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Jessica Hart
Julia 1038
14/1 1993
Sie warf einen Blick über die Karte hinweg und sah, dass er
sich wieder mit der Auswahl der Weine beschäftigte. In
Dinnerjackett und mit Fliege wirkte er noch attraktiver als sonst,
und die gedämpfte Beleuchtung milderte seine scharfen Züge.
Doch als er plötzlich aufsah und sie seinem Blick über den
ledergebundenen Karten begegnete, wirkten seine grauen Augen
so hart und durchdringend wie immer.
Schnell senkte Chris den Blick und vertiefte sich wieder in
ihre Speisekarte.
Der Kellner erschien an ihrem Tisch. "Haben Sie sich schon
entschieden?" fragte Luke. Es klang, als warte er schon eine
Ewigkeit auf sie.
"Ich hätte gern die Rouladen von Lachs und Seezunge, und
dann die 'magret de canard'", sagte Chris mit einem trotzigen
Blick auf Luke und legte die Karte beiseite.
"Sind Sie sicher?"
"Ja, vielen Dank."
"Zur Vorspeise würde ein Sauvignon recht gut passen, und
für das Hauptgericht habe ich an einen Chateau d'Yquem
gedacht", fuhr Luke fort und fügte ironisch hinzu: "Ist Ihne n das
recht, oder möchten Sie auch die Weine selbst auswählen?"
"Nein, das klingt sehr gut", entgegnete Chris förmlich und
faltete ihre Hände im Schoß. Es kostete sie einige Anstrengung,
keine giftige Bemerkung zu machen, doch sie dachte an ihren
Vorsatz, sich nicht von ihm provozieren zu lassen.
Luke wandte sich an den Kellner. "Wir nehmen vorweg den
Lachs und die Seezunge, und als Hauptgericht die Ente - es
bleibt also bei meiner Bestellung." Nachdem er auch den Wein
bestellt hatte, drehte er sich um und begegnete Chris'
vorwurfsvollem Blick. "Was ist denn los?"
"Warum haben Sie mir nicht gesagt, was Sie bestellt haben?"
"Damit Sie dann etwas anderes auswählen, nur um mich zu
ärgern? Ich habe einfach das bestellt, von dem ich dachte, es
gefiele Ihnen. Was ist daran falsch?"
"Ich kann schließlich für mich selbst sprechen", sagte Chris
mit einem Anflug von Eigensinn in der Stimme. "Dessen bin ich
mir sehr bewusst, Chris."
"Das bezweifle ich, so wie Sie mich heute den ganzen Tag
behandelt haben!"
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Sie haben bestimmt, wie ich mir die Haare schneiden lassen
soll, Sie haben meine Kleider ausgesucht und mein Essen - als
wäre ich nicht mehr als eine Schaufensterpuppe!"
"Nun machen Sie sich nicht lächerlich", erwiderte Luke
schroff. "Ich dachte, dieses Thema hätten wir schon heute
morgen erledigt." "Wir sind übereingekommen, dass Sie meine
Arbeit anerkennen und sich bemühen, freundlicher zu sein."
"Das tue ich doch!"
"Ich weiß nicht, was Sie unter Freundlichkeit verstehen, aber
ich empfand es als ziemlich unangenehm, von Ihnen betrachtet
und kritisiert zu werden, als wäre ich ein Stück Vieh, das zum
Verkauf steht!"
"Deshalb waren Sie also heute Nachmittag so schlechter
Laune", sagte Luke und warf einen Blick auf die Flasche, die der
Kellner ihm präsentierte. Er wartete, bis dieser ihm etwas Wein
ins Glas gegossen hatte, trank prüfend einen Schluck und nickte
dann. "Die meisten Frauen hätten einen Nachmittag beim
Friseur genossen, ganz zu schweigen von kostenlosen Kleidern."
Chris wartete, bis der Kellner ihre Gläser gefüllt und sich mit
unbewegter Miene entfernt hatte. "Ich bin nicht wie ,die meisten
Frauen!" fauchte sie. "Ich bin ich, und ich mag es nicht, wenn
man mich behandelt wie - wie ein dummes Püppchen!"
Sie hatte erwartet, dass Luke beleidigt sein würde, doch zu
ihrem Ärger grinste er jungenhaft. "Aber Chris, gerade bei Ihnen
würde ich mir das nie erlauben!"
Chris wünschte sich, er würde sie nicht auf diese Art
anlächeln. Hastig griff sie nach ihrem Glas und trank einen
Schluck Wein, während sie sich von Lukes Anblick loszureißen
versuchte.
"Ich halte sehr viel von Ihnen", fuhr Luke fort. " Sie sind eine
vernünftige und intelligente Frau, und ich würde nie auf die Idee
kommen, Sie als eine Art Sexualobjekt zu betrachten. Ich kann
Ihnen gar nicht sagen, welche Erleichterung es für mich
bedeutet, endlich einmal mit einer Frau zu tun zu haben, die sich
streng auf das Geschäftliche beschränkt und nicht ständig mit
Bewunderung überschüttet werden will."
"Nun, ein Kompliment von Zeit zu Zeit könnte auch nicht
schaden!"
"Ich wollte Ihnen gleich bei Ihrer Ankunft sagen, dass Sie
wunderbar aussehen in diesem Kleid, aber dann hätten Sie mir
sicherlich vorgeworfen, ein Chauvinist zu sein." Für einen
Moment begegnete sie seinem Blick, dann lächelte Luke
reumütig. "Es tut mir leid", entschuldigte er sich. "Es war nur
ein großer Schock für mich, dass meine sonst so tüchtige und
unscheinbare Sekretärin sich in eine ganz andere Frau
verwandelt hat." Er legte kurz seine Hand über ihre. "Sie sehen
heute Abend ganz bezaubernd aus, Chris. Ist es so besser?"
Chris war froh über die gedämpfte Beleuchtung im
Restaurant. So sah Luke nicht, dass sie über und über rot
geworden war. Als er sie berührte, tat ihr Herz einige sehr
merkwürdige Hüpfer, und sie zog schne ll die Hand zurück.
"Ich habe nur Spaß gemacht", murmelte sie. "Vernünftig und
intelligent' reicht mir als Kompliment."
"Tatsächlich? Dann sind Sie die erste Frau, die sich damit
zufrieden gibt!"
"Aber für Sie bin ich schließlich keine Frau", betonte Chris
trocken. "Ich bin Ihre Sekretärin, und sonst nichts."
Luke trank einen Schluck Wein. Über den Rand des Glases
hinweg betrachtete er sie, und in seinen Augen lag ein
sonderbarer Ausdruck. "Es fällt mir schwer, mich daran zu
erinnern, wenn Sie so aussehen wie heute Abend."
Chris hatte plötzlich das Gefühl, sich auf äußerst unsicherem
Boden zu bewegen. Die unerwartete Wärme in seiner Stimme
verwirrte sie zutiefst, und ihre Nerven waren zum Zerreißen
gespannt. Hastig trank sie einen Schluck Wein, während sie sich
den Kopf auf der Suche nach einem unverfänglichen Thema
zermarterte.
Sie wollten doch mit mir über unsere Reise nach Paris
sprechen", erinnerte sie Luke und fragte sich, ob ihre Stimme
auch für ihn so noch und unnatürlich klang. "Wen werden wir
dort eigentlich treffen?"
Sie vermied es, ihn direkt anzusehen. Bestimmt würde er ihr
ansehen welche törichten, mädchenhaften Gefühle in ihrem
Innern tobten. Dabei war sie doch keine unerfahrene
Sechzehnjährige mehr. Sie war eine erwachsene Frau und zu
vernünftig, um sich von einigen hingeworfenen Komplimenten
oder einer flüchtigen Berührung verwirren zu lassen. Dies war
ein Geschäftsessen und nicht mehr. Natürlich, Luke war nett und
zuvorkommend, aber deshalb brauchte ihr Herz doch nicht so
schnell zu klopfen .. .
Luke warf ihr einen kurzen, scharfen Blick zu, bevor er
antwortete. "Wir haben eine Verabredung mit Philippe Robard
und seinem Sohn, der ebenfalls im Vorstand der Firma sitzt.
Robard ist Besitzer der Oasis-Hotelkette. Bestimmt haben Sie
davon gehört, während Sie in Frankreich lebten?"
Als Chris nickte, fuhr er fort: "Seine Firma expandiert
schnell, und er hat besonders auf Großbritannien ein Auge
geworfen. Sie wissen sicherlich, dass er sich darauf spezialisiert
hat, alte Gebäude aufzukaufen - vor allem heruntergekommene
Schlösser - und sie in exklusive, mit allem Komfort
ausgestattete Hotels umzuwandeln, wobei er aber Wert darauf
legt, soweit wie möglich den ursprünglichen Charakter der
Gebäude zu bewahren."
Er spielte gedankenverloren mit seiner Gabel. "Bisher war
Robard außerordentlich erfolgreich, aber gerade aufgrund der
Expansion seiner Firma und der Vielzahl von Bauarbeiten
besteht die Gefahr, dass der Qualitätsstandard sinkt. Er kann
sich nicht um alles kümmern, und außerdem ist er Hotelier,
nicht Ingenieur."
"Und an diesem Punkt kommen wir ins Spiel?" erkundigte
Chris sich. Sie versuchte mit aller Kraft, sich auf Lukes Worte
zu konzentrieren, nicht auf seinen ausdrucksvollen Mund.
"Genau. Ich biete Robard einen kompletten Beraterservice für
seine Bauvorhaben, damit er sich ausschließlich auf die Führung
seiner Hotels konzentrieren kann. Eben deshalb ist es so wichtig
für uns, morgen den richtigen Eindruck auf ihn zu machen. Er
muss das Gefühl haben, dass wir für alles garantieren, worauf er
Wert legt: Stil, Leistungsfähigkeit und Qualität."
Chris war erleichtert, als der Kellner mit dem ersten Gang
erschien. Jetzt konnte sie sich mit dem Essen beschäftigen und
musste Luke nicht mehr ständig ansehen. "Aber all das könnte
ihm doch auch eine französische Firma bieten, nicht wahr?"
fragte sie und griff nach ihrem Besteck.
"Ja, aber denken Sie daran, dass er auf den britischen Markt
möchte, genauso wie ich auf den französischen." Luke schien
sich mehr für das Geschäft zu interessieren als für sein Essen,
"In England und außerhalb Europas haben wir schon einen guten
Ruf, und Sie, Chris werden ein wenig kontinentalen Flair in die
Firma bringen."
"Ich verstehe." Chris hielt den Blick auf ihren Teller gesenkt.
Im sanften Licht glänzte ihr Haar wie schimmerndes Kupfer.
"Was soll ich also tun?"
"Sie werden als meine Assistentin fungieren und mich
natürlich unterstützen, sobald es bei der Verständigung
Probleme gibt, ich denke, die Robards werden von Ihrer
Tüchtigkeit beeindruckt sein. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie
auch Ihren Charme spielen ließen, den Sie zweifellos besitzen,
auch wenn Sie ihn nicht an mich verschwenden!"
Chris blickte erstaunt auf. In ihren großen dunklen Augen
spiegelte sich das goldene Licht der Kerze, die auf dem Tisch
brannte. Langsam ließ sie das Besteck sinken. "Was, um alles in
der Welt, meinen Sie damit?"
Jetzt war es an Luke, sich intensiv mit seinem Essen zu
beschäftigen. "Ich habe gesehen, wie Sie mit den anderen
Leuten in der Firma umgehen. Alle mögen Sie. Meine
Abteilungsleiter erzählen mir von morgens bis abends, wie
charmant Sie doch seien. Aber mir machen Sie immer nur
Vorwürfe oder erteilen mir Lektionen über meine schlechten
Manieren."
Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, und Chris
biss sich auf die Lippe. Sie hätte schwören können, dass er sich
gekränkt fühlte.
"Das ist nicht fair", protestierte sie. "Manchmal bin ich sehr
nett zu Ihnen."
Luke beugte sich vor, um ihre Gläser erneut zu füllen. "Aber
nur manchmal", sagte er, und sie sah erleichtert das amüsierte
Funkeln in seinen Augen. "Das Schwierige an Ihnen ist, dass Sie
sehr ehrlich sind, Chris - oft viel zu ehrlich für meinen
Geschmack. Ich bin eben nicht daran gewöhnt. Schon sehr früh
habe ich gelernt, dass man von den meisten Frauen nicht viel
Ehrlichkeit erwarten kann."
Ein bitterer Unteren lag in seiner Stimme. Chris überlegte, ob
er in diesem Moment an Helen dachte. Gleich darauf fragte sie
sich schuldbewusst, ob sie nicht ebenso unehrlich wie Helen
war. Warum hatte sie nicht gleich am Anfang gesagt, dass sie
ihn von früher her kannte?
Impulsiv öffnete sie den Mund, um ihm alles zu erzählen.
Doch dann erschien wieder der Kellner an ihrem Tisch, füllte
die Gläser nach und erkundigte sich nach ihren weiteren
Wünschen. Als er sich wieder zurückgezogen hatte, war die
Gelegenheit vorbei, und Luke hatte bereits das Thema
gewechselt.
Ich nehme an, unsere Reise nach Paris wird für Sie wie eine
Heimkehr sein'"
In gewisser Weise, ja", sagte sie. Plötzlich tat es ihr nicht
mehr leid, dass sie Luke nichts gesagt hatte. Es wäre nur eine
sehr peinliche Situation für sie beide geworden. "Es ist
merkwürdig, aber als ich in Frankreich lebte, wollte ich die
ganze Zeit immer nach England zurück. Und jetzt, da ich hier
bin, denke ich manchmal sehnsüchtig an das Leben in
Frankreich. Wenn man zwei Nationalitäten hat, fühlt man sich
wahrscheinlich immer hin und her gerissen. "
"Sie sind mir nie wie eine Französin vorgekommen", sagte
Luke nachdenklich. "Auf mich wirken Sie immer so kühl und
beherrscht -eben typisch englisch."
"Ich bin wohl eher nach meinem Vater geraten."
"Was für ein Mensch war er?"
Chris fragte sich, was Luke wohl sagen würde, wenn sie ihm
erzählte, dass er ihn gut kannte. Sie erinnerte sich, dass er ihren
Vater immer verachtet und ihn für langweilig und arrogant
gehalten hatte. Er hatte eben nicht gewusst, wie herzlich und
großzügig ihr Vater denen gegenüber gewesen war, die er liebte.
"Er war auch sehr zurückhaltend und sehr englisch",
antwortete sie so unbefangen wie möglich.
Luke verzog den Mund zu einem amüsierten Lächeln. "Das
klingt, als wäre er in Ordnung gewesen. "
Für einen Moment schienen Vergangenheit und Gegenwart
miteinander zu verschmelzen, und Chris wünschte sich
verzweifelt, ihr Vater hätte diesen neuen Luke kennen gelernt.
"Sie bereuen also nicht, nach England zurückgekommen zu
sein?"
"Nein." Das weiche, schimmernde Haar streifte ihre Wangen,
als Chris den Kopf schüttelte. "Ich wäre schon früher
zurückgekommen, aber meine Mutter ist - nun, sie ist sehr
lebenslustig und charmant, aber hoffnungslos unpraktisch. Nach
dem Tod meines Vaters war es selbstverständlich, dass ich mich
um alles kümmerte, zum Beispiel um die finanziellen
Angelegenheiten. Meine Halbschwester Veronique war zu dem
Zeitpunkt schon verheiratet. Und außerdem war ich immer
vernünftiger als sie, schon als Kind." Sie seufzte
"Was ist denn falsch daran, vernünftig zu sein?"
"Nichts. Ich frage mich nur manchmal, was passiert wäre,
wenn ich die typische rebellische Phase gehabt hätte.
Wahrscheinlich hätte ich mehr Spaß gehabt."
"Sie meinen Auflehnung gegen die Gesellschaft im
allgemeinen? Die Phase hatte ich auch", sagte Luke.
"Oh, das .. ." Chris schwieg. Beinahe hätte sie gesagt: Das
weiß ich. "Das kann ich mir vorstellen", brachte sie schließlich
hervor.
Luke schien ihr Zögern nicht bemerkt zu haben. "Damals
hielt ich das alles für einen großen Spaß, aber im nachhinein
denke ich, dass ich einfach nur unglücklich war." Er hob
gleichgültig die Schultern, und Chris schämte sich plötzlich.
Vorher war ihr nie der Gedanke gekommen, dass die
Rücksichtslosigkeit des jungen Luke einfach der Tatsache
entsprang, dass er unglücklich war. Alle im Dorf hatten gewusst,
dass seine Mutter die Familie Jahre zuvor im Stich gelassen
hatte. Seitdem war er mit seinem Vater allein gewesen, einem
ziemlich exzentrischen und eigenbrötlerischen Mann. Nein,
Luke hatte wahrscheinlich keine glücklichen Erinnerungen an
Chittingdene. Jetzt war sie froh, dass sie nicht mit ihm über die
Vergangenheit gesprochen hatte. Luke machte den Eindruck
eines Mannes, der mit seinem früheren Leben längst
abgeschlossen hatte.
"Und wie kommt Ihre Mutter jetzt ohne Sie zurecht?"
erkundigte er sich.
"Sie hat vor einigen Monaten wieder geheiratet." Chris trank
einen Schluck Wein. "Thierry versteht es viel besser, sich um sie
zu kümmern, und er kann es sich auch leisten, sie zu verwöhnen,
aber..."
"Aber Sie mögen ihn nicht?"
"Nein. Ich habe es versucht, aber wir kommen einfach nicht
miteinander aus. Oh, wir waren immer sehr höflich zueinander,
doch das machte es irgendwie noch schlimmer. Als meine
Schwester ihre Tochter Michelle nach England zur Schule
schickte, hatte ich endlich einen guten Vorwand, von zu Hause
fortzugehen, ohne die Gefühle meiner Mutter zu verletzen ..."
Chris schwieg. Sie hatte Luke all diese Dinge gar nicht erzä hlen
wollen, aber irgendwie waren die Worte ihr herausgerutscht.
"Ohne mich können sie endlich so leben, wie es ihnen gefällt",
sagte sie abschließend. "Meine Mutter geht furchtbar gern zu
Partys und zieht sich immer ganz wunderbar an. Ich fürchte, ich
habe leider nichts von ihrem Geschmack geerbt. Außerdem sieht
sie viel zu jung aus, um eine Tochter in meinem Alter zu
haben."
"Ihre Mutter erinnert mich an jemanden, den ich mal kannte,
zumindest vom Sehen. Warten Sie, ihr Name war .. ." Luke kniff
die Augen zusammen, während er angestrengt nachdachte.
"Nun, der Name tut ohnehin nichts zur Sache, aber sie war auch
Französin - viel zu bezaubernd und rassig für Chittingdene."
Mit zitternden Händen legte Chris ihr Besteck nieder.
"Chittingdene"
Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin", erklärte Luke. "Ein
kleines verschlafenes Nest im tiefsten Somerset. Seit Jahren bin
ich nicht mehr da gewesen. Ich konnte es gar nicht abwarten,
von dort wegzukommen." Erblickte in sein Weinglas.
"Merkwürdig, aber ich habe seit Jahren nicht mehr an
Chittingdene gedacht. Und ganz gewiss nicht an Mrs... . wie war
doch bloß noch ihr Name?"
Wie sind Sie eigentlich ins Projektmanagement gekommen?"
erkundigte Chris sich schnell, um ihn von der Vergangenheit
abzulenken. Es überraschte sie, dass Luke sich an ihre Mutter
erinnerte, die sich fast nie im Dorf hatte sehen lassen, sondern es
vorzog, soviel Zeit wie möglich in Frankreich zu verbringen.
Während Luke über seine Arbeit redete, schweiften ihre
Gedanken wieder in die Vergangenheit. Sie verglich den
rebellischen Jugendlichen, den sie früher gekannt hatte, mit dem
entschlossenen Mann, der ihr jetzt gegenübersaß und von
seinem Kampf um Erfolg erzählte. Beide waren sich so ähnlich
und dabei doch so verschieden. Oder war sie damals einfach
noch zu jung gewesen, um zu sehen, was in ihm steckte? "Es
muss harte Arbeit gewesen sein", sagte sie schließlich, als Luke
sie, die Brauen hochgezogen, betrachtete, offensichtlich
verwundert über ihr Schweigen.
"Das war es auch", gab er zu, "aber es hat sic h gelohnt. Ich
bin jetzt ein reicher Mann."
"Zumindest in der Hinsicht hat es sich also gelohnt", sagte
Chris zweideutig und dachte an den langen, einsamen Kampf,
den er geführt haben musste.
"Sie klingen nicht sehr überzeugt, Chris", erwiderte er
amüsiert. "Nein, sagen Sie nichts! Sie denken, dass Geld nicht
alles ist?"
"Das ist es auch nicht, oder?"
"Chris, Sie enttäuschen mich! Ich hätte nicht erwartet, dass
Sie sich auf Klischees versteifen. Ihrer Meinung hat es sich also
nicht gelohnt, weil ich mir nic ht Frau und Kinder zugelegt habe
und einen Hund, der mir abends die Pantoffeln an den Kamin
bringt?"
Chris begegnete offen seinem Blick. Er machte sich natürlich
über sie lustig, aber ihr war der verteidigende Unterton in seiner
Stimme nicht entgangen. "Ich meine nicht, dass Sie unbedingt
hätten heiraten sollen. Ich wundere mich nur, dass Sie es nicht
getan haben."
"Ich wollte nie heiraten", erwiderte er schroff. "Ich mag es,
wenn Frauen ebenso zynisch sind wie ich. Keine Erwartungen
und auch kein Schmerz."
Wirklich nicht? dachte Chris. Und was ist mit dem Jungen,
der von seiner Mutter verlassen und von Helen Slayne betrogen
wurde? Warum ist aus Zynismus mit den Jahren Bitterkeit
geworden?
"Und wie ist es mit Ihnen?" fragte Luke. "Warum sind Sie
nicht verheiratet? Warten Sie immer noch auf den Richtigen?
Oder trauern Sie einer verlorenen Liebe nach?"
Gegen ihren Willen stiegen Erinnerungen an Chris auf; an
einen lange zurückliegenden Sommertag, an den Duft von Gras,
an die Berührungen seiner Hände, den Geschmack seiner
Lippen. Das war keine Liebe, sagte sie sich entschlossen. Es war
nur so etwas wie ein Anfang, ein kurzer Blick auf das, was hätte
sein können.
"Ich bin nicht verheiratet, weil mich noch kein Mann gebeten
hat, seine Frau zu werden."
"Wahrscheinlich hat Sie auch noch nie jemand so gesehen
wie heute Abend."
"Nein", gab Chris, gezwungen lächelnd, zu. Die
Gleichgültigkeit, mit der er gesprochen hatte, tat ihr weh. "Sie
sind der erste."
Luke spielte gedankenverloren mit einem Löffel, während er
sie betrachtete. Dann legte er ihn sorgfältig wieder neben seinen
Teller. "Da haben Sie recht", sagte er langsam.
Peinliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Chris
trank noch einen Schluck Wein und suchte fieberhaft nach
einem neutralen Thema. Schließlich hatten sie über das Geschäft
reden wollen. Wie waren sie bloß auf Liebe und Ehe
gekommen?
"Ist Monsieur Robard . ..?"
"Kennen Sie . ..?"
Sie hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen und
verstummten jetzt, beide verlegen.
"Sprechen Sie weiter", sagte Chris schließlich.
"Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Paris gut kennen." Luke
klang förmlich.
Chris stürzte sich auf dieses unverfängliche Thema, und es
gelang ihr, das Gespräch für den Rest des Abends unverfänglich
und unpersönlich zu halten. Immer neue Platten und Teller
wurden gebracht, ihre Gläser immer wieder gefüllt. Chris aß und
trank, ohne etwas wirklich zu schmecken. Sie redete über das
Geschäft und wich Lukes Blicken aus. Und die ganze Zeit war
sie sich seiner Anwesenheit beinahe schmerzhaft bewusst. Sie
wünschte, er würde endlich mit dieser höflichen Konversation
aufhören. Sie wünschte, er würde unverschämt werden, sie in
Wut bringen oder irgend etwas anderes tun, das sie ablenkte von
diesem überwältigenden Verlangen, die Hand nach ihm
auszustrecken und ihn zu berühren. Sie wagte nicht, ihm ins
Gesicht zu sehen, aus Angst, ihren Blick nicht mehr von seinem
Mund losreißen zu können. Deshalb beobachtete sie die anderen
Gäste, betrachtete das schimmernde Porzellan und seine
schlanken Finger, die das Weinglas hielten.
Endlich war es vorbei. Als Luke ihr in den Mantel half,
erschauerte sie unter der leichten Berührung seiner Hände.
"Ich rufe Ihnen ein Taxi", sagte er und öffnete die
Ausgangstür. "Ich kann von hier aus laufen. "
"Aber ich kann doch auch den Bus nehmen", protestierte
Chris, doch Luke beachtete ihre Worte nicht. Ohne sich zu
berühren, gingen sie die Strasse hinunter. Es hatte wieder
geregnet, und das Straßenpflaster glänzte im Licht der
Straßenlaternen. Die Reifen der Autos zischten über den nassen
Asphalt.
Chris vergrub die Hände tief in den Taschen ihres Mantels
und sah starr vor sich auf die Strasse. Hoffentlich tauchte bald
ein Taxi auf! Luke dagegen schien das Schweigen zwischen
ihnen nichts auszumachen. Außerdem betrachtete er sie so
prüfend, dass sie nervös zu werden begann. "Ist etwas nicht in
Ordnung?" fragte sie schließlich.
"Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir uns früher schon
einmal begegnet sind", erklärte Luke nachdenklich. "Ich muss
mich irren, oder?"
Chris fühlte, wie ihr Puls zu rasen begann. Schnell sah sie
weg. "Wenn es so wäre, würde ich mich sicher daran erinnern" ,
sagte sie. Eine glatte Lüge wollte sie ihm nicht auftischen, doch
andererseits hatte sie auch keine Lust auf endlose Erklärunge n,
die er sicher von ihr verlangen würde, wenn sie ihm die
Wahrheit gestände.
"Ich glaube, es kommt daher, dass Sie heute so anders
aussehen." Ihre Antwort schien Luke nicht zufriedengestellt zu
haben. Als er neben sie an den Bordstein trat, musste Chris sich
zusammennehmen, um nicht zurückzuzucken. Er sah die Strasse
entlang, als hielte er ebenso ungeduldig nach einem Taxi
Ausschau wie sie.
"Ich kann mich immer noch nicht an Ihr neues Aussehen
gewöhnen", fuhr er fort und sah auf sie hinunter. "Plötzlich
fallen mir Dinge an Ihnen auf, die ich vorher nie bemerkt habe .
.." Er schwieg, und Chris hatte das Gefühl, dass seine Worte ihn
selbst mehr überraschten als sie selbst. "Es ist wirklich
erstaunlich, was eine neue Frisur ausmacht."
Ein sonderbarer Ausdruck lag in seinen Augen. Chris wollte
wegsehen, doch sie konnte den Blick nicht von ihm losreißen.
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. "Ich hoffe, Sie sind der
Meinung, dass sich Ihre Investition gelohnt hat", sagte sie so
unbefangen wie möglich.
Langsam streckte Luke die Hand aus und strich ihr eine
Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das bin ich", murmelte er.
"Meine Investition hat sich mehr als gelohnt."
Bevor Chris noch begriff, was geschah, legte er ihr die Hand
unter das Kinn, beugte sich hinunter und küsste sie.
Völlig überrumpelt, die Hände in den Taschen ihres Mantels
gefangen, war Chris nicht in der Lage, sich zu wehren. Sie fiel
beinahe gegen seine harte, muskulöse Brust, und dann fühlte sie
seine Arme um sich.
Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen. Während sie
auf dieser nassen, unwirtlichen Strasse stand und Lukes Lippen
auf ihren spürte, hatte Chris das Gefühl, sie sei wieder im
sommerlichen Wald von Chittingdene. Es war das gleiche
schmerzliche Verlangen, die gleiche Sehnsucht, die gleiche
heiße Begierde, als sie seine Lippen schmeckte und den Griff
seiner Hände im Nacken spürte.
Chris' Antwort entsprang reinem Instinkt. Sie öffnete die
Lippen und ließ sich einfach gegen ihn sinken. In ihrem Inneren
kämpften Erregung und Schuldbewusstsein miteinander und die
Erkenntnis, dass kein anderer Mann solche Gefühle in ihr
wecken konnte.
Sie wollte ihre Hände aus den Manteltaschen befreien, wollte
sein Gesicht berühren und die markante Linie seines Kinns unter
ihren Fingern spüren. Doch da hob Luke den Kopf und streckte
seinen Arm aus, und ein Taxi kam quietschend neben ihnen zum
Stehen.
Chris betrachtete es verwirrt, als habe sie noch nie ein Taxi
gesehen. "Warum - warum haben Sie das getan?" brachte sie
hervor.
"Ich wollte meine Investition nur ein wenig auskosten", sagte
Luke. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, denn
er wandte sich schnell ab und redete mit dem Fahrer. Dann
schob er sie in das Taxi und schloss die Tür hinter ihr, als wäre
nie etwas zwischen ihnen geschehen.
"Wir treffen uns um ha lb elf Uhr am Flughafen", war alles,
was er ihr durch das Fenster zurief. "Seien Sie pünktlich."
6. KAPITEL
In der Abflughalle herrschte reges Treiben, und Chris konnte
Luke zunächst nicht finden. Sie entdeckte ihn erst, als er
plötzlich neben dem Gepäckschalter auftauchte. Er sah sich
suchend um, warf immer wieder ungeduldige Blicke auf seine
Armbanduhr und fragte sich offensichtlich, wo Chris steckte.
Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben, und das gab ihr
einen Moment Zeit, ihr übliches beherrschtes Gesicht
aufzusetzen, bevor sie auf ihn zuging.
In der Nacht hatte sie stundenlang wachgelegen und versucht,
Lukes Kuss aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Doch sobald
sie die Augen schloss, wurde die Erinnerung wieder lebendig:
seine Hände, sein Mund, sein starker, männlicher Körper, der
ihrem so erregend nah war.
Als sie allem in der Dunkelheit lag, war es leicht gewesen,
sich selbst zu überzeugen, dass er sie einfach überrumpelt hatte.
Nur deshalb hatte sie sich so willig seinen Armen überlassen.
Nur deshalb hatten ihre Lippen unter dem festen Druck seines
Mundes nachgegeben. Nur deshalb hatte sie seinen Kuss
erwidert.
Schließlich beschloss sie, dass Luke sie nicht hätte küssen
dürfen. Es war viel einfacher, ihm die Schuld zu geben als sich
selbst, weil sie so hemmungslos reagiert hatte. Die angenehmste
Erklärung war immer noch, dass es einfach eine Laune von ihm
gewesen war, dass dieser Kuss ihm gar nichts bedeutet hatte.
Und Chris war entschlossen, es Luke gleichzutun. Es war viel
weniger peinlich für sie beide, wenn sie ihm gegenüber so tat,
als hätte es diesen Kuss niemals gegeben.
Doch als sie Luke jetzt vor sich sah, als ihr Magen sich
zusammenkrampfte und das Blut wie flüssiges Feuer durch
ihren Körper strömte, da erschien ihr nichts mehr so einfach,
wie sie es sich vorgestellt hatte.
Kein Anzeichen ihres inneren Aufruhrs zeigte sich auf Chris'
unbewegtem Gesicht, als sie Luke kühl einen guten Morgen
wünschte Luke erwiderte ihren Gruß kurz angebunden, und sein
Blick war undurchdringlich wie immer. Zu Chris' Erleichterung
schien er keinen Wert auf eine Unterhaltung zu legen, während
sie eincheckten und durch die Zollkontrolle in den Warteraum
gingen. Er sah ziemlich missgelaunt aus, und Chris war froh,
dass sie sich hinter der Maske der umsichtigen Sekretärin
verstecken konnte.
Sie trug eines der Kostüme, die Luke für sie ausgesucht hatte:
eine lässig geschnittene lachsfarbene Jacke über einem weichen,
gleichfarbigen Rock und dazu eine cremefarbene Seidenbluse.
Sie wusste, dass diese unauffällige Eleganz ihr hervorragend
stand, doch Luke sagte nichts. Nachdem sie im Warteraum zwei
freie Plätze gefunden hatten, öffnete Luke seinen Aktenkoffer
und entnahm ihm einige Papiere, in die er sich vertiefte.
Sie betrachtete aus den Augenwinkeln seine finster
zusammengezogenen Brauen und seinen zusammengekniffenen
Mund. Luke wirkte hart und verschlossen, und wäre da nicht ihr
klopfendes Herz gewesen, sie hätte nicht geglaubt, dass dies
derselbe Mann war, der sie gestern Abend geküsst hatte.
Erinnerte er sich überhaupt daran? So, wie Chris ihn kannte,
erschien es ihr nicht unmöglich, dass er die ganze Sache völlig
aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte, sobald sie außer Sicht
gewesen war. Ihr erster Kuss damals hatte ihm nichts bedeutet,
warum sollte es jetzt anders sein? Während sie ihn betrachtete,
lag ein Ausdruck von Wehmut in ihren bernsteinfarbenen
Augen, ohne dass es ihr bewusst wurde. Falls er sich an den
Kuss erinnerte, dann hatte er ganz offensichtlich beschlossen,
ihn zu vergessen.
Nun, das geschah ihr nur recht.
"Ich nehme an, Sie erwarten von mir, dass ich mich für den
Kuss letzte Nacht entschuldige", sagte Luke plötzlich, ohne von
seinen Papieren aufzublicken.
Chris hatte sich gerade in dem angenehmen Bewusstsein
zurückgelehnt, dass die ganze Sache vergessen war. Nun fuhr
sie zusammen und warf ihm einen nicht sehr freundlichen Blick
zu. Sie hätte wissen sollen, dass man bei Luke immer auf der
Hut sein musste. Sein Talent, sie in schwachen Momenten zu
erwischen, war ihr noch nie ganz geheuer gewesen.
"Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", sagte sie. Obwohl
ihre Stimme sich sehr kühl und beherrscht anhörte, konnte sie es
nicht über sich bringen, ihn direkt anzusehen. Statt dessen
betrachtete sie bewusst gleichgültig die Passagiere, die sich vor
dem Duty-free-Shop drängten. "Ich habe es ohnehin nicht als
ernst empfunden."
Er hob schlagartig den Kopf. Obwohl sie nicht in seine
Richtung sah, konnte sie seinen durchdringenden Blick auf sich
gerichtet fühlen.
"Nein? Und wie haben Sie es dann empfunden?"
Warum kann er sich nicht damit zufrieden geben? dachte
Chris ärgerlich. Es sah ihm mal wieder ähnlich, die ganze
Geschichte auch noch analysieren zu wollen.
"Sie haben doch ganz offensichtlich nicht darüber
nachgedacht was Sie taten."
"Und woraus schließen Sie das?"
In seiner Stimme lag ein ganz leiser, amüsierter Unterton,
und Chris warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Doch er hatte
den Kopf schon wieder über seine Papiere gebeugt und kritzelte
mit seinem Bleistift etwas an den Rand eines Blattes, Sie konnte
nur sein markantes Profil erkennen.
Was bildete er sich eigentlich ein, sie auf diese Art
auszufragen? Noch dazu, wo er anscheinend nur halb bei der
Sache war? Chris' verletzter Stolz meldete sich, und sie
antwortete schärfer, als sie es zunächst beabsichtigt hatte.
"Das war doch ganz offensichtlich. Ich weiß, wie Ihre
Rechnung aussieht: Mädchen plus Abendessen plus Dunkelheit
gleich Kuss. Leider haben Sie vergessen, dass ich als Ihre
Sekretärin die Unbekannte in der Gleichung bin."
"Ich habe wirklich etwas vergessen, nämlich, dass sich hinter
Ihrem neuen, strahlenden Image immer noch die gleiche,
missbilligende Chris verbirgt", sagte Luke trocken, während er
eine letzte Bemerkung hinkritzelte und dann den Stift in seiner
Jackentasche verschwinden ließ.
"Es ist nicht mein neues Image. Es ist Ihres", betonte Chris
trotzig.
"Oh, ich weiß nicht", sagte Luke nachdenklich. Er legte die
Papiere in den Aktenkoffer zurück und ließ das Schloss
zuschnappen. "Ich habe eigentlich nur die wunderschöne,
reizvolle Frau in Ihnen entdeckt - die Sie sein könnten, wenn Sie
es nur zuließen."
Chris fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, und sie
suchte fieberhaft nach einer möglichst bissigen Antwort. Doch
es fiel ihr nichts ein, und sie konnte nur finster vor sich
hinstarren, während sie gegen die aufsteigende Wut ankämpfte.
Es war wirklich leichter mit Luke umzugehen, wenn er sich
unfreundlich benahm. "Ich will gar nicht schön und reizvoll
sein", sagte sie schließlich verzweifelt. "Weil ich nicht so bin."
"Sie waren so, als ich Sie letzte Nacht küsste."
"sie haben mich eben in einem schwachen Moment
erwischt", verteidigte Chris sich. Sie holte tief Luft und zwang
sich, Luke direkt in die grauen Augen zu sehen. "Gestern noch
haben Sie mir gesagt, wie erleichtert Sie seien, dass unser
Verhältnis sich auf das rein Geschäftliche beschränkt. Deshalb
wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich in Zukunft an Ihre Worte
erinnern würden. Halten Sie das nicht auch für vernünftig?"
"Sehr vernünftig", sagte Luke spöttisch. "Etwas anderes hätte
ich von einer vernünftigen Sekretärin wie Ihnen auch nicht
erwartet, Chris." Er warf einen Blick auf die Abflugtafel. Chris
war erleichtert, als er aufstand und damit ihre Diskussion
beendete. "Kommen Sie, unser Flug wird gleich aufgerufen."
Paris lag unter einem typischen, sanften blaugrauen Schleier,
als sie am Flughafen ein Taxi nahmen, das sie in die Innenstadt
brachte. Im "0asis Hotel" an der Rue du Faubourg-St.-Honore,
dem Stammhaus der Hotelkette Philippe Robards, waren
Zimmer für sie reserviert. Chris war überwältigt von der
unaufdringlichen Eleganz, die dort herrschte.
Während Luke sie beide in seiner üblichen, energischen Art
am Empfang anmeldete, sah sie sich in der beeindruckenden
Hotelhalle um. Wenn dies Philippe Robards Standard war, dann
hatte Luke recht gehabt, sie zu einem neuen Image zu
überreden.
Ein Page führte sie zu ihren Zimmern. Luke schien von der
luxuriösen Umgebung unbeeindruckt. Er gab Chris gerade fünf
Minuten Zeit, um sich ein wenig frisch zu machen, bevor sie
zum Treffen mit Philippe Robard aufbrachen.
"Hören Sie mir gut zu, Chris", sagte er, während sie vor dem
Hoteleingang auf ein Taxi warteten. "Ich möchte, dass Sie
liebenswürdig und charmant sind. Und dass Sie sich ja nicht
unterstehen, Robard über seine schlechten Manieren zu
belehren!"
"Das fiele mir nicht im Traum ein", sagte Chris beleidigt.
"Tatsächlich nicht?" stieß Luke hervor. "Lächeln Sie, und
seien Sie freundlich, mehr verlange ich nicht. Nun lassen Sie
sich mal anschauen ..." Er drehte sie zu sich herum und unterzog
sie einer kritischen Inspektion, von den glänzenden Haaren zu
den neuen, eleganten Schuhen. Die weichen Konturen ihres
Kostüms verliehen ihr eine Art lässiger Eleganz, und die sanfte
Farbe des Stoffs unterstrich ihren hellen Teint und ließ ihre
bernsteinfarbenen Augen noch dunkler erscheinen.
Chris machte sich schon auf eine kritische Bemerkung
gefasst doch Luke wandte sich wortlos ab, als das Taxi neben
ihnen hielt' "Sie sehen gut aus", sagte er schließlich nur.
Philippe Robard war ein zierlicher Mann um die sechzig und
hatte ein vornehmes, verschlossenes Gesicht. Er begrüßte sie
höflich und stellte ihnen seinen Sohn Jacques vor, der Chris mit
unverhohlener Bewunderung betrachtete. Jacques war sehr
attraktiv mit seiner olivefarbenen Haut und den schmeichelnden
dunklen Augen, und Chris konnte Lukes Abneigung fast
körperlich spüren Neben den beiden eher zierlichen Franzosen
wirkte er groß und hart wie Granit.
Nach dem einleitenden Austausch von Höflichkeiten ging
man sehr schnell zum Geschäft über. Schon nach kurzer Zeit
wurde klar, dass die Verhandlungen nicht leicht werden würden,
denn Philippe Robard war ein ebenso gewiefter Taktiker wie
Luke. Es wurde Französisch gesprochen, und das bedeutete,
dass Luke zwar alles verstehen und sich in einfachen Worten
selbst verständigen konnte, die Übersetzung seiner komplexen
Gedankengänge aber Chris überlassen musste.
Während sie Philippe und Jacques die Aufgabe und
Arbeitsweise von LPM erklärte, wurde Chris klar, dass es nicht
so einfach sein würde, einen Vertrag in dieser Größenordnung
abzuschließen. In Erinnerung an Lukes Ermahnungen tat sie ihr
Bestes, lächelte und ließ ihren Charme spielen, bis sich selbst
Philippes kühles Gesicht aufhellte. Jacques war offensichtlich
noch mehr von ihr beeindruckt. Er betrachtete sie ständig mit
seinen warm blickenden braunen Augen und erwiderte strahlend
ihr Lächeln.
Die ganze Zeit war Chris sich sehr bewusst, dass Luke dicht
neben ihr saß. Als er sich vorbeugte, um Philippe und Jacques
Fotos von den bekannteren Projekten zu zeigen, an denen LPM
beteiligt gewesen war, spürte sie seine unterdrückte
Anspannung, und sie fragte sich, wieviel ihm dieser Vertrag
wohl bedeutete. Obwohl er sehr überzeugend argumentierte,
kannte sie ihn inzwischen doch gut genug, um zu wissen, dass er
aus irgendeinem Grund ärgerlich war und das nur mühsam
unterdrückte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Warum war er wütend? Die Gespräche liefen bisher zu ihrer
vollsten Zufriedenheit, besser, als sie es sich vorgestellt hatten.
Als Luke eines Tages ins Büro kam, hielt Chris einen riesigen
Strauss roter Rosen in der Hand und war gerade dabei, den
dazugehörigen Umschlag zu öffnen.
"Wer hat Ihnen denn die geschickt?" fragte er mürrisch.
Chris zog eine Karte aus dem Umschlag. "Sie sind von
Jacques", sagte sie langsam, nachdem sie die Karte gelesen
hatte.
"Jacques! Was denkt er sich eigentlich, Ihnen einfach so
Blumen zu schicken?" Luke riss ihr die Karte aus der Hand.
"'Ich hoffe, Sie bald zu sehen'", las er laut vor, Abneigung in der
Stimme. "Hat er etwa vor, hierher zukommen?"
"Ich habe keine Ahnung", sagte Chris. "Am Telefon hat er
jedenfalls nichts davon gesagt, und wir sprechen ja recht oft
miteinander."
"Ich hoffe, Sie benutzen nicht das Bürotelefon, um Ihr
Liebesleben zu organisieren", erklärte Luke unfreundlich. "Ich
möchte nicht, dass meine Angestellten den ganzen Tag vom
Büro aus Privatgespräche führen."
Chris warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. "Sie wissen
sehr gut, dass ich ab und zu mit Jacques telefonieren muss, weil
er für den Vertragsinhalt verantwortlich ist. Schließlich
beschäftigen Sie mich ja auch deshalb, dass ich mit ihm auf
französisch über die Details spreche."
"Dagegen habe ich nichts - solange das das einzige ist,
worüber Sie mit ihm reden!" Luke ging in sein Büro und knallte
die Tür hinter sich zu.
Den Rest des Tages ließ er Chris immer wieder merken, dass
die Blumen ein rotes Tuch für ihn waren. Er war in einer
furchtbaren Laune und fand an allem, was sie tat, etwas
auszusetzen. Mehr als einmal brachte er sie an den Rand des
Wahnsinns, indem er die Pläne für eine bevorstehende
Geschä ftsreise erneut änderte, bis Chris sich nur noch mühsam
beherrschen konnte.
Doch es war ein wunderbarer, warmer Frühlingstag. Der
Himmel über London war wolkenlos, die Sonne schien durch
das Fenster direkt auf Chris' Schreibtisch, und in der Luft hing
der zarte Duft der Rosen. Trotz Lukes schlechter Laune ertappte
Chris sich dabei, wie sie leise vor sich hinsummte, während sie
einige Papiere durchsah.
"Weshalb sind Sie denn plötzlich so fröhlich?" fragte Luke
mürrisch. Ohne Vorwarnung war er aus seinem Büro
aufgetaucht und ging zu einem der Aktenschränke, in dem er
ungeduldig zwischen den Ordnern herumwühlte. "Ich nehme an,
Sie sind wegen der Rosen auf Ihrem Schreibtisch so gut
gelaunt?"
"Suchen Sie etwas Bestimmtes?" erkundigte Chris sich
liebenswürdig, ohne seine Frage zu beachten.
"Ich brauche den Ordner über die David Young GmbH. Sie
sollten diese Schränke wirklich mal in Ordnung bringen. Das ist
ja ein furchtbares Durcheinander!"
Die Ordner stehen alle an ihrem Platz. Sie suchen einfach im
falschen Regal." Chris stand auf und schob Luke entschlossen
zur Seite. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie die gesuchte
Akte gefunden. "Die Korrespondenz mit der David Young
GmbH steht hier", erklärte sie und zog einen dicken Ordner aus
dem Regal. "Ich gebe zu, er ist nicht leicht zu finden, weil er
irreführenderweise mit David Young GmbH' beschriftet ist."
Als Antwort auf ihren Sarkasmus erhielt sie einen finsteren
Blick von Luke. Er riss ihr die Akte aus der Hand, als das
Telefon klingelte.
Chris meldete sich. "Es ist für Sie", sagte sie zu Luke. "Helen
Slayne. Ich glaube, es handelt sich um eine private
Angelegenheit."
Luke nahm den Hörer entgegen, und seiner Miene war
anzusehen, dass Chris' Anspielung ihm nicht entgangen war.
"Ja, Helen, was gibt es ... Nein, ich kann nicht freundlicher sein.
Dazu habe ich zuviel zu tun." Offensichtlich bereute er, den
Anruf in Chris' Gegenwart angenommen zu haben, denn er
drehte sich um und senkte die Stimme. "Aber nein, wie kommst
du darauf, dass ich dich vernachlässige? Ich habe im Moment
nur an sehr viele Dinge zu denken."
Es entstand eine Pause. Chris hatte sich inzwischen
pflichtschuldigst wieder ihrer Arbeit zugewandt. Sie konnte sich
Helens einschmeichelnde Stimme nur zu gut vorstellen. Luke
betrachtete Chris misstrauisch über die Schulter, während er
lauschte. Als sein Blick auf die duftenden dunkelroten Rosen
fiel, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck.
"Na gut", sagte er schließlich. "Dann komm heute Mittag
vorbei. Ich lade dich zum Essen ein."
Er knallte den Hörer auf die Gabel. "Ich werde heute Mittag
außer Haus essen", sagte er überflüssigerweise und bedachte die
Rosen mit einem weiteren grimmigen Blick.
"Wie schön für Sie", erwiderte Chris freundlich. "Soll ich
einen Tisch reservieren lassen?"
An Lukes Wange zuckte ein kleiner Muskel, wie immer,
wenn er sich nur mühsam beherrschen konnte. "Das mache ich
schon selbst!" sagte er unfreundlich, stürmte in sein Büro und
knallte die Tür hinter sich zu.
Chris verdrehte die Augen zum Himmel. Heute konnte sie
ihm aber auch nichts recht machen! Es würde eine Erleichterung
sein, ihn für einige Stunden aus dem Haus zu haben.
Etwas später versuchte Chris gerade, einige Stenokürzel zu
entziffern, als Helen erschien. Wie immer sah sie
atemberaubend aus. Zu Leggings im Leopardenlook trug sie ein
enganliegendes, provozierend ausgeschnittenes Oberteil in
mattgoldener Farbe. Luke soll noch einmal wagen, mein
schwarzes Kleid als unanständig zu bezeichnen! dachte Chris
mit einem Anflug von Gereiztheit.
Helen hatte sich die Sonnenbrille über die Stirn geschoben,
und ihre schimmernde silberblonde Mähne aus dem Gesicht zu
halten. Ohne Chris eines Blicks zu würdigen, schwebte sie
schnurstracks auf Lukes Büro zu.
Einige Minuten später erschien sie wieder, zusammen mit
Luke der mürrisch vor sich hinstarrte. Er ging zu Chris hinüber,
um ihr die Nummer des Restaurants zu geben, in dem er zu
erreichen sein würde.
"Nun erzähl mir nicht, dass du schon wieder eine neue
Sekretärin hast, Liebling!" sagte Helen leichthin. Zum ersten
Mal schien sie Chris überhaupt wahrzunehmen. "Die letzte hat
es aber nicht sehr lange ausgehalten. Was tust du ihnen bloß
an?"
"Wieso eine neue Sekretärin?" fragte Luke gereizt, während
er immer noch in seinem Adressbuch nach der Nummer des
Restaurants suchte.
"Als ich letztes Mal hier war, saß da so ein unauffälliges,
missbilligend aussehendes weibliches Wesen."
"Dann muss es Chris gewesen sein. Niemand kann
missbilligender aussehen als sie!"
"Tatsächlich?" Helen verengte die grünen Augen, während
sie sich mit der Tatsache vertraut machte, dass Chris nicht ganz
so unauffällig aussah, wie sie sie in Erinnerung hatte. "Eine
ziemliche Verwandlung!" Das klang nicht gerade begeistert.
Chris presste die Lippen zusammen, während Helen sie einer
sorgfältigen Inspektion unterzog.
"Ich habe das Gefühl, Sie von irgendwoher zu kennen", sagte
Helen schließlich langsam.
Luke hatte die Nummer des Restaurants inzwischen auf einen
Zettel gekritzelt und steckte sein Adressbuch in die Innentasche
seiner Jacke zurück.
"Merkwürdig, der Gedanke ist mir auch schon gekommen",
bemerkte er nachdenklich. Chris hielt den Atem an, während
beide sie mit forschenden Blicken betrachteten.
"Vielleicht erinnert sie uns an jemand vom Fernsehen",
erklärte Luke nach einer Weile, und damit schien für ihn dieses
Thema erledigt zu sein.
"Da könntest du rechthaben", sagte Helen, aber es klang nicht
sehr überzeugt. "Denn ich kann mir absolut nicht vorstellen,
dass wir uns in den gleichen Kreisen bewegen."
Chris betrachtete sie kühl. "Wahrscheinlich komme ich Ihnen
bekannt vor, weil Sie mich schon einmal gesehen haben", sagte
sie kurz angebunden, in der Hoffnung, ihr gleichmütiger Ton
werde Helen vom tieferen Sinn ihrer Worte ablenken. "Luke
hatte recht. Ich war hier, als Sie das letzte Mal vorbeikamen."
"Das muss es wohl sein." Helen zuckte die Schultern. Und
als Luke ihr die Hand auf den Arm legte, verlor sie endgültig
das Interesse an Chris. "Lass uns endlich gehen", sagte er
ungeduldig.
Chris wartete, bis die beiden sich abgewandt hatten und auf
die Tür zugingen. Erst dann ließ sie sich aufatmend in den Stuhl
zurücksinken. Ausgerechnet in diesem Moment warf Helen ihr
über die Schulter einen Blick zu und kniff misstrauisch die
Augen zusammen, als sie die Erleichterung in Chris' Gesicht
sah.
Chris konnte nur hoffen, Luke und Helen würden beim Essen
bessere Gesprächsthemen haben als die Tatsache, dass die
Sekretärin ihnen merkwürdig bekannt vorkam. Wenn sie lange
genug nachdachten, würden sie sich möglicherweise erinnern,
und das war das letzte, was sie jetzt brauchen konnte!
Die nächsten Stunden vergingen in angespannter Nervosität.
Gegen zwei Uhr kam Luke zurück. Er sagte nichts, und Chris
atmete erleichtert auf, obwohl seine Laune sich nicht gebessert
hatte und er sie bis nach halb sieben im Büro festhielt.
Als Chris am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr in
ihrem Büro erschien, fand sie Luke vor, wie er die
Aktenschränke durchstöberte und etwas vor sich hinmurmelte.
Seine Laune hatte sich während des gestrigen Abends
anscheinend nicht verbessert.
Chris hielt es für das beste, ihn nicht weiter zu beachten. Sie
hängte ihren Mantel auf den Bügel und wünschte Luke einen
guten Morgen. Ihr Gruß wurde jedoch nicht erwidert. Wenn er
in einer solchen Laune war, fiel es ihr nicht schwer, sich selbst
zu überzeugen, dass ihre Verliebtheit nur Einbildung gewesen
war!
Als sie zu ihrem Schreibtisch ging, klingelte das Telefon.
Obwohl sie mühelos rechtzeitig hätte abnehmen können, kam
Luke ihr zuvor, als wollte er damit beweisen, dass sie ihre
Arbeit nicht vorbildlich erledigte.
"Ja?" knurrte er. Es war ihm anzumerken, dass er seine
schlechte Laune liebend gern an irgendeinem unschuldigen
Angestellten ausgelassen hätte. Doch um einen solchen schien
es sich am anderen Ende der Leitung nicht zu handeln. Amüsiert
bemerkte Chris wie Luke sich höflich zu klingen bemühte, als er
sagte: "Sehr gut, vielen Dank, und wie geht es Ihnen?"
Bestimmt ein Kunde, dachte Chris, während sie sich an ihren
Schreibtisch setzte und nach dem Terminkalender griff. Zu
anderen war er sonst nie so höflich.
Es entstand eine kurze Pause, und dann sagte Luke förmlich:
"Ja, sie ist hier." Er reichte ihr den Hörer. "Es ist Jacques
Robard, und er möchte gern meine liebenswürdige Assistentin
sprechen." Er betonte die letzten Worte spöttisch. "Ich nehme
an, damit sind Sie gemeint."
Strahlend lächelnd nahm Chris ihm den Hörer aus der Hand
und begrüßte Jacques sehr viel herzlicher, als sie es
normalerweise tat. Luke war so unhöflich, neben ihrem
Schreibtisch stehen zubleiben. Und obwohl er so tat, als
beschäftigte er sich mit einem Aktenordner, hatte er ganz
offensichtlich die Ohren gespitzt. Chris sprach sehr schnell
französisch, doch sie bezweifelte nicht, dass Luke dem
Gespräch zumindest in großen Zügen folgen konnte.
"Also, wann kommt er nach London?" fragte Luke, kaum
dass sie den Hörer aufgelegt hatte.
"Oh, ist Ihnen das entgangen?" erkundigte Chris sich
honigsüß. "Entschuldigen Sie, ich hätte vielleicht doch etwas
langsamer sprechen sollen!"
Funken schienen zu sprühen, als sie seinem Blick begegnete.
Seine schiefergrauen Augen hatten einen harten Ausdruck, und
ihre blitzten goldbraun, wie immer, wenn sie ärgerlich war.
"Und Sie werden mit ihm essen gehen?" Das war eher eine
Feststellung als eine Frage.
"Ja. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?"
Luke stieß einen unmissverständlichen Laut aus. "Kommt er
auch ins Büro?"
"Davon hat er nichts gesagt. Wollen Sie denn etwas mit ihm
besprechen?"
"Ist es so unwahrscheinlich, dass auch ich eventuell einige
Dinge mit ihm bereden möchte?" erkundigte Luke sich
missmutig.
"Dann werde ich noch einmal anrufen und einen Termin mit
ihm vereinbaren." Chris hatte den Hörer schon in der Hand und
wollte gerade die Nummer eintippen, als Luke sie mit einer
gereizten Geste unterbrach. "Ach, lassen Sie das! Wenn er schon
wie ein liebeskranker Kater hinter Ihnen herreist, wird er sich
wohl kaum mit Geschäften abgeben wollen."
Nun, tatsächlich kommt er wegen einer ganz anderen Sache
nach London", erwiderte Chris kalt.
Luke schnaubte wütend. "Das sagt er!" Er warf einen Blick
auf den Blumenstrauß, der immer noch auf ihrem Schreibtisch
stand. Erst schickt er Ihnen Rosen, und dann lädt er Sie zum
Essen ein. Es würde mich sehr wundern, wenn dahinter nicht
noch andere Absichten steckten! Was für Geschäfte könnte er
sonst in England abzuwickeln haben?"
"Ich glaube, Sie verkennen die Situation", entgegnete Chris
und betrachtete Luke kühl. "Die französischen Männer sind
Frauen gegenüber eben sehr charmant - was man von den
meisten Engländern nicht gerade behaupten kann."
Luke warf ihr einen hinterhältigen Blick zu. "Eigentlich gut,
dass Sie mich daran erinnern. Ich finde, ich könnte Helen und
Lynette auch wieder einmal mit Blumen überraschen." Er klang
gleichmütig, doch Chris wusste, dass er sie damit provozieren
wollte. "Würden Sie so freundlich sein, beiden einen Strauss
zuschicken zu lassen?"
"Was - beiden?"
"Warum nicht?" erwiderte er zynisch. "Sie werden sich
darüber freuen, und keine von beiden braucht zu wissen, dass sie
nicht die einzige ist."
Chris machte sich auf ihrem Block sorgfältig einige Notizen.
Sie war entschlossen, sich von der Tatsache, dass Luke anderen
Mädchen Blumen schickte, nicht aus dem Gleichgewicht
bringen zu lassen.
"Hätten Sie gern eine bestimmte Art von Blumen?"
erkundigte sie sich sachlich.
"Ach, ich weiß nicht." Luke hob ungeduldig die Schultern.
"Es müssen jedenfalls große, prächtige Sträuße sein. Die
Auswahl überlasse ich Ihnen."
"Ich finde diese riesigen Bouquets allerdings eher vulgär",
erklärte Chris missbilligend. "Ein einfacher Strauss Tulpen ist
doch viel romantischer, besonders, wenn er persönlich
überbracht wird."
"Manchmal sind Sie wirklich komisch, Chris!" sagte Luke,
und eine Spur von Heiterkeit lag in seiner Stimme. "Dennoch
denke ich, dass ‚vulgäre' Blumensträuße für Helen und Lynette
sehr geeignet sind." Wieder betrachtete er Jacques' Rosen, und
seine Miene verfinsterte sich. "Schicken Sie ihnen jeweils ein
Dutzend Rosen "
"Möchten Sie eine Nachricht hinzufügen?" erkundigte Chris
sich mit honigsüßer Stimme. "Oder soll ich mir einen passenden
Text für die Karten ausdenken?"
"Mein Name genügt", sagte Luke boshaft.
"Sehr romantisch", murmelte Chris, als er sich abwandte.
"Ich bin eben nicht romantisch", warf er über die Schulter
zurück, während er auf die Tür seines Büros zustürmte. "Und
Helen und Lynette auch nicht."
"Warum schicken Sie ihnen dann Blumen?"
"Damit sie etwas zum Vorzeigen haben, das ist alles. Und
solange es sich dabei um etwas handelt, das mit Geld zu kaufen
ist, tue ich ihnen gern den Gefallen!"
Nein, Luke war bestimmt nicht der Mann, in den sich eine
Frau verlieben sollte.
Während Chris mit dem Floristen telefonierte, wurde ihr die
Absurdität ihrer Situation erst richtig bewusst. Sie bestellte
Blumen für die Freundinnen des Mannes, den sie hoffnungslos
liebte. Hoffnungslos, weil er ihre Liebe nicht erwiderte und es
auch niemals tun würde.
Chris erwachte am nächsten Morgen in deprimierter
Stimmung, was ganz ungewöhnlich für sie war. Nach dem
Duschen kochte sie sich einen starken Kaffee, essen mochte sie
nichts. Als es an der Wohnungstür klingelte, zog sie den
Bademantel enger um die Schultern und eilte in den Flur.
Bestimmt war es der Briefträger mit etwas, das zu groß war, um
durch den Briefschlitz zu passen.
Doch es stand niemand vor der Tür, als sie öffnete. Verwirrt
sah Chris den Korridor entlang, bis ihr Blick schließlich auf die
Türschwelle fiel. Dort lag ein großer Strauss rosafarbener
Tulpen.
Langsam hob Chris die Blumen auf. Sie konnte keine
Nachricht entdecken.
Was hatte sie gestern gesagt? Ein einfacher Tulpenstrauß ist
doch viel romantischer. Nachdem sie die Tür hinter sich
geschlossen hatte, verbarg sie ihr Gesicht in den duftenden
Blüten, und ihr Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln.
Die Blumen konnten nur von Luke sein. Plötzlich schlug ihr das
Herz bis zum Hals, obwohl sie sich zu beherrschen versuchte.
"Ich bin eben nicht romantisch" hatte er gesagt - doch diese
Blumen sprachen eine andere Sprache. Natürlich konnte es auch
nur eine nette Geste von ihm sein, um ihr zu verstehen zu geben,
dass er ihre harte Arbeit schätzte und anerkannte. Ja, bestimmt
war es so. Chris stellte die Tulpen in eine Glasvase und trat
einen Schritt zurück, um sie noch einmal zu bewundern. Es
würde Luke sehr ähnlich sehen, sie auf diese Art aus dem
Gleichgewicht zu bringen, anstatt ihr persönlich ein
Kompliment zu machen! Er war eben ein Mann, der nicht viele
Worte machte.
Auf dem Weg zur Arbeit ließ der Gedanke an die Blumen ihr
keine Ruhe. Sollte sie einfach auf Luke zugehen und ihm dafür
danken? Oder erwartete er, dass sie so tat, als wisse sie nicht,
wer ihr den Strauss geschickt hatte?
Die Lösung dieses Problems wurde ihr aus der Hand
genommen, denn Luke war den ganzen Morgen außer Haus.
Und als er nachmittags ins Büro zurückkehrte, hatte er so
schlechte Laune, dass Chris es vorzog, nur das Nötigste mit ihm
zu reden. Nachdem er sie zum viertenmal wegen einer
Geringfügigkeit angeschrieen hatte, begann sie sich zu fragen,
ob sie sich nicht doch getäuscht hatte. Auf jeden Fall war sie
froh, dass sie ihn nicht auf die Blumen angesprochen hatte.
"Ich nehme an, Sie wollen heute früh gehen, wo Sie doch mit
Ihrem Franzosen verabredet sind?" fragte Luke mürrisch, als sie
ihm einige Briefe zur Unterschrift vorlegte.
"Ich brauche nicht unbedingt früh zu gehen, aber zumindest
heute möchte ich keine Überstunden machen." Chris erwiderte
ruhig seinen vorwurfsvollen Blick.
"Das klingt, als wären Sie eine Märtyrerin. Sie tun ja gerade
so, als hielte ich Sie vierundzwanzig Stunden am Tag an Ihrem
Schreibtisch fest!"
"Nun, ich komme selten vor halb sieben aus dem Büro",
erklärte Chris, ohne sich von ihm einschüchtern zu lassen.
Luke spielte geistesabwesend mit seinem Bleistift. "Wohin
hat er Sie denn eingeladen?"
"Er kennt da ein Restaurant irgendwo in Soho - ich weiß
nicht genau, wo es ist."
"Jacques ist genau der Typ, der solche Restaurants kennt!"
Luke stieß einen verächtlichen Laut aus und betrachtete sie dann
misstrauisch. "Und was werden Sie anziehen? Etwa wieder das
schwarze Kleid?"
"Ich muss gestehen, darüber habe ich mir noch keine
Gedanken gemacht", erwiderte Chris kühl. Warum fragte er sie
so aus? Was konnte ihm ihre Verabredung schon bedeuten? Er
hatte sie gebeten, für ihn einen Tisch in einem Restaurant zu
reservieren, also hatte er offensichtlich selbst Pläne für diesen
Abend.
Im Lauf des Tages hatte sich ihre Gereiztheit gesteigert, und
inzwischen erschien ihr ihre anfängliche Begeisterung über die
Blumen schon lächerlich. Selbst wenn Luke sie geschickt hatte,
hatte er ganz bestimmt keine romantischen Gefühle gehegt, wie
sie im ersten Moment angenommen hatte. Er war viel zu
beschäftigt, sich mit Helen oder Lynette oder einem der anderen
Mädchen zu amüsieren, die ständig anriefen und sie von der
Arbeit abhielten, weil sie unbedingt Nachrichten hinterlassen
wollten.
"Holt er Sie von zu Hause ab?" Für Luke war das Thema
noch nicht erledigt.
Chris seufzte erbittert. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, er
solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, doch
das würde seine Neugier erst recht anstacheln. "Ich werde ihn
wahrscheinlich in der Stadt treffen", sagte sie resigniert. "Er hat
keinen Wagen hier, und es wäre für ihn sehr umständlich, zu
meiner Wohnung zu kommen. Ich wohne ein wenig außerhalb."
"So weit draußen ist es auch nicht", widersprach Luke und
schwieg unvermittelt. Offensichtlich war ihm bewusst
geworden, dass er sich damit verraten hatte.
"Nanu, woher wissen Sie denn, wo ich wohne?" erkundigte
Chris sich kühl und zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Doch
insgeheim konnte sie nicht verhindern, dass eine leise Hoffnung
in ihr aufkeimte.
"Die Adresse steht schließlich in Ihrem Lebenslauf", brauste
Luke auf, doch gleich darauf grinste er verlegen.
Und wie er so lächelte, schmolz Chris' kühle Überlegenheit
dahin wie Schnee in der Sonne. Trotz ihrer festen Absicht, nicht
zu schnell aufzugeben, musste sie wider Willen auch lächeln.
"Vielen Dank für die Blumen", sagte sie schließlich. "Sie sind
wunderschön."
"Nun, ich finde, sie sehen nicht nach sehr viel aus", erwiderte
Luke brummig, während er in den Papieren auf seinem
Schreibtisch herumstöberte. "Ich verstehe nicht, wie jemand so
etwas einem schönen, gebundenen Strauss vorziehen kann."
Chris fragte sich, ob sie ihm sagen sollte, dass sie seinem
Geschenk nicht allzu viel Aufmerksamkeit beimaß. Vielleicht
erwartete er ja etwas in der Art von ihr.
"Dann habe ich wohl einen merkwürdigen Geschmack", sagte
sie so gleichmütig, wie es ihr möglich war. "Und wie ist es mit
den Rosen? Hatten sie den gewünschten Erfolg?"
"Ich nehme an, sie wurden mit Entzückensschreien begrüßt",
entgegnete Luke gleichgültig und sah zu ihr auf. Zu dem
zartgrünen Pullover, den sie auch in Paris angehabt hatte, trug
sie einen langen, enggeschnittenen schwarzen Rock, der sie kühl
und beherrscht aussehen ließ. "Bei Ihnen kann ich mir das nicht
vorstellen, oder irre ich mich?"
Nein, aber mir haben die Tulpen sicher besser gefallen."
"Wirklich?"
"Wirklich", versicherte sie ihm.
" Chris ..." begann Luke und wollte gerade aufstehen, als
plötzlich das Telefon klingelte. Mit einem gereizten Ausruf griff
er nach dem Hörer. Nach seinen ersten Worten nutzte Chris die
Gelegenheit, um sich davonzustehlen. Sie hatte genug gehört,
um zu wissen, dass Helen am anderen Ende sein musste.
Lukes unvermittelte Stimmungsumschwünge brachten sie aus
dem Gleichgewicht. Erst war er unverschämt, schroff und
zynisch, und im nächsten Moment sah er ihr tief in die Augen,
so dass sie hätte schwören könne n, dass sein Lächeln allein für
sie bestimmt war.
Fall nicht noch einmal auf ihn herein, Chris, sagte sie sich
entschlossen. Sie hatte sich doch gerade damit abgefunden, nur
seine Sekretärin zu sein - sie durfte sich nicht wieder in ihn
verlieben. Auf dem Heimweg im Bus zählte sie im stillen immer
wieder Lukes sämtliche Fehler auf, als könnte sie sich auf diese
Art gegen seine gefährliche Anziehungskraft schützen. Warum
war er nur nicht ständig unverschämt und unfreundlich? Dann
wäre alles einfacher.
Sie versuchte, ihre Gedanken auf den bevorstehenden Abend
zu richten. Doch als sie die Wohnungstür aufschloss, fiel ihr
Blick als erstes auf die Tulpen, deren Blüten sich schon zu
öffnen begannen. Im Vorübergehen berührte Chris sie sanft mit
der Hand. Wie sie diese klaren, einfachen Linien liebte. Tulpen
waren viel schöner als Rosen.
Jacques zuliebe machte Chris sich sehr sorgfältig zurecht. Als
sie den Kleiderschrank öffnete, fiel ihr Blick zuerst auf das
schwarze Kleid, aber dann entschied sie sich doch für das
jadegrüne. Das schwarze Kleid war für sie untrennbar mit Luke
und jenem unvergesslichen Spaziergang durch die dunklen,
stillen Strassen von Paris verbunden.
Jacques freute sich sichtlich, sie zu sehen, und ließ all seinen
französischen Charme spielen. Chr is fand ihn sehr
liebenswürdig und unterhaltsam, doch sie ertappte sich dabei,
dass ihre Gedanken ständig abschweiften und um Luke kreisten.
Sie fragte sich, wo er in diesem Moment wohl sein mochte, mit
wem er zusammen war was er tat. Und sie vermisste seine
schroffe, unverschämte Art schmerzlich.
Sei keine Närrin, befahl sie sich, während sie lächelnd vorgab
Jacques' amüsantem Geplauder zuzuhören. Warum sollte sie
Luke vermissen? Erst vor wenigen Stunden hatte sie ihn
gesehen, und morgen würde sie noch la nge genug mit ihm
Zusammensein. Wahrscheinlich würde er ohnehin wieder
schlechte Laune haben und sie nur anschreien.
Und dennoch konnte sie es kaum erwarten, dass der Abend
vorüber war.
"Wie geht es Luke?" erkundigte Jacques sich plötzlich.
Luke ist unmöglich. Unwiderstehlich. "Es geht ihm gut",
sagte sie laut.
"Er klang nicht sehr begeistert, als ich am Telefon sagte, dass
ich Sie gern zum Essen ausführen würde. Um ehrlich zu sein, es
kam mir fast vor, als wäre er ein wenig eifersüchtig, oder?"
Eine leichte Röte überzog Chris' Wangen. "0 nein. Er kann es
nur nicht leiden, wenn man Geschäftliches und Privates
miteinander verbindet."
"Und dabei tut er es selbst die ganze Zeit - indem er mit
Ihnen zusammenarbeitet!" erklärte Jacques galant. "Er ist
wirklich ein merkwürdiger Mann!"
Chris fuhr mit einem Finger am Rand ihres Glases entlang.
"Er ist eben - Luke."
Während sie starr in ihr Weinglas blickte, stieg sein Bild vor
ihr auf: die kühlen grauen Augen, die von einem Moment auf
den anderen vor Lachen sprühten, der eigensinnige Mund, der
sich zu einem warmen, gefährlich charmanten Lächeln verzog,
die starken Hände, deren leiseste Berührung ihren Puls in
ungeahnte Höhen schnellen ließ.
Jacques betrachtete sie nachdenklich, ein wenig mit
traurigem Lächeln. "Und Sie sind in ihn verliebt", sagte er
geradeheraus.
"Ja", gab sie zu.
9. KAPITEL
"Das war der letzte Brief für heute morgen." Luke lehnte sich
in seinen Stuhl zurück und betrachtete Chris, die mit ihrem
Stenoblock vor seinem Schreibtisch saß, "Nun, haben Sie und
Jacques sich gestern Abend wenigstens richtig amüsiert?"
"Wir haben einen sehr netten Abend verbracht, vielen Dank."
Chris zog es vor, seinen sarkastischen Unterton zu überhören,
und stand auf. Sie hatte nicht die Absicht, Luke zu erzählen,
dass sie den ganzen Abend nur an ihn gedacht hatte.
"Sehr nett? Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?"
erkundigte Luke sich spöttisch. "Dann war es bestimmt sehr
langweilig!"
"Überhaupt nicht. Es war . .. sehr angenehm." "Angenehm!"
Luke legte den Kopf zurück und lachte laut heraus. "Das ist ja
noch schlimmer." Er lehnte sich über den Schreibtisch zu Chris
hinüber. "Wenn Sie gestern mit mir ausgegangen wären, hätten
Sie einen wilden, aufregenden, unvergesslichen Abend erlebt -
alles andere als nur angenehm!"
Chris hielt ihren Stenoblock dicht gegen die Brust gepresst,
während sie sich bemühte, die Beherrschung zu wahren.
"Vielleicht hätte mir das ja gar nicht gefallen."
"Warum nicht? Hätten Sie sich etwa nicht getraut? So, wie
Sie sich in Paris benommen haben, kann ich das kaum glauben!"
Der spöttische Unterton in seiner Stimme tat ihr weh. Er hatte
also wahrscheinlich mit Helen einen aufregenden Abend
verbracht. Und er dachte offensichtlich, dass sie, Chris, im
Vergleich zu Helen langweilig und nichtssagend war.
"Es kommt immer darauf an, mit wem man den Abend
verbringt, finden Sie nicht?" erwiderte sie kalt, "Das Wo oder
Wie spielt für mich nur eine untergeordnete Rolle. Die
Hauptsache ist doch, dass man mit jemandem zusammen ist, mit
dem man sich versteht. Dann hat man es auch nicht nötig, in alle
Welt hinauszuposaunen, was für einen unvergesslichen Abend
man erlebt hat."
Lukes Miene verhärtete sich. "Wie recht Sie haben!" sagte er
und drehte ihr den Rücken zu. Für ihn schien das Gespräch
damit beendet zu sein.
Den Rest des Tages wirkte er verschlossen und in sich
gekehrt Chris hätte eigentlich froh sein sollen, weil es ihr
gelungen war ihre Gefühle so gut vor ihm zu verbergen. Doch
statt dessen fühlte sie sich elend und unruhig. Als Serena anrief
und vorschlug abends gemeinsam ins Kino zu gehen, sagte sie
bereitwillig zu. Der Film war in den Kritiken als oberflächlich
verrissen worden, und seichte Unterhaltung war genau das, was
sie jetzt brauchte.
Trotz Chris' Bemühungen, heiter und gesprächig zu wirken
merkte Serena sofort, dass mit ihrer Freundin etwas nicht in
Ordnung war, und es dauerte nicht lange, bis sie die Wahrheit
herausgefunden hatte. Chris' Beteuerungen, es gehe ihr
ausgezeichnet, wischte sie mit einer Handbewegung beiseite,
und schließlich gab Chris auf.
"Es ist wegen Luke", bekannte sie, während sie sich in die
Schlange vor der Kinokasse einreihten.
"Ich wusste es!" sagte Serena triumphierend. "Du hast dich in
ihn verliebt, stimmt' s?"
Chris nickte schuldbewusst.
"Das war unvermeidlich", erklärte Serena sachlich. "Ich habe
mir gleich so etwas gedacht, als du ständig davon sprachst, wie
schwierig er sei. Damit hast du dich verraten. Nicht, dass ich dir
die Schuld gebe. Er ist wirklich sehr attraktiv, selbst wenn er so
schrecklich ist, wie du immer behauptest."
"Er ist nicht schrecklich!" Instinktiv sprang Chris für Luke in
die Bresche. Dann besann sie sich. "Na ja, zumindest nicht die
ganze Zeit."
Serena betrachtete sie schelmisch von der Seite her. "Hast du
mir nicht erzählt, er sei unfreundlich und arrogant und unhöflich
und ausgesprochen unangenehm?" erkundigte sie sich
unschuldig, in Anspielung auf die unzähligen Telefonate, die sie
und Chris in den letzten Wochen über dieses Thema geführt
hatten. "Ganz abgesehen davon, dass er auch noch ein Tyrann
und völlig unvernünftig ist!"
"Das stimmt, aber . .." Chris schwieg. Es war unmöglich,
ihrer Freundin alles zu erklären.
Serena verdrehte die Augen. "O Chris, dich hat es
anscheinend schwer erwischt!"
"Na ja", sagte Chris resigniert, "da hast du wohl recht."
Serena strich ihr mitfühlend über den Arm. "Und was
empfindet er für dich?"
"Ich weiß es nicht." Chris steckte die Hände in die Taschen
ihrer Jacke und blickte missmutig zu Boden. "Manchmal denke
ich, er findet mich attraktiv, doch im nächsten Moment si t er
wieder unfreundlich zu mir. Wenn er an mir interessiert wäre,
würde er doch sicher nicht mit Helen und Lynette ausgehen,
oder?"
"Vielleicht doch, wenn er sich nämlich gegen seine Gefühle
wehrt", sagte Serena geheimnisvoll. "Er benimmt sich furchtbar
besitzergreifend, was dich angeht, nicht wahr? Denk doch nur an
den Aufstand, den er gemacht hat, weil du mit Jacques
ausgegangen bist! Also auf mich wirkt das, als wäre er
eifersüchtig."
"Das würdest du nicht sagen, wenn du ihn heute morgen
gesehen hättest. Er war einfach unmöglich!" erklärte Chris
deprimiert. "Ich habe den Fehler begangen, ihm zu erzählen,
dass ich den Abend mit Jacques sehr nett fand. Daraufhin hat
Luke nur verächtlich gelacht und durchblicken lassen, was für
aufregende, wilde Stunden er mit Helen verbracht hat!"
"Dann ist er tatsächlich eifersüchtig!" sagte Serena
entschieden. "Warum erzählst du ihm nicht von deinen
Gefühlen?"
"Nein!" Allein der Gedanke ließ Chris erschauern. "Das kann
ich nicht tun." "Warum nicht?"
"An einer festen Beziehung ist er nicht interessiert, soviel
habe ich schon herausgefunden. Er hasst emotionale Frauen, die
sich an ihn klammern."
"Aber das würdest du doch gar nicht tun", erklärte Serena
überzeugt. "Du bist nicht der Typ dafür."
"Nein, aber ich will auch keine lockere Beziehung." Chris
hob den Kopf und sah ihrer Freundin direkt in die Augen. "Ich
liebe ihn, Serena. So etwas habe ich noch nie empfunden. Wenn
ich wüsste, dass es nur eine vorübergehende Laune ist, würde
ich versuchen, über dieses Gefühl einfach zu lachen. Dann
könnte ich mich sogar auf eine kurze Affäre mit ihm einlassen,
denn an mehr ist er ohnehin nicht interessiert. Aber wie die
Dinge stehen, ist das nicht genug für mich."
Sie schwieg. Inzwischen hatten sie sich in der Schlange fast
bis an die Kasse vorgearbeitet, und Chris' Blick fiel auf ein
Szenenfoto aus dem Film. Der Held und die Heldin umarmten
sich leidenschaftlich. Das Foto erinnerte sie an den Abend, an
dem Luke sie geküsst hatte. "Ich liebe alles an ihm", fuhr sie
nachdenklich fort "Ich liebe das Schwierige, Unangenehme an
ihm genauso wie die Art, wie er mich manchmal ansieht, oder
die Gefühle, die er in mir erweckt. Aber wenn ich ihn schon
nicht ganz haben kann, dann behalte ich meine Gefühle lieber
für mich und bin weiter nichts als seine Sekretärin. Auf die
Weise wird jedenfalls keiner von uns beiden verletzt."
Das war leichter gesagt als getan. Im Lauf der Zeit fiel es
Chris immer schwerer, ihre Gefühle hinter der Maske der
beherrschten Sekretärin zu verbergen. Sie beobachtete Luke mit
einer neuen, gesteigerten Empfindsamkeit und zuckte zurück,
sobald er sie versehentlich einmal streifte, während er nach
einem Ordner griff oder sich neben ihr über den Terminkalender
beugte.
Sie hatte ständig Angst, dass er sie durchschaute. Die
gespannte Atmosphäre zwischen ihnen, die sie einerseits erregte,
andererseits auch verärgert hatte, war allmählich ganz
verschwunden. Statt der früheren, oft hitzigen Wortwechsel
schleppten sich ihre Gespräche jetzt dahin, und es entstanden
immer öfter lange, peinliche Pausen, die sie mit nichtssagender
Konversation überbrücken mussten. Eigentlich unterhielten sie
sich nur noch über geschäftliche Dinge und vermieden es, sich
in die Augen zu sehen.
Chris fühlte sich merkwürdig einsam. Luke war in sich
gekehrt, unerreichbarer denn je, und sie vermisste ihre
Wortgefechte mehr, als sie es je für möglich gehalten hatte. Sie
vermisste sogar seine Unverschämtheiten.
Wollte er sie durch sein Verhalten abschrecken? Sie fürchtete
sich vor der Reise nach Paris. Mit den Robards war vereinbart
worden, dass der Vertrag am folgenden Dienstagmorgen
unterzeichnet werden sollte. Luke hatte vorgeschlagen, schon
am Montagabend nach Paris zu fliegen, um pünktlich dort sein
zu können. Und er hatte sie sogar gefragt, ob sie damit
einverstanden sei! Chris hatte widerwillig zugestimmt. Mit Paris
verbanden sich für sie zu viele Erinnerungen. Sie wollte nicht
dorthin zurück, nicht mit diesem Fremden an ihrer Seite.
Die Woche schleppte sich endlos dahin. Chris wusste nicht,
ob sie sich auf das Wochenende freuen oder sich davor fürchten
sollte, weil es die Reise nach Paris näher brachte. Es war nur
gut, dass Michelle für das Wochenende zu Be such kommen
sollte. Chris wollte mit ihr viel unternehmen, nicht nur, um ihrer
Nichte etwas zu bieten, sondern vor allem, um sich selbst
abzulenken. Nachdem sie Michelle dann am Sonntagabend
wieder ins Internat gebracht hatte war sie völlig erschöpft, hatte
sich aber wieder unter Kontrolle.
Nach einem langen, schweigsamen Tag im Büro erschien es
ihr unwirklich, dass Luke auf der Fahrt zum Flughafen so dicht
neben ihr saß. Chris blickte aus dem Fenster, während er den
Wagen durch den dichten Nachmittagsverkehr auf der Autobahn
in Richtung Heathrow lenkte.
Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde sie sich nach einer
neuen Stelle umsehen müssen. Der Gedanke jedoch, Luke zu
verlassen, brach ihr fast das Herz. Doch sie spürte, dass er sie
absichtlich auf Distanz hielt, als wollte er sie warnen, zu viele
Gefühle in ihn zu investieren. Es war demütigend, dass ihre
Empfindungen so leicht zu erraten waren. Sie hatte sich so
bemüht, ihm vorzutäuschen, dass der plötzliche Umschwung in
seinem Verhalten sie nicht berührte.
Es war nach sieben Uhr abends, als sie im Hotel ankamen.
"Ich nehme an, Sie haben sich für heute Abend mit Jacques
verabredet?" erkundigte Luke sich gleichgültig, während er sie
ins Gästebuch eintrug.
"Jacques?" wiederholte Chris verblüfft. Sie war so in Lukes
Anblick versunken gewesen, dass sie sich für einen Moment
kaum erinnern konnte, wer Jacques eigentlich war. "Nein."
Luke warf ihr einen Blick zu. Bildete sie es sich nur ein, oder
hatte sich seine Miene ein wenig aufgehellt?
"Dann können wir ja zusammen essen gehen", schlug er vor,
doch seine Stimme war derart ausdruckslos, dass Chris sicher
war, ihn missverstanden zu haben.
"In Ordnung", erwiderte sie ebenso ausdruckslos.
"Sollen wir uns in einer halben Stunde hier unten treffen?"
"Einverstanden."
Es ist einfach schrecklich, dachte sie, während sie sich
schnell das Gesicht wusch und mit dem Kamm durch die Haare
fuhr. Alles war so ganz anders als bei ihrem letzten Aufenthalt
in Paris. Damals hatte sie sich erregt und lebendig gefühlt, selbst
wenn sie sich stritten.
Ihr Blick fiel auf das schwarze Kleid, das zuoberst in ihrem
Koffer lag. Als sie es das letzte Mal trug, war sie so wütend auf
Luke gewesen! Sie wusste selbst nicht, warum sie es wieder
mitgenommen hatte. Irgendwie hatte sie es nicht über sich
gebracht, es zu Hause zu lassen.
Jetzt nahm sie es nachdenklich aus dem Koffer. Es war
wirklich ein wunderschönes Kleid. Wenn sie es trug, fühlte sie
sich sicher und selbstbewusst. Kurz entschlossen streifte Chris
ihr Reisekostüm ab und schlüpfte in das Kleid. Wenn sie jemals
etwas mehr Selbstvertrauen gebraucht hatte, dann war es jetzt!
Sie schminkte sich sehr dezent. In letzter Sekunde fiel ihr die
Brosche ein, die Luke ihr geschenkt hatte, und sie steckte sie an,
um damit den Schlitz im Ausschnitt zusammenzuhalten. Sie war
zwar nicht in solcher Hochstimmung wie beim letzten Mal, als
sie dieses Kleid getragen hatte, doch immerhin fühlte sie sich
viel besser als bei ihrer Ankunft.
Mit neuem Vertrauen in ihre Fähigkeit, alle Empfindungen
vor Luke zu verbergen, machte Chris sich auf den Weg nach
unten. Es würde ihnen sicher gelingen, wieder zu der
freundschaftlichen Beziehung zurückzukehren, die zwischen
ihnen herrschte, bevor ihre Gefühle ihr diesen dummen Streich
spielten.
Luke wartete in der Hotelhalle auf sie. In seinem grauen
Anzug wirkte er noch distanzierter und verschlossener. Chris
blieb vor dem Fahrstuhl kurz stehen, als sie ihn dort stehen sah,
und plötzlich überkam sie das Gefühl, ihn schützen zu müssen.
Warum war er nur so entschlossen, sich vo n niemandem
abhängig zu machen! Als habe er ihren Blick gespürt, drehte
Luke sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in
seinen Augen auf, als er sah, dass sie das schwarze Kleid trug.
Doch gleich darauf fiel schon wieder die gewohnte starre Maske
über sein Gesicht.
Seine offensichtliche Gleichgültigkeit ärgerte Chris, und sie
hob eigensinnig das Kinn und ging ohne Eile auf ihn zu.
"Ich habe keinen Tisch reservieren lassen", sagte Luke, als
sie vor ihm stand. "Ich dachte, wir könnten vielleicht einfach
losgehen und sehen, was wir finden. Ein wenig frische Luft
kann ich ohnehin gut gebrauchen."
Chris willigte gleichgültig ein. Als sie neben Luke die Halle
durchquerte und auf die Strasse hinausging, achtete sie darauf,
mindestens einen halben Meter Abstand zwischen ihm und ihr
zu halten. Es wäre eine zu große Versuchung, ihn dicht neben
sich zu spüren.
Lichter blitzten auf und verschwammen ineinander, während
sie an Neonreklamen und grellbunten Schildern von Cafes
vorbeigingen. Die Fahrer der vor den Ampeln wartenden Autos
hupten ungeduldig, Passanten hasteten vorbei. Chris und Luke
schienen die einzigen Menschen in Paris zu sein, die es nicht
eilig hatten, an ihren Bestimmungsort zu kommen.
Die ganze Zeit vermieden sie es, sich anzusehen. Am Place
de l'Opera fasste Luke Chris plötzlich am Arm und hielt sie
zurück, als sie gerade vom Bordstein auf die Strasse treten
wollte. Chris, warum sind Sie so?" fragte er.
Chris betrachtete seine Hand auf ihrem Arm, bevor sie ihm
ins Gesicht sah. "Wie bin ich denn?"
Als würde ihm erst jetzt bewusst werden, dass er sie immer
noch festhielt, ließ Luke die Hände sinken und vergrub sie in die
Taschen seines Anzugs. "Sie sind in letzter Zeit so kühl und
zurückhaltend", murmelte er.
"Ich bin zurückhaltend?" Chris betrachtete ihn erstaunt.
"Aber Sie sind doch derjenige, der sich zurückgezogen hat!"
"Nein, das habe ich mich nicht!"
"Sie haben mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass Sie
nur an der Arbeit interessiert sind", sagte sie. "Sie ersticken
jeden Versuch, ein Gespräch zu beginnen schon im Keim. Wenn
ich Ihnen einen guten Morgen wünsche, reagieren Sie, als wollte
ich in Ihre Privatsphäre eindringen!"
"Aber genau das habe ich von Ihnen gedacht!" erklärte Luke.
"Nachdem Sie mit Jacques ausgegangen waren, schien es mir,
als hätten Sie sich hinter eine Art von Mauer zurückgezogen. Es
war, als arbeitete ich mit einem Eiswürfel zusammen!" Er
betrachtete seine Schuhspitzen. "Ich weiß, dass wir uns oft
gestritten haben, aber nach unserer letzten Reise nach Paris
dachte ich, wir wären Freunde."
"Wir waren auch Freunde", sagte Chris.
"Warum sind wir es dann nicht mehr? Warum haben Sie sich
so von mir zurückgezogen?"
"Ich dachte, Sie wollten es so. Ich dachte, Sie wollen unsere
Beziehung auf rein geschäftlicher Ebene halten."
"Aber das schließt Freundschaft doch nicht aus, oder?"
erwiderte Luke verstimmt.
Nein, aber sie macht es sehr schwierig, zur gleichen Zeit
verliebt zu sein, dachte Chris. Laut sagte sie: "Nein."
"Das heißt also: Während ich die ganze Zeit dachte, Sie
ignorieren mich, dachten Sie, ich ignoriere Sie?"
"Nun ... Ja."
Luke verzog langsam den Mund zu einem Lächeln. "Das war
aber nicht sehr vernünftig von Ihnen, Chris!"
"Während Sie sich unfehlbar benommen haben, nicht wahr?"
entgegnete Chris. Luke lachte laut auf, und es klang
ungeheuer erleichtert. Und Chris konnte nicht verhindern, dass
auch sie plötzlich lachen musste.
"Das habe ich am meisten vermisst: Ihre Bemerkungen, wenn
Sie wütend sind", sagte Luke und hielt ihr die Hand hin.
"Kommen Sie, schlagen Sie ein. Auf eine freundschaftliche,
geschäftsmäßige Beziehung ohne weitere Missverständnisse.
Einverstanden?"
Das hatte sie doch gewollt, oder etwa nicht? Chris fühlte
seine starken Hände, die sich um ihre schlossen, und versuchte,
nicht auf das wilde Herzklopfen zu achten, das seine Berührung
ihr verursachte. Und vor allem nicht auf die innere Stimme, die
ihr zuflüsterte, dass eine freundschaftliche, ge schäftsmäßige
Beziehung nicht genug für sie sei.
"Also, da wir dieses Problem nun aus der Welt geschafft
haben - wo waren wir stehengeblieben?" fragte Luke heiter, als
sie schließlich die Strasse überquert hatten. Der grimmige
Gesichtsausdruck, den er in der letzten Zeit immer gehabt hatte,
war verschwunden, und er wirkte unbekümmert, beinahe
glücklich.
Chris bemühte sich, es ihm gleichzutun. "Wir wollten
irgendwo essen gehen."
"Nun, wie wäre es hiermit?" Sie studierten die Speisekarte im
Aushang eines kleinen Restaurants. "Sieht aus, als wäre es
genau das richtige für uns."
Im Restaurant war es laut und dunkel. Alle Tische waren
besetzt mit lachenden, wild gestikulierenden Menschen, die sich
ungezwungen unterhielten. Chris fühlte sich ein wenig
unbehaglich in ihrem eleganten schwarzen Kleid, doch keiner
schien es überhaupt zu bemerken.
In einer Ecke fand sich noch ein freier Platz, und sie und
Luke zwängten sich nebeneinander auf die schmale Holzbank.
Ihre Oberschenkel streiften einander, ihre Arme berührten sich
immer wieder. Und Luke machte keinen Versuch, von ihr
wegzurücken.
Chris hatte überhaupt keinen Appetit mehr. Lustlos stocherte
sie in der Forelle herum, die sie bestellt hatte, und nippte nervös
an ihrem Wein. Auf dem Tisch brannte eine Kerze, und Chris
hielt den Blick starr auf die Flamme gerichtet, aus Angst, Luke
würde das Verlangen erkennen, das ihr ins Gesicht geschrieben
stehen musste. Es war ja schön und gut, über eine
freundschaftliche Beziehung zu reden. Doch wenn Lukes
Körper gegen ihren gepresst wurde, konnte Chris an nichts
anderes mehr denken als daran, wie muskulös seine Beine, wie
stark seine Arme sich anfühlten. Aus den Augenwinkeln sah sie
seine schlanken Finger, wenn er sein Glas hob oder nach dem
Brot griff. Und sie fragte sich, wie seine Hände sich wohl auf
ihrer nackten Haut anfühlen mussten.
Während sie fieberhaft über alles mögliche redete, war sie
sich überdeutlich bewusst, dass er sein Bein gegen ihres presste.
Als sie schließlich gehen wollten, half Luke ihr, sich hinter dem
Tisch hervorzuzwängen, und hielt sie am Arm gefasst, während
sie das Lokal verließen. Chris wollte sich aus seinem Griff
befreien, doch ihre Knie waren so weich, dass sie fürchtete, zu
fallen.
Auf dem Heimweg war Luke sehr still. Chris wusste nicht
einmal, in welche Richtung sie gingen. Sie redete die ganze Zeit,
um kein peinliches Schweigen aufkommen zu lassen, und
verstummte erst, als ihr Mund wie ausgetrocknet war.
Nachdenklich blickte sie zu dem schmalen Streifen Himmel
empor, der zwischen den hohen Gebäuden von Paris sichtbar
war. Es war beinahe Vollmond, und die Sterne waren auf Grund
der reflektierten Lichter der Stadt kaum zu erkennen.
Ein unwiderstehliches Verlangen hatte von Chris Besitz
ergriffen, machte sie benommen, durchflutete ihren Körper und
steigerte sich, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte als
an Lukes Mund, an Lukes Hände, das Gefühl seines Körpers an
ihrem.
Schließlich erreichten sie das Hotel. Schweigend, ohne sich
zu berühren, fuhren sie mit dem Lift in den dritten Stock und
gingen den Flur entlang, dessen dicker Teppichboden das
Geräusch ihrer Schritte verschluckte. Es war so still, dass Chris
sicher war, Luke müsse das wilde Klopfen ihres Herzens hören.
Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihre Zimmertür aufschloss
und sich umdrehte, um sich zu verabschieden.
Luke antwortete nicht. Er sah sie nur an, und dann zog er sie
langsam an sich.
"Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist",
brachte Chris hervor, konnte jedoch den Blick nicht von ihm
lösen.
"Warum nicht?"
"Wir - wir haben doch beschlossen, unsere Beziehung auf
rein geschäftlicher Ebene zu belassen."
Ein leises Lächeln umspielte seinen Mund. "Zum Teufel mit
dem Geschäft!" sagte er und zog sie fest in seine Arme.
Als er sie hart und leidenschaftlich küsste, gab Chris jeden
Widerstand auf. Was jetzt geschah, hatte sie sich den ganzen
Abend vorgestellt: seinen unwiderstehlichen, leidenschaftlichen
Mund, der ein Feuer in ihr entzündete, das sie nicht mehr unter
Kontrolle halten konnte. Chris ließ die Hände an seinen Armen
empor gleiten und umfasste seinen Nacken, während sie seinen
Kuss wie im Fieber erwiderte. Ihrer beider Leidenschaft machte
sie atemlos, ihre Küsse wurden immer hemmungsloser. Ihr
Verlangen, das sie so lange unterdrückt hatte, drohte jetzt, sie
unwiderstehlich mit sich fortzureißen.
Luke atmete schwer, als er Chris schließlich von sich stieß
und sie in ihr Zimmer drängte. Völlig verwirrt ließ sie sich
gegen die Tür fallen, die er hinter ihnen geschlossen hatte. Er
stemmte die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes dagegen.
"Seit Wochen habe ich nur daran gedacht, dich zu küssen",
sagte er, und seine heisere Stimme ließ sie insgeheim
erschauern. "Jedes Mal, wenn du in mein Büro kamst und dich
mit deinem Block in der Hand aufrecht vor mich hinsetztest und
mich mit deinem kühlen Blick ansahst, wollte ich dich küssen."
Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste ihre Mundwinkel, bis
Chris den Kopf drehte und seinen Mund suchte. "Eigentlich
habe ich die ganze Zeit nur daran gedacht, dich zu küssen",
murmelte er, den Mund an ihre geöffneten Lippen gepresst, und
drückte sie mit seinem Körper gegen die Tür.
Er umfasste ihr Gesicht, spielte mit ihrem Haar, während sie
sich leidenschaftlich küssten.
Und Chris - die vernünftige, praktische, tüchtige Chris -
vergaß die Vergangenheit und ließ die Zukunft Zukunft sein.
Nichts war für sie mehr wichtig, außer dem Hier und Jetzt.
Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte Luke keinen Einhalt
gebieten können. Jetzt nicht mehr, da das Blut heiß und erregend
durch ihre Adern strömte und ihr Körper bebend auf Lukes
Liebkosungen antwortete.
Sie ließ die Hände unter seine Jacke und den weichen Stoff
seines Hemds gleiten. Sein Rücken war breit und stark, und sie
fühlte, wie Luke erschauerte, als sie ihn berührte.
"Hast du auch daran gedacht, mich zu küssen?" murmelte
Luke, während er seine Lippen an ihrem Hals entlanggleiten
ließ.
Chris zitterte, als sein Mund unterhalb ihres Ohrs
angekommen war. Genauso hatte sie es sich vorgestellt, damals
vor dem Schaufenster der Fromagerie. "Nein", keuchte sie und
ließ den Kopf langsam in den Nacken sinken.
"Du lügst." Sie spürte, dass er lächelte. "Sag mir, dass du
lügst. Sag mir, dass du mich die ganze Zeit küssen wolltest." Er
presste sie fester an sich und hob den Kopf, um ihr in die Augen
zu sehen.
"Ich lüge. Natürlich lüge ich", gab Chris zu und lächelte
langsam, als er sich über sie beugte, um sie wieder zu küssen.
Beinahe fieberhaft begann sie, sein Hemd aus dem Gürtel zu
ziehen. Sie wollte seine Haut unter den Händen spüren, warm
und glatt und fest.
"Chris!" stieß Luke heiser hervor. Er befreite sich aus Chris'
Umarmung, und sein Blick fiel auf die Brosche an ihrem Kleid.
Mit unsicheren Händen löste er sie aus dem Stoff und legte sie
sorgfältig beiseite, bevor er den Kopf senkte und die Lippen auf
ihren Busen presste.
Chris hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ihr Inneres voll
gespannter Saiten, auf denen Luke spielte und die bei seiner
Berührung Wellen des Verlangens durch ihren Körper sandten.
Er ließ die Lippen langsam über ihren Ausschnitt aufwärts zu
ihrem Hals gleiten und verhielt kurz an der Stelle, an der er
ihren erregt klopfenden Puls spürte. Getrieben von maßlosem
Begehren streifte Chris ihm die Jacke über die Schultern und
fingerte ungeduldig an den Knöpfen seines Hemds herum.
Sie war gerade dabei, seinen Gürtel zu öffnen, als er sie
umdrehte und quälend langsam den Reißverschluss ihres Kleids
herunterzog. Er bedeckte jeden Zentimeter ihres entblößten
Körpers mit Küssen, bis sie vor Verlangen bebte. Schließlich
fiel der Stoff raschelnd über ihre Schultern zu Boden.
Wie im Traum trat Chris aus dem Kleid. Die Vorhänge waren
noch nicht zugezogen, so dass Mondlicht ins dunkle Zimmer
flutete und sich in ihren Augen spiegelte, die vor Verlangen
glänzten.
Luke presste die Lippen gegen ihre samtweiche Halsbeuge,
und Chris ließ den Kopf nach hinten sinken.
Dann begann Luke ihren Körper mit langen, heißen Küssen
zu bedecken und streifte ihr dabei die Unterwäsche ab.
Als Luke sich schließlich seiner eigenen Kleidung entledigt
und Chris auf das breite Bett gezogen hatte, brannte diese vor
Verlangen. Es war wunderschön, ihn endlich berühren und sich
in dieser Leidenschaft vergessen zu können. Sie wusste, dass es
jetzt kein Halten mehr gab. Sie drängten sich in steigendem
Verlangen aneinander, und Chris stöhnte seinen Namen,
während er die Hände über ihre samtige Haut gleiten ließ und
seiner Bewunderung in leisen Worten Ausdruck gab. Mit
Händen und Lippen erkundete er ihren Körper bis zu den
geheimsten Stellen, und Chris war nur noch zitternde, stöhnende
Leidenschaft.
Schließlich rollte sie sich auf ihn, umfasste sein Gesicht und
lächelte, bevor sie sich über ihn beugte und seine Lippen suchte.
Sie lag auf ihm und genoss das Gefühl seiner Männlichkeit, das
Gefühl ihrer Haut auf seiner.
Luke hob die Arme, um Chris an sich zu ziehen. Doch sie
schob sich langsam abwärts und ließ die Lippen zärtlich über
seinen Körper wandern, bis er sich stöhnend wieder auf sie rollte
und mit ihr eins wurde. Die Woge der Leidenschaft riss sie
endgültig mit sich fort, und Chris' und seine Schreie vermischten
sich, als sie zitternd und bebend die Erfüllung erreichten.
Luke hielt sie fest umschlungen. Nichts erinnerte mehr an
den schroffen, arroganten Luke, als er jetzt die Hände sanft und
liebevoll über ihre Haut gleiten ließ.
"Denkst du immer noch, dies war keine gute Idee?" flüsterte
er, während er zärtlich ihr Ohrläppchen küsste.
Chris lächelte leicht, ohne die Augen zu öffnen. "Nun, sehr
vernünftig war es bestimmt nicht."
"Wer kümmert sich schon um Vernunft?"
"Du."
"Dann habe ich meine Meinung geändert. Ich habe meine
Meinung in dem Moment geändert, da Jacques dich betrachtete
und unter Maske der kühlen, beherrschten Sekretärin die gleiche
lebendige, aufregende Frau entdeckte, die ich sah. Als du in
jener Nacht im Restaurant mit ihm geflirtet ha st, hätte ich ihn
mit größtem Vergnügen verprügelt. Und später, nachdem er dich
zum Essen eingeladen hatte und du hinterher so verändert warst,
da war ich ganz außer mir vor Eifersucht." Luke strich Chris
eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. "Ich habe immer
gedacht, du gehörst zu mir, auch wenn ich mir selbst vormachte,
du seist nur eine Sekretärin wie alle deine Vorgängerinnen."
"Aber ich bin doch wirklich nur eine Sekretärin", sagte sie
scherzhaft, die Art aber, wie sie die Hände über seinen Bauch
gleiten ließ, strafte ihre Worte Lügen.
Luke schüttelte den Kopf. "Du bist anders, Chris. Du bist die
einzige vollkommen ehrliche Frau, die mir jemals begegnet ist.
Wie sollte ich dem Blick aus diesen klaren Augen widerstehen?"
Er küsste ihre geschlossenen Lider. Chris lächelte, doch als sie
die Augen öffnete, lag etwas wie Besorgnis in ihrem Blick.
Sie war nicht völlig ehrlich mit ihm gewesen. Nachdenklich
legte sie die Arme um Luke und drückte ihn an sich. Sie wusste,
dass sie eigentlich mit ihm über ihre Begegnung in Chittingdene
sprechen sollte, aber er war so warm, so nah. Sie wollte den
Zauber dieses
unvergesslichen Moments nicht zerstören. Trotzdem, sie
sollte es ihm sagen ...jetzt gleich. "Luke", begann
sie zögernd.
"Was ist denn?" fragte Luke, die Lippen gegen ihren Hals
gedrückt und hob den Kopf. Als er auf sie hinuntersah, lag eine
solche Wärme in seinem Blick, dass Chris' Entschluss, ihm alles
zu erzählen, gegen ihren Willen zu Staub zerfiel. Sie würde es
nicht ertragen können, wenn dieser Ausdruck verschwand,
nachdem sie Luke die Wahrheit gesagt hatte. Später war immer
noch genug Zeit, ihm alles zu beichten.
"Oh... nichts."
Die Art, wie Luke sie anlächelte, ließ ihr den Atem stocken.
Wer hätte gedacht, dass dieser kalte, harte Mann, der sie vor so
vielen Jahren geküsst hatte, zu solcher Zärtlichkeit fähig wäre?
"Dann küss mich noch einmal!"
"Bitte!" erinnerte sie ihn gespielt ernst.
"Chris, Liebling, wenn es dir nichts ausmacht, würdest du
mich bitte noch einmal küssen?"
Seufzend zog Chris ihn an sich. "Wenn es unbedingt sein
muss", flüsterte sie und verdrängte all ihre Zweifel, als sie sich
erneut in den Taumel der Leidenscha ft stürzten.
10. KAPITEL
Am nächsten Morgen erwachte Chris früh von Lukes Küssen.
Während sie sich wohlig und zufrieden reckte, begannen seine
Augen wieder zu funkeln. Dennoch erlaubte er Chris nicht,
länger im Bett zubleiben. "Wach auf!" sagte er, zog ihr die
Decke weg und lächelte nur, als sie schläfrig protestierte. "Wir
müssen heute einen Vertrag unterzeichnen, und wenn wir uns
nicht sehr beeilen, kommen wir zu spät."
Nach einem Blick auf den Wecker war Chris plötzlich
hellwach und setzte sich erschrocken im Bett auf. Sie mussten
sich tatsächlich sehr beeilen! Schnell kleideten sie sich an. Zum
Frühstücken blieb keine Zeit mehr. Im Taxi rasten sie zu
Philippe Robards Büro. Chris hatte nicht einmal Zeit gehabt,
sich zurechtzumachen. Doch das Glück, das ihr Gesicht wie von
innen her erleuchtete, machte sie schöner, als Kosmetik und
Kleidung es je hätten können.
Jacques entging ihre Verwandlung nicht, und er lächelte
traurig. "Luke kann sich sehr glücklich schätzen", sagte er und
zog ihre Hand an seine Lippen.
In Gegenwart der Robards verhielt Luke sich ihr gegenüber
höflich und distanziert wie immer. Chris hätte beinahe nicht
geglaubt, dass dies der gleiche Mann war, der sie letzte Nacht so
leidenschaftlich geliebt hatte - wäre da nicht dieses Leuchten in
seinen Augen gewesen, sobald er sie ansah. Doch nachdem der
Vertrag unterzeichnet war und sie das Gebäude verlassen hatten,
zog er sie mitten auf der Strasse in die Arme und küsste sie, als
wäre er einen Monat lang fortgewesen.
Noch nie hatte sie ihn so übermütig gesehen wie jetzt. Es war
Ende April, sie waren in Paris, und die Sonne schien warm.
Chris spürte ein unbändiges Glücksgefühl in sich aufsteigen, das
ihr prickelnd wie Champagner durch die Adern rann.
Buchstäblich über Nacht schien die ganze Welt ein ganz neues,
helleres und schöneres Gesicht bekommen zu haben.
In einem Cafe frühstückten sie, warme Croissants mit Butter
und heißen Cafe au lait in den hier üblichen großen Tassen. Die
Sonne schien durch das Fenster direkt auf ihren Tisch. Chris
stützte die Ellbogen auf und umfasste ihre Tasse mit beiden
Händen, während sie Luke anlächelte.
Sie empfand es als unvorstellbar schön, ihn offen und ohne
Heimlichkeit einfach ansehen zu können, die entschlossen
wirkenden, markanten Linien seines Gesichts zu betrachten und
sich daran zu erinnern, wie seine Haut sich letzte Nacht unter
ihren Händen angefühlt hatte.
Luke hatte ihre Gedanken mühelos erraten. "Sieh mich nicht
so an, Chris", sagte er lächelnd. "Zumindest nicht, wenn wir in
der Öffentlichkeit sind. Sonst vergesse ich nachher, dass wir
heute noch einiges zu arbeiten haben!"
"Da hast du recht." Chris setzte ein gespielt zerknirschtes
Gesicht auf. "Wir wollen doch nicht vergessen, dass wir uns auf
eine freundschaftliche Beziehung geeinigt haben, oder?"
Luke streckte die Hand aus und berührte zärtlich ihr Haar.
"Unsere Abmachung gilt nur für die Tage. Die Nächte sind
etwas anderes! Da vergessen wir das Geschäft lieber."
Bisher hatte er mit keinem Wort von Liebe gesprochen.
Dennoch, während sie an jenem warme n Frühlingsmorgen in
Paris saßen, war Chris vollkommen glücklich.
Es gelang ihnen erstaunlich gut, sich wieder in ihre Rollen als
Chef und Sekretärin hineinzufinden. Schon auf dem Flug nach
London begannen sie einträchtig und konzentriert mit der
Arbeit.
"Ich gehe jetzt besser und rede mit Miles". sagte Luke,
nachdem sie ins Büro zurückgekehrt waren. "Schließlich ist er
für die Finanzen zuständig und sollte etwas über den
Vertragsinhalt erfahren, auf den wir uns heute geeinigt haben."
Chris nickte geistesabwesend. Sie war schon dabei, die Post
durchzugehen. Als nach einer Weile von Luke immer noch
keine Antwort kam, sah sie erstaunt auf und ertappte ihn dabei,
dass er sie amüsiert beobachtete. "Du scheinst ja sehr beschäftigt
zu sein", sagte er. "Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass du dich
so auf die Arbeit konzentrieren kannst - nach allem, was gestern
nacht passiert ist! Oder hast du das etwa schon vergessen?"
Chris ließ die Briefe auf den Schreibtisch fallen und
erwiderte seinen Blick aus ihren klaren bernsteinfarbenen
Augen. "Ich werde es niemals vergessen", entgegnete sie ruhig.
"Und das weißt du auch."
Luke nahm sie bei den Händen und zog sie in seine Arme.
"Im Büro sollten wir das eigentlich nicht tun", flüsterte er.
"Ich tue ja gar nichts", protestierte Chris, wehrte sich aber
nicht als er sie küsste.
"Du stehst einfach da und siehst wunderschön aus. Das allein
reicht schon."
"Du klingst aber gar nicht nach einem Geschäftsmann." Chris
versuchte, ernst zu klingen. Doch sie strafte ihre eigenen Worte
Lügen, als sie ihm die Arme um den Nacken legte und seinen
Kuss erwiderte.
"Also gut." Luke befreite sich widerstrebend. "Ab morgen
beschränkten wir uns im Büro streng auf das Geschäftliche!"
"Natürlich", stimmte Chris lächelnd zu.
"Und jetzt gehe ich wirklich zu Miles." Luke berührte zärtlich
ihre Wange. ..Danach machen wir uns an die Arbeit, und heute
Abend gehen wir nach Hause - zusammen!"
Chris stand immer noch an ihrem Schreibtisch, die Hand auf
die Wange gelegt, wo er sie zuletzt berührt hatte, als die Tür
plötzlich geöffnet wurde.
Sie hatte Helen vergessen. Beim Anblick ihrer makellosen
Schönheit durchfuhr Angst Chris' Herz wie ein kalter
Windhauch und trübte ihre Glück. Was für eine Chance hatte sie
schon gegenüber Helen? Und wenn sie sich noch so anstrengte,
neben dieser strahlenden Blondine würde sie immer blass und
nichtssagend wirken.
Chris nahm sich zusammen. "Es tut mir leid, aber Luke ist
nicht in seinem Büro", sagte sie höflich und kühl. "Er hat eine
Besprechung mit dem Leiter der Finanzabteilung." Sie hoffte,
Helen würde nicht darauf bestehen, auf Luke zu warten. Allein
der Gedanke, die beiden zusammen zu sehen, machte sie ganz
krank.
"Tatsächlich?", Helens grüne Augen wirkten kalt wie Eis.
"Nach diesem rührenden Abschied, den ich gerade mit
angesehen habe, hätte ich eigentlich erwartet, er sei für
mindestens eine Woche auf Dienstreise!"
"Wie bitte?"
"Ihre Unschuldsmiene kennen Sie sich sparen! Ich habe euch
beide durch die Scheibe in der Tür beobachtet und verfolgt, wie
Luke Sie küsste, und auch Ihren törichten, verliebten Blick
gesehen", sagte Helen höhnisch. Als sie Chris' gerötete Wangen
bemerkte, fuhr sie unbarmherzig fort: "Und ich dachte, Sie seien
die Sekretärin schlechthin! Dabei hätte ich Luke gleich erzählen
können, dass Sie am Ende doch wie alle anderen sein würden!"
Chris erstarrte. "Welche anderen?"
"Welche anderen?" äffte Helen sie verächtlich nach. "Haben
Sie wirklich angenommen, Sie seien etwas Besonderes? Was
glauben Sie denn wohl, weshalb er so viele Sekretärinnen
hatte?"
"Es ist eben nicht leicht, für ihn zu arbeiten." Chris hatte sich
jetzt wieder völlig unter Kontrolle. "Meine Vorgängerinnen
waren ihm nicht gewachsen."
"Das hat er Ihnen also erzählt? Und Sie haben es auch noch
geglaubt?" Mit aufreizender Langsamkeit ging Helen zum
Fenster hinüber und zündete sich lässig eine Zigarette an. "Alle
seine Sekretärinnen waren energische, tatkräftige Damen, als sie
hier anfingen, und am Ende haben sie sich alle in ihn verliebt.
Es ist immer nur eine Frage der Zeit, bevor sie sich ihm an den
Hals werfen. Bei Ihnen hat es allerdings länger gedauert als bei
den meisten."
Sie drehte sich um und musterte Chris verächtlich. "Wie Sie
zweifellos festgestellt haben werden, ist Luke kein Mann, der
sich lange ziert, wenn eine Frau ihm auf dem Silbertablett
serviert wird. Doch nach einer Weile verliert er das Interesse,
und die ganze Sache wird dann ziemlich peinlich. Im Grunde
liebt er nur seine verdammte Firma, und das letzte, was er
braucht, ist eine Sekretärin, die sich ihm an den Hals wirft.
Schließlich kündigen sie alle, in Tränen aufgelöst, und er kommt
zu mir zurück. Wir verstehen einander."
"Wie schön für Sie", sagte Chris ruhig, doch ihre Augen
flammten vor Abneigung. Helens Worte hatten sie wie
Messerstiche ins Herz getroffen, aber sie wäre lieber gestorben,
als sich ihren Schmerz anmerken zu lassen.
Als Chris sich ab wandte, zog Helen plötzlich scharf den
Atem ein. "Christine Haddington-Finch", sagte sie langsam.
"Natürlich, du bist Christine! Deshalb kamst du mir auch gleich
so bekannt vor!"
Chris erstarrte. "Ich weiß nicht, wovon Sie reden."
"0 doch, das weißt du sehr genau!" Helen drückte ihre
Zigarette im Aschenbecher aus und wandte sich vom Fenster ab.
"Ich wusste doch, dass ich dich schon einmal gesehen hatte.
Aber erst, als du mich eben so verächtlich ansahst, fiel es mir
wieder ein. Du warst Annes hässliche kleine Freundin in
Chittingdene. Ich fand es immer sehr lustig, dass du,
ausgerechnet du, es wagtest, mein Verhalten zu missbilligen.
Gesagt hast du zwar nie etwas, aber dein verächtlicher Blick
verriet schon genug."
Langsam ging sie um Chris herum und blickte ihr ins
Gesicht. "Ja, jetzt sehe ich es. Du hast dich na türlich
herausgemacht, aber wenn man sich diese modische Frisur
wegdenkt und dir wieder diese dicken Brillengläser aufsetzt,
siehst du genauso wie früher aus!" Helen lächelte kalt und
boshaft. "Na so etwas, Christine Haddington-Finch. Wer hätte
das gedacht? Weiß Luke, wer du bist?"
"Nein", erwiderte Chris ruhig. Es war ohnehin zwecklos, jetzt
noch etwas zu leugnen.
"Ich habe mir damals schon gedacht, dass du in ihn verliebt
bist" fuhr Helen fort. "Anne hat mir erzählt, du seist tatsächlich
zu unserem Treffp unkt gegangen, um ihm zu sagen, dass ich
nicht komme. Wie rührend."
Ihr Spott brachte Chris zur Weißglut. "Damals wolltest du ihn
nicht, oder?" sagte sie wütend. "Du hast nur mit ihm gespielt.
Anne hat mir von all den gemeinen Dingen erzählt, die du hinter
Lukes Rücken über ihn verbreitet hast. Warum willst du ihn jetzt
unbedingt wiederhaben?"
Helen hob gleichmütig die Schultern. "Damals war er ein
wenig ungehobelt, und es gab da noch einige andere interessante
Männer. Aber jetzt - nun, Luke ist eben sehr attraktiv."
"Und sehr reich, nicht wahr?"
"Für ein so nichtssagendes Wesen hattest du schon immer
eine reichlich scharfe Zunge, Christine", sagte Helen voller
Abneigung.
"Zumindest bin ich immer ehrlich gewesen", erwiderte Chris.
"Ich habe ihm nicht vorgespielt, in ihn verliebt zu sein, und mich
über ihn lustig gemacht, sobald er den Rücken kehrte."
Helen lachte kurz und spöttisch. "Liebe? Für Luke ist Liebe
ein Fremdwort. Er schert sich keinen Deut darum, was andere
Leute von ihm halten!"
"Wenn er tatsächlich so denkt, dann nur, weil gedankenlose,
grausame Frauen wie du ihn gelehrt haben, dass Liebe
bedeutungslos ist. Kein Wunder, dass er so zynisch ist!" Chris'
Augen flammten vor Zorn. "Ist dir noch nie der Gedanke
gekommen, er könnte sich vielleicht verletzt gefühlt haben
durch die Art, wie du ihn behandelt hast? Aber nein, für dich
gab es andere, interessantere Männer. Du fandest es nicht einmal
nötig, dich von ihm zu verabschieden!"
"Luke hat mir das nicht übelgenommen", sagte Helen
gleichmütig. "Warum wäre er wohl sonst immer wieder zu mir
zurückgekehrt?"
"Vielleicht, weil er bei dir zumindest weiß, wie er dran ist",
entgegnete Chris mit solcher Verachtung in der Stimme, dass
Helens grüne Augen ärgerlich zu funkeln begannen.
"Und das ist mehr, als er bei dir weiß, du Rührmichnichtan!
Die ganze Zeit hältst du Vorträge über Ehrlichkeit. Aber was ist
ehrlich daran, wenn du aus deiner wahren Identität ein
Geheimnis machst?''
"Es ist kein Geheimnis. Luke hat mich nicht erkannt, warum
sollte ich ihn also darauf ansprechen? Ich bin sicher, er erinnert
sich ohnehin nicht mehr an mich."
"Nein, wahrscheinlich nicht", gab Helen abweisend zu. "Du
bist nicht gerade der Typ, den man lange im Gedächtnis behält."
"Aber du hast dich an mich erinnert", sagte Chris. "Und du
hast auch festgestellt, dass ich mich verändert habe. Ich bin
nicht mehr das nichtssagende, verschüchterte kleine Mädchen
von früher. Ich möchte, dass Luke an mich denkt, wie ich jetzt
bin, nicht wie ich damals war. Und ich glaube, dass er das auch
tun wird - besonders nach der letzten Nacht", fügte sie betont
hinzu.
Helen kniff die Augen zusammen. "Falls du glaubst, dass du
Luke mit einer Nacht an dich binden kannst, dann hast du dich
gründlich geirrt! Ich gebe dir eine Woche, bis Luke dich bittet,
zu kündigen."
"Und ich würde dir nicht einmal so lange geben, wenn Luke
jetzt zurückkäme", erwiderte Chris mit einer Beherrschung, die
sie selbst erstaunte. "Er verabscheut Szenen im Büro, und ich
bin sicher, dass er nach dieser Nacht in einem Streit für mich
Partei ergreifen würde. " Sie griff nach dem Stapel Briefe auf
dem Schreibtisch und begann, sie zu Öffnen. "Ich halte es für
besser, wenn du jetzt gehst - und nicht wiederkommst, bis hier
eine andere Sekretärin sitzt!"
"Das wird nicht lange dauern!" sagte Helen bösartig, stürmte
aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Erst jetzt,
nachdem ihre Gegnerin unerwartet schnell das Feld geräumt
hatte, merkte Chris, dass sie am ganzen Körper bebte. Erschöpft
ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken und verbarg ihr Gesicht in
den Händen.
War sie tatsächlich nur die neueste in einer langen Reihe von
verliebten Sekretärinnen? Bedeutete sie Luke wirklich nicht
mehr? Obwohl sie Helen nicht glauben wollte, musste sie
zugeben, dass deren Geschichte nicht unwahrscheinlich klang.
Luke selbst hatte ihr ihre Vorgängerinnen als Heulsusen
geschildert. War es denn so von der Hand zu weisen, dass sich
all diese Mädchen in ihn verliebt hatten -da ihr selbst das ja auch
passiert war?
Chris zupfte ratlos an einer Strähne herum. Ihr Haar war
immer noch so weich und glänzend wie damals, als Luke seine
Finger hatte hindurchgleiten lassen und ihren Kopf nach hinten
gezogen, um sie zu küssen. Erinnerungen an die gemeinsam
verbracht e Nacht stiegen in ihr auf. Sie konnte einfach nicht
glauben, dass diese Nacht Luke nichts bedeutet hatte. Es war
unmöglich, dass sie seine Blicke, seine zärtlichen Berührungen
so missverstanden hatte.
Nein, sie würde Helens Worte keinen Glauben schenken,
aber sie musste Luke nun endlich die Wahrheit sagen. Hätte sie
es doch nur letzte Nacht getan! Jetzt, im kalten Tageslicht,
fürchtete sie sich davor. Er würde wissen wollen, warum sie es
ihm nicht schon früher gesagt hatte. Wie sollte sie es ihm nur
erklären, ohne unehrlich oder - noch schlimmer - berechnend zu
wirken?
Und dann wurde die Tür geöffnet, und Luke trat ein. Ein
Blick in sein Gesicht verriet Chris, dass er alles wusste.
"Ich habe eben Helen getroffen", begann er langsam, und
seine Miene war verschlossen und hart. "Sie sagte, du seist
Christine Haddington-Finch aus Chittingdene. Stimmt das?"
Chris hob den Kopf und sah ihm in die Augen. "Was glaubst
du?" "Christine?" sagte er, und es klang, als weigerte er sich, es
zu glauben. Er durchforschte ihr Gesicht und seufzte, als er die
Wahrheit in ihren Augen erkannte. "Christine." "Chris",
verbesserte sie ihn ruhig.
"Warum hast du es mir nicht gesagt?" Er wandte sich schnell
ab, doch sie hatte den verbitterten Ausdruck in seinen Augen
gesehen. "Irgendwie war nie die richtige Gelegenheit dazu",
begann sie, aber er unterbrach sie.
"Gelegenheit! Um mir irgendwelche anderen Dinge zu
erzählen, hast du schließlich auch immer eine Gelegenheit
gefunden!"
"Dies hier ist etwas anderes. Außerdem glaubte ich nicht,
dass du dich an mich erinnern würdest. Warum denn auch?"
"Oh, ich kann mich sehr gut an dich erinnern. Du warst das
Mädchen, das in den Wald kam, um mir von Helen zu erzählen."
Chris nickte unglücklich. "Aber du hast mich nicht erkannt.
Ich sah keinen Sinn darin, die Vergangenheit wieder aufleben zu
lassen. Du hast mir deutlich genug zu verstehen gegeben, dass
du das alles hinter dir gelassen hattest, und ich wollte uns beiden
Peinlichkeiten ersparen."
"Du dachtest also, es könnte mir peinlich sein, dass die
Tochter aus dem Herrenhaus meine Angestellte ist? War es
das?"
"Nein!" Chris verließ der Mut, als sie Lukes harte Stimme
hörte. "Ich dachte an diesen heißen Tag damals im Wald. An das
erste Mal, als du mich küsstest. Ich hielt es einfach für eine
etwas peinliche Erinnerung, die Chef und Sekretärin gemeinsam
hatten, das ist alles." "Und was ist mit all den Gelegenheiten, als
ich sagte, dass du mir bekannt vorkommst? Hast du dich da über
mich amüsiert? Die Französin, von der ich dir im Restaurant
erzählte, das war doch deine Mutter, nicht wahr? Was musst du
gelacht haben über mich!"
"Nein! Luke, ich habe niemals über dich gelacht, das
müsstest du doch wissen."
"Das Problem ist, ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich weiß
nicht, was ich von dir halten soll." Luke wandte sich ärgerlich
ab. "Ich dachte wirklich, du seist anders. In deinen klaren Augen
sah ich nichts als Ehrlichkeit. Aber ich habe mich wohl geirrt.
Du hast mich zum Narren gehalten, nicht wahr? Du bist genauso
falsch wie all die anderen."
Chris hob das Kinn. "Ich habe dich niemals belogen."
"Das mag sein, aber dass du mir ausgerechnet das
verheimlicht hast, kommt mir genauso unehrlich vor."
"Bei Helen hat dich das nie gestört!" rief Chris. "Denk doch
nur an all die Dinge, die sie dir nie erzählt hat."
"Helen ist anders. Von ihr habe ich nie etwas erwartet, aber
du - du warst etwas Besonderes. Oder zumindest glaubte ich
das." Luke lachte, aber es klang freudlos.
Chris war jetzt sehr ärgerlich. "Und was ist mit all den
anderen Sekretärinnen, die du verführt hast? Ich nehme an, die
waren auch alle etwas Besonderes? Es hat dir sicher eine Menge
Arbeit erspart, weil du jedes Mal dieselbe Methode anwenden
konntest!"
"Welche anderen Sekretärinnen?" Luke fuhr herum.
"Helen hat mir davon erzählt. Ich bin nur die letzte in einer
langen Reihe von Sekretärinnen, die auf deine Masche mit
diesem ,Sie sind die Beste von allen' hereingefallen ist!"
"Und du glaubst, was Helen sagt?"
"Warum nicht - du tust es ja anscheinend auch!"
Sie waren beide so wütend, dass sie das Klopfen an der Tür
nicht hörten. Eine der Nachwuchssekretärinnen stand plötzlich
auf der Türschwelle, einen Stapel Akten im Arm, und
betrachtete erstaunt und verlegen die Szene, die sich vor ihren
Augen abspielte.
"Nun gehen Sie schon!" fuhr Luke sie an, und das Mädchen
drehte sich um und floh.
"Ich merke schon, du hast zu deiner üblichen charmanten Art
zurückgefunden!" stieß Chris bissig hervor.
"Und wann findest du wieder zu deinem wahren Ich zurück -
zu Christine Haddington-Finch? Ich wundere mich, dass ich
mich nicht gleich an dich erinnert habe, als du anfingst, mich
herumzukommandieren! Du bist genau wie dein Vater, dieser
wichtigtuerische alte Narr, der sich im Herrenhaus als
Gutsbesitzer aufspielte."
"Mein Vater war nicht wichtigtuerisch!" stieß Chris hervor.
"Er war liebenswert und großzügig - was man von dir nicht
gerade sagen kann! Du bist so verdammt empfindlich. Was
bedeutet es schon, dass ich Christine genannt wurde und in
einem großen Haus lebte? Seitdem sind wir beide erwachsen
geworden. Es geht doch darum, wer wir heute sind, oder nicht?"
Luke stand halb abgewandt am Fenster und sah finster auf die
Strasse hinunter. An seiner Wange zuckte wieder der kleine
Muskel. "Genau das ist es. Ich dachte, dich zu kennen, aber jetzt
habe ich herausgefunden, dass du eine ganz andere bist." Über
die Schulter warf er einen Blick auf Chris, die hoch aufgerichtet
hinter ihrem Schreibtisch saß, die bernsteinfarbenen Augen
dunkel vor Zorn. "Heute Abend wollte ich das Mädchen namens
Chris bitten, meine Frau zu werden. Klingt witzig, nicht wahr?"
Seine Miene war bitter. "Ich will Chris heiraten, aber nicht
Christine. Wer weiß, wie viele andere Dinge es noch gibt, die
sie vor mir verheimlicht."
Chris betrachtete verzweifelt seinen breiten Rücken. "Ich bin
nicht Christine, ich bin Chris. Wenn du die Chris, die du in den
letzten Monaten kennengelernt hast, so leicht beiseiteschieben
kannst, dann will ich dich nicht heiraten! Kannst du die letzte
Nacht auch so einfach vergessen? Hattest du da das Gefühl, dass
es zwischen uns irgendwelche Geheimnisse gibt, die von
Bedeutung sind?" Luke erstarrte, aber er drehte sich nicht um.
"Da ist so vieles, das ich von dir nicht weiß", fuhr sie fort. "Zum
Beispiel hast du in den letzten zehn Jahren anscheinend ständig
Sekretärinnen verführt. Aber für mich ist das bedeutungslos -
nach allem, was ich letzte Nacht von dir kennengelernt habe."
Sie stand auf und nahm ihre Handtasche. "Ich bin sicher, du
wirst schnell eine andere, ganz besondere Sekretärin finden, die
dich tröstet. Aber lass dir vorsichtshalber ihre Geburtsurkunde
zeigen, bevor du sie einstellst!" Tränen des Zorns und des
Schmerzes standen ihr in den Augen, doch sie war entschlossen,
in seiner Gegenwart nicht zu weinen. Als sie zur Garderobe ging
und nach ihrem Mantel griff, fuhr Luke herum.
"Was hast du vor?"
"Ich kündige." Chris stürmte auf die Tür zu. "Sieh zu, wie du
allein mit deinem verdammten Vertrag zurechtkommst und lern
gefälligst selbst Französisch!"
Sie knallte die Tür hinter sich zu, rannte zum Fahrstuhl und
drückte ungeduldig auf den Knopf. Der Lift war sicher wieder
im Erdgeschoss. "Nun mach schon, mach schon!" sagte sie laut,
während sie die beleuchteten Etagenziffern beobachtete, die den
allzu langsamen Weg des Fahrstuhls kennzeichneten.
" Chris!" Luke stand auf der Türschwelle seines Büros.
"Jetzt auf einmal wieder Chris? Vor einer Minute war ich
noch Christine!" rief Chris wütend zurück. Ihre Stimme hallte
durch den Korridor und war sicher in allen Büros zu hören, doch
das war ihr in diesem Moment gleichgültig.
"Bilde dir nicht ein, dass du einfach so davonrennen kannst!"
brüllte Luke. "Schließlich hast du einen Vertrag."
"Weißt du, was du mit deinem verdammten Vertrag machen
kannst?" Chris warf einen Blick über die Schulter und schlug in
Panik mit der Faust auf den Fahrstuhlknopf, als sie Luke auf
sich zukommen sah. Wenn er sie berührte, war sie verloren.
"Nun mach doch schon!" Endlich ertönte ein leises Klingeln,
und die Fahrstuhltür öffnete sich schwerfällig. Chris fiel fast in
den Lift und drückte fieberhaft auf den Knopf für das
Erdgeschoss. Sie sah nicht mehr, dass Luke sich umdrehte und
auf das Treppenhaus zu rannte.
-ENDE-