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hweiz sfr  9,40 Slowenien €  7,50 Spanien / Kanaren €  8,00 Ungarn Ft 3790,-
Dänemark dkr 69,95 Frankreich €  7,70 Italien €  8,20 Norwegen NOK  125,– Portugal (cont) €  7,50 Slowakei €  7,70 Spanien €  7,70 Tschechien Kc 229,- Printed in Germany

RENÉ BENKO

SURFER-STAR
hat sich verzockt

Jahrhundertwelle
Wenn Professoren
Der Immobilienkönig

MACHTMISSBRAUCH

Ein Deutscher jagt die


Studierende ausbeuten

Buchauszug
SPIEGEL-Gespräch und
SPRINGER-SK ANDAL

in Ihrem Roman,
Wie viel Wahrheit steckt
Herr von Stuckrad-Barre?
DEUTSCHLAND
Nr. 17 | 22.4.2023
€ 6,40
HAUSMITTEILUNG

Titel  | Seiten 8, 14

Mehr als drei Stunden dauerte das SPIEGEL-Gespräch, das der


­Redakteur Tobias Rapp und die Redakteurin Isabell Hülsen am
Donnerstag vor Ostern mit dem Autor Benjamin von Stuckrad-
Barre (M.) in Berlin führten. Sein neuer Roman »Noch wach?«,
der am Mittwoch erschienen ist, wurde mit Spannung erwar-
tet. Ist das Buch ein Schlüsselroman über Springer und den
#MeToo-Skandal rund um den geschassten »Bild«-Chefredak-
teur Julian Reichelt? S
­ tuckrad-Barre verteidigte sein Buch als fiktive Erzählung, inspiriert, natür-
lich, von der Wirklichkeit. Ob und wie offen er über diese Wirklichkeit reden würde, über seine
eigene Rolle in dem Skandal und seine einst enge Freundschaft zu Springer-Chef Mathias Döpf-
ner, war bis zu dem Treffen unklar. Sie erlebten einen nervösen, kettenrauchenden, aber zugleich
befreit wirkenden Schriftsteller: »Stuckrad-Barre weiß genau, worauf er sich einlässt und mit wem
er sich anlegt«, sagt Hülsen, »es macht ihm erkennbar Spaß, dass nun alle rätseln, was echt und Taschenbuch. € (D) 10,–
was ­erfunden ist.«
Mit zahlreichen Abbildungen
René Benko  | Seite 58

Unter den Palmen von Cannes feiert sich jedes Jahr die Immo-
bilienzunft selbst. Bei Champagner und Austern werden auf
der Messe Mipim die großen Deals abgeschlossen. Doch zum
ausgelassenen Feiern war dieses Jahr kaum jemandem zu­-

150 Fragen
mute, steigende Zinsen und die Inflation würgen das Geschäft

In ie W
ab. Besonders hart trifft es den österreichischen Unternehmer
und Investor René Benko, der auf seiner Jacht »Roma« im Ha-
fen von Cannes sichtlich übermüdet und kaum fröhlich seine
Geschäftspartner empfing, wie Redakteurin Kristina Gnirke
d e lt
m
vom Nachbarschiff aus beobachten konnte. Gemeinsam mit Simon Book verfolgt sie seit Jahren
den Aufstieg von Benkos Signa-Gruppe, die inzwischen eines der größten Gebäudeportfolios in
Europa besitzt. Nun beschreiben die beiden mit einem Team von Kollegen Benkos bröckelndes
u
Geschäft. »Zu Boomzeiten gaben die Banken gern großzügig Geld. Momentan scheinen sie
­re­servierter denn je«, sagt Gnirke. Benko habe sich immer mehr getraut als andere, »umso
­ris­kanter ist seine Lage jetzt«.

Deutschland-Ticket | Seite 48

Vom 1. Mai an gilt das Deutschland-Ticket, eine Revolution in einem Land


mit 17 Verkehrsministern, 60 Verkehrsverbünden und rund 600 Unter-
nehmen im öffentlichen Personennahverkehr. Ob der Flatrate-Fahrschein
dabei helfen könnte, die Deutschen zu einem Volk der Bahnfahrer zu ma-
chen, recherchierte ein SPIEGEL-Team um Alexander Smoltczyk zwischen Testen Sie Ihr Wissen über
Nordfriesland und dem Allgäu. Barbara Hardinghaus fuhr nach Kating, zu Geografie: Weit über Länder,
einem der wohl einsamsten Bahnhöfe des Landes. Serafin Reiber rekon­
struierte die nächtliche Ampelsitzung, in der – unplanmäßig – die Idee Berge und Meere hinaus fragt
einer Nahverkehrs-Flatrate geboren wurde. Und Barbara Supp ließ sich
auf einer Fahrt ins Allgäu von einem ehemaligen Bahn-Direktor erklären,
der neue Wissenstest nach dem,
warum ein neues Ticket allein noch keine neue Bahn macht. was heute global wichtig ist.
SPIEGEL WISSEN, SPIEGEL BESTSELLER
Exklusive Interviews mit
Rennen, klettern, balancieren – so trainieren Kinder ihr Kör-
pergefühl. Doch leider geht die gute Beziehung zum eigenen Linda Zervakis und
Körper später oft verloren. Die neue Ausgabe von SPIEGEL
WISSEN, »Liebe deinen Körper!«, erklärt, wie man es Boris Herrmann
schafft, sich in seinem Körper wohlzufühlen. Das Heft ist
ab Dienstag im Handel erhältlich. In SPIEGEL BESTSELLER
erzählt Constantin Schreiber, wie er glücklich bleibt – trotz
der schlechten Nachrichten, die er in der »Tagesschau« ver-
liest. SPIEGEL BESTSELLER liegt einem Teil der Auflage bei.

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

8 | Literatur  spiegel-Gespräch
mit dem Schriftsteller Benjamin
von Stuckrad-Barre über seinen
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 17 | 22.4.2023
neuen Roman »Noch wach?«

14 | Auszug  »Das erste Kapitel


von »Noch wach?«

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel  Die Aktivisten


der »Letzten Generation«
­schaden dem Klimaschutz

18 | Fast jeder zehnte Soldat


in Deutschland hat einen
Nebenjob / Führende CDU-­
Politiker sprechen sich für
Merz als Kanzlerkandidaten
aus / Die Gegendarstellung

22 | Beziehungen  Wie Christian


Lindners Ehefrau Franca Lehfeldt
­Privates und Berufliches vermischt

René Lohse / DER SPIEGEL


26 | Analyse  Warum die FDP
den Heizungskompromiss
der Ampelkoalition bekämpft

27 | Bundeswehr  Boris Pistorius


versucht einen Befreiungs-

»Rache? So funktioniert Kunst nicht« schlag gegen das verkrustete Be-


schaffungswesen der Truppe

28 | SPD  spiegel-Gespräch
TITEL Die Erwartungen an Benjamin von Stuckrad-Barres neues Buch »Noch wach?« mit Generalsekretär Kevin Küh-
sind hoch. Ist es der #MeToo-Schlüsselroman über den Springer-Verlag und nert über die Frage, was die SPD
noch zu einer linken Partei macht
Chef Mathias Döpfner? »Eine Fiktion kann wahrer sein als die Wirklichkeit«, sagt der
Autor im SPIEGEL-Gespräch. Außerdem: das erste Kapitel des Buchs. | 8, 14 31 | Parteien  Was wird aus
­ inken-Fraktionschef Bartsch?
L

32 | Familienrecht  Wie ein


24-facher Scheinvater die
­Abschiebung von 18 Frauen
­verhinderte

36 | Hochschulen  An mehreren
Universitäten gibt es Vorwürfe
gegen Professoren

39 | Ortstermin  Pödelwitz in
Melina Mörsdor f / DER SPIEGEL

Matthias Roeckl / DER SPIEGEL

Sachsen sollte der Kohle weichen,


nun schmieden die letzten
30 Einwohner große Pläne
Peter Rigaud / laif

40 | Strafjustiz  Treffen mit


Manfred Genditzki, der 13 Jahre
lang hinter Gittern saß –
­wahrscheinlich unschuldig
René Benko Stevie Schmiedel Rick Rubin
Der Signa-Gründer versucht, Die Aktivistin will das Markt- Der legendäre Musikproduzent 44 | Erziehung  Das System
sein wankendes Milliarden-­ potenzial des Feminismus ver- erklärt, wie jeder Mensch kreativ der Wochenkrippen in der DDR
Imperium zu halten. | 58 größern. | 108 sein kann. | 102 ­traumatisierte viele Betroffene

4 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
REPORTER 80 | Türkei  Die Ambitionen des
Drohnenbauers und Erdoğan-
46 | Familienalbum / Wie Schwiegersohns Selçuk Bayraktar
­verändert TikTok das Backen?
82 | USA  Zehntausende
47 | Eine Meldung und ihre ­ merikaner sterben jährlich
A
­Geschichte Ein Todkranker an der Droge Fentanyl
bewahrt die Kraft, immer wieder
aufzustehen
SPORT
48 | Mobilität  Im Mai kommt
das Deutschland-Ticket. Geschich- 85 | Ballwechsel im Tennis /
te eines Großprojekts, das gegen Ist Schach ein Kampfsport?
jede Wahrscheinlichkeit gelang
86 | Karrieren  Der Big-Wave-

ddp
53 | Kolumne  Leitkultur Surfer Sebastian Steudtner will
seinen Weltrekord brechen »xoxo Gossip Girl«
Berufliche Interessen und private Beziehungen geraten bei der
WIRTSCHAF T
Hauptstadtjournalistin Franca Lehfeldt und ihrem Mann, FDP-Chef
WISSEN
Christian Lindner, immer mal wieder durcheinander. | 22
56 | Deutschland reißt Maas­
tricht-Kriterien / EU blockiert 90 | Grausame Gourmets /
mehr Schutz für Sparer ­Analyse: Deutschlands gefähr­
licher Verbrenner-Fetisch
58 | Signa  Das Geschäft
von Immobilienkönig René Benko 92 | Eltern  spiegel-Gespräch
gerät in Schieflage mit der Entwicklungspsychologin
Lieselotte Ahnert über den Ein-
62 | Russland  Ökonom Andrej fluss von Vätern auf ihre Kinder
­Jakowlew über die Resilienz der
Unternehmen in Putins Reich 96 | Drogenpolitik 
Die Niederlande richten ihre
64 | Rohstoffe  Geheimdienste Cannabis­strategie neu aus
warnen vor der Abhängigkeit
Westend61 / IMAGO

von China 98 | Heizwende  Sind H2-


ready-Heizungen ein Etiketten­
66 | Energie  Bürokratie schwindel?
g­ efährdet die Wärmewende

67 | Gesundheit  Die missglückte KULTUR Der unterschätzte Elternteil


Rückkehr der Kur auf Rezept Was macht Papa anders, was besser als Mama? Die Entwicklungs-
100 | Netflix verschickt keine psychologin Lieselotte Ahnert berichtet im SPIEGEL-Gespräch vom
68 | Einblicke  Der Drogerie- DVDs mehr / Der Serien-Krimi­ großen Einfluss der Väter auf Gefühle und Talente ihrer Kinder. | 92
Milliardär Dirk Roßmann erklärt, quatsch »Poker Face«
wie man reich wird
102 | Karrieren  Star-Produzent
Rick Rubin schreibt jetzt Selbst-
AUSLAND hilfebücher

70 | Frankreichs Präsident 107 | Ortstermin  Treffen sich


­Macron in der Krise / Gewalt­ Jonathan Franzen und Thomas
taten in brasilianischen Schulen Brussig in San Francisco

72 | Sudan  Wie eine afrikanische 108 | Debatten  Stevie Schmiedel


Hoffnungsstory eine blutige will Feministinnen versöhnen
Wende nimmt
110 | Streaming  Tyron Ricketts
75 | Litauen ­Präsident mischt bei der ersten
Gitanas Nausėda über afro­deutschen TV-Saga mit
Deutschlands Rolle in Europa
Joerg Mitter

115 | Romankritik  »Victory


76 | Infektionskrankheiten  City« von Salman Rushdie ist nur
Afrika hofft auf eine neue etwas für Fans
­Impfung gegen Malaria Jagd auf die Jahrhundertwelle
SPIEGEL-TV-Programm | 112 Bestseller | 113 Im Oktober 2020 bezwang der deutsche Surfer Sebastian Steudtner
Impressum, Leserservice | 116
78 | Nahost  Warum sich Iran Nachrufe | 117 Personalien | 118
vor der Küste Portugals eine Welle, die 26 Meter maß – Weltrekord.
und Saudi-Arabien annähern Briefe | 120 Letzte Seite | 122 Jetzt hofft er auf ein 50-Meter-Monster. | 86

Titelfoto: René Lohse für den SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 5
Finger weg von der Straße!
LEITARTIKEL  Die Aktivisten der »Letzten Generation« müssen aufpassen, nicht zur Vorfeldorganisation
der FDP zu werden. Ihre Aktionen spielen inzwischen Klima-Ignoranten in die Hände.

Aber auch innerhalb der Ampelkoalition gibt es Kräfte,


die den Frust mancher Wähler zu nutzen versuchen. Die
FDP jedenfalls legt beim Thema Klimaschutz gern die
Hände in den Schoß. In der Hoffnung auf einen Zugewinn
von Wählerstimmen bremst sie bei Wärmepumpen und
Elektroautos, verweigert sich beim Tempolimit.
FDP-Verkehrsminister Volker Wissing verstößt in aller
Offenheit gegen das Klimaschutzgesetz und macht noch
nicht einmal den Versuch, ein gesetzlich vorgeschriebenes
Sofortprogramm aufzusetzen. Unterstützung bekommt
er dafür vom Kanzler. Olaf Scholz treibt die Sorge vor
einer deutschen Gelbwestenbewegung um. Eine ähnliche
Angst hatte schon die Union, als Fridays for Future die
ersten Großdemos organisierte.
Was den Sommer 2019 vom Frühling 2023 unterschei-
det: Klimaschutz ist kein Thema mehr für Volksparteien.
Man gewinnt oder verliert keine Wahlen mehr damit.
Fritz Engel / laif

2021 ließ sich Olaf Scholz als Klimakanzler plakatieren.


Inzwischen scheinen viele Umweltschutz für keine partei-
übergreifende und generationenübergreifende Aufgabe
mehr zu halten. Allenfalls eine Herausforderung für Klien-

I
Klimaaktivisten der m heißen Spätsommer 2019 stand die Klimabewegung telparteien wie die Grünen, die ihre Träume vom Kanz-
»Letzten Generation« auf dem Zenit ihrer Macht. Zehntausende Jugendliche leramt bisweilen begraben können.
bei der Blockade demonstrierten vor dem Kanzleramt. Sie zwangen Fast täglich liefert die »Letzte Generation« Steilvor-
einer Autobahn­
ausfahrt in Berlin die Regierung, in einer Nachtsitzung die Emissionsziele lagen. Seit dieser Woche konzentriert sie ihren zivilen
zu verschärfen und das Klimaschutzgesetz zu beschließen. Ungehorsam in der Hauptstadt. Mit alldem bewirken die
Ein paar Tage später klagte Greta Thunberg die Eltern- Protestler das Gegenteil von dem, was sie eigentlich er-
generation auf der Uno-Klimakonferenz an: »How dare reichen wollen. Sie müssen aufpassen, nicht zu einer Vor-
you!« Und Angela Merkel drängelte sich darum, ihre feldorganisation ihrer politischen Gegner zu werden.
Hand zu schütteln. Gewiss, Aufmerksamkeit für die Klimakatastrophe
Die Schulschwänzerbewegung Fridays for Future und erzeugt die »Letzte Generation«. Aber daran mangelt es
ihre Ikonen mögen zuweilen nervig, besserwisserisch oder gar nicht, es mangelt an Entschlossenheit, die notwendi-
theatralisch aufgetreten sein. Aber kaum jemand aus Poli- gen Schritte zur Rettung des Planeten zu ergreifen. Tech-
tik und Wirtschaft wollte es sich mit ihnen verscherzen. nisch ist längst klar, was zu tun ist. Jetzt geht es in die
Einer, der das tat, war FDP-Chef Christian Lindner, der entscheidende Phase.
meinte, Klimaschutz sei »etwas für Profis«. Er sollte es Die Menschen müssen sich in ihrer Lebensweise
bei den darauffolgenden Bundestagswahlen bereuen. Jetzt ­ändern, aber sie müssen nicht unbedingt verzichten. Das
ist es Frühling, noch dazu ein kalter, und die Dinge haben ist die optimistische Botschaft. Leider geht die dieser Tage
sich ins Gegenteil verkehrt. unter, weil die einen mit ihrem Festgeklebe alle nerven
Die Klimaaktivisten der »Letzten Generation« werden und die anderen immer neue Bedenken vortragen, warum
beschimpft als Ökodiktatoren und Antidemokraten. der Klimaschutz jetzt gerade nicht so wichtig sei.
Diese Schmähungen sind falsch. Richtig ist aber, dass sie Die Entschlossenheit von Politik und Wirtschaft ist
mit ihren Klebeaktionen und ihren im Erpresserton vor- in Gefahr. In den Vorstandsetagen herrscht vielerorts
getragenen Forderungen die ganze Klimaschutzbewegung Ratlosigkeit, was künftig eigentlich opportun sei. Das
Für ein in Misskredit bringen. Sie mögen hehre Ziele verfolgen, motiviert nicht dazu, Milliarden Euro in grünen Stahl
­besseres Klima sie haben zu Recht Angst davor, auf einem lebensfeind-
lichen Planeten zurückgelassen zu werden. Im Kampf
oder Wasserstoff zu investieren.
Für ein besseres Klima braucht es eine Protestform,
braucht es gegen dieses Schicksal sind sie bereit, viel zu riskieren. die mitnimmt, und nicht abstößt. Für die »Letzte Gene-
eine Protest- Auch ihr Leben. ration« bedeutet das: Finger weg von der Straße! Der
Umso tragischer ist es, dass sie mit ihrem Handeln Kampf gegen die Überhitzung des Planeten muss aus der
form, die Populisten Gelegenheit geben, die Menschen im Land Mitte der Gesellschaft kommen, nicht vom Rand und nicht
mitnimmt, aufzuwiegeln und zu verunsichern. Wenn es nur die AfD mit Methoden, die selbst Gutmeinende ablehnen. Denn
und ein paar CSU-Lautsprecher wie Alexander Dobrindt spätestens im Sommer, wenn Südeuropa austrocknet und
und nicht wären, die vor »Klimaterroristen« und einer »Klima- brennt, braucht das Thema wieder Unterstützer.
abstößt. RAF« warnen, könnte man das vielleicht noch ignorieren. Gerald Traufetter  n

6 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


TITEL

»DA G I BT E S N I C H T S
M E H R Z U D UZ E N«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre über seinen neuen Roman »Noch wach?«, den
Wahrheitsgehalt von Literatur und das Ende seiner Freundschaft zu Springer-Chef Mathias Döpfner

E
s ist selten, dass ein Roman auf so er seinen langjährigen Freund Benjamin von SPIEGEL: Jeden Tag lasen etwa 70 Prominen-
­mächtige Erwartungen trifft wie »Noch Stuckrad-Barre zählte, der für Springer viele te die Überschrift eines Romankapitels vor.
wach?«, das neue Buch von Benjamin Jahre lang auch als Autor gearbeitet hatte. Stuckrad-Barre: Das Buch hat 18 Kapitel, und
von Stuckrad-Barre, 48. Ist es wirklich der Dass Reichelt schließlich doch gehen musste, es ist am 19. April erschienen. Am 1. April
allseits erwartete Schlüsselroman zur #Me- lag daran, dass er weiter eine Beziehung zu habe ich angefangen, jeden Tag ein kleines
Too-Affäre beim Springer-Verlag? Wie viel einer Mitarbeiterin pflegte, und, so Springer, Filmchen zu veröffentlichen, einen Kapitel-
an der Geschichte ist real, wie viel erfunden? darüber die Unwahrheit gesagt hatte. Reichelt titel pro Tag. Ich mache das alle paar Monate,
Wie nah kommen die Figuren im Buch dem bestreitet bis heute jeden Machtmissbrauch solche Serien, es ist weniger eine Kampagne
ehemaligen »Bild«-Chefredakteur Julian Rei- und hat seinen Anwalt nun beauftragt, den als eher ein Spielen mit Sprache, eine Aus-
chelt und Springer-Chef Mathias Döpfner? Roman auf eventuelle Verstöße gegen das weitung des Textes.
Wie groß die Nervosität der Beteiligten vor Persönlichkeitsrecht zu prüfen. SPIEGEL: Man könnte auch sagen: Sie holen
dem Erscheinen war, zeigte sich in der ver- Reichelt möchte wiederherstellen, was er sich Unterstützung.
gangenen Woche, als die »Zeit« verstörende für seinen Ruf hält. Döpfner wiederum weiß Stuckrad-Barre: Kann man immer brauchen.
Nachrichten von Döpfner veröffentlichte, die offensichtlich nicht, wie er mit dem unbere- Das sind alles Leute, deren Tun ich mag, die
dieser zum Teil an Reichelt versandt hatte. chenbaren Ex-Chefredakteur umgehen soll, mit Sprache zu tun haben und die auch mich
Döpfner freute sich darin über den Klima- dem er lange den Rücken freihielt. Und die mögen, soweit ich weiß.
wandel, beschimpfte Ostdeutsche als »Kom- Frauen, um die es geht? Haben zum Teil bis SPIEGEL: Und keiner von denen wollte wissen,
munisten« und »Faschisten«, in jedem Fall heute Angst, sich zu äußern, manche sind was in den Kapiteln drinsteht, deren Über-
als »eklig«, und forderte den »Bild«-Chef auf, noch in Therapie. Sie müssen das ganze Thea- schriften sie da rezitieren?
der FDP publizistisch zu helfen: »Please«! ter aussehen lassen, wie etwas, das es eigent- Stuckrad-Barre: Tatsächlich haben zwei, drei
Wer die Nachrichten durchgestochen hat- lich nicht sein sollte: eine Mächtige-Männer- gefragt: Kann ich das Buch denn schon mal
te, ließ sich leicht erahnen. Das Timing dürf- Geschichte. lesen? Denen habe ich gesagt: Nee, das gibt
te kein Zufall gewesen sein. Und die Versu- In diese Konstellation platzt »Noch wach?«. es erst am 19. April. Mach gern mit, oder lass
chung groß, sich rechtzeitig in Stellung zu es, wie du magst. Sonst dann eben nächstes
bringen und die Frage zu beantworten, wer SPIEGEL: Herr von Stuckrad-Barre, die Lese- Mal wieder.
der eigentlich Böse in dem Springer-Drama exemplare Ihres neuen Buches waren mit SPIEGEL: Der Buchtitel »Noch wach?« ent-
ist, noch bevor Stuckrad-Barres Roman wo- einem speziellen Code gesichert. Offensicht- stammt einer Nachricht, die Ex-»Bild«-Chef-
möglich eine literarische Antwort liefern wür- lich wollten eine Menge Leute noch vor dem redakteur Julian Reichelt einer jungen Kol­
de. Der Springer-Verlag seinerseits kündigte Erscheinen an ein Exemplar gelangen – was legin mitten in der Nacht geschickt hat. Das
an, eine Klage gegen Reichelt zu prüfen. Ihr Verlag zu verhindern versuchte. Was ist wissen inzwischen nicht mehr nur Eingeweih-
Stuckrad-Barres Roman spielt zu großen so gefährlich an »Noch wach?«, Ihrem neuen te. Haben Sie einen Schlüsselroman über den
Teilen in einem Berliner Fernsehsender, in dem Roman? Springer-Verlag geschrieben?
der Chefredakteur regelmäßig Affären mit Be- Stuckrad-Barre: Gefährlich? Stuckrad-Barre: Schlüsselroman? Auf gar kei-
rufsanfängerinnen beginnt – und damit durch- SPIEGEL: Ganz offensichtlich. nen Fall. Was ist das auch für ein unangeneh-
kommt, weil der oberste Chef des Hauses ihn Stuckrad-Barre: Es gibt Erwartungen an dieses mes Wort, was soll das überhaupt bedeuten?
gewähren lässt. Bis hierhin sind die Parallelen Buch, und das ist für einen Schriftsteller erst Bei »Schlüsselroman« denken alle an die fal-
unübersehbar. 2021 hatte der SPIEGEL auf- mal schön. Und in diesem Ausmaß auch für sche Tür. »Noch wach?« ist doch ein Klassiker
gedeckt, dass gegen den damaligen »Bild«- mich ungewohnt. Viele freuen sich. Andere der SMS-Kommunikation. Fast jeder, der mal
Chef ein Compliance-Verfahren im Konzern sammeln Hundekot für die Premiere. eine Weile im Nachtleben unterwegs war, hat
lief. Der Vorwurf: Machtmissbrauch gegenüber SPIEGEL: Sie haben die Erwartung an einen das selbst schon geschrieben oder eine so lau-
jungen Mitarbeiterinnen, mit denen er sexuel- #MeToo-Roman über den Springer-Verlag mit tende Nachricht bekommen – nur eben besser
le Beziehungen hatte. Reichelt wurde vorüber- einer eigenen Kampagne auf Instagram be- nicht im Rahmen eines beruflichen Abhängig-
gehend freigestellt – und durfte nach wenigen feuert. keitsverhältnisses. Aber vielleicht bin ich
Wochen zunächst in sein Amt zurückkehren. Stuckrad-Barre: So bewerten Sie das, ich nicht. da auch neumodisch. Davon abgesehen: Ich
Man habe kein strafrechtlich relevantes Ver- würde niemals ein Buch über diesen Mann
halten feststellen können, hieß es, die Bezie- schreiben.
hungen seien einvernehmlich gewesen. SPIEGEL: Fällt es Ihnen so schwer, den Namen
René Lohse / DER SPIEGEL

Springer-Chef Döpfner witterte eine Kam- Julian Reichelt auszusprechen?


pagne mächtiger Hintermänner – zu denen » S C H LÜ S S E L - Stuckrad-Barre: Das könnte ich schon tun,
ROMAN? AUF GAR aber ich höre den Namen so oft, dass ich das
Gefühl habe, das braucht es nicht. Handelt
K E I N E N FA L L !«
Das Gespräch führten die Redakteurin Isabell Hülsen
und der Redakteur Tobias Rapp in Berlin. der Roman von ihm persönlich? Ganz gewiss

8 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


TITEL

»AN BESTIMMTEN
­W E G G A B E LU N G E N A B E R
GEHT ES GANZ
SIMPEL DARUM, KEIN
ARSCHLOCH ZU SEIN.«

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 9


TITEL

nicht. Ich habe ihn dreimal getroffen SPIEGEL: Wie groß ist also der Wahr-
in meinem Leben, immer nur zufällig, heitsgehalt dieses Buches?
keinmal freiwillig. Dreimal – und Stuckrad-Barre: Wieder dieser Schlüs-
nach allem, was ich so höre, langt das selromanunfug! Ein Roman, also eine
auch. Mein Buch ist Literatur und Fiktion, kann wahrer sein als die
kein Klatsch. Was über ihn und sein Wirklichkeit.
Verhalten bekannt ist, wäre kein Ro- SPIEGEL: Haben Sie bestimmte The-
manthema, wenn es nicht woanders men aus der Wirklichkeit gemieden?
vergleichbar vor­käme. Ich interessie- Stuckrad-Barre: Ach, nur so Zeugs,
re mich nicht für diesen Typen, son- das keinen interessiert. Sex und Dro-
dern für einen bestimmten Typus gen und so. Noch einmal, es ist ein

Juri Reetz / STAR PRESS


Mensch. Von dem erzähle ich in mei- Roman.
nem ­Roman. SPIEGEL: Hat es Ihnen beim Schreiben
SPIEGEL: Was macht diesen Typus Spaß gemacht zu wissen, dass die
aus, der Sie interessiert? halbe Medienwelt sich fragt, ob
­
Stuckrad-Barre: Was mich beim ­Döpfner dies gesagt und Reichelt das
Schreiben dieses Buches besonders gemacht hat?
interessiert hat, ist Macht und das AUTOR STUCK­ ratur« oder »Freche Frauen aus dem Stuckrad-Barre: Einen seltsamen Be-
Magnetfeld um sie herum. Macht und RAD-BARRE Ruhrpott«. Ich habe einen Roman griff von Spaß haben Sie. Das gesam-
Geld – beides sind Herausforderun- UND SPRINGER- ­geschrieben, wirklich einen Roman, te Personal dieses Romans ist anhand
gen für den Charakter. Sich so etwas VO R S TA N D S - und der ist fiktiv. Aber wodurch ist der Wirklichkeit frei erfunden. Auch
genau anzuschauen ist Grundaufgabe CHEF DÖPFNER der inspiriert? Natürlich durch die das »Ich« des Buches, das bin ja nicht
eines Schriftstellers oder des Künst- BEI EINER Wirklichkeit. So habe ich immer ge- ich, auch wenn wir uns gut kennen.
L E S U N G 2010
lers überhaupt. Was löst Macht bei arbeitet. Das gilt ja für die meisten Und die wichtigste Figur ist ohnehin
demjenigen aus, der sie verliehen be- Schriftsteller. Ich finde, die beste Vor- keiner dieser Typen, sondern die
kommt oder sich nimmt. Und bei den- lage für Fiktion ist und bleibt die ebenfalls fiktive Heldin Sophia.
jenigen, die ihn umgeben. Da gibt es Wirklichkeit. SPIEGEL: Der Roman handelt von
Abhängigkeiten, Neider, diejenigen, SPIEGEL: Die Wirklichkeit? In Ihrem #MeToo – und im Skandal um die
die vor der Macht Angst haben. letzten Buch »Alle sind so ernst ge- Machenschaften des ehemaligen
SPIEGEL: Und diejenigen, die sie at- worden« machen Sie sich lustig über »Bild«-Chefs Reichelt hatten Sie nun
traktiv ­finden. eine Literatur, die glaubt, Weltpro­ mal eine Rolle.
Stuckrad-Barre: Ja, natürlich. Jeder bleme lösen zu können, und plädieren Stuckrad-Barre: Mir ist schon klar,
Mensch, auch der sogenannte Ich- für mehr Leichtigkeit. Jetzt haben Sie dass es absurd wäre zu sagen: Über
erzähler. Ich habe mich zur Vorberei- sich selbst mit #MeToo ein ernstes #MeToo möchte ich nicht sprechen
tung viel mit Tyrannen­typen beschäf- Weltproblem vorgenommen. und über Springer auch nicht. Das
tigt, ich verfolge geradezu obsessiv Stuckrad-Barre: Aber ich belästige wäre albern, meine vermeintliche
den Niedergang Trumps. Ebenso wie meine Leser nicht mit einer klaren Rolle in dieser Springer-Angelegen-
die öffentlich gewordene Korrespon- Haltung. Dieser Selbstentwurf des heit ist ja öffentlich dokumentiert.
denz aus dem Umfeld von Sebastian Schriftstellers, sich in allerlei gesell- Zwar nicht von mir selbst und durch-
Kurz. Und ich habe tagelang mit Fa- schaftliche Debatten einzumischen weg fehlerhaft, aber sei’s drum.
bio De Masi gesprochen, der als Lin- und Position zu beziehen, wie es SPIEGEL: Was war denn Ihre Rolle?
kenpolitiker im parlamentarischen dann immer heißt, das ist mir Stuckrad-Barre: Dafür muss ich etwas
Untersuchungsausschuss zu Wirecard ­vollkommen fremd. Offene-Brief- ausholen. Ich war in Los Angeles, als
saß. Ich musste das genauestmöglich Unterschreiber und Podiumsdiskus- #MeToo losbrach, der Fall Weinstein.
erfassen – wie sprechen solche Leute, sionsschriftsteller habe ich immer ge- Die Schauspielerin Rose McGowan
wie denken die, wie leben die? Wie mieden. Mit solchem Kram blamiert war ja eine der Ersten, die sich über
sagen die nichts? man sich nur, und, das wiegt noch Machtmissbrauch in der Filmindus­
SPIEGEL: »Noch wach?« hat zwei Ebe- schwerer, man ruiniert seine Kunst. trie geäußert hatten, sie wurde da-
nen. Es geht zum einen um eine zer- Mich erinnert das immer an Hannes durch zur Aussätzigen in Hollywood.
brechende Männerfreundschaft zwi- Jaenicke, der uns ja das Rätsel auf- Und am Pool im Chateau Marmont …
schen dem Erzähler und einem Kon- gibt, ob nun er die Meeresschild­ SPIEGEL: … einem bekannten Luxus-
zernchef. Die Analogie zu Ihnen und kröten rettet – oder ob nicht doch die hotel in Los Angeles, in dem Sie im-
Mathias Döpfner, dem Chef des Meeresschildkröten Hannes Jaenicke mer wieder wohnen und das auch ein
Springer-Verlags, ist nicht schwer zu E X - »B I L D «- retten. Schauplatz im Buch ist …
ziehen. CHEF JULIAN SPIEGEL: Die #MeToo-Affäre, die mit Stuckrad-Barre: … dort hieß es immer:
R E I C H E LT
Stuckrad-Barre: Wenn Sie meinen. dem Skandal um Harvey Weinstein Da kommt Rose, die ist so anstren-
Aber Männerfreundschaft, das klingt begann, wurde von Journalisten auf- gend geworden. Die hat eben nicht
nach Umkleidekabine, Bier und Pisse. gedeckt. Die Enthüllungen wurden mehr mitgespielt, und sie durfte folg-
So etwas pflege ich nicht. durch Schweigevereinbarungen und lich auch nirgendwo mehr mitspielen
SPIEGEL: Das Buch spielt in einem juristische Schritte behindert. Bietet in Filmen. Ich wusste von alldem
Fernsehsender, wo der Senderchef die der Roman die Möglichkeit, Dinge zu nichts und dachte bloß: Okay, dann
berufliche Abhängigkeit junger Kol- schreiben, die man im Journalismus ist das also die anstrengend geworde-
leginnen ausnutzt, im Sender herrscht nicht sagen darf? ne Rose. Erst sehr viel später habe ich
eine Kultur der sexuellen Belästigung. Stuckrad-Barre: Literatur ist absolute begriffen, was ich da gesehen und be-
Urban Zintel / laif

Haben Sie einen #MeToo-Roman ge- Subjektivität. Bestenfalls kann sie da- obachtet hatte – und das, obwohl ich
schrieben? durch eine tiefere, allgemeingültigere eigentlich jahrelang sehr nah dran ge-
Stuckrad-Barre: #MeToo-Roman ist Wahrheit freilegen. Eines Menschen wesen war, schließlich ist dieser Pool-
eine Vereinfachung, wie »Pop-Lite- Fall als Fall der Menschheit. garten ja ein Glutkern Hollywoods.

10 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


TITEL

SPIEGEL: Das war im Herbst 2017. mildernd auslegen, dass er keine Punkte in fache Frage, mit der man die Luft herauslassen
Stuckrad-Barre: Meine Bücher beginnen im- Flensburg hat. Es fiel mir damals wirklich kann aus dieser vermeintlich entlastenden
mer lange, bevor ich es merke. Und irgend- schwer, mich nicht öffentlich zur Wehr zu set- Behauptung der Einvernehmlichkeit: Da gibt
wann merkt man, man ist in einem Roman, zen gegen diese Unverschämtheit. Aber ich es einen Chef und eine Angestellte. Sie fangen
und der Roman ist ein Allesfresser, da kann wollte in diese Falle nicht treten, das Ganze eine Affäre an. Aber ist es für beide gleicher-
alles mit hinein. Und so spielt dieses Buch als Männerranküne zu vernebeln. Es geht hier maßen leicht, diese Beziehung zu beenden?
eben teilweise auch in Los Angeles und endet doch nicht um eine Männergeschichte. Es geht Der eine entscheidet über die Vertrags­
dort auch, mit der Zerstörung dieses letzten um Frauen und um unterlassene Hilfeleistung. verlängerung. Und die andere ist darauf an-
Paradieses. Der Roman beginnt 2017, kurz Mein Weltzugriff ist ja immer zuerst sprach- gewiesen, dass ihr Vertrag verlängert wird.
vor Bekanntwerden des Weinstein-Falls. Da- licher Natur, also war mein Denkreflex bei Daraus ergibt sich ein Ungleichgewicht der
nach schien alles so klar zu sein, die Konse- diesem verschwörungsschwiemeligen Begriff Macht – mit dem Begriff der Einvernehmlich-
quenzen auch. Bei den Oscars wurde sogar Hintermann sofort: Und was ist mit den Vor- keit wird das zugekleistert.
gesagt, dass Frauen nicht mehr weniger ver- derfrauen? SPIEGEL: Die »New York Times« machte
dienen sollen als Männer. Alle nickten ergrif- SPIEGEL: Das Komplizierte an vielen #Me- eine Nachricht von Döpfner an Sie öffentlich,
fen, das Gefühl war: Thema erledigt, Macht- Too-Fällen ist ja ein Muster, das sich auch bei in der er Reichelt als letzten und einzigen
missbrauch gibt es ab sofort nicht mehr. Doch den Figuren Ihres Romans findet: Viele Frauen Journalisten in Deutschland bezeichnet, der
dann habe ich gemerkt: Das ist Quatsch, es machen mit, schicken anhimmelnde Nach- noch mutig gegen den »neuen DDR-Obrig-
hat sich eigentlich nichts geändert. richten, statt hart Nein zu sagen. keitsstaat« aufbegehre. Fast alle anderen
SPIEGEL: Wann haben Sie das gemerkt? Stuckrad-Barre: Macht korrumpiert alle, auch seien »Propaganda-Assistenten«. Döpfner
Stuckrad-Barre: Kurz darauf, als ich in Berlin die, die sie nicht haben, jeden von uns, das verteidigte das als Ironie, die Nachricht sei
über die Fünfzigerjahre gestolpert bin. Ich bin ist doch klar. Und genau das ist das Einfallstor aus dem Kontext gerissen. Was war der
Zeuge geworden, ich wurde angesprochen. für Machtmissbrauch. Es gibt eine ganz ein- ­Kontext?
Ich habe mich darum nicht beworben, ich
habe danach nicht gesucht. Frauen aus dem
»ICH BIN ZEUGE
Springer-Verlag begannen, mich anzurufen – GEWORDEN. ICH WURDE
und machen es bis zum heutigen Tag. Frauen, ANGESPROCHEN.«
die mir ihre Geschichte erzählen. Warum sie
sich bisher nicht geäußert haben, was sie denn
machen sollen.
SPIEGEL: Warum ausgerechnet Sie? Weil Sie
bis dahin mit Mathias Döpfner befreundet
waren?
Stuckrad-Barre: Ja, ich kennte den doch, ich
könne da doch vielleicht etwas machen. Ich
habe zehn Jahre lang für den Springer-Verlag
gearbeitet. Ich dachte damals immer, ich habe
gut verhandelt, das Honorar ist prima, das
passt. Hätte ich gewusst, dass in dem Preis
offenbar inbegriffen ist, dass ich noch Jahre
danach als Telefonseelsorge für diesen Verlag
tätig sein muss, obwohl ich es nicht will, hät-
te ich das Dreifache verlangen müssen.
SPIEGEL: Julian Reichelt wurde als Chef der
»Bild«-Zeitung freigestellt, als die Vorwürfe
des Machtmissbrauchs bekannt wurden – die
Reichelt bestreitet. Es ging um junge Mitarbei-
terinnen, mit denen er sexuelle Beziehungen
hatte. Mathias Döpfner, Reichelts Chef,
sprach kurz danach bei einer Mitarbeiterver-
sammlung von Hintermännern, die es darauf
angelegt hätten, Reichelt zu stürzen. Der Ein-
zige, auf den er dabei konkret Bezug nahm,
waren Sie.
Stuckrad-Barre: Lustig, oder? Na ja, trostlos.
Aber auch ein klassisches Manöver. Es war
nicht zu bestreiten, dass es diese Beziehungen
gab, also wurde das so ein bisschen wegge-
hüstelt: »Ja, es sind ein paar Fehlerchen ge-
macht worden, aber dafür steht die Marke
digital besser da als je zuvor, also passt das
schon.«
SPIEGEL: Sie spielen auf die Begründung des
Springer-Verlags an, weshalb Julian Reichelt
René Lohse / DER SPIEGEL

nach dem Compliance-Verfahren zunächst


wieder in seinen Job zurückkehren durfte:
Reichelt sei nun mal ein sehr guter Journalist.
Stuckrad-Barre: Ich fand das recht originell,
ja. Als würde man einem Bankräuber straf-

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 11


TITEL

Stuckrad-Barre: Meine Antwort war sehr lang,


sehr unironisch und sehr explizit. Aber ich
» M AC H T KO R ­ Sie da, wenn es Ihnen schlecht ging. Sie sind
der Taufpate seines Sohnes.
hatte das Gefühl, das ist eine private Nach- R U M P I E RT A L L E , Stuckrad-Barre: Ich bin doch hier nicht in der
richt, das gehört sich einfach nicht, die zu
veröffentlichen.
AUCH DIE, DIE Döpfner-Entwöhnungstherapie!
SPIEGEL: Es gibt Leute, die Ihnen vorwerfen,
SPIEGEL: Vergangene Woche hat die »Zeit« S I E N I C H T H A B E N .« illoyal gegenüber Ihrem ehemaligen Freund
weitere Nachrichten veröffentlicht, die Döpf- zu sein.
ner unter anderem an Reichelt geschickt hat. Stuckrad-Barre: Wer mich der Illoyalität zei-
Stuckrad-Barre: Weil das jetzt verschiedentlich hen möchte, dem helfe ich gern in den Loden-
aufkam, absurderweise, möchte ich hier ein- ­ onorar auch Schmerzensgeld dafür, dass ich
H mantel. Loyalität erweist sich doch nicht in
mal feststellen: Nicht ich war die Quelle der mich dauernd rechtfertigen musste, für diesen bedingungslosem Mitmachen und Jasagen,
»Zeit«. Auf welchem Wege sollte denn aus- Verlag zu arbeiten. sondern gerade darin, auf Schwierigkeiten
gerechnet ich an die Korrespondenz zwischen SPIEGEL: Der Springer-Verlag unter Döpfner und Probleme hinzuweisen, möglichst bevor
diesen beiden Freiheitsstatuen gelangt sein? hat etwas von einem absolutistischen Hof. Da größerer Schaden entsteht. Ich komme aus
SPIEGEL: Die Nachrichten zeigen, wie radikal gibt es die Königsmutter und den König an einem christlichen Elternhaus, und seither
Döpfner manchmal formuliert: Ossis seien der Spitze, der versucht, die Machtbasis sei- weiß ich eines ganz sicher: Leute, die allzu
entweder Faschisten oder Kommunisten und nes Reichs zu vergrößern, und ansonsten sei- missionarisch mit irgendwelchen Werten wie
in jedem Fall eklig. Die FDP sei Deutschlands nen Launen folgt. Es gibt Günstlinge, die um Loyalität und Zusammenhalt und so weiter
Rettung, weshalb »Bild« ihr dringend im ihn herumscharwenzeln, und dann sind da wedeln, das sind die allerschlimmsten.
Wahlkampf helfen müsse. Und die Corona- noch die Bauern, die auf den Feldern die SPIEGEL: Hat Mathias Döpfner noch mal ver-
politik von Merkel vergleicht Döpfner mit Arbeit machen. Waren Sie der Hofnarr? sucht, mit Ihnen zu reden?
1933, der Machtergreifung Hitlers. Sie waren Stuckrad-Barre: Ein Hofnarr hat Präsenz- Stuckrad-Barre: Das wird mir immer mal wie-
mit dem Mann mal befreundet. Haben Sie pflicht, ich dagegen war nie im Haus, ich konn- der so hinterbracht. Ich habe ihn blockiert,
sich in ihm getäuscht, oder was ist da passiert? te da nicht schreiben, zum Schreiben muss ich und ich muss sagen, ich komme damit klar.
Stuckrad-Barre: Freunde auszuwählen nach allein sein. Ich war eher ein Außenbordmotor, Es geht auch ohne.
Gesinnung und Weltanschauung, das emp- Captain Ahab im Beiboot. Viele dort haben SPIEGEL: Warum wollen Sie nicht reden?
fände ich geistig als einigermaßen beengend. mich gehasst, aber sie mussten freundlich zu Stuckrad-Barre: Was gibt es denn da zu reden?
Bis zu einem gewissen Grad sind Unterschie- mir sein, weil ich ja sozusagen mit dem Boss Ich wüsste ja, wie das Gespräch läuft: Du, wir
de doch interessant und der Normalfall. Aber da war. Folglich waren die so nett zu mir, dass müssen mal quatschen, so viel falsch gelaufen,
natürlich gibt es Verständnisgrenzen. Und es kaum auszuhalten war. Heute, und das ist aber Schwamm drüber, wir hatten ja ’ne tolle
diese Erfahrung haben zuletzt in der Pande- im Grunde angenehmer als dieses Range- Zeit. Aber er müsste sich erst mal selbst eini-
mie sehr viele Menschen machen müssen, schmeiße, meinen dieselben Leute, mir öffent- ges eingestehen, erst mal das Gespräch mit
dass gesellschaftliche Fragen und politische lich oder auf Umwegen mitteilen zu müssen: sich selbst führen. Und vorher gibt es nichts
Sichtweisen über Wohl und Wehe einer Ich verachte dich, du Verräter! Vermutlich zu reden. Und da gibt es auch nichts mehr zu
Freundschaft entscheiden. An bestimmten denken sie, dass sei jetzt die Stallorder von duzen.
Weggabelungen aber geht es ganz simpel dem, was sie als ganz oben empfinden. SPIEGEL: Nehmen Sie mit Ihrem Buch Rache?
­darum, kein Arschloch zu sein. Und in dieser SPIEGEL: Wie drückt sich das aus? Stuckrad-Barre: Oh nein! Rache? Das hat so
Hinsicht habe ich in den vergangenen Jahren Stuckrad-Barre: Ich werde bepöbelt in Restau­ viele Denkfehler. So funktioniert doch Kunst
ziemlich hart aussortiert. rants, über mich werden Lügen verbreitet. nicht. Um Gefühle präzise beschreiben zu
SPIEGEL: Wie hat Ihre Freundschaft zu SPIEGEL: Machen Sie es sich nicht ein wenig können, darf das Gefühl selbst eben genau
­Döpfner eigentlich begonnen? zu einfach? nicht schreiben. Was immer geht und hilft:
Stuckrad-Barre: Ich hatte im SPIEGEL einen Stuckrad-Barre: Doch, bestimmt – wann im- nach oben lachen.
Text über Walter Kempowski geschrieben. mer es geht, tue ich das! SPIEGEL: Wie wird aus dem konkret Erlebten
Den hatte Döpfner gelesen. Und mich danach SPIEGEL: Sie waren mehr als ein Außenseiter. Literatur?
gefragt, ob ich für Springer arbeiten wolle. Sie waren Teil von Döpfners Welt, er war für Stuckrad-Barre: Indem man sich rauszieht aus
Erst nach vier Jahren bei Springer haben wir dem Getümmel, sonst ist es Journalismus.
angefangen, uns zu duzen. Ich hatte eine herr- » I C H W E R D E B E P Ö B E LT Indem man den Ort wechselt, Zeit vergehen
liche Zeit dort, ich konnte machen, was ich I N R E S TAU R A N T S , Ü B E R lässt, die Emotionen rausnimmt. Es gibt ein
wollte. Mir hat nie jemand irgendwas befoh- MICH WERDEN LÜGEN einziges schönes Buch von Hemingway, bevor
len, niemand hat an meinen Texten rumge- V E R B R E I T E T. « er so ein komischer Angeber mit offenem
fummelt. Ich habe durch dieses Arrangement Hemd und Wumme wurde: »Paris, ein Fest
zwei Reportagebücher zusammenbekommen. fürs Leben«. Er konnte das Buch über Paris
Ich konnte mir sogar verbitten, dass mich nur in Michigan schreiben, weil man in Paris
Menschen, die und deren Tun ich besonders den Eiffelturm vor lauter Baguettes nicht
unerträglich finde, anrufen und belästigen mit sieht. Er hätte sich in Details verloren. Einen
Anregungen wie: »Schreib doch mal was guten Merksatz dazu habe ich gelesen in der
gegen das Tempolimit – und für die FDP.« Autobiografie der wunderbaren amerikani-
SPIEGEL: Sie haben von Springer einen Hau- schen Komikerin Amy Poehler: »Forget about
fen Geld bekommen. Das kann ja unmöglich the details, remember the feeling.« Bevor ich
nur für drei Texte im Jahr gewesen sein, die anfange zu schreiben, sammle ich endlose
Sie geschrieben haben. Mengen an Zetteln, Notizen, Fotos, Erinne-
Stuckrad-Barre: In manchen Jahren waren es rungshilfen aller Art. Und wenn ich dann an-
auch vier! fange, schmeiße ich die alle weg. Erst dann
René Lohse / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Hat Döpfner sich Sie als freies bin ich frei. Dann geht es nur noch um die
­Radikal geleistet – als Ausweis der eigenen Frage: Was will die Geschichte, was braucht
Liberalität? sie, um wahr zu werden?
Stuckrad-Barre: Was es für Döpfner bedeutet SPIEGEL: Sie haben sich zum Schreiben auf
hat, weiß ich nicht. Für mich enthielt das die Seychellen zurückgezogen.

12 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


TITEL

Stuckrad-Barre: Ja, wenn es um Berlin geht,


schreibt man besser am Strand.
SPIEGEL: Als Leser hört man die Figuren in

»DANN MÜSSEN
Ihrem Buch sprechen, als stünde man direkt
daneben. Schreiben Sie mit, wenn Sie Men­
schen reden hören?
Stuckrad-Barre: Natürlich nicht, da greift die
Heisenbergsche Unschärferelation: Wenn SICH DIE FRAUEN AUCH
NICHT WUNDERN«
man mitschriebe, würde sich der gesprochene
Text verändern. Nein, ich habe einfach ein
recht gutes Gehör und ein seltsam präzises
Gedächtnis für gesprochene Sprache. Ich höre AUSZUG  Das erste Kapitel des neuen Romans von Benjamin
wahnsinnig gern zu, wenn Menschen spre­
chen. Egal wer, egal worüber. Für mich ist das von Stuckrad-Barre: »Noch wach?«
Musik. Helmut Dietl hat immer gesagt: »Was

U
einer sagt, ist wurscht. Wie er’s sagt, das ist nd dann fragt er dich, ob er dir den rand. Da war also das Kanzleramt zu sehen
der Inhalt.« Und da eben sehr genau zu sein, amerikanischen Botschafter vorstel­ gewesen, du aber hast versehentlich die Er­
das geht nur mit Liebe, man muss seine Figu­ len darf. Und dann machst du einen klärtexttafel für den darauffolgenden El-­
ren lieben. Alle. Knicks und schämst dich, aber der Botschaf­ Arenal-Bericht eingeblendet, also stand da
SPIEGEL: Auch die an Döpfner erinnernde ter ist total nett und spricht dich mehrmals unterm Bild des Kanzleramts: »Die Deut­
Figur des »Freundes«? mit deinem Namen an. In deinem Geburtsort schen entern wieder ihre Lieblingsinsel!«
Stuckrad-Barre: Vielleicht fühlen Sie sich an habe er studiert – und sogar seine Frau ken­ Einen halben Tag lang hat sich darüber
ihn erinnert. Ich aber habe sehr viele Men­ nengelernt. Sie müssen uns mal in Wisconsin GANZ TWIT TER lustig gemacht, das Hash­
schen in diese Figur eingearbeitet, auch Teile besuchen! Er lobt dein Englisch, du lobst sein tag hieß #ballaballamann (und es TRENDE-
von mir selbst natürlich. Sich selbst oder je­ Deutsch. Da unten, sagt der Botschafter zu TE stundenlang). Dein direkter Vorgesetzter
mand anderen wiederzuerkennen bedeutet dir, schauen Sie, genau da unten ist Kennedy hat sehr geschimpft, deine Kolleginnen und
ja in der Literatur keine erkennungsdienst­ einst langgefahren, zu seiner berühmten Ber­ Kollegen haben dich ausgelacht, nannten dich
liche Behandlung. Es ist wirklich etwas zu liner Rede. Ganz unter uns: Ich war kein Fan, eine Weile lang Ballaballafrau und Königin
trivial, diese Vorstellung, ich würde mit dieser ich bin Team Reagan. Dessen Berliner Rede von Mallorca – nur einer hat dich AUFGE -
Figur einfach nur Dr. Döpfner beschreiben hat ja auch viel mehr gebracht. Darf man gar FANGEN: er, der Chefredakteur. Er rief dich
und ihn dann trickreich in »der Freund« um­ nicht laut sagen, aber Sie werden mich ja wohl in sein Büro, du dachtest, jetzt fliegst du raus,
benennen. Völliger Quatsch. nicht verpfeifen, nicht wahr? aber er guckte sehr freundlich. Mach mal die
SPIEGEL: Der Icherzähler erlebt im Roman Nein, um Himmels willen. Du bekommst Tür zu, setz dich – tja, sagte er, das war jetzt
selbst einen sexuellen Missbrauch. Ein mäch­ einen Schweißausbruch, und der amerikani­ ein kleiner Vorgeschmack. So ist das, wenn du
tiger Kulturmann will nach einer durchfeier­ sche Botschafter reicht dir sein Einstecktuch, hier arbeitest. Das ist Fronteinsatz, jeden Tag.
ten Nacht Sex und bekommt ihn auch. Wie unerträglich warm, nicht? Ihr lacht. Draußen Und, hey, Fehler passieren, mir auch, jeden
real ist die Szene? auf der Terrasse sei es angenehm windig, sagt Tag, das ist MENSCHLICH. Wenn wir keine
Stuckrad-Barre: Die ist real. Und sie ist wahr. er. Es ist NU L L C R E EPY. Es ist einfach nur Fehler machen, können wir auch nicht besser
SPIEGEL: War es schwierig, das aufzuschrei­ VOLL NET T ! Er habe, sagt der Botschafter werden. MACH DIR KEINEN KOPF! Es
ben? nun, leicht vorgebeugt, noch in der Limousi­ ist absolut OUTSTANDING, was du nach so
Stuckrad-Barre: Das war gar nicht ich, das war ne eben sein Hemd wechseln müssen, schon kurzer Zeit hier schon leistest. Du bist im
mein Unterbewusstsein. Das sind die besten zum zweiten Mal heute, das neue aber sei Game! Du wirst gehasst werden, so fühlt es
Momente beim Schreiben, wenn man plötz­ auch schon wieder durch, seine Frau sage sich zunächst an. Aber bald wirst du verstehen,
lich etwas formuliert, das gar nicht geplant dazu S C H O N G A R N I C H T S M E H R , das ist kein Hass, das ist Furcht. Respekt. Neid.
war, sondern sich so ergeben hat. Also gar stimmt’s nicht, Darling? Sie nenne ihn immer That comes with it. Willkommen an Bord.
nicht schwierig. den Weichkäse in der Sonne, sagt er. Seine Ihr esst jetzt fast jeden Mittag zusammen
SPIEGEL: Haben Sie eigentlich Angst vor Frau bestätigt das nickend. in seinem Büro, Chicken Wings, für ihn ohne
­irgendwelchen juristischen Scherereien nach Er fragt dich, ob du – wie auch seine Frau – Soße, er will abnehmen. Für dich sowieso ohne
Erscheinen des Buches? seine Rede als zu lang empfunden hättest. Du Soße, du willst nicht zunehmen. Aber dann
Stuckrad-Barre: Warum sollte ich? Ich schrei­ warst bei der Rede draußen, rauchen, aber holt er Ketchup aus seiner Schreibtischschub­
be über erfundene Figuren. Außerdem sind du sagst, nein, die Rede sei genau richtig ge­ lade – und dann ist es fast wie eine Party, wäh­
Döpfner und Reichelt doch höchst engagier­ wesen. Das sei sehr höflich, sagt der ameri­ rend draußen alle herumhasten, Terroran­
te Verteidiger der Kunstfreiheit. kanische Botschafter – und dann schaut er schlag, Krebswunder, Familientragödie, Super­
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf? seine Frau gespielt verzagt an und sagt, siehst bingo, Todesrätsel, sie rennen und rufen, ihr
Stuckrad-Barre: Mir hat es sehr imponiert, wie du, man kann es auch höflich sagen! Die Frau aber esst in Ruhe Chicken Wings mit Ketchup.
die Medien, die den beiden unterstellt sind, des amerikanischen Botschafters sagt, dass Wenn sein Telefon klingelt oder jemand zur
sich im vergangenen Sommer an die Seite der sie deine Ohrringe mag. Tür hereinkommt, sagt er: Jetzt nicht! Jetzt
Künstler gestellt haben und engagiert dafür nämlich du. Das ist komisch irgendwie, aber
eingetreten sind, dass man in Deutschland Du bist jetzt immer dabei. Das ging schnell, es ist natürlich auch sehr aufregend. Anfangs
jederzeit und überall singen darf, die soge­ du bist ja noch in der Ausbildung. In den ers­ denkst du noch, was du sagst, sei bestimmt
nannte Puffmama Layla sei »schöner, jünger, ten Wochen im Sender warst du komplett dumm, aber er hört dir sehr aufmerksam zu,
geiler« oder so ähnlich. Wenn sich jemand überfordert. D I R E KT I NS K A LT E WAS- nickt viel, versteht dich, du ihn auch, ihr euch,
von künstlerischen Hervorbringungen belei­ S E R . Einmal hast du aus Versehen die es ist schön. Er sagt, er schätzt dich. Und dass
digt fühlt, ist das für diese beiden Freiheits­ BAUCHBINDEN vertauscht, das sind diese es keine blöden Fragen gäbe, sondern nur dum­
kämpfer Cancel Culture. Beide sind also ein­ Texteinblendungen am unteren Bildschirm­ me Antworten. Fragen, fragen, fragen – mehr
deutig Verbündete der Künstler. könne einem in der Ausbildung gar nicht bei­
SPIEGEL: Herr von Stuckrad-Barre, wir dan­ Benjamin von Stuckrad-Barre: »Noch wach?«. Kiepen- gebracht werden. Und dann: Machen, machen,
ken Ihnen für dieses Gespräch. n heuer & Witsch; 384 Seiten; 25 Euro. machen, sagt er. Einfach machen.

14 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


TITEL
Illustration: Simon Prades / DER

Er fragt dich, wo du hinwillst im Leben, ihr habe und so weiter, wie gefährlich er sei, und gegangen, bis sie Arbeit und eine eigene Woh­
sprecht kauend, es ist alles ganz vertraut, und dass du dich in Acht nehmen sollest. nung gefunden haben. Er weint, wenn er Bil­
du spürst von draußen die Augenwinkel­ Frauen sagen, er wolle dich nur ausnutzen – der sieht von Kindern im Krieg. Er kümmert
beobachtung der Vorbeieilenden, du siehst, Männer sagen, du wollest ihn nur ausnutzen. sich um Krankenhausplätze für Eltern von
wie sie dich beneiden und dich hassen. Es Aber sie täuschen sich alle – du bist NICHT Mitarbeitern. Er vergisst keinen Geburtstag.
fühlt sich gut an, auf eine seltsame Art, alles SO E I NE , und auch er ist nicht so, so ist er Er betet den Rosenkranz, ihr betet den
ist plötzlich heller in deinem Leben, bunter, wirklich nicht! Ihm geht es wirklich um DICH Rosenkranz. Vielleicht, sagt er, kann er dich
endlich passiert was. A L S P E R S O N . Silvester will er dich mit­ mal mitnehmen zu einer Papstaudienz. Du
Was dein Rosebud sei, fragt er dich dann. nehmen nach Jerusalem zur Klagemauer. schreibst deinen Eltern, dass du dich SUPER -
Du weißt nicht, was das sein soll, ein Rosebud. Man müsse das einfach M I T E I G E N E N S C H NEL L eingelebt hast in Berlin.
Kurz dachtest du, er wollte damit fragen, ob AUGEN gesehen haben, sagt er. Wenn du was sagst, guckt er dich an. Da
du ein florales Tattoo auf dem Arsch hast, Er zeigt dir Bilder von seinen Kindern. Er sitzen FÜNFZIG LEUTE IM KONFI, jeder
aber dann erklärt er es dir. Du verstehst es zeigt dir Bilder von seinem verstorbenen will angeguckt werden. Dich guckt er an.
immer noch nicht so ganz, aber es hat wohl Hund. Die Halskette, die er immer trägt, ist Manchmal fragt er dich sogar, was du zu ir­
etwas zu tun mit irgendeinem Kindheitsschlit­ geschmiedet aus einer Fahrradkette, die er in gendeinem Thema denkst. Du denkst dazu
ten, der zum Schluss in einem Ofen verbrannt einem ausgebrannten Waisenhaus in Syrien gar nichts, denkst du, aber da sprichst du auch
wird, aus einem ganz alten Film sei das, »Citi­ fand, NACH DER SCHLACHT. Wie weich er schon, denkst also doch was, Hilfe, MACHT
zen Kane«, musst du nicht kennen, sagt er, ist, wie groß sein Herz, das hat dich am meis­ DAS Ü BE R H AU P T S INN ?
aber könntest du kennenlernen. Du bist er­ ten überrascht. Er schaut dir die ganze Zeit in Offenbar schon, er nickt, macht sich eine
leichtert. Schauen wir uns mal an, sagt er, die Augen, er ist nicht das Monster, als das er Notiz – er schreibt auf, was du gesagt hast,
wenn du magst. Natürlich magst du. oft beschrieben wird. Du lernst sein WAH- und lobt dich. Er sagt, die anderen sollten sich
Ihr verabredet euch für übermorgen RES ICH kennen. Er ist ganz anders. Er hat ein Beispiel nehmen an dir. Sie hassen dich
Abend, ich mache uns einen Tisch im Borchi viele Zweifel, viel Angst. Er hat so viel Leid jetzt eigentlich alle, aber auf eine interessan­
klar, sagt er. Das hat noch nie jemand zu dir gesehen. Und deshalb hat er Überzeugungen. te Art: Sie grüßen dich auch außerhalb des
gesagt. HALTUNG! Das imponiert dir. Er ist EINER Büros, sie fragen dich beim Kaffeetrinken
Andere warnen dich, aber sind die nicht VON DEN GUTEN. Er betet für Israel, er oder wenn du mittags doch mal in der Kan­
einfach nur neidisch? Sie beachten dich jetzt. spendet für Menschen in Not, er hat sogar mal tine isst, ob neben dir noch ein Platz frei ist.
Du hörst Gerüchte, sogar Warnungen. Mit eine Geflüchtetenfamilie aufgenommen und Er schenkt dir Bücher, viele Bücher. Du
wem alles er WAS H A B E und mal gehabt ist mit ihnen zu allen möglichen Behörden weißt gar nicht, wann du die alle lesen sollst,

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 15


TITEL

Ihre Meinung aber du versuchst es, nimmst Unterstreichun­


gen vor und machst dir Notizen. Er ist dein
nicht zuerst genannt, sondern er! Er ist näm­
lich mal in einem Kriegsgebiet mit einem

interessiert
MENTOR! Du hattest dir immer einen Men­ Pferd davongeritten, kurz bevor ein Gra­
tor gewünscht. Aber er sagt, dass er auch von nateneinschlag das Café, in dem er einen
dir lernen will. Er fragt dich viel. IN F O R M A N T E N getroffen hatte, D E M
uns! Männer fragen einen ja sonst oft gar nichts,
die erzählen nur, wie unfassbar toll sie sind –
E R D B O D E N G L E I C H G E M A C H T hat.
Und er hatte also nur UM H A A RES B REI-
statt es einfach mal zu S E I N. Du hast das soTE überlebt, indem er eben auf diesem Pferd
Wir freuen uns auf Ihr Feedback: satt, Tinder, Raya, dann sitzt ihr da, und es D E M TO D E NT KOM M EN ist. Er hat die­
Wie gefällt Ihnen unser Kulturma- funktioniert nicht, vom ersten Moment an ist ses Pferd dann nach Deutschland ausfliegen
einfach alles falsch. ES FÜHLT SICH EIN - lassen und auf einem Achtsamkeitsbauernhof
gazin SPIEGEL BESTSELLER, und FAC H NI C H T R I C H T I G A N. Mit ihrem VO R D E N TO R E N D E R S TA DT unter­
was können wir besser machen? bescheuerten Bibelverkäufergrinsen sagen gebracht, er besucht es mindestens zweimal
sie, du hast schöne Augen, ich mag deine Art, im Monat – das Pferd, sagt er, heiße jetzt
ich mag dein Lachen, Humor ist unheimlich »Freedom Fighter«. Ob du mal Fotos sehen
wichtig für mich. Humor! Das sagen sie immer, wollest von »Freedom Fighter«, oder nein,
alle – aber lustig sind sie nie. Du denkst dannhalt, findest du Pferde vielleicht doof?, hat er
immer an diesen holzdummen Satz, den du dich gefragt, total schüchtern plötzlich, VER -
mal einen Typen bei »Love Island« hast sagen L ETZ L I C H , das fandest du – das musst du
hören, nachdem er zwei Minuten mit einer schon zugeben – ziemlich süß irgendwie.
von den Tanten da gesprochen hatte: »Wir Weil er halt zehn Minuten später schon
haben voll viel gemeinsam – ob das Tattoos wieder einen Bundesminister am Telefon zu­
sind oder Ambitionen.« sammenscheißt.
Du schaffst das leider nicht, bei solchen Er ist eigentlich GAR NICHT DEIN T YP.
DATES einfach nach fünf Minuten zu sagen, Klingt vielleicht komisch, aber auch deshalb
vertraust du ihm total. Deine letzten B OY-
pass auf, tut mir leid, das haut nicht hin. Schon
nach zwanzig Sekunden weiß man das ja FRIENDS haben immer nur sich selbst ge­
eigentlich, spätestens. Aber dann sitzt man dassehen, waren krass eifersüchtig, zum Teil sogar
eben höflich ab, und er will sogar eine Vor­ aggro. Alles war Kampf, das hörte nie auf,
speise, und das dauert. Und es ist so sinnlos. auch lange nach Ende der Beziehung konnte
Zwar sehen diese Typen alle gut aus, sind auch da jederzeit noch mal eine Attacke kommen.
20 groß und so – und sagen, dass sie darunter fast
ein bisschen leiden, IMMER SO AUF IHR
Und plötzlich triffst du diesen Menschen, der
dich sieht, der dich versteht, der dein Poten­
Buchpakete AUSSEHEN REDUZIERT ZU WERDEN. zial erkennt und an dich glaubt. In einer Nacht,
zu gewinnen Aber die leiden an gar nichts. Du bist auch in der du dich plötzlich wahnsinnig einsam
F E I N DA M I T, aber es kommt dir alles fühlst und Angst hast, dass dein Ex, der immer
NICHT ECHT vor. Sie KLICKEN JEDE noch einen Schlüssel zu deiner Wohnung hat
B OX bei dir, das schon, ihr SE I D E I N und den einfach nicht wieder rausrückt, plötz­
MATCH – aber es funktioniert trotzdem nicht! lich in der Tür steht, da ruft dieser wunder­
Aktuelle
Sie sind N I C H T Z W I N G E N D A U F bare Mensch dich an, er hat ein fast unheim­
Ausgabe lesen D E R SUC H E . liches Gespür für solche Momente, und er sagt
Sie haben sich D I E H Ö R N E R A B G E - dir, du könntest zu ihm kommen, auf seinem
Umfrage ausfüllen STOSSEN. Sofa seiest du sicher. Und das ist nicht das
auf spiegel.de/ Sie mögen es echt mittlerweile viel mehr, erste Mal, dass du denkst: Er ist mein Retter.
umfrage-bestseller Z U H AU S E E I N E N E N T S PA N N T E N Nein, du glaubst nicht an Märchen und Bar­
ZU M AC H E N. bie-Prinzen-Scheißdreck. Und du willst auch
oder QR-Code scannen
Sie lieben es, E I N E F R AU ZU B E KO - auf jeden Fall sehr PROFESSIONELL sein,
C HE N. und Grenzen sind wichtig und so. Aber das
1 von 20 SPIEGEL hier ist nicht so, wie es von außen vielleicht
BESTSELLER- Aber du hasst diese immer gleichen Dates. aussieht, dieses Klischee: Deutlich älterer Chef
Buchpaketen Andererseits, I C H M E I NE : H E Y ! J ETZT KÜMMERT SICH um die junge hübsche
Ihrer Wahl gewinnen MAL OHNE SCHEISS, wo sonst lernt man Auszubildende, knick-knack, haha. Null. Ihr
denn bitte HEUTZUTAGE NO CH Männer habt etwas ganz Besonderes. Was die anderen
kennen? Es ödet dich alles so an: für Geschichten über ihn erzählen, das ist egal,
Ein gutes Buch, Weihnachten unbedingt die kennen ihn eben einfach nicht richtig. Du
supertraditionell, ein Häuschen im Grünen. hast ihn erkannt und er dich. Ihr müsst euch
Ohne Workout könnten sie nicht leben, dafür nicht rechtfertigen.
das E RD ET sie.
Sie wünschen sich Familie, IR G E N D - Vor dem ersten Kapitel des Romans steht fol-
WANN. gende Anmerkung des Autors: Dieser Roman
Sie erzählen dir EI NE N VO M P F ER D, ist in Teilen inspiriert von verschiedenen realen
wenn’s passt auch von dem, das du als Kind Ereignissen, er ist jedoch eine hiervon losge-
nie haben durftest, aber SPÄTER IRGEND- löste und unabhängige fiktionale Geschichte.
WA N N M A L gern hättest. Sobald du das Daher erhebt der Roman keinen Anspruch, Ge-
sagst, lieben auch sie Pferde. schehnisse und Personen und ihre beruflichen
und privaten Handlungen authentisch wieder-
Bei ihm, dem Chefredakteur, aber ist das alles zugeben. Vielmehr hat der Autor ein völlig
anders. Da hast du, zum Beispiel, das Pferd eigenständiges neues Werk geschaffen.  n

16 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

Heiko Rebsch / dpa


Ein Mann schickt die Schwimmdrohne Sonobot los zur Fahrt quer über den Süßen See in Sachsen-Anhalt. Das Gerät kann den Seegrund durch Sonar
scannen und abbilden, etwa, um dort auffällige Strukturen sichtbar zu machen. Die moderne Technik kommt auf dem See erstmals zum Einsatz.
Professionelle und Hobbyarchäologen interessieren sich schon seit Längerem für das Gewässer. Auf dem Grund des Süßen Sees findet sich zum
Beispiel ein Hügelgrab aus vorchristlicher Zeit, auch die weltbekannte Himmelsscheibe von Nebra wurde nur rund 40 Kilometer entfernt entdeckt.

Vom Schießstand zur Sicherheitsfirma


VERTEIDIGUNG  Fast jeder zehnte Soldat hat einen Nebenjob – welchen genau, weiß das Ministerium nicht.

B ei der Bundeswehr steigt die Zahl der Soldaten, die neben


ihrem Dienst bei der Truppe noch einen Nebenjob haben.
Laut einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine
Kleine Anfrage der Linksfraktion sind in diesem Jahr für die etwa
bei Sicherheitsfirmen genehmigt worden. Wie viele Anträge auf
Nebenverdienst verweigert wurden, etwa mit Verweis auf das
­Ansehen der Truppe, sei unklar. Besonders genau achte man da­
rauf, dass die Soldaten dienstlich erworbenes Wissen und beson­
183.000 Soldaten 16.319 Nebentätigkeiten erfasst. In den vergan­ dere militärische Fähigkeiten, zum Beispiel die speziellen Kennt­
genen Jahren ist die Zahl von Soldaten mit Zweitjob stetig ange­ nisse von Kommandosoldaten, nicht weitergäben. Die Linken­­
stiegen. Ende 2019 gab es noch 13.171 Soldaten, die sich etwas abgeordnete Martina Renner fordert eine bessere Kontrolle. »Die
­dazuverdienten. Ende 2022 lag diese Zahl schon bei 14.434. Das Politik muss nach den Gründen fragen, warum fast zehn Prozent
Wehrressort zeigte sich in der Antwort nicht in der Lage, die Art der Bundeswehrsoldaten Anträge auf Nebenjobs stellen«, so
der Nebenjobs genau zu beschreiben, entsprechende Daten wür­ ­Renner. Das Ministerium könne sich nicht leisten, keine Ahnung
den nicht zentral erhoben. Seit 2017 seien aber 84 Genehmigungen zu haben, ob Soldaten etwa bei fragwürdigen Sicherheitsfirmen
für Tätigkeiten in Sportvereinen oder Fitnessstudios erteilt worden. jobbten oder Waffentraining für Rechtsextreme oder »Reichsbür­
In 607 Fällen seien in den vergangenen sechs Jahren Nebenjobs ger« anböten. AKM, MBA, MGB

18 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


CDU-Politiker heben »Für mich gibt es keine andere
DIE GEGENDARSTELLUNG
Option.« Auch Frei sieht in
Merz auf den Schild
Habecks
Merz »den exzellenten Kandi-
K-FR AGE In der CDU nimmt daten«. Zudem warnt Frei vor

Klüngelwirtschaft
die Debatte um die Kanzlerkan- möglichen Machtkämpfen in
didatur 2025 Fahrt auf. Führen- den eigenen Reihen: »Die CDU
de Christdemokraten sprechen hat bei der vergangenen Bun-
sich bereits jetzt für den Partei- destagswahl vor allem auch
vorsitzenden Friedrich Merz deshalb Vertrauen eingebüßt, Von Alexander Neubacher Man kennt sich, man hilft
aus. Sowohl der stellvertretende weil Armin Laschet in der Brei- sich. Dass der als Forschungs-
CDU-Vorsitzende und Chef der
Grundsatzkommission, Carsten
Linnemann, als auch der Erste
Parlamentarische Geschäftsfüh-
te der Partei der Rückhalt fehl-
te.« Das dürfe nicht wieder pas-
sieren, so Frei. »Fraktion und
Partei werden dieses Mal ge-
W irtschaftsminister Ro-
bert Habeck hat ein
Herz für Familienbe-
triebe. Man könnte sagen,
koordinator beim Öko-Institut
tätige Felix Matthes (nebenbei
Mitglied der Habeck-Kommis-
sion »Gas und Wärme«) mit
rer der Fraktion, Thorsten Frei, schlossen hinter Merz stehen.« dass er sein Ministerium selbst der früheren grünen Berliner
fordern, Merz müsse bei der Merz hat sich bislang nicht zu wie einen führt, mit grünen Umweltsenatorin Regine
kommenden Bundestagswahl seinen Plänen für eine mögliche Brüdern und Schwestern im Günther verheiratet ist, wel-
Spitzenkandidat der Union wer- Kandidatur geäußert. Der Geiste und in echt. che zusammen mit Patrick
den. »Ich halte Friedrich Merz CDU-Chef hat lediglich ange- Da sind Habecks Staatsse- Graichens früherem Chef Rai-
für den besten Kandidaten, um kündigt, die Frage möglichst kretäre Michael Kellner und ner Baake wiederum jetzt die
dieses Land wieder nach vorne früh, spätestens im Frühherbst Patrick Graichen. Die beiden »Stiftung Klimaneutralität«
zu bringen«, sagt Linnemann. 2024, klären zu wollen. SSI sind verschwägert: Kellner, leitet, wobei Baake von Ha-
Ex-Bundesgeschäftsführer der beck auch zum »Sonderbeauf-
Grünen, hat Graichens tragten für die deutsch-nami-
Linke setzen auf kreis. Im Bundesland ist sie vor Schwester Verena geheiratet. bische Klima- und Energie-
allem als Aktivistin gegen den Verena Graichen wiederum kooperation« ernannt wurde –
grüne Politikerin Ausbau der A49 aufgefallen arbeitet als Wissenschaftlerin
LANDTAGSWAHLEN Die Lin- und hat sich laut Lokalberichten beim Öko-Institut, einer Ein- Der eine Staats-
ken in Hessen wollen eine Grü- auch mit der Landesregierung richtung, die aus der Anti-
nenpolitikerin auf ihre Liste für und deren grünen Verkehrsmi- AKW-Bewegung hervorge-
sekretär ist mit der
die anstehende Landtagswahl nister Tarek Al-Wazir angelegt. gangen ist. Als solche wurde Schwester des
im Herbst setzen. Eine entspre- Schlemmer soll bei der Landes- sie von der Regierung in den anderen verheiratet.
chende Entscheidung traf dem vorstandssitzung der Linken Nationalen Wasserstoffrat be-
Vernehmen nach der Landes- angekündigt haben, entweder rufen, welcher an einen das alles sei hier nur am Rande
vorstand am vergangenen die Grünen zu verlassen oder Staatssekretärsausschuss be- erwähnt.
Samstag, sie muss noch bei sich notfalls rauswerfen zu las- richtet. Nun könnte man sagen:
einer Parteiversammlung an sen. Das Antreten auf einer Praktischerweise darf Vere- Schön, wenn ein Clan für den
diesem Wochenende bestätigt konkurrierenden Liste bei einer na also ihren Mann Michael Erfolg zusammenhält, siehe
werden. Laut den Plänen soll es Wahl gilt als klarer Parteiaus- und ihren Bruder Patrick nicht Kelly Family, Waltons, Rem-
der Listenplatz 7 werden, der- schlussgrund. Der hessische nur privat in Energiefragen mos. Man könnte allerdings
zeit hat die Linkenfraktion neun Landtag hat derzeit die letzte beraten, sondern auch wäh- auch auf den Gedanken kom-
Abgeordnete. Bei der Politike- Linksfraktion in einem west- rend der Arbeitszeit. men, dass es sich um einen
rin handelt es sich um Barbara deutschen Flächenland. Die Zudem bekommt das Öko- Fall von Klüngel handelt, der
Schlemmer, Stadtverordnete für Partei kämpft um den Wieder- Institut von der Bundesregie- bei jedem anderen Minister
die Grünen in Homberg (Ohm) einzug, Umfragen sehen sie bei rung Gutachteraufträge. Allein zu einem Sturm der Entrüs-
im mittelhessischen Vogelsberg- nur noch drei Prozent. TIL 2021 waren es laut Lobbyre- tung führen würde.
gister 34 Projekte mit Zuwen- Doch irgendwie ist es Ha-
dungen oder Zuschüssen beck gelungen, die Sache weg-
von insgesamt mindestens zudrücken. Als Medien wie
Nachgezählt 2,38 Millionen Euro. Mindes- die »taz« vor gut einem Jahr
tens 630.000 Euro kamen erstmals kritisch über das
Wann Deutschland seinen rechnerischen Anteil der ökologischen vom Wirtschaftsministerium. Friends-&-Family-Ressort be-
Ressourcen der Erde für das Jahr 2023 verbraucht haben wird*,
im Vergleich zu ausgewählten Staaten Ein aktuelles Projekt des richteten, erklärte das Minis-
Öko-Instituts für das Habeck- terium, es werde »selbstver-
Japan 6.5. China 2.6. 51 Länder Ressort ist die Studie »Ener- ständlich sichergestellt, dass
Frankreich 5.5. Brasilien 12.8. überschreiten
Deutschland 4.5. ihren jährlichen gie- und Klimaschutzprojek- keine Interessenkonflikte bei
Österreich 6.4. Anteil nicht, tionen 2035/2050«. Womit der Vergabe von Studien oder
Juni Juli darunter wir beim nächsten Familien- Aufträgen entstehen«.
Mai Aug. Indien,
Pakistan
mitglied wären: Jakob Grai- Na dann. Dass die Sipp-
Australien 23.3. April Sep.
Um rund und die chen. Er ist Co-Autor der Stu- schaft mit den Interessen
USA,
Kanada 13.3. März fünf Monate Okt. Philippinen. die, außerdem der Bruder von Robert Habeck in Kon-
ist der globale von Patrick und Verena und flikt geraten könnte, darf wohl
Katar 10.2. Feb. Erdüberlastungstag Nov. somit ebenfalls ein Schwager tatsächlich ausgeschlossen
seit 1971 vorgerückt
auf den 28. Juli Jamaika von Michael. werden.
Jan. Dez. 20.12.
im Jahr 2022.
* Schätzungen anhand des ökologischen Fußabdrucks und der Biokapazität An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
der einzelnen Länder Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Global Footprint Network
…

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 19


CHAPPATTES WELT SPD kritisiert Wis­
sings Autobahn-PR
KOALITION  Die SPD-Fraktion
wirft Bundesverkehrsminister
Volker Wissing (FDP) vor, bei
seinen Beschleunigungsplänen
für Verkehrsprojekte die Auto-
bahnen allzu sehr nach vorn zu
stellen. »Der Verkehrsminister
hebt immer wieder hervor, wie
viele Autobahnkilometer laut
dem Entwurf zum Genehmi-
gungsbeschleunigungsgesetz
nun realisiert werden können«,
kritisiert SPD-Fraktionsvize
Detlef Müller. »Dabei sind es
deutlich mehr neue und um-
fangreichere Bahnprojekte, die
im vorliegenden Gesetzentwurf
beschleunigt umgesetzt werden
sollen.« Wissing hat vor Kur-
zem seinen Gesetzentwurf in
die Ressortabstimmung gege-
ben. Darin wird festgehalten,
dass der Bau bestimmter Vorha-
ben »im überragenden öffent­
lichen Interesse liegt und der
öffentlichen Sicherheit dient«.
Genehmigungsverfahren sollen
Offensive endet umgesetzt worden, um Refor- sogar als zwingend erforderlich beschleunigt werden und per­
men an Hochschulen voranzu- gesehen.« Eine Beratungsfirma, spektivisch künftig digital ab-
SCHULEN  Das Bundesministe- treiben und die Ausbildung von die das Programm evaluiert, laufen. Genannt sind unter an-
rium für Bildung und Forschung Lehrkräften zu verbessern. Bis kam 2022 zu dem Schluss, dass derem 148 Autobahnprojekte.
(BMBF) wird trotz Kritik an 2023 sind insgesamt bis zu 500 sich dadurch die »Lehrkräfte­ »Würde man die Schienenpro-
dem Aus die »Qualitätsoffensi- Millionen Euro an Bundesmit- bildung an den geförderten jekte ähnlich aufgliedern wie
ve Lehrerbildung« nicht fort- teln dafür vorgesehen. Vertrete- Hochschulen in den letzten Jah- diejenigen auf der Straße, käme
führen. Das Programm komme rinnen und Vertreter aus Schu- ren in der Dimension Forschung man auf über 300 Einzelprojek-
»vereinbarungsgemäß zum len und Hochschulen hatten weiterentwickelt hat.« Der te«, erklärt Müller. Er ver-
Jahresende zum Abschluss«, »einmütig ein sehr großes Inte­ Mangel an gut ausgebildeten spricht: »Sobald das Kabinett
schreibt BMBF-Staatssekretär resse an der Fortführung« for- Lehrkräften lasse sich nur in den Gesetzentwurf beschlossen
Jens Brandenburg (FDP) in der muliert, wie es in einem Schrei- einer »gemeinsamen Kraftan- hat, werden wir im parlamenta-
Antwort auf eine Bundestags- ben der Kultusministerkonfe- strengung bewältigen«, sagt rischen Verfahren dafür Sorge
anfrage der CSU-Abgeordneten renz an das BMBF heißt. »Vor Staffler. »Der Bund darf sich tragen, dass eine bestmögliche
Katrin Staffler. Die Offensive dem Hintergrund des aktuellen gerade jetzt nicht aus seiner und klimaschonende Ausgestal-
war 2013 beschlossen und 2015 Lehrkräftemangels wurde sie Verantwortung stehlen.« OLB tung erfolgt.« GT

Soziale Klimawende entscheiden, wie sie die Einnah- Ungleichmäßig dass das Schiff überladen war,
men verwenden. In Deutsch- womöglich sei es aber in der
EU  Nach der Entscheidung, land fließen sie etwa in den Kli- beladen? Mitte schwerer beladen gewe-
einen europaweiten Emissions- ma- und Transformationsfonds, SCHIFFFAHRT  Der Mitte März sen als vorn und hinten. Der
handel für Gebäude und Ver- dessen Förderprogramme für in der Donauschleuse Geisling 85 Meter lange Frachter, Bau-
kehr einzuführen, debattieren Elektromobilität oder Gebäude- havarierte Frachter »Achim« jahr 1957, war nach wenigen Ki-
die Parteien über dessen Ausge- dämmung die Einkommen der könnte unter anderem deshalb lometern untergegangen, der
staltung. So fordern die Grünen Empfänger kaum berücksichti- gesunken sein, weil das gelade- Kapitän und sein Steuermann
im EU-Parlament, die Einnah- gen. Der CDU-Parlamentarier ne Eisenerz ungleichmäßig im konnten sich retten (SPIEGEL
men aus den steigenden CO2- Peter Liese fordert deshalb, Rumpf verteilt war. Das erklärte 13/2023). Nach zwischenzeitli-
Preisen für Benzin oder Erdgas stärker nach sozialen Kriterien die Wasserschutzpolizei Re- chem Ablassen des Wassers aus
den Bürgerinnen und Bürgern zu staffeln. »Nach einer Über- gensburg auf Nachfrage. Man der Schleuse konnte der Hava-
vollständig zurückzuerstatten. gangszeit sollten sehr Wohlha- habe »entsprechende Ermitt- rist gehoben und abgeschleppt
»Wir brauchen den Einstieg in bende keine Unterstützung lungsschritte auch in Richtung werden. Zur Ursache des Un-
ein europaweites Klimageld, mehr zum Beispiel für den Ein- Schiffsführer eingeleitet«, so ein glücks steht noch das Gutachten
das am Jahresende pro Kopf bau einer Wärmepumpe be- Vertreter der Behörde zum Zwi- eines Havariekommissars aus.
ausgezahlt wird«, sagt der grü- kommen.« Für Geringentlohnte schenstand. Dabei gehe es um Erst nach dessen Auswertung
ne EU-Parlamentarier Michael sollten Zuschüsse »höher sein eine mögliche »niedrige Stufe wird die Polizei ihre Erkenntnis-
Bloss. Derzeit dürfen die Mit- als bisher, damit sie sich den der Sorgfaltspflichtverletzung«. se der Staatsanwaltschaft Re-
gliedstaaten weitgehend selbst Umbau leisten können«. MSA Es gebe keine Hinweise dafür, gensburg übermitteln. FRI

20 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


»Straßenblockaden ziehen. Straßenblockaden
schaden da eher.
schaden« SPIEGEL: Also erschwert die
Der Grünen-Bundestagsabgeord­ »Letzte Generation« Ihre Arbeit?
nete Marcel Emmerich, 31, hat Emmerich: Wenn Bürgerinnen
die »Letzte Generation« vertei- und Bürger in ihrem Alltag ein-
digt. Aber inzwischen hält er die geschränkt werden, die viel-
Aktionen für kontraproduktiv. leicht sogar für mehr Klima-
schutz sind, fühlen sie sich ange-
SPIEGEL: Herr Emmerich, Sie griffen, manche wenden sich ab.
haben im Herbst in einem Gast- Oder wenn Handwerker blo-

Philipp Meuser / DER SPIEGEL


beitrag im »Tagesspiegel« die ckiert werden auf dem Weg zu
»Letzte Generation« gegen Kri- ihrer Arbeit, die wir so dringend
tik verteidigt. Warum? brauchen, etwa um Fotovoltaik-
Emmerich: Die Debatte war da- anlagen oder klimafreundliche
mals völlig aus den Fugen gera- Heizungen einzubauen.
ten. Die »Letzte Generation« SPIEGEL: Unterstützer der »Letz-
wurde kriminalisiert und teil- ten Generation« verweisen auf

»Ich muss nicht alles wissen«


weise sogar mit Terroristen in die Theorie der radikalen Flan-
Verbindung gebracht. Auch ke: Demnach lassen die Aktio-
wenn man die Aktionsformen nen andere Klimaschutzakteure
natürlich verurteilen kann: Das vernünftig aussehen und helfen
DIE AUGENZEUGIN  Ella Neitzel zählt zu den
war überzogen, es ist immer so der Sache. Ist das falsch?
noch überzogen. Emmerich: Momentan geht die- ­ illionen Menschen in Deutschland, die noch nie
M
SPIEGEL: Sie sagten damals, die ser Plan jedenfalls nicht auf. So online waren. Hier berichtet die 86-Jährige
Rufe nach null Toleranz und die eine Flanke sorgt gerade nicht
Extremismusvergleiche sollten dafür, dass neue Kompromisse
von ihrem Leben als entschiedene »Offlinerin«.
die Bewegung diskreditieren. möglich werden. Sie lässt Kli-
Daran halten Sie fest? maschutz eher wieder zu einem »Nennen Sie mich altmodisch, Ich muss nicht alles wissen,
Emmerich: Es gibt eine Ge- Spezialthema einer kleinen aber ich war noch nie im und ich muss nicht alles ha-
schichte des zivilen Ungehor- Gruppe werden. Internet und plane auch nicht, ben. Mir fällt auf, wie sehr das
sams in der Demokratie. Und es SPIEGEL: Die Kritik, die Blocka- das zu ändern. Ich habe einen Internet die Leute verändert.
gibt einen Platz dafür, solange den schadeten der Sache, gibt es Briefkasten und ein Telefon, Letztens wäre fast jemand in
der Protest friedlich ist und sich von Anfang an. Hat das also im- das reicht mir. Früher habe ich mich reingelaufen, weil er
den Konsequenzen stellt. Das mer gestimmt? als Steuergehilfin in einem das Handy vor der Nase hatte.
tun die Aktivistinnen und Akti- Emmerich: Ich glaube, dass Hamburger Büro für Küsten- Und: Ich weiß aus dem Kopf,
visten damals wie heute. Nach nicht von Anfang an klar war, schifffahrt gearbeitet und viel wann mein Bus kommt. Men-
wie vor gibt es viele Akteure, wie sich die gesellschaftliche Wandel erlebt. Um Währun- schen, die alles im Internet
die lieber die Klimabewegung Stimmung entwickelt. Es war gen umzurechnen, schaffte suchen, behalten nichts mehr.
herabsetzen, als über Klima- auch nicht klar, wie sich die man sich dort 1960 eine teure Grauenhaft ist auch, wie viele
schutz zu sprechen. »Letzte Generation« entwi- Rechenmaschine an. Die war Falschmeldungen es da gibt.
SPIEGEL: Hat sich Ihr Blick auf ckelt. Ich hatte die Hoffnung, so schwer, die konnte man gar Ich habe hier einen Nachbarn
die Aktionen geändert? dass sie sich Protestformen nicht tragen. 1994 hat das mit ganz komischen Ansich-
Emmerich: Darüber denke ich überlegt, die Menschen nicht im Büro auf Computer umge- ten. Da frage ich ihn: Wo ha-
viel nach. Ich kann nach wie Alltag dauerhaft einschränken. stellt, aber von denen war ich ben Sie das eigentlich alles
vor den Frust gut verstehen. SPIEGEL: Sollen die Blockaden kein Freund – und froh, bald her? Aus dem Internet, sagt
Wir müssen noch viel mehr tun, aufhören? in Rente zu gehen. er. Das entsetzt mich, ich
um die Chance zu wahren, das Emmerich: Den Protesten ist es Wie ich mir das Internet bin froh, die Nachrichten im
1,5-Grad-Ziel zu erreichen. teilweise gelungen, Aufmerk- vorstelle? Das ist eine Appara- Radio zu hören.
Aber ja, mein Blick hat sich ge- samkeit zu erzeugen und den tur, in die Sie einen Code ein- Meine Generation stirbt
ändert. Man kann nicht ignorie- Klimaschutz grundsätzlich auf geben, um dann alles Mögliche aus, das weiß ich. Aber ich
ren, dass die Unzufriedenheit die Tagesordnung zu bringen. zu suchen. Ich gebe ja zu: Das brauche kein Internet, um
mit den Aktionen ständig Aber wir sind jetzt in einer Pha- kann eine wunderbare Sache meinen Urlaub zu buchen, zur
wächst und dass diese zu einer se, wo es um konkrete Maßnah- sein. Neulich musste ich auf Bank oder zum Arzt zu gehen.
Spaltung der Gesellschaft bei- men geht. Ich würde mir wün- Kur fahren, in den Vorberei- Das Schlimme ist nur: 2028
tragen. Das macht mir Sorgen. schen, dass die Proteste der Be- tungen kriegte ich meinen Kof- muss ich einen neuen Perso-
SPIEGEL: Was sorgt Sie genau? wegung stärker auf diese kon- fer nicht abgeschickt, weder nalausweis beantragen. Wenn
Emmerich: Momentan befinden kreten Debatten eingehen. Auf- per Anruf noch im Versand­ ich das per Internet machen
wir uns in heftigen Auseinan- merksamkeit ist nicht alles. JOS laden. Ich war so was von wü- muss, wird das eine Katastro-
dersetzungen um konkrete tend. Da hat mein Neffe mit phe. Man kann nicht jeden
Klimaschutzmaßnahmen, etwa seinem Handy in kürzester dazu zwingen, alles digital zu
um die Erneuerung von Hei- Zeit mein Problem gelöst. erledigen, die eigenen Daten
Omer Messinger / SZ Photo

zungen oder um das Ende des Mein Schwager sagt dann im- preiszugeben und dann viel-
Verbrennungsmotors. Da sind mer: Siehste, du solltest leicht Betrügern aufzusitzen.
wir da­rauf angewiesen, Ver­ das auch lernen. Und ich sage Es muss auch anders gehen.«
bündete zu finden. Wir müssen dann: keine Lust. Ich bin da Aufgezeichnet von
dabei die Bevölkerung über­ Emmerich
stur, das liegt wohl am Alter. Alexander Kauschanski
zeugen und auf unsere Seite

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

Politiker Lindner,
Journalistin
Lehfeldt beim
Besuch von
König Charles in
Berlin im März

Grüße vom Gossip Girl


BEZIEHUNGEN  Die Journalistin Franca Lehfeldt und ihr Mann,
FDP-Chef Christian Lindner, vermischen immer mal wieder Beruf und Privatleben.
Das Paar irritiert damit Kollegen in Politik und Medien.
Phil Noble / REUTERS

22 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

E »Es geht eben darum,


nde Oktober vergangenen Jahres ver- dass die FDP »unsere letzte Hoffnung« sei.
sucht Franca Lehfeldt, »Chefreporterin »Können wir für die nicht mehr tun?«, fragte
Politik« beim Nachrichtensender Welt, wie man mit einem solchen er. Zwei Tage vor der Wahl bat er den da­
ein Interview mit dem Partei- und Fraktions-
vorsitzenden der CDU, Friedrich Merz, zu
Dilemma umgeht.« maligen »Bild«-Chefredakteur Julian Rei-
chelt: »Please stärke die FDP«. Zugleich soll
organisieren. Anlass ist die Rede zur Lage der Frank Überall, DJV-Vorsitzender Döpfner nach SPIEGEL -Recherchen auch an
Nation von Bundespräsident Frank-Walter dem Versuch beteiligt gewesen sein, Lehfeldt
Steinmeier. Merz würde ein Interview geben, von ihrem früheren Arbeitgeber RTL zu
schreibt Lehfeldt am 28. Oktober in einer »Bild« zu holen, was der Verlag auf Anfrage
Mail an die Redaktion, aber: »Bitte keine Fra- de­mentiert.
ge zu China/Chips«. fach trennen lassen. Die Voraussetzung sei, Es hätte verschiedene Wege gegeben, die
Manche in der Redaktion sind irritiert. dass sie sich an Regeln halte, sagte Lehfeldt Interessenkonflikte im Hause Lehfeldt/Lind-
Journalisten betrachten es eigentlich nicht als im vergangenen Jahr der »Zeit« – und die ner aufzulösen. Lindner hätte sein Politiker-
ihre Aufgabe, solche Wünsche von Politikern lauten: »Ich berichte nicht über die FDP und leben aufgeben und einen Job in der
zu übermitteln, geschweige denn, ihnen nach- das Bundesfinanzministerium.« ­Wirtschaft übernehmen können. Oder Leh-
zugeben. Wenn Politiker Themen ausklam- Doch so einfach ist das nicht. Es gibt in feldt, die von Kolleginnen und Kollegen als
mern wollen, wird es normalerweise umso Berlin nahezu kein politisches Thema, das extrem fleißig und sehr gut vernetzt beschrie-
interessanter, sie anzusprechen. nicht über Lindners Schreibtisch läuft. ben wird, hätte das Ressort wechseln können.
Und genau so plant es die Redaktion von Schließlich verteilt er das Geld. Im Bundestag Sie könnte über Kultur oder Wirtschaft be-
Welt TV bei dem Merz-Interview. Gegen Mit- wie in der Redaktion begegnet dem Paar des- richten, zumindest nicht direkt über Bundes-
tag wird entschieden, so berichten es Mit- wegen oft Misstrauen. Politiker wägen ab, politik.
arbeitende aus der Redaktion, dass man um was sie der Reporterin Lehfeldt sagen, weil Der Vorsitzende des Deutschen Journalis-
das Thema China nicht herumkomme und sie nicht ausschließen können, dass es bei ten-Verbands Frank Überall sieht das Paar in
Merz dazu befragen müsse. Sagen wolle man Lindner landet. Und Journalistenkollegen einem Dilemma. Das müsse man anerkennen.
ihm das vorher nicht. fragen sich, wie offen man über die FDP und »Aber es geht eben darum, wie man mit
Umso überraschter sind die Kollegen, als Lindner sprechen kann, wenn dessen Gattin einem solchen Dilemma umgeht.« Wenn Leh-
Merz wenig später absagt. Die Begründung mitliest oder -hört. feldt kein anderes Themengebiet wähle,
– Zeitprobleme – überzeugt nicht alle. Meh- Der SPIEGEL hat mit ehemaligen und ak- »müssen beide eben besonders vorsichtig
rere Mitarbeitende argwöhnen, Lehfeldt tuellen Kolleginnen und Kollegen von Leh- sein«. Transparenz sei zentral. Der Presse-
könnte dem CDU-Chef gesteckt haben, dass feldt gesprochen, mit Bekannten des Paares kodex sei eindeutig. »Was wir über den Fall
er doch zu China befragt werden sollte. sowie mit Vertretern der Regierungsparteien Lindner/Lehfeldt wissen, scheint mir geeig-
Das Misstrauen gegenüber Lehfeldt hat und der Union. Kritik gibt es an der Selbst- net, dies infrage zu stellen«, so Überall.
einen Grund: Die Journalistin kennt Merz inszenierung des Paares, an der Vermischung
näher, wenige Monate zuvor waren der CDU- von Privatem und Beruflichem. Viele Ge- Als Lehfeldt Lindner kennenlernte, war sie
Chef und seine Frau zu Gast, als die Journa- sprächspartner finden auch, es würden da­ Journalistenschülerin bei RTL. Lehfeldt war
listin den Bundesfinanzminister Christian bei Grenzen überschritten. Denn be­rufliche dort nach der Ausbildung zunächst für poli-
Lindner auf Sylt heiratete. Man umarmte sich, und private Interessen geraten bei Lindner tischen Boulevard zuständig, erst in der Co-
feierte gemeinsam. und Lehfeldt immer mal wieder durch­ ronapandemie richtete sie sich mehr auf klas-
Es gibt eine Reihe von Journalisten und einander. sische Politikthemen aus, bevor sie im April
Politikern, die ein Paar sind. Doch niemand Hinzu kommt, dass Lehfeldt für ein Me- 2021, als die Beziehung zu Lindner längst
von ihnen sitzt in ähnlich einflussreichen Posi- dium des Springer-Verlags arbeitet, dessen öffentlich war, zur »Chefreporterin Politik-
tionen wie Lindner und Lehfeldt. Vorstandsvorsitzender Mathias Döpfner ein Magazine« aufstieg.
Die Aufgabe von Journalisten ist es, Poli- Fan der FDP ist. Die »Zeit« enthüllte jüngst, Beim Sender war man sich des Problems
tikerinnen und Politiker zu kontrollieren. dass er seinen verantwortlichen Redakteuren offenbar bewusst. Um den Verdacht der
Sie sollen berichten, welche Netzwerke exis- gern politische Aufträge übermittelte. Mitten ­Befangenheit zu entkräften, ließ man Lind-
tieren, wer für welche Interessen lobbyiert. im Bundestagswahlkampf aß er mit Lindner ners Frau in bestimmten Sendungen nicht
Unabhängigkeit ist dabei die wichtigste Vo­ zu Abend und schrieb am Tag darauf, auf­treten. Die Hauptnachrichtensendung
raussetzung. Interessen, seien sie politischer, »RTL Aktuell« war auf Wunsch von Modera-
wirtschaftlicher oder privater Natur, können tor Peter Kloeppel tabu, nur in den Magazi-
diese unbestechliche Sicht eintrüben. Freund- nen am Morgen und am Mittag durfte die
schaften zu Politikern können Journalisten Chefreporterin zugeschaltet werden. Auch
befangen machen. Deshalb sind private Be- bei n-tv durfte Lehfeldt nicht auftreten, so
ziehungen in diesen Konstellationen keine hatte es Chefredakteurin Sonja Schwetje
reine Privatsache mehr. Und deshalb ist ­verfügt.
Transparenz notwendig. Lehfeldt zeigte sich gegenüber Kolleginnen
Wie kann das funktionieren, wenn eine und Kollegen unzufrieden mit dieser Ein-
Journalistin mit einem der mächtigsten Poli- schränkung, auch Lindner äußerte im kleinen
tiker des Landes verheiratet ist? Der Presse- Kreis, dass er die Debatte »bizarr« finde. Leh-
kodex, dem sich auch der Springer-Verlag feldt hielt nach einem anderen Arbeitgeber
verpflichtet hat, schreibt vor, dass schon der Ausschau. Kurz vor ihrer Hochzeit Anfang
Anschein vermieden werden muss, Redaktio- Juli 2022 wechselte sie als »Chefreporterin
franca_lehfeldt / Instagram

nen würden nicht frei entscheiden. In Zeiten, Politik« zu Springers Welt TV. Wenige Wo-
in denen viele Bürger den Medien misstrauen, chen später hatte sie ihren Hochzeitsgast
gar von Lügenpresse sprechen, ist es umso Merz im »Exklusiv-Interview«.
wichtiger, die Grenzen zwischen Politik und Anfangs schaltete Lehfeldt von überall,
Berichterstattung zu wahren. sprach zu allen Themen. Nachdem es kritische
Franca Lehfeldt und Christian Lindner fin- Berichterstattung anderer Medien über den
den, dass sich Beruf und Beziehung ganz ein- Reporterin Lehfeldt Interessenkonflikt gegeben hatte, schwenkte

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

Döpfner um, entschied, dass sie nichts Teenies in New York dreht. Es geht
mehr zu ihrem Mann oder dessen darin um Freundschaft und Intrigen,
Partei berichten soll. Doch auch das Liebe und Eifersucht.
sorgte für Probleme. Obwohl Lehfeldt offiziell CDU
Als Lehfeldt im August 2022 etwa und CSU betreut, ist sie bei den meis-
vor dem Kanzleramt stand, um über ten Informationsrunden für die Pres-
die Beratungen der Länder-Gesund- se nicht geladen. Aus beiden Parteien
heitsminister zur Pandemie zu berich- heißt es, man wolle nicht, dass der
ten, fragte ihre Kollegin im Studio, ob FDP-Chef erfahre, was dort bespro-
jetzt »’ne Menge Zoff« in der Ampel chen werde. Und so wunderten sich
drohe. Denn Abgeordnete der FDP ihre Kolleginnen und Kollegen, als sie
hätten ja gegen die neuesten Corona- nach den Verhandlungen zum Son-
schutzmaßnahmen aufbegehrt. Leh- dervermögen für die Bundeswehr
feldt umging die Frage nach der FDP Hintergrundinformationen hatte.
und lenkte das Gespräch auf Karl Lehfeldt behauptete, sie habe diese
Lauterbach: »Man kann allein mal von CSUlern. Auf Nachfrage des
auf die Kommunikation des Bundes- SPIEGEL stellte sich heraus: Unter
gesundheitsministers achten.« den Teilnehmern der CSU will keiner
Inzwischen tritt Lehfeldt nur noch mit Lehfeldt gesprochen haben. Wer
im Studio auf, wenn auch weiter mit 1 allerdings an den Verhandlungen teil-

ddp
dem Titel »Chefreporterin«. In der genommen hatte, war ihr Mann,
Kollegenschaft wuchs der Ärger den- Christian Lindner.
noch. Zum einen über die inhaltlichen Einen detaillierten Fragenkatalog
Beschränkungen, auf die sie bei der des SPIEGEL wollte Lehfeldt nicht
Arbeit mit Lehfeldt achten müssen. beantworten. Ihr Medienanwalt
Und zum anderen, weil es wegen der Christian Schertz teilte mit, die Fra-
Kollegin mehr Arbeit für alle gibt. So gen beträfen die »Privat- und Intim-
muss während Lehfeldts Nachrichten- sphäre unserer Mandantin«, ihre
moderationen immer eine zweite Arbeitsverhältnisse oder den »jour-

franca_lehfeldt / Instagram
Sascha Baumann / BILD

­Person im Studio sein, die über­ nalistischen Quellenschutz unserer


nehmen kann – denn es könnte ja um Mandantin als Journalistin«.
die Tabuthemen gehen. Die allererste Auf Fragen nach Interessenkon-
und die letzte Schicht kann Lehfeldt flikten hat Lehfeldt schon früher mit
deswegen nicht bestreiten, dort wird 2 3 Unverständnis reagiert. Ob die Frau
einzeln moderiert, wie auch am des Bundesfinanzministers noch als
Wochenende und an Feiertagen. Seit Gut vernetzt: gesprochen, schreibt Lehfeldt. »Merz politische Journalistin arbeiten kön-
Jahresbeginn kommt es noch häufiger 1 | Braut Lehfeldt, steigt hörbar aus dem Auto und geht ne, wollte die »Zeit« 2022 wissen.
Gratulant Merz im
zu Doppelbesetzungen, da Lehfeldt Juli 2022
ein paar Meter zu Fuß, jetzt könne er »Alles andere wäre geradezu ein Be-
auch zu Zeiten eingesetzt wird, wo 2 | Paar Lehfeldt/ sprechen, der Tag sei lang gewesen.« rufsverbot für eine Frau«, entgegnete
früher Einzelmoderationen vorgese- Lindner bei Es geht dann um China und den Ham- Lehfeldt.
hen waren. Das belegen E-Mails und Spendengala im burger Hafen, um den sächsischen Dabei zeigt die Hochzeitsfeier auf
Dezember 2022
Schichtpläne, die dem SPIEGEL vor- 3 | Autorinnen
Ministerpräsidenten Michael Kretsch- Sylt, wie schwer es sein muss, Inte­
liegen. Lehfeldt, Nena mer und die Gaspreisbremse. ressenkonflikte zu vermeiden. Zu
Brockhaus Den Verteiler für solche Mails hat Gast waren Springer-Führungskräfte
Andere Mails zeigen, wie Lehfeldt Lehfeldt extra anlegen lassen, wie wie WeltN24-Chef Ulf Poschardt,
ihren persönlichen Draht zu Politi- schon bei RTL. Was offiziell der bes- »Bild«-Vize Paul Ronzheimer und
kern wie Merz nutzt, um bei der seren Abstimmung im Team dienen »Welt«-Herausgeber Stefan Aust.
Arbeit aufzutrumpfen. Die »Leit­ soll, bedeutet natürlich auch, dass Eingeladen war auch Verlagschef
linien der journalistischen Unabhän- Lehfeldt im Bilde über den Wissens- Mathias Döpfner. Außerdem zu
gigkeit bei Axel Springer« scheinen stand der anderen ist. Mitarbeitende Gast: Kanzler Olaf Scholz, Opposi-
für sie nicht zu gelten. Darin steht, berichten, dass sie auf diesem Kanal tionschef Merz, Ex-Kanzlerkandidat
dass Journalisten des Verlags »grund- ungern Infos teilen aus Sorge, dass Armin Laschet und weitere Spitzen-
sätzlich nicht über nahestehende Per- diese bei Lindner landen. Bei RTL politiker.
sonen« berichten dürfen. Es sei denn, gab es dieselben Vorbehalte. Trotzdem sollte die Hochzeit privat
es liege ein mit dem jeweiligen Vor- Nicht immer sind Lehfeldts Infor- sein, beteuerte das Paar später öffent-
gesetzten abgestimmter sachlicher mationen von politischer Relevanz. lich. Lindner etwa sagte dem »Focus«,
Grund vor. Auch im Verhaltenskodex So schickt Lehfeldt am 4. November er und Lehfeldt hätten es sich generell
von Springer heißt es, man lasse sich eine Nachricht an den Hintergrund- zum »Prinzip« gemacht, »keine Paar-
weder von politischer Seite noch von verteiler der Redaktion, nachdem sie PR zu machen«. Und: Die Hochzeit
»Interessen nahestehender Perso- Ex-Kanzlerin Angela Merkel im Ber- sei »kein Event, sondern ein privates
nen« beeinflussen. Hält Lehfeldt die- liner Restaurant Borchardt gesehen Lebensereignis«. Lehfeldt sagte der
se Regeln ein? hat. Die Ex-Kanzlerin habe Weißwein »Zeit«, sie bestehe auf Privatsphäre,
Ende Oktober 2022 verschickt sie getrunken und Schnitzel gegessen, sie weswegen sie die Hochzeit »zu keinem
um 23.35 Uhr eine Mail über einen wirke »immer noch optisch erschöpft, Zeitpunkt vermarktet« hätten.
ihrer Hochzeitsgäste mit dem Betreff: aber sehr gelassen«. Lehfeldt unter- Dumm nur: Sowohl Lehfeldts
»Betthupferl Merz HG«, wobei HG zeichnet mit »xoxo Gossip Girl ;-)« Hair-&-Make-up-Artist als auch die
für Hintergrundinformationen steht. – eine Anspielung auf die gleich­ beiden Hochzeitsfotografen durften
Sie habe den CDU-Chef telefonisch namige TV-Serie, die sich um reiche vom Brautpaar freigegebene Fotos

24 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

auf sozialen Netzwerken veröffentlichen. Wunsch sei nicht, Minister zu werden, »son-
­Bilder des einen wurden auch von Medien
­pu­bliziert. Den anderen kennt vor allem Lind-
dern bald zwei, drei oder vier Mädchen oder
Jungs zu haben«. Zudem postet er auf seinem
ALS
ner von FDP-Events, die dieser regelmäßig
fotografiert. Bei Bild live, das der »Traum-
professionellen Instagram-Account immer
wieder Fotos mit Lehfeldt.
DEUTSCHLAND
hochzeit« mehrere Stunden detaillierte Live-­
Berichterstattung widmete, verriet eine Mo-
Darüber hinaus nutzt der Finanzminister
die Verbindungen seiner Partnerin: für den
KOLONIALMACHT
deratorin vor laufenden Kameras, dass man Kontakt zu einem der mächtigsten Journalis- WAR
Infos über Lehfeldts Frisur bei der stan­ ten des Landes, dem damaligen »Bild«-Chef-
desamtlichen Trauung direkt von der Braut redakteur Julian Reichelt. Eine Freundin von
bekommen hätte – »das hatte sie uns mal Lehfeldt war mit Reichelt liiert, und Lehfeldt
­verraten«. soll ihr signalisiert haben, dass man sich einen
Der kürzlich abberufene Bild-live-Chef engeren Kontakt zu Reichelt wünsche. Das
Claus Strunz soll vorgegeben haben, dass die gelang, den zweiten Weihnachtstag 2020 ver-
Hochzeit groß laufen müsse, wie Mitarbei- brachte der FDP-Chef mit Reichelt und sei-
tende beklagen. Strunz habe auch die passen- nem Vize Ronzheimer in Reichelts Wohnung.
den Vergleiche geliefert, zu den »Kennedys« Lindner habe eine Flasche Wein und Zigarren
oder »Obamas« etwa. Lindner und Strunz mitgebracht, dann habe man gemeinsam phi-
sollen sich gut kennen, der FDP-Chef ist of- losophiert, ob die jüngst ausgestrahlte Doku-
fenbar öfters Gast bei Strunz, etwa bei dessen mentation über »Bild« dem Blatt schade oder
Einweihungsfeier. nutze und wie die FDP bei der Wahl abschnei-
den werde. So erzählen es zumindest Reichelt
Dass Politiker und Journalisten ein Vertrauens- und Ronzheimer herum.
verhältnis pflegen, ist an sich nicht zu bean- Ihre Springer-Kontakte nutzte Lehfeldt
standen. Dass ein Paar vorgibt, seine Bezie- dann auch für ihr Buchprojekt, eine Samm-
hung nicht vermarkten zu wollen, jedoch eine lung von Interviews mit Männern über 70,
Standleitung zu »Bild«-Leuten wie Unter- die sie zu »alten weisen Männern« verklärt.
haltungschefin Tanja May pflegen soll, wie es Zusammen mit einer Bild-live-Kollegin inter-
in Redaktionskreisen heißt, ist dagegen grenz- viewt sie etwa ihren Förderer Stefan Aust,
wertig – einen ähnlichen Fall gab es zuletzt den Unternehmer und Springer-Aufsichtsrat
bei dem ehemaligen Bundespräsidentenpaar Wolfgang Reitzle, ihren früheren RTL-Mentor
Christian und Bettina Wulff. Heiner Bremer – und ihren eigenen Vater.
Christoph Neuberger, Professor für Kom- Das Buch, in dem man kritische Fragen ver- 256 Seiten mit Abb., gebunden � 22,00 €
munikationswissenschaft, hält die Äußerun- gebens sucht, schaffte es auf die SPIEGEL - Auch als E-Book erhältlich
gen Lindners und Lehfeldts für widersprüch- Bestseller-Liste.
lich: »Das Ehepaar hat das Rampenlicht ge- In Interviews zur Vermarktung ihres Bu-
sucht.« Neuberger sieht Folgen für andere ches vertrat Lehfeldt die Auffassung, dass
Journalisten: »Seit Jahren gibt es den Vorwurf Frauen keiner besonderen Förderung mehr Das Deutsche Kaiserreich war
der Elitenverflechtung, also dass es zwischen bedürften, wenn sie Karriere machen wollten. alles andere als eine kleine oder
Politik, Wirtschaft und Medien zu viel Nähe Nach ihrer Erfahrung würden Frauen einan- zurückhaltende Kolonialmacht:
gibt.« Der Fall Lindner/Lehfeldt zeichne kein der wenig fördern, auf Männer sei da eher
gutes Bild. Verlass. »Alte weise Männer haben in unseren Nicht nur in Afrika sondern auch
Auf Fragen des SPIEGEL wollten weder Karrieren bis dato entscheidende Rollen ge- in China und Ozeanien waren
der Springer-Verlag noch seine hier genannten spielt«, schreibt sie in ihrem Buch. Deutsche für Gräueltaten und
Mitarbeiter antworten, auch Reichelt und Auch Lindner sieht sich als Frauenför­
Merz reagierten nicht. Lindner lehnte eine derer. Mitte Februar ist er zu Gast im Berlin Ausbeutung verantwortlich.
detaillierte Reaktion auf Fragen des SPIEGEL Capital Club. 120 Wirtschaftsfrauen dis­ Dieses SPIEGEL-Buch zeichnet
ab, wie Lehfeldt. Sie beträfen »die Privat- und kutieren hier über künstliche Intelligenz und den deutschen Kolonialismus von
Intimsphäre unseres Mandanten« und bezö- Unternehmertum.
gen sich »teilweise auf einseitige oder grob Lindner erzählt in seiner Rede, wie er zu- den Anfängen nach und bietet
falsche Darstellungen von Sachverhalten«, letzt einer Frau ein Amt angeboten habe. anhand eindrücklicher
teilte Anwalt Schertz mit. Diese habe ihn abblitzen lassen, um genug Zeitzeugenberichte Einblicke
Lindners Schweigen steht im Widerspruch Zeit für ihre Familie zu haben. Die Frau habe
zu Interviews, in denen er seine Beziehung recht, sagte Lindner laut Teilnehmerinnen, in den Alltag der kolonialisierten
und private Details für politische Zwecke ein- Politik sei ja sehr anstrengend. Frauen streb- Länder. Vor allem aber zeigt es,
setzt. So verriet er mitten im Bundestags­ ten häufig nicht in die erste Reihe, soll er er- wie dauerhaft die Folgen des
wahlkampf 2021 der »Bunten«, sein größter klärt haben. Im Saal seien Buhrufe zu hören
gewesen. deutschen Kolonialismus zu
Lindner teilt über seinen Anwalt mit, »dass spüren sind – in den ehemaligen
sich die Gesprächssituation anders ereignet Kolonien und hierzulande.
hat«. Und: »Die in Ihrer Frage unterstellten
Meinungen und Anschauungen teilt Herr
Lindner nicht.«
»Alte weise Männer haben So viel ist sicher: Franca Lehfeldt würde
in unseren Karrieren ent- die Aussage, dass Frauen nicht in die erste
Reihe streben, zumindest für sich empört zu-
scheidende Rollen gespielt.« rückweisen.
Franca Lehfeldt in ihrem Buch Ann-Katrin Müller, Christoph Schult  n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 25


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DEUTSCHLAND

Djir-Sarai gegenüber dem SPIEGEL .


Das Inkrafttreten des Gesetzes am
1. Januar 2024 wollen die Liberalen
dem Vernehmen nach aber nicht in­
frage stellen. Stattdessen mahnen sie

»Nicht praxistauglich«
vor allem »Technologieoffenheit« an.
Konkret schwebt Lindner ein Mix
verschiedener Angebote beim Hei­
zungsneubau vor. Statt »einseitig nur
eine heute noch teure Technologie wie
ANALYSE  Die FDP geht auf Distanz zu dem Gesetz, mit dem der Austausch von die Wärmepumpe rechtlich vorzu­
Millionen alter Öl- und Gaskessel geregelt wird. Denn die Furcht vor dem Unmut schreiben«, sollten ebenso Wasser­
stoffheizungen (siehe auch Seite 98)
der Bürger ist groß. Aber funktioniert das Prinzip Opposition in der Regierung? und Grüne-Gase-ready-Heizungen
angerechnet werden, heißt es aus sei­
nem Finanzministerium.

R
obert Habeck, der grüne Bun­ Zwar gibt der nun verabschiedete
deswirtschaftsminister, ist an Gesetzentwurf einige Freiheiten. Die
sich gut gelaunt, als er am Mitt­ bestehen, so die Angst der FDP, aber
wochmittag zusammen mit Bau­ nur auf dem Papier. Beim Ausbau von
ministerin Klara Geywitz (SPD) mit Wärmenetzen und beim Wasserstoff
Journalisten spricht. Doch als einer müsse »auf angemessene Übergangs­
von ihnen wissen will, warum die Mi­ fristen« geachtet und sichergestellt
nister der FDP denn noch Änderungen werden, »dass alle grünen Gase sowie

Niels Starnick / Bild am Sonntag


am Gebäudeenergiegesetz verlangen, deren Mischungen« zulässig seien,
reagiert der Vizekanzler patzig. Wich­ heißt es in Lindners Protokollnotiz.
tig sei, dass man sich jetzt nicht weiter Großes Konfliktpotenzial liegt bei
einrede, »durch das Bestaunen eines der staatlichen Förderung neuer An­
Problems würde irgend­etwas besser«, lagen. Der Plan sieht vor, dass jeder
sagt Habeck. Er sei sich sicher, dass der Heizungsbesitzer eine Förderung von
Bundestag das Gebäudeenergiegesetz 30 Prozent des Anschaffungspreises
(GEG) schnell beschließen werde. bekommt. Empfänger von Wohngeld,
Es geht wieder einmal ums Heizen, als 90 Prozent. Die FDP sieht sich FDP-Fraktionschef Grundsicherung im Alter, Kinderzu­
und es geht wieder einmal ein Riss offenbar als deren Fürsprecher. Dürr in Berlin schlag oder Bürgergeld erhalten einen
durch die Ampel. Während Geywitz FDP-Energieexperte Michael Kru­ Klimabonus von weiteren 20 Prozent,
und Habeck den Kabinettsbeschluss se nennt das GEG schlicht ein »Hei­ 10 Prozent zusätzlich gibt es beim Aus­
über das geplante Ende von Öl- und zungsverbotsgesetz«. Und das, so tausch einer Heizung vor der Frist.
Gaskesseln vorstellen, ist die FDP- prophezeit er, »kann nicht verab­ Lindner dagegen will die Förde­
Führung auf Tauchstation gegangen. schiedet werden«. Der FDP-Bundes­ rung von der Art der auszutauschen­
Stattdessen hat Bundesfinanzminister tagsabgeordnete Frank Schäffler den Heizanlage abhängig machen.
Christian Lindner (FDP) in der Kabi­ nannte den Gesetzentwurf gar eine Die höchste Förderung solle derjeni­
nettssitzung eine Protokollerklärung »Atombombe für unser Land«. ge erhalten, dessen Heizung den
abgegeben, um seinen Unmut kund­ Einer der Gründe für die rebellische höchsten CO²-Ausstoß aufweise.
zutun. Man stimme im Bewusstsein Haltung der Liberalen dürfte ihr »Das wäre besonders effektiv, denn
zu, dass die Fraktionen des Deut­ ­Parteitag am Wochenende sein. Par­ dadurch bekämen wir besonders viel
schen Bundestags diesen Gesetzent­ teichef Lindner und andere Parteigrö­ Klimaschutz pro Euro«, argumentier­
wurf »intensiv beraten und auch wei­ ßen müssen sich einer Wiederwahl te Lindner unlängst.
tere notwendige Änderungen vorneh­ stellen. Mit seiner Protokollerklärung Ob solche Nachbesserungen aller­
men« werden, heißt es darin. Weniger wollte der Parteivorsitzende offenbar dings reichen, um die eigene Klientel
kann man seinen Protest kaum ver­ auch Druck aus der internen Debatte zu beruhigen, darüber gibt es Zweifel
klausulieren. nehmen. in der Partei. Man bringe mit dem
Der Streit um den Austausch alter Die FDP-Abgeordneten erreichen Heizungsthema den »Mittelstand
Öl- und Gasheizungen gegen klima­ zahlreiche Anfragen der Bürger aus ganz durcheinander«, klagt ein FDP-
freundliche Systeme geht in eine neue ihren Wahlkreisen. Mitte Mai sind Parlamentarier. Deren Fraktionschef
Runde. Es ist ja auch ein gigantisches Landtagswahlen in Bremen, nach den Christian Dürr treiben vor allem
Vorhaben. Von rund 41 Millionen Wahlschlappen im vergangenen Jahr rechtliche Sorgen um.
Haushalten in Deutschland werden könnte an der Weser die nächste »Wie soll man Der Entwurf sieht bislang vor, dass
drei Viertel immer noch mit fossilen schlechte Nachricht folgen. begründen, Menschen ab 80 Jahren eine kaputte
Energien gewärmt. Zudem steht ein
Gasnetz zur Disposition, das mehr
Umso mehr setzen die Liberalen
darauf, das Vorhaben noch abmildern
dass Aus­ Heizung durch eine Gas- oder Ölhei­
zung tauschen dürfen. »Wie soll man
als 500.000 Kilometer lang ist. zu können, und hoffen dabei auf das nahmen für begründen, dass Ausnahmen für
Und dann sind da die Bürger, die Kanzleramt, das sich zuletzt in inter­ 79-Jährige 79-Jährige nicht gelten? Hier müssen
sich vor den hohen Kosten eines Aus­ nen Koalitionsstreitigkeiten immer wir nachbessern«, sagt Dürr.
tauschs fürchten. Kaum ein Vorhaben wieder auf die Seite des kleinsten nicht gelten? Die Koalition dürfe nicht zulassen,
der Regierung lehnen die Deutschen ­Koalitionspartners geschlagen hatte. Hier müssen dass das Gesetz »wegen rechtlicher
deutlicher ab: 75 Prozent der Bürge­ Der Gesetzentwurf sei »nicht pra­ Unklarheiten vor dem Verfassungs­
rinnen und Bürger im Westen sind xistauglich und wird so nicht kom­ wir nach­ gericht landet«.
dagegen, im Osten sind es sogar mehr men«, beteuert Generalsekretär Bijan bessern.« Gerald Traufetter, Severin Weiland  n

26 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

funktionalen Beschaffungswesens zu einem Deutsche Sonderwünsche wie für die spe­


der zentralen Vorhaben seiner Amtszeit er­ ziellen Monteurkombis, bei der Truppe als
klärt. Und so ließ er seinen Rüstungsstaats­ »Goldrandlösungen« verschrien, seien nur
sekretär Benedikt Zimmer und den neuen noch zulässig, wenn sie »abschließend als

Schluss mit
Generalinspekteur Carsten Breuer in den ver­ ­unverzichtbar festgelegt wurden«. Das »Ein­
gangenen Wochen zwei grundlegende An­ gehen technischer Realisierungsrisiken« sei
ordnungen ausarbeiten. ab sofort »grundsätzlich zu vermeiden«.

Goldrand
Die Entwürfe, die dem SPIEGEL vorliegen, Zimmer will auch den Planungsprozess
werden noch streng geheim gehalten, erst beschleunigen. Bisher benötigten die Militär­
Mitte Mai will der Minister sie vorstellen. planer oft länger als ein Jahr, um die entspre­
Schon die Einleitungssätze aber machen deut­ chenden Unterlagen (»Fähigkeitslücke und
lich, wie dringlich das Vorhaben ist. Der rus­ Funktionale Forderung mit Lösungsvor­
BUNDESWEHR  Die Truppe braucht sische Angriffskrieg in der Ukraine erfordere schlag«) fertigzustellen, in Zukunft soll dieser
Jahre für die Beschaffung neuer einen »grundlegenden Paradigmenwechsel Prozess nur noch maximal sechs Monate dau­
zur schnellstmöglichen Erhöhung der Einsatz­ ern. Im Erlass wird außerdem festgelegt, dass
Ausrüstung. Der neue Verteidigungs­ bereitschaft« der deutschen Streitkräfte, dieses manchmal telefonbuchdicke Doku­
minister plant nun radikale schreibt Zimmer in seinem Erlass. ment auf den »minimal erforderlichen Um­
Schritte, um Tempo zu machen. Der Staatssekretär und der General legen fang« reduziert wird.
die Latte hoch. Der Einkauf von neuem Ma­ Beide Anordnungen wollen mehr Eigen­
terial müsse mit sofortiger Wirkung »deutlich verantwortung für die Truppe. General­

A
m 25. Januar löst Thomas Hitschler schneller, effektiver und unbürokratischer« inspekteur Breuer schreibt in dem Entwurf
eine kleine bürokratische Lawine aus. erfolgen als bisher. »Der Faktor Zeit hat seiner Weisung, es sei seine Absicht, die In­
Da will der Parlamentarische Staats­ höchste Priorität«, heißt es in Zimmers Ent­ spekteure der Teilstreitkräfte wie Heer oder
sekretär im Verteidigungsministerium wissen, wurf, »und ist mit sofortiger Wirkung als der Marine »in ihrer Verantwortung für die Rea­
warum die Fluggerätemechaniker der Luft­ wesensbestimmende Faktor aller laufenden lisierung von Rüstungsprojekten über den
waffe, die in Estland stationiert sind, seit und neuen Rüstungsvorhaben maßgebend.« gesamten Projektverlauf im Beschaffungs­
fast sechs Jahren auf Blaumänner mit Knie­ Zimmer und Breuer wollen die oft un­ wesen stärker einzubinden«. Damit soll
polstern warten. Die Soldaten hatten sich bei durchschaubaren und quälend langen Be­ ­verhindert werden, dass die gewaltige Be­
einem Truppenbesuch an Hitschler gewandt, schaffungsprozesse radikal entschlacken. Alle schaffungsbürokratie Material einkauft, das
jetzt will er eine Antwort. bundeswehrinternen »Regelwerke, die ge­ in der Truppe gar nicht gebraucht wird.
In den folgenden Wochen werden sich zwei setzliche Regelungen verschärfen, sind hier­ Für die Mechaniker der Luftwaffe kom­
Staatssekretäre mit der Angelegenheit be­ mit ausgesetzt«, heißt es in dem Zimmer-Ent­ men die Reformen wohl zu spät. Aber Hitsch­
fassen, der stellvertretende Generalinspek­ wurf. Der Ermessensspielraum sei »im Sinne lers Intervention hatte einen Teilerfolg. Bis
teur, der Abteilungsleiter Ausrüstung, der einer Beschleunigung« konsequent zu nutzen. die neuen Monteurkombis geliefert würden,
stellvertretende Abteilungsleiter Ausrüstung, Bisher hatte sich die Bundeswehr mit ihrem könne das Kontingent in Estland »kurzfristig
ein Unterabteilungsleiter der Abteilung Aus­ Wust an Vorschriften oft selbst ausgebremst. mit separaten Kniepolstern« ausgestattet
rüstung, die zuständige Referatsleiterin der Auch bei den Waffen sollen neue Wege werden, heißt es in der Antwort auf die
Abteilung Ausrüstung, einer ihrer Sach­ beschritten werden. Bisher ließ die Bundes­ ­Hitschler-Anfrage. »Diese Kniepolster kön­
bearbeiter und außerdem das Koblenzer wehr manchmal jahrzehntelang Waffensys­ nen nach Rücksprache mit dem Luftfahrtamt
­Beschaffungsamt. Es geht um etwa 200 Knie­ teme entwickeln. Damit soll nun Schluss sein. der Bundeswehr und unter Beachtung der
polster im Wert von 6000 Euro. »Marktverfügbarkeit ist die grundsätzlich Regelungen ›Handbuch Bodensicherheit‹
Am 20. März bekommt Hitschler eine Ant­ vorzusehende Lösung«, schreibt Zimmer. Es ­genutzt werden.«
wort: Der Vorgang sei schon im Juli 2021 The­ soll also eingekauft werden, was auch von Matthias Gebauer,
ma einer Besprechung der Abteilung Aus­ anderen Armeen benutzt wird. Konstantin von Hammerstein  n
rüstung mit den Inspekteuren gewesen. Dabei
hätten die Dreisternegeneräle entschieden,
»nicht auf eine handelsübliche Monteurkom­
bination zurückzugreifen und stattdessen eine
speziell auf die Anforderungen der Bundes­
wehr ausgerichtete neue Monteurkombina­
tion zu entwickeln«.
Ein entsprechender Entwicklungsauftrag sei
im September 2021 vergeben worden, heißt es
in der vertraulichen Vorlage des Ministeriums:
»Für Entwicklung, Erprobung, Ausschreibung
und Beschaffung ist ein Zeitraum von rund drei­
einhalb Jahren zu veranschlagen.« Mit ersten
Florian Gaer tner / photothek / picture alliance

»Zuläufen« der neuen Kluft sei im dritten Quar­


tal 2025 zu rechnen. Immerhin.
Die Kniepolsterposse ist Teil des Wahnsinns,
mit dem sich die etwa 3000 Männer und
­Frauen im Verteidigungsministerium täglich
herumschlagen müssen. Wie soll eine Armee
nur funktionieren, die allein acht Jahre dafür
braucht, neue Monteurkombis zu beschaffen?
Der neue Verteidigungsminister Boris Pis­
torius will diesem Elend nicht länger zusehen.
Der Sozialdemokrat hat die Reform des dys­ Reformer Pistorius: »Der Faktor Zeit hat höchste Priorität«

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

»Mit Verlaub, wir fragen nicht


bei der FDP um Erlaubnis«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Kevin Kühnert, 33, war einst Juso-Rebell, jetzt muss er als SPD-Generalsekretär
die zerstrittene Ampelregierung zusammenhalten. Hier spricht er über
sein Verhältnis zum Kanzler, enttäuschte Erwartungen und sozialdemokratischen Klimaschutz.

SPIEGEL: Herr Kühnert, einen SPD-General- ten sich im Wochentakt. Die SPD spielt den Und manchmal sind auch FDP und Grüne auf
sekretär unter einem sozialdemokratischen Vermittler, wirkt dadurch aber profillos. Ist einer Linie. Das haben wir erlebt, als Anton
Kanzler – das gab es zuletzt bei Gerhard das der richtige Weg? Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmer-
Schröder. Wissen Sie noch, wer Ihren Job vor Kühnert: Wer politische Profile sucht, sollte mann uns drängten, schneller Panzer an die
20 Jahren gemacht hat? über den Horizont des letzten Koalitions­ Ukraine zu liefern.
Kühnert: Klar. Das war Olaf Scholz. ausschusses hinausblicken. Die SPD steht als SPIEGEL: Hofreiter sagt: »Die Scholz-SPD ist
SPIEGEL: Haben Sie mal mit ihm darüber Partei der Arbeit dafür, unsere im globalen nicht mehr der natürliche Bündnispartner der
­geredet? Vergleich sehr starke industrielle Wertschöp- Grünen.«
Kühnert: Hin und wieder lässt er eine eher fung zu sichern und auszubauen. Sie ist das Kühnert: Ich kann mir nicht verkneifen, die
anekdotische Bemerkung über diese Zeit fal- Fundament für vieles, das uns leitet: gute Frage zu stellen, ob sich nicht eher Toni
len. Aber nicht im Sinne von: Guck mal, wie Arbeit, gerechter Fortschritt, starker Sozial- ­Hofreiter in den vergangenen anderthalb Jah-
ich das gemacht habe. Das politisch-mediale staat und internationale Verantwortung ren als Bündnispartner von seiner Partei ent-
Umfeld ist heute auch völlig anders als in der für Mensch und Klima. Aber natürlich haben fernt hat.
Zeit von Bundeskanzler Schröder. wir als einzige Volkspartei in der Ampel die SPIEGEL: Er ist nicht der Einzige bei den Grü-
SPIEGEL: Sie brauchen keinen Rat vom Kanz- Aufgabe, sicherzustellen, dass Streit möglichst nen, der das so sieht.
ler? produktiv stattfindet und nicht selbstzerstö- Kühnert: Das Regieren in der Ampel ist anders
Kühnert: So tickt Scholz einfach nicht. Er hat- rerisch ist. Denn es geht nicht um uns selbst. als in einer klassischen rot-grünen Koalition.
te schon viele politische Ämter. Aber er leitet SPIEGEL: Die Grünen haben das Gefühl, Scholz Es gibt mehr Reibungspunkte. Und mancher
daraus keinen Anspruch ab, mir meinen Job würde sich ständig auf die Seite der FDP schla- ist besonders enttäuscht von jenen, in die er
zu erklären. Bitte ich ihn um eine Einschät- gen. Das kann Ihnen doch nicht egal sein. die größten Erwartungen hat. Da steckt auch
zung, dann bekomme ich diese aber selbst- Kühnert: Wenn ich kurz mit der Wirklichkeit Wertschätzung drin. Grüne und SPD erwarten
verständlich. stören darf: Zwölf Euro Mindestlohn, Wohn- voneinander traditionell mehr, als sie jeweils
SPIEGEL: Vor nicht einmal vier Jahren waren geldreform, Kindergelderhöhung, Energie- von der FDP erwarten. Das prägt.
Sie einer seiner lautstärksten Kritiker. Beim preisbremsen und jetzt der Atomausstieg. So SPIEGEL: Das heißt, für Sie sind die Grünen
Kampf um den Parteivorsitz trugen Sie mit klingen 16 Monate Ampelkoalition. Ich möch- weiter der natürliche Koalitionspartner?
den Jusos entscheidend zu seiner Niederlage te den Grünen finden, der darin nicht rot- Kühnert: Betrachtet man die politischen Ziele
bei. Heute verteidigen Sie seine Politik als grüne Schnittstellen sieht. Rot und Grün tei- und Wertvorstellungen aller ernst zu nehmen-
oberster Parteisoldat. Wie geht das? len weiterhin maßgebliche Gemeinsamkeiten. den politischen Akteure, dann kann kein Zwei-
Kühnert: Ich kritisiere in der Politik nie aus per- Aber ja, in manchen Fragen ist uns auch die fel bestehen, dass uns immer noch vieles eint.
sönlichen, sondern immer aus politischen Grün- FDP näher – oftmals ist das der Fall, wenn SPIEGEL: 32 Prozent der Deutschen meinen,
den. Vor fünf Jahren hatte ich viel mehr zu kri- etwas in Deutschland gebaut werden muss. dass die Grünen die beste Klimapolitik ma-
tisieren, weil meine Partei programmatisch und chen. Bei der SPD sind es nur 9 Prozent. Wo-
strategisch nicht gut aufgestellt war. Das haben ran liegt das?
wir verbessert – so empfanden es offenbar auch Nach links gerückt Kühnert: Das beschäftigt mich. Ich erlebe es
viele Wähler bei der Bundestagswahl. Das liegt so: Viele haben bei Klimaschutz noch Sonnen-
natürlich auch an Olaf Scholz. Er ist präsent in Ausrichtung der Parteien anhand ihrer Wahl- blumen und Latzhosen vor Augen. Das sind
programme auf einer Skala von −100 (links)
den Parteigremien. Es gibt ständig Gelegen- bis +100 (rechts) einprägsame Klischees. Deshalb umarmt Mar-
heiten, uns gegenseitig beim Argumentieren kus Söder Bäume, wenn er Klimakompetenz
und Reflektieren zuzuhören. So können wir Linke SPD Grüne FDP Union AfD simulieren will. Wenn wir in der SPD jedoch
jeweils nachvollziehen, worum unsere Gedan- Bundestagswahl links rechts
über Klimaschutz nachdenken, dann fahren
ken kreisen und wie wir die Lage bewerten. 2021 wir auf eine Industriemesse und reden über
SPIEGEL: Und das konnten Sie früher nicht? dekarbonisierte Güterverkehre, Elektrolyseu-
2017
Kühnert: Die Umstände waren sicher ungüns- re und die Leitungsinfrastruktur. Das sind nicht
tiger. Ich will aber auch nicht verhehlen, dass 2013 die Begriffe, die wir jahrzehntelang in Deutsch-
wir uns früher vielleicht weniger Mühe ge- 2009 land mit Klimaschutz verbunden ­haben. Aber
geben haben, einander zu verstehen. sie sind in einer industrialisierten Welt ent-
SPIEGEL: In der Koalition haben viele ein 2005 scheidend. Die Klimaschützer von heute legen
schlechtes Bild vom Kanzler. Die Stimmung 2002 Leitungen, recyceln Akkus oder tauschen Fens-
in der Ampel ist gereizt, FDP und Grüne strei- 1998 ter aus. Genau das will die SPD!
−40 −30 −20 −10 0 +10 +20 SPIEGEL: Nennen Sie mal ein Klimaschutz-
Das Gespräch führten die Redakteurin Sophie Garbe S Quelle: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung,
projekt, das man in dieser Legislaturperiode
Ihrer Partei anrechnen kann.


und der Redakteur Christian Teevs. Manifesto-Projekt

28 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

und damit wichtige Zeit vertrödelt


wird.
SPIEGEL: Der Vorwurf, die SPD küm-
mere sich zu wenig ums Klima,
stimmt also nicht?
Kühnert: Richtig ist, dass Deutschland
durch äußere Umstände wie den
Krieg in der Ukraine beim Klima-
schutz in Teilen zurückgeworfen wur-
de. Wir haben Zeitdruck und wissen,
dass wir jetzt auf hohem Niveau
dauerhaft liefern müssen.
SPIEGEL: Und wie?
Kühnert: Ein Industrieland wie
Deutschland hat einen enormen, wei-
ter wachsenden Energieverbrauch.
Zentral ist es, den rasanten Ausbau der
Erneuerbaren und die klimafreund­
liche Transformation dieser energie-
intensiven Industrie wettbewerbsfähig
voranzutreiben. Das ist entscheidend,
um die Klimaschutzziele zu erreichen
und Arbeitsplätze zu sichern.
SPIEGEL: Sie betonen, wie wichtig die
Einhaltung der Klimaschutzziele ist.
Zugleich will die Ampelkoalition das
Klimaschutzgesetz aufweichen. Da
widersprechen Sie sich doch.
Kühnert: Das stimmt nicht. Die Am-
pel hat eine Änderung am Gesetz
­vereinbart, die lebenspraktisch die
Verrechnung von Emissionseinspa-
rungen ermöglichen soll. Aber die
gesamten Einsparungen, die sich
Deutschland vorgenommen hat, wer-
den dadurch null relativiert. Keine
einzige Tonne kann auch nur eine
Stunde später emittiert werden, als
das bislang geplant war. Kein Sektor
wird aus der Verantwortung entlas-
sen. Zu der genauen Ausgestaltung
der Reform wird Wirtschaftsminister
Robert Habeck einen Vorschlag vor-
Jan Richard Heinicke / DER SPIEGEL

legen.
SPIEGEL: Das Kanzleramt hat Ver-
kehrsminister Volker Wissing gerade
von seiner Pflicht entbunden, ein So-
fortprogramm vorzulegen, wie er in
seinem Sektor mehr CO2 sparen will.
Damit entlässt man ihn beim Klima-
schutz aus der Verantwortung.
Kühnert: So funktioniert eine Koali- Spin. Ich bin aber nicht bereit, in die- Sozialdemokrat Kühnert: Das ist auch wieder so ein
tion nicht. sen öffentlichen Kampf einzutreten. Kühnert Spin. Das Kanzleramt hat selbstredend
SPIEGEL: Säße hier ein Politiker der Ich will nicht mehr Zeit auf die Kom- niemanden von seinen Pflichten ent-
Grünen, könnte dieser das wahr- munikation nach einem Koalitions- bunden. Das Gesetz gilt unverändert,
scheinlich schon beantworten. ausschuss verwenden als auf Lösungs- bis das Parlament es gegebenenfalls
Kühnert: Mit was denn zum Beispiel? findung im Ausschuss. Das sind die ändert. Richtig ist hingegen: Die FDP
SPIEGEL: Zum Beispiel reden die Grü-
nen über die Erhöhung der Lkw-
falschen Prioritäten.
SPIEGEL: Also halten Sie es für falsch,
»Vielleicht hat in den Koalitionsverhandlungen
leider durchgesetzt, dass wir auf man-
Maut, mit der nun der Ausbau der dass die Grünen Kompromisse als haben Olaf che einfachen Maßnahmen verzichten,
Schiene finanziert wird. ihren Erfolg verbuchen? Scholz und ich mit denen man im Verkehr schnell
Kühnert: Und wer sagt, dass die SPD
das nicht wollte?
Kühnert: Wir haben da schlicht keinen
Dissens. Die SPD ist pro Schiene,
uns früher Treibhausgase einsparen könnte.
SPIEGEL: Mit der Ablehnung eines
SPIEGEL: Die Grünen haben es zu- Schienenverkehre sind Schwerpunkt weniger Mühe Tempolimits.
mindest nach dem Koalitionsaus- unserer verkehrspolitischen Agenda. gegeben, Kühnert: Genau. Es ist kein Geheimnis,
schuss als ihren Erfolg dargestellt. Die SPD hat in den Koalitionsver- dass SPD und Grüne kein Problem mit
Kühnert: Jetzt kommen wir der Sache handlungen verhindert, dass der in- einander zu einem Tempolimit hätten. Aber es gibt
näher, es geht also um den politischen tegrierte Bahnkonzern zerschlagen verstehen.« keine parlamentarische Mehrheit da-

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

für. Wo sonst lassen sich im Verkehrssektor


also Emissionen einsparen? Das funktioniert
»Grüne und SPD erwarten Haushalte mit geringeren Einkommen ab­
federn sollte?
vor allem, indem wir Pkw in Deutschland voneinander traditionell Kühnert: Wir haben rund um die Hilfspakete
schleunigst auf E-Mobilität umstellen. Unser
politisches Ziel sind 15 Millionen E-Autos bis
mehr als von der FDP.« der Bundesregierung zur Energiekrise erlebt,
dass wir kein System haben, um bestimmte
2030, und da ist der Verkehrsminister jetzt in Einkommensgruppen mit Hilfen zu erreichen.
der Verantwortung. Er muss den Ausbau der Die Ampelkoalition hat deshalb den Finanz-
Ladeinfrastruktur vorantreiben und den Auto- minister im März 2022 beauftragt, einen sol-
mobilsektor bei der Umstellung begleiten. Das chen Mechanismus anhand der Steuer-IDs zu
bringt ganz kurzfristig noch keine riesigen können Sie den CO2-Preis gar nicht erhöhen, entwickeln. Das wird die technische Grund-
CO2-Einsparungen. Aber es ist die Grundlage, dass ein Superreicher deshalb anfängt, über lage für ein mögliches Klimageld sein. Aber
um im nächsten Jahrzehnt die Antriebswende sein Porsche-Fahrverhalten nachzudenken. das dauert wohl noch.
erfolgreich zu meistern. Reichensteuern wirken hier zielgenauer. SPIEGEL: Weil es nicht so weit oben auf der
SPIEGEL: Der Vorteil bei solchen langfristigen SPIEGEL: Die SPD will das Steuersystem um- Prioritätenliste im Finanzministerium steht?
Zielen ist auch, dass man dafür kurzfristig oft bauen. Die Erwartungen an das Konzept, das Kühnert: Das kann ich nicht bewerten. Aber
niemandem wehtun muss. Macht es sich die eine Kommission gerade unter Ihrer Führung meine Fantasie reicht dafür, es mir vorstellen
SPD da nicht zu einfach? erarbeitet, sind in der eigenen Partei aber zu können.
Kühnert: Das ist mir zu theoretisch. Ich will es gering. Scholz wird sich kaum etwas allzu SPIEGEL: Gerade wirkt es so, als würde die
ganz lebenspraktisch beantworten. Millionen Radikales vorschreiben lassen. SPD Themen wie Kindergrundsicherung oder
Deutsche sind auf das Auto angewiesen. Doch Kühnert: Sie haben ja gerade gesagt, wer die Vermögensteuer nur halbherzig verfolgen.
die meisten kaufen sich einen Gebrauchtwagen. Arbeitsgruppe organisiert: die Parteizentrale. Sind Sie überhaupt noch eine linke Partei?
Wer also politisch beschließt, dass ab 2035 kei- Es geht vor allem um die wichtige Frage, wie SPIEGEL: Aber hallo! Und vermutlich sind wir
ne neuen Verbrenner mehr zugelassen werden, die einmaligen, aber sehr hohen Kosten der es heute so sehr wie lange nicht mehr. Denn
muss dafür sorgen, dass sich jetzt Stück für sozial-ökologischen Transformation gerecht die klassischen materiellen Verteilungsfragen,
Stück ein Markt für gebrauchte E-Autos bildet. finanziert werden. aus denen heraus die Sozialdemokratie vor
Nur dann können Leute, die mit 1600 Euro SPIEGEL: Aber die FDP schließt jede Steuer- 160 Jahren gegründet wurde, stehen gerade
netto nach Hause gehen, sich auch im E-Zeit- erhöhung aus. wieder im Vordergrund: Wo und wie findet
alter noch einen Pkw leisten. Ohne eine bezahl- Kühnert: Mit Verlaub, aber wir fragen nicht Wertschöpfung statt? Wie steigern wir unsere
bare Alternative zu den Verbrennerautos ma- bei der FDP um Erlaubnis, um über gerechte Produktivität nachhaltig? Wer kassiert die
chen die Leute verständlicherweise nicht mit. Verteilung nachzudenken. Der Staat muss Fortschrittsdividende? Vor 160 Jahren betraf
Und damit ist dem Klima auch nicht geholfen. aktiver werden. Gucken wir uns an, was die diese Frage Dampfkraft und Elektrizität. Heu-
SPIEGEL: Gut verdienende Haushalte stoßen USA gerade rund um ihren »Inflation Reduc- te reden wir über künstliche Intelligenz, über
in Deutschland teilweise doppelt so viel CO2 tion Act« machen. Sie investieren massiv in Automatisierung, über Wasserstoffwirtschaft.
aus wie Haushalte mit geringen Einkommen. grünen Wasserstoff, wollen den bald für einen SPIEGEL: Was genau ist daran links?
Warum setzt die Klimaschutzpolitik der SPD Dollar pro Kilo produzieren können. Auch Kühnert: Die Frage war und ist, wie Pro­
nicht genau dort an? wir sollten unsere strategischen Ziele definie- duktivitätszuwächse entstehen und verteilt
Kühnert: Solche Ungleichgewichte gibt es na- ren und vorantreiben. Wir können jetzt wie werden. Das hat die SPD im Blick, wenn wir
türlich, auch weil gut bezahlte Facharbeiter das Kaninchen vor der Schlange sitzen und über Lieferketten sprechen, über Arbeitszeiten
häufig weit pendeln müssen. Aber Politik soll- warten, bis die Schlange uns aufgefressen hat, und Weiterbildung. Das sind klassische, sozial-
te davon Abstand nehmen, alles nur noch über oder wir kommen aus dem Quark und ma- demokratisch-gewerkschaftliche Verteilungs-
zusätzliche Gebühren und erhöhte Abgaben chen uns Gedanken über Finanzierungen. fragen. Die kommen heute vielleicht nicht im-
auf Lebensmittel und Energieträger regeln zu Das stünde auch der FDP gut zu Gesicht. mer mit roter Fahne und dem Konterfei August
wollen. Denn das trifft die, die am meisten SPIEGEL: Was ist eigentlich aus dem Klimageld Bebels daher. Aber der Kern ist derselbe. Den
CO2 ausstoßen, anteilig am wenigsten. So sehr geworden, das Klimaschutzmaßnahmen für Fortschritt wollen viele – doch wer profitiert
von ihm? Und glaubt eigentlich irgendjemand,
dass es einen Zwölf-Euro-Mindestlohn in der
Jamaikakoalition gegeben hätte?
SPIEGEL: Die Berliner SPD stimmt über die
GroKo ab. Das muss Ihnen doch unangenehm
sein, dass die SPD ausgerechnet in Ihrer Hei-
mat nun wieder mit der CDU regieren will.
Kühnert: Kein SPD-Mitglied freut sich bei der
Vorstellung, das Rote Rathaus an die CDU ab-
zugeben. Unabhängig davon, wie man zu die-
ser Koalition steht. Und gerade die Personalie
Kai Wegner ist eine, die ich als Berliner für
mehr als gewöhnungsbedürftig halte. Dieser
Mann verkörpert wenig von meiner Heimat-
stadt, in der ich seit bald 34 Jahren lebe. Mir
Jan Richard Heinicke / DER SPIEGEL

tut das weh.


SPIEGEL: Haben Sie Ihr Votum schon abge-
geben?
Kühnert: Nein, ich muss mich jetzt mal ran-
halten. Danke für die Erinnerung.
SPIEGEL: Wie stimmen Sie ab?
Kühnert: Ich werde abstimmen.
SPIEGEL: Herr Kühnert, wir danken Ihnen für
SPD-Spitze auf Hannover-Messe: »Die Klimaschützer von heute recyceln Akkus« dieses Gespräch.  n

30 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

Klar ist: Die Parteispitze will Bartsch und


Mohamed Ali am liebsten loswerden. Schon
nach der letzten Bundestagswahl gab es ent-
sprechende Bestrebungen im Vorstand, die
aber an den Mehrheiten in der Fraktion schei-
terten. Grund ist Bartschs seit Jahren bestehen-
des Bündnis mit Wagenknecht und ihren
Unterstützern, zu denen auch Mohamed Ali
gehört. Bartschs Gegner kritisieren ihn des-
halb als Abrissbirne für die Linken. Beschrie-
ben wird er als rücksichtsloser Machtpolitiker,
dessen Weg zahlreiche Misserfolge pflastern,
etwa das schlechte Ergebnis der Bundestags-
wahl mit ihm als Spitzenkandidaten. Er habe
sich abhängig von Wagenknecht gemacht und
gebe ihr und ihrer spalterischen Gefolgschaft
seit Jahren die Möglichkeit, die Partei zu er-
pressen.

Jacob Schröter / IMAGO


Für Unverständnis sorgte deshalb auch das
von Bartsch, Gregor Gysi und anderen kürz-
lich verbreitete Schreiben mit dem Titel »Es
reicht!«. Es müsse Schluss sein mit gegensei-
tiger Denunziation, hieß es darin, eine zwei-
Linkenchefin Wissler, Fraktionschef Bartsch: In Feindschaft verbunden te linke Partei sei »völlig überflüssig«, ebenso
Vorschläge für Ausschlussverfahren. Ausge-
teilt wurde damit nicht nur gegen Wagen-

Linke Abrissbirne
knecht, sondern zugleich gegen ihre Gegner,
die die Genossin am liebsten sofort raus-
schmeißen würden.
In Teilen der Parteiführung wird der Kopf
geschüttelt über den Aufruf. Er täusche vor,
PARTEIEN  Die Linke ist gespalten zwischen Sahra Wagenknecht und ihren dass Bartsch über den Konflikten stehe und
zwei zerstrittene Lager versöhnen könne. Da-
Gegnern. Und Dietmar Bartsch, der langjährige Fraktionschef, bei habe er selbst doch mit seinem Pakt mit
befördert die Selbstzerstörung eher, statt zu vermitteln. Warum? Wagenknecht und seinen Volten gegen die
Parteispitze viel zur Spaltung der Linken bei-
getragen. Dass Bartsch nun nicht einmal einen

D
ietmar Bartsch, der Fraktionsvorsitzen- Der 65-Jährige führt seit 2015 die linken jüngeren Nachfolger für die Fraktionsspitze
de der Linken, hat neuerdings eine Abgeordneten an. Doch in wenigen Monaten parat habe, wird ihm ebenfalls vorgeworfen.
eigene Talkshow. Bei »Bartsch direkt« geht die Fraktion in Vorstandsklausur, dort Ihm nahestehende Genossen wie die Außen-
im Miniprivatsender Hauptstadt TV war kürz- soll die Spitze neu gewählt werden. Ob politikexperten Stefan Liebich oder Helin
lich Sahra Wagenknecht zu Gast. Die beiden Bartsch und seine Co-Vorsitzende Amira Mo- Evrim Sommer seien längst geflohen. Zuletzt
saßen auf senfgelben Sesseln vor betongrau- hamed Ali wieder antreten, ist offen. Unklar hatte Jan Korte, Parlamentarischer Geschäfts-
em Hintergrund und regten sich mächtig über ist ohnehin, wie es nach der parlamentari- führer, angekündigt, nicht mehr antreten zu
die Grünen auf. Diese Partei betreibe »Öko- schen Sommerpause weitergeht, da Wagen- wollen. Neben privaten Gründen spielten
aktivismus«, fand Wagenknecht. Bartsch er- knecht angekündigt hat, bis Herbst entschei- auch die ewigen Kämpfe eine Rolle. Dabei
gänzte, Anspruch und Handeln der Grünen den zu wollen, ob sie ein neues politisches galt Korte jahrelang als Nachfolger für
fielen auseinander. Wagenknecht sagte weiter, Projekt für die Europawahl 2024 startet. Falls Bartsch.
für viele Menschen gebe es gar kein Angebot sie und weitere Abgeordnete die Linksfrak- Bartschs übrig gebliebene Anhänger wie-
im Parteienspektrum mehr. Eine kaum ver- tion verlassen, verlöre diese ihren Fraktions- derum geben der Parteiführung die Schuld
hohlene Anspielung auf ihre Pläne, mögli- status, dann bräuchte sie auch keinen Vor- für den miserablen Zustand der ­Linken,
cherweise eine neue Partei zu gründen. stand mehr. Doch da Wagenknecht sich nicht nicht nur der aktuellen um Janine Wissler,
Bartsch ging darauf nicht ein. klar äußert, belauern sich die Lager in der sondern auch der vorherigen um Katja
Es war ein absurder Moment. Seit Mona- kleinen Fraktion weiter. Vielleicht bleibt man ­Kipping. Bartsch habe in den vergangenen
ten spricht Wagenknecht öffentlich von einer ja doch zusammen. 30 Jahren die Partei mit aufgebaut, die An-
möglichen Parteigründung, weil die Linke In der Fraktionssitzung in der vergangenen griffe gegen ihn seien deshalb unwürdig. Die
gescheitert sei. Nun bietet ihr der Fraktions- Woche soll es allein um den Termin für die Mehr­heitsverhältnisse in der Fraktion sind
vorsitzende dieser Partei noch eine weitere Wahl eine bissige Auseinandersetzung gege- ­ohnehin klar: Wenn Bartsch bleiben will,
Bühne dafür. Es ist zwar eine kleine Bühne, ben haben. Während Bartsch und Mohamed bleibt er.
den YouTube-Zahlen zufolge findet die Show Ali gern zum Ende der Sommerpause die Doch will er? Bei »Bartsch direkt« fragte
kaum Zuschauer. Trotzdem sorgt der Auftritt Klausur abhalten würden, wollen die Getreu- er Wagenknecht gegen Ende der Sendung,
für Ärger in der Linken. Ausgerechnet ihr en der Parteivorsitzenden Janine Wissler und wie viele Bücher sie im Jahr lese. Es seien
Fraktionschef, der Dienstälteste in dieser Martin Schirdewan lieber turnusgemäß im gerade weniger geworden, erwiderte Wagen-
Funktion im Bundestag, schmückt seine Sen- Herbst abstimmen. Als Gründe bringen beide knecht. Direkt nach ihrem Rückzug vom
dung mit der Quotenbringerin Wagenknecht, Seiten rein praktische Faktoren wie Ferien- Fraktionsvorsitz habe sie viel Zeit fürs Lesen
die ihre eigene Partei schmähen darf. Was zeiten und Parlamentstermine vor. Zugleich gehabt. »Das ist ja ein dankenswerter Hinweis
treibt Bartsch? Und welche Zukunft hat er in unterstellen beide Gruppen einander strate- jetzt«, sagte Bartsch und lachte.
Fraktion und Partei noch? gische Motive für ihre Terminpräferenzen. Timo Lehmann  n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

»Ich hab es ganz schön übertrie­


ben«, gibt Kasulke zu; wie das lief,
»das kann ich gern erklären«. Nur:
»Wo fange ich an, wo höre ich auf?«

Big Daddy Ein Mädchen, geboren im Dezember


2011. Ein Mädchen, geboren im August
2013. Ein Mädchen, im Juli 2014. Ein
Junge, auch im Juli 2014. Die nächsten
FAMILIENRECHT  Mindestens 25 Kinder von 19 Frauen – hier erzählt vier.
Scheinvaterschaften sind eine wun­
ein Mann, wie er mit Scheinvaterschaften ausländische Mütter de Stelle der Zuwanderung. Eine klei­
vor der Abschiebung bewahrt hat. Er ist nicht der Einzige. Warum ist ne, aber sehr schmerzhafte. Sie tut so
es so schwer, den Betrug zu stoppen? Von Jürgen Dahlkamp weh, weil sich der Staat an dieser Stel­
le so offensichtlich vorführen lässt: in
seiner Ohnmacht zu entscheiden, wer
Ein Junge, geboren 1995. Ein Junge,
1998. Ein Mädchen, 2002. Ein Junge,
2003. Ein Junge, 2007. Ein Junge, 2010.
erlaubnis in Deutschland. Mütter
deutscher Kinder.
Es war nicht zum Schaden der
290 im Land bleiben kann und wer nicht.
Es gibt Frauen, die reisen schwanger
im achten Monat ein und präsentieren
Die ersten sechs. Mütter oder Kinder, nicht zum Scha­ den Ämtern plötzlich einen deutschen
Zweiter Stock, einmal klingeln, den von Kasulke. Nur zum Schaden Scheinvater- Vater, den sie gerade erst kennen­
nach ein paar Sekunden geht die Tür des Staates, der für Kasulke, den schaften gelernt haben. Und es gibt deutsche
auf. Ein Mann, Anfang sechzig, Halb­ Hartz-IV-Empfänger, zahlen muss – Väter, die erkennen Kinder an, die
glatze, Jogginghose, eingestickt das jetzt also auch für seine Kinder. »Ich wurden von längst Teenager sind und die ganze
Logo von »Air« Jordan, dem Basket­ bin gern Papa«, sagt er, was einerseits 2018 bis 2021 Zeit im Ausland gelebt haben. Das
baller. Nur dass er bestimmt 30 Zen­
timeter kleiner ist als »Air« Jordan
eine hübsche Pointe ist, andererseits
aber vermutlich sogar stimmt – noch
gestoppt. geht, weil der Vater, so das Gesetz,
nicht der leibliche Vater sein muss, nur
und auch sonst nicht so aussieht, als am selben Abend kommt eine Stief­ Viele Fälle der Mann, der sich wie ein Vater um
könnte er große Sprünge machen. tochter vorbei, die Schwester von drei bleiben das Kind kümmern will. Angeblich.
Das ist er also, der Supervater. Der Kindern, die Kasulke angenommen So kommen die Mütter mit der
Big Daddy. Der Mann, der 25 Kin­ hat; man redet, man raucht. Kasulke
un­entdeckt. Masche durch, dürfen bleiben. Auch
der hat, von 19 Frauen. Mindestens. nennt sie »Mäuschen«, »Schatz«, Quelle: Bundesinnen- die Väter, die sich üblicherweise bar
Der 2 Kinder hat, die im selben Mo­ »mein Kind«, die Stimme weich, die ministerium auf die Hand bezahlen lassen, offiziell
nat geboren wurden, von 2 Müttern. Herzlichkeit wirkt nicht gespielt. aber pleite sind, was dazu führt, dass
5 Kinder, die im selben Jahr zur Aber aus dem, was er andeutet, der Staat mit seinem Geld für Frau
Welt kamen. Und noch 18 weitere. kann man sich schon denken, dass es und Kind einspringen muss. Und
Der das alles abgeheftet hat, in Ord­ nicht nur um große Vatergefühle und meist erwischt die Polizei auch nicht
nern, alphabetisch nach Namen, von den größten Vatertag aller Zeiten die Drahtzieher im Hintergrund, die
links nach rechts, von »Ma-« bis ging. Sondern auch ums Geld. Wohl Mütter und Väter zusammenbringen.
»Mi-«, von »Mo-« bis »Nic-«. Der ein paar Tausender pro Fall. Er habe Die daran verdienen – und sei es da­
deshalb noch genau weiß, welches sich einspannen lassen, für eine Ma­ durch, dass sie Frauen hinterher auf
Kind zu welcher Mutter gehört, in sche, von organisierten Menschen­ den Strich schicken, damit die ihre
welchem Bundesland, auch wenn er schleusern, sagt er. Und er war bun­ Schulden abstottern.
mit den meisten nichts mehr zu tun desweit längst nicht der Einzige. Al­ Seit mehr als 15 Jahren doktert die
hat. Und für keines zahlt – wie auch? lerdings der Beste, glaubt er. Der mit Politik deshalb mit Novellen an der
Er bekommt ja gerade mal 774 Euro den meisten Kindern; das hätten ihm Wundstelle herum, bekommt sie aber
im Monat, vom Jobcenter. auch andere bestätigt, die Scheinvater­ nicht geheilt. Auch weil das Bundes­
Der Mann mit den 25 Kindern schaften machten. verfassungsgericht 2013 dafür gesorgt
steht in seinem Türrahmen, in einer hat, dass Ausländerämter eine Vater­
Kleinstadt im Osten, und guckt über­ schaft nicht mehr anfechten können,
rascht. Aber dann sagt er, man solle wenn ein Standesamt, Jugendamt,
mitkommen, in die Küche, als hätte meist aber irgendein Notar sie erst
er schon lange darauf gewartet. »Gut, einmal besiegelt hat. Egal wie dubios
hatte ich mir schon gedacht, irgend­ die Umstände waren, egal wie offen­
wann kommt mal jemand und will’s sichtlich gelogen wurde: anerkannt
genauer wissen.« Er räumt das Früh­ ist anerkannt, basta.
stücksbrettchen weg. Nur seinen rich­ Wenn überhaupt, können die Aus­
tigen Namen, den soll man bitte nicht länderbehörden also nur vorher et­
Illustration: Matthias Schardt / DER SPIEGEL

schreiben. was tun – bevor die Vaterschaft amt­


18 der 19 Frauen kommen aus dem lich wird. Dazu müssten ihnen die
Ausland, er hat sie vor der Abschie­ Standesämter, Jugendämter, Notarin­
bung bewahrt. Denn darum ging es. nen und Notare rechtzeitig melden,
Der Mann, nennen wir ihn Kasulke, dass ihnen an der Sache etwas faul
erkannte fremde Kinder als seine Kin­ vorkommt. Dann könnten die Aus­
der an. Er machte damit aus auslän­ länderämter den Fall prüfen und die
dischen Kindern deutsche Kinder. Beurkundung stoppen; so steht es seit
Und aus den Frauen, die ausreisen 2017 im Gesetz. Die Erfahrung zeigt
sollten, Frauen mit einer Aufenthalts­ aber: Entweder fällt einigen Notaren

32 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


Illustration: Matthias Schardt / DER SPIEGEL
DEUTSCHLAND

nichts auf, weil sie schlucken, was ihnen auf- Ausländerbehörden nach Berlin weiterge- fürs Überleben im Kiez vermutlich so braucht.
getischt wird. Oder sie schauen bewusst über schickt, ins Bundesinnenministerium. Das Aufgewachsen in der Gropiusstadt, einer die-
alle Warnsignale hinweg. aktuelle Verfahren sei demnach »nicht hin- ser Großsiedlungen, in denen die Häuser hoch
Wie oft Männer Kinder missbräuchlich an- reichend geeignet«, um die Trickserei zu und die Chancen für ein gutes Leben umso
erkennen, dazu ist die Datenlage dünn. Im stoppen. Und Bremens Innensenator Ulrich niedriger sind. Er hat – sagt er jedenfalls –
vergangenen Sommer haben das Bundes- Mäurer (SPD) sagt: »Ich erwarte vom Bun- schon als Krankenpfleger gearbeitet. Als Al-
innen- und das Bundesjustizministerium eine desjustizminister, dass er endlich einen Rege- tenpfleger. Elektriker. Bäcker und Konditor.
Umfrage in den Ländern gestartet. Ergebnis: lungsentwurf vorlegt, damit unsere Behörden Beim Wachschutz. Mal angestellt, mal als
In der Zeit von 2018 bis 2021 hatten Standes- missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen »freischaffender Künstler«.
ämter, Jugendämter und Notare 1769 Ver- aufdecken können.« Angeblich war er auch beim Militär, bei
dachtsfälle noch rechtzeitig an die Ausländer- Allerdings fordern das die Länder schon den Briten im Kosovo. Dazu habe er bestimmt
ämter gemeldet, also vor der Beurkundung. lange. »Die Abstimmungen zu möglichen auch noch irgendwo ein Stück Papier, sagt er,
Rund 290-mal habe sich die Scheinvaterschaft Konsequenzen für die geltenden Regelungen ob er das schnell noch suchen soll? Egal. Und
bei einer Prüfung auch bestätigt, die Eintra- dauern gegenwärtig an«, erklärt das Bundes- einen Sohn hat er, geboren 1995 – das, was
gung sei gestoppt worden. innenministerium dem SPIEGEL in erlesenem er »mein richtiges leibliches Kind« nennt.
Wie oft dagegen Ausländerbehörden vor- Behördendeutsch. Was man getrost so über- Aber das mit der Mutter ging kaputt, und ihre
her nichts von einem Verdacht erfuhren und setzen kann, dass es wohl noch dauern wird. Familie wollte nicht, dass er den Jungen noch
hinterher machtlos waren, kann der Bund Oder nie was passiert. In Niedersachsen heißt sieht. Warum, sagt Kasulke nicht, nur dass
nicht sagen. Dafür Bayern: Für die Jahre 2018 es jedenfalls, der Bund habe seine Zweifel, er wirklich »kein Böser« sei, das solle man
bis 2022 müsse man im Freistaat in 149 solcher ob nach dem Spruch der Verfassungsrichter ihm bitte glauben.
Fälle von einer Scheinvaterschaft ausgehen; 2013 mit einer Novelle noch etwas zu gewin- Was man dagegen sicher weiß, weil es
leider habe man sie erst gesehen, als es zu nen wäre. das auch amtlich gibt, mit Meldeadresse: dass
spät war, nach der Beurkundung. Kasulke irgendwann in einem Obdachlosen-
Vor allem in den Ausländerbehörden der Ein Junge, geboren im Oktober 2014. Ein Junge asyl an der Lahnstraße in Neukölln landete.
Städte und Kreise rumort es deshalb. Die der- im Mai 2015. Eine Zwillingsschwester. Die Da wohnte er auch 2003, als er über einen
zeitige Regelung sei »nicht praktikabel«, »ein nächsten drei. Kumpel im Heim an einen Serben geriet – so
stumpfes Schwert« gegen Scheinvaterschaf- Kasulke kommt aus Berlin, aus Neukölln, erzählt das Kasulke zumindest.
ten, sagt eine Sprecherin des bayerischen zum Beweis sagt er einen Spruch auf, der mit Der Serbe hatte eine Mutter und die
Innenministeriums. Das rot-grün regierte »Icke-kicke-denema …« beginnt und in den Mutter ein Problem: einen abgelaufenen Reise-
Niedersachsen hat schon Beschwerden seiner nächsten 20, 30 Silben alles enthält, was man pass, keinen Aufenthaltstitel. Der Serbe

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fragte: Kannst du die nicht heiraten? Und Ka­


sulke konnte. Angeblich, um der Frau zu hel­
fen – ob er auch Geld bekam, lässt er offen.
Die Frau lebt heute in Berlin, auf dem Papier
sind sie immer noch verheiratet. Der Serbe
hatte aber noch einen Freund, auch vom Bal­
kan, und der Freund habe gesagt: Wenn Ka­
sulke jetzt schon mal geholfen habe, könne
er doch gleich weitermachen. Nicht mit Hei­
raten, das geht ja nur einmal. Aber mit Kin­
dern. »Der sagte, ›ich habe da eine Geschäfts­
idee‹« – und dann »hab ich mich leider darauf
eingelassen«, so Kasulke. Das muss spätestens
2010 gewesen sein – »Familiensache 2010/20«
steht mit schwarzer Tinte auf den meisten Ord­
nern im Regal. Er sei da nun mal so »reinge­
rutscht« und dann nicht wieder rausgekommen.
Die Geschäftsidee sah so aus: Der Mann
vom Balkan besorgte Frauen, die nach
Deutschland kommen und hier bleiben woll­

Illustration: Matthias Schardt / DER SPIEGEL


ten. Schwangere Frauen. Frauen, die längst
Kinder hatten. Und Kasulke erkannte die
Kinder als seine an. Mal habe der Vermitt­
ler  3000 Euro von den Frauen und ihren
Fa­milien verlangt, mal 8000 oder 12.000. Mit
ihm, Kasulke, habe der Vermittler »halbe-
halbe« vereinbart. Ob und wie viel tatsächlich
gezahlt wurde, bleibt in Kasulkes Erzählung
schwammig. Ab und an habe ihn der Ver­
mittler ausgetrickst; das heißt: kein Geld. Und
nicht jedes Kind sei über den Vermittler ge­ adresse des Vaters, Kasulke, war das Obdach­ men, um bei ihnen zu leben. 2014 kam das
kommen. Kasulke will Frauen auch direkt losenheim in Berlin. Und der Asylantrag der neunte Kind zur Welt, auch anerkannt von
kennengelernt haben. Schließlich habe sich Mutter, die erklärt hatte, als Romni in der Kasulke, bis heute wird die Familie von der
seine Telefonnummer überall herumge­ Heimat verfolgt zu werden, war gerade ab­ öffentlichen Hand versorgt.
sprochen. gelehnt worden. Mehr Hinweise auf Schein­ Was man Kasulke allerdings zugutehalten
25 Kinder sei vielleicht auch etwas zu tief vaterschaft gehen kaum. muss: 2015 zog er von Berlin in die Nähe der
gegriffen. Die Zahl, die er im Kopf habe, sei Also lud die Behörde Kasulke und die Mut­ Familie, in denselben Landkreis im Osten. Er
höher. Die meisten lebten in Berlin, andere ter vor. Die beiden gaben sich offenbar Mühe, sei mit den Eltern befreundet, erzählt er, küm­
in Bremen, Kiel, Flensburg, in so gut wie je­ es so aussehen zu lassen, als wären die Kinder mere sich um sie und die Kinder. Das Mäd­
dem Bundesland mindestens eines. Und im ihre leiblichen. Man habe sich nicht kürzlich chen, das ihn an diesem Tag im März 2023
Februar 2013 erkannte er gleich drei in einem erst kennengelernt, sondern schon 1997 oder besucht und fragt, ob sie ihm etwas aus dem
Bundesland an – in Ostdeutschland, wo ge­ 1998, vor einer Disco in Berlin. Kasulke er­ Supermarkt mitbringen solle, ist ein Kind die­
rade eine bosnische Mutter angekommen war. zählte wohl, die Mutter sei nicht am Türsteher ser Familie. Und auch zu Kindern in Schles­
Ihr Anwalt hatte dem Ausländeramt im Kreis­ vorbeigekommen, sie war ja erst 16, er da­ wig-Holstein habe er noch guten Kontakt,
haus Papiere vorgelegt, besiegelt von einem gegen 20 Jahre älter. Da habe er sie eben mit sagt Kasulke, was ungewöhnlich ist für Schein­
Notar: Drei ihrer Kinder hatten demnach reingenommen. So sei man sich nähergekom­ väter. Auch für Kasulke selbst. Mit zwei Drit­
einen deutschen Vater, Kasulke. Es war das men, habe sich über Jahre immer mal gese­ teln seiner Kinder habe er nichts mehr zu tun,
erste Mal, dass Kasulke in diesem Landkreis hen. Welche Disco das war? Tja, leider ver­ schätzt er.
auffiel. Und damit durchkam. gessen. Aber er stehe dazu, der Vater der drei
Kinder zu sein, er sehe sie auch regelmäßig Ein Mädchen, geboren im Dezember 2016,
Ein Junge, geboren im Juli 2016. Noch ein­ in Berlin, wenn ihn die Mutter mit den Kin­ ein Junge im selben Monat, wieder keine
Junge, selber Monat, aber keine Zwillinge. Ein dern besuche. Wo man sich denn da treffe, ­Zwillinge; ein Junge im Januar 2017, ein Junge,
Mädchen, Oktober 2016. etwa im Obdachlosenasyl? Äh, nein, bei Juli 2017.
1998 hatte die Bundesregierung das Kind­ einem Bruder der Mutter. Nach dem Spruch der Verfassungsrichter
schaftsrecht geändert. Seitdem reicht es, wenn Die Behörde glaubte ihm nicht, sie wollte brauchte der Staat wieder Jahre für eine Ant­
ein Mann erklärt, er sei der Vater, und die gegen die Vaterschaft vorgehen, aber dann wort. 2017 schrieb er konkrete Anhaltspunk­
Mutter dazu nickt. Das war gut gemeint, da­ kamen die Verfassungsrichter mit ihrer Ent­ te ins Bürgerliche Gesetzbuch, wann ein No­
mit ging aber auch die Tür für Scheinvater­ scheidung 2013. Nun galt: einmal beurkundet, tar, ein Standes- oder Jugendamt misstrauisch
schaften weit auf. Fall für die Behörde erledigt. werden sollen. Ein ganzer Katalog, etwa:
Es brauchte zehn Jahre, bis 2008, um die Und, Herr Kasulke, wie war’s wirklich? Steht die Mutter kurz vor ihrer Abschiebung?
Lücke zu schließen. Dank einer Gesetzes­ Nun ja, erzählt Kasulke, die Mutter und ihr Oder: Hat der deutsche Vater früher schon
novelle konnten Ausländerbehörden nun eine Mann hätten ihn gefragt, ob er ihnen helfen Kinder anerkannt, mit anderen Ausländerin­
Vaterschaftsanerkennung anfechten – selbst könne. Kasulke erkannte die drei Kinder an. nen? Dann soll eine Meldung an die Auslän­
hinterher noch. Auch in dem Ausländeramt So durfte die Mutter bleiben, um die drei Kin­ derbehörden gehen. Vor der Besiegelung.
im Osten, wo die Mutter wohnte, wollte der zu betreuen, so durften auch ihre fünf Bevor nichts mehr zu ändern ist.
man es deshalb 2013 genauer wissen. Schließ­ anderen Kinder bleiben, man konnte sie ja Aber nur vier Tage nachdem der Bundes­
lich waren die drei Kinder in Bosnien geboren nicht von der Mutter wegreißen. Und der tag das Gesetz beschlossen hatte, erschien
und schon 10, 11 und 14 Jahre alt. Die Melde­ Vater dieser fünf Kinder durfte ebenfalls kom­ Kasulke schon wieder in Berlin bei einem

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DEUTSCHLAND

Notar, zusammen mit einer Frau aus Serbien. fortan ein der Gesellschaft wohlgefälliges 11. Januar 2022 meldete sie sich auf einem
Er erkannte ihr Kind an, zehn Jahre alt, ge- Leben zu führen. Das wäre jetzt ein schöner Standesamt in Kasulkes Landkreis im Osten
boren in Belgrad. Vier Seiten Papier, Siegel Schluss für diese Geschichte, und genauso und sagte, dass Kasulke die Vaterschaft über-
drauf, fertig. erzählt ihn Kasulke auch. Er kramt eine nehmen wolle. Die Standesbeamtin zog sich
In Kraft trat das neue Gesetz ja auch erst Sterbeurkunde heraus, ja, tatsächlich, seine einen Melderegisterauszug: Kasulke, 59 Jah-
zwei Monate später. Aber so wie beim Notar eigene, Uhrzeit des Todes: zwischen dem re, 21 Kinder, 18 Frauen – 4 Kinder tauchten
in Berlin läuft es immer noch, immer wieder. 1.8.2020, 00.00 Uhr, und dem 2.8.2020, in der Liste nicht mal mehr auf, weil sie voll-
Anfangs verpassten zwar auch Standes- und 18.45 Uhr, ausgestellt am 4. Februar 2021 vom jährig waren.
Jugendämter den Hinweis an die Ausländer- Standesamt Berlin-Charlottenburg. Die Standesbeamtin stoppte die Beurkun-
behörden. Inzwischen sind es aber fast immer Es war natürlich ein Fehler, eine Verwechs- dung, informierte die Ausländerbehörde im
Notarinnen und Notare, die nichts stoppen, lung, Berlin, wa? Seine Schwester, im Kopf Kreishaus, dort machte es klick: Kasulke? War
nichts melden, sondern die Sache einfach vielleicht schon etwas tüdelig, hatte wohl sei- da nicht mal was? 2013, drei Kinder aus Bos-
durchwinken. Warum? An den Gebühren kann nen Tod bestätigt, und Kasulke erschrak nien? Sie lud ihn vor, mit der Frau, und er-
es nicht liegen: Sich beim Notar als Vater an- mächtig, als später sein Jobcenter bei ihm öffnete beiden, dass nach Aktenlage entschie-
erkennen zu lassen kostet im Prinzip nichts. anrief: »Nur zum Datenabgleich«, wer er den werde. Die Aktenlage sehe aber nicht gut
Wenn der Notar auch noch das Sorgerecht be- eigentlich sei, und warum nicht schon längst aus für Kasulke. So viele Kinder, so viele
urkundet, verdient er daran läppische 60 Euro. tot? »An dem Tag, an dem ich die Sterbe- Frauen.
Und Bares unter der Hand? Eher unwahr- urkunde bekommen habe, habe ich zack Kurz danach kam die Mutter allein: Das
scheinlich. Ein Notariat gilt als Gelddruckma- einen Strich drunter gemacht. Feierabend.« mit Kasulke habe sich erledigt, sie wolle lieber
schine der Juristerei; wer riskiert schon so eine Keine Anerkennungen mehr. ausreisen. Dann aber passierte nichts. Also
Einnahmequelle für ein paar Tausender neben- Das kann man glauben. Oder auch nicht. teilte die Ausländerbehörde der Mutter mit,
her? Dann schon eher, weil das Nachforschen Im November 2021 reiste mal wieder eine dass sie bald abgeschoben wird, und prompt
Zeit kostet. Oder weil auch Notare eine Mei- Frau aus Bosnien ein, 28 Jahre, hochschwan- flatterte ein Schreiben herein, von einem No-
nung zur Flüchtlingspolitik haben und manche ger. Kurz vor Weihnachten kam das Kind, am tar aus Jena. Darin stand, dass Kasulke nun
vermutlich meinen, dass man die Frauen und doch der Vater sei, frisch beurkundet vom
Kinder nicht abschieben sollte. Notar. Obwohl das Verfahren vom Amt ge-
Ein anderer Notar aus Berlin – nicht der, stoppt war. Obwohl die Mutter zur Ausreise
bei dem Kasulke war – ist aktuell mit sechs verpflichtet war. Obwohl weder Kasulke noch
zweifelhaften Anerkennungsfällen in dem ost- die Mutter in Jena lebten. Der Notar will dazu
deutschen Landkreis, in dem Kasulke wohnt, dem SPIEGEL nichts sagen, beruft sich auf die
aktenkundig; Hinweise an die Notarkammer Schweigepflicht. Es half der Mutter aber
Berlin brachten nichts. Dort heißt es auf nichts mehr; eine Beurkundung, wenn das
Anfrage: »Wir sind für die Ahndung schwer­ Verfahren schon ausgesetzt ist, zählt nicht.
wiegender Verstöße nicht zuständig.« Statt- Im Juni wurde die Frau abgeschoben.
dessen die Aufsicht, das Berliner Kammer- War es nun tatsächlich Kasulkes Nahtod-
gericht, das aber zu möglichen Verfahren erfahrung mit der Sterbeurkunde? Oder doch
gegen Notare nichts sagt. der Wink der Behörde, dass sie ihn jetzt auf
Illustration: Matthias Schardt / DER SPIEGEL

Gut möglich, dass auch gar keine Verfahren dem Radar hat? Er mache das nicht mehr,
laufen – dem Berliner Senat, so die Auskunft, sagt Kasulke jedenfalls, und dass er schon
sind jedenfalls »keine bekannt«. Denn ob ein länger habe aufhören wollen. Nur sei das ja
Notar stutzig werden muss, liegt ganz in sei- »kein Spaß« mit diesen Hinterleuten. Der
nem Ermessen, wie das Kammergericht im- Vermittler habe ihn unter Druck gesetzt, dass
merhin erklärt. Dazu muss man noch wissen, er weitermacht, und die Frauen habe der
dass ein Notar normalerweise nicht ermitteln Vermittler unter Druck gesetzt, dass sie zah-
muss, ob Angaben stimmen, die er beurkun- len. Prostitution? »Ich habe da eine Vermu-
den soll. »Insoweit stellt die Regelung … einen tung, aber nachweisen kann ich es nicht«, sagt
von den Notaren ungewünschten Fremdkör- Kasulke.
per dar«, kommentierte der Bremer Senat die Er selbst habe Angst um sein Leben ge-
neu eingeführten Prüfpunkte. Und wie sich »Man sitzt zwischen Baum habt, aber »man sitzt genau zwischen Baum
ein Notar am besten herauslaviert, erhellt die
Hamburger Innenbehörde: »Nahezu alle No-
und Borke« – dem Vermitt- und Borke«, auf der einen Seite der Vermitt-
ler und die Familien im Ausland, auf der an-
tare lassen sich zu ihrer Entlastung an Eides ler und den Behörden. deren die Ämter. Wie er da rausgekommen
statt von der Mutter und dem Anerkennungs- ist, lässt er offen, nur: »Ich sag mal so: Alle
willigen versichern, dass es solche Anhalts- wissen, wo ich wohne, aber es kommt mich
punkte (für eine Scheinvaterschaft –Red.) keiner besuchen; das war die Einigung.« Und
nicht gibt«. Damit ist der Notar aus dem den Ämtern hat er versprochen, es nicht mehr
Schneider, die Eltern sind es vermutlich auch. zu übertreiben; »ich muss mich gut stellen
Zumindest hat das Landgericht Bremen ent- mit den Ämtern«.
Illustration: Matthias Schardt / DER SPIEGEL

schieden, dass falsche Angaben in so einem Also Schluss? Ja. Sein Handy klingelt, er
Fall nicht strafbar sind. schaut drauf. »Das ist Little Nervie, der Cou-
sin des großen Organisators«, erklärt Ka-
Ein Mädchen, geboren im Dezember 2017, ein sulke. »Er will, dass ich Frauen hierherhole.
Junge, März 2019, ein Mädchen, April 2019, Und ich sage: nein danke.« Aber solange sie
und Zwillinge, ein Mädchen und ein Junge, im noch seine Nummer haben, solange ein »Little
August 2021. Die letzten fünf. Nervie« nervt und irgendwo auf dem Balkan
Dann aber starb Kasulke. Und als er von einer denkt, Kasulke sei der Beste, der Beste,
den Toten auferstand, erleuchtete ihn die Ein- den es je gab, so lange ist es nie wirklich
sicht, aufzuhören mit all diesen Dingen und ­vorbei.  n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

an der der Professor zuvor gearbeitet


hatte. Im Raum stehen Vorwürfe von
Machtmissbrauch und sexuellen Be­
lästigungen, nicht nachvollziehbare
Bewertungen von Prüfungsleistungen
und Vetternwirtschaft bei der Perso­
nalauswahl.
Betroffene schildern, dass der
Lehrstuhlinhaber eine regelrechte
»Masche« gehabt habe, mit der er
Nähe zu Studenten aufbaute und Ab­
hängigkeiten schaffte. Dabei soll er
immer ähnlich vorgegangen sein: Zu­
erst habe der Professor das Vertrauen
der Studierenden gewonnen, dann
lud er sie zum Essen oder zu Einzel­
gesprächen ein, schließlich wurde der
Kontakt über WhatsApp immer in­
tensiver. Auch habe er persönliche
Informationen geteilt, mit denen er
den Studenten das Gefühl vermittelte,
dass er ihnen vertraue. Dann seien
oftmals Einladungen in seine Privat­
wohnung gefolgt. Manche Studieren­
den erzählen, der Mann habe sie da­

»Er forderte mich auf,


bei in mutmaßlich sexueller Absicht
berührt: Von »innigen Umarmun­
gen«, »Kraulen durch das Haar« und

Liegestütze zu machen«
»Handauflegen auf der Brust« ist die
Rede. Auch habe er versucht, Ein­
zelne zu gemeinsamen Urlauben zu
drängen.

Marcus Simaitis / DER SPIEGEL


Der Anwalt des Beschuldigten be­
HOCHSCHULEN  Private Treffen, unerwünschte Berührungen, Ausbeutung  – streitet die Vorwürfe vehement. Sein
Mandant habe »jedenfalls zu keiner
an mehreren Universitäten gibt es Vorwürfe gegen Lehrstuhlinhaber, Zeit eine sozialinadäquate Nähe zu
die ihre Macht missbrauchen. Die Aufklärung läuft schleppend. Studierenden« aufgebaut, »er hatte
auch keine ›Masche‹ (was das auch
immer sein soll), um Nähe zu Studie­

E
s begann mit Lob und Anerken­ men ausgeschöpft.« Ausgereicht ha­ renden aufzubauen und Abhängig­
nung: Der Professor schien das ben sie wohl nicht. keiten zu schaffen«. Das sei von ihm
Potenzial des jungen Studenten, Denn jetzt zeigt sich: Der Fall auch zu keiner Zeit intendiert gewe­
seine Chancen in der Zukunft zu er­ könnte erheblich größere Dimensio­ sen: »Fakt und völlig klar ist, dass
kennen. Und es endete mit Alkohol, nen haben als bisher bekannt. Nach­ unser Mandant mit keiner Studentin
der Aufforderung, 30 Liegestütze zu dem im November und Dezember und keinem Studenten jemals eine
absolvieren und einer innigen Um­ 2022 weitere fünf Studenten bei der persönliche Beziehung geführt hat im
armung in der Privatwohnung des Hochschulleitung ähnliche Erlebnis­ Sinne einer privaten, intimen / sexuel­
Lehrstuhlinhabers. Zugetragen haben se mit dem Professor geschildert hat­ len Beziehung, einer Lebensgemein­
soll sich das alles in den Jahren 2017 ten, wurde der Dozent im Februar schaft und / oder einer platonischen,
und 2018. vorläufig seiner Dienste enthoben aber vertieften persönlichen Freund­
So steht es in einem dreiseitigen und ein Disziplinarverfahren einge­ schaft.«
Protokoll, das Hannes – er heißt in leitet. »Seitdem haben sich nach ak­ Einige Studenten berichten jedoch
Wirklichkeit, wie alle in diesem Text tiver Information aller Studierenden von Übernachtungsangeboten, teils
genannten Betroffenen, anders – ein durch die Hochschulleitung bis jetzt auch im Bett des Professors. Dabei
Jahr nach den Vorfällen an Bernd neun weitere Studierende an die habe der Dozent »die Grenze immer
Kriegesmann, den Präsidenten der Hochschulleitung gewandt«, erklärt ein Stück weiter verschoben«. Das sei
Westfälischen Hochschule (WHS) in Hochschulpräsident Kriegesmann. ihm vor allem durch seine Gabe
Gelsenkirchen, schickte. Krieges­ Damit geht es bereits um 15 Fälle – ­gelungen, »Schwachstellen seines
mann bestätigt auf Anfrage den Ein­ offiziell. Gegenübers genau analysieren zu
gang einer Beschwerde 2019: »Da­ Doch nach SPIEGEL -Informatio­ können« und so scheinbar individuell
raufhin wurden sowohl mit dem Stu­ nen könnte die Zahl sogar noch deut­ auf sie einzugehen. Immer wieder sei
dierenden als auch der beschuldigten lich höher liegen: Hochschul-Insider dabei vom Prinzip »Fördern und For­
Person (Dienst-)Gespräche geführt, schätzen, dass sich eine zweistellige dern« die Rede gewesen.
um den Sachverhalt aufzuklären«, er­ Anzahl Betroffener an der WHS noch Der Beschuldigte »förderte und
klärt er. Auch seien »weitere Ermitt­ gar nicht gemeldet haben könnte. fördert talentierte Studierende gleich
Gelsenkirchener
lungen« durchgeführt worden: »Auf Und: Mittlerweile gibt es Medienbe­ Student Markus: Die
welchen Geschlechts, half aber auch
dieser Basis wurden nach damaligem richte über ähnliche Schilderungen Hochschule ohne Studierenden, die sich im Studium
Stand die dienstrechtlichen Maßnah­ auch von einer zweiten Hochschule, Abschluss verlassen erkennbar schwer damit taten, die an­

36 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

stehenden Aufgaben zu bewältigen«, stellt


dazu der Anwalt des Professors fest: »Im
»Für eine Doktorarbeit So wie Anja Schneider, deren richtiger Name
ebenfalls anders lautet.
Gegenzug forderte und fordert (er) dazu aber wollte ich meine Gesund- Schneider ist Mitte dreißig und war bis vor
auch eine Leistungsbereitschaft im Rahmen
des Studiums.« Seinem Mandanten zu unter­
heit nicht opfern.« einigen Jahren Doktorandin an der Uni Köln,
dann hat sie gekündigt. Ihr Doktorvater habe
Anja Schneider, Ex-Studentin
stellen, er habe für eine Förderung von Stu­ sie »ausgepresst wie eine Zitrone«, so erzählt
dierenden Gegenleistungen gefordert, die sie es heute. »Er hat versucht, so viel Arbeit
nicht in einem sachlichen Zusammenhang mit aus mir herauszubekommen wie möglich.«
dem Studium der Studierenden standen, wäre Bei ihrer Doktorarbeit habe der Professor sie
»grob falsch. Eine ungerechtfertigte Förde­ In diesen Fällen zeigt sich, dass viele Hoch­ kaum unterstützt, zu Meetings sei er nicht
rung im Sinne einer Bevorzugung von Stu­ schulen ein strukturelles Problem im Umgang erschienen, auf E-Mails habe er nicht geant­
dierenden gleich welchen Geschlechts hat es mit Machtmissbrauch haben – und auch mit wortet. Stattdessen habe er ihr Aufgaben ge­
nicht gegeben«. der Reaktion darauf. Es kann Monate dauern geben, die nichts mit ihrer Promotion zu tun
Die WHS in Gelsenkirchen ist nicht die und mitunter auch Jahre, bis sich eine Uni­ gehabt hätten. Sie habe für ihren Chef einen
einzige Hochschule, in der eine Debatte über leitung zu Entscheidungen durchringt. »Das Sektempfang organisieren und seinen Laptop
Machtmissbrauch ausgebrochen ist. Beispiel Problem liegt im System«, heißt es in einem reparieren lassen müssen, sie habe rund um
Köln: An der größten Präsenzuniversität offenen Brief an die Wissenschaftsminister, die Uhr arbeiten müssen, mitunter an Wo­
Deutschlands sind zuletzt mehrere Fälle be­ in dem weit über hundert Professorinnen und chenenden, Feiertagen und im Urlaub.
kannt geworden, in denen Vorgesetzte die Professoren Reformen der Hochschulhierar­ Sie habe sich gemobbt gefühlt, sagt Schnei­
Grenzen des Zumutbaren weit überschritten chien und Kontrollmöglichkeiten gegen der. Sie habe sich an die Gleichstellungs­
haben sollen. Machtmissbrauch fordern. beauftragte ihrer Fakultät gewandt, doch an
2020 leitete die Uni Köln ein Disziplinar­ Wer sich mit Personalräten oder Gleich­ ihrer Situation habe sich nichts verbessert.
verfahren gegen einen Professor ein. Mehre­ stellungsbeauftragten an Hochschulen unter­ Schneider sagt, sie habe erst einen Burn-out
re Wissenschaftlerinnen hatten sich zuvor in halte, höre »von einer erschreckenden Men­ erlitten, später einen Schlaganfall, was aus
einem schriftlichen Bericht über ihn be­ ge an Fällen von Machtmissbrauch und Aus­ ihrer Sicht auch an den Umständen an ihrem
schwert. Er soll sie bedrängt und erniedrigt beutung«, schreibt die Kieler Professorin Lehrstuhl lag. In einer Stellungnahme ihrer
haben, er soll sich vor einer Doktorandin im Martina Winkler, die den Aufruf initiiert hat. Psychotherapeutin heißt es, dass »eine Kün­
Rahmen von Kleideranproben in seinem Büro Dazu gehörten die ungerechtfertigte Über­ digung des dysfunktionalen Arbeitsverhält­
regelmäßig bis auf die Unterhose entblößt tragung von eigentlich professoralen Aufga­ nisses unvermeidlich« gewesen sei.
und sie nachts in einen Stripklub mitgenom­ ben an Mitarbeitende, deren systematische Nach ihrer Kündigung wollte Schneider
men haben (SPIEGEL 51/2022). Der Anwalt Überlastung mit Arbeit, die willkürliche Aus­ ihre Doktorarbeit extern zu Ende bringen.
des Professors hat alle Vorwürfe zurück­ übung professoraler Entscheidungsgewalt Wieder suchte sie die Hilfe der Uni, sie kon­
gewiesen. etwa bei Entscheidungen über Reisen oder taktierte die Ombudsperson, die an der Fakul­
Die Schilderungen der Wissenschaftlerin­ Projektfinanzierungen, die Aneignung von tät für Konfliktfälle zuständig ist. Doch eine
nen sind zwar plausibel und gut belegt, doch geistigem Eigentum Mitarbeitender, sexuelle Lösung fand sich nicht. Das Verhältnis zu
der Professor arbeitet nach wie vor an der Belästigung, Nötigung und Ähnliches: »Die ihrem Professor sei zerrüttet gewesen, sagt
Uni, er forscht, lehrt und publiziert. Das Dis­ wenigsten Vorfälle werden gemeldet, nur in Schneider. Sie brach ihre Promotion ab. Heu­
ziplinarverfahren gegen ihn ist noch immer Ausnahmefällen kann den Betroffenen ge­ te arbeitet sie für eine Firma im Ausland. Sie
nicht abgeschlossen. Die Uni würde den holfen werden.« sagt: »Für eine Doktorarbeit wollte ich meine
Hochschullehrer wohl gern loswerden. Doch Das alles sei jedoch nicht verwunderlich, Gesundheit nicht opfern.«
das Beamtenrecht sei in solchen Fällen kom­ heißt es in dem offenen Brief, die strukturelle Der Professor bestreitet auf Anfrage alle
pliziert und kaum praktikabel, heißt es aus Ursache offensichtlich: »Die Mischung von Vorwürfe. Er teilt mit, dass er Schneider
dem Umfeld der Unileitung. deutschem Beamtenrecht, einer Kultur über­ unterstützt habe. Er bedauere, dass sie ihre
Vermutlich geht die Hochschule deswegen höhter professoraler Autorität und der extrem Promotion nicht abschließen konnte und da­
in einem ähnlichen Fall anders vor: Im Sep­ prekär gestalteten Arbeitssituation für Promo­ her »nachvollziehbar enttäuscht« sei. Die Uni
tember 2021 haben sich Wissenschaftlerinnen vierende, PostDocs und oft auch Juniorprofes­ Köln möchte den Fall nicht bewerten. Eine
und Wissenschaftler über eine anerkannte sor*innen sowie Professor*innen auf befriste­ Sprecherin teilt mit, dass der Unileitung die
Kölner Professorin und Institutsleiterin be­ ten Stellen führt zu Strukturen, die Machtmiss­ Anschuldigungen gegen den Professor nicht
klagt. Die Vorwürfe hatten sie ebenfalls in brauch fördern und eine Aufklärung solcher bekannt seien. Die frühere Doktorandin habe
einem schriftlichen Bericht an die Universität Fälle schwer bis unmöglich machen.« sich nicht mit einer offiziellen Beschwerde an
geschickt. Die Professorin soll Promovieren­ Betroffenen dauert die Aufarbeitung oft die Uni gewendet.
de beleidigt und ausgebeutet haben, im Be­ viel zu lange. Bevor sie Hilfe bekommen, be­ Schneider sagt, dass ihr vonseiten der
richt ist von »unangenehmen Berührungen« enden einige lieber ihre Hochschulkarriere. Hochschule niemand gesagt habe, dass diese
die Rede. Statt ein Disziplinarverfahren ein­ Möglichkeit bestehe. Mehreren Vertrauens­
zuleiten, verhängte die Uni kürzlich eine personen der Fakultät von ihrer Lage zu be­
dienstliche Anordnung. Sensible Recherche richten und sie um Hilfe zu bitten sei für sie
Der Rektor entzog der Professorin die Wei­ Ein Professor, der Studenten mit Liegestüt- ein offizieller Vorgang gewesen.
sungsbefugnis gegenüber 17 Doktorandinnen zen bestraft? Zuerst klangen die Vorwürfe Die Fälle in Köln und Gelsenkirchen lassen
und Doktoranden. Die Promovierenden müs­ etwas bizarr, doch dann sprachen die befürchten, dass die Schutzmechanismen für
sen nun nicht mehr mit ihrer Chefin kommu­ SPIEGEL-Redakteure mit immer mehr Be- Studierende an Hochschulen und Universitä­
nizieren oder an ihren Meetings teilnehmen. troffenen. Manche schämten sich, weil sie ten nicht ausreichen. Unter dem Deckmantel
Die Uni hat einen Professor als neuen Vor­ mitgemacht hatten; andere hatten direkt der Lehrfreiheit errichten einzelne Professo­
gesetzten der Doktoranden ernannt. Ob die profitiert und zunächst nicht widerspro- ren immer wieder Systeme der Willkür. So
Maßnahme Bestand hat, ist jedoch ungewiss. chen. Keiner der Betroffenen, mit denen wie es mutmaßlich auch der Gelsenkirchener
Die beschuldigte Professorin hat beim Ver­ das Team sprach, wollte mit seinem Na- Professor praktizierte.
waltungsgericht Köln eine Klage und einen men im Artikel auftauchen. Wichtige Prota­ Auch sein Student Markus berichtet davon.
Eilantrag gegen die Anordnung eingereicht. gonisten bestätigten ihre Aussagen unter Er habe erst lange nach der ersten Kontakt­
Ausgang: offen. ihrem echten Namen schriftlich. aufnahme verstanden, was der Professor

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DEUTSCHLAND

unter seinem Mantra »Fördern und Fordern« der Anteil des Professors daran war«, dass er

WAS verstand. »Als er mir seine Privatadresse


schickte, war ich erst einmal verwundert«,
die Westfälische Hochschule ohne Abschluss
verließ.

DARF MAN
erzählt Markus. Seine Bedenken habe er aber Einige Studenten sagen heute, sie seien
beiseitegeschoben, da er in der gleichen Stadt von dem Professor bevorzugt behandelt wor-
wie der Professor wohnte und dies den An- den. Er habe sie in seine Kurse eingetragen,

HEUTE fahrtsweg deutlich verkürzte. Von da an hät-


ten fast alle Treffen in der Privatwohnung des
ihnen besonders interessante Projekte zuge-
schanzt und in Einzelfällen sogar spezielle

NOCH
Professors stattgefunden: »Das Studium fand Module geschaffen, damit Studierende einen
für mich zu diesem Zeitpunkt quasi nur noch Kurs bei ihm zweimal belegen konnten. Die
in seiner Wohnung statt. Der Kontakt zur Gefallen habe der Professor den Studierenden

SAGEN?
Hochschule und zu anderen Professoren wur- getan, ohne von ihnen darum gebeten worden
de immer weniger.« zu sein. Ein Betroffener sagt: »Er hat mir ver-
Andere Studierende und Professoren be- mittelt, dass er auch die Noten meiner dama-
richten davon, dass der Beschuldigte seine ligen Freundin kontrolliert und ungefragt ein
Lieblinge um sich geschart habe, seine Auge zudrückt.«
»Boys«, wie Kommilitonen schon 2016 spot- Die Vorwürfe werden vom Anwalt des Pro-
teten. Er habe die Studenten »wie in einem fessors mit Nachdruck zurückgewiesen:
Kokon« gehalten, sagt ein langjähriger Kol- »Unser Mandant hat weder seine Macht miss-
lege. »An manche kam man von heute auf braucht, noch eine Person sexuell belästigt,
morgen plötzlich nicht mehr ran, nicht mal noch Prüfungsleistungen nicht nachvollzieh-
im harmlosen Cafeteria-Gespräch.« Die Iso- bar bewertet, noch kann ihm Vetternwirt-
lation habe bei den Betroffenen das Gefühl schaft bei seiner Personalauswahl unterstellt
ausgelöst, auf den Professor angewiesen zu werden.«
sein, um Prüfungsleistungen absolvieren oder Mehrere Personen, mit denen der SPIEGEL
ihre Bachelorarbeit schreiben zu können. sprechen konnte, berichten jedoch, Studie-
Markus traf sich nach eigener Aussage zwi- rende hätten Prüfungen bestanden, ohne sie
schen 2017 und 2022 insgesamt 10- bis 15-mal abgelegt zu haben. Einem für die Kurse ver-
mit dem Professor in dessen Privatwohnung. antwortlichen Hochschullehrer erklärten die
Zwischendurch habe er in Wochen- und Mo- Studenten damals demnach, »sie müssten
natsmails über seinen akademischen Fort- meine Prüfung gar nicht absolvieren, da sei
schritt und Persönliches berichten müssen. über den Professor ›was machbar‹.« Er sei
Markus erzählt: »Wenn ich Ziele nicht er- heute überzeugt: »Was in diesem Fall passiert
reicht habe, musste ich begründen, warum ist, war zum Teil Systemversagen. Vor allem
ich sie nicht erreicht habe.« Der Professor sei war es aber ein Versagen und aktives Weg-
256 Seiten, gebunden � 22,00 € fordernder geworden. Während der Treffen sehen handelnder Personen.«
Auch als E-Book erhältlich. sei der Dozent zunehmend auf private Details Die Hochschulleitung äußert sich zu diesen
zu sprechen gekommen und habe das Ge- Vorwürfen nicht konkret. Es gebe jedoch in-
spräch weg von der Bachelorarbeit gelenkt. terne Ermittlungen, die sich auf »weitere Vor-
Ein neuer Fundamentalismus hat Gerade diese Ambivalenz des Professors und würfe, die nicht unmittelbar mit dem mögli-
Amerika erfasst: Im Namen von das Wechselspiel aus vertrauensvollen Ge- chen Machtmissbrauch zusammenhängen«,
Gerechtigkeit und Antirassismus sprächen und Forderungen habe die Situatio- bezögen. In mindestens einem Fall, bestätigt
nen für Markus und zahlreiche andere Be- die Hochschule, sei die Kündigung eines wis-
greift dort eine Ideologie um sich, troffene schwer einschätzbar gemacht. senschaftlichen Mitarbeiters »in den Kontext
die Intoleranz und Hass erzeugt – Irgendwann habe der Professor ihn dann des potenziellen Machtmissbrauchs einzu-
in liberalen Medien kann ein auf seine Hobbys und seinen ziemlich sport- ordnen«. Das laufende Disziplinarverfahren
falsches Wort Karrieren beenden, lichen Körper angesprochen. »Er hat mich greife alle bekannten Vorwürfe auf – »zualler-
dann gefragt, wie viele Liegestütze ich schaf- erst die Vorwürfe der Studierenden«.
an den Universitäten herrscht ein fe«, erzählt Markus und erinnert sich: »Er saß Offen ließ die Hochschule, ob sie auch dem
Klima der Angst, Unternehmen dabei am Esstisch und hat langsam mitge- Vorwurf der Vetternwirtschaft nachgeht. Denn
feuern Mitarbeiter, die sich dem zählt.« Fortan habe der Professor Markus für der Professor leitete nicht nur Institut und
Zeitgeist widersetzen. René Pfister, verfehlte Ziele sanktioniert. »Er forderte mich Prüfungsausschuss, sondern auch Berufungs-
auf, Liegestütze zu machen.« Als Markus mit kommissionen. Dort soll der beschuldigte Pro-
SPIEGEL-Korrespondent einer Mail zu seinen Zielen in Verzug geriet, fessor mindestens einer ihm nahestehenden
in Washington, zeigt, warum habe der Professor ihm eine WhatsApp-Nach- Person von außerhalb der Hochschule zu
Dogmatismus und Mob-Mentalität richt geschickt: »Schreib mal die Mail, sonst einem Lehrstuhl in Gelsenkirchen verholfen
die Meinungsfreiheit bedrohen – kommst du mit deinen Liegestützen nicht haben. Ein langjähriger Kollege des Professors
hinterher.« Bei Markus war die Aufforderung ist überzeugt: »Erst dieses System machte es
und er erklärt, was wir
des Professors, die Liegestütze oberkörperfrei dem Kollegen möglich, über Jahre hinweg Ab-
tun müssen, um die offene zu machen, der Wendepunkt. Danach brach hängigkeiten zu Studierenden zu schaffen,
Gesellschaft zu verteidigen. er die Verbindung fast gänzlich ab. Auf Ein- ohne größeren Widerstand zu erfahren.«
ladungen zu Treffen sei er nicht mehr einge- Luisa Bomke, Lukas Eberle, Armin Himmelrath n
gangen. Seine Bachelorarbeit hat er bis heute
nicht zu Ende geschrieben. Zu groß sei der Transparenzhinweis: Co-Autorin Luisa Bom-
innere Widerstand gewesen, erneut Kontakt ke war selbst Studentin an der Westfälischen
zu dem Professor aufzunehmen. Hochschule (WHS) in Gelsenkirchen. Der
Markus ist nicht der einzige ehemalige Stu- Sohn des Co-Autors Armin Himmelrath war
dent, der erst spät realisiert hat, »wie groß bis Ende 2022 Vorsitzender des AStA Köln.

38 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


www.dva.de
DEUTSCHLAND

Adam. »Hier zerbröseln Mauern,


Dachziegel fallen runter, eine Scheu-
ne ist komplett kollabiert.«
Rund 130 Menschen lebten früher
in Pödelwitz, heute sind es noch etwa

Träume an der Abbruchkante


30. Die meisten Ehemaligen nahmen
das Kaufangebot des Kohlekonzerns
Mibrag an und zogen schon vor Jah-
ren fort, seither stehen 80 Prozent
der Häuser leer. War es ein Fehler,
ORTSTERMIN  Der sächsische Ort Pödelwitz sollte einem Tagebau weichen, diese Leute einfach so ziehen zu las-
doch nun schmieden die letzten Einwohner ambitionierte Pläne: Ihre verfallende sen? Hausner schüttelt den Kopf.
»Jetzt lebt hier nur noch, wer wirklich
Heimat soll zu einer Art »Modelldorf« werden. an Pödelwitz glaubt.«
Knapp 30 Leute aus dem Umland
engagieren sich laut Adam, mehr als

F
ür schöne Ideen gibt’s in Pödel- 80 hätten Interesse an einem Umzug
witz reichlich Platz. Der alte ins Dorf bekundet. Die potenziellen
Gasthof und die ehemalige Neu-Pödelwitzer bemühen sich red-
Schule verfallen, der Bus kommt nur lich, wie Hausner erzählt: »Ein Stu-
ein paarmal am Tag und ist meistens dent hat eine Wärmebedarfsanalyse
leer, auf den Straßen ist kaum jemand fürs Dorf erstellt, andere konzipieren
unterwegs. Noch verlassener sieht es die Energieversorgung der Zukunft.«
am Ortsrand aus, hinter den Neubau- Die Frage ist, wo die Zuzügler
ten aus DDR-Zeiten: Ein riesiges Ta- eines Tages mal wohnen könnten. Ein
gebauloch klafft in der Landschaft, es paar hausen in Bauwägen und einer
erstreckt sich bis zum vier Kilometer Jurte, denn die leer stehenden Häuser
entfernten Neukieritzsch. gehören der Mibrag und sind unmiss-
Aber so ist das eben mit Utopien: verständlich beschildert: »Betreten
Wäre alles schon perfekt, müsste nie- und Befahren verboten!« Für Adam

Peter Endig / IMAGO


mand mehr vom Aufbruch träumen. ist der Verfall nicht einmal das größte
Und genau den soll es hier geben. Problem. Mehr noch sorgt sie die
Pödelwitz, rund 20 Kilometer südlich Aussicht, dass das Dorf zum Speku-
von Leipzig, soll Schauplatz eines lationsobjekt werden könnte, zum
ambitionierten Versuchs werden: Die naturnahen Schlafdorf für betuchte
Häuser sollten den Kohlebaggern Kontakt zu Medien und Unterstüt- Tagebau bei Großstädter. »Pödelwitz ist wunder-
weichen, aber dieser Plan scheiterte – zern, sitzt für die Grünen im Stadtrat, ­Pödelwitz schön, Leipzig nicht weit, und anstel-
auch am Widerstand jener Einwoh- lobbyiert bei Bürgermeistern und Ab- le des Tagebaulochs wird irgendwann
ner, die nun den Neuanfang wagen geordneten. Was er damit erreicht ein See direkt ans Dorf grenzen.«
wollen. Das Dorf, das so viele schon habe? »Zum Beispiel, dass die Geh- Die Mibrag hat bislang alle Kauf-
abgeschrieben hatten, soll zu einem wege auch vor den leeren Häusern angebote der Pödelwitzer für leer
Modell für eine ökologische und so- regelmäßig gekehrt, dass Hecken ge- stehende Häuser abgelehnt. Die An-
ziale Zukunft werden. schnitten und aufgerissene Straßen wohner denken trotzdem weiter über
Lioba Adam gehört zu denjenigen, wieder instand gesetzt werden.« ihre Vision vom Zukunftsdorf nach.
die daran glauben. Die 28-Jährige Hausner, wie die meisten Anwoh- Die Gebäude sollen vergesellschaftet
steht im sogenannten Projektgarten ner Mitglied im Verein »Pödelwitz werden, wenn die Mibrag sich irgend-
und schwärmt vom »Leben im Wider- hat Zukunft«, ist der Chefdiplomat wann umstimmen lässt. Adam träumt
stand«, von solidarischer Landwirt- des Dorfs. Er stammt aus der Gegend, von einer Einrichtung für betreutes
schaft, von der Natur in der Region. arbeitet seit den Achtzigern als Land- Wohnen, mit einem potenziellen Trä-
Klingt nach einer Mischung der Wahl- wirt. »Die haben meine Heimat weg- ger ist man schon im Gespräch. Dazu
programme von Linken und Grünen, gebaggert«, sagt er, »einen Teil mei- könnte noch ein »Lehmbau-Zen­
hat aber mit Parteipolitik angeblich ner Lebensgeschichte.« trum« entstehen, mit dessen Hilfe
nichts zu tun: »Niemand hier will »Die«, damit meint er die Kohle- Hausbesitzer ihre maroden Immobi-
Fronten aufmachen«, sagt Adam, industrie, die hier seit Jahrzehnten lien in Eigenregie wieder in Schuss
»jede und jeder ist willkommen.« fossile Energie produziert – auf Kosten bringen könnten. Landwirt Hausner
Anders kämen die Pödelwitzer im der Umwelt und zahlreicher Ortschaf- spricht davon, »die Transformation
ländlichen Sachsen wohl auch kaum ten. Droßdorf, Görnitz, Meuschen- zu schaffen, bevor ein Konzern oder
klar. Die Region lebt seit Jahrzehnten dorf, alle weg. Nur für Pödelwitz gab Politiker andere Fakten schafft«.
mit und von der Kohle: Im Rat der es – im Unterschied zu Lützerath in Ist das naiv? Womöglich. Aber in
Stadt Groitzsch, zu der Pödelwitz ge- Nordrhein-Westfalen – nie eine Ge- »Hier lebt nur Pödelwitz ist schon jetzt gelungen,
hört, kommen CDU, FDP und AfD nehmigung zum Wegbaggern. Mit der woran Aktivistinnen und Aktivisten
gemeinsam auf eine satte Dreiviertel- hatten aber alle gerechnet – bis klar noch, wer in Lützerath gescheitert sind: Das
mehrheit. Nicht gerade perfekte Be- wurde, dass die Kohle wohl gar nicht wirklich an Dorf im Rheinland wird weggebag-
dingungen für ein linkes Ökoprojekt.
Einerseits.
mehr gebraucht wird. Das Dorf konn-
te bleiben, wirklich gerettet ist es aber
Pödelwitz gert, auch mit dem Segen der mitre-
gierenden Grünen. Im konservativen
Andererseits gibt es hier auch Leu- nicht: »Diese historischen Gebäude glaubt.« Sachsen aber hat ein kleiner Ort über-
te wie Jens Hausner, 57, Sachse, Land- kann man nicht einfach Winter für Jens Hausner, lebt. Das ist schon mal eine Leistung.
wirt, Pragmatiker. Er hält seit Jahren Winter verrotten lassen«, sagt Lioba Landwirt Peter Maxwill  n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

»Ich kriege keine Minute zurück«


STRAFJUSTIZ  Manfred Genditzki wurde wegen Mordes verurteilt und saß
mehr als 13 Jahre lang im Gefängnis – wahrscheinlich unschuldig. Ein Gericht ordnete
seine Freilassung und einen dritten Prozess an, der nun beginnt. Begegnung mit
einem Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Von Julia Jüttner und Gudrun Altrogge

S
ein Leben hinter Gittern endet Katze gesehen, nur einmal einen Er rollt mit den Augen. Die Digitali-
mit Applaus. Es ist der 12. Au- ­Drogenhund im Zellentrakt. In der Der Fall sierung an jeder Ecke. Er beobachtet,
gust 2022. Manfred Genditzki
steht in der Gefängniswäscherei. Er
Hand hält er sein Handy, das ihm vor
13 Jahren abgenommen wurde. Ein
Genditzki wie sich Leute verabreden und dann
doch nur aufs Handy schauen. »Das
packt Hotelbettwäsche und Unifor- klotziges Ding, aus der Zeit gefallen. 1996  ist doch keine Unterhaltung.« Er
men in die drei 120-Kilo-Maschinen, Acht Monate später sitzt Manfred Manfred Genditzki schüttelt den Kopf. Der Einkauf im
macht seinen
als er ans Telefon gerufen wird. Das Genditzki mit seiner Frau in der Kü- Nebenjob als
Supermarkt. Er holt tief Luft, sucht
habe sie in 20 Jahren nicht erlebt, sagt che. Er ist 62 Jahre alt, Vater von drei Hausmeister in nach Worten. Er liebe Joghurts. Aber
eine Frau aus der Verwaltung, sie Kindern, zweifacher Großvater. Ein einer Wohnanlage die vielen verschiedenen Geschmacks-
habe eine »freudige Nachricht«: Man- höflicher, zugewandter Mann. Noch in Rottach-Egern richtungen im Regal, vegan, laktose-
am Tegernsee zu
fred Genditzki könne nach Hause immer tastet er sich vorsichtig zurück seinem Hauptberuf.
frei, ohne Gluten, das überfordere
gehen, er sei ein freier Mann. Vorerst. in sein altes Leben. ihn. »Da kauf ich gar keinen.«
Als Manfred Genditzki die Wäscherei Manfred Genditzki wurde zu einer Seine Frau Marija erinnert sich an
23. Oktober 2008 
verlässt, klatschen die anderen Häft- lebenslangen Freiheitsstrafe ver- Lieselotte Kortüm Ricks Anruf im vergangenen August.
linge. urteilt: Das Gericht hielt ihn für schul- kommt ins »Es war wie eine Explosion«, sagt die
Manfred Genditzki atmet durch. dig, im Jahr 2008 Lieselotte Kortüm Krankenhaus. Frau, die aus der Ukraine stammt.
Jetzt soll alles so schnell gehen? Nach nach einem Streit in deren Badewan- 17 Jahre lang sind sie verheiratet, nur
mehr als 13 Jahren Knast? Er stürmt ne ertränkt zu haben. Die 87 Jahre 28. Oktober 2008  4 davon verbrachten sie gemeinsam.
nicht in seine Zelle. Wenn man so lan- alte Frau lebte in einer Wohnanlage Eine Mitarbeiterin Sie war bei der Arbeit, verständigte
ge eingesessen habe, schocke einen im oberbayrischen Rottach-Egern am des Pflegedienstes ihre Mutter, die seit Kriegsbeginn bei
findet die Rentnerin
nichts, sagt Manfred Genditzki rück- Südufer des Tegernsees, in der Gen- leblos in der ihr lebt, diese rief den Kindern zu:
blickend. Er duscht, trinkt einen letz- ditzki als Hausmeister arbeitete. Badewanne. »Räumt eure Zimmer auf, Papa
ten Kaffee, packt seine Sachen, so Neue Gutachten entlasten ihn nun. kommt!«
erzählt er es. Dann geht er durch den Die Richter sehen keinen dringenden 29. Oktober 2008  Marija Genditzki war seit der Ver-
Trakt, verabschiedet sich bei allen, Tatverdacht mehr, ordneten ein Wie- Die Leiche wird haftung ihres Mannes von einem Tag
obduziert.
mit denen er in den letzten Jahren deraufnahmeverfahren an. Am 26. auf den anderen auf sich allein ge-
sein Leben geteilt hat: Menschen, die April beginnt am Landgericht Mün- 30. Oktober 2008 
stellt, mit einem kleinen Sohn,
seine Ersatzfamilie waren; mit denen chen I der dritte Prozess gegen Man- Die Leiche wird schwanger mit dem zweiten Kind.
er Weihnachten feierte und seinen fred Genditzki. Zum dritten Mal ist eingeäschert. Konfrontiert mit einem Alltag, den
Geburtstag; mit denen er seine Sor- er angeklagt wegen Mordes an der hauptsächlich ihr Mann gestemmt
gen teilte und seine Hoffnung auf Rentnerin: das erste Mal 2010, was 17. November 2008 hatte. Behördengänge, Bankgeschäf-
Freiheit. Werden sie sich wieder­ zur Verurteilung führte, aber wegen Tatortbesichtigung te. Sie ließ sich nicht unterkriegen,
des Rechtsmedizi-
sehen? erfolgreicher Revision 2012 ein zwei- ners ging arbeiten, sicherte die Existenz
Gegen 12 Uhr geht er durch das tes Mal verhandelt wurde und wieder der Familie. »Gelebt haben wir
Tor des Gefängnisses Landsberg am zur Verurteilung führte. Und nun zum 24. November
nicht«, sagt sie. Dafür fehlte das Geld.
Lech. Auf der Straße wartet seine Ver- dritten Mal, weil seine Anwältin ein 2008  Manfred Manfred Genditzki muss sich an
teidigerin Regina Rick. »Ich werde Wiederaufnahmeverfahren erkämpft Genditzki gilt als die Nähe gewöhnen, seine Kinder im
nicht weinen«, sagt er. »Ich auch hat – an dessen Ende der offizielle Beschuldigter. Teenageralter kennenlernen. 13 Jah-
nicht«, sagt sie, so erinnern sich bei- Freispruch stehen könnte. re Haft haben Spuren hinterlassen.
de. Im Auto ruft die Anwältin seine Er sagt, er gehe ohne Erwartung 26. Februar 2009  Selten hat er schlechte Tage, aber die
Frau Marija an, hält Genditzki ihr in die Hauptverhandlung, ohne Manfred Genditzki haben es in sich. Dann will er nicht
wird verhaftet.
Handy hin. »Na du«, sagt Manfred Angst, aber mit einem guten Gefühl. reden, nur für sich sein und eine Ant-
Genditzki, »ich hab Hunger.« »Wenn Sie ganz unten waren, werden wort finden auf die Frage: Wie konn-
Regina Rick fährt ihn an den Te- Sie gelassener.« 25. November te man mich verurteilen?
2009 
gernsee. Hier ist sein Zuhause, hier Was den Alltag angeht, fehlt ihm Erster Prozess Seine Frau versucht es mit Humor.
lebt seine Familie, hier endete sein noch die Gelassenheit. Wer ihn nicht beginnt. Sie nennt ihn manchmal »Herrn
bisheriges Leben im Jahr 2008 ab- kennt, ahnt nur, wie er mit dem Leben Schmidt«, weil er »sehr deutsch, sehr
rupt. Als er im August 2022 zurück- in Freiheit fremdelt. Die vielen Men- 12. Mai 2010   korrekt« sei. In dieser Hinsicht habe
kehrt, fliegt die Landschaft wie an- schen, die vielen Autos, die moderne Manfred Genditzki er sich im Gefängnis nicht verändert.
einandergereihte Postkarten an ihm Technik. Wie lange es dauerte, bis er wird wegen Mordes Er kann darüber lachen. Die Arbeit
vorbei. Felder, Bäume, Wirtshäuser. eine Steuer-Identifikationsnummer verurteilt. hilft ihm bei der Suche nach seinem
Jahrelang hat er keine Vögel, keine hatte, um endlich arbeiten zu können. Platz in Freiheit: Er bricht morgens

40 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

um 5.15 Uhr auf, belädt in der Naturkäserei den. Die frühere Inhaberin eines Schuhge- sche. Er blieb beim »Sie«, begegnete ihnen
seinen Lieferwagen und fährt im Raum Mün- schäfts lebte nach dem Tod ihres Mannes mit Respekt, sie dankten es ihm mit großzü-
chen Käse aus. Den Vollzeitjob hat ihm ein ­allein in einer Dreizimmerwohnung im ersten gigem Trinkgeld und nahmen teil an seinem
früherer Chef vermittelt, der ihm ins Gefäng- Stock der Wohnanlage. Eine willensstarke, Leben.
nis ausrichten ließ, Genditzki könne sich je- herzliche Frau, geistig fit, körperlich einge- Marija Genditzki erzählt von der Spiel-
derzeit bei ihm melden. schränkt, vermögend. ecke, die Frau Kortüm für Genditzkis Sohn
20 Verhandlungstage sind für den neuen Die Staatsanwaltschaft vermutete ein Ge- eingerichtet hatte. Sie habe den Jungen wie
Prozess anberaumt. Das Hauptverfahren be- waltverbrechen und nahm Manfred Genditz- ein Enkelkind verwöhnt. Ihr Mann hatte den
ginne wieder bei »null«, sagt der Sprecher ki ins Visier: Seit Jahren betreute er die alte Schlüssel für ihr Bankschließfach und durfte
des Oberlandesgerichts München Laurent Dame. Er sagt, er habe ihrem Ehemann »in für sie Geld abheben. Es klingt nach mehr als
Lafleur. Die Kammer werde eine »umfang- die Hand« versprochen, sich um die Witwe Nachbarschaft, nach Nähe, Vertrauen, Ver-
reiche Beweisaufnahme« durchführen, zahl- zu kümmern. Und so leistete er ihr Gesell- lässlichkeit. Am Ende war es aber genau das,
reiche Zeugen und Sachverständige hören, schaft, machte Erledigungen für sie, entsorg- was Manfred Genditzki verdächtig machte.
»darunter die damaligen ermittelnden Polizei- te ihren Müll, fuhr sie zum Arzt und zum »Ich würde es immer wieder so machen«, sagt
beamten«. Wiederaufnahmeanträge werden Friseur. Der Job lag ihm, er stand immer pa- er. »Das war mein Job. Ich hätte ihn gern über
in Deutschland auffallend selten gestellt und rat, auch nachts und am Wochenende. Wenn meine Rente hinaus gemacht.«
stoßen laut Experten auf »eine ausgesprochen Heizungen ausfielen, Fensterläden klemmten. Am 23. Oktober 2008 meldete sich Frau
restriktive Rechtsprechung«. In seinem Vertrag stand, er habe sich »um die Kortüm bei ihm in den frühen Morgenstun-
Zum dritten Mal soll dieser Fall also be- Belange der Bewohner« zu kümmern. Man- den, klagte über heftigen Durchfall, Manfred
leuchtet werden: Am Abend des 28. Oktober fred Genditzki, »Herr Schmidt«, nahm das Genditzki verständigte den Hausarzt. Die
2008 wurde Lieselotte Kortüm tot in ihrer ernst. Er kannte die mehr als 40 Mieterinnen 87-Jährige kam ins Krankenhaus. Fünf Tage
mit Wasser gefüllten Badewanne aufgefun- und Eigentümer, ihre Eigenheiten, ihre Wün- später holte Manfred Genditzki sie dort ab,
kochte ihr nach seiner Aussage in ihrer Woh-
nung Kaffee, rechnete Einkäufe ab und ver-
abschiedete sich. Aus dem Auto rief er den
Pflegedienst an, Frau Kortüm sei wieder zu
Hause. Am selben Abend fand eine Pflegerin
die alte Dame tot in ihrer Badewanne, be-
kleidet.
Die Leiche wurde obduziert, der Münch-
ner Rechtsmediziner Wolfgang Keil stellte
Tod durch Ertrinken fest, mutmaßlich durch
einen Sturz in die Badewanne, die Leiche
wurde eingeäschert. Am 17. November 2008
änderte Keil seine Meinung: Bei einer Tatort-
besichtigung kam er zu dem Ergebnis, ein
Sturz sei mit den Blutergüssen unter Frau
Kortüms Kopfhaut und der Endlage ihrer Lei-
che nicht in Einklang zu bringen.
Ab dem 24. November galt Genditzki als
Beschuldigter. Die Ermittler suchten Beweise,
Indizien, um ihm die Tat nachzuweisen. Be-
sonders eine Beamtin tat sich hervor, befrag-
te emsig Nachbarn und Weggefährten. Als
Genditzki im Februar 2009 aus dem Urlaub
kam, passten ihn Beamte ab und brachten ihn
zur Vernehmung aufs Revier in der Münchner
Ettstraße. Er hatte keinen Anwalt dabei, aber
heftige Zahnschmerzen. Nach elf Stunden
Verhör sei er am Ende gewesen, sagt er. Re-
gina Rick, seine Rechtsanwältin, sagt: »Er hat
einen entscheidenden Fehler gemacht: Er hat
mit der Polizei geredet.«
Ja, sagt Genditzki in der Küche. »Ich habe
der Polizei vertraut.« Er dachte an die Filme,
die er gesehen hatte und glaubte: DNA-, Fin-
ger- und Tatortspuren würden belegen, dass
er nichts mit Frau Kortüms Tod zu tun hat.
Es kam anders. Im ersten Prozess wurde
Manfred Genditzki angeklagt, er habe die
Rentnerin bewusstlos geschlagen und an-
Bernhard Huber / DER SPIEGEL

schließend ertränkt, weil er aus ihrer Geld-


kassette 8000 Euro entwendet habe und sie
ihm auf die Schliche gekommen sei.
Doch das Motiv der Habgier konnte in der
Hauptverhandlung ausgeräumt werden, da
konstruierte der Staatsanwalt in seinem Plä-
Freigelassener Genditzki, Tochter Nikita, Frau Marija: »Ich werde nicht weinen« doyer ein neues Motiv: Die alte Dame sei

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

auf das Gutachten des Rechtsmedizi­ 12. Januar 2011  suchung des Landgerichts, bei der
ners Keil, der ausschloss, dass die Hä­ Der Bundes­ Sachverständige angehört werden.
gerichtshof hebt
matome an der Kopfschwarte durch das Urteil aus Rick ist auf ein neuartiges Verfahren
einen Sturz in die Badewanne ent­ verfahrensrecht­ gestoßen, mit dem sie die Richter
standen sein könnten. lichen Gründen auf. überzeugen kann: Eine von dem
Anhand eines Badewannen­ Stuttgarter Professor Syn Schmitt
modells hatte er den Richtern er­ November 2011  durchgeführte Computersimulation
läutert, dass es, ausgehend von der Zweiter Prozess beweist, dass sowohl die Lage der
Lage der Leiche, höchst unwahr­ beginnt. Leiche in der Badewanne als auch die
scheinlich sei, dass Frau Kortüm in­ Hämatome durch einen Sturz in die
folge eines plötzlichen Schwindel- 17. Januar 2012  Badewanne zu erklären sind.
Manfred Genditzki
oder Ohnmachtsanfalls in die Bade­ wird erneut wegen Darüber hinaus kann durch ein
Julian Baumann
wanne gestürzt und in die Position Mordes verurteilt. thermodynamisches Gutachten über
gelangt sein könnte, in der sie auf­ die Temperatur des Wassers in der
gefunden wurde. September 2012 Badewanne und der Leiche der To­
Angeklagter Genditzki 2011
Anwalt Widmaier beantragte er­ Der Bundesge­ deszeitpunkt eingegrenzt werden:
neut Revision, die der Bundesge­ richtshof lehnt die Demnach lag Frau Kortüm keines­
richtshof mit vier Sätzen als »unbe­ Revision ab. Rechts­ wegs wie von der Staatsanwaltschaft
anwältin Regina
gründet« ablehnte. Manfred Genditz­ Rick steigt in das angenommen sechs, sondern maxi­
ki saß seine Strafe ab, die Münchner Verfahren ein. mal fünf Stunden lang im warmen
Strafverteidigerin Regina Rick stieg Wasser. Manfred Genditzki kommt
in das Verfahren ein, durchforstete 11. Juni 2019 damit als Täter nicht mehr in Frage,
die Akten nach neuen Tatsachen und Rick reicht Antrag zu dieser Tatzeit hat er ein Alibi.
Beweismitteln für ein Wiederaufnah­ auf Zulassung Diese Gutachten könnten ihm
meverfahren. Ein mühseliges, fast der Wiederaufnah­ nun im dritten Prozess den Weg
me ein.
aussichtsloses Unterfangen. zum Freispruch ebnen. Sie kosteten
Bernhard Huber / DER SPIEGEL

Am Gehstock der Frau Kortüm, an ein Vermögen. Rick hat sie von
Dezember 2020  
den Armaturen in der Wanne, im kom­ Landgericht
­Spenden bezahlt, darunter seien
pletten Badezimmer – keine einzige München I lehnt Schüler gewesen, die ihr Taschengeld
DNA-Spur von Manfred Genditzki. Ricks Antrag ab. gegeben hätten, sagt sie. Genditzkis
Es musste ein Unfall gewesen sein, Familie verschuldete sich, seine Toch­
aber wie sollte man das be­weisen? September 2021   ter aus erster Ehe nahm Kredite
Rick recherchierte und entdeckte Oberlandesgericht auf. Den Schmuck, den er seiner
Rechtsanwältin Rick München erklärt
außergewöhnliche Vorgehensweisen, Frau vor ­seiner Inhaftierung schenk­
Ricks Antrag für
eifersüchtig gewesen, weil sich der die einen Unfallhergang erklären. Zu­ zulässig. te, die ­Erinnerungsstücke aus der
Hausmeister verabschiedet habe, um dem meldete sich eine frühere Freundin ­Ukraine, die sie für ihn kaufte – alles
seine kranke Mutter zu besuchen. von Frau Kortüm bei der Anwältin. Sie gepfändet.
Mai 2022  
Deshalb habe es Streit gegeben. Das hatte im Internet von dem Fall gelesen. Probationsverfahren Und selbst, wenn er jetzt frei ist,
Landgericht München II übernahm Sie war mehrfach mit der alten Dame das Schlimmste bleibt: »Ich kriege
diese Version und verurteilte Gen­ verreist und bestätigte, dass Frau Kor­ 12. August 2022  
keine Minute zurück«, sagt Manfred
ditzki im Mai 2010 wegen Mordes an tüm die Gewohnheit pflegte, ihre Leib­ Haftentlassung Genditzki. In den ersten drei Jahren
Liese­lotte Kortüm zu einer lebens­ wäsche von Hand auszuwaschen, be­ ohne Auflagen in Haft starb seine Mutter, sein drittes
langen Freiheitsstrafe. vor sie sie in die Waschmaschine tat. Kind wurde geboren. Er war nicht bei
Der angesehene, inzwischen ver­ Im Juni 2019 reichte Rick den An­ 26. April 2023   der Beerdigung, er war nicht im
storbene Revisionsanwalt Gunter trag auf Zulassung der Wiederaufnah­ Beginn des dritten Kreißsaal. Seine jüngste Tochter lern­
Widmaier sah in dem kurzfristig aus­ me ein. Das Landgericht München I Prozesses te er erst neun Wochen nach der Ge­
getauschten angeblichen Motiv einen lehnte ihn im Dezember 2020 ab. burt bei einem Besuch im Gefängnis
gravierenden Rechtsfehler. Der Bun­ Rick blieb hartnäckig, sie legte beim kennen. »Ich hätte sie gern einmal
desgerichtshof gab ihm recht, hob das Oberlandesgericht München Be­ gewickelt.«
Urteil 2011 auf und verwies den Fall schwerde ein. Dort gaben ihr die Sein Sohn ist 17. Er habe besonders
zur erneuten Verhandlung ans Land­ Richter im September 2021 recht: Das unter der Inhaftierung gelitten, sagt
gericht München II. Landgericht München I musste die der Vater. Seine erwachsene Tochter
Im zweiten Prozess untermauerte neuen Beweismittel überprüfen. bekam zwei Kinder, auch ihre Geburt
Rechtsanwalt Widmaier die Version Im Mai 2022 kommt es zum Pro­ ging an ihm vorbei. Manfred Genditz­
eines Unfalls: Frau Kortüm, die nach­ bationsverfahren, einer Art Vorunter­ ki sagt es feststellend, nicht selbst­
weislich an Ohnmachtsanfällen, aus­ mitleidig.
gelöst durch Durchblutungsstörun­ Die Jahre im Gefängnis waren
gen, litt, habe verschmutzte Unter­ Über die Recherche hart. »Als Nichtgeständiger kriegen
wäsche einweichen wollen. Sie habe Der SPIEGEL begleitet den Fall Genditzki seit vielen Jahren. Sie da gar nichts.« Wer sich in Bayern
sich über die Wanne gebeugt, das Die ehemalige Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen »nicht einsichtig« zeigt, hat wenig
Bewusstsein verloren, sei in die halb hatte bereits 2011 Zweifel an dessen Schuld. SPIEGEL-TV- Hoffnung auf vorzeitige Entlassung
mit Wasser gefüllte Wanne gekippt – Redakteurin Gudrun Altrogge drehte sechs Filme zu dem und auch ansonsten wenig Freude
und ertrunken. möglichen Justizskandal. Reporterin Julia Jüttner lernte vor hinter Gittern. Kein Geständnis, kei­
Das Gericht war davon nicht über­ 14 Jahren durch einen anderen spektakulären Kriminalfall ne Vergünstigungen, kein Zutritt zum
zeugt und verurteilte Manfred Gen­ Regina Rick, die heutige Anwältin von Manfred Genditzki, Sportplatz, keine extra Besuchszei­
ditzki im Januar 2012 erneut zu einer kennen – und ihre Hartnäckigkeit. Rick finanzierte die kost­ ten. Eine Gewalttherapie habe man
lebenslangen Freiheitsstrafe: Die spieligen Gutachten mit Spenden, ohne die es wohl nicht ihm angeboten, sagt Genditzki. Er
Kammer stützte sich dabei wesentlich zum Wiederaufnahmeverfahren gekommen wäre. lehnte ab. »Ich war nie gewalttätig in

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DEUTSCHLAND

meinem Leben. Wozu soll ich da eine Thera-


pie machen?«
Er hält sich noch immer eisern an die Ma-
xime seines Vaters: Steh zu dem, was du tust;
aber wenn du nichts getan hast, kämpfe. »Ich
habe nie aufgegeben«, sagt Manfred Genditz-
ki. Bestärkt haben ihn der Beistand seiner
­Familie, die vielen Briefe von Fremden, die
Spenden von Unterstützern. Im Gefängnis
arbeitete er sich hoch, verdiente am Ende in
der Wäscherei 1,99 Euro pro Stunde, konnte
davon seine 16.000 Euro Restschulden nach
der Privatinsolvenz abzahlen, die durch die
Verhaftung entstanden waren.
Die Arbeit half ihm im Knast und tut es
auch in Freiheit: Sie verdrängt die Wut und
hält die Hoffnung aufrecht.
Regina Rick, seine Verteidigerin, rechnet
mit einem Freispruch. Aber warum überhaupt
ein weiterer Prozess? Die Staatsanwaltschaft
München I sei in diesem Fall in der besonde-
ren Situation, eine Anklage aus dem Jahr
2009 zu vertreten, obwohl sie damals weder
die Ermittlungen geführt noch die Anklage-
schrift gefertigt habe, so Pressesprecherin
Anne Leiding auf Anfrage. Die Anklage war
vor 14 Jahren durch die Staatsanwaltschaft
München II erhoben worden.
Anwältin Rick spricht von Korpsgeist und
einer politischen Entscheidung. »Wir sind hier
in Bayern.« Sie hat überwiegend pro bono
gekämpft, ohne Honorar. Nach Genditzkis
Freilassung, sagt sie, sei auch sie »richtig er-
schöpft« gewesen.
Dass es von ihrem Antrag auf Zulassung
zur Wiederaufnahme bis zu einem neuen
Prozess vier Jahre dauerte, empört sie. Auch
weil die frühere Freundin von Frau Kortüm,
die deren Wäscheritual bezeugen könnte,
inzwischen verstorben ist und nicht im Pro-
zess erscheinen kann. Aber immerhin soll
die überengagierte Ermittlerin, die mit gro-
ßem Eifer Genditzki jagte, befragt werden.
»Darauf bin ich schon sehr gespannt«, sagt
Rick. Auch Rechtsmediziner Keil könnte
als Zeuge geladen werden, sagte er dem
SPIEGEL , weshalb er sich vorab nicht äußern
wolle.
Über eine Entschädigung nachzudenken,
traut sich Manfred Genditzki noch nicht. Im
Fall eines Freispruchs stehen ihm 75 Euro für
jeden Tag im Gefängnis zu. Im Moment gebe
er nur das Geld aus, was er im Portemonnaie
habe, mehr nicht. Er denkt an die Jahre, die
ihm noch bleiben. 13 Jahre lang bekam er kein
festes Gehalt, konnte nichts auf die Seite le-
gen, nichts in die Rentenkasse einzahlen.
Für den Prozess will er Überstunden ab-
bauen oder Urlaub nehmen. Er will sich nicht
verstecken, sondern aufrecht ins Gericht ge-
hen. So aufrecht, wie er an seinem letzten Tag
im Gefängnis die Wäscherei verließ. Der Ap-
plaus der anderen Häftlinge hielt an, als er
längst das Gebäude verlassen hatte. Er kann
ihn noch heute hören.  n

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Montag, 24. April, 23.25 Uhr, bei RTL.

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

wie viele Kinder die Einrichtungen besuchten,


fehlen. Schätzungen reichen von 100.000 bis
200.000 Betroffenen zwischen den frühen
Fünfzigerjahren bis zum Ende der DDR. Wo-

Fremde Eltern
chenkrippen waren nicht die Regel in der DDR,
sondern die Ausnahme, aber eine eher unrühm-
liche. Auch im Westen gab es ähnliche Einrich-
tungen, allerdings nahm die Anzahl bis zum
Ende der Sechzigerjahre bereits rapide ab –
ERZIEHUNG  Tausende Kinder in der DDR wurden in der Wochenkrippe während in der DDR die letzten Wochenkrip-
pen erst zur Wendezeit geschlossen wurden.
betreut, ab einem Alter von sechs Wochen. Viele leiden bis heute unter »Ich betreue dein Kind, wie ich mein eige-
den psychischen Spätfolgen – und arbeiten die Vergangenheit jetzt auf. nes betreuen würde«, lautete ein Werbeslo-
gan, der jungen Müttern wohl den Abschied
leichter machen sollte. Bis heute liegt vieles

D
ie Narbe ist Sigrid Kluskas einzige Er- Krippenkinder nach Hause zu ihren Familien, von dem, was in den Wochenkrippen der
innerung. Kluska, akkurater Haar- wo sie sich meist als unerwünschte Sonder- DDR geschah, im Dunkeln.
schnitt, dunkel gerahmte Brille, streicht linge empfanden, so berichten sie es hier. Doch Aufzeichnungen und Dokumente
sanft über ihren linken Unterarm, der von Ute Schuster erinnert sich noch an die über den Alltag in den Krippen belegen, dass
hellen Flecken überzogen ist. Die 60-Jährige ­starren Schienen, mit denen sie nachts an ihr Praxis und Propaganda oft weit auseinander-
trägt eine Bluse mit kurzen Ärmeln, als woll- Gitterbett fixiert wurde, an das flackernde lagen. Wissenschaftler, die die Gesundheit der
te sie den Beweis für das Leid, das ihr angetan Neonlicht, das über ihrer Schlafstätte hing. Krippenkinder überwachten, beschrieben
wurde, nicht verstecken. »Bis heute muss ich den Raum verlassen, frühe Verhaltensauffälligkeiten. Die Babys
Mit sieben Monaten erlitt Kluska in einer wenn irgendwo ein Licht flackert«, sagt die lutschten exzessiv am Daumen oder saßen
Wochenkrippe in der DDR Verbrennungen, 55-Jährige, die nicht mit ihrem echten Namen apathisch in der Ecke. Ihre sprachliche und
so erzählt sie es an einem grauen Samstag in genannt werden will. psychomotorische Entwicklung war verzö-
einem Selbsthilfetreff im Berliner Westen. Gabriele Godenir berichtet mit zitternder gert. Sie waren häufiger krank als Gleich­
Hier trifft sich Kluska mit anderen ehemaligen Stimme, wie die Ehe mit ihrem Mann zer- altrige, die nicht die Wochenkrippe besuch-
Wochenkrippenkindern. Es ist das erste Mal, brach, weil sie es nicht schaffte, eine echte ten, und sie hatten ein höheres Sterberisiko.
dass sie öffentlich von ihrem Schicksal erzäh- Bindung mit ihm einzugehen. Niemand d ­ ürfe Heike Liebsch ist eine der wenigen Wissen-
len. Alle im Raum eint eine Vergangenheit, ihr wirklich nahekommen. »Ich habe Todes- schaftlerinnen, die zu den Wochenkrippen
an die sie sich höchstens in Ausschnitten er- angst, mich zu verlieben«, sagt die 53-Jährige, forscht. Liebsch, 59, selbst Wochenkrippen-
innern können. Und die ihr Leben doch, so bevor sie in Tränen ausbricht. kind, will mit ihrer Arbeit auch die eigene
sind sie alle überzeugt, bis heute prägt. Sigrid Kluska hat nicht nur eine Narbe am Geschichte aufarbeiten. Vor einigen Jahren
Alle neun, die heute hergekommen sind, Arm davongetragen, sondern auch Narben erkrankte die Sozialwissenschaftlerin an einer
stammen aus der ehemaligen DDR, sie waren auf ihrer Seele. »Ich wusste immer, dass ich Depression – und wollte ergründen, welche
gerade einmal wenige Wochen auf der Welt, in der Wochenkrippe war. Ich habe aber erst Rolle ihre Kindheit dabei spielte.
als ihre Eltern sie als Säuglinge von Montag sehr spät erkannt, was das mit mir gemacht Sie hat seither Akten aus dem Bundes-
bis Freitag oder Samstag abgaben. Sie lebten hat«, sagt sie. archiv und der Stadt Dresden studiert, zu-
in Gruppen mit anderen Kindern in der Wo- Das System der Wochenkrippe war auf sätzlich mehr als 60 Interviews mit ehemali-
chenkrippe, die Erzieherinnen wechselten Funktionalität getrimmt: Damit Mütter schon gen Wochenkindern, Ärzten, Eltern und Er-
sich im Schichtsystem ab. Rund 400 Kinder- ab der sechsten Woche nach der Geburt wieder zieherinnen geführt. Ihre Erkenntnis: Die
wocheneinrichtungen gab es wohl im gesam- in Vollzeit arbeiten konnten, nahm der Staat psychischen Folgen für die betreuten Säug-
ten Gebiet der DDR, genaue Zahlen dazu gibt ihnen ihre Babys ab, tags wie nachts, bis zu linge seien dramatisch gewesen. »Wenn Kin-
es nicht. Nur am Wochenende kamen die einem Alter von drei Jahren. Offizielle Zahlen, der nur versorgt werden, dann sind sie zwar
satt und können schlafen. Aber die fehlende
Zuwendung führt dazu, dass das Bindungs-
bedürfnis unerfüllt bleibt«, sagt Liebsch.
Besonders schockierte die Wissenschaftle-
rin: In einer Krippe mit rund 90 Säuglingen
und Kleinkindern war laut den Akten aus dem
Dresdner Archiv über Nacht genau eine Be-
treuungsperson anwesend – der Hausmeister.
Aufgrund von Personalmangel war es laut
Liebsch bis zum Ende der Sechzigerjahre ver-
breitete Praxis, dass Kinder nachts in ihrem
Bett fixiert wurden. So konnten die Kleinen
nicht herausklettern.
Liebsch will erreichen, dass über die Wo-
chenkrippen gesprochen und aufgeklärt wird.
Sie besucht Symposien, etwa eines in Rostock
in diesem April. Dabei stellt sie Erkenntnisse
ihrer Forschung vor und will Betroffenen die
Möglichkeit geben, sich mit dem eigenen
Schicksal auseinanderzusetzen.
BVG-Archiv

In Berlin schaut Sigrid Kluska hinaus auf


den feinen Nieselregen, der vor dem Fenster
Kinderwochenheim in Ost-Berlin 1953: Vieles von dem, was geschah, liegt im Dunkeln auf den betonierten Innenhof fällt. Nachdem

44 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


DEUTSCHLAND

sie 2017 einen Burn-out erlitten habe, sei Wut Die meisten Eltern der Wochenkrippen-
in ihr aufgestiegen, erzählt sie. Wut auf die kinder scheuen ein Gespräch über die Zeit,
eigene Mutter. »›Es ging dir doch gut‹«, sage in der sie ihre Kinder wochenweise Erziehe-
die ihr immer. »Aber nichts war gut. Wir wa- rinnen anvertrauten. Auch Falke ist dazu nur
ren ausgeliefert.« Wenn Kluska sich aufregt, bereit, wenn die wirklichen Namen von ihr
wird ihr Berliner Dialekt breiter, so wie jetzt. und ihrer Tochter nicht genannt werden.
»Ich bin nicht an sie rangekommen.« Falkes Zweizimmerwohnung liegt in einer
Gabriele Godenir, die neben Kluska sitzt, ruhigen Wohnsiedlung in Dresden, bis zur ehe-
nickt. Vor zwei Wochen erst habe sie versucht, maligen Krippe ihrer Tochter ist es nicht weit.
mit ihrer Mutter über die Zeit in der Wochen- Falke geht den Weg zu Fuß, auch als es bergauf
krippe zu sprechen. »Gib endlich Ruhe«, sei geht, wird die 67-Jährige nicht langsamer.
die Antwort gewesen. Es tue ihr gut, mit Schließlich steht sie schnaufend vor dem einst
­anderen Betroffenen über diese Erlebnisse zu herrschaftlichen Gebäude, das einen neuen An-
sprechen. Auch deshalb gehe sie zu den Tref- strich vertragen könnte. »Hat sich nicht viel ver-
fen einer Selbsthilfegruppe. Inzwischen haben ändert, nur besser in Schuss war alles«, sagt sie.
sich ehemalige Wochenkrippenkinder nicht Vor einer Tür aus dunklem Eichenholz

Hanna Lenz / DER SPIEGEL


nur in Berlin zusammengeschlossen, sondern bleibt Falke stehen. »Hier habe ich sie ab­
auch in Leipzig, Dresden und Städten in gegeben.« Was war das für ein Gefühl, als sie
Mecklenburg-Vorpommern. Annika das erste Mal herbrachte? »Och, das
Die Schuldfrage beschäftigt viele hier im weiß ich gar nicht mehr«, sagt Falke. Geweint
Raum. Einige sind überzeugt, der Staat habe habe ihre Tochter nie. Fiel den beiden der
ihre Eltern in die missliche Lage gezwungen, Abschied auch mal schwer? »Es war halt so«,
aus der heraus sie die schwere Entscheidung diesen Satz sagt Falke oft. Ihre Emotionen
trafen. Die Funktionäre in der DDR lobten wirken wie begraben, vielleicht verdeckt von
das System der Wochenkrippen als maßgeb- den Jahrzehnten, die seither vergangen sind.
liches Instrument zur Emanzipation der Frau. Nur, wenn Falke lange überlegt, kommen zag-
Die Krippe als Mittel zur Selbstverwirk­ hafte Erinnerungen zum Vorschein. Nachdem
lichung – wer konnte das schon ausschlagen? sie Annika an die Erzieherinnen überreicht
Zudem galt als »asozial«, wer nicht fristge- habe, sei diese als Erstes gewickelt und um-
recht die Arbeit wiederaufnahm, und musste gezogen worden, sagt sie etwa.
gar eine Gefängnisstrafe fürchten. Mit ihrer Tochter habe sie bis heute ein
Ute Schuster schüttelt den Kopf, sie ist an- gutes Verhältnis, sagt Falke. Die freie Zeit
derer Meinung. »Dieser Staat ist von Men- habe sie genutzt, um ihren Haushalt zu erle-
schen gemacht worden, zu denen meine El- digen. Am Wochenende habe sie dann Zeit
tern gehörten. Sie hätten eine Wahl gehabt.« für ihre Tochter gehabt. »Mehr als andere
Die Wahrheit sei wie immer komplizierter. Mütter, die ihre Kinder immer bei sich hat-
Lena Giovanazzi / DER SPIEGEL

Die Bindungsforscherin Lieselotte Ahnert ten.« Annika sage, sie habe keinen Schaden
untersucht seit fast 40 Jahren die seelische und durch die Wochenkrippe genommen, behaup-
kognitive Entwicklung von Kindern zwischen tet Falke. Mit Annika persönlich kann man
Baby- und Schulalter. »Die Wochenkrippe hat darüber nicht sprechen. Sie habe für so etwas
eine zerstörerische Wirkung auf das Bindungs- keine Zeit, sagt ihre Mutter.
verhalten von Säuglingen und Kleinkindern«, In Berlin öffnet Gabriele Godenir eine Pa-
sagt Ahnert, die in den frühen Achtzigerjahren Betroffene Godenir, Kluska ckung Kekse. »Will jemand?«, fragt sie in die
als eine der ersten Wissenschaftlerinnen in Runde und reicht die Packung dann weiter,
Ost-Berlin untersuchte, wie sich die Krippen- Bereits in den Siebzigerjahren konnten ohne sich selbst zu bedienen. Was sie sich für
erziehung der DDR auf die Kinder auswirkte. Wissenschaftler den Bezug zwischen gestör- die Zukunft wünsche? »Mehr Aufklärung
Das ständig wechselnde Personal, das den ten Bindungserfahrungen in der Kindheit und über Wochenkrippen. Die meisten Menschen
Kindern kaum Zuwendung entgegenbringen Depressionen im Erwachsenenalter belegen. können mit dem Begriff nichts anfangen. Des-
konnte, sei der wohl wichtigste Faktor. »Es »Ein kleines Kind braucht immer eine fein- halb können auch nur wenige die Erfahrung
schädigt Kinder insbesondere, wenn sie in der fühlige Bezugsperson, um seine Gefühle zu verstehen«, sagt Godenir. Besonders Thera-
Nacht allein weinen und niemand kommt, um regulieren«, sagt Ahnert. Ansonsten ­lerne es, peutinnen und Therapeuten sollten den
sie zu beruhigen«, sagt Ahnert. seine Emotionen abzuspalten und zu unter- Unterschied zwischen Tages- und Wochen-
Die lange Abwesenheit der Eltern wäh- drücken – laut Ahnert eine mögliche Ursache krippe kennen, um die Tragweite verstehen
rend der Unterbringung in der Wochenkrip- für spätere psychische Erkrankungen. zu können, wirft Ute Schuster ein.
pe schätzt Ahnert dagegen als weniger re­ Jana Falke ist eine der Mütter, die ihre Kin- Auch Sigrid Kluska stimmt zu. »Ich wollte
levant ein. »Ein Säugling kann auch eine der in der Wochenkrippe abgaben – und über- eigentlich nicht ran an das Thema«, sagt sie
längere Trennung von der engsten Bezugs- zeugt, das Richtige getan zu haben. »Ich war über die vergangenen Jahre. Doch je mehr sie
person überwinden. Entscheidend ist, dass froh, als ich einen Platz in der Wochenkrippe sich mit ihrer Vergangenheit in der Wochen-
der Entzug in der gemeinsamen Zeit kom- bekam. Ich habe meine Tochter dort immer krippe befasste, desto klarer seien ihr die Aus-
pensiert wird«, sagt Ahnert. Das geschehe mit einem guten Gefühl abgegeben.« wirkungen auf ihr heutiges Leben geworden.
dann, wenn eine Mutter ihrem Kind gestei- Zwölf Wochen nach der Geburt ihrer Toch- Sie wolle dafür sorgen, dass auch andere
gerte Aufmerksamkeit und Empathie ent- ter Annika im Jahr 1976 stieg sie wieder in ­Betroffene lernen, mit diesem Schicksal um-
gegenbringe. Doch Ahnert bezweifelt, dass Vollzeit in ihren Job ein. Als Schriftsetzerin zugehen. »Ich möchte nicht mehr ruhig sein.«
das in allen Wochenkrippenfamilien passier- in einer Druckerei arbeitete sie im Schicht- Lisa Duhm  n
te. »Wenn eine Mutter ihr Kind in die Wo- system, mal tagsüber, dann wieder begann
chenkrippe gibt, ist das schon ein deutliches ihre Schicht um zwei Uhr nachts. Alleinerzie- Lesen Sie auch ‣ SPIEGEL-Gespräch mit der
Indiz, dass sie wenig d­ aran orientiert ist, was hend, wie Falke es war, ließ sich das nicht mit Bildungsforscherin Lieselotte Ahnert über die Rolle der
das Kind braucht.« einem Säugling vereinbaren. Väter bei der Erziehung | 92

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 45


SOCIAL MEDIA
REPORTER
»Wie verändert
TikTok das Backen,
Herr Fischer?«
SPIEGEL: Sie drehen seit 2019
TikTok-Videos in Ihrer Back-
stube. Muss so ein Brot oder ein
Kuchen dafür überhaupt noch
schmecken?
Fischer: Es muss schon noch
schmecken, aber optische High-
lights bringen natürlich Likes.
Ich backe die Brote manchmal
extra ein bisschen dunkler für
eine schöne Bräunung. Was
aber auch Aroma ins Brot gibt.
SPIEGEL: Sie ritzen auch manch-
mal Muster in die Brote.
Fischer: Das kommt sehr gut an.
In der alltäglichen Praxis kann
ich das aber gar nicht anwen-
den, weil das Brot unendlich
teuer werden würde, wenn ich
eine halbe Stunde daran herum-
schnitzen würde.
SPIEGEL: Das heißt, die Platt-
form hat das Backen verändert?
Fischer: Das Backen ist wie eh
und je. Aber man muss auch als
Bäcker auf den sozialen Netz-
Privat

werken präsent sein. Ich habe


inzwischen fast zwei Berufe:

Down Under, 1977


Bäcker und Influencer.
SPIEGEL: Backen Follower Ihre
Rezepte nach?
Fischer: Auf jeden Fall. Viele
Hobbybäcker, aber auch
FAMILIENALBUM Christian Pieper, 72, aus Münster Leute, die noch nie gebacken
haben.

E s begann als Abenteuer: Australien, rote


Wüsten, Kängurus und der Ayers Rock, so
jedenfalls hatte ich es mir vorgestellt. Auf
dem Foto stehe ich neben einem »Aborigine« in
Mangelerscheinung von schlechter Ernährung
und medizinischer Unterversorgung. Ich lernte,
dass die »Aborigines« einst von den Weißen
an diesen Ort in der Wüste vertrieben worden
SPIEGEL: Welche Rezepte funk-
tionieren auf TikTok?
Fischer: Einsteigerrezepte wie
das einfachste Brot der Welt.
Yuendumu, einer Siedlung der australischen waren, um sie dann sich selbst zu überlassen. Mehl, Wasser, Hefe und Salz
Ureinwohner mitten im Outback des Northern Wir sollten den Menschen überdosierte Anti- mischen und 12 bis 24 Stunden
Territory. Es war heiß, fast 40 Grad, und ich kauf- biotika geben, von denen sie Ausschläge und bei Raumtemperatur stehen las-
te ihm für ein paar Dollar einen handgefertigten Durchfall bekamen, weil sie sie nicht vertrugen. sen. Dann aus der Schüssel kip-
Schild ab. Wir sehen glücklich aus, aber der Trotzdem waren sie dankbar. Sie luden uns in pen, von den Seiten nach innen
Schein trügt. Es herrschte Elend. ihre Hütten ein, wir kletterten sogar auf den falten, noch mal kurz entspan-
Ich war damals 26 Jahre alt, Medizinstudent, Ayers Rock, ihren heiligen Berg. nen lassen, während der Ofen
und reiste mit dem Akademischen Austausch- Ich reiste desillusioniert zurück. Ich arbeitete hochheizt, schon ist es gebacken.
dienst von Kiel nach Adelaide ins Queen Eliza- noch wenige Jahre als Notarzt, dann übernahm SPIEGEL: Wie stehen Sie zu Brot
beth Hospital, für meine Famulatur. Dort erhielt ich die Zahnarztpraxis meines Vaters. Ich denke in Regenbogenfarben?
ich die Möglichkeit, vier Wochen in Yuendumu oft an die Zeit bei den »Aborigines« zurück. Ich Fischer: Ich habe mal einen
zu verbringen. Unser Auftrag war es, das Tra- habe gelesen, dass Yuendumu heute als Künstler- bunten Hefezopf mit natür-
chom einzudämmen, eine bakterielle Augen- gemeinde gilt, die mit der Lebensweise der »Abo- lichen Farbstoffen ausprobiert;
infektion, die zu Erblindung führen kann. rigines« wirbt. Der Ayers Rock heißt nun Uluru, Spinatpulver für Grün, Spiruli-
Trachom war besonders unter den indigenen so, wie ihn die »Aborigines« nennen. Man darf na für Blau, Tintenfischfarbe für
Australiern verbreitet, weil sie in der Hitze unter ihn nicht mehr betreten. Schwarz. Das war ganz witzig.
miserablen hygienischen Bedingungen lebten. Ich Den Schild, den ich damals gekauft habe, lage- Geschmacklich war es nicht so
war jung und wollte helfen. Aber ich hatte keine re ich im Keller, er liegt verstaubt neben zwei Bu- der Burner. SLS
Ahnung, was mich erwartete. merangs. In Australien bin ich nie mehr gewesen.
Yuendumu war in einem erbärmlichen Zu- Aufgezeichnet von Max Polonyi Ricardo Fischer, 41, ist Bäcker-
stand. Die Menschen hausten in Verschlägen, meister und Brot-Sommelier
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre Geschichte
Alkohol war omnipräsent, es gab Schlägereien. erzählen möchten? Schreiben Sie an: mit mehr als 400.000 Followern
Viele der Bewohner hatten kaum Zähne, eine familienalbum@spiegel.de auf TikTok.

46 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


pen und rauchte schachtelweise Ziga-
retten. Verließ Lebensgefährtin und

Der Sinn des Siegens


Tochter, zog von zu Hause aus. In
manchen Nächten habe er den Him-
mel angeschrien. Er habe Gott ge-
fragt, was er getan habe, um dieses
Leben zu verdienen.
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie ein Todkranker Wenige Monate später, im Winter
die Kraft bewahrt, immer wieder aufzustehen 2019, brach er schließlich im Schoß
der ehemaligen Lebensgefährtin zu-
sammen. Er habe gezittert und ge-

F Kaufmann
rüher wollte Michael Kaufmann ziehen im Hallenbad. Er sei seiner weint und gesagt: »Ich kann nicht
im Porsche sterben, mit Scham- Lebensgefährtin zuliebe zum Vorsor- mehr, darf ich bitte zu dir zurückkom-
pusglas in der Hand und dann getermin gegangen. Am nächsten Tag sagt, es gehö- men?« Sie habe ihm verziehen, sagt
Vollgas die Klippen runter. Es hätte zu habe der Arzt ihn angerufen. Er habe re zum Wesen Kaufmann. »Bitte bleib hier«, habe
seinem Leben gepasst, sagt er, »Kohle,
Autos, Party«, so sei das gewesen.
gesagt, Kaufmann solle sofort in die
Praxis kommen.
des Lebens, sie gesagt.
Kaufmann sagt, es gehöre zum
Kaufmann grinst. Er liebte die Frauen, Wenige Wochen später schnitten dass man erst Wesen des Lebens, dass man erst im
und die Frauen, sagt er, hätten ihn ge- sie ihm in der Charité einen drei Zen- im Angesicht Angesicht des Todes begreife, wie
liebt. Aber das ist jetzt vorbei. Denn timeter großen Tumor aus der Pros- wertvoll es sei.
jetzt stirbt Kaufmann wirklich. tata. Prostatakrebs spüre man erst, des Todes Manche Krebskranke arbeiten Lis-
Michael Kaufmann, 52, sitzt vor- wenn es zu spät sei, sagt Kaufmann. begreife, wie ten mit Dingen ab, die sie erleben
mittags beim Italiener in Berlin-Char- Er weiß noch, wie er im Krankenhaus wertvoll es wollen, bevor sie sterben. Sie kündi-
lottenburg und trinkt doppelten Es- aufwachte. Seine Tochter Johanna gen ihre Jobs und reisen um die Welt,
presso. Er hat zurückgegelte Haare war zwei Jahre alt, sie lag auf seinem sei. um vor ihrem Tod die Pyramiden zu
und die Art guter Haut, die man nicht Bett und weinte. sehen oder die Anden. Andere wid-
von Nivea bekommt, sondern nur mit Das zweite Jahr war härter. Eine men ihr Leben der Kirche und sterben
der richtigen Balance aus teuren Emul- Chemotherapie sei wie der schlimms- im Glauben an das Jenseits.
sionen und Sylter Frühjahrssonne. Er te Kater hoch zehn, sagt Kaufmann. Der Schriftsteller Wolfgang Herrn-
arbeitet im Marketing, seine E-Mail- Wenn er sich nur leicht durch die Haa- dorf erfuhr 2010 von seinem Hirn-
Signatur lautet »Managing Director«. re fuhr, habe er ganze Büschel aus- tumor. Es heißt, nach der Diagnose
Er hat eine Firma in West-Berlin und gerissen. Aber es habe sich gelohnt. habe er wie manisch begonnen, zu
einen schönen Oldtimer von 1983. Im Herbst 2017 habe der Arzt ihn arbeiten. Er schrieb über den Krebs
Kaufmann sagt, er habe die meiste Zeit beglückwünscht. Der Krebs sei weg in seinem Tagebuchblog »Arbeit und
seines Lebens damit verbracht, Dinge gewesen. Wenig später hatte er eine Struktur«. Einmal beschreibt er die
anzuhäufen und Status hinterherzu- Knochenmetastase in der Wirbelsäule. Krankheit mit den Sätzen: »Sturm
jagen. Jetzt sei ihm das alles egal. Das dritte Jahr heulte er durch. Es und Wolkenbruch. Ich laufe in meiner
Kaufmann hat Prostatakrebs, seit heiße, Betroffene lernten, mit dem Wohnung herum, um der Reihe nach
2015. Eigentlich bestehen bei Prostata- Krebs zu leben, sagt Kaufmann. Aber durch alle Fenster zu sehen und mich
krebs gute Heilungschancen, 88 Pro- in Wahrheit sei es ein einziges Zusam- zu freuen.« Herrndorf erschoss sich
zent der Männer leben zehn Jahre nach menreißen. Als der Arzt ihm inzwi- am 26. August 2013 in Berlin.
der Diagnose noch. Aber Kaufmanns schen noch 18 Monate gab, setzte er Der Krebs blieb bei Kaufmann,
Form ist aggressiv und streut Metasta- sich mit seiner fünfjährigen Tochter auch, als er wieder bei seiner Lebens-
sen in andere Regionen seines Körpers. an den Küchentisch und sagte: »Der Krebspatient gefährtin eingezogen war. Aber etwas
Kaufmann
Er wurde operiert, hat mehrere Be- Papa wird nicht so alt wie Opi.« mit Lebensgefährtin,
sei anders gewesen, sagt Kaufmann.
strahlungen hinter sich und zwei Che- Im vierten Jahr zündete er sein Screenshot Er sagt, er sei zum ersten Mal im
motherapien. Aber jedes Jahr, nach Leben an. Saß bis morgens in Knei- von bz-berlin.de Leben wirklich glücklich gewesen.
jeder Behandlung, kam die Krankheit Wenn man ihn fragt, wie er sich
von Neuem zurück. Acht Mal. seinen Tod vorstellt, schweigt er lan-
Sein Arzt sagt, Kaufmann sei eine ge. Dann antwortet er: »Am Strand,
Ausnahme, ein Einzelfall. Derart ag- mit meiner Familie im Arm.«
gressiven Prostatakrebs so früh im Er lächelt. Er wirkt zufrieden. Sein
Leben habe er noch nie gesehen. Vor Haar ist nachgewachsen, er sagt, er
Jahren schon habe er Kaufmann nur mache wieder Sport, zweimal die Wo-
noch wenige Monate zu leben pro- che Tennis, er fühle sich besser als je
gnostizieren müssen. zuvor. Er freue sich über die kleinsten
Kaufmann sagt, er wisse, dass er Dinge, die Spatzen in den Bäumen.
eigentlich längst tot sein müsste. Aber Die Welt sei wunderschön, sagt Kauf-
er ist noch hier. Er habe achtmal mit mann. Leider habe er zu lange ge-
dem Tod gerungen und ihn achtmal braucht, um das zu verstehen.
besiegt. Dabei habe er verstanden, Vor ein paar Tagen habe der Arzt
worum es im Leben gehe. ihn wieder angerufen. Kaufmann soll-
Das erste Jahr sei hart gewesen, te in die Praxis kommen, schnellst-
sagt Kaufmann. Als die Diagnose möglich. Der Krebs sei zurück.
Privat

kam, war er 45 Jahre alt und »topfit«, Kaufmann sagt, er habe im Warte-
»null Beschwerden«, sagt er. Zweimal zimmer aus dem Fenster geschaut. Es
die Woche Fitnessstudio, Tennistrai- sei wunderschönes Wetter gewesen.
ning und sonntagmorgens Bahnen Max Polonyi n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 47


REPORTER

Bahn-Chef Richard Lutz,


Verkehrsminister Wissing

Die Bahnsteig-
Revolution
Die Geschichte des Deutschland-Tickets zeigt, wie kompliziert Fortschritt
MOBILITÄT 
in einem Land ist, in dem das Klein-Klein regiert. Und wie politische
Irr- und Umwege doch zu einem Ziel führen können. Eine Streckenbegehung – kurz vor Abfahrt.

48 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


REPORTER

Eine Arbeitsgruppe mit neun Vertretern koriegel sowie alle möglichen Getränke –

D
der Ampelparteien soll das verminte Gelände auch alkoholische.
der Entlastungen erkunden und scheitert. Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, so
Wieder und wieder geraten Grüne und FDP werden es Teilnehmer später schildern, hat
aneinander, die SPD, aber auch das Kanzler- den Laptop schon aufgeklappt. Das Gerät ist
amt lassen wenig unversucht, um zu schlich- an einen Beamer angeschlossen. Die Ergeb-
ten. Doch am Ende bleibt nur die Hoffnung nisse der Arbeitsgruppe werden projiziert – in
auf den Fahrdienstleiter, den Kanzler, und den Farben der Parteien. Grün, Gelb, Rot.
sein berüchtigtes Verhandlungsgeschick. Später in der Nacht wird Schmidt mit der Nie-
Die Geschichte des Deutschland-Tickets derschrift der Kompromisse beginnen. »Text-
Die Revolution kommt fahrplanmäßig: Am erzählt, wie aus einem nächtlichen Verhand- arbeit«, nennt er das. Besonders die Grünen
1. Mai tritt das Deutschland-Ticket in Kraft. lungspoker eine gute Idee werden kann, wie fürchten sich vor dieser Deutungshoheit.
Eine Flatrate für Regionalzüge, Trams, Stadt- etwas Fahrt aufnehmen kann, das in keinem Denn Schmidts Niederschrift bleibt stets eine
verkehrsbusse in ganz Deutschland. Nur im Fahrplan vorgesehen war. Deutschland hat Interpretation – die des Kanzlers.
Abonnement zu bekommen für 49 Euro mo- sich in den vergangenen Jahren den Ruf eines Der hört sich bis weit nach Mitternacht die
natlich. Ein Projekt, das der hessische Ver- Landes erarbeitet, in dem große Ideen oft Positionen von Grünen und Liberalen an und
kehrsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) »die zerredet werden, in dem Visionen wiederholt versucht zu vermitteln. Doch es geht nicht
größte Revolution im öffentlichen Nahver- an Partikularinteressen zerschellen. Die gro- voran. Es bleibt bei »Tempolimit« gegen
kehr« nennt, die es jemals gegeben habe. ßen Energieprojekte beispielsweise treffen »Tankrabatt«. Weitere Colaflaschen werden
Stadtgrenzen, Kreisgrenzen, Tarifgrenzen, auf Anwohner, die sich vom Schatten der geöffnet. Die Verhandler haben seit Stunden
sogar Ländergrenzen sollten keine Rolle mehr Windräder gestört fühlen oder von der Sil- nichts außer Süßigkeiten gegessen. Christian
spielen, so der Minister, stattdessen nur Ein- houette der LNG-Terminals vor der Küste. Lindner, der Finanzminister, lässt Pommes
fachheit. Der Tarif sollte zunächst »49-Euro- Wie also konnte das Deutschland-Ticket frites holen.
Ticket« heißen, aber wer möchte sich ange- Wirklichkeit werden in einem Land, in dem Lindners Fritten, so erinnern sich später
sichts der Inflation schon auf Preise festlegen? allzu oft das Klein-Klein regiert? Teilnehmer der Runde, bessern die Stimmung
Was Nahverkehrstarife angeht, ist das auf. Und irgendwann, zwischen zwei und vier
Land in Fürstentümer zersplittert wie nach Berlin. Hauptbahnhof. Am 23. März 2022 Uhr nachts, gerät etwas in Bewegung. In einer
dem Dreißigjährigen Krieg. Es gibt keinen sitzen die Spitzen der Ampelkoalition, Partei- Pause – der Kanzler plaudert gerade mit der
Verkehrsverbund Deutschland. Kein Gre- und Fraktionschefs, einige Fachminister beim Grünenspitze, Robert Habeck und Annalena
mium, das für die Durchsetzung eines ein- Kanzler, im großen »Internationalen Konfe- Baerbock sind dabei – kommt Volker Wissing
heitlichen Tarifs zuständig und verantwortlich renzsaal« des Kanzleramts im ersten Stock. dazu, der Verkehrsminister. Er habe da eine
wäre. Dafür gibt es 17 Verkehrsminister, etwa Man sitzt in zwei Reihen um den Tisch herum, Idee: Wie wäre es denn, wenn man den
60 Verkehrsverbünde und rund 600 Unter- beim Aufstehen tragen alle Masken. Es ist ÖPNV für die Dauer des Tankrabatts extrem
nehmen im öffentlichen Personennahverkehr. noch Pandemie. Hin und wieder wechselt günstig machte, fast kostenlos?
Von deutscher Einheit keine Spur. man zwischen der ersten und zweiten Reihe, Schon während seiner Zeit als Landesver-
damit keine künstliche Hierarchie entsteht. kehrsminister in Rheinland-Pfalz hatte sich
Bexbach. Erster und ältester noch erhaltener Am frühen Abend eröffnet Olaf Scholz die Wissing an den komplizierten Tarifstrukturen
Bahnhof im Saarland. Man mag es Zufall nen- Sitzung. Es gibt zu essen, doch der Kanzler- gestört.
nen. Aber die Geschichte einer Flatrate-Fahr- amtskoch wird bald gehen, denn es soll keine Die Grünen erwischt Wissings Idee auf
karte für Deutschland begann an einer Tank- lange Sitzung werden. Bis Mitternacht, so dem falschen Fuß. Auch sie hatten erwogen,
stelle. Mit windzersaustem Haar steht der plant es der Kanzler, soll das Land entlastet eine Verbilligung der Bahn ins Spiel zu brin-
damalige saarländische Ministerpräsident sein. Man müsse Führung zeigen. Außerdem gen. »Wir hatten die Karte im Ärmel«, er­
Tobias Hans am 8. März 2022 vor der Esso- hat er am nächsten Morgen einen wichtigen innert sich jemand, der die Verhandlungen
Station in Bexbach im Saarpfalz-Kreis. Die Termin. Er muss nach Brüssel, zum Nato- vorbereitet hat. Aber man holte sie nicht raus.
Spritpreise sind wegen des Ukrainekriegs ge- Sondergipfel. So gibt es bald nur noch Scho- Wohl aus Angst, wieder mal als Träumer da-
rade weit über die Zwei-Euro-Marke pro Liter zustehen.
gestiegen. Schlimmer noch: Es ist Wahlkampf Nach kurzer Rücksprache entscheiden sich
im Saarland, und es sieht nicht gut aus für die Grünen, die Forderung nach dem Tempo-
Tobias Hans. limit aufzugeben – zu Gunsten von Wissings
»Es ist wirklich irre«, sagt der CDU-Mi- Fahrkarte. Und am frühen Morgen beamt der
nisterpräsident in sein Smartphone, und dass Kanzleramtsminister unter Punkt neun auf
jetzt gehandelt werden müsse: »Eine Sprit- die Leinwand: »… führen wir für 90 Tage ein
preisbremse muss her.« Ticket für 9 Euro/Monat (»9 für 90«) ein und
Die wacklige Aufnahme empfanden man- werden die Regionalisierungsmittel so er­
che als peinliche Anspielung auf die Hilfe- höhen, dass die Länder dies organisieren
rufe des ukrainischen Präsidenten. Dennoch ­können«.
stoßen sie bald auf Gehör, jedenfalls auf das Das erste Deutschland-Ticket war geboren.
von Christian Lindner, dem FDP-Finanzmi- Eine grüne Idee, die von einem Minister der
Florian Boillot / SZ Photo; Jochen Tack / IMAGO

nister. Per »Bild«-Zeitung fordert er einen autofreundlichen FDP ins Spiel gebracht wur-
Tankrabatt. Für die Grünen, die Partner in de und zunächst nur gedacht war als Mittel,
der Koalition, beginnt da die Todeszone. Bil- um einen Koalitionsstau aufzulösen. In der
ligeres Benzin für alle? Eile beginnen Finanz- und Verkehrsministe-
Die Grünen werden nervös. Was tun? In rium zu rechnen. Geht das überhaupt? Doch,
der Eile fordern sie ein Tempolimit auf Auto- es geht.
bahnen, der alte grüne Traum, zerronnen in Als die übernächtigten Verhandler um elf
den Koalitionsverhandlungen. Am nächsten Uhr morgens vor die Presse treten, überlässt
Morgen ist der Tankrabatt das beherrschende FDP-Chef Christian Lindner es den Grünen,
Thema. Gleisanlage am Frankfurter Hauptbahnhof das Superticket vorzustellen: eine bundesweit

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REPORTER

gültige Billig-Flatrate für Busse und ger gekannt, 52 Millionen Tickets


Bahnen und für alle. Eine nächtlich Kleinstaaterei im Nahverkehr wurden verkauft, bereits 7 Millionen
beschlossene Revolution. im Vorverkauf. Jeder fünfte Kunde
Von jeher wohnte der Eisenbahn Landkreise und kreisfreie Städte, die einem Verkehrsverbund war ein Neukunde.
angehören
ein utopisches Moment inne, ganz Das Ticket galt schnell als Erfolg,
gleich, ob sie Ozeane miteinander im Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) es war, zwischen vielen schlechten
organisierte Verbundgebiete
verband, wie zwischen Ostküste und Nachrichten über Krieg und Krise,
nicht im VDV organisierte Verbundgebiete
San Francisco. Oder ob sie, mit Stalins wie ein kleines Wunder ins Land ge-
Bildnis auf der Rauchkammertür, als verbundfreies flattert. 2,5 Milliarden Euro kostete
Gebiet
Fortschrittsmaschine schlechthin den das Ticket den Bund.
Sowjetkommunismus vorantrieb. Die Kiel Die »Tagesschau« zeigte damals
Eisenbahn transportierte auch immer überfüllte Züge, einzelne Züge muss-
die Hoffnung auf etwas jenseits vom Schwerin ten am Pfingstwochenende sogar ge-
Hamburg
Altbekannten, am Ende des Schie- räumt werden.
nenstrangs. Das einzig Lästige war Bremen Eine Studie der Fachhochschule
dieses »Die Fahrscheine, bitte!«, ein Erfurt wollte erforschen, wie nach-
Satz, der heute verlässlicher kommt Berlin haltig das Ticket wirklich war. Der
Hannover Potsdam
als die Züge. Fragebogen ging an rund 6000 Be-
Dass ein einheitlicher Bahntarif Magdeburg wohner der sechs einkommens-
von Vorteil sein könnte, ahnte man schwächsten Erfurter Stadtteile.
in Preußen bereits Ende des 19. Jahr- Demnach ist die 9-Euro-Phase vor
Dresden
hunderts und beklagte das Fahrkar- Düsseldorf allem ein soziales Experiment ge­
tenunwesen: Allein am Anhalter Erfurt wesen.
Rund

60
Bahnhof in Berlin gab es »nicht we- »Das 9-Euro-Ticket hat mir ge-
niger als 47.000 verschiedene Fahr- zeigt, dass man nicht alleine sein
karten«, so der Fahrscheinhistoriker Wiesbaden
muss.« (Rentnerin, 63)
Mainz Verkehrsverbünde
Otto Eiblmeier. Die Königlich Preu- gibt es in »… sonst würde ich nur zu Hause
ßischen Staats-Eisenbahnen boten Deutschland hängen«. (Mann, 47, berufstätig)
Fahrkarten für Veteranen, Versehrte Saarbrücken
»Ich habe endlich wieder ein Ge-
und Hunde, »kombinirbare Rundrei- fühl für das Leben bekommen.«
sen«, Arbeiter- und Vereinsfahrschei- Stuttgart (Frau, 68, in Rente)
ne an, und die jeweils für alle Bahn- »Ich finde es für mein Kind gut. So
höfe des Landes und für alle vier Ab- kann sie immer in die Bahn steigen
teilklassen. Die »Fahrkarte – Symbol München und ich weiß, dass sie nicht schwarz-
der Überwindung von Raum und fährt.« (Frau, 38, arbeitslos)
Grenzen«, so der Titel einer Ausstel- »Es bleibt noch etwas Geld zum
lung des Deutschen Museums in S Quelle: VDV-Statistik 2020 Leben übrig.« (Rentnerin, 80 Jahre alt)
München, büßte so ihr utopisches »9 Euro sind viel Geld für mich!!!«
Moment deutlich ein. Vom Freiheits- eint der VDV, und viele hätten sich (Mann, 35 Jahre, berufstätig)
schein geriet sie zum Ausweis der Be- untereinander gefragt: Weißt du was? »Einfach mal ein Tag in einer an-
schränkung, der sozialen Abgrenzung Keine Tarifgrenzen? Wie soll das ge- deren Stadt …« (Rentnerin, 73)
und der Allmacht einer Kontroll­ hen? »Es hat vielen das Gefühl gege­ben,
instanz in Schaffneruniform. Er sei – als Fachbereichsleiter freier zu sein.« (Mann, 38, berufstätig)
Das 9-Euro-Ticket räumte damit Volkswirtschaft und Business De- Für Menschen mit mehr Geld sind
erstmals auf, und kontrolliert wurde velopment, der seine Doktorarbeit es Selbstverständlichkeiten, für viele
nur noch spaßeshalber. 1998 darüber geschrieben hat, was der Befragten aber wurden Dinge
»Wir wussten, das ist auf drei Mo- eine Minute Verspätung die Bahn möglich, die sonst für sie nicht mach-
nate begrenzt. Da war klar, die Koh- kostet (280 Mark) – von der Bund- bar sind. Verwandte besuchen, die
le ist weg, und der Staat zahlt. Die Länder-AG beauftragt worden, eine Ostsee sehen. Einkaufen im Discoun-
Kontrolleure haben nur Theater ge- begleitende Evaluation umzusetzen. ter, der billiger ist als der Supermarkt
spielt. Die Haltung war: Augen zu Mittlerweile, so scheint es, hat um die Ecke, aber weiter weg. Jeden
und durch.« Sagt Daniel Ackers vom sich Ackermann warmgeredet. Er Bremens Verkehrs- Tag mit demselben Fahrschein ein-
Verband Deutscher Verkehrsunter- hat eine Präsentation vor sich auf senatorin Schaefer: fach losfahren, um den Enkel von der
»Es nützt das
nehmen (VDV). Für seine Mitglieder dem Rechner, Interviews mit 78.000 schönste Ticket
Kita abzuholen. Einfach losfahren.
war es ein Sommer der Anarchie. Für Menschen aus allen Bundesländern, nichts, wenn Ende August kauften dann erheb-
Olaf Scholz »eine der besten Ideen, die »Wirkungen und Potentiale vom kein Bus fährt« lich weniger Fahrgäste eine reguläre
die wir hatten«. 9-Euro-Ticket und Nachfolgeange- Monatskarte, weil die Leute offenbar
boten«. hofften, es würde immer weitergehen
Köln. Bahnhof Köln-West. Die Ver- Er muss seine Ergebnisse jetzt öf- mit dieser Reise.
kehrsunternehmen erfuhren von dem ter im Land vorstellen, wohl auch Was Ackermanns Unterlagen auch
neugeborenen Ticket aus den Nach- deshalb, weil durch das Ticket rund sagen: Auf dem Land interessierten
richten: »Die Schöpfer waren be- 1,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart sich viel weniger Menschen für das
kannt, viel mehr nicht«, sagt Till worden seien. Ticket. 42 Prozent der Befragten
Ackermann, der oben in der vierten Rund zehn Prozent der Fahrten aus »Kleinstädten und dörflichen
Etage des VDV in Köln sitzt und den von Juni bis August 2022 seien vom Räumen« sagen: zu viele Umstiege.
Rechner hochklappt. Auto auf die Bahn verlagert worden. 37 Prozent sagen: zu seltene Abfahr-
Rund 640 Verkehrsunternehmen, Laut Ackermanns Erhebungen ten. 27 Prozent sagen: Haltestelle zu
große und kleine, Bahn und Bus ver- hätten das Ticket 98 Prozent der Bür- weit weg.

50 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


REPORTER

Dennoch. Die Deutschen waren angefixt, den Kommunen oder Verkehrsverbünden


sie waren auf den Geschmack gekommen. überlassen, sagt Schaefer.
Freiheit und Abenteuer im Nahverkehr. Die Nun beteiligt sich der Bund an den Mehr-
Babyboomer erinnerten sich noch an das kosten, und auch die Regionalisierungsmittel
Interrail-Ticket. Die Antwort der Bundes- für die Länder wurden ab 2022 um eine wei-
bahn auf die Hippiebewegung. Das war die tere Milliarde Euro jährlich aufgestockt. Fest
Erfahrung, vier Wochen lang mit Rucksack steht bis heute nicht, wie die Einnahmen unter
und Baguette in Wartesälen und durch- den Verkehrsverbünden verteilt werden.
schwitzten Abteilecken zu übernachten »Völlig offen« sei es, so der VDV, wie die
und sich auf Bahnhofstoiletten die Zähne Einnahmen eines Fahrscheins verrechnet wer-
zu putzen. Der Moment, Schule und Eltern- den sollen, der in München von einer Main-
haus hinter sich zu haben und die italienische zerin gekauft wurde, um damit in Berlin he-
Ebene vor sich. rumzufahren. Das herauszufinden würden
Auch Volker Wissing war jetzt ganz über- »die Schmerzen der nächsten 12 bis 18 Mo-
zeugt von seiner Idee. »Ich werde bei jeder nate werden«. »Die Branche muss sich be-
internationalen Konferenz auf dieses Ticket wusst machen, dass jeder für die Einnahmen
angesprochen«, berichtete er dem Bundestag des anderen mitverantwortlich ist. Das ver-
im Februar. »Alle sagen: Das ist eine tolle ändert das Mindset«, sagt Nils Zeino-Mah-
Idee. Danke, dass ihr den Vorreiter gemacht malat vom VDV, der die Umsetzung des
habt, dass ihr es mit dem 9-Euro-Ticket aus- ­D-Tickets technisch koordiniert.
probiert habt.«
Offen blieb eigentlich nur eine entschei- Ehemaliger Bahn-Direktor Bodack
Ulm-Hauptbahnhof, Gleis 3 Süd. Aus dem
dende Frage. Eine Frage, die jeder Bahn­ Fahrstuhl steigt Karl-Dieter Bodack, ehema-
benutzer kennt: wie weiter? mal zu zeigen, wie viel Arbeit dieses Ticket liger Bahn-Direktor. Inzwischen ein lebhafter
Welches sind die Anschlüsse? Was kommt allen mache, sagt sie. Herr von 85 Jahren und wohnhaft in Gröben-
nach dem 9-Euro-Ticket? Das Land Bremen hatte bis Ende des ver- zell bei München.
Für die Grünen sollte es vor allem ein gangenen Jahres den Vorsitz der Verkehrs- Karl-Dieter Bodack ist ein ideales Aus-
Klimaticket sein, also attraktiv für Pendler. ministerkonferenz, Schaefer leitete die Tref- kunftssystem, um auf einer Bahnreise ins All-
Für die Sozialdemokraten ein Sozialticket, fen; als sie damals vom 9-Euro-Ticket aus dem gäu zu erzählen und zu zeigen, was die Bahn
also billig. Für die Liberalen in erster Linie Radio erfahren hatte, rief sie direkt und sehr in Deutschland können müsste, damit das
eine Fahrkarte in eine bessere, weil digitale erstaunt Volker Wissing an. Denn Nahverkehr Deutschland-Ticket seinen Namen verdient.
Welt. Volker Wissing hatte zur Bedingung ist Sache der Bundesländer und Kommunen. Ist das vielleicht alles nur eine Zweite-Klasse-
gemacht, das neue Ticket ausschließlich Seitdem sind einige Monate vergangen, in Revolution?
digital auszustellen. Also am liebsten per denen Schaefer und ihre Verkehrsminister- Bodack hat Betriebsschlosser gelernt,
App auf dem Smartphone oder notfalls per kollegen hart verhandeln mussten. Maschinenbau und Sozialwissenschaften
Chipkarte. Seit September 2022 wird in Bremen in studiert, dazu Design an der Ulmer Hoch-
Fast 190 Jahre nach Einführung der ersten Arbeitsgruppen und Unterarbeitsgruppen schule für Gestaltung und nebenbei die Prü-
»Fahrzettel« durch die königliche Ludwigs- etwa zu »Einnahmeaufteilungsverfahren« fung zum Lokführer bestanden: ein Univer-
eisenbahn im Dezember 1835 sollte jetzt über die Umsetzung der Ticket-Revolution salgelehrter in der Welt der Schiene.
Schluss sein mit dem Papierkram. nachgedacht. In der Branche ging die Angst Bodack hat (mit anderen zusammen) den
Endlich eröffnet sich die Möglichkeit, mit vor Betrügereien um. Barcodes, das sind die Interregio erfunden, war Betriebswerksleiter
der Kleinstaaterei der rund 60 Verkehrsver- Streifen auf Papiertickets, könnten pro­ und Berater Personenverkehr beim Bahn-Vor-
bünde aufzuräumen. Ein Ticket, ein Standard, blemlos kopiert werden. Ein illegaler Online- stand. Er kennt sich aus: »Das ganze Netz«,
ein Tarifgebiet von Westerland auf Sylt bis Ticketshop, der vom Ausland aus betrieben sagt Karl-Dieter Bodack, »ist voller Mängel.«
Mittenwald im Karwendelgebirge. würde, wäre eine Gelddruckmaschine. »Sehen Sie die Stahlseile da am Gleis? Die sind
Doch Revolutionen, auch jene im Nahver- Maike Schaefer ist ursprünglich promo- für die Weichen.« Die würden mechanisch be-
kehrsbereich, machen zunächst einmal viel vierte Ökotoxikologin und gut darin, die trieben wie vor 100 Jahren, vom nächsten
Arbeit. Wie sollte es etwa möglich sein, einen Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und Stellwerk aus. »Ja doch, es funktioniert, wenn
von der Hamburger Hochbahn ausgestellten potenziell schädlichen Stoffen zu deuten. man alle paar Kilometer ein Stellwerk hat und
Fahrschein in Düsseldorf von der dortigen Sie erzählt von den Verhandlungen, davon, dort an den Hebeln Menschen mit viel Kraft.«
Rheinbahn kontrollieren zu lassen? Denn an- als klar wurde, dass der Bund und die Länder Eine Bahnreise mit Bodack ins Allgäu ist
ders als etwa die Schweiz mit ihrer »Alliance sich die Kosten für das Ticket teilen würden, eine Reise ins Innenleben der Deutschen
Swisspass« gibt es in Deutschland noch kein die Länder allerdings nur bereit dazu waren, Bahn, und der Anblick ist nicht immer schön.
bundesweites »Hintergrundsystem«, um Ti- wenn gleichzeitig die Regionalisierungs­ Beim Umsteigen in Memmingen zeigt er rüber
ckets zu kontrollieren. mittel, die Gelder also, die der Bund für zu Gleis 1. Dort verkehrt der Eurocity von
den Ausbau des ÖPNV zahlt, ebenfalls er- Zürich nach München, aber leider kürzer als
Bremen. Bahnhofsvorstadt. Das Büro von höht würden. Man wolle so den ländlichen in der Schweiz, weil der Memminger Bahn-
Bremens Verkehrssenatorin Maike Schaefer Raum besser anschließen. »Es nützt das steig für den ganzen Zug nicht reicht. Was
(Grüne) liegt in der 13. Etage eines Verwal- schönste Ticket nichts, wenn kein Bus fährt«, man hätte ändern können, kürzlich, als die
Moritz Küstner; Dieter Mayr / DER SPIEGEL

tungshochhauses nicht weit vom Haupt­ sagt Schaefer. Wissing sehnte sich nach Er- Strecke generalüberholt wurde.
bahnhof entfernt, und unten auf den Straßen folg, aber das ist bei politischen Lebewesen Man tat es nicht.
fahren Stadtbusse und Straßenbahnen in immer ein guter Moment, um bittere Pillen Also koppeln die Schweizer in Sankt Mar-
Miniatur. Hier oben kann man die Mühen zu schlucken. grethen einige Wagen ab und auf der Rück-
der Ebene beobachten, die Schwierigkeit, Von den möglichen Mehrkosten für das fahrt wieder an. Er hat es mal gestoppt: Das
aus einer großen Idee etwas zu formen, das Ticket habe Wissing lange nichts hören wol- kostete fünf Minuten. Für die Schweiz ist das
im Alltag funktioniert. len. Sie seien nicht Sache des Bundes. Man viel.
Schaefer bittet, ganz in Dunkelblau geklei- könne ja nicht etwas als Erfolg abfeiern und Die Schweiz ist Sehnsuchtsland für leiden-
det, an den ovalen Holztisch. Es sei gut, auch dann die Kosten und die Arbeit den Ländern, schaftliche Bahnfahrer. Im vergangenen Jahr

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 51


REPORTER

waren mehr als 90 Prozent der Züge pünkt- hätte, anstatt sie verlottern zu lassen – dann, Behr, es habe ihn am Schalter noch niemand
lich, wobei drei Minuten schon als Verspätung sagt der Miterfinder des Interregios, dann nach dem neuen Ticket gefragt.
gezählt werden. Es gibt viele Züge im Halb- könnte dieses Ticket eine sehr gute Idee sein. Er sieht durch eine Glasscheibe auf die
stundentakt, es gibt ein übersichtliches »Ge- Schienen vor sich. In seinem Fahrdienstleiter-
neralabonnement«. In der Schweiz machen Kating, Schleswig-Holstein. Bedarfshalt. häuschen gebe es einen Stichstreckenblock.
die Menschen, verglichen mit Deutschland, Kating ist kein Knotenpunkt. Aber ein Punkt Für Vorblockung und Rückblockung, bei ein-
im Schnitt mehr als doppelt so viele Fahrten durchaus, ein Punkt in der, an diesem Tag gleisigen Stichstrecken. Behr sagt, dass er die
mit der Bahn. Ende März, kalt verregneten Fläche Nord- Weichen und Signale per Hand umstellt, und
Immer wieder zeigt Bodack aus dem Fens- frieslands. Ein Haltepunkt mit Fahrkarten- wie er die Züge nach Sankt Peter-Ording mit
ter: Hier waren Ausweichstellen, dort waren automat und Wartehäuschen, mit einem Be- einem Kuli in ein Buch einträgt. Er lässt die
welche. Die Gleise sind weg, der Schotter ist hälter für vorschriftsmäßiges Streugut und Schranke selbst runter, auch mit der Hand,
noch da. einem Lautsprecher für Durchsagen. Und zieht bei jedem neuen Zug die orangefarbene
Die Strecke, leider, ist nur eingleisig, auf damit ist auch Kating Teil eines Streckennet- Warnjacke an und hängt das rot-weiße Kett-
der nun auch der Eurocity von Zürich nach zes, das am 7. Dezember 1835 von der Lud- chen vor den Fußweg zu Gleis 2 ein.
München verkehrt. Dafür wurde sie vor Kur- wigseisenbahn in die Welt gesetzt wurde. Und Und wenn kein Zug kommt?
zem elektrifiziert. Ein Widersinn, der ver- dem jetzt die Zukunft anvertraut wird – die Dann verkaufe er Tickets und mache das
meidbar gewesen wäre. »Mobilitätswende«. Reisezentrum, verteile Flyer mit Ausflugs-
Es hätte für die Schweizer und alle ande- Fahrplanmäßig soll am Bahnhof Kating zielen in der Nähe an Touristen. Auch das ist
ren, auch die »Deutschland-Ticket-Fahrer«, der nächste Zug um 13.53 Uhr kommen, die Nahverkehr.
eine andere Route gegeben – zweigleisig. Sie Regionalbahn RB 64 (11 852) aus Sankt Peter- Behr ist der Meinung, das Ticket sei für
führt über Kempten und ist ein wenig länger. Ording über Witzwort nach Husum. die meisten eher keine Revolution, sondern
Also hätte das Elektrifizieren mehr gekostet. Außerfahrplanmäßig sitzt um 13.27 Uhr eine Rechnung: Spare ich etwas? Geld oder
Also tat man es nicht. ein Kaninchen auf dem Gleis und hoppelt, Zeit? Er selbst werde das Deutschland-Ticket
Jetzt fährt man sich also auf demselben nach kurzem Aufenthalt, weiter. für seine Tochter, die 16 ist, kaufen. Ihr
Gleis entgegen und muss ausweichen. Kating ist ein Kann-Bahnhof, kein Muss. ­Schülerticket koste bislang 76,50 Euro im
Warum das alles? Warum so wenige Glei- Der Fahrgast muss im Zug einen Stoppknopf Monat.
se, Weichen, Oberleitungen, so wenig Infra- drücken, damit der Zug hält. Seit dem 3. April ist das Deutschland-
struktur bei der Deutschen Bahn? Um 13.52 Uhr rollt ein schwarzer Passat Ticket bestellbar. In den ersten drei Tagen sei-
Das Abteilgespräch mit Bodack geht zu- an und parkt im Matsch an der Wiese. Der en 250.000 verkauft worden, meldete die
rück in die Neunzigerjahre und wird syste- Motor geht aus – und wieder Stille, Wind, Deutsche Bahn. Und in den Landkreisen Greiz
misch. Die Bahn sollte an die Börse gebracht mal lauter, mal leiser. und Gera, beides Thüringen, haben Busfahrer
werden. Aus dem Börsengang wurde nichts, Um 13.53 Uhr ist das Pfeifen des RB 64 begonnen, nun doch auf Papier zu verkaufen.
aber es gab auch eine Bahn-Reform, und die (11 852) zu hören, die Lok kommt zum Ste- Mit der deutschen Einheitlichkeit hapert
blieb. Unter Hartmut Mehdorn, ab Ende der hen, die kleinen Scheibenwischer an der es noch etwas.
Neunzigerjahre, wurde aus der Deutschen Frontscheibe schwingen nach rechts und links. Nach der Kritik von Sozialverbänden am
Bahn ein Konglomerat aus Bahn-Töchtern, Zwei Schüler steigen aus, einer ist Nico Mina, hohen Preis gibt es jetzt Vergünstigungen,
aus AG, GmbH und sonstigen Organisatio- 16, seine Mutter wartet in ihrem schwarzen Rabatte und Zusatzregelungen je nach Bun-
nen, für Fernverkehr, Regionalverkehr, Cargo, Passat, wie jeden Mittag. Denn der Bus, die desland. Hamburg bietet seinen Schülern das
Bau, Instandhaltung, Energie, Netz und Ser- Linie 172, fährt nur zweimal am Tag, um 7.33 49-Euro-Ticket für 19 Euro an, Bayern seinen
vices und vieles mehr. Uhr und um 12.38 Uhr, über Kotzenbüll nach Studierenden für 29, und Hessen verlangt von
Die DB Netz AG ist verantwortlich für Tönning, zur Schule am Ostertor. Jetzt, wenn seinen Geringverdienern 31 Euro. In Mün-
Gleise, Weichen, Oberleitungen, Bahnsteige. die Schüler ankommen, fährt nichts, nur chen dürfen Hunde mitfahren, in Stuttgart
Sie ist bisher eine Aktiengesellschaft, der Vor- Mama. Aber der Zug war pünktlich. gibt es ein übertragbares Upgrade »Ticket-
stand also zwangsläufig gewinnorientiert. Die Im nächsten größeren Bahnhof bei Kating, Plus«. Es ist wie auf dem Wochenmarkt und
Folgen sind unter anderem auf der Strecke in Tönning, erzählt Fahrdienstleiter Frank völlig offen, wie all die Spartarife einheitlich
Ulm–Lindau zu sehen. abgerechnet werden sollen.
Der Memminger Bahnsteig? Wäre er län- Ein Schein-Fahrschein also?
ger, würde das mehr kosten, man müsste ihn Das Deutschland-Ticket allein wird keine
ja putzen und pflegen. einzige marode Weiche erneuern, kein Stell-
Was auch auf Weichen, Schienen, Ober- werk modernisieren und keine weiteren Bus-
leitungen zutrifft: Was man nicht hat, muss se zum Bedarfshalt Kating führen.
man nicht in Ordnung halten. Nun soll zwar In einer idealen Welt wäre es besser ge-
DB Netz künftig »gemeinwohlorientiert« wesen, erst die Infrastruktur zu verbessern,
arbeiten, so steht es im Koalitionsvertrag. dann neue Tarife einzuführen.
Und Aktiengesellschaft und Gemeinwohl pas- Doch mit dem Deutschland-Ticket ist das
sen nicht recht zusammen. regionale Bahnfahren nicht mehr nur Sache
Doch das Deutschland-Ticket? Man müss- der Länder oder der Unternehmen. Der Bund
te, meint Bodack, ans Grundsätzliche gehen. hat sich ein Problem ins Haus geholt und wird
Wenn die Bahn nicht Milliarden investiert Verantwortung auch für den öffentlichen Nah-
hätte, um ein globaler Logistikkonzern in verkehr zeigen müssen, als gesamtgesell-
mehr als 130 Ländern zu sein, und sich statt- schaftliche Aufgabe.
dessen darauf konzentriert hätte, Menschen Man wird sehen. Oder anders gesagt: Es
Julius Schrank / DER SPIEGEL

und Güter in Deutschland zu transportieren; ist wie immer beim Fahren mit der Bahn. Man
wenn nicht die Zahl der Kreuzungen und Wei- steigt ein und ist nie ganz sicher, wann man
chen seit 1994 halbiert worden wäre und die wo wieder aussteigt.
Betriebslänge von 40.000 auf 33.000 Kilo- Aber immerhin, es bewegt sich etwas.
meter reduziert, wenn die Bahn ihre Schie- Barbara Hardinghaus, Serafin Reiber,
nen, Weichen und Oberleitungen gepflegt Bedarfshalt Kating, Nordfriesland Alexander Smoltczyk, Barbara Supp n

52 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


REPORTER

auf mich vergiftet: Döpfners Worte,


die Leute, die sie weitergaben, die,
die sie veröffentlichten. Auch wir, die
die Veröffentlichung kommentieren.
Auch die, die behaupten, aus all dem

Unter Kannibalen
Mist Kunst spinnen zu können. Am
seltsamsten aber finde ich Springer-
Kollegen, die sich vom Inhalt der
Mails distanzieren und gleichzeitig
weiter mitspielen wollen.
LEITKULTUR  Alexander Osang dachte darüber nach, sein Vermächtnis Jemand von ihnen schrieb auf
für die deutsche Wissenschaft zu manipulieren, ließ es dann aber. Twitter, seine Eltern stammten aus
dem Osten, und er sei stolz auf sie.

I
Vermutlich versuchte er damit die Be-
ch will in keinen Krieg ziehen, merkung seines Chefs, die Ossis seien
bin aber Mitglied einer nationa- entweder Faschisten oder Kommu-
len Kohorte. 200.000 Deutsche nisten, zu relativieren. Es war ja nicht
zwischen 20 und 69 Jahren wurden alles schlecht. Ich habe eine Tante,
für eine Studie zu Volkskrankheiten die ihre Herkunft gern so zusammen-
ausgewählt. Alle fünf Jahre werden fasst: »Meine Mutter war beim Kom-
wir intensiven Tests unterzogen. Ich somol und mein Vater bei der Hitler-
war gerade zum zweiten Mal dran. Ein jugend.« Sie selbst wurde Ärztin in
paar Tage zuvor entdeckte ich bei Pankow, eine gute.
einem Abendessen am Handgelenk Einen der Westjournalisten, die
einer Nachbarin ein Langzeit-EKG. gerade Verständnis für die ostdeut-
Sie ist auch dabei, und ich sah ihren schen Seelen äußern, habe ich mal
Stolz. Wir sind Auserwählte, unsere in einer Reisegruppe der Bundeszen-

Alexander Osang / DER SPIEGEL


Blutwerte werden im großen deut- trale für politische Bildung in Israel
schen Gedächtnis gespeichert. Die erlebt. An einem Abend sollte die
Resultate werden anonym behandelt, Gruppe eine Kundgebung besuchen,
heißt es, aber ich habe dennoch das die in einem Park von Tel Aviv an die
Gefühl, im bedeutendsten Wettkampf Toten des Nahostkonflikts erinnerte.
meines Lebens anzutreten, gleich nach Premierminister Netanyahu kritisier-
dem New-York-City-Marathon und te die Versammlung als unpatriotisch,
dem Tischtennisturnier der Tausend der Kollege von Springer kam darauf-
des Bezirks Neubrandenburg. lege Bernd Ulrich hat vor einiger Zeit Beim Fleischer in hin nicht mit in den Park. Er verpass-
Die erste Hälfte meiner Tests fand in einer Art Predigt, die das »Zeit-Ma- Berlin-Prenzlauer te dort die Rede des israelischen
Berg
vor ein paar Tagen in der Berliner gazin« druckte, Menschen getadelt, Schriftstellers David Grossman, der
Charité statt. Meine Werte waren ganz die darauf stolz sind, nur sehr selten einen Sohn im Libanonkrieg verloren
gut, glaube ich. Was Lungenvolumen, Fleisch zu essen. Menschen wie mich. hatte. Grossman beschrieb, wie er
Body-Mass-Index und inneres Bauch- Welche Art von Leber, wollte der seinen Hass auf die Mörder zu kon­
fett angeht, lag ich deutlich besser als Nako-Fragebogen wissen. Kalbs­leber. trollieren versucht, weil Hass seinen
meine männlichen Mitbewerber. Oh- Ich fühlte mich wie ein Kannibale. Ich Schmerz nicht lindern kann. Mein
ren, Augen und Nase funktionierten, hörte die Kälber schreien. Kollege erfuhr nicht, dass es unmög-
ebenso mein Gedächtnis. Ich sollte in Ich hatte das spontane Bedürfnis lich ist, immer auf der richtigen Seite
einer Minute so viele Tiere aufzählen zu lügen oder wenigstens eine Art zu stehen. Schon gar nicht als Deut-
wie möglich. Ich kam auf 48. Darun­ter kommentierten Speiseplan abzuge- scher in Israel.
Ozelot und Kragenbär, der Trauer- ben. Ja, ich habe gestern ein kleines Ich habe mal die Band Lynyrd Sky-
schnäpper und die Hummel. Stück Leber gegessen, habe aber auch nyrd im amerikanischen Präsident-
Nach viereinhalb Stunden wurde schon drei Jahre lang vegetarisch ge- schaftswahlkampf begleitet. Sie
ich mit einem Bewegungsmesser so- lebt. Mein Lieblingskochbuch präsen- unterstützten den Krieg, den ihr Prä-
wie verschiedenen Fragebögen nach tiert vegane Gerichte aus dem Nahen sident im Irak entfesselt hatte, nur der
Hause geschickt. Einer erfasste meine Osten. Meine letzte Weihnachtsgans Schlagzeuger trug ein T-Shirt mit
Ess- und Trinkgewohnheiten der letz- hatte, soweit ich das einschätzen ­Peace-Zeichen. Er trommelte »Sweet
ten 24 Stunden. kann, ein gutes Leben geführt und Home Alabama« im Gedenken an
Nichts leichter als das. Ich trinke kostete 180 Euro. Ich erinnerte mich den Weltfrieden, während der Sänger
seit über einem Vierteljahr keinen Al- an einen Kollegen der »Berliner Zei- mit der Konföderiertenflagge über die
kohol, ich frühstücke gern Porridge tung«, der 1989 bei den ostdeutschen Meine letzte Bühne rannte.
mit frischen Beeren. Ich esse so gut
wie kein Fleisch. Ich lag weiter gut im
Skandalwahlen einen Wahlzettel mit
lauter Jastimmen abgab, an dessen
Weihnachts- Die Familie kann man sich nicht
aussuchen, die Band schon.
Rennen der Kohorte. Da fiel mir ein, Rand er jedoch Kritik an der Situation gans hatte ein Ich füllte meinen Speiseplan wahr-
dass ich gestern Abend ein Stück im Land notierte, mit Bleistift. Und glückliches heitsgemäß aus und schickte ihn ab.
­Leber gegessen hatte. Das hatte ich dann er­innerte ich mich an die Be- Eine Schlachteplatte für die Ewigkeit.
seit Jahren nicht getan, aber gestern kenntnisse von Kollegen nach dem Leben geführt. Ich gehe als ostdeutscher Esser von
erwachte bei Fleischer Erchinger auf »Zeit«-Bericht über die Chats des Soweit ich das Innereien ins Rennen. Das ist mein
der Greifswalder Straße der Wolf in Springer-Chefs Mathias Döpfner. Vermächtnis für die deutsche Wissen-
mir. Es war köstlich, aber kaum noch Es gibt eigentlich nichts Gutes in einschätzen schaft. Ich bin der Wolf vom Prenz-
erklärbar in meiner Umgebung. Kol- dieser Sache zu berichten. Alles wirkt kann. lauer Berg. n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 53


WIRTSCHAFT

Anshuman Poyrekar / Hindustan Times / IMAGO


Apple-Chef Tim Cook (r.) geriet ganz aus dem Häuschen, als Sajid Moinuddin (M.) ihm seinen Macintosh-Computer von 1984 vorstellte.
Der Mann hatte mit seinem Museumsstück seit sechs Uhr in der Früh in der Schlange vor dem Bandra-Kurla-Komplex im indischen Mumbai
­ausgeharrt. Dort war am Mittwoch der erste Apple-Store des Subkontinents eröffnet worden.

Deutschland reißt die Latte


NEUVERSCHULDUNG  Das Minus im deutschen Staatshaushalt könnte 2023 wieder deutlich über der Obergrenze
von drei Prozent liegen. In den kommenden Jahren soll das Defizitkriterium aber wieder eingehalten werden.

D as deutsche Staatsdefizit wird 2023


voraussichtlich erneut deutlich höher
ausfallen als nach dem Stabilitäts-
und Wachstumspakt erlaubt. Das Bundes­
sen an der Wirtschaftsleistung, dieses Jahr
bei knapp unter 68 Prozent – und sinkt
ebenfalls. Bis 2026 auf 65,5 Prozent. Der
EU-Stabilitätspakt sieht jedoch eine Ober-
geplanten Defizits für dieses Jahr gehen auf
die von der Bundesregierung beschlossene
Gas- und Strompreisbremse zurück, auch
bekannt als »Doppelwumms«. Berlin
finanzministerium (BMF) rechnet in seinem grenze von 60 Prozent vor. Damit dürfte kommt aber absehbar mit weniger Geld
neuen »Stabilitätsprogramm« mit einem die Bundesregierung diese Vorgabe bis Mit- aus. Auch andere Etatposten können sich
Minus von Bund, Ländern, Gemeinden und te des Jahrzehnts verfehlen. Das Bundes­ noch anders entwickeln als geplant. Finanz-
­Sozialversicherungen von knapp über vier kabinett wird das neue Stabilitätsprogramm minister Lindner (FDP) selbst hatte seine
Prozent der Wirtschaftsleistung. Erlaubt am kommenden Mittwoch beschließen und Fachleute bei den jährlich nach Brüssel zu
sind eigentlich höchstens drei Prozent. an die EU-Kommission in Brüssel melden. meldenden Schuldenzahlen vor eine große
­Allerdings sind die Maastricht-Vorgaben Die offizielle Defizitschätzung des BMF für Herausforderung gestellt: Grundlage sind
wegen Coronapandemie und Ukrainekrieg 2023 liegt damit fast doppelt so hoch wie normalerweise die Haushaltseckwerte aus
ausgesetzt. Im kommenden Jahr soll das die der führenden Wirtschaftsforschungs­ dem März. Lindner hatte sie kürzlich ab­
Defizit deutlich sinken, auf etwas unter institute aus ihrem jüngsten Frühjahrsgut- gesagt, weil er sich mit dem restlichen Kabi-
zwei Prozent. In den beiden Folgejahren achten. Grund dafür ist, dass das BMF mit nett nicht über die einzelnen Etats einigen
wird es dann laut den internen Zahlen noch Planzahlen rechnet, die Institute jedoch die konnte. Die BMF-Beamten mussten sich
einmal einen Prozentpunkt niedriger aus- tatsächliche Entwicklung vorwegzunehmen deshalb damit behelfen, Etatansätze fort­
fallen. Die Staatsverschuldung liegt, gemes- versuchen. Allein drei Prozentpunkte des zuschreiben und Werte zu aktualisieren. REI

56 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


Brüssel versagt Bankenviertel in
Frankfurt am Main
Ostdeutschland vor lungsort wäre nach wie vor das
­sachsen-anhaltische Thalheim,
­Sparern mehr Schutz Solarboom dezentral könnten auch an zehn
FINANZKRISE  Die EU-Kom- ENERGIEWENDE  Der Schwei- weiteren Standorten Solar­
mission weigert sich trotz rasan- zer Fotovoltaik-Hersteller module gefertigt werden. 5000
ter Inflation, die Sicherungs- Meyer Burger will die Zahl sei- direkte Arbeitsplätze stellt der
summe von Spareinlagen zu er- ner Standorte verzehnfachen Solarhersteller in Aussicht.

Boris Roessler / dpa


höhen. Seit 2010 müssen in der und im Solar Valley bei Bitter- ­Ansiedlungsangebote bekommt
EU Bankeinlagen bis 100.000 feld-Wolfen eine Solarproduk- Meyer-Burger-Chef Erfurt
Euro pro Sparer durch nationale tion von bis zu 15 Gigawatt ­jedoch auch aus den USA, wo
Systeme abgesichert sein. In­ ­er­richten. Das entspricht un­ das Milliarden-Förderprogramm
flationsbereinigt müsste diese gefähr einem Fünftel der bisher »Inflation Reduction Act« be-
Marke heute bei mehr als hat die jüngste Geldentwertung in Deutschland installierten reits in Kraft getreten ist. Ent-
123.000 Euro liegen, schreibt also gar nicht berücksichtigt. ­Leistung. Man habe bereits sprechende europäische Förder-
die Kommission in der Antwort Laut Gesetz muss die Brüsseler ­Ge­bäude und Liegenschaften programme sind noch nicht so
auf eine Anfrage des FDP-Euro- ­Behörde die Deckungssumme ­ge­sichert, sagt Vorstandschef weit. »Die USA rollen uns den
paabgeordneten Moritz Körner. regelmäßig überprüfen – und ­Gunter Erfurt. Der Aufbau der roten Teppich aus«, sagt Erfurt.
Doch die Kommission verwei- könnte eine Erhöhung praktisch Produktionslinien solle stufen- Man brauche jetzt Klarheit,
gert sich, die Summe anzupas- im Alleingang beschließen. weise bis 2027 erfolgen. Bislang um »Investitionsentscheidungen
sen. »Das Hauptziel der Richt­ »Während Einkommen und existiert eine Fabrikation für für Deutschland und Europa
linie besteht nicht darin, vor Preise steigen, bedeutet die 1,4 Gigawatt. Zentraler Herstel- treffen zu können«. GT
­Inflation oder wirtschaftlichen ­unveränderte Deckungssumme
Schwankungen zu schützen«, für deutsche Sparer eine Reduk-
antwortete die zuständige EU- tion des realen Einlagenschut-
Kommissarin Mairead Mc­ zes im Krisenfall«, kritisiert
Guinness auf Körners Anfrage. Körner. In den USA sei die
­Zudem sei die Europäische ­Einlagensicherung mit 250.000
­Bankenaufsichtsbehörde zu Dollar mehr als doppelt so hoch
dem Ergebnis gekommen, wie in der EU. »Eine Erhöhung
dass die Deckungssumme von des Einlagenschutzes wäre im
100.000 Euro »angemessen« Interesse aller Konsumenten
sei. Allerdings stammt diese und Unternehmen in der EU«,
Analyse aus dem Jahr 2019, so Körner. MBE
Meyer Burger

Zögern wird für tungsgesellschaft hat drei unter-


schiedlich ehrgeizige Strategien Solarzellenproduktion bei Meyer Burger
­Autobauer teuer für die Dekarbonisierung durch-
VERKEHR  Die deutschen Auto- gerechnet. Demnach dürften
hersteller könnten mit ihren alle Hersteller wegen der Um- FDP-Spenden von Döpfner vor der Bundestags-
Strategien für die Klimawende stellungskosten über mehrere wahl über die »Bild«-Zeitung
im Wettbewerb zurückfallen, Jahre Verluste machen. Wer nur Springer-Aufsehern versuchte, die Partei zu unter-
wenn sie zu zögerlich vorgehen. nach Vorschrift handelt (Strate- MEDIEN  Zwei Aufsichtsräte stützen. »Kann man noch mehr
Wer nur das tue, was er nach gie 1) oder ein bisschen mehr tut des Axel-Springer-Konzerns für die FDP machen?«, schrieb
aktueller Regulatorik müsse, (2), ist zunächst profitabler, ver- spendeten im Wahlkampfjahr Döpfner. »Die sollten 16 Pro-
um die CO2-Emissionen zu re- liert aber mit zunehmender Be- 2021 jeweils 50.000 Euro zent mindestens kriegen.« Zwei
duzieren, werde »langfristig aus deutung der E-Mobilität Markt- an die FDP. Nach Recherchen Tage vor der Wahl for­derte er
dem Markt gedrängt«, warnt anteile. Der von Deloitte als des SPIEGEL und des Portals den damaligen »Bild«-Chef Ju-
Harald Proff, Partner bei De­ »Frontrunner« bezeichnete, fik- Abgeordnetenwatch.de handelt lian Reichelt auf: »Please Stärke
loitte. Die Prüfungs- und Bera- tive Hersteller könne dagegen es sich bei den Geldgebern um die FDP.« Außerdem soll sich
bis 2050 seine Marktanteile ver- Philipp Freise und Johannes Döpfner nach SPIEGEL -Recher-
doppeln und die Gewinnmarge Huth, Manager der Beteili- chen im Herbst 2021 für eine
deutlich steigern. Er setzt laut gungsgesellschaft KKR, die 35,6 Anstellung von Franca Lehfeldt,
Studie ab 2030 voll auf E-Autos Prozent an dem Verlag besitzt. Journalistin und Partnerin von
und investiert viel, um auch Dass die Zuwendungen erst FDP-Chef Christian Lindner,
in der Lieferkette den CO2-Aus- jetzt öffentlich werden, liegt bei »Bild« eingesetzt haben,
stoß zu minimieren. VW hatte an ihrer Höhe: Großspenden bis was Springer bestreitet (siehe
zuletzt das Elektrifizierungsziel 50.000 Euro müssen nicht auch Seite 22). Freise und Huth
für Europa auf 80 Prozent ­sofort, sondern erst im Rechen- sagten auf Anfrage, sie hätten
bis 2030 angehoben. Wie BMW schaftsbericht der Parteien an- ihre Spende »als Privatperson/
(50 Prozent bis 2030) und gezeigt werden. In den vergan- Bürger getätigt« und möchten
­Mercedes (50 Prozent bis 2025) genen Tagen sorgte die Nähe sich »gegenüber Dritten nicht
sind die Wolfsburger dennoch der FDP zum Springer-Verlag, weiter dazu äußern«. Bereits
we­niger ambitioniert als etwa in dem »Bild« und »Welt« 2017 hatte Freise 15.000 Euro
Paul Langrock / laif

­Stellantis, Renault und Volvo. ­erscheinen, für Schlagzeilen. an die CDU und 30.000 Euro
Konkurrenten wie Tesla, Nio ­E-Mails und Chats, die die an die FDP gespendet. Huth
Volkswagen ID.4 und Xpeng sind ohnehin reine »Zeit« veröffentlicht hatte, zeig- unterstützte die FDP damals
E-Auto-Anbieter. MHS ten, wie Vorstandschef Mathias mit 20.000 Euro. SVE, RAI

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

Platzt die Benko-Blase?


SIGNA  Steigende Zinsen, fallende Preise: Das Reich von Immobilienkönig René Benko
gerät gefährlich in Schieflage. Banken sehen den einstigen Topkunden inzwischen skeptisch,
private Investoren sind beunruhigt – und im Management belauert man sich.

Peter Rigaud / laif

Milliardär Benko

58 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WIRTSCHAFT

D
er österreichische Immobilienmil- bringlichen Lagen« der »besten Städte« (Ori- Die Aufwertungen sind zentraler Bestand-
liardär René Benko galt stets als ginalton Benko) weiter zu steigern, mitunter teil des Geschäftsmodells: Mit geliehenem
jemand, der gern herzeigt. Sein ins Unermessliche. Mehr als 20 Milliarden Geld kauft, plant und entwickelt Benko Lie-
feudales Leben auf der Jacht, der Euro ist sein Portfolio heute schwer. Zumin- genschaften. Damit steigt ihr Wert in seinen
Jagd oder den Skiern; seine Gattin dest auf dem Papier. Büchern. So kann der Milliardär neues Kapi-
Nathalie beim jährlichen Törggelen-Stelldich- Doch seitdem die Notenbanken die Zinsen tal akquirieren – und hohe Summen an seine
ein; seine geschäftliche Macht im Palais Har- angehoben haben, seitdem die Baukosten mit- Investoren ausschütten, allein zwischen 2020
rach, mitten im feinen 1. Wiener Bezirk. Den unter exponentiell steigen, seitdem Kunden und 2022 mehr als 500 Millionen Euro. Doch
großzügigen Aufgang säumten Modelle seiner die Lust am Einkaufen und Angestellte die damit solche Deals funktionieren, braucht es
schönsten Projekte, oben, in der herrschaft- auf den Büroalltag verloren haben, geht es niedrige Zinsen, einen boomenden Markt und
lichen Beletage, beeindruckten Stuck, Kunst für die erfolgsverwöhnte Branche bergab. liquide Mittel. Stützen, die derzeit maximal
und Parkett. Die Zentrale von Benkos Im- Nach einer ungewöhnlich langen Hausse wer- ein Kartenhaus tragen.
mobilienfirma Signa war einladender und zu- den Immobilien für Investoren wieder unin- Aus dem sicher geglaubten Business ist ein
gänglicher als manches Wiener Altbauwohn- teressanter. Zahlreiche Real-Estate-Konzerne Vabanquespiel geworden. Liegenschaften, die
zimmer. Jedenfalls bis vor Kurzem. stecken in Schwierigkeiten: Deutschlands gerade noch für mitunter neunstellige Sum-
Neuerdings erleben Besucher, wie der ba- größter Vermieter, die Vonovia, verkündete men in Benkos Büchern standen, verlieren
rocke Charme abgeriegelt wird. Am Eingang jüngst einen Neubaustopp. Die Adler-Gruppe dramatisch an Wert. Projekte wie die neue
des Palais erwartet sie jetzt eine Sicherheits- lässt viele Baustellen seit Monaten ruhen. Düsseldorfer Oper, die auf einem Signa-
schleuse. Es gibt Kameras, Flatscreens, Tech- Besonders gefährdet sind jene, die schon Grundstück entstehen sollte, oder die Alte
nik, wohin das Auge blickt. Der Empfang be- zu guten Zeiten kein Risiko scheuten. Auch Akademie in München werden abgesagt oder
steht darauf, dass Gäste ihre Mobilgeräte in deshalb sind sie bei der Signa gerade extrem stocken. In Benkos Chrysler Building stehen
eine Bleischatulle legen, damit niemand aus nervös: Die Signa Prime, in der Benko seine ganze Etagen leer.
dem Gebäude etwas senden kann. An den wertvollen Bestände bündelt, erwirtschaftet Benko selbst muss aufpassen, dass er die
Fenstern schirmt Reflektorfolie neugierige ihre Gewinne zum Großteil, indem sie hohe Kontrolle behält – und sucht offenbar drin-
Blicke ab. Wertsteigerungen für ihre Gebäude verbucht. gend Käufer für mehr als ein Dutzend Ge-
Aus der Wohlfühloase ist eine Trutzburg Eine von Benkos Hausbanken sieht laut einer bäude. Sein Immobilienimperium, so scheint
geworden. Als versuchte Benko, all das internen Analyse in ihnen den »Haupttreiber« es, bröckelt. Die große Frage, so sagt es ein
Schlechte da draußen von sich fernzuhalten: des Profits. Banker in Wien, »ist nicht mehr, ob es fällt«.
die steigenden Zinsen, die fallenden Immo- Sondern: wie viel man werde retten können.
bilienwerte, den darbenden Handel – jene Die Europäische Zentralbank zeigt sich
widrigen Umstände, die seinem Geschäft ge- Benko, sein Reich alarmiert, lässt seit Monaten die Verbindun-
rade so massiv zusetzen. Und als wäre das und seine Miteigentümer gen der von ihr beaufsichtigten Institute mit
nicht schon gefährlich genug, plagen ihn auch der Signa einsehen, wohl um das Risiko ein-
noch interne Machtkämpfe und fragwürdige Besitzverhältnisse der Signa Holding GmbH schätzen zu können. In Frankfurt und Wien
Vertraute. Familie Benko Familie scheinen die Banken kaum noch gewillt, neue
Jahrelang galt René Benko als das Wunder- 44,49 % Koranyi- Geschäfte mit Benko einzugehen. Deutsch-
kind der Immobilienzunft. Als einer, für den Arduini lands große Immobilienfinanzierer Helaba,
21,55 %
es steiler bergauf ging als für alle anderen. Aareal oder Commerz Real blicken skepti-
Der mutiger war als seine Konkurrenten und Familie scher auf ihren Stammkunden. Die österrei-
dem trotzdem alles zu gelingen schien. Der Hasel- chischen Raiffeisen-Banken, bei denen die
sich reihenweise Topprojekte in halb Europa steiner Signa mit rund zwei Milliarden Euro in der
sicherte, über die man in der Zunft nur stau- 15 ,0 % Kreide stehen soll, sind angehalten, ihr »Ob-
Ernst
nen konnte: das Goldene Quartier in der Wie- Tanner
ligo« weiter zu reduzieren. Und selbst in Tei-
ner Innenstadt, den Elbtower in Hamburg, 3 ,0 % len der Deutschen Bank fürchten sie neuer-
Arthur
das Upper West in Berlin. Der das KaDeWe Torsten Toeller Eugster dings das Reputationsrisiko – obwohl man
kaufte, das Chrysler Building in New York 4,46 % 11,5 % dort sonst eher wenig Skrupel kennt.
City und das weltberühmte Hotel Bauer in Auch bei den Privatinvestoren rumort es.
Venedig. Ein »Wunderwuzzi«, wie sie in Ös- Ausgewählte Sparten der Signa Holding Der Hamburger Speditions-Großunterneh-
terreich sagen, der es in nur 25 Jahren vom Signa Holding mer Klaus-Michael Kühne, eingestiegen schon
Schulabbrecher zum Multimilliardär brachte, vor Jahren und mittlerweile zweitgrößter
indem er nicht nur eines von Europas größten Retail Real Estate
­Anteilseigner der Prime, hatte lange große
Immobilienunternehmen erschuf, sondern Stücke auf Benko gehalten. Jüngst gab er im
Prime Selection
wie nebenbei noch aus Karstadt, Kaufhof und Handels- Bewirtschaftung von Bestands-
manager magazin zu Protokoll, das Geschäft
zuletzt Selfridges ein Warenhausimperium unternehmen, immobilien, z. B. Galeria-Waren- sei »derzeit etwas volatil; das Thema haben
zimmerte, das seinesgleichen sucht – und bei z. B. Galeria- häuser und KaDeWe Berlin wir unter Beobachtung«.
Warenhäuser,
dem Wirtschaftsgrößen wie Wendelin Wie- Sports United- In der Signa wurde das als Kampfansage
Luxury Hotels
deking, Robert Peugeot und Klaus-Michael Webshops
Entwicklung und Vermarktung, verstanden. Der Milliardär habe »die Pistole
Kühne über die Jahre Schlange standen, um z. B. Park Hyatt in Wien und auf den Tisch gelegt«, sagt ein Manager aus
ihr Geld anlegen zu dürfen. Bauer Palazzo in Venedig der Signa-Zentrale in Innsbruck, wolle offen-
Solange Kapital wenig kostete und alle sichtlich schnellstmöglich aussteigen. Benko
Welt neue, größere, immer schickere Büros US-Selection selbst soll nach SPIEGEL-Informationen Küh-
Immobilien in den USA,
und Läden mieten wollte, war das Immobi- z. B. das Chrysler Building ne bekniet haben, noch einmal über alles zu
liengeschäft eine Goldgrube – und René Ben- reden. Eine reguläre Verkaufsoption hat Küh-
ko derjenige, der mit viel Fleiß und Chuzpe ne wohl erst in zwei Jahren, man sei »im gu-
die größten Nuggets heimtrug. Wo es groß, Development ten Einvernehmen und in laufenden Gesprä-
Entwicklung und Verkauf
hoch und teuer wurde, war Benko nie weit. von Projekten chen mit Herrn Benko«.
Und er vermochte es stets, die Werte seiner Wie widrig die Umstände sind, zeigte sich
»einzigartigen Gebäude«, in den »unwieder- S Grafik; Besitzverhältnisse zum Teil über Zwischenfirmen gerade in Cannes. Auf der Immobilienmesse


Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

Mipim werden die ganz großen Deals von Immobilien« entbehrten »schlicht stünde. Sollten andere seiner Liegen-
gemacht, häufig bei ausgelassenen jeder Grundlage«. So verhalte es sich schaften mit ähnlich hohen Abschlä-

Franziska Krug / Getty Images


Gelagen mit Champagner und Aus- mit »den meisten Aussagen«, zu gen wie KaDeWe und Mariahilfer
tern auf den Luxusbooten, die eng an denen der SPIEGEL Benko um Stel- Straße den Besitzer wechseln, könn-
eng in der örtlichen Marina liegen. lungnahme bat: entstanden wohl te die Signa in Schieflage geraten.
Dieses Jahr ließ sich dort ein René »auch auf Grundlage von Falschinfor- Schon heute sind die Immobilien
Benko beobachten, der auf seiner mationen, aber auch von gefälschten bei einigen Signa-Entwicklungen mit
Jacht »Roma« so ganz und gar nicht Dokumenten«. bis zu 60 Prozent ihres Wertes mit
in Feierlaune schien, sondern nervös Für das weltberühmte KaDeWe- Schulden belastet, wie aus einem An-
Geschäftstermine absolvierte. Fast Gebäude jedenfalls hat Benko schon leiheprospekt hervorgeht, der dem
verzweifelt, sagt einer, der nah dran vor einigen Wochen einen Käufer SPIEGEL vorliegt. Die Signa selbst
ist, versuche er, die Fassade aufrecht- ­gefunden, die thailändische Central- rechnete zuletzt mit etwas weniger
zuhalten. Gruppe, mit der er schon den Lon­ als 50 Prozent. Allein das wäre ein

Marcus Simaitis / laif


Die gesamte Branche kämpft mit doner Konsumtempel Selfridges be- sportlicher Wert.
Problemen, der Zinsanstieg drückt treibt. Über den Preis schweigt man Dieser »Loan to Value«-Indikator
auf die Gebäuderenditen und lässt in Innsbruck eisern – weil es die Si­gna ist in der Finanzbranche eine zentra-
deren Werte schmelzen. Selbst einst wohl in Bedrängnis brächte, wenn le Kennziffer, um das Risiko bei der
gefragte Objekte werden zu Laden- bekannt würde, worüber sie sich in Kreditvergabe zu bewerten. Der Im-

Henning Kretschmer / Agentur Focus


hütern. Signa-Wettbewerber Around- Bangkok so diebisch freuen: Gerade mobilienwert wird dafür von Gutach-
town musste für das Geschäftsjahr einmal 200 Millionen Euro sollten tern geschätzt. Wäre Benkos Portfolio
2022 den Wert seines 24 Milliarden laut einer vertraulichen Notiz an Si- am Markt tatsächlich weniger wert
Euro schweren Immobilienportfolios gna gehen, für die Hälfte einer Im- als in den Büchern notiert, würde die
um eine halbe Milliarde Euro redu- mobilie, die zuletzt mit mehr als 1,3 Schuldenquote deutlich steigen – und
zieren – der Kurs brach ein, die Divi- Milliarden Euro in Benkos Büchern am Ende womöglich das Limit so
dende wurde gestrichen, »weitere stand. Zwar sollen Schulden auf der mancher Bank überschritten. Die In-
Wertberichtigungen« stehen laut Liegenschaft lasten, aber der niedrige stitute könnten in diesem Fall Kredi-
Analysten aus. Der Immobilienkon- Preis verwundert doch. Zumal es Manager Berning- te fällig stellen und damit eine Ab-
zern LEG wertete zuletzt um vier noch ein weiteres Bonbon für die haus, Fanderl, wärtsspirale für Benko auslösen.
Prozent ab und ließ die Aktionäre Thais gab: Weil es offensichtlich Investor Kühne: Um einen solchen GAU zu verhin-
»Die Pistole auf
ebenfalls leer ausgehen. »Der Markt schnell gehen musste, entstand nach den Tisch gelegt« dern, ist der Milliardär auch in der
steht«, sagt Kurt Zech, Baulöwe aus SPIEGEL-Informationen der Plan, das arabischen Welt auf der Suche nach
Bremen, beim Kaffee auf seinem Geld als Kurzzeitkredit an die Signa Geldquellen. Als im vergangenen
Boot, das direkt neben der »Roma« zu geben und erst später in Gebäude- Jahr die Ermittler der österreichi-
liegt. »So habe ich das seit vielen anteile umzuwandeln. Zinssatz: bis schen Wirtschafts- und Korruptions-
­Jahren nicht erlebt. Keiner will ins zu 14 Prozent. staatsanwaltschaft Signa-Büros in
fallende Messer greifen.« Auch das stolze Handelsgebäude Wien und Innsbruck durchsuchten,
Benko nimmt offenbar tiefe Ein- in der Wiener Mariahilfer Straße um Benko einer möglichen Beste-
schnitte in Kauf. Zwar kann er in 38/40 gehört nicht mehr zu Benkos chung zu überführen, weilte der Mil-
­seinen Bestandsgebäuden weiterhin Reich. Laut Grundbuch griff der liardär nach SPIEGEL-Informationen
hohe Mieten kassieren, die Kosten Kaufmann Freddy Schmid das Haus in Saudi-Arabien, wo Österreichs Ex-
für neue Projekte aber gehen durch in der Fußgängerzone für überschau- Kanzler Sebastian Kurz ihm Türen
Inflation, Zinsanstieg und explodie- bare 38 Millionen Euro ab. Ende 2020 geöffnet haben soll. Kronprinz Mo-
rende Baukosten ebenfalls durch die stand es noch mit mehr als 50 Millio- hammed bin Salman al-Saud glaubte
Decke. Ist seine Lage schon so dra- nen Euro in Benkos Büchern. an ein gutes Geschäft, als er zig Mil-
matisch, dass er die womöglich letzte Benko, berichten jene, die ihn Benko mit Frau lionen Euro in Benkos Signa Sports
Karte zieht? noch treffen, sei »extrem nervös«, Nathalie und United (SSU) investierte.
Seit Wochen machen Preise und rauche schon vormittags Zigarren. Österreichs Mittlerweile dürfte sich die Stim-
Ex-Kanzler Kurz
Lagen in der Branche die Runde, auch Solche Notverkäufe zeigten nicht nur, in Wien: Einer,
mung abgekühlt haben. In dem
von sogenannten Trophy Assets, wie dringend er Geld benötigte. Son- der immer gern Kunstgebilde wurde mit viel Tamtam
eigentlich ausgestattet mit Benkos dern auch, was für ihn auf dem Spiel herzeigt das Sport-Handelsgeschäft an die
»Ewigkeitsgarantie«. Signa werfe New Yorker Börse gebracht. Von Ben-
»mehrere Immobilien auf den Markt. ko als »hochprofitabel« gefeiert, ent-
Sie sind gehörig unter Druck«, sagt puppt sich die SSU als hochmiserabel.
ein gewichtiger Investor. Benkos Aus- Seit dem Börsengang hat sich der
verkauf, ob ganze Gebäude oder nur Kurs mehr als halbiert, und es ist eine
Anteile, sei inzwischen ja fast halbe Milliarde Euro Verlust aufge-
­»Stadtgespräch«, erzählt ein Kenner laufen. Signa musste mehr als 200
der Wiener Immobilienszene beim Millionen Euro an Garantien geben,
Abendessen. Auf Listen, die dem um den Kurs zu stützen.
SPIEGEL vorliegen, finden sich mehr In Abu Dhabi soll Benko versucht
als ein Dutzend Liegenschaften, die haben, den dortigen Staatsfonds Mu-
Katja Haas / Agency People Image

offensichtlich abgestoßen werden sol- badala kürzlich zum Einstieg in meh-


len. Selbst für Prestigeobjekte wie rere seiner europäischen Eins-a-La-
den Elbtower oder die Frankfurter gen zu bewegen sowie laut dem öster-
Hauptwache sucht Benko offenbar reichischen »Standard« in die SSU.
Partner, die einsteigen. Die Staatsfondsmanager halten Be-
Signas Anwalt dementiert. Die teiligungen im Wert von knapp 300
»unterstellten geplanten Verkäufe Milliarden Dollar, sind bei Ferrari

60 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WIRTSCHAFT

Milliarden-Portfolio dem nichts sagt, über die Aries der Signa in


Rechnung gestellt.
Dass es mit dem unbedingten Vertrauen
in der Führungsetage nicht mehr zum Besten
steht, zeigt der Fall Stephan Fanderl. Der Ma-
Goldenes Quartier, Wien**
nager war bei Benko lange hoch angesehen,
Buchwert: 500 Mio. € bis der Verdacht der Bereicherung aufkam.
Elbtower, Hamburg* Fanderl kennt Berninghaus seit gemeinsa-
Buchwert: 1,5 Mrd. € men Zeiten in Köln. 2018 stieg er bei Signa
zum Chef der fusionierten Warenhauskette
Galeria Karstadt Kaufhof auf. Damals hoffte
Benko noch, Fanderl könnte das Unterneh-
men retten. Inzwischen haben sich die beiden
getrennt. Ende 2021 ging die Wirtschaftsprü-
fungsgesellschaft EY in einem Sonderunter-
suchungsbericht auf 62 Seiten dem Verdacht
nach, Fanderl könnte über Jahre die Signa
ausgenommen haben, indem er »Cyber-Se-
curity-Dienstleistungen« an eine zwielichtige
Sicherheitsfirma vergab, die ein überhöhtes
Angebot vorgelegt hatte. Dem Papier zufolge
soll er womöglich mehrere Zehntausend Euro
über »Kickback-Zahlungen« des Unterneh-
mens namens DSIRF erhalten haben. Dieses
hat eine dubiose Software zur Gesichtserken-
nung im Angebot, unterhält Kontakte nach
Alsterhaus ­Hamburg** Russland und tauchte im Kosmos des Wire-
Buchwert: 350 Mio. € card-Strippenziehers Jan Marsalek auf.
Fanderl streitet alles ab, lässt wissen, dass
KaDeWe, Berlin** man vielleicht bewusst unvollständig infor-
Buchwert: 1,3 Mrd. €
miert wurde. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Dokumente zeigen, das sich Fanderl mit
Signa im vergangenen Herbst auf Stillschwei-
gen einigte: Der Ex-Warenhausdirektor er-
klärte sich demnach bereit, auf jene 1,5 Mil-
lionen Euro zu verzichten, die ihm als Abfin-
dung noch zugestanden hätten. Im Gegenzug
sicherte die Signa zu, etwaige Ansprüche
gegen den Manager nicht weiter zu verfolgen.
Der Fall hätte das Zeug haben können,
auch Berninghaus’ Renommee öffentlich zu
beschädigen. Zumal der Mann eine Vorge-
Kaufhaus MaHü, Wien* schichte hat: 2006 war der damalige Rewe-
Buchwert: 615 Mio. €
Chef vom Landgericht Köln zu zwei Jahren
auf Bewährung verurteilt worden, nachdem
Viennarepor t / IMAGO, Nobu Hotels, Hanno Bode / IMAGO, Schoening / imageBROKER / picture alliance,

Alte Akademie, ­München** er für den Handelskonzern eine Internetfirma


Buchwert: 400 Mio. € deutlich zu teuer gekauft – und dabei, im zar-
ten Alter von 40 Jahren, mehr als sechs Millio­
nen Euro für sich selbst erwirtschaftet hatte.
Bildverlag Bahnmüller / imageBROKER / picture alliance, Gerhard Wild / picture alliance

* Marktwert nach Fertigstellung, ** Stand Dezember 2020 Mit Benko ist Berninghaus mittlerweile
enger verbandelt, als viele ahnen. Laut inter-
ebenso engagiert wie bei Google-Mutter Al- von Galeria Kaufhof und Karstadt vorantrieb, nen Unterlagen sind die Firmen von Benkos
phabet. Benko jedoch, so ist zu hören, bestieg den Kauf von Selfridges eintütete und sich langjährigem Weggefährten über sogenannte
seinen Privatjet am Ende ohne Deal. schließlich die SSU ausdachte. An all diesen Phantom Stocks an der Signa wirtschaftlich
Die binnen drei Jahren mittlerweile zwei- Deals verdienten Berninghaus und seine Fa- beteiligt – nach außen hin quasi unsichtbar.
te Insolvenz seines Warenhauskonzerns Ga- milie über eine Holding namens Aries kräftig Berninghaus gilt als abgesichert, lebt seit
leria Karstadt Kaufhof macht es für den mit – ganz gleich, wie schlecht es um das ope- seiner Verurteilung in der Schweiz. Die Fir-
Unternehmer nicht leichter, an Geld zu kom- rative Geschäft stand. Das legen vertrauliche men laufen über seine Frau Helena, das Ver-
men. Auch wenn das Geschäft von seinem Dokumente nahe. mögen scheint außer Gefahr.
Immobilienreich getrennt läuft. Gläubiger Die Aries, hinter der Berninghaus’ Frau Magier Benko indes, gegen den daheim
überzeugt man so nicht von sich. Helena steckt, erbringt über ihre Tochterfirma weiterhin Staatsanwälte ermitteln, müsste im
Vielleicht hat sich Benko einfach zu sehr Sarpis Beratungsdienstleistungen für Benkos schlimmsten Fall mit einer Implosion seines
auf das Händchen seines obersten Handels- Signa, die sie sich gut bezahlen lässt. Allein Portfolios rechnen. Mit Vertrauten spielt er
managers Dieter Berninghaus verlassen. Der beim gefloppten Börsengang der SSU flossen bereits Optionen durch: Rückzug, Börsen-
Supermarkt-Tausendsassa verdingte sich laut den Unterlagen eine Million Euro Hono- gang, Teilverkauf? Er selbst sagt zu alldem:
schon bei Rewe, Denner und Migros. Er war rar. Zweieinhalb Millionen Euro werden dem- nichts.
es, der aus dem Immobilienbaron Benko den nach jährlich als allgemeine Beratungsgebüh- Tim Bartz, Simon Book, Kristina Gnirke,
Handelskönig machte, indem er die Fusion ren von der Familie Berninghaus, die zu all- Sebastian Reinhart n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Damals gingen Hunderttausende


Bürger auf die Straße, um gegen gefälschte

»Die Sanktionen
Parlamentswahlen zu protestieren.
Jakowlew: Die Staatsmacht hat da begonnen,
die Opposition mit Macht zu unterdrücken.

haben die Oligarchen


Aber sie hat auch verstanden, dass viele
Demonstranten nicht nur wegen der Wahl­
ergebnisse auf die Straße gingen. Sie trieb der

eher näher
Ärger über die miserable Qualität in der Ver­
waltung, dem Gesundheitswesen. In der ­Folge
kam es, zumindest teilweise, zu einem Mo­

zu Putin getrieben«
dernisierungsschub, von dem Russland heute
profitiert.
SPIEGEL: Wo wollen Sie den erkennen?
Jakowlew: Auf vielen Verwaltungsebenen
führte Russland digitale Technologien ein,
RUSSLAND  Harvard-Ökonom Andrej Jakowlew über die früher und weitreichender, als das in vielen
westeuropäischen Ländern der Fall ist. Und
­ rstaunliche Stärke der russischen Wirtschaft,
e der Kreml hat die Auswahlkriterien für sein
die konstruktive Kraft von Chatgruppen – und die Frage, Personal verändert: Früher war allein Loya­
wie die Elite zu einem Umdenken bewegt werden kann lität entscheidend. Inzwischen geht es um
Loyalität und um Kompetenz. Ein Beispiel
dafür ist Michail Mischustin …
SPIEGEL: … Russlands Premierminister.
Jakowlew: Er hat sich für dieses Amt qualifi­
ziert durch seine Arbeit als Chef der föderalen
Steuerbehörde. Mischustin hatte es dort ge­
schafft, Russlands Steuereinnahmen jenseits
des Öl- und Gasgeschäfts deutlich zu stei­
gern – und das in einer Zeit, in der die russi­
sche Wirtschaft kaum gewachsen war. Früher
hatten Firmen gute Chancen, Steuerforderun­
gen vor Gericht anzufechten, weil die Steuer­
beamten so schlecht arbeiteten. Das ist in­
zwischen eine Seltenheit.
SPIEGEL: Inwiefern verbessert das Russlands
aktuelle Lage?
Jakowlew: Diese Professionalisierung zieht
sich durch die gesamte Wirtschaftspolitik: Die
Leute in der russischen Zentralbank, in den
Asia Kepka / DER SPIEGEL

Ministerien für Finanzen, Wirtschaft und In­


dustrie verstehen heute etwas von dem, was
sie tun. Es ist ihnen gelungen, die tiefe Kluft
Wissenschaftler zwischen Staatsapparat und privater Ge­
Jakowlew
schäftswelt zu überbrücken. Viele private
Firmen erwarteten früher nicht viel Gutes
Jakowlew, 57, gilt als einer der führenden SPIEGEL: Warum haben die Prognosen so da­ vom Staat, inzwischen gibt es enge Kontakte
­Industrieexperten Russlands, er erforscht die nebengelegen? und maßgeschneiderte Hilfsprogramme für
­Beziehungen zwischen Geschäftswelt und Jakowlew: Da wirken mehrere Faktoren zu­ viele Branchen.
­Politik. Viele Jahre lehrte er an der Moskauer sammen. Bekannt sind die hohen Einnahmen SPIEGEL: Sie haben etliche Umfragen unter
Higher School of Economics (HSE), inzwischen aus dem Energiegeschäft. Vor allem ist Russ­ den Betrieben im Lande gemacht. Wieso le­
hat er das Land verlassen. Derzeit arbeitet land noch immer eine Marktwirtschaft, die gen die Unternehmen ihr Misstrauen ab?
er als Gastprofessor am Davis Center for flexibel auf Krisen reagieren kann: Abertau­ Jakowlew: Wegen der Erfahrungen der Pan­
­Russian and Eurasian Studies der Harvard sende Manager und Unternehmer kämpfen demie. Um die Wirtschaft am Laufen zu hal­
University. darum, ihren Betrieb zu retten. Und dann ten, mussten die Beamten damals eng mit den
muss man anerkennen, dass der russische Firmen zusammenarbeiten. Das hat während
SPIEGEL: Herr Jakowlew, der Internationale Staatsapparat in vielem effizienter arbeitet, der Coronapandemie gut funktioniert, wie
Währungsfonds sagt voraus, dass die russi­ als im Westen viele glauben. wir in unseren Umfragen 2020 und 2021 klar
sche Wirtschaft in diesem Jahr wieder wach­ SPIEGEL: Die Verwaltung gilt doch gemeinhin gesehen haben. Und in vielem war der Sank­
­sen wird. Können Sie sich erklären, warum als korrupt. tionsschock des vergangenen Jahres den öko­
sie sich als robuster erwiesen hat als er- Jakowlew: Das ist nicht falsch und doch nicht nomischen Problemen zu Beginn der Pande­
wartet? die ganze Wahrheit. Wir sehen, dass Russ­ mie ähnlich.
Jakowlew: Sie ist tatsächlich viel stärker, als land in den vergangenen Jahren wirksame SPIEGEL: Das müssen Sie erklären.
wir annehmen konnten. Alle Experten haben Formen der Zusammenarbeit zwischen Jakowlew: Wieder ging es um das jähe Ab­
2022 eine harte Landung erwartet, auch ich. ­Verwaltung und Privatwirtschaft entwickelt reißen von Lieferketten. Die Pandemie war
Nun ist die russische Wirtschaftsleistung wohl hat, jedenfalls im zivilen Bereich. Das war eine Art Testlauf für die russische Wirtschaft.
im vergangenen Jahr um gerade einmal zwei eine Reaktion auf die Proteste der Jahre Die Befragten haben uns erzählt, dass es
Prozent geschrumpft. 2011/12. ­derzeit wieder geschlossene Chatgruppen

62 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WIRTSCHAFT

gibt, in denen Unternehmensführer Ukrainern, sondern auch gegen alle de Russland dann in Europa und in
einer Branche mit Ansprechpartnern Andersdenkenden in Russland. Wo es Besser als der Welt haben?
in der Regierung kommunizieren. nach Verrat rieche, werde der Vor­ erwartet SPIEGEL: Wer sollte diese Diskussion
Dieser Austausch wird uns als aus­ schlaghammer zum Einsatz kommen, in Russland führen?
gesprochen intensiv und erfolgreich hat Prigoschin gesagt. Das ist auch ein Bruttoinlandsprodukt Jakowlew: Genau das ist ein Problem:
beschrieben. Signal an die Eliten: Wenn ihr meint, Russlands, Die Elite hat zu große Angst, sich
Veränderung zum
SPIEGEL: Was kann man mit Chat­ das Regime beseitigen zu können, be­ Vorjahr in Prozent ­daran zu beteiligen. Russische und
gruppen gegen internationale Sank­ kommt ihr es mit Leuten zu tun, neben westliche Experten sollten damit be­
Prognose
tionen ausrichten? denen sich Putin geradezu zivilisiert +0,7
ginnen, damit der Stein ins Rollen
Jakowlew: Es geht darum, nicht ein­ ausnimmt. Also haltet still. kommt. Dann könnten sich weitere
zelne Firmen über Wasser zu halten, SPIEGEL: Wie sähen die Alternativen
+4
Kreise anschließen.
sondern ganze Branchen. Dieser di­ zu Putins Regime aus? SPIEGEL: Muss der Westen seine Russ­
rekte Informationsaustausch hat ge­ Jakowlew: Die Leute des inhaftierten landposition neu formulieren?
holfen, kurzfristig Unterstützungs­ Oppositionellen Alexej Nawalny Jakowlew: Es wäre gut, wenn der
+2
programme aufzulegen. Für viele könnten eine sein. Auch ich hoffe sehr, Westen überhaupt mal eine Position
Unternehmen ist das eine neue Er­ dass er bald in Freiheit sein und eine zu Russland formulieren würde. Es
fahrung: Früher waren Behörden eher Rolle in der russischen Politik spielen gibt ja keine. Die letzte klar artiku­
0
dafür bekannt, Betrieben Stöcke zwi­ kann. Wenn seine Mitstreiter aber ge­ lierte Position war jene, die Europa
schen die Speichen zu werfen. fragt werden, wie sie sich die Zukunft bis zum Februar 2022 verfolgt hat:
SPIEGEL: Sie zeichnen ein Bild von Russlands vorstellen, antworten sie dass man radikale Entwicklungen
−2
Wirtschaft und Staat, die unter Druck verschwommen: Erst müsse das Re­ im Zweifelsfall verhindern könne
enger zusammenrücken. Stützen die gime gestürzt werden, dann komme 2012 2023 durch eine enge wirtschaftliche Ver­
Firmenchefs auch Putins Kriegskurs? eine Säuberung der Elite. An welchen flechtung.
S Quellen: Weltbank,
Jakowlew: Die ideologische Trenn­ Kriterien sie sich orientiert, bleibt SPIEGEL: Dieser Ansatz ist grandios


Rosstat, IWF
linie verläuft nicht zwischen Privat­ ­offen. gescheitert.
wirtschaft und Staatsapparat. Sie ver­ SPIEGEL: Nawalny sitzt im Gefängnis Jakowlew: Ich verstehe den Schock,
läuft innerhalb des Staatsapparats, und könnte dort sterben. Wie soll er die Enttäuschung vieler Russland­
zwischen dem zivilen und dem mili­ denn von dort aus das Land retten? experten in Deutschland angesichts
tärischen Teil. Den Spitzenbeamten Jakowlew: Sie haben recht, der Kreml dieser Entwicklung. Aber diese Läh­
im Wirtschaftsministerium geht es da hat seit dem Jahr 2012 alle positiven mung hat dazu geführt, dass wir
oft ähnlich wie den Topmanagern rus­ Entwürfe für eine andere Zukunft ­keine neue Strategie entwickelt ha­
sischer Firmen: Beiden ist dieser Russlands zerstört oder diskreditiert. ben. Seit über einem Jahr beschäftigt
Krieg auf den Kopf gefallen. Er war Dass nur noch radikale Varianten wie sich der Westen fast ausschließlich
nicht ihre Idee, und er verhagelt bei­ jene Prigoschins geblieben sind, ist damit, Sanktionen auf den Weg zu
den Seiten die Ziele, die sie sich kein Zufall. Aber solange die Säulen bringen.
eigentlich gesetzt hatten. des heutigen Regimes keine andere SPIEGEL: Was haben Sie gegen Sank­
SPIEGEL: Als der Westen im vergan­ Zukunft für sich erkennen, werden tionen?
genen Jahr seine Sanktionspakete sie nichts unternehmen. Abzuwei­ Jakowlew: Die Gründe für die Sank­
aufgelegt hat, haben Sie Spannungen chen vom Kreml-Konsens stellt ein tionen sind klar, doch sie erreichen
in der russischen Elite vorhergesagt, hohes Risiko dar. Im vergangenen nicht die gesteckten Ziele. Der russi­
weil es in Russland keine Gewinner Jahr gab es eine Serie mysteriöser To­ sche Staat hat 2022 mehr Geld ein­
mehr gebe. Da lagen Sie also falsch. desfälle unter Topmanagern russi­ genommen als im Vorjahr. Und statt
Jakowlew: Die Spannungen sind da, scher Staatskonzerne. einen Keil in die russische Elite zu
aber sie werden selten öffentlich. Neu­ SPIEGEL: Was könnte aus Ihrer Sicht treiben, haben die Sanktionen die
lich wurde ein Mitschnitt eines Tele­ ein Umdenken erwirken? Präsident Putin, Oligarchen eher wieder näher zu Pu­
fonats zwischen einem Oligarchen Jakowlew: Wir brauchen eine Diskus­ Fabrikangestellte tin getrieben. Mehr noch: Heute hat
und einem Musikproduzenten ge­ sion, was passieren würde, wenn Pu­ in Tula: »Serie die Mittelklasse in Russland mehr und
mysteriöser Todes­
leakt, die deftig über Wladimir Putin tin weg wäre und der Krieg enden fälle unter Top­
mehr das Gefühl, dass es nicht mehr
schimpften. In etwas abgeschwächter würde mit einem für die Ukraine op­ managern russischer nur um das Regime geht, sondern
Form – und vorsichtiger in der Wort­ timalen Ausgang. Welchen Platz wür­ Staatskonzerne« gegen Russland ganz allgemein. Das
wahl – höre ich ähnliche Unzufrieden­ Misstrauen gegenüber dem Westen
heit auch aus der Geschäftswelt. Der sitzt tief.
Stress in der russischen Elite ist groß. SPIEGEL: Wie lässt sich dieses Miss­
Aber aktiv wird nur, wer eine bessere trauen ausräumen?
Alternative sieht. Jakowlew: Dem Westen fehlt strate­
SPIEGEL: Und die gibt es nicht? gische Weitsicht: Wie soll das Russ­
Jakowlew: Nein. Alle erkennbaren land aussehen, mit dem Europa nach
alternativen Pfade erscheinen den Putin wieder zusammenarbeiten wür­
meisten Mitgliedern der russischen de? Die russische Elite braucht Ant­
Elite aktuell riskanter als der Status worten auf diese Fragen, wenn sie sich
Ramil Sitdikov / AP / picture alliance

quo mit Putin. eine Zukunft ohne Putin vorstellen


SPIEGEL: Welche Pfade sehen Sie soll. Es fehlt ein klares Signal, dass
denn? Europa noch einen Unterschied
Jakowlew: Für den einen steht Jewge­ macht zwischen Putin und jenen in
nij Prigoschin, der Chef der Söldner­ Russland, die sehen, dass das Land
truppe Wagner. Er steht für die Varian­ sich in eine ganz falsche, fatale Rich­
te roher Gewalt, eine Drohung, ge­ tung bewegt.
richtet nicht nur an die Adresse von Interview: Benjamin Bidder n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

aus China importiert. Manche der halb sei »zweifelhaft, ob im Falle


Metalle kamen sogar fast ausschließ- eines chinesischen Überfalls auf Tai-
lich aus dem Reich der Mitte. wan alle EU-Mitgliedsländer bereit
Selbst bei fossilen Energien ist wären, sich auf die Seite Taiwans zu

Vom Regen in
die EU weit entfernt von Eigenstän- stellen«, heißt es in dem Protokoll.
digkeit – trotz der Loslösung von Manfred Weber, Chef der Europäi-
Russland. »Ausländische Akteure schen Volkspartei, fordert klare An-

die Traufe
könnten weiterhin Energie als Druck- sagen in Richtung Peking. »Die EU
mittel gegen die EU verwenden« und müsste im Fall eines Überfalls Chinas
die Preise bestimmen, warnten die auf Taiwan zu massiven Sanktionen
INTCEN-Leute laut dem Sitzungs- bereit sein – und das frühzeitig glaub-
bericht, den die deutsche Vertretung haft vermitteln«, sagt der CSU-Poli-
ROHSTOFFE  Kaum hat sich die EU von in Brüssel nach Berlin kabelte. tiker. »Das wäre unsere beste Chance,
russischer Energie frei gemacht, Die Türkei etwa wäre in der Lage, eine Eskalation zu verhindern.«
im Bosporus »LNG- und Öltanker in EU-Kommissionschefin Ursula
warnen Geheimdienste und Experten vor Richtung EU zu stoppen«. Auch Ka- von der Leyen will der EU eine Stra-
noch ­gefährlicheren Abhängigkeiten – tar könnte als größter Flüssiggas­ tegie des »De-Risking« verordnen,
zum Beispiel von Chinas seltenen Erden. lieferant »Druck ausüben«. Kaum wie sie am Dienstag im Straßburger
besser sehe es beim Öl aus: Die Golf- Europaparlament noch einmal erklär-
staaten »versuchen, ihre Positionen te. In besonders kritischen Bereichen

D
er Kanzler schien ganz mit sich aufeinander abzustimmen, um die soll die Abhängigkeit von China ver-
im Reinen. »Wir haben uns in Am Tropf eigene Position zu stärken«. ringert werden, etwa bei kritischen
acht Monaten unabhängig ge- Die größte Gefahr aber, so viel Rohstoffen, künstlicher Intelligenz,
macht von russischem Gas, russi- Importe seltener scheint klar, geht von der engen Ver- Quantencomputern, Bio- und Militär-
Erden nach Deutsch-
schem Öl und russischer Kohle«, lob- land, Anteil aus flechtung mit der Volksrepublik aus. technologie.
te sich Olaf Scholz im März in seiner China in Prozent »Mit einem Stopp der Lieferung kri- »Wir müssen sicherstellen, dass
Regierungserklärung. »Wenn’s drauf tischer Rohstoffe könnte China Euro- das Kapital und das Wissen unserer
70
ankommt, dann können wir Aufbruch 67,2 pas Wirtschaft schnell den Stecker Unternehmen nicht zur Stärkung der
und Umbruch, Tempo und Transfor- ziehen«, sagt Daniel Caspary, Chef Geheimdienste und Streitkräfte unse-
mation.« 60 der CDU/CSU-Gruppe im Europa- rer systemischen Rivalen genutzt wer-
Ob Deutsche und andere Euro­päer parlament. »Die Abhängigkeit ist den«, betonte von der Leyen. Des-
das alles wirklich können, wird sich 50 ­gefährlicher, als die von Russland es halb werde ihre Behörde demnächst
noch zeigen. In vertraulichen Doku- jemals war. In manchen Bereichen ist ein Instrument vorlegen, das die
menten warnen europäische Geheim- 40
sie verheerend.« ­Kontrolle von Auslandsinvestitionen
dienste und unabhängige Experten, Ähnlich klangen auch Experten durch europäische Firmen in sen­
dass die Abkoppelung von russischer des Europäischen Kompetenzzen­ siblen Bereichen ermöglicht.
Energie nur der Anfang sein kann: trums für die Bekämpfung hybrider Doch das stößt auf Widerspruch.
Denn die Europäer drohen in neue, Bedrohungen (»Hybrid CoE«), als sie »Wo Unternehmen investieren, sollte
womöglich noch gefährlichere Ab- 2016 18 20 22 Anfang April Vertreter der EU-Staa- man den Unternehmen überlassen«,
hängigkeiten zu geraten, von Chinas S Quelle: Destatis ten informierten. Laut einem internen sagt Bernd Lange (SPD), Chef des


seltenen Erden über Gas aus Katar Protokoll der Sitzung ist der »zentra- mächtigen Außenhandelsausschusses
bis hin zu Öl aus Saudi-Arabien. le Trend«, dass Peking immer stärker des EU-Parlaments. Stattdessen
Das womöglich größte Risiko ent- »wirtschaftliche Nötigung« als geo- mahnt er die Kommission zu mehr
steht ausgerechnet durch den massi- politisches Machtinstrument einsetzt. Tempo bei neuen internationalen
ven Ausbau der erneuerbaren Ener- Europa sei vor allem wegen seiner Handelsabkommen. Die EU müsse
gien. Er verlangt nach ungeheuren »besonders hohen Abhängigkeiten sich »als Partner positionieren, der
Mengen an Rohstoffen. Und die kon- bei seltenen Erden« verwundbar. besser ist als China«.
trolliert vor allem ein Land: China. Lithiumverarbeitung Große Mengen der begehrten Roh- Auch in der Frage, wie sich Europa
in China:
Peking könnte »seine Marktmacht »Wirtschaftliche stoffe würden ausgerechnet durch die bei einem bewaffneten Konflikt um
in Bezug auf Batterien und Solarzel- Nötigung« Straße von Taiwan verschifft. Des- Taiwan verhalten sollte, ist von Einig-
len nutzen«, warnte kürzlich das Ge- keit keine Spur. »Sollte es eine Eska-
heimdienst-Informationszentrum der lation zwischen China und Taiwan
EU (INTCEN), das für die Vernet- geben, muss sich die EU auf die Seite
zung von Nachrichtendiensten von der Demokratie stellen«, sagt CSU-
EU- und Nicht-EU-Staaten zuständig Mann Weber. »Wenn die EU sich ein-
ist, in einer Sitzung mit Vertretern der seitig auf die Seite von USA und Nato
Mitgliedsländer. Das vertrauliche schlägt, trägt das nicht zur Lösung der
Protokoll des Treffens von Ende großen Menschheitsprobleme bei«,
März, das dem SPIEGEL vorliegt, kontert Martin Schirdewan, Co-Vor-
wirft ein Schlaglicht auf das Dilemma sitzender der deutschen Linken und
der EU. Die grüne Energiewende ist Fraktionschef im Europaparlament.
für die Mitgliedstaaten zumindest »Dazu braucht es eine internationale
vorerst ohne China nicht zu stemmen. Ordnung ohne Blöcke.« Brüssel solle
Deutschland etwa hat seltene Erden – lieber auf eine friedliche Lösung der
jene Rohstoffe, die die Industrie für Taiwanfrage hinarbeiten, »anstatt da-
die Herstellung von Akkus, Halblei- rüber zu spekulieren, wie man sich
tern oder Magneten für E-Motoren im Kriegsfall verhalten würde«.
benötigt – zuletzt zu gut zwei Dritteln Markus Becker 
ddp

64 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WIRTSCHAFT

Handwerker beim deutschen Bürokratie zu tun. Für jede tisch, wenn Straßennamen falsch ge-
Verputzen der Förderung muss seine Kundschaft schrieben würden.
Außendämmung einen Antrag beim Bundesamt für Das Bafa teilt mit, es sei sehr daran
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle interessiert, digital zu arbeiten, leider
(Bafa) stellen. Die Behörde, die dem sei die digitale Zusendung der Be-
grünen Wirtschaftsminister Robert scheide aus rechtlichen Gründen
Habeck unterstellt ist, kommt mit der »derzeit nicht möglich«. Gegenwärtig
Bearbeitung aber offensichtlich nicht prüfe man, ob künftige Meldungen
hinterher. seitens des Bafa per E-Mail oder pos-
Wohlfeil kann von Kunden berich- talisch versendet werden können. Um
ten, für die er das Papier schon Ende die Bearbeitung der Anträge weiter
Juli 2022 eingereicht habe, die ihren zu beschleunigen, heißt es wolkig in
Zuwendungsbescheid aber erst in einer Stellungnahme, habe das Bafa
­diesem Februar erhielten. »Das ist »Prozesse weiter optimiert« und set-
Wahnsinn«, sagt er. Viele Sanierungs- ze mehr Personal ein.
vorhaben lägen derzeit auf Eis. »Die Jürgen Leppig, Vorstandsvorsit-
Energiewende droht an der deutschen zender des Verbandes Gebäude-
Bürokratie zu scheitern.« energieberater Ingenieure Handwer-
Weil ein staatlich verordneter ker (GIH), reicht das nicht. »Der

Jochen Tack / IMAGO


Kurswechsel ohne Förderung nicht ganze Antragsprozess muss schleu-
funktionieren würde, vergibt das nigst digitalisiert und vereinfacht
Bafa seit 2021 direkte Zuschüsse – werden«, fordert er. Sein Verband
etwa für den Austausch eines Fens- hat jüngst in einer Mitgliederbefra-
ters, den Einbau einer Wärmepumpe gung erhoben, dass das Bafa im
oder die Sanierung von Außenwän- Durchschnitt 125 Tage braucht, um
den und Dächern. 2022 gingen rund einen Förderantrag zu bearbeiten.

Eine Schnecke
780.000 solcher Anträge ein, das Eine weitere Umfrage zeigt, dass nur
Amt bewilligte Finanzspritzen von 12 Prozent der Energieberater zu-
mehr als zehn Milliarden Euro. frieden mit dem Bafa sind, eine

namens Bafa
Durch das jetzt vom Kabinett be- Mehrheit von 56 Prozent bewertet
schlossene De-facto-Verbot von die Behörde als »schlecht« oder
­neuen Öl- und Gasheizungen ab 2024 »sehr schlecht«.
dürfte die Fördernachfrage in den Das Bafa schiebt die Verantwor-
nächsten Jahren drastisch steigen. tung für das Fiasko nicht nur auf die
ENERGIE  Der Staat fördert Sanierungen, Auch weil es nun ein Konzept für hohen Antragszahlen, sondern auch
»Klimaboni« gibt. Es winken weite- auf die Kunden. Für seine Ent­
damit Deutschland seine Klimaziele erreicht. re Zuschläge in Höhe von 10 bis scheidungen brauche es vollständige
Dumm nur, dass die zuständige Behörde mit 20 Prozent. Unterlagen. Die Bearbeitungsge-
den Anträgen nicht hinterherkommt. Im vergangenen Sommer hatte schwindigkeit hänge auch »von der
die Bundesregierung beschlossen, ihr Mitwirkung der Antragsteller« ab.
Förderregime umzukrempeln: Sie Bevor die Behörde die Bewilligung

F
lorian Wohlfeil kann sich eigent- stockte die Geldtöpfe für Klima- der Anträge übernahm, war die staat-
lich nicht beschweren. Das schutzmaßnahmen im Gebäude­ liche Förderbank Kfw damit befasst.
­Geschäft des Energieberaters sektor kräftig auf, kürzte zugleich Der Wechsel zur Bafa war auch damit
brummt. Dutzende Hausbesitzer aber die Summen für den Einzelfall. begründet worden, Jobs in Regionen
wenden sich jede Woche an sein Büro So sollten mehr Menschen in den zu schaffen, die unter dem Ende der
im unterfränkischen Lindach. Sie wol- Genuss der Förderung kommen. Vor Braunkohle leiden.
len wissen, ob sie ihre alte Ölheizung der Umstellung sorgte das für einen Viele Energieberater trauern der
durch eine Wärmepumpe ersetzen ­Ansturm, weil sich viele Hausbe­ Kfw hinterher. Die Bank habe Förder-
sollen, was eine Solaranlage auf ihrem Antragsflut sitzer noch die alten Sätze sichern anträge in »Millisekunden« über ein
Dach bringt oder wie sie am besten wollten: Allein vom 27. Juli bis 14. digitales Plausibilitätsprogramm ge-
ihre Wände dämmen können. Förderanträge beim August 2022 gingen fast 281.000 An- nehmigt. »Es kann doch nicht sein,
Bafa für die energe-
Denn die Politik macht jetzt Ernst tische Sanierung träge beim Bafa ein. Im Vorjahr wa- dass das Verwaltungsrecht eine Be-
mit dem Klimaschutz. In dieser Wo- von Gebäuden ren es noch durchschnittlich 7000 hörde daran hindert, so lösungsorien-
che hat sich die Bundesregierung auf pro Woche. tiert zu arbeiten wie eine Bank«, sagt
ihr umstrittenes Gesetz zum Einbau 780.000 Seither läuft dort kaum noch et- Leppig. Da die Preise für Material
klimafreundlicher Heizungen ver- was: Energieberater berichten von und Handwerker zuletzt stark gestie-
ständigt: Neue Anlagen müssen dem- monatelangen Bearbeitungszeiten, gen sind, reichen die nach Monaten
nach von 2024 an mit mindestens blockierten Hotlines und einer Be- bewilligten Förderungen oftmals ge-
65 Prozent erneuerbaren Energien hörde, die ihre Zustellungsbescheide rade noch aus, die Preissteigerungen
betrieben werden, was praktisch das 330.000 noch immer per Post verschickt. auszugleichen.
Aus für neue Gas- und Ölbrenner be- Ganz abgesehen vom benutzer­ Vielen Bauherrinnen und Bauher-
deutet. Seitdem steht bei Wohlfeil das unfreundlichen Förderportal. Da- ren bleiben da nur zwei Möglichkei-
Telefon kaum noch still. gegen seien die Eingabemasken der ten: Entweder sie beauftragen Hand-
Trotz der glänzenden Geschäfts- Elster-Formulare bei der Steuer- werker auf eigenes Risiko – oder sie
2021 2022
aussichten ist der 39-Jährige »völlig erklärung »das pure Gold«, lästert lassen das mit der Sanierung vorerst
entnervt«, wie er sagt. Schließlich hat S Quelle: Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhr-
ein Berater. Immerhin erkenne das einfach sein.
der Mann den ganzen Tag mit der kontrolle; Werte gerundet Bafa-System mittlerweile automa- Henning Jauernig n

66 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WIRTSCHAFT

heitstourismus. Auf ein Konzept also,


mit dem sich leichter Geld verdienen
lässt als mit Heilbädern und Schlamm-
packungen für Kassenpatienten.

Das Rezept, das kaum


In Bad Wiessee werden statt der
einst rund 200.000 Wannenbäder
pro Jahr nur noch 10.000 Jod-Schwe-

einer will
felbäder eingelassen – und damit
ist im neuen, von Matteo Thun de-
signten Heilbad die Kapazität auch
fast erschöpft.
Kaum einer sehnt eine Rückkehr
GESUNDHEIT  Krankenkassen zahlen wieder für Kuren auf Rezept. der Kassenkur herbei. Nicht einmal
bei den Patientinnen und Patienten.
Doch das Comeback verkommt zum Wellnessprogramm für Denn anders als früher müssen die
Rentnerinnen und Rentner – auf Kosten der jüngeren Beitragszahler. heute dafür Urlaub nehmen und die
Unterkunft vor Ort zum größten Teil
selbst zahlen. Und das können sich

E
chte Kurgäste sind im Kurort weniger untersagt – aus Kostengrün- vor allem Lehrerinnen und Lehrer
Bad Wiessee inzwischen eine den. Was zu einem Einbruch von am- Attraktiv nur mit zwölf Wochen unterrichtsfreier
Rarität. Hilmar Danzinger, Chef bulanten Kuraufenthalten führte: Von für Oldies Zeit leisten – oder Rentner. Eine so-
des Jod-Schwefelbads am Tegernsee, bundesweit jährlich 900.000 sank zialpolitisch eher heikle Strategie:
muss erst mal in einer Kartei suchen ihre Zahl auf nurmehr 13.000 wäh- Anzahl der Kurärzte in Aufkommen müssen dafür die jün­
lassen, bis er jemanden findet, der rend der Pandemie. Deutschland 2022, geren Beitragszahler.
nach Altersgruppen
kürzlich auf Kassenrezept hier war. Das hinterließ auch in Bad Wiessee Thomas S. ist einer jener Ge­
Die große Welle an neuen Kurgästen tiefe Spuren. Hotels, Bäder und Bars unter 50 Jahren sundbrunnen-Enthusiasten, die vom
– sie ist ausgeblieben. machten dicht. Im Bekleidungsge- 47 Come­back der Kur auf Rezept pro-
Dabei wollte die Bundesregierung schäft von Bürgermeister Kühns Mut- fitieren. Er ist der Mann, den das
50 bis 59
der Kur in Deutschland eigentlich zu ter brachen die Umsätze weg, weil Heilbad in Bad Wiessee in seiner
126
einem Comeback verhelfen. die Kundinnen ausblieben. »In drei Kartei als ehemaligen Kurgast ent-
2021 wurde die Heilbehandlung Wochen Kur wurde früher schon das 60 bis 63 deckt hat.
wieder zur einer regulären Kassen- ein oder andere gekauft«, sagt er. 110 Pro Anwendung erhielt das Bad
leistung hochgestuft. Drei Wochen, »Die Gäste hatten ja viel Zeit.« 64 bis 65 gerade mal rund 24 Euro für den
durchgetaktet mit Wannenbädern, Die klassische Kur rentierte sich 49 66-jährigen Bankkaufmann im Ruhe-
Schlickpackungen und Inhalationen, für die Gemeinden vor allem über das 66 bis 80 stand. Nun, als Selbstzahler, gibt er
um Krankheiten vorzubeugen – das Drumherum. Ein Funktionär aus dem 227 bis zu 60 Euro aus.
darf jetzt wieder jede Ärztin und Kurwesen aus Baden-Württemberg Da ist es also fast schon
ab 81
­jeder Arzt ohne große Prüfung ver- mit jahrzehntelanger Erfahrung er- ein Glück für die Bäderorte, dass vie-
10
schreiben. innert sich: »Die wollten morgens le niedergelassene Ärzte noch gar
Die Idee dahinter ist simpel: Die Fango und abends Tango, am besten S Quelle: KV Westfalen-Lippe
nicht richtig mitbekommen haben,


Gesundheit der Menschen zu fördern mit Kurschatten obendrauf auf Kas- wie problemlos sich Kuren wieder
und gleichzeitig den in der Corona- senkosten.« verordnen lassen. Zumal es gar nicht
krise finanziell notleidenden Kur­ In der Krise haben etliche Orte das genug Badeärzte gibt.
orten etwas Gutes zu tun. Der Heil- Geschäft mit der Gesundheit gänzlich Der Mediziner Johannes Nau-
bäderverband prognostizierte bereits aufgegeben. Andere fokussieren sich mann bildet in 80-stündigen Semina-
eine Verzehnfachung der Kuren auf auf die besser bezahlte Nachsorge Kurgäste im ren in Bad Krozingen nahe Freiburg
jährlich 200.000 oder gar 300.000 nach Unfällen oder Operationen – die österreichischen Bad im Breisgau Kurärzte weiter. Er
Schallerbach 1918:
bis zum Jahr 2025. sogenannte Reha. Wieder andere set- »Die wollten
kommt barfuß und in Funktionsklei-
Daraus allerdings wird offensicht- zen verstärkt auf Wellness oder, wie morgens Fango und dung, hat im Kurgarten gerade bei
lich nichts. Zu viel lief schief bei der Bad Wiessee, auf exquisiten Gesund- abends Tango« acht Grad Außentemperatur Tau­
Reform. In den Kurorten mangelt es treten im nassen Gras mit seinen Teil-
an Badeärzten, und in Bad Wiessee nehmern praktiziert.
kommt heute ohnehin nur noch jeder Bad Krozingen ist einer von le­
fünfte Besucher des Jod-Schwefel­ diglich noch drei Ausbildungsorten für
bads auf Rezept. angehende Kurärzte in Deutschland.
Bürgermeister Robert Kühn tut Die meisten der Ärztinnen und Ärzte
inzwischen gefühlt alles, um die alte sind von ihrer Gemeinde geschickt
Kurbetulichkeit ab- und seinem »Ge- worden. Ohne Kurarzt, kein Kurort.
sundheitsstandort« ein neues Image Doch der Job ist unbeliebt, maximal
überzustreifen. Die alten Anlagen 74,89 Euro bekommt ein K ­ urarzt pau-
brandstaetter images / Getty Images

und das Kurmittelhaus wurden schal für die Betreuung eines Kurgasts
­größtenteils abgerissen, selbst die während der drei Wochen.
Tradition der mittäglichen Kurruhe Die, die sich das überhaupt noch
hat die Gemeinde Ende 2022 abge- antun, sind oft so ergraut wie die Gäs-
schafft. te. Von den 569 Kurärzten in Deutsch-
Die Gesundheitsreformen der land waren 2022 bereits 237 älter
Neunzigerjahre hatten den Ärzten die als 65 Jahre.
Verordnung von Kuren mehr oder Martin U. Müller, Alexander Preker n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

Schicksalsschläge, gegen die kommt der


Stärkste nicht an.
SPIEGEL: Sie selbst wuchsen im Hannover der
Nachkriegszeit auf. Nach dem frühen Tod
Ihres Vaters – der, wie Sie erst später erfuh-
ren, gar nicht Ihr leiblicher war – musste Ihre
Mutter alles verkaufen, um die Drogerie zu
retten und die Familie durchzubringen. Sie
haben einmal gesagt: »Wir waren bettelarm,
lebten in allerkleinsten Verhältnissen.« Den-
ken Sie: Wenn ich es schaffen konnte, kann
es jeder?
Roßmann: Wir hatten damals wirklich nicht
viel Geld. Aber ich hatte trotzdem eine gute
Basis. Bei uns standen Goethe und Schopen-
hauer im Regal. Meine Großeltern mütterli-
cherseits waren wohlhabende Leute, sie führ-
ten Anfang des 20. Jahrhunderts das größte
Pelzgeschäft in Hannover. Väterlicherseits
eröffnete mein Großvater Rudolf Roßmann
1909 eine Drogerie, die im Zweiten Weltkrieg
jedoch bei einem Bombenangriff völlig zer-
stört wurde. Meine Eltern starteten dann 1947
noch mal ganz von vorn, mit einem deutlich
kleineren Geschäft.
SPIEGEL: Während Ihr älterer Bruder studier-
te, haben Sie den Hauptschulabschluss ge-
macht und begannen eine Drogistenlehre. Ihr
erstes selbst verdientes Geld war eigentlich
Schwarzgeld.
Roßmann: Ja, da war ich zwölf Jahre alt. Und
Sie können sicher sein, das war das letzte Mal,
dass ich etwas nicht versteuert habe. Damals
wusste ich es noch nicht besser. Ich habe Dro-
Hermann Bredehorst

gerieartikel verkauft und mit dem Rad aus-


geliefert. Die Waren hatte ich von meiner
Patriarch Roßmann in Mutter, die mir alles zehn Prozent billiger
Hamburg 2018
verkauft hat als im Laden. Mit der Marge habe
ich mehrere Tausend Mark verdient. Mit 16
habe ich mir davon eine Eigentumswohnung
gekauft.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die Tatsache,

»Sie müssen schon reich


dass Armut oft über Generationen vererbt
wird?
Roßmann: Damals in den Fünfzigerjahren

werden wollen«
wurde nicht gefragt, wie viel staatliche Hilfe
man wo bekommen könnte. Wir haben getan,
was wir tun mussten, um zu überleben. Es
stand allein die eigene Leistung im Fokus.
Das hat mich sehr geprägt. Und ich habe in
EINBLICKE Drogerieunternehmer Dirk Roßmann, 76, wuchs arm auf und meinem Leben viele Menschen getroffen, die
mit nichts gestartet sind und viel erreicht ha-
gehört heute zu den vermögendsten Deutschen. Er ist einer der ben. Allein in meiner Firma kann ich Ihnen
wenigen, die offen darüber sprechen, wie es sich mit richtig viel Geld lebt. zig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nen-
nen, auf die das zutrifft. Sie haben hier als
Auszubildende angefangen und sich hoch-
SPIEGEL: Herr Roßmann, Sie sind Multimil- sich auch Ihr Vermögen entwickelt. Seien Sie gearbeitet, heute haben sie eine leitende Posi-
liardär. Gibt es ein Rezept, um reich zu ehrgeizig in diesem Punkt. tion im Unternehmen, ein eigenes Haus
­werden? SPIEGEL: Als wäre das so einfach. ­gebaut, die Welt bereist. Die Gesellschaft
Roßmann: Ja. Roßmann: Ich habe nicht gesagt, dass es ein- ist nicht gerecht. Aber sich nur darüber zu
SPIEGEL: Verraten Sie es uns? fach ist. Sie müssen sich reinhängen. Natürlich beklagen bringt einen nicht weiter. Man muss
Roßmann: Es ist wichtig, dass man sich für hilft dabei ein gutes soziales Umfeld. Leider sich Ziele setzen. Dass man im Leben etwas
Geld interessiert. Damit meine ich: Man soll- hat in Deutschland nicht jeder die gleichen erreicht, was man gar nicht will, das kommt
te lernen, wie wirtschaftliche Zusammenhän- Startchancen. Und damit meine ich gar nicht selten vor.
ge funktionieren. Reichtum fällt in der Regel ein materielles Erbe. Ein Kind braucht Bil- SPIEGEL: Sie wollten anscheinend schon im-
nicht vom Himmel. Im Laufe eines Lebens dung, aber vor allem liebevolle Eltern, gene- mer nach oben. Woher kam diese Motivation?
entwickelt sich die eigene Persönlichkeit – rell ein Umfeld, das ihm zugewandt ist, um Roßmann: Wenn ich wüsste, woher intrinsi-
und ich kann nur sagen: Sorgen Sie dafür, dass sich gut entwickeln zu können. Und es gibt sche Motivation kommt, dann wäre ich ein

68 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WIRTSCHAFT

Hellseher. Ich hatte in meinem Leben


ein paar richtig gute Ideen zur rich­
tigen Zeit, und ich interessiere mich
nen. In der Wirtschaft braucht es
­andere Qualitäten. Viele Milliardäre,
die ich kenne, sind extrem schüch­
3,7 das ist kein Leben wie in der »Bun­
ten«. Meiner Frau und mir geht es vor
allem um die Qualität von Beziehun­
für Menschen. Das alles hat zu tern, das sind zum Teil sehr intro­ Milliarden Euro gen. Der Kontostand spielt da keine
­meinem geschäftlichen Erfolg beige­ vertierte Menschen, die wollen nicht Rolle. Ich kann mich mit der Schnei­
tragen.
SPIEGEL: Das klingt jetzt wieder ein
im Rampenlicht stehen. Manche sind
depressiv, haben Ängste, Sorge vor
ist das derin genauso großartig unterhalten
wie mit einem Unternehmer. Oder
bisschen sehr simpel. Entführungen. Das Leben ist manch­ ­geschätzte nehmen Sie meine Freunde, mit
Roßmann: Ich bin halt nicht so schlau. mal auch für reiche Menschen Vermögen denen ich Skat und Tennis spiele.
Aber ich glaube, jeder muss das fin­ schwer. Manche davon, wie zum Beispiel
den, worin er gut ist. Und das ist mit­ SPIEGEL: Was ändert Geld im Leben? der Familie Martin Kind, sind auch vermögend.
unter nicht die Sache, die einem am Roßmann: Alles. Und nichts. Das Roßmann. Andere haben ganz normale Jobs.
meisten Spaß macht. Von vielen jun­ kommt auf die Persönlichkeit an. Aber wir kennen und vertrauen uns
Quelle: manager
gen Leuten höre ich, wie wichtig es SPIEGEL: Wie meinen Sie das? magazin alle schon seit Jahrzehnten. Diese
ihnen ist, dass ihnen ihr Job Spaß Roßmann: Wir kennen doch alle den Menschen haben mit mir auch alle
bringt. Ich halte das, Entschuldigung, Spruch: Geld allein macht nicht meine schlechten Zeiten durchlebt,
für ausgemachten Blödsinn. Das ist glücklich. Das stimmt. Ich kenne vie­ als ich kurz davor stand, alles zu ver­
der Grund, warum es so viele un­ le Menschen, die haben viel Geld, lieren …
glückliche, schlecht bezahlte Schau­ aber sie sind nicht glücklich. Am Ende SPIEGEL: ... das war Mitte der Neun­
spieler gibt, aber wir alle wochenlang geht es nicht um die materiellen Din­ zigerjahre, als Sie und die Firma
auf den Installateur warten müssen. ge: Ich glaube, am glücklichsten ist hoch verschuldet waren und Ihren
Warum absolviert jemand, der etwas man, wenn man einen Haufen Freun­ eigenen Schilderungen zufolge kurz
erreichen will, nicht eine solide Aus­ de hat, einen tollen Partner und ge­ vor der Insolvenz standen. Ich weiß,
bildung, macht seinen Meister und sunde Kinder. dass Sie gern mit Aktien zocken. Ha­
sich dann selbstständig? Der verdient SPIEGEL: Ich frage noch mal anders: ben Sie keine Sorge, dass Sie all das,
schneller 150.000 Euro im Jahr, als In der Liste der reichsten Deutschen was Sie sich aufgebaut haben, durch
er gucken kann. Sie müssen schon des manager magazins landeten Sie einen Fehler auch wieder verlieren
reich werden wollen. Und keine 2022 mit 3,7 Milliarden Euro auf Platz könnten?
­Sorge: Wenn Sie genug Geld ver­ 56: Was bedeutet es Ihnen, so reich Roßmann: Nein, dazu bin ich viel zu
dienen, kommt der Spaß schon von zu sein? vorsichtig, die Risiken sind über­
allein. Roßmann: Die Summe kommentiere schaubar. Selbst wenn es einen rie­
SPIEGEL: Was macht Ihnen Spaß? Für ich nicht, und der Platz ist mir egal. sigen Börsencrash gäbe, würde ich
welchen Luxus geben Sie viel Geld Verstehen Sie das nicht falsch, ich vielleicht 100 Millionen verlieren,
aus? habe mich nie geärgert über diese aber das würde mir privat nicht das
Roßmann: Für richtig gute Hotels. Ich ­Liste. Sie bildet die Wirklichkeit ab: Genick brechen. Außerdem: Wichtig
kenne Leute, die ich persönlich Es gibt reiche und es gibt arme Men­ ist vor allem, dass die Firma auf si­
eigentlich sehr sympathisch finde, die schen in diesem Land. Ich weiß, dass cheren Beinen steht, denn daran
haben überall auf der Welt Häuser, ich richtig reich bin, ich hatte so ver­ hängen Tausende Arbeitsplätze.
ein Chalet in den Bergen oder eine dammt viel Glück in meinem Leben, Mein Sohn Raoul hat 2021 die Ge­
Villa am Meer. So etwas haben und mitunter auch mehr, als ich verdient schäftsführung übernommen, und
brauchen wir nicht. Meine Frau sagt habe. Aber daraus muss man was ma­ der ist viel schlauer als ich. Wir ha­
immer: Das macht nur zusätzliche chen, das bringt Verantwortung mit ben eine gute Eigenkapitalquote,
Arbeit. sich. keine Bankschulden. Es war ein gu­
SPIEGEL: Was bereitet Ihnen noch SPIEGEL: Das heißt konkret? ter Zeitpunkt, die Verantwortung zu
Freude? Roßmann: Dass ich stolz darauf bin, übergeben.
Roßmann: Ich interessiere mich sehr viele Steuern zu zahlen. Und dass ich SPIEGEL: Sie sind Anfang des Jahres
für Menschen – und in meinem Her­ es großartig finde, heute anderen zum fünften Mal Großvater gewor­
zen bin ich wahrscheinlich immer Menschen in Not helfen zu können. den. Wie erzieht man als Milliardär
noch der kleine Junge, der in Bom­ SPIEGEL: Wie viel spenden Sie im seine Kinder und Enkelkinder zu Be­
bentrichtern spielte und der über sein Jahr? scheidenheit?
heutiges Leben staunen kann. Ich Roßmann: Einen zweistelligen Millio­ Roßmann: Ich kann nur das vorleben,
wollte immer dazugehören. Um auf nenbetrag. was ich für sinnvoll halte. Wir alle
Ihre Frage zurückzukommen: Wenn SPIEGEL: Reicht das? können jeden Tag entscheiden, ob wir
ich heute irgendwo anrufe, kriege ich Roßmann: Menschen, die wenig ha­ ein gutes oder schlechtes Vorbild sind.
fast immer und mit fast jedem einen ben und trotzdem etwas abgeben, Mir ist zum Beispiel wichtig, dass in
Termin. Das war nicht immer so, und sind weit großzügiger als ich. Ich habe meiner Familie Liebe, Empathie und
das finde ich ziemlich klasse. Denn so viel, und selbst wenn ich viel abgebe, Beständigkeit einen hohen Stellen­
lerne ich unglaublich spannende habe ich hinterher immer noch viel. Mehr zum Thema
wert haben. Wenn ich sehe, dass man­
Menschen kennen. Aber ich kann Ihnen versichern, ich lesen Sie in der che ihren Kindern einen Porsche oder
SPIEGEL: Meinen Sie damit: andere verfolge auch da ehrgeizige Ziele. aktuellen Ausgabe von anderes dummes Zeug zum 18. Ge­
reiche Leute? Mehr will ich aber momentan noch SPIEGEL GESCHICHTE: burtstag schenken, kann ich nur den
Reiche und Arme –
Roßmann: Nein. Es gibt ja auch un­ nicht verraten. Kopf schütteln. Wer solche funda­
der große Graben.
fassbar langweilige Reiche. Ich er­ SPIEGEL: Wie schafft man es, nicht die Die Wurzeln der mentalen Fehler macht, der muss sich
kläre mir das so: Wenn Sie beispiels­ Bodenhaftung zu verlieren? sozialen Ungleichheit auch als Reicher nicht wundern, wenn
weise in der Politik was werden Roßmann: Wir leben hier ein ziemlich in Deutschland. er nicht geliebt wird. Und glauben Sie
Erhältlich im Zeit-
­wollen, müssen Sie clever auftreten, normales Leben auf dem Land. Wir schriftenhandel und
mir: Auch reiche Leute wollen geliebt
positiv in den Medien rüberkommen, haben zwar ein großes Haus und Leu­ unter amazon.de/ werden.
Menschen für sich einnehmen kön­ te, die uns im Haushalt helfen. Aber spiegel. Interview: Simone Salden n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 69


AUSLAND

Emiliano Lasalvia / AFP


Gekommen, um zu bleiben: Auf der historischen Plaza de Mayo von Buenos Aires haben Sozialverbände und Gewerkschaften Zelte errichtet und
Decken, Töpfe und Campingkocher verteilt – eine Protestaktion vor dem Präsidentenpalast. Im Zuge einer andauernden Wirtschaftskrise und
einer verheerenden Dürreperiode liegt Argentiniens Inflation derzeit schon bei mehr als 100 Prozent. Sie ist damit höher als in fast allen Staaten
der Welt. Um Kredite zu bedienen, verlangt der Internationale Währungsfonds von Präsident Alberto Fernández ein Maßnahmenpaket, das
auch Kürzungen im Sozialbereich vorsieht – die Camper wollen sich nun gegen die Pläne der Regierung wehren.

Zurück bleibt kalte Wut


sätzlich sinnvoll finden, ist die Arroganz, mit der ihr Präsident
wochenlang gegen die öffentliche Meinung anregierte.
Dann aber verkündete Macron einen 100-Tage-Plan, der nie-
manden beruhigte. Auch weil er keine Antworten gab auf das,
ANALYSE   Warum es Emmanuel Macron nicht was viele als Krise der Demokratie im eigenen Land empfinden.
gelingt, Frankreich zu besänftigen Stattdessen kündigte er jede Menge Reformen und Verbesserun-
gen an – so viele, dass man kaum an sie glauben mag. Arbeit soll,
Er wollte die Proteste gegen die Rentenreform endlich hinter so Macron, in Zukunft besser bezahlt und Reichtum gerechter
sich lassen. Deshalb setzte sich Emmanuel Macron am Montag verteilt werden. ​In den permanent unterbesetzten Notaufnahmen
vor eine Fernsehkamera und sprach zur Nation. Zwei Tage der Krankenhäuser soll ab Ende 2024 kein Patient mehr lange
zuvor hatte er die umstrittene Reform zum Gesetz erklärt. »Ich warten müssen. Er mache sich große Sorgen, sagte der Historiker
bedaure, dass kein Konsens gefunden werden konnte«, sagte Pierre Rosanvallon nach Macrons Fernsehauftritt. Frankreich
Macron. Niemand könne angesichts der Demonstrationen der ­erlebe gerade die schwerste politische Krise seit dem Ende des
vergangenen Wochen taub bleiben. »Und ich im Besonderen Algerienkriegs. Aber der Präsident wisse keine Antwort darauf.
nicht.« Das hörte sich zunächst nach Einsicht an. Vor allem Zwei Tage nach seiner Ansprache wagte sich Macron raus
aber ließ es hoffen, dass der Präsident die Krise, die Frankreich ins Land, fuhr ins Elsass und zu einer Schule im Süden. Empfan-
nun seit Anfang Januar durchlebt, in ihrer ganzen Dimension gen wurde er mit Buhrufen, und die linke Gewerkschaft CGT
­erfasst habe. sorgte dafür, dass der Strom ausfiel. Macron hat erreicht, was er
Denn längst geht es nicht mehr nur um die Anhebung des wollte: Seine Rentenreform tritt ab September in Kraft. Zurück
Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Was die Franzosen aber bleibt kalte Wut. Und die kann genauso gefährlich werden
wütend macht, und zwar auch die, die eine Rentenreform grund- wie die Wut des Augenblicks. Britta Sandberg

70 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


Gewalt gegen Kinder heit gern hinter ihrer angebli-
chen Neutralität versteckten,
BR ASILIEN  Als vor zwei Wo- mehr in die Verantwortung ge-
chen ein 25-jähriger Mann in nommen werden: Wenn also
der Stadt Blumenau in einer staatliche Ermittler Posts oder
Kita mit einer Axt vier Kinder Profile melden, die Hass ver-
tötete, war dies tragischer breiten oder zu Gewalt aufru-
­Höhepunkt einer Welle der Ge- fen, sind die Plattformen künf-
walt, die sich zuletzt im Land tig dazu verpflichtet, diese
auftürmte. Immer wieder sind ­Inhalte zu löschen. Wer nicht
in den vergangenen Monaten kooperiert, dem drohen hohe

Andrew Testa / DER SPIEGEL


Einzeltäter mit Messern oder Geldstrafen. Noch unklar ist
Schusswaffen auf Schüler und ­jedoch, warum es zuletzt ver-
Lehrer losgegangen, dass sich mehrt zu solchen Attacken kam.
die Politik zum Handeln ge- Wissenschaftler verweisen da­
zwungen sah: Die Maßnahmen, rauf, dass während der Regie-
die die Regierung des Präsiden- rungsjahre des abgewählten
ten Luiz Inácio da Silva nun Präsidenten Jair Bolsonaro eine Passanten im Badeort Blackpool
vorstellte, sehen unter anderem Radikalisierung im Netz statt­

»Armut in all ihren Formen«


Investitionen in die technologi- gefunden habe. Dessen rechts-
sche Aufrüstung der Polizei extreme Hasstiraden und die Li-
und Stellen für Schulpsycholo- beralisierung der Waffengesetze
gen vor. Des Weiteren sollen die lassen die aktuelle Lage wie ein
GROSSBRITANNIEN  Filmregisseur Ken Loach über den
­großen Social-Media-Plattfor- Echo einer Amtszeit wirken,
men, die sich in der Vergangen- das länger nachhallen wird. BLA  wachsenden Ärger und die Krise im Königreich

Keine Kritik an Rundfunkrates, Maciej Świrski, Loach, 86, gilt als SPIEGEL: Sie haben sich mit
verstoße die Dokumentation Chronist der briti- dem Thema schon lange vor
­Seiner Heiligkeit gegen das polnische Radio- und schen Arbeiterklasse ­Thatcher beschäftigt. Warum?
POLEN  Die PiS-Regierung geht Fernsehgesetz. Demnach seien und war mehrere Loach: Ich habe immer mit
gegen einen unliebsamen Fern- keine Inhalte erlaubt, die dem Jahrzehnte Mitglied Drehbuchautoren und Produ-
sehsender vor. Dabei kommt ihr »Gemeinwohl der Bevölke- der Labour-Partei. zenten gearbeitet, die ähnlich
zugute, dass sie wie viele andere rung« widersprechen. Zweitens tickten. Wir haben selbst re-
Organisationen im Land auch müssen Sender die »religiösen SPIEGEL: Mister Loach, durch cherchiert und Filme gemacht,
den nationalen Rundfunkrat Gefühle der Zuschauer« und Großbritannien zu fahren wirkt erst über Obdachlosigkeit,
unter ihre Kontrolle gebracht das »christliche Wertesystem« dieser Tage, wie durch einen dann über Armut. Und wenn
hat. Dieser hat nun ein Ermitt- respektieren. Insbesondere ka- Ihrer Filme zu reisen. Man stößt man einmal damit anfängt,
lungsverfahren gegen den regie- tholische Organisationen hatten auf Armut und Vernachlässi- stößt man überall darauf.
rungskritischen Sender TVN die Vorwürfe gegen den ehe­ gung. Wie kann das sein? SPIEGEL: Besonders Industrie-
eingeleitet. Der Auslöser: eine maligen Papst zuvor stark ver- Loach: Es ist ja kein Geheimnis, städte wie Newcastle, Liverpool
Anfang März vom Sender aus- urteilt und öffentliche Märsche dass extreme Armut das Ergeb- oder auch Blackpool sind ver-
gestrahlte Dokumentation über organisiert, unterstützt durch nis neoliberaler Politik ist. Die fallen, weil fast alle Fabriken
den ehemaligen Papst und Na- die PiS. Es ist nicht der erste betreiben wir hier seit einem dichtgemacht haben.
tionalhelden der PiS, Johannes Angriff, den TVN erfahren halben Jahrhundert: Thatcher Loach: Blackpool ist ein beson-
Paul II. In dieser wird dem muss: Bereits 2021 versuchte in den Achtzigern, Blair in den ders trauriges Beispiel, weil es
Oberhaupt der römisch-katholi- die Regierung, den vom US- Neunzigern, Cameron und die ein alter Badeort war, den Men-
schen Kirche, 1978 bis 2005, Konzern Discovery betriebenen Tories, seit sie 2010 wieder an schen besuchten, um eine gute
vorgeworfen, als Krakauer Erz- Privatsender in polnische Hand die Macht kamen – alle mach- Zeit zu haben. Ich kann mich
bischof Missbrauchsfällen in zu bringen – das Vorhaben ten Politik für große Unterneh- noch daran erinnern, wie ich als
­seiner Diözese nicht nachgegan- scheiterte nach Protesten am men, mit niedrigen Steuern, Kind dort am Strand saß.
gen zu sein. Laut dem von der Veto des polnischen Präsiden- ­geringen Löhnen für Beschäftig- SPIEGEL: Sie haben gerade einen
PiS gewählten Vorsitzenden des ten Andrzej Duda. PAN te, schwachen Gewerkschaften. Film, »The Old Oak«, fertig­
Wenn die Profite der Konzerne gestellt. Steckt ein Teil Ihres
nur stetig steigen, dann investie- ­Ärgers darin?
ren sie eifrig in unser Land, und Loach: Ich will nicht zu viel da­
allen geht es besser. rüber verraten. Aber er spielt in
SPIEGEL: Schöne Theorie ... einer ehemaligen Bergarbeiter-
Loach: ... hat nur nie funktio- stadt im Nordosten Englands,
niert. Stattdessen hat die Dere- wo es wenige Jobs gibt und vie-
gulierung und Privatisierung le gegangen sind. Umgekehrt
C. Margais / WireImage / Getty Images

von allem zu wachsender Un- hat die Region mehr syrische


gleichheit, Obdachlosigkeit und Flüchtlinge aufgenommen als
Abhängigkeit von Essensspen- andere Teile des Landes. In dem
den geführt. Daher die zahllo- Film geht es darum, wie die Sy-
Jan Morek / SZ Photo

sen Streiks der letzten Monate. rer, die Schreckliches hinter sich
Armut in all ihren Formen haben, mit den Engländern
Papst Johannes Paul II. in Krakau 1979
nimmt gerade zu, es ist wie eine ­leben, die nach den Bergwerk-
Flut, es ist ungeheuerlich. schließungen noch da sind. JÖS

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

Beschädigtes Wohnhaus in Armeesoldaten auf den


der Hauptstadt Khartum Straßen der Stadt

REUTERS
per Telefon. »Seit gestern haben wir
kein fließendes Wasser mehr.«

Kampf der Generäle


Sie arbeitet für eine internationale
Organisation, doch das hilft ihr nichts.
Die Gefechte vor ihrer Haustür dau­
ern an, fast niemand traut sich raus.
Seit den frühen Morgenstunden
SUDAN  Zwei rivalisierende Männer haben einen Krieg entfacht, der alle Hoffnungen des Samstags herrscht in Afrikas dritt­
größtem Staat der Kriegszustand. In
auf einen friedlichen, demokratischen Neuanfang begräbt. Und die Aktivistinnen, fast allen Landesteilen wird gekämpft.
die einst den Diktator zu Fall brachten, fürchten nun einen Bürgerkrieg. Gegenüber stehen sich zwei rivali­
sierende Generäle und ihre Armeen:
Die regulären Streitkräfte des Sudan,

E
in dumpfes Knallen, erst weiter ging. Die Sudanesen leiteten ab De­ befehligt vom De-facto-Präsidenten
weg, dann lauter. Shadin Alfadil zember 2018 in ihrem von Massa­ General Abdel Fattah al-Burhan. Und
liegt im Bett, als sie am frühen kern, Hunger und Krisen gebeutelten die paramilitärischen Rapid Support
Samstagmorgen dieses Geräusch hört. Land eines der beeindruckendsten Forces (RSF), die seinem Stellvertreter
Sie kennt es schon, von den Demons­ Kapitel der arabischen Demokratie­ Generalleutnant Mohamed Hamdan
trationen, zu denen sie seit mehr als bewegungen ein. Sie schafften, was Daglo, genannt Hemeti, unterstehen.
vier Jahren regelmäßig geht. niemand erwartet hatte: Sie demons­ Schätzungen zufolge umfassen sie
Sie hat es gehört, bevor Mitstrei­ trierten, bis Diktator Omar al-Baschir rund 100.000 Kämpfer.
te­rinnen, Freunde, tot zusammenbra­ aus dem Amt vertrieben war. Nach Es ist ein Machtkampf zweier
chen, Blut auf den Asphalt lief. Sie 30 Jahren Diktatur schien die Demo­ Männer, ein Bürgerkrieg der Militärs,
weiß, wie Schüsse klingen, und sie kratie greifbar. ohne Bürger, aber mit schweren
Aktivistin Alfadil:
weiß nur zu gut, was sie anrichten. Doch über die Jahre wurde diese »Wir haben ­Waffen, mit Artillerie und Kampfjets.
Alfadil, eine junge Sudanesin mit Hoffnung von mächtigen Militärs im­ kein fließendes Hunderte Menschen waren am Don­
ernstem Blick und fester Stimme, mer weiter zerstört. Nun könnte sie Wasser mehr« nerstag bereits gestorben, Tausende
greift zum Smartphone, ständig er­ im Bombenhagel begraben werden. wurden verletzt. Der Flughafen Khar­
scheinen neue Nachrichten: »Schüsse Bei Alfadil setzt an diesem Tag der tums ist stark beschädigt, es gibt kei­
in der Innenstadt«, später auch: Notfallmodus ein: Sie prüft ihre Vor­ ne offiziellen Flüge mehr. Kampfjets
»Luftangriffe in Khartum«. So erzählt räte, Nahrungsmittel, Wasser. Schnell kreisen, Granaten explodieren in
sie es später am Telefon. merkt sie: Es sieht nicht gut aus. Es Wohn­gebieten. Wer kann, flieht aus
Es ist der vorerst traurigste Tief­ ist Ramadan, der Fastenmonat der der Stadt, der Rest verschanzt sich in
punkt der Geschichte einer Revolu­ Muslime, viele Gläubige essen nur Wohnungen und Kellern.
tion, die nicht nur den Sudan, sondern nach Sonnenuntergang, haben kaum Dabei hätte es ein Monat der Hoff­
die Welt mit Hoffnung erfüllte. Vier Vorräte zu Hause. »Ich ver­suche gar nung werden sollen. Im Dezember
Shadin Alfadil

Jahre ist es her, dass Alfadil erstmals nicht erst, satt zu werden, ­damit die war ein Abkommen unterzeichnet
zusammen mit Tausenden Menschen Vorräte noch eine Weile reichen«, er­ worden, in dem sich Burhan und He­
todesmutig auf die Straßen Khartums zählt sie dem SPIEGEL am Montag meti bereit erklärten, die Macht an

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AUSLAND

Khartum nach Gefechten

Mahmoud Hjaj / Anadolu Agency / Abaca Press / d


Bakri Jad / REUTERS

eine von Zivilisten geführte Regierung zu rigiden Moralvorstellungen verbringen, das Doch hinter den Kulissen zeichnete sich schon
übergeben. Am 11. April sollte es so weit sein. von einem Gewaltherrscher unterdrückt damals der Machtkampf ab, der nun das Land
Doch dafür hätten die beiden Männer sich wird. »Wir wollten die Freiheit erkämpfen.« ins Chaos stürzt. Viele Beobachter sahen
einigen müssen, wie sie ihre Streitkräfte zusam­ Die ­Pro­teste dauerten vier Monate an. Am schon 2019 in Hemeti den eigentlichen star­
menlegen, denn dieser Schritt ist ein wesent­ 11. April 2019 brach schließlich Jubel aus, die ken Mann des Landes.
licher Teil des Abkommens. Burhan wollte die Aktivistinnen lagen sich in den Armen, das Seine Karriere als brutaler Feldherr begann
RSF binnen zwei Jahren in die reguläre Armee Militär hatte sich gegen Baschir gewendet und 2003 mit der Rebellion in Darfur. Afrikanisch­
integrieren. Hemeti beharrte auf zehn Jahren ihn festgesetzt. »Das war ein Moment der stämmige Gruppen lehnten sich dort gegen
Übergangsphase. Auch die Frage, wie die zu­ Hoffnung, ich habe an einen besseren Sudan die arabischstämmig dominierte Regierung
künftige Kommandostruktur aussehen sollte, geglaubt«, sagt Alfadil. Doch die Freude in Khartum auf. Diktator Baschir mobilisier­
sorgte für unüberbrückbare Differenzen. währte nicht lange. Die Militärs zeigten kein te die arabischstämmige Jugend, um den Auf­
­Genauso wie die Aussicht, eventuell selbst für Interesse daran, die Macht wieder abzugeben. stand niederzuschlagen. Die berüchtigten
Verbrechen vor Gericht gestellt zu werden. Zwei Generäle bestimmten nun die Ge­ Dschandschawid-Milizen entstanden. Heme­
Die Generäle wandten sich gegeneinander, schicke des Landes: Burhan und Hemeti. ti wurde einer ihrer wichtigsten Kommandeu­
aus Angst um den eigenen Einfluss. re. Während der ersten, besonders brutalen
Wer in den Kämpfen die Oberhand hat, Jahre des Kriegs in Darfur wurden mehrere
ist schwer zu sagen. Sudan-Experte Alex de Plötzlich Krieg Hunderttausend Zivilisten getötet und mehr
Waal, Direktor der World Peace Foundation als zwei Millionen Menschen vertrieben.
an der Tufts-Universität bei Boston, sieht Hemetis Dschandschawid ritten in Dörfer
Seit dem 15. April anhaltende Kampf-
­zumindest kurzfristig die Armee im Vorteil. handlungen zwischen der sudanesischen ein, schlachteten die Bewohner ab, vergewal­
Er sagt, die im Sudan einflussreichen Staaten Armee und den paramilitärischen Rapid tigten Frauen, raubten und plünderten. Gegen
Ägypten, Saudi-Arabien und Vereinigte Ara­ Support Forces laut Berichten Baschir wurde deswegen später vom Inter­
bische Emirate müssten nun schnell Druck nationalen Strafgerichtshof ein Haftbefehl
ausüben. »Denn mit jedem Tag, der ohne Ver­ ÄGYPTEN unter anderem wegen Völkermords erlassen.
TSCHAD Rotes
handlungen vergeht, wächst die Gefahr eines Meer Hemeti gab sich brutal – aber vor allem
langen und komplizierten Bürgerkriegs.« loyal. Baschir übertrug ihm 2013 die Führung
SUDAN
Shadin Alfadil kauert in den nächsten der neu gegründeten Rapid Support Forces.
­Tagen in ihrer Wohnung, während draußen Viele seiner alten Kämpfer nahm Hemeti mit
Schüsse fallen, Artillerie und Jets Häuser in in die neue Truppe. Die RSF verübten fortan
Ruinen verwandeln, und berichtet von einem Khartum Plünderungen, Morde und Massenvergewal­
Leben, das eng mit der jüngsten Geschichte ERITREA tigungen in verschiedenen Regionen des Lan­
Darfur
ihres Landes verknüpft ist. Sie erzählt in des. Baschir erschuf ein Monster, das sich bald
­Telefongesprächen von der Hoffnung auf nicht mehr kontrollieren ließ.
­Umbruch, von zahlreichen Rückschlägen und Der Diktator machte die Truppe zu einer
dem festen Willen, nie aufzugeben. Art Leibgarde, die ihn vor Protesten, vor allem
Sie war im Dezember 2018 dabei, damals aber vor Putschversuchen durch die Armee
Anfang dreißig, als Tausende gegen Baschir 500 km schützen sollte. Die RSF wurden zu einer drit­
SÜDSUDAN
auf die Straße gingen. Sie wollte nicht ihr ten Macht innerhalb des sudanesischen Sicher­
­ganzes Leben in einem autoritären Land mit S Quelle: »Beam Reports«; Stand: 19.04.2023 heitsapparats – neben Armee und Geheim­

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AUSLAND

dienst. Als 2018 die Revolution über das Am Dienstag, dem vierten Tag des Sie nimmt ihre Schwester und de-
Land hinwegfegte, nutzte Hemeti das Kriegs, wird die Lage bei Shadin Al- ren Schwiegermutter mit, dann fah-
zu seinem Vorteil: Er ließ den Diktator fadil immer dramatischer. Sie wohnt ren sie zwei Stunden Richtung Süden,
fallen und unterstützte seinen Sturz. allein, macht sich Sorgen: Was, wenn raus aus Khartum, durch die Gefech-
Als die Proteste auch nach der Ab- es mich erwischt? Wenn mich eine te. Doch während sie sich selbst in
setzung Baschirs weitergingen, ließen Kugel trifft? Wie lange bleibe ich lie- Sicherheit bringen, während sie um
sich Burhan und Hemeti schließlich gen, bevor mich jemand findet? Über ihr Leben fürchten, ergreifen andere

Ashraf Shazly / AFP


auf einen Kompromiss ein, gründeten Stunden fällt der Strom aus. Eine hu- Aktivistinnen bereits wieder die Ini-
einen sogenannten Übergangsrat. Sie manitäre Katastrophe bahnt sich an. tiative. Sie gründen WhatsApp-Grup-
versprachen Wandel, doch die Akti- Das Welternährungsprogramm hat pen, in denen Menschen in Not ihre
vistin Shadin Alfadil und ihre Mit- seine Arbeit eingestellt, nachdem drei dringenden Bedürfnisse anmelden
streiterinnen glauben ihnen nicht. Sie Mitarbeiter getötet wurden. Lager können, dann wird Hilfe organisiert.
gingen wieder auf die Straße. Schnell humanitärer Organisationen wurden Auf Facebook kursieren Videos:
sahen sie Hemetis wahres Gesicht. geplündert. Schon vor dem Konflikt Aktivistinnen, die Wände mit Anti-
Am 3. Juni 2019 brannten RSF- war mehr als ein Drittel der Bevölke- Kriegs-Graffiti besprühen, im Hinter-
Ein­heiten Zelte der Demonstranten rung auf Hilfe angewiesen. grund hört man Kämpfe. Männer, die
nieder, schossen wahllos in die Men- Am Dienstagabend ist Alfadil Lieder gegen die Militärherrschaft
ge, verprügelten Teilnehmende. Mehr nicht mehr erreichbar, obwohl sie singen. Der zivile Widerstand hat be-
als 100 Menschen starben, viele Lei- zum Telefonat mit dem SPIEGEL ver- gonnen, wieder einmal. Auch für Sha-

Ashraf Shazly / AFP


chen wurden einfach in den Nil ge- abredet ist. Eigentlich sollte gerade din Alfadil steht fest: Sie wird wieder
worfen. »Auch ich wurde angegriffen. ein Waffenstillstand gelten, damit die auf die Straße gehen: »Wer auch im-
Doch wir gaben nicht auf, die Revo- Menschen fliehen oder sich versorgen mer diesen Krieg gewinnt, droht der
lution musste siegen«, sagt Alfadil. können. Doch die Kämpfe dauern un- neue Diktator des Sudan zu werden.
Nach Monaten der Verhandlungen Kontrahenten vermindert an, in einigen Stadtteilen Und eines ist klar: Einen Diktator
wurde wieder ein Rat gegründet, dies- Burhan, Hemeti: werden sie sogar heftiger. werden wir nie wieder akzeptieren.
mal hieß er »Souveräner Rat«, be- Sie fürchteten um Augenzeugen berichten von Lei- Nie!«
setzt je zur Hälfte mit Zivilisten und die Macht – und chen auf den Straßen, die tagelang Doch Experten sind kritisch. Alan
um den Zugang zu
Militärs. Am Ende dieses Übergangs den Geldtöpfen nicht geborgen werden, vom Gestank Boswell, zuständig für das Horn von
sollten freie Wahlen stehen, endlich. der Verwesung, von plündernden Afrika beim Thinktank International
Aber der militärische Teil der neu RSF-Einheiten. Ärzteorganisationen Crisis Group, sagt: »Es ist das abso-
geschaffenen Übergangsregierung melden, dass die meisten Kranken- lute Albtraumszenario für den Über-
zeigte von Beginn an wenig Interesse häuser außer Betrieb sind. Das Ge- gang zur Demokratie.« Die Intention
daran, sich tatsächlich auf Reformen sundheitssystem in Khartum stehe der beiden Seiten im Moment sei klar:
einzulassen: Die Generäle fürchteten vor dem Zusammenbruch. »Sie wollen den Konflikt militärisch
um die Macht – und um den Zugang Am Mittwochvormittag schreibt lösen.« Dass eine Seite den Krieg ge-
zu den Geldtöpfen. Denn die Armee die Aktivistin Alfadil endlich eine winnen kann, hält Boswell für sehr
ist im Sudan ein Staat im Staat, die Nachricht, entschuldigt sich, sie habe unwahrscheinlich.
hochrangigen Militärs sind oft gleich- einen Nervenzusammenbruch er­ Ein Kompromiss scheint genauso
zeitig Wirtschaftsgrößen und verdie- litten. Zwei Stunden später kommt wenig in Aussicht. Auch in der kri­
nen auch dank weitläufiger Korrup- ein Telefonat zustande, 2 Minuten sengebeutelten Region Darfur be-
tion prächtig. Hemeti arbeitet unter und 20 Sekunden wird es dauern. Ihre kämpfen sich die beiden Seiten. Und
anderem mit den Söldnern der russi- Stimme klingt nun anders als in den besonders die Eskalation dort beob-
schen Gruppe Wagner in seinen Gold- Vortagen, angsterfüllt. »Ich kann nur achten Experten mit großer Sorge.
minen zusammen. ganz kurz«, ruft sie, »wir müssen flie- »Darfur wird sich in eine Welt des
Es folgte ein Auf und Ab, ein Zer- hen.« In ihrem kleinen Garten sei ein Schmerzes verwandeln. Dort, in He­
ren um die Macht, bis am 25. Oktober Geschoss gelandet und explodiert, me­tis Hochburg, werden wir wahr­
2021 Armee und RSF erneut putsch- Fliehende Zivilisten der Gärtner, der Wächter und ein scheinlich massive Zerstörung sehen«,
am Mittwoch:
ten und die Übergangsregierung auf- Dreimal Waffenstill-
Freund von ihr – sofort tot. »Es ist so so Boswell. »Das Potenzial für ein
lösten. Damals noch Seite an Seite. stand, dreimal wahllos, hier gibt es doch gar keine schreckliches Blutvergießen ist hoch.«
Es folgte das altbekannte Muster: wurde er gebrochen Ziele«, sagt Alfadil. Mittwochnacht kommt Alfadil
Alfadil und ihre Mitstreiterinnen gin- endlich im Süden des Landes an,
gen auf die Straße, Menschen starben. sie hat es mit dem Auto durch die
Am Ende stand wieder das Verspre- ­Gefechte geschafft. Per WhatsApp
chen der Generäle auf einen Über- schreibt sie am Donnerstagmorgen
gang zu einer zivilen Regierung. zwei kurze Nachrichten: »super­
Doch in den ersten Monaten die­ erschöpft«, dann »es ist sehr sicher
ses Jahres nahmen die Spannungen hier«. Keine Schüsse, keine Bomben.
­zwischen den beiden Männern zu. Eigentlich sollte diese Ruhe im gan-
Hemeti versuchte, sich als geläuterter zen Land herrschen, zum dritten Mal
Demokrat zu präsentieren, insze­ wurde ein Waffenstillstand verein-
nierte sich als möglicher Führer des bart, doch in Khartum hält er wieder
­Sudan, schmiedete ein Bündnis mit einmal nicht.
einer Koalition politischer Parteien. Alfadil ist müde, sie hat keine
Burhan fürchtete offenbar Hemetis ­Ahnung, wie es nun weitergeht. Nur
zunehmende Macht. Als die RSF ver- eines weiß sie: Aufgeben kommt nicht
gangene Woche mehr Einheiten nach infrage.
Khartum verlegten, schien das eine Heiner Hoffmann, Fritz Schaap
Provokation zu viel zu sein.
AFP

Mitarbeit: Mohamed Alamin n

74 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


AUSLAND

Nausėda: Für mich als Präsident dieses Landes


ist klar, dass wir konkrete Schritte gehen müs-
sen, indem wir eine Infrastruktur aufbauen –
und ich bin sicher, das wird dann durch ent-
sprechende Reaktionen und Entscheidungen
unserer deutschen Kollegen belohnt.
SPIEGEL: Was ist, wenn die Brigade nicht
dauerhaft in Litauen stationiert wird?
Nausėda: Für uns hat das absolute Priorität.
Wir sind geografisch gesehen ein kleines
Land, es sind nur 300 Kilometer von Ost nach
West. Deshalb brauchen wir in einer Gefah-
rensituation Kampftruppen, die auf litaui-
schem Boden stationiert sind. Ansonsten wird
es schwer, dieses Land zu schützen – und da-
mit das Nato-Bündnisgebiet.

Janis Laizans / REUTERS


SPIEGEL: Begeht der Westen im Umgang mit
China dieselben Fehler wie bei Russland?
Nausėda: Ich würde nicht sagen, dass wir es
mit zwei vollkommen gleichen Ländern zu
tun haben und China wie Russland behandeln
Staatschef Nausėda*: »Wir haben es mit einem sehr gefährlichen Aggressor zu tun« können. Es handelt sich um zwei verschiede-
ne Länder mit unterschiedlichen Mentalitäten
und strategischen Zielen. Aber Litauen hat in
den vergangenen Jahren bestimmte Erfah-

»Rote Linien übertreten«


rungen mit Peking gemacht. Wir dachten an-
fangs, dass wir uns mit gegenseitigem Respekt
und auf Augenhöhe begegnen können, auch
wenn sich hier ein sehr kleines und ein sehr
großes Land gegenüberstehen. Aber da haben
LITAUEN  Präsident Gitanas Nausėda fordert eine permanente deutsche wir uns geirrt, es handelte sich um eine Ein-
Brigade zum Schutz vor Russland – und mehr Druck auf Peking. bahnstraße. Das war der Grund, warum wir
aus dem 17+1-Format der Chinesen mit Ost-
europa ausgetreten sind.
SPIEGEL: Herr Präsident, Sie sind nächste Wo- dass er irgendwann aufhört – sollte er Erfolg SPIEGEL: Ende 2021 blockierte China Waren
che bei Bundeskanzler Olaf Scholz. Werden Sie haben, wird er immer weitermachen. aus Ihrem Land, weil in Vilnius eine Vertre-
ihn für seine anfängliche Zurückhaltung bezüg- SPIEGEL: Was meinen Sie mit allen roten Li- tung Taiwans eröffnet wurde.
lich Waffenlieferungen an die Ukraine kritisieren? nien? Sollten auch Kampfflugzeuge westlicher Nausėda: Peking hat sehr nervös reagiert, ob-
Nausėda: Wir müssen tolerieren und verste- Bauart an die Ukraine geliefert werden? wohl wir an der Ein-China-Politik festhielten.
hen, dass verschiedene Länder unterschied- Nausėda: Ja, einige Staaten liefern ja bereits Es war gut zu sehen, dass die EU dies auch als
liche Einstellungen haben. Für mich war wich- Flugzeuge anderen Typs. Der Luftraum ist Angriff auf den Binnenmarkt gesehen hat, und
tig zu sehen, dass es ein Umdenken bei deut- ein wichtiges Element in diesem Krieg. Um so wurde aus der litauisch-chinesischen Ange-
schen Politikern gab. Am Anfang ging es nur ihn effizient verteidigen zu können, braucht legenheit eine zwischen der EU und China. Wir
um Schutzwesten und Helme. Seitdem wächst es Flugzeuge und mehr Luftverteidigungs- haben 80 Prozent unserer Exporte verloren,
die Unterstützung Deutschlands für die systeme. Das ist nicht nur für die Ukraine aber wir haben diesen Verlust durch Diversifi-
­Ukraine. Viele der von uns selbst gezogenen wichtig, sondern auch für unsere Sicherheit. zierung auf andere Märkte mehr als kompen-
roten Linien wurden überschritten. Und SPIEGEL: Beim Nato-Gipfel in Vilnius wird es sieren können. Die Lehre daraus ist: Die EU
Deutschlands Entscheidungen senden nicht im Juli auch um die Verteidigungsausgaben muss mit einer Stimme sprechen. Es wäre ver-
nur ein positives Signal an die Ukraine, son- der Mitgliedstaaten gehen. Sollte das Zwei- früht, wenn einige Länder sich gegenüber Chi-
dern auch an alle anderen Nato-Ver­bündeten. Prozent-Ziel erhöht werden? na positionieren, bevor die EU ihre China-Poli-
SPIEGEL: Was heißt das? Nausėda: Ich denke, wir sollten die zwei Pro- tik definiert hat.
Nausėda: Für mich ist ziemlich klar, dass wir zent als Untergrenze statt als Obergrenze be- SPIEGEL: Kanzler Scholz und Außenministe-
alle roten Linien überschreiten müssen. An- greifen. Und ich glaube, dass wir uns darauf rin Baerbock ringen um eine China-Strategie.
dernfalls verlieren wir Zeit. Jeden Tag werden einigen können. Die Nato-Länder haben Nausėda: Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass
Menschen getötet und gefoltert. Die Deporta- unterschiedliche wirtschaftliche Kapazitäten, die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands
tion von Kindern ist an der Tagesordnung, aber es ist nicht fair, wenn einige weniger als in China natürlich viel größer sind, als es die
ebenso die Bombardierung von Infrastruktur. ein oder anderthalb Prozent einsetzen und Litauens je waren. Wir müssen unseren poli-
Im Rückblick haben wir Zeit verloren, weil wir andere mehr als fünf Prozent. Es ist sehr wich- tischen Werkzeugkasten benutzen: Export-
lange gezögert haben, bestimmte Entscheidun- tig, dass wir solidarisch sind. Wir in Litauen kontrollen, 5G-Gesetzgebung, das geplante
gen zu treffen. Am Ende kamen wir trotzdem investieren bereits in die Infrastruktur für EU-Instrument zur Bekämpfung wirtschaft-
zu diesen Entscheidungen, aber spät und zu Truppen und die deutsche Brigade, die hier licher Zwangsmaßnahmen. Außerdem sollten
einem sehr hohen Preis. Wir müssen sehr ent- dauerhaft stationiert werden soll. Damit mei- wir Peking zu einer eindeutigen Politik gegen-
schlossen sein, weil wir es mit einem sehr ge- ne ich vor allem Kasernen und Übungsplätze. über Russland drängen. Derzeit senden die
fährlichen Aggressor zu tun haben, der keine SPIEGEL: Zwischen Deutschland und Litauen Chinesen widersprüchliche Signale aus. Soll-
Grenzen kennt. Man sollte nicht darauf hoffen, ist vereinbart, dass die Bundeswehr eine Bri- te Peking Waffen an Russland liefern, sind
gade zum Schutz des Landes stellt. Sie wollen, alle Angebote einer chinesischen Vermittlung
* Mit Soldaten an der litauisch-belarussischen Grenze dass die Truppe und Geräte dauerhaft vor Ort zwischen Moskau und Kiew obsolet.
im November 2021. stationiert sind. Deutschland will das nicht. Interview: Carolin Katschak, Christoph Schult n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 75


AUSLAND

Welt. Fast jede Minute stirbt ein Kind daran.


Dem jüngsten Welt-Malaria-Bericht zufolge
infizierten sich nach Schätzungen der WHO
2021 247 Millionen Menschen. Schätzungs-

Rettung aus Oxford


weise 619.000 starben.
Die Krankheit tritt in etwa 100 Ländern
auf. Neben Subsahara-Afrika vorwiegend in
Südostasien, Indien, Zentral- und Teilen von
Südamerika. Es gibt fünf Arten des Plasmo-
INFEKTIONSKRANKHEITEN Mehr als 600.000 Menschen sterben jedes dium-Parasiten, die beim Menschen Malaria
verursachen, besonders gefährlich ist der
Jahr an Malaria, die meisten sind Kinder. Nun gibt es Erreger Plasmodium falciparum: Er verur-
endlich einen wirksamen Impfstoff. Er könnte die Welt verändern. sacht mit Malaria tropica die schwerste aller
Malariaformen.
Die Länder südlich der Sahara sind dabei

E
rst werden die Kinder vermessen, dann dritte Testphase bereits abgeschlossen. 4800 stärker betroffen als jede andere Weltregion.
gewogen. Schließlich gibt es einen Kinder haben den Impfstoff bekommen. 2021 wurden in der WHO-Region Afrika
Lolli. Und später, wenn alles geschafft Olotu ist in Tansania eine Koryphäe auf rund 95 Prozent aller Malaria- und 96 Pro-
ist, gibt es noch mal einen. Eine kleine Be- seinem Gebiet: Schon an der Evaluierung des zent aller Todesfälle verzeichnet. Hier ist
lohnung dafür, dass sie helfen, die Welt zu ersten, 2021 zugelassenen Impfstoffs, genannt sowohl eine bei der Übertragung besonders
verändern. Mosquirix, war er beteiligt – damals ent- effiziente Mückengattung heimisch, als auch
»Ich danke euch, dass ihr an dieser Studie wickelt vom britischen Pharmaunternehmen die tödlichste aller Malariaformen am wei-
teilnehmt«, sagt Dr. Ally Olotu, ein Mann GlaxoSmithKline. Die WHO empfiehlt Mos- testen verbreitet. Etwa 80 Prozent aller Ma-
in gestreiftem Hemd, zu den Müttern der quirix zum Einsatz, obwohl es nicht das er- lariatoten in der Region sind Kinder unter
sechs Kinder, die in einem schlichten Gesund- hoffte Wundermittel war. Sein Schutz liegt fünf Jahren. Das sind rund 475.000. Und
heitszentrum im tansanischen Kiwangwa vor nur bei 30 bis 40 Prozent. Forscher wie Olotu gehen davon aus, dass
ihm auf Holzbänken sitzen. Es ist der letzte Große Hoffnungen setzt Olotu deshalb auf die tatsächlichen Todeszahlen weitaus höher
Testtermin für einen Impfstoff, der Hundert- R21. »Der Malariaerreger ist ein sehr kniffe- liegen.
tausende Menschenleben pro Jahr retten liger Parasit, der immer wieder seine Form Im tansanischen Gesundheitszentrum wer-
könnte. verändert. Ein wesentlich komplexerer Or- den jetzt kleine Kühltruhen in einen Neben-
Olotu, 47, Arzt und Forscher aus der ganismus als etwa ein Virus. Das macht es raum getragen, darin lagert der Impfstoff bei
Hauptstadt Daressalam, ist nicht der Einzige, kompliziert, einen wirksamen Impfstoff zu unter acht Grad. Auf einem blauen Plastik-
der einen Durchbruch wittert. Erst kürzlich entwickeln.« stuhl sitzt Daria Rukesa, auf dem Schoß ihren
erklärte die NGO Malaria No More, die jüngs- Und dennoch scheint es gelungen zu sein. Sohn Bosco, und erzählt, wie sehr die Men-
ten Fortschritte könnten bedeuten, dass das R21 wäre der erste Impfstoff, der das Ziel der schen unter der Krankheit leiden.
Sterben von Kindern an Malaria »noch zu Weltgesundheitsorganisation (WHO) er- Die 28-Jährige hat ein gutes Kleid angezo-
unseren Lebzeiten« ein Ende haben könnte. reicht: eine Wirksamkeit von mindestens gen, die Haare streng zusammengebunden.
Der Impfstoff R21 wird erst der zweite 75 Prozent. Das zumindest legen die Test- Sie ist stolz, dass Bosco an dieser Versuchs-
sein, der gegen Malaria auf den Markt kommt. reihen von Olotu und seinen Kollegen nahe. reihe teilnimmt. »Ich helfe nicht nur ihm, ich
Entwickelt wurde er am Jenner Institute der Von den mehr als 100 Impfstoffen, die in den helfe allen Kindern hier«, sagt sie. Ihr Sohn
Universität Oxford. Er soll Kleinkinder vor vergangenen Jahrzehnten entwickelt und ge- hat drei Impfungen bekommen, jeden Monat
der oft tödlichen Krankheit schützen. An testet wurden, hat das keiner auch nur eine. Nun, ein Jahr später, noch einen Boos-
diesem Tag wird den letzten rund 20 von annähernd geschafft. tershot.
600 Kindern in Tansania die vierte Es wäre eine epochale Errun- In seinen ersten sechs Monaten, noch vor
Impfung verabreicht. In Mali, genschaft. Malaria ist noch immer der Impfung, hatte Bosco bereits zweimal
Burkina Faso und Kenia ist die eine der tödlichsten Krankheiten der Malaria. »Einmal wäre er fast gestorben«,
sagt seine Mutter. Sie umfasst den Jungen im
weiß-blau gemusterten T-Shirt, als hätte sie
Afrikas Geißel noch immer Sorge, ihn zu verlieren. »Ich hat-
te große Angst.« Einen Monat lang rang der
Malariatodesfälle 2021 Säugling mit dem Tod, lag apathisch mit ho-
hem Fieber in seinem Bett, dann am Tropf in
einer kleinen Klinik. Daria Rukesa sagt, sie
habe gebetet. Einen weiteren Monat benötig-
Niger te er, um sich zu erholen.
25.000
Heute ist Bosco fast zwei Jahre alt. Viel-
leicht hat ihm die Impfung bereits das Leben
Indien
gerettet.
Papua- »Ich kenne viele in unserer Gemeinde, die
Nigeria Tansania Neuguinea an Malaria gestorben sind«, erzählt die Mut-
193.500 25.800 Indonesien ter. Noch vor nicht allzu langer Zeit hörte sie
Brasilien
Dem. Rep. bei jedem Krankenhausbesuch von Toten,
Kongo auch der Sohn ihrer Schwester ist gestorben.
78.800
Fälle Insgesamt sei die Lage in den vergangenen
James Gathany / AP

200 Tsd. Jahren allerdings besser geworden: Die Men-


Mosambik schen würden mehr Moskitonetze benutzen,
80 Tsd.
22.300 mehr Sprays und Cremes, die die Insekten
20 Tsd.
S Quelle: Schätzungen der WHO im »World Malaria Report 2022« abschrecken.


76 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


AUSLAND

kaum, sagt Olotu. »Jeder hier weiß


um die Gefahr durch Malaria.«
Tatsächlich haben jene Wissen-
schaftler in Oxford R21 entwickelt,
die auch am AstraZeneca-Impfstoff
gegen das Coronavirus beteiligt wa-
ren. Bei Corona sei vieles einfacher
gewesen, sagen sie in Oxford, wo
rund 50 Forscher seit zehn Jahren an
R21 arbeiten.
Während das Coronavirus weni-
ger als 20 Gene hat, besitzt Plasmo-
dium, das Malaria verursacht, mehr
als 5000. Der Impfstoff R21 zielt
auf ein bestimmtes Oberflächen­
protein in der frühen Entwicklungs-
phase des Erregers ab und versucht
zu verhindern, dass der Parasit die
Leber erreicht und sich dort vermeh-
ren kann.
»Dabei sind der bereits zugelasse-
ne und der neue R21-Impfstoff sehr
ähnlich«, erklärt Olotu. Beide ent-
halten ein Oberflächenprotein des

Yasuyoshi Chiba / AFP


Parasiten, das auf einem Teil eines
Hepatitis-Virus in den Körper ge-
schleust wird. Bei R21 habe man al-
lerdings die Menge des Hepatitis-­
Virus verringert und den Anteil des
Malaria wird durch weibliche Ano- ria gibt es.« Sind die Dächer der Häu- Mit Mosquirix Malariaproteins erhöht. So soll sich
phelesmücken übertragen. Sticht eine ser dicht, Netze an den Fenstern geimpfte Dreijährige das Immunsystem stärker auf die Bil-
in Kenia: Die nächste
Mücke einen infizierten Menschen, montiert, schließen die Türen, dann Klinik kann einen
dung von Antikörpern gegen Malaria
gelangt mit dem Blut der parasitäre kommen von vornherein weniger langen Fußmarsch konzentrieren können. Zudem wurde
Einzeller in das Insekt. Sticht die Moskitos dorthin, wo die Menschen entfernt sein ein potenterer Wirkverstärker ver-
­Mücke danach andere Menschen, sich oft aufhalten, wenn die Anopho- wendet.
überträgt sie die Mikroorganismen lesmücke auf die Jagd nach Blut geht: Olotu ist zuversichtlich, dass bald
weiter. Die Parasiten gelangen durch zwischen Sonnenuntergang und Son- mehr Kinder geimpft werden kön-
den Blutkreislauf in die Leber, wo sie nenaufgang. nen. »Wegen der Ähnlichkeit mit dem
sich massenhaft vermehren, die Le- »Wohnen die Menschen hingegen bereits bewilligten Stoff können wir
berzellen zum Platzen bringen und in einfachen Hütten und gibt es genug einen langen Zulassungsprozess ver-
wieder in die Blutbahn entlassen wer- andere, die den Parasiten in sich tra- meiden.« R21, hofft er, könne schon
den. Dort dringen sie in die roten gen, dann gerät die Übertragungs- Ende dieses Jahres auf den Markt
Blutkörperchen ein und vermehren rate außer Kontrolle«, sagt Olotu. Er kommen.
sich weiter. steht jetzt unter einem Baum vor In Oxford rechnet man bereits in
Der Befall der Blutkörperchen löst dem Gesundheitszentrum, gleich hat den kommenden Monaten mit den
die Symptome aus. Es treten die ma- er eine Teambesprechung. Wahr- ersten regulären Impfungen. Vergan-
lariatypischen, rhythmisch wieder- scheinlich, sagt er und schaut auf die gene Woche vermeldete das Jenner
kehrenden Fieberschübe auf, Kopf- schlichte Klinik, hätte es schon früher Institute die Zulassung von R21 in
schmerzen, Abgeschlagenheit, Er­ Impfstoffe gegeben, würden auch die Ghana, diese Woche in Nigeria – dem
brechen und Gliederschmerzen. Im Reichen dieser Erde unter Malaria Land mit den meisten Malariatoten
schlimmsten Fall kommt es zu leiden. weltweit.
Krampfanfällen, Nierenversagen und Dr. Ally Olotu beschäftigt sich seit Der Impfstoff wurde bereits an das
zum Tod. 2005 mit Malaria, erst als Kinder- Serum Institute of India lizenziert,
Doch das muss nicht so sein. Ma- arzt und anschließend als Forscher Forscher Olotu:
den weltweit größten Hersteller von
laria, sagt Olotu, sei eine Krankheit in Tansania, Kenia und Äquatorial- »Ende des Kindstods Vakzinen, wo 100 bis 200 Millionen
der Armut. In den allermeisten Fällen Guinea. Durch ein Fenster kann er durch Malaria« Dosen pro Jahr produziert werden
stirbt nur, wer nicht schnell behandelt nun sehen, wie im Haus die Impf- können. Und zwar für einen Ver-
wird – ein Problem in vielen Gegen- stoffe in kleinen Flaschen aus den kaufspreis im niedrigen einstelligen
den Afrikas, wo die nächste Klinik Kühltruhen genommen werden. R21 Dollarbereich pro Dosis. »Wir blicken
einen langen Fußmarsch weit entfernt und auch eine Vakzine gegen Toll- dem Ende des Kindstods durch Ma-
sein kann. Und so braucht es nicht wut, die die Kontrollgruppe be- laria entgegen. Das ist fantastisch«,
nur einen wirksamen Impfstoff, son- kommt: Um die Wirksamkeit von sagt Olotu.
dern auch besseren Zugang zu Ge- R21 beurteilen zu können, wird 200 Es ertönen spitze Schreie aus dem
Ifakara Health Institute

sundheitssystemen. von den 600 Kindern, die an den Krankenhaus. Sie verheißen nichts
Und Fortschritt: »Je weiter sich Tests teilnehmen, ein anderer Impf- Schlimmes, sondern aus Olotus Sicht
eine Gesellschaft entwickelt, je besser stoff verabreicht. etwas Freudiges: Die Kinder werden
die Häuser sind, in denen die Men- Impfskepsis, wie es sie noch bei geimpft.
schen wohnen, desto weniger Mala- den Coronaimpfstoffen gab, existiere Fritz Schaap n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

Für Saudi-Arabien bedeutet das vor allem


Teherans Schützlinge ein Ende von Raketen- und Drohnenangriffen
auf das eigene Staatsgebiet durch Iran und
seine Verbündeten. Und einen gesichtswah-
TÜRKEI TURKMENISTAN renden Ausstieg aus dem Jemenkrieg, der viel
Assad-Regime, kostete und doch nicht zu gewinnen war.
schiitische Saudi-Arabien will sich nun endlich auf die
Milizen
Reform seiner vom Öl abhängigen Wirtschaft
SYRIEN
Teheran konzentrieren.
LIBANON Ein Wendepunkt im Konflikt zwischen
Hisbollah
IRAK AFGHANISTAN Riad und Teheran dürfte die verhängnisvolle
ISRAEL schiitische Nacht auf den 14. September 2019 gewesen
Jerusalem Milizen IRAN sein, als der Himmel über der saudi-arabi-
GAZA- JORDA- schen Ortschaft Abkaik in Flammen stand.
NIEN
STREIFEN KUWAIT Es brannte eine der größten Ölraffinerien der
u. a. Hamas Welt: Marschflugkörper und Drohnen hatten
BAHRAIN PAKISTAN hier und bei einer zweiten Ölanlage die Hälf-
SAUDI-
ARABIEN te der Ölproduktion lahmgelegt. Die Huthis
Abkaik prahlten, dass der Angriff auf ihr Konto gehe,
KATAR
VEREINIGTE Beobachter vermuteten Iran dahinter. Es war
ÄGYPTEN Riad
ARABISCHE wohl Teherans Rache dafür, dass sich US-Prä-
EMIRATE sident Donald Trump im Vorjahr aus dem
OMAN
Nukleardeal mit Iran zurückgezogen hatte
Arabisches und das Land zurück in die Isolation stieß,
Meer
auch auf Druck Riads.
SUDAN
Es war ein Schock für die Saudi-Araber,
JEMEN derart verwundbar zu sein. Und der zweite
ERITREA Einflussgebiete Irans Schock folgte sogleich: Aus Washington kam
Sanaa im Nahen Osten
kaum mehr als ein Schulterzucken.
Huthi-Rebellen Dies war nur die jüngste einer ganzen Reihe
S Quelle: Sana’a Center unterstützte


Gruppen schwerer Enttäuschungen Saudi-Arabiens über


seine langjährige Schutzmacht USA. Die Be-
ziehung hatte damit begonnen, dass US-Prä-
sident Franklin D. Roosevelt 1945 König Ab-

Tauwetter am Golf
dulasis Ibn Saud auf einem US-Kriegsschiff im
Suezkanal traf und eine sicherheits- und wirt-
schaftspolitische Zusammenarbeit schmiedete.
Doch Riad klagt seit Langem darüber, dass
die USA dem Königreich nicht ausreichend
NAHOST  Teheran und Riad reden wieder miteinander, dank der moderne Waffen zur Verfügung stellen. Zeit-
weise bauten die USA einzelne Patriot-Rake-
­Vermittlung Chinas. Die Annäherung entschärft tenabwehrsysteme in Saudi-Arabien sogar
viele Konflikte in der Region. Aber ein Verlierer steht auch schon fest. ab. Nach dem Angriff auf die Ölanlagen 2019
stand für Riad offenbar endgültig fest: Auf die
USA ist kein Verlass mehr.

E
s war ein emotionaler Moment, als ver- analytiker und Konfliktforscher Hisham Al- Man sah sich nach neuen Partnern um,
gangenes Wochenende im Jemen ein Omeisy. nicht, um den USA den Rücken zu kehren,
großer Gefangenenaustausch zwischen Nicht nur im Jemen, im ganzen Nahen denn ihre Militärhilfe kann niemand ganz er-
den Kriegsparteien über die Bühne ging – fast Osten herrscht diplomatisches Tauwetter – setzen. Aber die Saudi-Araber wollen ihre
900 Gefangene kamen frei. Kämpfer, Jour- alle reden wieder mit allen, jedenfalls fast. Abhängigkeit vom Westen verringern, vor
nalisten, Aktivisten stiegen auf beiden Seiten Saudi-Arabien macht gerade mehrere Ouver­ allem von den USA. Inzwischen plant Riad
der Frontlinie aus Flugzeugen. Sie schlossen türen: Es geht auf seine Feinde zu, auf die verschiedene lasergestützte Luftabwehrsys-
ihre Liebsten in die Arme. Huthi-Rebellen, aber auch auf Syriens Dik- teme, mit China, mit Südkorea und mit einer
Etwas bewegt sich im Jemenkonflikt, die- tator Baschar al-Assad – gerade reiste der US-Firma. Und Riad setzt nun in der Region,
sem Krieg, der das Land in den Kollaps ge- saudische Außenminister nach Damaskus, die vom Konflikt zwischen Riad und Teheran
führt hat: Menschen hungern, Krankenhäuser zum ersten Mal seit dem syrischen Aufstand beherrscht wird, auf Diplomatie.
sind außer Betrieb, es fehlt an Wasser, Strom, 2011. Es ist nicht der erste Versuch, Differenzen
Medikamenten, eigentlich an fast allem – Vor allen Dingen aber spricht Riad mit sei- mit Iran beizulegen. Doch vergangene Ab-
außer an Waffen. Acht Jahre schon führt nem größten Rivalen in der Region: mit dem kommen waren nie von Dauer, mehrmals
Saudi-Arabien dort aufseiten der Regierungs- iranischen Mullah-Regime, das die Huthis und schrammten die beiden Rivalen knapp an
treuen gegen die mit Iran verbündeten Huthi- Assad unterstützt. einem Krieg vorbei. Diesmal aber sei alles
Rebellen Krieg – und jetzt scheint plötzlich Iran und Saudi-Arabien haben vor wenigen anders, ist der saudi-arabische Politikwissen-
eine Einigung zwischen den Huthis und Wochen die Wiederaufnahme diplomatischer schaftler Mansour Almarzoqi überzeugt: »Das
Saudi-Arabien möglich. Beziehungen verkündet, bei einem Treffen neue Abkommen ist eine wirklich große
Es wäre kein Ende des Jemenkriegs, der in Peking. China hat die Annäherung ver- Sache. Der Iran hat zugestimmt, alle direk­
auch ein innerer Konflikt ist. »Aber zumindest mittelt – ein Coup für die chinesische Regie- ten und indirekten Aggressionen einzustellen,
die regionale Dimension, die könnte sich da- rung, die sich in der Region zunehmend als vor allem in Bezug auf den Waffenschmuggel
mit beruhigen«, sagt der jemenitische Daten- Alternative zu den USA präsentiert. an die Huthi-Miliz im Jemen.«

78 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


AUSLAND

Es geht um das Ende jeglicher Ag- Und es erhält im Gegenzug etwas Fall vorzuziehen, sagt der Beamte:
gression gegeneinander, direkt und von Saudi-Arabien: Es kann seine »Ein Krieg würde die Region ins
indirekt, etwa in Stellvertreterkonflik- Einflussgebiete in der Region konso- Chaos stürzen. Wir wären die Leid-
ten wie im Irak, im Libanon, in Syrien lidieren. Die Huthis im Jemen erhal- tragenden.« Sein Land sei aber ent-

Balkis Press / Abaca Press / ddp


– und eben, am wichtigsten, im Jemen. ten Anerkennung als Verhandlungs- schlossen, die Iraner daran zu hin-
Jetzt arbeite man an langfristigen Me- partner. Die schiitische Hisbollah-Mi- dern, die Bombe zu bekommen, not-
chanismen, um Vertrauen aufzubauen liz im Libanon, die von Iran finanziert falls auch militärisch: »Sie werden sie
und mögliche Konflikte in einem Gre- wird, behält dort die Oberhand – und nicht bekommen, egal was wir tun
mium zu regeln, sagt Almarzoqi. die Saudi-Araber sollen dem bank- müssen.«
Der Analyst in Riad klingt am rotten Staat finanziell unter die Arme Seit Donald Trump unilateral aus
Telefon hoffnungsvoll – nicht, weil er greifen. dem Atomdeal mit Iran ausstieg – und
das iranische Regime plötzlich für Das ist Chinas vordringliches Ziel: ihn de facto auf Eis legte – hat Tehe-
verlässlich hält. Es ist die Rolle Pe- Ruhe und Sicherheit im Nahen Os- ran die Urananreicherung beschleu-
kings, die Almarzoqi so optimistisch ten, um die Region maximal für sich nigt. Das Land ist heute der Bombe
stimmt. Mit China, so betont er, stehe zu nutzen, als Markt und als Tank- so nah wie nie. Benjamin Netanyahu,
ein neues geopolitisches Schwerge- stelle. der auch 2018 israelischer Regie-

Iranian Supreme Leader‹s Office


wicht hinter dem Vertrag – das mache Erstmals in seiner jüngeren Ge- rungschef war, jubelte damals über
es wahrscheinlich, dass sich Iran auch schichte setzt China im Nahen Osten Trumps Entscheid; er hatte gegen den
an die Abmachung halte. also seine wirtschaftliche Macht ein, Deal lobbyiert, den man in Israel als
Das isolierte Iran braucht Peking, um politischen Einfluss zu etablieren. zu vorteilhaft für Iran kritisierte.
als politischen Partner, als Absatz- »China will Stabilität in der Region, Doch ausgerechnet von seinen Sicher-
markt und um an harte Devisen zu die kann es über Iran erreichen«, so heitsleuten gab es Kritik – von einem
kommen. Hält sich die Islamische Re- der iranische Politikwissenschaftler »strategischen Fehler« sprach der da-
publik also nicht an die Vereinbarung Kronprinz Moham- Nasser Hadian aus Teheran. malige Generalstabschef.
mit Saudi-Arabien, verfügt Peking med bin Salman, Einen Verlierer gibt es bei all dem: Die Hoffnungen auf eine große
über Druckmittel und würde diese Revolutionsführer Ali Israel. 2020 hatten die Vereinigten arabisch-israelische Allianz gegen
wohl auch einsetzen, glaubt man in Khamenei: Alle reden Arabischen Emirate mit viel Pomp Iran haben nun jedenfalls einen
wieder mit allen
Riad. »Das ist wie eine Vorauszah- die Abraham Accords mit Israel Dämpfer erhalten.
lung an Saudi-Arabien für künftige unterzeichnet, eine neue arabisch-­ Ein Zeitalter inniger Freundschaft
Abkommen«, sagt Almarzoqi. israelische Freundschaft wurde zele- zwischen Teheran und Riad wird den-
Das Verhältnis zwischen der schi- briert. Auch Saudi-Arabien ging lang- noch nicht so schnell anbrechen. Zu
itischen Theokratie und dem sunniti- sam auf Israel zu. Letztes Jahr gab es lang ist die Geschichte der Feindselig-
schen Königshaus war schon lange sogar Medienberichte, wonach die keiten, zu tief ist das Misstrauen. Die
angespannt, 2016 brach Riad dann USA sich um eine koordinierte Rake- Saudis setzen auf mehrere Pferde, sie
seine diplomatischen Beziehungen zu tenabwehr zwischen dem jüdischen bandeln mit China an, sie bleiben US-
Teheran komplett ab. Ein wütender Staat und den Golfstaaten bemühten. Verbündete, sie werden weiterhin
Mob hatte die saudi-arabische Bot- Nun stellt sich die Frage, ob all das ihre militärischen Kapazitäten gegen
schaft in Iran gestürmt, nachdem hinfällig ist – und was im Falle einer Iran ausbauen, für alle Fälle – viel-
Saudi-Arabien den populären schiiti- israelisch-iranischen Auseinanderset- leicht auch, im Geheimen, mit israe-
schen Kleriker Nimr al-Nimr exeku- zung passieren würde. lischer Hilfe. Und wer sagt, dass Israel
tiert hatte. In diesen Tagen der Ver- In Jerusalem sorgt man sich: Die nicht versuchen wird, die Annähe-
söhnung wurde nun in der iranischen Annäherung zwischen Riad und Te- rung zwischen Saudi-Arabien und
Stadt Maschhad ein Straßenschild heran mindere den Druck auf Iran, Iran zu gefährden?
mit der Aufschrift »Nimr-al-Nimr- weil China auf Kosten der USA an Für den Moment jedoch scheint
Straße« abmontiert und durch ein Einfluss gewinne. Das sagt ein hoher das Ende der Stellvertreterkriege in
anderes ersetzt. Beamter, der nicht mit Namen zitiert der Region besiegelt.
Iran ist zu Konzessionen bereit, werden möchte. Es fragt sich nur, was diese Art von
Befreite Gefangene
weil es unter Druck steht: Die landes- in Sanaa: Ein
Israels größte Sorge gilt weiterhin Stabilität für die Menschen in der Re-
weite Protestbewegung hat das Re- Ende des Krieges dem iranischen Atomprogramm. Eine gion tatsächlich bedeutet. Denn die
gime erschüttert. Die meisten Irane- scheint möglich diplomatische Lösung sei in jedem neue Diplomatie zementiert im Grun-
rinnen und Iraner wollen die Islami- de lediglich die Macht von Autokra-
sche Republik nicht mehr, die Willkür ten. Sie begraben ihre Rivalitäten –
der religiösen Fanatiker, die wirt- und helfen sich gegenseitig beim
schaftliche Malaise und dass Geld Machterhalt.
für die Kriege in der Region ausge­ Konfliktforscher Omeisy, der mitt-
geben wird anstatt für die eigene lerweile in den USA lebt, wird sich
Bevölkerung. wie viele andere mit einer Rückkehr
Je brutaler das Regime die Protes- in seine Heimatstadt Sanaa gedulden
te niederschlug und Demonstrierende müssen, solange dort die Huthis mit
verhaftete, umso mehr stieg der eiserner Faust weiterregieren. Auch
Druck auf den Westen, nicht weiter er war einst von ihnen inhaftiert wor-
mit Iran zu verhandeln. Und Tehe- den. Über den Gefangenenaustausch
Khaled Abdullah / REUTERS

rans Unterstützung von Putins Krieg war er tief gerührt, doch fragt er:
in der Ukraine kostete das Land die »Heute wurden 900 Gefangene frei-
letzten Sympathien in Europa. gelassen  – was, wenn sie morgen
Um sich Luft zum Atmen zu ver- 900 neue einsperren?«
schaffen, lässt sich Teheran nun auf Monika Bolliger, Susanne Koelbl,
einen Deal ein. Thore Schröder n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 79


AUSLAND

obachter glauben, dass er nach einem Beton-Baus mit Flugzeugmodellen


Nachfolger sucht, an den er die Macht dekoriert, auf einem Kleiderständer
übergeben kann. Seine vier Kinder hängt eine Fliegerjacke. Er humpelt
kommen aus verschiedenen Gründen leicht, weil er sich den Meniskus beim

Drohnenprinz
für ein politisches Spitzenamt nicht Sport verletzt hat.
infrage, Berat Albayrak, der Mann Bayraktar ist 43 Jahre alt. Er sieht
seiner älteren Tochter Esra, ist als mit seinem Dreitagebart, dem kanti-
­Finanzminister gescheitert. Weshalb gen Kinn, den kurzen dunklen Haa-
in der Debatte um einen Erdoğan- ren aus wie ein Filmstar. Sein Vater
TÜRKEI  Der Unternehmer Selçuk Bayraktar hat Nachfolger in letzter Zeit immer öfter Özdemir gründete die Firma in den
der Name Bayraktar fällt. Bayraktar Achtzigerjahren als Zulieferer für die
die moderne Kriegführung verändert. Nun glau- selbst wies die Spekulationen in einer Autoindustrie. Seine Mutter Canan
ben manche, er könnte eines Tages seinem TV-Show kürzlich auf Nachfrage als war Ökonomin und Informatikerin.
­Schwiegervater Erdoğan als Präsident nachfolgen. »Klatsch und Tratsch« zurück. Bayraktar sagt, er sei schon als Kind
Selbst wenn Erdoğan abgewählt fasziniert gewesen von allem, was mit
wird, ist Bayraktar durch den Droh- Technik zu tun hatte, vor allem von

W
enige Tage nach den Erd­
beben vom 6. Februar steht
Selçuk Bayraktar vor einem
1,18 nenerfolg in der Türkei mittlerweile so
populär, dass keine Regierung zu ihm
und seiner Firma auf Abstand gehen
Flugzeugen. »Für mich ist das ein Le-
bensstil.«
Zum Ingenieurstudium ging Bay-
Trümmerhaufen inmitten des Kata­ Milliarden kann. Sein Einfluss auf die t­ürkische raktar in die USA, nach Pennsylvania
strophengebiets. Er wirkt abgekämpft, Politik dürfte also eher zunehmen. und an das Massachusetts Institute of
traurig. Mehr als 50.000 Menschen
Dollar Bereits 2021 war Baykar mit einem Technology. 2007 kehrte er in die
sind bei dem Unglück ums Leben ge- Jahresumsatz von 664 Millionen Dol- Türkei zurück und baute die Droh-
kommen, Hunderttausende haben ihr Einnahmen lar der größte türkische Rüstungs­ nensparte bei Baykar mit auf. Der
Obdach verloren. In dem Video, das erzielte exporteur. Durch den Ukrainekrieg ist Durchbruch kam sieben Jahre später,
Bayraktar auf Twitter stellt, verspricht das Unternehmen weiter gewachsen. als die Firma das türkische Militär im
er, 1000 neue Häuser und 2000 Wohn- ­Bayraktar Im vorigen Jahr lieferte Baykar Droh- Kampf gegen die verbotene kurdische
container für die Opfer zu errichten. 2022 mit nen und weitere Technik im Wert von Arbeiterpartei PKK mit Drohnen aus-
Bayraktar ist eigentlich kein Not-
helfer. Er ist nicht Mitglied der türki-
Drohnen­ 1,18 Milliarden Dollar an 27 Staaten.
Bayraktar-TB2-Drohnen kamen
stattete. Bayraktar verbreitet gern die
Geschichte, wie er selbst an die Front
schen Regierung. Sondern Miteigen- verkäufen an auf den Schlachtfeldern in Libyen in den Bergen im Südosten der Türkei
tümer des türkischen Rüstungsunter- 27 Staaten. ebenso zum Einsatz wie in Bergkara- reiste, um die Drohne weiterzuent-
nehmens Baykar. Er und sein Bruder bach und Äthiopien. »Sie haben die wickeln.
Haluk haben sich als Drohnenbauer Art und Weise, wie Kriege geführt Die Bayraktar-TB2-Drohne hat
weltweit einen Namen gemacht. In werden, revolutioniert«, sagte Rich eine Flügelspanne von gerade einmal
der Ukraine haben ihre Drohnen eine Outzen, ein ehemaliger Türkei-Ex- zwölf Metern, einen Heckpropeller,
Art Kultstatus erlangt, weil sie dem perte im US-Außenministerium, dem drei Räder. Sie wird mit bis zu vier
ukrainischen Militär zu Kriegsbeginn Magazin »New Yorker«. lasergelenkten Bomben oder Raketen
halfen, die russischen Angreifer ab- Die Baykar-Firmenzentrale am bewaffnet. Sie kann nicht ganz so
zuwehren. Ein ukrainischer Soldat Stadtrand von Istanbul wirkt eher wie weit fliegen wie amerikanische oder
hat ihnen einen Popsong gewidmet. ein Universitätscampus, nicht wie israelische Modelle, sie kann auch
Im Zoo in Kiew wurde ein Lemuren- eine Waffenschmiede. Überwiegend keine so großen Lasten tragen. Dafür
baby nach ihnen benannt. junge Mitarbeiterinnen und Mitarbei- kostet sie nur rund fünf Millionen
Bayraktar aber scheint mehr zu ter laufen an einem Nachmittag im Dollar, etwa ein Sechstel so viel wie
wollen, als Waffen zu verkaufen. Der vergangenen Sommer in Jeans und die US-Drohne Reaper. Das macht
Mann, der nach den Erdbeben zur Staatschef Erdoğan T-Shirt über ein weitflächiges Gelän- sie auch für kleine und mittlere Mili-
türkischen Öffentlichkeit sprach, (M.) mit Familien- de, auf dem firmeneigenen Sportplatz tärmächte attraktiv.
mitgliedern 2019*:
wirkte wie jemand, der nach Verant- Zugang zu den
spielt eine Gruppe Volleyball. In Libyen haben Bayraktar-TB2-
wortung strebt. Bayraktar ist mit türkischen Macht­ Selçuk Bayraktar hat sein Büro im Drohnen der offiziellen Regierung in
­Sümeyye Erdoğan verheiratet, der zirkeln oberen Stockwerk eines Glas-und-­ Tripolis geholfen, einen Aufstand des
jüngsten Tochter des türkischen Prä- Warlords Khalifa Haftar niederzu-
sidenten Recep Tayyip Erdoğan – und schlagen. In Bergkarabach haben sie
in der Türkei glauben daher nicht we- entscheidend zum Sieg Aserbaid-
nige, er könnte seinen Schwiegervater schans über Armenien beigetragen,
eines Tages als Staatschef beerben. woraufhin Autokrat Ilham Alijev Auf-
M. Cetinmuhurdar / Turkish Presidency / AA / Getty Images

Erdoğan muss nach 20 Jahren an nahmen von Drohnenangriffen auf


der Macht zum ersten Mal ernsthaft Videoleinwänden in der Hauptstadt
um den Sieg fürchten, wenn er sich Baku präsentierte. In der Ukraine
am 14. Mai zur Wiederwahl stellt. ­kamen sie vor allem in den ersten
Die meisten Umfragen sehen den Kriegsmonaten zum Einsatz, ehe die
Kandidaten der Opposition, Kemal russische Luftabwehr ihre Strategie
Kiliçdaroğlu, vorn. Doch wie die Wah- anpasste. Es ist auffällig, dass die
len auch ausgehen: Erdoğan hat be- Drohnen vor allem an Staaten gelie-
reits angekündigt, nicht noch ein wei- fert werden, die der Erdoğan-Regie­
teres Mal kandidieren zu wollen. Be- rung nahestehen.
Baykar ist das Aushängeschild der
* Schwiegersohn Selçuk Bayraktar (l.), Toch- türkischen Rüstungsindustrie, die seit
ter Sümeyye Erdoğan (2. v. l.). Erdoğans Machtübernahme 2003 um

80 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


AUSLAND

das Zehnfache gewachsen ist. »Wir sind keine


Bettler mehr«, sagte Erdoğan bei einer Rede
vor türkischen Militärrekruten. »Jeder will
sie von uns«, sagt er über die Drohnen. Im
Wahlkampf präsentiert er Rüstungsgüter,
unter anderem ein Kriegsschiff, von dem aus
künftig Drohnen starten sollen. Experten je-
doch warnen davor, dass die weitgehend un-
kontrollierte Verbreitung von Drohnen wie
der Bayraktar TB2 Konflikte unberechenbar
mache. Es gibt Berichte, wonach bei Angriffen
regelmäßig Zivilisten getroffen werden.
Die Türkei führt seit Jahren Krieg gegen
die PKK und deren syrischen Ableger, die
YPG. Immer öfter kommen dabei Bayraktar-
TB2-Drohnen zu Einsatz. Nach Angaben der
kurdischen Selbstverwaltung in Syrien seien
allein im vergangenen Jahr mehrere Dutzend

Emin Ozmen / Magnum Photos / DER SPIEGEL


Zivilisten bei türkischen Drohnenattacken
gestorben. Der demokratische US-Senator
Bob Menendez bezeichnete die türkischen
Drohnenverkäufe in einer Stellungnahme als
eine »Gefahr für den Frieden und die Men-
schenrechte«.
Selçuk Bayraktar weist in dem Gespräch
in seinem Istanbuler Büro jede Kritik an dem
Drohnenprogramm zurück. Drohnen seien
präziser als andere Waffen, sagt er. Und weil
Unternehmer Bayraktar: »Moralische Verpflichtung, der Ukraine zu helfen«
die Angriffe mit Kameras gefilmt würden, sei
auch die Rechenschaftspflicht größer. Er ar­ und Moskau verfolgt, schlägt sich Bayraktar Bayraktar bringt vieles mit, um in der tür-
gu­mentiert mit der Selbstgewissheit eines eindeutig auf die Seite der Ukraine. »Wir kischen Politik Erfolg zu haben. Sein Vater
Mannes, dem selten widersprochen wird. haben eine moralische Verpflichtung, der Özdemir war ein Vertrauter des früheren isla-
Bayraktar stellt sich selbst als Technik- Ukra­ine zu helfen.« Er zitiert Benjamin mistischen Ministerpräsidenten Neçmettin Er-
Nerd dar, als Tüftler, dem Computercodes Franklin: »Diejenigen, die grundlegende bakan. Der Prototyp der Bayraktar-TB2-Droh-
wichtiger sind als Politik. Tatsächlich aber Freiheiten a ­ ufgeben, um vorübergehend ne wurde Erbakan gewidmet. Vor allem aber
hat er seit seiner Hochzeit mit Sümeyye ­Sicherheit zu erlangen, verdienen weder durch seine Ehe mit Sümeyye hat Bayraktar
Erdoğan 2016 mit Bedacht an seinem Image Freiheit noch Sicherheit.« Mit Kommentaren Zugang zu den türkischen Machtzirkeln. Er
gearbeitet. Er postet regelmäßig islamische zur Tagespolitik hält er sich jedoch zurück. kann auf eine erfolgreiche Karriere in der Pri-
Segenswünsche auf Instagram und Twitter, Wenn man Bayraktar nach seinen politi- vatwirtschaft verweisen. In der Türkei verglei-
wo er jeweils rund zweieinhalb Millionen schen Ambitionen fragt, dann sagt er nur, dass chen ihn manche mit Unternehmer Elon Musk.
Follower hat. Er unterstützt Bildungsinitia- er im Moment vor allem Verantwortung für Noch ist Erdoğan vor allem damit beschäf-
tiven. Wenn er in der Öffentlichkeit auftritt, Baykar trage. Er dürfte sehr genau mitverfolgt tigt, die eigene Wiederwahl abzusichern.
zieht er häufig eine rote Fliegerjacke über. haben, wie sein Schwager Berat Albayrak in Aber Bayraktar ist jung genug, um auf die
Während Präsident Erdoğan im Ukraine- der Regierung innerhalb kurzer Zeit ver- Zeit danach zu warten.
krieg eine Pendeldiplomatie zwischen Kiew brannt wurde. Sebnem Arsu, Maximilian Popp n

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AUSLAND

überdosis; bei mehr als 70.000 sind


synthetische Opioide, vor allem Fen-
tanyl, involviert. In der Altersgruppe
zwischen 18 und 45 Jahren ist eine

»Das Zeug ist höllisch«


Fentanyl-Vergiftung bereits die häu-
figste Todesursache. Auch Prominen-
te trifft es, so starb etwa der Rapper
Coolio an einem Drogenmix, der Fen-
tanyl enthielt. Fentanyl sei »die größ-
USA Mexikanische Kartelle überschwemmen das Land mit der gefährlichen te ­Bedrohung, die das Land in Sachen
Drogen je erlebt hat«, sagt Anne
Droge Fentanyl, Zehntausende Amerikaner sterben jedes Jahr daran. ­Milgram, die Direktorin der zustän-
Um die Krise zu beenden, bräuchte Präsident Biden die Unterstützung Mexikos digen Drug Enforcement Admi­nis­
und Chinas. Doch die helfen kaum. tration (DEA).
Längst stellt die Fentanyl-Krise in
den USA die Crack-Epidemie der

Z
achs Kopf lag auf dem Tisch, Jungen. Zach hatte wenige Tage zu- Achtzigerjahre in den Schatten. Der
seine rechte Hand war kalt und vor zusammen mit einem Freund Stoff tötet obdachlose Drogenabhän-
ruhte noch auf der Computer- von einem örtlichen Dealer über gige auf den Straßen von New York
maus, mit der er zuvor »Minecraft« den Social-Media-Dienst Snapchat genauso wie Jugendliche und junge
gespielt hatte. Alle Versuche, den zwei oder drei Opioidpillen gekauft. Erwachsene in den besser situierten
17-Jährigen wiederzubeleben, blie- Eine Teenagerdummheit. »Die Jungs Vororten. Teenager denken, sie näh-
ben erfolglos. Der Rettungsarzt konn- ­waren wohl neugierig«, sagt Vater men vor dem Besuch im Klub eine
te nur noch den Tod feststellen. Chris. Partydroge, erhalten aber oft Fenta-
Woran war Zach gestorben? Seine Zach und sein Freund dachten, sie nyl. Inzwischen gibt es kaum noch
Eltern, Laura und Chris Didier aus kauften Percocet, ein eigentlich ver- eine Highschool oder Universität im
Rocklin in Kalifornien, waren ratlos. schreibungspflichtiges Schmerzmittel, Land, an der noch keine Fentanyl-
»Zach war gesund, ein normaler das einen rauschartigen Zustand her- Überdosis vermeldet wurde.
Schü­ler, er trat im Schulmusical auf, beiführen kann. Doch die Pillen wa- In der Hauptstadt Washington ist
und er war ein guter Fußballer. Er ren gefälscht. Statt Percocet enthiel- die Fentanyl-Krise zu einem Groß-
stand kurz vor dem Highschoolab- ten sie Fentanyl. Das synthetische thema geworden, das nun auch den
schluss«, sagt Laura Didier. »Wir Opioid kann bei Überdosierung die beginnenden Präsidentschaftswahl-
konnten uns seinen Tod nicht er­ Atmung lähmen. kampf mitbestimmen könnte. Die
klären.« Rettungseinsatz Fentanyl hat sich in den USA zu Republikaner treiben die Regierung
Antworten lieferten wenig später nach Überdosis einer enormen Gefahr entwickelt. von US-Präsident Joe Biden und
in San Diego 2022:
Spezialisten der Polizei. Sie sprachen Fentanyl ist etwa
­Inzwischen sterben pro Jahr rund ­seine Partei, die Demokraten, dabei
mit Freunden und entschlüsselten 50-mal so stark wie 100.000 Amerikanerinnen und Ame- vor sich her. Sie werfen der Regierung
Chatnachrichten auf dem Handy des Heroin rikaner an den Folgen einer Drogen- Schwäche im Kampf gegen die Dro-
genbanden vor.
Vor allem kritisieren die Republi-
kaner, Biden nehme den Schutz der
Grenze zu Mexiko nicht ernst genug.
Deshalb werde so viel Fentanyl ins
Land geschmuggelt. Auch Ex-Prä­si­
dent Donald Trump bringt das Thema
gern vor, um Biden zu attackieren:
»Fentanyl bekommt man in unserem
Land ja leichter als Babynahrung«,
spottet er in Reden vor seinen Anhän­
gern. Dass sich die Krise bereits wäh-
rend seiner Amtszeit verschärft hat,
verschweigt der Ex-­Präsident.
Tatsächlich gelangt laut Schätzun-
gen der Drogenfahnder von der DEA
die Mehrheit des Fentanyls aus Mexi­
ko in die USA. Einige Republikaner
Salwan Georges / The Washington Post / Getty Images

wie Senator Lindsey Graham rufen


bereits nach radikalen Maßnahmen,
um das Problem in den Griff zu be-
kommen. Er fordert von Biden, dem
US-Militär zu erlauben, Drogen­
kartelle und ihre Labore direkt auf
mexikanischem Territorium anzu-
greifen. »Wir werden den Zorn und
die Kraft der gesamten USA gegen
diese Kartelle entfesseln«, erklärt er.
Und Grahams Parteifreundin Marjo-
rie Taylor Greene sagt: »Ich verstehe

82 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


AUSLAND

Für die Drogenhändler ist Fentanyl ein


g­ i­gantisches Geschäft. Gruppen wie das me-
xikanische Sinaloa-Kartell haben ihren Han- FRAUEN
del inzwischen in großen Teilen von reinem
Heroin oder Kokain auf Fentanyl umgestellt.
Die chemischen Grundstoffe der synthe­
UNDERCOVER
tischen Droge beziehen sie nach Ansicht der
Fahnder vor allem aus China. Der Vorteil von
Fentanyl: Die Produktion ist weit billiger als
die von Kokain oder Heroin, weil keine Pflan-
zenplantagen angelegt werden müssen. Be-
reits mit einigen Handvoll Fentanyl lassen
sich durch Streckung Zehntausende Drogen-
portionen für den Straßenhandel herstellen.
In den Laboren der Kartelle werden laut
Max Whittaker / DER SPIEGEL DEA jährlich Millionen Pillen mit Fentanyl
gepresst. Sie sehen bekannten amerikani-
schen Pharmaprodukten zum Verwechseln
ähnlich – etwa dem Schmerzmittel Percocet
oder Arzneien wie Xanax, die üblicherweise
zur Behandlung von Angstzuständen einge-
Eltern Didier
setzt werden.
»Etwa 98 Prozent aller Pillen, die man in
nicht, warum wir einen Krieg in der Ukraine den USA auf dem Schwarzmarkt kaufen
kämpfen, es aber nicht wagen, endlich die kann, sind gefälscht und mit Fentanyl ver-
mexikanischen Kartelle zu bombardieren, setzt«, sagt Lisa Botwinik, die als Staatsan-
die täglich unsere Leute vergiften.« wältin in Kalifornien auf Drogenfahndung
Fentanyl, das Ende der Fünfzigerjahre von spezialisiert ist. »Es ist praktisch unmöglich,
384 Seiten mit Abb., gebunden � 24,00 €
einem belgischen Chemiker als Schmerzmit- mit bloßem Auge den Unterschied zu den
Auch als E-Book erhältlich.
tel entwickelt wurde, ist etwa 50-mal so stark Originalen zu erkennen.«
wie Heroin. Die Dealer verkaufen es in unter- Obwohl illegal hergestelltes Fentanyl im-
schiedlichen Darreichungsformen. Es ist in mer wieder auch in anderen Weltgegenden, Schon seit dem Kaiserreich stehen
gefälschten Aufputschmitteln oder Schmerz- etwa in Europa, auftaucht, scheint die weite Agentinnen ihren männlichen
mitteln enthalten, wird aber auch als Bestand- Verbreitung bislang vorwiegend ein amerika-
teil von Drogenklassikern wie Kokain oder nisches Phänomen zu bleiben. Ein Grund: Kollegen in nichts nach –
Heroin angeboten. Mischen die Drogenhänd- Der Konsum von Drogen aller Art ist in den sie stehlen Dokumente,
ler beim Panschen in ihren Laboren zu viel USA auch durch die geografische Nähe zu den rekrutieren Informantinnen
des Opioids bei, wird es gefährlich. Schon Hauptexporteuren der Rauschmittel in La-
kleinste Mengen reichen aus, um einen Men- teinamerika generell hoch. Und für die Kar- und enttarnen feindliche Spione,
schen zu töten. Es wird geschätzt, dass sich telle sind die USA mit ihren gut 340 Millionen doch ihr Einfluss auf die
mit einer Dosis reinen Fentanyls in der Größe Einwohnern der mit Abstand größte Markt, Geschichte wird bis heute
eines Zuckerpäckchens 500 Menschen um- auf ihn konzentrieren sie ihre Kräfte.
bringen lassen. Hinzu kommt, dass die Amerikaner schon unterschätzt.
Zachs Eltern Laura und Chris Didier haben immer schneller zu Pillen gegriffen haben als Ann-Katrin Müller und
es sich nach dem Tod ihres Sohnes zur Auf- etwa die Deutschen – sei es, um Schmerzen Maik Baumgärtner haben
gabe gemacht, Teenager in ihrer Region auf zu stillen oder um die Stimmung aufzuhellen.
die Gefährlichkeit der Superdroge aufmerk- Das Land kämpft seit Jahren mit einer Opioid­ geheime Fälle der vergangenen
sam zu machen. »Das ist kein Spiel, sondern krise. Der Fentanyl-Boom ist die Fortsetzung hundert Jahre recherchiert
tödlicher Ernst. Wir wollen die Jugendlichen dieser Geschichte. und mit ehemaligen und aktiven
warnen«, sagt Laura Didier. Bis vor Kurzem war es in den USA voll-
Die beiden beteiligen sich mit anderen Be- kommen normal, dass Ärzte recht freizügig Geheimagentinnen gesprochen.
troffenen an einer Anti-Fentanyl-Kampagne, starke Opioide verschrieben. Hersteller wie Hier erzählen sie ihre
»One Pill Can Kill« – eine Pille kann töten. der Pharmagigant Perdue waren für die Krise Geschichten und zeigen,
Sie treten an Schulen auf, berichten vom Tod maßgeblich mitverantwortlich. Das Unter-
ihres Sohnes Zach und warnen Jugendliche nehmen brachte das Schmerzmittel Oxy­ wer die Frauen waren,
davor, sich mit Dealern einzulassen. Das gilt Contin auf den Markt und bewarb es unter die der heutigen Generation
insbesondere für den Drogenhandel über das ­an­derem mit dem falschen Versprechen, das von Spioninnen den Weg ebneten.
Internet. Nach Ansicht der Sicherheitsbehör- Risiko einer Abhängigkeit sei geringer als bei
den nutzen die Dealer immer wieder Platt- anderen Opioiden. Wurden die Patienten
formen wie Snapchat oder Instagram, um mit dann süchtig nach Schmerzmitteln, gingen sie
ihren jüngeren Kunden in Kontakt zu kom- von Arzt zu Arzt, um sich immer mehr Stoff
men. Manchmal färben sie die Pillen bunt ein, zu besorgen.
damit sie harmloser erscheinen. Die Techkon- Dieses »shopping around« unterbindet
zerne versuchen, verdächtige Accounts zu die Politik inzwischen durch den Einsatz von
löschen. Doch das Problem ist inzwischen so Systemen zum Abgleich von Patientendaten.
groß, dass die Social-Media-Giganten und die OxyContin wurde von den Bundesbehörden
Strafverfolgungsbehörden kaum hinterher- verboten, die Firma Perdue musste Bankrott
kommen. anmelden. Die Eigentümerfamilie Sackler

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 83


www.dva.de
AUSLAND

verpflichtete sich zu Strafzahlungen sche. Ein Notfallmedikament in Form vor. Um die Kritik der Repu­blikaner
in Milliardenhöhe. Tödlicher eines Nasensprays, das bei einer Über- zu kontern, hat der Prä­sident in
Am gigantischen Bedarf vieler Rausch dosis Fentanyl vor dem Tod bewahren ­seiner Rede zur Lage der Nation im
Amerikanerinnen und Amerikaner kann. Bricht neben Cohen jemand Februar angekündigt, die Strafen
an Schmerzmitteln, Stimmungsauf- Überdosierungen von zu­sammen, verabreicht sie sofort Nar- für Drogenhändler zu verschärfen.
hellern oder Drogen hat das wenig Drogen und Medika- can. Dutzende Junkies von der Ken- Zudem versprach er, die Kontrollen
menten in den USA
geändert. Die Sucht nach Opioiden mit Todesfolge, sington Avenue haben Cohen und ihre von Containern und von Lastwagen
ist in den USA ein allgegenwärtiges in Tausend Helfer so schon gerettet. Cohen selbst an den Grenzübergängen zu ver­
Phänomen, in Großstädten genauso wurde früher mehrfach auf diese Wei- bessern. Das Notfallmittel Narcan
wie auf dem Land. Wer seine Dosis insgesamt se notbehandelt. soll künftig überall in Drogerien zum
nicht verschrieben bekommt, besorgt davon durch syn- Doch auch Narcan reicht in man- Verkauf angeboten werden, ohne
sie sich eben illegal – und gerät dabei thetische Opioide, chen Fällen nicht mehr aus. Um die ­Rezept. Vor einigen Tagen wurden
schnell an Fentanyl. vor allem Fentanyl Wirkung des Fentanyls zu verstärken gegen Mitglieder des Sinaloa-­Kartells
Einer der größten Open-Air-Dro- und die Abhängigkeit ihrer »Kunden« in den USA Anklagen erhoben. Das
genmärkte des Landes liegt im Nor- 100 zu erhöhen, sind Drogenbanden in- Justizministerium hat speziell die
den von Philadelphia. In »Killadel- zwischen dazu übergegangen dem weitverzweigte Familie des inhaf­
phia«, wie die Stadt auch genannt 80 Stoff Xylazin beizumischen. Das Be- tierten Drogenbosses Joaquín »El
wird, können am helllichten Tag bei täubungsmittel, Szenename Tranq, Chapo« Guzmán im Visier, die das
den Dealern Drogen aller Art gekauft setzen Tierärzte bei Pferden oder Kartell weiterhin beherrschen soll.
60
werden. Die Kundschaft kommt oft Rindern ein. Wer eine Überdosis aus Um jedoch wirklich effektiv gegen
von weit her. Fentanyl und Tranq erwischt, kann die Fentanyl-Produktion und den
Entlang der gut vier Kilometer 40 oft nur durch künstliche Beatmung Schmuggel über die Grenze vorgehen
­langen Kensington Avenue haben die gerettet werden. zu können, ist Biden auf die Hilfe
Geschäfte schon lange aufgegeben. 20 Bei Menschen kann Xylazin zu- ­insbesondere Chinas und Mexikos
Häuser verfallen, Polizeisirenen heu- dem zu schmerzhaften Wunden füh- angewiesen. »Wir haben sehr wenig
len. Immer wieder gibt es Schießerei- ren. Bei manchen Drogenabhängigen Zusammenarbeit mit China«, gab der
0
en zwischen rivalisierenden Drogen- an der Kensington Avenue stirbt an zuständige Staatssekretär der Biden-
banden. 1999 2021 diesen Stellen das Körpergewebe re- Regierung Todd Robinson bei einer
Einst wurde an der Kensington S Quelle: National Institute
gelrecht ab, im äußersten Fall müssen Anhörung zu Fentanyl im Kongress
Avenue der Boxerfilm »Rocky« ge- Gliedmaßen amputiert werden. in Washington zu. Und DEA-Chefin


on Drug Abuse
dreht. Heute sitzen oder liegen hier Biden und seinen Demokraten Anne Milgram erklärte: »Wir glau-
in jedem Hauseingang ausgemergelte dämmert, dass sie gegen die Fenta- ben, Mexiko muss mehr tun.«
Gestalten im Drogenrausch. Einige nyl-Krise schnell mehr unternehmen Die Regierungen von China und
torkeln über die Straße. Viele Süch- müssen. Der Präsident will im herauf­ Mexiko weisen indes die Verantwor-
tige sind obdachlos, sie wärmen sich Helferin Cohen ziehenden Wahlkampf auf jeden Fall tung für die Krise von sich. Es gebe
in Philadelphia: Im
an Feuern, die sie in Mülleimern an- äußersten Fall
den Eindruck verhindern, er gehe keinen illegalen Handel mit Fentanyl
gezündet haben. Es riecht nach ver- müssen Gliedmaßen nicht entschieden genug gegen Dro- zwischen China und Mexiko, verkün-
branntem Plastik, nach Kot und Urin. amputiert werden genbanden oder andere Kriminelle dete das Pekinger Außenministerium
»Es gibt praktisch keine Droge jüngst. Auch die Mexikaner zeigen
mehr, die kein Fentanyl enthält«, sich über die Kritik aus Washington
sagt Megan Cohen. »Das Zeug ist empört: »Wir produzieren hier kein
höllisch.« Fentanyl, und wir konsumieren hier
Die 30-Jährige war bis vor einigen kein Fentanyl«, behauptete Mexikos
Jahren selbst abhängig, handelte mit Präsident Andrés Manuel López
dem Stoff und saß wegen Diebstahls Obrador vor Kurzem. Aus seiner
im Gefängnis. Inzwischen hat sie den Sicht kommt das Fentanyl vor allem
Ausstieg aus der Drogenszene an der aus China. Mexiko sieht er, wenn
Kensington Avenue geschafft und überhaupt, nur als Zwischenstation
versorgt Drogenabhängige mit ihrer für einen Bruchteil der Exporte in die
Wohltätigkeitsorganisation The ­Grace USA. Ansonsten habe sein Land mit
Project einmal in der Woche mit Es- der Sache nichts zu tun. Der DEA
sen und Kleidung. warf er missbräuchliche Spionage­
Während Cohen spricht, lässt sich aktivitäten in seinem Land vor.
einige Meter entfernt eine Frau von Immerhin hat Mexiko auf Druck
einem Mann einen Schuss in den Hals der Biden-Regierung nun zugesagt,
setzen. Immer mehr Drogensüchtige, das Militär verstärkt gegen den Dro-
erklärt Cohen, spritzten sich kein genschmuggel an der Grenze einzu-
­Heroin mehr, sondern konsumierten setzen. Im Gegenzug versprechen die
ein Pulver, das nur noch Fentanyl ent- Amerikaner ein härteres Vorgehen
hält. »Die Wirkung ist stärker«, sagt gegen den illegalen Handel mit Hand-
Cohen. Und es ist billig. Eine kleine feuerwaffen in Richtung Mexiko.
Packung Fentanyl, ein »Nickel«, kos- Ob das viel bringen wird, darf be-
Hilar y Swift / DER SPIEGEL

tet fünf Dollar, ein »Dime« zehn. Die zweifelt werden. Generell findet Me-
großen Päckchen reichen für mehrere xikos Präsident, die Fentanyl-­Krise
Schüsse. sei vor allem das Ergebnis »des ge-
Für alle Fälle hat Cohen bei ihren sellschaftlichen Verfalls« in den USA.
Einsätzen an der Kensington Avenue Da allerdings könnte etwas dran sein.
immer einen Vorrat Narcan in der Ta- Roland Nelles n

84 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


SPORT

Nah beieinander
Internationale weibliche Erste der Tennisweltranglisten:
und männliche Tennis- Iga Świątek und Novak Djoković
profis im Vergleich

Frauen Männer

Matchdauer*,
88 in Minuten 90

picture alliance; Icon Sportswire / IMAGO


Dauer eines
6,4 5,5

20,0
Punktes**, in Sekunden

Schläge pro
3,9 Punkt 4,1
Prozent der Matchdauer* bei
Partien der Frauen sind effektive
Aufschlagsgeschwindigkeit
Spielzeit. Bei den Männern sind
es 18,6 Prozent. 156 (erster Aufschlag), in km/h 182
* Matches mit zwei Gewinnsätzen
** auf allen Untergründen
S Quelle: B. M. Pluim et al.: »Physical Demands of Tennis Across the Different Court Surfaces, Performance Levels and


Sexes: A Systematic Review with Meta‐analysis«. Analyse aus 64 Studien von 1994 bis 2021, Durchschnittswerte

Ende Mai beginnen in Paris die French Open, das erste große Sandplatzturnier der Saison. Tennisfans können sich also wieder auf längere
­Ballwechsel freuen, wie ein Team um die niederländische Forscherin Babette Pluim herausgefunden hat. Ihre Metastudie legt nahe,
dass die Zeit von Aufschlag bis Punktgewinn auf Sand bei den Frauen im Schnitt 2,4 Sekunden länger dauert als auf Hartplätzen. Bei den Männern
sind es 1,5 Sekunden. Mögliche Erklärung: Ein harter Untergrund macht den Ball schneller – und verkürzt die Reaktionszeit.

GUT ZU WISSEN ist Schach sogar eine Art ­ rimassenschneiden bis zu


G
Kampfsport. »Es ist ähnlich räuspern, husten und unent­
Ist Schach ein Kampfsport? wie Boxen oder Mixed Martial
Arts. Es ist ein Duell Schlag
wegtem Wippen mit den Bei­
nen. Auch ständig mit geschla­
auf Schlag, in dem wir beide genen Figuren in der Hand
Wer Schachweltmeisterschaf­ der besten deutschen Spieler, versuchen werden, die Ober­ ­herumzuspielen kann den
ten verfolgt, die gerade in der als Schachtrainer arbeitet hand zu gewinnen und unseren Gegner zermürben. Als beson­
­Kasachstan laufende beispiels­ und ein Psychologiestudium ­Willen dem anderen auf­ ders frech gilt es, am Turnier­
weise, sieht in der Regel zwei absolviert hat: »Es ist ein we­ zudrängen«, sagte er damals. tisch zu essen oder zu trinken.
Spieler friedlich vor einem nig wie beim Pokern.« Laut Schachreglement Schon beim Training junger
Schachbrett sitzen, in Gedan­ Nervenaufreibend ist so ein ist es verboten, den Gegner Spielerinnen und Spieler geht
ken versunken. Doch das Spitzenduell allein dadurch, ­abzulenken oder zu stören. es längst nicht nur um Spiel­
täuscht. Beim Schach geht es dass es sich über Wochen hin­ Trotzdem lässt sich so etwas züge und Erfolg versprechende
nicht nur darum, Züge voraus­ zieht. Ding Liren, ein Chinese, bei beinahe jedem Turnier Varianten, sondern auch
zuberechnen und seinen und Jan Nepomnjaschtschi, ein ­beobachten. Die Bandbreite ­darum, wie der Gegner mit
­Gegner in die Enge zu treiben. Russe, spielen in Kasachstan reicht von Anstarren und ­legalen Mitteln verwirrt
Häufig arten die Duelle zu bis zu 15 mitunter stundenlan­ ­werden kann, erklärt Heiko
Nervenschlachten aus. Nicht ge Partien. Spaan, Ausbildungsreferent
selten helfen Psychotricks. Es Es komme darauf an, sagt beim Deutschen Schachbund.
geht darum, die Konzentration Huschenbeth, sich vollständig »Während der Partie mal
des Kontrahenten zu stören, auf sein Spiel zu konzentrieren ­aufzustehen ist durchaus er­
Grigor y Sysoev / IMAGO

ihn zu überraschen oder zu ir­ und eine optimistische Ein­ laubt.« Wichtig sei auch,
ritieren. »Das Verhalten am stellung zu entwickeln. Vor stets das gesamte Brett im
Brett hat einen entscheidenden ­allem dürfe man nie eine Blick zu behalten, damit der
Einfluss auf den Ausgang Partie zu früh verloren geben. Kontrahent nicht an den
einer Partie«, sagt Großmeister Für Fabiano Caruana, der ­Augen ablesen könne, worauf
­Niclas Huschenbeth, einer 2018 um den WM-Titel spielte, Schachspieler Ding man sich konzentriere. MIF

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 85


SPORT

Ritt auf dem Monster


KARRIEREN  Der Deutsche Sebastian Steudtner hält den Weltrekord im Big-Wave-Surfen:
26 Meter hoch war die Welle, die er 2020 bezwang. An Portugals Atlantikküste
wartet er jetzt auf die ultimative Herausforderung: eine Welle, die doppelt so hoch ist.

Big-Wave-Surfer
Steudtner bei
seinem Rekordritt
2020 vor Nazaré

86 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


W
SPORT

­ ig-Wave-Surfer. Doch Steudtner


B Steudtner er, die Fähigkeit einzustecken. Und
reicht das nicht. Er hat sich ein neues niemals aufzugeben.
Ziel gesetzt, mit dem er die Aufmerk- bereitet sich Die Geschichte Steudtners ist eine
samkeit auf sich zieht. Innerhalb der auf seine deutsche Aufsteigergeschichte. Ein
nächsten zwei Jahre will er eine Wel-
le reiten, die doppelt so hoch ist wie
Superwelle Sportmärchen. Geboren in Esslingen,
aufgewachsen in der Nähe von Nürn-
sein Weltrekordbrecher. Er nennt es vor wie berg, das Meer Hunderte Kilometer
Wenn Sebastian Steudtner über die »Project Mission Wave Alpha«. auf einen entfernt. Als er vor elf Jahren erst-
Riesenwellen von Nazaré spricht, in Von Oktober bis Ende April toben mals nach Nazaré kam, hatte er zwei
denen er seit Jahren surft, die er kennt im Nordatlantik die stärksten Stürme, Raketenstart. Boards, einen alten Jetski und kaum
wie kein anderer, erzählt er zuerst sie senden mächtige Dünungen Rich- genug Geld, um den Kühlschrank zu
von der Furcht, eines Tages in die Tie- tung Europa. Bei einem besonders füllen. Von den arrivierten Surfprofis
fe gerissen zu werden. heftigen Orkantief, davon ist Steudt- aus Kalifornien, Hawaii und Brasilien
»Ich beschäftige mich mit dieser ner überzeugt, könnten vor Nazaré wurde er belächelt. Ein Exot aus Ger-
Angst«, sagt Steudtner, 37 Jahre alt, Wellen entstehen, die 40, vielleicht many. Ein Einzelgänger.
Franke, dreifacher Gewinner des re- sogar 50 Meter hoch sind. Es gibt Be- Inzwischen gehört Steudtner zu
nommierten Big Wave Awards. »Sie richte von Seeleuten, dass in der Ver- den Stars des Big-Wave-Surfens. Die
hemmt mich aber nicht, weil ich mir gangenheit tatsächlich solche Gigan- Bilder seiner Ritte gehen jedes Mal
immer vor Augen führe, dass ich alles ten vor der Küste gesichtet wurden. viral. 2018 raste er eine Welle hinab,
getan habe, damit mir nichts pas- Eine solche Superwelle will Steudt- die sich hinter ihm auftürmte wie ein
siert.« ner erwischen. Also wartet er auf den Tsunami; das Video wurde bis heute
Er habe sich sein Leben lang vor- perfekten Sturm. In einer Halle im rund eine Milliarde Mal im Netz ab-
bereitet, sagt Steudtner. Er weiß, dass Hafen von Nazaré hat er sein Basis- gerufen.
er vor allem die Ruhe bewahren muss, lager eingerichtet, dort lagern seine Seit er den Weltrekord hält, kann
wenn ihn nach einem Sturz die Bre- Boards, Jetskis, Helme und Rettungs- Steudtner von seinem Sport ziemlich
cher überrollen. Anderthalb Minuten westen. Dabei gibt es keine Garantie, gut leben. Sponsoren wollen mit
lang kann er bei Stress unter Wasser dass so ein Riesenbrecher wirklich ihm werben. Er hat Verträge mit Por-
die Luft anhalten. Sollte er bewusstlos vor den Praia do Norte rollt. Steudt- sche und dem Technologiekonzern
werden, dann hilft ihm sein Rettungs- ner hat sich intensiv damit beschäf- Schaeff­ler, demnächst kommt ein Ver-
team. »Ich bin nicht allein. Das gibt tigt, wie große Wellen entstehen. Es trag mit einem weiteren namhaften
mir Frieden.« müssen viele Faktoren zusammen- Partner dazu, den er noch nicht nen-
Steudtner sitzt im Wohnzimmer spielen. Die Richtung der Dünung, nen möchte. Jeder will Teil seiner Er-
seines Hauses, von hier hat er einen der Wind, die Strömung. Es ist ein folgsstory sein. Steudtner hält Vor-
schönen Blick auf Nazaré, eine Klein- Glücksspiel. Andererseits hat Steudt- träge vor Managern und Politikern,
stadt an der Küste Portugals, andert- ner Zeit. Er ist nicht verheiratet, hat Jürgen Klopp lud ihn ins Trainings-
halb Autostunden nördlich von Lis- keine Kinder. Von seinem Haus ist er lager des FC Liverpool ein, wo der
sabon. Die Sonne steht hoch über in zehn Minuten unten im Hafen. Surfer den Fußballprofis von seinen
dem endlosen Blau des Ozeans, Wenn die Welle kommt, wird er sie Stunts erzählte.
durchs Fenster kann Steudtner die nicht verpassen. Das Publikum ist fasziniert von
Brandung am Ende der Bucht vor Steudtner macht sich sein Mittag- ihm. Ein Mann, der die Grenzen des
den Klippen und dem dahinter gele- essen warm, Putenfleisch und Gemü- Möglichen auslotet, der Herausforde-
genen Praia do Norte, dem Nord- se. Im Untergeschoss hat er sich ein rungen sucht und besteht, allein mit
strand, sehen. Fitnessstudio eingerichtet. Er trainiert dem riesigen Ozean, allein mit seiner
Bei kräftiger Dünung aus Westen täglich. Ein muskulöser Körper, sagt Angst, ein Einzelkämpfer wie einst
bilden sich dort mächtige Wellen, er, schütze gegen die Wucht der der Bergsteiger Reinhold Messner,
und es kommt zu einem Spektakel, ­Wellen. Seit einigen Jahren macht der ohne Begleitung und ohne Sauer-
das Nazaré weltbekannt gemacht hat. der Franke Thai-Boxen, einen harten Extremsportler stoffgerät auf die höchsten Gipfel der
Steudtner 2022
­Extremsurfer lassen sich dann auf Kampfsport. Das Thaiboxen habe ihn in Nazaré: Ihn
Erde ging, an der Schwelle des Vor-
ihren Brettern von Jetskis, an Leinen vieles gelehrt, was er auch als Wellen- faszinieren die Kräfte stellbaren und darüber hinaus.
hängend, in turmhohe Wellen ziehen, reiter benötige, sagt er: Mut, Ausdau- des Meeres An einem Donnerstag Anfang
Tow-in nennt sich die Technik. Auf ­April macht Steudtner sich auf einem
den Klippen halten bisweilen Tausen- Anleger im Hafen von Nazaré bereit,
de den Atem an, wenn einer der Wel- um raus in die Brandung zu fahren.
lenreiter stürzt und von den Wasser- Es weht ein leichter Wind, Möwen
massen fortgerissen wird. hüpfen um ihn herum. Er trägt einen
Steudtner liefert in den Riesenwel- an Schultern und Beinen dick gepols-
len die beste Show. Im Oktober 2020 terten Surfanzug, der aussieht wie
raste er vor dem Praia do Norte eine eine Rüstung, darüber eine Rettungs-
Wasserwand hinab, die bis dahin weste mit Airbag, den er im Ernstfall
­unbezwingbar schien. Anhand von auslösen kann.
Fotos konnten Wissenschaftler später Die Brandung vor dem Praia do
die genaue Höhe des Monsters er­ Norte ist an diesem Tag drei bis vier
mitteln: 26,21 Meter, so hoch wie das Meter hoch, für Steudtner keine He-
Brandenburger Tor. Weltrekord. Seit rausforderung. Er will ein paar Wellen
vorigem Frühjahr steht Steudtner mit reiten, um einen Materialtest durch-
dieser Marke im Guinness-Buch. zuführen.
Joerg Mitter

Ein Surffreak aus Franken, aus­ Beim Ritt auf seiner Rekordwelle
gerechnet, ist jetzt der König der erreichte Steudtner eine maximale Ge-
ddp

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 87


SPORT

schwindigkeit von gut 80 Kilometern »Ich verlasse Katharina Schrattenecker, Steudt- Er schuftete auf Baustellen, baute
pro Stunde. Um eine 50-Meter-Welle ners Mutter, hat ihren Sohn vor Na- Swimmingpools für die Villen reicher
zu reiten, müsse er allerdings schneller mich auf zaré in hohen Wellen surfen gesehen. Amerikaner und ging jede freie Minu-
werden, sagt er, mindestens Tempo ihn. Er kennt Im Winter 2018 war das, sie stand te surfen, in immer größeren Wellen.
90, sonst sei es kaum möglich, einem
solchen Giganten zu entkommen.
das Risiko. auf der Klippe mit dem roten Leucht-
turm, inmitten der Zuschauer, der
2010 erwischte Steudtner vor Maui
den höchsten Brecher der Saison, das
Sein Sponsor Schaeffler soll ihm Er ist nicht Fotografen, der Kamerateams. »Es brachte ihm den Big Wave Award ein
dabei helfen. Entwickler des Techno- leichtsinnig.« war überwältigend ihn da so zu er- und ein Preisgeld von umgerechnet
logiekonzerns haben zwei seiner leben«, sagt sie. Steudtner hatte ihr 15.000 Dollar. Dass ein junger Deut-
Katharina Schratten­
Boards mit unterschiedlichen Be- ecker, Mutter von ein Funkgerät gegeben, damit sie mit scher plötzlich Weltmeister der Ex­
schichtungen versehen, Steudtner soll Sebastian Steudtner ihm sprechen konnte. tremsurfer war, verletzte das Ego so
herausfinden, welches Modell besser »Sebastian hatte wohl befürchtet, manches Hardcorewellenreiters aus
gleitet. ich drehe ab.« den USA und Brasilien. Bei der Ver-
Für den Testlauf ist ein Ingenieur Er raste eine Wasserwand hinab, leihung im kalifornischen Anaheim
aus der Konzernzentrale in Herzo- der Ritt dauerte 15, vielleicht 20 Se- wurde Steudtner regelrecht angefein-
genaurach angereist. Das »Project kunden. Als er wieder heil auf dem det. Die Kritiker verstummten erst,
Mission Wave Alpha« schmückt das Jetski seines Partners saß, jubelte als er 2015 erneut den Titel gewann,
Unternehmen. Steudtner genießt in ­seine Mutter wie ein Fan. diesmal mit einem Ritt vor Nazaré.
den nächsten 24 Monaten die volle Katharina Schrattenecker steht am »Sebastian hat sich gegen alle Wi-
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit Fenster ihres Hauses am Stadtrand derstände durchgesetzt«, sagt seine
– ebenso seine Sponsoren. von Nürnberg, als sie davon erzählt. Mutter. »Er ist ein Kämpfer, ich bin
Der Ingenieur blickt hinaus aufs Schon als Kind, sagt sie, habe Sebas- stolz auf meinen Sohn.«
Meer. Die Wellen brechen hinter den tian von großen Wellen geträumt. Als Hat sie Angst um ihn, wenn er
Klippen, es gibt nicht viel zu sehen. er 16 Jahre alt war, wollte er nach surft?
Nach einer knappen Stunde kommt Hawaii, auf eine Surfakademie. Sie »Ich verlasse mich auf ihn. Er hat
Steudtner zurück, er deutet auf eines erlaubte es. Andere Eltern erklärten Respekt. Er kennt das Risiko und kon-
der Boards. »Da spüre ich definitiv sie für verrückt. »Aber er wäre un- frontiert sich mit der Gefahr. Er ist
einen Unterschied zum Positiven«, glücklich geworden, wenn ich es ver- nicht leichtsinnig.«
sagt er. Der Ingenieur ist zufrieden, boten hätte.« Der Weg zum Praia do Norte führt
sie verabreden weitere Tests. Steudtner blieb insgesamt sieben durch die engen Gassen der Altstadt
Steudtner bereitet sich auf seine Jahre auf Hawaii. Eine Weile wohnte von Nazaré, vorbei an Fischrestau-
Superwelle vor wie auf einen Rake- er bei einer Großfamilie, lernte auch rants, kleinen Läden, einem Wohn-
tenstart. Die Effizienz seiner Finnen, die dunkle Seite des Paradieses ken- mobilplatz, durch einen Pinienwald
so nennt man die kleinen Heckflos- nen, die Armut vieler Hawaiianer, die und auf einer ausgefahrenen Sandstra-
sen, die das Board bei der Fahrt Probleme Jugendlicher mit Drogen. ße schließlich hinunter zum Strand.
durchs Wasser stabil halten, lässt er
von einem Professor in Australien be-
rechnen, den Windwiderstand seiner Giganten aus der Tiefe
Boards im Windkanal von Porsche
Wie die Riesenwellen von Nazaré entstehen
testen.
Weil der Welt-Surfverband die
Höhe von Steudtners Rekordwelle
ung

1 Nazaré
von 2020 lange Zeit nicht anerkennen Vom Atlantik anrollende Wellen kommen
öm

wollte, haben Techniker des Auto- im relativ flachen Wasser mit geringer
Str

bauers für ihn eine Spezialdrohne Geschwindigkeit an der Küste an. Lissabon
entwickelt, die über Steudtner
schwebt, wenn er surft. Das Fluggerät
ist mit einer Messtechnik bestückt, 2
die jede seiner Wellen auf den Mil­ Wellen, die über dem unterseeischen
Canyon auf die Küste treffen, halten
limeter genau erfassen kann. die hohe Geschwindigkeit, mit der sie
s i h zum
cGebiet
Für das »Project Mission Wave
u t Riesenwellen-
n
ie baensione
über die hohe See ziehen.
­Alpha« haben sie das Meer in eine Surfen
: W
Art Versuchslabor verwandelt. Wenn
r - G rafikf ? + Dim Nazaré
Steudtner in der Brandung vor Naza-
unterseeischerEr k l ä a u
ré in fünf Meter hohen Wellen trai-
Nazaré-Canyon e We 3
lle 4
niert, trägt er unter seinem Gummi-
d i Die schnellen Eine küstenparallele Strömung
anzug Sensoren, die die Leistung fließt der auflaufenden Wasser-
und langsamen
seiner Muskeln ermitteln. Eine Soft- Wellen treffen wand entgegen und vergrößert
ware berechnet anhand der Messwer- aufeinander und sie.
te, welche Kräfte er aufbringen muss, verstärken sich.
26 m 26 m
wenn er auf einer zehnmal so großen
Welle reiten will.
»Ich weiß jetzt, dass ich zum Bei-
spiel mehr Muskulatur im rechten
Bein brauche, um das Board bei der Sebastian Steudtner ritt Brandenburger Tor
höheren Geschwindigkeit kontrollie- 10 km hier im Oktober 2020 die größte zum Vergleich
ren zu können«, sagt Steudtner und jemals gesurfte Welle.
schlägt sich auf seinen Oberschenkel. S Grafik


88 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


SPORT

Über Nacht sind die Wellen doppelt so Die Vorkehrungen geben ihm Sicherheit.
hoch geworden. Ein paar Touristen bestaunen »Ich fühle mich frei«, sagt er. In dem Moment,
andächtig die Brecher, die donnernd auf den wenn er die Leine loslässt, liefert er sich den
Strand rollen. Eine Frau will wissen, ob das Kräften des Ozeans aus. Der Blick geht hinun­
wirklich der Surferstrand sei. »Ich kann nicht ter ins Wellental, einen dunklen Abgrund.
glauben, dass Menschen sich dort hinaus­ Der Schub des Brechers erzeugt einen tosen­
wagen.« den Aufwind, das Board springt und schlägt
Big-Wave-Surfer sind Suchende. Sie stu­ im Wellenhang.
dieren Wetterkarten, Wellenvorhersagen und Genießt er diese Momente?
Strömungsmodelle, jedes Sturmtief ist eine »Klar«, sagt Steudtner.
Chance. Wenn Messbojen irgendwo im At­ Tow-in-Surfen hat mit dem klassischen
lantik oder Pazifik eine hohe Dünung ver­ Wellenreiten wenig zu tun. Es geht nicht um
zeichnen, dauert es drei, mitunter vier Tage, Fun, um Kontemplation auf dem Meer, um
bis die Wogen die Küsten erreichen – genug zackige Manöver oder Tricks auf dem Board.
Zeit, um anzureisen und sich bereitzumachen. Es ist eine Mutprobe, bei der es um die Kunst
Riesenwellen-Reviere gibt es vor Hawaii, geht, im Angesicht einer 20 Meter hohen Was­
vor Tahiti, draußen im Meer vor Mexiko, an serwand die Ruhe zu bewahren – und irgend­
den Küsten Kaliforniens und Irlands. Nazaré wie heil aus der Situation herauszukommen.

Frankie Doer flein


ist mittlerweile zum Hotspot geworden, weil Vielleicht ist es das, was auch jene am Big-
dort die höchsten surfbaren Wellen der Welt Wave-Surfen fasziniert, die noch nie auf
entstehen. In einem schmal auslaufenden, bis einem Brett gestanden haben: dass sich da
zu 5000 Meter tiefen Canyon zieht die Dü­ einer mit dem Meer anlegt, freiwillig und doch
nung ungebremst bis kurz vor den Praia do seltsam getrieben, wie Captain Ahab in
Norte, wo die Wassertiefe abrupt abnimmt. »Moby Dick«: für den jeder Wellenritt ein
Die Wogen türmen sich auf; bei Nordwest­ Wagnis ist. Eine Prüfung.
wind drückt zudem eine starke Strömung vor Steudtner betreibt Big-Wave-Surfen nicht
den Klippen gegen die heranrollenden Was­ nur, um damit Geld zu verdienen. Ihn faszi­
sermassen, die dadurch nochmals anwachsen. nieren die Kräfte des Meeres. Er sucht die
Ende der 1990er-Jahre wagten sich die ers­ Herausforderung. Er will wissen, ob er in der
ten Surfer hier in die Brandung. Heute kon­ Lage ist, eine 50-Meter-Welle, die ohne Wei­
kurrieren bis zu 30 Wellenreiter aus aller Welt teres ein Frachtschiff verschlucken kann, zu
um die höchsten Brecher, mitunter gibt es kontrollieren. Er will auf einer Freak-Wave
heftigen Streit, wenn einer einem anderen die surfen, eben weil er es kann. Und vielleicht
Privat
Vorfahrt nimmt. auch, weil niemand sonst es könnte.
Für Nazaré sind die Wellen inzwischen Mutter Schrattenecker, Sohn Sebastian (l.)*
Er werde nicht nervös, wenn eine Riesen­
zum Touristenmagnet geworden, ähnlich wie welle auf ihn zuhält, sagt Steudtner. »Es be­
das Matterhorn für Zermatt. Überall an der Als er noch unerfahren war, wäre Steudt­ flügelt mich eher.« Obwohl er fast immer die
Strandpromenade haben Hotels eröffnet, die ner vor Hawaii einmal fast selbst verunglückt. höchsten Brecher des Tages reitet, stürzt er
mit der Show der Extremsurfer Werbung ma­ Nach einem Sturz wirbelten ihn die Wasser­ selten. »Ich weiß, was ich tue«, sagt er.
chen. Waghalsige Hobbysurfer können Trips massen beinahe bis auf den Meeresgrund. Er In das »Project Mission Wave Alpha« sind
in die Brandung buchen. In einem Hangar im verlor die Orientierung, schaffte es erst nach Mediziner, Ingenieure, Wissenschaftler und
Hafen vermietet ein Outdoorveranstalter Big- über einer Minute wieder an die Oberfläche. deutsche Weltkonzerne involviert. Steudtner
Wave-Leihboards, Jetskis, Helme und Ret­ hat sogar eine Projektmanagerin engagiert.

D
tungswesten. Die Kunden werden von Trai­ Er ist der Kopf der Monsterwellen AG. Ge­
nern und Guides in die Wellen gebracht und meinsam jagen sie die Jahrhundertwelle.
wieder eingesammelt, wenn die Brandung zu Am Ende erinnert das alles ein wenig
gefährlich wird. an den Selbstversuch des österreichischen
An Tagen mit über zehn Meter hohen Wel­ Danach begann er, gezielter zu trainieren. Base-Jumpers Felix Baumgartner, der im
len brauchen die Surfer eine Genehmigung Steudtner ging Freitauchen, um zu lernen, ­Oktober 2012 von der Walker Air Force Base
der Polizei. Die Behörden wollen wissen, wer wie man die Luft möglichst lange anhalten in New Mexico mit einem Heliumballon
da draußen seinen Kopf riskiert – und wer im kann. Um sich an die hohen Geschwindig­ in einer Druckkapsel bis in die Stratosphäre
Falle eines Unglücks zu benachrichtigen ist. keiten beim Big-Wave-Surfen zu gewöhnen, aufstieg, um dort oben mit Schutzanzug
Sebastian Steudtner nervt dieser Rummel. ließ er sich auf dem Wolfgangsee in Österreich und Fallschirm abzuspringen. Da wusste
Viele der Amateure unterschätzten die Wucht mit seinem Brett von einem Motorboot zie­ auch niemand genau, ob so was funktionieren
der Brecher und auch die Gefahr, sagt er. Sur­ hen – mit Tempo 100. kann – und ob der Proband den Versuch
fen in hohen Wellen ist wie Klettern ohne Seil, Wenn Steudtner heute bei hohen Wellen überlebt.
ein Spiel mit dem Leben. Einmal musste in Nazaré im Wasser ist, patrouillieren zwei Katharina Schrattenecker hat im Kamin
Steudtner einen Kollegen retten, der nahe den Piloten auf Jetskis in seiner Nähe, um ihn nach ein Feuer angemacht. Auf dem Wohnzimmer­
Klippen hilflos in der tosenden See trieb. einem Sturz so schnell wie möglich bergen zu tisch liegen Fotos ihres Sohnes. Steudtner mit
Steudtner fuhr mit einem Jetski an den be­ können. Am Strand stehen Helfer bereit, ein seiner Schwester vor dem Abflug nach
nommenen Mann heran, zerrte ihn an Bord Notarzt, ein Krankenwagen. Oben auf der Hawaii, Steudtner mit seinem ersten Preis­
und brachte ihn aus der Todeszone. Klippe gibt ein Mitglied aus Steudtners Team geldscheck. Eine Aufnahme zeigt ihn neben
Diesen Winter ertrank ein Wellenreiter vor über Funk Richtung und Höhe der heranrol­ seinem ersten Board: ein Junge mit zerzaus­
Nazaré. Die Brecher an jenem Tag seien nicht lenden Wellen bekannt, damit Steudtner sich ten Haaren und einem Grinsen im Gesicht.
mal besonders hoch gewesen, erzählt Steudt­ von seinem Partner auf dem Jetski in die rich­ Die Mutter betrachtet es eine Weile und
ner, fünf bis sechs Meter, aber sie hielten den tige Position ziehen lassen kann. sagt dann: »Ich vertraue ihm. Die Geschichte
Mann trotz seiner Rettungsweste unter Was­ wird gut ausgehen.«
ser, als hätten sie Krallen. * Mit Schwester Johanna. Gerhard Pfeil n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 89


WISSEN

Mario Tama / Getty Images


Licht am Horizont – und die Landschaft strahlt in Gelb. Nachdem der US-Bundesstaat Kalifornien zuletzt von etlichen Naturkatastrophen wie
Dürren und Überflutungen heimgesucht wurde, fällt die Wildblumenblüte dieses Jahr besonders prächtig aus. Etliche Stürme haben zu
besonders hohen Niederschlägen geführt und damit mehr Blumensamen zum Austreiben gebracht. Deshalb leuchten die Hügel, wie hier in
Santa Margarita, nordwestlich von Los Angeles, in diesem Frühjahr besonders bunt.

Deutschland im Rückspiegel
China setzt auf E-Mobilität. Jedes dritte dort verkaufte
Auto ist ein »New Energy Vehicle«, obwohl die staatliche Kauf-
prämie zum Jahreswechsel auslief. BYD präsentierte einen
Kleinwagen namens Seagull mit 300 Kilometern Reichweite für
ANALYSE  Auf der Automesse in Shanghai feiern
rund 10.000 Euro. Das Signal ist eindeutig: Elektroautos
chinesische Hersteller Erfolge mit Elektroautos sind massentauglich und können schon heute auf den meisten
für die Massen. Der hiesige Kult um den Verbren- Fahrten Benziner und Diesel ersetzen.
Zunehmend schwach wirkt ein Argument, mit dem man sich
nungsmotor wirkt zunehmend grotesk. gegen den EU-Ausstieg aus Verbrennungsmotoren sträubt:
Deutschland dürfe die Technik, die hiesige Ingenieure beherr-
An Erkenntnis mangelt es nicht. »Was heute chinesische Kunden schen, nicht etwa Herstellern in Schwellenländern überlassen.
bewegt, bewegt morgen die Welt«, umschmeichelte BMW-Chef So schnell, wie sich Märkte wie China von der Technik ab-
Oliver Zipse die Gastgeber auf der Automesse von Shanghai. wenden, schrumpfen die Chancen, dass synthetische Kraftstoffe
Es ist der bekannte Sound deutscher Automanager in China, fürs Auto in Zukunft je gefragt sein werden. Bestenfalls taugen
dem größten Absatzmarkt der Branche. Seit Jahren bewundern sie als Übergangslösung für den bestehenden Fuhrpark – je we-
die Firmenlenker das Land. Zunehmend fürchten sie es auch niger Verbrenner hinzukommen, umso kürzer.
für das Tempo seines Wandels – schleichen sie selbst doch hin- Der Zickzackkurs der Ampelkoalition in Berlin wirkt gefähr-
terher. lich: Wer den Wandel scheut und sich alle Optionen offenhält,
Zur Messe wurde eine symbolische Marke erreicht. Im ersten wird darin bestärkt, wenn eine Regierungspartei sogar nach Sub-
Quartal 2023 verlor VW erstmals die Führung im chinesischen ventionen für E-Fuels ruft. Kommt eines Tages aber das kalte Aus
Neuwagengeschäft an einen einheimischen Wettbewerber: den für den Verbrenner, rollen womöglich schon allzu viele Europäer
Batteriespezialisten BYD, der im E-Auto-Markt dominiert. in chinesischen Elektroautos über die Straßen. Arvid Haitsch

90 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


Zweifel an »Ariane 6« Insgesamt zehn von ihnen stehen derzeit im sollen Probleme an einem Hilfsaggregat der
Depot. Dabei wären sie für den Endausbau Oberstufe und der schleppende Ausbau der
R AUMFAHRT  Eigentlich sollte die Träger­ und den verlässlichen Betrieb des Systems Startanlage in Kourou sein.
rakete »Ariane 6«, Ende dieses Jahres zum im Weltraum nötig. Derzeit wird die Oberstufe der Rakete
ersten Mal von Kourou in Französisch-­ Würden die Navigationssatelliten von erst einmal im baden-württembergischen
Guayana aus abheben. Doch bei der Euro­ einer amerikanischen Trägerrakete ins Lampoldshausen beim Deutschen Zentrum
päischen Kommission hat man offenbar All gehievt, widerspräche dies einem er­ für Luft- und Raumfahrt ausprobiert.
Zweifel am geplanten Start der Nachfolge­ klärten Ziel des »Galileo«-Projekts: Europa Vom Erstflug ist die »Ariane 6« noch weit
rin der »Ariane 5«, die im Dezember hat das System aufgebaut, um in einem entfernt. CS
2021 das »James Webb«-Weltraumteleskop ­Bereich der kritischen Infrastruktur unab­
im All platzierte. hängig zu werden.
Aus Kommissionskreisen heißt es, man Daniel Neuenschwander, bei der Euro­
ergreife Maßnahmen für den Fall, dass die päischen Raumfahrtagentur zuständig für
»Ariane 6« nicht rechtzeitig für den Start die Raketen, sagte dem SPIEGEL : »Ich habe
der nächsten Missionen bereitstehen könn­ mich immer für Europas Autonomie stark­

Manuel Pedoussaut / ESA / dpa


te. In Brüssel höre man sich bei den Mit­ gemacht.« Wenn jetzt »ein, zwei« »Gali­
gliedstaaten um, ob europäische Satelliten leo«-Satelliten auf SpaceX-Raketen gestar­
womöglich auch mit amerikanischen Rake­ tet werden müssten, um den Betrieb der
ten – allen voran von SpaceX – gestartet Konstellation zu sichern, sei das aber »zu
werden könnten. Konkret geht es um den akzeptieren«.
Transport mehrerer Satelliten des euro­ Die »Ariane 6« ist schon rund drei Jahre Raketenstartrampe
päischen Navigationssystems »Galileo«. in Verzug. Grund für die Verzögerungen

»Angebliche Delikatesse an
Akkordarbeit hackt man ihnen Delikatesse betrachtet, die es
die Beine ab, der Rest des Kör­ vor allem an Weihnachten und

der Frittenbude«
pers wird weggeworfen. zu besonderen Anlässen gibt.
SPIEGEL: Kann man nicht anders Auf dem Volksfest in Vittel war
an Froschfleisch kommen? ich allerdings schon selbst – und
Altherr: Nur etwa 21 Prozent ich war erschrocken, wie man
ARTENSCHUTZ  Die Biologin Sandra Altherr, 56, vom
der Importe stammen aus Viet­ diese angebliche Delikatesse da
Naturschutzbund Pro Wildlife kritisiert die nam, wo die Tiere tatsächlich an der Frittenbude mit Pommes
EU-Importe von Fröschen aus Asien. Die Tiere zu auf Farmen gezüchtet werden. und Mayo verramscht.
Für den Naturschutz sind die SPIEGEL: Welche Froscharten
essen unterstütze Wildfang und Tierquälerei. Farmen besser, aber die Frösche sind besonders begehrt?
werden dennoch genauso Altherr: Ursprünglich waren das
SPIEGEL: Frau Alt­ SPIEGEL: Wie werden die Frö­ grausam getötet. Ich persönlich mal besonders dickschenklige
herr, wenn am Wo­ sche gefangen? kenne nur eine einzige Frosch­ Tiere wie der Indonesische
chenende im fran­ Altherr: Nach unseren Erkennt­ farm in Frankreich, auf der man Zahnfrosch. Der ist aber im
zösischen Vittel nissen kommen 74 Prozent Tiere züchtet. Handel, und damit vermutlich
zum »Jahrmarkt der der Importe in die EU als Wild­ SPIEGEL: Woher kommt diese auch in Indonesien, schon fast
Privat

Frösche« ein­geladen fänge aus Indonesien. Für die Tradition? verschwunden. Jetzt geht die
wird, tut man das Fänger ist die Arbeit meist ein Altherr: Ursprünglich war das Kaskade nach unten, zu den
auch aus kuli­narischer Tradition. Nebenerwerb: Sie gehen nachts vermutlich ein Arme-Leute-Es­ kleineren Exemplaren wie dem
Was ist ­daran das Problem? mit Taschenlampen los, leuch­ sen. Die Engländer haben sich sogenannten Java-Krabben­
Altherr: Auf dem Fest werden ten Teiche aus und fangen die schon vor 200 Jahren darüber frosch. Im letzten Frankreich­
aller Voraussicht nach rund Tiere ein. Anschließend werden lustig gemacht, dass die Franzo­ urlaub habe ich im Supermarkt
20.000 Gäste etwa sieben Ton­ die Frösche direkt verarbei­ sen Frösche verspeisen. Heute Froschschenkel gesehen, die
nen Froschschenkel essen. tet: Ohne Betäubung und in werden die Tiere wohl eher als so winzig waren, dass ich mich
Als Pastete, frittiert oder in fragte, was man daran noch
Knoblauchsoße. Dafür sterben Java-Krabbenfrosch ­essen soll. Was die EU hier im­
knapp 350.000 Tiere. Das ist portiert, sollte verboten sein.
ganz sicher keine Gourmet­ Zum einen weil es Wildfang
küche, sondern der Konsum ist, zum anderen wegen der
von Massenware. Tötungsmethode.
SPIEGEL: Woher stammen die SPIEGEL: Warum tut die Euro­
Tiere? päische Union nichts dagegen?
Altherr: Ziemlich sicher nicht Altherr: Das kann man sich in
aus der Region, sondern der Tat fragen. Hoffentlich
aus Indonesien, Vietnam oder kommt bei der nächsten Welt­
der Türkei. Frankreich hat artenschutzkonferenz ein Vor­
­bereits 1980 den kommerziellen stoß der Europäischen Union,
Froschfang verboten, um diese Arten unter Schutz zu
Pablo Méndez / IMAGO

einen weiteren Rückgang der stellen, um damit endlich den


Bestände in der Natur zu internationalen Handel zu
­stoppen. Die Europäische ­reglementieren. Die Konferenz
Union folgte Anfang der Neun­ wird allerdings erst im Jahr
zigerjahre. 2025 stattfinden. KK

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 91


WISSEN

»Wenn Papa
kommt, erwarten
die Babys einen
tollen Firlefanz«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Raufen, bespaßen, klüger
­machen – die Entwicklungspsychologin
Lieselotte Ahnert hat mehr als zwei Jahrzehnte
an der Frage geforscht, welche Rolle Väter im
Leben ihrer Kinder spielen. Und warum sie eher
arbeiten gehen, als Elternzeit zu nehmen.

Ahnert, 71, erforscht seit mehr als Deutschland, Österreich und der die Fürsorge für das Kind auslösen.
40 Jahren die Entwicklung von Kin- Schweiz das Leben Tausender Väter Nun kann man aber auch bei den
dern zwischen Baby- und Schulalter. und ihrer Familien. Männern feststellen, dass sich in
In Thüringen geboren, ergründete die ihrem Körper während der Schwan­
Psychologin in den frühen Achtziger- SPIEGEL: Frau Ahnert, man spricht gerschaft der Partnerin viel verän­
jahren als eine der ersten Wissen- gern vom Mutterinstinkt. Gibt es eine dert. Das Stresshormon Cortisol wird
schaftlerinnen in Ost-Berlin, wie väterliche Entsprechung? verstärkt ausgeschüttet, der Testoste­
sich die Krippenerziehung der DDR Ahnert: Einen Vaterinstinkt? Ja und ronspiegel sinkt. Anpassungsprozes­
auf die Kinder auswirkte. Mit ihren nein. Wir wissen nach Jahren der se, von denen Biologen vermuten,
Studien trug sie maßgeblich dazu Forschung: Bei den Männern ist die dass die Evolution sie so eingerichtet
bei, dass Qualitätsstandards für die Motivation, die eigene Vaterrolle zu hat, damit auch beim Mann die Zu­
frühkindliche Betreuung gesetzt wur- gestalten, stark von ihren Erfah­ wendung zum Nachwuchs angescho­
den. Seit 2013 untersucht sie gemein- rungen abhängig, vor allem von Typisches Vater- ben wird.
sam mit Forschungsgruppen aus der Frage, wie glücklich sie in der Spielverhalten: »Das SPIEGEL: Ist das aus biologischer Sicht
gesamte Emotions-
Partnerschaft sind. Die Mutter da­ system des Kindes
sinnvoll, weil die Müttersterblichkeit
Das Gespräch führten die Redakteurinnen gegen durchläuft mit der Geburt wird durcheinander- in den Jahrhunderttausenden der
Rafaela von Bredow und Kerstin Kullmann. ­hormonelle Anpassungen, die meist geschüttelt« Menschheitsgeschichte so hoch war?

92 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WISSEN

SPIEGEL: Sie warnen in Ihrem Buch: Wir be- wollten wissen: »Oh, wer ist denn das? Und
trachten die Väter in unserer Forschung so, wie macht der?« Das fordert die Kinder zum
wie sie sind*. Und nicht, wie sie sein sollen. Erklären auf. Und was wir bei den Videoauf-
Können Sie das erklären? nahmen auch gesehen haben: Wenn ein Vater
Ahnert: Wir alle haben Wunschvorstellungen, die Antworten seines Kindes partout nicht
wie Väter sein sollten. Sie so zu sehen, wie sie verstand, fing er oft an, Quatsch zu machen,
sind, das ist der Auftrag der Wissenschaft. Das es zu kitzeln etwa. Das ist etwas Schönes für
traditionelle Vaterbild ist durch den Feminis- ein Kind, da wird der sprachliche Austausch
mus erheblich ins Wanken geraten. Den Män- zum großen Spaß. Die Kinder wurden darauf-
nern ist, und ich denke zu Recht, in den ver- hin viel mitteilungsfreudiger mit ihren Vätern
gangenen Jahren Druck gemacht worden. Man als mit ihren Müttern.
sagte ihnen: So sollt ihr sein. Dennoch stem- SPIEGEL: Im Spiel mit dem Kind scheinen die
men Frauen, obwohl berufstätig, die Familien- Väter ebenso mit Albernheiten zu agieren,
arbeit noch immer im Übermaß, und die Män- wenn man Ihren Beobachtungen in Studien
ner tragen nur einen kleinen Teil dazu bei. Das folgt. Wozu ist das gut?
meine ich mit: die Väter sehen, wie sie sind. Ahnert: Das stimmt, Väter spielen mit ihren
SPIEGEL: Ihr Job besteht darin, Wunsch und Kindern eher Rauf- und Tobespiele. Die Fra-
Wirklichkeit zu trennen? ge war: Macht das die Kinder aggressiv? Ge-
Ahnert: Wir sind Psychologen. Wir beobach- nau das Gegenteil kam heraus. Wenn Väter
ten den Menschen und fragen: Was ist seine viel toben, lernen die Kinder, sich selbst bes-
Motivation? Was kann er schaffen? Wo liegen ser auszubalancieren.
seine Fähigkeiten? Die Frage zu beantworten, SPIEGEL: Wie das?
wie die Realität in Sachen Vaterschaft aus- Ahnert: Das gesamte Emotionssystem des
sieht, ist wirklich schwer. Und oft sind die Kindes wird durcheinandergeschüttelt: Es be-
Maßstäbe, die man von außen ansetzt, nicht kommt Angst, wenn es hoch in die Luft ge-
wirklich aussagekräftig. worfen wird. So eine Situation kann nur freu-
SPIEGEL: Was meinen Sie damit? dig erleben, wer Vertrauen zum Vater hat.
Ahnert: Gesellschaftlich messen wir eine en- Wer sichergehen kann, dass Papa abbricht,
gagierte Vaterschaft zumeist immer noch da- sobald er merkt, dass dem Kind der Spaß ver-
ran, wie lange die Väter Elternzeit nehmen. geht. Diese ungeheuren Gefühle, die da auf-
Diese Vätermonate sind ja ein schönes An- einanderprallen, die aber trotzdem moduliert
gebot! Aber unter welchen Bedingungen kön- werden können, die sind wunderbar fürs Er-
nen Männer es überhaupt annehmen? Der lernen der eigenen emotionalen Regulation.
Hauptfaktor ist nach wie vor das Geld. Die Spielerisch Stress zu erlernen ist wichtig, und
Paare rechnen sich gemeinsam aus: Bleibst dafür sind vor allem die Väter gut.
du zu Hause oder ich? Und gerade Führungs- SPIEGEL: Macht dann ein Vater, der eher zart
kräften mit viel Verantwortung im Job fällt und vorsichtig ist mit seinen Kindern, etwas
es schwer, länger wegzubleiben. Wenn man falsch?
nur die Elternzeit als Maßstab nimmt für Ahnert: Wer ein Kind bekommt, kann davon
­väterlichen Einsatz, ist das jedenfalls zu kurz ausgehen, dass etwas von seinen eigenen
gegriffen. Eigenschaften auch im Nachwuchs steckt. Mit
SPIEGEL: Inwiefern? einer gewissen Wahrscheinlichkeit geht daher
Ahnert: Diese Phase spielt sich hauptsächlich der Vater mit dem Kind so um, wie es ihm
im ersten Lebensjahr des Kindes ab. Wir bli- selbst guttut. Und natürlich gibt es nicht nur
Cavan Images / Getty Images

cken in unserer Forschung aber auf die Zeit wilde, temperamentvolle Kinder, sondern
bis zum Schuleintritt. Was machen Väter in auch zarte und sanfte. Wichtig ist, dass der
welchem Alter des Kindes? Wie kompetent Vater sich darauf einstellt.
fühlen sie sich? Was bewirken sie für die Ent- SPIEGEL: Inwiefern gibt es in der Elternschaft
wicklung des Kindes? jenseits von Geburt und Stillzeit überhaupt
SPIEGEL: Und? etwas spezifisch Männliches und Weibliches?
Ahnert: Ganz wichtig ist die Kommunikation.
Damit auch der Vater die Kleinen großziehen Mütter und Väter sprechen sehr verschieden
kann? mit ihren Kindern. Zum Beispiel reagieren
Ahnert: Vielleicht. Dennoch sehen wir bei den Väter anders auf das Kauderwelsch der Klei-
meisten Naturvölkern, in den noch existie- nen. Anders als Mütter, die oft schon wissen,
renden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, was die Kinder meinen, fragen Väter viel. Das
dass die Kinderbetreuung dort zum größten hat für das aktive Sprechen des Kindes einen
Teil von Frauen übernommen wird. Die Män- enormen Wert.
ner machen da relativ wenig. Die Väter zu SPIEGEL: Nämlich welchen?
betrachten ist wirklich ziemlich kompliziert. Ahnert: Wir haben beispielsweise Eltern beim
SPIEGEL: Weil es auch im Jahr 2023 noch so Bilderbuch-Betrachten beobachtet. Die Müt-
ist, dass der Mann gern länger ins Büro geht, ter erklärten viel: »Guck mal, das ist ein
Christian Thiel / DER SPIEGEL

wenn ein Kind kommt, beim zweiten Kind Hund. Der macht wau.« Die Väter hatten da-
sogar noch länger? gegen ein ausgeprägteres Frageverhalten. Sie
Ahnert: Die Mütter sagen in Umfragen, dass
sie diese langen Arbeitsstunden ihrer Partner
* Lieselotte Ahnert: »Auf die Väter kommt es an – wie
gutheißen. Die Forschung zeigt das, so wenig ihr Denken, Fühlen und Handeln unsere Kinder von Forscherin Ahnert
mir das gefällt. Anfang an prägen«. Ullstein; 256 Seiten; 22,99 Euro.

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Ahnert: Es gibt die klassischen Rollenbilder, SPIEGEL: Was ist dann für eine gute Vater-
und viele Eltern verhalten sich entsprechend. Schreibtisch statt Spielplatz Kind-Beziehung entscheidend?
Aber es ist immer möglich, aus diesen alten Ahnert: Es reicht nicht, abends einmal fröhlich
Rollen herauszutreten – natürlich gibt es auch Empfänger von Elterngeld in Deutschland lächelnd ins Kinderbett zu schauen und zu
Mütter, die gern rausgehen zum Fußballspie- nach Geschlecht, in Prozent denken, dass daraus Beziehung entsteht. Es
len. Und was ist eigentlich typisch für Väter? 80 braucht Zeit, es ist der intensive Umgang mit
73,9
Wir haben das in einer experimentellen Stu- dem Kind, der Beziehung stiftet. Dieser Um-
die mal auf die Spitze getrieben. Wir wollten 60 Frauen gang muss sensitiv sein, angepasst an das Kind.
sehen, ob dieser Unterschied wirklich so in Ganz zu Beginn gehört dazu, die Signale des
den Menschen steckt. Babys zu verstehen. Und da sind, das wissen
40
SPIEGEL: Was haben Sie da gemacht? wir aus der Forschung, die Männer mit den
Ahnert: Wir haben Familien das sogenannte 26,1 gleichen Fähigkeiten ausgestattet wie die
Pferdepolo spielen lassen. Die Kinder sitzen 20 ­Frauen. Das hat Mutter Natur so eingerichtet.
bei den Eltern auf dem Rücken und sollen mit- Männer SPIEGEL: Welche Fähigkeiten sind das?
hilfe eines Schlägers Bälle durch kleine Tore 0 Ahnert: Wie man ein Kind anschaut, wie man
bugsieren. Einmal mit Papa, einmal mit Mama. 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 mit ihm spricht. Wir haben festgestellt, dass
SPIEGEL: Was kam heraus? Väter das sogar unbekümmerter machen als
Ahnert: Frauen wie Männer haben gleich wild Mütter. Unser Kollege Michael Lamb aus Cam-
oder sanft gespielt. Sie haben wie ein Pferd Durchschnittliche 14,2 14,6 bridge hat schon vor vielen Jahren eine Studie
gebuckelt und die Kinder auf dem Rücken Bezugsdauer Frauen durchgeführt, über deren Ergebnisse wir heu-
durchgeschüttelt oder sie sanft zu den Toren von Elterngeld in te noch schmunzeln: Er hat gezeigt, dass die
Deutschland,
geführt – kein Unterschied. nach Geschlecht,
Babys besonders aufgeregt sind und strampeln,
SPIEGEL: Was bleibt von den Vater-Mutter- in Monaten wenn der Papa auf sie zugeht. Während das
3,8 3,6
Klischees: Frauen machen sich ständig Sorgen Männer Sich-Annähern der Mütter ja alles Mögliche
ums Kind, Väter sind cool und abenteuerlustig? 2018 2022
bedeuten kann: Windeln, Nahrung, Pflege. Bei
Ahnert: Mütter sind wahnsinnig interessiert den Vätern war klar: Wenn Papa kommt, er-
an Entwicklungsmerkmalen. Was das Nach- warten die Babys irgendeinen tollen Firlefanz.
barskind schon kann, aber das eigene nicht. Teilzeitquote bei Erwerbstätigen in SPIEGEL: Das klingt nach dem Klischee vom
Die Väter konzentrieren sich auf das, was ich Deutschland* 2020, in Prozent Spaßdaddy, der sonst keinen Finger rührt.
»Atmosphäre in der Familie« nennen würde. Frauen Männer Ahnert: So zwingend geschlechtsgebunden ist
Als Allererstes: Ist genug Geld da? Aber dann mit Kindern das nicht mehr. Michael Lamb hat ja auch die
eben auch: Herrscht eine gute Stimmung? 65,5 Theorie von der primären und sekundären
Wie kann ich dazu beitragen, unterhaltsam 7,1 Pflegerolle entwickelt: Derjenige, der sich zu-
sein, mich einbringen? nächst um die allermeisten physischen Be-
SPIEGEL: Eben sagten sie, dass die Männer in ohne Kinder lange kümmert, ist die Nummer eins, das
35,1
ihrer Rolle als Papa stark abhängig vom Be- kann auch der Vater sein. Für die Nummer
ziehungsglück seien. Was passiert, wenn es 12,4 zwei, in dem Fall die Mutter, bleiben dann
in der Beziehung oder Ehe schlecht läuft – eher die unterhaltsamen Spaß-und-Spiel-Ein-
sind die Männer den Kindern dann kein guter heiten übrig. Und nach unseren neuen Stu-
Zufriedenheit von Personen in Deutschland
Vater mehr? Während die Frauen gute Mütter in Zusammenhang mit der Arbeitszeit dien vermischen sich diese Rollen im alltäg-
bleiben? lichen Miteinander. Mal kümmert sich das
Ahnert: So kann man das sagen. Disharmo- Mütter Väter kinderlose kinderlose eine Elternteil mehr, mal das andere. Das
Frauen Männer
nien, Scheidungen – sie können das Vaterbild handeln die Paare untereinander aus.
völlig zerstören. 75 SPIEGEL: Vater und Mutter sind also aus-
Zufriedenheit**

SPIEGEL: Eine drastische Erkenntnis. Wie ka- tauschbar?


men Sie dazu? Ahnert: Im Grunde genommen schon. Aber
70
Ahnert: Es gibt eine ganze Reihe von Fallbei- häufig ist das Muster klar: Zu Beginn schläft
spielen, wo Männer gar keine Beziehung zu ein Baby sehr viel, wird gestillt und ist deshalb
ihren Kindern aufbauen, weil sich die Familie viel bei der Mutter. Der Vater muss sehen,
65
nicht so entwickelt hat, wie sie sich das vor- wie er sich einbringt.
gestellt haben. Diese Männer flüchten dann SPIEGEL: Das sogenannte Gatekeeping-Phä-
regelrecht. Ihnen ist das Familienleben zu an- nomen beschreibt, dass es Frauen bisweilen
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
strengend, und plötzlich scheint auch die Frau tägliche bezahlte Arbeitsstunden
schwerfällt, die Hoheit über das Baby zu tei-
nicht mehr zu passen. Ja, wenn das Miteinan­ len, es heißt, sie verjagten praktisch die Män-
der nicht funktioniert, ist die Vaterschaft * im Alter von 15 bis unter 65 Jahren
** auf einer Skala von 0 bis 100 (100 = am zufriedensten)
ner vom Wickeltisch. Der Vorwurf macht
­offenbar schneller kündbar als es eine Mutter- S Quellen: Destatis, »Gehirn & Geist« Nr. 13/2021 viele Frauen wütend, weil ihnen so auch noch
€

schaft für die Frau ist. die Schuld dafür zugeschoben wird, dass sie
SPIEGEL: Was lässt Paare zusammenbleiben? Kinderzimmer rennen muss – auch wenn das sich ums Baby kümmern, während der Mann
Ahnert: Das Diskutieren auf Augenhöhe. Nicht mal anders geplant war. nicht mitzieht.
wegrennen. Wenn die Väter Konflikten aus SPIEGEL: Wie fängt eine erfolgreiche Vater- Ahnert: Gatekeeping ergibt im Alltag durch-
dem Weg gehen, indem sie sich in ihrem Job schaft an? Wenn die Papas schon im Kreißsaal aus Sinn. Es ist doch klar: Wenn einer etwas
verschanzen, läuft das nicht gut. Wenn sie sich die Nabelschnur durchschneiden? gut kann, etwa das Baby zu baden, dann soll
aber in dieser Hinsicht zusammenreißen und Ahnert: Nein! Das ist ein Mythos. Die Bindung er es machen. Dann kann der Partner andere
das Paar die unangenehmen Situationen im an dieses neue Wesen hat, so viel wissen wir Aufgaben übernehmen. Gatekeeping ist nur
Familienalltag gemeinsam bespricht, können inzwischen, nichts damit zu tun, ob der Vater dann etwas Schlechtes, wenn die Frau den
auch Lösungen gefunden werden. Sagen wir, bei der Geburt dabei war. Auch die Teilnahme Mann überhaupt nicht an das Kind ranlässt,
zur Not doch mit dem Baby in einem Bett zu an irgendwelchen Säuglingskursen spielt kei- ihm jede Fähigkeit abspricht, gut auf es ein-
schlafen, damit nicht einer nachts immer ins ne Rolle. gehen zu können.

94 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WISSEN

SPIEGEL: Wie aktiv bevatert der typi-


sche mitteleuropäische Mann seine
Kinder?
Ahnert: Das haben wir anhand von
Aktivitätsmustern gemessen, und he-
rauskam eine gewisse Gleichvertei-
lung. Wir sehen ein Drittel aktive
Väter, ein Drittel passive, die wirklich
nur das Nötigste machen, und dann
eben Väter, die so in der Mitte liegen,
sich einbringen, aber am Wochenen-
de auch mal gern ihre Ruhe haben.
SPIEGEL: Können Männer gute Väter
werden, wenn sie selbst einen gewalt-
tätigen, bösartigen Vater hatten?
Ahnert: Männer, die aus solchen trau-
matisierenden Familien kamen und
häusliche Gewalt erlebt hatten, haben
uns gezeigt: Nur diejenigen, die eine
Odyssee durch Heime oder von einer
Pflegefamilie zur nächsten hinter sich

Fox Photos / Getty Images


hatten, bekamen fundamentale Pro-
bleme mit der Vaterschaft. Wer in
einer stabilen Pflegefamilie aufwuchs,
wahrscheinlich Bindung erlebt hatte,
Wärme, ein harmonisches Ambiente,
der lernt offenbar, selbst ein guter Va-
ter zu sein. Hinzu kommt, dass der
eigene Vater nicht das einzige Vorbild »Das traditionelle Männerbild vom Familienernährer wird sich im
ist, es gibt den Lehrer, den Trainer,
den Nachbarn. Hinzu kommen später
kommenden Jahrzehnt nur wenig abschwächen.«
dann die Absprachen mit der Partne-
rin, ihre Erwartungen. All das formt hat so was gesagt wie: »Jetzt ist Ahnert: Ich glaube schon, dass Väter
den neuen Vater. Schluss«, und dann war auch Schluss. ihr direktes Engagement weiter aus-
SPIEGEL: Bauen Männer die Bindung SPIEGEL: Klingt wenig liebevoll … bauen werden. Vielleicht wird es so-
zu ihren Kindern anders auf als Frauen? Ahnert: … Moment! Das Mädchen war gar Überhand gewinnen in Familien,
Ahnert: Frauen beschützen und be- gefangen in dieser extremen emotio- in denen die Frauen das meiste Geld
hüten, während die männliche Stra- nalen Situation und kam nicht mehr verdienen. Aber das traditionelle
tegie eher in die Richtung geht: Ich raus. Der Vater hat das Kind wachge- Männerbild vom Familienernährer
unterstütze deine Neugier, die Ent- rüttelt. Es war auch gar nicht erschro- wird sich im kommenden Jahrzehnt
deckungsfreude. Und wenn dann cken oder befremdet, ganz im Gegen- nur wenig abschwächen. Die Dauer
die Angst kommt, geben die Väter teil. Ich hatte den Eindruck, der Klei- der Vätermonate stagniert, und wahr-
Rückendeckung. nen geht’s jetzt gut, sie lehnte sich so scheinlich ist sie ausgereizt.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel? ein bisschen an den Vater an, als wäre SPIEGEL: Die Mütter sollen kapitulie-
Ahnert: Der Vater sagt: Kletter auf sie froh, dass er sie da rausgeholt hat. ren vor der gesellschaftlichen Notwen-
den Baum, ich stehe hier unten. Wenn SPIEGEL: Wir haben jetzt viel darüber digkeit des berufstätigen Mannes?
du fällst, fange ich dich auf. Bei geredet, wie großartig Väter sind. Ahnert: Nein, es muss umgekehrt
­Frauen ist das eher so ein warmes Gibt es auch etwas, das sie schlechter einen Konsens geben, dass Männer
Miteinander mit Tröstung und Auf- können als Mütter? ihre Väterrolle gestalten und eben
arbeitung von negativen Gefühlen. Ahnert: Der Vater ist für das Kind ein- nicht nur berufstätig sein wollen. Und
Bei den Männern ist der Fokus mehr
auf den positiven Gefühlen.
SPIEGEL: Funktioniert diese Strategie
55 deutig der schwierigere Gesprächspart-
ner – auch wenn er es sprachlich gut
fordert. Weil es eben nicht reicht, nur
wir müssen genau das unterstützen
und an anderen Stellschrauben dre-
hen, der ungleichen Bezahlung von
im Alltag mit den Kleinen genauso Prozent die Worte richtig auszusprechen. Sie Frauen und Männern, dem Ehegat-
gut wie die mütterliche? bedeuten ja etwas. Um die verschiede- tensplitting. Und bis dahin müssen
Ahnert: Sehr gut sogar! Da hatte ich
einmal ein Aha-Erlebnis in einem ita-
der Väter nen Worte auch richtig beim Sprechen
einsetzen zu können, muss das Kind
wir Männern die Möglichkeit geben,
sich auf die neue Vereinbarkeit zwi-
lienischen Restaurant in Wien: Ein klei- möchten ein System entwickeln, sie aufeinander schen Arbeit und Familie besser ein-
nes Mädchen hatte sich auf den Boden
geworfen und wütete fürchterlich, weil
die Hälfte beziehen können und dabei Gemein-
samkeiten und Unterschiede ausnut-
stellen zu können.
SPIEGEL: Wie?
es sein Lieblingsdessert nicht gab. Alle der Kinder­ zen. Das Auto ist schnell, die Schnecke Ahnert: Wie bei uns Frauen damals
Versuche der Mutter, es zu trösten,
machten das Kind nur wilder, auch das betreuung ist langsam, der Ball ist rund und der
Würfel viereckig. Diese Wortbedeutun-
muss ein breiter gesellschaftlicher
Konsens her, der auch den Arbeits-
gute Zureden anderer Gäste und des übernehmen. gen im Detail zu vermitteln – das be- markt einschließt. So können sich
Kellners halfen nicht. Dann kam der kommen Väter zumeist schlechter hin. auch die Männer emanzipieren – hin
Vater rein, der draußen zum Rauchen Quelle: Allensbacher SPIEGEL: Wohin bewegen wir uns ge- zur Vaterrolle.
(2021). Väter mit
gewesen war. Er hat das Kind einiger- ältestem Kind unter sellschaftlich? Werden die Geschlech- SPIEGEL: Frau Ahnert, wir danken
maßen robust vom Boden aufgehoben, zehn Jahren. terrollen sich weiter angleichen? Ihnen für dieses Gespräch.  n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 95


WISSEN

an der Hintertür illegal und unkontrolliert


von Kriminellen hereingeschmuggelt worden
ist, wird vorn ganz legal an die Kunden ver-
kauft. Erzeugt wurden die Drogen bestenfalls

Rausch aus der Fabrik


von engagierten Dachbodengärtnern, wahr-
scheinlicher aber von der kleinkriminellen
Halbwelt, von gewalttätigen Banden oder
gleich von der Mafia.
Kein Käufer erfährt, wessen Produkt er
DROGENPOLITIK  Die Niederlande testen die legale Produktion von sich einverleibt und was in ihm steckt, nicht
selten finden sich bei Analysen Pestizide,
­Cannabis in einem großen Feldversuch. Der Stoff kommt aus einer Indoor- Schwermetalle oder toxische Streckmittel.
Plantage – qualitativ hochwertig, frei von Pestiziden und per Niemand haftet für die Qualität. Keiner der
QR-Code zu verfolgen. Könnte es das bald auch in Deutschland geben? Hersteller zahlt Abgaben, der Fiskus be-
kommt keine Mehrwertsteuern aus den Cof-
feeshops, schließlich ist die Ware nach EU-

E
in Gewerbegebiet in der niederländischen gerauft und manchmal harmonisch, manch- Recht so illegal wie Falschgeld.
Provinz, etwa 100 Kilometer von der mal im Argwohn gemeinsam ein Cannabis- Diese Situation, das finden inzwischen die
deutschen Grenze entfernt. Zwischen kontrollsystem entwickelt. Jeder einzelne meisten Politiker in Den Haag, ist nicht länger
Autohäusern, Küchenherstellern und den Schritt vom Ausbringen der Hanfstecklinge akzeptabel. Die deutschen Ampelkoalitio­näre
schmucklosen Hallen von Speditionsunterneh- bis zur Anlieferung des Cannabis an die Ver- empfanden das niederländische Beispiel bei
men steht ein auffällig unauffälliger Neubau: kaufsstelle ist jetzt geregelt und für die Be- ihren Cannabisberatungen als geradezu ab-
drei Geschosse von dezent dunkler Farbe. Ka- hörden transparent; sie wissen jederzeit, wo schreckend. Jetzt soll sich die Lage grundle-
meras sind an jeder Ecke montiert, ein massiver welche Charge ist. So viel Kontrolle hatte der gend ändern.
Metallzaun umgibt das Gelände. Wer genauer niederländische Staat über die nach Alkohol Der kommende Großversuch in Tilburg
auf die Warnschilder schaut, der erkennt: Der und Tabak beliebteste Droge noch nie. und Breda wird 2024 ausgeweitet auf neun
oberste Teil des Zauns steht zur Abschreckung Bisher beziehen die mehr als 570 Canna- weitere Orte und zehn Cannabishersteller,
von Einbrechern sogar unter Strom. bisgeschäfte des Landes ihre Ware – nach sobald auch deren Fabriken einsatzbereit
In dieser fast wie ein Waffendepot bewach- Schätzungen an die 500 Tonnen pro Jahr – sind. Unter anderem in Maastricht, Gro­
ten Fabrik gedeiht auf 14.000 Quadratmetern ausschließlich aus der Schattenwelt. Seit Jahr- ningen, Nimwegen und in Teilen von Amster-
in hochmodernen Klimakammern, was selbst zehnten schon leisten sich die Niederlande dam wird dann die gesamte Cannabisliefer-
nach dem liberalen niederländischen Recht eine bei Touristen beliebte, allerdings voll- kette für die Dauer des vierjährigen Tests
bislang streng verboten ist: Cannabis – und kommen widersinnige Cannabispolitik: Der zum ersten Mal legalisiert und reguliert sein.
zwar nicht solcher für Arzneimittel, sondern Verkauf der Droge an erwachsene Endver- Bei den bisherigen Marktführern dürfte dies
der für Kiffer ab 18 Jahren. braucher wird toleriert – aber Herstellung, für Verdruss sorgen – sie sind raus aus dem
Alle wissen von der Fabrik, die umliegen- Großhandel und Transport sind verboten ge- Spiel.
den Unternehmer im Gewerbegebiet, die blieben. Damit hat der Staat faktisch den Kern Der deutsche Kriminologe und Strafrecht-
Polizei, die Bürgermeisterin und sogar die der blühenden Cannabiswirtschaft an die ler Robin Hofmann von der Universität
Regierung in Den Haag. Und niemand von dunklen Mächte delegiert, die seither bestens Maastricht findet diesen Vorstoß sinnvoll:
ihnen tut etwas, um die Drogenherstellung von ihrem Monopol in einem Milliarden- Unabhängige Wissenschaftler könnten er-
zu stoppen, ganz im Gegenteil: Was bei der markt profitieren und so sehr Gewalt säen im mitteln, wie sich die Legalisierung auf den
Firma Fyta in der Kleinstadt Waalwijk unweit Land, dass manche die Niederlande schon als Schwarzmarkt auswirke und ob in der Folge
von Eindhoven vor sich geht, das geschieht »Narcostaat« verunglimpfen. der Konsum steige. »Sofern die Pilotprojek-
in staatlichem Auftrag und mit einer gewissen Coffeeshops sind zu bizarren Orten der te positiv ausfallen, lässt sich damit in Brüs-
Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ganz juristischen Transformation geworden: Was sel für eine einheitliche EU-weite Cannabis-
ähnliche Fabriken könnte es bald ebenso in legalisierung werben.« Ob sich die EU-Kom-
Deutschland geben, denn auch hier soll es mission und andere Mitgliedstaaten davon
laut der Berliner Regierung noch festzulegen- werden beeindrucken lassen, bleibe aller-
de Modellregionen geben, in denen Cannabis dings ungewiss.
in Fachgeschäften testhalber an Erwachsene Fred van de Wiel, 61, hält das Legalisie-
verkauft wird. rungsexperiment für einen historischen Wen-
Fyta ist Teil eines nationalen Legalisie- depunkt – für das Land und sich selbst. Der
rungsexperiments, das in Kürze starten soll. Geschäftsführer von Fyta will mit seinem
Ab Oktober soll die Firma die lokalen Coffee- Musterbetrieb belegen, dass industriell ge-
shops in den Großstädten Breda und Tilburg fertigtes Cannabis ein achtbares Qualitäts-
probeweise mit hygienisch einwandfreiem, produkt sein kann, gar nicht so anders als
qualitativ hochwertigem, staatlich kontrol- professionell gezogene Gurken oder im Rein-
liertem Cannabis beliefern. Deren Kundschaft raum gefertigte Computerchips.
wird unter mehr als 40 Varianten wählen kön- Die Parallelen zu deren Produktion sind
Peg gy van Mosselaar / DER SPIEGEL

nen, darunter so Sorten wie »Amnesia Haze«, frappierend. Wer die fensterlose Anlage von
»Skittelz«, »Gelato« oder auch »Mimosa X Van de Wiel betritt, muss sich zunächst die
Bloodorange Tangie«, sowohl Haschisch (das Hände desinfizieren, einen Laborkittel anzie-
Harz der Pflanze) als auch Marihuana (ge- hen (mit vernähten Taschen), ein Haarnetz an-
trocknete Blüten). Fyta ist vertraglich ver- legen, die Schuhe mit Überziehern versehen.
pflichtet, pro Jahr mindestens 3500 Kilo- Eine Treppe führt hinunter in einen breiten
gramm auszuliefern. Gang. Hier reihen sich dicht an dicht eine Viel-
Die Firma und Abgesandte mehrerer Mi- zahl von Klimakammern. Kameras zeichnen
nisterien haben sich über Monate zusammen- Cannabismanager Van de Wiel auf, was in jedem Winkel des Gebäudes passiert

96 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WISSEN

auf Hochtouren laufen soll, werden


es mehr als 100 sein.
Dann, mit Beginn des geregelten
Handels in Tilburg und Breda, wird
die Firma auch erste Umsätze sehen.
Bisher hat sie noch kein Gramm Cof-
feeshopgras verkaufen dürfen, und
daher macht sie derzeit laut Van de
Wiel pro Monat eine halbe Million
Euro Verlust.
Einige der Mitarbeitenden haben
Fächer wie Biologie oder Pflanzen-
zucht studiert. Andere haben ihr
Wissen von der Pike auf erlernt – im
Untergrund: Ein 31-Jähriger erzählt
frei heraus, dass er jahrelang zu
Hause Marihuana angebaut habe.

Ilvy Njiokiktjien / The New York Times / Redux / laif


Weitere Jahre habe er in Coffeeshops
zugebracht. Jetzt ist er ein gefragter
Spezialist für Cannabisproduktion
und Cannabiskultur. »Wir können
nicht nur mit Wissenschaftlern arbei-
ten, ohne dieses Erfahrungswissen
geht es nicht«, sagt Van de Wiel.
»Das Geheimnis steckt in der Sym-
biose.«
Mit Fabrikcannabis, dem nicht
mehr der Ruch des Verbrechens an-
haftet, hofft Van de Wiel das Image
– und all diese Bilder sind stets zugäng- zum richtigen Moment exakt das, was Coffeeshop der Substanz zu verbessern. Eine
lich für die Behörden, niemand kann sie brauchen: die passende Lufttem- in Amsterdam: »Normalisierung« wünscht er sich,
Nationales
hier so leicht Cannabis verschwinden peratur und Luftfeuchtigkeit, die rich- Legalisierungs-
die selbst in den Niederlanden noch
lassen. tige Dosis Licht, die ideale Menge experiment ausstehe. Cannabis sei für viele eine
Die Schatzkammern der Anlage CO². Gleiches gilt für die Zufuhr von geeignete Alternative zum Alkohol.
sind vier Räume von je etwa 70 Qua- Wasser und Nährstoffen wie Stick- Quer durch alle Schichten, »vom
dratmeter Größe. Hier stehen die so- stoff, Phosphor, Kalium, Schwefel Arbeiter bis zum Anwalt«, werde
genannten Mutterpflanzen im Kunst- oder Magnesium. »Die richtigen Wer- konsumiert, ob legal oder illegal. Was
licht. Aus ihnen geht die gesamte te haben wir im Trial-and-Error-Ver- immer Gegner der Legalisierung jetzt
Produktion hervor, denn schneidet fahren ermittelt, dafür gibt es keine noch an Argumenten ins Feld führ-
man ihnen einzelne Zweige ab und Lehrbücher«, sagt Van de Wiel. ten, es sei sinnlos: »Cannabis ist hier,
pflanzt sie in ein Nährmedium, ent- Computer und unzählige Sensoren und es geht nicht mehr weg. Nie-
steht ein geklonter Steckling. steuern die Prozesse. Das eingesetzte mals.«
Jeder dieser Klone, so verlangt es Wasser wird aufgefangen, gesäubert Weil das so ist, schmiedet Van de
der Staat, bekommt sogleich einen und wiederverwendet. Die ganze An- Wiel bereits Pläne für Wachstum jen-
QR-Code verpasst, der immer bei dem lage wirkt nicht nur sauber, sondern seits der Grenze. Der Unternehmer
Gewächs bleiben wird, auch dann, fast schon manisch rein. verfolgt genau, wie sich das Nachbar-
wenn daraus ein fertiges Cannabis- Der Einsatz von Pestiziden ist bei land gerade in seiner Drogenpolitik
produkt im Coffeeshop geworden ist. allen Firmen, die Cannabis im Staats- bewegt. Sobald es möglich erscheint,
Im Internet wird der Steckbrief dieser auftrag herstellen, streng verboten. will er versuchen, eine Kopie seiner
codierten Pflanze gespeichert: Wer sie Schädlinge sollen am besten gar nicht Cannabisfabrik in einer der kommen-
wann und wo hergestellt hat, Test- erst in die hermetisch abgeriegelte den Cannabismodellregionen von
ergebnisse aus dem Labor, Transport- Anlage eindringen können. Wenn es Deutschland zu errichten. Der Anteil

500
wege. aber doch geschieht, etwa weil das Ei der Cannabisnutzer an der Bevölke-
In den umliegenden Räumen rei- einer Spinnmilbe an einem Hosen- rung liegt in Deutschland mit 8,8 Pro-
fen die Pflanzen heran, rund einen bein klebend eingeschmuggelt wurde, zent noch etwa einen Prozentpunkt
Meter ragen sie hoch bei der Ernte werden Nützlinge ausgebracht, um Tonnen höher als in den Niederlanden. »Ich
nach drei Monaten. Ganz hinten der die Erntevernichter auf biologische habe den Eindruck«, sagt Van de
Trockenraum, wo die Blüten sich Weise zu erledigen. Cannabis Wiel, »dass Berlin die Größe des
durch Wärmezufuhr in Marihuana Wie ein stolzer Winzer führt Van deutschen Marktes noch sehr unter-
verwandeln; hier riecht es über- de Wiel durch die Anlage, in die 27 werden in schätzt.«
wältigend wie auf einem Reggae- Millionen Euro Investorengeld geflos- den mehr Der Cannabismanager aber un-
festival auf Jamaika – oder wie an sen sind. »Der Anbau erfordert sehr terschätzt vielleicht seinerseits, wie
einem Sommertag im Görli-Park in viel Erfahrung«, erzählt er. »Es sieht
als 570 nieder- langsam deutsche Prüfverfahren sind.
Berlin. einfach aus, aber es ist alles andere ländischen »Bis in Deutschland das erste Gramm
Jens Schlueter / AFP

Nichts in dieser Fabrik wird dem als das.« Seit Juli 2022 ist die Fabrik Coffeeshops Gras über den Ladentisch geht«, so
Zufall überlassen. Je nach Wachs- im Testbetrieb, rund 50 Mitarbeiter Kriminologe Hofmann aus Maastricht,
tumsstadium bekommen die Pflanzen sind inzwischen darin beschäftigt, pro Jahr »wird es noch Jahre dauern.«
nach fein ausgeklügelter Rezeptur und im Herbst, wenn die Produktion verkauft. Marco Evers n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 97


WISSEN

Wasserstoff wird
durch Elektrolyse aus
Strom für den Wasser gewonnen.
Prozess kommt
aus erneuerbaren
Energien.

DAS Wasserstoff-
import für

GROSSE H₂-READY-
zusätzlichen
Bedarf

Verbraucher heizen
mit umgerüsteten
Gasthermen. MÄRCHEN
für Wasserstoff-
transport geeignetes
Erdgas-Fern- und
-Verteilungsnetz
S Grafik


HEIZWENDE  Die Bundesregierung setzt bei der »Wärmewende« auch auf wasserstofffähige Gasheizungen.
Dabei gilt für Wasserstoff zum Heizen das Gleiche wie für E-Fuels im Auto: Er ist kaum
verfügbar, teuer, ineffizient – und ob die Technologie sich jemals durchsetzt, ist nicht absehbar.

W
er kennt sie nicht, die Knallgasprobe! bei Holzheizungen – gar kein Schornstein liarden an Steuergeldern, obwohl die Technik
Wasserstoff wird in einem Reagenz- mehr rauchen. Das steht im neuen Gebäude- nach allen Einschätzungen weit abgeschlage-
glas aufgefangen und dann an eine energiegesetz, das am Mittwoch im Kabinett ner Außenseiter ist? Oder geht es eher darum,
Flamme gehalten. Wenn dabei nur ein Plop- beschlossen wurde. Heizen mit Erdgas noch jahrelang zu ermög-
pen ertönt, ist der Nachweis für reinen Was- Wenn Hausbesitzer nicht auf die bisher lichen?«
serstoff erbracht. Pfeift oder knallt es jedoch, erhältlichen Alternativen wie Wärmepumpen Das Potenzial für dieses fossile Einfallstor
hat sich das Gas bereits mit Sauerstoff ge- oder Pelletheizungen umrüsten wollen und ist groß: Rund die Hälfte aller Haushalte in
mischt und reagiert entsprechend heftig. Fernwärme keine Option ist, bleiben ihnen Deutschland wird mit Erdgas beheizt. Doch
Bislang begegnete den meisten Deutschen nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Netz- noch ist vollkommen unklar, ob die H²-­ready-
Wasserstoff vor allem im Chemieunterricht. betreiber sorgt dafür, dass sein Gas zukünftig Technologie jemals großflächig Einzug halten
Das dürfte sich rasch ändern, der Stoff ist be- über Zertifikate oder durch Einspeisung zu wird. Und bislang sind auch derlei Geräte
gehrt: Für seine Herstellung benötigt man nur 65 Prozent aus Wasserstoff und Biogas be- nicht verfügbar. Der SPIEGEL hat mehrere
Wasser und Strom, daraus wird ein universal steht. Oder sie schaffen sich eine sogenannte große Heizungshersteller befragt. Einhellige
einsetzbarer, im besten Fall sauberer Ersatz H²-ready-Heizung an: Diese Zwitter sollen ­Rückmeldung: 2024 wird es keine H²-ready-­
für klimaschädliche Brennstoffe wie Öl, Koh- zunächst weiter mit fossilem Erdgas heizen Heizungen geben, sondern frühestens 2025.
le und Erdgas. können – und später auf den Betrieb mit Was- Einige Firmen erklärten, dass niemand
Ganz Europa ist im Rausch des Wunder- serstoff umgestellt werden. wirklich wisse, ob es jemals eine Nachfrage
gases – manche nennen es schon liebevoll Kritiker sprechen von einem Schlupfloch gebe.
den »Champagner der Energiewende«. Die für Erdgas, was den Wünschen der FDP ent- Auch andere Experten zweifeln am H²-
Verheißung ist so groß, dass es überall ver- gegenkommt. Denn mit den H²-ready-Ge­ ready-Konzept. Ähnlich wie die syn­thetischen
plant wird: In der chemischen Industrie und räten können Eigentümer die 65-Prozent-­ Kraftstoffe für das Auto könnte Wasserstoff
in Stahlwerken sowieso, für Schiffsantriebe, Vorgabe umgehen und weiter ungehindert fürs Heizen schlicht zu teuer oder gar nicht
manche glauben sogar an das Wasserstoffauto klimaschädliches Erdgas verfeuern – zu 100 verfügbar sein. »In der Wissenschaft hält es
– und nun soll H² auch für die Wärme an kal- Prozent. »Es ist recht eindeutig, dass Gas- fast niemand für sinnvoll und praktikabel,
ten Winterabenden sorgen. unternehmen damit versuchen, ihr Geschäfts- Wasserstoff in Heizungen einzu­setzen«,
In 22 Jahren will Deutschland klimaneutral modell zu verlängern, unabhängig davon, ob meint Energieexperte Pfluger. Er forscht seit
sein, das Kapitel fossile Brennstoffe abschlie- Wasserstoff kommt oder nicht«, sagt Benja- Jahren an Innovationen für die Energie­
ßen. Ab 2024 geht es daher Öl- und Gashei- min Pfluger von der Fraunhofer-Einrichtung wende. Insgesamt sei seiner Ansicht nach die
zungen an den Kragen: Bei neuen Geräten für Energieinfrastrukturen und Geothermie. Idee der Technologieoffenheit für viele Be-
muss der Anteil von erneuerbaren Energien »Man darf sich schon fragen, was das eigent- reiche ein guter Ansatz, hier aber realitäts-
bei 65 Prozent liegen – maximal 35 Prozent liche Ziel ist: Geht es wirklich darum, das fern.
der Wärme dürfen mit fossilen Energieträgern Rennen für Heizen mit Wasserstoff ernsthaft Läuft die Ampel mit dem neuen Gebäude-
erzeugt werden. Ab 2045 darf dann – außer offenzuhalten, mit viel Aufwand und Mil­ energiegesetz also in die nächste Technik-

98 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


WISSEN

5
Sackgasse? Was passiert, wenn sich Der Switch mit Wärmepumpen, würde nur ein
Millionen Haushalte künftig H²-rea- Auch die Umstellung ganz auf Was- Windrad gebraucht, rechnet der
dy-Gasthermen anschaffen wollen, serstoff – spätestens im Jahr 2045 – Thinktank Agora Energiewende vor.
die es nicht gibt? Oder, noch schlim- wird eine Herkulesaufgabe. Damit Agora schätzt, dass Deutschland bis
mer, wenn sie sich die Thermen an- sie gelingen kann, müssen alle Gas- Windräder 2045 rund zwei Drittel des benötigten
schaffen – die aber noch jahrzehnte- kunden über eine H²-ready-Heizung Wasserstoffs importieren muss – H²-
lang mit Erdgas betrieben werden? verfügen. An einigen Gas-Wärmenet- erzeugen den Heizungen noch gar nicht mitgerech-
Die wichtigsten Fakten zur Was-
serstoffheizung in sechs Punkten, von
zen sind mehr als 100.000 Kunden
angeschlossen. Jeder einzelne Brenn-
Wasserstoff net. »Wasserstoff wird für Heizungen
zunächst lange nicht vorhanden sein
der Therme bis zur Sicherheit: kessel muss ausgetauscht werden – für Heizungen und später dann zu Preisen, die nie-
und zwar möglichst alle gleichzeitig. in 1000 Haus- mand bezahlen will«, schätzt deswe-
Die Endgeräte Wer nicht austauscht, bei dem bleibt gen Fraunhofer-Experte Pfluger.
Zwar sei die Entwicklung von H²-rea- die Heizung kalt. Es gilt das Entwe-
halten.
dy-Heizungen kein »Hexenwerk«, der-oder-Prinzip. Hinzu kommt: Vor Quelle: Thinktank Die Sicherheit
versichern die Hersteller. Die Geräte einer Komplettumstellung müssen die Agora Energiewende Schon im Chemieunterricht war klar:
seien im Grunde normale Gasther- Netze durchspült werden, erklärt Enis Wasserstoff gemischt mit Sauerstoff
men, deren Brennkessel austauschbar Askar von der Bundesanstalt für Ma- heißt nicht umsonst Knallgas. Da­
sei. Stellt der Gasversorger auf Was- terialforschung und -prüfung (BAM). rüber, wie riskant Wasserstoff in
serstoff um, reiche ein Handwerker- »Das ist technisch machbar, dauert Wohnungen, unter Kindergärten oder
termin von ­wenigen Stunden, um aber eine gewisse Zeit.« Krankenhäusern ist, wird bisher
aus H²-ready eine echte H²-Heizung kaum gesprochen. Damit es zur Ex-
zu machen. Viessmann und Vaillant Die Netze plosion kommt, muss sich das Gas in
unterhalten Testzentren in Deutsch- Zudem ist bislang unklar, ob die einem Raum in einer bestimmten
land, Bosch hat Geräte in Pilotpro- ­Leitungen Wasserstoff genauso gut Konzentration sammeln, dann reicht
jekten in Großbritannien verbaut. vertragen wie Erdgas. Wegen seiner ein Funke. Die nötige Mindestzünd­
Keiner der Hersteller vermag einen geringen Dichte diffundiert das Gas energie ist niedriger als bei M ­ ethan.
genauen Zeitpunkt für die Marktein- leichter in Metalle hinein und kann Es kann also theo­retisch schneller zu
führung zu nennen. Allenfalls heißt Risse erzeugen. Im schlechtesten Fall einem Unfall kommen.
es vage: »Wahrscheinlich zwischen müssen die Rohre neu verlegt wer- Auch bei Erdgas kommt es immer
2025 und 2026.« den. Der Deutsche Verein des Gas- mal wieder zu Explosionen durch
und Wasserfaches erklärt zwar, dass ­Leckagen oder unvorsichtiges Ver-
Beimischung die »deutschen Leitungen bereit für halten. »Das wird in der Öffentlich-
Zukünftigen Käufern könnte eine Wasserstoff« sind. Allerdings hat der keit zwar wahrgenommen, aber des-
Vorgabe des neuen Gesetzes zum Verein nur ein paar Probestücke ge- wegen wird Erdgas nicht infrage ge-
Verhängnis werden: Bereits 2030 testet – im Labor. Die BAM errichtet stellt«, sagt Enis Askar von der BAM.
müssen demnach die Heizungen zurzeit eine Testplattform, mit der die Auch Unfälle mit Wasserstoff seien
50 Prozent Wasserstoff oder andere Sicherheit von Rohrleitungen, Kom- künftig nicht völlig auszuschließen,
­grüne Gase verbrennen, 2035 einen ponenten und Dichtungen im Real- auch wenn die Technologie grund-
Anteil von 65 Prozent. Zwar kann der maßstab getestet werden kann. Der sätzlich marktreif ist. Nicht nur in den
­örtliche Gasversorger Wasserstoff Ausgang der Versuche ist offen. Wohnhäusern, sondern in der gesam-
beimischen – je nach Hersteller ten Versorgungskette (siehe Grafik)
­ver­t ragen moderne Gasthermen Die Verfügbarkeit müssten daher höchste Sicherheits-
schätzungsweise einen H²-Anteil von Auch ist fraglich, ob je ausreichend standards gelten. »Sonst verspielen
20 bis maximal 30 Prozent. Eine Wasserstoff durch das Netz fließen wir die Akzeptanz in der Bevölke-
­höhere Quote ist technisch nicht wird. Der Energieaufwand für die rung«, so Askar.
­möglich, da beide Gase nur bis zu Herstellung des Gases ist gigantisch: Wie realistisch sind also die hehren
­diesem Wert gemeinsam verbrannt Fünf mittelgroße Windräder werden Pläne der Bundesregierung in Sachen
Techniker bei
werden können. Weil Wasserstoff benötigt, um 1000 Haushalte mit Gasdruckprüfung:
Heizungswende? »Bei H²-ready-Hei-
einen geringeren Heizwert als Erdgas Wasserstoff zu beheizen. Versorgte Kein Schornstein zungen gibt es einfach viel zu viele
hat, bedeuten 30 Prozent Wasser- man die gleiche Anzahl an Heimen soll mehr rauchen Konjunktive«, resümiert Forscher
stoffbeimischung de facto jedoch nur Pfluger. »Selbst wenn die Netzbetrei-
rund schlappe 13 Prozent erneuer- ber alles hinbekommen, die Sicher-
baren Heizanteil. Das verschweigen heit garantiert ist und sich Hundert-
Gasunternehmen lieber, wenn sie für tausende die H²-ready-Geräte an-
die Beimischung werben. schaffen – was ist, wenn das Heizen
Die schrittweise Umstellung ist damit 2035 plötzlich fünfmal so teu-
deshalb kaum machbar. Denn auf er ist?« Angesichts dieser Unwägbar-
50 Prozent – so wie es das Gesetz keiten befürchtet Pfluger hinter dem
ab 2030 vorschreibt – kommen die Etikett »H²-ready« eine groß ange-
Geräte wegen der begrenzten Beimi- legte Fehlplanung, für die am Ende
schung ohnehin nur, wenn ganz auf wieder der Steuerzahler geradestehen
Wasserstoff umgestellt wird. »Und muss. »Dann müssen Förderprogram-
Ruper t Oberhäuser / IMAGO

das ist so gut wie unmöglich«, urteilt me für einen Umbau oder Ener­gie­
Fraunhofer-Experte Pfluger. In sieben preis­deckel für den Wasserstoff her,
Jahren gebe es sicher noch keine Ver- weil die Heizungen sozial nicht trag-
sorgung mit Wasserstoff im großen bar sind und wieder ausgebaut wer-
Stil. Ähnlich äußern sich auch Her- den müssen.«
steller wie Vaillant. Susanne Götze  n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 99


KULTUR

Ehemaliger
Netflix-Chef Reed
Hastings

ZUMA Wire / IMAGO


Die Krux des Fortschritts
HEIMKINO Netflix will keine DVDs mehr versenden – und beendet damit jenes Geschäft, das den Konzern einst
groß machte. Ein Debakel für die Kunstform Film.

V or 25 Jahren war das eine Revolution


in Sachen Kundenservice und Ge-
schwindigkeit: Einmal per Mail be-
stellt, lag eine DVD innerhalb weniger Tage
kann. Streaming ist auch das Versprechen
eines unendlichen Stroms des immer Neu-
en, noch nie Gesehenen. Wer wollte, könn-
te nicht 2, sondern 200 Filme an einem
­ avid Cronenberg »neu interpretiert«, wie
D
es so schön heißt – das Original von 1988
aber sucht man im Streaming-Universum
vergebens.
im Postkasten des Empfängers. Wer das Abend ausleihen. Aber natürlich kommt Das zeigt auch: DVDs waren und sind
Premium-Abo abschloss, konnte – und auch dieses Fortschrittsversprechen mit bis heute doch mehr als eine Kuriosität
kann bis heute – sogar zwei Filme auf ein- einer Krux. In diesem Fall ist sie beinahe der Unterhaltungstechnik. Auf ihnen lebt
mal ausleihen. So begann 1997 die Ge- poetisch, auf eine traurige Art: Film, diese Filmgeschichte, wurde dazu noch häufig
schichte von Netflix: Die Firma aus dem mit der Entwicklung der Technik aufs ­liebevoll verwaltet, mit wertig gestalteten
­Silicon Valley war zunächst nichts anderes ­Engste verbundene Kunst, entpuppt sich Editionen samt mehrerer Audiokommen­
als ein Versanddienstleister für DVDs. heute immer häufiger als so flüchtig wie tare und Dokumentationen. Vielleicht ist
Heute aber verhält sich diese Art des die Träume, die er in Bilder kleidet. Kon- es ja sogar ein Zeichen einer großen Zu­
Filmkonsums fast wie Spotify zur Schall- kret: Wo bleibt die Geschichte der Film- neigung zum Film, dass Netflix den DVD-
platte. Netflix stellt den Service Ende kunst, wenn nur die Aktualität tost? Auf Versand in den USA immerhin noch bis zu
­September ein. Heute wird schließlich den großen Playern im Streamingmarkt diesem Jahr pflegte. In Deutschland wurde
­gestreamt, bis das WLAN glüht. Jede ist sie jedenfalls kaum zu finden. der postalische DVD-Verleih Lovefilm
­Woche neue Serien, Shows, Dokus, Filme – Bald startet eine Serie, die das Horror- vom Konkurrenten Amazon schon 2017
mehr, als ein Mensch jemals anschauen großwerk ­»Die Unzertrennlichen« von eingestellt. KAE

100 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


Überirdische Kräfte digitalen Welt eigene ästhetische
Grenzen. Der wilden, figuren-
AUSSTELLUNGEN  Außerhalb reichen und temporeichen Vi-
des klassischen Kunstbetriebs deospielästhetik anderer Inter-
hat Rafaël Rozendaal längst eine netkünstler setzt er die eher
Fangemeinde. Allmählich ent- ­ruhige Klarheit seiner abstrakten
decken den niederländisch-­ Kompositionen entgegen.
brasilianischen Internetkünstler Man erkennt seine Liebe für die
aber auch traditionelle Institu- Kunst des 20. Jahrhunderts, er
tionen wie das Essener Folk- hat eine Hommage an den Bau-
wang-Museum, das ihm jetzt hauskünstler Josef Albers ge-
eine Ausstellung widmet. Und schaffen, anderes erinnert an die
diese Entwicklung ist folgerich- Avantgardekunst der Sechziger-
tig. Denn der in New York le- jahre. Fast könnte man ihn
bende, 42 Jahre alte Rozendaal einen Konzeptkünstler alter

Rafaël Rozendaal
überführt mithilfe seines Com- Schule nennen. Sein Programm
puters eine vertraute und im ist es, das Chaos des Internets
Grunde sogar museale Bilder- zwar zu begrüßen, aber doch
welt in die Zukunft. Als er noch Rozendaal-NFT »Fear of Choice«, 2021 Ordnung zu schaffen. In Essen
studierte, mochte er das Fach soll seine Internetmalerei jetzt
Ölmalerei nicht, schon wegen tionen nicht auf Leinwänden, Werke kommt einem über­ also in einem althergebrachten
der tropfenden Farben, auch sondern auf Bildschirmen. Dort irdisch vor. Zugleich wirkt Museum zu sehen sein – dort
war er kein Freund von Terpen- können sie sich verändern, sozu- ­Rozendaals Ästhetik nie über- soll der Besucher dank der Viel-
tin. Und irgendwie ist er den- sagen lebendig werden, sie tre- fordernd, eher fokussiert. So zahl an Displays aber das Ge-
noch ein echter Maler geworden, ten in eine neue Dimension ein. schafft er sich in der unend­ fühl haben, Rozendaals eigene
nur erscheinen seine Komposi- Auch die Leuchtkraft einiger lichen und unendlich vielfältigen digitale Welt zu betreten. UK

Retro-Schwelgerei Gabe ein Verbrechen auf. Ein Roher Zauber ter Künstler oder hadernde
Fall pro Episode wird so bei Kleinselbststän­dige ist. Und
TV-SERIEN  »Bullshit!« Das »Poker Face« gelöst, der ersten LITER ATUR  Der stumpfe wie außerdem verheiratet.
sagt Charlie (Natasha Lyonne), von »Knives Out«-Mastermind der spitze, der helle wie der Der rohe Zauber dieses Kon­
wenn sie merkt, dass jemand Rian Johnson konzipierten dunkle Wahnsinn der Beziehun- versationsbuches besteht
lügt, und sie sagt es häufig. Fernsehserie (ab 24. April bei gen im Internet: hier als Buch. nun eben darin, dass es keine
Denn Charlie hat die Gabe, Sky und Wow). Es ist ein Rhyth- Ob die Protagonisten dieses ro- Außenperspektive gibt. Die
jede Unwahrheit zu erkennen. mus wie in alten »Derrick«-­ mantischen Dramas wirklich ­Leser wissen nicht mehr, als
Beruflich beschert ihr das kein Zeiten. Überhaupt gönnt sich Undine und Albert heißen? Sie die Sprecher von sich preis­
Glück. Als sich ihr Talent an »Poker Face« viel Retro- nennen sich jedenfalls so. Ver- geben, und so sind sie, mal mit­
Pokertischen herumspricht, darf Schwelgerei und lässt seine handeln miteinander, zufällig entflammt, mal solidarisch oder
sie nicht mehr spielen. Und herrlich räudige Hauptdarstel­ verbunden auf irgendeiner So­ ­geradezu elternhaft besorgt,
auch mit ihrem Job als Kellnerin lerin Lyonne in Siebzigerjahre- cial-Media-Seite, welche Musik mit in der Kabine bei dieser
in Las Vegas ist es vorbei, als sie klamotten durch ein golden sie gern hören oder was in einer Achterbahnfahrt. So hilflos, so
einen Mord und einen Betrug ­ausgeleuchtetes Amerika fah- Eltern-Kind-Gruppe so abgeht, auf ihre Projektionen angewie-
im Casino aufdeckt – und ihren ren. Richtig spannend wird es was in der Jugend toll war und sen wie diese Frau und dieser
Chef ruiniert. Er engagiert selten, tolle Gastauftritte, beängstigend, mit wem man am Mann, die sich nach drei Jahren
einen Killer, der sie durch die etwa von Hong Chau, gleichen besten streitet, warum das Wort virtuellem Hin und Her zu
USA jagt. Die einzige Spur, die Schwächen aber oft aus. »Nacktschnecken« rührt. Zu- einem analogen Showdown
die Charlie hinterlässt, sind Ist »Poker Face« eine richtig nächst werden sie, durch die treffen – mit allen Sinnen, aber
­jedoch aufgeklärte Mordfälle. gute Serie? Bullshit! Aber gut Mitleserinnen und Mitdiskutan- natürlich fast ohne Verstand.
Denn überall, wo sie Station genug für einen Krimiabend ten, beobachtet und sind so Dass das Fragment erschüttern
macht, deckt sie dank ihrer pro Woche allemal. HPI auch geschützt vor dem Durch- kann, mehr als das Ganze, weiß
bruch der Affekte. Irgendwann man seit unserer Rezeption der
machen sie sich dann – per pri- Antike. Hier ist diese Erfahrung
vate message – Geständnisse. noch einmal zu machen, virtuos
Mitten in der Nacht am Bild- in Tempo, Sprache, sozialer Ge-
schirm, halb betrunken oder nauigkeit. Und mit dem, was
ganz. Angetörnt, berührt, ge- bei der Antike eben kaum oder
fangen von der eigenen Imagi- nicht mehr
nation und dem lange vermissten mitzufühlen
Gefühl, dass es – am anderen ist: Humor,
Ende dieses virtuellen Nerven- Selbstironie –
systems – einen Menschen gibt, und Gegen­
der sich interessiert. Existen- wärtigkeit. RED
ziell, vorbehaltlos. An den man
hinschreiben kann, was nicht in Ulrike Schrimpf:
Peacock / Sky

den Alltag passt, weil einen da »Lauter Ghosts«.


Literatur Quickie;
ja alle kennen. Und weil man da 152 Seiten;
Lyonne, Suri
auch Mutter, Vater, gescheiter- 22 Euro.

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 101


KU LT U R

Yo g i R u b i n : S c h w e b e n s t a t t s t r a m p e l n

Matthias Roeckl / DER SPIEGEL

102 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


KU LT U R

Der Popstar-Guru
KARRIEREN  Der legendäre Musikproduzent Rick Rubin verfügt über die Gabe, kreative Höchstleistungen
aus Menschen herauszukitzeln. Über seine Methoden hat er nun einen
Selbsthilferatgeber geschrieben, der perfekt zur heutigen Arbeitswelt passt. Von Philipp Oehmke

und ins Schweben zu kommen. Vom über- Inzwischen, erzählt Rubin, ernährt er sich

E
gewichtigen, sich hinter langen Haaren, Voll- fast ausschließlich von Fleisch. Gesalzenes
bart und Sonnenbrille versteckenden Musik- Biofleisch von Weiderindern, gegrillt oder
nerd aus einem New Yorker Vorort zum Guru getrocknet. »Carnivore diet« heißt diese sehr
für die talentiertesten Musiker unserer Zeit. kalifornische Ernährungsform, Fleischfresser-
Sie alle kommen zu dem Produzenten, um diät. Es sei schwer gewesen, ekelhaft gar, sich
zu lernen, ein bisschen weniger zu strampeln, wieder an den Verzehr zu gewöhnen; als wür-
zuletzt war Paul McCartney da. de man plötzlich zum Kannibalen.
Rubins Musikstudio Shangri-La ist in einer Wie viele spirituelle Menschen versucht
ehemaligen Ranch untergebracht, in den Rubin stets, »im Moment zu sein«, wie das
­Hügeln Malibus knapp über dem Pazifik, wohl heißt. Das bedeutet für ihn, dem Gegen-
60 Kilometer westlich von Los Angeles. In über nicht nur volle Aufmerksamkeit, son-
den Siebzigerjahren hatten Bob Dylan und dern auch Liebenswürdigkeit zuteilwerden
die Musiker von The Band die Ranch gepach- zu lassen. Er geht in dieses zweistündige Ge-
tet und nach den präzisen Vorstellungen Bob spräch, als sei es keine Belästigung, sondern
Er habe gerade eine neue Schwimmtechnik Dylans ein Studio darin errichtet. Dylans a­ lter eine Bereicherung für ihn, eine Haltung, die
gelernt, sagt Rick Rubin, als er vom Zuma Tourbus steht heute noch im Garten der nicht selbstverständlich ist bei solchen Ter-
Beach die Hügel Malibus wieder herauf- Ranch, in ihm ist mittlerweile auch ein Ton- minen. Seine Stimme hat ein weiches Timbre.
kommt. Es sei mit das Schwierigste gewesen, studio eingerichtet, darin habe zum Beispiel Rubins einzige Bedingung ist, in der prallen
was er in seinem Leben versucht habe, und Kanye West am liebsten aufgenommen, sagt Sonne sitzen zu können. Dabei wirkt seine
er hat einiges versucht in seinem Leben, das Rubin. Haut im Gesicht und auf der Glatze schon ma-
meiste davon wurde scheinbar anstrengungs- Er zieht seine Gummi-Crocs aus und setzt ximal gebräunt. Ihm scheint der Mix aus den
los zu großer Kunst. Die Erfindung der Beas- sich barfuß im Schneidersitz auf einen der täglichen Rationen von Sonne, Salzwasser,
tie Boys, die Sessions mit Johnny Cash, die Holzgartenstühle. Er hat bestimmt 20 oder Meditation und Fleisch sichtlich gut zu tun.
Extremmusik von Slayer, die Explosion der 30 Kilogramm Gewicht verloren, seitdem wir Ohne den langen weißen Bart würde man Ru-
Red Hot Chili Peppers, die Wiederbelebung uns das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen bin für jünger als 60 halten. Er trägt dazu die
von Metallica oder Black Sabbath. haben. kalifornische Uniform der wirklich Reichen:
Aber 50 Jahre alte Bewegungsabläufe, ir- »Ja«, sagt er, »ich war 20 Jahre lang ein Shorts, fleckiges T-Shirt, Kapuzenjacke und,
gendwann als Kind auf Long Island bei New sehr übergewichtiger und kranker Veganer, wenn Schuhe sein müssen, eben Gummilat-
York erlernt, neu zu programmieren – das sei 145 Kilo. Viele andere Menschen sind mei- schen. Spätestens seit er in den Neunziger-
wirklich schwierig, sagt Rubin. netwegen damals Veganer geworden. Aber jahren den alt gewordenen, von Tabletten und
Die neue Technik nennt sich Total Immer- jetzt esse ich nur noch Fleisch.« Alkohol zerrütteten Johnny Cash von einem
sion Swimming und basiert auf der Annahme, Er erzählt, wie er bei einem tibetanischen Auftritt in einem Diner in sein Aufnahmestudio
dass sich Materie im Wasser am schnellsten Arzt war, der auch den Dalai Lama betreut. gelotst hatte, um ihn dort nur mit seiner Stim-
bewegt, wenn sie gleitet. Um gleiten zu kön- Der Arzt war laut Rubin in der Lage, sieben me und akustischer Gitarre die Seele seiner
nen, muss ein Schwimmkörper möglichst unterschiedliche Pulsschläge zu messen, das Songs neu entdecken zu lassen, gilt Rubin als
waagerecht auf der Wasseroberfläche liegen, sei seine diagnostische Methode. Nachdem der Flüsterer strauchelnder Musikstars. Ein
wie ein Surfboard. Doch Menschen, wenn sie er Rubins verschiedene Pulse ermittelt hatte, Seelendoktor für hochbegabte Musiker, bei
mit handelsüblicher Technik schwimmen, habe er gesagt: »Sie müssen auf der Stelle denen nichts mehr geht, weil ihnen nichts mehr
treiben schräg im Wasser, sagt Rubin, Kopf losfahren und sich Knochenbrühe besorgen.« einfällt, weil sie zu erfolgreich, zu unsicher, zu
oben, Beine hängen nach unten. Er habe also Rubin, empört: »Ich bin Veganer!« depressiv, von ihren Mitmusikern gelangweilt
lernen müssen, sich im Wasser zu strecken »Sie müssen. Sie sterben sonst«, habe der oder gleich mit ihnen zerstritten sind.
und die schnellen kurzen Bewegungen durch Tibetaner gesagt. Rubin konnte bisher immer helfen. Diese
raumgreifende Schwimmzüge zu ersetzen, Liste seiner Patienten ist unvollständig, sie
gefolgt von einer langen Gleitphase. Er habe reicht von Rap und Heavy Metal über Rock
es geschafft, zusammen mit einem Schwimm- bis zu Country: Beastie Boys, Run-DMC,
lehrer, und seitdem strampelt Rubin nicht LL Cool J, Public Enemy, Slayer, Metallica,
mehr durch den Pazifik, er schwebt. Vom übergewichtigen Nerd ­Danzig, Aerosmith, Red Hot Chili Peppers,
Vom Strampeln zum Schweben, das ist die
generelle Bewegung in Rubins Leben. Immer
zum Seelendoktor für Jay-Z, Kanye West, The Strokes, Black
­Sabbath, Tom Petty, Neil Young, Adele, Paul
ging es darum, das Strampeln zu reduzieren die talentiertesten Musiker. McCartney, Mick Jagger, U2, Neil Diamond,

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Ed Sheeran, Damien Rice, Lady Gaga, Lana A Way of Being« und wird unter Künstlern, Künstler sind, sondern wir alle. Menschen
Del Rey. Intellektuellen und Entrepreneurs aller Art könnten gar nicht anders, als Kunst zu schaf-
Eine beachtliche Liste, wenn man Rubin zwischen New York und Los Angeles gerade fen: die Golden Gate Bridge, das White Al-
hört, wie er sagt, er wisse nichts von Musik, sehr intensiv gelesen und diskutiert*. Am bum, Guernica, die Hagia Sophia, die Sphinx,
er könne kaum ein Instrument spielen, habe Abend vor dem Treffen hatten mich in einem das Space Shuttle, die Autobahn, »Clair de
von der Studiotechnik, die hier überall rum- Lokal für zu Millionären gewordene Hippies lune«, das Kolosseum in Rom, der Phillips-
steht – im Haupthaus, in Dylans rostigem Bus, in Venice Beach innerhalb weniger Minuten Schraubendreher, das iPad, das Philadelphia
in einer Scheune – keine Ahnung. Er wisse drei Fremde auf meine Lektüre von Rubins Cheesesteak: alles Kunst, schreibt Rubin.
bloß, was ihm gefällt und was nicht, dazu Buch angesprochen: Wie weit ich sei, ob es ­Alles Ausdruck menschlicher Kreativität.
habe er dezidierte Ansichten und Gefühle mich auch so inspiriere und ob Rubin nicht Jeder habe The Source in sich, doch in der
sowie die Fähigkeit, sie zu artikulieren. Die- der »große, weise Retter unserer Zeit« sei. modernen Welt wüssten die meisten Men-
se Eigenschaften hätten sich als hilfreich er- Zunächst muss man sagen, dass Rubins schen nicht mehr, wie man an sie heran-
wiesen für die Künstler, die zu ihm kämen. Buch nicht das geworden ist, was die meisten kommt. Um den Weg zu ihr freizulegen, be-
Vor ein paar Monaten, zum Beispiel, war erwartet hatten. Lange hatte es Gerüchte ge- dient sich Rubin verschiedener vor allem
Neil Young da. Als Rubin sechs Jahre alt war geben, der Produzent arbeite an einem Me- fernöstlicher Ansätze. So wie Mixed Martial
und Beatles-Fan wurde, hat Young, der für sei- moir, und natürlich hatten alle die große Er- Arts die effektivsten Kampftechniken ver-
ne Folkballaden genauso berühmt ist wie für zählung erwartet über die begabtesten Pop- schiedener Schulen zusammenführt, ent­
krachende Gitarrensounds, schon auf dem stars unserer Zeit, die Rubin so intim kennt. wickelt Rubin aus buddhistischen, konfuzia-
Woodstock-Festival gespielt. Nun, inzwischen Doch es fällt kein einziger Name, keine Anek­ nischen und ayurvedischen Methoden sein
77, war er in den Bergen Colorados wandern, dote wird erzählt. Stattdessen: ein philoso- »Tao«, sein »Zen« oder seine Management-
so erzählt es Rubin, und merkte dabei, dass er phisch-spirituelles Buch über Kreativität. Die strategie, wie immer man es nennen mag. Für

Target Press / ddp


Popstar Lana Del Rey 2012

Kevin Mazur / WireImage / Getty Images


Sebastian Piras / Redux / laif

Rubin mit den Beastie Boys 1986 Mit Jay-Z 2001 Mit Run-DMC 1986

manchmal vor sich hin pfiff. Er pfiff nicht viel Verlage, erzählt Rubin, hielten das für Wahn- seine Musiker im Studio hält er, wenn es mal
und auch nicht gut, aber es klang interessant. sinn. Da sitzt einer auf diesem Schatz an Ge- nicht weitergeht, unter anderem folgende
Die Melodien waren nichts, was er kannte. schichten über die großen Mythen unserer Übungen bereit, um Blockaden zu lösen: klei-
Young begann, sie auf seinem alten Aufklapp- Popkultur und ihrer allerfeinsten Protagonis- ne Schritte, nur noch eine einzige Zeile pro
telefon aufzunehmen und kam damit zu Rubin. ten und weigert sich, sie zu erzählen. Aber Tag schreiben, egal wie gut sie ist; die Um-
So etwas ist genau nach Rubins Geschmack, die Verlage merkten bald, dass Rubin nicht gebung ändern, zum Beispiel im Dunklen
die Verbindung zur Natur (Wandern) gepaart der Typ ist, der Kompromisse macht, warum spielen; für Ansporn sorgen und Publikum
mit einem gewissermaßen unerklärlichen sollte er auch? Er hat dann viele Jahre mit ins Studio einladen; die Relationen verändern,
­Moment von Genialität (wo kommen die verschiedenen Ghostwritern an dem Buch indem die Kopfhörer der Musiker auf volle
­Melodien her?). Die Lieder klangen nicht wie gearbeitet, und »es war viel schwieriger, als Lautstärke gedreht werden, was sie dazu
Neil-Young-Songs, »sie kamen von einem Ort mit Musikern Songs aufzunehmen«, sagt er. bringt, selbst ganz sacht und leise zu spielen.
außerhalb Neils«, hat Rubin bestimmt und »Schwieriger als im Studio mit den strei- Was herausgekommen ist, ist ein Selbst-
dann Young geholfen, aus ihnen ein Album tenden Musikern von Metallica?« hilfebuch für die globale kreative Elite, erzählt
zu machen. Es heißt »World Record«, wie »Ja.« in 78 kurzen Kapiteln. Dass es 78 wurden, war
»Weltrekord«, aber auch wie »Aufnahme der Das Buch sollte von »The Source« handeln, Rubin wichtig, weil die Zahl in irgendeiner
Welt«. Rubins Zugang ist mystisch und prag- der Quelle, die in jedem von uns existiert, wie seiner fernöstlichen Lehren eine gute Zahl ist.
matisch zugleich. überhaupt in allen Dingen und im kosmischen Die Titel der Kapitel reichen von »Gewahr-
Was er bei seiner Arbeit mit diesen Musi- Zusammenhang. Rubins Annahme ist, dass sein« über »Die Natur als Lehrerin«, »Selbst-
kern über Kreativität und ihre Freilegung er- nicht nur Johnny Cash oder Paul McCartney zweifel« bis »Das Prisma des Selbst«.
fahren hat, hat er nach all den Jahren nun in Es geht um Achtsamkeit, Einklang mit der
einem Buch zusammengefasst, das kürzlich * Rick Rubin: »kreativ. Die Kunst zu sein«. Aus dem Eng- Natur, unvoreingenommenes Zuhören und
erschienen ist. Es heißt »The Creative Act. lischen von Judith Elze. O. W. Barth; 416 Seiten; 24 Euro. das Vertrauen in das eigene Urteil – also um

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nichts, was man in anderen Selbsthilfe­ Intuition, Glaube, Körperlichkeit, Geschmack. »Aber energetisch war es ein gutes Gefühl«,
büchern nicht auch fände, nur hier kommt es Wie man dorthin kommt, dafür hält Rubin sagt Rubin. »Das wenige, das wir sprachen,
eben vom erfolgreichsten lebenden Musik­ verschiedene Wege parat, die sich, für ihn war freundlich. Aber ich hatte das Gefühl, es
produzenten und, wie das »Time Magazine« kein Problem, teilweise auch ausschließen. ging nicht darum, was gesprochen wurde.«
schon vor langer Zeit einmal schrieb, von Wer Regeln braucht, bekommt ein paar Leit­ Beim nächsten Treffen spielte Cash Rubin
einem der »100 Most Influential People«. planken: früh aufstehen, vor dem Blick auf in dessen Wohnzimmer auf der Akustikgitar­
Ganz offenbar hat Rubin damit einen Nerv den Bildschirm in die Sonne schauen, medi­ re all seine Songs vor, die ihm noch wichtig
getroffen. Er hat das Buch für eine postpan­ tieren, eine kalte Dusche (immer kalt, sagt waren. Rubin machte simple Aufnahmen als
demische Ära geschrieben, in der viele Men­ Rubin), dann eine klar abgesteckte Arbeits­ Erinnerungshilfe. Dann bestellte er eine Band,
schen ihre Lebensweise einer Revision unter­ zeit. Wer hingegen eher einen Grund braucht, die besten Studiomusiker plus Mitglieder der
ziehen. Weniger arbeiten, weniger fremdbe­ die Disziplin zu vernachlässigen, liest bei Red Hot Chili Peppers, und ließ sie einige der
stimmt sein, stattdessen mehr »bei sich« sein. Rubin, dass Regeln zu Durchschnittlichkeit Lieder mit Cash einspielen. Das Ergebnis war
In den USA spricht man von »The Great Re­ führen, die es für uns als die Künstler, die wir gut, sagt Rubin. »Aber was mich wirklich be­
signation«, was nicht nur große Resignation alle sind, natürlich zu vermeiden gilt. Sich an rührte, waren die Wohnzimmersessions. Nur
bedeutet, das auch, aber vor allem: die große Regeln halten kann die künstliche Intelligenz Johnnys Stimme und die Akustikgitarre.«
Kündigung, »The Big Quit«. Viele junge Men­ auch, sie brechen hingegen nicht. Er überzeugte den Countrystar, nur das
schen haben keine Lust mehr, zurückzukeh­ Es ist leicht, sich über Selbsthilfebücher aufzunehmen. »American Recordings« wur­
ren in die immer freudloser gestalteten Groß­ lustig zu machen. Aus dem Zusammenhang de das 81. Album von Johnny Cash und kam
raumbüros, um dort einen schlecht entlohn­ gelöst, klingen alle Ratschläge trivial. Doch im Frühjahr 1994 heraus. Es startete Cashs
ten Job mit ihrer mentalen Gesundheit zu die von Rubin sind erprobt, und zwar äußerst zweite oder dritte Karriere, gehört heute zum
bezahlen. Für sie ist es deswegen extrem at­ erfolgreich an den großen Schöpfern unserer Kanon des Great American Songbook und

Kevin Mazur / WireImage / Getty Images


Mit Lady Gaga 2014
Sebastian Piras / Redux / laif

Lester Cohen / Getty Images

Tolga Akmen / AFP


Mit Mick Jagger 1992 Sängerin Adele 2022

traktiv, Rubins Buch aufzuschlagen und zu Zeit. Johnny Cash spielte vor ein paar Hun­ zum Besten und Bekanntesten, was der eini­
lesen, dass sie sich auf ihre innere Stimme dert Zuhörern, als Rubin ihn 1993 aufsuchte. ge Jahre später verstorbene Sänger geschaffen
verlassen sollen, die sie zur Quelle ihrer Krea­ In einem Restaurant in einer Stadt südlich hat. Rubin hatte in Cash wieder das freigelegt,
tivität leiten wird. von Los Angeles, Richtung mexikanische was in seinem Buch heute »The Source« heißt.
Rubin justiert auf dem Holzstuhl mit mi­ Grenze. Während Cash dort seine Lieder sang, Zwei Stunden sind vergangen, die Sonne
nimalen Korrekturen seinen Schneidersitz. aß das Publikum dazu sein Abendessen. Nie­ hat die Gesichter von Interviewer und Foto­
Eine Stunde kalifornische Mittagssonne hat mand habe zugehört, erzählt Rubin, Cash grafen verbrannt. Rubin sagt, man solle jede
ihm bisher nichts angehabt. Es ist überhaupt hatte seit 20 Jahren keinen Song mehr auf­ Frage und jeden Gedanken äußern, bis alles
ein spezifisch kalifornisches Programm, das genommen und war bei zwei Plattenfirmen besprochen sei.
Rubin hier anbietet: Reduktion, Spiritualität, rausgeflogen. Später ging Rubin zu ihm. Cash Hat er wirklich so viel Zeit? Selbstver­
Selbstoptimierung und Naturverbundenheit, hatte keine Ahnung, wer Rubin war, doch sein ständlich nicht, sagt er, er habe jede Menge
alles gepaart mit Superreichtum. Es ist gna­ Manager hatte gesagt, er solle ruhig mal mit zu tun. »Meine Presseleute sagen immer, du
denlos modern und brutal reaktionär zugleich. dem merkwürdigen Mann mit dem langen kannst diese Interviews in 20 Minuten ab­
In dieser Szene, an deren Rändern auch Leu­ Bart reden, der bisher nur für Rap- und solvieren. Aber wir machen das hier doch,
te wie Elon Musk oder Peter Thiel verortet Heavy-Metal-Produktionen bekannt war. weil es uns wichtig ist. Wenn wir uns schon
werden können, wird seit einiger Zeit ver­ »Was können Sie denn mit mir vorhaben, treffen und miteinander sprechen, sollten wir
stärkt an der Frage rumexperimentiert, wie was nicht schon jeder andere Produzent ver­ das Beste rausholen, was möglich ist, oder?
im Angesicht zunehmender Digitalisierung sucht hätte?«, fragte Cash. Ich glaube nicht, dass es der Sinn des Lebens
der Mensch seine Rolle neu bestimmen kann. »Ich weiß es nicht«, antwortete Rubin. ist, gehetzt zu sein, wissen Sie.«
Und da landet man schnell bei den Dingen, »Einfach mal gucken, was passiert.« Und mit diesen Worten bleibt Rick Rubin
die die Konkurrenz von der künstlichen In­ Beim ersten Treffen in Rubins Wohnzim­ noch eine Weile in der Sonne sitzen, bis ir­
telligenz eben noch nicht draufhat: Gefühl, mer in Malibu hätten sie nicht viel geredet. gendwann tatsächlich alles gesagt ist.  n

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Franzen liest eine Stelle, in der Mi-


chas Freund »Frizz« – Wuschel im
Original – eine Spießrutenfahrt auf
seinem Klapprad auf sich nimmt, um
an eine der wenigen Originalpres­

Ost in Translation
sungen des Rolling-Stones-Doppel­
albums »Exile on Main Street« in
ganz Ost-Berlin zu kommen. Er häm-
mert an die Tür eines Kriminellen,
wird zu einem Hippie in Strausberg
ORTSTERMIN  Starautor Jonathan Franzen hat Thomas Brussigs »Am kürzeren weitergeschickt und schließlich zum
Ende der Sonnenallee« ins Englische übersetzt – fast 25 Jahre nach der Erstver- NVA-Soldaten Bergmann, der die
verbotene Westscheibe in der Hülle
öffentlichung. ­Alexander Demling war bei ihrer Lesung in San Francisco dabei. zweier Platten sowjetischer Armee-
chöre versteckt hat. Der aber hat
­seine Freundin versetzt, die mit ge-

A
lles begann mit dem sehr ge- öffneter Weinflasche in Unterwäsche
haltvollen, heute arg ange- auf ihn gewartet hat und ausrastet.
staubten Begriff »Assibräute- »She was so sex starved«, liest Fran-
aufreißer«. Der amerikanische Star- zen, »that she finished off the wine,
autor Jonathan Franzen pflegt eine and, cursing the army, still in her slip,
Vorliebe für Deutschland und den smashed the army recordings to
Detailreichtum deutscher Sprache, er ­smithereens.« Die Platte ist zerstört,
mag Thomas Mann, hat Karl Kraus der ganze Aufwand umsonst. Wie fast
und Frank Wedekind übersetzt und alles, was die Jungs aus der Sonnen-
zwei Jahre lang in Deutschland studiert. allee so anstellen.
Als Franzen vor rund zehn Jahren für »Das ist praktisch Sketch-Come-
seinen Roman »Unschuld« recher- dy«, sagt Franzen. Alles sei zwei Stu-
chierte, suchte er ein gossenhaftes fen absurder als die Realität, jedes
deutsches Wort, mit dem sich ein Detail im Dienst der nächsten Pointe.
Charakter, ein Julian-Assange-hafter Von Brussig, sagt er, habe er gelernt,

Alexander Demling / DER SPIEGEL


Dissident mit düsterer DDR-Vorge- wie man lustig über die DDR schrei-
schichte, selbst beschreiben würde. ben kann, dass man das überhaupt
Daniel Kehlmanns Frau Anne darf. Ein Amerikaner, der Humor von
empfahl Franzen, Thomas Brussig zu einem Deutschen lernt.
lesen, jenen Wendeflüsterer aus Ost- In Deutschland ist der Diskurs zwi-
Berlin, der mit der Mauerfallsatire schen Ost und West festgefahren. Die
»Helden wie wir« und der Coming- Leidenschaften mögen nicht ganz er-
of-Age-Komödie »Am kürzeren kaltet sein, aber die Debatte funktio-
Ende der Sonnenallee« in den Neun- hüten. Aus der Generation, die bei Freunde Brussig, niert nach immer wieder gleichen
zigerjahren Deutschland beigebracht der Wende jugendlich war, ist kaum Franzen Mustern und Vorurteilen. Und große
hatte, über die letzte Diktatur des jemand da, wahrscheinlich sind die Aufregung gibt es vor allem, wenn die
Landes zu lachen, der das Alltags- meisten für Franzen gekommen. Zwei arg dumpfen Meinungen des Chefs
leben in der DDR dicht und witzig Männer um die 60 lesen einem kali- eines großen deutschen Medienkon-
beschrieb, ohne dabei die Politik fornischen Publikum um die 60 aus zerns über »die Ossis« an die Öffent-
zu vergessen. Franzen wurde bei einem ausländischen, 1999 erschie- lichkeit dringen.
Brussig fündig. Seitdem sind die bei- nenen Buch über Jugendliche vor, das Gerade deshalb sind manche Mo-
den befreundet und literarisch ver- erst jetzt übersetzt wurde und schon mente an diesem Abend sehr erfri-
bunden. damals eine Erinnerung an ein unter- schend. Wegen der Leichtfüßigkeit
Und an diesem Abend Anfang der gegangenes Land war. »Jeder hat das seiner Geschichten musste sich Brus-
Woche sitzen deshalb der weltbe- Recht, sich nicht für die DDR zu in- sig mit dem Vorwurf rumschlagen, er
rühmte »Jon« und der nicht ganz so teressieren«, sagt Brussig selbst. würde eine Diktatur weißwaschen. In
weltberühmte »Thomas«, wie sie sich Ost in Translation? Dass der San Francisco sagt Brussig jetzt, er
gegenseitig nennen, im schmalen, Abend dann aber nicht zerfasert zwi- freue sich auf das Ende des Regimes
holzvertäfelten Obergeschoss eines schen Interessen und Perspektiven, in Nordkorea, »allein für die Comedy,
Kulturinstituts in San Francisco. Fran- liegt auch an dem, was nur starker die das freisetzen wird«. Dessen
zen hat »Sonnenallee« mit der Ger- Literatur gelingt: »Sonnenallee« ist Herrscher Kim Jong-un habe bereits
manistikprofessorin Jenny Watson gut gealtert, die Donquichotterien der eine beeindruckende Karriere als
erstmals ins Englische übersetzt und hoffnungslos verliebten Hauptfigur Witzfigur hingelegt, ergänzt Franzen.
tourt auf Einladung des Goethe- Micha Kuppisch und seiner Sonnen- Warum sollte ein Amerikaner oder
Instituts mit Brussig durch die USA. allee-Gang sind zeitlos – weil auch eine Amerikanerin unter 50 »The
Es ist ein wenig, als würde Metallica heute noch Jungs sehnsüchtig darauf »Jeder hat Short End of Sonnenallee« lesen,
in Amerika als Vorgruppe der Ärzte warten, von der Klassenschönheit be- fragt dann noch ein Mann, der auch
auftreten und dabei noch deren Lieder merkt zu werden. Lächerlich sind das Recht, nicht mehr zu dieser Gruppe zählt,
covern. Teenager immer, in jeder Staatsform. sich nicht für Franzen nach der Lesung. »Der
Die Stuhlreihen sind gefüllt mit Und gleichzeitig bestimmt die Staats- Hauptgrund ist, dass es Spaß macht«,
liberalen Westküsten-Bildungsbür- form das Leben in einem Land mit die DDR zu antwortet der. »Das sollte der Haupt-
gern mit Schiebermützen und Strick- jeder Faser. ­interessieren.« grund bei jeder Geschichte sein.« n

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 107


KU LT U R

und FDP-Wähler ansprach. Umdenken für


den Mainstream. Schmiedel selbst spricht
von der »Brigitte des Feminismus«, schiebt
aber schnell hinterher: »Bitte schreiben Sie

»Ich bin ein


in Klammern nach dem Zitat ›Schmiedel
lacht‹.«
Viele Forderungen von Alice Schwarzer

Sensibelchen«
findet Schmiedel gefährlich, das Sexarbeits­
verbot, das Kopftuchverbot. Auch manche
ihrer Aussagen über trans Frauen seien dane­
ben. Aber manchmal sei sie selbst auch extrem
genervt von den linken Positionen jüngerer
DEBATTEN  Die Aktivistin Stevie Schmiedel kämpft seit Jahren für Frauen, »ihrem unreflektierten Nachgeplap­
per dessen, was ihnen ›woke‹ erscheint«.
­Gleichberechtigung, bekannt wurde sie als Gründerin von Pinkstinks. Schmiedel hat Probleme vor allem mit
In ihrem neuen Buch versucht sie nun, junge Feministinnen und ­einigen Vertreterinnen des sogenannten in­
die Alice-Schwarzer-Generation zu versöhnen. Kann das gelingen? tersektionalen Feminismus, der darauf auf­
merksam macht, dass sich Diskriminierungen
überlappen und gegenseitig verstärken.

K
ränkende Worte, gekündigte Freund­ Schmiedel stand eine Zeit lang auf der Liste Schwarze Frauen sind demnach stärker von
schaften, Grabenkämpfe: »Der heutige von »Judas Watch«, einer antisemitischen Hetz­ Sexismus betroffen als weiße. Schmiedel ver­
Feminismus ist ein einziges Gemetzel«, seite mit Steckbriefen sogenannter »Verräter steht die Anliegen, und sie unterstützt sie
sagt Stevie Schmiedel, 51. Womöglich ist das an der weißen Rasse«. Sie hatte Personen­ auch: »Intersektionaler Feminismus ist der
ein klein wenig übertrieben. Aber wer will schutz. Stärker beschäftigt aber haben sie stets beste Feminismus.« Aber manchmal würde
das schon beurteilen, ein männlicher Journa­ die Angriffe aus dem eigenen Lager: von Femi­ sie lieber den ersten vor dem zweiten Schritt
list eher nicht. nistinnen, denen sie nicht radikal und nicht links gehen. »Egal wie woke eine Werbeagentur
Schmiedel ist in ein Café im Hamburger genug war. »In einer feministischen Organi­ auch ist, sie wird selten eine Frau mit Kleider­
Stadtteil Eimsbüttel gekommen, um über ihr sation zu arbeiten«, witzelt Schmiedel, »das größe 54, eine Schwarze Frau und eine Rolli­
neues Buch zu sprechen. In diesem Buch ist ein bisschen so, wie in einer Sekte zu sein.« fahrerin abbilden.«
bietet sie sich als Streitschlichterin an, zwi­ Pinkstinks, so hieß es von Kritikerinnen Mehr als die Positionen selbst nervt
schen Jung und Alt, Progressiv und Kon­ und Kritikern, richte sich nur an die intellek­ Schmiedel der Ton, in dem sie vorgetragen
servativ. tuelle weiße Mittelschicht, promote in Kam­ werden, die Unerbittlichkeit. Sie selbst sucht
2012 hat Schmiedel Pinkstinks gegründet, pagnen zu wenige Frauen of Color, zu schlan­ in ihrem Buch einen anderen Ton: leicht, ver­
eine feministische Organisation, die gegen ke und zu schöne Frauen auch, beschäftige söhnlich, durchaus auch mal selbstkritisch.
starre Geschlechterrollen in Medien und zu allem Überfluss einen Mann. Und das gehe Ihren Rant gegen die Jüngeren bindet sie mit
Werbung kämpft, aber selbst wie eine hippe nun mal gar nicht. Gemeint war der Schrift­ diesem Satz ab: »Man nennt das sicher älter
Agentur auftritt, das Motto ein augen­ steller Nils Pickert, der Pinkstinks gemeinsam werden.«
zwinkernder Claim: »Die Zeiten gendern mit Schmiedel ins Rollen brachte. »Wenn Schmiedels Stärke liegt darin, sich auch
sich.« Schmiedel hat ein Onlinemagazin ver­ Stevie für ein Thema brennt, entflammt sie immer wieder schwach zu zeigen, etwa wenn
antwortet, dazu peppige Infobroschüren für die Menschen um sich herum – auch mich«, sie schreibt: »Ich möchte gesehen werden!
Lehrerinnen, Erzieher, Eltern. Sie hat Men­ sagt Pickert rückblickend. Das Team sei chro­ Mit meinen Erfahrungen, meinem Wider­
schen dazu aufgerufen, sexistische Werbe­ nisch unterfinanziert und überarbeitet ge­ stand, mit dem, was ich als mein Wissen und
kampagnen zu melden, hat Unternehmen wesen, »aber es hat oft einfach auch unfass­ meine Kompetenz erachte.« Das Buch habe
dazu gedrängt, sexistische Pro­dukte vom bar viel Spaß gemacht«. Denn Schmiedel sei sie auch geschrieben, »weil ich keine alte, ver­
Markt zu nehmen. Und sie hat jahrelang »eine der geradlinigsten, zielstrebigsten, bitterte Tante werden möchte«.
den »Pinken Pudel« vergeben, einen Positiv­ kommunikativsten und offensten Frauen«, Umso mehr wehrt sie sich dagegen, nun
preis für Werbung, die Geschlechterklischees die er kenne. wegen des Buches zu einer gemacht zu wer­
aufbricht. Schmiedel hat Pinkstinks mal eine »Werbe­ den. Schmiedel berichtet, dass sie ein großes
Wenn Schmiedel zurückblickt, schwärmt agentur für Feminismus« genannt, und tat­ Radiointerview abgesagt habe, weil sie im
sie, »eine großartige Zeit« sei das gewesen, sächlich hatte man manches Mal den Ein­ Vorgespräch merkte, dass man sie in eine Ecke
»ein Traum«, »die Party meines Lebens«. druck, sie sei nicht unbedingt auf der Suche drängen wollte: »die ältere Feministin, die all
Doch 2020 gab sie die Geschäftsführung ab, nach dem besten Argument, sondern nach die jüngeren Feministinnen im Netz scharf
machte eine Zeit lang noch als Kreativdirek­ dem besten Storytelling. Was vielleicht böser angreift, die richtig basht gegen die Shitstorms
torin und Pressesprecherin weiter. Seit ver­ klingt, als es gemeint ist. Denn der Pinkstinks- und die Cancel Culture«.
gangenem September ist sie ganz raus. Feminismus, das war unter ihr oft ein Hoch­ Nun gibt es im Buch etliche Stellen, die
Warum der Ausstieg? Aus Sorge um Pink­ glanzfeminismus, so sexy, dass er auch CDU- genau diese Lesart nahelegen: »Wo ist die
stinks. So erzählt es Schmiedel im Café. Sie Triggerwarnung vor einer jungen Generation,
habe damit gerechnet, mit dem Buch eine die voller Wut und Abgrenzungswillen und
Debatte loszutreten – und der Organisation einem Auftreten ist, als hätte sie sämtliche
mit der Debatte womöglich zu schaden. »Ich Weisheit der Welt für sich gepachtet?« Aber
wollte nicht mehr das Gefühl haben, mit je­ »Ich habe länger studiert, es gibt auch etliche andere: »Die Jungen dür­
dem Wort, das ich schreibe, Arbeitsstellen zu mehr gelesen, mehr gelebt fen zu Recht wütend sein und alarmiert.«
gefährden.« Pinkstinks finanziert sich über Schmiedel argumentiert nicht so, als gäbe
Spenden. und mehr gekämpft als es nur eine Wahrheit, sie wirbt um Verständ­
die ›Ich-habe-Pride-Socken- nis: bei den Jungen für die Alten, bei den Al­
ten für die Jungen.
Stevie Schmiedel: »Jedem Zauber wohnt ein radikaler
Anfang inne. Warum uns ein bisschen Genderwahn
von-H&M‹-Kids.« Twitter war nie ihr Medium, zu schnell, zu
guttut«. Kösel; 256 Seiten; 22 Euro. Zitat aus dem Buch aggressiv, zu polarisierend. »Ich bin ein Sen­

108 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


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Hausarbeit hatte ich meine Eltern im


Sinn und versuchte so zu schreiben,
dass sie mitlesen konnten«, erinnert
sich Schmiedel.
Sie stört sich daran, dass im Inter-
net ein falsch genutztes Wort ausrei-
che, um »arrogant abgekanzelt« zu
werden. »Warum so böse?«, fragt sie.
Es gebe doch immer auch eine wohl-
wollende Art, jemanden darauf hin-
zuweisen, dass empathischere Formu-
lierungen möglich sind: »Bevormun-
dung bringt uns nicht so schnell vor-
wärts wie gute Kommunikation.« Wer
sich Höflichkeit wünscht, so ihre Lo-
gik, der wird sie am ehesten bekom-
men, wenn er selbst höflich agiert.
Die Sehnsucht danach, die Inte­
ressen auszugleichen: Das könnte man
stereotyp weiblich nennen. Schmiedel
weiß das natürlich, und als Feministin
gefällt es ihr nicht, »aber so bin ich

Melina Mörsdor f / DER SPIEGEL


wohl erzogen worden«. Und so seien
auch viele jüngere Feministinnen er-
zogen worden, nur dass sich das bei
denen anders äußere: »Manche setzen
lieber mal ein Like an der richtigen
Stelle, damit Marga Stokowski sie
mag.« Je härter der politische Kampf
sibelchen.« Dabei hätte Schmiedel rungen allein machen noch keine gute Autorin Schmiedel: nach außen geführt werde, desto grö-
genug Punch, um auf Twitter zu re- Politik.« »Bevormundung ßer die Sehnsucht nach Zustimmung
bringt uns nicht so
üssieren. Ihr Buch steckt voller Sätze, Und dann greift sie zu einem Ver- schnell vorwärts wie
und Harmonie in der eigenen Szene.
die knallen: »Ich habe länger studiert, gleich, der ihr von jüngeren, wüten- gute Kommunikation« »Feministinnen brauchen ihre Blase.«
mehr gelesen, mehr gelebt und mehr deren Feministinnen womöglich wie- Schmiedel hat mit Pinkstinks im-
gekämpft als die ›Ich-habe-Pride-So- der um die Ohren gehauen wird: mer wieder auch Werbung angepran-
cken-von-H&M‹-Kids, die heute mei- »Wenn ich als Kind etwas von meinem gert, die Männer sexistisch diskri­
nen, alles besser zu wissen.« Aber Vater wollte, der die Macht bei uns im miniert, darunter einen Claim des
Schmiedel möchte gar nicht, dass es Haus hatte, hat meine Mutter immer Brauseherstellers Almdudler (»Auch
knallt. gesagt: Schatz, jetzt nicht, ich suche Männer haben Gefühle: Durst«) und
Ihr Buch ist eines jener Bücher, den richtigen Moment.« Damals habe einen Muttertagsspot der Supermarkt-
die einen seekrank machen können, sie das geärgert, heute aber, sagt sie, kette Edeka, die Väter als Erziehungs­
so sehr ist sie um Ausgleich bemüht. verstehe sie das Vorgehen ihrer Mut- versager darstellte, ergänzt um die
Schmiedel argumentiert in Wellen- ter, deren vermittelnde Haltung. Zeile: »Danke Mama, dass du nicht
bewegungen: einerseits – anderer- Schmiedel stutzt und überlegt Papa bist.«
seits, sowohl als auch. Sie kontert kurz: »Der Mutter-Tochter-Vergleich Schmiedel hat sich für diese Kritik
ihre eigenen Sätze meist sehr schnell ist jetzt natürlich ein unglücklicher kritisieren lassen müssen, weil unter
selbst, fängt sie wieder ein, relati- Shitstorm-Magnet.« Schmiedel sehnt Feministinnen umstritten ist, ob Sexis­
viert. »Gendern ist unfassbar häss- sich nach Verständigung, Kompro- mus sich auch gegen Männer richten
lich«, schreibt sie an der einen Stelle. missen, Harmonie. »Feminismus mit kann, die vermeintlichen Profiteure
»Gendern fühlt sich mit etwas Übung Liebe« steht in ihrer Mailsignatur. des Patriarchats.
gar nicht mehr so merkwürdig und »Wir müssen es wieder aushalten, Aber Schmiedel sucht nach We-
fremd an«, an der anderen. Wer dass Leute andere Meinungen ha- gen, Feminismus an die Frau und an
gern einen klaren Kurs vorgegeben ben«, sagt sie und schiebt, wohl um den Mann zu bringen. Man könnte
bekommt, kann sich verschaukelt ihre eigene Toleranz zu beweisen, auch sagen, sie möchte das Markt-
fühlen. einen Satz hinterher: »Ich habe eine potenzial ausschöpfen. Die Vertrieb-
Das feministische Lager wachse sehr enge Freundin, die ›Emma‹- lerin des deutschen Feminismus.
gerade stark, sagt Schmiedel im Ge- Abonnentin ist.« Man kann das lustig Und was kommt nach dem Buch?
spräch, das antifeministische aber finden, aber in progressiv feministi- Vielleicht ein zweites, sagt Schmiedel,
auch. Und womöglich hänge das eine schen Kreisen ist das wirklich ein Ge- »aber ich hätte auch noch mal Lust zu
mit dem anderen zusammen: Viele ständnis: eine Freundin, die Alice gründen«, eine eigene Werbeagentur
Medien und selbst Behörden gender- Schwarzers »Emma« abonniert hat – vielleicht, für nachhaltige Kampag-
ten, Positionen des intersektionalen Göttin bewahre! nen. Auch einen Job als angestellte
Feminismus bekämen immer mehr »Solange ich denken kann, bin ich Kreativdirektorin könnte sie sich vor-
Raum. »Das mag mir persönlich ge- Vermittlerin«, sagt Schmiedel. Sie ist stellen. »Über meine Erfahrung mit
fallen«, sagt Schmiedel, »aber es ent- Deutschbritin, ein »Zwei-Kulturen- Shitstorms freut sich jede Agentur.«
wickelt sich alles sehr schnell, sehr laut Kind«. Ihre Eltern hatten beide nur Verkaufen, so viel steht fest, kann
auch und aggressiv.« Zu viele Leute Realschulabschluss, sie machte Abi- Schmiedel sich.
würden brüskiert. »Wütende Forde- tur, studierte, promovierte. »Bei jeder Tobias Becker n

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Black, proud und deutsch


STREAMING  Jahrelang musste er im deutschen Fernsehen den Klischee-Schwarzen verkörpern,
doch Tyron Ricketts kämpfte dagegen an. Nun startet die von ihm mitproduzierte Serie »Sam – ein Sachse«,
sie erzählt die wahre Geschichte eines schwarzen Polizisten in der DDR. Es ist die erste
afrodeutsche TV-Saga. Und das bei Disney, dem mächtigsten Unterhaltungskonzern der Welt.

E
s ist erst wenige Jahre her, da er als Co-Produzent, Co-Autor und könnte die Serie als Triumph über all
sollte er das infamste aller Ste- Darsteller vorangetrieben hat. Es das »Hässliche« und all das »Wider-
reotype darstellen, das über handelt sich dabei um die erste deut- liche« deuten, das ihm an deutschen
Männer mit seiner Hautfarbe kursiert sche Produktion, die Disney+, der Filmsets widerfahren ist. Aber das
und das sich offenbar auch hartnäckig Streamingdienst des mächtigsten will er nicht. Es ist ein bisschen kom-
in weißen Fernsehredaktionen gehal- Unterhaltungskonzerns der Welt, auf plizierter.
ten hat: den schwarzen Mann als Ver- den Markt bringt. Schon deshalb ist Wir haben uns verabredet, ge-
körperung einer gefährlich entfessel- sie eine Ansage. meinsam einen Tag in Berlin zu ver-
ten Sexualität. Die Serie erzählt die reale Ge- bringen. Als ersten Ort hat Ricketts
Wir sitzen bereits ein paar Stunden schichte des Samuel Meffire; jede Fol- das Soho House in Mitte vorgeschla-
zusammen, da erzählt Tyron Ricketts ge beschreibt eine unwahrscheinliche, gen. Man muss Mitglied sein, um in
diese Geschichte über den Dreh zur aber wahre Begebenheit aus dem Le- den Klubbereich vorgelassen zu wer-
Krimireihe »Nord Nord Mord«, die ben des in Dresden aufgewachsenen den. Die Kreativen der Stadt können
im ZDF oft »Tatort«-verdächtige Afrodeutschen, der in den letzten in den etwas zu tiefen Sesseln noch
Quoten erzielt: »Ich hatte ehrlich ge- Tagen der DDR der erste schwarze mal letzte Hand an ihre Pitches legen,
sagt schon beim Drehbuchlesen ein Beamte bei der Volkspolizei ist. Nach die Zahlenmenschen rechnen hier
Problem, aber ich habe die Rolle an- der Wiedervereinigung wird er zum später aus, ob das alles finanzierbar
genommen, weil ich das Geld brauch- Gesicht einer Werbekampagne für ein ist. Ricketts versucht sich in beidem:
te«, sagt Ricketts. Den verantwort­ angeblich weltoffenes Sachsen erko- Kreativität und Zahlen. Seit mehr als
lichen Regisseur habe er dann so ren. Als er erkennen muss, dass es 25 Jahren mischt er in verschiedenen
­verstanden, dass er einfach einen offenbar doch kein weltoffenes Sach- Funktionen beim deutschen Film und
anderen schwarzen Darsteller enga- sen gibt, steigt er bei einem Sicher- Fernsehen mit.
giere, wenn Ricketts nicht wie ge­ heitstrupp ein, der schwarze Disco- Ab 1996 moderierte er für den Mu-
fordert abliefere. gäste vor Neonazis beschützt. Er lässt siksender Viva die Hip-Hop-Show
»Es gab eine Szene«, so Ricketts, sich mit einem Paten der Organisier- »Word Cup«, ob Wu-Tang Clan,
»da soll ich abgetastet werden als Ver- ten Kriminalität ein, begeht einen Snoop Dogg oder Jay-Z, die wichti-
dächtiger, und dann fragt eine Poli- Raubüberfall, landet im Gefängnis. gen Taktgeber waren alle bei ihm im
zistin ihren Kollegen, ob das denn Es geht um Empowerment und Studio. Zeitgleich begann er in klei-
stimme, was man sich so über die Absturz in Dauerschleife, unterlegt nen, coolen Gangfilmen mitzuspie-
›Schwanzlänge‹ von Schwarzen er- mit einem aufwühlenden Hip-Hop- len, etwa »Bunte Hunde« oder später
zähle.« Das Problem sei gewesen, Soundtrack. Die Serie ist die erste »Kanak Attack« von Lars Becker.
Darsteller Ricketts,
dass die Polizisten, die so redeten, Bauer: Empowerment
große afrodeutsche Fernsehsaga. Ri- Ricketts war damals oft als straßen-
positiv besetzt gewesen seien, wäh- und Absturz cketts, der in der Serie den smarten weiser Checker zu sehen, der immer
rend das Drehbuch dem von ihm ver- in Dauerschleife Anführer einer Türstehergang spielt, was am Laufen hat. Das war auch in
körperten verdächtigen Fitnesslehrer seinem echten Leben so: Er gründete
eine zerstörerische exzessive Sexua- eine eigene Agentur, Panthertain-
lität zuschrieb. »In dem Spind des ment, die schwarze Models und
Fitnesstrainers wurden dann Kondo- Schauspieler vermittelte. Viele in der
me gefunden, und es war natürlich Branche sahen in ihm einen zukünf-
gleich eine Hunderterpackung.« tigen Star. Doch meist blieb es bei
Ricketts spricht unaufgeregt, aber Nebenrollen, oft waren es schwarze
Yohana Papa Onyango / The Walt Disney Company

die Anklage ist drastisch: »Der ein- Fantasmen weißer Autoren.


zige Schwarze, der in der Handlung »Ich habe bei rund 70 Filmprojek-
vorkommt, muss das Sexmonster ten mitgewirkt«, sagt Ricketts. »Zwei
sein. Es war hässlich, es war wider- Drittel davon waren problematisch.«
lich.« Die Rassismuserfahrung am Das Spektrum der Rollen war be-
ZDF-Set steht stellvertretend für so schränkt: Krimineller, Geflüchteter,
viele ähnliche Erlebnisse an deut- exotisches Liebesobjekt. »Die Figu-
schen Filmsets. ren verkörperten immer das Fremde,
Den ZDF-Krimi hat Ricketts 2017 das andere. Aber niemals ein valides
gedreht. Sechs Jahre später ­erscheint Mitglied der deutschen Gesellschaft,
nun die Serie »Sam – ein Sachse«, die in der diese Filme spielten.«

110 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


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Noch ein Fakt: »People of Color machen


die Mehrheit der Weltbevölkerung aus«, sagt
Ricketts. »Wenn du als Streamer global erfolg-
reich sein willst, musst du in deinem Pro-
gramm auch die Welt widerspiegeln, für die
du das Programm machst.« Diversität durch
Kommerz; bei deutschen Sendern kommt
diese Botschaft nur zögerlich an.
Und noch eine letzte Zahl: »27 Prozent der
Bevölkerung in Deutschland haben eine Ein-
wanderungsgeschichte, aber das Bild, das
Deutschland bislang von sich gemalt hat, ließ
keinen Platz für diese 27 Prozent«, sagt Ricketts.
»Wie kann ich Heimat empfinden in einem
Land, das keine Erzählung für mich hat?«
Ricketts wurde in Weiz in Österreich als
Sohn einer Österreicherin und eines Jamai-
kaners geboren. Die Eltern trennten sich nach
einigen Jahren. Mit sechs zogen er und seine
Mutter zu derem neuen Ehemann, einem Wei-
ßen, nach Aachen. »Ich habe Tennis gespielt
und Feldhockey. Die Kids, mit denen ich zur
Schule gegangen bin, waren Töchter und Söh-
ne von Anwälten. Das war Bildungsbürger-
tum. Ich war ein Teil davon. Trotzdem blieb
immer ein Teil von mir fremd.« Dann mit
zwölf kam der Hip-Hop. Schwarz zu sein war
nun ein strategischer Vorteil, um beim Rappen
authentisch zu wirken, selbst für einen Bil-
dungsbürgerbuben wie ihn.
Ricketts redet viel über die Privilegien, die
er genoss. Er will keinen Opfermythos um
sein Leben stricken. Den Job als Hip-Hop-
Moderator bei Viva, so Ricketts, habe er be-
kommen, weil er schwarz sei. Einerseits. Er
habe ihn aber andererseits auch bekommen,
weil er nicht ganz so schwarz sei wie andere.
Der deutsche Musiksender sei damals nicht
reif gewesen für einen, wie er sagt, Dark-Skin-
Moderator.
Ein weiteres Privileg: Er vermittelte für
seine Agentur Panthertainment auch deshalb
eine Zeit lang erfolgreich schwarze Models,
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

weil er als Hip-Hop-Spezialist bei Viva eine


Verbindung zu Modekonzernen herstellen
konnte, die in dem Markt für Street- und
Sportswear Fuß fassen wollten. Es war auf
einmal cool, schwarz zu sein. Aber nur in den
Bereichen Musik und Sport. Jenseits davon
war kein Platz für Afrodeutsche. Autor Ricketts: »Wie viel wir schon verändert haben«
Das ändert sich gerade rapide. Im »Tat-
ort«-Land Deutschland, das fast alle gesell- Ricketts hatte bereits Ende der Nullerjah- Umsetzung von »Sam – Ein Sachse« so lange
schaftlichen Entwicklungen in seinen TV-Kri- re eine tragende Ermittlerrolle bei »SOKO gedauert hat, lag daran, dass Meffire immer
mis spiegelt, kann man die Repräsentanz von Leipzig«. Durch sie konnte er sich als Schau- wieder damit haderte, sein nicht nur ruhm-
schwarzen Menschen auch daran messen, wie spieler über Wasser halten, wenn mal wieder reiches Leben verfilmen zu lassen. Inzwischen
sie in diesen Fernsehkrimis vorkommen. Der alle anderen Rollenangebote unannehmbar war Ricketts zu alt; die Rolle spielt jetzt Ma­
schwarze Theaterstar Michael Klammer, der waren. Endlich war er mal Sheriff und nicht lick Bauer. Als freidrehender Systemwandler
in »Sam – Ein Sachse« den schwarzen Paten ewiger Outlaw. zwischen Vopo-Kaserne und Bordellkulisse
von Dresden spielt, gab gerade für den ZDF- Mit dem damaligen »SOKO Leipzig«-Pro- schlägt er mit seinem Spiel Flammen.
Krimi »Unbestechlich« den Gentleman-Er- duzenten Jörg Winger, den Ricketts seinen Wir ziehen weiter und steigen in Ricketts’
mittler mit Design- und Besserwisserfimmel. wichtigsten Alliierten nennt, versuchte er seit Van. Er legt ein paar Hip-Hop- und R & B-
Lars Becker, der einzige Regisseur, der schon 2006 mit verschiedenen Konzepten, die Ge- Tracks ein, die er für den »Sam«-Soundtrack
seit den Neunzigern diverse Ensembles mit schichte von Samuel Meffire umzusetzen, in einspielen ließ. Der Rap-Star Megaloh rappt
Afrodeutschen für seine Filme aufstellte, soll den ersten Jahren hatte er noch sich selbst in grimmig über Einsamkeit und Widerstand,
im Sommer den Dreh zur Reihe »Die Polizis- der Titelrolle eingeplant. Winger hat zwi- die Sängerin Lary singt eine Powerballade, in
tin« beginnen. Die Titelrolle übernimmt Thel- schendurch mit »Deutschland 83« die erste der sie Teile der deutschen Nationalhymne
ma Buabeng, eine Dark-Skin-Afrodeutsche deutsche Serie der neuen Streaming-Ära ge- zerlegt. Herzerweichend. Wir schweigen und
mit Kölner Dialekt. dreht, die international einschlug. Dass die lauschen. Als Lary fertig gesungen hat, erzählt

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 111


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SPIEGEL TV Programm »Wie kann ich Heimat


­empfinden in einem Land,
das keine Erzählung für
mich hat?«

Ricketts, wie schlüssig es für ihn in den Neun-


zigern war, über den schwarzen Hip-Hop und
die deutsche Sprache seine Identität zu for-
mulieren, für die er zuvor kein Vokabular
gehabt hatte. 2001 veröffentlichte er den Song
»Afrodeutsch«, ein Rap-Manifest, das auf gut
hundert Zeilen alle Fremdzuschreibungen
zurückschlägt. Black and proud und deutsch.

SPIEGEL TV
Wir sind am May-Ayim-Ufer in Kreuzberg
angekommen. Ricketts hat den Ort als Setting
Justizopfer Genditzki, Tatortfoto
fürs Fotoshooting vorgeschlagen. Er wohnt
um die Ecke, aber wichtiger ist ihm, dass die
kleine Uferstraße an der Spree nach der Dich-
SPIEGEL TV VOX HÄRTETEST terin May Ayim benannt ist, einer frühen zen-
MONTAG, 24. 4., 23.25 – 0.00 UHR, RTL MONTAG, 24. 4., 23.05 – 00.10 UHR, VOX tralen Stimme der afrodeutschen Aktivistin-
nenszene. Die historische Figur kommt auch
Kein Mörder und die Die Prüfung meines Lebens – in »Sam – ein Sachse« vor, als der unter Wei-
Badewanne Folge 1 ßen aufgewachsene Sam erkennt, dass er als
Exklusiv spricht Manfred Genditzki über Harter Drill für den großen Traum: Schwarzer nicht allein ist. In ihren tollkühns-
den Tag, der sein Leben für immer ver­ ­Sebastian möchte Shaolin-Mönch wer­ ten Momenten ist die Serie zugleich Gangster-
ändert hat. Fast 14 Jahre im Gefängnis den und bewirbt sich im Kloster in thriller und Bürgerrechtsdrama.
und doch ungebrochen. Die Geschichte ­Otterberg. In der Probewoche lernt der Ricketts posiert unter dem Straßenschild
eines Justizirrtums. 16-Jährige seine körperlichen Grenzen und geht auf alle Anweisungen des Fotografen
kennen. In drei Folgen begleitet die ein. Es fällt ihm leicht, immer wieder brachte
Explodierende VOX-Miniserie Kandidatinnen und Kandi­ er sich als Model über die Runden. Bitte lä-
Flüchtlingszahlen daten bei den sechs größten Härtetests cheln und bitte genau dann, wenn die U-Bahn
Ob über die Balkanroute und Polen oder von Deutschland und Österreich. auf der berühmten Oberbaumbrücke vorbei-
das Mittelmeer: Der Strom der Meschen, fährt: Eigentlich ist das abgehangene Kreuz-
die vor Hunger und Armut flüchten, reißt berg-Folklore, aber das Straßenschild macht
nicht ab. Und Europa duckt sich weg. den Unterschied. Es meint: Das ist unsere
ZDF PLAN B Stadt. May Ayim hat sich 1996 in Berlin das
SAMSTAG, 22. 4., 17.35 – 18.05 UHR, ZDF Leben genommen. Ricketts sagt: »Mir be-
deutet sie viel, weil sie eine der ersten und
ARTE RE: Gegen die Plastikflut – wichtigsten Stimmen war, die eine afrodeut-
MITTWOCH, 26. 4., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE Ideen für saubere Gewässer sche Identität formuliert hat. Ich kann mir
vorstellen, dass May Ayim sich darüber
Kinderkliniken am Limit – ­freuen würde, wie viel wir schon verändert
Hochleistung trotz Dauerstress haben.«
Notstand in deutschen Kinderkliniken: Es geht weiter im Van und einmal herum
Bundesweit fehlt es an Personal, Betten, um den Görli, den Kreuzberger Park, der als
auch Medikamente sind knapp. Die Synonym eines entfesselten offenen Drogen-
Leid­tragenden sind die Kinder, die oft handels landesweite Berühmtheit erlangt hat.
stundenlang auf eine Behandlung warten Ricketts hat sich in letzter Zeit viel in der Ge-
SPIEGEL TV

oder in weit entfernte Kliniken verlegt gend umgetan. In einem nächsten Serienpro-
werden müssen. Aber auch das medizini­ jekt will er ein Personentableau entwerfen,
sche Personal kommt an seine Grenzen. Mitglieder einer Müllsammelgruppe
das die Menschen aus verschiedenen afrika-
nischen Regionen im Görlitzer Park mit der
Jede Minute landen weltweit zwei Lkw- Berliner Politprominenz verknüpft. Er raunt:
Ladungen Plastik in unseren Meeren, »›House of Cards‹ meets ›The Wire‹.«
Flüssen und Bächen. Eine gigantische Wir kommen bei der Insel der Jugend an.
Müllflut mit katastrophalen Auswirkun­ Ricketts hockt hier oft auf einem Kneipen-
Mar yam Dabbagh / SPIEGEL TV

gen auf Natur und Mensch. Neue Recyc­ schiff an der Spree. Sein Kiez ist gleich um
lingmethoden, alternative Materialien die Ecke, hier sei es fast immer ruhig. Tatsäch-
und kreative Müllsammelaktionen helfen, lich sind wir fast die einzigen Gäste. Es läuft
das Problem in den Griff zu bekommen. keine Musik, nur das Wasser plätschert. Jetzt
Denn die Zeit drängt: Mittlerweile befin­ geht es um Ricketts Kindheit: »Ich kannte nur
den sich Plastikteile bereits im arktischen Roberto Blanco und Eddie Murphy in ›Be-
Notaufnahme in Darmstadt Eis und in der Tiefsee. verly Hills Cop‹, der mit einer lächerlich

112 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


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schrillen Stimme gedubbt war«, sagt er. »Und


von Brot für die Welt gab es Weihnachtskar-
ten, wo hungrige afrikanische Kinder vor
einer Lehmhütte saßen. Das waren die ein-
zigen anderen schwarzen Menschen, die ich BELLETRISTIK SACHBUCH
in meiner Kindheit gesehen habe.«
In einer Folge der Disney-Serie versucht
Sam, seiner weißen Frau erfolglos die subtilen Auf Twitter und Instagram
Die Berliner Hautärztin
ist der Autor ein Star, dem
Herabwürdigungen zu vermitteln, die er er- und Ernährungsmedi­
mehr als eine Million Men­
zinerin erklärt, warum
lebt. Sie glaubt ihm nicht. Rassismus, das sind schen folgen. In seinem
wir altern – und liefert
für weiße Menschen nach Ricketts Erfahrun- Debütroman erzählt er nun
Tipps, wie sich dieser
von männlichen Hochstap­
gen vor allem von Neonazis verursachte Kno- Prozess verlangsamen
lern – und ein wenig auch
lässt. | Platz 2
chenbrüche, nicht die unterschwelligen Aus- von sich selbst. | Platz 8
schlussbewegungen. »Mit meiner Mutter war
es ähnlich: Die hat auch nie verstanden, wenn
ich ihr meine negativen Erfahrungen geschil- 1 (1) Martin Suter 1 (1) Dirk Oschmann Der Osten –
Melody Diogenes; 26 Euro eine westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro
dert habe. Meine Mutter war eine farben-
blinde Frau, aber farbenblind hieß auch: Sie 2 (5) Bonnie Garmus 2 (5) Yael Adler
sah Rassismus nicht.« Eine Frage der Chemie Piper; 24 Euro Genial vital! Droemer; 20 Euro
Als wir danach über Vaterfiguren sprechen,
fühlt sich Ricketts ein bisschen in die Ecke 3 (6) Jojo Moyes 3 (4) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
gedrängt. »Klar, man ist auf der Suche, man Mein Leben in deinem Wunderlich; 25 Euro verändern werden Piper; 22 Euro
fühlt sich von Männern angezogen, die die
gleiche Hautfarbe haben wie man selbst«, 4 (3) Simon Urban / Juli Zeh 4 (2) Bas Kast
Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro Kompass für die Seele C. Bertelsmann; 24 Euro
sagt er dann doch. »Wenn die dann auch noch
für etwas stehen, findet man darin eine Art 5 (4) Jochen Gutsch / Maxim Leo 5 (14) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben,
Stellvertretervater. Ich hatte ein Bild von mei- Frankie Penguin; 22 Euro was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
nem Vater an der Wand hängen – aber auch
eins von Martin Luther King, eins von Mal- 6 (9) Ewald Arenz 6 (11) Ewald Frie
colm X und eins von Muhammad Ali. Auf Die Liebe an miesen Tagen Dumont; 24 Euro Ein Hof und elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro
einmal wurde mir bewusst, dass ich meinen
7 (7) Marc Elsberg 7 (13) Constantin Schreiber
Vater so verkläre, dass ich ihm Superpower
°C – Celsius Blanvalet; 26 Euro Glück im Unglück Hoffmann und Campe; 22 Euro
zuschreibe. Dabei wusste ich eigentlich gar
nicht, wie er war.« 8 (2) Sebastian Hotz 8 (12) Dorothee Röhrig
Immer wieder traf er auf schwarze Leit­ Mindset Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro »Du wirst noch an mich denken« dtv; 24 Euro
figuren. 2003 lud ihn Spike Lee während der
Berlinale ein, mit ihm und anderen afro­ 9 (8) Trude Teige 9 (6) Prinz Harry
deutschen Filmschaffenden einen Abend Als Großmutter im Regen tanzte S. Fischer; 22 Euro Reserve Penguin; 26 Euro

zu verbringen. »Er sagte, er sei selbst ver-


10 (10) Dörte Hansen 10 (3) Anthony William Heile dein Gehirn –
zweifelt am Hustlen, um seine Filme finan- Zur See Penguin; 24 Euro Das Basisbuch Arkana; 30 Euro
ziert zu bekommen. Er hätte auch keine Tipps
für uns. Und da war er schon der große Spike 11 (12) Helga Schubert 11 (7) Elke Heidenreich
Lee! Er sagte nur: ›Ihr müsst eure eigenen Der heutige Tag dtv; 24 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro
Geschichten erzählen!‹« Das Treffen sei auf-
regend gewesen, der Zorn danach aber nicht 12 (–) Marah Woolf 12 (–) Peter Wensierski
kleiner. WiccaCreed – Zeichen & Omen Nova MD; 22 Euro Jena-Paradies Ch. Links; 25 Euro

Anders verlief eine Begegnung mit Harry


13 (11) Mariana Leky 13 (–) Howard W. French Afrika und die Entstehung
Belafonte. Der war in den Fünfzigerjahren Kummer aller Art Dumont; 22 Euro der modernen Welt Klett-Cotta; 35 Euro
für eine Zeit der größte Popstar der USA und
in den Sechzigern eines der populärsten Ge- 14 (16) Colleen Hoover It starts with us – 14 (19) Ulrike Herrmann Das Ende
sichter und einer der einflussreichsten Netz- Nur noch einmal und für immer dtv; 20 Euro des Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
werker der Bürgerrechtsbewegung. Belafon-
te lud ihn 2012 in die USA ein, fast fünf Jahre 15 (17) Adriana Altaras Besser allein als in 15 (10) Stefanie Stahl
verbrachte er in dessen Umfeld in Los An- schlechter Gesellschaft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Wer wir sind Kailash; 22 Euro

geles und New York. Früher, sagt Ricketts,


16 (18) Julia Schoch 16 (9) Michael Thumann
habe er sich auch mal geprügelt, wenn er Das Liebespaar des Jahrhunderts dtv; 22 Euro Revanche C. H. Beck; 25 Euro
glaubte, dass die Situation das erfordere. Aber
durch die Zeit mit Belafonte in den USA habe 17 (14) John Grisham 17 (15) Saverio Gaeta / Georg Gänswein
er gelernt, seinen Zorn in kreative und kom- Feinde Heyne; 24 Euro Nichts als die Wahrheit Herder; 28 Euro
munikative Energie umzulenken.
Alle anderen Gäste sind inzwischen von 18 (13) Judith Hermann 18 (–) Emilia Roig
Bord, da erzählt Ricketts, dass er gerade mit Wir hätten uns alles gesagt S. Fischer; 23 Euro Das Ende der Ehe Ullstein; 22,99 Euro

seiner Freundin ein Stück Land in Costa Rica 19 (19) Nina George Das Bücherschiff 19 (18) Torsten Sträter Du kannst alles lassen,
gekauft habe. Er wird dieses Jahr 50, und er des Monsieur Perdu Knaur; 21 Euro du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro
hat noch viele Träume. Sein größter: »Ich will
unbedingt einen richtigen Liebesfilm drehen. 20 (–) Daniel Glattauer 20 (17) Wilhelm Schmid
Darin spielt Hautfarbe dann gar keine Rolle.« Die spürst du nicht Paul Zsolnay; 25 Euro Schaukeln Insel; 12 Euro
Christian Buß  n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

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KU LT U R

sen – und diese bis zu ihrem Unter­


gang zu begleiten. Es wachsen auch
»leere Menschen mit leeren Augen«
aus dem Boden hervor, die unter ihrem
plötzlichen Dasein leiden: »Manch

Schreiben wie auf Autopilot


einer wälzte sich am Boden und stram­
pelte mit den Beinen, trat gleichsam
Löcher in die Luft, als wollte er sagen:
Wo bin ich? Lasst mich hier raus!«
Wiederum ist es Kampana, die der
ROMANKRITIK  In seinem neuen Buch erzählt Salman Rushdie von Machtkämpfen »halbgeborenen Menge« ihre Erin­
in einem hinduistischen Reich – »Game of Thrones« im Schnelldurchlauf. nerungen und Träume einflüstert.
Erst dann kann die Geschichte ihren
Lauf nehmen. Es ist der eigentliche

W
enn die literarische Welt Schöpfungsakt und Kerngedanke des
ihrem Ehrenbürger bei­ Romans: »Worte sind die einzigen
springt, liest sich das sehr Sieger.« Wahr ist, was wir uns erzäh­
euphorisch. »Victory City«, der neue len. Und Pampa Kampana ist natür­
Roman von Salman Rushdie, wurde lich Salman Rushdie.
bereits als »triumphale Rückkehr« Leider aber weiß er mit diesem
(»Esquire«) gelesen, als »verschwen­ zündenden Gedanken kein Feuer zu
derisches Märchen« (»The Guar­ entfachen. In heiterem Parlando ga­
dian«) gelobt und für seine »anste­ loppiert Rushdie durch ein »Game of
ckende Energie« (»The Hindu«) ge­ Thrones«-Szenario, in dem die Könige
feiert. schneller wechseln, als sie inthronisiert
Es dürfte beim Gros der Rezensio­ sind. Es gibt kapitalistische Affen und
nen die Erleichterung darüber Feder portugiesische Liebhaber, Geheim­
geführt haben, dass Rushdie über­ bünde und Intrigen, sprechende Vögel
haupt noch unter den Schreibenden und schwerelose Kampfszenen. Aus­
weilt. Im August 2022 überlebte er nahmslos alle Frauen sind wunder­
ein Attentat nur knapp, ist seitdem schön. Ohne einen finsteren Gegen­
auf einem Auge erblindet. Seinen spieler der Heldin würde die Handlung
neuen Roman hatte er schon vor dem komplett auf der Stelle treten. Also
Angriff vollendet; es findet sich darin möchte Vidyasagar, der reaktionäre
nichts, was dieses Ereignis reflek­ Guru und sexuelle Wüstling, das Rad
tieren würde. der Zeit stets in die Gegenrichtung
Mit »Victory City« kehrt Rushdie drehen. Er bleibt jedoch, wie alle Cha­
in den Süden von Asien zurück, nach raktere, bloße Behauptung.
Indien, das Land seiner Geburt. Und Hochgestochenes gleicht Rushdie
schildert ein sagenhaftes Königreich, mit Comicsprache aus (»kotz, würg«),
Rachel Eliza Griffith

in dem Tradition und Fortschritt einan­ streut Zeitgenössisches in die histori­


der schon vor vielen Jahrhunderten sche Erzählung. Wie nebenbei wer­
befruchtet haben sollen: Vijayanagar den Feminismus, Identitätspolitik,
oder, in kolonialer Verballhornung, Kunstfreiheit oder Laizismus abge­
Bisnaga. Die Stadt des Sieges. handelt – fehlt nur noch ein Absatz
Es ist zugleich eine Rückkehr zu Reich existierte von der Mitte des Autor Rushdie zur Mülltrennung im Indien des
den Quellen des Erzählens. Neben 14. Jahrhunderts an gut 200 Jahre 15. Jahrhunderts.
die großen Epen des alten Indien, das lang und ist Gegenstand historischer Seine Stammkundschaft wird
»Ramayana« und das »Mahabhara­ Untersuchungen, von denen Rushdie Rushdie mit »Victory City« nicht ent­
ta«, stellt Rushdie ein fiktives »Jaya­ einige auflistet. Darunter findet sich täuschen. Fans wird zuletzt nicht
parajaya«, mit dem eine »Poetin, auch ein Werk des Schriftstellers V. S. ­entgangen sein, dass er Motive und
Wundertätige und Prophetin« na­ Naipaul über Indien als vom Islam ­Methoden seit »Mitternachtskinder«
mens Pampa Kampana die Geschich­ »verwundete Kultur«, in dem Vijaya­ (1981) kaum mehr variiert. Neuer­
te von Bisnaga erzählt haben soll. nagar als »Hindu-Bollwerk« gegen dings schreibt er sogar wie auf Auto­
Sich selbst führt er als Autor ein, »der die muslimischen Sultane des Nor­ pilot. Immer in einer auf Dauer
weder Gelehrter ist noch Poet, nur dens fungiert, wie es der »Guardian« ­ermüdenden Halbtotalen, aus ironi­
jemand, der gern Fäden spinnt« – und mal beschrieb. Mit »Victory City« scher Distanz, in atemlosem Erzähl­
das »unsterbliche Meisterwerk« in verfolgt Rushdie ein anderes Ziel. Sein tempo. Und mit einer ans Selbstver­
schlichterer Sprache nacherzählt. Der Vijayanagar erscheint als progressives liebte grenzenden Wurstigkeit, die
postmoderne Trick erlaubt ihm, das Projekt, in dem jede sexuelle Orien­ sein angebliches Anliegen untergräbt.
Skelett historischer Fakten in allerlei tierung willkommen ist und die Reli­ Leider weiß Die pluralistische Gesellschaft ist pre­
Mythen zu kleiden. gionen friedlich »zusammenfließen Rushdie mit kär? Da reicht es nicht, an den Willen
Denn die Existenz von Vijayana­ wie die Flüsse Ganga und Yamuna«. zur Gedeihlichkeit zu appellieren.
gar ist verbürgt. Das hinduistische Als Waisenkind ist Pampa Kampa­ zündenden Worte sind die einzigen Sieger? Da
na von der Göttin Parvati mit magi­ Gedanken ist es zu wenig, augenzwinkernd Ho­
schen Fähigkeiten und dem Auftrag kuspokus zu rufen. Man muss auch
Salman Rushdie: »Victory City«. Aus dem
bedacht worden, aus verzauberten kein Feuer zu wirklich ein wenig zaubern wollen.
Englischen von Bernhard Robben. Penguin;
416 Seiten; 26 Euro. Samen eine Stadt aufsteigen zu las­ ­entfachen. Arno Frank n

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116 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Bernice Rose, 87
NACHRUFE Die Karriere der 1935 gebore-
den Zeichnungen von Männern,
von Künstlern wie Jackson
nen Amerikanerin ist in mehr- Pollock, Mark Rothko und Roy
facher Hinsicht bemerkenswert. Lichtenstein. Bernice Rose starb
Obwohl nicht nur Kunsthis- am 16. April in New York. UK
torikerin, sondern selbst eine
ausgebildete Malerin, ließ sie Ahmad Jamal, 92
lieber die Kunst ihrer Kollegen Er war ein konservativer Revo-
gut aussehen. Sie strebte eine lutionär. Während um ihn ­herum
Laufbahn im Museum an, 1965 das heroische Zeitalter des Jazz
wurde sie am weltbekannten tobte, die große Zeit von Mitte
Museum of Modern Art in New der Fünfziger- bis zum Ende der
York angestellt, wo sie elf Jahre Sechzigerjahre, als all diese jun-
später zur Kuratorin aufstieg. gen schwarzen Männer mit ih-
Als Expertin für Zeichnungen ren Instrumenten immer freier,
gelang ihr dann von dort aus lauter und experimenteller wer-
eine echte Revolution. Bernice den wollten und eine neue Mu-
Rose sorgte für eine ungeheure sik erfanden, da blieb Ahmad
Aufwertung solcher Arbeiten Jamal zurückhaltend. Doch er
Kai Biener t / IMAGO

auf Papier, die nicht mal ansatz- prägte diese Musik wie nur we-
weise so wertgeschätzt wor- nige andere: Mit seinem Gefühl
den waren wie Ölmalerei oder für Raum, den er den Noten
Skulptur. Vorher war dem gro- ließ, einem spezifischen Rhyth-
ßen Publikum nicht bekannt, musgefühl wurde er später auch
Heinz Florian Oertel, 95 wie gern sich junge Maler und
Am 1. August 1980 jubelte er sich in die deutsche Sportgeschichte, Bildhauer auch im Zeichneri-
als Waldemar Cierpinski den Marathonlauf bei den Olympischen schen austobten und wie wichtig
Spielen in Moskau gewann. DDR-Reporter Heinz Florian Oertel diese Experimente für die Ent-
kommentierte: »Liebe junge Väter, haben Sie Mut, nennen Sie Ihre wicklung ihres Werkes waren.
Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar!« Es wurde Rose aber bereitete dem ver-
der vielleicht berühmteste Livekommentar im DDR-Sport und meintlichen Nischenprodukt
Oertel von da an noch populärer. Allgegenwärtig war der Mann eine Bühne, sie erkannte gerade

Rose Dalle / DALLE APRF / picture alliance


aus Cottbus zu jenem Zeitpunkt längst. Seit 1949 arbeitete Oertel im Mix mit anderen Genres
für den Rundfunk, ab 1955 auch für das Fernsehen der DDR. Dabei eine neue Kunstform. Bahnbre-
tummelte er sich auf allen möglichen Feldern der Unterhaltung. Er chend war ihre 1976 eröffnete
moderierte Gesprächssendungen und Schlagerparaden, auch durch Ausstellung »Drawing Now«.
die populäre TV-Sendung »Ein Kessel Buntes« führte er. Doch Oertel Manche der gezeigten Zeich-
bleibt vor allem durch seine Sportreportagen präsent. Er berich­ nungen waren wandgroß, viele
tete von 17 Olympischen Spielen und acht Fußballweltmeisterschaf- erstaunlich experimentell. Auch
ten. Live kommentierte er den DDR-Triumph über Westdeutsch- in deutschen Feuilletons fand
land bei der WM 1974, er begleitete die Erfolge von Katarina Witt die Schau Beachtung, kritisiert
auf dem Eis, die Friedensfahrt-Siege des Täve Schur. Dass seine wurde jedoch die Überzahl der
Karriere mit dem Mauerfall einen Knick erlitt, hat ihn getroffen, amerikanischen Künstler darin für viele Hip-Hop-Künstler noch
danach konzentrierte er sich auf Moderationen und Lesungen im (zu den wenigen Europäern attraktiv. Miles Davis liebte
Osten. Heinz Florian Oertel starb am 27. März in Berlin. AHA gehörten Christo und Joseph ihn ebenfalls und ging seinen
Beuys). Nach fast drei Jahr- Musi­kern immer wieder auf die
zehnten wechselte Rose in eine Nerven, wenn er sie drängte,
Pablo González Casanova, 101 Galerie, später an ein weiteres so zu spielen wie Jamal. Der
Er galt als eine der klügsten Stimmen Mexikos, renommiertes Museum, die kam aus Pittsburgh, lernte als
ZUMA Press / IMAGO

als kritischer Intellektueller, als bedeutender His- Menil Collection in Houston – kleiner Junge Klavier zu spie-
toriker und Soziologe. Pablo González Casanova hier wurde sie endgültig zur len und ging als junger Mann
bewegte sich auf vielen akademischen Feldern, Über-Autorität. Interessanter- nach Chicago, wo er zum Islam
kämpfte für bessere Lebensbedingungen indige- weise widmete sich die Aus­ konvertierte. Sein Album »At
ner Völker und für einen leichteren Zugang zur nahmefrau allerdings vor allem the Pershing: But Not for Me«
Hochschulbildung. Er studierte Rechtswissenschaften und Geschich- war ein riesiger Erfolg, es blieb
te in Mexiko-Stadt, an der Sorbonne in Paris promovierte er in zwei Jahre lang in den ameri-
Soziologie. Sein Werk »La democracia en México«, in dem er im kanischen Billboard-Charts. Er
Jahr 1965 die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen hörte nie auf zu spielen und
des Landes analysierte, wurde zum Klassiker. Als Rektor der Natio­ wehrte sich dagegen, wenn er
nalen Autonomen Universität von Mexiko verteidigte González für seine Vergangenheit gefeiert
Chester Hig gins Jr. / NYT / Redux / laif

Casanova die Unabhängigkeit der Hochschule, 1972 legte er den wurde: »Ich entwickle mich im-
Grundstein für die Offene Universität – und schuf damit sozusagen mer noch weiter, wenn ich mich
die erste Fernuni des südamerikanischen Landes. Don Pablo, wie ans Klavier setze«, sagte er der
Wegbegleiter ihn nannten, engagierte sich für den sozialen Wandel, »New York Times« im vergan-
unterstützte die Zapatisten, bewunderte Fidel Castro. 2003 wurde genen Jahr. »Ich habe immer
er für sein Engagement gegen Rassismus, Apartheid und die soziale noch neue Ideen.« Ahmad Jamal
Ausgrenzung mit dem José-Martí-Preis der Unesco ausgezeichnet. starb am 16. April in Ashley
Pablo González Casanova starb am 18. April in Mexiko-Stadt. KHA Falls, Massachusetts. RAP

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Ärger mit KI
Megastar Drake, 36, hat genug
von künstlicher Intelligenz (KI).
Weil eine KI eine Coverversion
von Ice Spices Song »Munch
(Feelin’ U)« im Stil von Drakes
Stimme herstellte, offenbar ohne
dessen Einwilligung, schrieb der
Rapper auf Instagram: »Das ist
der Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen bringt«. Kurz nach
»Munch« erschien ein weiterer
Track, der ohne Genehmigung
seine Stimme imitierte. Der KI-
generierte Song – Text, Melodie
und Gesang sind am Computer
entstanden – klingt, als sänge
Drake mit The Weeknd zusam-
men. Dank der Popularität der
beiden Musiker wurde ­»Heart
on My Sleeve« schnell millio-
nenfach gestreamt. Dann wur-
den Anwälte eingeschaltet.
Mittlerweile ist der Song nicht
mehr verfügbar. Angesichts
der Fortschritte von KI werden
sich bald wohl noch mehr
­Musikerinnen und Musiker mit
ähnlichen Problemen herum-
schlagen müssen, aber im Fall
von »Heart on My Sleeve«
kann Drake die Anmaßung

Chris Young / Canadian Press / ZUMA Press /action press


durchaus persönlich nehmen.
Um ihn entstand in der Rap-
Community vor Jahren ein
­hitziger Streit über die Frage,
ob er für seine Texte einen
Ghostwriter einsetzt. Der User-
name des anonymen Accounts,
der »Heart on My Sleeve« jetzt
online ­gestellt hat, kann vor
diesem Hintergrund nur als
­Provo­kation gelesen werden:
ghostwriter977. HPI

Stolz und in den USA) sind Mischlinge.« Bevölkerung bekannt machen


Außerdem werde Afrika in und würdigen sollen. Freeman
beleidigt dieser Formulierung benutzt, findet das vermessen: »Wollen
Der Hollywoodstar Morgan als wäre es ein Land, wie bei Sie meine Geschichte auf einen
Freeman, 85, verabscheut die »Italoamerikaner«, dabei hand- Monat reduzieren?«, fragt er in
Bezeichnung »Afroamerika- le es sich um einen Kontinent. der »Sunday Times« rhetorisch.
ner«: Diese sei eine Beleidi- ­Genauso beleidigend empfindet Seine Einstellung entspreche
gung. Das sagt der Oscar-Preis- Freeman die Einrichtung des vollkommen der von Denzel
träger in der »Sunday Times« »Black History Month«. Im Washington, der mal gesagt hat:
Mirja Geh / API

und fragt: »Was soll das bedeu- ­Februar finden alljährlich in den »Ich bin sehr stolz, Schwarzer
ten? Die meisten Schwarzen USA Veranstaltungen statt, die zu sein, aber schwarz ist nicht
in diesem Teil der Welt (also die Geschichte der schwarzen alles, was ich bin.« KS

118 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


Kleiner Kreis gerem. Der kenne all ihre Rätselhaftes
Schwächen, er sei ihr Fels in der
Die YouTube-Kultfigur, die mit Brandung. Sie wisse, dass sie Desaster
ihrem unkonventionellen Video­ sich mit so einem Bekenntnis Diesen ersten Liveauftritt seit
stil berühmt wurde, die in den sehr verletzlich mache, sagte rund sechs Jahren dürften sich
sozialen Medien mehr Follower Chamberlain, die mit ihrem viele anders vorgestellt haben.
hat als Australien Einwohner, Podcast »Any­thing Goes« im Vergangenes Wochenende kam
die schon als Teenager vom vergangenen Jahr den dritten Frank Ocean, 35, R&B-Sänger
»Time Maga­zine« als einer der Platz der meistgestreamten und rätselhafter Star, nicht nur

Taylor Hill / WireImage / Getty Images


25 einflussreichsten Menschen Talkformate auf Spotify welt- etwa eine Stunde zu spät auf die
des Internets identifiziert wurde weit belegte. Die beiden haben Bühne des Coachella-Festivals
– sie führt in der Realität ein ihre Beziehung erst vor Kurzem in Kalifornien, er saß auch den
sehr überschaubares soziales offiziell bestätigt. Zuvor habe größten Teil der Show auf
Leben: Exakt sechs Personen sie das für unmöglich gehalten, einem Stuhl – und war schneller
zählt Emma Chamberlain, 21, zu sagt die Millionärin und als erwartet wieder verschwun-
ihrem engsten Kreis. Dem »Rol- Unternehmerin, deren einzige den. Die Fans waren sauer, die
ling Stone« sagte der Internet- Aus­bildung ein Highschool- Stimmung schlecht, eine offi-
star, dass ihr Stylist und dessen Abschluss ist. Jetzt erklärt zielle Erklärung gab es nicht. Ei­
Partner dazugehörten, ihre Chamberlain freimütig, dass sie ne Theorie lautete, dass Ocean seinen Bruder, der 2020 im
­Eltern, eine Yoga-Freundin und Pillsbury auch heiraten würde: von einer Biene gestochen wor- Alter von 18 Jahren bei einem
Singer-Songwriter Tucker »Weil ­allein seine Gegenwart den sei, eine andere, dass er in Autounfall ums Leben kam:
­Pillsbury, ihr Partner seit Län­ mich ­total erdet.« KS letzter Sekunde die Bühnenge- »Ich weiß, dass er sich sehr ge-
staltung verwarf, die einen klei- freut hätte, mit uns allen hier
nen Eislaufring vorsah. Weder zu sein.« Für Ocean, der als
das eine noch das andere lässt diskreter Popstar gilt, war die
jedoch nachvollziehbar erschei- Ansprache sehr persönlich –
nen, warum Ocean teilweise aber auch »erschütternd«, wie
ein Play-back laufen ließ, statt das Onlinemagazin »Vulture«
selbst zu singen. Die Musik­ feststellte: »Das Publikum er-
website »Pitchfork« ­berichtete lebte jemanden, der vielleicht
später, das Desaster sei auch noch nicht so weit war aufzu­
einer Knöchelverletzung des treten und es trotzdem tat.« Die
Musikers geschuldet, die er sich Unprofessionalität von Oceans
bei einer Bühnenprobe zuge­ Auftritt erboste viele. Einen
Nina Prommer / EPA-EFE

zogen habe. Ärzte hätten ihm Fürsprecher hatte der Musiker


geraten, das Fußgelenk zu ent- jedoch: Justin Bieber meldete
lasten, also blieb er die meiste sich in den sozialen Medien und
Zeit sitzen. Als er sich ans Pub- lobte Ocean, seine Kunst und
likum wandte, sprach er über seine Vorbildfunktion. KS

Eine Frage der Wahl beruflich gute Entscheidungen,


wie diverse Nominierungen
Seit Jahren dreht sie Kinofilme, ­zeigen. Ob auch die Wahl der
jetzt spielt Lily-Rose Depp, 23, Rolle in »The Idol« von Vorteil
Model und Tochter von Johnny war, muss sich noch zeigen. Die
Depp und Vanessa Paradis, ihre ­Serie erntete schon während
erste TV-Serien-Hauptrolle in der Dreharbeiten schlechte
dem HBO-Projekt »The Idol«. Schlagzeilen. Der Grund: Durch
Über die Chancen und Tücken, ­ständige Änderungen der Dreh-
als Kind berühmter Eltern eine bücher und Umbesetzung der
Karriere in der Unterhaltungs- Regie entfaltete sich die Story
industrie anzustreben, ist schon anders als erwartet. Ursprüng-
viel nachgedacht worden. Gute lich habe die Serie von einer
Beziehungen einerseits, über- jungen Frau gehandelt, die zu
steigerte Aufmerksamkeit ande- ihrer Sexualität findet, dann
rerseits, der Kampf um An- ging es »um einen Mann, der
erkennung und die Abgrenzung ›sie missbraucht, und sie steht
von den Eltern, der Verdacht, drauf«, fasste ein anonymisier-
dass der Name mehr bewirkt als tes Crewmitglied die Verän­
das Talent – all das kann offen- derung im Magazin »Rolling
sichtliche Vorteile neutralisieren ­Stone« zusammen. Der Trailer,
und einem die Karriere, sogar der kürzlich veröffentlicht wur-
das ganze Leben vergällen. de, deutet viel Sex and Drugs
BFA / action press

­Bislang scheint das im Fall von and Rock ’n’ Roll an. Im Mai


Depp aber nicht eingetreten zu soll auf dem Filmfestival in
sein. Problemlos verlief ihre Cannes mindestens eine Folge
Teenagerzeit nicht, doch sie traf der Serie gezeigt werden. KS

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 119


BRIEFE Vaterland: Solcher Unsinn kann
schon wieder öffentlich geäußert
werden von jemandem, der mit
seinem verqueren Denken junge
und naive Menschen manipulie-
ren will.
Peter Grage, Hamburg

Frau Wagenknechts ist völlig un- Frau mit den vielen Gesichtern Als ich sieben war, ist mein Vater
erheblich für den Artikel. Offen- abwenden. Gewinnen wird die im Russlandkrieg 1945 gefallen.
sichtlich findet die Redaktion Politik der Mitte. Als ich 15 war und mich mit Poli-
­Gefallen an der prosaischen Be- Dr. Hubert Hofmann, Immenstaad tik auseinandersetzte, sagte ich
schreibung bedeutender Frauen. (Bad.-Württ.) meiner Mutter: Wer weiß, wie
Wirklich schade. viele Russen mit kleinen Kindern
Ingrid Rill-Schelenz, Marl (NRW) unser Vater in diesen fünf Jahren
Besser und umgebracht hat? Ich krönte die-
Die »Rattenfängerin der Unzu- sen Satz noch durch »Soldaten
friedenen«, so nehme ich persön- attraktiver sind Mörder«. Nach diesem Aus-
lich Frau Wagenknecht in den Nr. 15/2023  Verteidigung: General spruch bekam ich eine schallende
letzten Jahren wahr. Sie legt den Markus Kurczyk über die Probleme, Ohrfeige. Ich bin heute 85 Jahre
Finger immer wieder gezielt und Soldaten zu finden alt und meine, den Brand auf
wortgewandt in die Wunde, die meiner Wange noch zu spüren.
großen Probleme unserer Zeit Die Bundeswehr täte gut daran, Meine Meinung hat sich nicht
wie Flüchtlings-, Corona- und dieses Interview für die Personal- verändert.
Ukrainekrise. Kritisiert aber nur werbung zu verwenden. Was der Hilde Drösser, Dormagen (NRW)
und spaltet somit die Gesell- nachdenkliche General zum Sinn
Eine brillante schaft. Ich kann mich nicht an und zur Notwendigkeit des Sol- Was für erstrebenswerte Zu-
konstruktive gewichtige Lösungs- datseins zu sagen hat, müsste kunftsaussichten für unsere Kin-
Demagogin vorschläge von ihrer Seite erin- eigentlich jeden jungen Mann und der und Enkel! Ihnen wird eine
Nr. 16/2023  Titel: Die Unfassbare nern. Für mich keine Demokra- jede junge Frau, die sich für dieses »zweifelsfreie Bindung an etwas
tin, sondern ein intelligentes Metier interessieren, ansprechen. Höheres« anerzogen, um sie zu
Eine wirklich erhellende Titel­ Sprachrohr für Menschen, die Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW) Tötungsmaschinen zu machen.
geschichte. So kommt der bisher sich nach einem anderen System Natürlich mit einer »irrsinnigen
verborgene Teil dieser Persön- als der Demokratie sehnen. Im Interview mit Konstantin von Verantwortung« – im wahrsten
lichkeit ans Tageslicht. Marc Straube, Potsdam Hammerstein ringt Kommandeur Sinne des Wortes! Gab es das in
Dr. Volker Brand, Bad Oeynhausen (NRW) Generalmajor Markus Kurczyk Deutschland nicht schon einmal?
Sahra Wagenknecht liegt mit um die Beschreibung eines An- Brauchen wir hoch bezahlte Ge-
Ohne das überzogene Medien- ihren Positionen quer zu den eta- forderungsprofils für künftige Re- neräle, die alles dafür tun, dass
interesse wäre Sahra Wagen- blierten Parteien. Das hat sie mit kruten. Robust, resilient (wider- sich kriegerische Geschichte wie-
knecht in der öffentlichen Wahr- vielen denkenden Menschen hier- standsfähig) und bereit zu töten derholt? Dieser Artikel hat uns in
nehmung allenfalls eine ver­ zulande gemeinsam. Viele stim- und notfalls getötet zu werden, dem Entschluss bestärkt, unser
schrobene politische Randfigur. men ihr in der Beurteilung der das erwartet er von ihnen, gelei- langjähriges SPI EGEL -Abo zu
»Unfassbar« ist für mich nicht politischen Situation zu. Eine tet von der Überzeugung, einem beenden. Wir möchten mit unse-
die neurotische Egozentrikerin, Wagenknecht-Partei hätte durch- höheren Ziel zu dienen. Ausge- rem Geld keine Kriegspropagan-
sondern die Tatsache, dass der aus eine Chance, auf Anhieb in rechnet bei den jungen Menschen da finanzieren.
SPIEGEL ihr eine eigene Titel­ die Parlamente zu kommen. der »Letzten Generation« glaubt Annegret und Siegfried Allertz, Coswig
story widmet. Bleibt das Problem des mühsa- er, fündig werden zu können. Ihr (Sachsen)
Hans-Jürgen Siebert, Rohna (Thür.) men Aufbaus eines Parteiappara- bedingungsloser, entschiedener
tes: Frau Wagenknecht ist ein Einsatz für den Erhalt der Erde Zu meiner Wehrdienstzeit
Vermaledeites Titelbild samt Sto- Solitär. Solche Menschen haben imponiert ihm. Hier irrt der Ge- 1984/85 gab es die Begriffe
ry. Eine brillante Demagogin. Wir in und mit Parteien in der Regel neral. Nicht einen/eine von ihnen »Staatsbürger in Uniform« und
brauchen in unserem Land keine kein Glück. wird er gewinnen, denn ihr Mar- »Innere Führung« zwar auch
Heilsbringer:innen, da ist unser Paul Pfeffer, Kelkheim (Hessen) kenzeichen ist die absolute Ge- schon, sie wurden jedoch nicht
Bedarf in Deutschland für alle waltlosigkeit. glaubwürdig im Alltag gelebt und
Zeiten gedeckt. Ich kann nicht Die politische Qualität in unse- Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.) sind zu leeren Worthülsen ver-
nachvollziehen, warum diese rem Lande wird davon profitie- kommen. Jeder Abgänger war
Frau so ein Forum in den Medien ren, wenn Frau Wagenknecht »Wer will schon gern andere froh, wenn es vorbei war, und
bekommt. endlich ihre schon so lange an- Menschen erschießen?« – Wirk- wollte nie mehr etwas mit der
Alfred Kolzuniak, Salzgitter (Nieders.) gekündigte Partei gründet. Die lich nicht? Warum lernt er es Bundeswehr zu tun haben. Für
Partei Die Linke wird deutlich dann und läuft in Tarnkleidung meine Freunde und mich war
Eine Sozialistin, die unfähig ist, unter die Fünf-Prozent-Grenze durchs Gebüsch? Dieser General klar, dass Werte wie Demokratie,
sich für Menschen zu interessie- fallen, die AfD wird – vor allem hat sicherlich keinen Vater im Ja- Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und
ren? Nein, danke. im Osten – eine Menge an Stim- nuar 1945 durch Kopfschuss ver- Frieden keine Selbstverständlich-
Paul Korf, Hamburg men einbüßen, und die Anhänger loren. Aber im Krieg ist das so, keit sind und daher auch nicht
der neuen Partei werden sich, mit Verlust muss man rechnen – umsonst zu haben waren – und
Sicherlich zähle ich mich nicht zu nachdem ihre Erwartungen nicht und die jungen Witwen müssen nur durch eine glaubwürdige
den »woke people«, aber die Er- erfüllt werden, sehr bald ent- damit fertigwerden, ein Leben Wehrhaftigkeit unserer Streit-
wähnung der gepuderten Wangen täuscht und zerstritten von der lang. Kämpfen und sterben fürs kräfte bewahrt werden können!

120 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


genen bisher nicht umgebettet
Mit der »Eiskönigin« Was gibt es da zu Man weiß nicht, was wurden. Und zur »Brutalität der
haben Sie die Persön­ überlegen? Egal ob einen an den Hohen­ Roten Armee« kann nur gesagt
lichkeit der Frau Gefangene aus der zollern mehr ärgern werden: Deutsche Soldaten wa­
Wagenknecht exakt Ukraine, Russland, soll, die überkom­ ren auch schlimm. Ich bin Jahr­
gang 1941 und hatte auf unserer
auf einen einzigen Belgien, Frankreich, mene Gewissheit, Flucht vor den anrückenden Rus­
Begriff gebracht. Bei es waren Menschen, dass ihnen das über sen folgende Erlebnisse: Meine
der Vorstellung, dass die dort von »Men­ Jahrhunderte vom Mutter mit mir und meinem Bru­
der versteckte sich an einer Stra­
diese Frau einmal an schen« erniedrigt, gemeinen Volk er­ ße von Rostock nach Hamburg
der Macht wäre, läuft gefoltert und getötet arbeitete Gut immer hinter Büschen. Ein russischer
es mir eiskalt den wurden. Ihnen noch zusteht, oder Soldat schrie meine Mutter von
Rücken herunter. gilt unser Gedenken. ihre Ignoranz ge­ einem Lkw aus an: Komm, Frau,
dawai, dawai. Meine Mutter
Friedhelm Jansen, Hattingen Annegret Laakmann, Haltern genüber der eigenen dachte, jetzt ist alles egal, und
(NRW) am See (NRW) Verschwendung ging zu dem Russenauto. Der
von ebendiesem. Kommandant lud uns in seinen
Christoph Nitsche, Straßenhaus
Lkw, fuhr uns zum nächsten
(Rhld.-Pf.) Bahnhof und setzte uns in einen
Zug. Dort reichten uns KZ-ler (zu
Nr. 15/2023  Forderten die erkennen an ihrer gestreiften
Nr. 15/2023  Das Grauen Hohenzollern ehemalige Kleidung) ein Stück Brot. Wir sa­
Nr. 16/2023  Titel: im Kriegsgefangenenlager Besitztümer zurück, um ihren
Die Unfassbare »Stalag 326« Lebensstil zu finanzieren? hen wohl sehr verhungert aus.
Gerd Weißmann, Regesbostel (Nieders.)

Eine solche Haltung war damals, zu töten. Verteidigen kann man Sow­jetbürgern? Da hallt der in Das Gedenken kommt für viele
zu Zeiten der Friedensbewegung, das Vaterland und die Werte nur der Nazizeit geprägte Begriff als recht spät. War es doch die Sow­
keineswegs selbstverständlich an den Grenzen, aber nicht ir­ böses Echo nach und wirkt als jetarmee, die den größten Blut­
und wurde eher belächelt: In mei­ gendwo in der Welt. Im Übrigen, giftiger Kondensationskern für zoll für die Befreiung Europas
nem Abiturjahrgang ging nur eine was hat man von diesen Werten, die Gegner eines angemessenen und auch unseres Landes von der
kleine Minderheit zum Bund, die wenn man tot ist? Der höchste Umgangs mit Stukenbrock als Nazidiktatur zahlte. Zu diesen
Mehrheit verweigerte und fühlte Wert muss doch das menschliche Erinnerungsstätte. Die Herkunft Menschen, die dafür ihr Leben
sich dabei moralisch durchaus Leben sein. Vor vielen Jahren ist völlig unerheblich – oder wäre verloren, gehörten zweifelsfrei
überlegen. Umso erstaunlicher sagte uns ein Lehrer, dass die die Erniedrigung der Zusammen­ die 65.000 Kriegsgefangenen, die
fand ich die stupide »Willkom­ meisten Verbrechen auf der Welt gepferchten weniger schlimm, zwischen 1941 und 1945 in Stalag
menskultur« bei der Grundaus­ im Auftrage oder im Namen von handelte es sich tatsächlich »nur« 326 (VI K) zu Tode gequält und
bildung, die überhaupt nicht auf Staaten oder einer Religion ge­ um Russen? All diese zu Tode ge­ im Sennesand in Massengräbern
Motivation und Menschenfüh­ schehen. Weil sich die Auftrag­ schundenen Menschen haben verscharrt wurden. Seit 1967 be­
rung ausgerichtet war, sondern geber auf höhere Werte berufen. Anspruch auf diesen posthumen müht sich der Arbeitskreis Blu­
aus Prinzip streng, stumpfsinnig Nach einem langen Leben meine Respekt, als Minimum – und un­ men für Stukenbrock um eine
und uneinsichtig war. Es wäre ich, er hatte recht. abhängig von ihren Geburtsor­ würdige Gedenkstätte am Ort
nicht nur den Soldaten, sondern Dietrich Richter-Thiering, Leichlingen ten. Will man seine Glaubwürdig­ und gedenkt der Toten regelmä­
uns allen zu wünschen, dass Ge­ (NRW) keit nicht verlieren, sollte man ßig anlässlich des Antikriegstags
neralmajor Kurczyk mit seiner sich hierzulande nicht so ver­ am 1. September. Im Juni 1989
Haltung durchdringt und die Bun­ halten, wie man es dem Putin- waren es unter anderem Raissa
deswehr eine bessere und attrak­ Meister im Regime (zu Recht) vorwirft: bar­ Gorbatschowa, Hannelore Kohl
tivere Verteidigungsarmee wird. barisch. und Christina Rau, die sich dort
Arne Kolb, Lichtenau (Bad.-Württ.) Verdrängen Torsten Gefken, Bremen vor den Toten verneigten. In der
Nr. 15/2023  Das Grauen im damaligen sowjetischen Armee
Ich finde die Ansichten des Herrn Kriegsgefangenenlager »Stalag 326« Es ist beschämend, dass über­ kämpften Russen und Ukrainer
Kurczyk unerträglich. Aber es ge­ haupt Stimmen laut werden, sich gemeinsam gegen die Wehr­
hört wohl zu seinen Aufgaben, so Wer jetzt Bedenken hat, diesen gegen eine würdige Gedenkstätte macht, die ihr Land überfallen
zu argumentieren. Man möchte armen, malträtierten Menschen auszusprechen. Sehr beschämend. und verwüstet hatte. Rund 27
ihn fragen, ob er selbst daran ein würdiges Gedenken zu schaf­ Hans Eberhard, Dachau (Bayern) Millionen der Einwohner der
glaubt. Er beschwört wieder die fen, verhält sich armselig und UdSSR verloren in diesem Krieg
höheren Werte, die es zu vertei­ herzlos. Was haben diese armen Die Deutschen sind doch Meister ihr Leben. Das sollte auch ein
digen gilt. Ebenso natürlich das Geschöpfe mit dem heutigen im Verdrängen! Zwei weitere Grund für den Botschafter der
Vaterland. Genau diese Worthül­ Treiben Putins und seinem Über­ Kriegsgefangenenlager möchte Ukraine sein, sich einmal vor den
sen hat man vor 80 Jahren auch fall auf die Ukraine gemein? Ab­ ich hier benennen: Sandbostel Toten von Stukenbrock zu ver­
benutzt, um die Menschen in solut gar nichts! Es bleibt zu hof­ (bei Rothenburg) und Winter­ neigen.
Deutschland für den Krieg zu be­ fen, dass sich die humanen Kräf­ moor (bei Soltau). Dort kann man Werner Höner, Mitglied des
geistern. Und zu Anfang spricht te durchsetzen werden. auf umliegenden Äckern noch Arbeitskreises Blumen für Stukenbrock
er immer von Verteidigen. Um Georg Jahn, Velbert (NRW) immer Gürtelschnallen, Knöpfe e. V., Porta Westfalica (NRW)
am Ende zu sagen, das Militär oder Erkennungsmarken mit ky­
brauche Menschen, die bis ans »Russenlager« – bei einer Mehr­ rillischer Beschriftung finden! Ein Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Ende der Welt gehen und so ro­ heit von Ukrainern, Franzosen, Beweis dafür, dass viele der zu gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
bust und so erfolgsorientiert sind Belgiern und nicht russischen Tode gekommenen Kriegsgefan­ unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 17 / 22.4.2023 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Weg mit den Maklern? HOHLSPIEGEL

Von der Preisliste eines Schönheitssalons in


ZEITREISE Bis heute dürfte der Vorschlag der SPD-Linken bei vielen Frankfurt am Main:

auf Begeisterung stoßen: Die gewerbliche Immobilien­vermittlung solle


verboten werden, forderte die Partei 1973.
Nr. 17/1973  »Denen hat Christus

Werner Otto / picture alliance / United Archives / dpa


die Tische umgestoßen« Siebzigerjahresiedlung in
Aus dem »Leader-Rundbrief« des Kreises Höxter:
Oberhausen
»Mitte Oktober ging es für unsere
Was mag die Delegierten Regionalmanagerin Lia Potthast mit dem
des SPD-Bundespartei­ Zug einmal queer durch das Land.«
tags im April 1973 geritten
haben, als sie kurz vor
Aus der Speisekarte eines Restaurants in Kaiserslautern:
Ende der Veranstaltung in
Hannover dem An­
trag 296 zustimmten? »Die Ausübung des
Gewerbes zur Vermittlung von Grundstü­
cken und Wohnungen ist gesetzlich zu
unterbinden« – Immobilienmakler sollten Aus einem Nachbericht zu einer Weltkriegsbomben-­
Entschärfung im »Göttinger Tageblatt«:
Berufsverbot erhalten. Niemand hatte mit Es sei volkswirtschaftlich besser, öffent­
der Annahme gerechnet, selbst die Initia­ liche Mittel für die Wohnungsvergabe be­ »Auf dem unwegsamen Gelände selbst
toren des Antrags aus dem notorisch ­linken reitzustellen, als »Einzelne auf Kosten der tut sich am Montagmittag nichts. Teil­
SPD-Bezirk Hessen-Süd waren erstaunt: Allgemeinheit Millionen verdienen« zu nahmslos stehen Pumpen, Sandsäcke und
»Das lief auch für uns überraschend«, be­ ­lassen, argumentierte ein Delegierter. Die Holzplatten am Rande des Geländes.«
kannte einer von ihnen im SPIEGEL . Wollte SPD-Spitze sah das differenzierter: »Die
man den Parteilinken wenigstens einen Probleme unseres Bodenrechts werden
Bekanntschaftsanzeige aus dem »Mangfall-Boten«:
Achtungserfolg gönnen? Oder sollten die nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass
Immobilienmakler nur als Sündenbock für man den Beruf des Maklers abschafft«,
die auch damals herrschende Wohnungs­ wandte etwa Bundesbauminister Hans-­
misere herhalten? Schließlich standen die Jochen Vogel ein. Andere verwiesen
Makler »im öffentlichen Ansehen für leis­ auf kommunale Vermittlungsstellen, die
tungsfreies Kassieren, für Ausbeutung eines etwa in Nürnberg erfolgreich etabliert wor­
allgemeinen Notstandes und für Schma­ den waren. Das Ganze entpuppte sich als
rotzertum«, wie der SPIEGEL das Bran­ Sturm im Wasserglas – die Makler durften
chenimage zusammenfasste. weitermachen. Rainer Lübbert Ein Bürgermeister im Mitteilungsblatt der
Verbands­gemeinde Ulmen, »Vulkan-Echo«:

»Es wäre wünschenswert, wenn zukünftig

Super Spiel
Sportvorstand Hasan Salihamidžić hatte ein mehr Helfer und weniger Umweltsünder
»super Spiel« gesehen. ihre Abfälle wie alte Reifen, Flaschen,
Kritik am möglicherweise verantwort­ Zigarettenschachteln und Elektrogeräte
lichen Bayern-Vorstandschef ist ebenfalls auf die Wege, Parkplätze oder in Wald
SO GESEHEN  Der FC Bayern
fehl am Platz: Oliver Kahn war schließlich und Flur ablagern würden.«
betreibt Fehleranalyse. ­jahrelang Torhüter der Bayern und der
­Nationalmannschaft, hat jede Menge ge­
Aus der »Leonberger Kreiszeitung«:
Nach dem Ausscheiden des FC Bayern fährlichster Torschüsse gehalten und ist
München im Viertelfinale der Champions nach eigenen Worten Druck gewohnt.
League steht der Verein kurz vor einer Dass wiederum Trainer Tuchel sich nach
Lösung des Rätsels dieser wenig standes­ dem Spiel erbost über die Arbeit des Schieds­
gemäßen Niederlage. richters Clément Turpin geäußert und diesem
Vermeintlich naheliegende Ursachen »von der ersten Minute, von der ersten Ent­
konnten bereits kurz nach Abpfiff aus­ scheidung an« die »Note 6« erteilt hat, mag
geschlossen werden. Am Spiel der Mann­ man als emotionalen Ausbruch werten, der
schaft lag es schon einmal nicht, diese nach Niederlagen nicht unüblich ist. Von der Aus der »Rhein-Neckar-Zeitung«:
laienhafte Annahme konnte Thomas Gegenseite sind jedenfalls keine Beschwer­ »Falsch parkende Autos werden nicht ab­
Tuchel umgehend ausräumen: Bereits den bekannt. Auch Tuchels Verweis auf die geschleppt, sondern lediglich verwarnt.«
nach der Hinspielniederlage Pflanzenwelt (»Der Rasen war nicht gut.
vergangene Woche hatte Er hat dem Niveau des Spiels nicht entspro­
Aus den »Weinheimer Nachrichten«:
der Trainer bekannt, chen«) war zwar originell, gilt aber als ab­
»schockverliebt« in seine wegig: Der Rasen in der Münchner Allianz-
Mannschaft zu sein; Arena hat bekanntlich das bayerische Abitur.
nach dem Rückspiel Tatsächlich ist die Ursache so verblüf­
zeigte er sich fend offensichtlich, dass sie zunächst auch
immer noch von Experten übersehen wurde. Erst aus­
»sehr zufrieden« führliche Videoanalysen am Tag nach dem
mit der Leistung Spiel brachten sie ans Licht: Es lag am Ball.
seiner Spieler. Auch Er war zu rund. Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 17 / 22.4.2023


Frühjahr  2023
Das Kulturmagazin

Anna Winger
Sie macht aus
historischen Stoffen
gute Serien

Pene Pati
Der Tenor kam
zufällig zur
klassischen Musik

Elizabeth Strout
Eine Liebeserklärung
an die Autorin

»Ich hatte so
viel Glück«
Constantin Schreiber verrät,
wie man Glücklichsein trainieren kann
Inhalt 1 / 2023

Titel Musik

Constantin Schreiber S. 4 Pene Pati S. 24


Der »Tagesschau«-Sprecher konnte Der Tenor aus Samoa gilt als große
die ­ganzen schlechten ­Nachwuchshoffnung. Dabei kam er nur
Nachrichten ­irgendwann nicht ­zufällig zur klassischen Musik.
mehr ertragen. Dann lernte
er, dass man Glück trainieren kann. Neue Alben S. 26
Jessie Ware: »That! Feels Good!«, Rob
Bücher Mazureks Exploding Star Orchestra:
»Lightning Dreamers«, Eli Preiss: »b.a.d.«
Elizabeth Strout S. 8
Schafft die US-Autorin hohe Literatur Charts Jazz, Klassik S. 27
oder einfach nur Bestseller? Auf jeden
Fall machen ihre Bücher süchtig. Charts Pop S. 28

Neue Bücher S. 10


Eugen Ruge: »Pompeji«, Sarah Chaney:
»Bin ich normal? Warum wir alle IMPRESSUM
von dieser Frage besessen sind und Sänger Pati SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG,
wie sie Menschen ab­wertet und Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
ausgrenzt«, Kai-Ove Kessler: »Die Welt Kolumne: Das seltsame Sachbuch S. 21 Herausgeber
ist laut. Eine Geschichte des Lärms« Anja Rützel rät davon ab, »Der alte weiße Rudolf Augstein (1923 bis 2002)
Mann« von Norbert Bolz zu lesen. ­Chefredaktion Steffen Klusmann
Bestsellerliste Paperback (V. i. S. d. P.), Dr. Melanie Amann,
und Taschenbuch S. 10 Kolumne: Die Kochprobe S. 29 Thorsten Dörting, Clemens Höges
Barbara Supp backt Pide nach den Redaktion Laura Backes
Bestsellerliste Essen und Trinken S. 11 Rezepten der türkisch-schweizerischen Creative Department Bente Kirschstein
­Köchin Elif Oskan. Gestaltung Leon Lothschütz
Bestsellerliste Hardcover S. 12 Bildredaktion Philine Gebhardt, Jens Ressing
Kolumne: Und das soll ich lesen? S. 30 Titelbild Suze Barrett
Kolumne: Damals auf der Für Sebastian Hammelehle und Chefin vom Dienst Anke Jensen
BestsellerlisteS. 15 Maren Keller ist »Melody« von Martin Suter ­Schlussredaktion Christian Albrecht,
»Gesund durch Autogenes Training« das Instagram der Literatur. Lutz Diedrichs, Sandra Waege
von Gisela Eberlein war 1973 Organisation Sophie Schwenke
an der Spitze der Büchercharts. Filme & Serien Produktion Sonja Friedmann,
Linda Grimmecke, Petra Thormann
»LOL – Last One Laughing« S. 16 Herstellung Silke Kassuba, Iris Weber
Wie beruhigend harmlos auch die vierte Objektleitung Manuel Wessinghage
Staffel der Comedyshow ist, merkt Verantwortlich für Anzeigen
man erst, wenn man sich die Staffeln Hannes Engler, Sabine Schramm-Lühr
­anderer Länder anschaut. Geschäftsführung Thomas Hass
(Vorsitzender), Stefan Ottlitz
»Transatlantic«S. 18 Druck appl druck GmbH, Wemding
Die Serie zeichnet die Flucht von
www.blauer-engel.de/uz195
Hannah Arendt, Marc Chagall und Anna • ressourcenschonend und
­Seghers vor den Nazis nach. umweltfreundlich hergestellt
• emissionsarm gedruckt
• überwiegend aus Altpapier
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Neue Filme S. 22 Dieses Druckerzeugnis ist mit dem Blauen Engel ausgezeichnet.

»The Whale«, »Beau is Afraid«,


»All the Beauty and the Bloodshed«,
»Das Lehrerzimmer« Die nächste Ausgabe
von SPIEGEL BESTSELLER
Schriftstellerin Strout KinochartsS. 22 erscheint am 17. Juni.

Titelfoto: Saskia Allers / DER SPIEGEL 3


Titel

»Einfach mal
die Glotze auslassen«
Psychologie  Abend für Abend berichtet Constantin Schreiber, 43, im Ersten
Deutschen Fernsehen über die Krisen der Welt. Hier erzählt er, warum er
privat lieber nicht über Politik redet – und wie er aktiv trainiert, glücklich zu sein.
SPIEGEL: Herr Schreiber, neulich sah Schreiber: Auf jeden Fall habe ich mit und kompetent das Elend dieser Welt,
ich Sie in den »Tagesthemen«. Ihre Kol- anderen Journalisten gerade in dieser vom Klimawandel bis zum Niedergang
legin Caren Miosga arbeitete eine Phase oft über die Belastung durch die des Westens, während man eigentlich
Katastrophe nach der anderen ab, Erd- Nachrichten über den Krieg in der Uk- ein trendy Selfcare-Buch erwartet.
beben, Ukraine, Israel. Dann waren Sie raine gesprochen. In der Maske etwa Schreiber: Wenn man sich im Moment
an der Reihe, und es wurde nicht besser. sagte eine Kollegin damals: »So, ich die Weltlage anschaut, hat man eher
In Ihrem Buch erzählen Sie, dass man mache jetzt den Ton aus. Das hält man den Eindruck, dass die Leute denken,
Nachrichten vorlesen und zugleich ja nicht mehr aus.« In der Zeit haben alles wird immer nur noch viel schlim-
weghören kann. War das so ein Abend, auch immer mehr Menschen in meinem mer. Ich glaube, viele befinden sich eher
an dem das der Fall war? Umfeld gesagt, sie schauen und lesen in einem Widerstandsmodus gegen Kri-
Schreiber: Das mache ich nun wirklich keine Nachrichten mehr. Viele hatten sen und Katastrophen, aber nicht un-
nicht regelmäßig. Ich bezog mich damit – genau wie ich – auf das Ende von bedingt im Selfcare-Modus.
auf eine konkrete Situation vor einem Corona gehofft. Und dann kam der SPIEGEL: Nun, Sie selbst beschreiben
Jahr, die mich zum Nachdenken ge- Krieg, eine wirklich bildgewaltige Kri- in Ihrem Buch Wege, wie man aus
bracht hat: Ich stand um 20 Uhr vor der se. Das kann man sich nach einem Pan- dieser dunklen Spirale ausbrechen
Kamera – und mir war bewusst, dass demiewinter vielleicht besser im Radio kann. Wie man trotz miserabler Welt-
man da besser nicht in Tränen ausbre- anhören. lage optimistisch bleiben kann. Sie spie-
chen sollte –, aber ich musste mich SPIEGEL: News-Fatigue ist ein Phäno- len Klavier.
wirklich zusammenreißen. men unserer Zeit, Nachrichtenmüdig- Schreiber: Ich war kurz vor einer
SPIEGEL: Was war denn los? keit. Ist das nicht ein Problem für die News-Fatigue oder hatte sie schon und
Schreiber: Ich dachte die ganze Zeit Gesellschaft, wenn immer mehr Men- habe einfach meinen Job weiterge-
nur: Was passiert eigentlich gerade mit schen abschalten? macht. Ich kann mich noch genau an
mir und der Welt? Wenige Tage zuvor Schreiber: Absolut. Unser Gemeinwe- die Situation erinnern, eines Tages setz-
hatte der Angriffskrieg Russlands gegen sen, unser Miteinander, letztlich Demo- te ich mich an das Keyboard, das meine
die Ukraine begonnen. Jeden Abend kratie an sich beruht darauf, dass wir Tochter geschenkt bekommen hatte,
begegneten einem all diese Horrormel- informiert sind. Dass wir wissen, was nach 28 Jahren Pause – mal gucken, ob
dungen, hochemotionalen Berichte und um uns herum passiert. Damit wir uns sich die Finger noch bewegen ...
weinenden Menschen. Außerdem hatte einbringen können, wir uns engagieren SPIEGEL: Und?
ich zu diesem Zeitpunkt 28 Tage am oder eben bei Wahlen eine politische Schreiber: Ich habe in meiner Jugend
Stück gearbeitet. Je länger diese Ar- Entscheidung treffen. News-Fatigue ist Klavier spielen gelernt. Es ist offenbar
beitsphase dauerte und je mehr ich die- für die Gesellschaft schlecht, aber für wie das Fahrradfahren, man verlernt es
se Bilder und Nachrichten konsumierte, den Einzelnen vielleicht gerade eine nicht. Und es hat mich gleich gepackt.
desto mehr durchbrach das meine natürliche Reaktion auf eine Art Bad- Ich habe mir Noten bestellt, mit Kopf-
Schutzschicht. Und als ich merkte, die News-Überforderung. hörer gespielt. In unserem Wohnzim-
beginnt nun zu reißen, habe ich mir ge- SPIEGEL: Als ich begann, Ihr Buch zu mer hörte man immer nur das Klacken
sagt: Jetzt lese ich nur noch Buchstaben lesen, dachte ich zunächst, sie über- der Tasten, bevor wir schließlich los-
und höre nicht mehr hin. kommt mich ebenfalls. Auf den ersten gezogen sind, um ein Klavier zu kaufen.
SPIEGEL: Eine Art Notausschalter? 20 Seiten schildern Sie komprimiert Erst später habe ich herausgefunden:
Schreiber: Ein Schutzmechanismus, Das war bereits Glückstraining! Ich
damit ich die Sendung überhaupt so zu habe mein Gehirn stimuliert, Glücks-
Ende bringe, dass man mir nichts an- botenstoffe wurden ausgesandt. Und
merkt. In dem Moment habe ich auch Constantin Schreiber: ich habe mich tatsächlich besser gefühlt.
gemerkt: Man kann Bewusstsein sehr Glück im Unglück SPIEGEL: So einfach war es, sich bes-
konkret auf etwas lenken. Oder von et- Wie ich trotz schlechter ser zu fühlen? Was bedeutet Glücks-
was weg lenken. Nachrichten optimis- training?
SPIEGEL: Wissen Sie, ob es Ihren Kol- tisch bleibe. Hoffmann Schreiber: Erst einmal habe ich ge-
leginnen und Kollegen von der »Tages- und Campe; 160 Seiten; merkt, dass mir das Umschalten guttut,
schau« auch manchmal so geht? 22 Euro. weg vom Job. Das war für mich als
4 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023
Autor Schreiber: »Was passiert eigentlich gerade mit mir und der Welt?«

Foto: Saskia Allers / DER SPIEGEL 5


UNTERWEGS
Journalist ein großer erster Schritt: zu Schreiber: Wenn das Gehirn bestimm-
sagen, es ist okay, mal nicht zu lesen, te Botenstoffe aussendet – Dopamin,
was aktuell los ist. Einfach mal die Glot- Oxytocin, Endorphine, Serotonin
INS ze auslassen und nicht auch noch die
letzte Talkshow des Tages anschauen.
etwa –, dann empfinden wir Glücks­
gefühle. Für Neurowissenschaftler ist es
UNGEWISSE Heikle Sache für einen »Tagesschau«-
Sprecher, ich weiß. Aber wenn ich das
ein erklärbarer biologischer Vorgang.
SPIEGEL: Und was ist der philosophi-
sage, dann ist es vielleicht auch für an- sche Stand der Dinge?
dere eher okay. Schreiber: Lange ging es um die Frage,
SPIEGEL: Was war der zweite Schritt? ob man das bekommt, was man wollte.
Schreiber: Mir wurde klar, dass ich Aber das greift ein bisschen kurz: Ich
mein Wohlbefinden aktiv gestalten will die Banane essen. Dann habe ich
kann, mein Glück trainieren kann. Je sie gegessen und muss mir was Neues
länger ich Klavier gespielt habe, desto suchen. Also das kann ich nun nicht all-
besser ging es mir. Die Musik ermög- umfänglich als Glück definieren.
lichte mir Gefühlshochs, die ich vorher SPIEGEL: Also reicht das Klavierspie-
lange Zeit nicht hatte. Dann fing ich an, len doch nicht?
psychologische Literatur zu lesen. Die Schreiber: Um vollumfänglich glück-
Positive Psychologie ist bekannt, aber lich und zufrieden zu sein: nein! Das
ich kannte sie noch nicht. Zunächst de- Hangeln von einem Glücksmoment
finiert man Charakterstärken: Optimis- zum nächsten greift für mich zu kurz.
mus, Neugierde, Humor. Es geht da­ Da mag zwar das Gehirn biologisch
rum, seinen Sinn für das Schöne zu Glücksstoffe aussenden, aber auf mei-
schärfen, das hatte ich intuitiv bereits ner Glücksliste tauchte zusätzlich eine
getan mit dem Klavierspielen. Aber das Werteebene auf, die beständiger ist als
geht auch mit Kunst oder Natur­ ein Sonnenuntergang oder das Klavier-
erlebnissen. Was kann man im Alltag stück, das dann eben vorbei ist.
tun, um das Gehirn dazu zu bringen, SPIEGEL: Was meinen Sie mit Werte-
336 Seiten mit Abb. � 25,00 € glücklich machende Botenstoffe auszu- ebene?
Auch als E-Book erhältlich. schütten? Schreiber: Mir ist zum Beispiel Höf-
SPIEGEL: Gut essen, Sport treiben … lichsein wichtig. Es stört mich, wenn
Schreiber: Genau. Es ist kein Hexen- es keine Höflichkeit im täglichen Um-
SPIEGEL-Reporter werk. Man kann sich einfach hinsetzen gang gibt. Ein soziales, gerechtes Mit-
Christoph Reuter berichtet und aufschreiben, was einen glücklich einander ist mir ebenfalls wichtig. Ohne
seit 20 Jahren aus Afghanistan. macht – Geld kommt da meistens gar das fällt es mir schwer, wirklich glück-
Als die Taliban 2021 die Macht nicht vor. Wo geht mir das Herz auf, lich zu sein.
übernahmen, musste er das Land wann habe ich ein schönes, wohliges SPIEGEL: Im Buch schreiben Sie, dass
verlassen, kehrte aber Gefühl? Am Meer, in der Natur. Mit Spiritualität glücklich macht – und zu-
kurz darauf zurück. Freunden. Auf Reisen … gleich, dass Sie längst aus der evangeli-
Mehr noch: Er reiste in Regionen, SPIEGEL: Dafür braucht man aller- schen Kirche ausgetreten sind. Haben
die Landesfremden dings schon Geld. die Kirchen noch eine Bedeutung für
seit Jahrzehnten verschlossen Schreiber: Ganz ohne Geld wird es das individuelle Glück?
schwierig mit dem Glücklichsein, das Schreiber: Dadurch, dass sie versu-
waren und blieb über Monate.
sagt auch der Glücksforscher Tobias chen, sich bei tagespolitischen Themen
Entstanden ist ein
Esch, mit dem ich für das Buch gespro- einzumischen, werden sie Teil des von
beeindruckender Roadtrip durch chen habe. Aber schon ab einem relativ mir beschriebenen Problems. Selbst
Geschichte und Gegenwart des niedrigen Niveau ist es nicht mehr während des Gottesdienstes geht es um
Landes, der die Frage aufwirft, wichtig. In dem Moment, in dem ich politische Fragen, um Nachrichten. Als
welche Zukunft unter den Taliban meine Miete und mein Essen bezahlen ich selbst ausgetreten bin, war mir die
möglich ist. kann, ist der Einfluss des Geldes auf Institution Kirche schlicht egal ge­
Glück sehr, sehr gering. worden.
SPIEGEL: Und was ist Glück? SPIEGEL: Wo finden Sie stattdessen
Schreiber: Das ist dann doch wieder Spiritualität?
eine schwierige Frage. Es gibt eine me- Schreiber: Spiritualität heißt auch, sich
dizinische Annäherung und eine philo- geborgen zu fühlen in einem größeren
sophische. Ganzen. Es kann beruhigend sein zu
SPIEGEL: Was ist denn Glück aus me- wissen, dass dieser Berg noch in 1000
dizinischer Sicht? Jahren dort stehen wird, wenn wir

6 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023


Titel Überall, wo es Bücher gibt –
oder hier entdecken!

schon alle nicht mehr da sind. Der Aber, ja, ich hatte nie große emotionale
braucht uns nicht, und das ist gut. Krisen. Heute wird mir bewusst, wie
SPIEGEL: In Ihrem Buch geht es im- geborgen das alles war. Und wie gut.
mer wieder um Ehrfurcht. Auch Ehr- SPIEGEL: In Ihrer Jugend gab es noch
furcht vor einem einzigartigen Pianis- einen starken Glauben an die Zukunft
ten etwa mache glücklich. – heute ist stattdessen die »Letzte Ge-
Schreiber: Schauen Sie sich den Be- neration« sehr präsent. Sie beklagen,
griff an. Ehre und Furcht. Furcht ist dass Aktivistinnen und Aktivisten stän-
eigentlich nichts, was uns glücklich dig Angst verbreiten, haben einen Ekel
macht. Ehrfurcht macht uns kleiner, vor Twitter. Gehen Ihnen die jungen
vereinzelt uns, aber nicht auf eine Leute auf die Nerven?
­negative Weise. Es ist eher so, dass wir Schreiber: Ich bin nicht genervt von
über etwas staunen, etwas oder jeman- der »Letzten Generation«, das kann ich
den anerkennen. Psychologen sagen, nicht sagen. Ich nehme deren Ängste
dass Ehrfurcht eine Charaktereigen- ernst. Nicht gut finde ich die Art und
schaft ist, die am stärksten Emotionen Weise, wie alle – Aktivisten, Politik,
auslösen kann. Und sie ist schwer zu Medien – Negativität schüren. Das ist
trainieren, weil Ehrfurcht meistens et- nicht zielführend. Wenn man ständig
was ist, das uns überkommt. Ich kann Angst und Schrecken schürt, sind die
schwer sagen: Ich werde zu Tränen ge- Menschen eben irgendwann ängstlich
rührt sein heute Abend. und verschreckt.
SPIEGEL: Und kann man andere Cha- SPIEGEL: Aber genau das wollen die
raktereigenschaften trainieren? Klimaaktivisten doch.
Schreiber: Ja, mal mehr, mal weniger Schreiber: Ich war fassungslos, als die
leicht. Am einfachsten ist das tatsäch- Klimaaktivistin Luisa Neubauer sagte,
lich mit Humor. Lachen entfaltet seine jedes sechsjährige Kind habe Grund,
glücklich machende Wirkung selbst Angst vor seiner eigenen Zukunft zu
dann, wenn es unecht, also künstlich ist. haben – was nützt das dem sechsjähri-
Daher funktioniert sogenanntes Lach- gen Kind? Es kann ja nichts dagegen
yoga tatsächlich, also wenn sich Men- machen. Was nützt es den Eltern? Was
schen treffen, um ohne Anlass einfach nützt es der Debatte?
zu lachen. Schwieriger ist das Training SPIEGEL: Auf die Nerven geht Ihnen
aber interessanterweise bei der Charak- jedenfalls eine »alles durchdringende EINE
terstärke Freundlichkeit. Denn da ist es
im Gegensatz zum Lachen so, dass wir
Politisierung des Alltags« – stattdessen
hätten Sie sich »kritisch depolitisiert«.
LIEBESERKLÄRUNG
aufrichtig freundlich sein müssen, damit Ungewöhnlich für einen Journalisten. AN LEISTUNG,
es uns glücklich macht. Schreiber: Ich gestehe, dass ich mich
SPIEGEL: Wenn die Fähigkeit, Ehr- mit Menschen abends lieber nicht über ERFAHRUNG UND
furcht zu empfinden, eine Charakter-
eigenschaft ist – ist sie dann erworben
Politik unterhalte, und ich bin glücklich
damit. Das fing mit dem Glückstrai­ning
CHARAKTER
oder angeboren? an: Ich lenke im Bekannten- und
Schreiber: Ich bin natürlich nur der Freundeskreis das Thema auf anderes, Der mutige Einspruch der Politik-
Rezitator wissenschaftlicher Lektüre, weil man sonst wieder in die Negativi- journalistinnen NENA BROCKHAUS
aber das ist etwas, was ich mich früh tät abrutscht. Bei manchen Diskursen und FRANCA LEHFELDT gegen
gefragt habe: Hat man einfach ein son- wie Zuwanderung oder Gendern frage
den moralisierenden Zeitgeist
niges Gemüt? Empfindet der eine Ehr- ich mich auch: Wohin soll das jetzt
furcht, der andere nicht? Früher hätte eigentlich führen, außer dass man sich und die pauschale Männerkritik.
man gesagt: Die Prägung der Kindheit auch noch im Freundeskreis kritisch Ihr Argument: Lebensleistung.
ist übermächtig. Inzwischen sagt man, beäugt?
50 Prozent unserer Charakterstärken SPIEGEL: Haben Sie eigentlich schon
sind vererbt. Es geht darum, wie Boten- mal überlegt, ob das Nachrichtenge-
stoffe weitertransportiert werden, ein schäft noch der richtige Beruf ist?
rein biologischer Vorgang. 50 Prozent, Schreiber: Ich bin sehr glücklich mit
das ist eine ganze Menge. meinem Job. Und empfinde tiefe Dank-
SPIEGEL: Wie erinnern Sie sich an barkeit dafür, dass ich im Leben – auch
Ihre Kindheit? beruflich – so viel Glück hatte.
Schreiber: Sie war großartig! Darüber
nachgedacht habe ich eigentlich nie. Interview: Martin Reichert

7 7
Bücher

Die Empathische
Literatur  Ein Buch von Elizabeth Strout lesen ist wie ein Sog. Man verfällt sofort
ihren Figuren und ihrem plauderhaften Ton, fühlt sich in
ihren Worten zu Hause. Eine Liebeserklärung an die US-Autorin.

D ass Elizabeth Strout eine beson-


dere Schriftstellerin ist, erkennt
man daran, dass es ihr gelingt, eine
gewöhnliche Szene zu nehmen und zu
etwas Außergewöhnlichem zu gestalten.
Alltägliche Momente, jemand steigt bei-
spielsweise aus dem Auto, werden bei
Strout mächtig. Wir fühlen mit ihren
Figuren, begleiten sie dabei, wie sie
etwa Ameisen beobachten, die durch
einen Riss im Pflaster wimmeln und das
machen, wozu sie auf der Welt sind: le-
ben, bis sie sterben.
Das Lesen von Strouts Büchern löst
immer etwas Großes aus, weil die
67-jährige Schriftstellerin wortkarg und
elegant mit Emotionen umgeht, sie
nicht banal zur Schau stellt und es so
schafft, große Reaktionen herauszukit-
zeln. Weinen und Lachen, das geschieht
bei ihr fast parallel. Gleichzeitig hat
man das Gefühl, die Menschen und die
Beziehungen, die sie beschreibt, aus
dem eigenen Leben zu kennen. Das ist
das Geheimnis von Strout: die Komple-
xität der Menschen so genau und wun-
derbar einzufangen.
Wie etwa in »Die langen Abende«.
Mehr als zehn Jahre nach »Mit Blick Schriftstellerin Strout: Kein Satz ist zu viel
aufs Meer« rückt Strout erneut ihre
Protagonistin Olive Kitteridge in den hat, kann man nicht mehr loslassen. Ihre einen Bürojob, mal arbeitete sie in einer
Mittelpunkt. Die nervige, mittlerweile Figuren, ihr im besten Sinne plauderhaf- Schuhfabrik. Nebenher schrieb sie, doch
pensionierte und misanthropische Leh- ter Ton, ihre Beschreibungen entwi- der Erfolg kam spät, ihren ersten Ro-
rerin, verwitwet, zieht mit ihrem ckeln einen dermaßen großen Sog, es man veröffentlichte sie mit 42 Jahren.
neuen Partner zusammen, genießt ihr ist schwer, ihr nicht zu verfallen, sich Davor waren ihre Texte immer abge-
Leben und macht all das, was sie frü- nicht sofort in ihren Worten zu Hause lehnt worden. Sie habe damals eigent-
her verachtet hat, zur Pediküre gehen zu fühlen. lich gewusst, dass ihre Geschichten nicht
und reisen zum Beispiel. Strout ver- Strout kam in Portland, Maine, zur gut genug waren, erzählte sie mal, habe
zichtet auf jegliche Sentimentalität, Welt, studierte Jura, kellnerte und spiel- aber nicht aufgegeben und einfach im-
mit der die Liebe zwischen älteren te in einer Bar Klavier, mal machte sie mer weitergeschrieben. Es funktionier-
Menschen oft beschrieben wird, und te. Ihr Debütroman »Amy & Isabelle«
fokussiert sich nicht nur auf die Liebes- wurde 1998 zum Erfolg.
beziehung. Stattdessen entwirft sie das Obwohl Strout schon mehrere re-
Porträt einer Kleinstadt an der Küste nommierte Auszeichnungen wie den
Maines. Pulitzerpreis erhalten hat, wird der Au-
Viele haben die Autorin Elizabeth torin gelegentlich nachgesagt, keine
Strout durch die Miniserie »Olive Kitte- große Literatur zu schreiben. Bestseller
ridge« des US-Senders HBO kennen- Elizabeth Strout: werden ihre Romane auch so, das Pub-
gelernt. Sobald man jedoch zum ersten Oh, William! likum weiß, was es von der Autorin be-
Mal eines der Bücher von Strout gelesen btb; 224 Seiten; 12 Euro. kommt – und liebt sie genau dafür.
8 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023
Strout konstruiert in jedem ihrer Bü-
cher ein brillantes Multiversum. Es gibt
nichts Schöneres, als wenn Nebenfiguren
Dabei ruht sie sich nicht auf einem Stil
aus, sondern probiert Neues. In »Die
Unvollkommenheit der Liebe« treffen
Wie viel
Zeit bleibt
aus einem Buch in einem anderen wieder wir auf eine Icherzählerin, während
auftauchen. Zum anderen bleibt es nie »Mit Blick aufs Meer« wie eine Art
nur bei zwei, drei Menschen, ihre Ge- Kurzgeschichtensammlung daher-
schichten drehen sich immer um ganze kommt. Strout erzählt nicht linear, sie

uns noch?
Gemeinschaften. Ein Dorf etwa, eine springt hin und her – so wie wenn wir
Nachbarschaft. Oder, wie in ihrem zu- uns Geschichten erzählen. Dadurch
letzt auf Deutsch erschienenen Buch entsteht diese familiäre Vertrautheit.
»Oh, William!«, um eine Familie. Ihre Bücher kreisen fast immer um
Die Icherzählerin Lucy Barton, eine die Vergangenheit oder besser gesagt
in New York lebende Schriftstellerin um die Bewältigung von Erlebtem –
und mittlerweile in ihren Sechzigern, Scheidungen, Affären, Verluste, Tod,
unternimmt einen Roadtrip mit ihrem Eltern-Kind-Beziehungen. Dabei be-
Ex-Mann William. Während dieser Rei- kommen wir Einblicke in die Gedan-
se entfaltet sich ein komplexes Geflecht kenwelt von Menschen, die wir sonst
aus Verlust und Trauer. Lucy, deren nie erhalten würden. Strouts Heldinnen
zweiter Ehemann noch nicht lange tot sprechen all die schrecklichen Dinge
ist, blickt auf ihr Leben zurück, rekapi- aus, die wir nie öffentlich sagen wür-
tuliert die Ehe mit ihrem ersten Mann den – etwa wenn Olive Kitteridge die
William, die komplizierte Beziehungen ­Kinder der Frau ihres Sohnes als »gräss-
zu den beiden Töchtern und ihr Auf- lich« bezeichnet. Gleichzeitig verurtei-
wachsen in ärmlichen Verhältnissen. len wir diese Figuren nicht, sondern
Strout gibt dabei keine einfachen Ant- entwickeln Empathie für die Menschen,
worten, keine Lösungen vor. Denn die die wir durchs Leben begleiten.
Realität ist harsch, Beziehungen jeg­li­ Es geht Strout nicht um die billige
cher Art sind anstrengend und schön zu- Akzeptanz von Grausamkeiten oder
gleich. Und Lucy versucht, wie wir alle, Hass jeglicher Art. Vielmehr zeigt sie
das Leben so gut es geht zu meistern. uns, dass wir selbst die Menschen um
In »Oh, William!« zeigt sich auch, uns herum, die wir täglich sehen, nie- 304 Seiten, gebunden � 22,00 €
was fast alle Bücher von Strout neben mals ganz verstehen können, und nie Auch als E-Book erhältlich.
den existenziellen Themen ausmacht: genau wissen, wieso eine Person tut,
der Humor und die Offenheit der Figu- was sie tut. Und weil man nie weiß, was
ren. Als Lucy ihren Ex-Mann vor der Menschen durchmachen, schadet es Wie wir das Klima,
Reise am Flughafen trifft, geht ihr Fol- nicht, ihnen mit Empathie zu begegnen. unsere Freiheit und
gendes durch den Kopf: »Mir fiel gleich Denn alle tragen ihre Kämpfe im Alltag
auf, dass seine Khakihose zu kurz war.« aus, ringen mit ihren Dämonen.
demokratische Prozesse
Später, als sie streiten, weil sich William Als Olive in »Mit Blick aufs Meer« gemeinsam schützen,
aus Lucys Sicht zu wenig um ihre Panik- die erste Nacht mit ihrem neuen Part- zeigt der preisgekrönte
attacken kümmert, sagt sie: »Außerdem ner Jack verbringt, er ihr sagt, dass sie SPIEGEL-Journalist
könntest du eine Hose anziehen, die lang ihm alles anvertrauen könne, antwortet
genug ist. Diese Khakihose ist dir zu sie: »Ich hab meinen Sohn wirklich ge-
Jonas Schaible in diesem
kurz, ich kriege Zustände, wenn ich dich prügelt. Ein paarmal, als er noch klein eindringlichen Buch.
anschaue. Verdammt, William, du siehst war. Nicht nur den Hintern versohlt.
dermaßen bekloppt aus damit.« Dieser Geprügelt.« Olive empfindet keine
kleine Dialog verrät viel über die Figu- Reue für das, was sie in der Vergangen-
ren. Es herrscht zwar eine Vertrautheit heit getan hat. Sie bittet nicht ihren »Haarscharf argumentiert,
zwischen den beiden, doch ihre Bezie- Sohn um Vergebung, sondern ihren bildgewaltig geschrieben
hung ist nicht frei von schmerzhaften Er- neuen Partner, sie so zu sehen, wie sie
fahrungen aus der Vergangenheit – wie wirklich ist – als unvollkommene Per- und nichts anderes als exakt
Williams Affären.
Was macht also die Kunst von Eliza-
son, die manchmal grausam zu ihren
geliebten Menschen war.
am Puls der Zeit.«
beth Strout aus? Da sind zunächst ihre Dass man nach über 300 Seiten Nach- Luisa Neubauer
Geschichten, die sich einfach gut lesen. sicht für eine Frau empfindet, die ihr
Gleichzeitig steht jeder Satz genau an eigenes Kind geschlagen hat, das schaffen
der richtigen Stelle und verrät mehr als nur wenige. Elizabeth Strout schafft es.
zunächst ersichtlich. Ihre Sätze haben
etwas Melodisches, kein Satz ist zu viel. Enrico Ippolito

Foto: The New York Times / Redux / laif 9 www.dva.de 9


Neue Bücher Bestseller Taschenbuch
Belletristik

1 Susanne Abel: Stay away from Gretchen


dtv; 13 Euro

2 Eva Almstädt: Ostseenebel


Lübbe; 12 Euro

3 Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek


Droemer; 12,99 Euro

4 Klaus-Peter Wolf: Ostfriesengier


Fischer; 13 Euro

5 Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse


Heyne; 11,99 Euro

Bestseller Paperback Belletristik

1 Gil Ribeiro: Dunkle Verbindungen


Kiepenheuer & Witsch; 17 Euro

2 Marc Raabe: Der Morgen


Ullstein; 17,99 Euro

3 Sarah Pearse: Das Sanatorium


Goldmann; 17 Euro

Schriftsteller Ruge: Porträtist der untergegangenen DDR 4 Claire Douglas: Liebste Tochter –
Du lügst so gut wie ich
ROMAN kundler Plinius den Älteren auftreten, Penguin; 15 Euro

Antike Querdenkerei der als Ursache von Vulkanausbrüchen 5 Laura Kneidl: Vergiss uns. Nicht.
das sündhafte Treiben der Leute zu Lyx; 14 Euro

Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des ­erkennen glaubte, aber auch diverse er­
Jowna. dtv; 364 Seiten; 25 Euro. fundene Figuren. Der Hauptdarsteller Bestseller Taschenbuch Sachbuch
der Story, die ausdrücklich »kein Hel­
w Im alten Pompeji gab es »Mauer­ denepos« sein will, ist ein redegewand­ 1 J. Strelecky: Das Café am Rande der Welt
spechte«! So wurden, glaubt man dem ter Hasardeur und Frauenliebling. Er dtv; 8,95 Euro

Schriftsteller Eugen Ruge, die Kerle heißt Jowna, hat mit der schönen, rei­ 2 Karin Kuschik: 50 Sätze, die das Leben
­genannt, die sich Baumaterial aus den chen, verheirateten Livia tollen Sex und leichter machen
Ruinen der Stadt zusammenklaubten, gründet mit ihr einen der Immobilien­ Rowohlt; 15 Euro

die im Jahr 79 nach Christi durch einen spekulation dienenden »Vulkanverein«. 3 M. Linke / T. Kehl: Das einzige Buch,
Vulkanausbruch zerstört worden war. Das Buch ist ein frivoles Spiel, wie es das Du über Finanzen lesen solltest
Ruge, berühmt geworden als Porträtist so ähnlich bereits vielen enthusias­ Ullstein; 14 Euro

der untergegangenen DDR, erweist mierten Lateinlehrern in den Sinn ge­ 4 Jessie Inchauspé: Der Glukose-Trick
sich in dem Roman »Pompeij« als eine kommen sein dürfte. Nur haben die Heyne; 13 Euro

Art antiker Baron Münchhausen. Seine sich aus Mangel an poetischem Rüst­ 5 Raynor Winn: Der Salzpfad
Flunkerbegeisterung ist groß. zeug in der Regel dann doch nicht ge­ Goldmann; 10 Euro

Gebildet und unterhaltsam erzählt traut. Ruge traut sich. Er spielt virtuos
Ruge von der Vorgeschichte des Unter­ die Rolle eines ironisch allwissenden Bestseller Paperback Sachbuch
gangs einer Stadt, deren Verschwinden Geschichtsschreibers, dessen Bericht
seit fast zwei Jahrtausenden als angeblich auf 18 in einer Amphore 1 Stefanie Stahl: Das Kind in dir muss
Gleichnis für alles Mögliche herhält. versteckten Schriftrollen an die Nach­ Heimat finden
Für die Hybris des mit Technik hoch­ welt überliefert wurde. Kailash; 14,99 Euro

gerüsteten Menschen zum Beispiel; für Wie nicht anders zu erwarten, ist 2 Markus Wehner / Reinhard Bingener:
die zu allen Zeiten verbreitete Igno­ ­Ruges Pompeji ein Spiegel der Gesell­ Die Moskau-Connection
ranz gegenüber Vorboten einer Kata­ schaft der Gegenwart. Die Bewohner C. H. Beck; 18 Euro

strophe; vielleicht auch bloß für die sind mit Lüsternheit, Querdenkerei 3 Jana Crämer: Jana, 39, ungeküsst
Möglichkeiten der Natur, die Existenz und allerlei Intrigen beschäftigt – und Knaur; 15 Euro

der Lebewesen auf der Erde mit bösen werden durch die Katastrophe einer­ 4 Sheila de Liz: Woman on Fire
Überraschungen zu würzen. seits ausgelöscht und andererseits zu Rowohlt; 16 Euro

Ruge lässt einige historisch verbürgte postmortalen Berühmtheiten ge­ 5 Leon Windscheid: Besser fühlen
Figuren wie den wohlbeleibten Natur­ macht. Wolfgang Höbel Rowohlt; 16 Euro

10 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023


S AC H B U C H Ihre Meinung
Was auf die Ohren
interessiert
uns!
Kai-Ove Kessler: Die Welt ist laut. Eine Geschichte
des Lärms. Rowohlt; 430 Seiten; 26 Euro.

w Der Urknall war geräuschlos. Nicht Wir freuen uns auf Ihr Feedback:
nur, weil es niemanden gab, der ihn
Wie gefällt Ihnen unser Kulturma-
hätte hören können vor annähernd 14
Milliarden Jahren. Es gab auch keine gazin SPIEGEL BESTSELLER, und
Luft, in der die Schallwellen sich hät­ was können wir besser machen?
ten verbreiten können. Trotzdem
­können wir heute noch ein Echo des
Historikerin Chaney Urknalls hören: im Rauschen zwischen
den Sendern im Radio. Es ist der ganz
S AC H B U C H große Bogen, den der Historiker Kai-
Ist es normal, Ove Kessler in seinem neuen Sach­
nur weil alle es tun? buch »Die Welt ist laut« schlägt. Er er­
zählt die Geschichte der Menschheit
Sarah Chaney: Bin ich normal? Warum wir alle noch einmal als die Geschichte des
von dieser Frage besessen sind und Lärms, den wir gemacht haben: vom
wie sie Menschen abwertet und ausgrenzt. Zerschlagen großer Steine, um Hand­
Goldmann; 352 Seiten; 18 Euro. keile herzustellen, bis zum Starten
von Flugzeugen. Von den ägyptischen
w Wahrscheinlich ist es normal, darü­ Pyramiden bis zu den heutigen Mega­
ber nachzudenken, ob man normal ist. citys. Lärm, so beschreibt es Kessler,
Aber warum ist es das? Und seit
wann? Diesen Fragen geht die Histori­
ist das, was den Menschen begleitet,
während er Geschichte macht. Wann 20
kerin Sarah Chaney in einem Sach­ hat der Mensch am meisten gelärmt? Buchpakete
buch nach, das befreiende Kraft haben Wahrscheinlich in der ersten Hälfte zu gewinnen
kann. Denn die Geschichte des des 20. Jahrhunderts. Hat das Sirren
­Normalen ist auch eine Geschichte der der Festplatten die Welt leiser ge­
Ausgrenzung. »Der Normalstandard macht? Eher nicht, der industrielle
ist ein Glaubenssystem, eine Illusion, Krach hat sich eher verlagert. Ein paar Aktuelle
die die gesamte moderne westliche Zwischentöne fehlen allerdings. Ausgabe lesen
Gesellschaft durchzieht.« Noch zu Kessler erwähnt die Musik – aber dass
­Beginn des 19. Jahrhunderts benutzte der Mensch im geordneten Lärm Umfrage ausfüllen
niemand das Wort, um sich oder ande­ ­immer wieder Momente der größten auf spiegel.de/
re zu beschreiben. »Normal« waren Schönheit gefunden hat, interessiert umfrage-bestseller
nicht Menschen, sondern Winkel, ihn nicht wirklich. Tobias Rapp oder QR-Code scannen
Gleichungen, Formeln – ein mathema­
tischer Begriff. Der Siegeszug des 1 von 20 SPIEGEL
Konstrukts Normalität begann mit Bestseller Essen und Trinken BESTSELLER-
dem Siegeszug statistischer Metho­ Buchpaketen
den: Erst wer die Menschheit ver­ 1 Stefano Zarrella: Unglaublich lecker Ihrer Wahl gewinnen
misst, kann einen Durchschnitt er­ Community Editions; 29,90 Euro
mitteln – und diesen Durchschnitt in 2 J. Klasen, S. Schäfer, V. Andresen,
einem zweiten Schritt zur Norm erklä­ M. Riedl: Die Ernährungs-Docs – Gesund
ren, ihm also einen Wert beimessen. abnehmen mit der Darm-fit-Formel
Genau das geschah. Als sei der Durch­ ZS; 24,99 Euro
schnitt auf eine Art auch korrekt – 3 Yotam Ottolenghi: Simple. Das Kochbuch
und jede Abweichung ein Fehler. Eine Dorling Kindersley; 29,95 Euro
sehr mathematische Art, die Dinge zu 4 A. Fleck, S. Schäfer, J. Klasen, M. Riedl:
betrachten. Chaney stößt darauf, dass Die Ernährungs-Docs. Unser
allein die Systematisierung mensch­ Anti-Bauchfett-Programm
licher Realität mit einem Risiko ein­ ZS; 24,99 Euro
hergeht. Denn die Realität ist vielfälti­ 5 Jamie Oliver: One
ger als jedes System. Tobias Becker Dorling Kindersley; 29,95 Euro

Fotos: Milos Djuric; Tom Oldham / Goldmann 11 11


Bestseller Belletristik (Hardcover)
1 Martin Suter: Melody 11 Helga Schubert: Der heutige Tag
Diogenes; 26 Euro dtv; 24 Euro
Reiche Zürcher in ihrem Habitat, Alkoholismus und eine Was bleibt vom eigenen Leben, wenn man den
geheimnisvolle verschwundene Frau: Martin Suter macht, geliebten Partner pflegen muss? Davon erzählt
was Martin Suter eben macht, und viele finden es gut. Helga Schubert eindrucksvoll.

2 Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie 12 Marah Woolf: WiccaCreed | Zeichen & Omen


Piper; 24 Euro Nova MD; 22 Euro
Der Megaseller aus dem letzten Jahr ist immer noch Der erste Band einer Fantasy-Trilogie. Aber keine Sorge,
ganz vorn mit dabei: die Geschichte einer emanzipierten der Krieg, um den es geht, tobt schon seit Jahrhunderten.
Frau in den Sechzigerjahren der USA. Es wird also genug Stoff geben.

3 Jojo Moyes: Mein Leben in deinem 13 Mariana Leky: Kummer aller Art
Wunderlich; 25 Euro Dumont; 22 Euro
Einmal jemand anderes sein, das hat sich wohl jeder schon Ursprünglich waren es Kolumnen für »Psychologie heute«,
mal gewünscht. Für Sam geht das in Erfüllung. Allerdings in Buchform entfalten die Texte ihre literarische Kraft.
nicht unbedingt so, wie sie es sich gedacht hatte.
14 Colleen Hoover: It starts with us – Nur noch einmal
4 Simon Urban / Juli Zeh: Zwischen Welten und für immer
Luchterhand; 24 Euro dtv; 20 Euro
Nach Unterleuten kam Übermenschen und nun also Zweiter Band der Lovestory um Lily, Ryle und Atlas.
Zwischen Welten. Orientierungsvermögen hat Ob es wohl wieder von Klischees wimmelt?
Juli Zeh schon mal. Und offenbar ein Gespür dafür, was
die Leute lesen wollen. 15 Adriana Altaras: Besser allein als in schlechter
­Gesellschaft
5 Jochen Gutsch / Maxim Leo: Frankie Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Penguin; 22 Euro Wer die Spanische Grippe und das KZ überlebt hat,
Ein Mann will sich umbringen. Ein Kater rettet ihn. Es konnte bestimmt einiges erzählen. So wie die Tante von
­entsteht eine Mensch-Kater-Freundschaft. Ja, wirklich. Adriana Altaras.

6 Ewald Arenz: Die Liebe an miesen Tagen 16 Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts
Dumont; 24 Euro dtv; 22 Euro
Wenn die Sonne scheint, verliebt es sich ja fast Der zweite Band eines Buchprojekts mit dem großen Titel
von selbst. Interessanter wird es an den Regentagen. »Biographie einer Frau«. In diesem Fall geht es um
Der Gymnasiallehrer Arenz versucht sich an das Abhandenkommen einer Liebe. Passiert den Besten.
einer ­klassischen, aber berührenden Liebesgeschichte.
17 John Grisham: Feinde
7 Marc Elsberg: °C – Celsius Heyne; 24 Euro
Blanvalet; 26 Euro Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Tatsächlich ein
Mysteriöse chinesische Drohnen am Himmel – das ­Grisham-Roman ohne bestimmten Artikel. Feinde, im
gab’s ja vor Kurzem in Wirklichkeit. Jetzt Plural, unbestimmt. Klingt gar nicht schlecht.
auch in einem Thriller über den Klimawandel.
18 Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
8 Sebastian Hotz: Mindset S. Fischer; 23 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro Ein Psychiater, ein Nazigeheimnis in der Familie, ein
Man kennt ihn als El Hotzo von Twitter und Instagram, Sommerhaus: Die Poetikvorlesungen von Judith Hermann
lustig und pointiert. Geht das gut? Muss jeder geben Aufschluss über ihr Schreiben.
selbst entscheiden. Aber wahrscheinlich schon.
19 Nina George: Das Bücherschiff des Monsieur Perdu
9 Trude Teige: Als Großmutter im Regen tanzte Knaur; 21 Euro
S. Fischer; 22 Euro Endlich wieder ein Buchhändler als Protagonist! Gibt es
Was wäre ein Familienroman ohne ein tragisches viel zu selten. Dieser hier ist sogar Kapitän und hat
­Geheimnis aus der Nachkriegszeit? Eben. diesen nach Existenzialismus duftenden Namen. Toll.

10 Dörte Hansen: Zur See 20 Daniel Glattauer: Die spürst du nicht


Penguin; 24 Euro Paul Zsolnay; 25 Euro
Wer auf sprechende Namen steht, kommt hier auf seine Betuchte Toskana-Urlauber werden mit der
Kosten: Die Familie, die auf einer Insel lebt, vom hässlichen Realität konfrontiert. Ein echter Ich-halte-
Meer abhängig ist und aufgerieben wird, heißt Sander. der-Gesellschaft-den-Spiegel-vor-Roman.

12 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023


Auf Platz 18: Als Judith Hermann die literarische Bühne betrat, tat sie das mit einem Paukenschlag: Vor 25 Jahren erschien
der Erzählungsband »Sommerhaus, später«, dessen Protagonisten sofort als typische Generationenvertreter gelesen wurden:
saturiert, gelangweilt, unpolitisch. Zum Jubiläum wurde das Buch neu aufgelegt, was eine gute Idee war, denn aus heutiger
Sicht lesen sich die Geschichten ganz anders. Neidisch blickt man auf eine Zeit, in der vermeintlich vieles einfacher war. Dass
es für Hermann selbst nicht immer einfach war, kann man wiederum in ihren Poetikvorlesungen nachlesen. In »Wir hätten
uns alles gesagt« gibt sie Einblicke in ihre Familiengeschichte und deutet an, wie diese mit ihrem Schreiben zusammenhängt.

13
Bestseller Sachbuch (Hardcover)
1 Dirk Oschmann: 11 Elke Heidenreich: Ihr glücklichen Augen
Der Osten: eine westdeutsche Erfindung Hanser; 26 Euro
Ullstein; 19,99 Euro Die Literaturkritikerin beweist mal wieder, dass
Der Thüringer Literaturwissenschaftler schreibt über sie selbst eine große Erzählerin ist. Hier versammelt sie
eine viel verspottete und verhöhnte, Reiseerinnerungen.
vorverurteilte Minderheit: die Ostdeutschen.
12 Peter Wensierski: Jena-Paradies
2 Yael Adler: Genial vital! Ch. Links; 25 Euro
Droemer; 20 Euro Der frühere SPIEGEL-Redakteur rekonstruiert
Die Hautärztin und Ernährungsexpertin erklärt, wie sich den Tod des jungen DDR-Oppositionellen Matthias
Alterungsprozesse bremsen lassen. Domaschk.

3 Brianna Wiest: 101 Essays, die dein Leben 13 Howard W. French: Afrika und die Entstehung
verändern werden der modernen Welt
Piper; 22 Euro Klett-Cotta; 35 Euro
Das Buch als der bessere Therapeut: Das ist das Die westliche Welt verdanke ihren Wohlstand
­Versprechen, das Sachbücher zuverlässig auf diese Liste Millionen von Sklaven, schreibt der US-Journalist.
bringt. Auch dieses.
14 Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus
4 Bas Kast: Kompass für die Seele Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
C. Bertelsmann; 24 Euro Die Journalistin erklärt, warum »grünes Wachstum« ein
Der Bestsellerautor präsentiert Methoden für Wunschtraum bleiben wird. Will die Menschheit über-
mehr ­psychisches Wohlbefinden, darunter Bewegung, leben, so ihre These, muss sie auf Wohlstand verzichten.
gesundes Essen – und halluzinogene Pilze.
15 Stefanie Stahl: Wer wir sind
5 Kurt Krömer: Du darfst nicht alles glauben, Kailash; 22 Euro
was du denkst Die Therapeutin bietet einen Crashkurs in Psychologie –
Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro und veranschaulicht ihre Thesen mit
Der Komiker berichtet von seinen Depressionen – Patientenberichten aus ihrem Berufsalltag.
und wirbt für einen offenen Umgang mit psychischen
Krankheiten. 16 Michael Thumann: Revanche
C. H. Beck; 25 Euro
6 Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister Wie kam es zum Angriff auf die Ukraine? Russland­
C. H. Beck; 23 Euro korrespondent Michael Thumann zeichnet innenpoliti-
Der Historiker beschreibt den Untergang der bäuerlichen sche Stationen nach und beschreibt Putins Aufstieg.
Welt – und wie sich dieser Verlust für die Menschen
anfühlt. 17 Saverio Gaeta / Georg Gänswein: Nichts als die
Wahrheit
7 Constantin Schreiber: Glück im Unglück Herder; 28 Euro
Hoffmann und Campe; 22 Euro Wer war Papst Benedikt XVI.? Und wer Joseph Ratzinger?
Der »Tagesschau«-Sprecher bringt normalerweise Sein Privatsekretär erinnert sich.
schlechte Nachrichten in die Wohnzimmer.
Nun hat er ein Buch über das Glück geschrieben. 18 Emilia Roig: Das Ende der Ehe
Ullstein; 22,99 Euro
8 Dorothee Röhrig: »Du wirst noch an mich denken« Ein feministisches Manifest: Die queere
dtv; 24 Euro Politikwissenschaftlerin provoziert mit ihrer Forderung,
Die Journalistin stammt aus einer Familie, die zentral die Ehe abzuschaffen.
war im NS-Widerstand. Hier erzählt sie, wie sich das auf
sie ausgewirkt hat. 19 Torsten Sträter: Du kannst alles lassen, du musst
es nur wollen
9 Prinz Harry: Reserve Ullstein; 19,99 Euro
Penguin; 26 Euro Der Comedian versammelt humoristische Texte aus
Ein persönlicher Einblick in die britische Monarchie, den vergangenen drei Jahren.
der weltweit für Aufsehen gesorgt hat.
20 Wilhelm Schmid: Schaukeln
10 Anthony William: Heile dein Gehirn – Insel; 12 Euro
Das Basisbuch Der Philosoph erklärt in klugen Worten, was jeder
Arkana; 30 Euro Spielplatzbesucher weiß: Nur weniges macht so glück-
Der Gesundheitsguru verspricht Rundumheilung. lich wie Schaukeln.

14 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023


Damals auf der Bestsellerliste

1973: »Gesund durch Autogenes zahlen und neun Wochen auf Platz eins
der SPIEGEL-Bestsellerliste für »Gesund
Training« von Gisela Eberlein durch Autogenes Training« freuen. Und
als Gründerin der Deutschen Gesellschaft
für Gesundheitsvorsorge gab sie bald im

I ch bin ganz ruhig.« Darum geht es,


dieser Zustand soll erreicht werden –
mit immer gleichen Formeln, der Arm
Seine Methode zur »konzentrativen Selbst­
entspannung« war nach dem Krieg unter
anderem im Sport in Mode gekommen.
Radiosender SWF3 tägliche, halbminütige
Tipps unter dem Motto »Positiv sollen Sie
Ihren Tag beginnen – Gesundheitstrai-
wird »ganz schwer« und »ganz warm« Österreichs Skistar Karl Schranz schwor ning für Gesunde«.
und so weiter, bis zur »Selbstruhigstellung darauf, Golfer und Dartspieler überwanden Umgekehrt, vom medialen Auftritt zum
der Gemütsbewegungen«. Vor 50 Jahren mit AT nervöses Zittern; und auch Torwart Bestseller, verlief dann der Weg bei der
hatten viele vielleicht mal das Schlagwort Harald »Toni« Schumacher bekannte spä- Deutschkanadierin Kareen Zebroff, die
»Autogenes Training« (AT) gehört, aber ter, er habe damit die »grauen Wölfe« der ihre »Yoga für Yeden«-Lektionen in einer
was es genau damit auf sich hatte? Unklar. Depression bekämpft. Zeit zur Autosugges- ZDF-Sportsendung zum Buch machte –
Deshalb wurden gleich zwei AT-Ratgeber tion (»Du bist der Tiger. Der Ball ist die leider ohne die Alliteration im Titel. Es
1973 zu Bestsellern, belegten in der Jah- Beute«) fand er zum Beispiel bei WM-Spie- wurde die Nummer drei in der Sachbuch-
resabrechnung der SPIEGEL-Sachbuch- len während der Nationalhymnen. Jahresabrechnung 1974.
liste die Plätze drei und neun. Dr. Hannes Lindemann, Autor eines der Yoga und das »Yoga des Westens« (wie
Dabei war die Methode auch damals ganz beiden Bestseller von 1973, belegte den Autogenes Training manchmal genannt
und gar nicht neu. In den Zwanzigerjahren Nutzen der Strategie damit, dass es ihm wird – Droschkenkutscherhaltung statt
hatte der Berliner Nervenarzt Johannes ohne Autogenes Training nicht gelungen Lotussitz) sind bis heute übliche Bestand-
Heinrich Schultz die sechsschrittige Metho- wäre, im Einmann-Faltboot den Atlantik zu teile des therapeutischen Arsenals, wenn
de zur Selbsthypnose systematisiert, sein überqueren. Sein Buch trug den Titel es um den weiten Bereich der mentalen
»Versuch einer klinisch-praktischen Darstel- »Überleben im Stress« und benannte damit Gesundheit geht. Und auch der dazuge-
lung« liegt heute in der 20. Auflage vor und ein Feld, auf dem die Entspannungsmetho- hörigen Bücher. Denn die boomende
wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. de populär wurde. Stress war ein Riesen- neue Literaturgattung der Lebenshelfer,
Dass Schultz sich in der NS-Zeit für die thema Mitte der Siebziger, das nicht mehr die der SPIEGEL 1973 ausmachte, bevöl-
Vernichtung »lebensunwerten Lebens« nur Manager betraf: 1976 hieß es auf dem kert 50 Jahre später immer noch die Spit-
einsetzte und als Gutachter entschied, ob SPIEGEL-Cover: »Stress: Krankheit des ze der Bestsellerliste. Jüngstes Beispiel,
Homosexuelle ins KZ kamen oder nicht, Jahrhunderts«; Frederic Vesters »Phäno- im März 2023 auf Platz eins: der »Kom-
berichtete der SPIEGEL erst 1994. Man- men Stress« wurde ein Bestseller. pass für die Seele« von Bas Kast.
che Anhänger wollten trotzdem nicht Doch die größte Profiteurin der AT-Re-
wahrhaben, dass der bewunderte Schultz naissance war die Schultz-Schülerin Gise- Felix Bayer bekam mit seiner
ein »psychotherapeutischer Selektions- la Eberlein, Ärztin aus Leverkusen. Sie Mittelstufen­klasse eine Gruppeneinführung
arzt« war. konnte sich über sechsstellige Verkaufs- in Autogenes Training – folgenlos.
Illustration: Moritz Wienert / SPIEGEL BESTSELLER 15
Filme & Serien

Achtung, Genitalalarm!
Streaming  Wenigstens ist niemand nackt: Wer noch einmal neu erleben will,
wie ­aufregerfrei eskapistisch auch die vierte Staffel von »LOL – Last One Laughing«
­geraten ist, muss zum Vergleich nur in die Staffeln anderer Länder zappen.

K ein schlenkernder Penis, keine


Hodenzwickerei, das ist eine Er-
leichterung. Dass auch die vierte deut-
ten würde: Natürlich taugt »LOL« für
derlei Überlegungen kaum, weil man
sich hier vor allem darüber wundert,
ein, zwei Nachwuchskräfte, als unkalku-
lierbare Elemente im inzwischen recht
ensembeligen Gruppengefüge?
sche Staffel des Amazon-Prime-Erfolgs- wie unterschiedlich gelagert die Dinge Dass man auch Menschen komisch
formats »LOL – Last One Laughing« tatsächlich sein können, über die irgend- finden kann, die man nicht kennt, zeigt
ohne schmerzhaft plastische Vulgaritä- jemand schon lachen wird. Allein schon das Studium der zahlreichen interna­
ten auskommt, hält man nur so lange dieser Blickwinkel hält »LOL« immer tionalen »LOL«-Ableger. Noch nach-
für selbstverständlich, bis man sich an- noch interessant, weil das Format natur- drücklicher aber vermittelt ein Rund-
lässlich der gerade gestarteten Neuauf- gemäß die unterschiedlichen Brachiali- herum-Zapping eine evidenzbasierte
lage einmal anschaut, wie andere Län- tätsangebote der Lachindustrie auffä- Ahnung, wie unterschiedlich von Land
der die Formatvorlage interpretieren. chert: Warum finden manche Menschen zu Land die Ideen dazu ausfallen, was
In Indien, Mexiko, Italien, Kanada, einen riverdancenden Michael Mitter- als mehrheitsgesellschaftlich begacker-
Australien, Frankreich, Schweden und meier lustig, andere Kurt Krömer, der bar durchgeht. Vieles davon kann man
weiteren Ländern liefen bereits eigene sich ebenfalls mit einem deutschen
Staffeln, nächstes Jahr soll Comedian Für ein zu einem Amazon-Prime-Account ansehen.
und Late-Night-Host Trevor Noah die großen Teil auf Wenn in Argentinien über nervige Hot-
erste südafrikanische Runde präsentie- line-Plappereien oder andere Plagen
ren. Überall gilt dieselbe Prämisse:
Un­erwartbarkeit basie­ des davongaloppierten Zivilisationspro-
­Berufslustige Menschen werden sechs rendes Format ist zesses gescherzt wird, versteht man den
Stunden zusammen eingesperrt, alle ­inzwischen natürlich Witz trotz holpriger Untertitel, wenn
bemühen sich nach Kräften, eine ernste vieles vorhersehbar. eine Frau im Brathähnchenkostüm an
Miene zu bewahren, während sie gleich­ einer Grillstange turnt, ist das nur die
zeitig versuchen, einander zum Lachen konsequente Fortführung der Hennen-
zu bringen. erzählt, dass sein Vater Günther Jauch performance von Michelle Hunziker
Die vierte deutsche Staffel spannt finanziell so gut aufgestellt sei, dass er aus der deutschen dritten Staffel. Aller-
erneut das inzwischen hinlänglich ver- ein eigenes Zimmer voller Smaragde be- dings fällt der argentinische Humor
traute Beömmel-Portfolio von grob ge- säße, in denen er Dagobert-Duck-mäßig deutlich expliziter aus, etwa wenn ein
schnitzter Hihi-ein-Mann-in-Frauen- herumschnorcheln kann? Cafégast dem überkandidelten Barista
kleidern-Klamotte bis connaisseurhaft Das größte, gleichzeitig kaum ver- genervt bescheidet: »Ich brühe dir
verschmunzelter Typografiemalerei auf meidbare Manko dieser vierten Staffel: gleich einen Kaffee in deinem Arsch-
dem iPad. Welche Art Späße von den Für ein zu einem großen Teil auf Uner- loch und verwende dafür die Milch mei-
bekannten »LOL«-Kräften Kurt Krö- wartbarkeit basierendes Format ist in- nes Schwanzes.«
mer, Hazel Brugger und Max Giermann zwischen natürlich vieles vorhersehbar. Auch Depressions- und Selbsttö-
in einem solchen Setting zu erwarten Die Performances, weil Giermann natür- tungswitze scheinen hier komplett ak-
sind, weiß man bereits aus vorherigen lich mal wieder seinen Kinski auspackt. zeptabel, ein ulkig gemeintes Rollen-
Staffeln, neu dabei sind unter anderem Der Qualfaktor der Nichtlachenden, spiel kippt zügig in fast poröse sexuelle
Michael Mittermeier und Cordula Strat- weil man ihre Vermeidungsmimiken in- Zudringlichkeit, sehr vieles wirkt hier
mann. Als dramaturgische Variation zwischen kennt. Die aufgerissenen Kom- deutlich grobschlächtiger als in der
gibt es einen neuen Buddy-Modus, in pensationsmünder samt aufgerissener deutschen Variante.
dem für eine Nummer ein am Spiel Augen, als wollte hier jemand eine pan- In Kanada wurden gleich zwei
­unbeteiligter Komplize oder eine Kom- tomimische Darstellung diverser Qual- »LOL«-Versionen gedreht, eine eng-
plizin von außen dazugeholt werden zucht-Hunderassen abliefern. Am amü- lisch- und eine französischsprachige.
kann. Wie gehabt platzen immer wie- santesten sind diese Mühen bei »LOL«- Die englischsprachige (in der mit Tom
der Überraschungsgäste ins verdrucks- Neuling Elton zu beobachten, der so Green mindestens ein international
te Geschehen, dieses Mal fallen sie tat- sichtbar körperlich kämpft, wie man es ­bekanntes Gesicht auftaucht) scheint
sächlich besonders lustig aus. bisher wahrscheinlich noch nie sah. Was gleich zu Beginn ausloten zu wollen,
So gern man diese kollektiv kompri- spricht eigentlich dagegen, das Format wie elastisch die Geschmacksgrenzen
mierte Witz-komm-raus-Konstellation in jeder Staffel nicht nur als Bühne für in diesem internationalen Lizenzformat
als Laborstudie über den Zustand des etablierte Künstlerinnen und Künstler sind. Ein Comedian scherzt über die an-
deutschen Berufshumors zweitverwer- zu nutzen, sondern auch als Bühne für gebliche enge Freundschaft des Hosts
16 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023
Comedian Martina Hill in »LOL – Last One Laughing«: Unterschiedliche Brachialitätsangebote der Lachindustrie

mit Jeffrey Epstein. Ein anderer sagt, er Teilnehmer noch darüber, wie er seine Raum zusammengepfercht als in den
habe bei der Wahl der wohltätigen Or- beiden Großmütter gleichzeitig gefistet anderen Ländern, und die vorangestell-
ganisation, an die sein Preisgeld gehen hätte, es sei jedoch mit deren Einver- te Warnung, die auf Nacktheit und se-
würde, versehentlich den Verband der ständnis geschehen, und spätestens da xuelle Inhalte hinweist, sollte man un-
Holocaust-Leugner ausgewählt. will man nicht mehr sehen, was in den bedingt ernst nehmen.
Im australischen »LOL«-Ensemble verbleibenden Folgen noch passiert. In einer Szene spielen ein Mann und
müht sich ein Komiker bei seinem Solo- Eine Wohltat ist es, danach kurz in eine Frau nach, in welcher Stellung sie
auftritt minutenlang vergebens, sich die indische Version zu zappen, in der angeblich vor Jahren einmal Sex mit-
selbst zum Erbrechen zu bringen, in- ein Mann tatsächlich amüsant in die einander hatten: Mit spechtartigen Be-
dem er sich mehrere Finger in den Hals Rolle diverser Vögel schlüpft und ein wegungen stimuliert der Komiker seine
steckt, was schwer erträglich ist, wie anderer sehr ambitioniert pantomi- Kollegin mit der Nase von hinten im
überhaupt viele Szenen in dieser Lan- misch einen Fußabstreifer darstellt. Genitalbereich, beide sind bekleidet,
desfassung. Hier zeigt sich, wie Geläch- Kurz mal bei den Franzosen reinge- aber das hilft beim Zuschauen nicht
ter alltäglich als soziales Schmiermittel schaltet: Ein Mann demonstriert an- viel. In einer anderen Folge wird das
wirkt. Streicht man diesen Deeskala- hand einer Banane seine Deep-Throat- Spiel »Wähle die Hoden« vorgeführt,
tionspuffer, der das eigene Verhalten als Talente, natürlich, dann werden Klam- bei dem ein Teilnehmer (in rosafarbe-
gutwillig und harmlos kennzeichnen mern an jemandes Hoden angebracht, ner Windel) bestimmen darf, wer sich
kann, ist es nicht weit vom Scherz zur um ihm Stromstöße zu versetzen. Je- untenrum entblößen muss. Das Genital,
Belästigung: Vieles wirkt hier eher ge- mand wirft mit Asche aus einer Urne das von den anderen als »überraschend
mein als lustig, manches mindestens um sich, um den anderen seine tote sauber« gelobt wird, wird zwar grob
verstörend. Großmutter vorzustellen. verpixelt, dennoch erkennt man ausrei-
Ein Teilnehmer zieht sich komplett Am verstörendsten ist am Ende ein chend deutlich, wie ein anderer Kandi-
aus, setzt sich in ein Kinderplansch­ Blick in das japanische Original, auf das dat so lange am Fremdgenital herum-
becken und lässt sich von den anderen die internationalen Versionen zurück- hantiert, bis der Entblößte schließlich
zum Klang gregorianischer Gesänge fla- gehen. 2016 lief die erste Staffel von zu urinieren beginnt.
schenweise mit Limonade übergießen, »Hitoshi Matsumoto presents Docu- Die Ekelaktion lohnt nicht wirklich:
wobei diese verstörenden Eifer bezüg- mental«, auch hiervon kann man diver- Niemand lacht.
lich seiner Gesäßfalte an den Tag legen. se Folgen auf Amazon Prime sehen. Die
Bei anderer Gelegenheit scherzt ein Kandidaten sind hier auf viel kleinerem Anja Rützel

Foto: Amazon 17
Schauspieler Smith (M.) als Varian Fry: Die geografische und geistige Heimat ist auf immer verloren

Von der Dunkelheit ins Licht


Schicksale  Ein vergessener amerikanischer Held hilft Hannah Arendt, Marc Chagall
und Anna Seghers 1940 bei der Flucht vor den Nazis.
Die Serie »Transatlantic« zeigt, dass es auch in düstersten Zeiten Hoffnung gibt.

M arseille 1940: In einer elegan-


ten, etwas verwahrlosten Villa
am Rande der Stadt schmeißt der deut-
de. Im Gegenteil: Vieles deutete darauf
hin, dass der deutsche Vormarsch kaum
aufzuhalten sein würde. Die USA wa-
die Sonne Südfrankreichs mit ihrem
­unvergleichlichen Licht, das selbst die
größte menschliche Verkommenheit
sche Künstler Max Ernst eine mondäne ren noch neutral und hielten sich aus noch in einen goldenen Schimmer
Geburtstagsparty. Er selbst trägt einen dem Kriegsgeschehen heraus. Gleich- taucht. Dieser scheinbare Widerspruch
Kopfschmuck aus lilafarbenen Federn, zeitig überrannte die Wehrmacht ihre ist das perfekte Terrain für die deutsch-
andere Gäste tragen Hüte aus Papier, Nachbarn: erst Polen, dann Norwegen, amerikanische Schriftstellerin und Se-
Masken, absurde Brillen. Eine Frau Dänemark, Belgien und die Niederlan- rienproduzentin Anna Winger, die hin-
sieht aus, als wäre sie einem surrealisti- de. Frankreich kapitulierte im Juni 1940 ter dem Projekt steht. Mit Figuren auf
schen Gemälde Max Ernsts entstiegen, und wurde aufgeteilt: Im Norden und der Flucht kennt Winger sich aus, sie
ihr Kopfschmuck erinnert an eine Hand. Westen regierten die deutschen Besat- bevölkern ihre preisgekrönten Serien,
Es wird getafelt, geredet, getanzt und zer, im Süden das von den Nazis instal- die schon immer die Welt ihrer Prot­
geliebt, als gäbe es kein Morgen. Fast lierte Vichy-Regime. In Italien, Spanien, agonisten auf den Kopf stellten.
könnte man vergessen, dass sämtliche Portugal und Griechenland herrschten Bekannt wurde Anna Winger, die
Partygäste auf der Flucht vor dem Fa- faschistische Diktaturen. seit vielen Jahren in Berlin lebt, 2015
schismus sind. Dass sie ihre Heimat ver- »Transatlantic« spielt also in einem mit der Spionage-Fabel »Deutschland
loren haben, in Lebensgefahr schweben der finstersten Zeitabschnitte der euro- 83«, in der ein DDR-Grenzsoldat als
und in Südfrankreich darauf warten, päischen Geschichte – und trotzdem Spion in die Bundeswehr eingeschleust
endlich in Richtung Amerika aufbrechen wird gelacht und getrunken? Nicht nur wird und fortan ein schizophrenes Le-
zu können, wo sie in Sicherheit wären. am Abend der Party, auch sonst tragen ben zwischen den politischen Systemen
Die Netflix-Serie »Transatlantic«, in die Menschen hier elegante Kleider und führen muss. Zwei weitere Staffeln
der diese Szenen zu sehen sind, spielt Anzüge, sie philosophieren und schlen- führten die Geschichte bis zum Mauer-
am Anfang des Zweiten Weltkriegs, es dern durch den verwilderten Garten fall weiter, immer mehr verlor sich die
war noch längst nicht absehbar, dass der Villa, baden nackt im Pool und trin- Hauptfigur dabei in ihrem aufgezwun-
Hitler-Deutschland ihn verlieren wür- ken Rotwein; und über allem scheint genen Dasein zwischen Coca-Cola
18 Foto: Anika Molnar / Netflix
Filme & Serien

und real existierendem Sozialismus. Eine in Vergessenheit Hilfsorganisation Emergency Rescue


»Deutschland 83« machte das Ausland geratene Hilfsorganisation Committee brachte schließlich mithilfe
auf neue deutsche Serien aufmerksam, Einige Zeit später, 2015, erinnerte sich der Präsidentengattin Eleanor Roose-
ein amerikanischer Kabelkanal kaufte Winger an die Unterhaltung. »Damals velt das US-Außenministerium dazu,
die Rechte für die US-Ausstrahlung, da- kamen viele Geflüchtete aus Syrien wenigstens 200 Menschen aus Frank-
mals noch ein Novum. Noch höher hi- nach Berlin«, sagt sie. »Ich empfand die reich die Einreise in die USA zu ermög-
naus ging es mit der Mini-Serie »Un- Situation als sehr bewegend, weil ich lichen. Vor Ort umsetzen sollte das Vor-
orthodox«, die achtmal für den ameri- viel Hilfsbereitschaft sah.« Sie habe da- haben der damals 32-jährige Varian Fry,
kanischen Fernsehpreis Emmy nomi- rüber nachgedacht, »wie sich das Rad ein Journalist und Intellektueller, der
niert wurde. Maria Schrader bekam die der Geschichte immer weiterdreht«. Sie als Lektor bei einer gemeinnützigen Or-
Auszeichnung in der Kategorie Beste begann zu recherchieren – und stieß auf ganisation arbeitete. In Marseille ange-
Regie. In »Unorthodox« flieht eine jun- die Geschichte einer groß angelegten kommen, wurde Fry klar, dass viel
ge Frau aus einer jüdisch-orthodoxen Hilfsaktion, die beinahe in Vergessen- mehr Menschen in Not waren – und
Gemeinschaft mit sektenhaften Zügen heit geraten war, obwohl so viele berühm­ dass ihm das amerikanische Konsulat
in New York ausgerechnet nach Berlin. te Namen damit verbunden sind. nicht dabei helfen würde, sie zu retten.
In einer ihr völlig unbekannten Welt Hunderttausende Menschen verlie- Mit anderen in Frankreich lebenden
findet sie tastend zu sich selbst. ßen Deutschland während der Dreißi- Amerikanern und Geflüchteten begann
In Wingers Wahlheimat nimmt auch gerjahre, noch vor dem Beginn des Fry, heimlich Menschen außer Landes
die Geschichte von »Transatlantic« ihren Krieges. Viele flohen nach Paris. Als zu schmuggeln. Mal auf dem Landweg
Ausgang. »Ich lief vor Jahren mit meinem Deutschland im Sommer 1940 Frank- über die Pyrenäen nach Spanien und
Vater durch Berlin, und er machte mich reich besetzte, wurde das Exil zur Falle: von dort nach Portugal; mal als Sol-
auf die Varian-Fry-Straße aufmerksam, Laut Waffenstillstandsabkommen wa- daten verkleidet mit einem französi-
eine kleine Seitenstraße unweit vom ren die Franzosen verpflichtet, alle schen Truppentransportschiff. Ein frü-
Potsdamer Platz«, erzählt Anna Winger. Menschen auszuliefern, die auf den herer Karikaturist wurde engagiert, um
»Ich kannte seinen Namen nicht, und Fahndungslisten der Gestapo standen. Dokumente zu fälschen, ein Mitarbei-
mein Vater berichtete mir davon, wie Fry In Südfrankreich, wo das Vichy-Regime ter im amerikanischen Konsulat stellte
in Südfrankreich vielen Emigranten, da- noch einige Schlupflöcher ließ, sammel- heimlich Visa aus.
runter zahlreiche Künstler und Intellek- ten sich verzweifelte Geflüchtete auf
tuelle, zur Flucht aus Europa verhalf.« der Suche nach einem Ausweg. In der Warum zögerten die USA
Wingers Vater, selbst Professor für An­ Hafenstadt Marseille war der Andrang im Kampf gegen die Nazis?
thropologie in Harvard, lernte vor Jahren besonders groß, hier lockte eine mög- Auf diese Weise verhalfen Fry und seine
zwei dieser Geflüchteten kennen, den liche Schiffspassage in die USA. Aber Mitarbeiter am Ende mehr als 2000
Sozialwissenschaftler Albert Hirschman nur wenige durften die Dampfer betre- Menschen zur Flucht, darunter viele
und die Widerstandskämpferin Lisa Fitt- ten, die USA handhabten die Visums- prominente Künstler und Intellektuelle
ko. Sie hatten ihm von ihren wilden vergabe trotz der dramatischen Lage wie Hannah Arendt, Max Ernst, Marc
Fluchtgeschichten erzählt. Winger senior weiter äußerst restriktiv. Chagall, Heinrich und Golo Mann,
fragte seine Tochter: »Wäre das nicht Die in New York von Amerikanern Anna Seghers, Siegfried Kracauer und
Stoff für eine Fernsehserie?« und jüdischen Emigranten gegründete Lion Feuchtwanger. Im Dezember 1940

Menschen, die Klimakrise


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Foto/Illustration: Name Namerich; Infografik: Name Namerich
taz Verlags- und Vertriebs GmbH, Friedrichstraße 21, 10969 Berlin
Filme & Serien

wurde Fry von der französischen Poli- angesichts der vielen Menschen, die ihn nend, lustig, tragisch und romantisch.
zei schließlich festgenommen und auf um Hilfe bitten, und stets zweifelnd, ob Ich finde den Gedanken sehr berührend,
einem Gefängnisschiff im Hafen von reicht, was er tut. Aber der Serien-Fry dass damals solche Filme gemacht wer-
Marseille interniert. Nach seiner Frei- lässt sich auch mitreißen von dem Le- den konnten, während die Welt aus den
lassung setzte er seine Arbeit fort, bis bensmut der ihn umgebenden Intellek- Fugen geriet.«
er schließlich 1941 erneut verhaftet und tuellen und Künstler. In ihrer eigenen Serie vermeidet
des Landes verwiesen wurde. Die sieben Episoden von »Transat- Winger erfreulicherweise das Lehr-
Wie blickt Anna Winger, die in lantic« folgen nicht der herkömmlichen stückhafte, das historischen Stoffen
Deutschland lebende und arbeitende Dramaturgie, mit der historische Stoffe eigen sein kann. In »Transatlantic« wird
Amerikanerin, auf diese Geschichte? oft in ein Erzählkorsett gepresst wer- Geschichte zum Erfahrungsraum, der
»Der zentrale Konflikt in unserer Serie den – meist mit der Aufgabe, Geschich- bei den Zuschauern widerstreitende Ge-
ist ein inneramerikanischer, zwischen te als konzises, abgeschlossenes Kapitel fühle auslöst. Der Finsternis der Zeit
Frys Organisation und dem Konsulat. darzustellen. Anna Winger geht spiele- setzt sie eine Feier des Lebens und der
Varian Frys Geschichte erinnert daran, rischer mit der Geschichte um. Kreativität entgegen, ohne die Drama-
tik der Situation herunterzuspielen.
Über allem liegt ein melancholischer
Schleier, weil alle wissen, dass ihre geo-
grafische und geistige Heimat auf immer
verloren ist. »Ich vermisse sogar das
deutsche Wetter«, lässt Winger die Phi-
losophin Hannah Arendt einmal sagen.

Kontroverse um Frys
sexuelle Orientierung
Trotz all der Düsternis begreift Winger
die Geschichte des Hilfskomitees als
Spiel mit den Möglichkeiten. Sie liebe
es, sich für ihre Serien von den blinden
Flecken der Geschichte inspirieren zu
lassen, sagt sie, von den Liebesaffären
und Gesprächen, die der Nachwelt un-
Drehbuchautorin Winger: Figuren auf der Flucht bevölkern ihre Serien bekannt blieben. In »Transatlantic« hat
Varian Fry wie in der Romanvorlage
wie schwer sich die USA taten, ange- Hier schillert selbst ein Bösewicht eine Affäre mit einem anderen Mann.
sichts der Bedrohung durch die Nazis wie der amerikanische Generalkonsul Das hatte bei Erscheinen des Buches
in den Krieg einzugreifen.« Wohl auch Graham Patterson (Corey Stoll) in seiner eine kleine Kontroverse ausgelöst, weil
deshalb, so glaubt Winger, wurde Fry Gier, aus der verfahrenen Situation Ka- einige Historiker bezweifelten, dass Fry,
zeit seines Lebens nicht für seine Leis- pital zu schlagen. Dazu dichtet Winger der zweimal verheiratet war und drei
tung geehrt: »Ich glaube, man wollte dem jungen Albert Hirschman eine Lie- Kinder hatte, wirklich schwul war. Einer
nach Kriegsende nach vorne schauen besaffäre mit der amerikanischen Mil- der Söhne Frys schickte daraufhin einen
und sich nicht mit der zögerlichen Hal- lionenerbin Mary Jayne Gold (Gillian Leserbrief an die »New York Times«, in
tung der USA auseinandersetzen.« Va- Jacobs) an, lässt Lisa Fittko sich in einen dem er schrieb, sein Vater sei homo­
rian Fry starb 1967 im Alter von 59 Jah- schwarzen Hotel-Concierge verlieben sexuell gewesen, und der Zwang zur
ren, von der Öffentlichkeit größtenteils und spielt mit Genre-Versatzstücken aus Heimlichkeit habe sein Leben zerstört.
vergessen. Erst 1994 verlieh ihm Yad Spionage- und Gefängnisfilmen. In »Transatlantic« wird die gleich-
Vashem den Titel »Gerechter unter den Anna Winger sagt, Filme aus den frü- geschlechtliche Liebe und die Liebe
Völkern«. hen Vierzigerjahren hätten den Schreib- überhaupt zur Chiffre für die innere
Nun die Wiederentdeckung: Schon prozess beeinflusst. Unter anderem »Ca- Freiheit, die die Figuren sich trotz –
2019 verarbeitete die Autorin Julie Or- sablanca«, der Klassiker, in dem Hum- oder gerade wegen – schwierigster Le-
ringer Frys Lebensgeschichte zu dem phrey Bogart einen Nachtklubbesitzer bensumstände nehmen. In diesem Sinn
Roman »The Flight Portfolio«, Anna spielt, der nicht in den Kampf gegen die kann man die Serie als eine historische
Winger machte den Roman zur Grund- Nazis hineingezogen werden will – und Utopie sehen, nicht auch zuletzt vor
lage für ihre eigene Version. Jetzt wird damit für die Haltung der USA zu dem Hintergrund der erneuten Flucht-
Fry also auch noch zum Serienhelden. Kriegsbeginn steht. Viele der Figuren im welle, die der Krieg in der Ukraine aus-
Der amerikanische Schauspieler Cory Film wurden von echten deutschen und gelöst hat. Anna Winger sagt es so: »Ich
Michael Smith gibt ihn in »Transatlan- österreichischen Emigranten gespielt: wollte eine Geschichte erzählen, die
tic« als gut aussehenden, korrekten, Peter Lorre, Conrad Veidt oder Helmut von der Dunkelheit ins Licht führt.«
etwas linkischen und schüchternen Dan­tine. »Es ist eine verrückte Genre-
Überzeugungstäter, immer überfordert Mischung«, findet Anna Winger. »Span- Oliver Kaever

20 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023


Das seltsame Sachbuch

»Der alte weiße Mann« 1948 den Slogan Seid nett zueinander.«
Und noch verstörender nur Bolzens Be-
von Norbert Bolz fund, »nach der Entnazifizierung« käme
jetzt »die Entmachoisierung, die Ver-
wandlung des Mannes in ein sorgendes

W ahrscheinlich ist dieses Buch nicht


zum Lachen gedacht, aber ulkig
ist es doch. Vor allem weil man
Nation«. Bedroht von einer »Tyrannei gut
organisierter Minderheiten«, von der
»Normalisierung des Abnormalen« und
Haustier«. »Die Ausrottung von Stolz und
Ehrgeiz« nämlich, die darin gipfele, dass
Männer »im Haushalt mitarbeiten«.
beim Lesen nicht ganz ausschließen kann, den »woken Taliban des Westens«. All diese Kruditäten hat der Autor kon-
dass sein Verfasser beim Schreiben wo- Manchmal bekommt man Mitleid mit fettihaft mit Zitaten ausschließlich männ-
möglich einen Helm getragen, eventuell ihm, weil er nicht merkt, wie absurd ent- licher Geistesgrößen dekoriert: Platon
auch schützende Barrikaden aus auf- larvend manche Sätze sind, etwa wenn er meinte einmal, Luhmann bemerkte, Kier-
geschichteten Ernst-Jünger-Gesamtaus- schreibt, unsere Gesellschaft sei »frauen- kegaard fand und Habermas hatte auch
gaben und Nietzsche-Folianten um seinen und minderheitenfreundlicher denn je«. noch eine Idee, dazu reichlich Nietzsche,
Schreibtisch errichtet hat. Denn »Der alte Und weil er so große Angst vor der Welt Jünger, Hegel, Aristoteles, Hemingway,
weiße Mann« von Norbert Bolz ist ein zu haben scheint, die sich verändert. die Rolling Stones. Es gibt keine Frauen
bizarrer Frontbericht, dessen Autor sich »Frauen drängen auf den Arbeitsmarkt in seiner Welt, denen man auch mal zu-
in einem »kulturellen Bürgerkrieg« wähnt, und sind, wenn sie dort erfolgreich sind, hören könnte, nur die rein männliche
aus dem heraus er einen »Bericht über die nicht mehr existenziell auf Männer an- Buddyschaft der Geistesgrößen. Lobend
Feindeslage« abgeben möchte. gewiesen«, menetekelt Bolz, die natur- wird, ja wirklich, allein die RTL2-Größe
Ihm und seinen alten weißen Mitmännern gegebene Geschlechterordnung sei in Carmen Geiss erwähnt, weil die bei »Pro-
bliebe nur »der Rückzug in Kulturschutz- Gefahr, »traditionell ein Zusammenspiel miflash« einmal souverän erklärt habe,
räume, in denen wenigstens noch geisti- von Dominanz und Domestikation. Die Hassattacken gehörten zum Leben eines
ger Widerstand« möglich sei, schreibt der Männer dominieren die Frauen, und die Prominenten nun mal dazu.
Medien- und Kommunikationswissen- Frauen domestizieren die Männer«. Rich- »Im Krieg war die archaische Welt der
schaftler. Klar, schließlich ist sonst für ihn tig schlimm werde es, wenn die »Karriere- Männer noch in Ordnung«, schreibt Bolz
ja nichts mehr übrig in einer Welt, in der frau« diese Ordnung nicht nur zu Hause, gegen Ende, spätestens da belegt sein
Männer wie er minütlich von randalieren- sondern auch am Arbeitsplatz heraus- Buch endgültig, was das Problem mit dem
den Frauengruppen grob vom Trottoir fordere. Früher war alles doch so fein alten weißen Mann ist. Die Katze beißt
geschubst werden, längst aus sämtlichen geregelt, sinniert Bolz: Es gab den Arzt sich in den Schwanz. Und der vermeint-
Talkshows, Führungspositionen und be- und die Krankenschwester, den Regisseur liche Scharfschütze ballert sich in den
quemen Kaffeehausfauteuils verdrängt und die Schauspielerin, den Chef und die eigenen Hintern.
wurden und nur noch die knittrigen Blät- Sekretärin, »heute aber ist das Gefühls-
ter ihrer Feldpostbriefe haben, um sich chaos am Arbeitsplatz genauso groß wie Anja Rützel findet, der Buchmarkt hat vorerst
mitzuteilen. Der alte weiße Mann sei, so zu Hause«. Noch lustiger ist dann nur noch genug patriarchale Verteidigungswerke und
Bolzens Untertitel, der »Sündenbock der der Satz »Das Haus Axel Springer prägte erwägt eine Gegenschrift: »Alte weiße Flenner«.
Foto: Britta Pedersen / picture alliance / dpa; Illustration: Moritz Wienert / SPIEGEL BESTSELLER 21
Neue Filme HORRORFI LM

Mutter ist die Best(i)e


Beau is Afraid.
Regie: Ari Aster. Mit Joaquin Phoenix,
Patti LuPone. Kinostart: 11. Mai

Mamma mia, dieser Film ist ein Trip!


Nachdem er für seine makabren
Horrorfilme »Hereditary« und »Mid-
sommar« mit viel Kritikerlob und
Publikumsgunst bedacht wurde, ist der
New Yorker Filmemacher Ari Aster
ein Starregisseur beim derzeit angesag-
testen Indie-Studio A24 (»Every­thing
Everywhere All at Once«). Mit erst-
mals üppigerem Budget und Star-
hauptdarsteller Joaquin Phoenix ver-
wirklichte Aster nun ein dreistündiges
Epos, das ihm schon lange im Kopf
herumspukte. Der für seinen schelmi-
schen Humor berüchtigte Regisseur
vergleicht »Beau is Afraid« mit Tol-
Schauspieler Fraser in »The Whale«: Oscarprämiert kiens »Herr der Ringe«, nur dass
Asters Version darin besteht, dass ein
DRAMA Theaterstücks, ist ein emotional jüdischer Mann mit komplexen Angst-
Unwucht schwer überladener Riesenklops. Er störungen seine übermächtige Mutter
ergreift das Publikum, lässt es aber hinter sich lassen muss. Extremdarstel-
The Whale. auch in einem Zustand der Erschöp- ler Phoenix begibt sich mit schütterem
Regie: Darren Aronofsky. Mit Brendan Fraser, fung zurück, die der nach einem Haar und Plauze auf eine Odyssee
Hong Chau. Kinostart: 27. April zu ausgiebigen Festmahl verblüffend durch eine ins Surreale verschobene
ähnlich ist. Wolfgang Höbel Welt, um ein schweres ödipales Trau-
w Darren Aronofskys Film ist ein Ex- ma zu bewältigen, das ihm seine mani-
zess an Gefühlskino. Oscargewinner Kinocharts pulative Mutti bereits im Kindesalter
Brendan Fraser spielt – hier soll man auferlegte. In dieser faszinierenden,
wirklich besser sagen: verkörpert – 1 Der Super Mario Bros. Film zunehmend absurder werdenden
einen US-Kleinstadtbewohner, der Universal, FSK: ab 6 Jahren Tragödie wimmelt es von Giftspinnen,
seinen riesigen Leib mit Pizza und 2 Manta Manta – Zwoter Teil Geschlechtsteilen, hemmungsloser
Schokoriegeln vollstopft, weil er sein Constantin, FSK: ab 12 Jahren Gewalt und grotesker Situationskomik.
Lebensglück verloren hat. Die Liebe 3 John Wick: Kapitel 4 Eines der verstörendsten Kinospekta-
seines Lebens, der Mann, für den Leonine, FSK: ab 18 Jahren kel des Jahres. Andreas Borcholte
er aus seiner Kleinfamilie geflüchtet 4 Dungeons & Dragons:
ist, hat sich umgebracht. Frasers Held Ehre unter Dieben
lebt mit walfischhafter Anmut und Paramount 12, FSK: ab 12 Jahren
­schnaufend in einer mit Büchern voll- 5 Suzume
gestopften Wohnhöhle, unterrichtet Crunchyroll / Central, FSK: ab 12 Jahren
online Literaturstudierende und bleibt 6 Cocaine Bear
dabei selbst unsichtbar. Eine befreun- Universal, FSK: ab 16 Jahren
dete Krankenschwester (Hong Chau) 7 Überflieger 2: Das Geheimnis
versorgt ihn mit Essen und stellt fest, des großen Juwels
dass er nur noch Tage zu leben hat. Wild Bunch / Central, FSK: ohne Alters-
Der Todgeweihte möchte sich mit beschränkung
­seiner Teenagertochter (Sadie Sink) 8 Beautiful Disaster
aussöhnen, die er lange nicht gesehen Leonine, FSK: ab 12 Jahren
hat. Regisseur Aronofsky erweist 9 The Pope’s Exorcist
sich wie in »Black Swan« (2010) Sony, FSK: ab 16 Jahren
als hemmungsloser Melodramatiker. 10 Die drei ??? – Erbe des Drachen
»The Whale«, die Verfilmung eines Sony, FSK: ab 6 Jahren Darsteller Phoenix

22 Fotos: Plaion Pictures; Takashi Seida / Leonine; Nan Goldin / Plaion Pictures; Alamode Film
D O K U M E N TA R F I L M Flugblätter, dazu rufen wütende
Kampfkünstlerin Menschen Protestparolen. Ein Die-
in-Happening im Museum ist der
All the Beauty and the Bloodshed. ­dramatische Höhepunkt des Doku-
Regie: Laura Poitras. Mit Nan Goldin. mentarfilms »All the Beauty and the
Kinostart: 25. Mai Bloodshed«. Regisseurin Laura
Poitras schildert den Kampf der legen­
Männer und Frauen werfen sich auf dären New Yorker Subkultur-Foto­
den Boden und stellen sich tot in den grafin Nan Goldin und zahlreicher
Hallen des New Yorker Guggenheim Mitstreiterinnen und Mitstreiter gegen
Museums, von der Empore flattern die Sackler-Familie, die zu den
­reichsten Sippen der USA gezählt
wird. Der von den Sacklers regierte Darstellerin Benesch
Arzneikonzern Purdue gilt als mit­
verantwortlich für die Opioidkrise in DRAMA
den USA, er vertrieb aggressiv das Nur gut gemeint
Medikament Oxycodon, das viele
Menschen abhängig machte. Neben- Das Lehrerzimmer.
bei ­waren die Sacklers lange berühm- Regie: Ilker Catak. Mit Leonie Benesch.
te Kulturmäzene. Seit 2017 hat Kinostart: 4. Mai
Goldin gemeinsam mit anderen Akti-
vistinnen und Aktivisten Kunsthäuser Sie sei hier an einer Null-Toleranz-
wie das New Yorker Guggenheim Schule gelandet: Das kriegt die junge
und die Londoner Tate Gallery dazu Lehrerin Carla (Leonie Benesch) in
ge­bracht, ihre oft lukrativen Sponsor- den ersten Tagen an einem Hambur-
verbindungen zu den Sacklers zu ger Gymnasium sehr oft von ihren
­kappen. Im Film wird Goldin als neuen Kolleginnen und Kollegen zu
­Vorbild an Aufrichtigkeit und Furcht- hören. Doch was heißt das genau?
losigkeit porträtiert; Zeitzeugen Mehrere Fälle von Diebstahl an der
berichten eindrucksvoll von ihren Schule geben Carla Anlass, das Man­
traumatischen Kindheitstagen tra zu hinterfragen. Denn schnell grei-
und ihren Anfängen als Fotokünstlerin fen die Kollegen zu rabiaten Mitteln,
Fotografin Goldin zu Beginn ihrer Karriere in New York. Wolfgang Höbel bedrängen Schüler, andere Schüler zu
verpfeifen, machen Verdächtigungen
voreilig publik. Carla will sich dem
nicht anschließen, sie sieht Vorurteile,
sogar Rassismus am Werk, denn als
Erstes wird ein Junge mit türkischem
Familienhintergrund verdächtigt.
Doch mit ihrer Überzeugung, als Ein-
zige die richtigen Zweifel zu haben,
stößt Carla erst das Kollegium vor den
Kopf – dann muss sie feststellen, dass
sie auch in ihrer Klasse keinen Rück-
halt hat. Es sind viele Themen und
Konflikte, mit denen Regisseur und
Co-Autor Ilker Catak seinen vierten
Spielfilm »Das Lehrerzimmer« belädt.
Shootingstar Benesch verleiht dem
Drama bei aller Überspitzung jedoch
einen wahrhaftigen Kern. Wenn sie
mit ihren großen, wachen Augen
auf die Welt blickt, spürt man unmit-
telbar den Idealismus, der ihre Figur
vorantreibt. Mit ihr hält man sich
noch ­etwas länger an dem verzweifel-
ten Glauben fest, dass guter Wille
Aktivistin Goldin bei Die-in-Happening 2018 die ­Lösung für alles ist. Hannah Pilarczyk

Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control 23
Musik

Göttliche Stimme
Sänger Pene Pati stammt von der kleinen polynesischen Insel Samoa.
Die klassische Musik entdeckte er erst im Studium.
Inzwischen gilt der Tenor als große Nachwuchshoffnung in der Opernszene.

A m liebsten würde Pene Pati ein-


mal mit Adele auf der Bühne ste-
hen. So wie Luciano Pavarotti damals,
ist ein nahbarer Typ, einer, der während
des Gesprächs immer wieder schallend
lacht, vor allem, wenn er über seine
ein Orchester anschwillt«, sagt er.
»Wenn ich Opern höre, dann bin ich
ganz in der Musik.« Pati übte, wurde
in seinem Duett mit Céline Dion. 1998 Karriere spricht. Es wirkt dann so, als mit seinen Auftritten immer erfolgrei-
sangen die beiden bei einem Benefiz- könne er selbst nicht glauben, was ihm cher, gewann erste Preise. Er gründete
konzert in Pavarottis italienischer Hei- da widerfahren ist. »Viele sagen, ich sei ein Trio mit seinem Bruder Amitai,
matstadt Modena ihren gemeinsamen begabt«, sagt er. »Aber Radio hören und einem Tenor, und dem samoanischen
Song »I Hate You Then I Love You«. singen, macht das nicht jeder?« Bariton Moses Mackay. Ihr Debüt­
Bei Aufnahmen sieht man Dion im Sänger wollte er nie werden, sagt album war 2014 und 2015 das meistver-
schwarzen Abendkleid, Pavarotti im Pati, obwohl er schon seit seiner Kind- kaufte Album Neuseelands. Doch das
Sakko, im Hintergrund die Abendkulis- heit singt. Sein Elternhaus beschreibt er war ihm nicht genug, Pati wollte Opern-
se der Piazza Grande: »If I were to als traditionell geprägt. »In Polynesien sänger werden.
­leave you I would die«, himmelt sie ihn singt man in der Kirche, zu Hause, Sein Gesangslehrer lobte ihn zwar
mit geschlossenen Augen an. Pavarotti überall. Das liegt also quasi in meiner für sein Talent, machte ihm damals aber
setzt seine dominante Tenorstimme da- DNA.« Sein Vater arbeitete als Ge- keine großen Hoffnungen. Die Kunst-
gegen. So ein Duett wünscht sich auch form sei nicht seine, das habe noch kein
Pati mit Adele. Nur noch emotionaler. Wer Teil der Rugby- Polynesier gemacht, erzählt Pati. Also
Sie mit ihrer vibrierenden Soulstimme, Schulmannschaft sein habe er beschlossen: »Ich werde der
er im gleitenden Belcanto. »Adele ist so erste sein.« Geld für richtig gute Ge-
was wie eine Brücke zwischen Arie und
wollte, musste auch sangslehrer hatte er damals keines. Also
Pop«, sagt Pene Pati. im Chor mitsingen. schaute er YouTube-Videos an. Dort sah
Pati gehört zu den Newcomern er Künstler wie Alfredo Kraus, Luciano
unter den Opernsängern. Geboren wur- schäftsführer in einem Seniorenheim. Pavarotti. Pati zoomte in die Videos,
de der heute 35-Jährige in Samoa, Der habe ihn und seinen Bruder jeden sah sich Lippen- und Kieferbewegun-
einem Inselstaat in Polynesien. Später Sonntag dazu verdonnert, vor den Be- gen an, verglich, wie die Tenöre atme-
zog er mit seiner Familie nach Neusee- wohnern aufzutreten. Sie sangen poly- ten. »Ich wollte wissen, wie einer wie
land und wuchs dort »mit R ’n’ B und nesische Volkslieder, mit Mythen und Franco Corelli es schaffte, solche Töne
Pop« auf, wie er sagt. Heute gilt er als Legenden der Samoaner. Als Teenager zu produzieren.«
»neuer Pavarotti«. Mit dem Opernstar wollte Pati Rugby spielen. Aber wer Die Bewegungsmuster imitierte er. So
teilt er eine steile Karriere: Cesar Ulloa, Teil der Schulmannschaft sein wollte, gut offenbar, dass er entdeckt wurde. Er
Gesangslehrer am San Francisco Conser­ musste auch im Chor mitsingen. Die studierte Musik an der Wales Internatio-
vatory of Music und Entdecker von an- Rugby-Spieler waren cool und sollten nal Academy of Voice in Cardiff, machte
deren Jungtalenten wie Angel Blue und das Singen ein bisschen aufwerten. eine musikalische Fortbildung an der
Robert Watson, verglich ihn noch wäh- Zu seiner Karriere kam er angeblich San Francisco Opera. 2012 gewann er
rend seiner Ausbildung mit »The Voice«: erst an der Uni. Pati studierte Informa- den Bel Canto Award, 2015 den Publi-
Pati habe eine »göttliche Stimme«, so tik und bewarb sich für den Hochschul- kumspreis des Plácido-Domingo-Opera-
Ulloa. 2021 gab der Tenor sein Europa- chor, diesmal freiwillig. Zum Vorsingen lia-Wettbewerbs. Inzwischen steht Pati
debüt an der Opéra National in Bor- kamen die anderen mit Stücken von bei Warner Classics unter Vertrag. 2021
deaux. Die Presse war begeistert. Die Schumann, Strauss und Schubert, Pati erschien sein erstes Album. Seit 2022
französische Zeitung »Le Figaro« be- kam mit einem Gospellied. Einige Kon- tourt er durch Europa. Zum Weihnachts-
zeichnet ihn als »Opernwunder«. Die kurrenten hätten gelacht, einige hätten konzert mit Bundespräsident Frank-
italienische Zeitschrift »L’Espresso« ihm Respekt gezollt, für seinen Mut. Er Walter Steinmeier stand er mit dem Lied
spricht von einem »Ausnahmetalent«. ­wurde aufgenommen. Und wollte ihnen »Stille Nacht« auf dem Programm. We-
Pati lacht über solche Bezeichnun- daraufhin zeigen, »dass auch ein Insel- gen einer Erkältung musste er absagen.
gen. Er sagt über sich selbst: »Ich habe junge, der früher mal Rugby gespielt »Ich war sehr enttäuscht, dass ich nicht
kein Talent.« Zum Interview empfängt hat, Klassisches singen kann«. Also be- kommen konnte.«
er im Probehaus der Prager Symphoni- schaffte er sich die Aufnahmen von Ver- Pati gibt sich unprätentiös. Sein ers-
ker. Am Tag darauf ist ein Galakonzert di, Puccini, hörte Opernarien und klas- tes Album präsentiert ein breites Reper-
geplant. Draußen sind es zwei Grad Cel- sische Konzerte. Es eröffnete sich ihm toire aus Arien von Verdi, Rossini, Gou-
sius, aber Pati trägt T-Shirt. Der Sänger eine neue Welt: »Dieses Gefühl, wenn nod, Massenet und liest sich damit ein
24 SP IEGEL B ESTSELLER 1 / 2023
Künstler Pati: »Man fühlt, worum es geht – auch wenn man die Sprache nicht versteht«

bisschen wie ein Resümee seiner per- den Larghetto von einem Ton zum an- froh. Mit seiner Aura als Volkssänger
sönlichen Bühnenvita. »Jedes dieser deren. Die Melodie ist unkompliziert, machte er die Oper massentauglich, füll-
Stücke hat seine eigene Geschichte für sie umfasst fünf Tonhöhen. te ganze Olympiastadien. 1993 trat er
mich«, sagt er. Zu hören sind dort etwa »Und dann kommt der Text: ›Salut, vor mehr als einer halben Million Men-
Verdis »Rigoletto« und die Canzone demeure chaste et pure‹«, sagt Pati – schen im New Yorker Central Park auf.
»La donna è mobile« – die Figur des »Bleibe keusch und rein«. Die Melodie Mit José Carreras und Plácido Domingo
Herzogs von Mantua war die erste stammt aus der Oper »Faust« des fran- tourte er als einer von drei Tenören um
Hauptrolle seiner Karriere. Dazu kom- zösischen Komponisten Charles Gou- die Welt.
men mehrere Auszüge aus Charles nod. In seiner Arie besingt Doktor Solche Vergleiche hört Pati oft.
Gounods »Romeo et Juliette« – Patis Faustus seine neue Flamme Margarete: Künstlerisch sei für ihn zwar eher der
erster französischer Rolle. Klassiker wie kurz bevor er sie zu einer Beziehung 2017 verstorbene schwedische Sänger
Puccinis »Bohème« oder Verdis »Tra- verführt – und damit ihr Schicksal, Nicolai Gedda ein Vorbild. Den Tenor
viata« fehlen hingegen. »Viele Sänger ihren späteren Tod, besiegelt. »Das bewundert er für seine subtilen, lyri-
wollen auf ihrem ersten Album ihren passt doch genau zu dem, was ich singe, schen Interpretationen, seine technische
Tonumfang zeigen und wie toll sie ein oder nicht?«, fragt Pati. »Man fühlt, Perfektion. Pavarotti sei dagegen »nicht
hohes C singen können«, erklärt der worum es geht. Auch wenn man die immer so genau« gewesen, sagt Pati und
Tenor. Ihm seien die Emotionen wich- Sprache nicht versteht.« grinst. Trotzdem liebe er, wofür der
tiger, »wenn Menschen mit dir mitla- Bei Hörern zeigt sein Auftreten Wir- Weltstar Pavarotti gestanden habe: »Er
chen und mitweinen«. kung. Pati gilt als publikumsnah. Kriti- war leidenschaftlich«, sagt Pati. »Als
Zur Vorbereitung eines neuen ker loben ihn für seine »sonnige« Art: Er mir die Oper noch völlig fremd war, gab
Stücks konzentriere er sich immer erst sei ein recht »sympathischer« Künstler, er mir das Gefühl, dass es hier um Spaß
auf die Musik und nicht auf den Text, heißt es in der »Neuen Zürcher Zeitung«, ging. Er war aufgeschlossen, versuchte,
um sich »emotional mit dem Werk zu »erstaunlich geerdet«. die Leute mitzureißen.« Ein bisschen
verbinden«, wie er sagt. Pati hebt seine Dem Opernstar Pavarotti ist er damit wie ein Popsänger. Wie Adele.
Stimme: »Laalaalaalaalaalaaaaaala- nicht unähnlich: Der Sänger gab sich als
laaa«. Der Sänger gleitet im schmelzen- bodenständiger Bäckerssohn, lebens- Isabel Barragán

Foto: Nicolas Tucat / AFP 25


Neue Alben

Der Einfluss der


Herrschenden Sängerin Ware: Handfeste und extrovertierte Natur

POP pearls get lost«, jubelt Ware darin und


Vom römischen Eine Frau tanzt sich frei lässt alle Hemmungen fahren. »That’s
the way to make my bottle pop« ist
Kaiser bis zur Jessie Ware: That! Feels Good! später auf dem Album eine weitere,
EMI / Universal Music ziemlich süffige Illustration weiblicher
Premierministerin – Triebabfuhr. Im hitzigen »Freak Me
w So viele unverschämte Sex-Meta- Now« beschwört sie die Discofunk-
in einer neuen Ausgabe phern gab es lange nicht auf einem Götter von Chic und lässt ihrer Aus­
der SPIEGEL EDITION modernen Pop-Album. Wobei man geflipptheit freien Lauf.
sich darüber streiten kann, ob »That! So locker konnte sich Ware zu Beginn
schauen wir auf Feels Good!«, das fünfte Album von ihrer Karriere lange Zeit nicht geben.
Jessie Ware, wirklich eine zeitgenössi- Zwar wurde sie 2012 für ihr Debüt­
Regierende und ihre sche Platte ist – oder der Soundtrack album »Devotion« als neue Soul-­
Bedeutung für die zu einem imaginären Musical, das den
libertären Geist und die Disco-
Sensation gefeiert, doch das Image
der kühlen und eleganten Diva, das
Geschichte. Grooves der späten Siebziger und frü- sie glaubte, erfüllen zu müssen, mach-
hen Achtziger lustvoll reproduziert. te sie unglücklich, es entsprach nicht
Wie auch immer: Jessie Ware, 38-jäh- ihrer eigentlich eher handfesten und
rige Soul-Sängerin aus London, hat extrovertierten Natur. Ihre Seelenpein
hörbar viel Spaß daran, sich als neue tröstete Ware mit dem Foodie-Podcast
Retro-Dancing-Queen zu inszenieren. »Table Manners«, den sie seit 2017

Jetzt Schon die erste Single des Albums,


»Free Yourself«, steigert sich auf einem
mit ihrer Mutter Lennie betreibt:
­Zusammen mit prominenten Gästen

im Handel
hämmernden House-Piano in eine wird gekocht und über Gott und die
Masturbationsfantasie hinein: »Keep Welt geplaudert. Die Popularität die-
on moving up that mountaintop / Why ses Formats führte zur mu­sikalischen
don’t you please yourself?«, säuselt Befreiung. Schon auf ihrem letzten
sich Ware in einen Freudenrausch, der ­Album »What’s Your Plea­sure?« von
über zehn weitere Songs anhält und 2020 setzte sie sich mit b ­ eschwingten,
­einige schweißtreibende Höhepunkte ausgelassenen Dance-Sounds in
erreicht. Zum Beispiel »Pearls«, eine Szene und wurde von der Kritik ge­
schamlose Zitatsammlung aus Hits von feiert. Auf »That! Feels Good!« ist die
Wham! und Whitney Houston: »Let it Discokugel nun in Dauer­rotation.
Oder hier go, let me dance / And shake it till the Freak out! Andreas Borcholte
bestellen:
26 Fotos: Roberto Ricciuti / Redferns / Getty Images; Britt Mazurek
NEUHEITEN
JA Z Z

Fließende Träume Charts Jazz ALEXANDRA STRÉLISKI


NÉO-ROMANCE
Rob Mazurek – Exploding Star Orchestra: 1 Wolfgang Haffner: Silent World
Lightning Dreamers. Act

International Anthem Recordings 2 Thomas Enhco & Stéphane Kerecki:


A Modern Songbook
w Der Jazzmusiker Rob Mazurek, 58, Masterworks

ist nicht nur ein ziemlich begabter 3 Julian Lage: The Layers

Als 1 CD & 180g Vinyl


Trompeter und Kornettist. Er ist auch Blue Note

ein Menschensammler und Kompo- 4 Bobo Stenson Trio: Sphere


nist. Anders lässt sich die unüber- ECM Records

schaubare Tätigkeit Mazureks kaum 5 Brad Mehldau: Your Mother Should


verstehen. Er liebt größere Ensemb- Know: Mehldau Plays The Beatles
les, treibt im internationalen Festival- Nonesuch
Emotionale, klangmalerische
zirkus immer wieder das Geld auf, um 6 London Brew feat. Various: London Brew Piano-Miniaturen mit teils subtilen
sie aufstellen zu können – und dann Concord Streicher-Arrangements inspiriert
schreibt er Stücke für die Musikerin- 7 Jeff Goldblum & the Mildred Snitzer von der Romantik – von Kanadas
Star-Komponistin und Pianistin.
nen und Musiker, die oft aus der Chi- Orchestra: Plays Well With Others
cagoer Szene stammen. So ist es auch Decca
GOGO PENGUIN
beim Exploding Star Orchestra, das 8 Herbie Hancock: Empyrean Isles
EVERYTHING IS GOING TO BE OK
Mazurek in unterschiedlichen Kons- Blue Note

tellationen betreibt. Die eine Seite 9 Ralph Towner: At First Light


von »Lightning Dreamers«, dem neu- ECM Records

Als 1 CD, 180g Vinyl & ltd. 2x Vinyl


en Album, wurde in Mazureks Studio 10 Keith Jarrett: The Köln Concert
in Texas aufgenommen, die andere ECM Records

Seite live bei einem Festival in Frank-


reich. Die fünf Stücke erinnern an den Charts Klassik
Sound der elektrischen Bands von Mi-
les Davis, kreisen aber um ganz eige- 1 Hans Zimmer: Live
ne Themen – um Träume, um Gestal- Sony Classical

tenwandler oder, im B-Seiten-Doppel 2 R. Gromes, Festival Strings Lucerne,


»Black River« / »White River«, um D. Dodds & J. Riem: Femmes
Flüsse im brasilianischen Norden, in Sony Classical Das innovative Piano-Trio aus Manches-
denen man für Wiedergeburtsrituale 3 Rachel Portman: Beyond The Screen – ter perfektioniert seinen einmaligen
Sound zwischen Jazz, Neo-Klassik und
badet. Mazurek hat mal ein paar Jah- Film Works On Piano
Ambient-Electronica und lässt alle
re dort, am Amazonas, gelebt. Die Sony Classical
Genre-Grenzen hinter sich.
Musik wirkt so frei wie die Liebe zu 4 S. Radvanovsky, E. Jaho, J. Kaufmann,
den Musikern, die Mazurek einlädt, A. Pappano & Orchestra dell’ Accademia REBEKKA BAKKEN
etwa den Pianisten Craig Taborn, den Nazio: Puccini: Turandot ALWAYS ON MY MIND
Gitarristen Jeff Parker oder den Elek­ Warner Classics

tronik-Poeten Damon Locks. Aber sie 5 David Garrett: Iconic


ist auch geplant genug, um jedem Gast Deutsche Grammophon
Ab 28.4. als 1 CD & 180g Vinyl

seinen Spielraum zu lassen. Tobias Rapp 6 Christian Tetzlaff, Tanja Tetzlaff &


Lars Vogt: Schubert: Chamber Works
Ondine

7 Ludovico Einaudi: Underwater


Decca Records

8 Franz Welser-Möst & Wiener Philhar­


moniker: Neujahrskonzert 2023 /
New Year’s Concert 2023
Sony Classical
Die Sängerin mit der unverwechselbaren
9 H. Guðnadóttir, Cate Blanchett &
Stimme überführt ihre Lieblingssongs
Sophie Kauer: Tár von Peter Gabriel, Elton John, Annie
Deutsche Grammophon Lennox u.v.w. in ihren einmaligen Sound
10 C. Pluhar, L'Arpeggiata & P. Jaroussky: zwischen atmosphärischem Skandina-
vischem Pop und Jazz.
Passacalle de la Follie
Trompeter Mazurek Erato

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Daten Jazz: media control (ohne Compilations); Daten Klassik: GfK Entertainment GmbH 27 27
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REDEN
WIR
ÜBER
ISRAEL

Rapperin Preiss: Grenzgängerin

POP droht sie jedoch dem »Wolf«, sich ja


Cool auf Deutsch von ihr fernzuhalten. Tanzt sie in
einem Song noch »zu zweit auf der
Eli Preiss: b.a.d. Straße mit Airpods drin«, machen die
Mom I Made It / Universal Music In-Ear-Kopfhörer sie in einem ande-
ren taub. Das liegt aber sicher nicht an
w Coolness klanglich ins Deutsche zu ihrem Album »b.a.d.«: Das klingt
übersetzen gelingt nicht vielen Pop- nämlich nicht ohrenbetäubend
192 Seiten, gebunden � 22,00 € musikern. Zuletzt haben das in erster schlecht. Sondern cool. Jurek Skrobala
Auch als E-Book erhältlich. Linie Wienerinnen und Wiener gut
hingekriegt: Die aus Oberösterreich
stammende, aber in der Hauptstadt Charts Pop
Richard C. Schneider, ansässige Band Bilderbuch ließ Prince
SPIEGEL-Autor und langjähriger auf Schmäh treffen, der Rapper Yung 1 Depeche Mode: Memento Mori
Israel-Korrespondent der ARD, Hurn aus dem 22. Bezirk hat Trap mit Columbia International
lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv, Dada gestreckt. Jetzt knüpft die junge 2 Herbert Grönemeyer: Das ist los
kennt Alltag und Geschichte Wienerin Eli Preiss dort an. Sie lässt Vertigo Berlin

des Landes und weiß um Rap und R&B auf Deutsch ganz lässig 3 Pink Floyd: Dark Side Of The Moon
wirken. Die Tochter eines Österrei- PLG
die gängigen Vorurteile
in Deutschland. chers und einer Bulgarin, deren Debüt 4 P!nk: Trustfall
vor nicht mal einem Jahr erschien, übt RCA
Bei den Antworten auf fünf
oft gestellte Fragen setzt er an, sich auf ihrem zweiten Studioalbum 5 U2: Songs Of Surrender
»b.a.d.« noch mehr als Grenzgänge- Island
um einige grundlegende Dinge
rin. Ihre größte Stärke liegt in der 6 Miley Cyrus: Endless Summer Vacation
über Israel zu erklären – 75 Jahre RCA
Stimme, einem verrauchten Hauchen,
nach der Staatsgründung und einem leichten Kratzen im Hals, aus 7 AnnenMayKantereit:
in einem entscheidenden Moment dem aber auch vollmundiger Soul-Ge- Es ist Abend und wir sitzen bei mir
für die Demokratie des Landes. sang kommt. Und in den unterschied- AnnenMayKantereit

lichen Anmutungen und Tonlagen, die 8 Schiller: Illuminate


Preiss trifft und miteinander vereint. Nitron

Aber auch ihre Texte sind stark: Mit 9 Lana Del Rey: Did You Know
lyrischer Doppelgesichtigkeit stilisiert That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd
sich Preiss an einer Stelle des Albums Urban

etwa als »Gazelle«, als »Beute«, die 10 Nina Chuba: Glas


das Gegenüber anlockt, woanders Jive

28 Foto: Paul Härting / Universal Music; Daten Pop: media control (ohne Compilations)
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Die Kochprobe

»Cüisine« von
Elif Oskan

N eulich hatte ich mal wieder Lust auf


Pide, das sind diese gefüllten türki-
schen Teigschiffchen, aber denen im
Ich experimentierte auch mit einer Fül-
lung aus gedünstetem Lauch plus gedüns-
teten Zwiebeln plus Joghurt und Kurku-
Alles außer dem Salz acht Minuten in der
Küchenmaschine auf niedrigster Stufe
verkneten, Salz dazu und noch mal drei
Imbiss, die ich vor mir sah, traute ich ma, auch schön (Knob- oder Bärlauch Minuten mit der nächsthöheren Ge-
nicht sonderlich. Also kam mir das Koch- nicht vergessen!), aber die Version mit schwindigkeit kneten. Den Teig in 100-g-
buch von Elif Oskan gerade recht. dem würzigen Käse war deutlich überle- Stücke portionieren und bis zu 24 Stun-
»Cüisine« heißt es, ein schönes Kunst- gen. Ich buk (was für ein schönes Wort) den zugedeckt dunkel bei Raumtempera-
wort, es stammt von einer Köchin mit mit frisch verarbeitetem Teig und mit sol- tur gehen lassen (bei mir ergab das acht
Restaurants in Zürich und Wurzeln in chem, den ich eingefroren hatte, geht bei- circa. 100 Gramm schwere Teiglinge, wie
Gaziantep; im Alter von sieben Monaten des, aber der frische war besser. sie auf vier kommt, verstehe ich nicht).
kam sie mit Eltern und Geschwistern aus Eines nur, liebe Elif O. Dieser Rand, die- Den Hauptteig von oben
Südostanatolien in die Schweiz. Es ist ein ser eine Zentimeter Teig, den man frei- 300 g Käsemischung: 1 Teil Cheddar,
sympathisches Buch, mit Porträts von lässt, den muss man hochklappen, oder? 1 Teil Emmentaler, 4 Teile Frischkäse,
Menschen und Mahlzeiten, nur etwas un- Steht nicht im Rezept. Habe ich trotzdem 3 Teile Salzlakenkäse
übersichtlich. Das Inhaltsverzeichnis getan. Bireysel sorumluluk nennt man 300 g Brillat-Savarin-Käse mit Trüffeln
muss gesucht werden. Ein Stichwortver- das. Eigenverantwortung. Klingt auf Tür- Traubendicksaft
zeichnis, in dem ich »Pide« finden würde, kisch irgendwie schöner. Frischer Trüffel, mindestens 10 g pro Per-
fand ich nicht. Hier das Grundrezept für den »Cüisine«- son (!!)
Ich stieß dann aber auf ein Grundrezept Teig (aus dem man auch Lahmacun machen Den Ofen mit zwei Backblechen mit Um-
für »Cüisine-Teig«, auch sehr sympa- kann, Yufka, Simit, Ekmek, was ich nicht luft auf die höchste Stufe aufheizen (Vor-
thisch: Wenig Hefe, lange Gärzeit (zwei erklären werde, dafür ist das Buch da): sicht: Mein Ofen schafft 300 Grad, das war
Tage!), als manische Hobby-Brotbäckerin Vorteig mir zu viel). Die Teiglinge mit viel Mehl
kenne und schätze ich die Methode. Für 30 g Wasser oval ausrollen und möglichst viel Mehl wie-
meine Pide nahm ich eine Käsemischung, 30 g Hefe der abklopfen. Die Käsemischung verteilen,
die ihrer einigermaßen nahekam. Aber 1 g frische Bio-Hefe einen Rand von einem Zentimeter freilas-
statt Frisch- plus Salzlakenkäse war es bei Alles von Hand vermischen und in einem sen. Löffelweise Brillat Savarin dazu. Pide
mir Schichtkäse, und ich hatte zufällig geschlossenen Behälter 24 Stunden bei auf die heißen Bleche hieven und 15 bis
gerade keine Trüffel da. Kann ja mal pas- Raumtemperatur gehen lassen. 20 Minuten backen. Rausnehmen, die Rän-
sieren. Hauptteig der gleich mit dem Traubensaft bepinseln.
Stattdessen dekorierte ich mit halbierten 355 g lauwarmes Wasser
Kirschtomaten, ab in den Ofen bei 280 535 g Weißmehl Barbara Supp ist Autorin im Ressort Reporter
Grad, Viertelstunde Ober-/Unterhitze, 2 g frische Bio-Hefe und beim Kochen zu allem bereit, vorausgesetzt,
kam sehr gut an. 10 g Salz es kommt kein Tofu dabei vor.

Illustration: Moritz Wienert / SPIEGEL BESTSELLER 29


Und das soll ich lesen?

»Melody« von Martin Suter matisches Finale im Mutterland der Tra­


gödie. Allerdings ist Suter ein bisschen zu
eilig in die Schlusskurve eingebogen. Die
Hammelehle: Was hältst du von Ar­ ziellen Niveau. Und drittens: das geheim­ Auflösung erfolgt ziemlich abrupt. Davor
magnac? nisvolle Verschwinden von Melody, der plätscherte das Buch ja ein wenig dahin.
Keller: Ich musste erst einmal googlen, großen Liebe des trunksüchtigen Multi­ Keller: Warum, glaubst du, sind Suters
dass das ein spezieller Weinbrand ist. Jetzt, millionärs Dr. Stotz, um den es im Buch Bücher trotzdem regelmäßig so wahnsin­
da ich es weiß, kann ich mit Sicherheit sa­ im Wesentlichen geht. nig erfolgreich?
gen, dass ich vermutlich niemals verschie­ Keller: Ich meinte eigentlich ein viertes: Hammelehle: Martin Suter ist das In­
dene Jahrgänge davon lagern werde. Hast wie man aus allen Erlebnissen und Erin­ stagram der Literatur. Schöne Oberflä­
du schon mal Armagnac getrunken? nerungen im Rückblick eine kongruente che, wenig Tiefe. Er schildert das gute
Hammelehle: Auf die Gefahr hin, dem Lebensgeschichte spinnt und ein Bild von Leben, milden Luxus, eine Welt wohlge­
Klischee des frankophilen Literaturkriti­ sich selbst kreiert, das den eigenen Tod kleideter, finanziell sorgloser Menschen.
kers zu entsprechen: bien sûr! Es heißt, überdauern soll. Im Buch heißt es an einer Aber offenbar ist nichts öder als niemals
dass Armagnac so etwas wie die smarte Stelle, das sei Geschichtsgewichtung. endender Wohlstand. Was für eine er­
Variante des Cognacs sei. Ist denn Martin Hammelehle: Für diese Aufgabe hat nüchternde Erkenntnis.
Suters Roman »Melody« überhaupt ge­ Stotz den jungen Juristen Tom Elmer ein­ Keller: Ich habe mir zwischendurch oft
nießbar, wenn man Armagnac nicht gestellt, die andere Hauptfigur des Buchs. gewünscht, dass endlich mal was passiert.
kennt? Die beiden Hauptfiguren, ein Tom soll Stotz’ Nachlass schon zu dessen Beim Lesen fühlt man sich tatsächlich, als
­äußerst wohlhabender Schweizer und Lebzeiten ordnen und dessen Geschichte wäre man mit jemandem unterwegs, der
sein junger Assistent, trinken ihn schließ­ erzählen – und macht sich natürlich auf ständig noch eine neue Runde bestellt
lich in fast jedem Kapitel. die Spur der verschwundenen Melody. und sehr langatmig aus seinem Leben er­
Keller: Das wäre vielleicht eine Erklä­ Die ist so etwas wie die zentrale Leerstel­ zählt. Und insgeheim will man eigentlich
rung dafür, warum ich keinen richtigen le in Stotz’ Lebensgeschichte. langsam mal nach Hause. Aber vielleicht
Zugang zu diesem Buch gefunden habe Keller: Was wirklich mit Melody gesche­ hat genau dieses Dahinplätschern auf
und mich stellenweise etwas durchge­ hen ist, ist natürlich das große Rätsel, um manche einen beruhigenden Effekt.
quält habe. Auch wenn ich das Thema des das dieses Buch kreist. Und deshalb darf Hammelehle: Eskapismus eben, litera­
Romans durchaus interessant fand. diesbezüglich auch nicht zu viel verraten risch allerdings nicht sonderlich raffiniert.
Hammelehle: Welches denn? Ich wür­ werden. Aber: Wie hat dir die Auflösung
de ja behaupten, dass der Roman mindes­ gefallen? Eher Armagnac oder Korn? Maren Keller ist Redakteurin im Ressort
tens drei Themen hat. Zum einen natür­ Hammelehle: Wenn, dann wohl Ouzo. ­Leben. Statt Armagnac würde sie vor dem Kamin
lich das klassische Martin-Suter-Sujet: Die Geschichte führt nach Griechenland. lieber Milchkaffee oder Weinschorle trinken.
reiche Zürcher in ihrem Habitat. Zum Es ist also ein bisschen wie in »Homo Fa­ Sebastian Hammelehle ist Autor im Kultur­
anderen, wie schon angedeutet: Alkoho­ ber«, dem Roman eines anderen sehr be­ ressort. Sein liebster Alkoholiker in der Welt­
lismus – allerdings auf sehr hohem finan­ kannten Schweizer Schriftstellers: Dra­ literatur ist Kommissar Maigret.
30 Illustration: Moritz Wienert / SPIEGEL BESTSELLER

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