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chweiz sfr 9,40 Slowenien € 7,50 Spanien / Kanaren € 8,00 Ungarn Ft 3790,-
Dänemark dkr 69,95 Frankreich € 7,70 Italien € 8,20 Norwegen NOK 125,– Portugal (cont) € 7,50 Slowakei € 7,70 Spanien € 7,70 Tschechien Kc 229,- Printed in Germany
China geht
ROHSTOFFE
Wie es auch ohne
NONNEN
von Düsseldorf
Das Wunderkloster
CLEVER VORSORGEN:
R+V-AnsparKombi Safe+Smart
Die clevere Vorsorge zum Ansparen und
spontan Ausgeben*. Zum Beispiel für die
Auszeit mit Deiner Familie.
Titel | Seite 8
Kloster | Seite 38
Benediktinerinnen Angermund
ende. Mancherorts aber bestimmt der christliche Glaube
noch immer den Alltag. Im Katharinenkloster im Düssel-
dorfer Stadtteil Angermund leben seit September Benedik-
tinerinnen. Ihr Orden hat so viel Zulauf, dass ihnen der
Platz in ihrem Kölner Heimatkloster nicht mehr ausreich-
te – und sie kurzerhand eine Dependance eröffneten. »In
Haarverlust?
einer Zeit, in der überall Klöster schließen, ist das eigent-
lich unvorstellbar«, sagt SPIEGEL -Redakteurin Katja Thimm, die fünf Tage bei den Nonnen zu-
brachte. Was reizt Frauen heute noch an einem zurückgezogenen Dasein ohne Partnerschaft und
Jetzt spürbar
Eigentum? Thimm hörte von Frauen, dass sie dort Freiheit und Selbstbestimmung fänden und vie-
les anders machten als Vertreter der Amtskirche. »Zwar hält eine von ihnen, Schwester Emma-
reduzieren!
nuela, die Fäden in der Hand, doch es gibt kaum Hierarchien.«
Mit Koffein, Ginkgo und dem
Rohstoffe | Seite 62 gesunden pH-Wert 5,5
Ein Grund zum Feiern in diesen nachrichtlich eher düsteren Zeiten hatten wir in sebamed Produkte sind in über 120 Studien
dieser Woche: Seit fünf Jahren gibt es SPIEGEL+, unser digitales Abonnement. Der dermatologisch-klinisch getestet.
erste Artikel, ein Test, der im Mai 2018 mit dem roten Plus-Emblem erschien: »Wie In Apotheken und Drogeriefachabteilungen.
Zetsche der Zorn von Andreas Scheuer traf«. Zetsche, Scheuer: Namen wie aus
einer anderen Zeit – damals erreichten wir gerade einmal 26 Leser. Inzwischen sind
325.000 Menschen hinzugekommen, so viele Abonnenten und Abonnentinnen ha-
ben derzeit Zugriff auf alle Artikel, Videos und Podcasts auf unserer Website SPIEGEL.de. Wenn
Sie als Abonnent oder Abonnentin des gedruckten SPIEGEL dazugehören wollen: Für 70 Cent
pro Ausgabe mehr gibt es das volle Angebot von SPIEGEL+.
SEBAMED NIMMT IHRE
Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 3 HAUT IN SCHUTZ
INHALT TITEL
DEUTSCHLAND
26 | Koalition SPD-Chef
Weniger Arbeit, mehr Leben Lars Klingbeil will mehr Einfluss
des Staates
JOBWELT Die Generation Z verändert den Blick auf das Berufsleben. Warum sich 28 | Verteidigung Ausbilden ja,
für den Job kaputtmachen, wenn es auch anders geht? Heute fordern liefern nein – warum es in
der Kampfjetkoalition stockt
schon Berufseinsteiger Viertagewochen, Sabbaticals, flexible Arbeitszeiten.
Profitieren davon am Ende auch die Älteren? | 8 32 | Affären Die fragwürdigen
Rüstungsgeschäfte des Vorzeige-
unternehmens Hensoldt
4 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
DEBAT TE SPORT
70 | Technologie ChatGPT-
Erfinder Sam Altman über die KULTUR
Gefahren künstlicher Intelligenz
102 | Neue Musik von Paul Das Gold der Zukunft
72 | Lobbyismus Wie sich die Simon / »Fubar« mit
Für die Energiewende werden Unmengen an Metallen, Erzen und
Finanzindustrie aus dem EU- Arnold Schwarzenegger /
Mineralien benötigt. Doch Europa ist bei vielen kritischen
Lieferkettengesetz herauswindet Tattoo-Kunstprojekt
Rohstoffen von China abhängig – das soll sich jetzt ändern. | 62
104 | Kunst Reiche Privat-
AUSLAND sammler verändern die
Pariser Museumslandschaft
74 | Israels Säkulare demon-
strieren gegen Netanyahu / 108 | Literatur Michel
Armenien und Aserbaidschan Houellebecq äußert sich in
wollen Frieden schließen einem Buch über seinen
verunglückten Kunstporno
Ulrich Gamel / kolber t-press / picture alliance
Titelfotos [M]: Michael Kohls, Sandra Stein und Patrick Strattner für den SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023 DER SPIEGEL 5
Verschleißkosten der Freiheit
LEITARTIKEL Die Razzia gegen die »Letzte Generation« hilft den Aktivisten mehr als den Fahndern – und
verschärft die gesellschaftliche Polarisierung. Ein Rechtsstaat sollte besonnener agieren.
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kaufswert in Höhe von 30,00 € (ausgenommen Rettertüte, Tabakwaren, Zeitschriften, Säuglingsanfangsnahrung, Bücher, Pfand, CO2 Zylinder, Telefon- und Gutscheinkarten) im Aktionszeitraum, Registrierung und Upload des Kassenzettels
auf www.lidl.de/lotto erforderlich. Für die jeweilige Verlosung muss eine Teilnahme bis spätestens zu einem der folgenden Zeitpunkte erfolgen: 28.05., 04.06., 11.06., 18.06. und 25.06.2023. Mit einem Kassenzettel kann nur an einer Ver-
losung teilgenommen werden. Ermittlung der Gewinner durch Losentscheid, Gewinnbenachrichtigung per Mail. Meldet sich der Gewinner nicht innerhalb von 7 Tagen per Mail, verfällt der Gewinn ersatzlos und es wird ein Ersatzgewinner
kontaktiert. Auszahlung erfolgt ausschließlich per Überweisung auf ein Bankkonto des Gewinners. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Veranstalter des Gewinnspiels ist die Lidl Dienstleistung GmbH & Co. KG, Bonfelder Str. 2, 74206 Bad
Wimpfen. Vollständige Teilnahmebedingungen und Datenschutzhinweise auf www.lidl.de/lotto
TITEL
ARBEITSKAMPF
ür eine Nachwuchskraft bei McKinsey werden sollte. Erst seit 2020 ist diese Praxis Seine zentralen Fragen beim Berufsein-
F strahlt Sebastian Buck eine geradezu
irritierende Entspanntheit aus. Zum
Videointerview schaltet er sich aus New York
in Deutschland verboten. stieg: Kann ich trotz Vollzeitjob noch irgend-
Ihm sei es schon immer so gegangen, er- wie ich sein? Lässt der Beruf genug Raum für
zählt Buck, er finde eben nicht nur in einer Freizeit? »Für die Generation meiner Eltern
ein, und er grinst breit, als er erzählt, wie er Sache Erfüllung. Während des Studiums habe war ihr Job ihr Leben«, sagt Buck. »Wir haben
seine Zeit verbringt: bisschen Museum, biss- er nebenbei Trompete gespielt, geschau- jetzt das Privileg, dass wir mehr sein können
chen Broadway, mit Freunden frühstücken spielert, sich für die LGBTQ-Community als unsere Arbeit.«
und abends noch was trinken. In zwei Wo- engagiert. Sebastian Buck gehört zur Generation Z,
chen will er weiterreisen nach Los Angeles, jener Altersgruppe also, die zwischen 1995
danach einen Monat durch Panama und und 2010 geboren wurde – und eigene Vor-
Kolumbien. stellungen mitbringt, wie die Arbeitswelt aus-
Der Job? Kann warten. zusehen hat. Die erwartet, dass sich der Job
Seit knapp zwei Jahren ist Buck bei der an ihr Leben anpasst. Und nicht etwa umge-
Beratungsfirma angestellt, und zum zweiten kehrt. Fragt man sie nach ihren Prioritäten im
»Ich würde einen Job kündigen, wenn er
Mal nutzt er die »Take Time«: Zusätzlich zum mich daran hindert, mein Leben zu Berufsleben, rangiert die Work-Life-Balance
regulären Urlaub können die Beraterinnen genießen.«, zustimmende Arbeitnehmerinnen bei der Generation Z weit oben, direkt nach
und Berater zwischen ihren Projekten eine und Arbeitnehmer aus 34 Ländern, in Prozent dem Gehalt.
Auszeit von bis zu zwei Monaten pro Jahr 18- bis 24-Jährige 58 Im Randstad Workmonitor, einer der größ-
nehmen, am Stück oder phasenweise. Ihr Jah- ten Befragungen von Arbeitnehmenden welt-
25- bis 34-Jährige 54
resgehalt wird entsprechend reduziert und weit, ist das sehr deutlich an den jüngsten
über das gesamte Jahr gestreckt. Im Prinzip 35- bis 44-Jährige 49 Zahlen abzulesen. 58 Prozent der dort be-
hat sich Buck also eine Menge freie Zeit ge- 45- bis 54-Jährige
fragten 18- bis 24-Jährigen sagten, sie würden
41
kauft. einen Job kündigen, wenn er sie daran hin-
Der 23-Jährige kann sich das leisten. Er 55- bis 67-Jährige 40 dere, ihr Leben zu genießen. Und sie belassen
gehört zu jenen High Potentials, um die sich es nicht bei Worten: 38 Prozent gaben an, aus
die Unternehmen gerade reißen. Und McKin- »Ich würde keine Stelle annehmen, wenn ich diesem Grund schon einmal eine Stelle ge-
sey? Muss sich das leisten. Auch wenn durch nicht flexibel in Bezug auf ... schmissen zu haben.
das Modell weniger Berater gleichzeitig zur ... meinen Arbeitsort wäre.« »Wir sagen nicht, dass wir nicht arbeiten
Verfügung stehen, wie es aus dem Unterneh- 18- bis 24-Jährige
wollen, wir wollen es nur unter anderen Be-
45
men heißt. Aber man wolle attraktiv sein für dingungen«, so formuliert es Berater Buck.
den Nachwuchs – der anders offensichtlich 25- bis 34-Jährige 45 »Die ältere Generation ist auch in der Ver-
schwer zu locken ist. Ohne die »Take Time«, 35- bis 44-Jährige 43 antwortung, sich an unsere Bedürfnisse an-
erzählt Buck, hätte er sich nach dem Bachelor zupassen.«
mit 21 Jahren vielleicht nicht für den Job ent- 45- bis 54-Jährige 36 Die Jungen können sich dieses Selbst-
schieden. Die Beraterbranche ist verschrien 55- bis 67-Jährige 33 bewusstsein leisten. Sie werden gebraucht.
für ausufernde Arbeitszeiten, für Überstun- Allein bis 2035, rechnen das Institut für
den, Leistungsdruck. ... meine Arbeitszeiten sein könnte.« Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und
Er sei durchaus bereit, hart zu arbeiten, das Statistische Bundesamt vor, gehen der
18- bis 24-Jährige 50
sagt Buck, in Projektphasen komme er immer deutschen Wirtschaft bis zu sieben Millionen
wieder auf mehr als 40 Stunden pro Woche 25- bis 34-Jährige 48 Erwerbstätige verloren, weil die Babyboomer
– und schon das klingt für die Beraterwelt eher 35- bis 44-Jährige 47 in Rente gehen und immer weniger Junge
überschaubar. Aber er wolle auch Zeit für nachkommen. Und die können die Bedingun-
andere Dinge haben, für Reisen, für Freunde 45- bis 54-Jährige 41 gen diktieren.
und Familie, für seine NGO, mit der er Opfern 55- bis 67-Jährige 39 Jonathan Steinbach, Recruitingchef bei
sogenannter Konversionsbehandlungen hel- Bucks Arbeitgeber McKinsey, berichtet, dass
fen will, Menschen also, deren sexuelle Orien- S Quelle: Randstad-Umfrage; Befragungszeitraum: 18. bis Bewerberinnen und Bewerber jetzt häufiger
◆
nach Teilzeitmodellen und danach, an welchen gekämpft, indem sie bei stagnierendem Freundinnen und Freunde kümmern wollen
Themen sie überhaupt arbeiten würden. Es ist Wachstum und Arbeitskräftemangel einfach und sich womöglich noch gesellschaftlich
eine erstaunliche Wende. »Die klassischen weniger arbeitet.« Bundesjustizminister engagieren – so sieht es die Präsidentin des
Recruitingfragen der letzten Jahrzehnte waren: Marco Buschmann (FDP) Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialfor-
Wie schnell kann ich Karriere machen – und schung (WZB).
wie viel verdiene ich dabei?«, sagt Steinbach. »Wer glaubt, in dieser sich dynamisch ver- Ihre Forderung tat jahrelang niemandem
Die neue Macht des Nachwuchses resul- ändernden Welt mit einer Viertagewoche allzu weh, man lächelte sie freundlich weg,
tiert aus einer einfachen Umkehrung der Ver- durchzukommen, der glaubt auch, dass man weil es schien, als würde sie nie Realität. Nun
hältnisse. Mussten in den Neunzigerjahren im Fußball nach 80 Minuten in die Kabine aber ist sie zum Mainstream geworden, zum
die Absolventinnen und Absolventen dank- gehen kann.« Bayerns Ministerpräsident Teil der Tarifpolitik sogar, und Allmendinger
bar sein, wenn sie einen der eher raren Jobs Markus Söder (CSU) findet sich in einem politischen Kampfgebiet
ergattern konnten, so sind es heute die Unter- wieder. »Das Thema weckt in der Wirtschaft
nehmen, die froh sind, wenn sie qualifizierte »Da kommen 25-Jährige und wollen nur drei offensichtlich Emotionen«, sagt sie. Neulich,
Leute bekommen. Tage arbeiten – dabei haben die das ganze bei einem offiziellen Dinner, da zischte ein
Der inzwischen verstorbene Wirtschafts- Leben noch vor sich.« Europapark-Rust-Chef Verbandsfunktionär in ihre Richtung, die Sa-
wissenschaftler Christian Scholz, der sich als Roland Mack che mit der Viertagewoche, die sei wirklich
einer der Ersten mit der Generation Z aus- Quatsch.
einandersetzte, formulierte es so: »Auch an- »Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit.« Steffen Die Frage, wie viel Einsatz die Arbeitswelt
dere Generationen haben Nein gesagt. Jetzt Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundes- braucht und wie viel den Menschen guttut,
aber wird das Nein akzeptiert.« vereinigung der Deutschen Arbeitgeber- wird gerade neu verhandelt.
Denn es sind nicht nur die Jungen, die an- verbände
dere Arbeitsmodelle einfordern. »Weniger DER KONFLIKT
Arbeit, mehr Leben«, dieser lässige Slogan ist Und so stehen sich zwei Fraktionen gegenüber, Vier Wörter können ausreichen, um sich plötz-
in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die sich relativ wenig zu sagen haben. Die lich im Zentrum eines Generationenkonflikts
und vielleicht ist das die erstaunlichste Er- einen sorgen sich um Wohlstand und Wachs- wiederzufinden. Andrea Nahles hat das erlebt.
kenntnis. Die Selbstverständlichkeiten der tum, sie sehen den Standort durch den Fach- Mitte Februar gab die Chefin der Bundesagen-
alten Arbeits- und Karrierewelt lösen sich auf. kräftemangel bedroht. Die anderen wollen tur für Arbeit (BA), der »Augsburger Allge-
Ganz unabhängig vom Alter. die Arbeit nicht mehr zum Zentrum ihres meinen« ein Interview über die neuen Macht-
Mit der Coronapandemie, als die halbe Lebens machen. verhältnisse auf dem Jobmarkt. Über viele
Republik zwangsweise ins Homeoffice wech- Die Fronten seien inzwischen »völlig ver- Zeilen plätscherte es unaufgeregt dahin. Bis
selte, zeigte sich, dass viele Unternehmen härtet«, sagt die Soziologin Jutta Allmendin- die Frage fiel, wie sie es denn finde, dass »eini-
auch dann funktionieren, wenn ihre Ange- ger, die seit beinahe 15 Jahren für eine ge junge Menschen« bei Einstellungsge-
stellten von zu Hause und zu flexiblen Zeiten Arbeitszeitverkürzung für alle wirbt. Ein sprächen forderten, den Hund mit ins Büro
arbeiten. Wohnung und Büro, Familie und Arbeitsalltag mit 40-Stunden-Woche plus nehmen zu dürfen und keine einzige Über-
Beruf, Job und Privatleben rückten viel näher Überstunden für beide Elternteile passe ein- stunde zu machen. Und Nahles’ umständliche
zusammen und ließen sich, orientiert am per- fach nicht mehr, wenn sie sich zugleich um Antwort endete mit dem Satz: »Arbeit ist kein
sönlichen Gusto, konfektionieren. Das alte ihre Kinder, pflegebedürftige Angehörige, Ponyhof.«
Neun-bis-fünf-im-Büro-Korsett war gelockert.
Und viele Beschäftigte fragen sich seither
offenbar: Geht da nicht noch viel mehr?
Dass die Idee von einer anderen Work-
Life-Balance in der ökonomischen Realität Einwohnerinnen und Einwohner in Deutschland nach Generationen, in Millionen
angekommen ist, zeigte sich spätestens
1,5
Anfang April. Da verkündete Deutschlands
größte Industriegewerkschaft, die IG Metall,
sie wolle in der Stahlbranche für die Vier- Generation Gen Z Gen Y, Gen X Baby- Kriegs- Kriegsgeneration
tagewoche kämpfen, für 32 statt 35 Stunden Alpha Millennials Boomer kinder
pro Woche, bei vollem Lohnausgleich. Es
gehe dabei auch darum, die Branche für jun-
ge Menschen attraktiver zu machen. 1,0
Und der Vorstoß schlägt Wellen. Die SPD-
Co-Vorsitzende Saskia Esken fordert inzwi-
schen gar die Viertagewoche für alle.
Allerdings erwischt die Debatte die Unter-
nehmen in einem sensiblen Moment. Schon
jetzt, rechnet etwa der Wirtschaftsverband
0,5
DIHK vor, gingen den Betrieben in jedem
Jahr 100 Milliarden Euro an Wertschöpfung insgesamt
verloren, weil es an Personal fehlt. Jede Stun- in dieser
de, die weniger gearbeitet wird, gilt vielen als Generation
zusätzliche Bedrohung.
So rasch wie die Ideen der Generation Z 9,6 14,6 13,1 16,4 12,8 9,6 8,0
Karriere machen, so schnell formiert sich da- 0,0
her auch Widerstand. Wortgewaltig und ein
Alter 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
wenig von oben herab. in Jahren
Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter,
»Keine Volkswirtschaft der Welt hat je bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter,
Stand: 2022
von 15 bis 67 Jahren: 57 Mio.
erfolgreich um den Erhalt ihres Wohlstands S Quelle: Destatis
◆
Arbeitgebers. Neben seinem Wirt- lisierung mit sich bringt. »Ich sehe bei Generationen zwar, aber immerhin.
schaftspsychologiestudium jobbt der einigen, inklusive mir, wieder die Ghazi jedenfalls gehört dazu. Und
24-Jährige als Werkstudent bei Rhein- Tendenz zur Selbstausbeutung«, sagt trotzdem hinterfragt auch sie, wie viel
gans. Die Digitalagentur machte sich er. Er sei nun im Grunde die Stechuhr Arbeit eigentlich gut ist.
einen Namen, als ihr Gründer Lasse und derjenige, der darauf achte, dass Ausgewählte Wenn früher das Smartphone
Rheingans, 42, im Herbst 2017 den seine zwölf Angestellten eher 25 als Ergebnisse einer abends klingelte und im Urlaub beruf-
Fünfstundentag bei voller Bezahlung 40 Stunden arbeiteten. Wer 100 Pro- Studie zur Viertage- liche E-Mails eintrafen, sei es ihr
einführte. Inzwischen hat sich Rhein- zent seiner Arbeitszeit im Homeoffice woche in schwergefallen, sich zu entspannen,
Großbritannien
gans fast vollständig auf New-Work- verbringe, laufe außerdem Gefahr, sagt sie. Sie habe sich manchmal müde
Beratung fokussiert, zu den Kunden den Anschluss ans Team zu verlieren. gefühlt, matt, sei nachts wach gelegen.
zählen Bertelsmann oder die Oetker- Eine Kollegin bitte er deshalb jetzt in Inzwischen achte sie mehr auf ihr
Gruppe. Absprache mit ihr, wieder einmal pro Wohlbefinden, ihre Gesundheit, schla-
Heckhoff kam im Januar 2022 als Woche ins Büro zu kommen. der Unternehmen fe jeden Tag acht bis neun Stunden.
möchten die Viertage-
Praktikant dazu. »Als ein Professor Heckhoff sieht die Lösung in der woche nach einer Ihren typischen Tag beschreibt Ghazi
vom Fünfstundentag in einer Biele- richtigen Kommunikation: »Ich muss Versuchszeit so: »Ich wache morgens zwischen
felder Agentur erzählte, dachte ich: eben allen frühzeitig sagen, wann ich beibehalten. sechs und sieben Uhr ohne Wecker
Sieh mal einer an: so was Innovatives wo arbeite.« auf. Zuerst schreibe ich in mein Tage-
in unserer Stadt.« Er schickte eine buch, wofür ich dankbar bin. Nach
Initiativbewerbung. Nach dem Prak- DIE UNTERNEHMERIN. Mona Ghazi ist, einer Sporteinheit im Fitnessstudio
tikum blieb er als studentischer Ju- was man eine High-Performerin frühstücke ich. Zwischen neun und
niorberater, weil ihm die Arbeit Spaß nennt. Mit 14 Jahren begann sie, der Arbeitnehmer
waren zufriedener
zehn beginnt die Arbeit – bis 19 Uhr.
machte – und weil er flexibel arbeiten neben der Schule Betriebswirtschaft mit ihrer Work-Life- Danach treffe ich mich oft mit Freun-
kann, zeitlich, vor allem aber räum- zu studieren, mit 16 gründete sie ihr Balance. den.« Mit denen habe sie vereinbart,
lich. »Ich würde niemals zu einem erstes Unternehmen, jetzt, mit 21, dass nach dem üblichen Catch-up nicht
Arbeitgeber gehen, der mir kein Home- führt sie ihr zweites: Optimo will An- mehr über die Arbeit geredet wird.
office ermöglicht«, sagt Heckhoff. gestellten in Industrieunternehmen Viele Gründer träumen von der
Auch das ist für ihn Teil einer guten ermöglichen, Wissen per App aus- einen Idee, von Einzigartigkeit und
Work-Life-Balance: arbeiten, von wo zutauschen. Ghazi verkörpert das der Arbeitnehmer natürlich vom großen Geld. Ghazi
aus er will. Im vergangenen Herbst Unternehmerische der Generation Z, nahmen einen Rück-
gang von Burn-out-
sagt: »Ich möchte demnächst ein biss-
konnte er seine Freundin zum Aus- ihre Leistungsbereitschaft. In einer Faktoren wie Er- chen aus der Unternehmer-Bubble
landssemester nach Irland begleiten, Befragung des Instituts für Demosko- müdung und Frus- herauskommen.« Eine gute Work-
Onlinevorlesungen besuchen und pie Allensbach stufte sich knapp ein tration wahr. Life-Balance sei ihr wichtiger, als
nebenbei weiter für Rheingans arbei- Drittel der 14- bis 26-Jährigen als reich zu werden. Seit Kurzem boul-
ten. Jetzt ist er wieder zurück in Bie- Workaholic ein, als Person also, die S Quelle: Autonomy-Studie, dert sie. Und sie will sich für einen
◆
wie man das schaffe, wisse jeder 2023 zeigt: Für eine Mehrheit von fast
selbst für sich am besten. drei Vierteln der 18- bis 24-Jährigen
Es ist das Mantra seines Chefs, das ist der Job nach wie vor ein wichtiger
Heckhoff da übernommen hat. Und Teil des Lebens.
doch sieht Lasse Rheingans auch die Trotzdem gibt es einen Trend: Die
Herausforderungen, die die Flexibi- Jungen wollen zu ihren eigenen Be-
Freier, 76, ist für seine Rastlosigkeit bekannt. Kacke rauskommst. Als ich sechs war, muss- SPIEGEL: Etliche Angestellte wollen heute fle-
Er beginnt seine Arbeitstage, wenn die meis- te ich mit meiner Schwester Zeitungen aus- xibel arbeiten, egal wie alt sie sind.
ten seiner Beschäftigten noch schlafen. 2019 tragen. Jeden Tag um halb drei wurden Freier: Viele Wünsche sind nachvollziehbar,
zog er sich aus dem operativen Geschäft wir geweckt. Ich kann Ihnen in Würzburg aber nicht alle sind praktikabel. Ich hatte mal
heraus. Doch keiner der von ihm eingesetzten bis heute jede Straße nennen und die einen Spitzenmanager, der wollte nur drei
Nachfolger hielt sich lange, Freier kehrte Namen der Leute, die damals dort gewohnt Tage die Woche im Unternehmen arbeiten,
immer wieder kurzzeitig auf den Chefsessel haben. Wer wird denn noch unter solchen die restliche Zeit von zu Hause aus und dafür
zurück. Zuletzt im Dezember, als er sich Bedingungen groß? Vielen geht es zu gut. noch dicke Kohle kassieren. Ja, wie soll denn
von seinem CEO Claus-Dietrich Lahrs trenn- Der Papa zahlt die Miete, und es wird viel das gehen?
te. Freier liebt deftige Ausdrücke, gibt aber zu viel vererbt. SPIEGEL: Das mobile Arbeiten ist heute ziem-
kaum Interviews und lässt sich selten foto- SPIEGEL: Sie können der jungen Generation lich verbreitet.
grafieren. kaum vorwerfen, dass es vielen Familien heu- Freier: Aber nicht als Führungskraft! Man
te besser geht als zu Ihrer Zeit. muss doch bei seinen Mitarbeitern sein! An
SPIEGEL: Herr Freier, es scheint, als hätten Sie Freier: Tu ich auch nicht. Was ich sagen will: der Front sein, immer!
ein Problem mit Ihrer Work-Life-Balance. In einer gesättigten Gesellschaft wie unserer SPIEGEL: Können Sie einer Viertagewoche
Freier: Ich habe kein Problem, ich habe Ehr- fehlt es häufig an Biss. Die 20- bis 30-Jährigen etwas abgewinnen?
geiz. Ich finde Arbeit geil. Urlaub kann ich sind besser ausgebildet als jede Generation Freier: Ich kenne die Studien dazu: Angeblich
noch machen, wenn ich nicht mehr auf diesem vor ihr, und sie sind mit einer Selbstverständ- wäre das nicht nur gesünder, sondern sogar
Planeten bin. Wenn ich mal mit meinen Kin- lichkeit international unterwegs, an die Men- effizienter.
dern und Enkeln nach Mallorca fliege, legen schen meines Alters sich erst gewöhnen müs- SPIEGEL: Sie glauben das nicht?
die sich an den Strand, während ich sofort nach sen. Aber sind sie auch ehrgeizig genug? Was Freier: Wenn es klappt und Textilunterneh-
Palma fahre und mir die Geschäfte der Mit- ist ihre Motivation? Ich habe in den Sechzi- men trotzdem noch zwischen drei und fünf
bewerber anschaue. gerjahren neben meiner Ausbildung am Poly- Prozent Gewinn machen – warum nicht? Bei
SPIEGEL: Sie sind 76 Jahre alt, schaffen es aber technikum in einer Modeboutique gejobbt, manchen Mitarbeitern habe ich allerdings
nicht, sich aus Ihrem Unternehmen zurück- um mir für 2000 Mark einen Fiat 1300 leisten das Gefühl, dass sie bereits ihre persönliche
zuziehen. zu können. Heute wollen die Jungen nicht Viertagewoche eingeführt haben: Sie verbrin-
Freier: Ich wollte schon mit Mitte sechzig mal mehr ein eigenes Auto, und mit Blick auf gen den halben Freitag damit, ihr Wochen-
aufhören, habe aber immer wieder die Ver- den Klimawandel haben sie damit mehr als ende zu planen. Den halben Montag lang
pflichtung verspürt, Gewehr bei Fuß zu ste- recht. erzählen sie dann, was sie alles erlebt haben.
hen. Wenn s.Oliver heute pleiteginge, wo- Und diese Idee, dass man ab 17 Uhr keine
von wir weit entfernt sind, hingen nicht nur dienstlichen Nachrichten mehr verschicken
unsere eigenen 7000 Mitarbeiter dran, son- soll ...
dern auch Zigtausende Jobs bei Fabrikanten, SPIEGEL: Das soll dafür sorgen, dass die Leute
Reedereien, Speditionen. Soll mir das egal mal abschalten können. Dafür spricht doch
sein? Wir sind seit 54 Jahren erfolgreich, einiges.
und das soll auch die nächsten 100 Jahre so Freier: Ich schreibe abends um halb elf E-Mails
bleiben. an meine Mitarbeiter in China, dort ist es dann
SPIEGEL: Die jungen Leute in Ihrer Firma … morgens halb acht. Und früh um vier bin ich
Freier: … sind wirklich großartig, aber ver- wieder auf den Beinen, lese Zeitung und ver-
mutlich halten sie mich für verrückt, weil ich schicke im Unternehmen E-Mails mit Artikeln,
so viel arbeite. Die wollen mehr Freizeit, und die man gelesen haben muss. Mittlerweile
wenn ich freitagnachmittags über unseren stelle ich das Programm aber so ein, dass die
Firmenparkplatz gehe, stehen da kaum noch erst zur normalen Arbeitszeit ankommen.
Autos. SPIEGEL: Es muss anstrengend sein, für Sie zu
SPIEGEL: Der Generation Z wird nachgesagt, arbeiten.
Frank Ossenbrink / ullstein bild
dass sie ihr Leben nicht mehr nach dem Job Freier: Viele Tausend Mitarbeiter, die durch
ausrichtet, sondern umgekehrt. Haben Sie die harte Schule von s.Oliver gegangen sind,
dafür Verständnis? profitieren bis heute davon. Ob sie nun für
Freier: Ich bin in einem Bunker ohne Fens- Tom Tailor tätig sind, für Esprit oder noch
ter aufgewachsen, zehn Personen, eine Toi- »NICHT ALLE WÜNSCHE immer bei uns. Wir zahlen gut, aber dafür
lette, keine Badewanne, keine Heizung. Da SIND PRAKTIKABEL.« muss man etwas tun.
ist das größte Bestreben, dass du aus dieser Bernd Freier, Interview: Alexander Kühn n
Geschäftsmann
16 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023
ICH BESCHÄFTIGE 40 MITARBEITER.
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Linke Beleidigungen ihm öffentlich Sexismus vor. Sie Bayerisches Bimbam ebenso das Gebimmel von Kuh-
trat von ihrem Posten als Vorsit- glocken zu den bayerischen
PARTEIEN Die Staatsanwalt- zende der rheinland-pfälzischen IDENTITÄTSPOLITIK Die Freien Alpen. Leider komme es immer
schaft Trier ermittelt gegen die Linken unter anderem deswe- Wähler wollen Geräusche und wieder zu »Beschwerden von
frühere Landesvorsitzende gen zurück – und aus der Partei Gerüche wie Glockengeläut, Anwohnern, die sich gestört
der Linken in Rheinland-Pfalz, aus. Mallmenn erstattete indes den Hahnenschrei oder den fühlen«, heißt es in dem Papier,
Melanie Wery-Sims. Das be- Strafanzeige gegen Wery-Sims: »Duft nach frischen Brezn« als manchmal durch den »Geruch
stätigte die Anklagebehörde auf Er habe sie nie öffentlich als Kulturgut bewahren. »Wir von frisch gebackenem Brot«.
Nachfrage. Hintergrund ist der »Wixxvorlage« bezeichnet, sie fordern, dass das Sinneserbe im Fraktionschef Florian Streibl
Skandal um wechselseitige Vor- habe ihn »bewusst wahrheits- ländlichen Raum stärker ge- verweist auf Frankreich, wo es
würfe innerhalb des rheinland- widrig« verleumdet. Das wiede- schützt wird«, heißt es in einer seit 2021 Regeln für das Sinnes-
pfälzischen Landesverbands der rum bestreitet Wery-Sims. Die Resolution, die die bayerische erbe gebe. Eine entsprechende
Partei. Der Vorsitzende des Staatsanwaltschaft Trier prüft Landtagsfraktion auf ihrer Bundesratsinitiative aus Bayern
Kreisverbands Rhein-Hunsrück, nun, ob ihre Äußerungen einen Maiklausur verabschieden will. verpuffte, nun fordert die
Roger Mallmenn, soll laut Wery- Straftatbestand erfüllen. Die »Es müssen Lösungen gefunden Fraktion »mit Nachdruck alle
Sims auf Facebook veröffent- Linke versuchte auf Betreiben werden, um Konflikte zwischen anderen Bundesländer auf«,
lichte Fotos von ihr als »Wichs- des Bundeschefs Martin Schir- Anwohnern und Berufsgruppen sich anzuschließen. Die Freien
vorlage« bezeichnet haben dewan, Mallmenn aus der Partei zu vermeiden oder zu bereini- Wähler profilieren sich im
(SPIEGEL 33/2022). Daraufhin zu werfen, das Ausschluss- gen.« Kirchenglocken gehörten Landtagswahlkampf als Stimme
warf die damalige Landeschefin verfahren scheiterte aber. TIL zum Klangbild vieler Dörfer, des ländlichen Raums. FRI
Die Misstrauens-Koalition
REGIERUNG Ausgerechnet in den beiden wichtigsten Bereichen ist die Klimapolitik der Ampel
zum Erliegen gekommen: im Verkehr und bei den Gebäuden. Die Grünen sind
angeschlagen, die FDP verkämpft sich beim Heizungsgesetz. Löst der Kanzler die Blockade?
Streitobjekt Wärmepumpe: Solange das Heizungsgesetz nicht kommt, werden auch andere Vorhaben blockiert
s gibt einen Satz, der im Berliner Regie- Besonders bei jenen, deren Herzensthemen
E rungsviertel zuletzt gesprochen wurde
wie ein Glaubensbekenntnis, von Libe-
ralen und vor allem von Bundeskanzler Olaf
Tempo raus beim Klimaschutz
»Sollte Bundeskanzler Olaf Scholz Ihrer
schon eingetauscht wurden, im Verkehr, im
Umweltschutz, nur um das Gebäudeenergie-
gesetz durchzubekommen – nachdem es nicht
Meinung nach in der Bundesregierung stärker
Scholz. Der Satz geht so: »Kein Gesetz ver- die Führung beim Thema Klimaschutz nur einmal »geeint« war, wie es im parlamen-
lässt den Bundestag so, wie es hereingekom- übernehmen?«, in Prozent tarischen Jargon heißt. Die Koalitionspartner
men ist.« Er ist bekannt als Strucksches Ge- ja unentschieden nein hatten die Verhandlungen immer wieder neu
setz, nach Peter Struck, dem einstigen Ver- aufgemacht, am Ende wurde das Klima-
teidigungsminister der SPD. 68 14 18 schutzgesetz stark aufgeweicht, im Verkehrs-
Es geht dabei stets um jenes Projekt, das bereich hat man den Klimaschutz quasi auf-
technisch Gebäudeenergiegesetz (GEG) heißt, gegeben für diese Legislaturperiode.
draußen auf der Straße Heizungsgesetz, im »Sollte die Bundesregierung das Tempo in der »Was sollen wir Ihnen denn jetzt noch ge-
Klimaschutzpolitik Ihrer Meinung nach eher
Boulevardsound »Habecks Heiz-Hammer«, beschleunigen oder eher verlangsamen?«, ben?«, fragt verzweifelt ein Grüner. Gemeint
in den Worten des FDP-Abgeordneten Frank in Prozent ist auch der eigene Minister, der unbedingt
Schäffler »Atombombe«. dieses Heizungsgesetz wollte. Gemeint ist vor
beschleunigen
Die FDP-Minister hatten dem Gesetzent- gleichermaßen beibehalten
allem aber die FDP.
wurf im Kabinett zugestimmt, sich aber sofort verlangsamen weiß nicht Teile in der grünen Fraktion, auch die Spit-
distanziert. Man halte für grundfalsch, was ze, sind deshalb bereit, sich zu rächen. Man
man da eben beschlossen habe, das war die 32 17 50 werde, so kommt man in der Sitzung Teil-
Botschaft. Es werde im parlamentarischen nehmern zufolge überein, von nun an blo-
Verfahren noch angepasst, wie es ureigenste S Quellen: Civey-Umfragen für den SPIEGEL; Befragungszeit- ckieren, was die Liberalen wollen. Auge um
Aufgabe der Abgeordneten sei. Siehe das raum vom 23. bis 24. Mai; Stichprobengröße: mindestens 5000
Befragte; die statistische Ungenauigkeit der Umfragen liegt bei
Auge, Wärmepumpe um Sektorziele. Das
Strucksche Gesetz. bis zu 2,5 Prozentpunkten betrifft vor allem den Verkehr, wobei die Fra-
Doch dann war davon plötzlich keine Rede ge ist, wie man blockieren soll, was sich so-
mehr. Das Heizungsgesetz erreichte den Bun- Der Klimaminister ist an diesem Mittwoch- wieso nicht bewegt. Während aus dem Ver-
destag erst gar nicht, es wurde vertagt. nachmittag schwer erkältet. Aber er muss sich kehrsministerium von Volker Wissing (FDP)
Es wird nun schwer, das vermutlich meist- im Wirtschaftsausschuss den Fragen der Ab- gestreut wird, man habe Pläne vorgelegt, die
diskutierte Vorhaben der Regierung noch vor geordneten stellen. Wieder einmal geht es ausreichen, um das Klimaziel im Verkehr bis
der Sommerpause im Parlament verabschie- nicht um Klimaschutz, aber trotzdem um fast 2030 zu erreichen, ist man in Wahrheit nicht
den zu lassen. Obwohl es genau so im Koali- alles: einen Mitarbeiter, seinen Ruf, die Hand- nur uneinig, sondern weit weg davon.
tionsausschuss vereinbart worden war, nach lungsfähigkeit des Ministeriums. Am Mittwoch hätten im Kabinett die vom
quälenden 30 Stunden, harten Verhandlun- Neben Habeck sitzt Udo Philipp, der zwei- Verkehrsministerium vorbereiteten Änderun-
gen, schmerzhaften Kompromissen. te Staatssekretär aus seinem Haus, den die gen des Straßenverkehrsrechts beschlossen
Die Grünen reagierten eiskalt. Klimaminis- Opposition abschießen will. Die beiden müs- werden sollen. Doch schon vor einer Woche
ter Robert Habeck sagte: »Ich nehme zur sen sich rechtfertigen für die Besetzung eines hieß es, der Entwurf sei nicht zustimmungs-
Kenntnis, dass die FDP sich nicht an das ge- Start-up-Beirats, für die Aktienfonds und Fir- fähig. Die Grundidee ist simpel: Kommunen
gebene Wort hält an dieser Stelle.« Wortbruch menbeteiligungen seines Spitzenbeamten. sollen an mehr Straßen als bisher Tempo 30
also, sehr viel Übleres kann man dem Koali- Habeck sagt: »Dienstliches Handeln darf verhängen können. Dazu könnte man zum
tionspartner nicht vorwerfen. Im Grunde nicht von einem privaten Interesse geleitet Beispiel Klimaschutz als Ziel für den Verkehr
heißt es: Ihr seid gar keine Partner mehr. werden.« Für Philipp könne er das verneinen. verankern. Das aber will das Verkehrsminis-
Öffentlich wurde die Entscheidung, sich Vor allem die Union ist nicht überzeugt. terium nicht. Dessen Vorschläge halten die
nicht wie geplant in dieser Woche mit dem Sie fragt und bohrt und zweifelt. Es ist ein Grünen wiederum für völlig unzureichend.
Gesetz zu befassen, am Dienstag nach der Tribunal und womöglich nicht das letzte. Zu- Ähnlich sieht es bei der Gesetzesnovelle
Runde der Parlamentarischen Geschäftsfüh- mal CDU und CSU bereits schriftlich nach- für Carsharing-Autos aus, mit dem die Car-
rer der Fraktionen. Gefallen war sie schon gelegt haben. Dem SPIEGEL liegt eine weite- sharing-Flotten bis 2026 CO2-neutral werden
vorher, beim Frühstück der Fraktionsvorsit- re Kleine Anfrage an das Habeck-Ministerium sollen. Oder dem Planungsbeschleunigungs-
zenden. Denn das Thema ist hochpolitisch vor, in der die Unionsfraktion 64 Fragen zu gesetz, mit dem Autobahnen und Bahnstre-
und wirft grundsätzliche Fragen auf: Kann »Personal- und Complianceangelegenheiten cken schneller ausgebaut und saniert werden
diese Koalition noch zusammenarbeiten? Und im Bundesministerium für Wirtschaft und sollen. Auch eine Neuregelung der Lkw-Maut
war es das jetzt mit Klimaschutz, wenn man Klimaschutz« formuliert, es ist bereits die ist bis auf Weiteres vertagt. Die jährlichen
gerade in den wichtigen Bereichen Verkehr zweite. Im Ministerium stöhnt man schon, Mehreinnahmen von bis zu sieben Milliarden
und Gebäude nicht vorankommt? dass man nur noch mit der Beantwortung von Euro fehlen der Bahn.
Wenn es doch noch weitergehen soll, dann Fragenkatalogen beschäftigt sei. Die Beamten sind zunehmend frustriert.
müssten sich wohl andere als die Grünen be- Der neue Energie-Staatssekretär muss sich »So eine Situation habe ich selbst in den blei-
wegen. Die FDP, die womöglich einsehen unterdessen erst einarbeiten. Habeck kennt ernen Zeiten der Großen Koalition nicht er-
muss, dass sie es übertrieben hat mit ihren Philipp Nimmermann noch von früher, er war lebt«, sagt einer von Wissings Leuten. Und
Querschüssen. Oder der Bundeskanzler, der Staatssekretär in Schleswig-Holstein, dann in im Wirtschaftsministerium flucht man über
vor der Erkenntnis steht, dass ihm sein Vize Hessen. Nur mit Klimaschutz und Energie die Winkelzüge im Verkehrsministerium.
die Klimabilanz nicht retten wird, von der das war er bislang eher wenig befasst. Alles keine Unter anderen Umständen würde eine Ko-
Gelingen seiner Kanzlerschaft mit abhängt. idealen Voraussetzungen in einer politisch so alition angesichts dieser Lage einfach etwas
Denn die Grünen, die sich bislang vor al- heiklen Phase. Zeit verstreichen lassen. Dann wartet man
lem für Klimapolitik verantwortlich gefühlt Hinge die Klimapolitik gerade nur an Ha- eben, bis man alles geeint hat, und verabschie-
haben, sind angezählt. Habeck hat mit Staats- beck und seiner Partei, sie wäre wohl zum det dann ein riesiges Paket. Dann geht das
sekretär Patrick Graichen seinen wichtigsten Scheitern verurteilt. Heizungsgesetz eben erst im Herbst durchs
Klimaschutzmann verloren. Ein weiterer In der Grünenfraktion entlud sich am Parlament. Wo ist das Problem?
Staatssekretär wird gerade unter Beschuss Dienstagnachmittag, wenige Stunden nach Das Problem ist das Misstrauen.
genommen. Und das Heizungsgesetz, Ha- der öffentlichen Verkündung der vertagten Dass ein Gesetzentwurf nicht in den Bun-
becks vielleicht größtes Projekt, ebenfalls. Debatte im Plenum, die Wut der Enttäuschten. destag eingebracht wird, obwohl er durchs
Kabinett ist, ist ungewöhnlich, aber nicht »Innovationskraft Europas« sprach er, von
ohne Beispiel. Koalitionen sind daran nicht Milliardeninvestitionen. Einer seiner Nach
zerbrochen. Schwerer wiegt, dass die Partner folger, sagte Scholz, werde »Deutschland als
sich nicht mehr darauf verlassen, dass das einen der ersten klimaneutralen Industrie
Wort des anderen gilt. Wortbruch, Habeck staaten der Welt präsentieren«.
hat es ausgesprochen, andere Koalitionäre Fragt man im Umfeld des Kanzlers nach,
sehen es genauso. Schon lange fehle in der bekommt man Erfolge im Stakkato erzählt.
Regierung der gemeinsame Geist, das Lager Allerdings ist es so: Fragt man im Umfeld des
feuer, an dem man sich zusammensetzt, wie Kanzlers nach, hat der Kanzler grundsätzlich
es einer der Koalitionäre formuliert. alles im Griff.
Was, fragen sich Grüne und zunehmend Offensichtlich aber dringt er mit der Er
auch Sozialdemokraten, wenn eine Verschie zählung eines neuen Wirtschaftswunders
bung des Heizungsgesetzes in den Herbst nur nicht recht durch, weder in der Koalition noch
bedeutet, dass es dann in die Landtagswahl in der Öffentlichkeit. Joe Biden, in Scholz’
Dmitrij Leltschuk
kämpfe in Bayern und Hessen gerät und noch Darstellung so etwas wie sein Bruder im Geis
stärker parteipolitisch aufgeladen wird? Und te, hat in den USA mit dem Inflation Reduc
was, wenn es am Ende gar nicht darum geht, tion Act ein Milliardenpaket durchgesetzt,
eine gute Lösung zu finden, sondern darum, nach monatelanger Totalblockade und mit
Neuer Staatssekretär Nimmermann
sie so lange zu verschleppen, bis sie scheitert? beachtlichem Erfolg. Damit hat er Bewegung
Das ist der Verdacht, dem sich die FDP 101 Fragen zugegangen, und offenbar war das in der Wirtschaft angestoßen, sogar so etwas
gerade ausgesetzt sieht. Dass sie jene Taktik auch nie geplant gewesen. Am Donnerstag wie Hoffnung auf eine gute Zukunft geweckt.
nutzt, die Klimawandelleugner perfektioniert reichten die Berichterstatter doch noch einmal Warum funktioniert es in Deutschland nicht?
haben: Delay is the new denial, Verzögern ist 77 Fragen nach, der Druck war zu groß ge Ganz sicher fehlt das Geld. Im Kanzleramt
das neue Leugnen. worden. Die FDP musste das Chaos kleinlaut blickt man auf den Milliardenwumms der US
In der FDP weist man diesen Vorwurf em erklären, sie hatte sich unrettbar in Unstim Regierung mit Neid – aber auch mit Angst.
pört zurück. Es gibt in der Fraktion zwar eini migkeiten verstrickt. Die Sorge vor Abwanderung deutscher Unter
ge, bei denen Zweifel bestehen, wie viel Klima Bei den Koalitionspartnern weckt das die nehmen ist groß. Man überlegt, sie mit einem
schutz sie wirklich wollen. Die Funktionäre Hoffnung, die FDP werde nun etwas verhand rabattierten Industriestrompreis zu locken,
beteuern aber, ihnen gehe es nur um inhalt lungsbereiter. Fraktionschef Christian Dürr viel mehr ist kaum möglich. Der Klima und
liche Verbesserung. »Das Gesetz in dieser immerhin rief seine Leute diese Woche zu Transformationsfonds sei leer, heißt es aus
Form wird keine Mehrheit finden. Aber es mehr Kompromissbereitschaft auf und sagte Kabinettskreisen.
wird ein Gesetz zum klimaneutralen Heizen öffentlich, er sei zuversichtlich, »einigerma Vielleicht fehlt es aber auch an politischer
geben, das steht außer Frage«, sagt Fraktions ßen zeitnah« substanzielle Änderungen hin Entschlossenheit und Risikobereitschaft. Lan
vize Lukas Köhler. zubekommen. Es sind Schritte, immerhin. ge hatte sich der Kanzler in der Heizungs
Das vielleicht größte Problem der FDP: In der Fraktion allerdings ist die Stimmung frage öffentlich zurückgehalten. Es schien ihm
Sie spricht nicht mit einer Stimme. Das zer schlecht, Abgeordnete reagieren gereizt auf und der SPD ganz recht, dass sich die Kritik
stört die eigene Glaubwürdigkeit, denn selbst das Thema. Derzeit gleiche der Entwurf auf Habeck fokussierte, obwohl die SPDBau
wenn alle guten Willens sein sollten, ist das »mehr dem GrünenWahlprogramm als dem, ministerin Klara Geywitz den Gesetzentwurf
Ergebnis von bewusster Verzögerung kaum was im Koalitionsvertrag und im Koalitions mit erarbeitet hatte. Dann aber sagte Scholz
zu unterscheiden. ausschuss vereinbart wurde«, sagt Kruse. Es auf dem Petersberger Klimadialog, alte Hei
Köhler etwa wirbt für einen CO2Preis, sei einfach ein »schlechtes Gesetz«, sagt ein zungen müsse man nach und nach durch kli
auch wenn das extrem teuren Sprit bedeuten anderer Abgeordneter. mafreundliche ersetzen: »Diese Wahrheit
sollte. So ist es Beschlusslage. Zugleich aber Die Grünen wollen sich offenbar auf die gehört ausgesprochen.«
sind nicht nur die Anhänger der Partei skep FDP nicht verlassen. Der Kanzler müsse sich Mit einem Mal entfaltete die SPD auffäl
tisch, sondern auch andere wichtige Liberale »zum Anwalt des Verfahrens« machen, ver lige Aktivität. Die FDP verweigere sich der
überzeugt, dass man hohe Preise unbedingt langen sie. Aber auch in der SPD dämmert Kommunikation, gehe teilweise nicht mal
verhindern müsse. Beides kann man vertre es, dass der fortgesetzte Stillstand in entschei mehr ans Telefon, heißt es nun aus den Reihen
ten – nur eben nicht gleichzeitig. denden Klimafragen nicht nur für die Grünen der Sozialdemokraten. Die interne Forderung
Das von Parteichef Christian Lindner ge ein Problem ist. Sondern für die ganze Koali an die Spitze: Man müsse die FDP jetzt »aus
führte Finanzministerium feierte sich im April tion. Und damit vor allem auch für Scholz. der Schmollecke herausholen«.
in einem Papier, dass es gelungen sei, im Es ist nicht so, dass der Kanzler keine Vi Wiebke Esdar, Sprecherin der Parlamen
Heizungsgesetz »Technologieoffenheit, Wirt sion hätte, was den Schutz des Klimas anbe tarischen Linken in der SPDFraktion, sagte:
schaftlichkeit und soziale Ausgewogenheit als langt. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Da »Unser Ziel bleibt, das Gesetz vor der Som
entscheidende Leitplanken für den Klima vos im Januar gab er einen kleinen Einblick merpause zu beschließen, denn die Menschen
schutz im Gebäudebereich zu verankern«. in seine Gedankenwelt. »Wir nehmen die brauchen endlich Klarheit.« Noch deutlicher
Der energiepolitische Sprecher der Fraktion, Dekarbonisierung unserer Industrie ent wird Parteichef Lars Klingbeil im SPIEGEL
Michael Kruse, dagegen twitterte, von »den schlossen in Angriff«, sagte er da. Von der Interview: »Das Gesetz wird bis zur Sommer
170 Seiten gehören 120 in die Tonne«. pause verabschiedet und zum 1. Januar in
Dann war da das Strucksche Gesetz, die Kraft treten« (siehe Seite 26).
Ansage, man werde das Heizungsgesetz im Kaum jemand glaubt, dass er so eine An
Bundestag verändern – bis man verhinderte, sage wagen würde, wüsste er nicht den Kanz
dass sich der Bundestag damit befasst. »Unser Ziel bleibt, das Gesetz ler hinter sich. Hinter den Kulissen dränge
Und schließlich sind da noch die 101 Fragen der auf eine schnelle Lösung, ist zu hören.
der FDP, die das Klimaministerium angeblich vor der Sommerpause zu Die Zeit läuft: Bis zur Sommerpause kommen
erst beantworten müsse, wie vor einiger Zeit beschließen, die Menschen nur noch drei reguläre Sitzungswochen.
die »Bild« berichtete. FDPGeneralsekretär
Bijan DjirSarai wiederholte das eine Woche brauchen Klarheit.« Florian Gathmann, Martin Knobbe,
Serafin Reiber, Jonas Schaible, Christian Teevs,
später. Dabei waren dem Ministerium nie Wiebke Esdar, SPD-Politikerin Gerald Traufetter, Severin Weiland n
JUSTIZ
Carla Hinrichs, 26, ist angefasst. In einem Für die Bayern hingegen geht von der line zu schaffen machten: der Transalpi-
kurzen Video, das die »Letzte Genera- Gruppe eine »erhebliche Gefährdung der nen Ölleitung, die von Triest nach Lenting
tion« auf Twitter gepostet hat, spricht sie öffentlichen Sicherheit aus«. Es ist exakt bei Ingolstadt führt. Laut den Ermittlern
mit bebender Stimme. »Man kennt es jene Formulierung, die Union und SPD in durchschnitten die Männer einen Zaun
nur aus dem Film. Plötzlich wacht man einer Begründung für ein Gesetz gewählt und drangen in die Schiebestation der
auf, weil gegen deine Tür gedonnert hatten, mit dem der Bundestag 2017 den Pipeline ein. Zwar sei ihr Versuch misslun-
wird. Und plötzlich steht ein Polizist mit Paragrafen zur kriminellen Vereinigung gen, durch Herumdrücken auf Knöpfen
schusssicherer Weste vor deinem Bett.« überarbeitet hatte. den Öldurchfluss zu stoppen – ihre Aktion
Hinrichs ist eine der führenden Figuren Im Durchsuchungsbeschluss listet das habe aber einen Sicherheitsalarm ausge-
der Klimaaktivisten der »Letzten Genera- Amtsgericht München auf zwei Seiten löst. Dadurch sei der Pipelinebetrieb für
tion«. Die Wohnungsdurchsuchung bei ihr Straftaten auf, die der »Letzten Genera- fünf Stunden unterbrochen worden.
am Mittwochmorgen ist für sie ein Ein- tion« zugeschrieben werden. Darunter et- Großes Augenmerk legen die Fahnder
schüchterungsmanöver des Staates. »Sie liche Fälle, in denen sich Aktivisten auf auf die Finanzierung der »Letzten Gene-
versuchen, mir Angst zu machen«, sagt Straßen in Stuttgart, Frankfurt am Main ration«. Mindestens 1.413.086,07 Euro an
Hinrichs, »weil wir jeden Tag allen vor oder Hamburg festklebten, um den Auto- Spenden hat die Gruppe seit Anfang 2022
Augen führen, dass diese Regierung gera- verkehr lahmzulegen. Oder sich, wie laut Justizakte eingeworben – und soll
de die Verfassung bricht.« Gemeint ist, im Sommer 2022, aus Protest in einem damit Aktivistinnen und Aktivisten das
dass die Politik aus Sicht der Aktivisten Museum in Dresden an die »Sixtinische Begehen von Straftaten ermöglicht haben.
beim Klimaschutz viel zu lasch handelt. Madonna« von Raffael klebten und dabei Auch Gerichtskosten und Geldstrafen sei-
Die bayerische Justiz zeichnet ein völ- den Rahmen des Gemäldes beschädigten. en damit beglichen worden.
lig anderes Bild der »Letzten Genera- Oder, wie im vergangenen Winter, auf das Zunächst liefen die Spenden über den
tion«. Es ist das einer straff organisierten Gelände der Flughäfen Berlin-Branden- Verein Elinor Treuhand e.V. Dabei han-
Truppe mit Hunderten Aktivistinnen und burg und München stürmten – ein Flug- delt es sich um eine vom Wirtschaftsminis-
Aktivsten, die eine »stetig weitere Eskala- zeug mit einem Notfallpatienten konnte terium geförderte Onlineplattform, die
tion« propagiere – und »immer neue erst mit 20 Minuten Verspätung landen. »Gruppenkonten« anbietet – eine Art di-
Arten von Straftaten« begehe. So steht es Mehrere Hundert Personen hätten sich gitalen Sammeltopf für politische Initiati-
im Durchsuchungsbeschluss, den die schon an Straftaten der »Letzten Genera- ven, Selbsthilfegruppen oder Sportmann-
Generalstaatsanwaltschaft München beim tion« beteiligt, heißt es im Durchsuchungs- schaften. Im März beendete Elinor die Zu-
Amtsgericht erwirkt hat. beschluss. Geldstrafen oder Polizei- sammenarbeit mit der »Letzten Genera-
Hinrichs und vier weiteren Köpfen der gewahrsam beeindruckten sie wenig, viel- tion«. Danach verwaltete eine gemeinnüt-
»Letzten Generation« wird darin die mehr sei in Teilen der Gruppe »eine Art zige GmbH für »Klima- und Umweltauf-
Bildung einer kriminellen Vereinigung Märtyrerhaltung« zu beobachten. In klärung« (KUEÖ) das Spendenkonto der
vorgeworfen. Es ist ein schwerwiegender Schreiben an Bürgermeister hätten Akti- Gruppe. Bei ihrer Razzia durchsuchten
Vorwurf, der den Fahndern weitreichende visten eine »maximale Störung der öffent- die Ermittler auch Räume von Verant-
Schritte erlauben kann, um das Innere lichen Ordnung« angedroht, falls ihre wortlichen der beiden Organisationen –
der Gruppe auszuforschen. Auf sicherge- Forderungen nicht unterstützt würden. gegen sie wird wegen Unterstützung einer
stellten Laptops, Handys und USB-Sticks Besonders heben die bayerischen Fahn- kriminellen Vereinigung ermittelt. Ein be-
suchen die Fahnder auch nach etwaigen der eine Aktion von zwei Aktivisten her- merkenswerter Vorgang.
Hinweisen auf »linksradikales, verfas- vor, die sich im April 2022 an einer Pipe- Elinor wies die Vorwürfe über einen
sungswidriges Gedankengut«. Gleichzei- Anwalt zurück. Der Verein stelle wie an-
tig nahmen die Behörden die Website dere digitale Plattformen »lediglich eine
der »Letzten Generation« vom Netz und Software zur Verfügung, ohne sich mit
beschlagnahmten Konten. den Zielen und Handlungen der Vertrags-
Der Rechtsstaat greift zur Brechstange. partner gemein zu machen«. Der Dienst
Ob der Verdacht gerechtfertigt ist oder werde von »hunderten Gruppen« legal
die Ermittler mit der Razzia maßlos über- genutzt. Die Geschäftsführerin von KUEÖ
zogen haben, müssen am Ende Gerichte sagte auf Twitter, es sei »absurd, was ge-
entscheiden. Fest steht schon jetzt: Mit rade passiert«. Sie sehe sich »absolut nicht
dem Vorgehen spitzt sich die Konfronta- als irgendeine Kriminelle an«.
tion zwischen Staat und Aktivisten zu. Auch Ingo Blechschmidt, einer der Be-
Andere Staatsanwaltschaften hatten die schuldigten der »Letzten Generation«,
»Letzte Generation« zurückhaltender be- weist den Vorwurf, er und seine Mitstrei-
Christoph Soeder / dpa
wertet. Die Berliner Ermittler etwa befan- ter hätten eine kriminelle Vereinigung
den: Was die Klimakleber machten, sei gebildet, »vehement« zurück: »Die wirk-
zwar ein »dauerhaftes Lästigwerden«. liche kriminelle Vereinigung sitzt in Ber-
Aber für eine Einstufung als kriminelle lin.« Nach einer Deeskalation zwischen
Vereinigung fehle es an einer »gewissen Staat und Klimaklebern klingt das nicht.
Erheblichkeit« der Straftaten. Polizisten bei Durchsuchung in Berlin Wolf Wiedmann-Schmidt n
»Es gibt keinen geredet. Und da sage ich, es ist falsch, in der
Debatte mit dem Klimaschutz vorzupreschen
und das Soziale quasi hinterherzuwerfen.
geplante Verkauf von 18 der 42 F-16 Dassault-Mirage 2000C aus den Acht- die Maschinen könnten den Konflikt
der Niederlande ist kürzlich gestoppt zigerjahren ausbilden möchte, um Massen- weiter eskalieren lassen, der keines-
worden, an Flugzeugen mangelte es diese ausgemusterten Jets dann in den produkt falls in einen »dritten Weltkrieg«
also nicht. Kampf gegen Russland zu entsenden. münden soll, wie der US-Präsident
Kritiker wenden ein, dass die Ukra- Oder ob die Ausbildung auf den Mi- In Dienst befindliche immer wieder betont. Zudem steht
iner die F-16 weder kurz- noch mit- rages an die amerikanische F-16 an- F-16-Kampfjets* von Biden unter Druck, die Militärhilfen
Nato-Staaten
telfristig brauchten. Für den Aufbau gepasst wird. nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.
einer modernen ukrainischen Luft- Die Mirages haben nach Einschät- Der Präsident muss sich im Novem-
USA
waffe sei sie sinnlos, weil schlicht zu zung französischer Militärexperten ber 2024 der Wiederwahl stellen, und
915
alt. Und aktuell gebe es im ukra- nur einen Vorteil: Sie sind verfügbar. nach Lage der Dinge heißt sein Geg-
inischen Luftraum keine russischen Erst kürzlich hat die Armee 13 davon Türkei ner Donald Trump oder Ron DeSan-
Flugzeuge, gegen die die F-16 antreten ausrangiert. Sie gelten als überholt, 260 tis. Vor allem Trump kritisiert Waffen-
könnte. ihr Radar als schwach. Mit neuer Mu- Griechenland lieferungen an die Ukraine als milliar-
Für die Unterstützung einer ukra- nition können sie auch nicht bestückt 154 denschwere Verschwendung von
inischen Sommeroffensive käme die werden, weil die passenden Spreng- Belgien Steuergeldern.
F-16 ebenfalls nicht infrage, weil die körper nicht mehr hergestellt werden. 53 Die USA haben innerhalb von
Ausbildung der Piloten mindestens Eine Lieferung des moderneren Ra- 13 Monaten Militärhilfe im Wert von
Polen
drei bis fünf Monate dauere, wie es fale-Kampfjets dürfte wiederum für 43 Milliarden Dollar für die Ukraine
48
beim Ministertreffen in Brüssel hieß. die französische Armee kaum infrage bereitgestellt. Die F-16-Jets könnten
Außerdem sei Artillerie zur Unter- kommen – sie hat selbst nicht genug Dänemark die Kosten weiter in die Höhe treiben.
stützung von Bodentruppen wichti- davon. 44 Das dürfte ein Grund dafür sein, dass
ger als eine Handvoll Kampfjets. Das Und so richtet sich der Blick der Niederlande Biden bisher nur das Training von
Gerede über die F-16, argwöhnen die Europäer auf die USA, wo Joe Biden 42 ukrainischen Piloten bewilligt hat. Er
Kritiker, sei Symbolpolitik. Tatsäch- in der Frage der Kampfjets einem Portugal würde es offenkundig vorziehen,
lich kann man den Eindruck bekom- eingeübten Muster gefolgt ist. Erst 30 wenn zunächst die europäischen
men, wenn man sich die Debatte in sträubte er sich gegen die Lieferung Nato-Partner ihre Bestände an F-
Rumänien
Frankreich ansieht. schwerer Artillerie, dann von Rake- 16-Jets leeren würden.
17
Der französische Präsident Emma- tenwerfern, dann gegen den Export Die Ukraine jedenfalls macht wei-
nuel Macron will sich offenbar nicht von Abrams-Panzern. Am Ende wil- * insgesamt 1563.
ter Druck auf Europa. Das Land
nachsagen lassen, er sei zögerlich, ligte der Präsident doch immer ein. Dazu kommen weitere, brauche moderne Kampfjets, »um
ausgemusterte Maschinen.
wenn es um militärische Unterstüt- Diesmal aber geht es nicht nur um das unsere Flug- und Raketenabwehr zu
S Quelle: The Military
zung für die Ukraine geht. »Es gibt eigene Kriegsgut, das der Ukraine stärken, Leben zu retten und Zivilis-
◆
Balance 2023
keine Tabus«, tönte der Staatschef überlassen werden könnte. Die USA ten zu beschützen«, schrieb der ukra-
kürzlich, als er im Interview mit dem müssen auch ihre Zustimmung zur inische Außenminister Dmytro Kule-
Fernsehsender TF1 nach französi- Ausfuhr geben, wenn andere Länder ba kürzlich im US-Magazin »Foreign
schen Kampfflugzeugen für die Ukra- F-16 nach Kiew liefern wollen. Policy«. Ein Viertel aller Drohnen
ine gefragt wurde. Allerdings sei dies Im Weißen Haus gibt es schon seit und Raketen, die Russland gegen
»eine theoretische Debatte«, schränk- Monaten Debatten, ob die Kampfjets die Ukraine einsetze, käme nach wie
te Macron ein. den Ukrainern nicht einen entschei- vor durch.
Im Umfeld Macrons heißt es, Se- denden Vorteil auf dem Schlachtfeld Für eine erfolgreiche Gegenoffen-
lenskyjs Forderung nach Kampfjets verschaffen könnten. Der ukrainische sive brauche man Luftüberlegenheit,
sei allzu verständlich. Trotzdem sei Präsident hatte bei seinem Besuch im argumentieren die Ukrainer, zudem
die Debatte verfrüht. Man müsse zu- Dezember in Washington Druck ge- müssten die Getreidelieferungen über
nächst ukrainische Piloten auf west- macht, seither waren Dutzende ukra- das Schwarze Meer abgesichert wer-
lichen Kampfjets ausbilden. Im Élysée inische Parlamentarier in der amerika- Luftwaffen- den. Letztlich würden F-16 in Händen
führt man sogar sprachlich-kulturelle nischen Hauptstadt, um zu erläutern, Inspekteur Gerhartz, ukrainischer Piloten dazu beitragen,
Hürden an, die erst einmal zu über- wie dringend man die Flugzeuge Verteidigungs- Russland vor weiteren Angriffen auf
minister Pistorius:
winden seien: »Die ukrainischen Pi- brauche. Warten auf
Nachbarländer abzuschrecken. Und
loten wurden auf Systemen ausgebil- Doch Biden war aus mehreren eine »politische ohnehin gehe es darum, Russland zu
det, die nicht französisch sind, nicht Gründen zögerlich: Er befürchtete, Entscheidung« zeigen, dass man in der Aufrüstung
der französischen Logik entsprechen. nicht nachlasse. Wie viele F-16 für all
Wenige Piloten sprechen Französisch, das notwendig wären, ließ Kuleba al-
sogar wenige sprechen Englisch.« lerdings offen. In Brüssel und Berlin
Also werden die Ukrainer erst ein- rätselt man deshalb, welche Zahl an
mal mit den französischen Kampfjets Flugzeugen die Ukrainer denn gern
vertraut gemacht. Sie könnten »ab hätten.
sofort« angelernt werden, sagte Ma- Während die Kampfjetkoalition
cron. Tatsächlich werden schon seit langsam wächst, verbreitet das nähe-
Monaten in Lothringen und im Süd- re Umfeld des ukrainischen Präsiden-
westen Frankreichs Angehörige der ten schon das nächste Bedürfnis:
ukrainischen Luftwaffe trainiert. Dort Russland führe seinen Krieg auch zu
lernen sie, was sie machen, wenn Wasser. Die Ukraine brauche drin-
etwa ihr Flugzeug abgeschossen wird. gend Unterstützung, um ihre See-
Zu den Details der neuen Ausbil- streitkräfte massiv aufzurüsten. Nach
Jens Büttner / dpa
dungsoffensive hält sich die Regie- den Kampfjets könnte es also bald um
rung in Paris bedeckt. Etwa zur Frage, Kriegsschiffe gehen.
ob Frankreich die ukrainischen Pilo- Markus Becker, Matthias Gebauer, Leo
ten im Schnelldurchgang auf seinen Klimm, Martin Knobbe, René Pfister n
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DEUTSCHLAND
[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Aytac Unal / abaca press / ddp, Marijan Murat / picture alliance / dpa(2), Jörg Carstensen / dpa, Qatar News Agency / REUTERS, Lino Mirgeler / picture alliance / dpa, Stefan Boness / IPON / IMAGO, Abubaker Lubowa / REUTERS, DER SPIEGEL
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Bewährte Partner
AFFÄREN Die Hensoldt AG ist ein Star an der Börse und Hoffnungsträger der »Zeitenwende«
von Olaf Scholz. Nun deuten interne Dokumente auf fragwürdige Provisionen bei Auslandsgeschäften
hin. Zahlte die Firma bei einem Deal in Katar Schmiergeld an die Familie eines Generals?
er Bundeskanzler steht auf einem Hof wagen zum Beispiel, der mit Überwachungs- Ukraine ist eben vieles anders geworden.
D in Ulm und lässt sich Radartechnik
made in Germany vorführen. Das
TRML-4D sieht aus wie ein Kleiderschrank,
technik vollgestopft ist. Olaf Scholz setzt sich
vor die Monitore des »Sensorverbundfahr-
zeugs« und lauscht den Worten eines Hen-
Ohne die Waffenhersteller kann die »Zeiten-
wende« nicht gelingen.
Die Bedeutung der Hensoldt AG war der
der auf einen Militärlastwagen montiert soldt-Mitarbeiters. Bundesregierung schon früh bewusst. Ende
wurde. Es kann Ziele in einem Radius von Nach einem Werksrundgang lobt der 2020 beschloss sie, 25,1 Prozent der Firma zu
250 Kilometern erkennen, was ungefähr der Kanzler die Belegschaft als »Frauen und Män- kaufen, eine Sperrminorität. Die Technik von
Entfernung zwischen Berlin und Hamburg ner, die sich mit großer Intelligenz und großer Hensoldt ist in vielen deutschen Waffensyste-
entspricht. Einsatzbereitschaft darum kümmern, dass wir men verbaut, im Eurofighter etwa, im Leo-
Produziert wird das Radar im Ulmer Werk auf hochpräzise, sehr wirksame Systeme zu- pard 2 oder in U-Booten der Klasse 212. Die
der Hensoldt AG, eines Spezialisten für Ver- rückgreifen können«. Radare aus Ulm bestücken auch das Luftab-
teidigungselektronik. Für den Besucher aus Es wirkt noch immer etwas seltsam, wenn wehrsystem Iris-T, das zurzeit den Luftraum
Berlin und die mitgereiste Presse hat das Olaf Scholz, einst in der Friedensbewegung über der ukrainischen Hauptstadt Kiew schützt.
Unternehmen an diesem Januartag noch mehr sozialisiert, heute die Rüstungsindustrie ho- Der Konzern mit Stammsitz in Taufkirchen
Hightech ausgestellt: einen olivgrünen Kasten- fiert. Doch seit der russischen Invasion in der bei München hat einen rasanten Aufstieg hin-
ter sich, was er – so zynisch es klingen mag – »Wir tun alles, man ihn am besten loswerde, wenn über-
auch Russlands Angriff auf die Ukraine ver- haupt.
dankt. Seit Beginn der Invasion hat sich der um das Korruptionsrisiko Besser kann man die Rolle von Compli-
Aktienkurs fast verdreifacht. Im März zog
Hensoldt in den MDax ein.
zu minimieren.« ance wohl nicht beschreiben. Die Aufpasser
warnen, mahnen – aber können längst nicht
Doch es gibt noch ein anderes, düsteres Solms Wittig, Hensoldt-Chefsyndikus jedes Fehlverhalten verhindern. Ein Beispiel
Kapitel in der Geschichte des Unternehmens. dafür sind Hensoldts Geschäfte mit Uganda.
Im vergangenen Sommer berichtete der Das Land wird seit 37 Jahren von dem Des-
SPIEGEL , wie die Firma ihre Produkte nach poten Yoweri Museveni regiert, der die Zivil-
Saudi-Arabien verkaufte, obwohl die Bundes- gesellschaft unterdrückt und dessen Clique
regierung in der Regel keine Ausfuhren ge- wurde ein Manager von Airbus: Thomas sich hemmungslos bereichert. Hensoldt kam
nehmigte. Interne Unterlagen offenbarten, Müller. 2020 in einer internen Einschätzung zu dem
dass die Sensoren von Hensoldts Tochter- Am Tag nach der Firmengründung legte Schluss, in Uganda gebe es ein »sehr hohes
firmen in Südafrika und Großbritannien ge- die Rechtsabteilung eine Anti-Korruptions- und kritisches Korruptionsrisiko«, »insbeson-
liefert wurden. Richtlinie vor. Darin wurde Müller mit den dere im Hinblick auf den Militärsektor«. Das
Nun offenbaren neue Dokumente das win- Worten zitiert: »Bei Hensoldt sind wir davon hielt den Konzern jedoch nicht davon ab, in
dige Geschäft mit Verkaufsagenten, die für überzeugt, dass eine Kultur der Integrität den Markt vorzudringen.
Hensoldt im Ausland die Türen öffnen. Die dazu beiträgt, unsere globale Wettbewerbs- Uganda biete »Geschäftspotenzial für die
Unterlagen, die dem SPIEGEL von Insidern fähigkeit zu erhalten.« gesamte Hensoldt-Gruppe«, hieß es intern.
zugespielt wurden, zeigen, wie Berater mit Für die Compliance holte der Unterneh- Aus vertraulichen Unterlagen geht hervor,
Verbindungen in höchste Regierungskreise menschef einen ausgewiesenen Fachmann ins wie damals eine lokale Beraterfirma angeheu-
millionenschwere Lieferungen nach Uganda Haus. Der Jurist Solms Wittig wechselte vom ert werden sollte, um Hensoldts Produkte
und Katar einfädelten. Zahlte die Firma bei Gashersteller Linde nach Taufkirchen und anzupreisen. Die Berater hätten Zugang zur
einem Geschäft sogar Schmiergeld an die Fa- wurde Chefsyndikus von Hensoldt. »Ein ein- Armee und zu den Spezialkräften, »die von
milie eines hochrangigen Militärs? zelner Korruptionsfall kann die Zukunft eines Musevenis Sohn geleitet werden, einem Be-
Gemeinsam mit dem Recherchenetzwerk Unternehmens aufs Spiel setzen. Wir tun al- kannten von uns«, schrieb der Leiter der Ge-
European Investigative Collaborations sowie les, um das Korruptionsrisiko zu minimie- schäftsentwicklung Afrika an seine Kollegen.
dem griechischen Projektpartner Reporters ren«, ließ Wittig die Mitarbeiterinnen und Der Präsidentensohn, ein Bekannter von
United und dem israelischen Investigativ- Mitarbeiter wissen. Hensoldt?
medium Shomrim wurden die Unterlagen Wittig, heute 59, war bei Siemens tätig, als
ausgewertet. Auch andere große Namen der der Konzern von der großen Schmiergeld- Muhoozi Kainerugaba ist berüchtigt für sein
deutschen Rüstungsindustrie tauchen darin affäre erschüttert wurde. Er saß im Aufsichts- brutales Vorgehen gegen die Opposition.
auf, etwa der Panzerbauer Krauss-Maffei rat der Commerzbank, über mehrere Jahre Unter seiner Führung sollen die Spezialkräf-
Wegmann (KMW). fungierte er als Präsident des Bundesverbands te vor der letzten Präsidentenwahl im Januar
für Unternehmensjuristen. 2021 Oppositionelle festgenommen und ge-
Der Fall ist ein Lehrstück über die Grenzen Aus internen Unterlagen wird ersichtlich, foltert haben. Kainerugaba wird als Nach-
von Compliance (engl., Regeltreue). In Hen- dass Wittig sich bei Hensoldt immer wieder folger seines Vaters gehandelt. Hensoldt äu-
soldts Richtlinien heißt es, im Konzern gelte in die Geschäfte einmischt. Abschlüsse ziehen ßert sich nicht zu dieser Bekanntschaft. Der
»Null-Toleranz gegenüber jeglicher Art von sich dadurch in die Länge, was nicht jedem Vertrag mit der Beraterfirma sei nicht zustan-
Korruption«. Doch am Ende setzten sich die gefällt. Compliance sei »tödlich« für die Fir- de gekommen.
Verkaufsleute bisweilen durch – und schlugen ma, schrieb etwa der Chef der britischen Bei einem anderen Projekt, der Ausstat-
Warnungen vor möglichen Schmiergeldzah- Tochtergesellschaft an Wittig. Eines der Ver- tung der Luftwaffe, lieferte Hensoldt aber
lungen in den Wind. Hensoldt legt Wert auf fahren bezeichnete er als »totale Zeitver- ohne Zweifel nach Uganda – unter Mitwir-
die Feststellung, sämtliche Geschäfte seien im schwendung«. Ein Mitarbeiter, der nichts kung dubioser Vermittler und trotz dringen-
Einklang mit den »einschlägigen Gesetzen falsch gemacht habe, werde »wie ein Krimi- der Warnung der Compliance-Abteilung.
und Compliance-Regelungen« erfolgt. neller« behandelt. Der Chefsyndikus meldete sich am 11. De-
Wertegeleitet soll die deutsche Außenpoli- Wittig antwortete, Compliance sei eben zember 2020 per E-Mail bei Andreas Hülle,
tik sein, oft genug hat das Außenministerin »keine Autowaschanlage«, in die man sein damals Mitglied im Exekutivkomitee von
Annalena Baerbock (Grüne) in ihren Reden dreckiges Auto fahre und sauber rausbekom- Hensoldt: »Wir haben derzeit einen Fall in
betont. Wenn aber ausgerechnet ein deut- me. Stattdessen helfe man dabei, den »Dreck« der Complianceprüfung, der uns Kopfschmer-
sches Vorzeigeunternehmen mit staatlicher auf dem Auto zu finden, und berate, wie zen bereitet«, schrieb Wittig. Es ging um die
Beteiligung mit diesen Werten gebrochen ha- Lieferung von elf Sensoren an die ugandische
ben sollte, wie es die Dokumente nahelegen, Luftwaffe. Die sogenannten Milds-Block-
wie steht es dann um Deutschlands Glaub- Globale Präsenz 2-Systeme sollen Hubschrauber und Flugzeu-
würdigkeit? ge vor herannahenden Boden-Luft-Raketen
Die Geburtsstunde der Hensoldt AG Standorte der Hensoldt AG und Umsatz 2022 warnen. Dem SPIEGEL liegt eine Bestellung
nach Region, in Mio. Euro
schlug am 28. Februar 2017. An jenem Tag in Höhe von 1,19 Mio. Euro vom November
Produktionsstandorte Vertriebsstandorte
wurde die Holding bei einem Münchner No- 2020 vor – inklusive Aussicht auf weitere Lie-
Umsatz
tar besiegelt. Der Flugzeugbauer Airbus glie- Europa 1452 ferungen.
derte das Geschäft mit der Verteidigungselek- davon Deutschland 1016 Hensoldt war, wie in vielen anderen Fällen,
tronik in die neue Firma Hensoldt aus. Haupt- Nord- nicht der direkte Vertragspartner des End-
gesellschafter wurde zunächst die Beteili- amerika
Asien- kunden, sondern sollte zuliefern – in diesem
gungsgesellschaft KKR. 39 Fall an die israelische Rüstungsfirma Bird
Naher Osten Pazifik
Die Bundesregierung sicherte sich von An- 135 82 Aerosystems.
Afrika
fang an Einfluss auf das neue Unternehmen, Latein- 22 Bird arbeitete vor Ort mit einem zweifel-
zunächst mit einer »goldenen Aktie«, die amerika haften Partner zusammen: Boaz Badichi, laut
ihr das Vorschlagsrecht für zwei Aufsichts- 6 israelischer Presse einer der bestvernetzten
ratssitze garantierte. Erster Geschäftsführer S Quelle: Hensoldt Waffenhändler Afrikas. Er fiel zuvor mit
◆
[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Nic Bothma / picture alliance / dpa, DER SPIEGEL(2), Nikku / IMAGO (2), Michele Tantussi / Getty Images, Denis Balibouse / REUTERS, Sebastian Gollnow / picture alliance / dpa, Holger Leue / Getty Images
Wittig und seine Leute waren alarmiert.
Im Zuge ihrer Prüfung fanden sie heraus, dass
Firmen aus fünf Ländern an dem Deal be-
teiligt werden sollten. Bei der »komplexen
Struktur des Geschäfts« sei nicht klar, ob sich
Hensoldt strafbar mache, heißt es in einer
fünfseitigen internen Präsentation vom De-
zember 2020, die mit einer »roten Flagge« 5
markiert wurde. Ein Warnsignal, das die be-
teiligten Mitarbeiter sensibilisieren sollte. 4
Womöglich sei mithilfe von Steuertricks
Geld beiseitegeschafft worden. Die Juristen
warnten: Es bestehe ein »erhöhtes Risiko,
dass der lokale Partner unzulässige oder sogar
illegale/korrupte Mittel eingesetzt hat, um
den Endnutzer zu seinem eigenen und Birds
(und indirekt Hensoldts) Vorteil zu beein- 1 | Geschäftsmann Al Kuwari 2 | Brüder Labid und Marar al Jundy
flussen«. Klarer kann man einen Schmiergeld- 3 | Ex-Bundeskanzlerin Merkel 4 | Panzer Leopard 2 5 | Artillerieortungssystem Cobra
verdacht kaum äußern.
Hensoldt hatte den Waffenvermittler Ba-
dichi zwar nicht direkt beauftragt. Doch für es in diesem Fall seiner Zustimmung nicht gramme der Bundeswehr allein konnten die
den Fall, dass dessen Firmen bei dem Auftrag bedurft hätte. ehrgeizigen Unternehmensziele wohl nicht
mit Bestechung nachgeholfen haben sollten, Wochen nach der Lieferung, am 7. Juni erfüllen.
könnte für das deutsche Unternehmen ein 2021, verschickte der Hensoldt-Vorstand eine Doch die internationale Expansion des
»rechtliches Risiko« entstehen. Die Verein- Rundmail an die Belegschaft. Die Manager Unternehmens war tückisch. In vielen Län-
barung mit Bird könnte als »Mittäterschaft/ erinnerten daran, dass durch den zuvor er- dern hatte Hensoldt keine Niederlassung und
Beihilfe« ausgelegt werden, so die Compli- folgten Börsengang »noch strengere Anforde- war bei der Akquise auf lokale Partner an-
ance-Experten. »Ohne weitere Prüfungen« rungen und Verpflichtungen« entstanden sei- gewiesen. Deren Methoden lassen sich aber
durch externe Rechtsexperten könnten sie en. »Die Compliance-Vorschriften helfen uns, kaum kontrollieren.
keine Empfehlung abgeben, diese würden vier Regelverstöße zu verhindern, erfolgte Regel- Intern wurde heftig darüber gestritten, wie
bis sechs Wochen dauern. verstöße schnell zu identifizieren und ange- man mit den Vermittlern umgehen sollte.
messen zu reagieren.« Noch einmal betonte Chefsyndikus Wittig und seine Leute mahnten
Das war den Verkäufern in dem Unternehmen der Vorstand seine »Nulltoleranzstrategie«. zur Vorsicht. Die Verkaufsleute dagegen for-
offenbar zu lang. Wenige Tage später buchten Zugleich wurde intern die Marschroute derten vehement den Einsatz von Vermitt-
sie den Auftrag ein und exportierten die elf ausgegeben, dass der Konzern mehr als 50 Pro- lern. »Hensoldt will globaler werden, was
Milds-Systeme, obwohl das Ergebnis der zent seines Umsatzes im Ausland machen sinnvoll ist, aber ohne das Netzwerk der Dritt-
Compliance-Prüfung nicht vorlag: Fünf Sen- sollte. Die schwerfälligen Beschaffungspro- parteien und erfolgsabhängige Verträge wird
soren wurden Ende Februar 2021 und sechs es nicht gehen. Beide sind Marktstandard«,
Sensoren Anfang April geliefert. Als hinterher schrieben sie.
Fragen aufkamen, räumten die Beteiligten Geheimdienst am Apparat Verkäufer gegen Juristen, Umsatzsteige-
ein, dass der Geschäftsprozess bis zur Aus- Seit anderthalb Jahren beschäftigen sich rung gegen Wertekanon – wie schwer es man-
lieferung weitergelaufen sei, ohne dass »wei- die SPIEGEL-Reporter Sven Becker, Rafael chem Unternehmen fällt, diese Balance zu
tere Meldungen über den Stand der Compli- Buschmann und Nicola Naber mit dem halten, zeigt ein weiteres Beispiel vom Persi-
ance-Prüfung ausgetauscht wurden«. Der Rüstungshersteller Hensoldt. Für diese schen Golf.
Liefertermin habe allen vorgelegen, »auch Recherche über dubiose Auslandsge- In Katar feiern die Menschen den National-
der Compliance«. schäfte wollten sie mit einem früheren feiertag jedes Jahr am 18. Dezember mit einer
War die Prüfung also nur für die Galerie? katarischen General sprechen, der Militärparade an der Strandpromenade von
Hensoldt erklärt, dass vor der Auslieferung von Provisionszahlungen profitiert haben Doha. Unter den Augen des Emirs jagen
»keine konkreten Anhaltspunkte für ein könnte. Am anderen Ende der Leitung Kampfflugzeuge durch den blauen Himmel,
rechtswidriges Verhalten vorlagen«. Deswe- ging ein Mann ans Telefon, der sich als gepanzerte Fahrzeuge werden aufgefahren,
gen sei kein Widerspruch erfolgt. Die »er- Mitarbeiter des örtlichen Geheimdienstes und Soldaten marschieren entlang der Cor-
gänzenden Ermittlungen« durch externe Be- ausgab und darum bat, es in Moskau zu niche. Im Jahr 2015 sichteten Waffenblogger
rater hätten letztlich nichts anderes ergeben. probieren. Herr Al Thani sei dort mittler- erstmals deutsche Panzer vom Typ Leopard 2
Wittig lässt über einen Anwalt mitteilen, dass weile als Botschafter seines Landes tätig. sowie Panzerhaubitzen 2000.
Beide Systeme werden von der mittlung von Rüstungsgütern für ihre nagerin eine E-Mail mit entsprechen-
deutschen Waffenschmiede KMW ge- eigene Truppe mitverdient? Das Profiteur den Informationen an Mitglieder des
baut. Trotz der prekären Menschen- »Handelsblatt« berichtete 2019 zu- des Krieges erweiterten Vorstands.
rechtslage in Katar hatte die Bundes- erst über die dubiosen Honorare und Hensoldt hoffte demnach, wieder
regierung unter Angela Merkel fragte: »Schmierte KMW einen kata- Aktienkurs der Elektronik beizusteuern. Intern wur-
(CDU) der Lieferung von 62 Leopard- rischen General?« Das Unternehmen Hensoldt AG, de vorgeschlagen, erneut auf die
in Euro
Panzern, 24 Panzerhaubitzen und bestritt die Vorwürfe. Vor Auftrags- Dienste von MSC zu setzen. Die Fir-
weiterem Kriegsgerät im Wert von vergabe habe KMW diesen Ge- 30 30,80 Euro ma sei eben ein »bewährter Partner
Eröffnungskurs
insgesamt knapp zwei Milliarden schäftspartner einer umfassenden für die katarischen Streitkräfte«, hieß
Euro zugestimmt. Compliance unterzogen. Eine lokale es. Die Berater sollten auch bei der
Die Bücher von KMW waren sei- Kanzlei habe dabei geholfen, Auf- Lieferung von weiteren Cobra-Syste-
nerzeit ziemlich leer, entsprechend fälligkeiten seien nicht gefunden 20 men, Radaren und Aufklärungssyste-
wichtig war der Auftrag. Katar wie- worden. men behilflich sein. Hensoldt rechne-
derum, das im Dauerclinch mit Saudi- Nun kommt heraus: Auch Hen- te mit potenziellen neuen Umsätzen
Arabien und anderen Golfstaaten lag, soldt unterhielt für das Katargeschäft von 88,1 Millionen Euro.
setzte auf das Abschreckungspoten- Beziehungen mit MSC. Das ergibt Hensoldt erklärt dazu, die Verträ-
10
zial der deutschen Waffen. sich aus einer internen Firmenpräsen- ge mit MSC seien »beendet«. Seit
tation aus dem Dezember 2020, die wann, lässt das Unternehmen offen.
Auch Hensoldt lieferte für das Ge- dem SPIEGEL im Entwurf vorliegt. Russischer Angriff Zu den geplanten Geschäften in Katar
schäft zu, anfangs noch als Teil des Sie kursierte damals im Exekutiv- auf die Ukraine äußert es sich ebenfalls nicht. Zu-
Airbus-Konzerns. Zum einen be- komitee, dem erweiterten Vorstand. 0 mindest im vergangenen Jahr fan-
stückte das Unternehmen die Panzer Sogar Vorstandschef Müller sollte das 2021 2022 2023 den sich aber noch einige Vorhaben
von KMW mit seiner Elektronik. Wei- Dokument zugeschickt werden. Da- in unternehmensinternen Kalkulatio-
S Quelle: Hensoldt;
terhin umfasste der Großauftrag auch rin heißt es, Hensoldt habe »erfolg- nen wieder.
◆
Stand: 25. Mai 2023
Radare und das sogenannte Artillerie- reich mit MSC zusammengearbei-
ortungssystem vom Typ Cobra. Es tet«. Und: »Zahlungen an MSC wur- Was wusste die Bundesregierung von
wird in einem Joint Venture mit dem den 2018 freigegeben.« den dubiosen Auslandsgeschäften der
französischen Hersteller Thales ge- Hensoldt räumt auf Anfrage Hensoldt AG? Das Bundesamt für
baut und kann in zwei Minuten bis »Restzahlungen aus Altverträgen« Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle
zu 40 gegnerische Artilleriebatterien ein, die noch aus der Airbus-Zeit ge- (Bafa), das Rüstungsexporte geneh-
ausfindig machen. Die Aufträge sollen stammt hätten. Die Mittel seien frei- migen muss, war in Uganda auf der
für Hensoldt insgesamt ein Volumen gegeben worden, nachdem sie intern richtigen Spur. Nach SPIEGEL -Infor-
von rund 90 Millionen Euro ausge- und extern mithilfe einer Kanzlei und mationen fragten die Beamten nach
macht haben. einer Beratungsfirma geprüft worden der Firmengruppe des israelischen
[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Ivan Vdovin / IMAGO, Timon Cornelissen / Shutterstock, G. Lacz / IMAGO, DER SPIEGEL(3)IMAGO, DER SPIEGEL(3)
Aus internen Unterlagen geht her- seien. Waffenvermittlers Boaz Badichi. Teil-
vor, dass KMW der Hauptansprech- Dennoch steht die brisante Frage te Hensoldt den Prüfern seine Beden-
partner für die Katarer war. Auch im Raum, ob Hensoldt einem katari- ken mit, dass Schmiergeld im Spiel
diesmal arbeiteten die Deutschen mit schen General Zahlungen zukommen gewesen sein könnte?
einer Firma vor Ort zusammen, die ließ. Das Unternehmen hätte nicht Hensoldt sagt dazu, es habe keine
den Deal einfädelte. Ihr Name: Mul- nur jeden Anstand vermissen lassen, 1 | Hensoldt-Jurist »durchgreifenden« Bedenken gege-
Wittig
ti Services Company (MSC) mit Sitz sondern womöglich auch gegen die 2 | Ex-Manager Hülle ben. Und »Verdächtigungen« allein
in Doha. eigenen Regeln verstoßen. Laut einer dürfe man nicht an Behörden weiter-
Als Geschäftsführer der MSC tra- damaligen Direktive mussten Ge- geben. Der Bund genehmigte den
ten zwei vermutlich aus Syrien stam- schäftspartner eigentlich bestätigen, Auftrag schließlich.
mende Brüder mit kanadischem Pass dass sie »nicht unmittelbar, mittelbar Hensoldt wollte immer mehr als
auf: Marar und Labid al Jundy. Bri- oder in sonstiger Weise von Staats- nur ein normales Rüstungsunterneh-
santer waren ihre Hintermänner. 70 bediensteten oder politisch ex- men sein. Wahlweise bezeichneten
Prozent von MSC gehörten einem ponierten Personen beherrscht oder die Firma selbst und ihr Vorstands-
Sohn von General Ahmed Nasser Al verwaltet« werden. chef Thomas Müller das Unterneh-
Thani. Er ist Teil der Herrscherfami- Hatte Hensoldt diese Bestätigung men als »Champion« oder »Porsche«
lie und fungierte als Vize-General- in Katar eingeholt? Das Unterneh- der Verteidigungsindustrie. Seit der
stabschef des Militärgeheimdienstes. men erklärt hierzu, die Direktive russischen Invasion gibt sich der Vor-
Laut Handelsregister war er bei MSC habe nicht »für den konkreten standschef regelrecht staatstragend.
zeichnungsberechtigt. Heute ist er Vorgang« gegolten. Die damals Beim Besuch von Olaf Scholz im
Botschafter Katars in Moskau. beauftragten Unternehmensbera- Ulmer Werk sagte Müller an den
Die restlichen 30 Prozent hielt das ter hätten »nach dem hier vorlie- Kanzler und Aktionärsvertreter ge-
»Qatar Armed Forces Investment genden Kenntnisstand« auch die richtet: »Ihre Firma Hensoldt ist be-
Portfolio«, eine Art Beteiligungs- Eigentümerstrukturen und die Di- reit zu liefern, schnell zu liefern.« Und
gesellschaft der Streitkräfte. Thani rektoren von MSC geprüft. »Konkre- mit viel Pathos fügte er hinzu, Hen-
Abdulrahman Al Kuwari, der Direk- te Sachverhalte einer Korruption sind soldts Produkte seien technologisch
tor des Fonds, war ebenfalls zeich- nicht erkennbar.« »die besten, wirklich die besten elek-
nungsberechtigt bei MSC. Bei den Hensoldt und seine Partner woll- 1 tronischen Systeme zur Verteidigung
katarischen Streitkräften war er für ten das Geschäft mit Katar fortsetzen. unserer liberalen Grundordnung«.
Beschaffungsvorgänge zuständig. In einem weiteren Deal ging es um In Ländern wie Katar oder Ugan-
KMW soll eine Provision in zwei- die Lieferung von bis zu 300 Rad- da reichte dagegen schon die Aussicht
stelliger Millionenhöhe an eine MSC panzern vom Typ Boxer, die 2 auf gute Umsätze.
nahestehende Firma bezahlt haben. KMW gemeinsam mit Rheinmetall Sven Becker, Rafael Buschmann,
Hatten ranghohe Militärs an der Ver- baut. Ende 2020 schickte eine Ma- Nicola Naber, Niklas Olschewski n
Das Wissen
»Wir setzen auf den
der Besten Trieb des Menschen,
, consectetuer
Steuern zu sparen«
odo ligula eget
ociis natoque GRÜNE Tübingen hat eine Steuer auf Einwegverpackungen eingeführt.
urient montes,
Ein McDonald’s-Restaurant ging dagegen vor Gericht –
felis, ultricies und verlor. Für Boris Palmer ist es ein Triumph nach dem Parteiaustritt.
uis: sem. enim-
t nec, vulputa-
honcus ut, im- Eine Zumutung wollte Tübingens Oberbürger- bald auf Mehrweggeschirr essen kann. Ein
o. Nullam dic meister Boris Palmer, 50, immer sein, ein Pro- Vorbild ist übrigens Frankreich: Dort sind
Jetzt vokateur. Mit seinem Judenstern-Vergleich Einwegverpackungen in Fast-Food-Lokalen
und der Nennung des N-Worts in Frankfurt seit Jahresbeginn verboten, die setzen auf
neu im Ende April ist er zu weit gegangen. Das hat Porzellan. Es ist höchste Zeit, auch in Deutsch-
Handel er zugestanden und nach Jahren des Streits land von der Wegwerfkultur abzulassen.
seine Partei, die Grünen, verlassen. Was er in SPIEGEL: Erklären Sie mal das Prinzip der
seiner Auszeit im Juni vorhat und wie er künf- Verpackungsteuer.
tig Shitstorms vermeiden könnte, darüber will Palmer: Wir setzen auf den natürlichen Trieb
er nicht sprechen. des Menschen, Steuern zu sparen. Wer in Tü-
bingen Kaffee im Einwegbecher oder Pommes
SPIEGEL: Herr Palmer, das Bundesverwal- in einer Pappschale kauft, zahlt pro Verpa-
tungsgericht hält die Verpackungsteuer für ckung 50 Cent Steuer, für ein Besteckteil wer-
manager-
Nachrichten soße ist für mich eine Kindheitserinnerung.
Jetzt
* Hier eine App Fußnote. Nequatquia
zweizeilige Das gönne ich mir hin und wieder. Ich würde
downloaden
que a volupta tenita pra nonseque magnatia. mich freuen, wenn ich im Tübinger Restaurant Oberbürgermeister Palmer
Getty Images
Regal steht. Damit ist die Pflicht erfüllt. Ge-
nutzt wird er deshalb noch lange nicht. Wir
haben jetzt das erste Instrument entwickelt, US-Patrouille in Panama
das wirklich zu Abfallvermeidung führt.
SPIEGEL: In Tübingen greift die Steuer bereits
seit Anfang 2022. Wie kommt sie an? SPIEGEL GESCHICHTE Außengrenzen der Europäischen Union
Palmer: Die Zahl der Betriebe, die Pfand- DONNERSTAG, 1. 6., 20.15 – 21.00 UHR, ist in den vergangenen 20 Jahren
geschirr eingeführt haben, ist explodiert. SKY/VODAFONE um nahezu 1000 Prozent gestiegen.
In keiner Stadt in Deutschland wird auf Kontrollen laufen oft ins Leere, weil
100.000 Einwohner so viel Mehrweg ange- Schattenkriege – Machtpoker es bislang keine wirkliche internationale
boten wie in Tübingen. Uns geht es dabei in der Krise: US-Invasion in Kooperation bei der Strafverfolgung
nicht darum, Einnahmen zu generieren, son- Panama gibt. Ideale Voraussetzungen für zwie-
dern den Abfall zu vermeiden. Am 20. Dezember 1989 marschierten lichtige Geschäftemacher, die auf dem
SPIEGEL: Wird Tübingen jetzt Blaupause für mehr als 20.000 US-Soldaten in Panama Schwarzmarkt Milliarden verdienen.
die Republik? ein, um Militärdiktator Manuel Noriega
Palmer: Da bin ich sehr optimistisch, es wer- und seine Panama Defense Forces zu
den viele nachziehen. In Konstanz haben sie stürzen. NACHT-DOKU
schon einen Vorratsbeschluss des Gemeinde- Nur sechs Jahre zuvor stand er noch auf DONNERSTAG, 1. 6., 0.35 – 1.25 UHR, RTL
rats in der Schublade. Auch andere Kommu- der Gehaltsliste der CIA.
nen sind mit dabei, ihr Vorteil ist: Sie haben Welche Ziele verfolgten die USA mit der Ein Volk auf Droge
nun einen rechtssicheren Satzungstext, um Invasion in Panama? Innerhalb weniger Jahre ist Kokain
die Steuer einzuführen. zu einer Volksdroge geworden.
SPIEGEL: Sie halten sich auf Facebook und Co. Mittlerweile wird Europa von dem Stoff
zurzeit zurück. Werden Sie sich nach Ihren NACHT-DOKU aus Südamerika regelrecht über-
umstrittenen Äußerungen ganz aus den so- MITTWOCH, 31. 5., 0.35 – 1.25 UHR, RTL schwemmt. Das hat die Suchtprobleme
zialen Medien verabschieden? auch in den deutschen Großstädten
Palmer: Ich habe Anfang Mai die sozialen Schmutzige Geschäfte – weiter verschärft. Dort führen Drogen-
Medien für mich ausgeschaltet und will das der Kampf gegen Cops seit Langem einen fast aus-
erst mal bis Ende Juni so lassen. Ich nehme den illegalen Handel sichtslosen Kampf gegen die Dealer
mir jetzt einen Monat Auszeit, wie angekün- Die Anzahl der beschlagnahmten illega- und ihre Klientel.
digt. Ich habe auf Facebook eine Ausnahme len Waren wie geschützten Tieren an den
gemacht: ein Post zu dem historischen Erfolg
vor dem Bundesverwaltungsgericht. NACHT-DOKU
SPIEGEL: Was steht in der Auszeit an? FREITAG, 2. 6., 0.35 – 1.25 UHR, RTL
Palmer: Das sage ich niemandem, sonst wäre
es keine Auszeit. Ich werde Journalisten- Unternehmen Abriss
anfragen genauso abschalten wie das Dauer- Von fachgerechter Entkernung über
getrommel auf Facebook. Entsorgung von sensiblem Sondermüll
SPIEGEL: Sie wollen sich professionelle Hilfe bis hin zum nahezu chirurgischen Rück-
holen. Was wollen Sie an sich ändern? bau von Hochhäusern reicht die Band-
Palmer: Erst mal möchte ich nur verstehen breite moderner Abrissarbeiten heute.
und Ratschläge hören. Aber das ist meine Wenn Mensch und Maschine perfekt
SPIEGEL TV
ganz persönliche Sache, daran will ich die zusammenarbeiten sollen, ist in diesem
Öffentlichkeit nicht beteiligen. vermeintlich brachialen Gewerbe oft
Interview: Christine Keck n Verletztes Nashorn Fingerspitzengefühl gefragt.
Nonnen in Angermund: Eine Gemeinschaft, die sich außerhalb des Ordens kaum gefunden hätte
lles schon dunkel hier an diesem Abend Es klirrt. Schwester Josephine bückt sich, morgendlicher Lobgesang und innere
A um halb neun. Die Klingel neben der
Eingangstür gibt einen schnarrenden
Ton ab, dann leuchtet im Erdgeschoss das
der Habit, das schwarze Gewand, bauscht sich
in der Bewegung. Ihr Rosenkranz ist aus der
Tasche gerutscht. Der sei ihr wichtig, erzählt
Einkehr.
»Wir beginnen auf Seite 134«, sagt Schwes-
ter Emmanuela und greift nach einem dicken
Licht auf. Eine Frau in schwarzem Gewand sie, während sie ihn aufhebt. Ihre Tochter blauen Buch. Das »Benediktinische Antipho-
öffnet die Tür, Schwester Josephine. »Herz- habe ihn von einer Reise mitgebracht. nale« ist eine Sammlung von Psalmen und
lich willkommen«, sagt sie leise und geht Ihre Tochter? Wir alle hier, sagt die Nonne, Noten für Wechselgesänge, ähnlich gregoria-
durch den Flur voran zu einem Gästezimmer: hatten mal ein anderes Leben. nischen Chorälen.
Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, ein Sessel, »Herr, öffne meine Lippen«, beginnt
sie hat den Raum gerade erst eingerichtet. Morgens 7 Uhr. Das Leben im Kloster ist durch- Schwester Rafael,
Schwester Emmanuela, Schwester Rafael, strukturiert: Nächtliches Schweigen, Große »so wird mein Mund dein Lob verkünden«,
Schwester Tabita und Schwester Benedikta Stille und jeden Tag fünf Zusammenkünfte in singen die anderen.
sind schon in ihren Zimmern. Und auch Jan der Kapelle, samstags sind es vier. Diese erste Dreimal geht es hin und her, die Schwestern
Opiéla, der Mann in diesem Kloster. dauert gut 30 Minuten. Die Bänke stehen im stehen auf und knien nieder. Von draußen
Seit September bewohnen die fünf Non- Halbrund um einen nüchternen Altar. Schwes- dringt Straßenlärm herein. Herr, erbarme
nen den schlichten roten Backsteinbau aus ter Emmanuela und Schwester Tabita sitzen dich. Gegrüßet seist du, Maria.
den Sechzigerjahren im Düsseldorfer Stadt- rechts, Schwester Josephine und Schwester
teil Angermund. Ihre Ordensgemeinschaft, Rafael links. Sie alle haben ihren bürgerlichen Am Vormittag wischt Schwester Tabita die
Benediktinerinnen vom Heiligsten Sakra- Namen gegen einen biblischen getauscht, Ra- Tische im Speisesaal ab. Eine Taufgesellschaft
ment, brauchte Platz. In den vergangenen fael leitet sich vom Engel im Alten Testament wird gleich im Katharinenkloster feiern,
zwölf Jahren hatten sich 25 Frauen in dem ab. Schwester Benedikta, mit 84 Jahren die 50 Gäste, die Eltern sind zwei Väter. Tabita
Kölner Heimatkloster gemeldet: Sie wollten Älteste, kommt erst zu den späteren Stunden- trägt einen grauen Arbeitshabit, so wie alle,
eintreten, Nonne sein. Nach mehreren Jah- gebeten dazu. wenn sie aufräumen, putzen, Kartoffeln schä-
ren Probezeit waren 8 nicht mehr dabei, aber Jan Opiéla sitzt in der Mitte. Er hat len oder Unkraut jäten. 50 Jahre alt ist
17 sind geblieben, die jüngste 23 Jahre alt, einen grauen Schal um den Hals geschlungen, Schwester Tabita und seit fast neun Jahren
das Kölner Kloster allein reicht ihnen nicht die Luft im Raum ist kühl. Opiéla ist Pries- Nonne, vorher hat sie als Friseurin in einem
mehr aus. ter, dass er mit den Nonnen zusammenlebt, Salon in der Nähe von Hannover gearbeitet.
Ein Orden, der expandiert, der aus seinen hat mehrere Gründe. Doch dazu später, Sie habe eine Kirche lange Zeit allenfalls
Mauern platzt, in einer Zeit, in der Klöster nun erst einmal »Laudes und Betrachtung«: betreten, um eine Kerze anzuzünden, erzählt
zu Fitnessstudios oder luxuriösen Eigen- sie. Dann sei ihre Mutter gestorben. Über
tumswohnungen umgebaut werden, das ist Facebook habe sie Kontakt zu einer Nonne
eigentlich unvorstellbar. Ausgerechnet in bekommen.
Köln, mit all den Schlagzeilen über Miss- Die Geschichte ihrer Berufung hört sich in
brauch, Vertuschung und Machtgier im Erz- dieser kurzen Fassung geradliniger an, als sie
bistum. sich zugetragen hat, aber am Ende fuhr die
Was hält die Frauen hier? Manche Psal- Friseurin von Kloster zu Kloster, um sich
men, die sie jeden Tag singen, sind 3000 Jah- darüber klar zu werden, in welchem Orden
re alt, ihre Ordensregel stammt aus dem sie künftig als Nonne leben wollte. Am 1. Sep-
sechsten Jahrhundert; ein Mann, Benedikt tember 2013 habe sie die Kölner Benedikti-
von Nursia, hat sie sich ausgedacht: viel nerinnen gefragt: Was muss ich tun, um ein-
arbeiten, wenig reden, reichlich beten, ohne zutreten? Ihre Brüder hätten die Augen gerollt
Eigentum leben, ohne Partnerschaft und zu- und Sprüche geklopft. Ihren Lieblingsteddy,
rückgezogen von der Welt. Was kann daran 1,50 Meter groß und ein Geschenk der Mutter,
attraktiv sein? Früher waren Frauenklöster musste sie wie fast ihr gesamtes Eigentum
oft Orte der Emanzipation. Nonnen manag- verschenken.
ten Klosteranlagen, sie arbeiteten schon als Sie liebe das hier, sagt die Nonne. Dieser
Jann Höfer / DER SPIEGEL
Lehrerin, Krankenschwester oder Landwir- Jesus, dem sie ihr Leben verschrieben hätten,
tin, als für andere Frauen ausschließlich die habe einen großen Vorteil. »Er hatte kein Ego,
Rolle der Ehefrau und Mutter vorgesehen das er ständig vor sich hertragen musste. Das
war. Aber heute? Zweimal war der SPIEGEL macht ihn total überzeugend.«
bei ihnen, um Antworten zu finden, fünf Tage Verglichen mit anderen Schwestern ist Ta-
insgesamt. Katharinenkloster in Düsseldorf-Angermund bita mitteilsam. Neun Hunde habe sie früher
gehabt und sich auch ein Leben mit Schwester Emmanuela: ist promo-
Kindern vorstellen können. »Ich hat- vierte Musikwissenschaftlerin, hat
te Beziehungen, habe aber nicht den einen Masterabschluss in Organisa-
richtigen Mann gefunden, bis ich vier- tionsberatung und coacht bei Proble-
zig war. Diese Grenze hatte ich mir men am Arbeitsplatz. In Köln war sie
gesetzt.« Doch auch Tabita erzählt die Priorin, die Chefin des Ordens,
nur, wenn sie gefragt wird. Nicht jede auch hier läuft alles bei ihr zusam-
Nonne ist zu einem Gespräch bereit. men. Sie schreibt in einem Internet-
Oder sie ziehen Grenzen wie Schwes- blog über den Klosteralltag, sie ist seit
ter Josephine, die darüber schweigt, 40 Jahren Nonne, obwohl sie es vor-
wie ihre erwachsenen Kinder es fin- her unvorstellbar fand.
den, dass sie jetzt im Kloster lebt. Schwester Josephine: war verhei-
Schwester Tabita sagt: »Früher hätte ratet und besucht regelmäßig ihre
ich mich wohl nicht dafür entschie- Kinder und Enkelkinder. Sie leitete
den. Heute ist es als Nonne lockerer, als Einzelhandelskauffrau früher in
jedenfalls bei uns. Und dieser Neu- einem Supermarkt die Theke für
anfang hier in Angermund ist sowie- Wurst und Käse. Seit zehn Jahren ist
so toll. Ich fühle mich manchmal wie sie Nonne. Als die Kinder erwachsen
in einem Start-up-Betrieb.« waren, habe sie sich für ein Leben als
Die Nonnen müssen den Unter- Ordensfrau berufen gefühlt. Beru-
halt für ihr Kloster selbst erwirt- fung bedeute für sie, dass sie nicht
schaften, das ist eine Voraussetzung, anders handeln konnte und die Ge-
um unabhängig zu werden. Noch ist wissheit hatte, ihre Entscheidung
Schwester Tabita rollt einen Teewagen herein, Hardcore. Mit frommer Tünche kommt man Die Benediktinerinnen unterstehen kei-
auf dem Schüsseln mit Bratwürsten, Schnip- ihm nicht bei.« nem Bischof, sie wählen ihre Priorin alle
pelbohnen und Kartoffeln stehen. Die Non- Sie zieht ihre schwarze Fleecejacke über sechs Jahre. Ginge es nach Schwester Emma-
nen bedienen sich stumm und schenken Was- dem Habit zusammen, der Wind zerrt an den nuela, könnte es in der Amtskirche bei den
ser in bunt bemalte Keramikbecher ein. Bäumen im Klostergarten. Schwester Emma- Bischöfen genauso sein. Außerdem hätten
Schwester Benedikta tropft Arznei auf einen nuela ist begeistert von dem nüchternen Bau, Frauen in der Kirche die gleichen Rechte wie
Löffel. Die Tische sind so zusammengescho- drum herum Wiesen und Einfamilienhäuser, Männer, und Priester könnten in einer Part-
ben, dass alle durch das Fenster die Vögel in keine hohen Mauern, sie walke hier jeden nerschaft leben, wenn sie wollten. Schwester
den Bäumen beobachten können. Gespro- Morgen, sagt sie. Der Architekt war dem Emmanuela ist anzumerken, dass sie Orga-
chen wird beim Essen nicht, auch das ist eine Zweiten Vatikanischen Konzil verpflichtet, es nisationsberatung studiert hat, es geht ihr um
Regel der Benediktinerinnen. Und dass sich hatte der katholischen Kirche 1965 mehr Freiräume, Mitbestimmung, Unabhängigkeit.
der Orden trotz aller Zurückgezogenheit für Weltoffenheit und Modernität verordnet. Als sie 1982 ins Kloster eintrat, kam bei Be-
den Rest der Welt interessieren soll. »Das Gebäude passt zu uns«, sagt die Nonne, such unterschiedliches Porzellan auf den
Schwester Emmanuela schaltet ihren Lap- die als Buchautorin unter dem Namen Em- Tisch: Goldrand für die Herren, damit waren
top ein und lässt die »Informationen am manuela Kohlhaas bekannt ist und auch als Priester gemeint, Zwiebelmuster für die Män-
Abend« abspielen, die der Deutschlandfunk Coach Geld für das Kloster verdient. Sie gilt ner, das waren die Handwerker, die im Klos-
am Vortag gesendet hat. Die Reporter be- als treibende Kraft für den Erfolg. In ihren ter arbeiteten. Hierarchie bis ins kleinste
richten von zerstrittenen Abgeordneten im Büchern geht es um Ungehorsam und gute Detail, »wir versuchen, es hier anders zu
amerikanischen Repräsentantenhaus, vom Leitung, sie formuliert Gedanken wie: Die machen«, sagt sie. Wäre es nicht so, könnten
Streit in der CSU, vom Krieg in der Ukraine. Hierarchie der katholischen Kirche erinnert sie nicht dabeibleiben, sagen manche Mit-
Schwester Tabita verteilt jetzt schweigend an Absolutismus. schwestern.
Eis am Stiel, die anderen greifen wortlos zu. An diesem Vormittag im Klostergarten sagt Was alle betreffe, werde von allen ent-
Abends werden sie sich unterhalten, am kom- sie: »Die alten Psalmen handeln von allen schieden, ob es um Gardinenstoffe gehe oder
menden Tag wird eine Mitschwester aus Köln Erfahrungen des Menschseins, auch von den um den Neustart dieses Klosters. Das sei
zum Helfen anreisen, Clara, sie wird bald hier Abgründen. Und die Kirche hat das Problem, nicht in allen Klöstern so, und so sei dort
mit ihnen leben und als Heilpraktikerin arbeiten, dass sie die Menschen in diesen Erfahrungen dann auch die Atmosphäre, sagt Schwester
es gibt jeden Abend viel zu besprechen. Eine zu wenig begleitet. Stattdessen hat sie jahr- Tabita. Zum Davonlaufen. Als sie sich im
knappe Stunde ist dafür vorgesehen, nur sams- hundertelang ein restriktives Moralgebäude Unklaren war, ob sie mit umziehen wolle,
tags nicht, da dauert die Andacht länger und errichtet – eine Moral, gegen die sie allzu oft übernachtete sie in Angermund in einem
geht direkt in das Nächtliche Schweigen über. selbst verstößt, wie die Missbrauchskrise Campingbus, um ein Gefühl für die Gegend
zeigt. Da wenden sich die Leute zu Recht ab.« zu bekommen. Es gibt einen Schrank mit
17 Uhr, das nächste Stundengebet in der Ka- Auch andere Schwestern im Kloster hadern Süßigkeiten, an dem sich alle bedienen kön-
pelle. Auch die Vesper dauert 30 Minuten, mit der Kirche, mit der Rolle der Frau, mit nen, die Nonnen haben 21 Ferientage, und
und wieder singen die Nonnen im Wechsel den Missbrauchsfällen. Sie haben Freunde ob sie nach dem Nachtgebet in ihrer Zelle
die Psalmen aus dem Alten Testament. Es sind und Verwandte, die aus der Kirche ausgetre- noch ins Internet gehen, ist ihre Sache. Em-
oft martialisch klingende Texte, sie handeln ten sind; sie fragen sich, ob sie überhaupt noch manuela hat für jede Nonne ein Smartphone
von Königen, die in Schrecken erstarren, und als Ordensfrau leben können. Die Antworten, besorgt, die betagte Schwester Benedikta
Schiffen, die der Sturm zerschmettert. Es fallen die sie auf solche Zweifel finden, laufen auf trägt es in einer Umhängetasche unter dem
die Worte Frevler, Feinde, Unrecht, Sieg, Zu- einen Satz hinaus: Ich halte mein Gesicht für Habit. Schwester Tabita sagt: »Ich kann hier
flucht, Bosheit, Liebe, Scham. Die ganze Welt die Idee hin und zeige, dass Kirche auch an- so sein, wie ich bin.«
soll den Herrn fürchten. ders sein kann. »Ich bin nicht wegen der Kir- »Natürlich gehen wir uns auch auf die Ner-
che in den Orden eingetreten, im Gegenteil«, ven«, sagt Schwester Emmanuela. »Die eine
»Die Psalmen sind Hardcore«, sagt Schwester sagt Schwester Emmanuela. »Jesus Christus leert den Müll nicht aus, die andere guckt
Emmanuela beim Rundgang durch die An- war gerade kein Vertreter einer machtbewuss- komisch, die nächste hätte wahnsinnig gern
lage. »Die Texte. Aber das Leben ist auch oft ten Institution.« ein Haustier. Das ist wie in jeder WG.« Nur
zieht man aus anderen Wohngemeinschaften
aus, wenn es zu viel wird. Und hier? In
schwierigen Fällen helfe der Blick von außen,
antwortet sie, manchmal auch Moderation,
Supervision und Coaching von professionel-
len Beratern, das habe in Köln schon gut funk-
tioniert.
kommen.
Schwester Emmanuela spielt die Orgel,
Schwester Josephine liest eine Geschichte aus
dem Buch Daniel vor, es geht um angeblichen
Ehebruch. Opiéla predigt, er spricht über ein
Kapelle im Kloster: Jeden Tag fünf Zusammenkünfte, samstags sind es vier Bibelwort aus dem Johannesevangelium, das
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DEUTSCHLAND
Wie eng seine Kontakte zum Kreml Man kann Niemeyer als verwirr-
tatsächlich sind, lässt sich nicht über- ten Reichsbürger und Wichtigtuer ab-
prüfen, aber es wäre nicht das erste tun, als unterhaltsamen Sidekick,
Mal, dass Niemeyer es in eine Fuß- doch dass er gelegentlich eine bedeu-
note der Geschichte geschafft hätte. tendere Rolle spielt, als man ihm zu-
arbeitet er als Journalist. Kanzlerkandidaten zu machen. Ein ganisierte »Aufstand für Frieden«.
Der Weltenbummler Niemeyer ist Foto von Niemeyer, das ihn im Hin- Die Frage steht im Raum, ob der
der Ex-Mann der Linkenpolitikerin tergrund von Schulz zeigt, soll das Kreml womöglich direkten Einfluss
Sahra Wagenknecht, weswegen vor belegen. Der SPD-Politiker gibt auf genommen hat. Im Artikel der »Wa-
allem eines seiner Reiseziele zuletzt Nachfrage an, er kenne den Mann shington Post« wird Niemeyer als Mann
für Aufmerksamkeit sorgte: Moskau. nicht. mit besten Kontakten zum Kreml auf-
Niemeyer behauptet, er würde dort geführt – der nach eigenen Angaben
direkt mit Putins Leuten über Gas- noch täglich in Kontakt mit seiner Ex-
lieferungen verhandeln – für Deutsch- Frau Wagenknecht sei. Auf Nachfrage
land. Alles nur Hochstapelei? Oder bestreitet das die Linkenpolitikerin.
pflegt er tatsächlich Kontakte in den Wagenknecht und Niemeyer lern-
Kreml? ten sich Mitte der Neunzigerjahre ken-
Im russischen Staatssender RT nen, als er sie interviewte. Anfang der
International tauchte Niemeyer in Nullerjahre reisten die beiden gemein-
den vergangenen Monaten jedenfalls sam nach Venezuela, Wagenknecht
regelmäßig als Experte auf, sprach traf damals auch den sozialistischen
über Donald Trump, Terror und Präsidenten Hugo Chávez. Die Ehe
Energiepolitik. Vorgestellt wurde er hielt etwa 15 Jahre.
als Vertreter eines »Deutschen Rates Und heute? Dem SPIEGEL liegen
für Verfassung und Souveränität«. Screenshots vor, die einen regen
Der Moderator bezeichnete ihn als Chataustausch zwischen den beiden
Anführer einer deutschen Opposi- belegen. An Ostern etwa schickte
tionsgruppe, offenbar ist damit Nie- Niemeyer ein Foto von sich aus Mos-
meyers Rolle in einer angeblichen kau an Wagenknecht, da steht er
Exilregierung gemeint. vor den Zwiebeltürmen der Basilius-
Er selbst will diese gegründet und Kathedrale, des Wahrzeichens der
für sie mit dem Kreml über mögliche russischen Hauptstadt. Niemeyer
Gaslieferungen nach Deutschland ver- schrieb: »Frohe Ostern!«. Wagen-
handelt haben. Es gibt auch Fotos von knecht antwortete: »Danke! Wünsche
Niemeyer, die ihn etwa auf dem Wirt- ich Dir auch!«
schaftsforum im russischen Wladi- Wagenknecht gibt dazu nur im
wostok zeigen, im Gespräch mit dem Hintergrund Auskunft. So viel lässt
russischen Außenminister Sergej sich aber sagen: Sie vermittelt den
Lawrow. Auch mit dem Gazprom- Eindruck, als halte sie ihren Ex-Mann
Chef Alexej Miller traf sich Niemeyer, nicht mehr für zurechnungsfähig.
Privat
Eine Fahrspur wird grün, haben. »Ich finde es nicht normal«, so Jung,
»dass wir eine vierspurige Autobahn vor dem
Bahnhof haben«. Wer mit dem Zug nach Leip-
die Leute sehen rot zig komme, werde von Emissionen erschlagen
und müsse fürchten, überfahren zu werden.
»Wir«, und diesen Satz brüllte der SPD-
Politiker beinahe, »bauen diese Stadt für Men-
MOBILITÄT Wie soll die Stadt der Zukunft aussehen? In Leipzig ist eine schen um!«
Jung, gelernter Deutsch- und Religions-
Debatte über Radwege eskaliert – und das dürfte erst der lehrer, ähnelt eher einem Finanzfachwirt
Anfang sein. Der Fall lehrt einiges über die Tücken der Verkehrswende. als einem Umweltaktivisten. Aber er ist Mit-
initiator der Initiative »Lebenswerte Städ-
te und Gemeinden«, deren Mitglieder selbst
an muss sich Burkhard Jung als recht für Zweiräder freigeben, auf einer Länge über Tempo-30-Zonen entscheiden wollen.
M besonnenen Mann vorstellen. Der
Sozialdemokrat ist Oberbürgermeis-
ter von Leipzig, Vizepräsident des Deutschen
von 240 Metern, lediglich in eine Fahrt-
richtung.
Für die Mobilitätswende ist das ein lä-
In seiner Stadt forciert er noch weitere am-
bitionierte Ziele, sie ist inzwischen EU-Mo-
dellkommune und will mittelfristig klima-
Städtetags, Berufspolitiker seit fast einem cherlich kleiner Schritt, die Debatte darüber neutral werden. Schon bis 2030 soll der
Vierteljahrhundert. Mit Wutausbrüchen er- aber offenbart ein gewaltiges Problem: CO 2 -Ausstoß von Leipzig mit seinen
regte der 65-Jährige in all den Jahren keine Wie soll der Kampf gegen die Klimakrise 625.000 Einwohnerinnen und Einwohnern
Aufmerksamkeit. Aber neulich geschah es: gelingen, wenn schon ein grün bemaltes um fast zwei Drittel reduziert werden. Der
Nach sechsstündiger Stadtratssitzung redete Stück Straße den Volkszorn hochkochen Anteil des motorisierten Individualverkehrs
sich Jung vor laufender Kamera und vollem lässt? soll bis 2030 um ein Viertel schrumpfen,
Saal in Rage, ruderte mit Armen und Händen Zu denen, die sich nun leidenschaftlich für nachhaltige Mobilität dann 70 Prozent aus-
durch die Luft, schließlich rief er: »Ich bin frustrierte Autofahrerinnen und Autofahrer machen.
dankbar für diesen Versuch – und wir werden einsetzen, zählt vor allem die CDU. »Das ist Ein realitätsfernes Ökohirngespinst? Wis-
ihn nicht stoppen!« den Menschen in Leipzig nicht zuzumuten«, senschaftliche Expertisen deuten in eine an-
Worum es ging? Um einen Radweg. sagt Stadträtin Sabine Heymann, ihre Pro- dere Richtung: Das Umweltbundesamt etwa
In Leipzig gibt es derzeit kaum ein Thema, gnose: »mehr Stau und ein Ausbremsen des hat ausgerechnet, dass sich mit Fahrrädern
das mehr polarisiert. Seit Monaten zanken Verkehrs«. fast jede dritte Autofahrt in Städten problem-
Parteien und Medien, Aktivisten und Anwoh- Fraktionschef Frank Tornau erhob die An- los ersetzen ließe und man die Zahl der Fahr-
nerinnen, ob und wo der Autoverkehr ein gelegenheit gar zur »grundlegenden Entschei- zeuge drastisch reduzieren könnte. Eine
bisschen Platz abgeben soll für Fahrräder. dung«: Rathauschef Jung nutze die Gewerbe- Greenpeace-Analyse auf Grundlage von
Die Debatte flammt auch deshalb regel- steuermillionen der örtlichen Automobil- Daten aus 30 deutschen Städten kommt zu
mäßig neu auf, weil die Stadtverwaltung alle industrie – unter anderem BMW hat hier ein dem Ergebnis, dass 2747 Kilometer geschütz-
paar Monate irgendwo eine Fahrspur um- Werk mit 5300 Beschäftigten –, »um damit te Radwege entstehen könnten, und zwar für
widmet und grün übermalen lässt. Nun ist die Stadt in autofeindlicher Art und Weise vergleichsweise wenig Geld.
der Konflikt vollends eskaliert – es dürfte umzubauen«. Ohnehin sei das Verhalten des Mit Gesetzen und Analysen allein wird
der Auftakt eines brisanten Dauerstreits Oberbürgermeisters »ungebührlich und be- sich dieser gesellschaftliche Großkonflikt aber
werden. schämend«. sicher nicht befrieden lassen – denn es geht
Jung bezeichnet die Debatte als »provin- auch um Emotionen. Jana Kühl, 38, ist
ziell«, aber sie wird in vielen deutschen Groß- Deutschlands erste Professorin für Radver-
städten mit großer Emotionalität geführt. kehrsmanagement, die Leipziger Radweg-
Dabei leugnet kaum noch jemand das Pro- debatte bezeichnet sie als »idealtypisch im
blem: Die CO2-Emissionen müssen ange- schlechtesten Sinne«. Der Streit sei das Er-
sichts der Erderwärmung runter, so schnell gebnis einer Politik, die lange auf mit Autos
wie möglich, deshalb sollen unter anderem erreichbare Wohngebiete gesetzt habe. »Da-
mehr Fahrräder und weniger Autos unterwegs ran haben sich sehr viele Menschen gewöhnt«,
sein. Wo sollte das gut funktionieren, wenn sagt Kühl, »sie halten die Abhängigkeit vom
nicht in einem reichen Industrieland, in einer Auto für die alternativlose Normalität.« Der
Metropolregion mit kurzen Wegen und viel- laute Protest aber verhindert demnach ernst-
fältigen Verkehrsmitteln – und in einer Stadt, hafte Debatten über Lösungen: »Wer CO2-
in der Grüne und Linke gemeinsam mit neutral werden will, kann halt nicht alles beim
der SPD über eine komfortable Ratsmehrheit Alten belassen.«
verfügen? Leipzig ist nicht die erste Stadt, in der
In Leipzig geht es wie in den meisten Bürger und Politik im Kampf um den öffent-
anderen Städten nicht darum, die komplet- lichen Raum aneinandergeraten. In Berlin
Susann Friedrich / BILD
te Innenstadt für den motorisierten Verkehr beispielsweise hat die Umwandlung der
zu sperren oder ganze Straßenzüge in Rad- zentral gelegenen Friedrichstraße in eine
wege umzuwidmen. Der aktuelle Streit Fußgängerzone einen bizarren Streit ent-
dreht sich um eine bislang vierspurige Stra- facht, die neue Regierung lässt dort künftig
ße vor dem Hauptbahnhof. Dort ließ die wieder Autos fahren. In Hamburg sind
Stadt einen Streifen grün übermalen und Oberbürgermeister Jung Opposition und Regierung aneinandergera-
schaft und Medienforschung an gen« worden. Gericht, konnte sich aber nicht durch-
der Ludwig-Maximilians-Universität Wenn Professorinnen und Profes- setzen. Sie hatte dem früheren NDR-
(LMU) München. In einem Online- soren sich in solche Gesellschaft be- Journalisten Patrik Baab einen Lehr-
interview lobte der Professor ge- geben, bringen sie ihre Hochschulen auftrag entzogen, nachdem er als
druckte Medien als »Schutz vor Über- in Schwierigkeiten. Die müssen ab- »Wahlbeobachter« zu russischen
wachung und Kontrolle« offenbar wägen – zwischen der Freiheit von Scheinreferenden in besetzte Regio-
durch eine nicht näher beschriebene Lehre und Wissenschaft sowie Mei- nen der Ukraine gereist war. Baab
»Macht«, die der deutschen Medien- nungsfreiheit einerseits und mögli- habe damit dem völkerrechtswidrigen
landschaft nahestehe – Geraune, wie chem Durchgreifen andererseits. russischen Vorgehen »den Anschein
man es von Verschwörungstheore- Bernd Scholz-Reiter, Vizepräsi- von Legitimität verliehen«, argumen-
Christian Charisius / dpa
sen ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissen- »Professor Meyen durch- Meinungen müssen wir aushalten, das ist
schaftler aus.« hier der Fall.«
In München werden die Wortmeldungen läuft seit mehreren Die Leitung der LMU weist nur darauf hin,
von Michael Meyen inzwischen genau beob- Jahren einen Prozess der dass »bereits in der Vergangenheit Gespräche
achtet. Der Kommunikationswissenschaftler mit Herrn Prof. Meyen zu dessen Aktivitäten«
ist kein Unbekannter in verschwörungsideo- Radikalisierung.« geführt worden seien. Die Uni habe zu prüfen,
logischen Kreisen. Der Professor, seit 2002 an ob dienstliches Fehlverhalten vorliege. »Was
der LMU tätig, gab etwa dem umstrittenen die sonstige rechtliche, insbesondere auch
Verschwörungsideologen und ehemaligen strafrechtliche Relevanz betrifft, liegt die Zu-
Rundfunkmoderator Ken Jebsen ein Interview. ständigkeit nicht bei der LMU«, schreibt eine
Meyens eigene Bücher tragen Titel wie Sprecherin der Universität. Daher habe man
»Das Elend der Medien« oder »Die Propa- immer wieder Akademikerinnen und Akade- sich an den Verfassungsschutz gewandt.
ganda-Matrix«. Auf einem Blog, auf dem er miker als Interviewpartner auf. Dutzende Unter den Studierenden des Instituts seien
sich als Professor der LMU vorstellt, wettert Professoren und Promovierte beteiligen sich Meyen und seine Überzeugungen schon länger
er gegen das »Zensurregime« und lobt den an Diskussionen über »die politischen Ver- Thema, sagt Simon Prommersberger, Mitglied
Newsletter des ultrakonservativen Milosz gehen am Rechtsstaat der letzten zwei Jahre«. der Fachschaft. Die große Mehrheit verur-
Matuschek. »Kein Matuschek-Frühstück ohne Die Debatten haben auch schon mal Inhalte teile zwar das Verhalten und wolle Meyens
Aha-Erlebnis«, schreibt Meyen. wie »Nach Impfung tot: zahlreiche Babys als Vorlesungen nicht besuchen. Das habe eine
»Professor Meyen durchläuft seit mehreren Opfer der mRNA-Injektionen« oder »Inter- Umfrage ergeben. »Die Studierenden haben
Jahren einen Prozess der Radikalisierung«, nationaler Sexhandel und Kompromat gegen aber das Interesse, ihr Studium professionell
sagt ein Sprecher des Linken Bündnisses Politiker und Personen des öffentlichen Inte- durchzuziehen«, sagt Prommersberger, bisher
gegen Antisemitismus München, das den Leh- resses als Druckmittel«. habe es daher keine größeren Protestaktionen
renden seit 2018 beobachtet. Damals habe Aushalten oder einschreiten? An der gegeben.
Meyen noch als Linker gegolten. Dann habe LMU scheint angesichts der Aktivitäten von Ganz anders in Bonn: Dort fanden sich
er sich immer mehr verschwörungsideologi- Michael Meyen das Gefühl der Machtlosig- Ende April rund 30 Studierende vor dem
schen Kreisen angenähert. Während der Co- keit vorzuherrschen. »Wir können in diesem Arbeitsgericht zu einer Demonstration
ronapandemie seien diese Ansichten schließ- Fall nur wenig tun«, sagt Thomas Hanitzsch. ein – zur Unterstützung der Universitätslei-
lich deutlich zutage getreten. Er leitet das Institut für Kommunikations- tung. Die hatte der angestellten Professorin
Der Kommunikationsprofessor ist bei Wei- wissenschaft, an dem auch Meyen lehrt. Als Ulrike Guérot gekündigt, wegen mehrerer aus
tem nicht der einzige Wissenschaftler mit Kollege reagiere er zwar mit Befremden auf Sicht der Uni bestätigter Plagiate in Veröffent-
Hang zum Verschwörertum. Im einschlägigen Meyens Verhalten. »Gleichzeitig ist es ein lichungen der Politikwissenschaftlerin, wie es
Videokanal »Corona-Ausschuss«, der es auf Glück, dass wir Wissenschaftsfreiheit leben in einer Erklärung der Hochschule heißt.
mittlerweile 155 Folgen gebracht hat, tauchen dürfen«, sagt er. »Bestimmte abweichende Die Professorin wehrt sich gegen den Raus-
wurf und bezeichnet die Plagiatsvorwürfe als
vorgeschoben: Die würden »gezielt benutzt«,
um sie »öffentlich zu diffamieren und damit
letztlich mundtot zu machen«, weil sie sich
bei den Coronamaßnahmen und dem Ukrai-
nekrieg »gegen die vorherrschende Meinung
gestellt habe«, heißt es in ihrer jüngsten Ver-
öffentlichung.
In der Buchankündigung ist die Rede von
einer »symbolischen medialen Hinrichtung der
Kristallisationsfigur Ulrike Guérot«. Ihre
Unterstützer und Unterstützerinnen, die neben
den Studierenden vor dem Arbeitsgericht
demonstrierten, beklatschten entsprechende
Aussagen: »dass es hier um eine moderne Form
der Hexenverbrennung geht« und Guérot we-
gen ihrer Meinung »verfolgt und gejagt« wer-
de. Wenn das Verfahren im September fort-
gesetzt wird, werde man wiederkommen.
Der Münchner Professor Michael Meyen
hat unterdessen offenbar einen Rückzieher
gemacht. Nach nur zwei Ausgaben ist er nicht
mehr Mitherausgeber des »Demokratischen
Widerstands«. Eine von ihm verfasste Kolum-
ne allerdings erscheint weiterhin regelmäßig
in der Zeitung. Zu einem Gespräch ist
Ying Tang / NurPhoto / picture alliance
ulie war fünf Jahre alt und trug USA und in vielen anderen Ländern. Akzents anders behandelt werde.
J Zöpfe. Die Aufgabe, die sie
von der Psychologin bekam,
war einfach. Sie sollte mehrere Bil-
Man muss nur ein paar Tage mit
offenen Augen durchs Leben gehen,
um festzustellen, dass auch Deutsch-
Wann sie dieses Gefühl denn zum
Beispiel gehabt hätten? Sie erinner-
ten sich an die Nachbarn unserer
der von Kindern ansehen und die- land zu diesen Ländern zählt. ersten Wohnung in München,
jenigen auswählen, mit denen sie Auch ich bin Julies Mum ähnli- die meine Eltern grundsätzlich nicht
gern spielen wollte. Julie war weiß. cher, als ich zugeben möchte. Dabei grüßten. Einfach so, neun Jahre
Und es fiel auf: Sämtliche Kinder, habe ich die Macht von Akzenten lang.
die sie, ohne lang nachzudenken, früh zu fürchten gelernt. Ich stamme Sie erinnerten sich an Telefonate
auswählte, waren es auch. Julies aus einer Familie von Russlanddeut- mit Behörden, bei denen sie auf-
Mutter runzelte die Stirn, rutschte schen. Als wir 1980 aus Tadschiki- fällig herablassend und wenig hilfs-
auf ihrem Stuhl herum, das Ganze stan nach Deutschland kamen, war bereit behandelt wurden.
schien ihr unangenehm zu sein. ich zwei Jahre alt. Meine Eltern wa- Und sie erinnerten sich an einen
Es folgte Teil zwei des psycholo- ren Ende zwanzig. Ich lernte schnell, anderen Nachbarn, der später, als
gischen Experiments. Julie wurden so Deutsch zu sprechen wie die wir umgezogen waren, neben uns
wieder mehrere Kinder gezeigt. anderen Kinder um mich herum. wohnte. Auch ich kannte ihn gut. Er
Diesmal hörte sie sie auch reden. Meine Eltern nicht. Meine Mutter tauchte jahrelang jeden Tag zu
Die weißen Kinder sprachen in spricht bis heute Deutsch mit einem einem Plausch am Gartenzaun auf.
Julies Muttersprache Englisch, aber leichten Akzent, mein Vater mit Und ließ gleichzeitig jahrelang und
mit ausländischem Akzent. Die einem deutlich stärkeren. jederzeit raushängen, dass er sich
schwarzen Kinder sprachen auch Als Kind war mir das manchmal für etwas Besseres hielt als meine
Englisch, aber akzentfrei. Wieder peinlich. Wenn Freunde zu Besuch Eltern. In seiner Welt war das ein-
sollte Julie entscheiden, mit wem kamen und meinen Vater oder fach so. Als er irgendwann auszog,
sie spielen wollte. Sie wählte die meine Mutter reden hörten, sagten erzählte er seinem Nachfolger, mein
Kinder ohne Akzent, auch wenn sie viele danach: »Deine Eltern sind Vater sei »Kasache«.
eine andere Hautfarbe hatten. ja Russen.« Ich hasste das. Erstens, Vor allem aber erinnerten sich
Julies Mutter wirkte nun merk- weil es falsch war. Wir sind Russ- meine Eltern daran, dass sie immer
lich entspannter. Puh, dachte sie landdeutsche. Großer Unterschied. wieder eine Frage zu hören beka-
offenbar, ihre Tochter hatte doch Zweitens, weil »Russen« in Deutsch- men, die sie inzwischen nur noch
keine Kinder aufgrund von deren land Mitte der Achtzigerjahre ein schlecht ertragen: »Was für ein
Hautfarbe diskriminiert. Dass sie es ähnliches Ansehen genossen, wie sie Landsmann sind Sie?« Sie haben sie
stattdessen aufgrund von deren Ak- es aktuell tun. zu oft gehört, sie hat sie wund
zent getan hatte? Schien der Mutter Irgendwann wurde ich älter und gemacht, sie verletzt sie. Weil sie
gar nicht aufzufallen. selbstbewusster, und es kümmerte jedes Mal aufs Neue die Frage auf-
Die US-Psychologin Katherine mich nicht mehr, wie meine Eltern wirft, ob meine Eltern in Deutsch-
D. Kinzler von der University of sprachen und was andere darüber land dazugehören oder nicht.
Chicago erzählt diese Geschichte in sagten. Dass Menschen auf einen Akzente sind gnadenlos. Wer
ihrem Buch »How You Say It« und Akzent eben auf eine gewisse, nicht eine Sprache nicht früh genug von
illustriert damit etwas Verblüffen- immer erfreuliche Art reagieren, Muttersprachlern lernt, wird sie mit
des: Viele von uns, die mit durchaus nahm ich hin, als wäre es eine Art Akzent sprechen. Joseph Conrads
empfindsamen Diskriminierungs- Naturgesetz. Darüber, was meine geschriebenes Englisch war so meis-
sensoren ausgestattet sind, finden es Eltern wegen ihres Akzents so er- terhaft, dass er zu einem der größ-
erstaunlich wenig störend, wenn lebten, machte ich mir lange nicht ten englischsprachigen Autoren
Privat
Menschen aufgrund ihres Akzents die geringsten Gedanken. Als ich überhaupt wurde. Seinem gespro-
ungleich behandelt werden. Neumann-Delbarre, Kinzlers Buch las, änderte sich chenen Englisch aber hörte man
Natürlich kann man Akzente Jahrgang 1978, das. Also setzte ich mich mit mei- immer seine polnische Herkunft an.
arbeitet als freier
nicht isoliert betrachten, aber wir Journalist in
nen Eltern an ihren Küchentisch Gleichzeitig sind wir irre gut
unterschätzen ihre Bedeutung. Für München. Bei der und fragte nach ihren Erfahrungen. darin, Akzente herauszuhören. In
die Psychologin Kinzler, die sich seit letzten Wohnungs- Sie erzählten nur zögerlich, woll- den USA erkannten Studienteilneh-
Jahren mit dem Thema beschäftigt, suche schickte ten keine Anklage erheben. Es gebe mer allein daran, wie jemand am
er stets seine Frau
ist »Speech Discrimination«, wie sie vor. Sie ist Französin.
eben solche Menschen und solche, Telefon »Hello« sagte, zielsicher, ob
es nennt, eine der letzten Formen Die Menschen betonten sie. Und oft sei es eher so die Person »black«, »white« oder
zulässiger Diskriminierung in den lieben ihren Akzent. ein Gefühl, dass man wegen des »hispanic« war.
und sagte: Du verstehst mich. Genau Werbespot zurück. Boris Becker hat
so machen wir’s. sich für ihn schon jetzt mehr als
Doch dann meldete sich sein da- gelohnt.
maliger Investor, der Einwände gegen Marc Hujer n
DIE
SPUREN
DER
BOMBE
UNTERGANG Eine Uranmine in Sachsen, eine frühere Atomraketenbasis
in der Ukraine, verseuchte Felder im Süden Spaniens: In Europa
gibt es viele Orte, an denen man Atomwaffen nahe kommen kann.
Ein Besuch bei drei Menschen, die gelernt haben, mit der Bombe zu leben.
Von Nik Afanasiev, Christoph Scheuermann und Jonathan Stock
Tass / dpa
ie Bombe wartet. Sie wartet in einem I. ABSCHUSS silos. Russland stationiert Atomraketen in
D Hangar in Russland. Sie wartet in
einem U-Boot im Pazifik. Sie wartet in
einem Silo tief unter der Erde. Sie wartet auf
Wiktor Ksensow ist 60 Jahre alt, trägt eine
schwarze Schiebermütze und einen Winter-
mantel, den er bis zum Kinn zugezogen hat.
Belarus. Was Ksensow als Schrecken der Ver-
gangenheit zeigt, ist nicht vergangen. Die
Zahl der Sprengköpfe wächst. Es ist, als ob
einem Lkw in einem sibirischen Wald, auf Drei Autostunden südlich von Kiew, auf hal- ein ausgestopfter Dinosaurier seinen Kopf
einer mobilen Abschussrampe in Kaliningrad, bem Weg nach Odessa, bei Perwomaisk, be- heben würde.
nur sieben Minuten Flugzeit von Berlin ent- tritt Ksensow die letzte noch erhaltene Rake- 40 Meter unter der Erdoberfläche kommt
fernt. Die Orte der Raketensilos sind bekannt, tenbasis, nachdem die Ukraine im Jahr 1994 der Aufzug zum Stehen, Ksensow klettert
sie heißen Dombarowskij, Koselsk, Uschur. beschlossen hatte, ihre einst von der Sowjet- hinaus und steht in einem niedrigen Raum
Die Bombe trägt den Namen eines Gottes union hier stationierten Atomwaffen abzu- mit Leuchtanzeigen, Telefonen, Schaltflächen
oder gefallenen Engels: Satan. Titan. Posei- geben und die Anlagen zu zerstören. Ksen- und drei Stühlen für die diensthabenden Of-
don. Und auch wenn sie nicht abgeschossen sows Arbeit war so geheim, dass selbst die fiziere. Der Raum ist nicht größer als sechs,
wird: Ihre Angst hat schon getroffen. Nachbarn nichts davon wussten. Offiziell sieben Quadratmeter. Von hier konnte man
Vergangene Woche kamen die Führer der arbeitete er in einer Wetterstation, tatsächlich zehn Atomraketen starten, die in zehn Silos
G7-Staaten in Hiroshima zusammen, der ers- war er Major in der 19. Raketendivision der untergebracht waren, zwischen 3 Kilometer
ten Stadt der Welt, auf die eine Atombombe Sowjetunion, stationiert in Chmelnyzkyj, und und 15 Kilometer entfernt vom Kommando-
fiel, im Jahr 1945. Olaf Scholz schrieb den dies hier die Anlage bei Perwomaisk, eine posten. Ksensow spricht über die Start-
Satz ins Gästebuch: »Ein nuklearer Krieg darf funktionierende Kommandozentrale, aus der sequenz von Atomraketen mit der Unbeküm-
nie wieder geführt werden.« Währenddessen Atomraketen abgefeuert werden konnten. mertheit eines Ingenieurs, der eine Maschine
liefen Gespräche um F-16-Kampfjets für die Heute ist es ein Museum. erklärt. Zwischendurch macht er Schwieger-
Ukraine. Kurz darauf warnte der stellvertre- Ksensow öffnet eine Metalltür, steigt eine mutterwitze.
tende russische Außenminister Alexander Treppe hinab und wuchtet unten eine schwe- Es ist eng hier unten, oben verschließt ein
Gruschko: Westliche Länder würden »kolos- re Panzertür auf. Vor ihm führt ein schmaler 120 Tonnen schwerer Betondeckel die Dose.
sale Risiken« eingehen, wenn sie der Ukraine Gang tiefer in die Erde hinein, beleuchtet von Die Luft riecht feucht. Dieser Leitstand ist für
solche Jets übergäben. Grubenlampen an der Decke, so eng, dass die Einschläge von Raketen gebaut worden.
Der Westen wägt ab, schwere Waffen zu zwei Menschen kaum nebeneinander gehen Die Soldaten hätten mit ausreichend Proviant
liefern, der Kreml droht kaum verhohlen mit könnten. Der Gang ist mindestens 100 Meter und Wasser bis zu 45 Tage ohne Kontakt zur
einem Atomkrieg. So geht das seit Beginn des lang, vielleicht 150, und endet vor einer wei- Außenwelt überlebt.
russischen Angriffs. teren, noch schwereren Panzertür, einen hal- »Drücken Sie mal hier drauf.« Der Finger
Fast die Hälfte der Deutschen hat Angst ben Meter dick. von Wiktor Ksensow zeigt auf einen grauen
vor einem Atomkrieg. Spezifisch deutsch ist In Sowjetzeiten hätte Ksensow auf einem Knopf rechts unten auf dem Schaltbrett. Er
die Angst allerdings nicht. Auch im friedlichen Tastenfeld mehrere Codes eingegeben und lächelt.
Schweden kaufte man nach Beginn des Kriegs einem Wachmann auf der anderen Seite per 40 Meter über ihm befindet sich ein Land
in der Ukraine mehr Jodtabletten, auch in der Telefon ein Passwort nennen müssen, das sich im Krieg. Als Putin im Februar 2022 den An-
Schweiz Geigerzähler. Fast 70 Prozent aller regelmäßig änderte. Jetzt genügt ein kräftiger griff auf die Ukraine ankündigte, sagte er:
Amerikaner sorgen sich vor einem nuklearen Zug. Er steigt in einen Metallkäfig, der von »Ganz gleich, wer versucht, sich uns in den
Armageddon. Stahlseilen gehalten wird, ein primitiver Lift, Weg zu stellen oder gar Bedrohungen für
In Europa gibt es Menschen, die Atom- in dem zwei sowjetische Offiziere Platz hatten. unser Land und unser Volk zu schaffen, Sie
waffen schon sehr nahe gekommen sind, sie Der Aufzug ist Teil des Kommandopostens, müssen wissen, dass Russland sofort reagieren
erzählen von der Gefahr der Kontamination, den Ksensow »die Dose« nennt, da er wie eine wird, und die Konsequenzen werden so sein,
den Langzeitfolgen, auch vom seltsamen riesige Metalldose in einem Schacht unter der wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch
Glück der Abschreckung. Sie können davon Erde liegt. »Das hier ist mein Leben«, sagt er. nie gesehen haben. Ganz gleich, wie sich die
berichten, was passierte, nachdem gleich vier Während Ksensow hinunter in den Leit- Ereignisse entwickeln, wir sind bereit. Alle
Atombomben vom Himmel fielen, wie es ist, stand fährt, ist ein neues nukleares Wettrüsten notwendigen Entscheidungen in dieser Hin-
in einer deutschen Uranmine zu arbeiten, wie im Gange. Alle wichtigen Verträge zur Ab- sicht sind getroffen worden. Ich hoffe, dass
es sich anfühlt, den Knopf zu drücken, der rüstung sind aufgehoben oder ausgesetzt. Das meine Worte Gehör finden werden.«
die Bombe abfeuert. Wer die Angst verstehen US-Militär modernisiert seine Atomwaffen, Putin sah schlecht aus, als er diese Worte
will, muss diejenigen treffen, die der Bombe Frankreich testet atomar bestückbare Rake- sprach. Sein Gesicht aufgedunsen, eine Zor-
bereits begegnet sind. ten. China baut mehr als 300 neue Raketen- nesfalte auf der Stirn, der Körper leicht ge-
Museumsführer Ksensow, Modell der russischen Atomrakete Satan: »Das hier ist mein Leben«
neigt, es sah aus, als hielte er sich am ließ? Oder war es die zunehmende
Tisch fest. Es war ein unheimlicher Zahl von Demokratien, von inter-
Anblick, und die Angst floss in die nationaler Kontrolle, die Gründung
Welt. Kinder fragten in Grundschulen, der Uno?
was eine Atombombe sei. Geigerzäh- Oder hing das Trauma des Zweiten
ler waren teilweise innerhalb von drei Weltkrieges in Europa noch nach?
Tagen ausverkauft. Möglich, dass die USA und die Sow-
»Chicken Game« nennt der Poli- jetunion einen konventionellen Krieg
tikwissenschaftler Frank Sauer das, auch ohne Atomwaffen vermieden
übersetzt bedeutet es in etwa: Feig- hätten, dessen Ausgang für beide Sei-
Abweichung von
fall den Knopf nicht zu drücken? Er die den Kalten Krieg nicht eskalieren 100 Prozent rundungsbedingt das Erste, was nach dem Einschlag
entsteht. Die Druckwelle kommt mit einer ist alles. Aber er ist wütend über das politische Nach dem Unfall führte die US-Armee eine
Geschwindigkeit von mehreren Hundert Versagen. Für ihn ist alles, was seit mehr als oberflächliche Reinigung durch. Alle Aufmerk-
Stundenkilometern. Gebäude stürzen zusam- 57 Jahren in Palomares passiert, eine Zumu- samkeit galt jedoch der vierten Bombe, die
men, und durch die Luft fliegen Straßenlater- tung, von der Geheimniskrämerei unter Fran- erst Monate später aus dem Meer geborgen
nen, Autos, Zapfsäulen. co über die nie eingehaltenen Zusagen der wurde. Das ikonische Bild zur Katastrophe
Die Hitze im Zentrum der Explosion ist USA, den Landstrich zu dekontaminieren – lieferte Manuel Fraga, Francos Propaganda-
heißer als die Sonne, sie verbrennt in der Um- bis zur heutigen Strategie der spanischen Re- und Tourismusminister, der zusammen mit
gebung die Haut, lässt Häuser in Flammen gierung, die Besitzer von verseuchtem Land dem US-Botschafter vor der Weltpresse im
aufgehen. Gut möglich, dass ein Feuersturm zu enteignen, um die Gebiete einzuzäunen. Frühling 1966 am Strand von Palomares in
durch die Straßen rollt. Wer sich in einen »Die Geschichte«, sagt Herrera mit Marx, »er- die Wellen sprang, um anschließend fröhlich
unterirdischen Bunker geflüchtet hat, stirbt eignet sich immer zweimal – das erste Mal als in die Kameras zu winken. Der Lokalbevöl-
mit hoher Wahrscheinlichkeit an Sauerstoff- Tragödie, das zweite Mal als Farce.« kerung wurde weitgehende Unbedenklichkeit
mangel und Kohlenmonoxidvergiftung. José Herrera wurde 1955 in der 70 Kilo- versichert.
Dann kommt die Strahlung. Sie schädigt meter entfernten Provinzhauptstadt Almería Bis heute können wichtige Fragen rund um
Zellen und ganze Organe. Wer in der Nähe geboren. In der Nacht nach dem Unfall hätte Palomares nicht beantwortet werden: Wie
steht, stirbt sofort, wer sich weiter weg be- sein älterer Bruder das verbotene kommu- gefährlich ist das radioaktive Material? Und
findet, erkrankt später öfter an Krebs. nistische »Radio Pirenaica« gehört und ihn wo liegt es überhaupt? Laut spanischen Be-
Menschen haben dies schon zweimal er- aufgeregt gerufen, weil Almería erwähnt wur- hördenangaben besteht keine Gefahr. Laut
lebt, in Hiroshima und Nagasaki. Diejenigen, de. Als sie begriffen, was passiert war, saß der den Umweltaktivisten von »Ecologistas en
die direkt unter dem Feuerball standen, ver- Schock tief. »Zwei Wochen nach dem Unfall Acción« sind von neun Kilogramm Plutonium
schwanden einfach: Manche ihrer Schatten gab es Interferenzen, alle Radiosignale wur- zwei Drittel bis heute nicht auffindbar. 50.000
brannten sich bei mehreren Tausend Grad den gestört.« Kubikmeter verseuchter Erde müssten in
Hitze in den Asphalt ein. einer Atommülldeponie entsorgt werden. Im
Das ist der Grund der Angst. Und selbst Jahr 2015 einigten sich Spanien und die USA
wenn das alles nicht eintritt, lässt sich gut darauf, dass der verseuchte Boden in die USA
beobachten, was passiert, wenn vier Atom- verschifft wird. Bis heute ist nichts passiert.
bomben auf die Erde fallen, nicht weit von Auf dem Hügel über Palomares rosten seither
hier, in der andalusischen Kleinstadt Paloma- graue Container hinter einem zwei Meter ho-
res, in Spanien, 300 Kilometer südlich von hen Drahtzaun vor sich hin, umwuchert von
Madrid. hohem Gras. Darin liegt die mit Plutonium
José Herrera ist ein hagerer, ernster Mann. verseuchte Erde.
Er trägt Allwetterkleidung, züchtet unweit Seit Jahrzehnten beschäftigen ein paar Ki-
der Großstadt Almería Kakteen und hat lan- logramm Plutonium Menschen und Behörden,
ge beim spanischen Fernsehen gearbeitet. An produzieren eine Masse an Gutachten, Ge-
diesem windigen Frühlingsmorgen läuft Her- richtsprozessen und Streitigkeiten. Und der
rera über eine Straße, die sich durch die Hü- Unfall von Palomares ist nicht einzigartig.
gel über Palomares zieht. Er geht an Tomaten- Auf der Welt gibt es knapp 13.000 Atom-
und Melonenfeldern vorbei, lässt den ört- bomben. Eine kürzlich freigegebene Liste der
lichen Friedhof hinter sich und kommt an Forschungseinrichtung »Sandia National La-
einem abgezäunten Gelände an: »Área Res- boratories«, die Nuklearwaffen herstellt,
tringida« – Zutritt verboten. Mit ausgestreck- spricht von mehr als 1000 Unfällen allein in
tem Arm deutet er in die Hügel. »In die Sen- den USA, allein zwischen 1950 und 1968. Im-
ke da vorn ist eine Atombombe abgestürzt.« mer wieder gehen Sprengköpfe verloren. Al-
Sein Blick wandert zu zwei abgewetzten, lein die USA vermissen acht Atombomben,
grauen Containern hinter einem Drahtzaun: die meisten fielen bei Unfällen ins Meer. Wie
»Dort lagern sie nuklear verseuchten Abfall.« »IN DIE SENKE DA VORN viele Kernwaffen die Sowjetarmee verloren
Am 17. Januar 1966 flog in 9000 Meter IST EINE ATOMBOMBE hat, ist unbekannt.
Höhe über Palomares ein B-52-Bomber der Nukleare Unfälle können jeden Staat und
U. S. Air Force. Er trug vier Wasserstoffbom- ABGESTÜRZT.« jedes politische System überfordern. Kurz-
ben an Bord. Er sollte in der Luft betankt José Herrera, Aktivist fristige politische Entscheidungszyklen und
werden, doch der Treibstoff fing Feuer, so- die Langlebigkeit radioaktiver Schwermetal-
wohl der Bomber als auch das Tankflugzeug le passen nicht zusammen. In Spanien und
stürzten ab. Sieben der insgesamt elf Crew- den USA wird alle vier Jahre eine neue Re-
mitglieder kamen ums Leben. Drei Bomben gierung gewählt. Die Halbwertszeit von Plu-
fielen in Palomares auf die Erde, die vierte tonium 239 beträgt 24.110 Jahre.
landete im Mittelmeer. Zwar kam es zu keiner
thermonuklearen Explosion, aber die kon- III. FOLGEN
ventionellen Sprengköpfe in zwei der vier Die beste Lösung wäre das, was Wissenschaft-
Bomben detonierten – Experten sprechen ler und Politiker »Global Zero« nennen: eine
von einer schmutzigen Bombe. Eine größere Welt ohne Nuklearwaffen. Ein Ziel, zu dem
Menge Plutonium wurde in der Gegend ver- schon Henry Kissinger und Helmut Schmidt
Daniel Etter / DER SPIEGEL (2)
teilt. Der Absturz gilt als einer der schlimms- aufgerufen haben, die im Zweiten Weltkrieg
ten Unfälle mit Atomwaffen in Europa. kämpften und den Kalten Krieg prägten. Op-
Für Herrera ist der Unfall zum Lebensin- timisten sagen, schließlich sei es der Mensch-
halt geworden, er unterstützt viele Anwohner heit auch gelungen, über Jahrhunderte ge-
im Kampf gegen die Regierung. Wie der ukrai- wachsene Systeme wie die Sklaverei abzu-
nische Soldat Ksensow hat er keine Angst. schaffen und den Einsatz und den Besitz von
Manchmal zieht er eine FFP2-Maske an, das Kontaminiertes Gebiet in Andalusien biologischen und chemischen Waffen nach
dem Ersten Weltkrieg durch das Genfer Pro- stück« und Apfelschorle serviert. Doch der
tokoll völkerrechtlich zu verbieten. Eine über- Schlemabach ist künstlich eingebettet, der
raschend hohe Anzahl an Ländern hält sich Kurpark darf nicht bebaut werden, denn da-
bislang an dieses Verbot. runter verlaufen Stollen. In dieser Gegend
Die Kampagne für das Eindämmen von laufen sie übereinander in 62 Stockwerken,
Nuklearwaffen unter der Reagan-Adminis- mehr als 50 Tagesschächte führen in die Tie-
tration, eine der größten Massenbewegungen fe. Manchmal reißt das Erdreich auf.
der USA, entsprang dem Schrecken des Kal- Unten tropft Tauwasser von der Decke
ten Krieges. Aus 64.000 nuklearen Spreng- auf Taubers Helm. Der Stollen erstreckt sich
sätzen, die es 1986 weltweit gab, wurden dunkel vor ihm. Tauber fährt mit den Fin-
knapp 13.000, eine Reduzierung von mehr gern über den Stein. »Fein verteiltes Uran«,
als 80 Prozent. sagt er. Tauber schreitet an der heiligen Bar-
Möglich, so hoffen es Befürworter von bara vorbei, Schutzpatronin der Bergleute.
»Global Zero«, dass der Ukrainekrieg zwar Wind fährt einem hier unten entgegen, als
kurzfristig zu einer Aufrüstung, aber lang- ob Sturm aufkäme. Die Arbeiter haben ihre
fristig zu einer Abrüstung führen konnte, weil eigene Sprache, die Bergmannsprache, der
er politischen Entscheidern erneut vor Augen Wind heißt hier Wetter. Er ist zentral für die
führt, dass Atomwaffen militärisch weitge- Arbeit von Tauber. Es gibt »gute Wetter«,
hend nutzlos, dafür aber kostspielig sind und erklärt er, frische Luft, und es gibt »böse
die Auswirkungen eines Unfalls katastrophal Wetter«, giftige Luft. Böse wie das Radon,
wären. Und selbst wenn jede Bombe der Welt das hier in der Luft liegt und Lungenkrebs
vernichtet wurde, würde ein Problem bleiben, verursacht, es ist ein Zerfallsprodukt des
und das liegt am Uran. Urans.
In Bad Schlema, im Erzgebirge kennt man »WENN ES BRENNT, DANN Tauber tippt auf ein Messgerät in einem
sich sehr gut mit Uran aus. Hier stand zeit- DIE NASENKLAMMER der Gänge: 1800 Becquerel pro Kubikmeter
weise einer der größten Uranproduzenten der zeigt es an, eine sehr hohe Radonkonzen-
Welt.
NICHT VERGESSEN.« tration. Taubers Vorgänger haben Lüfter in-
»Wenn es brennt«, sagt Andy Tauber, Andy Tauber, Projektleiter stalliert, die in den Stollen einen Unterdruck
»dann die Nasenklammer nicht vergessen.« erzeugen, um das Radon abzusaugen.
Tauber ist 39 Jahre alt, hat schon als Kind in In einer Vitrine in der Nähe liegt ein fuß-
Höhlen gespielt, nennt sich selbst einen Berg- ballgroßer Brocken: uranhaltiges Erz, dunkel
mann und ist verantwortlich für Deutschlands glänzend, der Geigerzähler schlägt piepsend
größtes Sanierungsprojekt. aus. Ein Dröhnen dringt durchs Gestein.
Er wird gleich eine Glocke läuten und unter Angst? Tauber schüttelt den Kopf. »Respekt«,
die Erde fahren. Vorher zeigt er noch ein klei- sagt er.
nes schwarzes Gerät, es ist ein Sauerstoff- Seine Männer am Ende des Ganges spren-
selbstretter. Wenn es in der Grube brennt und gen, räumen Schutt weg, stützen Decken, ver-
Christian Werner / DER SPIEGEL (2)
der Sauerstoff versiegt, erklärt Tauber, dann legen Schienen. Die Stollen müssen instand
soll man in einen kleinen Schlauch atmen, gehalten werden, um sie weiter zu belüften,
wie in ein Tauchgerät. Dann stapft er los. sonst würde das krebserregende Radon nach
Nicht weit von hier, unter alten Fördertürmen, oben steigen, direkt durch die Keller der
liegt das Uran aus dem Erzgebirge, das Stalin Häuser.
den Bau der Atombombe ermöglichte. Es Diese Aufgaben werden noch in Tausen-
beschäftigt die Gegend bis heute. den von Jahren ausgeführt werden müssen,
»Je höher das sozialistische Bewusstsein – Früheres Wismut-Bergwerk, Uranerz erklärt Tauber. Entweder von Menschen oder
je fester die Überzeugung –, desto größer die von Robotern. Es dauert Milliarden von Jah-
Erfolge für den Sozialismus«, steht in roter mer. Hier in der Nähe, erzählt Tauber, war ren, bis Uran-238 zu Blei zerfällt. Die Ab-
Schreibschrift hinter der Umkleidekabine. einer der tiefsten Schächte Europas, der 1800 wicklung des nuklearen Zeitalters ist eine
»Fröhliche Weihnachten« wünscht eine Tür Meter in die Tiefe führte. 65 Grad ist es da Ewigkeitsaufgabe.
weiter »das Kollektiv«. Früher gingen hier unten warm, die Bergleute waren eine Stun- Die Bundesregierung hat bisher fast sieben
3000 Arbeiter durch. Das Bergbauunterneh- de unterwegs. Er gongt dreimal, der Korb Milliarden Euro in die Sanierung dieser Uran-
men aus der DDR entwickelte sich zwischen fährt nach unten, Tauber betritt die Dunkel- mine gesteckt. Es gibt Tausende Uranminen
1946 und 1990 zum weltweit viertgrößten heit. auf der Welt. Allein in den USA stehen 15.000
Produzenten von Uran, nach der Sowjetunion, In den Fünfzigerjahren, daran erinnern Minen leer. Selbst im Grand Canyon wird über-
den USA und Kanada. Am Eingang standen sich die Alten noch, kamen die Sowjets, klopf- legt, Uran abzubauen.
sowjetische Soldaten. ten nachts an die Türen und gingen mit den Es gibt keine Waffe, deren Erbe so toxisch
Höchste Geheimhaltung war für das Pro- Steigern in die schon geschlossenen Schächte. ist. Land und Wasser sind weltweit durch
jekt vorgeschrieben, deshalb hieß die Firma Arbeiter brachen mit der Hand uranhaltiges Tests und Produktion auf Tausende von Jah-
Wismut, wie das eher uninteressante Mineral, Gestein aus den Stollen. 230.000 Tonnen ren verseucht. Die Bombe ist, laut der Bewe-
und nicht Uran. Heute sind noch neun Berg- Uran transportierten sie nach oben. gung »Global Zero«, ein Symbol für den Wert,
leute angestellt, die die Stollen in Stand hal- In den folgenden Jahrzehnten starben Tau- den wir dem Leben und dem Planeten zu-
ten. An den Dosimetern, die jeder tragen sende an Lungenkrebs. Mehr als 9000 Fälle messen. Solange sie existiert, verstärkt sie
muss, um die Strahlung zu überprüfen, sind sind bis heute als Berufskrankheit anerkannt. bestehende Krisen. Auch die sehr kleine Wahr-
kleine Plastiktierchen befestigt, Hunde, klei- »Tal des Todes« – diesen Beinamen bekam scheinlichkeit eines Einsatzes wird über einen
ne Drachen. Schlema nach dem Mauerfall. langen Zeitraum irgendwann zur Gewissheit,
Schacht 15IIb wartet auf Tauber. 50 Meter Nicht weit von hier stehen jetzt die Kur- so wie ein Vulkanausbruch oder ein Kometen-
geht es jetzt in die Tiefe. Für die Bergleute hotels, plätschert der Schlemabach durch den einschlag. Die Alternative zur Abrüstung ist
der Vergangenheit war das eine Art Vorzim- Kurpark, bekommt man das »Ayurveda-Früh- die mögliche Zerstörung der Welt. n
er Oligarch Alischer Usmanow hat Schwere und Organisierte Kriminalität ter, dass sich die Ermittler in ihrer Argu-
D einen juristischen Teilerfolg errun-
gen. Das Landgericht Frankfurt er-
klärte mehrere Durchsuchungen aus dem
knapp 90 Geldwäscheverdachtsanzeigen
von Banken zusammengetragen. Das Ge-
richt befand nun jedoch, dass für die Durch-
mentation stark auf ein YouTube-Video des
Oppositionellen Alexej Nawalny gestützt
hätten. Andere Belege für unsaubere Ge-
Jahr 2022 für rechtswidrig. Die Entschei- suchungen bei Usmanow kein Anfangsver- schäftspraktiken hätten sie nicht vorgelegt.
dung erfolgte im Rahmen eines Verfahrens dacht wegen Geldwäsche vorgelegen habe. Usmanows Verteidiger sagten, die Ent-
wegen Geldwäsche gegen den Unterneh- In ihrer Begründung stellte die Kammer scheidung bestärke das Vertrauen ihres Man-
mer. Gegen ihn wird zusätzlich wegen zudem gravierende Mängel in den von der danten in den deutschen Rechtsstaat. Sie
Steuerhinterziehung und Sanktionsverstö- Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft be- weisen sämtliche Vorwürfe zurück. Dass die
ßen ermittelt. Im September hatten Beamte antragten Durchsuchungsbeschlüssen fest. beschlagnahmten Gegenstände und Unter-
des Bundeskriminalamts (BKA) und der So sei nicht annähernd ausreichend be- lagen nun kurzfristig wieder herausgegeben
Steuerfahndung Villen am Tegernsee, eine schrieben worden, warum die Ermittler Us- werden müssen, ist unwahrscheinlich: Die
Wohnung bei Frankfurt am Main sowie die manow der Geldwäsche verdächtigten. Der Durchsuchungen waren auch mit Beschlüs-
Megajacht »Dilbar« im Bremer Hafen Vorwurf, dessen Milliardenvermögen beru- sen aus den anderen Ermittlungsverfahren
durchsucht. Neben Unterlagen beschlag- he vor allem auf in Russland begangenen gegen Usmanow abgesichert. Sie haben
nahmten die Ermittler Kunstgegenstände. Straftaten, sei zu pauschal. Allgemeinere weiter Bestand. Zuletzt wies das Land-
Um den Vorwurf der Geldwäsche gegen Verweise auf womöglich dubiose Geschäfts- gericht München II Usmanows Beschwerde
Usmanow zu untermauern, hatten Wirt- praktiken und Offshore-Firmen allein reich- gegen die Razzien in einem Verfahren
schaftskriminalisten der BKA-Abteilung für ten nicht aus. Zudem kritisierten die Rich- wegen Sanktionsverstößen zurück. JDL, ROL
es aus Senderkreisen. Zu den den, gemessen an der Gesamt geprellten Fahrer über mögliche
Kosten, die durch die Neubeset zahl der Inspektionen jedoch Ansprüche und die Möglich
RBB-Zentrale in Berlin zung anfielen, macht der RBB sehr gering. 2022 hat die keiten, diese durchzusetzen, zu
keine näheren Angaben. RAI Finanzkontrolle Schwarzarbeit informieren«. KKO
Wenn
andere
eine
Grube
graben
ROHSTOFFE Ohne sie dreht sich keine Windturbine, fährt kein Elektroauto: Metalle wie Lithium, Kupfer
oder seltene Erden sind das neue Öl der Industrienationen. Doch Politik und Unternehmen haben
sich in eine gefährliche Abhängigkeit von China begeben. Kann der Befreiungsschlag noch gelingen?
uropas Zukunft riecht nach ver- auch ruchloser bei deren Ausbeutung. Peking
E
Lithiumabbau im Qarhan-Salzsee in der
chinesischen Provinz Qinghai branntem Metall. Funken sprühen, könnte seine Marktmacht »in Bezug auf Bat-
Arbeiter mit Schutzbrillen flexen terien und Solarzellen nutzen«, warnte jüngst
sich hoch konzentriert durch Me- das Geheimdienst-Informationszentrum der
tallröhren. Hier im Industriegebiet EU. Das Europäische Kompetenzzentrum für
von Bitterfeld-Wolfen, wo einst die Agfa den die Abwehr hybrider Bedrohungen stellt fest,
ersten funktionsfähigen Farbfilm der Ge- dass Peking immer stärker »wirtschaftliche
schichte entwickelte, soll schon bald ein neues Nötigung« als geopolitisches Machtinstru-
deutsches Industriewunder entstehen: Euro- ment einsetze.
pas erste Raffinerie für Lithium. Er erlebe »einen Wettbewerb der Syste-
Der Mann, der das möglich machen will, me«, sagt Regierungsberater Buchholz. Die
heißt Heinz C. Schimmelbusch, 78. »Schibu«, deutschen Unternehmen müssten endlich
wie sie ihn in der Rohstoffszene liebevoll nen- Geld in die Hand nehmen, um ihre Rohstoff-
nen, ist ein alter Bekannter: ehemaliger Di- versorgung zu sichern. Statt wie bisher bloß
rektor der legendären deutschen Metallgesell- auf dem Weltmarkt einzukaufen, müssten sie
schaft, gebürtiger Wiener, strahlend blaue selbst in die Förderung und Veredelung ein-
Augen, akkurat gezogener Scheitel, das Ego steigen, sich an Minen beteiligen. »Die guten
überlebensgroß, der Ruf ebenso. Der promo- Projekte werden gerade verteilt«, so Buch-
vierte Manager, dessen Karriere vor 30 Jahren holz. Und überall lauere schon die Konkur-
eigentlich beendet schien, will sich mit dem renz aus China. Wenn sich die Deutschen
ambitionierten Rohstoffprojekt ein letztes nicht beeilten, so Buchholz, bleibe von den
Denkmal bauen. Und tatsächlich avanciert er guten Lagerstätten nicht mehr viel übrig.
damit gerade zum wohl größten Hoffnungs- Ausgeerzt hat es sich dann, so sagen Berg-
träger der hiesigen Wirtschaft. leute dazu.
Mit seiner Advanced Metallurgical Group, Dass für die Aufholjagd ausgerechnet der
kurz AMG, will Schibu noch in diesem Jahr beinahe 80-jährige, selbst ernannte »Früh-
die ersten Tonnen Lithiumhydroxid herstel- stücksdirektor« Schimmelbusch noch einmal
len. Jenen Stoff, aus dem grüne Träume sind: ranmuss, sagt viel über das Versagen der hei-
Das Metallsalz ist unentbehrlich für Batterien, mischen Industrie aus. Viele Jahre galten kri-
Solaranlagen, Elektromobilität, es steckt in tische Rohstoffe der Wirtschaft als langweili-
Windrädern, Sonnenspeichern und Autos. ges Thema, nichts, um das man sich bei Sie-
Die Vereinten Nationen bezeichnen es als mens, BMW, Daimler, Thyssen und BASF
»Pfeiler der fossilfreien Wirtschaft«. Allein groß sorgte. Die Welt, sagt ein Chemiemana-
die Batterie eines SUV wie dem iX von BMW ger, »war frei, die Märkte offen, die Preise
enthält etwa zehn Kilogramm Lithium. billig«. Warum also Kapital binden in eigenen
Bald schon will Schimmelbusch im sach- Rohstofflagern, warum ins Risiko gehen und
sen-anhaltischen Bitterfeld 20.000 Tonnen selbst Ressourcen abbauen, warum auf eige-
Lithiumhydroxid pro Jahr raffinieren. Genug ne Rechnung die Umwelt verschmutzen und
für eine halbe Million E-Autos. Binnen weni- Ärger mit Anwohnern provozieren? Ja, wa-
ger Jahre sollen es 100.000 Tonnen werden. rum all der Stress, wenn man die Ware doch
Der Rohstoff dafür könnte demnächst aus just in time überall auf der Welt einkaufen
Schimmelbuschs eigener Mine in Brasilien kann – zu großen Teilen aus China? »Für uns
kommen, irgendwann vielleicht sogar aus hatte das einen großen Vorteil«, so der Che-
deutschen Gruben. Dafür investiert der Ma- miemanager: »Wir hatten die ganzen Umwelt-
nager gerade Hunderte Millionen Euro. »Wir sauereien nicht und bekamen gleichzeitig gute
müssen jetzt handeln, sonst läuft uns die Zeit Produkte zu vernünftigen Kosten.«
weg«, sagt er. An dieser Einstellung änderte auch das Auf
Die sichere Versorgung mit den Rohstoffen und Ab der Preise wenig. Zumal es für die
der Zukunft ist das Thema der Stunde, ob auf Deutschen lief, von ein paar Knappheiten,
der Hannover Messe oder im EU-Parlament, wohl auch aus Peking gewollte, mal abgesehen.
in Konzernzentralen und Lobbygesprächen Doch die stockenden Lieferketten während
in Berlin: Ohne Metalle, Erze und Mineralien der Pandemie, der russische Angriffskrieg in
ist eine sauberere Zukunft undenkbar, sind der Ukraine und die neuerliche chinesische
Energiewende, Mobilitätswende oder Zeiten- Aggression gegenüber Taiwan haben die alte
wende nicht zu schaffen. Millionen Jobs, die Gewissheit zerstört, dass die Rohstoffe schon
Bekämpfung des Klimawandels und die geo- irgendwo herkommen. Zu unersetzlich ist
strategische Unabhängigkeit des Landes hän- China als Versorger geworden, zu mächtig.
gen an der Verfügbarkeit von Lithium, Kobalt, Die EU-Kommission gibt inzwischen offen
Qilai Shen / The New York Times / Redux / lai
Nickel oder Grafit, von seltenen Erden wie zu, beim Rohstoffbezug »hochgradig abhän-
Neodym oder Praseodym. gig« von China zu sein. Daraus resultiere eine
Der »Wettlauf um die Rohstoffe ist auch »erhebliche Anfälligkeit«. Je nach Rohstoff
ein Wettlauf um unseren zukünftigen Wohl- werden maximal 7 Prozent des Bedarfs durch
stand«, sagt Peter Buchholz, Leiter der bun- heimischen Abbau gedeckt. Anders gesagt:
deseigenen Deutschen Rohstoffagentur Dera. Im besten Fall müssen 93 Prozent der be-
Wäre das Ganze das Pferderennen in As- gehrten Metalle eingeführt werden, im
cot, hätte China beste Quoten. Kein Land schlechtesten alles.
kontrolliert mehr eigene Vorkommen, kein Die Sorgen sind so groß, dass die G7-Staa-
Land ist weltweit aktiver, erfolgreicher, ja, ten das Thema bei ihrem jüngsten Gipfeltref-
fen in Japan zur Chefsache erklärten. durch die Einöde. Kurz vor Sonnen- Chinas Mutterstrom, in dessen Ein-
Auf die Gründung eines Rohstoff- untergang die nächste Straßensperre. zugsgebiet mehr als 100 Millionen
klubs, wie ihn die EU-Kommission Diesmal ist auch ein Wagen der Spe- Menschen leben.
Uniform bläst energisch in eine Tril- nie wirklich umgesetzt wurde. Auch
lerpfeife, ruft so laut, dass man es weil Peking den Export wieder weit-
durch die geschlossenen Fenster hö- gehend liberalisierte. Die Lehre hätte
ren kann: »Umdrehen!« schon damals lauten müssen: China
Es gibt noch eine zweite Anfahrt nutzt Rohstoffe im Zweifel, um seine
zur Mine. Mehrere Stunden Umweg Interessen durchzusetzen.
soll dann alles auf dem Kontinent Goldrausch. Seit Inkrafttreten des bleme der Republik zu lösen – mit-
stattfinden. IRA sind mehr als 60 Milliarden Dol- hilfe von Viren. Zwischen Kolben und
An die Mine wurde eine Aufberei- lar in mehr als 130 Projekte geflossen. Fläschchen, Tiegeln und Pulverdosen
tungsanlage angebaut, die sogenann- Der Autobauer GM etwa hat sich erklärt die Wissenschaftlerin ihr Ver-
te leichte seltene Erden in hochreiner nicht nur große Teile der Produktion fahren, um seltene Erden aus alten
Seltene Erdelemente
Dysprosium 100 %
die EU-Kommission als kritische Rohstoffe einschätzt Erbium 100 %
Russland 1 Gadolinium 100 %
Palladium 40 % Holmium 100 %
Lutetium 100 %
Terbium 100 %
Thulium 100 %
Ytterbium 100 %
Frankreich 1 Yttrium 100 %
Hafnium 49 % Europium 100 %
Spanien 1 Cer 85 %
Lanthan 85 %
USA 2
Beryllium 88 %
Strontium 31 % Türkei 2
Bor 48 %
Feldspat 32 %
China 33 Neodym
Praesodym
Samarium
85 %
85 %
85 %
Helium 56 %
Scandium 67 %
Gallium 94 %
Weltmarktanteil Magnesium 91 %
Dem. Rep. Kongo 2 Wolfram 86 %
Kobalt 63 % Germanium 83 %
Tantal 35 % Siliziummetall 76 %
Brasilien 1 Phosphor 74 %
Niob 92 % Bismut 70 %
nat. Graphit 67 %
Chile 1 Vanadium 62 %
Kupfer 28 % Südafrika 5 Antimon 56 %
Ruthenium 94 % Fluorspar 56 %
Iridium 93 % Kokskohle 53 %
Rhodium 81 % Australien 2 Phosphatgestein 48 %
Platin 71 % Lithium 53 % Arsen 44 %
Mangan 29 % Aluminium 28 % Baryt 44 %
Titanmetall 43 %
Versorgungsrisiko in der EU für strategische und kritische Rohstoffe Nickel 33 %
und jeweilige Verwendung nach Technologiebereichen, Auswahl
Risiko auf einer Skala von 0 (kein Risiko) bis 20 (theoretisches Maximum)*, Werte größer als 1 gelten bereits als kritisch
Li-ion- Smart-
Brennstoff- Batterien Wind- Solar- Wärme- Daten- phones,
Rohstoff Risiko zellen für Pkw turbinen anlagen pumpen speicher Tablets etc. Robotik Drohnen Satelliten
SSEE** 5,3
Gallium 4,8
Niob 4,4
Magnesium 4,1
SEE (Magnete)** 4,0
Bor 3,8
LSEE** 3,5
Phosphor 3,3
Platinmetalle 2,7
Lithium 1,9
101.873
42 17.349
39
58.208 59.428
28
6896
6565
17 5449 5509
11 20.967
10 3942
1103 4891 4980
476 4719 1755
3 3 3
EU USA China EU USA China EU USA China
* Ermittlung des Versorgungsrisikos unter anderem anhand der geografischen Konzentration der Produktion, der Importabhängigkeit der EU und der Staatsführung in den Produzentenländern
** SEE (Magnete): magnetische Seltenerdmetalle wie Neodym oder Dysprosium; SSEE: übrige schwere Seltene Erdelemente; LSEE: übrige leichte Seltene Erdelemente
*** Szenario für hohen Bedarf (HDS) aufgrund eines schnellen Technologiefortschritts und rapide steigender Rohstoffnachfrage
S Quelle: EU-Kommission 2023
◆
sondermüll zumindest langfristig ein preise fallen und damit die Finanzie- Die Industrie schreit um Hilfe aus
Stück Autarkie zu sichern.
Dass Deutschland sich so sehr auf
25.000 rung.
Und dann ist da noch der Wider-
Berlin. »Die Märkte funktionieren
nicht mehr, die Knappheiten werden
das Recycling stürzt, hat mit einer Tonnen stand aus der Bevölkerung. Wenn noch zunehmen«, sagt Matthias
Erzählung zu tun, die schon an den schon das Aufstellen eines Windrads Wachter, Rohstoffexperte des Bundes-
Schulen ihren Anfang nimmt. Deutsch- altes Leucht- oder der Bau einer Stromtrasse vieler- verbands der Deutschen Industrie
land, so wird es hierzulande gelehrt, pulver wurden orts mit jahrzehntelangen Protesten (BDI). »Wir brauchen politische Unter-
sei arm an Rohstoffen, aber reich an begleitet werden, dürften Minen und stützung.«
klugen Köpfen. Die hiesigen Ausnah- bis 2020 Großbergbau »made in Germany« erst In einem Papier suchen die Lob-
me-Ingenieure, Avantgarde-Medizi- in der EU recht nicht akzeptiert werden. Das gilt byisten die Schuld am deutschen Roh-
ner und Weltklasse-Chemiker seien genauso für Europa. Dort liegen wich- stoffdesaster nicht etwa bei den eige-
es, die dem Land seine wirtschaftliche gesammelt. tige Rohstoffschätze oft ausgerechnet nen Mitgliedern, sondern in der Poli-
Kraft und ökonomische Macht ver- Quelle: Helmholtz- unter jenen Böden, die auch touristisch tik: Anderswo, so der BDI, gebe es
liehen – und schon lange nicht mehr Institut Freiberg wertvoll sind – womöglich kurzfristig eine »gezielte staatliche Unterstüt-
die Bodenschätze in Ruhrgebiet, in der für Ressourcen- gar wertvoller erscheinen. Unter der zung« für den Abbau und die Weiter-
technologie
Lausitz oder am Rheingraben. portugiesischen Algarve etwa oder der verarbeitung der Rohstoffe.
Tatsächlich stimmt das nur be- römischen Po-Ebene. Die Bundesregierung will sich das
dingt. Denn Lithium, seltene Erden Statt für mehr Akzeptanz zu wer- nicht vorwerfen lassen. Franziska
oder Zinn lagern auch unter Europas ben, negierte die Industrie das Pro- Brantner, die für Rohstoffe zuständi-
Böden. Der staatliche schwedische blem einfach. In Stuttgart, München ge Parlamentarische Staatssekretärin
Bergbaukonzern LKAB etwa melde- und Wolfsburg wollten sie lange nicht im Wirtschaftsministerium, kann sich
te Anfang des Jahres, er habe nördlich wahrhaben, dass das Verbrenner- nur wundern über die Chuzpe der
des Polarkreises Europas größtes Vor- zeitalter zu Ende geht und in der Ära Konzerne. Natürlich sei China der
kommen an seltenen Erden entdeckt. der E-Mobilität plötzlich ganz ande- weltgrößte Lieferant für weiterver-
Im Oberrheingraben plant ein aus- re Vorprodukte und Rohstoffe über arbeitete kritische Rohstoffe und sel-
tralisch-deutsches Konsortium, Li- Erfolg und Misserfolg entscheiden. tene Erden. »Aber das hat nichts da-
thium aus heißen unterirdischen Erst die Pandemie, der Ukrainekrieg mit zu tun, dass es diese Stoffe nicht
Thermalquellen zu filtern. Und und die geostrategische Konfronta- auch anderswo gibt«, sagt sie.
Schimmelbuschs AMG stieg kürzlich tion mit China machten den Auto- Brantner hat von ihrem Dienst-
mit 25 Prozent beim sogenannten bossen klar, dass sie aus dem Markt herrn Robert Habeck den Auftrag
Zinnwald-Projekt an der deutsch- geschossen werden, wenn sie nicht bekommen, die Abhängigkeit von
tschechischen Grenze ein. Dort soll die Kontrolle über die neuen Schlüs- wichtigen Materialien zu verringern.
ebenfalls Lithium gebaggert werden. selrohstoffe gewinnen. »Die Energie- In dieser Mission ist sie viel herum-
Bislang geht die EU-Kommission wende ist eine Materialwende«, heißt gekommen: in Lateinamerika, den
zwar davon aus, dass lediglich fünf es in einem Rohstoffdossier aus Brüs- USA, Kanada, Afrika. Noch vor Os-
Prozent des Bedarfs an kritischen sel. Die Welt sei demnächst mehr auf tern ging es nach Australien. Die Dame
Rohstoffen aus heimischen Vorkom- kritische Rohstoffe wie seltene Erden weiß – um im Bild zu bleiben – wie
men gedeckt werden können. Je hö- angewiesen, als man es heute auf Öl der Bagger läuft.
her der Preis für die Rohstoffe wird, sei, so eine Studie der Stiftung Wis- China verdanke seinen Aufstieg
desto attraktiver wird aber auch de- senschaft und Politik. auch einer Mischung aus Gedanken-
ren Erkundung und Förderung. Und schon macht ein Horrorszena- losigkeit, Spezialisierung und Arbeits-
Doch selbst dann bleibt der hei- rio die Runde: Deindustrialisierung. teilung deutscher Unternehmen, so die
mische Abbau auf absehbare Zeit Künftig werde die größte Wertschöp- Grüne. »Es ging viel um den billigsten
ungleich schwieriger und vor allem fung in rohstoffreichen Regionen statt- Preis«, sagt Brantner. Und den habe
teurer als der Import. Es fehlt an finden, warnt mancher Autovorstand. stets China geboten, dank niedriger
Kapital, inzwischen selbst an Know- Es brauche schnell Handelsabkom- Löhne und staatlicher Förderung.
how und an Konzernen, die ins Risiko men und Rohstoffpartnerschaften, Wenn die Wirtschaft jetzt um Hilfe
gehen. Seit aus dem früheren Minen- Helmholtz- um den Zugang zu den Ressourcen rufe, dürfe es »nicht um eine komplet-
Forscherin
betreiber Preussag der Tourismus- Lederer: Autarkie zu sichern, drängte Mercedes-Boss te Risikoübernahme durch den Staat
konzern TUI schlüpfte und die alte durch Recycling? Ola Källenius unlängst. gehen, sondern um eine Unterstüt-
Metallgesellschaft abgewickelt wurde, zung der Unternehmen«, sagt sie. Also
hat die Bundesrepublik keinen ech- nicht das Prinzip »Gewinne privatisie-
ten Rohstoffmulti mehr im Land. Zu ren, Risiken sozialisieren«.
dreckig, zu teuer, zu unstet, hieß es Wie leichtfertig die Industrie das
stets. Thema Rohstoffe aus der Hand ge-
Denn egal, ob in Chile oder Ost- geben hat, belegt Brantner gern mit
deutschland: Das Risiko zu scheitern der deutschen Galliumproduktion.
ist im Rohstoffbusiness immens. Ein Das Mineral ist essenziell für die Halb-
neues Vorkommen zu erschließen, leiterindustrie, auch können Leucht-
dauert gern mal zehn Jahre. Was be- dioden daraus gefertigt werden. Noch
deutet: Bevor eine Tonne Metall oder bis 2015 habe es eine heimische För-
Mineral in den Fabriken ankommt, derung gegeben, sagt die 43-Jährige.
muss eine Dekade lang investiert wer- Doch gegen die wesentlich billigere
den. Unterwegs kann dabei allerlei chinesische Produktion kam die An-
André Wirsig / HZDR
schiefgehen: Das Vorkommen kann lage nicht an und wurde deshalb auf-
sich als kleiner erweisen als erwartet. gegeben.
Die politischen Rahmenbedingungen Damit sich die Geschichte nicht
können sich ändern, die Weltmarkt- wiederholt, legte Brantner Anfang
des Jahres ein Eckpunktepapier vor. Ein we- zählte. Er kennt also den Feind, so würde er
nig, glaubt sie, könne die Politik selbst tun. das wohl formulieren. Stillger sieht Bedarf für
Machbarkeitsstudien und geologische Erkun- einen grundsätzlichen Wandel – in den Köp-
dungen etwa finanziell unterstützen, Prozes- fen der Führungsetagen. Der Manager hat ein
se beschleunigen. Auch ein Rohstofffonds ist riesiges Steuerungsversagen der heimischen
im Gespräch, mit dem die staatseigene KfW- Industrie ausgemacht. Diejenigen, die beim
Bank ähnlich wie bei Hermes-Ausfuhrkredi- Thema Rohmaterialien nun am lautesten
ten die Risiken der Exploration absichern nach Hilfe der Politik riefen, seien oft jene,
könnte. Selbst über sogenannte Differenzial- die zuvor »die Entscheidung immer nur nach
kontrakte denkt man in der Bundesregierung den Kosten« getroffen hätten. Seit Jahrzehn-
nach. Damit würde die Politik einen Teil des ten seien die Einkäufer »getrimmt und auch
Aufpreises, den heimisch, fair und nachhaltig incentiviert, den günstigsten Preis zu verhan-
produzierte Rohstoffe kosten, übernehmen. deln«, sagt er. Alle hätten gedacht: Es herrsche
Vor allem aber soll die Wirtschaft nun ran. Frieden, es herrsche Freiheit. Also kaufe man
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, dass in China. »Jetzt stellen die fest: Wir sind in
Uns war bewusst, was wir da tun. Wir haben was Sie da gerade auf die Welt losgelassen
im November nicht unsere aktuellste Varian- Deutschland stolpert hinterher haben?
te veröffentlicht. Wir glaubten, dass GPT-4 Altman: Wir haben darüber gesprochen, was
ein zu großer Sprung für die Menschheit sein 2022 gegründete Unternehmen mit dem Deutschland tun kann, um die Entwicklung
Schwerpunkt künstliche Intelligenz,
könnte, deshalb sind wir mit dem Vorgänger in ausgewählten Ländern von KI zu beschleunigen. Es ging um die kom-
gestartet. Ich finde, es wäre riskanter, diese plette digitale Lieferkette, die es dafür braucht.
Technologien hinter verschlossenen Türen USA 542 Und natürlich ging es auch um eine möglichst
weiterzuentwickeln. Möglichst viele Men- China 160 durchdachte Regulierung – die vor den Risi-
schen sollten die Chance haben, sie auszu- ken schützt, ohne Innovation abzuwürgen.
probieren, ihre Chancen und Risiken selbst Großbritannien 99 SPIEGEL: Spielt Deutschland als Standort im
besser zu verstehen – und sich an der Dis- Israel 73 KI-Wettrennen für Sie überhaupt eine Rolle?
kussion darüber zu beteiligen, wohin die wei- Altman: Auf jeden Fall. Wir arbeiten hier mit
Indien 57
tere Reise gehen soll. Hätten wir ChatGPT sehr vielen Entwicklern zusammen – und wir
nicht so früh veröffentlicht, würden wir heu- Kanada 47 haben auch eine hohe Nutzerzahl von
te all diese Debatten gar nicht führen. Es ist Frankreich 44
ChatGPT in Deutschland. Wir haben die Rou-
gut und wichtig, dass wir das tun – denn noch te auf dieser Reise danach ausgewählt, wo wir
ist es nicht zu spät. Deutschland 41 die meisten Entwicklungspartner haben.
SPIEGEL: Wie viele Ihrer Mitarbeiter bei S Quelle: Artificial Intelligence Index Report 2023 SPIEGEL: Deutschland hängt bei der Zahl der
OpenAI beschäftigen sich mit der Frage, wie Start-ups und der Höhe der Investitionen in
KI-Anwendungen zu bändigen und sicher zu tan der beste Zeitpunkt ist, eine Karriere im KI verglichen mit den USA dennoch weit hin-
gestalten sind? Bereich Technologie und Informatik zu star- terher. Woran liegt das?
Altman: Das ganze Unternehmen denkt da- ten. Wir sind Zeugen des spannendsten Altman: In Deutschland werden schon seit
rüber nach, anders geht es auch nicht. Bei KI Moments seit der Erfindung des Internets. langer Zeit viel weniger Start-ups gegründet,
ist es nicht wie bei anderen Technologien, wo Künstliche Intelligenz wird das praktischste, als ich erwartet hätte. An fehlenden Program-
es auf der einen Seite die Entwickler im einflussreichste und außergewöhnlichste mierertalenten kann es jedenfalls nicht liegen.
Unternehmen gibt und dann ein paar Leute, Werkzeug sein, das die Menschheit je erschaf- Was sicherlich eine große Rolle spielt: In den
die für Sicherheit sorgen sollen. fen hat. USA ist es gesellschaftlich akzeptiert, an et-
SPIEGEL: Andere Konzerne wie Meta haben SPIEGEL: Wie viele Suchen gibt es mit was extrem Ambitioniertem, ja scheinbar Un-
einen deutlich höheren Prozentsatz an ChatGPT eigentlich jeden Tag? realistischem zu arbeiten. Wir waren die Ers-
Angestellten, die sich ausschließlich um den Altman: Extrem viele. Ich weiß es nicht genau. ten und wahrscheinlich die Einzigen, die je
Kampf gegen Missbrauch kümmern. Sie Es sind keine Milliarden, aber viele Millionen. gesagt haben, dass wir A.G.I. anstreben.
reden von Sicherheit, aber was konkret tun SPIEGEL: Das braucht sicher jede Menge Re- SPIEGEL: Sie meinen die besonders fortschritt-
Sie? chenkraft und Strom. liche Form der Allgemeinen künstlichen In-
Altman: Wir haben auch Sicherheitsbeauf- Altman: Eigentlich ist das eher zu vernachläs- telligenz, ein Programm, das alles kann, was
tragte und Leute, die daran forschen, unsere sigen. Diese Systeme werden aber in der Zu- Menschen können.
Modelle entsprechend anzupassen. Dieselben kunft sicher viel Energie brauchen, das will Altman: Ja, genau. Außerdem ist es in den
Leute, die das Modell trainieren, sind dafür ich nicht kleinreden. USA viel normaler, dass Leute, die gemein-
verantwortlich, dass es die von uns festgeleg- SPIEGEL: Ein solch hoher Energieverbrauch sam an etwas arbeiten, Überstunden machen.
ten Sicherheitskriterien erfüllt. Wir haben bei hat Folgen für das Klima. Laufen Ihre Com- Der Zugang zu Kapital spielt sicher ebenfalls
unserem neuesten Modell acht Monate damit puter mit Grünstrom? eine Rolle, ist allerdings nicht der einzige
verbracht, es ausgiebig zu testen und von so- Altman: Wir nutzen Server und Datenzentren Aspekt.
genannten »Red Teams« angreifen zu lassen. von Microsoft, und die haben sich zur CO2- SPIEGEL: Wladimir Putin sagt, dass derjenige,
Wenn Sie es nutzen wollen, um damit Bom- Neutralität verpflichtet. der KI-Marktführer ist, auch die Welt regieren
ben zu basteln, wird es das verweigern. Wir SPIEGEL: Sie sind aktuell einer der gefragtes- wird. Hat er recht?
haben ein Monitoring-System, das problema- ten Firmenchefs, dabei hat Ihr Unternehmen Altman: Nein, hat er nicht. Aber es wäre für
tische Verhaltensweisen erkennt. Selbst unse- im vergangenen Jahr angeblich gerade mal den Rest der Welt durchaus bedrohlich, wenn
re harschesten Kritiker haben eingeräumt, 28 Millionen Dollar umgesetzt und 540 Mil- Autokraten einen signifikanten Vorsprung in
dass wir die Sicherheit diesmal wirklich groß- lionen Verlust gemacht. der Technologie erlangen würden.
geschrieben haben. Altman: Diese Zahlen liegen ziemlich dane- SPIEGEL: Es gibt heute immer wieder Fälle, in
SPIEGEL: Welcher Einsatz von ChatGPT hat ben. Aber wir verlieren momentan sehr viel denen Software etwa schwarze Menschen
Sie bisher am positivsten überrascht? Geld, das stimmt schon. oder Minderheiten diskriminiert – weil sie
Altman: Ich finde die zahlreichen Anwendun- SPIEGEL: Sie wirken nicht besonders besorgt von Menschen programmiert wird. Was tun
gen im Bildungsbereich besonders spannend. deswegen. Sie, um das zu verhindern?
Wir wissen ja, dass es viel effektiver ist, wenn Altman: Nein, das beunruhigt mich gar Altman: Ich glaube, dass KI-Systeme in Zu-
man einen eigenen Tutor hat, als mit vielen nicht. kunft deutlich weniger diskriminieren werden
Mitschülern im Klassenzimmer zu lernen. SPIEGEL: Es gab schon frühere KI-Hypewellen, als Menschen – selbst als sozial sensible Men-
Aber die wenigsten Menschen können sich und vor zwei Jahren etwa war das Metaverse schen. Dafür können wir mit entsprechenden
das leisten. Viele Lehrkräfte, die anfangs zu- in aller Munde. Kann es sein, dass sich auch technischen Vorkehrungen sorgen.
gegeben sehr nervös waren, helfen ihren die allgemeine Aufregung um generative KI SPIEGEL: Die Diskriminierung findet doch
Schülern jetzt, ChatGPT zum Lernen einzu- wieder legt? bereits statt. Sind Sie da nicht zu optimistisch?
setzen, als technischen Tutor. Viele Lehrer Altman: Aktuell besteht tatsächlich die Gefahr Altman: Diese Probleme trafen vielleicht auf
sagen mir, das wird das Lernen tiefgreifend eines Overhypes – aber das gilt nicht für die ältere Technologien zu – etwa, wenn es um
verändern. Umwälzungen, die die Technologie auf län- automatisierte Kredit-Entscheidungen ging,
SPIEGEL: Sie haben selbst darauf hingewiesen, gere Frist mit sich bringen wird. Diese Lang- da gab es echte Probleme. Die entscheidende
KI werde viele Jobs kosten, andere aber bes- frist-Perspektiven sorgen aus meiner Sicht Frage wird sein, nach wessen Wertvorstellun-
ser machen. sogar aktuell noch für zu wenig Aufregung. gen wir unsere künstliche Intelligenz ausrich-
Altman: Ich nutze meine Reise gerade dazu, SPIEGEL: Sie haben heute Vormittag Bundes- ten. Das werden noch harte Debatten.
jungen Menschen zu erklären, dass momen- kanzler Olaf Scholz getroffen. Versteht er, Interview: Max Hoppenstedt, Marcel Rosenbach n
gehend auf die Einbeziehung der Geldbran- Gefunden wurde sie offenkundig nicht. Kommende Woche wird das Plenum des
che geeinigt hatte, machten sich Deutsch- Denn am Ende setzte der tschechische Rats- Parlaments sein Votum abgeben. Stimmen
land, Luxemburg und Irland dafür stark, präsident und Handelsminister Jozef Sikela die Abgeordneten zu, müssten Parlament und
Investmentanbieter auszunehmen. Wer einen Kompromiss durch, der sich eher als Rat erneut über die Richtlinie verhandeln.
einen Fonds mit Unternehmensanleihen aus Kapitulation liest, vor allem für Europa. Da- Ob Macron das zulässt? Vergangene Wo-
Entwicklungsländern verkaufe, habe nicht nach soll es künftig jedem Mitgliedstaat che regte der Präsident eine »Regulierungs-
dieselbe Verantwortung wie ein Industrie- freigestellt werden, ob und wie er die Branche pause« in der europäischen Umwelt- und
konzern, der mit seinen Zulieferern im stän- in die Richtlinie einbezieht. Eine Lösung Klimapolitik an. Seither wächst die Zahl der
digen Austausch steht, so das Argument. Die mit einem einzigen Gewinner: der Finanz- Abgeordneten, die das EU-Lieferkettengesetz
Gruppe setzte sich durch, Brüsseler Diplo- industrie. ebenfalls auf die lange Bank schieben wollen.
maten sprachen fortan von der »Blackrock- Im EU-Parlament, das sich seit Monaten Besonders groß ist der Widerstand in Deutsch-
Ausnahme«. mit dem Kommissionsvorschlag beschäftigt, land. »Wir dürfen der Wirtschaft jetzt keine
Die Regierung in Paris, die sich ebenfalls will man das nicht durchgehen lassen: Der zusätzlichen Belastungen auferlegen«, Ma-
als London-Nachfolger sieht, verstand das als Entwurf des federführenden Rechtsausschus- cron liege da auf der Linie der Union, sagt der
Aufforderung, eine ähnliche Sonderregel für ses sieht vor, den Geldsektor wieder einzu- CDU-Abgeordnete Daniel Caspary, Chef der
Banken und Versicherungen anzumahnen. In beziehen. Allerdings haben die Abgeordneten deutschen Gruppe in der konservativen EVP-
der französischen Hauptstadt haben große die Auflagen für die Unternehmen insgesamt Fraktion. »Wenn sich europäische Unterneh-
Kreditinstitute ihren Sitz, die enge Beziehun- begrenzt. Nach dem Entwurf müssen Firmen men wegen der Lieferkettenthematik aus Af-
gen mit Ölmultis wie Total oder Luxuskon- nicht mehr alle ihre Lieferanten in den Blick rika zurückziehen, profitiert am Ende China.«
zernen wie LVHM pflegen. Gemeinsam mit nehmen, sondern nur die, die nach anerkann- Das könne nicht im europäischen Interesse
Italien, Spanien und der Slowakei brachte ten Kriterien ein Risiko darstellen. Für ein sein. Deshalb müssten der bürokratische Auf-
Paris eine komplizierte Ausnahmeklausel ins Großunternehmen mit Tausenden Mitarbei- wand und die Haftungsrisiken für die Unter-
Gespräch, die mehr oder weniger die gesam- tern sinkt die Zahl der zu kontrollierenden nehmen weiter reduziert werden, fordert
te Finanzbranche umfasste. Andernfalls, so Kontakte dadurch von 35.000 auf 1000, hat Caspary. »So können wir dem Vorhaben nicht
drohten die französischen Vertreter, werde der nordrhein-westfälische CDU-Abgeord- zustimmen.« Das europäische Lieferketten-
man das Vorhaben durchfallen lassen. nete Axel Voss anhand von konkreten Fir- gesetz droht damit komplett zu scheitern.
Frankreich stand als verlängerter Arm der menfällen errechnet. Blackrock und Co. könnten aufatmen. Be-
Bankenlobby da, aber die Regierung behaup- Für die Finanzindustrie gelten zusätzliche vor er zum Anwalt eines ethischen Kapitalis-
tet bis heute, im Interesse der Gesamtwirt- Erleichterungen. Sie müsste nur ihre direkten mus wurde, hatte sich Firmenchef Fink als Ver-
schaft gehandelt zu haben. Man habe nach Geschäfts- oder Kreditpartner kontrollieren, fechter einer konsequenten Interessenpolitik
einer Regelung gesucht, »die auf alle Sektoren nicht die weitere Lieferkette. Opferanwälte hervorgetan. »Lobbyismus ist gut«, lautete
anwendbar ist«, heißt es in einer Stellung- und Nichtregierungsorganisationen kritisie- sein Motto. »Denn es steigert den Profit.«
nahme für den SPIEGEL. ren den Entwurf deshalb als zahnlos. Michael Sauga n
Verlässlich
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in die Zukunft der Energie.
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AUSLAND
Plan, sich Zeit zu kaufen, ging nicht auf. Die Wut der Säkularen
Die Wut der Säkularen verpuffte nicht, sondern wandte sich dem nächsten Thema zu:
Massive Proteste begleiteten auch die Haushaltsverhandlungen.
Der neue Haushalt sieht millionenschwere Zugeständnisse an
ANALYSE Israels Haushalt steht – normale die Wählerklientel der frommen Koalitionspartner vor. Großzügig
Regierungsarbeit wird trotzdem kaum möglich sein. unterstützt werden vor allem verheiratete Ultraorthodoxe, die
religiöse Studien betreiben – und dadurch kaum einen Beitrag zu
Hoffnungsvoll blickt Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in Israels Bruttoinlandsprodukt leisten. Es wird damit gerechnet,
die Zukunft: »Wir haben die Wahlen gewonnen. Wir haben dass die Zahl der erwerbstätigen Ultraorthodoxen durch die neuen
das Budget verabschiedet. Wir werden vier Jahre weitermachen«, Schenkungen um fünf Prozent schrumpfen wird – die Steuern der
schrieb Netanyahu in den sozialen Netzwerken. Kurz zuvor arbeitenden Bevölkerung hingegen steigen langfristig an.
hatte seine rechtsreligiöse Regierung den Haushalt für die nächs- Wieder demonstrieren Tausende in Jerusalem und anderen
ten zwei Jahre beschlossen. Eine Formsache, die ihn in seiner Städten Israels. Die Säkularen sind nicht mehr bereit, Netanyahus
vorherigen Amtszeit die Regierung gekostet hatte. Klientelpolitik zu tolerieren. Zugeständnisse an die Frommen
Doch sooft Netanyahu in dieser Woche seinen Optimismus gab es auch in der Vergangenheit – doch mit den Protesten
im Hinblick auf die weitere Regierungsarbeit beschwor – die gegen den Justizumbau scheint ein neues Bewusstsein der libe-
Realität sieht anders aus: Im März stoppte er nach massivem ralen Israelis erwacht zu sein. Es geht nicht nur um einzelne Ge-
Widerstand aus der Bevölkerung die geplante Justizreform und setzesvorhaben, sondern um die Frage, in was für einem Land
vertagte sie in die nächste Sitzungsperiode der Knesset. Zuvor sie leben wollen. Eine normale Regierungsarbeit, wie Netanyahu
hatten Hunderttausende protestiert, selbst im für Israel überle- sie sich wünschen mag, wird in den kommenden Jahren kaum
benswichtigen Militär regte sich Widerstand. Doch Netanyahus möglich sein. Muriel Kalisch
Zentralbank angemietet worden, Regierung in Beirut nach Erhalt Denkfabrik Deut- Bergkarabach leben. Das zweite
wie etwa eine Luxuswohnung der Haftbefehle mit. CRE sche Gesellschaft Szenario ist eine Salamitaktik,
für Auswärtige darin befinden wir uns im
Politik (DGAP). Moment: Die Aserbaidschaner
Delta in Gefahr vorgeschlagen, die Silva wich- schließen die Grenze rund um
tige Zuständigkeiten wie die SPIEGEL: Herr Meister, Arme- Karabach, Gas und Strom wer-
BR ASILIEN Mit einer fort- Schutzgebiete der Indigenen niens Premierminister Nikol den unterbrochen. So versu-
schrittlichen Umweltpolitik will entziehen würde. Mit seiner Paschinjan hat angekündigt, das chen sie, die Armenier aus der
sich Präsident Luiz Inácio Lula ambivalenten Haltung zu wich- seit 30 Jahren umkämpfte Berg- Region zu drängen. Das Dritte
da Silva als Vorkämpfer beim tigen Umweltfragen trägt jedoch karabach als aserbaidschanisch wäre ein erneuter Krieg nach
Klimaschutz profilieren. Nun auch Lula zur Entmachtung anzuerkennen. Warum jetzt? einem Angriff aus Aserbaidschan
aber steht er vor einer Regie- seiner Ministerin bei. Die halb- Meister: Die Ankündigung wur- auf Bergkarabach, um die
rungskrise, die dieses Image er- staatliche Ölgesellschaft Petro- de jetzt erst offiziell gemacht. Menschen aus der Region zu
schüttert. Knapp ein halbes Jahr bras will vor der Amazonas- Wir waren in den Friedensver- vertreiben. In diesem Fall gäbe
nach Lulas Amtsantritt klagt mündung nach Öl suchen, ob- handlungen noch nie so weit es viele Tote und Flüchtlinge.
Umweltministerin Marina Silva, wohl die Umweltbehörde Ibama wie heute, aber nun sind Punkte SPIEGEL: Wie realistisch sind
eine Ikone der internationalen diese Pläne ablehnt: Vor der erreicht, an denen sich beide Sicherheitsgarantien für die
Ökobewegung, über die dro- Mündung befinden sich Koral- Seiten nicht mehr bewegen. Die knapp 100.000 Armenier in
hende Entmachtung ihres Res- lenriffe, die Artenvielfalt im Ankündigung ist eine Einsicht Bergkarabach?
sorts. Silva macht dafür auch Flussdelta ist enorm. Lula hat in die Realität: Armenien hat Meister: Ich glaube nicht, dass
Abgeordnete der Regierungs- durchblicken lassen, dass er den den Krieg 2020 verloren und Aserbaidschan sich darauf ein-
basis im Kongress verantwort- Plänen positiv gegenübersteht – ist militärisch schwach. Es geht lassen wird. Es hat den zweiten
lich. Die haben eine »Restruk- er hofft, dass etwaige Ölvor- längst um mehr als nur um Krieg 2020 gewonnen, damit
turierung« des Ministeriums kommen dem Land einen ähnli- Bergkarabach. Aserbaidschan ist die Frage für Aserbaidschan
chen Boom bescheren könnten stellt inzwischen auch die Gren- gelöst. Man stellt sich vor, dass
wie die Entdeckung der Tiefsee- zen von Armenien infrage. die Armenier einfach unter
ölvorkommen während seiner Es gab Angriffe auf armenisches aserbaidschanischer Verfassung
ersten Regierungszeit Mitte der Gebiet. Damit wächst die Ein- dort weiterleben. Das ignoriert
Nullerjahre. Damals war Marina sicht, Karabach lieber aufzuge- die Feindbilder in beiden
Silva in ihrer ersten Amtszeit ben. Für Armenien steht auch Ländern natürlich vollkommen.
Andressa Anholete / Getty Images
wegen verschiedener Kontro- die Zukunft des Landes auf dem Ohne Schutzmacht ist die Ge-
versen zurückgetreten. Unter Spiel. fahr groß, dass es zu Vertrei-
anderem setzte Lula trotz öko- SPIEGEL: Wie geht es weiter? bungen der Armenier kommt.
logischer Bedenken den Bau Meister: Es gibt drei Szenarien. Ich halte die Aussichten auf ein
eines Staudamms im Amazonas- Das Beste wäre, dass ein Frie- Friedensabkommen für relativ
gebiet durch. Petrobras will densabkommen tatsächlich gering. Trotz dieser einmaligen
jetzt einen Plan für das Ama- zustande käme. Dazu müssten Chance, die es in 30 Jahren
Lula, Silva zonasdelta vorlegen. JGL sich Armenien und Aserbai- nicht gegeben hat. LIV
und Jaroslaw sterben? keiten oder schlicht, weil sie über das Schick-
sal ihrer Liebsten kaum etwas wissen. Wagner
lässt die Verwandten oft im Ungewissen. Der
SPIEGEL hat Dutzende von ihnen kontaktiert.
RUSSLAND Tausenden Häftlingen hat die Söldnertruppe Wagner die Meist wissen sie nur, dass ihre Söhne, Brüder
Freiheit versprochen – und sie an der Front in den Tod geschickt. oder Männer noch am Leben sind, weil sie
jeden Monat Sold ausgezahlt bekommen.
Die Tante und die Mutter von zwei Getöteten wollen darüber nicht Geld als Lebenszeichen.
schweigen. Von Christina Hebel Wenn es denn kommt – Larissa hat nie
Soldzahlungen von Wagner gesehen. Mindes-
tens 200.000 Rubel hat die Söldnertruppe
arissa scrollt wieder und wieder durch feindlichen ukrainischen Stellungen anrennen den Häftlingskämpfern monatlich für den
L die Chatnachrichten ihres Neffen. Ver-
harrt bei dem Foto von Andrej, vergrö-
ßert es auf ihrem Mobiltelefon. Ein hagerer
lassen. Tausende Sträflinge dürften diesen
»Fleischwolf« nicht überlebt haben. So nennt
Prigoschin seine zynische Kriegsstrategie, mit
Fronteinsatz versprochen, umgerechnet rund
2400 Euro. Das ist viel Geld, vor allem auf
dem Land, wo die durchschnittlichen Monats-
junger Mann mit dunklem Pullover, er blickt der er versucht hat, die ukrainische Armee löhne bei wenigen Hundert Euro liegen. Aber
ernst in die Kamera. Hinter ihm sind Etagen- im umkämpften Bachmut aufzureiben. Jetzt, Larissa will das Geld nicht.
betten einer Gefängnisbaracke zu sehen. La- nach langen Monaten des Blutvergießens, Nicht dass sie es nicht gebrauchen könnte:
rissas Augen füllen sich mit Tränen. »Warum haben seine Söldner die vollkommen zerstör- Sie träumt von einem größeren Haus für sich
er? Er war doch so schmal«, sagt sie schluch- te Stadt wohl weitgehend eingenommen. und ihre Kinder, einer geräumigeren Küche,
zend. Schließlich wendet sie den Blick ab, Sechs Monate ist Larissas Neffe schon tot. einer Klimaanlage für die heißen Sommer –
startet einige Audioaufnahmen auf ihrem Inzwischen wiegen die Blüten der Flieder- aber nicht finanziert durch Wagner-Geld.
Handy. Die Stimme ihres Neffen Andrej er- büsche im Dorf im Frühlingswind. Larissa hat »Nicht so. Es schmerzt mich alles so sehr. Ich
klingt. Betont lässig sagt er: viele Fragen, auf die ihr bis heute niemand will endlich Antworten. Wir sind doch Men-
»Hallo, mir geht’s gut, aber ich gehe in den antworten will: nicht die Behörden, schon gar schen.« Natürlich habe auch sie Angst vor
Krieg …« Er klingt, als wollte er lediglich eine nicht Wagner, wo man sie abwimmelte, als Wagner, aber sie habe doch immer wieder
weitere Runde eines dieser Shooterspiele sei sie eine lästige Bettlerin. »Was wollen Sie? angerufen, Nachrichten geschickt, Aufrufe in
beginnen, die er, so erzählt Larissa, als Ju- Geld bekommen Sie nicht«, habe ein Wagner- den sozialen Medien und Telegram gepostet,
gendlicher so oft spielte. Er spricht weiter: Mann sie am Telefon angefahren und aufge- Behörden aufgesucht, um zu verstehen, wo
»Nicht für die Einberufungsbehörde. Für eine legt. Versuche doch endlich, mit Andrejs Tod der Leichnam ihres Neffen abgeblieben ist.
private Truppe … Weine nicht, beruhige dich, abzuschließen, habe ihr Mann ihr geraten. So viele Versuche, doch es kam – »nichts«.
alles wird gut … Ich werde sechs Monate lang Aber Larissa kann nicht abschließen. Sie Rund sieben Wochen nach Andrejs letzter
kämpfen und dann nach Hause kommen.« fühlt sich verantwortlich für Andrej, den sie Audionachricht im September klingelt an
Andrej Kargin, 22 Jahre, verurteilt zu Jah- erst vor wenigen Jahren wiedergefunden hat. einem Samstagmorgen Larissas Telefon. Eine
ren in Haft wegen wiederholten Diebstahls, Er war nach dem frühen Tod seiner Mutter, kräftige Männerstimme stellt sich als Wagner-
von der Wagner-Söldnertruppe an die Front die getrunken haben soll und zudem an Tuber- Kommandeur vor, teilt ihr mit, dass Andrej
in der Ukraine geschickt, hat es nicht ge- kulose litt, mit sechs in ein Kinderheim ge- tot sei. Bereits verwundet, sei er mit seiner
schafft. Er ist nicht zurück aus dem Krieg ge- kommen. Sein Vater, Larissas älterer Bruder, Kolonne unter Beschuss geraten. So erzählt
kommen. hatte die Familie schon früh verlassen, küm- es Larissa. Wo genau Andrej umgekommen
Die Nachrichten und das Bild sind das we- merte sich nicht weiter um seinen Sohn. An- sein soll, daran erinnert sie sich nicht mehr:
nige, was Larissa von ihrem Neffen geblieben drej wurde von einer Pflegefamilie aufgenom- Bachmut? Oder doch Soledar? Es sei alles so
ist. Die kleine energische Frau in ihren Vier- men. Larissa erfuhr davon erst Jahre später. schnell gegangen, sagt sie. Wann sie Andrej
zigern wischt sich mit den Händen Tränen Sie möchte verstehen, warum ihr Neffe bestatten könne, kann Larissa noch fragen:
aus dem Gesicht, setzt sich gerade auf der sich überhaupt rekrutieren ließ: Hatten ihn »Erkundigen Sie sich bei Ihrer örtlichen Mi-
Bank vor ihrem Haus auf, das irgendwo zwi- die Wagner-Leute bearbeitet? War es die Aus- litärbehörde«, sagt der Wagner-Mann.
schen Feldern in einem Dorf im Gebiet Wol- sicht auf Amnestie und Freiheit? Wieso brach- Dort habe man ihr nur gesagt: »Wir wissen
gograd steht. Den genauen Ort nennt der nichts, wir haben mit Wagner nichts zu tun.«
SPIEGEL aus Sicherheitsgründen nicht. »Weine nicht, Es sollte Monate dauern, bis Larissa schließ-
»Wie konnten sie Andrjuschka in den Krieg lich über einen Messengerdienst von einer
schicken? Der war doch gar nicht dafür ge- beruhige dich, unbekannten Frau ein Bild von Andrejs Grab
eignet«, sagt sie. Andrej habe nach einer Tu- alles wird gut … erhielt, aufgenommen im Dorf Bakinskaja.
berkulose in der Kindheit ständig Probleme Der Ort liegt im Süden Russlands, Hun-
mit der Lunge und dem Rücken gehabt. »Sie Ich werde derte Kilometer von Larissas Heimatdorf
haben Andrjuschka und all die anderen Ge- sechs Monate entfernt. In Bakinskaja hat Prigoschin den
fangenen in den Fleischwolf geschickt und größten seiner inzwischen sieben Friedhöfe
einfach Hackfleisch aus ihnen gemacht.« lang kämpfen anlegen lassen. Es sind von hier nur zehn
Zehntausende Häftlinge hat Wagner-Grün- und dann Kilometer in den Ort Molkino, wo die Wag-
der Jewgenij Prigoschin über Monate aus den ner-Gruppe ihr Trainingszentrum betreibt.
Strafkolonien Russlands holen lassen. Er hat Andrej 2022
nach Hause An einem Sonntag Anfang April leuchten
Privat
sie wieder und wieder im Donbass gegen die kommen.« in der Morgensonne von Bakinskaja schon
von Weitem die frischen Gräber von Wagner- einfach nicht anders.« Was er damit meinte,
Kämpfern, Reihe an Reihe an Reihe. 45 Rei- habe er ihr nicht erklären können. Monate
hen waren es bei einem Besuch Anfang April, später habe sie von einem ehemaligen Mit-
mehr als insgesamt 600 Gräber – es sind gefangenen erfahren, dass ihr Sohn im Ge-
zwölfmal so viele wie noch rund drei Mona- fängnis unter Druck gesetzt, ihm mit Straf-
te zuvor. Und jeden Tag kommen neue hinzu, maßnahmen gedroht worden sei. In der
auch an diesem Tag hebt ein kleiner Bagger Strafkolonie sei vieles möglich: Einzelhaft,
frische Grabstellen aus. Essensentzug. Als sie das erfährt, ist Jaroslaw
Andrejs Grab liegt in einer der vorderen schon seit Wochen tot.
Reihen. Es unterscheidet sich wenig von den Er wurde laut Wagner Anfang Januar in
anderen: Ein Plastikblumengesteck im Stil Bachmut getötet. Viel weiß Nadeschda darü-
Privat
Privat
des Wagner-Emblems mit goldenem Stern als ber nicht, ihr Sohn hatte ihren Ex-Mann als
Jaroslaw 2020, sein Sarg im Haus der Kultur
Grabschmuck, das schlichte orthodoxe Kreuz Kontakt bei Wagner angegeben, wohl auch,
trägt seinen Namen, darunter sind sein Ge- Larissa sagt: »Niemand von uns braucht ihn. weil er wusste, wie sehr seine Mutter seinen
burtsdatum, 18. März 2000, und sein Todes- Niemand. Er belastet uns alle, vor allem Kriegseinsatz ablehnte. Ihr geschiedener
tag, 15. November 2022, vermerkt. Jemand die Kinder. Was für eine Zukunft haben sie?« Mann habe fünf Millionen Rubel, umgerech-
hat eine rosa Nelke abgelegt. Lidija sagt: »Es ist schade um all diese Men- net mehr als 56.000 Euro Entschädigung, von
Ist das wirklich ihr Neffe, der da weit von schen, die sterben. Schade um die Ukrainer, Wagner erhalten, sonst habe er sich um wenig
der Heimat begraben liegt? Das fragt sich La- schade um alles, was schon in der Ukraine geschert, sagt sie.
rissa immer wieder. zerstört wurde.« Um die Beerdigung kümmert sich Na-
Pflegemutter Lidija, die ebenfalls im Wol- Über Wagner und die Politik wollen die deschda zusammen mit weiteren Verwandten.
gograder Gebiet lebt, zeigt Bilder eines blon- beiden nicht reden, davon verstünden sie Immerhin erhält sie eine Sterbeurkunde, kann
den Jungen. Sie erzählt von ihrem »Sonnen- nicht so viel. Lidija sagt, in diesen Zeiten soll- ihren Sohn zu Grabe tragen.
schein Andrjuscha«, den sie wegen seiner te man lieber aufpassen, was man sagt: »sonst Doch Nadeschda weiß nicht, wohin sie mit
Tuberkulose immer wieder zum Arzt bringen nehmen sie mich noch fest«. Larissa lobt Pu- ihrer Trauer soll, sie kann diese Missachtung
musste, der in der Schule lieber vor sich hin tin trotz allem: »Er ist ein guter Präsident, hat sämtlicher Rechte ihres Sohnes nicht akzep-
träumte. Der sich später, als er älter wurde, so viel für unser Land getan, ich respektiere tieren. Sie könne sich nicht einmal ansatz-
rumtrieb und wenn er zu Hause war Stunden ihn.« Dass er Prigoschin und seine Wagner- weise vorstellen, was Jaroslaw durchgemacht
am Computer »den Krieger« gegeben, Truppe so gewähren lasse, das sei seltsam, habe bei Wagner, sagt sie.
»schreckliche« Computerspiele gespielt habe. sagt Larissa. Mehr wisse sie auch nicht. Sie sucht nach Informationen, beginnt, in
Es habe viel Streit gegeben. Sie sei häufig mit Im 1600 Kilometer weiter nordöstlich ge- den sozialen Netzwerken andere Verwandte
den Nerven am Ende gewesen, sagt Lidija. legenen Perm wird Nadeschda am Telefon und Wagner-Soldaten aufzustöbern, doch die
Immer später sei Andrej nach Hause gekom- sehr viel deutlicher: »Prigoschin ist ein Ver- meisten schweigen oder unterstützen den
men, irgendwann gar nicht mehr. Schlechte brecher. Er hat unsere Kinder auf dreiste Wei- Krieg gegen die Ukraine. Eine Frau habe sie
Freunde habe ihr Pflegesohn gehabt. Die Aus- se unter Verstoß gegen sämtliche Gesetze als Selenskyj-Unterstützerin beschimpft.
bildung als Schweißer habe er abgebrochen, rekrutiert.« Wohin Nadeschda sich auch wendet, stößt
er begann zu stehlen. Erst war es ein Schweiß- Ihr Sohn Jaroslaw, 27 Jahre, saß wegen sie auf Schweigen: Sie besucht den Direktor
gerät, dann irgendwann ein Auto. Er wurde schwerer Körperverletzung für vier Jahre in der Strafkolonie, fragt ihn, warum er zuge-
zu fünf Jahren Haft verurteilt, wie er später einer Strafkolonie in Perm ein, die Folge einer lassen habe, dass ihr Sohn in den Krieg ge-
seiner Tante mitteilt. Bei seiner Pflegemutter Schlägerei. Ihm war es erlaubt, während der schickt wurde. Er schaut sie nur an. Sie ruft
meldete er sich da längst nicht mehr. Haft zu telefonieren, wochenlang warnte Na- immer wieder bei Wagner an, verlangt, den
Lidija, eine Frau Anfang sechzig, lacht, deschda ihren Sohn: »Lass dich nicht von Vertrag zu sehen, den Jaroslaw mit der Söld-
wenn sie von Andrej erzählt, als versuchte diesem Typen Prigoschin anwerben, das wirst nertruppe geschlossen hatte. Sie fährt zu
sie, all die Trauer wegzulachen. Doch irgend- du nicht überleben.« Sie hatte im Internet einem Büro der Truppe in Jekaterinburg, dort
wann geht es nicht mehr, nach einer Stunde über die Rekrutierungen des Wagner-Chefs droht man ihr mit der Polizei. Sie besucht
bricht ihre Stimme, als sie vom Grab Andrejs in den Gefängnissen gelesen. Sie machte sich Vertreter der Kremlpartei Einiges Russland,
berichtet, das sie besuchen wolle – trotz al- Sorgen – ihr Sohn hatte sich nach dem Wehr- schreibt dem Staatsanwalt, dem Ermittlungs-
lem. Sie weint. »Ich habe ihn doch aufgezo- dienst bei einer Raketeneinheit verpflichtet. komitee. Es ist ihre Art des Protests, »ich kann
gen, wollte, dass dieser Mensch erwachsen Nadeschda, Mitte vierzig, mit ukraini- nicht akzeptieren, dass Prigoschin unsere Kin-
wird, etwas aus seinem Leben macht. Jetzt schen Wurzeln, ist eine vehemente Gegnerin der benutzt«. Einmal schon sei sie wegen an-
ist all meine harte Arbeit umsonst gewesen.« des Angriffskriegs gegen ihr Nachbarland. geblicher Verunglimpfung der Armee zu einer
»Heim, Pflegefamilie, Gefängnis, Krieg »Mach dir keine Sorgen«, habe ihr Sohn ge- Geldstrafe verurteilt worden.
und Tod – was für ein Schicksal eines Kindes«, sagt. Anfang Oktober rief er dann plötzlich Der versucht, seine Häftlingssoldaten nun
sagt Larissa. Sie macht sich Vorwürfe. Sie hät- an: »Ich habe unterschrieben, ich konnte als Helden darzustellen, enthüllt zu ihren Eh-
te versuchen müssen, ihren Neffen zu sich zu ren auf seinen Wagner-Friedhöfen Gedenk-
holen, Lidija zu helfen. Die Frauen nennen steine. Auch auf der Beerdigung ihres Sohnes
Andrej einen Helden, »er ist doch für sein Gesichtslos sprach jemand davon, dass Jaroslaw ein Held
Heimatland gestorben«. Als Korrespondentin Christina Hebel und sei, erzählt Nadeschda. »Held wovon?«, habe
Am liebsten würde Larissa sein Grab öff- Fotograf Dmitrij Serebrjakow den Wagner- sie ihm geantwortet. Keiner habe Russland
nen, einen DNA-Test machen lassen, um end- Friedhof besuchten, fiel ihnen auf, dass – angegriffen. »Ich habe meinen Sohn nicht als
lich Gewissheit zu finden. Doch dazu müsste anders als auf russischen Friedhöfen oft Helden beerdigt, sondern weil er unrecht-
sie gegen Wagner klagen, ein wenig Erfolg üblich – kaum Bilder neben den Namen mäßig von Prigoschin und Putin in diesen
versprechendes Vorhaben bei einer Söldner- zu sehen waren. Fast kein Grab wirkte, als Krieg geschickt wurde«, sagt Nadeschda.
truppe, die nach dem russischen Gesetz wäre es von Angehörigen besucht worden. Nadeschda sagt, sie schäme sich. Sie wisse
eigentlich verboten ist. Und so wollte auch kaum ein Verwandter nicht, wie sie all das ihren Verwandten in der
In den kommenden Monaten will sie mit der Häftlingssoldaten mit dem SPIEGEL Ukraine erklären solle.
Lidija nach Bakinskaja zu Andrejs Grab fah- reden. Die wenigen, die erzählten, haderten Mitarbeit: Alexander Chernyshev,
ren. Beide Frauen sind gegen diesen Krieg. mit ihren Fragen, mit Wut und Trauer. Andrey Kaganskikh n
In der
Chaos-Phase
USA Der Republikaner Ron DeSantis will
im Rennen um die Präsidentschaft
Amtsinhaber Joe Biden beerben. Doch
dafür muss er zunächst in einem
parteiinternen Kampf am Rivalen Donald
Trump vorbei – und präsentiert sich
dabei als »besserer« Trump ohne Drama.
n dem Tag, als Ron DeSantis offiziell Wahlschlacht, jeder kämpft gegen jeden, Ron an die Schalthebel der Macht in Washington
A seine Bewerbung um die Präsident-
schaftskandidatur verkündet, fahren
vor dem Four-Seasons-Hotel in Miami
DeSantis gegen Joe Biden, Republikaner
gegen Demokraten, Republikaner gegen Re-
publikaner und Donald Trump gegen alle. Der
zurückkehren – mit diesmal vielleicht noch
fataleren Folgen?
Die regierenden Demokraten befinden sich
schwarze SUV vor. Einige Dutzend seiner Ausgang: äußerst ungewiss. in der komfortablen Situation, dass ihr Kan-
Großspender und sonstige Unterstützer ge- Dabei geht es um nichts weniger als die didat feststeht. Joe Biden hat bereits im April
nießen streng abgeschirmt von der Polizei in Frage, in welche Richtung sich die immer noch angekündigt, erneut antreten zu wollen. Die
klimatisierten Sälen kühle Getränke und wichtigste, mächtigste und reichste Demo- oppositionellen Republikaner müssen dagegen
Häppchen. Die Presse ist nicht zugelassen. kratie der Erde politisch entwickeln wird. ab Januar 2024 in den Vorwahlen, bei den so-
»Ich bewerbe mich um das Präsidenten- Kommt die Amtszeit des moderaten Demo- genannten Primaries, ihren Favoriten für die
amt, um unser großes amerikanisches Come- kraten Joe Biden im nächsten Jahr zu einem offizielle Präsidentschaftswahl erst noch küren.
back anzuführen«, sagt DeSantis, Gouver- Ende? Wäre der stramm konservative Auf- Der lange erwartete Eintritt von Ron
neur von Florida, feierlich vor einer US-Flag- steiger Ron DeSantis für die Mehrheit der DeSantis in das Rennen macht die Sache für
ge in einer Videobotschaft. Die gleichzeitige Bürgerinnen und Bürger wirklich eine wähl- die Partei nicht nur komplizierter, sondern
Liveankündigung der Bewerbung via Twitter bare Alternative? Oder wird Donald Trump kann auch dazu führen, dass sich die »Grand
mit Elon Musk beginnt wegen akuter techni- Old Party« auf dem Weg zum Wahltag im
scher Probleme bei der Plattform fast eine November 2024 in internen Machtkämpfen
halbe Stunde zu spät, was auch im Four Sea- zerlegt. Donald Trump, so viel steht fest, wird
sons für einiges Kopfschütteln sorgt. alles dafür tun, um sich selbst die Nominie-
»Fuck DeSantis«, rufen derweil draußen rung zu sichern.
vor dem Hoteleingang zahlreiche Demons- Die Attacken gegen den jungen Rivalen neh-
tranten im Chor. Sie haben Regenbogenfah- men bereits an Intensität zu. Derzeit vergeht
nen in der Hand und demonstrieren gegen kaum ein Tag, ohne dass Trump und seine Be-
DeSantis, dem sie Homophobie vorwerfen. rater an die Millionen von Anhängern des Ex-
Daneben halten Anhänger von Donald Trump Präsidenten E-Mails verschicken, in denen sie
ihre Fahne in die Luft: »Fuck Biden!« Einer Parteifreund DeSantis miesmachen. Für Trump
trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Trump steht längst fest, dass nur er der Kandidat sein
ist kein Rassist.« kann – und sein darf. Dass DeSantis, den er
Die seltsame Szenerie in Miami dürfte ein einst förderte, es wagt, gegen ihn anzutreten,
Mandel Ngan / AFP
Vorgeschmack auf das sein, was in diesem US- betrachtet er als Verrat. Tatsächlich führt
Präsidentschaftswahlkampf noch kommt. Mit Trump derzeit in den Umfragen das Feld der
dem holprigen Einstieg von Ron DeSantis in möglichen Kandidaten mit weitem Abstand an.
das Rennen um das Weiße Haus im kommen- Dennoch, Ron DeSantis ist in den eigenen
den Jahr beginnt die Chaos-Phase dieser Wahlkämpfer Trump 2020 Reihen derzeit noch mit deutlichem Abstand
Trumps stärkster Herausforderer. Andere mög- Die Regelung sorgte schnell für Empörung,
liche Kandidaten wie die frühere Uno-Botschaf- in progressiven Kreisen kursierte der Geset-
terin Nikki Haley, Trumps Ex-Vizepräsident zesname »Don’t say gay bill«, was frei über-
Mike Pence oder der Senator Tim Scott liegen setzt so viel heißt wie »Sag nicht das Wort
bei Umfragen nur im einstelligen Bereich. schwul«. Selbst Präsident Joe Biden schalte-
Für DeSantis spricht, dass er mit seinen te sich in die Debatte ein, das Weiße Haus
gerade einmal 44 Jahren als neues, unver- erklärte, das Gesetz sei beschämend. Die Spit-
brauchtes Gesicht gegen den 80 Jahre alten ze des Disney-Konzerns, der in Orlando meh-
Joe Biden antreten könnte. Er und seine Stra- rere Vergnügungsparks betreibt, sprach sich
tegen in der Wahlkampfzentrale in Floridas ebenfalls öffentlich gegen das Gesetz aus –
Hauptstadt Tallahassee setzen offenkundig was DeSantis wiederum die Gelegenheit gab,
darauf, dass sich die Begeisterung für Trump sich als Kämpfer gegen einen »woken« Kapi-
Dieser Eindruck wird stärker, je härter der pelte von dem, was Donald Trump bislang treibungen nach der sechsten Schwanger-
Ex-Präsident auf DeSantis einprügelt. Trump eingesammelt haben soll. Angesichts der schaftswoche verbietet.
hat für den 44-Jährigen schon eine ganze Se- enormen Kosten für TV- und Digitalanzeigen, Interessanterweise meidet Trump das The-
rie von Spottnamen erfunden. Die letzte In- die jeder Präsidentschaftswahlkampf in den ma weitgehend, offenbar, um moderatere
novation lautet »Meatball Ron«, was offen- USA verschlingt, können hohe Spendenein- Wählerinnen und Wähler nicht zu verschre-
kundig nicht nur eine Anspielung auf den nahmen entscheidend werden. cken. DeSantis neues Abtreibungsgesetz be-
gedrungenen Körperbau von DeSantis sein Die Unterstützer von DeSantis aus der In- zeichnete er als »zu streng«. DeSantis ant-
soll, sondern auch auf dessen italienische dustrie eint dabei vor allem die Sorge, dass wortete darauf bei einem Auftritt vor Evan-
Herkunft: Spaghetti mit Fleischbällchen sind eine erneute Kandidatur von Trump dazu gelikalen in Orlando: »Ein ungeborenes Kind
ein Klassiker der italo-amerikanischen Kü- führen könnte, dass die Republikaner in einen mit einem Herzschlag zu beschützen ist nicht
che. Wenn DeSantis den Ex-Präsidenten Abwärtssog geraten und bei den nächsten streng, es ist menschlich.« Die Zuschauer im
schlagen will, muss er irgendwann auch mal Kongresswahlen wichtige Abgeordnetenman- Saal feierten ihn mit Applaus.
gegen ihn eine Offensive starten. date und damit politischen Einfluss in Wa- Donald Trump könnte auf einen anderen
Ein wichtiger Faktor bei dieser Wahl dürf- shington verlieren. »Trump war ein großarti- Effekt setzen, um den Rivalen auszuschalten.
te allerdings das Geld werden. Einige einfluss- ger Präsident, aber die Partei braucht eine Für den Ex-Präsidenten könnte sich noch als
reiche Großspender der Republikaner sind in neue Führung, die in der Lage ist, die Zukunft Vorteil erweisen, dass neben DeSantis weite-
den vergangenen Monaten aus dem Trump- zu gestalten«, sagt der Unternehmer Dan re Bewerberinnen und Bewerber wie Nikki
Lager zu DeSantis gewechselt, weitere könn- Eberhart, einer der einflussreichen Spender Haley, Tim Scott oder Ex-Vizepräsident Mike
ten folgen. Dass Elon Musk offenkundig mit der republikanischen Partei. »DeSantis hat Pence möglichst lange im Rennen bleiben.
ihm sympathisiert, ist für DeSantis eine gute nicht nur bewiesen, dass er selbst Wahlen ge- So könnte sich ein Szenario wiederholen,
Nachricht, auch wenn sich der Techmilliardär winnen kann, sondern er kann auch anderen das Trump bereits 2016 die Nominierung sei-
noch nicht festgelegt hat, ob er den Kandida- Kandidaten helfen zu gewinnen.« ner Partei sicherte. Er würde bei den Vor-
ten auch finanziell unterstützen wird. Vor Im Wahlkampf hat es DeSantis auch auf wahlen in den einzelnen Bundesstaaten stets
Kurzem wurde DeSantis zudem bei einem die Unterstützung der einflussreichen Grup- einen ordentlichen Stimmenanteil bei seinen
Dinner mit der milliardenschweren Witwe pe der evangelikalen Christen abgesehen. Sie Anhängern einsammeln, während sich die
des Kasino- und Hotelmagnaten Sheldon zählen eigentlich zur Wählerklientel von Stimmen all jener Republikaner, die ihn auf
Adelson gesehen. Das löste prompt Spekula- Trump. Für einiges Aufsehen sorgte unlängst, keinen Fall wollen, auf mehrere unterschied-
tionen aus, Miriam Adelson, die 2020 noch dass sich DeSantis mit einem ihrer Wortfüh- liche Kandidaten verteilen. Einigen sich die
Trump unterstützt hatte, könnte sich bald auf rer traf, Franklin Graham. DeSantis will sich Rivalen dann nicht rasch auf einen einzigen
die Seite des jungen Rivalen schlagen. bei diesen Erzkonservativen vor allem damit Anti-Trump-Kandidaten, zum Beispiel auf
DeSantis’ Wahlkampfkasse ist gut gefüllt, hervortun, dass er für strenge Abtreibungs- DeSantis, stünde der Endsieger der Vorwah-
er soll bereits mehr als 100 Millionen Euro gesetze eintritt. In Florida unterzeichnete er len bald fest: Es wäre wieder Donald Trump.
auf dem Konto haben. Das ist fast das Dop- als Gouverneur eine neue Regelung, die Ab- Roland Nelles, René Pfister n
150 Fragen
In die W
m e lt
u
tionellen Familie. Als Underdog, wie Meloni, die sich fürs Prekariat, die tung, für ökologischen Wandel und
sie selbst sagt, die sich als Kellnerin Rechte von Migranten und die Ehe den Schutz von Minderheiten. »Auf
und Barkeeperin nach oben gearbei- für alle stark macht sowie den Klima- meiner Reise von Süd nach Nord hat-
tet hat. Als rechte Nationalistin, die notstand mit größter Dringlichkeit te ich oft das Gefühl, dass wir seit Lan-
Italien gegen Migranten sowie gegen angehen will, alles im Widerspruch gem erwartet wurden«, schrieb sie auf
Berlin, Brüssel, Paris verteidigen will. zu Meloni? Das Duell der Frauen Facebook am Ende ihrer Kampagne.
Und da ist jetzt Elena Ethel Schlein, dürfte die italienische Politik noch Jetzt gehe es darum, Partei und Land
genannt Elly. Die Juristin hat einen lange beschäftigen. grundlegend zu verändern.
italienischen, einen amerikanischen Einen Stimmungstest gibt es bei Am 26. Februar gewann sie die
und einen Schweizer Pass. Bis zum den Kommunalwahlen, die Mitte Mai Abstimmung mit 53,75 Prozent.
Noch Jahre später bezeichnete er den frühen ges, über die Kissinger im Bilde war, ja die er darauffolgenden Ausgabe aber auch Augsteins
Kissinger als einen »deutschen Professor Selt- billigte: massive US-Bombenkampagnen Antwort: »Dear Henry«, schrieb er, »in Ihrem
sam, der lehrte, die Bombe zu lieben« und gegen Vietcong-Stellungen im Nachbarland Innersten wussten Sie, dass der Einfall nach
geißelte Amerikas »Verniedlichung von Kambodscha, die viele zivile Opfer forderten, Kambodscha nicht hätte sein dürfen.« Ame-
Atombomben zu Atombömbchen«. (Das Ge- das Land destabilisierten und schließlich in rikas Krieg sei »unmoralisch, weil unverhält-
rücht, Kissinger sei tatsächlich das reale Vor- einen verheerenden Bürgerkrieg stürzten. nismäßig« gewesen. Ein harter Vorwurf gegen
bild des irren Nuklearwissenschaftlers »Dr. Dass Kissinger diese Bombardements mit einen Mann, der 1973 für seine Vietnamver-
Strangelove« in Stanley Kubricks gleichna- den zynisch klingenden Operationsnamen handlungen den Friedensnobelpreis akzep-
miger »Kalter Krieg«-Satire gewesen, wurde »Breakfast«, »Lunch« und »Snack« recht- tiert hatte. (Kissingers ebenfalls ausgezeich-
nie erhärtet.) fertigte, stieß Rudolf Augstein ab. Kissinger neter Verhandlungspartner Le Duc Tho hatte
Zugleich erkannte Augstein früh das intel- habe in diesem Einsatz »kein Problem der den Preis nicht angenommen.)
lektuelle Kaliber des jungen Harvard-Profes- Moral« gesehen, zitierte er und kommentier- Diese Bewertung des Vietnamkrieges be-
sors, hob gleich das erste Interview mit ihm te: »Der Zweck heiligte die Mittel.« Noch lastete das Verhältnis, führte aber nicht zum
auf den Titel und führte eine vier Jahrzehnte 1979, anlässlich des Vorabdrucks von Kissin- Bruch. Augstein ging nie so weit wie sein US-
währende Korrespondenz mit Kissinger, die gers Memoiren, beklagte Augstein »blinde Kollege Seymour Hersh und andere, Kissinger
am Ende drei Ordner füllte. und dunkle Flecken« in diesem »staunens- einen Kriegsverbrecher zu nennen. Doch des-
Erst 1967, acht Jahre nach Kissingers ers- werten Buch«. Und stellte die Frage, »ob Kis- sen Anteil an den Geheimoperationen der
tem SPIEGEL -Interview, lernte der US-Poli- singer den Tod und das unsägliche Elend der Nixon-Regierung blieb ein kontroverses The-
tiker Richard Nixon den Professor aus Har- Kambodschaner, sei es durch halbherzige An- ma in künftigen SPIEGEL -Gesprächen. Noch
vard kennen. Es war eine schicksalhafte Be- passung an die Wünsche Nixons, sei es aus im Alter von 99 Jahren reagierte Kissinger im
gegnung, denn im Jahr darauf gewann Nixon fehlsamer Einschätzung, mitverschuldet hat«. vergangenen Sommer empfindlich, als die
die Präsidentschaftswahl und ernannte Kis- Kissinger antwortete mit einem persönli- Sprache auf Kambodscha kam.
singer zu seinem Sicherheitsberater. Damit chen Brief: »Dear Rudolf! Ihren Artikel habe Für Augstein überwogen am Ende Kissin-
begann die turbulenteste und folgenreichste ich als einseitig und tendenziös empfunden«, gers Verdienste seine möglichen Fehler bei
Phase in Kissingers Karriere. Der SPIEGEL schrieb er. Die Behauptung, Amerika sei Weitem. Den Kernpunkt seiner Anerkennung
war nahe dran: Am Tag von Nixons Vereidi- schuld an Kambodschas Tragödie, übersteige hat er vielleicht in einem Satz versteckt, den
gung, dem 20. Januar 1969, erschien das zwei- »alle Grenzen von Logik oder Anstand«. Der er 1976 in einem Kommentar zu Kissingers
te große Gespräch mit Kissinger. SPIEGEL druckte Kissingers Brief ab, in der Abschied als Außenminister schrieb: »Die
Nur am Rande kam darin eines der Länder Deutschen haben in dem von Hitler vertrie-
vor, die heute am engsten mit Kissingers Na- Kissinger und der SPIEGEL benen Henry Kissinger einen Weltaußen-
men verknüpft sind: China. minister erlebt, der ohne Ressentiment war.«
Nixon hatte schon seit Jahren erwogen,
Augstein (2. v. r.), Kissinger (M.) bei Der frühere Wehrmachtssoldat Augstein
Verbindungen mit dem isolierten China auf- Redaktionsbesuch 1978; Kissinger-Titel konnte ermessen, was das bedeutete.
zunehmen, um das damals mit Peking ver- Im selben Text findet sich aber auch eine
feindete Moskau zu Abrüstungsverhandlun- Beobachtung, die den »Realpolitiker« Kissin-
gen zu drängen und so den Kalten Krieg zu ger und seine Einschätzungen zur Weltlage
entschärfen. Doch es war Kissinger, der diesen bis heute besser verstehen lassen: Für Kissin-
Plan umsetzen sollte. Im Sommer 1971 brach ger, schrieb Augstein, sei die Welt ȟberzogen
er im Schutz der Dunkelheit, mit Hut und von einem System von Zentralen, in denen
Sonnenbrille getarnt, von Pakistan aus zu Staatsmänner einander Signale« geben. »Dass
einem Geheimtrip nach Peking auf, um die die Macht dieser Signalgeber innenpolitisch
erste Chinareise eines amtierenden US-Prä- definiert und demgemäß schwankend« ist,
Monika Zucht
In Kooperation mit
SPORT
Tennis-Topstars
API
Carlos Alcaraz im Vergleich zu den Big Three des Profitennis im Alter von jeweils 20 Jahren
9 Titel 16 1 5
davon Grand-
1 Slam-Titel 1 0 0
S Quelle: ATP
◆
Der Spanier Carlos Alcaraz geht als Favorit in die French Open. In Abwesenheit des verletzten Rafael Nadal, der 14-mal in Paris erfolgreich war,
will Alcaraz den zweiten Grand-Slam-Titel seiner Karriere gewinnen. Im Vergleich zu Nadal, Roger Federer und Novak Djoković – den
dominierenden Tennisspielern der vergangenen 20 Jahre – wirkt der Spanier für sein Alter sehr reif. Djoković beispielsweise war 24, als er zum
ersten Mal als Weltranglistenerster ins Turnier ging. Alcaraz ist vor wenigen Tagen 20 Jahre alt geworden.
schnitt haben Frauen dieselben 8297 weiblich. In der deut- matik nicht genügend von
Schachfähigkeiten wie Män- schen Rangliste liegt Vincent ihrem Umfeld gefördert«, sagt
ner«, sagt er. Hesse begründet Keymer an der Spitze. Die bes- er. Es sei durch viele Studien
das mit der Gaußschen Nor- te deutsche Schachspielerin, widerlegt, dass Mädchen für
malverteilung: In Deutschland Elisabeth Pähtz, belegt Posi- Mathematik weniger befähigt
gebe es ein 10:1-Verhältnis zwi- tion 58. Errechnet werden Schachspielerin Pähtz sein sollen als Jungen. KRÄ
Gegnerisches Tor
Eigenes Tor
2. Bundesliga Bundesliga
FC Bayern
6000 Jamal Musiala
5000
4000
3000
2000
Maximum FC Bayern
Maximum Bundesliga
Durchschnitt FC Bayern
Minimum FC Bayern
Jamal Musiala
Durchschnitt Bundesliga
Minimum Bundesliga
0 2000 4000 6000
in Besprechungsraum im Verlagshaus zweiten englischen Liga zum BVB, im Som- Gelingt dem Spieler, was er auf dem Platz
E des SPIEGEL , März 2023: Tim Schröder
lässt die Jalousien herunter und klappt
seinen Laptop auf, er ist nach Hamburg
mer wird er vermutlich für deutlich mehr als
100 Millionen Euro Ablöse wechseln.
Eine kluge Transferstrategie entscheidet
versucht? Wie viele dieser gelungenen Aktio-
nen bringt er zustande? Wie schneidet er im
Vergleich zu seinen Mitspielern ab? Wie wert-
gekommen, weil er an diesem Nachmittag über Millioneneinnahmen. Sie kann damit voll ein angekommener Pass im Vergleich zu
die Zukunft des Fußballs präsentieren will. zum ausschlaggebenden Faktor werden, wenn einem Ballgewinn ist, entscheidet die KI
Über den Monitor flimmern Daten und Gra- es um Sieg oder Niederlage geht, um Europa- eigenständig. Schließlich analysiert sie, wie
fiken zu Profikickern. Ein Streudiagramm cup oder Abstiegskampf. sich die Daten eines Spielers über vergangene
verrät, ob ein Spieler genug Talent für die Und so wächst das Interesse der Fußball- Saisons hinweg entwickelt haben, und trifft
Bundesliga hat oder doch nur für Liga zwei. branche an datenbasiertem Scouting; immer anhand dessen Prognosen über die Zukunft.
Über dem Diagramm stehen zwei Zahlen: mehr Unternehmen wollen daraus ein Ge- So misst sie das Potenzial eines Fußballers.
ein »Score«, der besagt, wie gut der Spieler schäft machen. Sie heißen StatsBomb oder Die Ergebnisse sind teils verblüffend.
im weltweiten Vergleich ist, und die Summe, GoalImpact, einige Firmen liefern, was sie »Diese Musiala-Geschichte liegt mir quer
die ein Verein für ihn als Ablöse überweisen versprechen, andere glänzen vor allem beim im Magen«, sagt Wendt, als es um die Zukunft
sollte. Wichtigtun. Big Data, Deep Learning und KI, des womöglich größten Talents im deutschen
Die Zahlen sind nicht von Trainern oder das alles klingt so schön nach Zukunft und Fußball geht. An seinem Beispiel verdeutlicht
Scouts, von Beratern oder Sportdirektoren lässt sich verkaufen. Wendt, wie unterschiedlich KI und Mensch
erstellt worden, sondern von einer künstli- Aber wie sehr ist den Daten zu trauen? auf denselben Spieler schauen.
chen Intelligenz, die das Transfergeschäft re- Und sind sie wirklich besser als das Auge Musiala, 20, dribbelte bei der WM in Ka-
volutionieren wird. Das jedenfalls behaupten menschlicher Fußballkenner? tar Gegenspieler schwindelig. Er gilt als die
die Männer hinter den Zahlen und Grafiken. Als Wendt und Schröder von Plaier dem Offensivhoffnung der deutschen National-
Sie heißen Jan Wendt und Tim Schröder, kei- SPIEGEL ihr System vorstellen, zeigen sie mannschaft und des FC Bayern München,
ner der beiden kommt aus dem Profifußball. Informationen zur aktuellen Leistungsfähig- Marktwert: mehr als 100 Millionen Euro.
Wendt, 56, arbeitete im Sportmarketing und keit eines Spielers: im Vergleich zum Team, Bundestrainer Hansi Flick schwärmte, es sei
befasste sich dort vor allem mit Motorsport, das sich für diesen Spieler interessiert, aber »ein Genuss, ihn spielen zu sehen«.
Schröder, 49, war in der IT-Branche tätig. auch im Vergleich zu sämtlichen Fußballern »Musiala spielt auf einem extrem hohen
Die beiden sind Mitgründer von Plaier, weltweit, die auf derselben Position spielen. Niveau«, sagt Wendt, das zu betonen ist ihm
einer neuen Onlineplattform für Fußball- Das Modell sagt, wie sich der Spieler in den wichtig. Aber: »Er wird sich nicht mehr stei-
klubs. Das »ai« in der Wortmitte steht für kommenden Jahren entwickeln wird. gern.« Über den Zeitraum, der sich daten-
»artificial intelligence«, künstliche Intelligenz. Sollten solche Prognosen korrekt sein, wä- mäßig erfassen lässt, habe Musiala im Ver-
»Wer mit Plaier arbeitet, muss bei Transfers ren sie für Fußballvereine wie Berateragen- gleich zu anderen Spielern enorme Schritte
nie wieder allein auf die Fähigkeit der eigenen turen Millionen wert. Für das Transferge- gemacht. Er entwickle sich aber nicht im sel-
Scouts bauen«, sagt Wendt. schäft käme das einer Revolution gleich. ben Tempo weiter. Musiala stagniere. Sein
Die KI bewertet Fußballer ausschließlich Stark vereinfacht, basiert Plaier auf Fuß- Potenzial sei ausgeschöpft, schon heute, mit
auf Basis von Daten: Jedes Kopfballduell, balldaten, die das Unternehmen weltweit ein- 20 Jahren. Sagt die KI.
jeder Pass, alles, was auf dem Rasen geschieht, kauft: von der Bundesliga über die indonesi- Dass Musiala bereits seinen Zenit erreicht
fließt in die Bewertung ein. Die KI, sagt Schrö- sche erste Liga bis hinunter zum Jugendfuß- haben könnte, sagt Wendt, sei kontraintuitiv.
der, analysiere den Kader eines Klubs, identi- ball. Mit diesen Daten wird die KI gefüttert. Einer der besten deutschen Spieler? Und
fiziere die Schwachstellen und unterbreite Zu Beginn wurden ihr einige Regeln erklärt: kaum Potenzial, besser zu werden?
Empfehlungen, wie sie beseitigt werden kön- dass ein Tor besser ist als ein Fehlschuss oder Er verstehe, dass dies skeptisch mache, sagt
nen. Ein Verein sucht einen neuen Stürmer. dass ein gewonnener Zweikampf besser ist Wendt. Eigentlich verbessern sich Talente,
Wozu, fragt die KI, der Sturm ist gut genug als ein verlorener. Dann erkennt die KI Zu- wenn sie Erfahrung sammeln. Sein Vertrauen
besetzt; in Wahrheit benötigt der Verein einen sammenhänge und trifft Aussagen über die in die KI kann das aber nicht erschüttern.
Linksverteidiger. Hier sind 20 Vorschläge. Qualität von Fußballern. Dreieinhalb Jahre hat die Entwicklung von
Fußballtransfers sind ein Milliardenge- Plaier gedauert. Wie teuer sie war, will Wendt
schäft. Laut Weltverband Fifa gaben die Klubs nicht verraten.
im Jahr 2022 weltweit umgerechnet rund Die KI soll ein grundlegendes Problem der
MAGICS / action press
sechs Milliarden Euro für Ablösesummen aus. Fußballbranche lösen. Während früher kaum
Vereine wie Borussia Dortmund machen Ge- »Jamal Musiala wird Informationen zu Spielern aus dem Ausland
winne, indem sie Spieler günstig ein- und teu- existierten, werden Vereine inzwischen von
er verkaufen. Das Toptalent Jude Bellingham, sich nicht mehr steigern.« Daten regelrecht überschwemmt. Die Ver-
19, kam 2020 für 25 Millionen Euro aus der Jan Wendt, Plaier-Mitgründer messung des Fußballs hat längst begonnen,
Steve Kfour y
ße geben und unmodern wirken.
Entsprechende Lizenzen gibt es oft schon
KI-Pioniere Schröder, Wendt: »Natürlich können wir auch Mentalität messen«
für einige Zehntausend Euro. Gemessen an
der Aussicht auf Millionengewinne eine ver
in Datenbanken finden sich zu Zigtausenden Damals kickt Kolo Muani in der dritten fran blüffend geringe Summe.
Spielern weltweit noch viel mehr Statistiken. zösischen Liga, ihm gelingen in der gesamten Vor allem liegt sie deutlich unter dem, was
Aber kaum jemand weiß eine Antwort auf Saison nur drei Tore. Manga ist dennoch über eine Scoutingabteilung kostet, insbesondere
die Frage, welche Zahlen wirklich entschei zeugt. »Fußballerisch hat er alles mitgebracht, wenn sie nach den Methoden von Ben Man
dend sind. vor allem hat er aber Gas gegeben, wenn er den ga arbeitet. Zu den Gehältern und Honoraren
Was sagt eine Erfolgsquote von 90 Prozent Ball verloren hat«, sagt er. Manga sucht Ge der Scouts kommen dann erhebliche Reise
gewonnener Zweikämpfe über einen Abwehr spräche mit dem Spieler und dessen Umfeld, kosten. Eine Datenbank, digital, effizient und
spieler aus, der bei Gegentoren falsch steht? ihm ist wichtig, wie Kolo Muani tickt. Ob er im objektiv, klingt da wie eine Verheißung.
Fragt man Ben Manga, lautet seine Ant Gespräch den Blick hält oder sich ablenken lässt. Auch Plaier kostet die Klubs je nach Liga
wortet: gar nichts. »Ich habe immer Spieler verpflichtet, die zugehörigkeit lediglich einen fünfstelligen
»Die Daten sagen dir, das Passspiel war Mentalität hatten. Und Mentalität lässt sich Betrag pro Jahr. Das dürfte sich für die Ma
gut, die Daten sagen dir, die Erfolgsquote bei nicht mit Daten messen«, sagt Manga. cher nur rechnen, wenn genügend Vereine
Kopfbällen ist niedrig, und, und, und. Super. »Natürlich können wir auch Mentalität zugreifen und das KIModell nicht nur aus
Ich gehe lieber ins Stadion und vertraue da messen«, entgegnet Jan Wendt von Plaier. probieren, sondern dauerhaft nutzen. Dafür
rauf, was ich sehe.« Auf seinem Laptop zeigt er Diagramme, müssen die Resultate der KI stimmen.
Seit etwa 20 Jahren ist Manga, 49, im Fuß die die Performance eines Spielers während Bei Randal Kolo Muani, Frankfurts Top
ballgeschäft tätig, als Scout, später als Direk einer Partie visualisieren. »Wir sehen genau, stürmer, hätte das Resultat vor drei Jahren
tor Profifußball. Sein Talent ist der Blick für wie Fußballer mit einem Gegentor umgehen, nicht gestimmt. »Dass Kolo Muani so gut wer
Talente. 2016 kam er zu Eintracht Frank ob sie sich hängen lassen oder aufdrehen, weil den würde, wäre Plaier durchgerutscht«, sagt
furt, da war der Bundesligist gerade dem Ab sie auf keinen Fall verlieren wollen.« Wendt. Das liege womöglich daran, dass der
stieg entgangen. Sechs Jahre danach gewann Ihr Vertrauen in das KIModell sehen Angreifer nach Jahren als Flügelspieler plötz
die Eintracht die Europa League. Sébastien Wendt und Schröder durch Gespräche in der lich ins Sturmzentrum gerückt sei. »Solche
Haller, Ante Rebić, Luka Jović oder Evan Fußballbranche bestätigt. Im vergangenen späten Positionswechsel kann Plaier noch
Ndicka: Die Liste der von Manga entdeckten Herbst überreichte ihnen der Sportchef eines nicht erkennen«, sagt Schröder.
Volltreffer ist lang. Bundesligisten eine Liste mit den Namen von Im Fall von Kolo Muani hat Ben Manga
Wenn er ein Fußballspiel schaut, erkennt zehn Talenten, für eines davon hatte er kurz die KI geschlagen. Wie ein Großmeister, der
Manga Dinge, die den meisten Menschen ver zuvor Millionen überwiesen. einen Schachcomputer besiegt.
borgen bleiben. Auf welche Details er dabei Der Mann bat um eine Bewertung durch die »Wir wollen die Scouts gar nicht abschaf
achtet? Berufsgeheimnis. KI, er wollte wissen, ob das Programm seine fen, wir wollen das Scouting verändern«, sagt
Seinen wohl größten Coup landete er mit Entscheidung bestätigte. Im Videocall präsen Schröder. Künftig könnten Sportchefs die KI
Randal Kolo Muani. Der Stürmer kam im tierten die PlaierLeute ihre Resultate. Acht der nach einem passenden Transferziel fragen,
vergangenen Sommer ablösefrei aus Nantes. zehn Spieler sollten definitiv nicht verpflichtet erst dann macht sich der Scout selbst ein Bild.
Inzwischen ist er Stammspieler in Frankreichs werden, so das Ergebnis, das Potenzial zur Wei »Die Vereine, die so arbeiten wollen, sollen
Nationalmannschaft, Spitzenklubs sollen sich terentwicklung sei gering. Der Neueinkauf war das gerne tun«, sagt Ben Manga. Er werde
für ihn interessieren, darunter der FC Bayern. einer der acht. Man habe gespürt, wie sich die weiter ganz ohne Daten sichten, solange man
Angeblich fordert die Eintracht mindestens Stimmung verschlechterte, erzählt Wendt. ihn lässt. Allerdings nicht mehr in Frankfurt.
100 Millionen Euro Ablöse plus Boni. Seit Dezember arbeitet er als Sportchef beim
Kolo Muanis Wechsel nach Frankfurt englischen Zweitligisten FC Watford. Die Ein
brauchte drei Jahre Anlauf. 2019 ruft einer tracht hat er wegen Differenzen über die
von Mangas Scouts aus Frankreich an. Er Arbeitsweise verlassen.
habe da ein Talent entdeckt, das Manga sehen »Man kauft Daten ein, Frankfurts Sportvorstand Markus Krösche
müsse. »Also bin ich hingeflogen und habe hat bereits verkündet, er wolle künftig ver
ihn mir angeguckt. Mein erster Eindruck war: weil sie jeder einkauft.« mehrt auf Datenscouting setzen.
Wow, was für ein Spieler.« Ein Bundesligascout Danial Montazeri n
was Sascha für ein Spieler ist und wo jetzt schnell wieder nach oben‹ muss-
er hingehört: in die Top 10, die Top 5 te ich schnell begraben.
der Welt. Er war so kurz davor, die SPIEGEL: Nagt so etwas am Selbst-
Nummer eins zu werden. Bis die vertrauen?
mir neue Ziele gesteckt, Ziele er- Träume, habe Wünsche. Die behalte
reicht. Hat bei mir eben alles ein biss- ich aber für mich. Ich weiß, wo ich
chen länger gedauert. herkomme. Ich weiß, was im Tennis
SPIEGEL: Sie haben gerade Alexander alles passieren kann. Das letzte Jahr
Zverev als deutsche Nummer eins ab- hat mich geerdet. Für mich ist wichtig
gelöst. War das ein Ansporn für Sie? zu wissen: Ich habe ein Leben, auch
Struff: Ich habe das natürlich auf dem ohne Tennis.
Schirm gehabt. Aber wir wissen alle, Interview: Josef Saller n
wig-Holstein solche frisch gefallene Meteori- und weshalb so ein kleiner SPIEGEL: Der Meteorit ist so alt
geschehen? ten am Boden weder glühend Brocken dann auf Kollisions- wie unser Sonnensystem?
Heinlein: Das ist eine faszinie- heiß noch eiskalt sein, sondern kurs mit der Erde geriet, das Heinlein: Ja, aber das Bemer-
rende Geschichte. Normaler- lauwarm. Und genau das hat kann durch solche Radionuklid- kenswerte ist etwas anderes:
weise sieht man Feuerkugeln, dieser Hausbesitzer festgestellt. Messungen erforscht werden. Er ist immer noch genau so er-
Sternschnuppen und Meteore SPIEGEL: War er denn gut bera- SPIEGEL: Wie alt ist der Klotz? halten, wie er damals durch
nur in der Nacht. Dass in die- ten, das Ding zu berühren? Heinlein: Entstanden ist er vor Zusammenballung von Silikat-
sem Fall eine Feuerkugel sekun- Heinlein: Es stellte keine Gefahr etwa 4,5 Milliarden Jahren als mineralien und Körnchen aus
denlang am Tag klar zu erken- dar für ihn. Solche Meteoriten ein relativ kleiner Körper, der Eisen und Nickel entstanden ist.
nen war, ist eine Ausnahme- werden ja im Weltraum immer- vielleicht ein paar Meter Durch- Dies ist das Ursprungsmaterial,
erscheinung. Hier hatten wir zu durch kosmische Strahlung messer gehabt hat. Vor einigen die Ur-Materie unseres gesam-
auch das große Glück, dass ten Sonnensystems. Jede ande-
nicht wie so häufig alles Mate- re Materie, die wir auf der Erde
rial in der Atmosphäre aufgerie- anfassen können, ist ja durch
ben wurde. Mehr als vier Kilo- geologische Prozesse vielfältig
gramm sind gefunden worden. verändert worden. Aber aus
SPIEGEL: Die Trümmer sind auf dem Stoff, aus dem dieser Me-
zwei Dächer und in Gärten ge- teorit besteht, sind einst all
knallt. unsere Gesteinsplaneten ent-
Heinlein: Genau. In einem Fall standen. Ein Meteorit wie die-
war es so: Es gab einen großen ser ist wie ein Guckloch in die
Krach. Der Hausbesitzer ist damalige Zeit.
hinausgelaufen, hat gesehen, SPIEGEL: Für den größten Klum-
dass einige Dachpfannen zer- pen wollen Sammler inzwischen
Daniel Bockwoldt / dpa
stört waren, und einen schwar- mehr als 200.000 Euro zahlen.
zen Stein von der Größe eines Heinlein: Dies war ein Ge-
Tennisballs erblickt. Geistes- Bruchstück des
schenk des Himmels. Ich hoffe,
gegenwärtig hat er geschlossen: Elmshorner Meteoriten dass die Familie das Stück im
Das kann nur ein Meteorit sein, Familienbesitz behält. ME
Giftalarm im Darm
MEDIZIN Beim Verständnis von Parkinson bahnt sich eine Revolution an: Das weitverbreitete Hirnleiden
beginnt nicht erst mit Zittern und Bewegungsstörungen, sondern mit Verstopfung, Erschöpfung, Schlaf-
und Riechstörungen. Durch Früherkennung wollen Mediziner jetzt den Ausbruch der Krankheit verzögern.
port ist Jan Becker wichtig. Jede Woche Stadium der Krankheit auftreten. Oft schon
S geht der 58-jährige Unternehmens-
berater aus dem Rheinland zweimal
laufen, einmal Fahrrad fahren und zweimal
Die ersten Anzeichen
Exemplarischer Parkinson-Krankheitsverlauf
Jahre vorher kann es aber zu einer Vielzahl
nicht motorischer Symptome kommen, darun-
ter Denk- und Konzentrationsstörungen, Er-
und Symptome, die in den einzelnen Phasen
zum Krafttraining. »Ein Halbmarathon muss einsetzen können* schöpfung, Schwindel beim Aufstehen, De-
aus dem Stand immer möglich sein«, sagt er. pressionen und Ängste, aber auch chronische
Er hofft, dass er das noch lange können Vorphase Verstopfung, Erektionsstörungen und ein
wird. Doch vor drei Jahren bemerkte seine Schlafstörung (z.B. Rückgang der Libido, der Verlust des Ge-
Dauer gestörte REM-Phase),
Frau, dass sein rechter Arm merkwürdig ruchssinns und insbesondere die REM-Schlaf-
2 bis 5 Depression
steif herunterhing. Beim gemeinsamen Trai- Jahre
Bewegungsstörung, bei der die Patienten im
ning rief sie ihm zu: »Du läufst, als hättest du Herabgesetztes Schlaf um sich schlagen oder treten.
einen Schlaganfall gehabt.« Empört habe er Riechvermögen »Die nicht motorischen Symptome bekom-
diesen Verdacht von sich gewiesen, erzählt men in Wissenschaft und Therapie immer
Becker, der seinen richtigen Namen hier nicht Verstopfung mehr Aufmerksamkeit«, bestätigt auch Rejko
preisgeben möchte. »Das ist mein Laufstil«, Krüger, Professor für Neurowissenschaften
habe er seiner Frau entgegnet, »das ist ganz am Luxembourg Centre for Systems Bio-
3 bis 6
normal.« medicine und Direktor am Luxembourg Insti-
Jahre
Vor einem Jahr fiel ihm dann aber auf, dass Frühphase tute of Health, der eine große Kohortenstudie
er immer wieder nach Wörtern suchen muss- Erschöpfung zur Früherkennung von Parkinson leitet. Vor
te, wenn er sich mit Freunden unterhielt. Und allem hoffen Ärzte und Forscher, in Zukunft
dass er immer öfter müde und erschöpft war Doppelsehen anhand dieser ersten Symptome Hochrisiko-
und die Freude und Ausgelassenheit allmäh- patienten noch vor Beginn der motorischen
Schmerz
lich aus seinem Leben verschwand. (z.B. in der Schulter)
Beschwerden gezielt zu erkennen – um dann
Eine Neurologin checkte ihn durch – und mithilfe neuartiger Medikamente oder ande-
fand nichts. Anfang des Jahres überwies sie zunehmende Bewe- rer Therapien die Verschlimmerung der
Becker ratlos in die Ambulanz für Bewe- gungsstörungen: Krankheit noch abwenden oder hinauszögern
gungsstörungen am Universitätsklinikum 4 bis
Diagnose Parkinson zu können.
Köln. Dort hatte der Neurologe und Oberarzt 12 »Wir müssen jetzt handeln«, ist Krüger
Michael Sommerauer schon nach wenigen Jahre überzeugt. In der Tat sind Fortschritte bei
Minuten einen Verdacht: Parkinson. Eine spe- Früherkennung und Behandlung dringend
zielle Untersuchung, bei der mithilfe einer Früh- und nötig: Parkinson ist nach Alzheimer die zweit-
schwach radioaktiv markierten Substanz die Mittelphase häufigste neurodegenerative Erkrankung. Be-
Angst, Schlafstörung
Funktionsfähigkeit bestimmter Nervenver- (z.B. Unterbrechun-
hinderungen und Todesfälle aufgrund von
bindungen in einem Gehirnareal überprüft gen) Parkinson nehmen laut der Weltgesundheits-
wird, bestätigte die Diagnose. organisation schneller zu als bei jeder anderen
Für Becker kam die Diagnose völlig über- Sprechstörung, neurologischen Erkrankung. Die Zahl der Be-
raschend. »Ich dachte, Parkinson, das ist doch Schluckstörung troffenen habe sich in den letzten 25 Jahren
die Schüttellähmung mit dem typischen Zit- verdoppelt, Schätzungen zufolge lebten im
tern, das kriegen alte Leute«, erinnert er sich. Jahr 2019 weltweit mehr als 8,5 Millionen
Aber doch nicht ein durchtrainierter End- 8 und Menschen mit dieser Krankheit, die Deutsche
fünfziger wie er, der eigentlich nur über ge- mehr Gesellschaft für Parkinson und Bewegungs-
Spätphase
Jahre
legentliche Wortfindungsstörungen klagte Demenz, Wahr- störungen spricht von 400.000 Betroffenen
und zunehmend unter niedergeschlagener nehmungsstörungen, allein in Deutschland.
Stimmung litt. Dabei sind genau diese Symp- Halluzinationen Unter den nicht motorischen Symptomen
tome bei Parkinson gar nicht so selten, wer- niedriger Blutdruck
leiden die Patienten oft sogar mehr als unter
den aber oft übersehen oder nicht ernst ge- den schwerwiegenden Bewegungsstörungen.
nommen. Inkontinenz Vielen Betroffenen sei wahrscheinlich selbst
»Ich habe im Studium noch gelernt, Par- nicht klar, dass es mit Parkinson zusammen-
kinson sei überwiegend eine motorische Er- hängen könnte, wenn sie plötzlich in Bespre-
krankung«, sagt Sommerauer. Doch das Bild chungen einschlafen oder zu Hause apathisch
wandelt sich derzeit grundlegend. Inzwischen * die Reihenfolge, der Zeitpunkt und die Entwicklung von in der Ecke sitzen und sich zu nichts mehr
nicht motorischen Symptomen kann von Patient zu Patient
steht fest, dass Zittern, Muskelsteifigkeit und unterschiedlich sein aufraffen können, vermutet Lars Timmer-
Bewegungsarmut vor allem in einem späteren S Quelle: »nature«, Schapira et al., 2017 mann, Direktor der Klinik für Neurologie am
◆
oder im Nervensystem des Darms, wo sich in wache ich dabei, und manchmal bekommt
Mäusen schon vor einer Parkinsondiagnose meine Frau im Bett neben mir den Tritt auf
fehlgefaltetes Alpha-Synuklein nachweisen die Knochen.«
ließ. Moser sitzt in graublauem Schlafanzug am
Forscher der Johns Hopkins University ha- Fußende seines Bettes und wird von der Dok-
ben Braaks Hypothese an einem Mausmodell torandin Kim-Lara Weiß verkabelt. Sein
getestet, indem sie den Tieren krankhaft ver- Schlaf wird diese Nacht akribisch überwacht:
ändertes Alpha-Synuklein in Dünndarm- und Hirnströme, schnelle Augenbewegungen,
Magenwand injizierten. Tatsächlich entwi- Muskelaktivität am Kinn und hinter den Oh-
ckelten die Tiere daraufhin Parkinson. Durch- ren, Puls, Sauerstoffsättigung, Atemfrequenz.
trennten die Forscher den Ast des Vagusnervs Eine Kamera zeichnet seine Bewegungen auf.
der Mäuse, der den Magen-Darm-Trakt und »Sorgen, dass ich Parkinson bekommen
das Gehirn miteinander verbindet, konnte sich könnte, mache ich mir nicht«, sagt Moser,
das Alpha-Synuklein nicht entlang des Nervs während Weiß alle Kabelenden in zwei Boxen
ausbreiten, und die Nager waren vor der steckt, die sie mit Gurten auf seiner Brust be-
schen Alltag verschwunden. Der Zigaretten- gigen ein Gefühl von Entspannung zu ver-
absatz ist kollabiert. Rauchen erscheint dort mitteln.
vielen Menschen längst nicht mehr als »nor- Snus ist in Schweden beliebt: Mehr als
mal«, sondern als das Gegenteil davon. Je 20 Prozent der Männer und rund 7 Prozent
kleiner die Gruppe der verbliebenen Raucher, der Frauen nutzen Snus jeden Tag. Damit wäre
rung nachjustiert. Seit 2019 gilt das Rauch- zweifellos Tausende Menschenleben gerettet.
verbot überdies auf den Außenflächen von Schweden Immer wieder stellen Experten daher die Fra-
Bars und Restaurants, an Bushaltestellen, 5,3 1 ge, ob die EU nicht in der Pflicht sei, ein Pro-
Bahnsteigen, auf Sport- und Spielplätzen. dukt wie Snus in allen Mitgliedstaaten ver-
Mit all diesen Maßnahmen ist nikotinhal- * ab 15 Jahre, mit täglichem Zigarettenkonsum fügbar zu machen. Bislang ohne Erfolg.
tiger Rauch immer weiter aus dem schwedi- S Quelle: Eurostat, Stand 2019 Marco Evers n
◆
»Es ist, als gestehe man er sich schließlich durch einen Kon-
kurrenten zur Veröffentlichung ge-
zwungen sah.
Schöpfer hatte die Tiere und Pflanzen einen Verleger für ebenjenes Manu- licher Eklat vor Augen führte, welches
der Erde erschaffen; sie waren viel- skript zu finden, dessentwegen ihm Sperrfeuer ihm im Falle einer Veröf-
mehr – welch ungeheuerlicher Ge- das Paradies verschlossen blieb! fentlichung drohen konnte.
danke – vom bloßen Zufall hervor- Warum wollte er ihr das antun? Von einem Anonymus verfasst,
gebracht worden. Und wenn ihm so sehr daran lag, dass erschien 1844 »Vestiges of the Natu-
Die Natur, wie Charles Darwin sie seine Theorie der Wissenschaft nicht ral History of Creation« (»Spuren
schilderte, kannte keine Barmherzig- verloren geht, wieso ging er damit der natürlichen Schöpfungsgeschich-
keit. Für einen gnädigen Gott, der nicht selbst an die Öffentlichkeit? te«). Das packend geschriebene Buch
stets Gutes will, war darin kein Platz. Nachdem Darwin den Brief an seine löste sogleich eine erbitterte Debat-
Die Welt war ein Ort, an dem einzig Frau geschrieben und versiegelt hatte, te aus.
das Recht des Stärkeren galt. Alle vergingen noch 15 Jahre bis zur Der anonyme Autor lieferte den
Kreaturen auf Erden waren in einen Drucklegung seines epochalen Werks Abriss einer Universumsgeschichte,
die sich radikal von der biblischen unter- ständig auswendig gelernt. Zeitlebens setzte
schied: Der Autor spekulierte über die Ver- sich Darwin mit Paleys Argumenten auseinan-
schmelzung der Planeten, über die elektro- der, und es lässt sich als sein vielleicht größtes
chemische Entstehung des ersten Lebens und Verdienst betrachten, diese entkräftet zu ha-
auch über die Menschwerdung. All das voll- ben: Darwin wies nach, dass der Zufall die
zog sich den »Vestiges« zufolge ohne direkten Rolle des Uhrmachers einnehmen kann.
göttlichen Eingriff. Er beschrieb, wie die Natur im Verlauf von
Im Volk fand das populärwissenschaftliche Äonen im fortgesetzten Wechselspiel von Va-
Werk reißenden Absatz, in Kirchen- und Ge- riation und Selektion neue, an ihre jeweiligen
lehrtenkreisen wurde es als Bedrohung der Lebensbedingungen bestens angepasste Ar-
herrschenden Ordnung verdammt. Solche ten hervorbringt – und dies, ganz ohne dass
Irrlehren brächten »Ruin und Verwirrung« es dazu eines planenden Schöpfers bedarf.
über das Land, sie könnten »die Moral und Darwin beraubte die Kirche damit ihres trif-
die gesellschaftliche Ordnung unterminie- tigsten Gottesbeweises.
ren«, warnte Adam Sedgwick, anglikanischer Es muss quälend für ihn gewesen sein:
Geistlicher, Geologe und Dekan an der Uni- Da hielt er das Geheimnis des Lebens in
versität Cambridge. Händen, doch war dieses so toxisch, dass er
Donnernd rief der Professor und Kirchen- es nicht lüften durfte. Darwins Biografen
mann zu den Waffen: Die »Vestiges« hätten Adrian Desmond und James Moore sehen in
ein Ungeheuer hervorgebracht. Man tue der seiner inneren Zerrissenheit eine der Ursa-
Menschheit einen Gefallen, wenn man »den chen für seine fortgesetzten gesundheitlichen
2
Kopf dieser schmutzigen Missgeburt zer- Probleme.
schmettert«. Mit Beklommenheit dürfte Dar- Nach seiner Rückkehr von der »Beagle«-
win diesen Wutausbruch gelesen haben: An 3 Reise plagten ihn Schwächeanfälle, Übelkeit
der göttlichen Ordnung zu zweifeln konnte und Magenprobleme. Er litt unter Herzrhyth-
gefährlich sein. musstörungen und Kopfschmerzen. Eine or-
Darwin war ein friedliebender Mensch, ganische Ursache für all diese Be-
Fotos: Heritage-Images / The Print Collector / akg-images, Natural Histor y Museum London / Science Photo Librar y / akg-images, Alamy / The Natural Histor y Museum / mauritius images
sein Sinn stand nicht nach Krawall. Zurück- schwerden ist nicht bekannt.
gezogen auf seinem Landsitz in Downe süd- Vielleicht hätte er bis zu seinem
lich von London wollte er die Wunder des Tode Stillschweigen bewahrt – wenn
Lebens entschlüsseln, er plante keinen er nicht im Jahr 1858 Post von Alfred
Anschlag auf die herrschenden Verhält- Russel Wallace erhalten hätte. Bestürzt
nisse – schon deshalb nicht, weil er musste Darwin einsehen, dass dieser jun-
selbst Profiteur dieser Verhältnisse war. ge Forschungsreisende auf seinen Expedi-
Von Geburt an zählte Darwin zu den tionen nach Brasilien und Südostasien zu
besser gestellten Leuten, das Leben als den gleichen Schlussfolgerungen gelangt war
wohlsituierter Privatgelehrter konnte wie er selbst. Aus Angst, die Urheberschaft
er sich nur leisten, weil er vom beträcht- seiner großen Idee zu verlieren, hatte es Dar-
lichen Vermögen seines Vaters zehrte. Auch win mit der Niederschrift von »On the Origin
seine Verbindungen zur Kirche waren eng, of Species« plötzlich eilig.
hatte er doch selbst Theologie studiert. Nach der Veröffentlichung brach, wie
Im streng anglikanisch geprägten Cam- Darwin es erwartet hatte, ein erbitterter Glau-
bridge erwarb Darwin seinen Abschluss und 1 | Von Darwin gesammelte Schmetterlinge benskrieg aus. Die Kirche sah sich von seiner
hätte wohl tatsächlich die Priesterlaufbahn 2 | Darwin-Porträt, 1877 3 | Originalausgabe Lehre bedroht, von den Kanzeln herab wur-
von »On the Origin of Species« 4 | Von Darwin
eingeschlagen, wenn sich nicht unverhofft die gesammelte Mollusken-Schalen
de sie als Teufelswerk verdammt. Darwin
Gelegenheit zur Weltreise mit der »Beagle« selbst allerdings hielt sich, soweit möglich,
ergeben hätte. Mit besonderer Hingabe büf- aus der Schlacht heraus. Wenn er nach der
felte er im Studium die Schriften des Natur- Rolle Gottes gefragt wurde, vermied er klare
theologen William Paley, dessen Logik und Antworten: »Meine Meinung dazu ist nicht
Beweisführung ihn faszinierten. mehr wert als die jedes anderen«, beteuerte
Berühmt ist Paley vor allem für seine Uhr- er.
macher-Analogie, mit der er die Existenz Als Darwin 23 Jahre nach der Veröffent-
eines Schöpfergottes beweisen wollte: Wer lichung seiner Theorie verstarb, war er der
irgendwo einen Stein am Wegrand finde, so wohl meistverehrte Wissenschaftler der Welt.
argumentierte Paley, der möge wohl glauben, Als britischer Nationalheld wurde er mit
dass dieser immer schon an seinem Platz ge- einem pompösen Begräbnis in der Westmins-
legen habe. ter Abbey beigesetzt.
Wer aber eine Uhr finde, der könne nicht Dennoch dauerte es noch mehr als 100
anders, als anzunehmen, dass eine solch raf- Jahre, bis sich auch der Vatikan mit Darwins
finierte Apparatur das Werk eines Uhr- Lehre aussöhnte. 1996 und somit gut 150 Jah-
machers sei. In ähnlicher Weise müsse auch re nachdem Darwin seine ketzerischen Ge-
der Organismus eines Tieres, dessen Organe danken in seiner »Skizze« formuliert hatte,
ebenso zweckmäßig zusammenwirken wie ließ Papst Johannes Paul II. verkünden, an-
die Zahnräder der Uhr, einen technisch ver- gesichts der Fülle neuer wissenschaftlicher
sierten Schöpfer haben. Erkenntnisse sehe er nunmehr »dazu Anlass,
»Ich glaube, ich habe kaum ein Buch mehr in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypo-
bewundert als Paleys ›Naturtheologie‹«, 4 these zu sehen«.
schrieb Darwin später. Er habe es fast voll- Johann Grolle n
ben. Indem wir bestimmte Fixpunkte wenn es ihm zu nahe gekommen wäre.
bei verwandten Sauriern vergleichen, Also waren die Kleinen nach der Ge-
* Armin Schmitt: »Großartige Giganten – Den
letzten Geheimnissen der Dinosaurier auf der können wir deren Evolution nachvoll- burt komplett auf sich allein gestellt.
Spur«. dtv; 352 Seiten; 13 Euro. ziehen und ziemlich exakt sagen, wie Interview: Frank Thadeusz n
Indianerehrenwort!
STREITKULTUR Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es. Den Zauber der sogenannten Fortschrittskoalition
fing ein Selfie ein: Volker Wissing mit Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck. Ein Rückblick.
enn man heute das Fotoalbum aus ein Heizungsgesetz, es ist sehr kompliziert. men. Dass sich Aufbruchstimmung irgend-
W dem vorletzten Herbst aufschlägt,
ist man doch verwundert, wie schön
damals alles schien, die Zukunft vor Augen.
»Wortbruch« wirft der Habeck dem Lindner
vor. Wortbruch, das klingt schon deshalb
nach einer Produktenttäuschung, als es doch
wann verflüchtigt, ist normal. Schließlich ist
man dann ja auch irgendwann mal aufgebro-
chen. Aber wenn einem auf dem Weg (wo-
[M] DER SPIEGEL, Volker Wissing / FDP / instagram / dpa, Getty Images
Man meint, den Aufwind zu spüren. Viel- modern, frisch, zeitgemäß zugehen sollte. hin, eigentlich?) so schnell die Puste ausgeht,
leicht sogar einen Anflug von: Wärme? In ihr »Wortbruch« weckt andere Assoziationen: muss man sich schon fragen, ob man sich die
digitales Freundschaftsbuch schrieben die Kohlrouladen, schlabberige Anzüge, Männer- richtigen Reisebegleiter ausgesucht hat. Das
vier auf jeden Fall: »Auf der Suche nach einer bünde. Der Schweißgeruch einer Umkleide- Tolle am Prinzip des Selfies ist, dass man nur
neuen Regierung loten wir Gemeinsamkeiten kabine nach einem verlorenen Hallenturnier vorgibt, den späteren Betrachter anzuschau-
und Brücken über Trennendes aus. Und fin- mischt sich mit kindischer Enttäuschung: Der en, tatsächlich aber sich selbst anschaut. Inso-
den sogar welche. Spannende Zeiten.« Letz- hat mir doch sein Indianerehrenwort fern war das Bild auch die Quelle eines Miss-
teres haben sie gehalten, da kann sich nie- gegeben! Denn das sollte ja das Neue sein: verständnisses: Nicht wir waren die Zukunft,
mand beschweren. Auch Gemeinsamkeiten Vertrauen, Kollaboration, ein gemeinsames sondern die vier selbst. Die Zukunft wird
wurden gefunden. Die Infrastruktur jedoch Ziel vor Augen. Da vorn, da geht’s hin, und allerdings irgendwann zur Gegenwart, und in
erwies sich als mangelhaft, vielleicht hat der wir nehmen euch mit. Auch deshalb wurde der sind wir jetzt angekommen. Kühl ist es,
Verkehrsminister Wissing ja einen Anteil dieses Foto veröffentlicht. Um zu zeigen: und im Rückblick wundert man sich über
daran. Gerade kollabieren die Brücken zwi- Wir nehmen euren Auftrag ernst, wir sind die eigene Hoffnung. Das allerdings passiert
schen den Grünen und der FDP. Es geht um bereit, weil ihr es seid, und jetzt alle zusam- oft, wenn man alte Fotos anschaut. XVC
Barbaro, Schwarzenegger
Hüter einer riesigen Sammlung lichkeiten sind unendlich.« KS
1 2
Aurelien Mole / Pinault Collection / Kunstwerk: »Horse and Rider, 2014« von Charles Ray
nten in der Rotunde der Bourse de seum geholt. »Mir war es immer ein Anliegen, eine Transformation des Mäzenatentums, bei
U Commerce, dem Sitz der Collection
Pinault in Paris, hämmert und klopft
es heftig. In wenigen Tagen wird im Haus eine
Kultur zu demokratisieren, zeitgenössische
Kunst zugänglich zu machen«, sagt Lavigne
in ihrem riesigen Büro.
dem es nicht nur um Geld, sondern auch um
Aufmerksamkeit und Anerkennung geht?
»Wir sollten aufhören mit diesen ewigen
neue Ausstellung eröffnet. Emma Lavigne, Umso mehr verstörte ihr Abgang die Pari Klischees, mit der immer wieder zitierten
55, Direktorin des Hauses, an den Füßen gold ser Kulturszene, die daraufhin einen Brain Trennung von öffentlichen und privaten Ein
farbene Stiefeletten, rennt die Treppen hinauf drain und eine Systemkrise der öffentlichen richtungen, die letztendlich eine künstliche
in den ersten Stock. Sie läuft vorbei an den Museen beklagte. »Le Monde« schrieb von ist«, sagt Lavigne. »Ich mache hier keinen
steinernen Tauben des Künstlers Maurizio einer Schlacht, die die privaten Sammler nun anderen Job als zuvor, ich bin genauso frei
Cattelan. Vorbei an Besuchern, von denen bis um Talente führten, die in staatlichen Insti wie zuvor.« Pinault und sie teilten dieselben
zu 3500 täglich kommen, um sich hier un tutionen groß geworden sind. Werte. »Auch er möchte seine Sammlung
bequeme, oft schwer verständliche Kunst an Vor Jahren schon war die Kuratorin Suzan jenen nahebringen, für die Kunst nicht selbst
zuschauen. Für ein zeitgenössisches Museum, ne Pagé vom Museum für Moderne Kunst zur verständlich ist.«
das Werke zeigt, die gerade erst entstanden Fondation Vuitton von Pinaults Konkurrenten Seit Monaten kämpft sie gegen den Ver
sind, ist das ein Rekord. Bernard Arnault gewechselt. Und dann wurde dacht an, sie habe sich an einen Milliardär
Lavigne bleibt vor einer weißen Tür ste vor einigen Monaten bekannt, dass der Belgier verkauft. Es habe in der Kunst immer private
hen. Dahinter liegt ihr Büro: groß, hell, chef Chris Dercon, ehemals Leiter der Volksbühne Sammler gegeben, sagt Lavigne. Und Mu
etagentauglich. Es ist der Raum einer Frau, in Berlin und der Tate Modern in London und seen, die von ihren Schenkungen profitiert
die ungern allein arbeitet. In der Mitte ein bisher Präsident der nationalen Museen des haben. In den USA störe sich auch niemand
riesiger Besprechungstisch, links davon ste Grand Palais, ab 1. Juni zur privaten Fonda daran, dass das MoMA in New York nicht
hen zwei tiefe, dunkelgraue Stoffsofas, dane tion Cartier geht, die das gleichnamige Luxus staatlich sei. Warum also nicht hier?
ben ein Coffeetable, darauf Kunstbücher. Ihr markenUnternehmen finanziert. Noch ein Beide Modelle könnten nebeneinander
Schreibtisch wirkt verschwindend klein. Fahnenflüchtiger also. existieren, es gäbe fließende Übergänge und
»Café?«, fragt Lavigne, »ich brauche jetzt Selbst Präsident Emmanuel Macron, der Kooperationen: »Die Collection Pinault ver
einen.« Sie ist seit frühmorgens wach, die neue Dercon duzt und einst auf den Posten im leiht ständig Werke ihrer Sammlung an öf
Ausstellung ist bereits die vierte, die sie in die Grand Palais berufen hatte, konnte ihn davon fentliche Museen, die ohne diese Leihgaben
sem Jahr für François Pinault kuratiert. Der nicht abhalten. Dercon, so war zu lesen, ging ihre Ausstellungen nicht machen könnten.
Milliardär und Unternehmer, zu dessen Kon aus mehreren Gründen: Er hätte demnächst Wo also ist das Problem?«
zern unter anderem die Luxusmarken Balen die Altersgrenze für Posten im Staatsdienst Vielleicht ist es die finanzielle Übermacht,
ciaga, Gucci und Yves Saint Laurent gehören, erreicht. Außerdem baut auch Cartier, die mit der sich die neuen Mäzene ihren Platz in
unterhält neben der Bourse de Commerce älteste aller privaten Stiftungen in Paris, ihre der französischen Kunstszene erkauften, die
noch zwei weitere Museen in Venedig. Zudem Aktivitäten aus. Ende 2024 wird die Fonda für Misstrauen sorgt: Knapp 800 Millionen
organisiert die Collection Pinault Ausstellun tion einen zweiten Standort direkt gegenüber Euro investierte Bernard Arnault, reichster
gen in Pinaults alter Heimat, in Rennes und dem Louvre eröffnen. Mit dem Umbau des Mann der Welt und Chef des Luxuskonzerns
Dinard. Lavigne ist für alle Orte zuständig. Gebäudes hat sie den französischen Archi Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH), in den
Sie arbeitet noch nicht lange hier. Pinault tekten Jean Nouvel beauftragt. Da habe Der Bau des USStararchitekten Frank Gehry, in
warb sie erst vor anderthalb Jahren vom staat con nicht widerstehen können, so erzählt man dem er 2014 die Fondation Vuitton eröffnete.
lichen Museum für zeitgenössische Kunst im es sich in Paris. Denn er mag Baustellen und Seitdem organisiert die Stiftung dort Aus
Pariser Palais de Tokyo ab. Da war sie schon neue, große Aufgaben. stellungen, wie sie sich kein staatliches Museum
so etwas wie ein Star der französischen Kunst Was aber geschieht da gerade? Erlebt mehr leisten kann. Für eine spektakuläre Schau
szene. Lavigne gilt als eher links, experimen Frankreich eine Privatisierung seiner Kunst im Winter 2021/22, die Kunstsammlung der Mos
tierfreudig und unkonventionell. Im Palais de szene durch einige wenige Milliardäre, eine kauer Brüder Morozow mit Bildern der russi
Tokyo kuratierte sie eine spektakuläre Aus Machtverschiebung? Tritt nun das ein, was schen und französischen Moderne, wurde allein
stellung der deutschen Künstlerin Anne Imhof Chris Dercon schon vor Jahren prophezeite: der Versicherungswert der Werke, von denen
und ließ dafür Teile des Gebäudes bis auf die die Stiftung viele auf eigene Kosten restaurieren
Rohbetondecken zurückbauen. Für die neue ließ, mit zwei Milliarden Euro beziffert.
Ausstellung der britischen Künstlerin Tacita »BlockbusterExhibitions« nennen das die
Dean ließ sie in der Bourse de Commerce Kritiker. Von einem unverhofften Geschenk
einen eigenen Pavillon bauen. »Das größte Missverständnis für alle sprechen jene, die sich mit den priva
Im Ableger des Centre Pompidou in Metz, ist vielleicht, dass es ten Stiftungen arrangiert haben. 1,4 Millionen
den sie fünf Jahre lang leitete, hatte sie zuvor Besucher hat die Fondation Vuitton mittler
die Besucherzahlen auf bis 350.000 jährlich immer nur um Geld geht.« weile jährlich – das entspricht knapp der Hälf
gesteigert und kulturferne Milieus ins Mu Emma Lavigne te der Eintrittszahlen des Pariser Centre Pom
solche, die seit Jahren nicht an Wert gewonnen 19 (17) Helga Schubert 19 (16) Peter Urban
hätten. Der heutige Tag dtv; 24 Euro On Air Rowohlt; 25 Euro
»Das größte Missverständnis ist vielleicht,
dass es immer nur um Geld geht«, sagt 20 (–) Dörte Hansen 20 (–) Howard W. French Afrika und die
Lavigne. Zur See Penguin; 24 Euro Entstehung der modernen Welt Klett-Cotta; 35 Euro
Britta Sandberg n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller
REDEN
OnlyFans-Kanal diene der Feldforschung für Es gibt weitere Menschen, die Kirac gegen
eine Masterarbeit in Philosophie. ihren Willen in Filmen gezeigt hat – freilich
Houellebecq und seine Frau schlossen von der Kunstfreiheit gedeckt. Das Kollektiv
einen Vertrag mit Kirac: Jini van Rooijen soll- versteht sich als Störer. Es will irritieren. Beim
te mit Houellebecq schlafen, alles würde ge-
filmt werden. Van Rooijen dürfe einige Sex-
szenen für ihren OnlyFans-Kanal nutzen,
Houellebecq-Film sei es ihm nicht um das
Anfertigen eines Pornos gegangen, schreibt
Filmemacher Ruitenbeek dem SPIEGEL . »Es
WIR
aber nur jene, in denen das Gesicht des
Schriftstellers nicht zu sehen ist. Kirac werde
außerdem ein künstlerisches Werk daraus
war für mich ein Meta-Projekt. Ich dokumen-
tierte ein Abenteuer, genauso wie ich Jini van
Rooijens OnlyFans-Projekt verfolge. In mei-
ÜBER
ISRAEL
machen, darin dürfe Houellebecq entweder nen Filmen porträtiere ich Menschen und ihre
bekleidet auftauchen oder Genitalien ohne Bestrebungen.« Houellebecq und seine Frau
Gesicht gezeigt werden. Houellebecq wollte hätten das gewusst.
sich laut den Gerichtsakten die Option offen- Zumindest hätten sie es wissen können. Es
halten zu behaupten, die Sexszenen habe ein gibt mehrere Kirac-Episoden im Internet, auf
Double gedreht. Im Moment der Vertrags- Niederländisch mit englischen Untertiteln.
unterzeichnung lief die Kamera mit. Die Filme sind vor Niedertracht schwer zu
Houellebecq hatte dann tatsächlich Sex ertragen, sie führen Menschen vor. Oft spielen
mit Jini van Rooijen. Bei einem zweiten Ter- sie mit den Gefühlen ihrer Protagonisten.
min war noch eine weitere Frau von Kirac Die Episode »Honeypot« etwa dokumen-
dabei. Um das Material auf OnlyFans zu nut- tiert, wie eine Gruppe von Kirac-Performern
zen, benötigte Van Rooijen eine Ausweis- auf den rechtsnationalen niederländischen
kopie von Houellebecq, so will das Erotik- Philosophen Sid Lukkassen trifft. Kirac sug-
portal sicherstellen, dass keine Pornos gegen geriert in dem Film, Jini van Rooijen sei eine
den Willen von Beteiligten hochgeladen wer- linke Studentin, deren universitäres Philo-
den. Doch Houellebecq verweigerte seine sophieprojekt es sei, mit Rechten zu schlafen,
Dokumente. Im Buch schreibt er, erst im um auch politisch eine Brücke zu schlagen.
Nachhinein sei ihm bewusst geworden, dass Lukkassen habe sich auf einen entsprechen-
sein Ansehen als Autor seinen »Organen den Aufruf hin bei Van Rooijen gemeldet.
einen gewissen Marktwert verleihen könnte«. Das Treffen wird arrangiert, die Anbahnung
Die Richter entschieden: Das Filmmaterial mit der Kamera festgehalten. Doch als Van
darf gezeigt werden. Kirac darf aus dem Rooijen und Sid Lukkassen nackt nebenein-
Schlamassel ein Videokunstwerk machen. anderliegen, bricht Van Rooijen ab und sagt,
Houellebecq ging in Berufung. Diesmal ent- die Pralinen, die Lukkassen mitgebracht
schied ein anderes Gericht: Kirac muss den habe, seien ein zu mickriges Geschenk. Sie
fertigen Film dem Autor vorlegen. Daraufhin habe keine Lust mehr, mit Lukkassen zu
entfernte Kirac den Trailer aus dem Internet. schlafen. Ein Zusammenschnitt wird auf 192 Seiten, gebunden � 22,00 €
Man kann Houellebecqs Deal als Form der YouTube veröffentlicht, Lukkassen ist bloß- Auch als E-Book erhältlich.
Prostitution sehen: Eine junge Frau bietet Sex gestellt. Man hört den Politiker verzweifelt
an und verlangt im Gegenzug, dass sie das am Telefon sagen, der Film habe seine Kar-
Filmmaterial nutzen darf, um Geld zu ver- riere zerstört. Richard C. Schneider,
dienen. »Die Kamera war meine Bedingung. In einer anderen Folge lädt das Filmteam SPIEGEL-Autor und langjähriger
Ohne sie wäre ich niemals mit ihm ins Bett Männer aus der niederländischen Kunstwelt
Israel-Korrespondent der ARD,
gegangen«, sagt Van Rooijen in einem Video ein, denen Übergriffe gegenüber Frauen oder
auf Instagram. Houellebecq hat sich mit ihr gar Vergewaltigung vorgeworfen und die des- lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv,
vergnügt – und dann die Zeche geprellt. Film- halb von Universitäten verwiesen wurden, kennt Alltag und Geschichte
team und Darstellerinnen reagierten sauer, sozial gemieden werden oder keine Aufträge des Landes und weiß um
verlangten die Einhaltung des Vertrags. mehr bekommen. Kirac gibt diesen Männern die gängigen Vorurteile
Doch der Literat ist gekränkt, sieht sich im das Gefühl, sie zu Wort kommen zu lassen.
Recht – und reagiert mit seinen stärksten Waf- Das Endprodukt »Under a Sinking Sun« zeugt in Deutschland.
fen: seinen Worten. Dabei vergreift er sich aber nicht von Empathie, sondern stellt die Bei den Antworten auf fünf
mächtig im Ton. Er bezeichnet die Frauen als Männer bloß. oft gestellte Fragen setzt er an,
»truie« (Sau) und »dinde« (Pute), den Filme- Kirac selbst hat sein Ziel wohl längst er- um einige grundlegende Dinge
macher Ruitenbeek nennt er »cafard« (Kaker- reicht, auch wenn der fertige Film nie ver-
lake). Er selbst fühle sich »wie eine vergewal- öffentlicht werden sollte: die Scheinheiligkeit über Israel zu erklären – 75 Jahre
tigte Frau«. Als der Trailer veröffentlicht der Kunstwelt – in diesem Fall Houellebecqs – nach der Staatsgründung und
wurde, habe er sich zum ersten Mal vor Sex zu entlarven. Der Superstar der Literatur hat in einem entscheidenden Moment
geekelt, er habe sich objektifiziert gefühlt und sich durch seine Reaktionen demontiert, sein für die Demokratie des Landes.
Bulimie gehabt, klagt er. erbärmliches Buch strotzt von Selbstgerech-
Statt Reue zu zeigen, wird Houellebecq tigkeit und Frauenhass.
geringschätzig und demütigt seine Sexual- Aber der Star hat auch die größte Bühne,
partnerin: »Die Sau war auf keinen Fall das, und sein Verlag steht hinter ihm. Die kultu-
was man ›eine gute Schnitte‹ nennen könnte. relle Welt schaut auf seine Bücher, nicht auf
Ihre Fähigkeiten zum Fellatio bewegten sich die Instagram-Filme von Kirac. Womöglich
unterhalb der Mittelmäßigkeit; sie zeigte wird Houellebecq in seiner moralisch glitschi-
keinerlei Anwandlungen, ihre Muschi aktiv gen Kampfzone deshalb doch noch als Sieger
einzusetzen, noch bewies sie irgendwelche dastehen.
bisexuellen Neigungen.« Carola Padtberg n
HBO / Sky
Macht und Geld so lange geformt In ihren Schwächen, ihrer Heuche-
werden, bis die Mitmenschen das lei, dem ewigen Täuschen und Tak-
Knetkonvolut als Wahrheit akzeptie- tieren, sind die Roys komplexe und
ren. Die Serie scheint über keinen hier gelingt es ihm, Worte zu finden, Szene aus schockierenderweise glaubwürdige
trittfesten moralischen Boden mehr die ausdrücken, was die ganze Kirche »Succession«: Charaktere. Dass die Serie sich traut,
Eine an Shakespeare
zu verfügen, und möglicherweise ist zu fühlen scheint: dass sogar ein Un- geschulte Deutung
sie so ungeschönt zu zeigen, schafft
es das, was sie in diesen Tagen so mensch geliebt werden kann – und einer machia- brillante wie radikale Fernsehmo-
gegenwärtig erscheinen lässt. geliebt wird. Vor allem von jenen, die vellistischen Welt mente: eine Gesellschaftsbetrach-
Es dauerte bis zur vorletzten Folge, nicht anders können, wie den eigenen tung, die nicht die Gesellschaft be-
bis Jesse Armstrong, das englische Kindern. schreibt, sondern die Menschen, die
Mastermind dieser sehr amerikani- Seit »Succession« 2018 die Strea- sie schaffen, emotional ergründet.
schen Erzählung, eine Art weltan- mingplattformen erreichte, hat diese Und so bekämpfen die Geschwis-
schauliche Grundierung nachlieferte, nihilistische Serie ihre weltweite Ge- ter in immer neuen Koalitionen ihren
endlich eine Art Bekenntnis. Er lässt folgschaft rätseln und theoretisieren Vater oder sich gegenseitig, zeitweilig
es Kendall Roy äußern, bei der Trauer- lassen, was sie uns wohl sagen will geht es auch zusammen gegen exter-
feier für seinen Vater, den verstorbe- (inzwischen gibt es sogar einen Pod- ne Gegner wie große Finanzfirmen
nen Medienmogul, um dessen »suc- cast, in dem jede Folge gleich nach oder schwedische Techmilliardäre.
cession«, also Nachfolge, alle ringen. Ausstrahlung ausgedeutet wird). Es Doch es liegt in der Natur dieser Figu-
Logan Roy war kein guter Mensch, schien keine Figur zu geben, an die ren, dass keine Bindung je lange hält,
jeder in der Kirche weiß das. Sohn man sich als Zuschauer halten konn- alles bleibt ständig im Fluss, die Ereig-
Kendall, eine einsame Seele, ein te, mit der es zu sympathisieren oder nisse sind kontingent.
Douchebag wie Donald Trump Jr., mitzufiebern lohnte. In den 20 Jahren In der aktuellen und letzten Staf-
schwer beschädigt durch den über- zuvor hatte sich das Serienpublikum fel, die an diesem Sonntag mit einem
mächtigen Vater, hatte die Trauerrede an sukzessiv ambivalentere Serien- extralangen Finale die Serie beenden
nicht geplant. Deswegen trägt sie viel- helden gewöhnt von Tony Soprano wird, verhelfen die Roys mit ihrem
leicht so etwas wie Wahrheit in sich. über die Drogendealer in »The Wire« Fox-News-ähnlichen Polit-Krawall-
Vor der Trauergemeinde, darunter oder Walter White aus »Breaking sender achselzuckend einem rechten
die politischen Eliten des Landes so- Bad«. Sie alle boten trotz ihrer Fehl- Demagogen an die Macht und ver-
wie die Ex-Frauen mit den jeweiligen barkeiten leicht identifizierbare Zu- ursachen dadurch politischen Aufruhr
Mätressen, nennt Kendall seinen Va- fluchtsorte der Liebenswürdigkeit. im ganzen Land. Vielleicht ist es wahr,
ter zunächst einen »brute«, einen Un- Diese zur Verfügung zu stellen, galt dass Menschen, die Leid und Unheil
menschen, um sich dann doch etwas als eiserne Regel aller Erzählgattun- bringen, auch geliebt werden können.
Versöhnliches abzuringen. Sein Vater gen, ob filmisch oder literarisch. Der Doch die Gleichung lässt sich, wie
habe etwas geschaffen, sagt er, und er Rezipient muss sich mit irgendjeman- Kendall Roy gegen Ende der vorletz-
habe gehandelt. »Es gibt 1000 Leute, dem identifizieren können. ten Episode feststellt, auch umdre-
die immer Nein sagen. Und es gibt Und so sprang man bei der ersten hen: »People who say they love you
1000 Gründe, nicht zu handeln. Aber Staffel von »Succession« noch mit »People who also fuck you.« Zwischen diesen Am-
so war er nie.« Sonst hatten Kendalls seiner Sympathie von Figur zu Figur – say they plituden wird sich die Auflösung in
Äußerungen oft darin bestanden, ir- der drittälteste Sohn ist der Gute, nein, der allerletzten Folge dieser bahnbre-
gendwie gut klingende, aber hohle die Tochter, ist es doch der Vater oder love you also chenden Serie bewegen.
Sätze zusammenzuwürfeln. Doch der Sohn aus einer früheren Ehe, der fuck you.« Philipp Oehmke n
sz.de/licht
KU LT U R
Am nördlichen Rand Berlins liegt ein zentraler SPIEGEL: Sie hatten vergessen, wie schlimm kann. Dann verlierst du schnell den Spaß.
Ort der deutschen Popmusik. In den alten In- es war? Klingt nicht nach Spaß. Deswegen ist Popmusik eher was für jüngere
dustriehallen von Berlin-Wilhelmsruh proben Fox: Ich will gar nicht so tun, als würde es Leute.
Rammstein, Die Ärzte oder Sido für ihre Tour- keinen Spaß machen, alles allein entscheiden SPIEGEL: Fühlen Sie sich zu alt dafür?
neen. Auch an diesem Samstag Mitte Mai drin- zu können. Das finde ich toll gegenüber der Fox: Je mehr Lebenserfahrung ich sammle,
gen Bässe aus den Backsteinbauten, heute Bandarbeit. Auch, dass ich einen Song allein desto mehr schließen sich für mich bestimm-
probt hier Peter Fox. singen oder ein Feature dazuholen kann, wie te schöne Pop-Posen einfach aus. Es gibt so
Pierre Baigorry, 51, der mit der Dancehall- ich Lust habe. Aber diese pure, auf meine eine Romantik oder so einen Kitsch im Pop,
Band Seeed berühmt wurde und sich als Solo- Person gerichtete Aufmerksamkeit finde ich bei dem ich weiß: Nee, nee, so ist das Leben
musiker Peter Fox nennt, ist einer der größten nicht so geil. Dieses Solo-Popstar-Sein ist echt einfach nicht. Eigentlich fühle ich mich ein
Popstars in Deutschland. Vor gut 14 Jahren nicht mein Ding. bisschen zu alt, um Popstar zu sein. Ich sollte
veröffentlichte er sein erstes Soloalbum. SPIEGEL: Trotzdem sind Sie jetzt als Peter Fox Platz für die nächsten machen. Ich bin mir
»Stadtaffe« gilt als eines der erfolgreichsten zurück. diesmal noch sicherer, dass ich nicht noch mal
deutschsprachigen Alben, es enthielt auch den Fox: Das mag wie Koketterie klingen, aber ein Soloalbum machen werde. Nicht, weil mir
Top-Ten-Hit »Haus am See«. Danach zog er das war – mal wieder – so nicht geplant. Ur- der Rummel zu viel wird, sondern weil ich
sich als Solokünstler weitgehend zurück. Fox’ sprünglich hatte ich vor, mit Tretti (dem Bock habe, mehr im Hintergrund zu produ-
erstes Album blieb lange sein einziges. Ende Chemnitzer Rapper Trettmann – Red.) im Duo zieren. Das wird mir immer klarer, wenn ich
Mai erscheint nun sein neues Album »Love ein paar Songs zu machen. Das hat dann nicht die jüngeren Leute in meiner Liveband sehe.
Songs«. geklappt, ich hatte aber schon mit ein paar Boah, die sind so cool. Mein Cool ist nicht
Ideen und Beats angefangen und habe dann mehr das Cool von heute.
SPIEGEL: Peter Fox, 2009 haben Sie den Solo- einfach weitergearbeitet. Irgendwann nimmt’s SPIEGEL: Sie wollen nicht zum Grönemeyer
künstler Peter Fox mit der Begründung be- dann so eine Dynamik an, und man wird von werden?
graben, der Rummel um Ihre Person sei Ihnen Leuten zart in eine Richtung gepusht: »Ein Fox: Lasst mir den Grönemeyer in Ruhe! Ich
zu groß. Haben Sie jetzt wieder Bock auf Album wäre aber schon geil, oder?« Irgend- würde nie zu jemandem, der mit 80 noch auf
Rummel? wann glaubt man das selbst (lacht). Es gab der Bühne steht und »Satisfaction« spielt, sa-
Fox: Anscheinend schon. Ich will das nicht mit aber auch Tage, da dachte ich: Lassen wir’s gen: Warum machst du das? Ich hätte da aber
den Schmerzen bei einer Geburt vergleichen – einfach, das ist zu anstrengend. selbst keinen Bock drauf. Mich nerven meine
darüber kann ich nichts sagen –, aber es ist SPIEGEL: Was ist so anstrengend? Songs schon nach drei Monaten. Ich verstehe
vielleicht ein bisschen so, wie wenn Frauen Fox: Sich nicht zu wiederholen. Und manch- nicht, wie man einen Song, der 60 Jahre alt
erzählen, dass sie eine Weile nach der Geburt mal auch, dass du ein gewisses Gefühl in ist, jeden Abend spielen kann, und dann noch
schon vergessen hatten, wie schmerzhaft die einen Song packen willst und merkst, wie immer in derselben Version.
war. Wenn sie ständig im Kopf hätten, wie krass du vorn, hinten, links, rechts an Grenzen SPIEGEL: Ihr »Satisfaction« war sozusagen
die erste Geburt war, dann würden sie wahr- stößt. Entweder weil das irgendwie nicht cool »Haus am See«, darin heißt es: »Ich suche
scheinlich kein zweites Kind bekommen. ist. Oder weil man das nicht mehr bringen neues Land mit unbekannten Straßen. Frem-
de Gesichter und keiner kennt meinen Na-
men.« Klang da schon ein Wunsch nach we-
niger Trubel an?
Fox: Davon wusste ich damals noch nichts.
Da ging es eher um neue, frische Welten.
»Haus am See« spielt heute aber auch keine
große Rolle mehr für mich.
SPIEGEL: Warum nicht?
Fox: Es gibt zwar so eine klassische Sehnsucht
nach Familie und Zuhause und Ankommen,
die »Haus am See« bedient, aber inzwischen
weiß ich: Man kommt nicht an, und dann ist
Peter Fox / Warner Music
rulen die Welt.« Ihre Attitüde hat sich ver- SPIEGEL: Die Energiewende und Gerech-
ändert. tigkeitsfragen waren auch Themen, für
Fox: Ja, wobei ich für »Schüttel deinen Speck« die Sie sich schon 2013 bei der Initiative
tierisch viel Credit von Plus-Size-Frauen be- #GehtAuchAnders engagiert haben. Frus-
kommen habe. Das war wie so ein Empower- triert es Sie, dass so wenig vorangeht?
ment-Song. Fox: Es ist gut, dass wir drüber reden. Man
SPIEGEL: Für Body Positivity? muss nur vom Reden ins Handeln kommen.
Fox: Ja. So war der Song eigentlich eher ge- SPIEGEL: Das war jetzt ein echter Politikersatz.
meint. Ich habe auch immer versucht, mich Fox: Aber darum geht es. Man kann viel quat-
nicht ständig als den obercoolen Macker hin- schen und von links nach rechts drehen. Wenn
zustellen, der alles klarmacht, sondern als es wirklich ans Eingemachte geht, ist der Auf-
Typen, der zum Beispiel bei »Ding« in die schrei groß. Weil dann viele realisieren, was
Ecke kotzt und am Ende auch verliert. Ich Veränderung wirklich bedeutet. Politische
Felix Broede
wollte damals nicht Avantgarde sein, sondern Kräfte machen dann gleich wieder sechs Rol-
mit Humor auf unsere reellen, statusfixierten len rückwärts, weil sie das Gefühl haben, sie
Affen-Behaviours schauen. Fox (M.) beim SPIEGEL-Gespräch* könnten sonst Wählerstimmen verlieren.
SPIEGEL: In einigen Ihrer neuen Songs geht SPIEGEL: Selbst in Ihren »Love Songs« geht
es darum, sich nicht der schlechten Laune Narzissmus ist, wenn du Popmusiker bist. Die es mal um politischen Wandel. In »Zukunft
hinzugeben, die viele auch nach drei Jahren Leute hören dir zu, und du denkst, du kannst Pink« fordern Sie dazu auf, Sie höher zu be-
Pandemie beschleicht. Sind Ihre »Love was bewegen. In der Politik geht es nicht um steuern: »Tax me now!«
Songs« auch ein Selbstgespräch, vielleicht Applaus, sondern um ein superhartes Busi- Fox: Ich habe jetzt keine zig Millionen geerbt
sogar eine Selbstbeschwörung? ness, und die Medien essen dich zum Früh- wie zum Beispiel die »Taxmenow«-Mitgrün-
Fox: Total. Manchmal mache ich Songs, weil stück. Nicht nur deine Partei und die anderen derin Marlene Engelhorn aus Österreich, aber
ich hoffe: Okay, wenn ich das jetzt alles da Politiker, sondern jeder versucht, dir das Wort ich habe ein dickes Haus, und ich verdiene
reintue, vielleicht ändert sich ja mal was bei im Munde umzudrehen. Dafür bin ich, glau- genug Geld, dass ich definitiv mehr Steuern
mir. Leider passiert dann meistens relativ be ich, zu weich. Das schaffe ich gar nicht. zahlen könnte. Ich möchte mich mit Leuten
wenig. Die Selbstbeschwörung klappt nicht. SPIEGEL: Es gibt ja Coachings und Medien- connecten, die das genauso sehen, sodass wir
SPIEGEL: Sie haben sich in den vergangenen trainings. der Politik gemeinsam Beine machen: Wir
Jahren zunehmend politisch engagiert. Zu- Fox: Ja, aber ich meine das ganz ernst: I’m legen offen, was wir verdienen, und sagen,
nächst mit anderen Künstlern in der Initiative not built for that. Ich habe krassen Respekt welchen Steuersatz wir für angemessen hal-
#GehtAuchAnders, 2018 dann mit dem Pod- vor jemandem wie Robert Habeck, bei dem ten. Der kann nach oben offen sein. Das Geld
cast »Politricks«, in dem es ganz nüchtern um man ja manchmal merkt, wie dünnhäutig der kommt dann in einen Fonds und kann inter-
Kapitalmärkte oder Fluchtursachen ging. auf der Strecke wird. Ich finde es gut, dass so national oder national zum Beispiel für die-
Also lieber Politik als Pop? jemand politische Macht hat, davon gibt es jenigen verwendet werden, die unter Energie-
Fox: Dagegen hat schon mal mindestens mei- viel zu wenige. Was war der vorher? Buch- krise oder Inflation besonders zu leiden haben.
ne Frau gute Argumente – und ich habe auch autor, Philosoph, auch so ein Künstlertyp. Ich habe momentan nicht die Zeit, Leute
selbst Zweifel. Es gab aber immer wieder Mo- SPIEGEL: Warum haben Sie Ihren Politik-Pod- anzuschreiben, aber wenn die Tournee vorbei
mente, in denen ich gedacht habe: Man muss cast schon nach kurzer Zeit eingestellt? ist, würde ich das gern angehen. Und ich freue
mehr eingreifen, man kann nicht immer nur Fox: Der hat einfach nicht das bewegt, was mich über jeden, der anruft und sagt: »Hey,
am Rand stehen und schlau daherreden. Das man sich vielleicht vorher eingebildet hatte. das sehe ich genauso und bin dabei.« Soli-
Problem ist, dass die coolen Leute, die den Wenn das Feedback zu 70 Prozent daraus darität ist der Schlüssel zu fast allem, denke
Durchblick haben, ein Gefühl für den Zeit- besteht, dass die Leute sagen: »Hey, ganz in- ich.
geist, vielleicht auch Charisma, vor der Büro- teressant, aber mach mal lieber einen Song, SPIEGEL: Sie haben inzwischen erwachsene
kratie in der Politik mit Bezirksversammlung Digga«, muss man das zur Kenntnis nehmen. Kinder. Gibt es eigentlich einen Generatio-
und dem ganzen Pipapo zurückschrecken. Die wollten neue Musik von mir und nicht, nenkonflikt in Ihrer Familie?
Das ist bitter, weil sich so immer Leute durch- dass ich den Afrikabeauftragten von Frau Fox: Meine Stieftochter ist 23, die spielt in mei-
setzen, die vielleicht gar nicht das Skillset Merkel interviewe. ner Liveband, wir machen da langsam so eine
haben, um geile Politiker zu sein. SPIEGEL: Ein gesellschaftspolitisches Thema, Art Familienzirkus draus. Meine Tochter ist
SPIEGEL: Das klingt desillusioniert. das seit einiger Zeit stärker diskutiert wurde, 18, die ist mit ihrem Handy wirklich verwach-
Fox: Ich will nicht sagen, dass es nicht auch ist die geplante Cannabislegalisierung. Was sen. Finde ich hart. Mein Sohn ist 12, der will
viele Politiker gibt, die was verändern wollen halten Sie davon? lieber »Fortnite« spielen als Fußball. Aber da
und das Herz am rechten Fleck haben. In je- Fox: Gähn! muss ich mich zwingen zu sagen: Komm, mach
der Partei gibt es richtige Idioten und richtig SPIEGEL: Wie bitte? dich mal locker. Du bist halt eine andere Ge-
gute Leute – die AfD vielleicht mal ausge- Fox: Ich will nicht sagen, die ist mir egal, ich neration. Und: Alle meine Kinder können tau-
schlossen. Aber es gibt einen Mangel an coo- bin schon eher dafür. Aber wir haben echt send Tanz-Moves, die ich nicht kann. Hat si-
len Quereinsteigern. Eigentlich müssten mehr andere Probleme. cher auch was mit TikTok und YouTube zu tun.
solche Leute mitmischen. SPIEGEL: Welche denn? SPIEGEL: Ist es schwierig, mit Ihrer Musik
SPIEGEL: Aber Ihre Frau … Fox: Klimawandel, Gerechtigkeit, Solidarität, ganz junge Menschen zu erreichen?
Fox: Meine Frau meinte: »Boah, na, danke!« Steuern. Probleme, die ich ganz klar über der Fox: Das Beste ist, wenn man versucht, als
Ich bin ja auch mit der Musik schon so Legalisierung von Cannabis sehe. Musiker einigermaßen zeitlos zu bleiben. Ein
»Tschüss«, das fand sie erst mal keine so hei- bisschen Zeitgeist muss sein, das reizt mich
ße Idee. auch. Aber es ist wichtig zu wissen, dass man
SPIEGEL: Das heißt, die Idee war da. nicht mehr der Coolste ist. Das sagen mir
Fox: Die war und ist immer noch da. Ich bin meine Kinder auch manchmal.
aber skeptisch, was daran Wichtigtuerei und »Ich habe krassen SPIEGEL: Da sind Kinder ein gutes Korrektiv.
Fox: Ja, voll. »Cringe, Papa!« (lacht)
* Mit den Redakteuren Andreas Borcholte und Jurek
Respekt vor jemandem SPIEGEL: Peter Fox, wir danken Ihnen für
Skrobala in Berlin. wie Robert Habeck.« dieses Gespräch. n
Mama muss sterben fragte, wie das gelingt, gab die ihr einen
schrecklichen Rat: »Kalorienrestrik-
tion«. Fortan hungerten sich die beiden
gemeinsam ins Scheinwerferlicht.
LITERATURKRITIK Als Kinderstar lächelte sie einem Millionenpublikum zu. Dass Kinder von ihren Eltern ins
Showgeschäft gedrängt werden, ist
Hinter den Kulissen litt sie unter dem Missbrauch ihrer narzisstischen nicht neu. Dass der Druck beim Er-
Mutter. Darüber hat Jennette McCurdy ein beeindruckendes Memoir geschrieben. wachsenwerden in der Öffentlichkeit
viel zu groß ist, leider auch nicht. Das
belegen nicht nur Britney Spears,
unächst muss man über den Titel Drew Barrymore oder Demi Lovato.
Z hinwegkommen. Der schreckt
ab. Jedenfalls, wenn man eine
halbwegs behütete Kindheit genossen
Ehemalige Kinderstars geraten durch
Drogenmissbrauch, Alkoholexzesse
und psychische Notsituationen so
hat. »I’m Glad My Mom Died«, »Ich häufig in die Schlagzeilen, dass es
bin froh, dass meine Mutter starb«, einen Terminus dafür gibt, den »Dis-
hat Jennette McCurdy ihr Memoir ge- ney-Fluch«. Wer von ihm getroffen
nannt. Und dann das Cover: Darauf wird, muss leiden und dabei für die
hält McCurdy, eine 30-jährige Blon- Paparazzi lächeln. So wie McCurdy.
dine mit breitem Mund, eine rosa- Die Schauspielerin wurde immer
farbene Urne in den Händen, aus der unglücklicher, erkrankte an Anorexie
Konfetti quillt. Sogar Norman Bates und Bulimie, wurde immer dünner.
hätte seiner Mutter ein würdigeres Weil das Spielen überzeichneter Ju-
Ende gewünscht. Aber der kannte gendfiguren sie zunehmend depres-
auch McCurdys Familie nicht. Wenn siver machte, fing sie mit dem Trinken
man es erst mal hineingeschafft hat an. Ihr Buch ist trotzdem kein Trau-
USA: DER SPIEGEL (USPS no 01544520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Office of Publication: Data Media (A division of Cover-All Computer Services Corp.), 2221 Kenmore Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten
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116 DER SPIEGEL Nr. 22 / 27.5.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Kenneth Anger, 96 Martin Amis, 73
NACHRUFE Wer vor dem Anbruch des digi- Sein Nachname war im literari-
talen Zeitalters von den Skan- schen Großbritannien bereits
dalen erfahren wollte, die sich bekannt, als er noch gar nichts
an den Filmsets in Hollywood veröffentlicht hatte: Martin
zutrugen, und sich noch nicht Amis war der Sohn von Kings-
durch soziale Medien und Ent- ley Amis, einem der wichtigsten
hüllungsstorys klicken konnte, englischsprachigen Autoren der
der schlug ein Buch auf: »Holly- Nachkriegszeit. Das Verhältnis
wood Babylon« von Kenneth der beiden war spannungsgela-
Anger. Darin beschreibt der den, auch weil Martin Amis
Autor die Traumfabrik als fieb- seinen Vater in der öffentlichen
rige Vorhölle der Ausschwei- Wahrnehmung bereits nach
fungen und des Exzesses, von wenigen Büchern abgehängt
der angeblichen Vorliebe des hatte. Seinen Durchbruch hatte
Meisterregisseurs D. W. Griffith er Mitte der Achtziger mit
für junge Mädchen bis zu »Gierig«, einer fulminanten
dem Mord an der jungen Schau- Abrechnung mit der Yuppie-
spielerin Sharon Tate durch Ära. Martin Amis schrieb mit
Mitglieder der »Manson-Fami- viel Schwung und einem sar-
ly«. Eine Fortsetzung folgte. kastischen Blick auf die Gegen-
Allerdings musste man diese wartskultur; ein Höhepunkt
Bücher mit ähnlicher Vorsicht seines Werkes war der 1995 ver-
Musicals laufen. Schon in den Siebzigern war sie Buddhistin gewor- auseinandergesetzt. Denn wenn
den, auch darüber hat sie ein Buch geschrieben. In Düsseldorf lernte er auch längst viel bekannter
sie 1986 ihren neuen Mann kennen, Erwin Bach, einen deutschen war als sein Vater, hat er sich
Musikmanager. Sie bekam die Schweizer Staatsbürgerschaft und doch fast ein Leben lang an ihm
heiratete 2013. Später erlitt sie einen Schlaganfall. Tina Turner starb abgearbeitet. Martin Amis
am 24. Mai in ihrem Haus in Küsnacht in der Nähe von Zürich. RAP starb am 19. Mai in Florida. SHA
Lust am Spiel
Die Wurzeln ihrer Leidenschaft
für alles Komödiantische und
die Schauspielerei selbst liegen
in ihrer Teenagerzeit. Insbeson-
dere der Besuch einer Gothic-
Bar war in den Achtzigerjahren
ein Erweckungserlebnis für
Melissa McCarthy, 52. Das be-
richtet der »Guardian«. Auf-
gewachsen war sie auf einer
Mais- und Sojabohnenfarm
in Illinois. Das Bar-Erlebnis in
Chicago habe ihr »Gehirn
gesprengt«, sagte McCarthy.
Sofort färbte sie ihre Haare blau
und schwarz, schneiderte sich
eine Hose aus einem Poloshirt:
»Das war das Größte, das ich je
getan habe, dachte ich damals«,
sagte sie. Sie habe es geliebt zu
sehen, »wer ich noch sein konnte
und wie das die Wahrnehmung
anderer veränderte«. Sich als
Gothic-Anhängerin zurechtzu-
machen war für McCarthy »ein
Ausdruck von Freude«. Sie fand
es »unwahrscheinlich lustig«:
die übertriebenen Frisuren, das
Make-up. Ihre Karriere begann
sie dann als Stand-up-Dragqueen
in New York. Auf die Auswei-
tung von Anti-Drag-Gesetzen in
den USA blickt McCarthy voller
Sorge. Auf Instagram postete
Neue Geschäfte, aus Weintrauben und -blättern dest unklar, die Belege schwach.
versehen. Dafür werden die Als Indiz wurde gewertet,
neue Ideen Pflanzen des Weinguts Château dass Pitt Anteile seiner Produk-
Hollywoodstar Brad Pitt, 59, Miraval in Südfrankreich ver- tionsfirma Plan B an das fran-
erweitert seine filmfremden Ge- wendet, dessen Besitzer Pitt ist. zösische Medienunternehmen
JB Autissier / Panoramic / Bestimage
schäftstätigkeiten um ein neues Er hat auch Anteile an einer Mediawan verkauft hat. In der
Feld. Er wird eine Ginmarke auf Modemarke. Anfang des Jahres größten Datenbank der Film-
den Markt bringen. Der Name: war ein Raunen durch die branche werden gerade acht
The Gardener. Erst im Septem- Klatschspalten gegangen: Brad aktuelle Engagements als Pro-
ber vergangenen Jahres präsen- Pitt plane »angeblich« oder duzent und zwei als Darsteller
tierte Pitt seine Unisex-Luxus- sogar »offenbar« einen »Semi- aufgeführt. Wie ein Rentner –
Kosmetikserie. Die Anti-Aging- Ruhestand«. Die Quelle für oder auch nur ein halber – be-
Produkte sind mit Wirkstoffen diese Schlagzeilen war zumin- nimmt Pitt sich nicht gerade. KS
ligenzen so weit sind, dass sie vorbei. »Ich bin so viel glück-
selbst lustige Popsongs hervor- licher, wenn meine Brüste
bringen? Macht Monáe etwas draußen sind und ich frei he-
ganz anderes. Das, was uns von rumrennen kann«, sagt die
einer KI unterscheide, sei, dass Schauspielerin, die für ihre Rolle
wir ein Leben haben, sagte in der Krimikomödie »Glass
Monáe dem amerikanischen Onion – A Knives Out Mystery«
»Rolling Stone«: »Die Art, wie viel Lob bekam. Sie sei ein
wir gemeinsame Erfahrungen »free-ass motherfucker«. RAP
l i c h h e i ß t ,
s e n s c h a f t
Ge n os n e r s e i n .
s i g e r P a r t
zuve r l ä s