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Manchmal helfen kleine Tricks

Jessica Hart

Julia 1038
14/1 1993

gescannt von Geisha0816


korrigiert von Katja
1. KAPITEL
Chris hätte ihn überall wiedererkannt.
Die gleiche selbstsichere, arrogante Haltung wie damals, der
gleiche undurchdringliche Blick, der gleiche markante,
rücksichtslose Gesichtsausdruck, der nur selten von einem
leichten, beunruhigenden Lächeln erhellt wurde. Sie hatte ihn
seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, und doch wusste sie sofort,
dass er es war: Luke Hardman. Der erste Mann, der sie geküsst
hatte.
Er stand auf der anderen Seite des Theaterfoyers und
betrachtete die Leute, die sich dichtgedrängt an ihm vorbei zur
Bar schoben. Es war seine scheinbar unbeteiligte, fast
gelangweilte Haltung, die ihn von den anderen unterschied und
die Chris erst auf ihn aufmerksam werden ließ. Der elegante
schwarze Abendanzug stand ihm ausgezeichnet, wie sie zugeben
musste. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Zeiten, in denen
er sich geweigert hätte, etwas anderes als Lederjacken zu tragen.
Doch damals hätte er auch nicht im Traum daran gedacht, ins
Theater zu gehen. Vielleicht hatte er sich seitdem mehr
geändert, als sie es je für möglich gehalten hätte.
Man konnte ihn nicht unbedingt als gutaussehend
bezeichnen, dazu waren seine Gesichtszüge zu hart. Dennoch
strahlte er eine äußerst gefährliche Anziehungskraft aus, und
Chris war nicht das einzige weibliche Wesen, das auf ihn
aufmerksam geworden war. Sie beobachtete eine junge Frau, die
ihm ein einladendes Lächeln zuwarf. Doch er schien durch sie
hindurchzusehen und gab sich keine Mühe, seine Langeweile zu
verbergen. Luke Hardman hat sich also doch nicht so sehr
geändert, dachte Chris.
Sie drehte sich etwas zur Seite, so dass sie ihn in der Spiegel
wand über der Bar sehen konnte. Auf keinen Fall durfte er
merken, dass sie ihn beobachtete - obwohl er sie wahrscheinlich
ohnehin nicht wahrnahm, ebenso wenig wie vor zehn Jahren.
"Tut mir leid, aber das war alles, was ich auftreiben konnte."
Serena stand plötzlich neben ihr und reichte Chris ein Glas
mit warmem Gin-Tonic, in dem eine dünne Zitronenscheibe
herumschwamm. "Wir hätten die Drinks lieber vor der Pause
bestellen sollen."
Als Chris sich geistesabwesend bedankte, folgte Serena
ihrem Bück in den Spiegel. "Er sieht gut aus, nicht wahr?"
"Wer?"
"Der Mann, den du im Spiegel beobachtest!" Serena warf
über die Schulter hinweg einen Blick in Lukes Richtung. "In
Wirklichkeit sieht er noch besser als sein Spiegelbild aus."
"Ich habe niemanden beobachtet", erwiderte Chris, konnte
aber zu ihrem Ärger nicht verhindern, dass sie errötete. Während
sie die Zitronenscheibe aus dem Glas fischte und nachdenklich
daran saugte, kehrte ihr Blick wieder zu Luke zurück. "Ich
glaube, ich kenne ihn."
"Ja?" Serena betrachtete Luke mit wachsendem Interesse.
"Wer ist er?"
"Nur jemand,, den ich aus dem Dorf kenne", sagte Chris so
gleichmütig wie möglich. "Ich habe ihn seit meinem
sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen."
"Warum hast du ihn mir damals nie vorgestellt, wenn ich bei
euch auf Besuch war?" erkundigte sich Serena in gespielt
empörtem Ton. "Du weißt doch, dass ich diese rücksichtslosen
und gefährlichen Typen schon immer mochte!"
Chris lachte. "Ich hätte mich nicht getraut, Luke Hardman
irgend jemandem vorzustellen! Er war viel älter als ich, und
außerdem kannte ich ihn kaum. Und er unterschied sich sehr von
den anderen Jungen im Dorf." Sie zögerte. "Er machte mich
immer ganz nervös."
"Dich? Nervös?" Serena betrachtete ihre Freundin überrascht.
"Ich kenne dich seit unserem ersten Jahr im Internat, und ich
glaube nicht, dass ich dich in all der Zeit jemals nervös gesehen
habe. Du warst doch immer so ruhig, so kühl und vernünftig."
"Aber nicht in Lukes Gegenwart. Bei ihm hatte ich immer
das Gefühl, er könnte meine Gedanken lesen. Ich wusste nie, ob
ich mich nun vor ihm fürchten oder von ihm fasziniert sein
sollte. Es war eine Mischung aus beidem, glaube ich." Chris
lachte verlegen. "In seiner Gegenwart kam ich mir immer
unglaublich linkisch und naiv vor. Ich brauchte ihn nur von
weitem zu sehen, und schon bekam ich rasendes Herzklopfen -
die typische Teenager-Verliebtheit", fügte sie hinzu. Dabei
vergaß sie allerdings, dass ihr Herz auch vorhin, als sie Luke
nach zehn Jahren zum erstenmal wiedergesehen hatte, wie wild
geklopft hatte.
Serena lächelte. "Chris, das ist ja eine nette Überraschung!
Ich wusste gar nicht, dass du jemals verliebt gewesen bist."
"Nun, Verliebtheit kann man es eigentlich nicht nennen",
erwiderte Chris in dem verzweifelten Versuch, ihren Stolz zu
wahren. "Ich mochte ihn nicht einmal. Er war frech und
ungehobelt, und er scherte sich keine Spur um das, was andere
Leute von ihm dachten."
"Das klingt geradezu unwiderstehlich!" sagte Serena.
"Warum gehst du nicht hinüber und begrüßt ihn?"
"Nein!" protestierte Chris viel zu schnell und hätte sich dafür
gleich darauf am liebsten auf die Zunge gebissen. "Ich meine, er
- er würde sich wahrscheinlich gar nicht an mich erinnern",
erklärte sie ausweichend.
"Aber warum denn nicht?"
"Ich bin nicht gerade der Typ Frau, den man ewig im
Gedächtnis behält, oder?" Resigniert betrachtete Chris sich im
Spiegel. Aus dem linkischen, schüchternen Teenager war eine
Frau geworden, deren Attraktivität erst auf den zweiten Blick
ins Auge fiel. Chris hatte sich schon lange damit abgefunden,
dass sie niemals eine Schönheit sein würde. Nur ihre
ungewöhnlich schönen bernsteinfarbenen Augen ließen
vermuten, dass sich hinter ihrer kühlen Zurückhaltung noch
mehr verbarg.
"Na, ich weiß nicht", erwiderte Serena nachdenklich, "Du
stichst zwar nicht unbedingt aus der Masse hervor, aber du hast
ein Gesicht, das sich einem einprägt, obwohl ich nicht sagen
könnte, warum. - Egal, wenn du dich so gut an diesen Mann
erinnerst, wird er dich wahrscheinlich auch im Gedächtnis
behalten haben", behauptete sie.
Chris schüttelte amüsiert den Kopf. "Ich habe einen sehr
guten Grund, mich an ihn zu erinnern. Welches Mädchen
vergisst schon den ersten Kuss?"
"Chris!" stieß Serena so laut hervor, dass sich einige Leute in
ihrer Nähe umdrehten und sie anstarrten. Auch Luke schien
etwas gehört zu haben, denn er blickte in ihre Richtung. Chris
drehte sich hastig um, damit er ihr Gesicht nicht sah.
"Psst!"
"Entschuldige", flüsterte Serena und verfiel damit ins andere
Extrem. "Wirklich, Chris, du bist mir vielleicht eine! Hat er dich
wirklich geküsst? Wie romantisch!"
"Es war überhaupt nicht romantisch", widersprach Chris
ernsthaft.
"Komm, nun rück schon heraus mit der Sprache", sagte
Serena neugierig.
Chris seufzte. Hätte sie doch nur diesen verdammten Kuss
nie erwähnt! Jetzt würde Serena keine Ruhe geben, bis sie die
ganze Geschichte erfuhr.
"Erinnerst du dich an den heißen Sommer, bevor wir in die
Oberstufe kamen?" Als Serena nickte, fuhr Chris fort: "Ich bin
wie üblich nach Hause gefahren, aber da Veronique in dem Jahr
in Frankreich war, fühlte ich mich ziemlich einsam. Die anderen
Jugendlichen im Dorf wollten nichts mit mir zu tun haben, weil
ich im Herrenhaus wohnte und ein Internat besuchte. Sie hielten
mich für hochnäsig. Und außerdem war meine Mutter Französin
und etwas flatterhaft." Chris lächelte leicht. Heute konnte sie
gleichmütig darüber sprechen, doch so jung, wie sie damals war,
hatte es ihr sehr weh getan.
"Wie dem auch sei, schließlich fr eundete ich mich mit einem
Mädchen namens Anne an, das einige Meilen entfernt wohnte.
Ich mochte sie eigentlich nicht besonders, aber sie war
immerhin besser als niemand. Sie hatte eine ältere Schwester,
Helen."
Chris schwieg und dachte an Helen und an jenen langen,
heißen Sommer.
"Und weiter?" drängte Serena.
" Helen war sehr eng mit Luke Hardman befreundet", fuhr
Chris fast widerwillig fort. "Sie wollte nur ein bisschen Spaß
haben - so ähnlich drückte sie es aus. Ihre Eltern waren außer
sich geraten, wenn sie von dieser Sache erfahren hätten, und so
benutzte sie Anne und mich als Alibi. Helen erzählte zu Hause,
dass sie mit uns ausreite. Wir nahmen jedes Mal den Weg durch
den Wald, wo sie sich mit Luke traf. Und dann wurden Anne
und ich für einige Stunden fortgeschickt."
Chris konnte sich noch immer sehr gut an das Kribbeln
erinnern, das sie verspürt hatte, wenn Luke zu Helen
hinauflächelte, an seinen Gesichtsausdruck, wenn er ihr vom
Pferd half. Die offenkundige, unmittelbare Sexualität, die die
beiden umgab, hatte Chris ihre eigene Unschuld und Naivität
um so deutlicher und unangenehmer bewusst werden lassen,
Luke hatte sie, Chris, nicht einmal bemerkt.
"Helen war ganz furchtbar hinter ihm her", fuhr sie fort.
"Doch hinter seinem Rücken machte sie sich über ihn lustig,
nannte ihn anderen gegenüber einen Bauerntölpel, weil er ihrer
Meinung nach nicht die richtigen Umgangsformen hatte. Ich
hasste das."
"Also eine richtige Hexe", stellte Serena fest. "Wusste Luke,
wie sie wirklich war?"
Chris hob die Schultern. "Luke ließ nie jemanden merken,
was er dachte. Aber er fand bald die Wahrheit über sie heraus.
Eines Tages hatten wir uns wieder verabredet, um wie üblich in
den Wald zu reiten und Luke zu treffen. Da erschien Helen und
verkündete, nicht mitzukommen. Sie habe eine Einladung nach
Südfrankreich erhalten, wo die Männer ohnehin viel erfahrener
seien. Ich fragte sie, ob sie es Luke sagen wolle, worauf sie
lachte und sagte, wir sollten ihn einfach im Wald warten lassen,
er werde schon noch früh genug alles erfa hren. Die Art, wie sie
lachte, werde ich nie vergessen. "
"Und was habt ihr getan?"
"Anne wollte alles so machen, wie Helen es vorgeschlagen
hatte, doch ich konnte ihn einfach nicht da sitzen und warten
lassen. Es klingt zwar dumm, aber ich wollte nicht, dass er so
gedemütigt würde. Deshalb ging ich allein in den Wald und
sagte ihm, dass Helen nicht kommen werde."
"Und wie hat er es aufgenommen?"
"Er war wütend. Er schrie und tobte zwar nicht, aber in
seinen Augen stand kalte Wut. Es war furchtbar. Ich wünschte,
nicht hingegangen zu sein, denn in dem Moment schien er mich
zum erstenmal überhaupt wahrzunehmen. Er erkundigte sich, ob
Helen mich geschickt habe, um ihr hinterher zu berichten, wie
sehr ihn diese Nachricht mitgenommen habe. Und als ich
protestierte, fragte er, ob ich gekommen sei, um mich als Ersatz
anzubieten." Die Erinnerung daran trieb Chris das Blut in die
Wangen. "Es war schrecklich. Ich versuchte, wegzurennen, aber
er packte mich am Handgelenk und hielt mich fest."
Unwillkürlich blickte sie auf ihr Handgelenk hinunter, als
seien dort noch die Spuren seiner Finger sichtbar. Seine Hände
waren sehr stark gewesen. Es war, als könnte sie immer noch
den eisenharten Griff spüren, mit dem er sie gezwungen hatte,
den Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen.
"Und dann hat er dich geküsst?" erkundigte Serena sich
neugierig. Beide hatten inzwischen den Lärm und das Gedränge
um sie her vergessen.
Chris nickte.
Serena blickte zu Luke hinüber und rückte näher an Chris
heran.
"Wie war es denn?" flüsterte sie. "Kannst du dich noch daran
erinnern?"
Kannst du dich noch daran erinnern? Chris' Augen bekamen
einen seltsamen Glanz. Sie würde es niemals vergessen. Die
angstvolle Erwartung, die sie empfunden hatte, als er sie
ungestüm in die Arme zog, war immer noch in ihr lebendig.
Seine rauen Hände auf ihren nackten Armen, die unerwartete
Wärme seiner Lippen, der bittere Zorn in seinen Augen - Chris
erinnerte sich an alles. Sie sah den sonnengesprenkelten
Schatten der Bäume, roch den würzigen Duft des Waldbodens
an jenem heißen, stillen Nachmittag.
Chris war noch nie vorher geküsst worden. Sie hatte nicht
gewusst, wie stark der Körper eines Mannes sein konnte oder
dass seine Lippen fest und ungestüm und gleichzeitig zärtlich
sein konnten. Sie hatte nichts geahnt von der beunruhigenden
Erregung, die in ihr aufstieg, als er die Hände über ihre nackten
Arme gleiten ließ, oder von der schmerzlichen Begierde, die die
Berührung seiner Lippen in ihr auslöste und die alle Angst und
Abneigung in ihr auslöschte.
O ja, all das war immer noch in ihr lebendig! Aus den
Augenwinkeln konnte sie Luke beobachten. Er sah gelangweilt
und gereizt aus, als warte er auf jemanden, der sich verspätet
hatte. Doch sein Mund war genauso, wie Sie ihn in Erinnerung
behalten hatte.
"Es war eben nur ein Kuss", sagte sie. Niemals wieder war
sie so geküsst worden.
"Oh." Serena war ganz offensichtlich enttäuscht. "Hat er
hinterher noch etwas zu dir gesagt?"
Nachdem er sie schließlich losgelassen hatte, blickte Chris
ungläubig zu ihm auf, erschüttert und benommen von der
Heftigkeit ihrer eigenen Reaktion. Luke betrachtete sie mit
zusammengekniffenen Augen, als wäre er überrascht, sie in
seinen Armen zu finden, und trat hastig einen Schritt zurück.
Der Widerwille in seinem Blick traf sie wie ein Schlag ins
Gesicht, und sie zuckte unter der brennenden Demütigung
zusammen.
"Er sagte: ,Geh nach Hause, Christine, und werde
erwachsen'", fuhr Chris langsam fort. Im Geist durchlebte sie
noch einmal jenen schrecklichen Moment, bevor sie sich
umgedreht hatte und vor seinem verachtenden Blick geflohen
war.
"Christine? So hat er dich genannt?" Serenas Neugier war
erneut geweckt. "Ich dachte, alle nennen dich nur Chris."
"Zu Hause nicht. Meine Mutter rief mich immer Christine, in
der französischen Form, und in ganz Chittingdene war ich nur
als Christine bekannt. Erst im Internat wurde ich nur Chris
genannt." Aha." Serena riskierte einen weiteren Blick auf Luke.
"Was passierte, als ihr euch das nächste Mal traft?"
"Ich habe ihn nie wiedergesehen. Kurz darauf hat er das Dorf
verlassen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch einmal dort war.
Einige Monate später starb Dad, und meine Mutter hatte es eilig,
das Haus zu verkaufen und mit uns nach Frankreich zu
übersiedeln. Ich bin niemals nach Chittingdene zurückgekehrt.
Heute Abend habe ich Luke zum erstenmal wiedergesehen."
"Ich frage mich, ob er dich wohl wiedererkennen würde",
sagte Serena nachdenklich.
"Bestimmt nicht. Erinnerst du dich, wie ich mit sechzehn
ausgesehen habe, Serena? Dicke Brillengläser und Haare, die
nach allen Seiten abstanden! Zum Glück habe ich mich seitdem
verändert. Er würde mich nie wiedererkennen. Schließlich war
ich nicht wie Helen."
"Warum - wie hat sie denn ausgesehen?"
"Sie war..." Chris schwieg und blickte wie gebannt in den
Spiegel, in dem sie Luke sehen konnte. Sein Gesicht hellte sich
auf, als jetzt eine Frau zu ihm trat. Sie legte ihm besitzergreifend
eine Hand auf den Arm und nahm das Glas, das er ihr reichte. Es
schien ihr überhaupt nicht leid zu tun, dass sie ihn hatte warten
lassen.
"Du kannst dir sofort selbst ein Bild von ihr machen", sagte
Chris mit merkwürdig ausdrucksloser Stimme. "Die Frau, die
neben ihm steht - das ist Helen."
Schon mit achtzehn Jahren war Helen eine strahlende,
herausfordernde Schönheit gewesen, und die vergangenen zehn
Jahre hatten ihr nur noch mehr Glanz und eine subtile,
gekünstelte Exotik verliehen. Sie hatte schräge grüne Augen,
und das silberblonde Haar fiel ihr in dichten, glänzenden Wellen
bis auf die Hüften. In dem kurzen, schulterfreien Kleid aus
türkisfarbener Seide sah sie wirklich atemberaubend aus.
"Aber das ist doch Helen Slayne, nicht wahr?" "Stimmt."
Chris sah Serena überrascht an. "Kennst du sie etwa?"
"Wer würde ein berühmtes Fotomodell nicht kennen? In
letzter Zeit sieht man ihr Bild in allen Modemagazinen. Ihr
Haarschnitt ist in England zu einer Art Markenzeichen
geworden. Du kennst sie wahrscheinlich nicht, weil du dich
nicht besonders für Mode interessierst und außerdem in
Frankreich warst. Sie sieht wirklich fabelhaft aus, findest du
nicht?"
"Ja", erwiderte Chris trocken, "noch besser als früher."
Ein dumpfer Schmerz brannte in ihrem Innern. Warum
überraschte es sie so, Luke hier mit Helen zu sehen? Wie töricht
von ihr, enttäuscht zu sein, weil Luke sich offenbar zum
zweitenmal von dieser glitzernden Schönheit hatte einfangen
lassen! Er besaß anscheinend weniger Stolz, als sie, Chris,
angenommen hatte. Und außerdem war es seine eigene Sache,
wenn er sich unbedingt wieder zum Gespött der Leute machen
wollte.
Da Luke mit Helen an seiner Seite ohnehin niemand anders
im Raum bemerken würde, hielt Chris es für ungefährlich, sich
umzudrehen und ihn direkt zu beobachten. Wie merkwürdig,
dass ihr nach dieser langen Zeit alles an ihm immer noch so
vertraut erschien. Seine Haltung, die Art und Weise, wie er den
Kopf drehte, die harte Linie seines Mundes - überhaupt sein
Mund ... Immer schon hatte ein Hauch von Arroganz Luke
umgeben, eine Art von rücksichtslosem Stolz. Aber wie konnte
er dann dort stehen und Helen so anlächeln, nach allem, was sie
ihm angetan hatte?
Als habe er ihre unausgesprochene Frage verstanden, hob
Luke in diesem Moment den Kopf und blickte über Helens
Schulter hinweg Chris direkt ins Gesicht, in dem unverhüllte
Missbilligung stand.
Chris' Herz tat einen beunruhigenden Satz, als sie in seine
schiefergrauen Augen sah. Selbst über diese Entfernung hinweg
fühlte sie sich wie hypnotisiert von Lukes hartem, kaltem Blick.
Sie wollte sich abwenden, doch seine Augen hielten sie
gefangen. Es war, als wären sie beide allein im Raum. Serena
und Helen, das Stimmengewirr und Gedränge um sie her, alles
war vergessen. Es gab nur noch diese undurchdringlichen
grauen Augen und das laute Pochen ihres Herzens.
Plötzlich trat vor ihr ein Paar zurück, um anderen Gästen den
Weg zur Bar freizugeben, und schob sich zwischen sie und
Luke.
Chris schluckte und schloss die Augen. Zu ihrem Ärger
fühlte sie, dass ihr die Wangen brannten.
"Glaubst du, er hat dich trotz allem erkannt?" fragte Serena
aufgeregt. Sie hatte den Blickkontakt zwischen Luke und Chris
interessiert beobachtet.
"Nein", erwiderte Chris kurz angebunden, während sie sich
verzweifelt bemühte, die Beherrschung zurückzugewinnen. Ihr
Herz klopfte immer noch beängstigend schnell und
unberechenbar. "Nein, ich glaube nicht", wiederholte sie,
diesmal ruhiger. Lukes Blick war so undurchdringlich wie
immer gewesen, und sie hätte schwören können, dass keine Spur
des Erkennens in ihm gelegen hatte, nur so etwas wie amüsierte
Verachtung.
Serena wollte noch etwas sagen, doch da übertönte den Lärm
der Leute eine Glocke - sehr zu Chris' Erleichterung.
"Komm schon, trink aus", sagte sie zu Serena und leerte
hastig ihr Glas. "Der zweite Akt beginnt."
Sie mischten sich wieder unter die Menge, die geräuschvoll
in den Saal zurückkehrte. Serena hatte Luke anscheinend
vergessen und erzählte Chris ausführlich über ihre Versuche,
ihren gutaussehenden Wohnungsnachbarn für sich zu
interessieren. Wahrend des anschaulichen Berichts ihrer
Freundin verdrehte Chris die Augen und lachte laut heraus.
Dieses Lachen war warm und ansteckend und veränderte ihr
sonst so beherrschtes Gesicht - doch dann wurde sie schlagartig
wieder ernst. Erneut fand sie sich Luke Hardmans hartem,
kaltem Blick ausgeliefert.
Er und Helen leerten ohne Hast ihre Gläser, während die
Menge an ihnen vorbeidrängte. Luke Hardman war kein Mann,
der seine Zeit damit verschwendete, mit anderen Leuten in einer
Schlange anzustehen.
Jetzt hob er sein Glas und prostete Chris zu, und sein leichtes,
amüsiertes Lächeln trieb ihr das Blut in die Wangen. Sie blieb
wie angewurzelt stehen und spürte kaum, dass die Leute hinter
ihr sie anstießen.
"Könnten Sie vielleicht weitergehen? Sie versperren die Tür,
und das Stück geht gleich weiter!" Die ungeduldige Stimme
hinter ihr brachte Chris wieder in die Wirklichkeit zurück, und
sie wandte den Blick schnell von Luke ab.
"Oh - tut mir leid", murmelte sie und beeilte sich, Serena
einzuholen.
Obwohl Chris das Stück vorher sehr interessant gefunden
hatte, saß sie während des zweiten Akts da und hörte kaum ein
Wort. Die Begegnung mit Luke nach so vielen Jahren machte
sie gereizt und unruhig. Sosehr sie auch versuchte, sich auf das
Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren, ihre Gedanken
kehrten immer wieder zu jenem heißen Nachmittag im Wald
zurück, zu den Gefühlen, die Luke bei ihr geweckt hatte, als er
sie in die Arme zog.
Plötzlich merkte sie, dass die Leute um sie aufstanden und
begeistert applaudierten. Als Serena ihr einen neugierigen Blick
zuwarf, begann Chris, hastig zu klatschen, doch ihre Gedanken
waren immer noch bei Luke. Nun hör endlich auf, weiter über
die Vergangenheit nachzugrübeln, befahl sie sich schließlich.
Ihre Begegnung heute Abend war nichts als merkwürdiger
Zufall, und es schien sehr unwahrscheinlich, dass Luke ihr noch
einmal über den Weg laufen würde. Dennoch ertappte sie sich
dabei, dass sie nach ihm Ausschau hielt, als sie das Theater
verließen. Sie ging absichtlich langsam, bis Serena darauf
aufmerksam wurde und sich erkundigte, was mit ihr los sei.
"Nichts", erwiderte Chris schnell. Warum nur war sie so
enttäuscht, dass Luke anscheinend schon gegangen war?
"Du bist plötzlich so still", sagte Serena misstrauisch,
"Meine Kontaktlinsen bringen mich halb um", log Chris,
während sie zur nächsten U-Bahnstation gingen. "Das kommt
sicher von all dem Rauch in der Bar."
Am Eingang der Station zeigten sie ihre Monatskarten vor
und mischten sich dann unter die Menge, die sich vor den
Rolltreppen zu den Gleisen drängte. "Wie sieht es eigentlich mit
deiner Stellungsuche aus?" erkundigte Serena sich und drehte
sich zu Chris um, als sie endlich auf der Rolltreppe standen.
"Hast du schon etwas Passendes gefunden?"
Chris zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Einen
Job brauchte sie im Moment wirklich mehr als alles andere.
"Noch nicht, aber ich habe morgen ein Vorstellungsgespräch.
Die Anzeige klingt recht vielversprechend." Während sie von
der Rolltreppe auf den Bahnsteig traten, kramte sie in ihrer
Handtasche. "Hier, was hältst du davon?"
Serena nahm den Zeitungsausschnitt, den Chris ihr reichte.
",Parlez- vous francais'?" las sie laut vor. "Na ja, das kannst du
auf alle Fälle, Chris!"
Für den dynamischen Direktor unserer erfolgreichen Firma
suchen wir eine zweisprachige Direktionsassistentin. Wir
erwarten: perfektes Französisch, ausgezeichnete Fähigkeiten als
Sekretärin und vorzugsweise Erfahrungen auf
Geschäftsleitungsebene. Sie sollten außerdem sicher im
Auftreten und flexibel sein und sich jederzeit auf
Auslandsaufenthalte einrichten können.
Wir bieten: eine verantwortungsvolle, abwechslungsreiche
Tätigkeit mit überdurchschnittlicher Bezahlung und
Aufstiegsmöglichkeiten.
"Chris, das ist wie für dich gemacht!" sagte Serena begeistert.
Nach einem Blick auf das Gehaltsangebot am Ende der
Annonce, stieß sie einen leisen Pfiff aus. "Himmel, bei einer
solchen Bezahlung könnte ich auch nicht widerstehen!"
"Ich weiß." Chris ließ die Anzeige wieder in der Tasche
verschwinden, während sie langsam den Bahnsteig
entlanggingen. ,Es klingt alles ein bisschen zu schön, um wahr
zu sein, findest du nicht? Aber ich muss bald etwas finden.
Wenn ich gewusst hätte, wie schwer es ist, in England einen
einigermaßen guten Job zu kriegen - ich glaube, ich hätte meine
Stelle in Dijon nicht so schnell aufgegeben!"
"Aber du bereust doch nicht etwa, dass du nach England
zurückgekommen bist, oder?"
"Nein." Chris schüttelte den Kopf. "Ich habe den Job dort
vier Jahre lang gemacht. Es war ohnehin Zeit, mir etwas anderes
zu suchen. Und die Tatsache, dass Michelle in England auf die
Schule geschickt werden sollte, machte es mir noch leichter,
Frankreich zu verlassen."
"Also, ich finde, es ist ein ziemlich starkes Stück von
Veronique und Alain, an die Elfenbeinküste zu gehen und von
dir zu verlangen, sich um ihre Tochter zu kümmern". sagte
Serena erbost.
"Irgendwann hätten sie Michelle ohnehin auf ein Internat
schicken müssen", beschwichtigte Chris sie. "Veronique hat es
sich in den Kopf gesetzt, dass ihre Tochter zweisprachig
aufwachsen und deshalb für mindestens ein Jahr auf eine
englische Schule gehen müsse, genau wie sie selbst. Und jetzt
bietet es sich geradezu an, weil Alain aus beruflichen Gründen
nach Afrika gehen muss."
"Nun, es ist ja auch sehr angenehm für die beiden, dass du
bereitwillig deinen Job aufgegeben hast, um in Michelles Nähe
zu sein", kommentierte Serena trocken
"Oh, Michelle ist eigentlich nur ein Vorwand. Schließlich
konnte ich meiner Mutter schlecht erzählen, dass ich ihren
neuen Mann nicht leiden kann, oder? Es war wirklich eine sehr
unangenehme Atmosphäre. Thierry und ich mussten uns
anstrengen, höflich zueinander zu sein, und die arme ,Maman'
dazwischen! Andererseits wollte ich ihr nicht das Gefühl geben,
ich ginge wegen Thierry fort. Das hätte sie furchtbar aufgeregt.
So erzählte ich ihr, nach England gehen zu wollen, um mich ein
wenig um Michelle zu kümmern. Übrigens war das wirklich
einer der Gründe. Ich habe Mitleid mit Michelle, weil ich mich
noch gut daran erinnern kann, wie es ist, wenn man ins Internat
kommt und es ist niemand da, der einen am Wochenende abholt
und sich um einen kümmert. Irgendwie fühlte ich mich überall
als Ausländerin: in England als Französin, in Frankreich als
Engländerin. Deshalb kann ich Michelle das nachempfinden.
Schließlich bin ich ihre Tante - und außerdem war es für mich
kein Opfer, nach England zurückzukehren."
Chris steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke und
lächelte Serena zu. "Meine Mutter, Veronique und Alain finden,
ich verhalte mich wunderbar und selbstlos, aber in Wirklichkeit
denke ich vor allem an mich. In Dijon habe ich mich nie richtig
wohl gefühlt. Ich bin eigentlich nur dort geblieben, weil ich
dachte, Maman würde nie allein zurechtkommen - du weißt ja,
wie unpraktisch sie ist! Außerdem hatte ich einen guten Job, den
ich nicht so ohne weiteres aufgeben wollte. Aber jetzt ist ja
Thierry da, der sich um Maman kümmert. Und ich glaube fest,
ihr ist es ganz recht, dass ich nicht ständig in seiner Nähe bin -
schließlich kann man mich nicht mehr unbedingt als kleines
Mädchen bezeichnen!" Chris betrachtete nachdenklich ein
großes Plakat an der gegenüberliegenden Wand der U-
Bahnstation, das mit riesigen Lettern für den "Frühling in Paris"
warb. "Eigentlich hätte ich es gar nicht besser treffen könne n. In
den letzten Jahren habe ich England sehr vermisst. Ich hätte
schon früher zurückkommen sollen."
"Nun, ich hoffe jedenfalls, du wirst bleiben." Serena drückte
Chris' Arm liebevoll. "Es ist gut, dich wieder hier zu haben. Jetzt
brauchst du nur noch diesen Job!"
2. KAPITEL
Der Fahrstuhl war von innen ganz mit Spiegeln verkleidet.
Chris überprüfte noch einmal ihr Aussehen, zog ihre
Kostümjacke glatt und strich sich eine widerspenstige
Haarsträhne aus der Stirn.
So ungern sie es sich auch eingestand - sie brauchte diese
Stelle. Das Leben in London war sehr viel kostspieliger, als sie
es sich vorgestellt hatte, ihre Wohnung nicht gerade billig und
bald die erste Miete fällig. Überdies hatte sie es satt, von einem
Vorstellungsgespräch zum nächsten zu laufen. Serena und
andere Freunde neckten sie oft, weil sie ein ordnungsliebender
Mensch war, und tatsächlich vermisste Chris die tägliche
Routine des Aufstehens und Arbeitens.
Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. Dem Anlass
entsprechend hatte sie sich sehr sorgfältig zurechtgemacht und
ein graues Kostüm und eine hochgeschlossene weiße Bluse
gewählt. Ihr dichtes braunes Haar war streng aus dem Gesicht
gekämmt und mit einem Schildpattkamm befestigt.
Sie wirkte gepflegt, tüchtig und - etwas langweilig, wie Chris
sich selbstkritisch eingestehen musste. Kein Wunder, dass Luke
Hardman sich nicht an sie erinnert hatte! Man konnte sie zwar
nicht gerade als unansehnlich bezeichnen, aber es war auch
nichts Besonderes an ihr. Sie war eben nur Chris, die kühle,
beherrschte, tüchtige Chris, und so wirkte sie auch.
Ich sehe wie die ideale Sekretärin aus, überlegte sie nüchtern,
während die Fahrstuhltüren sich auf einen mit dickem
Teppichboden belegten Korridor öffneten. Als Chris den Lift
verließ, trat eine nervös wirkende, rothaarige Frau auf sie zu.
"Miss Finch? Ich bin Paula Stephens. Wir haben ja schon
telefoniert." Miss Stephens schien sehr erleichtert über Chris'
sicheres, sachlich wirkendes Auftreten. "Ich hätte Ihnen gern
erst etwas über den Arbeitsplatz erzählt, bevor Sie mit dem
Geschäftsführer sprechen, aber er hat heute leider nur wenig
Zeit. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie zuerst zu
ihm bringe und wir uns dann später unterhalten?"
"Natürlich nicht", erwiderte Chris höflich und fragte sich, ob
dieser Geschäftsführer auch die Ursache für Miss Stephens'
Nervosität war.
Paula führte sie den Flur entlang in ein Büro, einen großen,
hellen Raum, der mit modernsten Textverarbeitungsgeräten
ausgestattet war. "Das hier wäre dann Ihr Zimmer", sagte sie,
bevor sie die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern
senkte: "Und dort ist sein Büro." Sie nickte in Richtung einer
Tür auf der anderen Seite des Raums.
Chris beobachtete, wie Paula die Schultern straffte, während
sie auf diese Tür zuging und zaghaft klopfte. Ein ungeduldiges
"Ja bitte!" war zu hören, worauf die junge Frau die Tür öffnete.
"Miss Finch ist jetzt hier", sagte sie nervös zu jemandem im
anderen Zimmer.
"Schon gut, schon gut", hörte Chris eine schroffe Stimme
sagen, und Paula trat zurück. Chris wunderte sich über den
seltsam mitfühlenden Gesichtsausdruck der jungen Frau, als sie
ihr winkte, näher zu treten, und die Tür hinter ihr schloss.
Sie stand in einem riesigen, hohen Raum, dessen Fenster auf
die elegante Knightsbridge Street hinausgingen. Einen Moment
war sie verunsichert, denn sie schien ganz allein im Zimmer zu
sein. Doch gleich darauf hörte sie wieder die tiefe Stimme.
"Setzen Sie sich, wenn Sie unbedingt wollen. Ich habe noch
etwas zu erledigen."
Die Stimme kam von einem großen, hochlehnigen Drehstuhl,
der weg vom Schreibtisch zum Fenster hin gedreht war, so dass
Chris nur die Rückenlehne sehen konnte. Chris zog eine
Augenbraue hoch. Der Mann schien überhaupt keine Manieren
zu haben. Sie nahm einen der Stühle, die an der Wand aufgereiht
waren, und rückte ihn vor den Schreibtisch. Gelassen nahm sie
Platz, strich sich den Rock glatt und faltete die Hände im
Schoss. Der Stuhl war sehr unbequem, die niedrigen, weichen
Ledersessel, die überall herumstanden, sahen dagegen sehr
einladend aus. Doch wenn sie sich in einen setzte, wäre sie
sicherlich im Nachteil. Und sie hatte das unbestimmte Gefühl,
dass sie sich alles zunutze machen musste, was sich nur anbot,
wollte sie mit diesem Mann fertig werden.
Einige Minuten vergingen. Das einzige Anzeichen, das auf
die Gegenwart eines anderen Menschen schließen ließ, war das
Rascheln von Papier. Chris wartete, zunächst gelassen, dann
immer nervöser und ungeduldiger. Einige Male war sie fast
versucht, aufzustehen und zu gehen. Doch ihre Vernunft gewann
immer wieder die Oberhand. Sie dachte an das großzügige
Gehalt, an die fällige Miete und ob es sich lohnte, die Aussicht
auf eine gute Stelle zu riskieren, indem sie jetzt einfach
hinausstürmte und eine zweifellos peinliche Szene
heraufbeschwor.
Schließlich sprach er. "Wie mein Personalchef mir berichtet
hat, behaupten Sie also, fließend Französisch zu sprechen?"
Ich behaupte es nicht nur, ich kann es", korrigierte Chris ihn
eisig.
"Ich habe schon viele junge Frauen gesehen, die alle sagten,
sie sprächen Französisch, am Ende aber kaum ein Wort
hervorbrachten. Oh, natürlich war ihr Französisch nur ein wenig
eingerostet." Bei den letzten Worten imitierte er verächtlich eine
weibliche Stimme. "Ehrlich gesagt, ich habe keine Lust, meine
Zeit noch weiter an Sie zu verschwenden, wenn Sie nicht
wirklich perfekt Französisch können."
"Ich hatte bisher nicht bemerkt, dass Sie Ihre Zeit an mich
verschwenden." Chris machte sich keine Mühe, ihre Gereiztheit
zu verbergen. "Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich sehr gut
Französisch spreche. Ich bin zweisprachig aufgewachsen."
"Beweisen Sie es."
"Wie bitte?"
"Beweisen Sie es. Sagen Sie etwas auf französisch."
"Nun... Was soll ich denn sagen?" erkundigte Chris sich
vorsichtig.
"Egal, irge nd etwas." Er klang ungeduldig und gereizt.
"Irgendetwas. N'importe quoi."
Er sprach Französisch mit einem solch schrecklichen Akzent,
dass es Chris innerlich schüttelte. Plötzlich begannen ihre Augen
zu funkeln.
"N'importe quoi?" wiederholte sie amüsiert. Da er so
offensichtlich selbst kein Französisch sprach, konnte sie ihrem
Ärger endlich Luft machen. "Ich weiß nicht so recht, was ich zu
einem Stuhl sagen soll", fuhr sie in fließendem Französisch fort,
wobei sie darauf achtete, ruhig und gleichmütig zu klingen.
"Bisher bin ich noch nie in diese Verlegenheit gekommen. In
Frankreich sind wir nämlich etwas höflicher. Wir stehen auf und
begrüßen die Leute, wenn sie ins Zimmer kommen. Aber hier
herrschen anscheinend andere Sitten. Um ehrlich zu sein, wenn
ich diesen Job nicht sehr vielversprechend finden würde, wäre
ich schon vor zehn Minuten aufgestanden und gegangen.
Allerdings bin ich mir jetzt nicht mehr sicher, ob ich diese Stelle
wirklich will. Schließlich würde es bedeuten, dass ich mit
jemandem zusammenarbeiten muss, der sich nicht einmal die
Mühe macht, sich umzudrehen, wenn ich mit ihm rede", fügte
sie nachdenklich hinzu. ,.Ich finde, für ein so schlechtes
Benehmen gibt es einfach keine Entschuldigung, und ..." Sie
schwieg, als der Schreibtischstuhl herumschwang. "Das reicht,
vielen Dank." Der unverbindliche Ton des Mannes überzeugte
Chris, dass er wirklich kein Wort verstanden hatte, aber im
nachhinein fühlte sie sich doch erleichtert,
Immer noch konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Er hatte den
Kopf über einige Schriftstücke gebeugt und machte sich
sorgfältig mit einem Bleistift Notizen am Rand. Sie sah nur sein
dunkles Haar. Seine Arroganz grenzte an Unverschämtheit, und
Chris betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Wie
immer er auch in die Stellung eines leitenden Direktors dieser
Firma gelangt war - durch seinen Charme bestimmt nicht!
Schließlich legte er die Papiere und den Bleistift auf die
Schreibtischplatte und sah auf. Luke Hardman!
Chris hatte das Gefühl, ihr Herzschlag setzte aus. Und
während sie Luke wie erstarrt ungläubig einen langen, unendlich
langen Moment in die blaugrauen Augen blickte, konnte sie an
nichts anderes denken als daran, ob ihr Herz wohl jemals wieder
zu schlagen anfangen würde.
Ihr schien eine Ewigkeit vergangen zu sein - obwohl es
wahrscheinlich nicht mehr als einige Sekunden gewesen waren -
, als Lukes beunruhigender Blick sie wieder in die Wirklichkeit
zurückbrachte.
"Ist irgend etwas?" fragte Luke misstrauisch, während sie ihn
immer noch in ungläubiger Verblüffung betrachtete.
Nach dem ersten Schreck gewann Chris jedoch schnell die
Kontrolle über sich zurück. Jetzt bemerkte sie auch, dass in
seinen Augen keine Spur von Erkennen lag. Seit ihrer
Begegnung im Theater gestern Abend hatte sie sich in Gedanken
so sehr mit ihm beschäftigt, dass sie kaum glauben konnte, ihm
sei es mit ihr nicht genauso ergangen. Er musste doch erstaunt
sein, das linkische, naive Mädchen, das damals nach seinem
Kuss davongerannt war, plötzlich hier vor sich zu sehen. Ebenso
erstaunt wie sie, die jetzt herausfand, dass der Rebell von
Chittingdene sich in einen erfolgreichen Geschäftsmann
verwandelt hatte! Das war das letzte, was sie erwartet hatte.
Doch diese Erkenntnis war einseitig, das merkte sie jetzt, so
einseitig wie gestern Abend, so einseitig wie vor zehn Jahren
Eigentlich hätte Chris erleichtert sein sollen. Statt dessen stieg
plötzlich so etwas wie Gereiztheit in ihr auf. War sie denn
wirklich so unauffällig, dass Luke sich überhaupt nicht an sie
erinnerte? Doch zumindest half ihr dieses Gefühl, die Fassung
zurückzugewinnen.
"Es tut mir leid, dass ich Sie so angestarrt habe. Ich war nur
überrascht, plötzlich einen Mann vor mir zu haben anstatt eines
Stuhls", sagte sie schließlich, und zu ihrer Befriedigung gelang
es ihr, seinem durchdringenden Blick ruhig standzuhalten. Sie
war noch immer so damit beschäftigt, sich von dem Schock zu
erholen, dass sie ganz vergessen hatte, weshalb sie eigentlich
hier war. Luke brachte sie jedoch schnell wieder auf den Boden
der Tatsachen zurück.
"Dann braucht es anscheinend nicht viel, um Sie zu
überraschen, oder?" sagte er mit leiser Verachtung in der
Stimme. Aus einem Stapel von Papieren zog er einen Bogen
hervor. Chris erkannte ihren Lebenslauf, den sie zusammen mit
ihrer Bewerbung an Paula Stephens geschickt hatte, und fragte
sich, ob das Lesen ihres Namens Lukes Gedächtnis wohl
beleben würde.
Die Stirn gerunzelt, studierte Luke die Angaben auf dem
Papier. Chris wartete. Äußerlich schien sie ganz ruhig, doch
insgeheim fürchtete sie den Moment, in dem Luke aufblicken
und sie erkennen würde. Doch nach einer Weile stieß er nur
einen unverbindlichen Laut aus und warf das Blatt auf den
Stapel anderer Papiere zurück.
Schweigend lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und
betrachtete sie abschätzend, während er ge istesabwesend mit
einem Bleistift spielte. Chris hob kampfbereit das Kinn und
zwang sich, seinen Blick ruhig zu erwidern.
"Nun, Französisch sprechen können Sie jedenfalls, das gebe
ich zu, Miss . .. Wie ist Ihr Name?" Luke lehnte sich vor und
warf einen Blick auf ihren Lebenslauf. "Chris.. .Ja, Chris, das
muss ich wirklich zugeben. Aber das allein macht noch keine
gute Sekretärin aus. Wie ist es mit Schreibmaschine und Steno?
Können Sie das auch so gut?"
"Da steht doch, dass ich es kann." Chris deutete auf ihren
Lebenslauf. Inzwischen hatte sie sich von ihrer Überraschung
erholt und wurde von Minute zu Minute gereizter. Er hatte
anscheinend keine Ahnung, wie man mit Menschen umging!
Seine zynische Gleichgültigkeit, die sie vor zehn Jahren so
eingeschüchtert hatte, wirkte zwar immer noch auf sie. Doch
jetzt reagierte sie mit Ärger, anstatt sich gedemütigt zu fühlen.
Sie war keine schüchterne Sechzehnjährige mehr, und Luke
würde schon noch merken, dass sie sich seine
Unverschämtheiten nicht gefallen lassen würde, ob es ihm nun
gefiel oder nicht,
"Das weiß ich", sagte Luke. "Und da steht außerdem, dass Sie
alle möglichen hervorragenden Fähigkeiten besitzen, wie man
sie sieh nur wünschen kann," Er tippte mit einem Finger
verächtlich auf ihren Lebenslauf. "Steno und Schreibmaschine
in Englisch und Französisch, und noch dazu außergewöhnlich
schnell. .. Auf dem Papier sieht das alles sehr gut aus, aber ich
möchte wissen, ob Sie wirklich so gut sind, wie Sie behaupten!"
"Wenn ich es nicht wäre, hatte ich es nicht geschrieben",
erwiderte Chris, die inzwischen Mühe hatte, ihren Arger unter
Kontrolle zu halten.
"Tatsächlich? Ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass
Frauen die Wahrheit ein wenig beschönigen, wenn es ihnen
gerade passt! Ich bin sicher, dass Sie Maschineschreiben
können, aber ich bin nicht überzeugt, dass Sie in Ihrem
Lebenslauf die Zahl der Anschläge pro Minute nicht doch ein
wenig erhöht haben - vielleicht nur um zehn oder zwanzig -, um
Ihre Fähigkeiten noch mehr herauszustellen. "
"Ich habe nichts dergleichen getan!" entgegnete Chris so
nachdrücklich, dass Luke überrascht den Kopf hob. Wut blitzte
in ihren bernsteinfarbenen Augen, ließ sie erstrahlen und machte
ihre sonst so ausgeglichene Miene schlagartig lebendig. Luke
runzelte die Augenbrauen und betrachtete Chris finster, doch
diese war zu ärgerlich, um es zu bemerken.
"Sie können doch nicht mit jemandem zusammenarbeiten,
dem Sie von vornherein misstrauen!" fuhr sie außer sich vor
Wut fort. "Wenn Sie soviel Wert auf Geschwindigkeit legen,
können Sie mich meinetwegen auf die Probe stellen. Aber,
ehrlich gesagt, wenn Sie nicht bereit sind, mein Wort zu
akzeptieren, dann kann ich ebenso gut gleich gehen!"
"Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich", sagte Luke
gereizt und warf seinen Stift auf den Schreibtisch. "Ich glaube
Ihnen, dass Sie so unschuldig sind wie frischgefallener Schnee
und all diese hervorragenden Fähigkeiten besitzen, die Sie in
Ihrem Lebenslauf angeben, wenn Sie das glücklich macht." Er
betrachtete sie nachdenklich. "Aber wenn Sie eine so gute
Sekretärin sind - warum sind Sie dann so erpicht auf diese
Stelle?"
"Dessen bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher", sagte
Chris, immer noch ärgerlich.
"Tatsächlich? Ich hatte eher den Eindruck, dass Sie diesen
Job sehr gern hätten - zumindest so gern, dass Sie nicht
aufgestanden und hinausgegangen sind, obwohl ich angeblich
doch so schlechte Manieren habe."
Chris betrachtete ihn überrascht. Natürlich hatte sie vorhin so
etwas gesagt, aber auf französisch - und das konnte er doch
unmöglich verstanden haben. Oder?
Luke beantwortete ihre unausgesprochene Frage mit einem
spöttischen Lächeln. "Ich glaube, ich sollte Ihnen sagen, dass ich
sehr gut Französisch verstehe, auch wenn ich es nicht besonders
gut spreche."
"Oh", sagte sie unbehaglich.
"Oh - tatsächlich", erwiderte er sarkastisch, und Chris wusste,
dass er ihre Verwirrung genoss. Zu allem Überfluss errötete sie
auch noch.
"Nun?" drängte er.
"Es tut mir leid, dass ich so unhöflich war", sagte sie
widerstrebend.
"Sie können unhöflich sein, soviel Sie wollen, aber ich habe
keine Zeit, mich mit einer Sekretärin herumzuplagen, die
beleidigt ist, wenn ich unhöflich bin, oder die mich ständig über
meine Manieren belehren will. Ich habe zuviel zu tun, um mich
mit solchen Nebensächlichkeiten abzugeben!"
"Es sind keine Nebensächlichkeiten", stieß Chris hervor,
ohne weiter nachzudenken. "Wenn Sie wollen, dass Ihre Leute
gute Arbeit für Sie leisten, dann müssen Sie sie auch wie
menschliche Wesen behandeln."
"Ich habe bereits gesagt, dass ich nicht über meine Manieren
belehrt werden möchte!" fuhr Luke sie an, doch Chris ließ sich
nicht von ihm einschüchtern.
"Das sagen alle Leute mit schlechten Manieren!"
Seine Miene verfinsterte sich gefährlich, und er zog drohend
die Augenbrauen zusammen. "Also, wollen Sie diesen Job nun
oder nicht?"
Wollte sie den Job? Chris hatte plötzlich das Gefühl, ihr
würde der Boden unter den Füssen weggezogen. Sie fragte sich,
ob es überhaupt ratsam wäre, für Luke Hardman zu arbeiten.
Wie furchtbar peinlich, wenn er sie irgendwann doch erkannte!
Obwohl das nicht zu erwarten war. Wenn er sich jetzt immer
noch nicht an sie erinnerte, würde er es wahrscheinlich nie mehr
tun. Sie dachte an das Telefongespräch mit Paula Stephens. Die
Beschreibung dieser Stelle hatte sehr viel interessanter
geklungen als die all der anderen Jobs, die sie bisher in
Erwägung gezogen hatte.
Chris betrachtete ihre im Schoß gefalteten Hände. Der
Gedanke an das großzügige Gehalt war schon sehr verlockend.
Luke war zwar unhöflich und unangenehm, doch sie hatte keine
Angst mehr vor ihm. Diese Einsicht kam überraschend.
Natürlich würde er sie manchmal zur Weißglut treiben, aber
merkwürdigerweise war sie sicher, dass sie mit ihm fertig
werden würde.
Erstaunt, aber auch leicht schockiert, wurde sie sich bewusst,
dass sie die Aussicht, sich mit ihm zu messen, sogar aufregend
fand. Die vernünftige, realistische Chris war bisher immer
zufrieden gewesen, wenn sie sich sicher gefühlt hatte und ihr
Leben in ruhigen Bahnen abgelaufen war. Sie hatte sich nie nach
Aufregung gesehnt. Doch plötzlich schien es ihr ganz natürlich,
dass sie Luke gegenüber saß und die Aussicht, für ihn zu
arbeiten, ihr ein erregendes Kribbeln verursachte. Erst gestern
hatte sie ihn zum ersten Mal nach zehn Jahren wiedergesehen,
und heute überlegte sie bereite, ob sie fünf Tage in der Woche
mit ihm verbringen sollte.
"Nun?" wiederholte Luke ungeduldig. "Entscheiden Sie sich
endlich!"
Chris hob den Kopf. "Ja", sagte sie leise, "ich möchte den
Job." "Sie scheinen sich aber nicht sehr sicher zu sein." "Ich bin
mir sicher."
"Warum?" fragte er brüsk. "In Ihrem Lebenslauf steht, dass
Sie eine gute Stelle bei einem Weinexporteur in Dijon hatten.
Warum haben Sie dort gekündigt? Sie scheinen mir nicht gerade
ein Mädchen zu sein, das sich ohne schwerwiegenden Grund
einen neuen Job sucht, oder irre ich mich da?"
"Nein", erwiderte Chris ruhig. "Meine Nichte besucht ein
Internat in England, weil ihre Eltern beruflich einige Zeit in
Afrika verbringen müssen. Sie hat sonst niemanden hier, und
deshalb habe ich mich bereit erklärt, die Wochenenden mit ihr
zu verbringen und mich um sie zu kümmern. Also bin ich nach
England gekommen, um mir hier eine Stelle zu suchen."
"Wie anständig von Ihnen", sagte Luke spöttisch. "Es gibt
sicher nicht viele Tanten, die ihren Job aufgeben und in ein
anderes Land ziehen wurden, nur um bei ihrer Nichte zu sein.
Oder haben Sie noch einen Grund für Ihren Idealismus?"
Sein sarkastischer Ton trieb Chris das Blut in die Wangen.
"Ich wollte ohnehin nach England zurück - aus persönlichen
Gründen" fügte sie ärgerlich hinzu, als er fragend eine
Augenbraue. Warum sollte sie ihm von dem neuen Ehemann
ihrer Mutter erzählen? Ihr Privatleben ging ihn schließlich nichts
an.
"Hm", sagte er. "Aus persönlichen Gründen also. Etwa
Liebeskummer?"
"Nein." Chris verzichtete auf weitere Erklärungen. "Es schien
mir nur eine gute Gelegenheit, nach England zurückzukehren",
sagte sie in abschließendem Ton.
Luke klopfte mit seinem Stift auf die Schreibtischplatte. "Wie
lange haben Sie in Frankreich gelebt? Ihrem Namen nach zu
urteilen sind Sie doch sicher Engländerin?"
Mein Vater ist Engländer, meine Mutter Französin. Ich bin in
England aufgewachsen, doch nach dem Tod meines Vaters
nahm meine Mutter mich mit nach Frankreich. Ich habe die
letzten zehn Jahre dort verbracht."
"Ich verstehe. Und wenn Sie eines Tages Heimweh nach
Frankreich bekommen und dorthin zurückkehren wollen?"
"Das wird nicht passieren. England ist meine Heimat. Ich bin
hier aufgewachsen, habe Freunde hier und fühle mich nicht
einsam. Und auf keinen Fall würde ich meine Nichte Michelle
allein lassen."
Luke stieß unvermittelt seinen Stuhl zurück, stand auf und
ging zum Fenster hinüber. "Meine letzte Sekretärin ist im
Februar gegangen, und inzwischen habe ich genug von diesen
Aushilfen, die in Tränen ausbrechen, sobald ich auch nur einmal
etwas lauter werde. Nun, zumindest sehen Sie nicht so aus, als
wären Sie auch so schreckhaft."
"Bestimmt nicht", erwiderte Chris kühl.
"Was hat Paula Ihnen über die Arbeit hier erzählt?" fragte er
unvermittelt.
"Sie sagte, es sei mehr die Stelle einer persönlichen
Assistentin, dass Sie eine Sekretärin brauchen, aber auch
jemanden, der bereit sei, einen Teil der Verantwortung zu
übernehmen, wenn Sie auf Geschäftsreisen seien."
"Das trifft den Nagel auf den Kopf. Auf keinen Fall will ich
jemanden, der den ganzen Tag da sitzt und sich die Nägel feilt!"
Unwillkürlich blickte Chris auf ihre Hände hinunter. Sie
waren schlank und gepflegt, aber aus praktischen Gründen
schnitt sie sich die Nägel kurz und benutzte niemals Nagellack.
"Wissen Sie etwas über die Arbeit bei ,LPM'?"
"Die Abkürzung steht für London Projekt Management",
begann Chris vorsichtig. "Soweit ich weiß, betreut die Firma im
Auftrag ihrer Kunden größere Bauprojekte."
Luke nickte. Er wandte sich vom Fenster ab, steckte die
Hände in die Taschen und begann, mit großen Schritten durch
den Raum zu wandern, als habe er zuviel Energie, um noch
länger stillzusitzen.
"Unseren Kunden gegenüber kleiden wir es in etwas feinere
Worte, aber im Grunde sind wir nicht mehr als ein Mädchen für
alles. Bei größeren Bauprojekten ist immer eine Vielzahl von
Interessenten beteiligt - Architekten, Berater, Bauunternehmer,
Lieferanten und Sublieferanten. Wir fungieren als eine Art
Verbindung zwischen allen, im Auftrage unserer Kunden. Das
bedeutet, dass wir jederzeit überall auf dem laufenden sein, dass
wir uns mit allen auftretenden Schwierigkeiten beschäftigen
müssen, damit der Kunde auch bekommt, wofür er bezahlt.
Früher habe ich selbst viel Zeit auf den Baustellen verbracht,
aber da sich die Firma in den letzten Jahren sehr vergrößert hat
habe ich den größten Teil der technischen Arbeit auf meine
Ingenieure übertragen. Ich beschäftige mich jetzt vorwiegend
damit, neue Aufträge hereinzuholen, besonders jetzt, da wir
dabei sind, in den internationalen Markt vorzustoßen. Gerade
deshalb brauche ich eine fähige, vertrauenswürdige Assistentin,
die hier die Stellung hält, während ich nicht da bin. Ab und zu
werden Sie mich allerdings auf Geschäftsreisen begleiten
müssen." Luke blieb vor seinem Schreibtisch stehen. "Sind Sie
ungebunden, um jederzeit reisen zu können?"
"Ja, außer wenn Michelle mich an den Wochenenden
besucht."
"Und sonst ist da keiner, der sich aufregt, wenn Sie oft
unterwegs sind? Kein Freund, der beleidigt ist, wenn Sie einmal
nicht pünktlich um halb sechs nach Hause kommen?"
"Nein", antwortete Chris.
Wie merkwürdig, dachte sie, er kommt mir so vertraut vor
und gleichzeitig so fremd. An diesen forschen, aggressiven
Geschäftsmann musste sie sich erst gewöhnen. Doch eine
Drehung seines Kopfes, ein Zucken seines Mundes brachte
sofort die Erinnerung an den Luke zurück, den sie bisher
gekannt hatte, einen ungezähmteren, leichtsinnigeren Luke. Der
Mann, der jetzt unruhig in seinem Büro herumging, wirkte
härter und entschlossener, ehrgeizig und nicht mehr so
aufbrausend wie früher. Seine Verletzlichkeit die sie damals
erahnt hatte, war selbstbewusster Tüchtigkeit wichen. Es
kümmerte ihn nicht, was andere Leute von ihm hielten - er stand
jetzt wieder am Fenster und sah auf die Strasse hinunter.
"Sie machen einen vernünftigen Eindruck", gab er fast
widerwillig zu. Und Sie sind die erste Bewerberin, die wirklich
perfekt Französisch spricht. Wir haben bisher schon einige
Projekte in Australien und den USA betreut, aber ich möchte
mich jetzt verstärkt auf den europäischen Markt konzentrieren.
Auf dem Kontinent eröffnen sich immer mehr interessante
Möglichkeiten, und ich möchte dort der erste sein. Im Moment
bemühen wir uns um ein großes Projekt in Frankreich, und da
ich Französisch zwar sehr gut verstehe, es aber kaum spreche,
benötige ich dringend eine Assistentin, die mich in dieser
Hinsicht unterstützt . Außerdem brauche ich jemanden, der
bereit ist, ebenso hart zu arbeiten wie ich, ohne sich ständig zu
beschweren oder auf seine Rechte zu pochen. Ist das klar?"
"Sonnenklar", erwiderte Chris trocken.
"Es ist nicht leicht, für mich zu arbeiten", warnte er.
"Das habe ich schon gemerkt" , murmelte Chris.
"Als Gegenleistung biete ich Ihnen ein überdurchschnittliches
Gehalt", fuhr Luke fort, ohne auf ihren Sarkasmus einzugehen.
"Und ich erwarte, dass Sie dementsprechend arbeiten. Ich
möchte nicht, dass Sie sich irgendwann beschweren, nicht
gewusst zu haben, worauf Sie sich eingelassen haben."
"Ich habe die Stelle also?" Chris richtete sich auf und
bemühte sich, ein Gefühl der Panik zu unterdrücken.
"Probeweise, für einen Monat", sagte er schnell. "Ich möchte
mich erst vergewissern, dass Sie wirklich all diese
außergewöhnlichen Fähigkeiten haben, bevor ich Ihnen jeden
Monat soviel Geld zahle."
"Sehr schön."
Luke zog eine Augenbraue hoch. "Ist das alles, was Sie dazu
zu sagen haben? Sehr schön? Sie könnten schon ein wenig mehr
Begeisterung an den Tag legen! "
"Sie klingen ja auch nicht gerade begeistert über Ihre neue
Assistentin", erwiderte Chris. Die widerwillige Art, mit der er
ihr das Angebot gemacht hatte, ärgerte sie.
Über den Schreibtisch trafen sich ihre Blicke. Chris' Wangen
waren leicht gerötet, ihre bernsteinfarbenen Augen wirkten
dunkel vor Feindseligkeit. Luke blickte sie finster an. Es war
offensichtlich, dass er Widerspruch nicht gewohnt war. Dann,
ganz plötzlich, verschwand der zornige Ausdruck von seinem
Gesicht.
Langsam ging er um den Schreibtisch auf Chris zu, die hoch
aufgerichtet auf ihrem unbequemen Stuhl saß. Sie musste
unwillkürlich daran denken, dass sein Gang schon immer etwas
Bedächtiges, Vorsichtiges an sich gehabt hatte. Und wieder
wurde sie von Erinnerungen überwältigt, die sich wie ein Film
vor ihren inneren Augen abspulten: Luke, der die verlassene
Dorfstrasse hinunterging, Luke, der Helen vom Pferd
herunterhalf, Luke, der seine Hand an Helens nackten Arm
hinuntergleiten ließ und mit seiner Geste Chris ein Kribbeln
über den Rücken jagte.
Jetzt stand er vor ihr und sah ihr forschend ins Gesicht. Chris
hatte keine andere Wahl, als seinen Blick so kühl zu erwidern,
wie es ihr möglich war. Aus der Nähe gesehen, wirkte er noch
größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, schlanker und
muskulöser. Die Falten um seine Augen waren früher nicht
dagewesen. Obwohl er jetzt erfolgreich war - die letzten Jahre
waren für ihn offensichtlich nicht einfach gewesen.
"Stehen Sie auf", befahl er unvermittelt.
Als Chris missbilligend die Augenbrauen hochzog, stieß er
hervor: "Bitte!"
Sie stand auf.
Luke stieß den Stuhl beiseite und ging langsam um sie
herum. Er betrachtete sie so prüfend, dass Chris vor Wut zu
zittern begann.
"In Ordnung", sagte er schließlich. "Sie haben schöne Beine
und eine gute Figur. Allerdings könnten Sie etwas mehr aus sich
machen."
"Wenn ich gewusst hätte, dass ich an einem
Schönheitswettbewerb teilnehmen soll, hätte ich mich nicht
beworben!" Chris' Augen sprühten vor Ärger, und Lukes Miene
verfinsterte sich.
Er stellte sich vor Chris hin und legte ihr eine Hand unters
Kinn, so dass sie ihm direkt in die Augen sehen musste.
"Ich wusste doch, dass ich Sie von irgendwoher kenne", sagte
er.
3. KAPITEL
Chris erstarrte. Hilflos blickte sie zu Luke auf.
Luke löste behutsam die Spange, die ihr Haar zusammenhielt,
so dass die dichten, glänzenden Locken ihr ins Gesicht und auf
die Schultern fielen. Sie fühlte seine Hände, die ihre Wangen
streiften, als er in ihr Haar griff und es zwischen den Fingern
hindurchgleiten ließ. Und ihr wurde bewusst, wie nah sein
schlanker, muskulöser Körper plötzlich war.
Verwirrt senkte sie den Blick und betrachtete Lukes
Krawatte, die sich direkt vor ihrem Gesicht befand. Dunkelblaue
Seide mit kleinen goldenen Streifen. Warum sagte er nicht
endlich irgend etwas? Wieviel würde er noch von dem
schüchternen, linkischen Mädchen wissen, dass sie einmal
gewesen war? Wurde er sich erinnern, dass er sie geküsst hatte?
Und daran, dass sie seinen Kuss so begierig erwidert hatte?
Bestimmt hatte er damals sofort gemerkt, dass es für sie der
erste Kuss gewesen war.
"Sie waren gestern Abend im Theater."
"Im Theater?" wiederholte Chris töricht. Sie war so damit
beschäftigt gewesen, über die Vergangenheit nachzudenken,
dass sie den gestrigen Abend völlig vergessen hatte. Und dabei
hatte doch erst diese Begegnung all die Erinnerungen ausgelöst.
"Tun Sie nicht so, als würden Sie nicht wissen, wovon ich
spreche! Sie haben mich in der Theaterbar die ganze Zeit
beobachtet. Als Sie vorhin hereinkamen, hatte ich gleich das
Gefühl, Ihnen schon einmal begegnet zu sein. Aber erst eben, als
Sie mich auf diese merkwürdige Art ansahen, fiel es mir wieder
ein. Nun sagen Sie schon: Was habe ich getan, dass ich solche
Missbilligung verdiene?"
Chris stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Luke
erinnerte sich nicht an damals! Plötzlich erschien es ihr völlig
lächerlich, dass sie so etwas auch nur in Erwägung gezogen
hatte. Sie trat einen Schritt zurück, um sich wieder unter
Kontrolle zu bekommen, und fühlte die Schreibtischkante an
ihren Oberschenkeln.
Die Fülle ihres Haars, die ihr frei ins Gesicht fiel,
verunsicherte sie. Hastig strich sie sich die Locken hinter die
Ohren zurück.
"Ich muss etwas getan haben, das Sie beleidigt hat", beharrte
Luke. "Warum hätten Sie mir gestern sonst einen so wütenden
Blick zugeworfen? Das passt überhaupt nicht zu Ihrem spröden
Verhalten. Auch die anderen Leute haben Sie nicht so
angesehen, nur mich. Für Ihre Freundin zum Beispiel hatten Sie
ein sehr nettes Lächeln übrig."
Seine Stimme hatte einen harten Unterton angenommen, und
Chris schluckte. "Sie haben mich nicht beleidigt."
"Und warum dann dieser vernichtende Blick?"
"Ich ..." Chris suchte verzweifelt nach einer Ausrede, die ihn
zufrieden stellen würde. "Ich - ich hielt Sie für jemanden, den
ich kenne", sagte sie schließlich. Und das war noch nicht einmal
gelogen.
"Haben Sie mich deshalb die ganze Zeit im Spiegel
beobachtet?"
Er hatte es also bemerkt. Das sah ihm ähnlich! Chris errötete
leicht. "Ich habe herauszufinden versucht, ob ich Sie kenne oder
nicht."
"Dieser unglückliche Mann, der wie ich aussieht, muss
wirklich einiges verbrochen haben, um einen solchen Blick zu
verdienen!"
"Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht", erwiderte Chris
bestimmt.
Zu ihrer Erleichterung - und zu ihrer Überraschung - wandte
er sich ab. "Ich nehme an, deshalb waren Sie vorhin so
überrascht, als Sie mich sahen?"
Entging ihm denn nichts? "Nein. Es schien mir einfach ein
bemerkenswerter Zufall, Sie wiederzusehen."
Luke warf ihr aus seinen harten blaugrauen Augen einen
durchdringenden Blick zu. "Ich glaube nicht an Zufälle", sagte
er.
"Du arbeitest für ihn?" Serena hob ungläubig die Stimme.
"Für denselben Luke Hardman, von dem du mir gestern Abend
erzählt hast? Aber ich dachte, du kannst ihn nicht ausstehen!"
"Man muss seinen Chef nicht unbedingt mögen, oder?"
"Es erleichtert die Sache aber ungemein!"
"Nun, ich denke, ich werde mich an ihn gewöhnen." Chris
war nach Hause geeilt und hatte Serena angerufen, um ihr die
Neuigkeit zu berichten. "Die Stelle ist zu interessant. Ich konnte
sie einfach nicht ablehnen, Serena."
"Weiß dieser Luke denn, wer du bist? Oder genauer gesagt:
Weiß er, dass du weißt, wer er ist?".
Er hat mich vom Theater her wiedererkannt, aber nicht von
Chittingdene."
Wie merkwürdig, dass dein Name nicht irgendwelche
Erinnerungen in ihm wachgerufen hat", sagte Serena.
Das ist nicht weiter erstaunlich. Früher kannte er mich nur
unter dem Namen Christine Haddington-Finch, und beworben
habe ich mich als Chris Finch. Als wir nach Frankreich gingen,
habe ich das Haddington weggelassen - die Aussprache war den
Franzosen einfach nicht zuzumuten! Und Finch ist kein so
ungewöhnlicher Name. Es gibt keinen Grund, weshalb er
irgendwelche Verbindungen zu Chittingdene ziehen sollte." "Na,
hoffentlich nicht!"
Chris schnitt ein Gesicht. "Ich bin sicher, er wird es nicht tun.
Aber freust du dich denn gar nicht, dass ich die Stelle
bekommen
habe?"
"Doch, sogar sehr, Chris. Ich hoffe nur, du bereust nicht
irgendwann, dass du dich mit Luke Hardman eingelassen hast."
Serenas Worte verfolgten Chris wie ein unheilvoller
Schatten, als sie am folgenden Montag den Fahrstuhl zum
vierten Stock nahm. Sie hoffte verzweifelt, dass sie die richtige
Entscheidung getroffen hatte. In der Nacht hatte sie sich in
ihrem Bett unruhig hin und her geworfen. Die Erinnerungen an
Luke hielt sie wach, und sie hatte das Gefühl, dass sie das
Schicksal herausforderte, wenn sie sich noch einmal auf Luke
Hardman einließ - und sei es auch nur auf rein geschä ftlicher
Basis.
Doch im hellen Morgenlicht schienen ihre Zweifel lächerlich
und unbegründet. Luke würde sich nicht an sie erinnern. Es
wäre töricht, sich von einem unbedeutenden Zwischenfall in der
Vergangenheit abhalten zu lassen, einen interessanten und
gutbezahlten Job anzunehmen. Außerdem dachte sie an
Michelle, die am Wochenende bei ihr gewesen war. Ihre Nichte
hatte immer noch Heimweh nach Frankreich und sehnte sich
nach ihren Eltern. Sie war so dankbar gewesen, eine vertraute
Person um sich zu haben, und das hatte Chris in dem Entschluss,
in England zu bleiben, nur bestärkt.
An diesem Morgen machte sie sich sehr sorgfältig zurecht
und wählte nach langem Überlegen ein einfach geschnittenes
Kostüm, das ihr ein geschäftsmäßiges Aussehen verlieh und ihr
Selbstvertrauen stärkte. Chris hatte das Gefühl,
Selbstbewusstsein würde sie heute noch brauchen.
Luke sah kaum auf, als sie sein Büro betrat und ihm einen
guten Morgen wünschte. Er hatte den Kopf über einen Bericht
gebeugt, und der Stapel Papiere auf seine m Schreibtisch ließ
vermuten, dass er schon einige Zeit in der Firma war. Sein
Sakko lag, achtlos hingeworfen, auf einem Stuhl. Er hatte die
Krawatte gelockert und die Ärmel seines Hemdes
hochgeschoben, so dass die feinen dunklen Härchen auf seinen
Armen sichtbar waren.
"Morgen", erwiderte er kurz angebunden. "Gut, dass Sie
pünktlich kommen. Es gibt heute morgen nämlich eine Menge
zu tun." Er blätterte eine Seite des Berichts um und griff nach
einem Bleistift, um sich etwas zu notieren. "Also, sind Sie
bereit? Ich habe einige Briefe zu diktieren."
Chris war an ihrem ersten Morgen extra eine halbe Stunde
vor der üblichen Arbeitszeit im Büro erschienen. Jetzt wünschte
sie sich, es nicht getan zu haben. Wenn sie ihm nicht sofort die
Meinung sagte, würde er es für selbstverständlich halten, dass
sie jeden Morgen so früh anfing.
"Ich möchte mir erst einen Kaffee machen und mich ein
wenig umsehen", sagte sie entschlossen. "Bisher hatte ich nicht
einmal die Zeit, einen Notizblock zu finden!"
"Na gut, aber beeilen Sie sich!"
Chris unterdrückte ein Seufzen. Es war nutzlos, von Luke
Höflichkeit zu erwarten, und sie konnte nicht einmal behaupten,
er habe sie nicht gewarnt. "Möchten Sie auch einen Kaffee?"
fragte sie.
Luke stieß einen unverständlichen Laut aus. Chris warf einen
Blick auf seinen gebeugten Kopf, bevor sie sich in ihr eigenes
Büro zurückzog.
Etwas später kehrte sie zurück, einen Stenoblock in der einen
Hand und einen Bleistift und eine Tasse Kaffee in der anderen.
Sie stellte alles vor sich auf die eine Seite der Schreibtischplatte,
setzte sich und wartete schweigend, dass Luke ihre Anwesenheit
zur Kenntnis nahm.
Schließlich sah er auf. "Kriege ich keinen Kaffee?"
"Sie haben nicht gesagt, dass Sie einen wollen."
"Natürlich habe ich das!"
"Nein", berichtigte sie ihn geduldig. "Sie haben etwas vor
sich hingemurmelt. Und ich fürchte, darauf reagiere ich nicht."
Luke stieß gereizt einen Seufzer aus. "Nun sagen Sie nicht,
ich muss jedes Mal vor Ihnen auf die Knie fallen, wenn ich
etwas von Ihnen möchte!"
"Ein einfaches ,bitte' würde schon reichen."
Luke verzog gequält das Gesicht und betrachtete sie finster.
Schließlich stand er auf und ging mit langen Schritten auf die
Tür Dann muss ich mir meinen Kaffee wohl selbst holen!" sagte
er, als Chris immer noch keine Anstalten machte, aufzuspringen,
sondern ihn nur abwartend ansah.
Seine bisherigen Sekretärinnen hatten es ihm anscheinend
durchgehen lassen, dass er den Tyrannen spielte, doch Chris
hatte nicht die Absicht, sich damit abzufinden. Es würde Luke
Hardman nur gut tun, wenn er zur Abwechslung einmal auf eine
feste Opposition traf!
Luke kehrte mit einer Tasse Kaffee zurück, die er mit lautem
Knall auf der Schreibtischplatte abstellte. "Könnten wir jetzt
vielleicht anfangen?" erkundigte er sich und fügte sarkastisch
hinzu: "Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht."
"Ich bin bereit", erwiderte Chris liebenswürdig.
Luke warf ihr einen wütenden Blick zu und begann, im Raum
auf und ab zugehen, die Hände in den Taschen vergraben,
während er sehr schnell diktierte. Seine Ideen waren
kompliziert, aber in sich klar und wohl durchdacht. Nur
gelegentlich hielt er inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken.
Chris' Stift wirbelte über das Papier. Grimmig entschlossen
versuchte sie, mit Lukes Geschwindigkeit Schritt zu halten. Als
er eine kurze Pause machte und nach seiner Tasse griff, nahm
sie die Gelegenheit wahr, ihn zu unterbrechen. "Könnten Sie
vielleicht etwas langsamer diktieren?"
Luke runzelte die Stirn, weil sie ihn in seinen Überlegungen
gestört hatte. "Ich dachte, Sie können Steno?"
"Natürlich, aber nicht in Lichtgeschwindigkeit!"
Er seufzte und nahm das Diktat wieder auf, dieses Mal etwas
langsamer.
Chris kam jetzt besser mit. Doch im Laufe der Zeit fiel es ihr
schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder ließ sie sich
ablenken durch die Art, wie Luke die Schultern hob, durch das
Spiel der Muskeln, die sich unter seinem Hemd abzeichneten,
von der unterdrückten Spannung in seinen Bewegungen.
Während er diktierte, stand er die meiste Zeit am Fenster und
blickte auf die Strasse hinunter. Chris sah auf. Ihr Stift flog wie
von selbst über das Papier, und sie betrachtete Lukes breiten
Rücken. Ein Hauch von rücksichtsloser Energie umgab ihn,
beherrschte, mühsam gezügelte Tatkraft. Wenn es irgend etwas
Verletzliches an ihm gab, dann verstand er, es sehr gut zu
verbergen, dessen war sie sich sicher. Ob seine harten
Gesichtszüge sich jemals entspannten, ob er lächeln konnte? Sie
fragte sich, wie er wohl die Frau anblickte, die er liebte.
"Würden Sie mir bitte den letzten Satz wiederholen?" Chris
fuhr zusammen. "Wie bitte?"
Luke missverstand ihr Zögern. "Ich wäre Ihnen dankbar,
wenn Sie den letzten Satz noch einmal vorlesen würden, falls es
Ihnen nicht allzu große Mühe macht", wiederholte er
sarkastisch.
Chris hatte seine Worte so automatisch geschrieben, dass sie
kaum bemerkt hatte, was er eigentlich sagte. Jetzt tanzten die
Stenokürzel vor ihren Augen, während sie einen Sinn in das zu
bringen versuchte, was sie als letztes notiert hatte.
"Hm ... ,Die Vertragspartner haben größtes Interesse daran,
dass die Herstellerfirmen lieben .. ."Chris schwieg verwirrt. Das
Kürzel war ganz unmissverständlich. Sie musste das Wort
"lieben" geschrieben haben, ohne nachzudenken.
Luke drehte sich um und betrachtete sie gereizt. "Dass die
Herstellerfirmen - was? Können Sie sich denn nicht länger als
fünf Minuten am Stück konzentrieren? Wenn ich noch
langsamer diktiere, schlafe ich ein!"
"Es ist nicht so leicht, Ihnen zu folgen, wenn Sie die ganze
Zeit herumwandern oder etwas vor sich hinmurmeln",
entgegnete Chris und versuchte, ihr Schuldbewusstsein durch
einen vorwurfsvollen Ton zu überspiele n. "Es wäre sehr viel
angenehmer, wenn Sie sich hinsetzen und etwas deutlicher
sprechen würden."
"Wer ist hier eigentlich der Boss?" erkundigte Luke sich
verdrießlich, doch dann nahm er tatsächlich hinter seinem
Schreibtisch Platz. "Nun, ist es so besser?"
Chris zog es vor, die Ironie in seinen Worten zu überhören.
"Sehr viel besser, danke", sagte sie, obwohl es nicht stimmte.
Auf diese Weise war er ihr viel näher, und die Tatsache, dass er
ihr direkt gegenübersaß, lenkte sie noch mehr ab. Verzweifelt
versuchte sie, sich auf ihren Stenoblock zu konzentrieren, und
bemühte sich, nicht auf seinen zusammengekniffenen Mund zu
achten, oder auf seine schlanken Finger, die ungeduldig mit
einem Bleistift spielten.
Zwanzig Minuten später war Chris endlich entlassen,
nachdem Luke drei weitere Briefe und einige sehr deutliche
Aktennotizen für seine Mitarbeiter diktiert hatte. Die
Aktennotizen würden im Haus sicher aufgeregte
Telefongespräche zur Folge haben, dessen war Chris sich sicher,
während sie ihre Aufzeichnungen einsammelte und erleichtert in
ihr Büro zurückkehrte.
Da sie von Natur aus gut organisieren konnte, bereitete ihr
die Bewältigung des Bergs von Arbeit, mit dem Luke sie an
diesem ersten Morgen konfrontierte, keinerlei Sorge. Ohne
großes Aufhebens fand sie sich in ihre neue Umgebung ein,
machte sich mit dem Computer vertraut und begann, sich durch
den Haufen von Briefen zu arbeiten. Sie unterbrach ihre Arbeit
nur, um einige Anrufe für Luke entgegenzunehmen. Der hatte
sich in sein Büro zurückgezogen und sie informiert, dass er
keinesfalls vor Mittag gestört werden wollte.
Chris versuchte gerade, einige besonders undeutliche
Stenokürzel zu entziffern und reagierte deshalb nicht sofort, als
die Tür zu ihrem Büro geöffnet wurde. Wahrscheinlich eine der
anderen Sekretärinnen mit noch mehr Post, dachte sie und
wollte gerade, freundlich lächelnd aufsehen, als ihr der Duft
eines exotischen Parfüms in die Nase stieg. Überrascht hob sie
den Kopf, um zu sehen, wer da geradewegs auf die Tür zu
Lukes Büro zuging.
Es war Helen. Schlagartig wurde Chris bewusst, dass sie über
ihren Gedanken an Luke und ihr Wiedersehen gestern Abend
Helen völlig vergessen hatte.
Vor allem hatte sie vergessen, wie strahlend schön Helen
war. Zu einem sehr kurzen Minirock aus schwarzem Leder trug
sie ein enges Oberteil und eine schwarze Lederjacke, die ihr
über eine Schulter heruntergerutscht war. Eine äußerst lässige
Aufmachung, die sorgfältig vorbereitet zu sein schien und
zusammen mit Helens offenem blonden Haar einen
verblüffenden Eindruck vermittelte.
Chris kam ihr Kostüm dagegen plötzlich altbacken und
langweilig vor. Während sie Helen betrachtete, wurde ihr mit
einem Anflug von Bitterkeit klar, dass sie niemals, was immer
sie auch trug, so sexy aussehen würde. An ihr würde solche
Kleidung eher lächerlich wirken. Noch schlimmer, sie würde
sich darin unbehaglich fühlen.
Wenn sie auch nur einen Gedanken an Helen verschwendet
hätte, wäre ihr klar gewesen, dass sie irgendwann im Büro
auftauchen würde. Wie dumm, dass sie nicht daran gedacht
hatte! Helen war damals öfter mit ihr zusammengewesen als
Luke, und es wäre immerhin möglich, dass sie sich an die
Freundin ihrer kleinen Schwester erinnerte. Wenn sie Chris
erkannte, würde das alles verderben.
Chris räusperte sich. Obwohl sie um nichts in der Welt
Helens Aufmerksamkeit erregen wollte, konnte sie sie doch
nicht einfach zu Luke hineingehen lassen - nachdem er ihr,
Chris, mehrmals eingeschärft hatte, er wolle von niemandem
gestört werden.
Doch ihre Sorge, erkannt zu werden, erwies sich als völlig
unbegründet. Helen machte sich prinzipiell nicht die Mühe, ihre
Aufmerksamkeit an andere Frauen zu verschwenden, besonders
nicht an solche, die langweilig und nichtssagend wirkten und
deshalb keine Bedrohung für sie darstellten. Betont gleichgültig
drehte sie sich um und bedachte Chris mit einem
unverschämten, arroganten Blick aus ihren schrägen grünen
Augen.
Chris wusste genau, wie sie auf Helen wirken musste: eine
tüchtige aber langweilige Sekretärin in einem langweiligen
Kostüm, das langweilige braune Haar streng aus dem Gesicht
gekämmt, das so gut wie nicht geschminkt war. Einen größeren
Kontrast zwischen zwei Frauen konnte es kaum geben.
"Es tut mir leid, aber Mr. Hardman möchte jetzt nicht gestört
werden", sagte Chris schließlich. In diesem Moment hasste sie
ihre Rolle als kühle, beherrschte Sekretärin.
Helen lachte selbstbewusst und schüttelte sich die blonde
Mähne aus dem Gesicht. "Er hat bestimmt nichts dagegen, von
mir gestört zu werden", sagte sie, legte ihre Hand auf die Klinke
und öffnete die Tür. "Oder, Liebling?" fragte sie, in Lukes Büro
gewandt, und lehnte sich in herausfordernder Pose gegen den
Türrahmen. "Dein Hausdrachen hat es zwar nicht gern, Luke,
aber du kannst doch sicher fünf Minuten für mich erübrigen,
nicht wahr?"
Lukes Antwort war nicht zu verstehen, doch Helen stieß ein
heiseres Lachen aus und schloss triumphierend die Tür hinter
sich.
Chris blickte starr auf die geschlossene Tür, während eine
Vielzahl von Gefühlen in ihr tobte: Abneigung, Eifersucht,
Widerwillen. Es war noch nicht so lange her, da hatte sie Lukes
Härte und Unverletzlichkeit bewundert. Und dabei brauchte es
nur ein Paar lange Beine und provokative Pose, und schon stellte
sich heraus, dass er ebenso einfältig war wie alle anderen
Männer!
Ärgerlich setzte sie sich wieder vor den Computer und
begann zu tippen. Es ging sie ohnehin nichts an. Wenn Luke
dumm genug war, sich wieder mit einem Mädchen einzulassen,
das ihn schon einmal zum Narren gehalten hatte, war das
schließlich seine Sache.
Doch insgeheim wünschte sie, es wäre nicht so. Sie konnte
sich daran gewöhnen, dass er unhöflich war oder aggressiv oder
sogar unverschämt, aber sie hatte etwas dagegen, dass er sich
lächerlich machte.
Nachdem sie in dem Brief, den sie gerade tippte, vier Fehler
gemacht hatte, gab Chris es auf. Um sich abzulenken, kochte sie
sich noch einen Kaffee. Dann riss sie entschlossen das Papier
aus dem Drucker und begann den Brief von vorn. Sie würde sich
nicht in Lukes Angelegenheiten einmischen.
Sie würde ihn nicht abhalten, wenn er sich unbedingt
lächerlich machen wollte.
Sie war die vernünftige, praktische, tüchtige Chris. Wenn sie
es sich oft genug sagte, würde sie es am Ende vielleicht sogar
selbst glauben.
Als die Tür schließlich wieder geöffnet wurde, saß Chris vor
dem Computer und tippte, ganz diskrete, tüchtige Sekretärin.
Ohne Chris zu beachten, begleitete Luke Helen zur Tür. "Wir
sehen uns dann später", sagte er und strich ihr über das
glänzende silberblonde Haar.
"Ich warte auf dich." Helen hob ihm ihr Gesicht entgegen,
und er küsste sie auf die Lippen und gab ihr einen Klaps auf das
Hinterteil, als sie widerwillig das Büro verließ.
Dann drehte er sich um. Chris' Gesicht glich einer Maske,
während sie nach einer Mappe auf ihrem Schreibtisch griff.
"Die Briefe. Sie müssen sie noch unterschreiben,"
Zum erstenmal sah Luke erstaunt aus. "Sie haben all diese
Briefe schon geschrieben?"
"Natürlich. " Chris sah ihn liebenswürdig an. "Sie haben doch
gesagt, dass sie sehr dringend seien, und ich wusste ja, wie
beschäftigt Sie heute morgen sein würden."
Luke kniff die Augen leicht zusammen, als er die Mappe
entgegennahm. Offensichtlich war ihm ihre Anspielung auf die
Tatsache, dass er einige Zeit mit Helen verbracht hatte, nicht
entgangen. Doch er sagte nichts.
"Der Bericht muss heute noch raus", sagte er kurz
angebunden. "Ich möchte nicht gestört werden."
"Von niemandem?" erkundigte Chris sich unschuldig.
"Von niemandem!" fuhr er sie an. Mit langen Schritten ging
er in sein Büro zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Etwas
später wurde sie wieder geöffnet.
"Chris?"
"Ja?"
"Bringen Sie mir eine Tasse Kaffee." Er wollte die Tür schon
wieder schließen, da drehte er sich plötzlich noch einmal um.
"Bitte."
Chris hatte sich schnell an die tägliche Arbeitsroutine
gewöhnt. Jeden Morgen erschien sie pünktlich um neun Uhr im
Büro, doch Luke war jedes Mal schon vor ihr da. Manchmal
fragte sie sich, ob er überhaupt jemals nach Hause ging.
Luke hatte sie gewarnt, dass es schwierig sei, für ihn zu
arbeiten, und Chris musste ihm recht geben. Er überhäufte sie
mit Arbeiten, für die er unmögliche Termine setzte, und schien
zu erwarten, dass sie sich vom ersten Tag an perfekt in
Organisation, Struktur und Aufgaben der Firma auskannte. Mehr
als einmal fuhr er Chris heftig an, weil sie nicht in der Lage war,
seine Wünsche zu erahnen. Es kam selten vor, dass sie pünktlich
nach Hause gehen konnte, und sie lernte schnell, keine
Anerkennung von Luke zu erwarten.
Dennoch war Chris zufrieden. Obwohl sie Lukes Benehmen
missbilligte, musste sie seinen unzweifelhaften Fähigkeiten
widerwillig Bewunderung zollen. Er arbeitete von früh bis spät
und begriff selbst die schwierigsten technischen Details
erstaunlich schnell. Seine Intelligenz, seine Gerissenheit und
sein rücksichtsloser Ehrgeiz machten ihn zu einem der
erfolgreichsten Männer auf seinem Gebiet und sicherten ihm
zwar nicht die Zuneigung seiner Angestellten, aber zumindest
ihren Respekt.
Chris bewältigte ihre Arbeit mit solcher Ruhe. Umsicht und
Schnelligkeit, dass Luke ihr mit der Zeit einen widerwilligen
Respekt nicht versagen konnte. Sie wurde niemals laut,
beschwerte sich nie und belästigte ihn auch nicht mit unnötigen
Fragen. Wenn sie manchmal in Streit gerieten, dann nur, weil sie
unnachgiebig auf Höflichkeit bestand. Luke murrte darüber,
dass er die ganze Zeit danke und bitte sagen sollte, aber am
Ende gab er doch nach.
"Anscheinend missfällt es dir doch nicht so sehr, wie du
vorgegeben hast", sagte Serena. Sie und Chris saßen in einem
gemütlichen Bistro, tranken Wein und knabberten Erdnüsse.
"N-nein." Chris zögerte. "Er bemüht sich zwar nicht
besonders, meine Zuneigung zu gewinnen, aber wir kommen
ganz gut miteinander aus - wenn er mich nicht gerade anschreit
und ich ihm nicht seine grässlichen Manieren vorwerfe."
"Sei lieber vorsichtig, sonst erkennt er dich am Ende doch
noch!"
Chris schüttelte den Kopf. "Ich bin nur seine Sekretärin",
sagte sie, ein unbewusstes, sehnsüchtiges Lächeln auf den
Lippen. "Im Büro denkt Luke nur ans Geschäft. Solange ich die
Arbeit termingerecht bewältige, würde er nicht einmal merken,
wenn ich auf seinem Schreibtisch einen Schleiertanz aufführte -
wahrscheinlich würde er sich nur beschweren, dass ich seine
Papiere durcheinanderbringe!"
"Er scheint ja ein furchtbarer Mensch zu sein", sagte Serena
offen, während sie sich die letzte Erdnuss sicherte. "Ich verstehe
nicht, dass du dich damit abfinden kannst."
So schlimm ist er nun auch wieder nicht." Unbewusst fühlte
Chris sich verpflichtet, Luke zu verteidigen. "Er erzählt mir viel
über seine Arbeit und ermuntert mich, meine eigene Meinung
dazu zusagen."
Wie großzügig von ihm!
"Das ist mehr, als er anderen Leuten zubilligt. Er ist eben ein
Einzelgänger, jetzt noch mehr als früher. Er hält die Menschen
auf Distanz. Gestern habe ich ihn durch irgendeine Bemerkung
zum Lache n gebracht, und ich fühlte mich, als hätte ich gerade
den Mount Everest bezwungen!" "Wieso, was hat er denn
getan?"
"Nichts. Er hat einfach gelacht. Es kommt zwar vor, dass er
lächelt, aber meistens spöttisch oder verächtlich. Doch dieses
Mal hat er wirklich gelacht..." Chris schwieg. Sie konnte Serena
einfach nicht erklären, wie ungewöhnlich dieser Anblick
gewesen war: Luke, der den Kopf zurückwarf und aus vollem
Herzen lachte. Chris hatte nur eine trockene Bemerkung über
die Schlagzeile in einer Zeitung gemacht, und plötzlich stand ein
völlig Fremder vor ihr -sein Gesicht leuchtete vor Vergnügen.
Im ersten Moment konnte sie es kaum glauben, und dann
durchströmte sie eine tiefe, triumphierende Wärme: Sie hatte ihn
zum Lachen gebracht! Es war ihr ungewollt gelungen, ihn aus
der Reserve zu locken.
"Er sieht viel netter aus, wenn er lacht", fügte sie nicht sehr
überzeugend hinzu.
"Chris!" Serena stellte ihr Weinglas mit einem Ruck auf dem
Tisch ab und betrachtete ihre Freundin in düsterer Vorahnung.
"Du willst doch nicht etwa - du bist doch nicht etwa dabei, dich
von Luke einwickeln zu lassen?"
Von Luke einwickeln lassen? Chris schüttelte den Kopf, um
die leise Erinnerung an vergangene Zeiten zu vertreiben.
"Natürlich nicht", erwiderte sie schroff. Um Serenas
forschendem Blick zu entgehen, griff sie nach dem Glas und
trank einen Schluck Wein. "Dafür solltest du mich gut genug
kennen, Serena. Ich gebe zu, dass ich Luke mehr mag, als ich es
am Anfang für möglich hielt, aber ich denke, dass ich zu
vernünftig bin, um auf ihn reinzufallen. Warum sollte ich mich
freiwillig Schwierigkeiten aussetzen, wenn ich es vermeiden
kann?"
4. KAPITEL
Als Chris am darauffolgenden Montag in die Firma kam,
fand sie Luke in ihrem Büro vor. Er saß auf der Ecke ihres
Schreibtischs und blätterte im Terminkalender.
"Guten Morgen", sagte sie und hängte ihren Mantel auf den
Bügel. Das ganze Wochenende über war ihr Serenas lächerliche
Bemerkung nicht aus dem Kopf gegangen, und das verstimmte
sie. Inzwischen kannte sie Luke gut genug, um sich keine
Illusionen mehr über ihn zu machen. Es bestand absolut keine
Gefahr, dass sie sich von ihm einwickeln ließ, wie Serena es
genannt hatte. Dieser Gedanke war doch völlig absurd! So
absurd, dass sie deshalb kaum hatte schlafen können. Nach zwei
unruhigen Nächten fühlte sie sich nun gereizt und wie
zerschlagen.
Als Erwiderung auf ihren Gruß stieß Luke nur einen
unverständlichen Laut aus, während er den Terminkalender auf
ihrem Schreibtisch mit seinem eigenen, ledergebundenen
verglich, den er ständig bei sich trug.
"Ich sagte ,guten Morgen'!" wiederholte Chris lauter, und er
blickte, ungeduldig seufzend, auf.
"Also schön - guten Morgen, Chris." Er warf ihr einen
ironischen Blick zu. "Reicht das, oder erwarten Sie noch mehr
von mir?"
"Sie können mich zum Beispiel fragen, ob ich ein schönes
Wochenende verbracht habe ", schlug Chris vor, fest
entschlossen, sich nicht von seinem Sarkasmus einschüchtern zu
lassen. "Und, haben Sie ein schönes Wochenende verbracht?"
"Ja, vielen Dank. Und Sie?"
"Nicht besonders", entgegnete er missgelaunt. "Und da wir
nun der Höflichkeit Genüge getan haben, kann ich ja endlich zur
Sache kommen. Wir fliegen morgen nach Paris." Er schob ihr
den Terminkalender zu. "Nur bis übermorgen. Setzen Sie sich
mit einem Reisebüro in Verbindung, und buchen Sie ein Hotel
und zwei Flüge erster Klasse."
Sie sagten ,wir' - schließt das mich mit ein?" erkundigte Chris
sich vorsichtig.
"Da im Moment nur wir beide im Zimmer sind, hielt ich es
für offensichtlich. Warum, gibt es Probleme?" "Es ist ziemlich
kurzfristig."
"Ach ja?"
"Immerhin könnte ich mir etwas vorgenommen haben",
erwiderte sie betont, während sie in der Handtasche nach ihrem
eigenen Terminkalender kramte.
Dann werden Sie wohl oder übel absagen müssen",
entgegnete Luke unhöflich. "Es geht hie r um Wichtigeres. Ach
übrigens: Nehmen Sie für heute Nachmittag keine Termine an."
Werden Sie geschäftlich unterwegs sein?"
"Wir beide werden geschäftlich unterwegs sein", berichtigte
er sie. "Ich habe Sie bei einem guten Friseur angemeldet."
Chris war dabei, sich in ihrem Terminkalender etwas zu
notieren, doch jetzt hob sie ruckartig den Kopf. "Ich sehe keinen
Grund, warum ich zum Friseur gehen sollte!"
"Aber ich. Es ist sehr wichtig, unseren Kunden einen guten
Eindruck von LPM zu vermitteln, und ich möchte nicht, dass Sie
so in Paris auftauchen."
"So - wie?" erkundigte Chris sich trügerisch sanft, während
ihre Augen gefährlich zu funkeln begannen.
Luke hob ungeduldig die Schultern. "Sie wirken immer so
verdammt spröde und unnahbar, Sie haben Ihr Haar immer
streng nach hinten gekämmt und tragen ständig diese förmlichen
Kostüme. Man könnte fast denken, Sie seien meine
Gouvernante, nicht meine Sekretärin!"
"Ich nehme an, ich sollte mich jetzt geschmeichelt fühlen,
weil Sie überhaupt bemerken, wie ich aussehe", fuhr Chris ihn
erbost an. Seine Worte hatten sie ziemlich verletzt. "Dabei habe
ich immer gedacht, solange ich nur Ihre Briefe anständig tippe
und Ihre Anrufe beantworte, könnte ich sogar in Lumpen im
Büro erscheinen, und es wäre Ihnen egal!"
"Nun werden Sie doch nicht gleich hysterisch", sagte Luke.
Er stand auf und steckte seinen Terrainkalender wieder in die
Innentasche seines Jacketts zurück.
Seine gleichgültige, desinteressierte Haltung brachte Chris
nur noch mehr in Rage. "Ich bin nicht hysterisch", stieß sie
zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Das ist immer
das erste, Männern einfällt, wenn eine Frau ihnen zu
widersprechen wagt! Typisch!"
"Wenn ich einer von diesen Männern wäre, dann müsste ich
Sie ja ständig beschuldigen, hysterisch zu sein", erwiderte Luke
gelassen. "Überhaupt, worüber regen Sie sich eigentlich so auf?
Ich habe nur eine einfache Bemerkung über Ihre Erscheinung
gemacht."
"0 ja, nur eine einfache Bemerkung, nicht wahr? Es ist Ihnen
wohl nicht zu Bewusstsein gekommen, dass ich es vielleicht
nicht mag, wenn Sie mich als spröde und unnahbar bezeichnen
oder durchblicken lassen, ich sehe wie eine Gouvernante aus!
Nun, das wäre von Ihnen auch wirklich zuviel verlangt. Wissen
Sie überhaupt, dass ich ein menschliches Wesen bin und nicht
ein Teil der Büroeinrichtung?"
Lukes Miene verfinsterte sich. "Um Himmels willen, nun
hören Sie endlich auf, sich grundlos aufzuregen!"
"Kein Wunder, dass meine Vorgängerinnen es nicht lange bei
Ihnen ausgehalten haben!" Auf der Suche nach einem Stift
wühlte Chris wütend in den Papierstapeln auf ihrem
Schreibtisch herum. "Sie treten die Gefühle anderer Leute mit
Füssen!"
"Ich verdiene mein Geld nicht, weil ich mir Gedanken über
Gefühle mache", erwiderte Luke kalt. "Soweit ich mich
erinnere, sind Sie hier, um Ihren Job zu tun. Und ein Teil dieses
Jobs ist es, nach außen hin die Firma in angemessener Weise zu
vertreten. Also, wenn Sie hier in London wie eine missmutige
alte Jungfer aussehen wollen, ist das Ihre Sache. Aber die
Konferenz morgen ist meine große Chance, auf dem
europäischen Markt Fuß zu fassen. Und diese Chance lasse ich
mir nicht verderben, weil Sie es nicht über sich bringen, Ihre
äußere Erscheinung dem Anlass anzupassen!"
"Was gefällt Ihnen nicht an meiner Kleidung?" erkundigte
Chris sich erbost und sah an ihrem grauen Kostüm herunter. "Sie
ist modisch, und sie steht mir. Was wollen Sie noch?"
"Ich möchte Stil!" stieß Luke ungeduldig hervor. "An diesem
Kostüm gibt es nichts auszusetzen, aber durch Kleidung und
Frisur könnten Sie viel mehr aus sich machen. Das ist alles, was
ich damit sagen wollte."
"Alles, was Sie damit sagen wollten, ist also, dass Sie zwar
nichts gegen eine tüchtige Sekretärin haben, es Ihnen aber
eigentlich lieber wäre, ich würde ganz anders aussehen!"
Luke verzog ärgerlich den Mund. "Hören Sie Chris, wenn Sie
so unvernünftig sind, lehne ich es ab, weiter mit Ihnen zu
diskutieren."
"Ich und unvernünftig?" Chris stieß ihren Stuhl zurück und
sprang auf. Lukes Bemerkung hatte bei ihr einen wunden Punkt
getroffen, und sie war so wütend, dass sie alle Vorsicht vergaß.
"Ausgerechnet Sie müssen von Vernunft sprechen! Sie haben
vielleicht Nerven, erzählen, ich würde in Paris einen schlechten
Eindruck machen ,wo Sie es doch sind, der nicht die leiseste
Ahnung von guten Manieren hat.
Während sie sprach, hatte Lukas Miene sich gefährlich
verfinstert. "Ich rate Ihnen, lieber vorsichtig zu sein mit dem,
was Sie sagen, Chris", warnte er sie. "Schließlich sind Sie nicht
das einzige Mädchen auf der Welt, das Französisch spricht."
Aber wahrscheinlich das einzige, das sich mit Ihren
Unverschämtheiten abfindet", erwiderte Chris. "Sie behandeln
alle Ihre Mitarbeiter wie Sklaven. Tu dies, tu das, zieh dich so
an, lass dir deine Haare so und nicht anders schneiden! Nun, ich
bin Ihre Sekretärin, nicht Ihre Sklavin, und ich werde mein
Äußeres nicht ändern, nur weil es Ihnen so gefällt!"
"Treiben Sie es nicht zu weit, Chris", stieß Luke hervor,
"sonst könnte es sein, dass Sie nicht mehr lange meine
Sekretärin sein werden." "Um so besser!" Blind vor Wut griff
Chris nach ihrer Handtasche und marschierte zur Garderobe.
"Wohin wollen Sie?"
"Was glauben Sie wohl?" fragte Chris hitzig, während sie
sich ihren Mantel überwarf. "Ich werde mir einen Arbeitgeber
suchen, der die Fähigkeiten anerkennt, die ich zu bieten habe,
und der nichts dagegen hat, dass eine missmutige alte Jungfer in
seinem Vorzimmer sitzt!"
Sie hatte die Türklinke schon in der Hand, als Luke mit
großen Schritten herüberkam. "Das hab' ich nicht gesagt!"
Er stand sehr dicht vor ihr. Chris ließ die Hand sinken, doch
sie war fest entschlossen, nicht nachzugeben. "Für mich klang es
aber so."
Luke blickte auf sie herunter. Ihr Gesicht war vor Ärger
gerötet, ihre Augen glitzerten gefährlich, und sie hatte das Kinn
kampfbereit erhoben.
"Ach, zum Teufel!" Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar
und seufzte. "Hören Sie, es tut mir leid. Ich weiß, ich hatte das
alles nicht zu Ihnen sagen sollen. Aber das Wochenende ist nicht
besonders angenehm für mich verlaufen, und da habe ich wohl
meine schlechte Laune an Ihnen ausgelassen. Es tut mir leid."
Es war das erste Mal, dass er einen Fehler zugab. Chris war
so erstaunt über seine Entschuldigung, dass sie ihn nur verblüfft
ansehen konnte.
"Ich erkenne Ihre Fähigkeiten sehr wohl an", fuhr er fort. "Sie
sind die beste Sekretärin, die ich je hatte." Und dann lächelte er
was Chris als unfair empfand. "Wirklich!"
Angesichts dieses gewinnenden Lächelns brach ihre
Verteidigung in sich zusammen. Unsicher trat sie einen Schritt
zurück. Es war wirklich nur ein Lächeln, ein Heraufziehen der
Mundwinkel das seine Zähne kaum sehen ließ, ein wenig
Wärme in seinen sonst so kalt blickenden Augen. Es war absolut
nichts Aufregendes, Und deshalb war es auch gar nicht
einzusehen, weshalb ihr Ärger auf einmal wie Schnee in der
Sonne dahinschmolz,
Sie versuchte verzweifelt, die letzten Reste ihrer Wut
zusammenzuraffen, doch es hatte keinen Zweck, und Luke sah
es ihrem Gesicht sofort an. "Kommen Sie", sagte er sanft, "wir
setzen uns erst einmal und reden vernünftig über alles."
Chris ließ es zu, dass er ihr aus dem Mantel half und ihn
wieder an die Garderobe hängte. Sie erinnerte sich an all die
dummen Dinge, die sie vorhin zu Luke gesagt hatte, und
plötzlich kam sie sich sehr töricht vor. Was war nur in sie
gefahren?
Luke schob sie vor sich her in sein Büro und drückte sie in
einen der weichen Ledersessel. "Ich hole uns Kaffee", sagte er.
Sein unerwartet freundliches Verhalten verunsicherte Chris
mehr als alles andere. Unbehaglich hockte sie auf der Kante des
Sessels und nahm steif die Tasse entgegen, die Luke ihr reichte.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit diesem plötzlich so
liebenswürdigen Luke umgehen sollte.
"Nun", sagte Luke und setzte sich ihr gegenüber in den
Sessel, "können wir jetzt weiterreden?"
"Entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich dumm benommen",
murmelte Chris.
"Ich glaube, wir waren beide unvernünftig. Ihr Wochenende
war anscheinend auch nicht viel besser als meins!" Luke rührte
nachdenklich in seiner Kaffeetasse. "Ich habe nicht gelogen, als
ich sagte, Sie seien die beste Sekretärin, die ich je hatte. Es
bedeutet für mich eine echte Erleichterung, jemanden zu haben,
den ich mit Arbeit überhäufen kann, und trotzdem zu wissen,
dass alles perfekt und schnell erledigt wird. Ihnen brauche ich
nicht alles zweimal zu erklären oder ständig Briefe
zurückzugeben, um sie noch einmal schreiben zu lassen. Ich
brauche mich nicht zu sorgen, dass ich für Konferenz nicht alle
Dokumente dabeihabe. Ihnen kann ich Vertrauen. Das alles
erkenne ich an, glauben Sie mir." Er schwieg. "Vielleicht hätte
ich Ihnen das schon viel früher sagen sollen, nun meist bin ich
einfach zu beschäftigt. Es ist bestimmt nicht einfach, für mich
zu arbeiten, das weiß ich."
"Sie haben mich gewarnt." Chris hatte sich inzwischen
wieder unter Kontrolle und bemühte sich, beherrscht und
routiniert wie immer zu klingen. "Ich dürfte mich also nicht
beschweren."
Luke sah von seiner Kaffeetasse auf und lächelte sie mit
einem so gefährlichen, bezwingenden Charme an, dass Chris
sein Lächeln erwidern musste, ganz entgegen ihrer Absicht, sich
nicht von ihm unterkriegen zu lassen.
Sie erinnerte sich, dass er schon früher diesen trügerischen
Charme besessen hatte, der um so wirkungsvoller war, weil er
ihn nur sehr selten einsetzte. Sosehr sie sich auch Lukes
gefährlicher Anziehungskraft zu entziehen versuchte, sie konnte
nichts gegen die eigentümliche Wärme tun, die in ihr aufstieg,
als sie das Leuchten in seinen grauen Augen bemerkte.
"Sollen wir uns nicht einfach darauf einigen, dass Sie die
beste Sekretärin der Welt sind und ich der unhöflichste Mann
und es dabei belassen?" schlug Luke vor. Als Chris nickte,
beugte er sich vor und streckte ihr die Hand hin. "Schlagen Sie
ein."
Fast widerwillig ergriff Chris seine Hand. Als seine kräftigen,
schlanken Finger sich um ihre schlössen, spürte sie, wie ein
eigentümliches Prickeln sie überlief.
"Das bedeutet doch nur, dass alles wieder so sein wird wie
vorher: Sie der unhöfliche Chef und ich die tüchtige Sekretärin",
sagte sie so gelassen wie möglich.
"Das kann natürlich sein, aber ich verspreche, dass ich mich
bessern werde - wenn Sie nur bleiben." Er ließ ihre Hand los und
lehnte sich zurück. "Tun Sie das?"
Chris gab auf. "Natürlich."
"Gut." Luke betrachtete sie nachdenklich. "Und Sie haben
auch nichts dagegen, wenn ich Ihnen neue Kleider kaufe?"
"Ich dachte, es ginge um eine neue Frisur!"
"Darum auch." Da sie sich vorhin so willig seinem
bezwingenden Charme unterworfen hatte, versuchte Luke jetzt,
soviel wie möglich dabei herauszuschlagen. Chris erriet seine
Absicht, und sie missfiel ihr. "Sehen Sie, Chris, Sie sind in Paris
sehr wichtig für mich. Sie müssen für mich übersetzen, deshalb
werden sich alle auf sie konzentrieren. Ich denke, es würde dem
Ansehen von LPM sehr helfen, wenn Sie sich etwas
zurechtmachen."
Chris wusste, dass sie geschlagen war. "Wenn Sie das für so
wichtig halten, dann werde ich mir selbst neue Kleider kaufen",
versuchte sie es noch einmal, doch er schüttelte den Kopf.
"Nein, das geht auf meine Kosten."
"Aber ich kann doch nicht zulassen, dass Sie für mich
Kleidung kaufen!"
"Warum nicht?"
"Nun, es - es ist einfach zu persönlich."
"Wenn Sie das so stört, dann betrachten Sie es doch einfach
als eine Art Arbeitskleidung", schlug Luke vor, und Chris
bemerkte amüsiert einen Anflug von Ungeduld in seiner
Stimme. Es fiel ihm anscheinend schwer, über längere Zeit nett
und höflich zu sein.
Ihr war klar, dass es im Moment keinen Zweck hatte, sich
weiter mit ihm zu streiten. So stand sie auf und räumte die
leeren Kaffeetassen zusammen.
"Ich gehe heute Nachmittag einkaufen", versprach sie.
An diesem Morgen gab es viel zu tun. Doch Chris war froh
darüber, denn die hektische Betriebsamkeit lenkte sie von ihren
Gedanken ab. Sie wollte nicht mehr daran denken, was Luke
gesagt hatte. Spröde und unnahbar. Missmutige alte Jungfer.
Das also dachte Luke von ihr. Oder war sie etwa tatsächlich so?
Das ganze Wochenende hatte sie sich selbst immer wieder
vorgebetet, wie gleichgültig Luke ihr war. Und kaum wagte er
es, sie zu kritisieren, da verlor sie völlig die Beherrschung. Eine
schöne Gleichgültigkeit war das! Sie hätte kühle Beherrschung
bewahren müssen, anstatt ihn derart anzuschreien - nur um sich
gleich darauf von seinem Lächeln einwickeln zu lassen. Sie
hatte sich benommen wie eine Närrin!
Chris war entschlossen, allein loszugehen und sich ein Kleid
zu kaufen, das Luke zufrieden stellen würde. Doch sie hatte
nicht mit seiner Entschlossenheit gerechnet, sie zu begleiten. Er
erwischte sie, als sie gerade still und heimlich das Büro
verlassen wollte.
"Es ist wirklich nicht nötig, mitzukommen", protestierte sie
heftig, während er sie vor sich her über den Bürgersteig schob,
eine Hand um ihren Ellenbogen gelegt. "Sie haben doch heute
Nachmittag sicher noch anderes zu tun."
Beinahe boshaft lächelnd, sah Luke auf sie hinunter, "Ich bin
ein erfolgreicher Geschäftsmann, und das bedeutet, dass ich
immer Zeit für wichtige Dinge habe. Und es bedeutet auch, dass
ich sehr darauf achte, wie ich mein Geld investiere. Wenn ich
Sie allein ließe, Chris, hätten Sie wahrscheinlich nichts Eiligeres
tun als sich noch mehr von diesen unauffälligen, praktischen
Kostümen zu kaufen. Und gerade das liegt überhaupt nicht in
meiner Absicht!"
Ein fünfminütiger Fußmarsch brachte sie in das Zentrum von
Knightsbridge. Trotz des regnerischen Wetters drängten sich die
Menschen in den Strassen. Luke bahnte Chris einen Weg durch
die Menge und führte sie zu einem kleinen Geschäft in einer der
ruhigeren Seitenstrassen gleich hinter Harrods. Der Laden war
indirekt beleuchtet und sehr geschmackvoll ausgestattet. Dicke
Teppiche dämpften jeden Schritt. Es waren nur wenige
Kleidungsstücke ausgestellt. Doch nachdem Luke einer
beunruhigend elegant gekleideten Angestellten seine Wünsche
geschildert hatte, zauberte sie wie aus dem Nichts plötzlich
einen schier unerschöpflichen Vorrat an Kleidern hervor.
Luke nahm auf einem zerbrechlich wirkenden Stuhl Platz und
verschränkte die Arme. Unter seinen prüfenden Blicken wurde
Chris immer unbehaglicher zumute, während mehrere
Angestellte ihr verschiedene Modelle anhielten. Ab und zu
nickte Luke oder machte eine abwehrende Handbewegung.
"Sie braucht gedämpftere Farben", erklärte er, als eines der
Mädchen ein türkisfarbenes Kleid brachte. "Diese Farben sind
viel zu leuchtend für sie." Chris sah dem Kleid sehnsüchtig
nach, während es weggetragen wurde. "Das hier zum Beispiel",
fuhr Luke fort, griff nach einem rostfarbenen Modell aus
weichem, fließendem Stoff und hielt es Chris an. "So etwas steht
ihr - sanfte Linien und erdfarbene Töne, die ihre Persönlichkeit
widerspiegeln."
Chris wurde hochrot vor Verlegenheit, doch weder Luke
noch die Angestellten schienen es zu bemerken. Sie redeten
weiter über sie, als wäre sie nicht mehr als eine
Schaufensterpuppe, wählten Schuhe und dazu passende
Handtaschen aus und hielten ihr Schals und Gürtel an, die
plötzlich aus unergründlichen Schubladen auftauchten.
"Entspannen Sie sich doch!" befahl Luke, als Chris
unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. "Ich dachte
immer, ihr Französinnen habt eine Vorliebe für modische
Kleider."
"Ich glaube, ich schlage mehr nach meinem Vater", erwiderte
Chris verdrossen, "Meine Mutter und meine Schwester tun
nichts lieber, als einkaufen zu gehen, aber ci h habe mich nie
besonders für Mode interessiert."
"Das sieht man", stellte Luke offen fest. "Also, jetzt gehen
Sie und probieren all das Zeugs an. Und tun Sie wenigstens so,
als mache es Ihnen Spaß!"
Die Kleidungsstücke wurden zu einer der Umkleidekabinen
gebracht, während Luke ein Funktelefon aus der Tasche zog und
mit der ihm charakteristischen Ungeduld eine Nummer
einhämmerte. Chris hörte, wie er für denselben Abend einen
Tisch für zwei Personen buchte. Wen er wohl ausführen wollte?
Helen Slayne? Oder war sie etwa der Grund für sein
unangenehmes Wochenende?
Der Gedanke an Helen und ihre strahlende Schönheit
erinnerte Chris an den Grund ihres Hierseins, und sie betrachtete
ihr Spiegelbild ein wenig missmutig. Keine noch so teuren
Kleider würden ihr einen solchen Zauber verleihen.
"Nun kommen Sie schon, und lassen Sie sich ansehen",
befahl Luke von draußen.
Seufzend stopfte Chris die olivgrüne Bluse in den Rock und
schloss den Reißverschluss. Die Seide fühlte sich auf ihrer Haut
weich und kühl an. Schnell strich sie noch einmal über den
zarten Stoff, bevor sie den Vorhang öffnete und sich Lukes
prüfendem Blick stellte.
Er ging um sie herum und betrachtete ihre Aufmachung so
sachlich und leidenschaftslos, dass Chris' bernsteinfarbene
Augen allmählich Funken zu sprühen begannen. Wie
demütigend, hier stehen und sich besichtigen lassen zu müssen!
Lukes Blicke schienen ihr die Haut zu verbrennen - obwohl sie
das Gefühl hatte, er sehe sie gar nicht. Ebenso gut hätte sie eine
Schaufensterpuppe aus Plastik sein könne n, die er von allen
Seiten betrachtete. Sie dagegen war sich seiner erdrückenden
Gegenwart nur allzu bewusst.
Als Chris wieder in ihre eigene Kleidung geschlüpft war und
schließlich beladen mit Kleidern, Röcken und Blusen aus der
Umkleidekabine kam, war sie ärgerlich und gereizt, aber
entschlossen, sich nicht noch einmal auf einen Streit mit ihm
einzulassen. Luke telefonierte wieder. "Helen? Hier ist Luke. Es
tut mir sehr leid, aber ich schaffe es nicht, heute Abend
vorbeizukommen ... Was sagst du? Nein, absolut nicht", fuhr er
schroff fort. "Ich habe heute Abend eine wichtige geschäftliche
Verabredung." Er schaltete das Telefon ab und schob die
Antenne mit einer ungeduldigen Bewegung in das Gerät zurück.
Dann drehte er sich zu Chris um. "Nun, passen die Sachen?" "Ja,
aber..." "Dann nehmen wir alle."
Fr reichte seine Kreditkarte einer strahlenden Angestellten,
die sich beeilte, Chris die Kleider abzunehmen. "Und nun zu
Ihrem Friseurtermin."
Chris verharrte in frostigem Schweigen, als Luke sie zum
Friseursalon führte quer durch London, wie es ihr vorkam. Für
jemanden, dem jederzeit Fahrer und Wagen zur Verfügung
standen, schien er eine unverständliche Vorliebe für lange
Fußmärsche zu haben. Missmutig versuchte sie, ihr Tempo
seinen langen, ausgreifenden Schritten anzupassen.
Es war ein für die Jahreszeit zu kühler, regnerischer Tag.
Chris fröstelte im feuchten Wind und wickelte sich fester in
ihren leichten Mantel. Sehnsüchtig dachte sie an den warmen,
komfortablen Mercedes, den Luke vom Geschäft aus telefonisch
bestellt hatte -aber nur, um die vielen Pakete und Taschen später
in Chris Wohnung bringen zu lassen. Er hatte sich strikt
geweigert, auf das Auto zu warten
"Warum sollen wir hier noch länger herumsitzen? Es dauert
noch eine Weile, bis der Wagen da ist. Zu Fuß sind wir
mindestens genauso schnell beim Friseur. Und jetzt beeilen Sie
sich, Chris, sonst kommen wir zu spät."
Der Salon "Cadogan" befand sich in einer stillen
Nebenstrasse, nicht weit entfernt von der King's Road.
Unbehaglich betrachtete Chris die eleganten grünen Markisen
über den Fenstern. Gleich darauf wurde sie von einer
freundlichen Angestellten in Empfang genommen.
"Ich mochte, dass Sie ihr Haar ein ganzes Stück kürzen",
erklärte Luke der jungen Frau und hielt seine Hand knapp unter
Chris' Kinn. "Bis hierhin ungefähr. Und tun Sie bitte auch sonst
alles, was Sie für nötig halten. Machen Sie sie ein wenig
zurecht, aber ohne ihren Typ zu verändern." Er wandte sich an
Chris. "Ich gehe jetzt ins Büro zurück. Wenn Sie hier fertig sind,
nehmen Sie ein Taxi nach Hause. Ich hole Sie um Punkt halb
acht dort ab."
Chris, die zwischendurch schon auf einem Stuhl Platz
genommen hatte, blickte erstaunt auf. "Aber ich dachte, Sie
haben eine wichtige geschäftliche Verabredung?"
"Das stimmt. Ich werde Sie zum Abendessen ausführen."
Sie betrachtete ihn ungläubig, während die Friseuse ihr einen
Umhang umlegte. "Mich? Aber warum denn?"
"Ich möchte die Reise nach Paris mit Ihnen durchsprechen.
Heute Nachmittag hatten wir ja keine Gelegenheit dazu",
erwiderte Luke ungeduldig. "Und versuchen Sie mir nicht
vorzumachen, Sie haben etwas anderes vor. Da Sie ein sehr
vernünftiges Mädchen sind, werden Sie am Abend vor einer
Geschäftsreise sorgfältig ihre Sachen packen und darauf achten,
früh ins Bett zu gehen. Wenn Sie also für diesen Abend eine
andere Verabredung hatten, haben Sie sie inzwischen abgesagt.
Oder irre ich mich da? Steckt vielleicht doch noch mehr hinter
dieser Maske kühler Zurückhaltung? Wartet zu Hause etwa ein
Dutzend ungeduldiger Liebhaber, um Sie heute Abend
auszuführen?" Seine Stimme troff vor Spott, und Chris hob
eigensinnig das Kinn. "Nein. Die ungeduldigen Liebhaber waren
gestern Abend an der Reihe."
In Lukes Augen zeigte sich so etwas wie Bewunderung.
"Gut" sagte er aber nur knapp. "Dann sehen wir uns also später."
Er zog sein Notizbuch aus der Innentasche seiner Jacke. "Wie
war noch Ihre Adresse?"
"Es ist schon gut", sagte Chris schnell. Ihr waren all die
Erinnerungsstücke und Fotos aus Chittendene eingefallen, die in
ihrem Wohnzimmer herumstanden. Sie wollte nicht riskieren,
dass Luke sich vielleicht doch noch auf längst vergangene
Zeiten besann. "Warum treffen wir uns nicht einfach im
Restaurant?"
Nach kurzem Zögern nickte Luke. "Also schön", sagte er und
nannte ihr den Namen des Restaurants. "Wir treffen uns dort
gegen acht Uhr. Ziehen Sie das grüne Kleid an, das ich für Sie
ausgesucht habe. Und seien Sie pünktlich!"
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging davon.
Chris blickte ihm ungläubig nach, schäumend vor Wut über
seinen unverschämten Befehlston. Soviel also zu seinem
Vorsatz, in Zukunft höflicher zu sein!
Schließlich ergab sie sich in ihr Schicksal, und das bedeutete
zunächst, sich die Haare waschen zu lassen.
Zwei Stunden später saß sie aufrecht da und konnte kaum
glauben, was sie im Spiegel sah. Sie war so entschlossen
gewesen, nicht zu mögen, was auf Luke Hardmans Anweisung
aus ihr werden sollte. Doch jetzt war sie über ihr Spiegelbild
verblüfft. War dieses Mädchen da wirklich sie selbst?
In ihrem Haar, das immer nur einfach braun gewesen zu sein
schien, tanzten jetzt Lichter, sobald sie den Kopf drehte -
Kupfer, -Bronze, Gold. Außerdem hatte die Friseuse
unbarmherzig die Schere angesetzt, wie Luke es ihr geraten
hatte. Duftige, natürliche Wellen umgaben Chris' Gesicht und
betonten ihre feinen Wangenknochen, ihre klare helle Haut und
die lange, sanfte Linie ihres
Halses.
Es steht Ihnen wirklich gut", versicherte Susan, die Chris'
Schweigen als Enttäuschung missdeutete. Mit der Bürste fuhr
sie och einmal durch Chris' Haar, so dass es sanft nach vorn
schwang. Es stand ihr sogar mehr als gut. Es veränderte sie
völlig. Chris drehte den Kopf erst in die eine, dann in die andere
Richtung, wobei sie sich aus den Augenwinkeln betrachtete. Ein
wenig ärgerte es sie, dass Luke recht behalten hatte. Sie war
beinahe bestürzt darüber, wie verändert sie aussah. Würde sie
jemals in der Lage sein, diesem strahlenden Äußeren zu
entsprechen?
Der Wind blies ihr das kurze Haar ins Gesicht, als sie auf der
King's Road nach einem Taxi winkte. Sie fragte sich, was Luke
wohl zu ihrem neuen Aussehen sagen würde. Es sah ihm
ähnlich, dass er sie dazu getrieben hatte, ihr Äußeres völlig zu
verändern! Mit dem Ergebnis, dass sie sich unruhig und verwirrt
fühlte und nicht wusste, was sie über Luke denken sollte.
Immer, wenn sie gerade glaubte, ihn zu mögen, benahm er sich
arrogant und unhöflich. Und im nächsten Moment brachte er sie
mit seinem unerwarteten Charme aus dem Gleichgewicht, Was
sollte sie nur davon halten?
5. KAPITEL
Gedämpfte Unterhaltung und das leise Klirren von Porzellan
empfingen Chris, als sie den Vorraum des Restaurants betrat
und ihren Mantel dem Kellner übergab, der plötzlich vor ihr
auftauchte. Plötzlich fühlte sie sich sehr verwundbar und
strichnervös ihr Kleid glatt.
Es war jadegrün und raffiniert einfach geschnitten. Der tiefe
Ausschnitt bildete einen reizvollen Kontrast zu den langen
Ärmeln, und das enganliegende Mieder ging in einen weiten
Rock aus feinster Wolle über.
Es war eines der Kleider, die durch ihre Einfachheit den Reiz
ihrer Trägerin besonders betonen. Instinktiv hatte Chris keinen
Schmuck angelegt, was die Wirkung des Kleids nur noch
unterstrich. Sie empfand den leichten, feinen Stoff auf der Haut
als sehr angenehm, beinahe erregend und war sich bewusst, dass
der einfache Schnitt ihre Brüste und die weichen Linien ihres
Halses und ihrer Schultern hervorhob.
Immer noch hatte sie sich nicht an ihre neue Frisur gewöhnt,
Unsicher fuhr sie sich mit der Hand durch das kurze, duftige
Haar, während sie dem Kellner zu dem Tisch folgte, an dem
Luke schon auf sie wartete.
Er hatte sich in die Weinkarte vertieft, so dass er Chris nicht
gleich bemerkte. Die dunklen Augenbrauen hatte er
zusammengezogen, die Lippen zusammengekniffen. Seine
Miene wirkte erschreckend düster. Er sah aus wie jemand, der
sich immer nur auf sich selbst verlassen und dabei ganz
vergessen hatte, dass er bei anderen Menschen Wärme und Trost
finden konnte. Chris war gereizt und ärgerlich gewesen, weil er
sie immer wieder aus dem Gleichgewicht brachte. Doch bei
seinem Anblick wurde sie von einer so unerwarteten Woge der
Zärtlichkeit überwältigt, dass sie unsicher den Schritt
verlangsamte.
Gerade in diesem Moment hob Luke den Kopf und sah sie.
Zuerst verriet sein Blick nur Gleichgültigkeit und eine leichte
Ungeduld, weil sie ihn hatte warten lassen. Doch dann kniff
Luke die Augen zusammen, als würde es ihm schwer fallen, in
der Frau, die da auf ihn zukam seine ruhige, unscheinbare
Sekretärin wiederzuerkennen. Chris wusste genau, dass der
Rock bei jeder Bewegung sanft und verführerisch ihre Beine
umspielte, obwohl sie wünschte, es wäre nicht so. Noch niemals
war sie sich ihres Körpers so bewusst gewesen. Sie spürte Lukes
Blick auf der Haut und sehnte sich nach ihrem Mantel, nach
irgend etwas, das sie schützend um sich legen konnte. Luke hielt
noch immer die Weinliste in der Hand. Als Chris vor dem Tisch
stehenblieb, legte er die Karte sehr langsam weg. Dann
bemerkte er den diskret erstaunten Blick des Kellners und stand
schnell auf.
Zu Chris' Erleichterung betrachtete Luke jetzt nicht mehr
ihren Körper, sondern sah ihr ins Gesicht. Immer noch schien er
nicht ganz überzeugt zu sein, dass sie es wirklich war.
Verzweifelt wünschte sie sich, er würde etwas sagen, denn das
Schweigen drohte allmählich, peinlich zu werden.
Statt dessen sah er auf seine Armbanduhr.
"Ich bin nicht zu spät!" Chris hatte das Gefühl, sich
verteidigen zu müssen.
Ihre scharfen Worte brachen den Zauber, der sie beide
gefangen gehalten hatte. Auf seinem Gesicht erschien wieder
der gewohnte Ausdruck von Ungeduld. "Habe ich das etwa
gesagt?"
"Nein, aber der Blick auf Ihre Uhr war deutlich genug!"
Chris ließ sich vom Kellner einen Stuhl zurechtrücken und
setzte sich. Der Ausdruck in Lukes Augen, während sie auf ihn
zuging, hatte sie völlig außer Fassung gebracht. Aber
mindestens ebenso verwirrt war sie durch ihre eigene
Unsicherheit, die sie sonst gar nicht von sich kannte. Bestürzt
wurde ihr klar, dass sie gehofft hatte, Luke würde bei ihrem
Anblick an etwas anderes denken als an die Zeit.
Luke lächelte leicht. "Das war nur ein kleiner Trick von mir.
Ich war mir nämlich nicht sicher, ob Sie es wirklich sind - bis
Sie mich eben so anfauchten!"
Chris presste die Lippen zusammen. Sie nahm die gestärkte
Serviette und schüttelte sie mit einer betonten Handbewegung
auseinander, "Natürlich bin ich es. Der neue Haarschnitt kann
mich doch wohl nicht so verändert haben!"
"Offensichtlich nicht", entgegnete Luke trocken, und Chris
errötete leicht. Er dachte anscheinend, sie habe es auf einen
Streit abgesehen. Sie musste sich zusammennehmen. "Die neue
Frisur ist schon ein guter Anfang", fuhr er fort. "Ich habe Ihnen
ja gesagt, dass Ihnen kurzes Haar besser steht,"
Nicht gerade ein überschwängliches Kompliment! "Vielen
Dank", sagte Chris kurz angebunden. Sie war entschlossen, sich
nicht anmerken zu lassen, dass seine Gleichgültigkeit sie
enttäuschte.
Es entstand eine kurze Pause. Luke machte den Eindruck, als
wollte er noch etwas sagen, besann sich dann aber.
"Ich habe schon für Sie bestellt", sagte er schließlich und
griff wieder nach der Weinkarte. "Ich hielt das für das
einfachste."
"Ich bin sehr gut in der Lage, mir mein eigenes Menü
zusammenzustellen, vielen Dank", erwiderte Chris frostig.
"Stellen Sie sich vor, ich war schon einmal in einem
französischen Restaurant. Sie brauchen mir die Speisekarte also
nicht zu übersetzen."
Luke runzelte die Stirn, dann reichte er ihr mit einem
Schulterzucken die Speisekarte, die neben seinem Teller gelegen
hatte. "Ganz wie Sie wollen."
Chris öffnete die Karte und tat, als studiere sie den Inhalt mit
großem Interesse. Dabei war es ihr eigentlich gleichgültig, was
sie ass. Doch es schien die beste Gelegenheit, ihre Fassung
zurückzugewinnen. Für heute hatte Luke sie genug
herumkommandiert!

Sie warf einen Blick über die Karte hinweg und sah, dass er
sich wieder mit der Auswahl der Weine beschäftigte. In
Dinnerjackett und mit Fliege wirkte er noch attraktiver als sonst,
und die gedämpfte Beleuchtung milderte seine scharfen Züge.
Doch als er plötzlich aufsah und sie seinem Blick über den
ledergebundenen Karten begegnete, wirkten seine grauen Augen
so hart und durchdringend wie immer.
Schnell senkte Chris den Blick und vertiefte sich wieder in
ihre Speisekarte.
Der Kellner erschien an ihrem Tisch. "Haben Sie sich schon
entschieden?" fragte Luke. Es klang, als warte er schon eine
Ewigkeit auf sie.
"Ich hätte gern die Rouladen von Lachs und Seezunge, und
dann die 'magret de canard'", sagte Chris mit einem trotzigen
Blick auf Luke und legte die Karte beiseite.
"Sind Sie sicher?"
"Ja, vielen Dank."
"Zur Vorspeise würde ein Sauvignon recht gut passen, und
für das Hauptgericht habe ich an einen Chateau d'Yquem
gedacht", fuhr Luke fort und fügte ironisch hinzu: "Ist Ihne n das
recht, oder möchten Sie auch die Weine selbst auswählen?"
"Nein, das klingt sehr gut", entgegnete Chris förmlich und
faltete ihre Hände im Schoß. Es kostete sie einige Anstrengung,
keine giftige Bemerkung zu machen, doch sie dachte an ihren
Vorsatz, sich nicht von ihm provozieren zu lassen.
Luke wandte sich an den Kellner. "Wir nehmen vorweg den
Lachs und die Seezunge, und als Hauptgericht die Ente - es
bleibt also bei meiner Bestellung." Nachdem er auch den Wein
bestellt hatte, drehte er sich um und begegnete Chris'
vorwurfsvollem Blick. "Was ist denn los?"
"Warum haben Sie mir nicht gesagt, was Sie bestellt haben?"
"Damit Sie dann etwas anderes auswählen, nur um mich zu
ärgern? Ich habe einfach das bestellt, von dem ich dachte, es
gefiele Ihnen. Was ist daran falsch?"
"Ich kann schließlich für mich selbst sprechen", sagte Chris
mit einem Anflug von Eigensinn in der Stimme. "Dessen bin ich
mir sehr bewusst, Chris."
"Das bezweifle ich, so wie Sie mich heute den ganzen Tag
behandelt haben!"
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Sie haben bestimmt, wie ich mir die Haare schneiden lassen
soll, Sie haben meine Kleider ausgesucht und mein Essen - als
wäre ich nicht mehr als eine Schaufensterpuppe!"
"Nun machen Sie sich nicht lächerlich", erwiderte Luke
schroff. "Ich dachte, dieses Thema hätten wir schon heute
morgen erledigt." "Wir sind übereingekommen, dass Sie meine
Arbeit anerkennen und sich bemühen, freundlicher zu sein."
"Das tue ich doch!"
"Ich weiß nicht, was Sie unter Freundlichkeit verstehen, aber
ich empfand es als ziemlich unangenehm, von Ihnen betrachtet
und kritisiert zu werden, als wäre ich ein Stück Vieh, das zum
Verkauf steht!"
"Deshalb waren Sie also heute Nachmittag so schlechter
Laune", sagte Luke und warf einen Blick auf die Flasche, die der
Kellner ihm präsentierte. Er wartete, bis dieser ihm etwas Wein
ins Glas gegossen hatte, trank prüfend einen Schluck und nickte
dann. "Die meisten Frauen hätten einen Nachmittag beim
Friseur genossen, ganz zu schweigen von kostenlosen Kleidern."
Chris wartete, bis der Kellner ihre Gläser gefüllt und sich mit
unbewegter Miene entfernt hatte. "Ich bin nicht wie ,die meisten
Frauen!" fauchte sie. "Ich bin ich, und ich mag es nicht, wenn
man mich behandelt wie - wie ein dummes Püppchen!"
Sie hatte erwartet, dass Luke beleidigt sein würde, doch zu
ihrem Ärger grinste er jungenhaft. "Aber Chris, gerade bei Ihnen
würde ich mir das nie erlauben!"
Chris wünschte sich, er würde sie nicht auf diese Art
anlächeln. Hastig griff sie nach ihrem Glas und trank einen
Schluck Wein, während sie sich von Lukes Anblick loszureißen
versuchte.
"Ich halte sehr viel von Ihnen", fuhr Luke fort. " Sie sind eine
vernünftige und intelligente Frau, und ich würde nie auf die Idee
kommen, Sie als eine Art Sexualobjekt zu betrachten. Ich kann
Ihnen gar nicht sagen, welche Erleichterung es für mich
bedeutet, endlich einmal mit einer Frau zu tun zu haben, die sich
streng auf das Geschäftliche beschränkt und nicht ständig mit
Bewunderung überschüttet werden will."
"Nun, ein Kompliment von Zeit zu Zeit könnte auch nicht
schaden!"
"Ich wollte Ihnen gleich bei Ihrer Ankunft sagen, dass Sie
wunderbar aussehen in diesem Kleid, aber dann hätten Sie mir
sicherlich vorgeworfen, ein Chauvinist zu sein." Für einen
Moment begegnete sie seinem Blick, dann lächelte Luke
reumütig. "Es tut mir leid", entschuldigte er sich. "Es war nur
ein großer Schock für mich, dass meine sonst so tüchtige und
unscheinbare Sekretärin sich in eine ganz andere Frau
verwandelt hat." Er legte kurz seine Hand über ihre. "Sie sehen
heute Abend ganz bezaubernd aus, Chris. Ist es so besser?"
Chris war froh über die gedämpfte Beleuchtung im
Restaurant. So sah Luke nicht, dass sie über und über rot
geworden war. Als er sie berührte, tat ihr Herz einige sehr
merkwürdige Hüpfer, und sie zog schne ll die Hand zurück.
"Ich habe nur Spaß gemacht", murmelte sie. "Vernünftig und
intelligent' reicht mir als Kompliment."
"Tatsächlich? Dann sind Sie die erste Frau, die sich damit
zufrieden gibt!"
"Aber für Sie bin ich schließlich keine Frau", betonte Chris
trocken. "Ich bin Ihre Sekretärin, und sonst nichts."
Luke trank einen Schluck Wein. Über den Rand des Glases
hinweg betrachtete er sie, und in seinen Augen lag ein
sonderbarer Ausdruck. "Es fällt mir schwer, mich daran zu
erinnern, wenn Sie so aussehen wie heute Abend."
Chris hatte plötzlich das Gefühl, sich auf äußerst unsicherem
Boden zu bewegen. Die unerwartete Wärme in seiner Stimme
verwirrte sie zutiefst, und ihre Nerven waren zum Zerreißen
gespannt. Hastig trank sie einen Schluck Wein, während sie sich
den Kopf auf der Suche nach einem unverfänglichen Thema
zermarterte.
Sie wollten doch mit mir über unsere Reise nach Paris
sprechen", erinnerte sie Luke und fragte sich, ob ihre Stimme
auch für ihn so noch und unnatürlich klang. "Wen werden wir
dort eigentlich treffen?"
Sie vermied es, ihn direkt anzusehen. Bestimmt würde er ihr
ansehen welche törichten, mädchenhaften Gefühle in ihrem
Innern tobten. Dabei war sie doch keine unerfahrene
Sechzehnjährige mehr. Sie war eine erwachsene Frau und zu
vernünftig, um sich von einigen hingeworfenen Komplimenten
oder einer flüchtigen Berührung verwirren zu lassen. Dies war
ein Geschäftsessen und nicht mehr. Natürlich, Luke war nett und
zuvorkommend, aber deshalb brauchte ihr Herz doch nicht so
schnell zu klopfen .. .
Luke warf ihr einen kurzen, scharfen Blick zu, bevor er
antwortete. "Wir haben eine Verabredung mit Philippe Robard
und seinem Sohn, der ebenfalls im Vorstand der Firma sitzt.
Robard ist Besitzer der Oasis-Hotelkette. Bestimmt haben Sie
davon gehört, während Sie in Frankreich lebten?"
Als Chris nickte, fuhr er fort: "Seine Firma expandiert
schnell, und er hat besonders auf Großbritannien ein Auge
geworfen. Sie wissen sicherlich, dass er sich darauf spezialisiert
hat, alte Gebäude aufzukaufen - vor allem heruntergekommene
Schlösser - und sie in exklusive, mit allem Komfort
ausgestattete Hotels umzuwandeln, wobei er aber Wert darauf
legt, soweit wie möglich den ursprünglichen Charakter der
Gebäude zu bewahren."
Er spielte gedankenverloren mit seiner Gabel. "Bisher war
Robard außerordentlich erfolgreich, aber gerade aufgrund der
Expansion seiner Firma und der Vielzahl von Bauarbeiten
besteht die Gefahr, dass der Qualitätsstandard sinkt. Er kann
sich nicht um alles kümmern, und außerdem ist er Hotelier,
nicht Ingenieur."
"Und an diesem Punkt kommen wir ins Spiel?" erkundigte
Chris sich. Sie versuchte mit aller Kraft, sich auf Lukes Worte
zu konzentrieren, nicht auf seinen ausdrucksvollen Mund.
"Genau. Ich biete Robard einen kompletten Beraterservice für
seine Bauvorhaben, damit er sich ausschließlich auf die Führung
seiner Hotels konzentrieren kann. Eben deshalb ist es so wichtig
für uns, morgen den richtigen Eindruck auf ihn zu machen. Er
muss das Gefühl haben, dass wir für alles garantieren, worauf er
Wert legt: Stil, Leistungsfähigkeit und Qualität."
Chris war erleichtert, als der Kellner mit dem ersten Gang
erschien. Jetzt konnte sie sich mit dem Essen beschäftigen und
musste Luke nicht mehr ständig ansehen. "Aber all das könnte
ihm doch auch eine französische Firma bieten, nicht wahr?"
fragte sie und griff nach ihrem Besteck.
"Ja, aber denken Sie daran, dass er auf den britischen Markt
möchte, genauso wie ich auf den französischen." Luke schien
sich mehr für das Geschäft zu interessieren als für sein Essen,
"In England und außerhalb Europas haben wir schon einen guten
Ruf, und Sie, Chris werden ein wenig kontinentalen Flair in die
Firma bringen."
"Ich verstehe." Chris hielt den Blick auf ihren Teller gesenkt.
Im sanften Licht glänzte ihr Haar wie schimmerndes Kupfer.
"Was soll ich also tun?"
"Sie werden als meine Assistentin fungieren und mich
natürlich unterstützen, sobald es bei der Verständigung
Probleme gibt, ich denke, die Robards werden von Ihrer
Tüchtigkeit beeindruckt sein. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie
auch Ihren Charme spielen ließen, den Sie zweifellos besitzen,
auch wenn Sie ihn nicht an mich verschwenden!"
Chris blickte erstaunt auf. In ihren großen dunklen Augen
spiegelte sich das goldene Licht der Kerze, die auf dem Tisch
brannte. Langsam ließ sie das Besteck sinken. "Was, um alles in
der Welt, meinen Sie damit?"
Jetzt war es an Luke, sich intensiv mit seinem Essen zu
beschäftigen. "Ich habe gesehen, wie Sie mit den anderen
Leuten in der Firma umgehen. Alle mögen Sie. Meine
Abteilungsleiter erzählen mir von morgens bis abends, wie
charmant Sie doch seien. Aber mir machen Sie immer nur
Vorwürfe oder erteilen mir Lektionen über meine schlechten
Manieren."
Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, und Chris
biss sich auf die Lippe. Sie hätte schwören können, dass er sich
gekränkt fühlte.
"Das ist nicht fair", protestierte sie. "Manchmal bin ich sehr
nett zu Ihnen."
Luke beugte sich vor, um ihre Gläser erneut zu füllen. "Aber
nur manchmal", sagte er, und sie sah erleichtert das amüsierte
Funkeln in seinen Augen. "Das Schwierige an Ihnen ist, dass Sie
sehr ehrlich sind, Chris - oft viel zu ehrlich für meinen
Geschmack. Ich bin eben nicht daran gewöhnt. Schon sehr früh
habe ich gelernt, dass man von den meisten Frauen nicht viel
Ehrlichkeit erwarten kann."
Ein bitterer Unteren lag in seiner Stimme. Chris überlegte, ob
er in diesem Moment an Helen dachte. Gleich darauf fragte sie
sich schuldbewusst, ob sie nicht ebenso unehrlich wie Helen
war. Warum hatte sie nicht gleich am Anfang gesagt, dass sie
ihn von früher her kannte?
Impulsiv öffnete sie den Mund, um ihm alles zu erzählen.
Doch dann erschien wieder der Kellner an ihrem Tisch, füllte
die Gläser nach und erkundigte sich nach ihren weiteren
Wünschen. Als er sich wieder zurückgezogen hatte, war die
Gelegenheit vorbei, und Luke hatte bereits das Thema
gewechselt.
Ich nehme an, unsere Reise nach Paris wird für Sie wie eine
Heimkehr sein'"
In gewisser Weise, ja", sagte sie. Plötzlich tat es ihr nicht
mehr leid, dass sie Luke nichts gesagt hatte. Es wäre nur eine
sehr peinliche Situation für sie beide geworden. "Es ist
merkwürdig, aber als ich in Frankreich lebte, wollte ich die
ganze Zeit immer nach England zurück. Und jetzt, da ich hier
bin, denke ich manchmal sehnsüchtig an das Leben in
Frankreich. Wenn man zwei Nationalitäten hat, fühlt man sich
wahrscheinlich immer hin und her gerissen. "
"Sie sind mir nie wie eine Französin vorgekommen", sagte
Luke nachdenklich. "Auf mich wirken Sie immer so kühl und
beherrscht -eben typisch englisch."
"Ich bin wohl eher nach meinem Vater geraten."
"Was für ein Mensch war er?"
Chris fragte sich, was Luke wohl sagen würde, wenn sie ihm
erzählte, dass er ihn gut kannte. Sie erinnerte sich, dass er ihren
Vater immer verachtet und ihn für langweilig und arrogant
gehalten hatte. Er hatte eben nicht gewusst, wie herzlich und
großzügig ihr Vater denen gegenüber gewesen war, die er liebte.
"Er war auch sehr zurückhaltend und sehr englisch",
antwortete sie so unbefangen wie möglich.
Luke verzog den Mund zu einem amüsierten Lächeln. "Das
klingt, als wäre er in Ordnung gewesen. "
Für einen Moment schienen Vergangenheit und Gegenwart
miteinander zu verschmelzen, und Chris wünschte sich
verzweifelt, ihr Vater hätte diesen neuen Luke kennen gelernt.
"Sie bereuen also nicht, nach England zurückgekommen zu
sein?"
"Nein." Das weiche, schimmernde Haar streifte ihre Wangen,
als Chris den Kopf schüttelte. "Ich wäre schon früher
zurückgekommen, aber meine Mutter ist - nun, sie ist sehr
lebenslustig und charmant, aber hoffnungslos unpraktisch. Nach
dem Tod meines Vaters war es selbstverständlich, dass ich mich
um alles kümmerte, zum Beispiel um die finanziellen
Angelegenheiten. Meine Halbschwester Veronique war zu dem
Zeitpunkt schon verheiratet. Und außerdem war ich immer
vernünftiger als sie, schon als Kind." Sie seufzte
"Was ist denn falsch daran, vernünftig zu sein?"
"Nichts. Ich frage mich nur manchmal, was passiert wäre,
wenn ich die typische rebellische Phase gehabt hätte.
Wahrscheinlich hätte ich mehr Spaß gehabt."
"Sie meinen Auflehnung gegen die Gesellschaft im
allgemeinen? Die Phase hatte ich auch", sagte Luke.
"Oh, das .. ." Chris schwieg. Beinahe hätte sie gesagt: Das
weiß ich. "Das kann ich mir vorstellen", brachte sie schließlich
hervor.
Luke schien ihr Zögern nicht bemerkt zu haben. "Damals
hielt ich das alles für einen großen Spaß, aber im nachhinein
denke ich, dass ich einfach nur unglücklich war." Er hob
gleichgültig die Schultern, und Chris schämte sich plötzlich.
Vorher war ihr nie der Gedanke gekommen, dass die
Rücksichtslosigkeit des jungen Luke einfach der Tatsache
entsprang, dass er unglücklich war. Alle im Dorf hatten gewusst,
dass seine Mutter die Familie Jahre zuvor im Stich gelassen
hatte. Seitdem war er mit seinem Vater allein gewesen, einem
ziemlich exzentrischen und eigenbrötlerischen Mann. Nein,
Luke hatte wahrscheinlich keine glücklichen Erinnerungen an
Chittingdene. Jetzt war sie froh, dass sie nicht mit ihm über die
Vergangenheit gesprochen hatte. Luke machte den Eindruck
eines Mannes, der mit seinem früheren Leben längst
abgeschlossen hatte.
"Und wie kommt Ihre Mutter jetzt ohne Sie zurecht?"
erkundigte er sich.
"Sie hat vor einigen Monaten wieder geheiratet." Chris trank
einen Schluck Wein. "Thierry versteht es viel besser, sich um sie
zu kümmern, und er kann es sich auch leisten, sie zu verwöhnen,
aber..."
"Aber Sie mögen ihn nicht?"
"Nein. Ich habe es versucht, aber wir kommen einfach nicht
miteinander aus. Oh, wir waren immer sehr höflich zueinander,
doch das machte es irgendwie noch schlimmer. Als meine
Schwester ihre Tochter Michelle nach England zur Schule
schickte, hatte ich endlich einen guten Vorwand, von zu Hause
fortzugehen, ohne die Gefühle meiner Mutter zu verletzen ..."
Chris schwieg. Sie hatte Luke all diese Dinge gar nicht erzä hlen
wollen, aber irgendwie waren die Worte ihr herausgerutscht.
"Ohne mich können sie endlich so leben, wie es ihnen gefällt",
sagte sie abschließend. "Meine Mutter geht furchtbar gern zu
Partys und zieht sich immer ganz wunderbar an. Ich fürchte, ich
habe leider nichts von ihrem Geschmack geerbt. Außerdem sieht
sie viel zu jung aus, um eine Tochter in meinem Alter zu
haben."
"Ihre Mutter erinnert mich an jemanden, den ich mal kannte,
zumindest vom Sehen. Warten Sie, ihr Name war .. ." Luke kniff
die Augen zusammen, während er angestrengt nachdachte.
"Nun, der Name tut ohnehin nichts zur Sache, aber sie war auch
Französin - viel zu bezaubernd und rassig für Chittingdene."
Mit zitternden Händen legte Chris ihr Besteck nieder.
"Chittingdene"
Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin", erklärte Luke. "Ein
kleines verschlafenes Nest im tiefsten Somerset. Seit Jahren bin
ich nicht mehr da gewesen. Ich konnte es gar nicht abwarten,
von dort wegzukommen." Erblickte in sein Weinglas.
"Merkwürdig, aber ich habe seit Jahren nicht mehr an
Chittingdene gedacht. Und ganz gewiss nicht an Mrs... . wie war
doch bloß noch ihr Name?"
Wie sind Sie eigentlich ins Projektmanagement gekommen?"
erkundigte Chris sich schnell, um ihn von der Vergangenheit
abzulenken. Es überraschte sie, dass Luke sich an ihre Mutter
erinnerte, die sich fast nie im Dorf hatte sehen lassen, sondern es
vorzog, soviel Zeit wie möglich in Frankreich zu verbringen.
Während Luke über seine Arbeit redete, schweiften ihre
Gedanken wieder in die Vergangenheit. Sie verglich den
rebellischen Jugendlichen, den sie früher gekannt hatte, mit dem
entschlossenen Mann, der ihr jetzt gegenübersaß und von
seinem Kampf um Erfolg erzählte. Beide waren sich so ähnlich
und dabei doch so verschieden. Oder war sie damals einfach
noch zu jung gewesen, um zu sehen, was in ihm steckte? "Es
muss harte Arbeit gewesen sein", sagte sie schließlich, als Luke
sie, die Brauen hochgezogen, betrachtete, offensichtlich
verwundert über ihr Schweigen.
"Das war es auch", gab er zu, "aber es hat sic h gelohnt. Ich
bin jetzt ein reicher Mann."
"Zumindest in der Hinsicht hat es sich also gelohnt", sagte
Chris zweideutig und dachte an den langen, einsamen Kampf,
den er geführt haben musste.
"Sie klingen nicht sehr überzeugt, Chris", erwiderte er
amüsiert. "Nein, sagen Sie nichts! Sie denken, dass Geld nicht
alles ist?"
"Das ist es auch nicht, oder?"
"Chris, Sie enttäuschen mich! Ich hätte nicht erwartet, dass
Sie sich auf Klischees versteifen. Ihrer Meinung hat es sich also
nicht gelohnt, weil ich mir nic ht Frau und Kinder zugelegt habe
und einen Hund, der mir abends die Pantoffeln an den Kamin
bringt?"
Chris begegnete offen seinem Blick. Er machte sich natürlich
über sie lustig, aber ihr war der verteidigende Unterton in seiner
Stimme nicht entgangen. "Ich meine nicht, dass Sie unbedingt
hätten heiraten sollen. Ich wundere mich nur, dass Sie es nicht
getan haben."
"Ich wollte nie heiraten", erwiderte er schroff. "Ich mag es,
wenn Frauen ebenso zynisch sind wie ich. Keine Erwartungen
und auch kein Schmerz."
Wirklich nicht? dachte Chris. Und was ist mit dem Jungen,
der von seiner Mutter verlassen und von Helen Slayne betrogen
wurde? Warum ist aus Zynismus mit den Jahren Bitterkeit
geworden?
"Und wie ist es mit Ihnen?" fragte Luke. "Warum sind Sie
nicht verheiratet? Warten Sie immer noch auf den Richtigen?
Oder trauern Sie einer verlorenen Liebe nach?"
Gegen ihren Willen stiegen Erinnerungen an Chris auf; an
einen lange zurückliegenden Sommertag, an den Duft von Gras,
an die Berührungen seiner Hände, den Geschmack seiner
Lippen. Das war keine Liebe, sagte sie sich entschlossen. Es war
nur so etwas wie ein Anfang, ein kurzer Blick auf das, was hätte
sein können.
"Ich bin nicht verheiratet, weil mich noch kein Mann gebeten
hat, seine Frau zu werden."
"Wahrscheinlich hat Sie auch noch nie jemand so gesehen
wie heute Abend."
"Nein", gab Chris, gezwungen lächelnd, zu. Die
Gleichgültigkeit, mit der er gesprochen hatte, tat ihr weh. "Sie
sind der erste."
Luke spielte gedankenverloren mit einem Löffel, während er
sie betrachtete. Dann legte er ihn sorgfältig wieder neben seinen
Teller. "Da haben Sie recht", sagte er langsam.
Peinliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Chris
trank noch einen Schluck Wein und suchte fieberhaft nach
einem neutralen Thema. Schließlich hatten sie über das Geschäft
reden wollen. Wie waren sie bloß auf Liebe und Ehe
gekommen?
"Ist Monsieur Robard . ..?"
"Kennen Sie . ..?"
Sie hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen und
verstummten jetzt, beide verlegen.
"Sprechen Sie weiter", sagte Chris schließlich.
"Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Paris gut kennen." Luke
klang förmlich.
Chris stürzte sich auf dieses unverfängliche Thema, und es
gelang ihr, das Gespräch für den Rest des Abends unverfänglich
und unpersönlich zu halten. Immer neue Platten und Teller
wurden gebracht, ihre Gläser immer wieder gefüllt. Chris aß und
trank, ohne etwas wirklich zu schmecken. Sie redete über das
Geschäft und wich Lukes Blicken aus. Und die ganze Zeit war
sie sich seiner Anwesenheit beinahe schmerzhaft bewusst. Sie
wünschte, er würde endlich mit dieser höflichen Konversation
aufhören. Sie wünschte, er würde unverschämt werden, sie in
Wut bringen oder irgend etwas anderes tun, das sie ablenkte von
diesem überwältigenden Verlangen, die Hand nach ihm
auszustrecken und ihn zu berühren. Sie wagte nicht, ihm ins
Gesicht zu sehen, aus Angst, ihren Blick nicht mehr von seinem
Mund losreißen zu können. Deshalb beobachtete sie die anderen
Gäste, betrachtete das schimmernde Porzellan und seine
schlanken Finger, die das Weinglas hielten.
Endlich war es vorbei. Als Luke ihr in den Mantel half,
erschauerte sie unter der leichten Berührung seiner Hände.
"Ich rufe Ihnen ein Taxi", sagte er und öffnete die
Ausgangstür. "Ich kann von hier aus laufen. "
"Aber ich kann doch auch den Bus nehmen", protestierte
Chris, doch Luke beachtete ihre Worte nicht. Ohne sich zu
berühren, gingen sie die Strasse hinunter. Es hatte wieder
geregnet, und das Straßenpflaster glänzte im Licht der
Straßenlaternen. Die Reifen der Autos zischten über den nassen
Asphalt.
Chris vergrub die Hände tief in den Taschen ihres Mantels
und sah starr vor sich auf die Strasse. Hoffentlich tauchte bald
ein Taxi auf! Luke dagegen schien das Schweigen zwischen
ihnen nichts auszumachen. Außerdem betrachtete er sie so
prüfend, dass sie nervös zu werden begann. "Ist etwas nicht in
Ordnung?" fragte sie schließlich.
"Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir uns früher schon
einmal begegnet sind", erklärte Luke nachdenklich. "Ich muss
mich irren, oder?"
Chris fühlte, wie ihr Puls zu rasen begann. Schnell sah sie
weg. "Wenn es so wäre, würde ich mich sicher daran erinnern" ,
sagte sie. Eine glatte Lüge wollte sie ihm nicht auftischen, doch
andererseits hatte sie auch keine Lust auf endlose Erklärunge n,
die er sicher von ihr verlangen würde, wenn sie ihm die
Wahrheit gestände.
"Ich glaube, es kommt daher, dass Sie heute so anders
aussehen." Ihre Antwort schien Luke nicht zufriedengestellt zu
haben. Als er neben sie an den Bordstein trat, musste Chris sich
zusammennehmen, um nicht zurückzuzucken. Er sah die Strasse
entlang, als hielte er ebenso ungeduldig nach einem Taxi
Ausschau wie sie.
"Ich kann mich immer noch nicht an Ihr neues Aussehen
gewöhnen", fuhr er fort und sah auf sie hinunter. "Plötzlich
fallen mir Dinge an Ihnen auf, die ich vorher nie bemerkt habe .
.." Er schwieg, und Chris hatte das Gefühl, dass seine Worte ihn
selbst mehr überraschten als sie selbst. "Es ist wirklich
erstaunlich, was eine neue Frisur ausmacht."
Ein sonderbarer Ausdruck lag in seinen Augen. Chris wollte
wegsehen, doch sie konnte den Blick nicht von ihm losreißen.
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. "Ich hoffe, Sie sind der
Meinung, dass sich Ihre Investition gelohnt hat", sagte sie so
unbefangen wie möglich.
Langsam streckte Luke die Hand aus und strich ihr eine
Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das bin ich", murmelte er.
"Meine Investition hat sich mehr als gelohnt."
Bevor Chris noch begriff, was geschah, legte er ihr die Hand
unter das Kinn, beugte sich hinunter und küsste sie.
Völlig überrumpelt, die Hände in den Taschen ihres Mantels
gefangen, war Chris nicht in der Lage, sich zu wehren. Sie fiel
beinahe gegen seine harte, muskulöse Brust, und dann fühlte sie
seine Arme um sich.
Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen. Während sie
auf dieser nassen, unwirtlichen Strasse stand und Lukes Lippen
auf ihren spürte, hatte Chris das Gefühl, sie sei wieder im
sommerlichen Wald von Chittingdene. Es war das gleiche
schmerzliche Verlangen, die gleiche Sehnsucht, die gleiche
heiße Begierde, als sie seine Lippen schmeckte und den Griff
seiner Hände im Nacken spürte.
Chris' Antwort entsprang reinem Instinkt. Sie öffnete die
Lippen und ließ sich einfach gegen ihn sinken. In ihrem Inneren
kämpften Erregung und Schuldbewusstsein miteinander und die
Erkenntnis, dass kein anderer Mann solche Gefühle in ihr
wecken konnte.
Sie wollte ihre Hände aus den Manteltaschen befreien, wollte
sein Gesicht berühren und die markante Linie seines Kinns unter
ihren Fingern spüren. Doch da hob Luke den Kopf und streckte
seinen Arm aus, und ein Taxi kam quietschend neben ihnen zum
Stehen.
Chris betrachtete es verwirrt, als habe sie noch nie ein Taxi
gesehen. "Warum - warum haben Sie das getan?" brachte sie
hervor.
"Ich wollte meine Investition nur ein wenig auskosten", sagte
Luke. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, denn
er wandte sich schnell ab und redete mit dem Fahrer. Dann
schob er sie in das Taxi und schloss die Tür hinter ihr, als wäre
nie etwas zwischen ihnen geschehen.
"Wir treffen uns um ha lb elf Uhr am Flughafen", war alles,
was er ihr durch das Fenster zurief. "Seien Sie pünktlich."
6. KAPITEL
In der Abflughalle herrschte reges Treiben, und Chris konnte
Luke zunächst nicht finden. Sie entdeckte ihn erst, als er
plötzlich neben dem Gepäckschalter auftauchte. Er sah sich
suchend um, warf immer wieder ungeduldige Blicke auf seine
Armbanduhr und fragte sich offensichtlich, wo Chris steckte.
Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben, und das gab ihr
einen Moment Zeit, ihr übliches beherrschtes Gesicht
aufzusetzen, bevor sie auf ihn zuging.
In der Nacht hatte sie stundenlang wachgelegen und versucht,
Lukes Kuss aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Doch sobald
sie die Augen schloss, wurde die Erinnerung wieder lebendig:
seine Hände, sein Mund, sein starker, männlicher Körper, der
ihrem so erregend nah war.
Als sie allem in der Dunkelheit lag, war es leicht gewesen,
sich selbst zu überzeugen, dass er sie einfach überrumpelt hatte.
Nur deshalb hatte sie sich so willig seinen Armen überlassen.
Nur deshalb hatten ihre Lippen unter dem festen Druck seines
Mundes nachgegeben. Nur deshalb hatte sie seinen Kuss
erwidert.
Schließlich beschloss sie, dass Luke sie nicht hätte küssen
dürfen. Es war viel einfacher, ihm die Schuld zu geben als sich
selbst, weil sie so hemmungslos reagiert hatte. Die angenehmste
Erklärung war immer noch, dass es einfach eine Laune von ihm
gewesen war, dass dieser Kuss ihm gar nichts bedeutet hatte.
Und Chris war entschlossen, es Luke gleichzutun. Es war viel
weniger peinlich für sie beide, wenn sie ihm gegenüber so tat,
als hätte es diesen Kuss niemals gegeben.
Doch als sie Luke jetzt vor sich sah, als ihr Magen sich
zusammenkrampfte und das Blut wie flüssiges Feuer durch
ihren Körper strömte, da erschien ihr nichts mehr so einfach,
wie sie es sich vorgestellt hatte.
Kein Anzeichen ihres inneren Aufruhrs zeigte sich auf Chris'
unbewegtem Gesicht, als sie Luke kühl einen guten Morgen
wünschte Luke erwiderte ihren Gruß kurz angebunden, und sein
Blick war undurchdringlich wie immer. Zu Chris' Erleichterung
schien er keinen Wert auf eine Unterhaltung zu legen, während
sie eincheckten und durch die Zollkontrolle in den Warteraum
gingen. Er sah ziemlich missgelaunt aus, und Chris war froh,
dass sie sich hinter der Maske der umsichtigen Sekretärin
verstecken konnte.
Sie trug eines der Kostüme, die Luke für sie ausgesucht hatte:
eine lässig geschnittene lachsfarbene Jacke über einem weichen,
gleichfarbigen Rock und dazu eine cremefarbene Seidenbluse.
Sie wusste, dass diese unauffällige Eleganz ihr hervorragend
stand, doch Luke sagte nichts. Nachdem sie im Warteraum zwei
freie Plätze gefunden hatten, öffnete Luke seinen Aktenkoffer
und entnahm ihm einige Papiere, in die er sich vertiefte.
Sie betrachtete aus den Augenwinkeln seine finster
zusammengezogenen Brauen und seinen zusammengekniffenen
Mund. Luke wirkte hart und verschlossen, und wäre da nicht ihr
klopfendes Herz gewesen, sie hätte nicht geglaubt, dass dies
derselbe Mann war, der sie gestern Abend geküsst hatte.
Erinnerte er sich überhaupt daran? So, wie Chris ihn kannte,
erschien es ihr nicht unmöglich, dass er die ganze Sache völlig
aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte, sobald sie außer Sicht
gewesen war. Ihr erster Kuss damals hatte ihm nichts bedeutet,
warum sollte es jetzt anders sein? Während sie ihn betrachtete,
lag ein Ausdruck von Wehmut in ihren bernsteinfarbenen
Augen, ohne dass es ihr bewusst wurde. Falls er sich an den
Kuss erinnerte, dann hatte er ganz offensichtlich beschlossen,
ihn zu vergessen.
Nun, das geschah ihr nur recht.
"Ich nehme an, Sie erwarten von mir, dass ich mich für den
Kuss letzte Nacht entschuldige", sagte Luke plötzlich, ohne von
seinen Papieren aufzublicken.
Chris hatte sich gerade in dem angenehmen Bewusstsein
zurückgelehnt, dass die ganze Sache vergessen war. Nun fuhr
sie zusammen und warf ihm einen nicht sehr freundlichen Blick
zu. Sie hätte wissen sollen, dass man bei Luke immer auf der
Hut sein musste. Sein Talent, sie in schwachen Momenten zu
erwischen, war ihr noch nie ganz geheuer gewesen.
"Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", sagte sie. Obwohl
ihre Stimme sich sehr kühl und beherrscht anhörte, konnte sie es
nicht über sich bringen, ihn direkt anzusehen. Statt dessen
betrachtete sie bewusst gleichgültig die Passagiere, die sich vor
dem Duty-free-Shop drängten. "Ich habe es ohnehin nicht als
ernst empfunden."
Er hob schlagartig den Kopf. Obwohl sie nicht in seine
Richtung sah, konnte sie seinen durchdringenden Blick auf sich
gerichtet fühlen.
"Nein? Und wie haben Sie es dann empfunden?"
Warum kann er sich nicht damit zufrieden geben? dachte
Chris ärgerlich. Es sah ihm mal wieder ähnlich, die ganze
Geschichte auch noch analysieren zu wollen.
"Sie haben doch ganz offensichtlich nicht darüber
nachgedacht was Sie taten."
"Und woraus schließen Sie das?"
In seiner Stimme lag ein ganz leiser, amüsierter Unterton,
und Chris warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Doch er hatte
den Kopf schon wieder über seine Papiere gebeugt und kritzelte
mit seinem Bleistift etwas an den Rand eines Blattes, Sie konnte
nur sein markantes Profil erkennen.
Was bildete er sich eigentlich ein, sie auf diese Art
auszufragen? Noch dazu, wo er anscheinend nur halb bei der
Sache war? Chris' verletzter Stolz meldete sich, und sie
antwortete schärfer, als sie es zunächst beabsichtigt hatte.
"Das war doch ganz offensichtlich. Ich weiß, wie Ihre
Rechnung aussieht: Mädchen plus Abendessen plus Dunkelheit
gleich Kuss. Leider haben Sie vergessen, dass ich als Ihre
Sekretärin die Unbekannte in der Gleichung bin."
"Ich habe wirklich etwas vergessen, nämlich, dass sich hinter
Ihrem neuen, strahlenden Image immer noch die gleiche,
missbilligende Chris verbirgt", sagte Luke trocken, während er
eine letzte Bemerkung hinkritzelte und dann den Stift in seiner
Jackentasche verschwinden ließ.
"Es ist nicht mein neues Image. Es ist Ihres", betonte Chris
trotzig.
"Oh, ich weiß nicht", sagte Luke nachdenklich. Er legte die
Papiere in den Aktenkoffer zurück und ließ das Schloss
zuschnappen. "Ich habe eigentlich nur die wunderschöne,
reizvolle Frau in Ihnen entdeckt - die Sie sein könnten, wenn Sie
es nur zuließen."
Chris fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, und sie
suchte fieberhaft nach einer möglichst bissigen Antwort. Doch
es fiel ihr nichts ein, und sie konnte nur finster vor sich
hinstarren, während sie gegen die aufsteigende Wut ankämpfte.
Es war wirklich leichter mit Luke umzugehen, wenn er sich
unfreundlich benahm. "Ich will gar nicht schön und reizvoll
sein", sagte sie schließlich verzweifelt. "Weil ich nicht so bin."
"Sie waren so, als ich Sie letzte Nacht küsste."
"sie haben mich eben in einem schwachen Moment
erwischt", verteidigte Chris sich. Sie holte tief Luft und zwang
sich, Luke direkt in die grauen Augen zu sehen. "Gestern noch
haben Sie mir gesagt, wie erleichtert Sie seien, dass unser
Verhältnis sich auf das rein Geschäftliche beschränkt. Deshalb
wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich in Zukunft an Ihre Worte
erinnern würden. Halten Sie das nicht auch für vernünftig?"
"Sehr vernünftig", sagte Luke spöttisch. "Etwas anderes hätte
ich von einer vernünftigen Sekretärin wie Ihnen auch nicht
erwartet, Chris." Er warf einen Blick auf die Abflugtafel. Chris
war erleichtert, als er aufstand und damit ihre Diskussion
beendete. "Kommen Sie, unser Flug wird gleich aufgerufen."
Paris lag unter einem typischen, sanften blaugrauen Schleier,
als sie am Flughafen ein Taxi nahmen, das sie in die Innenstadt
brachte. Im "0asis Hotel" an der Rue du Faubourg-St.-Honore,
dem Stammhaus der Hotelkette Philippe Robards, waren
Zimmer für sie reserviert. Chris war überwältigt von der
unaufdringlichen Eleganz, die dort herrschte.
Während Luke sie beide in seiner üblichen, energischen Art
am Empfang anmeldete, sah sie sich in der beeindruckenden
Hotelhalle um. Wenn dies Philippe Robards Standard war, dann
hatte Luke recht gehabt, sie zu einem neuen Image zu
überreden.
Ein Page führte sie zu ihren Zimmern. Luke schien von der
luxuriösen Umgebung unbeeindruckt. Er gab Chris gerade fünf
Minuten Zeit, um sich ein wenig frisch zu machen, bevor sie
zum Treffen mit Philippe Robard aufbrachen.
"Hören Sie mir gut zu, Chris", sagte er, während sie vor dem
Hoteleingang auf ein Taxi warteten. "Ich möchte, dass Sie
liebenswürdig und charmant sind. Und dass Sie sich ja nicht
unterstehen, Robard über seine schlechten Manieren zu
belehren!"
"Das fiele mir nicht im Traum ein", sagte Chris beleidigt.
"Tatsächlich nicht?" stieß Luke hervor. "Lächeln Sie, und
seien Sie freundlich, mehr verlange ich nicht. Nun lassen Sie
sich mal anschauen ..." Er drehte sie zu sich herum und unterzog
sie einer kritischen Inspektion, von den glänzenden Haaren zu
den neuen, eleganten Schuhen. Die weichen Konturen ihres
Kostüms verliehen ihr eine Art lässiger Eleganz, und die sanfte
Farbe des Stoffs unterstrich ihren hellen Teint und ließ ihre
bernsteinfarbenen Augen noch dunkler erscheinen.
Chris machte sich schon auf eine kritische Bemerkung
gefasst doch Luke wandte sich wortlos ab, als das Taxi neben
ihnen hielt' "Sie sehen gut aus", sagte er schließlich nur.
Philippe Robard war ein zierlicher Mann um die sechzig und
hatte ein vornehmes, verschlossenes Gesicht. Er begrüßte sie
höflich und stellte ihnen seinen Sohn Jacques vor, der Chris mit
unverhohlener Bewunderung betrachtete. Jacques war sehr
attraktiv mit seiner olivefarbenen Haut und den schmeichelnden
dunklen Augen, und Chris konnte Lukes Abneigung fast
körperlich spüren Neben den beiden eher zierlichen Franzosen
wirkte er groß und hart wie Granit.
Nach dem einleitenden Austausch von Höflichkeiten ging
man sehr schnell zum Geschäft über. Schon nach kurzer Zeit
wurde klar, dass die Verhandlungen nicht leicht werden würden,
denn Philippe Robard war ein ebenso gewiefter Taktiker wie
Luke. Es wurde Französisch gesprochen, und das bedeutete,
dass Luke zwar alles verstehen und sich in einfachen Worten
selbst verständigen konnte, die Übersetzung seiner komplexen
Gedankengänge aber Chris überlassen musste.
Während sie Philippe und Jacques die Aufgabe und
Arbeitsweise von LPM erklärte, wurde Chris klar, dass es nicht
so einfach sein würde, einen Vertrag in dieser Größenordnung
abzuschließen. In Erinnerung an Lukes Ermahnungen tat sie ihr
Bestes, lächelte und ließ ihren Charme spielen, bis sich selbst
Philippes kühles Gesicht aufhellte. Jacques war offensichtlich
noch mehr von ihr beeindruckt. Er betrachtete sie ständig mit
seinen warm blickenden braunen Augen und erwiderte strahlend
ihr Lächeln.
Die ganze Zeit war Chris sich sehr bewusst, dass Luke dicht
neben ihr saß. Als er sich vorbeugte, um Philippe und Jacques
Fotos von den bekannteren Projekten zu zeigen, an denen LPM
beteiligt gewesen war, spürte sie seine unterdrückte
Anspannung, und sie fragte sich, wieviel ihm dieser Vertrag
wohl bedeutete. Obwohl er sehr überzeugend argumentierte,
kannte sie ihn inzwischen doch gut genug, um zu wissen, dass er
aus irgendeinem Grund ärgerlich war und das nur mühsam
unterdrückte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Warum war er wütend? Die Gespräche liefen bisher zu ihrer
vollsten Zufriedenheit, besser, als sie es sich vorgestellt hatten.

Als Luke sich schließlich in seinen Stuhl zurücklehnte, fing


Jacques-
ihren Blick auf und lächelte ihr zu, und sie erwiderte sein
Lächeln höflich. Insgeheim war sie der Meinung, er solle sich
lieber auf Lukes Angebot konzentrieren anstatt auf ihre Figur.
Doch Luke hatte sie ermahnt, immer freundlich und
liebenswürdig zu sein, und sie wollte ihm nicht alles verderben.
In Gedanken immer noch mit ihm beschäftigt, sah sie ihn an,
und der Blick, den er ihr zuwarf, war so voller Wut, dass sie ihn
erstaunt ansah.
Philippe benutzte die Gesprächspause und stand auf. "Es tut
mir leid aber ich habe noch eine Verabredung", sagte er in
seinem schwerfälligen Englisch. "Vielleicht haben wir ja später
Gelegenheit diese interessante Unterhaltung fortzusetzen?"
"Natürlich." Luke erhob sich ebenfalls. "Ich hoffe, Sie beide
werden zum Abendessen meine Gäste sein?" Der Blick, den er
Jacques zuwarf, war allerdings alles andere als einladend.
"Miss Finch wird doch auch dabei sein?" erkundigte sich
Jacques und bedachte Chris mit einem strahlenden Lächeln.
"Natürlich", sagte Luke kurz angebunden.
"In diesem Fall wird es uns ein Vergnügen sein! "
In den Strassen drängten sich die Menschen. Luke ging
schnell den Bürgersteig entlang, ohne sich darum zu kümmern,
ob Chris ihm folgte. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts
Gutes, und er hatte das Kinn ärgerlich vorgestreckt.
Chris hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. "Die Gespräche
sind doch bisher sehr gut verlaufen" , versuchte sie es aufs
Geratewohl.
"Noch haben wir den Vertrag nicht in der Tasche" , erklärte
Luke finster.
"Das nicht, aber ich glaube, sie waren beeindruckt. "
"Oh, natürlich waren sie beeindruckt, aber wahrscheinlich
mehr von Ihrem Lächeln als von irgend etwas , das ich zu sagen
hatte! Ich gebe ja zu, dass ich diesen Vertrag gern hätte, aber das
sollte für Sie noch lange kein Grund sein, sich diesen Leuten so
auf dem Silbertablett zu servieren! "
Chris blieb wie angewurzelt mitten auf dem Bürgersteig
stehen. "Was, um alles in der Welt, meinen Sie denn damit?"
erkundigte sie sich verblüfft.
"Ach, spielen Sie doch nicht die Unschuldige, Chris! All
diese koketten Blicke in Jacques' Richtung, all diese kleinen
Lächeln. Ich muss schon sagen, ich hätte nie gedacht, dass Sie
ein solches Talent zum Flirten haben!"
"Flirten?" Sein Vorwurf war so ungerechtfertigt, dass sie
Mühe hatte, das Wort hervorzubringen. "Ich habe nur freundlich
zu sein und das zu tun versucht, worum Sie mich gebeten hatten
- obwohl befehlen wahrscheinlich das bessere Wort wäre!"
"Es gibt einen Unterschied zwischen Freundlichkeit und dem
Verhalten, das Sie an den Tag gelegt haben!"
Chris' Augen sprühten goldene Funken, während sie den
Bürgersteig entlang stürmte. "Sind Sie eigentlich nie zufrieden?
Sie waren es doch, der mich ständig ermahnt hat, charmant zu
sein. Und genau das bin ich gewesen. Ich habe gelächelt und
war freundlich, und jetzt machen Sie mir genau das zum
Vorwurf und beschuldigen mich, geflirtet zu haben! Und wenn
ich nicht gelächelt hätte, würden Sie mir jetzt wahrscheinlich
vorwerfen, Ihre Chancen absichtlich zunichte gemacht zu haben,
oder?"
"Eine große Hilfe waren Sie für mich aber auch nicht gerade
-einfach dazusitzen und diesem schleimigen Jacques schöne
Augen zu machen!" entgegnete Luke, während er mit langen
Schritten neben ihr herlief. "Lieber Himmel, was muss Robard
sich nur gedacht haben!"
"Was sollte er sich schon denken? Dass Sie eine sehr nette
und tüchtige Sekretärin haben, die für Sie übersetzt, was sonst?"
"Ja, eine Sekretärin, die ihr Bestes tut, um seinen Sohn von
den Einzelheiten unseres Angebots abzulenken. Ich würde mich
nicht wundern, wenn Robard glaubt, ich habe Sie dazu
angestiftet, weil meine Vorschläge näherer Prüfung nicht
standhalten könnten. Sie und Jacques haben soviel Zeit damit
verbracht, sich gegenseitig anzulächeln, dass er keine
Gelegenheit hatte, sich näher mit dem Angebot zu befassen."
"Er hat mich angelächelt, und ich habe sein Lächeln erwidert.
Was hätte ich tun sollen - ihm den Rücken zukehren?"
Die Spannung, die den ganzen Tag schon zwischen ihnen
bestanden hatte, entlud sich jetzt in einem Wutausbruch, der in
keinem Verhältnis zu den Geschehnissen stand. Chris war außer
sich vor Zorn. Sie hatte sich genauso verhalten, wie Luke es von
ihr verlangt hatte, und was hatte sie davon? Er benahm sich
wirklich unmöglich. So, wie er sich aufführte, konnte man fast
glauben, er sei eifersüchtig. Und wenn ihr auch nur ein letztes
Quentchen Verstand geblieben war, dann machte sie ihm auf der
Stelle klar, dass er sich seinen Job an den Hut stecken konnte,
und nahm den nächsten Zug nach Dijon zurück. Sollte er doch
allein zusehen, wie er seinen verdammten Vertrag bekam!
Blind vor Wut trat Chris vom Bürgersteig auf die Strasse,
ohne weiter nachzudenken. In der nächsten Sekunde fühlte sie
eine Hand auf ihrem Arm, die sie mit eisernem Griff zurückriss,
während ein verbeulter Renault mit quietschenden Reifen und
lautem Hupen an ihr vorbei stieß. Durch das Wagenfenster sah
sie gerade noch eine drohend erhobene Faust.
"Um Himmels willen, passen Sie doch auf!" schrie Luke sie
an. "Beinahe wären Sie tot gewesen!"
Chris versuchte, sich aus seinem stählernen Griff zu befreien.
Doch Luke hielt sie fest am Arm gepackt, während er betont erst
in die eine dann in die andere Richtung sah und Chris dann über
die Strasse schob.
"Lassen Sie mich los!"
"Wie wäre es mit einem kleinen Dankeschön, weil ich Ihnen
das Leben gerettet habe?"
"Um ganz ehrlich zu sein, ich habe im Moment nicht die
geringste Lust, mich bei Ihnen für irgend etwas zu bedanken."
Endlich gelang es Chris, ihren Arm zu befreien. "Und ich habe
auch keine Lust, überhaupt noch weiter mit Ihnen zu reden,
bevor Sie wieder zur Vernunft gekommen sind." Sie bog in eine
Seitenstrasse ein. "Wir sehen uns später im Hotel."
Luke folgte ihr. "Sie sind auf Dienstreise hier, nicht zu Ihrem
Vergnügen, Chris", sagte er gefährlich leise. "Und das bedeutet,
Sie haben mich zu fragen, bevor Sie sich allein auf
Erkundungstour begeben."
"Ich bin Ihre Sekretärin, nicht Ihre Sklavin. Ich habe ein
Recht auf Freizeit, auch während einer Geschäftsreise."
Ein Muskel in Lukes Wange zuckte, "Na gut, tun Sie, was Sie
nicht lassen können. Wenn Sie in dieser Stimmung sind, kann
man ohnehin nicht vernünftig mit Ihnen arbeiten. Aber sehen
Sie zu, dass Sie pünktlich wieder im Hotel sind und zwar in
besserer Laune!"
Ausgerechnet er muss über Launen reden, dachte Chris
erbittert, während sie davon stürmte. In Gedanken war sie so mit
Lukes unmöglichem Verhalten beschäftigt, dass sie nicht darauf
achtete, wohin sie eigentlich ging. Und so war sie ziemlich
überrascht, als sie sich schließlich auf dem Boulevard
Haussmann wiederfand. Entschlossen betrat sie eines der großen
Kaufhäuser, in der festen Absicht, erst in letzter Minute ins
Hotel zurückzukehren.
Einige Zeit später erschien sie wieder mit einer großen
Tragetasche und einem trotzigen Funkeln in den Augen. Wenn
Luke dachte, sie habe schon alle ihre Register gezogen, was das
Flirten anging, dann sollte er sie jetzt erst richtig kennenlernen!
Als sie ins Hotel zurückkehrte, begann es schon zu dämmern,
und die Schaufenster entlang der Rue du Faubourg-St.-Honore
glitzerten einladend, eines prächtiger ausgestattet als das andere
Chris verlangsamte ihre Schritte, ohne sich um die Menschen zu
kümmern, die um sie he r auf dem Weg nach Hause waren. Sie
hatte es nicht eilig. Das französische Blut in ihr erfreute sich an
der stilvollen Ausstattung der Auslagen.
Luke war nirgends zu sehen, während sie an der Rezeption
ihren Schlüssel abholte und zu ihrem Zimmer ging. Doch sie
hatte kaum den Schlüssel in das Schloss gesteckt, da wurde
seine Tür geöffnet, so dass sie sich des Gefühls nicht erwehren
konnte, er habe hinter der Tür auf ihre Rückkehr gewartet.
"Es wird ja auch langsam Zeit, dass Sie zurückkommen! Wo
waren Sie denn so lange?" erkundigte er sich, und Chris'
Hoffnung, er habe sich inzwischen beruhigt, sank auf den
Nullpunkt.
"Ich war einkaufen", erwiderte sie kurz angebunden.
"Typisch Frau! Kaum ist sie eine Nacht von zu Hause weg,
da rennt sie auch schon in den nächsten Laden." Luke fuhr sich
mit der Hand durch das dunkle Haar und betrachtete Chris
finster. Offensichtlich war er bei der Arbeit gewesen. Er hatte
die Ärmel hochgeschoben und seine Krawatte gelockert. "Ich
hoffe, Sie sind rechtzeitig fertig."
Chris biss die Zähne zusammen. "War ich schon ein einziges
Mal unpünktlich?"
"Nein. Aber da Sie so schlechter Laune sind, halte ich alles
für möglich."
"Ich bin nicht schlecht gelaunt!"
Zu ihrer Überraschung lächelte Luke. "O doch, das sind Sie.
Ich weiß genau, wann Sie ärgerlich sind. Ihre Augen funkeln
dann golden, und Sie stecken Ihr Kinn vor - so wie jetzt."
Chris beschloss, seine Worte nicht zu beachten. "Ich werde
pünktlich fertig sein, wie immer", sagte sie kühl. "Wann sollen
wir also hier losfahren?"
"Da wir die Robards im Restaurant treffen, sollten wir vor
ihnen dort sein, meinen Sie nicht? Ich klopfe um sieben Uhr bei
Ihnen an oder schaffen Sie es bis dahin nicht mehr, sich
zurechtzumachen?"
Seine Augen funkelten boshaft. Und obwohl Chris wusste,
sie würde sich sehr beeilen müssen, um pünktlich zu sein, wäre
sie lieber gestorben, als es zuzugeben. "Sieben Uhr ist in
Ordnung."
Chris duschte schnell, schlang sich ein Handtuch um die
nassen Haare und setzte sich im Bademantel an das
Toilettentischchen. Während ihres Stadtbummels war sie den
Verlockungen einer exklusiven Parfümerie erlegen, und eines
der perfekt geschminkten Mädchen hatte ihr gezeigt, wie sie
sich in eine so kultivierte und verführerische Frau verwandeln
konnte, dass sie sich selbst nicht mehr wiedererkannte.
Wie gut, dass ich immer noch mein französisches
Scheckbuch habe dachte Chris, während sie die Ansammlung
von Lidschatten, Rouge, Make- up, Puder und Wimperntusche
vor sich ausbreitete. Der Einkaufsbummel hatte sie viel
gekostet, und dabei waren die Kosmetika noch nicht einmal das
teuerste gewesen.
Als sie sich schließlich zurücklehnte, um das Ergebnis zu
begutachten, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Ihre Augen
wirkten groß und weich, und ihr auffallend rot geschminkter
Mund lockte verführerisch. Mit Puder und Rouge war sie
sparsamer umgegangen, doch das Resultat war nicht weniger
überzeugend.
Sie sah umwerfend aus.
In einem Anflug von Panik überlegte Chris, dass sie niemals
den Mut haben würde, so dieses Zimmer zu verlassen. Doch
inzwische n war es zehn Minuten vor sieben, und sie hatte keine
Zeit mehr, sich das Gesicht zu waschen und es noch einmal zu
versuchen. Schnell fönte sie sich das Haar und schlüpfte in das
Kleid, das sie heute gekauft hatte.
Noch nie hatte sie ein so gewagtes Kleid getragen. Es war aus
schwarzer Seide, hatte kurze Ärmel und einen runden
Ausschnitt. Von der Mitte aus reichte ein schmaler Schlitz noch
tiefer, so dass das Tal zwischen ihren Brüsten sichtbar wurde.
Der Kontrast zu ihrer hellen Haut war beinahe dramatisch.
Versuchsweise lehnte sie sich ihrem Spiegelbild entgegen - und
fuhr entsetzt zurück. Im Laden war ihr das Kleid gar nicht so
indiskret vorgekommen. Sie würde den ganzen Abend steif wie
ein Stock dasitzen müssen!
Fast schockiert betrachtete Chris ihr Spiegelbild. Das Kleid
endete ein ganzen Stück über dem Knie, und die hochhackigen
Schuhe betonten ihre langen, schlanken Beine. So hatte sie sich
noch nie gesehen, mit diesem herausfordernden Blick in den
Augen und dieser verführerischen, aufreizenden Figur.
Plötzlich klopfte es hart an die Tür, und sie hörte Lukes
fragen;
"Sind Sie fertig?"
Mit einemmal verschwanden Chris' letzte Zweifel. Sollte
Luke sie doch entlassen - aber an ihren Anblick würde er sich
noch lange erinnern!
Sie nahm Tasche und Jacke und öffnete die Tür in dem
Moment in dem Luke gerade die Hand erhoben hatte, um noch
einmal zu klopfen.
Sekundenlang betrachtete er sie nur, und dann ließ er
langsam die Hand sinken.
"Ich bin soweit", sagte Chris liebenswürdig, zog die Tür
hinter sich zu und ging an ihm vorbei.
Luke ließ seinen Blick langsam von ihren Beinen an ihrem
Körper aufwärtsgleiten, bevor er ihr vorwurfsvoll ins Gesicht
sah. "Das Kleid habe ich aber nicht gekauft!"
"Diesen alten Fetzen? Nein, ich habe es mitgebracht. Nur für
den Fall, dass ich es doch brauchen könnte."
"So, tatsächlich?" Er betrachtete sie finster von Kopf bis Fuß.
"Und was ist mit all den Kleidern, die ich Ihnen gekauft habe?"
"Oh, die sind natürlich sehr hübsch, aber Sie werden mir
doch wohl erlauben, hin und wieder auch meine eigenen Sachen
zu tragen, oder?"
"Nun, ich finde, Ihr Kleid ist für diese Gesellschaft nicht -
hm, nicht ganz passend. Immerhin gehen wir zu einem
Geschäftsessen, nicht in einen Nachtclub. Vielleicht hätten Sie
daran denken sollen. " Lukes Gesichtsausdruck war ein einziger
Vorwurf. Und dies war der Mann, der Helen in noch viel
gewagterem Aufzug gesehen haben musste!
Doch in Anbetracht ihres neuen Selbstbewusstseins konnte
Chris heute nichts erschüttern. "Nun seien Sie doch nicht so
langweilig, Luke. Was ist gegen ein schwarzes Kleid zum
Abendessen einzuwenden?"
"Es kommt immer darauf an, wie man es trägt! Und
außerdem sind Sie reichlich stark geschminkt", sagte Luke
mürrisch, während sie zum Fahrstuhl gingen. "Ich nehme an, Sie
haben diesen ganzen Aufwand für Jacques betrieben? Erzählen
Sie mir nicht, Sie haben sich von seinem falschen Charme
einwickeln lassen!"
"Ich bin selbst halb Französin - erinnern Sie sich? Und ich
kann Ihnen versichern, es ist nichts Falsches an Jacques'
Charme", erwiderte Chris liebenswürdig, denn sie wusste, dass
Luke das ärgern würde. "Im Gegenteil, Sie könnten eine Menge
von ihm lernen.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und sie trat in den Lift,
gefolgt von einem beleidigten Luke. Der Fahrstuhl war innen
ganz mit Spiegeln ausgekleidet, die ihre Bilder dutzendfach
zurückwarfen, Chris riskierte einen Blick in Lukes Richtung. In
seinem schwarzen Abendanzug wirkte er irgendwie
geheimnisvoll und - sehr gefährlich.
Als sie seinem Blick begegnete, sah sie schnell weg und hob
unbewusst das Kinn.
Ich muss zugeben, das ist eine ganz neue Seite an Ihnen,
Chris", sagte er. "Ich hätte nie gedacht, dass Sie überhaupt ein
solches Kleid besitzen."
"Es gibt vieles, was Sie nicht über mich wissen."
" Das scheint mir auch so. Haben Sie dieses Kleid schon oft
getragen?"
"0 ja, zu mehreren Gelegenheiten."
"In diesem Fall muss ich mich wundern, dass Sie immer noch
nicht dazu gekommen sind, das Preisschild abzunehmen", sagte
Luke spöttisch und streckte die Hand aus, um das Schild von
ihrem Kragen zu entfernen.
Chris fühlte, wie eine Gänsehaut sie überlief, als er die zarte
Haut in ihrem Nacken berührte. Mit hochroten Wangen wehrte
sie seine Hand ab, griff hinter sich und riss das Preisschild selbst
ab. Wenn sie nur ein wenig mehr Zeit zum Anziehen gehabt
hätte, wäre ihr das bestimmt nicht passiert!
Auf Jacques' Empfehlung hin hatte sie einen Tisch in einem
Restaurant in der Rue de Buci, einer kleinen Strasse links der
Seine, reservieren lassen. Es war schon recht voll, als sie
eintrafen. Die Kellner mit ihren langen weißen Schürzen
schlängelten sich geschickt zwischen den Tischen hindurch.
Luke sagte kaum ein Wort, doch Chris war in übermütiger
Stimmung und bestritt den größten Teil des Gesprächs, während
sie auf Philippe und Jacques warteten. Als die beiden schließlich
erschienen, begrüßte sie sie herzlich und erntete dafür
bewundernde Aufmerksamkeit.
Sie sprachen kurz über geschäftliche Dinge und wandten sich
dann allgemeineren Themen zu. Chris erwies sich als
unterhaltsame Gesprächspartnerin, und während sie beinahe
unverschämt offensichtlich mit Jacques flirtete, beobachtete sie
Luke aus den Augenwinkeln. Er bemühte sich wirklich nach
Kräften, so auszusehen, als amüsierte er sich, doch an seiner
Wange zuckte ein kleiner Muskel verräterisch.
Chris wusste später nicht mehr, was sie eigentlich gegessen
hat ten. Sie erinnerte sich nur noch an Jacques' bewundernde
Blicke die sich auf ihren Ausschnitt hefteten, sobald sie sich
vorbeugte' Und an Philippes amüsiertes Gesicht, während er sie
beide beobachtete. Als sie sich einmal in einem Spiegel
erblickte, erkannte sie sich selbst nicht wieder. War sie das
wirklich, diese Fremde mit den geröteten Wangen, den
glitzernden Augen und dem mutwilligen Lächeln auf den
Lippen? Es musste doch mehr von ihrer Mutter in ihr stecken,
als sie bisher angenommen hatte!
Sie erinnerte sich auch an Luke. An seine ausdrucksvollen
Gesten, während er mit Philippe redete. An sein leichtes
Lächeln, das sie nicht einschloss. An die Art, wie er den Kopf
drehte, wenn er mit dem Ober sprach. Als sie einmal aufsah,
blickte sie direkt in seine unerbittlichen grauen Augen, bis er
sich schließlich gleichgültig abwandte. Plötzlich war ihr sehr
heiß, und sie trank schnell einen Schluck aus ihrem Weinglas.
Jacques war von seiner liebenswürdigen Begleiterin entzückt
und versuchte, sie zu einem Nachtclubbesuch zu überreden.
Doch bevor Chris höflich ablehnen konnte, kam Luke ihr schon
zuvor.
"Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen", sagte er kühl. "Aber
da Chris morgen einiges für mich zu erledigen hat, muss ich
leider Einspruch erheben."
Jacques sah aus, als wollte er protestieren, doch Philippe
nickte zustimmend. "Sie haben recht, wir sollten jetzt lieber
nach Hause gehen." Er stand auf und streckte Luke die Hand
entgegen. "Morgen früh um neun Uhr habe ich eine Unterredung
mit meinen Direktoren. Bitte kommen Sie um elf in mein Büro,
und ich werde Ihnen unsere Entscheidung mitteilen."
7. KAPITEL
Chris hatte den Robards kaum eine gute Nacht gewünscht, da
ergriff Luke sie auch schon am Arm und zog sie beinahe hinter
sich her den Bürgersteig entlang. Vergeblich versuchte sie, sich
umzudrehen, um Jacques zum Abschied zuzuwinken.
"Der Taxistand ist aber in der anderen Richtung", protestierte
sie schließlich.
"Wir gehen zu Fuß ins Hotel zurück. Die frische Luft wird
uns beiden gut tun, besonders Ihnen. Auf die Weise bekommen
Sie wenigstens wieder einen klaren Kopf."
"Mir geht es aber sehr gut", wandte Chris eigensinnig ein.
"Morgen früh sprechen wir uns wieder. Obwohl Sie das
anscheinend vergessen haben. Sie sind hier, um für mich zu
arbeiten. Ich brauche Sie morgen früh, und zwar nüchtern, nicht
mit einem Katzenjammer!"
Der Wein und die Bewunderung der Robards hatten Chris in
eine übermütige Stimmung versetzt, und sie hob trotzig das
Kinn. "Warum sollte ich morgen einen Kater haben? Soviel
habe ich gar nicht getrunken."
"Das denken Sie! Ich glaube, ich habe Ihnen klargemacht,
dass es sich hier um ein Geschäftsessen handelte?"
"Sehr klar, vielen Dank."
"Und warum haben Sie sich dann nicht entsprechend
benommen?" erkundigte Luke sich wütend. "Von Ihrer
übertriebenen Aufmachung ganz zu schweigen. Und die Art,
wie Sie sich ständig zu Jacques hinüberlehnten, damit er auch ja
in Ihren Ausschnitt blicken konnte! Es war Ihnen deut lich
anzusehen, dass Sie an alles dachten, nur nicht ans Geschäft!"
"Wenn wir schon zu Fuß laufen müssen", unterbrach Chris
ihn, dann bitte etwas langsamer. Hochhackige Schuhe eignen
sich nicht besonders für ein Wettrennen!"
Erbittert über ihre Gleichgültigkeit, stürmte Luke weiter,
ohne ihre Worte zu beachten. "Und dieses Kleid ist einfach -
einfach unanständig!"
"Wenn Helen ein solches Kleid trägt, haben Sie wohl kaum
etwas dagegen!"
"Helen ist auch nicht meine Sekretärin", erwiderte Luke eisig
"Sie sind es aber. Vielleicht sollten Sie sich daran erinnern, wer
Ihnen dieses großzügige Gehalt bezahlt."
"Es würde mir auch schwerfallen, es zu vergessen, da Sie
mich doch alle fünf Minuten daran erinnern!" fauchte Chris
zurück. "Und mein Kleid ist nicht unanständig. Im Gegenteil,
ich finde es sehr elegant und diskret."
"Dann erzählen Sie mir mal was an diesem Ausschnitt diskret
sein soll. Jacques konnte den ganzen Abend kaum den Blick
davon losreißen!"
"Der Ausschnitt ist schon ein wenig gewagt", gab Chris zu,
"aber nur, wenn ich mich vorbeuge. Und das habe ich nicht allzu
oft getan."
"Jedes Mal, wenn Sie nach Ihrem Glas griffen, hatte man
einen sehr schönen Einblick", sagte Luke brutal offen. "Und da
Sie anscheinend die Absicht hatten, uns alle unter den Tisch zu
trinken, geschah das ziemlich oft!"
"Ach, Unsinn!" entgegnete Chris eigensinnig. Sie befreite
ihren Arm aus seinem Griff und blieb unter einer Straßenlaterne
stehen. "Könnten wir uns nicht irgendwo hinsetzen? Ich habe
schon Seitenstechen."
Luke blieb ebenfalls stehen und betrachtete sie resigniert.
"Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist, Chris. Sie waren immer
so zurückhaltend und haben sich nur für Ihre Arbeit interessiert.
Doch seit wir in Paris sind, haben Sie sich in eine ‚femme fatale'
verwandelt!"
"Und wessen Schuld ist das?" erwiderte Chris. "Wer hat mich
dazu gebracht, mir das Haar abschneiden zu lassen? Wer hat mir
neue Kleider gekauft? Ich glaube, Sie sollten sich allmählich
entscheiden, was Sie eigentlich wollen, Luke. Sie waren es
doch, der darauf bestand, ich solle mich wie eine welterfahrene
Frau benehmen. Tue ich das denn nicht?"
Luke hob eine Schulter. "Ja."
"Wo liegt dann das Problem?"
Er presste wütend die Lippen zusammen und betrachtete sie
finster, während sie unter der Straßenlaterne stand und sich die
schmerzenden Beine rieb.
Ich mag es einfach nicht", gab er schließlich widerwillig zu.
"Jedes Mal, wenn ich Sie sehe, scheinen Sie eine andere Frau zu
sein. "
Chris richtete sich langsam auf. Luke sah ärgerlich und
verblüfft aus und bei seinem Anblick schwanden ihre Wut und
all ihre großartige Überlegenheit dahin wie Schnee in der Sonne.
Schlagartig schien ihr alles so klar und verständlich, als habe
sich plötzlich eine Nebelwand über ihren verwirrenden Gefühlen
gehoben. Im Lichtkreis der Laterne stand Luke vor ihr und
betrachtete sie, und in der Dunkelheit der verschwimmenden
Strasse hob er sich deutlich ab und wirkte überwältigend stark.
"Das ist nur äußerlich", versicherte sie ihm leise. "Auch wenn
ich vielleicht anders aussehe - im Grunde bin ich immer noch
die gleiche unauffällige, langweilige Sekretärin."
Er ließ die Schultern sinken. "Sie waren niemals unauffällig,
Chris, und langweilig schon gar nicht. "Er lächelte leicht. "Und
ich hoffe, Sie sind immer noch die gleiche Chris wie früher."
Die gespannte, gereizte Atmosphäre, die seit Lukes Kuss
zwischen ihnen geherrscht hatte, löste sich plötzlich in nichts
auf. Statt dessen war da ein ganz neues Gefühl, das schöner,
aber vielleicht gerade deshalb um so gefährlicher war.
"Nun, ich bin es immer noch", sagte Chris schließlich so
unbefangen wie möglich und versuchte, sich nicht von seinem
Lächeln ablenken zu lassen.
"Das klingt schon eher nach der Chris, die wir alle kennen
und ..." Luke schwieg den Bruchteil einer Sekunde, bevor er den
Satz vollendete, " ... und lieben."
Seine letzten Worte stürzten sie in Verwirrung, und sie
spürte, wie ihr Herz sehr langsam und beinahe schmerzhaft
klopfte, während Luke sie im Schein der Laterne beobachtete.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. "Es wird kühl",
sagte sie, um das lastende Schweigen zu brechen. "Wir sollten
lieber gehen."
"Wenn Sie möchten, können wir auch ein Taxi nehmen.
Diese Schuhe bringen Ihre Beine zwar wunderbar zur Geltung,
sind aber wahrscheinlich nicht gut für Ihre Füße!"
"Nein, ich möchte zu Fuß laufen", wehrte Chris ab. "Es geht
schon."
Es war eine klare, mondhelle Nacht, und Chris spürte die laue
Luft auf den Wangen, während sie schweigend zur Seine und
über Pont St.-Michel auf die Ile de la Cite gingen. Auf der
Brücke blieben sie eine Weile stehen und betrachteten die
Lichter der Stadt, die sich in den tanzenden Wellen spiegelten.
Menschen gingen schweigend an ihnen vorbei, als wären sie
nur Statisten in einem Film, dessen Hauptdarsteller Chris und
Luke waren. Chris betrachtete die von Scheinwerfern erhellten,
ehrfurchtgebietenden Umrisse von Notre-Dame, die sich gegen
den dunklen Himmel abhoben. Doch ihr Denken und Fühlen
war ganz auf Luke gerichtet, der dicht neben ihr stand, ohne sie
zu berühren.
"Es tut mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe",
sagte er schließlich und blickte in das stille dunkle Wasser unter
ihnen.
Das kam so unerwartet, dass Chris der Atem stockte. "Ich
muss mich auch für mein Benehmen entschuldigen", sagte sie
leise, immer noch in Richtung Notre-Dame gewandt.
Sie schwiegen beide. Als sie ihm aus den Augenwinkeln
einen Blick zuwarf, merkte sie, dass auch er sie ansah. Es war zu
dunkel, um den Ausdruck in seinen Augen zu erkennen, doch in
ihnen spiegelten sich die Lichter der Stadt. Schließlich lächelte
er sie an, und sie erwiderte sein Lächeln, erfüllt von
unbeschreiblichem Glück.
"Kommen Sie", sagte er und nahm sie am Arm. "Wir sollten
zum Hotel zurückgehen."
Langsam gingen sie am Louvre vorbei und wanderten durch
enge, verlassene Nebenstrassen. Chris hatte das Gefühl, sie
beide seien allein in Paris. Es gab nur Luke und die verlässliche
Wärme seiner Hand, die sie auf ihrem Arm spürte. Sie sprachen
kaum, doch es war kein peinliches Schweigen.
Einmal hielten sie vor einer Fromagerie an, um die
appetitlich aussehenden Käsesorten im Schaufenster zu
betrachten. Da gab es große Roqueforts und cremige Bries und
riesige Stücke Gruyere. Sie sahen kleine Fässchen, in denen
verschiedene Schafskäse in Kräuteröl eingelegt waren, und
Dutzende von anderen Käsesorten in jeder Größe und Form.
Auch das gehörte zu Paris.
Luke deutete auf einen Chevre, doch Chris hörte kaum, was
er sagte. Sie betrachtete seine ausgestreckte Hand und erinnerte
sich an seine warmen, starken Finger auf ihrem Nacken.
Während sie ihren Blick zu seinem Mund wandern ließ, fragte
sie sich, wie es wohl sein mochte, wenn er die weiche,
empfindliche Haut unter ihrem Ohr küsste. Bei diesem
Gedanken erschauerte sie, und ein so wildes Begehren
durchflutete ihren Körper, dass sie einen Moment den Atem
anhalten musste. Schnell zwang sie sich, wieder in das
Schaufenster zu blicken, obwohl sie nichts sah. Mit aller Kraft
unterdrückte sie den überwältigenden Wunsch, sich gegen den
Mann neben ihr zu lehnen, ihre Hände über seine breite Brust
gleiten zu lassen, den Puls unter der weichen Haut an seinem
Hals an ihren Lippen zu spüren, seinen Kopf zu sich
herunterzuziehen, um seinen faszinierenden Mund zu küssen.
"Sind Sie in Ordnung, Chris?" Luke sah besorgt auf sie
hinunter.
"Ja", brachte sie mit heiserer Stimme hervor und trat schnell
aus dem Lichtkreis des Schaufensters ins Halbdunkel zurück,
damit er ihr Gesicht nicht sah. Die Erkenntnis kam ganz
plötzlich, und sie brachte Verzweiflung mit sich. Sie, Chris,
hatte sich in Luke verliebt.
Luke hatte recht gehabt. Als Chris am nächsten Morgen
erwachte, fühlte sie sich elend. Nur verschwommen erinnerte sie
sich an das, was letzte Nacht passiert war, bis auf einige wenige
deutlichere Bruchstücke, das Restaurant, die beleuchtete
Kathedrale von Notre-Dame, die Fromagerie - und die
entsetzliche Erkenntnis, dass sie Luke hoffnungslos liebte.
Oder hatte sie ihn schon die ganze Zeit geliebt und sich nur
geweigert, es sich einzugestehen?
Chris ließ sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen. In
ihrem Kopf hämmerte es, und sie betrachtete sich widerwillig
im Spiegel. Wassertropfen hingen noch an ihren Wimpern, und
in ihren übergroßen dunklen Augen spiegelte sich die Qual ihres
Herzens.
Wie hatte sie nur ein zweites Mal auf Luke hereinfallen
können? Sie hätte diese Stelle niemals annehmen dürfen. Es gab
schließlich noch andere Jobs auf der Welt. Sie wusste doch, was
für ein Mensch er war!
Mit der Art von Liebe, die sie für ihn empfand, konnte er
nichts anfangen. Seine Frauen mussten zynisch und distanziert
sein und seine Sekretärinnen kühl und beherrscht. Und da sie
nun einmal seine Sekretärin war, würde sie ihr Bestes tun, um
seinen Vorstellungen gerecht zu werden. Luke durfte niemals
erfahren, was sie für ihn empfand.
Lautes Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. Luke.
Während sie den Bademantel enger um sich zog und zur Tür
ging, befahl sie sich, ganz ruhig zu bleiben. Er musste glauben,
sie sei so kühl und beherrscht wie immer.
"Sie sehen schrecklich aus", sagte Luke nach einem Blick in
ihr Gesicht. "Ich habe Sie ja gewarnt, dass Sie heute morgen
einen fürchterlichen Kater haben würden!"
"Ich habe keinen Kater", log Chris. "Ich fühle mich nur ein
wenig angegriffen."
"Das ist die Strafe, weil Sie ein solches Kleid getragen haben
" Luke klang mitleidslos, doch seine Augen funkelten amüsiert
während er ihr ungeschminktes Gesicht und die zerzausten
Haare betrachtete. "Ich muss schon sagen, es macht mir Spaß,
Sie einmal in nicht ganz perfektem Zustand zu sehen!" Er selbst
trug einen grauen Anzug und brannte offensichtlich darauf, mit
der Arbeit zu beginnen.
Chris fragte sich, wie er fertig brachte, so unverschämt wach
und tatendurstig auszusehen. "Ich bin nicht gewohnt, soviel
Wein zu trinken", erklärte sie.
"So, wie Sie sich gestern Abend benommen haben, würde
Ihnen das keiner glauben." Luke griff in seine Jackentasche und
zog eine Schachtel Aspirin hervor. "Hier, nehmen Sie davon
zwei", befahl er schroff. "Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Ich
habe noch etwas zu erledigen, und danach gehen wir zusammen
zu den Robards."
Als Luke zurückkehrte, trug Chris denselben Rock wie am
Vortag, doch statt der Bluse einen leichten zartgrünen Pullover.
Sie wirkte sehr ruhig und beherrscht, obwohl sie sich überhaupt
nicht so fühlte.
In Philippe Robards Vorzimmer ließ man sie fast vierzig
Minuten warten. Luke wurde immer gereizter und schlich wie
ein gefangenes Raubtier im Raum herum, während er sich selbst
zu überzeugen versuchte, dass er den Vertrag bekommen würde-
Chris hätte ihn am liebsten tröstend in die Arme genommen.
Doch seine Nervosität war ansteckend, und so saß sie hoch
aufgerichtet auf ihrem Stuhl und hoffte aus tiefstem Herzen,
dass ihr Verhalten letzte Nacht ihn nicht um seine Chancen
gebracht habe.
"Wo steckt Robard bloß?" Luke warf schon wieder einen
Blick auf seine Armbanduhr. "Es kann doch wohl nicht so lange
dauern, zu einer Entscheidung zu kommen! 'o
"Philippe sagte doch gestern, dass einige seiner Direktoren
den Vertrag lieber einer französischen Firma geben würden."
"Aber unser Angebot ist unschlagbar", gab Luke zurück, als
müsse er auch sie überzeugen. "Sie müssen uns den Vertrag
einfach geben. Wir haben schließlich die größte Erfahrung und
Kompetenz."
"Aber in Verhand lungen mit Franzosen haben Sie keine
Erfahrung", gab Chris zu bedenken.
"Nein, aber Sie dafür um so mehr- angesichts der
Sachkenntnis, mit der Sie gestern Abend mit Jacques verhandelt
haben!" erwiderte Luke bissig.
Chris wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass es nicht
gerade die feine Art sei, seine Nervosität an ihr auszulassen, da
wurde die Tür geöffnet, und Philippe Robard betrat das Zimmer.
Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, Monsieur Hardman,
Mademoiselle Finch", sagte er, indem er zuerst Luke und dann
Chris die Hand schüttelte. "Sie mussten sehr lange warten, doch
jetzt hat der Vorstand endlich seine Entscheidung gefällt. Wir
akzeptieren Ihr Angebot."
Luke atmete erleichtert auf und lächelte dann- "Vielen
Dank", sagte er einfach.
"Ich muss zugeben, dass es einigen Widerstand gegeben hat,
eine bei uns noch unbekannte englische Firma mit der Aufgabe
zu betrauen. Doch Jacques und mir ist es schließlich gelungen,
die anderen Direktoren zu überzeugen, dass es dank
Mademoiselle Finch bei der Kommunikation keinerlei
Schwierigkeiten geben wird."
Chris, die ihre Freude kaum verbergen konnte, warf Luke
einen gespannten Blick zu. Doch nach jenem ersten,
verräterischen Lächeln hatte er seine Beherrschung schnell
zurückgewonnen. Während er und Robard sich darauf einigten,
die Einzelheiten ihres weiteren Vorgehens zu einem späteren
Zeitpunkt zu besprechen, hielt sie es für besser, sich ebenso
ruhig und beherrscht zu geben. Philippe begleitete sie persönlich
in die Halle hinunter und verabschiedete sie vor dem Eingang.
Luke und Chris gingen schweigend und scheinbar gelassen
den Bürgersteig entlang. Doch Philippe war kaum außer Sicht,
da blieb Luke unvermittelt stehen.
"Er hat uns den Vertrag gegeben", sagte er, als wäre es ihm
gerade erst bewusst geworden.
"Ja, das hat er." Chris lächelte angesichts seines
verwunderten Ausdrucks. "Also hat ihm mein Kleid
anscheinend doch gefallen."
Luke zog sie, übermütig lächelnd, in die Arme und schwang
sie im Kreis herum. "Wir haben es geschafft!" rief er, und Chris
lachte laut, von seiner Erregung mitgerissen.
Beide wurden sich im gleichen Moment bewusst, wie eng er
sie an sich gedrückt hielt. Dennoch gab Luke sie nicht sofort
frei, sondern sah in ihr lachendes Gesicht hinunter. Ganz
langsam verschwand sein Lächeln, und in seine Augen trat ein
neuer, beunruhigender Ausdruck.
Einen langen, langen Moment sahen sie sich nur an, und dann
verstärkte sich Lukes Griff um ihre Hände.
Gleich wird er mich küssen, dachte Chris. Panik stieg in ihr
auf denn sie wusste, dass sie ihm nicht würde widerstehen
können. Und sie wusste auch, dass ihre Reaktion ihm die
Gefühle für ihn verraten würde.
Doch Luke küsste sie nicht. Statt dessen ließ er sie langsam,
fast widerstrebend los. "Beinahe hätte ich es vergessen", sagte
er.
"Was?" fragte Chris, selbst erschrocken darüber, wie heiser
ihre Stimme sich anhörte.
"Sie wollten unsere Beziehung doch auf das Geschäftliche
beschränken, nicht wahr?"
Er betrachtete sie prüfend, als hoffte er, sie würde ihm
widersprechen, doch Chris nickte. Es war besser so. "Ja."
"Sie haben gesagt, dass es so am vernünftigsten sei."
Das war es. Eine schwere, aber vernünftige Entscheidung.
"Ja", wiederholte sie.
Eine kleine Pause entstand. Dann strich Luke seine Jacke
glatt. "Ich glaube, wir haben Grund zum Feiern", sagte er
schließlich.
Er führte sie in ein Café, das an einem kleinen,
kopfsteingepflasterten Platz im Herzen von Paris lag. Das
Wetter präsentierte sich gar nicht frühlingshaft, und da es zu
kühl war, um draußen zu sitzen, suchten sie sich im Café einen
Platz direkt am Fenster. Luke bestellte eine Flasche Sauvignon,
und dazu aßen sie einen herzhaften Ziegenkäse und würziges,
hartes Brot. Chris schob ihr Weinglas auf der Plastikdecke
herum und hinterließ überall feuchte Kringel, bis Luke ihr
befahl, mit dem Unsinn aufzuhören und den Tisch mit einer
Papierserviette sauberwischte.
Die momentane Verlegenheit zwischen ihnen war
verschwunden. Sie unterhielten sich lebhaft und aufgeregt über
den Vertrag, schmiedeten Pläne und überlegten gemeinsam,
welche Auswirkungen dieser Erfolg auf die Firma haben würde.
Chris war glücklich. Diese Erkenntnis überraschte sie, denn
Luke würde ihr wahrscheinlich eher das Herz brechen als ihre
Liebe erwidern. Und dennoch, während sie hier im Café saß und
Paris an sich vorüberziehen ließ, war sie zufrieden. Denn er war
bei ihr, dieser schroffe, unzugängliche Mann. Er saß ihr
gegenüber und redete begeistert über seine Arbeit, und seine
bloße Anwesenheit machte, sie glücklich.
Nachdenklich verschränkte sie die Arme auf der Tischplatte
und lehnte sich vor, um aus dem Fenster zu sehen. Zwei alte
Damen, beide ga nz in Schwarz gekleidet, standen mitten auf
dem Platz und schwatzten miteinander. Neben der einen stand
eine große karierte Einkaufstasche, aus der ein riesiges
Stangenbrot ragte. Die andere schien sich mit weitschweifigen
Gesten und ausdrucksvollem Mienenspiel über etwas zu
beschweren.
In Chris' bernsteinfarbenen Augen lag ein weicher Ausdruck,
und sie hatte den Mund zu einem leichten Lächeln verzogen,
während sie die Szene beobachtete.
"Worüber freuen Sie sich?" erkundigte Luke sich.
"Ich bin einfach glücklich", sagte sie schlicht.
"Hmm." Luke betrachtete sie misstrauisch, aber auch
spöttisch.
"Ich hätte nie gedacht, dass eine meiner Sekretärinnen sich
jemals als glücklich bezeichnen würde. Die meisten von ihnen
waren die halbe Zeit in Tränen aufgelöst und beschwerten sich,
dass ich sie tyrannisiere." In der Erinnerung daran verzog er das
Gesicht.
Chris lachte, und in ihren Augen tanzten goldene Funken.
"Das haben Sie wahrscheinlich wirklich getan."
"Sie tyrannisiere ich auch, aber Sie haben noch nie geweint."
"Vielleicht sollte ich das zur Abwechslung mal tun!"
"Bitte nicht. Solche Heulsusen sind mir gründlich zuwider.
Ich war immer der Meinung, wenn sie sich nicht mit meiner
aufbrausenden Art abfinden konnten, dann hätten sie nicht für
mich arbeiten sollen." Er schwieg und betrachtete Chris
nachdenklich. "Allein in den letzten zwei Jahren hatte ich nicht
weniger als zwölf Sekretärinnen. Und Sie sind die erste, die sich
nichts von mir gefallen lässt."
"Nun, ganz so schlimm sind Sie ja auch nicht", erwiderte
Chris heiter. Sie fühlte sich ganz lächerlich glücklich. Vorsicht,
warnte eine innere Stimme sie. Sie durfte sich ihre Gefühle nicht
anmerken lassen. Es war verlockend, einfach herauszuschreien,
dass sie ihn liebte, doch damit würde sie alles verderben. Wenn
sie die Dinge so beließ, wie sie waren, dann konnte sie ihm
zumindest tagsüber immer nahe sein. "Immerhin haben Sie mich
in dieses Cafe eingeladen. Ich bin ziemlich leicht zufrieden
zustellen."
Luke zögerte, bevor er in die Innentasche seiner Jacke griff
und eine schmale, kunstvoll verpackte Schachtel zum Vorschein
brachte. "Da Sie ja so leicht glücklich zu machen sind, wäre dies
hier wahrscheinlich gar nicht nötig, aber ich möchte es Ihnen
trotzdem gern geben." Er legte das Päckchen vor sie hin, und
Chris betrachtete es erstaunt. "Ich wollte es Ihnen eigentlich erst
in London überreichen", setzte er leicht verlegen hinzu. "Es soll
ein kleines Dankeschön für Ihre Hilfe sein. Ich weiß, ohne Sie
wäre es mir bestimmt nicht gelungen, den Vertrag zu
bekommen."
"Aber Luke ..." Chris wusste nicht, was sie sagen sollte. Ganz
vorsichtig nahm sie die Schachtel in die Hand. "Das wäre
wirklich nicht nötig gewesen. Ich habe doch nur meine Arbeit
getan."
"Wenn Sie diese Vorstellung gestern Abend Arbeit nennen
wollen ..." Beide waren plötzlich etwas verlegen, mussten dann
aber lachen. "Man hat es mir im Geschäft eingepackt", erklärte
Luke als sie vorsichtig an der goldenen Schleife zog.
"Das habe ich mir schon gedacht." Es war unvorstellbar, dass
Luke mit seinen großen Händen so etwas Kniffliges wie diese
kunstvolle Verpackung zustande bringen sollte.
Unter dem Papier kam eine schmale Schmuckschatulle aus
Leder zum Vorschein. Chris warf Luke einen verwunderten
Blick zu, während sie die Schachtel langsam öffnete. Auf
leuchtender Seide lag eine kunstvoll gearbeitete Brosche, eine
einzelne große Perle, die von zwei altmodischen goldenen
Ornamenten eingefasst wurde.
Chris fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. "Das ist
wunderschön" , brachte sie leise hervor.
"Ich dachte, Sie könnten sie gut zu Ihrem schwarzen Kleid
tragen", sagte Luke ernst und schien gerührt von ihrer Reaktion
zu sein. Als er Chris' zitternden Mund bemerkte, fügte er hinzu:
"Aber deshalb werden Sie sich doch nicht in eine Heulsuse
verwandeln?"
"Nein." Chris schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre
schimmernden Haare flogen, und schniefte ganz unromantisch.
"Vielen Dank", flüsterte sie. Und bevor ihr so richtig bewusst
wurde, was sie tat, hatte sie sich schon vorgebeugt und ihn sanft
auf die Wange geküsst. Diese fühlte sich gleichzeitig rau und
weich an, und sie roch den sauberen, männlichen Duft, der ihn
umgab.
Luke hob die Hand und legte sie über ihre. Als sie sie
wegzuziehen versuchte, verstärkte er seinen Griff, und er hielt
ihre Hand immer noch, als sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte.
Plötzlich war sie verlegen.
"Sie tragen nie Schmuck", sagte er, indem er ihre Hand
umdrehte und ihre Finger aufmerksam betrachtete. "Warum
eigentlich nicht?"
"Ich fürchte, einen sehr teuren Geschmack zu haben",
bekannte Chris, immer noch leicht verwirrt. Sie war sich seiner
wannen Berührung überwältigend bewusst, spürte seine starken,
schlanken Finger rau auf ihrer weichen Haut. "Ich möchte nur
etwas tragen, was lohnt, getragen zu werden - wie diese
Brosche."
"Wie schade. Sie haben so wunderschöne Hände. Das habe
ich schon bei unserer ersten Begegnung bemerkt. Sie lackieren
sich auch nie die Nägel, nicht wahr?" Er ließ den Daumen sacht
über ihre Nägel gleiten.
Obwohl nur ihre Fingerspitzen sich berührten, wurde Chris
von einer Woge des Verlangens überflutet. Ihre Haut prickelte,
und sie fühlte, wie das Blut ihr in die Wangen stieg und ihr
Magen sich zusammenkrampfte, während Leidenschaft heiß
durch ihre Adern strömte.
"Vielleicht wird Ihnen jemand eines Tages Ringe kaufen",
fuhr Luke fort. "Vielleicht." Ihre Stimme klang heiser, und Chris
räusperte sich schnell.
Lukes Blick war undurchdringlich. "Aber Sie sollten sich
niemals für Diamanten entscheiden. Diamanten sind zu hart für
Sie. Steine mit einem warmen Glanz stehen Ihnen besser,
Rubine oder Smaragde oder Perlen. Oder Topase, passend zu
Ihren Augen."
Es kostete Chris große Anstrengung, ihre Hand wegzuziehen.
"Das Problem habe ich im Moment noch nicht", sagte sie kurz
angebunden. Es war einfach unfair von ihm. Merkte er denn
nicht, wie sie sich danach sehnte, bei ihm zu sein? Spürte er
nicht, dass ihr die Haut unter seinen Berührungen brannte?
Sie war seine Sekretärin, daran musste sie immer denken.
Kühl. Vernünftig. Tüchtig. Hatte sie nicht beschlossen, so zu
sein? War sie nicht tatsächlich so?
Chris ließ den Deckel der Schmuckschatulle zuklappen und
drehte sie nachdenklich in den Händen. Sie hielt den Kopf
gesenkt, so dass Luke nur ihre dunklen Wimpern sehen konnte.
"Nein, im Moment habe ich dieses Problem noch nicht",
sagte sie noch einmal, wie zu sich selbst.
Die freundschaftliche Atmosphäre war verschwunden, und
lastendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Chris
merkte, dass sie die Schachtel zu fest umklammerte und ließ sie
behutsam los. Ihre Hände versteckte sie unter dem Tisch, damit
Luke nicht sah, wie sie zitterten.
Blicklos starrte sie auf den Aschenbecher, der für Gauloises
warb. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lukes Gesicht: die gerade
Nase, seinen festen Mund, das entschlossen wirkende Kinn. Die
Falten um seinen Mund und um seine Augen - sie sah alles
genau vor sich. Und sie sehnte sich danach, ihn zu berühren.
Plötzlich hob Luke sein Weinglas und leerte es in einem Zug.
"Kommen Sie", sagte er und stellte das Glas mit einem Ruck auf
den Tisch zurück. "Unsere Maschine geht bald. Wir sollten
besser gehen."
Der Rückflug nach London verlief schweigsam. Luke hatte
sich in seine Papiere vertieft, und Chris betrachtete durch das
Fenster wie sich die grauen Wolken gegen den blauen Himmel
abhoben' und rief sich all die Gründe ins Gedächtnis, weshalb
sie Luke nicht lieben sollte.
Es war zwecklos. Es war töricht. Sie würde nur ihr Leben
vergeuden. Und er war noch nicht einmal besonders nett. Sie
würde viel besser daran tun, sich in jemanden zu verlieben, der
ihr Bewunderung entgegenbrachte, wie zum Beispiel Jacques.
Die vernünftigste Erklärung war noch, dass Paris ihr einfach zu
Kopf gestie gen war. In Zukunft würde sie sich auf ihre Arbeit
konzentrieren und vergessen, dass Luke irgend etwas anderes
war als ihr Chef.
Zumindest würde sie es versuchen.
8. KAPITEL
In den nächsten Wochen gab es noch viel zu tun, bis alle
Vertragsbestandteile festgelegt waren. Chris hatte kaum Zeit
zum Nachdenken und war dankbar dafür. Als sie schließlich
morgens mit ruhigem Puls ins Büro gehen konnte und ihr Herz
nicht mehr schneller schlug, sobald Luke das Zimmer betrat,
beschloss sie, dass ihre Gefühle in Paris einfach eine
Überreaktion auf all die Aufregungen gewesen sein mussten.
In diesen Wochen leisteten sie und Luke harte Arbeit, und
Chris musste oft länger bleiben, um Dokumente zu übersetzen
oder zu vergleichen. Die Ruhe dazu fand sie nur abends, wenn
das Telefon nicht mehr ständig klingelte. Es machte ihr nichts
aus, länger zu arbeiten, denn so musste sie wenigstens nicht
darüber nachdenken, wen Luke wohl heute Abend zum Essen
ausführte.
Die meiste Zeit wirkte er müde und geistesabwesend. Doch
das hielt ihn nicht davon ab, jeden Abend auszugehen, entweder
mit Helen oder einem Mädchen namens Lynette, das ständig
anrief, vorzugsweise zu Zeiten, in denen Chris sehr beschäftigt
war.
Es schien, als hätten sie und Luke zu einer Art Gleichgewicht
in ihrer Beziehung gefunden. Von einer oder zwei
Gelegenheiten abgesehen, war Luke im allgemeinen höflich zu
ihr und behandelte sie respektvoll wie eine geschätzte und
tüchtige Mitarbeiterin. Chris redete sich ein, froh darüber zu
sein. Einige Male, als sie von ihrer Arbeit am Computer aufsah,
ertappte sie ihn dabei, dass er sie nachdenklich betrachtete. Für
Bruchteile von Sekunden begegnete sie seinem Blick, bevor
beide schnell wieder wegsahen.

Als Luke eines Tages ins Büro kam, hielt Chris einen riesigen
Strauss roter Rosen in der Hand und war gerade dabei, den
dazugehörigen Umschlag zu öffnen.
"Wer hat Ihnen denn die geschickt?" fragte er mürrisch.
Chris zog eine Karte aus dem Umschlag. "Sie sind von
Jacques", sagte sie langsam, nachdem sie die Karte gelesen
hatte.
"Jacques! Was denkt er sich eigentlich, Ihnen einfach so
Blumen zu schicken?" Luke riss ihr die Karte aus der Hand.
"'Ich hoffe, Sie bald zu sehen'", las er laut vor, Abneigung in der
Stimme. "Hat er etwa vor, hierher zukommen?"
"Ich habe keine Ahnung", sagte Chris. "Am Telefon hat er
jedenfalls nichts davon gesagt, und wir sprechen ja recht oft
miteinander."
"Ich hoffe, Sie benutzen nicht das Bürotelefon, um Ihr
Liebesleben zu organisieren", erklärte Luke unfreundlich. "Ich
möchte nicht, dass meine Angestellten den ganzen Tag vom
Büro aus Privatgespräche führen."
Chris warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. "Sie wissen
sehr gut, dass ich ab und zu mit Jacques telefonieren muss, weil
er für den Vertragsinhalt verantwortlich ist. Schließlich
beschäftigen Sie mich ja auch deshalb, dass ich mit ihm auf
französisch über die Details spreche."
"Dagegen habe ich nichts - solange das das einzige ist,
worüber Sie mit ihm reden!" Luke ging in sein Büro und knallte
die Tür hinter sich zu.
Den Rest des Tages ließ er Chris immer wieder merken, dass
die Blumen ein rotes Tuch für ihn waren. Er war in einer
furchtbaren Laune und fand an allem, was sie tat, etwas
auszusetzen. Mehr als einmal brachte er sie an den Rand des
Wahnsinns, indem er die Pläne für eine bevorstehende
Geschä ftsreise erneut änderte, bis Chris sich nur noch mühsam
beherrschen konnte.
Doch es war ein wunderbarer, warmer Frühlingstag. Der
Himmel über London war wolkenlos, die Sonne schien durch
das Fenster direkt auf Chris' Schreibtisch, und in der Luft hing
der zarte Duft der Rosen. Trotz Lukes schlechter Laune ertappte
Chris sich dabei, wie sie leise vor sich hinsummte, während sie
einige Papiere durchsah.
"Weshalb sind Sie denn plötzlich so fröhlich?" fragte Luke
mürrisch. Ohne Vorwarnung war er aus seinem Büro
aufgetaucht und ging zu einem der Aktenschränke, in dem er
ungeduldig zwischen den Ordnern herumwühlte. "Ich nehme an,
Sie sind wegen der Rosen auf Ihrem Schreibtisch so gut
gelaunt?"
"Suchen Sie etwas Bestimmtes?" erkundigte Chris sich
liebenswürdig, ohne seine Frage zu beachten.
"Ich brauche den Ordner über die David Young GmbH. Sie
sollten diese Schränke wirklich mal in Ordnung bringen. Das ist
ja ein furchtbares Durcheinander!"
Die Ordner stehen alle an ihrem Platz. Sie suchen einfach im
falschen Regal." Chris stand auf und schob Luke entschlossen
zur Seite. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie die gesuchte
Akte gefunden. "Die Korrespondenz mit der David Young
GmbH steht hier", erklärte sie und zog einen dicken Ordner aus
dem Regal. "Ich gebe zu, er ist nicht leicht zu finden, weil er
irreführenderweise mit David Young GmbH' beschriftet ist."
Als Antwort auf ihren Sarkasmus erhielt sie einen finsteren
Blick von Luke. Er riss ihr die Akte aus der Hand, als das
Telefon klingelte.
Chris meldete sich. "Es ist für Sie", sagte sie zu Luke. "Helen
Slayne. Ich glaube, es handelt sich um eine private
Angelegenheit."
Luke nahm den Hörer entgegen, und seiner Miene war
anzusehen, dass Chris' Anspielung ihm nicht entgangen war.
"Ja, Helen, was gibt es ... Nein, ich kann nicht freundlicher sein.
Dazu habe ich zuviel zu tun." Offensichtlich bereute er, den
Anruf in Chris' Gegenwart angenommen zu haben, denn er
drehte sich um und senkte die Stimme. "Aber nein, wie kommst
du darauf, dass ich dich vernachlässige? Ich habe im Moment
nur an sehr viele Dinge zu denken."
Es entstand eine Pause. Chris hatte sich inzwischen
pflichtschuldigst wieder ihrer Arbeit zugewandt. Sie konnte sich
Helens einschmeichelnde Stimme nur zu gut vorstellen. Luke
betrachtete Chris misstrauisch über die Schulter, während er
lauschte. Als sein Blick auf die duftenden dunkelroten Rosen
fiel, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck.
"Na gut", sagte er schließlich. "Dann komm heute Mittag
vorbei. Ich lade dich zum Essen ein."
Er knallte den Hörer auf die Gabel. "Ich werde heute Mittag
außer Haus essen", sagte er überflüssigerweise und bedachte die
Rosen mit einem weiteren grimmigen Blick.
"Wie schön für Sie", erwiderte Chris freundlich. "Soll ich
einen Tisch reservieren lassen?"
An Lukes Wange zuckte ein kleiner Muskel, wie immer,
wenn er sich nur mühsam beherrschen konnte. "Das mache ich
schon selbst!" sagte er unfreundlich, stürmte in sein Büro und
knallte die Tür hinter sich zu.
Chris verdrehte die Augen zum Himmel. Heute konnte sie
ihm aber auch nichts recht machen! Es würde eine Erleichterung
sein, ihn für einige Stunden aus dem Haus zu haben.
Etwas später versuchte Chris gerade, einige Stenokürzel zu
entziffern, als Helen erschien. Wie immer sah sie
atemberaubend aus. Zu Leggings im Leopardenlook trug sie ein
enganliegendes, provozierend ausgeschnittenes Oberteil in
mattgoldener Farbe. Luke soll noch einmal wagen, mein
schwarzes Kleid als unanständig zu bezeichnen! dachte Chris
mit einem Anflug von Gereiztheit.
Helen hatte sich die Sonnenbrille über die Stirn geschoben,
und ihre schimmernde silberblonde Mähne aus dem Gesicht zu
halten. Ohne Chris eines Blicks zu würdigen, schwebte sie
schnurstracks auf Lukes Büro zu.
Einige Minuten später erschien sie wieder, zusammen mit
Luke der mürrisch vor sich hinstarrte. Er ging zu Chris hinüber,
um ihr die Nummer des Restaurants zu geben, in dem er zu
erreichen sein würde.
"Nun erzähl mir nicht, dass du schon wieder eine neue
Sekretärin hast, Liebling!" sagte Helen leichthin. Zum ersten
Mal schien sie Chris überhaupt wahrzunehmen. "Die letzte hat
es aber nicht sehr lange ausgehalten. Was tust du ihnen bloß
an?"
"Wieso eine neue Sekretärin?" fragte Luke gereizt, während
er immer noch in seinem Adressbuch nach der Nummer des
Restaurants suchte.
"Als ich letztes Mal hier war, saß da so ein unauffälliges,
missbilligend aussehendes weibliches Wesen."
"Dann muss es Chris gewesen sein. Niemand kann
missbilligender aussehen als sie!"
"Tatsächlich?" Helen verengte die grünen Augen, während
sie sich mit der Tatsache vertraut machte, dass Chris nicht ganz
so unauffällig aussah, wie sie sie in Erinnerung hatte. "Eine
ziemliche Verwandlung!" Das klang nicht gerade begeistert.
Chris presste die Lippen zusammen, während Helen sie einer
sorgfältigen Inspektion unterzog.
"Ich habe das Gefühl, Sie von irgendwoher zu kennen", sagte
Helen schließlich langsam.
Luke hatte die Nummer des Restaurants inzwischen auf einen
Zettel gekritzelt und steckte sein Adressbuch in die Innentasche
seiner Jacke zurück.
"Merkwürdig, der Gedanke ist mir auch schon gekommen",
bemerkte er nachdenklich. Chris hielt den Atem an, während
beide sie mit forschenden Blicken betrachteten.
"Vielleicht erinnert sie uns an jemand vom Fernsehen",
erklärte Luke nach einer Weile, und damit schien für ihn dieses
Thema erledigt zu sein.
"Da könntest du rechthaben", sagte Helen, aber es klang nicht
sehr überzeugt. "Denn ich kann mir absolut nicht vorstellen,
dass wir uns in den gleichen Kreisen bewegen."
Chris betrachtete sie kühl. "Wahrscheinlich komme ich Ihnen
bekannt vor, weil Sie mich schon einmal gesehen haben", sagte
sie kurz angebunden, in der Hoffnung, ihr gleichmütiger Ton
werde Helen vom tieferen Sinn ihrer Worte ablenken. "Luke
hatte recht. Ich war hier, als Sie das letzte Mal vorbeikamen."
"Das muss es wohl sein." Helen zuckte die Schultern. Und
als Luke ihr die Hand auf den Arm legte, verlor sie endgültig
das Interesse an Chris. "Lass uns endlich gehen", sagte er
ungeduldig.
Chris wartete, bis die beiden sich abgewandt hatten und auf
die Tür zugingen. Erst dann ließ sie sich aufatmend in den Stuhl
zurücksinken. Ausgerechnet in diesem Moment warf Helen ihr
über die Schulter einen Blick zu und kniff misstrauisch die
Augen zusammen, als sie die Erleichterung in Chris' Gesicht
sah.
Chris konnte nur hoffen, Luke und Helen würden beim Essen
bessere Gesprächsthemen haben als die Tatsache, dass die
Sekretärin ihnen merkwürdig bekannt vorkam. Wenn sie lange
genug nachdachten, würden sie sich möglicherweise erinnern,
und das war das letzte, was sie jetzt brauchen konnte!
Die nächsten Stunden vergingen in angespannter Nervosität.
Gegen zwei Uhr kam Luke zurück. Er sagte nichts, und Chris
atmete erleichtert auf, obwohl seine Laune sich nicht gebessert
hatte und er sie bis nach halb sieben im Büro festhielt.
Als Chris am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr in
ihrem Büro erschien, fand sie Luke vor, wie er die
Aktenschränke durchstöberte und etwas vor sich hinmurmelte.
Seine Laune hatte sich während des gestrigen Abends
anscheinend nicht verbessert.
Chris hielt es für das beste, ihn nicht weiter zu beachten. Sie
hängte ihren Mantel auf den Bügel und wünschte Luke einen
guten Morgen. Ihr Gruß wurde jedoch nicht erwidert. Wenn er
in einer solchen Laune war, fiel es ihr nicht schwer, sich selbst
zu überzeugen, dass ihre Verliebtheit nur Einbildung gewesen
war!
Als sie zu ihrem Schreibtisch ging, klingelte das Telefon.
Obwohl sie mühelos rechtzeitig hätte abnehmen können, kam
Luke ihr zuvor, als wollte er damit beweisen, dass sie ihre
Arbeit nicht vorbildlich erledigte.
"Ja?" knurrte er. Es war ihm anzumerken, dass er seine
schlechte Laune liebend gern an irgendeinem unschuldigen
Angestellten ausgelassen hätte. Doch um einen solchen schien
es sich am anderen Ende der Leitung nicht zu handeln. Amüsiert
bemerkte Chris wie Luke sich höflich zu klingen bemühte, als er
sagte: "Sehr gut, vielen Dank, und wie geht es Ihnen?"
Bestimmt ein Kunde, dachte Chris, während sie sich an ihren
Schreibtisch setzte und nach dem Terminkalender griff. Zu
anderen war er sonst nie so höflich.
Es entstand eine kurze Pause, und dann sagte Luke förmlich:
"Ja, sie ist hier." Er reichte ihr den Hörer. "Es ist Jacques
Robard, und er möchte gern meine liebenswürdige Assistentin
sprechen." Er betonte die letzten Worte spöttisch. "Ich nehme
an, damit sind Sie gemeint."
Strahlend lächelnd nahm Chris ihm den Hörer aus der Hand
und begrüßte Jacques sehr viel herzlicher, als sie es
normalerweise tat. Luke war so unhöflich, neben ihrem
Schreibtisch stehen zubleiben. Und obwohl er so tat, als
beschäftigte er sich mit einem Aktenordner, hatte er ganz
offensichtlich die Ohren gespitzt. Chris sprach sehr schnell
französisch, doch sie bezweifelte nicht, dass Luke dem
Gespräch zumindest in großen Zügen folgen konnte.
"Also, wann kommt er nach London?" fragte Luke, kaum
dass sie den Hörer aufgelegt hatte.
"Oh, ist Ihnen das entgangen?" erkundigte Chris sich
honigsüß. "Entschuldigen Sie, ich hätte vielleicht doch etwas
langsamer sprechen sollen!"
Funken schienen zu sprühen, als sie seinem Blick begegnete.
Seine schiefergrauen Augen hatten einen harten Ausdruck, und
ihre blitzten goldbraun, wie immer, wenn sie ärgerlich war.
"Und Sie werden mit ihm essen gehen?" Das war eher eine
Feststellung als eine Frage.
"Ja. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?"
Luke stieß einen unmissverständlichen Laut aus. "Kommt er
auch ins Büro?"
"Davon hat er nichts gesagt. Wollen Sie denn etwas mit ihm
besprechen?"
"Ist es so unwahrscheinlich, dass auch ich eventuell einige
Dinge mit ihm bereden möchte?" erkundigte Luke sich
missmutig.
"Dann werde ich noch einmal anrufen und einen Termin mit
ihm vereinbaren." Chris hatte den Hörer schon in der Hand und
wollte gerade die Nummer eintippen, als Luke sie mit einer
gereizten Geste unterbrach. "Ach, lassen Sie das! Wenn er schon
wie ein liebeskranker Kater hinter Ihnen herreist, wird er sich
wohl kaum mit Geschäften abgeben wollen."
Nun, tatsächlich kommt er wegen einer ganz anderen Sache
nach London", erwiderte Chris kalt.
Luke schnaubte wütend. "Das sagt er!" Er warf einen Blick
auf den Blumenstrauß, der immer noch auf ihrem Schreibtisch
stand. Erst schickt er Ihnen Rosen, und dann lädt er Sie zum
Essen ein. Es würde mich sehr wundern, wenn dahinter nicht
noch andere Absichten steckten! Was für Geschäfte könnte er
sonst in England abzuwickeln haben?"
"Ich glaube, Sie verkennen die Situation", entgegnete Chris
und betrachtete Luke kühl. "Die französischen Männer sind
Frauen gegenüber eben sehr charmant - was man von den
meisten Engländern nicht gerade behaupten kann."
Luke warf ihr einen hinterhältigen Blick zu. "Eigentlich gut,
dass Sie mich daran erinnern. Ich finde, ich könnte Helen und
Lynette auch wieder einmal mit Blumen überraschen." Er klang
gleichmütig, doch Chris wusste, dass er sie damit provozieren
wollte. "Würden Sie so freundlich sein, beiden einen Strauss
zuschicken zu lassen?"
"Was - beiden?"
"Warum nicht?" erwiderte er zynisch. "Sie werden sich
darüber freuen, und keine von beiden braucht zu wissen, dass sie
nicht die einzige ist."
Chris machte sich auf ihrem Block sorgfältig einige Notizen.
Sie war entschlossen, sich von der Tatsache, dass Luke anderen
Mädchen Blumen schickte, nicht aus dem Gleichgewicht
bringen zu lassen.
"Hätten Sie gern eine bestimmte Art von Blumen?"
erkundigte sie sich sachlich.
"Ach, ich weiß nicht." Luke hob ungeduldig die Schultern.
"Es müssen jedenfalls große, prächtige Sträuße sein. Die
Auswahl überlasse ich Ihnen."
"Ich finde diese riesigen Bouquets allerdings eher vulgär",
erklärte Chris missbilligend. "Ein einfacher Strauss Tulpen ist
doch viel romantischer, besonders, wenn er persönlich
überbracht wird."
"Manchmal sind Sie wirklich komisch, Chris!" sagte Luke,
und eine Spur von Heiterkeit lag in seiner Stimme. "Dennoch
denke ich, dass ‚vulgäre' Blumensträuße für Helen und Lynette
sehr geeignet sind." Wieder betrachtete er Jacques' Rosen, und
seine Miene verfinsterte sich. "Schicken Sie ihnen jeweils ein
Dutzend Rosen "
"Möchten Sie eine Nachricht hinzufügen?" erkundigte Chris
sich mit honigsüßer Stimme. "Oder soll ich mir einen passenden
Text für die Karten ausdenken?"
"Mein Name genügt", sagte Luke boshaft.
"Sehr romantisch", murmelte Chris, als er sich abwandte.
"Ich bin eben nicht romantisch", warf er über die Schulter
zurück, während er auf die Tür seines Büros zustürmte. "Und
Helen und Lynette auch nicht."
"Warum schicken Sie ihnen dann Blumen?"
"Damit sie etwas zum Vorzeigen haben, das ist alles. Und
solange es sich dabei um etwas handelt, das mit Geld zu kaufen
ist, tue ich ihnen gern den Gefallen!"
Nein, Luke war bestimmt nicht der Mann, in den sich eine
Frau verlieben sollte.
Während Chris mit dem Floristen telefonierte, wurde ihr die
Absurdität ihrer Situation erst richtig bewusst. Sie bestellte
Blumen für die Freundinnen des Mannes, den sie hoffnungslos
liebte. Hoffnungslos, weil er ihre Liebe nicht erwiderte und es
auch niemals tun würde.
Chris erwachte am nächsten Morgen in deprimierter
Stimmung, was ganz ungewöhnlich für sie war. Nach dem
Duschen kochte sie sich einen starken Kaffee, essen mochte sie
nichts. Als es an der Wohnungstür klingelte, zog sie den
Bademantel enger um die Schultern und eilte in den Flur.
Bestimmt war es der Briefträger mit etwas, das zu groß war, um
durch den Briefschlitz zu passen.
Doch es stand niemand vor der Tür, als sie öffnete. Verwirrt
sah Chris den Korridor entlang, bis ihr Blick schließlich auf die
Türschwelle fiel. Dort lag ein großer Strauss rosafarbener
Tulpen.
Langsam hob Chris die Blumen auf. Sie konnte keine
Nachricht entdecken.
Was hatte sie gestern gesagt? Ein einfacher Tulpenstrauß ist
doch viel romantischer. Nachdem sie die Tür hinter sich
geschlossen hatte, verbarg sie ihr Gesicht in den duftenden
Blüten, und ihr Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln.
Die Blumen konnten nur von Luke sein. Plötzlich schlug ihr das
Herz bis zum Hals, obwohl sie sich zu beherrschen versuchte.
"Ich bin eben nicht romantisch" hatte er gesagt - doch diese
Blumen sprachen eine andere Sprache. Natürlich konnte es auch
nur eine nette Geste von ihm sein, um ihr zu verstehen zu geben,
dass er ihre harte Arbeit schätzte und anerkannte. Ja, bestimmt
war es so. Chris stellte die Tulpen in eine Glasvase und trat
einen Schritt zurück, um sie noch einmal zu bewundern. Es
würde Luke sehr ähnlich sehen, sie auf diese Art aus dem
Gleichgewicht zu bringen, anstatt ihr persönlich ein
Kompliment zu machen! Er war eben ein Mann, der nicht viele
Worte machte.
Auf dem Weg zur Arbeit ließ der Gedanke an die Blumen ihr
keine Ruhe. Sollte sie einfach auf Luke zugehen und ihm dafür
danken? Oder erwartete er, dass sie so tat, als wisse sie nicht,
wer ihr den Strauss geschickt hatte?
Die Lösung dieses Problems wurde ihr aus der Hand
genommen, denn Luke war den ganzen Morgen außer Haus.
Und als er nachmittags ins Büro zurückkehrte, hatte er so
schlechte Laune, dass Chris es vorzog, nur das Nötigste mit ihm
zu reden. Nachdem er sie zum viertenmal wegen einer
Geringfügigkeit angeschrieen hatte, begann sie sich zu fragen,
ob sie sich nicht doch getäuscht hatte. Auf jeden Fall war sie
froh, dass sie ihn nicht auf die Blumen angesprochen hatte.
"Ich nehme an, Sie wollen heute früh gehen, wo Sie doch mit
Ihrem Franzosen verabredet sind?" fragte Luke mürrisch, als sie
ihm einige Briefe zur Unterschrift vorlegte.
"Ich brauche nicht unbedingt früh zu gehen, aber zumindest
heute möchte ich keine Überstunden machen." Chris erwiderte
ruhig seinen vorwurfsvollen Blick.
"Das klingt, als wären Sie eine Märtyrerin. Sie tun ja gerade
so, als hielte ich Sie vierundzwanzig Stunden am Tag an Ihrem
Schreibtisch fest!"
"Nun, ich komme selten vor halb sieben aus dem Büro",
erklärte Chris, ohne sich von ihm einschüchtern zu lassen.
Luke spielte geistesabwesend mit seinem Bleistift. "Wohin
hat er Sie denn eingeladen?"
"Er kennt da ein Restaurant irgendwo in Soho - ich weiß
nicht genau, wo es ist."
"Jacques ist genau der Typ, der solche Restaurants kennt!"
Luke stieß einen verächtlichen Laut aus und betrachtete sie dann
misstrauisch. "Und was werden Sie anziehen? Etwa wieder das
schwarze Kleid?"
"Ich muss gestehen, darüber habe ich mir noch keine
Gedanken gemacht", erwiderte Chris kühl. Warum fragte er sie
so aus? Was konnte ihm ihre Verabredung schon bedeuten? Er
hatte sie gebeten, für ihn einen Tisch in einem Restaurant zu
reservieren, also hatte er offensichtlich selbst Pläne für diesen
Abend.
Im Lauf des Tages hatte sich ihre Gereiztheit gesteigert, und
inzwischen erschien ihr ihre anfängliche Begeisterung über die
Blumen schon lächerlich. Selbst wenn Luke sie geschickt hatte,
hatte er ganz bestimmt keine romantischen Gefühle gehegt, wie
sie im ersten Moment angenommen hatte. Er war viel zu
beschäftigt, sich mit Helen oder Lynette oder einem der anderen
Mädchen zu amüsieren, die ständig anriefen und sie von der
Arbeit abhielten, weil sie unbedingt Nachrichten hinterlassen
wollten.
"Holt er Sie von zu Hause ab?" Für Luke war das Thema
noch nicht erledigt.
Chris seufzte erbittert. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, er
solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, doch
das würde seine Neugier erst recht anstacheln. "Ich werde ihn
wahrscheinlich in der Stadt treffen", sagte sie resigniert. "Er hat
keinen Wagen hier, und es wäre für ihn sehr umständlich, zu
meiner Wohnung zu kommen. Ich wohne ein wenig außerhalb."
"So weit draußen ist es auch nicht", widersprach Luke und
schwieg unvermittelt. Offensichtlich war ihm bewusst
geworden, dass er sich damit verraten hatte.
"Nanu, woher wissen Sie denn, wo ich wohne?" erkundigte
Chris sich kühl und zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Doch
insgeheim konnte sie nicht verhindern, dass eine leise Hoffnung
in ihr aufkeimte.
"Die Adresse steht schließlich in Ihrem Lebenslauf", brauste
Luke auf, doch gleich darauf grinste er verlegen.
Und wie er so lächelte, schmolz Chris' kühle Überlegenheit
dahin wie Schnee in der Sonne. Trotz ihrer festen Absicht, nicht
zu schnell aufzugeben, musste sie wider Willen auch lächeln.
"Vielen Dank für die Blumen", sagte sie schließlich. "Sie sind
wunderschön."
"Nun, ich finde, sie sehen nicht nach sehr viel aus", erwiderte
Luke brummig, während er in den Papieren auf seinem
Schreibtisch herumstöberte. "Ich verstehe nicht, wie jemand so
etwas einem schönen, gebundenen Strauss vorziehen kann."
Chris fragte sich, ob sie ihm sagen sollte, dass sie seinem
Geschenk nicht allzu viel Aufmerksamkeit beimaß. Vielleicht
erwartete er ja etwas in der Art von ihr.
"Dann habe ich wohl einen merkwürdigen Geschmack", sagte
sie so gleichmütig, wie es ihr möglich war. "Und wie ist es mit
den Rosen? Hatten sie den gewünschten Erfolg?"
"Ich nehme an, sie wurden mit Entzückensschreien begrüßt",
entgegnete Luke gleichgültig und sah zu ihr auf. Zu dem
zartgrünen Pullover, den sie auch in Paris angehabt hatte, trug
sie einen langen, enggeschnittenen schwarzen Rock, der sie kühl
und beherrscht aussehen ließ. "Bei Ihnen kann ich mir das nicht
vorstellen, oder irre ich mich?"
Nein, aber mir haben die Tulpen sicher besser gefallen."
"Wirklich?"
"Wirklich", versicherte sie ihm.
" Chris ..." begann Luke und wollte gerade aufstehen, als
plötzlich das Telefon klingelte. Mit einem gereizten Ausruf griff
er nach dem Hörer. Nach seinen ersten Worten nutzte Chris die
Gelegenheit, um sich davonzustehlen. Sie hatte genug gehört,
um zu wissen, dass Helen am anderen Ende sein musste.
Lukes unvermittelte Stimmungsumschwünge brachten sie aus
dem Gleichgewicht. Erst war er unverschämt, schroff und
zynisch, und im nächsten Moment sah er ihr tief in die Augen,
so dass sie hätte schwören könne n, dass sein Lächeln allein für
sie bestimmt war.
Fall nicht noch einmal auf ihn herein, Chris, sagte sie sich
entschlossen. Sie hatte sich doch gerade damit abgefunden, nur
seine Sekretärin zu sein - sie durfte sich nicht wieder in ihn
verlieben. Auf dem Heimweg im Bus zählte sie im stillen immer
wieder Lukes sämtliche Fehler auf, als könnte sie sich auf diese
Art gegen seine gefährliche Anziehungskraft schützen. Warum
war er nur nicht ständig unverschämt und unfreundlich? Dann
wäre alles einfacher.
Sie versuchte, ihre Gedanken auf den bevorstehenden Abend
zu richten. Doch als sie die Wohnungstür aufschloss, fiel ihr
Blick als erstes auf die Tulpen, deren Blüten sich schon zu
öffnen begannen. Im Vorübergehen berührte Chris sie sanft mit
der Hand. Wie sie diese klaren, einfachen Linien liebte. Tulpen
waren viel schöner als Rosen.
Jacques zuliebe machte Chris sich sehr sorgfältig zurecht. Als
sie den Kleiderschrank öffnete, fiel ihr Blick zuerst auf das
schwarze Kleid, aber dann entschied sie sich doch für das
jadegrüne. Das schwarze Kleid war für sie untrennbar mit Luke
und jenem unvergesslichen Spaziergang durch die dunklen,
stillen Strassen von Paris verbunden.
Jacques freute sich sichtlich, sie zu sehen, und ließ all seinen
französischen Charme spielen. Chr is fand ihn sehr
liebenswürdig und unterhaltsam, doch sie ertappte sich dabei,
dass ihre Gedanken ständig abschweiften und um Luke kreisten.
Sie fragte sich, wo er in diesem Moment wohl sein mochte, mit
wem er zusammen war was er tat. Und sie vermisste seine
schroffe, unverschämte Art schmerzlich.
Sei keine Närrin, befahl sie sich, während sie lächelnd vorgab
Jacques' amüsantem Geplauder zuzuhören. Warum sollte sie
Luke vermissen? Erst vor wenigen Stunden hatte sie ihn
gesehen, und morgen würde sie noch la nge genug mit ihm
Zusammensein. Wahrscheinlich würde er ohnehin wieder
schlechte Laune haben und sie nur anschreien.
Und dennoch konnte sie es kaum erwarten, dass der Abend
vorüber war.
"Wie geht es Luke?" erkundigte Jacques sich plötzlich.
Luke ist unmöglich. Unwiderstehlich. "Es geht ihm gut",
sagte sie laut.
"Er klang nicht sehr begeistert, als ich am Telefon sagte, dass
ich Sie gern zum Essen ausführen würde. Um ehrlich zu sein, es
kam mir fast vor, als wäre er ein wenig eifersüchtig, oder?"
Eine leichte Röte überzog Chris' Wangen. "0 nein. Er kann es
nur nicht leiden, wenn man Geschäftliches und Privates
miteinander verbindet."
"Und dabei tut er es selbst die ganze Zeit - indem er mit
Ihnen zusammenarbeitet!" erklärte Jacques galant. "Er ist
wirklich ein merkwürdiger Mann!"
Chris fuhr mit einem Finger am Rand ihres Glases entlang.
"Er ist eben - Luke."
Während sie starr in ihr Weinglas blickte, stieg sein Bild vor
ihr auf: die kühlen grauen Augen, die von einem Moment auf
den anderen vor Lachen sprühten, der eigensinnige Mund, der
sich zu einem warmen, gefährlich charmanten Lächeln verzog,
die starken Hände, deren leiseste Berührung ihren Puls in
ungeahnte Höhen schnellen ließ.
Jacques betrachtete sie nachdenklich, ein wenig mit
traurigem Lächeln. "Und Sie sind in ihn verliebt", sagte er
geradeheraus.
"Ja", gab sie zu.
9. KAPITEL
"Das war der letzte Brief für heute morgen." Luke lehnte sich
in seinen Stuhl zurück und betrachtete Chris, die mit ihrem
Stenoblock vor seinem Schreibtisch saß, "Nun, haben Sie und
Jacques sich gestern Abend wenigstens richtig amüsiert?"
"Wir haben einen sehr netten Abend verbracht, vielen Dank."
Chris zog es vor, seinen sarkastischen Unterton zu überhören,
und stand auf. Sie hatte nicht die Absicht, Luke zu erzählen,
dass sie den ganzen Abend nur an ihn gedacht hatte.
"Sehr nett? Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?"
erkundigte Luke sich spöttisch. "Dann war es bestimmt sehr
langweilig!"
"Überhaupt nicht. Es war . .. sehr angenehm." "Angenehm!"
Luke legte den Kopf zurück und lachte laut heraus. "Das ist ja
noch schlimmer." Er lehnte sich über den Schreibtisch zu Chris
hinüber. "Wenn Sie gestern mit mir ausgegangen wären, hätten
Sie einen wilden, aufregenden, unvergesslichen Abend erlebt -
alles andere als nur angenehm!"
Chris hielt ihren Stenoblock dicht gegen die Brust gepresst,
während sie sich bemühte, die Beherrschung zu wahren.
"Vielleicht hätte mir das ja gar nicht gefallen."
"Warum nicht? Hätten Sie sich etwa nicht getraut? So, wie
Sie sich in Paris benommen haben, kann ich das kaum glauben!"
Der spöttische Unterton in seiner Stimme tat ihr weh. Er hatte
also wahrscheinlich mit Helen einen aufregenden Abend
verbracht. Und er dachte offensichtlich, dass sie, Chris, im
Vergleich zu Helen langweilig und nichtssagend war.
"Es kommt immer darauf an, mit wem man den Abend
verbringt, finden Sie nicht?" erwiderte sie kalt, "Das Wo oder
Wie spielt für mich nur eine untergeordnete Rolle. Die
Hauptsache ist doch, dass man mit jemandem zusammen ist, mit
dem man sich versteht. Dann hat man es auch nicht nötig, in alle
Welt hinauszuposaunen, was für einen unvergesslichen Abend
man erlebt hat."
Lukes Miene verhärtete sich. "Wie recht Sie haben!" sagte er
und drehte ihr den Rücken zu. Für ihn schien das Gespräch
damit beendet zu sein.
Den Rest des Tages wirkte er verschlossen und in sich
gekehrt Chris hätte eigentlich froh sein sollen, weil es ihr
gelungen war ihre Gefühle so gut vor ihm zu verbergen. Doch
statt dessen fühlte sie sich elend und unruhig. Als Serena anrief
und vorschlug abends gemeinsam ins Kino zu gehen, sagte sie
bereitwillig zu. Der Film war in den Kritiken als oberflächlich
verrissen worden, und seichte Unterhaltung war genau das, was
sie jetzt brauchte.
Trotz Chris' Bemühungen, heiter und gesprächig zu wirken
merkte Serena sofort, dass mit ihrer Freundin etwas nicht in
Ordnung war, und es dauerte nicht lange, bis sie die Wahrheit
herausgefunden hatte. Chris' Beteuerungen, es gehe ihr
ausgezeichnet, wischte sie mit einer Handbewegung beiseite,
und schließlich gab Chris auf.
"Es ist wegen Luke", bekannte sie, während sie sich in die
Schlange vor der Kinokasse einreihten.
"Ich wusste es!" sagte Serena triumphierend. "Du hast dich in
ihn verliebt, stimmt' s?"
Chris nickte schuldbewusst.
"Das war unvermeidlich", erklärte Serena sachlich. "Ich habe
mir gleich so etwas gedacht, als du ständig davon sprachst, wie
schwierig er sei. Damit hast du dich verraten. Nicht, dass ich dir
die Schuld gebe. Er ist wirklich sehr attraktiv, selbst wenn er so
schrecklich ist, wie du immer behauptest."
"Er ist nicht schrecklich!" Instinktiv sprang Chris für Luke in
die Bresche. Dann besann sie sich. "Na ja, zumindest nicht die
ganze Zeit."
Serena betrachtete sie schelmisch von der Seite her. "Hast du
mir nicht erzählt, er sei unfreundlich und arrogant und unhöflich
und ausgesprochen unangenehm?" erkundigte sie sich
unschuldig, in Anspielung auf die unzähligen Telefonate, die sie
und Chris in den letzten Wochen über dieses Thema geführt
hatten. "Ganz abgesehen davon, dass er auch noch ein Tyrann
und völlig unvernünftig ist!"
"Das stimmt, aber . .." Chris schwieg. Es war unmöglich,
ihrer Freundin alles zu erklären.
Serena verdrehte die Augen. "O Chris, dich hat es
anscheinend schwer erwischt!"
"Na ja", sagte Chris resigniert, "da hast du wohl recht."
Serena strich ihr mitfühlend über den Arm. "Und was
empfindet er für dich?"
"Ich weiß es nicht." Chris steckte die Hände in die Taschen
ihrer Jacke und blickte missmutig zu Boden. "Manchmal denke
ich, er findet mich attraktiv, doch im nächsten Moment si t er
wieder unfreundlich zu mir. Wenn er an mir interessiert wäre,
würde er doch sicher nicht mit Helen und Lynette ausgehen,
oder?"
"Vielleicht doch, wenn er sich nämlich gegen seine Gefühle
wehrt", sagte Serena geheimnisvoll. "Er benimmt sich furchtbar
besitzergreifend, was dich angeht, nicht wahr? Denk doch nur an
den Aufstand, den er gemacht hat, weil du mit Jacques
ausgegangen bist! Also auf mich wirkt das, als wäre er
eifersüchtig."
"Das würdest du nicht sagen, wenn du ihn heute morgen
gesehen hättest. Er war einfach unmöglich!" erklärte Chris
deprimiert. "Ich habe den Fehler begangen, ihm zu erzählen,
dass ich den Abend mit Jacques sehr nett fand. Daraufhin hat
Luke nur verächtlich gelacht und durchblicken lassen, was für
aufregende, wilde Stunden er mit Helen verbracht hat!"
"Dann ist er tatsächlich eifersüchtig!" sagte Serena
entschieden. "Warum erzählst du ihm nicht von deinen
Gefühlen?"
"Nein!" Allein der Gedanke ließ Chris erschauern. "Das kann
ich nicht tun." "Warum nicht?"
"An einer festen Beziehung ist er nicht interessiert, soviel
habe ich schon herausgefunden. Er hasst emotionale Frauen, die
sich an ihn klammern."
"Aber das würdest du doch gar nicht tun", erklärte Serena
überzeugt. "Du bist nicht der Typ dafür."
"Nein, aber ich will auch keine lockere Beziehung." Chris
hob den Kopf und sah ihrer Freundin direkt in die Augen. "Ich
liebe ihn, Serena. So etwas habe ich noch nie empfunden. Wenn
ich wüsste, dass es nur eine vorübergehende Laune ist, würde
ich versuchen, über dieses Gefühl einfach zu lachen. Dann
könnte ich mich sogar auf eine kurze Affäre mit ihm einlassen,
denn an mehr ist er ohnehin nicht interessiert. Aber wie die
Dinge stehen, ist das nicht genug für mich."
Sie schwieg. Inzwischen hatten sie sich in der Schlange fast
bis an die Kasse vorgearbeitet, und Chris' Blick fiel auf ein
Szenenfoto aus dem Film. Der Held und die Heldin umarmten
sich leidenschaftlich. Das Foto erinnerte sie an den Abend, an
dem Luke sie geküsst hatte. "Ich liebe alles an ihm", fuhr sie
nachdenklich fort "Ich liebe das Schwierige, Unangenehme an
ihm genauso wie die Art, wie er mich manchmal ansieht, oder
die Gefühle, die er in mir erweckt. Aber wenn ich ihn schon
nicht ganz haben kann, dann behalte ich meine Gefühle lieber
für mich und bin weiter nichts als seine Sekretärin. Auf die
Weise wird jedenfalls keiner von uns beiden verletzt."
Das war leichter gesagt als getan. Im Lauf der Zeit fiel es
Chris immer schwerer, ihre Gefühle hinter der Maske der
beherrschten Sekretärin zu verbergen. Sie beobachtete Luke mit
einer neuen, gesteigerten Empfindsamkeit und zuckte zurück,
sobald er sie versehentlich einmal streifte, während er nach
einem Ordner griff oder sich neben ihr über den Terminkalender
beugte.
Sie hatte ständig Angst, dass er sie durchschaute. Die
gespannte Atmosphäre zwischen ihnen, die sie einerseits erregte,
andererseits auch verärgert hatte, war allmählich ganz
verschwunden. Statt der früheren, oft hitzigen Wortwechsel
schleppten sich ihre Gespräche jetzt dahin, und es entstanden
immer öfter lange, peinliche Pausen, die sie mit nichtssagender
Konversation überbrücken mussten. Eigentlich unterhielten sie
sich nur noch über geschäftliche Dinge und vermieden es, sich
in die Augen zu sehen.
Chris fühlte sich merkwürdig einsam. Luke war in sich
gekehrt, unerreichbarer denn je, und sie vermisste ihre
Wortgefechte mehr, als sie es je für möglich gehalten hatte. Sie
vermisste sogar seine Unverschämtheiten.
Wollte er sie durch sein Verhalten abschrecken? Sie fürchtete
sich vor der Reise nach Paris. Mit den Robards war vereinbart
worden, dass der Vertrag am folgenden Dienstagmorgen
unterzeichnet werden sollte. Luke hatte vorgeschlagen, schon
am Montagabend nach Paris zu fliegen, um pünktlich dort sein
zu können. Und er hatte sie sogar gefragt, ob sie damit
einverstanden sei! Chris hatte widerwillig zugestimmt. Mit Paris
verbanden sich für sie zu viele Erinnerungen. Sie wollte nicht
dorthin zurück, nicht mit diesem Fremden an ihrer Seite.
Die Woche schleppte sich endlos dahin. Chris wusste nicht,
ob sie sich auf das Wochenende freuen oder sich davor fürchten
sollte, weil es die Reise nach Paris näher brachte. Es war nur
gut, dass Michelle für das Wochenende zu Be such kommen
sollte. Chris wollte mit ihr viel unternehmen, nicht nur, um ihrer
Nichte etwas zu bieten, sondern vor allem, um sich selbst
abzulenken. Nachdem sie Michelle dann am Sonntagabend
wieder ins Internat gebracht hatte war sie völlig erschöpft, hatte
sich aber wieder unter Kontrolle.
Nach einem langen, schweigsamen Tag im Büro erschien es
ihr unwirklich, dass Luke auf der Fahrt zum Flughafen so dicht
neben ihr saß. Chris blickte aus dem Fenster, während er den
Wagen durch den dichten Nachmittagsverkehr auf der Autobahn
in Richtung Heathrow lenkte.
Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde sie sich nach einer
neuen Stelle umsehen müssen. Der Gedanke jedoch, Luke zu
verlassen, brach ihr fast das Herz. Doch sie spürte, dass er sie
absichtlich auf Distanz hielt, als wollte er sie warnen, zu viele
Gefühle in ihn zu investieren. Es war demütigend, dass ihre
Empfindungen so leicht zu erraten waren. Sie hatte sich so
bemüht, ihm vorzutäuschen, dass der plötzliche Umschwung in
seinem Verhalten sie nicht berührte.
Es war nach sieben Uhr abends, als sie im Hotel ankamen.
"Ich nehme an, Sie haben sich für heute Abend mit Jacques
verabredet?" erkundigte Luke sich gleichgültig, während er sie
ins Gästebuch eintrug.
"Jacques?" wiederholte Chris verblüfft. Sie war so in Lukes
Anblick versunken gewesen, dass sie sich für einen Moment
kaum erinnern konnte, wer Jacques eigentlich war. "Nein."
Luke warf ihr einen Blick zu. Bildete sie es sich nur ein, oder
hatte sich seine Miene ein wenig aufgehellt?
"Dann können wir ja zusammen essen gehen", schlug er vor,
doch seine Stimme war derart ausdruckslos, dass Chris sicher
war, ihn missverstanden zu haben.
"In Ordnung", erwiderte sie ebenso ausdruckslos.
"Sollen wir uns in einer halben Stunde hier unten treffen?"
"Einverstanden."
Es ist einfach schrecklich, dachte sie, während sie sich
schnell das Gesicht wusch und mit dem Kamm durch die Haare
fuhr. Alles war so ganz anders als bei ihrem letzten Aufenthalt
in Paris. Damals hatte sie sich erregt und lebendig gefühlt, selbst
wenn sie sich stritten.
Ihr Blick fiel auf das schwarze Kleid, das zuoberst in ihrem
Koffer lag. Als sie es das letzte Mal trug, war sie so wütend auf
Luke gewesen! Sie wusste selbst nicht, warum sie es wieder
mitgenommen hatte. Irgendwie hatte sie es nicht über sich
gebracht, es zu Hause zu lassen.
Jetzt nahm sie es nachdenklich aus dem Koffer. Es war
wirklich ein wunderschönes Kleid. Wenn sie es trug, fühlte sie
sich sicher und selbstbewusst. Kurz entschlossen streifte Chris
ihr Reisekostüm ab und schlüpfte in das Kleid. Wenn sie jemals
etwas mehr Selbstvertrauen gebraucht hatte, dann war es jetzt!
Sie schminkte sich sehr dezent. In letzter Sekunde fiel ihr die
Brosche ein, die Luke ihr geschenkt hatte, und sie steckte sie an,
um damit den Schlitz im Ausschnitt zusammenzuhalten. Sie war
zwar nicht in solcher Hochstimmung wie beim letzten Mal, als
sie dieses Kleid getragen hatte, doch immerhin fühlte sie sich
viel besser als bei ihrer Ankunft.
Mit neuem Vertrauen in ihre Fähigkeit, alle Empfindungen
vor Luke zu verbergen, machte Chris sich auf den Weg nach
unten. Es würde ihnen sicher gelingen, wieder zu der
freundschaftlichen Beziehung zurückzukehren, die zwischen
ihnen herrschte, bevor ihre Gefühle ihr diesen dummen Streich
spielten.
Luke wartete in der Hotelhalle auf sie. In seinem grauen
Anzug wirkte er noch distanzierter und verschlossener. Chris
blieb vor dem Fahrstuhl kurz stehen, als sie ihn dort stehen sah,
und plötzlich überkam sie das Gefühl, ihn schützen zu müssen.
Warum war er nur so entschlossen, sich vo n niemandem
abhängig zu machen! Als habe er ihren Blick gespürt, drehte
Luke sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in
seinen Augen auf, als er sah, dass sie das schwarze Kleid trug.
Doch gleich darauf fiel schon wieder die gewohnte starre Maske
über sein Gesicht.
Seine offensichtliche Gleichgültigkeit ärgerte Chris, und sie
hob eigensinnig das Kinn und ging ohne Eile auf ihn zu.
"Ich habe keinen Tisch reservieren lassen", sagte Luke, als
sie vor ihm stand. "Ich dachte, wir könnten vielleicht einfach
losgehen und sehen, was wir finden. Ein wenig frische Luft
kann ich ohnehin gut gebrauchen."
Chris willigte gleichgültig ein. Als sie neben Luke die Halle
durchquerte und auf die Strasse hinausging, achtete sie darauf,
mindestens einen halben Meter Abstand zwischen ihm und ihr
zu halten. Es wäre eine zu große Versuchung, ihn dicht neben
sich zu spüren.
Lichter blitzten auf und verschwammen ineinander, während
sie an Neonreklamen und grellbunten Schildern von Cafes
vorbeigingen. Die Fahrer der vor den Ampeln wartenden Autos
hupten ungeduldig, Passanten hasteten vorbei. Chris und Luke
schienen die einzigen Menschen in Paris zu sein, die es nicht
eilig hatten, an ihren Bestimmungsort zu kommen.
Die ganze Zeit vermieden sie es, sich anzusehen. Am Place
de l'Opera fasste Luke Chris plötzlich am Arm und hielt sie
zurück, als sie gerade vom Bordstein auf die Strasse treten
wollte. Chris, warum sind Sie so?" fragte er.
Chris betrachtete seine Hand auf ihrem Arm, bevor sie ihm
ins Gesicht sah. "Wie bin ich denn?"
Als würde ihm erst jetzt bewusst werden, dass er sie immer
noch festhielt, ließ Luke die Hände sinken und vergrub sie in die
Taschen seines Anzugs. "Sie sind in letzter Zeit so kühl und
zurückhaltend", murmelte er.
"Ich bin zurückhaltend?" Chris betrachtete ihn erstaunt.
"Aber Sie sind doch derjenige, der sich zurückgezogen hat!"
"Nein, das habe ich mich nicht!"
"Sie haben mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass Sie
nur an der Arbeit interessiert sind", sagte sie. "Sie ersticken
jeden Versuch, ein Gespräch zu beginnen schon im Keim. Wenn
ich Ihnen einen guten Morgen wünsche, reagieren Sie, als wollte
ich in Ihre Privatsphäre eindringen!"
"Aber genau das habe ich von Ihnen gedacht!" erklärte Luke.
"Nachdem Sie mit Jacques ausgegangen waren, schien es mir,
als hätten Sie sich hinter eine Art von Mauer zurückgezogen. Es
war, als arbeitete ich mit einem Eiswürfel zusammen!" Er
betrachtete seine Schuhspitzen. "Ich weiß, dass wir uns oft
gestritten haben, aber nach unserer letzten Reise nach Paris
dachte ich, wir wären Freunde."
"Wir waren auch Freunde", sagte Chris.
"Warum sind wir es dann nicht mehr? Warum haben Sie sich
so von mir zurückgezogen?"
"Ich dachte, Sie wollten es so. Ich dachte, Sie wollen unsere
Beziehung auf rein geschäftlicher Ebene halten."
"Aber das schließt Freundschaft doch nicht aus, oder?"
erwiderte Luke verstimmt.
Nein, aber sie macht es sehr schwierig, zur gleichen Zeit
verliebt zu sein, dachte Chris. Laut sagte sie: "Nein."
"Das heißt also: Während ich die ganze Zeit dachte, Sie
ignorieren mich, dachten Sie, ich ignoriere Sie?"
"Nun ... Ja."
Luke verzog langsam den Mund zu einem Lächeln. "Das war
aber nicht sehr vernünftig von Ihnen, Chris!"
"Während Sie sich unfehlbar benommen haben, nicht wahr?"
entgegnete Chris. Luke lachte laut auf, und es klang
ungeheuer erleichtert. Und Chris konnte nicht verhindern, dass
auch sie plötzlich lachen musste.
"Das habe ich am meisten vermisst: Ihre Bemerkungen, wenn
Sie wütend sind", sagte Luke und hielt ihr die Hand hin.
"Kommen Sie, schlagen Sie ein. Auf eine freundschaftliche,
geschäftsmäßige Beziehung ohne weitere Missverständnisse.
Einverstanden?"
Das hatte sie doch gewollt, oder etwa nicht? Chris fühlte
seine starken Hände, die sich um ihre schlossen, und versuchte,
nicht auf das wilde Herzklopfen zu achten, das seine Berührung
ihr verursachte. Und vor allem nicht auf die innere Stimme, die
ihr zuflüsterte, dass eine freundschaftliche, ge schäftsmäßige
Beziehung nicht genug für sie sei.
"Also, da wir dieses Problem nun aus der Welt geschafft
haben - wo waren wir stehengeblieben?" fragte Luke heiter, als
sie schließlich die Strasse überquert hatten. Der grimmige
Gesichtsausdruck, den er in der letzten Zeit immer gehabt hatte,
war verschwunden, und er wirkte unbekümmert, beinahe
glücklich.
Chris bemühte sich, es ihm gleichzutun. "Wir wollten
irgendwo essen gehen."
"Nun, wie wäre es hiermit?" Sie studierten die Speisekarte im
Aushang eines kleinen Restaurants. "Sieht aus, als wäre es
genau das richtige für uns."
Im Restaurant war es laut und dunkel. Alle Tische waren
besetzt mit lachenden, wild gestikulierenden Menschen, die sich
ungezwungen unterhielten. Chris fühlte sich ein wenig
unbehaglich in ihrem eleganten schwarzen Kleid, doch keiner
schien es überhaupt zu bemerken.
In einer Ecke fand sich noch ein freier Platz, und sie und
Luke zwängten sich nebeneinander auf die schmale Holzbank.
Ihre Oberschenkel streiften einander, ihre Arme berührten sich
immer wieder. Und Luke machte keinen Versuch, von ihr
wegzurücken.
Chris hatte überhaupt keinen Appetit mehr. Lustlos stocherte
sie in der Forelle herum, die sie bestellt hatte, und nippte nervös
an ihrem Wein. Auf dem Tisch brannte eine Kerze, und Chris
hielt den Blick starr auf die Flamme gerichtet, aus Angst, Luke
würde das Verlangen erkennen, das ihr ins Gesicht geschrieben
stehen musste. Es war ja schön und gut, über eine
freundschaftliche Beziehung zu reden. Doch wenn Lukes
Körper gegen ihren gepresst wurde, konnte Chris an nichts
anderes mehr denken als daran, wie muskulös seine Beine, wie
stark seine Arme sich anfühlten. Aus den Augenwinkeln sah sie
seine schlanken Finger, wenn er sein Glas hob oder nach dem
Brot griff. Und sie fragte sich, wie seine Hände sich wohl auf
ihrer nackten Haut anfühlen mussten.
Während sie fieberhaft über alles mögliche redete, war sie
sich überdeutlich bewusst, dass er sein Bein gegen ihres presste.
Als sie schließlich gehen wollten, half Luke ihr, sich hinter dem
Tisch hervorzuzwängen, und hielt sie am Arm gefasst, während
sie das Lokal verließen. Chris wollte sich aus seinem Griff
befreien, doch ihre Knie waren so weich, dass sie fürchtete, zu
fallen.
Auf dem Heimweg war Luke sehr still. Chris wusste nicht
einmal, in welche Richtung sie gingen. Sie redete die ganze Zeit,
um kein peinliches Schweigen aufkommen zu lassen, und
verstummte erst, als ihr Mund wie ausgetrocknet war.
Nachdenklich blickte sie zu dem schmalen Streifen Himmel
empor, der zwischen den hohen Gebäuden von Paris sichtbar
war. Es war beinahe Vollmond, und die Sterne waren auf Grund
der reflektierten Lichter der Stadt kaum zu erkennen.
Ein unwiderstehliches Verlangen hatte von Chris Besitz
ergriffen, machte sie benommen, durchflutete ihren Körper und
steigerte sich, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte als
an Lukes Mund, an Lukes Hände, das Gefühl seines Körpers an
ihrem.
Schließlich erreichten sie das Hotel. Schweigend, ohne sich
zu berühren, fuhren sie mit dem Lift in den dritten Stock und
gingen den Flur entlang, dessen dicker Teppichboden das
Geräusch ihrer Schritte verschluckte. Es war so still, dass Chris
sicher war, Luke müsse das wilde Klopfen ihres Herzens hören.
Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihre Zimmertür aufschloss
und sich umdrehte, um sich zu verabschieden.
Luke antwortete nicht. Er sah sie nur an, und dann zog er sie
langsam an sich.
"Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist",
brachte Chris hervor, konnte jedoch den Blick nicht von ihm
lösen.
"Warum nicht?"
"Wir - wir haben doch beschlossen, unsere Beziehung auf
rein geschäftlicher Ebene zu belassen."
Ein leises Lächeln umspielte seinen Mund. "Zum Teufel mit
dem Geschäft!" sagte er und zog sie fest in seine Arme.
Als er sie hart und leidenschaftlich küsste, gab Chris jeden
Widerstand auf. Was jetzt geschah, hatte sie sich den ganzen
Abend vorgestellt: seinen unwiderstehlichen, leidenschaftlichen
Mund, der ein Feuer in ihr entzündete, das sie nicht mehr unter
Kontrolle halten konnte. Chris ließ die Hände an seinen Armen
empor gleiten und umfasste seinen Nacken, während sie seinen
Kuss wie im Fieber erwiderte. Ihrer beider Leidenschaft machte
sie atemlos, ihre Küsse wurden immer hemmungsloser. Ihr
Verlangen, das sie so lange unterdrückt hatte, drohte jetzt, sie
unwiderstehlich mit sich fortzureißen.
Luke atmete schwer, als er Chris schließlich von sich stieß
und sie in ihr Zimmer drängte. Völlig verwirrt ließ sie sich
gegen die Tür fallen, die er hinter ihnen geschlossen hatte. Er
stemmte die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes dagegen.
"Seit Wochen habe ich nur daran gedacht, dich zu küssen",
sagte er, und seine heisere Stimme ließ sie insgeheim
erschauern. "Jedes Mal, wenn du in mein Büro kamst und dich
mit deinem Block in der Hand aufrecht vor mich hinsetztest und
mich mit deinem kühlen Blick ansahst, wollte ich dich küssen."
Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste ihre Mundwinkel, bis
Chris den Kopf drehte und seinen Mund suchte. "Eigentlich
habe ich die ganze Zeit nur daran gedacht, dich zu küssen",
murmelte er, den Mund an ihre geöffneten Lippen gepresst, und
drückte sie mit seinem Körper gegen die Tür.
Er umfasste ihr Gesicht, spielte mit ihrem Haar, während sie
sich leidenschaftlich küssten.
Und Chris - die vernünftige, praktische, tüchtige Chris -
vergaß die Vergangenheit und ließ die Zukunft Zukunft sein.
Nichts war für sie mehr wichtig, außer dem Hier und Jetzt.
Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte Luke keinen Einhalt
gebieten können. Jetzt nicht mehr, da das Blut heiß und erregend
durch ihre Adern strömte und ihr Körper bebend auf Lukes
Liebkosungen antwortete.
Sie ließ die Hände unter seine Jacke und den weichen Stoff
seines Hemds gleiten. Sein Rücken war breit und stark, und sie
fühlte, wie Luke erschauerte, als sie ihn berührte.
"Hast du auch daran gedacht, mich zu küssen?" murmelte
Luke, während er seine Lippen an ihrem Hals entlanggleiten
ließ.
Chris zitterte, als sein Mund unterhalb ihres Ohrs
angekommen war. Genauso hatte sie es sich vorgestellt, damals
vor dem Schaufenster der Fromagerie. "Nein", keuchte sie und
ließ den Kopf langsam in den Nacken sinken.
"Du lügst." Sie spürte, dass er lächelte. "Sag mir, dass du
lügst. Sag mir, dass du mich die ganze Zeit küssen wolltest." Er
presste sie fester an sich und hob den Kopf, um ihr in die Augen
zu sehen.
"Ich lüge. Natürlich lüge ich", gab Chris zu und lächelte
langsam, als er sich über sie beugte, um sie wieder zu küssen.
Beinahe fieberhaft begann sie, sein Hemd aus dem Gürtel zu
ziehen. Sie wollte seine Haut unter den Händen spüren, warm
und glatt und fest.
"Chris!" stieß Luke heiser hervor. Er befreite sich aus Chris'
Umarmung, und sein Blick fiel auf die Brosche an ihrem Kleid.
Mit unsicheren Händen löste er sie aus dem Stoff und legte sie
sorgfältig beiseite, bevor er den Kopf senkte und die Lippen auf
ihren Busen presste.
Chris hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ihr Inneres voll
gespannter Saiten, auf denen Luke spielte und die bei seiner
Berührung Wellen des Verlangens durch ihren Körper sandten.
Er ließ die Lippen langsam über ihren Ausschnitt aufwärts zu
ihrem Hals gleiten und verhielt kurz an der Stelle, an der er
ihren erregt klopfenden Puls spürte. Getrieben von maßlosem
Begehren streifte Chris ihm die Jacke über die Schultern und
fingerte ungeduldig an den Knöpfen seines Hemds herum.
Sie war gerade dabei, seinen Gürtel zu öffnen, als er sie
umdrehte und quälend langsam den Reißverschluss ihres Kleids
herunterzog. Er bedeckte jeden Zentimeter ihres entblößten
Körpers mit Küssen, bis sie vor Verlangen bebte. Schließlich
fiel der Stoff raschelnd über ihre Schultern zu Boden.
Wie im Traum trat Chris aus dem Kleid. Die Vorhänge waren
noch nicht zugezogen, so dass Mondlicht ins dunkle Zimmer
flutete und sich in ihren Augen spiegelte, die vor Verlangen
glänzten.
Luke presste die Lippen gegen ihre samtweiche Halsbeuge,
und Chris ließ den Kopf nach hinten sinken.
Dann begann Luke ihren Körper mit langen, heißen Küssen
zu bedecken und streifte ihr dabei die Unterwäsche ab.
Als Luke sich schließlich seiner eigenen Kleidung entledigt
und Chris auf das breite Bett gezogen hatte, brannte diese vor
Verlangen. Es war wunderschön, ihn endlich berühren und sich
in dieser Leidenschaft vergessen zu können. Sie wusste, dass es
jetzt kein Halten mehr gab. Sie drängten sich in steigendem
Verlangen aneinander, und Chris stöhnte seinen Namen,
während er die Hände über ihre samtige Haut gleiten ließ und
seiner Bewunderung in leisen Worten Ausdruck gab. Mit
Händen und Lippen erkundete er ihren Körper bis zu den
geheimsten Stellen, und Chris war nur noch zitternde, stöhnende
Leidenschaft.
Schließlich rollte sie sich auf ihn, umfasste sein Gesicht und
lächelte, bevor sie sich über ihn beugte und seine Lippen suchte.
Sie lag auf ihm und genoss das Gefühl seiner Männlichkeit, das
Gefühl ihrer Haut auf seiner.
Luke hob die Arme, um Chris an sich zu ziehen. Doch sie
schob sich langsam abwärts und ließ die Lippen zärtlich über
seinen Körper wandern, bis er sich stöhnend wieder auf sie rollte
und mit ihr eins wurde. Die Woge der Leidenschaft riss sie
endgültig mit sich fort, und Chris' und seine Schreie vermischten
sich, als sie zitternd und bebend die Erfüllung erreichten.
Luke hielt sie fest umschlungen. Nichts erinnerte mehr an
den schroffen, arroganten Luke, als er jetzt die Hände sanft und
liebevoll über ihre Haut gleiten ließ.
"Denkst du immer noch, dies war keine gute Idee?" flüsterte
er, während er zärtlich ihr Ohrläppchen küsste.
Chris lächelte leicht, ohne die Augen zu öffnen. "Nun, sehr
vernünftig war es bestimmt nicht."
"Wer kümmert sich schon um Vernunft?"
"Du."
"Dann habe ich meine Meinung geändert. Ich habe meine
Meinung in dem Moment geändert, da Jacques dich betrachtete
und unter Maske der kühlen, beherrschten Sekretärin die gleiche
lebendige, aufregende Frau entdeckte, die ich sah. Als du in
jener Nacht im Restaurant mit ihm geflirtet ha st, hätte ich ihn
mit größtem Vergnügen verprügelt. Und später, nachdem er dich
zum Essen eingeladen hatte und du hinterher so verändert warst,
da war ich ganz außer mir vor Eifersucht." Luke strich Chris
eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. "Ich habe immer
gedacht, du gehörst zu mir, auch wenn ich mir selbst vormachte,
du seist nur eine Sekretärin wie alle deine Vorgängerinnen."
"Aber ich bin doch wirklich nur eine Sekretärin", sagte sie
scherzhaft, die Art aber, wie sie die Hände über seinen Bauch
gleiten ließ, strafte ihre Worte Lügen.
Luke schüttelte den Kopf. "Du bist anders, Chris. Du bist die
einzige vollkommen ehrliche Frau, die mir jemals begegnet ist.
Wie sollte ich dem Blick aus diesen klaren Augen widerstehen?"
Er küsste ihre geschlossenen Lider. Chris lächelte, doch als sie
die Augen öffnete, lag etwas wie Besorgnis in ihrem Blick.
Sie war nicht völlig ehrlich mit ihm gewesen. Nachdenklich
legte sie die Arme um Luke und drückte ihn an sich. Sie wusste,
dass sie eigentlich mit ihm über ihre Begegnung in Chittingdene
sprechen sollte, aber er war so warm, so nah. Sie wollte den
Zauber dieses
unvergesslichen Moments nicht zerstören. Trotzdem, sie
sollte es ihm sagen ...jetzt gleich. "Luke", begann
sie zögernd.
"Was ist denn?" fragte Luke, die Lippen gegen ihren Hals
gedrückt und hob den Kopf. Als er auf sie hinuntersah, lag eine
solche Wärme in seinem Blick, dass Chris' Entschluss, ihm alles
zu erzählen, gegen ihren Willen zu Staub zerfiel. Sie würde es
nicht ertragen können, wenn dieser Ausdruck verschwand,
nachdem sie Luke die Wahrheit gesagt hatte. Später war immer
noch genug Zeit, ihm alles zu beichten.
"Oh... nichts."
Die Art, wie Luke sie anlächelte, ließ ihr den Atem stocken.
Wer hätte gedacht, dass dieser kalte, harte Mann, der sie vor so
vielen Jahren geküsst hatte, zu solcher Zärtlichkeit fähig wäre?
"Dann küss mich noch einmal!"
"Bitte!" erinnerte sie ihn gespielt ernst.
"Chris, Liebling, wenn es dir nichts ausmacht, würdest du
mich bitte noch einmal küssen?"
Seufzend zog Chris ihn an sich. "Wenn es unbedingt sein
muss", flüsterte sie und verdrängte all ihre Zweifel, als sie sich
erneut in den Taumel der Leidenscha ft stürzten.
10. KAPITEL
Am nächsten Morgen erwachte Chris früh von Lukes Küssen.
Während sie sich wohlig und zufrieden reckte, begannen seine
Augen wieder zu funkeln. Dennoch erlaubte er Chris nicht,
länger im Bett zubleiben. "Wach auf!" sagte er, zog ihr die
Decke weg und lächelte nur, als sie schläfrig protestierte. "Wir
müssen heute einen Vertrag unterzeichnen, und wenn wir uns
nicht sehr beeilen, kommen wir zu spät."
Nach einem Blick auf den Wecker war Chris plötzlich
hellwach und setzte sich erschrocken im Bett auf. Sie mussten
sich tatsächlich sehr beeilen! Schnell kleideten sie sich an. Zum
Frühstücken blieb keine Zeit mehr. Im Taxi rasten sie zu
Philippe Robards Büro. Chris hatte nicht einmal Zeit gehabt,
sich zurechtzumachen. Doch das Glück, das ihr Gesicht wie von
innen her erleuchtete, machte sie schöner, als Kosmetik und
Kleidung es je hätten können.
Jacques entging ihre Verwandlung nicht, und er lächelte
traurig. "Luke kann sich sehr glücklich schätzen", sagte er und
zog ihre Hand an seine Lippen.
In Gegenwart der Robards verhielt Luke sich ihr gegenüber
höflich und distanziert wie immer. Chris hätte beinahe nicht
geglaubt, dass dies der gleiche Mann war, der sie letzte Nacht so
leidenschaftlich geliebt hatte - wäre da nicht dieses Leuchten in
seinen Augen gewesen, sobald er sie ansah. Doch nachdem der
Vertrag unterzeichnet war und sie das Gebäude verlassen hatten,
zog er sie mitten auf der Strasse in die Arme und küsste sie, als
wäre er einen Monat lang fortgewesen.
Noch nie hatte sie ihn so übermütig gesehen wie jetzt. Es war
Ende April, sie waren in Paris, und die Sonne schien warm.
Chris spürte ein unbändiges Glücksgefühl in sich aufsteigen, das
ihr prickelnd wie Champagner durch die Adern rann.
Buchstäblich über Nacht schien die ganze Welt ein ganz neues,
helleres und schöneres Gesicht bekommen zu haben.
In einem Cafe frühstückten sie, warme Croissants mit Butter
und heißen Cafe au lait in den hier üblichen großen Tassen. Die
Sonne schien durch das Fenster direkt auf ihren Tisch. Chris
stützte die Ellbogen auf und umfasste ihre Tasse mit beiden
Händen, während sie Luke anlächelte.
Sie empfand es als unvorstellbar schön, ihn offen und ohne
Heimlichkeit einfach ansehen zu können, die entschlossen
wirkenden, markanten Linien seines Gesichts zu betrachten und
sich daran zu erinnern, wie seine Haut sich letzte Nacht unter
ihren Händen angefühlt hatte.
Luke hatte ihre Gedanken mühelos erraten. "Sieh mich nicht
so an, Chris", sagte er lächelnd. "Zumindest nicht, wenn wir in
der Öffentlichkeit sind. Sonst vergesse ich nachher, dass wir
heute noch einiges zu arbeiten haben!"
"Da hast du recht." Chris setzte ein gespielt zerknirschtes
Gesicht auf. "Wir wollen doch nicht vergessen, dass wir uns auf
eine freundschaftliche Beziehung geeinigt haben, oder?"
Luke streckte die Hand aus und berührte zärtlich ihr Haar.
"Unsere Abmachung gilt nur für die Tage. Die Nächte sind
etwas anderes! Da vergessen wir das Geschäft lieber."
Bisher hatte er mit keinem Wort von Liebe gesprochen.
Dennoch, während sie an jenem warme n Frühlingsmorgen in
Paris saßen, war Chris vollkommen glücklich.
Es gelang ihnen erstaunlich gut, sich wieder in ihre Rollen als
Chef und Sekretärin hineinzufinden. Schon auf dem Flug nach
London begannen sie einträchtig und konzentriert mit der
Arbeit.
"Ich gehe jetzt besser und rede mit Miles". sagte Luke,
nachdem sie ins Büro zurückgekehrt waren. "Schließlich ist er
für die Finanzen zuständig und sollte etwas über den
Vertragsinhalt erfahren, auf den wir uns heute geeinigt haben."
Chris nickte geistesabwesend. Sie war schon dabei, die Post
durchzugehen. Als nach einer Weile von Luke immer noch
keine Antwort kam, sah sie erstaunt auf und ertappte ihn dabei,
dass er sie amüsiert beobachtete. "Du scheinst ja sehr beschäftigt
zu sein", sagte er. "Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass du dich
so auf die Arbeit konzentrieren kannst - nach allem, was gestern
nacht passiert ist! Oder hast du das etwa schon vergessen?"
Chris ließ die Briefe auf den Schreibtisch fallen und
erwiderte seinen Blick aus ihren klaren bernsteinfarbenen
Augen. "Ich werde es niemals vergessen", entgegnete sie ruhig.
"Und das weißt du auch."
Luke nahm sie bei den Händen und zog sie in seine Arme.
"Im Büro sollten wir das eigentlich nicht tun", flüsterte er.
"Ich tue ja gar nichts", protestierte Chris, wehrte sich aber
nicht als er sie küsste.
"Du stehst einfach da und siehst wunderschön aus. Das allein
reicht schon."
"Du klingst aber gar nicht nach einem Geschäftsmann." Chris
versuchte, ernst zu klingen. Doch sie strafte ihre eigenen Worte
Lügen, als sie ihm die Arme um den Nacken legte und seinen
Kuss erwiderte.
"Also gut." Luke befreite sich widerstrebend. "Ab morgen
beschränkten wir uns im Büro streng auf das Geschäftliche!"
"Natürlich", stimmte Chris lächelnd zu.
"Und jetzt gehe ich wirklich zu Miles." Luke berührte zärtlich
ihre Wange. ..Danach machen wir uns an die Arbeit, und heute
Abend gehen wir nach Hause - zusammen!"
Chris stand immer noch an ihrem Schreibtisch, die Hand auf
die Wange gelegt, wo er sie zuletzt berührt hatte, als die Tür
plötzlich geöffnet wurde.
Sie hatte Helen vergessen. Beim Anblick ihrer makellosen
Schönheit durchfuhr Angst Chris' Herz wie ein kalter
Windhauch und trübte ihre Glück. Was für eine Chance hatte sie
schon gegenüber Helen? Und wenn sie sich noch so anstrengte,
neben dieser strahlenden Blondine würde sie immer blass und
nichtssagend wirken.
Chris nahm sich zusammen. "Es tut mir leid, aber Luke ist
nicht in seinem Büro", sagte sie höflich und kühl. "Er hat eine
Besprechung mit dem Leiter der Finanzabteilung." Sie hoffte,
Helen würde nicht darauf bestehen, auf Luke zu warten. Allein
der Gedanke, die beiden zusammen zu sehen, machte sie ganz
krank.
"Tatsächlich?", Helens grüne Augen wirkten kalt wie Eis.
"Nach diesem rührenden Abschied, den ich gerade mit
angesehen habe, hätte ich eigentlich erwartet, er sei für
mindestens eine Woche auf Dienstreise!"
"Wie bitte?"
"Ihre Unschuldsmiene kennen Sie sich sparen! Ich habe euch
beide durch die Scheibe in der Tür beobachtet und verfolgt, wie
Luke Sie küsste, und auch Ihren törichten, verliebten Blick
gesehen", sagte Helen höhnisch. Als sie Chris' gerötete Wangen
bemerkte, fuhr sie unbarmherzig fort: "Und ich dachte, Sie seien
die Sekretärin schlechthin! Dabei hätte ich Luke gleich erzählen
können, dass Sie am Ende doch wie alle anderen sein würden!"
Chris erstarrte. "Welche anderen?"
"Welche anderen?" äffte Helen sie verächtlich nach. "Haben
Sie wirklich angenommen, Sie seien etwas Besonderes? Was
glauben Sie denn wohl, weshalb er so viele Sekretärinnen
hatte?"
"Es ist eben nicht leicht, für ihn zu arbeiten." Chris hatte sich
jetzt wieder völlig unter Kontrolle. "Meine Vorgängerinnen
waren ihm nicht gewachsen."
"Das hat er Ihnen also erzählt? Und Sie haben es auch noch
geglaubt?" Mit aufreizender Langsamkeit ging Helen zum
Fenster hinüber und zündete sich lässig eine Zigarette an. "Alle
seine Sekretärinnen waren energische, tatkräftige Damen, als sie
hier anfingen, und am Ende haben sie sich alle in ihn verliebt.
Es ist immer nur eine Frage der Zeit, bevor sie sich ihm an den
Hals werfen. Bei Ihnen hat es allerdings länger gedauert als bei
den meisten."
Sie drehte sich um und musterte Chris verächtlich. "Wie Sie
zweifellos festgestellt haben werden, ist Luke kein Mann, der
sich lange ziert, wenn eine Frau ihm auf dem Silbertablett
serviert wird. Doch nach einer Weile verliert er das Interesse,
und die ganze Sache wird dann ziemlich peinlich. Im Grunde
liebt er nur seine verdammte Firma, und das letzte, was er
braucht, ist eine Sekretärin, die sich ihm an den Hals wirft.
Schließlich kündigen sie alle, in Tränen aufgelöst, und er kommt
zu mir zurück. Wir verstehen einander."
"Wie schön für Sie", sagte Chris ruhig, doch ihre Augen
flammten vor Abneigung. Helens Worte hatten sie wie
Messerstiche ins Herz getroffen, aber sie wäre lieber gestorben,
als sich ihren Schmerz anmerken zu lassen.
Als Chris sich ab wandte, zog Helen plötzlich scharf den
Atem ein. "Christine Haddington-Finch", sagte sie langsam.
"Natürlich, du bist Christine! Deshalb kamst du mir auch gleich
so bekannt vor!"
Chris erstarrte. "Ich weiß nicht, wovon Sie reden."
"0 doch, das weißt du sehr genau!" Helen drückte ihre
Zigarette im Aschenbecher aus und wandte sich vom Fenster ab.
"Ich wusste doch, dass ich dich schon einmal gesehen hatte.
Aber erst, als du mich eben so verächtlich ansahst, fiel es mir
wieder ein. Du warst Annes hässliche kleine Freundin in
Chittingdene. Ich fand es immer sehr lustig, dass du,
ausgerechnet du, es wagtest, mein Verhalten zu missbilligen.
Gesagt hast du zwar nie etwas, aber dein verächtlicher Blick
verriet schon genug."
Langsam ging sie um Chris herum und blickte ihr ins
Gesicht. "Ja, jetzt sehe ich es. Du hast dich na türlich
herausgemacht, aber wenn man sich diese modische Frisur
wegdenkt und dir wieder diese dicken Brillengläser aufsetzt,
siehst du genauso wie früher aus!" Helen lächelte kalt und
boshaft. "Na so etwas, Christine Haddington-Finch. Wer hätte
das gedacht? Weiß Luke, wer du bist?"
"Nein", erwiderte Chris ruhig. Es war ohnehin zwecklos, jetzt
noch etwas zu leugnen.
"Ich habe mir damals schon gedacht, dass du in ihn verliebt
bist" fuhr Helen fort. "Anne hat mir erzählt, du seist tatsächlich
zu unserem Treffp unkt gegangen, um ihm zu sagen, dass ich
nicht komme. Wie rührend."
Ihr Spott brachte Chris zur Weißglut. "Damals wolltest du ihn
nicht, oder?" sagte sie wütend. "Du hast nur mit ihm gespielt.
Anne hat mir von all den gemeinen Dingen erzählt, die du hinter
Lukes Rücken über ihn verbreitet hast. Warum willst du ihn jetzt
unbedingt wiederhaben?"
Helen hob gleichmütig die Schultern. "Damals war er ein
wenig ungehobelt, und es gab da noch einige andere interessante
Männer. Aber jetzt - nun, Luke ist eben sehr attraktiv."
"Und sehr reich, nicht wahr?"
"Für ein so nichtssagendes Wesen hattest du schon immer
eine reichlich scharfe Zunge, Christine", sagte Helen voller
Abneigung.
"Zumindest bin ich immer ehrlich gewesen", erwiderte Chris.
"Ich habe ihm nicht vorgespielt, in ihn verliebt zu sein, und mich
über ihn lustig gemacht, sobald er den Rücken kehrte."
Helen lachte kurz und spöttisch. "Liebe? Für Luke ist Liebe
ein Fremdwort. Er schert sich keinen Deut darum, was andere
Leute von ihm halten!"
"Wenn er tatsächlich so denkt, dann nur, weil gedankenlose,
grausame Frauen wie du ihn gelehrt haben, dass Liebe
bedeutungslos ist. Kein Wunder, dass er so zynisch ist!" Chris'
Augen flammten vor Zorn. "Ist dir noch nie der Gedanke
gekommen, er könnte sich vielleicht verletzt gefühlt haben
durch die Art, wie du ihn behandelt hast? Aber nein, für dich
gab es andere, interessantere Männer. Du fandest es nicht einmal
nötig, dich von ihm zu verabschieden!"
"Luke hat mir das nicht übelgenommen", sagte Helen
gleichmütig. "Warum wäre er wohl sonst immer wieder zu mir
zurückgekehrt?"
"Vielleicht, weil er bei dir zumindest weiß, wie er dran ist",
entgegnete Chris mit solcher Verachtung in der Stimme, dass
Helens grüne Augen ärgerlich zu funkeln begannen.
"Und das ist mehr, als er bei dir weiß, du Rührmichnichtan!
Die ganze Zeit hältst du Vorträge über Ehrlichkeit. Aber was ist
ehrlich daran, wenn du aus deiner wahren Identität ein
Geheimnis machst?''
"Es ist kein Geheimnis. Luke hat mich nicht erkannt, warum
sollte ich ihn also darauf ansprechen? Ich bin sicher, er erinnert
sich ohnehin nicht mehr an mich."
"Nein, wahrscheinlich nicht", gab Helen abweisend zu. "Du
bist nicht gerade der Typ, den man lange im Gedächtnis behält."
"Aber du hast dich an mich erinnert", sagte Chris. "Und du
hast auch festgestellt, dass ich mich verändert habe. Ich bin
nicht mehr das nichtssagende, verschüchterte kleine Mädchen
von früher. Ich möchte, dass Luke an mich denkt, wie ich jetzt
bin, nicht wie ich damals war. Und ich glaube, dass er das auch
tun wird - besonders nach der letzten Nacht", fügte sie betont
hinzu.
Helen kniff die Augen zusammen. "Falls du glaubst, dass du
Luke mit einer Nacht an dich binden kannst, dann hast du dich
gründlich geirrt! Ich gebe dir eine Woche, bis Luke dich bittet,
zu kündigen."
"Und ich würde dir nicht einmal so lange geben, wenn Luke
jetzt zurückkäme", erwiderte Chris mit einer Beherrschung, die
sie selbst erstaunte. "Er verabscheut Szenen im Büro, und ich
bin sicher, dass er nach dieser Nacht in einem Streit für mich
Partei ergreifen würde. " Sie griff nach dem Stapel Briefe auf
dem Schreibtisch und begann, sie zu Öffnen. "Ich halte es für
besser, wenn du jetzt gehst - und nicht wiederkommst, bis hier
eine andere Sekretärin sitzt!"
"Das wird nicht lange dauern!" sagte Helen bösartig, stürmte
aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Erst jetzt,
nachdem ihre Gegnerin unerwartet schnell das Feld geräumt
hatte, merkte Chris, dass sie am ganzen Körper bebte. Erschöpft
ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken und verbarg ihr Gesicht in
den Händen.
War sie tatsächlich nur die neueste in einer langen Reihe von
verliebten Sekretärinnen? Bedeutete sie Luke wirklich nicht
mehr? Obwohl sie Helen nicht glauben wollte, musste sie
zugeben, dass deren Geschichte nicht unwahrscheinlich klang.
Luke selbst hatte ihr ihre Vorgängerinnen als Heulsusen
geschildert. War es denn so von der Hand zu weisen, dass sich
all diese Mädchen in ihn verliebt hatten -da ihr selbst das ja auch
passiert war?
Chris zupfte ratlos an einer Strähne herum. Ihr Haar war
immer noch so weich und glänzend wie damals, als Luke seine
Finger hatte hindurchgleiten lassen und ihren Kopf nach hinten
gezogen, um sie zu küssen. Erinnerungen an die gemeinsam
verbracht e Nacht stiegen in ihr auf. Sie konnte einfach nicht
glauben, dass diese Nacht Luke nichts bedeutet hatte. Es war
unmöglich, dass sie seine Blicke, seine zärtlichen Berührungen
so missverstanden hatte.
Nein, sie würde Helens Worte keinen Glauben schenken,
aber sie musste Luke nun endlich die Wahrheit sagen. Hätte sie
es doch nur letzte Nacht getan! Jetzt, im kalten Tageslicht,
fürchtete sie sich davor. Er würde wissen wollen, warum sie es
ihm nicht schon früher gesagt hatte. Wie sollte sie es ihm nur
erklären, ohne unehrlich oder - noch schlimmer - berechnend zu
wirken?
Und dann wurde die Tür geöffnet, und Luke trat ein. Ein
Blick in sein Gesicht verriet Chris, dass er alles wusste.
"Ich habe eben Helen getroffen", begann er langsam, und
seine Miene war verschlossen und hart. "Sie sagte, du seist
Christine Haddington-Finch aus Chittingdene. Stimmt das?"
Chris hob den Kopf und sah ihm in die Augen. "Was glaubst
du?" "Christine?" sagte er, und es klang, als weigerte er sich, es
zu glauben. Er durchforschte ihr Gesicht und seufzte, als er die
Wahrheit in ihren Augen erkannte. "Christine." "Chris",
verbesserte sie ihn ruhig.
"Warum hast du es mir nicht gesagt?" Er wandte sich schnell
ab, doch sie hatte den verbitterten Ausdruck in seinen Augen
gesehen. "Irgendwie war nie die richtige Gelegenheit dazu",
begann sie, aber er unterbrach sie.
"Gelegenheit! Um mir irgendwelche anderen Dinge zu
erzählen, hast du schließlich auch immer eine Gelegenheit
gefunden!"
"Dies hier ist etwas anderes. Außerdem glaubte ich nicht,
dass du dich an mich erinnern würdest. Warum denn auch?"
"Oh, ich kann mich sehr gut an dich erinnern. Du warst das
Mädchen, das in den Wald kam, um mir von Helen zu erzählen."
Chris nickte unglücklich. "Aber du hast mich nicht erkannt.
Ich sah keinen Sinn darin, die Vergangenheit wieder aufleben zu
lassen. Du hast mir deutlich genug zu verstehen gegeben, dass
du das alles hinter dir gelassen hattest, und ich wollte uns beiden
Peinlichkeiten ersparen."
"Du dachtest also, es könnte mir peinlich sein, dass die
Tochter aus dem Herrenhaus meine Angestellte ist? War es
das?"
"Nein!" Chris verließ der Mut, als sie Lukes harte Stimme
hörte. "Ich dachte an diesen heißen Tag damals im Wald. An das
erste Mal, als du mich küsstest. Ich hielt es einfach für eine
etwas peinliche Erinnerung, die Chef und Sekretärin gemeinsam
hatten, das ist alles." "Und was ist mit all den Gelegenheiten, als
ich sagte, dass du mir bekannt vorkommst? Hast du dich da über
mich amüsiert? Die Französin, von der ich dir im Restaurant
erzählte, das war doch deine Mutter, nicht wahr? Was musst du
gelacht haben über mich!"
"Nein! Luke, ich habe niemals über dich gelacht, das
müsstest du doch wissen."
"Das Problem ist, ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich weiß
nicht, was ich von dir halten soll." Luke wandte sich ärgerlich
ab. "Ich dachte wirklich, du seist anders. In deinen klaren Augen
sah ich nichts als Ehrlichkeit. Aber ich habe mich wohl geirrt.
Du hast mich zum Narren gehalten, nicht wahr? Du bist genauso
falsch wie all die anderen."
Chris hob das Kinn. "Ich habe dich niemals belogen."
"Das mag sein, aber dass du mir ausgerechnet das
verheimlicht hast, kommt mir genauso unehrlich vor."
"Bei Helen hat dich das nie gestört!" rief Chris. "Denk doch
nur an all die Dinge, die sie dir nie erzählt hat."
"Helen ist anders. Von ihr habe ich nie etwas erwartet, aber
du - du warst etwas Besonderes. Oder zumindest glaubte ich
das." Luke lachte, aber es klang freudlos.
Chris war jetzt sehr ärgerlich. "Und was ist mit all den
anderen Sekretärinnen, die du verführt hast? Ich nehme an, die
waren auch alle etwas Besonderes? Es hat dir sicher eine Menge
Arbeit erspart, weil du jedes Mal dieselbe Methode anwenden
konntest!"
"Welche anderen Sekretärinnen?" Luke fuhr herum.
"Helen hat mir davon erzählt. Ich bin nur die letzte in einer
langen Reihe von Sekretärinnen, die auf deine Masche mit
diesem ,Sie sind die Beste von allen' hereingefallen ist!"
"Und du glaubst, was Helen sagt?"
"Warum nicht - du tust es ja anscheinend auch!"
Sie waren beide so wütend, dass sie das Klopfen an der Tür
nicht hörten. Eine der Nachwuchssekretärinnen stand plötzlich
auf der Türschwelle, einen Stapel Akten im Arm, und
betrachtete erstaunt und verlegen die Szene, die sich vor ihren
Augen abspielte.
"Nun gehen Sie schon!" fuhr Luke sie an, und das Mädchen
drehte sich um und floh.
"Ich merke schon, du hast zu deiner üblichen charmanten Art
zurückgefunden!" stieß Chris bissig hervor.
"Und wann findest du wieder zu deinem wahren Ich zurück -
zu Christine Haddington-Finch? Ich wundere mich, dass ich
mich nicht gleich an dich erinnert habe, als du anfingst, mich
herumzukommandieren! Du bist genau wie dein Vater, dieser
wichtigtuerische alte Narr, der sich im Herrenhaus als
Gutsbesitzer aufspielte."
"Mein Vater war nicht wichtigtuerisch!" stieß Chris hervor.
"Er war liebenswert und großzügig - was man von dir nicht
gerade sagen kann! Du bist so verdammt empfindlich. Was
bedeutet es schon, dass ich Christine genannt wurde und in
einem großen Haus lebte? Seitdem sind wir beide erwachsen
geworden. Es geht doch darum, wer wir heute sind, oder nicht?"
Luke stand halb abgewandt am Fenster und sah finster auf die
Strasse hinunter. An seiner Wange zuckte wieder der kleine
Muskel. "Genau das ist es. Ich dachte, dich zu kennen, aber jetzt
habe ich herausgefunden, dass du eine ganz andere bist." Über
die Schulter warf er einen Blick auf Chris, die hoch aufgerichtet
hinter ihrem Schreibtisch saß, die bernsteinfarbenen Augen
dunkel vor Zorn. "Heute Abend wollte ich das Mädchen namens
Chris bitten, meine Frau zu werden. Klingt witzig, nicht wahr?"
Seine Miene war bitter. "Ich will Chris heiraten, aber nicht
Christine. Wer weiß, wie viele andere Dinge es noch gibt, die
sie vor mir verheimlicht."
Chris betrachtete verzweifelt seinen breiten Rücken. "Ich bin
nicht Christine, ich bin Chris. Wenn du die Chris, die du in den
letzten Monaten kennengelernt hast, so leicht beiseiteschieben
kannst, dann will ich dich nicht heiraten! Kannst du die letzte
Nacht auch so einfach vergessen? Hattest du da das Gefühl, dass
es zwischen uns irgendwelche Geheimnisse gibt, die von
Bedeutung sind?" Luke erstarrte, aber er drehte sich nicht um.
"Da ist so vieles, das ich von dir nicht weiß", fuhr sie fort. "Zum
Beispiel hast du in den letzten zehn Jahren anscheinend ständig
Sekretärinnen verführt. Aber für mich ist das bedeutungslos -
nach allem, was ich letzte Nacht von dir kennengelernt habe."
Sie stand auf und nahm ihre Handtasche. "Ich bin sicher, du
wirst schnell eine andere, ganz besondere Sekretärin finden, die
dich tröstet. Aber lass dir vorsichtshalber ihre Geburtsurkunde
zeigen, bevor du sie einstellst!" Tränen des Zorns und des
Schmerzes standen ihr in den Augen, doch sie war entschlossen,
in seiner Gegenwart nicht zu weinen. Als sie zur Garderobe ging
und nach ihrem Mantel griff, fuhr Luke herum.
"Was hast du vor?"
"Ich kündige." Chris stürmte auf die Tür zu. "Sieh zu, wie du
allein mit deinem verdammten Vertrag zurechtkommst und lern
gefälligst selbst Französisch!"
Sie knallte die Tür hinter sich zu, rannte zum Fahrstuhl und
drückte ungeduldig auf den Knopf. Der Lift war sicher wieder
im Erdgeschoss. "Nun mach schon, mach schon!" sagte sie laut,
während sie die beleuchteten Etagenziffern beobachtete, die den
allzu langsamen Weg des Fahrstuhls kennzeichneten.
" Chris!" Luke stand auf der Türschwelle seines Büros.
"Jetzt auf einmal wieder Chris? Vor einer Minute war ich
noch Christine!" rief Chris wütend zurück. Ihre Stimme hallte
durch den Korridor und war sicher in allen Büros zu hören, doch
das war ihr in diesem Moment gleichgültig.
"Bilde dir nicht ein, dass du einfach so davonrennen kannst!"
brüllte Luke. "Schließlich hast du einen Vertrag."
"Weißt du, was du mit deinem verdammten Vertrag machen
kannst?" Chris warf einen Blick über die Schulter und schlug in
Panik mit der Faust auf den Fahrstuhlknopf, als sie Luke auf
sich zukommen sah. Wenn er sie berührte, war sie verloren.
"Nun mach doch schon!" Endlich ertönte ein leises Klingeln,
und die Fahrstuhltür öffnete sich schwerfällig. Chris fiel fast in
den Lift und drückte fieberhaft auf den Knopf für das
Erdgeschoss. Sie sah nicht mehr, dass Luke sich umdrehte und
auf das Treppenhaus zu rannte.

Als die Tür sich endlich schloss, begannen Chris' Knie zu


zittern. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand der Kabine
und schlug sich die Hände vor das Gesicht, um die krampfhaften
Schluchzer zu unterdrücken, die sie zu zerreißen drohten.
Der Fahrstuhl hielt auf jedem Stockwerk, ohne dass jemand
zustieg. Irgend ein Witzbold hatte sich wohl einen Spaß machen
wollen und auf alle Knöpfe gedrückt. Chris war erleichtert, dass
sie allein in der Kabine blieb. So hatte sie ein wenig Zeit, sich
wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es kam ihr wie eine
Ewigkeit vor, bis der Lift endlich das Erdgeschoss erreichte und
die Tür sich mit einem leisen Seufzen öffnete.
Doch zu Chris' Entsetzen stand Luke vor ihr und versperrte
ihr den Weg. Er war erhitzt und völlig außer Atem. Hinter ihm
sah sie mehrere Leute, die auf den Fahrstuhl warteten.
Chris versuchte sich an Luke vo rbeizudrängen, doch er
packte sie am Arm und schob sie in den Fahrstuhl zurück, wo er
sie gegen die Wand drückte und heftig küsste. Sie versuchte,
sich zu wehren, und trommelte mit den Fäusten gegen seine
Brust, doch er war zu stark für sie. Ohne auf ihren Widerstand
zu achten, umfasste er ihr Gesicht und küsste sie verlangend,
beinahe fieberhaft. Seine Küsse entzündeten bei ihr erneut die
Flamme der Leidenschaft. Ihre Gegenwehr begann zu erlahmen.
Zorn und Bitterkeit verschwanden, und die absolute Gewisshe it,
ihn zu lieben, überwältigte sie.
Luke schien ihre Veränderung zu spüren, denn er gab ihr
Gesicht frei und ließ die Hände an ihrem Rücken abwärtsgleiten,
um sie noch enger an sich zu pressen. Und Chris legte ihm die
Arme um den Nacken und erwiderte seine Küsse. Sie hatten
kein einziges Wort gesprochen, und dennoch wusste sie, dass
alles gesagt und verstanden und vergeben war.
Schließlich hob Luke den Kopf. "Lass uns wieder nach oben
fahren" , sagte er. Als er sich umdrehte, um auf den Knopf für
den vierten Stock zu drücken, sah er sich einer interessierten
Zuschauermenge gegenüber, die sich vor den Fahrstuhltüren
drängte.
"Sie werden wohl warten müssen", erklärte er und zog Chris
wieder in seine Arme. "Der Fahrstuhl ist schon besetzt."
Vor den Büros in der vierten Etage standen Lukes Angestellte
in kleinen Grüppchen zusammen, um über die vorhin erlebte
Szene zu diskutieren. Als Luke und Chris aus dem Lift stiegen,
breitete sich peinliches Schweigen aus. "Warum sind Sie nicht
bei der Arbeit?" erkundigte Luke sich. "Ich bezahle Sie
schließlich nicht dafür, den ganzen Tag herumzustehen und zu
klatschen!"
Die Angestellten verschwanden auf der Stelle in ihren Büros.
Chris konnte sich ihre hochgezogenen Augenbrauen gut
vorstellen, während Luke sie so schnell hinter sich her in sein
Büro zog, dass sie laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten.
"Also was soll das eigentlich heißen, so einfach
davonzurennen?"
"Und was soll das heißen, mich einfach so in dein Büro zu
zerren?" fragte Chris. Sie war völlig aus dem Gleichgewicht und
nicht sicher, ob sie glücklich oder beleidigt sein sollte.
Luke sah ihr in die Augen, ergriff ihre Hände und hielt sie
fest in seinen. "Es soll heißen, dass es mir leid tut", sagte er
einfach. "Es soll heißen, dass ich dich liebe. Und es soll heißen,
dass ich dich nie wieder gehen lassen werde. Ist das deutlich
genug?"
Chris war die Kehle wie zugeschnürt. Sie konnte nur nicken,
und in ihren Augen tanzten goldene Fünkchen der Erleichterung.
"Es tut mir wirklich leid, Chris", fuhr Luke ernst fo rt. "Als
ich dich zum Fahrstuhl laufen sah, merkte ich plötzlich, was für
ein Narr ich gewesen bin und dass ich es mir niemals verzeihen
könnte, wenn ich dich einfach so hätte gehen lassen. Noch nie in
meinem Leben bin ich so schnell gerannt wie vorhin die
Treppen hinunter. Ich hatte furchtbare Angst, dass du
verschwunden bist, wenn ich unten ankomme, und so drückte
ich in jedem Stockwerk auf den Fahrstuhlknopf, um dich
aufzuhalten. Ich habe es gerade noch rechtzeitig nach unten
geschafft."
Er zögerte. "Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich mich
vorhin so aufgeregt habe. Nach gestern nacht wusste ich, was
ich schon seit einiger Zeit geahnt hatte - dass du die einzige Frau
für mich bist. Es war nur so ein Schock, als ich herausfand, dass
du eine ganz andere
bist."
"Mir tut es auch leid", sagte Chris. "Ich hätte es dir schon
längst erzählen sollen, aber ich hatte solche Angst, alles zu
verderben. Ich wollte, dass du mich als die Frau siehst, die ich
jetzt bin, nicht als das Mädchen, das ich war. Ich dachte, du
wolltest nicht daran erinnert werden, dieses nichtssagende
Mädchen damals geküsst zu haben."
"Das wollte ich auch nicht, aber aus einem ganz anderen
Grund", erwiderte Luke nachdenklich. "Ich habe mir oft
gewünscht, damals meinen Ärger über Helen nicht an dir
ausgelassen zu haben. Es fiel mir schwer, den Blick zu
vergessen, mit dem du mich ansahst, als ich dich wegschickte.
Wenn ich in den folgenden Jahren etwas tat, was sich nicht mit
meinem Gewissen vereinbaren ließ, sah ich immer dein Gesicht
vor mir."
Chris lächelte. "Ich bin froh, dass du dich an mich erinnerst.
Das war mein erster Kuss, Luke. Noch niemals hatte mich
jemand so geküsst. Ich glaube, seitdem war ich immer in dich
verliebt."
"Und, liebst du mich jetzt auch noch, obwohl ich dich so oft
angebrüllt und tyrannisiert habe?"
"Mehr als jemals zuvor", sagte sie. Als Luke sie an sich zog
und ihre Lippen suchte, erwiderte sie seinen Kuss
leidenschaftlich, in dem großen Glücksgefühl, dass alles in
Ordnung kommen würde.
"Luke?" fragte Chris später. Sie saß auf seinem Schoss in
dem tiefen, weichen Ledersessel, in den sie sich bei ihrem
Vorstellungsgespräch nicht hatte setzen wollen. Ihr Kopf lag an
seiner Brust. "Warum hast du dich wieder mit Helen
eingelassen? Sie hatte dich so grausam behandelt."
Luke strich ihr mit einer solchen Zärtlichkeit übers Haar, dass
ihr Herz vor Glück zu zerspringen drohte. "Warum? Ich glaube,
ich hatte das unbestimmte Gefühl, es ihr heimzahlen zu müssen.
Sie ist nicht annähernd so kühl, wie sie alle glauben machen
möchte, und eigentlich wünscht sie sich nichts sehnlicher, als zu
heiraten. Ich muss zugeben, dass es mir eine Art diebisches
Vergnügen bereitete, sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen,
sie in mich verliebt zu machen und sie dann wegen einer
anderen sitzen zu lassen. Außerdem hattest du recht, ich war in
letzter Zeit wirklich ein wenig empfindlich, und Helen - nun, sie
ist sehr schön. Sie war gut für mein Image."
"Ich habe ihr geraten, sich hier nicht wieder sehen zu lassen,
solange ich deine Sekretärin bin", beichtete Chris,
"Ich weiß. Sie hat es mir gesagt. Als wir uns auf dem Flur
trafen, war sie außer sich vor Wut auf dich und hatte nichts
Eiligeres zu tun als mir zu erzählen, wer du seist. Ich glaube, sie
hatte gemerkt, wieviel du mir bedeutest, denn sie erzählte mir
auch, was sie dir über meine vorherigen Sekretärinnen gesägt
hatte - das war natürlich alles Unsinn. Es gab da nur eine
Sekretärin, die mir vor Augen geführt hat, dass ich mir mit
meinem Zynismus und meiner Zurückhaltung nur selbst etwas
vorgemacht habe."
"Und was geschah mit ihr?" erkundigte Chris sich
unschuldig.
"Oh, ich habe ihr gekündigt."
"Du hast - was?" Chris wollte sich erbost aufsetzen, doch
Luke hinderte sie daran. "Ich war der Meinung, dass sie mich im
Büro zu sehr von der Arbeit ablenkt. Anderswo könnte sie ihre
Talente sehr viel besser einsetzen."
Chris betrachtete ihn neugierig. "Und wo?"
"In meinem Haus und in meinem Herzen", sagte Luke und
zog sie fest in seine Arme. "Heirate mich, Chris", fuhr er fort,
und es klang flehend. Und dann, mit einem Lächeln, das ihr
einen Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ, fügte er hinzu:
"Bitte!"
Chris ließ den Kopf gegen seine Brust sinken und seufzte vor
Glück. "Wenn du mich schon so nett bittest - ja."
"Ja - was?" fragte Luke und versuchte, ein missbilligendes
Gesicht aufzusetzen.
"Ja - bitte."

-ENDE-

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