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Emily Hendrickson

Warum die Tränen, Mylady?


Die zierliche Miss Anne Haycroft kann ihre Tränen nicht
mehr zurückhalten, als sie einer Trauung beiwohnt. Braut
und Bräutigam sind eindeutig einander in Liebe zugetan,
doch auf Anne wartet ein ganz anderes, furchtbares
Schicksal: Ihr Onkel will sie dem Mann, der am meisten
zahlt, zur Frau geben, um sich auf diese Weise seiner
Spielschulden zu entledigen. Vor Kummer und Erschöp-
fung schläft Anne in der Kirche ein – längst ist die
Zeremonie vorüber. Als sie erwacht, weiß sie nicht, ob sie
noch träumt, oder ob es wirklich alles passiert. Der
überaus attraktive Justin Fairfax, Earl of Rochford, hat sie
gerade stürmisch geküsst und hält jetzt zärtlich ihre
Hand…

REGENCY…
eine Zeit, in der Männer von Adel die Dame ihres Herzens galant
umwerben und schöne Frauen es genießen, umworben zu werden…
1. KAPITEL
Anne öffnete das schwere Kirchentor nur so weit, dass sie
in den kühlen Raum hineinschlüpfen konnte. Das durch die
Buntglasfenster einfallende Licht tauchte das Kirchenschiff
in verschiedene Farben und ließ es wie Anne fand – fröhlich
und anheimelnd erscheinen. Der Duft von Blumen mischte
sich mit dem etwas abgestandenen Geruch, der so typisch
für Räume ist, die die meiste Zeit leer stehen. Anne atmete
tief ein. Sie schätzte die Kirche als Zufluchtsort, genau wie
die Menschen vor langer Zeit das getan hatten.
Vor dem mit Blumen geschmückten Altar stand, das
Gesicht den versammelten Gästen zugewandt, der Bischof.
Erst betrachtete er das zu ihm aufschauende Brautpaar.
Seine volle Stimme erfüllte den Raum.
Anne runzelte die Stirn. Sie war zu spät gekommen, die
Trauungszeremonie hatte bereits begonnen. Die Lieder, die
zu hören sie gehofft hatte, waren bereits auf der Orgel
gespielt und von den Anwesenden gesungen worden.
Schade, dass sie ihrem Mädchen nicht eher hatte entkom-
men können! Unwillkürlich seufzte Anne auf. Sie hatte sich
gewünscht, nichts von dieser Zeremonie zu verpassen. Die
Hochzeit des jungen Paares galt als romantisches Ereignis,
angeblich war es eine echte Liebesheirat.
Zögernd blieb Anne stehen. Sie wollte nicht nach vorn zu
den anderen Menschen gehen, denn sie wollte niemandes
Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Suchend schaute sie sich
um. Hinten, nahe der Wand, standen ein paar Stühle. Sie
raffte ihren violetten Musselinrock, ging leise auf den
nächsten Stuhl zu und setzte sich. Hier im Schatten würde
kaum jemand sie bemerken. Und Dolly würde sie hier
gewiss nicht suchen.
Ihre Zofe Dolly war nur eine von vielen Unannehmlich-
keiten, die Anne das Leben bei ihrer Tante und ihrem
Onkel verleideten. Tante Winnefred selbst war eine
weitere Unannehmlichkeit. Am schlimmsten allerdings war
Onkel Cosmo. Dass er wirklich der Bruder ihres verstorbe-
nen Vaters war, konnte Anne kaum glauben.
Der Bischof verstummte, und eine andere männliche
Stimme erhob sich. Dann drang klar und süß eine weibliche
Stimme an Annes Ohr. Das Brautpaar legte sein Gelübde
ab.
Bald werde auch ich diese Worte sprechen müssen, dachte
Anne. Oder gibt es noch einen Weg, das zu vermeiden? O
Himmel, was soll ich nur tun? Unmöglich, dass ich diese
Worte voller Überzeugung wiederhole, wenn ich neben
einem Fremden stehe. Ich kann guten Gewissens verspre-
chen, meinen Gatten zu ehren, ihm zu gehorchen und in
guten und schlechten Tagen zu ihm zu stehen, auch wenn
ich keine Gelegenheit hatte, ihn vor der Ehe kennen zu
lernen. Aber lieben? Nein, lieben kann ich ihn ganz
bestimmt nicht!
Ihr Onkel hatte ihr erst vor kurzem mitgeteilt, dass er eine
Ehe für sie arrangieren würde. Sie selbst sollte keinerlei
Mitspracherecht bei der Auswahl ihres Gatten haben. Sie
wusste sehr gut, was das bedeutete: Onkel Cosmo würde
nur an seinen eigenen Vorteil, nicht aber an ihr Glück
denken.
Wie alle jungen Mädchen hatte Anne von der großen
Liebe geträumt. Da sie entschlossen war, auf »den Richti-
gen« zu warten, war es ihr einige Zeit lang gelungen, eine
Verlobung zu vermeiden. Nun jedoch war Onkel Cosmo
nicht länger bereit, sich zu gedulden. Er wollte seine Nichte
möglichst vorteilhaft verheiraten – vorteilhaft für ihn,
nicht für sie…
Eine Träne löste sich aus Annes Auge und rollte langsam
ihre Wange hinunter.
Tante Winnefred hatte angedeutet, dass es wichtige
Gründe gäbe, Anne nun recht schnell zu verehelichen. Um
welche Gründe es sich handelte, hatte allerdings niemand
erwähnt. Auch wer ihr zukünftiger Gatte werden sollte,
hatte man ihr nicht mitgeteilt. Anne fürchtete das
Schlimmste, denn ihr eigener Geschmack und der ihres
Onkels hätten nicht unterschiedlicher sein können.
Ihr Onkel Cosmo war ein Spieler. Er war selbstgerecht und
selbstsüchtig. Kaum jemals machte er sich Gedanken über
das Wohlergehen anderer. Sein Bekanntenkreis setzte sich
aus Menschen zusammen, die ihm ähnelten. Wie hätte er
unter diesen Männern einen rücksichtsvollen, freundlichen
Gatten für sie finden können?
Anne lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ihr
Strohhut wurde ein wenig zerdrückt, als er die kühle
steinerne Wand der Kirche berührte. Anne achtete nicht
darauf. Im Allgemeinen wählte Tante Winnefred ihre
Kleidung aus. Und nur selten gefiel ihr wirklich, was sie
tragen musste.
In den letzten Tagen waren viele neue Kleidungsstücke für
sie bestellt worden. Sie brauchte eine Aussteuer und ein
Hochzeitskleid. Doch selbst diese Dinge hatte sie nicht
selbst aussuchen dürfen. Tante Winnefred hatte entschie-
den. Sie hatte dabei nicht versäumt, immer wieder darauf
hinzuweisen, dass ihr Gatte nur das Beste für Anne wolle.
Eine Vernunftehe sei etwas Solides, denn sie würde in
erster Linie der praktischen Vorteile wegen geschlossen.
Eine so genannte Liebesheirat jedoch sei ein großes Risiko
und äußerst unvernünftig.
Anne war anderer Ansicht. Trotzdem fragte sie sich jetzt,
ob es dumm von ihr war, sich nach einer Verbindung aus
Liebe zu sehnen. Nun, sie zweifelte jedenfalls nicht daran,
dass ihr Papa ihr erlaubt hätte, sich ihren Gatten selber zu
wählen. Er hätte sie beraten, das bestimmt, aber niemals
hätte er ihre Wünsche vollkommen unberücksichtigt
gelassen, so wie Onkel Cosmo das tat.
Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte solche
Angst vor dem Ehemann, den ihr Onkel für sie ausgesucht
hatte! Wenn sie wenigstens wüsste, um wen es sich
handelte! Aber Onkel Cosmo hatte es noch nie für nötig
gehalten, sie in seine Pläne einzuweihen.
Sie wischte die Tränen von den Wangen und betrachtete
das junge Paar vor dem Altar. Die beiden sahen so
glücklich aus! Ihre Stimmen klangen so zuversichtlich. Ja,
die beiden waren einander gewiss von Herzen zugetan.
Eine Liebesheirat… So schön und romantisch…
Anne begann zu träumen. Sie malte sich aus, wie wun-
derbar ihre Zukunft an der Seite des richtigen Mannes sein
könnte. Langsam senkten sich ihre Lider. Ihr Atem wurde
gleichmäßiger. Und dann war sie eingeschlafen. Nächtelang
hatte sie keine Ruhe gefunden. Die Angst vor der Zukunft
hatte Anne wach gehalten. Jetzt aber, in der friedlichen
Kirche, hatte ihr übermüdeter Körper den Sieg über ihren
erregten Geist davongetragen. Anne hörte nicht, wie die
Hochzeitsgesellschaft an ihr vorbeischritt und auf die
Straße hinaus trat. Und niemand bemerkte die im Schatten
Schlummernde.
Ein Gentleman, der einer älteren Dame den Arm gereicht
hatte, ging besonders nah an der schlafenden Gestalt
vorbei. Es handelte sich um Justin Fairfax, Earl of Roch-
ford, der seine Tante zur Trauungszeremonie begleitet hatte.
Er half der alten Dame in die wartende Kutsche, die sie
zum Haus des Brautvaters bringen würde, wo ein festliches
Frühstück auf die Gäste wartete. Dann rief er aus: »Bei
Jupiter, ich muss meinen Stock in der Kirche vergessen
haben. Verzeih mir, Tante Mary, aber ich muss ihn holen.
Fahr einfach ohne mich. Offen gesagt, ich habe eigentlich
sowieso keine Zeit, an diesem Frühstück teilzunehmen. Ich
habe wichtige geschäftliche Dinge zu regeln.«
Lady Mary lächelte. »Ich weiß, dass du Katherines Mutter
nicht besonders schätzt«, meinte sie mit einem angedeute-
ten Schulterzucken. »Ich werde dich bei den Gastgebern
entschuldigen. Dass du an der Trauung teilgenommen hast,
muss genügen.«
Der Earl verabschiedete sich mit einer vollendeten
Verbeugung von seiner Lieblingstante. »Danke. Ich wüsste,
dass ich mich auf dich verlassen kann.« Damit wandte er
sich ab und begab sich zurück in die Kirche.
Mit raschen Schritten näherte er sich dem Platz, an dem er
den Spazierstock zurückgelassen hatte. Er bückte sich, hob
das wertvolle, mit Elfenbein verzierte Stück auf und machte
sich, langsamer nun, auf den Rückweg.
Er hatte das Portal fast erreicht, als er die Gestalt im
Schatten bemerkte. Leise trat er näher. Ein hübsches
Mädchen, soweit er sehen konnte, mit aschblondem Haar
und einer schmalen und doch weiblichen Figur. Ein
Lächeln huschte über sein Gesicht. Aus Erfahrung wusste
er, wie anstrengend die Saison in London sein konnte.
Wahrscheinlich hatte die junge Dame die Nacht durchge-
tanzt und war nun, beim Beobachten der Hochzeitszere-
monie, von Müdigkeit übermannt worden.
Zögernd trat Justin Fairfax, Earl of Rochford, noch einen
Schritt näher. Die Unbekannte hatte einen entzückenden
Mund mit wohlgeformten Lippen. Sie atmete tief und
regelmäßig, seufzte aber plötzlich auf und bewegte sich ein
wenig. Ihr Hütchen rutschte dabei zur Seite und gab nun
den Blick auf die herrliche Masse blonder Locken frei.
Lord Rochford, der eigentlich für seine Umsicht bekannt
war, fühlte den unvernünftigen Wunsch, diese Locken zu
berühren. Er streckte die Hand aus und ließ die Finger leicht
über das Haar des Mädchens gleiten. Dann nahm er auf
dem Stuhl neben der unbekannten Schönen Platz.
Irgendetwas an ihr zog ihn unwiderstehlich an.
Aufmerksam betrachtete er sie. Ihr Kleidung war von
bester Qualität, wenn der Stil auch nicht recht zu einem so
jungen Mädchen passen wollte. Zweifellos gehörte sie der
besten Gesellschaft an. Aber warum war sie dann allein?
Jungen Damen war es nicht erlaubt, unbegleitet auszuge-
hen. Irgendetwas schien hier nicht in Ordnung zu sein…
Einen Moment lang verspürte der Earl den Wunsch, das
Geheimnis zu lüften.
Er beugte sich zu Anne hinüber, um sich ihr Gesicht
einzuprägen. Dabei entdeckte er die Spuren von Tränen auf
ihren Wangen. Hatte sie während der Trauung vor
Rührung geweint? Oder bedrückten sie womöglich echte
Sorgen?
Eine Woge des Mitleids überschwemmte ihn. Er verspür-
te den drängenden Wunsch, dieses schöne Mädchen zu
trösten und vor allem Bösen zu beschützen. Alle Vernunft
außer Acht lassend, küsste er Anne die Tränen von den
Wangen.
Ihre Lider flatterten. Dann riss sie die Augen auf und
schaute ihn entsetzt an. Gleich würde sie schreien! Bei
Jupiter! Rasch – und ohne sich über seine Beweggründe
Rechenschaft abzulegen – presste der Earl of Rochford
seine Lippen auf die ihren. Er wusste, dass dies eine
zuverlässige Möglichkeit war, jede Frau zum Schweigen zu
bringen.
Anne wehrte sich nicht. Doch kaum gab der Earl ihren
Mund frei, als sie erneut zu einem Hilferuf ansetzte. Lord
Rochford legte ihr sanft einen Finger auf die Lippen. »Keine
Angst«, murmelte er beruhigend, »ich werde Ihnen nichts
tun.«
Tatsächlich machte sie nun keine Anstalten mehr zu
schreien. Der Blick ihrer blauen Augen allerdings hätte
nicht kälter und abweisender sein können. Ihre Stimme
verriet Zorn und Entrüstung, als Anne leise sagte: »Was
erlauben Sie sich? Ich hatte angenommen, in einer Kirche
würde ich sicher sein! Sie haben mich zu Tode er-
schreckt!«
Der Earl erwiderte ihren Blick. Gern hätte er ihr erklärt,
warum er sich so ungehörig benommen hatte. Aber er hatte
keine Erklärung für sein Verhalten. Nie zuvor hatte er
etwas Vergleichbares getan. Und er verstand wahrhaftig
nicht, was über ihn gekommen war. »Bitte, verzeihen Sie
mir«, sagte er also nur.
Anne schwieg.
»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht«, fuhr Lord
Rochford schließlich fort. »Sie haben geweint…«
Die junge Dame wandte den Blick ab und starrte auf ihre
in feinen Handschuhen steckenden Hände. Sollte sie dem
aufdringlichen Fremden eine Ohrfeige geben? Nein, er
blickte so mitfühlend und freundlich. Wie lange hatte
niemand mehr sie so angeschaut! Erneut füllten Annes
Augen sich mit Tränen.
Ihr Zorn über das Verhalten des Fremden verflog. Sicher,
er hatte sich aufdringlich benommen. Er hatte sie er-
schreckt. Und es war unverzeihlich, dass er sie geküsst
hatte. Aber er schien nichts Böses im Sinn zu haben. Seine
Kleidung, seine Sprache, seine Haltung, alles wies darauf
hin, dass er ein Gentleman war, auch wenn er sich vorhin
nicht so benommen hatte…
»Wie kommt es, dass wir uns nicht eher begegnet sind?«
fragte er jetzt.
Sie antwortete ihm mit kühler Höflichkeit. »Ich bin zwar
schon seit einigen Wochen in London, aber am gesell-
schaftlichen Leben habe ich nur gelegentlich teilgenom-
men.«
»Und Ihre Tränen?«
»Sie haben nichts mit dieser Hochzeit zu tun!« brach es
aus Anne heraus. Dann biss sie sich auf die Lippen. »Sir«,
sagte sie abweisend, »wollen Sie sich nicht vorstellen?«
Er deutete eine Verbeugung an. »Rochford.«
»Ich bin Miss Haycroft«, gab Anne sichtlich erleichtert
zurück. Seit sie sich in London aufhielt, hatte sie viel über
den Earl of Rochford gehört. Er war allgemein geachtet, und
jedermann hielt ihn für einen Gentleman, der keiner
Unehrenhaftigkeit fähig war. Zweifellos durfte sie sich in
seiner Gegenwart sicher fühlen.
»Ich kenne Ihren Onkel«, stellte der Earl fest.
»O bitte!« Anne senkte erneut den Blick. »Lassen Sie uns
nicht über diesen… Menschen sprechen.«
Lord Rochford schüttelte leicht den Kopf. Seine Stimme
klang mitfühlend, als er sagte: »Ich habe gehört, dass er sich
bemüht, eine vorteilhafte Ehe für Sie zu arrangieren.«
»Das hat er mir gegenüber auch behauptet. Wen er
allerdings als Gatten für mich auserwählt hat, weiß ich
nicht.« Während sie sprach, staunte Anne über sich selbst.
Normalerweise wäre es ihr nie in den Sinn gekommen,
irgendjemandem ihre Gedanken und Sorgen anzuvertrau-
en. Dem Earl jedoch war es innerhalb kürzester Zeit
gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen. »Mein Onkel hat mir
befohlen, ein Hochzeitskleid zu bestellen. Doch mit wem
ich vor den Altar treten soll, hat er mir bisher nicht
verraten. Wahrscheinlich steht noch nicht fest, wer bereit
ist, ihm die größte Summe für mich zu bieten.«
Sie schluckte. Bitterkeit erfüllte sie, und ein überwälti-
gendes Gefühl der Hilflosigkeit überschwemmte sie. Am
liebsten wäre sie vor ihrem Onkel und seinen Plänen bis
ans Ende der Welt geflohen. Aber es gab niemanden, der
sie aufgenommen hätte.
»Haben Sie wirklich keine Ahnung, wer Ihr Bräutigam
sein könnte?«
»Mehrere Herren haben mir in letzter Zeit ihre Aufmerk-
samkeit geschenkt. Ich weiß wirklich nicht, für welchen von
ihnen mein Onkel sich entscheiden wird.«
»Hm…« Der Earl kannte die meisten Mitglieder der
guten Gesellschaft, und er hatte bemerkt, dass Annes Onkel
in den vergangenen Tagen mit mehreren Herren intensive
Gespräche geführt hatte. War es dabei um die Zukunft der
jungen Dame gegangen? »Können Sie mir die Namen Ihrer
Verehrer nennen?« fragte er.
»Ja. Da ist zum einen Lord Bowlton. Er soll sehr reich sein.
Auch Lord Gower bemüht sich seit einiger Zeit um mich.
Onkel Cosmo allerdings meint, der beste meiner Verehrer
sei Lord Alington.« Anne erschauderte. »Immer, wenn wir
uns irgendwo treffen, schaut er mich mit einem Blick an,
der mir wirklich Angst macht. Er…« Sie unterbrach sich
und betrachtete nachdenklich Lord Rochfords Gesicht.
»Ich weiß wirklich nicht, warum ich Ihnen dies alles
erzähle.«
Er lächelte. »Sie spüren, dass ich auf Ihrer Seite stehe.
Übrigens, warum sind Sie hierher gekommen?«
»Ich wollte die Trauung sehen.«
»Und wo ist Ihre Zofe?«
»Dolly? Sie ist eigentlich die Zofe meiner Tante. Sie
bespitzelt mich. Heute ist es mir gelungen, sie mit einem
Auftrag fortzuschicken, so dass ich heimlich hierher
kommen konnte. O Himmel!« Mit einem ängstlichen
Ausdruck in den Augen schaute Anne sich um. »Dolly
sucht bestimmt schon nach mir.«
Lord Rochford beobachtete sie aufmerksam und mitlei-
dig. Er wusste nur zu gut, welch schreckliche Folgen eine
erzwungene Ehe haben konnte. Auch war ihm einiges über
Lord Alington bekannt. Dieses Wissen hatte ihn schon vor
längerer Zeit zu der Überzeugung gebracht, dass der Lord –
obwohl viele ihn für eine gute Partie hielten – keineswegs
einen geeigneten Gatten für eine unschuldige junge Dame
abgeben würde.
Justin Fairfax, Earl of Rochford, kam zu dem Schluss,
dass er Miss Haycroft helfen wolle. Nie zuvor hatte er das
Bedürfnis verspürt, sich in fremde Angelegenheiten zu
mischen. Doch Anne Haycroft war es gelungen, irgendet-
was in ihm anzurühren. »Ich werde sehen, was ich für Sie
tun kann«, versprach er.
»Und was können Sie tun?« gab Anne skeptisch zurück.
»Ich muss darüber nachdenken.« Zunächst einmal galt es
herauszufinden, ob die Dinge wirklich so lagen, wie die
junge Dame befürchtete. Vielleicht hatte ihr Onkel ja gar
nicht Lord Alington zu ihrem Gatten ausersehen. Vielleicht
war alles viel weniger dramatisch. Dann brauchte er, Justin,
nichts zu unternehmen – zumal jede Einmischung äußerst
unpassend war.
»Ich hätte Sie gar nicht mit meinen Sorgen belästigen
dürfen«, meinte Anne leise. »Wir kennen uns kaum und
ich…« Sie dachte an seine Küsse und daran, wie sehr diese
sie verwirrt hatten. Zögernd gestand sie sich ein, dass es ihr
gefallen hatte, geküsst zu werden. Ja, sie konnte nicht
leugnen, dass sie – so unerfahren sie auch war – das
Verlangen des Earls gespürt hatte und dass dadurch auch in
ihr Gefühle geweckt worden waren, die überaus ungehörig
waren. Am besten verdrängte sie diese Empfindungen
sofort!
Ohne auf Annes Worte einzugehen, erklärte Lord Roch-
ford: »Sie werden wohl vorerst zu Ihren Verwandten
zurückkehren müssen. Sobald Sie allerdings Genaueres
über die Pläne Ihres Onkels erfahren, müssen Sie eine
Entscheidung treffen. Wenn es Ihnen nötig erscheint,
können Sie mit mir Kontakt aufnehmen. Wir werden dann
gemeinsam überlegen, was zu tun ist.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, es ist doch denkbar, dass Ihr Onkel einen durchaus
akzeptablen Gatten für Sie gefunden hat.«
Annes Miene verriet, wie unwahrscheinlich ihr diese
Möglichkeit erschien. »Heute Abend«, überlegte sie laut,
»werden wir an Lady Chalfonts musikalischer Soiree
teilnehmen. Ich vermute, dass Lord Alington ebenfalls da
sein wird. Offenbar ist er ein Musikliebhaber.«
»Werden Sie selbst heute Abend auch spielen?«
Sie nickte.
»Gut, dann werde ich kommen.«
Anne schenkte ihm ein schwaches Lächeln und erhob
sich. Der Earl schien ihre Sorgen wirklich ernst zu nehmen,
und das beeindruckte sie zutiefst. Seit Jahren schon hatte
sich niemand mehr für ihre Probleme interessiert. Ihre
Verwandten dachten immer nur an sich selbst. Der Earl
hingegen hatte ihr seine Hilfe angeboten. Deshalb war sie
bereit – sagte sie sich selbst –, über sein ungebührliches
Benehmen hinwegzusehen. Er hätte sie nicht küssen dürfen.
Doch unter den gegebenen Umständen war sie entschlossen,
ihm zu verzeihen.
Inzwischen war Lord Rochford ebenfalls aufgestanden. Er
verbeugte sich vor Anne, ergriff dann ihre Hand und
hauchte einen KUSS darauf. Der Blick, den er ihr zum
Abschied schenkte, ließ sie erbeben. Sie fühlte sich entfernt
an die Art erinnert, mit der Lord Alington sie zu betrachten
pflegte. Und doch weckte die Aufmerksamkeit des einen
Herrn angenehme und die des anderen äußerst beängsti-
gende Gefühle in ihr…
Die Stimme des Earls riss sie aus ihren Gedanken. »Ich
werde Sie begleiten, bis Sie Ihre Zofe oder eine Droschke,
mit der Sie heimfahren können, gefunden haben. Sie sollten
nicht allein unterwegs sein.«
»Sie sind sehr freundlich. Aber ist es wirklich klug, die
Kirche gemeinsam zu verlassen? Wenn uns jemand sieht,
wird es gewiss merkwürdige Gerüchte geben.«
»Ich bin sicher, dass niemand uns Beachtung schenken
wird. Die Hochzeitsgäste sind längst fort. Und andere
Mitglieder der guten Gesellschaft halten sich um diese Zeit
bestimmt nicht in dieser Gegend auf.« Damit öffnete Lord
Rochford die Kirchentür und reichte Anne den Arm.
Sie trat einen Schritt zurück. »Da vorn ist Dolly«, flüsterte
sie.
»Ah, dann werde ich Sie allein hinausgehen lassen, Miss
Haycroft.« Erneut verbeugte der Earl sich vor ihr. »Wir
sehen uns heute Abend.«
Anne nickte. »Danke!« Sie schenkte ihm ein Lächeln,
ehe sie aus der dämmrigen Kirche hinaustrat auf den
sonnenüberfluteten Platz. »Dolly!« rief sie. »Hier bin ich!
Ich habe eine wunderschöne Hochzeit gesehen. Tante
Winnefred wird bestimmt daran interessiert sein zu
erfahren, wie das Brautpaar und die Gäste gekleidet waren.
Ach, der Bräutigam war ein so gut aussehender Mann! Und
die Braut sah so glücklich aus!«
Dollys Miene hellte sich auf. Offenbar hatte Anne den
richtigen Ton getroffen, um sie von ihrem Ärger abzulenken.
Die Zofe wollte alles über die Trauung wissen. Und
erleichtert gab Anne Auskunft.
Als sie schließlich das Haus der Haycrofts erreichten,
wartete Mrs.
Haycroft dort schon ungeduldig auf ihre Nichte. »Du bist
wirklich ein merkwürdiges Geschöpf, Anne«, meinte sie
vorwurfsvoll. »Ich merke sehr wohl, dass du die Bemü-
hungen deines Onkels nicht im Geringsten zu schätzen
weißt. Dabei wäre jedes normale Mädchen glücklich, einen
guten Ehemann zu bekommen. Halb London wird dich um
deinen zukünftigen Gatten beneiden!«
»Und wer wird dieser Gatte sein?« gab Anne, mühsam
um Selbstbeherrschung ringend, zurück.
»Nun, entweder Lord Bowlton oder Lord Alington«,
erklärte Mrs. Haycroft zufrieden. »Stell dir nur vor: Du
wirst entweder Baroness oder sogar Viscountess!«
»Wie schön«, brachte Anne hervor. Damit war Lord
Rochfords Hoffnung, ihr Onkel könne einen akzeptablen
Ehemann für sie erwählt haben, widerlegt.
»Natürlich musst du bei der Trauung so auftreten, wie es
sich für eine Dame der Gesellschaft geziemt. Ah, du wirst
ein wunderschönes Hochzeitskleid tragen: Seide, viele
Spitzen und natürlich auch ein paar Rüschen. Wir müssen
unbedingt noch einmal mit der Schneiderin reden! Ich
denke…«
Anne hörte ihrer Tante nicht länger zu. Ein schweres
Gewicht schien auf ihrer Schulter zu lasten, und ihr Magen
hatte sich verkrampft. Lord Bowlton oder Lord Alington…
Schlimmer hätte es wirklich nicht kommen können!
»Hast du für deinen Auftritt heute Abend genug geübt?«
fragte Mrs. Haycroft jetzt. »Anne? Ich möchte wissen, ob
du noch Klavier üben musst!«
»Ja!« Sie nickte. Solange sie am Piano saß, würde ihre
Tante sie nicht mit unsinnigem Gerede belästigen. »Ich
sollte die Stücke besser noch einmal spielen.« Damit
verließ sie den Raum.
Einige Stunden später betrat Justin Fairfax, Earl of Roch-
ford, Lord Chalfonts elegantes Stadthaus. Er war unge-
wöhnlich nervös. Noch nie hatte er die Rolle eines Spions
gespielt, heute jedoch wollte er herausfinden, was Lord
Bowlton und Lord Alington zu Miss Haycroft hinzog.
Nun, was Lord Bowlton betraf, so ließ sich die Frage
wahrscheinlich recht leicht beantworten. Der Baron galt als
Lüstling, und Miss Haycroft verfügte über genau die
Eigenschaften, die Lord Bowlton schätzte: Sie war jung
und unerfahren, aber mit einer sinnlichen Ausstrahlung;
zudem war sie schlank mit wohlgerundeten weiblichen
Formen und einem hübschen Gesicht.
Viscount Alingtons Beweggründe waren schwieriger zu
erkennen.
Deshalb wollte Justin ihm die größere Aufmerksamkeit
widmen. Suchend schaute er sich nach ihm um.
Schließlich entdeckte er ihn in der Nähe der Tür des
Musikzimmers. Seine hoch gewachsene, ganz in Schwarz
und Weiß gekleidete Gestalt wirkte äußerst vornehm. Lord
Alington war ein geschätztes Mitglied der guten Gesell-
schaft. Und doch ging etwas Bedrohliches von ihm aus.
Als die Harfenistin ihren Vortrag beendete, begann Lord
Rochford, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Es
dauerte eine Weile, bis er den Viscount erreichte. »Guten
Abend«, grüßte er.
»Bei Jupiter, Rochford!« Lord Alington bemühte sich
nicht, seine Überraschung zu verbergen. »Was führt Sie
her? Ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals bei einer
musikalischen Soiree getroffen zu haben.«
»Ich habe gehört, dass heute Abend eine ganz besonders
talentierte junge Dame hier auftreten wird. Das wollte ich
mir nicht entgehen lassen.«
»Sie interessieren sich für die kleine Harfenistin?«
»Nein, nein. Es soll sich um eine Klavierspielerin han-
deln.«
»Ah, das muss Miss Haycroft sein. Sie wird als Nächste
spielen. Aber bei ihr werden Sie mit all Ihrem Charme
nichts erreichen können, Rochford. Der Onkel des Mäd-
chens hegt große Pläne für seine Nichte. Ich fürchte, Sie
verschwenden hier nur Ihre Zeit.« Lord Alington maß
Justin mit einem herablassenden Blick. »Bestimmt wollen
Sie nicht lange bleiben.«
»Oh, ich bleibe gewiss noch eine Weile. Schließlich bin ich
gerade erst gekommen. Und ich schätze Klaviermusik
wirklich. Haben wir da womöglich den gleichen Ge-
schmack?«
Lord Alington lachte spöttisch auf. »Wie Sie feststellen
werden, ist Miss Haycroft etwas ganz Besonderes. Sie ist
eine Schönheit, dazu gut erzogen und sehr talentiert. Sie
wird viel zur Verschönerung meines Heims beitragen.«
Ein kalter Schauer überlief Justin. Offenbar betrachtete
Lord Alington Anne Haycroft als ein wertvolles Schmuck-
stück, in dessen Besitz er sich bringen wollte. Der Viscount
war für seine Sammlung schöner Kostbarkeiten bekannt. Er
galt als geradezu fanatischer Sammler. Wie würde ein Mann
wie er sich Anne gegenüber verhalten, wenn sie älter
wurde und ihre jugendliche Schönheit verlor? Würde er sie
verstoßen, um sie durch eine jüngere, schönere Frau zu
ersetzen?
In diesem Moment beschloss Lord Rochford, alles in
seiner Macht Stehende zu unternehmen, um Anne Haycroft
vor einem solchen Schicksal zu bewahren. Er würde ihr
helfen, ihrem Onkel und seinen selbstsüchtigen Plänen zu
entkommen. Er war entschlossen, nicht zuzulassen, dass sie
Lord Alington würde heiraten müssen.
In diesem Augenblick betrat Anne die Bühne. Sie ver-
beugte sich vor dem Publikum und setzte sich dann, ohne
etwas zu sagen, ans Klavier. Nachdem sie ihren Rock glatt
gestrichen hatte, begann sie zu spielen.
Justin Fairfax, Earl of Rochford, hatte nichts gegen
Musik im Allgemeinen und nichts gegen Klaviermusik im
Besonderen. Bisher allerdings hatte er sich auch nicht
sonderlich für Musik interessiert. Das änderte sich in dem
Moment, da Anne die ersten Akkorde anschlug. Die
Melodie, die sie spielte, schien direkt vom Himmel zu
kommen. Justin hörte ihr hingerissen zu.
Irgendwann allerdings fiel sein Blick zufällig auf Lord
Alington. Der Viscount starrte Miss Haycroft so aufdring-
lich an, dass Justin sofort verstand, was Anne gemeint hatte,
als sie gesagt hatte, Alingtons Art würde ihr Angst machen.
Der Mann schien geradezu von Besitzgier besessen zu sein.
Schließlich verklang der letzte Ton, und Stille senkte
sich über den Raum. Die Anwesenden schienen noch so
sehr von der Schönheit der Musik gefangen zu sein, dass
sie zu keiner Regung fähig waren. Dann endlich begann
jemand zu klatschen. Applaus brandete auf. Anne erhob
sich, verbeugte sich und verließ das Podium.
»Sie werden jetzt verstehen, warum ich sie besitzen
muss«, bemerkte Lord Alington zu Justin gewandt.
»Nun, noch gehört sie Ihnen nicht«, gab dieser zurück.
»Sie wollen Sie für sich gewinnen, Rochford? Unmög-
lich! Ich habe bereits mit Miss Haycrofts Onkel gesprochen.
Er scheint durchaus bereit zu sein, mir seine Nichte zur
Gattin zu geben.«
»Tatsächlich?« Justins Stimme hatte einen leicht bedroh-
lichen Ton angenommen.
Lord Alington grinste. »Tatsächlich!« bestätigte er.
Justin zuckte die Schultern und wandte dem Viscount den
Rücken zu. Er wollte versuchen, Anne zu finden. Es gab
offensichtlich einiges zu besprechen.
Miss Haycroft hatte den Raum verlassen. Wo sollte er
nach ihr suchen? Da er kein Aufsehen erregen wollte,
konnte er nicht einfach nach ihr fragen. Nun, vielleicht
konnte er ihr irgendwie eine schriftliche Nachricht zukom-
men lassen. Papier, Tinte und Feder würde er von der
Gastgeberin erbitten können. Wenn er sich nicht täuschte,
hatte diese den Musiksalon eben verlassen.
Justin wollte Lady Chalfont folgen, doch in der Halle
hörte er, wie jemand leise seinen Namen rief. Als er sich
umschaute, entdeckte er Miss Haycroft, die hinter einer
großen Topfpflanze hervorschaute.
»Sie haben wunderbar gespielt«, erklärte er mit aufrichti-
ger Bewunderung. Dabei war ihm klar, dass er ihr mit
Worten nie würde vermitteln können, wie sehr ihr
Klavierspiel ihn berührt hatte.
»Danke«, gab sie bescheiden zurück. »Ich habe bemerkt,
dass Sie neben Lord Alington standen.«
Justin nickte und berichtete rasch, was er von dem Lord
erfahren hatte. »Ich traue diesem Menschen nicht«, schloss
er. »Bitte, sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.«
Anne schaute ihn aus tränenfeuchten Augen an. »O
Himmel, Onkel Cosmo wird mich verheiraten, ohne dass
ich eine Chance bekomme, mich gegen seine Pläne zu
wehren! Ich muss fort! Ich kann nicht länger im Haus
meiner Verwandten bleiben. Mindestens bis zum siebten
Juni muss ich mich verbergen. Dann werde ich volljährig,
und mein Onkel hat nicht mehr so viel Macht über mich.«
Lord Rochford überlegte nicht lange. »Miss Haycroft,
packen Sie noch heute zusammen, was Sie am dringendsten
benötigen. Morgen früh bei Sonnenaufgang werde ich Sie
abholen. Ich bringe Sie dann zu meiner Tante. Bei ihr
können Sie ein paar Tage wohnen. Ich werde mich darum
kümmern. Weiß Gott, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Da haben Sie Recht.« Anne schluckte. Dann reichte sie
dem Earl voller Dankbarkeit die Hand. »Ich hoffe, Sie
werden nie bereuen, dass Sie sich so für mich einsetzen. Ich
bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet.«
»Bis morgen also«, sagte Justin, ehe er sich unauffällig
wieder unter die Gäste im Musikzimmer mischte.
Anne hatte vor Aufregung kaum schlafen können. Und
sobald es dämmerte, zog sie sich an. Leise trat sie ans
Fenster. Verständlicherweise war sie nervös. Würde es ihr
gelingen, das Haus unbemerkt zu verlassen? Würde Lord
Rochford sein Versprechen halten? Würde seine Tante sie
wirklich aufnehmen? Es galt so viele Schwierigkeiten zu
überwinden. Man durfte auch nicht vergessen, dass die
Gesellschaft im Allgemeinen sehr streng über junge
Damen urteilte, die sich den Wünschen ihres Vormundes
widersetzen. Konnten ihre Pläne unter diesen Umständen
überhaupt Erfolg haben?
Sie seufzte tief auf. Immerhin sprach auch einiges zu
ihren Gunsten. Bald schon würde sie volljährig sein, und
dann hatte ihr Onkel kaum noch Macht über sie. Sicher,
gemeinsam mit einem zweiten Bevollmächtigten war er
auch dann noch der Verwalter ihres Vermögens. Aber
zumindest würde er sich nicht mehr in ihr Privatleben
einmischen dürfen.
Auch das Wetter schien auf ihrer Seite zu sein. Draußen
herrschte dichter Nebel. Wahrscheinlich würde niemand
sie bemerkten, wenn sie sich heimlich aus dem Haus
schlich und in die – hoffentlich! – bereits wartende
Kutsche stieg.
Anne warf einen Blick auf ihr Köfferchen. Bald würde es
an der Zeit sein, den Mantel anzuziehen, das Gepäck zu
nehmen und das Schlafzimmer zu verlassen. In ihren
flachen, weichen Schuhen wollte sie sich die Treppe
hinabschleichen, leise die Haustür öffnen und einfach
hinaustreten.
Wenn nur nichts schief ging! Ihr Herz klopfte vor Aufre-
gung zum Zerspringen. Dabei versuchte sie sich mit dem
Gedanken daran zu beruhigen, dass bisher alles nach Plan
verlaufen war. Die nötigsten Dinge einzupacken hatte sich
als überraschend einfach erwiesen. Dolly hatte ihr wie üblich
beim Auskleiden geholfen. Doch sobald Anne im Bett lag,
hatte die Zofe sich nicht mehr um sie gekümmert.
Niemand hatte bemerkt, dass sie nach kurzer Zeit wieder
aufgestanden war. Sie hatte einen Portemanteau aus der
hintersten Ecke des Schranks hervor geholt und diesen mit
ein paar Kleidungsstücken und verschiedenen Kleinigkeiten
gefüllt, die ihr unerlässlich für ihren Aufenthalt bei Lord
Rochfords Tante erschienen.
Jetzt war es so weit! Anne schaute sich noch einmal in
dem Zimmer um, das sie in den letzten Jahren bewohnt
hatte. Dann trat sie mit ihrem Köfferchen in der Hand auf
den Flur hinaus. Noch regte sich nichts im Haus. Vorsich-
tig machte sie sich auf den Weg zur Haustür. Eine
Treppenstufe knarrte, und Anne erstarrte. Hatte irgendje-
mand sie gehört? Nein, alles blieb ruhig. Sie atmete ein paar
Mal tief durch, ehe sie weiter schlich.
Endlich hatte sie die Haustür erreicht. Sie warf einen
Blick auf das Tischchen, das rechts neben der Tür stand
und auf dem im Allgemeinen der Hausschlüssel lag. Er war
nicht da!
Einen Moment lang setzte Annes Herzschlag aus. Sie war
ihrem Ziel so nah, und nun sollte ihr Plan scheitern, weil
der Schlüssel zur Haustür fehlte? O Himmel, irgendwo
musste er sein! Es war bestimmt nicht der Butler gewesen,
der ihn verlegt hatte. Ja, es konnte eigentlich nur Onkel
Cosmo gewesen sein. Wahrscheinlich war er erst weit nach
Mitternacht von einem seiner häufigen Besuche in einer
der Spielhöllen zurückgekehrt. Was mochte er mit dem
Schlüssel gemacht haben? Hoffentlich hatte er ihn nicht in
seine Manteltasche gesteckt!
Suchend schaute Anne sich um. In der Eingangshalle gab
es nicht viele Möbel. Da waren ein paar Stühle, die
Garderobe und eine kleine Kommode. Sie setzte ihr
Köfferchen ab und ging zu der Kommode. Der Schlüssel
war nicht da. Aber auf der Kommode stand eine Vase, in
der sich zurzeit keine Blumen befanden. Der Verzweiflung
nahe, griff Anne in die Vase. Sie spürte den Schlüssel sofort.
Die Erleichterung schlug wie eine Welle über ihr zusam-
men.
Wenig später war sie auf der Straße. Mit raschen Schritten
bog sie um die Ecke. Im dichten Nebel zeichneten sich die
Umrisse einer Kutsche ab. Gott sei Dank, Lord Rochford
hatte Wort gehalten!

2. KAPITEL
Justin Fairfax, Earl of Rochford, öffnete den Schlag und
half Anne beim Einsteigen.
»Sie ahnen ja nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen«,
erklärte die junge Dame. »Ich bin Ihnen so dankbar!«
Er lächelte. »Wir wollen keine Zeit verlieren.« Mit
seinem Spazierstock schlug er leicht gegen die vordere
Wand der Kutsche, und schon setzten die Pferde sich in
Bewegung. »Ich habe mir große Sorgen um Sie gemacht. Es
hätten so viele unerwartete Probleme auftreten können.
Doch nun kann Ihnen vorerst nichts mehr geschehen. Bei
meiner Tante sind Sie gut aufgehoben.«
»Ich hoffe nur«, gab Anne zurück, »dass uns niemand
beobachtet hat. Dolly, meine Zofe, schläft hoffentlich noch.
Ich habe ihr gestern etwas von Tante Winnefreds Tropfen
gegen Kopfschmerzen gegeben.«
Justins Augen blitzten amüsiert auf. »Wie haben Sie das
denn angestellt?«
»Es war ganz einfach. Dolly hat gejammert, dass sie sich
nicht wohl fühle. Sie war sogar richtig dankbar, als ich ihr
etwas von dem Mittel anbot. Es enthält Laudanum, deshalb
bin ich mir ziemlich sicher, dass Dolly heute nicht so früh
wach wird wie sonst.«
»Sehr gut!« lobte Justin. Er musterte die junge Dame, so
gut das im Dämmerlicht möglich war. Sie hatte ihm
gegenüber erwähnt, dass sie bald volljährig würde. Sie
musste also über zwanzig sein, dabei sah sie so jung und
frisch aus wie ein Mädchen, das gerade der Schule
entwachsen war. Anne Haycroft gefiel ihm. Und es war
nicht nur ihr hübsches Äußeres, das ihn beeindruckte. Er
mochte auch ihre weiche Stimme und ihre überaus
weibliche Ausstrahlung. Sie schien klug zu sein, und sie
verfügte über eine bewundernswerte Selbstbeherrschung.
Trotz der ungewöhnlichen Umstände wirkte sie ausgegli-
chen und ruhig.
Ob sie in der Nacht überhaupt hatte schlafen können? Und
wie war es ihr gelungen, sich ohne die Hilfe ihrer Zofe
anzukleiden? Justin wusste, dass es nahezu unmöglich war,
selbst all die Ösen und Knöpfchen zu schließen, durch die
sich die Kleidung einer eleganten Dame im Allgemeinen
auszeichnete.
»Gab es Probleme beim Packen und… Ankleiden?«
erkundigte er sich.
Anne warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Es gehörte
sich nicht, dass ein Gentleman eine Dame auf diese Dinge
ansprach. Trotzdem antwortete sie ihm höflich. »Beim
Packen bin ich nicht gestört worden. Und glücklicherweise
besitze ich ein Kleid, das vorn geknöpft wird.«
Justin räusperte sich. Er schämte sich ein wenig für seine
indiskrete Frage.
Miss Haycroft schien das zu verstehen. »Wir befinden
uns in einer merkwürdigen Situation, nicht wahr«, stellte
sie fest. »Wir sind weder Freunde noch Fremde. Unter den
gegebenen Umständen wollen wir nicht nur höflich
miteinander umgehen. Aber vertraut und zwanglos können
wir uns auch nicht benehmen…«
Er dachte an die Küsse, die er ihr gegeben hatte, erwähn-
te sie aber klugerweise nicht. Die Erinnerung daran hätte
ihr Verhältnis zueinander wahrscheinlich noch mehr
erschwert. Am besten würde es sein, über das zu reden, was
sie in den nächsten Stunden erwartete. »Ich habe gestern
noch mit meiner Tante gesprochen. Natürlich habe ich ihr
nur das Notwendigste erzählt. Sie müssen selbst entscheiden,
wie weit Sie Lady Mary ins Vertrauen ziehen wollen. Sie
freut sich jedenfalls darauf, Ihre Bekanntschaft zu ma-
chen.«
»Ihre Tante scheint eine sehr großherzige Frau zu sein.
Ich denke, ich werde ihr nichts verschweigen. Zum einen
hat sie, wenn sie mir Unterschlupfgewährt, ein Recht
darauf, alles zu erfahren. Zum anderen möchte ich nicht,
dass sie durch meinen Onkel oder dessen Bekannte Dinge
über mich hört – und womöglich glaubt –, die nicht der
Wahrheit entsprechen.«
Die Kutsche wurde langsamer, und Anne warf einen
neugierigen Blick aus dem Fenster.
»Lower Brook Street«, erklärte Lord Rochford. »Meine
Tante hat sich eine angenehme Wohngegend ausgesucht.
Sie führt übrigens ein reges gesellschaftliches Leben. Ihre
Gäste werden auch Ihnen gefallen.«
Vor einem eleganten Haus kamen die Pferde zum Stehen.
Justin erhob sich, öffnete den Schlag und half Anne beim
Aussteigen. Dann gab er dem Kutscher verschiedene
Anweisungen. Schließlich wandte er sich wieder der
geduldig wartenden Anne zu. »Kommen Sie! Tante Mary
ist wahrscheinlich noch nicht wach. Aber irgendjemand
kann Ihnen bestimmt schon einmal Ihr Zimmer zeigen,
während ich für uns beide ein kräftiges Frühstück bestelle.«
Gleich darauf fand Anne sich in einer geräumigen Ein-
gangshalle wieder, die mit Kirschbaummöbeln ausgestattet
war. Auf einem Tischchen entdeckte sie ein herrlich
gearbeitetes Silbertablett, auf dem einige Visitenkarten
lagen. Alles hier wirkte sehr vornehm, ganz anders als im
Haus ihres Onkels. Ein paar Sekunden lang fühlte sie sich
völlig verunsichert. Dann trat Lord Rochford, der sie kurz
allein gelassen hatte, wieder zu ihr.
»Bitte, legen Sie ab«, forderte er Anne auf. »Potter wird
dafür sorgen, dass Ihr Koffer gleich auf Ihr Zimmer
gebracht wird. Wir können unterdessen schon im Früh-
stückszimmer Platz nehmen. Angeblich warten dort schon
Muffins und Butter, Schinken und Eier sowie Tee und
Toast auf uns.«
Ein Dienstmädchen tauchte auf, knickste vor Anne und
nahm ihr Handschuhe, Hut und Mantel ab. Dann führte
Justin die junge Dame ins Frühstückszimmer.
Sie hatten gerade Platz genommen, als Potter, der Butler,
mit einem schwer beladenen Tablett erschien. Zu ihrem
Erstaunen stellte Anne fest, dass sie tatsächlich großen
Hunger verspürte. Sie bediente sich und biss mit gutem
Appetit in ein Muffin.
Irgendwann bemerkte sie, dass Lord Rochford sie beo-
bachtete. Fragend hob sie die Augenbrauen.
»Sie erstaunen mich schon wieder«, stellte er fest. »Noch
nie habe ich eine junge Dame gesehen, die mit solchem
Appetit isst. Wenn ich irgendwo zum Dinner eingeladen
bin, sitze ich stets mit Damen am Tisch, die von allem nur
kleine Bissen nehmen und erklären, sie könnten unmöglich
mehr essen. Trotzdem – das muss ich sagen – wirken die
meisten von ihnen recht wohl genährt.«
Anne lachte. »Es gibt tatsächlich Damen, die vor einer
Einladung zu Hause essen, damit sie im Hause der Gastge-
ber den Eindruck erwecken, mit sehr wenig auskommen zu
können. Das soll zum Beispiel potenzielle Ehemänner
beeindrucken.«
»Tatsächlich?« Justins Augen blitzten amüsiert.
»Ich habe übrigens auch eine Frage«, meinte Anne,
»beziehungsweise ein Problem.«
»Hoffentlich kann ich Ihnen bei dessen Lösung helfen!«
Anne seufzte auf. »Ich weiß nicht… Mein Problem ist
finanzieller Art. Mein Onkel hat mir nie größere Mengen
Geld zur Verfügung gestellt. Im Moment besitze ich
praktisch nichts. Aber gewiss werde ich zumindest eine
kleinere Summe benötigen.«
»Ich habe schon öfter gehört, dass Väter, Ehemänner
oder Vormünder den Frauen, die von ihnen abhängig sind,
nicht genug Geld zur Verfügung stellen, obwohl sie selbst
keinerlei Mangel leiden«, stellte Justin mit deutlicher
Entrüstung fest. »Bitte, verfügen Sie über mich! Wie kann
ich Ihnen helfen?«
Anne errötete. »Wäre es Ihnen möglich«, meinte sie
zögernd, »mit meinem Anwalt zu sprechen? Vielleicht
können Sie ihn davon überzeugen, dass ich etwas Geld
benötige.«
»Was passiert zurzeit, wenn Rechnungen für Sie zu
bezahlen sind?«
»So weit ich weiß, arbeitet bei der Bank jemand, der die
Rechnungen bezahlt und meinen Anwalt darüber infor-
miert, was für mich ausgegeben wurde. Mein Onkel
kümmert sich um alles.« Bitterkeit schlich sich in Annes
Stimme ein. »Solange mein Vater lebte, war ich über alle
uns betreffenden finanziellen Vorgänge informiert. Ich habe
sogar vieles für ihn erledigt. Nun aber, da es um meine
eigenen Angelegenheiten geht, habe ich plötzlich keinerlei
Rechte mehr und werde völlig im Dunkeln gelassen.«
»Offen gestanden, ich bin der Ansicht, dass man die
Fähigkeiten vieler Frauen unterschätzt.«
Anne zuckte die Schultern. »Ich hoffe, dass mein Anwalt
tun wird, worum Sie ihn bitten. Sonst weiß ich wirklich
nicht, wie es weitergehen soll… Mein Onkel wird zweifel-
los alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um mich
zu der von ihm geplanten Ehe zu zwingen.«
»Niemand darf Sie zwingen, Lord Bowlton oder gar Lord
Alington Ihr Jawort zu geben«, erklärte Justin. »Ich werde
Ihren Anwalt davon überzeugen, dass er Ihnen behilflich
sein muss. Und sollte mir das tatsächlich nicht gelingen, so
werde ich eine andere Lösung für Ihre Probleme finden.«
»Es tut mir so Leid, dass ich Ihnen solche Schwierigkeiten
bereite…«, murmelte Anne.
»Unsinn!« widersprach Justin. »Es ist mir ein Vergnügen,
Ihnen behilflich zu sein. Ich bin froh, dass Sie hier sind.«
»Man wird fragen, warum ich das Haus meiner Verwand-
ten verlassen habe. Welche Erklärung kann ich für meine
Entscheidung geben? Wahrscheinlich wird man mich für
undankbar und eigensinnig halten.«
Justin wusste, dass Miss Haycrofts Besorgnis nicht
unbegründet war. Gern hätte er ihre Ängste zerstreut, doch
ehe ihm etwas einfiel, das er der jungen Dame zur Beruhi-
gung sagen konnte, segelte seine Tante in den Raum.
»Ah«, rief sie aus, »da ist ja mein geheimnisvoller Gast.
Guten Morgen, Miss Haycroft, guten Morgen, Justin.«
Ihr Neffe erhob sich, um ihr einen KUSS auf die Wange zu
geben. »Guten Morgen, liebste Tante. Ich hoffe, du hast
gut geschlafen. Wie du siehst, haben wir bereits mit dem
Frühstück begonnen. Wir sind übrigens beide sehr dankbar
für deine Hilfe.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihre Großzügigkeit
danken soll, Lady Mary«, fiel Anne ein.
Die alte Dame lachte. »Sie könnten mir erzählen, was Sie
zu mir geführt hat. Justin hat bisher leider nur Andeutun-
gen gemacht. Und ich sterbe vor Neugier.«
Während Lady Mary sich ihrem Frühstück widmete,
berichtete Anne, warum sie sich entschieden hatte, das
Haus ihrer Verwandten zu verlassen. Dann fiel Justin ein,
um zu schildern, wie er Anne im Morgengrauen abgeholt
hatte.
Lady Mary hörte aufmerksam zu. Schließlich sagte sie:
»Es gibt wirklich nichts Lästigeres als ältere Verwandte,
die entschlossen sind, das Leben der jüngeren Familien-
mitglieder zu ruinieren. Weiß Gott, mit Lord Bowlton
oder Lord Alington verheiratet zu sein wäre wirklich
schrecklich für Sie, meine Liebe. Bowlton hat bereits zwei
Ehefrauen begraben, und man fragt sich natürlich, wie das
geschehen konnte. Und was Lord Alington betrifft… Nun,
darüber möchte ich jetzt nicht reden.«
»Ich glaube«, mischte Justin sich ein, »dass er Miss
Haycroft für ein Kunstwerk hält, das er seiner Sammlung
einverleiben möchte. An ihr als Person scheint er keinerlei
Interesse zu haben. Er sieht nur, dass sie eine Schönheit ist
und zudem hervorragend Klavier spielt. Er gilt, wie
jedermann weiß, als großer Musikliebhaber. Ich allerdings
denke, dass er ein Fanatiker, vielleicht sogar ein Verrückter
ist.«
»Oh…« Lady Mary runzelte die Stirn. »Natürlich müssen
wir Miss Haycroft helfen. Doch wie stellen wir das am
besten an?«
»Bitte, nennen Sie mich doch Anne, Madam.«
»Gern, meine Liebe. Und nun verraten Sie mir, welche
Pläne Sie für die Zukunft haben.«
Anne war sehr erleichtert darüber, dass Lady Mary sie
nicht nur freundlich aufgenommen hatte, sondern ihr
offenbar auch Vertrauen entgegenbrachte. Es gefiel ihr,
dass die alte Dame nicht sogleich Vorschläge machte, was
zu tun sein, sondern sie zunächst nach ihren Plänen fragte.
Also berichtete sie, ohne zu zögern, von ihren finanziellen
Problemen.
»Ein Gespräch mit Ihrem Anwalt ist sicher wichtig.
Trotzdem denke ich, dass wir alles vermeiden sollten, was
Ihren Verwandten die Möglichkeit eröffnet, Sie unter Druck
zu setzen. Das Geld könnte eine solche Möglichkeit sein.
Deshalb wäre es mir am liebsten, wenn Sie sich damit
einverstanden erklärten, zunächst in jeder Beziehung mein
Gast zu sein.«
»Sie sind wirklich sehr freundlich, Lady Mary. Trotzdem
kann ich Ihr großzügiges Angebot unmöglich annehmen.
Ich habe bei meiner Flucht fast nichts mitnehmen können.
Ich werde Kleider brauchen, Schuhe und verschiedene
Accessoires. Offen gestanden, das, was meine Tante für
mich ausgesucht hat, hat mir nie besonders gut gefallen.
Sie hat eine Vorliebe für Orangetöne, die mir einfach nicht
stehen. Deshalb liegt mir viel daran, mich neu einzuklei-
den.«
»Ist Madame Ciotilde Ihre Schneiderin? Hat sie nichts
gegen diese Farbwahl einzuwenden gehabt?«
»O doch. Aber gegen meine Tante konnte sie sich nicht
durchsetzen.«
»Ah…« Lady Mary nickte verständnisvoll. »Natürlich
werden Sie sich neu einkleiden, meine Liebe. Und wenn Sie
dabei keine Geschenke von mir einnehmen möchten, dann
werden wir einfach alle Ausgaben notieren. Später können
Sie dann Ihre Schulden bei mir zurückzahlen. Was,
glauben Sie, sollten wir als Erstes bei Madame Clotilde in
Auftrag geben?«
Ehe Anne antworten konnte, erhob sich Justin von seinem
Platz. »Tante Mary, Miss Haycroft, bitte, entschuldigen Sie
mich. Die Pflicht ruft. Übrigens«, lächelnd schaute er Anne
an, »ich werde natürlich die Ohren offen halten, ganz gleich
wohin ich komme. Vielleicht erfahre ich etwas Interessantes
über eine verschwundene Erbin.«
Auch Anne stand rasch auf. »Ich werde Sie zur Tür
begleiten, Lord Rochford. Es gibt da noch etwas, das ich mit
Ihnen besprechen möchte.«
»Tatsächlich?« neckte er sie, während er gemeinsam mit
ihr das Frühstückszimmer verließ.
Doch ihre Miene blieb ernst. »Bitte, informieren Sie mich
über alles, was Sie an Klatsch hören. Ich kann mich nur
dann gegen böse Zungen zur Wehr setzen, wenn ich weiß,
was über mich gesprochen wird.«
»Sie haben Recht.« Justin nickte. Dann öffnete er die
Haustür und trat auf die Treppe hinaus. Sich noch einmal zu
Anne umwendend meinte er: »Es ist Ihnen klar, dass
manches nicht gerade angenehm für Sie sein wird?«
»Natürlich.« Anne reichte ihm zum Abschied die Hand.
Er ergriff sie und zog sie an die Lippen, um einen KUSS
darauf zu hauchen. Dabei schaute er Anne tief in die
Augen.
»O Himmel!« entfuhr es ihr plötzlich.
»Was ist passiert?«
»Dort drüben geht Hortense Finch. Sie ist sehr neugierig
und…«
»… und viele halten sie für die schlimmste Klatschbase in
ganz London«, vollendete Justin den Satz. Nachdenklich
schaute er der sich entfernenden Gestalt nach. »Es ist zu
befürchten, dass sie uns beobachtet hat.«
Anne dachte an den liebevollen Ausdruck, den Justins
Augen angenommen hatten, als er sie vorhin angeschaut
hatte. Das konnte Miss Finch natürlich nicht bemerkt
haben. Ihr Erscheinen hatte allerdings diesen magischen
Augenblick nachhaltig gestört. Am liebsten hätte sie die
Dame ans Ende der .Welt verbannt. Stattdessen sagte sie:
»Ihre Tante wundert sich bestimmt schon über mein langes
Ausbleiben. Auf Wiedersehen, Lord Rochford.«
Justin verbeugte sich. »Auf Wiedersehen.«
Als Anne gleich darauf das Frühstückszimmer betrat,
bemerkte Lady Mary sofort, dass irgendetwas nicht in
Ordnung war. »Was ist geschehen, meine Liebe?«
»Hortense Finch hat gesehen, wie Lord Rochford sich von
mir verabschiedet hat.«
»Das könnte tatsächlich ein Problem darstellen. Ihr
gelingt es immer, aus einer Mücke einen Elefanten zu
machen. Wahrscheinlich reimt sie sich schon die verrück-
testen Geschichten zusammen. Doch damit werden wir uns
auseinander setzen, wenn es wirklich nötig wird. Vorerst gibt
es eine Menge anderer Dinge zu erledigen. Ihr Onkel wird
sehr böse über Ihre Flucht sein, Anne. Sie sollten sich
deshalb möglichst bald und möglichst oft mit mir in der
Öffentlichkeit zeigen. Ich bin nicht ohne Einfluss. Trotz-
dem sollten wir vorsichtig sein.«
Anne nickte. Sie kannte ihren Onkel gut genug, um zu
wissen, dass er alles daransetzen würde, sein Ziel zu
erreichen. Möglicherweise würde er nicht einmal vor einer
Entführung zurückschrecken.
Als habe sie Annes Gedanken gelesen, sagte Lady Mary
in diesem Moment: »Sie sollten das Haus auf keinen Fall
allein verlassen.«
»Ja«, stimmte Anne zu, »ich werde sehr vorsichtig sein.«
»Gut. Es ist wahrscheinlich in Ihrem Sinne, heute ein paar
Kleinigkeiten wie Häubchen und Handschuhe zu kaufen
und auch Madame Clotilde einen Besuch abzustatten? Ich
begleite Sie gern. Wir sollten übrigens die Gelegenheit
nutzen, Madame Clotilde zumindest teilweise in Ihre
Geschichte einzuweihen. Es wäre klug, sie auf unsere Seite
zu bringen. Alle Damen der guten Gesellschaft haben
früher oder später mit Madame Clotilde zu tun. Und
Madame könnte hier und da ein paar nützliche Andeutun-
gen über das schreckliche Schicksal machen, dem Sie
entflohen sind, liebe Anne.«
Die junge Dame nickte. »Danke, Lady Mary.« Dann
seufzte sie unwillkürlich auf. »Ich hoffe nur, dass wir Lord
Alington nicht begegnen.«
»Früher oder später werden wir ihn treffen. Ich möchte
Ihnen raten, mein Kind, ihn dann einfach nicht zu
beachten.«
»Sie meinen, ich soll ihn schneiden?«
»Allerdings. Oder fällt Ihnen das zu schwer?«
»Durchaus nicht«, erklärte Anne, obwohl sie innerlich
zitterte bei dem Gedanken, einen so einflussreichen
Gentleman wie Lord Alington zu kränken.
Einige Stunden später betrat Anne an der Seite Lady
Marys die Räume, in denen Madame Ciotilde ihre Kundin-
nen zu empfangen pflegte. Silbergraue Vorhänge schützen
die Anwesenden vor neugierigen Blicken, und zierliche
vergoldete Stühle standen für die Damen bereit.
Die Schneiderin begrüßte die Neuankömmlinge freund-
lich. Es war offensichtlich, dass sie Lady Mary große
Achtung entgegenbrachte. »Ihre Tante begleitet Sie heute
nicht?« wandte sie sich dann an Anne.
»Ah, Madame«, meinte Lady Mary in verschwörerischem
Ton, »Miss Haycroft ist eine Ausreißerin. Sie fürchtet,
gegen ihren Willen mit Lord Bowlton oder Lord Alington
verheiratet zu werden. Mein Neffe riet ihr, bei mir Zuflucht
zu suchen. Und ich war nur zu gern bereit, Miss Haycroft
Unterschlupf zu gewähren. Meiner Meinung nach muss sie
eine vernünftige junge Dame sein, wenn ihr vor einer Ehe
mit Lord Alington beziehungsweise Lord Bowlton graut.
Kennen Sie die Gerüchte, die über diese Herren in Umlauf
sind? Schockierend, nicht wahr?«
»Wahrhaftig schockierend«, bestätigte Madame Clotil-
de. Dann schenkte sie Anne einen wohlwollenden Blick.
»Ich hoffe, dass ich Sie nun so einkleiden kann, wie es
Ihrem Äußeren und Ihrem Wesen entspricht. Keine
orangefarbenen Modelle mehr, nicht wahr?«
»Nein, nicht einmal mehr orangefarbene Schleifchen.
Blau oder Violett steht mir viel besser. Und statt der vielen
Rüschen und Spitzen wünsche ich mir gemusterte Stoffe.«
Annes Augen leuchteten auf. »Ich freue mich so auf meine
neue Garderobe«, vertraute sie Lady Mary an. »Sie müssen
mir allerdings versprechen, dass Sie wirklich über alle
Ausgaben, die Sie meinetwegen tätigen, Buch führen.«
»Natürlich.« Lady Mary nickte Anne aufmunternd zu, ehe
sie sich wieder der Schneiderin zuwandte. »Können Sie
sich vorstellen, dass der Onkel dieser jungen Dame nicht
bereit ist, ihr auch nur die geringste Summe Geld zur
Verfügung zu stellen? Dabei hat sie von ihrem Vater ein
kleines Vermögen geerbt.«
»Unfassbar!« Madame Clotilde schüttelte erregt den
Kopf. Dann ließ sie den Blick noch einmal forschend auf
Anne ruhen. »Sie werden auch ein neues Abendkleid
brauchen, Miss Haycroft«, stellte sie fest. »Ich habe gerade
einen wunderschönen Seidenstoff hereinbekommen. Ich
bin sicher, dass er Ihnen zusagen wird.«
Tatsächlich war Anne mit allem einverstanden, was Lady
Mary und Madame Clotilde ihr vorschlugen. Jahre waren
vergangen, seit sie beim Einkaufen so viel Spaß gehabt
hatte. Als sie das Atelier der Schneiderin schließlich
verließen, führte Lady Mary ihren jungen Gast zu einer
Reihe weiterer Geschäfte. Hier gab es Schuhe, dort
hübsche Sonnenschirme und im nächsten Laden Hüte und
Häubchen. Anne war so begeistert von allem, dass sie eine
Zeit lang ihre Sorgen vergaß.
Es war niemand anders als Lord Alington, der ihr alle
ihre Probleme wieder ins Gedächtnis rief. Die beiden
Damen stießen auf den Gentleman, als sie aus dem
Geschäft der Hutmacherin traten. Lady Mary berührte
Anne leicht am Arm, eine zugleich ermutigende und
warnende Geste. Anne schenkte ihrer mütterlichen
Freundin ein etwas zittriges Lächeln, sah einfach durch
Lord Alington hindurch und sagte: »Ich glaube, da vorn
kommt schon Ihr Kutscher, um uns abzuholen, Mylady.«
»Ja, John ist immer sehr pünktlich«, gab Lady Mary
zurück und zog Anne an Lord Alington vorbei zum
Straßenrand.
Der Gentleman starrte den beiden Damen verwirrt nach.
Ein solches Benehmen hatte er noch nie erlebt. Er wusste
allerdings sehr wohl, dass er nichts dagegen unternehmen
konnte. Wenn eine Dame sich entschied, ihn zu übersehen,
dann verlangten die Anstandsregeln von ihm, diese Dame
nicht anzusprechen. Seiner Entrüstung über Annes
Verhalten machte er allerdings Luft, indem er murmelte:
»Wie ungehörig, sich so dem zukünftigen Ehemann
gegenüber zu benehmen!«
Anne war klar, dass sie sich Lord Alingtons Zorn zugezo-
gen hatte. Sie zweifelte nicht daran, dass er die nächste
Gelegenheit nutzen würde, ihrem Onkel von der Begeg-
nung zu berichten. O Himmel, Onkel Cosmo würde seine
Wut kaum zügeln können! Bestimmt würde er toben und ihr
mit allen möglichen Gemeinheiten drohen. Doch das
beunruhigte sie zu ihrem eigenen Erstaunen im Moment
überhaupt nicht. Sie empfand sogar ein regelrechtes
Hochgefühl, weil sie zum ersten Mal seit Jahren keine
Rücksicht auf Onkel Cosmo und Tante Winnefred hatte
nehmen müssen. Sie hatte es tatsächlich gewagt, den
verabscheuungswürdigen Lord Alington zu schneiden!
»Sie wissen, dass man Sie nicht zu einer Ehe mit Alington
zwingen kann?« fragte Lady Mary, als sie in der Kutsche
Platz genommen hatten. »Die Gesetze verlangen, dass jeder
der Ehepartner sich mit der Eheschließung einverstanden
erklärt. Noch vor dem Altar könnten Sie Nein sagen.
Trotzdem sollten Sie äußerst vorsichtig sein. Man hört immer
wieder Geschichten von jungen Damen, die unter Drogen
gesetzt wurden, damit sie sich nicht gegen eine uner-
wünschte Trauung zur Wehr setzen konnten. So etwas wird
Ihnen natürlich nicht zustoßen. Jedenfalls nicht, solange Sie
in meinem Haushalt leben. Ich werde schon auf Sie Acht
geben.«
Ein Schauer überlief Anne. Bei Lady Mary fühlte sie sich
sicher. Und dennoch… Die Vorstellung, man könne sie –
mit welchen Mitteln auch immer – zwingen, Lord Aling-
tons Gattin zu werden, bereitete ihr große Angst.
»Glücklicherweise«, fuhr Lady Mary in diesem Moment
fort, »hat Ihr Onkel so gut wie keine Macht über Sie,
solange Sie bei mir wohnen. Er wird es nicht wagen, mir zu
drohen, denn er weiß, dass ich über ausreichend Einfluss
verfüge, um ihm zu schaden. Und Sie könnte er nur unter
Druck setzen, wenn Sie finanziell auf ihn angewiesen
wären.«
Anne nickte. »Ich bin sehr froh, dass ich beim Tode
meines Vaters nicht mittellos zurückgeblieben bin.
Allerdings hat es auch Nachteile, als reiche Erbin zu gelten.
Man weiß nie, ob ein Gentleman einem wirklich zugetan ist
oder ob es ihm nur um das Geld geht. Manchmal denke
ich, dass die Angehörigen der unteren Schichten es
zumindest in einer Beziehung besser haben als wir: Sie
heiraten aus Liebe und nicht weil irgendwelche Vernunft-
gründe es angeraten erscheinen lassen.«
»Ich fürchte, Sie haben da eine etwas zu romantische
Vorstellung«, meinte Lady Mary. »In einem allerdings
muss ich Ihnen zustimmen: Wenn nicht beide Ehepartner
zufrieden mit der Eheschließung sind und das ist bei
arrangierten Verbindungen ja leider nur zu häufig der Fall –,
dann geschieht es immer wieder, dass es Streit, Entfremdung
und sogar Ehebruch gibt.«
Anne errötete. Sie war es nicht gewöhnt, dass man so offen
über solche Dinge sprach. Verunsichert wandte sie den
Blick von ihrer Gastgeberin ab und schaute aus dem
Fenster der Kutsche, bis diese kurz darauf vor Lady Marys
Stadthaus zum Stehen kam.
Mehrere Dienstboten eilten herbei, um die verschiedenen
Schachteln mit Einkäufen ins Haus zu tragen. Der Butler
nahm währenddessen den beiden Damen ihre Pelissen ab
und verkündete, dass ein Imbiss für sie bereitstehe.
Dankbar ließen Lady Mary und Anne sich an dem
ansprechend gedeckten Tisch nieder. Der Einkaufsbummel
hatte beide mehr ermüdet als erwartet.
Sie saßen noch beim Tee, als Justin den Raum betrat. Er
grüßte freundlich und erkundigte sich, wie der Tag
verlaufen sei.
»Ah«, rief Lady Mary aus, »wir haben schon einiges
erledigt. Anne hat bei Madame Clotilde mehrere Kleider in
Auftrag gegeben. Und wir haben auch eine Reihe kleinerer
Einkäufe getätigt. Dabei sind wir Lord Alington begegnet.«
»Wir haben ihn geschnitten«, fügte Anne an.
»Das wird er nicht einfach hinnehmen«, überlegte Justin
laut. »Er ist ein stolzer Mann.«
»Nicht nur das…« Lady Mary seufzte tief auf. »Wie du
heute Morgen erwähntest, lieber Neffe, scheint er ein
bisschen verrückt zu sein. Der Blick, mit dem er Miss
Haycroft maß, hat mir gar nicht gefallen.«
Schweigen senkte sich über den Raum. Und Anne sah
plötzlich so bedrückt aus, dass Justin beschloss, rasch das
Thema zu wechseln.
Doch ehe er dazu kam, erkundigte die junge Dame sich
danach, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. »Ich
habe leider den Eindruck«, erklärte sie, »dass auch Ihnen
einiges Unangenehmes zugestoßen ist. Sie wirken sehr
besorgt.«
»Das bin ich tatsächlich«, gestand Justin. »Allerdings hatte
ich gehofft, dass Sie das nicht bemerken würden. Anschei-
nend bin ich ein miserabler Schauspieler.«
»Bitte, berichten Sie uns, was geschehen ist!« drängte
Anne.
»Nun gut. Sie hätten es früher oder später sowieso
erfahren müssen. Hortense Finch hat bereits begonnen,
Lügengeschichten über uns zu verbreiten. Angeblich hat sie
beobachtet, wie ich mich mit einem leidenschaftlichen KUSS
von Ihnen verabschiedet habe. Sie ist der Meinung, dass
wir im Hause meiner Tante eine…« Er zögerte. »Also, sie
glaubt, dass wir eine Affäre miteinander haben.«
»O Himmel!« entfuhr es Lady Mary. »Ich habe diese Miss
Finch noch nie gemocht! Dauernd muss sie ihre Nase in die
Angelegenheiten anderer Leute stecken. Wenn sie doch nur
eine eigene Familie hätte, mit der sie sich beschäftigen
könnte! Dann müsste sie nicht ständig Geschichten
erfinden, die jeder Grundlage entbehren.«
»Diese Geschichte entbehrt wirklich jeder Grundlage!«
stellte Anne entrüstet fest.
»Nun ja«, wandte Justin ein, »sie wird gesehen haben, wie
ich Ihnen die Hand geküsst habe.«
Lady Mary runzelte die Stirn. »Wir müssen einen Weg
finden, diese böse Frau zum Schweigen zu bringen.«
»Du hältst sie für böse?« meinte Justin verwundert. »Ich
habe sie immer für verschroben, aber nicht für boshaft
gehalten.«
»Mein lieber Junge«, erklärte Lady Mary mit vor Erregung
leicht erhobener Stimme, »du machst dir offenbar keine
Vorstellung davon, wie viel Unheil diese Frau schon
angerichtet hat. Jeder weiß, dass sie eine Klatschbase ist.
Aber jeder nimmt auch an, dass ihren Geschichten etwas
Wahres zu Grunde liegt. Sie könnte Anne und auch dir
wirklich sehr schaden. Wir müssen etwas unternehmen!
Wie können wir die Mitglieder der guten Gesellschaft
davon überzeugen, dass du keine Affäre mit Miss
Haycroft hast?«
Ein paar Minuten lang machte jeder im Raum sich Gedan-
ken darüber. Dann erklärte Justin: »Ich habe eine Idee. Wir
sollten dafür sorgen, dass Miss Haycroft in Gesellschaft
von verschiedenen anderen Verehrern gesehen wird. Das
wird die Gedanken der Leute von mir ablenken.«
»Hm…« Lady Mary blickte zweifelnd drein. »Meinst du
wirklich, das könnte klappen?«
»Allerdings.« Justin nickte bestätigend. »Wenn mehrere
Gentlemen sich um Miss Haycroft bemühen und wenn sie
mit jedem von ihnen ein bisschen flirtet, dann wird niemand
mehr glauben, dass etwas Besonderes zwischen ihr und mir
vorgefallen ist. Ich könnte Sidney fragen, ob er sich als
Verehrer zur Verfügung stellt. Er ist mir noch einen
Gefallen schuldig.«
»Du hast also wieder einmal seine Schulden bezahlt?«
Lady Mary sah ihren Neffen vorwurfsvoll an. »Er wird nie
lernen, die Verantwortung für seinen Taten selber zu tragen,
wenn du ihm stets zu Hilfe kommst, sobald er in Schwierig-
keiten steckt.«
»Du weißt selbst, dass Sidney eigentlich ein lieber Kerl ist.
Dass er sich in seinem Alter manchmal unvernünftig
benimmt, finde ich ganz normal. Natürlich spielt er,
schließt verrückte Wetten ab und nimmt an unsinnigen
Pferderennen oder Boxkämpfen teil. Er möchte eben
hinter seinen Freunden nicht zurückstehen. Zudem ist
Oxford ein teures Pflaster.«
Anne, die aufmerksam zugehört hatte, fragte sich, ob sie
vielleicht doch übereilt gehandelt hatte, als sie ihr Vertrauen
in Lord Rochford gesetzt hatte. Im Moment schien er ihr
keineswegs so vernünftig und zuverlässig zu sein, wie sie
zunächst angenommen hatte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Plan funktio-
niert«, stellte sie jetzt fest.
»Und warum nicht?« verlangte er zu wissen.
»Weil ich nur sehr wenige Gentlemen kenne. Onkel
Cosmo und Tante Winnefred haben darauf geachtet, dass
ich nur selten an Gesellschaften teilgenommen habe. Und
sie haben mich nur jenen Herren vorgestellt, die sie selbst
für passend hielten, das heißt, die Gentlemen mussten einen
Titel und ein Vermögen haben.« Anne zuckte die Schul-
tern. »Deshalb sind Lord Bowlton und Lord Alington
beinahe die einzigen männlichen Bekannten, die ich habe.«
»Nun, wenn ich eine Tochter hätte, würde ich mir auch
wünschen, dass sie eine gute Partie macht«, verkündete
Lady Mary zu Annes Erstaunen. »Gegen einen Titel und ein
Vermögen ist nichts einzuwenden. Wohl aber gegen Lord
Bowlton und Lord Alington!«
»Gegen Sidney ist auch nichts einzuwenden«, ließ sich
jetzt Justin vernehmen. »Solange ich keinen Sohn habe, ist
er mein Erbe. Wenn er erst einmal bei Almack’s mit Miss
Haycroft getanzt hat, dann werden auch viele andere junge
Herren sie um einen Tanz bitten. Sie sind sehr hübsch, Miss
Haycroft. Sie werden keinen Mangel an Verehrern
haben!«
»Das stimmt!« Lady Mary nickte energisch. »Ich denke,
ich sollte Lady Sefton noch heute einen Besuch abstatten.
Sie muss Miss Haycroft eine Einladung verschaffen.«
»Glauben Sie, Lady Sefton würde einer jungen Dame
helfen, die sie nicht einmal kennt?« erkundigte Anne sich.
»Allerdings. Ich brauche ihr nur zu sagen, dass sie dann
damit rechnen kann, dass auch Justin erscheint. Sie hat mir
gegenüber schon mehrfach erwähnt, dass sie ihn gern öfter
bei Almack’s sehen würde. Er gilt als gute Partie, müssen
Sie wissen. Ah, ich sollte mich beeilen! Hoffen wir, dass
Lady Sefton daheim und guter Laune ist!«
»Soll ich dich begleiten?« fragte Justin.
Doch seine Tante schüttelte nur den Kopf. Dann eilte sie
zur Tür hinaus, und wenig später hörte Anne, wie sich vor
dem Haus eine Kutsche in Bewegung setzte.
Auch Lord Rochford hatte sich verabschiedet, und so
blieb Anne allein zurück. Unruhig ging sie im Salon auf und
ab. Ihre Zukunft erschien ihr plötzlich unsicherer als je
zuvor. Angst erfüllte sie, wenn sie an ihren Onkel und Lord
Alington dachte. Zudem belastete sie die Vorstellung, dass
sie in Lady Marys und Lord Rochfords Schuld stand. Wie
sollte sie den beiden je für ihre Freundlichkeit und
Hilfsbereitschaft danken?
Sie war sichtlich erleichtert, als Lady Mary kaum eine
Stunde später mit einem amüsierten Lächeln auf den
Lippen zurückkehrte. »Ich habe die Einladung!« verkünde-
te sie. »Bei Lady Sefton habe ich auch Mrs. Drummond-
Burrell angetroffen, und diese erklärte sogleich, dass sie eine
Verwandte von Ihnen sei. Das hätten Sie mir wirklich
sagen müssen, meine Liebe.«
»Oh…« Anne runzelte die Stirn. »Wir sind tatsächlich
entfernte Verwandte. Aber ich muss gestehen, dass mir das
völlig entfallen war. Meine Mutter ist schon so lange tot.
Und seitdem hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihrem Zweig
der Familie.«
»Nun, jedenfalls war es ein Leichtes, eine Einladung für
eine Verwandte der guten Mrs. Drummond-Burrell zu
erhalten«, stellte Lady Mary zufrieden fest. »Am Mittwoch
werden wir bei Almack’s sein!«

3. KAPITEL
Schon am frühen Mittwochnachmittag war Anne unge-
wöhnlich aufgeregt. Sie kannte diese merkwürdige Unruhe,
denn nervös war sie auch, wenn ihr ein Auftritt als Pianistin
bevorstand. Allerdings wusste sie, dass das Lampenfieber
verschwand, sobald sie den ersten Ton auf dem Klavier
anschlug. Doch was würde bei Almack’s geschehen? Dort
würde sie nicht Klavier spielen. Dort würde sie tanzen,
Konversation machen, mit ihrem Aussehen und ihren
Manieren bezaubern müssen. Es galt zu beweisen, dass sie
eine wohlerzogene junge Dame war. Kurz gesagt: Bei
Almack’s kam es hauptsächlich darauf an, dass sie einen
guten Eindruck auf einige der wichtigsten Mitglieder der
guten Gesellschaft machte.
Am Abend betrat sie das Ballhaus in Begleitung von Lady
Mary und Mr. Witherspoon. Dieser war, wie Anne
inzwischen erfahren hatte, ein alter Freund Lady Marys.
Die Dame hatte Anne anvertraut, dass sie einst angenom-
men hatte, Mr. Witherspoon würde um sie anhalten. Sie
hatte ihn sehr gemocht, auch wenn ihre leidenschaftliche
Zuneigung damals einem anderen galt. Ihre Eltern jedoch
hatten zu ihrem größtem Kummer einen anderen Gatten
für sie gewählt.
»Wie Sie sehen, meine Liebe«, sagte Lady Mary mit einem
tiefen Seufzer zu Anne, »begreife ich Ihr Dilemma sehr
wohl. Es muss entsetzlich sein, zu einer unerwünschten
Ehe gezwungen zu werden! Ich konnte damals meinen
eigenen Wunsch nicht durchsetzen. Doch immerhin gelang
es mir, mich erfolgreich gegen die Pläne meiner Eltern zu
wehren. So bin ich unvermählt geblieben…«
Der Mann ihrer Träume war anscheinend aus Lady Marys
Leben verschwunden. Und Mr. Witherspoon hatte nie
mehr mit ihr über seine Gefühle gesprochen. Aber er hatte
auch nie den Kontakt zu ihr abgebrochen. Stets war er ihr
ein treuer Freund geblieben. Schon seit vielen Jahren
begleitete er sie überallhin.
So kam es, dass Anne an diesem Abend an seinem
linken Arm den Ballsaal betrat, während an seiner rechten
Seite Lady Mary schritt. Sogleich wurde die kleine Gruppe
von Mrs. Drummond-Burrell erspäht und begrüßt.
Clementina Drummond-Burrell erklärte, es sei ihr eine
große Freude, ihre Cousine Anne endlich bei Almack’s
willkommen heißen zu können. Dann setzte sie leiser hinzu,
sie werde selbstverständlich alles tun, um ihr dabei
behilflich zu sein, einen passenden Gatten zu finden.
Einen Moment lang fühlte Anne, wie Zuversicht sie
erfüllte. Was hatte sie zu befürchten, wenn Mrs. Drum-
mond-Burrell und Lady Mary auf ihrer Seite waren und sie
zudem bald über ein kleines Vermögen verfugen würde,
durch das ihr Lebensunterhalt gesichert war? Dann
allerdings fielen ihr all die Schwierigkeiten ein, die es noch
zu überwinden gab, ehe sie 21 und damit volljährig wurde.
Selbst nach diesem Datum würde es nicht leicht sein, sich
gegen Onkel Cosmos Intrigen zu wehren.
Immerhin, so sagte sie sich, bot sich ihr nun die Gele-
genheit, eine Reihe junger Männer kennen zu lernen. Noch
musste sie ihren Traum von einer Liebesheirat nicht
begraben.
Der erste Gentleman, der an ihrer Seite auftauchte, war
Lord Rochford. Er führte sie auch zum ersten Tanz, einem
Menuett. Beinahe schüchtern schaute Anne zu ihm auf.
Und immer, wenn ihre Hände sich berührten, fielen ihr
wieder die Küsse ein, die er ihr in der Kirche gegeben hatte.
Tatsächlich hatte sie auch zwischenzeitlich oft an diese
Küsse denken müssen. Lord Rochford war ein attraktiver
Mann, der sie tief beeindruckt hatte. Kam es ihr deshalb so
vor, als würde die Wärme seiner Hände ihre Haut trotz der
feinen Handschuhe, die sie trug, fast verbrennen?
Bedauern erfüllte sie, als der Tanz endete. Gleichzeitig
allerdings war ihr klar, dass sie sich nicht zu lange in Lord
Rochfords Begleitung zeigen durfte. Schließlich ging es an
diesem Abend ja auch darum, Hortense Finchs Klatschge-
schichte zu widerlegen.
Der nächste Tanz war ein Kotillon. Lady Cowper eröff-
nete ihn gemeinsam mit Lord Palmerston. Anne wurde
von Mr. Metcalf auf die Tanzfläche begleitet, einem jungen
Mann, der zu Lady Marys Bekanntenkreis gehörte. Der
Gentleman war groß und schlank, sandfarbenes Haar fiel
ihm in die Stirn, und seine blauen Augen blickten ein
wenig abwesend. Er sieht aus wie ein Dichter, überlegte
Anne, die ihn sehr sympathisch fand.
Als er sie zu Lady Mary zurückbrachte, befand die Dame
sich in Gesellschaft ihres Neffen Justin und eines zweiten
jungen Gentleman, der Justin erstaunlich ähnlich sah.
»Miss Haycroft, ich möchte Ihnen meinen Cousin Sidney
Fairfax vorstellen«, meinte Lord Rochford lächelnd,
während die Wangen seines jungen Verwandten ein
auffälliges Rot annahmen. Offenbar war Sidney schüchtern.
Seine Verbeugung allerdings und die höflichen Worte, mit
denen er Anne begrüßte, ließen nichts zu wünschen übrig.
Sie nahm an, dass Sidney im gleichen Alter war wie sie
selbst. Trotzdem wirkte er in manchem noch recht
unsicher. Sie überlegte, ob das vielleicht daran lag, dass er
eine weniger strenge Erziehung genossen hatte als sie
selbst. Sie hatte sich oft über Tante Winnefreds Unerbitt-
lichkeit in Fragen des Benehmens und Auftretens geärgert.
Schließlich ging es ihrer Tante nur darum, sie zu einer
jungen Dame zu erziehen, die selbst die einflussreichsten
und vermögendsten Gentlemen beeindrucken würde. Annes
zukünftiger Gatte sollte finanzielle und gesellschaftliche
Vorteile für Onkel Cosmo und Tante Winnefred garantie-
ren. Ob sie selbst dabei glücklich war oder nicht, spielte
keine Rolle.
Das Orchester stimmte eine neue Melodie an; und Sidney
verbeugte sich vor Anne. »Darf ich um diesen Tanz
bitten?«
»Gern.« Er führte sie auf die Tanzfläche, und sie stellte
fest, dass er ein guter Tänzer war, wenn er sich auch mit
seinem älteren Cousin noch nicht messen konnte.
Tatsächlich wurde ihr im Laufe des Abends klar, dass es
fast niemanden gab, der genauso gut tanzte wie Lord
Rochford. Sie war ein wenig unzufrieden mit sich selbst,
weil sie alle Gentlemen, denen sie vorgestellt wurde, mit ihm
verglich. Sie wusste, dass Justin Fairfax, Earl of Rochford, sie
mochte. Sonst hätte er sich nicht bereit erklärt, ihr bei ihrer
Flucht zu helfen. Aber es war albern, sich einzubilden, dass
er ihr tiefere Gefühle entgegenbrachte. Deshalb wäre es viel
vernünftiger gewesen, sich auf die anderen Gentlemen zu
konzentrieren, statt immer wieder an ihn zu denken.
Sie ahnte nicht, dass es Justin kaum anders erging als
ihr. Auch er verglich alle anderen jungen Damen mit
Anne. Seiner Meinung nach konnte keine sich mit ihr
messen. Sie war eine hervorragende Tänzerin, und in ihrem
tief ausgeschnittenen Abendkleid aus blassrosa Seidenflor
sah sie einfach hinreißend aus. An ihren Ohrläppchen und
an ihrem Hals schimmerten Perlen. Anscheinend hatte sie
bei ihrer Flucht daran gedacht, ihren Schmuck mitzuneh-
men. Und das wiederum ließ darauf schließen, dass sie eine
sehr vernünftige, klar denkende junge Dame war.
Als Anne schließlich ein wenig erhitzt von der Tanzfläche
kam, schlug Justin ihr vor, ein Glas Limonade zu trinken.
»Die Getränke hier schmecken nicht besonders gut. Aber
immerhin sind sie kühl und erfrischend«, meinte er.
»Ich würde wirklich gern etwas trinken«, gab Anne zurück.
»Es ist sehr warm hier.«
»Im Nebenraum wird es kühler sein«, versprach Lord
Rochford. »Jeder weiß, dass das Büffet und die Getränke
hier von minderer Qualität sind. Deshalb halten sich nur
wenige Menschen im Speiseraum auf.«
Er hatte Recht. Zufrieden damit, etwas Ruhe zu finden,
ließ Anne sich auf einen der Stühle sinken und nippte an der
Limonade, die Justin für sie geholt hatte.
»Ha! Da bist du ja, du undankbares Ding!« sagte in
diesem Moment eine Stimme hinter ihr.
»Onkel Cosmo!« Anne fuhr herum, und Justin, der am
Büffet gestanden hatte, näherte sich mit großen Schritten.
»Was denkst du dir dabei, uns so zu behandeln, nach all
den Jahren, in denen wir dich ernährt und gekleidet
haben!«
»Was ich gegessen, getrunken und angezogen habe, ist
von meinem eigenen Geld bezahlt worden!« gab Anne
scheinbar unbeeindruckt vom Zorn ihres Onkels zurück.
»Trotzdem war ich dir und Tante Winnefred eine Last, wie
ich wohl weiß. Deshalb habe ich mich entschlossen, Lady
Marys freundliche Einladung anzunehmen. Sie ist wirklich
eine großzügige Gastgeberin. Und es freut mich besonders,
dass sie mir ermöglicht hat, heute meine Cousine Clemen-
tina Drummond-Burrell zu treffen, die mir sofort versichert
hat, dass sie mich unter ihre Fittiche nehmen will.«
Cosmo Haycrofts Gesicht hatte vor Zorn eine äußerst
ungesunde Farbe angenommen. »Du ver…!« Er unterdrück-
te einen Fluch und griff nach Annes Arm. »Komm
sofort…«
Der Satz blieb unvollendet, weil Lord Rochfords Hand
sich fest um Mr. Haycrofts Finger schloss. »Gewiss haben
Sie nichts dagegen einzuwenden, dass Ihre Nichte ein paar
Tage bei meiner Tante wohnt?« meinte Justin in sanftem
Ton. Seine Augen allerdings blitzten vor Entrüstung.
»Liebes Kind, nun habe ich dich endlich gefunden«, ließ
sich in diesem Moment Winnefred Haycroft vernehmen.
Ihre Stimme triefte vor falscher Herzlichkeit. »Wir haben
uns solche Sorgen um dich gemacht!«
»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, stellte Justin fest.
»Miss Haycroft ist bei meiner Tante, Lady Mary Croscom-
be, zu Gast. Ich kann Ihnen versichern, dass sie dort
bestens aufgehoben ist.«
»Lady Marys Stadtpalais befindet sich an der Lower
Brook Street«, ergänzte Anne, die nur zu gut wusste, womit
sie ihre Tante beeindrucken konnte. »Und stell dir nur vor,
Clementina Drummond-Burrell, die ja mit Mama verwandt
ist, hat versprochen, mich unter ihre Fittiche zu nehmen.«
Mrs. Haycroft schluckte. Ihr Gatte reichte ihr den Arm und
meinte mit einem letzten bösen Blick auf Anne: »Wir sehen
uns später noch!«
»Das war eine Drohung«, stellte Lord Rochford fest.
»Aber Sie brauchen keine Angst zu haben, Miss Haycroft.
Niemand kann Ihnen hier etwas anhaben.«
Anne schenkte ihm ein etwas unsicheres Lächeln. »Danke,
Lord Rochford. Wollen wir jetzt zu Lady Mary zurückkeh-
ren?«
Die alte Dame empfing sie gut gelaunt und aufgeregt wie
ein junges Mädchen. »Justin, Miss Haycroft, ich möchte
Ihnen einen alten Freund vorstellen.« Damit wandte sie
sich zu einem Gentleman um, der in ihrer Nähe gewartet
hatte. »Das ist Mr. Edmund Parker, der einige Jahre in
Kanada gelebt hat. Er ist nach England zurückgekommen,
um seine Verwandten zu besuchen und alte Bekanntschaf-
ten zu erneuern.« Ihre glänzenden Augen verrieten, wie
glücklich Lady Mary war, Mr. Parker nach all dieser Zeit
wieder zu sehen.
»Ich konnte gar nicht glauben, dass Lady Mary noch
unverheiratet ist«, vertraute Mr. Parker Lord Rochford an.
»Anscheinend sind die Männer in England alle blind.«
»Unsinn!« Lady Mary, die seine Worte gehört hatte, schlug
spielerisch mit dem Fächer nach Mr. Parker. Dabei errötete
sie wie eine Achtzehnjährige.
Justin schaute verwirrt von einem zum ändern. Schließlich
gab er Sidney ein Zeichen. Dieser gesellte sich sogleich zu
ihnen, und Justin nutzte die Gelegenheit sich zu entschuldi-
gen.
Erst bei einem der nächsten Tänze bot sich Anne die
Möglichkeit, noch einmal mit ihm zu sprechen. Es handelte
sich um einen Volkstanz, bei dem die Partner ständig
wechselten, und so sah sie sich plötzlich Lord Rochford
gegenüber.
»Meine Tante scheint sich sehr über dieses Wiedersehen
zu freuen«, stellte er fest.
»Ich denke«, vertraute Anne ihm an, »dass Lady Mary
diesem Gentleman einst sehr zugetan war. Sie erwähnte
mir gegenüber einen Herrn, der sehr zu ihrem Bedauern
verjähren aus ihrem Leben verschwand. Und nun kann ich
mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie mit Mr. Parker
flirtet. Mit Mr. Witherspoon hingegen geht sie so unge-
zwungen um wie mit einem Bruder.«
»Bei Jupiter!« Justin runzelte die Stirn. »Ich glaube fast,
Sie haben Recht! Meine Tante…« Er konnte nicht
weitersprechen, weil sie durch die Figuren des Tanzes
wieder getrennt wurden. Und als die Melodie schließlich
verklang, ergab sich keine Gelegenheit, das Gespräch
fortzusetzen. Etwas anderes zog Lord Rochfords Aufmerk-
samkeit auf sich: Lord Alington betrat den Ballsaal.
»Ich frage mich, ob er wohl wusste, dass Sie heute hier
sein würden«, meinte Justin zu Anne. »Wenn er Sie
anspricht, reagieren Sie am besten gar nicht. Wenn er Ihnen
allerdings einen Antrag macht, dann müssen Sie diesen in
aller Deutlichkeit ablehnen.«
Anne nickte.
Wenig später trat Lord Alington zu ihr. »Miss Haycroft,
darf ich Sie um den nächsten Tanz bitten?«
»Das ist leider unmöglich«, mischte Lord Rochford sich
ein.
Ein kalter Schauer lief Anne den Rücken hinunter. Die
Spannung, die zwischen den beiden Gentlemen herrschte,
war beinahe mit der Hand zu greifen.
»Ich glaube nicht, dass Sie das Recht haben, Miss Hayc-
rofts Tanzpartner auszuwählen«, spottete Lord Alington,
wobei er Justin einen herablassenden Blick zuwarf.
»Meine Liebe«, ließ sich in diesem Moment Lady Mary
vernehmen, »ich hatte ja keine Ahnung, dass es schon so
spät ist. Wollen wir nach Hause fahren?«
Anne schaute die alte Dame dankbar an. »Gern, Mylady.
Das Tanzen hat mich ermüdet.«
»Darf ich Ihnen morgen meine Aufwartung machen,
Lady Mary?« erkundigte Mr. Parker sich. Auch er tat, als
sei Lord Alington gar nicht vorhanden.
»Natürlich. Ich freue mich darauf, Sie zu sehen!«
Edmund Parker lächelte. »Sie müssen mir dann unbe-
dingt erklären, warum Sie nicht geheiratet haben«, sagte er
leise.
Offenbar hatte Lady Mary eine Eroberung gemacht. Anne
freute sich für die alte Dame, obwohl sie Mr. Witherspoon
sympathischer fand als Mr. Parker.
Giles Witherspoon war offenbar ebenfalls nicht entgangen,
dass Lady Mary einen neuen Verehrer hatte. Mit einer
besitzergreifenden Geste legte er ihr die Hand auf den
Arm. »Ich werde Sie und Miss Haycroft nach Hause
begleiten, Lady Mary«, verkündete er.
Nachdem er den Damen in die Kutsche geholfen und den
Schlag geschlossen hatte, wandte Mr. Witherspoon sich an
Anne. Ein besorgter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Ich
fürchte, Sie haben sich einen nicht zu unterschätzenden
Feind gemacht, Miss Haycroft. Es ist nicht klug, Lord
Alington zu kränken. Meiner Meinung nach hätten Sie mit
ihm tanzen sollen.«
»Unmöglich, Mr. Witherspoon«, mischte Lady Mary
sich ein. »Der Mann verfolgt die arme Anne. Sie hätten
sehen sollen, wie er sie anstarrt! Sein Benehmen kann einem
geradezu Angst einjagen.«
»O wirklich?« Die Stimme des Gentleman verriet, dass
Lady Marys Worte ihn nicht überzeugt hatten. Und so
schilderte die Dame ihm, nachdem Anne ihre Zustimmung
gegeben hatte, was sich in den letzten Tagen zugetragen
hatte.
Jetzt nickte Mr. Witherspoon verständnisvoll. »Sie
können mit meiner Unterstützung rechnen, Miss Haycroft«,
versicherte er Anne.
Dann wandte das Gespräch sich anderen Themen zu, und
als die Kutsche schließlich in der Lower Brook Street zum
Stehen kann, verabschiedete Mr. Witherspoon sich freund-
lich von den beiden Damen. »Ich hoffe, Sie haben nichts
dagegen, dass ich Ihnen morgen einen Besuch abstatte«,
meinte er.
Anne unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. War es
möglich, dass Mr. Witherspoon die Konkurrenz des aus
Kanada zurückgekommenen Mr. Parker fürchtete? War er
vielleicht sogar eifersüchtig? Gern hätte Anne mehr über
Lady Marys Beziehung zu den beiden Herren erfahren.
Aber natürlich gehörte es sich nicht, danach zu fragen.
Tatsächlich jedoch ergab sich eher als erwartet eine
Gelegenheit, Informationen über Mr. Parker zu erhalten.
»Da das Essen bei Almack’s so schlecht ist, habe ich einen
kleinen Nachtimbiss für uns vorbereiten lassen«, erklärte
Lady Mary. »Justin wird auch gleich zu uns stoßen. Ich
habe ihn gebeten, seine eigene Kutsche zu nehmen, damit
man Sie und ihn nicht so oft zusammen sieht, liebe Anne.
Diese Vorsichtsmaßnahme erschien mir nach Miss Finchs
Klatschgeschichte unumgänglich.«
Gleich darauf traf Lord Rochford ein. Die drei begaben
sich zu einem späten Mahl ins Speisezimmer. Das Gespräch
drehte sich hauptsächlich um die jungen Herren, die Anne
bei Almack’s kennen gelernt hatte. Doch kurz ehe er
aufbrach, begann Justin seine Tante zu necken. »Mir
scheint«, meinte er, »du hast seit heute ebenfalls einen
neuen Verehrer.«
Lady Mary schüttelte den Kopf. »So neu ist er nicht.
Tatsächlich hat Edmund Parker um mich angehalten, als
ich ein junges Mädchen war. Aber ich will dich nicht mit
alten Geschichten langweilen.«
»Deine Geschichten haben mich noch nie gelangweilt«,
gab Justin zurück, ehe er sich mit einem KUSS auf die Wange
von seiner Tante verabschiedete. »Gute Nacht, liebe Tante.
Gute Nacht, Miss Haycroft.«
Doch weder Lady Mary noch Anne war nach Schlafen zu
Mute. Anne spürte, dass ihre mütterliche Freundin nur zu
gern noch etwas über alte Zeiten geplaudert hätte. Und so
erkundigte sie sich, was damals weiter geschehen war.
»Mein Vater«, berichtete Lady Mary mit einem tiefen
Seufzer, »war natürlich gegen eine Verbindung zwischen
Mr. Parker und mir. Edmund war nur ein jüngerer Sohn
ohne Titel und Vermögen. Ich vermute, dass mein Vater
ihm das in mehr als deutlichen Worten sagte. Jedenfalls
verließ Edmund Parker England kurz darauf. Ach, ich hätte
nicht erwartet, ihn jemals wieder zu sehen.«
»Er scheint in Kanada ein Vermögen gemacht zu haben«,
stellte Anne fest. »Jedenfalls war seine Kleidung modisch
und von bester Qualität.«
»Er hat mir gegenüber erwähnt, dass er in Kanada ein
reicher Mann geworden ist«, bestätigte Lady Mary.
»Wenn ich ihn recht verstanden habe, besitzt er große
Wälder und handelt mit Holz. Mein Vater wäre entsetzt,
wenn er das erführe. Bis zum letzten Atemzug hat er an
der Überzeugung festgehalten, dass ein Gentleman sich
niemals Handelsgeschäften widmen darf.«
»Aber Sie finden es nicht schlimm, wenn jemand sein
Geld im Handel macht?« erkundigte Anne sich.
Lady Mary schüttelte den Kopf, und ein wehmütiges
Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Sie haben Mr. Parker einst geliebt, nicht wahr«, meinte
Anne verständnisvoll. »Bedeutete er Ihnen so viel, dass Sie
sich seinetwegen den Wünschen Ihrer Eltern widersetzt
hätten?«
»Ich weiß es nicht. Er hat mich nie gefragt, ob ich auch
gegen den Willen meiner Eltern seine Frau werden wolle«,
gestand Lady Mary traurig»Vielleicht bittet er Sie jetzt
noch einmal um Ihre Hand«, überlegte Anne laut. »Und
nun kann niemand Ihnen irgendetwas verbieten.«
»Das ist wohl wahr. Andererseits halte ich es für durch-
aus möglich, dass er in Kanada verheiratet ist.«
»Das möchte ich bezweifeln. Es war offensichtlich, dass
er sehr an Ihnen interessiert ist.«
»Glauben Sie?« Lady Mary erhob sich und schritt zur
Tür. »Nun, morgen werden wir mehr erfahren. Ich freue
mich wirklich darauf, mich in aller Ruhe mit Mr. Parker
unterhalten zu können.«
»Ja, das kann ich mir denken«, stimmte Anne zu, obwohl
sie insgeheim bezweifelte, dass es ein ungestörtes Gespräch
geben würde. Hatte nicht auch Mr. Witherspoon seinen
Besuch angekündigt?
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen teilte Lady
Marys Butler Anne mit, dass Lord Rochford sie zu sehen
wünsche.
Der Gentleman wartete im Kleinen Salon. Als Anne
eintrat, erhob er sich und begrüßte sie mit einer vollendeten
Verbeugung. Dann wies er auf einen bequemen Stuhl.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Es gibt einiges zu besprechen.«
Ein wenig verunsichert setzte Anne sich. Sie hatte von
Lord Rochford geträumt. Doch es war kein angenehmer
Traum gewesen. Der Gentleman hatte aus irgendeinem
Grund, an den sie sich nicht erinnern konnte, heftig mit ihr
geschimpft. Im Traum war seine Miene finster gewesen.
Und tatsächlich schaute er auch jetzt ganz und gar nicht
fröhlich drein.
»Lord Alington ist ein Problem«, stellte er fest.
»Leider. Doch wie hätte ich das verhindern können? Ich
habe mich nie bemüht, seine Aufmerksamkeit auf mich zu
lenken. Im Gegenteil…«
»Niemand macht Sie verantwortlich«, erklärte Lord
Rochford ungeduldig. »Ich habe lediglich daraufhingewie-
sen, dass es ein Problem gibt. Und nun müssen wir
versuchen, es zu lösen.«
»Allerdings.«
»Ich denke, es wäre nicht schlecht, Ihnen einen Bräutigam
zu suchen.« Justin hatte sich erhoben und lief nun unruhig
im Raum auf und ab. Deshalb bemerkte er nicht, wie
fassungslos Anne ihn ansah. Schließlich wandelte ihr
Erstaunen sich in Zorn. Hatte sie ihrem Onkel die Stirn
geboten, nur um jetzt von einem anderen Mann bevor-
mundet zu werden? Es war wirklich ganz unglaublich!
»Haben Sie einen bestimmten Gentleman im Sinn?« fragte
sie kühl.
Er blieb stehen und musterte sie. »Merkwürdig«, sagte er
dann, »Ihre Worte sind höflich genug, aber Ihre Augen
sprechen eine andere Sprache.«
Anne kämpfte ihre Erregung nieder. »Ich bin ein höfli-
cher Mensch«, erklärte sie. »Aber ich bin auch eine Frau,
die ihren Verwandten den Rücken gekehrt hat, weil sie sich
bei einer der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens
nicht bevormunden lassen wollte. Und nun reden Sie fast
schon so wie mein Onkel!«
»Bei Jupiter!« Justin schaute verdutzt drein. »Sie haben
mich missverstanden. Ich habe keineswegs die Absicht, Sie
zu bevormunden. Seien Sie also bitte nicht so… schwie-
rig.«
Anne sprang auf. »Ich bin schwierig? O Himmel, es tut
mir Leid, dass ich Sie jemals mit meinen Problemen
belästigt habe! Bitte, kümmern Sie sich einfach nicht mehr
um mich!«
»Verflixt!« entfuhr es Justin. »Tun Sie mir einen Gefallen:
Bleiben Sie sitzen, und beruhigen Sie sich!«
Sie gehorchte.
»Danke.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Als ich
sagte, wir sollten Ihnen einen Bräutigam suchen, habe ich
nicht gemeint, dass Sie ihn auch heiraten müssen. Er
brauchte nicht einmal hier zu sein.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Also, ich dachte, wir könnten einen Verlobten für Sie
erfinden, irgendeinen Gentleman, der auf dem Lande lebt
und der sich damit einverstanden erklärt hat, dass sie eine
Saison in London genießen, ehe Sie seine Gattin werden.«
»Meine Tante weiß, dass es keinen Verlobten gibt«,
wandte Anne ein. »Und sie wird das auch aller Welt
erzählen. Schließlich waren all ihre Bemühungen – genau
wie die meines Onkels – darauf ausgerichtet, einen Ehe-
mann für mich zu finden, der ihr selbst zum Vorteil
gereicht. Dazu muss er mindestens zwei Bedingungen
erfüllen: Er muss reich sein, und er muss einen Titel
haben.«
»Sie hingegen wollen aus Liebe heiraten«, stellte Lord
Rochford schmunzelnd fest.
Erneut blitzten Annes Augen auf. »Allerdings. Leider
habe ich inzwischen den Eindruck gewonnen, dass das
ganz unmöglich ist.«
»Durchaus nicht. Einfach ist es allerdings nicht.« Justins
Ton wurde väterlich. »Sie müssen nämlich nicht nur einen
Gentleman kennen lernen, den sie lieben können. Er sollte
Ihre Liebe ja auch erwidern.«
Anne senkte den Blick. Schließlich erhob sie sich langsam
und trat ans Fenster. »Sie reden, als könnten Sie es sich
einfach nicht vorstellen, dass mich jemand…«, sie schluck-
te, »… dass jemand mich lieben könnte.«
»Miss Haycroft, bitte!« Er eilte zu ihr und zwang sie mit
sanfter Gewalt, sich zu ihm umzudrehen. »Verzeihen Sie
mir«, bat er. »Wie dumm und unüberlegt von mir, so mit
Ihnen zu reden. Sie sind eine sehr liebenswerte junge Dame.
Es geht nur darum, den Gentleman zu finden, der das
bemerkt und dessen Gefühle Sie erwidern können.«
Tränen traten Anne in die Augen. »Ja, natürlich«, mur-
melte sie. Dann bemerkte sie, wie weich Lord Rochfords
Blick geworden war.
»Ich bin sicher, dass der richtige Mann rasch erkennen
wird, wie schön, klug und liebenswert Sie sind«, erklärte
er.
In diesem Moment verzieh Anne ihm alles, was er vorher
gesagt hatte. Mit unerwartetem Humor meinte sie: »Viel-
leicht sollten wir eine Annonce aufgeben: Gentleman
gesucht, der bereit ist, einer schönen, klugen und liebenswer-
ten jungen Dame seine aufrichtige Zuneigung zu schen-
ken.«
Justin fuhr mit dem Finger sanft über Annes Wange.
»Sie sind ein Frechdachs.«
»Nein«, widersprach Anne, »ich benehme mich im
Allgemeinen genau so, wie es sich gehört. Ich arbeite hart
daran, meine Fertigkeiten am Piano zu vervollkommnen.
Ich bemühe mich, niemanden zu kränken. Ich bin zurück-
haltend und höflich. Sie allerdings, Mylord, stellen meine
Geduld und Selbstbeherrschung auf eine harte Probe.«
Lord Rochford reagierte nicht darauf, sondern kam auf
seinen ursprünglichen Vorschlag zurück. »Wir könnten
Ihren Verlobten Alphonse taufen.«
»Niemals!« Unwillkürlich brach Anne in Lachen aus.
»Nennen wir ihn lieber Cecil.«
»Cecil? Nun gut! Und sein Familienname?«
»Hm… Es muss ein Name sein, den meine Verwandten
nicht kennen.«
»Römer? Sie könnten sagen, dass Sie ihn nicht allzu oft
getroffen haben, dass sie sich aber sofort zu ihm hingezo-
gen fühlten. Da er Ihre Gefühle erwiderte, haben Sie sich
heimlich mit ihm verlobt.«
Mit gerunzelter Stirn dachte Anne nach. »Ich verspreche
mir nicht viel davon. Aber gut, einverstanden. Ich habe also
einen Bräutigam mit Namen Cecil Römer.«
»Das freut mich.« Justin nahm ihre Hände in die seinen
und schaute ihr tief in die Augen. Ein Schauer überlief sie,
und sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Rasch entzog
sie dem Earl ihre Finger.
In diesem Moment betrat Lady Mary den Raum. »Guten
Morgen«, grüßte sie gut gelaunt. »Was gibt es Neues?«
»Miss Haycroft hat sich verlobt«, verkündete Justin ernst.
»Verlobt? Mit einem der Gentlemen, die Sie gestern
kennen gelernt haben?« fragte Lady Mary erstaunt. »Das
ging ja schnell!«
Anne warf Lord Rochford einen verschwörerischen Blick
zu. »Mein Verlobter ist Cecil Romer. Sie kennen ihn nicht,
und ich habe ihn auch nur einige Male getroffen. Da wir uns
jedoch heftig zueinander hingezogen fühlten, haben wir uns
heimlich verlobt.«
Lady Mary hob die Augenbrauen. »Für mich hört sich
das nicht sehr überzeugend an.« Sie ließ den Blick von
Anne zu Justin und wieder zurück wandern. »Ich glaube
fast, Sie wollen mich auf den Arm nehmen, meine Liebe.«
»Und ich hatte gehofft, man würde uns diese Geschichte
glauben!« rief Anne aus. »Sie soll dazu dienen, Lord
Alington und Lord Bowlton von mir fern zu halten.«
»Vielleicht gelingt das sogar.« Lady Mary lächelte Anne
ermutigend zu. »Lord Bowlton wird seine Aufmerksamkeit
wahrscheinlich wirklich einer anderen Dame schenken,
wenn er den Eindruck erhält, Sie nicht gewinnen zu
können. Aber Lord Alington? Er bereitet mir ernsthafte
Sorgen. Und dann gibt es noch etwas zu bedenken: Was
wollen Sie tun, wenn Sie jemanden kennen lernen, an dem
Ihnen wirklich etwas liegt?«
»Dann verbreiten wir einfach, dass Miss Haycroft und
Cecil Romer übereingekommen sind, dass sie doch nicht
zueinander passen«, erklärte Justin. »Eine erfundene
Verlobung kann leicht gelöst werden, nicht wahr.«
»Ich weiß nicht…« Anne schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Mein Onkel wird bestimmt eine Menge unangenehmer
Fragen stellen.«
Am liebsten hätte Justin die junge Dame in die Arme
geschlossen, ihr beruhigend übers Haar gestrichen und ihr
versichert, dass alles gut werden würde. Sie sah mit einem
Mal so jung und verletzlich aus.
Arme Anne, dachte er, sie hat all diese Schwierigkeiten
nicht verdient; sie kann so bezaubernd sein, auch wenn sie
manchmal ein wenig dickköpfig ist.
»Mit Ihrem Onkel werden wir uns auseinander setzen,
wenn sich das als nötig erweist«, stellte Lady Mary fest. »Bis
dahin sollten Sie sich keine unnötigen Sorgen machen,
meine Liebe. Wir…«
Sie wurde durch den Buder unterbrochen, der die An-
kunft von Mr. Parker meldete.
Anne wollte sich zurückziehen, doch Lady Mary bat sie
zu bleiben. »Und du, Justin«, wandte sie sich an ihren
Neffen, »kannst du uns auch noch etwas Gesellschaft
leisten? Ich bin ein wenig nervös und würde es vorziehen,
nicht allein mit Mr. Parker zu sein.«
Ehe Lord Rochford etwas darauf erwidern konnte, betrat
Edmund Parker den Raum.
»Es war schön, Sie nach all diesen Jahren gesund wieder
zu sehen«, begrüßte Lady Mary ihn.
»Ich kann kaum glauben, dass so viel Zeit vergangen ist,
seit ich England verlassen habe«, gab er zurück. »Sie haben
sich seitdem kaum verändert. Ja, wenn überhaupt, dann
sind Sie noch schöner geworden.«
Sein Lächeln ist wirklich charmant, stellte Anne fest.
Dennoch gefiel ihr Mr. Witherspoon mit seiner weniger
überschwänglichen Art und seinem trockenen Humor
besser.
»Man kann die Vorzüge meiner Tante wirklich nicht
genug loben«, mischte sich nun Lord Rochford in das
Gespräch ein. »Sie ahnen ja nicht, wie oft sie mir mit Rat und
Tat zur Seite gestanden hat. Sie ist ein überaus hilfsbereiter
Mensch.«
»Ach, das war sie schon immer!« rief Mr. Parker aus.
Lady Mary errötete. Mit einem beinahe mädchenhaften
Lächeln forderte sie alle auf, Platz zu nehmen, und läutete
nach dem Butler, um Erfrischungen zu bestellen.
Gleichzeitig mit Tee, Sherry und Gebäck traf auch Mr.
Witherspoon ein. Nachdem er alle Anwesenden begrüßt
hatte, meinte er zu Mr. Parker: »Wie ich sehe, haben Sie
keine Minute verloren, um Lady Mary Ihre Aufwartung zu
machen. Könnte es sein, dass Kanada den Menschen das
Gefühl vermittelt, sie müssten sich bei all ihren Unterneh-
mungen beeilen? Ein alter Freund von mir ist kürzlich nach
Yorkshire zurückgekehrt, nachdem er einige Jahre in
Kanada verbracht hat. Auch er scheint immer in Eile zu
sein. Vielleicht kennen Sie ihn ja – obwohl mir das eher
unwahrscheinlich erscheint. Wie ich höre, ist Kanada sehr
groß.«
»Sehr groß und sehr grün«, gab Mr. Parker mit einem
leicht arroganten Lächeln zurück.
»Jetzt jedoch«, mischte Lady Mary sich ein, »sind wir
alle in London. Da würde es mich interessieren, Mr. Parker,
wie Sie Ihre Zeit verbringen möchten.«
»Ich bin fest entschlossen, einige Male ins Theater zu
gehen. Und natürlich möchte ich auch ein paar Gesellschaf-
ten besuchen. Ich hoffe, dass alte Freunde mich mit Einla-
dungen versorgen werden.« Der Blick, den er dabei Lady
Mary zuwarf, verriet überdeutlich, an welche »alten
Freunde« er dabei in erster Linie dachte.
»Ich bin sicher, dass Sie willkommen sein werden, wo
auch immer Sie erscheinen«, versicherte Ihre Ladyschaft
ihm.
»Ein vermögender Mann ist stets überall gern gesehen«,
bemerkte Mr. Witherspoon.
»Wäre es nicht nett, an einem der nächsten Abende
gemeinsam ins Theater zu gehen?« schlug Mr. Parker vor.
»Wie ich mich erinnere«, bemerkte sein Konkurrent um
Lady Marys Gunst, »waren Sie früher sehr geschickt darin,
sich einer Gruppe anzuschließen, die eine Loge gemietet
hatte.«
Anne unterdrückte ein Lächeln. Die Situation war wirklich
dazu angetan, sie von ihren eigenen Sorgen abzulenken.
Hieß es nicht, selbst wahre Gentlemen würden zu Gockeln,
wenn sie um die Zuneigung einer Dame kämpften?
Tatsächlich schien Edmund Parker keinen Wert darauf zu
legen, diese Art alter Erinnerungen aufzufrischen. Er
wandte seinen Blick Anne zu und erkundigte sich, ob sie
bereits »vergeben« sei.
Anne zögerte.
»Miss Haycrofts Verlobter hat sich entschieden, sie nicht
nach London zu begleiten und ihr so die Möglichkeit zu
geben, die Saison in größerer Freiheit zu genießen«, kam
Lord Rochford ihr zu Hilfe.
Mr. Witherspoon runzelte die Stirn.
»Dann haben Sie bestimmt schon viele Gesellschaften
besucht und sich die Zeit mit ausgiebigen Einkaufsbum-
meln vertrieben, Miss Haycroft?« meinte Mr. Parker.
»Auch ich habe eine Liste aus Kanada mitgebracht, auf der
alles festgehalten ist, was ich hier besorgen soll: modische
Kleinigkeiten, Stoffe, Hüte und die neuesten Schnittmuster.
Allerdings«, er seufzte auf, »fühle ich mich dieser Aufgabe
kaum gewachsen. Ob Sie, liebe Lady Mary, wohl so
freundlich wären, mir bei meinen Erledigungen zu helfen?«
Die Dame nickte. »Es wird mir eine Freude sein.«
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar!« Mr. Parker erhob sich
und verbeugte sich vor allen Anwesenden. »Ich möchte mich
verabschieden, um mich um Eintrittskarten fürs Theater zu
kümmern. Ich schicke eine Nachricht, sobald feststeht,
welches Stück wir uns anschauen werden.«
Stille senkte sich über den Raum, als Mr. Parker die Tür
hinter sich geschlossen hatte.
»Sympathischer Bursche«, bemerkte Giles Witherspoon
schließlich in einem Ton, der das Gegenteil andeutete.
»Es ist noch zu früh, sich eine Meinung über ihn zu
bilden«, widersprach Lord Rochford. »Allerdings frage ich
mich, für wen er diese Einkäufe tätigen soll.«
Lady Mary warf ihm einen zornigen Blick zu. »Was soll
dieses Misstrauen? Meiner Meinung nach ist Mr. Parker
ein Gentleman. Und ich freue mich auf den Theaterbesuch
mit ihm.«
»Ich auch«, fiel Anne ein.
»Würden Sie sich auch über eine Ausfahrt in den Park
freuen«, erkundigte Justin sich. »Ich möchte Sie gern dazu
einladen.«
Anne warf ihrer mütterlichen Freundin einen fragenden
Blick zu, und als diese nickte, sagte sie: »Gern. Ich ziehe
mich rasch um.«
Als sie wenig später die Treppe hinabstieg, wartete Justin
in der Eingangshalle bereits auf sie. Er musterte sie mit
aufrichtiger Bewunderung. In ihrem neuen Husarenmantel
sah sie einfach hinreißend aus. »Ich bin sicher«, sagte er,
»dass Cecil Romer seine Entscheidung, Sie allein nach
London fahren zu lassen, bereuen würde, wenn er Sie so
sehen könnte. Sie sind wirklich bezaubernd.«
Anne lachte. »Sie machen sich über mich lustig!« Dann
wurde sie ernst. »Mir gefällt diese ganze Geschichte nicht.
Ich bin eine schlechte Lügnerin und verabscheue alles, was
mit Unwahrheiten zu tun hat. Tatsächlich bin ich keineswegs
so sicher wie Sie, dass mein erfundener Verlobter mir zum
Vorteil gereichen wird.«
»Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen«, gab Lord
Rochford zurück. »Es gibt eben Situationen, in denen man
zu einer Notlüge Zuflucht suchen muss. Ich hoffe, Sie
werden die Ausfahrt mit mir trotzdem genießen!« Damit
reichte er Anne den Arm und führte sie hinaus zu seiner
Kutsche.

4. KAPITEL
Als Anne von der Ausfahrt zurückkehrte, trat Lady
Marys Butler mit einem großen Strauß auf sie zu. »Das ist
für Sie abgegeben worden, Miss, während Sie fort waren.«
Dankend nahm Anne die Blumen entgegen. »Bitte, lassen
Sie mir eine Vase bringen«, bat sie, ehe sie die Treppe
hinaufstieg und die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Vorsich-
tig legte sie den Strauß auf das Tischchen am Fenster, dann
öffnete sie den Briefumschlag, den sie zwischen den
Blüten entdeckte. Sie zog ein Blatt feinstes Papier heraus
und las:
Vergessen Sie eines nicht, meine Bewunderungswürdige: Ich bin
gewohnt, meine Ziele unnachgiebig zu verfolgen. Alington
Einen Moment lang starrte Anne bewegungslos auf das
Schreiben. Dann wanderte ihr Blick zu den weißen Blumen,
die so frisch und unschuldig wirkten. Schließlich griff sie
nach dem Strauß und eilte, Lord Alingtons Brief fest
umklammernd, die Treppe wieder hinab.
»Wo finde ich Lady Mary?« rief sie dem Butler zu.
»Ihre Ladyschaft ist im kleinen Salon.«
»Danke! Und bitte sagen Sie dem Mädchen, dass ich die
Vase oben doch nicht brauche!«
»Sehr wohl, Miss.« Potter schaute der davoneilenden
jungen Dame, die noch immer Hut und Handschuhe trug,
nachdenklich nach.
Anne riss die Tür zum Salon auf, streckte Lady Mary den
Strauß entgegen und rief: »Sehen Sie nur, was vorhin
gekommen ist!«
»Weiße Blumen? Eine passende Aufmerksamkeit für
eine junge Dame.«
»Sie haben den Brief noch nicht gelesen!« Annes Stimme
bebte vor Erregung. Sie warf die Blüten achtlos auf den
Tisch, reichte Lady Mary Lord Alingtons Schreiben und
begann, ruhelos im Raum auf und ab zu gehen.
»O Himmel«, murmelte Lady Mary, »das ist eine unmiss-
verständliche Drohung.«
»Ihm ist es gleichgültig, dass Sie und Clementma Drum-
mond-Burrell zu mir stehen«, klagte Anne.
»Das befürchte ich leider auch. Meine Liebe, Sie dürfen
das Haus auf gar keinen Fall unbegleitet verlassen.«
Anne ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ich wünschte, ich
wäre nie nach London gekommen!«
»Unsinn!« Lady Mary schenkte Anne ein aufmunterndes
Lächeln. »Es passt überhaupt nicht zu Ihnen, so zu
jammern. Ich…«
Sie unterbrach sich, als es an der Tür klopfte. Mit einem
Tablett, auf dem ein sorgfältig zusammengefaltetes Blatt lag,
betrat Potter den Raum. »Mylady!«
Lady Mary nahm das Blatt, strich es glatt und begann zu
lesen. »Mr. Parker lädt uns ein, ihn morgen Abend ins
Theater zu begleiten. Nun, Justin wird dafür sorgen, dass
Ihnen dort nichts geschieht.«
»Sie glauben, das Theater könne ein gefährlicher Ort für
mich sein?« fragte Anne.
»Allerdings. Ich traue Lord Alington jede Bosheit zu. Und
wenn er Sie entführen möchte, so ist das nirgends einfacher
als in einer großen Menschenmenge.«
Anne hob den Kopf und straffte den Rücken. »Ich werde
mich von ihm nicht einschüchtern lassen!« verkündete sie.
Am späten Vormittag des folgenden Tages teilte eines der
Hausmädchen Anne mit, dass eine Dame sie zu sprechen
wünsche. »Sie sagt, sie sei verwandt mit Ihnen, Miss.«
Anne warf einen Blick in den Spiegel. Wenn Clementina
Drummond Burrell sie aufsuchte, wollte sie sich von ihrer
besten Seite zeigen.
Doch es war nicht ihre Cousine, die im Kleinen Salon
wartete. »Du wagst es also tatsächlich, mir gegenüberzutre-
ten?« Winnefred Haycrofts Stimme klang kalt. »Dein Onkel
war der Meinung, du würdest dich verleugnen lassen.«
Anne knickste. »Guten Morgen, Tante Winnefred.«
»Dies ist ganz bestimmt kein guter Morgen, du undank-
bares Ding. Was denkst du dir nur dabei, einen Verehrer
wie Lord Alington zurückzuweisen? Ich hoffe nur, dass du
noch rechtzeitig zur Vernunft kommst! Lord Alington ist ein
einflussreicher und wohlhabender Gentleman. Du könntest
keinen besseren Gatten finden!«
»Ich bin sicher, dass wir nicht zueinander passen«, gab
Anne, ihre Erregung niederkämpfend, zurück.
»Etwas so Dummes habe ich noch nie gehört! Du solltest
froh sein, dass ein solcher Mann dir mehr als einen kurzen
Blick schenkt. Du solltest stolz und glücklich sein, weil er
dir, einem gesellschaftlichen Niemand, seine Aufmerksam-
keit schenkt. Aber du scheinst ja zu glauben, dass du etwas
ganz besonderes bist! Du willst uns alle ins Unglück
stürzen! Nun, das werden dein Onkel und ich nicht
zulassen!« Mrs. Haycroft unterstrich ihre Worte, indem sie
Anne mit erhobenem Zeigefinger drohte.
»Ihr könnt mich nicht zwingen, Lord Alington zu heiraten.
Das Gesetz ist in diesem Fall auf meiner Seite.«
»Woher weißt du denn etwas über das Gesetz?« spottete
Annes Tante. »Und seit wann bist du überhaupt mit Lady
Mary befreundet? Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass
es ihr nur darum geht, deine Mitgift für ihren Neffen zu
sichern?«
Anne schluckte. Sie wusste nur zu genau, wie ihre Ver-
wandten dachten und planten. Kein Wunder, dass sie
annahmen, auch alle anderen seien in erster Linie auf ihren
eigenen Vorteil bedacht. Es war beruhigend zu wissen, dass
es Lady Mary und Lord Rochford gewiss nicht um ihre
Erbschaft ging.
»Lady Mary hat sich aus völlig uneigennützigen Beweg-
gründen bereit erklärt, mich als Gast in ihrem Hause
aufzunehmen«, erklärte Anne. »Sie hat mir versichert, dass
sie genau wie ich der Meinung ist, Lord Alington und Lord
Bowlton seien keine geeigneten Ehemänner für mich. Sie
wird mir helfen, meine Freiheit zu bewahren.«
»Deine Freiheit?« Mrs. Haycrofts Lachen klang bitter.
»Dann stimmt es wohl nicht, was Hortense Finch erzählt?
Angeblich hat sie beobachtet, dass Lady Marys Neffe am
frühen Morgen intime Zärtlichkeiten mit dir ausgetauscht
hat.«
Anne errötete. »Du kannst mir glauben, Tante Winnefred,
dass zwischen Lord Rochford und mir nichts Ungebührli-
ches vorgefallen ist. Lady Mary würde das gar nicht
zulassen.«
»Auf jeden Fall«, beharrte Mrs. Haycroft, »ist es nicht in
Ordnung, dass du hier wohnst.«
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Lady
Mary segelte in den Raum. »Guten Morgen«, grüßte sie.
»Mrs. Haycroft, nehme ich an?«
Erleichterung erfüllte Anne. Lady Mary würde wissen,
wie man am besten mit der unangenehmen Situation
umging. Die Haltung der Dame verriet, dass sie sich von
nichts und niemandem einschüchtern lassen würde. Jeder
Zoll ihrer hoch aufgerichteten Gestalt verriet, dass sie die
Tochter eines Earls war und nicht zögern würde, ihre
gesellschaftliche Stellung zu Annes Vorteil zu nutzen.
Das spürte sogar Mrs. Haycroft. Ihre selbstgerechte Pose
zerbrach. »Erfreut, Sie kennen zu lernen, Mylady«, meinte
sie.
»Sie werden doch eine Tasse Tee mit uns trinken?«
erkundigte Lady Mary sich. »Ihre Nichte erwähnte, dass Sie
beabsichtigen, die Saison in London zu verbringen.«
Dies war mehr eine Frage als eine Feststellung, wie Anne
wohl wusste. Lady Mary versuchte, mehr über die Pläne der
Haycrofts herauszufinden.
»Mein Gatte möchte tatsächlich noch einige Wochen in
London bleiben. Allerdings wäre unser Aufenthalt hier
sicherlich angenehmer, wenn diese junge Dame…«, Mrs.
Haycroft warf Anne einen bösen Blick zu, »wusste, dass
sie zu ihren Verwandten gehört.«
»Ihre Nichte fehlt Ihnen also? Das kann ich verstehen.«
Lady Mary nickte verständnisvoll. »Anne ist ein so
liebenswürdiges Mädchen. Ich genieße es sehr, sie um
mich zu haben.«
Da dies nun ganz und gar nicht das war, was Mrs. Hayc-
roft gemeint hatte, begann sie, ihre Hände nervös zu öffnen
und zu schließen. »Also« stammelte sie, »was ich sagen
wollte…«
»Meine Tante wollte zum Ausdruck bringen, dass sie und
mein Onkel gehofft hatten, finanziell davon zu profitieren,
dass sie mich nach dem Tode meines Vaters bei sich
aufgenommen haben«, erklärte Anne. »Insbesondere haben
sie gehofft, einen Gatten für mich zu finden, der bereit ist,
ein hohes Brautgeld zu zahlen.«
Eine tiefe Röte überzog Mrs. Haycrofts Wangen.
Lady Mary jedoch sagte ungerührt: »Anne, Liebes,
würden Sie bitte nach dem Butler läuten? Eine Tasse Tee
und etwas Gebäck wäre jetzt genau das Richtige.« Dann
wandte sie ihren Blick wieder Mrs. Haycroft zu. »All diese
finanziellen Regelungen im Zusammenhang mit einer
Eheschließung sind natürlich lästig. Aussteuer, Mitgift,
Brautgeld… All das sind leider notwendige Übel. Wenn ich
mit einer Tochter gesegnet wäre, würde ich vor allem dafür
sorgen, dass ihre Zukunft – ganz gleich was ihrem Gatten
zustieße – gesichert wäre. Es muss beruhigend für Sie sein,
dass Ihre Nichte über ein eigenes Vermögen verfügt. Ihr
Anwalt hat gewiss schon eine Lösung gefunden, um Anne
und ihre möglichen Nachkommen abzusichern.«
Da in diesem Moment das Mädchen mit dem Teetablett
erschien, wandte das Gespräch sich zunächst allgemeinen
Themen zu. »Ich werde das Einschenken übernehmen«,
erklärte Anne. Das Dienstmädchen knickste und zog sich
zurück. Und kaum hatte es den Raum verlassen, als Mrs.
Haycroft zu ihrer Nichte sagte: »Am besten packst du gleich
deinen Koffer, damit du noch heute zu mir und Onkel
Cosmo zurückkehren kannst.«
Anne presste die Lippen zusammen und schaute Lady
Mary Hilfe suchend an.
»Wie du weißt«, fuhr Mrs. Haycroft fort, »hat dein Onkel
eine Übereinkunft mit Lord Alington getroffen. Seine
Lordschaft möchte dich baldmöglichst heiraten.«
»Um Himmels willen!« rief Lady Mary aus. »Wussten Sie
denn nicht, dass Ihre Nichte schon seit einigen Wochen
verlobt ist? Wie heißt Ihr Bräutigam doch gleich, Anne?
Ach ja, Cecil Romer. Bis eben habe ich angenommen…«,
sie schaute Mrs. Haycroft aus großen Augen an, »dass Ihr
Gatte mit Mr. Romer wegen des Ehe Vertrags verhandelt
hat.«
Von der Tür her ließ sich nun eine männliche Stimme
vernehmen. »Ich hoffe sehr, Mr. Romer bald kennen zu
lernen. Er scheint ein sympathischer junger Mann zu sein,
zudem begütert und der älteste Sohn eines Barons.«
Anne wandte sich um und schenkte Lord Rochford ein
Lächeln.
Der Gentleman trat auf Mrs. Haycroft zu und verbeugte
sich. »Wir kennen uns?«
Damit gab er Annes Tante zu verstehen, dass sie einander
bereits vorgestellt worden waren, dass er ihren Namen
jedoch vergessen hatte. Ein geschickter Schachzug, um der
Dame zu verstehen zu geben, wie bedeutungslos sie war.
Lady Mary machte die Anwesenden miteinander be-
kannt, während Anne mit bebenden Händen eine Tasse Tee
für Lord Rochford eingoss. Justins Erscheinen ließ ihr Herz
schneller schlagen. Ihre Knie fühlten sich seltsam weich an.
Sie empfand Freude über seine Anwesenheit und fühlte sich
doch ungewöhnlich unsicher. Es war wirklich sehr
merkwürdig.
Justin, der Annes Nervosität auf andere Ursachen zurück-
führte, ließ sich Mrs. Haycroft gegenüber nieder. »Sie
waren nicht über diese Verlobung informiert? Nun, Mr.
Romer und Miss Haycroft waren wohl übereingekommen,
ihre Verbindung vorerst geheim zu halten. Eine junge
Dame kann eine Saison in London viel besser genießen,
wenn man sie für frei und ungebunden hält. Ist es nicht
wirklich erfreulich, dass Mrs. Drummond-Burrell ihre junge
Verwandte bei Almack’s eingeführt hat?«
Mrs. Haycroft ging auf diese letzte Bemerkung überhaupt
nicht ein. »Diese angebliche Verlobung ist der reinste
Unsinn!« verkündete sie. »Cecil Romer? Bah! Ich habe nie
von einem Cecil Romer gehört.«
»Ich hätte keine Geheimnisse vor dir haben dürfen, Tante
Winnefred«, meinte Anne in schuldbewusstem Ton.
Und Lady Mary erklärte. »Sie müssen Ihrem Gatten
sofort von Mr. Romer und der Verlobung berichten, Mrs.
Haycroft.«
»Das sollten Sie wirklich«, mischte Lord Rochford sich
ein. »Ihr Gatte kann dann guten Gewissens seine Bemü-
hungen um einen passenden Ehemann für Miss Haycroft
einstellen.«
»Was höre ich da?« Mr. Witherspoon hatte unbemerkt
von den anderen den Salon betreten und näherte sich jetzt
der Gruppe am Teetisch. »Ich hoffe sehr, dass Sie Ihr
Jawort weder Alington noch Bowlton gegeben haben, Miss
Haycroft! Keiner der beiden wäre ein geeigneter Ehemann
für Sie. Alington gilt als rücksichtslos, und Bowlton hat
bereits zwei Frauen begraben.«
»Sie hat sich schon vor einigen Wochen heimlich mit
Cecil Romer, dem ältesten Sohn eines Barons, verlobt«,
klärte Lady Mary ihren langjährigen Freund auf.
Mr. Witherspoon zuckte die Schultern. »Ich habe noch
nie von ihm gehört. Aber schlimmer als Alington oder
Bowlton kann er nicht sein.«
Mrs. Haycroft warf ihm einen bösen Blick zu. Dann setzte
sie geräuschvoll ihre Teetasse ab und erhob sich. »Ich muss
mich leider verabschieden. Aber du wirst noch von mir
hören, Anne!« Mit dieser Drohung verließ sie den Raum.
Lady Mary lehnte sich entspannt zurück. »Du hättest
Diplomat werden sollen, Justin«, lobte sie ihren Neffen.
»Sie selbst, Lady Mary, haben meine Tante allerdings
auch sehr gekonnt in die Schranken verwiesen«, stellte
Anne bewundernd fest.
»Ich muss gestehen«, meldete sich nun auch Mr.
Witherspoon zu Wort, »dass Ihre Tante mich nicht gerade
positiv beeindruckt hat. Ich hoffe, wir werden sie nicht zu
häufig hier sehen?«
»Das hoffe ich auch«, stimmte Anne ihm von ganzem
Herzen zu.
Das Gespräch wendete sich anderen Themen zu, und nach
einer Weile kam man auf den bevorstehenden Theaterbe-
such zu sprechen. »Werden Sie sich uns ebenfalls an-
schließen, Mr. Witherspoon?« erkundigte Lady Mary sich.
»Allerdings. Mr. Parker hat auch mir eine Einladung
zukommen lassen.«
»Wunderbar! Wir werden einen herrlichen Abend
miteinander verbringen.«
Davon schien Mr. Witherspoon weniger überzeugt zu
sein. »Ich darf nicht vergessen meinen Freund, der auch
gerade aus Kanada zu Besuch ist, nach diesem Parker zu
fragen«, murmelte er.
Lady Mary tat, als habe sie nichts gehört. »Du wirst uns
doch ebenfalls begleiten Justin?« fragte sie ihren Neffen.
Und leiser setzte sie hinzu: »Ich fürchte, wir müssen sehr
sorgfältig auf Miss Haycroft Acht geben. Ihre Tante hat
einen verschlagenen Eindruck auf mich gemacht. Sie und
ihr Gatte könnten zu allem fähig sein.«
»Das glaube ich auch«, stimmte Lord Rochford mit einem
tiefen Seufzer zu.
Am frühen Abend des folgenden Tages öffnete Anne die
Tür zum Musikzimmer. Sie war sehr froh darüber, dass
Lady Mary sie aufgefordert hatte, das Piano zu benutzen,
wann immer sie den Wunsch zu spielen verspürte. Sie
liebte Musik. Und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass
das Klavierspiel sie beruhigte und tröstete, wenn sie
Sorgen hatte.
Sie hatte gerade die ersten Töne eines Mozart-Stücks
angeschlagen, als sie bemerkte, dass jemand den Raum
betreten hatte. Aus den Augenwinkeln hatte sie eine
Bewegung gesehen. Wer allerdings gekommen war, konnte
sie erst erkennen, als sie das Stück beendet hatte und sich
umdrehte.
In einem bequemen Lehnstuhl saß Lord Rochford. »Vie-
len Dank, dass Sie mir dieses kleine Privatkonzert gegeben
haben«, meinte er lächelnd. »Sie sind sehr talentiert, Miss
Haycroft.«
»Danke.« Anne senkte den Blick. Lord Rochfords Anwe-
senheit verunsicherte sie. Wie schon bei seinem letzten
Besuch fühlte sie sich seltsam unruhig. Ihr Herz klopfte wie
wild, und sie kam sich schwach und verletzlich vor. Ähnlich
reagierte sie auch auf Lord Alingtons Nähe. Nur dass
Letzterer sie mit Angst und Abscheu erfüllte, während Lord
Rochford… Anne musste sich eingestehen, dass sie nicht
genau wusste, welche Gefühle sie Lady Marys Neffen
entgegenbrachte. Natürlich schätzte sie seine Hilfsbereit-
schaft. Auch gefielen ihr seine Manieren und sein gesamtes
Auftreten. Doch sobald die Erinnerung an die Küsse
erwachte, die er ihr in der Kirche gegeben hatte, begannen
ihre Gedanken und Empfindungen sich zu verwirren.
»Sie wirken besorgt«, stellte Justin fest. »Haben Sie Angst
davor, Lord Alington im Theater zu begegnen? Es heißt, er
sei nicht nur ein großer Verehrer der Musik, sondern auch
der Schauspielkunst.«
Anne zuckte die Schultern. »Ich bemühe mich, weder
ihm noch meinem Onkel große Aufmerksamkeit zu
schenken.«
»Das halte ich für einen Fehler. Die beiden könnten
Ihnen gefährlich werden. Deshalb sollten Sie darauf
vorbereitet sein, sich gegen die Herren zur Wehr zu setzen.
Ich jedenfalls bin fest entschlossen, Ihnen heute Abend
nicht von der Seite zu weichen. Dabei hoffe ich auf Unter-
stützung durch Mr. Witherspoon. Vielleicht ist auch Mr.
Parker bereit, Sie zu beschützen.«
»Um Himmels willen!« Anne war blass geworden. »Glau-
ben Sie wirklich, dass ich Schutz brauche? Ich werde gar
nicht dazu kommen, das Stück anzuschauen!«
»Solange Sie die Loge nicht verlassen, dürfte Ihnen
eigentlich nichts zustoßen«, beruhigte Lord Rochford sie.
»Genießen Sie das Stück! Mit etwas Glück wird das
Geschehen auf der Bühne das einzig Aufregende an diesem
Abend sein.«
»Das hoffe ich von ganzem Herzen. Ich habe mich so auf
diesem Theaterbesuch gefreut. Mein Onkel und meine
Tante haben mich bisher weder ins Theater noch in die
Oper geführt.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass Sie diese neue Erfah-
rung machen, Miss Haycroft. Und wie ich sehe, sind Sie
bestens darauf vorbereitet. Sie werden nicht nur die Kunst
der Schauspieler bewundern können. Mit Ihrer Schönheit
und Eleganz werden Sie die Bewunderung aller Gentlemen
auf sich ziehen.«
Anne strich mit den Fingerspitzen über den leise rascheln-
den Stoff, aus dem ihr Abendkleid geschneidert war.
»Madame Ciotilde hat mich bei der Auswahl der Farbe und
des Schnitts beraten«, berichtete sie. »Ach, Sie ahnen ja
nicht, wie froh ich bin, mich nicht mehr dem Geschmack
meiner Tante beugen zu müssen. Ich liebe diese blassblaue
Foulardseide. Aber Tante Winnefred hätte nie erlaubt, dass
ich ein solches Kleid trage.«
»Ihre Tante scheint keine Augen im Kopf zu haben«,
gab Justin zurück. »Sie sehen einfach hinreißend aus!
Machen Sie mir die Freude, mir den Arm zu reichen und
sich von mir in den Salon führen zu lassen.«
»Gern!« Annes Hand zitterte kaum wahrnehmbar, als sie
sie auf Lord Rochfords Arm legte.
Im Flur stießen sie auf Lady Mary. »Ah«, rief diese aus,
»solche Pünktlichkeit muss belohnt werden.« Damit
drückte sie ihrem Neffen einen KUSS auf die Wange. Dann
ging sie den beiden voraus in den Salon. »Mr. Parker und
Mr. Witherspoon werden bestimmt auch jeden Moment
eintreffen.«
Tatsächlich tauchten die beiden Gentlemen wenige
Minuten später auf. In ihrer Begleitung befand sich Lady
Metcalf, die schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit mit
Lady Mary befreundet war. Auch Anne war der Dame
bereits begegnet.
Nach einer herzlichen Begrüßung forderte Lady Mary
ihre Gäste auf, sich ins Speisezimmer zu begeben, wo ein
köstliches Dinner auf sie wartete.
Gut gelaunt stiegen nach dem Essen alle in Lady Marys
große Kutsche. Und beinahe sofort wandte das Gespräch
sich dem Stück zu, das an diesem Abend aufgeführt werden
sollte. »Ich hatte gehofft, Sie zu einer Shakespeare-
Aufführung einladen zu können. Aber im Moment werden
anscheinend nur andere Stücke gespielt«, meinte Mr. Parker
entschuldigend. »Immerhin hat man mir versichert, dass das
Drama, das wir gleich sehen werden, gerade bei den
Damen sehr beliebt sei.«
»Ein Buch von Mrs. Radcliffe soll der Aufführung zu
Grunde liegen«, meinte Lady Metcalf, wobei ihre Augen vor
Aufregung blitzten. »Es wird also wohl etwas Gruseliges
sein!«
»Oh«, rief Anne aus, »handelt es sich etwa um Udolphos
Geheimnisse? Ich habe das Buch geradezu verschlungen!«
Niemand konnte die Frage beantworten. Doch alle waren
sich darüber einig, dass ein spannender Abend sie erwarte-
te. »Und«, stellte Mr. Witherspoon trocken fest, »wir
brauchen uns trotzdem keine Sorgen über den Ausgang der
Geschichte zu machen. Im Theater trägt zum Schluss
immer das Gute den Sieg über das Böse davon.«
»Ich wünschte«, flüsterte Lord Rochford Anne zu, »dass
wäre im wirklichen Leben auch so.«
Als sie vor dem Theater aus der Kutsche stiegen, begriff
Anne, warum der Earl sich Sorgen um ihre Sicherheit
gemacht hatte. Es herrschte ein solches Gedränge, dass es
nahezu unmöglich war, als Gruppe zusammenzubleiben.
Hätte jemand versucht, Anne in eine andere Richtung
davonzuziehen, so hätte wahrscheinlich kaum jemand
diesen Vorgängen Beachtung geschenkt. So jedoch hielten
Justin und Mr. Witherspoon sich eng an ihrer Seite. Und sie
erreichten ihr Ziel ohne Zwischenfälle.
Erfreut stellte Anne fest, dass Mr. Parker eine sehr gute
Loge gewählt hatte. Sie befand sich so nahe an der Bühne,
dass man die Mimik der Schauspieler und Schauspielerin-
nen selbst ohne Opernglas erkennen konnte.
Annes Freude verflog allerdings, als das Stück seinen Lauf
nahm. Die Geschichte war wirklich spannend, aber auch
Angst einflößend. Der Bösewicht war so überzeugend, dass
Anne einige Male zu zittern begann. Schließlich konnte
Lord Rochford, der sie beobachtet hatte, sich nicht länger
zurückhalten. »Wir hätten ein anderes Stück anschauen
sollen«, sagte er so leise, dass niemand außer ihr es hören
konnte.
»Unsinn«, versuchte sie ihn zu beruhigen, »ich weiß
schließlich, dass Mrs. Radcliffe sich das alles nur ausge-
dacht hat.«
»Trotzdem…«
Anne schenkte ihm ein etwas unsicheres Lächeln. »Ich
versichere Ihnen, dass ich weder in Ohnmacht fallen noch
Albträume bekommen werde.«
Gleich darauf senkte sich der Vorhang zur Pause. Lord
Rochford und Mr. Witherspoon boten an, Ratafia für die
Damen zu holen. Diese blieben zunächst plaudernd zurück.
Dann jedoch entdeckte Lady Metcalf eine Freundin in
einer der anderen Logen. »Liebste Mary« drängte sie, »wir
wollen Clarissa guten Abend sagen.«
»Darf ich den Damen meine Begleitung antragen«,
meinte Mr. Parker sogleich.
Da weder er noch Lady Metcalf in Annes Geheimnis
eingeweiht waren, geriet Lady Mary in eine schwierige
Situation. »Ich denke, ich sollte bei Anne bleiben«, erklärte
sie.
»Aber nein«, wehrte Anne ab, »das ist völlig unnötig.
Bitte, gehen Sie nur! Lord Rochford und Mr. Witherspoon
müssen jeden Moment zurückkommen.«
Lady Mary zögerte. Doch da Lady Metcalf nicht aufhörte,
sie zu drängen, gab sie schließlich nach. Anne blieb allein
zurück. Ihr war ausgesprochen unbehaglich zu Mute, was
sie aber auf das Stück schob. Hätte sie Lord Alington
beziehungsweise Onkel Cosmo nicht längst bemerken
müssen, wenn sie anwesend gewesen wären? Suchend
schaute sie sich im Theater um. Die Eleganz der Anwesen-
den beeindruckte sie. Und auch die vornehme Ausstattung
des Gebäudes verfehlte ihre Wirkung nicht. Annes
Nervosität ließ nach. Dies war einfach nicht die passende
Umgebung für eine Entführung.
In diesem Moment wurde die Tür der Loge aufgestoßen.
»Onkel Cosmo!«
Mr. Haycroft musterte seine Nichte. Seine Stimme klang
kalt, als er sagte: »Meine Geduld ist zu Ende. Du wirst
mich jetzt begleiten. Wir fahren sofort nach Hause. Und
wage nicht, mir etwas über diesen Cecil Romer zu
erzählen! Wenn du wirklich verlobt bist, wirst du die
Verlobung lösen. Das Beste für dich ist, Lord Alington zu
heiraten. Es ist schon alles arrangiert.«
»Unmöglich«, widersprach Anne. Trotz ihrer Angst
gelang es ihr hervorragend, die Selbstbeherrschung zu
wahren. »Niemals werde ich Lord Alington mein Jawort
geben!«
Mr. Haycroft lachte spöttisch. Dann griff er nach dem
Arm seiner Nichte. »Komm jetzt!«
Verzweifelt überlegte Anne, was sie tun sollte. Unvor-
stellbar, hier im Theater einen Skandal heraufzubeschwö-
ren! Vor dem Gesetz war ihr Onkel noch immer ihr
Vormund. Er hatte jedes Recht, sie mitzunehmen. Wenn
doch nur – so wie in dem Stück auf der Bühne – ein Ritter
auftauchen würde, um sie zu retten!
Der Ritter erschien in Gestalt Lord Rochfords. Er stand in
der Tür zur Loge, und hinter ihm entdeckte Anne jetzt auch
Mr. Witherspoon. Beide Gentlemen hielten Glaser in der
Hand, was sie aber – wie Anne sehr wohl wusste – nicht
davon abhalten würde, sich notfalls handgreiflich mit Onkel
Cosmo auseinander zu setzen.
»Mr. Haycroft?« Justins Stimme war schneidend.
»Lord Rochford, ich bin hier, um meine Nichte zu holen.
Anne ist mein Mündel, sie wird tun, was ich wünsche.
Tatsächlich sollte sie glücklich darüber sein, dass ich eine so
vorteilhafte Ehe für sie arrangiert habe.«
»Vorteilhaft für Sie, Mr. Haycroft, nicht für Ihre Nichte«,
gab Justin zurück.
»Das geht Sie überhaupt nichts an, Sir!«
»O doch. Schließlich ist Miss Haycroft seit einigen Tagen
bei meiner Tante zu Gast. Das hat mir die Gelegenheit
gegeben, sie besser kennen zu lernen. Ich denke, sie
vertraut mir. Deshalb habe ich die Rolle ihres Beschützers
übernommen.«
»Ich werde Lord Alington nicht heiraten«, ließ sich Anne
vernehmen.
»Recht so!« ertönte aus dem Hintergrund Mr.
Witherspoons Stimme.
Mr. Haycroft musterte ihn voller Abneigung. Dann
betrachtete er einen Moment lang Lord Rochfords
entschlossenes Gesicht. Schließlich ließ er Annes Arm los.
Ohne ein Wort des Abschieds verließ er die Loge.
»Trinken Sie etwas Ratafia, und fallen Sie nur nicht in
Ohnmacht!« wandte Mr. Witherspoon sich an Anne, die am
ganzen Körper zu zittern begonnen hatte.
»Ich bin noch nie Ohnmacht gefallen«, beruhigte sie ihn.
Sie hatte gerade den ersten Schluck Ratafia getrunken, als
Lady Mary, gefolgt von Lady Metcalf und Mr. Parker,
zurückkam.
»Wir haben Mr. Haycroft gesehen«, berichtete die Dame
aufgeregt. »Es hat doch hoffentlich keine Probleme
gegeben? Wenn ich Sie doch bloß nicht allein gelassen
hätte, liebes Kind!«
»Wir waren zum Glück rechtzeitig zur Stelle, um Schlim-
mes zu verhüten«, erklärte Lord Rochford.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte auch Anne. »Ah,
der Vorhang wird aufgezogen.«
Man setzte sich, und alle – mit Ausnahme Lord Rochfords
– richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Schauspieler.
Justin hingegen interessierte sich weitaus mehr für Anne als
für das Geschehen auf der Bühne. Zum Glück schien sie
den unangenehmen Vorfall gut überstanden zu haben.
In der nächsten Pause bestanden die Damen darauf, Anne
nicht allein zu lassen. Daraufhin beschlossen auch die
Gentlemen, die Loge nicht zu verlassen. Alle vermieden es
sorgfältig, über Mr. Haycroft oder Lord Alington zu
sprechen. Dabei war klar, dass alle darüber nachdachten,
was hätte geschehen können, wenn Lord Rochford und Mr.
Witherspoon nicht rechtzeitig zurückgekehrt wären.
Justin überlegte, was einen Mann wie Haycroft wohl
bewegen mochte, die Wünsche seiner Nichte vollkommen
zu missachten. War der Mann womöglich so hoch ver-
schuldet, dass er Anne »verkaufen« musste? Gab es eine
Möglichkeit, mehr über die Verhältnisse, in denen er lebte,
herauszufinden?
Darüber dachte Justin noch immer nach, als das Stück
schließlich endete. Wie üblich wurde noch eine kleine Farce
zum Abschluss gezeigt. Dann strömten die Theaterbesu-
cher dem Ausgang zu.
Justin war sehr erleichtert, als Anne schließlich wieder
sicher mit ihm und den anderen in Lady Marys Kutsche
saß. Nur zu gern hätte er ihr Gesicht gesehen. Nach dem
Zwischenfall mit ihrem Onkel hatte sie eine Zeit lang
erschöpft und ängstlich gewirkt. Nun aber, so hoffte er,
würde sie wieder entspannt und zuversichtlich sein.
Tatsächlich hatte Anne trotz ihrer Erschöpfung in dieser
Nacht große Probleme mit dem Einschlafen. Unruhig
wälzte sie sich im Bett hin und her. Was würde ihr Onkel
als Nächstes unternehmen? Würde es ihm womöglich
doch noch gelingen, sein Ziel zu erreichen? Die Vorstellung,
Onkel Cosmo und Lord Alington ausgeliefert zu sein,
jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Kein Wunder,
dass ihr Schlaf – als er endlich kam – von Albträumen
gestört wurde.
Anne erwachte erst spät am nächsten Morgen.
Lady Mary hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen
frühen Gast willkommen geheißen. »Mr. Parker«, hatte sie
erstaunt gesagt, als er ihren Salon betreten hatte, »welch
eine Überraschung!« Was mochte den Gentleman
bewogen haben, vor der üblichen Zeit für Besuche bei ihr
aufzutauchen?
Mr. Parker verbeugte sich, zog dann Lady Marys Hand an
die Lippen, machte ihr ein Kompliment über ihr Aussehen,
bat um Verzeihung für die frühe Störung und erklärte
schließlich, die Sorge um Miss Haycroft habe ihn herge-
führt.
Gerührt lächelte Lady Mary ihm zu.
»Mir ist da eine Idee gekommen«, fuhr Mr. Parker fort,
»wie wir der jungen Dame ein paar ruhige, unbeschwerte
Stunden verschaffen können.«
»Es wäre wunderbar, wenn das liebe Kind wenigstens
eine Zeit lang seine Sorgen vergessen könnte!«
»Ich habe einen Weg gefunden«, erklärte Mr. Parker, der
sehr zufrieden mit sich aussah. »Wir machen einen
Bootsausflug.«
»Eine Bootstour? Das ist wirklich eine gute Idee. Niemand
kann Anne zu nahe kommen, solange sie sich auf einem
Boot aufhält. Ich nehme an, Sie dachten an einen Ausflug
auf der Themse?«
»Allerdings. Am besten fahren wir Richtung Margate.
Dann können wir wenden, wann immer uns das angeraten
erscheint. Ich werde also für einen Tag ein Boot mieten.
Und außer uns wird nur noch die Mannschaft an Bord sein.
Miss Haycroft befindet sich also in Sicherheit.«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich so um Annes
Wohlergehen zu kümmern«, stellte Lady Mary fest.
»Ich weiß, dass ich Ihnen eine Freude damit machen kann,
meine Teuerste.«
Ihre Ladyschaft errötete wie ein junges Mädchen. »Danke,
Mr. Parker. Haben Sie schon überlegt, wen Sie zu diesem
Ausflug einladen wollen?«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei raten. Bestimmt
sollten wir Ihren Neffen, Lady Metcalf und Mr.
Witherspoon dazubitten. Es fehlen dann allerdings, meiner
Meinung nach, noch ein paar junge Leute.«
»Der junge Mr. Metcalf und Sidney Fairfax, mein anderer
Neffe, würden sich uns sicher gern anschließen. Dann
brauchen wir allerdings noch zwei junge Damen. Lassen
Sie mich überlegen. Wer würde noch dazu passen?«
»Ich vertraue da ganz auf Sie.« Mr. Parkers Augen blickten
so zärtlich, dass Lady Mary ganz warm ums Herz wurde.
»Danke! Haben Sie schon einen Tag für diesen Ausflug
festgelegt?«
»Nein, ich möchte mich da gern nach Ihren Plänen
richten.«
»Hm…« Während Lady Mary darüber nachdachte,
welche Pläne sie und Anne für die nächsten Tage ge-
schmiedet hatten, hörte sie auf der Treppe ein Geräusch.
Wahrscheinlich war ihr junger Gast endlich erwacht und
wollte sich nun zu ihr gesellen. »Ich denke, dass es zu
Anfang der nächsten Woche sehr gut passen würde. Bis
dahin haben Sie Zeit genug, ein Boot zu organisieren. Und
ich kann mit all jenen Kontakt aufnehmen, die uns
begleiten sollen.«
»Gut. Dann wollen wir nur hoffen, dass das Wetter uns
keinen Strich durch die Rechnung macht.«
Während Mr. Parker noch sprach, wurde die Tür geöff-
net, und Anne trat ein.
»Oh, guten Morgen, Mylady, guten Morgen, Sir. Bitte,
entschuldigen Sie die Störung. Wenn ich geahnt hätte, dass
Sie nicht allein sind, Lady Mary, dann wäre ich in meinem
Zimmer geblieben.«
Anne wandte sich um, doch Lady Mary hielt sie zurück.
»Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.«
»Ich möchte Sie und ein paar andere Freunde nämlich
gern zu einer Bootstour einladen«, fiel Mr. Parker ein.
»Was halten Sie davon?«
»Eine wunderbare Idee!« rief Anne aus, nachdem sie sich
vergewissert hatte, dass ihre mütterliche Freundin offenbar
nichts gegen den Plan einzuwenden hatte.
»Mr. Parker wird sich um alles kümmern«, erklärte Lady
Mary. »Er glaubt, dass Sie es genießen werden, ein paar
Stunden lang völlig sicher vor unerwünschten Begegnun-
gen zu sein.«
»Ich bin ganz gerührt von Ihrer Fürsorglichkeit, Sir«, sagte
Anne ernst.
»Mr. Witherspoon«, meldete der Butler in diesem Moment.
Und gleich darauf erschien der Angekündigte in der Tür. Er
grüßte alle höflich und meinte dann zu Mr. Parker gewandt:
»Sie scheinen ein Frühaufsteher zu sein.«
»Ein Frühaufsteher und ein kluger Kopf«, antwortete
Lady Mary an Mr. Parkers Stelle. »Auf seinen Vorschlag
hin haben wir gerade beschlossen, Anfang nächster Woche
einen Bootsausflug zu machen.«
»Ich möchte Sie auch dazu einladen«, erklärte Edmund
Parker.
»Danke, ich nehme die Einladung gern an.«
Die beiden Herren maßen einander mit abschätzenden
Blicken. Anne musste ein Lächeln unterdrücken. Es war
offensichtlich, dass sie mit ihrer Annahme, die beiden
würden um Lady Marys Gunst konkurrieren, Recht
gehabt hatte. Ob einer von ihnen wohl eine Chance hatte,
die Dame zu erobern? Anne war sehr gespannt darauf, was
die Zukunft bringen würde.

5. KAPITEL
Nachdem die Gentlemen sich verabschiedet haften,
blieben Lady Mary und Anne noch eine Weile im Salon.
Anne wollte wissen, was sie während der Bootstour tragen
solle und wen Lady Mary noch einladen würde.
»Ich dachte an Lady Metcalfs Neffen Henry und an
Sidney, die Sie ja beide bereits kennen gelernt haben.
Außerdem müssen wir noch zwei junge Damen dazubitten,
vielleicht Jemima Green und Susan Price. Ich denke, dass
Sie sich mit ihnen gut verstehen werden.«
»Das stimmt. Ich bin ihnen vor einiger Zeit vorgestellt
worden und würde unsere Bekanntschaft gern vertiefen.«
»Außerdem werde ich wohl Miss Caroline Bonham
fragen, ob sie sich uns anschließen möchte. Meiner
Einschätzung nach bemüht sie sich schon seit längerem
darum, Justins Aufmerksamkeit zu erregen. Die Boots-
fahrt könnte ihr eine gute Chance bieten, ihr Ziel endlich zu
erreichen.«
Lady Marys Augen blitzten bei diesen Worten schel-
misch auf, doch Anne bemerkte das nicht. Sie hielt den
Blick gesenkt und murmelte: »Oh, tatsächlich?«
Lord Rochford und Caroline Bonham? War das möglich? Anne
war überrascht, wie wenig die Vorstellung ihr benagte.
Natürlich wusste sie, dass Lord Rochford früher oder später
eine Familie gründen musste. Als Earl hatte er die Ver-
pflichtung, für einen Erben zu sorgen. Aber sollte ausge-
rechnet Caroline Bonham die Mutter seiner Kinder sein?
Nein, ein so attraktiver, freundlicher und kluger Gentleman
hatte gewiss eine andere Gattin verdient!
»Würden Sie mir beim Schreiben der Einladungen behilf-
lich sein, liebes Kind?«
Lady Marys Stimme riss Anne aus ihren Überlegungen.
»Selbstverständlich. Gern«, gab sie zurück. Entschlossen
schob sie die unangenehmen Gedanken beiseite und
machte sich mit Lady Mary an die Arbeit.
Sie hatten gerade einen der letzten Umschläge adressiert,
als aus der Eingangshalle her Geräusche an ihr Ohr
drangen. Dann wurde die Tür zum Salon aufgerissen, und
Sidney Fairfax stürzte herein. In seiner überschwänglichen
Art schlang er die Arme um seine Tante und drückte ihr
einen herzhaften KUSS auf die Wange. Daraufhin wandte er
sich Anne zu und begrüßte sie mit einem breiten Lächeln.
Nicht zum ersten Mal fiel Anne auf, wie sehr er seinem
Cousin Justin ähnelte. Beide hatten warme braune Augen
und dunkles Haar, beide wirkten sportlich und elegant
zugleich, wobei Sidney allerdings manchmal ein wenig
übers Ziel hinausschoss. Heute zum Beispiel trug er eine
mit bunten Stickereien verzierte Weste, die Lord Rochford
gewiss niemals angezogen hätte.
»Wie schön, dass du hier bist, Sidney«, bemerkte Lady
Mary gut gelaunt. »Das erspart uns die Mühe, dir eine
Einladung zu senden.«
»Wozu soll ich denn eingeladen werden?«
»Zu einem Bootsausflug auf der Themse. Ein alter Be-
kannter von mir organisiert alles, um Anne zumindest
einen Tag lang Ruhe vor ihrem Onkel zu verschaffen.«
»Was ist denn mit diesem Onkel?« wollte Sidney wissen.
Als die Damen ihn über die Ereignisse im Theater
aufgeklärt hatten, leuchteten seine Augen vor Aufregung.
»Wie schrecklich«, rief er aus, »solche Verwandte zu
haben! Nun, ich kann mir keine angenehmere Pflicht
vorstellen, als Sie in Zukunft vor Übergriffen Ihres Onkels
zu schützen, Miss Haycroft!«
»Danke.« Amüsiert über seine Begeisterungsfähigkeit
lächelte Anne ihm zu.
Da wurde erneut die Tür geöffnet, und ihr Lächeln
vertiefte sich. Ihre Augen strahlten plötzlich in einem
besonderen Glanz, und eine leichte Röte breitete sich auf
ihren Wangen aus. Lord Rochford betrat den Raum.
»Wir planen eine Bootstour, Justin«, informierte Lady
Mary ihren Neffen, nachdem alle einander begrüßt hatten.
»Ich hoffe, du bist auch mit von der Partie?«
»Eine Bootstour? Wie nett! Wer ist denn auf diese Idee
gekommen?«
Nun war es Lady Mary, die errötete.
Justin lachte. »Lasst mich raten! Es war Mr. Parker.«
»Ja, und er hat mich gebeten, die Gästeliste zu vervoll-
ständigen. Der Ausflug soll zu einem richtigen kleinen Fest
werden.« Lady Mary nahm die Liste zur Hand, auf der sie
die Namen all derer notiert hatte, die sie einzuladen
gedachte. Sie reichte das Blatt ihrem Neffen. »Was hältst du
davon?«
Justin studierte die Namen und nickte. »Gut. Aber es ist
ein Gentleman zu wenig. Sidney, hast du nicht einen Freund,
der uns begleiten möchte?«
»Ich könnte George Harcourt fragen.«
»Eine hervorragende Idee!« Lord Rochford nickte seinem
Cousin zu.
»Sag, Sidney, willst du nicht bei mir wohnen, solange du
dich in London aufhältst?« Der Gedanke, dass er auf diese
Art besser über Sidneys Unternehmungen informiert sein
würde, war ihm gerade erst gekommen. Er hatte nämlich
bemerkt, dass Sidneys Blick immer wieder auf Anne ruhte –
und zwar in keineswegs brüderlicher Weise. Und merkwür-
digerweise gefiel ihm das gar nicht.
»Gern«, gab Sidney, der nichts von Justins Überlegun-
gen ahnte, zurück. »Ich halte mich viel lieber bei dir als im
Hotel auf.«
»Du kannst noch heute bei mir einziehen«, erklärte
Justin.
»Dann will ich keine Zeit verlieren. Bis später. Justin. Auf
Wiedersehen, Tante Mary, Miss Haycroft.«
Sidney hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, als
Lady Mary Justin einen fragenden Blick zuwarf. »Du hast
noch gar nicht erwähnt, warum du uns heute aufgesucht
hast.«
»Ich wollte dir und Miss Haycroft vorschlagen, mich
heute zu einer musikalischen Soiree zu begleiten. Es gibt nur
eine kleine Anzahl geladener Gäste. Lord Alington gehört
nicht zu ihnen. Deshalb gehe ich davon aus, dass Miss
Haycroft sich dort in Sicherheit befindet.«
Anne, die es bisher vermieden hatte, Justin anzuschauen,
hob die Augen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Lady Mary unterdrückte einen zufriedenen Seufzer. Ihr
war nicht entgangen, dass zwischen den jungen Leuten eine
auffällige, aber keineswegs unangenehme Spannung
herrschte. Natürlich würde sie Justin die Möglichkeit
geben, möglichst viel Zeit mit Anne zu verbringen.
Schließlich war es höchste Zeit, dass ihr Neffe eine Familie
gründete.
»Wir nehmen die Einladung gern an«, sagte die alte
Dame. »An einer kleinen Gesellschaft teilzunehmen ist
doch viel netter als daheim zu sitzen. Holst du uns ab?«
»Ich komme um acht.«
Lady Mary und Anne waren pünktlich fertig. Als Justin
erschien, um sie abzuholen, berichteten sie ihm gut
gelaunt, dass alle Einladungen zur Bootstour noch am
Nachmittag ausgeliefert worden und dass inzwischen sogar
schon Antworten eingetroffen waren. »Nur von Miss
Bonham und George Harcourt haben wir noch nichts
gehört«, schloss Lady Mary.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir von Miss Bonham
eine Absage erhalten«, meinte Anne mit einem kurzen,
forschenden Blick auf Justin.
Dass Caroline Bonham zu den geladenen Gästen gehörte,
schien Lord Rochford nicht weiter zu berühren. »Auch
George Harcourt wird – wie Sidney mir versichert hat –
bestimmt kommen wollen«, erklärte er in ruhigem Ton.
Dann setzte er leise und nur für die Ohren seiner Tante
bestimmt hinzu: »Ich habe Sidney übrigens gebeten, heute
Abend einmal verschiedene Clubs aufzusuchen und sich
umzuhören, was über Alington geredet wird. Vielleicht
kann er etwas für uns Nützliches herausfinden.«
»Gut.« Lady Mary nickte. »Wollen wir aufbrechen?«
Die drei stiegen in Lord Rochfords Kutsche und hatten
wenig später ihr Ziel erreicht. »Mrs. Calder«, erläuterte
Justin, während er den Damen beim Aussteigen half,
»macht sich stets eine Menge Gedanken über die Zusam-
menstellung ihrer Gästeliste. Und auf die Auswahl der
Musiker verwendet sie nicht weniger Sorgfalt. Ich bin
sicher, dass Sie den Abend genießen werden, Miss
Haycroft.«
Ehe Anne darauf antworten konnte, ertönte hinter ihr
eine wohl bekannte und zutiefst verhasste Stimme.
»Rochford, Sie scheinen ja plötzlich Ihre Liebe zur Musik
entdeckt zu haben! Fast hatte ich erwartet, Sie hier zu
treffen. Wie ich sehe, begleiten Sie Lady Mary und Miss
Haycroft.«
Anne erstarrte, und selbst Lady Mary verschlug es einen
Moment lang den Atem. Justin allerdings erwiderte
scheinbar völlig gelassen: »Alington, was führt Sie her? Ich
weiß, dass Sie nicht zu den geladenen Gästen gehören.«
Damit wandte er sich Anne und seiner Tante zu. »Gehen
wir hinein.« Er reichte jeder der Damen einen Arm.
Lord Alington jedoch trat ihm in den Weg. »Rochford«,
meinte er drohend, »ich versichere Ihnen, dass Sie am Ende
verlieren werden. Ich will das Mädchen für mich!«
»Sie machen sich falsche Hoffnungen. Miss Haycroft ist
bereits verlobt. Ist Ihnen nie der Verdacht gekommen, dass
Cosmo Haycroft Ihnen gegenüber nicht ehrlich war?«
Während Lord Alington ihn wortlos anstarrte, ging Justin
rasch einen Schritte zur Seite und führte Anne und Lady
Mary zu Mrs. Calders Haus. Der Butler hielt ihnen die Tür
auf. Als er bemerkte, wie Lord Alington sich in Bewegung
setzte, schloss er die Tür sogleich.
»Hat dieser Mann keinen Stolz?« flüsterte Lady Mary
ihrem Neffen zu.
»Er ist ein fanatischer Sammler«, gab Justin zurück.
»Solche Menschen kann man nicht mit normalen Maßstä-
ben messen.« Dann wandte er sich zu Anne um, die blass
und verängstigt wirkte. »Hier kann Alington Ihnen nichts
anhaben«, erklärte er. »Bitte, machen Sie sich keine
unnötigen Sorgen.«
Anne biss sich auf die Unterlippe. Zu gern hätte sie Justin
geglaubt. Aber sie spürte, dass Lord Alington sich noch
nicht geschlagen gegeben hatte. Zum Glück wurde sie
gleich darauf durch Mr. Witherspoons Erscheinen von
ihren Sorgen abgelenkt. Der Gentleman verwickelte sie in
ein Gespräch über die Vorzüge von Mozarts Musik. Und
als schließlich die erste der Musikerinnen, die Mrs. Calder
eingeladen hatte, ihren Vortrag begann, hatte Anne den
unschönen Vorfall mit Lord Alington schon beinahe
vergessen.
Leider kehrte die Erinnerung zurück, als sich die Soiree
dem Ende zuneigte. Die ersten Gäste brachen auf, und
Anne wurde zunehmend unruhiger. Schließlich trat sie an
eines der Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus.
»Glauben Sie, dass Lord Alington da draußen auf mich
wartet?« fragte sie Justin, als dieser sich zu ihr gesellte.
Ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken, legte er
ihr den Arm um die Schulter. »Armes Mädchen«, murmel-
te er voller Mitgefühl.
Seine mitleidigen Worte ließen Annes Selbstbeherr-
schung zerbrechen. Tränen traten ihr in die Augen. Mit
bebenden Händen begann sie nach einem Taschentuch zu
suchen.
Doch schon hatte Lord Rochford ihr sein eigenes Tuch in
die Finger gedrückt.
»Danke.« Sie schluckte. »Bitte, verzeihen Sie mir, dass
ich so nah am Wasser gebaut habe. Es ist mir so peinlich…«
Sie ließ den Kopf hängen.
Justin legte ihr sanft einen Finger unters Kinn und zwang
sie, ihm in die Augen zu schauen. Als ihre Blicke sich
trafen, spürte Anne, wie eine angenehme Wärme in ihr
aufstieg. Dann plötzlich fühlte sie Lord Rochfords Lippen
auf den ihren.
Es war nur ein kurzer KUSS. Denn Justin war klar, dass sie
jeden Moment gestört werden konnten. Dennoch war die
Wirkung dieses kleinen Austausches von Zärtlichkeiten
unübersehbar. Anne sah auf einmal gar nicht mehr
verängstigt aus. Justin wiederum hatte das Gefühl, den
Boden unter den Füßen verloren zu haben. Seine Knie
fühlten sich weich an, und seine Stimme wollte ihm den
Dienst versagen.
Er räusperte sich. »Wir sollten wohl besser zu meiner
Tante zurückkehren.«
»Gleich«, flüsterte Anne. »Ich… Bitte, lassen Sie mich
einen Moment allein.«
Justin zögerte. »Miss Haycroft, ich wollte Ihnen nicht zu
nahe treten. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie gekränkt
habe.«
»Ich möchte ein paar Sekunden allein sein«, wiederholte
Anne, die inzwischen völlig verwirrt war. Warum
empfand sie keinen Zorn auf Lord Rochford? Warum
gefiel es ihr so gut, wenn er sie küsste? Jede wohlerzogene
junge Dame hätte ihn in die Schranken weisen müssen. Sie
jedoch sehnte sich danach, noch einmal geküsst zu werden.
»Gut«, sagte Justin, »ich warte in der Eingangshalle auf
Sie.«
Anne drehte sich um und starrte erneut in die Dunkelheit
hinaus.
Als sie einige Minuten später in die Eingangshalle trat,
entdeckte sie Lord Rochford in Gesellschaft einer jungen
Dame, die – wie sie sofort bemerkte – aufs Heftigste mit
ihm flirtete. Caroline Bonham! Anne war, als habe ihr
jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen.
Tatsächlich gaben Lord Rochford und Miss Bonham ein
schönes Paar ab. Beide waren gleichermaßen elegant, beide
wirkten äußerst vornehm. Sowohl was ihre Größe als auch
was ihre Haltung betraf, passten die zwei hervorragend
zueinander. Ja, sagte Anne sich, dort stehen der Earl und
seine zukünftige Frau.
Am liebsten hätte sie geschrieen, mit den Füßen aufge-
stampft und alle möglichen Gegenstände nach Miss
Bonham geworfen. Stattdessen bahnte sie sich still einen
Weg durch die Menge, bis sie auf Lady Mary traf.
»Sie sehen müde aus, liebes Kind«, meinte diese.
Anne nickte nur.
»Kein Wunder nach den Aufregungen der letzten Tage«,
stellte ihre mütterliche Freundin fest. »Wir sollten uns auf
den Heimweg machen. Haben Sie meinen Neffen gese-
hen?«
Anne wurde einer Antwort enthoben, da Justin in diesem
Moment zu ihnen stieß. »Ich habe Miss Bonham getrof-
fen«, berichtete er. »Sie hat mich gebeten, dir ihren Dank
für die Einladung zu übermitteln, Tante Mary. Natürlich
möchte sie die Bootsfahrt um nichts in der Welt verpassen.«
Anne spürte, wie eine leichte Übelkeit in ihr aufstieg.
Schweigend starrte sie zu Boden und wünschte sich nichts
so sehr, wie in ihrem Bett zu liegen und alle Sorgen und
Kümmernisse der Welt im Schlaf vergessen zu können.
Als Anne die Augen aufschlug, wusste sie sofort, dass es
ein schöner Tag werden würde. Eines der Dienstmädchen
hatte die Vorhänge aufgezogen und ihr eine Tasse heißen
Kakao auf den Nachttisch gestellt. Anne setzte sich im Bett
auf und nahm einen Schluck. Sie freute sich auf die
Bootstour.
Einige Zeit später musterte sie, jetzt merklich aufgeregt,
noch einmal ihr Spiegelbild. Sie hatte sich für ein blaubun-
tes Musselinkleid entschieden. Dazu trug sie ihren Husa-
renmantel, ein paar einfache flache Schuhe und einen
hübschen kleinen Hut. Nichts an ihrer Erscheinung war
besonders auffällig, obwohl das Goldkettchen – ein
Geschenk ihres verstorbenen Papas –, das sie nach einigem
Überlegen umgelegt hatte, tatsächlich etwas Besonderes
war.
»Anne«, hörte sie Lady Mary rufen, »sind Sie fertig?«
»Ich komme!« Fest entschlossen, den Tag zu genießen
und einfach nicht auf Miss Bonham und Lord Rochford zu
achten, lief Anne die Treppe hinunter.
Der Gentleman, dem sie keine Aufmerksamkeit hatte
schenken wollen, wartete am Fuß der Treppe. Sie konnte
keinen Blick von ihm wenden. Himmel, er war so attraktiv!
»Wir müssen uns beeilen«, meinte er gut gelaunt, »weil wir
mit Beginn der Ebbe auslaufen wollen.«
Anne wusste nicht viel über die Kunst der Schifffahrt.
Trotzdem nickte sie verständnisvoll.
»Tante Mary und Mr. Witherspoon sind schon zur
Kutsche gegangen«, sagte Justin.
»Wer holt Miss Bonham und die anderen ab?« erkundigte
Anne sich.
»George Harcourt hat sich erboten, Miss Price und Miss
Bonham gemeinsam mit Sidney abzuholen«, informierte
Justin sie, während er ihr in die Kutsche half. »Henry
Metcalf und seine Tante wollen Miss Green und Mr.
Parker mitnehmen.«
»Oh, ich habe mir gar nicht klargemacht, dass wir so viele
sind«, murmelte Anne.
»Unter diesen Umständen werden wir uns kaum langwei-
len«, mischte Lady Mary sich fröhlich ein. »Ich könnte mir
vorstellen, dass Sie sich viel mit Jemima Green und Susan
Price zu erzählen haben, Anne.«
Sie nickte. Offenbar hatte die alte Dame erkannt, dass sie,
Anne, nichts mit Miss Bonham gemeinsam hatte. Nun, es
würde hoffentlich nicht allzu schwierig sein, sich von
Caroline Bonham fern zu halten. Wie groß das Boot wohl
sein mochte, das Mr. Parker gemietet hatte?
Es war – wie alle wenig später sehen konnten – ein
ziemlich langes Boot, das an einem Pier in der Nähe der
Westminster Bridge auf sie wartete. Vorne und hinten gab
es je einen Mast, die Segel waren allerdings nicht gesetzt.
Auch in der Mitte des Schiffs erhob sich etwas, das an einen
Mast erinnerte. Rauch stieg daraus auf, und einen Moment
lang meinte Anne, dass es ein ernstes Problem gäbe.
Mr. Parker, der mit den anderen Gästen bereits eingetrof-
fen war, beruhigte sie. »Dies ist ein Dampfschiff«, erklärte
er stolz. »Was Sie dort sehen, ist der Schornstein. Diese
Boote verkehren noch nicht lange auf der Themse, und im
Allgemeinen nehmen sie keine Passagiere mit. Es war nicht
ganz einfach, das Schiff für einen ganzen Tag zu mieten.«
»Um Himmels willen!« Anne schaute sich neugierig um.
»Ob ein solches Boot wirklich sicher ist?«
»Das wollen wir hoffen«, gab Mr. Witherspoon, der sich
zu ihr gesellt hatte, zurück. »Kommen Sie, wir wollen an
Bord gehen. Sehen Sie die Räder dort? Sie werden durch
den Dampf der Maschine bewegt. Man spricht deshalb
auch von einem Raddampfer. Ich frage mich allerdings, was
das alles soll. Schließlich gibt es Segel, nicht wahr.«
»Ich habe gehört, dass Dampfschiffe schneller sind als
Segelboote«, meinte Anne.
»Man kommt also in kürzerer Zeit ans Ziel? Hm… Ich
wünschte, es gäbe etwas, das es uns ermöglicht, auch die
Wege auf dem Lande rascher zurückzulegen.«
Anne nickte. Sie erinnerte sich noch gut an die lange,
beschwerliche Reise vom Landsitz ihres Onkels nach
London. Wie oft hatte sie sich unterwegs gewünscht,
endlich am Ziel zu sein!
Sie schrak zusammen, als plötzlich laute Geräusche
erklangen. Die Schaufelräder hatten sich in Bewegung
gesetzt. Fasziniert beobachtete Anne, wie sie sich drehten.
Nie hätte sie gedacht, dass dadurch ein solcher Lärm
entstehen würde. Als sie sich schließlich nach Mr.
Witherspoon umschaute, stellte sie fest, dass er sich zu Lady
Mary gesellt hatte, die unter einem großen Sonnenschirm
am anderen Ende des Bootes saß. Anne war allein.
Eine Zeit lang blieb sie entspannt stehen. Gärten zogen
am Ufer vorüber, dann tauchte die neue Brücke auf, die
John Rennie entworfen hatte, und schließlich passierte das
Boot Somerset House. Anne beschloss, zur anderen Seite
des Raddampfers zu wechseln und sich das dortige Ufer
anzusehen. Dort gab es keine Häuser und Gärten. Die
Landschaft wirkte fremd und ungewöhnlich auf Anne, die
nie in der Nähe eines großen Flusses gelebt hatte. Die
Sandbänke faszinierten sie ebenso wie die seltsamen Gräser
am Ufer und der Geruch nach Salzwasser, der ihr in die Nase
stieg.
»Gefällt Ihnen die Fahrt, Miss Haycroft?« fragte Mr.
Parker.
»Es ist interessant«, gab Anne zurück. »Aber ich muss
gestehen, dass ich mich nicht besonders sicher fühle. Die
Geräusche, die aus dem Inneren des Bootes heraufdringen,
machen mir ein bisschen Angst. Die Maschine wird doch
hoffentlich nicht explodieren?«
»Bestimmt nicht! Dampfschiffe gelten als sehr sicher. Und
ich glaube fest daran, dass es nicht mehr lange dauern wird,
bis man sie auch für die Reise von England nach Kanada
einsetzt.«
Anne schaute ungläubig drein, kam jedoch nicht dazu, ihre
Zweifel zu äußern. Denn in diesem Moment trat Miss
Bonham zu ihnen. »Sie verstecken sich wohl vor uns, Mr.
Parker?« meinte sie in neckischem Ton.
Er lachte. »Ich habe nur gemeinsam mit Miss Haycroft
die Aussicht genossen.«
Anne warf Caroline Bonham einen kurzen Blick zu. Wo
mochte Lord Rochford sein? Es war ihr nicht entgangen,
dass Miss Bonhain ihn mit Beschlag belegt hatte, sobald er
an Deck gekommen war.
»Die Aussicht auf Sandbänke und schmutzige Schiffe, die
die Themse hinauf fahren?« meinte Caroline Bonham
abwertend.
»Nicht zu vergessen all die vielen Vögel, die im Wasser
und am Ufer nach Futter suchen«, sagte Anne lauter, als sie
beabsichtigt hatte.
Mr. Parker schenkte ihr ein Lächeln. Als aber Miss
Bonham ihn am Ärmel zupfte und ihn drängte, mit ihr zum
Rest der Gruppe zu kommen, machte er sich sogleich auf
den Weg.
Wieder blieb Anne allein zurück. Sie schloss die Augen
und legte den Kopf in den Nacken, um die Wärme der
Maisonne auf ihrem Gesicht zu spüren. Tief atmete sie ein.
Die vielen ungewohnten Gerüche gaben ihr das Gefühl, ein
echtes Abenteuer zu erleben.
»Sie werden Sommersprossen bekommen, Miss Hayc-
roft.«
Anne schlug die Augen auf. »Das muss ich wohl in Kauf
nehmen, wenn ich die Sonne genießen will. Ist es nicht ein
wunderschöner Tag, Lord Rochford?«
»Hm…« Er legte seine Hand auf die ihre, zog sie jedoch
wieder zurück, als Anne die Stirn runzelte. Genau wie sie
stützte Justin sich jetzt aufs Geländer und ließ die Land-
schaft an sich vorbeiziehen. Eine Zeit lang schwiegen
beide. »Die anderen haben sich gefragt, ob Sie womöglich
etwas sehen, das uns verborgen bleibt«, sagte Lord Rochford
schließlich leise.
Anne antwortete nicht, stellte jedoch nach einer Weile
fest: »Auf dem Fluss scheinen die gleichen Regeln zu
gelten wie auf der Straße. Man muss sich immer möglichst
weit links halten, damit es keinen Zusammenstoß gibt.«
Wieder war ein paar Minuten lang nichts zu hören außer
dem Lärm der Schaufelräder. Es war Justin, der das
Schweigen brach. »Einen Penny für Ihre Gedanken!«
»Ich bin froh, dass Lord Alington und Onkel Cosmo sich
mir hier nicht nähern können«, gestand Anne.
»Allerdings.« Lord Rochford nickte. »Hier an Bord gibt es
niemanden, der Ihnen Böses will. Deshalb brauchen Sie
sich vor den anderen nicht zurückzuziehen. Kommen Sie,
es gibt Limonade und Kekse, damit wir unser Ziel nicht
völlig ausgehungert erreichen.«
»Gehen Sie ruhig schon, ich komme gleich. Ich möchte
nur noch beobachten, wie das Schiff dort entladen wird.«
»Das ist ein Schoner. Und dort drüben hat eine Schmack
festgemacht, ein Küstensegler.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Ich gehöre zu den Leuten, die einen Teil ihres Geldes in
den Überseehandel stecken. Deshalb habe ich mir gewisse
Kenntnisse über die Schifffahrt angeeignet.«
»Oh…«
»Verachten Sie mich nun, weil ich mit geschäftlich
betätige?«
»Im Gegenteil«, betonte Anne. »Ich verachte höchstens
Menschen, die ihr Erbe verschleudern, statt es zu nutzen
und zu vermehren.«
»Wir haben Sie vermisst!« Mit einem etwas schrillen
Lachen näherte Miss Bonham sich Lord Rochford und
Anne. »Warum sind Sie so ungesellig?«
»Verzeihen Sie!« Justin erwiderte Miss Bonhams Blick.
»Wir sollten die anderen wirklich nicht so lange allein
lassen.« Damit reichte er Anne den Arm.
Miss Bonham hängte sich auf seiner anderen Seite ein,
und gemeinsam kehrten sie zu der kleinen Gruppe, die sich
um Mr. Parker versammelt hatte, zurück.
Dieser schaute strahlend in die Runde. »Liebe Gäste, ich
habe eine Überraschung für Sie. Bitte!« Nicht ohne Stolz
wies er auf eine Tür, die gerade geöffnet worden war. Ein
paar Musiker traten auf das Deck hinaus und begannen zu
spielen.
»Wunderbar!« rief Sidney aus. »Wir wollen tanzen! Miss
Haycroft, wollen Sie mir die Freude machen?«
»Und wer holt mich zum Tanz?« meinte Susan Price
lachend.
»Wenn Sie gestatten?« Der junge Mr. Metcalf verbeugte
sich vor ihr.
Auch Lord Rochford sah sich nach einer Partnerin um.
Doch er forderte nicht – wie Anne erwartet hatte – Miss
Bonham auf, sondern Jemima Green. So blieben noch
Caroline Bonham und George Harcourt übrig.
Das Orchester stimmte eine fröhliche, allen bekannte
Melodie an, und der Tanz begann. Alle amüsierten sich
köstlich. Anne vergaß für eine Weile all ihre Sorgen und
lachte mit den anderen. Es war himmlisch! Und die Zeit
verging wie im Fluge.
Schließlich gab Mr. Parker den Musikern das Zeichen
aufzuhören. »Gleich erreichen wir unser Ziel«, verkündete
er.
Die jungen Leute lobten ihn überschwänglich, weil er auf
die Idee gekommen war, für Musik zu sorgen. Sie dankten
ihm und bestürmten ihn mit Fragen bezüglich des bevorste-
henden Picknicks. Doch er lächelte nur geheimnisvoll und
forderte sie auf, einfach abzuwarten.
Wenig später ging das Boot bei Gravesend vor Anker.
Mehrere kleine Boote näherten sich dem Dampfschiff.
Eifrige Seeleute halfen Mr. Parker und seinen Gästen
beim Umsteigen, und dann wurden alle an Land gerudert.
Anne war froh, dass sie sich entschieden hatte, feste
Schuhe und ein einfaches Kleid zu tragen. So konnte sie
sich in Ufernähe frei bewegen, ohne auf ihre Kleidung
Rücksicht nehmen zu müssen. Miss Bonham, die sich
ausgesprochen elegant gekleidet hatte, jammerte, dass ihre
feinen Slipper für den Boden nicht geeignet seien, und
immer wieder musterte sie ängstlich den Saum ihres
Kleides aus rosa Pongeseide.
Jemima, Susan und Anne machten sich deshalb ohne
Miss Bonham daran, die nähere Umgebung zu erforschen.
Sie bewunderten die Fülle an Wildblumen und machten
sich gegenseitig auf verschiedene Vögel aufmerksam.
Als sie zum Ankerplatz des Bootes zurückkehrten, war
alles für das Picknick vorbereitet. Es gab mit kaltem Braten
und Käse belegte Sandwiches, Erdbeeren mit Sahne und
viele andere Köstlichkeiten. Jung und Alt langte mit gutem
Appetit zu, nur Miss Bonham erklärte, dass es ihr einfach
unmöglich sei, mehr zu essen als ein paar Bissen.
»Sie ist die Einzige von uns, die sich wie eine echte Dame
benimmt«, flüsterte Susan Anne zu. »Manchmal beneide
ich sie um ihre Selbstbeherrschung und natürlich auch um
ihre Schönheit. Ist es nicht seltsam, dass sie nun schon ihre
dritte Saison in London verbringt und noch immer nicht
verlobt ist?«
»Vielleicht wartet sie – genau wie ich – auf die große
Liebe«, gab Anne zurück.
»Dann ahne ich schon, wer ihr Auserwählter ist.« Susan
schaute kurz zu Lord Rochford hin. »Aber offenbar konnte
er sich bisher nicht entschließen, um sie anzuhalten.«
Anne seufzte auf. »Ja, man kann nicht immer bekom-
men, was man sich wünscht.«
»Und was wünschen Sie sich, Miss Haycroft?« fragte
Sidney und ließ sich neben ihr nieder.
»Nur ein bisschen Ruhe und Ungestörtheit«, entgegnete
sie in gespieltem Ernst.
Mit einer dramatischen Geste legte Sidney sich die Hand
aufs Herz. »Ich bin zutiefst betroffen!« rief er aus. »Miss
Haycroft hat mich verwundet. Sie fühlt sich von mir gestört.
Nie mehr werde ich mich von diesem Schlag erholen -
jedenfalls nicht vor morgen!«
Alle brachen in Lachen aus, und Jemima fragte: »Haben
Picknicks immer diese Wirkung? Machen sie aus Männern
Dummköpfe?«
»Nicht aus George Harcourt«, stellte Susan fest.
»Tatsächlich!« Jemima zwinkerte ihrer Freundin zu. »Ich
werde ihn bitten, einen Spaziergang mit mir zu machen.«
»Dann will ich ein Stück mit Henry Metcalf gehen«, fiel
Susan ein.
Caroline Bonham warf Lord Rochford einen auffordern-
den Blick zu. Doch es war Sidney, der sie fragte, ob sie ihn
auf einen kurzen Spaziergang begleiten wolle.
»Auf einen sehr kurzen Spaziergang, vermute ich«, sagte
Lord Rochford leise zu Anne. »Haben Sie Miss Bonhams
Schuhe bemerkt? Wie unvernünftig!«
Anne schaute erstaunt drein. Sprach ein Gentleman so
über die Dame, die er zu ehelichen gedachte? Oder hatte
Susan womöglich Recht? War Lord Rochford gar nicht an
Miss Bonham interessiert?
Caroline Bonham jedenfalls ließ keinen Zweifel daran
aufkommen, welchen der Herren sie am attraktivsten fand.
Als es Zeit wurde, aufs Schiff zurückzukehren, gesellte sie
sich zu Justin, so dass dieser ihr wenn er nicht ausgespro-
chen unhöflich wirken wollte – den Arm reichen und sie
zum Ufer begleiten musste. Während des kurzen Weges
und auch später auf dem Schiff flirtete sie beinahe ununter-
brochen mit ihm.
So sehr Anne sich auch bemühte, diesem Benehmen keine
Aufmerksamkeit zu schenken, es wollte ihr nicht gelingen,
Miss Bonham einfach nicht zu beachten. Immer wieder
wanderte ihr Blick zu der jungen Dame, die entschlossen
schien, Lord Rochford nicht von der Seite zu weichen. Ein
Stein schien Anne im Magen zu liegen, und ihre Abnei-
gung gegen Miss Bonham nahm ungeahnte Ausmaße an.
So kam es, dass sie regelrecht erleichtert war, als das Schiff
schließlich am Westminster Dock anlegte und alle von
Bord gingen.
Mr. Parker hatte sich erboten, Lady Mary und ihren
jungen Gast nach Hause zu begleiten. Er winkte eine
Mietdroschke herbei und half den beiden Damen beim
Einsteigen.
»Der lange Aufenthalt im Freien hat mich ermüdet«, stellte
Lady Mary fest. »Allerdings war es ein wirklich schöner
Tag. Vielen Dank, Mr. Parker.«
Auch Anne bedankte sich. »Das Picknick war hervorra-
gend, und das Tanzen hat uns allen viel Spaß gemacht.«
Mr. Parker nickte zufrieden. »Wie schön, dass ich Ihnen
eine Freude machen konnte. Ich hoffe, Sie werden mir
noch öfter Gelegenheit dazu geben.« Dabei warf er Lady
Mary einen zärtlichen Blick zu.
Die alte Dame erwiderte sein Lächeln, und als die beiden
voneinander Abschied nahmen, hielt Mr. Parker – wie
Anne bemerkte – Lady Marys Hand deutlicher länger fest,
als es sich geziemte.
Wie romantisch, dachte Anne, die plötzlich wieder
ausgesprochen guter Laune war. Sie wünschte ihrer
großzügigen Gastgeberin so sehr ein wenig persönliches
Glück!
Leider hielt Annes gute Stimmung nicht lange an. In Lady
Marys Haus wartete nämlich ein Brief auf sie, der ihr all
ihre Probleme mit einem Schlag wieder zu Bewusstsein
brachte.
»Was ist los, meine Liebe?« erkundigte Lady Mary sich,
als sie bemerkte, wie Annes Miene sich verdüsterte.
»Ein Schreiben von Lord Alington. Er erinnert mich
daran, dass er Onkel Cosmo um meine Hand gebeten hat
und dass bereits alles Nötige für den Abschluss eines
Ehevertrages besprochen wurde. O Himmel! Wird er mich
denn nie in Ruhe lassen? Am liebsten würde ich vor ihm
ans Ende der Welt fliehen!«
»Das ist hoffentlich völlig überflüssig, liebes Kind«,
beruhigte Lady Mary sie. »Sie wissen, dass wir auf Ihrer
Seite stehen. Wenn es nötig sein sollte, können wir sogar
den Prinzregenten auf Ihre Probleme aufmerksam machen.
Sie müssen wissen, dass Justin schon des Öfteren bei ihm
eingeladen war.«
Anne starrte auf Lord Alingtons Schreiben und bemühte
sich, ihre Angst zu überwinden. Gewiss war Lady Marys
Optimismus nicht unbegründet! Doch warum wollte es ihr
dann nicht gelingen, Lord Alington aus ihren Gedanken zu
verdrängen?
»Ich frage mich«, überlegte Anne laut, »warum meinem
Onkel so viel an dieser Ehe liegt. Er will mich loswerden,
gut. Ich bin eine Erbin und auch einigermaßen hübsch und
wohlerzogen. Es gibt bestimmt Hunderte von Gentlemen,
mit denen er mich verheiraten könnte. Warum gerade Lord
Alington?«
Lady Mary zuckte die Schultern. »Die Antwort auf diese
Frage werden wir vielleicht nie erfahren. Am besten, Sie
denken nicht länger darüber nach. Wir wollen uns ein
wenig frisch machen und dann früh zu Abend essen. Ich
möchte mich heute gern etwas eher zurückziehen als
gewöhnlich.«
Am Vormittag des nächsten Tages trafen Lord Rochford
und Sidney Fairfax sich zu einem vertraulichen Gespräch
in der Bibliothek.
»Es ist zum Verzweifeln«, erklärte Sidney erregt, »Lord
Alington nimmt Miss Haycrofts Verlobung einfach nicht
ernst. Wahrscheinlich weiß er, dass ihr euch diesen Cecil
Romer nur ausgedacht habt. Welcher echte Gentleman
könnte auch so einen verrückten Namen tragen?«
»Uns fiel eben kein anderer Name ein«, gab Justin
zurück. »Schade, dass du uns mit deiner Weisheit nicht zur
Seite gestanden hast.«
»Unsinn!« Sidney warf seinem Cousin einen gereizten
Blick zu. »Du hast mich gebeten, mich in den Clubs
umzuhören. Wenn du mir nicht glauben willst, was ich dort
erfahren habe, dann brauche ich ja überhaupt nicht weiter-
zusprechen.«
»Bitte, Sidney! Ich selbst habe auch einiges gehört, was
mich beunruhigt. Erzähle also, was du weißt.«
»Kurz und gut: Alington steht auf dem Standpunkt, dass
er auf Mr. Romer keine Rücksicht zu nehmen braucht.
Schließlich hat Miss Haycrofts Vormund ihm die Ehe mit
Anne versprochen und nicht Mr. Romer.«
»Ein nicht zu unterschätzender Einwand«, murmelte
Justin. »Wir…«
Er wurde durch seinen Butler unterbrochen, der ihm einen
Brief überreichte. »Von Ihrer Tante, Mylord. Sie erwartet
eine sofortige Antwort.«
Justin riss den Umschlag auf und las mit gerunzelter
Stirn.
»Hat Anne mit neuen Problemen zu kämpfen?« fragte
Sidney besorgt.
»Anne? Seid ihr schon so vertraut miteinander, dass du sie
nicht mehr Miss Haycroft nennst?«
Sidney lachte. »Bei Jupiter, manchmal bist du wirklich
reichlich altmodisch und viel zu sehr auf Regeln und
Formen bedacht, lieber Cousin.«
In Erinnerung an die Küsse, die er Anne gegen alle
Regeln und Formen gegeben hatte, musste Justin schmun-
zeln. »Vielleicht bin ich gar nicht so ein Langweiler, wie
du glaubst.«
»O doch! Du hast ja nicht einmal eine Mätresse!«
Ein strenger Ausdruck breitete sich auf Justins Gesicht
aus. »Das genügt, Sidney. Wenn du dich nicht benehmen
kannst, solltest du besser doch ins Ibettson’s ziehen.«
»Verzeih mir, bitte. Und verrate mir endlich, was Tante
Mary schreibt.«
»Sie macht sich Sorgen um Miss Haycroft, genau wie wir.
Die junge Dame hat nämlich gestern einen Brief von Lord
Alington erhalten, in dem dieser ihr mitteilt, dass er an
seiner Absicht, sie zu heiraten, festhalten wird.«
»Es sieht ganz so aus, als brauche Anne einen Verlobten,
der Alington die Stirn bietet. Die Verlobung mit Cecil
Romer muss gelöst werden«, meinte Sidney. »Ich nehme
an, es gibt bereits einen Plan, wie das geschehen soll?«
»Natürlich. Miss Haycroft wird einfach sagen, dass sie
festgestellt hat, dass Mr. Romer doch nicht zu ihr passt.«
»Sehr gut!« Sidney strahlte auf einmal übers ganze
Gesicht. »Dann werde ich mich einfach mit ihr verloben.«
Mit den Händen bedeutete er seinem Cousin, der protestie-
ren wollte, zu schweigen. »Ich bin ein viel überzeugenderer
Verlobter als dieser Cecil Romer, und zwar aus mehreren
Gründen: Erstens gibt es mich wirklich; zweitens bin ich in
London und kann Anne den Hof machen, wie es sich
gehört; drittens entstamme ich einer einflussreichen
Familie; viertens bin ich jünger und attraktiver und netter
als Alington; und fünftens bin ich ziemlich wohlhabend.
Das ist wahrscheinlich besonders für Cosmo Haycroft von
Bedeutung.«
»Er wird dich trotzdem nicht akzeptieren, furchte ich«,
meinte Justin amüsiert. »Aber wenn er es doch tut, wirst du
womöglich schneller verheiratet sein, als dir lieb ist. Es ist
sehr schwer, sich gegen die Wünsche einer Frau und die
Erwartungen der Gesellschaft zu stellen. Ehe du dich
versiehst, wirst du vor dem Altar stehen.«
Sidney war ein wenig blass geworden, doch mannhaft
hielt er dem Blick seines Cousins stand. »Wenn es sich
tatsächlich als nötig erweisen sollte, werde ich Anne
natürlich heiraten. Sie ist ein nettes Mädchen, zudem
hübsch, klug und wohlhabend. Ich könnte es wirklich
schlechter treffen, findest du nicht?«
Hierin war Lord Rochford mit seinem Cousin einer
Meinung. Trotzdem behagte ihm die Vorstellung, Anne
könne Mrs. Sidney Fairfax werden, überhaupt nicht. Nun,
vorerst ging es ja nur um eine Verlobung. Und als
Verlobter mochte Sidney tatsächlich wesentlich besser
geeignet sein als Cecil Romer.
»Gehen wir zu Tante Mary und Miss Haycroft und fragen
sie, was sie von deinem Plan halten«, schlug Justin vor.

6. KAPITEL
In der Lower Brook Street hatte man Justin und Sidney
schon erwartet Der Butler führte die beiden Gentleman in
den Salon, wo Lady Mary ihnen nach einer kurzen,
herzlichen Begrüßung erklärte: »Ich bin der Meinung, dass
es Anne vielleicht helfen würde, wenn sie einen Verlobten
in London hätte.« Dabei schaute die alte Dame Justin an,
als erwarte sie, er würde sogleich anbieten, diese Rolle zu
übernehmen.
Justin hätte ihr den Gefallen wahrscheinlich sogar getan.
Doch ehe er etwas sagen konnte, sprang Sidney auf,
verbeugte sich vor tief vor Anne und sagte in feierlichem
Ton: »Miss Haycroft, es wäre mir eine große Ehre, wenn
Sie meine Braut würden – vorübergehend, versteht sich.«
Anne musste ein Lächeln unterdrücken. Ihr war klar, dass
Sidney all seinen Mut hatte zusammennehmen müssen, um
ihr einen Antrag zu machen. Vermutlich fürchtete er, sie
könne sein Angebot ernst nehmen und sich später weigern,
die Verlobung wieder zu lösen. Dann wäre er gezwungen,
sie wirklich zum Altar zu führen.
Lady Mary nickte Anne aufmunternd zu.
»Vielleicht ist es gar nicht nötig, unsere Verlobung offiziell
bekannt zu geben?« überlegte Anne laut. »Sie müssten nur
gelegentlich mit mir an Bällen und anderen Gesellschaften
teilnehmen, Mr. Fairfax. Solange wir Lord Alington nicht
treffen, ist es unnötig, dass ich Sie irgendwem als meinen
Verlobten vorstelle.«
»Aber wird es möglich sein, Lord Alington aus dem Weg
zu gehen?« warf Justin ein.
Anne legte die Hände an die Schläfen, senkte den Blick
und überlegte eine Weile. Schließlich schaute sie Sidney fest
in die Augen. »Mr. Fairfax, es ist mir eine Ehre, Ihren
großzügigen, zeitlich begrenzten Antrag anzunehmen.«
Sidney sah ein wenig blass aus, aber er lächelte.
Justin lächelte nicht. »Ihr werdet Pläne für die nächsten
Tage schmieden wollen«, sagte er. »Darf ich mich also
verabschieden?«
Lady Mary betrachtete ihn forschend. Dann erhob sie
sich. »Ich begleite dich zur Tür.« Gemeinsam schritten sie
zur Eingangshalle. »Du hast nicht vergessen, was du mir
versprochen hast, Justin?«
»Herauszufinden, warum Haycroft seine Nichte unbe-
dingt mit Alington verheiraten will? Nein, das habe ich
nicht vergessen. Aber leider kann ich dir noch nichts über
seine Motive sagen. Bis bald, Tante Mary.« Justin wandte
sich zum Gehen.
Vor dem Haus traf er auf Lady Metcalf und ihren Neffen
Henry. »Gut, Sie zu sehen, Rochford«, meinte dieser. »Ich
habe da nämlich eine Frage…« Eine leichte Röte breitete
sich auf seinen Wangen aus. »Dieser Cecil Romer, ist er
ein Gentleman? Wird er Miss Haycroft glücklich ma-
chen?«
»Soweit ich weiß«, gab Justin zurück, »haben Miss
Haycroft und Mr. Romer in gegenseitigem Einverständnis
beschlossen, die Verlobung zu lösen.«
Henry Metcalfs Gesicht leuchtete auf. »Sehr gut«,
murmelte er.
Armer Junge, dachte Justin, während er Henry Metcalf
nachschaute, wie dieser mit beschwingten Schritten auf die
Tür zu Lady Marys Haus zueilte.
Lord Rochford hatte sich entschieden, zuerst bei White’s
hereinzuschauen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass er
Cosmo Haycroft so früh am Tag dort antreffen würde, aber
vielleicht erfuhr er von einem der anderen Gäste etwas
Interessantes über Annes Onkel.
Es war Lord Alvanley, der Justin an seinen Tisch winkte
und ihn zu einem Glas Wein einlud. »Man hat Sie in letzter
Zeit selten hier gesehen, Rochford«, bemerkte er. »Könnte
das damit zusammenhängen, dass die schöne Miss
Bonham eine zunehmend wichtige Rolle in Ihrem Leben
spielt?«
Justin hob die Augenbrauen. »Miss Bonham ist eine
bewunderungswürdige junge Dame, aber ich bringe ihr
kein besonderes Interesse entgegen.« Er seufzte auf. »Ich
war mit anderen Dingen beschäftigt. Meine Tante hat einen
Gast und…«
»Ah, die talentierte Miss Haycroft!« fiel Lord Alvanley
ihm ins Wort. »Derzeit wird viel über sie gesprochen. Es
heißt, dass sie Lord Alington heiraten wird. Aber das kann
ich nicht glauben.«
»Sie haben Recht. Miss Haycroft wird Alington niemals
ihr Jawort geben. Es hat eher den Anschein, dass sie sich zu
meinem Cousin Sidney hingezogen fühlt. Allerdings darf
man nicht außer Acht lassen, dass Cosmo Haycroft ihr
Vormund ist. Und angeblich übt Alington Druck auf
Haycroft aus.«
»Das Gerücht ist mir auch schon zu Ohren gekommen.
Aber ich weiß wirklich nicht, ob es der Wahrheit ent-
spricht.«
Da er hier offenbar nicht mehr erfahren würde, plauderte
Justin noch ein wenig über andere Dinge mit Lord Alvanley
und verabschiedete sich dann, um zu Brook’s zu gehen. Dort
aß er mit Mr. Selwyn und Mr. Byng zu Abend. Nach einer
Weile gelang es ihm, das Gespräch auf Cosmo Haycroft zu
bringen.
»Wie ich gehört habe«, stellte Mr. Selwyn fest, »hat
Haycroft in letzter Zeit große Summen im Spiel verloren.
Ich war ganz erstaunt darüber, dass er über so viel Geld
verfügt. Schon vor Monaten hieß es, dass er hoch ver-
schuldet sei.«
»Vielleicht hat er auf Geld zurückgegriffen, das ihm gar
nicht gehört?« überlegte Justin laut.
»Sie meinen, er könne sich am Erbe seines Mündels
vergriffen haben?« Selwyn runzelte die Stirn. »Das wäre
durchaus vorstellbar. Dann allerdings hat er sein Recht,
Miss Haycrofts Vormund zu sein, verwirkt. Ich kenne mich
in diesen Dingen nicht aus, aber ich bin der Meinung,
Miss Haycroft sollte ihren Anwalt aufsuchen und ihn um
Rat bitten.«
»Rochford«, mischte sich nun Mr. Byng ein, »Sie kennen
Miss Haycroft doch. Ich denke, Sie sollten das Mädchen
warnen.«
»Hm…«, murmelte Justin. »Ich frage mich, ob auch
Alington eine Rolle in dieser Geschichte spielt.«
»Mit Sicherheit«, gab Mr. Selwyn zurück. »Haycroft hat
große Summen an ihn verloren. Alington hat, wie Sie
wissen müssen, enormes Glück im Spiel.«
»Wenn es Glück ist…«, bemerkte Mr. Byng leise. »Ich
jedenfalls würde nie mit Alington spielen.«
Zwei Tage später stattete Justin seiner Tante einen
Besuch ab. Sie begrüßte ihn sichtlich erfreut. »Ich hoffe,
du hast Neuigkeiten für mich?«
»Ich habe möglichst unauffällig ein paar Informationen
gesammelt«, gab Justin zurück. »Wie es aussieht, stecken
sowohl Cosmo Haycroft als auch Lord Alington in finan-
ziellen Schwierigkeiten. Letzterer versucht seine Situation
durch Gewinne im Spiel zu verbessern – und natürlich
durch die geplante Ehe mit Miss Haycroft. Man sagt
übrigens hinter vorgehaltener Hand, dass er auffällig viel
Glück im Spiel hat. Eine Reihe von Gentlemen spielen
deshalb nicht mehr mit ihm.«
Lady Mary nickte. »Gibt es sonst noch etwas, das ich
wissen sollte, das Anne aber vielleicht besser nicht erfährt?
Sie wird sich gleich zu uns gesellen.«
»Nur ein paar weitere Einzelheiten. Haycroft und Aling-
ton scheinen oft zusammen gespielt zu haben, und
natürlich hat Haycroft verloren. Viel mehr, als er angeblich
aus eigenen Mitteln aufbringen kann! Ach ja, sie spielen in
letzter Zeit immer bei White’s, weil Alington bei Brook’s
nicht mehr erwünscht ist.«
»Tatsächlich? Dann scheint der Verdacht, dass er be-
trügt, wirklich begründet zu sein.«
»Es gibt noch einen anderen Verdacht: Haycroft soll sich
an Annes Erbe vergriffen haben. Ich denke, sie sollte
deshalb unbedingt mit ihrem Anwalt sprechen.«
»Das sollte sie allerdings!« Lady Mary nickte heftig.
»Wie geht es ihr überhaupt?« erkundigte sich Justin und
gratulierte sich selbst zu seiner Geduld, denn am liebsten
hätte er diese Frage gleich als Erstes gestellt.
»Es geht ihr gut. Sidney und Henry Metcalf waren gestern
gemeinsam mit Jemima Green und Susan Price hier. Die
jungen Leute haben dann noch George Harcourt abgeholt
und sind in den Richmond Park gefahren. Ich hatte dafür
gesorgt, dass sie einen Picknickkorb mitnahmen. Und
außerdem habe ich James mitgeschickt.«
Justin lächelte. James war der kräftigste von allen
Bediensteten im Haus, und zweifellos hatte er den Auftrag
gehabt, Anne vor allen Gefahren zu beschützen.
»Ich bin froh, dass du darauf achtest, Anne nicht ohne
Schutz hinauszulassen. Eine große Gruppe ist immer von
Vorteil. Und James’ Anwesenheit wird ein Übriges zu ihrer
Sicherheit beitragen.«
»Ja, es ist gut, dass man sich auf James verlassen kann. Er
hat mir einen kurzen Bericht über den Ausflug gegeben.
Offenbar gab es keine unangenehmen Zwischenfalle, und
Anne hat sich – ebenso wie die anderen – gut amüsiert.«
»Das habe ich tatsächlich!« bestätigte Anne, die in diesem
Moment ins Zimmer trat. Sie begrüßte Justin mit einem
strahlenden Lächeln, obwohl ihre Knie bei seinem Anblick
weich geworden waren und sich ein seltsames Gefühl in
ihrem Magen ausbreitete. Sie ließ sich in einen Sessel
sinken. »Es macht Spaß, mit Jemima, Susan und den
jungen Herren etwas zu unternehmen. Allerdings muss ich
gestehen, dass ich mein Klavierspiel in den letzten Tagen
sträflich vernachlässigt habe. Ich muss unbedingt wieder
etwas mehr üben.«
»Vielleicht können Sie Mr. Parker später etwas vorspie-
len, liebes Kind?« meinte Lady Mary. »Sie wissen ja, dass
er heute zum Dinner kommt. Ich dachte, ich sollte ihn
einmal einladen, als Dank dafür, dass er uns auf diese
wunderschöne Bootstour mitgenommen hat.«
Justin nickte ungeduldig. Er hatte noch etwas mit Anne zu
besprechen, ehe Mr. Parker erschien. »Miss Haycroft«,
begann er, »ich habe eine dringende Bitte an Sie. Suchen
Sie Ihren Anwalt auf! Es gibt ein Gerücht, das besagt, Ihr
Onkel habe sich an Ihrem Erbe vergriffen. Irgendjemand
muss sich darum kümmern. Ich hoffe, Ihr Anwalt wird
diese Aufgabe übernehmen.«
»O Himmel!« Anne war blass geworden. »Ich hätte
damit rechnen müssen! Tatsächlich hatte ich schon seit
langem den Verdacht, dass Onkel Cosmo mehr im Spiel
verliert, als er selbst aufbringen kann. Manchmal denke
ich, dass das Spielen wie eine Sucht für ihn ist. Er könnte
wahrscheinlich, selbst wenn er es wollte, nicht damit
aufhören.«
»Ganz gleich, wofür er das Geld ausgibt, er hat kein
Recht, etwas von Ihrem Erbe abzuzweigen!« erklärte Lady
Mary. »Und es ärgert mich besonders, weil er Ihnen stets
so wenig Geld zur Verfügung gestellt hat. Eine junge Dame
sollte in der Lage sein, ihre Schneiderin zu bezahlen und
sich die nötigen Accessoires anzuschaffen!«
Anne seufzte tief auf. »Ich werde wohl wirklich meinen
Anwalt aufsuchen müssen. Leider weiß ich kaum etwas
über ihn. Sein Name ist Kestell, und seine Kanzlei befindet
sich in der Threadneedle Street.«
»Ah, das trifft sich gut. Er ist der Partner meines eigenen
Anwalts!« rief Lord Rochford aus. »Möchten Sie, dass ich
einen Termin für Sie festmache?«
»Das wäre sehr freundlich. Und ich wäre Ihnen zu gro-
ßem Dank verpflichtet, wenn Sie mich zu Mr. Kestell
begleiten könnten.«
Justin deutete eine Verbeugung an. »Stets zu Diensten,
Miss Haycroft. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald der
Termin feststeht.«
»Ich glaube, ich höre Mr. Parker draußen«, ließ sich jetzt
Lady Mary vernehmen. »Er ist pünktlich wie immer!
Justin«, wandte sie sich noch einmal an ihren Neffen, »du
bleibst doch auch zum Dinner?«
Justin nahm die Einladung dankend an, und er bereute es
nicht. Wie er sehr wohl wusste, beschäftigte seine Tante
einen hervorragenden Koch. Da auch die Gesellschaft
angenehm war, wurde es ein netter Abend.
Nach dem Mahl tranken die Herren noch ein Glas Port
und gesellten sich dann wieder zu den im Salon wartenden
Damen. Man plauderte angeregt über dies und das, bis Mr.
Parker erwähnte, dass am kommenden Tag im Hyde Park
ein Ballon aufsteigen sollte.
»Ich habe auch schon davon gehört«, sagte Anne. »Mr.
Fairfax und Mr. Metcalf wollen mit Miss Green und Miss
Price an dem Ereignis teilnehmen.«
»Dann möchten Sie sich wohl gern anschließen?« Justin
musterte Anne aufmerksam. Er bereute es jetzt, dass er
versprochen hatte, am nächsten Tag ihren Anwalt aufzusu-
chen. Lieber hätte er sie in den Park begleitet.
»Ich habe noch nie einen Ballonstart gesehen und würde
es so gern einmal miterleben!« gestand Anne. »Mr. Fairfax
hat versprochen, morgen Mittag hier vorbeizukommen, um
mich abzuholen, wenn Lady Mary damit einverstanden ist.«
»Natürlich, meine Liebe«, stimmte Lady Mary zu. »Es
wäre allerdings nett, wenn ein dritter Gentleman zur
Gruppe gehörte.«
»Sidney hat Mr. Harcourt gefragt, ob er sich nicht an-
schließen wolle«, berichtete Anne. »Dieser hatte jedoch
schon eine andere Verabredung.«
»Hm…« Lady Mary runzelte die Stirn. »Sie können sich
Sidney und den anderen natürlich trotzdem anschließen,
Anne. Ich werde allerdings dafür sorgen, dass auch James
Sie begleitet. Es wird großes Gedränge im Hyde Park
herrschen. Da brauchen Sie jemanden, der auf Sie Acht
gibt.«
Am späten Vormittag des nächsten Tages kam Sidney, um
Anne abzuholen. In seiner offenen Kutsche befanden sich
schon Jemima Green, Susan Price und Henry Metcalf, und
so gab es ein fröhliches Wiedersehen. Allerdings hatte die
Anwesenheit der anderen auch zur Folge, dass Anne Sidney
nicht über das bevorstehende Treffen mit ihrem Anwalt
informieren konnte. Als ihr angeblicher Verlobter wäre es
seine Pflicht gewesen, sie zu Mr. Kestell zu begleiten. Doch
tatsächlich schien Sidney sich nicht besonders für Anne und
das, was sie vielleicht mit ihm bereden wollte, zu interessie-
ren. Den größten Teil der Zeit widmete er seine Aufmerk-
samkeit Susan Price.
Anne fiel ein, dass er das auch schon bei dem Picknick im
Richmond Park getan hatte. Sie lehnte sich zurück,
beobachtete die beiden und sagte sich schließlich, dass hier
ein Problem entstehen könnte, mit dem niemand gerechnet
hatte. Bedauerte Sidney womöglich bereits, dass er sich
erboten hatte, als ihr Verlobter aufzutreten?
»Zum Glück sind wir früh genug, um uns einen guten Platz
zu sichern«, stellte Sidney zufrieden fest, als die Pferde in
den Hyde Park einbogen. »Wir wollen nicht zu nah heran
fahren. Schließlich geht es uns in erster Linie darum zu
sehen, wie der Ballon aufsteigt.«
Es standen bereits ein Menge Kutschen am Rand des
Weges und auch auf der großen Rasenfläche, in deren
Mitte sich der Ballon befand. Er wurde durch viele im
Boden verankerte Seile festgehalten.
Fasziniert beobachtete Anne die unzähligen Menschen,
die über die Wiese spazierten, den Ballon und seinen Korb
begutachteten und die Ballonfahrer mit Fragen überhäuften.
Sie selbst verspürte keinerlei Lust, die Kutsche zu verlassen.
Sie machte es sich bequem, suchte in der Menschenmenge
nach bekannten Gesichtern und bewunderte die modische
Eleganz der meisten Anwesenden.
»Sehen Sie nur, es geht los!« In ihrer Aufregung hatte
Susan nach Sidneys Arm gegriffen und hielt ihn nun fest
umklammert.
Nur gut, dass es mich nicht kränkt, wenn mein Verlobter
mich kaum beachtet, dachte Anne. Dann widmete sie ihre
gesamte Aufmerksamkeit dem grün-goldenen Ballon, der
sich jetzt majestätisch in die Lüfte erhob. Es war wirklich
ein beeindruckendes Bild.
»Wie herrlich!« rief Jemima aus. »Stellen Sie sich nur vor,
was man von dort oben alles sehen kann!«
»Eines Tages möchte ich auch eine Ballonfahrt unter-
nehmen«, sagte Susan leise zu Sidney.
»Dann werde ich dafür sorgen, dass Ihr Traum sich
erfüllt«, versprach Sidney mit einem zärtlichen Lächeln.
O Himmel, dachte Anne, er scheint tatsächlich in sie
verliebt zu sein.
»James«, wandte Jemima sich jetzt an Lady Marys
Bediensteten, der die Gruppe, wie geplant, begleitet hatte,
»würden Sie uns etwas Limonade von dem Stand dort
drüben holen?«
James machte sich sofort auf den Weg.
»Es ist so warm, dass man wirklich durstig wird«, meinte
Jemima zu den anderen.
»Ja, wir haben schon richtiges Sommerwetter«, stimmte
Anne zu. »Dabei ist doch erst Mai.« Dann zuckte sie
zusammen.
»Guten Tag, Miss Haycroft«, hatte jemand gesagt.
Neben Sidneys Landauer stand Lord Alington. »Bitte,
steigen Sie sofort aus. Ich habe mich lange genug geduldet.
Nun ist es an der Zeit, dass Sie mich zu Ihrem Onkel
begleiten und so bald wie möglich meine Gattin werden.
Kommen Sie also, meine Teure!«
»Nein!« erklärte Anne mit fester Stimme, obwohl sie
innerlich vor Angst zitterte.
Lord Alington griff nach ihrem Arm und umklammerte
diesen mit unerwarteter Kraft. »Kommen Sie!« wiederhol-
te er drohend.
»Ich werde diese Kutsche nicht verlassen!« rief Anne
aus. »Und ich werde Sie nicht heiraten. Das habe ich Ihnen
doch bereits gesagt!«
Sidney, der genau wie die anderen im ersten Moment wie
versteinert gewesen war, erhob sich und trat neben Anne,
um ihr zu helfen.
»Fairfax!« Ein unangenehmes Lächeln zeigte sich auf
Lord Alingtons Gesicht. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich
habe keine Angst, es mit Ihnen aufzunehmen.« Alington
hielt plötzlich einen kleinen Dolch in der Hand.
Anne klammerte sich mit aller Kraft an den Rand der
Kutsche. Ihr Blick wanderte Hilfe suchend zu Henry
Metcalf. Doch dieser hatte den Arm schützend um Jemima
gelegt und machte keinerlei Anstalten, ihr und Sidney zu
Hilfe zu kommen.
Während er das Messer noch immer auf Sidney gerichtet
hielt, verstärkte Lord Alington mit der anderen Hand den
Druck auf Annes Unterarm. Sie musste ein Stöhnen
unterdrücken. O Himmel, es tat weh! Sie hätte nie gedacht,
dass Alington so stark war! Wenn ihr doch nur jemand
helfen würde! Aber die Menschen ringsumher schenkten
der Szene keine Beachtung.
Selbst wenn ich schreie, fuhr es Anne durch den Kopf,
werden sie das Ganze für ein Spiel halten!
»Raus aus der Kutsche!« zischte Lord Alington.
Anne spürte, dass sie den Schmerz nicht mehr länger
ertragen konnte. Langsam erhob sie sich und setzte den
Fuß auf die oberste Stufe der Kutsche.
»Schneller!«
Jetzt stand Anne auf dem Boden. Sie zitterte am ganzen
Körper.
»Gut. Da drüben wartet meine Kutsche. Beeilen wir
uns!«
Anne hatte den geschlossenen Reisewagen bisher nicht
bemerkt. Nun allerdings erkannte sie das Wappen auf der
Tür. Lord Alington musste sie schon seit längerer Zeit
beobachtet haben. Er hatte auf seine Chance gewartet und
sie genutzt.
Nein! Zorn durchflutete Anne und vertrieb etwas von der
Angst, die sie erfüllte. Sie wollte nicht Lady Alington
werden! Sie würde nicht kampflos nachgeben, nachdem sie
sich so sehr bemüht hatte, diese Ehe zu verhindern! Sie
hatte Sidneys Landauer verlassen, aber sie würde nicht in die
Reisekutsche steigen!
»Los!« drängte Lord Alington. Und als Anne sich nicht
rührte, verdrehte er ihr den Arm, bis sie vor Schmerz
aufschrie.
Sidney zuckte zusammen und sprang aus der Kutsche.
»Hören Sie, Alington«, begann er, »das können Sie nicht
machen. Lassen Sie Miss Haycroft los! Es steht Ihnen
nicht zu…«
»Ruhe!« unterbrach der Viscount ihn scharf.
»Aber der Junge hat Recht!«
Anne wäre vor Erleichterung fast in Ohnmacht gefallen.
Hinter Alington war plötzlich der Earl of Rochford
aufgetaucht.
»Mein Cousin hat Recht«, wiederholte Justin. »Es steht
Ihnen nicht zu, Alington, in irgendeiner Form über Miss
Haycroft zu verfügen. Geben Sie die junge Dame also frei,
und zwar sofort!« Lord Rochford wirkte völlig gelassen,
war ganz Herr der Situation. Langsam trat er auf Annes
Peiniger zu. In der Hand hielt er seinen Stock.
Lord Alington drehte sich um, so dass er Justin ins
Gesicht schauen konnte. Hatte er zunächst noch recht
selbstsicher gewirkt, so veränderte sich seine Miene nun.
Justins Augen schienen Blitze zu sprühen. Der Viscount
wandte den Blick ab und bemerkte dabei den Stock.
»Verflucht, Rochford, was soll das?«
Jetzt sah auch Anne es: Der Stock hatte eine metallene
Spitze, die man wie einen Degen benutzen konnte.
»Am besten gehen Sie jetzt zu Ihrer Kutsche, und zwar
ohne Miss Haycroft!« meinte Justin gelassen. »Steigen Sie
ein, und verschwinden Sie.«
Lord Alington stieß einen weiteren Fluch aus, tat dann aber
genau das, was von ihm erwartet wurde.
Anne war frei.
Sie starrte Lord Alington nach, bis dieser den Schlag
seiner Kutsche hinter sich geschlossen hatte. Dann erst
wagte sie, Justin anzuschauen. »Danke!« sagte sie aus
tiefstem Herzen. Dann wurde ihr schwindelig.
Es war Sidney, der sie stützte. Gleich darauf war auch
Lord Rochford an ihrer Seite. »Vorsichtig!« Sanft legte er
ihr den Arm um die Taille. »Wir bringen sie zu meinem
Phaeton«, sagte er zu Sidney.
Anne spürte, wie sie hoch gehoben wurde. »Es wird Ihnen
bald besser gehen«, hörte sie Justin sagen. Unwillkürlich
schlang sie die Arme um seinen Nacken.
»So!« Gemeinsam hoben Sidney und Justin die junge
Dame auf den Sitz des Phaeton.
Anne schloss die Augen und bemühte sich, tief und
gleichmäßig zu atmen. Sie fühlte sich jetzt wieder besser.
Wenn ihr Arm nur nicht so geschmerzt hätte!
»Wir sprechen uns noch«, sagte Justin zum Abschied zu
seinem Cousin. Dann nahm er die Zügel aus der Hand des
Burschen entgegen, der die Pferde gehalten hatte. Und
schon ging es los.
Der Phaeton war ein sportliches Vehikel und eigentlich
nicht geeignet, Verletzte zu transportieren. »Lehnen Sie
sich an mich«, forderte Justin Anne besorgt auf. Beschüt-
zend legte er ihr den Arm um die Schulter. Als Mitglied des
Vierspänner-Clubs fiel es ihm leicht, die Pferde mit einer
Hand zu lenken.
In erstaunlich kurzer Zeit hatten sie die Lower Brook
Street erreicht. Vor Lady Marys Haus brachte Justin die
Kutsche zum Stehen. Sein Bursche, der hinten stehend
mitgefahren war, sprang ab und lief nach vorn, um die
Pferde zu halten. »Beweg die Tiere!« befahl Justin ihm kurz.
Dann sprang er selbst auf den Boden, hob Anne vom Sitz
und trug sie zum Eingang.
Potter, Lady Marys Butler, öffnete und schaute erschro-
cken auf Miss Haycrofts blasses Gesicht.
»Wir brauchen Ihre Frau«, erklärte Justin. »Sie kennt sich
doch mit der Behandlung von Verletzungen aus?«
»Ich schicke sie sogleich auf Miss Haycrofts Zimmer.«
Damit wandte der Butler sich ab. Justin begann, Anne
vorsichtig die Treppe hinauf zu tragen.
Die Tür des Salons wurde geöffnet, und Lady Mary eilte
heraus. »Was ist geschehen?« fragte sie besorgt.
»Alington hat versucht, Anne im Hyde Park zu entfüh-
ren. Wie du siehst, ist es ihm nicht gelungen. Aber er hat
ihr eine schmerzhafte Verletzung zugefügt.«
Hinter Lady Mary waren nun auch Lady Metcalf, Mr.
Witherspoon und Mr. Parker aufgetaucht. Sie alle gaben
ihrer Entrüstung über Alingtons Verhalten und ihrem
Mitgefühl für Anne wortreich Ausdruck. Justin jedoch, der
trotz seiner Körperkraft Annes Gewicht deutlich spürte, war
nicht bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Begleitet von
seiner Tante brachte er Anne in ihr Zimmer.
Als er sie aufs Bett gleiten ließ, schlug sie die Augen auf.
»Es tut so weh«, murmelte sie.
Justin warf einen Blick zur Tür. Von Mrs. Potter war
noch nichts zu sehen. »Als Erstes«, wandte er sich daher
an Anne, »müssen Sie Ihren Mantel ausziehen.«
Anne nickte schwach. »Ich werde Hilfe brauchen.«
Es dauerte eine Weile, bis Lady Mary Annes verletzten
Arm aus dem Ärmel der Pelisse befreit hatte. Die alte
Dame unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. Annes Arm
war von blauen Flecken übersät. Besonders schlimm sah
die Stelle direkt über dem Handgelenk aus.
»Bei Jupiter«, entfuhr es Justin, »dafür soll Alington
büßen. Ich fürchte, Miss Haycroft, Sie werden noch
mehrere Tage lang heftige Schmerzen haben.«
»Ich hoffe nur, dass Alington mir die Schulter nicht
ausgerenkt hat«, murmelte Anne. »Sie schmerzt viel mehr
als der Arm.«
»Warum kommt Mrs. Potter nicht endlich!« rief Lady
Mary ungeduldig aus. »Sie kennt bestimmt ein Mittel gegen
Blutergüsse. Aber was wir mit der Schulter machen
sollen… Vielleicht wäre es am besten, einen Arzt zu
rufen.«
Anne schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein«,
meinte sie tapfer.
Justin spürte, wie eine Woge der Zärtlichkeit ihn über-
schwemmte. Er griff nach Annes unverletzter Hand. »Ich
wünschte, ich wäre eher da gewesen, Miss Haycroft. Es tut
mir so Leid, dass Sidney Ihnen nicht beigestanden hat.«
»Nun, er hat es versucht«, wollte Anne den jungen Mann
verteidigen. »Er…«
Lord Rochford unterbrach sie. »Wir werden später über
alles sprechen. Jetzt sollten Sie sich ausruhen. Ich komme
morgen Vormittag vorbei. Und wenn es Ihnen gut genug
geht, fahren wir zusammen zu Mr. Kestell.«
In diesem Moment betrat Mrs. Potter, die einen Korb mit
Salben und Verbandszeug trug, den Raum. Ein Mädchen
mit einer Schüssel heißem Wasser folgte ihr.
Justin drückte ermutigend Annes Hand und verabschie-
dete sich. Gemeinsam mit seiner Tante begab er sich zum
Salon, wo Lady Marys Gäste aufgeregt und ungeduldig
warteten.
Nachdem Mrs. Potter sich fachkundig um ihre Verletzun-
gen gekümmert hatte, schlief Anne erschöpft ein. Als sie
einige Stunden später erwachte, hatte der Schmerz merklich
nachgelassen. Sie bewegte vorsichtig den Arm und seufzte
tief auf.
»O Miss!« rief Cherry, das Mädchen, das sich in Lady
Marys Haushalt um Anne kümmerte, aus. »Sie sind wach!
Fühlen Sie sich besser? Nein, bewegen Sie sich bitte nicht!
Ich werde sofort Ihre Ladyschaft holen. Sie hat sich solche
Sorgen gemacht!«
Anne blieb gehorsam liegen, überlegte aber, dass es wohl
besser sei, doch noch aufzustehen. Sie würde sonst in der
Nacht wahrscheinlich nicht schlafen können.
Gleich darauf betrat Lady Mary, gefolgt von Lord Roch-
ford, das Zimmer. Anne lächelte den beiden zu und
erklärte, dass sie es vorziehen würde, sich im Salon mit
Ihnen zu unterhalten. »Ich werde mich aufs Sofa legen, das
ist beinahe genauso bequem wie mein Bett. Und niemand
könnte dort etwas gegen die Gegenwart eines Gentleman
einwenden.«
Lady Mary nickte. Es gehörte sich wirklich ganz und gar
nicht, dass ihr Neffe sich in Annes Zimmer aufhielt.
»Reicht es, wenn Cherry Ihnen behilflich ist?« fragte sie
besorgt.
»Natürlich!«
Tatsächlich war Cherry überaus geschickt und vorsichtig.
Es dauerte zwar eine Weile, aber schließlich betrat Anne
den Salon, wo man bereits Kissen und Decken auf dem Sofa
für sie bereitgelegt hatte.
»Ich bin froh, dass ich noch heute Gelegenheit habe, mit
Ihnen zu sprechen, Lord Rochford«, begann Anne.
Lady Mary warf ihr einen forschenden Blick zu. Anne
schien offenbar darauf zu brennen, ein paar Worte unter
vier Augen mit Justin zu wechseln. Ohne zu zögern, erhob
Lady Mary sich. »Ich werde Mrs. Potter bitten, Ihnen noch
ein schmerzstillendes Mittel zuzubereiten«, erklärte sie und
verließ den Raum.
»Es geht um Sidney«, sagte Anne leise zu Lord Roch-
ford. »Er ist ein lieber Junge, aber seit kurzem gilt seine
ganze Aufmerksamkeit Susan Price. Ich fürchte, er wird in
Zukunft die Rolle meines Verlobten nicht gerade überzeu-
gend spielen.«
Justin nickte. »Ich habe bereits darüber nachgedacht, ob
es nicht am besten wäre, wenn ich mich als Ihr Verlobter
ausgeben würde.«
»Sie?« flüsterte Anne kaum hörbar.
»Sie haben Einwände gegen diesen Plan?« Lord Roch-
ford sah ein wenig gekränkt drein.
»Nein, nein«, stammelte Anne. »Es ist nur… Ich dachte,
Ihr Interesse würde Caroline Bonham gelten.«
»Miss Bonham? Nun, sie interessiert mich nicht beson-
ders. Offen gestanden, ich finde sie etwas… aufdringlich.
Natürlich habe ich versucht, höflich ihr gegenüber zu sein.
Ich hoffe allerdings, dass sie ihre Aufmerksamkeit George
Harcourt zuwenden wird.«
Anne war so erleichtert, dass sie einen Moment lang sogar
die Schmerzen in Arm und Schulter vergaß.
»Wir können Sidney also mitteilen, dass er frei von allen
Verpflichtungen ist«, erklärte Justin in erstaunlich zufriede-
nem Ton. »Wie gut, dass Ihre vorgebliche Verlobung mit
ihm bisher nicht öffentlich bekannt gegeben worden ist.«
In diesem Moment kam Lady Mary, begleitet von Mrs.
Potter, zurück. »Sidney möchte mit Ihnen sprechen, liebes
Kind«, teilte sie Anne mit. »Fühlen Sie sich wohl genug,
um ihn zu empfangen?«
»Ja, wir haben ihm sowieso etwas mitzuteilen«, gab
Anne zurück.
»Am besten trinken Sie vorher rasch diesen Tee.« Mrs.
Potter hielt Anne eine Tasse hin, die mit einer intensiv
duftenden Flüssigkeit gefüllt war. »Sie werden gleich
merken, wie die Schmerzen nachlassen.«
Anne trank den Tee, reichte Mrs. Potter die leere Tasse
und sagte: »Würden Sie bitte Mr. Fairfax heraufschicken?«
Gleich darauf betrat Sidney den Raum. Er wirkte sehr
verlegen und entschuldigte sich mehrmals für sein
Verhalten im Hyde Park.
»Wie ich höre, hast du dich zu sehr von Susans Charme
gefangen nehmen lassen?« meinte Justin vorwurfsvoll.
Sidney errötete. »Ich fürchte, das stimmt. Susan ist ein so
nettes Mädchen.«
Justin und Anne tauschten einen Blick. »Wir sind über-
eingekommen, Sie von allen Verpflichtungen mir gegen-
über zu befreien, Mr. Fairfax«, erklärte Anne.
Sidneys Augen leuchteten auf. »Danke, das ist sehr
großzügig von Ihnen.«
Wie verabredet, kam Lord Rochford am nächsten Vor-
mittag, um Anne zu einem Treffen mit Mr. Kestell, ihrem
Anwalt, abzuholen. Da die junge Dame sich inzwischen viel
besser fühlte, stand dem Besuch nichts im Wege.
Das Gespräch mit Mr. Kestell erwies sich tatsächlich als
sehr aufschlussreich. Wie sich herausstellte, hatte Mr.
Haycroft sich regelmäßig größere Summen aus Annes Erbe
auszahlen lassen. Dem Anwalt hatte er stets versichert, dass
dieses Geld für die Garderobe seiner Nichte und andere
notwendige Dinge bestimmt sei.
Als Mr. Kestell nun erfuhr, dass Anne so gut wie nie über
Bargeld hatte verfügen können, wurde er sehr ärgerlich. Er
schrieb sogleich eine Bankanweisung aus, damit sie ihre
Schulden bei Madame Clotilde und Lady Mary begleichen
konnte. »Wenden Sie sich an mich, wenn es Ihnen an
irgendetwas fehlt«, forderte er Miss Haycroft auf. »Ich
werde dafür sorgen, dass Sie so viel Geld erhalten, wie Sie
benötigen.«
»Danke!« Anne schaute die Bankanweisung nachdenklich
an. »Es ist sehr beruhigend zu wissen, dass ich nicht mehr
auf das Wohlwollen anderer angewiesen bin«, stellte sie
fest. Dann reichte sie Justin das Stück Papier. »Wenn Sie
so freundlich sein würden, dies für mich einzulösen? Es
erscheint mir nicht angeraten, die Bank selber aufzusu-
chen.«
Ein Lächeln huschte über Justins Gesicht. Eine junge
Dame, die in einer Bank Geld abheben wollte, wäre
wirklich ein sehr ungewöhnlicher Anblick gewesen. »Ich
danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir entgegenbrin-
gen«, sagte er. Dann führte er Anne, die sich noch immer
recht schwach fühlte, zurück zur Kutsche.
Keiner der beiden bemerkte, dass auf der gegenüberlie-
genden Straßenseite ein Gentleman plötzlich stehen blieb
und sie interessiert beobachtete. Einen Moment lang
verzog sein Gesicht sich zu einer boshaften Grimasse.
Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Interessant«,
murmelte Cosmo Haycroft, während er Lord Rochfords
Kutsche nachstarrte.
Am Nachmittag des folgenden Tages herrschte reger
Betrieb in Lady Marys Salon. Als Erste waren Jemima
Green und Susan Price gekommen, um Anne Gesellschaft
zu leisten. Dann waren auch Mr. Parker und Mr.
Witherspoon erschienen, die sich immer wieder mit
abschätzenden Blicken maßen. Jeder der Gentlemen
versuchte auf seine Art, Lady Marys Gunst zu gewinnen.
Doch bisher hatte die Dame keine besondere Vorliebe für
einen der beiden erkennen lassen. Schließlich tauchten auch
noch Lord Rochford, Sidney Fairfax und Henry Metcalf
auf.
Mit klopfendem Herzen stellte Anne fest, dass der Earl
alle freundlich begrüßte, jedoch nur ihr ein ganz spezielles
warmes Lächeln schenkte. Er setzte sich zu ihr. »Ich werde
morgen am Levee des Prinzen teilnehmen.«
»In Ihrer Hofkleidung werden Sie bestimmt blendend
aussehen«, entfuhr es Anne.
Justin lachte. »Ich persönlich bin froh, dass der aufwen-
dige Stil, der noch vor kurzem bei Hof gefragt war, jetzt
langsam aus der Mode kommt.«
»Heißt das etwa«, erkundigte Mr. Parker sich sichtlich
schockiert, »dass Sie einen Rock tragen werden, der nicht
bestickt ist?«
»Ich werde eine bestickte Weste anziehen«, beruhigte
Lord Rochford ihn. »Mein Rock ist tatsächlich eher einfach
gearbeitet.«
»Und seine Farbe?« wollte Mr. Parker wissen.
»Rock und Hosen sind dunkelblau.«
»Sie müssen uns unbedingt erzählen, wie es war.« Annes
blaue Augen waren fest auf Justins Gesicht gerichtet. Sie
sah sehr ernst aus.
»Gern. Vielleicht morgen Abend? Wenn Sie sich wohl
genug fühlen, könnten wir alle einen Ausflug nach
Vauxhall machen.«
»O ja!« Jemima klatschte begeistert in die Hände.
»Wird Miss Haycroft dort auch sicher sein?« gab Mr.
Witherspoon zu bedenken.
»Das hoffe ich. Ich werde auf sie Acht geben. Außerdem
hoffe ich auf Ihre Hilfe.«
»James sollte euch ebenfalls begleiten«, fiel Lady Mary
ein. »Und niemand darf ihn fortschicken, um Limonade zu
holen.«
Jemima errötete schuldbewusst.
»Keiner von uns ahnte, dass Alington im Park auftauchen
würde«, meinte Henry Metcalf mit einem liebevollen Blick
auf Jemima.
»Das stimmt.« Lady Mary nickte. »Und wir alle hoffen
von ganzem Herzen, dass er nicht in Vauxhall auftaucht.«
Am nächsten Morgen gab Lord Rochfords Kammerdiener
sich besondere Mühe beim Ankleiden seines Herrn.
Tatsächlich sah Justin ausgesprochen elegant und sehr
männlich aus, als er schließlich das Haus verließ, um sich
zum Levee des Kronprinzen zu begeben.
Im Palast des Prinzen überreichte er seine Karte einem
livrierten Pagen, der einen anderen herbeiwinkte. Dieser
führte den Earl ins Audienzzimmer. Dort entledigte Justin
sich seiner Handschuhe, nahm den Hut ab und überreichte
eine weitere Visitenkarte dem Dienst tuenden Kammer-
herr. Dieser wiederum kündigte den Besucher mit lauter
Stimme an.
Justin Fairfax, Earl of Rochford, ließ sich aufs rechte Knie
nieder und küsste die Hand des Regenten. Dann erhob er
sich, verbeugte sich und zog sich zurück, wobei es ihm
allerdings gelang, dem Prinzen einen Blick zuzuwerfen, der
deutlich zum Ausdruck brachte, dass er noch ein Anliegen
hatte.
Vor dem Audienzzimmer brauchte Justin nicht lange zu
warten, bis ein Page erschien, der ihm mitteilte, er möge
ihm folgen. Gleich darauf fand er sich in einem kleinen
Raum wieder, in dem auch andere Gentlemen auf eine
Privataudienz bei »Prinny« warteten.
Zum Glück erschien der Regent schon wenig später.
Justin, der sich genau überlegt hatte, wie er sein Anliegen
vorbringen sollte, schilderte kurz Annes Situation. »Ich
habe Lord Alington aufgefordert, Miss Haycroft nicht
länger zu belästigen. Ich hoffe, in Ihrem Sinne gehandelt zu
haben, Königliche Hoheit, indem ich einer bezaubernden
jungen Dame zu Hilfe kam.«
»Wir haben schon mehrfach von Alingtons seltsamem
Benehmen gehört«, gab der Prinz zurück. »Wir glauben,
dass er kein geeigneter Gatte für eine junge Dame wie Miss
Haycroft ist.«
Justin atmete tief auf und verbeugte sich erneut. »Vielen
Dank, Sir.«

7. KAPITEL
Am nächsten Tag ging es Anne wesentlich besser. Ihr
Arm und ihre Schulter schmerzten noch ein wenig. Aber
wenn sie sich auf etwas anderes konzentrierte, konnte sie
den Schmerz zumindest eine Zeit lang vergessen. Zwar
empfand sie eine seltsame Unruhe, wenn sie an den geplan-
ten Ausflug nach Vauxhall dachte. Gleichzeitig allerdings
freute sie sich auf die Abwechslung.
Am späteren Nachmittag kam Cherry, um ihr beim
Umkleiden zu helfen. Wenig später betrat Anne den Salon,
in dem sich mittlerweile Jemima Green, Susan Price und
Lady Metcalf, deren Neffe Henry sowie Sidney, Mr. Parker
und Mr. Witherspoon um Lady Mary versammelt hatten.
»Mir gefällt es gar nicht«, hörte Anne Mr. Witherspoon
sagen, »dass Miss Haycroft sich dieser Gefahr aussetzen
will. Vauxhall – das ist, als wolle sie sich in die Höhle des
Löwen begeben.«
»Ich hoffe, dass genügend Löwenbändiger mich beschüt-
zen werden«, meinte Anne lächelnd.
»Das hoffe ich auch.« Lord Rochford betrat den Raum
und schaute forschend in die Runde. »Sind wir vollständig?
Dann wollen wir aufbrechen. Tante Mary, möchtest du mit
mir fahren? Miss Haycroft und Mr. Parker können sich uns
anschließen.«
Die anderen stiegen in Mr. Witherspoons Kalesche und
Sidneys Landauer. Kurz darauf überquerten die drei
Gefährte die Westminster Bridge, und schon wenig später
hatten sie ihr Ziel erreicht.
Im Vauxhall hatte Justin zwei nebeneinander liegende
Pavillons gemietet, da einer nicht genug Platz für alle
Mitglieder der Gruppe bot. Aufgeregt sahen die jungen
Leute sich im Inneren um. Dann richteten sie ihre Aufmerk-
samkeit auf die vielen verkleideten Menschen, die draußen
spazieren gingen. Erst als das Dinner serviert wurde,
nahmen alle an den Tischen Platz.
Anschließend wollten sie paarweise das Gelände erfor-
schen. Lady Mary schärfte allen ein, dass sie zwei Wege
meiden müssten, den Lover’s Walk und den Hermit’s Walk,
die beide sehr schmal, dunkel und abgelegen seien. Susan
und Jemima kicherten, versprachen aber, genau wie Anne,
sich an Lady Marys Anweisungen zu halten.
Anne brach in Begleitung Lord Rochfords auf. Eine Zeit
lang gingen sie schweigend nebeneinander her. Sie dachte an
ihre erste Begegnung in der Kirche und an die Küsse, die er
ihr dort gegeben hatte.
»Vertrauen Sie mir?« fragte Justin plötzlich, fast als habe
er ihre Gedanken gelesen.
Anne zögerte. »Sie sind ganz anders, als ich zunächst
gedacht habe«, sagte sie schließlich. »Und das verwirrt
mich. Vielleicht traue ich mir selbst nicht recht…«
Er lachte und legte ihr mit einer beschützenden Geste den
Arm um die Schulter. »Offen gesagt, an Ihrer Stelle würde
ich mir ganz bestimmt nicht trauen.«
Anne warf ihm einen erstaunten Blick zu. Flirtete er etwa
mit ihr? Es passte so gar nicht zu ihm. Merkwürdig…
Sie bogen um eine Ecke und stießen auf Lady Mary und
Mr. Witherspoon, die beschlossen hatten, die verschiedenen
Pavillons zu besichtigen. Anne und Justin schlössen sich
Ihnen an, um den Pavillon am Cross Walk aufzusuchen.
Nachdem sie das elegante, wenn auch kleine Gebäude
ausreichend bewundert hatten, traten sie wieder auf den
Weg hinaus. Nach wenigen Schritten allerdings blieb Anne
wie angewurzelt stehen. »Onkel Cosmo«, flüsterte sie.
Tatsächlich kamen Mr. Haycroft und seine Gattin direkt
auf sie zu. »Ah«, bemerkte er in boshaftem Ton, »wie ich
sehe, liebe Nichte, hat dein Beschützer dich heute Abend
ausgeführt.«
Anne errötete bis unter die Haarwurzeln. Wie konnte ihr
Onkel es wagen anzudeuten, sie ließe sich von Lord
Rochford aushaken!
»Wie Sie sehr wohl wissen«, stellte Justin in diesem
Moment kühl fest, »ist Ihre Nichte Gast im Hause meiner
Tante, Lady Mary Croscombe, die uns im Übrigen hierher
begleitet hat.«
Jetzt trat Mr. Witherspoon vor und musterte Cosmo
Haycroft abschätzend. »Es ist nicht klug, eine junge Dame,
die mit Mrs. Drummond-Burrell verwandt ist, und einen
Earl, der vom Kronprinzen geachtet wird, zu beleidigen«,
teilte er Annes Onkel mit.
Ein hässliches Lachen verzerrte Mr. Haycrofts Gesicht.
»Ich werde dafür sorgen, Anne, dass du Lord Alington
heiratest«, sagte er, ehe er sich abwandte.
Justin zog Anne mit sich fort. »BeiJupiter«, murmelte er,
»ich kann es einfach nicht glauben, dass dieser Mann mit
Ihnen verwandt ist.«
»Mein Vater mochte ihn auch nicht besonders. Aber
leider ist er das einzige Mitglied meiner Familie, das
überhaupt als Vormund für mich infrage kam.«
»Immerhin«, meinte Justin, »hat Ihr Vater dafür gesorgt,
dass Mr. Haycroft nicht allein über Sie und Ihr Erbe
verfügen kann. Da ist immer noch Mr. Kestell. Ist Ihnen
klar, dass der Anwalt seine Einwilligung geben muss, damit
der Ehevertrag, den Ihr Onkel und Lord Alington Ihretwe-
gen schließen wollen, rechtskräftig wird?«
»Mr. Kestell könnte wenig unternehmen, wenn man mich
entfuhren würde«, gab Anne zu bedenken. Ihre Stimme
schwankte ein bisschen. Offenbar hatte die Begegnung mit
ihrem Onkel sie mehr erschreckt, als sie sich zunächst hatte
anmerken lassen.
»Ich glaube kaum, dass es einen weiteren Entführungs-
versuch geben wird«, versuchte Lord Rochford sie zu
beruhigen. »Außerdem wird es Sie freuen zu erfahren, dass
Mr. Kestell dafür gesorgt hat, dass Ihr Onkel keinen Zugriff
mehr auf Ihr Geld hat.«
»Oh!« Anne sah eher erschrocken als erleichtert aus. »Nun
wird Onkel Cosmo sich noch mehr bemühen, mich rasch
zu verheiraten!«
»Es wird ihm nicht gelingen.« Lord Rochford blickte sehr
entschlossen drein. »Ich habe übrigens daran gedacht, Sie
und Tante Mary auf meinen Landsitz einzuladen. Dort
könnten Sie sich freier bewegen als in London. Allerdings
ich möchte dem Glück meiner Tante nicht im Wege
stehen.«
Damit war es ihm gelungen, sie von ihren eigenen Sorgen
abzulenken. »Sie glauben, dass Lady Mary sich zu Mr.
Parker hingezogen fühlt?« erkundigte Anne sich. »Ob er
wohl der Gentleman ist, den sie als junges Mädchen geliebt
hat?«
Justin nickte. »Ich glaube fast, dass sie ihm nach Kanada
folgen wird, wenn er sie bittet, seine Gattin zu werden. Ich
hoffe nur, die beiden lassen sich noch etwas Zeit. Es wäre
gut, wenn Sie vorerst in der Lower Brook Street bleiben
könnten. Wann genau ist eigentlich Ihr Geburtstag, Miss
Haycroft?«
»Ich werde am 7. Juni Einundzwanzig, dann bin ich
volljährig.«
»Gott sei Dank«, entfuhr es Justin. »Das ist nicht mehr
allzu lange!«
Bedrückt senkte Anne den Blick. Sie hatte nicht erwartet,
dass Lord Rochford so ungeduldig darauf wartete, die
Verantwortung für sie loszuwerden. Bedauerte er womög-
lich, dass er sich bereit erklärt hatte, ihr zu helfen? War sie
ihm eine Last? Die Vorstellung schmerzte.
Als sie einige Zeit später wieder bei den Pavillons anka-
men, warteten die anderen dort bereits auf sie. Wie sich
herausstellte, hatte Mr. Parker Lady Metcalf den Spring-
brunnen gezeigt. Anne erschien das etwas merkwürdig.
Hatte er das Interesse an Lady Mary, seiner Jugendliebe,
verloren? Und hatte das womöglich etwas damit zu tun, dass
er erfahren hatte, wie reich Lady Metcalf war, seit sie
kürzlich ihren Großonkel beerbt hatte? Unwillkürlich
seufzte Anne auf. An diesem Abend war sie beinahe davon
überzeugt, dass alle Männer von Natur aus schlecht waren.
Ein lauter Knall riss sie aus ihren Gedanken. »Das Feuer-
werk beginnt!« rief Susan aufgeregt. »Oh, wie schön!«
Fasziniert beobachteten alle, wie der Himmel von künstli-
chen Sternen erhellt wurde. Auch Anne war beeindruckt.
Allerdings schrak sie jedes Mal, wenn eine Rakete gezündet
wurde, zusammen. »Es hört sich an, als würde jemand
schießen«, erklärte sie Lord Rochford, als sie bemerkte,
dass er sie besorgt betrachtete.
»Offen gesagt, ich hatte die gleiche Idee. Natürlich
möchte ich Sie nicht unnötig beunruhigen, aber halten Sie es
für möglich, dass Ihr Onkel versucht, die Kutsche abzufan-
gen, mit der Sie zurückfahren?«
»O Gott!« Anne war sehr blass geworden. »Leider traue
ich Onkel Cosmo beinah alles zu.«
Ihre Furcht erwies sich zum Glück als unbegründet.
Niemand versuchte, die Kutsche anzuhalten. Anne und
Lady Mary erreichten die Lower Brook Street ohne
Zwischenfälle und verbrachten dort eine ruhige, erholsame
Nacht.
Beinahe schmerzfrei und entsprechend gut gelaunt
wachte Anne am nächsten Morgen auf. Jemima und Susan
hatten angekündigt, dass sie zum Plaudern vorbeikommen
wollten. Und sie freute sich auf ihren Besuch.
Jemima und Susan erschienen zur Teestunde. Die jungen
Leute unterhielten sich angeregt, als Mr. Witherspoon
sichtlich erregt den Salon betrat. Er hielt eine Zeitung in
der Hand. »Wenn Sie wüssten, was im Chronicle steht!«
rief er Anne zu. »Unvorstellbar! Wir müssen uns sofort mit
Lady Mary beraten!«
Anne nahm die Zeitung entgegen und begann zu lesen.
»O Himmel!« stöhnte sie auf.
»Was ist denn?« fragten Susan und Jemima wie aus
einem Munde.
»Mein Onkel«, erklärte Anne mit leiser, aber fester
Stimme, »hat Lord Rochford angezeigt.«
»Angezeigt?« Ihre Freundinnen schauten sich verständ-
nislos an.
»Angeblich hat Lord Rochford Miss Haycroft verführt«,
erläuterte Mr. Witherspoon.
»Seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft mir gegenüber
wird wahrhaftig schlecht belohnt«, murmelte Anne. »Mein
Gott, was soll ich nur tun?«
Mr. Witherspoon legte ihr beruhigend die Hand auf die
Schulter. »In letzter Zeit hat es leider recht oft solche
Anzeigen gegeben. Väter versuchen so, finanzielle Entschä-
digungen für die Entehrung – oder angebliche Entehrung –
ihrer Töchter zu bekommen. Manche wollen auch einfach,
dass der betreffende Mann das Mädchen heiratet, damit es
versorgt ist.«
In diesem Moment führte der Butler Lady Metcalf und
Mr. Parker herein, die den Chronide ebenfalls gelesen
hatten. Gleich nach ihnen eilte auch Lady Mary herbei. Ein
paar Minuten lang redeten alle aufgeregt durcheinander.
Doch schließlich verschaffte Lady Mary sich Gehör.
»Möchte mir bitte jemand erklären, was hier vorgeht?«
Es war Anne, die Auskunft gab. »Die Zeitung berichtet,
das mein Onkel Lord Rochford verklagt hat, weil dieser
mich angeblich verführt und damit meine geplante Ehe mit
Lord Alington hintertrieben hat. Eine Zeugin soll gesehen
haben, wie Lord Rochford sich mir gegenüber am frühen
Morgen unziemlich benommen hat.«
»Oh!« rief Jemima aus. »Was hat er getan?«
Lady Mary warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, und
das Mädchen errötete.
»Die Zeugin ist bestimmt Hortense Finch«, meinte Anne.
»Sie hat gesehen, wie Lord Rochford sich am Morgen,
nachdem ich das Haus meines Onkels verlassen hatte, hier
von mir verabschiedet hat. Natürlich hat er sich dabei –
genau wie ich – völlig korrekt verhalten. Aber Miss Finch
scheint eine krankhafte Phantasie zu haben.«
»Natürlich hat Justin sich wie ein Gentleman benom-
men«, bestätigte Lady Mary. »Ich würde niemals zulassen,
dass in meinem Haus etwas Unziemliches geschieht.«
Alle nickten. Lady Mary war dafür bekannt, dass sie alle
Regeln des Anstands und der Moral aufs Genaueste
beachtete und auch andere dazu anhielt.
»Beabsichtigen Sie, heute Abend Lady Eldons Ball zu
besuchen?« wandte sie sich jetzt an Jemima und Susan.
»Dann wollen Sie sich sicher vorher noch etwas ausruhen.«
Die Mädchen verstanden den Hinweis sofort und verab-
schiedeten sich. Mr. Witherspoon hingegen machte es sich
auf dem Sofa bequem und erklärte: »Wir müssen uns
darüber klar werden, was jetzt zu tun ist.« Er betrachtet
Anne mitleidig. »Die nächsten Tage werden nicht leicht für
Sie sein, liebes Kind. Wohin Sie auch gehen, man wird sie
neugierig mustern und hinter vorgehaltener Hand über Sie
reden. Viele werden glauben, dass Lord Rochford Ihnen
wirklich zu nahe gekommen ist, und dass Sie nun…« Er
zögerte.
»… dass Sie eine gefallene Frau sind«, vollendete Lady
Metcalf, wobei sie heftig errötete. »Einige Männer werden
Ihnen wahrscheinlich unzüchtige Anträge machen.«
»Aber ich kann mich doch nicht vor aller Welt verste-
cken!« rief Anne aus. »Das käme einem Schuldeingeständ-
nis gleich!«
»Sie haben Recht«, ließ sich von der Tür her eine männ-
liche Stimme vernehmen.
»Lord Rochford!« Anne fuhr herum.
»Wie ich sehe, haben alle hier den Chronicle gelesen.
Auch Miss Price und Miss Green wissen Bescheid, nicht
wahr? Ich bin ihnen vor dem Haus begegnet, und sie haben
mich angeschaut, als seien mir über Nacht Hörner und ein
Pferdefuß gewachsen.«
»Dann sind sie nicht länger meine Freundinnen«, stellte
Anne fest.
»Langsam, langsam«, fiel Lady Mary ein. »Vielleicht
brauchen wir die Mädchen noch. Sie sind unerfahren und
aufgeregt, aber bestimmt nicht boshaft.«
»Wir müssen einen Schlachtplan entwickeln«, stellte
Justin fest. »Wer sich daran nicht beteiligen möchte, den
bitte ich, uns jetzt zu verlassen.«
Lady Metcalf erhob sich. »Ich bin auf Ihrer Seite, Miss
Haycroft. Aber ich bin keine Kämpferin. Bitte, nehmen Sie
mir das nicht übel.«
Auch Mr. Parker stand auf. »Ich werde Lady Metcalf
nach Hause begleiten«, meinte er.
Lady Mary sah den beiden mit gerunzelter Stirn nach.
»Ich bin enttäuscht«, sagte sie, als sich die Tür hinter ihnen
geschlossen hatte.
»Wenn es einen Skandal gibt, zeigt sich, ob man echte
Freunde hat«, erklärte Lord Rochford.
»Auf mich können Sie zählen«, verkündete Mr.
Witherspoon. »Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.
Und ich bin sicher, dass Sie zum Schluss gewinnen
werden.«
»Ich begreife gar nicht, wie mein Onkel auf diese Idee
gekommen ist«, klagte Anne.
»Wahrscheinlich hat Alington ihn darauf gebracht. Der
Viscount ist ein Mensch, der das, was er nicht selbst haben
kann, auch keinem anderen gönnt. Er möchte Ihren Ruf
zerstören«, sagte Justin bitter.
»Wenn wir nicht klug vorgehen, könnte ihm das sogar
gelingen – obwohl bestimmt ein Zehntel aller Bräute in
England ein Kind erwarten, wenn sie vor den Altar treten«,
entfuhr es Lady Mary.
Anne starrte die alte Dame aus weit aufgerissenen Augen
an. »Wirklich?«
»Vergessen Sie es«, riet Lady Mary ihr, »auch wenn es
der Wahrheit entspricht.«
»Ich fürchte«, meinte Justin zu Anne gewandt, »dass Sie
in den nächsten Wochen noch einiges erfahren werden, was
man Ihnen bisher verschwiegen hat, um Ihre Gefühle zu
schonen und Ihnen Ihre Unschuld zu erhalten.«
»Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass Sie mit
unangenehmen Tatsachen konfrontiert werden«, stimmte
auch Mr. Witherspoon zu. »Doch das ist nicht so wichtig.
Was wirklich zählt ist: Wie können wir erreichen, dass
weder Ihr Ruf, Miss Haycroft, noch der Lord Rochfords
nachhaltigen Schaden davonträgt?«
»Vor allem müssen wir den Kopf hoch halten«, gab Justin
zurück. »Am besten beginnen wir, indem wir heute Abend
an Lady Eldons Ball teilnehmen. Lord Eldon war selber
Richter und wird uns bestimmt ein paar gute Ratschläge
geben können.«
»Glauben Sie, dass wir bei den Eldons nach diesem
Zeitungsartikel überhaupt willkommen sind?« fragte Anne.
»Hm…« Lord Rochford runzelte die Stirn. »Vielleicht
könnten Sie, Mr. Witherspoon, das für uns herausfinden?«
»Selbstverständlich.« Der Gentleman erhob sich. »Ich
werde Lady Eldon gleich meine Aufwartung machen.
Anschließend gebe ich Ihnen Bescheid.«
»Danke!«
»Ich habe gehört«, ließ sich nun Lady Mary vernehmen,
»dass auch der Prinzregent an dem Ball teilnehmen wird.
Glaubst du, er könne dich womöglich schneiden, Justin?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er unser Gespräch nach
dem Levee nicht vergessen hat. Schon da habe ich ihn
darauf hingewiesen, dass Alington wahrscheinlich
versuchen würde, Anne – und möglicherweise auch mir –
zu schaden. Ich hoffe zuversichtlich, der Prinz steht auf
unserer Seite.«
»Gut.« Lady Mary nickte einigermaßen beruhigt. »Dann
sollten Anne und ich uns jetzt wohl unserer Garderobe
widmen.«
Anne erhob sich und streckte Lord Rochford die Hand
hin. »Mylord, Sie ahnen gar nicht, wie sehr ich bedaure,
Ihnen solche Schwierigkeiten zu bereiten. Ich wünschte,
ich könnte all dies ungeschehen machen!«
Justin schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Wir werden die
Sache schon irgendwie überstehen. Also: Kopf hoch!«
Dann verabschiedete er sich von seiner Tante und verließ
den Raum. In der Eingangshalle traf er auf Lady Marys
Butler. »Potter«, sagte er leise zu dem treuen Bediensteten,
»es könnte in nächster Zeit einige Schwierigkeiten geben.
Ich verlasse mich darauf, dass Sie Lady Mary und Miss
Haycroft schützen, so gut Ihnen das möglich ist. Sprechen
Sie bitte auch mit den anderen Bediensteten. Wichtig ist vor
allem, dass kein Klatsch weitergetragen wird.«
»Euer Lordschaft, ich werde tun, was in meiner Kraft
steht«, versprach Potter.
Für den Ball bei den Eldons wählte Anne die am wenigs-
ten auffällige Robe, die Madame Clotilde ihr geschneidert
hatte. Es war ein hoch geschlossenes Kleid aus eisblauer
Seide, dessen Rock sich über einem Unterkleid aus
cremefarbenen Satin teilte. Dazu hatte Anne ihre Perlen
angelegt und einen einfachen Fächer mit Blumenmuster in
die Hand genommen.
»Gut!« lobte Lady Mary, »Sie sehen wunderschön und
doch bescheiden und zurückhaltend aus.«
Das fand auch Mr. Witherspoon, der die beiden Damen
vor dem Haus der Eldons erwartete. »Ich habe mit Lord
Eldon gesprochen«, sagte er statt einer Begrüßung. »Als
Richter hat er mehrere vergleichbare Fälle verhandelt. Er
scheint nicht viel von den meisten Anklägern zu halten.
Meiner Meinung nach haben Sie in ihm einen Freund und
Helfer gefunden.«
Tatsächlich begrüßten Lord und Lady Eldon die neuen
Gäste ausgesprochen freundlich. Die Gastgeberin wandte
sich sogar gleich zu Anfang an Anne, um ihr Mut zuzu-
sprechen. »Es muss schwer sein, Verwandte wie Cosmo
Haycroft zu haben«, meinte sie voller Mitgefühl. Dann
erhob sie die Stimme, so dass alle in der Nähe stehenden
Gäste sie hören können. »Den heutigen Abend werden Sie
jedenfalls genießen können. Niemand hier wird auf die
Idee kommen, Sie zu beleidigen.«
Tatsächlich behandelten alle Anwesenden Anne daraufhin
mit besonderer Höflichkeit.
Anne unterhielt sich eine Zeit lang mit Sidney und Susan,
schaute aber immer wieder nervös zur Tür. Noch war Lord
Rochford nicht eingetroffen.
»Justin hat mir gegenüber erwähnt, dass er sich, wenn
möglich, der Gruppe um den Prinzregenten anschließen
will«, erzählte Sidney. »Ich glaube, er hofft, den Prinzen
auf seine Seite zu ziehen.«
Anne nickte.
Jetzt zupfte Susan Sidney leicht am Ärmel. »Tun Sie es
doch«, flüsterte sie.
Sidney stutzte. Er warf Susan einen fragenden Blick zu,
lächelte dann plötzlich und verbeugte sich vor Anne: »Miss
Haycroft, darf ich Sie um diesen Tanz bitten?«
»Gern!« Anne schenkte Susan ein dankbares Lächeln und
ließ sich von Sidney auf die Tanzfläche führen.
Während sie sich im Rhythmus der Musik bewegte, spürte
Anne, dass viele Augen auf sie gerichtet waren. Ihre
Nervosität wuchs. Aber da sie von Natur aus musikalisch
war, gelang es ihr, sich nicht aus dem Takt bringen zu
lassen. Graziös machte sie die letzten Tanzschritte, ehe
Sidney sie zu Lady Mary zurückbegleitete. Dort warteten
bereits George Harcourt und einer seiner Freunde, um sie
ebenfalls um einen Tanz zu bitten. Allem Anschein nach
sollte der Ball zu einem Erfolg für Anne werden.
Die Zeit verging wie im Fluge. Doch noch immer war
Lord Rochford nicht eingetroffen. Anne, die inzwischen
ihre Selbstsicherheit zurückerlangt hatte, begann erneut,
nervös zur Tür zu schauen. Aha, jetzt entstand dort Unruhe.
»Seine Königliche Hoheit, der Prinz of Wales«, verkündete
der Butler, ehe er die Namen all derer nannte, die den
Prinzen begleiteten. Auch Justin gehörte zu ihnen.
Lord und Lady Eldon eilten zur Tür, um den Prinzregen-
ten und die weiteren neu eingetroffenen Gäste zu begrüßen.
Die anderen Anwesenden unterbrachen ihre jeweilige
Beschäftigung und begannen zu tuscheln. Ungeduldig
warteten sie darauf, dass der Prinz, wie es seiner Gewohn-
heit entsprach, eine Runde durch den Saal machen würde.
Prinny wechselte ein paar höfliche Worte mit den
Gastgebern und ging dann tatsächlich langsam von
Grüppchen zu Grüppchen. Anne wusste, dass er großen
Wert darauf legte, in aller Form gegrüßt zu werden. Er galt
als überaus empfindlich, was mangelnde Hochachtung oder
gar Kritik betraf – schließlich war er seiner katastrophalen
Ehe, seiner skandalösen Liebschaften und seiner Ver-
schwendungssucht wegen oft kritisiert worden. Trotzdem
stellte er an seine Untertanen höchste moralische Ansprü-
che. Selbst kleine Verstöße gegen Regeln der Etikette
vermochte er sehr übel zu nehmen. Deshalb verbeugten sich
nun die Gentlemen tief, während die Damen in einen
Hofknicks versanken.
Schließlich trat er auch zu der Gruppe, in der Anne stand.
Sie knickste und wagte kaum den Blick zu heben. War es
Lord Rochford gelungen, den Prinzen auf ihre Seite zu
ziehen?
»Ich habe von Ihren Problemen gehört, Miss Haycroft«,
sagte der Regent, »und wünsche Ihnen alles Gute. Ich selbst
habe auch unter vielem zu leiden gehabt, was in den
Zeitungen geschrieben stand. Doch zweifellos wird die
Wahrheit am Ende siegen.«
»Danke, Königliche Hoheit«, sagte Anne, die von seiner
Freundlichkeit ganz überwältigt war.
Der Prinz lächelte ihr zu und schritt dann weiter. Schließ-
lich hatte er seinen Rundgang beendet und erklärte, er
würde gern zuschauen, wenn die Gäste wieder tanzen
wollten. Sogleich stimmte das Orchester eine fröhliche
Melodie an. Nachdem die ersten Paare die Tanzfläche
betreten hatten, zog Seine Königliche Hoheit sich unauffäl-
lig ins Kartenzimmer zurück.
»Bisher ist alles ausgesprochen gut gelaufen«, stellte Lady
Mary zufrieden fest. »Der Prinz scheint Ihnen gewogen zu
sein, Anne. Offenbar hat Justin das Problem überzeugend
dargelegt. Dass der Regent auf Ihrer Seite ist, wird Ihnen
und Justin von großem Nutzen sein. Nun müssen Sie darauf
achten, den Prinzen nicht zu enttäuschen. Wir sollten uns
zum Beispiel nicht verabschieden, solange er noch hier ist.
Es gehört sich nicht, vor einem Mitglied der königlichen
Familie aufzubrechen.«
Anne nickte. Die Sympathie des Prinzen hatte zwar nicht
ihre Probleme gelöst, aber doch dazu beigetragen, dass
ihre Sorgen und Ängste merklich nachgelassen hatten. Sie
würde das fröhliche Treiben auf dem Ball nun viel besser
genießen können.
Am nächsten Morgen, als Lady Mary und Anne sich
gerade zu einem späten Frühstück an den Tisch gesetzt
hatten, betrat Justin den Raum.
»Langschläferin!« neckte er seine Tante.
Sie lachte, wurde jedoch sogleich wieder ernst. »Wie hat
der Prinz auf die Neuigkeiten reagiert?«
»Er hatte bereits den Chronicle gelesen, als ich zu ihm
stieß. Glücklicherweise hatte er nicht vergessen, was ich
ihm nach dem Levee anvertraut hatte. Er war mir gegen-
über daher genauso freundlich wie immer und erklärte
sogar, es gefiele ihm nicht, wenn unschuldige Menschen
fälschlich beschuldigt würden, damit andere sich berei-
chern könnten.«
»Gut.« Lady Mary nickte zufrieden. »Hast du das Problem
inzwischen auch mit deinem Anwalt besprochen?«
»Ich habe Mr. Quinlan, gleich nachdem ich den Zeitungs-
bericht gesehen hatte, einen Brief geschrieben. Und als ich
vom Ball zurückkehrte, wartete bereits ein Antwortschrei-
ben auf mich. Wir haben uns heute Morgen getroffen, um
die Sache zu besprechen. Er hat mir geraten, mich vor
Gericht von einem seiner Kollegen vertreten zu lassen. Es
handelt sich um Sir Oliver Knight, der einen sehr guten Ruf
genießt und einige Erfahrung mit solchen Anklagen
aufweisen kann. Übrigens…«, Justin wandte sich an Anne,
»Mr. Kestell ist erkrankt. Daher wird sich vorerst sein
Kollege, Mr. Quinlan, um Ihre finanziellen Angelegenhei-
ten kümmern.«
»Gibt es wegen der Anklage gegen dich schon einen
Termin bei Gericht?« wollte Lady Mary wissen.
»Nein. Quinlan hat mich allerdings darauf aufmerksam
gemacht, dass in diesem Fall die Dinge etwas anders liegen
als bei den meisten anderen Anzeigen wegen Verführung.
Ein wichtiger Unterschied ist, dass Alington überall erzählt
hat, dass Cosmo Haycroft ihm die Hand seiner Nichte
versprochen hat.«
»Warum hat Alington mich dann nicht einfach wegen des
Bruchs eines Eheversprechens verklagt?« fragte Anne.
Lady Mary zuckte die Schulter. »Es ist unter Mitgliedern
der guten Gesellschaft nicht üblich, das zu tun. Die Fälle
von Vertrags- oder Wortbruch vor der Eheschließung, die
vor Gericht kommen, betreffen fast nur Geschäftsleute.«
»Zu Annes und meinen Gunsten spricht«, setzte Lord
Rochford seine Ausführungen fort, »dass wir beide bisher
einen einwandfreien Ruf hatten. Kein Richter würde das bei
seiner Entscheidung außer Acht lassen. Offen gesagt«,
Justin lachte leise auf, »noch nie war ich so froh, dass ich
allgemein als korrekter, ja langweiliger Mensch gelte.«
»Sie sollen langweilig sein?« Anne riss erstaunt die
Augen auf.
»Nun, in diesem Fall macht es mir nichts aus, für einen
Langweiler gehalten zu werden, Miss Haycroft.« Er
betrachtet die junge Dame nachdenklich. »Wären Sie bereit,
zu meinen Gunsten auszusagen? Es wird bestimmt sehr
unangenehm. Der Anwalt der Gegenseite wird Ihnen eine
Menge unschöner Fragen stellen. Mr. Quinlan meinte aber,
es sei für uns auf jeden Fall besser, wenn Sie vor Gericht
erscheinen.«
»Dann werde ich das tun«, sagte Anne mit fester Stimme.
»Sie müssen aber sehr vorsichtig sein«, warnte Lady
Mary. »Man wird versuchen, Sie zu verwirren und jedes
Ihrer Wort anders auszulegen, als Sie es gemeint haben.«
»Ich denke, dass mir nichts geschehen kann, solange ich
bei der Wahrheit bleibe.«
»Mr. Quinlan hat mir außerdem geraten, ebenfalls zu
klagen, und zwar wegen übler Nachrede. Ein solcher
Vorwurf würde sowohl Cosmo Haycroft als auch Lord
Alington und natürlich besonders Hortense Finch betref-
fen. Diese Frau scheint mit ihrem Klatsch tatsächlich schon
unzähligen Menschen in der Stadt geschadet zu haben.«
»Eine Klage kann sehr teuer werden«, gab Lady Mary zu
bedenken.
»Nicht, wenn wir gewinnen.«
»Außerdem bin ich der Meinung, dass Miss Finchs
Treiben wirklich ein Riegel vorgeschoben werden sollte«,
erklärte Anne kampflustig. »Im Übrigen glaube ich, dass
man unsere Behauptung, nichts Unrechtes getan zu haben,
eher ernst nehmen wird, wenn wir diese Klatschbase und
Lügnerin verklagen.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, versicherte Justin ihr.
»Deshalb habe ich mir erlaubt, Mr. Quinlan zu Sir Oliver
Knight zu schicken und diesen zu beauftragen, die Klage
sogleich einzureichen. Anne, wären Sie bereit, mit Sir
Oliver zu sprechen, wenn sich das als nötig erweisen
sollte?«
»Selbstverständlich.«
»Vorerst aber können wir noch nichts unternehmen, nicht
wahr?« vergewisserte Lady Mary sich. Und als ihr Neffe
nickte, setzte sie hinzu:
»Dann würde ich heute gern mit Anne eine Ausfahrt in
den Park oder sogar aufs Land unternehmen. Vielleicht
sollten wir ein Picknick machen. Das hätte zum Beispiel
den Vorteil, dass wir keine Besucher empfangen müssen.«
»O ja, bitte!« Anne verspürte keinerlei Lust auf all die
neugierigen Fragen und abschätzenden Blicke, die sie zu
erwarten hatte, wenn Lady Mary Gäste empfing.
Und so kam es, dass am frühen Nachmittag Lady Marys
voll besetzter Landauer die Lower Brook Street verließ. In
der Kutsche hatten nicht nur die beiden Damen, sondern
auch zwei Dienstmädchen Platz gefunden. Auf dem
Kutschbock saß James neben dem Kutscher. Lady Mary
hatte also für ausreichenden Schutz gesorgt.
Tatsächlich jedoch schien sich niemand für die Ausflüg-
lerinnen zu interessieren. Ohne Zwischenfälle erreichten sie
ein idyllisches Plätzchen am Rande von London. Dort
unternahmen sie einen Spaziergang, machten ein Picknick
und genossen die bunten Blumen, das sanfte Rauschen des
Windes in den Bäumen und den Gesang der Vögel.
Schließlich sagte Lady Mary: »Ich denke, wir können jetzt
nach Hause zurückkehren. Potter wird alle unerwünschten
Besucher abgewiesen haben.«
Damit sollte sie Recht behalten. Zwar erschien am Abend
noch eine Besucherin, doch da es sich um Lady Metcalf
handelte, hatte Potter keine Bedenken, sie einzulassen.
Lady Mary begrüßte ihre Freundin freundlich, aber mit
einer gewissen Zurückhaltung. Und als Lady Metcalf fragte,
wie die Dinge stünden, sagte Lady Mary nur: »Sie werden
verstehen, dass ich Ihnen keine Einzelheiten mitteilen
möchte. Schließlich haben Sie selbst uns darauf hingewie-
sen, dass Sie keine Kämpferin sind.«
»Oh, ich habe Sie gekränkt«, meinte Lady Metcalf
bedrückt. »Es tut mir Leid. Aber ich versichere Ihnen
nochmals, dass ich auf Ihrer Seite bin. Tatsächlich habe ich
seit jenem Morgen eine Menge Besuche gemacht, um
überall daraufhin zuweisen, wie unglaubwürdig Mr.
Haycrofts Anklage ist. Schließlich weiß jeder in London,
dass Lord Rochford ein ehrenhafter Mann ist. Wohingegen
Mr. Haycroft…« Sie warf Anne einen entschuldigenden
Blick zu.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, mich zu verärgern
oder zu beleidigen, indem Sie schlecht über meine Ver-
wandten reden«, erklärte Anne ruhig. »Mein Onkel ist
leider ein durch und durch unmoralischer Mensch.«
»Das sagt Mr. Parker auch. Und er meint, Lord Alington
sei um nichts besser. Wie ich herausgefunden habe, scheint
der Viscount nirgends beliebt zu sein. Alle meine Bekann-
ten waren der Meinung, dass Sie gut daran tun, ihn nicht zu
heiraten, Miss Haycroft.«
»Ich hoffe, dass der Richter diese Meinung teilt«, stellte
Lady Mary fest. Wenn es sie störte, dass Mr. Parker nicht
sie, sondern ihre Freundin überallhin begleitete, so ließ sie
sich das zumindest nicht anmerken. Ja, Anne hatte sogar
den Eindruck, dass Lady Mary in letzter Zeit Mr.
Witherspoons Gesellschaft mehr zu schätzen wusste als die
Edmund Parkers. Aber vielleicht verbarg die alte Dame ihre
Enttäuschung über das Verhalten ihrer Jugendliebe auch
nur besonders geschickt.
Jedenfalls, dachte Anne erleichtert, wird es Mr. Parker
nicht gelingen, die beiden Frauen, die schon so lange
miteinander befreundet sind, zu entzweien.
Kurz bevor das Dinner aufgetragen wurde, erschien Lord
Rochford. Da er einiges mit seiner Tante und Anne zu
besprechen hatte, nahm er Lady Marys Einladung zum
Essen gern an.
»Sir Oliver«, berichtete er, »will sich mit aller Kraft
dafür einsetzen, dass unsere Klage wegen übler Nachrede
möglichst bald verhandelt wird. Er meint, es könne nur
von Vorteil für uns sein, wenn Mr. Haycroft wenig Zeit
bleibt, seine eigene Klage inhaltlich vorzubereiten. Sir
Oliver hat mir auch geraten, eine Liste der Personen
aufzustellen, die zu unseren Gunsten aussagen werden. Ich
habe schon mit einigen meiner Freunde gesprochen, die
sich gleich bereit erklärt haben, mir zu helfen. Wahr-
scheinlich würde sogar der Prinzregent sich für mich
verbürgen. Aber ich würde ihn nur sehr ungern fragen.
Zum einen will ich ihn nicht unnötig belästigen. Zum
ändern wissen wir alle, dass er nicht besonders beliebt ist.
Womöglich gehört der Richter ausgerechnet zu den
schärfsten Kritikern des Prinzen.«
»Wird der Richter die Entscheidung allein fällen?«
erkundigte Anne sich.
»Er wird sich mit den anderen Mitgliedern des Gerichts,
mit den Geschworenen, beraten«, gab Justin zurück. »Wir
sollten also auf alle einen möglichst guten Eindruck machen.
Wenn Sie sich elegant, aber unauffällig kleiden und so
bescheiden und selbstbewusst auftreten wie immer, dann
werden Sie bestimmt jeden davon überzeugen können,
dass die Anschuldigungen Ihres Onkels unberechtigt sind.«
»Wie genau lauten diese Anschuldigungen?« wollte Lady
Mary wissen.
»Cosmo Haycroft wirft mir vor, ich habe Anne überredet,
sein Haus zu verlassen, um hier zu wohnen. Ich soll sie
hier verführt haben. Und das wiederum habe zur Folge
gehabt, dass Mr. Haycroft den bereits mit Lord Alington
geschlossenen Ehevertrag nicht habe erfüllen können. Da er
Anne nun nicht mehr verheiraten könne, sei ihm ein
Schaden von 5000 Pfund entstanden, für den ich aufkom-
men müsse.«
»Um Gottes willen!« rief Lady Mary aus.
»Sir Oliver erwähnte, dass bei derartigen Prozessen im
Allgemeinen etwa 200 Pfund als Schadensersatz gefordert
werden«, stellte Lord Rochford trocken fest. »Sie scheinen
also eine ganz besonders wertvolle junge Dame zu sein,
Miss Haycroft.«
Anne zuckte die Schultern. »Mein Onkel ist nur ganz
besonders geldgierig.«
»Ah, da fällt mir noch etwas ein«, meinte Justin. »Ich
habe mit Sir Oliver auch über unseren Verdacht gespro-
chen, dass Ihr Onkel sich an Ihrem Erbe vergriffen hat. Sir
Oliver will möglicherweise beim Prozess auch diesen
Punkt zur Sprache bringen.«
»Wann der Prozess stattfinden wird, steht noch nicht
fest?« vergewisserte Anne sich.
»Nein. Ich hoffe allerdings, dass es bald sein wird. Nie-
mand von uns möchte lange unter diesem Druck leben,
nicht wahr?« Justin sah von einem zum anderen.
Anne seufzte tief auf. »Natürlich nicht. Trotzdem habe ich
große Angst davor, vor Gericht zu erscheinen.«
Lady Mary sprach ihr Mut zu, unterbrach sich aber, als
ein Besucher gemeldet wurde. Es handelte sich um Mr.
Witherspoon. Und da das Dinner fast beendet war, bat Lady
Mary ihren Butler, den Gast in den Salon zu führen, wo sie
gleich zu ihm stoßen würden.
Mr. Witherspoon war natürlich sehr an allem interessiert,
was Justin zwischenzeitlich unternommen hatte. Er brachte
aber auch selber Neuigkeiten mit. »Ich habe Ihnen gegen-
über doch meinen Freund aus Kanada erwähnt«, wandte er
sich an Lady Mary. »Er ist heute in London eingetroffen,
und ich würde gern Erkundigungen über Mr. Parker bei
ihm einziehen. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich
möchte nicht, dass man Ihnen wehtut. Deshalb halte ich es
für klug, alles über Mr. Parker in Erfahrung zu bringen.«
»Sie haben Recht.« Lady Mary nickte. »Bisher wissen wir
nur, was Mr. Parker selbst uns erzählt hat. Es wäre schön,
wenn jemand seine Geschichte bestätigen könnte.«
Justin und Anne tauschten einen Blick. Auch sie brachten
Mr. Parker kein uneingeschränktes Vertrauen entgegen. Sie
würden sich weniger Sorgen um Lady Mary machen, wenn
sie Genaueres über Edmund Parker wussten.
»Danke, Mr. Witherspoon«, sagte Lord Rochford.

8. KAPITEL
An dem Tag, da sie ihre erste Zeugenaussage machen
sollte, zog Anne sich besonders sorgfältig an. Sie wusste,
dass der Richter selbst nicht anwesend sein würde. Trotz-
dem wollte sie einen möglichst guten Eindruck hinterlassen.
Also wählte sie ein einfach geschnittenes, hoch geschlosse-
nes Kleid aus dezent geblümtem Musselin.
»Sehe ich achtbar genug aus?« fragte sie Lord Rochford,
als dieser erschien, um sie abzuholen.
»Allerdings.« Er betrachtete sie lächelnd. »Man könnte
Sie für eine junge Dame halten, die ins Kloster eintreten
möchte.«
Anne hob die Augenbrauen. »Ist es klug, dass wir ge-
meinsam zum Gericht fahren? Es wäre mir sehr unange-
nehm, wenn Sie deshalb neue Schwierigkeiten bekommen
würden.«
»Sie machen sich unnötige Sorgen. Es ist völlig in Ord-
nung, dass ich Sie in meiner Kutsche mitnehme. Wahr-
scheinlich wird uns sowieso niemand sehen.«
»Gut. Brechen wir also auf.«
Bis zum Gerichtsgebäude war es nicht allzu weit. Da es
noch früh am Tag war, lag der Hof verlassen da. Niemand
beobachtete, wie Miss Haycroft, die inzwischen sehr nervös
war, und Lord Rochford das Gebäude betraten. Gleich
darauf fand Anne sich in einem kleinen, spärlich möblier-
ten Zimmer wieder. Zwei Fremde, die es nicht für nötig
hielten, ihre Namen zu nennen, saßen ihr gegenüber. Im
Hintergrund wartete ein Gerichtsschreiber darauf, jedes
ihrer Worte schriftlich festzuhalten.
Die Befragung begann. Anne antwortete mit fester Stimme.
Ihre Angst und Unsicherheit waren plötzlich verschwunden.
Es beruhigte sie, dass man höflich zu ihr war. Niemand
würde sie auf unfaire Art drängen, auch wenn auf jede Frage
eine Antwort erwartet wurde.
»Lord Rochford hat mich weder im Hause seiner Tante
noch irgendwo anders verführt«, erklärte Anne einige Zeit
später abschließend. »Er ist mir niemals zu nahe getreten,
sondern hat sich mir gegenüber stets sehr hilfsbereit und
verständnisvoll gezeigt. Mein Onkel allerdings ist ein völlig
anderer Mensch. Er ist ein Spieler. Mein Wohlergehen
interessiert ihn überhaupt nicht. Vor der Ehe, die er für mich
geplant hat, graust mir. Ich befürchte, dass mein Onkel
mich benutzen wollte, um einen Teil seiner Spielschulden
zu begleichen.«
»Danke, Miss Haycroft.« Anne war entlassen.
Im Flur traf sie auf Lord Rochford. »Wie war es?« erkun-
digte er sich besorgt.
»Ich habe einfach die Wahrheit gesagt.«
»Miss Haycroft«, begann er, »Anne, wenn dies alles
überstanden ist, dann…« Er konnte nicht weitersprechen,
da jetzt er in das Befragungszimmer gerufen wurde.
Anne nahm auf einem der unbequemen Holzstühle im
Flur Platz. Sie war erleichtert, dass sie ihre Zeugenaussage
nun gemacht hatte. Gleichzeitig allerdings wünschte sie
sich, weit fort von London zu sein. Aber durfte sie die Stadt
überhaupt verlassen? Würde man, wenn sie aus London
verschwand, annehmen, Lord Rochford habe sie wirklich
entehrt? Würde man ihn dazu verurteilen, die geforderte
Summe an Onkel Cosmo zu zahlen?
Je länger sie darüber nachdachte, desto unruhiger wurde
sie. Es war ein Glück, dass gleich darauf Lord Rochford
auf den Gang trat. Neben ihm ging einer der Herren, die
Anne befragt hatten.
»Miss Haycroft, dies ist unser Verteidiger, Sir Oliver. Er
glaubt, dass wir gute Chancen haben, den Prozess zu
gewinnen.«
Zu dritt verließen sie das Gerichtsgebäude.
»Hätten Sie unsere Verteidigung auch übernommen, wenn
Sie uns für schuldig hielten, Sir Oliver?« erkundigte Anne
sich.
»Ja. Ich hätte dann aber ein sehr viel höheres Honorar
gefordert.«
Anne schenkte dem Anwalt ein Lächeln, das ihre blauen
Augen aufleuchten ließ. Er lächelte zurück und bot ihr an,
sie zu Lady Mary zu bringen. »Meiner Meinung nach ist es
besser, wenn man Sie nicht allzu oft in Lord Rochfords
Gesellschaft sieht.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht.« Anne warf einen
kurzen Blick auf Justin. Viel lieber hätte sie sich von ihm
zurückfahren lassen. In den letzten Tagen war ihr klar
geworden, dass ihre anfängliche Sympathie für ihn zunächst
zu ehrlicher Zuneigung und inzwischen zu einem sehr
tiefen, starken Gefühl geworden war. Liebte sie ihn? Hatte
sie den Mann gefunden, dem sie ihre Liebe schenken
wollte? Und musste sie ihm nun aus taktischen Erwägun-
gen aus dem Weg gehen?
Sie unterdrückte einen Seufzer. »Vielen Dank für Ihr
freundliches Angebot«, sagte sie zu Sir Oliver. »Ich
nehme an, dass ich mich eine ganze Zeit lang von Lord
Rochford fern halten sollte?«
»Fahren Sie auf keinen Fall unbegleitet irgendwo hin!«
fiel Justin ein. »Lady Mary soll James beauftragen, Sie nicht
aus den Augen zu lassen. Es wäre schrecklich, wenn es
Ihrem Onkel oder Lord Alington doch noch gelingen
würde, Sie zu entfuhren.«
Sir Oliver runzelte die Stirn. »Es hat doch nicht etwa
einen Entführungsversuch gegeben?«
»Doch«, gab Anne zurück. »Während der Fahrt kann ich
Ihnen alles erzählen.«
Der Anwalt hörte aufmerksam zu und stellte schließlich
selber noch ein paar Fragen. Unter anderem wollte er
wissen, ob Lord Rochford sich tatsächlich immer streng an
die Anstandsregeln gehalten hatte.
Anne zögerte. Dann jedoch kam sie zu dem Schluss, dass
es am klügsten sei, keine Geheimnisse vor Sir Oliver zu
haben. »Lord Rochford hat mich einmal geküsst«, gestand
sie. »Es war ein unschuldiger KUSS. Aber wenn uns jemand
beobachtet hat, wird er natürlich versuchen, den Vorfall zu
unseren Ungunsten zu nutzen.«
»Ein unschuldiger KUSS?« wiederholte Sir Oliver fra-
gend.
»Nun, ich war in einer Kirche eingeschlafen.« Eine leichte
Röte breitete sich auf Annes Wangen aus. »Im Schlaf muss
ich geweint haben. Und Lord Rochford küsste mir eine
Träne von der Wange. Dadurch wurde ich geweckt. Ich
wollte schreien. Seine Lordschaft verhinderte das durch
einen KUSS auf meinen Mund.«
»Eine sicher sehr wirksame Methode«, meinte der
Anwalt mit einem spitzbübischen Lächeln.
»Allerdings.« Jetzt lächelte Anne ebenfalls. »Ich hätte
beim besten Willen nicht mehr schreien können. Aber ich
wollte auch nicht…«
Die Kutsche bog in die Lower Brook Street ein und kam
vor Lady Marys Haus zum Stehen. Sir Oliver half Anne
beim Aussteigen. »Ich würde gern ein paar Worte mit Ihrer
Gastgeberin sprechen.«
»Natürlich.«
Der Butler ließ sie ein und erklärte auf Annes Frage hin,
dass Ihre Ladyschaft sich im Salon aufhalte. »Ich werde
Sie und Ihren Begleiter sofort melden.«
»Danke, Potter, das wird nicht nötig sein. Ich mache
Lady Mary und Sir Oliver selbst miteinander bekannt«,
erklärte Anne und führte den Anwalt zum Salon.
Bei ihrem Eintreten legte Lady Mary ein Buch aus der
Hand. »Ich habe versucht zu lesen, doch ich war viel zu
aufgeregt. Ist alles gut gegangen, liebes Kind?« Sie warf
Anne einen mitfühlenden Blick zu und richtete die Augen
dann auf den Gentleman an ihrer Seite.
»Ich möchte Ihnen unseren Verteidiger, Sir Oliver
Knight, vorstellen.«
»Mein Neffe erwähnte Ihren Namen gestern«, gab Lady
Mary zurück und bedeutete dem Gentleman, Platz zu
nehmen. Anne goss ihm ein Glas Sherry aus der Karaffe
ein, die auf dem Tisch stand. Dann ließ sie sich selbst auf
dem Sofa nieder.
Nachdem Lady Mary und Sir Oliver einige Höflichkeiten
ausgetauscht hatten, sagte der Anwalt: »Ich möchte Sie
bitten, zu Gunsten Ihres Neffen auszusagen, Lady Mary.
Nachdem ich Sie kennen gelernt habe, bin ich sicher, dass
Sie einen sehr guten Eindruck machen und Lord Rochford
wirklich helfen werden.«
»Oh…« Die alte Dame runzelte die Stirn. Die Vorstellung,
bei Gericht eine Aussage zu machen, behagte ihr nicht
besonders. Aber natürlich wollte sie für Justin alles tun, was
in ihrer Macht stand. Also stellte sie Sir Oliver ein paar
Fragen, lauschte aufmerksam auf seine Antworten und
erklärte schließlich, dass sie bereit sei, als Zeugin aufzutre-
ten. Zufrieden verabschiedete der Anwalt sich.
Jetzt erst fand Anne Zeit, ihrer mütterlichen Freundin
genau zu erzählen, was sich im Gerichtsgebäude zugetra-
gen hatte. Sie hatte ihren Bericht noch nicht beendet, als
Mr. Witherspoon gemeldet wurde. Der Gentleman machte
einen sehr aufgeregten Eindruck.
»Um Himmels willen, Giles«, rief Lady Mary aus, »was ist
geschehen?«
Giles? Anne musste ein Lächeln unterdrücken. Bisher
hatte Lady Mary stets die formelle Anrede »Mr.
Witherspoon« benutzt. War womöglich irgendetwas
zwischen den beiden vorgefallen, das Lady Mary bisher
nicht erwähnt hatte?
»Ich habe mit meinem Freund aus Kanada gesprochen«,
meinte der Gentleman. »Sie erinnern sich, dass ich von
ihm Auskünfte über Mr. Parker einholen wollte?«
Lady Mary nickte.
»Mr. Parker ist in Kanada verheiratet«, verkündete Giles
Witherspoon in tragischem Ton.
»O Gott!« Lady Mary war sehr blass geworden.
»Mein Freund hat den Verdacht, dass es Parker bei den
Heiratsplänen hier nur ums Geld geht. Es heißt, dass er in
finanziellen Schwierigkeiten ist. Deshalb sucht er nach einer
vermögenden Frau, die bereit ist, ihm das Jawort zu geben.
Wenn sie England erst einmal mit ihm verlassen hat, ist ihre
Situation praktisch aussichtslos.«
Anne war zu Lady Mary getreten und hatte nach ihrer
Hand gegriffen. Sie war eiskalt.
Eine Zeit lang brachte die alte Dame kein Wort über die
Lippen. Schließlich sagte sie leise: »Sind Sie sicher, dass Sie
Ihrem Freund trauen können?«
»Hundertprozentig!«
»Dann müssen wir mit Jane Metcalf sprechen.«
»Mit Lady Metcalf?« Mr. Witherspoon schaute verständ-
nislos drein.
»Mr. Parker schenkt ihr sehr viel Aufmerksamkeit«,
erläuterte Lady Mary. »Er hat sie zum Beispiel in den
letzten Tagen stets begleitet, wenn sie Besuche gemacht
hat.«
»Tatsächlich? Nun, das hätte ich mir eigentlich denken
können«, murmelte Mr. Witherspoon.
Jetzt schaute Lady Mary verständnislos drein.
Giles Witherspoon erhob sich. »Es gibt noch einiges, das
ich überprüfen möchte«, verkündete er.
Als er den Raum verlassen hatte, sagte Lady Mary leise zu
Anne: »Giles ist mir jahrelang ein guter Freund gewesen. Es
wäre sehr schlimm für mich, wenn ich seine Freundschaft
verlöre.«
Anne nickte, obwohl sie nicht verstand, warum Lady
Mary fürchtete, Mr. Witherspoon könne sich von ihr
abwenden.
In den nächsten Tagen ließen weder Lady Metcalf noch
Mr. Parker sich in der Lower Brook Street sehen. Mr.
Witherspoon wiederum, der Lady Mary regelmäßig seine
Aufwartung machte, erwähnte mit keinem Wort, ob seine
Nachforschungen neue Tatsachen ans Licht gebracht
hatten. Lady Mary fragte ihn auch nicht danach. Sie war
viel zu sehr mit der bevorstehenden Gerichtsverhandlung
beschäftigt.
Von Justin hatte sie erfahren, dass Hortense Finch
überall davon erzählte, dass sie als Einzige Lord Rochfords
Fehltritt beobachtet hatte. Sie schien sehr stolz darauf zu
sein, vor Gericht als Zeugin der Anklage auftreten zu
können. Natürlich – so betonte sie immer wieder – hatte
sie nicht die Verführung selbst beobachtet. Doch das, was
sie gesehen hatte, ließ ihrer Meinung nach nur einen Schluss
zu: Lord Rochford hatte Miss Haycroft entehrt.
Wahrscheinlich ahnte sie nicht, wie sehr Sir Oliver sich
für seinen Mandanten, Lord Rochford, einsetzte. Der
Verteidiger hatte beschlossen, zur Vorbereitung der
Verhandlung eine ganze Reihe von Zeugen und Zeuginnen
zu verhören. Er hatte nicht nur Lady Mary gebeten, zu
Gunsten ihres Neffen auszusagen. Auch die Dienstboten
wurden einer nach dem anderen ins Gerichtsgebäude
bestellt, um dort unter Eid Zeugnis abzulegen. Sie alle
konnten bestätigen, dass Lord Rochford keine Gelegenheit
– und mit Sicherheit auch keine Absicht – gehabt hatte, Miss
Haycroft im Hause seiner Tante zu verführen. Auch
erklärten sie übereinstimmend, dass Miss Haycroft sich stets
zurückhaltend und moralisch einwandfrei benommen habe.
Lady Marys Aussage unterschied sich inhaltlich kaum
von dem, was ihre Bediensteten Sir Oliver und einem seiner
Kollegen mitgeteilt hatten.
Da sie jedoch ein Mitglied einer alten und angesehenen
Familie war, wogen ihre Worte doppelt schwer.
Mr. Witherspoon hatte sich ebenfalls bereit erklärt, von
seinen Erfahrungen mit Lord Rochford und Miss Haycroft
zu berichten. Da er überall bekannt und beliebt war, maß
man auch seiner Aussage großes Gewicht bei.
Einige Tage, nachdem der letzte Zeuge vernommen
worden war, betrat Anne das Frühstückszimmer und fand
dort Lord Rochford in ein ernstes Gespräch mit seiner
Tante vertieft vor.
»Liebes Kind«, rief Lady Mary Anne entgegen, »Justin
bringt gute Nachrichten. Wie Sir Oliver ihm mitgeteilt hat,
kommt es noch in dieser Woche zur Verhandlung.«
Anne sah stumm und plötzlich sehr blass von einem zum
ändern.
»Wir vermuten, dass Lord Eldon mit dafür gesorgt hat,
dass der Fall so rasch vor Gericht kommt«, fuhr Lady Mary
fort. »Eine Gerichtsverhandlung ist natürlich immer
unangenehm. Aber mir ist es am liebsten, wenn wir dies
alles möglichst rasch hinter uns bringen.«
Justin warf Anne ein ermutigendes Lächeln zu. Sie sah so
verängstigt aus, dass sie jede nur mögliche Unterstützung
brauchen konnte. »Meine Tante hat vergessen zu erwähnen,
dass es sich um unsere Beleidigungsklage handelt«, sagte
er. »Ich persönlich halte es für sehr gut, dass sie vor Mr.
Haycrofts Klage gegen mich verhandelt wird.«
Anne ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken und atmete
einige Male tief durch. Zufällig fiel ihr Blick auf den
Spiegel, der neben dem offenen Kamin hing. O Himmel, sie
sah aus wie ein Geist! Nun ja, sagte sie sich, Lady Marys
Worte waren ein echter Schock für mich!
»Gibt es auch schon einen Gerichtstermin für Onkel
Cosmos Klage?« fragte Anne schließlich.
»So weit ich weiß, nicht«, gab Lord Rochford zurück.
»Es ist aber durchaus denkbar, dass der Fall gar nicht zur
Verhandlung kommt. Sir Oliver wird Beweise für das
verlangen, was Mr. Haycroft mir vorwirft. Sollten solche
Beweise nicht erbracht werden können – und das können
sie natürlich nicht! –, dann ist die Glaubwürdigkeit Ihres
Onkels und auch seiner Zeugin Hortense Finch erschüt-
tert.«
»Ich hoffe nur, diese Leute erhalten eine saftige Strafe
dafür, dass sie dich und Anne zu Unrecht beschuldigt und
euren guten Ruf beschädigt haben!« rief Lady Mary aus.
»Es tut mir so Leid, dass es überhaupt dahin gekommen
ist«, sagte Anne. »Manchmal fühle ich mich wirklich
schuldig, denn ohne mich hätten Sie all diese Schwierigkei-
ten nie gehabt. Aus Gutherzigkeit wollten Sie mir helfen
und werden nun so dafür bestraft!«
»Unsinn!« widersprach Justin. »Sie trifft wirklich keine
Schuld.«
Und Lady Mary erklärte im gleichen Moment: »Liebes
Kind, wir sind beide sehr froh, dass Sie bei mir Zuflucht
gesucht haben und dass wir Ihnen behilflich sein konnten.«
»Wenn Miss Finch nicht eine so gewissenlose Klatschbase
wäre, wäre uns mancher Ärger erspart geblieben«, fuhr
Justin fort. »Sie ist diejenige, die sich Vorwürfe machen
sollte!«
»Tatsächlich hat Hortense Finch beinahe jedes Mitglied
der guten Gesellschaft schon einmal in Schwierigkeiten
gebracht«, erklärte Lady Mary. »Deshalb bin ich ziemlich
sicher, dass sogar der Richter ihr nicht sehr gewogen ist.«
»Sie ist nirgends beliebt«, bestätigte auch Lord Rochford,
»genau wie Ihr Onkel, Anne. Er hat wahrhaftig keinen
besonders guten Ruf. Und das kann für uns nur von Vorteil
sein.«
»Es gibt also keinen Grund zu übermäßiger Sorge«, fasste
Lady Mary zusammen. »Wie werden einfach so weiterma-
chen wie bisher, auch wenn die Verhandlung vor der Tür
steht.«
Unmöglich, dachte Anne, die das Gefühl hatte, nie wieder
frei atmen zu können, ehe die Verhandlung nicht abge-
schlossen und das Urteil gesprochen war.
Lady Mary jedoch gelang es, die junge Dame aus ihren
trüben Gedanken zu reißen. »Bei diesem wunderbaren
Wetter«, sagte sie, »sollten wir unbedingt eine Ausfahrt in
den Park unternehmen.«
Das erwies sich als ausgesprochen gute Idee. Denn selbst
Anne kam nicht umhin festzustellen, dass niemand, der
Rang und Einfluss hatte, sie oder Lady Mary schlecht
behandelte. Es hatte tatsächlich den Anschein, als stünden
alle auf ihrer Seite.
Nach ihrer Rückkehr in die Lower Brook Street blieben
die beiden Damen nicht lange allein. Lady Metcalf
erschien zum Tee, erwähnte jedoch die bevorstehende
Gerichtsverhandlung, von der sie inzwischen bestimmt
gehört hatte, mit keinem Wort. Sie wirkte ein wenig
bedrückt, aber Anne hätte nicht zu sagen gewusst, was der
Grund dafür war. Möglicherweise hatte sie ihrer Freundin
gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel Zeit mit
Mr. Parker verbrachte. Denkbar war jedoch auch, dass sie
sich schämte, weil sie sich nicht von Anfang an offen auf die
Seite Lord Rochfords gestellt hatte.
Lady Mary behandelte ihre alte Freundin so freundlich wie
immer. Sie schien Jane Metcalf vergeben zu haben. Und
nichts wies daraufhin, dass sie Eifersucht verspürte.
Trotzdem hätte Anne schwören können, dass Lady Mary
Mr. Parker mehr als nur Sympathie entgegengebracht hatte.
Nun, vielleicht waren ihre Gefühle gestorben, als sie von
dessen Ehe gehört hatte.
Aber war er wirklich in Kanada verheiratet? Mr.
Witherspoon hatte die Damen gebeten, vorerst mit
niemandem über seinen Verdacht zu sprechen. »Nachdem
ich erlebt habe, was Klatsch, Tratsch und üble Nachrede
anrichten können, will ich erst ganz sicher sein, ehe ich
Mr. Parker öffentlich angreife«, hatte er erklärt.
Lord Rochford und Anne Haycroft trafen sich mehrere
Male mit ihrem Anwalt Sir Oliver Knight. Es gab viel zu
bereden. Alle Fragen, die vor Gericht möglicherweise
gestellt werden würden, mussten durchgesprochen werden.
Die Antworten wollten überlegt und eingeübt werden,
denn Anne wusste sehr wohl, dass die Atmosphäre im
Gerichtssaal sie wahrscheinlich verunsichern würde. Da
sollte keine Frage, keine Bemerkung und keine Schlussfol-
gerung sie unvorbereitet treffen.
Nach jedem dieser Treffen ließ Anne sich in Lady Marys
Kutsche zur Lower Brook Street zurückbringen, während
Justin in seinem eigenen Wagen in anderer Richtung
davonfuhr. Dieses Vorgehen erschien allen am klügsten.
Dennoch wünschte Anne sich oft, einmal in Ruhe mit Lord
Rochford über alles reden zu können. Ja, sie musste sich
eingestehen, dass ihr schon wohler gewesen wäre, wenn
sie nur öfter seine Gesellschaft hätte genießen können,
ganz gleich, ob sich dabei Gelegenheiten zum Gespräch
ergeben hätten. Er fehlte ihr. Trotz Lady Marys Fürsorge
und trotz Mr. Witherspoons Hilfe fühlte sie sich manchmal
sehr einsam. Und von Tag zu Tag wuchs ihre Nervosität.
In den Tagen vor der Gerichtsverhandlung hielt Justin sich
nur selten im Hause seiner Tante auf. Seine Tage waren
erfüllt mit anderen Verpflichtungen. Viele seiner Freunde
suchten ihn auf oder baten ihn zu sich, um ihm Tipps für
die Verhandlung zu geben oder ihm das Neueste über
Lord Alington zu berichten. Darüber hinaus bemühte
Justin sich, an möglichst vielen gesellschaftlichen Ereignis-
sen teilzunehmen. So konnte er sicherstellen, dass seine
Beliebtheit nicht nachließ.
Tatsächlich gab es niemanden, der ihn schnitt oder sich
ihm gegenüber auffallend kühl verhielt. Einige wenige
Mütter allerdings bemühten sich, ihre Töchter von ihm fern
zu halten. Zu sehr befürchteten sie, der Skandal um Lord
Rochford könne sich irgendwie auch auf ihre Töchter
auswirken und deren Heiratschancen beeinträchtigen.
Justin kümmerte das nicht. Diese wohl behüteten jungen
Damen waren ihm gleichgültig. Annes Gesellschaft
allerdings fehlte ihm.
Da ihm jedoch klar war, dass der Klatsch erneut aufleben
würde, wenn er sich öfter mit Anne blicken ließ, hielt er
sich im Allgemeinen von ihr fern. Das wiederum wusste
Caroline Bonham zu ihren Gunsten auszunutzen. Oft wurde
sie an seiner Seite gesehen. Bald hieß es, alles deute darauf
hin, dass aus den beiden ein Paar werden würde.
Natürlich erfuhr auch Anne davon. Ihr Herz wurde
schwer, wenn sie daran dachte. Dennoch wäre sie niemals
auf die Idee gekommen, Lady Mary oder gar Justin selbst
nach seinen Zukunftsplänen zu fragen. Wusste sie nicht
schon seit langem, dass ihr Traum von einer Liebesheirat
immer ein Traum bleiben würde?
Endlich kam der Tag, an dem die Verhandlung stattfin-
den sollte. Um sich mit dem Gerichtsgebäude und der dort
herrschenden Atmosphäre vertraut zu machen, hatte Anne
in der Woche zuvor Westminster Hall mehrmals besucht.
Viel schien sich seitdem nicht verändert zu haben. Im
Gerichtssaal sah es genauso aus wie bei ihrem ersten
Besuch, nur dass diesmal andere Leute anwesend waren.
Richter Ellenborough saß auf einem Podest hinter einem
schmalen Holztisch. Er trug eine schwere Perücke, unter
der es ihm offensichtlich unangenehm warm war. An der
Wand hinter ihm hing ein Wandteppich, auf dem ein Löwe
und ein Einhorn zu erkennen waren. Vor dem Podest hatten
mehrere Schreiber Platz genommen, die ebenfalls weiße
Perücken und schwarze Roben trugen. Am anderen Ende
des Saales standen hinter einem hölzernen Gitter weitere in
schwarze Roben gekleidete Männer. Die meisten von ihnen
schenkten den Vorgängen im Gerichtssaal keine große
Beachtung.
Auf der linken Seite des Raums war der Platz der Ge-
schworenen. Bei ihnen handelte es sich um zwölf wohlha-
bend und überaus ehrbar aussehende Gentlemen, die mit
ausdruckslosen Gesichtern zuhörten, was die Zeugen
berichteten. Ein Stück vor ihnen entfernt, beinahe in der
Mitte des Raumes, stand Sir Oliver. Er hielt ein Blatt
Papier in der Hand und ließ den Blick immer wieder über
die versammelten Menschen schweifen. Als Anne auf einem
der Stühle im Saal Platz nahm, warf er ihr einen aufmun-
ternden Blick zu.
Der Zeugenstand befand sich auf der rechten Seite des
Raums. Gerade ging Mr. Potter, Lady Marys Butler,
dorthin. Außer ihm, das sah Anne jetzt, waren auch andere
Dienstboten sowie ein paar ihr unbekannte Leute anwe-
send. Allerdings befanden sich nur zwei Frauen im Ge-
richtssaal: Anne selbst und Lady Mary. Miss Finch schien
sich zusammen mit Mr. Haycrofts weiteren Zeugen in
einem anderen Raum aufzuhalten.
Anne hörte, wie Potter mit fester Stimme seine Aussage
machte. Es fiel ihr allerdings schwer, sich auf seine Worte
zu konzentrieren. Sie hatte große Angst davor, selbst in den
Zeugenstand gerufen zu werden. Wie sollte es ihr gelingen,
vor all diesen Menschen überzeugend aufzutreten? Sicher, sie
brauchte nur die Wahrheit zu sagen. Aber sie fühlte sich von
der Atmosphäre ungeheuer eingeschüchtert. Würde sie
überhaupt einen Ton über die Lippen bringen?
Dann entdeckte sie hinten im Gerichtssaal ihren Onkel und
Lord Alington. Zorn wallte in ihr auf. Diese beiden waren
dafür verantwortlich, dass sie sich dieser unangenehmen und
beängstigenden Prozedur unterziehen musste. Weiß Gott, sie
würde nicht zulassen, dass die beiden ihre eigennützigen,
bösen Pläne in die Tat umsetzen konnten!
Ein Gerichtsdiener tauchte plötzlich an ihrer Seite auf und bat
sie, ihm zum Zeugenstand zu folgen. Mit weichen Knien
erhob Anne sich. Und dann war es so weit. Sie begann zu
sprechen. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass ihre
Stimme leise, aber fest klang. Ihre Zuversicht wuchs. Ja, sie
würde Sir Olivers Fragen wahrheitsgemäß und für alle
verständlich beantworten können!
Sir Oliver begann mit einem Rückblick auf die anderen
Zeugenaussagen. Er erwähnte, dass Annes Ruf bisher der
allerbeste gewesen sei, was auch von allen Zeugen bestätigt
worden sei. Er brachte sein Bedauern darüber zum Ausdruck,
dass diese vorbildliche junge Dame nun auf Grund von Miss
Finchs Klatschgeschichten gezwungen sei, ihren Ruf zu
verteidigen. Zwischendurch richtete er einige einfache Fragen
an Anne. Schließlich forderte er sie auf, die Szene, die
Hortense Finch so falsch wiedergegeben habe, aus ihrer Sicht
zu schildern.
»Lady Mary war so großzügig, mir ihre Gastfreundschaft
anzubieten«, berichtete Anne. »Ihr Neffe, Lord Rochford,
brachte mich zu ihrem Haus. Da es noch früh war, lud Lady
Mary ihn zum Frühstück ein. Als er aufbrach, begleitete ich ihn
zur Tür. Ich wollte ihm noch einmal für seine Hilfe danken. Er
nahm meinen Dank an und küsste mir zum Abschied die
Hand.«
»Warum kamen Sie so früh in der Lower Brook Street an?«
»Ich hatte das Haus meines Onkels schon in der Morgen-
dämmerung verlassen, weil ich fürchtete, später am Tag
aufgehalten zu werden. Mein Onkel hatte mir nämlich erklärt,
dass er mich gegen meinen Willen so bald wie möglich mit
Lord Alington verheiraten wolle. Seine Lordschaft macht mir
Angst. Und meinen Onkel fürchte ich auch, besonders wenn
er zornig ist. Deshalb beschloss ich, zu fliehen und bei Lady
Mary Zuflucht zu suchen.«
»Es war Lord Rochford, der Sie in seiner Kutsche vom
Hause ihres Onkels zum Haus seiner Tante brachte?«
»Ja.«
»Verhielt er sich während dieser Fahrt wie ein Gentleman?«
»Allerdings. Er hat sich mir gegenüber stets korrekt
verhalten. Nicht ein einziges Mal ist er mir zu nahe
getreten.«
Es folgten weitere Fragen, die Anne, die sich inzwischen
bedeutend sicherer fühlte, ruhig und verständlich beantwor-
tete. Sie berichtete unter anderem, dass ihr Onkel ihr
mehrfach Vorwürfe gemacht hatte, weil sie ihn mit ihrer
Flucht um den finanziellen Gewinn gebracht hatte, den er
durch ihre geplante Ehe mit Lord Alington gehabt hätte.
Als sie zum ersten Mal erwähnte, dass ihr Onkel ver-
sucht hatte, sie gegen ihren Willen mit Lord Alington zu
verehelichen, war Unruhe unter den mit schwarzen Roben
bekleideten Herren entstanden. Tatsächlich war es nicht
unüblich, dass Väter ihre Töchter aus finanziellen Erwägun-
gen an Gentlemen verheirateten, die den jungen Damen
Angst und Abneigung einflößten. Im Allgemeinen handelte
es sich jedoch bei den auserwählten Gatten um Herren mit
untadeligem Ruf. Bei Lord Alington lag die Sache anders.
Kaum jemand im Gerichtssaal hätte freiwillig zu seinen
Gunsten gesprochen.
Schließlich dankte Sir Oliver Anne für ihre Offenheit, und
der gegnerische Anwalt trat vor. Vor Aufregung begann ihr
Herz heftig zu klopfen. Doch zum Glück waren alle Fragen,
die ihr nun noch gestellt wurden, leicht zu beantworten.
Bald schon konnte Anne zu ihrem Sitzplatz zurückkehren.
Als Nächstes wurde Lord Rochford aufgerufen und
aufgefordert, Stellung zu beziehen.
Justin Fairfax, Earl of Rochford, tat das mit tiefer, ruhiger
Stimme. Er erklärte, dass er sich durch Miss Finchs und
Mr. Haycrofts Verhalten beleidigt fühle. Er sei der Lächer-
lichkeit preisgegeben und sein guter Ruf sei geschädigt
worden. Insbesondere das von Cosmo Haycroft gegen ihn
angestrengte Verfahren entbehre jeder Grundlage und habe
ihm ebenso wie Miss Haycroft sehr geschadet.
Jetzt wurde Miss Finch in den Raum gebracht und in den
Zeugenstand gerufen. In den letzten Jahren waren vor
englischen Gerichten viele Verleumdungsklagen verhan-
delt worden. Meist hatten sie kein besonderes Aufsehen
erregt. Das war diesmal anders. Jeder in London kannte
Miss Finch als rücksichtslose Klatschbase. Viele hatten
unter ihren Geschichten zu leiden gehabt. Dass sie nun den
Ruf einer unbescholtenen jungen Dame und eines als
überaus korrekt geltenden Gentleman hatte zerstören
wollen, erregte die Gemüter.
Wahrscheinlich hatte sich fast jeder, der sich an diesem
Tage im Gerichtssaal aufhielt, irgendwann einmal ge-
wünscht, jemand möge Miss Finch das Handwerk legen.
Ehe Lord Rochford auf den Plan trat, hatte es jedoch
niemand gewagt, Hortense Finch anzuklagen. Daraus
schlössen die Anwesenden vor allem eines: Den meisten
der Klatschgeschichten hatte wahrscheinlich ein Fünkchen
Wahrheit zu Grunde gelegen; die Anschuldigungen gegen
Lord Rochford und Miss Haycroft jedoch mussten jeder
Grundlage entbehren.
Stille senkte sich über den Saal, als Sir Oliver begann,
Miss Finch zu befragen. Deren eigener Anwalt hatte ihr nur
eine einzige Frage gestellt. Er wollte wissen, was sie an
jenem Morgen in der Lower Brook Street gesehen hatte.
Dann hatte er Sir Oliver das Feld überlassen. Erstaunlich
war das nicht. Selbst für den besten Verteidiger musste es
schwer sein, Hortense Finch in einem positiven Licht
darzustellen. Sie war allgemein unbeliebt und behandelte
ihre Dienstboten so schlecht, dass auch von ihnen kaum
einer bereit war, zu ihren Gunsten auszusagen.
Sir Oliver stellte die gleiche Frage wie Miss Finchs
eigener Anwalt. Auch er wollte wissen, was die Dame
gesehen hatte. Er ließ sie ihre Beobachtungen schildern,
unterbrach sie jedoch, als sie begann, Spekulationen über
die Beziehung zwischen Lord Rochford und Miss Haycroft
anzustellen.
»Sie haben also gesehen, wie Lord Rochford die Hand
der jungen Dame küsste. Haben Sie selbst auch schon
einmal einen Handkuss bekommen?«
Miss Finch errötete. »Nein.«
»Ich nehme an, Sie hätte jeden, der es versucht hätte, in
seine Schranken verwiesen. Denn offenbar halten Sie einen
Handkuss für etwas Verwerfliches.«
Jemand kicherte, als Miss Finch erklärte: »Nein, das tue
ich nicht.«
»Dann begreife ich nicht, warum Sie gleich den Schluss
zogen, es habe vor dem Handkuss unschickliche Handlun-
gen gegeben«, meinte Sir Oliver mit eisiger Stimme.
»Es war noch so früh am Tag«, gab Hortense Finch
zurück. »Ich bin sicher, Lord Rochford…«
Der Anwalt ließ sie nicht ausreden. »Miss Haycroft hat
uns überzeugend dargelegt, warum sie das Haus ihres
Onkels an diesem Tag sehr früh verlassen hat. Sie hat auch
berichtet, dass Lord Rochford sie auf dem kürzesten Weg
von Mr. Haycrofts Haus zu Lady Marys Haus gebracht hat.
Ist dieses Verhalten in Ihren Augen verwerflich?«
Stumm schüttelte Miss Finch den Kopf.
»Ist es verwerflich, dass Miss Haycroft Lord Rochford für
seine Hilfe danken wollte?«
»Nein. Aber…«
Diesmal war es der Richter, der die Zeugin unterbrach.
»Haben Sie noch weitere Fragen?« wollte er von Sir Oliver
wissen.
»Nein, Euer Ehren.«
»Gut.« Richter Ellenborough wandte sich noch einmal
Miss Finch zu. »Sie können den Zeugenstand verlassen.«
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Geschwore-
nen. »Ehe Sie Ihr Urteil fällen«, sagte er, »machen Sie sich
noch einmal klar, was Sie heute hier gehört haben. Denken
Sie daran, was Sie über den Charakter, das Verhalten, den
Ruf dieser Menschen erfahren haben.«
Die Geschworenen tuschelten miteinander. Dann nickte
einer von ihnen dem Richter zu. Dieser forderte sie
daraufhin auf, sich zur Urteilsfindung in einen Nebenraum
zurückzuziehen.
Da die Geschworenen im Allgemeinen über mehrere
Verfahren täglich zu befinden hatten, rechnete niemand
damit, dass sie lange brauchen würden, um ihr Urteil zu
fällen. Anne allerdings brachte es nicht über sich, im
Gerichtssaal zu warten. Sie trat in den kühlen Flur hinaus
und begann, unruhig auf und ab zu gehen. Gleich darauf
gesellten sich Lady Mary, Mr. Witherspoon, Justin und
Sidney zu ihr.
»Es ist ein so unangenehmes Gefühl zu wissen, dass gerade
zwölf Fremde darüber entscheiden, ob ich meinen guten
Ruf behalten soll«, sagte Anne leise zu Lady Mary.
»Außerdem befanden sich Lord Alington und mein Onkel
im Gerichtssaal. Die beiden machen mir nach wie vor
Angst.«
»Liebes Kind, niemand wird wagen, Ihnen im Gerichtsge-
bäude Böses anzutun«, versuchte Lady Mary sie zu
beruhigen.
»Außerdem steht für mich außer Frage, dass Ihr Ruf
genau wie der Lord Rochfords ab heute offiziell wieder
makellos sein wird«, setzte Mr. Witherspoon hinzu. »Ich
frage mich allerdings, wie das Urteil lauten wird. Miss Finch
besitzt nicht genug, um eine hohe Geldstrafe bezahlen zu
können. Aber bestraft muss sie werden!«
Anne seufzte tief auf. Die letzten Tage und insbesondere
die vergangenen Stunden hatten sie nervlich sehr bean-
sprucht. »Am liebsten würde ich London für einige Zeit
verlassen«, stellte sie fest. »Aber auf gar keinen Fall möchte
ich, dass Miss Finch glaubt, sie habe mich aus der Stadt
getrieben.«
In diesem Moment wurde die Tür zum Gerichtssaal
geöffnet, und Sir Oliver trat heraus. »Bitte, kommen Sie
doch zur Urteilsverlesung herein!«
»Jetzt schon?« flüsterte Anne, die plötzlich sehr blass
geworden war.
Justin nickte ihr aufmunternd zu, und Lady Mary nahm
ihren Arm. Gemeinsam kehrten sie in den Gerichtssaal
zurück.
Richter Ellenborough sah ernst zu ihnen hinüber. Dann
vergewisserte er sich, dass auch Miss Finch und Mr.
Haycroft anwesend war. Schließlich begann er, das Urteil
zu verlesen.
»Cosmo Haycroft,« der Richter warf diesem einen
kurzen Blick zu, »wird hiermit aufgefordert, keine
Beschuldigungen oder Geldforderungen mehr gegen Lord
Rochford zu erheben. Um Lord Rochford für alle ihm durch
die Anschuldigungen entstandenen Unannehmlichkeiten zu
entschädigen, zahlt Mr. Haycroft ihm die Summe von 2000
Pfund.«
Ein Raunen ging durch den Saal. Richter Ellenborough
schien es nicht zu hören. Er richtete den Blick auf Miss
Finch. Mit lauter, deutlicher Stimme las er weiter.
»Die Geschworenen haben Miss Hortense Finch der
Verleumdung für schuldig befunden. Miss Finch erhält
folgende Strafe: Sie hat sich weiß gekleidet an einem noch
zu bestimmenden Datum im Hyde Park einzufinden. Dort
wird sie Federn einsammeln, die aus einem Kissen geschüt-
telt werden.«
Einen Moment lang herrschte tiefe Stille im Gerichtssaal.
Dann begann jemand zu kichern. Gleich darauf war der
ganze Raum von lautem Lachen erfüllt. Mit ernster Miene
hob Richter Ellenborough einen kleinen Hammer und
klopfte auf den Tisch. »Ruhe, oder ich muss den Saal
räumen lassen!«
Das Lachen verstummte.
»Ich glaube«, erklärte der Richter, »Miss Finch wird
feststellen, dass es sehr schwierig ist, Federn einzusammeln.
Es ist genauso schwierig, wie die Wirkung gesprochener
Worte aufzuheben. Klatschgeschichten, die einmal die
Runde gemacht haben, werden nicht mehr vergessen,
gleichgültig ob sie der Wahrheit nahe kommen oder völlig
aus der Luft gegriffen sind. Miss Finch, ich rate Ihnen, Ihre
Zunge zukünftig besser im Zaum zu halten.«
Mit hochrotem Kopf stürzte Miss Finch aus dem Saal.

9. KAPITEL
Während Lord Rochford, Sidney Fairfax und Lady Mary
sich um Sir Oliver scharten, um ihm für seine Bemühun-
gen als Anwalt zu danken, verließ Anne still den Gerichts-
saal. Sie wollte so rasch wie möglich zurück in die Lower
Brook Street. Die Anspannung während der Verhandlung
hatte sie mehr erschöpft, als sie erwartet hatte, und ihr
Kopf schmerzte.
Mr. Witherspoon folgte ihr. »Meine Kutsche wartet
draußen«, sagte er freundlich. »Ich werde Sie nach Hause
fahren.«
Anne nickte dankbar.
Unterwegs meinte Mr. Witherspoon: »Ich nehme an, dass
Ihr Onkel seine eigene Klage nun zurückziehen wird.
Schließlich hat der Richter ihn angewiesen, auf alle
Geldforderungen zu verzichten und keine Anschuldigungen
gegen Lord Rochford mehr zu erheben.«
»Ich hoffe wirklich, dass ich nicht eine weitere Gerichts-
verhandlung durchstehen muss«, murmelte Anne.
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Ich bin sicher,
dass Ihre Schwierigkeiten hinter Ihnen liegen. Was werden
Sie tun, nun da Sie frei sind?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Ich denke, ich sollte
Lady Marys Gastfreundschaft nicht mehr lange in An-
spruch nehmen. Sie war überaus großzügig und freundlich
zu mir. Und ich habe ihr nur Mühen und Sorgen bereitet.
Ich bedaure sehr, dass ich sie und ihren Neffen in eine so
unangenehme Lage gebracht habe.«
»Wohin wollen Sie gehen?« erkundigte Mr. Witherspoon
sich voller Mitgefühl.
»Ich habe mehrere Cousinen. Wahrscheinlich werde ich
eine von Ihnen bitten, mich eine Zeit lang bei sich aufzu-
nehmen«, gab Anne zurück. Tatsächlich hatte sie nur zu
einer einzigen dieser Verwandten bis vor einigen Monaten
in Briefkontakt gestanden. Jahre zuvor waren sie sich auch
einmal auf einer Familienfeier begegnet. Die anderen
Cousinen allerdings waren ihr völlig fremd.
»Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann…«,
begann Mr. Witherspoon.
Anne schenkte ihm ein Lächeln. »Vielen Dank! Ich weiß
Ihre Freundschaft zu schätzen. Und ich hoffe, dass Sie mit
Lady Mary bald eine für Sie beide zufrieden stellende…
Einigung erzielen.«
Der Gentleman hob die Augenbrauen. »Eine Einigung?
Halten Sie das für nötig?«
»O ja.« Anne war selbst erstaunt über ihren Mut. »Lady
Mary hat mir gegenüber mehrmals erwähnt, wie einsam sie
sich fühlt, wenn Sie nicht da sind.«
»Ah…« Mr. Witherspoon musterte aufmerksam Annes
Gesicht. »Dann glauben Sie also, dass für mich noch
Hoffnung besteht?«
Die junge Dame errötete. »Bitte, verzeihen Sie meine
Offenheit. Aber ich würde Ihnen raten, baldmöglichst mit
Lady Mary über Ihre Wünsche und Empfindungen zu
sprechen.«
»Ich verstehe.«
Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück. Erst als
die Kutsche in die Lower Brook Street einbog, ergriff Mr.
Witherspoon noch einmal das Wort. »Sie haben mir
reichlich Stoff zum Nachdenken gegeben, Miss Haycroft.
Ich danke Ihnen für alles, was Sie gesagt haben.«
Anne lächelte nur. Wie sehr wünschte sie sich, dass Giles
Witherspoon und Lady Mary, die sie in den letzten Wochen
wirklich lieb gewonnen hatte, ihr Glück finden würden!
Mr. Witherspoon half ihr aus der Kutsche und begleitete
sie zur Tür, wo er sich verbeugte. »Bis später, Miss
Haycroft. Ich nehme an, es wird heute Abend eine kleine
Feier geben, und ich werde gern daran teilnehmen.«
In diesem Moment öffnete Potter die Haustür. Der sonst
stets ernst dreinblickende Butler strahlte über das ganze
Gesicht. »Wie ich gehört habe, haben wir gewonnen! Ich
habe schon den Champagner kalt gestellt.«
»Danke, Mr. Potter. Ich möchte mich erst etwas hinlegen.
Ich bin sehr erschöpft.«
Der Butler verbeugte sich. »Ich werde Ihnen Ihre Zofe
schicken, wenn die anderen Herrschaften da sind.«
Als Cherry einige Zeit später an Annes Zimmertür klopf-
te, fühlte die junge Dame sich keineswegs besser als zuvor.
Die Aussicht, Lady Mary bald zu verlassen und Lord
Rochford womöglich nie wieder zu sehen; war deprimie-
rend. Dennoch war Anne entschlossen, sich ihre niederge-
drückte Stimmung nicht anmerken zu lassen. Der Prozess
war gewonnen. Es gab etwas zu feiern!
Im Salon waren eine Menge Menschen versammelt.
Sidney und Justin standen in der Nähe des Kamins und
unterhielten sich angeregt. Lady Mary saß mit Lady
Metcalf und Mr. Parker beisammen, der ihr gerade mit
seinem Champagnerglas zuprostete. Anne bemerkte sofort,
dass ihre mütterliche Freundin über irgendetwas enttäuscht
war.
»Liebes Kind«, wandte Lady Mary sich an Anne, »ich
vermisse jemanden in unserer Runde.«
»Mr. Witherspoon? Er hat versprochen, im Laufe des
Tages noch einmal vorbeizukommen.« Anne nahm das
Glas Champagner entgegen, das Potter ihr reichte. Ihr
Blick wanderte erneut zu Lord Rochford. Sie wusste jetzt,
dass sie ihn liebte. Durfte sie hoffen, dass er ihre Gefühle
erwiderte? Nein, Justins Interessen lagen gewiss anderswo.
Wie oft hatte man ihn in letzter Zeit zusammen mit Miss
Bonham gesehen! Es würde also doch keine Liebesheirat
für sie geben.
Mr. Parkers Stimme riss Anne aus ihren Gedanken. »Da
wir gerade so fröhlich feiern, möchte ich noch eine weitere
frohe Mitteilung machen:
Lady Metcalf hat mich sehr glücklich gemacht. Sie hat
sich nämlich mit mir verlobt.«
»Eine interessante Neuigkeit!«
Alle im Raum fuhren herum. In der Tür zum Salon stand
Mr. Witherspoon. Potter musste ihn eingelassen haben,
ohne dass Lady Mary und ihre Gäste das bemerkt hatten.
»Eine wirklich interessante Neuigkeit«, wiederholte er.
»Was gedenken Sie unter diesen Umständen wegen Ihrer
Gattin in Kanada zu unternehmen, Mr. Parker?«
Mit einem Mal war es sehr still im Raum. Anne und Lady
Mary starrten sich einen Moment lang entsetzt an. Dann
sprang die alte Dame auf und eilte an die Seite ihrer
Freundin Jane Metcalf.
Lady Metcalf bemerkte es kaum. Ihr Blick war auf Mr.
Parker gerichtet. »Stimmt das?« fragte sie mit kaum
hörbarer Stimme.
»Es stimmt nicht«, erklärte Mr. Parker und sah kampfes-
lustig in die Runde.
»Zwei meiner Freunde möchten zu diesem Thema etwas
sagen.« Mr. Witherspoon wandte sich um und bedeutete
zwei Herren, die im Flur gewartet hatten, vorzutreten. Mr.
Parker erblasste bei ihrem Anblick.
»Lady Mary, darf ich Sie und Ihre Gäste mit Ian Wilmot
und George Farmer, meinen Freunden aus Kanada, bekannt
machen«, fuhr Mr. Witherspoon fort. »Diese Gentlemen
kennen nicht nur Mr. Parker, sondern auch seine Gattin. Die
beiden haben mir versichert, dass sie bereit sind, jederzeit
zu beschwören, dass Mr. Parker bereits verheiratet ist.«
Jane Metcalf saß wie erstarrt und brachte kein Wort über
die Lippen.
»Verzeihen Sie mir, Lady Metcalf«, sagte Mr.
Witherspoon jetzt. Seine Stimme verriet Mitgefühl. »Ich
weiß, dass ich Ihnen einen schlimmen Schock zugefügt
habe. Doch ich fühlte mich verpflichtet, Ihnen die Wahrheit
nicht vorzuenthalten. Wenn Sie alles erst später herausge-
funden hätten, wäre das wesentlich schlimmer gewesen.«
»Ein nicht wieder gutzumachendes Unglück«, murmelte
Anne.
Lady Metcalf nickte. Noch immer wirkte sie wie betäubt.
»Jane«, sagte Lady Mary tröstend, »wir alle halten zu
Ihnen.«
Die beiden alten Damen schauten sich an. Dann zog Lady
Metcalf den Ring, den Edmund Parker ihr kurz zuvor
geschenkt hatte, vom Finger. »Sie haben Recht, Mr.
Witherspoon«, sagte sie leise, »ohne Ihre Einmischung wäre
für mich alles noch viel schlimmer gekommen.« Dann drehte
sie sich zu ihrem Ex-Verlobten um: »Nehmen Sie den Ring
zurück und gehen Sie. Ich kann Ihre Anwesenheit nicht
länger ertragen.«
Mr. Parker schloss die Finger um das Schmuckstück,
machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben. Lady
Mary legte ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter und
schaute Mr. Parker streng an. »Adieu, Sir. Ich glaube kaum,
dass wir uns wieder sehen.«
Jetzt stand Edmund Parker auf. Ohne ein Wort des
Abschieds verließ er den Raum.
»Ich stehe in Ihrer Schuld, Mr. Witherspoon«, meinte
Lady Metcalf leise. »Wenn ich mir vorstelle, ich hätte diesen
Mann geheiratet und wäre mit nach Kanada gefahren…
Dort angekommen, hätte ich einen Albtraum erlebt…«
»Wenn Sie überhaupt angekommen wären«, bemerkte
Ian Wilmot. »Leider hört man immer wieder von Damen,
die England an der Seite eines Mannes verlassen und ihr
Ziel auf der anderen Seite des Ozeans nie erreichen.«
»Bitte«, mischte Lady Mary sich jetzt ein, »lassen Sie uns
das Thema wechseln. Nehmen Sie doch Platz, Mr. Wilmot,
Mr. Farmer. Darf ich Ihnen ein Glas Champagner anbie-
ten?« Sie streckte die Hand aus, um nach Potter zu läuten.
Eine Zeit lang drehte das Gespräch sich um die gesell-
schaftlichen Ereignisse der letzten Tage. Doch schließlich
kam Lady Metcalf noch einmal auf das zurück, was
geschehen war. »Können Sie mir etwas über Mr. Parkers
Gattin erzählen?« fragte sie die beiden Kanadier.
»Das Paar lebt getrennt«, berichtete George Farmer. »Mrs.
Parker, die Tochter des Kaufmanns Jack Jeacock, hat große
Reichtümer mit in die Ehe gebracht. Allerdings ist sie
taubstumm und deshalb sehr menschenscheu. Sie zieht es
vor, auf dem Lande zu leben, während Mr. Parker sich im
Allgemeinen in Halifax aufhält.«
»Es heißt, dass Parker einen Teil seines Vermögens durch
falsche Investitionen verloren hat«, ergänzte Ian Wilmot.
»Angeblich soll er in finanziellen Schwierigkeiten stecken.«
»Es war grausam von ihm, die arme Jane so zu behan-
deln«, stellte Lady Mary zu Anne gewandt fest.
Anne nickte. »Ich bin froh, dass Mr. Witherspoon der
falschen Verlobung so rasch ein Ende gemacht hat. Für
Lady Metcalf muss das Ganze eine schreckliche Erfahrung
sein.« Viel schlimmer noch, setzte sie in Gedanken hinzu,
als mein eigener Kummer, seit ich alle Hoffnungen auf eine
Liebesheirat aufgeben musste; ich wünschte nur, ich
brauchte Lord Rochford nie mehr gegenüberzutreten.
Dennoch wanderten ihre Blicke immer wieder zu Justin,
der seinen Platz am Kamin wieder eingenommen hatte. O
Himmel, er war so attraktiv, so hilfsbereit und mitfühlend.
Es tat weh, ihn zu betrachten und zu wissen, dass er sich zu
‘einer anderen hingezogen fühlte. Wie mochte Miss
Bonham es angestellt haben, ihn zu erobern?
»Ich habe noch einmal über die Klage nachgedacht, die
Ihr Onkel gegen Lord Rochford erhoben hat.« Mr.
Witherspoons Worte rissen Anne aus ihren traurigen
Überlegungen. »Wahrscheinlich wird es gar nicht zur
Verhandlung kommen. Aber vielleicht macht Ihr Onkel
sich doch noch Hoffnungen. Auch wenn er Miss Finch nicht
als Zeugin aufrufen lassen sollte, könnte er andere Dinge in
der Hand haben, die man als Beweis gegen Lord Rochford
werten könnte.«
»Was meinen Sie?« wollte Anne wissen.
»Nun, gibt es vielleicht Briefe, die Lord Rochford Ihnen
geschickt hat?«
»Nein.« Anne schüttelte heftig den Kopf. »Mein Onkel
wäre allerdings durchaus fähig, solche Schreiben fälschen zu
lassen. Ich hoffe, er kommt nicht auf diese Idee.«
»Das hoffe ich auch.« Lord Rochford war zu Anne getre-
ten. Mit einem beinahe liebevollen Ausdruck schaute er ihr
ins Gesicht. »Sie sollten sich nicht so viele Sorgen machen,
Miss Haycroft. Ihr Onkel ist bei weitem nicht so klug wie
Sie.«
Anne errötete, und ihr Herz klopfte plötzlich heftig.
»Onkel Cosmo ist skrupellos. Jedes Mittel ist ihm recht,
wenn es ihm nur hilft, sein Ziel zu erreichen. Deshalb ist er
gefährlich.«
»Nun, er muss seinen Fall vor Gericht durch einen
Anwalt vertreten lassen. Und jeder Anwalt, der seine fünf
Sinne beisammenhat, würde ihm nach dem Ausgang der
heutigen Verhandlung raten, die Klage zurückzuziehen«,
stellte Mr. Witherspoon fest.
»Allerdings«, stimmte Justin ihm zu. »Und es gibt noch
mehr Gründe, die Ihren Onkel zum Aufgeben bewegen
könnten. Mr. Quinlan – Sie erinnern sich, er ist Mr.
Kestells Kollege – hat sich ein wenig um Ihre finanziellen
Angelegenheiten gekümmert, Miss Haycroft. Alles weist
darauf hin, dass Ihr Onkel sich unrechtmäßig an Ihrem
Erbe bereichert hat. Ein paar Beweise noch, und wir
könnten Cosmo Haycroft wegen Betrugs anzeigen.«
»O Gott, noch eine Klage?« Anne schüttelte den Kopf.
»Ich möchte nie wieder ein Gerichtsgebäude von innen
sehen!«
»Jedenfalls haben Sie Ihre Sache heute sehr gut gemacht«,
lobte Justin. »Niemand hätte auch nur erahnen können, dass
Sie vor Aufregung ganz weiche Knie hatten.«
»Woher wissen Sie das?«
Er lachte. »Ich selbst hatte auch weiche Knie.«
Ungläubig schaute Anne ihn an. Er nickte ihr zu und
reichte ihr ein neues Glas mit Champagner. »Trinken Sie!
Das wird Ihren Appetit anregen. Ich glaube, Sie haben in
den letzten Tagen zu wenig gegessen. Sie sollten wirklich
nicht noch schlanker werden.«
Es wunderte Anne, dass ihm aufgefallen war, dass sie
abgenommen hatte. Sie hatte angenommen, er hätte ihr
kaum Beachtung geschenkt, seit er sich wieder öfter mit
Caroline Bonham traf.
Mr. Witherspoon prostete ihr zu. »Auf Ihre Zukunft!
Auch wenn wir jetzt noch nicht genau sagen können, wie es
weitergeht. Sind Sie immer noch der Meinung, dass Sie
Lady Marys Gastfreundschaft nicht mehr lange in
Anspruch nehmen möchten?«
»Auf keinen Fall können Sie zu Ihrem Onkel zurück«,
meinte Lord Rochford mit Bestimmtheit. »Auch jetzt noch
würde er Sie so schnell wie möglich mit Lord Alington
verheiraten.«
»Ich habe eine Cousine…«, begann Anne.
»… von der Sie aber, wie Sie mir gegenüber vor einiger
Zeit erwähnten, lange nichts gehört haben«, ergänzte
Justin.
»Ich bin sicher, dass sie mir eine Weile Unterkunft
gewähren wird«, gab Anne zurück. »Ihr Name ist Penelope
Tyler, sie lebt in Kingston bei Hüll.«
»In Yorkshire? Ich bin sicher, dass wir auch in London
eine aridere Bleibe für Sie finden werden«, erklärte Lord
Rochford. »Sie brauchen die Stadt nicht zu verlassen.«
»Ich glaube«, sagte Anne leise, »ich würde ganz gern ein
paar Wochen anderswo verbringen.«
Es entstand Unruhe im Raum, weil Lady Metcalf sich
nach Hause begeben wollte. Die beiden Kanadier erboten
sich, sie zu begleiten. Auch Mr. Witherspoon hatte sich
erhoben. »Lady Mary«, begann er, »werden Sie mir die
Freude machen, mit mir eine kurze Ausfahrt in den Park zu
unternehmen?«
Die alte Dame schaute ihn erstaunt an. Dann leuchteten
ihre Augen auf. »Ich hole nur rasch meinen Hut und
meinen Umhang.« Mit leichten Schritten, wie ein junges
Mädchen, eilte sie aus dem Raum.
»Erstaunlich…«, murmelte Anne.
»Allerdings«, stimmte Sidney ihr zu. »Ich möchte mich
auch verabschieden. Ich denke, ich gehe zu Fuß zu Justins
Haus zurück. Es soll ja sehr gesund sein zu laufen.«
Lord Rochford hob die Augenbrauen. »Ich glaube, er
möchte nur sehen, wie Mr. Witherspoon Tante Mary in die
Kutsche hilft«, flüsterte er Anne zu.
Anne erwiderte nichts darauf. Lady Mary hatte ihr einmal
anvertraut, dass Mr. Witherspoon ein überzeugter Junggesel-
le sei, der sich geschworen habe, nie zu heiraten. War nun
der Zeitpunkt gekommen, diesen Schwur zu brechen?
»Alle sind fort«, stellte Justin in diesem Moment fest.
»Deshalb kann ich offen mit Ihnen reden. Anne, ich
möchte nicht, dass Sie London verlassen.«
»Ich kann nicht für immer bei Ihrer Tante bleiben.«
»Bald werden Sie volljährig«, erinnerte Justin sie. »Dann
hat Ihr Onkel keine Macht mehr über Sie, und Sie können
neue Pläne schmieden.« Er trat auf sie zu. Seine Nähe jagte
ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken.
»Und Ihre Zukunftspläne?« meinte Anne, die der unge-
wohnte Champagner mutig gemacht hatte. »Ich glaube, ich
kenne sie.«
»Tatsächlich?« Justin wunderte sich über den traurigen
Ausdruck ihrer Augen.
»Ich habe gehört, dass Sie oft mit Miss Bonham zusam-
men sind. Darf ich Ihnen beiden schon Glück wünschen?«
»Bei Jupiter! Das glauben Sie nicht wirklich!« rief Lord
Rochford aus. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Miss
Bonham mich nicht interessiert. Sie wissen, dass ich mich
wegen Miss Finchs Anschuldigungen von Ihnen fern halten
musste, Anne. Selbst jetzt müssen wir noch vorsichtig
sein.«
»Besteht denn noch Gefahr?« fragte Anne erschrocken.
»O ja. Es besteht zum Beispiel die Gefahr, dies zu tun.«
Er schloss Anne in die Arme und küsste sie. Der KUSS war
anders als die Küsse, die er ihr in der Kirche gegeben hatte,
zärtlicher, drängender, leidenschaftlicher. »Es besteht die
Gefahr«, flüsterte Justin ihr ins Ohr, »dass ich gar nicht
mehr damit aufhöre, Sie zu küssen.« Und wieder senkten
seine Lippen sich auf die ihren.
Annes Knie wurden weich. Um nicht zu taumeln, legte sie
die Hände auf Justins Schultern. O Himmel, es war so
wundervoll, in seinen Armen zu liegen!
Endlich gab er ihren Mund frei.
»Bitte«, stammelte Anne, »Sie sollten das nicht tun. Es ist
unvorsichtig! Wenn uns nun jemand sieht! Sie sollten das,
was Sie heute vor Gericht erreicht haben, nicht aufs Spiel
setzen wegen…«
»… wegen eines wundervollen, geradezu berauschenden
Kusses?« unterbrach er sie.
Anne schüttelte den Kopf und ließ sich auf einen Stuhl
sinken. »Ich…«, begann sie.
Es klopfte an der Tür, und Anne verstummte. Potter
steckte seinen Kopf ins Zimmer und sagte: »Euer Lord-
schaft, draußen ist ein Herr, der Sie dringend zu sprechen
wünscht. Er sagt, sein Name sei Quinlan.«
»Mr. Quinlan? Nun, wenn er mir bis hierher gefolgt ist,
dann gibt es Wichtiges zu bereden.« Justin griff nach Annes
Hand und hauchte einen KUSS darauf. »Bis später, mein
Herz.« Damit eilte er aus dem Raum.
Anne blieb verwirrt zurück. Sie trug keine Handschuhe und
die Berührung seiner Lappen auf ihrer Haut hatte sie fast so
erschüttert wie die Küsse zuvor. Außerdem hatte Justin sie
»mein Herz« genannt. Sie begriff nicht, was das nun wieder
zu bedeuten hatte.
»Haben Sie noch einen Wunsch, Miss?« Potters Stimme
ließ sie zusammenfahren.
»Nein danke.« Noch immer verwirrt begab Anne sich in
ihr Zimmer. Dort wartete sie in Gedanken versunken auf
Lady Marys Rückkehr.
Als sie hörte, wie vor dem Haus eine Kutsche zum Stehen
kam, sprang Anne auf. Ein Blick aus dem Fenster bewies ihr,
dass Lady Mary tatsächlich zurückgekehrt war. Erleichtert
atmete sie auf. Die alte Dame würde gewiss Neuigkeiten
haben, und die Ablenkung von ihren eigenen Sorgen kam
Anne gerade recht. Sie lief in den Flur hinaus.
»Liebes Kind«, rief Lady Mary ihr entgegen, »haben Sie
Lust, noch ein letztes Glas Champagner mit mir zu trinken?
Kommen Sie, wir wollen uns in den Salon setzen.«
Anne beobachtete ihre mütterliche Freundin aufmerksam.
»Mylady«, sagte sie, »wer Sie so gut kennt wie ich
inzwischen, der merkt Ihnen an, dass Sie aufgeregt sind.
Was ist geschehen? Soll ich raten?«
»Frechdachs!« Lady Mary lachte. »Ich werde Ihnen alles
erzählen, sobald Potter uns den Champagner gebracht
hat.«
Wenig später hielten beide Damen ihre gefüllten Gläser
in der Hand, und der Butler war im Begriff, das Zimmer zu
verlassen. »Einen Moment noch!« hielt Lady Mary ihn
zurück. »Auch Sie sollen die Neuigkeit sofort erfahren,
Potter.« Strahlend schaute Lady Mary von einem zum
ändern. »Mr. Witherspoon hat mich gebeten, seine Gattin
zu werden.«
»Wie wunderbar!« rief Anne aus und klatschte in die
Hände.
»Meine besten Wünsche, Mylady«, sagte Potter ernst.
»Ich möchte, dass Sie mit mir kommen, Potter, um in
meinem neuen Haushalt die Aufgaben eines Butlers zu
erfüllen. Mr. Witherspoon hat sich bereits damit einver-
standen erklärt.«
»Danke, Mylady.« Jetzt lächelte auch Mr. Potter. »Es ist
mir eine Ehre, weiterhin in Ihren Diensten zu stehen.« Er
verbeugte sich und zog sich zurück.
Lady Mary seufzte glücklich auf. »Giles ist so rücksichts-
voll mir gegenüber. Er stellt nur eine einzige Bedingung: Die
Hochzeit soll so bald wie möglich stattfinden. Stellen Sie
sich nur vor, Anne, er hat sich all die Jahre über ge-
wünscht, mich zu heiraten. Gefragt hat er mich allerdings
nie, weil er annahm, ich würde noch Mr. Parker nachtrau-
ern. Und ich habe nicht gemerkt, welche Gefühle er mir
entgegenbringt. Manchmal sind wir Frauen doch wirklich
blind!«
»Wie wahr!« Anne, die ihr Glas inzwischen geleert hatte,
fühlte sich mit einem Mal sorglos und heiter. War ihr der
Alkohol womöglich zu Kopf gestiegen? Egal, wenigstens
eine Zeit lang wollte sie all ihre Sorgen vergessen. »Ich zum
Beispiel habe geglaubt, Lord Rochford würde Miss Bonham
ein besonderes Interesse entgegenbringen.«
»Und nun haben Sie herausgefunden, dass es gar kein
besonderes Interesse ist«, neckte Lady Mary sie. Doch
schon wanderten ihre Gedanken wieder zu Mr.
Witherspoon. »Giles hat versprochen, zum Dinner
herüberzukommen.«
Anne war sofort klar, dass die frisch Verlobten am liebsten
allein sein würden. »Ich kann leider nicht mit Ihnen
speisen«, erklärte sie. »Susan Price hat mich gebeten, an
einem abendlichen Picknick teilzunehmen. Offenbar ist
eine der eingeladenen Damen krank geworden, und sie
braucht dringend einen Ersatz.«
Lady Mary akzeptierte diese Entschuldigung sofort.
»Versprechen Sie mir, nicht allein zu gehen«, bat sie Anne
nur. »Wollen Sie James mitnehmen? Noch lieber wäre es
mir ja, wenn mein Neffe auf Sie Acht geben würde.«
Wieder in ihrem Zimmer, schalt Anne sich selber einen
Dummkopf. Susan hatte niemanden zu einem Picknick
eingeladen. Unmöglich also, James als Beschützer
mitzunehmen. Er würde sich verpflichtet fühlen, seiner
Herrin alles zu erzählen.
Nun, dann muss ich wohl Lord Rochford um Hilfe
bitten, dachte Anne. Rasch schrieb sie ein paar Zeilen an
ihn, versiegelte den Umschlag und bat Potter, ihn sogleich
überbringen zu lassen.
»Soll der Bote auf eine Antwort warten?«, erkundigte der
Butler sich.
»Ja, das wäre wohl am besten.«
Kaum eine halbe Stunde später war der Bote bereits
zurück. Er fand Anne im Musikzimmer, wo sie ohne große
Begeisterung Fingerübungen am Klavier machte. Voller
Ungeduld nahm Anne Justins Antwortschreiben entgegen.
»Ah«, sie seufzte erleichtert auf, »er ist wirklich ein
Gentleman.«
Wie schriftlich versprochen, betrat Lord Rochford einige
Zeit später das Haus seiner Tante, um Anne zu einem in
aller Eile von ihm selbst organisierten Picknick abzuholen.
Lady Mary bat ihn, einen Moment Platz zu nehmen.
»Justin, ich habe mich entschlossen, Giles Witherspoon zu
heiraten. Natürlich brauche ich weder dich noch sonst
irgendwen um sein Einverständnis zu bitten. Aber es würde
mich trotzdem freuen, wenn du meine Entscheidung
gutheißen würdest.«
Justin schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Ich bin sehr
froh, dass du endlich in den Stand der Ehe treten willst.
Und Mr. Witherspoon ist gewiss der Richtige für dich. Ich
wünsche euch von ganzem Herzen alles Gute.« Er drückte
seiner Tante die Hand und reichte dann Anne den Arm,
um sie zu seinem Phaeton zu führen.
»Wir treffen Sidney und Miss Price im Park«, informierte
er Anne, als die Pferde sich in Bewegung setzten. »Wollen
Sie dort wirklich ein Picknick machen?«
»Nicht unbedingt.« Anne lächelte verlegen. »Es ging mir
hauptsächlich darum, Lady Mary und Mr. Witherspoon
Gelegenheit zu geben, ein wenig allein zu sein. Die beiden
haben so lange aufeinander warten müssen…«
»Sind Sie etwa eine Romantikerin?« scherzte Lord
Rochford.
Anne wurde einer Antwort darauf enthoben, weil sie
gerade in diesem Moment Sidneys Kutsche entdeckte.
»Guten Tag!« rief er ihnen zu. »Wir müssen noch einen
Moment warten. Ich habe nämlich auch Henry Metcalf und
Miss Green Bescheid gegeben.«
»Gut.« Anne winkte ihrer Freundin Susan zu, die neben
Sidney saß. Und Lord Rochford sagte trocken: »Je mehr
wir sind, desto besser. Die Erfahrung hat ja gezeigt, dass
Miss Haycroft gar nicht genug Beschützer haben kann.«
In Erinnerung an sein keineswegs heldenhaftes Verhal-
ten während Lord Alingtons Entführungsversuchs errötete
Sidney.
Anne hatte nicht die Absicht, sein Unbehagen zu vergrö-
ßern. »Lady Mary hat darauf bestanden, dass auch James
uns begleitet. Sie fürchtet, dass mein Onkel seine Pläne
noch nicht endgültig begraben hat und mir immer noch
gefährlich werden kann.«
Lord Rochford schaute sich kurz nach dem Bediensteten
um, der ihnen zu Pferd folgte. Und Susan meinte: »Vorsicht
ist auf jeden Fall angebracht.«
In diesem Moment lenkte Henry Metcalf seine Kutsche
neben die Lord Rochfords. Er hatte Jemima Green bei sich,
die lachend auf einen großen Korb voller Lebensmittel
wies, der neben ihr auf dem Sitz stand. Die jungen Leute
begrüßten sich fröhlich und setzten dann ihre Fahrt fort.
Wenig später hatten sie im Park einen Platz gefunden, der
ihnen ideal für das geplante Picknick erschien.
Während die anderen begannen, Decken auszubreiten
und die Picknickkörbe auszupacken, fand Justin Gelegen-
heit Anne mitzuteilen, warum Mr. Quinlan ihn aufgesucht
hatte. »Wie Sie wissen, hatte ich ihn gebeten, sich einmal
eingehender mit Ihren Finanzen zu befassen. Unser
Verdacht, dass Cosmo Haycroft sich unrechtmäßig an Ihrem
Erbe bereichert hat, Anne, hat sich bereits bewahrheitet. Mr.
Quinlan möchte allerdings noch weitere Nachforschungen
anstellen, ehe er Ihren Onkel anspricht. Spätestens nach
diesem Gespräch – so glaube ich – wird Mr. Haycroft
seine Anzeige wegen Verführung zurücknehmen.«
Anne hatte die Stirn gerunzelt. In den letzten Tagen und
Wochen hatte sie das Wort »Verführung« so oft gehört wie
nie zuvor. Und dennoch wusste sie nicht genau, was eine
Verführung beinhaltete. Ihre Tante hatte nie mit ihr über
solche Dinge gesprochen. Wie aber sollte ein Mädchen
verhindern, dass es verführt wurde, wenn es nicht einmal
darüber informiert war, was es von dem Verführer zu
erwarten hatte?
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, was bei einem Prozess
wegen Verführung vor Gericht zur Sprache kommt«, gestand
sie. »Nun, wahrscheinlich gehört es sich auch nicht für eine
junge Dame, über diese Dinge Bescheid zu wissen.«
Justin lachte. »Bei Gelegenheit werde ich Ihnen gern das
eine oder andere demonstrieren, was zu einer Verführung
gehört.«
»Das wäre bestimmt sehr unschicklich.«
»Im höchsten Grade unschicklich!«
Anne stellte fest, dass Justins Blick plötzlich mit einer
beinahe beängstigenden Intensität auf ihr Gesicht gerichtet
war. Rasch wandte sie die Augen ab. »Wir sollten uns zu
den anderen gesellen«, schlug sie vor.
Inzwischen war alles für das Picknick bereit. Die Körbe
hatten eine überraschende Anzahl köstlicher Dinge
enthalten. Es gab verschiedene Salate, kalten Braten und
Hähnchenschenkel, Brötchen, Käse, eingelegte Gurken und
zum Nachtisch verschiedene Süßigkeiten.
»Welch wunderbare Idee, ein Picknick am Abend zu
veranstalten!« rief Jemima Green aus.
»Eine angenehme Abwechslung nach all den Sorgen, die
Miss Haycroft sich vor dem heutigen Prozess gemacht
hat«, meinte Sidney.
»Es war bestimmt sehr schwierig und unangenehm, vor
Gericht auszusagen.« Susan warf Anne einen mitfühlenden
Blick zu.
Anne nickte. »Onkel Cosmos Anwalt hat mir wirklich
Angst gemacht«, gestand sie. »Doch nun ist es glücklicher-
weise vorbei. Ich hoffe nur, dass ich nie wieder vor Gericht
erscheinen muss!«
»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre«, erklärte Jemima, »dann
würde ich London möglichst bald verlassen. Wenn Sie für
Ihren Onkel unerreichbar sind, wird er seine bösen Pläne
vielleicht endgültig fallen lassen. Auf jeden Fall kann er
Ihnen nichts tun, wenn er nicht weiß, wo Sie sich aufhal-
ten.«
»Haben Sie keine Freunde auf dem Lande, denen Sie
einen längeren Besuch abstatten könnten?« erkundigte
Susan sich.
Anne zuckte die Schultern. »Ich bin mir noch nicht sicher,
was ich tun werde. Möglicherweise muss ich London
tatsächlich bald verlassen.« Sie warf Lord Rochford einen
fragenden Blick zu.
»Sie denken an Lady Marys Zukunftspläne?« vergewisserte
Justin sich.
»Ja. Ich möchte natürlich nichts verraten, das noch nicht
öffentlich bekannt werden soll. Aber ich nehme an, dass
ich die Gastfreundschaft Ihrer Tante nicht mehr lange in
Anspruch nehmen kann.«
»Ein Geheimnis?« Jemimas Augen blitzten begeistert auf.
»Wollen Sie uns nicht einweihen?«
»Ja, bitte!« drängte auch Susan voller Neugier.
Lächelnd schüttelte Anne den Kopf. Und Justin sagte:
»Wir können die Pläne meiner Tante vorerst wirklich nicht
verraten. Sie…« Er unterbrach sich. »Bei Jupiter, ich
glaube, wir bekommen Besuch!«
Anne wandte sich um und erstarrte. Hinter ihr stand Lord
Alington.
»Nun, meine Liebe«, begann er, sehr zufrieden mit sich
selbst, »ich habe Sie also gefunden. Mir scheint, Sie waren
ein wenig unvorsichtig.« Mit der linken Hand griff er nach
ihrem Arm und zog sie hoch. »Dachten Sie etwa, ich hätte
aufgegeben? Wie dumm von Ihnen! So leicht lasse ich mich
nicht entmutigen. Im Allgemeinen bekomme ich das, was
ich will. Gehen wir also.« In der rechten Hand hielt er
plötzlich eine Pistole.
»Verflucht!« entfuhr es Justin. Auch er hatte jetzt eine
Waffe in der Hand. Doch da Lord Alington Anne wie
einen Schutzschild vor sich hielt, konnte Justin von seiner
Pistole keinen Gebrauch machen.
Und dann überschlugen sich die Ereignisse. James, der
sich im Hintergrund gehalten hatte, stürzte sich auf Lord
Alingtons Bediensteten, der sich schützend hinter seinen
Herrn gestellt hatte. Gleichzeitig griffen Sidney Fairfax und
Henry Metcalf Lord Alington von der Seite an. Anne
versuchte, sich loszureißen, und schrie: »Sie Schuft! Ich
verabscheue Sie. Niemals werde ich Sie heiraten, niemals!«
Justin kam ihr zu Hilfe, und plötzlich lag sie in seinen
Armen.
Ein Gefühl unendlicher Erleichterung überkam sie. Ihre
Angst schwand. Ihr Herz schlug schneller vor Glück. Doch
schob Justin sie fort. »Pvasch, gehen Sie zu Miss Price und
Miss Green«, sagte er.
Die beiden Mädchen waren in Sidneys Kutsche geflüchtet,
und gehorsam eilte Anne zu ihnen. Aus weit aufgerissenen
Augen beobachteten die drei, wie Justin Lord Alington die
Pistole abnahm und ihm etwas ins Ohr zischte. Dann führten
Sidney und Henry Metcalf den erfolglosen Entführer fort.
Zusammen mit seinem Bediensteten wurde er in seine
Kutsche gestoßen. Justin rief dem Kutscher etwas zu, und
schon setzten die Pferde sich in Bewegung.
»Himmel«, stellte Susan fest, »das war spannender als die
Romane von Miss Radcliffe.«
»Mr. Metcalf und Mr. Fairfax waren so tapfer!« rief
Jemima bewundernd aus.
»Und wie Lord Rochford plötzlich die Pistole in der
Hand hielt und Anne zu Hilfe eilte!« ergänzte Susan. »Die
drei Gendemen könnten die Helden in einem Theaterstück
sein.«
Anne brachte kein Wort über die Lippen. Sie zitterte noch
immer am ganzen Körper. Was vorgefallen war, war kein
Theaterstück und auch keine Geschichte aus einem Roman
gewesen. Sie hatte sich, genau wie die anderen, in einer
sehr gefährlichen Situation befunden. Weiß Gott, Lord
Alington hatte Recht gehabt: Es war dumm gewesen, ein
solches Risiko einzugehen. Am besten würde es sein,
London wirklich zu verlassen.
Zunächst einmal allerdings beschlossen die jungen Leute,
in die Lower Brook Street zurückzukehren. Noch immer
aufgeregt, betraten sie Lady Marys Salon, in dem auch Mr.
Witherspoon sich aufhielt, und begannen alle auf einmal zu
reden.
Ungeduldig schaute Lady Mary in die Runde. »Ruhe
bitte!« rief sie. »Ich möchte jetzt sofort erfahren, was
geschehen ist! Justin, würdest du so freundlich sein, mir
einen Bericht zu geben!«
Die anderen verstummten, und Justin ergriff das Wort:
»Wir hatten unser Picknick im Park fast beendet, als ich
bemerkte, wie eine dunkle Kutsche sich näherte, die mir
irgendwie bekannt vorkam. Tatsächlich stieg Alington mit
einem seiner Diener aus dem Wagen. Der Schurke trat von
hinten an Anne…«, er verbesserte sich, »… an Miss
Haycroft heran.
Da ich Alington und Cosmo Haycroft nicht traue – ich
hege schon seit längerem den Verdacht, dass sie Anne
beschatten lassen –, hatte ich nicht nur dafür gesorgt, dass
James uns begleitete, sondern ich hatte auch eine Pistole
eingesteckt. Sie hätte mir allerdings nicht viel genützt, wenn
Sidney, Mr. Metcalf und natürlich James nicht rasch und
genau richtig reagiert hätten und Anne zu Hilfe gekommen
wären. Alington war nämlich zum einen selbst bewaffnet.
Zum anderen war er feige genug, Anne als Schutzschild zu
benutzen. Ich hätte also gar nicht auf ihn schießen können.«
»Bei Jupiter!« entfuhr es Mr. Witherspoon.
Anne jedoch, die Justin einen Moment lang ungläubig
angestarrt hatte, rief bebend vor Entrüstung: »Lord
Alington lässt mich beobachten?«
Justin nickte. »Alington oder Ihr Onkel hat einen Mann
beauftragt, Sie nicht aus den Augen zu lassen. Dieser muss
Alington über unser Picknick informiert haben.«
»Wie schrecklich«, meinte Jemima, und ein Schauer
überlief sie. »Nur gut, dass Mr. Metcalf und Mr. Fairfax so
tapfer waren!«
»Mr. Fairfax hat Lord Alington auf die Nase geboxt«,
setzte Susan sichtlich zufrieden hinzu. »Und James hat sich
unterdessen um den Diener dieses Schurken gekümmert.«
Henry Metcalf und besonders Sidney schien das Lob etwas
peinlich zu sein. »Immerhin war es Justin, der Miss
Haycroft aus dem Griff des Ungeheuers befreit hat«,
erklärte Sidney.
»Die arme Anne«, ließ sich jetzt Jemima wieder verneh-
men, »es muss schlimm sein, in ständiger Furcht vor einem
solchen Ungeheuer zu leben.«
»Allerdings«, stimmte Lord Rochford zu. »Und deshalb
ist es höchste Zeit, dass wir etwas dagegen unternehmen.«
»Aber was können wir tun?« meinte Anne bedrückt.
»Zunächst einmal bleiben Sie bei mir. Hier sind Sie
verhältnismäßig sicher«, stellte Lady Mary fest. »Wenn ich
allerdings erst verheiratet bin…«, sie schenkte Mr.
Witherspoon ein zärtliches Lächeln, »werde ich England
gemeinsam mit meinem Gatten für eine Weile verlassen.
Wir dachten an eine Hochzeitsreise nach Schweden.«
Diese Ankündigung hatte zur Folge, dass mit einem Mal
wieder alle durcheinander redeten. Jeder wollte der
glücklichen Braut und ihrem Verlobten zuerst gratulieren.
Es dauerte eine Weile, bis alle sich so weit beruhigt hatten,
dass Lady Mary fortfahren konnte. »Natürlich habe ich mir
Gedanken um Annes weitere Zukunft gemacht«, erklärte
sie. »Ich denke, wir müssen eine ältere Dame finden, die
bereit ist, die Aufgaben einer Gesellschafterin zu überneh-
men.«
»Bis dahin könnte Miss Haycroft vielleicht zu meiner
Tante Jane ziehen«, mischte sich nun Henry Metcalf ein.
»Sie ist manchmal ein bisschen ängstlich, aber ich weiß,
wie sehr sie Miss Haycroft wegen all der Schwierigkeiten,
mit denen sie zu kämpfen hat, bedauert. Bis der Prozess
vorbei ist, würde sie Anne bestimmt bei sich aufnehmen.«
»Möglicherweise wird dieser Prozess nie stattfinden«, sagte
Lord Rochford. »Es hat den Anschein, dass Mr. Haycroft
seine Nichte um einen Teil ihres Erbes betrogen hat. Wir
erwägen, ihn deshalb zu verklagen. Zumindest erwarten wir,
dass er seine Klage zurückzieht und alles zurückzahlt, was
er Anne abgenommen hat.«
»Oh!« rief Jemima aus, während Susan nur die Hände ans
Gesicht hob und Anne aus weit aufgerissenen Augen
anstarrte.
»Ist er denn überhaupt in der Lage, seine Schulden
zurückzuzahlen?« erkundigte Mr. Witherspoon sich.
»Er könnte sein Stadthaus verkaufen«, meinte Anne.
»Und das würde auch bedeuten«, stellte Justin zufrieden
fest, »dass er London verlassen müsste. Er wäre Anne dann
weitaus weniger gefährlich.«
»Aber da ist immer noch Alington«, überlegte Sidney
laut.
»Ja. Deshalb erscheint es mir am klügsten, dass Anne
sich eine Zeit lang irgendwo versteckt, wo er sie nicht
finden kann«, meinte Justin.
»Wir werden ein solches Versteck finden!« sagte Lady
Mary mit fester Stimme. »Verlassen Sie sich auf uns, liebes
Kind.«
Anne nickte bedrückt. Würden ihre Probleme denn nie
ein Ende finden?

10. KAPITEL
Anne saß am Klavier, als der Earl of Rochford am
nächsten Morgen gemeldet wurde. Da Lady Mary schon
früh zu ihrer Schneiderin, Madame Clotilde, aufgebrochen
war, um ein Hochzeitskleid zu bestellen, empfing Anne
den Besucher allein.
»Sie haben doch hoffentlich keine unangenehmen Neuig-
keiten bezüglich meines Onkels oder Lord Alingtons?«
erkundigte sich die junge Dame besorgt.
»Im Gegenteil. Mr. Quinlan hat herausgefunden, auf
welche Art es Ihrem Onkel gelungen ist, größere Beträge
von Ihrem Erbe an sich zu bringen. Cosmo Haycroft
scheint sehr raffiniert vorgegangen zu sein. Man kann Mr.
Kestell keine Vorwürfe machen, dass ihm der Betrug
nicht aufgefallen ist. Jetzt jedenfalls gibt es Beweise gegen
Ihren Onkel.«
»Was schlagen Sie vor, Lord Rochford, was soll ich tun?«
Anne seufzte tief auf. »Ich wünsche mir im Grunde nur
eines: dass diese für mich beinahe unerträgliche Belastung
endlich aufhört!«
»Ich weiß, wie sehr Sie unter der Situation leiden«, meinte
Justin mitfühlend.
Am liebsten hätte Anne sich an seine breite Schulter
gelehnt und all ihre Sorgen auf ihn abgewälzt. Aber das war
natürlich ganz undenkbar!
»Mr. Quinlan wird Ihren Onkel heute noch aufsuchen«,
fuhr Lord Rochford fort. »Wenn Cosmo Haycroft sich nicht
bereit erklärt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um
seine Schulden bei Ihnen, liebe Anne, zurückzuzahlen, dann
wird Mr. Quinlan ihm mit einer Anzeige drohen.«
Anne schaute eine Weile nachdenklich zu Boden.
Schließlich hob sie den Kopf. »Ich glaube kaum, dass mein
Onkel überhaupt in der Lage ist, eine größere Summe
aufzubringen. Meines Wissens hat er auch eine Menge
anderer Schulden. Selbst wenn er sein Stadthaus verkauft,
wird der Erlös kaum ausreichen, all seine Schuldner
zufrieden zu stellen. Tatsächlich liegt mir gar nicht so viel
an dem Geld. Ich möchte einfach nur in Frieden leben
können. Ich möchte keine Angst mehr haben müssen,
weder vor Onkel Cosmo noch vor Lord Alington.«
»Alington ist ein echtes Problem«, gab Justin zu. »Er ist
völlig gewissenlos.« Eine Zeit lang schritt der Earl unruhig
im Raum auf und ab. Schließlich blieb er vor Anne stehen.
»Wann genau ist Ihr Geburtstag?«
»Am siebten Juni.«
Er nickte. »Ich erinnere mich. Sie haben mir das Datum
schon einmal genannt. Ich hätte es nicht vergessen dürfen.
Aber es gab in letzter Zeit so viel, an das ich denken
musste.«
Anne lächelte zu ihm auf. »Es tut mir so Leid, dass ich
Ihnen derart viele Probleme bereitet habe. Der Prozess, die
Schwierigkeiten mit Lord Alington, all die Mühen, die Sie
sich gemacht haben, um meine finanzielle Situation zu
klären… Es ist meine Schuld, dass Sie keine Gelegenheit
hatten, die Saison zu genießen.« Und es ist mein Unglück,
setzte sie in Gedanken hinzu, dass kein Mann eine Frau
lieben wird, die ihm nichts als Schwierigkeiten bereitet.
Justin erwiderte ihr Lächeln. »Ich habe es als Herausfor-
derung empfunden, Ihnen zu helfen. Die Vergnügungen, die
die Saison zu bieten hat, fehlen mir überhaupt nicht. Offen
gesagt, ich bin froh, dass ich Miss Finch vor Gericht gebracht
habe. Es war höchste Zeit, dass jemand ihrem Treiben ein
Ende setzte. Haben Sie eigentlich etwas von ihr gehört?«
»Nein«, gab Anne zurück.
Im gleichen Moment ertönte von der Tür her Lady
Marys Stimme. »Es heißt, dass sie schon übermorgen im
Park die Federn einfangen soll. Ich will mir das Schauspiel
auf keinen Fall entgehen lassen. Werden Sie mich begleiten,
Anne?«
»Nur, wenn ich dadurch nicht erneut in Gefahr gerate.«
Anne warf Lord Rochford einen fragenden Blick zu.
»Glauben Sie, dass ich mit einem neuen Entführungsver-
such rechnen muss?«
»Wie vernünftig Sie sind«, meinte Justin bewundernd.
»Doch machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. James und
ich werden Sie zweifellos beschützen können. Ich selbst
möchte übrigens auch gern sehen, wie Miss Finch ihre
Strafe erhält.«
»Wir sollten Sidney und Henry Metcalf ebenfalls fragen,
ob sie uns begleiten wollen«, schlug Lady Mary vor.
»Jemima Green und Susan Price werden sich gewiss auch
anschließen wollen.«
»Habe ich gerade meinen Namen gehört?« rief Sidney, der
soeben den Raum betrat. Er wirkte ungewöhnlich aufgeregt.
»Guten Tag allerseits! Habt ihr die Neuigkeit schon
vernommen? Alington ist tot!«
Anne brachte kein Wort über die Lippen. Aus weit aufge-
rissenen Augen starrte sie Sidney an.
»Dem Himmel sei Dank!« Lady Mary ließ sich auf einen
Stuhl sinken.
»Bist du sicher?« wandte Justin sich an seinen Cousin.
Sidney nickte eifrig. »Er ist verbrannt. In seinem Stadt-
haus muss ein Feuer ausgebrochen sein. Und bei dem
Versuch, Kostbarkeiten aus seiner Sammlung zu retten – du
weißt ja, dass er ein geradezu fanatischer Sammler war –,
ist er umgekommen.«
»Dann«, stellte Justin mit ruhiger Stimme fest, »braucht
Anne sich keine Sorgen mehr um die Zukunft zu machen.
Ich bin sicher, dass auch ihr Onkel jetzt aufhören wird, sie
zu verfolgen.«
»Das glaube ich auch«, stimmte Anne zu. Nie zuvor in
ihrem Leben hatte sie sich so erleichtert und befreit gefühlt!
Zwei Tage darauf fuhren Lady Mary, Anne, Lord Roch-
ford und Mr. Witherspoon mit dem offenen Landauer in den
Park. Die beiden Damen trugen mit weißen Federn
dekorierte Hüte. Tatsächlich hieß es, dass seit dem Morgen
in ganz London keine weißen Federn mehr zu haben
waren. Offenbar hatte Miss Finchs Strafe dazu geführt, dass
eine neue Hutmode in der Stadt aufgekommen war.
Auch Lady Metcalf, Jemima Green und Susan Price
hatten ihre Hüte mit Federn geschmückt. Die jungen Leute
fuhren gemeinsam mit Sidney Fairfax und Henry Metcalf,
während Jane Metcalf von Mr. Farmer begleitet wurde.
Der Kanadier hatte noch nie von einem Spektakel wie
dem Bevorstehenden gehört. »Gibt es so etwas in London
oft?« wollte er wissen, als die drei Kutschen an einem Platz,
von dem aus man Miss Finch gut würde beobachten
können, zum Stehen gekommen waren.
»Nein, nie zuvor hat jemand Federn einfangen müssen«,
erklärte Mr. Witherspoon. »Wahrhaftig«, er schaute sich
um, »ich glaube, heute hat sich ganz London hier im Park
versammelt.«
»Es bleibt uns noch etwas Zeit, ehe das Schauspiel
beginnt«, ließ sich jetzt Justin vernehmen. »Miss Haycroft,
haben Sie Lust, einen kleinen Spaziergang mit mir zu
machen?«
»Gern.« Sie ließ sich von ihm aus der Kutsche helfen und
legte ihre Hand auf seinen Arm. Unter ihren behandschuh-
ten Fingern spürte sie seine Muskeln. Ein Schauer überlief
sie. Es war so wunderbar, ihm nahe zu sein, und gleichzeitig
so bitter, weil ihr klar war, dass ihre Liebe zu ihm unerfüllt
bleiben würde. Unwillkürlich biss Anne sich auf die Lippen.
Sie musste sich Selbstbeherrschung zeigen. Es wäre
schrecklich, wenn sie Justin ihre Gefühle zeigen würde!
Schweigend schritten die beiden weiter, grüßten hier und
da Bekannte und kehrten wenig später zu ihrer Kutsche
zurück.
Jemima winkte ihnen aufgeregt zu. »Gleich geht es los.
Eben ist ein Wagen gekommen, auf dem ein Sack liegt.
Bestimmt enthält er die Federn!«
Gleich darauf trafen auch Miss Finch und einige der
Geschworenen sowie ein Gerichtsschreiber ein. Miss Finch
trug, wie es ihr vorgeschrieben war, ein weißes Kleid. Da
Weiß die Farbe der jungen Mädchen und Debütantinnen
war, wirkte die alte Jungfer in diesem Gewand ziemlich
lächerlich.
Trotzdem lachte niemand, als sie mit hochrotem Kopf und
gesenktem Blick darauf wartete, ihre Strafe zu erfüllen. Ein
Mann trug den Sack mit Federn zu einer kleinen Holzplatt-
form. Er öffnete den Sack und begann, ihn zu leeren. Weiße
Federn flogen in alle Richtungen.
Miss Finchs Aufgabe war noch schwerer zu erfüllen, als
Anne angenommen hatte. Der Mann hatte der alten
Jungfer den leeren Sack gereicht. Und nun bemühte sie
sich, die leichten, von jedem Windzug bewegten Federn
hineinzustopfen. Öffnete sie den Sack, um ein paar Federn,
die sie mühselig gefangen hatte, hineinzutun, flogen
unweigerlich ein paar andere wieder hinaus. Und nach
einer Weile wirkte Hortense Finch nicht nur erschöpft,
sondern beinahe verzweifelt.
»Glauben Sie, dass Miss Finch etwas daraus lernen
wird?« meinte Anne zu Lady Mary gewandt.
»Ich hoffe, sie wird erkennen, dass Federn ebenso schwer
zu beseitigen sind wie die Folgen böser Gerüchte«, gab die
alte Dame zurück.
»Ob sie wirklich etwas gelernt hat, kann nur die Zeit
zeigen«, mischte Justin .sich ein.
»Irgendwie tut sie mir Leid«, gestand Anne. »Es muss so
demütigend sein…«
»Sie sind sehr großherzig, Miss Haycroft«, meinte Justin.
»Andere, die genauso oder sogar weniger unter Miss Finch
zu leiden hatten wie Sie, empfinden überhaupt kein
Mitleid. Schauen Sie sich nur um.«
Tatsächlich lag auf den Gesichtern fast aller Zuschauerin-
nen und Zuschauer ein überaus zufriedener Ausdruck.
»Wollen wir aufbrechen, ehe das alle tun?« fragte Justin.
»Es wird bestimmt einen großen Stau geben.«
Anne runzelte die Stirn. »Es ist unmöglich, den Landauer
zu wenden«, stellte sie fest. »Wir sind von anderen
Kutschen eingekreist.«
Justin lachte. »Deshalb habe ich meinen Phaeton zum
Ausgang des Parks bestellt. Ich hatte gehofft, Gelegenheit
zu finden, mich mit Ihnen allein zu unterhalten.«
»Oh!« Anne warf ihm einen erstaunten Blick zu.
»Nun, da Alington tot ist«, fuhr Justin fort, »können Sie
sich wieder frei bewegen. Es besteht keine Gefahr für Sie,
auch wenn außer mir niemand zu ihrem Schutz anwesend
ist.«
Anne nickte. Also verabschiedeten sie sich von den
anderen und schritten zum Ausgang des Parks, wo ein
Stallbursche mit Lord Rochfords Phaeton wartete.
»Es ist so viel geschehen, seit ich Sie damals in der Kirche
zum ersten Mal gesehen habe«, sagte Anne nachdenklich,
nachdem Justin ihr geholfen hatte, auf den hohen Sitz zu
steigen.
»Es wäre schön, wenn wir bald wieder in diese Kirche
gehen würden.«
Anne verstand nicht, was Justin damit meinte. Und er gab
keine weiteren Erklärungen ab. »Es wäre mir lieb, wenn Sie
mich zu Mr. Quinlans Büro begleiten würden«, stellte er
fest. »Quinlan müsste inzwischen von seinem Treffen mit
Ihrem Onkel zurück sein. Wahrscheinlich hat er einiges an
Neuigkeiten zu berichten.«
»O ja, lassen Sie uns zur Threadneedle Street fahren und
den Anwalt aufsuchen«, stimmte Anne zu.
Es herrschte viel Betrieb auf den Straßen, und sie kamen
nur langsam vorwärts. Doch schließlich bogen die Pferde in
die Threadneedle Street ein. Wenig später betrat Anne an
Justins Arm das Gebäude, in dem die Kanzlei der Anwälte
Quinlan und Kestell untergebracht war.
Mr. Quinlan empfing seine Besucher mit einem breiten
Lächeln. Er bot ihnen einen Platz an und rief nach Tee.
Dann schaute er zufrieden in die Runde. »Eigentlich sollten
wir Champagner trinken«, sagte er. »Wir haben nämlich
allen Grund zu feiern. Nachdem ich mit Mr. Haycroft über
all das gesprochen hatte, was ich herausgefunden habe,
erklärte er sich sofort bereit, die Anklage wegen Verfüh-
rung zurückzuziehen.«
»Das ist wunderbar!« Anne strahlte. »Ich bin so froh,
Lord Rochford, dass Sie meinetwegen nicht noch einmal
vor Gericht erscheinen müssen!«
Justin nickte Mr. Quinlan freundlich zu.
»Ich muss gestehen«, fuhr der Anwalt fort, »dass ich Mr.
Haycroft gegenüber nicht gerade rücksichtsvoll war. Ich
habe ihm eine Aufstellung all seiner betrügerischen
Aktivitäten in Bezug auf Miss Haycrofts Erbe vorgelegt
und ihm erklärt, dass er als Vormund und Vermögensver-
walter seiner Nichte mit einer besonders strengen Strafe zu
rechnen hat. Dann legte ich ihm ein Schreiben vor, das ich
bereits vorbereitet hatte und das beinhaltet, dass er die
Klage gegen Sie, Lord Rochford, zurückziehen und keine
neuen Schritte gegen Sie unternehmen wird. Mr. Haycroft
unterschrieb sofort.«
»Gut.« Justin wirkte sehr erleichtert. »Womit haben wir
in nächster Zeit noch zu rechnen?«
»Als Erstes wird Mr. Haycroft sein Amt als Vormund und
Vermögensverwalter seiner Nichte aufgeben.«
»O Himmel!« Anne war vor Freude errötet. »Ist das
wirklich wahr?«
Justin und Mr. Quinlan nickten ihr bestätigend zu.
»Außerdem wird er sein Stadthaus verkaufen, um
zumindest einen Teil des Schadens, den er angerichtet hat,
wieder gutzumachen. Er glaubt, dass der Erlös des Hauses
ausreicht, um seine vom Gericht festgesetzte Strafe an Lord
Rochford zu zahlen und seine Schulden bei Miss Haycroft
zu begleichen. Er hatte allerdings große Sorge, wie seine
Gattin diese Neuigkeit aufnehmen würde.«
»Tante Winnefred wird entsetzt sein«, meinte Anne.
»Ich habe Ihrem Onkel empfohlen«, sagte Mr. Quinlan,
»sich mit seinem eigenen Anwalt zu beraten. Ich denke,
sein Anwalt wird ihm den Ernst der Situation am besten
erklären können.«
»Wann werde ich von Onkel Cosmos Vormundschaft
befreit sein?« fragte Anne mit vor Ungeduld blitzenden
Augen.
»Sobald das Gericht einen neuen Vormund für Sie
bestimmt hat.«
»Ich weiß, dass Sie seit Mr. Kestell erkrankt ist, dessen
Aufgaben als mein Vermögensverwalter übernommen
haben«, stellte Anne fest. »Könnten Sie nicht auch mein
Vormund werden?«
»Grundsätzlich ja. Ich müsste dem zuständigen Richter
einen Brief schreiben und die Situation darlegen. Ihre Bitte
ehrt mich sehr, Miss Haycroft. Ich danke Ihnen für das
Vertrauen, das Sie in mich setzen.«
»Ich bin sicher, dass Sie ein Ehrenmann sind, Mr.
Quinlan. Leider kann man meinem Onkel dieses Lob nicht
zollen.«
»Wahrhaftig nicht!« stimmte Lord Rochford zu. Dann
zog er seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick
darauf. »Gibt es noch etwas zu besprechen, oder können
wir aufbrechen?«
Mr. Quinlan sprang auf. »Sobald es etwas Neues gibt,
werde ich Sie informieren. Auf Wiedersehen, Miss
Haycroft«, er verbeugte sich, »Lord Rochford.«
Justin erhob sich. »Eine letzte Frage habe ich doch noch.
Miss Haycroft ist nicht verpflichtet, in London zu bleiben?
Ich glaube, sie möchte die Stadt eine Zeit lang verlassen,
um sich auf dem Lande von allem zu erholen, was sie in
letzter Zeit zu ertragen hatte.«
»Das ist verständlich. Gut, da ich damit rechne, zu Ihrem
Vormund ernannt zu werden, Miss Haycroft, gestatte ich
Ihnen, Ihren Aufenthaltsort frei zu wählen. Ich möchte aber
darüber informiert werden, wo Sie sich aufhalten.«
»Selbstverständlich.« Anne nickte dem Anwalt zu. »Lord
Rochford wird Sie auf dem Laufenden halten. Ich danke
Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben, Mr. Quin-
lan.«
»Miss Haycroft wird in den nächsten Tagen aufbrechen,
um meine Mutter auf unserem Landsitz zu besuchen«,
stellte Justin fest.
Anne starrte ihn fassungslos an.
»Eine gute Idee«, lobte Mr. Quinlan, dem Annes Reakti-
on auf Lord Rochfords Bemerkung entgangen war. Der
Anwalt verbeugte sich erneut und begleitete seine Besucher
dann hinaus.
Wenig später stieg Lord Rochford, dessen Gesicht einen
sehr zufriedenen Ausdruck trug, zu Anne in den Phaeton.
Sie warf ihm einen zornigen Blick zu. Ihre Augen funkel-
ten. »Ich wusste gar nicht, dass Ihre Mutter mich eingela-
den hat«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Das hat sie auch noch nicht«, gab Justin gut gelaunt
zurück. »Aber in den nächsten Tagen wird sie es tun. Ich bin
sicher, dass Derbyshire Ihnen gefallen wird. Die Landschaft
dort gehört zu den schönsten von ganz England. Und auch
meine Mutter werden Sie mögen. Der Aufenthalt bei ihr
wird Ihnen Spaß machen.«
»Bis vor fünf Minuten wusste ich nicht einmal, dass Sie
eine Mutter haben«, stellte Anne mit kühler Stimme fest.
Es behagte ihr gar nicht, dass schon wieder ein Mann
glaubte, er könne über ihr Schicksal bestimmen.
»Oh, alle Menschen haben eine Mutter«, meinte Lord
Rochford amüsiert.
»Sie wissen genau, dass ich das nicht gemeint habe!«
Anne versuchte nicht länger, ihren Zorn zu zügeln. »Mir
gegenüber haben Sie immer so getan, als sei Lady Mary
Ihre einzige noch lebende ältere Verwandte.«
»Ich finde, Sie ähneln meiner Mutter ein wenig«, sagte
Justin.
»Tatsächlich?« Anne konnte sich nicht vorstellen, dass sie
einer Dame ähnlich war, zu der sie keine verwandtschaftli-
chen Beziehungen hatte und die sie nicht einmal kannte.
»Meine Mutter wirkt sehr weiblich. Sie ist sanft, freund-
lich und stets voller Mitgefühl; auch musiziert sie sehr gern,
genau wie Sie, Anne. Und dann gibt es da noch eine
Gemeinsamkeit: Sie beide sind unglaublich dickköpfig.«
»Ich bin nicht dickköpfig!« rief Anne entrüstet aus. »Ich
stelle nie Forderungen an andere, bestehe nie auf meinem
eigenen Willen und belaste andere im Allgemeinen auch
nicht mit meinen Problemen.«
Justin, dem der leicht klagende Unterton nicht entgangen
war, lenkte sofort ein. »Nun, das tun Sie wohl wirklich
nicht«, beruhigte er Anne.
Trotzdem war die gute Stimmung dahin. Schweigend
legten sie den Rest des Weges zur Lower Brook Street
zurück.
»Wir werden wohl gerade noch rechtzeitig zum Dinner da
sein«, meinte Justin, als er die Pferde vor Lady Marys Haus
zum Stehen brachte.
»Oh, Sie bleiben zum Essen?« Es gelang Anne nicht, ihre
Freude darüber zu verbergen. Auch wenn Lord Rochford
sie geärgert hatte, ihre Gefühle für ihn würden sich nicht
ändern.
Gemeinsam betraten die jungen Leute den Salon, wo sie zu
ihrer Überraschung nicht nur Lady Mary und Mr.
Witherspoon, sondern auch Mr. und Mrs. Haycroft
vorfanden.
»Da ist Anne ja endlich!« rief Winnefred Haycroft aus.
»Dies kann doch nur ein Albtraum sein«, flüsterte Anne
Justin zu.
»Ich fürchte, nein«, gab er ebenso leise zurück. Dann
wandte er sich an Lady Mary: »Du hast Gäste, Tante?«
»Nun, Mr. und Mrs. Haycroft sind hier, um Anne abzu-
holen. Sie haben mir ein Papier gezeigt, aus dem hervor-
geht, dass ihr Mündel sie begleiten muss.«
Justin wich nicht von Annes Seite. Er warf der jungen
Dame einen ermutigenden Blick zu. »Merkwürdig«, sagte
er dann, »wir waren gerade bei Mr. Quinlan. Er hat uns
berichtet, dass Mr. Haycroft ihm schriftlich bestätigt hat,
dass er die Anklage gegen mich zurückziehen wird.
Darüber hinaus hat Mr. Haycroft sich schriftlich verpflich-
tet, sein Haus hier in London zu verkaufen, um die
Schulden begleichen zu können, die er bei seiner Nichte
und bei mir hat.«
Cosmo Haycroft sprang auf. »Sie lügen! Ich werde Sie
wegen Verleumdung vor Gericht bringen!«
»Versuchen Sie es«, entgegnete Justin ruhig. »Dann
werden Sie sich öffentlich für die Diebstähle verantworten
müssen, die Sie in den letzten Jahren begangen haben.
Schämen Sie sich nicht, Ihre eigene Nichte um ihre
Erbschaft zu betrügen?«
»Ich habe das Geld für Annes Ernährung, Kleidung und
Erziehung verwendet!«
»O nein, das haben Sie nicht. Ich habe mir von Mr.
Quinlan die Summe nennen lassen. Selbst eine Prinzessin
würde mit weniger auskommen. Und ich weiß genau, dass
dieses Geld für andere Dinge ausgegeben worden ist.
Deshalb werde ich es nicht zulassen, dass Sie Miss
Haycroft mitnehmen.«
»Ich habe hier ein Schreiben, durch das meine Berechti-
gung, Anne nach Hause zu bringen, bestätigt wird.«
Lord Rochford zuckte die Schulter. »Kommen Sie mor-
gen mit Ihrem Anwalt wieder. Dann können Sie mich
vielleicht von der Rechtmäßigkeit dieses Schriftstücks
überzeugen.«
Mr. Haycroft warf ihm einen bösen Blick zu. »Gut, ich
komme morgen mit meinem Anwalt wieder. Und dann
werde ich das Haus nicht ohne meine Nichte verlassen.«
Damit erhob er sich und schritt, ohne sich noch einmal
umzuschauen, aus dem Raum, Seine Gattin eilte ihm
schweigend und sichtlich verwirrt nach.
Kaum hatte die Tür sich hinter den beiden geschlossen,
wandte Justin sich an Anne. »Sie müssen London so rasch
wie möglich verlassen. Es ist durchaus denkbar, dass dieses
Schriftstück echt ist. Und noch ist es Mr. Quinlan nicht
gelungen, Ihrem Onkel die Vormundschaft aberkennen zu
lassen.«
»Aber wohin soll ich fliehen?« fragte Anne ängstlich.
»Nach Derbyshire natürlich«, gab Lord Rochford zurück.
»Sie müssen noch heute Abend aufbrechen. Sagen Sie Ihrer
Zofe, dass sie rasch packen und sich darauf einrichten soll,
Sie zu begleiten. Kann Anne deine Reisekutsche nehmen,
Tante Mary?«
»Natürlich! Ich selbst kann ja jederzeit auf Giles’ Kutsche
zurückgreifen.« Sie warf Mr. Witherspoon einen liebevollen
Blick zu.
»Gut.« Justin wirkte erleichtert. »Ich hoffe, du hast auch
nichts dagegen, dass James zu Annes Schutz mitreist? Leider
kann ich selbst London im Moment nicht verlassen. Ich
werde mich jetzt vergewissern, dass das Haus nicht
beobachtet wird. Später komme ich noch einmal vorbei, um
Abschied zu nehmen.«
»O Gott«, murmelte Anne.
»Keine Angst, liebes Kind, alles wird gut gehen«, tröstete
Lady Mary sie. »Allerdings sollten Sie gleich nach dem
Dinner aufbrechen.«
Anne nickte.
Einige Stunden später stand Lady Marys gut gefederte
Reisekutsche bereit, die Stadt zu verlassen und in Richtung
Derbyshire zu fahren.
Justin hatte seiner Mutter einen berittenen Boten ge-
schickt, um Annes Besuch anzukündigen. Dann hatte er
alle nur erdenklichen Vorkehrungen getroffen, um zu
verhindern, dass jemand der jungen Dame folgte. Schließ-
lich war er ins Haus seiner Tante zurückgekehrt, um Anne
Adieu zu sagen. Lange ruhte sein Blick auf ihrem Gesicht.
Seine Augen verrieten seine Liebe. Doch kein zärtliches
Wort darüber kam über seine Lippen.
Ein Schauer überlief Anne, als sie in die Kutsche stieg.
Die Nachtluft war kühl, doch sie wusste, dass die innere
Kälte schlimmer war. Sie unterdrückte einen Seufzer. Es tat
weh, den Mann, den sie liebte, verlassen zu müssen. Sie
warf Justin einen letzten sehnsuchtsvollen Blick zu. Dann
setzte die Chaise sich in Bewegung.
»Halt!« Aufgeregt gab Justin dem Kutscher Zeichen, die
Pferde noch einmal anzuhalten. Er riss den Schlag des
Wagens auf, stieg ein und zog Anne an sich. Sie erwiderte
seinen KUSS, ohne zu zögern.
»Justin, es wird spät!« Lady Marys Stimme war laut und
klar genug, um in Justins Bewusstsein zu dringen. Unter
Aufbietung all seiner Willenskraft löste er sich von Anne.
»Leb wohl!« Damit sprang er auf die Straße hinunter.
Tags darauf saßen Lady Mary und ihr Neffe gemeinsam
beim Frühstück und stellten Spekulationen darüber an, wo
Anne sich gerade befinden mochte, als der Butler einen
frühen Gast meldete.
Es war Henry Metcalf. Aufgeregt stürzte er ins Zimmer.
»Es geht um Tante Jane«, verkündete er ohne Einleitung.
»Sie ist unterwegs nach Kanada.«
»Unmöglich!« rief Lady Mary aus. »Sie hat Mr. Par-
ker…«
»Sie hat«, fiel Henry ihr ins Wort, »gestern Mr. Farmer
geheiratet. Er scheint eine Speziallizenz besorgt zu haben.
Tante Jane hat noch Zeit gefunden, einen Brief an mich zu
verfassen. Außerdem hat sie mir eine beachtliche Summe
dagelassen, als Vorschuss auf mein Erbe, wie sie schreibt.
Und sie hat mich aufgefordert, in ihrem Haus zu wohnen.
Bei Jupiter, ich kann das alles gar nicht glauben!«
»Ein eigenes Haus zu haben ist stets von Vorteil, wenn
man daran denkt, sich zu verehelichen«, meinte Justin
amüsiert. »Ich könnte mir vorstellen, dass Jemima Green
nichts gegen das Haus Ihrer Tante einzuwenden hat, Mr.
Metcalf.«
Der junge Mann schluckte. »Miss Green möchte wissen,
wann und wo Sie getraut werden, Lady Mary. Wir würden
der Zeremonie gern beiwohnen.«
Die alte Dame gab bereitwillig Auskunft.
»Wo ist eigentlich Miss Haycroft?« fragte Henry Metcalf
schließlich. »Ich habe schon überlegt, ob es nicht eine
Doppelhochzeit geben könne.« Dabei warf er Justin einen
schelmischen Blick zu. – »Miss Haycroft hat die Stadt
verlassen«, gab Lord Rochford gelassen zurück. Seine
Tante allerdings sagte sich nicht zum ersten Mal, dass
Justin und Anne wirklich ein schönes Paar abgeben
würden.
Einige Stunden später betrat Mr. Haycroft in Begleitung
seines Anwalts Lady Marys Salon und fragte erregt: »Wo
ist meine Nichte?«
Lord Rochford und Lady Mary tauschten einen kurzen
Blick. »Sie hat die Stadt verlassen«, erklärte Justin ruhig.
»Unmöglich!« Cosmo Haycrofts Gesicht rötete sich vor
Zorn. »Ich werde das Haus durchsuchen lassen!«
»Es wäre sinnlos.« Lady Mary schaute ihm fest in die
Augen. »Aber bitte, wenn Sie darauf bestehen… Aller-
dings muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass mein
Haushalt sich im Moment in beträchtlicher Unruhe befindet.
Ich werde am kommenden Dienstag heiraten und auf
Hochzeitsreise gehen. Meine Leute sind mit den Vorberei-
tungen beschäftigt.«
Mr. Haycroft wollte aufbrausen, doch sein Anwalt wies
ihn daraufhin, dass Anne sich eine andere Unterkunft habe
suchen müssen, da ihre Gastgeberin beabsichtige, das Haus
zu schließen.
Annes Onkel unterdrückte einen Fluch. »Ich werde das
Mädchen finden!« verkündete er erbost.
Justin war froh, dass es nicht mehr lange dauern würde,
bis Mr. Haycroft die Vormundschaft über Anne entzogen
werden würde.
Diesen Gedanken brachte auch Lady Mary zum Aus-
druck, als Mr. Haycroft und sein Anwalt sich verabschiedet
hatten. »Bis dahin wird es Anne hoffentlich gut ergehen.
Ich denke, sie wird deine Mutter mögen, Justin. Die zwei
haben viel gemeinsam, zum Beispiel, dass sie dich beide
lieben.«
Justin senkte den Blick. Er wünschte sich von ganzem
Herzen, dass Lady Mary sich nicht irrte.
Auf dem Weg nach Derbyshire hatte Anne viel Zeit zum
Nachdenken. Sie freute sich darauf, Lord Rochfords Mutter
kennen zu lernen. Trotzdem kam sie zu dem Schluss, dass
sie die Gastfreundschaft dieser Dame nicht länger als eine
Woche in Anspruch nehmen durfte. Schon jetzt stand sie
tief in Lord Rochfords Schuld. Sie wollte weder ihm noch
seinen Angehörigen zu lange zur Last fallen.
Nach drei anstrengenden Reisetagen tauchte der Landsitz
des Earls of Rochford am Ende der Auffahrt auf. Anne war
fasziniert. Die Nachmittagssonne spiegelte sich in den
vielen Fenstern, die die Front des Hauses prägten. Eine
breite, geschwungene Freitreppe führte zum Eingang
hinaus. Es war ein beeindruckender Anblick!
Anne, die bei der letzten Rast ihr elegantestes Reisekleid
angezogen hatte, ließ sich von James aus dem Wagen helfen
und schritt langsam auf die Freitreppe zu. Schon kam ihr
aus dem Haus ein Bediensteter entgegengeeilt. Er verbeug-
te sich tief. »Bitte, folgen Sie mir, Miss.«
Er führte Anne in einen in Grau- und Violetttönen
gehaltenen Salon.
Bei ihrem Eintritt erhob sich eine schlanke Dame mit
ergrauendem Haar von einem veilchenfarbenen Sofa. »Sie
müssen Miss Haycroft sein«, meinte sie mit einem
charmanten Lächeln. »Ich freue mich, Sie kennen zu
lernen. Wenn Sie nicht zu erschöpft von der langen Fahrt
sind, möchte ich Sie bitten, eine Tasse Tee mit mir zu
trinken und mir von London zu erzählen! Wie geht es
meinem Sohn?«
Wenig später waren die beiden Damen in ein angeregtes
Gespräch vertieft. Lady Rochford wollte alles über Annes
Bekanntschaft mit Justin wissen, und natürlich interessierte
sie sich für jede Einzelheit des Prozesses gegen Miss Finch.
Beim Erzählen vergaß Anne ganz, wie erschöpft sie war.
Lord Rochfords Mutter war eine wunderbare Zuhörerin
und eine anregende Gesprächspartnerin. Die Zeit verging
wie im Fluge, und plötzlich rief die Countess: »O Himmel,
das Dinner ist fertig, und ich habe Ihnen noch nicht einmal
Ihr Zimmer zeigen lassen! Möchten Sie sich noch rasch
umkleiden?«
Anne wehrte ab. Sie verspürte einen wahren Bärenhunger.
»Ich hoffe, Sie finden meine Kleidung nicht zu unangemes-
sen?«
Lady Rochford lachte. »Liebes Kind, ich bin so froh über
Ihre Gesellschaft, das es mir nicht einmal auffallen würde,
wenn Sie einen Sack trügen. Tatsächlich aber steht Ihnen
dieses Kleid hervorragend. Haben Sie es von Madame
Clotilde nähen lassen?«
Über Mode plaudernd, begaben die beiden Damen sich
ins Speisezimmer. Anne fühlte sich nicht im Geringsten
fremd in Lord Rochfords Heim. Fast war ihr, als habe sie –
zum ersten Mal seit dem Tode ihrer Eltern – wieder ein
Zuhause gefunden.
Dieses Gefühl vertiefte sich in den nächsten Tagen. Die
Zuneigung, die gleich zu Anfang zwischen Anne und ihrer
Gastgeberin entstanden war, wuchs weiter. Anne liebte es,
sich von Lady Rochford erzählen zu lassen, wie Justin als
Kind gewesen war. Und die Countess wollte genau wissen,
wie es ihrem Sohn in London erging. Den beiden Damen
machte es Spaß, miteinander spazieren zu gehen, Karten zu
spielen und zu musizieren. Dennoch war Anne entschlos-
sen, bald weiterzureisen.
»Ich möchte meiner Cousine einen Besuch abstatten«,
teilte sie Lady Rochford daher am Ende der Woche mit.
»Sie wollen abreisen?« Die Countess schüttelte den
Kopf. »Unmöglich! Ohne Sie werde ich mich langweilen.
Ich werde mich einsam und verlassen fühlen! Bitte, bleiben
Sie wenigstens noch ein paar Tage!«
Anne ließ sich schließlich überreden, ihre Abreise um
zwei Tage zu verschieben. Dann jedoch stieg sie zusammen
mit ihrer Zofe James war inzwischen mit Lady Marys
Kutsche nach London zurückgekehrt – in eine gemietete
Postkutsche, um sich nach Yorkshire bringen zu lassen.
Der Abschied von Lady Rochford brach ihr fast das
Herz. Wie lieb hatte sie Justins Mutter in den wenigen
Tagen gewonnen, die sie gemeinsam verbracht hatten! Aber
sie wusste, dass sie nicht bleiben konnte. Sie musste sich ihr
eigenes Leben aufbauen. Und der Besuch bei ihrer Cousine
war der erste Schritt dazu.
Die Fahrt war zwar wesentlich kürzer als die von London
nach Derbyshire. Doch da das Wetter umgeschlagen war
und es heftig regnete, befanden die Straßen sich in
schlechtem Zustand. So wurde es eine sehr anstrengende
Reise.
Endlich hatte Anne ihr Ziel erreicht. Vor einem beschei-
denen Haus am östlichen Rand des nahe der Hafenstadt Hüll
gelegenen Ortes Kingston kam die Kutsche zum Stehen.
»Warten Sie bitte einen Moment«, sagte sie zu ihrer Zofe,
stieg aus und ging mit festen Schritten auf die Haustür zu.
Auf ihr Klopfen reagierte zunächst niemand. Verunsi-
chert schaute Anne sich um. War womöglich niemand zu
Hause? Sie klopfte erneut. Jetzt endlich regte sich etwas im
Innern des Hauses. Sie atmete auf. Dann wurde die Tür
geöffnet, und Anne stand einer ältlichen Bediensteten
gegenüber, die sie abweisend anschaute. »Ja, bitte?«
Die junge Dame schluckte. Sie war hier nicht willkommen,
soviel stand fest. Dennoch würde sie zunächst bleiben
müssen. Also sagte sie: »Ich bin Miss Haycroft und möchte
meine Cousine Miss Tyler besuchen.«
Nachdem sie Anne von oben bis unten eingehend und
sichtlich misstrauisch gemustert hatte, sagte die Bedienstete:
»Bitte, folgen Sie mir.«
Es ging durch einen düsteren Flur, vorbei an mehreren
verschlossenen Türen. Die Bedienstete öffnete schließlich
die Tür zum Salon, und Anne sah sich ihrer Cousine
gegenüber.
Penelope Tyler hatte sich seit ihrer letzten Begegnung mit
Anne sehr verändert. Sie war alt geworden, und ihr Gesicht
hatte einen strengen, ein wenig säuerlichen Ausdruck
angenommen. Ihre Augen allerdings waren noch so scharf
wie ehedem, und ihre Stimme hätte Anne überall erkannt.
»Anne«, rief sie aus, »was führt dich denn her? Ich muss
gestehen, dass ich auf einen Besuch von dir nicht eingerich-
tet bin. Was ist geschehen? Warum bist du nicht bei Onkel
Cosmo und Tante Winnefred in London?«
»Ich bin vor ihnen geflohen«, gab Anne zurück. »Und ich
wäre dir sehr dankbar, wenn du mich eine Zeit lang bei dir
aufnehmen könntest.«
»Um Himmels willen! Ja, natürlich kannst du ein paar
Tage bleiben, eine Woche vielleicht… Leg deinen Mantel
ab, und setz dich. Du musst mir alles ausführlich erzählen!«
Anne atmete auf. Wenn sie hier auch nicht so willkommen
war wie in Lady Marys oder Lord Rochfords Haus, so
wurde sie doch zumindest nicht hinausgewiesen. »Ich
muss kurz mit dem Kutscher sprechen«, erklärte sie ihrer
Cousine, »und mein Gepäck herein bringen lassen. Ich
hoffe, du kannst auch meine Zofe ein paar Tage lang
beherbergen? Sobald diese Dinge geregelt sind, werde ich
dir alles berichten.«
Eine Woche, nachdem Anne London verlassen hatte,
betrat Justin in eleganter Kleidung die Kirche, in der er ihr
zum ersten Mal begegnet war. Es war der Hochzeitstag
seiner Tante. Viele Gäste waren bereits in dem sonnen-
durchfluteten Kirchenschiff versammelt. Justin allerdings
nahm sie kaum wahr. Immer wieder wanderte sein Blick zu
einem leer gebliebenen Stuhl ganz hinten nahe der Wand,
zu jenem Stuhl, auf dem damals Anne gesessen hatte.
Justin dachte viel an sie. Ihretwegen hatte er sich noch
mehrmals mit Mr. Quinlan und Sir Oliver getroffen.
Cosmo Haycroft die Vormundschaft über Anne zu
entziehen hatte sich als unerwartet schwierig erwiesen.
Doch nun war endlich alles geregelt. Sobald Lady Mary
und Mr. Witherspoon zur Hochzeitsreise aufgebrochen
waren, wollte auch er London verlassen. So schnell wie
möglich wollte er zu seinem Landsitz reisen, wo er nicht
nur seine Mutter, sondern auch Anne vorzufinden hoffte.
Doch bei seiner Ankunft auf Rochford Court erlebte
Justin eine bittere Enttäuschung. Zwar war seine Mutter
überglücklich, ihn zu sehen. Anne aber hatte Derbyshire
verlassen.
Am liebsten wäre Justin ihr sogleich nachgereist. Doch
der weite Ritt von London hatte ihn erschöpft. So
verbrachte er einen gemütlichen Abend mit seiner Mutter,
die unentwegt von Anne erzählte.
»Du magst sie wohl?« erkundigte Justin sich.
»O ja.« Die Countess strahlte. »Meinen Segen habt ihr.«
Justin lachte amüsiert auf. »Wie kommst du darauf, dass
ich Miss Haycroft heiraten will?«
Lady Rochford legte ihrem Sohn leicht die Hand auf die
Schulter. »Glaubst du, ich kenne dich so schlecht? Für
mich, mein Lieber, ist es offensichtlich, dass du Anne
liebst. Und ich bin froh, dass sie deine Gefühle erwidert.
Lass sie nicht unnötig warten. Ich bin sicher, sie sehnt sich
nach dir. Mach ihr einen Antrag, und führe sie zum Altar.«
So kam es, dass Justin am nächsten Morgen mit der
Reisekutsche seiner Mutter nach Kingston aufbrach. Er
wusste, dass Annes Cousine in der kleinen Stadt lebte und
dass sie Penelope Tyler hieß. Gewiss würde es möglich
sein, sie zu finden.
Er begann seine Suche, indem er im besten Gasthof des
Ortes abstieg und sich nach Miss Tyler erkundigte.
Niemand konnte ihm Auskunft geben. Auch Nachfragen
bei verschiedenen Kaufleuten waren vergeblich. Lebte Miss
Tyler so zurückgezogen, dass niemand sie kannte? Oder war
sie womöglich fortgezogen? Denkbar war sogar, dass er
sich eine falsche Adresse eingeprägt hatte.
Lord Rochford schlief schlecht in dieser Nacht. Am
nächsten Morgen setzte er seine Suche fort. Doch auch jetzt
war ihm kein Erfolg beschieden. Am Nachmittag wurde
ihm klar, dass er anders vorgehen musste, wenn er Anne
finden wollte. Was konnte er tun?
Um seine Gedanken zu ordnen, unternahm er einen
Spaziergang am Ufer des Flusses Humber, an dem
Kingston lag. Nachdenklich ließ er den Blick schweifen.
Plötzlich entdeckte er die schlanke Gestalt eines Mädchens.
Es stand reglos und schaute sehnsüchtig aufs Wasser hinaus.
Es hatte volles blondes Haar. Es war Anne!
Justin begann zu rennen. »Anne!« rief er. »Anne!«
Sie fuhr erschrocken herum. Wer war dieser Verrückte, der
laut schreiend auf sie zurannte?
»Anne! Geliebte! Bei Jupiter, endlich habe ich dich
gefunden!«
O Himmel, es war Justin! Annes Herz klopfte plötzlich
zum Zerspringen. Sie breitete die Arme aus.
Und dann hatte Justin sie erreicht. Sie fielen sich in die
Arme. »Anne, ich liebe dich«, flüsterte Justin ihr atemlos ins
Ohr, ehe er begann, sie zu küssen.
Es dauerte lange, bis er sie endlich freigab. Tief schaute er
ihr in die Augen. »Anne?« Auf dem sandigen Boden am
Flussufer ließ Justin sich vor ihr aufs Knie nieder. »Möch-
test du meine Frau werden?«
Sie strahlte. »O ja, das möchte ich.«
Er erhob sich und griff nach Annes Händen. »Liebste,
könntest du dir vorstellen, im kleinsten Rahmen zu heiraten?
Wäre es schlimm für dich, nur eine bescheidene Hochzeits-
feier auszurichten? Ich habe eine Speziallizenz besorgt. In
der nächsten Woche wirst du volljährig. Wir könnten uns an
deinem Geburtstag auf Rochford Court trauen lassen. Aber
wenn du lieber eine große Feier…«
Anne unterbrach ihn. »Nichts wünsche ich mir mehr, als so
schnell wie möglich deine Frau zu werden.« Mit einem
zärtlichen Lächeln schaute sie zu ihm auf. »Ich liebe dich«,
sagte sie leise.

-ENDE-

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