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Grundkenntnisse Wirtschaft und Recht

Aymo Brunetti (Hrsg.)

Wie kann ein Unternehmen ein neues Produkt vermarkten?

d k e n nt n i ss e
Warum ist in der Schweiz die Arbeitslosigkeit tiefer als in Spanien?

Gr u n t
h
Welche Rechte haben Mieterinnen und Mieter?

a f t   u nd   R e c
s c h
«Grundkenntnisse Wirtschaft und Recht» vermittelt essenzielles
Wissen in den drei Bereichen Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft und
Recht. Das Buch ermöglicht den Lernenden, wirtschaftliche und
rechtliche Themen zu begreifen und anzuwenden, und erklärt ihnen
Wi r t
t sc haf t
Betriebswir
die Zusammenhänge, um aktuelle gesellschaftliche und politische
Diskussionen verstehen und hinterfragen zu können.

c haf t
«Grundkenntnisse Wirtschaft und Recht» verfügt über alle Merkmale Volkswir t s
eines zeitgemässen Lehrmittels: fundierte und sachgerecht aufbereitete
Inhalte, attraktive Fallbeispiele, hilfreiche Grafiken, eine leicht verständ- Re c ht
liche Sprache sowie eine übersichtliche und ansprechende Gestaltung.

Brunetti (Hrsg.)
«Grundkenntnisse Wirtschaft und Recht» wendet sich an alle Schüle­
rinnen und Schüler der Sekundarstufe II, die Wirtschaft und Recht im Er-
gänzungsfach (Berufsmaturität) bzw. im Grundlagen- oder Ergänzungs-
fach (Gymnasium) besuchen. Darüber hinaus eignet sich das Lehrmittel
auch für höhere Fachschulen, die Weiterbildung und das Selbststudium.
Auszug für Gymnasium Neufeld
hep-verlag.ch/grundkenntnisse-wr Abteilung Fachmittelschule (FMS)

Kapitel 1, 2.1, 3, 8, 10, 15, 16, 17


Lernen, trainieren, nachschlagen:
die kostenlose App zum Buch

Mit Beiträgen von


Rahel Balmer-Zahnd • Aymo Brunetti • Vera Friedli
Adrian S. Müller  •  Renato C. Müller Vasquez Callo

ISBN 978-3-0355-2097-2

4. Auflage
9 783035 520972

UG_Grundkenntn_WR_4A_22.indd 1 26.04.2022 09:21:16


Grundlagen der
Betriebswirtschaftslehre
Die Themen in diesem Kapitel

1.1 Unternehmensarten 12

1.2 Unternehmensziele 17

1.3 Standortwahl 18

1
1 Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre

Einleitung
Bei der Arbeit und in der Freizeit kommen wir täglich auf unterschiedliche und vielfältige
Weise mit unzähligen Wirtschaftsbetrieben in Kontakt – meist ohne uns gross über deren
Funktionen und Aufgaben Gedanken zu machen.

Als Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften befasst sich die Betriebswirtschaftslehre


(BWL) mit den Abläufen und Zusammenhängen innerhalb eines Betriebs. Die BWL unter-
sucht die wirtschaftlichen, organisatorischen und finanziellen Prozesse in Unternehmen,
öffentlichen Betrieben und Verwaltungen. Zum Beispiel beschäftigt sie sich mit Fragen der
Organisation, des Marketings oder des Personalwesens. Dabei beschreibt und erklärt die
Betriebswirtschaftslehre nicht nur, sondern erteilt auch konkrete Empfeh­lungen an Unter­
nehmen.

Da jede und jeder von uns direkt oder indirekt am wirtschaftlichen Leben teil­nimmt, sind
betriebswirtschaftliche Kenntnisse sowohl für das berufliche als auch für das private Leben
von grosser Bedeutung. Bevor wir einzelne Teilbereiche der Betriebswirtschaftslehre näher
kennenlernen, werden in diesem Kapitel einige wichtige Grundlagen der BWL dargestellt.

1.1 Unternehmensarten
Unternehmen Unternehmen sind Organisationen, die Produkte oder Dienstleistungen herstel-
len, welche zum Verkauf bestimmt sind. Doch was heisst das genau? In der
Schweiz gibt es rund 593 000 Unternehmen, die sehr unterschiedlich sind. Um
besser verstehen zu können, was ein Unternehmen ist, lernen wir in der Folge
sechs verschiedene Arten kennen, wie man Unternehmen beschreiben und
einteilen kann: nämlich aufgrund ihres Tätigkeitgebiets, ihrer Eigentumsver-
hältnisse, ihrer Gewinn­orientierung, ihrer Rechtsform, ihrer Grösse und ihrer
geografischen Reichweite.

Wirtschaftssektoren und Branchen

Die drei Sektoren Unternehmen können nach ihrem Tätigkeitsgebiet voneinander abgegrenzt
werden. In einem ersten Schritt werden sie einem der drei Wirtschaftssektoren
zugeordnet. Der 1. Sektor (primärer Sektor) beinhaltet die Rohstoffgewinnung,
die sogenannte Urproduktion, der 2. Sektor (sekundärer Sektor) die Verarbei-
tung und Fabrikation, also Industrie und Gewerbe, und der 3. Sektor (tertiärer
Sektor) die Dienstleis­tungen. Seit den 1970er-Jahren ist der 3. Sektor der bedeu-
tendste in der Schweiz. Heute arbeiten gar drei von vier Erwerbstätigen im
Dienstleistungssektor (vgl. Kapitel 10.4).

Übersicht Wirtschaftssektoren

Wirtschaftssektoren

1. Sektor 2. Sektor 3. Sektor


Rohstoffgewinnung Verarbeitung und Fabrikation Dienstleistungen

12
Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre 1
Innerhalb des Wirtschaftssektors werden die Unternehmen dann in einem zwei- Verschiedene Branchen
ten Schritt einer Branche zugeteilt. Branchen des 1. Sektors sind u.a. die Land-
wirtschaft und die Forstwirtschaft. Zu den Branchen des 2. Sektors zählen z.B. die
Chemieindustrie oder der Maschinenbau. Branchen des 3. Sektors sind bei-
spielsweise der Handel, die Banken oder der Tourismus.

Eigentumsverhältnisse

Ein zweites wichtiges Unterscheidungsmerkmal sind die Eigentumsverhält­ Privat, gemischt­


nisse. Wenn ein Unternehmen Privatpersonen oder anderen Unternehmen wirtschaftlich oder
gehört, handelt es sich um ein privates Unternehmen. Ist der Staat Eigentümer ­öffent­lich
(Bund, Kanton oder Gemeinde), so wird von einem öffentlichen Unternehmen
gesprochen. Wenn sowohl Private als auch der Staat an einem Unternehmen
beteiligt sind, handelt es sich um ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen.
Private Unternehmen machen den weitaus grössten Anteil an sämtlichen
Betrieben aus. ABB oder Nestlé sind Beispiele für private Unternehmen. Öffent-
liche Unternehmen sind z.B. Kehricht­verbrennungsanlagen oder die Suva. Ein
typisches gemischtwirtschaftliches Unternehmen ist beispielsweise die Swiss-
com. Aufgabe der öffentlichen und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen ist
es, eine bestimmte Infrastruktur sicherzustellen, z.B. Wasser- und Stromversor-
gung, Telefonnetz, öffentlicher Verkehr. Man spricht in diesem Zusammenhang
auch von Service public.

Übersicht Eigentumsverhältnisse

Eigentumsverhältnisse

Gemischtwirtschaftliche
Private Unternehmen Öffentliche Unternehmen
Unternehmen

Das Unternehmen Mammut

mit der Gründung seiner hand- ten und Athleten mit einem gemein- insgesamt über 860 Mitarbeitende in
werklichen Seilerei in Dintikon bei samen Ziel Hand in Hand: Einzigar- gut 40 Ländern. Mit einem gut aus-
Lenzburg den Grundstein des tige und innovative Produkte, die gebauten Distributionsnetz, zu dem
Unternehmens. Heute, 160 Jahre eine Top Performance ermöglichen. Agenten, der Fachhandel, aber auch
Schweizer Wurzeln – später, ist MAMMUT eines der Neben dem zentralen Firmensitz im MAMMUT Flagship-Stores zählen,
International erfolgreich weltweit führenden Unternehmen schweizerischen Seon, ist die Mam- sowie dem mammut.com Webshop
MAMMUT steht für Innovation, für Alpin-, Kletter- und Outdoor- mut Sports Group AG über Nieder- ist ­MAMMUT rund um den Globus
Qualität und Funktionalität im ausrüstung und eine der am lassungen und Tochtergesellschaften präsent.
Outdoor-Bereich. Mit der Kombi- längsten bestehenden Out- global tätig und beschäftigt weltweit Quelle: Mammut Sports Group AG
nation aus Hartwaren, Schuhen door-Brands auf dem Markt.
und Bekleidung ist MAMMUT einer
der komplettesten Anbieter im 860 Mitarbeitende in
Outdoor-Markt und liefert nahe- 40 Ländern
zu alles, was Bergsportler und MAMMUT entwickelt und designt
­Profi-Alpinisten benötigen. nach wie vor in der Schweiz und
steht damit konsequent für die
Von der Seilerei zur Authentizität, Spitzenqualität, Prä-
­Outdoor-Marke zision und Zuverlässigkeit ihrer Pro-
Im Jahr 1862 legte Kaspar Tanner dukte ein. Dabei arbeiten Spezialis-

13
1 Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre

Gewinnorientierung

Üblicherweise ist davon auszugehen, dass Unternehmen unter anderem das


Ziel verfolgen, Gewinn zu erwirtschaften. Nur wenn der Ertrag (die erwirt-
schafteten Werte) längerfristig höher ist als der Aufwand (die eingesetzten
Werte), kann ein Unternehmen bestehen (vgl. Kapitel 6).
Non-Profit- Es gibt auch Unternehmen, bei denen nicht die Gewinnerzielung im Vorder-
Organisationen (NPO) grund steht, sondern eine spezielle Zielsetzung, etwa im gemeinnützigen, sozi-
alen, kulturellen oder wissenschaftlichen Bereich. Beispiele solcher Non-Pro-
fit-Organisationen (NPO) sind die schweizerische Rettungsflugwacht Rega,
die Krebsliga Schweiz oder Pro Natura. Damit die Non-Profit-Organisation ihre
Zweckbestimmung erreichen können, erhalten sie zum Teil Unterstützungs-
beiträge vom Staat und/oder von privaten Personen, sodass auch in diesen
Organisationen sämtliche Kosten gedeckt werden können.

Rechtsform

Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist die Rechtsform. Handelt es


sich bei einem Unternehmen um eine Aktiengesellschaft (AG), eine Gesellschaft
mit beschränkter Haftung (GmbH), einen Verein oder ein Einzelunternehmen?
Jedes Unternehmen verfügt über eine rechtliche Struktur, welche die Beziehun-
gen gegenüber Dritten regelt und die eigene Organisationsstruktur bestimmt.
Diese Rechtsform hat unter anderem Auswirkungen auf die Haftungsfrage und
auf die Geschäftsführung eines Unternehmens. Zudem definiert sie, ob ein
Unternehmen eine eigene Rechtspersönlichkeit darstellt, also eine juristische
Person ist, oder ob deren Eigentümer als natürliche Personen handeln. Je nach
gewählter Rechtsform müssen verschiedene gesetzliche Anforderungen bei der
Gründung, dem Betrieb, beim Grundkapital usw. eingehalten werden.

Als selbstständige und gemeinnützige Stiftung ist die Rega ein Beispiel für eine Non-Profit-Organisation (NPO).

14
Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre 1
Wie die folgende Übersicht zeigt, sind im schweizerischen Gesellschaftsrecht
zehn verschiedene Rechtsformen vorgesehen.

Übersicht Rechtsformen

Rechtsformen

Personen- Kapital-
Einzelunternehmen Übrige
gesellschaften gesellschaften

Einfache Gesellschaft Aktiengesellschaft Genossenschaft

Kommandit­
Kollektivgesellschaft Verein
aktiengesellschaft

Kommandit- Gesellschaft mit


Stiftung
gesellschaft beschränkter ­Haftung

Die bedeutendsten vier Rechtsformen sind das Einzelunternehmen, die Kollek-


tivgesellschaft, die Aktiengesellschaft und die GmbH. Die folgende Tabelle fasst
ihre wichtigsten Merkmale zusammen.

Die häufigsten Rechtsformen und ihre wichtigsten Merkmale


Einzelunternehmen Kollektivgesellschaft (KLG) Aktiengesellschaft (AG) Gesellschaft mit beschränkter
Haftung (GmbH)

Anzahl 166658 Unternehmen 11292 Unternehmen 229736 Unternehmen 231250 Unternehmen

Gesetzliche Art. 931 OR, Art. 945f. OR, Art. 552ff. OR Art. 620ff. OR Art. 772ff. OR
Grundlagen Art. 956 OR, Art. 37ff. HRegV

Eignung Kleinunternehmen, personen­ Kleine und mittlere personen­ Geeignet für fast alle Arten Geschäfte jeder Art und Grösse,
bezogene Tätigkeiten (z.B. bezogene Geschäfte mit wenigen gewinn­orientierter Unter­nehmen, in der Regel kleinere, stark per­
Künstler) Teilhabern, die länger­fristig per- aktive Mitarbeit der Teilhaber sonenbezogene Unternehmen,
sönlich mitarbeiten wollen und nicht erforderlich. aktive Mitarbeit der Gesellschafter
sich gegenseitig vertrauen. häufig

Rechtsnatur Alleineigentum des Firmen­ Personengesellschaft Juristische Person, Körperschaft Juristische Person, Körperschaft
inhabers

Grundkapital Keine Auflagen Keine Auflagen CHF 100 000.–, davon mindestens CHF 20000.–
CHF 50 000.– einbezahlt

Eigentümer Eine natürliche Person ist Zwei oder mehrere natürliche Mindestens eine natürliche oder Mindestens eine natürliche oder
allei­niger Geschäftsinhaber Personen sind Gesellschafter juristische Person oder Handels­ juristische Person oder Handels­
gesellschaft gesellschaft

Haftung Unbeschränkte Haftung des Primär Haftung des Gesell- Ausschliessliche Haftung des Ausschliessliche Haftung des
Inhabers mit dem persönlichen schaftsvermögens; subsidiär Gesellschaftsvermögens Gesellschaftsvermögens
Vermögen unbeschränkte und solidarische
Haftung jedes Gesellschafters mit
dem persönlichen Vermögen

Vorteile • Einfachheit • Geringere Steuerbelastung • Kapitalbeschaffung • Kapitalbeschaffung


• Unabhängigkeit als bei AG • Beschränkte Haftung • Beschränkte Haftung
• Flexibilität • Flexibilität • Anonymität • Geringes Mindestkapital
• Geringe Gründungskosten • Geringe Gründungskosten • Einfache Anteilsübertragung

Nachteile • Unbeschränkte Haftung • Unbeschränkte Haftung • Kosten • Fehlende Anonymität


• Fehlende Anonymität • Fehlende Anonymität • Doppelbesteuerung • Erschwerte Anteilsübertragung
• Geringe Flexibilität der Struktur

Quelle: Bundesamt für Statistik, Statistik der Unternehmensstruktur 2022; Recht für technische Kaufleute und HWD (2009); www.aargauservices.ch; www.gruenden.ch

15
1 Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre

Grösse

Ein häufig verwendetes Unterscheidungsmerkmal ist die Grösse des Unterneh-


mens. Diese kann man auf vielfältige Weise messen, z.B. anhand der Anzahl
Beschäftigter, des Umsatzes oder des Gewinns. Meist wird die Unterteilung
jedoch aufgrund der Anzahl Mitarbeitenden vorgenommen.

Übersicht Unternehmensgrösse

 Klein- und Mittel-


Grösse unternehmen (KMU)

Mikrounternehmen Kleinunternehmen Mittelunternehmen Grossunternehmen


0 bis 9 10 bis 49 50 bis 249 250 und mehr
Vollzeitstellen Vollzeitstellen Vollzeitstellen Vollzeitstellen

Die allergrösste Mehrheit der Unternehmen in der Schweiz sind sogenannte


KMU, d.h. Mikro-, Klein- und Mittelunternehmen mit weniger als 250 Vollzeit-
stellen. Der Beschäftigungsanteil dieser KMU liegt unter 70 Prozent. Die rund
1700 Grossunternehmen mit über 250 Mitarbeitenden beschäftigen also rund
ein Drittel der Erwerbstätigen.

Unternehmen und
Unternehmen und deren
deren Beschäftigte
Beschäftigtein
inder
derSchweiz
Schweiznach
nachUnternehmensgrösse
Unternehmensgrösse

1,6 % 0,3 % Unternehmen 25,6 % Beschäftigte


8,4 %
32,9 %
Mikrounternehmen: Mikrounternehmen:
539 604 Unternehmen 1 168 809 Beschäftigte
Kleinunternehmen: Kleinunternehmen:
50 758 Unternehmen 979 464 Beschäftigte
Mittelunternehmen: Mittelunternehmen:
9324 Unternehmen 920 856 Beschäftigte
Grossunternehmen: Grossunternehmen:
1706 Unternehmen 1 501 541 Beschäftigte
21,4 %
89,7 % 20,1 %
Quelle: Bundesamt für Statistik, Statistik der Unternehmensstruktur 2019

Reichweite

Unternehmen kann man auch gemäss ihrer geografischen Reichweite einteilen:


• Lokale Tätigkeit: Das Unternehmen ist ausschliesslich in einer Gemeinde,
in einem Dorf oder in einer Stadt tätig (z.B. die Bäckerei Furter in Aarau).
• Regionale Tätigkeit: Das Unternehmen ist in einer gewissen Region tätig
(z.B. die Jungfraubahnen im Berner Oberland).
• Nationale Tätigkeit: Das Unternehmen ist innerhalb eines Landes tätig (z.B.
Coop Schweiz).
• Internationale Tätigkeit: Das Unternehmen ist in mehreren Ländern prä-
sent, produziert und/oder vertreibt seine Produkte bzw. Dienstleistungen
sowohl im Inland als auch im Ausland (z.B. Nestlé).

16
Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre 1

Übersicht Reichweite

Reichweite

Lokale Tätigkeit Regionale Tätigkeit Nationale Tätigkeit Internationale Tätigkeit

1.2 Unternehmensziele
Um am Markt bestehen zu können, müssen Unternehmen erfolgreich wirt- Zielbildung
schaften. Voraussetzung dafür ist, dass sie klare Ziele verfolgen. Dabei unter-
scheidet man zwischen strategischen und operativen Zielen. Strategische Ziele
sind langfristige Ziele, zum Beispiel die Entwicklung neuer Produkte oder die
Erschliessung neuer Märkte. Operative Ziele sind kurzfristige Ziele, zum Beispiel
die Jahresverkaufsziele einer Abteilung oder die Neugestaltung eines Produkts.
Unternehmen sollten ihre Ziele nicht vage, sondern eindeutig formulieren. Zielformulierung
Damit dies gelingt, sollten die Ziele der sogenannten SMART-Formel entspre-
chen. SMART steht für Specific, Measurable, Achievable, Relevant, Time-bound.
S für Specific – Ziele müssen eindeutig definiert (spezifisch) sein.
M für Measurable – Ziele müssen messbar sein.
A für Achievable – Ziele müssen erreichbar und realistisch sein.
R für Relevant – Ziele müssen relevant, d.h. wichtig und sachbezogen, sein.
T für Time-bound – Ziele brauchen eine klare Terminvorgabe.
Um genügend zu rentieren, muss ein Unternehmen die ihnen zur Verfügung Kennzahlen
stehenden Ressourcen bestmöglich einsetzen (vgl. Kapitel 8.3). Ob dies der
Fall ist, kann anhand verschiedener Kennzahlen geprüft werden. Drei dieser
Kennzahlen sind die Produktivität, die Wirtschaftlichkeit und die Rentabilität:
Die Produktivität bezeichnet die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, also das
Verhältnis zwischen produzierten Gütern (Output) und den dafür eingesetzten
Produktionsfaktoren (Input), zum Beispiel hergestellte Stühle durch geleis-
tete Arbeitsstunden. Die Wirtschaftlichkeit ergibt sich aus der Produktivität,
indem die Outputmenge mit dem Verkaufspreis und die Inputmenge mit dem
Einkaufspreis multipliziert wird. Dies entspricht dem Ertrag geteilt durch den
Aufwand. Die Rentabilität ist definiert als der Gewinn (d.h. der Ertrag minus
den Aufwand) geteilt durch das investierte Kapital.

Output
Produktivität  
Input

Output (Menge)  Verkaufspreis Ertrag


Wirtschaftlichkeit   
Input (Menge)  Einkaufspreis Aufwand

Gewinn
Rentabilität (in %)    100
eingesetztes Kapital

17
1 Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre

1.3 Standortwahl
Standortfaktoren

Die Wahl des Standortes bzw. der Standorte ist für ein Unternehmen sehr zen-
tral und entscheidet wesentlich über seinen Erfolg. In der Regel müssen bei
diesem Entscheid Kompromisse eingegangen werden, denn je nach Unterneh-
mensart können neun unterschiedliche Standortfaktoren ausschlaggebend sein.
Absatzorientierte Für viele Unternehmen (wie z.B. Banken, Hotels, Handwerker) ist die Nähe zur
Standort­faktoren Kundschaft von entscheidender Bedeutung. Während bei Gebrauchsartikeln (z.B.
Kleidern) häufig die Nähe zu den Konkurrenten gesucht wird, meiden Anbieter
von Waren des täglichen Gebrauchs (z.B. Bäckereien) die direkte Konkurrenz.
Arbeitsmarktorientierte Bei arbeitsintensiver Produktion, für die wenig Know-how erforderlich ist (z.B.
Standort­faktoren Bekleidungsindustrie), sind die Lohnkosten ein ausschlaggebender Faktor bei
der Standortwahl. Da die Schweiz sehr hohe Lohn- und Lohnnebenkosten hat,
werden vermehrt Produktionsstätten von der Schweiz ins Ausland verlegt. Vor-
teile hat der Standort Schweiz bei hoch qualifizierten Mitarbeitenden, weil die
Ausbildung hier einen hohen Stellenwert hat.
Material- und Rohstoffe können örtlich gebunden sein oder hohe Transportkosten verursachen.
rohstoff­orientierte In diesem Falle ist es von Vorteil, den Standort nahe an den benötigten Ressourcen
Standort­faktoren zu planen bzw. für die Anlieferung günstige Bedingungen zu erreichen. Bei wert-
vollen Rohstoffen (z.B. Erdöl, Gold) stellt sich zudem die Frage nach der Zuliefer­
sicherheit, die oft mit der politischen Stabilität einer Region verbunden ist.
Grundstückorientierte Boden und Raum sind in der Schweiz relativ knapp und somit teuer. Für
Standort­faktoren eine Erweiterung eines Produk­tionsstandorts fehlt häufig der Platz, sodass ein
Wechsel des Standorts nötig wird.
Verkehrsorientierte Bei der Beschaffung und dem Absatz ist die verkehrsmässige Erschliessung
Standort­faktoren entscheidend. Eine günstige Verkehrs­anbindung hilft die Transportkosten für
das Unternehmen und die Kundschaft tief zu halten.

Übersicht Standortfaktoren

Absatz
Politik Arbeits-
und Recht markt

Material
Umwelt und
Standortwahl Rohstoffe

Grund-
Abgaben
stück

Infrastruktur Verkehr

18
Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre 1
Zur Infrastruktur zählen Einrichtungen zur Versorgung, ­Entsorgung und Kom- Infrastrukturorientierte
munikation, z.B. Wasser- und Abwasserleitungen, Strassen- und Stromnetz. Standort­faktoren
Für einen Internet-Provider etwa ist der Anschluss an ein schnelles Datennetz
entscheidend.
Unternehmen nützen das Steuergefälle zwischen verschiedenen Gemeinden, Abgabenorientierte
Kantonen und Staaten aus. Zum Beispiel verlangen Kantone wie Obwalden und Standortfaktoren
Zug sehr tiefe Unternehmenssteuern, um für Firmen attraktiv zu sein. Im inter-
nationalen Handel sind zudem auch die Zollkosten zu berücksichtigen.
Es gibt immer mehr gesetzliche Regelungen zum Schutz der Umwelt, z.B. Umweltorientierte
Abgaswerte, Verbote schädlicher Stoffe usw. Je nach Standort können diese Standortfaktoren
unterschiedlich streng sein und damit das Budget mehr oder weniger belasten.
Damit ein Unternehmen längerfristig planen kann, braucht es stabile politische Politisch-rechtliche
Verhältnisse, Rechts­sicher­heit, eine wirtschaftsfreundliche Gesetzgebung und Standort­faktoren
möglichst kurze Bewilligungsverfahren.
Es ist auch möglich, dass das Unternehmen für einige seiner betrieblichen
Funktionen unterschiedliche Standorte wählt (z.B. Verwaltung und Produktion
an ge­trennten Standorten) oder als Unternehmenskette davon lebt, dass es
möglichst viele verschiedene Standorte gibt (z.B. McDonald’s, Denner).

Nutzwertanalyse (NWA)

Wie aber soll ein Unternehmen entscheiden, welcher Standort der beste ist?
Eine Nutzwertanalyse (NWA) kann helfen, den Entscheid zu objektivieren,
indem es die Vor- und Nachteile verschiedener möglicher Standorte in Zahlen
fasst. Dabei werden für die Standorte gemeinsame Faktoren definiert, gewichtet
und für jeden Standort bewertet. Entscheidend ist schliesslich die Summe der
Bewertungen: Der Standort mit den höchsten Bewertungen erhält den Zuschlag.

Beispiel einer NWA: Reis-Fix

Für eine neue Filiale der Reis-Fix, ein Einkaufszentrum. Folgende sein, auch mit dem Auto (u.a. langen nach hohem Umsatz;
einer Take-away-Kette, hat sich Kriterien sollen dabei berück- für die Anlieferung); • Standortimage: Der Ort soll
die Unternehmensleitung bereits sichtigt werden: • Konkurrenzsituation: Es soll zum Verweilen einladen oder
für die Stadt Bern entschieden. • Kundenfrequenz: Beliebtheit nicht zu viele direkte Konkur- in der Nähe zu einem günsti-
Noch stehen aber drei konkrete des Standorts, viele Passanten; renten in der unmittelbaren gen Aufenthaltsort liegen (z. B.
Standorte zur Diskussion: der • zentrale Verkehrslage: Der Umgebung haben; Schule, Bahnhof).
Bahnhof, ein Aussenquartier und Standort soll gut erreichbar • Mietzins: Hohe M ­ ietkosten ver-

G = Gewichtung Bahnhof Aussenquartier Einkaufszentrum


B = Bewertung
N = Nutzen G B N B N B N

1. Kundenfrequenz 40 5 200 2 80 6 240

2. Zentrale Verkehrslage 20 5 100 3 60 5 100

3. Konkurrenzsituation 15 4 60 6 90 3 45

4. Mietzins 15 5 75 6 90 3 45

5. Standortimage  10 3 30 2 20 6 60

Gewichtung insgesamt 100

Punktzahl insgesamt 465 340 490

Rangfolge 2. Rang 3. Rang 1. Rang


*Die Bewertung geht von 1 bis 6 (1 = sehr schlecht, 6 = sehr gut). Die Summe aller Gewichtungen muss 100 Punkte ergeben. Gewichtung  Bewertung  Nutzen.

19
1 Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre

Repetitionsfragen
1. Was versteht man unter einem Unternehmen?

2. Nennen Sie fünf Kriterien, wie Unternehmen unterschieden werden können.

3. Ordnen Sie die folgenden Branchen den drei Wirtschaftssektoren zu: Banken, Land-
wirtschaft, Baugewerbe, Fischerei, Maschinenbau, Forstwirtschaft, chemische Indus-
trie, Versicherungen, Detailhandel.

4. Welche drei Formen von Unternehmen werden nach den Eigentumsverhältnissen


unterschieden?

5. Was steckt hinter der Abkürzung NPO? Nennen Sie zudem drei konkrete Beispiele.

6. Welches sind die vier häufigsten Rechtsformen?

7. Wie ist das Verhältnis zwischen KMU und Grossunternehmen aufgrund der Anzahl
angestellter Personen?

8. Welche Unternehmen mit lokaler Tätigkeit, nationaler Tätigkeit und internationaler


Tätigkeit kennen Sie? Nennen Sie je zwei Beispiele.

9. Wie sollen Unternehmen Ziele festlegen?

10. Was versteht man unter der Rentabilität eines Unternehmens?

11. Zählen Sie vier Standortfaktoren auf, die für eine Transportfirma (Lastwagen) wichtig
sind.

12. Was leistet eine Nutzwertanalyse?

20
­Unternehmensmodell
und strategische
­Unternehmensführung
Die Themen in diesem Kapitel

2.1 Unternehmensmodell 22

2.2 Strategische Unternehmensführung 27

2
2 ­Unternehmensmodell und strategische ­Unternehmensführun

Einleitung
In unserem Leben müssen wir ständig Entscheide fällen. Einige davon fällen wir ganz
gezielt und bewusst; andere dagegen unbewusst. Dass Sie beispielsweise eine Ausbildung
absolvieren, war sicher ein bewusster Entscheid, den Sie nach reiflicher Überlegung und in
Absprache mit nahestehenden Personen wie Eltern, Freunde oder Lehrpersonen getroffen
haben.

Auch in der Wirtschaft werden viele Entscheidungen durch unzählige Faktoren beeinflusst.
Mit dem Unternehmensmodell wird versucht, diese Faktoren zu ordnen und zu gewichten,
um dadurch zur richtigen Entscheidung zu gelangen. Dies ist das Thema des ersten Teils in
diesem Kapitel.

Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit einer zentralen Aufgabe eines jeden Unterneh-
mens, nämlich mit dem vorausschauenden Denken, Planen und Handeln. Um die vielfälti-
gen Herausforderungen erfolgreich meistern zu können, muss die Unternehmensführung
die langfristigen Ziele und Strategien festlegen. Angesichts der sich ständig verändernden
Rahmenbedingungen ist das eine schwierige Auf­gabe, an der auch grosse Firmen scheitern
können.

2.1 Unternehmensmodell
Definition «Modell» Als Modell bezeichnet man eine vereinfachte Abbildung einer bestimmten
Wirklichkeit. Modelle reduzieren komplexe Zusammenhänge auf übersichtliche
Darstellungen. Dabei entsprechen sie kaum je genau der Wirklichkeit, sie helfen
aber, diese besser zu verstehen. Zur Erklärung von Sachverhalten werden Model-
le in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen verwendet. Im
Folgenden lernen wir ein wichtiges Modell der Betriebswirtschaftslehre kennen.
Das St.Galler Ein Unternehmen handelt nicht im luftleeren Raum, sondern steht in dauernder
Management-Modell Wechselbeziehung zu seinem Umfeld, zu unterschiedlichen Personengruppen,
zu anderen Unternehmen und zum Staat. Um diese komplexen und vielfälti-
gen Beziehungen zu erklären, wurde in den 1960er-Jahren an der Universität
St.Gallen das sogenannte St.Galler Management-Modell entwickelt, das hier in
etwas vereinfachter Form vorgestellt werden soll. Dieses bildet das Unterneh-
men in seinem Umfeld ab und analysiert die Beziehungen des Unternehmens
zur Aussenwelt.

Anspruchsgruppen

Bei ihrer Tätigkeit müssen Unternehmerinnen und Unternehmer in Beziehung


zu den verschiedensten Personen treten: zu ihren Kundinnen und Kunden, zu
ihren Kapitalgebern, ihren Mitarbeitenden, ihren Lieferanten usw. All diese
Gruppen haben Ansprüche an das Unternehmen. Das St.Galler Manage-
ment-Modell spricht daher von Anspruchsgruppen und meint damit organisier-
te oder nicht organisierte Gruppen von Menschen, Unternehmen oder Institu­
tionen, welche Ansprüche an ein Unternehmen stellen.
Ansprüche der Gemäss dem Gewinnziel sind Unternehmen in besonderem Masse auf die
­Anspruchsgruppen Gunst der Kundinnen und Kunden angewiesen, aber es gilt auch Forderungen
anderer Gruppierungen zu berücksichtigen. Die folgende Tabelle stellt die
Ansprüche der wesentlichen Anspruchsgruppen dar.

22
­Unternehmensmodell und strategische ­Unternehmensführun 2
Anspruchsgruppen und ihre Ansprüche an das Unternehmen

Anspruchsgruppen Ansprüche an das Unternehmen

Kundinnen und Kunden Gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, Zusatzleistungen und guter Service

Eigenkapitalgeber/Eigentümer Wertsteigerung der Anteile, Rentabilität, Sicherheit für das eingesetzte Kapital

Fremdkapitalgeber (z.B. Bank) Möglichst hoher Zins, pünktliche Rückzahlung, Sicherheiten

Mitarbeitende Fairer Lohn, Weiterbildungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten, Arbeitsplatzsicherheit,


gute Arbeitsbedingungen

Lieferanten Langfristige Beziehungen, grosse und stabile Liefermengen, hohe Preise, prompte Bezahlung

Institutionen (z.B. Umwelt­ Umweltgerechtes Verhalten, gute Arbeitsbedingungen, offene Informationspolitik,


verbände, Gewerkschaften, finanzielle Unterstützung (Sponsoring)
­Medien, Parteien, Vereine)

Staat (Gemeinde, Hohe Steuereinnahmen, Schaffung und Erhaltung zukunfts­orientierter Arbeitsplätze,


Kanton, Bund) gesellschaftlich verantwortliches Handeln, Einhalten von Gesetzen

Konkurrenz Faires Verhalten im Wettbewerb (z.B. kein Preisdumping), Mitwirkung in (Branchen-)


Verbänden

Übersicht Anspruchsgruppen eines Unternehmens

Kundinnen
und Kunden
Eigen-
Konkurrenz
kapital-
geber

Fremd­-
Staat kapital­-
geber
Unternehmen

Institutionen Mitarbeitende

Lieferanten

All diese durchaus berechtigten Interessen wirken auf die unternehmerischen


Entscheide und Ziele ein. Es gibt drei Möglichkeiten, wie diese unterschied-
lichen Ansprüche untereinander in Beziehung stehen können: Zielharmonie,
Zielneutralität und Zielkonflikt.
Von Zielharmonie spricht man, wenn sich zwei Ziele bei ihrer Umsetzung Zielharmonie
positiv beeinflussen. So kann der Anspruch einer Gruppe an ein Unternehmen
die Ansprüche einer anderen Gruppe fördern. Die Forderungen der Fremd­
kapital­geber beispielsweise befinden sich in weitgehender Harmonie mit den
Ansprüchen der Eigentümer. Beide möchten gerne eine möglichst hohe Rendite
erzielen bzw. ihre Kapitalanlage gesichert wissen.
23
2 ­Unternehmensmodell und strategische ­Unternehmensführun

Zielneutralität Wenn sich zwei Ziele bei ihrer Umsetzung nicht gegenseitig beeinflussen,
spricht man von Zielneutralität. Bei Anspruchsgruppen ist dies der Fall, wenn
die Forderung einer Anspruchsgruppe die Forderungen einer anderen Anspruchs-
gruppe nicht tangiert. So haben etwa die Ansprüche der Lieferanten keinen
Einfluss auf die Ansprüche des Staates.
Zielkonflikt Steht die Umsetzung zweier Ziele im Widerspruch zueinander, spricht man von
einem Zielkonflikt (oder von Zielkonkurrenz). Bei den Ansprüchen an ein Unter-
nehmen kommt es häufig zu Zielkonflikten, denn ein Unternehmen kann nicht
immer im gleichen Masse die Interessen ihrer verschiedenen Anspruchsgruppen
berücksichtigen. So steht zum Beispiel der Gewinn­anspruch der Eigentümer in
Widerspruch zu den Lohnforderungen der Mitarbeitenden oder dem Tiefpreis-
anspruch der Kundschaft. Bei solchen sich widersprechenden Ansprüchen muss
die Unternehmensführung Prioritäten setzen bzw. einen Ausgleich finden.
Shareholder- vs. Ein bekannter Zielkonflikt zeigt sich in der Diskussion um den Stakeholder- und
Stakeholder-Value den Shareholder-Value-Ansatz. Der Shareholder-Value-Ansatz setzt die Prioritä-
ten klar bei den Ansprüchen der Eigentümer bzw. Aktienbesitzer (Shareholder)
und zielt damit auf die Maximierung des Gewinns bzw. des Aktienkurses. Diese
Sichtweise ist verbreitet, gefährdet aber langfristige Unternehmensziele (z.B.
durch verminderte Reinvestitionen des Gewinns). Demgegenüber setzt der
Stakeholder-Value-Ansatz auf das Bewusstsein, dass ein Unternehmen mehre-
ren Anspruchsgruppen (den sogenannten Stakeholders) gerecht werden muss,
insbesondere auch der Kundschaft und den Mitarbeitenden. Die ausgewogene
Berücksichtigung aller Anspruchsgruppen soll das Unternehmen stärken und
damit auch langfristig den Shareholder-Value maximieren.

Anspruchsgruppen der Alten Moschti Mühlethurnen

Die Kulturgenossenschaft Alti likum ein ansprechendes Pro- zu nennen, die ähnliche Ver- gehören die Dorfbewohnerinnen
Moschti Mühlethurnen wurde gramm in einmaliger Ambiance anstaltungen anbietet und ein und Dorfbewohner leider nicht
1994 gegründet und veran­ bieten. Dazu kam aber auch bald ähnliches Image pflegt. Die eher zu den Stammkunden. Das örtli-
staltet seitdem in den Räumen der Gedanke der finanziellen Ab­ konservativ ausgerichtete Dorf- che Gewerbe unterstützt die
der alten Gürbetaler Mosterei sicherung, weshalb eine Genos- bevölkerung von Mühlethurnen Moschti z.T. durch Sponsoring
kulturelle Veranstaltungen senschaft gegründet wurde. Die ist der Moschti nicht so zugetan. und erwartet von ihr eine güns-
wie Konzerte, Cabarets und Gründungsidee kann nur mit viel Die anfängliche Angst vor Ruhe­ tige Platzierung ihrer Labels
Le­sungen. Mühlethurnen unentgeltlichem Einsatz um­ge- störung und Mehrverkehr hat sowie Aufträge bei Renovations-
ist eine Gemeinde mit rund setzt werden. So werden mit den sich etwas gelegt, allerdings bedarf.
1400 Einwohnern und liegt circa Einnahmen nur die laufenden
20 Kilometer von Bern entfernt. Kosten gedeckt, Gewinne oder
Die Veranstaltungen finden Löhne werden keine ausbezahlt.
in der Regel an den Abenden Die Künstler wissen, dass die Alti
von Freitag bis Sonntag statt. Moschti einen einmaligen Raum
Wichtigste An­spruchs­gruppe bietet, wo Newcomer geför-
ist die Kundschaft. Sie möchte dert werden und persönlicher
gerne qualitativ hochstehende Kontakt zu den Veranstaltern
Konzerte und Veranstaltungen besteht. Sie wünschen, dass
in einer angenehmen und spe­ sie von den Veranstaltern gut
ziellen Atmosphäre geniessen. betreut sowie vermarktet wer-
Das Publikum ist altersmässig den und dass bei den Auffüh-
sehr gemischt und stammt zum rungen die Technik einwandfrei
grossen Teil aus der Agglomera­ funktioniert. Die Mitarbeitenden
tion Bern, aber nicht aus Mühle­ arbeiten ehrenamtlich, sind
thurnen selbst. Die Gründer dafür aber bei den Veranstal-
wollten einen kreativen Ort mit tungen kostenlos mit dabei. Als
innovativem Charakter schaffen, direkte Konkurrenz ist die relativ
Künstler fördern und dem Pub- nahe gelegene Mühle Hunziken

24
­Unternehmensmodell und strategische ­Unternehmensführun 2
Umweltsphären

Neben den Anspruchsgruppen hat auch das Umfeld einen grossen Einfluss auf
das Unter­nehmen. Das St.Galler Management-Modell unterscheidet vier ver-
schiedene sogenannte Umweltsphären: die ökonomische, die technologische,
die ökologische und die soziale Umweltsphäre.

Übersicht Umweltsphären

Ökonomische
U mw e l t s p h ä r e

Technologische
U mwe l t s p h ä r e
Umweltsphäre
Soziale

Unternehmen

Ökologische
U m w e l ts p h ä r e

Zur ökonomischen Umweltsphäre zählen die Einflüsse aus der Gesamtwirtschaft Ökonomische
auf das Unternehmen, wie z.B. die Konjunktur, Inflationsrate oder Wechselkurse. Umweltsphäre
So ist bei vielen Gütern (z.B. bei Neuwagen oder Elektronikgeräten) der Umsatz
bei guter Konjunkturlage höher als in wirtschaftlich schlechten Zeiten.
Ermöglichen neue Produktionstechniken eine effizientere Leistungserbringung, Technologische
so zählt dieser Einfluss zu den Grössen der technologischen Umweltsphäre. Umweltsphäre
Neue Techniken bringen im Idealfall verbesserte Produkte, Dienstleistungen
oder Vermarktungsmöglichkeiten. So entstanden z.B. mithilfe des Internets
neue Werbe- und Verkaufsplattformen, welche wiederum neue Bestell- und
Kommunikationsmöglichkeiten ergaben.
Die Einflüsse der Natur (z.B. Bodenknappheit, Rohstoffvorkommen, Luftver- Ökologische
schmutzung) zählen zur ökologischen Umweltsphäre. Die voranschreitende Umweltsphäre
Klimaerwärmung hat z.B. Auswirkungen auf die tiefer gelegenen Winterferien-
orte. Sie werden in naher Zukunft wohl kaum noch ausreichend Schnee erhal-
ten, um die Wünsche des Wintertourismus erfüllen zu können. Alternative
Sportmöglichkeiten müssen geprüft werden.
In der sozialen Umweltsphäre betrachten wir Einflüsse aus dem gesellschaft­ Soziale
lichen Zusammenleben, z.B. die Einstellungen und Werthaltungen der Men- Umweltsphäre
schen. So wollen viele Konsumentinnen und Konsumenten nicht mehr nur
gute Qualität zu einem möglichst niedrigen Preis kaufen, sondern auch auf die

25
2 ­Unternehmensmodell und strategische ­Unternehmensführun

Einhaltung sozialer und ökologischer Anforderungen achten. Auch rechtliche


Aspekte, wie Gesetze und Verbote, spielen in der sozialen Umweltsphäre eine
wesentliche Rolle. So hatte das 2010 in der Schweiz eingeführte Rauchverbot
grosse Auswirkungen auf die Gastronomiebetriebe. Gewisse Kundinnen und
Kunden konnten seitdem nicht mehr bedient werden. Im Gegenzug besuchen
dafür nun vermehrt Familien die Restaurants. Weitere Beispiele für den Einfluss
der sozialen Umwelt­sphäre sind Werbeverbote (beispielsweise für Alkohol oder
Tabak), die Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern oder familienfreundli-
che Arbeitszeitmodelle.
Stete Veränderungen Die betriebswirtschaftliche Herausforderung liegt darin, das die Umweltsphären
nicht gleich bleiben, sondern sich stets verändern. Die Unternehmen müssen des-
halb die Entwicklungen in den vier Umweltsphären laufend analysieren und gege-
benenfalls berücksichtigen. Wenn es gelingt, ein optimales Miteinander von Unter-
nehmen und Umwelt zu schaffen, ist das ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil.

Vollständiges Modell

Wechselwirkungen Wir können nun in Anlehnung an das St.Galler Management-Modell das Unter-
nehmen, die Anspruchsgruppen und die Umweltsphären zusammenfügen.
Zwischen all diesen Elementen bestehen vielfältige Beziehungen und Wechsel-
wirkungen. Denn die Entwicklungen und Gegebenheiten aus der Umwelt wirken
sich auf die Ziele und Entscheide von Unternehmen und Anspruchsgruppen aus.

Übersicht Unternehmensmodell

Ökonomische
U mw e l t s p h ä r e

Kundinnen
und Kunden

Konkurrenz Eigenkapitalgeber
Fremdkapitalgeber

Technologische
U mwe l t s p h ä r e
U m w e l ts p h ä re
S oz i a l e

Staat

Unternehmen

Institutionen Mitarbeitende

Lieferanten

Ökologische
U m we l s p h ä re
t

Die Gegebenheiten der Umweltsphären und die Bedürfnisse der Anspruchs-


gruppen sind dem Wandel unterworfen. Um darauf richtig zu reagieren, muss
das Unternehmen seine Strategie geschickt ausrichten, immer wieder hinterfra-
gen und allenfalls den neuen Gegebenheiten anpassen. Dies ist die Aufgabe der
strategischen Unternehmensführung, die im Folgenden vorgestellt wird.

26
Marketing
Die Themen in diesem Kapitel

3.1 Was ist Marketing? 36

3.2 Markt- und Leistungsanalyse 37

3.3 Marktforschung 42

3.4 Produkt- und Marktziele 44

3.5 Marketing-Mix 46

3
3 Marketing

Einleitung
Wir mögen den M-Budget Energy Drink und die Wasabi-Nüsse von Coop Fine Food. Wir
sparen für die Adidas-Turnschuhe, das neuste Tablet von Apple oder die italie­nische Desig-
ner-Tasche. Wir gehen in den Supermarkt, um einen Liter Milch zu kaufen, und kommen mit
zwei vollen Einkaufstaschen zurück.

Jeden Tag kommen wir mit Marketing in Berührung. Wir fahren an Plakatwänden vorbei,
erhalten Werbe-E-Mails, stossen in Zeitungen auf Inserate und sehen Werbespots in den
sozialen Medien. Wir wählen beim Einkaufen aus einem breiten Sortiment aus, vergleichen
Preise und lassen uns von Sonderaktionen verführen.

Marketingaktivitäten haben in unserer Gesellschaft eine bedeutende Stellung. In grossen


Unternehmen sind ganze Abteilungen spezialisierter Personen mit dieser Arbeit beschäf-
tigt.

Was ist Marketing? Welche Ziele werden mit Marketing verfolgt? Wie funktioniert eine
Marktanalyse? Warum betreiben Unternehmen Marktforschung? Was versteht man unter
dem Begriff «Marketing-Mix»? Und welche Werbemöglichkeiten gibt es? – Solche und ähnli-
che Fragen werden in diesem Kapitel eingehend behandelt.

3.1 Was ist Marketing?


Definition Marketing Marketing ist das Bindeglied zwischen der Unternehmung und dem Markt. Das
Marketing hat die wichtige Aufgabe, Kundenbedürfnisse zu erkennen und zu
befriedigen. Zentral ist dabei die Denkhaltung, dass ein Unternehmen immer
mit Blick auf den Markt geführt werden muss.
Marketingkonzept Erfolgreiches Marketing basiert auf einem Marketingkonzept, das in Abstim-
mung mit der Unternehmensstrategie (vgl. Kapitel 2.2) folgende Schritte
umfasst:
Im ersten Schritt werden eine Marktanalyse und eine Leistungsanalyse
erstellt. Die Marktanalyse befasst sich mit der Marktgrösse, der Marktstel-
lung, der Marktsegmentierung und der Konkurrenzsituation. Die Leis-
Marketing-Mix tungsanalyse untersucht für bestehende Produkte den Marktanteil, den
Umsatz und die Marktveränderungen.
Den zweiten Schritt stellt die Marktforschung dar. Diese prüft mittels
M A R K E T I N G

Produkt- und Marktziele Befragung, Beobachtung, Tests oder Datenrecherchen, wie sich die
Bedürfnisse am Markt verändern.
Im dritten Schritt werden die Produkt- und Marktziele festgelegt: Die
Marktforschung Produktziele definieren die Art und Qualität, das Sortiment und die
Produktionsmenge; die Marktziele bestimmen die zu befriedigenden
Bedürfnisse, die Zielgruppe, den Umsatz sowie die Marktstellung.
Markt- und
Leistungsanalyse Im vierten Schritt wird die Marketingstrategie umgesetzt, und zwar
mit dem sogenannten Marketing-Mix, der die vier Bereiche Produkt,
Preis Vertrieb und Kommunikation umfasst.
Auf diese vier Stufen in der Entwicklung eines Marketingkonzepts
wird nun im Folgenden genauer eingegangen.

36
Marketing 3

3.2 Markt- und Leistungsanalyse Marketing-Mix

Marktanalyse

M A R K E T I N G
Produkt- und Marktziele
Damit sich ein Unternehmen realistische Marketingziele setzen kann, muss es
zuerst eine Marktanalyse vornehmen. Dabei werden die Marktgrösse, die Markt-
stellung, die Marktsegmentierung und die Konkurrenzsituation abgeklärt.
Marktforschung

Marktgrösse und Marktstellung


Markt- und
Für die Analyse der Marktgrösse können wir drei verschiedene Kennzahlen Leistungsanalyse
verwenden: das Marktpotenzial, das Marktvolumen und den Sättigungsgrad.
Das Marktpotenzial beschreibt die theoretisch höchstmögliche Absatzmenge
einer Leistung im Markt. Das Marktpotenzial wird als Umsatzzahl angegeben,
z.B. in Schweizer Franken oder US-Dollar.
Das Marktvolumen ist ebenfalls eine Umsatzzahl und gibt die effektiv verkaufte Marktvolumen
Menge einer Leistung pro Jahr an. Berücksichtigt wird dabei der Umsatz aller
Anbieter.
Durch den Vergleich von Marktpotenzial und Marktvolumen lässt sich der Sät- Sättigungsgrad
tigungsgrad in Prozent bestimmen.
Marktvolumen
Sättigungsgrad in %    100
Marktpotenzial

Fällt dieser Sättigungsgrad hoch aus, wird der Markt kaum noch wachsen. Für
das einzelne Unternehmen ist eine Umsatzsteigerung nur noch auf Kosten der
Konkurrenz möglich. Ist der Sättigungsgrad hingegen tief, befinden wir uns in
einem wachsenden Markt – was für Unternehmen besonders attraktiv ist.
Die Marktstellung oder Marktposition zeigt die Stellung des Unternehmens im Marktanteil
Markt. Wichtigste Kennzahl für die Marktstellung ist der Marktanteil. Dieser
entspricht dem Anteil in Prozent am Marktvolumen (bzw. vom Gesamtum-
satz), den ein Unternehmen erwirtschaftet hat.
Umsatz des Unternehmens
Marktanteil Unternehmen in %    100
Marktvolumen

Das Unternehmen mit dem höchsten Marktanteil wird als Marktführer (bzw.
Marktleader) bezeichnet. Ein hoher Marktanteil erlaubt es dem Unternehmen
eher, den Markt nach seinen Bedingungen zu gestalten.

Übersicht Marktpotenzial, Marktvolumen und Marktanteil am Beispiel des Pharma-Markts

Marktpotenzial
Pharma-Markt: Marktvolumen
USD 1200 Mrd. Pharma-Markt: USD 1162 Mrd.
(geschätzt) Marktanteil
Marktführer Sinopharm:
USD 66,3 Mrd.

Quelle: Weltexport – Das Fachmagazin 2020

37
3 Marketing

Marktsegmentierung und Zielgruppe

Ein Markt besteht aus sehr unterschiedlichen Einzelpersonen. Anhand von


bestimmten Kriterien kann man diese in bestimmte Gruppen, sogenannte
Marktsegmente, einteilen. Ein Beispiel aus dem Ferienmarkt: Teenager bevorzu-
gen eher günstige Sommerferien am Strand (Marktsegment A), Singles im mitt-
leren Alter wünschen sich Aktivferien in Gruppen (Marktsegment B) und Seni-
oren buchen gern eine luxuriöse Kreuzfahrt (Marktsegment C). Im Marketing-
konzept wird festgelegt, auf welches Marktsegment bzw. auf welche Zielgruppe
die Marketingaktivitäten ausgerichtet werden. Ein Ferienanbieter muss sich also
im Voraus entscheiden, auf welche Zielgruppe er sich konzentrieren will.
Marktsegmente lassen sich in der Regel aus der Kombination folgender Krite-
rien ermitteln:

Unterscheidungskriterien von Marktsegmenten

Demografie Geschlecht, Alter, Einkommen, Familienstand, Ausbildung, Beruf usw.

Geografie Land und Region, städtische oder ländliche Wohnverhältnisse usw.

Kundenverhalten Informationsverhalten, Produkt- bzw. Markenwahlverhalten, Verwendungs­häufigkeit,


Preissensibilität usw.

Psychografie Einstellung zum Umweltschutz, Lebensstil, eigene Verhaltensregeln, ästhetisches Empfinden


usw.

Beispiel für die Umschreibung einer Zielgruppe im Kosmetikbereich: Frauen


um die 30, die beruflich Karriere machen und Wert auf ein gepflegtes Äusseres
legen. Sie benutzen täglich Kosmetika und möchten sich sicher und attraktiv
fühlen. Aufgrund ihres hohen Einkommens kaufen sie in etablierten Waren-
häusern und Parfümerieketten ein.
Ist die Zielgruppe bestimmt, gilt es, möglichst viel über diese herauszufinden:
verfügbares Einkommen, wann und wo gekauft wird oder wie häufig das
Produkt angewendet wird. Diese Fragen werden beispielsweise durch gezielte
Befragungen erforscht (vgl. Kapitel 3.3).

Welche Zielgruppe kauft


­welches Parfum?

38
Marketing 3
Konkurrenzanalyse

Für den Erfolg eines Unternehmens ist es unumgänglich, sich auch mit der Kon-
kurrenz zu befassen und eine sogenannte Konkurrenzanalyse vorzunehmen. Dabei
werden bestehende und neue Konkurrenten mit folgenden Fragen untersucht:
• Welches sind die charakteristischen Merkmale der Konkurrenz?
• Wie stark ist ihre Marktstellung?
• Wie sehen die Marketinginstrumente aus?
• Welches sind die Stärken und Schwächen im Vergleich zum eigenen
Unternehmen?
Zur Beantwortung dieser Fragen genügt es in der Regel, die Konkurrenz auf-
merksam zu beobachten und Unternehmensinformationen zu analysieren.

Leistungsanalyse

In einer Leistungsanalyse werden für bestehende Produkte (bzw. Dienstleistun-


gen) der Marktanteil, der Umsatz und die Veränderungen auf dem Markt unter
die Lupe genommen.
Für eine solche Leistungsanalyse dienen u.a. folgende zwei Instrumente: das
BCG-Portfolio und der Produktlebenszyklus.

Das BCG-Portfolio

Das weltweit tätige Managementberatungsunternehmen Boston Consulting


Group (BCG) hat eine Methode zur Beurteilung von Produkten (bzw. Dienstleis-
tungen) entwickelt. Sie beurteilt die Produkte nach den beiden Grössen Markt-
wachstum und relativer Marktanteil und teilt sie in eine der folgenden vier
Kategorien ein: Poor Dogs («Arme Hunde», Auslaufprodukte), Question Marks
(«Fragezeichen»), Stars und Cash Cows («Melkkühe»). Aufgrund dieser Ein-
schätzung werden Empfehlungen (sogenannte Normstrategien) abgegeben.

Übersicht BCG-Portfolio
niedrig Marktwachstum hoch

Question Marks Stars


Intensive Position halten
Marktbearbeitung oder ausbauen

Cash Cows
Poor Dogs
Keine grösseren
Ausstieg
Investitionen mehr

niedrig relativer Marktanteil hoch

39
3 Marketing

Poor Dogs Poor Dogs haben folgende Merkmale: geringer Marktanteil, niedrige Wachs-
tumsrate, schwach im Wettbewerb aufgestellt. Poor Dogs bringen kaum Geld
ein, binden aber Ressourcen (Kapital, Mitarbeitende, Maschinenkapazitäten).
Empfehlung: Abbau der Leistungen, Einsatz der frei werdenden Ressourcen in
besser positionierte Marktleistungen (z.B. Question Marks).
Question Marks Merkmale von Question Marks sind: kleiner Marktanteil, doch hohe Wachstums­
rate. Bei diesen Leistungen sind die Zukunftsaussichten allerdings fraglich. Sie
können sich sowohl in Richtung Stars als auch zu Poor Dogs entwickeln.
Empfehlung: Durch intensive Marktbearbeitung (z.B. Werbung) soll die Leis-
tung zum Star gemacht werden. Dies setzt aber grosse finanzielle Investitionen
voraus.
Stars Stars haben folgende Merkmale: grosser Marktanteil, hohe Wachstumsraten.
Die Leistungen haben sich im Markt durchgesetzt. Stars sind jedoch weiterhin
werbe- und kostenintensiv.
Empfehlung: Durch hohe Investitionen in die Werbung die Position halten und
ausbauen.
Cash Cows Merkmale von Cash Cows sind: hohe und stabile Gewinne bei relativ tiefen
Ausgaben; hoher Markt­ anteil, jedoch niedrige Wachstumsrate. Cash Cows
waren in der Regel vorher Stars, deren Wachstum sich jedoch verlangsamt hat.
Empfehlung: Keine grösseren Investitionen mehr tätigen, da das Produkt den
Markt verlieren wird. Verzicht auf aktive Bewerbung. Durch die Einnahmen
können ande­re, kostenintensive Leistungen (z.B. Question Marks und Stars)
finanziert werden.

Der Produktlebenszyklus

Bis anhin ging es um die Beschreibung des aktuellen Marktes. Doch wie sieht
der Erfolg einer Marktleistung über die Zeit aus? Damit befasst sich das Modell
des Produktlebenszyklus. Jedes Produkt durchläuft einen Lebenszyklus, von
der Entwicklung bis zu seiner Streichung aus dem Sortiment. Insgesamt nennt
das Modell fünf Phasen, die sich bezüglich Umsatz und Gewinn unterscheiden:
Einführung, Wachstum, Reife, Sättigung und Rückgang.

Übersicht Produktlebenszyklus

Umsatz,
Gewinn Break-even /
Gewinnschwelle Umsatz

+
Gewinn
0
Zeit

Einführung Wachstum Reife Sättigung Rückgang

40
Marketing 3

Der Schweizer Mobilfunkmarkt befindet sich in der Reifephase.

Merkmale der Einführungsphase sind: hohe Kosten, steigender Umsatz, doch noch Einführungsphase
kaum Gewinne. Die Leistung muss einem möglichst grossen Publikum bekannt
gemacht werden. Viele potenzielle Kundinnen und Kunden sollen zu einem
Erstkauf animiert werden. Es besteht ein hohes Risiko, denn es ist noch unge-
wiss, ob sich die Leistung auf dem Markt durchsetzt. Ein Beispiel für eine
gescheiterte Einführung ist Rivella Gelb. Diese neue Rivella-Sorte wurde 2008
eingeführt und intensiv beworben. Doch das Getränk auf Sojabasis floppte.
Anfang 2012 wurde Rivella Gelb vom Markt genommen.
Merkmale der Wachstumsphase sind: Das Produkt kommt in dieser Phase in Wachstumsphase
der Regel in die Gewinnzone. Umsatz und Verbreitung nehmen zu. Um das
Produkt weiter zu festigen, braucht es hohe Investitionen in Werbung und
Massnahmen zur Verkaufsförderung. Die Konkurrenz wird aufmerksam und
beginnt darauf zu reagieren, indem sie ähnliche Leistungen auf den Markt
bringt. Ein Beispiel für ein Produkt, das sich immer noch in der Wachstums­
phase befindet, ist der Streamingdienst Netflix.
Merkmale der Reifephase sind: hohes Volumen, hohe Gewinne. Der Absatz Reifephase
erreicht seinen Höhepunkt. Der Kampf um Marktanteile entbrennt. Eine Stei-
gerung des Marktanteils kann nur noch auf Kosten der Konkurrenz erreicht
werden. Die Marketingaktivi­ täten richten sich gegen die Mitkonkurrenten,
etwa indem das Prestige der eigenen Marke betont wird, um so die Kunden der
Konkurrenten zu gewinnen. Ein Beispiel dafür ist der Kampf um Kunden und
Kundinnen unter den Telekommunikationsfirmen.
Merkmale der Sättigungsphase sind: gesättigter Markt, heftiger Preiskampf, die Sättigungsphase
Umsatzkurve flacht ab, der Gewinn wird kleiner. Die Marketinganstrengungen
werden reduziert, da es kaum noch Neukunden gibt. In dieser Phase entstehen
häufig Varianten zum ursprünglichen Angebot. So lancierte Coca-Cola die Pro-
dukte Light und Zero.
Merkmale der Rückgangsphase sind: Die Kundinnen und Kunden wenden sich Rückgangsphase
ab, kaufen andere oder neue, innovative Produkte. Der Umsatz bricht ein, die
Ge­­winne tendieren gegen null, oder es gibt sogar Verluste. Das Angebot wird
vom Markt genommen, das Produkt wird durch einen neuen Artikel ersetzt. Bei-
spiel: Die analogen VHS-Videorekorder wurden durch DVD-Player ersetzt, und
diese wiederum werden nun immer mehr durch Streaming-Angebote abgelöst.

41
3 Marketing

Verantwortlich für den Lebenszyklus eines Produkts sind u.a. Veränderungen


in den vier Umweltsphären (insbesondere der technologischen) und neue
gesellschaftliche Trends (vgl. Kapitel 2.1). Die Länge der Lebenszyklen, v.a.
die Sättigungsphase, gestalten sich je nach Produkt sehr unterschiedlich. Wäh-
rend Handys oder Computer innerhalb kurzer Zeit veralten, gibt es Produkte,
die sich seit über 100 Jahren auf dem Markt behaupten. Beispiele dafür sind
Coca-Cola (seit 1886), Aspirin (seit 1899) oder Ovomaltine (seit 1904).
Für ein Unternehmen ist es wichtig, dass sich seine verschiedenen Leistungen
nicht alle in derselben Phase befinden. Es muss rechtzeitig neue Produkte lan-
cieren. Sonst besteht die Gefahr, dass alle Produkte zur gleichen Zeit in die
Sättigungs- oder Rückgangsphase kommen. Um festzustellen, in welcher Phase
des Lebenszyklus sich ein Produkt befindet, wird Marktforschung betrieben.

3.3 Marktforschung
Aus Sicht des Marketings muss ein Unternehmen immer
mit Blick auf den Markt geführt werden. Wichtig dabei Marketing-Mix
ist, frühzeitig zu erkennen, wie sich die Bedürfnisse
am Markt verändern, um rechtzeitig handeln zu kön-

M A R K E T I N G
nen. Die nötigen Informationen zu den Veränderun-
Produkt- und Marktziele
gen liefert die Marktforschung. Diese arbeitet u. a. mit
Umfragen und der Analyse von Daten.
Zu Beginn der Marktforschung definiert das Unter-
Marktforschung
nehmen die Fragen, die sie geklärt haben möchte.
Je nach Erhebungszweck entscheidet es sich für
eine Primärmarktforschung (Field-Research, Feldfor- Markt- und
schung) oder eine Sekundärmarktforschung (Desk-Re- Leistungsanalyse
search, «Schreibtischforschung»). Oft ergibt es Sinn, die
zeitaufwendige und kostspielige Primärmarkt- mit einer
Sekundärmarktforschung zu kombinieren. Nachfolgend
werden die verschiedenen Instrumente der beiden For-
schungsmethoden vorgestellt.

Primärmarktforschung

Stehen für einen bestimmten Bereich noch gar keine bzw. keine geeigneten
Daten zur Verfügung, erfolgt eine Primärmarktforschung mittels Befragungen,
Beobachtungen oder Tests.
Befragung Befragungen haben zum Ziel, Äusserungen, Stellungnahmen und/oder Bewer-
tungen von Befragten zu sammeln und zu analysieren. Die Befragung kann
entweder schriftlich per Fragebogen, in einem persönlichen Gespräch (Face-to-
Face), telefonisch oder online erfolgen.
Beobachtung Durch Beobachtung werden Daten zu erkennbaren Sachverhalten und Verhal-
tensreaktionen gesammelt. Beispielsweise kann das Einkaufs-, Verwendungs-
oder Auswahlverhalten beobachtet werden. Im Einzelhandel können auf diese
Weise z.B. die Wege der Kundschaft oder die Verweildauer an bestimmten
Orten des Geschäfts festgestellt werden.

42
Marketing 3
Die Resultate der Markt­
forschung (hier eine Face-
to-Face-Befragung) sind
­zentral, um die Bedürfnisse
der Zielgruppe zu
ermitteln.

Beim Experiment oder Test handelt es sich um eine Mischform zwischen der Experiment
Beobachtung und der Befragung. Dabei werden zwei Arten von Experimenten
unterschieden: Feldexperimente und Laborexperimente. Feldexperimente finden
unter realen Bedingungen vor Ort, z.B. im Laden, statt. Bei Laborexperimenten
hingegen werden die Rahmenbedingungen künstlich geschaffen, die Durchfüh-
rung erfolgt meist in den Räumlichkeiten des Marktforschungsinstituts.

Sekundärmarktforschung

Bei der Sekundärmarktforschung bestehen zwei Möglichkeiten: der Rückgriff


auf innerbetriebliche Daten oder die Beschaffung externer Daten.
Interne Datenquellen sind beispielsweise Unterlagen aus dem Bereich des Rech- Interne Datenquellen
nungswesens (z.B. Absatz- und Vertriebskosten), Statistiken (z.B. Umsätze
nach Produkten) und Daten aus früheren Primärerhebungen.
Die Anzahl und Vielfalt ausserbetrieblicher Informationen ist enorm. Die Her- Externe Datenquellen
ausforderung besteht darin, die passenden aktuellen Daten herauszufiltern. Als
externe Datenquellen bieten sich an: Veröffentlichungen von nationalen und
internationalen Institutionen (z.B. vom Bundesamt für Statistik oder der Orga-
nisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD), Veröf-
fentlichungen von Organisationen und Verbänden (z.B. Wirtschaftsverbände)
oder von Marktforschungsinstituten. Weitere Quellen sind der Marktauftritt
und Unterlagen der Konkurrenz.

Übersicht Marktforschungsmethoden

Marktforschungsmethoden

Primärmarktforschung Sekundärmarktforschung
(Field-Research) (Desk-Research)

Interne Externe
Befragung Beobachtung Experiment
Datenquellen Datenquellen

43
3 Marketing

3.4 Produkt- und Marktziele


Sortiment Zur Bestimmung der Produktziele gehört u.a. die Sorti­
mentsgestaltung. Als Sortiment bezeichnet man die Ge­ Marketing-Mix
samtheit aller vom selben Unternehmen angebotenen
Produkte. Das Sortiment lässt sich auf zwei Arten

M A R K E T I N G
unterscheiden: breit und schmal sowie tief und flach. Produkt- und Marktziele
Sortimentsbreite Die Sortimentsbreite hängt von der Anzahl der Pro-
duktarten ab. Bei einem breiten Sortiment wer-
den viele verschiedene Produktgruppen angeboten.
Marktforschung
Demgegenüber weisen Unternehmen mit nur weni-
gen Artikelgruppen ein schmales Sortiment auf.
Spezial- und Fachgeschäfte wie Papeterien oder Markt- und
Bäckereien führen meist ein schmales Sortiment. Leistungsanalyse
Warenhäuser wie z.B. Manor oder Globus haben
dagegen ein breites Sortiment: Lebensmittel, Haus-
haltsartikel, Kosmetika, Kleider usw.
Sortimentstiefe Die Sortimentstiefe wird durch die Anzahl der Produkt­
varianten bestimmt. Von einem tiefen Sortiment spricht
man, wenn viele verschiedene Varianten derselben Artikel-
gruppe angeboten werden. Typische Beispiele sind ein Weinge-
schäft, eine Buchhandlung oder ein Schuh­laden mit Damen-, Herren- und Kin-
derschuhen, Sandalen, Turn- und Wanderschuhen. Werden nur wenige oder
gar keine Untervarianten angeboten, spricht man von einem flachen Sortiment.
Ein flaches Sortiment hat beispielsweise ein Kiosk, der wegen seiner limitierten
Verkaufsfläche nur wenige Varianten einer Artikelgruppe anbieten kann.

Übersicht Sortimentsbreite und Sortimentstiefe


tief
flach Sortimentstiefe

schmal und tief breit und tief


z. B. Konditorei z. B. Warenhaus

schmal und flach breit und flach


z. B. Kiosk z. B. Quartierladen

schmal Sortimentsbreite breit

44
Marketing 3
Produktziele und Marktziele sind eng miteinander verknüpft, bedingen sich
gegen­seitig und lassen sich nicht immer klar trennen. So entscheidet etwa die
angestrebte Marktposition (ein Marktziel) über die Produktionsmenge (ein
Produktziel). Die beiden folgenden Tabellen zeigen die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede.

Produktziele

Produktziel Beschreibung Beispiel

Art und Qualität Welches Produkt möchte das Unternehmen Fair produzierte Fussballschuhe sehr
anbieten? Welchen Qualitätsansprüchen soll guter Qualität; guter Kundenservice
die Marktleistung genügen? (z.B. fachkundiges Personal, Umtausch)

Sortiment Welches Sortiment soll das Unternehmen Nur Fussball­schuhe (schmales Sortiment),
anbieten? jedoch in zahlreichen ­Ausführungen, Modelle
und Farben (tiefes Sortiment)

Produktionsmenge Welche Menge soll hergestellt werden? Jährlich sollen 10 000 Paar Fussball­schuhe
­hergestellt werden.

Marktziele

Marktziel Beschreibung Beispiel

Absatzmarkt Auf welchem Absatzmarkt will das Unter­ Markt für Fussballschuhe in Europa
nehmen präsent sein?

Marktsegment und Zielgruppe Welches Marktsegment (bzw. welche Ziel­ Kinder und Jugendliche (bzw. deren Eltern),
gruppe) soll angesprochen werden? die auf Qualität und faire Produktionsbedin-
gungen achten

Umsatz Wie hoch ist der angestrebte Umsatz? Im aktuellen Geschäftsjahr mindestens
1 Million Franken Umsatz erwirtschaften.

Marktstellung Wie hoch soll der absolute und relative Unser Unternehmen soll einen absoluten
­Markt­anteil sein? Markt­anteil von 10% und einen relativen
Markt­anteil von 18% erreichen.

Nachdem die Produkt- und Marktziele definiert sind, geht es im nächsten


Schritt um deren konkrete Umsetzung. Wie kann ein Unternehmen erreichen,
dass seine Produkte auch wirklich gekauft werden?
Quartierläden haben
ein breites, aber flaches
Sortiment.

45
3 Marketing

3.5 Marketing-Mix Marketing-Mix

Konzept der 4 P Der Marketing-Mix dient zur Umsetzung von Mar-

M A R K E T I N G
ketingplänen und -strategien in konkrete Aktio- Produkt- und Marktziele
nen. Der Marketing-Mix wird auch als Konzept der
4P bezeichnet. Die 4P stehen für Product, Price,
Place und Promotion. Im Deutschen entsprechen
diese den vier Bereichen Produkt, Preis, Vertrieb Marktforschung
und Kommunikation. Damit die angestrebten
Markt- und Produktziele erreicht werden können,
Markt- und
müssen die Massnahmen in den vier Bereichen
Leistungsanalyse
optimal aufeinander abgestimmt sein.
Nachfolgend werden die vier Elemente des Marketing-­
Mix – Produkt, Preis, Vertrieb und Kommunikation –
näher beschrieben.

Übersicht Marketing-Mix

Produkt Preis
Produkt (Product)  Nutzen  Preisfestsetzung
Welche Produkte und  Qualität  Zahlungsbedingungen
Dienstleistungen wollen  Sortiment
wir an­bieten?  Verpackung
 Marke
Preis (Price)
Zu welchem Preis und welchen  Kundendienst
Konditionen verkaufen wir
unsere Leistungen?

Vertrieb (Place) Kommunikation


Wie gelangen unsere Pro­dukte  Klassische Mediawerbung
und Dienstleistungen zur Kund-  Online-Kommunikation
schaft?  Direktmarketing
 Event-Marketing Vertrieb
Kommunikation (Promotion)
Wie kommunizieren  Messen  Direkter ­Absatzweg
wir unsere Produkte und  Verkaufsförderung  Indirekter Absatzweg
Dienstleistungen?  Public Relations (PR)  Lagerbewirtschaftung
 Sponsoring

Produkt (Product)
PR O DU KT PREIS

Nutzen
KO M-
MU N I - V E RTRIEB
Beim Nutzen eines Produkts unterscheidet man zwischen Grund-, Zusatz- und
KAT I O N Nebennutzen. Als Grundnutzen bezeichnet man die grundlegende Anforderung
an das Produkt; etwa bei einem Auto, dass es fährt. Unter dem Zusatznutzen ver-
steht man die Marke, die Verpackung, das Design oder andere besondere Eigen-
schaften, die im Marketing hervorgehoben werden. Beim Auto kann dies das
Image der Marke, die PS-Stärke, der Treibstoffverbrauch oder das Design sein. Zu
den Nebennutzen werden besondere Dienstleistungen gezählt, wie die Installati-
on, der Service, die Produktschulung, Garantieleistungen und Lieferbedingungen.

46
Marketing 3
Qualität

Zur Qualität einer Leistung gehören u.a. folgende Aspekte:


• Qualität der Rohstoffe,
• Zuverlässigkeit,
• Haltbarkeit (wichtig bei Lebensmitteln),
• Sicherheit (wichtig bei Geräten),
• Marke (die Marke verspricht oft eine bestimmte Qualität),
• Regelkonformität (bei Gütern mit Zulassungsregeln).

Sortiment

Erste Entscheidungen zum Sortiment fallen bereits in der Unternehmensstra-


tegie (vgl. Kapitel 2.2). Bei der Formulierung der Produktziele werden diese
Entscheidungen konkretisiert. Auf der Ebene des Marketing-Mix findet die
Feinabstimmung mit der gewählten Zielgruppe statt, und es muss entschieden
werden, in welchen Varianten das Produkt hergestellt bzw. angeboten wird
(z.B. Damen- und Herrenvelos in vier Farben unter demselben Namen).

Verpackung

Eine auffällige Verpackung kann angesichts der Fülle an gleichartigen Gütern


eine wichtige Rolle spielen. Je nach Produkt hat die Verpackung unterschiedli-
che Funktionen:
• technisch-logistische Funktion: Schutz vor Schlägen, Aroma- oder Frische­
garantie, Stapelfähigkeit usw.,
• Marketingfunktion: Träger von Informationen, Prestigeerhöhung, Unterstüt-
zung der Marke durch Design, Farbe, Form (z.B. Pralinés, Parfums).

Marke

Die Marke (engl. brand) kann für ein einzelnes Produkt oder eine Gruppe von
Produkten stehen. Der Aufbau einer Marke ist in der Regel ein langwieriger
und kostenintensiver Prozess. Der Wert einer Marke ist abhängig u.a. vom
Bekanntheitsgrad und von der Markentreue der Kundschaft. Als wertvollste
Marke der Welt gilt zurzeit Amazon, gefolgt von Apple und Google. Gewisse
Marken können sich für lange Zeit so stark im Markt etablieren, dass der Mar-
kenname gar für die ganze Produktgattung verwendet wird. Beispiele dafür
sind: Kleenex, Pampers, Bostitch, Post-it.

Verpackungsgeschichte von Rivella Rot


1952 1967 1971 1980 1987 1991 1995 1996 2001 2007 2011 2016
47
3 Marketing

Kundendienst

Ein professioneller Kundendienst hat einen positiven Einfluss auf die Kunden­
zufriedenheit und damit auf die Kundenbeziehung und -bindung. Je nach
Produkt hat der Kundendienst unterschiedliche Funktionen. Dazu gehören
beispielsweise: Beratung beim Kauf, Lieferung, Installation, Wartung von
technischen Geräten, Behandlung von Beschwerden, Abklärung von Garantie-
ansprüchen oder das Bereitstellen von Ersatzgeräten.

Preis (Price)
PR O DU KT PREIS

Preisfestsetzung
KO M-
MU N I - V E RTRIEB
Der Preis einer Marktleistung hängt im Wesentlichen von drei Grössen ab:
KAT I O N • Herstellungskosten,
• Preise der Konkurrenz,
• Zahlungsbereitschaft der Kundschaft.
Daraus lassen sich drei unterschiedliche Richtungen der Preisorientierung ablei-
ten: Kostenorientierung, Wettbewerbsorientierung und Nachfrageorientierung.
Kostenorientierung Bei der Kostenorientierung bestimmen die anfallenden Kosten den Preis. Dazu
wird ein Gewinnaufschlag (die sogenannte Marge) gerechnet. Diese Form der
Preisbildung ist einfach und wird daher oft von kleineren Unternehmen ange-
wendet.
Wettbewerbs­orientierung Wenn auf dem Markt ähnliche Produkte angeboten werden, ergibt es Sinn, sich
am Preis der Konkurrenz auszurichten. Bei dieser sogenannten Wettbewerbs­
orientierung bietet sich der Durchschnittspreis aller Anbieter oder der Preis
des Marktführers zum Vergleich an. In einem Markt mit praktisch identischen
Produkten (z.B. Benzin) kann sich ein kleiner Preisunterschied stark auf die
Nachfrage auswirken.
Nachfrageorientierung Die Nachfrageorientierung richtet sich nach der Zahlungsbereitschaft der Kund-
schaft. Um die Zahlungsbereitschaft zu erheben, werden die Kunden gebeten,
den Preis eines Produkts einzuschätzen, oder sie werden gefragt, ob sie bereit
wären, das Produkt zu einem bestimmten Preis zu kaufen.
In der Regel ist der festgesetzte Preis eine Kombination aus allen drei Orientie-
rungen. Man spricht daher auch vom magischen Dreieck der Preispolitik.

Magisches Dreieck der Preispolitik


Zahlungs­bereitschaft
der Kunden

Nachfrage­-
orientierte
Preisfestsetzung

PREIS

Kostenorientierte Wettbewerbsorientierte
Herstellungs­­ Preisfestsetzung Preisfestsetzung Preise der
kosten Konkurrenz

48
Marketing 3

Zahlungsbedingungen

Die Zahlungsbedingungen (auch Zahlungskonditionen genannt) werden über


die Form der Zahlung (bar, Kreditkarte, Twint, Rechnung, Raten, Leasing) und
den Zahlungszeitpunkt bestimmt. Zusätzlich können weitere Vereinbarungen
ausgemacht werden, etwa Preisnachlässe bei vorzeitiger Zahlung (Skonto) oder
beim Kauf einer grossen Menge (Mengenrabatt).

Vertrieb (Place)
P ROD U KT P R EI S

Der Vertrieb ist die Nahtstelle zwischen Unternehmen und Kundschaft und gestal-
tet den Weg des Angebots vom Produzenten zum Konsumenten (Endverbrau- KOM -
cher). Dabei muss entschieden werden, ob der direkte oder indirekte Weg gewählt M U N I- VE RTR I EB
KAT ION
wird. Nachfolgend je ein Beispiel zum direkten und indirekten Absatzweg.

Übersicht Direkter und indirekter Absatzweg

Direkter Absatzweg Indirekter Absatzweg

Beispiel: Ifolor fertigt und liefert die Beispiel: Swatch-Uhren


unterschiedlichsten Fotoprodukte direkt
an ihre Kundinnen und Kunden

Produzent Produzent

Grosshandel

Einzelhandel

Konsument Konsument

Direkter Absatzweg

Der Produzent verkauft seine Leistung selbst oder über eigene Kanäle. Für fol-
gende Leistungen bietet sich der direkte Absatzweg ab:
• Güter mit hohem Erklärungs- und Informationsbedarf,
• Güter, die heikel zu transportieren oder rasch verderblich sind,
• Güter mit stark regionaler Konzentration,
• Güter, die wenig und zudem in zeitlich grossen Abständen verlangt werden.
Der direkte Absatzweg mit persönlichem Kontakt zwischen dem Verkäufer und Persönlicher Verkauf
dem Konsumenten ist die ursprünglichste Vertriebsform und auch heute noch
verbreitet, zum Beispiel bei Landwirtschaftsbetrieben mit Direktverkauf ab Hof
oder bei kleinen Bäckereien und Metzgereien. Bei Industriegütern und Medi­
zinaltechnik wird häufig ein professioneller Aussendienst eingesetzt. Damit
kann sicher­gestellt werden, dass die Informationen korrekt zum Kunden gelan-
gen und der Verkauf im direkten Kontakt abgeschlossen werden kann.
49
3 Marketing

Indirekter Absatzweg

Beim indirekten Absatzweg sind zwischen dem Produzenten und dem Konsu-
menten weitere Vertriebsstufen zwischengeschaltet. Der indirekte Absatzweg
wird häufig bei folgenden Voraussetzungen gewählt:
• Das Produkt ist einfach; es hat keinen grossen Erklärungsbedarf.
• Der Transport ist unkompliziert.
• Die Kundschaft ist weit verstreut.
Zwei wichtige Formen des indirekten Absatzwegs sind Handel und Franchising.
Handel Der Handel ist das Verbindungsglied in der Vertriebskette zwischen Produzent
und Konsument. Er hat drei wichtige Funktionen:
• Überbrückungsfunktion (Transport, Lagerung, Kreditgewährung);
• Sortimentsfunktion (Bündelung von Produkten verschiedener Hersteller);
• Dienstleistungsfunktion (Beratung, Information, Markterschliessung).
Wenn ein Produkt direkt an Konsumenten verkauft wird, spricht man von Ein-
zel- oder Detailhandel. Wird ein Produkt hingegen an einen Wiederverkäufer
verkauft, spricht man von Grosshandel.
Franchising Beim Franchising gibt ein Unternehmer (Franchise-Geber) einem Franchise-Neh-
mer gegen ein Entgelt das Recht, Leistungen unter seinem Namen zu vertreiben.
Für den Franchise-Geber resultiert daraus ein dichtes Netz an Vertriebspartnern,
die seine Wettbewerbsposition absichern. Bekannte Beispiele für das Franchise-
System sind Benetton, McDonald’s, Burger King, Hertz, Visilab.

Lagerbewirtschaftung

Zum Vertrieb gehört auch die Lagerbewirtschaftung. Das Hauptanliegen ist es,
dass die richtige Leistung zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort eintrifft. Eine
100-prozentige Bereitschaft wird meist nicht angestrebt, da dies sehr hohe Lager-
haltungskosten verursacht und sich kaum auf den Umsatz auswirken würde.

Kommunikation (Promotion)
PR O DU KT PREIS
Werbekonzept

KO M- Das vierte Element des Marketing-Mix ist die Kommunikation. Sie entscheidet
MU N I - V E RTRIEB
KAT I O N darüber, dass die Konsumenten vom Produkt erfahren. Für eine erfolgreiche
Kampagne braucht es ein klares Werbekonzept, das folgende Punkte umfasst:
• Werbesubjekt: Damit ist die Zielgruppe gemeint.
• Werbeobjekt: Das ist das zu vermarktende Produkt.
• Werbeziele: Sie sind von den Marketingzielen abgeleitet und beschreiben
den Bekanntheitsgrad und/oder die Positionierung im Markt.
• Werbebotschaft: Welche Aussagen und Gefühle sollen vermittelt werden?
• Werbemedien: Mit welchem Medium soll geworben werden? Welche
Werbemittel werden eingesetzt: z.B. Plakate, Online-Werbung, Inserate,
TV-Spots?
• Werbeperiode: Zeitraum, Häufigkeit und Frequenz werden festgelegt.
• Werbeort: An welchen Orten soll die Werbung erscheinen?
• Werbebudget: Der finanzielle Aufwand wird definiert.
AIDA-Modell Ziel des Werbekonzepts ist es, anhand der Werbemassnahmen eine optimale
Wirkung zu erzeugen. Als das bekannteste Wirkungsmodell gilt das AIDA-Mo-
dell. Es geht davon aus, dass die Kunden die vier Phasen Attention, Interest,
Desire und Action durchlaufen, bevor sie einen Kaufentscheid fällen.
50
Marketing 3
Brack-Plakatwerbung

AIDA Kommunikationsziel Beispiel

A Aufmerksamkeit auf die Wer- Das Plakat schafft Aufmerksam-


beaktion und damit auf die keit, indem es eine Frage aufgreift,
für Attention
Leistung des Unternehmens die wohl schon viele Nutzerinnen
lenken. und Nutzer von E-Commerce-An-
bietern hatten. Das Bild und die
Botschaft schaffen eine emotiona-
le Verbindung zu den Lesenden.

I Das Werbeversprechen weckt Die Werbung ist frech und zugleich informativ: Die Kampagne von
das Interesse für das Produkt brack.ch setzt bewusst den Schwerpunkt auf die bereits mehrfach
für Interest
oder für die Dienstleistung. ­ausgezeichnete Qualität des Supports.

D Den Wunsch für den Kauf der Die Lesenden identifizieren sich mit den kommunizierten Botschaften
Leistung erzeugen. und möchten sich auf der Website brack.ch schlau machen, ob der
für Desire
­Support wohl hält, was er verspricht.

A Das Werbeversprechen löst Durch das Herumstöbern auf der umfassenden Website, begleitet von
den Kauf aus. möglichen Supportdienstleistungen, steigt der Wunsch, den Online­
für Action
anbieter einmal zu testen.

Im Werbekonzept wird festgelegt, mit welchen Mitteln die Informationen und


Botschaften an die Kundinnen und Kunden gelangen sollen (Werbemedien,
Werbemittel). Die Kommunikationsinstrumente, die dazu zur Verfügung ste-
hen, werden im Folgenden vorgestellt.

Klassische Mediawerbung

Bei der Mediawerbung erfolgt die Kommunikation über gedruckte Medien,


über das Fernsehen, das Kino oder via Radio. Zur Abgrenzung gegenüber den
neuen Medien (z.B. Internet) wird auch von der «klassischen» Mediawerbung
gesprochen. Sie wird in zwei Gruppen unterteilt: Printwerbung und elektroni-
sche Medien.
Als Printwerbung bezeichnet man Werbung auf einem Trägermedium (Tages- und Printwerbung
Wochenzeitungen, Zeitschriften; auch Plakatwände und Werbung auf Fahr­zeugen).
Die elektronische Werbung läuft via Fernsehen, Radio und im Kino. Hier sind Elektronische Medien
die Einschaltquoten, die Sendezeit, die Ausstrahlungshäufigkeit und auch das
Publikum wichtig. Die Bewerbung eines Produkts oder einer Dienstleistung in
elektronischen Medien wie auch in den Printmedien ist sehr kostenintensiv.

Online-Kommunikation

Das Internet bietet seit Mitte der 1990er-Jahre vielfältige neue Möglichkeiten
zur Werbung. Folgende Formen der Online-Kommunikation spielen heute eine
wichtige Rolle:
• Websites,
• Banner- und Pop-up-Werbung,
• E-Mails (z.B. Newsletter),

51
3 Marketing

• Social Media (wie Facebook, Youtube, TikTok, Instagram oder Twitter),


• Apps, Videos und Games.

Direktmarketing

Mit dem Direktmarketing werden die Zielgruppen direkt und einzeln angespro-
chen. Folgende Instrumente kommen dabei zur Anwendung:
• persönlich adressierte Werbesendungen per Post,
• unadressierte Werbesendungen per Post,
• direkte Kontakte via Telefon oder Internet,
• direkte Kontakte mittels SMS.

Events

Beim Event-Marketing nimmt das Unternehmen an öffentlichen Veranstaltungen


wie Konzerte, Open-Air-Festivals und Sportanlässen teil oder organisiert diese sogar
selbst, um in zwangloser Umgebung produkte- und firmenbezogene Kommunikati-
on zu betreiben. Ein Beispiel dafür sind die Red Bull Air Races. Die Zielgruppe soll
an solchen Events die Besonderheit und Einzig­artigkeit des Produkts erleben.

Messen

Anders als beim Event-Marketing sind an Messen mehrere Unternehmen ver-


treten. In der Regel finden Messen in regelmässigen Abständen statt und haben
festgelegte thematische Schwerpunkte. Beispiele grosser Messen sind die BEA
in Bern, die Olma in St. Gallen oder der internationale Autosalon Genf. Mit der
Teilnahme an Messen wird das Ziel verfolgt, vielen potenziellen Käuferinnen
und Käufern das Angebot zu präsentieren. Vor allem bei neuen und komplexen
Gütern wie Industriegütern (z. B. Druckmaschinen und 3-D-Druckern) kann der
persönliche Kontakt von Fachper­sonen zu Endabnehmern viel zum Verständnis
des Produktes beitragen. Aufgrund der Resonanz kann der Anbieter zum Ende
einer Messe auch das Interesse an seiner Marktleistung besser einschätzen. Die
Betreuung und die Miete eines Standplatzes bedarf aber einigen Aufwands.

Verkaufsförderung

Die Verkaufsförderung ist eine zeitlich befristete Massnahme, die den Absatz
bei Händlern und Konsumierenden mit gezielten Aktionen fördern soll.
Verkaufsförderung Zur Verkaufsförderung beim Händler bieten sich folgende Massnahmen an:
beim Händler • Preisnachlässe, z.B. bei höherem Absatz, Bonussysteme,
• Präsentationsmaterial, z.B. Gestelle, Plakate, Bildschirme,
• Hostessen bzw. Hosts, z.B. für Präsentationen und Degustationen,
• Schulung der Mitarbeitenden, z.B. im Zusammenhang mit neuen Produkten.
Verkaufsförderung Als Verkaufsförderungsmassnahmen beim Endverbraucher bieten sich folgende
beim Endverbraucher Formen an:
• Musterproben, z.B. direkt überreicht oder per Post zugestellt,
• Gutscheine, z.B. für den günstigeren Einkauf bestimmter Produkte,
• Aktionen und Sonderangebote, z.B. «3 für 2» oder «50% günstiger»,
• Werbegeschenke, z.B. Badetuch, Mütze, Schlüsselanhänger, Kugelschreiber,
• Treuebonussysteme, z.B. Kundenkarte, Kaffee-Stempelkarte,
• Anrechnung des Restwerts des alten Produkts beim Kauf eines neuen, z.B.
beim Autokauf,
• Degustationen und Demonstrationen, z.B. Käse, Wein, Pralinés.

52
Marketing 3
Public Relations (PR)

Die Öffentlichkeitsarbeit oder Public Relations (PR) dient dem Aufbau und
der Pflege von Beziehungen mit den verschiedenen Anspruchsgruppen (vgl.
Kapitel 2.1). Im Unterschied zur reinen Werbung wird mit PR die gesamte
unternehmerische Tätigkeit kommuniziert (z.B. die CSR-Bestrebungen oder das
Unternehmen als attraktiver Arbeitgeber). Ziel der PR ist es, das Image eines
Unternehmens in der Öffentlichkeit zu fördern. Dazu werden verschiedene per-
sönliche und unpersön­liche PR-Instrumente eingesetzt.
Persönliche PR-Instrumente sind: Persönliche
• Medienkonferenzen, PR-Instrumente
• Vorträge,
• Betriebsbesichtigungen,
• Tag der offenen Tür.
Unpersönliche PR-Instrumente sind: Unpersönliche
• Geschäfts- und Nachhaltigkeitsberichte, PR-Instrumente
• Broschüren,
• Medienmitteilungen,
• Pressemappen,
• Kundenzeitungen,
• Imagefilme.

Sponsoring

Das Sponsoring ist eine spezielle Form der Öffentlichkeitsarbeit. Ein Unterneh-
men unterstützt eine Organisation, eine Personengruppe oder eine Einzelperson
mit finanziellen Mitteln und/oder Sachleistungen. Sponsoring wird vor allem in
den Bereichen Sport, Kultur, Soziales, Wissenschaft und Medien systematisch
betrieben. Als Gegenleistung verpflichten sich die Gesponserten, den Namen des
Sponsors öffentlichkeitswirksam einzubringen, zum Beispiel auf der Kleidung,
im Programmheft, im Raum oder auf der Website. Die genauen Leistungen und
Gegenleistungen werden in der Regel in einem Sponsoringvertrag definiert.

In der kostspieligen Formel 1 ist Sponsoring all­gegenwärtig.

53
3 Marketing

Repetitionsfragen
1. Sie müssen für Ihr Unternehmen ein Marketingkonzept erstellen. Nach welchen vier
Schritten gehen Sie vor?

2. Erklären Sie die Begriffe «Marktvolumen» und «Sättigungsgrad».

3. Anhand welcher Kriterien können Marktsegmente gebildet werden?

4. Mit welchen Fragen beschäftigt sich eine Konkurrenzanalyse?

5. Welche Phasen werden im Produktlebenszyklus unterschieden? Wie verlaufen die


beiden Kurven «Umsatz» und «Gewinn»? – Begründen Sie deren Entwicklung.

6. Vergleichen Sie die Instrumente des BCG-Portfolios mit dem Modell des Pro­dukt­
lebenszyklus. Worin unterscheiden sie sich? Wo finden Sie Übereinstimmungen?

7. Welche Marktforschungsmethoden kennen Sie?

8. Was ist der Unterschied zwischen einem tiefen und einem flachen Sortiment?

9. Was ist unter dem «magischen Dreieck der Preispolitik» zu verstehen? Was lässt sich
aus diesem Dreieck herauslesen?

10. Wann bietet sich ein direkter Absatzweg an?

11. Nennen Sie die drei Funktionen des Handels.

12. Wie ist der Vertrieb von McDonald’s organisiert?

13. Was versteht man unter dem AIDA-Modell?

14. Nennen Sie drei Formen der Online-Kommunikation.

15. Was ist der Unterschied zwischen einer Fach- und einer Publikumsmesse?

16. Was versteht man unter «Public Relations» und was sind deren Ziele?

54
Grundlagen der
­Volkswirtschaftslehre
Die Themen in diesem Kapitel

8.1 Aufgaben der Volkswirtschaftslehre 104

8.2 Bedürfnisse und Güter 105

8.3 Produktionsfaktoren und ökonomisches Prinzip 108

8.4 Wirtschaftskreislauf 110

8
8 Grundlagen der ­Volkswirtschaftslehre

Einleitung
Jeder Einzelne von uns fällt tagtäglich Dutzende von Entscheidungen, die einen Einfluss auf
das wirtschaftliche Leben haben, auch wenn uns dies oft nicht bewusst ist. Wir entscheiden
uns, was wir zu Mittag essen, welchen Kaugummi wir kaufen, welches Transportmittel wir
benützen. Der Wirt entscheidet sich, welche Mahlzeiten er anbieten will, die Kioskfrau,
welche Kaugummisorten sie ins Sortiment aufnimmt, die Busbetriebe, welche Linien zu
welchen Zeiten bedient werden.

Wollten wir nun all diese Einzelentscheide verfolgen und die Auswirkungen auf die Gesamt-
wirtschaft erklären, wäre dies ein hoffnungsloses Unterfangen. Besser ist es, mit einfachen
Mustern und Modellen das typische Verhalten der einzelnen Akteure und das Zusammen-
wirken aller zu beschreiben.

Genau so arbeitet die Volkswirtschaftslehre (VWL). In diesem ersten Kapitel lernen wir fünf
wichtige volkswirtschaftliche Grundlagen kennen: die Bedürfnisse, die Güter, die Produk-
tionsfaktoren, das ökonomische Prinzip und den Wirtschaftskreislauf. Zuvor gehen wir
jedoch der Frage nach, was genau die Aufgabe der VWL ist.

8.1 Aufgaben der Volkswirtschaftslehre


Die Volkswirtschaftslehre befasst sich hauptsächlich mit drei Themenkreisen:
• mit den Entscheiden einzelner Menschen,
• mit den wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen auf Märkten,
• mit der Gesamtwirtschaft, also mit der zusammengefassten Betrachtung
all dieser Entscheide und Märkte.
Entscheide einzelner Die Basis jeder wirtschaftlichen Analyse bilden die Entscheide von Einzelnen. Weil
­Menschen wir nicht im Schlaraffenland leben, stehen jeder und jedem von uns nicht unendlich
viele Ressourcen zur Verfügung. Wir müssen also laufend zwischen Alternativen
entscheiden: Soll ich ins Kino oder ins Restaurant gehen? Soll ich morgen Nachmit-
tag Fussball spielen gehen oder für die Schule lernen? Bei derartigen Entscheiden
vergleichen wir – bewusst oder unbewusst – Kosten und Nutzen verschiedener
Alternativen. Die VWL liefert die Grundlagen für die Analyse solcher Entscheide.
Märkte Der Austausch von Gütern und Dienstleistungen bildet die Basis aller wirtschaft-
lichen Beziehungen und damit den zweiten zentralen Untersuchungsgegenstand
der VWL; es lohnt sich nur, etwas anzubieten, wenn jemand bereit ist, das ent-
sprechende Gut auch nachzufragen. Dieses Zusammentreffen von Angebot und
Nachfrage bezeichnet man als Markt. Wenn Sie einen Apfel kaufen, dann wird
der Preis, den Sie dafür bezahlen, durch das Angebot an Äpfeln und die Nach-
frage nach Äpfeln bestimmt. Wenn Sie einen Job suchen, dann bieten Sie Ihre
Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt an, und wenn Sie einen Kredit möchten, um
sich eine Wohnung zu kaufen, dann sind Sie Nachfrager auf dem Kreditmarkt.
Gesamtwirtschaft Manchmal genügt es nicht, die Entscheide einzelner Personen oder die Vorgän-
ge auf einzelnen Märkten zu analysieren. Wollen wir etwa wissen, wieso der
Wohlstand, d.h. der materielle Lebensstandard, in der Schweiz höher ist als in
Griechenland, so müssen wir die Gesamtwirtschaft der beiden Länder miteinander
vergleichen. Natürlich setzt sich die Gesamtwirtschaft letztlich aus den einzelnen
Entscheiden auf den verschiedenen Märkten zusammen. Aber es ist ein Ding der
Unmöglichkeit, sämtliche Aktionen zu erfassen und zusammenzuzählen. Die

104
Grundlagen der V
­ olkswirtschaftslehre 8
VWL hat deshalb Instrumente entwickelt, die es ermöglichen, von Details abzuse-
hen und die gesamte Wirtschaft zu überblicken.
In diesem Kapitel geht es zuerst um die Entscheidungen einzelner Menschen,
danach um ein Modell der Gesamtwirtschaft. Das folgende Kapitel 9 hat die
Märkte zum Thema und die Kapitel 10 bis 14 behandeln dann einzelne Aspek-
te der Gesamtwirtschaft.

8.2 Bedürfnisse und Güter


Bedürfnisse

Das Wirtschaftsleben wird zu einem grossen Teil durch unsere Bedürfnisse


gesteuert. Als Bedürfnis bezeichnet man das Verlangen, einen echten oder ver-
meintlichen Mangel zu beseitigen.
Materielle Bedürfnisse wie Essen oder Kleidung können in der Regel mit einem Materielle und
Konsum abgedeckt werden. Doch es gibt auch immaterielle Bedürfnisse, die immaterielle Bedürfnisse
man nicht durch einen Kauf befriedigen kann. Dazu zählen Liebe, Geborgen-
heit, Freiheit und Zugehörigkeit.
Man kann die menschlichen Bedürfnisse auch in Grund- und Wahlbedürfnisse Grund- und
einteilen: Grundbedürfnisse sind die Bedürfnisse, die alle Menschen zwingend Wahlbedürfnisse
befriedigen müssen, um zu überleben, z.B. Nahrung, Schlafen, Kleidung. Wahlbe-
dürfnisse sind Bedürfnisse, die nicht lebensnotwendig sind, aber deren Erfüllung
das Leben bereichern. Je nach Interesse und verfügbaren Mitteln wählen die Men-
schen aus, welche Wahlbedürfnisse sie befriedigen, z.B. Reisen, Schmuck, Sport.
Unsere Bedürfnisse sind also verschieden dringend. Wasser und Essen brauchen Maslow’sche
wir dringender als ein neues Auto. Von dieser Tatsache ausgehend, entwickelte Bedürfnispyramide
der amerikanische Psychologe Abraham Maslow (1908–1970) eine Hierarchie
der menschlichen Bedürfnisse: die sogenannte Maslow’sche Bedürfnispyramide.
Diese teilt die Bedürfnisse nach unterschiedlicher Dringlichkeit in fünf Kategorien.

Die fünf Stufen der menschlichen Bedürfnisse nach Maslow

Bedürfnis nach Selbstverwirklichung

Bedürfnis nach Wertschätzung


(Anerkennung, Status, Ansehen, Erfolg u.a.)

Bedürfnis nach Zugehörigkeit


(Familie, Freunde, Partnerschaft u.a.)

Bedürfnis nach Sicherheit (Schutz vor Gefahren,


Angstfreiheit, Recht und Ordnung, festes Einkommen u.a.)

Körperliche Grundbedürfnisse
(Nahrung, Schlaf, Bewegung, Gesundheit, Sexualität u.a.)

105
8 Grundlagen der ­Volkswirtschaftslehre

Grundbedürfnisse wie essen und trinken stehen auf der untersten Stufe der Bedürfnispyramide.

Die Basis und damit die unterste Stufe der Pyramide bilden die körperlichen
Grundbedürfnisse. Da ihre Befriedigung für das Überleben notwendig ist, sind
sie der erste Antrieb für menschliches Handeln. Sind diese Grundbedürfnisse
erfüllt, folgen auf der nächsten Stufe die Sicherheitsbedürfnisse, wie der Schutz
vor Gefahren, die Stabilität und ein festes Einkommen. Nach diesen beiden
Basiskategorien von Bedürfnissen kommen die sozialen Bedürfnisse nach Zuge-
hörigkeit und Wertschätzung. An der Spitze der Pyramide steht das Bedürfnis
nach Selbstverwirklichung. Darunter kann man den Wunsch verstehen, sich
persönlich weiterzuentwickeln, seine Talente zu entfalten und seine Lebenswün-
sche zu erfüllen, etwa indem man ein Hobby ausübt oder eine Weltreise macht.
Individual- und Sämtliche Bedürfnisse der Maslow’schen Pyramide sind sogenannte Individual­
Kollektivbedürfnisse bedürfnisse, also die Bedürfnisse einzelner Menschen. Daneben gibt es auch
Kollektivbedürfnisse. Diese entstehen, wenn viele Personen das gleiche Bedürf-
nis haben. So führt zum Beispiel das individuelle Bedürfnis nach Gesundheit
zum Kollektivbedürfnis nach Spitälern und das Individualbedürfnis nach Mobi-
lität zum Kollektivbedürfnis nach Strassen, Eisenbahnen und Flughäfen.

Güter

Um unsere vielfältigen Bedürfnisse zu decken, brauchen wir Güter. Als Güter


bezeichnet man in der VWL alle Mittel, die der Befriedigung der Bedürfnisse
dienen. Dabei unterscheidet man je nach Verfügbarkeit zwischen freien Gütern
und wirtschaftlichen Gütern.
Freie und Freie Güter sind unbeschränkt verfügbar und kosten nichts, zum Beispiel Luft,
­wirtschaftliche Güter Sonnenstrahlen, Sand am Meer. Da freie Güter nicht produziert und somit auch
nicht bewirtschaftet werden müssen, werden sie von den Wirtschaftswissen-
schaften nicht genauer beachtet. Sie sind in ausreichender Menge vorhanden
und somit nicht knapp. Wirtschaftliche Güter hingegen sind beschränkt verfüg-
bar. Sie müssen von der Wirtschaft produziert werden und kosten somit etwas.

106
Grundlagen der V
­ olkswirtschaftslehre 8
Die wirtschaftlichen Güter können je nach Beschaffenheit in materielle und Materielle und
immaterielle Güter unterteilt werden: Materielle Güter (Sachgüter) sind greif- immaterielle Güter
bare, gegenständliche Güter, wie zum Beispiel Nahrungsmittel. Immaterielle
Güter hingegen sind Güter, die einen Nutzen stiften, aber nicht körperlich vor-
handen sind. Zu ihnen zählen Dienstleistungen aller Art sowie Patente, Rechte
und Lizenzen. Auch die immateriellen Güter werden konsumiert. Beispiele
dafür sind: Bankdienstleistungen, Taxifahrten, Coiffeurbesuche, Filmrechte,
Softwarelizenzen usw.
Je nach Art der Verwendung lassen sich Güter in Konsumgüter und Investitions- Konsum- und
güter unterteilen: Die Investitionsgüter werden für die Erstellung von Konsum- Investitionsgüter
gütern verwendet und tragen indirekt zur Bedürfnisbefriedigung der Konsumen-
ten bei. Es handelt sich beispielsweise um Maschinen, Gebäude oder Fahrzeuge,
die ein Unternehmen braucht, um Güter herzustellen. Die Konsumgüter dienen
direkt dem Konsum und werden im Privatleben konsumiert.
Schliesslich können Güter auch aufgrund ihrer Nutzungsdauer unterschieden Gebrauchs- und
werden: Gebrauchsgüter können wiederholt benutzt werden, so z.B. Bücher, Verbrauchsgüter
Fernsehgeräte, DVDs oder Kleider. Verbrauchsgüter hingegen können nur
einmal genutzt werden. Sie werden bei ihrem Konsum verbraucht, wie zum
Beispiel Lebensmittel.

Übersicht Güter

Verfügbarkeit: Freie Güter Wirtschaftliche Güter

Materielle Güter
Beschaffenheit: Immaterielle Güter
(Sachgüter)

Art der Verwendung: Konsumgüter Investitionsgüter

Nutzungsdauer: Gebrauchsgüter Verbrauchsgüter

Während die menschlichen Bedürfnisse unbeschränkt sind, sind die wirtschaft- Knappheit
lichen Güter knapp, und zwar für die gesamte Wirtschaft wie auch für jeden
einzelnen Menschen. So wohlhabend jemand auch sein mag, jede Person hat
letztlich nur ein bestimmtes Budget an Geld und Zeit zur Verfügung.
Wir müssen also ständig entscheiden, was wir kaufen und worauf wir ver- Nutzen und
zichten. Dazu müssen wir beurteilen, welchen Nutzen der Konsum der ver- Zahlungsbereitschaft
schiedenen Güter für uns hat. Weil wir aber unterschiedliche Vorlieben haben,
ist dieser Nutzen von Mensch zu Mensch verschieden. Eine Teeliebhaberin
beispielsweise, die nur ab und zu Kaffee trinkt, wird nicht sehr viel Geld für
eine Kaffeemaschine ausgeben. Ein Kaffeeliebhaber hingegen leistet sich eine
hochwertige und teure Espressomaschine. Die Zahlungsbereitschaft für eine
Kaffeemaschine ist bei ihm um ein Vielfaches grösser als bei der Teetrinkerin.

107
8 Grundlagen der ­Volkswirtschaftslehre

8.3 Produktionsfaktoren und


ökonomisches Prinzip
Bevor ein Mensch ein Wirtschaftsgut konsumieren kann, muss ein Unterneh-
men dieses zuerst herstellen. Dabei greift das Unternehmen auf verschiedene
Mittel zurück, beispielsweise auf menschliche Arbeit, auf Maschinen oder
Rohstoffe. Diese Ressourcen werden in der VWL Produktionsfaktoren genannt.
Man versteht darunter alle Bestandteile materieller und immaterieller Natur,
die an der Herstellung von Gütern mitwirken.
Man kann die Produktionsfaktoren in vier Kategorien unterteilen: Arbeit, Kapi-
tal, Technologie und natürliche Ressourcen.
• Arbeit: Unter Arbeit verstehen wir die körperlichen und geistigen Tätig-
keiten des Menschen, die es braucht, um Güter oder Dienstleistungen
herzustellen, zum Beispiel Handwerk, Denkarbeit.
• Kapital: Das Kapital beinhaltet Produktionsmittel wie zum Beispiel Gerä-
te, Maschinen oder Gebäude. Mit dem Einsatz von Kapital kann die Pro-
duktivität des Bodens und der menschlichen Arbeit gesteigert werden. Da
hier nicht das Geldkapital eines Unternehmens gemeint ist, spricht man
auch von Sach- oder Realkapital.
• Technologie: Unter diesem Produktionsfaktor verstehen wir das Know-
how bzw. die Kenntnisse, wie man ein wirtschaftliches Gut herstellt.
Es geht also um das Wissen, wie man die anderen Produktionsfaktoren
miteinander kombiniert.
• Natürliche Ressourcen: Die Natur, die Umwelt und der Boden werden zu
den natürlichen Ressourcen gezählt. Aus der Natur bezieht die Wirtschaft
u.a. Bodenschätze und Rohstoffe für Nahrungsmittel. Der Boden dient
auch als Standort für die Produktions- und Dienstleistungsstätten.
Um ein Gut herzustellen, braucht es eine Kombination aller Produktionsfakto-
ren. Die natürlichen Ressourcen stellt die Natur bereit. Die vier anderen Pro-
duktionsfaktoren werden vom Menschen geschaffen.

Der Ofen des Bäckers zählt


zum Produktionsfaktor
Kapital, die Rezepte seines
Grossvaters zum Produk­
tionsfaktor Technologie.

108
Grundlagen der V
­ olkswirtschaftslehre 8
Für die Produktion von Brot braucht es z.B. folgende Produktionsfaktoren:
• Arbeit: Bäcker und seine Angestellten,
• Kapital: Backstube (Gebäude), Ofen (Maschine),
• Technologie: Rezept zum Brotbacken und Know-how des Bäckers und
seiner Angestellten,
• natürliche Ressourcen: Boden, auf dem die Backstube steht, sauberes
Wasser, Salz.
Auch bei der Herstellung der einzelnen Brotzutaten wie Mehl oder Hefe lassen
sich die vier genannten Produktionsfaktoren unterscheiden.

Übersicht Produktionsfaktoren

Arbeit Kapital Technologie Natürliche Ressourcen

Lohnarbeit, unternehmerische Produktionsmittel wie Geräte, Know-how, Wissen, Luft, Wasser, Rohstoffe,
Tätigkeit Maschinen, Gebäude Erfahrung Boden

Ökonomisches Prinzip

Um konkurrenzfähig zu sein, muss ein Unternehmen wirtschaftlich handeln,


d. h., es muss seine knappen Produktionsfaktoren bestmöglich einsetzen. Man
spricht in diesem Zusammenhang vom ökonomischen Prinzip. Dieses lässt
grundsätzlich drei Möglichkeiten offen:
• Maximumprinzip: Mit einem gegebenen Input (Mitteleinsatz) soll ein
möglichst grosser Output (Ergebnis) erzielt werden.
• Minimumprinzip: Ein vorgegebener Output (Ergebnis) soll mit einem
möglichst kleinen Input (Mitteleinsatz) hergestellt werden.
• Optimumprinzip: Wenn weder der zu erreichende Output (Ergebnis)
noch der verfügbare Input (Mitteleinsatz) genau vorgegeben sind, wird
nach dem Optimumprinzip vorgegangen: Es findet eine Abwägung zwi-
schen Kosten und Nutzen statt. Mit einem möglichst kleinen Input soll
also ein möglichst grosser Output erreicht werden.

Das ökonomische Prinzip am Beispiel der Stuhlproduktion

Maximumprinzip Minimumprinzip Optimumprinzip


Aus 30 Holzlatten (dem vor­gegebenen Drei Stühle (der vorgegebene Output) Mit der optimalen Menge an Holzlatten
Input) sollen möglichst viele Stühle (der ­sollen aus möglichst wenigen Holzlatten (minimaler Aufwand aufgrund des besten
maximale Output) her­gestellt werden. (dem minimalen Input) fabriziert werden. Einkaufspreises) soll eine optimale Anzahl
Stühle (maximaler Ertrag aufgrund des
besten Verkaufs­preises) hergestellt wer-
den.

109
8 Grundlagen der ­Volkswirtschaftslehre

8.4 Wirtschaftskreislauf
Der einfache Wirtschaftskreislauf

Haushalte und Im Zentrum der volkswirtschaftlichen Analyse stehen einerseits die Haushalte
Unternehmen und andererseits die Unternehmen. Die Haushalte sind in der Regel Nachfrager
nach Gütern, und die Unternehmen bieten diese an. Der einfache Wirtschafts-
kreislauf stellt diesen Zusammenhang grafisch dar:

Einfacher Wirtschaftskreislauf
Geld

Produktionsfaktoren
(z. B. Arbeit)

Unternehmen Haushalte

Güter

Geld

Tausch Güter Die Unternehmen produzieren Güter und verkaufen diese an die Haushalte.
Damit beide Seiten an diesem Austausch freiwillig teilnehmen, müssen beide
davon profitieren können. Wir sehen in der Darstellung denn auch, dass Ströme
in beide Richtungen fliessen. Der Güterstrom (in der Grafik orange) geht von den
Unternehmen an die Haushalte und der Geldstrom (in der Grafik blau) von den
Haushalten an die Unternehmen. Konkret: Der Gast erhält vom Wirt eine Mahl-
zeit (Güterstrom) und zahlt ihm dafür den Preis für diese Mahlzeit (Geldstrom).
Tausch Dies macht aber nur einen Teil der Beziehungen zwischen Haushalten und
Produktions­faktoren Unternehmen aus: Denn die Unternehmen brauchen für die Produktion Res-
sourcen, die ihnen von den Haushalten zur Verfügung gestellt werden. Es sind
dies die vier Produktionsfaktoren: Arbeit, Kapital, Technologie und natürliche
Ressourcen (vgl. Kapitel 8.3). Bei dieser Art von Tausch ist die Situation gera-
de umgekehrt als beim Austausch von Gütern: Die Haushalte besitzen etwas,
was sie den Unternehmen verkaufen. Die Haushalte sind also Anbieter und
die Unternehmen Nachfrager. Entsprechend verläuft der Geldstrom (blau) von
den Unternehmen an die Haushalte und der Ressourcenstrom (orange) von
den Haushalten an die Unternehmen. Konkret: Der Wirt erhält vom Koch die
Arbeitsleistung (Ressourcenstrom) und zahlt ihm dafür einen Lohn (Geldstrom).
Dieser im Wirtschaftskreislauf dargestellte Austausch zwischen Haushalten und
Unternehmen erfolgt meist nicht direkt, sondern über Märkte (vgl. Kapitel 9.1).

Der erweiterte Wirtschaftskreislauf

Staat und Ausland Der einfache Wirtschaftskreislauf mit den Beziehungen zwischen Haushalten
und Unternehmen erlaubt es bereits, eine beachtliche Zahl der wichtigsten
Transak­tionen, d.h. Geschäfte, einer Volkswirtschaft abzubilden. Für die
gesamtwirtschaftliche Analyse lohnt es sich allerdings, noch zwei weitere
Akteure einzuführen: den Staat und das Ausland.

110
Grundlagen der V
­ olkswirtschaftslehre 8
Die unten stehende Abbildung stellt den erweiterten Wirtschaftskreislauf dar,
wobei hier vereinfachend nur die Geldströme dargestellt sind. In der Realität
steht aber jedem Geldstrom natürlich ein Strom realer Grössen der Güter und
Produktionsfaktoren gegenüber.

Geldflüsse im erweiterten Wirtschaftskreislauf

Zahlung für Exporte Zahlung für Importe


Ausland

Zahlung für Güter

Zahlung für Güter,


Subventionen Steuern
Unternehmen Staat Haushalte
Steuern Löhne, Zinsen, Transfers

Löhne und Zinsen

Betrachten wir zunächst den Staat. Dieser finanziert sich über die Steuern, die Akteur Staat
er bei den Haushalten und den Unternehmen einzieht. Diese Mittel verwen-
det er für zwei Dinge: Einerseits kauft er damit wirtschaftliche Güter bei den
Unternehmen, z.B. Schulbänke. Andererseits bezahlt er damit die Haushalte,
die ihm Arbeit oder Kapital zur Verfügung stellen, etwa den Lohn einer Lehre-
rin. Zudem zahlt der Staat gewissen Unternehmen Subventionen und gewis-
sen Haushalten Transfers. Beides sind Leistungen, die der Staat ohne direkte
Gegenleistung erbringt. Ein Beispiel für Subventionen sind die Direktzahlungen
an die Bauern, ein Beispiel für Transfers die Renten der Alters- und Hinterlas-
senenversicherung (AHV).
Gegenstand der VWL ist in erster Linie ein einzelnes Land. Weil es aber Akteur Ausland
auch internationalen Austausch gibt, befinden sich gerade in einem kleinen,
wirtschaftlich offenen Land wie der Schweiz nicht alle wichtigen Akteure im
betrachteten Land. Deshalb wird im erweiterten Wirtschaftskreislauf als vier-
ter Akteur das Ausland berücksichtigt. Einerseits verkaufen die Unternehmen
einen Teil ihrer Güter ins Ausland, womit Zahlungen für diese Exporte vom
Ausland an die inländischen Unternehmen fliessen. Andererseits kaufen die
Haushalte nicht nur inländische, sondern auch ausländische Waren, womit sie
eine Nachfrage nach Importen erzeugen. Darum verläuft auch ein Geldstrom
von den Haushalten ans Ausland.
Innerhalb dieses modellhaften Schemas des erweiterten Wirtschaftskreislaufs Weitere Akteure und
könnte man noch eine Reihe zusätzlicher Ströme einzeichnen. So importiert Beziehungen
auch der Staat Waren aus dem Ausland, oder Unternehmen kaufen Güter von
anderen Unternehmen. Auch könnten wir als zusätzliche Akteure die Banken
einführen, die Spargelder von den Haushalten erhalten und diese als Kredite
wieder an die Unternehmen ausleihen. All diese Versuche, die Wirklichkeit
präziser abzubilden, verkomplizieren jedoch das Schema noch zusätzlich und
führen dazu, dass das Modell seinen Zweck bald nicht mehr erfüllen kann,
nämlich die wesentlichsten Aspekte der Realität vereinfacht abzubilden.

111
8 Grundlagen der ­Volkswirtschaftslehre

Repetitionsfragen
1. Mit welchen drei Themenkreisen befasst sich die Volkswirtschaftslehre?

2. Erklären Sie die beiden Begriffe «Grundbedürfnis« und «Wahlbedürfnis».

3. Nennen Sie die fünf Stufen der Maslow’schen Bedürfnispyramide.

4. Was ist der Unterschied zwischen einem Individual- und einem Kollektivbedürfnis?

5. Beschreiben Sie den Unterschied zwischen Wirtschaftsgütern und freien Gütern.

6. Was sind immaterielle Güter?

7. Bei den Konsumgütern unterscheidet man zwischen Gebrauchsgütern und


­Verbrauchsgütern. Erklären Sie den Unterschied und geben Sie je zwei Beispiele.

8. Nennen Sie die vier Produktionsfaktoren.

9. Das Optimumprinzip ist eine von drei Handlungsmöglichkeiten. Erklären Sie, was
man darunter versteht.

10. Skizzieren Sie den einfachen Wirtschaftskreislauf mit den entsprechenden Begriffen.

11. Welche zwei zusätzliche Akteure kommen beim erweiterten Wirtschaftskreislauf


hinzu?

12. Was ist eine Subvention?

112
Wachstum
und ­Strukturwandel
Die Themen in diesem Kapitel

10.1 Die Messung des Wohlstands 132

10.2 Wohlstand und Lebensqualität 136

10.3 Das Wachstum 138

10.4 Der Strukturwandel 142

10
10 Wachstum und ­Strukturwandel

Einleitung
Schon kleine Veränderungen der Wachstumsraten einer Volkswirtschaft haben über die
Zeit hinweg grosse Auswirkungen auf den Wohlstand. Dies zeigt sich deutlich, wenn wir die
Wachstumsraten der Entwicklungs- mit denen der Industrieländer vergleichen. Wir können
dies aber auch an der wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz beobachten. So hatte unser
Land nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise hohe Wachstumsraten und galt deshalb
bis in die 1970er-Jahre als das reichste Land der Welt. Da sich aber seither das Wachstum
verlangsamt hat, büsste die Schweiz diese Position ein und wurde von anderen Ländern mit
höheren Wachstumsraten, wie z.B. Norwegen, überholt.

Das folgende Kapitel zeigt auf, wie der Wohlstand gemessen werden kann und was der
Unterschied zwischen Wohlstand und Lebensqualität ist. Sie lernen, was man unter dem
Begriff «Trendwachstum» versteht und was die Quellen des Wirtschaftswachstums sind.
Ausserdem erfahren Sie, dass Wachstum immer auch Veränderung und Umbruch mit sich
bringt. Dieser Strukturwandel ist dafür verantwortlich, dass laufend gewisse Wirtschafts-
zweige an Bedeutung verlieren und von neuen aufstrebenden Branchen abgelöst werden.

10.1 Die Messung des Wohlstands


Das Bruttoinlandprodukt (BIP) als Vergleichsmass

Messung der Wollen wir beurteilen, wie sich der Wohlstand eines Landes entwickelt, dann
Wertschöpfung müssen wir uns fragen, wie der Wohlstand gemessen werden kann. Dafür hat
sich das Bruttoinlandprodukt (BIP) als Standardmass durchgesetzt. Dieses
umfasst den Marktwert aller wirtschaftlichen Güter, die in einem Land wäh-
rend einer bestimmten Periode hergestellt worden sind. Berücksichtigt werden
dabei allerdings nur Endprodukte, um Doppelzählungen zu vermeiden (wir
werden diesen wichtigen Punkt auf der folgenden Seite anhand eines Beispiels
noch genauer erläutern). Man misst also die Wertschöpfung, d.h. die effektive
Wert­steigerung, die im betrachteten Land zu aktuellen Marktpreisen erbracht
worden ist, und spricht dabei vom nominalen Bruttoinlandprodukt.
Abzug der Teuerung Damit man das gegenwärtige BIP der Schweiz mit dem BIP früherer Jahre ver-
gleichen kann, muss die Inflation, d.h. die Teuerung, berücksichtigt und das
BIP entsprechend korrigiert werden (vgl. Kapitel 13.3). Nur weil für die exakt
gleichen Güter seit dem Vorjahr die Preise gestiegen sind, hat ein Land näm-
lich nicht mehr produziert. Indem man also die Inflation herausrechnet, erhält
man aus dem nominalen Bruttoinlandprodukt das reale Bruttoinlandprodukt.
Dieses umfasst die gesamte, zu konstanten Preisen bewertete Produktion von
Gütern in einer Volkswirtschaft.
Ländervergleich Will man das BIP verschiedener Länder vergleichen, so muss man berücksichti-
gen, dass die Länder unterschiedlich gross sind. Deutschland wird immer ein viel
höheres BIP aufweisen als die Schweiz, denn seine Bevölkerungszahl ist rund
zehnmal grösser. Bei Ländervergleichen verwendet man daher das reale Brutto­
inlandprodukt pro Kopf, das reale BIP dividiert durch die Bevölkerungszahl.
Rechnet man dieses reale BIP pro Kopf in eine einheitliche Währung um – meist
in US-Dollar –, so erhält man ein international vergleichbares Wohlstandsmass.

132
Wachstum und ­Strukturwandel 10
Die Berechnung des Bruttoinlandprodukts

Um genauer zu verstehen, wie das BIP berechnet wird, betrachten wir eine Beispiel Brot
Volkswirtschaft, die nur ein Endprodukt herstellt, nämlich Brot. An der Herstel-
lung sind drei Produzenten beteiligt: eine Bäuerin, ein Bäcker und eine Lebens-
mittelhändlerin. Will man nun das BIP dieser Volkswirtschaft berechnen, muss
man die Vorleistungen jeweils abziehen. Berücksichtigt wird lediglich die
Wertschöpfung, der Wert also, den die drei Produzenten neu geschaffen haben.
Nehmen wir an, die Bäuerin produziert das Getreide, verarbeitet es zu Mehl
und verkauft dieses nun für 30 Franken an den Bäcker. Damit deckt die Bäue-
rin die Lohnkosten ab und erwirtschaftet einen Gewinn. Diese 30 Franken sind
ihre Wertschöpfung. Der Bäcker verwendet nun das Mehl, um daraus Brote zu
backen, die er dem Lebensmittelgeschäft für 80 Franken verkauft. Das Mehl
produziert nicht er, weshalb dessen Preis nicht zu seiner Wertschöpfung gezählt
wird; es ist vielmehr eine Vorleistung. Ziehen wir diese 30 Franken vom Brot-
preis ab, so erhalten wir eine Wertschöpfung des Bäckers von 50 Franken. Die
Lebensmittelhändlerin schliesslich verkauft die Brote für 100 Franken. Zieht man
davon die Vorleistungen von 80 Franken ab, so erzielt diese dritte Produzentin
eine Wertschöpfung von 20 Franken. Die Kunden kaufen das Brot für 100 Fran-
ken und konsumieren es. Das verkaufte Brot ist also das Endprodukt, und der
Wert dieses Endprodukts entspricht dem BIP dieser einfachen Volkswirtschaft.

Berechnung des BIP am Beispiel Brot

Bäuerin Bäcker Lebensmittelhändlerin


produziert Mehl produziert Brot verkauft Brot

Vorleistung: 30 Vorleistung: 80
Mehl Brot BIP =
Wertschöpfung: 30 Wertschöpfung: 50 Wertschöpfung: 20
für 30 Fr. für 80 Fr. 30 + 50 + 20 = 100

Drei Arten, das BIP zu ermitteln

Das BIP einer Volkswirtschaft lässt sich auf drei Arten berechnen: von der Ent-
stehungsseite, von der Verwendungsseite und von der Verteilungsseite her. Alle
drei Berechnungen führen zum selben Resultat. Es hängt von der Fragestellung
ab, welche man verwendet.
Die Entstehungsseite des BIP konzentriert sich auf die Produktion. In unserer Entstehungsseite
ein­fachen Volkswirtschaft zählen wir dafür die Wertschöpfungen der einzelnen
Produk­tionsstufen zusammen, also 30 ( Bäuerin ) +50 ( Bäcker ) +20 ( Lebens-
mittelhändlerin) = 100 Franken.
Die Verwendungsseite des BIP setzt bei der Nachfrage nach den Endprodukten Verwendungsseite
an und misst den Betrag, den die Verbraucher dafür bezahlen. In unserem Bei-
spiel wird das Brot von den Konsumentinnen und Konsumenten gekauft und
dann verbraucht. Dafür bezahlen sie 100 Franken, und das entspricht – dies-
mal von der Verwendungsseite her betrachtet – dem BIP dieser Volkswirtschaft.

133
10 Wachstum und ­Strukturwandel

Verteilungsseite Die Verteilungsseite des BIP schliesslich misst die Einkommen, die aus diesen
Transaktionen auf jeder der drei Wertschöpfungsstufen entstanden sind. Sie wer-
den an die Beschäftigten in Form von Löhnen und an die Kapitalgeber in Form
von Gewinnen ausgezahlt. Ihre Summe entspricht der Wertschöpfung des jewei-
ligen Unternehmens. Zählen wir also in unserem Beispiel alle Löhne und Gewin-
ne zusammen, so erhalten wir wiederum das BIP in der Höhe von 100 Franken.
Das BIP eines ganzen Landes berechnet sich nun genau gleich wie in unserem
Beispiel – nur muss man hier Abertausende solcher Wertschöpfungsketten
berücksichtigen.
• Auf der Entstehungsseite wird für alle Branchen der Wirtschaft der Wert
der Endprodukte berechnet, also die Summe der Wertschöpfungen auf den
einzelnen Verarbeitungsstufen.
• Auf der Verwendungsseite wird für alle Verbraucher ermittelt, wie viel sie
für die Güter ausgegeben haben.
• Schliesslich werden auf der Verteilungsseite alle Lohnsummen und alle
Gewinne der Volkswirtschaft ermittelt und daraus das gesamte BIP bestimmt.

Übersicht Berechnungsarten des BIP

Drei Betrachtungsweisen
des BIP

Entstehung Verwendung Verteilung

Das BIP in der Schweiz

2020 betrug das nominale BIP der Schweiz knapp 680 Milliarden Franken. Die
unten stehende Grafik zeigt, wie diese Summe je nach Berechnungsart aufge-
teilt werden kann.

Aufteilung des BIP der Schweiz nach Entstehung, Verwendung und Verteilung, 2020

E nts te hung de s B I P Verwendung des BIP Ve rte ilung de s B I P


1% 2%

10 %

26 % 23 %

27 % 51 % 59 %
73 % 16 %
Quelle: Bundesamt für Statistik, 2021

12 %

■ 1. Sektor ■ Private Konsumausgaben ■ Arbeitnehmerentgelt (Löhne)


■ 2. Sektor ■ Staatskonsum ■ Unternehmensgewinne
■ 3. Sektor ■ Investitionsausgaben ■ Abschreibungen
■ Nettoexporte (Exporte ■ Produktions- und Importabgaben
minus Importe) abzüglich Subventionen

134
Wachstum und ­Strukturwandel 10

Die Entstehungsseite des BIP misst die Wertschöpfung in der Produktion.

Auf der Entstehungsseite fällt auf, dass die Landwirtschaft nur noch einen Vorherrschaft
sehr kleinen Teil der Produktion ausmacht. Auch der Industriesektor ist in Dienstleistungen
den letzten Jahrzehnten stark geschrumpft und trägt noch ein Viertel zum BIP
bei. Dominiert wird die Wertschöpfung heute durch die Dienstleistungen, die
beinahe drei Viertel der Schweizer Produktion ausmachen (vgl. Kapitel 10.3).
Auf der Verwendungsseite sehen wir die überragende Bedeutung des privaten Vorherrschaft
Konsums, der 51% der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ausmacht. Die Inves- privater Konsum
titionsausgaben (Bau- und Ausrüstungsinvestitionen) liegen bei 28% und der
Staatskonsum bei 12%. Es mag überraschen, dass der Aussenhandel auf den
ersten Blick unwichtig erscheint, liegt dieser doch nur bei 9% des BIP. Der Grund
ist, dass es sich hier um eine Nettogrösse handelt, also um Exporte minus Impor-
te. Die Exporte für sich alleine machen tatsächlich über 50% des BIP aus; weil
aber die Importe nur unwesentlich geringer sind, kann hier der falsche Eindruck
entstehen, der Aussenhandel sei für die Schweiz gar nicht so bedeutsam.
Auf der Verteilungsseite sehen wir schliesslich, dass 59% der Schweizer Ein- Vorherrschaft
nahmen auf die Löhne entfallen und dass die Gewinne der Unternehmen rund Löhne
16% ausmachen. Die Abschreibungen machen 23% aus; sie sind hier aufge-
führt, weil ein Teil der Einkommen der Unternehmen verwendet werden muss,
um die während der Periode verbrauchten, aber in früheren Perioden produ-
zierten Kapitalgüter (z.B. Maschinen) zu finanzieren.

Angebot und Nachfrage in der Gesamtwirtschaft

Wie wir gesehen haben, lässt sich das Bruttoinlandprodukt sowohl über die
Entstehungsseite als auch über die Verwendungsseite bestimmen. Man spricht
dabei auch vom gesamtwirtschaftlichen Angebot (Entstehung) und von der
gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (Verwendung).
Das gesamtwirtschaftliche Angebot bezeichnet die gesamte Menge an Gütern, Gesamtwirtschaftliches
die während einer bestimmten Periode produziert wurde. Das gesamtwirtschaft- Angebot
liche Angebot wird bestimmt von der Ausstattung mit den vier Produktionsfak-
toren Arbeit, Kapital, Technologie und natürliche Ressourcen (vgl. Kapitel 8.3).

135
10 Wachstum und ­Strukturwandel

Gesamtwirtschaftliche Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage entspricht der gesamten Menge an


Nachfrage Gütern, die während einer bestimmten Periode gekauft wurde. Wir unterschei-
den dabei vier Käufergruppen: die Konsumentinnen und Konsumenten, die
Konsumgüter erwerben, die Unternehmen, die vor allem Investitionsgüter
nachfragen, der Staat mit seinen Staatsausgaben (für Konsum- und Investiti-
onsgüter) sowie das Ausland, das Exportgüter kauft.

Übersicht Angebot und Nachfrage in der Gesamtwirtschaft

Arbeit Konsum
Entstehungsseite des BIP Verwendungsseite des BIP

Kapital Gesamt- Gesamt- Investitionen


wirtschaftliches wirtschaftliche
Angebot = Nachfrage
Technologie (Produktion) (Verwendung) Staatsausgaben

Natürliche Ressourcen Nettoexporte

Produktionsfaktoren Nachfragekomponenten

10.2 Wohlstand und Lebensqualität


Limiten des BIP Das BIP pro Kopf ist allerdings kein «perfektes» Mass, um den Wohlstand, d.h.
den materiellen Lebensstandard eines Landes, zu messen. Dafür gibt es haupt-
sächlich drei Gründe:
• Erstens misst das BIP nur jene Wertschöpfung, die über den Markt erzielt
wird. Erfasst werden also nur bezahlte Transaktionen. Hausarbeit etwa fliesst
nur ins BIP ein, wenn man dafür eine Person anstellt und ihr einen Lohn
bezahlt. Erledigt man die Arbeit hingegen selber, bleibt das BIP unverändert,
obwohl es sich auch in diesem Fall eindeutig um eine Wertschöpfung handelt.
• Zweitens erfasst das BIP auch Wertschöpfungen, denen unmittelbar Wertmin-
derung vorausgegangen ist. So lässt z.B. ein Verkehrsunfall das BIP steigen,
weil die Reparatur- und Gesundheitsleistungen eine Wertschöpfung darstellen,
während die Wertminderung durch den Unfall im BIP unberücksichtigt bleibt.
• Drittens misst das BIP jeweils nur den durchschnittlichen Wohlstand eines
Landes, macht aber keine Aussagen darüber, wie der Wohlstand in der
Bevölkerung verteilt ist.
Lebensqualität Materieller Wohlstand ist zwar sehr wichtig, doch dieser allein reicht nicht,
um ein erfülltes Leben zu führen. Faktoren wie Gesundheit, Rechtssicher-
heit, Bildung, Freiheit oder eine intakte Umwelt sind für uns Menschen eben-
so bedeutend. Hier kommt die Lebensqualität, auch Wohlfahrt genannt, ins
Spiel. Im Gegensatz zum Wohlstand lässt sich die Lebensqualität nicht direkt
messen. Anhaltspunkte geben aber statistische Werte wie die Lebenserwar-
tung, die Kindersterblichkeit, die Kriminalitätsrate oder die Anzahl Schulen,
Krankenhäuser und Grünflächen.

136
Wachstum und ­Strukturwandel 10

Lebensqualität (HDI) und Wohlstand (BIP) einzelner Länder im Vergleich

Human Development Index (HDI), 2019 BIP pro Kopf in USD, kaufkraftbereinigt, 2019

Norwegen Rang 1 Rang 5

Australien Rang 8 Rang 11

Schweiz Rang 2 Rang 8

Deutschland Rang 6 Rang 11

USA Rang 17 Rang 17

Mexiko Rang 74 Rang 69

Indien Rang 131 Rang 131

Niger Rang 189 Rang 187


0.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

40 000

80 000
0

20 000

60 000

100 000
Quelle: United Nations, IMF

Ein Versuch, die Lebensqualität eines Landes in Zahlen zu erfassen, ist der Human Development
Human Development Index (HDI) der UNO. Dieser berücksichtigt neben dem Index (HDI)
Wohlstand pro Kopf die Lebenserwartung und den Bildungsgrad (Anzahl Schul-
jahre). Der HDI hat sich in der Volkswirtschaftslehre aber nie richtig durchsetzen
können, weil die verwendeten Kriterien und deren Gewichtung umstritten sind.
Im Gegensatz zum HDI ist der Wohlstand bzw. das BIP ein allgemein aner-
kanntes Mass in der Volkswirtschaftslehre. Zudem hängt das BIP relativ eng mit
anderen Faktoren der Wohlfahrt, wie etwa der Lebenserwartung, zusammen.
Wo der Wohlstand hoch ist, ist oft auch die Lebensqualität gross und umge-
kehrt. Daher ist es vertretbar, wenn wir uns im Folgenden auf die Entwicklung
des BIP bzw. des Wohlstands konzentrieren.

Wie misst man die Verteilung des Wohlstands?

Das BIP sagt nichts über die Verteilung des Wohlstands mensverteilung). Betrachtet man Punkt X, sieht man,
aus. Um zu messen, wie das Einkommen oder das Vermö- dass in der Schweiz die ärmsten 20% der Haushalte
gen einer Gesellschaft verteilt ist, kann man jedoch die nur über 10% des gesamten Einkommens verfügen.
sogenannte Lorenzkurve verwenden. Abgebildet werden Macht man diese Analyse nun für jede Einkommens-
dort auf der horizontalen Achse die Anzahl Haushalte klasse, ergibt sich die entsprechende Lorenzkurve.
geordnet nach Einkommen (oder Vermögen),
und auf der vertikalen Achse die zusammen- Lorenzkurve der Schweiz 2019
gezählten Einkommen (oder Vermögen) die-
ser Gruppe. Einkommen
Auf der Winkelhalbierenden 0B herrscht abso-
100 %
lute Gleichverteilung: 30% der Gesellschaft 90 %
erhalten genau 30% des Einkommens dieser 80 %
Gesellschaft. In der Realität begegnen wir 70 %
natürlich nie einer solchen Gleichverteilung. Gleichverteilung
60 %
Vielmehr gibt es Ungleichverteilungen, die 50 %
einer bauchigen Kurve, der Lorenzkurve, ent- 40 %
sprechen. Je weiter weg die Kurve von der Win- 30 %
Lorenzkurve
kelhalbierenden liegt, desto ungleichmässiger 20 %
sind die Einkommen in einem Land verteilt. 10 % X
Die nebenstehende Abbildung zeigt 0%
0,0 10,0 20,0 30,0 40,0 50,0 60,0 70,0 80,0 90,0 100,0
die Lorenzkurve der Schweiz (Einkom-
Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS) Haushalte

137
10 Wachstum und ­Strukturwandel

10.3 Das Wachstum


Stetiger Wie die unten stehende Grafik zeigt, hat das reale BIP pro Kopf der Schweiz von
Wohlstandsanstieg 1900 bis heute stark zugenommen. Diesen langfristigen Anstieg des Wohlstands
nennt man Wirtschaftswachstum oder Trendwachstum. Die Entwicklung verlief
jedoch nicht gleichmässig, sondern wies grosse Schwankungen auf. Diese kurz-
fristigen Bewegungen, die sogenannten Konjunkturschwankungen, werden wir in
Kapitel 11 genauer erläutern. Im Folgenden beschränken wir uns auf den
langfristigen Trend. Denn über den Wohlstand eines Landes entscheidet die
langfristige Wachstumsrate, d.h. die prozentuale Zunahme des realen BIP
innerhalb eines bestimmten Zeitraums.

Wachstum der Schweiz, seit 1900 (reales BIP pro Kopf in CHF zu Preisen von 2010)

100 000

90 000

80 000

70 000

60 000

50 000

40 000

30 000

20 000

10 000

0
1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020

Quelle: Maddison, Angus (www.ggdc.net/maddison); Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO); Bundesamt für Statistik (BFS)

Kleine Unterschiede, Bereits kleine Unterschiede in den Wachstumsraten führen längerfristig zu


grosse Wirkung gros­sen Wohlstandsunterschieden. Dies zeigt der Vergleich zwischen Bangla-
desch, Japan und den USA. Noch 1820 hatten die drei Länder ein aus heutiger
Sicht ähnlich tiefes Einkommensniveau. Das reale BIP pro Kopf betrug damals
in den USA rund 1260 US-Dollar, jenes von Bangladesch ungefähr ein Viertel
davon. Die weitere Entwicklung gestaltete sich jedoch sehr unterschiedlich:
Die USA weisen bis heute ein konstant hohes Wachstum auf und haben inzwi-
schen ein fast 25-mal höheres Pro-Kopf-Einkommen als 1820. Bangladesch
hingegen verblieb auf einem ähnlichen, extrem tiefen Einkommensniveau wie
vor 200  Jahren. Die Entwicklung von Japan zeigt schliesslich, dass sich ein
Rückstand rasch aufholen lässt. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Japan ein rela-
tiv armes Land, konnte aber danach in wenigen Jahrzehnten praktisch zu den
USA aufschliessen, weil es sehr hohe Wachstumsraten aufwies.
Überproportionale Der Wohlstand in Japan und den USA ist u.a. darum so stark angestiegen, weil
Zunahme langfristig konstante Wachstumsraten zu einer überproportionalen Zunahme
des Einkommens führen. Denn in einem solchen Fall vergrössert sich nicht nur
der Wert des Einkommens laufend, sondern auch der Grad der Zunahme. Die

138
Wachstum und ­Strukturwandel 10
Situation ist gleich wie bei der Geldanlage, bei der der Zins dank des Zinseszin-
ses langfristig hohe Erträge abwirft. So bewirkt also auch eine relativ geringe
Wachstumsrate mit der Zeit eine starke Erhöhung des Wohlstands.

Wachstum in den USA, in Japan und Bangladesch (reales BIP pro Kopf in USD
zu Preisen von 2011)

70 000

65 000

60 000

55 000

50 000

45 000

40 000

35 000
■ USA ■ Japan ■ Bangladesch
30 000

25 000

20 000

15 000

10 000

5 000

0
1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020

Quelle: Maddison, Angus; www.ggdc.net/maddison

Quellen des Wachstums

Woher kommt das Wirtschaftswachstum? Wie wir wissen, hängt der Wohl-
stand einer Volkswirtschaft davon ab, wie viele wirtschaftliche Güter sie pro-
duziert (vgl. Kapitel 10.1). Es gibt daher nur zwei Möglichkeiten, wie pro Kopf
mehr Güter produziert werden können:
• durch mehr Arbeitsstunden,
• durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, d.h. der Menge an produzier-
ten Gütern pro geleistete Arbeitsstunde.

Mehr Arbeitsstunden

Mehr Arbeitsstunden kann eine Volkswirtschaft erreichen, wenn bei konstan-


ter Bevölkerungszahl mehr Personen arbeiten (mehr Erwerbstätige bzw. eine
höhere Erwerbstätigenquote) oder wenn jede einzelne Person mehr Arbeits-
stunden leistet (vgl. Kapitel 12.1).

Höhere Arbeitsproduktivität

Eine höhere Arbeitsproduktivität entsteht entweder durch mehr Realkapital


(Investitionen), mehr Humankapital (Bildung) oder mehr Know-how (techni-
scher Fortschritt).
Die Produktivität steigt, wenn einer Arbeitskraft mehr Realkapital zur Verfü- Realkapital
gung steht. Unter Realkapital versteht man alle Anlagen und Einrichtungen,
die zur Produktion von Gütern eingesetzt werden. Bei der Energieproduktion
beispielsweise sind relativ wenige Arbeitnehmende mit sehr teuren Kapitalgü-
tern ausgestattet, was zu einer hohen Produktivität führt. Im Vergleich dazu
gehen etwa Coiffeure einer Tätigkeit mit einer viel geringeren Kapitalausstat-

139
10 Wachstum und ­Strukturwandel

tung nach und weisen eine entsprechend tiefere Produktivität aus. Eine Erhö-
hung der Investi­tionen, d.h. des Aufbaus von Realkapital, bewirkt jeweils eine
höhere Arbeitsproduktivität und damit mehr Wachstum.
Humankapital Die Produktivität hängt auch vom Humankapital ab, also von den Fähigkeiten
und Fertigkeiten der Beschäftigten. Je besser deren Ausbildung, desto höher ist
in der Regel ihre Produktivität und damit ihr Lohn. Investiert also ein Land in
die Aus- und Weiterbildung, führt dies zu einer höheren Arbeitsproduktivität
und folglich zu Wachstum.
Know-how Drittens lässt sich die Arbeitsproduktivität durch mehr Know-how, also durch
eine verbesserte Technologie erhöhen. Dabei geht es um das Wissen, wie
Arbeit und Kapital kombiniert werden können, um wirtschaftliche Güter zu
produzieren. Nehmen wir z.B. das Verfassen einer Hausarbeit. In den Zeiten
der Schreibmaschine war es ein äusserst mühseliger und aufwendiger techni-
scher Prozess, einen Text zu schreiben, zu überarbeiten und zu korrigieren.
Heute verläuft die gleiche Arbeit dank Computer und Textverarbeitungspro-
gramm um ein Vielfaches einfacher und schneller.
Produktionsfaktoren Es ist letztlich also die Kombination der drei Produktionsfaktoren Arbeit, Kapi-
tal und Technologie, die bestimmt, wie gross das Wachstum bzw. das gesamt-
wirtschaftliche Angebot in einer Volkswirtschaft ist (vgl. Kapiel 8.3).

Übersicht Quellen des Wachstums

Wachstum BIP pro Kopf

mehr Arbeitsstunden mehr Produktion pro Arbeitsstunde (Arbeitsproduktivität)

mehr mehr Arbeitsstunden mehr Realkapital mehr mehr Know-how


Erwerbstätige pro Erwerbstätigen (Investitionen) Humankapital (techn. Fortschritt)

Arbeit Kapital Technologie

Die entscheidende Rolle des technischen Fortschritts

Fortschreitendes Auf den ersten Blick erscheint es unklar, warum das Wirtschaftswachstum
Wachstum immer weitergehen soll. Schliesslich gibt es auf der Erde nur eine bestimmte
Menge an Ressourcen, die wir nicht erhöhen können. Die meisten Ökonomin-
nen und Ökonomen sind dennoch zuversichtlich, dass der Wohlstand immer
weiter ansteigen kann. Der Grund dafür ist, dass das Wachstum nur zu einem
kleinen Teil von den endlichen Faktoren Arbeit und Kapital angetrieben wird.
Neukombination Hauptverantwortlich für das langfristige Wachstum ist vielmehr der technische
der Ressourcen Fortschritt. Dieser kann im Gegensatz zu den Arbeitskräften und Kapitalgütern
stets weiter wachsen. Denn letztlich entspricht der technische Fortschritt nichts
anderem als der Fähigkeit, die endlichen Ressourcen immer wieder neu mit-
einander zu kombinieren – und auf diese Weise einen Mehrwert zu schaffen.

140
Wachstum und ­Strukturwandel 10

Elektrisches Licht und Mobilität: Der technische Fortschritt ist die treibende Kraft des Wirtschaftswachstums.

Beim Versuch, grosse Wachstumsschübe zu verstehen, stossen wir regelmässig Grosse und kleine
auf den technischen Fortschritt als entscheidenden Faktor. So gab es beispiels- Innovationen
weise in den letzten 200 Jahren einen gewaltigen Fortschritt in der Produk-
tion von Licht. Der Preis dafür ist seit dem Jahr 1800 etwa um den Faktor
4000 gesunken, weil wir heute nicht mehr Kerzen, sondern leistungsfähige
LED-Lampen verwenden. Ein anderes Beispiel ist der Fortschritt in den Infor-
mations- und Kommunikationstechnologien in den 1990er-Jahren. Durch die
Entwicklung von Internet, E-Mail und Mobiltelefonen gestalten sich seither die
Beziehungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern viel effizienter als früher.
Der technische Fortschritt beruht aber nicht nur auf grossen weltbekannten
Innova­tionen. Ein Teil der Produktivitätssteigerung entsteht auch aus unspekta-
kulären, kaum beachteten Ideen, welche die Organisation von Arbeitsabläufen
in Unternehmen verbessern.

Nachhaltiges Wachstum

So wichtig Wirtschaftswachstum auch ist, wir müssen uns heute auch dessen Ökologisch und sozial
Risiken bewusst sein. Wachstum kann z.B. die Umweltverschmutzung auf-
grund externer Kosten verstärken (vgl. Kapitel 9.4) und die soziale Ungerech-
tigkeit vergrössern. Hier setzt das Konzept des nachhaltigen Wachstums an.
Dieses besagt, dass Wachstum nur dann vorbehaltlos als positiv gilt, wenn es
ökologisch und sozial nachhaltig ist.
Nachhaltigkeit im ökologischen Sinn bedeutet, dass nicht mehr Ressourcen Qualität des Wachstums
verbraucht werden, als zukünftig wieder bereitgestellt werden können. Hinzu
kommt der soziale Aspekt der Nachhaltigkeit. Dieser besagt, dass ein Wachs-
tum nur dann nachhaltig ist, wenn es nicht einseitig auf Kosten bestimmter
Bevölkerungsgruppen geht.

141
10 Wachstum und ­Strukturwandel

10.4 Der Strukturwandel


Wirtschaftswachstum ist immer mit Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur
eines Landes, also mit Strukturwandel, verbunden. Die relative Bedeutung der
drei Wirtschaftssektoren und der einzelnen Branchen bzw. Wirtschafts­zweige
verändert sich also laufend (vgl. Kapitel 1.1). Denn das Wachstum beruht
vor allem auf technischem Fortschritt, kombiniert mit einer immer stärkeren
Arbeitsteilung. Und sowohl die Einführung neuer Technologien als auch die
Globalisierung (vgl. Kapitel 14.2) führen zu ständigen Anpassungen in der
Wirtschaftsstruktur.

Strukturwandel in der Schweiz

Es ist daher kein Zufall, dass in den letzten 120 Jahren der Strukturwandel in der
Schweiz viel rascher voranschritt als in der Zeit zuvor. Bis weit ins 19. Jahrhun-
dert hinein dominierte in der Schweiz der erste Sektor, die Landwirtschaft. Hier
gab es zwar in den vergangenen Jahrhunderten auch Produktionsverbesserun-
gen, aber sie vollzogen sich nur schrittweise. Entsprechend langsam entwickelte
sich das Wachstum der Gesamtwirtschaft. Mit der voranschreitenden Industria-
lisierung und der Zunahme der internationalen Arbeitsteilung ab 1850 änderte
sich dies markant. Zuerst nahm die Bedeutung des zweiten Sektors, der Indus­
trie, deutlich zu. In den letzten 50 Jahren war es dann vor allem der dritte Sektor,
also der Dienstleistungssektor, der seinen Beschäftigungsanteil massiv ausbaute.

Erwerbstätige nach Sektoren, seit 1850

100 %
in % des Erwerbstätigentotals
90 %
80 %
76,7%
70 %
3. Sektor
60 %
50 %
2. Sektor
40 %
30 %
20 % 20,7%
1. Sektor
10 %
2,6 %
0%
1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020

Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS)

Wie die oben stehende Grafik zeigt, waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch
rund 20% der Schweizer Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt; heute
sind es nur noch knapp 3%. In der gleichen Periode ist auch der Anteil der
Industrie von über 40% auf knapp 21% gesunken. Umgekehrt stieg der Beschäf-
tigungsanteil der Dienstleistungen von rund 35% auf heute rund 77% an.
Auf- und Abstieg Im Rahmen dieser Entwicklung zu einer Dienstleistungsgesellschaft haben
der Branchen gewisse Unternehmenszweige und Berufe an Bedeutung verloren oder sind sogar
ganz verschwunden. Doch der Niedergang einer alten Branche ist fast immer
verbunden mit dem Aufstieg neuer innovativer Technologien und Berufs­zweige.

142
Wachstum und ­Strukturwandel 10

Übersicht Auf- und Abstieg von Schweizer Wirtschaftsbranchen, seit 1950

2010
2000 Biotechnologie
IT- und Kommunikationstechnologie
1990 Altersbetreuung
Finanzmarktdienstleistungen
Aufstieg 1980 Umweltschutz- und Recyclingbranche
Unterrichtswesen
1970 Unternehmensdienstleistungen (Werbung)
Gesundheitswesen
1960 Chemie- und Pharmaindustrie
Elektro- und Haushaltgeräteindustrie
1950 Maschinenbau

1950 Landwirtschaft und Nahrungsmittelverarbeitung


Holzverarbeitung (Möbel)
1960 Lederverarbeitung (Schuhe)
Textilindustrie
1970 Traditionelle Uhrenindustrie (Ankeruhren)
Metallerzeugung (Giesserei)
1980 Elektroindustrie (Motoren)
Abstieg Haushaltgeräte (Telefone)
1990 Papierindustrie
Aluminiumindustrie
2000 Chemie (Grundstoffe/Farben)
2010

Quelle: Credit Suisse Economic Research © Strahm/hep verlag

Aktuell erlebt die Schweiz einen strukturellen Niedergang bei Teilen des Gast- Aktueller Strukturwandel
gewerbes und bei den traditionellen Industriezweigen der Möbel-, Metall- und
Textilindustrie, die alle unter hohem internationalem Konkurrenzdruck stehen.
Auch das Druck- und Verlagswesen befindet sich in einem grossen Umbruch,
verursacht durch die fortschreitende Digitalisierung und die globale Konkur-
renz. Als Wachstumsmärkte gelten zurzeit neben der Informatik die Phar-
maindustrie und das Gesundheits- und Sozial­wesen. Denn der demografische
Wandel und die Zunahme chronischer Krankheiten bedingt, dass die Nachfrage
nach Gesundheits- und Pflegeleistungen immer mehr zunimmt.

Folgen des Strukturwandels

Strukturwandel bedeutet immer, dass in gewissen Branchen Arbeitsplätze Neuausrichtung


verloren gehen (vgl. Kapitel 12.2). Doch gleichzeitig werden – und das ist der
wesentliche Punkt – in anderen Branchen neue Arbeitsplätze geschaffen. Für
die meisten Betroffenen ist die Anpassung an den Strukturwandel aber trotz-
dem nicht einfach. Denn sie sind gezwungen, sich umzuschulen bzw. sich
beruflich neu auszurichten.
Es überrascht daher nicht, dass oft politische Massnahmen gegen den Struktur- Strukturerhaltung
wandel gefordert werden. Das Problem an dieser Strategie der Strukturerhal-
tung ist, dass sie die Anpassungen zwar aufschieben, letztlich aber nicht ver-
hindern kann. Und durch den Aufschub werden die nötigen Anpassungsschritte
immer grös­ser. So kommt es dann oft zu einem eigentlichen Strukturbruch, der
zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit im betroffenen Sektor führt.
Wesentlich sinnvoller ist es daher, den Strukturwandel zuzulassen und gleich- Strukturwandel zulassen
zeitig die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Anpas-
sung zu unterstützen. Eine gut ausgebaute Arbeitslosenversicherung spielt
dabei ebenso eine Rolle wie ein flexibler Arbeitsmarkt, der es den wachsenden
Branchen einfach macht, neue Mitarbeitende einzustellen.

143
10 Wachstum und ­Strukturwandel

Repetitionsfragen
1. Wofür steht die Abkürzung BIP? Definieren Sie diesen Begriff.

2. Welche Form des BIP nehmen Sie sinnvollerweise, wenn Sie den Wohlstand von
­Griechenland mit demjenigen von Frankreich vergleichen wollen?

3. Beschreiben Sie die drei Arten, wie man das BIP ermitteln kann.

4. Was versteht man unter dem Begriff «Nettoexporte»?

5. a) Aus welchen fünf Grössen setzt sich das gesamtwirtschaftliche Angebot zu-
­­sammen?
b) Aus welchen vier Grössen setzt sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu­­
sammen?

6. Erklären Sie den Unterschied zwischen den beiden Begriffen «Wohlstand» und
«Lebensqualität».

7. Wie verlief das Trendwachstum in den Industrieländern in den letzten 100 Jahren?

8. Was versteht man unter dem Begriff «Wachstumsrate»?

9. Welches ist die treibende Kraft des langfristigen Wachstums und wieso?

10. Welche Aspekte berücksichtigt ein qualitativ hochstehendes Wirtschaftswachstum?

11. Welche Auswirkungen hat der Strukturwandel


a) auf den Wohlstand?
b) auf die Erwerbstätigen?

144
Grundlagen
der Rechtskunde
Die Themen in diesem Kapitel

15.1 Einführung in das Recht 196

15.2 Privatrecht 204

15.3 Verfahrensrecht 209

15
15 Grundlagen der Rechtskunde

Einleitung
Beim Begriff «Recht» denken wir häufig an das, was wir tagtäglich im Fernsehen zu Gesicht
bekommen: an Verbrechen und Vergehen, an Tatorte und Spurensuche, an Täter und Opfer,
Gerichtssäle, Staatsanwälte und Verteidiger, an Polizisten und Gefängnisse.

Doch das Strafrecht ist nur ein Teil des Rechts. Das Recht regelt ebenso Ihr Verhältnis zu
Ihrer Familie, zu Ihrem Arbeitgeber, zu Ihrer Schule oder zu Ihrem Sportverein. Das Recht
ordnet alle Beziehungen der Bürgerinnen und Bürger zum Staat und zwischen den Bürge-
rinnen und Bürgern untereinander.

In diesem Kapitel erhalten Sie die Antworten auf die grundlegenden Fragen der Rechtskun-
de: Was ist Recht? Welche Arten von Recht gibt es? Wie sind die Rechtsregeln gegliedert?
Sie lernen aber auch, welche allgemeinen Rechtsgrundsätze gelten, wer überhaupt Rechte
haben kann und wie das Verfahren bei einem Rechtsstreit abläuft.

15.1 Einführung in das Recht


Eigenschaften des Rechts

Das Recht regelt das menschliche Zusammenleben. Unser Verhalten wird aber
nicht nur durch das Recht, sondern auch durch Sitte und Moral bestimmt.
Wozu brauchen wir das Recht überhaupt? Wieso genügen Sitte und Moral
nicht?
Sitte Als Sitte bezeichnet man die zur Gewohnheit gewordenen Verhaltensweisen.
Zur Sitte gehören z.B. die Anstands- und Höflichkeitsregeln. Wenn jemand
eine solche Regel verletzt, etwa jeden duzt statt siezt, kann er bestraft werden,
indem er gemieden oder sonst benachteiligt wird. Er kann aber nicht zum Sie-
zen gezwungen werden. Dabei betrifft die Sitte lediglich das äussere Verhalten,
die innere Haltung ist nicht von Bedeutung: Ob sich jemand aus innerer Über-
zeugung an die Sitten hält oder nur, weil er Angst hat, geächtet zu werden,
spielt keine Rolle.

Das Recht ist im


Gegensatz zu Sitte und
Moral erzwingbar.

198
Grundlagen der Rechtskunde 15
Bei der Moral oder Sittlichkeit hingegen ist die innere Einstellung entschei- Moral
dend. Moral enthält immer eine wertende Komponente: Was ist gut? Was ist
gerecht? Handelt beispielsweise eine Frau, die ihren todkranken Nachbarn
pflegt, moralisch richtig? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir
die Gesinnung der Frau kennen: Handelt sie aus Liebe oder nur wegen der zu
erwartenden Erbschaft? Je nach Antwort beurteilen wir ihr Verhalten anders.
Wie bei der Sitte kann moralisches Verhalten aber nicht erzwungen werden.
Im Unterschied zu Sitte und Moral kann das Recht mit Zwang durchgesetzt wer- Recht
den. Das ist der Vorteil der Rechtsordnung. Sie ist verbindlich und kann vom
Staat erzwungen werden. Wie die Sitte kümmert sich das Recht jedoch nur um
das äussere Verhalten. Ob sich jemand aus innerer Überzeugung oder nur aus
Angst vor einer Strafe an die Gesetze hält, ist rechtlich nicht von Bedeutung.

Übersicht Verhaltensregeln

Verhaltensregeln

Sitte Moral Recht


Äusseres Verhalten Inneres Verhalten Äusseres Verhalten
nicht erzwingbar nicht erzwingbar erzwingbar

Normenhierarchie

Die verschiedenen Rechtsregeln des Zusammenlebens sind zwar alle wichtig,


haben aber nicht alle den gleichen Stellenwert. Die Rechtsordnung eines Staa-
tes ist in drei verschiedene Stufen eingeteilt: Verfassung, Gesetz und Verord-
nung. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Normenhierarchie.

Hierarchie der Rechtsnormen

Stufe Inhalt Beispiel

Verfassung Die Verfassung ist das oberste Gesetz des Staates. Sie bildet die Bundesverfassung (BV) Art. 63
Grundlage für die Erarbeitung der Gesetze; von ihr werden alle 1
 er Bund erlässt Vorschriften über die Berufsbildung.
D
anderen Rechtsvorschriften abgeleitet. In der Schweiz haben 2
Er fördert ein breites und durchlässiges Angebot im
neben dem Bund auch die Kantone eine Verfassung. Bereich der Berufsbildung.

Gesetz Die Gesetze dienen der näheren Ausführung der einzelnen Bundesgesetz über die Berufsbildung (BBG)
Verfassungs­artikel. Deshalb müssen sie eine Grundlage in der Art. 22
Verfassung haben. Auf Gemeindeebene spricht man nicht von 3
Wer im Lehrbetrieb und in der Berufsfachschule die
Gesetzen, sondern von Reglementen. Sie haben Gesetzes­ Voraussetzungen erfüllt, kann Freikurse ohne Lohnab-
charakter und regeln spezielle Bereiche innerhalb der Gemeinde­ zug besuchen. Der Besuch erfolgt im Einvernehmen mit
organisation, z.B. Kehrichtreglement, Bau­reglement. dem Betrieb. Bei Uneinigkeit entscheidet der Kanton.

Verordnung Die Verordnung enthält Ausführungsbestimmungen zum jeweili- Berufsbildungsverordnung (BBV) Art. 20
gen Gesetz. Es gilt: ohne Gesetz keine Verordnung. 1
Freikurse und Stützkurse der Berufsfachschule sind so
anzusetzen, dass der Besuch ohne wesentliche Beein-
trächtigung der Bildung in beruflicher Praxis möglich ist.
Ihr Umfang darf während der Arbeitszeit durchschnittlich
einen halben Tag pro Woche nicht übersteigen.

199
15 Grundlagen der Rechtskunde

Die wichtigste Rechtsquelle ist das geschriebene Recht.

Rechtsquellen

Art. 1 ZGB Auf welche Grundlagen kann man sich bei der Lösung eines Rechtsproblems
berufen? Drei Quellen kommen infrage: das geschriebene Recht, das Gewohn-
heitsrecht und das Richterrecht.
Die wichtigste Rechtsquelle ist heute das geschriebene Recht. Damit gemeint ist
das Recht, das vom Staat im dafür vorgesehenen Verfahren erlassen worden ist,
also die Verfassung, die Gesetze und die Verordnungen.
Mit Gewohnheitsrecht meint man ungeschriebenes Recht bzw. Recht, das nicht
vom Staat erlassen wurde. Es entspricht der allgemeinen Rechtsüberzeugung
und wird seit längerer Zeit befolgt. Es gilt deshalb ebenso wie geschriebenes
Recht. Heute hat das Gewohnheitsrecht allerdings praktisch keine Bedeutung
mehr; es wurde durch das geschriebene Recht weitgehend verdrängt.
Wenn ein Gericht keine Regel im geschriebenen Recht oder im Gewohnheits-
recht findet, muss es die Lücke schliessen, selbst eine Regel aufstellen und
nach dieser entscheiden. Man spricht dann von Richterrecht. Die Gerichte
berücksichtigen dabei frühere Gerichtsentscheide, vor allem die Entscheide des
Bundesgerichts, sowie die Meinung der Rechtswissenschaften.

Übersicht Rechtsquellen

Rechtsquellen

Geschriebenes Recht
Verfassung, Gesetze, Gewohnheitsrecht Richterrecht
Verordnungen

200
Grundlagen der Rechtskunde 15
Zwingende und dispositive Rechtsvorschriften

Rechtsvorschriften werden danach unterschieden, ob sie zwingenden oder dis-


positiven Charakter haben.
Zwingende Vorschriften können nicht abgeändert werden. Ein Kaufvertrag über Zwingende Vorschriften
ein Grundstück beispielsweise muss gemäss Obligationenrecht (OR) öffentlich
beurkundet werden (Art.216 Abs.1 OR). Auch wenn Verkäufer und Käufer dies
wünschen, können sie den Vertrag nicht per Handschlag abschliessen.
Von den sogenannten dispositiven Vorschriften kann man hingegen mit einer Dispositive Vorschriften
Vereinbarung abweichen. Das OR sieht zum Beispiel vor, dass der Käufer einer
Sache die allfälligen Transportkosten tragen muss (Art.189 Abs.1 OR). Wenn
Sie also online ein Buch bestellen, müssen Sie das Porto für den Versand des
Buches bezahlen. Diese gesetzliche Regelung ist aber dispositiv, d.h., sie gilt
nur, wenn Sie und der Verkäufer nichts anderes vereinbart haben.

Rechtsanwendung

Wie können Sie vorgehen, um ein Rechtsproblem zu lösen? Sinnvoll ist ein
systematisches Vorgehen in vier Schritten:

Rechtsanwendung in vier Schritten

Schritt Fragestellungen Beispiel

1. Sachverhalt Was ist passiert? Wer ist beteiligt? Wer macht Nina ist 16 und im ersten Lehrjahr. Sie ist die einzige
analysieren was geltend? Welche rechtlichen Fragen stellen Auszubildende in ihrem Betrieb. Alle anderen Mitar-
sich? beitenden haben vier Wochen Ferien pro Jahr. Sie
hat gehört, sie habe Anspruch auf fünf Wochen Feri-
en. Kann Nina von ihrem Arbeitgeber fünf Wochen
Ferien verlangen?

2. Relevante Welches Rechtsgebiet ist betroffen? In welcher Die Frage betrifft das Arbeitsrecht. Dieses ist u.a. im
Regel finden Rechtsvorschrift ist die Frage geregelt? Die richtige OR geregelt. Art. 329a Abs.1 OR befasst sich mit den
Regel zu finden, ist nicht ganz einfach, man benö- Ferien:
tigt dazu rechtliche Grundkenntnisse. Wenn man «Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer jedes
nicht weiterweiss, hilft oft ein Blick ins Inhalts- Dienstjahr wenigstens vier Wochen, dem Arbeit-
verzeichnis eines Gesetzes oder ins Stichwortver- nehmer bis zum vollen­deten 20. Altersjahr wenigs-
zeichnis einer Gesetzessammlung. Im Gesetz selbst tens fünf Wochen Ferien zu gewähren.»
helfen die Randtitel (sogenannte Marginalien), die
relevante Regel zu finden.

3. Regel Welchen Tatbestand, d.h. welche gesamten recht- Nur zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein:
analysieren lichen Voraussetzungen, setzt die Regel voraus? 1. Ein Arbeitsverhältnis.
Welche einzelnen rechtlichen Voraussetzungen, 2. Die Arbeitnehmerin hat das 20. Altersjahr noch
sogenannte Tatbestandsmerkmale, müssen erfüllt nicht vollendet.
sein? Was ist die Konsequenz, juristisch ausge- Folge: wenigstens fünf Wochen Ferien pro Dienst-
drückt die Rechtsfolge davon? jahr.

4. Regel auf Sind alle Voraussetzungen im Einzelfall gegeben? Beide Voraussetzungen sind erfüllt: Nina ist in einem
Sachverhalt Ist also der Tatbestand erfüllt? Was ist die Rechts- Arbeitsverhältnis und noch nicht 20 Jahre alt. Sie
anwenden und folge im Einzelfall? hat daher Anspruch auf mindestens fünf Wochen
Rechtsfolge Ferien pro Jahr.
bestimmen

201
15 Grundlagen der Rechtskunde

Vorgehen beim Lösen eines Rechtsproblems

1 Sachverhalt analysieren

2 Relevante Regel finden

3 Regel analysieren

4 Regel anwenden und


Rechtsfolge bestimmen

Rechtsfolge

Öffentliches Recht und Privatrecht

Das Recht wird in zwei Gebiete aufgeteilt: in das öffentliche und das private
Recht.
Das öffentliche Recht regelt die Rechtsbeziehungen der Bürger zum Staat. Im
öffentlichen Recht ist der Staat dem Bürger übergeordnet; der Staat handelt
hoheitlich. Fahren Sie zum Beispiel nachts mit Ihrem Fahrrad ohne Licht nach
Hause und geraten in eine Polizeikontrolle, müssen Sie gemäss der Gesetzge-
bung des öffentlichen Rechts eine Busse von 60 Franken bezahlen.
Das Privatrecht, auch Zivilrecht genannt, regelt die Rechtsbeziehungen der
Bürger untereinander. Im Privatrecht stehen sich zwei (oder mehrere) gleichge-
stellte Per­sonen gegenüber. Kaufen Sie im obigen Beispiel am nächsten Tag bei
Ihrem Velohändler ein neues Licht, ist das eine privatrechtliche Angelegenheit.
Die beiden folgenden Tabellen zeigen die wichtigsten Gebiete des öffentlichen
und privaten Rechts.

Öffentliches Recht
Rechtsgebiet Fragestellungen Gesetze (Auswahl)
Staatsrecht Wie sind Bund, Kantone und Gemeinden aufgebaut? • Bundesverfassung (BV)
Welche Aufgaben haben sie? Welche grundlegenden • Kantonsverfassungen
Rechte und Pflichten gelten im Staat?

Verwaltungsrecht Welche Aufgaben hat die Verwaltung? Was gilt dabei • Steuergesetze
im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern? Weil die • Baugesetze
Verwaltung heute sehr viele Aufgaben übernimmt, • Volksschulgesetze, Berufsbildungsgesetz (BBG)
umfasst das Verwaltungsrecht ganz unterschiedliche • Strassenverkehrsgesetz (SVG)
Rechtsgebiete, u.a. das Steuerrecht, das Baurecht, • Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlasse-
das Bildungsrecht, das Strassenverkehrsrecht und das nenversicherung (AHVG)
Sozialversicherungsrecht.
Strafrecht Welches Verhalten ist strafbar? Welche Strafen sind • Strafgesetzbuch (StGB)
dafür vorgesehen?
Verfahrensrecht Wie läuft ein Strafverfahren ab? Wie führt man einen • Strafprozessordnung (StPO)
Zivilprozess? Wie werden Urteile und Geldforderungen • Zivilprozessordnung (ZPO)
vollstreckt? • Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (SchKG)

202
Grundlagen der Rechtskunde 15
Das Privatrecht kennt viel weniger Rechtsbereiche und Gesetze als das öffentli- ZGB und OR
che Recht. Die beiden wichtigsten privatrechtlichen Gesetze sind das Zivil­
gesetzbuch (ZGB) und das Obligationenrecht (OR).

Privatrecht

Rechtsgebiet Wichtige Fragestellungen Artikel

ZGB Einleitung Welche allgemeinen Regeln gelten im Privatrecht? Art. 1–9

Personenrecht Wer kann Rechte und Pflichten haben? Unter welchen Voraus­ Art. 11– 89c
setzungen?

Familienrecht Wie wird die Ehe geschlossen? Welche Wirkungen hat sie? Art. 90 – 456
Welche Folgen hat eine Scheidung? Welche Rechte und Pflichten
gelten in der Familie?

Erbrecht Wer erbt, wenn jemand stirbt? Wie schreibt man ein Testament? Art. 457– 640
Wie schliesst man einen Erbvertrag?

Sachenrecht Wer ist Eigentümer, wer Besitzer einer Sache? Welche Rechte haben Art. 641–977
Eigentümer und Besitzer?

OR Allgemeine Wie entstehen Obligationen (Verpflichtungen)? Wie werden Verträge Art. 1–183
Bestimmungen abgeschlossen? Wie werden sie erfüllt?

Einzelne Vertrags­ Was gilt bei den einzelnen Vertragsarten, z.B. beim Kaufvertrag, Art. 184 –551
verhältnisse beim Mietvertrag oder beim Arbeitsvertrag?

Handelsgesellschaften Welche Gesellschaften gibt es? Wie werden sie gegründet? Art. 552–926
und Genossenschaft Wie sind sie organisiert?

Handelsregister, Ge­schäfts­­ Wer wird mit welchen Angaben im Handelsregister eingetragen? Art. 927–964f
firmen und kaufmännische Was ist eine Firma, und wie kann sie gebildet werden? Wer muss eine
Buchführung kaufmännische Buchhaltung führen?

Wertpapiere Was ist ein Wertpapier? Welche Arten von Wertpapieren gibt es? Art. 965 –1186

Das Strassenverkehrsgesetz ist Teil des öffentlichen Rechts.

203
15 Grundlagen der Rechtskunde

15.2 Privatrecht
Das Privatrecht hat in unserem Alltag eine grössere Bedeutung als das öffent-
liche Recht. In diesem Abschnitt lernen Sie seine wichtigsten Grundsätze ken-
nen. In den folgenden Kapiteln werden dann einzelne Bereiche des Privatrechts
vorgestellt: die Obligation, die Vertragslehre, der Kauf-, Miet- und Arbeitsver-
trag sowie das Familien- und das Erbrecht.

Allgemeine Rechtsgrundsätze

Die ersten Artikel des ZGB, die sogenannten Einleitungsartikel, regeln die wich-
tigsten Grundsätze des Privatrechts. Sie haben folgenden Inhalt:

Einleitungsartikel ZGB

Grundsatz Artikel Inhalt Beispiel

Anwendung Art. 1 ZGB Das Gericht hat die drei Rechts- Das Gesetz beantwortet nicht, was rechtlich ein Schaden
des Rechts quellen zu beachten: In erster ist. Wenn etwa ein Kollege Ihr Handy fallen lässt, haben Sie
Linie das geschriebene Recht, in Anspruch auf Schadenersatz. Aber was genau ist der Scha-
zweiter Linie das Gewohnheits- den: die Kosten für die Reparatur? Der Preis für ein neues
recht, in dritter Linie hat Handy? Oder der Preis für ein gleichwertiges Occasionsgerät?
sie eigenes Richterrecht aufzu- Das Bundesgericht hat in dieser Frage bereits oft Entscheide
stellen (vgl. Kapitel 15.1) gefällt, auf die sich die Gerichte abstützen können.

Handeln nach Art. 2 Abs.1 Jedermann hat in der Ausübung Wer eine Seilbahn für Wintersportler betreibt, ist nach Treu
Treu und ZGB seiner Rechte und in der Erfül- und Glauben verpflichtet, gefährliche Stellen (z.B. Fels­
­Glauben lung seiner Pflichten nach Treu blöcke) auf der Skipiste zu sichern.
und Glauben zu handeln. Ver-
langt wird also ein faires, anstän-
diges und redliches
Verhalten.

Verbot des Art. 2 Abs.2 Der offenbare Missbrauch eines Ihr Nachbar errichtet auf seinem Grundstück eine Mauer,
Rechtsmiss- ZGB Rechts findet keinen Rechts- nur um Ihnen die Aussicht zu verbauen. Dies ist ein offen­
brauchs schutz. barer Rechtsmissbrauch. Sie können also vor Gericht erstrei-
ten, dass der Nachbar die Mauer wieder abreissen muss,
obwohl er auf seinem Grundstück eigentlich eine Mauer
bauen dürfte.

Guter Glaube Art. 3 ZGB Manche Bestimmungen knüpfen Sie kaufen von einem Kollegen ein Handy. Was Sie nicht
eine Rechtsfolge an das fehlen- wissen: Ihr Kollege ist gar nicht Eigentümer des Mobiltele-
de Unrechtsbewusstsein eines fons, er hat es nur von einer Freundin ausgeliehen. Weil Sie
Beteiligten, den sogenannten gutgläubig waren, gehört das Handy nun trotzdem Ihnen.
guten Glauben. Im Zweifel geht Die Freundin kann es von Ihnen also nicht zurückverlangen,
man davon aus, dass jemand sie kann aber von Ihrem Kollegen Schadenersatz verlangen
gutgläubig ist. Allerdings darf (Art. 714 und 933 ZGB). Hätten Sie gewusst oder wissen kön-
sich nicht auf den guten Glauben nen, dass das Mobiltelefon gar nicht Ihrem Kollegen gehört,
berufen, wer nicht aufmerksam wären Sie bösgläubig gewesen. Sie müssten das Handy
genug war. Er gilt als bösgläubig. zurückgeben.

Beweislast Art. 8 ZGB Grundsätzlich hat derjenige eine Behauptet ein Verkäufer, er habe von Ihnen Anspruch auf
Tatsache zu beweisen, der dar- einen Kaufpreis, muss er den Abschluss des Kaufvertrags
aus Rechte ableitet. nachweisen. Behaupten Sie, Sie hätten den Kaufpreis bereits
bezahlt, müssen Sie die Zahlung, z.B. mit einer Quittung,
nachweisen.

204
Grundlagen der Rechtskunde 15

Ein Seilbahnbetreiber ist nach Treu und Glauben verpflichtet, die Skipiste zu sichern.

Personenrecht

Wer kann überhaupt am Rechtsleben teilhaben? Und unter welchen Vorausset-


zungen? Mit diesen Fragen befasst sich das Personenrecht im ZGB.
Nur die sogenannten Rechtssubjekte können Rechte und Pflichten haben, d.h. Rechtssubjekte
am Rechtsleben teilnehmen. Zu den Rechtssubjekten zählen sowohl die Men-
schen, die natürlichen Personen, als auch die sogenannten juristischen Personen.
Juristische Personen sind künstliche, durch das Recht geschaffene Subjekte, wie
Vereine, Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung.
Eine Aktiengesellschaft beispielsweise hat Rechte und Pflichten: Sie kann Eigen-
tümerin eines Gebäudes sein und Mitarbeitende beschäftigen. Die Aktiengesell-
schaft selbst und nicht ihre Aktionäre ist also Trägerin der Rechte und Pflichten.
Vom Rechtssubjekt ist das Rechtsobjekt zu unterscheiden. Darunter versteht Rechtsobjekte
man den Gegenstand, auf den sich ein Recht bezieht:
• materielle Güter (Sachen), z.B. ein Buch, ein Grundstück,
• immaterielle Güter, z.B. Urheberrechte oder Patente (das Recht an einer
Er­fin­dung). Man spricht in diesem Zusammenhang von den sogenannten
Immate­rial­güterrechten bzw. von geistigem Eigentum.

Übersicht Rechtssubjekte und Rechtsobjekte

Rechtssubjekte Rechtsobjekte

Natürliche Juristische Sachen Immaterialgüter


Personen Personen
(Art. 11ff. ZGB) (Art. 52ff. ZGB)

205
15 Grundlagen der Rechtskunde

Rechtsfähigkeit Unter welchen Voraussetzungen können die natürlichen und juristischen Per-
sonen Rechte und Pflichten haben? Wann sind sie rechtsfähig?
Art. 11 und 31 ZGB Die natürlichen Personen sind rechtsfähig von Geburt bis zum Tod. Auch ein
Kleinkind kann also Rechte und Pflichten haben. Sogar das ungeborene Kind
ist schon rechtsfähig, vorausgesetzt, es wird lebendig geboren. Stirbt der Vater
beispielsweise während der Schwangerschaft, erbt das Kind.
Juristische Personen sind rechtsfähig, sobald sie im Handelsregister eingetragen
Art. 52 und 53 ZGB
sind. Eine Ausnahme bilden Vereine mit einem gemeinnützigen Zweck. Sie
müssen nicht ins Handelsregister eingetragen werden.
Handlungsfähigkeit Von der Rechtsfähigkeit zu unterscheiden ist die Frage, wer durch seine eige-
Art. 12 ZGB nen Handlungen Rechte und Pflichten begründen kann. Rechtlich spricht man
dabei von der Handlungsfähigkeit. Damit gemeint ist die Fähigkeit, selbstständig
Rechtsgeschäfte abzuschliessen. Ein Kleinkind beispielsweise ist zwar rechtsfä-
hig, aber nicht handlungsfähig. Es kann also Rechte haben, z.B. Anspruch auf
die Unterhaltszahlungen des Vaters. Diesen Anspruch geltend machen oder ein-
klagen muss aber jemand anderes für das Kind, etwa dessen Mutter.
Art. 13–17 und Natürliche Personen sind handlungsfähig, wenn drei Voraussetzungen erfüllt
390, 398 ZGB sind: Volljährigkeit, Urteilsfähigkeit und keine umfassende Beistandschaft.
• Volljährig ist, wer das 18. Lebensjahr zurückgelegt hat.
• Urteilsfähig ist, wer die Tragweite seiner Handlungen erkennen kann, wer
also fähig ist, vernunftgemäss zu handeln. Die Urteilsfähigkeit kann bei
einer Person fehlen wegen ihres Kindesalters, infolge einer geistigen Behin-
derung, psychischen Störung, eines Rauschs oder ähnlichen Zustands. Die
Urteilsfähigkeit einer Person ist stets von Fall zu Fall zu prüfen: Ein alter
Mann beispielsweise, der an Alzheimer leidet, kann Alltagsgeschäfte wie
den Einkauf von Lebensmitteln möglicherweise noch gut beurteilen, die
Folgen eines Erbvertrages aber nicht mehr. Er ist daher einmal urteilsfähig,
ein andermal nicht.
• Wenn jemand dauernd urteilsunfähig ist, z.B. wegen einer geistigen Behin-
derung, und deshalb auf besondere Hilfe angewiesen ist, kann eine umfas-
sende Beistandschaft errichtet werden. Damit entfällt die Handlungsfähig-
keit von Gesetzes wegen. Für die verbeiständete Person kann nur noch ihr
Beistand han­deln.

Jugendliche unter
18 Jahren sind beschränkt
handlungs­unfähig.

206
Grundlagen der Rechtskunde 15
Folgende Varianten der Handlungsfähigkeit werden unterschieden:

Arten der Handlungsfähigkeit

Fähigkeit Definition Beispiel Artikel

Handlungs­ Handlungsfähig ist, wer volljährig und urteilsfähig ist. Ein 19-jähriger Lehrabgänger mietet sich Art. 13, 14
fähigkeit Er kann sich ohne Weiteres verpflichten. seine erste Wohnung. Der Mietvertrag ist und 16 ZGB
gültig, auch wenn seine Eltern damit über-
haupt nicht einverstanden sind.

Handlungs­ Handlungsunfähig sind urteilsunfähige Personen, Art. 17 ZGB


unfähigkeit Minderjährige sowie Personen unter umfassender
Beistandschaft. Zwei Fälle werden unterschieden:

Volle Handlungsunfähigkeit: Urteilsunfähige Ein fünfjähriges Kind kann die Risiken Art. 18 ZGB
können sich nicht selbst verpflichten. Schliessen sie eines medizinischen Eingriffs nicht beur-
dennoch Geschäfte ab, haben ihre Handlungen recht- teilen. Über eine Operation müssen des-
lich keine Wirkung, sie sind, juristisch ausgedrückt, halb die Eltern entscheiden.
nichtig. Für Kinder können ihre Eltern und für verbei-
ständete Personen ihr Beistand handeln.

Beschränkte Handlungs­unfähigkeit: Personen mit Zum Abschluss eines Lehrvertrages benö- Art. 19–19c
beschränkter Handlungsunfähigkeit sind urteilsfähig, tigt ein 15-Jähriger das Einverständnis und 323 ZGB
aber nicht handlungsfähig. Sie können sich nur mit seiner Eltern.
Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters (Eltern, Bei-
stand) verpflichten. Ausnahmsweise keine Zustimmung
nötig ist in folgenden Fällen:

• Unentgeltliche Vorteile Ein Kind nimmt ein Geschenk seiner Tante


an (vgl. auch Art. 241 OR).

• Geringfügige Angelegenheiten des täglichen Ein Kind kauft sich Süssigkeiten an einem
Lebens Kiosk.

• Eigener Arbeitserwerb und Taschengeld: Ein 16-Jähriger kauft sich mit seinem
Darüber kann ein Kind selbst verfügen. ­Lehrlingslohn ein neues Fahrrad.

Übersicht Rechts- und Handlungsfähigkeit

Natürliche
Personen

rechtsfähig

handlungsfähig handlungsunfähig

voll beschränkt
handlungsunfähig handlungsunfähig
urteilsunfähig urteilsfähig

207
15 Grundlagen der Rechtskunde

Deliktsfähigkeit Wer mit einer unerlaubten Handlung einen Schaden verursacht, haftet dafür,
Art. 19 Abs. 3 ZGB wenn ihn ein Verschulden trifft (vgl. Ka­pitel  16.2) – vorausgesetzt, er ist urteils­
fähig. Handlungsfähigkeit bzw. Volljährigkeit hingegen ist nicht erforderlich.
Ein 13-Jähriger beispielsweise, der rücksichtslos Velo fährt und deshalb eine
Fuss­gängerin verletzt, kann die möglichen Folgen seiner Unvorsichtigkeit beur-
teilen. Er haftet deshalb für die Folgen des Unfalls, z.B. für die Arztkosten.
Diesen Aspekt der Handlungsfähigkeit nennt man Deliktsfähigkeit.
Art. 54 ZGB Juristische Personen können nicht selber handeln (das können nur Menschen).
Sie benötigen deshalb Organe, also eine natürliche Person oder eine Personen-
gruppe, die für sie handelt. Für einen Verein beispielsweise handelt der Vor-
stand, für eine Aktiengesellschaft der Verwaltungsrat. Handlungsfähig sind die
juristischen Personen, sobald ihre Organe bestellt, d.h. ernannt sind.

Sachenrecht

Sie haben bereits gelernt, dass als Rechtsobjekte materielle und immaterielle
Güter infrage kommen. Das Sachenrecht im vierten Teil des ZGB befasst sich
mit den materiellen Gütern, den Sachen, die in unserem Alltag von grosser
Bedeutung sind. Zentral im Sachenrecht sind die Begriffe «Eigentum» und
«Besitz». In der Umgangssprache werden die beiden Wörter oft gleich verwen-
det. Rechtlich haben sie aber eine unterschiedliche Bedeutung.
Eigentum Das Eigentum ist das umfassende (Herrschafts-)Recht an einer Sache. In den
Worten des Gesetzes:
Art. 641 ZGB «Wer Eigentümer einer Sache ist, kann in den Schranken der Rechtsordnung über sie
nach seinem Belieben verfügen. Er hat das Recht, sie von jedem, der sie ihm vorenthält,
herauszuverlangen und jede ungerechtfertigte Einwirkung abzuwehren.»

Sind Sie beispielsweise Eigentümerin bzw. Eigentümer dieses Buches, dürfen


Sie es verkaufen, verschenken, Markierungen darin anbringen oder – wenn Sie
wollen – in den Abfall werfen. Alle anderen dürfen das nicht. Sie müssen Ihr
Eigentum respektieren. Von jedem, der Ihnen das Buch wegnimmt, können Sie
es zurückverlangen.
Besitz Besitzer einer Sache ist, wer die tatsächliche Herrschaft über sie hat. Häufig ist
Art. 919 Abs. 1 ZGB der Eigentümer einer Sache auch deren Besitzer. Wenn Sie dieses Buch in der
Buchhandlung gekauft und gleich mitgenommen haben, sind Sie Eigentümer
und zugleich Besitzer davon geworden. Besitz und Eigentum können aber auch
auseinanderfallen. Leihen Sie Ihr Buch einer Kollegin aus, wird sie Besitzerin,
das Eigentum bleibt bei Ihnen. Ihre Kollegin darf das Buch zwar lesen, aber
nicht in den Abfall werfen.
Fahrnis- und Das Sachenrecht unterscheidet zwei Arten von Eigentum: Das Eigentum an
Grundeigentum beweglichen Sachen, z.B. an diesem Buch, wird als Fahrniseigentum bezeich-
Art. 655 und 713 ZGB net. Das Eigentum an unbeweglichen Sachen, also an Grundstücken (unbebau-
tem Land oder Liegenschaften), heisst Grundeigentum.
Absolute und Das Eigentum wirkt gegenüber jedermann. Es ist deshalb ein sogenanntes
relative Rechte absolutes Recht. Zu diesen absoluten Rechten gehören auch die Persönlichkeits-
rechte (z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder die Ehre) und die
Immate­rialgüterrechte. Diese müssen ebenfalls von allen respektiert werden.
Jeder muss beispielsweise das Urheberrecht an diesem Buch beachten. Relative
Rechte hingegen wirken nur gegenüber einer oder mehreren bestimmten Perso-
nen. Wenn Sie etwa dieses Buch in einer Buchhandlung bestellen, kann die

208
Grundlagen der Rechtskunde 15

Die Urheberrechte an einem Buch zählen zu den absoluten Rechten.

Händlerin die Bezahlung des Buches nur von Ihnen verlangen, nicht aber von
Ihrer Schule. Die Rechte aus dem Kaufvertrag gelten nur zwischen den Ver-
tragspartnern.

Übersicht Absolute und relative Rechte

Rechte

Relative Rechte
Absolute Rechte
wirken gegen bestimmte Personen,
wirken gegen alle, z.B. Eigentumsrechte
z.B. Vertragsforderungen

15.3 Verfahrensrecht
Verfahrensarten

Was können Sie tun, wenn Ihnen Ihr Arbeitgeber die Überstunden nicht bezah-
len will? Was, wenn Sie Opfer einer Straftat werden? Wie können Sie vorgehen,
wenn Sie mit Ihrer Steuerrechnung nicht einverstanden sind? Die Antworten
auf diese Fragen sind im Verfahrensrecht geregelt.
Je nach Gegenstand des Verfahrens läuft dieses auf drei unterschiedliche Arten Zivil-, Straf­- und
ab: Das Zivilverfahren kommt bei privatrechtlichen Streitigkeiten zur Anwen- ­Verwaltungsverfahren
dung, z.B. bei Vertragsstreitigkeiten betreffend Kauf-, Miet-, oder Arbeitsver-

209
15 Grundlagen der Rechtskunde

trag, bei Scheidungen oder Erbstreitigkeiten. Das Strafverfahren kommt bei


Straftaten zur Anwendung, beispielsweise bei einem Tötungsdelikt, bei Körper-
verletzung, Diebstahl oder Betrug. Das Verwaltungsverfahren kommt bei Ausei-
nandersetzungen des öffentlichen Rechts zum Einsatz, die nicht zum Strafrecht
gehören, etwa bei Steuerveranlagungen, bei Baubewilligungsverfahren oder bei
Verfahren über die Leistungen der Sozialversicherungen.

Übersicht Verfahrensarten

Verfahrensarten

Zivilverfahren Strafverfahren Verwaltungsverfahren

Die typischen Schritte der drei Verfahrensarten werden in der Folge vorgestellt.

Ablauf eines Zivilverfahrens

Verfahrensschritt Instanz Ablauf

Schlichtungs­ Friedensrichter/in, Bevor Privatpersonen eine Streitigkeit vor Gericht austragen können, müssen sie
verfahren Schlichtungs­­ in den meisten Fällen ein Schlichtungsverfahren durchführen. Der Kläger braucht
behörde dazu nur ein einfaches Gesuch zu stellen, dann muss der Beklagte vor der Schlich-
tungsbehörde zu einer Verhandlung erscheinen. Die Schlichtungsbehörde versucht
dabei, die Parteien zu versöhnen und eine gütliche Einigung zu finden. Oft gelingt
das, sodass ein Zivilprozess vermieden werden kann.
Auf Antrag des Klägers kann die Schlichtungsbehörde bei tiefen Streitwerten bis
2000 Franken auch gleich selbst einen Entscheid fällen. Bei einem Streitwert bis
zu 5000 Franken kann sie den Parteien einen sogenannten Urteilsvorschlag unter-
breiten. Wenn die Parteien diesen Urteilsvorschlag nicht ablehnen, gilt er wie ein
Urteil. Können sich die Parteien nicht einigen oder lehnen den Urteils­vorschlag ab,
kann der Kläger seine Klage beim Gericht einreichen.

Hauptverfahren Amts-, Bezirks- oder Der Kläger begründet die Klage schriftlich oder mündlich, und der Beklagte erhält
Regionalgericht Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen (Klageantwort). Anschliessend führt das
Gericht über die strittigen Punkte ein Beweisverfahren durch: Es hört Zeugen an
und zieht die nötigen Unterlagen bei. Danach können die Parteien ihren Stand-
punkt nochmals in den Schlussvorträgen, den sogenannten Plä­doyers, darlegen.
Schliesslich fällt das Gericht einen Entscheid: Es heisst die Klage gut oder weist
sie ab. Die unterlegene Partei muss die Gerichtskosten und die Anwaltskosten der
Gegenpartei übernehmen.

Evtl. Berufung Kantons- oder Ist eine Partei mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden, kann sie
Obergericht das Verfahren mit einer Berufung weiterziehen (Ausnahme: bei geringen Streit­
werten). Das Kantons- oder Obergericht entscheidet dann erneut.

Evtl. Beschwerde Bundesgericht Gegen das zweitinstanzliche Urteil können die Parteien Beschwerde beim Bun-
desgericht führen. Voraussetzung ist, dass der Streitwert eine bestimmte Höhe
überschreitet oder sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Das
Bundesgericht entscheidet endgültig.

Vollstreckung Betreibungsamt/ Erfüllt die unterlegene Partei das Urteil nicht freiwillig, kann das Urteil schliesslich
Gericht mit staatlicher Hilfe vollstreckt werden, z.B. in einem Betreibungsverfahren.

210
Grundlagen der Rechtskunde 15
Ablauf eines Strafverfahrens

Verfahrensschritt Instanz Ablauf


Straftat bzw. Polizei/ Wird jemand Opfer einer Straftat, kann er diese bei der Polizei oder der Staats-
vermeintliche Staatsanwaltschaft anwaltschaft anzeigen. Gravierende Straftaten, die sogenannten Offi­zialdelikte,
Straftat werden von Amtes wegen verfolgt, weniger gravierende Delikte, die sogenannten
Antragsdelikte, nur auf Antrag des Opfers (z.B. der Diebstahl einer Sache mit einem
Wert unter 300 Franken).

Polizeiliches Ermitt- Polizei Die Polizei stellt den Sachverhalt fest: Sie sichert Spuren und Beweise und be­­fragt die
lungsverfahren beteiligten Personen. Nötigenfalls nimmt sie tatverdächtige Per­sonen fest.
Untersuchung Staatsanwaltschaft Ergibt sich ein hinreichender Tatverdacht, eröffnet die Staatsanwaltschaft eine
durch die Staats­ Untersuchung und klärt den Sachverhalt vollständig ab. Ihre Untersuchung kann die
anwaltschaft Staatsanwaltschaft auf drei Arten abschliessen:
• Kommt sie zum Ergebnis, dass keine Straftat vorliegt, stellt sie das Verfahren ein.
• Ergeben sich hinreichende Verdachtsgründe, erhebt die Staatsanwaltschaft beim
Gericht Anklage.
• Kommt lediglich eine geringe Strafe infrage, kann die Staatsanwaltschaft selbst
einen Strafbefehl erlassen. Erhebt der Beschuldigte dagegen keine
Einsprache, wird der Strafbefehl zu einem rechtskräftigen Urteil.

Hauptverfahren Amts-, Bezirks- oder Nach der Anklageerhebung oder nach einer Einsprache gegen einen Strafbefehl
Regional­gericht führt das erstinstanzliche Gericht ein Hauptverfahren durch: Es nimmt nötigenfalls
weitere Beweise auf und fällt schliesslich ein Urteil:
• Es spricht den Täter schuldig und verurteilt ihn zu einer Sanktion
(Busse, bedingte oder unbedingte Geld- oder Freiheitsstrafe)
• oder es spricht den Beschuldigten frei.
Das Gericht urteilt dabei nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» (lateinisch für
«im Zweifel für den Angeklagten»).
Evtl. Berufung Kantons- oder Das erstinstanzliche Urteil kann mit einer Berufung in vielen Fällen an das
Obergericht Kantons- bzw. Obergericht weitergezogen werden.
Evtl. Beschwerde Bundesgericht Das zweitinstanzliche Urteil kann nochmals mit Beschwerde ans Bundesgericht
­weitergezogen werden.
Strafvollzug Kantonale Straf­ Schliesslich wird das Urteil vollstreckt.
vollzugsbehörde

Verwaltungsverfahren

Verwaltungsverfahren laufen auf ganz verschiedene Arten ab, denn je nach


betroffenem Rechtsgebiet sind unterschiedliche Behörden zuständig. Für das
Steuerverfahren z.B. ist die Steuerverwaltung zuständig, für ein Baubewilli-
gungsgesuch die Baubehörden. Es gibt allerdings auch hier einige typische
Schritte:
• Verfügung: Die zuständige Behörde erlässt eine konkrete Anordnung, eine
sogenannte Verfügung. Beispiele: Die Steuerverwaltung verfügt, wie viel
Steuern Sie bezahlen müssen. Die Bauverwaltung lehnt Ihr Baugesuch ab.
• Einsprache: Gegen viele Verfügungen können die Betroffenen Einsprache
erheben. Diese muss einen Antrag und eine Begründung enthalten. Die
Behörde prüft dann die Einsprache und entscheidet erneut. Beispiel: Sie
verlangen, dass Sie in der Steuerveranlagung höhere Abzüge für Ihren
Arbeitsweg geltend machen können. Die Steuerverwaltung lässt den Abzug
im Einspracheentscheid zu.
• Beschwerde: Gegen den Einspracheentscheid kann Beschwerde geführt wer-
den. Je nach Rechtsgebiet befasst sich dann nochmals eine Behörde aus der
Verwaltung oder ein Verwaltungsgericht mit dem Fall. Beispiel: Der Bauherr
verlangt, dass das Verwaltungsgericht sein Baugesuch gutheisst.
• Je nach Rechtsgebiet kann die Angelegenheit noch mit Beschwerde ans Bun-
desgericht weitergezogen werden. Das Bundesgericht entscheidet endgültig.

211
15 Grundlagen der Rechtskunde

Repetitionsfragen
1. Wodurch unterscheiden sich Sitte, Moral und Recht?

2. Welche Rechtsquellen gibt es?

3. Wodurch unterscheiden sich dispositive von zwingenden Rechtsvorschriften?

4. Welche Schritte sind sinnvoll, um ein Rechtsproblem zu lösen?

5. Was unterscheidet das öffentliche Recht und das Privatrecht?

6. Nennen Sie je vier wichtige Gebiete des öffentlichen und des privaten Rechts.

7. Nennen Sie zwei allgemeine Rechtsgrundsätze und erklären Sie deren Inhalt.

8. Welche zwei Arten von Rechtssubjekten werden unterschieden?

9. Was bedeutet Rechtsfähigkeit, und wer ist rechtsfähig?

10. Was bedeutet Handlungsfähigkeit, und wer ist handlungsfähig?

11. Was ist der Unterschied zwischen Eigentum und Besitz?

12. Was unterscheidet absolute und relative Rechte?

13. Welches sind die wesentlichen Schritte


a) eines Zivilverfahrens?
b) eines Strafverfahrens?
c) eines Verwaltungsverfahrens?

212
Obligation

Die Themen in diesem Kapitel

16.1 Obligation und ihre Entstehungsgründe 214

16.2 Obligation aus unerlaubter Handlung 216

16.3 Obligation aus ungerechtfertigter Bereicherung 221

16
16 Obligation

Einleitung
Obwohl es uns nicht bewusst ist, beeinflussen Obligationen unseren Alltag. Wie? Obligati-
onen bezeichnen in der Rechtssprache Verpflichtungen, und alle von uns haben Verpflich-
tungen, sei es als Lernende, als Arbeitnehmende, als Mieterinnen und Mieter oder als Kon-
sumentinnen und Konsumenten. Es wird von uns ein bestimmtes Verhalten erwartet, und
wir sind zu gewissen Leistungen verpflichtet.

Die meisten Verpflichtungen gehen wir freiwillig ein – doch es gibt auch Obligationen, die
ungewollt entstehen, beispielsweise wenn wir im Strassenverkehr nicht aufpassen und
einen Unfall verursachen.

In diesem Kapitel lernen Sie, was genau eine Obligation ist und wie Obligationen ent­
stehen.

16.1 Obligation und ihre Entstehungsgründe


Obligation

Obligation als Das Wort «Obligation» stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Verpflich-
Rechtsverhältnis tung. Im rechtlichen Sinne ist eine Obligation ein Rechtsverhältnis zwischen
zwei oder mehreren Personen, aus dem die eine Partei ein Recht auf eine Leis-
tung hat und die andere Partei zu dieser Leistung verpflichtet ist.

Übersicht Obligation

Schuld: Forderung:
Pflicht zur Leistung Recht auf Leistung

Gläubiger Schuldner

Gläubiger und Die Partei, die ein Recht auf die Leistung hat, wird Gläubiger genannt. Der
Schuldner Gläubiger kann die Leistung verlangen: Er hat eine Forderung. Die Partei, die
auf der Gegenseite zur Leistung verpflichtet ist, wird als Schuldner bezeichnet.
Er schuldet die Leistung, oder anders ausgedrückt: Er hat eine Schuld.
Beispiel: Sie bestellen bei einer Versandhändlerin ein iPad. Es entsteht eine Kauf-
preisobligation. Somit schulden Sie der Verkäuferin den vereinbarten Kaufpreis.
Sie sind also Schuldner bzw. Schuldnerin des Kaufpreises. Die Verkäuferin ihrer-
seits hat eine Forderung auf den Kaufpreis und ist Gläubigerin des Kaufpreises.
Schuldverhältnis Von der Obligation zu unterscheiden ist das Schuldverhältnis. Dieses umfasst
die Gesamtheit der Rechtsbeziehungen zwischen einem Gläubiger und einem
Schuldner und kann mehrere Obligationen, also Verpflichtungen, beinhalten.
Mit dem Kaufvertrag verpflichtet sich der Käufer einerseits zur Bezahlung
des Kaufpreises. Andererseits verpflichtet sich der Verkäufer, die Sache an

214
Obligation 16
den Käufer zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen. Aus
dem Kaufvertrag ergeben sich daher zwei Obligationen: Die erste richtet sich
auf den Kaufpreis (Kaufpreisobligation), die zweite auf die verkaufte Sache
(Warenobligation).

Übersicht Schuldverhältnis (Beispiel Kaufvertrag)

Schuld (Ware)

Kaufgegenstand

Forderung (Ware)

Schuld (Geld)
Verkäuferin Käufer
Kaufpreis

Forderung (Geld)

Beispiel: Mit Ihrer Bestellung des iPad ist eine zweite Obligation bzw. Verpflich-
tung entstanden: Die Verkäuferin schuldet Ihnen das iPad, und Sie können das
Gerät von der Verkäuferin fordern.

Entstehung der Obligation

Aus welchen Gründen können Obligationen zwischen zwei Personen entste-


hen? Das Gesetz unterscheidet folgende Entstehungsgründe:

Übersicht Entstehungsgründe der Obligation

Entstehung
der Obligation

mit dem Willen


von Gesetzes wegen
der Parteien

durch Vertrag
(Art. 1–40 OR)
durch unerlaubte durch ungerechtfertigte
Handlung (Art. 41–61 OR) Bereicherung (Art. 62–67 OR)

215
16 Obligation

Mit dem Willen Die meisten Obligationen entstehen mit dem Willen der Beteiligten. Diese ver-
der Parteien pflichten sich freiwillig zu einer oder mehreren Leistungen: Sie schliessen einen
Vertrag ab und werden durch diesen gebunden. Auf den Abschluss und die
Wirkungen von Verträgen wird später eingegangen (vgl. Kapitel 17).
Beispiel: Mit der Bestellung des iPad ist ein Kaufvertrag zustande gekommen,
und es sind mehrere Obligationen entstanden.
Von Gesetzes wegen Auch ohne den Willen der Betroffenen können Obligationen entstehen. Fügt
etwa jemand einem Dritten widerrechtlich einen Schaden zu, kann er gegen
seinen Willen schadenersatzpflichtig werden. Die Obligation entsteht in sol-
chen Fällen von Gesetzes wegen durch eine sogenannte unerlaubte Handlung.
Beispiel: Ein Autofahrer verursacht einen Unfall. Nun kann er nicht frei wäh-
len, ob er für den Schaden aufkommen möchte oder nicht. Er haftet von Geset-
zes wegen für den Schaden, der an einem anderen Fahrzeug entstanden ist.
Ebenfalls unabhängig vom Willen der Beteiligten entstehen Obligationen aus
ungerechtfertigter Bereicherung.
Beispiel: Sie bezahlen versehentlich eine Rechnung zweimal. Der Empfänger
wird damit ohne Grund ungerechtfertigt bereichert. Sie können also den zu viel
bezahlten Betrag zurückverlangen.
Die Obligation aus unerlaubter Handlung und die Obligation aus ungerechtfer-
tigter Bereicherung werden in der Folge näher erläutert.

16.2 Obligation aus unerlaubter Handlung


Erleidet jemand einen Schaden, stellt sich die Frage, ob er diesen selbst tragen
oder ob ein Dritter für den Schaden einstehen muss. Ausserhalb von Vertrags-
beziehungen haftet ein Dritter in der Regel nur dann für einen Schaden, wenn
ihn ein Verschulden trifft (Verschuldenshaftung). Doch in besonderen Fällen
haftet ein Dritter auch ohne Verschulden (Kausalhaftung).

Verschuldenshaftung

Art. 41 Abs. 1 OR Die wichtigste Bestimmung zur Verschuldenshaftung ist Art. 41 Abs. 1 OR:
«Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrläs-
sigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet.»

Ein Geschädigter kann Schadenersatz fordern, wenn folgende vier Fragen mit
Ja beantwortet werden können:
• Schaden: Ist ein Schaden eingetreten?
• Widerrechtlichkeit: War die Handlung widerrechtlich?
• (Adäquater) Kausalzusammenhang: War die widerrechtliche Handlung kau-
sal (ursächlich) für den Schaden?
• Verschulden: Hat der Schädiger absichtlich oder fahrlässig gehandelt?

216
Obligation 16

Übersicht Verschuldenshaftung

Tatbestandsmerkmale

Wer einem andern


1. Schaden
widerrechtlich …

Schaden … 2. Widerrechtlichkeit

3. (Adäquater)
zufügt, …
Kausalzusammenhang

sei es mit Absicht,


4. Verschulden
sei es aus Fahrlässigkeit, …

Rechtsfolge

… wird ihm zum Ersatze verpflichtet. Schadenersatzpflicht

Beispiel: Ein Sprayer «verschönert» eine Hauswand mit seinen Graffiti. Kann
der Hauseigentümer Schadenersatz vom Sprayer fordern?
Damit Sie die Frage juristisch korrekt beantworten können, werden im Folgen-
den die vier Tatbestandsmerkmale der Verschuldenshaftung genauer vorgestellt:
Schaden ist im rechtlichen Sinne eine unfreiwillige Vermögensverminderung. Schaden
Unterschieden werden:
• Personenschaden: Schaden, der durch Körperverletzung oder Tötung ent-
steht. Folgen: Heilungskosten, Verdienstausfall.
• Sachschaden: Schaden aus der Beschädigung oder Zerstörung einer Sache.
Folgen: Reparatur- oder Wiederbeschaffungskosten, Minderwert.
Die Sprayer verursachen
die Kosten für den Neu­
anstrich und haften deshalb
dafür.

217
16 Obligation

Nicht die Graffiti selbst stellen einen Schaden dar. Rechtlich betrachtet, besteht
der Schaden aus den Kosten, welche dem Eigentümer für den Neuanstrich der
Hauswand entstehen.
Widerrechtlichkeit Widerrechtlich ist eine Handlung, wenn damit ein absolutes Recht wie das
Eigentumsrecht oder die Persönlichkeitsrechte (Gesundheit, Ehre, Privatsphäre)
verletzt wird und dafür kein Rechtfertigungsgrund gegeben ist (vgl. Kapitel 15.2).
In unserem Fallbeispiel verletzte der Sprayer das Eigentumsrecht des Hausei-
gentümers; er hat deshalb widerrechtlich gehandelt.
Adäquater Ein Geschädigter hat nur dann Anspruch auf Schadenersatz, wenn die wider-
Kausalzusammenhang rechtliche Handlung Ursache (lateinisch «causa») des Schadens war. Aber nicht
jede Ursache eines Schadens ist auch rechtlich erheblich. Für völlig ungewöhn-
liche Folgen haftet der Verursacher nicht. Die Haftung soll auf ein vernünftiges
Mass begrenzt werden. Für Schäden, welche nach dem gewöhnlichen Lauf der
Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung nicht zu erwarten sind, haftet ein
Schädiger deshalb nicht. In einem solchen Fall fehlt der sogenannte adäquate
(lateinisch für angemessene) Kausalzusammenhang.
Der Sprayer in unserem Beispiel hat die Kosten für den Neuanstrich der Wand
verursacht und haftet deshalb dafür. Würde jedoch der Hauseigentümer beim
Anblick der Graffiti vor Schreck einen Herzinfarkt erleiden, müsste der Sprayer
nicht für die Heilungskosten haften. Grund: Die Graffiti wären zwar eine der
Ur­sachen für den Herzinfarkt. Ein Herzinfarkt war aber nach dem gewöhnli-
chen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung nicht zu erwarten.
Rechtlich gesprochen: Die Handlung des Sprayers kann nicht als «adäquat kau-
sal» (angemessen ursächlich) für den Herzinfarkt betrachtet werden.

Wer am Steuer SMS schreibt, handelt grobfahrlässig. Im Bild: Verkehrsschild in den USA.

218
Obligation 16
Der Schädiger haftet nur, wenn ihn ein Verschulden trifft, d. h., wenn man ihm Verschulden
sein Verhalten vorwerfen kann. Dabei wird zwischen Absicht und Fahrlässig-
keit unterschieden. Absichtlich handelt, wer einen Schaden will.
In unserem Beispiel hat der Sprayer absichtlich gehandelt.
Alle vier Fragen können also bejaht werden: 1. Ein Schaden ist eingetreten.
2. Der Sprayer hat widerrechtlich gehandelt. 3. Die widerrechtliche Handlung
ist kausal (ursächlich) für den Schaden. 4. In unserem Beispiel hat der Sprayer
absichtlich gehandelt. Der Tatbestand von Art. 41 Abs. 1 OR ist damit erfüllt.
Rechtsfolge: Der Sprayer muss dem Hauseigentümer für die Malerarbeiten
Schadenersatz leisten.
Fahrlässig hingegen handelt, wer – bewusst oder unbewusst – die erforderliche Fahrlässigkeit
Sorgfalt nicht beachtet. Massstab bei der Beurteilung ist ein durchschnittlich
sorgfältiger Mensch.
Grobfahrlässig handelt, wer elementarste Vorsichtsgebote missachtet. Ein Auto- Grobe Fahrlässigkeit
fahrer beispielsweise, der am Steuer eine SMS schreibt oder betrunken oder mit
massiv überhöhter Geschwindigkeit fährt, handelt grobfahrlässig.
Nur leichte Fahrlässigkeit liegt vor, wenn jemand geringfügig von der gebote- Leichte Fahrlässigkeit
nen Sorgfalt abweicht. Einem Autofahrer zum Beispiel, der langsam auf einer
schneebedeckten Strasse fährt, überraschend bremsen muss und dabei ins
Schleudern gerät, wird lediglich leichte Fahrlässigkeit vorgeworfen.
Kein Verschulden trifft Personen, die urteilsunfähig sind (vgl. Kapitel 15.2).

Übersicht Formen des Verschuldens

Verschulden

Absicht Fahrlässigkeit

Grobe Fahrlässigkeit Leichte Fahrlässigkeit

Kausalhaftung

Es gibt Fälle, bei denen jemand haftbar gemacht werden kann, obwohl er direkt Haftung ohne
nichts verschuldet hat. Das Gesetz knüpft in diesen Fällen die Haftung nicht an Verschulden
das eigene Verschulden, sondern beispielsweise an den Mangel einer Sache oder
an ein fremdes Verschulden. Man kann also haftbar gemacht werden, weil man
für eine Sache oder eine fremde Person verantwortlich ist. Wie bei der Verschul-
denshaftung müssen jedoch auch hier folgende drei Voraussetzungen erfüllt
sein: Schaden, Widerrechtlichkeit und adäquater Kausalzusammenhang. Diese
Art von Haftung wird Kausalhaftung genannt («causa»: lateinisch für Ursache/
Grund).

219
16 Obligation

Übersicht Kausalhaftungen

Haftung Artikel Beispiel

Haftung des Der Geschäftsherr haftet für den Art. 55 Ein Gärtner wird beauftragt, einen Baum in einem
Geschäftsherrn Schaden, den seine Hilfs­person OR Garten zu fällen. Übernimmt der Gärtner dies nicht
bei geschäftlichen Ver­richtungen selber, sondern lässt seinen noch unerfahrenen Lernenden
verursacht. den Baum fällen, haftet trotzdem der Gärtner,
falls der Baum das Auto des Nachbarn beschädigt.

Haftung Der Tierhalter haftet für den Art. 56 Eine Hundehalterin lässt ihren bissigen Hund frei herum­
des Tierhalters von seinem Tier angerichteten OR laufen. Der Hund beisst ein Kind, und dieses muss behan-
Schaden. delt werden. Die Hundehalterin muss die Arzt­kosten über-
nehmen.

Haftung des Der Eigentümer eines Gebäudes Art. 58 Der Eigentümer eines Einfamilienhauses räumt den Schnee
Werkeigentümers oder anderen Werkes haftet für OR und das Eis auf dem Fussweg von der Strasse zu seinem
den Schaden, der durch fehlerhaf- Haus nicht. Ein Besucher stürzt und bricht sich das Hand­
te Anlage oder Herstellung oder gelenk. Der Eigentümer haftet für die Heilungskosten.
durch mangelhaften Unterhalt
entsteht.

Haftung des Das Familienhaupt (Mutter/Vater) Art. 333 Eine Mutter lässt ein Feuerzeug im Wohnzimmer liegen.
Familienhauptes haftet für den Schaden, den ein ZGB Ihr fünfjähriger Sohn nimmt das Feuerzeug und zündet
aufsichtsbedürftiger Hausgenosse damit auf dem Spielplatz die Baumhütte an. Die Mutter
verursacht. Aufsichtsbedürftig sind haftet für den Schaden.
Unmündige (Kinder), Entmündigte,
Geistesschwache und Geisteskranke.

Haftung des Der Halter eines Motorfahrzeuges Art. 58 Eine Autofahrerin fährt vorsichtig auf einer Quartier­strasse.
Motorfahrzeug­ haftet für den Schaden, der durch SVG Plötzlich rennt ein Kind zwischen zwei parkierten Fahr­
halters den Betrieb seines Fahrzeuges (Strassen­ zeugen hervor, wird vom Auto angefahren und verletzt.
entsteht. ver­kehrs­ Die Halterin des Fahrzeuges haftet für die Heilungskosten,
gesetz) obwohl sie kein Verschulden trifft, da sie nicht fahrlässig
gehandelt hat.

Der Tierhalter haftet für den von seinem Tier angerichteten Schaden.

220
Obligation 16

16.3 Obligation aus ungerechtfertigter Bereicherung


Als dritten Entstehungsgrund für die Obligation nennt das OR die ungerechtfer-
Art. 62 Abs. 1 OR
tigte Bereicherung:
«Wer in ungerechtfertigter Weise aus dem Vermögen eines andern bereichert worden ist,
hat die Bereicherung zurückzuerstatten.»

Übersicht Ungerechtfertigte Bereicherung

Tatbestandsmerkmale

Wer in ungerechtfertigter Weise … 1. Bereicherung

aus dem Vermögen eines andern … 2. Entreicherung

bereichert worden ist, … 3. Ohne Rechtsgrund

Rechtsfolge

… hat die Bereicherung


Rückerstattungspflicht
zurückzuerstatten.

Bereichert wird jemand, wenn er einen Vermögensvorteil, beispielsweise eine


Geldzahlung, erhält. Vorausgesetzt wird also eine Vermögensverschiebung:
Eine Person wird bereichert, eine andere entreichert.
Ungerechtfertigt ist eine Vermögensverschiebung, wenn sie ohne Rechtsgrund erfolgt. Art. 62 Abs. 2 OR
Das Gesetz nennt drei Fälle. Eine Bereicherung ist ungerechtfertigt, wenn sie erfolgt:
a) ohne gültigen Grund
Beispiel: Sie bezahlen versehentlich eine Rechnung, die gar nicht für sie
bestimmt war. Die Zahlung erfolgte ohne Rechtsgrund. Der Empfänger ist
ungerechtfertigt bereichert, und Sie sind um den Betrag entreichert. Sie kön-
nen deshalb die Rückerstattung der Zahlung verlangen.
b) aus einem nicht verwirklichten Grund
Beispiel: Ein Bauer möchte ein Grundstück kaufen und leistet dafür dem
Eigentümer des Grundstücks eine Anzahlung. Will der Eigentümer dann doch
nicht verkaufen, kommt der Kaufvertrag also nicht zustande, kann der Bauer
die Anzahlung zurückfordern. Der Eigentümer ist ungerechtfertigt bereichert
worden. Der Grund für die Zahlung konnte nicht verwirklicht werden.
c) aus einem nachträglich weggefallenen Grund
Beispiel: Eine Familie lebt in einem gemieteten Bauernhaus. Den Mietzins
zahlt sie monatlich im Voraus. Wenn das Haus nach einem Blitzeinschlag
niederbrennt und nicht mehr bewohnbar ist, kann die Familie den Mietzins
für die Zeit nach dem Brand zurückverlangen. Der Grund für die Zahlung,
das Mietverhältnis, ist nachträglich weggefallen. Der Vermieter ist daher unge-
rechtfertigt bereichert.

221
16 Obligation

Repetitionsfragen
1. Was ist eine Obligation?

2. Was ist eine Forderung? Was eine Schuld?

3. Wie nennt man die Partei, die eine Leistung schuldet? Wie die Partei, die ein Recht auf
eine Leistung hat?

4. Was ist ein Schuldverhältnis?

5. Aus welchen Gründen können Obligationen entstehen?

6. Welche vier Tatbestandsmerkmale müssen erfüllt sein, damit eine Person aus uner-
laubter Handlung haftet (Verschuldenshaftung)? Nennen Sie ein Beispiel für die Haf-
tung aus unerlaubter Handlung und erklären Sie, inwiefern die Voraussetzungen in
Ihrem Beispiel erfüllt sind.

7. Was versteht man aus juristischer Sicht unter einem Schaden? Welche Schadensarten
werden unterschieden?

8. Welche Handlungen sind widerrechtlich?

9. Wann ist eine Handlung adäquat kausal für die Entstehung eines Schadens? Wann
fehlt ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Schaden?

10. Was bedeutet Verschulden? Welche Arten von Verschulden werden unterschieden?

11. In welchen Fällen haftet jemand ohne eigenes Verschulden für eine unerlaubte Hand-
lung? Wie nennt man diese Art von Haftung?

12. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit jemand einen Betrag aus unge-
rechtfertigter Bereicherung zurückerstatten muss?

222
Allgemeine
­Vertragslehre
Die Themen in diesem Kapitel

17.1 Vertragsabschluss 224

17.2 Vertragserfüllung 231

17.3 Vertragsverletzungen 233

17.4 Verjährung 237

17
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Einleitung
Wir fahren mit dem Bus zur Schule, nehmen unterwegs eine Gratiszeitung aus einer Box und
holen uns, in der Schule angekommen, erst mal einen Kaffee aus dem Automaten. Bevor die
erste Schulstunde beginnt, haben wir bereits drei unterschiedliche Verträge abgeschlossen.

Für die Fahrt mit dem Bus sind wir einen Transportvertrag eingegangen, unterwegs haben
wir die Schenkung einer Gratiszeitung angenommen und im Schulhaus einen Kaufvertrag
über einen Kaffee abgeschlossen.

Was ist ein Vertrag überhaupt? Wie werden Verträge abgeschlossen? Wie werden sie erfüllt,
und was kann man unternehmen, falls ein Vertrag nicht richtig erfüllt wird? Diese und wei-
tere Fragen werden in diesem Kapitel beantwortet.

17.1 Vertragsabschluss
Vertrag Verträge sind der häufigste Entstehungsgrund von Obligationen (vgl. Kapi-
tel 16). Beim Begriff «Vertrag» denkt man in erster Linie an schriftliche und
unterzeich­nete Dokumente, z.B. an einen schriftlichen Arbeitsvertrag oder
einen Mietvertrag. Doch nicht nur solche Vertragsurkunden gelten als Verträge.
Ein Vertrag im rechtlichen Sinne ist ein wechselseitiges Versprechen zweier
oder mehrerer Personen über eine Leistung oder verschiedene Leistungen.
Beispiel: Kaufen Sie am Kiosk eine Zeitung, kommt ein Vertrag zustande: Die
Verkäuferin verspricht Ihnen die Übergabe der Zeitung, und Sie versprechen ihr
die Bezahlung des Preises. Beide Versprechen werden sofort erfüllt.
Voraussetzungen Damit ein gültiger Vertrag zustande kommt, müssen fünf Voraussetzungen
Vertragsabschluss erfüllt sein:
• Es braucht eine Einigung über den Vertragsinhalt,
• die Parteien müssen handlungsfähig sein,
• allfällige Formvorschriften müssen eingehalten werden,
• der Vertrag darf nicht unmöglich, widerrechtlich oder sittenwidrig sein und
• es darf keine Willensmängel beim Vertragsabschluss geben.
Im Folgenden werden diese fünf Voraussetzungen genauer vorgestellt.

Einigung

Übereinstimmende Damit ein Vertrag zustande kommt, müssen sich die Parteien über den Vertrags­
Willensäusserung inhalt einigen. In den Worten des Gesetzes:
Art. 1 Abs. 1 OR
«Zum Abschluss eines Vertrages ist die übereinstimmende gegenseitige Willens­äusserung
der Parteien erforderlich.»

Die erste Willensäusserung wird Antrag, Offerte oder Angebot genannt. Die
zweite Willensäusserung heisst Annahme.
Beispiel: Ihre Kollegin schreibt Ihnen per SMS: «Willst du mein altes Mobiltele-
fon für 100 Franken kaufen?» Sie schreiben zurück: «Ja, super!» Damit ist ein
Vertrag zustande gekommen, denn Ihre Kollegin hat Ihnen einen Antrag zum
Abschluss eines Vertrags geschickt, und Sie haben diesen angenommen.

224
Allgemeine ­Vertragslehre 17

Übersicht Einigung über den Vertragsinhalt

Antrag (Offerte/Angebot) Annahme

Antrag und Annahme müssen nicht in jedem Fall ausdrücklich erfolgen. Sie kön- Konkludentes
nen sich auch stillschweigend aus den Umständen ergeben. Kaufen Sie zum Bei- Verhalten
spiel am Kiosk eine Zeitung, geht dies auch ohne Wortwechsel: Sie nehmen die Art. 1 Abs. 2 OR
Zeitung und überreichen der Verkäuferin das Geld. Diese nimmt das Geld entgegen
und gibt Ihnen das Retourgeld. Antrag und Annahme erfolgen durch sogenanntes
konkludentes (lateinisch für schlüssiges) und übereinstimmendes Verhalten.
Damit ein Vertrag zustande kommt, reicht es, wenn sich die Parteien über die Wesentliche
wesentlichen Vertragspunkte einigen. Als «wesentlich» gelten der Vertrags- Vertragspunkte
gegenstand, der Preis und die Vertragsart (z.B. Kauf oder Miete). Nebenpunkte Art. 2 Abs. 1 OR
können offengelassen werden.
Obwohl Sie im obigen Beispiel mit Ihrer Kollegin nicht vereinbaren, wann und
wo das Mobiltelefon übergeben werden soll, kommt ein Vertrag zustande.

Verbindlichkeit eines Antrags

Anträge sind grundsätzlich verbindlich. Will der Antragsteller nicht gebunden Bindung des
werden, muss er darauf hinweisen (z.B. mit den Vorbehalten «unverbindlich» Antragstellers
oder «freibleibend»). Die Unverbindlichkeit eines Antrags kann sich aber auch Art. 7 OR
aus den Umständen ergeben. Unverbindlich sind laut Gesetz: Tarife, Preislisten,
Inserate, Prospekte, Kataloge und Ähnliches. Sie richten sich an viele Empfänger,
daher wäre der Antragsteller gar nicht in der Lage, Verträge mit allen Empfängern
zu erfüllen. Verbindlich ist hingegen die Auslage von Waren mit Preisangabe.
Beispiel: Sehen Sie in einem Geschäft einen Pullover mit einem Preisschild von
80 Franken, muss Ihnen das Kleidungsstück zu diesem Preis verkauft werden.
Der Antragsteller ist aber nicht unendlich lange an sein Angebot gebunden. Dauer der Bindung
Befristet er den Antrag, ist er nur bis zum Ablauf der Frist gebunden. Fehlt eine Art. 3–5 OR
Frist, unterscheidet das Gesetz, ob der Antrag unter Anwesenden oder Abwe-
senden gestellt wird. Unter Anwesenden – also im persönlichen Gespräch – ist
der Antragsteller nicht mehr gebunden, wenn der Antrag nicht sofort ange-
nommen wird. Dasselbe gilt, wenn die Parteien am Telefon verhandeln.
Unter Abwesenden – wenn der Antragsteller den Antrag beispielsweise per
Brief oder E-Mail versendet – ist er während einer angemessenen Frist gebun-
den. Diese Frist umfasst die Dauer der Übermittlung des Antrags, die übliche
Bedenkzeit und die Dauer der Übermittlung der Annahme. Bei Alltagsgeschäf-
ten hat der Empfänger einige wenige Tage Zeit, sich das Angebot zu überlegen.
Wer ein Angebot per Brief unterbreitet, ist also etwa eine Woche daran gebun-
den. Dies gilt aber lediglich als Faustregel. Je nach der Art des Geschäfts kann
die Überlegungsfrist kürzer oder länger sein.

225
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Widerruf von Antrag Antrag und Annahme können grundsätzlich nicht widerrufen werden. Das
und Annahme Gesetz sieht aber Ausnahmen vor. Der Widerruf ist gültig,
Art. 9 OR • wenn der Widerruf vor oder gleichzeitig mit dem Antrag oder der Annahme
eingeht oder
• wenn der Empfänger zuerst vom Widerruf und erst dann vom Antrag oder
der Annahme Kenntnis nimmt.
Beispiel: Sie haben bei einem Versandhaus eine Hose bestellt. Die ausgefüllte
Bestellkarte aus dem Katalog haben Sie mit der Post abgeschickt. Kurze Zeit
später bereuen Sie die Bestellung. Wenn Sie die Bestellung per E-Mail oder
Telefon widerrufen, sind Sie nicht daran gebunden, denn das Versandhaus
erhält den Widerruf noch vor Ihrer Bestellung.
Haustürgeschäfte Zudem gibt es ein Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften und ähnlichen Verträ-
Art. 40a ff. OR gen, um Konsumenten vor übereilten Vertragsabschlüssen zu schützen. Verträ-
ge über bewegliche Sachen und Dienstleistungen können also innert vierzehn
Tagen widerrufen werden,
• wenn das Angebot dazu am Arbeitsplatz, in Wohnräumen, auf öffentlichen
Plätzen, auf einer Werbefahrt oder am Telefon gemacht wurde,
• wenn die Sache oder Dienstleistung dem persönlichen oder familiären
Gebrauch dient,
• wenn der Anbieter im Rahmen einer beruflichen oder gewerblichen Tätig-
keit gehandelt hat und
• wenn die Leistung des Kunden 100 Franken übersteigt.
Beispiel: Sie werden von einer Freundin zu einer Verkaufsparty in deren Woh-
nung eingeladen. Im Verlaufe des Abends lassen Sie sich zum Kauf teurer Kos-
metikartikel überreden. Am Tag danach bereuen Sie den Vertragsabschluss. Sie
können nun den Kauf innerhalb von vierzehn Tagen widerrufen.
Achtung: Vom Widerrufsrecht ausgenommen sind Verträge, die auf einem
Markt oder einer Messe abgeschlossen wurden. Ebenfalls kein Widerrufsrecht
besteht, falls der Kunde die Vertragsverhandlungen ausdrücklich gewünscht
hat.

Handlungsfähigkeit

Verträge sind nur dann verbindlich, wenn die Parteien beim Vertragsabschluss
handlungsfähig waren. Die Frage der Handlungsfähigkeit ist allerdings nicht
im Obligationenrecht, sondern im Zivilgesetzbuch geregelt (vgl. Kapitel 15.2).
Handlungsunfähigkeit Urteilsunfähige Personen können sich selbst nicht verpflichten. Schliessen sie
Art. 18 ZGB dennoch einen Vertrag ab, ist dieser aus rechtlicher Sicht nichtig. Das bedeutet,
dass der Vertrag überhaupt keine Wirkungen entfaltet. Aus dem Vertrag kön-
nen also keine Leistungen verlangt werden; was bereits geleistet worden ist,
kann zurückverlangt werden.
Beschränkte Personen, die urteilsfähig, aber nicht handlungsfähig sind, können nur mit
Handlungsunfähigkeit Zu­­­­­stimmung ihrer gesetzlichen Vertreter (Eltern/Beistand) gültige Verträge ab­­
Art. 19 ZGB schliessen. Ohne diese Zustimmung ist dies nur in Ausnahmefällen möglich.
Verweigern die gesetzlichen Vertreter die Zustimmung und liegt keine Ausnah-
me vor, ist der Vertrag nichtig.

226
Allgemeine ­Vertragslehre 17
Vertragsform

Verträge können grundsätzlich in jeder beliebigen Form geschlossen werden: Grundsatz der
mündlich im persönlichen Gespräch oder per Telefon, mit schriftlichem Ver- ­Formfreiheit
trag, per Brief, E-Mail und sogar ohne Worte (stillschweigend, durch schlüssi- Art. 11 Abs. 1 OR
ges Verhalten). Nur ausnahmsweise schreibt das Gesetz eine besondere Form
vor. Weshalb? Einerseits sollen die Parteien damit vor übereilten Vertragsab-
schlüssen geschützt werden. Andererseits soll damit Rechtssicherheit geschaf-
fen werden, indem sich der Vertragsabschluss und der Vertragsinhalt beweisen
lassen.

Gesetzliche Formvorschriften
Form Beispiel Artikel
Einfache Schriftlich (handschriftlich oder Schenkungsversprechen Art. 243 Abs. 1 OR
Schriftlichkeit gedruckt) und mit eigenhändiger
Art. 12–14 OR Unterschrift. Der eigenhändigen Konkurrenzverbot im Arbeitsverhältnis Art. 340 Abs. 1 OR
Unterschrift gleichgestellt ist die
­qualifizierte elektronische Signatur.
Abtretung einer Forderung Art. 165 Abs. 1 OR

Qualifizierte Schriftlich mit weiteren Mindest­ Lehrvertrag (Mindestangaben: Art und Dauer der Art. 344a Abs. 1
Schriftlichkeit angaben. Berufsbildung, Lohn, Probezeit, Arbeitszeit und und 2 OR
Ferien)
Konsumkreditverträge (Mindestangaben u.a. Art. 9–12 Konsum­
Kredit­höhe und Zins) kreditgesetz, KKG

Von Anfang bis zum Ende hand- Eigenhändiges Testament Art. 505 ZGB
schriftlich geschrieben und unter-
zeichnet.
Öffentliche Unter Mitwirkung einer staatlich Grundstückkaufvertrag Art. 216 Abs. 1 OR
Beurkundung anerkannten Urkundsperson (Notar).
Ehevertrag Art. 184 ZGB
Erbvertrag Art. 512 ZGB

Grundstückkaufverträge bedürfen einer öffentlichen Beurkundung.


227
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Nichtigkeit bei Wird die vorgeschriebene Form nicht eingehalten, ist der Vertrag oder die
Formmangel betroffene Vertragsklausel nichtig und damit rechtlich unwirksam.
Art. 11 Abs. 2 OR
Beispiel: Ein Bauer verkauft seinem Nachbarn per Handschlag ein Stück Land.
Weil der Vertrag nicht öffentlich beurkundet wurde, ist er nichtig. Folgen: Der
Verkäufer kann die Bezahlung nicht verlangen, und der Käufer hat keinen
Anspruch auf das Grundstück.
Beweismittel Um Streitigkeiten zu vermeiden, ist es sinnvoll, bedeutende Verträge auch
dann schriftlich abzuschliessen, wenn dies gesetzlich nicht vorgeschrieben ist.
Bei Konflikten haben Sie so ein Beweismittel in der Hand (vgl. Kapitel 15.2).
Dies gilt z.B. bei Miet- und Arbeitsverträgen oder bei Kaufverträgen über teure
Gegenstände.

Vertragsinhalt

Grundsatz der Grundsätzlich sind die Parteien frei, den Vertragsinhalt beliebig zu bestimmen.
Vertragsfreiheit Es gilt das Prinzip der Vertragsfreiheit. Aufgrund der vertragstypischen Leistung
Art. 19 OR kann man u.a. folgende Vertragsarten unterscheiden: Veräusserungsverträge
(Kauf, Tausch und Schenkung, vgl. Kapitel 18), Verträge auf Gebrauchsüber-
lassung (Mietvertrag, Pacht, Leihe und Leasing, vgl. Kapitel 19) und Verträge
auf Arbeitsleistung (Arbeitsvertrag, Werkvertrag und Auftrag, vgl. Kapitel 20).

Übersicht Wichtigste Vertragsarten

Vertragsarten

Verträge auf
Veräusserungs­verträge Verträge auf Arbeitsleistung
Gebrauchs­überlassung
z.B. Kaufvertrag z.B. Arbeitsvertrag
z.B. Mietvertrag

Schranken der Die Vertragsfreiheit gilt nicht ohne Einschränkungen. So dürfen Verträge bei-
Vertragsfreiheit spielsweise keinen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt haben oder
Art. 20 OR gegen die guten Sitten verstossen.

Grenzen der Vertragsfreiheit

Unmöglichkeit Beispiel: Ein Käufer ersteigert im Internet ein Gemälde. Dann stellt sich heraus, dass das
Ge­mälde bereits einige Tage zuvor verbrannte, nachdem ein Blitz ins Gebäude des Verkäufers
eingeschlagen hatte. Das Gemälde kann also nicht geliefert werden, die Leistung ist somit
unmöglich. Kann der Käufer hingegen den Kaufpreis nicht bezahlen, weil er kein Geld hat,
bedeutet dies aus rechtlicher Sicht nicht, dass seine Leistung unmöglich ist, denn ein Dritter
könnte be­zahlen.

Widerrechtlichkeit Beispiel: Ein Dealer verkauft einem Süchtigen Heroin. Der Vertragsinhalt ist widerrechtlich,
da er gegen das Betäubungsmittelgesetz verstösst.

Sittenwidrigkeit Verträge verstossen gegen die guten Sitten, wenn sie den anerkannten Moralvorstellungen
widersprechen. Beispiele: Schweigegeldverträge (Versprechen, eine Straftat nicht anzuzeigen),
Versprechen zur bezahlten Mithilfe bei einer Examensarbeit.

228
Allgemeine ­Vertragslehre 17
Unmögliche, widerrechtliche und sittenwidrige Verträge sind nichtig, das heisst Nichtigkeit
rechtlich unwirksam.

Mängel beim Vertragsabschluss

Nicht nur die Form und der Inhalt eines Vertrages können mangelhaft sein. Willensmängel
Auch bei der Einigung über den Vertragsinhalt können sich Mängel ergeben.
Befindet sich eine Partei beim Vertragsabschluss in einem Irrtum, wird sie
absichtlich getäuscht oder gar bedroht, so entspricht der Vertragsabschluss
nicht ihrem wirklichen Willen. Der Vertrag leidet in diesen Fällen an einem
sogenannten Willensmangel.
Anders als bei Formmängeln und unmöglichen, widerrechtlichen oder sit- Anfechtbarkeit
tenwidrigen Verträgen sind Verträge bei Willensmängeln aber nicht einfach
nichtig. Erst wenn der Betroffene sich auf den Mangel beruft und den Vertrag
anficht, ist er für ihn unverbindlich. Man nennt diese Möglichkeit des Betrof-
fenen Anfechtbarkeit. Unternimmt der Betroffene hingegen innerhalb eines
Jahres nichts, gilt der Vertrag als genehmigt.
Der Vertrag ist für denjenigen unverbindlich, der sich beim Abschluss in einem Irrtum
wesentlichen Irrtum befunden hat. Auf welche Arten des Irrtums dies zutrifft, Art. 23 und 24 OR
erläutert die folgende Tabelle.

Irrtümer

Irrtum über Beispiele Artikel

Erklärungs­ die Art des Vertrags Sie wollen für Ihren Urlaub ein Motorrad mieten. Versehentlich unter- Art. 24 Abs. 1
irrtum schreiben Sie einen Kaufvertrag. Den Vertrag können Sie anfechten. Ziff. 1 OR

die Sache oder Sie möchten die Katze Baghira kaufen. Der Verkäufer denkt aber, Sie Art. 24 Abs. 1
Person wollten die Katze Mogli, und führt diese im Kaufvertrag auf. Bemerken Ziff. 2 OR
Sie den Fehler nicht und unterschreiben den Kaufvertrag, können Sie
ihn später anfechten.

den Umfang der Ein Juwelier schreibt auf das Preisetikett eines Rings aus Versehen Art. 24 Abs. 1
Leistung oder 1380 Franken statt 13800 Franken. Seine Mitarbeiterin verkauft den Ring Ziff. 3 OR
­Gegenleistung zum angeschriebenen Preis. Der Juwelier kann den Vertrag anfechten
und den Ring vom Kunden zurückverlangen.
Nicht anfechten kann der Juwelier den Vertrag hingegen, wenn der
Preisunterschied gering ist, also der Ring z.B. für 13800 Franken statt für
14000 Franken verkauft wurde, da es sich in diesem Fall um einen unwe-
sentlichen Irrtum handelt.

Grundlagen- eine notwendige Eine Kunstsammlerin kauft ein Gemälde von Vincent van Gogh. Art. 24 Abs. 1
irrtum Grundlage des Das Gemälde wird später zur Überraschung der Käuferin und des Ver- Ziff. 4 OR
Vertrags käufers als Fälschung entlarvt. Die Kunstsammlerin kann den Vertrag
anfechten und den Kaufpreis zurückverlangen. Sie hat sich über eine
notwendige Grundlage des Vertrags – die Echtheit des Gemäldes –
geirrt. Dieser Irrtum ist wesentlich.

Motivirrtum den Beweggrund zum Sie kaufen für ein befreundetes Paar ein Hochzeitsgeschenk. Was Sie Art. 24 Abs. 2
(unwesent- Vertrags­abschluss nicht wissen: Die beiden haben sich inzwischen überraschend getrennt. OR
lich) Sie können den Kaufvertrag nicht anfechten, denn Sie haben sich ledig-
lich beim Motiv für den Kauf und nicht bei den notwendigen Grund­lagen
des Vertrags geirrt. Ihr Irrtum ist deshalb unwesentlich.

229
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Absichtliche Täuschung Den Vertrag anfechten kann auch, wer beim Vertragsabschluss absichtlich
Art. 28 OR ge­täuscht worden ist.
Beispiel: Sie haben einen Occasions-Motorroller gekauft. Beim Kauf zeigte der
Kilometerzähler 5000 Kilometer an. Später stellt sich jedoch heraus, dass die
Verkäuferin den Zähler manipuliert hat. In Wirklichkeit wurden mit dem Roller
bereits 15000 Kilometer gefahren. Sie können den Vertrag wegen der absicht-
lichen Täuschung anfechten und von der Verkäuferin die Rückerstattung des
Kaufpreises verlangen.
Furchterregung Einen Vertrag anfechten kann auch, wer beim Abschluss widerrechtlich
Art. 29 und 30 OR bedroht worden ist. Widerrechtlich ist beispielsweise eine Drohung gegen das
Leben oder die Gesundheit, gegen die Ehre oder das Vermögen.
Beispiel: Ein Ehemann droht seiner Frau, sie zu töten, falls sie die Scheidungs-
vereinbarung zu seinen Gunsten nicht akzeptiert. Die Frau kann die Vereinba-
rung anfechten, weil sie beim Abschluss bedroht wurde.
Übervorteilung Schliesslich kann jemand einen abgeschlossenen Vertrag auch anfechten, wenn
Art. 21 OR er durch diesen offensichtlich benachteiligt wird. Eine solche Übervorteilung
liegt vor, wenn die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sind:
1. wenn ein offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung
besteht;
2. wenn sich die eine Partei beim Vertragsabschluss in einer Notlage befand
oder unerfahren oder leichtsinnig war;
3. wenn eine Partei die andere ausgebeutet hat.
Beispiel: Jemand benötigt dringend Geld und nimmt ein Darlehen auf. Ein
Kredithai nutzt dies aus und gewährt ihm ein Darlehen zu einem überrissenen
Zinssatz von 26% (vgl. auch Art. 14 des Konsumkreditgesetzes, KKG).
Zusammenfassung Bevor es im nächsten Teil um die Vertragserfüllung geht, finden Sie in der fol-
genden Übersicht nochmals sämtliche Voraussetzungen, die es für einen gültigen
Vertrag braucht.

Übersicht Voraussetzungen für einen gültigen Vertrag

3. Einhaltung allfäl­liger
Form­vorschriften

4. Kein unmöglicher, wider-


2. Handlungsfähigkeit
rechtlicher oder sitten-
der Parteien
widriger Inhalt

1. Einigung über den Gültiger 5. Keine Willensmängel


Vertragsinhalt Vertrag bei Vertragsabschluss

230
Allgemeine ­Vertragslehre 17

17.2 Vertragserfüllung
Mit dem Vertragsabschluss verpflichten sich die Parteien, die vereinbarten Leis- Erfüllungsmodalitäten
tungen zu erbringen. Die Parteien können die Modalitäten, d.h. die Art und
Weise der Erfüllung selber detailliert vereinbaren. Damit ein Vertrag zustande
kommt, ist aber nicht vorausgesetzt, dass alle Details abgemacht werden (vgl.
Kapitel 17.1, S. 225).
Wie die folgende Tabelle zeigt, sind gewisse Erfüllungsmodalitäten im OR
geregelt. Diese Bedingungen sind je­doch dispositiv, das heisst, sie gelten nur,
wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben.

Erfüllungsmodalitäten

Wer? Persönliche Wer muss die Leistung erbringen? Stets der Schuldner, oder kann auch ein Drit- Art. 68 OR
Leistung ter erfüllen? Nach dem OR muss der Schuldner nur dann persönlich er­füllen,
wenn es bei der Leistung auf seine Persönlichkeit ankommt.
Ein Sänger z.B. muss selbst auftreten und ein Kunstmaler ein Gemälde
persönlich malen. Dasselbe gilt auch im Arbeitsverhältnis (vgl. Art. 321 OR).
Sie können also nicht einfach einen Kollegen an Ihren Arbeitsplatz s­chicken,
wenn Sie keine Lust haben zu arbeiten. Keine Rolle spielt hingegen die
­Persönlichkeit bei einem Kaufvertrag oder bei einer Geldzahlung.

Was? Gegenstand Was geleistet werden muss, bestimmen die Parteien beim Vertragsabschluss. Art. 1 OR
der Erfüllung Infrage kommen Dienstleistungen (z.B. beim Arbeitsvertrag) und Sachleistun-
gen (so beim Kaufvertrag). Ist eine Sache geschuldet, wird zwischen Spezies-
und Gattungsschulden unterschieden:
• Speziesschuld: Die Sache ist individuell bestimmt, z.B. ein bestimmtes
Gemälde, ein spezifiziertes Occasionsfahrzeug.
• Gattungsschuld: Die Sache ist nur der Gattung nach bestimmt (nach Art und
Zahl), z.B. vier Eier oder ein Neuwagen eines bestimmten Typs.

Bei Gattungsschulden kann der Schuldner die Sache auswählen. Er darf jedoch Art. 71 OR
nicht eine Sache unter mittlerer Qualität anbieten.

Wo? Ort der Haben die Parteien keinen Erfüllungsort vereinbart, gilt: Art. 74 OR
Erfüllung • Geldschulden sind Bringschulden: Geld muss am Wohnsitz des Gläubigers
bezahlt werden.
• Bei Speziesschulden ist die Sache dort zu übergeben, wo sie sich bei Ver-
tragsabschluss befand. Es handelt sich um eine sogenannte Holschuld, z.B.
Übergabe des Gemäldes in der Galerie.
• Alle anderen Verbindlichkeiten sind am Wohnsitz des Schuldners der betref-
fenden Leistung zu erfüllen (Holschulden), z.B. Übergabe des Neuwagens in
der Garage, Behandlung des Patienten in der Arztpraxis.

Wann? Zeit der Wird vertraglich kein Termin vereinbart und ergibt sich auch aus der Natur Art. 75ff. OR
Erfüllung: des Rechtsverhältnisses nichts anderes, ist die Leistung sofort fällig. Falls nichts
Fälligkeit anderes vereinbart wurde, sind gegenseitige Leistungen Zug um Zug, d.h.
gleichzeitig auszu­tauschen.
Beispiel: Verkauft Ihnen ein Kollege seine Spielkonsole, können Sie die sofor­tige
Übergabe des Gerätes verlangen. Sie sind umgekehrt aber auch verpflichtet, die
Spielkonsole sofort zu bezahlen.

Untergang der Obligation

Ein wichtiges Prinzip des Vertragsrechts lautet: Verträge sind einzuhalten. In Erfüllung
den meisten Fällen halten sich die Vertragsparteien daran; sie erfüllen die ver- Art. 114 OR
einbarten Leistungen richtig. Welche Folgen hat dies aus rechtlicher Sicht? Mit
der Erfüllung gehen die Obligationen, die bei Vertragsabschluss entstanden
sind, wieder unter: Sie erlöschen. Die Leistung kann daher nicht noch ein
zweites Mal verlangt werden.

231
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Beispiel: Sie bestellen online ein Buch. Zwei Obligationen entstehen: Die erste
richtet sich auf das Buch (Warenobligation), die zweite auf den Kaufpreis
(Kaufpreisobliga­tion). Mit der Lieferung des Buches geht die erste Obligation
unter, und sobald Sie die Rechnung bezahlen, erlischt auch die zweite. Sie
können also das Buch nicht noch ein zweites Mal verlangen, und der Online-
händler kann die Zahlung nicht noch einmal fordern.

Übersicht Vertragsphasen

richtige/gehörige Untergang
Vertragsabschluss Obligationen
Vertragserfüllung der Forderung
(Art. 1ff. OR) entstehen
(Art. 68 ff. OR) (Art. 114 OR)

17.3 Vertragsverletzungen
Nicht jeder Vertrag wird richtig erfüllt. Was können die Betroffenen unterneh-
men, wenn ihr Vertragspartner den Vertrag nicht gemäss Abmachung erfüllt?
Das OR unterscheidet folgende Arten von Vertragsver­letzungen:

Arten von Vertragsverletzungen

Beispiele

Nicht- oder Schlecht­erfüllung Der Schuldner erbringt die Ein Hauseigentümer engagiert einen Maler, um seine Haus-
Art. 97ff. OR Leistung gar nicht oder nur wand neu zu streichen. Weil der Maler die Fenster ungenügend
schlecht. abdeckt, gerät beim Streichen Farbe auf die Gläser. Der Maler
hat die Wand zwar neu gestrichen, den Vertrag also eigentlich
erfüllt. Seine Leistung hat er aber schlecht erbracht.

Schuldnerverzug Die Leistung wird zu spät Obwohl der Maler versprochen hat, die Fassade innerhalb
Art. 102 ff. OR erbracht oder steht immer einer Woche neu zu streichen, geschieht wochenlang nichts.
noch aus.

Gläubigerverzug Der Gläubiger nimmt die Leis- Als der Maler zum vereinbarten Termin vorbeikommt, steht er
Art. 91ff. OR tung des Schuldners nicht an. vor verschlossenen Toren und kann nicht auf das Grundstück.

Unmöglichwerden Eine Leistung wird nach Bevor der Maler die Wand streichen kommt, brennt das Haus
einer Leistung Vertragsabschluss unmöglich. ab.
Art. 97ff. oder 119 OR

Übersicht Vertragsverletzungen

Vertragsverletzungen

Nicht- oder Unmöglichwerden


Schuldnerverzug Gläubigerverzug
Schlechterfüllung einer Leistung
(Art. 102 ff. OR) (Art. 91 ff. OR)
(Art. 97 ff. OR) (Art. 97 ff. oder 119 OR)

232
Allgemeine ­Vertragslehre 17
Im Folgenden werden die vier Formen der Vertragsverletzungen genauer vor-
gestellt.

Nicht- oder Schlechterfüllung

Erfüllt ein Schuldner einen Vertrag nicht oder schlecht, haftet er, wenn der Art. 97 Abs. 1 OR
Gläubiger dadurch einen Schaden erleidet. In den Worten des Gesetzes:
«Kann die Erfüllung der Verbindlichkeit überhaupt nicht oder nicht gehörig bewirkt
werden, so hat der Schuldner für den daraus entstehenden Schaden Ersatz zu leisten,
sofern er nicht beweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle.»

Der Schuldner muss Schadenersatz leisten, wenn die vier folgenden Voraus- Haftungs­
setzungen erfüllt sind: voraussetzungen
• Schaden: Ist ein Schaden eingetreten?
• Pflichtverletzung: Hat der Schuldner seine Pflichten verletzt?
• (Adäquater) Kausalzusammenhang: War die Pflichtverletzung kausal
(ursächlich) für den Schaden?
• Verschulden: Hat der Schuldner absichtlich oder fahrlässig gehandelt?
Der Maler in unserem Fallbeispiel, der die Fenster ungenügend abdeckte, haftet
deshalb für den an den Fenstern entstandenen Schaden. Durch die Verletzung
vertraglicher Sorgfaltspflichten hat er einen Schaden (Kosten für die Reinigung
oder den Ersatz der Fenstergläser) verursacht. Er hat fahrlässig gehandelt.
Je nach Vertragsart können ganz unterschiedliche Pflichtverletzungen auf-
treten. Im OR sind deshalb im besonderen Teil (also in den Regeln über die
einzelnen Verträge) weitere Vorschriften zur Nicht- oder Schlechterfüllung
enthalten, zum Beispiel die Gewährleistung bei Mängeln im Kaufvertrag (vgl.
Kapitel 18.4).

Schuldnerverzug

Was kann der Gläubiger tun, wenn der Schuldner die Leistung nicht erbringt, Eintritt des Verzugs
obwohl sie fällig ist? Er kann den Schuldner auffordern, die Leistung zu erbrin-
gen. Oder rechtlich ausgedrückt: Er kann den Schuldner mahnen. Rechtlich
gerät der Schuldner normalerweise erst mit dieser Mahnung in Verzug. Wenn
jedoch die Parteien einen bestimmten Verfalltag oder ein sogenanntes Fix­
geschäft vereinbart haben, tritt der Verzug automatisch ein.

Übersicht Verzugseintritt

Mahngeschäft Verfalltagsgeschäft Fixgeschäft

Vereinbarung Gar kein oder kein bestimmter Bestimmter Verfalltag für die Leistung soll genau zu bzw. bis zu
Erfüllungstermin vereinbart. ­Leistung vereinbart. einer bestimmten Zeit erbracht
­werden: Gläubiger muss eine ver-
spätete Leistung nicht annehmen.

Beispiele «so bald wie möglich» «bis am 15.6.», «bis Ende Juni» «spätestens bis», «genau am»

Artikel Art. 102 Abs. 1 OR Art. 102 Abs. 2 OR Art. 108 Ziff. 3 OR

Folge Verzug tritt erst nach einer Verzug tritt automatisch ein. Verzug tritt automatisch ein.
­Mahnung ein.

Beispiel: Sie bestellen bei Ihrem Velohändler ein neues Fahrrad. Verspricht
Ihnen der Händler die Lieferung in den nächsten Wochen, gerät der Händler erst
mit Ihrer Mahnung in Verzug (Mahngeschäft). Verspricht er hingegen, das Rad
bis am 30. Juni zu liefern, gerät er automatisch in Verzug (Verfalltagsgeschäft).
233
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Kommt der Schuldner in Verzug, hat dies drei rechtliche Folgen:

Folgen des Verzugs

Haftung für Verspätungs­ Der Schuldner haftet für Schä- Weil das Fahrrad nicht rechtzeitig geliefert wird, müssen
schaden den, die durch die Verspätung Sie für eine seit längerer Zeit geplante Velotour ein Rad
Art. 103 OR entstehen. Der Schuldner haf- mieten. Die Mietgebühr können Sie vom Verkäufer
tet allerdings nur, wenn ihn am als Verspätungsschaden zurückverlangen.
Verzug ein Verschulden trifft.

Haftung für zufälligen Der Schuldner haftet für den Sie bringen Ihr Fahrrad zur Reparatur. Als Sie das Rad zum
Untergang zufälligen Untergang der vereinbarten Zeitpunkt abholen wollen, sagt Ihnen der Mecha-
Art. 103 OR Sache. Vorausgesetzt ist hier niker, er habe noch keine Zeit für die Reparatur gehabt. In der
ebenfalls ein Verschulden des Nacht darauf wird Ihr Fahrrad aus der Werkstatt gestohlen.
Schuldners am Verzug. Der Mechaniker haftet Ihnen gegenüber für die Kosten eines
gleichwertigen Fahrrads.

Verzugszinsen Bei Geldschulden muss der Bezahlen Sie die Rechnung für die Reparatur des Fahrrads zu
Art. 104 OR Schuldner Verzugszinsen von spät, müssen Sie nach der Mahnung 5% Zinsen bezahlen.
5% pro Jahr bezahlen.

Nachfrist Befindet sich der Schuldner in Verzug und steht die Leistung nach wie vor aus,
Art. 107 Abs. 1 OR stellt sich die Frage, was der Gläubiger nun unternehmen kann? In einem ersten
Schritt kann er dem Schuldner eine Frist zur nachträglichen Erfüllung anset-
zen. Diese sogenannte Nachfrist muss angemessen lang sein, d.h. lange genug,
damit die Leistung in diesem Zeitraum erbracht werden kann. Liefert der Velo-
händler Ihr neues Fahrrad beispielsweise nicht wie vereinbart bis am 30. Juni,
können Sie ihn auffordern, das Fahrrad bis spätestens am 5. Juli zu liefern.

Ist das neue Velo auf das versprochene Datum noch nicht bereit, gerät der Velohändler automatisch in Verzug.

234
Allgemeine ­Vertragslehre 17
Eine Nachfrist muss jedoch nur bei Mahn- und Verfalltagsgeschäften angesetzt Art. 108 Ziff. 3 OR
werden. Bei Fixgeschäften ist keine Nachfrist nötig. Dort ergibt sich bereits aus
der ursprünglichen Vereinbarung, dass der Gläubiger eine nachträgliche Liefe-
rung nicht akzeptieren muss. Liefert zum Beispiel der Konditor die Hochzeits-
torte nicht rechtzeitig, muss das Brautpaar keine Nachfrist ansetzen: Nach dem
Hochzeitsfest muss es die Torte gar nicht mehr annehmen.
Erbringt der Schuldner die Leistung auch bis zum Ablauf der Nachfrist nicht Wahlrechte
oder ist keine Nachfrist nötig, hat der Gläubiger folgende Wahlmöglichkeiten: Art. 107 Abs. 2 OR
1. Der Gläubiger kann weiterhin die Erfüllung fordern und einen eventuellen
Verspätungsschaden geltend machen. Liefert der Händler also das Velo bis
am 5. Juli immer noch nicht, können Sie weiterhin das Fahrrad herausver-
langen und den Ersatz der Mietkosten für das Ersatzrad fordern.
2. Der Gläubiger kann auch ganz auf die Leistung verzichten. In diesem Fall
muss er dies dem Schuldner unverzüglich mitteilen. In unserem Beispiel
können Sie dem Velohändler sagen, dass Sie das Fahrrad nicht mehr wollen.
Sie haben dann als Gläubiger wiederum zwei Möglichkeiten:
a. Sie können Schadenersatz wegen Nichterfüllung verlangen. Als Gläubiger
werden Sie dann so gestellt, als wäre der Vertrag richtig erfüllt worden.
Rechtlich spricht man in diesem Zusammenhang vom Erfüllungsinteresse
oder vom positiven Interesse des Gläubigers. Sie entdecken beispielsweise
am 6. Juli Ihr Wunschfahrrad in einem Sportgeschäft 500 Franken teurer
als bei Ihrem Velohändler ausgestellt. Sie verzichten auf die Leistung Ihres
Velohändlers, kaufen das Rad im Sportgeschäft und verlangen vom Velo-
händler die Preisdifferenz.
b. Sie können aber auch vom Vertrag zurücktreten. Sie werden dann als
Gläubiger so gestellt, als wäre der Vertrag nie geschlossen worden.
Rechtlich spricht man vom Vertrauensinteresse oder negativen Interesse.
Im Sportgeschäft ist das Fahrrad 500 Franken günstiger. Sie verzichten
deshalb auf die Leistung des Velohändlers und treten vom Kaufvertrag
zurück. Das Fahrrad kaufen Sie dann zum tieferen Preis im Sportgeschäft.

Übersicht Wahlrechte beim Verzug

Nachfrist
Art. 107 Abs. 1 OR bzw. Art. 108 OR oder Verzicht
auf Nachfrist

Art. 107 Abs. 2 OR, Klage auf Erfüllung


Verzicht auf Leistung
erster Teil und Verspätungs­schaden

Schadenersatz wegen
Rücktritt vom Vertrag
Art. 107 Abs. 2 OR, zweiter Teil Nichterfüllung
Vertrauensinteresse
Erfüllungsinteresse

235
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Gläubigerverzug

Art. 92 ff. OR Nimmt der Gläubiger die vom Schuldner angebotene Leistung nicht an, spricht
man von Gläubigerverzug oder Annahmeverzug. Je nach Art der Leistung hat
der Schuldner folgende Möglichkeiten:
• Bei Sachleistungen: das Recht zur Hinterlegung der Sache auf Kosten des
Gläubigers oder zum Verkauf der Sache. Allerdings muss sich der Schuldner
in den meisten Fällen dazu an ein Gericht wenden.
• Bei anderen Leistungen: das Recht zum Rücktritt nach den Regeln über den
Schuldnerverzug.
Beispiel: Der Maler, der zum vereinbarten Termin vor verschlossenen Türen
steht und deshalb die Hauswand nicht neu streichen kann, kann vom Vertrag
zurücktreten.

Unmöglichwerden einer Leistung

Verträge über unmögliche Leistungen sind nichtig (vgl. Kapitel 17.1, S. 228). Dies
gilt allerdings nur, wenn die Leistung bereits bei Vertragsabschluss unmöglich
war (anfängliche Unmöglichkeit). Es kann aber vorkommen, dass eine Leistung
erst nach Vertragsabschluss unmöglich wird (nachträgliche Unmöglichkeit).
Beispiel: Sie mieten eine Wohnung. Nach der Vertragsunterzeichnung, aber
noch bevor sie einziehen können, brennt das Haus ab. Die Leistung des Ver-
mieters ist nachträglich unmöglich geworden.
Art. 97 und 119 OR Welche Folgen das Unmöglichwerden einer Leistung hat, hängt davon ab, ob
der Schuldner die Unmöglichkeit zu verantworten hat oder nicht:
• Hat der Schuldner die Unmöglichkeit selbst verschuldet, haftet er nach den
Bestimmungen über die Nichterfüllung (Art. 97 OR). Beispiel: Der Vermieter
hat das Haus selbst angezündet, um die Versicherungssumme zu kassieren.
Er haftet für den Schaden, der Ihnen entsteht, beispielsweise für die Miet-
zinsdifferenz, wenn Sie nun eine teurere Wohnung mieten müssen.
• Hat der Schuldner die Unmöglichkeit der Leistung hingegen nicht zu ver-
antworten, erlischt die Forderung des Gläubigers. Der Schuldner umgekehrt
verliert seine Gegenforderung und hat eine bereits empfangene Gegen-
leistung zurückzuerstatten. Beispiel: Ist das Haus nach einem Blitzschlag
abgebrannt, erlöschen Ihre Ansprüche aus dem Mietvertrag. Sie brauchen
umgekehrt aber auch keinen Mietzins mehr zu bezahlen und können einen
bereits im Voraus bezahlten Mietzins zurückfordern.

Übersicht Arten der Unmöglichkeit

Unmöglichkeit

Anfänglich (Art. 20 OR) Nachträglich

Vom Schuldner zu Vom Schuldner nicht zu


verantworten (Art. 97 ff. OR) verantworten (Art. 119 OR)

236
Allgemeine ­Vertragslehre 17

17.4 Verjährung
Forderungen können nicht ewig geltend gemacht werden; sie verjähren nach
bestimmten Fristen. Die Verjährung dient der Rechtssicherheit, denn längst
Vergangenes soll rechtlich nicht mehr berücksichtigt werden. Eine Forderung
aus einem Darlehen beispielsweise verjährt nach 10 Jahren. Wer ein Darlehen
erhalten hat, kann die Rückzahlung danach also verweigern.

Anders als die Erfüllung führt die Verjährung aber nicht zum Untergang der Wirkung der Verjährung
Forderung. Das bedeutet, dass verjährte Forderungen zwar rechtlich nicht mehr
durchgesetzt, aber freiwillig weiterhin erfüllt werden können.

Verjährungsfristen

Frist Forderung Artikel

2 Jahre • Gewährleistung des Verkäufers für Mängel bei Kauf­verträgen Art. 210 Abs. 1 OR
über bewegliche Sachen (vgl. Kapitel 18.2)

3 Jahre • Forderungen aus unerlaubten Handlungen Art. 60 Abs. 1 OR


• Forderungen aus ungerechtfertigter Bereicherung Art. 67 Abs. 1 OR

5 Jahre • periodische Leistungen (z.B. Mietzins, Lohn) Art. 128 OR


• Forderungen aus dem Detailhandel
• Rechnungen von Handwerkern, Ärzten, Anwälten
• Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis
• Gewährleistung des Verkäufers für Mängel bei Kauf­verträgen Art. 219 Abs. 3 OR
über unbewegliche Sachen (vgl. Kapitel 18.2)
• Ansprüche gegen viele Versicherungen Art. 46 Versicherungs­
vertragsgesetz (VVG)

10 Jahre • allgemeine Verjährungsregel (z.B. Kaufpreis, Darlehen) Art. 127 OR

20 Jahre • Verlustscheine aus einer Betreibung oder aus einem ­Konkurs Art. 149a Abs. 1 SchKG

Unverjährbar • Forderungen, die mit einem Grundpfand gesichert sind Art. 807 ZGB

Die Verjährung beginnt erst mit der Fälligkeit der Forderung. Ist beispielsweise Art. 130, 135 und 137 OR
eine 30-tägige Zahlungsfrist vereinbart worden, beginnt die Verjährungsfrist
nach 30 Tagen.

Die Verjährung wird unterbrochen durch:


• eine Anerkennung der Forderung durch den Schuldner,
• eine Zins- oder Teilzahlung,
• eine Schuldbetreibung,
• ein Schlichtungsgesuch oder eine Klage.
Mit der Unterbrechung beginnt die Verjährung nochmals mit der ursprüng­
lichen Frist zu laufen. Wenn der Gläubiger eines Darlehens vor Ablauf von
10 Jahren die Betreibung einleitet, hat er nochmals 10 Jahre Zeit, um seine
Forderung durchzusetzen. Achtung: Eine Mahnung alleine unterbricht die Ver-
jährung nicht.

237
17 Allgemeine ­Vertragslehre

Repetitionsfragen
1. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein verbindlicher Vertrag zustan-
de kommt?

2. Welche Anträge sind verbindlich? Welche unverbindlich?

3. Können Antrag und Annahme widerrufen werden?

4. Für den Abschluss gewisser Verträge schreibt das Gesetz besondere Formen vor.
­Nennen Sie drei Beispiele solcher Verträge und die jeweils vorgeschriebene Form.

5. Wann ist ein Vertrag nichtig? Wann anfechtbar?

6. Welche Folge hat die Erfüllung der Obligation?

7. Welche Arten von Vertragsverletzungen können unterschieden werden?

8. Welche vier Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit ein Schuldner Schadenersatz
zahlen muss, wenn er einen Vertrag nicht oder schlecht erfüllt?

9. Wie gerät ein Schuldner in Verzug?

10. Welche rechtlichen Folgen hat der Schuldnerverzug?

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