGEL: Sie wollen sich professionelle Hilfe bis hin zum nahezu chirurgischen Rück-
holen. Was wollen Sie an sich ändern? bau von Hochhäusern reicht die Band-
Palmer: Erst mal möchte ich nur verstehen breite moderner Abrissarbeiten heute.
und Ratschläge hören. Aber das ist meine Wenn Mensch und Maschine perfekt
SPIEGEL TV

ganz persönliche Sache, daran will ich die zusammenarbeiten sollen, ist in diesem
Öffentlichkeit nicht beteiligen. vermeintlich brachialen Gewerbe oft
Interview: Christine Keck n Verletztes Nashorn Fingerspitzengefühl gefragt.

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Jann Höfer / DER SPIEGEL

Nonnen in Angermund: Eine Gemeinschaft, die sich außerhalb des Ordens kaum gefunden hätte

38 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


DEUTSCHLAND

»Mit frommer Tünche kommt man


dem Leben nicht bei«
GLAUBE Überall schließen Klöster – die Kölner Benediktinerinnen aber haben so viel Zulauf,
dass sie eine Zweigstelle aufgemacht haben. Was ist ihr Geheimnis? Von Katja Thimm

lles schon dunkel hier an diesem Abend Es klirrt. Schwester Josephine bückt sich, morgendlicher Lobgesang und innere
A um halb neun. Die Klingel neben der
Eingangstür gibt einen schnarrenden
Ton ab, dann leuchtet im Erdgeschoss das
der Habit, das schwarze Gewand, bauscht sich
in der Bewegung. Ihr Rosenkranz ist aus der
Tasche gerutscht. Der sei ihr wichtig, erzählt
Einkehr.
»Wir beginnen auf Seite 134«, sagt Schwes-
ter Emmanuela und greift nach einem dicken
Licht auf. Eine Frau in schwarzem Gewand sie, während sie ihn aufhebt. Ihre Tochter blauen Buch. Das »Benediktinische Antipho-
öffnet die Tür, Schwester Josephine. »Herz- habe ihn von einer Reise mitgebracht. nale« ist eine Sammlung von Psalmen und
lich willkommen«, sagt sie leise und geht Ihre Tochter? Wir alle hier, sagt die Nonne, Noten für Wechselgesänge, ähnlich gregoria-
durch den Flur voran zu einem Gästezimmer: hatten mal ein anderes Leben. nischen Chorälen.
Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, ein Sessel, »Herr, öffne meine Lippen«, beginnt
sie hat den Raum gerade erst eingerichtet. Morgens 7 Uhr. Das Leben im Kloster ist durch- Schwester Rafael,
Schwester Emmanuela, Schwester Rafael, strukturiert: Nächtliches Schweigen, Große »so wird mein Mund dein Lob verkünden«,
Schwester Tabita und Schwester Benedikta Stille und jeden Tag fünf Zusammenkünfte in singen die anderen.
sind schon in ihren Zimmern. Und auch Jan der Kapelle, samstags sind es vier. Diese erste Dreimal geht es hin und her, die Schwestern
Opiéla, der Mann in diesem Kloster. dauert gut 30 Minuten. Die Bänke stehen im stehen auf und knien nieder. Von draußen
Seit September bewohnen die fünf Non- Halbrund um einen nüchternen Altar. Schwes- dringt Straßenlärm herein. Herr, erbarme
nen den schlichten roten Backsteinbau aus ter Emmanuela und Schwester Tabita sitzen dich. Gegrüßet seist du, Maria.
den Sechzigerjahren im Düsseldorfer Stadt- rechts, Schwester Josephine und Schwester
teil Angermund. Ihre Ordensgemeinschaft, Rafael links. Sie alle haben ihren bürgerlichen Am Vormittag wischt Schwester Tabita die
Benediktinerinnen vom Heiligsten Sakra- Namen gegen einen biblischen getauscht, Ra- Tische im Speisesaal ab. Eine Taufgesellschaft
ment, brauchte Platz. In den vergangenen fael leitet sich vom Engel im Alten Testament wird gleich im Katharinenkloster feiern,
zwölf Jahren hatten sich 25 Frauen in dem ab. Schwester Benedikta, mit 84 Jahren die 50 Gäste, die Eltern sind zwei Väter. Tabita
Kölner Heimatkloster gemeldet: Sie wollten Älteste, kommt erst zu den späteren Stunden- trägt einen grauen Arbeitshabit, so wie alle,
eintreten, Nonne sein. Nach mehreren Jah- gebeten dazu. wenn sie aufräumen, putzen, Kartoffeln schä-
ren Probezeit waren 8 nicht mehr dabei, aber Jan Opiéla sitzt in der Mitte. Er hat len oder Unkraut jäten. 50 Jahre alt ist
17 sind geblieben, die jüngste 23 Jahre alt, einen grauen Schal um den Hals geschlungen, Schwester Tabita und seit fast neun Jahren
das Kölner Kloster allein reicht ihnen nicht die Luft im Raum ist kühl. Opiéla ist Pries- Nonne, vorher hat sie als Friseurin in einem
mehr aus. ter, dass er mit den Nonnen zusammenlebt, Salon in der Nähe von Hannover gearbeitet.
Ein Orden, der expandiert, der aus seinen hat mehrere Gründe. Doch dazu später, Sie habe eine Kirche lange Zeit allenfalls
Mauern platzt, in einer Zeit, in der Klöster nun erst einmal »Laudes und Betrachtung«: betreten, um eine Kerze anzuzünden, erzählt
zu Fitnessstudios oder luxuriösen Eigen- sie. Dann sei ihre Mutter gestorben. Über
tumswohnungen umgebaut werden, das ist Facebook habe sie Kontakt zu einer Nonne
eigentlich unvorstellbar. Ausgerechnet in bekommen.
Köln, mit all den Schlagzeilen über Miss- Die Geschichte ihrer Berufung hört sich in
brauch, Vertuschung und Machtgier im Erz- dieser kurzen Fassung geradliniger an, als sie
bistum. sich zugetragen hat, aber am Ende fuhr die
Was hält die Frauen hier? Manche Psal- Friseurin von Kloster zu Kloster, um sich
men, die sie jeden Tag singen, sind 3000 Jah- darüber klar zu werden, in welchem Orden
re alt, ihre Ordensregel stammt aus dem sie künftig als Nonne leben wollte. Am 1. Sep-
sechsten Jahrhundert; ein Mann, Benedikt tember 2013 habe sie die Kölner Benedikti-
von Nursia, hat sie sich ausgedacht: viel nerinnen gefragt: Was muss ich tun, um ein-
arbeiten, wenig reden, reichlich beten, ohne zutreten? Ihre Brüder hätten die Augen gerollt
Eigentum leben, ohne Partnerschaft und zu- und Sprüche geklopft. Ihren Lieblingsteddy,
rückgezogen von der Welt. Was kann daran 1,50 Meter groß und ein Geschenk der Mutter,
attraktiv sein? Früher waren Frauenklöster musste sie wie fast ihr gesamtes Eigentum
oft Orte der Emanzipation. Nonnen manag- verschenken.
ten Klosteranlagen, sie arbeiteten schon als Sie liebe das hier, sagt die Nonne. Dieser
Jann Höfer / DER SPIEGEL

Lehrerin, Krankenschwester oder Landwir- Jesus, dem sie ihr Leben verschrieben hätten,
tin, als für andere Frauen ausschließlich die habe einen großen Vorteil. »Er hatte kein Ego,
Rolle der Ehefrau und Mutter vorgesehen das er ständig vor sich hertragen musste. Das
war. Aber heute? Zweimal war der SPIEGEL macht ihn total überzeugend.«
bei ihnen, um Antworten zu finden, fünf Tage Verglichen mit anderen Schwestern ist Ta-
insgesamt. Katharinenkloster in Düsseldorf-Angermund bita mitteilsam. Neun Hunde habe sie früher

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

gehabt und sich auch ein Leben mit Schwester Emmanuela: ist promo-
Kindern vorstellen können. »Ich hat- vierte Musikwissenschaftlerin, hat
te Beziehungen, habe aber nicht den einen Masterabschluss in Organisa-
richtigen Mann gefunden, bis ich vier- tionsberatung und coacht bei Proble-
zig war. Diese Grenze hatte ich mir men am Arbeitsplatz. In Köln war sie
gesetzt.« Doch auch Tabita erzählt die Priorin, die Chefin des Ordens,
nur, wenn sie gefragt wird. Nicht jede auch hier läuft alles bei ihr zusam-
Nonne ist zu einem Gespräch bereit. men. Sie schreibt in einem Internet-
Oder sie ziehen Grenzen wie Schwes- blog über den Klosteralltag, sie ist seit
ter Josephine, die darüber schweigt, 40 Jahren Nonne, obwohl sie es vor-
wie ihre erwachsenen Kinder es fin- her unvorstellbar fand.
den, dass sie jetzt im Kloster lebt. Schwester Josephine: war verhei-
Schwester Tabita sagt: »Früher hätte ratet und besucht regelmäßig ihre
ich mich wohl nicht dafür entschie- Kinder und Enkelkinder. Sie leitete
den. Heute ist es als Nonne lockerer, als Einzelhandelskauffrau früher in
jedenfalls bei uns. Und dieser Neu- einem Supermarkt die Theke für
anfang hier in Angermund ist sowie- Wurst und Käse. Seit zehn Jahren ist
so toll. Ich fühle mich manchmal wie sie Nonne. Als die Kinder erwachsen
in einem Start-up-Betrieb.« waren, habe sie sich für ein Leben als
Die Nonnen müssen den Unter- Ordensfrau berufen gefühlt. Beru-
halt für ihr Kloster selbst erwirt- fung bedeute für sie, dass sie nicht
schaften, das ist eine Voraussetzung, anders handeln konnte und die Ge-
um unabhängig zu werden. Noch ist wissheit hatte, ihre Entscheidung

Jann Höfer / DER SPIEGEL


das Kloster eine Zweigstelle des Köl- sei absolut richtig. Im neuen Kloster
ner Mutterhauses, doch der Vatikan sucht sie die Einrichtung für die
hat die Neugründung bereits erlaubt. Zimmer zusammen, oft findet sie Ku-
Als monastischer Orden leben die gelleuchten und String-Regale im
Benediktinerinnen zurückgezogen Original, die Gäste mögen den Vin-
und verdienen ihr Geld üblicherwei- tagestil.
se nicht außerhalb des Klosters in hen die Feiernden hinter dem Pfarrer Schwester Emma- Schwester Benedikta: ist seit
Krankenhäusern, Kindergärten oder durch den Kreuzgang in die Kapelle. nuela: Ginge es 60 Jahren Nonne und kennt noch die
nach ihr, könnten
Schulen. Priester in einer
Zeit, in der es Ordensschwestern
Sie überlegen, ein Café oder einen Um 11.35 Uhr läutet Schwester Rafael Partnerschaft leben, untersagt war, beim Fensterputzen
Laden in der ehemaligen Kloster- die Glocke im Innenhof zum Mittags- wenn sie wollten durch die Scheibe nach draußen zu
garage zu eröffnen, sie planen eine gebet. Zwei Schwestern bringen schauen. Anfang der Fünfzigerjahre
Praxis für Psychotherapie und Coa- Papiertaschentücher mit in die Kapel- machte sie im katholisch geprägten
ching, zwei Schwestern sind entspre- le, im Haus grassiert eine Erkältung. Krefeld eine Ausbildung zur Verkäu-
chend ausgebildet. Und vor allem Wieder ein Wechselgesang. »Oh Gott, ferin in einem Handarbeitsgeschäft.
denken sie an Übernachtungsgäste, komm mir zur Hilfe.« Zu ihren Kundinnen hätten Franzis-
an Menschen, die Ruhe und Sinn su- »Herr, eile mir zu helfen.« kanerinnen gehört, die hätten sie
chen oder auch Tagesstruktur und Nach einer Viertelstunde verlässt fasziniert. Man habe von ihr dort
Trost. Ein paar sind schon da, es gibt Schwester Tabita die Kapelle, sie muss erwartet, Kranke zu pflegen, das
Räume und Schlafplätze für kleinere sich ums Essen kümmern. Die anderen habe sie überfordert. Bei den Bene-
Gruppen, bei Bedarf auch Seelsorge, sitzen noch einen Moment lang in sich diktinerinnen restauriert sie Ikonen
die ist inklusive. Ein Rückzugsort, versunken auf den Bänken. und verziert Kerzen. Sie liebt den
kein Hotel. Weil das Kloster, das sie Karneval und war die Erste, die sich
von Dominikanerinnen übernommen Zum Mittagessen versammeln sich für den Neuanfang in Düsseldorf
haben, längst noch nicht vollständig die Nonnen im Refektorium, ihrem meldete.
renoviert ist, müssen die Nonnen im- privaten Speisesaal. Er gehört zur Schwester Tabita: schneidet der
provisieren. Einen Gast, einen Mann, Klausur, dem Teil des Klosters, der Runde die Haare. Backt viel und mag
haben sie gerade im Schlaftrakt der für andere üblicherweise gesperrt ist. knallige Farben. Bei ihrem Eintritt ins
Schwestern untergebracht. Und auch Im Katharinenkloster hat jede Nonne Kloster trug sie einen Sidecut und
für Hochzeiten und Tauffeste öffnen zwei Zimmer zur Verfügung, eines hatte die Haare auf einer Seite bis auf
sie ihr Kloster. zum Schlafen, eines zum Arbeiten, drei Millimeter abrasiert. Sie fährt
Schwester Tabita trägt jetzt stapel- sogenannte Zellen, die meisten sind gern Auto. Fehlt zwischendurch Mehl
weise Teller und Tassen in den Speise- 13 Quadratmeter groß. Das Badezim- oder Zahnpasta, zieht sie ihre Jeans
saal. Die Gäste kommen, gut 60 Men- mer teilen sich die Frauen. Zur Klau- und ihre pinkfarbenen Sneaker an
schen drängen sich am Eingang. Die sur gehören außerdem ein Versamm- und fährt mit dem roten Fiat des Klos-
Kleider sind festlich, die Kinder or- lungsraum, Konvent genannt, die »Ich bin nicht ters los.
dentlich gekämmt, Umarmungen. Küche, die Bibliothek und weitere wegen der Schwester Rafael: erledigt gemein-
Dann hebt Jan Opiéla die Stimme, er Gemeinschaftsräume. sam mit Pfarrer Jan Opiéla einmal in
wird gleich den Gottesdienst halten: Es ist eine Gemeinschaft, die sich Kirche in den der Woche den Großeinkauf bei Aldi,
»Früher mussten die Eltern die Kirche außerhalb eines Ordens kaum gefun- Orden ein­ Lidl und einem Bäcker und wollte
bitten, ihr Kind zu taufen. Heute be- den hätte. Bis auf Schwester Bene- schon als Schülerin ins Kloster ein-
danken wir uns bei Ihnen, dass Sie dikta sind alle zwischen fünfzig und
getreten, im treten. Sie ist die beste Sängerin der
kommen!« Der Täufling greint. Seine sechzig Jahre alt, für den Neuanfang Gegenteil.« Gruppe, außerdem Handwerksmeis-
beiden Väter lächeln angestrengt, die waren Nonnen mit Lebenserfahrung Schwester terin im Sticken und als Küsterin ver-
Paten verteilen Kerzen. Singend zie- gewünscht. Emmanuela antwortlich für die Kapelle.

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Schwester Tabita rollt einen Teewagen herein, Hardcore. Mit frommer Tünche kommt man Die Benediktinerinnen unterstehen kei-
auf dem Schüsseln mit Bratwürsten, Schnip- ihm nicht bei.« nem Bischof, sie wählen ihre Priorin alle
pelbohnen und Kartoffeln stehen. Die Non- Sie zieht ihre schwarze Fleecejacke über sechs Jahre. Ginge es nach Schwester Emma-
nen bedienen sich stumm und schenken Was- dem Habit zusammen, der Wind zerrt an den nuela, könnte es in der Amtskirche bei den
ser in bunt bemalte Keramikbecher ein. Bäumen im Klostergarten. Schwester Emma- Bischöfen genauso sein. Außerdem hätten
Schwester Benedikta tropft Arznei auf einen nuela ist begeistert von dem nüchternen Bau, Frauen in der Kirche die gleichen Rechte wie
Löffel. Die Tische sind so zusammengescho- drum herum Wiesen und Einfamilienhäuser, Männer, und Priester könnten in einer Part-
ben, dass alle durch das Fenster die Vögel in keine hohen Mauern, sie walke hier jeden nerschaft leben, wenn sie wollten. Schwester
den Bäumen beobachten können. Gespro- Morgen, sagt sie. Der Architekt war dem Emmanuela ist anzumerken, dass sie Orga-
chen wird beim Essen nicht, auch das ist eine Zweiten Vatikanischen Konzil verpflichtet, es nisationsberatung studiert hat, es geht ihr um
Regel der Benediktinerinnen. Und dass sich hatte der katholischen Kirche 1965 mehr Freiräume, Mitbestimmung, Unabhängigkeit.
der Orden trotz aller Zurückgezogenheit für Weltoffenheit und Modernität verordnet. Als sie 1982 ins Kloster eintrat, kam bei Be-
den Rest der Welt interessieren soll. »Das Gebäude passt zu uns«, sagt die Nonne, such unterschiedliches Porzellan auf den
Schwester Emmanuela schaltet ihren Lap- die als Buchautorin unter dem Namen Em- Tisch: Goldrand für die Herren, damit waren
top ein und lässt die »Informationen am manuela Kohlhaas bekannt ist und auch als Priester gemeint, Zwiebelmuster für die Män-
Abend« abspielen, die der Deutschlandfunk Coach Geld für das Kloster verdient. Sie gilt ner, das waren die Handwerker, die im Klos-
am Vortag gesendet hat. Die Reporter be- als treibende Kraft für den Erfolg. In ihren ter arbeiteten. Hierarchie bis ins kleinste
richten von zerstrittenen Abgeordneten im Büchern geht es um Ungehorsam und gute Detail, »wir versuchen, es hier anders zu
amerikanischen Repräsentantenhaus, vom Leitung, sie formuliert Gedanken wie: Die machen«, sagt sie. Wäre es nicht so, könnten
Streit in der CSU, vom Krieg in der Ukraine. Hierarchie der katholischen Kirche erinnert sie nicht dabeibleiben, sagen manche Mit-
Schwester Tabita verteilt jetzt schweigend an Absolutismus. schwestern.
Eis am Stiel, die anderen greifen wortlos zu. An diesem Vormittag im Klostergarten sagt Was alle betreffe, werde von allen ent-
Abends werden sie sich unterhalten, am kom- sie: »Die alten Psalmen handeln von allen schieden, ob es um Gardinenstoffe gehe oder
menden Tag wird eine Mitschwester aus Köln Erfahrungen des Menschseins, auch von den um den Neustart dieses Klosters. Das sei
zum Helfen anreisen, Clara, sie wird bald hier Abgründen. Und die Kirche hat das Problem, nicht in allen Klöstern so, und so sei dort
mit ihnen leben und als Heilpraktikerin arbeiten, dass sie die Menschen in diesen Erfahrungen dann auch die Atmosphäre, sagt Schwester
es gibt jeden Abend viel zu besprechen. Eine zu wenig begleitet. Stattdessen hat sie jahr- Tabita. Zum Davonlaufen. Als sie sich im
knappe Stunde ist dafür vorgesehen, nur sams- hundertelang ein restriktives Moralgebäude Unklaren war, ob sie mit umziehen wolle,
tags nicht, da dauert die Andacht länger und errichtet – eine Moral, gegen die sie allzu oft übernachtete sie in Angermund in einem
geht direkt in das Nächtliche Schweigen über. selbst verstößt, wie die Missbrauchskrise Campingbus, um ein Gefühl für die Gegend
zeigt. Da wenden sich die Leute zu Recht ab.« zu bekommen. Es gibt einen Schrank mit
17 Uhr, das nächste Stundengebet in der Ka- Auch andere Schwestern im Kloster hadern Süßigkeiten, an dem sich alle bedienen kön-
pelle. Auch die Vesper dauert 30 Minuten, mit der Kirche, mit der Rolle der Frau, mit nen, die Nonnen haben 21 Ferientage, und
und wieder singen die Nonnen im Wechsel den Missbrauchsfällen. Sie haben Freunde ob sie nach dem Nachtgebet in ihrer Zelle
die Psalmen aus dem Alten Testament. Es sind und Verwandte, die aus der Kirche ausgetre- noch ins Internet gehen, ist ihre Sache. Em-
oft martialisch klingende Texte, sie handeln ten sind; sie fragen sich, ob sie überhaupt noch manuela hat für jede Nonne ein Smartphone
von Königen, die in Schrecken erstarren, und als Ordensfrau leben können. Die Antworten, besorgt, die betagte Schwester Benedikta
Schiffen, die der Sturm zerschmettert. Es fallen die sie auf solche Zweifel finden, laufen auf trägt es in einer Umhängetasche unter dem
die Worte Frevler, Feinde, Unrecht, Sieg, Zu- einen Satz hinaus: Ich halte mein Gesicht für Habit. Schwester Tabita sagt: »Ich kann hier
flucht, Bosheit, Liebe, Scham. Die ganze Welt die Idee hin und zeige, dass Kirche auch an- so sein, wie ich bin.«
soll den Herrn fürchten. ders sein kann. »Ich bin nicht wegen der Kir- »Natürlich gehen wir uns auch auf die Ner-
che in den Orden eingetreten, im Gegenteil«, ven«, sagt Schwester Emmanuela. »Die eine
»Die Psalmen sind Hardcore«, sagt Schwester sagt Schwester Emmanuela. »Jesus Christus leert den Müll nicht aus, die andere guckt
Emmanuela beim Rundgang durch die An- war gerade kein Vertreter einer machtbewuss- komisch, die nächste hätte wahnsinnig gern
lage. »Die Texte. Aber das Leben ist auch oft ten Institution.« ein Haustier. Das ist wie in jeder WG.« Nur
zieht man aus anderen Wohngemeinschaften
aus, wenn es zu viel wird. Und hier? In
schwierigen Fällen helfe der Blick von außen,
antwortet sie, manchmal auch Moderation,
Supervision und Coaching von professionel-
len Beratern, das habe in Köln schon gut funk-
tioniert.

18 Uhr, heilige Messe, ein öffentlicher Gottes-


dienst. Die Besucherinnen und Besucher kom-
men aus der Nachbarschaft und den umlie-
genden Städten. In den ersten Wochen waren
es oft zwei oder drei, inzwischen mussten die
Nonnen zusätzliche Gesangbücher besorgen,
weil die Kirche manchmal voll besetzt ist.
Sonntags beginnt die Messe um 10 Uhr, ein
paarmal seien schon mehr als 100 Leute ge-
Jann Höfer / DER SPIEGEL

kommen.
Schwester Emmanuela spielt die Orgel,
Schwester Josephine liest eine Geschichte aus
dem Buch Daniel vor, es geht um angeblichen
Ehebruch. Opiéla predigt, er spricht über ein
Kapelle im Kloster: Jeden Tag fünf Zusammenkünfte, samstags sind es vier Bibelwort aus dem Johannesevangelium, das

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

auch Nichtchristen geläufig ist: Wer von euch


ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein
»Die Andersdenker, die Kloster anders. Viele Gäste, die kämen, wür-
den sagen: Der Pfarrer zu Hause taugt nix,
auf sie. Priester mit neuen Ideen, der Woelki nervt, aber es gibt ja noch die

Der Priester bewohnt fünf Zellen im Ober-


sind aussortiert worden.« Schwestern.
Opiéla hat seine Wohnung mit Designer-
geschoss, die zu einem Wohnzimmer, einem Pfarrer Jan Opiéla möbeln eingerichtet, die Sessel, der Couch-
Schlafzimmer und einem Bad zusammenge- tisch, das schwarze Ledersofa, alles Ent-
legt sind. Nach dem Abendessen erzählt er würfe der klassischen Moderne. In seiner
bei Rotwein und Fassbrause von seinen Ein- Familie habe man gesammelt, sagt er. Der
drücken aus diesem Kloster. Es erinnert an Vor 20 Jahren wurden er und sein Mit- Vater war Jurist und Künstler, seine Bilder
den Bericht eines Ethnologen bei der Feld- bewohner zum Kölner Kardinal Joachim hängen nun in den Fluren und Zimmern des
forschung. Jan Opiéla ist kein Klostermann. Meisner zitiert. Ein anderer Geistlicher hat- Klosters.
Der 69-Jährige hat in seinen Ferien schon als te sie angezeigt: Die beiden Seelsorger wür- »Ich lebe jetzt da, wo ich auch im Ruhe-
Schiffskoch angeheuert, er hat lange als Pfar- den homosexuell zusammenleben. Fünf Mo- stand bleiben kann«, sagt Opiéla. Oft breche
rer in einer Gemeinde gearbeitet und sich in nate lang untersuchte das Erzbistum die Vor- für Priester alles zusammen, wenn sie in Ren-
Köln mit einem Kollegen eine Wohnung ge- würfe, bis es sie als unbegründet einstufte te gingen. »Sie müssen den Posten räumen
teilt. Als der Mitbewohner starb und Opiéla und in den Lokalzeitungen den Irrtum ein- und an einen Ort ziehen, an dem sie nieman-
trauernd allein zurückblieb, fragten die Non- räumte. Trotzdem wurde Opiéla von seiner den kennen. Ich kann dann einfach zwischen-
nen ihn, ob er mit ins Kloster ziehen wolle. Pfarrgemeinde abberufen, seit zwölf Jahren durch unten mal gucken gehen.«
Opiéla ist beim Essen oder bei den Treffen in ist er hauptberuflich bei der Deutschen Bi-
der Bibliothek dabei, wenn er Zeit hat. Er hilft schofskonferenz in Bonn für die Seelsorge- 20 Uhr, Nachtgebet. In der Kapelle brennen
den Schwestern bei der Renovierung, reißt arbeit von Sinti und Roma zuständig. Für ihn Kerzen. Die Nonnen erheben sich, sie sagen:
alte Fenstergitter heraus und verputzt Wände, sei das Erlebnis nicht nur zutiefst kränkend »Ich bekenne, dass ich Gutes unterlassen und
er kocht. Und er darf, anders als Frauen, eine gewesen, er sehe darin auch ein grundsätz- Böses getan habe.« Sie bitten um Vergebung,
katholische Messe zelebrieren. liches Problem, sagt er. um Schutz und Frieden, um eine gute Nacht,
»Besser lässt sich die Absurdität unserer »Die Andersdenker, die Priester mit neu- für alle Menschen. Zum Abschluss besprengt
Kirche nicht fassen«, sagt er. »Hier leben en Ideen, sind aussortiert worden, bis keiner Schwester Rafael jede Mitschwester mit Weih-
lauter selbstbewusste und selbst organisier- Lust mehr auf den Werdegang hatte. Dass wasser, der Segen beschließt den Tag.
te Frauen, und genau diese Art von Frauen- nun in vielen Gemeinden die Pfarrhäuser leer
kloster ist von der Kirche legitimiert und stehen und allenfalls am Wochenende mal An diesem Abend aber klettert eine noch ein-
gewünscht. Aber für die heilige Messe, die ein Priester zum Gottesdienst anreist, ist ein mal auf die Leiter und streicht eine Zimmer-
Eucharistiefeier, brauchen sie einen Mann. riesiges Problem. Die Menschen haben keine decke. Sie sorgt sich, dass die Farbe sonst bis
Dabei könnten sie das selbst genauso gut.« Anlaufstelle.« Und genau das sei hier im zum nächsten Tag im Eimer austrocknet. n

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Wie eng seine Kontakte zum Kreml Man kann Niemeyer als verwirr-
tatsächlich sind, lässt sich nicht über- ten Reichsbürger und Wichtigtuer ab-
prüfen, aber es wäre nicht das erste tun, als unterhaltsamen Sidekick,
Mal, dass Niemeyer es in eine Fuß- doch dass er gelegentlich eine bedeu-
note der Geschichte geschafft hätte. tendere Rolle spielt, als man ihm zu-

Irgendwie Der 53-Jährige ist eine Art deutscher


Forrest Gump, irgendwie immer da-
bei, wenn auch nur im Hintergrund.
traut, belegten zuletzt Ermittlungen
zu der Reichsbürgergruppe um Hein-
rich XIII. Prinz Reuß. Die Truppe

immer dabei Kürzlich verklagte er einen Autor und


einen FDP-Politiker, die behaupteten,
er sei an der Tötung des ehemaligen
stellte mutmaßlich Überlegungen zu
einem möglichen Umsturz der Regie-
rung an und kontaktierte Niemeyer,
schleswig-holsteinischen Ministerprä- um eine Verbindung zum Kreml zu
KARRIEREN Sahra Wagenknechts Ex-Mann sidenten Uwe Barschel 1987 beteiligt erhalten. Doch der machte nicht mit
Ralph Thomas Niemeyer sorgt mit seinen gewesen. Niemeyer behauptet, er sei und lieferte das Schreiben, das er
damals für den US-amerikanischen nach Moskau kurieren sollte, dem
Russlandverbindungen regelmäßig für Aufsehen. Geheimdienst unterwegs gewesen, deutschen Verfassungsschutz. Am
Wie intensiv sind seine Kontakte in aber ermordet habe er selbstverständ- Ende durchsuchte die Polizei auch das
den Kreml – und zu seiner ehemaligen Frau? lich niemanden. Niemeyers Geschich- Haus von Niemeyer, um an mehr Be-
te ist wie immer verworren, er geriet weise zur Reuß-Gruppe zu gelangen.
da irgendwie rein. Bleibt die Frage, welche Kontakte
alph Thomas Niemeyer führt Am 9. November 1989 will er es Niemeyer noch zu seiner Ex-Frau
R ein Jetsetter-Leben. Wenn man
ihn kontaktiert, ist er irgendwo
auf der Welt unterwegs, so erzählt er
gewesen sein, der auf der Pressekon-
ferenz in Berlin dem SED-Funktionär
Günter Schabowski die entscheiden-
Wagenknecht hat. Die »Washington
Post« berichtete kürzlich über russi-
sche Dokumente, die Pläne des Putin-
es. Einmal war er angeblich am Kili- de Frage stellte, die zum Fall der Ber- Regimes offenbarten. Demnach
mandscharo und verhandelte mit den Linkenpolitikerin liner Mauer führte. Ein Historiker wünscht man sich im Kreml eine
Massai über die Zukunft der Gold- Wagenknecht, bestätigt, dass er einer der vier be- Querfront aus Linken und Rechten in
Ex-Mann Niemeyer:
minen. Ein anderes Mal in den Ver- Bis heute reger teiligten Journalisten gewesen sei. Deutschland, die sich gegen die west-
einigten Arabischen Emiraten oder in Chataustausch Auch behauptet Niemeyer, er habe liche Unterstützung für die Ukraine
Brasilien und Argentinien. Da schick- 2017 in der SPD die Strippen gezo- stellt. Als möglicher Versuch stand
te er dann auch eine Aufnahme von gen, um den einstigen EU-Parla- dafür der von Wagenknecht und der
der Skyline in Buenos Aires, offiziell mentspräsidenten Martin Schulz zum Frauenrechtlerin Alice Schwarzer or-
Urban Zintel / DER SPIEGEL

arbeitet er als Journalist. Kanzlerkandidaten zu machen. Ein ganisierte »Aufstand für Frieden«.
Der Weltenbummler Niemeyer ist Foto von Niemeyer, das ihn im Hin- Die Frage steht im Raum, ob der
der Ex-Mann der Linkenpolitikerin tergrund von Schulz zeigt, soll das Kreml womöglich direkten Einfluss
Sahra Wagenknecht, weswegen vor belegen. Der SPD-Politiker gibt auf genommen hat. Im Artikel der »Wa-
allem eines seiner Reiseziele zuletzt Nachfrage an, er kenne den Mann shington Post« wird Niemeyer als Mann
für Aufmerksamkeit sorgte: Moskau. nicht. mit besten Kontakten zum Kreml auf-
Niemeyer behauptet, er würde dort geführt – der nach eigenen Angaben
direkt mit Putins Leuten über Gas- noch täglich in Kontakt mit seiner Ex-
lieferungen verhandeln – für Deutsch- Frau Wagenknecht sei. Auf Nachfrage
land. Alles nur Hochstapelei? Oder bestreitet das die Linkenpolitikerin.
pflegt er tatsächlich Kontakte in den Wagenknecht und Niemeyer lern-
Kreml? ten sich Mitte der Neunzigerjahre ken-
Im russischen Staatssender RT nen, als er sie interviewte. Anfang der
International tauchte Niemeyer in Nullerjahre reisten die beiden gemein-
den vergangenen Monaten jedenfalls sam nach Venezuela, Wagenknecht
regelmäßig als Experte auf, sprach traf damals auch den sozialistischen
über Donald Trump, Terror und Präsidenten Hugo Chávez. Die Ehe
Energiepolitik. Vorgestellt wurde er hielt etwa 15 Jahre.
als Vertreter eines »Deutschen Rates Und heute? Dem SPIEGEL liegen
für Verfassung und Souveränität«. Screenshots vor, die einen regen
Der Moderator bezeichnete ihn als Chataustausch zwischen den beiden
Anführer einer deutschen Opposi- belegen. An Ostern etwa schickte
tionsgruppe, offenbar ist damit Nie- Niemeyer ein Foto von sich aus Mos-
meyers Rolle in einer angeblichen kau an Wagenknecht, da steht er
Exilregierung gemeint. vor den Zwiebeltürmen der Basilius-
Er selbst will diese gegründet und Kathedrale, des Wahrzeichens der
für sie mit dem Kreml über mögliche russischen Hauptstadt. Niemeyer
Gaslieferungen nach Deutschland ver- schrieb: »Frohe Ostern!«. Wagen-
handelt haben. Es gibt auch Fotos von knecht antwortete: »Danke! Wünsche
Niemeyer, die ihn etwa auf dem Wirt- ich Dir auch!«
schaftsforum im russischen Wladi- Wagenknecht gibt dazu nur im
wostok zeigen, im Gespräch mit dem Hintergrund Auskunft. So viel lässt
russischen Außenminister Sergej sich aber sagen: Sie vermittelt den
Lawrow. Auch mit dem Gazprom- Eindruck, als halte sie ihren Ex-Mann
Chef Alexej Miller traf sich Niemeyer, nicht mehr für zurechnungsfähig.
Privat

Bilder zeugen davon. Timo Lehmann n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

Damit spielte Tornau auf Jungs Tirade im


Stadtrat an. Dort hatte er den nörgelnden
Ratsmitgliedern vorgeworfen, »den europäi-
schen Zusammenhang« und die angestrebte
CO2-Neutralität aus den Augen verloren zu

Eine Fahrspur wird grün, haben. »Ich finde es nicht normal«, so Jung,
»dass wir eine vierspurige Autobahn vor dem
Bahnhof haben«. Wer mit dem Zug nach Leip-

die Leute sehen rot zig komme, werde von Emissionen erschlagen
und müsse fürchten, überfahren zu werden.
»Wir«, und diesen Satz brüllte der SPD-
Politiker beinahe, »bauen diese Stadt für Men-
MOBILITÄT Wie soll die Stadt der Zukunft aussehen? In Leipzig ist eine schen um!«
Jung, gelernter Deutsch- und Religions-
Debatte über Radwege eskaliert – und das dürfte erst der lehrer, ähnelt eher einem Finanzfachwirt
Anfang sein. Der Fall lehrt einiges über die Tücken der Verkehrswende. als einem Umweltaktivisten. Aber er ist Mit-
initiator der Initiative »Lebenswerte Städ-
te und Gemeinden«, deren Mitglieder selbst
an muss sich Burkhard Jung als recht für Zweiräder freigeben, auf einer Länge über Tempo-30-Zonen entscheiden wollen.
M besonnenen Mann vorstellen. Der
Sozialdemokrat ist Oberbürgermeis-
ter von Leipzig, Vizepräsident des Deutschen
von 240 Metern, lediglich in eine Fahrt-
richtung.
Für die Mobilitätswende ist das ein lä-
In seiner Stadt forciert er noch weitere am-
bitionierte Ziele, sie ist inzwischen EU-Mo-
dellkommune und will mittelfristig klima-
Städtetags, Berufspolitiker seit fast einem cherlich kleiner Schritt, die Debatte darüber neutral werden. Schon bis 2030 soll der
Vierteljahrhundert. Mit Wutausbrüchen er- aber offenbart ein gewaltiges Problem: CO 2 -Ausstoß von Leipzig mit seinen
regte der 65-Jährige in all den Jahren keine Wie soll der Kampf gegen die Klimakrise 625.000 Einwohnerinnen und Einwohnern
Aufmerksamkeit. Aber neulich geschah es: gelingen, wenn schon ein grün bemaltes um fast zwei Drittel reduziert werden. Der
Nach sechsstündiger Stadtratssitzung redete Stück Straße den Volkszorn hochkochen Anteil des motorisierten Individualverkehrs
sich Jung vor laufender Kamera und vollem lässt? soll bis 2030 um ein Viertel schrumpfen,
Saal in Rage, ruderte mit Armen und Händen Zu denen, die sich nun leidenschaftlich für nachhaltige Mobilität dann 70 Prozent aus-
durch die Luft, schließlich rief er: »Ich bin frustrierte Autofahrerinnen und Autofahrer machen.
dankbar für diesen Versuch – und wir werden einsetzen, zählt vor allem die CDU. »Das ist Ein realitätsfernes Ökohirngespinst? Wis-
ihn nicht stoppen!« den Menschen in Leipzig nicht zuzumuten«, senschaftliche Expertisen deuten in eine an-
Worum es ging? Um einen Radweg. sagt Stadträtin Sabine Heymann, ihre Pro- dere Richtung: Das Umweltbundesamt etwa
In Leipzig gibt es derzeit kaum ein Thema, gnose: »mehr Stau und ein Ausbremsen des hat ausgerechnet, dass sich mit Fahrrädern
das mehr polarisiert. Seit Monaten zanken Verkehrs«. fast jede dritte Autofahrt in Städten problem-
Parteien und Medien, Aktivisten und Anwoh- Fraktionschef Frank Tornau erhob die An- los ersetzen ließe und man die Zahl der Fahr-
nerinnen, ob und wo der Autoverkehr ein gelegenheit gar zur »grundlegenden Entschei- zeuge drastisch reduzieren könnte. Eine
bisschen Platz abgeben soll für Fahrräder. dung«: Rathauschef Jung nutze die Gewerbe- Greenpeace-Analyse auf Grundlage von
Die Debatte flammt auch deshalb regel- steuermillionen der örtlichen Automobil- Daten aus 30 deutschen Städten kommt zu
mäßig neu auf, weil die Stadtverwaltung alle industrie – unter anderem BMW hat hier ein dem Ergebnis, dass 2747 Kilometer geschütz-
paar Monate irgendwo eine Fahrspur um- Werk mit 5300 Beschäftigten –, »um damit te Radwege entstehen könnten, und zwar für
widmet und grün übermalen lässt. Nun ist die Stadt in autofeindlicher Art und Weise vergleichsweise wenig Geld.
der Konflikt vollends eskaliert – es dürfte umzubauen«. Ohnehin sei das Verhalten des Mit Gesetzen und Analysen allein wird
der Auftakt eines brisanten Dauerstreits Oberbürgermeisters »ungebührlich und be- sich dieser gesellschaftliche Großkonflikt aber
werden. schämend«. sicher nicht befrieden lassen – denn es geht
Jung bezeichnet die Debatte als »provin- auch um Emotionen. Jana Kühl, 38, ist
ziell«, aber sie wird in vielen deutschen Groß- Deutschlands erste Professorin für Radver-
städten mit großer Emotionalität geführt. kehrsmanagement, die Leipziger Radweg-
Dabei leugnet kaum noch jemand das Pro- debatte bezeichnet sie als »idealtypisch im
blem: Die CO2-Emissionen müssen ange- schlechtesten Sinne«. Der Streit sei das Er-
sichts der Erderwärmung runter, so schnell gebnis einer Politik, die lange auf mit Autos
wie möglich, deshalb sollen unter anderem erreichbare Wohngebiete gesetzt habe. »Da-
mehr Fahrräder und weniger Autos unterwegs ran haben sich sehr viele Menschen gewöhnt«,
sein. Wo sollte das gut funktionieren, wenn sagt Kühl, »sie halten die Abhängigkeit vom
nicht in einem reichen Industrieland, in einer Auto für die alternativlose Normalität.« Der
Metropolregion mit kurzen Wegen und viel- laute Protest aber verhindert demnach ernst-
fältigen Verkehrsmitteln – und in einer Stadt, hafte Debatten über Lösungen: »Wer CO2-
in der Grüne und Linke gemeinsam mit neutral werden will, kann halt nicht alles beim
der SPD über eine komfortable Ratsmehrheit Alten belassen.«
verfügen? Leipzig ist nicht die erste Stadt, in der
In Leipzig geht es wie in den meisten Bürger und Politik im Kampf um den öffent-
anderen Städten nicht darum, die komplet- lichen Raum aneinandergeraten. In Berlin
Susann Friedrich / BILD

te Innenstadt für den motorisierten Verkehr beispielsweise hat die Umwandlung der
zu sperren oder ganze Straßenzüge in Rad- zentral gelegenen Friedrichstraße in eine
wege umzuwidmen. Der aktuelle Streit Fußgängerzone einen bizarren Streit ent-
dreht sich um eine bislang vierspurige Stra- facht, die neue Regierung lässt dort künftig
ße vor dem Hauptbahnhof. Dort ließ die wieder Autos fahren. In Hamburg sind
Stadt einen Streifen grün übermalen und Oberbürgermeister Jung Opposition und Regierung aneinandergera-

44 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


DEUTSCHLAND

massiv fortschreiten«, sagt Kühl,


mehr noch: »Es besteht die Gefahr,
dass die Stimmung irgendwann wie
in anderen Ländern kippt und neue
politische Mehrheiten die Mobilitäts-
wende komplett stoppen.«
Bedroht der klimaneutrale Stadt-
umbau am Ende die Demokratie?
Nicht zwingend. »Um das zu ver-
hindern, muss es überzeugende An-
gebote für jene geben, die sich einer
Verkehrswende nicht völlig verwei-
gern«, sagt die Forscherin. »Wer im
Zentrum einen Radweg schafft, sollte
auch ein Angebot fürs Umland ma-
chen.« Zum Beispiel durch neue
Schnellbusse.
Was all das bedeutet? Vor allem
viel Streit. In Leipzig drohen Hand-
werkskammer und CDU mit rechtli-
chen Schritten, der Oberbürgermeis-
ter blockte indes den Vorstoß einiger
Kritiker ab, die den Rückbau des Rad-
wegs am Hauptbahnhof in einer Son-

Hendrik Schmidt / dpa


dersitzung durchsetzen wollten: Die
Volksvertretung habe bei straßenver-
kehrsrechtlichen Anordnungen gar
kein Mitspracherecht, teilte die Stadt-
verwaltung mit.
ten, weil die Behörden rote Radstrei- demonstrierten Hunderte Menschen Fahrradwegausbau Jung ließ die Ratsversammlung
fen mitten auf der Straße aufmalen für sicherere Radwege, wenige Tage in Leipzig: Bedroht zwar noch einmal über das Thema
der klimaneutrale
ließen. Ähnliche Episoden gab es in später nahmen an einer »Bike-Para- Stadtumbau am Ende diskutieren, nutzte diese Debatte in
Mannheim und München, in Darm- de« sogar ein paar Tausend Fahrrad- die Demokratie? der vergangenen Woche dann aber
stadt, Düsseldorf, Kassel, Frankfurt fans teil. auch selbst für eine Kampfansage:
am Main. In Bremen brachte die Fahrradforscherin Kühl diagnos- 100 Jahre der Autofokussierung hät-
grüne Klimaschutzsenatorin Maike tiziert eine »Polarisierung zwischen ten die Menschen »buchstäblich an
Schaefer mit ihrer forschen Ver- Umland und Stadt, zwischen Auto den Rand gedrängt«, es gehe nun um
kehrspolitik sogar so viele Leute und Rad«, Daten bestätigen diesen die »Zukunftsfähigkeit der Stadt«. Er
gegen sich auf, dass ihre Partei auch Befund: Am Leipziger Stadtrand wer- stellte eine »Flanieroffensive« in Aus-
deshalb ein Wahldebakel erlebte. den nur acht Prozent aller Wege per sicht, konsequente Sanktionen für
Über all diesen Konflikten steht eine Rad zurückgelegt – das sind genau Gehwegparker, ein großzügiges
grundsätzliche Frage: Wollen die jene Gegenden, in denen viele An- Radwegenetz, sogar einen neuen
Menschen überhaupt eine fahrrad- hänger von AfD und CDU leben. Im S-Bahn-Tunnel unterm Stadtzen-
freundlichere Stadt? Zentrum hingegen, wo vor allem Grü- trum. »Wir brauchen mehr Freiheit
In Leipzig verweist das Lager der ne und Linke gewählt werden, liegt vom Diktat des Autos, mehr leise
Radweggegner auf eine von mehr als dieser Wert bei fast einem Viertel. statt laut«, so Jung. »Lasst uns doch
25.000 Menschen unterzeichnete Kühl spricht von Parallelwelten, die gemeinsam den Menschen die Stadt
Petition, die vom Oberbürgermeister durch die bisherige Politik entstanden zurückgeben!«
fordert, »die Bauarbeiten zu stop- seien: »Hier die Menschen, die den Wer will, kann diesen Politikwech-
pen« sowie »ein tragfähiges und ab- Komfort des Autofahrens schätzen sel längst überall in Leipzig sehen:
geschlossenes Konzept zu entwi- und diesen für alternativlos halten – Knapp 50 Kilometer Radfahr- und
ckeln«. Beliebt ist auch der Hinweis und dort jene, die all die Belastungen Schutzstreifen sind zwischen 2018
auf eine Umfrage der »Leipziger und Gefahren durch den Verkehr in und 2022 neu entstanden, allein in
Volkszeitung«, wonach sich eine ihren Städten und Vierteln nicht mehr den vergangenen Wochen sind an
Zweidrittelmehrheit gegen die Redu- hinnehmen wollen.« mehreren großen Straßen weitere da-
zierung der Autospuren am Haupt- Wie sich diese emotionale Gemen- zugekommen, und die Stadtverwal-
bahnhof ausspricht. Allerdings sind gelage auflösen lässt? Nur mit einer tung will diesen Ausbau in den kom-
weder die Umfrage noch die Petition Strategie, die kurzfristig riskant sei, menden Jahren mit hohem Tempo
repräsentativ, jede und jeder konnte sagt Kühl. Sie fordert eine forcierte fortsetzen.
online daran teilnehmen – und das Verkehrswende, »und zwar zulasten »Es besteht Am Hauptbahnhof lässt sich der-
einflussreichste Medium der Stadt hat des Autoverkehrs«, etwa über höhe- weil beobachten, dass 240 Meter
ohnehin keinen sonderlich fahrrad- re Parkgebühren und autofreie Zonen die Gefahr, Radweg die Stadt nicht ins Chaos ge-
freundlichen Ruf, das Blatt wird schon in den Städten. Nur so sei vermittel- dass die Stim- stürzt haben – denn der Plan, mit
mal als »Leipziger Verkehrszeitung« bar, dass kein Verkehrsmittel un- einer intelligenteren Ampelschaltung
oder »Leipziger Volkswagenzeitung« ersetzbar ist, langfristig müssten
mung irgend- neue Unfälle und viel Stau zu ver-
verspottet. nachhaltige Verkehrsmittel aber auch wann kippt.« hindern, ist offenbar aufgegangen:
Auf der anderen Seite machen die deutlich komfortabler werden. »Bis Jana Kühl, Mobili- Der Verkehr rollt wie eh und je.
Zweiradfans mobil: Anfang Mai es so weit ist, wird die Polarisierung tätsforscherin Peter Maxwill n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 45


DEUTSCHLAND

Das nutzen Akteure wie der Me-


dizinprofessor Sucharit Bhakdi, der
die Coronakrise als »konstruiert, er-
funden und erlogen« bezeichnet hat.
Über die Schutzimpfungen sagte er:

Prof. Dr. Kokolores »Schon jetzt ist es der Weltelite ge-


lungen, über eine Milliarde Dosen
der genetisch basierten Substanz
in ahnungslose Menschen zu sprit-
HOCHSCHULEN Rauswerfen – oder aushalten? Die Universitäten tun sich zen.« Bhakdi ist seit 2012 im Ruhe-
stand, Professor darf er sich weiterhin
schwer mit Lehrenden, die Verschwörungstheorien anhängen oder nennen.
inhaltlich abdriften. Wie weit reicht die Freiheit von Lehre und Wissenschaft? Seine ehemalige Universität in
Mainz hofft seit Monaten, dass ihm
der Titel entzogen werden kann – bis-
er Eklat entzündete sich an te seien schon »für weniger Terror- lang erfolglos. Vor wenigen Tagen
D einer einzigen Zeile. Mitte
März führte die Zeitung »De-
mokratischer Widerstand«, bekannt
herrschaft, Segregation, Korruption,
Lügerei, Ausbeutung, Betrug und
Mordslust an Volk und Bevölkerungs-
wurde Bhakdi vom Amtsgericht Plön
vom Vorwurf der Volksverhetzung
freigesprochen, die Generalstaatsan-
als »Querdenker«-Medium, einen gruppen mit Mistgabeln aufgespießt waltschaft hat angekündigt, Rechts-
neuen Namen unter ihren Heraus- (sic!), an Laternenmasten gehenkt« mittel einzulegen.
gebern: Michael Meyen, Professor am oder »an Eselskarren angeseilt über Die Universität Kiel zog ebenfalls
Institut für Kommunikationswissen- die Kopfsteinpflaster der Stadt gezo- wegen eines auffälligen Dozenten vor
Aufbau Verlage

schaft und Medienforschung an gen« worden. Gericht, konnte sich aber nicht durch-
der Ludwig-Maximilians-Universität Wenn Professorinnen und Profes- setzen. Sie hatte dem früheren NDR-
(LMU) München. In einem Online- soren sich in solche Gesellschaft be- Journalisten Patrik Baab einen Lehr-
interview lobte der Professor ge- geben, bringen sie ihre Hochschulen auftrag entzogen, nachdem er als
druckte Medien als »Schutz vor Über- in Schwierigkeiten. Die müssen ab- »Wahlbeobachter« zu russischen
wachung und Kontrolle« offenbar wägen – zwischen der Freiheit von Scheinreferenden in besetzte Regio-
durch eine nicht näher beschriebene Lehre und Wissenschaft sowie Mei- nen der Ukraine gereist war. Baab
»Macht«, die der deutschen Medien- nungsfreiheit einerseits und mögli- habe damit dem völkerrechtswidrigen
landschaft nahestehe – Geraune, wie chem Durchgreifen andererseits. russischen Vorgehen »den Anschein
man es von Verschwörungstheore- Bernd Scholz-Reiter, Vizepräsi- von Legitimität verliehen«, argumen-
Christian Charisius / dpa

tikern kennt. dent der Hochschulrektorenkonfe- tierte die Hochschule.


Die Entrüstung über die Betei- renz, mahnt zum besonnenen Um- Das Verwaltungsgericht in Schles-
ligung eines Universitätsprofessors gang mit jedem Einzelfall. »Wenn wig entschied Ende April allerdings,
an einer Zeitung, in der schon der Aussagen strafrechtlich relevant sind dass die Hintergründe der Reise nicht
Rechtsextreme Götz Kubitscheck oder Zweifel an der Verfassungstreue ausreichend aufgeklärt worden seien;
publiziert hat, ließ nicht lange auf sich aufkommen, müssen Hochschulen die Kündigung des Lehrauftrags sei
Kommunikations-
warten. »Wenn ein Professor quer- wissenschaftler disziplinarrechtliche Maßnahmen rechtswidrig. Der Streit geht auch hier
denkt«, titelte die »Frankfurter Rund- Meyen, Medizinpro- einleiten«, sagt er. »Manchmal wer- vermutlich in die nächste Instanz.
schau«, die »taz« bezeichnete Meyen fessor Bhakdi: den Kolleginnen und Kollegen aber »Schon der Anschein, die Wissen-
als »völlig losgelöst«, die »Süddeut- Besonnener Umgang ja auch zu Unrecht beschuldigt.« Die schafts- und Meinungsfreiheit nicht
mit jedem Einzelfall
sche« berichtete, der Professor werde Hochschulen hätten eine Fürsorge- zu respektieren, sollte seitens einer
nun auf Wunsch der Universität vom pflicht und müssten sich »im Zweifel Hochschule vermieden werden«, sagt
Verfassungsschutz überprüft. schützend vor öffentlich angegriffene, Lambert T. Koch vom Hochschul-
Man habe die Aktivitäten des Mit- auch unbequeme Hochschulangehö- verband. Eine Rektorin, die selbst
arbeiters mit »Erstaunen und Sorge rige stellen«. mit einem »schwierigen Kollegen« zu
zur Kenntnis genommen«, hieß es Ähnlich sieht es Lambert T. Koch, tun hatte, formuliert es im Hinter-
in einer Stellungnahme des Instituts Präsident des deutschen Hochschul- grundgespräch drastischer: »Wenn es
für Kommunikationswissenschaft verbands: Wer sich in fragwürdiger um die Wissenschaftsfreiheit geht,
der LMU. Weise exponiere, aber auf die Wis- muss man eben auch viel Quatsch
Das reichte aus, um die »Querden- senschaftsfreiheit berufen könne – aushalten.«
ker«-Blase zu erregen. Anselm Lenz, dem dürfe eine Hochschulleitung Aber muss man ihn auch verbrei-
einer der Herausgeber des »Demo- »nicht einfach den Mund verbieten«. ten wie im Fall des Hamburger Nano-
kratischen Widerstands«, zitierte vol- Schließlich könnten auch politisch wissenschaftlers Roland Wiesendan-
ler Sympathie einen angeblichen bedenklich erscheinende Äuße- ger, der den Ursprung der Corona-
Forenbeitrag unter der Unistellung- rungen durch die Meinungsfreiheit pandemie – weit außerhalb seiner
nahme: »Ihr lausigen Lügenschweine! gedeckt sein. Die Freiheit ende aber Fachkompetenz – bei einem Labor-
Meine Guillotine steht auch für Euch dort, wo »lediglich vorgefassten unfall in Wuhan verortet hatte? Das
frisch gewetzt bereit, elende Spritzen- Meinungen oder Ergebnissen ein wis- Papier wurde von der Universität
mörder und Kriegstreiber, Zensoren senschaftlicher Anstrich verpasst Hamburg noch mit einer Presse-
und Inquisitoren! Schämt Euch, werden soll«. mitteilung geadelt. In einer Stellung-
Schweinebande!« Kokolores mit einem wissenschaft- nahme der Universität hieß es an-
Solche Kommentare seien »nur zu lichen Anspruch zu versehen ist ins- schließend: »Die Hochschulleitung
verständlich«, schrieb Lenz und besondere für Lehrstuhlinhaber und die Pressestelle der Universität
schwelgte in Gewaltfantasien: Politi- leicht. Der Professorentitel entfaltet Hamburg üben keine Zensur zu For-
ker und Oligarchen aller Jahrhunder- fast automatisch seine Wirkung. schungsgegenständen und -ergebnis-

46 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


DEUTSCHLAND

sen ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissen- »Professor Meyen durch- Meinungen müssen wir aushalten, das ist
schaftler aus.« hier der Fall.«
In München werden die Wortmeldungen läuft seit mehreren Die Leitung der LMU weist nur darauf hin,
von Michael Meyen inzwischen genau beob- Jahren einen Prozess der dass »bereits in der Vergangenheit Gespräche
achtet. Der Kommunikationswissenschaftler mit Herrn Prof. Meyen zu dessen Aktivitäten«
ist kein Unbekannter in verschwörungsideo- Radikalisierung.« geführt worden seien. Die Uni habe zu prüfen,
logischen Kreisen. Der Professor, seit 2002 an ob dienstliches Fehlverhalten vorliege. »Was
der LMU tätig, gab etwa dem umstrittenen die sonstige rechtliche, insbesondere auch
Verschwörungsideologen und ehemaligen strafrechtliche Relevanz betrifft, liegt die Zu-
Rundfunkmoderator Ken Jebsen ein Interview. ständigkeit nicht bei der LMU«, schreibt eine
Meyens eigene Bücher tragen Titel wie Sprecherin der Universität. Daher habe man
»Das Elend der Medien« oder »Die Propa- immer wieder Akademikerinnen und Akade- sich an den Verfassungsschutz gewandt.
ganda-Matrix«. Auf einem Blog, auf dem er miker als Interviewpartner auf. Dutzende Unter den Studierenden des Instituts seien
sich als Professor der LMU vorstellt, wettert Professoren und Promovierte beteiligen sich Meyen und seine Überzeugungen schon länger
er gegen das »Zensurregime« und lobt den an Diskussionen über »die politischen Ver- Thema, sagt Simon Prommersberger, Mitglied
Newsletter des ultrakonservativen Milosz gehen am Rechtsstaat der letzten zwei Jahre«. der Fachschaft. Die große Mehrheit verur-
Matuschek. »Kein Matuschek-Frühstück ohne Die Debatten haben auch schon mal Inhalte teile zwar das Verhalten und wolle Meyens
Aha-Erlebnis«, schreibt Meyen. wie »Nach Impfung tot: zahlreiche Babys als Vorlesungen nicht besuchen. Das habe eine
»Professor Meyen durchläuft seit mehreren Opfer der mRNA-Injektionen« oder »Inter- Umfrage ergeben. »Die Studierenden haben
Jahren einen Prozess der Radikalisierung«, nationaler Sexhandel und Kompromat gegen aber das Interesse, ihr Studium professionell
sagt ein Sprecher des Linken Bündnisses Politiker und Personen des öffentlichen Inte- durchzuziehen«, sagt Prommersberger, bisher
gegen Antisemitismus München, das den Leh- resses als Druckmittel«. habe es daher keine größeren Protestaktionen
renden seit 2018 beobachtet. Damals habe Aushalten oder einschreiten? An der gegeben.
Meyen noch als Linker gegolten. Dann habe LMU scheint angesichts der Aktivitäten von Ganz anders in Bonn: Dort fanden sich
er sich immer mehr verschwörungsideologi- Michael Meyen das Gefühl der Machtlosig- Ende April rund 30 Studierende vor dem
schen Kreisen angenähert. Während der Co- keit vorzuherrschen. »Wir können in diesem Arbeitsgericht zu einer Demonstration
ronapandemie seien diese Ansichten schließ- Fall nur wenig tun«, sagt Thomas Hanitzsch. ein – zur Unterstützung der Universitätslei-
lich deutlich zutage getreten. Er leitet das Institut für Kommunikations- tung. Die hatte der angestellten Professorin
Der Kommunikationsprofessor ist bei Wei- wissenschaft, an dem auch Meyen lehrt. Als Ulrike Guérot gekündigt, wegen mehrerer aus
tem nicht der einzige Wissenschaftler mit Kollege reagiere er zwar mit Befremden auf Sicht der Uni bestätigter Plagiate in Veröffent-
Hang zum Verschwörertum. Im einschlägigen Meyens Verhalten. »Gleichzeitig ist es ein lichungen der Politikwissenschaftlerin, wie es
Videokanal »Corona-Ausschuss«, der es auf Glück, dass wir Wissenschaftsfreiheit leben in einer Erklärung der Hochschule heißt.
mittlerweile 155 Folgen gebracht hat, tauchen dürfen«, sagt er. »Bestimmte abweichende Die Professorin wehrt sich gegen den Raus-
wurf und bezeichnet die Plagiatsvorwürfe als
vorgeschoben: Die würden »gezielt benutzt«,
um sie »öffentlich zu diffamieren und damit
letztlich mundtot zu machen«, weil sie sich
bei den Coronamaßnahmen und dem Ukrai-
nekrieg »gegen die vorherrschende Meinung
gestellt habe«, heißt es in ihrer jüngsten Ver-
öffentlichung.
In der Buchankündigung ist die Rede von
einer »symbolischen medialen Hinrichtung der
Kristallisationsfigur Ulrike Guérot«. Ihre
Unterstützer und Unterstützerinnen, die neben
den Studierenden vor dem Arbeitsgericht
demonstrierten, beklatschten entsprechende
Aussagen: »dass es hier um eine moderne Form
der Hexenverbrennung geht« und Guérot we-
gen ihrer Meinung »verfolgt und gejagt« wer-
de. Wenn das Verfahren im September fort-
gesetzt wird, werde man wiederkommen.
Der Münchner Professor Michael Meyen
hat unterdessen offenbar einen Rückzieher
gemacht. Nach nur zwei Ausgaben ist er nicht
mehr Mitherausgeber des »Demokratischen
Widerstands«. Eine von ihm verfasste Kolum-
ne allerdings erscheint weiterhin regelmäßig
in der Zeitung. Zu einem Gespräch ist
Ying Tang / NurPhoto / picture alliance

der Professor nicht bereit, eine Anfrage des


SPIEGEL blieb unbeantwortet.
Seine Lehrtätigkeit darf Meyen ohne Ein-
schränkungen fortsetzen. Im laufenden Som-
mersemester hält der Professor unter ande-
rem eine Vorlesung zu »Theorie und Theorie-
geschichte«. In der Beschreibung heißt es, die
Veranstaltung vermittle den Studierenden –
Pro-Guérot-Demonstrant (r.), Gegendemonstranten in Bonn: Verfolgt und gejagt? Medienkompetenz. n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 47


D E B AT T E D I S K R I M I N I E R U N G

Die Macht des Akzents  Menschen beurteilen einander auch


danach, wie sie sprechen – und unterschätzen die Konsequenzen.
Für Russlanddeutsche können sie besonders hart sein.
Von Alexander Neumann-Delbarre

ulie war fünf Jahre alt und trug USA und in vielen anderen Ländern. Akzents anders behandelt werde.
J Zöpfe. Die Aufgabe, die sie
von der Psychologin bekam,
war einfach. Sie sollte mehrere Bil-
Man muss nur ein paar Tage mit
offenen Augen durchs Leben gehen,
um festzustellen, dass auch Deutsch-
Wann sie dieses Gefühl denn zum
Beispiel gehabt hätten? Sie erinner-
ten sich an die Nachbarn unserer
der von Kindern ansehen und die- land zu diesen Ländern zählt. ersten Wohnung in München,
jenigen auswählen, mit denen sie Auch ich bin Julies Mum ähnli- die meine Eltern grundsätzlich nicht
gern spielen wollte. Julie war weiß. cher, als ich zugeben möchte. Dabei grüßten. Einfach so, neun Jahre
Und es fiel auf: Sämtliche Kinder, habe ich die Macht von Akzenten lang.
die sie, ohne lang nachzudenken, früh zu fürchten gelernt. Ich stamme Sie erinnerten sich an Telefonate
auswählte, waren es auch. Julies aus einer Familie von Russlanddeut- mit Behörden, bei denen sie auf-
Mutter runzelte die Stirn, rutschte schen. Als wir 1980 aus Tadschiki- fällig herablassend und wenig hilfs-
auf ihrem Stuhl herum, das Ganze stan nach Deutschland kamen, war bereit behandelt wurden.
schien ihr unangenehm zu sein. ich zwei Jahre alt. Meine Eltern wa- Und sie erinnerten sich an einen
Es folgte Teil zwei des psycholo- ren Ende zwanzig. Ich lernte schnell, anderen Nachbarn, der später, als
gischen Experiments. Julie wurden so Deutsch zu sprechen wie die wir umgezogen waren, neben uns
wieder mehrere Kinder gezeigt. anderen Kinder um mich herum. wohnte. Auch ich kannte ihn gut. Er
Diesmal hörte sie sie auch reden. Meine Eltern nicht. Meine Mutter tauchte jahrelang jeden Tag zu
Die weißen Kinder sprachen in spricht bis heute Deutsch mit einem einem Plausch am Gartenzaun auf.
Julies Muttersprache Englisch, aber leichten Akzent, mein Vater mit Und ließ gleichzeitig jahrelang und
mit ausländischem Akzent. Die einem deutlich stärkeren. jederzeit raushängen, dass er sich
schwarzen Kinder sprachen auch Als Kind war mir das manchmal für etwas Besseres hielt als meine
Englisch, aber akzentfrei. Wieder peinlich. Wenn Freunde zu Besuch Eltern. In seiner Welt war das ein-
sollte Julie entscheiden, mit wem kamen und meinen Vater oder fach so. Als er irgendwann auszog,
sie spielen wollte. Sie wählte die meine Mutter reden hörten, sagten erzählte er seinem Nachfolger, mein
Kinder ohne Akzent, auch wenn sie viele danach: »Deine Eltern sind Vater sei »Kasache«.
eine andere Hautfarbe hatten. ja Russen.« Ich hasste das. Erstens, Vor allem aber erinnerten sich
Julies Mutter wirkte nun merk- weil es falsch war. Wir sind Russ- meine Eltern daran, dass sie immer
lich entspannter. Puh, dachte sie landdeutsche. Großer Unterschied. wieder eine Frage zu hören beka-
offenbar, ihre Tochter hatte doch Zweitens, weil »Russen« in Deutsch- men, die sie inzwischen nur noch
keine Kinder aufgrund von deren land Mitte der Achtzigerjahre ein schlecht ertragen: »Was für ein
Hautfarbe diskriminiert. Dass sie es ähnliches Ansehen genossen, wie sie Landsmann sind Sie?« Sie haben sie
stattdessen aufgrund von deren Ak- es aktuell tun. zu oft gehört, sie hat sie wund
zent getan hatte? Schien der Mutter Irgendwann wurde ich älter und gemacht, sie verletzt sie. Weil sie
gar nicht aufzufallen. selbstbewusster, und es kümmerte jedes Mal aufs Neue die Frage auf-
Die US-Psychologin Katherine mich nicht mehr, wie meine Eltern wirft, ob meine Eltern in Deutsch-
D. Kinzler von der University of sprachen und was andere darüber land dazugehören oder nicht.
Chicago erzählt diese Geschichte in sagten. Dass Menschen auf einen Akzente sind gnadenlos. Wer
ihrem Buch »How You Say It« und Akzent eben auf eine gewisse, nicht eine Sprache nicht früh genug von
illustriert damit etwas Verblüffen- immer erfreuliche Art reagieren, Muttersprachlern lernt, wird sie mit
des: Viele von uns, die mit durchaus nahm ich hin, als wäre es eine Art Akzent sprechen. Joseph Conrads
empfindsamen Diskriminierungs- Naturgesetz. Darüber, was meine geschriebenes Englisch war so meis-
sensoren ausgestattet sind, finden es Eltern wegen ihres Akzents so er- terhaft, dass er zu einem der größ-
erstaunlich wenig störend, wenn lebten, machte ich mir lange nicht ten englischsprachigen Autoren
Privat

Menschen aufgrund ihres Akzents die geringsten Gedanken. Als ich überhaupt wurde. Seinem gespro-
ungleich behandelt werden. Neumann-Delbarre, Kinzlers Buch las, änderte sich chenen Englisch aber hörte man
Natürlich kann man Akzente Jahrgang 1978, das. Also setzte ich mich mit mei- immer seine polnische Herkunft an.
arbeitet als freier
nicht isoliert betrachten, aber wir Journalist in
nen Eltern an ihren Küchentisch Gleichzeitig sind wir irre gut
unterschätzen ihre Bedeutung. Für München. Bei der und fragte nach ihren Erfahrungen. darin, Akzente herauszuhören. In
die Psychologin Kinzler, die sich seit letzten Wohnungs- Sie erzählten nur zögerlich, woll- den USA erkannten Studienteilneh-
Jahren mit dem Thema beschäftigt, suche schickte ten keine Anklage erheben. Es gebe mer allein daran, wie jemand am
er stets seine Frau
ist »Speech Discrimination«, wie sie vor. Sie ist Französin.
eben solche Menschen und solche, Telefon »Hello« sagte, zielsicher, ob
es nennt, eine der letzten Formen Die Menschen betonten sie. Und oft sei es eher so die Person »black«, »white« oder
zulässiger Diskriminierung in den lieben ihren Akzent. ein Gefühl, dass man wegen des »hispanic« war.

48 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


schen, gefolgt vom türkischen und
vom polnischen.
Natürlich hat das Folgen. Natür-
lich wirkt es sich aus, wenn wir lau-
ter Vorurteile im Kopf haben. Und
einen eingebauten Hang dazu, sie
abzurufen. Es führt beispielsweise
dazu, dass Menschen mit türki-
schem Akzent auf dem Wohnungs-
markt diskriminiert werden, indem
sie zu Besichtigungen gar nicht erst
eingeladen werden, wie 2019 eine
Studie in Bremen zeigte.
Oder dazu, dass Arbeitnehmer,
die mit einem starken regionalen
Dialekt sprechen, im Schnitt 20 Pro-
zent weniger verdienen als solche,
die Hochdeutsch sprechen, wie Wis-
senschaftler herausfanden.
Und zum Beispiel auch dazu, dass
Lehrern, die mit einem russischen
Akzent sprechen – das ergab eine
Studie an der Universität Heidel-

LUVLIMAGE / Getty Images


berg –, auffällig oft die fachliche
Qualifikation abgesprochen wird.
Während Kollegen, die etwa einen
französischen oder einen englischen
Akzent haben, dieses Problem nicht
haben.
Noch besser sind wir darin, Ak- weils ihre Meinung zu den eben ge- Bei Menschen, die immer wieder
zente überzubewerten. Der Akzent hörten Personen abzugeben, allein wegen ihres Akzents oder Dialekts
eines Menschen verrät vor allem basierend auf deren Klang. Was mit Vorurteilen konfrontiert wer-
eines: wer als Kind mit ihm gespro- die Probanden nicht wussten: Sie den, kann das zu etwas führen, das
chen hat. Aber wir schließen aus hörten die gleiche bilinguale Person Forscher »Linguistic Insecurity«
Akzenten auf viel mehr. Wie je- auf Französisch und Englisch spre- nennen: zu einem negativen Bild
mand spricht, löst etwas in uns aus. chen. Ihre unterschiedlichen Be- der eigenen Sprache, das eine tiefe
Man wisse aus der Sozialpsycholo- urteilungen legten also ihre Einstel- Verunsicherung zur Folge hat, ein
gie, dass wir unsere »Kategorie-De- lungen und Vorurteile gegenüber andauerndes Unbehagen wegen der
tektoren« einfach nicht ausschalten einer Sprache offen. Das Resultat: eigenen Art zu sprechen.
können, schreibt Kinzler. Wir scan- Die englischsprachigen Probanden »Kennt ihr dieses Gefühl?«, frag-
nen die Menschen um uns herum fanden, dass die englisch sprechen- te ich meine Eltern in der Küche. Ja,
ständig auf Hinweise, die uns dabei den Personen klüger klangen, aber eher von früher, meinten sie.
helfen, sie grob einer Gruppe zuzu- freundlicher, ambitionierter sowie, Dann fragte ich sie noch etwas: ob
ordnen, weil uns das hilft, unsere kein Scherz, größer und besser aus- sie den Eindruck hätten, dass die
Umwelt zu strukturieren. sehend. ganze Akzentsache eine Rolle dabei
Diese Kategorie-Detektoren Mittlerweile gibt es zahlreiche gespielt hat, dass sie heute eher
schlagen beim Akzent eines Men- Studien, in denen die Vorurteile wenige einheimische Münchner in
schen sofort an. Wir hören ihn kurz von Menschen nicht nur gegenüber ihrem Freundeskreis haben? Mein
sprechen, zack, schon ist er grob Sprachen, sondern auch gegenüber Vater überlegte eine Weile. Dann
eingeordnet mit all den stereotypen Dialekten und Akzenten untersucht sagte er: »Ja. Ich glaube schon.« Ein
Assoziationen, die dazugehören. wurden. In den USA stellen For- rollendes R und ab und zu ein fal-
Welche das sind, hat mit den Vor- scher immer wieder fest, dass so- scher Artikel können offenbar Men-
urteilen zu einem Akzent zu tun, wohl weiße als auch schwarze Test- schen voneinander trennen.
die in unserer Gesellschaft, von der personen Menschen, die »Standard Vor ein paar Jahren waren meine
wir sie gelernt haben, kursieren. American English« sprechen, für Eltern auf dem Oktoberfest. Sie
Der kanadische Psychologe Wal- klüger, statushöher und attraktiver saßen an einem Tisch, unterhielten
lace Lambert veröffentlichte mit halten als Menschen, die afroameri- sich miteinander. Irgendwann be-
Kollegen schon 1960 eine Studie kanisches Englisch sprechen. Eine Der Akzent gannen ihre Tischnachbarn ihnen
über Sprachdiskriminierung. Im Studie in Deutschland ergab 2009, Blicke zuzuwerfen. »Gleich kommt’s«,
bilingualen Montreal spielte er je dass bayerische und sächsische Dia- eines Men- sagte meine Mutter. Und es kam:
einer Gruppe von französischspra- lektsprecher als »ungebildeter«, da- schen verrät »Entschuldigung«, sagte einer der
chigen und englischsprachigen für aber »temperamentvoller« ein- Tischnachbarn und sah meinen Va-
Probanden Stimmaufnahmen vor. geschätzt werden als der »typische
vor allem ter an, »darf ich Sie fragen, was für
Zu hören bekamen beide Gruppen Deutsche«. Die Teilnehmer wurden eines: wer ein Landsmann Sie sind?«
Personen, die auf Englisch spra- auch gefragt, ob es einen ausländi- als Kind mit »Chinese«, sagte mein Vater. Es
chen, und Personen, die auf Fran- schen Akzent gebe, den sie »beson- war bislang das letzte Mal, dass
zösisch sprachen. Anschließend ders unsympathisch« fänden. Am ihm gespro- meine Eltern auf dem Oktoberfest
wurden die Probanden gebeten, je- häufigsten nannten sie den russi- chen hat. waren. n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 49


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GEWOHNHEITEN
REPORTER
»Kommt nach Corona
der Handschlag
zurück, Frau Rao?«
SPIEGEL: Während der Pande-
mie konnte man sich nicht mehr
bedenkenlos die Hand geben.
Ist da etwas verloren gegangen?
Rao: Die Pandemie hat be-
stimmte Gesten infrage gestellt.
Dazu gehört auch der Hand-
schlag. Interessant dabei war,
dass der Handschlag nicht
einfach wegzudenken war. Wir
ersetzten ihn durch andere
Gesten, indem wir einander mit
Ellenbogen oder Fäusten an-
stießen. Wir brauchten irgend-
ein Ritual, das den Beginn eines
Gesprächs signalisierte.
SPIEGEL: Es muss also nicht
unbedingt der Handschlag sein?
Rao: Der Handschlag hat bei
uns nach wie vor eine ganz
besondere Funktion. Mit ihm
eröffnet man nicht nur ein
Gespräch, mit ihm besiegelt
man auch etwas Gemeinsames,
eine Hochzeit, ein Versprechen,
einen Vertrag. In Deutschland
Privat

ist der Handschlag als zere-


monielle Geste schon im Mittel-
alter verbreitet. In der Neuzeit

Grundausbildung, 1973 hat er sich – zurückkehrend aus


England – auch als Alltagsgeste
durchgesetzt, und nun kommt
ihm eine zusätzliche Bedeutung
FAMILIENALBUM Michael Hülpes, 70, aus Hermeskeil zu. Er diente den Pietisten
zur Unterwanderung anderer
ieses Foto wurde vor 50 Jahren im Juli Schießwalls in Brand setzte. Ich selbst (auf dem Gesten, die aus der höfischen
D 1973 aufgenommen, als ich meinen Grund-
wehrdienst in Bexbach/Saar absolvierte
und die Bundeswehr noch keine Berufsarmee
Foto der Erste von rechts) hatte den Spitznamen
»Knast«, nachdem ich von meiner Schulzeit im
katholischen Internat erzählt hatte. Wir haben
Kultur stammten und hierar-
chisch waren, der Knicks oder
die Verbeugung zum Beispiel.
war, sondern eine Laientruppe. Nach den hefti- viel zusammen erlebt. Wir mussten mit Ausrüs- Der Handschlag ist ein sehr
gen Diskussionen am Gymnasium über die tung und Gewehr durch ein Kanalrohr robben, demokratisches Begrüßungs-
Verweigerung des Wehrdienstes hatte ich mich wurden während der Stunde der »Inneren Füh- ritual, die Bestätigung, dass wir
für den Bund entschieden, um nicht Zivildienst rung« über die Einschränkung der Grundrechte etwas teilen, nämlich unsere
in irgendeinem Heim zu schieben. Ich habe des Soldaten belehrt. In der Kantine kauften wir gemeinsame Menschlichkeit.
meine Schulzeit in einem katholischen Internat die Ansichtskarte, auf der folgendes Gedicht zu SPIEGEL: Es gibt aber heute
verbracht, eine Ausbildung bei der Bundeswehr lesen war: »Kennst du das Dorf, in dem die Son- immer noch Leute, die den
klang für mich wie das größere Abenteuer – ne nie lacht, wo man aus Menschen Soldaten Handschlag lieber vermeiden.
und ich wurde nicht enttäuscht. macht? Wo man das Bier aus Stiefeln säuft und Rao: Die Pandemie war ein
Wir erhielten fabrikneue Kampfanzüge und drei Kilometer zum Bahnhof läuft? Wo man ver- Ausnahmezustand, er hat unser
nebenbei eine Filzlaus, und die Ausbilder spra- gisst Moral und Tugend? Das ist Bexbach, das Zusammenleben verändert,
chen mit derart starkem saarländischem Akzent, Grab meiner Jugend!« Wir schickten das unseren auch durch mobiles, digitales
dass man sie anfangs kaum verstehen konnte. Eltern. Es war eine aufregende Zeit. Arbeiten. Das wird bleiben.
Über Nacht war ich »Jäger« im Jägerbataillon 471 Aber kaum ein anderes Ereignis werde ich der- Aber andere Verhaltensweisen,
geworden und Mitglied einer lustigen Truppe, in art in Erinnerung behalten wie den Moment, als die früher üblich waren,
der jeder einen Spitznamen hatte. Der »Profes- ich im Spind eines Kameraden ein Poster entdeck- werden wieder zurückkehren,
sor« zum Beispiel, dem der Spieß befohlen hatte, te. Es zeigte eine splitternackte Frau in Lebens- und der Handschlag, davon
seinen Vollbart zurückzustutzen, da dieser aus- größe. Ich war damals 20 Jahre alt, und zum ersten gehe ich aus, gehört dazu. MAH
sehe wie »angefletschtes Sauerkraut«. Oder Nolo, Mal in meinem Leben sah ich eine nackte Frau.
der »Cousinchen-Beglücker«, der mit seinen Aufgezeichnet von Marc Hujer Ursula Rao, 57, ist Direktorin
Liebesabenteuern bei den Discobesuchen am am Max-Planck-Institut
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Wochenende prahlte. Oder Enno, der »Maler«, der Ihre Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: für ethnologische Forschung
beim Panzerfaustschießen das dürre Gras des familienalbum@spiegel.de in Halle (Saale).

52 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


bei ihm in der Villa, und er, Philipp
Neuffer, ein Versandhändler, hatte
nicht nur das Drehbuch geschrieben.

Zum Fenster raus Auch die Kulisse stammte von ihm,


die Requisiten, alles.
Er zählt auf: der schiefergraue
Porsche zum Beispiel, mit dem Be-
EIN WERBESPOT UND SEINE GESCHICHTE Wie ein Unternehmer Boris Becker cker in dem Spot vorfährt, ein 911 S,
dazu brachte, 76.000 Euro wegzuwerfen Baujahr 1966. Oder die französische
Bulldogge »Pippa«, die seine Verlob-
te Isabelle zwei Tage lang trainieren
ls er Boris Becker vor fünfein- den Werbefilm hatte. Und so vergin- »Herr Becker musste, damit sie auf Kommando den
A halb Jahren zum ersten Mal
traf, in Stuttgart, in seinem
Büro in der Innenstadt, hatte Philipp
gen drei Jahre, bis Neuffer im Dezem-
ber 2021 einen neuen Investor mit
weniger Bedenken fand und er wieder
ist deutsches
Kulturgut,
Kopf schief legt wie im Spot mit
Becker. Oder die beiden Bilder, der
»echte Warhol« ebenso wie der »ech-
Neuffer für seinen Familienbetrieb über den Spot mit Becker nachden- eine lebende te Banksy«, die er an der Wand hin-
einen Investor gewonnen. Er hatte ken konnte. ter Becker hängen ließ. Nicht zu ver-
das Unternehmen, das sein Urgroß- Becker und er trafen sich Anfang Legende.« gessen der Ohrensessel, den er von
vater 1872 gegründet hatte, von Februar 2022 in München, gingen ja- Philipp Neuffer, seiner Urgroßmutter geerbt hat und
einem schwäbischen Fenster- und Tü- panisch essen und unterzeichneten Versandhändler in dem Becker für einen der Social-
renhersteller zu einem E-Commerce- einen Vertrag. Eine Berliner Produk- Media-Clips sitzt. Sogar Dinge, die
Unternehmen für Fenster, Türen und tionsfirma wurde engagiert, als Dreh- einmal Becker gehört haben, gehören
Sonnenschutz umgebaut. Mit dem ort eine Villa in Berlin reserviert, ein Neuffer, der »Boris-Becker-Original-
Geld des Investors wollte er neue Drehtermin festgelegt. Dann aber Tennisschläger von Puma, limitiert
Kunden auch außerhalb Deutschlands wurde Becker zu einer zweieinhalb- auf 2000 Stück«, den er für 400 Euro
gewinnen. Neuffer brauchte ein Ge- jährigen Haftstrafe verurteilt, und die auf Ebay ersteigert hat, oder die
sicht für seine Marke. Dreharbeiten mussten abgesagt wer- »Original-Boris-Becker-Tennistasche
»Warum haben wir uns für Herrn den. Es habe damals Diskussionen von 1986«, ebenfalls 400 Euro auf
Becker entschieden?«, fragt Neuffer gegeben, ob er an Becker festhalten Ebay. »Alles ist echt in unseren
am Telefon. »Wenn wir eine Verona könne, sagt Neuffer, aber er wollte Spots«, sagt Neuffer am Telefon.
Pooth genommen hätten, hätten wir den Spot unbedingt drehen, wenn »Auch das Geld, das Boris aus dem
auch einen lustigen TV-Spot drehen nicht jetzt, dann später. Und so war- Fenster wirft.«
können. Verona Pooth als schusselige tete er, bis Becker im Dezember 2022 Neuffer macht eine Pause. Das
Hausfrau, die in der Lage ist, über aus der Haft entlassen wurde. Geld?
unser Portal Fenster online zu bestel- Die Dreharbeiten begannen am »Zuerst haben wir fake money be-
len. Aber man hätte sie lediglich in 8. Februar dieses Jahres in einer Villa stellt.« Spielgeld. »Aber das fliegt
Deutschland nutzen können.« Anders in Stuttgart, die sich Neuffer zwi- nicht richtig.« Vor den Dreharbeiten
bei Becker, der auch im Ausland ein schenzeitlich gekauft hatte. Er freute mit Becker hätte das Filmteam zur
Star sei und Aufmerksamkeit garan- sich. »Herr Becker ist deutsches Kul- Probe die Scheine in die Luft gewor-
tiere. »Herr Becker«, sagt Neuffer, turgut, eine lebende Legende«, sagt fen, aber die Scheine klebten anein-
»ist einer der wenigen Deutschen, die Neuffer. »Früher kniete ich auf dem ander und fielen in Bündeln zu Boden.
von der Popularität und der Reich- Boden vor dem Fernseher, wenn er Das sah ihm nicht realistisch genug
weite mit einem Beckenbauer oder sich fünf, sechs Stunden in Wimble- aus, und so entschied er sich, bei sei-
Lagerfeld mithalten können.« don abgemüht hat.« Und nun stand Werbefigur ner Hausbank Geld abzuheben:
Seit 2017 lief das Insolvenzverfahren dieser Herr Becker also zu Hause Becker 76.000 Euro in bar.
gegen Becker. Aber das störte ihn nicht. »Wir hatten bei den Dreharbeiten
Im Gegenteil. Es war ja der Witz, dass allein vier Leute, die dafür zuständig
Becker auf großem Fuß lebte – die waren, dass dieses Geld, das im Ro-
Schwäche, die Neuffer für seinen Spot senbeet oder irgendwo in der Hecke
nutzen wollte. Und so habe er damals hing, eingesammelt und gezählt wur-
vor Boris Becker gesessen und ihm de«, sagt Neuffer. Immer wieder habe
genau erklärt, wie er sich den Spot vor- Becker die Scheine geworfen, für
stellte, den er mit ihm drehen wollte: unterschiedliche Einstellungen, fünf-
»Du fährst mit einem alten Auto ir- mal insgesamt. Fünfmal 76.000 Euro.
gendwie an eine Villa ran, und ich bit- Neuffer hält das für eine schöne Poin-
te dich, Geld in die Hand zu nehmen te der Dreharbeiten für seinen Spot:
und es aus dem Fenster zu schmeißen. »Boris hat fünfmal 76.000 Euro aus
Und dann zu sagen: ›Schmeißen Sie dem Fenster geworfen.«
Ihr Geld nicht aus dem Fenster.‹« Er ist zufrieden. Seit acht Wochen
Er wusste nicht, wie Becker re- laufen nun die Spots, die Zahl der Zu-
agiert. Hatte er genug Selbstironie? griffe auf die Unternehmenswebsite
Würde er wütend sein? Aber so wie habe seitdem »massiv« zulegt, sagt
sich Neuffer an das Gespräch von da- Neuffer, 25  Prozent Wachstum im
mals erinnert, blieb Becker gelassen deutschen Markt führt er auf den
fenster versand.com

und sagte: Du verstehst mich. Genau Werbespot zurück. Boris Becker hat
so machen wir’s. sich für ihn schon jetzt mehr als
Doch dann meldete sich sein da- gelohnt.
maliger Investor, der Einwände gegen Marc Hujer n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 53


REPORTER

DIE
SPUREN
DER
BOMBE
UNTERGANG Eine Uranmine in Sachsen, eine frühere Atomraketenbasis
in der Ukraine, verseuchte Felder im Süden Spaniens: In Europa
gibt es viele Orte, an denen man Atomwaffen nahe kommen kann.
Ein Besuch bei drei Menschen, die gelernt haben, mit der Bombe zu leben.
Von Nik Afanasiev, Christoph Scheuermann und Jonathan Stock
Tass / dpa

54 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


REPORTER

ie Bombe wartet. Sie wartet in einem I. ABSCHUSS silos. Russland stationiert Atomraketen in
D Hangar in Russland. Sie wartet in
einem U-Boot im Pazifik. Sie wartet in
einem Silo tief unter der Erde. Sie wartet auf
Wiktor Ksensow ist 60 Jahre alt, trägt eine
schwarze Schiebermütze und einen Winter-
mantel, den er bis zum Kinn zugezogen hat.
Belarus. Was Ksensow als Schrecken der Ver-
gangenheit zeigt, ist nicht vergangen. Die
Zahl der Sprengköpfe wächst. Es ist, als ob
einem Lkw in einem sibirischen Wald, auf Drei Autostunden südlich von Kiew, auf hal- ein ausgestopfter Dinosaurier seinen Kopf
einer mobilen Abschussrampe in Kaliningrad, bem Weg nach Odessa, bei Perwomaisk, be- heben würde.
nur sieben Minuten Flugzeit von Berlin ent- tritt Ksensow die letzte noch erhaltene Rake- 40 Meter unter der Erdoberfläche kommt
fernt. Die Orte der Raketensilos sind bekannt, tenbasis, nachdem die Ukraine im Jahr 1994 der Aufzug zum Stehen, Ksensow klettert
sie heißen Dombarowskij, Koselsk, Uschur. beschlossen hatte, ihre einst von der Sowjet- hinaus und steht in einem niedrigen Raum
Die Bombe trägt den Namen eines Gottes union hier stationierten Atomwaffen abzu- mit Leuchtanzeigen, Telefonen, Schaltflächen
oder gefallenen Engels: Satan. Titan. Posei- geben und die Anlagen zu zerstören. Ksen- und drei Stühlen für die diensthabenden Of-
don. Und auch wenn sie nicht abgeschossen sows Arbeit war so geheim, dass selbst die fiziere. Der Raum ist nicht größer als sechs,
wird: Ihre Angst hat schon getroffen. Nachbarn nichts davon wussten. Offiziell sieben Quadratmeter. Von hier konnte man
Vergangene Woche kamen die Führer der arbeitete er in einer Wetterstation, tatsächlich zehn Atomraketen starten, die in zehn Silos
G7-Staaten in Hiroshima zusammen, der ers- war er Major in der 19. Raketendivision der untergebracht waren, zwischen 3 Kilometer
ten Stadt der Welt, auf die eine Atombombe Sowjetunion, stationiert in Chmelnyzkyj, und und 15 Kilometer entfernt vom Kommando-
fiel, im Jahr 1945. Olaf Scholz schrieb den dies hier die Anlage bei Perwomaisk, eine posten. Ksensow spricht über die Start-
Satz ins Gästebuch: »Ein nuklearer Krieg darf funktionierende Kommandozentrale, aus der sequenz von Atomraketen mit der Unbeküm-
nie wieder geführt werden.« Währenddessen Atomraketen abgefeuert werden konnten. mertheit eines Ingenieurs, der eine Maschine
liefen Gespräche um F-16-Kampfjets für die Heute ist es ein Museum. erklärt. Zwischendurch macht er Schwieger-
Ukraine. Kurz darauf warnte der stellvertre- Ksensow öffnet eine Metalltür, steigt eine mutterwitze.
tende russische Außenminister Alexander Treppe hinab und wuchtet unten eine schwe- Es ist eng hier unten, oben verschließt ein
Gruschko: Westliche Länder würden »kolos- re Panzertür auf. Vor ihm führt ein schmaler 120 Tonnen schwerer Betondeckel die Dose.
sale Risiken« eingehen, wenn sie der Ukraine Gang tiefer in die Erde hinein, beleuchtet von Die Luft riecht feucht. Dieser Leitstand ist für
solche Jets übergäben. Grubenlampen an der Decke, so eng, dass die Einschläge von Raketen gebaut worden.
Der Westen wägt ab, schwere Waffen zu zwei Menschen kaum nebeneinander gehen Die Soldaten hätten mit ausreichend Proviant
liefern, der Kreml droht kaum verhohlen mit könnten. Der Gang ist mindestens 100 Meter und Wasser bis zu 45 Tage ohne Kontakt zur
einem Atomkrieg. So geht das seit Beginn des lang, vielleicht 150, und endet vor einer wei- Außenwelt überlebt.
russischen Angriffs. teren, noch schwereren Panzertür, einen hal- »Drücken Sie mal hier drauf.« Der Finger
Fast die Hälfte der Deutschen hat Angst ben Meter dick. von Wiktor Ksensow zeigt auf einen grauen
vor einem Atomkrieg. Spezifisch deutsch ist In Sowjetzeiten hätte Ksensow auf einem Knopf rechts unten auf dem Schaltbrett. Er
die Angst allerdings nicht. Auch im friedlichen Tastenfeld mehrere Codes eingegeben und lächelt.
Schweden kaufte man nach Beginn des Kriegs einem Wachmann auf der anderen Seite per 40 Meter über ihm befindet sich ein Land
in der Ukraine mehr Jodtabletten, auch in der Telefon ein Passwort nennen müssen, das sich im Krieg. Als Putin im Februar 2022 den An-
Schweiz Geigerzähler. Fast 70 Prozent aller regelmäßig änderte. Jetzt genügt ein kräftiger griff auf die Ukraine ankündigte, sagte er:
Amerikaner sorgen sich vor einem nuklearen Zug. Er steigt in einen Metallkäfig, der von »Ganz gleich, wer versucht, sich uns in den
Armageddon. Stahlseilen gehalten wird, ein primitiver Lift, Weg zu stellen oder gar Bedrohungen für
In Europa gibt es Menschen, die Atom- in dem zwei sowjetische Offiziere Platz hatten. unser Land und unser Volk zu schaffen, Sie
waffen schon sehr nahe gekommen sind, sie Der Aufzug ist Teil des Kommandopostens, müssen wissen, dass Russland sofort reagieren
erzählen von der Gefahr der Kontamination, den Ksensow »die Dose« nennt, da er wie eine wird, und die Konsequenzen werden so sein,
den Langzeitfolgen, auch vom seltsamen riesige Metalldose in einem Schacht unter der wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch
Glück der Abschreckung. Sie können davon Erde liegt. »Das hier ist mein Leben«, sagt er. nie gesehen haben. Ganz gleich, wie sich die
berichten, was passierte, nachdem gleich vier Während Ksensow hinunter in den Leit- Ereignisse entwickeln, wir sind bereit. Alle
Atombomben vom Himmel fielen, wie es ist, stand fährt, ist ein neues nukleares Wettrüsten notwendigen Entscheidungen in dieser Hin-
in einer deutschen Uranmine zu arbeiten, wie im Gange. Alle wichtigen Verträge zur Ab- sicht sind getroffen worden. Ich hoffe, dass
es sich anfühlt, den Knopf zu drücken, der rüstung sind aufgehoben oder ausgesetzt. Das meine Worte Gehör finden werden.«
die Bombe abfeuert. Wer die Angst verstehen US-Militär modernisiert seine Atomwaffen, Putin sah schlecht aus, als er diese Worte
will, muss diejenigen treffen, die der Bombe Frankreich testet atomar bestückbare Rake- sprach. Sein Gesicht aufgedunsen, eine Zor-
bereits begegnet sind. ten. China baut mehr als 300 neue Raketen- nesfalte auf der Stirn, der Körper leicht ge-

Julia Kochetova / DER SPIEGEL (2)

Museumsführer Ksensow, Modell der russischen Atomrakete Satan: »Das hier ist mein Leben«

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 55


REPORTER

neigt, es sah aus, als hielte er sich am ließ? Oder war es die zunehmende
Tisch fest. Es war ein unheimlicher Zahl von Demokratien, von inter-
Anblick, und die Angst floss in die nationaler Kontrolle, die Gründung
Welt. Kinder fragten in Grundschulen, der Uno?
was eine Atombombe sei. Geigerzäh- Oder hing das Trauma des Zweiten
ler waren teilweise innerhalb von drei Weltkrieges in Europa noch nach?
Tagen ausverkauft. Möglich, dass die USA und die Sow-
»Chicken Game« nennt der Poli- jetunion einen konventionellen Krieg
tikwissenschaftler Frank Sauer das, auch ohne Atomwaffen vermieden
übersetzt bedeutet es in etwa: Feig- hätten, dessen Ausgang für beide Sei-

Julia Kochetova / DER SPIEGEL


lingsspiel. Es ist ein Modell aus der ten mit hohen Verlusten verbunden
Spieltheorie, das die nukleare Dro- gewesen wäre. Atomwaffen verhin-
hung gut verdeutlicht: Zwei Sport- dern keine Kriege. Die russische In-
wagen fahren mit hoher Geschwin- vasion Afghanistans, der Krieg in
digkeit aufeinander zu. Wer aus- Vietnam, in Algerien, im Irak, im Li-
weicht, beweist seine Angst und hat banon, der Krieg um die Falkland-
das Spiel verloren. Wenn keiner aus- inseln, der Kaschmirkonflikt zwi-
weicht, kommt es zum Crash. Beide schüttelt den Kopf. »Wir waren ja Teil Ehemalige Kom- schen Pakistan und Indien – sie alle
haben verloren. Es geht also darum, der Befehlskette.« Hätte er den Befehl mandozentrale für sind geführt worden, obwohl einer
glaubwürdig dem anderen zu de- verweigert, wäre er als Deserteur im Atomraketen
bei Perwomaisk:
oder mehrere beteiligte Staaten über
monstrieren, dass man nicht auswei- Gefängnis gelandet. Und es hätte je- »Wir waren der Atomwaffen verfügten. Auch die Ter-
chen wird, ohne selbst den Crash zu mand anderes den Knopf gedrückt. Schutzschild des roranschläge vom 11. September 2001
riskieren. Ksensow sagt, er sei mit seinem Job Mutterlandes« geschahen trotz Atombomben. So
Wie gewinnt man das »Chicken zufrieden gewesen. »Sehen Sie«, sagt umstritten der Nutzen nuklearer Waf-
Game«? Indem man sich als unbere- er, »aus sowjetischer Sicht waren vie- fen ist, die Nachteile sind klar. Der
chenbar zeigt, als Kranker, als Ver- le stolz, hier zu arbeiten. Wir waren erste: Nuklearwaffen sind teuer.
rückter, sagt Sauer. Wodka trinken der Schutzschild des Mutterlandes.« Mehr als 200 Millionen US-Dollar
und das Lenkrad aus dem Fenster Wenn man ihn fragt, ob er es wahn- werden für Atomwaffen ausgegeben.
werfen. Und auch wenn sich manche witzig finde, dass er jahrelang für Mas- Pro Tag. Sie gelten bis heute als Pres-
schon an die Drohungen gewöhnt ha- senvernichtungswaffen zuständig war, tigeobjekt, als ultimative Waffe, der
ben: Putin hat das Feiglingsspiel be- die einen beträchtlichen Teil der andere Ziele untergeordnet werden
reits mehrmals gewonnen. Bei der Menschheit hätten auslöschen können, müssen. Pakistans Premier sagte 1972,
Besetzung der Krim im Jahr 2014 erzählt er von einem Amerikaner, der man werde die Bombe bauen, »und
etwa oder indem er mit seinen Dro- einmal ins Museum kam. Der Ameri- wenn wir dafür Gras fressen müssen«.
hungen die Lieferung von westlichen kaner sei ebenfalls in einem Raketen- Im Uranfieber Etwas, was Nordkoreas Bevölkerung
Panzern nach dem Kriegsbeginn ver- silo für den Abschuss zuständig ge- tatsächlich getan haben soll, um die
zögerte. wesen. »Und wissen Sie was? Der Anteil an der globalen nuklearen Ambitionen des Kim-Clans
Uranförderung,
Dagegen sagt Sauer: »Wer nuklea- unterstand auch den Befehlen seines in Prozent zu finanzieren.
re Abrüstung und Rüstungskontrolle Heimatlandes, genau wie ich.« Militärs müssen sich heute ent-
will, muss schwere Waffen liefern.« Ksensow hat keine Angst, denn er von 1945 bis 2021 scheiden, ob andere Ausgaben nicht
Denn wenn der Angriffskrieg unter glaubt, dass seine Aufgabe die Erhal- 2021 wesentlich attraktiver sind: Investitio-
dem Schutzschirm der Nukleardro- tung des Friedens gewesen sei und Kasachstan nen in hybride Kriegsführung, für Pro-
hungen gelingt, dann werden auch dass Abschreckung funktioniere. Im und Usbekistan paganda, für Drohnen, für Hacker, für
viele andere Länder die Bombe ha- Grunde ist es eine Wette auf die Ra- 19 Laserwaffen. Die militärischen Vor-
ben wollen. tionalität des Gegners: Wenn ihr uns 52 teile der Bombe auf dem Schlachtfeld
Im Bunker unter der Ukraine umbringt, dann bringen wir euch um. Kanada sind gering, auch bei den sogenannten
drückt man zögerlich den Knopf, und Also bringen wir uns lieber gar nicht 18 taktischen Atomwaffen, deren Spreng-
sofort schrillt der Alarm. Drrr, drrr, um. MAD hieß die Formel im Kalten 10 kraft immer noch ein Vielfaches der
drrr, wie ein sehr lauter Wecker. Das Krieg, »mutually assured destruc- über Hiroshima abgeworfenen Bombe
Schrillen erfüllt den kleinen Raum, tion«, die gegenseitig gesicherte Zer- USA betragen kann. Die eigenen Truppen
Ksensow zeigt auf die Anzeigetafel störung. Die Atomwaffenarsenale der 12 und die eigene Bevölkerung sind mög-
über seinem Kopf, gelbe Leuchten Welt verfügten 1985 über die 6000-fa- 0 licherweise betroffen. Die Ächtung der
blinken im Halbkreis, irgendwo pul- che Sprengkraft des Zweiten Welt- Australien Weltgemeinschaft wäre eine sichere
siert eine rote Lampe. Seine Hand kriegs. MAD ist auch das englische 8 Konsequenz, eine konventionelle Ver-
fährt von unten durch die Luft. »Die Wort für »verrückt«. Und noch immer 9 geltung wahrscheinlich. Derzeit geht
Raketen starten jetzt.« Wäre es das kann man mit dem vorhandenen Ar- kaum ein Experte davon aus, dass Pu-
Deutschland
Jahr 1989, würden Interkontinental- senal die Welt mehrfach zerstören, tin die Bombe einsetzen wird, selbst
7
raketen aus zehn Silos nicht weit von noch immer greift die militärische wenn es möglich bleibt. Auch die USA
0
hier mit fauchendem Antrieb abhe- Logik des Kalten Krieges. haben durchscheinen lassen, dass
ben, jede bestückt mit zehn atomaren Ksensow tritt wieder in den engen Russland sie auf einen Atomschlag gegen die
Sprengköpfen. Es würde zwischen Aufzug und schließt die Tür. »Wir soll- 6 Ukraine konventionell antworten wür-
23 und 26 Minuten dauern, bis sie ihre ten nach oben gehen, damit wir nicht 5 den. Warum dann aber sehr viel Geld
Ziele erreicht hätten. hier unten feststecken, falls der Strom andere für eine Bombe ausgeben, die man
Ksensow sagt: »Ich hätte sie abge- ausfällt.« Oben geht der Krieg weiter. 31 nicht benutzt?
schossen. Das hätte ich tun müssen, Ob Abschreckung dauerhaft funk- 24
wenn es einen Befehl gegeben hätte.« tioniert, weiß niemand. War es die II. EINSCHLAG
Hat er darüber nachgedacht, im Ernst- Angst vor der atomaren Zerstörung, SAssociation;
Quelle: World Nuclear Ein riesiger, radioaktiver Feuerball ist

Abweichung von
fall den Knopf nicht zu drücken? Er die den Kalten Krieg nicht eskalieren 100 Prozent rundungsbedingt das Erste, was nach dem Einschlag

56 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


REPORTER

entsteht. Die Druckwelle kommt mit einer ist alles. Aber er ist wütend über das politische Nach dem Unfall führte die US-Armee eine
Geschwindigkeit von mehreren Hundert Versagen. Für ihn ist alles, was seit mehr als oberflächliche Reinigung durch. Alle Aufmerk-
Stundenkilometern. Gebäude stürzen zusam- 57 Jahren in Palomares passiert, eine Zumu- samkeit galt jedoch der vierten Bombe, die
men, und durch die Luft fliegen Straßenlater- tung, von der Geheimniskrämerei unter Fran- erst Monate später aus dem Meer geborgen
nen, Autos, Zapfsäulen. co über die nie eingehaltenen Zusagen der wurde. Das ikonische Bild zur Katastrophe
Die Hitze im Zentrum der Explosion ist USA, den Landstrich zu dekontaminieren – lieferte Manuel Fraga, Francos Propaganda-
heißer als die Sonne, sie verbrennt in der Um- bis zur heutigen Strategie der spanischen Re- und Tourismusminister, der zusammen mit
gebung die Haut, lässt Häuser in Flammen gierung, die Besitzer von verseuchtem Land dem US-Botschafter vor der Weltpresse im
aufgehen. Gut möglich, dass ein Feuersturm zu enteignen, um die Gebiete einzuzäunen. Frühling 1966 am Strand von Palomares in
durch die Straßen rollt. Wer sich in einen »Die Geschichte«, sagt Herrera mit Marx, »er- die Wellen sprang, um anschließend fröhlich
unterirdischen Bunker geflüchtet hat, stirbt eignet sich immer zweimal – das erste Mal als in die Kameras zu winken. Der Lokalbevöl-
mit hoher Wahrscheinlichkeit an Sauerstoff- Tragödie, das zweite Mal als Farce.« kerung wurde weitgehende Unbedenklichkeit
mangel und Kohlenmonoxidvergiftung. José Herrera wurde 1955 in der 70 Kilo- versichert.
Dann kommt die Strahlung. Sie schädigt meter entfernten Provinzhauptstadt Almería Bis heute können wichtige Fragen rund um
Zellen und ganze Organe. Wer in der Nähe geboren. In der Nacht nach dem Unfall hätte Palomares nicht beantwortet werden: Wie
steht, stirbt sofort, wer sich weiter weg be- sein älterer Bruder das verbotene kommu- gefährlich ist das radioaktive Material? Und
findet, erkrankt später öfter an Krebs. nistische »Radio Pirenaica« gehört und ihn wo liegt es überhaupt? Laut spanischen Be-
Menschen haben dies schon zweimal er- aufgeregt gerufen, weil Almería erwähnt wur- hördenangaben besteht keine Gefahr. Laut
lebt, in Hiroshima und Nagasaki. Diejenigen, de. Als sie begriffen, was passiert war, saß der den Umweltaktivisten von »Ecologistas en
die direkt unter dem Feuerball standen, ver- Schock tief. »Zwei Wochen nach dem Unfall Acción« sind von neun Kilogramm Plutonium
schwanden einfach: Manche ihrer Schatten gab es Interferenzen, alle Radiosignale wur- zwei Drittel bis heute nicht auffindbar. 50.000
brannten sich bei mehreren Tausend Grad den gestört.« Kubikmeter verseuchter Erde müssten in
Hitze in den Asphalt ein. einer Atommülldeponie entsorgt werden. Im
Das ist der Grund der Angst. Und selbst Jahr 2015 einigten sich Spanien und die USA
wenn das alles nicht eintritt, lässt sich gut darauf, dass der verseuchte Boden in die USA
beobachten, was passiert, wenn vier Atom- verschifft wird. Bis heute ist nichts passiert.
bomben auf die Erde fallen, nicht weit von Auf dem Hügel über Palomares rosten seither
hier, in der andalusischen Kleinstadt Paloma- graue Container hinter einem zwei Meter ho-
res, in Spanien, 300 Kilometer südlich von hen Drahtzaun vor sich hin, umwuchert von
Madrid. hohem Gras. Darin liegt die mit Plutonium
José Herrera ist ein hagerer, ernster Mann. verseuchte Erde.
Er trägt Allwetterkleidung, züchtet unweit Seit Jahrzehnten beschäftigen ein paar Ki-
der Großstadt Almería Kakteen und hat lan- logramm Plutonium Menschen und Behörden,
ge beim spanischen Fernsehen gearbeitet. An produzieren eine Masse an Gutachten, Ge-
diesem windigen Frühlingsmorgen läuft Her- richtsprozessen und Streitigkeiten. Und der
rera über eine Straße, die sich durch die Hü- Unfall von Palomares ist nicht einzigartig.
gel über Palomares zieht. Er geht an Tomaten- Auf der Welt gibt es knapp 13.000 Atom-
und Melonenfeldern vorbei, lässt den ört- bomben. Eine kürzlich freigegebene Liste der
lichen Friedhof hinter sich und kommt an Forschungseinrichtung »Sandia National La-
einem abgezäunten Gelände an: »Área Res- boratories«, die Nuklearwaffen herstellt,
tringida« – Zutritt verboten. Mit ausgestreck- spricht von mehr als 1000 Unfällen allein in
tem Arm deutet er in die Hügel. »In die Sen- den USA, allein zwischen 1950 und 1968. Im-
ke da vorn ist eine Atombombe abgestürzt.« mer wieder gehen Sprengköpfe verloren. Al-
Sein Blick wandert zu zwei abgewetzten, lein die USA vermissen acht Atombomben,
grauen Containern hinter einem Drahtzaun: die meisten fielen bei Unfällen ins Meer. Wie
»Dort lagern sie nuklear verseuchten Abfall.« »IN DIE SENKE DA VORN viele Kernwaffen die Sowjetarmee verloren
Am 17. Januar 1966 flog in 9000 Meter IST EINE ATOMBOMBE hat, ist unbekannt.
Höhe über Palomares ein B-52-Bomber der Nukleare Unfälle können jeden Staat und
U. S. Air Force. Er trug vier Wasserstoffbom- ABGESTÜRZT.« jedes politische System überfordern. Kurz-
ben an Bord. Er sollte in der Luft betankt José Herrera, Aktivist fristige politische Entscheidungszyklen und
werden, doch der Treibstoff fing Feuer, so- die Langlebigkeit radioaktiver Schwermetal-
wohl der Bomber als auch das Tankflugzeug le passen nicht zusammen. In Spanien und
stürzten ab. Sieben der insgesamt elf Crew- den USA wird alle vier Jahre eine neue Re-
mitglieder kamen ums Leben. Drei Bomben gierung gewählt. Die Halbwertszeit von Plu-
fielen in Palomares auf die Erde, die vierte tonium 239 beträgt 24.110 Jahre.
landete im Mittelmeer. Zwar kam es zu keiner
thermonuklearen Explosion, aber die kon- III. FOLGEN
ventionellen Sprengköpfe in zwei der vier Die beste Lösung wäre das, was Wissenschaft-
Bomben detonierten – Experten sprechen ler und Politiker »Global Zero« nennen: eine
von einer schmutzigen Bombe. Eine größere Welt ohne Nuklearwaffen. Ein Ziel, zu dem
Menge Plutonium wurde in der Gegend ver- schon Henry Kissinger und Helmut Schmidt
Daniel Etter / DER SPIEGEL (2)

teilt. Der Absturz gilt als einer der schlimms- aufgerufen haben, die im Zweiten Weltkrieg
ten Unfälle mit Atomwaffen in Europa. kämpften und den Kalten Krieg prägten. Op-
Für Herrera ist der Unfall zum Lebensin- timisten sagen, schließlich sei es der Mensch-
halt geworden, er unterstützt viele Anwohner heit auch gelungen, über Jahrhunderte ge-
im Kampf gegen die Regierung. Wie der ukrai- wachsene Systeme wie die Sklaverei abzu-
nische Soldat Ksensow hat er keine Angst. schaffen und den Einsatz und den Besitz von
Manchmal zieht er eine FFP2-Maske an, das Kontaminiertes Gebiet in Andalusien biologischen und chemischen Waffen nach

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 57


REPORTER

dem Ersten Weltkrieg durch das Genfer Pro- stück« und Apfelschorle serviert. Doch der
tokoll völkerrechtlich zu verbieten. Eine über- Schlemabach ist künstlich eingebettet, der
raschend hohe Anzahl an Ländern hält sich Kurpark darf nicht bebaut werden, denn da-
bislang an dieses Verbot. runter verlaufen Stollen. In dieser Gegend
Die Kampagne für das Eindämmen von laufen sie übereinander in 62 Stockwerken,
Nuklearwaffen unter der Reagan-Adminis- mehr als 50 Tagesschächte führen in die Tie-
tration, eine der größten Massenbewegungen fe. Manchmal reißt das Erdreich auf.
der USA, entsprang dem Schrecken des Kal- Unten tropft Tauwasser von der Decke
ten Krieges. Aus 64.000 nuklearen Spreng- auf Taubers Helm. Der Stollen erstreckt sich
sätzen, die es 1986 weltweit gab, wurden dunkel vor ihm. Tauber fährt mit den Fin-
knapp 13.000, eine Reduzierung von mehr gern über den Stein. »Fein verteiltes Uran«,
als 80 Prozent. sagt er. Tauber schreitet an der heiligen Bar-
Möglich, so hoffen es Befürworter von bara vorbei, Schutzpatronin der Bergleute.
»Global Zero«, dass der Ukrainekrieg zwar Wind fährt einem hier unten entgegen, als
kurzfristig zu einer Aufrüstung, aber lang- ob Sturm aufkäme. Die Arbeiter haben ihre
fristig zu einer Abrüstung führen konnte, weil eigene Sprache, die Bergmannsprache, der
er politischen Entscheidern erneut vor Augen Wind heißt hier Wetter. Er ist zentral für die
führt, dass Atomwaffen militärisch weitge- Arbeit von Tauber. Es gibt »gute Wetter«,
hend nutzlos, dafür aber kostspielig sind und erklärt er, frische Luft, und es gibt »böse
die Auswirkungen eines Unfalls katastrophal Wetter«, giftige Luft. Böse wie das Radon,
wären. Und selbst wenn jede Bombe der Welt das hier in der Luft liegt und Lungenkrebs
vernichtet wurde, würde ein Problem bleiben, verursacht, es ist ein Zerfallsprodukt des
und das liegt am Uran. Urans.
In Bad Schlema, im Erzgebirge kennt man »WENN ES BRENNT, DANN Tauber tippt auf ein Messgerät in einem
sich sehr gut mit Uran aus. Hier stand zeit- DIE NASENKLAMMER der Gänge: 1800 Becquerel pro Kubikmeter
weise einer der größten Uranproduzenten der zeigt es an, eine sehr hohe Radonkonzen-
Welt.
NICHT VERGESSEN.« tration. Taubers Vorgänger haben Lüfter in-
»Wenn es brennt«, sagt Andy Tauber, Andy Tauber, Projektleiter stalliert, die in den Stollen einen Unterdruck
»dann die Nasenklammer nicht vergessen.« erzeugen, um das Radon abzusaugen.
Tauber ist 39 Jahre alt, hat schon als Kind in In einer Vitrine in der Nähe liegt ein fuß-
Höhlen gespielt, nennt sich selbst einen Berg- ballgroßer Brocken: uranhaltiges Erz, dunkel
mann und ist verantwortlich für Deutschlands glänzend, der Geigerzähler schlägt piepsend
größtes Sanierungsprojekt. aus. Ein Dröhnen dringt durchs Gestein.
Er wird gleich eine Glocke läuten und unter Angst? Tauber schüttelt den Kopf. »Respekt«,
die Erde fahren. Vorher zeigt er noch ein klei- sagt er.
nes schwarzes Gerät, es ist ein Sauerstoff- Seine Männer am Ende des Ganges spren-
selbstretter. Wenn es in der Grube brennt und gen, räumen Schutt weg, stützen Decken, ver-
Christian Werner / DER SPIEGEL (2)

der Sauerstoff versiegt, erklärt Tauber, dann legen Schienen. Die Stollen müssen instand
soll man in einen kleinen Schlauch atmen, gehalten werden, um sie weiter zu belüften,
wie in ein Tauchgerät. Dann stapft er los. sonst würde das krebserregende Radon nach
Nicht weit von hier, unter alten Fördertürmen, oben steigen, direkt durch die Keller der
liegt das Uran aus dem Erzgebirge, das Stalin Häuser.
den Bau der Atombombe ermöglichte. Es Diese Aufgaben werden noch in Tausen-
beschäftigt die Gegend bis heute. den von Jahren ausgeführt werden müssen,
»Je höher das sozialistische Bewusstsein – Früheres Wismut-Bergwerk, Uranerz erklärt Tauber. Entweder von Menschen oder
je fester die Überzeugung –, desto größer die von Robotern. Es dauert Milliarden von Jah-
Erfolge für den Sozialismus«, steht in roter mer. Hier in der Nähe, erzählt Tauber, war ren, bis Uran-238 zu Blei zerfällt. Die Ab-
Schreibschrift hinter der Umkleidekabine. einer der tiefsten Schächte Europas, der 1800 wicklung des nuklearen Zeitalters ist eine
»Fröhliche Weihnachten« wünscht eine Tür Meter in die Tiefe führte. 65 Grad ist es da Ewigkeitsaufgabe.
weiter »das Kollektiv«. Früher gingen hier unten warm, die Bergleute waren eine Stun- Die Bundesregierung hat bisher fast sieben
3000 Arbeiter durch. Das Bergbauunterneh- de unterwegs. Er gongt dreimal, der Korb Milliarden Euro in die Sanierung dieser Uran-
men aus der DDR entwickelte sich zwischen fährt nach unten, Tauber betritt die Dunkel- mine gesteckt. Es gibt Tausende Uranminen
1946 und 1990 zum weltweit viertgrößten heit. auf der Welt. Allein in den USA stehen 15.000
Produzenten von Uran, nach der Sowjetunion, In den Fünfzigerjahren, daran erinnern Minen leer. Selbst im Grand Canyon wird über-
den USA und Kanada. Am Eingang standen sich die Alten noch, kamen die Sowjets, klopf- legt, Uran abzubauen.
sowjetische Soldaten. ten nachts an die Türen und gingen mit den Es gibt keine Waffe, deren Erbe so toxisch
Höchste Geheimhaltung war für das Pro- Steigern in die schon geschlossenen Schächte. ist. Land und Wasser sind weltweit durch
jekt vorgeschrieben, deshalb hieß die Firma Arbeiter brachen mit der Hand uranhaltiges Tests und Produktion auf Tausende von Jah-
Wismut, wie das eher uninteressante Mineral, Gestein aus den Stollen. 230.000 Tonnen ren verseucht. Die Bombe ist, laut der Bewe-
und nicht Uran. Heute sind noch neun Berg- Uran transportierten sie nach oben. gung »Global Zero«, ein Symbol für den Wert,
leute angestellt, die die Stollen in Stand hal- In den folgenden Jahrzehnten starben Tau- den wir dem Leben und dem Planeten zu-
ten. An den Dosimetern, die jeder tragen sende an Lungenkrebs. Mehr als 9000 Fälle messen. Solange sie existiert, verstärkt sie
muss, um die Strahlung zu überprüfen, sind sind bis heute als Berufskrankheit anerkannt. bestehende Krisen. Auch die sehr kleine Wahr-
kleine Plastiktierchen befestigt, Hunde, klei- »Tal des Todes« – diesen Beinamen bekam scheinlichkeit eines Einsatzes wird über einen
ne Drachen. Schlema nach dem Mauerfall. langen Zeitraum irgendwann zur Gewissheit,
Schacht 15IIb wartet auf Tauber. 50 Meter Nicht weit von hier stehen jetzt die Kur- so wie ein Vulkanausbruch oder ein Kometen-
geht es jetzt in die Tiefe. Für die Bergleute hotels, plätschert der Schlemabach durch den einschlag. Die Alternative zur Abrüstung ist
der Vergangenheit war das eine Art Vorzim- Kurpark, bekommt man das »Ayurveda-Früh- die mögliche Zerstörung der Welt. n

58 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


REPORTER

Vollmacht, neues Glück. Ich sagte zu


meiner Frau: Das Schlimmste liegt
bald hinter uns. Die Bürokratie der
Dritten Welt.
Es war 2019, als meine Frau mit
einer aktuellen Geburtsurkunde in

Im Bermudadreieck Berlin zum Standesamt ging. Dort


sagte man: Das Scheidungsurteil aus
Portland, Oregon, wird nicht an-

der Bürokratie erkannt. Für die Anerkennung müsse


meine Frau einen »Antrag auf An-
erkennung einer ausländischen Ent-
scheidung in Ehesachen« bei der
Senatsverwaltung für Justiz stellen.
ALLES GUTSCHWie meine Frau seit Jahren (erfolglos) versucht, Meine Frau wandte sich in Berlin
meinen Nachnamen anzunehmen an die Senatsverwaltung für Justiz.
Dort hieß es: Moment! Erst mal brau-
chen wir die aktuelle Adresse Ihres
or ungefähr sechs Jahren sagte Ex-Mannes in den USA. Er muss sich
V meine Frau, dass sie meinen
Nachnamen annehmen möch-
te. Ich war gerührt. Ich finde es nicht
zu der Sache äußern.
Die Scheidung lag fast zehn Jahre
zurück. Meine Frau wusste nicht, wo
selbstverständlich, dass eine Frau den ihr Ex-Mann lebte. Ich dachte: Jetzt
Namen ihres Mannes trägt. Und dann stecken wir endgültig fest im Bermuda-
auch noch Gutsch – mehr ein Ge- dreieck der Bürokratie: Berlin – São
räusch als ein Name. Ich dachte still: Paulo – Portland, Oregon.
Es muss Liebe sein. Vom Standesamt kamen – im Zuge
Die Mutter meiner Frau, eine Bra- der von uns beantragten Registrierung
silianerin, trug den schönen Nachna- unserer in Dänemark geschlossenen

Illustration: Mario Wagner / DER SPIEGEL


men Cordioli da Silva. Dann heirate- Ehe im deutschen Eheregister – neue
te sie einen Deutschen und bekam Wünsche: Meine Frau solle die Ge-
einen deutschen Nachnamen. Den burtsurkunden ihres Vaters und ihrer
Namen Cordioli da Silva hätte ich na- Mutter vorlegen. Ich dachte: Warum
türlich sofort angenommen. Jochen- nicht auch die Geburtsurkunde ihres
Martin Cordioli da Silva. Großvaters und ihrer Urgroßmutter?
Meine Frau ging in Berlin zum Meine Frau schrieb an das Stan-
Bürgeramt. Dort sagten sie, dass das desamt, dass sie die Geburtsurkunde
Standesamt für die Namensänderung ihrer verstorbenen Mutter nicht be-
zuständig sei. Beim Standesamt sag- sitze. Dann eben die Sterbeurkunde,
ten sie, dass meine Frau, geboren in dass der Wahnsinn im Anmarsch sagte das Amt. Meine Frau antworte-
São Paulo, eine aktuelle brasilianische ist. te, dass sie sieben Jahre alt gewesen
Geburtsurkunde vorlegen müsse. Bei Wir schalteten eine Anwaltskanz- sei, als ihre Mutter starb. Kinder be-
der brasilianischen Botschaft in Berlin lei in São Paulo ein, damit diese das kommen keine Sterbeurkunde in die
sagten sie: Aktualisierungen von Ge- Dokument vom Gericht in Portland, Hand gedrückt.
burtsurkunden regeln die Behörden Oregon, besorgt, damit wir eine ak- Da wurde man beim Standesamt
»vor Ort«. Vor Ort heißt: gut 10.000 tuelle brasilianische Geburtsurkunde skeptisch. Meine Frau solle bitte nach-
Kilometer entfernt. bekommen, mit der wir beim Stan- weisen, wie sie an die deutsche Staats-
Monate später, im Urlaub, gingen desamt in Berlin einen Namen än- bürgerschaft gelangt sei.
wir in São Paulo zum Amt. In Brasi- dern. Können Sie mir noch folgen, Man muss alles mit Humor neh-
lien wird auf der Geburtsurkunde liebe Leser? men, oder? Meine Frau hat einen
auch der Familienstand vermerkt. Als das Dokument aus Portland, deutschen Vater, einen deutschen Pass
Meine Frau war in erster Ehe mit Oregon, endlich da war, schickte mei- und lebt seit 48 Jahren in Deutsch-
einem Amerikaner verheiratet gewe- ne Frau ihre Großtante in São Paulo land. Manchmal denke ich: Würde sie
sen. Sie ließ sich scheiden. Seit 2013 zum Amt. Dafür war eine Vollmacht ihr Geschlecht ändern wollen, wäre
ist sie mit mir verheiratet. Diese An- nötig. Die Vollmacht musste aller- alles einfacher. Mit dem »Selbst-
gaben mussten auf der Geburtsurkun- dings bei der brasilianischen Bot- bestimmungsgesetz« kann bald jeder
de aktualisiert werden. Es klang nicht schaft in Berlin ausgestellt werden. Deutsche beim Standesamt ohne
kompliziert. Das Scheidungsurteil Warum? Fragen Sie mich bitte nicht. Nachweise und Begründung sein Ge-
hatte meine Frau dabei. Meine Frau besorgte die Voll- schlecht selbst festlegen. Meine Frau
Auf dem Amt in São Paulo er- macht, die Großtante ging in São Pau- Claudia könnte ratzfatz ein Claudio
klärte uns ein gelangweilter Mann, lo zum Amt. Dort lobte man das neue werden. Aber keine Gutsch.
dass er das Scheidungsurteil, aus- Dokument aus Portland, Oregon, nur Ich hätte Zuletzt schrieb das Berliner Stan-
gestellt von einem amerikanischen leider könne man die Vollmacht der ahnen kön- desamt an meine Frau, man habe »bei
Gericht in Portland, Oregon, nicht Botschaft in Berlin nicht anerkennen. dem deutschen Generalkonsulat in
anerkennen könne. Er brauche noch Der Vorname der Großtante sei nicht nen, dass der São Paulo um Aktenauskunft aus dem
ein zweites Dokument vom Gericht korrekt geschrieben. Ein Tippfehler. Archiv zu Ihnen beantragt«.
in Portland, Oregon. An dieser Stel- Meine Frau ging wieder zur brasi-
Wahnsinn im Was immer das bedeuten mag.
le hätte ich vielleicht ahnen können, lianischen Botschaft in Berlin. Neue Anmarsch ist. Jochen-Martin Gutsch n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

Peter Seyffer th / IMAGO


Megajacht »Dilbar«

Razzia bei Oligarch teils rechtswidrig


AFFÄREN Im September durchsuchten Kriminalbeamte Jacht und Villen des russischen Unternehmers
Alischer Usmanow. Nun hält ein Gericht den Fahndern nach SPIEGEL-Informationen gravierende Mängel vor.

er Oligarch Alischer Usmanow hat Schwere und Organisierte Kriminalität ter, dass sich die Ermittler in ihrer Argu-
D einen juristischen Teilerfolg errun-
gen. Das Landgericht Frankfurt er-
klärte mehrere Durchsuchungen aus dem
knapp 90 Geldwäscheverdachtsanzeigen
von Banken zusammengetragen. Das Ge-
richt befand nun jedoch, dass für die Durch-
mentation stark auf ein YouTube-Video des
Oppositionellen Alexej Nawalny gestützt
hätten. Andere Belege für unsaubere Ge-
Jahr 2022 für rechtswidrig. Die Entschei- suchungen bei Usmanow kein Anfangsver- schäftspraktiken hätten sie nicht vorgelegt.
dung erfolgte im Rahmen eines Verfahrens dacht wegen Geldwäsche vorgelegen habe. Usmanows Verteidiger sagten, die Ent-
wegen Geldwäsche gegen den Unterneh- In ihrer Begründung stellte die Kammer scheidung bestärke das Vertrauen ihres Man-
mer. Gegen ihn wird zusätzlich wegen zudem gravierende Mängel in den von der danten in den deutschen Rechtsstaat. Sie
Steuerhinterziehung und Sanktionsverstö- Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft be- weisen sämtliche Vorwürfe zurück. Dass die
ßen ermittelt. Im September hatten Beamte antragten Durchsuchungsbeschlüssen fest. beschlagnahmten Gegenstände und Unter-
des Bundeskriminalamts (BKA) und der So sei nicht annähernd ausreichend be- lagen nun kurzfristig wieder herausgegeben
Steuerfahndung Villen am Tegernsee, eine schrieben worden, warum die Ermittler Us- werden müssen, ist unwahrscheinlich: Die
Wohnung bei Frankfurt am Main sowie die manow der Geldwäsche verdächtigten. Der Durchsuchungen waren auch mit Beschlüs-
Megajacht »Dilbar« im Bremer Hafen Vorwurf, dessen Milliardenvermögen beru- sen aus den anderen Ermittlungsverfahren
durchsucht. Neben Unterlagen beschlag- he vor allem auf in Russland begangenen gegen Usmanow abgesichert. Sie haben
nahmten die Ermittler Kunstgegenstände. Straftaten, sei zu pauschal. Allgemeinere weiter Bestand. Zuletzt wies das Land-
Um den Vorwurf der Geldwäsche gegen Verweise auf womöglich dubiose Geschäfts- gericht München II Usmanows Beschwerde
Usmanow zu untermauern, hatten Wirt- praktiken und Offshore-Firmen allein reich- gegen die Razzien in einem Verfahren
schaftskriminalisten der BKA-Abteilung für ten nicht aus. Zudem kritisierten die Rich- wegen Sanktionsverstößen zurück. JDL, ROL

60 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Siemens Energy Zulieferer stecken zwar wachsende Priorität, die
Zulieferer schafften es jedoch
stärkt den US-Markt in »Polykrise« bislang nicht, daraus finanzielle
ENERGIE Siemens Energy INDUSTRIE Deutschlands Vorteile zu ziehen – etwa einen
kritisiert die deutsche Energie­ Autozulieferer sehen sich wirt­ Preisaufschlag. Gleichzeitig
politik. »Deutschland hat kei­ schaftlich zunehmend unter nehmen die Klagen über man­

Chris Emil Janßen / IMAGO


nen erkennbaren konsistenten, Druck. Als größte Herausforde­ gelnde politische Unterstützung
langfristigen und kohärenten rungen benennen sie die Ver­ zu: Die Zulieferer befänden sich
Plan für die Energiewende«, sagt fügbarkeit und die Kosten von »inmitten einer Polykrise«, sagt
Aufsichtsratschef Joe Kaeser. Rohstoffen, den globalen Kon­ Hildegard Müller, Präsidentin
Vorstandschef Christian Bruch Bruch junkturabschwung und Störun­ des Verbands der Automobil­
kündigte an, der Energietech­ gen in der Lieferkette. Das industrie. Während der inter­
nikhersteller werde wegen des für die Produktion von Wasser­ ergibt eine Umfrage der Unter­ nationale Standortwettbewerb
US­Förderprogramms »Infla­ stoff mit einer Leistung von drei nehmensberatung BCG und der immer härter geführt werde,
tion Reduction Act« im Herbst Gigawatt gebaut werden, eine Großbank BNP Paribas unter fehle es den Regierungen in
einen Plan vorlegen, ob und in weitere Steigerung sei zeitnah 18 großen deutschen Zuliefe­ Berlin und Brüssel »zu oft an
welchem Umfang man be­ möglich. Zu diesem Zweck star­ rern, die für mehr als 50 Pro­ Geschwindigkeit und praxis­
stehende Fertigungskapazitäten tet das Unternehmen im Okto­ zent des Branchenumsatzes ste­ nahen Konzepten«. Staatliche
für Onshore­Windanlagen dort ber ein Joint Venture mit dem hen. Nachhaltigkeit hingegen Hilfen erhielten Unternehmen
wieder hochfahre – und in neue französischen Gasekonzern Air empfinden die Firmen als eher häufig nur »mit maximalem
Offshore­Standorte investiere. Liquide. Selbst eine Rückkehr unbedeutend. Das Thema habe bürokratischen Aufwand«. SH
Auch der Ausbau der US­Strom­ in das Solargeschäft hält Vor­
netze sei interessant. Laut Netz­ standschef Bruch für möglich.
Vorstand Tim Holt prüft der Das hänge stark davon ab, wie
Konzern den Bau eines Werks ernst Europa das Ziel verfolge,
für Transformatoren in den künftig 40 Prozent der Solar­
USA, die Kosten dafür würden kapazitäten aus lokaler Pro­
sich auf einen dreistelligen Mil­ duktion zu beziehen. Siemens

Karl-Josef Hildenbrand / picture alliance / dpa


lionenbetrag belaufen. Parallel Energy plane nicht den Bau von
will Siemens Energy weiter in Solarparks oder die Produktion
die Energiewende in Europa von Solarmodulen, denkbar sei
investieren. Am Standort Berlin eher die Anbindung solcher
sollen bis 2025 Elektrolyseure Anlagen an die Stromnetze. MHS

RBB muss Doku- hatte zuvor Somalia öffentlich Montage bei ZF


als »Shithole­Country« bezeich­ Friedrichshafen
Reihe neu drehen net – eine Äußerung, über die
MEDIEN Der Rundfunk Berlin­ kurz darauf die Zusammen­
Brandenburg (RBB) wird meh­ arbeit mit dem Sender zerbrach. Wenig Arbeitsschutz 4308 Arbeitgeber im Transport­
rere Filme der Dokumentations­ Nun entschied der RBB, die bereich etwa darauf kontrol­
reihe »Schattenwelten Berlin« teils bereits abgedrehte und für Lkw-Fahrer liert, ob sie ihren Beschäftigten
nicht wie geplant ausstrahlen. geschobene zweite Staffel der LOGISTIK Hunderttausende Mindestlöhne zahlen und sie
Grund ist eine Umbesetzung Doku­Serie über die Berliner Lkw rauschen jeden Tag über zur Sozialversicherung ange­
des bisherigen Co­Moderators Lebenswelt nicht wie geplant zu Deutschlands Straßen – aber meldet haben. Das BALM wie­
Jan Karon, der im November veröffentlichen. »Mit Blick auf bei den Kontrollen zum Ar­ derum, für die Straßenkontrol­
zum rechtspopulistischen die berufliche Veränderung des beitsschutz der Fahrer gibt es len der Lkw zuständig, prüfte
Medien­Start­up des Ex­»Bild«­ bisherigen Co­Host Jan Karon offenbar Nachbesserungsbedarf. 2021 mit Blick auf das Fahr­
Chefredakteurs Julian Reichelt sehen die Produktionsfirma und Laut Gesetz soll das Bundesamt personalrecht mehr als 111.000
gewechselt ist. Der Journalist der RBB dafür keine Basis für Logistik und Mobilität Lkw und beanstandete unge­
mehr«, sagte ein Sprecher. (BALM) die Finanzkontrolle fähr jeden sechsten. Aber nur in
Stattdessen wurde eine zweite Schwarzarbeit (FKS) bei deren 0,4 Prozent der Fälle leitete die
Staffel der »Schattenwelten« Prüfungen unterstützen. In der Behörde Hinweise an den Zoll
mit Moderatoren und Modera­ Praxis arbeiten die Behörden je­ weiter. Dabei sind Koopera­
torinnen aus dem bisherigen doch nur punktuell zusammen. tionen offenbar zielführend: In
Autorenteam der Produktions­ 2022 gingen sie nur 161­mal ge­ 69 Prozent der Fälle leitete die
firma in großen Teilen neu ge­ meinsam vor, wie aus einer Ant­ FKS nach Hinweisen des BALM
dreht und soll Anfang Juli in der wort der Bundesregierung auf etwa Ordnungswidrigkeiten­
ARD­Mediathek ausgestrahlt eine Schriftliche Frage des Bun­ oder Strafverfahren ein. Ab­
werden. Auch Teile der bisheri­ destagsabgeordneten Pascal geordneter Meiser fordert mehr
gen Recherchen konnten wegen Meiser (Linke) hervorgeht. Das Kontrollen und eine bessere
der Mitwirkung des heutigen ist mehr als in den beiden Jah­ Zusammenarbeit der Behörden.
Reichelt­Mitarbeiters nicht ren zuvor, in denen je rund 100 Diese sollten verpflichtet
mehr verwendet werden, heißt Prüfungen gemeinsam stattfan­ werden, »die um ihren Lohn
Schöning / IMAGO

es aus Senderkreisen. Zu den den, gemessen an der Gesamt­ geprellten Fahrer über mögliche
Kosten, die durch die Neubeset­ zahl der Inspektionen jedoch Ansprüche und die Möglich­
RBB-Zentrale in Berlin zung anfielen, macht der RBB sehr gering. 2022 hat die keiten, diese durchzusetzen, zu
keine näheren Angaben. RAI Finanzkontrolle Schwarzarbeit informieren«. KKO

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

Wenn
andere
eine
Grube
graben
ROHSTOFFE Ohne sie dreht sich keine Windturbine, fährt kein Elektroauto: Metalle wie Lithium, Kupfer
oder seltene Erden sind das neue Öl der Industrienationen. Doch Politik und Unternehmen haben
sich in eine gefährliche Abhängigkeit von China begeben. Kann der Befreiungsschlag noch gelingen?

62 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WIRTSCHAFT

uropas Zukunft riecht nach ver- auch ruchloser bei deren Ausbeutung. Peking

E
Lithiumabbau im Qarhan-Salzsee in der
chinesischen Provinz Qinghai branntem Metall. Funken sprühen, könnte seine Marktmacht »in Bezug auf Bat-
Arbeiter mit Schutzbrillen flexen terien und Solarzellen nutzen«, warnte jüngst
sich hoch konzentriert durch Me- das Geheimdienst-Informationszentrum der
tallröhren. Hier im Industriegebiet EU. Das Europäische Kompetenzzentrum für
von Bitterfeld-Wolfen, wo einst die Agfa den die Abwehr hybrider Bedrohungen stellt fest,
ersten funktionsfähigen Farbfilm der Ge- dass Peking immer stärker »wirtschaftliche
schichte entwickelte, soll schon bald ein neues Nötigung« als geopolitisches Machtinstru-
deutsches Industriewunder entstehen: Euro- ment einsetze.
pas erste Raffinerie für Lithium. Er erlebe »einen Wettbewerb der Syste-
Der Mann, der das möglich machen will, me«, sagt Regierungsberater Buchholz. Die
heißt Heinz C. Schimmelbusch, 78. »Schibu«, deutschen Unternehmen müssten endlich
wie sie ihn in der Rohstoffszene liebevoll nen- Geld in die Hand nehmen, um ihre Rohstoff-
nen, ist ein alter Bekannter: ehemaliger Di- versorgung zu sichern. Statt wie bisher bloß
rektor der legendären deutschen Metallgesell- auf dem Weltmarkt einzukaufen, müssten sie
schaft, gebürtiger Wiener, strahlend blaue selbst in die Förderung und Veredelung ein-
Augen, akkurat gezogener Scheitel, das Ego steigen, sich an Minen beteiligen. »Die guten
überlebensgroß, der Ruf ebenso. Der promo- Projekte werden gerade verteilt«, so Buch-
vierte Manager, dessen Karriere vor 30 Jahren holz. Und überall lauere schon die Konkur-
eigentlich beendet schien, will sich mit dem renz aus China. Wenn sich die Deutschen
ambitionierten Rohstoffprojekt ein letztes nicht beeilten, so Buchholz, bleibe von den
Denkmal bauen. Und tatsächlich avanciert er guten Lagerstätten nicht mehr viel übrig.
damit gerade zum wohl größten Hoffnungs- Ausgeerzt hat es sich dann, so sagen Berg-
träger der hiesigen Wirtschaft. leute dazu.
Mit seiner Advanced Metallurgical Group, Dass für die Aufholjagd ausgerechnet der
kurz AMG, will Schibu noch in diesem Jahr beinahe 80-jährige, selbst ernannte »Früh-
die ersten Tonnen Lithiumhydroxid herstel- stücksdirektor« Schimmelbusch noch einmal
len. Jenen Stoff, aus dem grüne Träume sind: ranmuss, sagt viel über das Versagen der hei-
Das Metallsalz ist unentbehrlich für Batterien, mischen Industrie aus. Viele Jahre galten kri-
Solaranlagen, Elektromobilität, es steckt in tische Rohstoffe der Wirtschaft als langweili-
Windrädern, Sonnenspeichern und Autos. ges Thema, nichts, um das man sich bei Sie-
Die Vereinten Nationen bezeichnen es als mens, BMW, Daimler, Thyssen und BASF
»Pfeiler der fossilfreien Wirtschaft«. Allein groß sorgte. Die Welt, sagt ein Chemiemana-
die Batterie eines SUV wie dem iX von BMW ger, »war frei, die Märkte offen, die Preise
enthält etwa zehn Kilogramm Lithium. billig«. Warum also Kapital binden in eigenen
Bald schon will Schimmelbusch im sach- Rohstofflagern, warum ins Risiko gehen und
sen-anhaltischen Bitterfeld 20.000 Tonnen selbst Ressourcen abbauen, warum auf eige-
Lithiumhydroxid pro Jahr raffinieren. Genug ne Rechnung die Umwelt verschmutzen und
für eine halbe Million E-Autos. Binnen weni- Ärger mit Anwohnern provozieren? Ja, wa-
ger Jahre sollen es 100.000 Tonnen werden. rum all der Stress, wenn man die Ware doch
Der Rohstoff dafür könnte demnächst aus just in time überall auf der Welt einkaufen
Schimmelbuschs eigener Mine in Brasilien kann – zu großen Teilen aus China? »Für uns
kommen, irgendwann vielleicht sogar aus hatte das einen großen Vorteil«, so der Che-
deutschen Gruben. Dafür investiert der Ma- miemanager: »Wir hatten die ganzen Umwelt-
nager gerade Hunderte Millionen Euro. »Wir sauereien nicht und bekamen gleichzeitig gute
müssen jetzt handeln, sonst läuft uns die Zeit Produkte zu vernünftigen Kosten.«
weg«, sagt er. An dieser Einstellung änderte auch das Auf
Die sichere Versorgung mit den Rohstoffen und Ab der Preise wenig. Zumal es für die
der Zukunft ist das Thema der Stunde, ob auf Deutschen lief, von ein paar Knappheiten,
der Hannover Messe oder im EU-Parlament, wohl auch aus Peking gewollte, mal abgesehen.
in Konzernzentralen und Lobbygesprächen Doch die stockenden Lieferketten während
in Berlin: Ohne Metalle, Erze und Mineralien der Pandemie, der russische Angriffskrieg in
ist eine sauberere Zukunft undenkbar, sind der Ukraine und die neuerliche chinesische
Energiewende, Mobilitätswende oder Zeiten- Aggression gegenüber Taiwan haben die alte
wende nicht zu schaffen. Millionen Jobs, die Gewissheit zerstört, dass die Rohstoffe schon
Bekämpfung des Klimawandels und die geo- irgendwo herkommen. Zu unersetzlich ist
strategische Unabhängigkeit des Landes hän- China als Versorger geworden, zu mächtig.
gen an der Verfügbarkeit von Lithium, Kobalt, Die EU-Kommission gibt inzwischen offen
Qilai Shen / The New York Times / Redux / lai

Nickel oder Grafit, von seltenen Erden wie zu, beim Rohstoffbezug »hochgradig abhän-
Neodym oder Praseodym. gig« von China zu sein. Daraus resultiere eine
Der »Wettlauf um die Rohstoffe ist auch »erhebliche Anfälligkeit«. Je nach Rohstoff
ein Wettlauf um unseren zukünftigen Wohl- werden maximal 7 Prozent des Bedarfs durch
stand«, sagt Peter Buchholz, Leiter der bun- heimischen Abbau gedeckt. Anders gesagt:
deseigenen Deutschen Rohstoffagentur Dera. Im besten Fall müssen 93 Prozent der be-
Wäre das Ganze das Pferderennen in As- gehrten Metalle eingeführt werden, im
cot, hätte China beste Quoten. Kein Land schlechtesten alles.
kontrolliert mehr eigene Vorkommen, kein Die Sorgen sind so groß, dass die G7-Staa-
Land ist weltweit aktiver, erfolgreicher, ja, ten das Thema bei ihrem jüngsten Gipfeltref-

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

fen in Japan zur Chefsache erklärten. durch die Einöde. Kurz vor Sonnen- Chinas Mutterstrom, in dessen Ein-
Auf die Gründung eines Rohstoff- untergang die nächste Straßensperre. zugsgebiet mehr als 100 Millionen
klubs, wie ihn die EU-Kommission Diesmal ist auch ein Wagen der Spe- Menschen leben.

Salome Roessler / DER SPIEGEL


zuletzt vorgeschlagen hatte, konnten zialeinsatzkräfte dabei. Und wieder Die Krebsrate in den Ortschaften
sich die Staats- und Regierungschefs werden alle Autos zurückgeschickt. direkt am See ist hoch. Fast jede Fa-
zwar nicht einigen. Doch ein Fünf- Dass China aus seinem berühmten milie hier, erzählen Anwohner, habe
punkteplan soll nun helfen, neue Exportgut ein solches Staatsgeheim- mindestens ein Mitglied an die Krank-
Quellen für kritische Metalle und nis macht, hat viele Gründe. Das Roh- heit verloren. Das Leitungswasser,
Mineralien zu erschließen. stoffbusiness ist ein dreckiges Ge- das in einem Restaurant gleich neben
Allein bei Lithium für Batterien schäft. Mit Dynamit oder schweren dem See aus dem Hahn kommt,
steigt die Nachfrage laut EU-Kommis- »Wir müssen Maschinen wird aus der Erde oder schimmert. Mit dem bloßen Auge
sion bis 2050 auf das 90-Fache der dem Stein geholt, was dort seit Jahr- kann man Rückstände von Metall er-
heutigen Menge, bei Kobalt auf das jetzt handeln, millionen lagert. Es muss gesprengt, kennen. Früher, sagen die Leute vor
15-Fache. Europas Bedarf an selte- sonst läuft gegraben und gewaschen werden. Un- Ort, hätten sie das Wasser abgekocht
nen Erden wie Neodym wird bis Ende glaubliche Mengen Energie und Was- und dann getrunken. Die Alten mach-
des Jahrzehnts fünf- oder sechsmal uns die Zeit ser sind dafür nötig, zum Teil wird ten das zum Teil noch immer, die Jun-
höher sein als zu Beginn, sagt Brüssel weg.« Radioaktivität freigesetzt. gen hätten verstanden, dass das die
voraus. Zwar wird Neodym nicht Heinz C. In Industrienationen herrschen für Metallbelastung nicht mindert. Die
hauptsächlich in China gefördert. Schimmelbusch, solche Anlagen strenge Umweltauf- Fabriken haben Fluoridabwässer in
Aber die Volksrepublik verarbeitet Rohstoffmanager lagen, die den Betrieb zuweilen un- den See gepumpt. Das lässt die Kno-
weltweit am meisten – und ist deshalb wirtschaftlich machen. In China da- chen spröde werden und die Zähne
Hauptlieferant für die EU. gegen ist die Preisführerschaft auf abnormal wachsen.
»Wir wollen das ändern«, verkün- dem Weltmarkt Staatsräson, die Um- Von den 51 Rohstoffen, die die EU
dete Kanzler Olaf Scholz unlängst bei welt nicht einmal zweitrangig. inzwischen als strategisch wichtig
der Eröffnung der Hannover Messe. In Baotou, 150 Kilometer südlich oder kritisch für Europas Versorgung
Nur wie? der Mine gelegen, wird das gewonne- einstuft, werden 24 hauptsächlich im
ne Gestein verarbeitet. Die Rückstän- Land von Allzeitpräsident Xi Jinping
China – Vorherrschaft um jeden de der Raffinerie werden in den ört- gewonnen. Bei 33 der 51 Rohstoffe ist
Preis und überall lichen See eingeleitet. Die Behörden die Volksrepublik zugleich Hauptver-
Das Ziel der Reise klingt wie aus haben eine kilometerlange Mauer um arbeiter. Für schwere seltene Erden
einem TUI-Katalog: Bayan Obo, die Kloake errichten lassen, gut zwei gibt es außerhalb Chinas bisher gar
mongolisch für »reicher heiliger Meter hoch und aus Beton. Niemand keine einzige Aufbereitungsanlage.
Berg«. Doch die weltweit größte Ab- soll zum Wasser laufen, niemand am Deng Xiaoping war es, der Chinas
baustätte für seltene Erden hat mit Ufer spazieren und niemand die Füße Aufstieg zum globalen Rohstoffmono-
göttlich-unberührter Natur so gar ins Wasser stecken. Das wäre wohl polisten begründete. »Der Nahe Osten
nichts zu tun. Seit 1958 werden hier, lebensgefährlich. hat sein Öl, China hat seltene Erden«,
am äußersten Rande Chinas, kurz vor Baotou ist so etwas wie die Welt- sagte der marktwirtschaftliche Refor-
der mongolischen Grenze, seltene hauptstadt der Rohstoffe. Und der mer 1992. Mit dem Unterschied, dass
Erden gefördert. Mindestens ein Drit- See eine Müllkippe für 40, vielleicht das Opec-Kartell zwar gern an der
tel der Weltreserven lagern auf dem auch 50 Betriebe, die in der Umge- Förderschraube dreht, um den Ölpreis
Gelände der Mine, einer der ganz bung ihre Produktionshallen errichtet hochzuhalten, China aber mit den sel-
wenigen weltweit, in der alle 17 der haben, um die Erden weiterzuver- tenen Erden einen ungleich größeren
begehrten Metalle im Gestein ruhen. arbeiten. Hunderte Fabrikschlote Hebel in der Hand hat, um weltweit
70 bis 80 Prozent der chinesischen ragen in den Himmel, in den Hallen politischen Einfluss auszuüben.
Fördermenge stammen von hier – werden unter Einsatz hochgiftiger Als Pekings Führung vor 13 Jahren
und damit mehr als die Hälfte der Chemikalien die 17 begehrten selte- die Exportquote von seltenen Erden
weltweiten Produktion. nen Erden voneinander getrennt. über Nacht um 72 Prozent reduzierte,
AMG-Fabrik für
Auf gut ausgebauten Straßen geht Lithiumhydroxid in
Vom See aus sickert die toxische Brü- löste das ein Beben an den Rohstoff-
es erst durch Hügel und vorbei an Wei- Bitterfeld: Wettlauf he ins Grundwasser und wohl auch in märkten aus. Über Jahre hatte die
den, auf denen Schafe und Rinder gra- um den Wohlstand den nahe gelegenen Gelben Fluss – Volksrepublik mit aggressivem Preis-
sen. Doch je näher die Mine rückt, dumping die Wettbewerber kaputt
desto karger wird es. Bergbaubetriebe gemacht, Minen in den USA, in Aus-
haben die Gegend umgegraben, alle tralien und Afrika zur Aufgabe ge-
Bäume gefällt, überall Kräne und Bag- zwungen, weil sie mit Pekings Kampf-
ger – und die Wagen der Staatssicher- preisen nicht mithalten konnten. Nun
heit. Erst drei, dann vier, später fünf lautete die Ansage, im zweiten Halb-
dunkle Volkswagen-Limousinen mit jahr statt der 28.000 Tonnen nur die
getönten Scheiben folgen dem Taxi. Hälfte auszuführen. Offiziell auch aus
Genau zehn Kilometer vor der Umweltschutzgründen.
Mine dann eine Straßensperre. Ein In Deutschland verfasste daraufhin
Mannschaftswagen der Polizei parkt die schwarz-gelbe Bundesregierung
quer zur Fahrbahn. Ein Beamter in erstmals eine Rohstoffstrategie – die
Thomas Victor / DER SPIEGEL

Uniform bläst energisch in eine Tril- nie wirklich umgesetzt wurde. Auch
lerpfeife, ruft so laut, dass man es weil Peking den Export wieder weit-
durch die geschlossenen Fenster hö- gehend liberalisierte. Die Lehre hätte
ren kann: »Umdrehen!« schon damals lauten müssen: China
Es gibt noch eine zweite Anfahrt nutzt Rohstoffe im Zweifel, um seine
zur Mine. Mehrere Stunden Umweg Interessen durchzusetzen.

64 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WIRTSCHAFT

USA – Alle(s) gegen Peking


Noch hat Joe Biden gute Laune: »Ich bin froh,
dass Sie den Termin heute nicht gecancelt
haben«, ruft Kaliforniens Gouverneur Gavin
Newsom in die Kamera. »Wollen Sie mich
veralbern?«, fragt Biden zurück. »Wir haben
doch kaum was zu tun – bis auf Russland und
die Ukraine.« Es ist der 22. Februar 2022, zwei
Tage vor Moskaus Überfall auf Kiew. Der
US-Präsident empfängt im Weißen Haus Poli-
tiker und Industrievertreter zu einem virtu-
ellen runden Tisch, um über kritische Roh-

Marcos Zegers / The New York Times / Redux / laif


stoffe zu sprechen.
Das Thema steht ganz oben auf der Agen-
da in Washington. Um eine wirklich starke
Wirtschaft zu formen, müsse die Zukunft in
Amerika gemacht werden, sagt Biden. Er wol-
le für viele Produkte die gesamte Lieferkette
zurück ins eigene Land holen – inklusive der
Rohstoffe. Handys, Küchengeräte oder E-
Autos »funktionieren ohne sie nicht«.
Arbeiter in einer Lithiumfabrik im chilenischen Antofagasta: Schmutziges Rohstoffbusiness Deshalb, so Biden, gelte es, die heimische
Industrie mit massiven Mitteln aus der Staats-
Der chinesische Anspruch, die Weltmärk- Mine in Brasilien überflog, habe er hinunter- kasse zu unterstützen. Ein erstes Beispiel hat
te zu dominieren, beschränkt sich längst nicht geblickt, »und da war alles weiß«, erinnert der Präsident gleich mitgebracht: Der Kon-
mehr auf das eigene Staatsgebiet. Im afrika- sich Schimmelbusch. Die Kumpel hatten das zern MP Materials soll 35 Millionen Dollar
nischen Simbabwe nahm vor wenigen Wo- weiße Spodumenerz auf Halden geschüttet. erhalten, um damit die erste und einzige Raf-
chen eine chinesische Anlage zur Lithium- Es war Abraum, für den sie keine Verwendung finerie für schwere seltene Erden in Amerika
konzentration mit angeschlossener Mine den hatten. Irgendwann habe er »oben auf der zu bauen. Das, so Biden, sei »nicht gegen
Betrieb auf. Auch in Namibia, Mali und der Halde den Beschluss gefasst, in Lithium zu China. Das ist für Amerika«.
Demokratischen Republik Kongo sind chine- gehen«. Auf der Grenze von Kalifornien und Ne-
sische Firmen an derlei Projekten beteiligt. Es brauchte ausgerechnet einen Chinesen, vada erstreckt sich eine spröde Landschaft
In Australien ist der chinesische Konzern um daraus ein profitables Geschäft zu ma- aus rotem Gestein, der Mojave-Nationalpark.
Tianqi Lithium beim weltgrößten Hersteller chen: »Doktor Li«, wie Schimmelbusch ihn Darin liegt die Mountain-Pass-Mine. Ein-,
von Lithium-Mineralkonzentraten eingestie- nennt. Li Nanping ist Chef von General Li- zweimal die Woche ist in Mountain Pass
gen. Und die zweitgrößte Lithiumerz-Förder- thium, einer von Chinas Weltmarktriesen. »blast day«. Dann sprengen sie im Krater das
stätte der Welt, im Westen Australiens gele- Dieser habe ihm die kaum bearbeiteten Li- rote Gestein auf, transportieren es mit riesigen
gen, hält ein Joint Venture im Griff, das der thiumerz-Brocken sofort abgenommen, sagt gelben Radladern, die locker Wohnzimmer-
chinesische Konzern Ganfeng Lithium zur Schimmelbusch, »und damit das Risiko«. größe erreichen, zum Brecher: Aus großen
Hälfte kontrolliert. Seit 2018 werden in der AMG-Mine jähr- Felsen werden kleinere, aus Brocken Kies,
Fast schon hyperaktiv sind die Chinesen lich 90.0000 Tonnen Spodumen abgebaut, aus Kieseln schließlich pulverartiger Schluff.
in Südamerikas Lithiumdreieck: Argentinien vom Sommer an sollen es 130.000 Tonnen Gebohrt, gesprengt und abgefahren wird,
– Bolivien – Chile. Dort gibt es den meisten werden. Etwa 20 Kilometer quälen sich die solange es Tageslicht gibt. Zerkleinert und
Stoff zu holen. In den Salzseen der Anden- Lastwagen über staubige Schotterpisten und gemahlen wird rund um die Uhr, an sieben
region und unter dem Boden dieser drei Staa- durch Schlaglöcher bis zu einer Bundesstraße. Tagen in der Woche.
ten lagern fast 50 Prozent der weltweit wirt- Gut 500 Kilometer sind es bis zu einem In- Seit mehr als 70 Jahren werden in Moun-
schaftlich förderbaren Reserven – und mehr dustriehafen im Bundesstaat Rio de Janeiro. tain Pass seltene Erden abgebaut. Doch so
als die Hälfte der bisher entdeckten Vorkom- Dort werden die Säcke auf Schiffe verladen viel Betrieb wie dieser Tage war nie, sagt Matt
men dieses Schlüsselmetalls. und nach Shanghai gebracht. Sloustcher, Cheflobbyist von MP Materials.
Einer der Wenigen, die es dort mit Peking In China wird das Spodumen zu einer Li- Bis in die Neunzigerjahre sei die Mine der
aufzunehmen versuchen, ist der deutsche thiumverbindung verarbeitet. Das ist der bil- weltgrößte Versorger für seltene Erden ge-
Rohstoffopa Schimmelbusch. Mitten in der ligste Weg. Doch Schimmelbuschs Kunden wie wesen. Dann übernahmen die Chinesen das
grünen Hügellandschaft des brasilianischen Mercedes-Benz sind zunehmend bereit, für globale Geschäft. »Nun holen wir es uns
Bundesstaats Minas Gerais, zwischen Kaf- ihre Versorgungssicherheit etwas mehr zu be- zurück.«
feeplantagen und Rinderweiden, erstreckt zahlen. Sobald Schimmelbuschs Anlage in Noch 2015 wurden in Mountain Pass nur
sich seine 180 Meter tiefe riesige Grube. Bitterfeld fertig ist, soll die brasilianische För- 6000 Tonnen Material pro Jahr abgebaut, die
Bulldozer und Bagger wühlen das Erdreich derung zur Verarbeitung komplett nach Mine weste vor sich hin wie ein Skelett in der
um; Gabelstapler beladen in einer Halle rie- Deutschland verschifft werden – und China Wüste. Man nahm nur, was sich ohne großen
sige Lastwagen mit Plastiksäcken. Sie ent- außen vor bleiben. Aufwand verkaufen ließ, schiffte das Gestein
halten Spodumen, ein zu weißem Pulver vom Hafen in Los Angeles zur Aufarbeitung
zermahlenes Mineral – und einer der Grund- nach China – und sah es nie wieder.
stoffe, aus denen später Lithium gewonnen Heute hat MP die Jahresproduktion nahe-
wird. zu verachtfacht, die Belegschaft von 8 auf 550
Den Einstieg ins Lithiumgeschäft, das heu- »Der Nahe Osten hat Leute ausgebaut und eine Milliarde Dollar
te für einen Großteil des Vorsteuergewinns sein Öl, China investiert, um die komplette Wertschöpfungs-
von gut 300 Millionen Euro sorgt, verdankt kette wieder in den USA anzusiedeln. Vom
Schimmelbusch eher einem Zufall. Als er mit hat seltene Erden.« Abbau des Gesteins über die Raffinerie der
dem Hubschrauber vor Jahren seine Tantal- Deng Xiaoping, chinesischer Parteiführer, 1992 seltenen Erden bis hin zur Magnetproduktion

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

soll dann alles auf dem Kontinent Goldrausch. Seit Inkrafttreten des bleme der Republik zu lösen – mit-
stattfinden. IRA sind mehr als 60 Milliarden Dol- hilfe von Viren. Zwischen Kolben und
An die Mine wurde eine Aufberei- lar in mehr als 130 Projekte geflossen. Fläschchen, Tiegeln und Pulverdosen
tungsanlage angebaut, die sogenann- Der Autobauer GM etwa hat sich erklärt die Wissenschaftlerin ihr Ver-
te leichte seltene Erden in hochreiner nicht nur große Teile der Produktion fahren, um seltene Erden aus alten

Roger Kisby / DER SPIEGEL


Form erzeugt. Die grün und violett von MP Materials gesichert, sondern Energiesparlampen zu ziehen. Kom-
schimmernden Flüssigkeiten sollen ist für 650 Millionen Dollar gleich plett ökologisch, ohne Einsatz von
von hier aus nach Texas gehen. Dort selbst in die Produktion eingestiegen, Chemikalien.
werden sie in Magnete gegossen, die über eine Beteiligung an »Lithium Lederer nutzt dafür den Bakterio-
es in jedem Elektromotor braucht. Bis Americas«. Zehn Jahre lang nimmt phagen M13, ein Virus, das aus-
Ende des Jahres soll die notwendige GM nun die volle Produktion aus der schließlich Bakterien befällt – und
Zertifizierung vorliegen, um in Moun- »Wir holen Mine der noch jungen Firma nahe seltsamerweise auch auf Metalle
tain Pass auch schwere seltene Erden uns das Winnemucca, Nevada, ab. Danach steht. In Lederers Labor umschlingt
zu raffinieren. Es wäre die erste der- kann der Konzern für weitere fünf das Virus gerade die seltenen Erden
artige Anlage in der westlichen Hemi- Geschäft Jahre verlängern. Lanthan, Cer, Terbium, Europium
sphäre. zurück.« »Es gibt gerade ein unglaubliches und Yttrium, die im Leuchtpulver der
Besonders stolz sind sie bei MP Rennen um die besten Vorkommen ausrangierten Leuchtmittel stecken.
Matt Sloustcher,
auf ihre »umweltfreundlichen« Pro- MP-Materials- weltweit«, sagt Firmenchef Jonathan Die Bakteriophagen lassen sich auf
zesse. Das Wasser, sagt Sloustcher, Manager Evans, der früher einmal bei Bayer in mikroskopisch kleine Magnete ta-
werde etwa auf dem Gelände wieder- Düsseldorf gearbeitet hat. Jeder Auto- ckern. Mit ihnen »fischt« Lederer die
aufbereitet und verwendet. Es gebe bauer brauche gerade Lithium, alle seltenen Erden aus dem Leuchtpulver.
hier keine verschmutzten Seen wie in wollten sich elektrifizieren. Der Markt »Bioangeln« nennen sie das. Eine Me-
Baotou. »Unsere Mine ist ein Beispiel sei unglaublich »tight«, die Preise thode, die auch für Lithium und Kobalt
dafür, dass wir es im Westen auch stiegen. funktioniert, die in alten E-Auto-Bat-
können«, sagt Ryan Corbett, Finanz- Die Abnabelung von China, glaubt terien stecken. Selbst aus dem Brauch-
vorstand bei MP Materials. Man ver- Evans, bedeute fünf bis zehn »bumpy wasser von Solarkonzernen lässt sich
diene Geld, sei wettbewerbsfähig, years«, schwierige Jahre für den Wes- mit der Methode Metall gewinnen:
arbeite im Einklang mit westlichen ten. So sei das bei den Interstate High- Gallium.
Werten und Gesetzen, Naturschutz ways auch gewesen: 35 Jahre habe es Rechnerisch ist das Potenzial rie-
und Nachhaltigkeitszielen. »Es geht. gebraucht, um Eisenhowers Plan sig: Bis 2020 wurden in der Europä-
Und es geht auch in großem Maßstab.« eines US-weiten Autobahnnetzes zu ischen Union rund 25.000 Tonnen
Doch die Amerikaner zahlen einen vollenden. »Es geht darum anzufan- altes Leuchtpulver gesammelt. Weil
enormen Preis für ihre Unabhängig- gen. Europa muss sich wirklich be- es giftiges Quecksilber enthält, lagert
keit. 500 Milliarden Dollar kostet eilen, um nicht den Anschluss zu ver- es als Sulfid in alten Stollen unter der
Bidens Inflation Reduction Act, kurz lieren.« Schließlich sei die ganze Erde. Es ließe sich »leicht in großen
IRA. Das Programm soll die US-Wirt- Technik, all das Bergbau-Know-how Mengen beschaffen und mittels Bio-
schaft zu einer »green economy« ma- einst vom alten Kontinent gekommen. angeln ausbeuten«, sagt Lederer.
chen – und die Volksrepublik aus dem »China hat es dann groß gemacht. Das Knapp 4800 Tonnen seltene Erden
Geschäft drängen, wo immer es geht. müssen wir nun umdrehen. Es geht könnten so nach ihren Berechnungen
Unternehmen müssen ihre Rohstoffe um die Rettung der Welt – das ist doch wiedergewonnen werden – theore-
aus heimischen Vorkommen oder von eine Wachstumsstory.« tisch ausreichend, um die Bundesre-
befreundeten Staaten beziehen, wenn publik auf Jahre hinaus zu versorgen.
sie von Steuererleichterungen profi- Europa – Streit um die Schuld Allerdings ist das Ganze bislang
tieren wollen. Mountain-Pass- Deutschlands Antwort auf diese nicht marktfähig. Und teuer überdies.
Die Mitte April in Kraft getretene Mine im Mojave- durchaus ansteckende Geschäftstüch- Gerade einmal etwas mehr als zehn
7500-Dollar-Steuergutschrift für E- Nationalpark, tigkeit empfängt in einem etwas rum- Prozent des deutschen Rohstoffbedarfs
Autos etwa sieht vor, dass Autobauer Kalifornien: »Unsere peligen Büro am Rande Dresdens. lassen sich momentan durch Recycling
Mine ist ein Beispiel
künftig 40 Prozent der kritischen dafür, dass wir Franziska Lederer vom Helmholtz- decken. Insgesamt, sagt Christoph Hel-
Mineralien, die sie für ihre Batterien es im Westen auch Institut für Ressourcentechnologie big, der an der Universität Bayreuth
brauchen, in den USA oder in einem können« will dazu beitragen, die Rohstoffpro- globale Materialkreisläufe modelliert,
mit Amerika per Freihandelsabkom- dürfte die Kreislaufwirtschaft ein ähn-
men verbundenen Land gewinnen, licher Kraftakt werden wie die Energie-
extrahieren oder wiederverwerten wende. »Mindestens 10 bis 20 Jahre«
müssen. Bis 2027 soll dieses Niveau werde es dauern, ehe man mehr als
auf 80 Prozent steigen. Zudem muss 50 Prozent der Nachfrage nach Lithium
die Hälfte der Batteriekomponenten und seltenen Erden durch Recycling
schon heute in Nordamerika montiert werde decken können.
worden sein, ab 2029 gar 100 Prozent. Immerhin ist sich Lederer einer
Und Corporate America reagiert. breiten Unterstützerkoalition gewiss.
Von General Electric (GE) bis Gene- Kein Strategiepapier aus Berlin oder
ral Motors (GM) investieren große Brüssel, keine Ideensammlung der
wie kleine US-Industrieunternehmen Industrie zur Bekämpfung der Roh-
Roger Kisby / DER SPIEGEL

Milliarden in eigene Minen, Raffine- stoffkrise kommt ohne Kreislaufwirt-


rien, Batteriefabriken. Auf dem gan- schaft aus. Deutschland und Europa,
zen Kontinent werden derzeit neue so ist dann zu lesen, hätten gute
Projekte entwickelt: Lithium, Kupfer, Chancen, in der Recyclingtechnologie
Nickel, seltene Erden. Die Rohstoff- weltweit führend zu werden und sich
branche erlebt einen regelrechten durch die Aufarbeitung von Elektro-

66 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WIRTSCHAFT

Goldrausch des 21. Jahrhunderts


Globale Hauptlieferländer der 51 Rohstoffe, welche

Seltene Erdelemente
Dysprosium 100 %
die EU-Kommission als kritische Rohstoffe einschätzt Erbium 100 %
Russland 1 Gadolinium 100 %
Palladium 40 % Holmium 100 %
Lutetium 100 %
Terbium 100 %
Thulium 100 %
Ytterbium 100 %
Frankreich 1 Yttrium 100 %
Hafnium 49 % Europium 100 %
Spanien 1 Cer 85 %
Lanthan 85 %
USA 2
Beryllium 88 %
Strontium 31 % Türkei 2
Bor 48 %
Feldspat 32 %
China 33 Neodym
Praesodym
Samarium
85 %
85 %
85 %
Helium 56 %
Scandium 67 %
Gallium 94 %
Weltmarktanteil Magnesium 91 %
Dem. Rep. Kongo 2 Wolfram 86 %
Kobalt 63 % Germanium 83 %
Tantal 35 % Siliziummetall 76 %
Brasilien 1 Phosphor 74 %
Niob 92 % Bismut 70 %
nat. Graphit 67 %
Chile 1 Vanadium 62 %
Kupfer 28 % Südafrika 5 Antimon 56 %
Ruthenium 94 % Fluorspar 56 %
Iridium 93 % Kokskohle 53 %
Rhodium 81 % Australien 2 Phosphatgestein 48 %
Platin 71 % Lithium 53 % Arsen 44 %
Mangan 29 % Aluminium 28 % Baryt 44 %
Titanmetall 43 %
Versorgungsrisiko in der EU für strategische und kritische Rohstoffe Nickel 33 %
und jeweilige Verwendung nach Technologiebereichen, Auswahl
Risiko auf einer Skala von 0 (kein Risiko) bis 20 (theoretisches Maximum)*, Werte größer als 1 gelten bereits als kritisch
Li-ion- Smart-
Brennstoff- Batterien Wind- Solar- Wärme- Daten- phones,
Rohstoff Risiko zellen für Pkw turbinen anlagen pumpen speicher Tablets etc. Robotik Drohnen Satelliten
SSEE** 5,3
Gallium 4,8
Niob 4,4
Magnesium 4,1
SEE (Magnete)** 4,0
Bor 3,8
LSEE** 3,5
Phosphor 3,3
Platinmetalle 2,7
Lithium 1,9

Prognostizierter Bedarf*** bis 2050, in Tonnen pro Jahr; ausgewählte Länder/Regionen

Platinmetalle (PGM) Neodym Lithium


PGM: Platin, Iridium, Ruthenium, Rhodium, Palladium
Größenvergleich zwischen Lithium, Neodym
und PGM anhand der Zuwachsraten,
2020 2030 2050 jeweils EU 2020 = 100 % 159.374 152.783

101.873
42 17.349
39
58.208 59.428
28
6896
6565
17 5449 5509
11 20.967
10 3942
1103 4891 4980
476 4719 1755
3 3 3
EU USA China EU USA China EU USA China

* Ermittlung des Versorgungsrisikos unter anderem anhand der geografischen Konzentration der Produktion, der Importabhängigkeit der EU und der Staatsführung in den Produzentenländern
** SEE (Magnete): magnetische Seltenerdmetalle wie Neodym oder Dysprosium; SSEE: übrige schwere Seltene Erdelemente; LSEE: übrige leichte Seltene Erdelemente
*** Szenario für hohen Bedarf (HDS) aufgrund eines schnellen Technologiefortschritts und rapide steigender Rohstoffnachfrage
S Quelle: EU-Kommission 2023

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

sondermüll zumindest langfristig ein preise fallen und damit die Finanzie- Die Industrie schreit um Hilfe aus
Stück Autarkie zu sichern.
Dass Deutschland sich so sehr auf
25.000 rung.
Und dann ist da noch der Wider-
Berlin. »Die Märkte funktionieren
nicht mehr, die Knappheiten werden
das Recycling stürzt, hat mit einer Tonnen stand aus der Bevölkerung. Wenn noch zunehmen«, sagt Matthias
Erzählung zu tun, die schon an den schon das Aufstellen eines Windrads Wachter, Rohstoffexperte des Bundes-
Schulen ihren Anfang nimmt. Deutsch- altes Leucht- oder der Bau einer Stromtrasse vieler- verbands der Deutschen Industrie
land, so wird es hierzulande gelehrt, pulver wurden orts mit jahrzehntelangen Protesten (BDI). »Wir brauchen politische Unter-
sei arm an Rohstoffen, aber reich an begleitet werden, dürften Minen und stützung.«
klugen Köpfen. Die hiesigen Ausnah- bis 2020 Großbergbau »made in Germany« erst In einem Papier suchen die Lob-
me-Ingenieure, Avantgarde-Medizi- in der EU recht nicht akzeptiert werden. Das gilt byisten die Schuld am deutschen Roh-
ner und Weltklasse-Chemiker seien genauso für Europa. Dort liegen wich- stoffdesaster nicht etwa bei den eige-
es, die dem Land seine wirtschaftliche gesammelt. tige Rohstoffschätze oft ausgerechnet nen Mitgliedern, sondern in der Poli-
Kraft und ökonomische Macht ver- Quelle: Helmholtz- unter jenen Böden, die auch touristisch tik: Anderswo, so der BDI, gebe es
liehen – und schon lange nicht mehr Institut Freiberg wertvoll sind – womöglich kurzfristig eine »gezielte staatliche Unterstüt-
die Bodenschätze in Ruhrgebiet, in der für Ressourcen- gar wertvoller erscheinen. Unter der zung« für den Abbau und die Weiter-
technologie
Lausitz oder am Rheingraben. portugiesischen Algarve etwa oder der verarbeitung der Rohstoffe.
Tatsächlich stimmt das nur be- römischen Po-Ebene. Die Bundesregierung will sich das
dingt. Denn Lithium, seltene Erden Statt für mehr Akzeptanz zu wer- nicht vorwerfen lassen. Franziska
oder Zinn lagern auch unter Europas ben, negierte die Industrie das Pro- Brantner, die für Rohstoffe zuständi-
Böden. Der staatliche schwedische blem einfach. In Stuttgart, München ge Parlamentarische Staatssekretärin
Bergbaukonzern LKAB etwa melde- und Wolfsburg wollten sie lange nicht im Wirtschaftsministerium, kann sich
te Anfang des Jahres, er habe nördlich wahrhaben, dass das Verbrenner- nur wundern über die Chuzpe der
des Polarkreises Europas größtes Vor- zeitalter zu Ende geht und in der Ära Konzerne. Natürlich sei China der
kommen an seltenen Erden entdeckt. der E-Mobilität plötzlich ganz ande- weltgrößte Lieferant für weiterver-
Im Oberrheingraben plant ein aus- re Vorprodukte und Rohstoffe über arbeitete kritische Rohstoffe und sel-
tralisch-deutsches Konsortium, Li- Erfolg und Misserfolg entscheiden. tene Erden. »Aber das hat nichts da-
thium aus heißen unterirdischen Erst die Pandemie, der Ukrainekrieg mit zu tun, dass es diese Stoffe nicht
Thermalquellen zu filtern. Und und die geostrategische Konfronta- auch anderswo gibt«, sagt sie.
Schimmelbuschs AMG stieg kürzlich tion mit China machten den Auto- Brantner hat von ihrem Dienst-
mit 25 Prozent beim sogenannten bossen klar, dass sie aus dem Markt herrn Robert Habeck den Auftrag
Zinnwald-Projekt an der deutsch- geschossen werden, wenn sie nicht bekommen, die Abhängigkeit von
tschechischen Grenze ein. Dort soll die Kontrolle über die neuen Schlüs- wichtigen Materialien zu verringern.
ebenfalls Lithium gebaggert werden. selrohstoffe gewinnen. »Die Energie- In dieser Mission ist sie viel herum-
Bislang geht die EU-Kommission wende ist eine Materialwende«, heißt gekommen: in Lateinamerika, den
zwar davon aus, dass lediglich fünf es in einem Rohstoffdossier aus Brüs- USA, Kanada, Afrika. Noch vor Os-
Prozent des Bedarfs an kritischen sel. Die Welt sei demnächst mehr auf tern ging es nach Australien. Die Dame
Rohstoffen aus heimischen Vorkom- kritische Rohstoffe wie seltene Erden weiß – um im Bild zu bleiben – wie
men gedeckt werden können. Je hö- angewiesen, als man es heute auf Öl der Bagger läuft.
her der Preis für die Rohstoffe wird, sei, so eine Studie der Stiftung Wis- China verdanke seinen Aufstieg
desto attraktiver wird aber auch de- senschaft und Politik. auch einer Mischung aus Gedanken-
ren Erkundung und Förderung. Und schon macht ein Horrorszena- losigkeit, Spezialisierung und Arbeits-
Doch selbst dann bleibt der hei- rio die Runde: Deindustrialisierung. teilung deutscher Unternehmen, so die
mische Abbau auf absehbare Zeit Künftig werde die größte Wertschöp- Grüne. »Es ging viel um den billigsten
ungleich schwieriger und vor allem fung in rohstoffreichen Regionen statt- Preis«, sagt Brantner. Und den habe
teurer als der Import. Es fehlt an finden, warnt mancher Autovorstand. stets China geboten, dank niedriger
Kapital, inzwischen selbst an Know- Es brauche schnell Handelsabkom- Löhne und staatlicher Förderung.
how und an Konzernen, die ins Risiko men und Rohstoffpartnerschaften, Wenn die Wirtschaft jetzt um Hilfe
gehen. Seit aus dem früheren Minen- Helmholtz- um den Zugang zu den Ressourcen rufe, dürfe es »nicht um eine komplet-
Forscherin
betreiber Preussag der Tourismus- Lederer: Autarkie zu sichern, drängte Mercedes-Boss te Risikoübernahme durch den Staat
konzern TUI schlüpfte und die alte durch Recycling? Ola Källenius unlängst. gehen, sondern um eine Unterstüt-
Metallgesellschaft abgewickelt wurde, zung der Unternehmen«, sagt sie. Also
hat die Bundesrepublik keinen ech- nicht das Prinzip »Gewinne privatisie-
ten Rohstoffmulti mehr im Land. Zu ren, Risiken sozialisieren«.
dreckig, zu teuer, zu unstet, hieß es Wie leichtfertig die Industrie das
stets. Thema Rohstoffe aus der Hand ge-
Denn egal, ob in Chile oder Ost- geben hat, belegt Brantner gern mit
deutschland: Das Risiko zu scheitern der deutschen Galliumproduktion.
ist im Rohstoffbusiness immens. Ein Das Mineral ist essenziell für die Halb-
neues Vorkommen zu erschließen, leiterindustrie, auch können Leucht-
dauert gern mal zehn Jahre. Was be- dioden daraus gefertigt werden. Noch
deutet: Bevor eine Tonne Metall oder bis 2015 habe es eine heimische För-
Mineral in den Fabriken ankommt, derung gegeben, sagt die 43-Jährige.
muss eine Dekade lang investiert wer- Doch gegen die wesentlich billigere
den. Unterwegs kann dabei allerlei chinesische Produktion kam die An-
André Wirsig / HZDR

schiefgehen: Das Vorkommen kann lage nicht an und wurde deshalb auf-
sich als kleiner erweisen als erwartet. gegeben.
Die politischen Rahmenbedingungen Damit sich die Geschichte nicht
können sich ändern, die Weltmarkt- wiederholt, legte Brantner Anfang

68 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WIRTSCHAFT

des Jahres ein Eckpunktepapier vor. Ein we- zählte. Er kennt also den Feind, so würde er
nig, glaubt sie, könne die Politik selbst tun. das wohl formulieren. Stillger sieht Bedarf für
Machbarkeitsstudien und geologische Erkun- einen grundsätzlichen Wandel – in den Köp-
dungen etwa finanziell unterstützen, Prozes- fen der Führungsetagen. Der Manager hat ein
se beschleunigen. Auch ein Rohstofffonds ist riesiges Steuerungsversagen der heimischen
im Gespräch, mit dem die staatseigene KfW- Industrie ausgemacht. Diejenigen, die beim
Bank ähnlich wie bei Hermes-Ausfuhrkredi- Thema Rohmaterialien nun am lautesten
ten die Risiken der Exploration absichern nach Hilfe der Politik riefen, seien oft jene,
könnte. Selbst über sogenannte Differenzial- die zuvor »die Entscheidung immer nur nach
kontrakte denkt man in der Bundesregierung den Kosten« getroffen hätten. Seit Jahrzehn-
nach. Damit würde die Politik einen Teil des ten seien die Einkäufer »getrimmt und auch
Aufpreises, den heimisch, fair und nachhaltig incentiviert, den günstigsten Preis zu verhan-
produzierte Rohstoffe kosten, übernehmen. deln«, sagt er. Alle hätten gedacht: Es herrsche
Vor allem aber soll die Wirtschaft nun ran. Frieden, es herrsche Freiheit. Also kaufe man
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, dass in China. »Jetzt stellen die fest: Wir sind in

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL


sich große Konzerne künftig einer Art Audit einer Sackgasse ohne Wendehammer.«
für besonders kritische und strategische Roh- Es brauche Manager, »die, die Zyklen der
stoffe unterziehen, um die eigene Verwund- Rohstoffbranche aushalten« und auch dann
barkeit zu identifizieren. Zudem will Brantner außerhalb Chinas kauften, wenn »die Preis-
die Unternehmen dazu anregen, mehr kriti- schere auseinandergeht«. Die Politik, sagt
sche Rohstoffe zu lagern. Bislang lohnt sich Stillger, dürfe nur dort helfen, wo die Kon-
das aus steuerlichen Gründen kaum: Es kos- Grünenpolitikerin Brantner zerne sich ehrlich mühen, unabhängig zu wer-
tet Platz und bindet Kapital. Letzteres könn- den. Sonst bleibe alles beim Alten. Wer ihm
te reduziert werden, indem die Einfuhrzölle gehen und auf die Offensive der USA antwor- zuhört, zieht sofort eine Parallele zum Gas-
erst dann bezahlt werden müssen, wenn die ten will. Von konkreten Maßnahmen steht in und Ölentzug nach dem russischen Angriffs-
Materialien auch verarbeitet werden. dem Papier allerdings wenig. Feste Quoten krieg. Da hat das von Stillger geforderte Prin-
Umsetzen müsste eine solche Steuererleich- für die Wiederverwertung von Rohstoffen zip funktioniert: »Lernen durch Schmerzen«.
terung, die von der Wirtschaft heftig gefordert oder die Förderung von Metallen aus heimi- Im baden-württembergischen Örtchen
wird, Bundesfinanzminister Christian Lindner. schem Boden sind darin nicht vorgesehen. Zimmern ob Rottweil weiß man, wie sich so
Der jedoch scheint angesichts der knappen Auch einen Zeitplan sucht man in dem Gesetz eine Lernkurve anfühlt. Der Unternehmer
Haushaltslage skeptisch. Zumal eine Bevor- vergebens. »Da hatten sich viele deutlich Wolfgang Schmutz hatte den wachsenden
ratung bei kurzfristig unterbrochenen Liefer- mehr erhofft«, sagt ein deutscher Regierungs- Bedarf früh kommen sehen, war schon 2018
ketten helfen kann, etwa wenn ein Schiff im beamter. ein Joint Venture mit dem bolivianischen
Suezkanal quer steht, nicht aber, um eine stra- Staatskonzern YLB eingegangen, um Zehn-
tegische Abhängigkeit zu beenden. Und jetzt – wie weiter? tausende Tonnen Lithiumsole aus dem be-
So bleibt Brantner vorerst nur, staatliche Am Rande der Essener Innenstadt, im Ge- rühmten Salzsee von Uyuni zu holen. Damit
Rohstoffpartnerschaften, wie sie Habeck bäude Q6 der Thyssenkrupp-Zentrale, for- wollte Schmutz die heimische Autoindustrie
jüngst etwa mit Kolumbien geschlossen hat, muliert Martin Stillger eine Antwort, die versorgen. Zur Vertragsunterzeichnung des
voranzutreiben. Diese Kooperationsverträge viele seiner Kunden gar nicht gern hören dürf- Projekts mit Namen Acisa reiste gar der
versprechen den Abbauländern nicht nur eine ten. Stillger regiert mit Thyssenkrupp Mate- damalige Bundeswirtschaftsminister Peter
faire Bezahlung für die Nutzung ihrer Roh- rials Services ein schier endloses Rohstoff- Altmaier (CDU) an.
stoffe, sondern auch einen nachhaltigen Berg- reich. Wenn die Industrie der Junkie ist und Dann ging alles schief. Im Herbst 2019 er-
bau nach deutschen Umwelt- und Sozialstan- China das Drogenkartell – dann ist Stillger klärte Boliviens Präsident Evo Morales Acisa
dards. Vor allem aber: Anteil an der Wert- der Dealer. Der Mann hat so ziemlich alles für beendet; Schmutz erfuhr das morgens im
schöpfung. im Angebot, was die Schöpfung hergibt. Stahl, Badezimmer aus den Radionachrichten. Die
Es ist der gutmenschliche Gegenentwurf Edelstahl, Aluminium. Zudem Gase, seltene Bolivianer hatten ihn nicht einmal informiert.
zum neokolonialen Chinastil. Und womöglich Erden, ebenjene kritischen Rohstoffe, die Ebenso überrascht wie Schmutz waren die
ein Ansatz, der tatsächlich verfängt. Chiles Europa so dringend braucht. Eine Viertel- Bundesregierung und die Stuttgarter Landes-
Präsident Gabriel Boric verkündete jüngst, million Kunden weltweit kaufen für 16 Mil- regierung. Eine Lösung konnte nicht gefunden
dass künftig alle Privatfirmen, die in dem liarden Euro jährlich bei Stillger ein. werden. »Es hat nicht sein sollen«, sagt er
Land Lithium fördern wollen, mit dem Staat Natürlich, sagt er, sei China für viele Pro- wortkarg. Schmutz konzentriert sich seither
in Gemeinschaftsunternehmen zusammen- dukte ein wichtiger Lieferant. Mitunter gar wieder auf den Maschinen- und Anlagenbau.
arbeiten müssen. Chile, so Boric, könne es der einzige. Dennoch gebe es Alternativen, Im Wirtschaftsministerium heißt es, der
sich nicht erlauben, keinen Nutzen aus den die Pandemie mit ihren Verwerfungen habe Mittelständler habe sich mit den falschen Part-
Lithiumvorkommen zu ziehen. deren Entwicklung gar beschleunigt. Das Pro- nern eingelassen. Aber klar scheint auch: Mit
Bisher war in der deutschen Rohstoffstra- blem: Die heimischen Metalle, Erze und Vor- einem internationalen Konzern wie Merce-
tegie von echter Augenhöhe mit den Abbau- produkte sind zwar sauberer und sicherer – des-Benz oder Siemens wären die Südameri-
ländern eher wenig die Rede. Das soll sich nun aber auch ungleich teurer. kaner gewiss anders umgesprungen.
ändern. Mit Fokus auf lokale Wertschöpfung, 15 Jahre lang hat Stillger die Geschicke Inzwischen ist das Projekt anderweitig ver-
mehr Nachhaltigkeit und Menschenrechte hät- eines mittelständischen Maschinenbauers geben worden. Im Januar bekam ein auslän-
te man ein Alleinstellungsmerkmal, sagt Vik- gelenkt, der einst zu den Pionieren in China disches Konsortium um den CATL-Konzern
toria Reisch von Germanwatch. »Jetzt geht es den Zuschlag der bolivianischen Regierung.
darum, diesen Ansatz mit der europäischen Der Schatz im Uyuni-Salzsee wird nun über
Rohstoffstrategie zu verbinden.« Jahrzehnte ausgebeutet: von einem chinesi-
Die indes kommt kaum voran. Zwar hat »Es ging viel um den schen Staatskonzern.
die EU-Kommission gerade ihren »Critical
Raw Materials Act« vorgestellt, mit dem sie billigsten Preis.« Simon Book, Michael Brächer, Christoph Giesen,
Simon Hage, Claus Hecking, Martin Hesse,
die Versorgungsengpässe der Industrie an- Franziska Brantner, Staatssekretärin Stefan Schultz n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 69


WIRTSCHAFT

Was mich beunruhigt, sind neue Formen von


sehr überzeugenden, maßgeschneiderten,
interaktiven Desinformationsbotschaften,
etwa durch KI-basierte Deepfakes. Dafür
braucht es neue gesellschaftliche Abwehr-

»Uns war bewusst, kräfte, an denen schon gearbeitet wird. Denk-


bar wären Detektoren, die künstlich generier-
te Bilder automatisch aufspüren. Wir könnten

was wir da tun« auch gesetzlich vorschreiben, dass KI-gene-


rierte Bilder gekennzeichnet werden müssen,
durch digitale Wasserzeichen etwa.
SPIEGEL: Welches Szenario eines KI-Miss-
TECHNOLOGIE Sam Altman, Chef von OpenAI, über seine Erfindung brauchs macht Ihnen am meisten Angst?
ChatGPT und die Frage, wie gefährlich künstliche Intelligenz ist Altman: Ich hatte gehofft, dass wir nach der
Pandemie besser aufgestellt wären gegen bio-
logische Bedrohungen. Aktuell sehe ich das
Seit er den Chatbot ChatGPT auf den Markt sicher, dass die positiven Aspekte am Ende nicht. Ich bin sehr besorgt, dass mithilfe von
gebracht hat, ist Altman, 38, einer der gefrag- um ein Vielfaches überwiegen. Die große KI-Systemen biologische Kampfstoffe ent-
testen Unternehmer weltweit. Schon nach Mehrheit der Menschen wird KI produktiv wickelt werden könnten. Andererseits werden
wenigen Monaten hatte seine KI-Software einsetzen. Aber natürlich gibt es immer Leu- wir dank KI auch bessere Impfstoffe finden.
mehr als 100 Millionen Nutzerinnen und Nut- te, die Technologie missbrauchen – und da- SPIEGEL: Wenn Ihnen das alles selbst etwas
zer. Wie ein Rockstar ist er gerade auf Welt- gegen müssen wir vorgehen. unheimlich ist: Warum haben Sie ChatGPT
tournee, um Entwickler, Politiker und Studen- SPIEGEL: Gerade erst sorgte ein KI-generier- schon auf die Menschheit losgelassen? Führen
ten zu treffen. Am Donnerstag machte er kurz tes Fake-Bild einer angeblichen Explosion am Sie und andere KI-Pioniere nicht eigentlich
beim Bundeskanzler und an der TU München Pentagon für einen kurzen Kurseinbruch an gerade ein Experiment an der Menschheit
Station, wo ihn der SPIEGEL interviewte. der Börse. durch – mit offenem Ende?
Altman: Wir hatten auch bisher schon mit Altman: Das könnte man bei der Einführung
SPIEGEL: Herr Altman, in dieser Woche war einer Menge Desinformation zu kämpfen. so ziemlich aller neuen Technologien sagen.
zu lesen, dass Sie wegen der in Brüssel ge-
planten KI-Verordnung damit drohen,
ChatGPT in der EU abzuschalten. Treffen wir
Sie gerade auf Ihrer Abschiedstournee?
Altman: Ich hoffe, diese Reise ist nur der Auf-
takt! Die Überschriften zu meinen Aussagen
waren teilweise überspitzt. Die KI-Verord-
nung ist bisher in wichtigen Punkten noch
vage und nicht fertig verhandelt. Sollten wir
aber am Ende technische Vorgaben nicht ein-
halten können, werden wir nicht gegen das
Gesetz verstoßen.
SPIEGEL: Was bedeuten würde: Sie schalten
ab.
Altman: Wir wollen mithelfen, dass es in eine
gute Richtung geht, und mit der EU zusam-
menarbeiten.
SPIEGEL: Wir sind etwas verwirrt. Erst vorige
Woche haben Sie selbst vor dem US-Senat
strenge Regeln für KI gefordert. Sie haben
Ihre eigene Technologie auch schon mit
Atomwaffen verglichen – und eine interna-
tionale Kontrollbehörde für künstliche Intel-
ligenz ins Spiel gebracht.
Altman: Absolut. Es ist entscheidend, dass wir
in einem demokratischen Prozess die Gren- »KI wird
zen für diese Technologie bestimmen und als
Menschen die Kontrolle behalten. Im Übrigen
weniger
brauchen wir auch als Unternehmen Klarheit diskrimi-
und sollten deshalb reguliert werden.
SPIEGEL: Lassen Sie uns über den Grund für
nieren
all diese Regulierungsappelle reden – die Be- als Men-
drohungen durch KI. Kriminelle nutzen Ihr schen.«
Florian Generotzky / DER SPIEGEL

Tool offenbar bereits, um automatisiert


Schadprogramme zu erstellen. Erleichtern
Sie Bösewichten die Arbeit?
Altman: Wir reden hier über neue, mächtige
Werkzeuge. Sie können dafür eingesetzt wer-
den, viel Gutes zu schaffen. Und, ja, sie kön-
nen auch negative Dinge verstärken. Ich bin

70 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WIRTSCHAFT

Uns war bewusst, was wir da tun. Wir haben was Sie da gerade auf die Welt losgelassen
im November nicht unsere aktuellste Varian- Deutschland stolpert hinterher haben?
te veröffentlicht. Wir glaubten, dass GPT-4 Altman: Wir haben darüber gesprochen, was
ein zu großer Sprung für die Menschheit sein 2022 gegründete Unternehmen mit dem Deutschland tun kann, um die Entwicklung
Schwerpunkt künstliche Intelligenz,
könnte, deshalb sind wir mit dem Vorgänger in ausgewählten Ländern von KI zu beschleunigen. Es ging um die kom-
gestartet. Ich finde, es wäre riskanter, diese plette digitale Lieferkette, die es dafür braucht.
Technologien hinter verschlossenen Türen USA 542 Und natürlich ging es auch um eine möglichst
weiterzuentwickeln. Möglichst viele Men- China 160 durchdachte Regulierung – die vor den Risi-
schen sollten die Chance haben, sie auszu- ken schützt, ohne Innovation abzuwürgen.
probieren, ihre Chancen und Risiken selbst Großbritannien 99 SPIEGEL: Spielt Deutschland als Standort im
besser zu verstehen – und sich an der Dis- Israel 73 KI-Wettrennen für Sie überhaupt eine Rolle?
kussion darüber zu beteiligen, wohin die wei- Altman: Auf jeden Fall. Wir arbeiten hier mit
Indien 57
tere Reise gehen soll. Hätten wir ChatGPT sehr vielen Entwicklern zusammen – und wir
nicht so früh veröffentlicht, würden wir heu- Kanada 47 haben auch eine hohe Nutzerzahl von
te all diese Debatten gar nicht führen. Es ist Frankreich 44
ChatGPT in Deutschland. Wir haben die Rou-
gut und wichtig, dass wir das tun – denn noch te auf dieser Reise danach ausgewählt, wo wir
ist es nicht zu spät. Deutschland 41 die meisten Entwicklungspartner haben.
SPIEGEL: Wie viele Ihrer Mitarbeiter bei S Quelle: Artificial Intelligence Index Report 2023 SPIEGEL: Deutschland hängt bei der Zahl der
OpenAI beschäftigen sich mit der Frage, wie Start-ups und der Höhe der Investitionen in
KI-Anwendungen zu bändigen und sicher zu tan der beste Zeitpunkt ist, eine Karriere im KI verglichen mit den USA dennoch weit hin-
gestalten sind? Bereich Technologie und Informatik zu star- terher. Woran liegt das?
Altman: Das ganze Unternehmen denkt da- ten. Wir sind Zeugen des spannendsten Altman: In Deutschland werden schon seit
rüber nach, anders geht es auch nicht. Bei KI Moments seit der Erfindung des Internets. langer Zeit viel weniger Start-ups gegründet,
ist es nicht wie bei anderen Technologien, wo Künstliche Intelligenz wird das praktischste, als ich erwartet hätte. An fehlenden Program-
es auf der einen Seite die Entwickler im einflussreichste und außergewöhnlichste mierertalenten kann es jedenfalls nicht liegen.
Unternehmen gibt und dann ein paar Leute, Werkzeug sein, das die Menschheit je erschaf- Was sicherlich eine große Rolle spielt: In den
die für Sicherheit sorgen sollen. fen hat. USA ist es gesellschaftlich akzeptiert, an et-
SPIEGEL: Andere Konzerne wie Meta haben SPIEGEL: Wie viele Suchen gibt es mit was extrem Ambitioniertem, ja scheinbar Un-
einen deutlich höheren Prozentsatz an ChatGPT eigentlich jeden Tag? realistischem zu arbeiten. Wir waren die Ers-
Angestellten, die sich ausschließlich um den Altman: Extrem viele. Ich weiß es nicht genau. ten und wahrscheinlich die Einzigen, die je
Kampf gegen Missbrauch kümmern. Sie Es sind keine Milliarden, aber viele Millionen. gesagt haben, dass wir A.G.I. anstreben.
reden von Sicherheit, aber was konkret tun SPIEGEL: Das braucht sicher jede Menge Re- SPIEGEL: Sie meinen die besonders fortschritt-
Sie? chenkraft und Strom. liche Form der Allgemeinen künstlichen In-
Altman: Wir haben auch Sicherheitsbeauf- Altman: Eigentlich ist das eher zu vernachläs- telligenz, ein Programm, das alles kann, was
tragte und Leute, die daran forschen, unsere sigen. Diese Systeme werden aber in der Zu- Menschen können.
Modelle entsprechend anzupassen. Dieselben kunft sicher viel Energie brauchen, das will Altman: Ja, genau. Außerdem ist es in den
Leute, die das Modell trainieren, sind dafür ich nicht kleinreden. USA viel normaler, dass Leute, die gemein-
verantwortlich, dass es die von uns festgeleg- SPIEGEL: Ein solch hoher Energieverbrauch sam an etwas arbeiten, Überstunden machen.
ten Sicherheitskriterien erfüllt. Wir haben bei hat Folgen für das Klima. Laufen Ihre Com- Der Zugang zu Kapital spielt sicher ebenfalls
unserem neuesten Modell acht Monate damit puter mit Grünstrom? eine Rolle, ist allerdings nicht der einzige
verbracht, es ausgiebig zu testen und von so- Altman: Wir nutzen Server und Datenzentren Aspekt.
genannten »Red Teams« angreifen zu lassen. von Microsoft, und die haben sich zur CO2- SPIEGEL: Wladimir Putin sagt, dass derjenige,
Wenn Sie es nutzen wollen, um damit Bom- Neutralität verpflichtet. der KI-Marktführer ist, auch die Welt regieren
ben zu basteln, wird es das verweigern. Wir SPIEGEL: Sie sind aktuell einer der gefragtes- wird. Hat er recht?
haben ein Monitoring-System, das problema- ten Firmenchefs, dabei hat Ihr Unternehmen Altman: Nein, hat er nicht. Aber es wäre für
tische Verhaltensweisen erkennt. Selbst unse- im vergangenen Jahr angeblich gerade mal den Rest der Welt durchaus bedrohlich, wenn
re harschesten Kritiker haben eingeräumt, 28 Millionen Dollar umgesetzt und 540 Mil- Autokraten einen signifikanten Vorsprung in
dass wir die Sicherheit diesmal wirklich groß- lionen Verlust gemacht. der Technologie erlangen würden.
geschrieben haben. Altman: Diese Zahlen liegen ziemlich dane- SPIEGEL: Es gibt heute immer wieder Fälle, in
SPIEGEL: Welcher Einsatz von ChatGPT hat ben. Aber wir verlieren momentan sehr viel denen Software etwa schwarze Menschen
Sie bisher am positivsten überrascht? Geld, das stimmt schon. oder Minderheiten diskriminiert – weil sie
Altman: Ich finde die zahlreichen Anwendun- SPIEGEL: Sie wirken nicht besonders besorgt von Menschen programmiert wird. Was tun
gen im Bildungsbereich besonders spannend. deswegen. Sie, um das zu verhindern?
Wir wissen ja, dass es viel effektiver ist, wenn Altman: Nein, das beunruhigt mich gar Altman: Ich glaube, dass KI-Systeme in Zu-
man einen eigenen Tutor hat, als mit vielen nicht. kunft deutlich weniger diskriminieren werden
Mitschülern im Klassenzimmer zu lernen. SPIEGEL: Es gab schon frühere KI-Hypewellen, als Menschen – selbst als sozial sensible Men-
Aber die wenigsten Menschen können sich und vor zwei Jahren etwa war das Metaverse schen. Dafür können wir mit entsprechenden
das leisten. Viele Lehrkräfte, die anfangs zu- in aller Munde. Kann es sein, dass sich auch technischen Vorkehrungen sorgen.
gegeben sehr nervös waren, helfen ihren die allgemeine Aufregung um generative KI SPIEGEL: Die Diskriminierung findet doch
Schülern jetzt, ChatGPT zum Lernen einzu- wieder legt? bereits statt. Sind Sie da nicht zu optimistisch?
setzen, als technischen Tutor. Viele Lehrer Altman: Aktuell besteht tatsächlich die Gefahr Altman: Diese Probleme trafen vielleicht auf
sagen mir, das wird das Lernen tiefgreifend eines Overhypes – aber das gilt nicht für die ältere Technologien zu – etwa, wenn es um
verändern. Umwälzungen, die die Technologie auf län- automatisierte Kredit-Entscheidungen ging,
SPIEGEL: Sie haben selbst darauf hingewiesen, gere Frist mit sich bringen wird. Diese Lang- da gab es echte Probleme. Die entscheidende
KI werde viele Jobs kosten, andere aber bes- frist-Perspektiven sorgen aus meiner Sicht Frage wird sein, nach wessen Wertvorstellun-
ser machen. sogar aktuell noch für zu wenig Aufregung. gen wir unsere künstliche Intelligenz ausrich-
Altman: Ich nutze meine Reise gerade dazu, SPIEGEL: Sie haben heute Vormittag Bundes- ten. Das werden noch harte Debatten.
jungen Menschen zu erklären, dass momen- kanzler Olaf Scholz getroffen. Versteht er, Interview: Max Hoppenstedt, Marcel Rosenbach n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 71


WIRTSCHAFT

king-Alliance, wirbt ebenfalls für eine


übergreifende Lösung. Andernfalls
müsse »sich eine Aktiengesellschaft,
die Software verkauft, an die Regeln
halten, während eine andere, die ihr
Geld mit dem Verkauf von Bonds
macht, dies nicht tun muss«.
Das Lieferkettengesetz sollte Euro-
pas Antwort auf die Schattenseiten
der Globalisierung sein. Seit vor zehn
Jahren mehr als 1100 Menschen beim
Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza
in Bangladesch umkamen, wuchs
im industrialisierten Westen das

Habibur Rahman / ZUMA Wire / IMAGO


Bewusstsein, für die Lebens- und
Arbeitsbedingungen in den Armuts-
regionen des Globalen Südens mit-
verantwortlich zu sein. Zahlreiche
EU-Länder, darunter Deutschland
und Frankreich, verabschiedeten des-
Textilarbeiterinnen in Dhaka, halb in den vergangenen Jahren na-
Bangladesch
tionale Lieferkettengesetze.
EU-Kommissionschefin Ursula
von der Leyen drängte alsbald auf
eine EU-weite Lösung, um für gleiche
Regeln und Wettbewerbsbedingun-
gen zu sorgen. Im Februar vergange-

Lex Blackrock nen Jahres legten ihre Beamten den


Entwurf einer Richtlinie vor. Kredit-
institute und Fondsanbieter waren
darin ausdrücklich einbezogen. »We-
LOBBYISMUS Die Finanzindustrie kämpft für eine Ausnahme im gen der engen Verbindung zu seinen
Kunden ist der Finanzsektor für das
geplanten EU-Lieferkettengesetz – und hat dabei einen Vorhaben von überragender Bedeu-
überraschenden Verbündeten: Frankreichs Präsident Macron. tung«, befand der zuständige Justiz-
kommissar Didier Reynders.
Dabei konnte er sich auf die Unter-
enn es um sein Kerngeschäft lichen Ergebnis, dass künftig jedes stützung von Branchenverbänden
W geht, gibt sich Larry Fink
gern grüner als die Grünen.
Alle Investoren sollten ihr Geld in
EU-Land selbst entscheiden könnte,
ob Banken, Fondsgesellschaften oder
Versicherungen sich an die Vorschrif-
wie der niederländischen Bankiers-
vereinigung stützen. Die Kredithäu-
ser des Nachbarlands haben schon
Firmen anlegen, die »auf die Nach- ten halten müssen. Fachleute fürch- vor Jahren begonnen, ihre Geschäfts-
haltigkeit ihrer Lieferkette und die ten, dass nur die wenigsten Regierun- beziehungen an Nachhaltigkeits- und
Diversität ihrer Belegschaften« ach- gen von der Möglichkeit Gebrauch Menschenrechtszielen auszurichten.
teten, fordert der Chef von Blackrock, machen würden. Finanzdienstleister wie Blackrock
dem weltgrößten Vermögensverwal- Kommt es so, wäre Europa einmal dagegen wandten sich von Beginn an
ter. In der Welt des »Stakeholder-Ka- mehr vor der Macht der Finanzbran- gegen das Vorhaben. Die Richtlinie
pitalismus« müssten sich die Unter- che eingeknickt, die sich um das Vor- ignoriere »fundamentale Unterschie-
nehmer an »gesunden ökologischen, haben eine kuriose Lobbyschlacht de bei der Kontrolle von Investoren
sozialen und ethischen Verhaltens- geliefert hat. Während Industrie- und Unternehmen«, heißt es in einer
weisen« orientieren. betriebe künftig sicherstellen müssten, internen Stellungnahme seiner Brüs-
Auch Emmanuel Macron ist durch- dass ihre Geschäftspartner in aller seler Lobbyorganisation. Große Teile
drungen vom Geist der Nachhaltig-
keit. Die Grande Nation müsse eine
»Große ökologische Nation« sein,
Welt Sorge für Menschenrechte und
Umweltschutz tragen, blieben die
Multis und Dickschiffe des Kredit-
1100
Menschen
des Fondsgeschäfts, so das Papier,
müssten daher von der Regelung
»ausgenommen werden«.
sagt der französische Präsident. Das und Investmentsektors außen vor. Früher hätte sich wahrscheinlich
bedeute, »die Umwelt ins Zentrum Ausgerechnet jene Branche also, die verloren vor die Regierung in London die Black-
des ökonomischen Modells zu stel- großen Einfluss auf Unternehmen rock-Argumente zu eigen gemacht.
len«. ausübt und ihre Kunden mit grünen zehn Jahren Seit dem Brexit jedoch wetteifern
Umso seltsamer ist, dass zwei der und sozialen Anlageangeboten um- beim Einsturz mehrere Finanzplätze in Europa da-
mächtigsten Anhänger des ethischen wirbt. rum, sich als Nachfolger in der Bran-
Kapitalismus gerade eines der wich- »Wenn die Finanzbranche ausge-
einer Textil­ che beliebt zu machen, Frankfurt zum
tigsten europäischen Projekte dafür klammert wird, verliert das Gesetz fabrik in Beispiel oder Dublin. Aus der politi-
torpedieren. Ihre Leute arbeiten in einen Großteil seiner Wirkung«, sagt Bangladesch schen Debatte um Menschenrechte
Brüssel daran, im geplanten europäi- der Europaabgeordnete René Repasi, und Ökologie wurde so ein Standort-
schen Lieferkettengesetz eine Aus- der für die SPD das Gesetz verhan- ihr Leben. wettbewerb der Finanzmetropolen.
nahmeregelung für die Finanzindus- delt. Richard Gardiner, Politikchef bei Quelle: Amnesty Nachdem sich der Rat der Mit-
trie durchzuboxen. Mit dem mög- der Organisation Worldbenchmar- International gliedstaaten im Herbst bereits weit-

72 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WIRTSCHAFT

gehend auf die Einbeziehung der Geldbran- Gefunden wurde sie offenkundig nicht. Kommende Woche wird das Plenum des
che geeinigt hatte, machten sich Deutsch- Denn am Ende setzte der tschechische Rats- Parlaments sein Votum abgeben. Stimmen
land, Luxemburg und Irland dafür stark, präsident und Handelsminister Jozef Sikela die Abgeordneten zu, müssten Parlament und
Investmentanbieter auszunehmen. Wer einen Kompromiss durch, der sich eher als Rat erneut über die Richtlinie verhandeln.
einen Fonds mit Unternehmensanleihen aus Kapitulation liest, vor allem für Europa. Da- Ob Macron das zulässt? Vergangene Wo-
Entwicklungsländern verkaufe, habe nicht nach soll es künftig jedem Mitgliedstaat che regte der Präsident eine »Regulierungs-
dieselbe Verantwortung wie ein Industrie- freigestellt werden, ob und wie er die Branche pause« in der europäischen Umwelt- und
konzern, der mit seinen Zulieferern im stän- in die Richtlinie einbezieht. Eine Lösung Klimapolitik an. Seither wächst die Zahl der
digen Austausch steht, so das Argument. Die mit einem einzigen Gewinner: der Finanz- Abgeordneten, die das EU-Lieferkettengesetz
Gruppe setzte sich durch, Brüsseler Diplo- industrie. ebenfalls auf die lange Bank schieben wollen.
maten sprachen fortan von der »Blackrock- Im EU-Parlament, das sich seit Monaten Besonders groß ist der Widerstand in Deutsch-
Ausnahme«. mit dem Kommissionsvorschlag beschäftigt, land. »Wir dürfen der Wirtschaft jetzt keine
Die Regierung in Paris, die sich ebenfalls will man das nicht durchgehen lassen: Der zusätzlichen Belastungen auferlegen«, Ma-
als London-Nachfolger sieht, verstand das als Entwurf des federführenden Rechtsausschus- cron liege da auf der Linie der Union, sagt der
Aufforderung, eine ähnliche Sonderregel für ses sieht vor, den Geldsektor wieder einzu- CDU-Abgeordnete Daniel Caspary, Chef der
Banken und Versicherungen anzumahnen. In beziehen. Allerdings haben die Abgeordneten deutschen Gruppe in der konservativen EVP-
der französischen Hauptstadt haben große die Auflagen für die Unternehmen insgesamt Fraktion. »Wenn sich europäische Unterneh-
Kreditinstitute ihren Sitz, die enge Beziehun- begrenzt. Nach dem Entwurf müssen Firmen men wegen der Lieferkettenthematik aus Af-
gen mit Ölmultis wie Total oder Luxuskon- nicht mehr alle ihre Lieferanten in den Blick rika zurückziehen, profitiert am Ende China.«
zernen wie LVHM pflegen. Gemeinsam mit nehmen, sondern nur die, die nach anerkann- Das könne nicht im europäischen Interesse
Italien, Spanien und der Slowakei brachte ten Kriterien ein Risiko darstellen. Für ein sein. Deshalb müssten der bürokratische Auf-
Paris eine komplizierte Ausnahmeklausel ins Großunternehmen mit Tausenden Mitarbei- wand und die Haftungsrisiken für die Unter-
Gespräch, die mehr oder weniger die gesam- tern sinkt die Zahl der zu kontrollierenden nehmen weiter reduziert werden, fordert
te Finanzbranche umfasste. Andernfalls, so Kontakte dadurch von 35.000 auf 1000, hat Caspary. »So können wir dem Vorhaben nicht
drohten die französischen Vertreter, werde der nordrhein-westfälische CDU-Abgeord- zustimmen.« Das europäische Lieferketten-
man das Vorhaben durchfallen lassen. nete Axel Voss anhand von konkreten Fir- gesetz droht damit komplett zu scheitern.
Frankreich stand als verlängerter Arm der menfällen errechnet. Blackrock und Co. könnten aufatmen. Be-
Bankenlobby da, aber die Regierung behaup- Für die Finanzindustrie gelten zusätzliche vor er zum Anwalt eines ethischen Kapitalis-
tet bis heute, im Interesse der Gesamtwirt- Erleichterungen. Sie müsste nur ihre direkten mus wurde, hatte sich Firmenchef Fink als Ver-
schaft gehandelt zu haben. Man habe nach Geschäfts- oder Kreditpartner kontrollieren, fechter einer konsequenten Interessenpolitik
einer Regelung gesucht, »die auf alle Sektoren nicht die weitere Lieferkette. Opferanwälte hervorgetan. »Lobbyismus ist gut«, lautete
anwendbar ist«, heißt es in einer Stellung- und Nichtregierungsorganisationen kritisie- sein Motto. »Denn es steigert den Profit.«
nahme für den SPIEGEL. ren den Entwurf deshalb als zahnlos. Michael Sauga n

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AUSLAND

Sirachai Arunrugstichai / Getty Images


Über einem Haufen menschlicher Schädel thront ein geschmücktes Skelett, drum herum wabert dichter Rauch – mit dieser Lang-Pa-Cha genannten
Zeremonie gedenken Menschen auf einem chinesischen Friedhof in Saraburi, Thailand, ihrer Toten. Dazu werden Verstorbene exhumiert,
Schädel und Knochen mit Zahnbürsten in einer Teelösung gereinigt, mit Blattgold verziert und dann eingeäschert. Die Zeremonie schafft Platz für
neue Gräber, sie zieht Scharen von buddhistischen Schaulustigen an – denn sie soll Glück bringen und für gutes Karma sorgen.

Plan, sich Zeit zu kaufen, ging nicht auf. Die Wut der Säkularen
Die Wut der Säkularen verpuffte nicht, sondern wandte sich dem nächsten Thema zu:
Massive Proteste begleiteten auch die Haushaltsverhandlungen.
Der neue Haushalt sieht millionenschwere Zugeständnisse an
ANALYSE Israels Haushalt steht – normale die Wählerklientel der frommen Koalitionspartner vor. Großzügig
Regierungsarbeit wird trotzdem kaum möglich sein. unterstützt werden vor allem verheiratete Ultraorthodoxe, die
religiöse Studien betreiben – und dadurch kaum einen Beitrag zu
Hoffnungsvoll blickt Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in Israels Bruttoinlandsprodukt leisten. Es wird damit gerechnet,
die Zukunft: »Wir haben die Wahlen gewonnen. Wir haben dass die Zahl der erwerbstätigen Ultraorthodoxen durch die neuen
das Budget verabschiedet. Wir werden vier Jahre weitermachen«, Schenkungen um fünf Prozent schrumpfen wird – die Steuern der
schrieb Netanyahu in den sozialen Netzwerken. Kurz zuvor arbeitenden Bevölkerung hingegen steigen langfristig an.
hatte seine rechtsreligiöse Regierung den Haushalt für die nächs- Wieder demonstrieren Tausende in Jerusalem und anderen
ten zwei Jahre beschlossen. Eine Formsache, die ihn in seiner Städten Israels. Die Säkularen sind nicht mehr bereit, Netanyahus
vorherigen Amtszeit die Regierung gekostet hatte. Klientelpolitik zu tolerieren. Zugeständnisse an die Frommen
Doch sooft Netanyahu in dieser Woche seinen Optimismus gab es auch in der Vergangenheit – doch mit den Protesten
im Hinblick auf die weitere Regierungsarbeit beschwor – die gegen den Justizumbau scheint ein neues Bewusstsein der libe-
Realität sieht anders aus: Im März stoppte er nach massivem ralen Israelis erwacht zu sein. Es geht nicht nur um einzelne Ge-
Widerstand aus der Bevölkerung die geplante Justizreform und setzesvorhaben, sondern um die Frage, in was für einem Land
vertagte sie in die nächste Sitzungsperiode der Knesset. Zuvor sie leben wollen. Eine normale Regierungsarbeit, wie Netanyahu
hatten Hunderttausende protestiert, selbst im für Israel überle- sie sich wünschen mag, wird in den kommenden Jahren kaum
benswichtigen Militär regte sich Widerstand. Doch Netanyahus möglich sein. Muriel Kalisch

74 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Ein Coup an den Pariser Champs-Élysées,
die offiziell als Serverraum
von 333 Millionen deklariert wurde – falls im Liba-
LIBANON Nach Angaben von non mal der Strom ausfalle.
Ermittlern soll der libanesische Salamé behauptet, die fraglichen
Zentralbankchef Riad Salamé Zahlungen seien rechtmäßig
333 Millionen US-Dollar über gewesen. Er spricht von einer
Jahre illegal auf Konten einer böswilligen Verleumdungs-

Alexander Patrin / ITAR-TASS / IMAGO


Scheinfirma transferiert haben, kampagne, die ihn zu Unrecht
die in der Steueroase der Jung- zum Sündenbock für die libane-
ferninseln registriert gewesen sische Finanz- und Wirtschafts-
war. Nach mehrjährigen Ermitt- krise machen würde. Festge-
lungen haben erst Frankreichs, nommen oder seines Postens
vergangenen Dienstag auch enthoben, den er seit 1993 inne-
Deutschlands Justizbehörden hat, wurde er bislang nicht.
Haftbefehle gegen Salamé er- Libanesische Ermittlungen wur-
lassen wegen des Verdachts auf den angeblich auf Ansinnen des Demonstranten mit armenischen Flaggen an der Grenze zu Aserbaidschan
Geldwäsche, Unterschlagung Premiers, der dies anschließend
und Dokumentenfälschung. bestritt, verhindert. Die politi-
Über Interpol ist das Haftgesuch sche Elite kann Salamé schlecht »Es geht um mehr als nur um
der libanesischen Regierung absetzen, denn er gilt als Kopf
übermittelt worden. Teile der jenes gigantischen Pyramiden- Bergkarabach«
Millionenüberweisungen seien systems, das den Kollaps des
über Konten in der Schweiz überschuldeten Staates zu ver-
SÜDKAUKASUS Der Politologe Stefan Meister
und im Libanon weitergeleitet schleppen versuchte. Bis das
worden, um davon Immobilien System 2019 implodierte und über eine Lösung im Dauerkonflikt
in Paris, London, München Hunderttausende ihre Spargut- zwischen Armenien und Aserbaidschan
zu erwerben. Einige der Immo- haben verloren. Man werde nun
bilien seien dann zu überhöhten die Entscheidung der libanesi- Meister, 48, arbei- dschan einigen, wer die Arme-
Preisen von der libanesischen schen Justiz abwarten, teilte die tet für die Berliner nier schützen soll, die noch in
Jürgen Daum / DGAP

Zentralbank angemietet worden, Regierung in Beirut nach Erhalt Denkfabrik Deut- Bergkarabach leben. Das zweite
wie etwa eine Luxuswohnung der Haftbefehle mit. CRE sche Gesellschaft Szenario ist eine Salamitaktik,
für Auswärtige darin befinden wir uns im
Politik (DGAP). Moment: Die Aserbaidschaner
Delta in Gefahr vorgeschlagen, die Silva wich- schließen die Grenze rund um
tige Zuständigkeiten wie die SPIEGEL: Herr Meister, Arme- Karabach, Gas und Strom wer-
BR ASILIEN Mit einer fort- Schutzgebiete der Indigenen niens Premierminister Nikol den unterbrochen. So versu-
schrittlichen Umweltpolitik will entziehen würde. Mit seiner Paschinjan hat angekündigt, das chen sie, die Armenier aus der
sich Präsident Luiz Inácio Lula ambivalenten Haltung zu wich- seit 30 Jahren umkämpfte Berg- Region zu drängen. Das Dritte
da Silva als Vorkämpfer beim tigen Umweltfragen trägt jedoch karabach als aserbaidschanisch wäre ein erneuter Krieg nach
Klimaschutz profilieren. Nun auch Lula zur Entmachtung anzuerkennen. Warum jetzt? einem Angriff aus Aserbaidschan
aber steht er vor einer Regie- seiner Ministerin bei. Die halb- Meister: Die Ankündigung wur- auf Bergkarabach, um die
rungskrise, die dieses Image er- staatliche Ölgesellschaft Petro- de jetzt erst offiziell gemacht. Menschen aus der Region zu
schüttert. Knapp ein halbes Jahr bras will vor der Amazonas- Wir waren in den Friedensver- vertreiben. In diesem Fall gäbe
nach Lulas Amtsantritt klagt mündung nach Öl suchen, ob- handlungen noch nie so weit es viele Tote und Flüchtlinge.
Umweltministerin Marina Silva, wohl die Umweltbehörde Ibama wie heute, aber nun sind Punkte SPIEGEL: Wie realistisch sind
eine Ikone der internationalen diese Pläne ablehnt: Vor der erreicht, an denen sich beide Sicherheitsgarantien für die
Ökobewegung, über die dro- Mündung befinden sich Koral- Seiten nicht mehr bewegen. Die knapp 100.000 Armenier in
hende Entmachtung ihres Res- lenriffe, die Artenvielfalt im Ankündigung ist eine Einsicht Bergkarabach?
sorts. Silva macht dafür auch Flussdelta ist enorm. Lula hat in die Realität: Armenien hat Meister: Ich glaube nicht, dass
Abgeordnete der Regierungs- durchblicken lassen, dass er den den Krieg 2020 verloren und Aserbaidschan sich darauf ein-
basis im Kongress verantwort- Plänen positiv gegenübersteht – ist militärisch schwach. Es geht lassen wird. Es hat den zweiten
lich. Die haben eine »Restruk- er hofft, dass etwaige Ölvor- längst um mehr als nur um Krieg 2020 gewonnen, damit
turierung« des Ministeriums kommen dem Land einen ähnli- Bergkarabach. Aserbaidschan ist die Frage für Aserbaidschan
chen Boom bescheren könnten stellt inzwischen auch die Gren- gelöst. Man stellt sich vor, dass
wie die Entdeckung der Tiefsee- zen von Armenien infrage. die Armenier einfach unter
ölvorkommen während seiner Es gab Angriffe auf armenisches aserbaidschanischer Verfassung
ersten Regierungszeit Mitte der Gebiet. Damit wächst die Ein- dort weiterleben. Das ignoriert
Nullerjahre. Damals war Marina sicht, Karabach lieber aufzuge- die Feindbilder in beiden
Silva in ihrer ersten Amtszeit ben. Für Armenien steht auch Ländern natürlich vollkommen.
Andressa Anholete / Getty Images

wegen verschiedener Kontro- die Zukunft des Landes auf dem Ohne Schutzmacht ist die Ge-
versen zurückgetreten. Unter Spiel. fahr groß, dass es zu Vertrei-
anderem setzte Lula trotz öko- SPIEGEL: Wie geht es weiter? bungen der Armenier kommt.
logischer Bedenken den Bau Meister: Es gibt drei Szenarien. Ich halte die Aussichten auf ein
eines Staudamms im Amazonas- Das Beste wäre, dass ein Frie- Friedensabkommen für relativ
gebiet durch. Petrobras will densabkommen tatsächlich gering. Trotz dieser einmaligen
jetzt einen Plan für das Ama- zustande käme. Dazu müssten Chance, die es in 30 Jahren
Lula, Silva zonasdelta vorlegen. JGL sich Armenien und Aserbai- nicht gegeben hat. LIV

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 75


AUSLAND

Dmitrij Serebrjakow / DER SPIEGEL

Gräber auf dem Wagner-Friedhof im südrussischen Bakinskaja

76 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


AUSLAND

te ihr niemand seinen Leichnam, so wie bei


den Eltern eines anderen Häftlingssoldaten
aus dem Dorf? Warum gibt es bis heute keinen
Totenschein für Andrej?

Warum mussten Andrej Es ist ungewiss, wie viele Wagner-Häft-


linge bereits in der Ukraine getötet worden
sind, auch weil viele ihrer Angehörigen lieber
schweigen – sei es aus Angst vor Schwierig-

und Jaroslaw sterben? keiten oder schlicht, weil sie über das Schick-
sal ihrer Liebsten kaum etwas wissen. Wagner
lässt die Verwandten oft im Ungewissen. Der
SPIEGEL hat Dutzende von ihnen kontaktiert.
RUSSLAND Tausenden Häftlingen hat die Söldnertruppe Wagner die Meist wissen sie nur, dass ihre Söhne, Brüder
Freiheit versprochen – und sie an der Front in den Tod geschickt. oder Männer noch am Leben sind, weil sie
jeden Monat Sold ausgezahlt bekommen.
Die Tante und die Mutter von zwei Getöteten wollen darüber nicht Geld als Lebenszeichen.
schweigen. Von Christina Hebel Wenn es denn kommt – Larissa hat nie
Soldzahlungen von Wagner gesehen. Mindes-
tens 200.000 Rubel hat die Söldnertruppe
arissa scrollt wieder und wieder durch feindlichen ukrainischen Stellungen anrennen den Häftlingskämpfern monatlich für den
L die Chatnachrichten ihres Neffen. Ver-
harrt bei dem Foto von Andrej, vergrö-
ßert es auf ihrem Mobiltelefon. Ein hagerer
lassen. Tausende Sträflinge dürften diesen
»Fleischwolf« nicht überlebt haben. So nennt
Prigoschin seine zynische Kriegsstrategie, mit
Fronteinsatz versprochen, umgerechnet rund
2400 Euro. Das ist viel Geld, vor allem auf
dem Land, wo die durchschnittlichen Monats-
junger Mann mit dunklem Pullover, er blickt der er versucht hat, die ukrainische Armee löhne bei wenigen Hundert Euro liegen. Aber
ernst in die Kamera. Hinter ihm sind Etagen- im umkämpften Bachmut aufzureiben. Jetzt, Larissa will das Geld nicht.
betten einer Gefängnisbaracke zu sehen. La- nach langen Monaten des Blutvergießens, Nicht dass sie es nicht gebrauchen könnte:
rissas Augen füllen sich mit Tränen. »Warum haben seine Söldner die vollkommen zerstör- Sie träumt von einem größeren Haus für sich
er? Er war doch so schmal«, sagt sie schluch- te Stadt wohl weitgehend eingenommen. und ihre Kinder, einer geräumigeren Küche,
zend. Schließlich wendet sie den Blick ab, Sechs Monate ist Larissas Neffe schon tot. einer Klimaanlage für die heißen Sommer –
startet einige Audioaufnahmen auf ihrem Inzwischen wiegen die Blüten der Flieder- aber nicht finanziert durch Wagner-Geld.
Handy. Die Stimme ihres Neffen Andrej er- büsche im Dorf im Frühlingswind. Larissa hat »Nicht so. Es schmerzt mich alles so sehr. Ich
klingt. Betont lässig sagt er: viele Fragen, auf die ihr bis heute niemand will endlich Antworten. Wir sind doch Men-
»Hallo, mir geht’s gut, aber ich gehe in den antworten will: nicht die Behörden, schon gar schen.« Natürlich habe auch sie Angst vor
Krieg …« Er klingt, als wollte er lediglich eine nicht Wagner, wo man sie abwimmelte, als Wagner, aber sie habe doch immer wieder
weitere Runde eines dieser Shooterspiele sei sie eine lästige Bettlerin. »Was wollen Sie? angerufen, Nachrichten geschickt, Aufrufe in
beginnen, die er, so erzählt Larissa, als Ju- Geld bekommen Sie nicht«, habe ein Wagner- den sozialen Medien und Telegram gepostet,
gendlicher so oft spielte. Er spricht weiter: Mann sie am Telefon angefahren und aufge- Behörden aufgesucht, um zu verstehen, wo
»Nicht für die Einberufungsbehörde. Für eine legt. Versuche doch endlich, mit Andrejs Tod der Leichnam ihres Neffen abgeblieben ist.
private Truppe … Weine nicht, beruhige dich, abzuschließen, habe ihr Mann ihr geraten. So viele Versuche, doch es kam – »nichts«.
alles wird gut … Ich werde sechs Monate lang Aber Larissa kann nicht abschließen. Sie Rund sieben Wochen nach Andrejs letzter
kämpfen und dann nach Hause kommen.« fühlt sich verantwortlich für Andrej, den sie Audionachricht im September klingelt an
Andrej Kargin, 22 Jahre, verurteilt zu Jah- erst vor wenigen Jahren wiedergefunden hat. einem Samstagmorgen Larissas Telefon. Eine
ren in Haft wegen wiederholten Diebstahls, Er war nach dem frühen Tod seiner Mutter, kräftige Männerstimme stellt sich als Wagner-
von der Wagner-Söldnertruppe an die Front die getrunken haben soll und zudem an Tuber- Kommandeur vor, teilt ihr mit, dass Andrej
in der Ukraine geschickt, hat es nicht ge- kulose litt, mit sechs in ein Kinderheim ge- tot sei. Bereits verwundet, sei er mit seiner
schafft. Er ist nicht zurück aus dem Krieg ge- kommen. Sein Vater, Larissas älterer Bruder, Kolonne unter Beschuss geraten. So erzählt
kommen. hatte die Familie schon früh verlassen, küm- es Larissa. Wo genau Andrej umgekommen
Die Nachrichten und das Bild sind das we- merte sich nicht weiter um seinen Sohn. An- sein soll, daran erinnert sie sich nicht mehr:
nige, was Larissa von ihrem Neffen geblieben drej wurde von einer Pflegefamilie aufgenom- Bachmut? Oder doch Soledar? Es sei alles so
ist. Die kleine energische Frau in ihren Vier- men. Larissa erfuhr davon erst Jahre später. schnell gegangen, sagt sie. Wann sie Andrej
zigern wischt sich mit den Händen Tränen Sie möchte verstehen, warum ihr Neffe bestatten könne, kann Larissa noch fragen:
aus dem Gesicht, setzt sich gerade auf der sich überhaupt rekrutieren ließ: Hatten ihn »Erkundigen Sie sich bei Ihrer örtlichen Mi-
Bank vor ihrem Haus auf, das irgendwo zwi- die Wagner-Leute bearbeitet? War es die Aus- litärbehörde«, sagt der Wagner-Mann.
schen Feldern in einem Dorf im Gebiet Wol- sicht auf Amnestie und Freiheit? Wieso brach- Dort habe man ihr nur gesagt: »Wir wissen
gograd steht. Den genauen Ort nennt der nichts, wir haben mit Wagner nichts zu tun.«
SPIEGEL aus Sicherheitsgründen nicht. »Weine nicht, Es sollte Monate dauern, bis Larissa schließ-
»Wie konnten sie Andrjuschka in den Krieg lich über einen Messengerdienst von einer
schicken? Der war doch gar nicht dafür ge- beruhige dich, unbekannten Frau ein Bild von Andrejs Grab
eignet«, sagt sie. Andrej habe nach einer Tu- alles wird gut …  erhielt, aufgenommen im Dorf Bakinskaja.
berkulose in der Kindheit ständig Probleme Der Ort liegt im Süden Russlands, Hun-
mit der Lunge und dem Rücken gehabt. »Sie Ich werde derte Kilometer von Larissas Heimatdorf
haben Andrjuschka und all die anderen Ge- sechs Monate entfernt. In Bakinskaja hat Prigoschin den
fangenen in den Fleischwolf geschickt und größten seiner inzwischen sieben Friedhöfe
einfach Hackfleisch aus ihnen gemacht.« lang kämpfen anlegen lassen. Es sind von hier nur zehn
Zehntausende Häftlinge hat Wagner-Grün- und dann Kilometer in den Ort Molkino, wo die Wag-
der Jewgenij Prigoschin über Monate aus den ner-Gruppe ihr Trainingszentrum betreibt.
Strafkolonien Russlands holen lassen. Er hat Andrej 2022
nach Hause An einem Sonntag Anfang April leuchten
Privat

sie wieder und wieder im Donbass gegen die kommen.« in der Morgensonne von Bakinskaja schon

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

von Weitem die frischen Gräber von Wagner- einfach nicht anders.« Was er damit meinte,
Kämpfern, Reihe an Reihe an Reihe. 45 Rei- habe er ihr nicht erklären können. Monate
hen waren es bei einem Besuch Anfang April, später habe sie von einem ehemaligen Mit-
mehr als insgesamt 600 Gräber – es sind gefangenen erfahren, dass ihr Sohn im Ge-
zwölfmal so viele wie noch rund drei Mona- fängnis unter Druck gesetzt, ihm mit Straf-
te zuvor. Und jeden Tag kommen neue hinzu, maßnahmen gedroht worden sei. In der
auch an diesem Tag hebt ein kleiner Bagger Strafkolonie sei vieles möglich: Einzelhaft,
frische Grabstellen aus. Essensentzug. Als sie das erfährt, ist Jaroslaw
Andrejs Grab liegt in einer der vorderen schon seit Wochen tot.
Reihen. Es unterscheidet sich wenig von den Er wurde laut Wagner Anfang Januar in
anderen: Ein Plastikblumengesteck im Stil Bachmut getötet. Viel weiß Nadeschda darü-

Privat

Privat
des Wagner-Emblems mit goldenem Stern als ber nicht, ihr Sohn hatte ihren Ex-Mann als
Jaroslaw 2020, sein Sarg im Haus der Kultur
Grabschmuck, das schlichte orthodoxe Kreuz Kontakt bei Wagner angegeben, wohl auch,
trägt seinen Namen, darunter sind sein Ge- Larissa sagt: »Niemand von uns braucht ihn. weil er wusste, wie sehr seine Mutter seinen
burtsdatum, 18. März 2000, und sein Todes- Niemand. Er belastet uns alle, vor allem Kriegseinsatz ablehnte. Ihr geschiedener
tag, 15. November 2022, vermerkt. Jemand die Kinder. Was für eine Zukunft haben sie?« Mann habe fünf Millionen Rubel, umgerech-
hat eine rosa Nelke abgelegt. Lidija sagt: »Es ist schade um all diese Men- net mehr als 56.000 Euro Entschädigung, von
Ist das wirklich ihr Neffe, der da weit von schen, die sterben. Schade um die Ukrainer, Wagner erhalten, sonst habe er sich um wenig
der Heimat begraben liegt? Das fragt sich La- schade um alles, was schon in der Ukraine geschert, sagt sie.
rissa immer wieder. zerstört wurde.« Um die Beerdigung kümmert sich Na-
Pflegemutter Lidija, die ebenfalls im Wol- Über Wagner und die Politik wollen die deschda zusammen mit weiteren Verwandten.
gograder Gebiet lebt, zeigt Bilder eines blon- beiden nicht reden, davon verstünden sie Immerhin erhält sie eine Sterbeurkunde, kann
den Jungen. Sie erzählt von ihrem »Sonnen- nicht so viel. Lidija sagt, in diesen Zeiten soll- ihren Sohn zu Grabe tragen.
schein Andrjuscha«, den sie wegen seiner te man lieber aufpassen, was man sagt: »sonst Doch Nadeschda weiß nicht, wohin sie mit
Tuberkulose immer wieder zum Arzt bringen nehmen sie mich noch fest«. Larissa lobt Pu- ihrer Trauer soll, sie kann diese Missachtung
musste, der in der Schule lieber vor sich hin tin trotz allem: »Er ist ein guter Präsident, hat sämtlicher Rechte ihres Sohnes nicht akzep-
träumte. Der sich später, als er älter wurde, so viel für unser Land getan, ich respektiere tieren. Sie könne sich nicht einmal ansatz-
rumtrieb und wenn er zu Hause war Stunden ihn.« Dass er Prigoschin und seine Wagner- weise vorstellen, was Jaroslaw durchgemacht
am Computer »den Krieger« gegeben, Truppe so gewähren lasse, das sei seltsam, habe bei Wagner, sagt sie.
»schreckliche« Computerspiele gespielt habe. sagt Larissa. Mehr wisse sie auch nicht. Sie sucht nach Informationen, beginnt, in
Es habe viel Streit gegeben. Sie sei häufig mit Im 1600 Kilometer weiter nordöstlich ge- den sozialen Netzwerken andere Verwandte
den Nerven am Ende gewesen, sagt Lidija. legenen Perm wird Nadeschda am Telefon und Wagner-Soldaten aufzustöbern, doch die
Immer später sei Andrej nach Hause gekom- sehr viel deutlicher: »Prigoschin ist ein Ver- meisten schweigen oder unterstützen den
men, irgendwann gar nicht mehr. Schlechte brecher. Er hat unsere Kinder auf dreiste Wei- Krieg gegen die Ukraine. Eine Frau habe sie
Freunde habe ihr Pflegesohn gehabt. Die Aus- se unter Verstoß gegen sämtliche Gesetze als Selenskyj-Unterstützerin beschimpft.
bildung als Schweißer habe er abgebrochen, rekrutiert.« Wohin Nadeschda sich auch wendet, stößt
er begann zu stehlen. Erst war es ein Schweiß- Ihr Sohn Jaroslaw, 27 Jahre, saß wegen sie auf Schweigen: Sie besucht den Direktor
gerät, dann irgendwann ein Auto. Er wurde schwerer Körperverletzung für vier Jahre in der Strafkolonie, fragt ihn, warum er zuge-
zu fünf Jahren Haft verurteilt, wie er später einer Strafkolonie in Perm ein, die Folge einer lassen habe, dass ihr Sohn in den Krieg ge-
seiner Tante mitteilt. Bei seiner Pflegemutter Schlägerei. Ihm war es erlaubt, während der schickt wurde. Er schaut sie nur an. Sie ruft
meldete er sich da längst nicht mehr. Haft zu telefonieren, wochenlang warnte Na- immer wieder bei Wagner an, verlangt, den
Lidija, eine Frau Anfang sechzig, lacht, deschda ihren Sohn: »Lass dich nicht von Vertrag zu sehen, den Jaroslaw mit der Söld-
wenn sie von Andrej erzählt, als versuchte diesem Typen Prigoschin anwerben, das wirst nertruppe geschlossen hatte. Sie fährt zu
sie, all die Trauer wegzulachen. Doch irgend- du nicht überleben.« Sie hatte im Internet einem Büro der Truppe in Jekaterinburg, dort
wann geht es nicht mehr, nach einer Stunde über die Rekrutierungen des Wagner-Chefs droht man ihr mit der Polizei. Sie besucht
bricht ihre Stimme, als sie vom Grab Andrejs in den Gefängnissen gelesen. Sie machte sich Vertreter der Kremlpartei Einiges Russland,
berichtet, das sie besuchen wolle – trotz al- Sorgen – ihr Sohn hatte sich nach dem Wehr- schreibt dem Staatsanwalt, dem Ermittlungs-
lem. Sie weint. »Ich habe ihn doch aufgezo- dienst bei einer Raketeneinheit verpflichtet. komitee. Es ist ihre Art des Protests, »ich kann
gen, wollte, dass dieser Mensch erwachsen Nadeschda, Mitte vierzig, mit ukraini- nicht akzeptieren, dass Prigoschin unsere Kin-
wird, etwas aus seinem Leben macht. Jetzt schen Wurzeln, ist eine vehemente Gegnerin der benutzt«. Einmal schon sei sie wegen an-
ist all meine harte Arbeit umsonst gewesen.« des Angriffskriegs gegen ihr Nachbarland. geblicher Verunglimpfung der Armee zu einer
»Heim, Pflegefamilie, Gefängnis, Krieg »Mach dir keine Sorgen«, habe ihr Sohn ge- Geldstrafe verurteilt worden.
und Tod – was für ein Schicksal eines Kindes«, sagt. Anfang Oktober rief er dann plötzlich Der versucht, seine Häftlingssoldaten nun
sagt Larissa. Sie macht sich Vorwürfe. Sie hät- an: »Ich habe unterschrieben, ich konnte als Helden darzustellen, enthüllt zu ihren Eh-
te versuchen müssen, ihren Neffen zu sich zu ren auf seinen Wagner-Friedhöfen Gedenk-
holen, Lidija zu helfen. Die Frauen nennen steine. Auch auf der Beerdigung ihres Sohnes
Andrej einen Helden, »er ist doch für sein Gesichtslos sprach jemand davon, dass Jaroslaw ein Held
Heimatland gestorben«. Als Korrespondentin Christina Hebel und sei, erzählt Nadeschda. »Held wovon?«, habe
Am liebsten würde Larissa sein Grab öff- Fotograf Dmitrij Serebrjakow den Wagner- sie ihm geantwortet. Keiner habe Russland
nen, einen DNA-Test machen lassen, um end- Friedhof besuchten, fiel ihnen auf, dass – angegriffen. »Ich habe meinen Sohn nicht als
lich Gewissheit zu finden. Doch dazu müsste anders als auf russischen Friedhöfen oft Helden beerdigt, sondern weil er unrecht-
sie gegen Wagner klagen, ein wenig Erfolg üblich – kaum Bilder neben den Namen mäßig von Prigoschin und Putin in diesen
versprechendes Vorhaben bei einer Söldner- zu sehen waren. Fast kein Grab wirkte, als Krieg geschickt wurde«, sagt Nadeschda.
truppe, die nach dem russischen Gesetz wäre es von Angehörigen besucht worden. Nadeschda sagt, sie schäme sich. Sie wisse
eigentlich verboten ist. Und so wollte auch kaum ein Verwandter nicht, wie sie all das ihren Verwandten in der
In den kommenden Monaten will sie mit der Häftlingssoldaten mit dem SPIEGEL Ukraine erklären solle.
Lidija nach Bakinskaja zu Andrejs Grab fah- reden. Die wenigen, die erzählten, haderten Mitarbeit: Alexander Chernyshev,
ren. Beide Frauen sind gegen diesen Krieg. mit ihren Fragen, mit Wut und Trauer. Andrey Kaganskikh n

78 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


AUSLAND

In der
Chaos-Phase
USA Der Republikaner Ron DeSantis will
im Rennen um die Präsidentschaft
Amtsinhaber Joe Biden beerben. Doch
dafür muss er zunächst in einem
parteiinternen Kampf am Rivalen Donald
Trump vorbei – und präsentiert sich
dabei als »besserer« Trump ohne Drama.

Giorgio Viera / AFP


Republikaner DeSantis: »Florida ist der Staat, in dem die Woke-Bewegung sterben wird«

n dem Tag, als Ron DeSantis offiziell Wahlschlacht, jeder kämpft gegen jeden, Ron an die Schalthebel der Macht in Washington
A seine Bewerbung um die Präsident-
schaftskandidatur verkündet, fahren
vor dem Four-Seasons-Hotel in Miami
DeSantis gegen Joe Biden, Republikaner
gegen Demokraten, Republikaner gegen Re-
publikaner und Donald Trump gegen alle. Der
zurückkehren – mit diesmal vielleicht noch
fataleren Folgen?
Die regierenden Demokraten befinden sich
schwarze SUV vor. Einige Dutzend seiner Ausgang: äußerst ungewiss. in der komfortablen Situation, dass ihr Kan-
Großspender und sonstige Unterstützer ge- Dabei geht es um nichts weniger als die didat feststeht. Joe Biden hat bereits im April
nießen streng abgeschirmt von der Polizei in Frage, in welche Richtung sich die immer noch angekündigt, erneut antreten zu wollen. Die
klimatisierten Sälen kühle Getränke und wichtigste, mächtigste und reichste Demo- oppositionellen Republikaner müssen dagegen
Häppchen. Die Presse ist nicht zugelassen. kratie der Erde politisch entwickeln wird. ab Januar 2024 in den Vorwahlen, bei den so-
»Ich bewerbe mich um das Präsidenten- Kommt die Amtszeit des moderaten Demo- genannten Primaries, ihren Favoriten für die
amt, um unser großes amerikanisches Come- kraten Joe Biden im nächsten Jahr zu einem offizielle Präsidentschaftswahl erst noch küren.
back anzuführen«, sagt DeSantis, Gouver- Ende? Wäre der stramm konservative Auf- Der lange erwartete Eintritt von Ron
neur von Florida, feierlich vor einer US-Flag- steiger Ron DeSantis für die Mehrheit der DeSantis in das Rennen macht die Sache für
ge in einer Videobotschaft. Die gleichzeitige Bürgerinnen und Bürger wirklich eine wähl- die Partei nicht nur komplizierter, sondern
Liveankündigung der Bewerbung via Twitter bare Alternative? Oder wird Donald Trump kann auch dazu führen, dass sich die »Grand
mit Elon Musk beginnt wegen akuter techni- Old Party« auf dem Weg zum Wahltag im
scher Probleme bei der Plattform fast eine November 2024 in internen Machtkämpfen
halbe Stunde zu spät, was auch im Four Sea- zerlegt. Donald Trump, so viel steht fest, wird
sons für einiges Kopfschütteln sorgt. alles dafür tun, um sich selbst die Nominie-
»Fuck DeSantis«, rufen derweil draußen rung zu sichern.
vor dem Hoteleingang zahlreiche Demons- Die Attacken gegen den jungen Rivalen neh-
tranten im Chor. Sie haben Regenbogenfah- men bereits an Intensität zu. Derzeit vergeht
nen in der Hand und demonstrieren gegen kaum ein Tag, ohne dass Trump und seine Be-
DeSantis, dem sie Homophobie vorwerfen. rater an die Millionen von Anhängern des Ex-
Daneben halten Anhänger von Donald Trump Präsidenten E-Mails verschicken, in denen sie
ihre Fahne in die Luft: »Fuck Biden!« Einer Parteifreund DeSantis miesmachen. Für Trump
trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Trump steht längst fest, dass nur er der Kandidat sein
ist kein Rassist.« kann – und sein darf. Dass DeSantis, den er
Die seltsame Szenerie in Miami dürfte ein einst förderte, es wagt, gegen ihn anzutreten,
Mandel Ngan / AFP

Vorgeschmack auf das sein, was in diesem US- betrachtet er als Verrat. Tatsächlich führt
Präsidentschaftswahlkampf noch kommt. Mit Trump derzeit in den Umfragen das Feld der
dem holprigen Einstieg von Ron DeSantis in möglichen Kandidaten mit weitem Abstand an.
das Rennen um das Weiße Haus im kommen- Dennoch, Ron DeSantis ist in den eigenen
den Jahr beginnt die Chaos-Phase dieser Wahlkämpfer Trump 2020 Reihen derzeit noch mit deutlichem Abstand

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AUSLAND

Trumps stärkster Herausforderer. Andere mög- Die Regelung sorgte schnell für Empörung,
liche Kandidaten wie die frühere Uno-Botschaf- in progressiven Kreisen kursierte der Geset-
terin Nikki Haley, Trumps Ex-Vizepräsident zesname »Don’t say gay bill«, was frei über-
Mike Pence oder der Senator Tim Scott liegen setzt so viel heißt wie »Sag nicht das Wort
bei Umfragen nur im einstelligen Bereich. schwul«. Selbst Präsident Joe Biden schalte-
Für DeSantis spricht, dass er mit seinen te sich in die Debatte ein, das Weiße Haus
gerade einmal 44 Jahren als neues, unver- erklärte, das Gesetz sei beschämend. Die Spit-
brauchtes Gesicht gegen den 80 Jahre alten ze des Disney-Konzerns, der in Orlando meh-
Joe Biden antreten könnte. Er und seine Stra- rere Vergnügungsparks betreibt, sprach sich
tegen in der Wahlkampfzentrale in Floridas ebenfalls öffentlich gegen das Gesetz aus –
Hauptstadt Tallahassee setzen offenkundig was DeSantis wiederum die Gelegenheit gab,
darauf, dass sich die Begeisterung für Trump sich als Kämpfer gegen einen »woken« Kapi-

Marco Bello / REUTERS


an der Parteibasis auch wegen der zahlreichen talismus zu präsentieren, der politisch kor-
rechtlichen Verfahren gegen den Ex-Präsi- rekte Statements statt ordentlicher Produkte
denten bald abkühlen könnte. anzubieten habe. Öffentlichkeitswirksam ließ
Seiner eigenen Partei empfiehlt sich DeSantis dem Micky-Mouse-Konzern jene
DeSantis als eine Art neuer Trump – nur ohne Steuerprivilegien streichen, die ihm über
das Drama, das den Ex-Präsidenten stets be- Jahrzehnte zugestanden worden waren – was
gleitet. Ein besserer Trump gewissermaßen, den Konzern nun mit dazu veranlasste, wich-
mit kühlem Kopf und Plan. Und besseren tige Investitionen in Florida auf Eis zu legen.
Chancen gegen Biden. Trump sei chancenlos, Auch ein Rechtsstreit ist anhängig.
weil er in der allgemeinen Wählerschaft wich- Der Konflikt mit Disney festigte DeSantis’
tiger Bundesstaaten schlicht zu unbeliebt sei. Ruf als ruchloser Populist, der es im Gegen-
»Die Leute werden ihre Ansichten über ihn satz zu Trump versteht, Wahlkampfsprüche
nicht ändern«, so DeSantis. in handfeste Politik umzusetzen. Plötzlich
DeSantis will erst seiner Partei, dann dem fürchteten viele Demokraten DeSantis fast

Scott McIntyre / The New York Times / laif


ganzen Land Hoffnung auf einen neuen Auf- noch mehr als Trump. Sein Programm moch-
bruch machen. Ein Versprechen, das schon te zwar schrill und reaktionär sein – aber in
bei früheren Jungstars funktionierte. Kandi- Florida eben auch erfolgreich.
daten wie Bill Clinton oder Barack Obama DeSantis’ Erdrutschsieg in Florida im ver-
waren kaum älter als DeSantis, als sie von gangenen November jagte den Strategen der
ihrer Partei, den Demokraten, für das höchs- Demokraten einen gehörigen Schrecken ein.
te Amt im Staate nominiert wurden. Er war auch deshalb besonders schmerzlich,
Ähnlich wie Obama und Clinton stellt weil der Republikaner neben den ländlichen
DeSantis seine Familie mit drei kleinen Kin- Teilen Floridas auch ehemalige linke Hoch-
dern und vor allem seine Frau Casey in den Protest gegen DeSantis, mit Familie* burgen wie Miami für sich gewann. In seiner
Vordergrund. Die frühere TV-Moderatorin Siegesrede ließ DeSantis keinen Zweifel, dass
eines lokalen Senders in Florida gilt als wich- von Florida vergangenes Jahr präsentierte er ihn der »culture war« gegen das linke Ame-
tigste Beraterin des Kandidaten. Casey De- sich als neuer konservativer Heiland, der die rika am Ende ins Weiße Haus tragen soll.
Santis sei die »nicht ganz so geheime Geheim- Linken überall angreift: in Parlamenten, »Florida ist der Staat, in dem die Woke-Be-
waffe« des Gouverneurs, schwärmt das Bou- Unternehmen, Schulen, Universitäten. Er hol- wegung sterben wird«, sagte er. »Ich habe
levardblatt »New York Post«. te sich Chris Rufo an seine Seite, einen kon- gerade erst mit meinem Kampf begonnen.«
DeSantis setzt offenbar auf eine Doppel- servativen Aktivisten, der in rechten Kreisen Als DeSantis im März in Iowas Hauptstadt
strategie, die ihm bereits bei seiner Wieder- als eine Art politisches Wunderkind gilt. Rufo Des Moines auftrat, sprach er davon, wie
wahl in Florida im vergangenen Jahr zu einem schaffte es fast im Alleingang, eine laute Kam- wichtig es sei, die Schlacht mit dem politi-
Traumergebnis von fast 60 Prozent verholfen pagne gegen ein linkes Antirassismus-Konzept schen Gegner zu suchen: »Ich habe die
hat. Er präsentierte sich da einerseits als prag- loszutreten – die »Critical Race Theory«. Die Schnauze voll von Leuten, die sich wählen
matischer Macher, der die Wirtschaft ankur- beiden wurden Dauergäste im rechten Fern- lassen und dann herumstehen wie Topfpflan-
belt und Probleme wie die Zerstörungen nach sehsender Fox News. zen.« Für einen Politiker gebe es keine grö-
dem Hurrikan »Ian« erfolgreich löst. Für DeSantis zog Rufo dabei ein ganz neu- ßere Sünde, als sich von Linken oder den
Andererseits umwarb er die stramm rech- es Thema in die Öffentlichkeit: Er versuchte, Medien den Takt vorgeben zu lassen.
te Trump-Wählerschaft, indem er gegen die die Sorge vieler Eltern anzufachen, ihre Kin- Doch nun steht DeSantis vor dem Pro-
illegale Migration wetterte und sich als här- der würden in der Schule zu früh expliziten blem, dass er erst einmal Trump schlagen
tester Streiter im Kampf gegen die politische sexuellen Inhalten ausgesetzt. Im Frühjahr muss. Ein großer Teil der republikanischen
Linke und jede Form von »Wokeness« zeigte. 2022 brachte DeSantis in Florida ein Gesetz Basis verehrt diesen immer noch wie einen
Gemeint ist damit die – zumindest aus rech- auf den Weg, das es Lehrern verbietet, mit Heiligen. DeSantis versucht, das Dilemma
ter Sicht – übersteigerte Sensibilität etwa Schülern bis zur dritten Klasse über sexuelle zu lösen, indem er Trump nur indirekt an-
gegen Rassismus, Sexismus, Waffengewalt Orientierung oder Geschlechtsidentität zu greift. Er spricht von der Professionalität sei-
und Umweltzerstörung. Der große Erfolg in sprechen. ner Regierung in Florida, was man als Seiten-
Florida trug dazu bei, dass DeSantis partei- hieb auf das Chaos der Trump-Jahre lesen
intern zum Rivalen Nummer eins für Donald kann. Er schimpft über Anthony Fauci,
Trump aufsteigen konnte. Trumps obersten Seuchenbekämpfer, der im
Anti-woke zu sein ist für den Absolventen konservativen Lager als Kopf einer angebli-
der Eliteuniversität Yale, der vor seiner poli- chen Corona-Diktatur gilt. Aber die Kritik
tischen Karriere als Jurist bei der US-Mari- Sein Programm mochte an Trump bleibt merkwürdig verdruckst.
ne arbeitete, nicht allein Wahlkampfstrate-
gie, sondern Überzeugung. Schon in seiner
schrill und reaktionär sein – * Oben: in Miami am Mittwoch; unten: nach der
Kampagne für die Wiederwahl als Gouverneur aber auch erfolgreich. Wiederwahl zum Gouverneur 2022.

80 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


AUSLAND

Dieser Eindruck wird stärker, je härter der pelte von dem, was Donald Trump bislang treibungen nach der sechsten Schwanger-
Ex-Präsident auf DeSantis einprügelt. Trump eingesammelt haben soll. Angesichts der schaftswoche verbietet.
hat für den 44-Jährigen schon eine ganze Se- enormen Kosten für TV- und Digitalanzeigen, Interessanterweise meidet Trump das The-
rie von Spottnamen erfunden. Die letzte In- die jeder Präsidentschaftswahlkampf in den ma weitgehend, offenbar, um moderatere
novation lautet »Meatball Ron«, was offen- USA verschlingt, können hohe Spendenein- Wählerinnen und Wähler nicht zu verschre-
kundig nicht nur eine Anspielung auf den nahmen entscheidend werden. cken. DeSantis neues Abtreibungsgesetz be-
gedrungenen Körperbau von DeSantis sein Die Unterstützer von DeSantis aus der In- zeichnete er als »zu streng«. DeSantis ant-
soll, sondern auch auf dessen italienische dustrie eint dabei vor allem die Sorge, dass wortete darauf bei einem Auftritt vor Evan-
Herkunft: Spaghetti mit Fleischbällchen sind eine erneute Kandidatur von Trump dazu gelikalen in Orlando: »Ein ungeborenes Kind
ein Klassiker der italo-amerikanischen Kü- führen könnte, dass die Republikaner in einen mit einem Herzschlag zu beschützen ist nicht
che. Wenn DeSantis den Ex-Präsidenten Abwärtssog geraten und bei den nächsten streng, es ist menschlich.« Die Zuschauer im
schlagen will, muss er irgendwann auch mal Kongresswahlen wichtige Abgeordnetenman- Saal feierten ihn mit Applaus.
gegen ihn eine Offensive starten. date und damit politischen Einfluss in Wa- Donald Trump könnte auf einen anderen
Ein wichtiger Faktor bei dieser Wahl dürf- shington verlieren. »Trump war ein großarti- Effekt setzen, um den Rivalen auszuschalten.
te allerdings das Geld werden. Einige einfluss- ger Präsident, aber die Partei braucht eine Für den Ex-Präsidenten könnte sich noch als
reiche Großspender der Republikaner sind in neue Führung, die in der Lage ist, die Zukunft Vorteil erweisen, dass neben DeSantis weite-
den vergangenen Monaten aus dem Trump- zu gestalten«, sagt der Unternehmer Dan re Bewerberinnen und Bewerber wie Nikki
Lager zu DeSantis gewechselt, weitere könn- Eberhart, einer der einflussreichen Spender Haley, Tim Scott oder Ex-Vizepräsident Mike
ten folgen. Dass Elon Musk offenkundig mit der republikanischen Partei. »DeSantis hat Pence möglichst lange im Rennen bleiben.
ihm sympathisiert, ist für DeSantis eine gute nicht nur bewiesen, dass er selbst Wahlen ge- So könnte sich ein Szenario wiederholen,
Nachricht, auch wenn sich der Techmilliardär winnen kann, sondern er kann auch anderen das Trump bereits 2016 die Nominierung sei-
noch nicht festgelegt hat, ob er den Kandida- Kandidaten helfen zu gewinnen.« ner Partei sicherte. Er würde bei den Vor-
ten auch finanziell unterstützen wird. Vor Im Wahlkampf hat es DeSantis auch auf wahlen in den einzelnen Bundesstaaten stets
Kurzem wurde DeSantis zudem bei einem die Unterstützung der einflussreichen Grup- einen ordentlichen Stimmenanteil bei seinen
Dinner mit der milliardenschweren Witwe pe der evangelikalen Christen abgesehen. Sie Anhängern einsammeln, während sich die
des Kasino- und Hotelmagnaten Sheldon zählen eigentlich zur Wählerklientel von Stimmen all jener Republikaner, die ihn auf
Adelson gesehen. Das löste prompt Spekula- Trump. Für einiges Aufsehen sorgte unlängst, keinen Fall wollen, auf mehrere unterschied-
tionen aus, Miriam Adelson, die 2020 noch dass sich DeSantis mit einem ihrer Wortfüh- liche Kandidaten verteilen. Einigen sich die
Trump unterstützt hatte, könnte sich bald auf rer traf, Franklin Graham. DeSantis will sich Rivalen dann nicht rasch auf einen einzigen
die Seite des jungen Rivalen schlagen. bei diesen Erzkonservativen vor allem damit Anti-Trump-Kandidaten, zum Beispiel auf
DeSantis’ Wahlkampfkasse ist gut gefüllt, hervortun, dass er für strenge Abtreibungs- DeSantis, stünde der Endsieger der Vorwah-
er soll bereits mehr als 100 Millionen Euro gesetze eintritt. In Florida unterzeichnete er len bald fest: Es wäre wieder Donald Trump.
auf dem Konto haben. Das ist fast das Dop- als Gouverneur eine neue Regelung, die Ab- Roland Nelles, René Pfister n

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begannen und je nach Region noch


bis Mitte Juni laufen. Kommendes
Jahr steht die Europawahl an. Vor al-
lem aber geht es um die Frage, wer
von den beiden den Palazzo Chigi

Das Duell der Frauen besser verteidigen oder erobern kann


– schließlich zieht in der Regierungs-
zentrale durchschnittlich alle ein bis
zwei Jahre eine neue Spitzenkraft ein:
ITALIEN Die neue Oppositionschefin Elly Schlein will ein Bündnis gegen die il oder la Presidente.
Doch für Schlein gilt: Bevor sie an
Rechten schmieden. Sie ist jung, links, bisexuell – und damit das genaue eine Regierungsübernahme denken
Gegenteil der regierenden Postfaschistin Giorgia Meloni. Hat sie eine Chance? kann, muss sie den PD wieder auf-
richten.
Die italienische Sozialdemokratie
lly Schlein ist 23 Jahre alt, als Abitur lebte sie im Schweizer Lugano: »Wenn die ist seit Langem ein Sanierungsfall,
E sie nach Chicago fliegt und eine
Erfahrung macht, die ihr Leben
verändert. Sie betritt einen alten Kel-
der Vater Politikprofessor aus den
USA und aschkenasischer Jude, die
Mutter Juraprofessorin in Norditalien,
Linken nicht
zusammenfin-
ähnlich wie es die SPD nach dem
Rücktritt Gerhard Schröders war:
Parteiflügel zerstreiten sich über
ler, den eine Gewerkschaft als Ein- ein Bruder Mathematikprofessor in den, bleiben Wirtschaftsreformen und linke Iden-
satzzentrale zur Verfügung gestellt Zürich. tität, die Umfragewerte sind zeitwei-
hat, füllt ein Formular aus – und Sie bezeichnet sich als bisexuell, die Rechten se auf unter 20 Prozent gestürzt, An-
schon ist sie im Wahlkampfteam von wohnt mit einer Frau zusammen, 20 Jahre an zugträger mittleren Alters lösen sich
Barack Obama. spielt Klavier und E-Gitarre. Auftrit- in schneller Folge als Vorsitzende ab.
Die Studentin aus Bologna hängt te absolviert sie häufig in Jeans und
der Macht.« Selbst nach dem Wahldesaster vom
sich ans Telefon, um Menschen für den Turnschuhen, auf ihrem Profilfoto auf Pier Luigi Bersani, vorigen September, das Meloni die
Präsidentschaftskandidaten zu begeis- Twitter posiert sie in schwarzer Le- ehemaliger Chef der Macht bescherte, machte sich wieder
Sozialdemokraten
tern. Sie organisiert Fahrgemeinschaf- derjacke. »Eine Armee von Hassern ein Parteisoldat daran, die PD-Füh-
ten für den Haustürwahlkampf und hat sich in Gang gesetzt«, sagte sie rung zu übernehmen.
erlebt, wie soziale Medien die Politik kürzlich, die ihre Nase und ihren Vielleicht hat es deshalb kaum je-
verändern. Es ist das Jahr 2008, eine Nachnamen betrachteten und ihrem mand ernst genommen, als Schlein
Zeit, in der eine andere Welt möglich Antisemitismus freien Lauf ließen. im November mit einem Instagram-
scheint, Hope und Change lauten die Schlein unterscheidet sich nicht nur Video ihre Kandidatur für den Vorsitz
Schlüsselbegriffe, Hoffnung und Wan- in ihrem Lebensentwurf diametral von ankündigte. Nach all den Anzugträ-
del. Schlein saugt alles begierig auf. der Regierungschefin, sondern auch in gern kam plötzlich Elly, wie sie fast
»Ich wollte die Wahlnacht nicht auf ihren politischen Methoden. Während überall genannt wird. Sie gilt vielen
der anderen Seite des Ozeans auf dem Meloni ihre Fratelli d’Italia komplett als Nervensäge: eine junge Aktivistin,
Sofa verbringen«, wird sie später be- auf sich ausgerichtet hat, setzt Schlein die die Partei zwischenzeitlich sogar
richten, »ich wollte meinen kleinen auf »grassroot campaigning«. Also nah frustriert verlassen hatte.
Beitrag leisten.« an der Basis, immer im Austausch. So Ginge es nach dem Willen der Par-
15 Jahre danach ist Elly Schlein wie sie es im Praktikum bei Obama tei, hätte sie keine Chance gehabt.
selbst zur Hoffnungsträgerin gewor- gelernt hat. Nur ein Drittel der PD-Mitglieder
den. Seit Anfang März ist die 38-Jäh- Die interessante Frage dürfte nun stimmte bei einem internen Votum
rige neue Parteichefin der italieni- also lauten: Welcher Politikerinnen- für Schlein. Doch die italienische So-
schen Sozialdemokraten, des Partito typus wird die Italienerinnen und Ita- zialdemokratie wählt ihre Führung
Democratico (PD) – und damit die liener überzeugen, von wem werden nach dem Primary-Vorbild der USA:
bedeutendste Widersacherin von Pre- sie sich leiten lassen wollen: Von Alle Italienerinnen und Italiener, auch
mierministerin Giorgia Meloni. Ita- Giorgia Meloni, der nur nach außen ohne Parteibuch, dürfen abstimmen.
lien erlebt eine Zäsur in der männer- gemäßigt wirkenden Postfaschistin, Schlein organisierte ihre Kam-
dominierten Politik: Zwei Frauen die den humanitären Schutz von Mi- pagne im Obama-Stil und nutzte die
beherrschen nun die politische Büh- granten in Italien abschaffen und die sozialen Medien. Sie versprach »cam-
ne, die eine als Ministerpräsidentin, Rechte von Regenbogenfamilien Ministerpräsidentin biamento« und »speranza«, also Wan-
die andere als Oppositionsführerin. beschneiden will und deren Partei- Meloni: Die Nationa- del und Hoffnung, wie damals ihr
listin inszeniert sich
Die beiden Antagonistinnen könn- freunde den Gebrauch englischer als Frau aus dem US-Idol. Die Kandidatin und ihr Team
ten unterschiedlicher kaum sein. Da Wörter in italienischen Behörden mit Volk, als Christin und sammelten an der Basis Ideen, fragten
ist Giorgia Meloni, die sich als Frau bis zu 100.000 Euro unter Strafe stel- Mutter nach Ängsten und Wünschen. Daraus
aus dem Volk inszeniert, als Mutter, len wollen? entstand ein Programm, das die Partei
Christin und Beschützerin der tradi- Oder von Elly Schlein, der Anti- nach links rücken soll: gegen Ausbeu-
M. Scrobogna / ZUMA Press / picture alliance

tionellen Familie. Als Underdog, wie Meloni, die sich fürs Prekariat, die tung, für ökologischen Wandel und
sie selbst sagt, die sich als Kellnerin Rechte von Migranten und die Ehe den Schutz von Minderheiten. »Auf
und Barkeeperin nach oben gearbei- für alle stark macht sowie den Klima- meiner Reise von Süd nach Nord hat-
tet hat. Als rechte Nationalistin, die notstand mit größter Dringlichkeit te ich oft das Gefühl, dass wir seit Lan-
Italien gegen Migranten sowie gegen angehen will, alles im Widerspruch gem erwartet wurden«, schrieb sie auf
Berlin, Brüssel, Paris verteidigen will. zu Meloni? Das Duell der Frauen Facebook am Ende ihrer Kampagne.
Und da ist jetzt Elena Ethel Schlein, dürfte die italienische Politik noch Jetzt gehe es darum, Partei und Land
genannt Elly. Die Juristin hat einen lange beschäftigen. grundlegend zu verändern.
italienischen, einen amerikanischen Einen Stimmungstest gibt es bei Am 26. Februar gewann sie die
und einen Schweizer Pass. Bis zum den Kommunalwahlen, die Mitte Mai Abstimmung mit 53,75 Prozent.

82 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


AUSLAND

und sprachlos wirkende italienische Linke neu


erfinden. Schlein habe »sofort den Kontakt
zu uns gesucht – und ihn bis heute gehalten«,
sagt Santori.
Ihretwegen sei er in den Partito Democra-
tico und den erweiterten Parteivorstand ein-
getreten. Er schwärmt von einer feministi-
schen, pluralistischen, linken Politik, die end-
lich möglich sei. Aus seiner Sicht war es
höchste Zeit. Während der Pandemie habe
sich die Partei abgeschottet und den Kontakt
zu den sie tragenden Milieus verloren. Zu-
gleich bedeutete die Pandemie das Aus für
den Protest: »Wir waren wie Fische, die auf
hoher See die Orientierung verloren haben.
Wir brauchten einen neuen Hafen.«
Doch es gibt auch Zweifler und Kritiker,
sie organisieren ihren Widerstand gegen den
Linkstrend und beklagen in Zeitungsartikeln
politische Korrektheit und einen »Rückzug«
in identitätspolitische Debatten. Mehrere Ab-
geordnete haben die Partei in den vergange-
nen Wochen bereits aus Protest gegen die
neue Vorsitzende verlassen.
In ihrem Duell, so die Sorge, rücken die
beiden führenden Frauen das Land immer
weiter an die Ränder, während in der Mitte
eine immer größere Lücke klafft. Die Folgen:
noch weniger Kompromisse, noch mehr Pola-
risierung und Kulturkämpfe wie in den USA.
»Hier auf der Straße können wir jede be-
liebige Person ansprechen. Alle wissen, dass
wir gegen Diskriminierung sind. Aber keiner
weiß, wer ihr Gehalt und ihre soziale Ab-
sicherung verteidigt«, sagt Pier Luigi Bersani.
Isabella De Maddalena / opale.photo / laif

Der 71-Jährige ist für viele Linke bis heute ein


Idol. Seine Ära als Parteivorsitzender vor gut
zehn Jahren gilt ihnen als Blütezeit der Sozial-
demokratie – bevor Matteo Renzi als PD-
Chef und Premier einen neoliberalen Kurs
durchsetzte und die alten Ideale entsorgte;
bevor sich die Mitgliederzahl der Partei de-
zimierte und frustrierte Wähler nach rechts
abdrifteten.
Sozialdemokratin Schlein: »Ich hatte das Gefühl, dass wir seit Langem erwartet wurden«
»Die Rechte ist tief in die Gesellschaft ein-
gedrungen, während sich die Linke zuletzt
Mehr als eine Million Menschen beteiligten zu nett, zu moderat, zu mittig, um die eigenen mit ihrem Einsatz für Minderheitenrechte
sich. Leute zu begeistern und Meloni-Fans zur marginalisierte. Das ist das Problem«, sagt er.
Etwa zwei Monate später steigt Schlein an Weißglut zu bringen. Schlein wirft sich ohne Bersani hatte den PD 2017 im Streit mit Ren-
einem Dienstagabend in Rom hinter den Säu- Zögern in die gnadenlose Polarisierung der zi verlassen. Jetzt will er Schlein dabei unter-
len eines zerstörten antiken Tempels als Gast italienischen Politik hinein. stützen, die zerstrittene Opposition zusam-
der Friedrich-Ebert-Stiftung aufs Podium, im Sie geißelt den »Rechtsruck« im Land und menzubringen, von der linkspopulistischen
Publikum sitzt die gesammelte Sozialdemo- warnt davor, »sich der nationalistischen Rhe- Fünf-Sterne-Bewegung bis zu Reformparteien
kratie der Stadt: der Bürgermeister, ehema- torik zu ergeben«. Meloni habe »seit Jahren im Zentrum. Die Sozialdemokraten sollten
lige PD-Minister, Senatoren und Gewerk- in Europa die falschen Freunde gewählt«, sagt sich in einem geeinten Mitte-links-Lager mit
schaftsbosse. Viele sind neugierig, wie die sie, Leute, die auf ein Scheitern des europäi- prekären Löhnen und dem maroden Gesund-
Ex-Aktivistin als Parteichefin wirkt. schen Projekts hofften. Deshalb sei die Mi- heitssystem beschäftigen, findet er.
Auch der ehemalige SPD-Chef Martin nisterpräsidentin in Brüssel nun »isoliert«. Die Erwartungen sind groß, vielleicht zu
Schulz ist gekommen. Auf der Bühne feiert er Mattia Santori, 34, lernte Elly Schlein vor groß für eine Vorsitzende, die von der eigenen
Schlein schon als künftige Ministerpräsidentin. etwa vier Jahren kennen. Der Ökonom grün- Partei nicht wirklich gewollt war. Sie muss
Er hoffe, »dass sie dann eine tiefe Freundschaft dete 2019 mit ein paar Freundinnen und nun gleichzeitig den alten Parteiapparat für
mit Olaf Scholz eingeht und dass diese Freund- Freunden eine Protestgruppe in Bologna, die sich gewinnen und die junge Protestkultur,
schaft möglichst zehn Jahre hält«  – damit sich Sardinen nannte und gegen den dama- der sie ihren Aufstieg verdankt, bei Laune
Europa nicht von Leuten wie Meloni, Viktor ligen und heutigen stellvertretenden Minis- halten. Es steht viel auf dem Spiel, nicht nur
Orbán und Marine LePen dominiert werde. terpräsidenten Matteo Salvini und dessen für sie. »Wenn die Linken jetzt nicht zusam-
Als Schlein antwortet, wird schnell deut- Flüchtlingspolitik richtete. Bald strömten menfinden«, sagt Bersani, »bleiben die Rech-
lich, was sie von ihrem Vorgänger unterschei- Hunderttausende Gleichgesinnte auf Italiens ten 20 Jahre an der Macht.«
det. Der bisherige PD-Chef Enrico Letta war Plätze. Es schien, als würde sich die gelähmt Frank Hornig n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 83


AUSLAND

Mehr als 60 Jahre lang hat der


SPIEGEL die Laufbahn dieses unge­
wöhnlichen Mannes kritisch beglei­
tet, sieben Titelgeschichten über ihn
veröffentlicht, zwölf Gespräche mit
ihm geführt und Dutzende von Ana­
lysen und Kommentaren gedruckt.
Auszüge aus seinen Büchern einge­
schlossen, umfassen die Kissinger­
Texte mehrere Hundert Seiten.
Dass Kissinger so oft mit deut­
schen Medien sprach, hat zunächst
mit seiner Herkunft zu tun. Er kam
am 27. Mai 1923 als Sohn jüdischer
Eltern im bayerischen Fürth zur Welt.
Nach einer behüteten, seit Hitlers
Machtübernahme aber vom wachsen­
den Antisemitismus bedrohten Kind­
heit wanderte er 1938 mit seiner Fa­
milie in die USA aus. Viele seiner
Verwandten wurden ermordet.
Als Soldat der US­Armee kehrte
Kissinger 1944 nach Deutschland zu­
rück, ein Land, das ihn trotz der Tra­
gödie seiner Familie weiterhin prägte.
Bis heute klingt in seinem Deutsch –
und seinem Englisch – der fränkische
Dialekt seiner Kindheit durch, bis
heute stapeln sich deutsche Zeitschrif­
ten und Neuerscheinungen im Entree
seines Hauses in Connecticut.
Vor allem aber hat Kissingers Ver­
hältnis zum SPI EGEL mit dessen
Gründer Rudolf Augstein zu tun.
Auch dieser, 2002 verstorben, war
George Etheredge
1923 zur Welt gekommen und wäre
im November 100 Jahre alt gewor­
den. Augsteins frühe Prägungen – ka­
tholisches Elternhaus, Kriegsabitur,
drei Jahre an der Ostfront – unter­
schieden sich drastisch von denen
Kissingers. Ihr Temperament und ihr

»Dear Henry …« profundes Interesse an Politik und


Geschichte aber legten die Grundlage
für eine Beziehung, die zugleich von
»intellektuellem Kampf« (Kissinger)
LEGENDEN Henry Kissinger wird 100. Fast 65 Jahre lang hat der SPIEGEL die und großer gegenseitiger Wertschät­
zung gezeichnet war.
Laufbahn des früheren US-Außenministers kritisch begleitet – Sie begann, soweit die Quellen Aus­
am kritischsten sein Freund, der SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein. kunft geben, 1959 mit dem Besuch des
35­jährigen Kissinger in der SPIEGEL­
Redaktion und dem Gespräch, an das
ls Henry Kissinger dem SPIEGEL sagte er beiläufig, »das dann unter er sich noch 63 Jahre später erinnerte.
A im vergangenen Sommer sein
bislang letztes Interview gab,
war er 99 Jahre alt. Er saß auf der
dem Titel ›Mit Panzern nach Berlin‹
erschien.« Das war 1959, zwei Jahre
vor dem Mauerbau.
Kissinger hatte ein umstrittenes Buch
geschrieben, das ihn als »Atomkriegs­
Theoretiker« (SPIEGEL) etablierte.
Veranda seines Hauses in Connecti­ Am Samstag begeht Kissinger sei­ Seine These: Das damals geltende
cut, alle paar Minuten kam seine La­ nen 100. Geburtstag. »Kein Leben­ Prinzip der »massiven Vergeltung« sei
bradorhündin vorbei und drückte sich der«, schreibt der britische »Econo­ zu starr. Amerika könne sehr wohl
an sein Knie. Kissinger sprach, ent­ mist«, mit dem er vergangene Woche lokal begrenzte Kriege führen, um den
spannt und ohne Unterbrechung, sprach, »hat mehr Erfahrung in den Einfluss der Sowjetunion zurück­
vom Nachmittag bis in den Sonnen­ internationalen Beziehungen, als zudrängen – auch mit taktischen
untergang – über Wladimir Putin und Gelehrter, als Amerikas nationaler Atomwaffen.
Russlands Überfall auf die Ukraine, Sicherheitsberater und Außenmi­ Schauplatz eines solchen »be­
über Atomwaffen und künstliche In­ nister und seit 46 Jahren als Ratgeber Ex-Diplomat grenzten Krieges« wäre Ende der
Kissinger in seinem
telligenz, über Nikita Chruschtschow und Gesandter, der Monarchen, Haus in Connecticut:
Fünfzigerjahre vermutlich Deutsch­
und den Kalten Krieg. »Ihr habt ein­ Präsidenten und Ministerpräsiden­ Ein Leben, wie es land gewesen – ein Gedanke, der
mal ein Interview mit mir gemacht«, ten traf.« wenige gab Rudolf Augstein unheimlich war.

84 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


AUSLAND

Noch Jahre später bezeichnete er den frühen ges, über die Kissinger im Bilde war, ja die er darauffolgenden Ausgabe aber auch Augsteins
Kissinger als einen »deutschen Professor Selt- billigte: massive US-Bombenkampagnen Antwort: »Dear Henry«, schrieb er, »in Ihrem
sam, der lehrte, die Bombe zu lieben« und gegen Vietcong-Stellungen im Nachbarland Innersten wussten Sie, dass der Einfall nach
geißelte Amerikas »Verniedlichung von Kambodscha, die viele zivile Opfer forderten, Kambodscha nicht hätte sein dürfen.« Ame-
Atombomben zu Atombömbchen«. (Das Ge- das Land destabilisierten und schließlich in rikas Krieg sei »unmoralisch, weil unverhält-
rücht, Kissinger sei tatsächlich das reale Vor- einen verheerenden Bürgerkrieg stürzten. nismäßig« gewesen. Ein harter Vorwurf gegen
bild des irren Nuklearwissenschaftlers »Dr. Dass Kissinger diese Bombardements mit einen Mann, der 1973 für seine Vietnamver-
Strangelove« in Stanley Kubricks gleichna- den zynisch klingenden Operationsnamen handlungen den Friedensnobelpreis akzep-
miger »Kalter Krieg«-Satire gewesen, wurde »Breakfast«, »Lunch« und »Snack« recht- tiert hatte. (Kissingers ebenfalls ausgezeich-
nie erhärtet.) fertigte, stieß Rudolf Augstein ab. Kissinger neter Verhandlungspartner Le Duc Tho hatte
Zugleich erkannte Augstein früh das intel- habe in diesem Einsatz »kein Problem der den Preis nicht angenommen.)
lektuelle Kaliber des jungen Harvard-Profes- Moral« gesehen, zitierte er und kommentier- Diese Bewertung des Vietnamkrieges be-
sors, hob gleich das erste Interview mit ihm te: »Der Zweck heiligte die Mittel.« Noch lastete das Verhältnis, führte aber nicht zum
auf den Titel und führte eine vier Jahrzehnte 1979, anlässlich des Vorabdrucks von Kissin- Bruch. Augstein ging nie so weit wie sein US-
währende Korrespondenz mit Kissinger, die gers Memoiren, beklagte Augstein »blinde Kollege Seymour Hersh und andere, Kissinger
am Ende drei Ordner füllte. und dunkle Flecken« in diesem »staunens- einen Kriegsverbrecher zu nennen. Doch des-
Erst 1967, acht Jahre nach Kissingers ers- werten Buch«. Und stellte die Frage, »ob Kis- sen Anteil an den Geheimoperationen der
tem SPIEGEL -Interview, lernte der US-Poli- singer den Tod und das unsägliche Elend der Nixon-Regierung blieb ein kontroverses The-
tiker Richard Nixon den Professor aus Har- Kambodschaner, sei es durch halbherzige An- ma in künftigen SPIEGEL -Gesprächen. Noch
vard kennen. Es war eine schicksalhafte Be- passung an die Wünsche Nixons, sei es aus im Alter von 99 Jahren reagierte Kissinger im
gegnung, denn im Jahr darauf gewann Nixon fehlsamer Einschätzung, mitverschuldet hat«. vergangenen Sommer empfindlich, als die
die Präsidentschaftswahl und ernannte Kis- Kissinger antwortete mit einem persönli- Sprache auf Kambodscha kam.
singer zu seinem Sicherheitsberater. Damit chen Brief: »Dear Rudolf! Ihren Artikel habe Für Augstein überwogen am Ende Kissin-
begann die turbulenteste und folgenreichste ich als einseitig und tendenziös empfunden«, gers Verdienste seine möglichen Fehler bei
Phase in Kissingers Karriere. Der SPIEGEL schrieb er. Die Behauptung, Amerika sei Weitem. Den Kernpunkt seiner Anerkennung
war nahe dran: Am Tag von Nixons Vereidi- schuld an Kambodschas Tragödie, übersteige hat er vielleicht in einem Satz versteckt, den
gung, dem 20. Januar 1969, erschien das zwei- »alle Grenzen von Logik oder Anstand«. Der er 1976 in einem Kommentar zu Kissingers
te große Gespräch mit Kissinger. SPIEGEL druckte Kissingers Brief ab, in der Abschied als Außenminister schrieb: »Die
Nur am Rande kam darin eines der Länder Deutschen haben in dem von Hitler vertrie-
vor, die heute am engsten mit Kissingers Na- Kissinger und der SPIEGEL benen Henry Kissinger einen Weltaußen-
men verknüpft sind: China. minister erlebt, der ohne Ressentiment war.«
Nixon hatte schon seit Jahren erwogen,
Augstein (2. v. r.), Kissinger (M.) bei Der frühere Wehrmachtssoldat Augstein
Verbindungen mit dem isolierten China auf- Redaktionsbesuch 1978; Kissinger-Titel konnte ermessen, was das bedeutete.
zunehmen, um das damals mit Peking ver- Im selben Text findet sich aber auch eine
feindete Moskau zu Abrüstungsverhandlun- Beobachtung, die den »Realpolitiker« Kissin-
gen zu drängen und so den Kalten Krieg zu ger und seine Einschätzungen zur Weltlage
entschärfen. Doch es war Kissinger, der diesen bis heute besser verstehen lassen: Für Kissin-
Plan umsetzen sollte. Im Sommer 1971 brach ger, schrieb Augstein, sei die Welt ȟberzogen
er im Schutz der Dunkelheit, mit Hut und von einem System von Zentralen, in denen
Sonnenbrille getarnt, von Pakistan aus zu Staatsmänner einander Signale« geben. »Dass
einem Geheimtrip nach Peking auf, um die die Macht dieser Signalgeber innenpolitisch
erste Chinareise eines amtierenden US-Prä- definiert und demgemäß schwankend« ist,
Monika Zucht

sidenten vorzubereiten. wisse Kissinger »nur mit dem Kopf«.


Der Plan ging auf und gilt heute als eine Kissinger beschrieb Augstein 2002 in sei-
der kühnsten diplomatischen Missionen des nem Nachruf als einen »Moralisten und glü-
20. Jahrhunderts. Nicht nur US-Medien wa- henden Patrioten«, der »in einer Periode der
ren beeindruckt, auch der SPIEGEL : »Kissin- deutschen Geschichte aufgewachsen war, die
gers Clou«, »Unternehmen Kissinger«, »Hen- ihn beschämte«. Moral sei für Augstein aber
ry Kissinger Superstar« lauteten einige der etwas Konkretes gewesen; »abstrakte Äuße-
Überschriften, die den Erfolg von Nixons rungen moralischer Gewissheiten« seien ihm
Chinareise eher ihrem Organisator als ihrem »unpassend« erschienen.
Erfinder zuschrieben. Selbst der instinktiv Man wüsste gern, was Rudolf Augstein
kritische Rudolf Augstein erkannte Kissingers heute über Russlands Angriffskrieg gegen die
Leistung als »Herkulestat« an – ebenso wie Ukraine denken würde. Wäre er ein »Real-
dessen Pendeldiplomatie, mit der er nach sei- politiker« wie Kissinger, der sich anfangs für
ner Ernennung zum Außenminister 1973 im einen schnellen Waffenstillstand aussprach,
aufgewühlten Nahen Osten vermittelte. nun aber auch für einen Nato-Beitritt der
China und der Nahe Osten waren nur zwei Ukraine ist, um ein neues Gleichgewicht der
der Hauptschauplätze des Diplomaten Kis- Kräfte in Osteuropa zu schaffen?
singer. Ein dritter war Vietnam. Gut zehn Jahre vor Augsteins Tod bot Kis-
Auch da hatte Kissinger vielversprechend singer ihm das deutsche »Du« an, worüber
begonnen: Er knüpfte Gesprächskontakte zur sich Augstein freute und tags darauf Kissingers
Führung des kommunistischen Nordvietnam – Frau Nancy einen Brief schrieb. »P.S.«, fügte
mit dem Ziel, Amerikas Rückzug aus einem er an: »Henry und ich haben realisiert, dass
aussichtslos gewordenen Krieg einzuleiten. ich ihn zumindest in einer Hinsicht nie werde
Diese Diplomatie ging aber einher mit überholen können: Er wird immer eine ganze
einer erst Jahre später in ihren Einzelheiten Reihe von Tagen älter sein als ich.«
bekannt gewordenen Ausweitung des Krie- Bernhard Zand n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 85


Jetzt mitmachen beim Wettbewerb 2023!
Illustration: Kati Szilagyi / DER SPIEGEL

WORUM GEHT ES? WIE LÄUFT DER WETTBEWERB AB?


Wir stehen vor großen Herausforderungen: soziale Spaltung, Eine Jury wählt die besten Ideen aus, die Leserinnen und Leser
Klimakatastrophe, Ukrainekrieg. Umso wichtiger ist, dass auf SPIEGEL.de können ab Ende September 2023 daraus ihren
wir alle füreinander da sind. Deshalb werden Projekte gesucht, Favoriten wählen. Die Gewinner geben wir am 7. November
die unsere Gemeinschaft stärken. 2023 in SPIEGEL WISSEN 2/2023 und auf SPIEGEL.de bekannt.

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Tennis-Topstars

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Carlos Alcaraz im Vergleich zu den Big Three des Profitennis im Alter von jeweils 20 Jahren

Carlos Rafael Roger Novak


Alcaraz Nadal Federer Djoković
Djokovi

9 Titel 16 1 5
davon Grand-
1 Slam-Titel 1 0 0

Alter beim Erreichen der Spitze der Weltrangliste


19 Jahre 20 21 22 23
19 24
Jahre alt war Carlos Alcaraz, als
er Erster wurde – 16 Monate
nach seiner Volljährigkeit.

S Quelle: ATP


Der Spanier Carlos Alcaraz geht als Favorit in die French Open. In Abwesenheit des verletzten Rafael Nadal, der 14-mal in Paris erfolgreich war,
will Alcaraz den zweiten Grand-Slam-Titel seiner Karriere gewinnen. Im Vergleich zu Nadal, Roger Federer und Novak Djoković – den
dominierenden Tennisspielern der vergangenen 20 Jahre – wirkt der Spanier für sein Alter sehr reif. Djoković beispielsweise war 24, als er zum
ersten Mal als Weltranglistenerster ins Turnier ging. Alcaraz ist vor wenigen Tagen 20 Jahre alt geworden.

GUT ZU WISSEN Ranglistenplätze im Schach an- rung der Elo-Zahl zusätzlich


hand der Elo-Zahl, mit der erschwert.
Spielen Frauen schlechter die Leistungsstärke aller Spie-
lerinnen und Spieler gemessen
Pähtz bestätigt die Annah-
me des Mathematikers. »Es
Schach als Männer? wird. Siege gegen besser be-
wertete Spieler lassen die Elo-
ist logisch, dass eine größere
Gruppe mit größerer Wahr-
Zahl steigen. Da Frauen bei scheinlichkeit bessere Leistun-
Seit 1886 werden im Schach schen Schachspielern und Turnieren oft nur gegeneinan- gen hervorbringt als eine klei-
Weltmeisterschaften ausgetra- Schachspielerinnen. Dabei tre- der spielen (und auf der Rang- nere«, sagte die Großmeisterin
gen. Bisher gab es 17 verschie- te ein Effekt ein, der die deut- liste meist hintere Plätze ein- in einem SPIEGEL -Interview.
dene Weltmeister, darunter lich größere Gruppe begünsti- nehmen), wird die Verbesse- Gleichzeitig macht sie auf ein
keine einzige Frau. Und in der ge. Wenn zehnmal so viele weiteres Problem aufmerksam:
Weltrangliste, die Frauen eben- Männer wie Frauen Schach Wenn Jungs und Mädchen
so wie Männer umfasst, hat es spielen, sei es statistisch erwie- gleich gefördert würden, dann
mit der Ungarin Judit Polgár sen, dass die »extremen Posi- würde auch eine Frau mal an
bisher erst eine Spielerin in die tionen« – also die besten und der Spitze stehen.
Top Ten geschafft. Haben die schlechtesten Ergebnisse – Hesse vergleicht diese Un-
Frauen weniger Schachtalent? von Männern erreicht würden. gleichheit mit der Lage in sei-
Christian Hesse, Mathema- Der Deutsche Schachbund nem Forschungsgebiet. »Junge
tiker an der Universität Stutt- weist für dieses Jahr 89.400 Mädchen werden sowohl im
gart, widerspricht. »Im Durch- Mitglieder aus. Davon sind Schach als auch in der Mathe-
Paulina Hildesheim / laif

schnitt haben Frauen dieselben 8297 weiblich. In der deut- matik nicht genügend von
Schachfähigkeiten wie Män- schen Rangliste liegt Vincent ihrem Umfeld gefördert«, sagt
ner«, sagt er. Hesse begründet Keymer an der Spitze. Die bes- er. Es sei durch viele Studien
das mit der Gaußschen Nor- te deutsche Schachspielerin, widerlegt, dass Mädchen für
malverteilung: In Deutschland Elisabeth Pähtz, belegt Posi- Mathematik weniger befähigt
gebe es ein 10:1-Verhältnis zwi- tion 58. Errechnet werden Schachspielerin Pähtz sein sollen als Jungen. KRÄ

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 87


SPORT

Das Beispiel Musiala


Jamal Musiala ist erst 20 Jahre alt und schon Stammspieler beim FC Bayern und der
Nationalmannschaft. Dem Ausnahmetalent wird eine große Karriere vorausgesagt.
Ein KI-Modell macht Musiala zum gläsernen Spieler, abgebildet sind verschiedene
Parameter. Das Modell prognostiziert zudem, dass sich Musiala nicht steigern
werde, trotz seines Alters. Ist die KI schlauer als der Mensch?

Positionen von Musialas Ballaktionen

Gegnerisches Tor

Eigenes Tor

Musialas KI-Score im Vergleich zu allen Spielern auf seiner Position


in den Vereinen der 1. und 2. Bundesliga

2. Bundesliga Bundesliga
FC Bayern
6000 Jamal Musiala

5000

4000

3000

2000

Maximum FC Bayern
Maximum Bundesliga
Durchschnitt FC Bayern
Minimum FC Bayern
Jamal Musiala
Durchschnitt Bundesliga
Minimum Bundesliga
0 2000 4000 6000

Die Grafiken wurden aus dem Dashboard von


Plaier übernommen und vom SPIEGEL übersetzt.
S Quelle: Plaier

88 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


SPORT

Ich sehe was, was du


FUSSBALL
nicht siehst
Künstliche Intelligenz erreicht die Profiligen. Start-ups versprechen die Revolution
des Scoutings. Ist das die Zukunft? Oder Hokuspokus?

in Besprechungsraum im Verlagshaus zweiten englischen Liga zum BVB, im Som- Gelingt dem Spieler, was er auf dem Platz
E des SPIEGEL , März 2023: Tim Schröder
lässt die Jalousien herunter und klappt
seinen Laptop auf, er ist nach Hamburg
mer wird er vermutlich für deutlich mehr als
100 Millionen Euro Ablöse wechseln.
Eine kluge Transferstrategie entscheidet
versucht? Wie viele dieser gelungenen Aktio-
nen bringt er zustande? Wie schneidet er im
Vergleich zu seinen Mitspielern ab? Wie wert-
gekommen, weil er an diesem Nachmittag über Millioneneinnahmen. Sie kann damit voll ein angekommener Pass im Vergleich zu
die Zukunft des Fußballs präsentieren will. zum ausschlaggebenden Faktor werden, wenn einem Ballgewinn ist, entscheidet die KI
Über den Monitor flimmern Daten und Gra- es um Sieg oder Niederlage geht, um Europa- eigenständig. Schließlich analysiert sie, wie
fiken zu Profikickern. Ein Streudiagramm cup oder Abstiegskampf. sich die Daten eines Spielers über vergangene
verrät, ob ein Spieler genug Talent für die Und so wächst das Interesse der Fußball- Saisons hinweg entwickelt haben, und trifft
Bundesliga hat oder doch nur für Liga zwei. branche an datenbasiertem Scouting; immer anhand dessen Prognosen über die Zukunft.
Über dem Diagramm stehen zwei Zahlen: mehr Unternehmen wollen daraus ein Ge- So misst sie das Potenzial eines Fußballers.
ein »Score«, der besagt, wie gut der Spieler schäft machen. Sie heißen StatsBomb oder Die Ergebnisse sind teils verblüffend.
im weltweiten Vergleich ist, und die Summe, GoalImpact, einige Firmen liefern, was sie »Diese Musiala-Geschichte liegt mir quer
die ein Verein für ihn als Ablöse überweisen versprechen, andere glänzen vor allem beim im Magen«, sagt Wendt, als es um die Zukunft
sollte. Wichtigtun. Big Data, Deep Learning und KI, des womöglich größten Talents im deutschen
Die Zahlen sind nicht von Trainern oder das alles klingt so schön nach Zukunft und Fußball geht. An seinem Beispiel verdeutlicht
Scouts, von Beratern oder Sportdirektoren lässt sich verkaufen. Wendt, wie unterschiedlich KI und Mensch
erstellt worden, sondern von einer künstli- Aber wie sehr ist den Daten zu trauen? auf denselben Spieler schauen.
chen Intelligenz, die das Transfergeschäft re- Und sind sie wirklich besser als das Auge Musiala, 20, dribbelte bei der WM in Ka-
volutionieren wird. Das jedenfalls behaupten menschlicher Fußballkenner? tar Gegenspieler schwindelig. Er gilt als die
die Männer hinter den Zahlen und Grafiken. Als Wendt und Schröder von Plaier dem Offensivhoffnung der deutschen National-
Sie heißen Jan Wendt und Tim Schröder, kei- SPIEGEL ihr System vorstellen, zeigen sie mannschaft und des FC Bayern München,
ner der beiden kommt aus dem Profifußball. Informationen zur aktuellen Leistungsfähig- Marktwert: mehr als 100 Millionen Euro.
Wendt, 56, arbeitete im Sportmarketing und keit eines Spielers: im Vergleich zum Team, Bundestrainer Hansi Flick schwärmte, es sei
befasste sich dort vor allem mit Motorsport, das sich für diesen Spieler interessiert, aber »ein Genuss, ihn spielen zu sehen«.
Schröder, 49, war in der IT-Branche tätig. auch im Vergleich zu sämtlichen Fußballern »Musiala spielt auf einem extrem hohen
Die beiden sind Mitgründer von Plaier, weltweit, die auf derselben Position spielen. Niveau«, sagt Wendt, das zu betonen ist ihm
einer neuen Onlineplattform für Fußball- Das Modell sagt, wie sich der Spieler in den wichtig. Aber: »Er wird sich nicht mehr stei-
klubs. Das »ai« in der Wortmitte steht für kommenden Jahren entwickeln wird. gern.« Über den Zeitraum, der sich daten-
»artificial intelligence«, künstliche Intelligenz. Sollten solche Prognosen korrekt sein, wä- mäßig erfassen lässt, habe Musiala im Ver-
»Wer mit Plaier arbeitet, muss bei Transfers ren sie für Fußballvereine wie Berateragen- gleich zu anderen Spielern enorme Schritte
nie wieder allein auf die Fähigkeit der eigenen turen Millionen wert. Für das Transferge- gemacht. Er entwickle sich aber nicht im sel-
Scouts bauen«, sagt Wendt. schäft käme das einer Revolution gleich. ben Tempo weiter. Musiala stagniere. Sein
Die KI bewertet Fußballer ausschließlich Stark vereinfacht, basiert Plaier auf Fuß- Potenzial sei ausgeschöpft, schon heute, mit
auf Basis von Daten: Jedes Kopfballduell, balldaten, die das Unternehmen weltweit ein- 20 Jahren. Sagt die KI.
jeder Pass, alles, was auf dem Rasen geschieht, kauft: von der Bundesliga über die indonesi- Dass Musiala bereits seinen Zenit erreicht
fließt in die Bewertung ein. Die KI, sagt Schrö- sche erste Liga bis hinunter zum Jugendfuß- haben könnte, sagt Wendt, sei kontraintuitiv.
der, analysiere den Kader eines Klubs, identi- ball. Mit diesen Daten wird die KI gefüttert. Einer der besten deutschen Spieler? Und
fiziere die Schwachstellen und unterbreite Zu Beginn wurden ihr einige Regeln erklärt: kaum Potenzial, besser zu werden?
Empfehlungen, wie sie beseitigt werden kön- dass ein Tor besser ist als ein Fehlschuss oder Er verstehe, dass dies skeptisch mache, sagt
nen. Ein Verein sucht einen neuen Stürmer. dass ein gewonnener Zweikampf besser ist Wendt. Eigentlich verbessern sich Talente,
Wozu, fragt die KI, der Sturm ist gut genug als ein verlorener. Dann erkennt die KI Zu- wenn sie Erfahrung sammeln. Sein Vertrauen
besetzt; in Wahrheit benötigt der Verein einen sammenhänge und trifft Aussagen über die in die KI kann das aber nicht erschüttern.
Linksverteidiger. Hier sind 20 Vorschläge. Qualität von Fußballern. Dreieinhalb Jahre hat die Entwicklung von
Fußballtransfers sind ein Milliardenge- Plaier gedauert. Wie teuer sie war, will Wendt
schäft. Laut Weltverband Fifa gaben die Klubs nicht verraten.
im Jahr 2022 weltweit umgerechnet rund Die KI soll ein grundlegendes Problem der
MAGICS / action press

sechs Milliarden Euro für Ablösesummen aus. Fußballbranche lösen. Während früher kaum
Vereine wie Borussia Dortmund machen Ge- »Jamal Musiala wird Informationen zu Spielern aus dem Ausland
winne, indem sie Spieler günstig ein- und teu- existierten, werden Vereine inzwischen von
er verkaufen. Das Toptalent Jude Bellingham, sich nicht mehr steigern.« Daten regelrecht überschwemmt. Die Ver-
19, kam 2020 für 25 Millionen Euro aus der Jan Wendt, Plaier-Mitgründer messung des Fußballs hat längst begonnen,

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 89


SPORT

»Es gibt im Profifußball große Skepsis


gegenüber Veränderungen und neuen Tech­
nologien«, sagt Schröder. Der Weg in den
Fußball sei für Außenstehende lange verrie­
gelt gewesen. Gerade das Scouting galt über
Jahre als Domäne von Ex­Profis.
Einige Monate nach dem Videocall, sagt
Wendt, habe sich der Manager, der ihnen die
zehn Talente zur Begutachtung vorgelegt
hatte, noch einmal gemeldet. Der Spieler, den
er gekauft habe, gab er zu, habe schlechter
performt als erwartet. Die KI lag offenbar
richtig.
Öffentlich sprechen über das Thema Daten
und Scouting wollen nur wenige. Jemand, der
selbst als Bundesligascout arbeitet, aber nicht
namentlich zitiert werden möchte, sagt, dass
allerdings jeder Erstligist Geld für smarte
Daten ausgebe. »Man kauft sie ein, weil sie
jeder einkauft.« Niemand wolle sich die Blö­

Steve Kfour y
ße geben und unmodern wirken.
Entsprechende Lizenzen gibt es oft schon
KI-Pioniere Schröder, Wendt: »Natürlich können wir auch Mentalität messen«
für einige Zehntausend Euro. Gemessen an
der Aussicht auf Millionengewinne eine ver­
in Datenbanken finden sich zu Zigtausenden Damals kickt Kolo Muani in der dritten fran­ blüffend geringe Summe.
Spielern weltweit noch viel mehr Statistiken. zösischen Liga, ihm gelingen in der gesamten Vor allem liegt sie deutlich unter dem, was
Aber kaum jemand weiß eine Antwort auf Saison nur drei Tore. Manga ist dennoch über­ eine Scoutingabteilung kostet, insbesondere
die Frage, welche Zahlen wirklich entschei­ zeugt. »Fußballerisch hat er alles mitgebracht, wenn sie nach den Methoden von Ben Man­
dend sind. vor allem hat er aber Gas gegeben, wenn er den ga arbeitet. Zu den Gehältern und Honoraren
Was sagt eine Erfolgsquote von 90 Prozent Ball verloren hat«, sagt er. Manga sucht Ge­ der Scouts kommen dann erhebliche Reise­
gewonnener Zweikämpfe über einen Abwehr­ spräche mit dem Spieler und dessen Umfeld, kosten. Eine Datenbank, digital, effizient und
spieler aus, der bei Gegentoren falsch steht? ihm ist wichtig, wie Kolo Muani tickt. Ob er im objektiv, klingt da wie eine Verheißung.
Fragt man Ben Manga, lautet seine Ant­ Gespräch den Blick hält oder sich ablenken lässt. Auch Plaier kostet die Klubs je nach Liga­
wortet: gar nichts. »Ich habe immer Spieler verpflichtet, die zugehörigkeit lediglich einen fünfstelligen
»Die Daten sagen dir, das Passspiel war Mentalität hatten. Und Mentalität lässt sich Betrag pro Jahr. Das dürfte sich für die Ma­
gut, die Daten sagen dir, die Erfolgsquote bei nicht mit Daten messen«, sagt Manga. cher nur rechnen, wenn genügend Vereine
Kopfbällen ist niedrig, und, und, und. Super. »Natürlich können wir auch Mentalität zugreifen und das KI­Modell nicht nur aus­
Ich gehe lieber ins Stadion und vertraue da­ messen«, entgegnet Jan Wendt von Plaier. probieren, sondern dauerhaft nutzen. Dafür
rauf, was ich sehe.« Auf seinem Laptop zeigt er Diagramme, müssen die Resultate der KI stimmen.
Seit etwa 20 Jahren ist Manga, 49, im Fuß­ die die Performance eines Spielers während Bei Randal Kolo Muani, Frankfurts Top­
ballgeschäft tätig, als Scout, später als Direk­ einer Partie visualisieren. »Wir sehen genau, stürmer, hätte das Resultat vor drei Jahren
tor Profifußball. Sein Talent ist der Blick für wie Fußballer mit einem Gegentor umgehen, nicht gestimmt. »Dass Kolo Muani so gut wer­
Talente. 2016 kam er zu Eintracht Frank­ ob sie sich hängen lassen oder aufdrehen, weil den würde, wäre Plaier durchgerutscht«, sagt
furt, da war der Bundesligist gerade dem Ab­ sie auf keinen Fall verlieren wollen.« Wendt. Das liege womöglich daran, dass der
stieg entgangen. Sechs Jahre danach gewann Ihr Vertrauen in das KI­Modell sehen Angreifer nach Jahren als Flügelspieler plötz­
die Eintracht die Europa League. Sébastien Wendt und Schröder durch Gespräche in der lich ins Sturmzentrum gerückt sei. »Solche
Haller, Ante Rebić, Luka Jović oder Evan Fußballbranche bestätigt. Im vergangenen späten Positionswechsel kann Plaier noch
Ndicka: Die Liste der von Manga entdeckten Herbst überreichte ihnen der Sportchef eines nicht erkennen«, sagt Schröder.
Volltreffer ist lang. Bundesligisten eine Liste mit den Namen von Im Fall von Kolo Muani hat Ben Manga
Wenn er ein Fußballspiel schaut, erkennt zehn Talenten, für eines davon hatte er kurz die KI geschlagen. Wie ein Großmeister, der
Manga Dinge, die den meisten Menschen ver­ zuvor Millionen überwiesen. einen Schachcomputer besiegt.
borgen bleiben. Auf welche Details er dabei Der Mann bat um eine Bewertung durch die »Wir wollen die Scouts gar nicht abschaf­
achtet? Berufsgeheimnis. KI, er wollte wissen, ob das Programm seine fen, wir wollen das Scouting verändern«, sagt
Seinen wohl größten Coup landete er mit Entscheidung bestätigte. Im Videocall präsen­ Schröder. Künftig könnten Sportchefs die KI
Randal Kolo Muani. Der Stürmer kam im tierten die Plaier­Leute ihre Resultate. Acht der nach einem passenden Transferziel fragen,
vergangenen Sommer ablösefrei aus Nantes. zehn Spieler sollten definitiv nicht verpflichtet erst dann macht sich der Scout selbst ein Bild.
Inzwischen ist er Stammspieler in Frankreichs werden, so das Ergebnis, das Potenzial zur Wei­ »Die Vereine, die so arbeiten wollen, sollen
Nationalmannschaft, Spitzenklubs sollen sich terentwicklung sei gering. Der Neueinkauf war das gerne tun«, sagt Ben Manga. Er werde
für ihn interessieren, darunter der FC Bayern. einer der acht. Man habe gespürt, wie sich die weiter ganz ohne Daten sichten, solange man
Angeblich fordert die Eintracht mindestens Stimmung verschlechterte, erzählt Wendt. ihn lässt. Allerdings nicht mehr in Frankfurt.
100 Millionen Euro Ablöse plus Boni. Seit Dezember arbeitet er als Sportchef beim
Kolo Muanis Wechsel nach Frankfurt englischen Zweitligisten FC Watford. Die Ein­
brauchte drei Jahre Anlauf. 2019 ruft einer tracht hat er wegen Differenzen über die
von Mangas Scouts aus Frankreich an. Er Arbeitsweise verlassen.
habe da ein Talent entdeckt, das Manga sehen »Man kauft Daten ein, Frankfurts Sportvorstand Markus Krösche
müsse. »Also bin ich hingeflogen und habe hat bereits verkündet, er wolle künftig ver­
ihn mir angeguckt. Mein erster Eindruck war: weil sie jeder einkauft.« mehrt auf Datenscouting setzen.
Wow, was für ein Spieler.« Ein Bundesligascout Danial Montazeri n

90 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


SPORT

was Sascha für ein Spieler ist und wo jetzt schnell wieder nach oben‹ muss-
er hingehört: in die Top 10, die Top 5 te ich schnell begraben.
der Welt. Er war so kurz davor, die SPIEGEL: Nagt so etwas am Selbst-
Nummer eins zu werden. Bis die vertrauen?

»Es ist verrückt, Verletzung kam und ihn etwas zu-


rückgeworfen hat.
SPIEGEL: Sie selbst mussten 2022
Struff: Ich habe mich natürlich hin-
terfragt. Und es gab Momente,
in denen ich nicht wusste, wohin das

wie es mehr als zwei Monate lang pausieren,


stürzten auf Platz 168 der Weltrang-
liste ab.
noch führt. Schläge ins Gesicht. Aber
dann eben auch Momente, die
mir Mut gemacht haben. Gute Spie-

gerade läuft« Struff: Es war eine schwierige Zeit für


mich. Die Vorbereitung ist nicht op-
timal gelaufen, dann bekam ich Co-
le, die mir gezeigt haben: Ich kann
es noch!
SPIEGEL: Sie werden oft als introver-
vid, musste Turniere absagen, habe tiert beschrieben. Beim Turnier in
KARRIEREN Jan-Lennard Struff, 33, die neue nicht gut gespielt, keinen Rhythmus Madrid platzte es öfter mal aus Ihnen
reinbekommen, mir den Zeh gebro- heraus. Hat sich da was verändert?
Nummer eins im deutschen Männertennis, über chen. Und schon purzelst du das Ran- Struff: Das hat sich in den letzten Jah-
seinen überraschenden Durchmarsch king runter, bist 32 Jahre alt und weißt ren entwickelt. Manchmal muss man
und den Konkurrenten Alexander Zverev nicht, wie es weitergeht. auch die Faust zeigen, sich pushen,
SPIEGEL: Haben Sie daran gedacht Präsenz zeigen. Das gehört dazu.
aufzuhören? SPIEGEL: Ihr Sport führt Sie Woche
SPIEGEL: Herr Struff, Boris Becker Struff: Nein, ich hatte das Gefühl, ich für Woche um die ganze Welt. Und
nannte das, was Sie in den vergan- bin noch nicht fertig mit Tennis. Ich Sie sind Vater zweier Söhne. Wie lässt
genen Wochen erreicht haben, »eine wollte schnell wieder hochkommen. sich das miteinander vereinbaren?
Geschichte, wie man sie nur aus Aber das wollen viele. Und viele spie- Struff: Man muss sich klar sein: Tennis
Hollywood kennt«. len richtig gutes Tennis. Wenn du ist ein Beruf, der nicht ein Leben lang
Struff: Es ist verrückt, wie es gerade dann ein-, zweimal in der ersten Run- dauert. Danach hat man noch ein Le-
läuft. Diese ganze Reise ist wahnsin- de bei einem kleinen Turnier ver- ben, Zeit, Dinge zu erleben. Aber es
nig geil. Dabei war das letzte Jahr lierst, tut das weh. Es war ein harter ist oft nicht leicht. Ein Balanceakt. Als
eine Katastrophe. Anfang 2023 stand Weg: zu akzeptieren, dass ich wieder mein Sohn vor Kurzem Geburtstag
ich in der Weltrangliste auf Platz 150. da unten bin und mir alles wieder hatte, war ich in Marrakesch und habe
Jetzt haben wir Mitte Mai, und ich mühsam erarbeiten muss. Tennis gespielt. Ich habe zum ersten
bin unter den ersten 30. Hart gearbei- SPIEGEL: Hatten Sie Angst, den An- Mal seinen Geburtstag verpasst.
tet habe ich immer, aber dass es auf schluss verpasst zu haben? SPIEGEL: Haben Sie deswegen ein
einmal so schnell geht, hätte ich nie Struff: Absolut. Die jungen Spieler schlechtes Gewissen?
Tennisprofi Struff:
gedacht. »Ich weiß,
sehen, dass du früher mal weiter oben Struff: Natürlich. Auch meiner Freun-
SPIEGEL: Beim Masters-Turnier in was im Tennis alles warst in der Weltrangliste, die jagen din gegenüber. Für die ist das manch-
Madrid unterlagen Sie Carlos Alcaraz passieren kann« dich. Den Gedanken ›Ich spiele mich mal nicht leicht. Auch ich würde es
erst im Finale. Dabei waren Sie mir oft anders wünschen. Ich vermisse
eigentlich schon in der Qualifikation meine Familie sehr. Aber bei Grand
ausgeschieden. Slams zum Beispiel, nach Fünf-Satz-
Struff: Ich wusste zwar, dass ich gute Matches, geht es viel um Erholung
Chancen hatte, für einen verletzten und Ruhe. Umso mehr freue ich mich,
Spieler nachzurücken. Als Lucky Lo- wenn ich meine Familie danach wie-
ser aber dann bis ins Finale durchzu- dersehe.
marschieren: Wie unwahrscheinlich SPIEGEL: Ende Mai steht Ihr Lieb-
ist das! Das hatte bei einem Masters lingsturnier an, die French Open. Und
bis dahin noch niemand geschafft. Es plötzlich sind Sie einer derer, die es
waren unglaubliche zwei Wochen. zu schlagen gilt.
SPIEGEL: Sie werden aktuell auf Platz Struff: Das fühlt sich völlig absurd an.
26 der Weltrangliste geführt, höher Als Kind, mit 15 oder so, bin ich mit
als je zuvor – mit 33 Jahren. Können meiner Mutter nach Paris gefahren,
Sie sich Ihre ungewöhnliche Karriere morgens hin, blaugemacht, im Auto
erklären? gepennt, weil alle Hotels voll waren.
Struff: Mein Weg ist immer unge- Und jetzt stehe ich hier.
wöhnlich gewesen. Ich war in der SPIEGEL: Sie haben gesagt, Sie seien
Jugend nicht so gut. Nach der Schule noch nicht fertig mit dem Tennissport.
habe ich gedacht: Ich versuch es mal Was erwarten Sie noch?
ein Jahr. Aber ich wusste nicht, ob es Struff: Ich bin niemand, der große Pa-
reichen würde. Jedes Jahr habe ich rolen nach außen bläst. Ich habe
Alexander Scheuber / Getty Images

mir neue Ziele gesteckt, Ziele er- Träume, habe Wünsche. Die behalte
reicht. Hat bei mir eben alles ein biss- ich aber für mich. Ich weiß, wo ich
chen länger gedauert. herkomme. Ich weiß, was im Tennis
SPIEGEL: Sie haben gerade Alexander alles passieren kann. Das letzte Jahr
Zverev als deutsche Nummer eins ab- hat mich geerdet. Für mich ist wichtig
gelöst. War das ein Ansporn für Sie? zu wissen: Ich habe ein Leben, auch
Struff: Ich habe das natürlich auf dem ohne Tennis.
Schirm gehabt. Aber wir wissen alle, Interview: Josef Saller n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 91


WISSEN

Devi Rahman / AFP


Auf Indonesiens Hauptinsel Java ist der Merapi ausgebrochen, einer der aktivsten Feuerberge der Welt. Die Lava floss mehr als zwei Kilometer weit.
Seit 2020 gilt für den Vulkan die zweithöchste Warnstufe, die von den Behörden auch jetzt nicht geändert wurde. Auf dem Planeten
rumort es auch anderswo: Auf Sizilien spuckt der Ätna Feuer, nahe Mexiko-Stadt brodelt der Popocatépetl. Dort sind drei Millionen Menschen
aufgerufen, sich auf eine eventuelle Evakuation vorzubereiten.

nistan, Irak, Pakistan, Syrien, Libyen, Somalia und im Jemen.


4,6 Millionen Tote Sie zählen sowohl die Opfer direkter Gewalt als auch jene, die
an indirekten und noch andauernden Kriegsfolgen wie Armut,
Hunger, Flucht, Krankheit oder psychischen Traumata gestorben
ANALYSE Konfliktforscher haben ermittelt, wie viele
sind. Ihre Einschätzung lautet: Zwischen 3,6 und 3,7 Millio-
Menschen im amerikanischen nen Menschen haben die indirekten Folgen des »Kriegs gegen
»Krieg gegen den Terror« wirklich starben. den Terror« nicht überlebt, Frauen und Kinder waren dabei
überrepräsentiert. Mindestens 937.000 Menschen kamen in
Der Angriff auf die USA am 11. September 2001 jährt sich bald Kämpfen um, rund 387.000 davon waren Zivilisten.
zum 22. Mal, fast 3000 Menschen starben dabei. Was darauf Stephanie Savell, die Autorin der Studie, weist darauf hin,
folgte, dürfte den meisten Amerikanern in seiner Dimension dass die Opferzahlen sehr komplex abzuschätzen und
längst nicht bewusst sein: US-Präsident George W. Bush erklärte daher mit Unsicherheit behaftet seien. Sie hält die überschlägige
den »War on Terror« – den weltweiten und noch immer andau- Gesamtrechnung von bis zu 4,6 Millionen Toten dennoch
ernden Militäreinsatz gegen Dschihadisten und solche Regierun- für wichtig, um der Öffentlichkeit begreiflich zu machen, wie
gen, die sie nach Meinung der USA unterstützten. Er war – und groß der entstandene humanitäre Schaden ist. »Es gibt nach-
ist – blutiger und grausamer, als die US-Öffentlichkeit es zur hallende Kosten, die menschlichen Kosten des Kriegs, über die
Kenntnis nimmt. die meisten Amerikaner nicht wirklich genug wissen oder
Wissenschaftler der Brown University aus dem Bundesstaat nachdenken«, sagt die Wissenschaftlerin. Aufseiten der USA
Rhode Island haben es sich in ihrem Projekt »Costs of War« zur sind in Afghanistan und im Irak rund 7000 Soldaten getötet
Aufgabe gemacht, genau hinzuschauen. Die Konfliktforscher worden. Auch dort hält der Schrecken des Kriegs bis heute an:
versuchen zu ermitteln, wie viele Menschen im von den USA ge- Die Suizidrate unter den Veteranen liegt weitaus höher als
leiteten Antiterror-Krieg ihr Leben verloren haben in Afgha- in der übrigen Bevölkerung. Marco Evers

92 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Wenn Recycling zum nicht vorgenommen worden. Mehr als vor der Einführung des Filtersystems bis zu
80 Prozent der Partikel waren kleiner 3000 Tonnen Mikroplastik pro Jahr frei-
Risiko wird als fünf Mikrometer, also etwa halb so groß setzte – und danach noch bis zu 1400 Ton-
UMWELT Recycling soll das wachsende Pro- wie ein menschliches rotes Blutkörper- nen. Sie stellt damit für ihre Umgebung ein
blem des Plastikmülls lösen helfen, doch tut chen. Die Untersuchung wies auch hohe Kontaminationsrisiko dar. Nun, so fordert
es das wirklich in allen Fällen? Ein Team von Konzentrationen von Mikroplastik in der Brown, müssten dringend ähnliche Anlagen
Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen Luft rund um die Anlage nach. Bislang ist in anderen Teilen der Welt untersucht und
ist jetzt zu denkwürdigen Erkenntnissen ge- ungewiss, ob Partikel dieser Größe für mit Filtern nachgerüstet werden. ME
langt. Die Forscher untersuchten das Abwas- Menschen gefährlich sind. Sicher ist nur:
ser einer hochmodernen Kunststoff-Recy- Sie sind allüberall verbreitet, auf dem
clinganlage an einem ungenannten Ort im Grund der Ozeane ebenso wie im Eis der
Vereinigten Königreich. Dabei fanden sie he- Arktis und im menschlichen Blut.
raus, dass das im Wasser freigesetzte Mikro- Die untersuchte Anlage sei im Vergleich
plastik bis zu 13 Prozent allen verarbeiteten zu anderen noch ein »Best-Case-Szenario«,
Kunststoffs ausmachte. sagte Brown, da bei ihr immerhin leistungs-
Nach ihren Schätzungen könnte das Ab- fähige Wasserfilter installiert wurden.
wasser der Anlage in jedem Kubikmeter bis Diese Filter hätten die Konzentration von

Christian Ohde / IMAGO


zu 75 Milliarden Plastikpartikel enthalten. Mikroplastik im Abwasser auf 6 Prozent
»Ich war schockiert«, sagt Erina Brown, die des verarbeiteten Kunststoffs halbiert. Die
Hauptautorin der Studie, die an der Uni- Studie, die im »Journal of Hazardous
versität Strathclyde in Glasgow entstand. Material Advances« veröffentlicht wurde,
Bislang waren solche Untersuchungen noch geht davon aus, dass die Recyclinganlage

beschossen, darum zeigen sie zig Millionen Jahren ist dieser


»Geschenk des Himmels« etwas Radioaktivität. Aber Körper dann mit einem anderen
die ist so schwach, dass es Wo- zusammengestoßen. Dabei ha-
chen dauert, sie mit Spezial- ben sich Fragmente gebildet, die
ASTRONOMIE Dieter Heinlein, 67, vom Deutschen instrumenten zu messen. Das so etwa im Zentnerbereich la-
Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) über geschieht gerade in Dresden. gen. Stellen Sie sich das mal
den Elmshorn-Meteoriten, der aus der Urzeit des SPIEGEL: Was versprechen Sie vor: So ein Brocken von 50 Ki-
sich davon? logramm fliegt Ewigkeiten auf
Sonnensystems stammt Heinlein: Der Meteorit stammt seiner elliptischen Bahn um die
aus dem Asteroidengürtel Sonne. Immer am 25. April
SPIEGEL: Herr der vom Himmel gefallen ist. Er zwischen Mars und Jupiter und kreuzt diese Ellipsenbahn die
Heinlein, was ge- hat sich auch getraut, das Stück wurde vor langer Zeit aus Erdbahn. Und in diesem Jahr ist
nau ist am 25. April sofort anzufassen, was für uns einem Gesteinsasteroiden he- es eben passiert, dass sich beide
um 14.14 Uhr über Wissenschaftler sehr interessant rausgeschlagen. Wann diese tatsächlich begegneten und zu-
Elmshorn in Schles- ist: Der Theorie zufolge sollten Kollision im Weltall passiert ist sammenstießen.
Privat

wig-Holstein solche frisch gefallene Meteori- und weshalb so ein kleiner SPIEGEL: Der Meteorit ist so alt
geschehen? ten am Boden weder glühend Brocken dann auf Kollisions- wie unser Sonnensystem?
Heinlein: Das ist eine faszinie- heiß noch eiskalt sein, sondern kurs mit der Erde geriet, das Heinlein: Ja, aber das Bemer-
rende Geschichte. Normaler- lauwarm. Und genau das hat kann durch solche Radionuklid- kenswerte ist etwas anderes:
weise sieht man Feuerkugeln, dieser Hausbesitzer festgestellt. Messungen erforscht werden. Er ist immer noch genau so er-
Sternschnuppen und Meteore SPIEGEL: War er denn gut bera- SPIEGEL: Wie alt ist der Klotz? halten, wie er damals durch
nur in der Nacht. Dass in die- ten, das Ding zu berühren? Heinlein: Entstanden ist er vor Zusammenballung von Silikat-
sem Fall eine Feuerkugel sekun- Heinlein: Es stellte keine Gefahr etwa 4,5 Milliarden Jahren als mineralien und Körnchen aus
denlang am Tag klar zu erken- dar für ihn. Solche Meteoriten ein relativ kleiner Körper, der Eisen und Nickel entstanden ist.
nen war, ist eine Ausnahme- werden ja im Weltraum immer- vielleicht ein paar Meter Durch- Dies ist das Ursprungsmaterial,
erscheinung. Hier hatten wir zu durch kosmische Strahlung messer gehabt hat. Vor einigen die Ur-Materie unseres gesam-
auch das große Glück, dass ten Sonnensystems. Jede ande-
nicht wie so häufig alles Mate- re Materie, die wir auf der Erde
rial in der Atmosphäre aufgerie- anfassen können, ist ja durch
ben wurde. Mehr als vier Kilo- geologische Prozesse vielfältig
gramm sind gefunden worden. verändert worden. Aber aus
SPIEGEL: Die Trümmer sind auf dem Stoff, aus dem dieser Me-
zwei Dächer und in Gärten ge- teorit besteht, sind einst all
knallt. unsere Gesteinsplaneten ent-
Heinlein: Genau. In einem Fall standen. Ein Meteorit wie die-
war es so: Es gab einen großen ser ist wie ein Guckloch in die
Krach. Der Hausbesitzer ist damalige Zeit.
hinausgelaufen, hat gesehen, SPIEGEL: Für den größten Klum-
dass einige Dachpfannen zer- pen wollen Sammler inzwischen
Daniel Bockwoldt / dpa

stört waren, und einen schwar- mehr als 200.000 Euro zahlen.
zen Stein von der Größe eines Heinlein: Dies war ein Ge-
Tennisballs erblickt. Geistes- Bruchstück des
schenk des Himmels. Ich hoffe,
gegenwärtig hat er geschlossen: Elmshorner Meteoriten dass die Familie das Stück im
Das kann nur ein Meteorit sein, Familienbesitz behält. ME

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Giftalarm im Darm
MEDIZIN Beim Verständnis von Parkinson bahnt sich eine Revolution an: Das weitverbreitete Hirnleiden
beginnt nicht erst mit Zittern und Bewegungsstörungen, sondern mit Verstopfung, Erschöpfung, Schlaf-
und Riechstörungen. Durch Früherkennung wollen Mediziner jetzt den Ausbruch der Krankheit verzögern.

port ist Jan Becker wichtig. Jede Woche Stadium der Krankheit auftreten. Oft schon
S geht der 58-jährige Unternehmens-
berater aus dem Rheinland zweimal
laufen, einmal Fahrrad fahren und zweimal
Die ersten Anzeichen
Exemplarischer Parkinson-Krankheitsverlauf
Jahre vorher kann es aber zu einer Vielzahl
nicht motorischer Symptome kommen, darun-
ter Denk- und Konzentrationsstörungen, Er-
und Symptome, die in den einzelnen Phasen
zum Krafttraining. »Ein Halbmarathon muss einsetzen können* schöpfung, Schwindel beim Aufstehen, De-
aus dem Stand immer möglich sein«, sagt er. pressionen und Ängste, aber auch chronische
Er hofft, dass er das noch lange können Vorphase Verstopfung, Erektionsstörungen und ein
wird. Doch vor drei Jahren bemerkte seine Schlafstörung (z.B. Rückgang der Libido, der Verlust des Ge-
Dauer gestörte REM-Phase),
Frau, dass sein rechter Arm merkwürdig ruchssinns und insbesondere die REM-Schlaf-
2 bis 5 Depression
steif herunterhing. Beim gemeinsamen Trai- Jahre
Bewegungsstörung, bei der die Patienten im
ning rief sie ihm zu: »Du läufst, als hättest du Herabgesetztes Schlaf um sich schlagen oder treten.
einen Schlaganfall gehabt.« Empört habe er Riechvermögen »Die nicht motorischen Symptome bekom-
diesen Verdacht von sich gewiesen, erzählt men in Wissenschaft und Therapie immer
Becker, der seinen richtigen Namen hier nicht Verstopfung mehr Aufmerksamkeit«, bestätigt auch Rejko
preisgeben möchte. »Das ist mein Laufstil«, Krüger, Professor für Neurowissenschaften
habe er seiner Frau entgegnet, »das ist ganz am Luxembourg Centre for Systems Bio-
3 bis 6
normal.« medicine und Direktor am Luxembourg Insti-
Jahre
Vor einem Jahr fiel ihm dann aber auf, dass Frühphase tute of Health, der eine große Kohortenstudie
er immer wieder nach Wörtern suchen muss- Erschöpfung zur Früherkennung von Parkinson leitet. Vor
te, wenn er sich mit Freunden unterhielt. Und allem hoffen Ärzte und Forscher, in Zukunft
dass er immer öfter müde und erschöpft war Doppelsehen anhand dieser ersten Symptome Hochrisiko-
und die Freude und Ausgelassenheit allmäh- patienten noch vor Beginn der motorischen
Schmerz
lich aus seinem Leben verschwand. (z.B. in der Schulter)
Beschwerden gezielt zu erkennen – um dann
Eine Neurologin checkte ihn durch – und mithilfe neuartiger Medikamente oder ande-
fand nichts. Anfang des Jahres überwies sie zunehmende Bewe- rer Therapien die Verschlimmerung der
Becker ratlos in die Ambulanz für Bewe- gungsstörungen: Krankheit noch abwenden oder hinauszögern
gungsstörungen am Universitätsklinikum 4 bis
Diagnose Parkinson zu können.
Köln. Dort hatte der Neurologe und Oberarzt 12 »Wir müssen jetzt handeln«, ist Krüger
Michael Sommerauer schon nach wenigen Jahre überzeugt. In der Tat sind Fortschritte bei
Minuten einen Verdacht: Parkinson. Eine spe- Früherkennung und Behandlung dringend
zielle Untersuchung, bei der mithilfe einer Früh- und nötig: Parkinson ist nach Alzheimer die zweit-
schwach radioaktiv markierten Substanz die Mittelphase häufigste neurodegenerative Erkrankung. Be-
Angst, Schlafstörung
Funktionsfähigkeit bestimmter Nervenver- (z.B. Unterbrechun-
hinderungen und Todesfälle aufgrund von
bindungen in einem Gehirnareal überprüft gen) Parkinson nehmen laut der Weltgesundheits-
wird, bestätigte die Diagnose. organisation schneller zu als bei jeder anderen
Für Becker kam die Diagnose völlig über- Sprechstörung, neurologischen Erkrankung. Die Zahl der Be-
raschend. »Ich dachte, Parkinson, das ist doch Schluckstörung troffenen habe sich in den letzten 25 Jahren
die Schüttellähmung mit dem typischen Zit- verdoppelt, Schätzungen zufolge lebten im
tern, das kriegen alte Leute«, erinnert er sich. Jahr 2019 weltweit mehr als 8,5 Millionen
Aber doch nicht ein durchtrainierter End- 8 und Menschen mit dieser Krankheit, die Deutsche
fünfziger wie er, der eigentlich nur über ge- mehr Gesellschaft für Parkinson und Bewegungs-
Spätphase
Jahre
legentliche Wortfindungsstörungen klagte Demenz, Wahr- störungen spricht von 400.000 Betroffenen
und zunehmend unter niedergeschlagener nehmungsstörungen, allein in Deutschland.
Stimmung litt. Dabei sind genau diese Symp- Halluzinationen Unter den nicht motorischen Symptomen
tome bei Parkinson gar nicht so selten, wer- niedriger Blutdruck
leiden die Patienten oft sogar mehr als unter
den aber oft übersehen oder nicht ernst ge- den schwerwiegenden Bewegungsstörungen.
nommen. Inkontinenz Vielen Betroffenen sei wahrscheinlich selbst
»Ich habe im Studium noch gelernt, Par- nicht klar, dass es mit Parkinson zusammen-
kinson sei überwiegend eine motorische Er- hängen könnte, wenn sie plötzlich in Bespre-
krankung«, sagt Sommerauer. Doch das Bild chungen einschlafen oder zu Hause apathisch
wandelt sich derzeit grundlegend. Inzwischen * die Reihenfolge, der Zeitpunkt und die Entwicklung von in der Ecke sitzen und sich zu nichts mehr
nicht motorischen Symptomen kann von Patient zu Patient
steht fest, dass Zittern, Muskelsteifigkeit und unterschiedlich sein aufraffen können, vermutet Lars Timmer-
Bewegungsarmut vor allem in einem späteren S Quelle: »nature«, Schapira et al., 2017 mann, Direktor der Klinik für Neurologie am

94 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WISSEN

Universitätsklinikum Marburg und


Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Neurologie.
Viele würden vermutlich auch nie »Ob ich den Verfolger treffe,
von ihren Erektionsstörungen berich­ weiß ich nicht – aber regel­
ten, schon gar nicht ihrem Neuro­ mäßig erwache ich dabei, und
logen, auch wenn sie schrecklich
darunter leiden. Und Verstopfung manchmal bekommt meine
werde von älteren Menschen oft Frau im Bett neben mir den
schicksalhaft hingenommen. Dabei
könnten viele dieser nicht motori­
Tritt auf die Knochen.«
schen Symptome durch Medikamen­ Patient Moser
te gelindert werden, wenn sie recht­
zeitig erkannt und ernst genommen
würden. »Die Behandlung ist extrem
relevant für die Patienten«, sagt Som­
merauer. »Damit können wir ihnen
wirklich etwas Gutes tun.«
Wie wichtig die nicht motorischen
Symptome sind, um Parkinson schon
im Früh­ oder sogar in einem Vor­
stadium zu diagnostizieren, zeigt sich,
seitdem Forscher nach und nach he­
rausgefunden haben, wie Parkinson
entsteht. Eine entscheidende Rolle
spielt dabei das Neuroprotein Alpha­
Synuklein. Bei Parkinsonpatienten
lagert sich defektes, fehlgefaltetes Al­
pha­Synuklein im Denkorgan ab und
beeinträchtigt die Funktion der Ner­
venzellen.
»Man kann sich das verklumpte
Alpha­Synuklein ein bisschen vorstel­
len wie die Gartenstühle meiner El­
tern aus den Achtzigerjahren«, sagt
Timmermann. »Wenn die feucht ge­
worden waren, klebten Sitz und Leh­
ne so fest aneinander, dass ich sie
als kleiner Junge kaum auseinander­
gekriegt habe, wenn ich sie aufstellen
sollte.«
Am Ende führen die Alpha­
Synuklein­Ablagerungen zur parkin­
sontypischen Degeneration der Sub­
stantia nigra im Mittelhirn, dem nach­
folgenden Dopaminmangel und den
typischen Bewegungsstörungen. In
anderen Hirnregionen führen die Ab­
lagerungen zu kognitiven Störungen,
Erschöpfung und Müdigkeit, Depres­
sionen oder der REM­Schlaf­Bewe­
gungsstörung – und zwar oft viel frü­
her als die typischen Parkinsonsymp­
tome.
Der Frankfurter Neuroanatom
Heiko Braak beschrieb, nachdem er
Gehirne von verstorbenen Parkinson­
patienten untersucht hatte, als Ers­
ter, wie sich das fehlgefaltete Alpha­
Synuklein vom Stammhirn, aber auch
vom Riechhirn aus bis in höhere Hirn­
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

regionen ausbreiten könnte. Diese


schädliche Veränderung des Neuro­
proteins kann im Gehirn selbst begin­
nen, aber möglicherweise, so eine
Weiterführung von Braaks Hypothe­ Verkabelung von
Studienteilnehmer
se, auch außerhalb des Gehirns – ent­ Moser
weder in den Riechfasern der Nase

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 95


WISSEN

oder im Nervensystem des Darms, wo sich in wache ich dabei, und manchmal bekommt
Mäusen schon vor einer Parkinsondiagnose meine Frau im Bett neben mir den Tritt auf
fehlgefaltetes Alpha-Synuklein nachweisen die Knochen.«
ließ. Moser sitzt in graublauem Schlafanzug am
Forscher der Johns Hopkins University ha- Fußende seines Bettes und wird von der Dok-
ben Braaks Hypothese an einem Mausmodell torandin Kim-Lara Weiß verkabelt. Sein
getestet, indem sie den Tieren krankhaft ver- Schlaf wird diese Nacht akribisch überwacht:
ändertes Alpha-Synuklein in Dünndarm- und Hirnströme, schnelle Augenbewegungen,
Magenwand injizierten. Tatsächlich entwi- Muskelaktivität am Kinn und hinter den Oh-
ckelten die Tiere daraufhin Parkinson. Durch- ren, Puls, Sauerstoffsättigung, Atemfrequenz.
trennten die Forscher den Ast des Vagusnervs Eine Kamera zeichnet seine Bewegungen auf.
der Mäuse, der den Magen-Darm-Trakt und »Sorgen, dass ich Parkinson bekommen
das Gehirn miteinander verbindet, konnte sich könnte, mache ich mir nicht«, sagt Moser,
das Alpha-Synuklein nicht entlang des Nervs während Weiß alle Kabelenden in zwei Boxen
ausbreiten, und die Nager waren vor der steckt, die sie mit Gurten auf seiner Brust be-

Marcus Simaitis / DER SPIEGEL


Krankheit geschützt. So spricht inzwischen festigt hat. »Ich bin da fatalistisch. Mein Le-
vieles dafür, dass Parkinson in den allermeis- bensmotto ist: Schau’n mer mal.« Doch das
ten Fällen eine von außen zumindest mitver- Risiko zu erkranken, ist in seiner Familie er-
ursachte Erkrankung ist. höht. 2017 starb sein Bruder, nachdem er
»Die Darmschleimhaut und das Riechepi- mehr als 20 Jahre an Parkinson gelitten hatte.
thel der Nase, wo Parkinson seinen Ursprung Auch sein Vater und seine Tante hatten die
nehmen kann, sind beides Schnittstellen zur Parkinsonpatient Becker
Krankheit.
Umwelt«, sagt Krüger. Pestizide und andere Um einem bei Parkinson möglichen geis-
Umweltgifte stehen bereits länger im Ver- kommenden zehn Jahren an Parkinson zu tigen Abbau entgegenzuwirken, wird Moser
dacht, die Schüttellähmung auslösen zu kön- erkranken. »Und wenn man das mit weiteren nun im Rahmen der Studie mit kognitivem
nen. In Frankreich und Italien ist Parkinson Symptomen wie etwa einer Riechstörung Training starten, das er mehrmals in der Wo-
bei Landwirten deswegen sogar als Berufs- kombiniert, kommt man auf noch viel höhe- che 40 Minuten lang zu Hause am Computer
krankheit anerkannt. re Werte«, sagt Timmermann. »Dann wird’s machen soll. »Trainiert werden dabei nahezu
Eine Studie, die Forscher der University of spannend.« alle Bereiche der geistigen Leistungsfähigkeit
California San Francisco Mitte Mai im Fach- Mit modernen Laboranalysemethoden las- mit spielerischen Aufgaben, die sich in ihrer
journal »JAMA Neurology« veröffentlichten, se sich ermitteln, ob in der Nervenflüssigkeit Schwierigkeit immer weiter anpassen«, er-
hat ergeben, dass Umweltgifte nicht nur das solcher Hochrisikopatienten tatsächlich klärt Co-Studienleiterin Anja Ophey von der
Risiko für Parkinson selbst erhöhen können, schadhaftes Alpha-Synuklein vorkommt. Abteilung für Medizinische Psychologie am
sondern auch für die nicht motorischen Symp- »Auf diese Weise können wir ziemlich sicher Universitätsklinikum Köln.
tome im Vorstadium der Krankheit. herausfinden, ob jemand in den nächsten Jah- Moser spielt gern das asiatische Brettspiel
Die Mediziner verglichen dabei den Ge- ren tatsächlich an Parkinson erkranken wird«, Go, er hat früher sogar um die Ausscheidung
sundheitszustand von mehr als 150.000 US- so Timmermann. Diese Patienten könnten zur deutschen Meisterschaft gekämpft. Auch
Veteranen miteinander, die zwischen 1975 dann an Studien teilnehmen, in denen neue Sudokus hoher Schwierigkeitsstufe machen
und 1985 entweder in Camp Lejeune in North Therapien erprobt würden. ihm Spaß. Bei der neurokognitiven Testung
Carolina oder in Camp Pendleton in Kali- Peter Moser – auch er wollte seinen Namen für die Studie schnitt er gut ab, vor allem Zah-
fornien stationiert waren. Während Camp für diese Geschichte geändert sehen – macht len konnte er sich hervorragend merken. Den-
Pendleton mit sauberem Wasser versorgt wur- das schon. Der gebürtige Wiener, der seine noch ist er froh, an der Studie und dem kog-
de, war das Wasser in Camp Lejeune mit dem grauen Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz nitiven Training teilzunehmen.
Lösungsmittel Trichlorethylen und anderen gebunden hat, lebt seit den Siebzigerjahren »Leider können wir den Patienten in die-
organischen Substanzen kontaminiert. in Köln. An Parkinson leidet er nicht, aber sem Vorstadium der Krankheit noch keine
Das Risiko der Veteranen, die dem konta- seit etwa 20 Jahren hat er eine REM-Schlaf- entscheidende Therapie anbieten«, sagt Som-
minierten Wasser ausgesetzt waren, an Par- Bewegungsstörung. Statt während der Traum- merauer. Es gebe bei Parkinson bislang keine
kinson zu erkranken, war um 70 Prozent hö- phase still mit entspannter Muskulatur dazu- medikamentöse Behandlung, die das Voran-
her als bei den Veteranen, die zwei Jahrzehn- liegen, lebt er seine Albträume aus. schreiten der Krankheit verhindern könne.
te zuvor sauberes Wasser getrunken hatten. »Ich werde immer von einem gesichtslosen Mit den bisherigen Mitteln könne man vor
Aber auch das Risiko für typische nicht mo- Verfolger hinauf auf einen ganz spitz zulau- allem die motorischen Symptome von Par-
torische Vorsymptome einer Parkinson- fenden Berggipfel verfolgt«, erzählt Moser. kinson bekämpfen. Immerhin gibt es Hoff-
erkrankung, darunter Angststörungen und »Zum Schluss geht es für mich nicht mehr nung auf verschiedene neue Medikamente,
erektile Dysfunktion, war bei den Veteranen weiter, ich bin oben auf der Bergspitze an- etwa sogenannte small molecules oder Anti-
aus Camp Lejeune höher. gekommen, in höchster Not wehre ich mich körper, die das Alpha-Synuklein unschädlich
Forscher vermuten zudem, dass das Mikro- mit einem Tritt. Ob ich damit den Verfolger machen sollen.
biom, die Zusammensetzung der Darmflora, treffe, weiß ich nicht – aber regelmäßig er- Jan Becker, der an Parkinson erkrankte
bei der Entstehung von Parkinson eine wich- Unternehmensberater aus dem Rheinland,
tige Rolle spielen könnte – und auch hier zeigt will nicht darauf warten, dass es ein Medika-
sich ein Zusammenhang mit den Frühsymp- ment gibt. Er hat sich vorgenommen, weiter
tomen. So ist bei Parkinsonpatienten die Zahl Halbmarathon zu laufen, solange es geht.
jener Bakterien reduziert oder erhöht, die »Man kann sich das ver- »Dieser Moment, als ich von einem gesunden
auch bei Patienten mit einer REM-Schlaf- Menschen zu einem kranken Menschen wur-
Bewegungsstörung verändert ist. klumpte Alpha-Synuklein de, das war schon ein Bruch«, sagt er. »Damit
Die REM-Schlaf-Bewegungsstörung spielt vorstellen wie die Garten- dennoch positiv umzugehen, die Krankheit
eine zentrale Rolle im Vorstadium der Par- anzunehmen und meine Lebensqualität zu
kinsonerkrankung. Wer an dieser Schlafstö- stühle meiner Eltern.« sichern, das ist mein Ziel.«
rung leidet, hat ein sehr hohes Risiko, in den Lars Timmermann, Neurologe Veronika Hackenbroch n

96 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WISSEN

schen Alltag verschwunden. Der Zigaretten- gigen ein Gefühl von Entspannung zu ver-
absatz ist kollabiert. Rauchen erscheint dort mitteln.
vielen Menschen längst nicht mehr als »nor- Snus ist in Schweden beliebt: Mehr als
mal«, sondern als das Gegenteil davon. Je 20 Prozent der Männer und rund 7 Prozent
kleiner die Gruppe der verbliebenen Raucher, der Frauen nutzen Snus jeden Tag. Damit wäre

Snus statt desto auffälliger und störender wird sie – und


desto mehr steigt der Druck, mit dem un-
erwünschten Verhalten aufzuhören. Das al-
Schwedens Geheimnis im Kampf gegen die
Zigaretten gelüftet: Das Land mag sich künf-
tig als rauchfrei brüsten, aber es ist weit da-

Rauch lerdings ist nicht leicht.


Aus Studien ist bekannt, dass rund 70 Pro-
zent der Raucher gern damit aufhören wür-
von entfernt, tabak- oder nikotinfrei zu sein.
Schwedens Raucher sind schlicht massenhaft
umgestiegen auf ein anderes Nikotinprodukt,
den. Weil Nikotin jedoch vor allem bei lang- das zumindest im Hinblick auf das Krebsrisi-
GESUNDHEIT Nirgendwo sind jährigen Nutzern zu einer sehr starken Ab- ko wohl eindeutig die bessere Wahl ist.
Zigaretten so unbeliebt wie hängigkeit führt, bleiben viele erfolglos. In Schwedens Männer haben die niedrigste
Schweden haben Raucher offenbar einen Rate von Lungenkrebs in der EU, sie ist nur
in Schweden, das bald als »rauch- anderen Weg gefunden, sich von Zigaretten etwa halb so hoch wie in Deutschland. Be-
frei« gilt. Wie haben die zu trennen: mit Snus. trachtet man die Todesfälle, die mutmaßlich
Skandinavier das geschafft? Dabei handelt es sich um ein urschwedi- auf das Rauchen zurückgehen, so hatten
sches Produkt aus meist feuchtem Tabak, das schwedische Männer eine rund 40 Prozent
weder verbrannt noch geraucht wird. Viel- geringere Sterblichkeitsrate im Vergleich mit
n den kommenden Monaten wird ein mehr klemmen die Nutzer es hinter die Ober- dem EU-Durchschnitt.
I Mensch in Schweden eine letzte Zigaret-
te rauchen, und von dem Moment an wird
das Land ein anderes sein. Die Raucherquote
lippe. Der Snus liegt entweder lose als Pulver
vor, oder er steckt in einem Beutelchen.
Bis zu eine halbe Stunde lang gibt Snus
Obwohl zahlreiche Menschen Oraltabak
nutzen, gibt es in Schweden keine erhöhte
Fallzahl von Mundhöhlenkrebs. Tumore der
der schwedischen Bevölkerung liegt dann bei zwischen Zahnfleisch und Lippe Aromen und Speiseröhre oder der Bauchspeicheldrüse sind
weniger als fünf Prozent. Nach der gebräuch- Nikotin ab, das über die Mundschleimhaut in nach jetziger Kenntnis unter Snus-Nutzern
lichen Definition des Begriffs wäre das Land die Blutbahn gelangt und ins Gehirn. Das ge- deutlich niedriger als unter Rauchern.
fortan »rauchfrei« – als erstes überhaupt. schieht zwar langsamer, als wenn man Niko- Doch harmlos ist Snus keineswegs, schon
Rauchfrei wären auch andere bald gern: tin inhaliert, aber schnell genug, um Abhän- allein wegen des Suchtpotenzials. Unter Um-
Neuseeland strebt es bis zum Jahr 2025 an, ständen steigert es bei langem Gebrauch zu-
Großbritannien für 2030, Frankreich für 2032 dem das Risiko für einen Herzinfarkt oder
und Kanada für 2035. Die EU als Ganzes hat Haben Sie Feuer? einen Diabetes. Während sich die Details der
sich vorgenommen, die Tabakepidemie im Forschung noch entziehen, erscheint aber
Jahr 2040 zu bezwingen. Während Neusee- Anteil der Raucher* an der Bevölkerung eine Erkenntnis ziemlich sicher: Besser als
ausgewählter Länder, in Prozent
land gewisse Erfolgschancen hat, sieht es für der Rauch brennender Zigaretten, in dem sich
die Europäer schlechter aus. weniger als 20 20 oder mehr ein Giftcocktail aus Tausenden Substanzen
In den europäischen Ländern verharrt die Zigaretten am Tag Zigaretten am Tag bildet, ist Snus allemal.
Quote der Raucherinnen und Raucher auf Für den Frankfurter Suchtforscher Heino
Bulgarien
hohem Niveau. Derzeit liegt sie bei um die Stöver sind die schwedischen Zahlen zur
20 Prozent der Bevölkerung, also fast viermal 15,8 12,9 Krebshäufigkeit »die zentralen Parameter einer
so hoch wie in Schweden, wo sie Ende 2022 Türkei gelungenen Tabakkontrollpolitik«. Schweden
nach offiziellen Angaben 5,6 Prozent betrug. habe mit Snus und anderen zugänglichen For-
12,5 14,8
Etwa 700.000 Europäer, darunter 140.000 men der alternativen Nikotinaufnahme, etwa
Deutsche, sterben jedes Jahr an den Folgen Griechenland E-Zigaretten, ein wahres Kunststück vollbracht
des Tabakkonsums. Jede vierte Krebserkran- 12,8 10,8 – nämlich »die Diversifikation der Rauchent-
kung in Europa geht auf Zigaretten zurück. wöhnungsstrategien«. In Deutschland wie im
Wie also haben die Schweden sich so Deutschland Rest der EU sei die Gesundheitspolitik noch
schnell von den Tabakkonzernen freige- 14,1 7,8 zu stark am Idealbild der Abstinenz ausge-
kämpft? Der Packungspreis jedenfalls war es richtet. Das aber, sagt Stöver gegenüber dem
Spanien
nicht. Das Päckchen Marlboro kostet umge- SPIEGEL , sei »zu eindimensional«.
rechnet an die sechs Euro. Die Tabaksteuer, 14,8 4,9 Die EU leistet sich weiterhin eine geradezu
die Stockholm erhebt, liegt nicht übermäßig EU (ohne Vereinigtes Königreich) paradoxe Tabakkontrollpolitik: Zigaretten
hoch, kein Vergleich zu der in Neuseeland, bleiben legal, obwohl sie erwiesenermaßen
12,6 5,9
wo ein Päckchen leicht mehr als 20 Euro kos- bis zu zwei Drittel ihrer langjährigen Anwen-
tet. Das allein hält dort inzwischen viele Men- Frankreich der töten. Ein risikoreduziertes Produkt wie
schen vom Rauchen ab. 13,8 4,1 Snus aber ist außer in Schweden EU-weit ver-
Stattdessen haben die Skandinavier ihren boten, obwohl es nachweislich das Tabakelend
Erfolg jahrelang vorbereitet. Das Rauchver- Italien lindert, Krankheit und Tod zurückdrängt.
bot in der Gastronomie hat Schweden schon 11,8 4,7 Als Schweden 1995 der EU beitrat, tat es
im Jahr 2005 verhängt, drei Jahre früher als Dänemark
dies unter der Maßgabe, Snus möge erlaubt
Deutschland, und von Anbeginn war es popu- bleiben. Brüssel stellte den Schweden damals
lär. In den vergangenen Jahren hat die Regie- 8,6 3,1 eine Ausnahmegenehmigung aus. Sie hat
iStockphoto / Getty Images

rung nachjustiert. Seit 2019 gilt das Rauch- zweifellos Tausende Menschenleben gerettet.
verbot überdies auf den Außenflächen von Schweden Immer wieder stellen Experten daher die Fra-
Bars und Restaurants, an Bushaltestellen, 5,3 1 ge, ob die EU nicht in der Pflicht sei, ein Pro-
Bahnsteigen, auf Sport- und Spielplätzen. dukt wie Snus in allen Mitgliedstaaten ver-
Mit all diesen Maßnahmen ist nikotinhal- * ab 15 Jahre, mit täglichem Zigarettenkonsum fügbar zu machen. Bislang ohne Erfolg.
tiger Rauch immer weiter aus dem schwedi- S Quelle: Eurostat, Stand 2019 Marco Evers n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 97


WISSEN

»On the Origin of Species« (»Über


die Entstehung der Arten«), einer
Langfassung seiner »Skizze«. Es ist
eine der zentralen Fragen der Dar-
win-Forschung, warum er zögerte, bis

»Es ist, als gestehe man er sich schließlich durch einen Kon-
kurrenten zur Veröffentlichung ge-
zwungen sah.

einen Mord« Als Darwin 1844 seinen Essay nie-


derschrieb, hatte er sich bereits einen
Namen als bedeutender Natur-
forscher gemacht. Dass er insgeheim
GESCHICHTE Warum zögerte Charles Darwin so lange, seine Evolutionstheorie eine neue Artentheorie austüftelte,
verriet er den Kollegen nicht. Nur den
zu veröffentlichen? Offenbar fürchtete der Naturforscher, als Ketzer zu jungen Botaniker Joseph Hooker zog
gelten, wenn er die Schöpfungsgeschichte der Bibel widerlegte – und wollte er ins Vertrauen. Der Brief, den er
zudem seine Frau nicht brüskieren. dem späteren Freund schrieb, ist ein
eindrucksvolles Dokument des Ha-
derns. In jeder Zeile ist spürbar, wie
m Jahr 1844 verfasste Charles unerbittlichen Wettkampf ums Über- Darwin mit seinem Gewissen und mit
I Darwin ein Testament. Er war
erst 35 Jahre alt, Anlass zur Be-
fürchtung, dass er bald sterben wür-
leben verstrickt. Nur wenige konnten
obsiegen und ihre Eigenschaften an
ihren Nachwuchs weitergeben. Der
seiner Eitelkeit ringt.
Zunächst fachsimpelt er über
Nebensächlichkeiten, macht Hooker
de, bestand nicht. Trotzdem drängte evolutionäre Fortschritt dieser weni- Komplimente, löchert ihn mit Fragen
es Darwin, seinen Nachlass zu regeln. gen war mit dem Tod der vielen er- nach biologischen Details. Erst ganz
Denn er wusste: Er hatte etwas zu kauft. am Ende seines Briefes tastet sich
vererben, das kostbarer war als alle Emma wusste um Charles’ ketze- Darwin vorsichtig zu seinem eigent-
Schätze dieser Welt. rische Gedanken. Schon vor der Ehe- lichen Anliegen vor: Er befasse sich
In einem Brief, der nur im Falle schließung im Jahr 1838 hatte er ihr derzeit mit einem »sehr vermesse-
seines Todes zu öffnen sei, bat Dar- per Brief gestanden, er hege Zweifel nen« Projekt, schreibt er. »Niemand,
win seine Frau Emma, ihm einen »fei- SPIEGEL GESCHICHTE an der Existenz eines Schöpfergottes. den ich kenne, würde es nicht töricht
erlichen und letzten Wunsch« zu er- 3/2023: »Ketzer« Seine tiefgläubige Verlobte erschrak nennen.« Auf seine Einsichten sei er
füllen. Er wies sie an, für die Veröf- Dieser Beitrag stammt und war doch dankbar für seine Of- eher versehentlich gestoßen, fast wi-
fentlichung einer »Skizze« zu sorgen, aus der aktuellen fenheit. »Meine Vernunft sagt mir, der Willen. Es klingt, als wollte sich
die sich unter seinen noch unpubli- Ausgabe von SPIEGEL dass ehrliche und gewissenhafte Darwin entschuldigen. Aus bloßer
zierten Manuskripten befinde. Ihm GESCHICHTE, die sich Zweifel keine Sünde sein können«, Neugier habe er »blindlings« Fakten
damit befasst, wie die
war bewusst, dass er ihr damit eine katholische Kirche antwortete sie. Dennoch belaste sie gesammelt, bis sich irgendwann
heikle Mission auftrug. über Jahrhunderte hin sein Bekenntnis: »Es wird sich hier »Lichtschimmer« zeigten.
Die »Skizze«, von der Darwin abweichende Lehren eine schmerzhafte Leere zwischen Dann schließlich rückt er, versehen
sprach, war ein voluminöser Essay. bekämpfte. uns auftun.« mit zwei denkwürdigen Einschüben,
Auf 189 Seiten hatte der Naturfor- Vor allem sorgte Emma sich um mit dem Knüller heraus: »Ich bin fast
scher einen ersten Entwurf seiner sein Seelenheil. Sie glaubte an ein Le- überzeugt (ganz im Gegensatz zu
Evolutionstheorie zu Papier gebracht. ben nach dem Tod, sie wollte auf ewig meiner ursprünglichen Meinung),
Dieses Werk, so verkündete Darwin mit ihrem Mann verbunden bleiben. dass die Arten nicht (es ist, als geste-
im Brief an seine Frau, werde »einen Seine gotteslästerliche Lehre aber, so he man einen Mord) unveränderlich
bedeutenden Schritt für die Wissen- befürchtete sie, könnte dem im Wege sind.« Geradezu zerknirscht schließt
schaft« darstellen. stehen. Darwin seinen Brief: »Sie werden
Die neue Artentheorie, das wuss- Die Eheleute führten lange abend- stöhnen und sich denken: Mit was für
ten beide Eheleute, bedeutete viel liche Gespräche, oft auch über Em- einem Menschen verschwende ich da
mehr als das: Darwins Gedanken bar- mas religiöse Gefühle. Es ist davon meine Zeit?«
gen genug Sprengstoff, um die gott- auszugehen, dass Darwin sehr genau Über viele Jahre hin blieb Hooker
gewollte Ordnung der Welt zu er- 1 wusste: Nach seinem Tod, und damit der Einzige, mit dem Darwin seine
schüttern. Der Naturforscher war zu zu dem Zeitpunkt, an dem Emma sei- revolutionären Thesen diskutierte.
dem Schluss gelangt, dass die Fakten, nen letzten Wunsch lesen sollte, wür- Ansonsten blieb er in Deckung – viel-
die er zusammengetragen hatte, nur de sie ihn vermutlich bereits in der leicht auch, weil ihm wenige Monate
eine Deutung zuließen: Nicht ein Hölle wähnen. Und nun bat er sie, nach seinem Geständnis ein öffent-
Foto: Matthias Hiekel / picture-alliance / dpa-Zentralbild

Schöpfer hatte die Tiere und Pflanzen einen Verleger für ebenjenes Manu- licher Eklat vor Augen führte, welches
der Erde erschaffen; sie waren viel- skript zu finden, dessentwegen ihm Sperrfeuer ihm im Falle einer Veröf-
mehr – welch ungeheuerlicher Ge- das Paradies verschlossen blieb! fentlichung drohen konnte.
danke – vom bloßen Zufall hervor- Warum wollte er ihr das antun? Von einem Anonymus verfasst,
gebracht worden. Und wenn ihm so sehr daran lag, dass erschien 1844 »Vestiges of the Natu-
Die Natur, wie Charles Darwin sie seine Theorie der Wissenschaft nicht ral History of Creation« (»Spuren
schilderte, kannte keine Barmherzig- verloren geht, wieso ging er damit der natürlichen Schöpfungsgeschich-
keit. Für einen gnädigen Gott, der nicht selbst an die Öffentlichkeit? te«). Das packend geschriebene Buch
stets Gutes will, war darin kein Platz. Nachdem Darwin den Brief an seine löste sogleich eine erbitterte Debat-
Die Welt war ein Ort, an dem einzig Frau geschrieben und versiegelt hatte, te aus.
das Recht des Stärkeren galt. Alle vergingen noch 15 Jahre bis zur Der anonyme Autor lieferte den
Kreaturen auf Erden waren in einen Drucklegung seines epochalen Werks Abriss einer Universumsgeschichte,

98 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


WISSEN

die sich radikal von der biblischen unter- ständig auswendig gelernt. Zeitlebens setzte
schied: Der Autor spekulierte über die Ver- sich Darwin mit Paleys Argumenten auseinan-
schmelzung der Planeten, über die elektro- der, und es lässt sich als sein vielleicht größtes
chemische Entstehung des ersten Lebens und Verdienst betrachten, diese entkräftet zu ha-
auch über die Menschwerdung. All das voll- ben: Darwin wies nach, dass der Zufall die
zog sich den »Vestiges« zufolge ohne direkten Rolle des Uhrmachers einnehmen kann.
göttlichen Eingriff. Er beschrieb, wie die Natur im Verlauf von
Im Volk fand das populärwissenschaftliche Äonen im fortgesetzten Wechselspiel von Va-
Werk reißenden Absatz, in Kirchen- und Ge- riation und Selektion neue, an ihre jeweiligen
lehrtenkreisen wurde es als Bedrohung der Lebensbedingungen bestens angepasste Ar-
herrschenden Ordnung verdammt. Solche ten hervorbringt – und dies, ganz ohne dass
Irrlehren brächten »Ruin und Verwirrung« es dazu eines planenden Schöpfers bedarf.
über das Land, sie könnten »die Moral und Darwin beraubte die Kirche damit ihres trif-
die gesellschaftliche Ordnung unterminie- tigsten Gottesbeweises.
ren«, warnte Adam Sedgwick, anglikanischer Es muss quälend für ihn gewesen sein:
Geistlicher, Geologe und Dekan an der Uni- Da hielt er das Geheimnis des Lebens in
versität Cambridge. Händen, doch war dieses so toxisch, dass er
Donnernd rief der Professor und Kirchen- es nicht lüften durfte. Darwins Biografen
mann zu den Waffen: Die »Vestiges« hätten Adrian Desmond und James Moore sehen in
ein Ungeheuer hervorgebracht. Man tue der seiner inneren Zerrissenheit eine der Ursa-
Menschheit einen Gefallen, wenn man »den chen für seine fortgesetzten gesundheitlichen
2
Kopf dieser schmutzigen Missgeburt zer- Probleme.
schmettert«. Mit Beklommenheit dürfte Dar- Nach seiner Rückkehr von der »Beagle«-
win diesen Wutausbruch gelesen haben: An 3 Reise plagten ihn Schwächeanfälle, Übelkeit
der göttlichen Ordnung zu zweifeln konnte und Magenprobleme. Er litt unter Herzrhyth-
gefährlich sein. musstörungen und Kopfschmerzen. Eine or-
Darwin war ein friedliebender Mensch, ganische Ursache für all diese Be-
Fotos: Heritage-Images / The Print Collector / akg-images, Natural Histor y Museum London / Science Photo Librar y / akg-images, Alamy / The Natural Histor y Museum / mauritius images

sein Sinn stand nicht nach Krawall. Zurück- schwerden ist nicht bekannt.
gezogen auf seinem Landsitz in Downe süd- Vielleicht hätte er bis zu seinem
lich von London wollte er die Wunder des Tode Stillschweigen bewahrt – wenn
Lebens entschlüsseln, er plante keinen er nicht im Jahr 1858 Post von Alfred
Anschlag auf die herrschenden Verhält- Russel Wallace erhalten hätte. Bestürzt
nisse – schon deshalb nicht, weil er musste Darwin einsehen, dass dieser jun-
selbst Profiteur dieser Verhältnisse war. ge Forschungsreisende auf seinen Expedi-
Von Geburt an zählte Darwin zu den tionen nach Brasilien und Südostasien zu
besser gestellten Leuten, das Leben als den gleichen Schlussfolgerungen gelangt war
wohlsituierter Privatgelehrter konnte wie er selbst. Aus Angst, die Urheberschaft
er sich nur leisten, weil er vom beträcht- seiner großen Idee zu verlieren, hatte es Dar-
lichen Vermögen seines Vaters zehrte. Auch win mit der Niederschrift von »On the Origin
seine Verbindungen zur Kirche waren eng, of Species« plötzlich eilig.
hatte er doch selbst Theologie studiert. Nach der Veröffentlichung brach, wie
Im streng anglikanisch geprägten Cam- Darwin es erwartet hatte, ein erbitterter Glau-
bridge erwarb Darwin seinen Abschluss und 1 | Von Darwin gesammelte Schmetterlinge benskrieg aus. Die Kirche sah sich von seiner
hätte wohl tatsächlich die Priesterlaufbahn 2 | Darwin-Porträt, 1877 3 | Originalausgabe Lehre bedroht, von den Kanzeln herab wur-
von »On the Origin of Species« 4 | Von Darwin
eingeschlagen, wenn sich nicht unverhofft die gesammelte Mollusken-Schalen
de sie als Teufelswerk verdammt. Darwin
Gelegenheit zur Weltreise mit der »Beagle« selbst allerdings hielt sich, soweit möglich,
ergeben hätte. Mit besonderer Hingabe büf- aus der Schlacht heraus. Wenn er nach der
felte er im Studium die Schriften des Natur- Rolle Gottes gefragt wurde, vermied er klare
theologen William Paley, dessen Logik und Antworten: »Meine Meinung dazu ist nicht
Beweisführung ihn faszinierten. mehr wert als die jedes anderen«, beteuerte
Berühmt ist Paley vor allem für seine Uhr- er.
macher-Analogie, mit der er die Existenz Als Darwin 23 Jahre nach der Veröffent-
eines Schöpfergottes beweisen wollte: Wer lichung seiner Theorie verstarb, war er der
irgendwo einen Stein am Wegrand finde, so wohl meistverehrte Wissenschaftler der Welt.
argumentierte Paley, der möge wohl glauben, Als britischer Nationalheld wurde er mit
dass dieser immer schon an seinem Platz ge- einem pompösen Begräbnis in der Westmins-
legen habe. ter Abbey beigesetzt.
Wer aber eine Uhr finde, der könne nicht Dennoch dauerte es noch mehr als 100
anders, als anzunehmen, dass eine solch raf- Jahre, bis sich auch der Vatikan mit Darwins
finierte Apparatur das Werk eines Uhr- Lehre aussöhnte. 1996 und somit gut 150 Jah-
machers sei. In ähnlicher Weise müsse auch re nachdem Darwin seine ketzerischen Ge-
der Organismus eines Tieres, dessen Organe danken in seiner »Skizze« formuliert hatte,
ebenso zweckmäßig zusammenwirken wie ließ Papst Johannes Paul II. verkünden, an-
die Zahnräder der Uhr, einen technisch ver- gesichts der Fülle neuer wissenschaftlicher
sierten Schöpfer haben. Erkenntnisse sehe er nunmehr »dazu Anlass,
»Ich glaube, ich habe kaum ein Buch mehr in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypo-
bewundert als Paleys ›Naturtheologie‹«, 4 these zu sehen«.
schrieb Darwin später. Er habe es fast voll- Johann Grolle n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 99


WISSEN

deren gemeinsamer Vorfahr ausgese-

»Dinos waren hen haben muss. Das Verfahren nennt


sich geometrische Morphometrie und
kommt für uns Paläontologen erst

innovativ« jetzt aufgrund moderner Rechnerleis-


tungen voll zur Geltung.
SPIEGEL: Bringt es die Forschung tat-
sächlich weiter, immer neue Arten
PALÄONTOLOGIE Der Urzeitforscher aufzuspüren?
Armin Schmitt erklärt, warum Schmitt: Natürlich. Dinosaurier wa-
ren hervorragend darin, Katastro-
die Riesenechsen die phen zu überleben. Das sollte uns
erfolgreichsten Lebewe- Menschen, die wir am Rande eines
sen aller Zeiten waren. neuen Massensterbens stehen, durch-
aus interessieren. Die Vorfahren der
Dinosaurier haben die Perm-Kata-
strophe überlebt, die 90 Prozent aller

Tim Wimborne / REUTERS


Tiere ausgelöscht hat. Es gab am Ende
der Trias ein weiteres Massensterben,
das etwa den meisten Verwandten der
Krokodile den Garaus gemacht hat.
Aber eben nicht den Dinosauriern.
SPIEGEL: Was war denn die Erfolgs-
Schmitt, 50, Paläontologe an der Erwachsener ihrer mangelnden Intelligenz ausge- formel der Dinos?
Cambridge University, begeistert sich Tyrannosaurus, storben sind, ist schlicht falsch. Schmitt: Sie waren ungeheuer inno-
Jungtier: »Eine
seit seiner Kindheit für Dinosaurier. SPIEGEL: Sie behaupten in Ihrem vativ und gehören damit zu den er-
herzerweichende
Sein neues Buch soll nun mit Mythen Geschichte« Buch, die Zunft der Dino-Forscher folgreichsten Lebewesen, die jemals
über die Riesenechsen aufräumen*. erlebe ein goldenes Zeitalter. Warum? auf diesem Planeten gelebt haben.
Schmitt: Seit der Jahrtausendwende Wenn wir heute etwa von der Vogel-
SPIEGEL: Herr Schmitt, was wäre pas- haben wir im Schnitt jedes Jahr 50 lunge sprechen, ist das falsch. Wir
siert, wenn die großen Dinosaurier neue Dinosaurierarten beschrieben. müssten Dinosaurierlunge sagen. Da-
vor 66 Millionen Jahren nicht infolge Wir kennen also heute 1000 Saurier- mit ist die Fähigkeit gemeint, auch
eines Meteoriteneinschlags ausgestor- arten mehr als im Jahr 2000. Vor beim Ausatmen Sauerstoff in die Lun-
ben wären? 20 Jahren wussten wir auch noch we- ge zu pumpen. Ein großer Vorteil in
Schmitt: Das ist natürlich spekulativ, nig über die Atmung der Dinosaurier Zeiten wie der Trias, als der Sauer-
aber die Säugetierevolution hätte oder wie etwa Langhalssaurier ihren stoffgehalt in der Luft auf unter 10 Pro-
sich vermutlich anders vollzogen – Hals bewegt haben. zent gefallen war und vielerorts Tem-
sowohl im Meer als auch an Land. SPIEGEL: Und warum wissen wir das peraturen von um die 40 Grad Celsius
Wahrscheinlich hätte es die Wale nie heute? herrschten. Als dann am Ende der
gegeben, weil die mächtigen Mosa- Schmitt: Weil uns erst moderne Tech- Trias die Temperaturen gefallen sind,
und Plesiosaurier diesen Lebensraum nik bestimmte Erkenntnisse ermög- haben die Dinosaurier auch darauf
weiter besetzt hätten. An Land wären licht hat. Dinosaurierknochen sind mustergültig reagiert.
die Säugetiere zu einem Nischen- teils riesig, aber durch Scanverfahren SPIEGEL: Und zwar wie?
dasein verurteilt gewesen, denn alle wissen wir nun, dass diese giganti- Schmitt: Vielen Sauriern wuchs nun
wichtigen Ökosysteme waren von schen Knochen an manchen Stellen ein Federkleid. Das hat sie warm ge-
den Sauriern belegt. Eines ist sicher: dünn sind wie Papier. Sie besaßen halten und ihnen ermöglicht, in Jagd-
Uns Menschen hätte es dann nicht Hohlknochen, die von Luftkanälen gründe vorzudringen, wo andere Tie-
gegeben. durchzogen waren und den Tieren bei re nicht hinkamen. Das kann man
SPIEGEL: Aber wäre die Zeit der Rie- der Atmung geholfen haben – so, wie heute noch an den Nachfolgern der
senechsen nicht auch ohne die Me- wir es heute von Vögeln kennen. Die- Dinosaurier erkennen: den Vögeln.
teoritenkatastrophe irgendwann zu se Wesen waren viel zu riesig, um sich Die Pinguine sind die einzige Wirbel-
Ende gegangen? Waren sie nicht viel nur über die Haut abzukühlen. Dazu tiergruppe, die dauerhaft in der Ant-
zu groß für ihr relativ kleines Gehirn? brauchten sie eben eine innere Klima- arktis leben kann.
Schmitt: Einige unserer Vorfahren anlage, sonst wären sie umgekippt. SPIEGEL: Die Dinosaurier waren also
hatten ein wesentlich ungünstigeres Wissenschaftler So etwas können wir heute mit Com- Alleskönner?
Verhältnis von Körpermasse zu Ge- Schmitt putersimulationen berechnen, mit der Schmitt: Leider nein, und das ist eine
hirngröße, als das bei vielen Dino- auch Ingenieure arbeiten. Noch vor herzerweichende Geschichte. Wenn
sauriern der Fall war. Die Dinosaurier 20 Jahren war das nicht möglich. ich vorhin von der Brutpflege der Sau-
waren sehr intelligent. Wir wissen SPIEGEL: Gibt es noch weitere neue rier sprach, dann trifft das nicht auf
heute, dass sie sich sozial verhalten Methoden? den T. rex zu. Man muss sich vorstel-
und Brutpflege betrieben haben. Sie Schmitt: Die Entwicklung ist wirklich len: Die Mutter wog ungefähr fünf
haben miteinander kommuniziert irre. Wir können heute das Aussehen Tonnen, die Babys wogen aber nur
und funktionierende Rudel gebildet. von Tieren vorhersagen, die wir im etwa fünf Kilogramm. Das Weibchen
Zu sagen, dass die Dinosaurier wegen Gelände noch gar nicht gefunden ha- hätte seinen Nachwuchs zerquetscht,
Georg Oleschinski

ben. Indem wir bestimmte Fixpunkte wenn es ihm zu nahe gekommen wäre.
bei verwandten Sauriern vergleichen, Also waren die Kleinen nach der Ge-
* Armin Schmitt: »Großartige Giganten – Den
letzten Geheimnissen der Dinosaurier auf der können wir deren Evolution nachvoll- burt komplett auf sich allein gestellt.
Spur«. dtv; 352 Seiten; 13 Euro. ziehen und ziemlich exakt sagen, wie Interview: Frank Thadeusz n

100 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Beide gleich. Denn beide verstehen ihr Handwerk.
Wer von Lina Reitz ist Raumausstattermeisterin. Bei der Stilberatung
schätzen Kundinnen und Kunden ihren besonderen Sinn
für Farben, Formen und Stoffe. Als gelernter Zupfinstrumen-

beiden tenbauer gestaltet, entwickelt und baut Boris Dommenget


besondere Gitarren, unter anderem für Bon Jovi, Metallica,
Status Quo und die Scorpions.

ist Handwerk ist vielseitig wie das Leben. Es schmeckt,


klingt, macht schön oder sieht gut aus. Und funktioniert.

kreativer? Jetzt entdecken, wie kreativ das Handwerk ist:


www.handwerk.de/neudenken
KULTUR

Wissing, Baerbock, Lindner, Habeck 2021

Indianerehrenwort!
STREITKULTUR Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es. Den Zauber der sogenannten Fortschrittskoalition
fing ein Selfie ein: Volker Wissing mit Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck. Ein Rückblick.

enn man heute das Fotoalbum aus ein Heizungsgesetz, es ist sehr kompliziert. men. Dass sich Aufbruchstimmung irgend-
W dem vorletzten Herbst aufschlägt,
ist man doch verwundert, wie schön
damals alles schien, die Zukunft vor Augen.
»Wortbruch« wirft der Habeck dem Lindner
vor. Wortbruch, das klingt schon deshalb
nach einer Produktenttäuschung, als es doch
wann verflüchtigt, ist normal. Schließlich ist
man dann ja auch irgendwann mal aufgebro-
chen. Aber wenn einem auf dem Weg (wo-
[M] DER SPIEGEL, Volker Wissing / FDP / instagram / dpa, Getty Images

Man meint, den Aufwind zu spüren. Viel- modern, frisch, zeitgemäß zugehen sollte. hin, eigentlich?) so schnell die Puste ausgeht,
leicht sogar einen Anflug von: Wärme? In ihr »Wortbruch« weckt andere Assoziationen: muss man sich schon fragen, ob man sich die
digitales Freundschaftsbuch schrieben die Kohlrouladen, schlabberige Anzüge, Männer- richtigen Reisebegleiter ausgesucht hat. Das
vier auf jeden Fall: »Auf der Suche nach einer bünde. Der Schweißgeruch einer Umkleide- Tolle am Prinzip des Selfies ist, dass man nur
neuen Regierung loten wir Gemeinsamkeiten kabine nach einem verlorenen Hallenturnier vorgibt, den späteren Betrachter anzuschau-
und Brücken über Trennendes aus. Und fin- mischt sich mit kindischer Enttäuschung: Der en, tatsächlich aber sich selbst anschaut. Inso-
den sogar welche. Spannende Zeiten.« Letz- hat mir doch sein Indianerehrenwort fern war das Bild auch die Quelle eines Miss-
teres haben sie gehalten, da kann sich nie- gegeben! Denn das sollte ja das Neue sein: verständnisses: Nicht wir waren die Zukunft,
mand beschweren. Auch Gemeinsamkeiten Vertrauen, Kollaboration, ein gemeinsames sondern die vier selbst. Die Zukunft wird
wurden gefunden. Die Infrastruktur jedoch Ziel vor Augen. Da vorn, da geht’s hin, und allerdings irgendwann zur Gegenwart, und in
erwies sich als mangelhaft, vielleicht hat der wir nehmen euch mit. Auch deshalb wurde der sind wir jetzt angekommen. Kühl ist es,
Verkehrsminister Wissing ja einen Anteil dieses Foto veröffentlicht. Um zu zeigen: und im Rückblick wundert man sich über
daran. Gerade kollabieren die Brücken zwi- Wir nehmen euren Auftrag ernst, wir sind die eigene Hoffnung. Das allerdings passiert
schen den Grünen und der FDP. Es geht um bereit, weil ihr es seid, und jetzt alle zusam- oft, wenn man alte Fotos anschaut. XVC

102 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Ein Traum von nung, was das bedeutete.« Auch Kern seines Schaffens – eine su-
in den folgenden Nächten sei er chende und zweifelnde, eine
einem Album von Worten heimgesucht wor- tiefe und triumphierende Spiri-
MUSIK Im Jahr 2018 hatte Paul den, die er nach dem Aufwa- tualität. Stimme und akustische
Simon, heute 81, einigen mu- chen notierte: »Und dann habe Gitarre tragen die Handschrift
sikalischen Mauerblümchen sei- ich angefangen, sie zusammen- des Meisters. Darüber hinaus
ner langen Karriere eine liebe- zufügen.« Das Ergebnis ist eine unterscheidet sich »Seven
volle Überarbeitung angedei- ebenso zarte wie wuchtige, Psalms« grundsätzlich von allem,
hen lassen – und danach seinen ebenso schlichte wie ausufernde was Simon zuvor gemacht hat.
Abschied von der Bühne er- Meditation über Gott und seine Das Album dauert nur etwas
klärt: Das Album »In the Blue Abwesenheit, über Sterblichkeit länger als 30 Minuten. Die ein-
Light« war so etwas wie ein ele- und Unsterblichkeit – den zelnen Lieder gehen, wie Sätze
gischer Nachruf auf sich selbst – Sinn des Lebens. Vergleichbare einer Sinfonie, fließend ineinan-
Simon-Albumcover
und auf eine Karriere, die in sie- Spätwerke sind nur den Größ- der über. Im Bewusstseinsstrom
ben Jahrzehnten immergrüne »The Rhythm of the Saints«). ten vergönnt, etwa Leonard der Lyrics treiben bisweilen
Folksongs hervorgebracht hat Nun war’s genug. Doch am Cohen, Johnny Cash oder David Anspielungen auf frühere Song-
(»The Sound of Silence« oder 15. Januar 2019, so hat er es nun Bowie. Fordernd ist »Seven zeilen vorbei. Texturen kom-
»The Boxer« mit Art Garfun- in einem Videotrailer zu seinem Psalms«, denn ohne Aufmerk- men und gehen, Tempi wech-
kel), eleganten Softrock (»50 neuen Album erzählt, träumte samkeit und Versenkung er- seln. Und das anrührende Finale
Ways to Leave Your Lover«) Simon davon, an einem Stück schließt es sich kaum. Lässt man singt er Hand in Hand mit sei-
und weltmusikalische Popmei- namens »Seven Psalms« zu sich aber ein, erlaubt Simon ner Frau, Edie Brickell:
lensteine (»Graceland« oder arbeiten: »Ich hatte keine Ah- einen unverstellten Blick auf den »Amen«. So soll es sein. FRA

Agent in Therapie lientherapeutische Belange. Rembrandt to go


Während die beiden im Dschun-
SERIEN Wie schwierig es ist, als gel mit dem Jeep Terroristen AUSSTELLUNGEN Mottonächte,
Geheimagent ein geregeltes totfahren, jammert die Tochter Mitmachprojekte, Jugend-
Familienleben zu führen, zeigte darüber, wie sie früher bei Gei- gremien – Museen kommen auf
Arnold Schwarzenegger schon genkonzerten Dads Unterstüt- allerlei Ideen, um mehr junge
1994: In »True Lies« verkörper- zung vermisste. Und während Menschen zu begeistern. Das
te er einen Spion, der getarnt sie in Unterwäsche dem Feind Amsterdamer Rembrandthaus
als Handelsvertreter Super- Informationen zu entlocken versucht sich an einer beson-
schurken ausschaltet, bei all der versucht, sinniert der Alte darü- ders nachhaltigen Methode:
Weltenrettung aber die eigene ber, ob bei ihrer Aufklärung im Vom 19. bis zum 25. Juni beher-
Ehe vernachlässigt. Für die Net- Teenageralter alles richtig ge- bergt das Museum ein Pop-up-

Mark Bolk / Museum Rembrandthuis


flix-Serie »Fubar« wird dieses laufen ist. Im dramaturgischen Tattoo-Studio, in dem sich die
Motiv nun variiert: Schwarzen- Dauerleerlauf werden Gags an- Besucherinnen und Besucher
egger kämpft als Agent kurz einandergereiht wie in einer vom niederländischen Maler
vor der Rente um die Rück- Action-Comedy der Neunziger. Rembrandt van Rijn inspirierte
eroberung seiner Ex-Frau – und Nur die Selbstironie hält sich in Motive stechen lassen können.
um die Liebe seiner Tochter Grenzen. Einmal gibt es einen Die Idee dazu hatte der Tattoo-
(Monica Barbaro). Die junge Gag mit Viagra – das nimmt Künstler Henk Schiffmacher,
Frau ist inzwischen selbst Agen- allerdings der neue Galan der auch er Niederländer und ein
Schiffmacher mit Team
tin und wird mit dem Vater für Ex-Frau. Schwarzenegger, in- Meister seines Fachs. Bekannt
riskante Operationen zusam- zwischen 75, will Zweifel über ist er unter dem Namen Hanky von Tattoo-Devotionalien, de-
mengespannt. Im Verlauf der die eigene Potenz offenbar Panky. In sein Amsterdamer finiert sie eindeutig als Künstler,
unvermeidlichen Tötungsvor- nicht aufkommen lassen: Viagra Tattoo-Studio Schiffmacher & daran lässt sie keinen Zweifel.
gänge bleibt viel Zeit für fami- brauchen nur die anderen. CBU Veldhoen kommen Menschen Auch die Technik passt gut zu
aus aller Welt, darunter Popstars der, die der alte Meister Rem-
wie Lady Gaga und die Red brandt im 17. Jahrhundert für
Hot Chili Peppers. Die ange- seine Radierungen angewendet
kündigte Aktion trägt den Titel hat: Damals wurde geritzt, heute
»The Poor Man’s Rembrandt wird gestochen. Für 100 bis
Project«. Die Kunst des kleinen 250 Euro kann man in Amster-
Mannes – so hat laut Schiff- dam unter diversen Motiven
macher ein alter englischer Tä- auswählen, vom Selbstporträt
towierer mal sein Wirken be- über eine Windmühle bis hin zur
schrieben: »Du schaffst für Leu- Signatur des Malers, der einige
te ein Kunstwerk, die sonst nie- der berühmtesten und wertvolls-
mals Kunst sammeln würden.« ten Gemälde der Welt geschaf-
Die Museumsdirektorin hat fen hat. Die Termine sind schon
dem britischen »Guardian« er- fast alle ausgebucht. Schiffma-
zählt, dass sie immer daran cher plant mit seinem Team be-
interessiert sei, mit zeitgenössi- reits die nächste Pop-up-Aktion,
schen Künstlern in Kontakt zu wo und mit welchem Künstler,
kommen. Und Schiffmacher, weiß er noch nicht: »Die Mög-
Net flix

Barbaro, Schwarzenegger
Hüter einer riesigen Sammlung lichkeiten sind unendlich.« KS

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

1 2

Laura Stevens / DER SPIEGEL


3

Aurelien Mole / Pinault Collection / Kunstwerk: »Horse and Rider, 2014« von Charles Ray

Domine Jerome / ABACA / picture alliance


1 | Collection Pinault in der alten Getreidebörse von Paris 2 | Pinault-Direktorin
Lavigne 3 | Gebäude der Fondation Vuitton von Frank Gehry
4 | Zukünftiger Fondation-Cartier-Leiter Dercon 5 | Ausstellungsraum im
bisherigen Gebäude der Fondation Cartier in Paris

Ber trand Gardel / hemis.fr / ddp


Christophe Archambault / AFP

104 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


KU LT U R

Mein Konzern, mein Bild, mein Museum


KUNST Reiche Privatsammler wie die Milliardäre Bernard Arnault und
François Pinault machen mit ihren Ausstellungen den staatlichen Museen in Paris zunehmend Konkurrenz.
Ist das für die Stadt eher eine Chance oder eine Gefahr?

nten in der Rotunde der Bourse de seum geholt. »Mir war es immer ein Anliegen, eine Transformation des Mäzenatentums, bei
U Commerce, dem Sitz der Collection
Pinault in Paris, hämmert und klopft
es heftig. In wenigen Tagen wird im Haus eine
Kultur zu demokratisieren, zeitgenössische
Kunst zugänglich zu machen«, sagt Lavigne
in ihrem riesigen Büro.
dem es nicht nur um Geld, sondern auch um
Aufmerksamkeit und Anerkennung geht?
»Wir sollten aufhören mit diesen ewigen
neue Ausstellung eröffnet. Emma Lavigne, Umso mehr verstörte ihr Abgang die Pari­ Klischees, mit der immer wieder zitierten
55, Direktorin des Hauses, an den Füßen gold­ ser Kulturszene, die daraufhin einen Brain­ Trennung von öffentlichen und privaten Ein­
farbene Stiefeletten, rennt die Treppen hinauf drain und eine Systemkrise der öffentlichen richtungen, die letztendlich eine künstliche
in den ersten Stock. Sie läuft vorbei an den Museen beklagte. »Le Monde« schrieb von ist«, sagt Lavigne. »Ich mache hier keinen
steinernen Tauben des Künstlers Maurizio einer Schlacht, die die privaten Sammler nun anderen Job als zuvor, ich bin genauso frei
Cattelan. Vorbei an Besuchern, von denen bis um Talente führten, die in staatlichen Insti­ wie zuvor.« Pinault und sie teilten dieselben
zu 3500 täglich kommen, um sich hier un­ tutionen groß geworden sind. Werte. »Auch er möchte seine Sammlung
bequeme, oft schwer verständliche Kunst an­ Vor Jahren schon war die Kuratorin Suzan­ jenen nahebringen, für die Kunst nicht selbst­
zuschauen. Für ein zeitgenössisches Museum, ne Pagé vom Museum für Moderne Kunst zur verständlich ist.«
das Werke zeigt, die gerade erst entstanden Fondation Vuitton von Pinaults Konkurrenten Seit Monaten kämpft sie gegen den Ver­
sind, ist das ein Rekord. Bernard Arnault gewechselt. Und dann wurde dacht an, sie habe sich an einen Milliardär
Lavigne bleibt vor einer weißen Tür ste­ vor einigen Monaten bekannt, dass der Belgier verkauft. Es habe in der Kunst immer private
hen. Dahinter liegt ihr Büro: groß, hell, chef­ Chris Dercon, ehemals Leiter der Volksbühne Sammler gegeben, sagt Lavigne. Und Mu­
etagentauglich. Es ist der Raum einer Frau, in Berlin und der Tate Modern in London und seen, die von ihren Schenkungen profitiert
die ungern allein arbeitet. In der Mitte ein bisher Präsident der nationalen Museen des haben. In den USA störe sich auch niemand
riesiger Besprechungstisch, links davon ste­ Grand Palais, ab 1. Juni zur privaten Fonda­ daran, dass das MoMA in New York nicht
hen zwei tiefe, dunkelgraue Stoffsofas, dane­ tion Cartier geht, die das gleichnamige Luxus­ staatlich sei. Warum also nicht hier?
ben ein Coffeetable, darauf Kunstbücher. Ihr marken­Unternehmen finanziert. Noch ein Beide Modelle könnten nebeneinander
Schreibtisch wirkt verschwindend klein. Fahnenflüchtiger also. existieren, es gäbe fließende Übergänge und
»Café?«, fragt Lavigne, »ich brauche jetzt Selbst Präsident Emmanuel Macron, der Kooperationen: »Die Collection Pinault ver­
einen.« Sie ist seit frühmorgens wach, die neue Dercon duzt und einst auf den Posten im leiht ständig Werke ihrer Sammlung an öf­
Ausstellung ist bereits die vierte, die sie in die­ Grand Palais berufen hatte, konnte ihn davon fentliche Museen, die ohne diese Leihgaben
sem Jahr für François Pinault kuratiert. Der nicht abhalten. Dercon, so war zu lesen, ging ihre Ausstellungen nicht machen könnten.
Milliardär und Unternehmer, zu dessen Kon­ aus mehreren Gründen: Er hätte demnächst Wo also ist das Problem?«
zern unter anderem die Luxusmarken Balen­ die Altersgrenze für Posten im Staatsdienst Vielleicht ist es die finanzielle Übermacht,
ciaga, Gucci und Yves Saint Laurent gehören, erreicht. Außerdem baut auch Cartier, die mit der sich die neuen Mäzene ihren Platz in
unterhält neben der Bourse de Commerce älteste aller privaten Stiftungen in Paris, ihre der französischen Kunstszene erkauften, die
noch zwei weitere Museen in Venedig. Zudem Aktivitäten aus. Ende 2024 wird die Fonda­ für Misstrauen sorgt: Knapp 800 Millionen
organisiert die Collection Pinault Ausstellun­ tion einen zweiten Standort direkt gegenüber Euro investierte Bernard Arnault, reichster
gen in Pinaults alter Heimat, in Rennes und dem Louvre eröffnen. Mit dem Umbau des Mann der Welt und Chef des Luxuskonzerns
Dinard. Lavigne ist für alle Orte zuständig. Gebäudes hat sie den französischen Archi­ Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH), in den
Sie arbeitet noch nicht lange hier. Pinault tekten Jean Nouvel beauftragt. Da habe Der­ Bau des US­Stararchitekten Frank Gehry, in
warb sie erst vor anderthalb Jahren vom staat­ con nicht widerstehen können, so erzählt man dem er 2014 die Fondation Vuitton eröffnete.
lichen Museum für zeitgenössische Kunst im es sich in Paris. Denn er mag Baustellen und Seitdem organisiert die Stiftung dort Aus­
Pariser Palais de Tokyo ab. Da war sie schon neue, große Aufgaben. stellungen, wie sie sich kein staatliches Museum
so etwas wie ein Star der französischen Kunst­ Was aber geschieht da gerade? Erlebt mehr leisten kann. Für eine spektakuläre Schau
szene. Lavigne gilt als eher links, experimen­ Frankreich eine Privatisierung seiner Kunst­ im Winter 2021/22, die Kunstsammlung der Mos­
tierfreudig und unkonventionell. Im Palais de szene durch einige wenige Milliardäre, eine kauer Brüder Morozow mit Bildern der russi­
Tokyo kuratierte sie eine spektakuläre Aus­ Machtverschiebung? Tritt nun das ein, was schen und französischen Moderne, wurde allein
stellung der deutschen Künstlerin Anne Imhof Chris Dercon schon vor Jahren prophezeite: der Versicherungswert der Werke, von denen
und ließ dafür Teile des Gebäudes bis auf die die Stiftung viele auf eigene Kosten restaurieren
Rohbetondecken zurückbauen. Für die neue ließ, mit zwei Milliarden Euro beziffert.
Ausstellung der britischen Künstlerin Tacita »Blockbuster­Exhibitions« nennen das die
Dean ließ sie in der Bourse de Commerce Kritiker. Von einem unverhofften Geschenk
einen eigenen Pavillon bauen. »Das größte Missverständnis für alle sprechen jene, die sich mit den priva­
Im Ableger des Centre Pompidou in Metz, ist vielleicht, dass es ten Stiftungen arrangiert haben. 1,4 Millionen
den sie fünf Jahre lang leitete, hatte sie zuvor Besucher hat die Fondation Vuitton mittler­
die Besucherzahlen auf bis 350.000 jährlich immer nur um Geld geht.« weile jährlich – das entspricht knapp der Hälf­
gesteigert und kulturferne Milieus ins Mu­ Emma Lavigne te der Eintrittszahlen des Pariser Centre Pom­

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Hergott. Die Frage sei nur, ob der


Druck irgendwann zunehme, bekann-
tere, publikumswirksamere Künstler
und Künstlerinnen ins Museum zu
holen. Die Unternehmen, mit denen
er arbeitet, mögen gern klingende
Namen.
Dabei müsste man angesichts der
großen Schauen der privaten Samm-
ler das genaue Gegenteil tun, so Her-
gott: das Unbekannte, Unbequeme
ins Museum holen, »das Publikum
Dinge entdecken lassen und damit
unserem Auftrag als öffentliches Mu-
seum gerecht werden. Die Situation
zwingt uns, uns neu zu definieren.
Und das ist nicht das Schlechteste«.
Die Omnipräsenz der privaten Ak-
teure hat noch einen anderen Vorteil:
Auch dank ihnen ist Paris wieder zur
Kunstmetropole geworden, wenn es
um zeitgenössische Kunst geht. Nach
Jahren, in denen alle neidisch nach
Berlin oder London schauten, ziehen

Julien de Rosa / AFP


die großen Galerien nun wieder in die
französische Hauptstadt, finden mehr
und mehr Verkäufe hier statt – auch
weil es in London seit dem Brexit
kompliziert geworden ist, Werke aus
pidou, eines der größten Museen für Hergott hat die Unabhängigkeit Vuitton-Modenschau Großbritannien auszuführen.
moderne Kunst weltweit. nationaler Museen jahrelang tapfer im Louvre-Innenhof »Seit fünf Jahren knüpft die Stadt
2022: Luxuslabels
Sieben Jahre nach LVMH eröffne- verteidigt. In einer idealen Welt soll- und Hochkultur
wieder an eine Zeit an, die Paris viel-
te die Collection Pinault ihr Museum te man als öffentliche Institution aus- sind nah zusammen- leicht zuletzt in den Sechzigerjahren
im Pariser Hallenviertel. In nur zwölf schließlich vom Staat finanziert wer- gerückt erlebt hat«, sagt der Galerist Kamel
Monaten hatte François Pinault die den, um frei zu sein, so hat er es in Mennour. »Und das hat definitiv mit
ehemalige Getreidebörse für 160 Mil- jedem Interview gesagt. den privaten Sammlungen zu tun; sie
lionen Euro von dem japanischen Aber schon seit Langem muss Her- haben Synergieeffekte geschaffen.«
Architekten Tadao Ando umbauen gott für jede Ausstellung in seinem Mennour unterhält inzwischen vier
lassen. Im Gegensatz zu Arnault zeigt Haus bis zu 40 Prozent des Budgets Standorte in Paris und beschäftigt
er dort vor allem Bilder und Installa- über Nebeneinnahmen reinholen. Zu 45 Mitarbeiter.
tionen seiner Sammlung. seinem Team gehört deshalb eine Lange hätten ihn die Leute auf Rei-
Über Geld reden der Milliardär und eigene Veranstaltungsabteilung, die sen mitleidig angeschaut, erzählt er.
seine Mitarbeiter nicht, aber Pinaults Ausstellungsräume an Firmen ver- »Paris sei ja eine schöne Stadt, aber
jährliches Budget für Ankäufe kennt mietet und Privatführungen für sie leider nur ein großes Freilichtmu-
im Gegensatz zu den Etats staatlicher organisiert. Anschließend laden die seum«, sagten sie mir dann, so Men-
Museen keine Grenze nach oben. Im Unternehmen ihre Kunden zu einem nour. In der Kunstszene tue sich
Jahr 2016 soll er 182 Millionen Euro Champagner- oder Cocktailempfang nichts. »Das ist nun vorbei. Paris ist
für neue Werke ausgegeben haben. im Museum ein. wieder ein Ort, an dem etwas pas-
2018 kaufte Pinault in New York allein Das Musée d’Art Moderne ist nicht siert.«
an einem langen Wochenende Kunst das einzige Museum, das auf diese Vor vier Jahren eröffnete der Gale-
für 20 Millionen Euro. So berichtete es Weise seine Budgets aufbessert. Im rist David Zwirner, eines der Schwer-
die »Le Monde«-Journalistin Rapha- Pariser Grand Palais finden nicht nur gewichte der Branche, neben New
ëlle Bacqué, die ihn damals begleitete. Kunstmessen und das Pferdespring- York und London eine Galerie in Pa-
Dem Pariser Centre Pompidou steht turnier der Luxusledermarke Hermès ris und schwärmte da schon von der
pro Jahr für Ankäufe zeitgenössischer statt, sondern auch aufwendige Cha- Dynamik der Stadt. Seit dem vergan-
Kunst nur ein Zehntel von Pinaults nel-Modeschauen. Schon Karl Lager- genen Oktober hat Paris auch eine
Weekend-Shoppingtour zur Verfü- feld ließ die Ausstellungsfläche zu neue Kunstmesse: »Paris+«, die die
gung: zwei Millionen Euro. einem riesigen Strand umbauen. Auch seit fast fünf Jahrzehnten existieren-
»Wir spielen nicht in derselben der Louvre vermietet seinen Innenhof de Fiac ablöste. »Paris+« wird von
Liga. Dazu haben wir nicht mehr die während der Pariser Fashion Week an den Machern der Art Basel organi-
Mittel«, sagt Fabrice Hergott, 61, vom Louis Vuitton für Modenschauen. Die »Wir müssen siert und ist professioneller und inter-
Pariser Musée d’Art Moderne, das er Luxuslabels und die Hochkultur sind den nationalen nationaler als ihre Vorgängerin.
seit 2007 leitet. »Eine Ausstellung wie ziemlich nah zusammengerückt. Es gehe nun darum, das Beste aus
jene zur Zusammenarbeit von Andy »Bis jetzt kommen wir zurecht mit Museen dieser Entwicklung zu machen, sagt
Warhol und Jean-Michel Basquiat, diesem Nebengeschäft, wir haben helfen, sie Galerist Mennour. Dazu gehöre für
die die Fondation Vuitton gerade unsere Autonomie dabei nicht ver- ihn, vollkommen irre Preissteigerun-
zeigt, kann kein öffentliches Museum loren. Noch bestimme ich, wen wir stärken.« gen einzelner Künstler möglichst zu
in Frankreich mehr finanzieren.« ausstellen, nicht die Sponsoren«, sagt Chris Dercon vermeiden. Denn die privaten Samm-

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ler beeinflussen den Kunstmarkt inzwischen


nachhaltiger als viele Museen. Insider nennen
das auch den »Pinault-Effekt«. Werke des
brasilianischen Künstlers Lucas Arruda oder
der Französin Claire Tabouret, die beide in BELLETRISTIK SACHBUCH
der Collection Pinault vertreten sind, konnten
bei Auktionen teilweise zum Vierfachen des Der Kampf gegen die Klima- Geschichte wird gemacht –
Schätzwerts versteigert werden. Tabouret gilt krise ist für sich schon ein nicht nur von Herrschern
inzwischen als die teuerste lebende Künst- Thriller. Der österreichische und Erfinderinnen. Sondern
Autor legt noch etwas auch von der Natur und
lerin Frankreichs. Spannung drauf: China klimatischen Veränderun-
»So etwas gilt es unbedingt zu vermeiden, greift in diesem Roman zu gen. Das zeigt der britische
auch weil es für die Künstler nicht gut ist«, radikalen technischen Historiker, der in diesem
Lösungen, um das Klima zu Buch mehrere Jahrtausende
sagt Mennour. François Pinault gehört seit kontrollieren. | Platz 15 durchmisst. | Platz 15
über 20 Jahren zu seinen Kunden. »Aber wir
achten sehr darauf, dass nicht bekannt wird,
welche Künstler er kauft. Weil wir genau wis- 1 (1) Lucinda Riley / Harry Whittaker Atlas – 1 (1) Dirk Oschmann Der Osten –
Die Geschichte von Pa Salt Goldmann; 24 Euro eine westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro
sen, was dann passiert, die Preise würden
sofort hochgehen.« Außerdem sei es wesent- 2 (2) Robert Seethaler 2 (3) Joachim Gauck / Helga Hirsch
lich, auch als Galerie die öffentlichen Museen Das Café ohne Namen Claassen; 24 Euro Erschütterungen Sieder; 24 Euro
massiv zu unterstützen mit Leihgaben und
Kooperationen. Denn bestimmte Künstler 3 (3) Martin Suter 3 (6) Brianna Wiest 101 Essays, die
kann sich selbst das Centre Pompidou nicht Melody Diogenes; 26 Euro dein Leben verändern werden Piper; 22 Euro
mehr leisten.
Im vergangenen Jahr lieh die Collection 4 (–) T. C. Boyle 4 (4) Bas Kast
Blue Skies Hanser; 28 Euro Kompass für die Seele C. Bertelsmann; 24 Euro
Pinault dem Museum Werke des US-Bild-
hauers Charles Ray aus, organisierte eine Ray- 5 (6) Bonnie Garmus 5 (5) Yael Adler
Retrospektive als Doppelausstellung in bei- Eine Frage der Chemie Piper; 24 Euro Genial vital! Droemer; 20 Euro
den Häusern und finanzierte den dazugehö-
rigen Katalog. Für viele war diese Premiere 6 (7) John Irving 6 (10) Ewald Frie
ein Beleg dafür, dass beide Seiten nicht un- Der letzte Sessellift Diogenes; 36 Euro Ein Hof und elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro
bedingt Gegner sein müssen.
7 (4) Dora Heldt Liebe oder 7 (7) Katja Hoyer
»Wir müssen den nationalen Museen hel-
Eierlikör – Fast eine Romanze dtv; 15 Euro Diesseits der Mauer Hoffmann und Campe; 28 Euro
fen, sie stärken, damit sie nicht untergehen«,
sagt Chris Dercon, der zukünftige Direktor der 8 (5) Benjamin von Stuckrad-Barre 8 (11) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben,
Fondation Cartier. Dercon steht als jüngster Noch wach? Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
Überläufer wie kein anderer für die sich zu-
nehmend verwischenden Grenzen, die er einst 9 (18) Eugen Ruge Pompeji oder 9 (9) Kai Diekmann
beklagte. »Ich sehe das Ganze nicht als teufli- Die fünf Reden des Jowna dtv; 25 Euro Ich war BILD DVA; 34 Euro

sche Struktur, ich werde daran arbeiten, dass


10 (8) Martin Walker 10 (2) Prinz Harry
es beiden nutzt, den Privaten wie den Öffent- Troubadour Diogenes; 26 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
lichen. Man muss das alles total neu denken.«
Und an manchen Tagen in Paris wirkt es 11 (15) Simon Urban / Juli Zeh 11 (8) Silke Müller
so, als ob das schon gelingen würde. Am Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro Wir verlieren unsere Kinder! Droemer; 20 Euro
Dienstagabend gegen 19 Uhr parkt eine Audi-
Limousine mit getönten Scheiben vor der 12 (11) Maja Lunde 12 (13) Brianna Wiest When You’re Ready,
Bourse de Commerce. François Pinault steigt Der Traum von einem Baum btb; 24 Euro This Is How You Heal Piper; 22 Euro

aus, Vernissagenpublikum betritt die alte Ge-


13 (9) Jojo Moyes 13 (18) Timothy Garton Ash
treidebörse. Direktorin Emma Lavigne steht Mein Leben in deinem Wunderlich; 25 Euro Europa Hanser; 34 Euro
vor der monumentalen Kreidezeichnung
eines schmelzenden Gletschers der Künstlerin 14 (13) Ewald Arenz 14 (12) Dorothee Röhrig
Tacita Dean und begrüßt die Gäste, unter Die Liebe an miesen Tagen Dumont; 24 Euro »Du wirst noch an mich denken« dtv; 24 Euro
ihnen viele Kollegen der öffentlichen Museen.
Die Fragilität der Welt, das ist das Thema der 15 (19) Marc Elsberg 15 (–) Peter Frankopan
neuen Ausstellung. °C – Celsius Blanvalet; 26 Euro Zwischen Erde und Himmel Rowohlt Berlin; 44 Euro

Man solle sich nicht so viele Sorgen machen,


16 (14) Trude Teige 16 (17) Gabriel Zuchtriegel
hatte Lavigne zuvor gesagt. Sie empfinde das, Als Großmutter im Regen tanzte S. Fischer; 22 Euro Vom Zauber des Untergangs Propyläen; 29 Euro
was gerade geschehe, als sehr stimulierend.
Frankreich werde internationaler, für die 17 (10) Julia Schoch 17 (–) Tim Marshall
Kunstwelt würden sich zurzeit neue Räume Das Liebespaar des Jahrhunderts dtv; 22 Euro Die Geografie der Zukunft dtv; 26 Euro
erschließen. Im Übrigen kaufe Pinault immer
noch Werke junger, unbekannter Künstler und 18 (16) Jochen Gutsch / Maxim Leo 18 (14) Elke Heidenreich
Künstlerinnen. Und er kaufe auch weiterhin Frankie Penguin; 22 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro

solche, die seit Jahren nicht an Wert gewonnen 19 (17) Helga Schubert 19 (16) Peter Urban
hätten. Der heutige Tag dtv; 24 Euro On Air Rowohlt; 25 Euro
»Das größte Missverständnis ist vielleicht,
dass es immer nur um Geld geht«, sagt 20 (–) Dörte Hansen 20 (–) Howard W. French Afrika und die
Lavigne. Zur See Penguin; 24 Euro Entstehung der modernen Welt Klett-Cotta; 35 Euro
Britta Sandberg n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

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Kunstwelt entlarven. Stets verwischt


die Grenze zwischen Realität und
Fiktion, damit fordert die Gruppe
Missverständnisse geradezu heraus.
Es gibt öfter Kontroversen um sie,

Die Abrechnung Ausstrahlungen ihrer Filme wurden


abgesagt, einmal wurde sie wegen ras-
sistischer Äußerungen von einer
Kunstakademie wieder ausgeladen.
LITERATUR Ein verunglückter Porno? Ein Kunstprojekt? Ein großer Betrug? Seit dem Dreh streitet sich auch
Es ist noch immer diffus, in was genau Michel Houellebecq da Houellebecq mit Kirac vor Gericht.
Das, was in einem Urteil des Bezirks-
hineingeraten ist. Sicher ist: Es geht um Sex, und unschuldig ist keine Seite. gerichtshofs Amsterdam steht, klingt
In einem neuen Büchlein versucht der Schriftsteller allerdings anders als das, was Houel-
eine Selbstverteidigung – und macht alles nur schlimmer. lebecq jetzt in seinem Buch behaup-
tet. Demnach habe Kirac den Schrift-
steller ursprünglich mit der Bitte kon-
em französischen Starschrift- habe er sich von dem Projekt zurück- taktiert, eine Vernissage zu eröffnen.
D steller Michel Houellebecq
sind in jüngster Zeit unschöne
Dinge passiert. Er sieht sich als
ziehen wollen.
Im Januar veröffentlichten die Fil-
memacher dennoch einen Trailer auf
Doch Houellebecq wollte kein rotes
Band durchschneiden. Er interessier-
te sich stattdessen für das Projekt
Opfer. Deshalb hat er sich den Frust YouTube, in dem sie einen längeren einer 23-Jährigen, die zum Kirac-Kol-
von der Seele geschrieben. In »Quel- Film über ein erotisches Abenteuer lektiv gehört: Jini van Rooijen be-
ques mois dans ma vie« (Deutsch: Houellebecqs ankündigten. Man sah treibt einen Kanal bei dem zahlungs-
»Einige Monate in meinem Leben«) ihn darin küssend im Bett mit einer pflichtigen Erotikportal OnlyFans.
schildert Houellebecq in derben, jungen Frau. Houellebecq zeigte sich Die Filmemacher Stefan Ruiten-
bitteren Worten, wie sein letztes hal- entsetzt. Das passiere gegen seinen beek und Kate Sinha, die zentralen
bes Jahr verlief. Willen, sagte er in Interviews. Köpfe hinter Kirac, begleiten die Sex-
Er habe viele Feinde, schreibt der Schriftsteller Kirac ist höchst umstritten. In den arbeit von Van Rooijen seit einiger
Autor von »Unterwerfung« und »Ele- Houellebecq: »Ihre amateurhaft gedrehten Filmen geht es Zeit mit der Kamera, als Kunstprojekt.
Fähigkeiten zum
mentarteilchen« in diesem Buch, das Fellatio bewegten
um Sex, Geld, MeToo oder Cancel Van Rooijen taucht in einigen Kirac-
Selbstverteidigung und Rachefeldzug sich unterhalb der Culture; nach eigenen Angaben will Filmen mit expliziten Szenen auf. In
in einem ist. Diese Feinde spielten Mittelmäßigkeit« das Kollektiv die Scheinheiligkeit der einem Kirac-Film wird behauptet, der
ihm übel mit. Er sei beleidigt worden,
nun müsse er beleidigen: »Die Be-
leidigung ist ein ehrenwertes Genre«,
findet Houellebecq.
Zunächst würde man denken, er
meint Kritiker, die ihm Islamfeind-
lichkeit, Frauenfeindlichkeit oder
Rechtspopulismus vorwerfen. Das
kommt bei Houellebecq öfter vor, in
seinen Büchern gibt es radikale Posi-
tionen. Trotz der Kontroversen ist er
so zu einem der wirkmächtigsten
Literaten des Kontinents geworden,
steht hoch im Kurs für den Literatur-
nobelpreis.
Dieses Mal geht es aber um Sex.
Sex sei die nachhaltigste Freude in
seinem Leben, erklärt der 67-Jährige
ausführlich in seiner 112 Seiten star-
ken persönlichen Abrechnung. Des-
halb habe er gemeinsam mit seiner
Ehefrau und weiteren Frauen einen
Amateurporno drehen wollen.
Dafür arbeitete er mit dem nieder-
ländischen Künstlerkollektiv Kirac
zusammen, das steht für »Keeping It
Real Art Critics«. Die Filmaufnahmen
Philippe Matsas / opale.photo / laif

fanden im Dezember in Amsterdam


statt. Allerdings sei einiges schiefge-
laufen, die Frauen hätten nicht seinen
Erwartungen entsprochen. Deshalb

Michel Houellebecq: »Quelques mois dans


ma vie. Octobre 2022 – Mars 2023«. Flamma­
rion; 112 Seiten; 12,80 Euro.

108 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


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REDEN
OnlyFans-Kanal diene der Feldforschung für Es gibt weitere Menschen, die Kirac gegen
eine Masterarbeit in Philosophie. ihren Willen in Filmen gezeigt hat – freilich
Houellebecq und seine Frau schlossen von der Kunstfreiheit gedeckt. Das Kollektiv
einen Vertrag mit Kirac: Jini van Rooijen soll- versteht sich als Störer. Es will irritieren. Beim
te mit Houellebecq schlafen, alles würde ge-
filmt werden. Van Rooijen dürfe einige Sex-
szenen für ihren OnlyFans-Kanal nutzen,
Houellebecq-Film sei es ihm nicht um das
Anfertigen eines Pornos gegangen, schreibt
Filmemacher Ruitenbeek dem SPIEGEL . »Es
WIR
aber nur jene, in denen das Gesicht des
Schriftstellers nicht zu sehen ist. Kirac werde
außerdem ein künstlerisches Werk daraus
war für mich ein Meta-Projekt. Ich dokumen-
tierte ein Abenteuer, genauso wie ich Jini van
Rooijens OnlyFans-Projekt verfolge. In mei-
ÜBER
ISRAEL
machen, darin dürfe Houellebecq entweder nen Filmen porträtiere ich Menschen und ihre
bekleidet auftauchen oder Genitalien ohne Bestrebungen.« Houellebecq und seine Frau
Gesicht gezeigt werden. Houellebecq wollte hätten das gewusst.
sich laut den Gerichtsakten die Option offen- Zumindest hätten sie es wissen können. Es
halten zu behaupten, die Sexszenen habe ein gibt mehrere Kirac-Episoden im Internet, auf
Double gedreht. Im Moment der Vertrags- Niederländisch mit englischen Untertiteln.
unterzeichnung lief die Kamera mit. Die Filme sind vor Niedertracht schwer zu
Houellebecq hatte dann tatsächlich Sex ertragen, sie führen Menschen vor. Oft spielen
mit Jini van Rooijen. Bei einem zweiten Ter- sie mit den Gefühlen ihrer Protagonisten.
min war noch eine weitere Frau von Kirac Die Episode »Honeypot« etwa dokumen-
dabei. Um das Material auf OnlyFans zu nut- tiert, wie eine Gruppe von Kirac-Performern
zen, benötigte Van Rooijen eine Ausweis- auf den rechtsnationalen niederländischen
kopie von Houellebecq, so will das Erotik- Philosophen Sid Lukkassen trifft. Kirac sug-
portal sicherstellen, dass keine Pornos gegen geriert in dem Film, Jini van Rooijen sei eine
den Willen von Beteiligten hochgeladen wer- linke Studentin, deren universitäres Philo-
den. Doch Houellebecq verweigerte seine sophieprojekt es sei, mit Rechten zu schlafen,
Dokumente. Im Buch schreibt er, erst im um auch politisch eine Brücke zu schlagen.
Nachhinein sei ihm bewusst geworden, dass Lukkassen habe sich auf einen entsprechen-
sein Ansehen als Autor seinen »Organen den Aufruf hin bei Van Rooijen gemeldet.
einen gewissen Marktwert verleihen könnte«. Das Treffen wird arrangiert, die Anbahnung
Die Richter entschieden: Das Filmmaterial mit der Kamera festgehalten. Doch als Van
darf gezeigt werden. Kirac darf aus dem Rooijen und Sid Lukkassen nackt nebenein-
Schlamassel ein Videokunstwerk machen. anderliegen, bricht Van Rooijen ab und sagt,
Houellebecq ging in Berufung. Diesmal ent- die Pralinen, die Lukkassen mitgebracht
schied ein anderes Gericht: Kirac muss den habe, seien ein zu mickriges Geschenk. Sie
fertigen Film dem Autor vorlegen. Daraufhin habe keine Lust mehr, mit Lukkassen zu
entfernte Kirac den Trailer aus dem Internet. schlafen. Ein Zusammenschnitt wird auf 192 Seiten, gebunden � 22,00 €
Man kann Houellebecqs Deal als Form der YouTube veröffentlicht, Lukkassen ist bloß- Auch als E-Book erhältlich.
Prostitution sehen: Eine junge Frau bietet Sex gestellt. Man hört den Politiker verzweifelt
an und verlangt im Gegenzug, dass sie das am Telefon sagen, der Film habe seine Kar-
Filmmaterial nutzen darf, um Geld zu ver- riere zerstört. Richard C. Schneider,
dienen. »Die Kamera war meine Bedingung. In einer anderen Folge lädt das Filmteam SPIEGEL-Autor und langjähriger
Ohne sie wäre ich niemals mit ihm ins Bett Männer aus der niederländischen Kunstwelt
Israel-Korrespondent der ARD,
gegangen«, sagt Van Rooijen in einem Video ein, denen Übergriffe gegenüber Frauen oder
auf Instagram. Houellebecq hat sich mit ihr gar Vergewaltigung vorgeworfen und die des- lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv,
vergnügt – und dann die Zeche geprellt. Film- halb von Universitäten verwiesen wurden, kennt Alltag und Geschichte
team und Darstellerinnen reagierten sauer, sozial gemieden werden oder keine Aufträge des Landes und weiß um
verlangten die Einhaltung des Vertrags. mehr bekommen. Kirac gibt diesen Männern die gängigen Vorurteile
Doch der Literat ist gekränkt, sieht sich im das Gefühl, sie zu Wort kommen zu lassen.
Recht – und reagiert mit seinen stärksten Waf- Das Endprodukt »Under a Sinking Sun« zeugt in Deutschland.
fen: seinen Worten. Dabei vergreift er sich aber nicht von Empathie, sondern stellt die Bei den Antworten auf fünf
mächtig im Ton. Er bezeichnet die Frauen als Männer bloß. oft gestellte Fragen setzt er an,
»truie« (Sau) und »dinde« (Pute), den Filme- Kirac selbst hat sein Ziel wohl längst er- um einige grundlegende Dinge
macher Ruitenbeek nennt er »cafard« (Kaker- reicht, auch wenn der fertige Film nie ver-
lake). Er selbst fühle sich »wie eine vergewal- öffentlicht werden sollte: die Scheinheiligkeit über Israel zu erklären – 75 Jahre
tigte Frau«. Als der Trailer veröffentlicht der Kunstwelt – in diesem Fall Houellebecqs – nach der Staatsgründung und
wurde, habe er sich zum ersten Mal vor Sex zu entlarven. Der Superstar der Literatur hat in einem entscheidenden Moment
geekelt, er habe sich objektifiziert gefühlt und sich durch seine Reaktionen demontiert, sein für die Demokratie des Landes.
Bulimie gehabt, klagt er. erbärmliches Buch strotzt von Selbstgerech-
Statt Reue zu zeigen, wird Houellebecq tigkeit und Frauenhass.
geringschätzig und demütigt seine Sexual- Aber der Star hat auch die größte Bühne,
partnerin: »Die Sau war auf keinen Fall das, und sein Verlag steht hinter ihm. Die kultu-
was man ›eine gute Schnitte‹ nennen könnte. relle Welt schaut auf seine Bücher, nicht auf
Ihre Fähigkeiten zum Fellatio bewegten sich die Instagram-Filme von Kirac. Womöglich
unterhalb der Mittelmäßigkeit; sie zeigte wird Houellebecq in seiner moralisch glitschi-
keinerlei Anwandlungen, ihre Muschi aktiv gen Kampfzone deshalb doch noch als Sieger
einzusetzen, noch bewies sie irgendwelche dastehen.
bisexuellen Neigungen.« Carola Padtberg n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 109


www.dva.de
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sich aus allem rauszieht? – in der Hoff-


nung, schließlich bei jener Figur zu
landen, bei der man sich wohlfühlen
konnte. Doch das passierte nie. In der
zweiten Staffel verorteten die Exe-
geten den Kern der Serie in der an

Vielleicht so was wie Wahrheit Shakespeare geschulten Deutung


einer machiavellistischen Welt, wäh-
rend die dritte Staffel – im Zuge ähn-
licher Serien wie »The White Lotus« –
STREAMING Diese Woche läuft die letzte Folge von »Succession«. Damit vor allem als Kritik an den moralisch
verabschiedet sich eine der gegenwärtigsten und besten Serien unserer Zeit. verkommenen Leben reicher weißer
Menschen und deren »first world pro-
blems« gelesen wurde.
as Leben ist nicht nett, es ist Und über allem stand stets eine
D zufällig und chaotisch, der
Mensch kann es nicht beherr-
schen. Was er kontrollieren kann, ist
eigens für die Serie erfundene Dik-
tion, in der sich die vier Kinder und
ihre engsten Vertrauten, Schwager
lediglich die Interpretation der Ereig- Tom Wambsgans (was für ein Name!)
nisse, die einem widerfahren und sich und Großcousin Greg Hirsch, ver-
irgendwie zu einem Leben summie- ständigen: eine Sprache, metaphern-
ren. »Control the narrative« ist des- reich und obszön, die geistreich
wegen das mantramäßig wiederholte klingt, aber in ihren Urteilen und Aus-
Lebensmotto der vier erwachsenen sagen so sehr im Ungefähren bleibt,
Kinder des Patriarchen Logan Roy in dass sie dem Sprecher ein Maximum
»Succession«. Ereignisse sind hier nur an Optionen offen und den Empfän-
noch Interpretationsmasse, die mit ger meist im Unklaren lässt.

HBO / Sky
Macht und Geld so lange geformt In ihren Schwächen, ihrer Heuche-
werden, bis die Mitmenschen das lei, dem ewigen Täuschen und Tak-
Knetkonvolut als Wahrheit akzeptie- tieren, sind die Roys komplexe und
ren. Die Serie scheint über keinen hier gelingt es ihm, Worte zu finden, Szene aus schockierenderweise glaubwürdige
trittfesten moralischen Boden mehr die ausdrücken, was die ganze Kirche »Succession«: Charaktere. Dass die Serie sich traut,
Eine an Shakespeare
zu verfügen, und möglicherweise ist zu fühlen scheint: dass sogar ein Un- geschulte Deutung
sie so ungeschönt zu zeigen, schafft
es das, was sie in diesen Tagen so mensch geliebt werden kann – und einer machia- brillante wie radikale Fernsehmo-
gegenwärtig erscheinen lässt. geliebt wird. Vor allem von jenen, die vellistischen Welt mente: eine Gesellschaftsbetrach-
Es dauerte bis zur vorletzten Folge, nicht anders können, wie den eigenen tung, die nicht die Gesellschaft be-
bis Jesse Armstrong, das englische Kindern. schreibt, sondern die Menschen, die
Mastermind dieser sehr amerikani- Seit »Succession« 2018 die Strea- sie schaffen, emotional ergründet.
schen Erzählung, eine Art weltan- mingplattformen erreichte, hat diese Und so bekämpfen die Geschwis-
schauliche Grundierung nachlieferte, nihilistische Serie ihre weltweite Ge- ter in immer neuen Koalitionen ihren
endlich eine Art Bekenntnis. Er lässt folgschaft rätseln und theoretisieren Vater oder sich gegenseitig, zeitweilig
es Kendall Roy äußern, bei der Trauer- lassen, was sie uns wohl sagen will geht es auch zusammen gegen exter-
feier für seinen Vater, den verstorbe- (inzwischen gibt es sogar einen Pod- ne Gegner wie große Finanzfirmen
nen Medienmogul, um dessen »suc- cast, in dem jede Folge gleich nach oder schwedische Techmilliardäre.
cession«, also Nachfolge, alle ringen. Ausstrahlung ausgedeutet wird). Es Doch es liegt in der Natur dieser Figu-
Logan Roy war kein guter Mensch, schien keine Figur zu geben, an die ren, dass keine Bindung je lange hält,
jeder in der Kirche weiß das. Sohn man sich als Zuschauer halten konn- alles bleibt ständig im Fluss, die Ereig-
Kendall, eine einsame Seele, ein te, mit der es zu sympathisieren oder nisse sind kontingent.
Douchebag wie Donald Trump Jr., mitzufiebern lohnte. In den 20 Jahren In der aktuellen und letzten Staf-
schwer beschädigt durch den über- zuvor hatte sich das Serienpublikum fel, die an diesem Sonntag mit einem
mächtigen Vater, hatte die Trauerrede an sukzessiv ambivalentere Serien- extralangen Finale die Serie beenden
nicht geplant. Deswegen trägt sie viel- helden gewöhnt von Tony Soprano wird, verhelfen die Roys mit ihrem
leicht so etwas wie Wahrheit in sich. über die Drogendealer in »The Wire« Fox-News-ähnlichen Polit-Krawall-
Vor der Trauergemeinde, darunter oder Walter White aus »Breaking sender achselzuckend einem rechten
die politischen Eliten des Landes so- Bad«. Sie alle boten trotz ihrer Fehl- Demagogen an die Macht und ver-
wie die Ex-Frauen mit den jeweiligen barkeiten leicht identifizierbare Zu- ursachen dadurch politischen Aufruhr
Mätressen, nennt Kendall seinen Va- fluchtsorte der Liebenswürdigkeit. im ganzen Land. Vielleicht ist es wahr,
ter zunächst einen »brute«, einen Un- Diese zur Verfügung zu stellen, galt dass Menschen, die Leid und Unheil
menschen, um sich dann doch etwas als eiserne Regel aller Erzählgattun- bringen, auch geliebt werden können.
Versöhnliches abzuringen. Sein Vater gen, ob filmisch oder literarisch. Der Doch die Gleichung lässt sich, wie
habe etwas geschaffen, sagt er, und er Rezipient muss sich mit irgendjeman- Kendall Roy gegen Ende der vorletz-
habe gehandelt. »Es gibt 1000 Leute, dem identifizieren können. ten Episode feststellt, auch umdre-
die immer Nein sagen. Und es gibt Und so sprang man bei der ersten hen: »People who say they love you
1000 Gründe, nicht zu handeln. Aber Staffel von »Succession« noch mit »People who also fuck you.« Zwischen diesen Am-
so war er nie.« Sonst hatten Kendalls seiner Sympathie von Figur zu Figur – say they plituden wird sich die Auflösung in
Äußerungen oft darin bestanden, ir- der drittälteste Sohn ist der Gute, nein, der allerletzten Folge dieser bahnbre-
gendwie gut klingende, aber hohle die Tochter, ist es doch der Vater oder love you also chenden Serie bewegen.
Sätze zusammenzuwürfeln. Doch der Sohn aus einer früheren Ehe, der fuck you.« Philipp Oehmke n

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sz.de/licht
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»Mein Cool ist nicht mehr


das Cool von heute«
SPIEGEL-GESPRÄCH Peter Fox, einer der größten deutschen Popstars, kommt nach 14 Jahren überraschend mit
einem neuen Album zurück. Hier erzählt er, warum ihn manchmal eher die Politik reizt als die Musikkarriere.

Am nördlichen Rand Berlins liegt ein zentraler SPIEGEL: Sie hatten vergessen, wie schlimm kann. Dann verlierst du schnell den Spaß.
Ort der deutschen Popmusik. In den alten In- es war? Klingt nicht nach Spaß. Deswegen ist Popmusik eher was für jüngere
dustriehallen von Berlin-Wilhelmsruh proben Fox: Ich will gar nicht so tun, als würde es Leute.
Rammstein, Die Ärzte oder Sido für ihre Tour- keinen Spaß machen, alles allein entscheiden SPIEGEL: Fühlen Sie sich zu alt dafür?
neen. Auch an diesem Samstag Mitte Mai drin- zu können. Das finde ich toll gegenüber der Fox: Je mehr Lebenserfahrung ich sammle,
gen Bässe aus den Backsteinbauten, heute Bandarbeit. Auch, dass ich einen Song allein desto mehr schließen sich für mich bestimm-
probt hier Peter Fox. singen oder ein Feature dazuholen kann, wie te schöne Pop-Posen einfach aus. Es gibt so
Pierre Baigorry, 51, der mit der Dancehall- ich Lust habe. Aber diese pure, auf meine eine Romantik oder so einen Kitsch im Pop,
Band Seeed berühmt wurde und sich als Solo- Person gerichtete Aufmerksamkeit finde ich bei dem ich weiß: Nee, nee, so ist das Leben
musiker Peter Fox nennt, ist einer der größten nicht so geil. Dieses Solo-Popstar-Sein ist echt einfach nicht. Eigentlich fühle ich mich ein
Popstars in Deutschland. Vor gut 14 Jahren nicht mein Ding. bisschen zu alt, um Popstar zu sein. Ich sollte
veröffentlichte er sein erstes Soloalbum. SPIEGEL: Trotzdem sind Sie jetzt als Peter Fox Platz für die nächsten machen. Ich bin mir
»Stadtaffe« gilt als eines der erfolgreichsten zurück. diesmal noch sicherer, dass ich nicht noch mal
deutschsprachigen Alben, es enthielt auch den Fox: Das mag wie Koketterie klingen, aber ein Soloalbum machen werde. Nicht, weil mir
Top-Ten-Hit »Haus am See«. Danach zog er das war – mal wieder – so nicht geplant. Ur- der Rummel zu viel wird, sondern weil ich
sich als Solokünstler weitgehend zurück. Fox’ sprünglich hatte ich vor, mit Tretti (dem Bock habe, mehr im Hintergrund zu produ-
erstes Album blieb lange sein einziges. Ende Chemnitzer Rapper Trettmann – Red.) im Duo zieren. Das wird mir immer klarer, wenn ich
Mai erscheint nun sein neues Album »Love ein paar Songs zu machen. Das hat dann nicht die jüngeren Leute in meiner Liveband sehe.
Songs«. geklappt, ich hatte aber schon mit ein paar Boah, die sind so cool. Mein Cool ist nicht
Ideen und Beats angefangen und habe dann mehr das Cool von heute.
SPIEGEL: Peter Fox, 2009 haben Sie den Solo- einfach weitergearbeitet. Irgendwann nimmt’s SPIEGEL: Sie wollen nicht zum Grönemeyer
künstler Peter Fox mit der Begründung be- dann so eine Dynamik an, und man wird von werden?
graben, der Rummel um Ihre Person sei Ihnen Leuten zart in eine Richtung gepusht: »Ein Fox: Lasst mir den Grönemeyer in Ruhe! Ich
zu groß. Haben Sie jetzt wieder Bock auf Album wäre aber schon geil, oder?« Irgend- würde nie zu jemandem, der mit 80 noch auf
Rummel? wann glaubt man das selbst (lacht). Es gab der Bühne steht und »Satisfaction« spielt, sa-
Fox: Anscheinend schon. Ich will das nicht mit aber auch Tage, da dachte ich: Lassen wir’s gen: Warum machst du das? Ich hätte da aber
den Schmerzen bei einer Geburt vergleichen – einfach, das ist zu anstrengend. selbst keinen Bock drauf. Mich nerven meine
darüber kann ich nichts sagen –, aber es ist SPIEGEL: Was ist so anstrengend? Songs schon nach drei Monaten. Ich verstehe
vielleicht ein bisschen so, wie wenn Frauen Fox: Sich nicht zu wiederholen. Und manch- nicht, wie man einen Song, der 60 Jahre alt
erzählen, dass sie eine Weile nach der Geburt mal auch, dass du ein gewisses Gefühl in ist, jeden Abend spielen kann, und dann noch
schon vergessen hatten, wie schmerzhaft die einen Song packen willst und merkst, wie immer in derselben Version.
war. Wenn sie ständig im Kopf hätten, wie krass du vorn, hinten, links, rechts an Grenzen SPIEGEL: Ihr »Satisfaction« war sozusagen
die erste Geburt war, dann würden sie wahr- stößt. Entweder weil das irgendwie nicht cool »Haus am See«, darin heißt es: »Ich suche
scheinlich kein zweites Kind bekommen. ist. Oder weil man das nicht mehr bringen neues Land mit unbekannten Straßen. Frem-
de Gesichter und keiner kennt meinen Na-
men.« Klang da schon ein Wunsch nach we-
niger Trubel an?
Fox: Davon wusste ich damals noch nichts.
Da ging es eher um neue, frische Welten.
»Haus am See« spielt heute aber auch keine
große Rolle mehr für mich.
SPIEGEL: Warum nicht?
Fox: Es gibt zwar so eine klassische Sehnsucht
nach Familie und Zuhause und Ankommen,
die »Haus am See« bedient, aber inzwischen
weiß ich: Man kommt nicht an, und dann ist
Peter Fox / Warner Music

alles toll. Das ist Bullshit. Das Leben ist immer


eine Reise. Deswegen finde ich den Song et-
was ungeil. Der ist nicht richtig echt.
SPIEGEL: Sie machen einen Realitätscheck für
Ihre Songs?
Musikvideo zum Song »Zukunft Pink«: »Ich bin nun mal kein Indie-Rocker« Fox: Ja. Jedes Jahr ist ein neuer Realitätscheck.

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SPIEGEL: Ihre Comeback-Single »Zu-


kunft Pink« war ein Nummer-eins-
Hit. Gleichzeitig warf Ihnen der Jour-
nalist Malcolm Ohanwe kulturelle
Aneignung vor. Sie hätten sich für
Ihren Song bei dem südafrikanischen
Musikstil Amapiano bedient und das
nicht ausreichend gekennzeichnet.
Fox: Ich kann den Schmerz total nach-
vollziehen, der bei Teilen der Black
Community in Deutschland herrscht,
wenn man mit Rassismus konfrontiert
ist. Und ich kann auch nachvollzie-
hen, dass manche Leute aus der Com-
munity das Gefühl haben, sich weh-
ren zu müssen. Aber der Malcolm hat
das für meinen Geschmack etwas zu
polemisch rausgehauen – in der Art:
Während Peter Fox sich mit Amapia-
no eine goldene Nase verdient, kom-
men schwarze Menschen in Deutsch-
land nicht in Klubs, in denen genau
diese Musik läuft. Ich war da einfach
der falsche Adressat. Ich bin der Ers-
te, der in einen Klub nicht reingehen
würde, wenn ich wüsste, dass People
of Color da nicht reinkommen. Aus-
beutung und rassistische Türpolitik
in deutschen Klubs: Warum verhan-
delt der das über mich?
SPIEGEL: Weil Sie ein gut sichtbarer
und erfolgreicher Popstar sind.
Fox: Ja, aber das war dennoch etwas
unfair! Ich habe auch nachweislich
niemals so getan, als hätte ich Dance-
hall oder Afrobeats oder Amapiano
erfunden. Erst zwei Tage vor Mal-
colms Angriff hatte ich eine dement-
sprechende Respektbekundung über
Social Media rausgehauen, auch im
Pressetext zu »Zukunft Pink« gab es
Hinweise auf west- und südafri-
kanische Einflüsse. Darüber habe ich
mit Malcolm auch gesprochen, dass
er sich da doch besser hätte erkundi-
gen können. Es ist aber inzwischen
alles geklärt, und ich möchte betonen,
dass ich große Teile seiner Öffentlich-
Felix Broede

keitsarbeit für absolut wichtig halte.


SPIEGEL: Gibt es Popmusik ohne kul-
turelle Aneignung?
Fox: Es gibt Machtmissbrauch und Musiker Fox: »Diese SPIEGEL: Der Zeitgeist ist ein anderer SPIEGEL: Was ist mit dem Song
Ideenklau, aber Pop ohne kulturelle pure, auf meine als zu »Stadtaffe«-Zeiten? »Schwinger« von Seeed – »Uh Baby,
Person gerichtete
Aneignung ist Quatsch! Das Thema Aufmerksamkeit finde Fox: Ja, da hat es auch Sachen gege- schwing dein Teil, Teile schwingen,
will ich nicht weiter diskutieren. Das ich nicht so geil« ben, die man hätte kritisieren können. Typen finden’s geil«?
ist Energieverschwendung. Ich ver- Früher habe ich Zeilen gesungen, die Fox: Würde ich heute anders machen.
suche als Musiker, eine gewisse Kul- würde ich jetzt nicht mehr so singen. Aber da geht’s nicht darum, dass et-
tur, die in Deutschland eigentlich SPIEGEL: Zum Beispiel? was politisch anstößig wäre, sondern
nicht so zu Hause ist, zu pushen, weil Fox: Ich finde zwar nicht, dass man um Qualität. Dieses Gereime lief
ich sie liebe und mich mit ihrer Hilfe »Arschparade« nicht mehr sagen darf 2005 teilweise so ab: »Hm, wir brau-
am besten ausdrücken kann. Ich bin (wie in Peter Fox’ Song »Zucker« chen einen Song für live, lass mal
nun mal kein Indie-Rocker. Sorry. –Red.). Aber heute würde ich mir schnell was reimen.« Ich habe mir
SPIEGEL: Wie haben Sie sich nach der dreimal überlegen, ob ich’s mache einfach manchmal nicht so viel Mühe
Kritik an »Zukunft Pink« gefühlt? oder es nicht anders ausdrücken kann. mit den Texten gegeben.
Fox: Danach war ich erst mal zwei Es gibt auch eine Art von Ignoranz, SPIEGEL: In »Schwinger« oder dem
Monate im Arsch. Ich bin ein krasser die manchmal wichtig ist, damit ein Peter-Fox-Song »Schüttel deinen
Kontrollfreak. So was zieht mir voll Song Punch hat. Aber die Grenze ist Speck« wirken Frauen wie Objekte.
den Stecker. natürlich fließend. In »Zukunft Pink« heißt es: »Frauen

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rulen die Welt.« Ihre Attitüde hat sich ver- SPIEGEL: Die Energiewende und Gerech-
ändert. tigkeitsfragen waren auch Themen, für
Fox: Ja, wobei ich für »Schüttel deinen Speck« die Sie sich schon 2013 bei der Initiative
tierisch viel Credit von Plus-Size-Frauen be- #GehtAuchAnders engagiert haben. Frus-
kommen habe. Das war wie so ein Empower- triert es Sie, dass so wenig vorangeht?
ment-Song. Fox: Es ist gut, dass wir drüber reden. Man
SPIEGEL: Für Body Positivity? muss nur vom Reden ins Handeln kommen.
Fox: Ja. So war der Song eigentlich eher ge- SPIEGEL: Das war jetzt ein echter Politikersatz.
meint. Ich habe auch immer versucht, mich Fox: Aber darum geht es. Man kann viel quat-
nicht ständig als den obercoolen Macker hin- schen und von links nach rechts drehen. Wenn
zustellen, der alles klarmacht, sondern als es wirklich ans Eingemachte geht, ist der Auf-
Typen, der zum Beispiel bei »Ding« in die schrei groß. Weil dann viele realisieren, was
Ecke kotzt und am Ende auch verliert. Ich Veränderung wirklich bedeutet. Politische

Felix Broede
wollte damals nicht Avantgarde sein, sondern Kräfte machen dann gleich wieder sechs Rol-
mit Humor auf unsere reellen, statusfixierten len rückwärts, weil sie das Gefühl haben, sie
Affen-Behaviours schauen. Fox (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* könnten sonst Wählerstimmen verlieren.
SPIEGEL: In einigen Ihrer neuen Songs geht SPIEGEL: Selbst in Ihren »Love Songs« geht
es darum, sich nicht der schlechten Laune Narzissmus ist, wenn du Popmusiker bist. Die es mal um politischen Wandel. In »Zukunft
hinzugeben, die viele auch nach drei Jahren Leute hören dir zu, und du denkst, du kannst Pink« fordern Sie dazu auf, Sie höher zu be-
Pandemie beschleicht. Sind Ihre »Love was bewegen. In der Politik geht es nicht um steuern: »Tax me now!«
Songs« auch ein Selbstgespräch, vielleicht Applaus, sondern um ein superhartes Busi- Fox: Ich habe jetzt keine zig Millionen geerbt
sogar eine Selbstbeschwörung? ness, und die Medien essen dich zum Früh- wie zum Beispiel die »Taxmenow«-Mitgrün-
Fox: Total. Manchmal mache ich Songs, weil stück. Nicht nur deine Partei und die anderen derin Marlene Engelhorn aus Österreich, aber
ich hoffe: Okay, wenn ich das jetzt alles da Politiker, sondern jeder versucht, dir das Wort ich habe ein dickes Haus, und ich verdiene
reintue, vielleicht ändert sich ja mal was bei im Munde umzudrehen. Dafür bin ich, glau- genug Geld, dass ich definitiv mehr Steuern
mir. Leider passiert dann meistens relativ be ich, zu weich. Das schaffe ich gar nicht. zahlen könnte. Ich möchte mich mit Leuten
wenig. Die Selbstbeschwörung klappt nicht. SPIEGEL: Es gibt ja Coachings und Medien- connecten, die das genauso sehen, sodass wir
SPIEGEL: Sie haben sich in den vergangenen trainings. der Politik gemeinsam Beine machen: Wir
Jahren zunehmend politisch engagiert. Zu- Fox: Ja, aber ich meine das ganz ernst: I’m legen offen, was wir verdienen, und sagen,
nächst mit anderen Künstlern in der Initiative not built for that. Ich habe krassen Respekt welchen Steuersatz wir für angemessen hal-
#GehtAuchAnders, 2018 dann mit dem Pod- vor jemandem wie Robert Habeck, bei dem ten. Der kann nach oben offen sein. Das Geld
cast »Politricks«, in dem es ganz nüchtern um man ja manchmal merkt, wie dünnhäutig der kommt dann in einen Fonds und kann inter-
Kapitalmärkte oder Fluchtursachen ging. auf der Strecke wird. Ich finde es gut, dass so national oder national zum Beispiel für die-
Also lieber Politik als Pop? jemand politische Macht hat, davon gibt es jenigen verwendet werden, die unter Energie-
Fox: Dagegen hat schon mal mindestens mei- viel zu wenige. Was war der vorher? Buch- krise oder Inflation besonders zu leiden haben.
ne Frau gute Argumente – und ich habe auch autor, Philosoph, auch so ein Künstlertyp. Ich habe momentan nicht die Zeit, Leute
selbst Zweifel. Es gab aber immer wieder Mo- SPIEGEL: Warum haben Sie Ihren Politik-Pod- anzuschreiben, aber wenn die Tournee vorbei
mente, in denen ich gedacht habe: Man muss cast schon nach kurzer Zeit eingestellt? ist, würde ich das gern angehen. Und ich freue
mehr eingreifen, man kann nicht immer nur Fox: Der hat einfach nicht das bewegt, was mich über jeden, der anruft und sagt: »Hey,
am Rand stehen und schlau daherreden. Das man sich vielleicht vorher eingebildet hatte. das sehe ich genauso und bin dabei.« Soli-
Problem ist, dass die coolen Leute, die den Wenn das Feedback zu 70 Prozent daraus darität ist der Schlüssel zu fast allem, denke
Durchblick haben, ein Gefühl für den Zeit- besteht, dass die Leute sagen: »Hey, ganz in- ich.
geist, vielleicht auch Charisma, vor der Büro- teressant, aber mach mal lieber einen Song, SPIEGEL: Sie haben inzwischen erwachsene
kratie in der Politik mit Bezirksversammlung Digga«, muss man das zur Kenntnis nehmen. Kinder. Gibt es eigentlich einen Generatio-
und dem ganzen Pipapo zurückschrecken. Die wollten neue Musik von mir und nicht, nenkonflikt in Ihrer Familie?
Das ist bitter, weil sich so immer Leute durch- dass ich den Afrikabeauftragten von Frau Fox: Meine Stieftochter ist 23, die spielt in mei-
setzen, die vielleicht gar nicht das Skillset Merkel interviewe. ner Liveband, wir machen da langsam so eine
haben, um geile Politiker zu sein. SPIEGEL: Ein gesellschaftspolitisches Thema, Art Familienzirkus draus. Meine Tochter ist
SPIEGEL: Das klingt desillusioniert. das seit einiger Zeit stärker diskutiert wurde, 18, die ist mit ihrem Handy wirklich verwach-
Fox: Ich will nicht sagen, dass es nicht auch ist die geplante Cannabislegalisierung. Was sen. Finde ich hart. Mein Sohn ist 12, der will
viele Politiker gibt, die was verändern wollen halten Sie davon? lieber »Fortnite« spielen als Fußball. Aber da
und das Herz am rechten Fleck haben. In je- Fox: Gähn! muss ich mich zwingen zu sagen: Komm, mach
der Partei gibt es richtige Idioten und richtig SPIEGEL: Wie bitte? dich mal locker. Du bist halt eine andere Ge-
gute Leute – die AfD vielleicht mal ausge- Fox: Ich will nicht sagen, die ist mir egal, ich neration. Und: Alle meine Kinder können tau-
schlossen. Aber es gibt einen Mangel an coo- bin schon eher dafür. Aber wir haben echt send Tanz-Moves, die ich nicht kann. Hat si-
len Quereinsteigern. Eigentlich müssten mehr andere Probleme. cher auch was mit TikTok und YouTube zu tun.
solche Leute mitmischen. SPIEGEL: Welche denn? SPIEGEL: Ist es schwierig, mit Ihrer Musik
SPIEGEL: Aber Ihre Frau … Fox: Klimawandel, Gerechtigkeit, Solidarität, ganz junge Menschen zu erreichen?
Fox: Meine Frau meinte: »Boah, na, danke!« Steuern. Probleme, die ich ganz klar über der Fox: Das Beste ist, wenn man versucht, als
Ich bin ja auch mit der Musik schon so Legalisierung von Cannabis sehe. Musiker einigermaßen zeitlos zu bleiben. Ein
»Tschüss«, das fand sie erst mal keine so hei- bisschen Zeitgeist muss sein, das reizt mich
ße Idee. auch. Aber es ist wichtig zu wissen, dass man
SPIEGEL: Das heißt, die Idee war da. nicht mehr der Coolste ist. Das sagen mir
Fox: Die war und ist immer noch da. Ich bin meine Kinder auch manchmal.
aber skeptisch, was daran Wichtigtuerei und »Ich habe krassen SPIEGEL: Da sind Kinder ein gutes Korrektiv.
Fox: Ja, voll. »Cringe, Papa!« (lacht)
* Mit den Redakteuren Andreas Borcholte und Jurek
Respekt vor jemandem SPIEGEL: Peter Fox, wir danken Ihnen für
Skrobala in Berlin. wie Robert Habeck.« dieses Gespräch. n

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McCurdy ihrer Mutter gegenüber ein


schlechtes Gewissen. »Wenn ich jetzt
erwachsen werde, wird Mom mich
nicht mehr so lieb haben«, dachte sie,
»ich wünschte, ich könnte ein Kind
bleiben.« Als sie ihre Mutter ängstlich

Mama muss sterben fragte, wie das gelingt, gab die ihr einen
schrecklichen Rat: »Kalorienrestrik-
tion«. Fortan hungerten sich die beiden
gemeinsam ins Scheinwerferlicht.
LITERATURKRITIK Als Kinderstar lächelte sie einem Millionenpublikum zu. Dass Kinder von ihren Eltern ins
Showgeschäft gedrängt werden, ist
Hinter den Kulissen litt sie unter dem Missbrauch ihrer narzisstischen nicht neu. Dass der Druck beim Er-
Mutter. Darüber hat Jennette McCurdy ein beeindruckendes Memoir geschrieben. wachsenwerden in der Öffentlichkeit
viel zu groß ist, leider auch nicht. Das
belegen nicht nur Britney Spears,
unächst muss man über den Titel Drew Barrymore oder Demi Lovato.
Z hinwegkommen. Der schreckt
ab. Jedenfalls, wenn man eine
halbwegs behütete Kindheit genossen
Ehemalige Kinderstars geraten durch
Drogenmissbrauch, Alkoholexzesse
und psychische Notsituationen so
hat. »I’m Glad My Mom Died«, »Ich häufig in die Schlagzeilen, dass es
bin froh, dass meine Mutter starb«, einen Terminus dafür gibt, den »Dis-
hat Jennette McCurdy ihr Memoir ge- ney-Fluch«. Wer von ihm getroffen
nannt. Und dann das Cover: Darauf wird, muss leiden und dabei für die
hält McCurdy, eine 30-jährige Blon- Paparazzi lächeln. So wie McCurdy.
dine mit breitem Mund, eine rosa- Die Schauspielerin wurde immer
farbene Urne in den Händen, aus der unglücklicher, erkrankte an Anorexie
Konfetti quillt. Sogar Norman Bates und Bulimie, wurde immer dünner.
hätte seiner Mutter ein würdigeres Weil das Spielen überzeichneter Ju-
Ende gewünscht. Aber der kannte gendfiguren sie zunehmend depres-
auch McCurdys Familie nicht. Wenn siver machte, fing sie mit dem Trinken
man es erst mal hineingeschafft hat an. Ihr Buch ist trotzdem kein Trau-

Ahmed Gaber / NYT / Redux / laif


in das Buch, wird schnell klar: Diese maporno, deshalb ist es so lesenswert.
Frau darf sich wirklich darüber freu- Denn McCurdy gelingt es, die toxi-
en, dass ihre Mutter tot ist. sche Beziehung zu ihrer Mutter bis-
Wer über 30 Jahre alt ist, wird weilen so tragikomisch zu erzählen,
McCurdy vermutlich nicht kennen. dass man sich beim Lesen fürs eigene
Zwar steht sie als Schauspielerin vor Lachen schämt. Noch auf ihrem Ster-
der Kamera, seit sie acht Jahre alt ist. bebett flüsterte die Tochter der ko-
Aber ihren Durchbruch hatte sie im matösen Mutter zum Beispiel ins Ohr,
Kinderfernsehen. Als Teenagerin wur- Wunsch. Auf die alles entscheidende Autorin McCurdy wie dünn sie jetzt sei. »Mommy, ich
de sie Mitte der Nullerjahre ein Star Frage gab es deshalb auch nur eine bin … jetzt so dünn. Ich hab es endlich
auf Nickelodeon. In der erfolgreichen richtige Antwort. »Willst du schau- runter auf 40 Kilo geschafft.«
Serie »iCarly« spielte sie die ironische, spielern? Willst du Mommys kleine Auch plumpe Täter-Opfer-Zuschrei-
impulsive Sam, die ihre Gegner gern Schauspielerin sein?«, fragte McCur- bungen erschwert McCurdy. Vielleicht
mit einer Socke voll Butter verdrischt. dys Mutter das Kind eines Tages. Und wollte ihre Mutter für sie wirklich das,
Nicht gerade subtil. Aber McCurdy McCurdys Leidensweg begann. was diese nach eigenen Maßstäben für
wurde für die rotzige Rolle angehim- Denn sie musste die Lebensmiss- das Beste hielt? Wie altruistisch kann
melt, auch weit über die Grenzen der erfolge ihrer Mutter kompensieren. Elternliebe in einem Klima voll Trau-
USA hinaus. Noch vor dem ersten Sie wurde zu ihrer Marionette. Die mata, Krankheit, Geldsorgen und
Kuss wurde ihr Traum von der Holly- Mutter färbte dem Kind die Wimpern Überforderung überhaupt sein? Mc-
woodkarriere also wahr. Bloß war das und blondierte ihre Haare, die Zähne Curdy liefert keine einfache Antwort,
gar nicht ihr eigener, erzählt sie nun wurden viel zu lange gebleacht. Sie entschuldigt ihre Mutter aber auch
in ihrem Memoir. zwängte ihr Schauspiel- und Tanz- nicht. Sie erzählt plastisch und schnör-
Es war der Traum ihrer Mutter. unterricht, unzählige Castings und kellos von einem Kind, das nicht bloß
Seit die Mutter an Brustkrebs er- Vorsprechen auf. Freizeit hatte das an Missbrauch, sondern auch an der
krankt war, drehte sich das Leben der Mädchen nicht mehr, Spaß erst recht Liebe zur Mutter fast zugrunde ging.
Familie nur um sie. Und McCurdys nicht. Da es von der Mutter daheim – Erst nach deren Tod erarbeitete
Mutter wusste das auszunutzen – um in einem vollgestopften Messie- »Mommy, ich McCurdy sich mühevoll den Mut zum
einen guten Parkplatz zu bekommen haus – unterrichtet wurde, hatte es Widerspruch – auch gegen das eigene
oder das Mitleid ihrer Kinder. »Mom kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Die bin … jetzt Leid. Das Buch ist ein imposantes
erinnert sich an den Krebs, wie sich Mutter war McCurdys beste Freundin. so dünn. Ich Zeugnis dieser Emanzipation. Es stand
die meisten Leute an ihre Urlaube er- Im Laufe der Zeit wurde es schlim- in den USA 40 Wochen lang auf der
innern«, schreibt McCurdy. Ihre klei- mer. Die Mutter duschte McCurdy noch hab es end- Bestsellerliste. Ein Vertrag für zwei
ne Tochter erfüllte ihr deshalb jeden mit 16 Jahren und unterzog sie kru- lich runter Romane ist unterschrieben. Vor die
den Untersuchungen, die man als Miss- Kamera muss McCurdy nur noch,
Jennette McCurdy: »I’m Glad My Mom Died«. brauch werten kann. Als sich ihr Kör- auf 40 Kilo wenn sie selbst es will.
S. Fischer; 384 Seiten; 18 Euro. per mit der Pubertät veränderte, hatte geschafft.« Elisa von Hof n

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 115


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116 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Kenneth Anger, 96 Martin Amis, 73
NACHRUFE Wer vor dem Anbruch des digi- Sein Nachname war im literari-
talen Zeitalters von den Skan- schen Großbritannien bereits
dalen erfahren wollte, die sich bekannt, als er noch gar nichts
an den Filmsets in Hollywood veröffentlicht hatte: Martin
zutrugen, und sich noch nicht Amis war der Sohn von Kings-
durch soziale Medien und Ent- ley Amis, einem der wichtigsten
hüllungsstorys klicken konnte, englischsprachigen Autoren der
der schlug ein Buch auf: »Holly- Nachkriegszeit. Das Verhältnis
wood Babylon« von Kenneth der beiden war spannungsgela-
Anger. Darin beschreibt der den, auch weil Martin Amis
Autor die Traumfabrik als fieb- seinen Vater in der öffentlichen
rige Vorhölle der Ausschwei- Wahrnehmung bereits nach
fungen und des Exzesses, von wenigen Büchern abgehängt
der angeblichen Vorliebe des hatte. Seinen Durchbruch hatte
Meisterregisseurs D. W. Griffith er Mitte der Achtziger mit
für junge Mädchen bis zu »Gierig«, einer fulminanten
dem Mord an der jungen Schau- Abrechnung mit der Yuppie-
spielerin Sharon Tate durch Ära. Martin Amis schrieb mit
Mitglieder der »Manson-Fami- viel Schwung und einem sar-
ly«. Eine Fortsetzung folgte. kastischen Blick auf die Gegen-
Allerdings musste man diese wartskultur; ein Höhepunkt
Bücher mit ähnlicher Vorsicht seines Werkes war der 1995 ver-

Monica Davey / AFP


lesen wie Twitter-Kommentare. öffentlichte Roman »Informa-
Anger kam es weniger auf mit tion«, in dem er ein ebenso
journalistischer Akkuratesse bösartiges wie komisches Bild
recherchierte Fakten an. Er
wollte ein barockes Gemälde
Tina Turner, 83 malen von Leinwandgöttern
Sie war die Größte. Getrieben, wild, tragisch. Aber dann eben auch und -göttinnen und ihren ver-
lebensklug, geläutert, glücklich. Ihr gelang, was nur ganz wenigen sehrten Seelen. Denn Künstler
schwarzen Stars ihrer Generation gelungen ist: Sie hat aus ihrem war der Autor Anger auch, und
Leben ihr größtes Kunstwerk gemacht. Als Anna Mae Bullock was für einer. Als Homosexua-
wurde sie 1939 geboren, wuchs in Nutbush, Tennessee auf. Ihr Va- lität in den USA noch gesetzlich
ter arbeitete auf einer Plantage, auch Anna pflückte als Kind noch untersagt war, machte er schon
Baumwolle. Sie sang im Kirchenchor. Ike Turner war ihr Ausweg. eindeutig queere Filme, unter
Sie sah ihn in einem Nachtklub spielen und überzeugte ihn, es mit anderem 1947 den Kurzfilm

Gar y Doak / eyevine / laif


ihr als Sängerin zu versuchen. Er gab ihr den Namen, mit dem sie »Fireworks«, der wegen Obszö-
weltberühmt werden sollte: Tina. nität ein Gerichtsverfahren
Sie fingen eine Affäre an und heirateten. Die Ike & Tina Turner nach sich zog. Die Filme Angers
Revue war Anfang der Sechziger eine Sensation. Der Produzent sind surreale, radikal einzigarti-
Phil Spector schrieb »River Deep – Mountain High« für sie, ge Werke, in denen Traum, Rea-
bis heute eine der besten Pop-Produktionen aller Zeiten. Ike und lität, Kunstgeschichte und Sata-
Tina wurden von den Rolling Stones als Vorgruppe gebucht – nismus in einen metaphysischen des Schriftstellerkollegen Julian
in »Gimme Shelter«, einem Konzertfilm der Stones, kann man Bilderstrudel münden. Ohne Barnes zeichnet – mit dem
sie sehen. Wie sie da in ihrem kurzen Kleid steht, mit dem Mikro- sie sind die visuellen Welten war Amis bis dahin befreundet
fonständer spielt, hat das den gleichen Sex, die gleiche großartige von David Lynch oder Martin gewesen. Das Buch führte zum
Aggressivität, wie Jagger sie damals hatte. Doch bald geriet der Scorsese kaum vorstellbar. Ende dieser Freundschaft, auch
Drogenkonsum ihres Mannes außer Kontrolle, er begann, sie zu »Einen Film zu machen ist wie Amis’ Ehe und die Geschäfts-
schlagen. Sie verließ ihn – und stand vor dem Nichts. Sie behielt einen Zauberspruch anzuwen- beziehung zu seiner Agentin
nur ein paar Klamotten, die Rechte an ihren Songs, viele Schulden, den«, soll Anger über seine gingen in die Brüche. Entspre-
zwei Autos und ihre Geschichte. Arbeit gesagt haben. Kenneth chend machte »Information«
Tina schaffte es, sich neu zu erfinden. Mehr als das: Sie wurde zu Anger starb am 11. Mai in Yucca Amis vollends zu einem Star-
dem Weltstar, der sie vorher gar nicht war. »Private Dancer« heißt Valley, Kalifornien. KAE autor, den auch diejenigen Bri-
das Album, mit dem ihr das gelang. Eine Platte, die gleichzeitig ten kannten, die sich für Bücher
glatter und vollendeter Achtzigerjahrepop ist – und eine Emanzipa- eigentlich nicht sonderlich
tionsgeschichte. Hier hört man eine Frau, die sich ihrer Geschichte interessierten. Seine Neigung,
bemächtigt. 1986 veröffentlichte Tina Turner ihre Autobiografie. weder sich noch andere zu
Die Geschichte des Mädchens, das von ganz unten kommt, die Liebe schonen, sollte Amis auch in der
findet und verliert, die größten Hindernisse überwindet, um Folge häufig in die Medien brin-
schließlich ganz oben zu landen. Aber eben auch bei sich selbst. Eine gen. Immer wieder hat er sich
Geschichte wie das Musical, das seit fünf Jahren überall läuft, wo dabei mit der eigenen Biografie
Linda Nylind / eyevine / ddp

Musicals laufen. Schon in den Siebzigern war sie Buddhistin gewor- auseinandergesetzt. Denn wenn
den, auch darüber hat sie ein Buch geschrieben. In Düsseldorf lernte er auch längst viel bekannter
sie 1986 ihren neuen Mann kennen, Erwin Bach, einen deutschen war als sein Vater, hat er sich
Musikmanager. Sie bekam die Schweizer Staatsbürgerschaft und doch fast ein Leben lang an ihm
heiratete 2013. Später erlitt sie einen Schlaganfall. Tina Turner starb abgearbeitet. Martin Amis
am 24. Mai in ihrem Haus in Küsnacht in der Nähe von Zürich. RAP starb am 19. Mai in Florida. SHA

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Lust am Spiel
Die Wurzeln ihrer Leidenschaft
für alles Komödiantische und
die Schauspielerei selbst liegen
in ihrer Teenagerzeit. Insbeson-
dere der Besuch einer Gothic-
Bar war in den Achtzigerjahren
ein Erweckungserlebnis für
Melissa McCarthy, 52. Das be-
richtet der »Guardian«. Auf-
gewachsen war sie auf einer
Mais- und Sojabohnenfarm
in Illinois. Das Bar-Erlebnis in
Chicago habe ihr »Gehirn
gesprengt«, sagte McCarthy.
Sofort färbte sie ihre Haare blau
und schwarz, schneiderte sich
eine Hose aus einem Poloshirt:
»Das war das Größte, das ich je
getan habe, dachte ich damals«,
sagte sie. Sie habe es geliebt zu
sehen, »wer ich noch sein konnte
und wie das die Wahrnehmung
anderer veränderte«. Sich als
Gothic-Anhängerin zurechtzu-
machen war für McCarthy »ein
Ausdruck von Freude«. Sie fand
es »unwahrscheinlich lustig«:
die übertriebenen Frisuren, das
Make-up. Ihre Karriere begann
sie dann als Stand-up-Dragqueen
in New York. Auf die Auswei-
tung von Anti-Drag-Gesetzen in
den USA blickt McCarthy voller
Sorge. Auf Instagram postete

Mario Mitsis / Cover-Images / IMAGO


sie Bilder aus Filmen wie »Man-
che mögen’s heiß«, in dem
Tony Curtis 1959 als Frau ver-
kleidet spielt, und schrieb dazu:
»Ihr seid euer Leben lang von
Drag unterhalten worden.
Tut nicht so, als wäre das jetzt
ein Problem.« KS

Neue Geschäfte, aus Weintrauben und -blättern dest unklar, die Belege schwach.
versehen. Dafür werden die Als Indiz wurde gewertet,
neue Ideen Pflanzen des Weinguts Château dass Pitt Anteile seiner Produk-
Hollywoodstar Brad Pitt, 59, Miraval in Südfrankreich ver- tionsfirma Plan B an das fran-
erweitert seine filmfremden Ge- wendet, dessen Besitzer Pitt ist. zösische Medienunternehmen
JB Autissier / Panoramic / Bestimage

schäftstätigkeiten um ein neues Er hat auch Anteile an einer Mediawan verkauft hat. In der
Feld. Er wird eine Ginmarke auf Modemarke. Anfang des Jahres größten Datenbank der Film-
den Markt bringen. Der Name: war ein Raunen durch die branche werden gerade acht
The Gardener. Erst im Septem- Klatschspalten gegangen: Brad aktuelle Engagements als Pro-
ber vergangenen Jahres präsen- Pitt plane »angeblich« oder duzent und zwei als Darsteller
tierte Pitt seine Unisex-Luxus- sogar »offenbar« einen »Semi- aufgeführt. Wie ein Rentner –
Kosmetikserie. Die Anti-Aging- Ruhestand«. Die Quelle für oder auch nur ein halber – be-
Produkte sind mit Wirkstoffen diese Schlagzeilen war zumin- nimmt Pitt sich nicht gerade. KS

118 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Beständige Liebe Im Jahr darauf wurde ihre ge- Ein Museum für
meinsame Tochter Hana geboren.
Die französischen Filmstars 2003 zerbrach die Beziehung. den Koch
Juliette Binoche, 59, und Benoît Während für Oscargewinnerin Der Ausnahmekoch und Revo-
Magimel, 49, lassen ihre Binoche die Weltkarriere wei- lutionär der gehobenen
Beziehung wieder aufleben – terging, gelangte Magimel eher Gastronomie Ferran Adrià,
allerdings nur fürs Kino. In dem durch Drogenprobleme und 61, wird ein Museum eröffnen –
historischen Liebesfilm »La einen Autounfall in die Schlag- über sich selbst. In dem
passion de Dodin Bouffant«, zeilen. In den vergangenen Gebäude, in dem bis 2011 sein
der gerade Premiere in Cannes Jahren erlebte er jedoch ein weltberühmtes Restaurant
feierte, spielen sie ein nicht Comeback und gewann gleich El Bulli residierte, hat der in
mehr ganz junges Paar, das zweimal den französischen Film- der Nähe Barcelonas geborene

Atilano Garcia / SOPA Images / ddp


durch die Leidenschaft zu gutem preis César als bester Haupt- Spanier dokumentiert, was,
Essen zueinanderfindet. »Wir darsteller. Mit »La passion …« jedenfalls bis hierhin, sein
befinden uns im Herbst unseres gelingt nun eine Annäherung Lebenswerk genannt werden
Lebens«, sagt Magimels Figur mit der Ex-Partnerin. »Alles hat kann. Malerisch am Meer gele-
zu der von Binoche im Film, sich bei diesem Dreh verändert«, gen, über zwei Stunden Auto-
»lass uns den Winter gemeinsam sagte Binoche über die Zusam- fahrt von Barcelona entfernt,
verbringen«. Im wahren Leben menarbeit mit Magimel. »Die steht das Haus, in dem der
war ihnen kein Happy End Liebe hat sich als beständig Erfinder der Avantgarde-Küche
vergönnt. 1998 lernten sie sich erwiesen, trotz des Mangels an viele Jahre wirkte. Mit seiner sondern darin, Horizonte zu
am Set von »Das Liebes- Kommunikation während experimentellen Lebensmittel- erweitern«, sagt Adrià der
drama von Venedig« kennen. der vergangenen 20 Jahre.« HPI zubereitung legte er den Grund- »Times«. »Das war es, was wir
stein für die bis heute viel taten: Wir erklärten den Leu-
kopierte Molekularküche. Von ten, dass Kochen alles ist, was
1986 bis 2011 leitete Adrià das man will.« Heute interessiere
Lokal, er galt als einer der ein- ihn das Zubereiten von Speisen
flussreichsten Köche der Gegen- überhaupt nicht mehr, schon
wart. Das El Bulli wurde zwi- gar nicht für Geld, schreibt die
schen 2002 und 2009 fünfmal »Times«. In dem El-Bulli-
zum besten Restaurant der Museum kann man den Gast-
Welt gekürt. Das Museum zum raum und die legendäre Küche
Konzept dieses kulinarischen begehen, Fotos und Notizen
Umbruchs und des Mannes, der anschauen, die die von Adrià
sie zu verantworten hat, soll patentierten 1846 Gerichte
nächsten Monat eröffnen. »Was illustrieren und Gemälde zur
wir im El Bulli gemacht haben, Geschichte des Kochens vom
Valer y Hache / AFP

unser bleibender Einfluss, be- Ex-Koch persönlich bewundern.


stand darin, neue Techniken zu Essen und Trinken ist in den
erfinden. Deren Wert bestand Räumlichkeiten allerdings ver-
nicht in den Techniken selbst, boten, nur Wasser erlaubt. KS

Von der Kunst gemacht haben, als Menschen:


Das ist das, was uns einzigartig
des Vergnügens macht.« »The Age of Pleasure«
Eigentlich war die amerikanische heißt ihr neues Album, es ist
Sängerin und Schauspielerin von queeren Partys inspiriert,
Janelle Monáe, 37, die große die Monáe in den vergangenen
Futuristin des Pop. In immer Jahren mitorganisiert hat, auch
neuen Variationen nahm sie während der Pandemie. Von
sich in ihrer Musik Zukunfts- der Lebensfreude dieser Ver-
visionen vor, verkleidete sich anstaltungen, der Nacktheit
als Android, beschäftigte sich in und Sinnlichkeit, die sie ermög-
ihren Songs mit der Persönlich- lichten. Monáe hat sich als
keit von Computern. Und jetzt? bisexuell, pansexuell und non-
In einer Zeit, in der wahr wird, binär bezeichnet. Zu Beginn
womit sie sich auseinanderge- ihrer Karriere trug sie gern
setzt hat, in der künstliche Intel- Anzüge. Damit ist es fürs Erste
Michael Buckner / Variety / Getty Images

ligenzen so weit sind, dass sie vorbei. »Ich bin so viel glück-
selbst lustige Popsongs hervor- licher, wenn meine Brüste
bringen? Macht Monáe etwas draußen sind und ich frei he-
ganz anderes. Das, was uns von rumrennen kann«, sagt die
einer KI unterscheide, sei, dass Schauspielerin, die für ihre Rolle
wir ein Leben haben, sagte in der Krimikomödie »Glass
Monáe dem amerikanischen Onion – A Knives Out Mystery«
»Rolling Stone«: »Die Art, wie viel Lob bekam. Sie sei ein
wir gemeinsame Erfahrungen »free-ass motherfucker«. RAP

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 119


schaft, die sich der Solidarität
BRIEFE verpflichtet fühlt.
Sarah Ruhnau, Borken (NRW)

Als aufmerksamer und bestän-


diger SPIEGEL -Leser regt mich
dieser Artikel an und auf zu-
gleich. Normalerweise sind Ihre
heblich über dem Durchschnitts- Die geplante (und nötige) tief- Texte ausgewogen. Hier aber
einkommen liegt. Dass dieser greifende Erneuerung von Heiz- wird die Viertagewoche weitge-
Personenkreis beispielsweise eine konzepten ist nur durch gemein- hend vorteilhaft dargestellt. Die
Luft-Wasser-Wärmepumpe, die, samen, konzertierten Umbau Arbeitgeberseite scheint es nicht
so der SPIEGEL , »nach üppiger der Energieversorgung, Infra- zu geben. Klar, dass SPIEGEL -
Bezuschussung nur knapp 19.000 struktur und Sanierung von Redakteur:innen dafür sind, neu-
Euro« kostet, finanzieren kann, Gebäuden zu stemmen – dies tral scheinen sie jedenfalls in
ist klar. Die Redakteure hätten muss parallel geschehen und diesem Punkt nicht zu sein. Mir
mal Geringerverdiener fragen sol- wachsen. fehlt der Mensch, der mir erklärt,
len, um festzustellen, wie gering Klaus Schneider, Dortmund warum die Viertagewoche den
hier die Zustimmung zur »Wär- Fachkräftemangel in Deutsch-
mewende« ist. land nachhaltig lindern soll.
Klaus Philippi, Neuwied (Rhld.-Pf.) Regt an und auf Übrigens: Ich kenne einen Maler
mit Viertagewoche. Freitag und
Alle reden von den Hauseigen- Nr. 20/2023 Parteien und Regierung Samstag macht er Schwarz-
suchen nach neuen Arbeitszeitmodellen
tümern. Bei Eigentümergemein- arbeit.
schaften kommt neben den Kos- Die deutschen Unternehmen Dietmar Böhm, Schömberg (Bad.-Württ.)
ten der Beschlusszwang hinzu. In müssen sich damit abfinden, dass
Eine weitere Lücke Mehrfamilienhäusern mit vielen die Arbeitsplätze, die sie anbie-
Eigentümer:innen kann man ten, attraktiver werden müssen. Es gab eine bunte
Nr. 21/2023 Titel: Operation nicht einfach Gasetagenheizun- Deswegen führt kein Weg an der
Wärmepumpe
gen ersetzen. Fernwärmean- Viertagewoche mit vollem Lohn- DDR
Was soll der Mann denn machen? schlüsse oder zentrale Wärme- ausgleich vorbei. Ein Modell Nr. 20/2023 Historikerin Franziska
Es ist nicht übereifrig, sondern pumpen können ohne Mehrheits- könnte zunächst eine alters- Kuschel sieht eine Schieflage
dringend notwendig, die Wärme- beschluss nicht installiert werden. abhängige Staffelung sein, die in der aktuellen Ost-West-Debatte
wende einzuleiten. Habeck ist Warum sollte mein:e Miteigentü- vorsieht, dass ab dem 50. Lebens-
gewählt, fürs Regieren, und das mer:in investieren, wenn ich die jahr maximal 35, ab dem 55. nur Der Kommentar von Frau Dr. Ku-
tut er im Rahmen seiner eng ge- Not mit einer alten Gasetagen- noch 30 und ab dem 60. dann schel zu Katja Hoyers »Diesseits
steckten Möglichkeiten sehr gut. heizung habe? Ist ein Wasser- nur 25 Wochenstunden gearbeitet der Mauer« war dringend erfor-
Ich selbst gehöre zu der Klientel stoffnetz nicht vorgesehen, bleibt werden darf. Jeweils mit vollem derlich. Weder dieses Werk noch
der älteren Eigenheimbesitzer ohne Zustimmung der Eigen- Lohnausgleich. Dies würde gera- das Interview mit Frau Hoyer (in
mit geringem Einkommen und tümergemeinschaft oder gesetz- de dem Bedürfnis der älteren Ge- Nr. 19/2023) spiegeln die gesell-
habe dummerweise vor vier Jah- liche Regelung für Eigentümer- neration nach mehr Erholung schaftlichen Verhältnisse in der
ren eine neue Gasheizung ein- gemeinschaften bei einer Aus- Rechnung tragen, Erfahrung im damaligen DDR und den dazu
bauen lassen, gefördert von der tauschpflicht nur die Umstellung Betrieb halten und den Einstieg verfügbaren Wissensstand wider.
KfW und bezahlt vom Ersparten. auf eine elektrisch betriebene und die Qualifikation jüngerer Prof. Dr. Peter Trenkner, Elmenhorst
Aber ich vertraue darauf, dass mir Heizung. Offenbar eine weitere Arbeitnehmer ermöglichen. (Meckl.-Vorp.)
in den nächsten Jahren eine gang- Lücke im habeckschen Gesetz. Detlef Grundtner, Hildesheim
bare Lösung aufgezeigt wird, und Lutz Schröter, Wolfsburg Beim Lesen des Artikels über das
bin bereit, meine letzten paar Von einer Viertagewoche profi- Buch der Wissenschaftlerin Katja
Kröten zu investieren. Die Klima- Hinter dem Titelthema verbirgt tiert nur eine zumeist privilegier- Hoyer »Diesseits der Mauer« in
krise wird uns alle in der Zukunft sich ein weiteres: Wieso hat das te Gruppe, die in der Regel in der Nr. 19/2023 befiel mich ein sehr
100-mal mehr kosten, als wir alles so lange gedauert? Entspre- freien Wirtschaft arbeitet. Deren ungutes Gefühl, dass nun auch
derzeit in ihre Abwendung inves- chende Maßnahmen hätten be- Arbeitgeber können gerne damit der SPIEGEL derartigen Wissen-
tieren. reits vor Jahrzehnten in Angriff werben, um Bewerber:innen an- schaftlerinnen aus der Ex-DDR
Lilo Helfferich, Neustadt a. d. Weinstr. genommen werden müssen. Das zusprechen. Aber ein Recht da- eine Bühne gibt, obwohl ich mich
(Rhld.-Pf.) ist der Grund für die gut gemein- rauf zu etablieren, obwohl doch von deren Ausführungen im
te derzeitige Eile bei der Umset- schon feststeht, dass die Umset- Interview doch arg verschaukelt
Sicherlich unbeabsichtigt hat der zung klimafreundlicher Maßnah- zung in vielen Berufen unmöglich bis beleidigt fühlte. Ich als 1952
SPI EGEL aufgezeigt, dass der men. Die Gefahren des Klima- und zudem nicht wünschenswert in der DDR geborener Mensch,
»Normalbürger«, ob Arbeiter, wandels sind lange bekannt. Und ist, setzt meiner Meinung nach dessen Eltern »nicht brav« waren
Angestellter oder Selbstständiger, die Politik hat jahrzehntelang ein falsches Zeichen. Wir alle soll- und deren sechs Kinder weder
mit durchschnittlichem Einkom- nichts Nennenswertes getan. Die ten eher dankbar dafür sein, dass Junge Pioniere waren noch
men, sich die »Wärmewende« gebotene Eile darf aber auch in vielen Berufen eben nicht die Jugendweihe machten oder
finanziell kaum leisten kann. Die nicht zulasten weniger zahlungs- persönliche Work-Life-Balance blaue FDJ-Hemden trugen, habe
im Artikel genannten Personen kräftiger Bürger gehen. Nur eine im Vordergrund steht, sondern, mit derartiger »wissenschaftli-
waren oder sind Beamter, Augen- gut kommunizierte und sozial neben dem jeweiligen Berufs- cher« Aufarbeitung meiner fast
arzt, Ärztin oder Fachschullehrer, verträgliche Klimapolitik findet ethos, vor allem ein gewisses 40 DDR-Jahre große Probleme.
also alles Menschen mit einem die notwendige Akzeptanz. Pflichtbewusstsein. Das ist zen- Eigentlich wollte ich mich zum
Einkommen, das in der Regel er- Reiner Gorning, Hamburg traler Bestandteil einer Gesell- ersten Mal bei Ihnen beschweren.

120 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


Katja Hoyer treibt es mit ihrer
Danke für den sach­ Der Bericht von Katja Ich bin dankbar, auch Geschichtsschreibung ziemlich
lichen und erhellen­ Iken über ihre lebens­ kulturelle Informa­ bunt.
den Artikel. Leider rettenden sieben tionen direkt aus dem Fred Walkow, Raguhn­Jeßnitz
(Sachs.­Anh.)
verkehrt das Titelbild Minuten hat mich tief SPIEGEL beziehen zu
den Inhalt ins Gegen­ bewegt. Man sollte können. Schade, dass Das Foto »Ost-Berliner Straßen-
teil. Ist das Satire, von diesem Artikel Ihr Artikel nicht mit szene von 1985« zur Illustration
oder kann das weg? Sonderdrucke ferti­ einem Werk der mir des Artikels ist beispielhaft für
den selbstgerechten, arroganten
Uwe Neubauer, Hannover gen lassen und diese noch nicht bekannten Blick des Westens auf die DDR.
an jedem Schwarzen Künstlerin Celmins Wir müssen uns nicht wundern,
Brett anheften. bebildert ist. dass viele Menschen aus Ost-
deutschland misstrauisch sind
Hans-Jürgen Jakobs, Ottobrunn Ulli Stein, Erlangen
(Bayern)
und glauben, dass unsere Demo-
kratie bei Weitem nicht so demo-
kratisch ist, wie ihnen das die
westlich geprägten Eliten und die
Nr. 20/2023 Wie es sich Nr. 20/2023 Gerhard Richter,
Nr. 21/2023 Titel: Operation anfühlt, einen Herzinfarkt zu Vija Celmins und die Farbe
Medien erzählen. Ich selbst bin
Wärmepumpe überleben Grau Wessi, habe aber viel Verständnis
für die Wut und den Widerstand
der Ossis, die einfach nicht nach
Deshalb danke ich Ihnen, dass Sie dem Interview kann ich somit aus von Klaus Kinkel 1991 verordne- der Pfeife des Westens tanzen
in der Ausgabe Nr. 20/2023 einer meinem heimatlichen Umfeld ten Delegitimierung der DDR. wollen.
anderen in der DDR geborenen überwiegend bestätigen. Dabei Von der Bundesstiftung zur Auf- Thomas Arnold, Nauheim (Hessen)
Historikerin eine Bühne gegeben spricht mir auch ihre klare Äuße- arbeitung der DDR-Diktatur, de-
haben, die meiner Meinung nach rung aus der Seele, dass das Zu- ren Mitarbeiterin die Autorin ist,
die »wissenschaftliche« Arbeit rückwünschen dieser Diktatur kann man wohl auch nichts ande- Zu liberalisiert?
dieser Frau Hoyer entlarvt und nicht infrage komme. Trotzdem res erwarten als diesen von zwei-
zerpflückt hat – danke! ist der korrigierende, sensibili- felhaften Behauptungen getrage- Nr. 20/2023 Gefährliche Sicherheits­
lücken im Telefonnetz
Matthias Kunze, Alt Meteln (Meckl.­Vorp.) sierte Blick von Franziska Ku- nen Verriss des Buches von Frau
schel bezüglich einer DDR-Ver- Hoyer. Die DDR-Bürger konnten Danke für den informativen Ar-
Spannend, worüber da in Katja klärung ebenso wichtig. Bestünde sich das sowjetische Diktat 1945 tikel. Ich habe das SMS-Konzept
Hoyers Buch und dem SPIEGEL - darin nicht auch das Potenzial zur nicht aussuchen, es wurde ihnen miterfunden und in die interna-
Interview sowie Franziska Ku- Zusammenarbeit zweier kluger als Konsequenz der großdeut- tionale Standardisierung einge-
schels Debattenbeitrag diskutiert Historikerinnen? schen Politik aufoktroyiert. Die bracht. Später war ich mehr als
wird. Geboren bin ich vor dem Felix Jähne, Stäfa (Schweiz) Ostdeutschen haben den Preis vier Jahre lang Vorsitzender des
Mauerfall in Berlin 1989, soziali- dafür gezahlt, was Gesamt- Technischen Ausschusses für die
siert und geprägt im Nachwende- Der Verkaufserfolg der Publika- deutschland bis zur Kapitulation Standardisierung des Mobilfunks.
Brandenburg. Bei Heimatbesu- tion von Dirk Oschmann spricht 1945 angerichtet hatte. Und sie Und von der Masche in Ihrem
chen tritt oft das Thema des für sich, und der Start von »Dies- zahlen seit der »Wiedervereini- Artikel bin ich auch geschädigt.
DDR-Lebens zutage, mit dem seits der Mauer« von null auf gung« nochmals den Preis, als Das SS7-Protokoll und das dazu-
Bedürfnis der Elterngeneration, zehn der SPIEGEL -Bestsellerliste von der Treuhandanstalt enteig- gehörige SS7-Datennetz wurden
die DDR jenseits der Täter-Opfer- lässt auf eine ähnliche Publikums- nete Bürger zweiter Klasse be- im Kontext von ISDN entwickelt
Betrachtung zu erklären. Die resonanz hoffen. Dass sich mit handelt zu werden. und standardisiert. Es diente der
Aussagen von Katja Hoyer aus Frau Kuschel eine Vertreterin der Wolfhard Noack, Greifswald Steuerung der ISDN-Netze und
Aufarbeitungsindustrie zu Wort der Zusammenarbeit von ISDN-
meldet, wenn es um DDR-Ge- Katja Hoyer breitet in ihrem Netzen durch die Netzbetreiber,
KORREKTUREN schichte geht, verwundert mich Buch »Diesseits der Mauer« das die einander vertrauen konnten.
Zu »Der schwierige Abschied nicht. Warum aber meint der aus, was ehemalige DDR-Bürger, Im Mobilfunk haben wir uns auf
vom Feuer« in Heft 21/2023, Sei- SPI EGEL nach dem durchaus die dem System nahestanden, seit dieses System gestützt. Es ist mir
te 10: Beantragt man beim Bun- sachlichen Interview mit Frau 1990 über die DDR erzählen. völlig unverständlich, warum
desamt für Wirtschaft und Aus- Hoyer, diesen Verriss des Werkes Stellenweise ist der Text kaum heute Privatfirmen zu diesem
fuhrkontrolle eine Förderung für ausgerechnet in der nächstfolgen- von DDR-Propaganda zu unter- Netz Zugang bekommen und da-
eine energetische Maßnahme an den Ausgabe veröffentlichen zu scheiden, zur besseren Lesbarkeit mit Betrugsversuchen Vorschub
Gebäuden und beauftragt schon müssen? Kann man es gerade im aufgeschäumt mit jeder Menge leisten können. Ist das eine zu
vor der Bewilligung Handwerker Lichte der Ausführungen von kolportierter Details. Vom Ano- weitgehende Liberalisierung
mit der Durchführung, verspielt Herrn Oschmann nicht einfach nymus »Manni«, einem ehema- durch die Regulierung? Interes-
man damit nicht die Förderung. mal stehen lassen, dass es auch ligen Grenzsoldaten, erfährt der sant wäre auch zu erfahren, wel-
Trotzdem erfolgt dies auf eigenes eine bunte DDR gab? Leser auf Seite 396 Erstaunliches. cher Netzbetreiber der Firma
Risiko, wenn nicht alle Arbeiten Dr. Eberhard Grabow, Schwerin Bei Fluchtversuchen habe der Fink den Zugang ermöglicht hat
förderungsfähig sind. Befehl »für alle« gelautet, auf und anscheinend auch weiterhin
Zu »Warum der Konflikt um Den Debattenbeitrag Ihrer Auto- die Beine der Flüchtenden zu ermöglicht – und warum er es tut.
Khartum weiter eskaliert« in Heft rin hätten Sie auch mit dem schießen, und »wer sich nicht da- Friedhelm Hillebrand, Bonn
21/2023, Seite 73: Im Sudan hat- Spruch Christian Morgensterns ran hielt, bekam ernste Proble-
ten General al-Burhan und Ge- »Weil nicht sein kann, was nicht me«. Die Mauertoten also eine Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
neral Daglo nicht 2012, sondern sein darf« überschreiben können. Folge befehlswidrigen Verhaltens Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
2021 gemeinsam geputscht. Folgt der Aufsatz doch sehr der der schießenden Grenzsoldaten! unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Auf drei, vier Schnäpse mit Leonid HOHLSPIEGEL

Aus der »Pforzheimer Zeitung«:


ZEITREISE Der Bonnbesuch von Leonid Breschnew war das politische
Topereignis im Mai 1973. Alkohol hob die Stimmung, dann ging es dem
Kremlchef um Geschäftliches.
Nr. 22/1973 »Kein Blut und
keine Tinte« Hinweis auf einem Gutschein für ein Restaurant
in Lüdenscheid:

Gleich nach den Begrü­ »Dieser Gutschein kann nur einmal


ßungszeremonien zum verzehrt werden.«
fünftägigen Staatsbesuch

Archiv/ picture-alliance/ dpa


kamen sich KPdSU­
Aushang im Schaukasten einer Kirchengemeinde in
Generalsekretär Leonid Hamburg:
Breschnew und der Bun­
deskanzler näher. »Ken­
KPdSU-Generalsekretär Breschnew (M.),
nen Sie eigentlich deutschen Wodka?«, Kanzler Brandt mit Gattin Rut
setzte Willy Brandt zur Charmeoffensive an
und bestellte »eine Lage Steinhäger«, wie
der SPIEGEL berichtete. Der erste Wodka die staunende Runde. »Nichts, das war so
werde »nach russischer Sitte immer ex ge­ viel wert wie der Rauch einer Zigarre.« Die
trunken«, versicherte Breschnew und ging Industriebosse waren beeindruckt. Von feuerwehr-unterfoehring.de:
in Vorleistung. Brandt zog nach, noch ehe Vor allem ging es um Energie, um Öl, »Liebe Unterföhringer Bürgerinnen und
alle am Tisch bedient waren: »Ich mache es Kohle, Strom und Gas. Eine »besondere Bürger, im Jahre 1973 wurde die
wie der Pfarrer, ich trinke für euch alle.« Abhängigkeit« befürchtete Brandt nicht, Freiwillige Feuerwehr Unterföhring
Der Kanzler wollte am liebsten Fragen schließlich würden aus den Weiten Sibi­ gegründet – vor 150 Jahren!«
des Berlinstatuts besprechen, Breschnew je­ riens selbst in den kühnsten Visionen kaum
doch sein »Lieblingsthema«, die Pläne für mehr als zehn Prozent des bundesdeut­
Aus der Broschüre »Lexinform aktuell Steuern« der
eine deutsch­sowjetische Wirtschaftskoope­ schen Energiebedarfs kommen. »Wir wer­ Datev eG Nürnberg:
ration über Jahrzehnte. Er präsentierte den froh sein über alles, was wir an Ener­
sich in der Pose des Sehers, der Großes ver­ gie bekommen können«, so der Kanzler.
kündet und Details den Experten überlässt. In der Titelgeschichte beschäftigte
»Was haben wir vom Kalten Krieg gehabt?«, sich der SPIEGEL mit der Verurteilung
fragte der Kremlchef beim Treffen mit gut des mutmaßlichen Mörders Arwed Aus dem »Kölner Stadt-Anzeiger«:
einem Dutzend deutschen Topmanagern in Imiela. Rainer Lübbert »Auf der Schloßstraße in Bensberg laufen
im Mai die ersten Arbeiten zur
Verpflegung des Natursteinpflasters.«
15. Weil das jede seriöse Berechnung bestä­
Alles klar tigt. 16. Nein. 17. Ja. 18. Ja. 19. Möglicher­
Von der Speisekarte eines Lokals in Hamburg:
weise. 20. Dumme Frage. 21. Dumme Frage.
22. Dumme Frage. 23. Beim Installateur
SO GESEHEN Alle Antworten auf
Ihres Vertrauens. 24. Tja, das wüssten wir
die FDP-Fragen an Habeck auch gerne. 25. Das sollte selbst Ihnen klar
sein. 26. Nein. 27. Nein. 28. Nein. 29. Na ja,
Die Ampelkoalition ringt um das Heizungs­ kommt drauf an. 30. Doch, das meinen
gesetz, die FDP hat noch Fragen – doch wir ernst. 31. Ja. 32. Klingt seltsam, ist aber
deren Anzahl ist unklar. Mal ist die Rede so. 33. Weil er das studiert hat. 34. Womit
von 101, dann von 131. Das Wirtschafts­ wohl. 35. Nein. 36. Ja, sicher. 37. Sind weder
ministerium meldet hingegen, es seien bis­ verwandt noch verschwägert. 38. Weil er Von der Speisekarte eines Restaurants in Mainz:
her nur 77 Fragen eingegangen, davon 3 es kann. 39. Wir brauchen mehr Details.
in »unleserlicher Handschrift«, 2 doppelte, 40. Schreiben Sie es auf, wir beschäftigen uns
7 rhetorische und 6 Suggestivfragen. Blei­ später damit. 41. Wohl kaum. 42. 4,98 Euro
ben noch 59 Fragen. im Sechserpack. 43. Nur Wasser, kein Haar­
Hier nun die mit Spannung erwarteten spray. 44. Nein, ein Handschuh und ein Seil.
Antworten, exklusiv und direkt aus der 45. Das ist privat. 46. Das auch. 47. Nein.
Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums: 48. Ausgeschlossen. 49. Merkt ihr selber?
1. Ja. 2. Nein. 3. Jedenfalls 50. Moment, darüber denken wir kurz Von der Website der »Braunschweiger Zeitung«:
nicht übermorgen. 4. Dum­ nach … Nein. 51. Wenn nichts dazwischen­ »Donnerstags nur Damensauna, an
me Frage. 5. Ja. 6. Nein. kommt. 52. Ja. 53. Können wir gerne machen. Donnerstagen, die auf einen Freitag fallen,
7. Nein. 8. Nein. 9. Hättet 54. Nein. 55. Selbstverständlich. 56. Das ist gemischte Sauna.«
ihr wohl gerne. 10. Viel­ hat mit der Schwerkraft zu tun und damit,
leicht. 11. Ja. 12. Keine dass sich die Bananenblüte dem Licht
Von der Website der »Hamburger Morgenpost«:
Ahnung. 13. Wo zuwendet. 57. Das müssen Sie den Kanzler
die Sonne nie­ fragen. 58. Weil wir mehr Stimmen haben
mals hinscheint. als ihr. 59. Gegenfrage: Wollen Sie lieber in
14. Warum nicht? die Opposition? Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023


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