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VATICAN

www.vatican-magazin.de Jahrgang 17 | Heft 2 – Februar 2023

magazin SCHÖNHEIT UND DRAMA DER WELTKIRCHE

Den guten
Kampf gekämpft
Papst Benedikt XVI. am Ziel
Klimaneutral ist gut.
Klimapositiv ist besser.
hipp-klimapositiv.de

Seit 10 Jahren stellen wir unsere Gläschen


klimaneutral* her. Heute sind sie klimapositiv.
Klimapositiv bedeutet, dass bei HiPP mehr Treibhausgase ausgeglichen
werden als verursacht. Wir sparen nicht nur Emissionen ein – wir helfen
auch der Natur, CO2 wieder aus der Luft zu holen. Zum Beispiel, indem
wir die Artenvielfalt schützen und mit unserem biologischen Anbau
für gesunde Böden sorgen.

Dafür stehe ich mit meinem Namen.

*HiPP Werk mit CO2-neutraler Energiebilanz seit 2011 durch erneuerbare Energie und Klimaprojekte.
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EDIT OR IAL

Nicht vor den Wölfen geflohen...


VON BE RN H A RD M ÜLLE R

ei seiner Predigt zur Amtseinführung am 25. Glauben nur zusammen mit der Vernunft denken, was

B April 2005 bat Papst Benedikt XVI. die Gläu-


bigen: „Betet für mich, dass ich euch – die hei-
ihn vor jedem Fanatismus und falschem Eifer schützte.
Als Papst Benedikt in seiner Heimat immer häufi-
lige Kirche, jeden Einzelnen und alle zusammen – im- ger unfair kritisiert wurde, haben wir uns in Rom zu-
mer mehr lieben lerne. Betet für mich, dass ich nicht sammengesetzt und überlegt, wie wir diesem Papst in
furchtsam vor den Wölfen fliehe. Beten wir füreinan- Deutschland eine Stimme geben können. Daraus ent-
der, dass der Herr uns trägt und dass wir durch ihn ei- stand das „VATICAN-magazin“. Wir hätten es damals
nander zu tragen lernen.“ auch „Benedikt-Magazin“ nennen können. Er ist sozu-
Viele haben für ihn gebetet, vielen hat er als Priester, sagen ein „Gründervater“ dieser Zeitschrift. Als in den
Kardinal und Papst gedient. Er ist im Glauben stand- letzten Jahren seiner Amtszeit der Unmut gegen ihn in
haft geblieben. Er war mutig, intellektuell und fromm der deutschen Öffentlichkeit und in Teilen der Kirche
– und er war immer ein Fels in der Brandung. Er hat zu einer, wie er es selbst formulierte, „sprunghaften
den Menschen sein ganzes Priesterleben lang Argu- Feindseligkeit“ anwuchs, haben wir versucht, ihm ge-
mente gegeben, damit sie glauben können und diesen recht zu werden und die „römische“ Wirklichkeit so
Glauben auch zu begründen vermögen. abzubilden, wie sie tatsächlich war.
Wer Papst Benedikt XVI. persönlich begegnet ist, weiß, Als Benedikts Kräfte schwanden und er im Februar
dass er nicht nur ein brillanter Theologe und Kirchen- 2013 zurücktrat, schlug das ein wie ein Blitz aus hei-
lehrer, ein virtuoser Sprachenkenner und ein erfahre- terem Himmel. Es war ein historischer Verzicht, der
ner Hirte war, sondern vor allem ein Mensch mit ei- die Größe und gleichzeitig auch die Schwäche dieses
ner sanftmütigen, respektvollen und demütigen Art. Papstes verdeutlichte.
Wer mit ihm sprach, stand immer einem überzeugten Papst Benedikt hat die Schönheit und das Drama der
Mitarbeiter der Wahrheit gegenüber, dem jedes her- Weltkirche weitergeschrieben und wir durften pub-
rische Wesen fremd war. lizistische Zeitzeugen eines wirklich großen Papstes
Dabei war Benedikt nie ein „Schönwetter“-Papst. Er sein, den sein Nachfolger „ein Geschenk für die Welt“
scheute es, im Mittelpunkt zu stehen, aber er scheute nannte. Mit Papst Franziskus sind wir Gott daher dank-
sich nicht, das Evangelium zu verkünden, ob gelegen bar, „dass er ihn der Kirche und der Welt geschenkt
oder ungelegen. Er hat die Heiligkeit der Person gegen hat; dankbar Benedikt gegenüber für all das Gute, das
jede Ideologie verteidigt, er hat die Liturgie als Raum er vollbracht hat, und vor allem für sein Zeugnis des
des Heiligen wiederhergestellt und er hat zum einen die Glaubens und des Gebets“.
„Entweltlichung“ der Kirche verlangt, aber gleichzeitig „Die Welt wird durch den Gekreuzigten und nicht
die Christen aufgefordert, sich angesichts der säkula- durch die Kreuziger erlöst“, hat Papst Benedikt einmal
ren Mehrheiten nicht in die privaten Nischen abdrän- gesagt. In dieser Gewissheit können wir, kann die ganze
gen zu lassen, sondern den christlichen Glauben öffent- Kirche, getrost weitergehen durch diese seltsame Zeit
lich zu verteidigen und ihre Glaubensfreiheit einzufor- mit ihren vielen Krisen. Und wir brauchen, wie Bene-
dern. Er hinterfragte die Moderne, konnte sich aber den dikt, nicht vor den Wölfen zu fliehen.

Z ITAT DES M ONATS

„Signore ti amo“ – („Herr, ich liebe dich“)


Marco Iacobucci Epp

Papst Benedikt XVI. (1927-2022), seine letzten Worte auf dem Sterbebett

VATICAN 2-2023 3
F O T O- E SSAY
I M P RES S U M

Gründungsherausgeber
Paul Badde
T I T E L - THEM A
Herausgeber
Monika Metternich, Norbert Neuhaus,
Dirk Weisbrod
Chefredaktion
„Benedikt ging es um
das, was Gott will“
Bernhard Müller
Ständige redaktionelle Mitarbeiter
Paul Badde, Ulrich Filler, Rudolf Gehrig,
Monika Metternich, Martin Müller, „Dieser Mann hat mein Leben verändert",
Ulrich Nersinger, Markus Reder, Dirk Weisbrod sagt der Benedikt-Biograf und Bestseller-
Autor Peter Seewald | 14
Autoren dieser Ausgabe
Stephan Baier, Sigrid Grabner, Barbara Just, Kurt
Kardinal Koch, Markus Lanz, Stefan Meetschen,
Joseph Ratzinger (†), Albert Sellner, Manfred
Spieker, Barbara Wenz, Karin Wollschläger
Nachrichtendienste
KNA, IDEA, CNA
Coverbild
Ausschnitt aus einem Gemälde der russischen
Porträt-Künstlerin Natalia Tsarkova
(siehe auch Seite 64) W Ü R D IGUNG
Gestaltung
Manuel Kimmerle
Redaktion, Vertrieb und
Benedikt XVI. –
Abonnenten-Verwaltung
Fe-Medienverlags GmbH
Mitarbeiter der Wahrheit
Hauptstraße 22, 88353 Kißlegg Nachruf auf einen großen und demütigen
Telefon 07563/608 998 0 Arbeiter im Weinberg des Herrn | 24
Telefax 07563/608 998 9
E-Mail redaktion@vatican-magazin.de
abo@vatican-magazin.de
Internet www.vatican-magazin.de Der Mann mit
Anzeigen
KONPRESS-Medien eG der Baskenmütze
Telefon 069 / 256 29 66 0 Joseph Ratzinger lehrte Sigrid Grabner, eine
E-Mail anzeigen@vatican-magazin.de
Schriftstellerin aus der DDR, die Schönheit und
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 53
vom 1. Januar 2023 Tiefe des Glaubens | 30

Vertrieb im Einzelverkauf
IPS Pressevertrieb GmbH
Postfach 12 11, 53334 Meckenheim Prophetischer
Telefon 02225 / 8801 0
E-Mail info@ips-pressevertrieb.de Denker im Gegenwind
Bankverbindung Papst Benedikt XVI. teilt das historische
Kreissparkasse Ravensburg Schicksal vieler weitsichtiger Mahner. Sie
IBAN  DE57650501100101028338 gelten im eigenen Lande nichts und werden
BIC SOLADES1RVB diffamiert und bekämpft | 36
Druck
Holzer Druck & Medien, Weiler
H I S T O R IA VATICANA
Vatican-magazin
ISSN 1865-1577
Benedikt XVI.
Die Zeitschrift erscheint monatlich mit einer
Doppelnummer im Sommer. Das Einzelheft kostet und „seine“ Bayerischen
Gebirgsschützen
6,00 Euro (Deutschland), 7,00 Euro (EU), 9,50 CHF
(Schweiz). Das Jahresabonnement kostet 60,00
Euro (bzw. 70,00 Euro im Ausland) inkl.
Versandkosten. Der Nachdruck einzelner Beiträge Es sei schon eine Auszeichnung, sagen zu können,
ist nur nach ausdrücklicher Genehmigung Benedikt XVI. sei einer von ihnen gewesen und es
erlaubt. Für unverlangt eingesandtes Text- und ein Leben lang geblieben, ist sich der Bund der
Bildmaterial wird keine Haftung übernommen. Bayerischen Gebirgsschützen sicher | 42

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Nr. 2/2023 – Februar 2023 | Jahrgang 17

BADDES BILDER
Ein Schweißtuch für Benedikt  6
UN T E R D I E H AU T LESEPROBE P OR TR ÄT
HOMMAGE
Danke, Benedikt  8
OFFENER BRIEF
Joseph Ratzinger  10
VATICAN-JOURNAL  12
TITEL-THEMA
Interview mit Peter Seewald  14
GEISTLICHES TESTAMENT
„Steht fest im Glauben!“  21
BIOGRAFIE
Ratzingers Weg bis zum Papstamt  22
WÜRDIGUNG
Benedikt XVI. –
Ulrich Filler Markus Lanz Georg Gänswein Mitarbeiter der Wahrheit  24
Wie dem Kölner Pfarrer als Der Fernsehjournalist erzählt in Der Kurienerzbischof aus dem Der Mann mit
der Baskenmütze  30
Student das kleine Büchlein „Die einem Buch mit Manfred Lütz Schwarzwald begleitete Papst
Tochter Zion“ von Joseph Ratzinger von seinen Begegnungen mit Benedikt 20 Jahre lang als Prophetischer
Denker im Gegenwind  36
unter die Haut ging | 54 Papst Benedikt XVI. | 56 dessen Privatsekretär | 74
DIE KIRCHE IST JUNG
Der Papst ist tot,
es lebe der Papst!  41
D ER ES SAY
HISTORIA VATICANA
Benedikt XVI. und „seine“

Die Diktatur des


Bayerischen Gebirgsschützen  42
AUS DEM LOGBUCH

Relativismus DES SCHIFFES PETRI


Franziskus-Splitter
Was wichtig war im Vatikan  45
Vor dem Einzug ins Konklave, das er als Benedikt XVI.
ABENDLAND
verließ, hielt Joseph Ratzinger als Dekan des Kardinals­ Europa als geistige Realität  46
kollegiums eine weltweit beachtete Predigt | 50
DER ESSAY
Die Diktatur des Relativismus  50
UNTER DIE HAUT
Handelt Gott?  54
F O T O-E SSAY
LESEPROBE
„Kein Kirchenfürst.
Das genaue Gegenteil“  56
CHRISTLICHE LITERATUR
Literaturliebhaber und Freund
der schönen Worte  58
THEOLOGIE
Glaube, Hoffnung und Liebe  60
KUNST DES GLAUBENS
Benedikt in guter Gemeinschaft  64
LYRIK
Gott allein genügt  67
FOTO-ESSAY
Altötting und Benedikt XVI.  68

Altötting und PORTRÄT


Georg Gänswein  74

Benedikt XVI. EXPRESSIS VERBIS 


PERSONEN 
74
75
Der oberbayerische Wallfahrtsort Altötting gilt als „katholisches Herz ET CETERA  76
Bayerns“. Papst Benedikt XVI. war mit ihm eng verbunden. O MEIN GOTT ...
Am 11. September 2006 besuchte er im Rahmen seiner Pastoralreise ... was für eine Flasche!  78
nach Bayern auch die kleine Stadt östlich von München | 68

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BA D D ES BI LD ER
„Seine Augen, die unserem Blick entzogen sind, sollen deine Schönheit sehen“,
heißt es in dem lateinischen Gebet, das der heilige Johannes Paul II. vor
seinem Tod für den alten jüdischen Ritus verfasste, mit dem Monsignor Ravelli
und Georg Gänswein am 5. Januar vor dem Grab des Apostels Petrus das
Gesicht Benedikts für dessen letzte Reise mit einem Schweißtuch verhüllten.
Vatican Media/Romano Siciliani/KNA
H OM M AGE

Danke, Benedikt
Die Herausgeber des Vatican-Magazins würdigen den
verstorbenen Papst in persönlichen Worten

VO N PA UL BA D D E

Z ehn Jahre nach seinem Rücktritt ist Papst


Benedikt in das große „Te Deum“ des
Jahres 2022 hineingestorben. Das Lektio-
mänteln aus altem Brokat, dem Regenbo-
gen über dem Todeslager von Auschwitz
(während er den Schöpfer mit dem Psalm
nar, das der Wind am 8. April 2005 auf dem anflehte: „Vergiss dein Geschöpf Mensch
Sarg seines heiligen Vorgängers zuklappte, nicht!“), mit dem kilometerlangen Blitz, der
als der Lektor die Worte Jesu an Petrus sang: am Abend seiner Rücktrittserklärung in die
„Amen, amen, das sage ich dir. Als du noch Peterskuppel einschlug, und dem Helikop-
jung warst, hast du dich selbst gegürtet und ter, in dem er an eben dieser Kuppel vor-
konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn bei nach Castelgandolfo entschwebte. Un-
du aber alt geworden bist, wirst du deine vergessliche Bilder!
Hände ausstrecken und ein anderer wird Gleich am Beginn seines Pontifikats hatte
dich gürten und dich führen, wohin du nicht er bei der Lektüre von Dantes „Göttlicher Ko-
willst“, – dieses Lektionar wurde damals mödie“ schon wie ein Kind gestaunt: „Gott,
zum göttlichen Drehbuch eines neuen Ka- das unendliche Licht, besitzt ein menschli-
pitels der Geschichte. Elf Tage später war ches Gesicht!“ Nach dieser Entdeckung ließ
Joseph Ratzinger Papst. Dahin wollte er nie er sich so bald wie möglich zu jenem Antlitz
geführt werden. 17 Jahre später starb er an in die Abruzzen fliegen, das nach Dante „die
dem Tag, an dem im Jahr 335 Papst Silves- Sonne und die Sterne bewegt“, und beugte
ter starb, der den Petersdom errichten ließ am 1. September 2006 als erster Papst nach
und die Lateran-Basilika neben dem Palast über 400 Jahren in einer Kapuzinerkirche
Kaiser Konstantins. hinter Manoppello sein Knie vor dem hei-
Damals begann die Konstantinische Ära ligen Schweißtuch, von dem der Evangelist
unserer Geschichte. 1700 Jahre später nahm Johannes schreibt, dass es im Grab Christi
Benedikt XVI. diese Ära, die er verkörpert auf dessen Gesicht gelegt worden sei. Die-
hatte wie kaum ein Zweiter, mit ins Grab, ses Muschelseidentuch wird auch in 1000
als letzter Europäer in den Schuhen Petri. Jahren noch mit seinem Namen verbunden
Mit ihm endete das Abendland, auch das bleiben. Benedikt XVI. hat es in die Welt zu-
Gutenberg-Zeitalter, in dem der Autor von rückgetragen. Die wahre Ikone zeigt Jesus
66 Büchern, drei Enzyliken und unzähli- von Nazareth, in dem Gott „sein menschli-
gen Texten sein ganzes Lebenswerk in nur ches Antlitz“ gezeigt hat, wie er danach im-
drei italienischen Worten vor seinem letz- mer wieder neu betonte. Bis zuletzt hat er
ten Seufzer verdichtete: „Signore ti amo!“ seinen Blick auf ein Foto dieses Schweiß-
(Herr, ich liebe dich!) tuchs geheftet. Wir kennen Gottes Gesicht!
Da hatte er aber auch schon ein neues Das wissen wir durch Benedikt. Das ist sein
Zeitalter der Bilder als ein Buch der Ikonen Erbe. Es ist ein Schatz, dem zu Ehren wir
neu aufgeschlagen, mit seinen roten Schu- im Sommer 2006 dieses Magazin gegründet
hen, dem schneeweißen Haar, den Rauch- und für alle Zeit gewidmet haben.

8 VATICAN 2-2023
VON M ON IKA M ET TE R NIC H VON N O RBE RT N E UH A US VO N D I RK W E I SBRO D

B enedikt XVI. starb am letzten Tag des


alten Jahres. Von großen, klugen und
bedeutenden Menschen wurde seither vie-
M eine frühere Funktion als Generalse-
kretär von Kirche in Not Internatio-
nal führte mich 2005/2006 häufig nach Rom.
A ls sich am Morgen des Silvestertages
die Nachricht vom Tod des Papa eme-
rito verbreitete, folgten sofort die ersten
les gesagt über seine unbestreitbaren Ver- Im Rahmen von Audienzen hatte ich dabei Nachrufe. Die Texte hatten vielfach schon
dienste. Es gibt aber auch die ganz persön- die Gelegenheit, mich zweimal in die Schar Jahre in der Schublade gelegen, doch das
lichen Erfahrungen mit ihm und seinem derjenigen einzureihen, die Papst Benedikt stille Leiden und Sterben Benedikts sollte
Werk. Eine solche möchte ich hier zu sei- persönlich begrüßen konnten. Erstaunt hat lange dauern. In den fast zehn Jahren in Ma-
nem Abschied teilen. Meine erste Begeg- mich seine Geistesgegenwart. Kaum hatte ter Ecclesiae musste er den beschleunigten
nung – in Buchform – mit Joseph Ratzinger er meinen Namen gehört, kam es wie aus Verfall der christlichen Kultur in Europa, die
erfuhr ich, als ich mich in jungem Erwach- der Pistole geschossen: „Geh neue Wege, Ins­trumentalisierung des Missbrauchsskan-
senenalter nach einer familiären Tragödie aber bleibe dem Charisma von Pater We- dals gegen ihn und für den synodalen Weg
in dumpfem, ungläubigem Schock befand, renfried treu!“ und ein Zweites: Ich schaute erleben. Er hat die vielen Anwürfe gegen
was die Fragen von Sinn, Glauben, Gott und ihm fest in die Augen – er ließ mich durch seine Person still ertragen und alles weg-
Christentum betraf. Mein volkskirchlicher seine warmen braunen Augen in ihn hin- gelitten und weggebetet. In Mater Ecclesiae
Kulturglauben war schlagartig zur zerrisse- einsehen. Ich entdeckte eine liebende, ein- – dem mystischen Ort seines Gebets, „ver-
nen Hülle geworden. Wie auch immer ich fache, aufrichtige, demütige Seele! Dies hat hüllt vor der Welt“ – ist er heilig geworden.
zu seinem Buch kam: Seine „Einführung in mich persönlich zutiefst berührt. Er hat in der Stille gewirkt, aber auch in
das Christentum“ änderte damals die Basis Bei meiner zweiten Begegnung sagte ich den klugen und liebevollen Worten, die er
meines Denkens, Suchens und Glaubens. Da ihm: „Ich sehe die Kirche bedroht durch das niederschrieb. In diesem Magazin habe ich
war jemand, der mich geistig an der Hand Wiedererstarken sozialistischer Tendenzen schon berichtet, dass es unter anderem seine
nahm, der den begründeten Zweifel nicht in Lateinamerika, durch das Vordringen des Enzyklika „Spe salvi“ gewesen ist, die mich
nur kannte, sondern ihn in verständlicher Islams in Afrika und durch die Zerstörung zum Glauben an Christus zurückgeführt hat.
Sprache, literarischer Schönheit und beste- der Familie in der westlichen Welt.“ Er be- Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.
chender Logik durchdrang und mich durch stätigte mich in allen drei Punkten und bat Als nach dem Requiem der Sarg in die
ihn hindurch zum Wesentlichen führte. Es mich, das Meinige zu tun. Gruft des Petersdoms gebracht wurde, da
ist nicht übertrieben zu sagen, dass ich ihm Die Frucht sind die Stiftung für Familien- war es mir, als trüge man eine Epoche, ein
und nachfolgend vielen seiner Schriften mei- werte, die vielfältige christliche Initiativen ganzes Zeitalter zu Grabe, das mehr als die
nen Erwachsenenglauben verdanke. für die Familie vernetzt (www.stiftung-fa- 95 Jahre seines Erdenlebens umfasste. Be-
Für mich als eine jener „Kleinen im Glau- milienwerte.de; www.lust-auf-familie.com), nedikt XVI. hat unermüdlich darauf hinge-
ben“, der Zweifelnden, Suchenden, die er ein Katechumenat für persisch-sprachige wiesen, was wir verlieren, wenn wir un-
zeitlebens sah, ernst nahm, ja, wirklich ver- Flüchtlinge (www.yaranemasih.com) und sere Wurzeln aufgeben und ohne Gott al-
stand und ansprach und weiterbrachte zu schließlich die Mitarbeit als Herausge- les neu machen wollen. Deswegen wird er
der Erkenntnis, dass die Wahrheit und der ber des Vatican-Magazins, das „Schönheit ein Wegweiser aus den großen Verwerfun-
Sinn in einer Person, dem Sohn Gottes, zu und Drama“ der Weltkirche im deutschen gen sein, die uns noch bevorstehen. Dabei
finden ist, war und bleibt er – in seinen Sprachraum zugänglich machen will. wird uns sein fast zehnjähriges Gebet in
Schriften – in dankbarem Gedenken mein Danke, heiliger Vater, für diese Orientie- Mater Ecclesiae, das er nun vor Gott fort-
großer Lehrer des Glaubens. rungen und Ermutigungen. setzt, begleiten und tragen. Santo subito!

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OF F ENER B R IEF

Februar 2023

Sehr verehrter Joseph Ratzinger,


vom Glauben zum Schauen ist es am Ende nur ein deutlicher zutage treten. Davon bin ich überzeugt.
Wimpernschlag. Nun dürfen Sie schauen, was Sie Wer Ihre Schriften liest, dem begegnet einer der
verkündet haben. Wie tröstlich, wenn man das größten Intellektuellen unserer Zeit: rationaler als
glauben darf. Und doch: Der Abschied von Ihnen der Rationalismus, aufgeklärter als die Aufklärung,
fällt noch immer schwer. Es war ein Abschied auf vertraut mit der Geistesgeschichte Europas, ein
Raten. Begonnen hat er mit Ihrem Rücktritt vom Geistlicher, der die Denker unserer Zeit zu Ende zu
Petrusamt. Sie zogen sich zurück, um in Abgeschie- denken wusste, dem die Großen des Mittelalters
denheit ein Leben des Gebets zu führen. Damals und der Antike ebenso vertraut waren wie die
dachte ich, man würde Sie nie wieder sehen. Aber Gestalten der Bibel. Ein Theologe, der die Gottsuche
dann gab es doch immer wieder Fotos, ja auch Texte der Religionen wie der Philosophen kannte und
aus Ihrer Feder. Nur wenige Wochen nach Ihrem dem es ein Herzensanliegen war, mit der christli-
Heimgang liegen die Beiträge aus Ihrer Zeit als chen Antwort auf die ewige Suche des Menschen
Emeritus inzwischen als Buch vor. nach Gott alte und neue Wege zum Sinn des Lebens
zu erschließen.
Egal ob junger Professor oder greiser Papst: Sie
waren immer jemand, an dem man sich verlässlich „Lest Ratzinger!“, möchte man allen zurufen, die
orientieren konnte. Sie waren ebenso klug wie jetzt traurig sind, weil wir Sie nicht mehr unter
fromm. Sie haben gelebt, was sie verkündet haben. uns haben. Die sich ängstigen wegen der tosenden
Sie haben gezeigt, warum der Glaube die Vernunft Stürme, die das Schiff der Kirche zu versenken
und die Vernunft den Glauben braucht. Und Sie drohen. Die sich fürchten angesichts der vielen
haben sich weder gebeugt noch angepasst, wenn Irrlichter und des Durcheinanders auf Deck. „Lest
Kritiker auf Sie einschlagen haben. An Ihnen konnte Ratzinger! Da habt ihr ein verlässliches Logbuch
man sehen, was intellektuelle Brillanz bedeutet, des Glaubens und im Notfall eine rettende Planke.“
und dass Demut nicht klein, sondern in Wahrheit Ihre „Einführung in das Christentum“, die Inter-
groß macht. view-Bücher mit Peter Seewald und nicht zuletzt
Ihre Jesus-Bücher sind Lebens- und Glaubenshilfen
Letzte Fotos von Ihnen haben gezeigt, dass der Geist für zahllose Menschen weltweit. Und damit sind
zwar hellwach sein kann, der Körper aber eben nur wenige Ihrer wegweisenden Werke genannt.
doch gebrechlich wurde. Nun ist Ihr Leben, das Wer einen Eindruck davon bekommen will, wie
nahezu ein Jahrhundert umspannte, vollendet. In sehr Ihre Verkündigung und Ihre Werke Biografien
Ihren Lebenslinien spiegeln sich Schönheit und geprägt und Lebenswege beeinflusst haben, der
Drama des Glaubens und der Kirche. muss nur einen Blick auf die Kondolenzseiten der
Benedikt-Website www.BenedictusXVI.org werfen.
Mehr als 600 Bücher und Aufsätze haben Sie ver- Dort finden sich Zeugnisse von Bekehrungs-, Beru-
fasst. Dieses Erbe ist von unschätzbarem Wert. Die fungs- und bewegenden Glaubensgeschichten aus
Foto: Giulio Napolitano

prophetische Kraft dessen, was sie gesagt und vielen Ländern, die alle auf Ihr Wirken zurück­
geschrieben haben, wird mit den Jahren immer gehen.

10 VATICAN 2-2023


Wir verneigen uns in tiefer

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Dankbarkeit vor einem großen
Papst und Lehrer der Kirche.
Ob als junger Theologe, Konzilsberater, Bischof,


Glaubenspräfekt oder später als Papst: Sie waren
nie glatter Diplomat, wendiger Politiker oder
Schauspieler. Sie haben sich nicht um Ihr Image
gesorgt, sondern um die Klarheit des kirchlichen

Papst
Zeugnisses. Sie waren nicht „Integrationsfigur“,
sondern Apostelnachfolger. Ihnen ging es nicht um
Beliebtheit, sondern um Bekenntnis – gelegen oder
ungelegen. Mitarbeiter der Wahrheit wollten Sie
sein, nicht Handlanger der Beliebigkeit. Nie ging es
Ihnen darum, zeitgemäß oder opportun zu handeln,
sondern dem Evangelium gemäß. Gott befreit den
Benedikt XVI.
Menschen zu seiner wirklichen Freiheit. Ohne Gott
gerät alles ins Wanken. Davon waren Sie zutiefst
überzeugt. Wie Sie trotz all der Anfeindungen und
sprungbereiten Feindseligkeiten Ihrer Sendung und
sich selbst treu geblieben sind, hat mir gezeigt, was
es bedeutet, „Vicarius Christi“ zu sein.

Der Kirche in Deutschland haben Sie mit Ihrer Frei­


burger Entweltlichungs-Rede eine „Magna Charta“
der Erneuerung hinterlassen. Mit Blick auf die
dramatische Lage der Kirche in Ihrem Heimatland
wäre es notwendig, Ihre Ansprache noch einmal
neu – diesmal vorurteilsfrei – zu lesen. Sich frei
machen von allem, was den Blick auf Christus
verstellt, um frei zu sein für die Verkündigung des
Evangeliums, für die Sorgen und Nöte der Men-
schen: Das meinten Sie mit Entweltlichung.

Ihr Leben als Priester und Pontifex wirkt auf mich


wie ein immer neu ertönender Ruf nach Umkehr
und Erneuerung, nach Vertiefung und Verinnerli-
chung, nach einem Aufbruch der Kirche hin zum
Wesentlichen. Hin zum gekreuzigten und auferstan-
denen Herrn, weil nur er die eine heilende und
befreiende Antwort auf die Nöte und Leiden der
Menschen in dieser aus den Fugen geratenen Welt
ist. Unter Ihren zahllosen Publikationen gibt es
einen Titel, der Ihr Wirken gewissermaßen zusam-
menfasst: „Auf Christus schauen“. Wir sollten uns
das zu Herzen nehmen. Sie dürfen das jetzt in Besuchen Sie die Internetseite über Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Evandro Inetti
Ewigkeit. Papst Benedikt XVI. und tragen Sie sich
in das digitale Kondolenzbuch ein:
„Vergelt’s Gott“, Papa Ratzinger!

www.BenedictusXVI.org/
kondolenzmoeglichkeit-
gebetsgedenken
MARKUS REDER

Die Tagespost
für
katholische
Publizisti k

VATICAN 2-2023 11
VATICAN Journal

D EU T S C HL A N D

Joseph Ratzinger und die Stasi


P apst Benedikt XVI. war ein halbes Jahr
im Amt, da meldete sich im Oktober 2005
die Stasi-Unterlagen-Behörde zu Wort. Sie
zinger, damals noch Theologie-Professor in
Regensburg, besuchte, wie schon einige Male
zuvor, in Erfurt das einzige Priesterseminar
tionalsozialistischen Herrschaft – fand al-
lerdings nichts.
Das Interesse der Stasi an Ratzinger ver-
bestätigte, dass Joseph Ratzinger bereits in der DDR und hielt Vorträge vor Theolo- stärkte sich erneut 1987 beim einzigen DDR-
seit Mitte der 1970er-Jahre im Visier des gie-Studenten und anderen Akademikern zu weiten Katholikentag, der in Dresden mit
Ministerium für Staatssicherheit der DDR „modernen Problemen der Theologie“, wie mehr als 100.000 Teilnehmern stattfand.
gewesen war. Vorangegangen war ein Be- ein „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Stasi Das Treffen wurde als Gradmesser für das
richt der Zeitung „Bild am Sonntag“, der notierte. Ratzinger galt damals bereits als Verhältnis zwischen katholischer Kirche
sich auf Unterlagen der Birthler-Behörde herausragender und prominenter Theologe. und sozialistischem Staat gesehen. Ratzin-
berief, wonach „mindestens acht Spione“ Die „Bild am Sonntag“ zitierte aus einem ger war dort der prominenteste Besucher
Material über Ratzinger geliefert hatten. Spitzelbericht: „Ratzinger gilt im Vatikan aus dem Westen.
„Die Stasi scheint an bestimmten Punkten nach dem Papst und Staatssekretär Casaroli Insgesamt 138 „Inoffizielle Mitarbeiter“
seiner Karriere sehr systematisch Informa- als derzeit einflussreichster Politiker und waren laut Akten bei dem Ereignis als Spit-
tionen zu Ratzinger und seinen kirchenpo- führender Ideologe.“ Dem Sprecher der Un- zel im Einsatz. Sie berichteten unter ande-
litischen Situationen gesammelt zu haben, terlagen-Behörde zufolge suchte die Stasi rem aus einem Gottesdienst mit Ratzinger
um so verschiedene biografische Angaben offenbar auch nach belastenden Dokumen- sowie über seine beiden Vorträge beim Ka-
zusammenzustellen“, erklärte ein Sprecher ten aus Ratzingers Jugend während der na- tholikentreffen.  (Karin Wollschläger)
der Stasi-Unterlagen-Behörde. Das Ministe-
rium für Staatssicherheit habe Kardinal Rat-
zinger in seinem Amt als Chef der römischen
Glaubenskongregation, das er seit 1982 in-
nehatte, als einen der „schärfsten Gegner
des Kommunismus“ im Vatikan bezeichnet.
Damals erhielt die Stasi regelmäßig Be-
richte und Analysen aus Rom. Es war ihr
gelungen, gleich zwei „Maulwürfe“ im Um-
feld des Vatikans zu platzieren: den Trierer
Benediktinerpater Eugen Brammertz, der
zugleich Mitarbeiter des „Osservatore Ro-
mano“ war, und den römischen KNA-Kor-
respondenten Alfons Waschbüsch.
Die „Bild am Sonntag“ beantragte bereits
einige Monate vor der Papstwahl mit Er-
folg, die Akten über „Stasi-Einflußnahme
auf die Kirchen am Beispiel der Person Rat-
zingers“ einsehen zu dürfen. Mitarbeiter
der Stasi-Unterlagen-Behörde suchten da-
raufhin entsprechendes Material zusam-
men. Wie im Stasi-Unterlagen-Gesetz vor-
geschrieben, wurde Benedikt XVI. vorab
über die Herausgabe des Materials an das
Blatt informiert. Er habe in einem Schrei-
ben an die damalige Behörden-Chefin Ma-
rianne Birthler der Veröffentlichung zuge-
stimmt und seine Wertschätzung für die Ar-
beit der Behörde bei der Aufarbeitung der
KNA-Bild/KNA

DDR-Vergangenheit ausgedrückt, so der Be-


hördensprecher.
Die ersten Stasi-Aufzeichnungen datieren
offenbar auf den 26. April 1974: Joseph Rat- Kardinal Ratzinger beim Katholikentreffen in Dresden am 12. Juli 1987

12 VATICAN 2-2023


VAT I K AN BAYER N

Schweizer Garde trauert um Benedikt XVI. Letzter Besuch bei


seinem Bruder
N icht nur als amtierender Papst: Die
Schweizer Garde hatte schon immer
Gardisten spricht Deutsch, war ein Vorteil.
Weil Ratzinger aber auch sehr gut Franzö-
eine enge Beziehung mit Joseph Ratzinger/
Papst Benedikt XVI. In einem Interview mit
Mario Galgano von vatican news berichtete
sisch und Italienisch sprach, habe er sich
mit allen Gardisten gut unterhalten kön-
nen. Benedikt war Papst, als die Schwei-
E in letztes Mal daheim in Bayern war der
emeritierte Papst Benedikt XVI. im Juni
2020 – um von seinem im Sterben liegen-
der Hauptmann der Schweizer Garde, Chris- zergarde im Jahr 2006 ihr 500-jähriges Ju- den Bruder Georg Ratzinger in Regensburg
tian Kühne, nach dem Tod Benedikts über biläum feierte.  (bm) Abschied nehmen zu können.
das enge und gute Verhältnis mit dem ehe- Als sich der emeritierte Papst Benedikt
maligen Oberhaupt der katholischen Kirche. XVI. am 22. Juni 2020 morgens bei seinem
Deshalb hatte die Schweizer Garde auch in schwerkranken Bruder Georg Ratzinger in
einem 24-Stunden-Dienst die Totenwache Regensburg verabschiedete, wussten beide,
des Verstorbenen übernommen. dass sie sich hier auf Erden wohl nicht mehr
Die Schweizer Garde habe Papst Benedikt wiedersehen würden. Aber noch etwas sei
als amtierenden Papst und dann als emeri- ihnen damals bewusst gewesen: dass „der

picture alliance/dpa | Sven Hoppe


tierten Papst begleitet und beschützt. Dabei gütige Gott, der uns auf dieser Welt dieses
sei Joseph Ratzinger kein unbeschriebenes Zusammensein geschenkt hat, auch in der
Blatt für die Garde gewesen, schon vor sei- anderen Welt regiert und uns dort ein neues
ner Wahl zum Papst habe er bereits mehr Miteinander schenken wird“. Diese Worte
als zwei Jahrzehnte an der Kurie im Vati- schrieb Benedikt in einem Dankesbrief an
kan gearbeitet. „Und viele von uns kann- den Regensburger Bischof Rudolf Voderhol-
ten ihn schon als Kardinal sehr gut.“ Auch zer, der ihm den Aufenthalt in der Heimat
die gemeinsame Sprache, ein Großteil der Bei der Trauerfeier für Benedikt am 5. Januar noch einmal ermöglicht hatte.
Mit dem Verlesen dieser Zeilen im Re-
quiem für den Papstbruder und langjähri-
gen Leiter der Regensburger Domspatzen
Ein Buch macht Furore hatte Benedikt damals seinen Sekretär be-
auftragt, Erzbischof Georg Gänswein. Die-

E s war für Papst Benedikts Privatsekretär


Georg Gänswein ein persönlicher Super-
gau, noch während er trauernd am Sarg des
nicht“, mochte er sich gedacht haben, ohne
zu ahnen, dass der Verlag aus dieser Formel
– durchaus vertragstreu – ein „unmittelbar
ser kämpfte dabei immer wieder mit Trä-
nen. Gänswein bezeugte damit auch, wie
innig die Beziehung der Geschwister zuei-
verstorbenen Papstes betete: Die Ankündi- nach dem Tod“ machen würde. Es war ein nander war, und letztlich auch zu ihm, der
gung seiner Buch-Enthüllungen mit dem auf- Desaster, nachdem der verwaiste Sekretär beiden nahestand: dem „Bücher-Ratz“ und
geplusterten Titel „Nichts als die Wahrheit“, seinen Verlag ebenso vergeblich wie hände- dem „Orgel-Ratz“, wie sie von studentischen
zeitgleich mit den aktuellen Fotos, die ihn ringend zu bewegen versuchte, „sein“ Buch Freunden genannt wurden. (Barbara Just)
erschüttert neben dem aufgebahrten Leich- mit mehr „riservatezza“ zu bewerben. Doch
nam seines Dienstherrn zeigten. Noch war da war sein Buch nicht mehr sein Buch –
Papst Benedikt nicht bestattet, streute Gäns- und der Verlag war ohnehin nicht „sein“
weins italienische Verlegerin mit berechnen- Verlag. Er hatte die Rechnung ohne die Wir-
dem Kalkül, in obszöner Nähe zu den Bil- tin gemacht. Genauer: ohne Marina Berlu-
dern vom Tod Benedikts, das Gerücht, dass sconi, die Tochter des „Cavaliere“, des größ-
picture alliance/dpa/dpa-Pool | Sven Hoppe

ganz bald eine Abrechnung vom Präfekten ten Verkaufsgenies unter Italiens Ex-Premi-
des päpstlichen Hauses mit Papst Franzis- ers, die seit Jahren auch Mitbesitzerin des
kus erscheinen würde. Gänswein war „ge- Großverlages Mondadori ist und damit Mut-
linkt“ worden und hatte sich täuschen las- ter des Verlagshäuschens Piemme, in dem
sen, um es schlicht zu sagen. Es war ein Ge- Gänsweins Erinnerungsbuch erschien, das
niestreich aggressiver Verlagspolitik, auf den in Deutschland der Herder-Verlag vermark-
Georg Gänswein hereingefallen war. Es hatte tet. Nichts von dieser Dame und diesem Zu-
mit Saverio Gaeta Gespräche geführt, de- sammenhang hatte Gänswein im Blick, als
ren Aufzeichnung nach dem Tod Benedikts er etwas blauäugig seine Unterschrift un-
erscheinen sollte. „Nach dem Tod, warum ter den Vertrag gesetzt hatte.  (pb) Papst Benedikt am Münchner Flughafen

VATICAN 2-2023 13
T I T EL- T H E M A

„Benedikt ging
es um das,
was Gott will“
„Dieser Mann hat mein Leben verändert", sagt der
Benedikt-Biograf und Bestseller-Autor Peter Seewald

VON BE RN H A RD M ÜLLE R

Wann haben Sie Kardinal Jo-


seph Ratzinger zum ersten
Mal persönlich getroffen?
Im November 1992, als ich im
Auftrag des Magazins der „Süd-
deutschen Zeitung“ ein Porträt
über den „Großinquistor“ der ka-
tholischen Kirche schrieb. Mit Glau-
ben hatte ich damals nichts am Hut.
Doch diese Begegnung war der Beginn
von etwas, das mein Leben verändern sollte.
Peter Seewald

13 Jahre später und nachdem Sie zwei In-


terviewbücher mit Kardinal Ratzinger ver-
öffentlicht hatten, sind Sie zum Konklave
nach Rom gereist. Hatten Sie da schon mit
der Wahl von Joseph Ratzinger zum neuen
Papst gerechnet?
Im Gegensatz zu vielen damaligen Spekula-
tionen war ich immer der Meinung gewe-
sen, dass bei einer Papstwahl der Heilige
Geist das entscheidende Wörtchen mitredet.
Ich kam damals mit der festen Zuversicht
nach Rom, dass Joseph Ratzinger Papst wer-
den würde. Seine ganze Biografie strebte
nach Vollendung.

14 VATICAN 2-2023


Eine schon bis dahin außergewöhnliche
Biografie.
Wie wahr. Als er nach dem Tod von Johan-
nes Paul II. endlich in den Ruhestand treten
wollte, wählte ihn das Konklave als ersten
Deutschen seit einem halben Jahrtausend
zum Oberhaupt der größten Religionsge-
meinschaft der Welt. Joseph Ratzinger, der
Sohn einfacher Leute aus der bayerischen
Provinz, schrieb eine Jahrhundertbiogra-
fie. Es gibt keinen zeitgenössischen Deut-
schen, der ihm an Bedeutung gleichkäme.
Nicht von ungefähr zählt ihn der britische
Historiker Peter Watson zu den „Genies“
der Deutschen, gleich neben Giganten wie
Beethoven, Hölderlin und Kant.

Vor allem in Deutschland hieß es aber spä-


ter in Theologenkreisen, Ratzinger sei die
falsche Wahl gewesen.
Heute noch habe ich den Aufschrei seiner
Gegner im Ohr, die über diese Wahl ver-
zweifelt waren. Und nach seinem Rücktritt
hieß es, das Pontifikat Benedikts sei geschei-
tert, der Amtsverzicht sei seine größte Tat
gewesen. Aber ich stelle eine Gegenthese
auf: Ratzinger war das Beste, was der ka-
tholischen Kirche nach dem großen Johan-
nes Paul II. passieren konnte. Kein ande-
rer hatte die Erfahrung, die Qualität, die
Kapazität, das Geschick, die Noblesse, den
Kopf, das Herz und nicht zuletzt den star-
ken Glauben und die notwendige Demut,
um das Erbe eines Jahrhundertpapstes wie
Karol Wojtyla fortsetzen zu können.

RATZINGER WAR DAS BESTE,


WAS DER KATHOLISCHEN
KIRCHE NACH DEM GROSSEN
JOHANNES PAUL II.
PASSIEREN KONNTE. “
picture alliance / abaca | ABACA

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T I T EL- T H E M A

picture alliance / ROPI | OR/Picciarella


ES GEBE, SAGTE ER,
‚GENAU SO VIELE WEGE
ZU GOTT, WIE ES
MENSCHEN
GIBT‘.“ Sie haben neben vier Interviewbüchern,
Bildbänden und anderen Büchern auch
Nein, in seiner Biografie gibt es unzäh-
lige Aufs und Abs, mit Dramen, die an den
eine fast 1200 Seiten starke, von Bene- Rand des Scheiterns führten. Da waren
dikt begeistert gewürdigte Papst-Biogra- nicht nur die Erfahrungen in der Nazizeit,
fie veröffentlicht. Kein Journalist kannte als es hieß, katholische Priester würden
ihn besser als Sie, keinem hat er mehr nach dem „Endsieg“ entweder Berufsver-
Zeit geschenkt als Ihnen. Was prägte ihn bot bekommen oder im KZ landen. Als Stu-
Ihrer Meinung nach als Mensch, Theologe dent hatte er sich in ein Mädchen verliebt
und Papst? – eine Geschichte, die seine Entscheidung
Da ist zunächst die Herkunft aus einem im für den Priesterberuf existenziell machte.
Glauben besonders festen Elternhaus. Da Ein kritischer Aufsatz hätte ihn Ende der
ist die Verwurzelung in der liberalen und 50er-Jahre beinahe seine Berufung auf ei-
sinnhaften Religiosität des bayerischen Ka- nen Lehrstuhl gekostet. An seinem ersten
tholizismus. Und da ist die frühe Erfahrung Lehrstuhl in Bonn wurde er wiederum ge-
mit einer antichristlichen, atheistischen Dik- feiert als neuer Star am Himmel der Theo-
tatur, die das jüdische Volk ausrotten und logie – und gleichzeitig als gefährlicher Mo-
anstelle der Kirche ein deutsches Christen- dernist oder gar Freimaurer verdächtigt.
tum nach Nazi-Vorstellungen setzen will. Auffallend war seine Nähe zu unbequemen,
Ihn prägte also eine Zeit, in der nicht nur eigenständig denkenden Persönlichkeiten.
Bekennermut gefragt war, sondern auch Ratzinger war nicht ohne Fehler. Er hat auch
die Notwendigkeit, seine christliche Über- als Pontifex nicht alles richtig gemacht. So
zeugung erklären zu können. hat er sich etwa von der „Integrierten Ge-
meinde“ eine Zeitlang umgarnen und ins-
War Ratzingers Leben bis zur Papstwahl trumentalisieren lassen. Aber er galt zu-
ein glatter Durchmarsch, ein kirchlicher recht weltweit als einer der großen Den-
Aufstieg ohne Brüche? ker unserer Zeit. Sein Werk ist bedeutend,

16 VATICAN 2-2023


denken Sie nur an seine drei Jesus-Bände,
und sein Leben war ungemein spannend.

Niemand hat Kardinal Ratzinger bzw. Papst


Benedikt mehr Fragen gestellt als Sie. Wel-
che seiner Antworten hat Sie am meisten
beeindruckt?
Da gab es natürlich unzählige bei so einem
hohen Geist, der noch dazu einen wunder-
baren Humor hatte. Irgendwann während
eines Gesprächs hatte ich ihn gefragt, wie
viele Wege es zu Gott eigentlich gebe. Ich

picture alliance / abaca | Vandeville Eric


wusste wirklich nicht, was er sagen würde,
und hatte eher vermutet, er würde irgend-
eine Formel benutzen. Die Antwort kam wie
aus der Pistole geschossen. Es gebe, sagte Unaufrichtigkeit und so-
er, „genau so viele Wege zu Gott, wie es gar die glatte Desinforma-
Menschen gibt“. tion jede Diskussion“. An ihm
schieden sich eben die Geister.
Journalisten wissen nur zu gut: Es gibt ein- Für seine Gegner war er die Per-
fache Geprächspartner und eher schwie- sonifizierung eines rückschrittli-
rige. Wie war es mit Joseph Ratzinger? chen Kurses der Kirche. Ratzinger
Kein Gesprächspartner hat es mir in meiner selbst, der als Theologe immer darauf
Zeit als Journalist jemals leichter gemacht beharrte, die biblische Grundlage des
als er. Die Zusammenarbeit war stets gut Glaubens nicht zur Disposition zu stel-
und professionell. Er sprach immer ganz len, argumentierte selber, die Botschaft
präzise, suchte konzentriert nach der bes- Christi sei viel zu sperrig, um rundum auf
ten Formulierung und keiner seiner oft ver- Gegenliebe zu stoßen, erst recht in einer sä-
schlungenen Sätze verlor sich am Ende ins kularisierten Welt, die schon gar nicht mehr
Leere. Er ging auf jede Frage ein. Er wollte weiß, wovon gesprochen wird, wenn vom
weder vorher einen Fragenkatalog einse- katholischen Glauben die Rede ist.
hen noch hinterher etwas umformulieren.
Er war ein geistlicher Meister, der enorm Dennoch hat er ein Millionenpublikum
zuhören und trefflich antworten konnte – erreicht.
aus eigener Reflexion, aber vor allem aus Das ist wohl wahr. Niemals wurde das
der Tradition der Kirchenväter und Heiligen. Wort eines Papstes von so vielen Men-
schen zeitgleich rund um den Globus
Worin sah Papst Benedikt das Hauptpro- vernommen. Allein in seinem ers-
blem unserer Zeit? ten Amtsjahr konnte Benedikt fast
In der Entfremdung des Menschen von sei- vier Millionen Menschen um sich
nem Schöpfer. Demzufolge war sein Haupt- scharen – mehr als jeder seiner
anliegen: Die Menschen einer Zeit der Got- Vorgänger im vergleichbaren
tesferne müssten wieder mit Jesus Chris- Zeitraum. Papstbücher stürm-
tus bekannt gemacht werden; mit seiner ten überall die Bestsellerlis-
Gnade, seiner Barmherzigkeit, aber auch ten und lösten gewisserma-
mit seinen Mahnungen. ßen den größten Glaubens-
Crashkurs aller Zeiten aus.
Warum glauben Sie, wurde Papst Bene-
dikt XVI. so häufig angegriffen, gerade in
seiner deutschen Heimat?
Wahrscheinlich wurde tatsächlich kein an-
derer Kirchenführer härter angegriffen als
er. Manchmal zurecht. Meist zu Unrecht. Der
französische Philosoph Bernard-Henri Lévy
hat es so formuliert: Sobald die Rede auf Rat-
zinger komme, beherrschten „Vorurteile,

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T I T EL- T H E M A

Seine erste Enzyklika über die Liebe wurde Erfüllte es ihn mit Angst und Sorge, dass
weltweit millionenfach verkauft. Ein un- die Herde in Westeuropa immer kleiner
glaublicher Vorgang. wurde?
Er hatte schon 1958 prophezeit, die Kirche
Und doch war er vielen ein Unbequemer. werde klein werden, werde viel von ihrer
Benedikt überzeugte nicht nur mit Urteils- Macht abgeben und zu einem Häuflein von
kraft, sondern durch die Authentizität eines Bekennenden werden müssen – aber da-
Lebens, das ganz auf die Nachfolge Christi für würden ihr auch wieder jene Kräfte zu-
ausgerichtet war. Er konnte nicht anders le- wachsen, die es vermögen, die Kirche Christi
ben, als wie er lehrte. Er schielte nie nach in eine neue Zeit zu führen. Joseph Ratzin-
dem Zeitgeist und nach Beifall. Er selbst sah ger war nicht nur ein radikal Denkender,
sich als letzten Papst einer untergehenden sondern auch ein radikal Glaubender, der
Epoche und zugleich als jemanden, der eine sich von Amt und Würden nie manipulie-
Brücke baute und Hilfen gab für das Kom- ren ließ. Ihm ging es nicht um das, was die
men des Neuen. „Das Neue ist noch nicht Moden der Zeiten wollten, sondern um das,
ganz da“, pflegte er zu sagen, aber das Alte was Gott will.
ist vergangen.
Papst Benedikt beklagte einmal, dass die
moderne Gesellschaft dabei sei, diejeni-
gen „sozial zu exkommunizieren“, die mit
Abtreibung und dem liberalistischen Men-
schenbild nicht einverstanden seien. Was
riet er den Gläubigen angesichts dieser
Bedrohungen zu tun?
Den Anweisungen seines päpstlichen Na-
mensgebers zu folgen: beten und arbeiten.
Einfach standhalten. Sich vom Relativismus
nicht anstecken zu lassen und nicht zu ver-
zweifeln. Denn er war gewiss: Letztlich wird
Christus immer der Sieger bleiben.

Hat ihm seine kritische Haltung gegen-


über den Entwicklungen in den westlichen
Gesellschaften zurecht den Vorwurf ein-
gebracht, ein kirchlicher Reformbrem-
ser zu sein?
Er war der Anti-Populist schlechthin, er hat
sich nie als großer Reformer verkauft. Aber
er war natürlich genau das, ein Erneuerer
der Kirche. Viele der Reformen, die Papst
Franziskus zugeschrieben werden, hat die-

DIE MENSCHEN MÜSSTEN


picture-alliance/ dpa | epa ansa Danilo Schiavella

WIEDER MIT JESUS BEKANNT


GEMACHT WERDEN;
MIT SEINER GNADE, SEINER
BARMHERZIGKEIT, ABER AUCH
MIT SEINEN MAHNUNGEN.“

18 VATICAN 2-2023


ser nur weitergeführt. Sie wurden von Bene- lichste erschien, nämlich die Erneuerung
dikt ins Werk gesetzt. Gleich zu Beginn nahm und Festigung dieses Glaubens. Für leere
er die Tiara aus dem päpstlichen Wappen, Gesten und Effekthascherei war er ohne-
Zeichen auch für die weltliche Macht des hin nicht zu haben. Ein Brückenbauer in
Amtes. Er führte erstmals Bischofs­synoden Zeiten des Umbruchs, der den Menschen
ein, die kollegial auf Dialog angelegt wur- half, nicht die Orientierung und den Bo-
den. Er nahm die Reinigung des vatikani- den unter den Füßen zu verlieren. Bene-
schen Finanzwesens in Angriff, ermunterte dikt XVI. war ein Pontifex der Liebe. Ruhig,
die Ortskirchen zu mehr Selbstständigkeit, mit einem langen Atem und der ihm eige-
begründete Themenjahre wie das Priester- nen Souveränität machte sich der „Arbei-
jahr und das Jahr des Glaubens, und berief, ter im Weinberg des Herrn“ ans Werk, das
auch dies ein Novum, einen Protestanten Geheimnis des Evangeliums neu zu erzäh-
zum Vorsitzenden des päpstlichen Rates der len, Christus ins Licht zu rücken – in seiner
Wissenschaften. Er wusch den Gefangenen ganzen mystischen Größe. Papst Benedikt
die Füße und las den Mächtigen die Levi- zeigte: Glaube ist kein Problem, das man lö-
ten. Aufsehen erregten seine Anklagen ge- sen müsste. Glaube ist ein Geschenk, das es
gen den Turbokapitalismus, der auf gna- neu zu entdecken gilt.
denlose Proftimaximierung setzt. Er war
der erste grüne Papst, wie man ihn nannte. Zuletzt hielt man Papst Benedikt vor, er
Ein historischer Akt ohnegleichen, dass mit habe gegenüber dem sexuellen Missbrauch
ihm erstmals ein katholisches Kirchenober- in der Kirche vertuscht und verheimlicht.
haupt die Wirkstätte Luthers besuchte. Im Tatsache ist, dass es Versäumnisse und Feh-
interreligiösen Dialog verteidigte er den Is- ler gab, die er offen einräumte. Als Präfekt
lam gegen jene Kräfte, die die Religion für der Glaubenskongregation traf er allerdings
eigene Zwecke instrumentalisieren. Für die auch früh Maßnahmen, um konsequent auf-
jüdische Welt verkündeten hochrangige Re- zuklären, die Täter zu bestrafen, den Opfern
präsentanten, nie sei die Beziehung zwi-
schen dem Judentum und der katholischen
Kirche besser gewesen als unter Benedikt
XVI. Und noch eines: Mit seiner Regensbur- Das Papstwappen
ger Rede hat dieser Papst gezeigt, dass Re-
ligion und Wissenschaft, Glaube und Ver-
Benedikts XVI.
nunft, keine Gegensätze sein dürfen. Dass
Im zentralen roten Feld des Wappens befindet sich
gerade die Vernunft der Garant dafür ist, eine Muschel, die an den hl. Augustinus (354 –
die Religion vor dem Abgleiten in irre Phan- 430) erinnert. Als dieser einmal am Meeresstrand
tasien und in gewalttätigen Fanatismus zu entlangging, um über die Unergründlichkeit des
schützen. Dann sein Freiburger Aufruf zur Dreifaltigen Gottes nachzudenken, traf er auf ei-
Entweltlichung der Kirche. Man könnte die nen Knaben, der mit einer Muschel Meerwasser
Liste unendlich fortsetzen. Benedikt XVI. in eine kleine Grube schüttete. Als Augustinus ihn
war, bei aller Einfachheit, von unfassba- nach dem Sinn seines Tuns fragte, bekam er zur
rer Genialität. Man wird das immer bes- Antwort: „Ich schöpfe das Meer in diese Grube.“
ser erkennen können. Im Grunde konnte So ist die Muschel das Symbol für das Eintauchen
und kann ihm niemand das Wasser reichen. in das unergründliche Meer der Gottheit. Joseph
Vor allem: Er gab kompetente und zuver- Ratzinger selber promovierte 1953 mit einer Dis-
lässige Wegweisung. Für eine Erneuerung sertation über „Volk und Haus Gottes in Augustins
Lehre von der Kirche“ zum Doktor der Theologie.
aus der Bewahrung und eine Bewahrung
Darüber hinaus versinnbildlicht die Muschel auch Bären angegriffen. Korbinians Pferd wurde getö-
durch Erneuerung.
den Pilger (Jakobsmuschel). tet, aber ihm selbst gelang es, den Bären zu zäh-
men und sich von ihm sein Gepäck bis nach Rom
Wie würden Sie selber Benedikts Pontifi-
Der gekrönte Mohrenkopf aus dem Wappen der tragen zu lassen.
kat beschreiben?
Erzbischöfe von München-Freising zeigt den „Frei-
Als Joseph Ratzinger am 19. April 2005 zum singer Mohr“. Der Bär des Bistumspatrons Korbi- Den oberen Abschluss des Wappens bildet die Mi-
Papst gewählt wurde, sah er „ein Fallbeil“ nian trägt einen Packsattel auf dem Rücken, was tra. Benedikt XVI. ist der erste Papst der Geschichte,
auf sich niedersausen. Er hatte seine Kräfte auf eine alte Legende über den ersten Bischof von der als Zeichen der Bescheidenheit in seinem Wap-
nicht sehr hoch eingeschätzt. Daher hat er Freising, den heiligen Korbinian verweist. Dieser pen auf die Papstkrone Tiara verzichtete und sie
all das angepackt, was ihm angesichts der wurde auf der Reise nach Rom von einem wilden durch die einfache Bischofsmütze ersetzte.
gewaltigen Glaubenskrise als das Dring-

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T I T EL- T H E M A

picture alliance/dpa | Michael Kappeler


VIELE DER REFORMEN,
DIE PAPST FRANZISKUS
picture alliance/dpa | Oliver Weiken

ZUGESCHRIEBEN WERDEN,
WURDEN VON BENEDIKT
INS WERK GESETZT.“

gegenüber Sühne zu leisten. Unvergesslich lische Essayist G. K. Chesterton schrieb über
seine Mahnung beim Kreuzweg des Karfrei- die Heiligen, sie seien ein Heilmittel, weil
tags 2005: Wieviel Schmutz gebe es in der Kir- sie ein Gegengift seien. Sie erneuerten und
che, und gerade auch bei Priestern. Als Papst heilten die Welt dadurch, dass sie ganz be-
verschärfte er die entsprechenden Gesetze, sonders in sich verkörperten, was die Welt
entließ rund 400 Priester aus dem Dienst und vernachlässigt hat. So ein Mann war Be-
definierte die kirchenrechtlichen Grundla- nedikt XVI.
gen, um auch Bischöfe und Kardinäle zu
belangen. Die italienische Enthüllungsjour- Sie haben ihn noch zwei Monate vor sei-
nalist Gianluigi Nuzzi gab zu Protokoll, Be- nem Tod ein letztes Mal besucht. Wie wa-
nedikt habe, „den Mantel des Schweigens ren die Besuche und Gespräche in den letz-
weggezogen und seine Kirche gezwungen, ten Jahren bei ihm?
den Blick auf die Opfer zu richten“. Er war da an den Rollstuhl gefesselt. Zuletzt
musste er, wenn er zwei Sätze herausge-
Beim Abschiedgottesdienst auf dem Pe- bracht hatte, abhusten, um seine Lunge zu
tersplatz sah man Plakate mit der Auf- entlasten. Aber sein Geist war hellwach bis
schrift SANTO SUBITO, auf denen eine so- zuletzt. Bei meinem letzten Besuch sagte er
fortige Heiligsprechung für Benedikt ge- mir, er lebe noch, weil er sein Leid aushalten
fordert wurde. müsse als ein Zeichen für die Wahrheit der
Ich will dazu nur soviel sagen: Zuletzt be- Botschaft Jesu, deren unverfälschter Wei-
zeichnete Papst Franziskus seinen von ver- tergabe er sich zeitlebens gewidmet hatte.
schiedenen Seiten so gescholtenen Vorgän- Sein Grundimpuls war, unter den Verkrus-
ger bereits als „Heiligen“. Die Lehre dieses tungen der Kirche den eigentlichen Glau-
Großen sei unverzichtbar für die Zukunft benskern freizulegen und diesem Kern Kraft
der Kirche. Sein Geist werde „von Genera- und Dynamik zu geben. Dieser Impuls war
tion zu Generation immer größer und mäch- nach seinen eigenen Worten „die Konstante
tiger in Erscheinung treten“. Der große eng- meines Lebens“. Ω

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G E I S TL ICHES TES TAM ENT

„Steht fest im Glauben!“


Am Tag seines Todes hat der Vatikan das geistliche Testament von Papst Benedikt XVI.
veröffentlicht, das er bereits am 29. August 2006 verfasste

Wenn ich in dieser späten Stunde meines Lebens auf die Jahr- ges, besonders aber in Rom und in Italien erfahren durfte,
zehnte zurückschaue, die ich durchwandert habe, so sehe das mir zur zweiten Heimat geworden ist.
ich zuallererst, wieviel Grund ich zu danken habe. Ich danke
vor allen anderen Gott selber, dem Geber aller guten Ga- Alle, denen ich irgendwie Unrecht getan habe, bitte ich von
ben, der mir das Leben geschenkt und mich durch vielerlei Herzen um Verzeihung.
Wirrnisse hindurchgeführt hat; immer wieder mich aufge-
hoben hat, wenn ich zu gleiten begann, mir immer wieder Was ich vorhin von meinen Landsleuten gesagt habe, sage
neu das Licht seines Angesichts geschenkt hat. In der Rück- ich nun zu allen, die meinem Dienst in der Kirche anvertraut
schau sehe und verstehe ich, daß auch die dunklen und müh- waren: Steht fest im Glauben! Laßt euch nicht verwirren! Oft
samen Strecken dieses Weges mir zum Heile waren und daß sieht es aus, als ob die Wissenschaft – auf der einen Seite die
Er mich gerade da gut geführt hat. Naturwissenschaften, auf der anderen Seite die Geschichts-
forschung (besonders die Exegese der Heiligen Schriften) –
Ich danke meinen Eltern, die mir in schwerer Zeit das Le- unwiderlegliche Einsichten vorzuweisen hätten, die dem ka-
ben geschenkt und unter großen Verzichten mir mit ihrer tholischen Glauben entgegenstünden.
Liebe ein wundervolles Zuhause bereitet haben, das als helles
Licht alle meine Tage bis heute durchstrahlt. Der hellsichtige Ich habe von weitem die Wandlungen der Naturwissenschaft
Glaube meines Vaters hat uns Geschwister glauben gelehrt miterlebt und sehen können, wie scheinbare Gewißheiten
und hat als Wegweisung mitten in all meinen wissenschaft- gegen den Glauben dahinschmolzen, sich nicht als Wissen-
lichen Erkenntnissen standgehalten; die herzliche Frömmig- schaft, sondern als nur scheinbar der Wissenschaft zugehö-
keit und die große Güte der Mutter bleiben ein Erbe, für das rige philosophische Interpretationen erwiesen – wie freilich
ich nicht genug danken kann. auch der Glaube im Dialog mit den Naturwissenschaften die
Grenze der Reichweite seiner Aussagen und so sein Eigent-
Meine Schwester hat mir selbstlos und voll gütiger Sorge liches besser verstehen lernte.
über Jahrzehnte gedient; mein Bruder hat mir mit der Hell-
sicht seiner Urteile, mit seiner kraftvollen Entschiedenheit Seit 60 Jahren begleite ich nun den Weg der Theologie, beson-
und mit der Heiterkeit des Herzens immer wieder den Weg ders auch der Bibelwissenschaften, und habe mit den wech-
gebahnt; ohne dieses immer neue Vorausgehen und Mitge- selnden Generationen unerschütterlich scheinende Thesen
hen hätte ich den rechten Weg nicht finden können. zusammenbrechen sehen, die sich als bloße Hypothesen er-
wiesen: die liberale Generation (Harnack, Jülicher usw.), die
Von Herzen danke ich Gott für die vielen Freunde, Männer existenzialistische Generation (Bultmann usw.), die marxis-
und Frauen, die er mir immer wieder zur Seite gestellt hat; tische Generation. Ich habe gesehen und sehe, wie aus dem
für die Mitarbeiter auf allen Stationen meines Weges; für Gewirr der Hypothesen wieder neu die Vernunft des Glau-
die Lehrer und Schüler, die er mir gegeben hat. Sie alle ver- bens hervorgetreten ist und hervortritt.
traue ich dankbar seiner Güte an. Und danken möchte ich
dem Herrn für die schöne Heimat im bayerischen Voralpen- Jesus Christus ist wirklich der Weg, die Wahrheit und das Le-
land, in der ich immer wieder den Glanz des Schöpfers selbst ben – und die Kirche ist in all ihren Mängeln wirklich Sein
durchscheinen sehen durfte. Leib. Endlich bitte ich demütig: Betet für mich, damit der
Herr mich trotz all meiner Sünden und Unzulänglichkeiten
Den Menschen meiner Heimat danke ich dafür, daß ich bei in die ewigen Wohnungen einläßt. Allen, die mir anvertraut
ihnen immer wieder die Schönheit des Glaubens erleben sind, gilt Tag um Tag mein von Herzen kommendes Gebet.
durfte. Ich bete darum, daß unser Land ein Land des Glau-
bens bleibt und bitte Euch, liebe Landsleute: Laßt euch nicht
vom Glauben abbringen. Endlich danke ich Gott für all das
Schöne, das ich auf den verschiedenen Stationen meines We-

VATICAN 2-2023 21
B IO GR AF IE

Ratzingers Weg bis


zum Papstamt
16. April 1927: Joseph Ratzinger wird als Sohn 1977: Papst Paul VI. beruft Ratzinger am
eines Gendarmerie-Beamten in Marktl am 25. März als Nachfolger von Kardinal Ju-
Inn in der Diözese Passau geboren. Kindheit lius Döpfner zum Erzbischof von München
und Jugend verbringt er in Traunstein im 1953: Dozent für Dogmatik und Fundamen- und Freising. Am 28. Mai erhält Ratzinger
Chiemgau nahe der österreichischen Grenze. taltheologie in Freising. Theologische Dis- die Bischofsweihe und wählt als bischöfli-
sertation über das Thema „Volk und Haus ches Motto „Mitarbeiter der Wahrheit“. Am
1945: Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“. 27. Juni 1977 kreiert ihn der Papst zum Kar-
wird Ratzinger als Flakhelfer eingezogen. dinal mit der Titelkirche „Santa Maria Con-
Nach dem Tod Hitlers befindet er sich kurz- 1957: Habilitation in München über „Die Ge- solatrice al Tiburtino“.
zeitig in amerikanischer Kriegsgefangen- schichtstheologie des heiligen Bonaventura“.
schaft in Neu-Ulm. 1981: Johannes Paul II. betraut ihn am 25.
ab 1959: Professor in Bonn (1959–1963), November mit der Leitung der Römischen
1946 bis 1951: Studium der Philosophie und Münster (1963–1966), Tübingen (1966-1969) Glaubenskongregation. Ratzinger wird
Theologie an der Philosophisch-Theologi- und Regensburg (1969–1977); dort Vizerek- auch Präsident der Päpstlichen Bibelkom-
schen Hochschule Freising und an der Uni- tor der Universität. mission und der Internationalen Theolo-
versität München. genkommission.
1962-1965: Beim Zweiten Vatikanischen Kon-
1951: Priesterweihe durch Kardinal Michael zil fungiert Ratzinger als theologischer Bera- 1982: Am 15. Februar Verzicht auf die Lei-
von Faulhaber am 29. Juni. Primiz in Traun- ter des Kölner Kardinals und deutschen Epi- tung der Erzdiözese München und Freising.
stein zusammen mit Bruder Georg. skopatsvorsitzenden Josef Frings. Er prägt
zentrale Konzilsdokumente mit. Später wich-
tige Ämter in der Deutschen Bischofskon-
ferenz und der Internationalen Theologen-
kommission im Vatikan.

picture alliance / photothek | Ute Grabowsky


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22 VATICAN 2-2023


2. April 2005: Tod Papst Johannes Pauls II.
1983: Für Aufsehen sorgen in Ratzingers Als dienstältester Kurienkardinal und De-
ersten Dienstjahren im Vatikan die Ausei- kan des Kardinalskollegiums zelebriert Rat-
nandersetzungen mit der Befreiungstheolo- 1993: Kardinalbischof der Diözese Velle- zinger die Totenmesse für den Verstorbenen
gie, etwa mit Gustavo Gutierrez (1983) und tri-Segni. (8. April) und leitet das Konklave (18. April).
den Brüdern Clodovis und Leonardo Boff
(1984/85). Im April 1986 erscheint die Va- 1998: Am 6. November Ernennung zum Vi- 19. April: In einem der kürzesten Konklave
tikan-Instruktion über Freiheit und Befrei- zedekan des Kardinalskollegiums. der Kirchengeschichte wird Ratzinger be-
ung, die die Wogen glättet und den Weg zu reits im vierten Wahlgang gewählt. Der 265.
einer nicht-marxistisch orientierten Befrei- 2000: Die von Ratzinger verfasste Erklärung Papst der Kirchengeschichte nennt sich Be-
ungstheologie ebnet. „Dominus Iesus“ betont die Einzigartigkeit nedikt XVI., in Erinnerung an den Friedens-
der Menschwerdung Gottes in Jesus Chris- papst Benedikt XV. und an den Patron Euro-
1992: Vorstellung des neuen Weltkatechis- tus und die besondere Stellung der katho- pas und Ordensgründer Benedikt von Nur-
mus der katholischen Kirche, der seit 1986 lischen Kirche. sia. Benedikt XVI. ist der erste deutsche Papst
unter Ratzingers theologischer Ägide erar- seit 482 Jahren.
beitet wurde. Am 13. Februar wird Ratzin- 2002: Am 30. November 2002 wird er De-
ger zum Mitglied des „Institut de France“ kan des Kardinalskollegiums.
berufen.
2004: Viel beachtete Diskussion mit dem
Philosophen Jürgen Habermas im Januar.
picture-alliance / dpa | Filippo_Monteforte

picture-alliance | Bartlomiej Zborowski


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VATICAN 2-2023 23
W ÜRD I GU N G

Benedikt XVI. –
Mitarbeiter der Wahrheit
Nachruf auf einen großen und demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn

VO N M A N FRE D SP I E K E R

ass es im Leben von Joseph Rat- wollte, lehnte er mit der Begründung ab, er

D zinger mehrfach anders kam, als


er wollte, ist bekannt. „Ich wollte
sei als Erzbischof von München noch viel
zu kurz im Amt. Als ihn Johannes Paul II.
mein Leben lang ein richtiger Professor Ende 1981 erneut nach Rom berief, dies-
sein“, sagte er 2016 in seinem Buch „Letzte mal als Präfekt der Glaubenskongrega-
Gespräche“ mit Peter Seewald. Der Wech- tion, stellte er eine für einen Professor ty-
sel von der Universität Tübingen an die Uni- pische Bedingung, die er für unerfüllbar
versität Regensburg 1969 sollte nach vor- hielt: „Ich kann es nur annehmen, wenn
herigen Stationen in Münster, Bonn und ich auch weiterhin publizieren darf.“ Johan-
Freising „ganz entschieden der letzte sein“. nes Paul II. ließ das prüfen und antwortete:
Als nach dem plötzlichen Tod des Erzbi- „Können Sie.“ Am 28. Februar 1982 verließ
schofs von München, Julius Kardinal Döpf- Ratzinger München. Auch als Präfekt der
ner, im Juli 1976 Gerüchte auftauchten, die Glaubenskongregation träumte er immer
unter den Kandidaten für die Nachfolge wieder vom Gelehrtenleben. Nach jeweils
auch seinen Namen enthielten, wollte er fünf Jahren im Amt bat er Johannes Paul
sie „nicht sehr ernst nehmen, denn die Gren- II. um Entlassung. Die Antwort war jedes
zen meiner Gesundheit waren ebenso be- Mal „Nein“, und noch bevor er an seinem
kannt wie meine Fremdheit gegenüber Auf- 75. Geburtstag 2002 das übliche Rücktritts-
gaben der Leitung und Verwaltung; ich schreiben überreichen konnte, ließ ihn Jo-
wusste mich zum Gelehrtenleben berufen“. hannes Paul II. wissen: „Sie brauchen mir
So dachte er auch „an nichts Schlimmes“, nicht zu schreiben, brauchen mir nicht zu
als Nuntius Del Mestri ihn in Regensburg sagen, dass Sie losgebunden werden wol-
besuchte, in ein Hotel einbestellte, über Be- len, es wird nicht erhört. Sie müssen blei-
langloses mit ihm plauderte und ihm einen ben, solange ich da bin.“
Brief in die Hand drückte, den er zu Hause Joseph Ratzinger gehorchte erneut. Dem
lesen und bedenken sollte. „Er enthielt meine Konklave nach dem Tod Johannes Pauls II.
Ernennung zum Erzbischof von München sah er gelassen entgegen: „Schließlich war
und Freising.“ ich inzwischen 78 Jahre alt, was natürlich be-
Joseph Ratzinger gehorchte dem Ruf von ruhigend war. Wenn die Bischöfe mit 75 Jah-
Papst Paul VI. und trat am 28. Mai 1977 sein ren aufhören, kann man nicht einen 78-Jäh-
Amt in München an. Schon vier Wochen rigen auf den Stuhl Petri hieven.“ Es kam
später wurde er zum Kardinal ernannt. Als wiederum anders. Die Kardinäle einigten
Papst Johannes Paul II. ihn bald nach sei- sich sehr schnell auf ihn. Er scheute sich
ner Wahl als Leiter der Kongregation für nicht, von einem Fallbeil zu sprechen und
die katholische Erziehung nach Rom holen die Wahl mit einer Guillotine zu vergleichen.

24 VATICAN 2-2023


„Das Unglaubliche jetzt tatsächlich gesche-
hen zu sehen, war wirklich ein Schock. Ich
war überzeugt, dass es Bessere und Jüngere
gab. Warum der Herr es mir angetan hat,
musste ich ihm überlassen. Ich habe ver-
sucht, den Gleichmut zu bewahren, ganz im
Vertrauen darauf, dass er mich jetzt schon
führen wird.“ Nach dem großen Papst Jo-
hannes Paul II. habe Gott, so verkündete er
am 19. April 2005 auf der Loggia des Peters-
domes, „einen einfachen, demütigen Arbei-
ter im Weinberg des Herrn“ erwählt. Am
10. Februar 2013 erklärte er seinen Rück-
tritt. Knapp zehn Jahre verbrachte er noch
in seinem Kloster Maria Mater Ecclesiae in
den Vatikanischen Gärten, betend, gelegent-
lich Besucher empfangend, hin und wieder
Grußworte schreibend, die Krise der Kirche
beobachtend und zur Überraschung aller
Welt im April 2019 ausführlich kommentie-
rend, sowie immer wieder seinen Nachfol-
ger Papst Franziskus verteidigend.

Professor

Meine erste Begegnung mit Joseph Ratzin-


ger ist unvergesslich. Ich war Mitarbeiter im
Sekretariat der Synode der westdeutschen
Bistümer. Am Rande der konstituierenden
Sitzung der Synode Anfang Januar 1971 in
Würzburg verabredete sich mein Doktor-

KNA-Bild/KNA
vater Hans Maier, auf dessen Vorschlag hin
ich die Stelle bei der Synode angenommen
hatte und den ich gerade begleitete, mit Jo-
seph Ratzinger zum Abendessen im Bur-
kardushaus. Maier war vier Wochen zuvor „Fides et ratio“ von Johannes Paul II. (1998), bekannte er 2016, Glaube und Vernunft als
bayerischer Kultusminister geworden. Die an der er als Präfekt der Glaubenskongrega- seine Sendung erkannt und sich immer als
Gestalt Ratzingers faszinierte mich: unprä- tion maßgeblich mitwirkte, enthalten auch „Mitarbeiter der Wahrheit“ verstanden zu
tentiös, freundlich, mit einem Gesicht, so die Signatur seiner Theologie: „Glaube und haben. Diesen bischöflichen Wahlspruch
transparent, dass ich spontan dachte: ein Vernunft sind wie die beiden Flügel, mit könne man auch auf seinen Grabstein set-
Professor, der sich mit seiner Wissenschaft denen sich der menschliche Geist zur Be- zen. Man könne mit der Wahrheit, weil sie
nicht nur am Schreibtisch und in Bibliothe- trachtung der Wahrheit erhebt. Das Stre- Person ist, mitarbeiten. Dies sei „die eigent-
ken befasst, sondern auch auf den Knien ben, die Wahrheit zu erkennen und letzt- liche Definition des Metiers eines Theolo-
vor dem Tabernakel. lich ihn selbst zu erkennen, hat Gott dem gen“. Ausgangs- und Zielpunkt seiner Theo-
Was war die Signatur seiner theologischen Menschen ins Herz gesenkt, damit er da- logie ist die Verkündigung. Eine Theologie,
Wissenschaft und wie hat er sie Studenten, durch, dass er Ihn erkennt und liebt, auch die nicht dem Glauben dient, verfehlt ihren
Kollegen, Kirche und Gesellschaft vermit- zur vollen Wahrheit über sich selbst gelan- Sinn. Ein Glaube, der vor der Vernunft flieht,
telt? Die ersten beiden Sätze der Enzyklika gen könne.“ In seinen „Letzten Gesprächen“ ist nicht katholisch. Auch als Präfekt der

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W ÜRD I GU N G

Glaubenskongregation und als Papst war der Form, aber hart in der Sache – wegen der Neuen Ordnung, als eine neue Herme-
ihm das Verhältnis von Glaube und Ver- der Legalisierung der Abtreibung wider- neutik des christlichen Glaubens, die alle
nunft ein Herzensanliegen – nicht zuletzt sprach, und selbst sein Verhältnis zu Hans Formen kirchlichen Lebens verändere: die
im Dialog mit dem Islam. Küng, den er kurz nach seiner Wahl zum kirchliche Verfassung, die Liturgie, die Ka-
Zeit seines Lebens bemühte sich Joseph Papst zu einem langen Gespräch nach Cas- techese und die moralische Option. Sie ver-
Ratzinger darum, seine Dogmatik biblisch tel Gandolfo einlud, ohne freilich dessen an- schmelze die Hoffnung auf das Reich Got-
zu begründen und in die Tradition der Kir- tirömische Allergie heilen oder auch nur tes mit der politischen Aktion und der sozi-
che einzufügen. Das Verhältnis von Schrift mildern zu können. alistischen Utopie. Zwei Instruktionen der
und Tradition wurde so ein zweites großes Glaubenskongregation dokumentieren diese
Thema seiner Theologie. Es prägte sein Buch Auseinandersetzung, die Instruktion „über
„Eschatologie. Tod und ewiges Leben“, das Präfekt einige Aspekte der ‚Theologie der Befreiung‘“
einzige, das er noch als Professor in Regens- (1984) und die Instruktion „über die christ-
burg abschließen konnte. Seine Eschatolo- Die Auseinandersetzung mit der Befreiungs- liche Freiheit und die Befreiung“ (1986). Die
gie ist zugleich eine christliche Anthropolo- theologie kennzeichnete seine ersten Jahre Kritik an der Befreiungstheologie, der er
gie. Die Auseinandersetzung mit dem Leid als Präfekt der Glaubenskongregation. Diese wegen ihres Einsatzes für arme und mar-
ist die eigentliche Entscheidungsstätte des Theologie verstehe sich, schrieb er 1984 in ginalisierte Teile der Gesellschaft wieder-
Menschlichen. Der Mensch, der sich dem Lei-
den nicht stellt, verweigert sich dem Leben.
Nicht Prometheus, sondern der Kreuzesge-
horsam des Sohnes ist die Stätte, in der die
Gottwerdung des Menschen aufgeht. Ratzin-
gers Eschatologie grenzt sich ab von der po-
litischen Instrumentalisierung der Eschato-
logie in der Politischen Theologie, der Theo-
logie der Hoffnung und der Theologie der
Befreiung. Die Trennung von Eschatologie
und Politik war für ihn eine der grundlegen-
den Aufgaben der Theologie. Dies hat ihn
dann auch als Präfekt der Glaubenskongre-
gation in der Auseinandersetzung mit der
Theologie der Befreiung lange beschäftigt.
Wie hat Ratzinger seine Theologie den Stu-
denten vermittelt? Zahlreiche Zeugnisse be-
schreiben ihn als jemanden, der seinen Hö-
rern den Geschmack an der Theologie ver-
mittelte, der komplizierte Sachverhalte der
Dogmatik einfach und fesselnd erklärte, der
bescheiden auftrat, aber mit eindrucksvol-
ler Präsenz und Souveränität redete, des-
sen Stärke die Balance zwischen Zurückge-
zogenheit und In-der-Welt-Sein war. Seine
Schüler haben ihm bis zu seinem Tod die
Treue gehalten. Sie versammelten sich jähr-
lich zu einem Symposion, an dem er auch
noch als Papst bis ins hohe Alter teilnahm.
Auch einem zweiten Schülerkreis aus jün-
geren Theologen, die sich mit seiner Theo-
logie beschäftigen, stand er mit Wohlwollen
und Aufmerksamkeit gegenüber. Wohlwol-
len und Aufmerksamkeit kennzeichneten
auch sein Verhältnis zu Kollegen, seine öf-
fentlichen Dialoge mit Jürgen Habermas
und Marcello Pera, sein Streitgespräch als
Ernst Herb/KNA

Erzbischof von München mit dem damali-


gen Bundesjustizminister Hans-Jochen Vo-
gel am 20. Dezember 1979, dem er – mild in

26 VATICAN 2-2023


holt einen Kern an Wahrheit zubilligte, Tat liegt nicht nur dann vor, wenn die Tat dern Diener eurer Freude“ leitete ihn auch
zwang Joseph Ratzinger zu einem neuen aufgrund ihres Wesens oder der Intention als Papst. Er wollte Diener der Freude sein
Blick auf die katholische Soziallehre, der er des Mitwirkenden böse ist, sondern auch in seinen Bemühungen um die Einheit der
in einem Aufsatz 1964 wegen ihres natur- dann, wenn der rechtliche Kontext die Tat Kirche im Glauben, in der Liturgie und in
rechtlichen Ansatzes noch kritisch gegen- in eine solche Mitwirkung verwandelt. der Diakonie, um die Interpretation des II.
übergestanden hatte. Ihr „Realismus“ zeige Vatikanischen Konzils, um die Einheit der
sich darin, schrieb er 1986 in der Interna- Christenheit, um das Verhältnis zu den Ju-
tionalen Katholischen Zeitschrift Commu- Papst den als den älteren Brüdern im Glauben und
nio, „dass sie kein irdisches Paradies, keine um die Beziehungen zu den Muslimen, de-
unumkehrbar und endgültig positive Ge- Am 14. April 2005 wurde Ratzinger zum 265. ren Anliegen, der Religion öffentliche Prä-
sellschaft innerhalb dieser Geschichte ver- Papst in der Geschichte der katholischen senz zu verschaffen, er teilte. Dass ein Papst
heißt“. Sie sei die wissenschaftliche Entfal- Kirche gewählt. In den fast acht Jahren sei- nicht jedermanns Liebling sein kann, war
tung von grundlegenden sittlichen Impe- nes Pontifikats blieb er als Benedikt XVI. ihm bewusst. „Wenn ein Papst immer nur
rativen für den Aufbau der menschlichen der Gelehrte auf der cathedra Petri, die für Beifall bekäme“, sagte er in seinen „Letzten
Gesellschaft, „die aus den unverlierbaren ihn nie ein Thron war. Sein Primizspruch Gesprächen“, „müsste er sich fragen, ob er
Grundlagen des Glaubens und seinen wach- „Nicht Herren eures Glaubens sind wir, son- etwas nicht richtig macht. Denn in dieser
senden Erfahrungen mit der Praxis der Ge-
schichte resultieren“. Ihre moralischen For-
derungen basierten auf dem Evangelium
und der menschlichen Natur, einem Erbe,
das allen Menschen gehört. Das Festhalten
an diesem Erbe trug ihm den unberechtig-
ten Vorwurf des „Panzerkardinals“ ein. Pe-
ter Seewald widerlegte diesen Vorwurf in
seiner Biografie Benedikts XVI. mit über-
zeugenden Argumenten.
Als Präfekt der Glaubenskongregation
stand Ratzinger auch im Zentrum der
Kontroversen um die kirchliche Beteili-
gung an der nachweispflichtigen Schwan-
gerschaftskonfliktberatung in Deutschland.
Es ging in diesen Kontroversen um das mo-
raltheologische Problem der unerlaubten
Mitwirkung an einer bösen Tat und letzt-
lich um die Frage, ob es in sich schlechte
Handlungen gibt, die immer zu vermeiden
sind, die also weder durch besondere Um-
stände noch durch gute Absichten zu guten
oder akzeptierbaren Handlungen werden
können. Diese Frage hatte Johannes Paul II.
mit Ratzingers Unterstützung 1993 in der
Enzyklika „Veritatis Splendor“ über einige
grundlegende Fragen der kirchlichen Mo-
rallehre behandelt und bejaht. Ist die Aus-
stellung eines Beratungsscheins ein Mittel,
um das Leben des ungeborenen Kindes zu
retten, also eine gute Tat oder ist sie eine
Mitwirkung an der Tötung des Kindes, also
sittlich verwerflich? Ratzinger erkannte im
Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Bi-
schöfe und des Zentralkomitees der deut-
schen Katholiken das in der Beratungsre-
Katharina Ebel/KNA

gelung enthaltene strukturethische Prob-


lem, das Johannes Paul II. schon in seiner
Enzyklika „Evangelium Vitae“ (1995) erör-
tert hatte: Eine Mitwirkung an einer bösen

VATICAN 2-2023 27
W ÜRD I GU N G

Welt ist die Botschaft Christi ein Skandal,


angefangen mit Christus selbst. Es wird im-
mer Widerspruch geben und der Papst wird
immer Zeichen des Widerspruchs sein“.
Als demütiger Arbeiter im Weinberg des
Herrn verkündete Benedikt XVI. Christus in
Rom und an vielen Orten der Welt, nicht zu-
letzt bei den drei Weltjugendtagen in Köln,
Sidney und Madrid, die er zu den schönsten
Erinnerungen seines Pontifikats zählte. Die
Balance zwischen Zurückgezogenheit und
In-der-Welt-Sein, die schon seinen Studen-
ten auffiel, kennzeichnete auch seine Reden
und sein Auftreten als Papst. In England ge-
lang es ihm im September 2010, ein vor sei-
nem Besuch höchst feindliches Klima durch
sein Auftreten in große Sympathie zu ver-
wandeln. Er verfolgte auch als Papst demü-
tig und furchtlos die Anliegen, Glaube und
Vernunft, Schrift und Tradition, Kirche und
Welt zu verbinden, die schon seine Tätigkeit
als Professor und Präfekt kennzeichneten.
Seine Rede im Deutschen Bundestag am
22. September 2011 illustriert dies wie kaum
eine andere. Er wolle seinen Zuhörern ei-
nige Gedanken über die Grundlagen des
freiheitlichen Rechtsstaates vorlegen. Da-
mit der Politiker seine grundlegende Auf-
gabe erfüllen kann, dem Recht zu dienen
und dem Unrecht zu wehren, müsse er sich
auf die klassischen Erkenntnisquellen für
Ethos und Recht besinnen: Vernunft und
Natur. Dabei verstand er unter Vernunft
eine „der Sprache des Seins geöffnete Ver-
nunft“, eine Vernunft, die zum Naturrecht
führt, das für die Rechtskultur der Mensch-
heit immer von zentraler Bedeutung war.
Klug war seine Würdigung der ökologischen
Bewegung in der deutschen Politik in den
70er-Jahren, mit der er seine Zuhörer zu-
gleich fesselte und erheiterte. Er wolle da-
mit nicht Propaganda für eine bestimmte
politische Partei machen, aber doch auf ein
Defizit hinweisen. Es werde in der ökologi-
schen Bewegung immer noch ausgeklam-
mert, dass es auch eine Ökologie des Men-
schen gibt: „Auch der Mensch hat eine Na-
tur, die er achten muss und die er nicht
beliebig manipulieren kann... Der Mensch
macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille,
aber er ist auch Natur, und sein Wille ist
dann recht, wenn er auf die Natur achtet,
sie hört und sie annimmt als der, der er
ist und der sich nicht selbst gemacht hat.
Gerade so und nur so vollzieht sich wahre
menschliche Freiheit.“

28 VATICAN 2-2023


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Diese Ökologie des Menschen war Fun- Die Bioethik sei der wichtigste und entschei- Was Benedikt
dament für zwei weitere Pfeiler seines Pon- dende Bereich der kulturellen Auseinan-
tifikats, der Kritik an der Gender-Theorie dersetzung zwischen dem Absolutheitsan-
hinterlassen hat, ist aus
und der Verbindung der katholischen So- spruch der Technik und der moralischen theologischem und
ziallehre mit der Ethik des Lebens. Mit der Verantwortung des Menschen. Die soziale philosophischem Eichen-
Gender-Theorie befasste er sich bei seinem Frage war für ihn wie für Johannes Paul
letzten Weihnachtsempfang für das Kardi- II. zu einer anthropologischen geworden,
holz gebaut. Seine
nalskollegium am 21. Dezember 2012. „Die weil die Entwicklung in der Biotechnolo- nörglerischen Kritiker
tiefe Unwahrheit dieser Theorie“, die er eine gie dem Menschen den Weg in eine euge- werden viel Mühe haben,
anthropologische Revolution nannte, läge nische Geburtenplanung eröffnet hat. We-
darin, dass sie leugnet, dass der Mensch der in der Moraltheologie noch in der Sozi-
wenn sie es
„eine von seiner Leibhaftigkeit vorgege- alethik hat dieser Weckruf Benedikts XVI. mit ihren Laubsägen
bene Natur hat“. Die im Umgang mit der bisher die notwendige Resonanz gefunden. zerlegen wollen.
Umwelt so oft beklagte „Manipulation der Benedikts XVI. gesellschaftspollitische
Natur … wird hier zum Grundentscheid Stellungnahmen waren, wie seine ganze
des Menschen im Umgang mit sich selber… Verkündigung, nie laut und apodiktisch,
Wenn es aber die von der Schöpfung kom- sondern argumentierend, fragend und
mende Dualität von Mann und Frau nicht einladend. Sie waren immer demütig und

VATICAN
www.vatican-magazin.de Jahrgang 17 | Heft 2 – Februar 2023

gibt, dann gibt es auch die Familie als von furchtlos. Demütig und furchtlos war auch
der Schöpfung vorgegebene Wirklichkeit seine Erklärung zum Rücktritt am 11. Fe-
nicht mehr“. Das Kind werde dann aus ei- bruar 2013. Demütig und furchtlos waren magazin SCHÖNHEIT UND DRAMA DER WELTKIRCHE

nem eigenen Rechtssubjekt zu einem Ob- schließlich seine seltenen öffentlichen Stel-
jekt, das man sich beschaffen kann. Wo aber lungnahmen als Papst emeritus: sein Nach-
„die Freiheit des Machens zur Freiheit des ruf auf Kardinal Meisner, einen der von
Sich-selbst-Machens wird, wird notwendi- Papst Franziskus nicht empfangenen Dubia-
gerweise der Schöpfer selbst geleugnet und Kardinäle, im Juli 2017, den er als furcht-

Deutschland € 6,00 | Luxemburg € 7,00 | Österreich€ 7,00 | Schweiz CHF 9.50


damit am Ende auch der Mensch als göttli- losen Hirten rühmte, der der Diktatur des
che Schöpfung, als Ebenbild Gottes im Ei- Zeitgeistes immer widerstanden hatte; sein
gentlichen seines Seins entwürdigt“. Brief zur Kirchenkrise nach dem Skandal des
Der Beitrag, den Benedikt XVI. zur Ent- sexuellen Missbrauchs durch Kleriker vom
Den guten
wicklung der katholischen Soziallehre leis- April 2019, in dem er sich nicht scheute, als Kampf gekämpft
tete, liegt in der Verbindung der Sozialethik Hauptursachen den Zusammenbruch der Papst Benedikt am Ziel

mit der Ethik des Lebens. Dokument dieser Moraltheologie zwischen 1960 und 1980 und
Verbindung ist die Enzyklika „Caritas in Ver- die Rolle der Homosexualität zu benennen
itate“ (2009). Nachdem die Abtreibung in den und an die Enzyklika „Veritatis Splendor“
Jetzt nachbestellen
70er-Jahren in vielen Staaten des Westens zu erinnern, sein Empfang für Professor Li- Angebot für alle Leser, die
legalisiert wurde, ist der Schutz des unge- vio Melina, den entlassenen Kopf und lang- diese Benedikt-Ausgabe des
borenen Lebens ein sozialethisches Thema jährigen Präsidenten des Instituts Johannes
geworden. Die katholische Soziallehre hat Pauls II. für Ehe und Familie am 1. August
VATICAN-magazins
sich der Kultur des Todes und den sozialethi- 2019 – ein Protest ohne Worte gegen die ku- nachbestellen möchten:
schen Dimensionen der biomedizinischen riale Zerstörung des Instituts, und schließ-
Entwicklungen zu stellen. Die Zukunft der lich sein Essay über das katholische Pries-
Menschheit entscheide sich, so Benedikt tertum und den Zölibat vom 17. Septem- 1 Exemplar 5€
XVI., in der Biomedizin. Die Kirche müsse ber 2019 für das Buch von Robert Kardinal ab 10 Exemplare 3 € / Heft
picture alliance / Sven Simon | Malte Ossowski/SVEN SIMON

„mit Nachdruck diesen Zusammenhang zwi- Sarah „Aus der Tiefe des Herzens“. Demü-
schen der Ethik des Lebens und der Sozial- tig, furchtlos und zutiefst anrührend war
ethik“ betonen, „denn sie weiß: Unmöglich schließlich seine letzte Reise nach Regens-
‚kann eine Gesellschaft gesicherte Grund- burg zu seinem im Sterben liegenden Bru-
lagen haben, die – während sie Werte wie der Georg im Juni 2020. Demütig und furcht-
Würde der Person, Gerechtigkeit und Frie- los ist sein Heimgang zum Vater am 31. De- Fe-Medienverlags GmbH
den geltend macht – sich von Grund auf zember 2022. Ω Hauptstraße 22
widerspricht, wenn sie die verschiedenen 88353 Kißlegg
MANFRED SPIEKER
Formen von Missachtung und Verletzung geboren 1943, ist Sozialwissenschaftler Tel. +49 (0) 7563/608998-0
des menschlichen Lebens akzeptiert oder und emeritierter Professor für
duldet, vor allem, wenn es sich um schwa- Christliche Sozialwissenschaften an der Fax: +49 (0) 7563/608998-9
ches oder ausgegrenztes Leben handelt‘“.
Universität Osnabrück E-Mail: info@fe-medien.de

VATICAN 2-2023 29 www.fe-medien.de


W ÜRD I GU N G

30 VATICAN 2-2023


Der Mann mit
der Baskenmütze
Johannes Paul II. hatte die Schriftstellerin aus der DDR
in die Kirche zurückgeführt. Joseph Ratzinger lehrte
sie die Schönheit und Tiefe des Glaubens

VO N SI G RI D G RA BN E R

uf dem Petersplatz in Rom Mitte Am Vortag waren wir am Gebäude der

A der achtziger Jahre des vorigen


Jahrhunderts: Meine Freundin
Glaubenskongregation vorbeigegangen, vor
dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Hei­
macht mich auf einen Priester mit Akten­ lige Offizium. Ich hatte in der DDR meinen
tasche aufmerksam: ein schmaler Mann in Bildungsweg von der Grundschule bis zur
Soutane, darüber ein Mantel, auf dem Kopf Universität absolviert und dabei gelernt,
eine schwarze Baskenmütze. Zielstrebig das Heilige Offizium habe in seinen Kellern
überquert er den Platz. Unschuldige gefoltert, sogenannte Ketzer
„Kardinal Ratzinger“, sagt die Freundin, verfolgt, Galileo Galilei verurteilt, Giordano
„er geht in sein Büro.“ Dass die evangelische Bruno verbrannt. Auch in der Gegenwart
Oberstudienrätin aus Wuppertal Papst Jo­ werde es von dunklen Gestalten regiert und
hannes Paul II. verehrt, weiß ich, aber dass stünde für verbrecherische Machenschaf­
sie sich auch in der katholischen Kirchen­ ten der Kirche. Zwar konnte ich historische
hierarchie auskennt und die Büros der Wür­ Fakten von Propaganda unterscheiden, aber
denträger lokalisieren kann, ist mir neu. ein leichtes Unbehagen erfasste mich den­
Ich hatte für zehn Tage Ausgang ins „ka­ noch, als ich dem „Großinquisitor“ nach­
pitalistische Ausland“ erhalten, um in Rom schaute. Ich fragte nicht weiter. Theologen,
Recherchen für ein Buch über italienische und was ich bisher von ihnen gelesen hatte,
Frauen des Mittelalters zu betreiben. Die verstand ich ohnehin nicht.
Freundin hatte die Reise organisiert und fi­ Die begeisterten Worte meiner klugen
nanziert, anders wäre sie nicht möglich ge­ Freundin über Kardinal Ratzinger gin­
wesen. Nun stand ich auf dem Petersplatz, gen mir dennoch nicht aus dem Sinn. Ih­
trunken von Rom, und schaute sie fragend nen nachgehen konnte ich nicht. Internet
an. Ich erfuhr, Ratzinger sei der ehemalige gab es noch keins. In der DDR eingemauert,
Erzbischof von München, ein kreuzgeschei­ kam ich kaum an Bücher aus dem Westen.
ter Theologe, weswegen ihn die Dummen in Außerdem interessierte mich zu jener Zeit
der Kirche nicht mochten und Ideologen ihn mehr, was in Russland unter Gorbatschow
verunglimpften. Johannes Paul II. habe ihn und in Polen mit der Solidarność und Jo­
KNA-Bild/KNA

gedrängt, das Amt des Präfekten der Glau­ hannes Paul II. passierte.
benskongregation zu übernehmen, bis er 1989 verjagte der Volkszorn die sozialisti­
nicht länger ablehnen konnte. schen Potentaten in der DDR und überall im

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W ÜRD I GU N G

Osten von ihren Thronen. Nun hätte ich frei mal aus der Hand zu legen. Die Fragen, die Johannes Paul II., der Papst aus dem kom­
reisen und lesen können, was der „kreuzge­ Seewald stellte, waren meine Fragen. Die munistischen Osten, hatte mich in die Kir­
scheite“ Kardinal geschrieben hatte. Doch Antworten des Präfekten der Glaubenskon­ che zurückgeführt. Joseph Ratzinger lehrte
es war nicht die Zeit für die Lektüre aka­ gregation erstaunten mich. Da sprach ein mich die Schönheit und Tiefe des Glaubens.
demischer Schriften. Die turbulenten Jahre Mann Gottes mit einer mir noch nie zuvor
nach dem Mauerfall forderten mein Enga­ begegneten Klarheit, Direktheit und Tiefe,
gement vor Ort in Potsdam, und in Wup­ ganz aus unserer Zeit und dennoch über Ein wortloses Lächeln
pertal starb meine Freundin, die mir den sie hinaus. Das war kein verquastes Theo­
Zugang zur Ewigen Stadt geöffnet und mir logendeutsch, mit dem ich mich bisher ver­ Bei einem meiner Aufenthalte in Rom um
Kardinal Ratzinger „vorgestellt“ hatte. geblich abgemüht hatte. In seinen Worten die Jahrtausendwende besuchte ich zu Os­
Ich weiß nicht mehr, wer mich 1996 auf verbanden sich Überzeugungskraft mit poe­ tern eine feierliche Messe mit Papst Johannes
das Gesprächsbuch von Peter Seewald mit tischer Anmut gleichsam zu einem Gesamt­ Paul II. Am Ende fluteten die Menschen dicht
Kardinal Ratzinger „Salz der Erde“ aufmerk­ kunstwerk. Von nun an las ich alles, was ich an dicht nach draußen. Mir fiel es schwer,
sam machte. Ich las das Buch, ohne es ein­ von ihm erreichen konnte. mich von dem eben Erlebten zu trennen,
und so wandte ich mich im Narthex der Ba­
silika noch einmal zum Hochaltar um. Im
Gedränge hinter mir ein einfacher Priester.
Unsere Blicke begegneten sich. Er lächelte
mich an, als seien wir gute Bekannte. Was
für hellwache Augen er hat, dachte ich und
lächelte zurück. Erst, als ich schon weiter­
geschoben wurde, durchfuhr es mich: Das
war doch Kardinal Ratzinger!
Der kürzeste Weg zwischen zwei Men­
schen ist ein Lächeln. Nie bin ich dem Men­
schen Joseph Ratzinger näher gekommen
als in diesem wortlosen Lächeln von Unbe­
kannt zu Unbekannt inmitten einer schwat­
zenden, drängelnden Menge. Hätte nach die­
ser unvergesslichen Sekunden-Begegnung
jemand prophezeit, ich sei dem künftigen
Papst begegnet, hätte mich das weniger be­
eindruckt als die Erkenntnis jenes Augen­
blicks, dass der Mensch Joseph Ratzinger
seine Titel und ausgeübten Funktionen weit
überstieg.
Ein paar Jahre später wurde er Papst! Dem
Polen Karol Wojtyla folgte ein Deutscher im
Amt, beide seit Jahrzehnten eng verbunden
im Dienst an der Kirche. Welch eine Sym­
bolik! Meine überschwängliche Freude war
nicht ungetrübt. Würde der zerbrechlich
wirkende Mann den Strapazen des Amtes
standhalten können? Der Zustand der Kir­
che war zwar 1978 bei der Wahl Karol Woj­
tylas nicht besser gewesen als 2005, aber
der Pole war damals zwanzig Jahre jünger
picture alliance / Ulrich Baumgarten

als jetzt der Deutsche, und er konnte sich


auf eine glaubensstarke polnische Kirche
stützen. Seinem Nachfolger schlug nach
der ersten Überraschung in Deutschland
Skepsis entgegen. Die Freude bei katholi­
schen Würdenträgern und Pastoralreferen­
ten, auch bei vielen Katholiken, hielt sich
in engen Grenzen. Vorerst noch hinter vor­
Joseph Ratzinger im Jahr 2000 gehaltener Hand war vom Panzerkardinal

32 VATICAN 2-2023


die Rede, vom unerbittlichen Glaubenshü­
ter, vom weltfremden Professor, vom Reak­
tionär. Die „sprungbereite Feindseligkeit“,
die Papst Benedikt 2009 benennen sollte,
lauerte schon im Verborgenen.
Wie würde der genuine Gelehrte, anders
als sein Vorgänger nicht von der Statur ei­
nes Volkstribuns, die Anfeindungen aushal­
ten? Ich hätte dem feinsinnigen, bescheiden
auftretenden Kardinal den Ruhestand ge­
gönnt, in dem er vielleicht mit weiteren Bü­
chern der Welt das Christentum zum Leuch­
ten bringen würde.
Der Heilige Geist hatte anders entschie­
den und mit Joseph Ratzinger die deutsche
Stunde der Kirche eingeläutet.
Das Wunder geschah! Papst Benedikt
gewann die Herzen der Gläubigen in aller
Welt im Sturm – auf seinen Reisen, mit drei
Enzykliken, seinen Reden, den Katechesen
auf dem Petersplatz, seinem gewinnenden
Auftreten. Jeden Mittwoch wartete ich un­
geduldig auf die ins Internet eingestellten
Katechesen und druckte sie aus, um sie im­
mer parat zu haben. Mehr denn je wurde
er mir zum Lehrer und stärkte mich in mei­
nem Glauben.
Auch noch drei Bände über Jesus von Na­
zareth schenkte er der Welt. Wenn mir bei
der Arbeit an meinem Buch über Gregor den
Großen Kraft und Mut abhanden kamen,
richtete mich das Vorbild des alten Paps­
tes im Apostolischen Palast wieder auf. So
wurde das Buch auch eine Hommage an ihn.
Woher nimmt dieser betagte, zerbrech­
picture alliance / Stefano Spaziani

liche Mann nur die Kraft, fragte ich mich


oft und wusste doch die Antwort: „Meine
Hilfe kommt vom Herrn.“
Wo das Heilige ist, rüsten die Dämo­
nen zum Kampf. Die offenen Angriffe lie­
ßen nicht lange auf sich warten. Mit voller
Wucht setzten sie nach der Regensburger
Rede ein und steigerten sich nach der Ver­ Papst Benedikt XVI. zelebriert am 12. Juni 2011 die Pfingstmesse im Petersdom.
öffentlichung des Apostolischen Schreiben
„Summorum Pontificium“ über die Litur­ den Massenmedien übertönt wurden: „Die es gab keine Karten mehr, wo ich auch vor­
gie 2007 und der Williamson-Affäre 2009, Schmähungen derer, die dich schmähen, sprach, wie ich auch bettelte, wenigstens
all die Jahre begleitet von Vorwürfen, als haben mich getroffen.“ um einen Stehplatz ganz hinten. In buch­
Glaubenspräfekt sexuellen Missbrauch stäblich letzter Minute erhielt ich durch die
durch Priester vertuscht zu haben. Bösar­ Vermittlung von Guido Horst eine Karte von
tige Unterstellungen, Lügen, Spott und Hohn Vereint im Leib der Kirche höchster Stelle, zu meiner Überraschung
verfolgten Benedikt während seines Pon­ ganz vorn. Sie berechtigte zum Empfang
tifikats, ob von Politikern wie Angela Mer­ Meine dritte Begegnung mit Joseph Ratzin­ der Heiligen Kommunion durch den Papst.
kel, den Medien oder aus der eigenen Kir­ ger/Papst Benedikt ereignete sich zu Pfings­ Ich konnte es kaum fassen: Da durfte ich,
che. Mir erging es ähnlich wie den vielen ten 2011. Die Papstmesse fand diesmal nicht die als DDR-Bürgerin vor mehr als einem
einfachen Katholiken, die Benedikt liebten auf dem Petersplatz, sondern in der Basi­ Vierteljahrhundert zum ersten Mal den Na­
und deren Stimmen von Hass und Hetze in lika statt. Ich wollte gern dabei sein, aber men Ratzinger mit leisem Unbehagen ge­

VATICAN 2-2023 33
W ÜRD I GU N G

Archiv
Ein krachender Blitzschlag über der Peterskuppel: So endete jener 11. Februar 2013, an dem Benedikt XVI. seinen Rücktritt angekündigt hatte.

hört hatte, zum Fest des Heiligen Geistes der Staatsführung unter Christian Wulff zur Schau, die Medien mäkelten an ihm he­
über dem Petrusgrab Christus vom Petrus und Angela Merkel und revanchierte sich rum, doch die Menschen auf den Plätzen,
dieser Zeit empfangen. So viel war seither mit einer eindrucksvollen Rede im Bundes­ vor allem in der hiesigen Diaspora, umfin­
geschehen. Schönes, Schweres, Einmaliges tag. Die abendliche Eucharistiefeier im voll­ gen ihn mit Liebe als einen der ihren. Im
hatten wir erlebt, jeder auf seinem ihm von besetzten Olympiastadion mag ihn für die Bundestag und im Konzerthaus Freiburg
Gott zugewiesenen Platz und doch vereint Strapazen des Tages entschädigt haben. redete der Papst sanft, aber deutlich und
im Leib der Kirche. Bei seiner Ankunft schlugen ihm jubelnde bestimmt, wie es seine Art war, selbstgefäl­
Der Deutschland-Besuch im September Freude und Zuneigung entgegen. Während ligen Politikern und fortschrittstrunkenen
dieses Jahres muss den Papst Überwindung der Messe herrschte eine unbeschreiblich Kirchenleuten ins Gewissen. Genützt hat es
gekostet haben. Das offizielle Berlin wollte gesammelte Atmosphäre. Nach dem Schluss­ nichts, aber seine Worte blieben fortan als
sich zwar mit dem deutschen Papst schmü­ gebet stimmte die Menge das Tedeum an. Stachel im Fleisch der Welt.
cken, ihm aber am liebsten den Mund verbie­ Sie sang beim Auszug des Papstes weiter, Am Abend des 11. Februar 2013 schlug
ten. Das Erzbischöfliche Ordinariat stimmte statt in die üblichen Benedetto-Rufe aus­ ein Blitz in die Peterskuppel ein. Wenige
nur widerwillig dem Vorschlag einer Messe zubrechen. Der Gesang der Zehntausende Stunden zuvor hatte Papst Benedikt seine
im Olympiastadion zu, denn so viele Men­ schwoll an und die letzte Strophe wurde Demission vom Amt erklärt. Wie unzählige
schen kämen bestimmt nicht. Ein ostdeut­ zu einem dringlichen Gebet unter dem ro­ Gläubige litt ich unter seiner Entscheidung.
scher SPD-Bundestagsabgeordneter meinte, ten Abendhimmel: „Herr erbarm, erbarme Aber die tiefe Dankbarkeit für den Mann
der Papst sei eine Person, „den die Mehr­ dich./Lass uns deine Güte schauen; deine Gottes, der den Glauben in meiner Lebens­
heit der Deutschen für verdammungswür­ Treue zeige sich,/wie wir fest auf dich ver­ zeit zum Leuchten gebracht hat, war und
dig hält“. Die Linken wollten den Papst mit trauen./Auf dich hoffen wir allein:/Lass uns bleibt stärker als der Schmerz jener Tage
seinen „politischen Botschaften, die weit in nicht verloren sein!“ im Februar. Ω
die zurückliegenden Jahrtausende gehören, Die Polizisten vor dem Stadion und auf
aber nicht in die Neuzeit“ nicht im Bundes­ unserem Rückweg zur S-Bahn lächelten; ei­ SIGRID GRABNER
tag sehen. Die Grünen warfen ihm „Missach­ nen so problemlosen Dienst an diesem Ort geboren1942, studierte Indonesienkunde
und Kulturwissenschaft an der Humboldt-
tung der Menschenwürde“ vor. Berlin schien hatten sie wohl noch nie erlebt. Universität Berlin, Promotion 1972,
wieder von der DDR-Nomenklatura regiert. Das offizielle Deutschland und die Kir­ seither arbeitet sie als Schriftstellerin und
Der Gast aus Rom ertrug äußerlich ge­ chen trugen vor Benedikt geradezu penet­ schrieb zahlreiche Sachbücher,
Romane und Essays.
lassen die kaum verbrämten Belehrungen rant ihre politisch korrekte Überheblichkeit

34 VATICAN 2-2023


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W ÜRD I GU N G

Prophetischer
Denker im Gegenwind
Papst Benedikt XVI. teilt das historische Schicksal vieler
weitsichtiger Mahner. Sie gelten im eigenen Lande nichts
und werden diffamiert und bekämpft

VO N A LBE RT SE LLN ER

ls ziemlich assimiliertes Flücht-

A lingskind in der Oberpfalz aufge-


wachsen, war das Katholische für
mich selbstverständlich. Osterbeichte ge-
hörte sich einfach, und wenn der Kaplan
die Beichtzettel an der Wohnungstür ein-
forderte, dann kramte die Tante schnell mal
für die Pfarrei ein Zweimarkstück aus dem
Geldbeutel. Zu bestimmten Anlässen gab
es Schulgottesdienste mit nicht immer be-
geistert hingenommener Anwesenheits-
pflicht. Aber es gibt auch uneingeschränkt
schöne Erinnerungen an diese Zeit – etwa
die Maiandachten mit den innigen Marien-
liedern und überhaupt das Mitsingen im
Kirchenchor. Gerne denke ich an zwei kluge
Religionslehrer, mit denen es sich trefflich
streiten ließ, und an das Staunen der Leute
beim großen Auftritt des Paters Leppich,
des Maschinengewehrs Gottes, wie er ge-
picture-alliance/ dpa | epa apa Robert Jaeger/Pool

nannt wurde, im Volksfestzelt.


In meiner böhmischen Verwandtschaft
gab es freilich unter der konventionellen
Oberfläche immer einen sozusagen hus-
sitisch gefärbten Antiklerikalismus. Zum All-
tag gehörte in meiner Flüchtlingsmischpoke
das Jammern und Beschwerdeführen über
das ungerechte Schicksal einerseits und das
Klagen über die einheimische Mehrheits-
kultur in Politik, Wirtschaft und Kirchen.

36 VATICAN 2-2023


Als die damals noch überschaubaren Me-
dien über das Konzil berichteten, wurde
dieses Ereignis nicht in seiner geistigen Bri-
sanz verstanden, sondern als quasifeuda-
les Oberschichtsevent, dessen „Pomp und
Prunk“ man bemäkelte. So setzte sich der
Zweifel im pubertären Geist fest.
Als Jungstudent schloss ich mich der
„APO“, der außerparlamentarischen Oppo-
sition, und kurz darauf dem SDS an. Vor-
Der Kölner Kardinal Joseph Frings (rechts) nahm den jungen Theologieprofessor Joseph Ratzinger als
dergründig ging es fast ausschließlich um Berater mit zum II. Vatikanischen Konzil nach Rom.
politische Gründe. Stichworte Notstands-
gesetze, Krieg in Vietnam, der Aufstieg der schuf weltweit mediale Aufmerksamkeit. Hoffnungen von Papst Johannes XXIII. ge-
NPD. Ich demonstrierte mit vielen Gleich- Der Tabubruch wurde zum Inbegriff des wesen. Allerdings schwang wie bei allen
gesinnten gegen das Schahregime, die fa- Fortschrittlichen. Unter dem künstlerischen großen kulturellen Umbrüchen das Pen-
schistischen Diktaturen in Spanien, Grie- Nachwuchs entstand ein heftiger Wettbe- del des Zeitgeists weit über die ursprüng-
chenland und Lateinamerika. Und ich hielt werb um die affektvollste, amoralischste lichen Ziele hinaus. Statt organischer Evo-
den bundesdeutschen Umgang mit der Na- Inszenierung, die wildesten Invektiven ge- lution wurde die Kirche von einer Kultur-
zivergangenheit für skandalös. Mein Studi- gen Religion und Familie. revolution erschüttert. Mit Unterstützung
eneifer beschäftigte sich hauptsächlich mit der säkularen Medien eroberten Radikal-
Revolutionsgeschichte, dem Spanischen Bür- theologen eine weitgehende Deutungsho-
gerkrieg, mit den marxistischen Klassikern Reformer mit Scharfsinn heit über die Interpretation jenes „Aggior-
und den vielfältigen linken Publikationen namentos“, das die Konzilsbeschlüsse gefor-
zur Weltpolitik jener Zeit. Bei Demonstra- Im Vergleich zur Milliarde katholischer dert, aber nur wenig in concreto ausgeführt
tionen in Nah und Fern konnte ich in mei- Christen auf der Welt waren die Aufgeregt- hatten. Viele theologische Fakultäten und
ner juvenilen Einbildung in der globalen heiten einiger Hunderttausender rebellie- ihre Studenten ließen sich vom radikalen
Politik mitmischen. Ich glaubte, über die render Jugendlicher scheinbar eine zu ver- Zeitgeist berauschen und wurden sogar zu
„Klassenkämpfe“ in Frankreich, England, nachlässigende Größe. Welche Bedeutung einem treibenden Teil der 68er-Bewegung.
Italien und Belgien, aber auch in Ceylon den Beschlüssen des Konzils von 1962 bis Sie beteiligten sich in vorderster Reihe da-
und Lateinamerika, Persien und Südkorea, 1965 innewohnte, nahm ich wie viele der ran, alles einzureißen, was an Tradition und
bestens informiert zu sein. Hier wie dort Generation der 68er nicht zur Kenntnis. Glaubenspraxis noch lebendig war. Enthu-
war ich sicher, wer die Guten und wer die Ziel des Konzils war es, die Kirche zwischen siastisch schwärmte man von der totalen
Bösen waren. Unveräußerlichem und historisch Kontin- „Emanzipation“. Das hieß Kampf gegen Dog-
In meiner umstürzlerischen Traumwelt gentem auf festen Boden zu stellen. Die- men und die Kirchenhierarchie, und weil
bei gleichzeitig bescheidenem Studentenall- ser Aufgabe unterzogen sich die Reformer man schon dabei war, auch gegen Kapitalis-
tag mit 6qm-Wohnheimzimmer und Mensa­ um die Kardinäle Frings, Suenens, König mus, Konventionen, Institutionen, von der
essen konnte ich durch Resolutionen, Ab- und ihre theologischen Berater mit großem Schule bis zur Universität, Hochkultur und
stimmungen, Teach-Ins und nächtliche Pla- Scharfsinn und taktischem Geschick. Von Bundeswehr, gegen Patriarchat, Geschlech-
katierung von radikalen Slogans gefühlt das der zentralen Rolle Joseph Ratzingers bei terrollen und Ehe. Gefeiert wurden dagegen
Weltgeschehen beeinflussen. Wir hielten der Ausarbeitung der Schemata erfuhr ich Guerillabewegungen und sozialistische Ex-
uns für die Avantgarde der Emanzipation erst Jahrzehnte danach. „Erneuerung“, eine perimente in aller Welt, Schulen ohne Lehr-
der Unterdrückten dieser Welt. Die Pro- „größere Klarheit im Denken“ und „Stär- plan, „Bewusstseinserweiterung“ durch Dro-
vokationstaktik der Studentenbewegung kung des Bandes der Einheit“ waren die gen, Pop- und Vulgärkultur, freie Liebe und

VATICAN 2-2023 37
W ÜRD I GU N G

schrankenlose, bald auch Kinder adressie-


rende Sexualität. Diese Bejahung von dem,
was in der Kirche stets als „Sünde“ galt, zei-
tigte in den nächsten Jahrzehnten epidemi-
sche Folgen. Tabus wie Inzest, Abtreibungen
bis kurz vor der Geburt, Sterbehilfe, Suizid,
Achtung vor religiösen Symbolen wurden
dekonstruiert, dafür breiteten sich Porno-
grafie, Pädophilie und Sexsklaverei in allen
westlichen Gesellschaften aus. In anderen
Weltreligionen wuchsen mit dem Abscheu
vor der westlichen Unkultur der religiöse Fa-
natismus und die Gewaltverherrlichung an.

Brüder im Geiste

Joseph Ratzinger sah frühzeitig die Gefah-


ren dieser Entwicklung. Schon 1958 hatte
er eine „Entweltlichung“ der Kirche gefor-
dert, die dringend notwendig sei. Und er
hatte durch die Erfahrungen der Konzilsfol-
gen eine außerordentliche Sensibilität für
die Fehlentwicklungen im eigenen „Lager“.
Früh durchschaute er die zeitgeistige Aufla-
dung von Theologie und Religion mit Poli-
tik. Die katholische Kirche hatte im Konzil
anerkannt, dass die Politik nicht nach reli-
giösen Grundsätzen geregelt sein sollte. Die

Osservatore Romano/Romano Siciliani /KNA


progressistischen Teile des Klerus suchten
jedoch im Gegensatz dazu die Religion nach
politischen Grundsätzen zurechtzubiegen.
Geradezu selbstvergessen war die Annähe-
rung des Progressivkatholizismus an den
linken Zeitgeist. Ratzinger warnte hellsich-
tig vor jenen, die „mit dem Namen Gottes
bisweilen die Rache oder gar die Pflicht zu
Hass und Gewalt verbinden“.
In der Diagnose fand er in Karol Wojtyla
einen Bruder im Geiste, und als dieser zum sche Imperium moralisch morsch und geis- vorrangig auf die Mehrung von Macht der
Papst gewählt wurde, avancierte Ratzinger tig wehrlos auseinander. Kirche und Ansehen ihres Hirtenamts be-
zu dessen rechter Hand. Sie wussten besser Damit kam die Geschichte aber nicht an dacht, so interessierte Benedikt vor allem
als viele Progressive, dass das Evangelium ihr Ende, wie es ein weltweit bekannter Au- eines: die Wahrheit – die faszinierende Ver-
als Drehbuch für politische Szenarien un- tor prognostizierte. Die herrschende Ideo- nünftigkeit des Glaubens an Gott, die sich
geeignet ist. Die erste Schlacht führte Johan- logie in Kultur und Medien wechselte in in immer neuen Zusammenhängen stellt,
nes Paul II. gegen den Kommunismus und einen neuen Aggregatzustand – die Post- solange man sich die Zeit nimmt, unermüd-
gegen jene Theologen und Priester, die in- moderne. Die große Zeit der Dekonstruk- lich die Fragen weiterzuverfolgen, die jede
nerweltliche Utopien mit christlicher Erlö- tionisten begann, die mit Verve alle Funda- geschichtliche Situation aufwirft.
sung verwechselten. Vor seinem Charisma mente der Religion, der Kultur, in der Kon- Als er zum Papst gewählt wurde, war
und seiner prophetischen Ansprache be- sequenz der Zivilisation abräumten. Für die dies für die große Mehrheit der Gläubigen
gannen sich die Kremlherrscher mehr zu etwa das Prinzip der Menschenrechte als eine frohe Botschaft. Millionen Besucher
fürchten als vor den polnischen Arbeitern ein Herrschaftsinstrument der westlichen kamen auf die Veranstaltungen während
der Solidarność. Der Fehlschlag des 1981 Kultur galt. Ratzinger versuchte, die geis- seiner 24 Apostolischen Reisen in Europa,
von ihnen angezettelten Attentatsversuchs tigen Bataillone der Kirche gegen diesen Amerika, Afrika und Asien. Millionen zu
war ein Omen für den Untergang des So- postmodernen Relativismus zu mobilisie- seinen 31 Patoralbesuchen in Italien. Bei
wjetsystems. 1990/1991 brach das sowjeti- ren. Waren historisch nicht wenige Päpste den jährlichen Urbi et Orbi-Segen zu Os-

38 VATICAN 2-2023


tern und Weihnachten wurde er stets auf Franz Vranitzky initiiert. 1995 machte ich schen Verlagsanstalt (DVA) gewechselt war.
dem von Hunderttausenden Besuchern be- mich als Literaturagent selbstständig und Seewald befragte den Kardinal glänzend
völkerten Petersplatz frenetisch bejubelt. wollte dieses Format auch mit dem Leiter und Ratzinger gab ihm luzide Antworten.
der Glaubenskongregation versuchen. Als Seewald trat darüber wieder in die Kirche
Fragesteller gewann ich den Ex-Kommunis- ein. Das Buch wurde ein in über 20 Spra-
Feind der Progressiven ten und Ex-Spiegel-Journalisten Peter See- chen übersetzter Weltbestseller.
wald. Bei der Suche nach einem geeigne- Die lange Krankheit und das lange Ster-
Das totale Gegenteil spielte sich im „progres- ten Verlag bekam ich dann einen Vorge- ben Johannes Pauls II., von dem sich nicht
siven“ Lager ab, zu dem die große Mehr- schmack auf die Stimmung, die gegen den nur Katholiken ergriffen zeigten, dämpfte
heit des Kulturestablishments und der Me- späteren deutschen Papst herrschte. „Wir etwas den Eifer des antikatholischen Lagers.
dien, aber auch der politischen Klasse in bieten diesem Reaktionär keine Plattform“, Und als Joseph Ratzinger 2005 zum Papst
der gesamten westlichen Welt gehörte. Ich war noch das Freundlichste. Einige holten Benedikt gewählt wurde, war die Reaktion
bekam eine persönliche Lektion über die Gutachten von katholischen Theologen ein. der Öffentlichkeit gemischt. In Deutschland
Abneigung, die sowohl dem Papst wie auch Sie waren alle vernichtend: Ratzinger, der jubelte man für eine kurze Zeit: „Wir sind
seinem Sprachrohr Ratzinger entgegenge- Gegner jeder progressiven Theologie und Papst“! Das legte sich bald und kehrte sich
bracht wurde. In einem Jahrzehnt als Lektor des Medienlieblings Hans Küng, würde den ins Gegenteil, als Benedikt keineswegs auf
und Herausgeber beim Eichbornverlag hatte Ruf des Verlags beschädigen. Courage zeigte die liberale Daueragenda Priesterheirat,
ich einige sehr beachtete und erfolgreiche als einziger Ulrich Frank-Planitz, vormaliger Frauenamt, gemeinsames Abendmahl mit
Gesprächsbände, u.a. mit Richard von Weiz- Chef der evangelischen Zeitschrift „Christ allen anderen Konfessionen und „Demokra-
säcker, Heiner Geissler, George Soros und und Welt“, der als Geschäftsführer zur Deut- tisierung der Strukturen“ einging.
Die erste Gelegenheit zur Attacke der Me-
dien war die Regensburger Rede 2006, die
zunächst Proteste in der islamischen Welt
hervorrief. Die papstfeindlichen Kommenta-
toren überschlugen sich in einer Kritik, die
Verständnis für die fanatischen Äußerun-
gen der aufgehetzten muslimischen Straße
zeigte. Sie verstummten auch dann nicht,
als angesehene und kompetente islamische
Theologen die Erläuterungen des Papstes
zu seiner Rede begrüßten und für die Ver-
stärkung des religiösen Dialogs mit der ka-
tholischen Kirche votierten.
Ab da lauerte die Medienbranche auf jede
Gelegenheit, gegen Benedikt Empörungs-
stürme zu entfachen.
Manche Redaktionen verließen den Dau-
eralarmmodus nicht mehr, als ob Nazis kurz
vor der Machtübernahme im Vatikan seien.
Man unterstellte dem Hl. Stuhl, wenn er auf
seiner innerkirchlichen traditionellen Ord-
nung und den Bestimmungen des kanoni-
schen Rechts beharre, wolle er die Demokra-
tie in Frage stellen und einen Kulturkampf
gegen Protestanten, Juden und alle Anders-
gläubigen ausrufen. Journalisten, die noch
nie eine Kirche von innen gesehen hatten,
entdeckten plötzlich, dass die Verwendung
picture-alliance/ dpa | Boris Roessler

des Lateinischen als Sakralsprache, die Bene-


dikt wieder erlaubte, ein reaktíonärer Rück-
fall ins Mittelalter sei. Damit begünstigte man
vage Assoziationen wie Inquisition, Bücher-
verbote und Hexenprozesse. Nach der Lo-
gik des Skandals arbeiteten schon ab dem
zweiten Jahr des Pontifikats viele Medien:
„Benedikt muss zurücktreten!“

VATICAN 2-2023 39
picture alliance / dpa | Sheila McDaid Harris W ÜRD I GU N G

Das Missbrauchsopfer Bernie McDaid trifft Papst Benedikt XVI. bei dessen Besuch in Washington im April 2008. Der 52-Jährige aus Boston offenbarte ihm
von Angesicht zu Angesicht seine peinvollen Erlebnisse als Messdiener einer Kirchengemeinde in Boston.

Mit Fakten hatte diese Stimmungsmache che, sondern erkennt die Schwere des Lei- der Missbrauchsfälle annähernd gleich ist –
nichts zu tun. Benedikt vertrat – im Gegen- dens der Opfer an und übernimmt als Ober- trotz Fehlen eines Zölibats. In den Sportver-
satz zu manchen seiner Vorgänger – ent- haupt der Kirche die Verantwortung für die einen sind einer repräsentativen Untersu-
schieden eine Theologie der Vernunft, reli- sexuellen Gewalttaten und das oftmals mi- chung der Universität Ulm zufolge so viele
giöser Freiheit, der Trennung von Staat und serable Krisenmanagement der Kirche. Die Fälle von sexuellem Missbrauch wie in den
Kirche und der Anerkennung freiheitlicher emphatische Vorgehensweise des Papstes beiden Konfessionen zusammen geschehen.
Wissenschaft. Die Insinuationen der Krea- im Kontakt mit den Opfern und die Wort- Was als vernünftiger und den gesellschaft-
tionisten und des „intelligent design“ hat er wahl seiner öffentlichen Erklärungen über- lichen Frieden befördernder Impuls begann,
deutlich zurückgewiesen. Seine Haltung zur zeugen: Benedikt ist es ein menschliches die Abschaffung der Kriminalisierung sexu-
Shoah ist völlig unstrittig. Er war einer der Anliegen, den Opfern gerecht zu werden.“ eller Beziehungen zwischen Erwachsenen,
Architekten der lange unterbliebenen Aner- Solche Stimmen blieben lange in der Min- wurde bald von der Forderung überboten,
kennung Israels durch den Vatikan und För- derheit. Zu verlockend war es für liberale alle Beschränkungen sexuellen Verhalten
derer einer Theologie, die Auschwitz auch Medien, den antikatholischen Furor zu be- abzuschaffen. In den Medien, im Kino und
als religiöses Problem begriff. dienen. Der Eindruck wurde erweckt, als ob auf dem Buchmarkt eroberte das Thema Sex
das Problem Päderastie ein Problem des ka- in Kombination mit linkspolitischen Haltun-
tholischen Zölibats sei. Diese Stoßrichtung gen die Meinungsführerschaft. Schon seit
Große Empathie mit den wurde im Eigeninteresse auch vehement den 70er-Jahren überboten sich Reformpä-
Missbrauchsopfern von den progressiven Parteiungen in Kir- dagogen, progressive Publikationen, Film-
che und Theologie unterstützt. Erst in den produzenten und Avantgardekünstler im
Als ab 2008 zahlreiche Fälle sexuellen Miss- letzten Jahren wird offenbar, wie sehr die Tabubrechen. Erotische Filme, in denen In-
brauchs durch Kleriker aufgedeckt wurden, Diagnose Benedikts richtig war und ist, dass zest, Sexualität mit Kindern gezeigt wurde,
zeichnete sich der Papst durch große Empa- die Missbrauchswelle aufs Engste mit dem genossen cineastisches Renomee, auch von
thie mit den Opfern aus. Die feministische entfesselten Hedonismus verknüpft ist, mit Seiten der katholischen Filmkritik. Kinder-
Opferorganisation „Zartbitter e. V.“ mit Sitz dem sich weite Teile insbesondere der libe- schänderkommunen wie Otto Mühls AAO
in Köln schrieb 2009 über den Papst: „Er re- ralen gesellschaftlichen Milieus arrangiert (Aktionsanalyse Organisation) wurden von
duziert sein Engagement nicht nur auf die haben. In der evangelischen Kirche ist in- den Meinungsmachern links der Mitte be-
Schadensbegrenzung für die Institution Kir- zwischen übrigens offenbar, dass die Zahl jubelt. Der Sexualkunde-Bestsellerautor

40 VATICAN 2-2023


DIE KIR CHE IS T JUNG

Rolf Kentler wurde vom Berliner Senat fi- Der Papst ist tot,
es lebe der Papst!
nanziert für das Modellprojekt, jugendli-
che Trebegänger an alte gutsituierte Päde-
rasten zu vermitteln. In der Grünen Partei
agitierten Arbeitskreise von schwulen Ak-
tivisten für Recht von Kindern auf „sexu- VO N RUD O LF G E H RI G
elle Selbstbestimmung“. Über das Internet
wurde schließlich im letzten Jahrzehnt die
Kinderpornografie verbreitet wie nie zuvor
in der Geschichte. Inzwischen gibt es eine
I ch werde auf einen besonderen
Augenblick warten“, sagte ich,
als mir mein bester Freund zu
nächsten Tage waren geprägt von
viel Arbeit und wenig Schlaf. Täg-
lich berichteten wir in verschiede-
Lawine von Missbrauchsprozessen gegen Weihnachten eine Flasche Whis- nen Sprachen aus Rom, wir blick-
im bürgerlichen Alltag unauffällige Eltern key aus Irland überreichte. Kurz ten auf das Leben dieses Papstes
und Erziehungsberechtigte, die ihre Kin- darauf musste ich schon wieder zu- zurück und ließen Wegbegleiter zu
der zu perversen Videoproduktionen benut- rück nach Rom und, ohne es zu ah- Wort kommen. Das neue Jahr hatte
zen. Die daraus zirkulierenden Fotos und nen, sollte dieser besondere Augenblick mit einem herben Verlust begonnen.
Videos erreichen oft im „Darknet“ hundert- schon bald kommen. Dann kam der Tag der Beisetzung. Ich
tausendfache Verbreitung. Am Silvestermorgen saß ich gerade mit musste bereits früh auf der Matte stehen,
Wenn es hörbaren Protest gegen die Se- meinem Cousin und seiner Frau in der Me- es war noch dunkel und eiskalt, der Peters-
xualisierung der Gesellschaft gibt, dann tro. Die beiden waren zu Besuch in Rom dom selbst war in dichten Nebel gehüllt.
kommt er eher aus feministischen Krei- und ich wollte ihnen das Kolosseum zei- Es war, als habe der Vatikan die Kuppel
sen. Der kirchliche Widerstand gegen den gen, als mich die Nachricht erreichte, dass eingefahren, sagte ein Kollege im Scherz.
sexualpolitischen Ultraliberalismus wird bis Benedikt XVI. verstorben sei. Nun musste Ich hing noch immer in der Sicherheits-
heute in der Öffentlichkeit kaum wahrge- es schnell gehen. Ich verabschiedete mich kontrolle fest. Die ersten beiden Check-
nommen. Im Gegenteil: Als der inzwischen und fuhr zurück, Richtung Petersplatz. Ich points hatte ich bereits passiert, doch nun
emeritierte Benedikt 2019 auf den Zusam- bat meine Frau von unterwegs, mir mei- wollten die Polizisten auf einmal den In-
menhang der kirchlichen Missbrauchsfälle nen fernsehtauglichen schwarzen Anzug halt meines Rucksacks sehen. Umständ-
mit der sexuellen Revolution der 60er-Jahre ins Büro zu bringen. Dazwischen klingelte lich wühlte ich herum, immer darauf be-
hinwies, übten sich die üblichen Verdächti- ständig das Handy. EWTN wollte in Kürze dacht, den kleinen, kantigen Karton zu
gen in Theologie und progressiven Medien auf Sendung gehen und live vom Peters- verdecken. „Haben Sie eine Flasche Was-
abermals in Empörungsgesten. Sie verstan- platz berichten. Hektik war ausgebrochen. ser dabei“, fragte mich der Beamte streng.
den ihn in tendenziöser Absicht falsch und Nach einigen Telefonaten stand der Plan, „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
unterstellten ihm, er habe den 68ern die Ver- nun war erstmal nichts mehr zu tun. Ich Dann war es geschafft. Niemand hatte die
antwortung zuschanzen wollen. Der Titel hatte noch eine Station zu fahren. Ich stand Whiskeyflasche entdeckt.
hieß jedoch klar verständlich: „Ja, es gibt bereits an der Tür und hielt mich an ei- Das Requiem selbst war ergreifend. Mehr
Sünde in der Kirche“. Es ist bequemer und nem versifften Haltegriff fest. Erst jetzt re- und mehr lichtete sich der Nebel, vorsich-
für das eigene Selbstbild entlastender, mit alisierte ich, dass Papst Benedikt nun tat- tig lugte die Sonne hervor. Zahlreiche Deut-
dem Finger stets auf die katholische Kirche sächlich tot ist. Während um mich herum sche waren zu sehen, trotz der Kälte sah
zu zeigen, als mit der Faust auf die eigene weiter das Leben tobte – ein Kind schrie, ich viele Lederhosen. „Benedikt, du treuer
liberale, grüne oder linke Brust zu schla- die U-Bahn kreischte, eine ältere Italiene- Freund des Bräutigams, möge deine Freude
gen und den eigenen Anteil an der Misere rin telefonierte lärmend und eine zwielich- vollkommen sein, wenn du seine Stimme
einzugestehen. tige Gestalt versuchte, Rosen zu verkau- endgültig und für immer hörst“, sagte
Benedikt teilt das historische Schicksal fen – starrte ich sekundenlang benommen Papst Franziskus. Unter größter Anstren-
vieler prophetischer Denker. Sie gelten im aus dem verschmierten Fenster. Dann, aus gung stand er noch einmal von seinem Roll-
eigenen Lande nichts und werden auch im dem Nichts, liefen ein paar Tränen meine stuhl auf, um den Sarg seines Vorgängers
eigenen Lager diffamiert und bekämpft. Es Wangen hinunter. Benedikt XVI. war nun zu berühren, bevor dieser in die Grotte un-
wird jedoch nicht lange dauern, bis seine Be- erlöst, er durfte nach Hause. Und trotzdem. ter den Petersdom gebracht wurde.
funde über den Zustand von Welt und Kir- Der Papst, der mich seit meiner Jugend am Mittlerweile war es fast Mittag. Ich spürte
che begriffen und von den wirklich Gläu- meisten geprägt hat, für den ich seit der meine kalten Füße nicht mehr, doch auch
bigen aufgegriffen werden. Ω Schule immer wieder verbale Schläge ein- das Gefühl der Ergriffenheit wollte nicht
stecken musste, den ich als Elfjähriger 2005 weichen. Das ist der besondere Moment,
ALBERT SELLNER beim Weltjugendtag in Köln erstmals live sagte ich und zog die Whiskeyflasche aus
geboren 1945, war nach dem Studium als
linker Publizist tätig, Redakteur der erleben durfte, hatte diese Welt verlassen. meinem Rucksack. Schweigend erhob ich
Satirezeitschrift Pardon, Herausgeber und Mit einem Ruck hielt die Metro und ich mit meinen Kollegen die Pappbecher.
Lektor des Eichborn-Verlages und weiterer kehrte in den Arbeitsmodus zurück. Die Der Papst ist tot, es lebe der Papst!
Verlage und Zeitschriftenprojekte

VATICAN 2-2023 41
H I S T ORI A VAT I CA NA

Benedikt XVI. und „seine“


Bayerischen Gebirgsschützen
Es sei schon eine Auszeichnung, sagen zu können, Benedikt XVI. sei
einer von ihnen gewesen und es ein Leben lang geblieben, ist sich der
Bund der Bayerischen Gebirgsschützen sicher

VON ULRICH N E R S INGE R

m Tag der Beisetzung des emeri-

A tierten Papstes berichtete ein Fern-


seh-Team des Bayerischen Fernse-
hens vor Ort von den Einlasskontrollen zum
Petersplatz: „Alle müssen heute Früh lange
warten, bevor sie die Sicherheitsschleusen
rund um den Petersplatz passieren dürfen.
Doch die Gebirgsschützen marschieren ein-
fach durch die Metalldetektoren, egal, ob
es piepst oder nicht. Sie haben einen beson-
deren Draht zum Vatikan, seitdem mit Be-
nedikt 2005 ein Bayer Papst geworden ist.“
Wer waren die uniformierten Männer aus
dem süddeutschen Freistaat, die so problem-
los den Platz vor der Basilika des Apostel-
fürsten Petrus betreten durften? „Die Baye-
rischen Gebirgsschützen haben es sich seit
Jahrhunderten zur Aufgabe gemacht, dieses
herrliche Bayern, dieses gesegnete Land so-
wohl gegen Angriffe von innen als auch von
außen zu verteidigen, es in seinen christli-
chen und kulturellen Wurzeln so zu bewah-
ren, wie sie es von ihren Vätern und Vorvä-
tern ererbt haben“, teilte Günter Reichelt,
der Schatzmeister des Traditionsbundes, mit
unüberhörbarem Stolz in der Stimme mit.
Gebirgsschützen

Die Gebirgsschützen hatten die große Ehre


und Freude, Joseph Ratzinger in über 40 Jah-
ren in seiner Zeit als Erzbischof von Mün-
chen und Freising und ebenso später als
Kardinal und Papst und über die Zeit sei- Besuch bei Kardinal Joseph Ratzinger in Rom anlässlich seines 60. Geburtstag im April 1987

42 VATICAN 2-2023


nes Pontifikates hinaus in Rom sehr nahe
zu sein. Nach seinem Wechsel von der baye-
rischen Landeshauptstadt nach Rom hatten
die Gebirgsschützen „ihren“ nach Rom beru-
fenen Kardinal nicht vergessen. Immer wie-
der kamen sie in die Ewige Stadt zu Besuch.
Im April 1987 reisten 290 Mann nach Rom,
um ihrem großen bayerischen Landsmann
zu seinem 60. Geburtstag zu gratulieren.
Zur Feier des 75. Geburtstags des Kurien-
kardinals kamen im Jahre 2002 an die 500
Gebirgsschützen mit ihren Fahnen und der
Blasmusik nach Rom. In der Sala Clemen-
tina des Apostolischen Palastes hatte der von
Krankheit gezeichnete Papst Johannes Paul
II. dem Jubilar die Ehre einer Audienz ge-
währt, an der die Gebirgsschützen sichtlich
bewegt teilnahmen. Auf dem Gelände des
Palazzo di San Callisto in Trastevere fand
dann eine „weltliche“ Geburtstagsfeier statt.
Der Kardinal wurde Ehrenmitglied der Ge-

Gebirgsschützen
birgsschützenkompanie Tegernsee, die ihm
zu Ehren gleich einen donnernden dreifa-
chen Ehrensalut abfeuerte.
In seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskon-
Die Gebirgsschützenkompanie Traunstein zu Besuch bei Joseph Ratzinger
gregation besuchte Joseph Ratzinger immer
wieder seine Heimat; und jedes Mal war es dass wir sie gegen das Zertrampeln vertei- Obersten Hirtenamtes auf dem Petersplatz
Anlass genug, dass die Gebirgsschützen in digen; dass wir sie nicht zerstören lassen. stattfand, mit einer großen Abordnung der
großer Formation ausrückten. 2004 gab ih- Darum ringen wir.“ Gebirgsschützen aus dem Freistaat in die
nen der Kardinal bei einem Gottesdienst in 2005 war man in Bayern, ja in ganz Ewige Stadt eilte.
Rottach-Egern zu verstehen: „Eure Gewehre Deutschland stolz. Joseph Ratzinger, der Und immer wieder gab es Anlässe für freu-
haben nichts mit Gewalt, mit Hass, mit Ver- Sohn eines bayerischen Landgendarmen, dige Begegnungen des Pontifex mit seinen
geltung, mit Zerstörung zu tun, sie dienen wurde nach dem Tode des großen Johannes deutschen, bayerischen Schützen. So be-
der Freude, dass sie festlich ertönt und laut Pauls II. von der Versammlung der Kardi- reits im Jahre 2006. 500 Gebirgsschützen
wird in dieser Welt.“ Dennoch hätten die näle im Konklave zum Pontifex Maximus aus 47 Kompanien reisten zur Feier von
Gebirgsschützen einen „Verteidigungsauf- gewählt. Jubel in aller Welt kam auf, als er drei Jubiläen nach Rom: 1616 stellte Her-
trag“: „Nicht mehr einen, den man mit Ge- sich am Abend des 19. April auf der äuße- zog Maximilian von Bayern sein Land offi-
wehren ausübt, sondern einen, den man ren Loggia von St. Peter als Benedikt XVI. ziell unter das Patronat der Gottesmutter,
mit dem Leben ausübt. Ihr habt den Ver- im päpstlichen Ornat zeigte und erstmals 300 Jahre später genehmigte Papst Bene-
teidigungsauftrag für diese unsere Heimat, den Gläubigen „urbi et orbi“ seinen Aposto- dikt XV. das Fest „Patrona Bavariae“ und
das heißt Werte, auf die sie gegründet ist, lischen Segen spendete. Es war eine Selbst- es galt, das 500-jährige Bestehen der Päpst-
die sie schön machen und von denen wir le- verständlichkeit, dass man zu dem feierli- lichen Schweizergarde zu feiern. All diese
ben (…) Das ist unser Verteidigungsauftrag, chen Gottesdienst, der zur Übernahme des Jubiläen waren ein Grund für eine große

VATICAN 2-2023 43
H I S T ORI A VAT I CA NA

Audienz des Papstes in der Benediktions- gonnen. Die Kompanie Tegernsee durfte den Dann erschütterte am Rosenmontag 2013
aula über dem Atrium von St. Peter. In ei- Salut schießen – schließlich ist der Papst eine Meldung von Radio Vatikan die katho-
ner Ansprache ermutigte er seine Lands- ihr Ehrenmitglied. Die Erzdiözese München- lische Welt: Papst Benedikt XVI. tritt von
leute, ihr kulturelles Erbe zu schützen und Freising machte Benedikt XVI. mit dem Fest- seinem Amt zurück. Bei ihren letzten Be-
zu pflegen: „Es ist nicht Zweck seiner selbst, abend voller Brauchtum ein nachträgliches gegnungen mit ihm als Oberhaupt der ka-
sondern es soll die Menschen in ihrer Ver- Geschenk zum 85. Geburtstag.“ In seiner tholischen Kirche standen die Bayerischen
wurzelung halten.“ Dankesansprache sagte der Heilige Vater: Gebirgsschützen in ihren unterschiedlichs-
Im August 2012 meldete die „Bildzeitung“: „Am Ende dieser bayerischen Stunde kann ten Monturen und mit ihren Fahnen be-
„Ehrensalut für den Papst. Mit dieser laut- ich nur von Herzen ‚Vergelt’s Gott‘ sagen: Es reit. Auch nach seiner Emeritierung hatten
starken Ehrbezeugung hat am Freitag auf war einfach schön, hier mitten in Latium, die Gebirgsschützen „ihren“ Papst natür-
dem päpstlichen Sommersitz Castel Gan- in Castel Gandolfo, zugleich in Bayern zu lich nicht vergessen und so kamen immer
dolfo ein Ehrenabend für Benedikt XVI. be- sein. Ich war richtig ‚dahoam‘.“ wieder Abordnungen zu besonderen Ge-
burtstagen ins Kloster „Mater Ecclesiae“,
um ihrem Landsmann zu gratulieren. Die
Freude war beiden Seiten jedes Mal ins Ge-
sicht geschrieben.
Am Silvestertag des Jahres 2022 gab der
emeritierte Heilige Vater seine unsterbli-
che Seele dem Schöpfer zurück. Martin Ha-
berfellner, der Landeshauptmann der Bay-
erischen Gebirgsschützen, schrieb in einer
Trauerbotschaft: „Die Bayerischen Gebirgs-
schützen, die Joseph Ratzinger seit über 40
Jahren verbunden sind, haben einen Freund
verloren. Er wird seinen Platz in unseren
Herzen behalten.“ Für Günter Reichelt, den
Schatzmeister des Traditionsbundes, stand
nach der Todesnachricht fest: „Es ist eine
Gebirgsschützen

Selbstverständlichkeit, dass wir Schützen


unserem Ehrenmitglied bei der großen Be-
gräbnisfeier auf dem Petersplatz in Rom am
Die Gebirgsschützen zu Besuch bei Benedikt XVI. 5. Januar 2023 die letzte Ehre erweisen.“
Hunderte von Gebirgsschützen waren
zum Requiem in die Ewige Stadt gekom-
men, einige von ihnen im Flugzeug als Mit-
glieder der offiziellen Delegation von Minis-
terpräsident Markus Söder (CSU), andere
mit Bussen. Mit ihren Fahnen und einer
Musikkapelle aus dem oberbayerischen Un-
terpfaffenhofen hatten sie an bevorzugter
Stelle auf dem Petersplatz Aufstellung ge-
nommen. Mit aufgestecktem Grünzeug am
Hut anstelle der normalerweise üblichen
Blumen bezeugten sie ihre tiefe Trauer über
den Tod Benedikts XVI.
Nach dem Ende des Gottesdienstes, als man
den Sarg in das Innere der Basilika trug,
erschallte das Kommando: „Gebirgsschüt-
zen zur Bayernhymne – Habt Acht“. Und die
Bayern sangen zum letzten Mal für ihren
Papst das „Lied der Bayern“: „Gott mit dir,
Christoph Hurnaus

du Land der Bayern, deutsche Erde, Vater-


land! Über deinen weiten Gauen ruhe Seine
Segenshand! Er behüte deine Fluren, schirme
deiner Städte Bau. Und erhalte dir die Far-
Bei der Trauerfeier für Papst Benedikt auf dem Petersplatz ben Seines Himmels, Weiß und Blau!“ Ω

44 VATICAN 2-2023


AUS DEM L O GB UCH DES S CHIF F ES PETRI

Die letzten Tage


von Benedikt XVI. in Rom
28. Dezember 2022 im Ruhestand.“ Der Argentinier, der 2013

Franziskus-Splitter Bei der letzten wöchentlichen Generalaudi-


enz des Jahres 2023 ruft Papst Franziskus
seinem deutschen Vorgänger auf den Stuhl
Petri nachfolgte, unterstrich, dass nur Gott
zum Gebet für Benedikt XVI. auf. „Denkt an den „Wert und die Kraft“ der Opfer kenne,
ihn, er ist sehr krank“, so Franziskus. „Und die Benedikt XVI. „für das Wohl der Kirche
Ich bitte euch alle um ein besonderes
bittet den Herrn, ihn zu trösten und zu un- gebracht hat“.
Gebet für den emeritierten Papst Be-
terstützen in diesem Zeugnis der Liebe
nedikt. Denkt an ihn, er ist sehr krank.
zur Kirche bis zum Ende.“ Kurz dar- 1. Januar 2023
Und bittet den Herrn, ihn zu trösten und
zu unterstützen in diesem Zeugnis der auf veröffentlicht die Pressestelle des Papst Franziskus feiert am Hochfest
Liebe zur Kirche bis zum Ende. Heiligen Stuhls eine offizielle Presse- der Gottesmutter Maria im Peters-
mitteilung. Der Gesundheitszustand dom die Heilige Messe. Dabei emp-
28. Dezember 2022
des emeritierten Papstes sei „besorg- fiehlt der Heilige Vater seinen ver-
niserregend, aber im Moment stabil“. storbenen Vorgänger der Fürsprache
Der Gedanke geht spontan an den ge-
der Muttergottes an, auf dass sie ihn
liebten emeritierten Papst Benedikt XVI.,
30. Dezember 2022 „bei seinem Übergang von dieser Welt
der uns heute Morgen verlassen hat.
Mit Ergriffenheit erinnern wir uns an Zwei Tage sind seit dem Gebetsaufruf von zu Gott“ begleite.
seine Person, die so edel und gütig war. Papst Franziskus vergangen. Der Vatikan
Wir empfinden in unseren Herzen so selbst organisiert eine Heilige Messe für den 2. Januar 2023
viel Dankbarkeit ... Nur Gott kennt den emeritierten Pontifex, dessen letzter Kampf Der Leichnam von Benedikt XVI. wird im Pe-
Wert und die Kraft seiner Fürsprache, bereits begonnen hat. In der Lateranbasi- tersdom aufgebahrt. Drei Tage lang nutzen
seiner Opfer, die er für das Wohl der lika in Rom zelebriert Kardinal Angelo De über 200.000 Pilger aus aller Welt die Gele-
Kirche gebracht hat. Donatis die Eucharistiefeier, zu der neben genheit, um persönlich Abschied zu nehmen.
31. Dezember 2022 zahlreichen Gläubigen auch alte Weggefähr-
ten Ratzingers erschienen sind. 4. Januar 2023
Sein scharfsinniges und sanftes Denken In der ersten Generalaudienz des neuen Jah-
war nicht selbstbezogen, sondern kirch- 31. Dezember 2022 res würdigt der Papst den Verstorbenen.
lich, denn er wollte uns immer in der In den frühen Morgenstunden des letzten „Sein scharfsinniges und sanftes Denken
Begegnung mit Jesus begleiten. Jesus, Tages im Jahr 2022 macht Joseph Ratzinger, war nicht selbstbezogen, sondern kirchlich,
der Gekreuzigte und Auferstandene, der Papst Benedikt XVI., seinen letzten Atemzug. denn er wollte uns immer in der Begegnung
Lebendige und der Herr, war das Ziel, Einer Krankenschwester zufolge habe der mit Jesus begleiten“, so Franziskus über Be-
zu dem uns Papst Benedikt führte, in-
Theologe und Pontifex vor seinem Tod noch nedikt. In seinem Gruß an die deutschspra-
dem er uns an die Hand nahm. […] Mit
einen letzten Satz gesprochen. Es war ein chigen Pilger erinnert er an ein bekanntes
den Worten unseres lieben Verstorbe-
Bekenntnis, gesprochen auf Italienisch: „Si- Zitat: „Mit den Worten unseres lieben Ver-
nen Benedikt XVI. möchte ich euch zu-
rufen: „Wer glaubt, ist nie allein!“ gnore ti amo – Herr, ich liebe dich!“ Wenig storbenen Benedikt XVI. möchte ich euch
später gibt der Pressesprecher des Vatikans, zurufen: ‚Wer glaubt, ist nie allein!‘“
4. Januar 2023
offiziell bekannt: „Schmerzerfüllt muss ich
mitteilen, dass Benedikt XVI., Papst emeri- 5. Januar 2023
Benedikt, du treuer Freund des Bräuti-
tus, heute um 9:34 Uhr im Kloster Mater Ec- Das Requiem für Benedikt XVI. beginnt um
gams, möge deine Freude vollkommen
clesiae im Vatikan verstorben ist.“ Während 9:30 Uhr. Laut Vatikan harren 50.000 Gläu-
sein, wenn du seine Stimme endgültig
Journalisten aus aller Welt nach Rom eilen bige an diesem nebligen und kalten Mor-
und für immer hörst.
5. Januar 2023 und vor dem Petersplatz in Aufstellung ge- gen auf dem Petersplatz aus. „Benedikt, du
hen, geht das kirchliche Leben weiter. Papst treuer Freund des Bräutigams, möge deine
Franziskus feiert am Silvesterabend die Ves- Freude vollkommen sein, wenn du seine
Danken wir Gott aufrichtig dafür, dass er
uns Papst Benedikt XVI. geschenkt hat: per und gedenkt dabei auch seines verstor- Stimme endgültig und für immer hörst“,
Mit seinem Wort und seinem Zeugnis benen Vorgängers: „Wir empfinden in un- ruft Papst Franziskus in seiner Predigt aus.
hat er uns gelehrt, dass es möglich ist, seren Herzen so viel Dankbarkeit: Dankbar- Anschließend wird der Sarg in den vatika-
durch Nachdenken, Überlegen, Studie- keit gegenüber Gott, dass er ihn der Kirche nischen Grotten des Petersdoms beigesetzt.
ren, Zuhören, Dialog und vor allem Ge- und der Welt geschenkt hat; Dankbarkeit Es ist die gleiche Stelle, an der zuvor Bene-
bet der Kirche zu dienen und der gan- gegenüber ihm, für all das Gute, das er voll- dikts Vorgänger, der heilige Papst Johan-
zen Menschheit Gutes zu tun. bracht hat, und vor allem für sein Zeugnis nes Paul II. bestattet wurde, bevor dessen
14. Januar 2023 des Glaubens und des Gebets, besonders in sterbliche Überreste in die Basilika umge-
diesen vergangenen Jahren seines Lebens bettet wurden. Ω

VATICAN 2-2023 45
A BEN D LA N D

Europa als
geistige Realität
Über den heiligen Augustinus sagte Papst Benedikt XVI. im
Jahr 2008: „Selten konnte eine Zivilisation einen Menschen von
solcher Geistesgröße vorweisen, der es verstand, ihre Werte
aufzunehmen und ihren inneren Reichtum zu erhöhen.“ Das gilt
auch für ihn selbst, den großen Abendländer Joseph Ratzinger

VO N ST E P H A N BA I E R

uropa sei „kein geografisch deut- diese Begegnung „nicht erst in der frühen

E lich fassbarer Kontinent“, sagte


Kardinal Ratzinger im Mai 2004 in
Kirche, sondern innerhalb des biblischen
Weges vollzogen“ wurde. Die frühe Kirche
einem Vortrag vor dem italienischen Senat, habe lediglich „konsequent eine interkul-
sondern „ein kultureller und historischer turelle Begegnung weiter entfaltet, die im
Begriff“. Ein knappes Jahr später wurde er Kern des biblischen Glaubens selbst ver-
zum Papst gewählt und nahm den Namen ankert ist“. Darum werde hier der Glaube
des Mönchsvaters Benedikt, des ersten Pa- nicht in eine philosophische Theorie um-
trons Europas, als Papstnamen an. Worin gebogen. Die griechische Philosophie habe
besteht nun nach seiner Auffassung die his- – vorbildhaft auch für unsere Zeit – „in al-
torische und kulturelle Identität Europas? lem Ernst die Frage nach der Wahrheit“ ge-
In seiner Predigt zur bevorstehenden ers- stellt. So sei „die Begegnung zwischen dem
ten Europawahl sagte er als Erzbischof von Glauben der Bibel und der griechischen Phi-
München am 12. Mai 1979 im Dom seiner losophie wahrhaft providentiell gewesen“.
Bischofsstadt, Europa beruhe „auf der Ver- Für Glaube und Kirche heißt das, dass
einigung von griechischem Geist und christ- es kein Zurück hinter das geben kann, was
lichem Glauben“. Um Missverständnisse zu manche abschätzig „Hellenisierung“ nennen
vermeiden, setzte er hinzu: „... auf einer Ver- und im Namen neuer Inkulturationen ab-
nunft, die Sehnsucht geworden ist, im Ent- lehnen mögen. Für Europa und seine geis-
behren ahnt, was ihr fehlt“. Immer wieder tige Verfasstheit bedeutet es, dass das Chris-
verteidigte Joseph Ratzinger diese „Begeg- tentum nicht ohne Wesens- und Identitäts-
nung zwischen griechischem Denken und bi- verlust aus dem Corpus des Europäischen
blischem Glauben“ gegen zwei Seiten: gegen entfernt werden kann. Ratzinger schreibt
die, die ein Europa ohne Christentum wol- das explizit, etwa mit Blick auf das 16. Jahr-
len oder die christliche Identität des Abend- hundert: „Der Versuch der Renaissance, das
landes für überwunden wähnen. Und gegen Griechische unter Wegnahme des Christ-
jene, die in der „Hellenisierung“ eine unbi- lichen rein zu destillieren und wieder als
blische Entfremdung des Christentums se- das pur Griechische herzustellen, ist ebenso
hen. Demgegenüber hielt Ratzinger fest, dass aussichtslos und sinnwidrig, wie der neu-

46 VATICAN 2-2023


Kardinal Joseph Ratzinger 1990
bei seinem Besuch in Speyer. Am
Samstag vor Pfingsten sprach er dort
vor fast tausend Zuhörern – darunter
Bundeskanzler Helmut Kohl – über
„Europa – Hoffnungen und Gefahren“.

schichte und der staatlichen Existenz ab-


geworfen wird: Die Geschichte misst sich
nicht mehr an einer ihr vorausliegenden und
sie formenden Idee Gottes“. So entsteht der
rein säkulare Staat. Gott wird „zur Privat-
sache erklärt“. Die personal gedachte Ein-
heit des Staates (in der Gestalt des Monar-
chen) wird durch die nationale ersetzt. Die
Reichsidee wird abgelöst durch die Natio-
nen als Träger der Geschichte.
Damit beginnen zwei Fehlentwicklungen,
die Joseph Ratzinger als „Sündenfälle Eu-
ropas in der Neuzeit“ bezeichnet: zunächst
KNA-Bild

der Nationalismus, den er in einem Vor-


trag 1990 eine „moderne Radikalisierung
ere Versuch eines enthellenisierten Chris- Europas Schwerpunkte nach Norden: zu- des Tribalismus, also eines Urlasters der
tentums. Europa im engeren Sinn entsteht nächst im Westen von Rom ins Franken- Menschheit“ nennt, dessen blutige Spur die
durch diese Synthese und ruht auf ihr.“ reich, später ins Heilige Römische Reich; Jahrhunderte durchziehe. „Obwohl der Na-
Versuche des Bruches gab es immer wie- dann im Osten von Byzanz nach Moskau. tionalismus in Europa geboren wurde und
der. Ratzinger hat sie und ihre Kollateral- Das lateinische Europa vollzog mit der Ent- insofern eine europäische Häresie ist, dür-
schäden benannt: Ein erster dramatischer deckung Amerikas eine Westerweiterung, fen wir doch die erneuerte Idee des einen
Bruch war der Siegeszug des jungen Islam, das byzantinische Europa mit der Erobe- Europas als Gegenkraft gegen diesen Irr-
durch den das Mittelmeer „in der Mitte rung Sibiriens eine Osterweiterung. weg unserer Geschichte ansehen und al-
durchgeschnitten“ worden sei, „sodass, was Ein noch tieferer Bruch erfolgte laut Rat- len Rückfallversuchen entschieden entge-
bisher ein Kontinent gewesen war, sich nun- zinger mit der Französischen Revolution, gensetzen.“
mehr in drei Kontinente teilte: Asien, Afrika, denn hier „bricht auch formell dieser geistige Der Europa-Gedanke sei nach 1945 – „als
Europa“. Durch die Völkerwanderung und Rahmen, ohne den sich Europa nicht hätte der zum ideologischen Wahn gesteigerte
später durch den Hereinbruch des Islam in bilden können“. Der spätere Papst meinte Nationalismus die Länder des alten Kon-
den mediterranen Raum verschoben sich damit, „dass die sakrale Fundierung der Ge- tinents verwüstet hatte“ – formuliert wor-

VATICAN 2-2023 47
A BEN D LA N D

ihren Wurzeln löst und das Machenkönnen


zum einzigen Maßstab erhebt“. Und so ist
neben dem Nationalismus „die Ausschließ-
lichkeit der technischen Vernunft und die
Zerstörung des Ethos“ in Ratzingers Sicht
der zweite neuzeitliche Sündenfall Euro-
pas. 2008 sagte Papst Benedikt XVI. in Pa-
ris: „Eine bloß positivistische Kultur, die die
Frage nach Gott als unwissenschaftlich ins
Subjektive abdrängen würde, wäre die Ka-
pitulation der Vernunft, der Verzicht auf
ihre höchsten Möglichkeiten und damit ein
Absturz der Humanität, dessen Folgen nur
schwerwiegend sein könnten. Das, was die
Kultur Europas gegründet hat, die Suche
nach Gott und die Bereitschaft, ihm zuzu-
hören, bleibt auch heute Grundlage wah-
rer Kultur.“
In dieser Logik wird eine Gesellschaft,
die ihre Verbindung zum eigenen Funda-
ment kappt, Gott ins rein Private verbannt
und auf einen Fortschritt ohne Ethos setzt,
„post-europäisch“. Sie verlässt, „was Europa
als geistige Realität konstituiert hat“. Den
Marxismus sah Ratzinger nur als radikale
Durchführung eines ideologischen Konzepts,
dem es um den „systematischen Ausschluss
des Göttlichen aus der Gestaltung von Ge-
schichte und Menschenleben“ gehe, und
das so der Ausbreitung einer Zivilisation
des Todes den Boden bereite.
Doch Joseph Ratzinger blieb nie dabei ste-
hen zu diagnostizieren, Europa sei „von in-
nen her leer geworden“ und in einem „in-
neren Absterben der tragenden seelischen
Kräfte“. Seiner nüchternen Diagnose ließ
er stets die Rettung bietende Therapie fol-
KNA-Bild

gen: Europa brauche „eine neue – gewiss


kritische und demütige – Annahme seiner
Kardinal Ratzinger, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, während des Gottesdienstes im
Speyerer Dom am 3. Juni 1990 selbst, wenn es überleben will“. Hierbei soll-
ten Christen sich als „schöpferische Min-
den, „um die nationalistische Häresie end- Christentum als Entfremdung von der ‚schö- derheit verstehen und dazu beitragen, dass
gültig zu bannen“. Appellativ meinte Kardi- nen‘ germanischen Wildheit“. Im Gegen- Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt
nal Ratzinger 1990 in Speyer: „Europa als satz zu solchen und anderen Ideologen war und damit der ganzen Menschheit dient“.
politische Idee muss das nationalstaatliche Joseph Ratzinger stets geschichtsbewusst: Dem bayerischen Papst ging es mit Blick
Modell endlich durch ein großräumiges Kon- „In dem Augenblick, wo Europa seine ei- auf das Abendland darum, Geschichte „als
zept kultureller Gemeinschaft ersetzen, das genen geistigen Grundlagen in Frage stellt Frieden stiftende Kraft“ zu aktivieren, Na-
Verfehlte am Weg des Nationalismus durch oder aufhebt, sich von seiner Geschichte tur und Geschichte als „die beiden großen
eine die Menschheit umfassende Solidari- trennt und sie zur Kloake erklärt, kann die Quellen der Erkenntnis“ in Erinnerung zu
tät ablösen. Denn nicht das Gegeneinander, Antwort einer nicht-europäischen Kultur rufen und so das „Wesen des Europäischen“
sondern nur das Miteinander baut auch die nur die radikale Reaktion und das Zurück freizulegen. Ω
einzelnen Nationen auf.“ hinter die Begegnung mit den christlichen
STEPHAN BAIER
Kein Zufall war für ihn, dass auch die Na- Werten sein.“ ist Theologe, Journalist und Sachbuchautor.
tionalsozialisten die geschichtlichen Synthe- Dies geschieht auch, wo sich die Rationa- Seit 1999 ist er Korrespondent der
sen und geistigen Fundamente Europas zer- lität, die eigentlich „ein wesentliches Kenn- „Tagespost“ für Österreich, Südosteuropa
und Europapolitik.
schlagen wollten durch ihre „Absage an das zeichen des europäischen Geistes“ ist, „von

48 VATICAN 2-2023


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EWTN – Der katholische Fernsehsender für den deutschsprachigen Raum!
DER ESSAY

Die Diktatur des


Relativismus
Vor dem Einzug ins Konklave,
das er als Benedikt XVI. verließ,
hielt Joseph Ratzinger als Dekan
des Kardinalskollegiums eine
weltweit beachtete Predigt

In seiner Homilie bei der Messe „Pro


Eligendo Romano Pontifice“ im Petersdom
warnte Ratzinger am 18. April 2005 vor
einer „Diktatur des Relativismus“. Damit
prägte er einen Begriff für die großen
geistigen Auseinandersetzungen unserer
picture-alliance | epa ansa Danilo Schiavella

Zeit und zeigte auf, vor welcher Heraus-


forderung christlicher Glaube heute steht.

50 VATICAN 2-2023


VON J OS E P H K A RD I N A L RAT Z I N G E R

n dieser verantwortungsvollen Stunde Bösen missverstanden werden. Christus trägt in

I hören wir mit besonderer Aufmerksamkeit


auf das, was der Herr uns mit seinen
seinem Leib und in seiner Seele die ganze Last des
Bösen, dessen ganze zerstörerische Kraft. Er ver-
eigenen Worten sagt. Aus den drei Lesungen möchte brennt und verwandelt das Böse im Leiden, im
ich nur einige Abschnitte auswählen, die uns in Feuer seiner leidenden Liebe. Der Tag der Vergel-
einem Augenblick wie diesem direkt betreffen. tung und das Jahr der Barmherzigkeit fallen im
Oster­mysterium, im toten und auferstandenen
Die Erste Lesung bietet ein prophetisches Bild der Chris­tus zusammen. Das ist die Vergeltung Gottes:
Figur des Messias – ein Bild, das seine ganze Bedeu- Er selbst leidet in der Person des Sohnes für uns.
tung von dem Augenblick her erhält, als Jesus, der Je mehr wir von der Barmherzigkeit des Herrn be­-
diesen Text in der Synagoge von Nazaret liest, sagt: rührt werden, umso mehr solidarisieren wir uns
„Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt“ (Lk 4,21). mit seinem Leiden, werden wir bereit, „das, was an
Im Zentrum des prophetischen Textes stoßen wir auf den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1,24), in un­-
ein Wort, das – zumindest auf den ersten Blick – wi- serem Leib zu ergänzen.
dersprüchlich erscheint. Der Messias, der von sich
spricht, sagt, er sei gesandt worden, damit er „ein Gehen wir zur Zweiten Lesung über, zum Brief an
Gnadenjahr des Herrn ausrufe, einen Tag der die Epheser. Hier geht es im Wesentlichen um drei
Vergeltung unseres Gottes“ (Jes 61,2). Wir hören voll Dinge: erstens um die Ämter und Charismen in der
Freude die Ankündigung des Jahres der Barmherzig- Kirche als Gaben des auferstandenen und in den
keit: Die göttliche Barmherzigkeit setzt dem Bösen Himmel aufgefahrenen Herrn; sodann um das
eine Grenze – hat der Heilige Vater uns gesagt. Jesus Heranreifen des Glaubens und der Erkenntnis des
Christus ist die göttliche Barmherzigkeit in Person: Sohnes Gottes als Voraussetzung und Inhalt der
Christus begegnen heißt, der Barmherzigkeit Gottes Einheit im Leib Christi; und schließlich um die
begegnen. Der Auftrag Christi ist durch die priester- gemeinsame Teilnahme am Wachsen des Leibes
liche Salbung zu unserem Auftrag geworden; wir Christi, das heißt an der Umgestaltung der Welt in
sind aufgerufen, „das Jahr der Barmherzigkeit des die Gemeinschaft mit dem Herrn.
Herrn“ nicht nur mit Worten, sondern mit dem
Leben und mit den wirksamen Zeichen der Sakra- Wir verweilen nur bei zwei Punkten. Der erste ist
mente zu verkünden. Was aber will Jesaja sagen, als der Weg zur „Reife Christi“, wie es etwas vereinfa-
er den „Tag der Vergeltung unseres Gottes“ ankün- chend im italienischen Text heißt. Dem griechischen
digt? Jesus hat in Nazaret, als er den Text des Text nach müssten wir genauer von dem „Maß der
Propheten las, diese Worte nicht ausgesprochen – er Fülle Christi“ sprechen, die zu erreichen wir gerufen
schloss mit der Ankündigung des Jahres der Barm- sind, um wirklich Erwachsene im Glauben zu sein.
herzigkeit. War das vielleicht der Anlass zu der Wir sollen nicht Kinder im Zustand der Unmündig-
Empörung, die nach seiner Predigt aufkam? Wir keit bleiben. Was heißt, unmündige Kinder im
wissen es nicht. Auf jeden Fall hat der Herr seinen Glauben sein? Der hl. Paulus antwortet: Es bedeutet,
authentischen Kommentar zu diesen Worten durch „ein Spiel der Wellen zu sein, hin- und hergetrieben
den Tod am Kreuz abgegeben. „Er hat unsere von jedem Widerstreit der Meinungen…“ (Eph 4,14).
Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes Eine sehr aktuelle Beschreibung!
getragen…“, sagt der hl. Petrus (1 Petr 2,24). Und der
hl. Paulus schreibt an die Galater: „Christus hat uns Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen
vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele
uns zum Fluch geworden ist; denn es steht in der ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen…
Schrift: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt. Jesus Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht
Christus hat uns freigekauft, damit den Heiden selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht,
durch ihn der Segen Abrahams zuteilwird und wir von einem Extrem ins andere geworfen worden:
so aufgrund des Glaubens den verheißenen Geist vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum
empfangen“ (Gal 3,13). Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen
Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen
Die Barmherzigkeit Christi ist keine billig zu ha- religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum
bende Gnade, sie darf nicht als Banalisierung des Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen

VATICAN 2-2023 51
D ER ESSAY

neue Sekten und dabei tritt ein, was der hl. Paulus Wir kommen nun zum Evangelium, aus dessen Fülle
über den Betrug unter den Menschen und über die ich nur zwei kleine Bemerkungen entnehme. Der
irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph Herr richtet an uns diese wunderbaren Worte: „Ich
4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der nenne euch nicht mehr Knechte … Vielmehr habe
Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus ich euch Freunde genannt“ (Joh 15,15). So oft haben
abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das wir das Gefühl, dass wir – wie es ja zutrifft – nur
sich „vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin- unnütze Knechte sind (vgl. Lk 17,10). Und trotzdem
und-hertreiben-Lassen“, als die heutzutage einzige nennt der Herr uns Freunde, er macht uns zu seinen
zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Freunden, er schenkt uns seine Freundschaft. Der
Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig Herr definiert die Freundschaft auf eine zweifache
anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich Weise. Zwischen Freunden gibt es keine Geheim-
und seine Gelüste gelten lässt. nisse: Christus sagt uns alles, was er vom Vater hört;
er schenkt uns sein volles Vertrauen und mit dem
Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn Gottes, Vertrauen auch die Erkenntnis. Er offenbart uns sein
den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Antlitz, sein Herz. Er zeigt uns seine liebevolle
Humanismus. „Erwachsen“ ist nicht ein Glaube, Zuwendung zu uns, seine leidenschaftliche Liebe,
der den Wellen der Mode und der letzten Neuheit die bis zur Torheit des Kreuzes geht. Er vertraut sich
folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in uns an, er verleiht uns die Vollmacht, durch sein Ich
der Freundschaft mit Christus verwurzelt ist. Diese zu sprechen: „Das ist mein Leib…“, „ich spreche dich
Freundschaft macht uns offen gegenüber allem, los…“. Er vertraut uns seinen Leib, die Kirche, an. Er
was gut ist und uns das Kriterium an die Hand gibt, vertraut unserem schwachen Geist, unseren schwa-
um zwischen wahr und falsch, zwischen Trug und chen Händen seine Wahrheit an – das Geheimnis
Wahrheit zu unterscheiden. Diesen erwachsenen von Gott, Vater, Sohn und Heiligem Geist; das
Glauben müssen wir reifen lassen, zu diesem Glau- Geheimnis von Gott, der „die Welt so sehr geliebt
ben müssen wir die Herde Christi führen. Und dieser hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3,16).
Glaube – der Glaube allein – schafft die Einheit und Er hat uns zu seinen Freunden gemacht – und
verwirklicht sich in der Liebe. Dazu bietet uns der welche Antwort geben wir?
hl. Paulus – im Gegensatz zu den ständigen Sinnes-
änderungen derer, die wie Kinder von den Wellen Das zweite Element, mit dem Jesus die Freundschaft
hin- und hergeworfen werden – ein schönes Wort: definiert, ist die Übereinstimmung des Willens.
die Wahrheit tun in der Liebe, als grundlegende „Idem velle – idem nolle“ war auch für die Römer
Formel der christlichen Existenz. In Christus decken die Definition von Freundschaft. „Ihr seid meine
sich Wahrheit und Liebe. In dem Maße, in dem wir Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage“
uns Christus nähern, verschmelzen auch in unserem (Joh 15,14). Die Freundschaft mit Christus entspricht
Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit dem, was die dritte Bitte des Vaterunsers aus­-
wäre blind; die Wahrheit ohne Liebe wäre wie „eine drückt: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf
lärmende Pauke“ (1 Kor 13,1). Erden.“ In der Stunde von Getsemani hat Jesus
unseren widerspenstigen menschlichen Willen in
einen Willen verwandelt, der dem göttlichen Willen
entspricht und mit ihm verbunden ist. Er hat das
ganze Drama unserer Autonomie erlitten – und
gerade dadurch, dass er unseren Willen in Gottes
ES ENTSTEHT EINE Hände legt, schenkt er uns die wahre Freiheit: „Aber
nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39).
DIKTATUR DES
RELATIVISMUS, DIE
NICHTS ALS ENDGÜLTIG
ANERKENNT UND ALS LETZTES MASS
NUR DAS EIGENE ICH UND SEINE
GELÜSTE GELTEN LÄSST“

52 VATICAN 2-2023


ANZEIGE
In dieser Übereinstimmung des Willens vollzieht
sich unsere Erlösung: Freunde Jesu sein, Freunde
Gottes werden. Je mehr wir Jesus lieben, je mehr wir
ihn kennen, umso mehr wächst unsere wahre
Freiheit, wächst die Freude darüber, erlöst zu sein.
Danke Jesus, für deine Freundschaft!

Das andere Element des Evangeliums, auf das ich


hinweisen wollte, ist die Rede Jesu über das Frucht-
bringen: „Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr
euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure
Frucht bleibt“ (Joh 15,16). Hier erscheint die Dyna-
mik der Existenz des Christen, des Apostels: Ich habe
euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht…
Wir müssen von einer heiligen Unruhe beseelt sein:
der Unruhe, allen das Geschenk des Glaubens, der
Freundschaft mit Christus zu bringen. In Wahrheit
ist uns die Liebe, die Freundschaft Gottes geschenkt Papst Benedikt XVI. beauftragte im Jahr
worden, damit sie auch die anderen erreiche. Wir 2007 den damaligen Bischof von Regens-
haben den Glauben empfangen, um ihn an die burg mit der Herausgabe seines gesamten
anderen weiterzugeben, wir sind Priester, um theologischen Werkes bis zur Papstwahl
anderen zu dienen. Und wir müssen Früchte 2005. Mit der Gründung des Instituts konn-
hervorbringen, die bleiben. Alle Menschen wollen
te der Auftrag umgesetzt werden und ein
Beitrag für die Erschließung des Denkens
eine Spur hinterlassen, die bleibt. Aber was bleibt?
von Benedikt XVI. durch die Veröffentli-
Das Geld nicht. Auch die Gebäude bleiben nicht;
chung der „Joseph Ratzinger Gesammelte
ebensowenig die Bücher. Nach einer gewissen, mehr
Schriften“ geleistet werden.
oder weniger langen Zeit verschwinden alle diese
Dinge. Das Einzige, was ewig bleibt, ist die mensch- Inzwischen wurde eine Spezialbibliothek
liche Seele, der von Gott für die Ewigkeit erschaffene mit Quellen und Sekundärliteratur sowie
Mensch. Die Frucht, die bleibt, ist daher das, was wir ein Archiv im Institut eingerichtet. Die
in die menschlichen Seelen gesät haben – die Liebe, Räume des Instituts Papst Benedikt XVI.
die Erkenntnis; die Geste, die das Herz zu berühren sind im Regensburger Priesterseminar un-
vermag; das Wort, das die Seele der Freude des tergebracht. Das Institut ist ein zentraler
Herrn öffnet. Brechen wir also auf und bitten den Ort für die Erschließung des theologischen
Herrn, er möge uns helfen, Frucht zu bringen, eine Werkes und der Biographie von Joseph
Frucht, die bleibt. Nur so wird die Erde vom Tal der Ratzinger / Benedikt XVI. Der Austausch
Tränen in einen Garten Gottes verwandelt. mit Wissenschaftlern aus der ganzen Welt
drückt sich in gemeinsamen Veröffent-
Wir kommen schließlich noch einmal auf den lichungen und Veranstaltungen aus. Ver-
Epheserbrief zurück. Der Brief sagt – mit den Worten
schiedene Publikationsreihen stellen sich
des 68. Psalms – , dass Christus, als er in den Himmel
dem theologischen und gesellschaftlichen
Gespräch zur Verfügung.
auffuhr, „den Menschen Geschenke gab“ (Eph 4,8).
Der Sieger verteilt Geschenke. Und diese Geschenke Direktor des Benedikt-Instituts ist der Re-
sind Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und gensburger Bischof Dr. Rudolf Voderhol-
Lehrer. Unser Amt ist ein Geschenk Christi an die zer, stellvertretender Vorsitzender ist Dr.
Menschen, um seinen Leib – die neue Welt – aufzu- Christian Schaller.
bauen. Leben wir also unser Amt als Geschenk
Christi an die Menschen! Aber in dieser Stunde beten
wir vor allem inständig zum Herrn, dass er uns nach
Institut Papst Benedikt XVI.
dem großen Geschenk Papst Johannes Pauls II.
wieder einen Hirten nach seinem Herzen schenke,
Bismarckplatz 2 • 93047 Regensburg
einen Hirten, der uns zur Erkenntnis Christi, zu Tel. +49 941 2983-4001 • Fax. -4440
seiner Liebe, zur wahren Freude führt. Amen. Ω E-Mail: info@institut-papst-benedikt.de

VATICAN 2-2023 53 www.institut-papst-benedikt.de


UN T E R D I E H AU T
Jeder, der sich mit dem Wort Gottes beschäftigt, macht dieselbe Erfahrung: Man kann noch so vertraut sein mit der Bibel –
man ist mit dem lebendigen Wort Gottes niemals fertig. Immer wieder kommt es vor, dass ein einzelner Vers, ein kurzer Abschnitt
plötzlich eine ganz neue Bedeutung bekommt. Er springt dich an, geht dir unter die Haut, bringt eine Saite in dir zum Klingen,
macht dich traurig oder wütend oder froh. Das Wort Gottes lässt dich nicht kalt und es lässt dich nicht los.

Handelt Gott?
Wie Pfarrer Ulrich Filler eine theologische Frage
Joseph Ratzingers unter die Haut ging

In dieser Ausgabe erzählt Pfarrer


Ulrich Filler aus Köln von seiner
ersten Begegnung mit dem Büch-

„Es geht um die Gottesfrage: lein „Die Tochter Zion“ von Joseph
Ratzinger. Ob die Kirche den
Ist Gott irgendwo eine Tiefe des Seins, „Mozart der Theologie“ einmal als
Kirchenlehrer verehrt, entscheiden
die sozusagen alles unterspült, spätere Generationen. Wir wissen
bereits heute: Seine Worte und Ge-
man weiß nicht recht wie, oder ist er danken gehen unter die Haut!

der Handelnde, der Macht hat,


der seine Schöpfung kennt und liebt,
ihr gegenwärtig ist, in ihr wirkt, VO N ULRI C H FI LLER

ie Tochter Zion“ – Das schmale, rote


immerfort, auch heute? Es geht um die
D Bändchen aus dem Johannes-Ver-
lag war meine Eintrittskarte in die
Alternative: Handelt Gott oder theologische Welt Joseph Ratzingers. In ei-
nem meiner ersten Semester hatte mir ein
handelt er nicht?“ Freund empfohlen: Das musst du lesen. Das
ist ein Knaller! Wenn ich nach mehr als drei-
Joseph Ratzinger, Die Tochter Zion ßig Jahren das Büchlein wieder zur Hand
nehme, fallen mir lose Seiten entgegen, ver-
gilbte Post-its lugen hervor und Bleistift-
Unterstreichungen zeigen immer noch, wel-
che Sätze dem Studienanfänger unter die
Haut gingen. Diese Einführung in den Ma-

54 VATICAN 2-2023


rienglauben der Kirche faszinierte mich, die Voraussetzung dafür, dass Schöpfungs-
vor allem und zunächst wegen der bezau- und Gnadenlehre intakt bleiben.“
bernden Art, mit der Joseph Ratzinger seine „Die Tochter Zion“ – ein schmales Bänd-
Sätze geschrieben hatte. Ich wurde weder chen mit großer Wirkung. Theologie, die
von Spezialwissen hochmütig erdrückt, noch mir unter die Haut geht und die mich tief
vom mahnenden Zeigefinger kommandiert geprägt hat. Beim Nachdenken über das Ge-
– die Lektüre gleicht einem Gespräch un- heimnis der Menschwerdung bringt Ratzin-
ter Freunden: Unaufgeregt, ruhig und gleich- ger die verschiedenen Argumente für oder
zeitig spannend wird der Leser abgeholt ander. Die Widersprüche sind nur scheinbar gegen die Möglichkeit einer Jungfrauenge-
und mitgenommen auf eine Gedankenreise, – und weisen letztlich auf die alles entschei- burt auf den Punkt. Hier zeigt sich seine
nein – auf eine Schatzsuche. Stets ist etwas dende Frage hin. Ratzinger brachte diese Er- ganze Meisterschaft. Er sammelt und ord-
Kostbares zu entdecken, werden Zusam- fahrungen auf den Punkt: „Der eigentliche net die Meinungen in ihrem Kontext und
menhänge plötzlich sichtbar oder Altbe- Disput findet also nicht, wie es meist hinge- bringt sie in einen Zusammenhang. Alle kri-
kanntes neu verortet. Stets zuckt die Hand, stellt wird, zwischen historischer Naivität tischen Fragen dürfen gestellt werden, alle
um einen Satz zu unterstreichen. Quer­lesen und historischer Kritik statt, sondern zwi- Einwände werden angehört – und beant-
geht nicht, denn alles ist so gut strukturiert schen zwei Vorstellungen vom Verhältnis wortet, in glasklarer, bestechender wie be-
und fügt sich so nahtlos zusammen. Unter- Gottes zu seiner Welt.“ Die Texte Ratzingers zwingender Argumentation auf höchstem
schiedliche Meinungen kommen zu Wort, sind wohltuend und schön zu lesen, denn Niveau. Doch bleibt er nicht dort stehen –
werden geprüft und eingeordnet, beurteilt er kommt ganz ohne Worthülsen aus und er führt den Gedanken weiter, lotet seine
und gewichtet im Licht der kirchlichen Über- bemüht niemals die theologische Phrasen- Tiefe aus und bringt ihn auf den Punkt. Die-
lieferung, der katholischen Tradition, die dreschmaschine. ser Punkt ist immer aktuell – und gerade
nicht verstaubt und mottenzerfressen, son- „Die Tochter Zion“ brachte mir wichtige heute die Nagelprobe jeder Theologie.
dern neu und blitzblank erstrahlt. theologische Grundlagen ins Bewusstsein, Alle katholischen Hochschullehrer, alle
Joseph Ratzinger erfüllt als theologischer die dem Panzerkardinal-Klischee eigentlich Bischöfe, alle Priester und Gemeinderefe-
Autor vollkommen das Wort Jesu: „Deswe- so gar nicht entsprechen. Zum Beispiel die renten, Pastoraltheologen und Diakone soll-
gen gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jün- „Theologie der Frau“: „Alle spätere Marien- ten sich ihr immer wieder neu unterziehen.
ger des Himmelreichs geworden ist, einem frömmigkeit und -theologie beruht darauf, Und all ihre Lehren und Predigten, theolo-
Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues dass es im Alten Testament eine tief veran- gischen Ergüsse, Mahnungen, Forderungen
und Altes hervorholt“ (Mt 13,52). Und man kerte und für dessen Gesamtkonstruktion und Lehren daran messen. Es ist der Urme-
spürt: Hier schreibt ein Theologe über seinen unerlässliche Theologie der Frau gibt: Ei- ter, das Maß aller Dinge, die Grundlage, mit
Glauben. Es ist fromme Theologie. „Theo- nem weit verbreiteten Vorurteil entgegen der alles steht und fällt, der einzige Grund,
logie auf Knien“ – dieser Anspruch wurde nimmt die Figur der Frau im Gesamtgefüge auf dem theologisch ehrlich und dauerhaft
uns Studenten oft vorgehalten, aber nur sel- alttestamentlichen Glaubens und alttesta- gebaut werden kann: „Es geht um die Got-
ten vorgelebt. Wer sich in ganz kindlicher mentlicher Frömmigkeit einen unersetzli- tesfrage: Ist Gott irgendwo eine Tiefe des
Marienfrömmigkeit, mit dem Rosenkranz chen Platz ein.“ Immer wieder geht Ratzin- Seins, die sozusagen alles unterspült, man
in der Hand, unter dem Schutzmantel der ger auch auf die unerhörte Bedeutung der weiß nicht recht wie, oder ist er der Han-
Gottesmutter geborgen weiß, wird von mo- Einheit der ganzen Bibel ein: „Wo die Ein- delnde, der Macht hat, der seine Schöpfung
dernen Theologieprofessoren eher ausge- heit von Altem und Neuem Testament zer- kennt und liebt, ihr gegenwärtig ist, in ihr
lacht. Theologie und persönlicher Glaube fällt, geht der Raum der Mariologie, einer wirkt, immerfort, auch heute? Es geht um
sind aber in Wahrheit kein Gegensatz, im Ge- gesunden Mariologie, verloren. Diese Ein- die Alternative: Handelt Gott oder handelt
genteil! Glaube und Vernunft bedingen ein- heit der Testamente ist wiederum zugleich er nicht?“  Ω

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LESE P ROBE

„Kein Kirchenfürst.
Das genaue Gegenteil“
Der Fernsehjournalist Markus Lanz über Papst Benedikt XVI. in seinem
Buch mit Manfred Lütz „Benedikt XVI. – Unser letztes Gespräch“

Im April 2003 war der bekannte VO N M A RK US LA N Z


ZDF-Fernsehjournalist Markus
Lanz mit einem Kamerateam nach as Gespräch entwickelte sich, und der Lage war, selbst komplexeste Gedan-
Rom gereist, um eine Reportage
über das Leben im Vatikan zu dre-
D es entwickelte sich ganz anders,
als ich vermutet hatte. Ich tastete
ken in ganz einfache, aber ungeheuer prä-
gnante Sätze zu gießen: „Der Mensch wird
hen. Damals traf er Joseph Rat- mich vorsichtig heran: Glaube in einer Welt immer ein tiefes und unergründliches Rät-
zinger zum ersten Mal. 2018 be- des Überflusses, Krisen, Austritte. Ich erin- sel bleiben.“
gegnete er ihm ein letztes Mal zu- nere mich nicht mehr an einzelne Wörter, Als ich merkte, mit welcher Offenheit und
sammen mit dem Psychiater und einzelne Sätze. Aber Ratzinger nahm da- Ernsthaftigkeit er gewillt war, auf jede Frage
Bestseller-Autor Manfred Lütz. mals vieles von dem, was er später auch zu antworten, sprach ich auch die heiklen
Die beiden haben darüber unmit- als Papst formulierte, vorweg. Und er wie- Themen an: Umgang mit Geschiedenen,
telbar nach dem Tod Benedikts ein derholte, was er schon in einem Radioin- Frauen als Priesterinnen, Zölibat, Homo-
Buch veröffentlicht. In einer Lese- terview mit dem Hessischen Rundfunk 1969 sexualität, Missbrauchsskandale. Nichts,
probe zitieren wir aus dem Beitrag (!) gesagt hatte. Auf die Frage, wie denn wohl was ich ihm ersparte, nichts, dem er aus-
von Markus Lanz und beginnen die Kirche im fernen Jahr 2000 aussehen wich; Ratzinger antwortete auf alles in be-
mit seinem ersten Gespräch mit würde, malte er damals das Bild einer „ge- merkenswerter Offenheit.
Kardinal Ratzinger 2003. schrumpften Herde, ohne den Schein von Es war dann vor allem die Antwort auf
Komfort und Konvention“ und sagte die Ent- meine letzte Frage, die für mich bis heute so
stehung einer „neuen Urkirche“ vorher. Die etwas wie der Schlüssel zum theologischen
Kirche von morgen, glaubte er, werde „we- Vermächtnis dieses außergewöhnlichen
der ihre Bauten noch ihre Privilegien hal- Menschen ist. Natürlich nicht im Sinne ei-
ten können“, er nannte sie eine „verinner- ner fundamentalen, theologischen Abhand-
lichte Kirche“... lung. Sondern eher im Sinne eines feinen
Wir sprachen 2003 auch über Mystik. Die sachdienlichen Hinweises für jedermann,
Kirche kümmere sich zu wenig um ihr gro- einer theologischen Gebrauchsanweisung
ßes mystisches Erbe, hielt ich ihm vor, über- für den Umgang mit der täglichen Dosis
lasse die Spiritualität fernöstlichen Religio- Wahnsinn; ein bisschen Ratzinger to go...
nen. Ratzinger widersprach nicht, sondern Es war eine provokant-naive Frage, die
begann stattdessen, den inneren, den ver- ich ihm stellte, und einige seiner Begleiter
borgenen Sinn der Bibel zu erklären, ganz stöhnten leise auf: einfach zu irdisch, ei-
ähnlich wie in dem Radiointerview von 1969: gentlich unterirdisch. Später gestanden sie
Noch immer, sagte er, gelte das Wort des mir, sie hätten befürchtet, dass der Kardi-
Markus Lanz, Augustinus: „Der Mensch ist ein Abgrund. nal das Gespräch in dem Moment beenden
Manfred Lütz Was daraus aufsteigt, vermag niemand im würde. Seine Reaktion aber fiel ganz anders
Benedikt XVI. Voraus zu überblicken.“ aus, milde, heiter. Die Frage war: „Können
Unser letztes Gespräch Später formulierte er diesen Gedanken Sie mir denn endlich mal verbindlich sa-
96 Seiten, 18,00 € neu, deutlich milder und in der nur ihm gen, wie der liebe Gott aussieht? Hat er jetzt
ISBN 978-3-466-37316-1 eigenen Sprachmächtigkeit, mit der er in einen Bart oder hat er keinen?“ Schmun-

56 VATICAN 2-2023


Köchin, den seine Eltern vor allem zu Be-
scheidenheit und Zurückhaltung erzogen
hatten, nie viel erzählt.
Doch in diesem letzten Gespräch tat er es
doch und gab den Gedanken preis, der ihn
damals im Innersten durchzuckte: Niemand
sei weniger geeignet als er, Oberhaupt von
mehr als einer Milliarde Christen zu werden.
Stimmt das wirklich? Kann nur ein er-
folgreicher Pontifex sein, wer auch ein PR-
Genie ist?…
Andererseits: Ist es nicht gerade das, was
sein Pontifikat wertvoll gemacht hat? Dass
einer in diesem Amt, in dem alles nach au-
ßen weist, konsequent die Bedeutung des
Innen unterstreicht? Ganz gegen die Versu-
chung der großen Geste und – viel entschei-
dender noch – ganz gegen die massenme-
diale Gesetzmäßigkeit? Dass einer in einer
picture alliance/dpa | Georg Wendt

Welt, die sich so tolerant gibt, dass aus To-


leranz irgendwann Beliebigkeit wird, von
der „Diktatur des Relativismus“ spricht und
Christen etwas mehr abverlangt als einen
müden Wellness-Glauben? „Heute gibt es
in großen Teilen der Welt eine merkwür-
dige Gottvergessenheit“, sagte er in Köln,
„gleichzeitig aber gibt es auch so etwas wie
Markus Lanz
einen Boom des Religiösen. Um die Wahr-
zeln. „Wie der liebe Gott genau aussieht, Und er tat es sogar in der Rückschau: „Es ist heit zu sagen: Weithin wird doch Religion
und ob er einen Bart hat oder nicht, kann völlig absurd anzunehmen, dass ein Mann gerade zum Marktprodukt. Man sucht sich
ich Ihnen natürlich nicht sagen.“ Er lächelte. von 78 Jahren einer Aufgabe von dieser Di- heraus, was einem gefällt, und manche wis-
Dann aber antwortete er ganz ernsthaft auf mension gewachsen sei, absurd“, sagte er sen, daraus Gewinn zu ziehen. Aber diese
eine nicht ganz so ernst gemeinte Frage und gleich mehrmals. Und dann erzählte er of- selbstgesuchte Religion ist bequem, und in
sagte einen zeitlos schönen Satz: „Was ich fen, wie es damals in ihm ausgesehen hat, der Stunde der Krise lässt sie uns allein“…
Ihnen aber sagen kann, ist: Sie werden in im „Zimmer der Tränen“. In jenem Zimmer Ich habe für meine Arbeit viele Menschen
Ihrem Leben immer wieder Menschen be- neben der Sixtinischen Kapelle, in das der getroffen und befragt. Bei keinem stimmte
gegnen, bei denen ab und zu etwas Göttli- nur Minuten zuvor gewählte Papst geführt das mediale Bild, die Klischees und Vorur-
ches durchschimmert.“ wird, bevor er zum ersten Mal der Welt- teile, die über ihn in der Öffentlichkeit exis-
Als ich mir das Interview hinterher im öffentlichkeit präsentiert wird. Es ist nur tieren, mit dem tatsächlichen Bild überein.
Schnitt ansah, fiel mir auf: Man hätte jede ein kurzer Weg durch die Sixtina vorbei Doch es gibt nicht viele, bei denen mediale
einzelne von Ratzingers Antworten einfach an den berühmtesten Werken der Kunst- Überzeichnung und Realität so sehr ausein-
aufschreiben und ohne zu redigieren zu ei- geschichte. Der neue Pontifex tritt seinen anderklafften wie bei Joseph Ratzinger. Der
nem Buch verarbeiten können. Jeder ein- Dienst gleichsam unter den Augen von Mi- brillante, aber vermeintlich kalte Denker,
zelne Satz: druckreif formuliert. Es war be- chelangelo an, der ein Welterbe hinterlas- der angebliche Wächter der reinen Wahr-
eindruckend. sen hat, und das passt ganz gut: Denn ab heit und Lehre war in der persönlichen Be-
Diese Klarheit hat er sich bewahrt, auch dem Moment ist auch alles, was er selbst gegnung mit mir – und nur darüber kann
in unserem letzten Gespräch – viele Jahre sagen, tun oder auch lassen wird, von Be- ich berichten – ein anderer. Vor allem drei
später. Es war viel passiert seitdem. Aus Jo- deutung, wird Nachricht, wird globales Ge- Begriffe sind es, die mir immer wieder in
seph Kardinal Ratzinger war Papst Benedikt meingut, ist Kritik ausgesetzt, wird gelobt, den Sinn kommen, wenn ich über diesen
geworden. Er hatte die Wahl angenommen, wird wahrgenommen, überall auf der Welt. außergewöhnlichen Menschen nachdenke
obwohl er überhaupt nicht damit gerechnet Über diesen Moment der ultimativen Verein- oder von ihm lese: demütig, warmherzig,
hatte. Im Gegenteil: Er muss sich fürchter- nahmung hat er, der stille Sohn eines bay- bescheiden. Kein Kirchenfürst. Das genaue
lich erschrocken haben in diesem Moment. erischen Gendarmeriemeisters und einer Gegenteil davon. Ω

VATICAN 2-2023 57
C H RIS T LI C H E LI T E R AT U R

Literaturliebhaber und
Freund der schönen Worte
Manchen galt Benedikt XVI. als „Mozart der Theologie“, doch sein Herz
schlug auch für die schönen Künste. Schon als Jugendlicher hatte sich
Joseph Ratzinger als Dichter geübt. Der Sinn für Sprache und Schönheit
hat ihn nie verlassen. Trotz mancher Missverständnisse

VO N ST E FA N M E E T SC H E N

un ist es also geschehen: Benedikt Zerrissenheit und Wahrheitssuche – eine

N XVI. ist tot. Das letzte Kapitel sei-


nes Lebens, das er mit seinem über-
Haltung, die zum Kennzeichen Benedikts
XVI. werden sollte, wobei er als Jugendli-
raschenden Rückzug vom Petrus-Amt ein- cher auch nicht davor zurückscheute, krea-
leitete, ist beendet. Kein aktuelles Wort, keine tiv zu sein. „Natürlich begann ich, auch sel-
Schrift und auch kein Interview mit ihm ber eifrig zu dichten, und wandte mich mit
wird die Welt mehr in Freude und Aufre- neuer Freude den liturgischen Texten zu,
gung versetzen, auch wenn es bei einem so die ich besser und lebendiger aus den Ur-
von Fülle gesegneten Gelehrtenleben nicht texten zu übertragen versuchte.“
ausgeschlossen ist, dass hier und da noch Ein „Mitarbeiter der Wahrheit“, um sein
Unbekanntes aus der Feder von Benedikt von Augustinus entliehenes Bischofsmotto
XVI. alias Joseph Ratzinger ans Licht der zu gebrauchen, muss schließlich nicht lange
Weltöffentlichkeit treten wird. Denn: Zu groß suchen – er kann von den Hügeln der theolo-
war sein Geist, zu inspiriert sein Verstand, gischen Gewissheit aus den Lauf der Heilsge-
als dass er die Kraft des Schweigens jemals schichte betrachten und mitgestalten. Oder,
hätte ganz auskosten können. Für „die Welt wie Papst Benedikt XVI. es in seinen an-
verborgen“ zu sein, wie er es 2013 ankün- spruchsvollen Jesus-Büchern tat, die er wäh-
digte, war nicht seine Bestimmung. Das gött- rend des Pontifikats verfasste: das Bild sei-
liche Wort und die menschlichen Worte wa- nes Erlösers freilegen von modernen Miss-
ren sein Leben. Die Schönheit. deutungen.
So überrascht es wenig, dass schon der Dass Benedikt XVI. trotz der Feinheit sei-
Gymnasiast Joseph Ratzinger sich zur schö- ner Gedanken und Geschliffenheit der For-
nen Literatur hingezogen fühlte. In seinen mulierungen mit auffälliger Regelmäßigkeit
Erinnerungen „Aus meinem Leben“ schreibt für Irritationen sorgte (Regensburg-Rede,
er: „Die griechischen und lateinischen Klas- Karfreitagsbitten), gehört zu den großen Rät-
siker begeisterten mich, auch Mathematik seln seines Pontifikats. Es wäre einfach, die
war mir inzwischen liebgeworden. Vor Gründe dafür einer kirchenkritischen Me-
allem aber entdeckte ich nun die Litera- dienrezeption in die Schuhe zu schieben, ei-
tur. Ich las hingerissen Goethe, während ner „sprungbereiten Feindseligkeit“. Einer
Schiller mir ein wenig zu moralistisch er- Klarheit, welche die Welt nicht ertrug. Sei-
schien, und liebte besonders die Schriftstel- nen katholischen und konservativen Fans
ler des 19. Jahrhunderts: Eichendorff, Mö- jedoch lieferte Benedikt XVI. stets griffige
rike, Storm, Stifter, während andere wie Formulierungen, wie die von der „Diktatur
Raabe und Kleist mir eher fremd blieben.“ des Relativismus“ oder der „Reinigung der
Ästhetik und Idealismus statt existenzieller Vernunft“ durch den christlichen Glauben.

58 VATICAN 2-2023


und die Oper ‚Dialoge der Karmelitinnen‘
von Francis Poulenc, deren Libretto auf dem
gleichnamigen Drama beruht, das Georges
Bernanos nach der Vorlage ‚Die Letzte am
Schafott‘ von Gertrud von Le Fort verfasste“
(„Letzte Gespräche“).
Dass Benedikt XVI. im Jahr 2009 seine Rede
vor diversen hochrangigen Künstlern in der
Sixtinischen Kapelle dazu nützen würde,
seine eigene spirituelle Ästhetik wuchtig zu
entfalten, war insofern keine Überraschung.
Gestützt auf Zitate von Hermann Hesse und
Dostojewski, Johannes Paul II. und Simone
Weil holte der Papst aus Bayern zum ganz
großen Schönheits-Angriff aus: „Ihr seid Hü-
ter der Schönheit: dank eures Talentes habt
ihr die Möglichkeit, zu den Herzen der Men-
schen zu sprechen, einzelne und gemein-
same Sensibilitäten zu berühren, Träume
und Hoffnungen wachzurufen und Hori-
zonte von Wissen und menschlichem Enga-
gement zu erweitern. Seid dankbar für diese
Gaben, die ihr empfangen habt, und seid
euch eurer großen Verantwortung bewußt,
Schönheit mitzuteilen, durch die Schönheit
und in der Schönheit zu kommunizieren!
Durch eure Kunst seid ihr selbst Boten und
Zeugen der Hoffnung für die Menschheit!
Und fürchtet euch nicht, euch der ersten
und letzten Quelle der Schönheit zu nähern
picture-alliance/ dpa | Abaca Douliery-Zabulon

und in den Dialog mit den Gläubigen zu tre-


ten, mit denen, die wie ihr auch glauben,
daß sie Pilger in dieser Welt und in der Ge-
schichte sind, auf dem Weg zu unendlicher
Schönheit! Der Glaube nimmt nichts von
eurem Genie oder eurer Kunst weg: im Ge-
genteil, er erhöht sie und nährt sie, er er-
mutigt sie, die Schwelle zu überschreiten
und mit fasziniertem und innerlich beweg-
tem Blick das letzte und endgültige Ziel zu
Es klang auch ohne ontologischen Beweis zum Ausdruck kommt, hat mich sehr ange- betrachten, die Sonne, die niemals unter-
gut und richtig. Zumal schon Kardinal Rat- sprochen“ („Letzte Gespräche“). Man habe geht, die Sonne, die die Gegenwart erleuch-
zinger bei der Begegnung mit dem Philo- damals „aus dem klassischen Thomismus“ tet und sie schön macht.“
sophen-Papst Jürgen Habermas eine gute herausgewollt und dabei auch Martin Hei- Ein poetischer, geradezu blumiger Stil,
Figur gemacht hatte. Doch was war sein degger „nicht viel, aber doch etwas gelesen der aber auch Zeugnis davon gibt, wie per-
geistiger Untergrund, das Fundament die- und auch als interessant empfunden“. Dazu sönlich wichtig Benedikt XVI. das künstleri-
ses schönen Stils? kam die Lektüre Josef Piepers, Henri de Lu- sche Wirken war, so als hätte es geradezu
Im Gespräch mit seinem Biografen Peter bacs, Hans Urs von Balthasars und – nicht eine theologische Dimension. Für ihn hatte
Seewald hat Benedikt XVI., der sich nicht zu vergessen – Platos, mit dem Ratzinger es dies durchaus. So schrieb und so sprach
scheute, in seinen päpstlichen Schreiben wohl die Skepsis gegenüber der „Benenn- er. Als feinsinniger Geist, als Papst der schö-
auch schon mal Schriftsteller wie Dostojew- barkeit der Welt allein durch Worte“ (Alex- nen Worte.  Ω
ski oder Solowjew zu erwähnen, seine Nei- ander Kissler, „Der deutsche Papst“) teilte.
STEFAN MEETSCHEN
gung für Augustinus erläutert: „Richtig ist, Dazu kam die Inspiration durch Theater geboren 1969, ist promovierter Buchautor und
dass ich Anfang 1946 auf Augustinus gesto- und Oper: „Besonders fasziniert hat mich Journalist, lebt in Polen und arbeitet als
ßen war und einiges von ihm gelesen hatte. ‚Der seidene Schuh‘ von Paul Claudel oder „Feuilleton“-Redakteur bei der katholischen
Wochenzeitung „Die Tagespost“.
Dieses persönliche Ringen, das bei Augustin auch ‚Des Teufels General‘ von Zuckmayer

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T H EO LO GI E

Glaube, Hoffnung
und Liebe
Die drei Enzykliken Benedikts XVI.

60 VATICAN 2-2023


VO N BA RBA RA W E N Z

Deus caritas est – 25. Dezember 2006 der Liebe ist. Dieses Liebestun ist Ausdruck der trini-
tarischen Liebe zwischen Schöpfer Vater, Jesus Sohn
Es war ein fulminanter Auftakt, diese erste Enzyk- und dem Heiligen Geist, denn, so schreibt Augustinus:
lika, die der zu diesem Zeitpunkt bereits gut einein- „Wenn du die Liebe siehst, siehst du die Heilige Drei-
halb Jahre amtierende Papst vorlegte. Dass Gott die faltigkeit.“ Benedikt beginnt diesen zweiten Teil mit ei-
Liebe ist, war nicht die Neuigkeit. Dass ein Papst über nem Rückblick auf die Geschichte der caritas seit der
den Eros schrieb, die Liebe in ihren Ausprägungen be- frühen Christenheit, besonders im Hinblick auf das Di-
dachte und erklärte, noch dazu einer, von dem viele akonenamt. Er stellt klar, dass das Liebeshandeln der
solche Ausführungen am wenigsten erwartet hatten, Kirche weder parteilich oder ideologisch geleitet sein
das war das Ungewöhnliche daran. Von einem Eros ist noch zu Proselytentum führen dürfe. Rechter Dienst
da die Rede, der der Heilung hin zu seiner wirklichen am leidenden Menschen mache den Diener demütig
Größe bedürfe, damit er Menschen nicht zu Objekten und müsse stets vom Gebet gestützt und getragen sein.
degradiere. Tatsächlich ist es ja diese un-menschliche Benedikt hatte diese Enzyklika, er erwähnt es in der
Haltung gegenüber der leiblichen Liebe, die diese zu Einführung selbst, für eine Welt geschrieben, in der mit
reinem Sex herunterbricht, zu einer Ware, die man dem Namen Gottes bisweilen die Rache oder gar die
konsumieren kann und die auch den Missbrauch för- Pflicht zu Hass und Gewalt verbunden werde. Darum
dert. Weiter beschreibt Benedikt agape und philia als sei die Botschaft von dem liebenden Gott, der uns zu-
Art und Weisen zu lieben, und ordnet sie in den bibli- erst liebt und dessen Liebe wir empfangend an andere
schen Kontext ein. Er unterscheidet begehrende Liebe Menschen weiter verschenken sollen, von großer Ak-
und verschenkende Liebe, stellt fest, dass die Liebe tualität. Von dieser Aktualität ging bis heute, über 16
eine einzige Wirklichkeit in vielfältigen Dimensionen Jahre danach und inmitten eines Krieges in Europa mit-
ist. Natürlich darf im Zusammenhang mit der Liebes- samt einem weltweiten Krisenszenario, das die Men-
thematik im Alten Testament auch nicht der Hinweis schen wieder verzweifelt nach Gott fragen lässt, kein
auf das Hohelied fehlen. Für das Neue Testament gilt, Gran verloren.
dass Jesus Christus die fleischgewordene Liebe Gottes
zu den Menschen geworden ist, dessen Akt der völli-
gen Hingabe nicht nur am Kreuz vollzogen wurde, son- Spe Salvi – 30. November 2007
dern auch durch die Einsetzung der heiligen Eucha-
ristie am Abend des Gründonnerstags. Durch die Er- Am Fest des heiligen Apostels Andreas unterzeichnete
kenntnis des liebenden Gottes wird Nächstenliebe aus Benedikt XVI. seine zweite Enzyklika Spe Salvi – Über
unserem Glauben an ihn erst möglich: „Wenn die Be- die christliche Hoffnung, die mit den Worten des Pau-
rührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann lus an die Römer beginnt: Durch die Hoffnung sind
kann ich im anderen immer nur den Anderen sehen wir gerettet.
und kann das göttliche Bild in ihm nicht erkennen.“ Zu welcher Hoffnung sind wir Christen berufen? Die-
Wo diese Berührung aber da ist, erkenne ich den ande- ser Frage geht Benedikt im ersten Teil von Spe Salvi
ren in seinem Wesen, in all seinem Potential und den stringent nach und, um es nochmals mit Paulus zu sa-
Möglichkeiten, die in seine Seele von Gott hineingelegt gen, erleuchtet er dadurch unsere Augen, damit wir
wurden – wird tiefe Begegnung möglich. diese auch erkennen. Dabei benutzt der Verfasser nicht
Im zweiten Teil geht Benedikt ausführlich auf die nur eine leicht verständliche, sondern auch hochpoeti-
caritas als typische Form der christlichen Liebe ein, sche Sprache. Etwa, wenn er versucht zu beschreiben,
picture-alliance/ dpa | epa ansa Oss. Romano

die zuerst den einzelnen Gläubigen anfragt, aber zu- was ewiges Leben (und eben nicht endloses Leben) be-
gleich auch Auftrag an die ganze kirchliche Gemein- deuten könnte: Ewigkeit ist demnach „etwas wie der er-
schaft als „Liebestun“ der Kirche in der Gemeinschaft füllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und

VATICAN 2-2023 61
T H EO LO GI E

wir das Ganze umfangen. Der Augenblick des Eintau- nes Dammbruchs hat die Postmoderne der Nach-68er-
chens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es Generation zunächst schleichend, dann immer hefti-
keine Zeit, kein Vorher und Nachher mehr gibt“. ger christliche Werte wie Erhaltung und Bewahrung
Benedikt hat diese Enzyklika zu einem Zeitpunkt ge- des Lebens, Würde und Achtung vor der menschlichen
schrieben, an dem er und viele andere Christen schmerz- Person, Schutz der Schöpfung entweder attackiert oder
lich bemerkt hatten, wie sehr sich der Glaube in Eu- umgemünzt und pervertiert.
ropa bis hin zu der von ihm viel zitierten „Gottesfins- Die verheerende Covid-19-Krise führte in einer Gesell-
ternis“ verdunkelte. Nach den physikalischen Gesetzen schaft, die das Hoffen verlernt hatte, zu einem massiven
der Kugel auf einer schiefen Ebene oder des Eindrin- Schub an psychischen Krankheiten und Selbstmorden.
gens von Wasser in einen Damm mit dem Ergebnis ei- Schon 2007 benannte Benedikt in Spe Spalvi die Glau-
benskrise, die sich immer weiter ausweitet, als eine
Krise der christlichen Hoffnung. Und weil auch viele
gläubige Christen angesichts der gesellschaftlichen
Zustände, die sie umgeben, zuweilen den Mut verlie-
ren können, schickt uns Benedikt im zweiten Teil sei-

Papst Benedikt XVI. unterschreibt


am 30. November 2007 seine zweite
Enzyklika „Spe Salvi“.

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ner Enzyklika in eine „Schule der Hoffnung“. In sei- seien auch und gerade in der Wirtschaftstätigkeit wich-
ner kleinen Aufzählung und Betrachtung von „Lern- tig und möglich. Ausdrücklich beruft sich Benedikt in
und Übungsorten“ der Hoffnung steht an erster Stelle der Entfaltung seiner Gedanken zu einer ganzheitli-
das Gebet. Im Austausch mit Gott verlieren sich un- chen Entwicklung des Menschen auf seinen Vorgänger
sere Verhaftungen, reinigt sich unser Verlangen, ma- Paul VI. und dessen Enzyklika Populorum progressio
chen wir uns gottfähig und somit menschenfähig, er- aus dem Jahre 1967, widmet ihr das ganze erste Kapitel
halten wir die Hoffnung, die wir an andere weiterge- und schlägt Verbindungen zu den herrschenden wirt-
ben können. Auch unser aktives Tun gehört in seine schaftlichen und politischen Verhältnissen. Hinsicht-
Schule der Hoffnung: Gerade in dieser Krisenzeit er- lich der aktuellen Entwicklungen stellt er fest: „Absolut
geben sich viele Gelegenheiten, um seinem Nächsten gesehen nimmt der weltweite Reichtum zu, doch die
Gutes zu tun. Dazu gehören ein achtsames Umgehen Ungleichheiten vergrößern sich. In den reichen Län-
miteinander, Liebesdienste wie Einkaufsservice und dern verarmen neue Gesellschaftsklassen und es ent-
Nachbarschaftshilfe, ein gutes, aufmunterndes Wort stehen neue Formen der Armut.“ An der Gültigkeit die-
den Niedergeschlagenen zu geben. ser Aussage hat sich auch 13 Jahre später nichts geän-
Doch Leiden als Übungsort? Benedikt schlägt für die- dert, im Gegenteil, wir sehen derzeit auch im reichen
sen Fall die altbewährte, etwas in Vergessenheit ge- Europa eine sich ausbreitende weitere Vertiefung des
ratene Frömmigkeitsform des Aufopferns vor: „Diese Gefälles. Hellsichtig nahm Benedikt das Phänomen der
Menschen waren überzeugt, dass sie ihre kleinen Mü- Migration in den Blick und die besonderen Herausfor-
hen in das große Mitleiden Christi hineinlegen konn- derungen, vor denen die jeweiligen Gesellschaften in
ten, sodass sie irgendwie zu dem Schatz des Mitleids Bezug darauf stehen.
gehören, dessen die Menschheit bedarf.“ Bezogen auf die konkrete Situation der Wirtschafts-
Als dritten Lernort nennt Benedikt schließlich das krisenjahre 2008 und 2009 erkennt Benedikt in der welt-
Gericht: Der Ausblick auf die Wiederkunft Jesu und das weiten Krise strukturelle Ursachen, er plädiert für eine
Gericht setzen für das gegenwärtige Leben des Chris- Art oberster globaler Steuerungsbehörde, die Schlim-
ten den Maßstab. In diesem Abschnitt finden wir auch meres verhindern und den angeschlagenen Volkswirt-
die großartige Zusicherung, dass es nicht gleichgültig schaften wieder auf die Beine verhelfen könne. Auch
sei, wie wir gelebt haben, doch unser Schmutz befle- das Thema Bewahrung der Schöpfung wird – ganz im
cke uns nicht für die Ewigkeit, wenn wir „wenigstens Sinne einer ganzheitlichen Sicht auf die Dinge – be-
auf Christus, auf die Wahrheit und die Liebe hin aus- dacht und betrachtet. Seine Forderung nach dem, was
gestreckt geblieben sind“. die heutige Gesellschaft ernsthaft überdenken müsse,
umfasst aber nicht nur das Thema Naturschutz und
achtsamen Umgang mit unserer Umwelt, sondern er
Caritas in veritate – 29. Juni 2009 warnt auch nachdrücklich vor der „Kultur des Todes“,
die Abtreibung, eine unmenschliche und tödliche Prä-
Mit Caritas in veritate legte Benedikt fast zwei Jahre nataldiagnostik und Euthanasie umfasse.
später eine weitere vielbeachtete Enzyklika vor. Sie Benedikt bedenkt in Caritas in veritate viele Anliegen
umfasst 142 Seiten und trägt den Untertitel „Über die der Menschheitsfamilie, er spricht die drängendsten
ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe Probleme und Herausforderungen an, vor denen die
und in der Wahrheit“ und wurde vor dem Hintergrund Gesellschaften gerade in Zeiten der Globalisierung ste-
der globalen Wirtschaftskrise geschrieben. Viele Leser hen, sodass wir wirklich sagen können, er nimmt das
fassten sie als Fortschreibung der katholischen Sozi- menschliche Leben mit all seinen Aspekten und Aus-
allehre auf. Auch hier steht die Liebe im Mittelpunkt, faltungen in seiner vollen Gänze in den Blick.
denn „Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kir- Eine erneute Lektüre der drei Enzykliken Papst Be-
che“ heißt es bereits in Punkt zwei dieser Schrift. Un- nedikts XVI. ist gerade in unserer Zeit wieder dringend
trennbar mit ihr verbunden ist die Wahrheit. Um eine geboten.  Ω
gerechte Gesellschaft aufzubauen, sind Liebe, Wahr-
heit und caritas, der Blick auf das Gemeinwohl, vonnö-
picture-alliance/ dpa | Osservatorio Romano

BARBARA WENZ
ten, sie sind die Vorbedingungen für Einheit und Frie- wurde 1967 in Kandel geboren.
den. Wahrhaft menschliche Beziehungen in Freund- Sie hat Literatur- und Politikwissenschaft studiert
und arbeitet als freie Journalistin.
schaft und Gemeinschaft, Solidarität und Gerechtigkeit

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KUN S T D ES GLAUB E NS

Benedikt in guter
Gemeinschaft
Theologische Meditation zum Porträt von Natalia Tsarkova

VON KU R T KA R DINA L KO C H

ch habe mich nie allein gefühlt mit Biografie. Dies gilt bereits von seiner na-

I der Freude und der Last des Pet-


rusamtes; der Herr hat mir viele
türlichen Familie, in der er in Bayern auf-
wachsen durfte und in der er sich gebor-
Menschen zur Seite gestellt, die mir mit gen fühlte. Auch nach dem Tod seiner Eltern
Großherzigkeit und Liebe zu Gott und zur hat er eine intensive Beziehung mit seinen
Kirche geholfen haben und mir nahe wa- Geschwistern gepflegt, mit seiner Schwes-
ren.“ Denn „der Papst hat wirklich unzäh- ter Maria, die ihm stets zur Seite gestanden
lige Brüder und Schwestern, Söhne und ist, und mit seinem Bruder Georg, der eben-
Töchter auf der ganzen Welt; er fühlt sich falls Priester gewesen ist und mit dem er
geborgen in dieser Gemeinschaft.“ Diese in permanentem Kontakt stand. Wie schön
anerkennenden Worte hat Papst Benedikt diese Bruderliebe ist, haben wir erfahren,
XVI. während seiner letzten Generalaudi- als sein Bruder Georg schwerkrank im Ster-
enz einen Tag vor seinem Amtsverzicht ge- ben lag und der emeritierte Papst die be-
sprochen und er hat sich damit von der gro- schwerliche Reise nach Regensburg auf sich
ßen Gemeinschaft der Glaubenden in der genommen hat, um seinen Bruder zu be-
ganzen Welt verabschiedet, in der er sich suchen und sich von ihm auf dieser Erde
getragen wusste. Diesen starken Akzent auf zu verabschieden.
die dankbare Erfahrung von Gemeinschaft Die Bedeutung des Lebens in Gemein-
hat Benedikt XVI. wohl nicht nur deshalb schaft fand eine schöne Fortsetzung auch
gesetzt, weil er das Gerücht dementieren nach dem Amtsverzicht im gemeinschaftli-
wollte, das nach der Ankündigung seines chen Leben mit seinem Privatsekretär, Erz-
Amtsverzichts aufgekommen ist, der Papst bischof Georg Gänswein, und den vier Me-
habe angesichts vieler Probleme resigniert mores Domini, Carmela, Loredana, Cristina
und sei in seinem Pontifikat stets einsamer und Rosella, im Kloster Mater Ecclesiae in
geworden. Mit seinen Worten während der den Vatikanischen Gärten. Dieser Wirklich-
Generalaudienz hat er auch und vor allem keit ist das eindrückliche Bild der Künstle-
zum Ausdruck bringen wollen, dass ihm rin Natalia Tsarkova gewidmet. Es verkün-
das Leben in Gemeinschaft stets wichtig ge- det die schöne Botschaft, dass auch der eme-
wesen ist und bleiben wird, über das er ritierte Papst nicht allein war, sondern in
nicht nur theologisch nachgedacht, das er guter Gemeinschaft lebte.
vielmehr auch selbst erfahren und verwirk- Auf dem Hintergrund dieser biografischen
licht hat. Erfahrung beginnt man auch die Bedeutung
Die Betonung des Lebens in Gemeinschaft zu verstehen, die die Gemeinschaft und vor
zieht sich wie ein roter Faden durch seine allem die Familie im theologischen Denken

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KUN S T D ES GLAUB E NS

von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. stets auch umgekehrt die Kirche als Familie Got- dern und fordern, dies hat Papst Benedikt
eingenommen haben. Um nur ein besonders tes sich ihrerseits nur als lebensfähig er- XVI. anlässlich seines 80. Geburtstags in sei-
aussagekräftiges Beispiel zu erwähnen: Als weist, wenn die einzelnen christlichen Fa- ner Predigt am 15. April 2007 in dem tie-
Erzbischof von München und Freising hat milien als Grundzellen sie tragen und so fen Wort verdichtet: „Geburt und Wieder-
er sich in seiner eindringlichen Silvester- exemplarisch Kirche als Hauskirche leben. geburt; irdische Familie und die große Fa-
predigt im Jahr 1980 mit dem signifikanten Aufgrund dieser Zusammengehörigkeit von milie Gottes – dies ist das große Geschenk
Titel „Lasst das Netz nicht zerreißen“ den Familie und Kirche hat Joseph Ratzinger – der Erbarmungen Gottes, auf dessen Grund
vielfältigen Herausforderungen gestellt, de- Benedikt XVI. stets betont, dass kein Christ wir stehen.“
nen die Institution der Familie ausgesetzt für sich allein glauben kann, dass er seiner In dieser Predigt hat Papst Benedikt XVI.
ist, und er hat bereits damals vorausgeahnt, Taufberufung vielmehr nur gerecht wird, seine Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht,
dass sich in ihnen die Infragestellung des wenn er mit dem Glauben der ganzen Kir- dass er erleben durfte, „was Familie bedeu-
christlichen Menschenbildes am deutlichs- chenfamilie mit-glaubt. In der gleichen Über- tet“, und er hat hinzugefügt: „Ich danke ganz
ten zuspitzt: „Der Kampf um den Menschen zeugung wollte Joseph Ratzinger mit seinem besonders auch dafür, dass ich vom ers-
wird heute weitgehend als Kampf für oder theologischen Denken nicht einfach origi- ten Tag an in die große Gemeinschaft der
gegen die Familie ausgetragen.“ nell sein, sondern hat es stets und prioritär Glaubenden hineinwachsen durfte, in der
Angesichts der gesellschaftlichen Infra- als Mit-Denken mit der ganzen Kirche und die Grenze zwischen Leben und Tod, zwi-
gestellungen der Familie ist Joseph Ratzin- in diesem elementaren Sinn als kirchlichen schen Himmel und Erde aufgerissen ist.“
ger – Benedikt XVI. – stets überzeugt gewe- Dienst an der objektiv vorgegebenen Wahr- Damit ist eine weitere elementare Dimen-
sen, dass die Familie als soziale Grundzelle heit der Glaubensgemeinschaft der Kirche sion von Gemeinschaft angesprochen, auf
nur Bestand haben kann, wenn sie in eine verstanden. Dass die einzelne christliche die die russische Künstlerin ebenfalls auf-
größere Familie, nämlich in die Großfami- Familie als Hauskirche und die Kirche als merksam macht, indem sie auf dem Porträt
lie der Kirche, eingeborgen ist, dass freilich Großfamilie Gottes sich wechselseitig för- neben den irdischen Personen auch ein en-
gelhaftes Wesen darstellt, das mit Respekt
und Verehrung seinen Blick auf den emeri-
tierten Papst richtet. Diese Gestalt weist auf
die noch größere jenseitige Gemeinschaft
hin, die uns in der „Gemeinschaft der Hei-
ligen“ geschenkt ist. Wie sehr sich Joseph
Ratzinger – Benedikt XVI. – in dieser großen
Gemeinschaft der Heiligen geborgen und
von ihr getragen wusste, hat er in einer tie-
fen Weise in seiner Predigt in der Heiligen
Messe zu seiner Amtseinführung am 24. Ap-
ril 2005 ausgesprochen: „Wir sind von den
Freunden Gottes umgeben, geleitet und ge-
führt.“ Denn die Gemeinschaft der Heiligen
schenkt uns die Zuversicht des Glaubens:
„Wer glaubt, ist nie allein – im Leben nicht
und auch im Sterben nicht.“ In dieser Zu-
sage hat Papst Benedikt XVI. auch persön-
lich die Zuversicht für seinen petrinischen
Dienst wahrgenommen: „Ich bin nicht al-
lein. Ich brauche nicht allein zu tragen, was
ich wahrhaftig allein nicht tragen könnte.
Die Schar der Heiligen Gottes schützt und
stützt und trägt mich.“
Damit wird der Blick frei auf eine noch
picture alliance / Reuters | MAX ROSSI

weitere Dimension des Lebens in Gemein-


schaft, nämlich auf das ewige Leben bei
Gott und deshalb auch in der Gemeinschaft
aller erlösten und vollendeten Menschen.
Auf dem Hintergrund des Gesagten kann
es nicht erstaunen, dass für Joseph Ratzin-
ger – Benedikt XVI. – das ewige Leben nicht
einfach und nicht allein in der Beziehung
Die russische Künstlerin Natalia Tsarkova ist offizielle Porträt-Malerin des Vatikans. des einzelnen Menschen mit Gott bestand,

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LYR IK

sondern auch und vor allem eine gemein-


schaftliche, ja „ekklesiologische“ Wirklich-
keit darstellte. Denn Himmel als Inbegriff
des ewigen Lebens ereignet sich nicht nur

Gott allein
zwischen dem einzelnen Individuum und
Gott, sondern in der Begegnung des ein-
zelnen Menschen mit Gott öffnet sich der

genügt
Himmel auch für die anderen Menschen,
wie Joseph Ratzinger in seinem grundle-
genden Werk „Eschatologie – Tod und ewi-
ges Leben“ im Jahre 1977 eindringlich be-
tont hat: „Wenn Himmel auf dem Insein
in Christus gründet, dann schließt er das
Mitsein all derer ein, die zusammen den
einen Leib Christi bilden.“ Denn der Him-
mel „kennt keine Isolierung; er ist die of-
fene Gemeinschaft der Heiligen und so auch
die Erfüllung alles menschlichen Miteinan-
der, die nicht Konkurrenz zu, sondern Kon- Gott allein genügt:
sequenz aus dem reinen Geöffnetsein für
Gottes Angesicht ist.“ Dies galt für Joseph Was das Herz auch sonst noch liebt,
Ratzinger so sehr, dass das Heil des einzel-
nen Menschen eigentlich erst ganz und voll Was es sehnend will umfangen,
sein wird, wenn auch das Heil aller Erwähl-
ten vollendet sein wird, „die ja nicht ein-
fach nebeneinander im Himmel, sondern
Was es dränget zu erlangen,
miteinander als der eine Christus der Him-
mel sind“ (Seite 191 und 193).
Ist von ihm ein Schimmer nur,
Dieser tiefe und weite Voraus-Blick auf
den Himmel als die in der Gemeinschaft mit Der uns weist auf seine Spur.
Gott vollendete Gemeinschaft aller Glauben-
den und Heiligen zeigt vollends, weshalb Er ist’s, der Dies alles gibt:
die gemeinschaftliche Dimension des Le-
bens und des Glaubens für Joseph Ratzin- Gott allein genügt.
ger – Benedikt XVI. – so wichtig war: Der
Blick in den Himmel bringt uns nahe, dass
der auf Erden gelebten Gemeinschaft un-
ter Glaubenden verheißen ist, dereinst an
der vollendeten Gemeinschaft im Himmel
oder besser als Himmel teilhaftig zu wer-
den. Und auf der anderen Seite ist uns da-
mit die Zusage geschenkt, dass die auf Er-
den zwischen Glaubenden gelebte Gemein-
schaft in der Familie und in der Kirche sich
bereits als Antizipation, als Vorwegnahme
der Gemeinschaft im Himmel verstehen
und erfahren darf. Auf diese schönen Zu-
sammenhänge macht uns in besonders ein-
drücklicher Weise das Porträt von Natalia
Tsarkova aufmerksam und dafür sind wir
ihr gewiss dankbar. Ω

KURT KARDINAL KOCH


geboren 1950, war seit 1996 Bischof von
Basel (Schweiz) und ist seit 2010 Präsident
des Päpstlichen Rates zur Förderung JOSEPH RATZINGER
der Einheit der Christen. An einen seiner Schüler, 1952

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F O T O- E SSAY

Altötting und
Benedikt XVI.
Der oberbayerische Wallfahrtsort Altötting gilt als „katholi-
sches Herz Bayerns“. Papst Benedikt XVI. war mit ihm eng
verbunden. Sein Geburtshaus steht zwölf Kilometer östlich.
Wallfahrten führten ihn von Kindesbeinen an regelmäßig
nach Altötting. Die Erlebnisse im Kreis der Familie gehören
zu seinen „frühesten und schönsten Erinnerungen“. Noch we- verbinden Altötting mit den Wallfahrtsorten Fatima, Loreto,
nige Wochen vor seiner Wahl zum Papst besuchte er 2005 mit Lourdes, Mariazell und Tschenstochau.
seinem Bruder Georg den Ort. Am 11. September 2006 kehrte
er als Benedikt XVI. im Rahmen seiner Pastoralreise nach Im Umgang der Kapelle finden sich an die 2.000 Votivtafeln
Bayern zurück und feierte Gottesdienst auf dem Kapellplatz. aus mehreren Jahrhunderten. Der Brauch, sich mit einem
Bild bei der Gottesmutter für ihre Hilfe in der Not zu bedan-
In der 90 Kilometer östlich von München gelegenen Stadt ken, hat sich bis heute erhalten. Auch das Herrscherhaus
mit ihren etwas mehr als 13.000 Einwohnern könnten die der Wittelsbacher, das Maria zur Schutzpatronin Bayerns
Katholiken „Kirche als mütterlich tragende Gemeinschaft er- machte, hat eine besondere Beziehung zu Altötting. Kurfürs-
fahren“, schrieb Benedikt XVI. im Geleitwort zum Stadtfüh- ten und Könige ließen ihre Herzen in silbernen Urnen in ei-
rer. Mehr als eine Million Menschen pilgern jährlich zur ner Wandnische nahe dem Gnadenbild bestatten.
Schwarzen Madonna in die Gnadenkapelle. Die vermutlich
in Burgund oder am Oberrhein geschnitzte Marienfigur mit Dieser Madonna legte Benedikt XVI. bei seiner Pastoralreise
dem Jesuskind kam um 1330 nach Altötting, wo die Gottes- 2006 seinen Bischofsring zu Füßen, den ihm seine Geschwis-
mutter seit dem 9. Jahrhundert verehrt wurde. Berichte von ter Maria und Georg zu seiner Bischofsweihe am 28. Mai
zwei Heilungswundern 1489 begründeten die nunmehr über 1977 geschenkt hatten. Fast 28 Jahre hatte er ihn getragen,
500-jährige Tradition der Wallfahrt. Städtepartnerschaften bis er ihn mit dem Fischerring des Petrus-Amtes tauschte.

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P ORTRÄ T EXPR ESSIS V ERBIS

Georg Gänswein Dankbar bin ich für die Glaubens­


Der Privatsekretär Benedikts botschaft, die Papst Benedikt uns
hinterlässt: „Steht fest im Glauben.
Lasst euch nicht verwirren!“ Unsere
VON PAUL B A DDE
Zeit braucht diese Ermutigung.
rzbischof Georg Gänswein müssen Max Cappabianca (51), Dominikanerpater

E wir in diesem Heft so wenig vor-


stellen wie seinen Dienstherrn, mit
und kirchlicher Journalist

Er liebte die Menschen und tat alles,


dem er in den letzten zwanzig Jahren so
damit der Heilsweg der Kirche begeh­
oft zusammen zu sehen war, als handle es
bar bleibt. Signore, ti amo, waren seine
sich bei den beiden um Vater und Sohn.
letzten Worte. In der Bedrängnis, die
Die beiden waren nicht aus dem gleichen
vor uns liegt, können wir aus seinem
Holz geschnitzt, doch teilten sie statt ihrer
Erbe schöpfen, wie auch wir in dieser
Paul Badde

DNA ähnlich prägende Erfahrungen. Beide


Liebe wachsen und sterben können.
waren und sind Familienmenschen. Bene-
Gabriele Kuby (78), Soziologin und Buchautorin
dikts Vater war ein strenger bayerischer
Gendarm. Der leibliche Vater Georgs war würde. Da ahnte er noch nicht, welcher Spa-
ein strenger badischer Schmied aus dem gat da auf ihn zukam. Ein „Diener zweier Die zarte Stimme ist verstummt.
Schwarzwald, von dem er die Furchtlosig- Herren“, den es nach Auskunft des Evan-
Das leise und starke Wort aber bleibt.
keit vor heißen Eisen gelernt hat, wenn man geliums nicht geben kann, wurde er den- Martin Lohmann (65), Pubizist
sie nur fachmännisch genug mit der Zange noch nie. Denn auch nach dessen drama-
aus der Glut der Esse holt, um sie funken- tischem Rücktritt blieb er der loyale Die- Er war ein bedeutender Theologe und
sprühend mit dem Hammer auf dem Am- ner Benedikts in vielen schweren Stunden ein bedeutender Papst. Leider ist er
boss in die gewünschte Form zu schmie- durch dick und dünn. Für den Beruf, der vor allem in Deutschland oft missver­
den. Von ihm hat er auch die Prinzipien- ihm damit zugefallen war, gab es keine „Job- standen worden. Aber ich denke, das
festigkeit in Glaubensdingen übernommen. Description“. Der Kirchenjurist konnte die- wird sich nun im Rückblick nach
Als der Gymnasiast mit etwa 17 Jahren seine sen Beruf auch bei keinem anderen lernen. seinem Tod ändern … und ich denke,
Haare wachsen ließ, gab es zuhause Un- Doch der Sohn Georg blieb wie Vater Bene- wir können als Deutsche stolz auf
mut, an den sich Georg Gänswein heute dikt „ein Mensch“, oder genauer – mit den
diesen Papst sein.
noch erinnern kann. Als er dann aber auch Worten Conrad Ferdinand Meyers, die er Walter Kardinal Kasper (89)
noch die Sonntagsmesse schwänzen wollte, selbst vor sieben Jahren einmal in der Vor-
um mit Gleichaltrigen im Dorf abzuhän- stellung eines Buches zitierte: Benedikt „war Wer eine Erneuerung der Kirche will,
gen, stand der Vater plötzlich wie ein Baum ‚kein ausgeklügelt Buch‘, er war ein ‚Mensch kann sich teure synodale Holzwege
vor ihm und beschied den begabten Jung- mit seinem Widerspruch‘“. Das gilt auch für sparen. Ein Griff ins Bücherregal zu
akademiker mit den Worten: „Jeder bildet ihn selbst. Beide teilten deshalb auch man- den Schriften Benedikts reicht.
sich weiter. Nur wenn es um den lieben che Schwächen. Ganz eins und einig waren Peter Hahne (70), evangelischer Journalist und
Gott geht, will man plötzlich Abstriche ma- Herr und Diener nur jeweils am Altar und Bestseller-Autor
chen. Du solltest dir gut überlegen, ob das im Gebet, beide mit Leib und Seele „Pries-
richtig ist. Solange du hier bei uns bist, gehst ter nach der Ordnung des Melchisedek“. Wer in Zukunft geistige Nahrung
du jedenfalls mit in die Kirche.“ Von da an Warum sein Herr denn nun wirklich von braucht, wird sie beim „Mozart der
war der Weg und das Schicksal Georgs im dem einzigartigen Amt der Nachfolge Petri Theologie“, Papst Benedikt, finden.
Grunde entschieden. zurückgetreten sei, beantwortete er zuletzt Guido Horst (68), Chefredakteur DIE TAGESPOST
Er blieb an der Seite seines Vaters und unumwunden so: „Ich weiß, was er selbst
seiner Mutter und innerhalb der Mutter dazu gesagt hat, doch weiß ich die Antwort Ich habe nie einen intelligenteren
Kirche auf einem Weg, der ihn über viele nicht. Ich habe auch tausend andere Mut- Menschen erlebt, nie jemanden mit
Stationen so unbewusst zielstrebig wie ein maßungen dazu gelesen und weiß es da- einem besseren Gedächtnis – und dabei
fliegender Pfeil an die Seite Joseph Ratzin- durch nicht besser. Klar scheint nur, dass wirkte er nie stolz auf seine außerge­
gers führte, dessen Wahl zum Papst auch das Pontifikat Benedikts XVI. an seinem An- wöhnlichen Begabungen, nie eitel oder
er „wie ein Fallbeil“ erlebte, das sein Leben fang und seinem Ende nicht seine, sondern von oben herab. Er liebte die Augen­
auf einen Schlag in zwei Teile trennte. Da die Wahl Gottes war, in die er sich zweimal höhe, die intellektuelle Begegnung,
konnte der meist lachende Schmiedesohn gehorsam gefügt hat.“ gerne auch mit Gegenmeinungen.
noch nicht ahnen, wie sehr ihn erst dessen Von Georg Gänswein wird noch einiges Manfred Lütz (68), Psychiater und Bestsellerautor
Rücktritt vor aller Welt zu Tränen rühren zu hören sein, zur rechten Zeit.

74 VATICAN 2-2023


PERS ONE N

Benedikts „cooles“ „Ohne Benedikt wäre mein


Lob der Vernunft Leben anders verlaufen“
D er Maler Michael Triegel blickt mit
Dankbarkeit auf die Begegnungen mit
dem früheren Papst Benedikt XVI. zurück.
„Ohne ihn wäre mein Leben, mein Weg
zum Christsein anders verlaufen – lehrte
er mich Suchenden, Zweifelnden, Fragenden
doch, dass sich Glaube und Vernunft nicht
widersprechen, sondern einander bedür-

picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Sebastian Willnow


fen“, sagte der Künstler, der 2010 das wohl
berühmteste Porträt Benedikt XVI. malte.
Vier Jahre später ließ er sich in der Dresd-
ner Hofkirche taufen.
„Ich vermute, dass man erst aus einigem
Abstand die Bedeutung von Person und
Werk wieder klarer wird fassen können“,
Archiv

sagte Triegel. Er hoffe sehr, „dass man er-

D ie Joseph-Ratzinger-Preisträgerin von
2021 und bekannte Religionsphiloso-
phin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hat
kennen möge, dass der Versuch, Werte zu
bewahren, Perspektiven über den Tag hin-
aus aufzuzeigen, mehr Orientierung geben,
nach dem Tod von Papst Benedikt XVI. den aber auch mehr Forderung nach Verände-
„Mut zur Weite der Vernunft“ bei Ratziger rung anregen kann, als ein Getriebensein, gensburg beauftragt worden, ein Porträt von
gelobt. Sie erinnert an die positive Ausei- das auf jeden fahrenden Zug aufspringt, Papst Benedikt XVI. anzufertigen. Es hängt
nandersetzung Ratzingers mit den großen ohne dessen Richtung, geschweige denn im Institut Papst Benedikt XVI. in Regens-
vorchristlichen Philosophien, ob aus Indien sein Ziel zu kennen“. burg. Eine zweite, ähnliche Fassung hängt
oder Griechenland, die Ratzinger als „Vor- Triegel, der im altmeisterlichen Renais- seit 2013 in der deutschen Botschaft beim
hof der Völker“ bezeichnete. Dabei zitiert sance-Stil malt, war 2010 vom Bistum Re- Heiligen Stuhl in Rom.
sie den Satz: „Alle Lampen Griechenlands
brennen für die Sonne, die Christus heißt.“
Mit Absicht habe sich Papst Benedikt im-
mer wieder an Stimmen vom Rande des Im Himmel wird weiter diskutiert
kirchlichen Glaubens oder sogar von au-
ßerhalb gewandt. Er habe sie als Zurufe an
das Christentum verstanden, seine Schätze
nicht zu vergraben. Im Gegenteil: damit zu
S ie kannten sich seit 60 Jahren und de-
battierten seither oft kontrovers, aber
immer freundschaftlich miteinander: der
nal Walter Kasper, und Joseph Ratzinger.
Theologisch mit Papst Benedikt zu disputie-
ren, so der gebürtige Schwabe und frühere
wuchern. Wörtlich zitiert die Wissenschaft- frühere Präsident des Päpstlichen Rates zur Bischof von Rottenburg-Stuttgart, „war für
lerin Benedikt mit den Worten: „Die Ver- Förderung der Einheit der Christen, Kardi- mich immer bereichernd und hat jeweils
nunft wird ohne den Glauben nicht heil, Freude gemacht“. Und Kasper weiter: „Die-
aber der Glaube wird ohne die Vernunft ses Gespräch hat mir schon in den letzten
nicht menschlich.“ Das große Motiv des Pon- Jahren seiner Krankheit gefehlt und es wird
tifikats von Papst Benedikt habe gelautet: mir nun bleibend fehlen. Ich hatte den Ein-
„Das Umgetriebenwerden des Menschen, druck, dass es auch dem Papst gefiel, wieder
sei er gläubig oder ‚im Vorhof‘, findet seine einmal so richtig theologisch zu diskutieren
lösende Antwort im Logos des Johannes- und dabei einen Konsens zu finden. Nun,
evangeliums.“ „Es gibt eine Frömmigkeit da Benedikt von Gott heimgerufen wurde,
des Denkens, die gleichzeitig eine Bekeh- ist auch für mich eine lange Phase meines
rung zur Realität ist“: Das hat Gerl-Falko- eigenen Lebens zu Ende gegangen“, so Kar-
vitz Papst Benedikt attestiert und sie erin- dinal Kasper in der Papstzeitung „L’Osser-
Francesco Pistilli/KNA

nert an einen italienischen Rocksänger, der vatore Romano“. Er hoffe, „dass wir uns ein-
ihn „cool“ nannte. Gerl-Falkovitz: „Es mag mal im Himmel wiedersehen und unseren
ein unsubtiles Schlagwort sein, aber es trifft Diskurs, dann in allerdings ganz anderer
den Nagel auf den Kopf.“ Weise, weiterführen können“.

VATICAN 2-2023 75
ET CE T ERA
Die ältesten Päpste
„Ein Lastier des Herrn der Kirchengeschichte
Die wohl ältesten Petrus-Nachfolger seit Mitte des 12. Jahr-
bin ich geworden!“ hunderts. Die Quellenlage zu den Geburtsdaten der Päpste
in den ersten Jahrhunderten ist unzuverlässig.

B 1.
ei seinem Deutschlandbesuch 2006 in München angekommen, be­
gab sich Papst Benedikt XVI. zuerst unter die Mariensäule, um dort
die Fürsprache und den Segen der Muttergottes zu erflehen. Er er­
innerte dabei an seine Ernennung zum Münchner Erzbischof. Damals
sei er Nachfolger des heiligen Korbinian geworden. Aus dessen Legende Benedikt XVI. (95,7 Jahre)
habe ihn seit seiner Kindheit eine Geschichte immer fasziniert, wonach Joseph Ratzinger
ein Bär das Reittier des Heiligen während dessen Reise nach Rom in den 1927–2022
Alpen zerrissen habe. Der heilige Korbinian verwies den Bären streng Amtszeit: 2005-2013
und lud ihm zur Strafe sein ganzes Gepäck auf, welches der Bär anstelle

2.
des getöteten Lasttieres bis noch Rom tragen musste. In Anlehnung an
den heiligen Korbinian machte der Papst deutlich, dass er sich selber
als Lasttier Gottes sieht, der zum „Zugtier, zum braven Ochsen, der den
Pflug Gottes zieht“, geworden sei. Papst Benedikt erklärte weiter, der Bär
des Heiligen ermutige ihn immer neu, seinen Benedikt XIII. (94/95 Jahre),
Pedro de Luna
Dienst mit Freude und Zuversicht zu tun
um 1328 oder 1342/43–1423
und Tag für Tag sein Ja zu Gott zu sa­ Amtszeit (Gegenpapst): 1394–1417
gen. Und wörtlich: „Ein Lasttier bin

3.
ich für dich geworden, doch gerade
so bin ich immer bei dir. Der Bär des
heiligen Korbinian wurde in Rom
freigelassen. In meinem Fall hat
der Herr anders entschieden.“ Leo XIII. (93,4 Jahre),
Vincenzo Gioacchino Pecci
1810–1903
Amtszeit: 1878–1903

4.
Musikertreffen
im Himmel
Coelestin III. (91 oder 92 Jahre),
Giacinto Bobo
um 1105/06–1198
Amtszeit: 1191–1198

5.
Johannes XXII. (90 oder 85 Jahre),
Jacques Duèze
um 1244/45 oder 1249–1334
Amtszeit: 1316–1334

6.
KNA-Bild

Clemens XII. (87,8 Jahre),


Papst Benedikt war ein leidenschaftlicher und hervorragender Klavierspieler. Er Lorenzo Corsini
1652–1740
sagte einmal, dass er sich schon deswegen auf das himmlische Paradies freue, weil
Amtszeit: 1730–1740
er dort endlich den verehrten Wolfgang Amadeus Mozart persönlich treffen könne.

76 VATICAN 2-2023


PAPST BENEDIKT XVI.

Drei Kardinäle im rostigen Fiat Panda


Der Direktor der „Katholischen Sozialwis- entwaffnender und liebenswürdiger Be-
senschaftlichen Zentralstelle“ (KSZ), Prof. Dr. scheidenheit, fragte nach unseren Familien
Peter Schallenberg (59), veröffentlichte nach und nach dem Verlauf unserer Studien und
Habt keine Angst vor Christus!
Er nimmt nichts und er gibt alles.
dem Tod Benedikts in der „Ruhr Zeitung“ per- trank still vergnügt über unsere Gesänge –
Wer sich ihm gibt, der erhält alles
sönliche Erinnerungen an Joseph Ratzinger. seine Fanta. Zu unserer nicht geringen Ver-
hundertfach zurück.
Schallenberg, Lehrstuhlinhaber für Moral- blüffung nämlich war er zwar ein Ober-
theologie und Ethik in Paderborn und von bayer mit deutlichem Akzent, trank aber Wir Menschen leben entfremdet,
Papst Franziskus 2018 ins vatikanische „Di- keinen Tropfen bayerisches Starkbier. Da- in den salzigen Wassern des Lei-
kasterium für die ganzheitliche Entwicklung für sprachen wir über Gott und die Welt dens und des Todes; in einem Meer
des Menschen“ berufen, berichtet: und über Theologie und das Ziel unseres des Dunkels ohne Licht. Das Netz
Lebens. Sehr beglückt ging ich heim.
des Evangeliums zieht uns aus den
Wassern des Todes heraus und
Meine früheste Erinnerung an ihn geht zu- Nie werde ich diesen Abend vergessen,
bringt uns ans helle Licht Gottes,
rück auf den 3. Dezember 1984 abends um dem viele solche Abende folgten, bis hin zu
zum wirklichen Leben.
19 Uhr. Es war der erste Adventssonntag, Einladungen in die päpstliche Wohnung, als
ich war gerade drei Monate zum Studium er Benedikt XVI. war und uns zu Leberknö- Christus hat uns nicht das bequeme
im Germanicum in Rom und Kardinal Rat- delsuppe und Klavierspiel empfing. Auch Leben versprochen. Wer Bequem-
zinger hatte die Paderborner Studenten ein- köstliche und fast komische Erlebnisse wa- lichkeit will, der ist bei ihm an der
geladen zur bayerischen Brotzeit und zum ren dabei, etwa, als ich ihn und zwei andere falschen Adresse. Aber er zeigt uns
gemeinsamen Adventsliedersingen. Deswe- hochbetagte römische Kardinäle in meinen
den Weg zum Großen, zum Guten,
zum richtigen Menschenleben.
gen, weil sein Privatsekretär Paderborner rostigen Fiat Panda zwängte und wir zum
Priester war: Dr. Josef Clemens aus Siegen. Festabend unserer katholischen Studenten- Die Kirche lebt. Und die Kirche ist
Wir Studenten waren natürlich sehr geehrt verbindung fuhren, wo Kardinal Ratzinger jung. Sie trägt die Zukunft der Welt
durch die Einladung bei dem berühmten aufgenommen wurde. Als wir nach drei Stun- in sich und zeigt daher auch jedem
Theologen, dessen Texte wir schon im Re- den die biergeschwängerte große Runde ver- Einzelnen den Weg in die Zukunft.
ligionsunterricht im Gymnasium gelesen ließen und, wieder in den Panda gezwängt, Die Bibel möge für jeden Christen
hatten. Und wir waren ziemlich aufgeregt. nach Hause schaukelten, seufzte ein sicht- wie ein Brunnen sein, zu dem er
Aber zur Aufregung war nicht der ge- lich erschöpfter, aber weiterhin frohgemuter jeden Tag kommt, um seinen Durst
ringste Anlass: Joseph Ratzinger war von Ratzinger: „Es waren recht heitere Stunden!“ zu stillen!
Der Sonntag wird zum Sonntag
durch den Besuch der Heiligen
„Der Himmel Messe.
ist viel schöner“ Wenn man die Vernunft verdäch-
Als der Journalist und Buchautor Michael tigt, wird auch der Glaube ver-
Hesemann im Mai 2017 den emeritierten fälscht.
Papst Benedikt XVI. in seinem vatikani- Wenn es überhaupt eine Möglich-
schen Kloster Mater Ecclesiae besuchte, keit gibt, einen anderen Menschen
wo er bis zu seinem Tod zurückgezogen positiv zu verändern, dann doch
lebte, und ihm zu seinem 90. Geburtstag nur, indem man ihn liebt und
mit den Worten gratulierte: „Heiliger Va- ihm so langsam sich wandeln hilft
Paul Badde

ter, ich wünsche Ihnen noch viele gute, von dem, was er ist, zu dem hin,
gesunde Jahre in voller Schaffenskraft“, was er sein kann.
ging der Zeigefinger des greisen Mannes Kloster Mater Ecclesiae
Der einzige Fallstrick, vor dem die
in die Höhe: „Das wünschen Sie mir bitte nicht, Herr Hesemann!“ „Aber Sie haben es doch gut Kirche Angst haben muss, ist die
hier, inmitten dieser wunderschönen vatikanischen Gärten“, stammelte der wortgewandte Pub- Sünde ihrer eigenen Mitglieder.
lizist. Da zeigte der päpstliche Finger ganz nach oben: „Der Himmel ist viel schöner!“, war Bene-
dikt fest überzeugt.

VATICAN 2-2023 77
O M EIN G O T T …

... was für eine Flasche!


VO N M A RT I N M ÜLLE R

ls Kardinal Ratzinger einmal die Abtei Monte- Die „Fanta“-Rezeptur änderte sich bis heute mehrfach, so

A cassino, das Mutterkloster der Benediktiner,


besuchte, bot ihm der Abt ein Gläschen Schaum-
wie sich auch die theologische Erkenntnis und menschli-
che Erfahrung Joseph Ratzingers im Laufe der Jahrzehnte
wein an, das der bayerische Würdenträger aber dan- weiterentwickelten. Heute ist „Fanta“ (längst wieder im
kend ablehnte. Als der Klostervorsteher jedoch weiter Eigentum des amerikanischen Coca-Cola-Konzerns) in fast
drängte, gab der Kardinal aus Höflichkeit nach und trank allen Ländern der Welt verbreitet. Und sie wird täglich
davon – mit der Folge, dass sein Gesicht ziemlich schnell mehr als 130 Millionen Mal konsumiert. Damit liegt sie
und sichtbar errötete. Kurzum: Joseph Ratzinger ver- fast gleichauf mit der katholischen Kirche, die ebenfalls
trug Alkohol nicht sonderlich gut und hatte daran auch auf der ganzen Erde vertreten ist und deren Ausbrei-
nie wirklich Gefallenen. Dass er zum Abendbrot oder tung unter dem Pontifikat Benedikts XVI. noch zuge-
in geselliger Runde einmal ein Bier trank, war seiner nommen hat. Was die katholische Kirche anbelangt,
Liebe zur bayerischen Heimat und deren kulinari- braucht sie sich mit ihren weltweit 1,4 Milliarden Gläu-
scher Tradition geschuldet. Und auch in seiner zwei- bigen nicht hinter der „Fanta“ zu verstecken. Täglich
ten Heimat, Rom, genehmigte er sich bisweilen ei- werden sicher mehr Gebete zum Himmel geschickt,
nen Schluck Limoncello, wohl aber nur deshalb, als „Fanta“-Flaschen geleert.
weil dieses Tröpfchen seinem Lieblingsgetränk Neben der „Fanta“ schätzte Kardinal Ratzinger
„Fanta“, so ähnlich sah. auch noch ein spezielles Heißgetränk, wie sein Bio-
Papst Benedikt XVI. und die „Fanta“: Da gibt graf Peter Seewald berichtet. Als der sich 1986 für
es einige Gemeinsamkeiten. Beide stammen aus mehre Tage mit dem Präfekten der Glaubenskon-
Deutschland. Joseph Ratzinger wurde 1927 im gregation zum ersten gemeinsamen Interview-
oberbayerischen Marktl am Inn geboren, die Buch „Salz der Erde“ in einem Haus bei Fras-
„Fanta“ erblickte 13 Jahre später, im rheinlän- cati traf, begannen „die Tage mit einem Gottes-
dischen Essen, das Licht der Welt. Hier bekam dienst. Dann wurde ‚Ratzinger-Tee‘ gebracht,
das Erfrischungsgetränk auch seinen Namen, das ist Früchtetee mit Zitrone und viel Zucker“,
der sich von „Fantasie“ ableitet. Und so wie so Seewald. Der Kardinal und spätere deutsche
Kardinal Ratzinger als Papst die Welt eroberte, Papst mochte es also süß – und anspruchslos,
trat auch die gelbfarbene Limonade einen welt- wohingegen viele seiner Verehrer durchaus
weiten Siegeszug an. an gehobeneren Getränken Gefallen finden.
Entstanden war „Fanta“ während des Zweiten Wie etwa unser Kolumnist Rudolf Gehrig. Der
Weltkriegs. Nachdem die deutsche Niederlas- genehmigte sich nach der Beerdigung von Be-
sung von Coca-Cola in Essen wegen der Kriegs- nedikt XVI. anlässlich dieses „besonderen Au-
politik der Nazis keine Lieferungen des benötig- genblicks“ nämlich nichts Geringeres als einen
ten Sirups zur Herstellung der auch in Deutsch- guten irischen Whiskey (Seite 41).
land damals schon beliebten Coca-Cola mehr Was mir Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.
bekam, entwickelte Max Keith, der Leiter der immer sympathisch gemacht hat, war seine tiefe
deutschen Niederlassung, im Eilverfahren ein Demut. Trotz seines immensen Wissens und sei-
neues Getränk, das er aus den ihm in der Man- nes mächtigen Amtes blieb er doch stets Kind.
gelwirtschaft des Krieges zur Verfügung stehen- Und von Kindern weiß man, dass sie „Fanta“ mö-
den Mitteln kreierte. Das waren damals haupt- gen. Deshalb erhebe auch ich – ein passionier-
sächlich Nebenprodukte wie Molke, Maische ter Weintrinker – heute die „Fanta“-Flasche im
und übriggebliebene Apfelfasern, die mit ver- Gedenken an diesen außergewöhnlichen Men-
schiedenen Fruchtsaftkonzentraten aus Italien schen auf dem Stuhle Petri und wünsche ihm
angereichert wurden. Das neue Getränk kam aus tiefstem Herzen, der Himmel möge für ihn
bei der Kundschaft gut an und wurde noch zu noch viel süßer sein, als die ganze überbordende
Kriegszeiten zu einem der beliebtesten Erfri- Süßigkeit dieses Getränks: „Fanta, o mein Gott,
schungsgetränke Deutschlands. was für eine Flasche!“ Ω

78 VATICAN 2-2023


VATICAN
www.vatican-magazin.de Jahrgang 17 | Heft 2 – Februar 2023

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Heiliges Antlitz Christi,
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und in den Blicken unserer Nächsten,
mach uns zu Pilgern Gottes in dieser Welt,
dürstend nach dem Unendlichen und bereit für die Begegnung am Jüngsten Tag,
wenn wir Dich, Herr, von „Angesicht zu Angesicht“ (1 Kor 13,12) sehen Papst Benedikt XVI.
und in Ewigkeit in der Herrlichkeit des Himmels schauen dürfen. am 1. September 2006
beim Volto Santo in
Gebet von Papst Benedikt XVI. Manoppello

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