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Hausmitteilung
28. Januar 2008 Betr.: Titel, Clinton, Briefwechsel, SPIEGEL SPECIAL
E s gab noch keine Hedgefonds oder Subprime-Kredite, aber sehr wohl schon
Banken und die Gier ihrer Manager, als Bertolt Brecht 1928 seinen Mackie Messer
in der „Dreigroschenoper“ rufen ließ: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die
Gründung einer Bank?“ Etwas abgewandelt findet sich das Zitat auf dem SPIEGEL-
Titel, der zugleich den verhüllten Eingang zur New Yorker Börse zeigt. Vorlage dafür
war eine Werbeaktion der Allianz, die im Jahr 2000, zum Börsengang in New York,
das klassizistische Portal in Blau verkleiden ließ; die SPIEGEL-Titelgrafik dekorierte
es nun schwarz. Brechts Zitat indes gewinnt in diesen Tagen angesichts des Chaos auf
den Finanzmärkten neue Aktualität. SPIEGEL-Redakteur Konstantin von Hammer-
stein, 46, beschreibt und analysiert mit seinen Kollegen Beat Balzli, 41, Jan Fleischhauer,
45, Frank Hornig, 38, Christian Reiermann, 45, Wolfgang Reuter, 42, und Michael
Sauga, 48, das Auf und Ab im Bankgeschäft. „Zweifellos sind große und vermeintlich
seriöse Geldinstitute mit riskanten Spekulationsabenteuern schuld an der Vertrauens-
krise und der globalen Angst vor einer Rezession“, sagt Hammerstein (Seite 20).
I
m Berliner Restaurant Borchardt ließ sich Hillary
Clinton, 60, während ihrer Deutschlandreise im Juli
2003 von den SPIEGEL-Redakteuren Stefan Aust, 61,
und Gabor Steingart, 45, über die deutschen Sozial-
versicherungen informieren – über ihr Vorhaben,
Präsidentschaftskandidatin der Demokraten zu wer-
den, schwieg sie sich damals noch aus. Steingart, in-
zwischen Korrespondent in Washington, und sein
Aust, Clinton, Steingart (2003) SPIEGEL-ONLINE-Kollege Gregor Peter Schmitz, 32,
folgten Clinton nun quer durch die USA und beobach-
teten eine radikale Veränderung ihrer Wahlkampfstrategie. „Sie war geradezu präsidial
gestartet und hat jetzt auf Angriff umgeschaltet“, sagt Steingart (Seite 100).
Doerry, 52, und Klaus Wiegrefe, 42, mit Saul Friedländer, 75,
dem Friedenspreisträger des Jahres 2007. Sie hatten darin
den Schriftsteller Martin Walser, 80, als jemanden bezeichnet,
der für jene stehe, die „ein Ende der Auseinandersetzung mit
dem Holocaust“ fordern. Walser leidet unter diesem Stigma
und wehrt sich in einem Briefwechsel mit Doerry (Seite 140). Doerry, Walser (1998)
Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 3
In diesem Heft
Titel
Wie die größten Banken der Welt die Zukunft
der Wirtschaft verspielen ...................................... 20
Das verrückte Milliardenspiel bei
der Société Générale ............................................. 26
Hersteller verständlich sind – aber auch absurd .... 83 tegien des Konzernchefs –
Handel: In Duisburg soll Deutschlands größter und genossen Spaßreisen
Outlet-Store entstehen .......................................... 84 durch die schöne Ferienwelt
des Touristikkonzerns, etwa
Medien auf Luxus-Kreuzfahrtschiffen
Trends: Interview mit Kai Wiesinger über die wie der MS „Europa“. Doch
Schnell-Absetzung seiner RTL-Serie / Springer- nun regt sich Widerstand.
Enkel will vor den Bundesgerichtshof ziehen ........ 86
Fernsehen: Vorschau / Rückblick ........................ 87
Journalismus: Wie die amerikanische TV-Legende TUI-Hotelanlage
Dan Rather gegen Weißes Haus und CBS kämpft ... 88
4 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ausland
Prodis Absturz
Panorama: Brüssel sucht „Mister Europa“ /
Seite 96 Kopftuch schafft Konfliktstoff in Ankara /
Peking verschärft Zensur ...................................... 93
Nach nur 20 Monaten einer wackeligen Italien: Meuchelmord im Senat ............................ 96
Regierungskoalition mit elf linken Par- Pakistan: Offensive gegen die neuen Taliban ...... 98
teien stürzte Romano Prodi über ein USA: Der Kampf der Clintons gegen Obama ....... 100
Misstrauensvotum im Senat. Obwohl Tschechische Republik: Ein Präsident sieht rot ... 104
Nahost: Der ehemalige israelische Geheimdienst-
der Reformer Mafia und Korruption chef Ami Ajalon über die Krise in Gaza und
bekämpfte und auch die Wirtschaft in die Friedensgespräche mit den Palästinensern ..... 106
Schwung brachte, hat sein rechter Wi- Russland: Besserungsanstalt Sibirien ................. 107
dersacher Berlusconi beste Chancen, Global Village: Norwegens Premier auf
vorgezogene Wahlen zu gewinnen. Werbe-Tour in der Antarktis ................................ 109
Sport
Szene: Duell der Football-Quarterbacks beim US-
Super-Bowl / BMW-Motorsportchef Mario Theissen
Wissenschaft · Technik
Prisma: Gewalt als Suchtverhalten / Ameisen
Berlusconi Prodi auf Eroberungszug ............................................... 120
Medikamente: Wie eine Frau in Nigeria gegen
die Mafia der Arzneifälscher kämpft ................... 122
Afrikanisches Abenteuer
Krimi-Preis erhalten hat ....................................... 131
Seite 138 Showbusiness: Wer profitiert vom neuen Flirt
zwischen Kino und Musikbranche? ..................... 134
Zwei Tage lang saß der Berliner Musiker: Interview mit Swingstar Andrej Hermlin
Swingmusiker Andrej Hermlin in über sein Haft-Abenteuer in Kenia ...................... 138
kenianischem Polizeigewahrsam. Er Autoren: Briefwechsel mit Martin Walser über
wurde verdächtigt, Terroranschlä- die Haltung zum Holocaust ................................. 140
ge vorbereitet zu haben. Inzwi- Kino: Der Regisseur Mike Nichols und seine
schen ist der Sohn des Schriftstel- Komödie „Der Krieg des Charlie Wilson“ ........... 144
Bestseller .......................................................... 146
lers Stephan Hermlin, der im Wahl-
FRANK ZAURITZ / LAIF
Seite 134
Madonna debütiert als Filmregisseurin, Norah Die erste Beste
DARIUS KHONDJI / PROKINO
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 5
Briefe
eingebaut werden müssen. Die Lebens- len könnten dabei viele Probleme lösen:
Härtetest vor dem Familiengericht standardgarantie – wenn die Kranken- mehr Zeit für Bildung und Übung, weniger
Nr. 3/2008, Scheidungen: schwester den Chefarzt heiratet – ist abge- Jugendkriminalität, da die Kinder länger in
Das reformierte Unterhaltsrecht sorgt für eine Prozesswelle schafft worden. Im Wesentlichen geht es der Schule sind, bessere Integration aus-
nach der Regelbetreuungszeit von drei Jah- ländischer Schüler.
Schade, dass gerade der SPIEGEL eine ren langfristig um die Ermittlung der ehe- Stuttgart Helgard Woltereck
derart einseitige Berichterstattung zulässt. bedingten Nachteile, insbesondere durch Grund- und Hauptschulrektorin i. R.
Immerhin werden Scheidungsanträge heu- Kindererziehung. Jetzt müssen die Frauen
te in der Mehrzahl von Frauen gestellt. wach werden und die Auswirkungen der Die illusorische Forderung, man müsse
Und das nicht, weil sie vom Ehemann miss- Auszeiten für Kindererziehung vertraglich künftig in acht Jahren so viel lernen wie
handelt werden, sondern weil sie endlich regeln oder auch die Männer Erziehungs- bislang in neun, führt einerseits zu einer
wieder die verlorene Freiheit genießen urlaub nehmen lassen. permanenten Überforderung der meisten
Hilden (Nrdrh.-Westf.) Ute Geenen Schüler (und Lehrer), andererseits zeigt
Fachanwältin für Familien- und Arbeitsrecht sich schon jetzt, dass sie nicht zu erfüllen
ist. Immer mehr Lehrer – und das sind
Wer Kinder betreut, hat weiterhin An- nicht die schlechtesten – sehen sich nicht in
spruch auf Unterhalt. Weiterhin entstehen der Lage, die überhöhten Vorgaben der
durch langjährige Ehedauer Unterhaltsan- neuen Lehrpläne zu erfüllen, und müssen
sprüche. Auch für die Altfälle wird es indi- deshalb Lernstoff in die nächsthöhere Klas-
viduelle Lösungen geben, dafür sorgen die se verschieben. Die Folgen für die Hoch-
MARCUS KAUFHOLD
Gerichte. Wir warnen davor, nur so auf schulen sind katastrophal: Man wird sich
Verdacht, aus dem Gefühl heraus einen dort auf Abiturienten einstellen müssen,
Prozess zu führen. Es wird sich für Altfälle deren Hochschulreife nur auf dem Papier
weniger ändern, als so manch ehemaliger ihrer Abiturzeugnisse steht.
Scheidungsanwältin, Mandant (in Wiesbaden) Partner sich erhofft. Man sollte die sinn- Neustadt / Aisch Dr. Dieter Geißendörfer
Von einem Extrem ins andere volle Unterhaltsrechtsreform nicht schlecht- Studiendirektor i. R.
reden, bevor sie den Härtetest vor den Fa-
wollen. Dafür hatte dann der Ex-Mann, miliengerichten bestanden hat. In jedem So funktioniert Schulpolitik: Um ein Pisa-
egal in welche wirtschaftlichen Verhältnis- Fall war sie eine notwendige Reform: Es Problem zu lösen (zu alte Schulabgänger),
se er nach der Ehe geraten ist, Unterhalt war einfach nicht einsichtig, dass der Le- werden viele andere verschlimmert: Bil-
teilweise bis runter auf den gesetzlichen bensstandard auch nach der Ehe, wenn die dungschancen sind stärker vom sozialen
Selbstbehalt (1000 Euro bei Erwerbstä- Geschäftsgrundlage – die Liebe – weg ist, Status der Eltern abhängig (wer kann sich
tigen) zu bezahlen. Ein neues Leben zu garantiert und finanziert werden muss. Nachhilfe leisten, wer kann mit seinem
beginnen oder gar eine neue Familie zu Würzburg Josef Linsler Kind lernen?), es gibt noch weniger Stu-
gründen war bisher vielen aufgrund der Bundesvorsitzender Interessenverband dierende, Kreativität wird dem Tempo und
hohen „Altlasten“ schlichtweg verwehrt. Unterhalt und Familienrecht damit dem Stress geopfert (wer hat noch
Denn nicht alle geschiedenen Männer sind Zeit, auf hohem Niveau ein Instrument zu
Oberärzte oder erfolgreiche Juristen, Ar- Leider wird in dem Artikel nicht mit einem lernen?). Solange Lehrpläne nicht über-
chitekten, Unternehmer … Was spricht Wort von Fällen gesprochen, bei denen arbeitet und Fächer viel stärker verknüpft
denn dagegen, dass die Trennungswilligen Frauen nachehelichen Unterhalt für ihre
ihre neugewonnene Freiheit nach einer ge- Männer zahlen müssen. Aus eigener Er-
wissen Übergangsfrist selbst zu finanzie- fahrung weiß ich, dass es solche Fälle gibt.
ren haben? Dresden Erik Bauch
Uhingen (Bad.-Württ.) Max Biermaier
Kinder und Jugendlichen weiterhin blind Schule ist nie Freude pur, aber das im Ar-
pauken, so dass man den Eindruck hat, es tikel beschriebene Horrorszenario ist eben-
sollen nur schlaue Fachidioten gezüchtet so wenig zutreffend. Vielleicht sollte ein-
werden zum alleinigen Zweck der Fütte- mal in Sachsen nachgefragt werden, ob
rung einer fragwürdigen Industrie-, Ge- Schulzeitverkürzung und Zentralabitur zur
schäfts- und Arbeitswelt? Gesamt- und/oder Ganztagsschule führen
Zell (Mosel) Paul Trein müssen. Eine inzwischen über 17-jährige
Erfahrung hätte das vielleicht verdient und
MARCUS KAUFHOLD
Noch immer bleibt rätselhaft, warum sich wäre unter Umständen sogar zielführend –
die erfolgreiche deutsche Industrienation auch wenn sie nur aus Sachsen kommt.
nicht einmal darauf einigen kann, was für Freiberg (Sachsen) Prof. Dr. Klaus Husemann
Jugendliche zwischen den Alpen und der Staatssekretär a. D.
Ostsee verbindlicher Lehrstoff sein soll. Fünftklässler Leon Meister
Sie beschreiben sehr plastisch, dass Schu- Permanente Überforderung der Schüler? Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.
len in Deutschland noch oft als Anstalten Schickt eure Kinder auf die Waldorfschule!
gesehen werden, in denen Kindern Wis- Wir waren damals halt etwas zäher und Da können sie ganz kindgerecht ihren Ab-
sen eingetrichtert wird. Das ist Schulpraxis ausdauernder. schluss erlangen. Theater, Musizieren, Mit-
des 19. Jahrhunderts. Lehrte (Nieders.) Ulrich Gürtler tagessen und Bewegung an der frischen
Potsdam Hans-Dieter Rutsch Luft inklusive. Nachmittagsunterricht ist
Schon lange hat mir ein Artikel nicht mehr zwar die Regel – was sich aber mit arbei-
Mit Vergnügen lese ich das Gejammer über so sehr aus der Seele gesprochen. Als Mut- tenden Eltern super vereinbaren lässt. Und
34 oder gar 36 Wochenstunden Unterricht. ter zweier Kinder in der siebten und ach- am Ende reichen zwei Jahre, um das allge-
In den sechziger Jahren des vergangenen ten Gymnasialklasse kann ich die Inhalte meine bayerische Abitur zu erlangen.
Jahrhunderts waren 36 Schulstunden zu- nur bestätigen. Die Ergebnisse der „Schul- Flörsheim am Main (Hessen) Matthias Bogár
meist der Standard. Dazu kamen noch reform“ sind erschreckend, denn nach sie-
AGs. Dazu kam bei mir noch Sport ben bis acht Unterrichtsstunden pro Tag Ich bin „G8“-Schülerin, zwölf Jahre, und
(Hockey in der Oberliga). Wir haben auch fehlt den Kindern nicht nur die Zeit für habe dieses Jahr Latein als zweite Fremd-
regelmäßig unsere Partys gefeiert. Außer- Freunde oder Hobbys. Die Kinder sind am sprache zu Englisch dazubekommen. Die
dem hatte ich noch die segensreiche Ein- Ende so überfüttert mit Lerninhalten, dass Schule macht mir Spaß, meine Noten sind
richtung der Kurzschuljahre. Haben wir al- sie sich nichts mehr merken können. Un- gut, und nachmittags bin ich in der Thea-
les ohne größeren Schaden überstanden! term Strich erscheint die Reform damit tergruppe, treibe Sport und bin viel mit
Meine Mitschüler belegen heute Spitzen- kontraproduktiv. Freunden unterwegs. Meine Hausaufgaben
positionen in Wirtschaft und Verwaltung. Berlin Ruth Weiler erledige ich seit der Grundschulzeit selb-
ständig, und Nachhilfe käme nicht in Frage, eingepasst. Kein Wunder, wenn deutsche
weil meine Mutter meint, wer Nachhilfe Hersteller jetzt in den Pannenstatistiken
braucht, sei für das Gymnasium ungeeignet. nach vorn rutschen; dazu brauchen sie ei-
Pocking (Bayern) Deborah De Lorenzo gentlich gar nichts zu tun. Toyota erledigt
das schon selbst.
Ich kann Ihnen versichern, dass es (sogar Laatzen (Nieders.) Peter Fündeling
im rot-roten Berlin) Gymnasien gibt, auf
denen der zusätzliche „G8“-Lernstoff ver- Der Sieger BMW X3 in der ADAC-Pan-
nünftig vermittelt wird, und die Kinder nenliste wird gar nicht von BMW selbst
durchaus nebenher noch Zeit zum Spie- gebaut, sondern in Auftragsarbeit bei
len und für den Sportverein haben. Zu- Magna Steyr in Graz! Die Trophäe gebührt
dem stehen wir als voll berufstätige Eltern somit zu einem erheblichen Teil den öster-
dem vermehrt anfallenden Nachmittags- reichischen Autowerkern. Was BMW aber
unterricht nicht ideologisch ablehnend ge- nicht davon abhält, den nächsten X3 in den
genüber, sondern begrüßen ihn als zeit- USA bauen zu lassen. Welchen Platz wird
gemäß und im internationalen Vergleich dann der neue X3 in der ADAC-Pannenlis-
angemessen. Auch in Berlin müssen die te einnehmen?
Kinder nachmittags nicht mehr zum Kar- Bad Fallingbostel (Nieders.) Dieter Fabian
toffelnsammeln aufs väterliche Feld wie zu
den Zeiten, als die reine Vormittagsschule Mein Verdacht: Die Qualität dieser Autos
in Deutschland eingeführt wurde. wird gezielt auf ein gutes Abschneiden in
Berlin Nils Morgenthaler der Pannenstatistik optimiert. Aber überall
dort, wo Mängel nicht gleich zum Ruf der
Die Verkürzung der Schulzeit hin zum „Gelben Engel“ führen, wird gepfuscht
Abitur setzt nicht nur alle daran Beteiligten und gespart, wo es geht.
unter Stress, sondern wird sich auch nega- Bremen Claus Hanske
tiv auf das Engagement vieler begabter
junger Menschen im Bereich der ehren- Dass deutsche Autos in der Pannenstatistik
amtlichen Mitarbeit in Kirchen, Vereinen, so schlecht abschneiden, war für Fachleu-
politischen und kreativen Gruppen aus- te der Autobranche immer schon zweifel-
wirken. Die Vergreisung dieser Wirkungs- haft. Ausländische und insbesondere japa-
felder ist vorgezeichnet. Nach dem Abitur nische Marken befinden sich kaum in den
wird sich wohl kaum ein junger Mensch kilometerintensiven Firmenfuhrparks. Ent-
noch für diese Tätigkeit begeistern, stehen sprechend niedriger sind die Jahresfahrleis-
dann doch Studium und Jobsuche im Vor-
dergrund. Die Motivation für ein freiwil-
liges Engagement ist, entwicklungspsycho-
logisch bedingt, gerade bei Eintritt in die
Oberstufe besonders hoch.
Grünberg (Hessen) Hartmut Miethe
Pfarrer
Zweifelhafte Statistiken
Nr. 3/2008, Automobile:
Erstaunliche Trendwende in der Pannenstatistik
Es ist sicher richtig, dass die Qualität deut- „Gelber Engel“-Gewinner BMW X3
scher Autos besser geworden ist. Dennoch Premiummarke mit Versorgungsdienst
möchte ich darauf hinweisen, dass die Her-
steller deutscher Premiummarken einen tungen und das Pannenrisiko. Außerdem
Versorgungsdienst für ihre Kunden bei werden die Fahrzeuge erheblich defensiver
Fahrzeugausfall errichtet haben. Audi-, bewegt.
BMW- oder Mercedes-Kunden rufen heu- Senden Kr. Neu-Ulm (Bayern)
te nicht nach dem ADAC, sondern nach Wolfgang Steurer
dem Werkshilfsdienst. Insofern ist die
ADAC-Liste „Gelber Engel“ nicht mehr Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
fair. Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
München Peter Graf von Ingelheim
Dem Artikel kann ich nur zustimmen. Ich In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist um den
fahre seit 1980 Toyota, jetzt das zehnte Titel ein Umhefter des SPIEGEL-Verlags, Hamburg, ge-
Fahrzeug. Die Fahrzeuge aus Japan waren legt. Eine Teilauflage enthält einen Partner-Durchhefter
der Firma ING DiBa, Frankfurt, sowie der Firma SPIE-
top verarbeitet. Schlechter war schon die GEL-Verlag, Hamburg. In einer Teilauflage dieser SPIE-
Qualität, als ein Fahrzeug aus Burnaston GEL-Ausgabe befindet sich in der Heftmitte ein vierseiti-
in England kam. Das jetzige Fahrzeug ger Beihefter der Firma Lexus, Köln. In einer Teilauflage
(Corolla Verso, hergestellt in der Türkei) ist befinden sich Beilagen der Firmen Handelsblatt, Düssel-
dorf, SPIEGEL-Verlag / SPIEGEL-Forum, Hamburg, sowie
schlampig verarbeitet. Zum Beispiel sind die Verlegerbeilage SPIEGEL-Verlag / KulturSPIEGEL,
Tür- und Fensterdichtungen nicht richtig Hamburg.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 13
Panorama Deutschland
SPD
Mehdorn erzürnt
mens ist eine solche Parteinahme eine Berliner Abgeordnetenhaus, die Stargäs-
klare Grenzüberschreitung“, sagt der te sind, soll an diesem Dienstag stattfin-
Genossen
Sprecher der SPD-Linken im Bundestag, den. Die Teilnehmer werden um eine
Niels Annen. „Herr Mehdorn sollte sei- Spende für die Berliner CDU gebeten,
ne Teilnahme absagen.“ Ähnlich wird um deren Kampf gegen die geplante
Selbstbedienung bei
den Republikanern
N ach der NPD ist nun eine weitere
rechtsradikale Partei wegen dubio-
sen Finanzgebarens ins Visier der Bun-
destagsverwaltung geraten: die Repu-
blikaner (Rep). Hintergrund ist ein ak-
tuelles Urteil des Landgerichts Stuttgart
gegen einen langjährigen Schatzmeister
des baden-württembergischen Rep-Lan-
PHOTOTHEK / ULLSTEIN BILD
desverbands. Der Ex-Funktionär hatte
bis 2001 rund 60 000 Euro aus der Par-
teikasse für private Zwecke abgezweigt,
unter anderem für das Leasing eines
Sportwagens und zur Begleichung pri-
vater Steuerschulden. Wegen Untreue
in 37 Fällen wurde der Mann im Okto- Merkel (in einem Technologieunternehmen in Dresden)
ber zu einer Bewährungsstrafe von ei-
nem Jahr und neun Monaten verurteilt. FORSCHUNG
Fehlende Milliarden
Die diskrete Geldentnahme in Baden-
Württemberg, wo die Republikaner
bis 2001 im Landtag saßen, war aber
offenbar kein Einzelfall: In „finanziel-
len Angelegenhei-
ten“, so das Gericht,
„herrschte im gesam-
B und, Länder und Unternehmen in Deutschland müssen die jährlichen Zuwen-
dungen für Forschung bis 2010 um deutlich mehr als zehn Milliarden Euro
steigern. Nur so kann das von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) propagier-
ten Präsidium“ des te Innovationsziel erreicht werden. Demnach sollen 3 Prozent des Bruttoinlands-
Landesverbands eine produkts in Forschung und Entwicklung (FuE) fließen, um international wett-
Art „Selbstbedie- bewerbsfähig zu bleiben. Aus neuen Zahlen des Bundesforschungsministeriums und
nungsmentalität“; des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft geht hervor, dass bisher nur ein
zudem habe man Wert von knapp 2,6 Prozent erreicht wurde. Zwar stiegen die FuE-Ausgaben der
versucht, „dieses Wirtschaft von 2005 auf 2006 um sieben Prozent und damit fast doppelt so stark wie
Finanzgebaren zu in den Vorjahren. Auch will die Bundesregierung über die gesamte Legislaturperi-
SASCHA RHEKER / ATTENZIONE
verschleiern“. Doch ode 6,5 Milliarden Euro zusätzlich für FuE-Ausgaben zur Verfügung stellen. Doch
auch die merkwürdi- um bei anhaltendem Wirtschaftswachstum das Drei-Prozent-Ziel zu erreichen,
ge Buchungspraxis sind erhebliche zusätzliche Investitionen nötig. Die nationalen FuE-Ausgaben müss-
des bayerischen Rep- ten selbst bei Nullwachstum von heute rund 63 Milliarden Euro auf 73 Milliarden
Landesverbands er- Euro steigen. Größte Schwachstelle der Innovationsoffensive bleiben viele Bun-
regt das Interesse der desländer, vor allem im Norden und im Osten.
Schlierer Parteienkontrolleure
von Bundestagspräsi-
dent Norbert Lammert (CDU): Den
dortigen Finanzbehörden war aufgefal-
len, dass die Summe der ausgestellten gierten Rheinland-Pfalz weiter im
Spendenbescheinigungen die Summe Visier der Verfassungsschützer
der Partei-Einnahmen in den neunziger bleiben. Wie das dortige Innen-
Jahren mitunter deutlich überstieg. ministerium dem SPIEGEL bestä-
Nach einem Urteil des Bundesfinanz- tigte, sollten weiterhin öffentlich
hofs muss das Finanzgericht München zugängliche Quellen der Linken
AMIN AKHTAR / OSTKREUZ
Stures Beck-Land
bevor wir uns zu Einzelheiten äußern.“ an Ministerpräsident Kurt Beck hatte
Danach will auch die Bundestagsver- der rheinland-pfälzische Bundestagsab-
waltung prüfen, ob eventuell Staatszu- geordnete Alexander Ulrich die Einstel-
schüsse zurückgefordert werden. Im
vorigen Jahr erhielten die Republikaner
rund 1,2 Millionen Euro Steuergeld aus
W ährend selbst das CDU-geführte
Saarland auf die Beobachtung der
Partei Die Linke durch den Verfassungs-
lung der Beobachtung gefordert – und
darauf hingewiesen, dass „ein nicht
unerheblicher Teil der Mitgliedschaft
der Parteienfinanzierung. schutz verzichtet, soll sie im SPD-re- ursprünglich aus der SPD“ komme.
16 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland
JUSTIZ Schritt und Tritt beobachten. „Wir
Teure Entsorgung
1977 den Betrieb aufgenommen und Konzern, kalt wie der Finnische Meer-
wurde 14 Jahre später stillgelegt. Brüter- busen. Beck hat sein Nokia-Handy aus
Technologie, die sowohl zur Erzeugung Protest zurückgegeben. Und
Konzerne sollen
Konkurrenz finanzieren
D ie rheinland-pfälzische Landesregie-
rung von SPD-Chef Kurt Beck ver-
langt von Bundeswirtschaftsminister
Michael Glos (CSU), mehr Wettbewerb
auf dem Strommarkt zu schaffen. Der
Versuch des Unionspolitikers, die Strom-
konzerne durch die Ankündigung einer
Kartellrechtsverschärfung in die Knie zu
zwingen, habe sich „als Luftnummer
erwiesen“, beklagt Wirtschaftsminister
WERNER OTTO
Hendrik Hering (SPD). Um die preis-
treibende Marktmacht der vier großen
Erzeuger RWE, E.on, EnBW und Vatten-
Rhein bei St. Goarshausen fall zu brechen, müsse die öffentliche
Hand „so schnell wie möglich“ den Bau
LORELEY neuer Kraftwerke forcieren, drängt He-
Abschreibungen
der Banken
3. und 4. Quartal 2007*
in Mrd. Dollar
Kursverluste
gegenüber
1. Januar 2007
Stand: 24. Januar 2008 – 36,1 % – 32,7 %
– 41,1 % – 38,3 %
– 46,1 %
– 50,9 %
20 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Bankenmetropole Frankfurt am Main
* Barclays, HSBC und Deutsche Bank nur 3. Quartal; ** inkl. außerordentlicher Verluste; Quelle: Thomson Financial Datastream, Unternehmensdaten
Credit Bank of
Suisse America
– 16,2 %
– 25,3 % – 24,2 % – 22,6 %
– 29,7 %
S
eit dem Morgen fallen die Aktien- geflimmert, mit Bildern der schlimmsten sen hält jeder Teilnehmer eine kleine graue
kurse auf breiter Front, am Mittag hat Börsencrashs der letzten 80 Jahre, ange- Box mit ein paar Tasten in der Hand, eine
es die Technologiewerte erwischt, fangen mit dem Schwarzen Donnerstag im Art Fernbedienung, mit der er darüber
und auch die ersten Nachrichten von der Oktober 1929. Das Schlussbild zeigt eine abstimmen soll, was er für die „größte Ge-
Wall Street sind düster. In der schwer ge- Liste mit den Abschreibungen der größten fahr für die Weltwirtschaft in diesem Jahr“
sicherten Betonfestung im Zentrum des amerikanischen Banken, Stand Mitte des hält. Es ist ein ziemlich sardonischer Regie-
Schweizer Skiorts Davos haben sie sich Monats. Es sind schwindelerregende Zah- einfall.
ein kleines Spiel zur Lage ausgedacht. Es len – und das ist noch lange nicht das Ende, Zur Auswahl stehen ein „globaler Zu-
THILO WAITZ / BILDMASCHINE.DE
ist Mittwoch der vergangenen Woche, der wie jeder hier im Saal weiß. sammenbruch der Kreditversorgung“,
erste Tag des jährlichen Weltwirtschafts- Normalerweise wäre jetzt ein Vortrag an „steigende Energiepreise“, ein „genereller
forums. Der Kongresssaal ist gut gefüllt mit der Reihe zu den großen Themen, die es Vertrauensverlust der Verbraucher“. Es ist
Leuten, die auf die eine oder andere Wei- dieses Mal abzuhandeln gilt, irgendetwas eine lange, düstere Liste, bei der eine Op-
se vom Börsengeschäft leben. Gehaltvolles über Klimawandel oder die tion schlimmer ist als die andere. Was man
Über die große Leinwand an der Stirn- Herausforderung der Globalisierung. So ist auch wählt – es bedeutet, dass die Welt
seite ist gerade ein Film zur Einstimmung es üblich zum Auftakt in Davos. Stattdes- in eine Rezession stürzen könnte. Das
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 21
Titel
Publikum entscheidet sich für „allgemeine Schlimm erwischte es auch Frankfurt. schrumpft sei, in 7 weiteren stagniere sie.
Führungskrise“. Keine dumme Wahl – an- In nur vier Stunden rasten die Kurse der Schwächelt die größte Volkswirtschaft der
gesichts des Taifuns, der draußen tobt. 30 größten deutschen Konzerne um 500 Erde, wird das zwangsläufig alle Handels-
Als die Leute nach 90 Minuten zurück Punkte nach unten. Am Ende hatte der partner der USA in Mitleidenschaft zie-
ins Foyer strömen, zeigen die Bildschirme Dax 7,2 Prozent und damit 63 Milliarden hen, auch die Deutschen.
neue Kursverluste; die Eilaktion der Euro an Wert verloren, der übelste Tages- Schon korrigiert die Bundesregierung
amerikanischen Notenbank, den Leitzins verlust seit dem 11. September. ihre Wachstumsprognose nach unten. Öko-
außerplanmäßig gleich um 75 Basispunkte Der Sturm, der im vergangenen Jahr nomen halten es damit für unwahrschein-
auf nur noch 3,5 Prozent zu senken, ist durch die amerikanische Hypothekenkrise lich, dass die Arbeitslosigkeit weiter zu-
ohne nachhaltige Wirkung verpufft. „Was ausgelöst wurde, habe sich zum Hurrikan rückgeht. Auch der Export wird einbre-
für ein Massaker“, entfährt es einem In- entwickelt, schreibt der britische „Econo- chen – die Frage ist nur, wie stark. Und die
vestmentbanker, der gerade noch tapfer mist“. In den ersten drei Januarwochen Hoffnung, die Deutschen würden dies da-
gegen zu viel Pessimismus angeredet hatte. verloren die Aktien aller Unternehmen, durch kompensieren, dass sie endlich mehr
Vom „Ende einer Ära“ spricht der in New die weltweit an den Börsen gehandelt wer- konsumieren und damit die Wirtschaft an-
York und London lebende Finanzjongleur den, die schier unfassbare Summe von fast kurbeln, hegt kaum noch jemand.
George Soros. fünf Billionen US-Dollar an Wert. Am Donnerstag schossen die Kurse
Der Schock der beiden Vortage steckt Die heftigen Kursverluste zeigen die zwar wieder in die Höhe, nachdem US-
den Teilnehmern sichtlich in den Knochen. Angst vor den weltweiten Folgen einer Präsident George W. Bush die Zustimmung
Wie ein hochansteckender Virus hatte sich amerikanischen Rezession, die wahr- der oppositionellen Demokraten zu einem
die Angst vor einer weltweiten Rezession scheinlich längst begonnen hat. Am ver- gewaltigen Konjunkturprogramm bekom-
am Montag in rasender Geschwindigkeit gangenen Dienstag gab die regionale ame- men hatte. 145 Milliarden Dollar will die
zunächst in Asien ausgebreitet. Als dann rikanische Notenbank in Philadelphia be- amerikanische Regierung in die Wirtschaft
Stunden später die großen europäischen kannt, dass die Wirtschaft in 23 der 50 US- pumpen. Etwa 117 Millionen Amerikaner –
Börsen den Handel eröffneten, sprang der Bundesstaaten im Dezember bereits ge- gut ein Drittel der Bevölkerung – können
Erreger auf den alten Kontinent über, um nun einen Steuernachlass von bis zu 1200
am Nachmittag auch noch die amerika- Dollar erwarten. „Die Anreize in diesem
nischen Handelsplätze von Kanada über Paket werden zu höherem Konsum und
Mexiko bis nach Brasilien zu infizieren. mehr Unternehmensinvestitionen führen“,
Die Ironie wollte es, dass ausgerechnet die hofft Bush.
USA von der Plage erst einmal verschont Der Präsident steht mit dieser Hoffnung
blieben. Wegen eines Feiertages hatte die aber ziemlich allein. Das Paket komme viel
New Yorker Börse geschlossen. zu spät, kritisierte etwa der amerikanische
In Tokio sackte der japanische Leitin- Ökonom Joseph Stiglitz umgehend. Der
dex Nikkei um fast 4 Prozent ab, in Shang- Weg aus der Krise werde „lang und
hai fielen die Kurse um 5,1 Prozent. Hong- schmerzvoll“ sein, prophezeite der Nobel-
kong erlebte den schlimmsten Börsentag preisträger. Der erfahrene Star-Spekulant
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
seit den Terroranschlägen des 11. Septem- Soros spricht gar von der „schlimmsten
ber 2001. An der Börse in Bombay sackten Krise seit 60 Jahren“, bei der „alles schief-
die Kurse zwischenzeitlich um fast 11 Pro- ging, was nur schiefgehen konnte“.
zent ab, um dann immer noch mit einem Die Hauptschuldigen sind längst identi-
satten Minus von 7,4 Prozent aus dem Han- fiziert. Und es sind nicht die neureichen
del zu gehen. Spekulanten der Hedgefonds- und Private-
Equity-Szene, die bisher als die größte Be-
* Mit Kanzlerin Angela Merkel und Commerzbank-Chef Banker Ackermann (r.)* drohung der Weltfinanzmärkte galten. Es
Klaus-Peter Müller am 25. April 2006 in Berlin. Stunde der Offenbarung sind die Banken – und zwar alle Vertreter
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BRENDAN MCDERMID / REUTERS
dieses Gewerbes: die modernen angel- leisten konnten, dazu, mit billigen Krediten auf den ersten Blick sichtbar ist. Dass es
sächsischen Investmentbanken, die klassi- Immobilien zu kaufen. Dann verpackten sich bei dem Debakel um mehr als einen
schen Großbanken und die eher biederen sie diese Forderungen in hochkomplizier- Unfall handelt, dessen Folgen schon nach
deutschen Landesbanken, die sogar ganz te, neuartige Finanzprodukte, die sie gegen wenigen Tagen taxiert werden können und
besonders. hohe Gebühren weltweit an Investoren den die Branche nach einigen Monaten ab-
Sie alle haben die klassischen Prinzipien verkauften. Die wussten häufig gar nicht gehakt haben wird.
der Branche verraten: Sie haben Kredite genau, welche Zeitbomben da nun auf Dieses Mal steht das gesamte System auf
an Leute gegeben, die nie welche hätten einmal in ihren Portfolios schlummerten. dem Prüfstand, die Ordnung der Welt-
bekommen dürfen, in einem Ausmaß, das Sie wollten es wohl auch gar nicht wissen; wirtschaft. Ist das globale Finanzsystem in-
jeden vernünftigen Rahmen sprengt. Und Hauptsache, die Rendite stimmte. zwischen so komplex, dass es nicht mehr
sie haben die Risiken, die sie nie hätten Wie sehr die Kontrollmechanismen der beherrschbar ist? Sind die staatlichen Re-
eingehen dürfen, verschleiert. Branche außer Kraft gesetzt waren, zeigte gulierungsbehörden dem Erfindungsreich-
Dass klassische Sicherheiten im Geld- in der vergangenen Woche der spekta- tum der Finanzakteure noch gewachsen?
gewerbe nicht mehr zählen und Schulden- kuläre Fall des Aktienhändlers Jérôme Und schließlich: Ist die derzeitige Macht-
pakete außerhalb der Bilanz gelagert wer- Kerviel. Innerhalb weniger Monate ver- verteilung der globalisierten Welt auf Dau-
den, damit das Hochrisikogeschäft immer zockte der Franzose mit riskanten Finanz- er haltbar?
weiter ausgedehnt werden kann – wer wetten 4,9 Milliarden Euro seines Arbeit- „Es läuft eine Wette“, sagt der Vorstand
hätte das vor wenigen Jahren gedacht? gebers, der angesehenen Société Générale einer großen deutschen Bank, „wie wich-
„Man kann in diesen Wochen wirklich den in Paris, deren „Risiko-Management“ bis- tig die USA noch für das globale Wirt-
Glauben an die Banken verlieren“, schreibt lang branchenweit gerühmt wurde (siehe schaftsgeschehen sind.“ Dabei steht nichts
selbst das Hausblatt der Branche, die Kasten Seite 26). weniger auf dem Spiel als die Vormacht-
Frankfurter „Börsenzeitung“. Viele Banker spüren, dass es dieses Mal stellung der größten Volkswirtschaft der
Zunächst verführten die Banken in den um mehr geht als in früheren Krisen. Dass Erde. Und die der übrigen westlichen Staa-
USA Menschen, die es sich eigentlich nicht die Welt mehr Schaden genommen hat, als ten dazu.
16 Jahre lang hat das amerikanische
8200 Wirtschaftswunder gehalten, das jetzt zu
0
Deutsche Bank implodieren droht. Und auf einmal merkt
8000 Veränderung gegenüber die ganze Welt, was bislang nur vereinzel-
dem 2. Januar 2008 te Warner realisierten: Der beispiellose
7800 Boom war durch und durch wurmstichig.
–4 in Prozent
„Die guten Zeiten“, urteilte vergange-
7600
ne Woche die „New York Times“ voller
7400 –8 Ernüchterung, „waren eine Fata Morga-
Dax 25. Jan. na.“ Denn sie waren auf Pump gebaut.
7200 – 14,1% Der scheinbar endlose Aufschwung, der
Deutscher
Aktienindex 25. Jan. –12 nur zwischendurch kurz unterbrochen
7000 wurde, erscheint im Rückblick als eine rie-
6817
sige Doppel-Blase – zuerst eine Mega-Spe-
6800 –16 kulation mit Aktien der jungen Internet-
6600 Branche und dann, als die „Dot.com-Bub-
23. Jan. 23. Jan. ble“ platzte, mit Immobilien.
6400 6439 –20 – 18,6% Scheinbar sorglos wechselten die Ame-
rikaner von der kollabierten „New Eco-
nomy“ zur „Ownership-Society“, die von
Januar 2008 Quelle: Thomson Financial Datastream Januar 2008 US-Präsident George W. Bush euphorisch
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 23
AURORA / LAIF (L.); AARON ALLMON / UPI / GAMMA / LAIF (R.)
Terroranschläge vom 11. September 2001, US-Soldaten (im Irak): Die führende Wirtschaftsmacht ist angeschlagen
gefeiert wurde, eine Gesellschaft von Ei- Pump Firmen übernahmen, erblühten wie Präsident den Segen „finanzieller Innova-
gentümern, in der ein jeder locker seine nie zuvor. Die Manager der jungen Bran- tion“ stets für größer als den Nutzen von
Raten zahlen sollte, Immobilienpreise che realisierten schnell, dass sie mit dem im Regulierung.
grundsätzlich stiegen und ohnehin nichts Überfluss vorhandenen Geld alles Mög- Greenspans Niedrigzinspolitik gilt heu-
schiefgehen konnte. Seit 1992 haben die liche kaufen und handeln konnten, Aktien, te als Hauptgrund für das Entstehen der
amerikanischen Verbraucher ihre Ausga- Rohstoffe, Unternehmen und selbst die Blase. „Die Geldpolitik war zu entgegen-
ben Quartal für Quartal gesteigert. Ein so Hypotheken von Millionen Amerikanern. kommend. Mit Ein-Prozent-Sätzen wur-
lange andauerndes Selbstvertrauen hatten Die Deals dieser vorher wenig bekann- den alle möglichen Arten riskanten Ver-
sie vorher noch nie gezeigt. ten, renditeversessenen Investorengruppe haltens ermutigt“, sagt Anna Schwartz.
Der Boom wurde aus Washington mun- wurden immer größer und riskanter, eine Die 92-jährige Ökonomin hat die Welt-
ter angefeuert. Eine möglichst ungezügel- Milliardenfusion jagte die nächste, die Wall wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jah-
te Marktwirtschaft, Deregulierung der Fi- Street bebte vor Euphorie. Und die Ban- re des vergangenen Jahrhunderts noch
nanzmärkte, niedrige Zinsen, wenig Steu- ken spielten mit, sie schraubten ihre Ren- selbst erlebt, Jahrzehnte später kritisierte
ern – mit diesem radikalen Marktver- diteerwartungen immer weiter nach oben. sie in einem gemeinsam mit Nobel-
ständnis versuchten Bush und der lang- Die US-Behörden mochten niemandem preisträger Milton Friedman („A Mone-
jährige Zentralbankchef Alan Greenspan, die Laune verderben. Schließlich hielt der tary History of The United States“) ver-
die amerikanische Konjunktur und die fassten Standardwerk die Rolle
Kapitalmärkte in immer neue Höhen zu der US-Zentralbank während
treiben. Doppeltes 236 der „Great Depression“.
Defizit
Das war auch ihr Rezept nach den An- Auch dieses Mal, sagt
schlägen vom 11. September, als die US- Schwartz, die noch jeden Tag
Wirtschaft in die Rezession zu rutschen
69 im National Bureau of Econo-
Quelle: CBO
drohte. Elfmal senkte Greenspan 2001 die mic Research in New York ar-
Zinsen, von 6,5 auf schließlich nur noch beitet, hätten die Währungshü-
1,75 Prozent. Die Wirtschaft bewahrte er ter versagt: „Die Fed versäum-
so vor dem Absturz, doch gleichzeitig te, die offensichtlichen Proble-
schaffte er damit die Grundlage für die – 158 – 163 me anzugehen.“
bald wachsende Blase im Immobilienge- – 255 Das Treiben auf dem Immo-
schäft. Haus- und Wohnungsfinanzierun- bilienmarkt wurde derweil im-
gen waren so günstig wie lange nicht, ein US-Bundeshaushalt mer toller. „Dieser Tage verdie-
regelrechter Bauboom quer durch die Defizit/Überschuss, – 413 nen Amerikaner ihren Lebens-
Staaten begann. Schon 2002 zogen die Im- in Milliarden Dollar unterhalt, indem sie sich gegen-
mobilienpreise in wichtigen Märkten wie Schätzung
seitig Häuser verkaufen und mit
Florida, Kalifornien und Neu-England ra- Geld bezahlen, das von China
sant an. geliehen wurde“, wunderte sich
Greenspan, an der Wall Street damals – 70 Princeton-Ökonom Paul Krug-
als „Maestro“ und „Zauberer der Finanz- Quelle: Census man schon im Sommer 2005 in
märkte“ verehrt, senkte weiter die Zinsen. seiner Kolumne in der „New
Von Juni 2003 bis Juni 2004 betrugen die – 380 York Times“.
US-Leitzinsen nur ein Prozent. Es war der US-Handelsbilanz Während sich die Haus- und
niedrigste Stand seit einem halben Jahr- – 497 Wohnungspreise von Arizona
Defizit bei Gütern
hundert. und Dienstleistungen, bis Hawaii seit Ende der neun-
Geld gab es damit praktisch umsonst, in Milliarden Dollar – 710 ziger Jahre mehr als verdoppelt
und das begeisterte nicht nur normale haben, eroberten am unteren
Häuslebauer. Hochspekulative Hedgefonds Rand der US-Gesellschaft ag-
und Private-Equity-Unternehmen, die auf 1993 95 97 99 2001 03 05 2007 gressive Kredithaie den Markt.
24 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ZUMA PRESS / ACTION PRESS (L.); TIM SLOAN / AFP (R.)
US-Eigenheim, Präsident Bush*: „Jeder, der eine Hypothek haben wollte, bekam auch eine“
Jeder, der eine Hypothek haben wollte, ren Hauseigentumsrate waren das Risiko Alles wirkte logisch und klar struktu-
bekam auch eine, selbst die finanziell wert“, schrieb er in seiner Autobiografie, riert. Rating-Agenturen wie Moody’s oder
Schwächsten. Viele Schwarze und Latinos die im vergangenen Herbst erschien. Standard & Poor’s prüften mit aufwendi-
hatten den amerikanischen Traum vom Ei- In dieser Welt war Christopher Ricciardi gen Computerprogrammen die Bonität der
genheim bislang vergebens geträumt. eine der Schlüsselfiguren. Der Karriere- unterschiedlichen Schuldnergruppen und
Doch jetzt gab es ohne Probleme Kredit, banker hatte schon Mitte der neunziger vergaben dann ihre Triple-A oder BB-Ra-
Anzahlung war nicht nötig, das Einkom- Jahre bei Prudential Securities, einem nicht tings.
men durfte frei, und vor allem nachweis- sonderlich prominenten Wall-Street-Haus, Dabei ließen sich die Rating-Firmen
frei, angegeben werden. Niedrige Ein- begonnen, alle Arten von Forderungen, also von den Investmentbanken bezahlen und
stiegszinsen machten das Angebot beson- beispielsweise Immobiliendarlehen, Auto- stützten ihr Urteil auf die Informationen,
ders attraktiv. Dass sich die Sätze später und Konsumentenkredite, Kreditkarten- die ihnen von den Erfindern der Produk-
von sechs auf zwölf Prozent verdoppeln, forderungen oder normale Firmendarlehen, te geliefert wurden. Es war so, als würde
spielte da noch keine Rolle. zusammenzuschnüren und daraus handel- sich der TÜV von Mercedes und VW ent-
Dieses sogenannte Subprime-Geschäft bare Finanzinstrumente zu machen. lohnen lassen, Abgas- und Bremsfunk-
mit Kunden von zweifelhafter Bonität wur- Die Produktionsabläufe waren wie in ei- tionswerte einfach vom Hersteller über-
de in kurzer Zeit zum Milliardenbusiness. ner Fabrik, deren Arbeiter Rohstoffe ein- nehmen und dann seine Plakette aufs
2006 stammten schon 20 Prozent aller kaufen, sie veredeln und dann vom Vertrieb Nummernschild kleben – ein klarer Inter-
Darlehen aus dem riskanten Subprime- an Stammkunden vermarkten lassen. Das essenkonflikt.
Segment, fünf Jahre zuvor waren es nur Ergebnis, ein hochkompliziertes, im Ban- Das Geschäft boomte, selbst wenn vie-
5 Prozent. kerslang „Collateralized Debt Obligation“ len Investoren schon zu Anfang nicht rich-
Große Teile des amerikanischen Immo- (CDO) genanntes Produkt, wurde in Kürze tig klar war, womit sie eigentlich ihr Geld
bilienmarkts waren zur Zeitbombe gewor- zum Hit. Reiche Privatanleger, Hedgefonds verdienten. Sie sahen nur, dass die Rendi-
den. Bereits im Jahr 2000 verlang- und institutionelle Investoren schätzten die te stimmte. Ihre rätselhafte Finanzanlage
te US-Zentralbanker Edward Gramlich, die Verbindung aus scheinbar wertsicheren Im- bekam oft das gleiche Rating wie seriöse
Aufsicht über besonders aggressive Hypo- mobilien und hohen Erträgen. Unternehmensanleihen, brachte aber deut-
thekenbanken zu verschärfen. Im Mai 2004 Und auch die Geschäftsbanken gaben lich höhere Erträge.
warnte er vor massenhaft drohenden ihre Darlehen gern an Ricciardi oder seine Noch 1996 waren CDOs ein Nischen-
Zwangsversteigerungen. „Im Subprime- Wettbewerber ab. Mit deren Hilfe waren markt im Wert von gut fünf Milliarden
Markt herrschten Wildwestmethoden“, sie ihr Kreditrisiko los und konnten sich Dollar. Zehn Jahre später brachten Banken
fasste Gramlich kurz vor seinem Tod im aufs Neugeschäft konzentrieren. Für die CDO-Papiere für 388 Milliarden Dollar auf
vergangenen Herbst die Lage zusammen. Wall Street bedeutete die Idee des smarten den Markt, ein Plus von 7700 Prozent.
Seine Kollegin aus dem Finanzministe- Bankers ein neues Mega-Business. Inner- Ricciardi stieg in die erste Liga des In-
rium, Sheila Bair, versuchte, die Subprime- halb weniger Jahre schwoll der Markt für vestmentbankings auf. Bei Merrill Lynch
Anbieter wenigstens zu einem freiwilligen die als „innovativ“ gefeierten Immobilien- brauchte er ab 2003 nur zwei Jahre, um sei-
Verhaltenskodex zu bewegen – ohne mess- papiere auf über sagenhafte 1,3 Billionen nen Arbeitgeber von Platz 15 an die Spit-
baren Erfolg. „Finanzielle Innovation ist Dollar an. ze der CDO-Hitparade zu katapultieren.
klasse“, sagt die lebenskluge Frau, „aber Um den Wünschen ihrer internationalen 50 Leute arbeiteten ihm allein in der New
man braucht ein paar Grundregeln. Die Investoren entgegenzukommen, teilten die Yorker Zentrale zu. Topinvestoren umheg-
wichtigste lautet: Kreditnehmer sollten Wall-Street-Häuser ihre Hypothekenpro- ten die Merrill-Manager in exklusiven US-
zahlungsfähig sein.“ dukte in unterschiedliche Risikogruppen Ski-Resorts oder im holzvertäfelten Har-
Doch Greenspan wollte von all dem lan- ein. Konservative Versicherungen konnten vard-Club von Manhattan und auch beim
ge nichts wissen. „Die Vorzüge einer höhe- sich für Tranchen mit besonders hoher Bo- Golf im Sleepy-Hollow-Country-Club bei
nität und niedrigerer Rendite entscheiden, New York.
* Bei der Ankündigung des Konjunkturprogramms mit
Hedgefonds durften mit den hochprofita- In den besten Zeiten schlossen sie Deals
Vizepräsident Dick Cheney und Finanzminister Henry blen und -riskanten Tranchen des Sub- in dreistelliger Millionenhöhe fast im Wo-
Paulson am 18. Januar. prime-Geschäfts spekulieren. chenrhythmus ab. Ricciardi bestellte dann
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 25
Titel
S
elbst bei der Konkurrenz genoss Gegenschäfte seien fiktiv gewesen. Da- Marktexperten soll er rund 140 000 so-
Jérôme Kerviel einen guten Ruf. her waren die offenen Positionen viel genannte Dax-Futures gekauft haben.
Der Börsenhändler des franzö- größer als die Zahlen auf dem Radar- Das sind Terminkontrakte, die an der
sischen Bankriesen Société Générale schirm der internen Kontrolleure. deutsch-schweizerischen Börse Eurex
(SocGen) galt „als netter und patenter Doch wie kann es bei einer Großbank gehandelt werden und mit einer bruta-
Typ“, erzählt ein Pariser Banker. „Wir von Weltruf zu einem solchen GAU len Unmittelbarkeit funktionieren. Er-
wollten ihn sogar mal einstellen.“ kommen? Haben die Institute aus dem folg und Misserfolg schlagen täglich in
Kerviel war kein Überflieger, aber Fall Nick Leeson nichts gelernt, der 1995 bar auf den Kontostand durch.
auch kein arroganter Yuppie. Kein auf- die britische Barings Bank mit Fehlspe- Nimmt man an, dass Kerviel bei ei-
geblasener „Golden Boy“, eher „ein in- kulationen ruinierte? nem Dax-Stand von knapp 8000 Punk-
trovertierter Typ, der mit sich selbst Offenbar konnte Kerviel, von der Pa- ten eingestiegen war, so galt für ihn fol-
nicht im Reinen war“, sagt ein Kollege. riser Notenbank als „Computer-Genie“ gende Formel: Für jeden Punkt, den der
„Er kam nicht als Angeber rüber, son- beschrieben, ohne Mitwisser und Mit- Dax über 8000 läge, würde die Börse
dern als ziemlich hübscher Typ à la Tom täter das gesamte interne Netz von Si- dem SocGen-Konto am Ende des Tages
Cruise“, meint ein anderer. Gegenüber cherheitsvorkehrungen glatt zerfetzen. 25 Euro pro Future gutschreiben. Für
den Vorgesetzten sei er ein Kriecher, Dabei half ihm seine Karriere innerhalb jeden Punkt darunter würde sie vom
„zum Händler hatte er eigentlich nicht der drittgrößten Geschäftsbank Frank- Konto 25 Euro abbuchen.
die nötigen Voraussetzungen“. reichs. Denn Kerviel hatte nach seiner Da wird schnell klar: Gerät die Börse
ins Rutschen, ergibt sich für den Spe-
kulanten eine Rechnung des Grauens. Bis
zum 18. Januar verlor der Dax 600 Punk-
te – und Kerviel vermutlich rund zwei
Milliarden Euro, spekulieren Insider.
Zu diesem Zeitpunkt könnten das
Riesenloch und die Überschreitung von
Handelslimits der deutschen Niederlas-
sung des Finanzdienstleisters Newedge
aufgefallen sein. Die Firma wickelt für
die SocGen die Eurex-Geschäfte ab. Je-
denfalls erhielten die Chefs der SocGen
MEIGNEUX / SIPA PRESS
26 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Fed-Chef Bernanke vor dem Haushaltskomitee des US-Senats am 18. Januar 2007: Geld gab es praktisch umsonst
zur Feier gern vom Chinesen Schweine- Zahllose Amerikaner hatten sich ver- als Erstes die Subprime-Industrie. Im April
fleisch süß-sauer fürs ganze Team in die spekuliert. Im Vertrauen auf andauernde ging einer von Amerikas größten Anbie-
Merrill-Büros im Finanzdistrikt von Wertsteigerungen nahmen sie immer neue tern, Century Financial, pleite, Dutzende
Manhattan mit Blick auf den New Yorker Kredite auf ihre Eigenheime auf, das Geld Konkurrenten ereilte das gleiche Schicksal.
Hafen. „Mit solchen Deals wird man floss oft direkt in den Konsum und hielt Dann merkten Großanleger weltweit,
berühmt“, feuerte Ricciardi noch im ver- so US-Wirtschaft und Weltkonjunktur in dass sie nicht in abstrakte Finanzprodukte
gangenen Frühjahr amerikanische Finanz- Schwung. investiert hatten, sondern tausendfach in
manager an. Mit dem Wertverlust ihrer Häuser platz- ganz gewöhnliche Hypothekenverträge von
Die zweifelhaften Geschäfte wären wohl te ihr amerikanischer Traum. Bei der Re- nun zahlungsunfähigen Schuldnern. Mitte
noch eine Weile lang gut gelaufen, wenn finanzierung ihrer Hypotheken schossen Juli krachten deshalb zwei große New Yor-
nicht die amerikanische Immobilien- die Zinsen und Monatsraten in die Höhe. ker Hedgefonds zusammen, zwei Wochen
Blase plötzlich geplatzt wäre. Befeuert Besonders hart betroffen waren die oh- später rutschte die brave Düsseldorfer In-
durch die Niedrigzinspolitik der Noten- nehin finanzschwachen Kunden im Sub- dustriebank IKB in die Beinahe-Pleite,
bank hatten die Investoren quer durch die prime-Segment. Kredithaie hatten sie mit kurz darauf folgten deutsche Landesban-
meisten Bundesstaaten gebaut. Das Über- niedrigen Eingangszinsen gelockt, Häuser ken und Finanzriesen wie BNP Paribas
angebot war riesig, viele Häuser und Woh- zu kaufen. Nun sollten sie auf einmal oder die Bank of China mit Schreckens-
nungen standen leer. Ende 2005 began- Wucherwerte von zwölf Prozent auf ihre meldungen.
nen die Preise zu fallen. Ein gutes Jahr Darlehen zahlen. Die Zahl der Zwangs- Und schließlich traf es auch jene, die
später war klar, dass der gesamte ameri- versteigerungen explodierte. den ganzen Kreislauf erfunden und in Be-
kanische Immobilienmarkt schrumpfen Das gewaltige Kartenhaus fiel in sich zu- wegung gehalten hatten – die renommier-
würde. sammen. Nach den Häuslebauern traf es ten Investmentbanken der Wall Street.
Eine nach der anderen entdeckte gewal-
5,40 tige Löcher in den Bilanzen. Bis heute
werden die Abschreibungen laufend nach
oben korrigiert. Insgesamt dürften sie sich
5,00
Leitzinsen USA nach jüngsten Schätzungen auf bis zu 400
in Prozent Milliarden Dollar addieren.
Und die Krise wird sich noch auswei-
4,60
ten, denn die Wall-Street-Manager hatten
es geschafft, einen guten Teil ihres CDO-
4,20
Geschäfts nach Übersee zu verkaufen –
Quelle:
Thomson Financial
etwa ein Viertel davon, so schätzen Ex-
Datastream perten, nach Europa.
HRVOJE POLAN / AFP
28 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ges Geschäftsmodell war ihnen trotz ihrer
hohen Gehälter nicht eingefallen. Deshalb
gingen sie voll ins Risiko.
Das Resultat war ernüchternd. Die
LBBW muss eine Abschreibung von 1,7
Milliarden Euro verkraften, kann aber im-
merhin noch einen Jahresgewinn von über
300 Millionen Euro ausweisen. Und die
BayernLB zögert bislang noch, die neuen
Zahlen bekanntzugeben. In der Branche
wird damit gerechnet, dass sie 1,9 Milliar-
den Euro vernichtet haben dürfte. Die Zahl
setzt sich zusammen aus direkten Verlusten
und Rücklagen für Neubewertungen.
Bei der angeschlagenen WestLB haben
die Eigner bereits eine Kapitalspritze von
zwei Milliarden Euro ausgehandelt. Am
vergangenen Freitag erhöhte sich der not-
wendige Betrag auf bis zu vier Milliarden.
Die Rating-Agenturen drohen, die Bonität
der Bank massiv herabzustufen. Dadurch
wäre es für die WestLB deutlich teurer,
sich Kredite zu beschaffen. Sie hätte kaum
noch eine Überlebenschance.
Doch die beiden nordrhein-westfälischen
Sparkassenverbände, die jeweils 25,2 Pro-
zent der Anteile halten, weigerten sich,
noch mehr Geld lockerzumachen. Ihre
Kapitaldecke sei dafür zu dünn. Nordrhein-
Westfalen wiederum, mit knapp 40 Prozent
SINOPIX / LAIF
Textilarbeiterinnen (in China): Dass Asien das globale Wachstum quasi im Alleingang antreiben könnte, halten Experten für pure Phantasie
greifbare Nähe rücken. Doch auch dann zeit, und erst am Ende zeigt sich, ob die schon eine „neue Weltwirtschaftskrise“
hätte die S-Finanzgruppe ein Problem: Sie Bank einen Gewinn erzielt. Der Bonus heraufziehen, andere prognostizieren le-
hat sich nämlich verpflichtet, ihre Mit- aber wird im Jahr des Geschäftsabschlusses diglich eine kleine Konjunkturdelle. Dass
gliedsinstitute zu retten und ihren Fortbe- fällig. Und so kommt es immer wieder vor, sich das weltweite Wachstum aber ver-
stand zu sichern. Wozu aber braucht die dass Banker für Geschäfte belohnt wer- langsamen wird, darüber sind sich alle ei-
Republik einen Sparkassenverbund, wenn den, die sich einige Jahre später als De- nig. Eine „deutliche Abschwächung“ in
der den gegenseitigen Schutz innerhalb der saster herausstellen. diesem Jahr erwartet etwa der Internatio-
Bankenfamilie nicht mehr leisten kann? Die Folgen der Krise werden über den nale Währungsfonds – und sieht sich an-
Das gesamte öffentlich-rechtliche Ban- ganzen Erdball zu spüren sein. Jahrelang gesichts der unklaren Lage derzeit noch
kensystem steht damit auf der Kippe. „Wir standen die US-amerikanischen Verbrau- außerstande, eine genaue Wachstumspro-
erleben eine extrem heikle Gratwande- cher im Zentrum des weltweiten Wirt- gnose abzugeben.
rung“, sagt ein hoher Regierungsbeamter schaftswachstums. Gestützt auf die schein- Zu offenkundig ist inzwischen, dass die
in Berlin, „und wenn sich nicht alle Betei- bar unaufhaltsam steigenden Preise ihrer Malaise auf dem amerikanischen Immobi-
ligten vernünftig verhalten, wird sie im Ab- Häuser und Grundstücke, nahmen sie im- lienmarkt längst die reale Wirtschaft an-
sturz enden.“ mer neue Kredite auf und trieben damit gesteckt hat. Um die Hypotheken für ihre
Ob private oder öffentlich-rechtliche jenes Konsumwunder an, von dem chine- viel zu teuer gekauften Häuser abzahlen zu
Banken: Sie alle haben sich vom ver- sische Textilhersteller in den vergangenen können, müssen die US-Bürger radikal
meintlich sicheren Geschäft mit dem Jahren genauso profitierten wie die euro- sparen. Und die Banken, die auf Hunder-
schnellen Geld verleiten lassen. Dabei lernt päische Automobilindustrie. Im Gefolge ten Milliarden fauler US-Kredite sitzen,
jeder Banklehrling, dass hohe Renditen nur wuchs die globale Ökonomie mit Jahres- können ihr Geld nur noch an zuverlässigs-
mit hohen Risiken zu erwirtschaften sind. raten von fünf Prozent und mehr, es te Schuldner verleihen, falls sie nicht sogar
Seit sich auch die klassischen Geldinstitu- begann eine der stärksten Aufschwung- selbst in Schieflage geraten. So überträgt
te am angelsächsischen Investmentbanking perioden der Geschichte. sich die Krise derzeit wie ein Grippevirus
orientieren, haben sich nicht nur die Rendi- Damit ist es nun vorbei. Was als Flaute von einem Sektor der Finanzindustrie auf
ten erhöht, sondern auch die Gehälter der auf dem US-Immobilienmarkt begann und den nächsten. Am Ende könnte sie sich zu
Banker. Denn die orientierten sich zuneh- sich jüngst zu einer globalen Banken- und einer globalen Kreditklemme ausweiten,
mend am Geschäftsabschluss. Das ist in kaum Finanzkrise auswuchs, wird die Weltwirt- die das Wachstum in nahezu allen Welt-
einer Branche so fatal wie im Bankgewerbe. schaft stärker verändern als die meisten regionen drosseln würde.
Das Gehaltssystem der Banker hat dazu Crashs der vergangenen 25 Jahre. Eine Sicher, es gibt auch Gegenbewegungen:
geführt, dass es sich lohnte, besonders neue Ordnung der Weltwirtschaft zeichnet Die asiatischen Neulinge von Indien bis
große Risiken einzugehen. Sie erhalten sich ab, die Macht und Wohlstand auf dem China sowie die ölexportierenden Länder
vielfach nur ein vergleichsweise geringes Planeten neu verteilt, die internationale haben milliardenschwere Devisenreserven
Grundgehalt, aber oft das Fünf- bis Zehn- Banken- und Finanzszene tiefgreifend um- angehäuft und sind heute weit weniger
fache davon als Bonus. Wer viel Geschäft gestaltet und die Hoffnungen auf einen an- vom Wohlergehen der US-Wirtschaft ab-
akquiriert, erhält in der Regel hohe Boni. haltenden Boom in Frage stellen wird. hängig als früher.
Doch Bankgeschäfte wie beispielsweise Noch rätseln die Experten, wie tief der Doch dass die asiatischen Schwellenlän-
Kredite haben oft eine mehrjährige Lauf- Einbruch geht. Manche Ökonomen sehen der das globale Wachstum quasi im Allein-
30 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ULRICH BAUMGARTEN / VARIO IMAGES
Autoverladung (im Emdener Hafen): Der deutsche Export wird einbrechen – die Frage ist nur, wie stark?
gang antreiben könnten, halten Experten Die Zeichen sind eindeutig, aber nicht Wachstumseinbruchs für Stabilisierung
für „pure Phantasie“. Mit einem Anteil von alle möchten sie sehen. Die Große Koali- und Stimulierung der Binnennachfrage
25 Prozent am Welt-Sozialprodukt sei die tion etwa hat beschlossen, an ihrem rosigen machen ließe.
amerikanische Wirtschaft noch immer Konjunkturausblick festzuhalten, schließ- Glos muss nicht lange gebeten werden.
der „große Gorilla“, so US-Finanzstaats- lich fällt das Regieren erheblich leichter, Längst hat er ein Maßnahmenpaket in Auf-
sekretär David McCormick. Die Bewegun- wenn sich in regelmäßigen Abständen Po- trag gegeben. „Für die Schublade“, wie er
gen dieses Riesen sind weltweit zu spüren. sitives vom Arbeitsmarkt verkünden lässt sagt. Was sich davon bereits abzeichnet,
Schwächelt der Goliath, gehen auch die und genug Geld in die Kassen strömt, um läuft auf ein Konjunkturprogramm hinaus.
vielen Zwerge ringsum in die Knie. Wohltaten unter das Wahlvolk zu verteilen. Danach soll die staatliche Förderbank KfW
In welchem Tempo die Finanzkrise der- Und so beschrieb Wirtschaftsminister zusätzliche Maßnahmen beim „energeti-
zeit auf die reale Wirtschaft übergreift, zei- Michael Glos (CSU) vergangene Woche die schen Gebäudesanierungsprogramm“ und
gen jüngste Einschätzungen amerikani- Konjunkturlage mit Vokabeln, die in eini- bei den gerade auf den Weg gebrachten
scher Konjunkturexperten. Danach hat die gem Widerspruch zu den Nachrichten von Klimaschutzvorhaben finanzieren.
US-Rezession bereits begonnen. den internationalen Finanzmärkten stan- Außerdem sollen Investitionen in der
Auch in Deutschland sind erste Schleif- den. Von „robuster Verfassung“ und „gu- Verkehrsinfrastruktur vorgezogen werden.
spuren zu sehen. Nach einer Umfrage der ter Konstitution“ sprach Glos bei der Prä- Dabei bekommt der Straßenbau den Vor-
Bundesbank pflanzt sich die Finanzkrise sentation seines Jahreswirtschaftsberichts zug vor der Bahn. Der Grund: Asphalt und
derzeit nach geradezu klassischem Muster und fügte den Hinweis an, dass es „keinen Beton lassen sich erfahrungsgemäß schnel-
auf den Unternehmenssektor fort. So sei es Grund zur Panik“ gebe. ler verlegen als Schienen.
im Schlussquartal 2007 im Firmenkunden- In Wirklichkeit sehen die Konjunktur- Und damit auch die Bürger die Kon-
geschäft zu einem „restriktiveren Kreditan- experten der Bundesregierung die Lage junktur ankurbeln können, wollen Glos’
gebotsverhalten der befragten Banken“ ge- längst nicht mehr so rosig. „Das Szenario Beamte ihre Lieblingsidee eines Steuerra-
kommen, nachdem „in den Jahren zuvor stinkt“, sagt einer. Jeden Tag gebe es neue batts ins Programm nehmen. So sollen in-
tendenziell Lockerungen zu beobachten ge- Nachrichten, „und keine davon ist gut“. flationsbedingt zu viel eingezogene Steu-
wesen waren“, so die Studie. Im Klartext: Zudem habe der weltweite Aufschwung ern durch niedrigere Tarife an Bürger und
Die Banken stellen den Unternehmen we- schon ein erhebliches Reifestadium er- Unternehmen zurückgegeben werden. Zu-
niger Geld zur Verfügung, und die Wachs- reicht, er befinde sich im sechsten Jahr. gleich schlagen die Ministerialen vor, den
tumsaussichten trüben sich weiter ein. Alles deute deshalb auf Abschwung hin. Kündigungsschutz zu lockern und die Zeit-
Entsprechend schwarz malt etwa Mi- Auch in den Koalitionsfraktionen macht arbeit weiter zu liberalisieren. Das soll die
chael Burda von der Berliner Humboldt- sich Sorge breit. Die Koalitionsrunde Investitionsbedingungen verbessern und
Universität das Konjunkturbild. In Wirtschaft, ein Gremium von Wirtschafts- so die Binnennachfrage stützen.
Deutschland und Europa sei mit einer experten beider Regierungsfraktionen, Dass die Regierung ihren oft beschwo-
„kräftigen Delle“ zu rechnen, sagt der vergab auf ihrer letzten Sitzung am renen Dreiklang aus „Sanieren, Investieren
Volkswirt. Bekommen die Notenbanken vergangenen Montag einen Auftrag an und Reformieren“ womöglich schon bald
die Misere nicht bald in den Griff, sieht den Vertreter des Wirtschaftsministeriums. durch den einstimmigen Ruf nach mehr
der Ökonom gar „das Potential für eine Die Fachleute von Minister Glos sollten Ausgaben ersetzt, ist nur eine der Crash-
Weltwirtschaftskrise“. doch prüfen, was sich im Falle eines Folgen – und vermutlich nicht einmal die
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 31
Etwas ist grundsätzlich schiefgelaufen
im schuldenfinanzierten Wirtschaftsboom
der vergangenen Jahre, das haben die
Ökonomen inzwischen gelernt. Erstens: Es
kann hochgefährlich sein, wenn die No-
tenbanken jede Börsenkorrektur mit einer
Welle frischen Geldes kontern. Zweitens:
Der Crash ist programmiert, wenn Risiken
im Finanzsektor allzu leichtsinnig behan-
delt werden. Was daraus folgt, liegt auf der
Hand. Die Finanzindustrie muss sich vom
gefährlichen Hype ständig neuer Finanz-
produkte verabschieden und wieder zu
den soliden Regeln des klassischen Bank-
geschäfts zurückfinden. Doch wie soll das
gehen, in einer globalisierten Finanzwelt –
mit nationalen Aufsichtsbehörden?
Nur knappes Geld ist auf die Dauer
SPD-Politiker Struck
SPD
P
eter Struck gehört zu jenen Politi- will mehr davon. Also sagt Peter Struck: tag 65 Jahre alt geworden. Er wird immer
kern, die im Lauf der Jahre ihren „Die CDU hat mich aufgefordert, mich zu lauter. Es ist der Schrei desjenigen, der kei-
Karikaturen immer ähnlicher sehen. entschuldigen. Ich hab gesagt, die kann ne Rücksichten mehr nimmt. „Wissen Sie“,
Dieser Schädel mit seinem tonsurartigen mich mal, und dabei bleibe ich!“ sagt er bei einem Glas Bier, „ich bin in ei-
Haarkranz, der dem Kopf die Silhouette „Die kann mich mal.“ Das ist neben der ner Phase, in der ich aus meinem Herzen
eines Frühstückseis gibt. Die langsamen Verteidigung Deutschlands „auch am Hin- keine Mördergrube mehr machen muss.
Bewegungen, der coole Blick, das immer dukusch“ der zweite Satz, der von Peter Und das fühlt sich sehr gut an.“
etwas abwesende mechanische Kopf- Struck wohl bleiben wird. In dem Fall In Strucks Kopf streiten Verstand und
nicken, wenn jemand auf ihn einquatscht, nicht als Fachminister gesagt, sondern Leidenschaft. Ein Streit, in dem es um die
die Freude am abrupten Lachen, bei dem als Fraktionsvorsitzender in einer Großen Kunst des Abgangs geht. Er kann nicht
sich die Augen zu Schlitzen verengen, der Koalition und damit als Schlüsselfigur die- lassen und redet zugleich oft rührend
Schnurrbart. ses zwar großen und doch so fragilen Ge- sehnsüchtig von seinen Enkeln, von denen
Er grüßt nicht groß, als er im Festsaal bildes. Dieser Satz ist auf den ersten Blick es immer mehr gibt. Struck sucht nach
des Gasthauses Saalburg bei Bad Homburg nur plump, aber auf den zweiten perfide. Antworten und hört nur Stille. Und viel-
auf den bewaldeten Höhen des alten Rö- „Die kann mich mal“ heißt im Original: leicht hört er es manchmal flüstern, dass er
merkastells die Bühne betritt. Er leiert Die CDU kann mich mal. Aber jeder weiß, einen guten Abgang schon verpasst habe,
nicht lange den Honoratiorensermon her- er meint auch: Die Merkel kann mich mal. dass er nicht mehr in der Verfassung sei,
unter inklusive des obligatorischen Danks Es geht auf die Kanzlerin. Deshalb wirkt ein so wichtiges Amt zu bekleiden. Viel-
an die örtliche Feuerwehr. Peter Struck dieser Satz so, deshalb tragen SPD-An- leicht krakeelt er deshalb manchmal so.
geht ans Mikrofon, erhebt die Stimme, die hänger ihn im Gasthaus Saalburg als But- Um das Flüstern nicht hören zu müssen.
einige Zentner Pfeifentabak im Lauf seines ton am Revers. Peter Struck war ein Rot-Grüner, zu-
Lebens tief eingefärbt haben, schimpft auf Was geht vor in diesem Kopf, diesem sammen mit diesen ganzen Männern wie
Roland Koch und sagt: „Aber die Merkel markanten Sturschädel? Manche Politiker Schröder, Fischer, Schily. Die sind alle weg.
muss auch weg im nächsten Jahr, meine werden ruhiger und leiser, wenn sie älter Zuletzt auch noch Franz Müntefering. Mit
Damen und Herren!“ Der Saal tobt und werden. Struck ist vergangenen Donners- dem hatte er einen gemeinsamen Abgang
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Deutschland
geplant, Zielmarke 2009. Aber Müntefering diesen Schwarzen da in Berlin zu regie- Peter, lies das lieber nicht. Meistens hat er
ist zu seiner Frau gegangen. Und Struck ren, das kann ich euch sagen!“ es doch getan.
bleibt übrig. Es geht ihm ein wenig wie dem Diese Schwarzen stehen jetzt vor der Vor fast 28 Jahren ist er in den Bundes-
Mammut in „Ice Age 2“, das einen Artge- Bühne im Reichstag und machen eine tag gekommen, wollte wie so viele zwei
nossen sucht und das auch sein Freund, das möglichst angemessene Miene zu diesem Legislaturen bleiben und dann wieder ge-
freche Faultier Sid, in seiner Einsamkeit Spiel. Struck fragt Kauder, ob er eine Rede hen. Struck aber blieb. Er machte seine
nicht mehr trösten kann. „Wenn du ausge- halten will. Der will nicht. Was er Struck zu Gesellenprüfung als Vertreter der SPD
storben bist und dich niemand mehr ver- sagen hat, sagt er ihm am Telefon. Muss im Flick-Untersuchungsausschuss, wurde
misst ...“, singt es hinter dem Mammut her. das sein?, fragt Kauder ihn nach solchen Haushälter und Parlamentarischer Ge-
Struck versucht sich zu arrangieren mit Vorfällen immer wieder. Ja, das muss sein, schäftsführer, Fraktionschef, Verteidigungs-
der Großen Koalition. Er hat tapfer eine antwortet Struck jedes Mal. minister, erst wider Willen und dann vol-
Männerfreundschaft mit seinem Frak- Seine Versöhnungstreffen mit Angela ler Leidenschaft, schließlich wieder Frak-
tionskollegen Volker Kauder von der CDU Merkel gehen, Bier hin, Wein her, ergeb- tionsvorsitzender.
inszeniert. Aber es ist nicht mehr seine nislos aus. „Sie wirft mir vor, ich würde die Das Reinkommen in diese Welt ist nicht
Welt, durch die er sich da poltert. Struck gute Arbeit der Regierung konterkarie- die Kunst, das Drinbleiben und Hoch-
pflegt seinen zunehmenden Starrsinn, wie ren“, sagt Struck hinterher. „Ich versuch- kommen ist schon schwerer. Aber nichts
er sich in dieser Lebensphase oft einstellt, te ihr klarzumachen, dass die SPD eine ist in der Politik so schwer wie die Kunst
findet, dass früher alles besser war, auch streitlustige Partei ist und meine Fraktion des gelungenen Abschieds. Wie am Reck.
wenn ihn bei Wehner und Brandt und nicht so stromlinienförmig ist wie ihre.“ Man turnt und turnt, und noch einen Rie-
Unionspolitiker Kauder und Merkel, Verteidigungsminister Struck*: „Aber die Merkel muss auch weg im nächsten Jahr“
Schmidt genervt hat, dass die ihm das Und dann heuchelt er Verständnis für die sen und noch eine Schraube, aber dann
auch schon gesagt haben, als er jung war. Führungsschwäche, die er ihr unterstellt: muss man den Abgang stehen. Sonst ist al-
Seine Urteile über andere werden immer „Ich kann sie teilweise ja verstehen. Als les nichts. Müntefering hat vorgemacht,
schroffer, schnell belegt mit Begriffen, die Frau hat sie es nicht einfach, sich gegen wie man diesen Abgang sauber steht. Und
sonst Körperöffnungen vorbehalten sind. die Männerriege der Unionsministerpräsi- Struck? Er dreht und dreht, womöglich
Doch diese Urteile untermauert er nicht denten durchzusetzen.“ Das ist Strucks überdreht er. Er ist dabei, den richtigen
mit einer entschiedenen Politik. Der spä- Kunst des erniedrigenden Einfühlens. Ausstieg zu verpassen. Vielleicht hat er
te Struck attackiert und umarmt in rascher So brüllt das Mammut kunstvoll immer ihn schon verpasst. Zwei Herzinfarkte,
Folge. weiter und behauptet doch, von stillen Ta- eine Operation an der Halsschlagader,
So war es beim Neujahrsempfang der gen zu träumen. Irgendwann aussteigen schließlich vor dreieinhalb Jahren ein
SPD-Bundestagsfraktion, Strucks Fest. Er und mit einem Motorrad monatelang Schlaganfall.
geht wieder ans Mikrofon. Aber es redet durch die Staaten fahren wolle er. Es wird Struck kam wieder, nach neun Wochen,
ein anderer Mann als Tags zuvor in Hes- nicht passieren. Die Wahrheit ist: Hinter er regenerierte sich erstaunlich, aber der,
sen. Struck sagt, er „freue sich immer wie- dem hoch elektrisierten und zugleich de- der da wiederkam, war nicht mehr der
der, wenn wir die Kolleginnen und Kolle- generierten Leben eines Spitzenpolitikers gleiche Struck. Das merkten alle, aber das
gen von der Union zu Gast haben“. Ganz gähnt ein Loch, vor dem sie alle Angst ha- sagte keiner. Wie sollte er auch der Glei-
vorn an der Bühne stehen Volker Kauder ben. Auch Peter Struck. Er lebt nur ein che sein nach einer solchen Krankheit.
und Peter Ramsauer, Landesgruppenchef Leben, und das spielt in dieser Welt. Er Seither spielen alle mit bei einem merk-
der CSU. Volker Kauder hat die Hände giert nach Zeitungen, auch wenn er heute würdigen und manchmal unwürdigen
vor dem Unterleib, mehr verschraubt als behauptet, es sei ihm egal, was über ihn ge- Spiel. Und Struck bestreitet sein politi-
verschränkt. Er weiß, dass Struck heuchelt, schrieben werde. Früher haben seine Leu- sches Dasein wie ein Altboxer, der den
dass er keine 30 Stunden vorher in Bad te bei kritischen Stücken zu ihm gesagt: Jungen an Kraft längst nicht mehr eben-
Homburg unter dem Jubel des Saals ge- bürtig ist. Er spielt seine Erfahrung aus
sagt hat: „Es ist schon ein hartes Brot, mit * Beim Hoffest der SPD-Bundestagsfraktion (2003). und setzt darauf, mit minimalem Aufwand
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 35
Deutschland
Andere Bedenken am Kandidaten Drei- Veto des Schwaben. Als das nicht kam, ging
V E R FA S S U N G S G E R I C H T
er haben die Christdemokraten. Sie sto- man in Berlin und Bremen offenbar davon
M
it dem Namen Horst Dreier wuss- bergische Regierungssprecher nun kryp- mierte – davor hatte es nur informelle
te bis vor wenigen Tagen außer- tisch mit. Gespräche gegeben.
halb von Expertenzirkeln kaum Dabei schien bereits vor zwei Wochen „Frühestens“ Ende dieser Woche, heißt
jemand etwas anzufangen. alles klar, die Zustimmung der Union galt es jetzt in der Union, könne man die Mei-
Das hat sich schlagartig ge- nungsbildung abschließen. Sollten
ändert, seit bekannt wurde, dass die Christdemokraten doch noch
die SPD den Würzburger Jura- ein Veto gegen den SPD-Vorschlag
professor als Nachfolger des schei- einlegen, wäre die für den 15. Fe-
denden Vizepräsidenten Winfried bruar vorgesehene Wahl Dreiers
Hassemer ans Bundesverfassungs- im Bundesrat geplatzt.
gericht schicken und damit ab Auch wenn die Personalie jetzt
2010 zu dessen Präsidenten ma- kritisch gesehen wird, besteht
chen will. offenbar keine „Atmosphäre
Denn der Rechtsphilosoph eindeutiger Ablehnung“, heißt es
und Staatsrechtslehrer Dreier, in Unionskreisen. Zwar haben
seit den siebziger Jahren SPD- manche CDU-Ministerpräsiden-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 41
Deutschland
D
ie Luft war klar, die Sicht war gut, und gut 13 Meter breit. Bei einem Aus- Werften versprochen, ist das rund 300 Mil-
da gab der Kommandant des weichmanöver knallte sie mit dem Heck in lionen Euro teure Schiff auch nicht.
Schnellboots „Frettchen“ den Be- die steinerne Böschung des Nord-Ostsee- Ein Bugstrahlruder, mit dem sich ein
fehl für ein schneidiges Manöver. In voller Kanals. Ein Antriebspropeller war Schrott. Schiff quer zur Fahrtrichtung verschieben
Fahrt ließ er am Heck einer Fregatte vor- Damit ging ein miserables Jahr der lässt, gehört bei Kreuzfahrtdampfern und
beikreuzen. Gejohle an Bord, dann der Deutschen Marine zu Ende. Angefangen Frachtern zur Standardausrüstung. Es hät-
Ausruf: „Pass auf!“ hatte es im Februar, als der Minensucher te der „Braunschweig“ die Havarie im Ka-
Zu spät. Leider hatte die Besatzung ein „Grömitz“ vor der norwegischen Küste auf nal wahrscheinlich erspart. Aus Kosten-
weiteres Boot der Deutschen Marine über- einen Felsen lief. Ein „Navigationsfehler“ gründen hatte das Wehrressort allerdings
sehen und rauschte hinein. Die Reparatur im Schneetreiben war die Ursache dafür, darauf verzichtet.
kostet Millionen. Der Kommandant wurde dass das Boot in der Nähe der Stadt Ber- Nun soll das Bugstrahlruder nachgerüs-
abgelöst. gen mehrere Tage auf dem Trockenen lag: tet werden, allerdings zu Lasten der Werft.
Das Video von dem Unfall, der sich Ende „Grömitz on the Rocks“ lautete dazu der Dafür akzeptiert die Marineführung, dass
April vor der libanesischen Küste ereigne- Soldatenspott. die Korvetten die vorgesehene Spitzenge-
te, macht gerade Karriere bei YouTube Kaum war der nächste Ärger über den schwindigkeit von gut 26 Knoten (48 km/h)
(„German Navy Boats crashing“). Mehr als Rammstoß vom „Frettchen“ im Mittelmeer nicht erreichen.
42 000 Betrachter haben sich bereits ein Ende April verebbt, krachte es im Ärmel- Auch eine andere Konsequenz hat die
paar Sekunden Schadenfreude gegönnt. kanal: Am 2. Mai verpasste sich die Fre- Marine aus der Malaise gezogen. Sie be-
Inzwischen könnte die Deutsche Ma- gatte „Lübeck“ einen Schuss in den Bug. grub die Pläne, insgesamt 15 Exemplare
rine eine kleine Serie mit ihren Miss- Ein 76-Millimeter-Geschoss donnerte ne- dieses Baumusters zu beschaffen. Anstelle
geschicken bestreiten. Langsam stellt sich ben dem Ankerspill ins Vorschiff, als Sol- der „Braunschweig“-Klasse verlangt Vize-
die Frage, was eigentlich mit den deut- daten eine Ladehemmung der Bordkanone admiral Nolting nun „Korvetten eines
schen Seelords los ist. „Völlig blaue beseitigen wollten. neuen Typs“.
Jungs?“, höhnte schon die Rostocker „Ost- Schon im August wummerte es abermals Vielleicht wäre ihm auch mit Seeleuten
see-Zeitung“, die sonst freundlich mit der – nun an der Kieler Förde. Beim Einbau eines neuen Typs geholfen.
Marine umgeht. eines „Leichtgeschützes“ auf dem Minen- Alexander Szandar
42 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 45
A F FÄ R E N
Getäuscht und
reingelegt
Zwei Unternehmer verklagen das
Land Nordrhein-Westfalen auf über
13 Millionen Euro Schadensersatz –
verantwortlich ist die Subven-
tionspolitik aus rot-grünen Zeiten.
E
s war ein ziemlich dickes Paket, das
der Bote am vergangenen Mittwoch
Zittern im Schleckerland
„entwickelten Beamte kreative und abso-
lut rechtswidrige Fördermöglichkeiten.“
So habe das Land zum Beispiel das Film-
projekt „Librium“ mit 2,7 Millionen Mark
subventioniert, obwohl kaum ein Bild da- Bei den geplanten Streiks im Einzelhandel geht es nicht nur um
von in der Oberhausener Traumfabrik be-
arbeitet worden sein soll – was laut Klage Löhne. Um das Personal besser vor Überfällen zu schützen,
„schon zum Zeitpunkt der Auszahlung fordert Ver.di in den Läden eine Mindestanzahl von Verkäufern.
feststand“.
D
Als die Breuer-Brüder nach einer Wei- er Räuber war ausnehmend höflich. würde; und mal sind die Geräte bloße At-
le um die Rückgabe ihrer 1,4-Millionen- „Geben Sie mir bitte das Geld“, trappen.
Mark-Sicherheit baten, wurde ihnen die sagte der Mann ruhig und richtete Zudem ist es gerade in kleineren Filialen
Übernahme des kompletten Trickfilmzen- eine Pistole auf die Verkäuferin des üblich, dass eine einzelne Angestellte – bei
trums angeboten. Die Offerte aus der Schlecker-Marktes im Münchner Süden. Schlecker arbeiten fast ausnahmslos Frauen
Staatskanzlei habe Versprechungen ent- Noch im Flüchten entschuldigte er sich – stundenlang allein die Stellung hält. Das
halten, so die Kläger, „die ein profitables dafür, dass er neben den 200 Euro aus der Drogerie-Imperium des gelernten Metzgers
Geschäft suggerierten“. Anscheinend Kasse auch noch ein Stück Seife mitgehen Anton Schlecker, 63, gilt unter Polizisten
glaubten die Unternehmer, dass Clements ließ. Drei Filialen der Drogeriekette nahm denn auch vielerorts als das meistüber-
großzügiges Patronat fortbestehen werde. der Mann im vergangenen Herbst aus, fallene Einzelhandelsunternehmen. Erst am
„Uns wurden Fördergelder in Millionen-
höhe versprochen“, behauptet Helmut
Breuer heute.
Schon kurz nach der HDO-Übernahme
im April 2001 sah sich Breuer indes mit
der harten Realität konfrontiert: Die Ener-
gieversorgung Oberhausen drohte den
Strom abzusperren – wegen offener Rech-
nungen in Höhe von 100 000 Mark. Wenig
später verlangte die Stadt über 700 000
Mark für von diversen Voreigentümern
nicht bezahlte Grund- und Gewerbesteu-
ern. Und das war erst der Anfang.
Clement und seine Beamten sollen laut
Klägern immer wieder zugesichert haben,
den Schaden auf anderem Wege zu er-
statten. In einem handschriftlichen Ver-
merk notierte Clements Büroleiter etwa:
„4,5 Millionen Mark für ein Projekt im
Rahmen der Ruhrgebietsförderung“.
Doch weil über Jahre nichts geschah,
beauftragte Breuer Mitte 2006 die Wirt-
schaftsrechtlerin Wenk. Monatelang muss-
MEIßNER / ULLSTEIN BILD
diffusen Schuldgefühlen, ob
sie womöglich etwas falsch
gemacht haben.
Joachim Schottmann kennt
solche Fälle aus seiner tägli-
chen Arbeit. Der Psychothe-
Überfallene Schlecker-Filiale (in Hamburg): Wie Trainingseinrichtungen für kriminelle Anfänger rapeut arbeitet beim Kölner
Dienstleister HumanProtect,
nehmen zu umsatzschwachen Tageszeiten Angestellten besetzt“, beteuert das Unter- der jährlich Hunderte Opfer direkt nach
ihr Personal aus. Ob bei Penny, Plus, Nor- nehmen. Merkwürdig ist allerdings, dass Überfällen betreut. Bei einem Teil der Be-
ma oder Aldi: Besonders in den letzten es die Ver.di-Pläne ausgerechnet mit der troffenen, berichtet Schottmann, klingen
Stunden vor Ladenschluss, wenn die Kas- Begründung ablehnt, bei verpflichtender die Symptome auch nach Wochen nicht ab
sen voll sind und die Straßen leer, werde Doppelbesetzung „wäre ein rentabler – oder werden durch nichtige Anlässe wie-
immer öfter ein einzelner Mitarbeiter al- Geschäftsbetrieb für Schlecker nicht mehr dererweckt. Zurück im Laden, gerate man-
lein gelassen. möglich“. che Verkäuferin schon in Angst, wenn ein
Schlecker gilt hier als Vorreiter. Allein- Auch die Arbeitgeberverbände des Ein- Kunde nur etwas zu lange in der Jacken-
besetzungen gehören beim angeblich zelhandels verwahren sich gegen die tasche nestelt.
„preisberühmten“ Discounter schon lan- Gewerkschaftsforderung. „Mindestbeset- Selbst für einen Betrieb, der seine
ge zum Geschäftskonzept. Anders könnte zungsregeln sind Eingriffe in unternehme- Mitarbeiter hauptsächlich als Kosten-
er kaum seine bundesweit rund 10 600 Fi- rische Entscheidungen, die wir grund- faktor betrachtet, könnte es sich lohnen,
lialen mit gerade mal 40 000 Mitarbeitern sätzlich ablehnen“, sagt Peter Schröder, sie besser vor Raubzügen zu schützen.
betreiben, von denen nicht mal die Hälfte Referent für Sozial- und Tarifpolitik beim Denn mitunter, berichtet Schottmann, sei
Vollzeit arbeitet. Drei oder vier Frauen pro Handelsverband BAG. Zuständig für alle eine langwierige Psychotherapie nötig:
Verkaufsstelle teilen in der Regel die Wo- Aspekte der Arbeitssicherheit ist die Be- „Wir haben Leute, die monatelang aus-
che unter sich auf. „Wenn man da über- rufsgenossenschaft, also die brancheneige- fallen.“ Oliver Rezec
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 49
IKHLAS ABBIS
Demonstration am vergangenen Donnerstag in Köln-Kalk: „Uns drohen Zustände wie in den Vorstädten von Paris“
D
ie Gitter vor dem Schaufenster hat- Denn der Stich des Deutschen traf auch viele kriminelle Ausländer“, hatte Ende
te der Inhaber des Elektronikladens das Selbstbewusstsein all jener Zugewan- Dezember Hessens Ministerpräsident Ro-
an der Kalker Hauptstraße in Köln derten, die sich abgekoppelt fühlen – ohne land Koch (CDU) gesagt. Ausländer hätten
aus Angst vor Randale vorsorglich runter- ordentlichen Schulabschluss, ohne Berufs- sich anzupassen, ein Entgegenkommen der
gelassen. An den Stäben hängen jetzt ausbildung, ohne Perspektive. Der Frust Deutschen dürften sie nicht erwarten.
Bilder des 17-jährigen Marokkaners Salih, ist groß. „Wir sitzen auf einem Pulverfass. Mal abgesehen davon, dass viele der
der hier am vorvergangenen Freitag getö- Uns drohen Zustände wie in den Vorstäd- Kalker Jugendlichen sich nicht als Auslän-
tet wurde. Auf den Betonplatten des Geh- ten von Paris“, warnt der ehemalige Poli- der fühlen, weil sie im Schatten der Dom-
wegs brennt ein Meer von Kerzen. „Salih, zeipräsident und CDU-Fraktionschef im türme geboren sind und das kölsche Idiom
Salih!“, skandieren Hunderte Kehlen: „Wir Kölner Stadtrat, Winrich Granitzka. pflegen: Kochs populistischer, dem Wahl-
wollen Gerechtigkeit!“ Köln ist nicht Paris, und in Kalk sieht es kampf geschuldeter Frontalangriff hallt un-
Salih war einer von ihnen, ein Jugend- nicht aus wie in den Banlieues, den Vor- ter Zuwanderern nach.
licher mit Migrationshintergrund. Für die städten der französischen Hauptstadt mit „Stoppt diesen Rassisten“, titelte die tür-
Polizei ist die Sache klar. Salih habe einen ihren Hochhäusern. Doch in Kalk, wo kische Zeitung „Hürriyet“ und zeigte eine
20-jährigen Deutschen ausrauben wollen. früher ein Chemiewerk stand, ist es ähnlich Karikatur des hessischen Hardliners mit
Der wehrte sich, geriet in Panik, zog ein trist. Das neue Einkaufszentrum ist grell überlanger Nase. SPD, Linke und Grüne
kleines Taschenmesser – und traf Salih mit und wuchtig, es will so gar nicht ins Grau und auch manche Christdemokraten gin-
einem unglücklichen Stich ins Herz. Der dieses Stadtteils passen. gen auf Distanz zu Koch. Nur die „Bild“-
Staatsanwalt erkannte auf Notwehr. Es gibt 54,7 Prozent der Einwohner von Kalk Zeitung hielt dagegen und präsentierte fast
sogar Zeugen. Doch das spielt längst keine sind Ausländer oder stammen von mindes- täglich ausländische Intensivtäter mit lan-
Rolle mehr. tens einem ausländischen Elternteil ab, es gen Sündenregistern.
Und deshalb zogen an jedem Abend der leben überdurchschnittlich viele junge Leu- Aber auch die Menschen mit Migrations-
vergangenen Woche bis zu 300 Demon- te zwischen 15 und 18 Jahren dort, unter- hintergrund in Kalk lesen „Bild“. „Was soll
stranten an den Tatort, forderten „Gerech- durchschnittlich dagegen ist das Bildungs- die Scheiße? Wir sind hier aufgewachsen,
tigkeit“, weil einer der ihren starb und der niveau. 90 Prozent der Arbeitslosen in wir sind nicht kriminell, warum werden
Täter schon wieder auf freiem Fuß ist. Sie Kalk gelten als Langzeitarbeitslose. wir anders behandelt als die anderen Deut-
protestierten gegen „Rassismus in Deutsch- „Mir kommt es so vor, als würden sie schen?“, erregt sich ein junger Mann.
land“ – und eben weil die Notwehr-Version immer nur Verlierer hierher schicken“, sagt Mehr als 40 Jahre lang sollte Deutsch-
so klar scheint, zeigen die Proteste, dass es Kemal Düzardic, 22, ein Freund des To- land kein Einwanderungsland sein. Das
um mehr geht als den 17-jährigen Salih. Es ten. Bei Regen und Kälte verharren sie vor blieb nicht ohne Folgen. 72 Prozent der
geht darum, wie sich Migranten in Deutsch- den Bildern des Toten und den Kerzen, in Deutschland lebenden Türken, die mit
land derzeit behandelt fühlen. die an ihn erinnern sollen. Und sie suchen rund 1,7 Millionen die größte Ausländer-
50 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland
ARTON KRASNIQI
tion entscheidend gesenkt wird“, kündigte
die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer
jüngst an. 350 Millionen Euro will die
Täter, Polizisten: Kein Zweifel an der Notwehr-Version Bundesregierung dafür in den kommenden
drei Jahren ausgeben. Mindestens 4000
gruppe darstellen, haben keine qualifizier- Mann. „Salih, Salih!“, ruft eine Gruppe Euro Zuschuss sollen Arbeitgeber erhalten,
te Ausbildung. 40 Prozent der Jugendli- härterer Typen. Sie wollen eine andere die einem bereits gescheiterten Bewerber
chen aus Ausländerfamilien gehen weder Gerechtigkeit. Es klingt eher wie ein Ruf einen Ausbildungsplatz geben. Ein Anfang.
zur Schule noch machen sie eine Lehre. Sie nach Rache. „Die Einwanderer müssen aber auch
jobben, hängen rum, sie stellen einen über- „Es muss ein Ruck durch Deutschland dazu beitragen“, fordert SPD-Politikerin
proportionalen Anteil an Gewalttätern. gehen“, fordert die SPD-Bundestagsabge- Lale Akgün. „Sie müssen ihre Blockade-
„Die Stadt Köln tut viel für die Integra- ordnete Lale Akgün in Anlehnung an den haltung aufgeben und ankommen in dieser
tion“, sagt der Leitende Polizeidirektor Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog. Gesellschaft.“ Ein Drittel der ausländi-
Michael Temme, der den Demo-Einsatz „Wir brauchen endlich eine Gesellschafts- schen Eltern, ergab eine Befragung des
sorgfältig überwacht und analysiert. Doch politik, die auf Akzeptanz basiert, und eine Zentrums für Türkeistudien in Essen, hätte
es gebe „Brennpunkte“ in der Stadt, auch grundlegende Reform der Bildungs- und ein Problem mit einem deutschen Schwie-
in Kalk. Dort stellt er sich jetzt jeden Sozialpolitik“, sagt sie. Die Deutschen gersohn. Von den Alten ist also wenig
Abend die bange Frage: Kommt gleich der brauchten die Ausländer, und die brauch- zu erwarten – was die Zukunft der Kinder
Funke, der das Pulverfass zur Explosion ten die Deutschen. Demografen und Ar- erschwert.
bringt? Klirren dann Schaufensterscheiben, beitsmarktforscher sehen das genauso. „Viele Kinder erleben in der Erziehung
gehen Autos in Flammen auf? Wenn man den Menschen keine qualifi- häufig eine Inkonsistenz, die sie überfor-
„Wir fühlen uns wie Menschen zweiter zierte Ausbildung verschafft, so das Institut dert“, sagt Haci-Halil Uslucan von der Uni-
Klasse“, sagt ein Marokkaner, so um die für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, versität Magdeburg. Zu Hause das patriar-
40. „Es wird niemals aufhören, vielleicht drohe „Massenarbeitslosigkeit bei gleich- chalisch geprägte, auf Gehorsam bedachte
wird es immer schlimmer“, sagt ein junger zeitigem Fachkräftemangel“. Schon jetzt Elternhaus, in der Schule Eigenverantwor-
beziffert eine Studie im Auftrag der Ber- tung, Entscheidungsfreiheit und Gleichbe-
telsmann Stiftung die Kosten mangelnder rechtigung. „Diese Brüche können sie nur
Integration auf 16 Milliarden Euro. Viele schwer verarbeiten“, sagt Uslucan.
Migranten seien häufig arbeitslos, ver- Wer Chancengleichheit herstellen und
dienten schlechter, zahlten weniger Steu- verhindern will, dass ausländische Ju-
ern und Sozialabgaben. gendliche in die Kriminalität abgleiten, so
Die Demonstranten von Köln-Kalk wis- der Volkswirt und Kriminologe Horst En-
sen das, und es ist dieses Gefühl, das die torf, müsse bei Sprachförderung und der
Lage so brisant macht. Das Gefühl, keine Erziehung in Kindergärten anfangen.
Chance zu haben, ausgegrenzt zu werden. Salih, der Tote von Kalk, war für die Po-
Etwa ein Fünftel der Ausländerkinder, lizei ein unbeschriebenes Blatt. „Er wollte
so ergab eine Befragung des Deutschen sein Fachabitur machen“, sagt sein Bruder
Jugendinstituts (DJI) in München, sieht Abdallah, 23, der Elektrotechnik studiert.
sich „stark diskriminiert“ oder „individu- Auch Abdallah war vorige Woche auf der
ell benachteiligt“. Mehr als die Hälfte fühlt Straße. Aber die Scharfmacher unter den
sich weder anerkannt noch gleichberech- Demonstranten sind ihm unheimlich.
BERND KAMMERER / AP
tigt. „Das sind dramatische Einschätzun- Vor ein paar Tagen war der marokkani-
gen, die sie aufgrund eigener Erfahrungen sche Generalkonsul bei ihm und seinen El-
gemacht haben“, sagt DJI-Wissenschaftler tern. Er hat ihnen erklärt, dass die Polizei
Jan Skrobanek. sauber ermittelt habe. Und dennoch fragt
„Wir sind hier nicht willkommen“, sagt sich Abdallah: Wäre ein Ausländer genau-
Ministerpräsident Koch die 14-jährige Fatima aus Kalk und zieht so schnell freigekommen?
Populistischer Frontalangriff sich vor dem Bild Salihs demonstrativ Barbara Schmid, Andreas Ulrich
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 51
Deutschland
Studienverhalten und le zieht Personal regelrecht an, das nur mit Jahre. Wir brauchen zusätzliche Kriterien.
Erfolg im Lehrerberuf. verminderter Kraft arbeiten will. SPIEGEL: Welche?
SPIEGEL: Viele Pädagogen wählen den Be- Rauin: Die Leistung sollte zu verschiede-
ruf aus echter Überzeugung. nen Zeitpunkten während des Studiums
SPIEGEL: Ihre Studie wird viele deutsche Rauin: Ja, nach unseren Daten rechne ich und im Beruf festgestellt werden. Zudem
Lehrer verärgern: Das Burn-out durch den über ein Drittel der angehenden Lehrer zu müsste die Belastbarkeit der angehenden
angeblich so schwierigen Beruf, so das den Engagierten. Sie studieren erfolgreich Lehrer stärker geprüft werden, um unge-
Fazit, sei nichts als ein Mythos. Wie kom- und haben später im Beruf wenig Proble- eigneten Kandidaten beizeiten abzuraten.
men Sie zu diesem Befund? me. Nur steigen leider viele Leistungs- SPIEGEL: Dafür sind Sie und Ihre Kollegen
Rauin: Wir haben den Berufsweg von über starke schon während des Studiums aus, an den Hochschulen zuständig, die die
tausend angehenden Lehrern über zwölf weil sie sich unterfordert fühlen und sich Lehrer ausbilden.
Jahre hinweg begleitet. Dabei zeigte sich: deshalb nach Alternativen umsehen. Rauin: Klar, auch die Hochschulen sind ge-
Wer sich im Job ausgebrannt fühlt, der hat SPIEGEL: Ist nicht auch das ständige Lehrer- fragt. Die Dozenten sind in der Pflicht, die
häufig bereits während seiner Ausbildung Bashing mit daran schuld, dass Hochmoti- Leistungen ihrer Studenten genauer zu-
nicht für den künftigen Beruf gebrannt. vierte abspringen? rückzuspiegeln und ihnen zu sagen, wo sie
Unsere Schulen sind von Per- gut oder schwach sind. Bislang
sonen belastet, die schon im läuft die Lehrerausbildung an
Studium Symptome der Über- den meisten Hochschulen nur
forderung zeigten. als fünftes Rad am Wagen mit.
SPIEGEL: Wie haben Sie das ge- SPIEGEL: Nach dem ersten Pisa-
messen? Schock von 2001 haben Schul-
Rauin: In den Befragungen be- politiker mit Schul-TÜV und
schrieben sich über ein Vier- Bildungsstandards viele Initia-
tel der angehenden Pädagogen tiven zur Verbesserung des
selbst als kaum für den Beruf Unterrichts angeschoben. Sind
geeignet. Viele wählten das die alle nutzlos?
Lehramt aus Verlegenheit, sie Rauin: Das ist alles gut ge-
haben eine resignative Grund- meint. Trotzdem hat die Poli-
FRANK HOERMANN / SVEN SIMON
VERBRECHEN
D
ie Dame am anderen Ende der Lei- Die Ermittler glauben Siggi S. „Das So was kommt schon mal vor, denn
tung sitzt im Gefängnis von Hildes- ganze Geld, der ganze Scheiß hat sie ver- Lydia L. zankt sich ständig mit den Nach-
heim und redet und redet – einen rückt gemacht“, hat er in einer Verneh- barn. Die sind angeblich zu laut, oder sie
Sturzbach aus Sätzen, die Stimme am Tele- mung über Lydia L. gesagt, und wenn es so sollen über die Grundstücksgrenze gebaut
fon empört, verbittert, leidend. Was da war, dann wird der Fall ein Stück deutsche haben, und weil es eine Hecke gibt, gibt es
alles über sie in den Zeitungen stehe, wirk- Kriminalgeschichte schreiben: Kripo und natürlich auch Streit um die Hecke. Aber
lich schlimm. Selbst der Carsten falle über Staatsanwalt gehen davon aus, dass Lydia am heftigsten streitet sich Lydia L. mit
sie her, ihr eigener Sohn, aber der habe ihr L. ständig alte, am besten einsame Männer ihrem Sohn Carsten. Sie will das Sorge-
ja früher sogar auf den Kopf gerotzt, das suchte, um sie auszunehmen. Und das in ei- recht für dessen Tochter, ihre Lieblings-
müsse man sich mal vorstellen. Und dann ner Zahl – mehr als ein Dutzend – und über enkelin, sie kämpft darum schon seit Jah-
der Siggi, der Mann, der ihr jahrzehntelang einen Zeitraum – mehr als 20 Jahre –, wie ren, mit allen Mitteln, durch alle Instanzen.
in Haus und Garten zur Hand ging, was es die Republik noch nicht erlebt hat. Dort hatte Lydia L. sogar behauptet, der
der jetzt alles bei der Polizei über sie zu- Es geht damit in Göttingen um „Arsen zeitweise drogensüchtige Carsten habe vor
sammenspinne. Vier Morde, zu denen sie und Spitzenhäubchen“ in der deutschen Jahren seine Freundin umgebracht. Und
ihn angestiftet haben soll. Sie! Den Siggi! Provinz. Aber abgesehen von der üblichen deshalb muss die Polizei nun ermitteln,
Vier Morde! Alles falsch! Alles gelogen! Suche nach den Beweisen und Beweg- auch wenn wahrscheinlich doch nichts da-
Na hören Sie mal ... gründen wirft der Fall noch eine andere bei herauskommt; „völliger Quatsch“, sagt
Vor allem aber redet Lydia L., 68, so Frage auf: Wie konnte es sein, dass es seit der Sohn.
schnell, als müsse sie nicht lange nachden- zwei Jahrzehnten immer wieder Verdäch- So gesehen ist die Aussage von Siggi S.
ken, weil sie ja die Wahrheit sagt, nur die tigungen gegen Lydia L. gab, ja sogar An- also nichts Besonderes; eines aber ist an
Wahrheit. Und so ist die Frau, die sie zeigen und Ermittlungsverfahren, ohne diesem Morgen anders: Früher musste der
nun nach der männermordenden Spinne dass die Polizei sie aus dem Verkehr ziehen Polizist nach so einer Vorladung erst mal
„Schwarze Witwe“ nennen, jetzt auch im konnte? Stattdessen reihte sie, wenn man zehn Minuten lüften, so selten wusch sich
Gespräch mit dem SPIEGEL, was sie im- den Fahndern glauben darf, Opfer an Op- der Siggi. Diesmal kommt er ordentlich ge-
mer schon war: sehr überzeugend. fer – jeder Fall schon eine Geschichte für föhnt herein, und die Haare sind nicht das
Wie überzeugend, wird sich Mitte Fe- sich. Und alle Geschichten zusammen die Einzige, was er in seinem Leben nun wie-
bruar herausstellen. Dann soll vor dem unglaubliche Geschichte eines Lebens jen- der ins Reine bringen will. „Wenn ich hier
Landgericht Göttingen der Prozess gegen seits von Moral und Gewissen. fertig bin, klicken die Handschellen“, sagt
sie und ihren mutmaßlichen Komplizen, Montag, der 27. August 2007: Es ist er unvermittelt.
Sigmund „Siggi“ S., 53, anlaufen, beide der Tag, an dem das alles endet, auf der Stundenlang erzählt er, an diesem Tag,
aus dem niedersächsischen Flecken Bo- Polizeiwache in Bodenfelde. Ein Raum, in den nächsten Wochen, immer wieder,
denfelde. Vor der 6. großen Strafkammer 15 Quadratmeter groß, an den Wänden immer mehr, so eifrig wie ein Schüler, der
muss sich zeigen, ob Siggi S. von 1994 bis speckige Raufaser, ein Kalender, noch von sich eine Eins für eine gute Nacherzählung
2000 vier Möchtegernlebensgefährten der 2005, und in der Mitte Jürgen U., der Dorf- verdienen will. Es ist sein Schlussstrich
Frau in deren Auftrag getötet hat – das ist polizist, der einzige Beamte hier. Siggi S. unter eine Beziehung zu Lydia L., eine Be-
seine Version. Oder ob er die Männer aus kommt an diesem Morgen pünktlich; er ist ziehung, die nie in die Nähe eines Bettes
Eifersucht umbrachte und sie davon nichts bestellt, für zehn Uhr, er soll eine Aussage geriet, aber für ihn wohl trotzdem alles be-
ahnte, wie Lydia L. behauptet. machen, als Zeuge, für Lydia L. deutete: eine Art Familienanschluss, etwas,
54 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Tödliche Beziehung
Lydia L. und ihre Männerbekanntschaften
Ehemänner
mutmaßlich ermordete Männer
4. Wilhelm S. schenkte ihr das er schon in seiner Kindheit verloren sie das. Das sei doch schön, und die Arbeit
geb. 1911 215 000 Euro hatte, als Heimkind, als Schwererziehbarer. nicht so schwer wie im Altenheim“.
1987 – 1992
„Ich bin das schwarze Schaf meiner Fa- Also keine Liebe?
stirbt 6 Monate milie“, sagte Siggi S. in einer der Verneh- „Nein; sie fand das widerlich, wenn die
5. Paul P. mungen. Die Mutter war bei der Geburt Alten noch was von ihr wollten.“
geb. 1907
nach Ehe-
1990 – 1991 schließung schon 44, nach vier Kindern war das fünf- Der erste: Ludwig Geller aus dem hessi-
schenkte ihr te nicht mehr eingeplant. Er fliegt von der schen Biebertal. 1983, als er Lydia L. ken-
6. Alois M. Volksschule, weil er ständig schwänzt, nenlernt, ist er 82 Jahre alt, sie 44, aktiv,
geb. 1905
Pelz, Wohnmo-
1992 – 1994 bil, BMW-Cabrio kommt auf die Sonderschule, aber „da war attraktiv, eine Frau, bei der die Männer
es noch bekloppter“. Als er zwölf ist, hat immer zehn Jahre vom echten Alter abzie-
7. Günter S. endlich jede Schule genug von ihm, und hen. Im September 1985 setzt er sie als
geb. 1920 verbrannt auch die Familie: Er muss ins Heim, wech- Alleinerbin ein, im November 1985 über-
1994 selt von einem ins nächste, schlägt sich spä- schreibt er ihr elf Grundstücke, am 5. Ja-
ter als Hilfsarbeiter durch. nuar 1986 ist er tot, nach ein paar Monaten
8. Adolf B. erstickt, ver- 1987 strandet er schließlich in einem in ihrer Obhut. Zwar stirbt er im Kran-
geb. 1910 erbte ihr Haus Mehrfamilienhaus in Uslar, neun Kilo- kenhaus; aber schon damals gibt es Er-
1994 in Melsungen meter von Bodenfelde entfernt. Und in mittlungen wegen ungeklärter Todesur-
einer der anderen Wohnungen lebt eine sache: Verwandte wundern sich, dass
Frau, die er bis zu jenem 27. August 2007 Geller so plötzlich abgebaut hat. Noch im
nicht mehr verlassen wird: Lydia L. gleichen Jahr wird das Verfahren einge-
Auch sie hat zu diesem Zeitpunkt schon stellt – das erste von so vielen ohne Folgen,
reichlich Erfahrung im Verlassen und Ver- die noch kommen werden.
lassenwerden. Kriegsflüchtling aus dem So wie bei Wilhelm S., Maurermeister
oberschlesischen Orzesche, 1961 die erste aus dem Sauerland. 1992 stellten seine Kin-
Hochzeit, 1964 die erste Scheidung, 1971 der Strafanzeige. Sie waren überzeugt,
der nächste Ehemann, Hermann S. Einige dass Lydia L. ihren Vater langsam vergiftet
Jahre arbeitet sie als Altenpflegerin im und schnell ums Ersparte gebracht hatte.
nordrhein-westfälischen Scherfede. Fünf Jahre vorher hatte er eine Kontakt-
Bei Celle führt das Paar einen Landpuff, anzeige aufgegeben. Kurz darauf kam
die Rubin-Bar, mit ratternden Super-8-Por- Lydia L. ins Sauerland, und dann alle paar
nos an der Wand und Verkehr im Hinter- Monate wieder: Lief leichtbekleidet durch
zimmer. Es zieht bald weg, eröffnet die den Garten, dass sich das ganze Dorf das
Gesichtsrekonstruktion von Paul G.
nächste Rubin-Bar und nach dem Umzug Maul zerriss. Schrieb ihrem „Schatz“ Lie-
in die Nähe von Uslar die dritte. Zwei besbriefe: „Sieh zu, dass du gesund wirst.
9. Paul G. erstickt, Wohnwagen gehören zum Geschäft, in ei- Ich brauche deine Beine noch zum Spa-
geb. 1913 schenkte ihr
mehrere zehn- nem bietet sich Lydia L. später selbst an. zierengehen und für anderes.“ Wilhelm S.,
1995 tausend Euro Die Ehe geht 1985 zu Bruch. „Mein 77, vor Liebe so verzückt wie verrückt,
Mann hat mich kaputtgeschlagen“, be- bezahlte ihr einen Mercedes samt Sprit,
hauptet sie am Telefon aus dem Gefängnis Reisen, schenkte ihr Geld.
10. Gerhard G. erstickt, schenk- und: „Ich hatte danach die Nase voll von Damit kaufte sie sich dann 1988 jenes
geb. 1929 te ihr Geld für
2000 Wohnmobil jungen Männern.“ Damals will sie einen Anwesen in Bodenfelde, in dem sie bis zu
Entschluss fürs Leben gefasst haben: nur ihrer Festnahme lebte. Ein Vorderhaus und
noch ältere Männer. „Ich wollte endlich ein Hinterhaus an der Dammstraße, in dem
11. Henry im Dezember
meine Ruhe.“ Und dass diese alten Männer auch die meisten Männer wohnten, die sie
Hans U. 2002 von der
2002 geb. 1925 Polizei gerettet ihr dann immer wieder Autos kaufen, Häu- köderte, mit Zeitungsannoncen wie: „Sie,
ser übertragen, Reisen schenken würden – 61, Witwe, sucht älteren, pflegebedürftigen
was war schon dabei? „Muss ich denn nein Herren zwecks Altenpflege“.
Lydia L. hatte darüber hinaus bis sagen, wenn mir einer was schenken will?“ Zwei der vier mutmaßlichen Mordopfer
2006 eine unbekannte Anzahl Ihr Sohn Carsten erinnert sich anders: logierten hier, und auch Wilhelm S., der
weiterer Bekannter wie z. B. Sie habe ihm mal gesagt, ältere Männer Rentner aus dem Sauerland, der dort ein-
Manfred F., Albin P. und Karl S. hätten Geld, „und wenn sie sterben, erbt zog und wenige Wochen später schwer-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 55
Deutschland
krank wurde. Ohne einen Pfennig in der für eine männermordende Gemahlin taugt Gehen der Männer irgendwann „ganz nor-
Tasche, verstört und ängstlich sei er zu der Fall also nicht, wohl aber dafür, dass mal“ gefunden haben; Fragen habe er nicht
ihnen zurückgekommen, erinnert sich sein Ehen mit Lydia L. sehr kostspielig waren. gestellt. Einmal aber, so behauptet er, habe
Sohn Kurt. „Da war nichts mehr zu Sie ging damals monatelang auch in Spa- ihm seine Mutter anvertraut, dass sie mit
machen. Fünf Monate später war er tot“ – nien auf Herrenjagd, lernte den verwitwe- dem Siggi „einen umgebracht“ habe und
und Lydia L. um 215 000 Euro reicher. So ten M. kennen, der nach einem Berufs- dass sie den dann weggefahren und ange-
zumindest hat das die Polizei hochge- leben bei Köln an die Costa Blanca gezo- zündet hätten. Falsch, beteuert Lydia L.
rechnet. Aus der gleichen Aufstellung geht gen war. heute, sie habe Carsten nur mal so einen
hervor, dass alle Senioren zusammen Lydia Minirock und Hochgestöckelte hatten Spruch vom Siggi weitererzählt, ohne das
L. mindestens ein Vermögen im Wert von auch auf ihn die kalkuliert belebende Wir- selbst ernst genommen zu haben.
670 000 Euro verehrten. kung. Manchmal kraulte Lydia L. ihren Auf jeden Fall lag die Leiche zur angeb-
Einer aber zieht nach Bodenfelde, der Alois hinter den Ohren, setzte sich keck lichen Falschbehauptung am 25. Juni 1994
bleibt: Siggi S., als eine Art Haus- und Hof- auf seinen Schoß. Dafür schenkte er ihr: an einem Parkplatz der A 7 bei Lutterberg
knecht. Er wohnt in einem Gartenhaus in ein BMW Cabrio, einen Silberfuchsmantel, im Kreis Göttingen. Der Mann hieß Gün-
der Nähe. Lydia L. hat ihm angeblich mal knallrot gefärbt, ein Wohnmobil. 1992 hei- ter Schwenke, 74, was damals niemand
Geld geliehen, das macht Siggi, den Sozial- rateten sie, zogen nach Bodenfelde. Hin- wusste, weil ihn keiner vermisste. Den Na-
hilfeempfänger, von ihr abhängig, aber das terher erzählte der Greis seinen Kindern, men erfuhr die Polizei erst am Tag, als Sig-
scheint ihm auch nur recht: Allein be- die Frau habe ihn eingesperrt und versucht gi S. auspackte – Mord Nummer eins.
kommt er in seinem Leben nichts in den zu vergiften. Auch er zeigte sie an, aber Schwenke habe ständig an Lydia L. her-
Griff; seine Bude: ein Chaos, dazu der Bernd, ihr zweiter Sohn, sagte vor dem umgetatscht, deshalb habe sie ihn mit Ta-
Alkohol; er trinkt damals viel zu viel. Gericht in Northeim für sie aus. Sie selbst bletten im Essen ruhiggestellt, und als
JÜRGEN DUMNITZ (R.)
Geständiger „Siggi“ S., Durchsuchung in seiner Gartenlaube: „Wenn ich hier fertig bin, klicken die Handschellen“
1990 wird Lydia L. ihrem Vorsatz, nur bestritt alles. Ergebnis des Verfahrens: Ein- Schwenke zum Arzt wollte, weil er sich so
noch alte Männer kennenzulernen, untreu: stellung, die übliche. merkwürdig fühlte, soll Lydia L. Angst
Heinz, ehemaliger Fallschirmjäger bei der Wenn Sohn Carsten etwas an den bekommen haben, dass die Rückstände
Bundeswehr, damals 50. Er ist die große Männern in Bodenfelde immer wieder auffallen könnten. Mit einem geliehenen
Liebe. Sie schenkt ihm ein Auto, einen Ur- auffiel, dann ihre Leistungskurve: steil Wohnmobil, so Siggi S., seien sie dann zum
laub – und sogar ihr Vertrauen. Sie sei da- abfallend. „Die kamen fit hierher, kurz Rastplatz gefahren – er selbst, Lydia L. und
mals durch ganz Deutschland gereist, zu danach wurden sie immer träger, schließ- Schwenke. „Ich sollte den erdrosseln“, und
alten Männern, um an deren Vermögen zu lich lagen sie nur noch im Bett.“ Was an so habe er es auch gemacht; sie hätten
kommen, erinnert sich Heinz S. heute. den Mitteln gelegen haben soll, die sie Schwenke dann abgelegt und mit Teppich-
„Einmal hat sie vor so einer Tour sogar ge- bekamen und sie möglicherweise auch so resten verbrannt.
sagt: ,Ich muss noch eben einen Opa be- großzügig, so freigiebig machten. Immer Tatsächlich hatte sich Lydia L. für den
erben.‘“ Heinz trennt sich, aber nicht, ohne wieder will Carsten für seine Mutter in die Tattag auch ein Wohnmobil geliehen, an-
sie noch bei der Polizei anzuzeigen. Die Bodenfelder Greif-Apotheke gegangen geblich aber, um zu ihrem Bruder nach
Kripo bestätigt: Auch diese Anzeige gab sein, um Psychopharmaka wie Diazepam Hannover zu fahren. Da müsse Siggi S.
es, auch dieses Verfahren wurde eingestellt mit Rezepten, die ein Arzt für seine Mutter wohl die Gelegenheit genutzt haben,
– Genaueres unbekannt; Akte vernichtet. ausgestellt hatte, zu besorgen. Großpa- Schwenke in ihrer Abwesenheit umzu-
Ehemann Nummer drei, Paul Passon, ckungen seien das gewesen, die hätten die bringen, sagt Lydia L. Der Siggi sei eben
83, stirbt im Februar 1991 einen verhält- Alten ins Essen bekommen, grüne und auf alle Männer eifersüchtig gewesen, de-
nismäßig unverdächtigen Tod – er wird bei weiße Tabletten – das hat Siggi S. auch nen sie ihre Zeit gewidmet habe.
einem Raub in seiner Wohnung im fernen ausgesagt. Klaus Kunze, Anwalt von Lydia Der zweite, den die Ermittler heute für
Bad Ems erschlagen, von zwei Männern. L., sagt dazu, weder die Angaben des einen Ermordeten halten, lag in seinem
Die Hochzeit ist gerade sechs Monate her. Sohnes noch die von Siggi S. seien glaub- Bett: Adolf Berge, Ehemann Nummer fünf,
Nummer vier, Alois M., beim Kennen- würdig. 84 Jahre alt und ein Kurschatten aus Bad
lernen 87, überlebt seine 18-monatige Carsten S., inzwischen 35, will das stän- Pyrmont. Sein Neffe Jürgen ist sicher, dass
Kurzehe sogar um neun Jahre. Als Beleg dige Kommen, vor allem aber das ständige Lydia L. „ihm was in den Kaffee getan
56 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
hat“, um ihn zur Heirat zu bewegen. Wenn aufenthalt.“ „Er war ein zäher Bursche“, zusammen mit Siggi S. begangen habe. Ein
es stimmt, hielt die Wirkung aber nicht sagt seine Ex-Frau, nie krank, nie weh- Toter, verbrannt auf einem Rastplatz.
lang genug an: Berge habe sich schon nach leidig. Seine verkohlte Leiche lag am Carsten S. geht zur Polizei, kurz vorher
wenigen Wochen scheiden lassen wollen, 23. April 1995 in einem Straßengraben in hatte außerdem die Nichte des vierten To-
sagte Siggi S. nun aus – zu früh, um noch der Nähe von Volkerode in Thüringen, und ten, Gauger, eine Vermisstenanzeige ge-
an sein Vermögen zu kommen. wieder soll es das übliche Muster gewesen stellt; die Kripo in Göttingen fängt an zu
Also sei er im September 1994 mit Lydia sein: Er sei, sagt Siggi S., mit der Lydia ermitteln. Angeblich dreht sie jeden Stein
L. zu Berge gefahren, nach Melsungen in und dem Gräf in das leerstehende Haus um, drei Jahre lang, auch die Telefone
Hessen; vorher habe er mit ihr alles ab- vom toten Berge gefahren, nach Melsun- werden abgehört, aber 2004 wird die Akte
gesprochen. Dann die Tat in Berges Haus: gen; dort habe Lydia dem Gräf eine Ta- wieder geschlossen. Kein Ergebnis.
eine Tablette in die Erbsensuppe, den be- blette in die Suppe getan. Es folgt: Er- Mit herkömmlichen Ermittlungen scheint
täubten Berge aufs Bett gelegt, mit einem sticken mit einer Plastiktüte. Das will Sig- man Lydia L. damals nicht beikommen zu
Kissen erstickt, am nächsten Tag mit einem gi S. dann allein erledigt haben. können. So weiß sich selbst die Kripo 2002
Nachbarn als Zeugen scheinbar arglos ins Der letzte Tote, Gerhard Gauger, 71, soll nur noch damit zu helfen, dass sie einem
Haus zurückgekehrt, um den Toten zu schließlich am 13. Juli 2000 in seinem Haus alten Mann den Tipp gibt, schnell wieder
finden. Ein Testament, ausgestellt auf den in Völksen bei Hannover getötet worden auszuziehen; sogar ein Taxi ruft eine
Neffen und die Nichte, hätten Lydia L. und sein – wieder mit einer Plastiktüte erstickt, Beamtin für ihn. Der Grund: In abgehörten
er beseitigt. nur dass Lydia L. diesmal laut Siggi S. Telefonaten hatte Lydia L. über das Spar-
Lydia L. behauptet, Berge sei eines selbst mitgeholfen hat. Seine Mandantin buch des Mannes gesprochen.
natürlichen Todes gestorben. Fest steht: sei zur Tatzeit in Tschechien gewesen, be- So laufen die Geschäfte mit dem Alters-
Sie erbt sein Haus, sein Auto, sein Geld, hauptet ihr Anwalt. Gauger habe dagegen starrsinn, -leichtsinn, -schwachsinn in Bo-
Lydia L.s Anwesen in Bodenfelde, Garten hinter dem Hinterhaus: Schlaftabletten in das Essen der Alten?
das meiste davon zumindest, wenngleich eine Freundin in Polen besuchen wollen denfelde weiter gut. Bis Siggi S. – ja was?
die Angehörigen noch darum kämpfen. Al- und sei von dort eben nicht mehr zu ihr Den Druck auf seinem Gewissen nicht
lerdings will sich Lydias Sohn Carsten er- zurückgekehrt. Warum sich da Gedanken mehr aushält, wie er angeblich ausgesagt
innern, wie nervös seine Mutter geworden machen? Erst recht, weil Gauger sie aus haben soll? Oder er sich an Lydia L. rächen
sei, als sie hörte, dass die Polizei im April Polen ja noch zweimal angerufen habe. will? Es gab ein paar Tage vor dem Ge-
1995 Berges Leiche wieder ausgraben ließ, Das Problem: Die Freundin weiß nichts ständnis einen Streit, um irgendeine bana-
nach Gerüchten im Ort. Die Obduktion von dem Besuch. Und bei den angeblichen le Sache, angeblich warf sie ihn vom Hof.
ergab mal wieder: keine Auffälligkeiten. Telefongesprächen, die Lydia L. mit Gau- Oder wollte er sich nicht noch mehr,
Später, 1997, brennt Berges Haus – ger geführt haben will, lag Gauger schon in nicht noch tiefer verstricken? Der Polizei
gleich zweimal, durch Brandstiftung. Siggi einem ewigen Funkloch: einen Meter unter hat er gesagt, Lydia L. habe von ihm ver-
will es angezündet haben, die Balken habe der Erde, vergraben in seinem Garten. langt, Carsten eine Abreibung zu verpas-
er noch extra mit Benzin angestrichen. Die Das alles hätte nun nach so vielen er- sen. Damit der endlich nachgebe im Streit
Versicherungssumme ging an die Dame des gebnislosen Verfahren im Jahr 2001 endlich um die Enkelin. Und auch eine Brandstif-
Hauses, die mit der Brandstiftung nichts herauskommen können, sechs Jahre vor tung sollte er angeblich noch begehen.
zu tun haben will. Allerdings leidet ihre dem Geständnis von Siggi S., sechs Jahre, Obwohl die Ermittler ihre Arbeit weit-
Glaubwürdigkeit in solchen Fragen unter in denen noch so viele Männer in die Ve- gehend abgeschlossen haben, haben sie
einem gut gefüllten Vorstrafenregister. Die nusfalle der Lydia L. tappten, dass auch keine Erklärung dafür, weshalb Siggi S. die
Einträge lauten auf Unterschlagung, Ur- die Polizei den Überblick verloren hat. Taten gerade jetzt gestanden hat. „Ich war
kundenfälschung, Widerstand gegen Voll- In jenem Jahr 2001 ist die Tochter von es leid“, hat Siggi S. bei den Vernehmun-
streckungsbeamte, Sachbeschädigung, um Sohn Carsten zwei Jahre alt. Nachdem sie gen nur gesagt. „Ich wollte schon früher
nur einiges zu nennen. einige Zeit bei Lydia L. gewohnt hat, fordert zur Polizei, aber da war noch der Hund.“
Noch vor den Bränden stirbt der dritte der Vater sein Kind zurück. Aber Lydia L. Im Mai sei seine Katze gestorben, Anfang
Mann: Paul Gräf, 81, ein alleinstehender will sie nicht wieder hergeben. Da erinnert Juni dann sein Hund. Danach habe er end-
Unternehmer aus Zweibrücken, der selbst er sich: dass ihm seine Mutter mal was von lich gehen können. Jürgen Dahlkamp,
inseriert hatte: „Alleskönner sucht Ferien- einem Mord erzählt hatte, den sie angeblich Michael Fröhlingsdorf
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Deutschland
DAVID KLAMMER
Operateur Broelsch (2. v. l.) bei einer Lebertransplantation, Durchsuchung der Essener Uni-Klinik am vergangenen Donnerstag: „Das Leben
Billigkräfte am Skalpell?
Einer der Zeugen für die Fahnder ist
Hans-Peter Mandl. Fünf Jahre lang hatte
Mandls Ehefrau Elisabeth auf eine neue Le-
ber gewartet. Dann endlich meldete sich die
Vorige Woche durchsuchten Fahnder erneut die Essener Uni-Klinik. Klinik, das begehrte Organ für sie stehe zur
Verfügung. Am 2. Juli 2001 gegen Mittag
Dort sollen Ärzte ohne Berufserlaubnis operieren. Und sollte Elisabeth Mandl in den Operations-
wieder scheint der Star-Transplanteur Christoph Broelsch beteiligt. saal geschoben werden, als eine Mitarbei-
terin von Broelsch mit einem Schriftstück
D
ie Fachleute der Bezirksregierung Ärzte ohne weitere Bezeichnung in den hereinkam und noch auf einer Unterschrift
in Düsseldorf sind allerhand ge- OP-Berichten auf. Wegen der undurch- bestand: Hans-Peter Mandl sollte einer
wohnt, wenn sie die Zulassung aus- sichtigen Bezahlung von Stipendiaten er- Rechnung zustimmen, die in etwa das Dop-
ländischer Mediziner überprüfen. Sie mittelt zudem die Finanzkontrolle Schwarz- pelte von dem betragen haben soll, was sei-
schlagen sich mit unleserlichen Dokumen- arbeit des Zolls. ne Versicherung übernommen hätte.
ten in vielen Sprachen herum, sie erleben Sollten sich die Vorwürfe der Beamten „Das hatte bei keinem der Vorgespräche
freche Bestechungsversuche und enttarnen bestätigen, dann hat seit Jahren unqualifi- mit Professor Broelsch eine Rolle gespielt,
plump gefälschte Zeugnisse. ziertes Personal in dieser Vorzeigeklinik darum habe ich das abgelehnt“, sagt
Aber so dreist wie Vitaly M. war ihnen des Ruhrgebiets das Skalpell geführt – und Mandl. Grausam sei diese Situation ge-
noch keiner gekommen: Der angebliche dabei sogar bei lebensgefährlichen Ein- wesen, so kurz vor dem Ziel und dann
Mediziner aus einem ehemaligen GUS- griffen mitgewirkt. Für Stipendiaten sollen das Geschachere um Geld. Daraufhin sei
Staat beantragte im Januar 2003 die Be- sich nach Erkenntnissen der Staatsanwalt- Broelsch persönlich und ziemlich aufge-
rufserlaubnis – und fiel durch, weil die not- schaft zwei Chefärzte besonders einge- bracht im Krankenzimmer erschienen, am
wendigen Voraussetzungen nicht erfüllt setzt haben, darunter Professor Christoph Bett der fassungslosen Patientin. „Wenn
waren. Im Mai 2006 stellte der Mann er- Broelsch, 63, einer der berühmtesten und Ihr Mann nicht unterschreibt, dann ope-
neut einen Antrag und legte Arbeitszeug- gleichzeitig umstrittensten Mediziner riere ich Sie nicht“, soll Broelsch gesagt
nisse bei. Aus ihnen ging hervor, dass M. Deutschlands. haben, dann würden seine Oberärzte ope-
seit 2002 im Herzzentrum der Essener Uni- Bereits seit Monaten ermittelt das „Ein- rieren. Mandl weigerte sich.
versitätsklinik operierte. satzkommando Klinik“ der Essener Staats- Laut OP-Bericht ist Elisabeth Mandl
Der Fall ist womöglich nur eine beson- anwaltschaft gegen Broelsch, der als einer dann doch von Broelsch und seinen Ober-
dere Blüte einer unglaublichen Praxis in der besten Organtransplanteure der Welt ärzten operiert worden. Während des Ein-
der Ruhrmetropole. Ein Großaufgebot von gilt. Seit vergangenem Herbst ist Broelsch griffs stellte sich heraus, dass ihre eigene
über 40 Kripo-Leuten und Schwarzarbeit- vom Dienst suspendiert. Die Vorwürfe ge- Leber nicht so geschädigt war wie erwar-
fahndern vom Zoll durchsuchte am ver- gen den Chirurgen reichen von Organhan- tet. „Es wurde sogar überlegt, die Patien-
gangenen Donnerstag das Essener Klini- del bis zu räuberischer Erpressung; er tin zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht zu
kum – mehr als ein Dutzend Ärzte aus Chi- soll todkranke Patienten behandelt haben, transplantieren“, schrieb Broelsch später
na und Russland, die nach deutschem wenn sie dafür extra bezahlten – bis zu an den behandelnden Arzt von Frau
Recht gar keine sind, sollen dort arbeiten 400 000 Euro für eine neue Leber. Ober- Mandl, unter anderem wegen der langen
oder gearbeitet haben. Darüber hinaus staatsanwalt Hans-Joachim Koch überprüft Vorgeschichte hätte man sich dann aber
taucht eine hohe Zahl sogenannter Gast- derzeit rund 80 Transplantationen im Haus doch für den Eingriff entschieden.
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Von Spenden und Dritt- ken rechtfertigen, machen Krankenhaus-
mittelkonten redet Broelsch ärzte inzwischen mitverantwortlich für die
seit Monaten, wenn es um Misere der deutschen Organspende. Je-
das Abkassieren bei lebens- des Jahr sterben rund tausend Patien-
rettenden Operationen geht. ten auf der Warteliste für Herz, Leber,
Er stellt sich als Wohltäter Niere, Bauchspeicheldrüse oder Lunge,
dar, der „aus humanitären weil nicht genügend Spender zur Verfü-
Gründen auch Kassenpatien- gung stehen. Besonders die Zahl der unter
ten“ behandelt habe, die sich 65-Jährigen, die bereit sind, ihre Orga-
seine Chefarztbehandlung ne nach dem Tod zur Verfügung zu stel-
niemals hätten leisten kön- len, stagniert seit Jahren oder geht gar
nen: Und wenn er gefragt zurück. Viele potentielle Spender oder
habe, „ob sie eine freiwillige Hinterbliebene sind abgeschreckt, weil sie
Spende für unsere Forschung den Eindruck haben, dass mit den Orga-
leisten wollen“, so Broelsch, nen nicht selten Geschacher und Geldma-
„kann ich darin wirklich kei- cherei betrieben werden. Das Institut für
ne Erpressung sehen“. Gesundheitsökonomie an der Universität
Der Professor verkörpert Köln bekräftigte unlängst nach Auswer-
wie kein zweiter Chirurg in tungen von OP-Zahlen solche Vermutun-
Deutschland die Kaste der gen. Die Gesundheitswissenschaftler hat-
Weißkittel mit Starallüren. Er ten herausgefunden, dass Privatpatienten
gilt weltweit als ein Pionier in als Empfänger von Spenderorganen be-
der Technik, eine Leber zu vorzugt werden.
GEORG LUKAS
Bernd Herbertz, „um das Leben seiner Die Staatsanwälte gehen im Essener Kli-
Frau zu retten, hätte er wahrscheinlich jede nikum indes einem weiteren besonders
Summe gezahlt.“ schweren Fall nach, in dem „das Leben
Die Operation fand statt, der Barscheck von Patienten in Gefahr“ gewesen sei.
über 20 000 Mark wurde am 21. Januar Nach ersten Ermittlungen soll eine Ärztin
2002 eingelöst, eine Woche später starb die auf der Intensivstation beschäftigt gewe-
54-jährige Patientin. Über seinen Anwalt sen sein, die bei der Prüfung durch die Be-
ließ Broelsch dem Gericht erklären, dass es zirksregierung sogar zweimal durchgefallen
sich bei den 20 000 Mark um eine „freiwil- war. Sie hatte weder einen Druckverband
lige Spende zur Unterstützung von vier Politiker Rau, Leibarzt Broelsch (2001) anlegen noch einen Patienten reanimieren
chinesischen Fachärzten“ gehandelt habe. Hilfe für den Skatbruder können. Udo Ludwig, Barbara Schmid
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Szene
DAMIAN DOVARGANES / AP
gießen ist im Vergleich unkompliziert,
sie sind klein, das Metall wird einfach
in Keramikförmchen gegossen, nach
drei Stunden sind sie abgekühlt.“ Guerrero (M.)
anders
größeren Teil ihres Einkommens für
Statusgüter aus als Weiße mit gleichem
Einkommen. Der Grund dafür, sagen D ie Bekenntnisse einer 19-Jährigen
sowie eine Sammlung mit Interviews
C
hristine Tallady fühlte sich vom arbeiten, einen Baumarkt in seiner Hei- Was jetzt, fragte sich Flaig.
Leben überfordert, damals, vor matstadt Plainfield, Michigan. Sollte er ihr während der Arbeit auf
22 Jahren. Sie war fast noch ein Vier Jahre später, Flaig kann nicht die Schulter klopfen und sagen: „Hi
Teenager, sie war unverheiratet und sagen, warum, nahm er abermals die Chris, ich bin’s. Dein Sohn.“
schwanger. Das Kind, das in ihr wuchs, Dokumente der Stiftung zur Hand, las Sollte er zu ihr nach Hause fahren
war gesund, doch Tallady fühlte sich sie und erkannte, dass er den Namen und an ihrer Tür klingeln? Sollte er ihr
nicht bereit für ein Leben als Mutter, seiner leiblichen Mutter nie korrekt aus- Blumen mitbringen? Oder doch lieber
als Alleinerziehende, als übermüdete gesprochen, nie korrekt geschrieben etwas anderes? Würde sie sich freuen,
und überarbeitete Arme am Rand der hatte. Sie hieß Christine Tallady. Flaig ihn zu sehen? Flaig wusste es nicht.
amerikanischen Gesellschaft. Sie war nannte sie Christine Talladay. Er setzte Zwei Monate lang fragte er sich, wie
jung, sie wollte leben, nicht verzichten, sich an einen Computer und tippte den er den Kontakt herstellen könnte. Er
und so gab sie ihren Sohn im Oktober Namen seiner Mutter ein. Der Rechner wollte nicht abgewiesen werden. Nicht
1985, kaum dass er ihren Leib verlassen meldete: ein Treffer. Eine Christine Tal- noch einmal.
hatte, zur Adoption frei. In Schließlich gestand Flaig
den kommenden Jahren fragte sich ein, dass er Hilfe brauch-
sie sich oft, was für ein Kind, te. Er fuhr ins Büro von D. A.
was für ein Teenager und Blodgett for Children. Eine
schließlich, was für ein Mann Mitarbeiterin der Stiftung rief
ihr Sohn wohl geworden sei. Christine Tallady an. Im Bau-
Steve Flaig fragte sich Zeit markt.
seines Lebens, was für ein Tallady war beunruhigt, als
Mensch seine Mutter wohl sei, sie hörte, dass die Stiftung sie
seine leibliche Mutter. Flaig sprechen wolle. Wie konnte
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Gesellschaft
AU F BAU O ST
Ü
ber die Reste eines alten Flugplat- Westen, im Norden und Süden. Die Men-
zes in Brandenburg spazieren ein schen sollen auf der großen Mauer spazie-
Deutscher und zwei Chinesen und ren können, genau wie in China.
diskutieren darüber, wie hoch die Pago- Sie falten den Plan wieder zusammen.
den denn nun werden, die hier einmal ste- Fast drei Jahre hat es gedauert, aber jetzt,
hen sollen, 7-geschossig oder 13-geschossig. da die Stadtverordneten schließlich zuge-
Er sei für 13, sagt der Chinese. Je höher, stimmt haben, kann es Wirklichkeit wer-
desto besser. den. Sie dürfen das Gelände kaufen und
7 Stockwerke seien das Maximum, sagt sollen einen „vorhabenbezogenen Bebau-
der Deutsche, man müsse an die Behörden ungsplan“ erarbeiten.
denken. „Das kriegen wir baurechtlich Dafür haben Herr und Frau Ren zusam-
nicht durch.“ men mit Stefan Kunigam und dessen Bü-
„Bei uns in China darf man so hoch bau- ropartner die Brandenburg-China-Projekt
en, wie man will“, sagt der Chinese, seine Management GmbH gegründet. Kunigam
Frau nickt. leitet ein Ingenieurbüro in Frankfurt (Oder).
Man einigt sich schließlich darauf, die Herr Ren, heißt es, habe gute Beziehungen
Pagodenfrage zu einem späteren Zeitpunkt zur chinesischen Regierung.
zu klären. Es ist ein heiterer Tag, die Eu- Ren trägt an diesem Sommertag ein
phorie soll nicht gestört werden. Gerade weißes Leinenoberteil mit aufgestickten
erst hat das Stadtparlament von Oranien- chinesischen Schriftzeichen. Er sagt, dass
burg dem Plan zugestimmt, hier, auf diesen dieses Gelände ideal geeignet sei. „Auch
fast 80 Hektar Land, das erste Chinatown unter Feng-Shui-Gesichtspunkten.“ Dann
Deutschlands zu bauen. steckt er sich einen Grashalm ins Ohr.
Herr Ren, der Investor aus China, und Sie bleiben vor einem verwitterten
Herr Kunigam, der Ingenieur aus Deutsch- Schild stehen, das auf dem Boden liegt und
land, wollen den alten Flugplatz gleich auf dem kyrillische Schriftzeichen stehen.
neben der Bundesstraße 96 in Klein-China Es ist ein Relikt aus den DDR-Jahren, als
verwandeln. In wenigen Jahren sollen hier die Sowjetarmee hier einen Militärflug-
2000 Chinesen wohnen, leben, arbeiten, in hafen betrieb. Die Russen, sagt Herr Ren,
7- oder 13-geschossigen Pagoden. hätten für ein dunkles Kapitel der deut-
Kunigam bleibt vor einem Büschel Ge- schen Geschichte gesorgt. Bald aber werde
strüpp stehen, in dem eine Schnapsflasche hier das chinesische Kapitel beginnen, und
liegt. Genau hier, sagt er, werde das Ein- dieses werde ein leuchtendes sein.
gangstor stehen, er denkt an ein schwung- Herr Ren redet nicht gern über seine
volles, wie das Tor des Yuyuan-Gartens Geschäfte, aber er ist kein Blender, davon
von Shanghai, in das er sich einst auf einer hat sich Hans-Joachim Laesicke überzeugt.
Gruppenreise verliebt hat. Er malt mit dem Laesicke sitzt an seinem Bürgermeister-
Schuh ein Kreuz in den Schotter. „Hier schreibtisch aus Eiche und sagt, dass er of-
wird China beginnen.“ fen sei für China, sehr offen sogar, er sagt:
Dann holt er einen Plan aus seiner Ta- „Da müssen wir offensiv draufzugehen als
sche und faltet ihn auseinander, bis er Stadt Oranienburg.“ Er hat den Leiter sei-
knattert im Wind. „Rahmenplan China- nes Planungsamts gebeten, Erkundungen
Areal Oranienburg“ steht drüber, die Gär- über den Chinesen einzuholen. Der fragte
ten sind grün gekennzeichnet, die Plätze nach in deutsch-chinesischen Wirtschafts-
gelb, die Pagodenbauten rot. kreisen, und was er erfuhr, erleichterte ihn.
„Hier vorn wird die Verbotene Stadt ste- Herr Ren ist dort bekannt, es heißt, er
hen, unser Kulturzentrum“, sagt der Inge- kenne viele Investoren aus China, er habe
nieur, er zeigt mit dem Zeigefinger in Rich- eine halbe Milliarde Dollar im Rücken.
tung Wald. „Und da wird es Pekingopern Auch die chinesische Botschaft unter-
geben“, sagt Herr Ren. stützt das Vorhaben. Es gibt keinen Anlass,
Er deutet nun hinüber zur Schnellstraße, an der Ernsthaftigkeit des Projekts zu zwei-
über die sich zwei Lkw kämpfen und vor feln. Das Problem ist ein anderes.
der künftig eine Chinesische Mauer die Laesickes Büro liegt im zweiten Stock
Stadt schützen soll, fünf Meter hoch, im des Oranienburger Schlosses, eines Pracht-
62 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ehepaar Ren, Geschäftspartner Kunigam
„Unter Feng-Shui-Gesichtspunkten ideal“
richt saß, steht heute sein Schreibtisch. kam er ein Schreiben vom Stadtplanungs- Am nächsten Tag schrieb er eine E-Mail.
Er ist Mitglied der Gartenkolonie „Eden“, amt, drei Seiten, auf denen stand, was jetzt Er bedankte sich für den „wunderschönen
einer alten Genossenschaft, die sich mit zu tun sei, Herrn Rens Hausaufgaben. Abend“ und die „freundliche und kräfti-
Obst- und Gemüseanbau selbst ernähren Nun seien die Voraussetzungen ge- ge Unterstützung“. Er werde jetzt „eine
wollte. Es war der Versuch, sich mit Hilfe schaffen, „auf Grundlage der Bestimmun- Freundschaftsstadt in China“ suchen. Es
der Natur von der Außenwelt unabhängig gen des Baugesetzbuchs (BauGB) mit dem folgte noch ein Wunsch: „Wir würden uns
zu machen. Es war das Gegenteil von Glo- Planverfahren zu beginnen“, las er. Er las sehr freuen, wenn Ihre Frau beim nächsten
balisierung. Wörter, die er nie gehört hatte, sie hießen Treffen auch mitkommen würde. Das wür-
Eden existiert noch heute, auch wenn „Raumordnungsverfahren“, „ÖPNV-Er- de wohl zu tiefen Verständnissen dienen.“
die meisten Mitglieder der Kolonie nur schließung“ oder „konkretisierter Bebau- Die unverbindliche Freundlichkeit des
noch in ihrer Freizeit ihre Beete bewirt- ungsplanvorentwurf“. Chinesen empfand man im Rathaus all-
schaften. Für Seifert ist sie Heimat geblie- Herr Ren sollte Deutschland erst jetzt mählich als störend. Man wunderte sich,
ben und Zufluchtsort. Und jetzt sollen die richtig kennenlernen. Bislang hatte er in dass Herr Ren nie auf das dreiseitige
Chinesen seine Nachbarn werden? „Das der Bundesrepublik ein Land mit guter Schreiben eingegangen war.
Chinatown wäre hier nicht mal ’nen Kilo- Luft, weiten Flächen und fleißigen Men- Dann kommt es im Oranienburger
meter weg.“ Er zeigt über den Zaun. schen gesehen. Jetzt sollte er das unsicht- Schloss zu einem wichtigen Treffen. Lae-
Dann steht er auf und läuft quer durch bare Deutschland kennenlernen, das Land sicke hat das Ehepaar Ren zu sich geladen.
seinen Garten, läuft vorbei an Beeten, auf der Verordnungen und Paragrafen. Das Projekt ist ins Stocken geraten, beide
denen im Sommer verschiedene Kräuter
wachsen und Erdbeeren, Sellerie, Radies-
chen.
„Man weiß ja gar nicht, mit wem man es
da zu tun bekommt.“ Seifert ist nicht frem-
denfeindlich, er ist nur im tiefsten Sinne
des Wortes heimatverbunden, und er hat
ein wenig Angst bekommen, seit die Chi-
nesen durch die Zeitung geistern. Er fürch-
tet, sich bald in der eigenen Heimat nicht
mehr zurechtzufinden.
Mit diesen Ängsten spielt auch die
NPD. Eines Tages lag in allen Briefkästen
Oranienburgs ein Flugblatt der Rechten:
„Heute sind Sie tolerant, morgen fremd
im eignen Land!“ lautete die Überschrift.
Neben dem Text lugte ein gezeichneter
Chinese mit Strichaugen, Hasenzähnen
und Reisbauernhütchen um die Ecke. Er
sah unheimlich aus, wie ein Geist.
Schon Oranienburgs Lieblingsschrift-
steller Theodor Fontane wusste, was „der
Chinese“ bei seinen Landsleuten auslösen
konnte. Für seinen Roman „Effi Briest“
CARSTEN KOALL
S
ie kommt am frühen Nachmittag aus ten dürften, die sie nicht fürchten müssen „And now“, sagt Ströbele und nimmt
Kairo, Ägypten liegt hinter ihr, der wie ihre Heimat. seine Lesebrille ab, „it’s your turn.“
Jemen, Jordanien, Dänemark, Län- Emilou MacLean geht durch einen end- Es sind Sätze, wie Emilou MacLean sie
der, die verbunden sind in ihrem Kopf. Ihre losen Regen, durch ein unbekanntes Land. gern von den Regierungsbeamten gehört
Weltkarte ist ein kompliziertes Geflecht. Sie bereitet sich vor. Sie geht durch das hätte, mit denen sie zuvor gesprochen hat.
Sie fliegt hin und her zwischen den Län- Brandenburger Tor, sie sucht nach der Li- Sie würde sich solche Sätze besonders von
dern und versucht, Türen zu öffnen, Re- nie, auf der die Mauer stand, sie betrach- einer Kanzlerin wünschen, die den ameri-
gierungen zu bewegen. Sie will eine Koali- tet die weißen Kreuze für die Toten an die- kanischen Präsidenten aufforderte, das La-
tion bilden, die wie ein Gegenentwurf zum ser Mauer, sie steht vor dem Reichstag und ger in Guantanamo zu schließen.
Weltbild ihres Präsidenten klingt, eine fragt, wofür das Schwarz, das Rot und das Ströbele blättert in seinen Unterlagen,
Achse der Besseren. Gold in den Flaggen stehen. Es ist, als wür- er glaubt, es gebe einen Punkt, an dem
Sie nimmt die S9 vom Flughafen in die de sie Deutschland vermessen. sie ansetzen könnten, die amerikanische
Stadt, sie fährt durch Berlin und überlegt, Es ist nicht leicht, ihr auf der Reise durch Anwältin und der grüne Abgeordnete.
ob Deutschland eine Achsenmacht sein Deutschland zu folgen. Sie ist vorsichtig, Es ist ein Satz, der am 17. Januar 2007
könnte. sie will ihre Mission nicht gefährden. Sie gesagt wurde, es war ein Mittwoch, die
Emilou MacLean ist Anwäl- 75. Sitzung der 16. Wahlperi-
tin, sie hat ein kleines Büro ode des Bundestags, so steht
in New York. Sie arbeitet dort es im Protokoll. Damals stell-
im Center for Constitutional te der grüne Abgeordnete
Rights und verteidigt die Ver- Volker Beck der Regierung die
fassung ihres Landes, meistens Frage, warum sie keine Häft-
gegen die eigene Regierung. linge aufnehme, die nicht in
An einem Abend im frühen ihre Heimatländer zurück-
Januar packte sie einen brau- gehen könnten, warum sie
nen Ordner, auf den sie „Re- nicht helfe, das Lager zu
settlements“ schrieb, in ihre Ta- schließen.
sche und brach zu einer Reise „Die Bundesregierung ist
hinter die Frontlinien des Ter- durchaus bereit, einen Beitrag
FOTOS: NORBERT MICHALKE
rors auf. Es klingt banal, „Re- zu leisten, wenn sie dazu auf-
settlements“, nach Umsiedlun- gefordert wird“, antwortete
gen von einem Ort an einen an- Gernot Erler, der Staatsminis-
deren. Doch die Dokumente in ter im Auswärtigen Amt. Er
diesem Ordner erzählen von hängte dann noch einen der
der Angst gebrochener Män- Nebensätze an, die Staats-
ner, von ihrer Furcht vor einem Anwältin MacLean, Politiker Ströbele: „Männer ohne Land“ minister sagen, wenn sie sich
Leben außerhalb des Ortes, an Auswege offenhalten wollen,
dem die Linien auf Emilou MacLeans Welt- weiß, wie nervös das Wort Guantanamo er sprach von der „Berücksichtigung an-
karte zusammenlaufen: Guantanamo. Regierungen und manchmal auch Opposi- derer politischer Wirkungen einer solchen
Sie trägt eine Liste bei sich, auf der die tionen macht, und sie will offene Ge- Maßnahme“. Es ist die Sprache der Bei-
Namen von 50 Männern stehen, die Angst spräche. Manche ihrer Gespräche finden packzettel.
vor der Freiheit haben. Sie haben Angst, an merkwürdigen Orten statt, einige ha- Aber auf den Hauptsatz könnte man die
verfolgt und gefoltert zu werden, zu ver- ben offiziell nie stattgefunden. Regierung festlegen, glaubt Ströbele.
schwinden in der Freiheit von Usbekistan, Hans-Christian Ströbele ist ein Sonder- Emilou MacLean schreibt das auf. Sie
China, Somalia, Libyen, Algerien, Syrien, fall. Ströbele, der Grüne, hat keine Angst. hat eine klare Handschrift, sie passt zu ei-
Tunesien und Russland. Es sind die Länder, Er empfängt Emilou MacLean mit einem ner Anwältin mit einer klaren Sprache. In
die einmal ihre Heimat waren. Lächeln und führt sie in Besprechungs- ihrem Notizblock stehen jetzt viele Namen
„Sie sind Männer ohne Land“, sagt raum 1511. „Vielleicht“, sagt Ströbele, „darf und Strategien, es ist ein Anfang. Sie muss
Emilou MacLean. ich’s zunächst auf Deutsch sagen: Also, mehr Türen öffnen. Guantanamo lässt sie
Sie ist nach Berlin gekommen, um für herzlich willkommen im Deutschen Bun- nicht los, es verfolgt sie. Vielleicht ist es
diese Männer nach etwas zu suchen, für destag.“ Er breitet Papiere vor sich aus, in auch umgekehrt.
das es in ihrer Sprache kein Wort gibt: Hei- denen Passagen gelb markiert sind, er ist Morgen wird sie zurück nach New York
mat. Einige der Männer sind „cleared“ in vorbereitet. „Ich halte Guantanamo für ein fliegen, doch sie wird bald zurückkommen
der Sprache des Pentagon, als wären sie Foltergefängnis, das vorweg“, sagt er. „Und nach Europa. Sie muss die Achse verlän-
gereinigt worden in Guantanamo. Sie sol- ich halte es für einen Skandal, dass die zi- gern, Emilou MacLean, ein Jüdin mit ei-
len nicht „freigelassen“ werden, das klän- vilisierten Staaten noch keine Möglichkeit nem braunen Ordner, unterwegs in
ge zu sehr nach unschuldig, sie sollen gefunden haben, wenigstens die Gefange- Deutschland auf der Suche nach einer Hei-
„transferiert“ werden. Sie könnten Guan- nen dort herauszuholen, die Guantanamo mat für gefangene muslimische Männer.
tanamo verlassen, wenn sie Länder betre- verlassen dürften.“ Mario Kaiser
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 67
Trends
PATRICK LUX / AP
DB-Güterzüge
BÖRSENGANG chen Lösung zustimmen. Die hatten immer wieder betont, dass
D ie Deutsche Bahn möchte in der schier endlosen Debatte um März die rechtlichen Voraussetzungen für das Hol-
S TA AT S F O N D S AU TOMOB I L I N D U ST R I E
das Ansinnen mit Verweis auf europa- sie nicht ausreichend berücksichtigt
rechtliche Vorgaben ab. Einschränkun- würden. So sollen im Aufsichtsrat der
gen des Kapitalverkehrs seien gemäß Porsche Holding künftig drei Arbeit-
EU-Vertrags nur zulässig, wenn die öf- nehmervertreter von VW und drei von
fentliche Sicherheit oder Ordnung ge- Porsche sitzen. Vor allem IG-Metall-
fährdet sei, argumentiert er in dem Chef Berthold Huber drängt Hück und
Brief. „Wirtschaftspolitische Auswirkun- Telekom-Zentrale in Bonn Osterloh zu einer Einigung. Der Streit
gen eines Erwerbs einschließlich be- schadet seiner Ansicht nach dem Image
schäftigungspolitischer Aspekte reichen BMAS-Staatssekretär Kajo Wasserhövel, der Gewerkschaft. Schwierig sind die
hierfür regelmäßig nicht aus“, heißt es eine arbeitsmarktpolitische Prüfung Gespräche vor allem, weil das Verhält-
weiter. Das Arbeitsministerium beharrt könne „nicht von vornherein unzulässig nis zwischen Hück und Osterloh sehr
aber weiterhin auf Mitsprache, wenn sein“. Schließlich seien an der Entschei- gespannt ist. Sollten sich die beiden
demnächst beispielsweise ein russischer dung neben dem Wirtschaftsministerium Funktionärsstreithähne nicht näher-
Investor mehr als 25 Prozent der Tele- auch das Außenamt und das Finanz- kommen, wird das Arbeitsgericht Stutt-
kom kaufen wollte. In einem Antwort- ministerium beteiligt. Insofern würden gart am 13. Februar über die Klage der
schreiben an Pfaffenbach erklärt der auch andere Aspekte berücksichtigt. VW-Betriebsräte befinden.
68 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wirtschaft
POSTDIENSTLEISTER erneut geweigert, weiteres Geld zuzu-
Pin-Mutter meldet
schießen, da ein Käufer nach Meinung
des Verlags nicht in Sicht sei. Durch die
Insolvenz an
Insolvenz haben die bisherigen Pin-Ge-
sellschafter, neben Springer unter ande-
rem der Verlag Holtzbrinck und die
Quelle baut
Umbauaktionen von sich reden. Inner-
halb der nächsten Monate will die Ar-
Callcenter um
candor-Versandtochter Quelle vier ihrer
Callcenter in Leipzig, Chemnitz, Essen
sowie im dänischen Padborg mit ins-
Konzernchefs Bernotat, Großmann, Villis, Braunkohlekraftwerk Jänschwalde: Radikale Veränderungen für die gesamte Branche
ENERGIE
E
s fing schon schlecht an in diesem reflexhaft polterte Behördenchef Matthias Unterstützt von höchsten Regierungs-
Januar für die Bosse der vier gro- Kurth, die anvisierten Summen seien viel stellen, drängen nicht nur russische Unter-
ßen Stromkonzerne. Kaum waren zu hoch. Also kürzten seine Beamten die nehmen wie Gasprom ins Geschäft. Auch
die Beamten der Bundesnetzagentur aus Anträge drastisch zusammen. Beim Esse- und gerade Energieriesen wie die fran-
ihrem Weihnachtsurlaub zurückgekehrt, ner RWE-Konzern etwa um rund 28 Pro- zösische EDF haben den hiesigen Markt
bereiteten sie den Unternehmenslenkern zent, bei EnBW sogar noch um einen Pro- entdeckt. Selbst Übernahmen von Dax-
von E.on, RWE, EnBW und Vattenfall eine zentpunkt mehr. Jede Kommastelle ist in Schwergewichten wie dem Essener Strom-
erste schmerzhafte, weil kostspielige Nie- diesen Rechnungen Millionen wert. produzenten RWE scheinen nicht mehr
derlage. Zwar bemühte man sich in den Kon- ausgeschlossen. Zwar ist der französische
Die Unternehmen hatten vorher ihre zernzentralen, Fassung zu bewahren. Tat- Konzern bereits an EnBW beteiligt. Doch
Anträge eingereicht zur Genehmigung der sächlich jedoch ist die Stimmung nervös für den Branchen-Vize RWE würden sich
sogenannten Netzentgelte. Das sind jene bis düster. Denn auch den hartgesottenen die Angreifer möglicherweise von dem
Quasi-Mautgebühren, die neue Konkur- Strommanagern ist mittlerweile klar, dass Paket trennen.
renten und eigene Kunden dem Quartett der Schlag aus Bonn nur ein erster Vor- Gleichzeitig stehen bei Kartellwächtern
der Großen bezahlen müssen, um deren geschmack auf das ist, was in den nächsten und Gesetzgebern in Berlin und Brüssel
Stromleitungen verwenden zu dürfen. Fast Monaten auf die Branche zukommt. weitreichende Entscheidungen an. Den
70 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wirtschaft
21
Haushaltsstrom 20,64
20
Preis in Deutschland*,
in Cent pro Kilowattstunde 19
15
14
13,92 13
1998 2000 2002 2004 2007
8,0
Die Gewinne**
der großen
Stromkonzerne
5,8 1. bis 3. Quartal 2007
in Milliarden Euro
**Betriebsergebnis
Steigerung zum
Vorjahreszeitraum
+ 77 % + 21 % + 11 % +9%
1,4
RAINER WEISFLOG
1,3 Vattenfall
E.on RWE EnBW Europe
deutschen Energieversorgern drohen Stra- durch massive Verbraucherproteste, ver- seit Monaten Gegenstand heftiger Ausein-
fen und Sanktionen in Milliardenhöhe – suchten die Verantwortlichen da erstmals, andersetzungen zwischen Wettbewerbs-
möglicherweise sogar die Zerschlagung. die Marktmacht der Stromkonzerne auf hütern und E.on.
„Was in den nächsten Monaten auf uns allen nur erdenklichen Ebenen einzu- Während die Ermittler davon ausgehen,
zukommt“, befürchten auch hochrangige dämmen. dass das Siegel beim Anbringen in Ord-
E.on-Manager, „könnte die ganze Branche Neue, schärfere Gesetze wurden erlas- nung war und somit in der Zwischenzeit
radikal verändern.“ Zumindest aber dürf- sen, die Aufsichtsbehörden verschärften möglicherweise Akten entfernt oder ma-
te es die Bilanzen der Energiekonzerne ihre Gangart. Auch die Kartellwächter in nipuliert worden sein könnten, wider-
schwer belasten. Brüssel und Bonn wurden ermuntert, sich spricht man bei E.on vehement. Das Siegel
Der plötzliche Wandel kommt nicht von das merkwürdige Treiben auf den Strom- sei nur leicht beschädigt und nicht zerris-
ungefähr. Jahrelang hatte die Energie- und Gasmärkten doch noch genauer an- sen, heißt es dort, den Raum habe somit
branche Wettbewerbshüter, Politik und zusehen – mit Erfolg. Langsam trudeln die auch niemand betreten können.
Verbraucher an der Nase herumgeführt. ersten Ergebnisse des Rundumschlags ein. Noch weiß man auch bei E.on nicht, ob
Eingebettet in ein sicheres Oligopol, dik- Den Auftakt wird demnächst EU-Wett- Kroes die drohende Strafe am Umsatz
tierten die vier großen Konzerne die Prei- bewerbskommissarin Neelie Kroes ma- des Gesamtkonzerns oder der betroffenen
se, Mengen und Investitionen auf dem mil- chen. Seit langem ermittelt die Nieder- Tochter E.on Energie bemisst. Selbst die
liardenschweren heimischen Energiemarkt länderin in zahlreichen Verfahren gegen kleinere Variante zöge ein Bußgeld von bis
fast nach Belieben. europäische und vor allem deutsche Ener- zu 250 Millionen Euro nach sich. Würde
Man tat sich gegenseitig nicht weh und gieversorger. Mit dem sogenannten Siegel- sich Kroes aber am Mutterkonzern orien-
war sich einig in der Abwehr von neuen bruchverfahren, weiß man auch bei E.on, tieren, könnten es sogar über 500 Millio-
Konkurrenten, Verbraucherärger und Poli- steht nun eine der skurrilsten Auseinan- nen werden.
tikerpopulismus. Die Folgen für den Markt dersetzungen offenbar unmittelbar vor So viel Geld elektrisiert selbst einen
waren fatal: Während die Konzerne Jahr dem Abschluss. profitverwöhnten Stromriesen. Und doch
für Jahr Milliardengewinne einfuhren, Hintergrund ist eine Durchsuchung von wirkt auch diese Summe geradezu harmlos
kletterten die Strom- und Gaspreise auf E.on-Geschäftsräumen in München vor im Vergleich zu den möglichen Sanktio-
Rekordmarken. Gleichzeitig wurden wich- knapp zwei Jahren. Damals hatten die Er- nen, die den deutschen Strom- und Gas-
tige Investitionen in moderne, CO2-arme mittler kistenweise Geschäftsunterlagen versorgern aus den weiteren Brüsseler
Kraftwerke verschoben. und Akten beschlagnahmt und in einem Wettbewerbsverfahren drohen.
Die Politik schaute dem Treiben hilf- E.on-Büroraum deponiert. Als sie zurück- In denen nämlich geht Kroes dem Ver-
und tatenlos zu – zumindest bis Anfang kehrten, war das angebrachte Siegel be- dacht nach, dass es im Strom- und Gas-
vergangenen Jahres. Aufgeschreckt auch schädigt. Wie, wann und durch wen, ist sektor zu wettbewerbswidrigen Abspra-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 71
Wirtschaft
chen gekommen sein könnte und dass die den Willen der Anrainer wollte selbst
etablierten Konzerne neue Anbieter aus
dem Markt gedrängt hätten.
Deutscher Energie-Mix der Essener Goliath nicht mobil-
machen. Der Baustopp in Ensdorf
Wettbewerbshüter, die in das euro- Gesamte Netto-Stromerzeugung in Deutschland wirkte wie ein Alarmsignal – in der
päische Verfahren involviert sind, glauben, 2006 in Prozent Politik, besonders aber in den Kon-
dass Kroes genug Indizien für einen Energieträger zernen.
großen Schlag gesammelt hat. Im Strom- Mit immer weniger Kraftwerken
bereich etwa gibt es eindeutige Unterla- Braunkohle droht in Deutschland nicht nur eine
gen für gesetzwidriges Verhalten, die sogar 23 Versorgungslücke. Etablierten An-
schon Eingang in Gerichtsverfahren ge- Kern- Stein- bietern wie RWE könnten damit
funden haben (SPIEGEL 45/2007). energie kohle große Teile der Basis ihres Stromge-
Und auch auf dem Gasmarkt, wissen Ex- 27 21 schäfts in Deutschland wegbrechen.
perten, habe es in der Vergangenheit Ab- Selbst ausländischen Konkurren-
sprachen über Märkte, Mengen und Pipe- ten wie dem französischen Staats-
lines gegeben. Auch hier soll Kroes durch konzern EDF scheint diese Schwäche
die Durchsuchungen mittlerweile im Be- erneuerbare nicht verborgen geblieben zu sein.
sitz von sehr detaillierten Unterlagen sein. Energien Erdgas Zumindest, wissen Energiemanager,
Die betroffenen Konzerne streiten sol- 5 12 12 hat Frankreichs Staatspräsident Ni-
che Vorwürfe bisher ab. Sollte Kroes ihnen colas Sarkozy erst vor wenigen Wo-
Heizöl,
im Laufe des Jahres aber das Gegenteil be- Pumpspeicher chen bei Bundeskanzlerin Angela
weisen können, hätte das umso gravieren- und Sonstige Quelle: BDEW
Merkel vorgefühlt, ob mit großen
dere Konsequenzen. Dann nämlich könn- Widerständen zu rechnen sei, wenn
te die EU-Kommissarin zum großen Schlag der vom französischen Staat mas-
ausholen und die Konzerne doch noch zur siv geförderte Versorger den Ver-
Abgabe ihrer milliardenschweren Strom- such unternehmen würde, RWE zu
und Gasnetze zwingen. kapern.
Doch nicht nur aus Brüssel drohen tiefe Angesichts solcher Bedrohungen
Einschnitte. Schon in den kommenden von allen Seiten versuchen die Chefs
zwei bis drei Wochen wird auch die Bon- der Energieversorger seit Wochen
ner Bundesnetzagentur weitere millio- schon, das angeschlagene Verhältnis
nenschwere Kürzungen bei den Netznut- zur Politik zu verbessern – und das
zungsentgelten vornehmen. Diesmal sind nicht nur, indem sie plötzlich ganz
die regionalen Netze an der Reihe. Deren ernsthaft über Sozialtarife beim
Kosten gehen mit immerhin knapp einem Strom oder über Rückerstattungen
Drittel in die Strompreise ein. wegen zu hoher Netzgebühren nach-
Und weil die Versorger unter scharfer denken.
Beobachtung sämtlicher Aufsichtsbehör- Fast im Wochenrhythmus reisen
den stehen, dürfte ihnen diesmal kaum RWE-Chef Jürgen Großmann und
eine andere Chance bleiben, als die Preis- E.on-Chef Ulf Bernotat nach Berlin
nachlässe wirklich an ihre Kunden weiter- zu Gesprächen mit CSU-Wirtschafts-
zugeben. Zumindest E.on und RWE ha- minister Michael Glos, dessen SPD-
ben entsprechende Schritte angekündigt. Umweltkollegen Sigmar Gabriel,
OLAF BALLNUS
Selbst mit neuen Gesetzen versucht die aber auch mit der Bundeskanzlerin.
Politik, die „Marktmacht“ der Energie- „Eine umweltfreundliche, sichere
konzerne zu brechen. Vergangene Woche und preiswerte Energieversorgung“,
preschte Hessens Wirtschaftsminister Alois Atomkraftwerk Krümmel bei Geesthacht so das neue Motto der Energiebosse,
Rhiel (CDU) mit einer neuen Gesetzes- Keine Verlängerung der Laufzeiten könne man nur „mit- und nicht ge-
initiative vor. Danach sollen die großen geneinander etablieren“.
Versorger gezwungen werden, Stadt- und teure Verschmutzungszertifikate zukaufen. Erste kleinere Erfolge konnten Groß-
Kraftwerke zu verkaufen. Der Betrieb vieler Braun- und Steinkohle- mann und Bernotat tatsächlich bereits ver-
Nur so, glaubt Rhiel, lasse sich das meiler dürfte sich dann kaum noch loh- buchen. In neu eingerichteten Runden im
„volkswirtschaftlich schädliche Oligopol“ nen. Ersatz jedoch ist nicht in Sicht. Wirtschafts- und Umweltministerium sollen
wirkungsvoll bekämpfen. Regenerative Energien wie Wind und wichtige Themen der Energieversorgung
Für E.on & Co. wäre das der GAU. Sonne können die entstehende Lücke noch neu diskutiert werden.
Denn schon heute zeichnen sich gravie- lange nicht füllen. Und eine Verlängerung Außerdem wurde schon über eine
rende Kapazitätsengpässe bei Kraftwerken der Laufzeiten bestehender Atomkraft- neue Art von Energiegipfel nachgedacht.
in Deutschland ab. „Da droht eine Rie- werke ist in der schwarz-roten Koalition Gemeinsam sollen Umwelt- und Ver-
senlücke“, warnte vor wenigen Tagen ein absolutes Tabu. braucherverbände, Politik und Energie-
etwa der neue EnBW-Chef Hans-Peter Selbst gegen den Bau moderner Kohle- wirtschaft dabei versuchen, ein weithin
Villis. meiler, die zumindest pro erzeugter Kilo- tragfähiges Konzept für die künftige Ener-
Allein durch den beschlossenen Atom- wattstunde deutlich weniger Kohlendioxid gieversorgung in Deutschland zu erar-
ausstieg fallen in den kommenden Jahren ausstoßen und aus der gleichen Menge des beiten.
rund 27 Prozent der Stromproduktion schwarzen Rohstoffs mehr Energie gewin- Ob solche Veranstaltungen ausreichen,
komplett weg. Gleichzeitig werden alte nen als die Vorgängermodelle, regt sich das ramponierte Image der Energieversor-
Kohlekraftwerke immer unrentabler. landauf, landab Widerstand. ger nachhaltig zu verbessern, wird sogar in
Nach den in der vergangenen Woche in Im saarländischen Ensdorf beispielswei- den Konzernen bezweifelt. Entscheidend,
Brüssel vorgestellten ehrgeizigen Klima- se hat eine Bürgerinitiative den Bau eines glaubt man dort, wird die nächste Preis-
schutzzielen der Kommission müssen die milliardenschweren RWE-Kohlekraftwerks runde – und die steht zumindest beim Gas
Unternehmen bereits in wenigen Jahren zuletzt endgültig zu Fall gebracht. Gegen kurz bevor. Frank Dohmen
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FOTO POLLEX / ACTION PRESS
TUI-Chef Frenzel (auf der Hauptversammlung im Mai 2007 in Hannover): Mit Volldampf in den nächsten vermeintlich sicheren Hafen
Dienstlich genießen
bauen.
Doch am jüngsten Kurswechsel des
Unternehmens hatten einige Großaktio-
näre wie der russische Stahlmagnat Alexej
Erstmals torpedieren die TUI-Aufsichtsräte die Pläne ihres Mordaschow sowie namhafte Hoteliers be-
reits im Vorfeld heftige Kritik geübt. Einer
langgedienten Vorstandschefs Michael Frenzel. Dabei der mächtigsten Anteilseigner, der nor-
verstand man sich über Jahre hinweg besonders gut – fast zu gut. wegische Milliardär und Multiunternehmer
John Frederiksen, ging die derzeitige TUI-
W
er gewohnt ist, in den schönsten Der TUI-Chef nimmt den Warnschuss Führung massiv an und forderte gar, die
Hotels der Welt zu residieren, seiner Widersacher und Kontrolleure ge- Fusionspläne zu stoppen.
kann einen Trip zur TUI-Zen- lassen – noch. „Das war eine richtig gute Dass Frederiksens Brief während der
trale in Hannover leicht als ähnlich ab- und lebhafte Sitzung“, ließ er über seinen Sitzung des Aufsichtsrats verlesen wurde,
schreckend empfinden wie die Teilnahme Sprecher danach ausrichten. Tatsächlich hat auf die Kontrolleure offenbar nach-
am RTL-Dschungelcamp. Mit seiner tristen könnte das Aufmucken von Frenzels Auf- haltigen Eindruck gemacht. Der lange Frie-
Fassade aus Glas und Granit wirkt der sehern der Anfang vom Ende einer Ära den zwischen den Aufsehern und Frenzel
nüchterne Zweckbau wie eine Trutzburg – sein: Seit 14 Jahren herrscht Frenzel über war ohnehin suspekt geworden.
zur Abwehr unerwünschter Eindringlinge den Konzern, der noch Preussag hieß und Die Erklärung dafür könnte unter an-
der Gattung Finanz-Heuschrecke oder an- mit Stahl und Öl handelte, als er anfing. derem in der Zusammensetzung des Kon-
derer feindlicher Invasoren. Frenzel baute das Unternehmen in einer trollgremiums liegen. Das mutet – vorsich-
Die 20 Damen und Herren des Auf- beispiellosen Verkaufs- und Einkaufstour tig ausgedrückt – ähnlich bunt und schil-
sichtsrats, darunter prominente Ex-Mana- zum größten europäischen Urlaubsmulti lernd an wie die große, weite Urlaubswelt
ger wie der ehemalige Deutsche-Bank-Vor-
stand Jürgen Krumnow oder Bayer-Auf-
sichtsratschef Manfred Schneider, würdig-
ten das unwirtliche Ambiente kaum eines
Blickes, als sie am Mittwoch vergangener
Woche kurz nach zehn Uhr morgens durch
die Eingangshalle in die Führungsetage eil-
ten. Es ging auch um Wichtigeres.
Die Kontrolleure sollten eine der be-
deutendsten Weichenstellungen in der jün-
geren Unternehmensgeschichte beschlie-
ßen: die Verschmelzung der TUI-Holding
mit ihrem Schifffahrtsableger Hapag-Lloyd
sowie den Umzug des Topmanagements
an den deutlich repräsentativeren Haupt-
CHRISTIAN OHDE / ACTION PRESS
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 73
Wirtschaft
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Wirtschaft
E
in wenig nervös war Isabel Vogel weis, dass seine Personalstrategie aufgeht. schaft.
durchaus, als sie bei Microsoft in Un- Die lautet: Frauen, an die Arbeit! „Wenn es „Jedes Mal, wenn ich das anderen Ma-
terschleißheim zum Vorstellungs- uns jetzt nicht gelingt, Frauen zu gewin- nagern erzähle, wird eine halbe Stunde
gespräch erschien. Du hast nichts zu ver- lang über nichts anderes mehr gespro-
lieren, sprach sie sich selbst Mut zu. Schon chen“, amüsiert sich Berg. Verrät der
eingeladen zu werden ist ein Sieg, sagte Lukrative Leitung 43-Jährige dann noch, dass alle fünf Top-
sie sich, denn sie wusste: Bei den meisten Durchschnittliche finanzielle Entwicklung Managerinnen erziehende Mütter sind,
anderen Firmen hätte ihre Bewerbung von Firmen* mit ... bringt er damit so manches Weltbild ins
trotz brillanter Zeugnisse keine Chance ge- Wanken.
... drei oder mehr Frauen im Vorstand
habt. Ihr Makel: Isabel Vogel, 41, ist Denn nur eine einzige Frau arbeitet der-
Mutter dreier Kleinkinder. ... weniger zeit im Vorstand eines Dax-Unternehmens,
Die Zwillinge waren damals gerade Frauen oder 16,8 % Bettina von Oesterreich vom Immobilien-
16,7 %
mal zwei, das dritte Kind dreieinhalb keiner Frau finanzierer Hypo Real Estate. Ansonsten:
Jahre alt. Trotzdem wollte die Marke- im Vorstand Nadelstreifen, wohin man schaut.
tingassistentin 30 Stunden pro Woche In den Top 50 börsennotierten Unter-
arbeiten. Ein Unding, fanden Bekann- nehmen Europas halten Frauen nur elf
te. „Kein Problem“, fand der Mann von 11,5 11,5 10 % Prozent aller Sitze in den Führungsgre-
Microsoft. „Ich vertraue Ihnen, das schaf- % % mien, so EU-Statistiker von Eurostat.
fen Sie“, sagte er und stellte sie ein. Deutsche Aufsichtsräte sind gerade mal zu
Zwei Jahre ist das nun her, und Isabel 6,2 zehn Prozent weiblich besetzt – und auch
Vogel hat es geschafft. Mehr noch: Aus ih- % das nur dank der Arbeitnehmerseite.
rer Teilzeitstelle im Marketing ist ein Full- Obendrein existiert eine enorme Ent-
time-Job geworden. Keinen Tag fiel sie aus lohnungslücke. Pro Arbeitsstunde erhal-
– auch dank des familienfreundlichen Um- EIGENKAPITAL- UMSATZ- GESAMT- ten Frauen hierzulande durchschnittlich
felds, das die Firma bietet. Jungen Kolle- RENDITE RENDITE KAPITALRENDITE 22 Prozent weniger Geld. So ist die Lage,
ginnen dient sie seither als strahlendes *Top 500 börsennotierte US-Firmen von 2001 bis 2004; Quelle: Catalyst sechs Jahre nachdem die Bundesregierung
Vorbild – und ihrem Arbeitgeber als Be- mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft
76 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
vereinbarte, die Chancengleichheit zu för-
dern.
Mittlerweile ist zwar klar, dass man die
Frauen-Führung
Anteil der Frauen in den obersten Ent-
Frauen braucht. Doch sie zu gewinnen scheidungsgremien der jeweils 50 größten
wird immer schwieriger. „Das familiäre börsennotierten Unternehmen 2006
Umfeld ist für Frauen das Killerkriterium.
Wenn das nicht stimmt, kriegen wir sie NORWEGEN 32%
nicht“, sagt Microsoft-Personalchefin Bri- SCHWEDEN 24%
gitte Hirl-Höfer, die im Kampf um die bes-
ten Talente alles unternimmt, um das ge- FINNLAND 19%
wünschte Ambiente zu schaffen: Microsoft GROSSBRITANNIEN 12%
organisiert Kita-Plätze und finanziert sie DEUTSCHLAND 11%
mit, betreibt eine Eltern- und Babysitter-
börse und zahlt die Vermittlungsgebühr für FRANKREICH 8%
alle möglichen Familienservices, von der NIEDERLANDE 7%
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 81
Wirtschaft
S TA N D O R T E
D
as Erfolgsgeheimnis des größten
Handy-Herstellers der Welt klingt
zu schön, um wahr zu sein: „Bei
Nokia heißt es Mensch“, behauptet das Un-
ternehmen salbungsvoll auf seinen Inter-
net-Seiten. „Teamgeist, Respekt vor dem
Offiziell werden die von langer Hand Woche jedenfalls erneut knallhart und
vorbereiteten Entschlüsse zum Aus an der betonte: „Es ist kaum vorstellbar, dass wir
Ruhr bislang noch als „Pläne“ bezeichnet. einen neuen Aspekt finden, der uns zu ei-
Doch der Terminus hat vor allem juristi- ner Änderung unserer Entscheidung brin-
dabei ist, seinen Ruf zu beschädigen“ sche Gründe, denn nach hiesigen Gesetzen gen könnte.“ Klaus-Peter Kerbusk
No Nokia?
für Rekord-Milliardengewinne feiern.
Die Boykott-Träume sind aber auch populistisch bis absurd,
denn was tat die gleiche, nun zeternde deutsche Politik, als
BenQ im vorvergangenen Jahr seinen hiesigen Siemens-Ab-
Die eiskalte Unternehmenspolitik des Konzerns leger dichtmachte?
hätte einen schmerzhaften Boykott Am Donnerstag witzelte ARD-Unterhalter Harald Schmidt:
„Deutsche, kauft nicht bei Finnen!“ Aber bei wem dann? Bei
verdient – der aber zugleich absurd ist. den Japanern und Schweden von Sony Ericsson? Den Ame-
rikanern von Motorola? Den Asiaten von Samsung? Nokia ist
D
as deutsche Contact Center des finnischen Mobilfunk- der letzte Konzern, der in Deutschland noch Handys herstellt.
konzerns Nokia verspricht, „immer ein offenes Ohr“ Andere Produkte sind ohnehin längst verschwunden.
für seine Kunden zu haben. Die Callcenter-Agenten Boykottiert Seehofer etwa die urdeutsche Textilfirma Boss,
dort sind freundlich, einsilbig und völlig überfordert von der die ihre Anzüge mittlerweile gern in der billigeren Türkei
Protestwelle, die neuerdings täglich über sie hereinbricht. schneidern lässt? Hat schon irgendjemand sein Blaupunkt-
Egal übrigens, ob man sie wegen technischer Details kon- Autoradio weggeschmissen, das heute überwiegend in Billig-
taktiert oder für ihre Führungsspitze beschimpfen möchte – lohnländern zusammengeschraubt wird?
kostet alles die gleichen Gebühren: „79 Cent pro Minute aus Carrera-Rennbahnen kommen immer aus China, Steiff-Tie-
dem Festnetz“. Sie hören sich alles an. Sie sagen, sie hätten re immer wieder. AEG-Waschmaschinen werden unter schwe-
auch eine eigene Meinung, aber die dürften sie natürlich nicht discher Ägide von polnischen Arbeitern gebaut. Adidas-Turn-
verraten. Das Unternehmen lässt sich auch noch die Wut sei- schuhe und Puma-Klamotten? Alles global gefertigt und da-
ner Kunden bezahlen. Diese Wut ist durchaus groß. durch deutlich günstiger. Seehofer bliebe noch Unterwäsche
Von der SPD-Muräne Peter Struck über CSU-Verbraucher- von Trigema oder ein Schlappen-Ensemble von Birkenstock.
minister Horst Seehofer bis in die Niederungen der Bonner „No Nokia“ wird gar nichts ändern. Weder in den Bilanzen
Stadtverwaltung hinein tut sich eine seltene bis seltsame Alli- der Finnen noch in den Köpfen deutscher Verbraucher. Jeder
anz auf: Verbraucher proben den Aufstand. dieser Boykott-Aufrufe ist letztlich ein irrationaler Angriff auf
Sie alle telefonierten bisher mit Nokia-Handys. Nun ist eine ebenso rationale wie rationalisierte Arbeitswelt.
Schluss. Jetzt soll sich endlich mal gewehrt werden gegen die Wer auch soll so etwas wie das Nichtstun der Verweigerung
hässliche Fratze des globalisierten Kapitals! Laut SPIEGEL- wahrnehmen? Allenfalls einer: jener Kunde, der nun für ein
Umfrage wollen 49 Prozent der Bundesbürger die Produkte paar Sekunden den Guerillakrieger in sich spüren darf. Aktiv
des Konzerns durch Boykott bestrafen. Die Empörung ist ver- gerade in seiner Passivität. Es ist eine gefühlte Revolution, eine
ständlich, populistisch und absurd zugleich. Protestillusion wie Internet-Seiten der Sorte sag-nokia-deine-
Verständlich, weil Nokia wirklich keinen Fettnapf ausließ, meinung.de, die vergangene Woche Zulauf hatten. Im Ge-
sich als eiskalter Profitmaximierer zu gerieren. Das Bochumer gensatz zur Nokia-Hotline kann man seinen Protest dort so-
Werk ist hochprofitabel, die Subventionen flossen reichlich. gar gratis abladen. So günstig kann ein gutes Gewissen sein.
Doch zur gleichen Zeit, da in Bochum Tausende demon- Fast ein bisschen arg billig. Thomas Tuma
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 83
HANDEL
Luxusriese am
Stadtrand
Ausgerechnet in der Arbeitslosen-
Hochburg Duisburg soll
Deutschlands gewaltigstes
JARDAI / MODUSPHOTO.COM
Outlet-Center für
Designer-Schnäppchen entstehen.
N
ach Roermond kommt man nur aus
einem Grund: zum Sparen. Und
auch wenn das zunächst dubios Einkaufsparadies (im niederländischen Roermond): „Ein satter Kunde ist fröhlicher“
klingt: Sparen kann man in Roermond vor
allem, indem man Geld ausgibt. gebaut hat. Im vergangenen Jahr mar- trotz des großen, nahen Wettbewerbers aus
Wie Sophie Beiter zum Beispiel: Konfek- schierten 2,9 Millionen Käufer durch das Holland neuerdings das elfte deutsche Fac-
tionsgröße S, 28 Jahre alt, modebewusste Nirwana für Schnäppchenjäger mit seinen tory-Outlet-Center geplant.
Single-Frau, die gemeinsam mit einer Freun- über hundert Geschäften. Mit 140 Geschäften auf 25 000 Quadrat-
din im Auto mehr als 70 Kilometer angereist Hier gibt es Marken von Hugo Boss bis metern Verkaufsfläche würde es das größ-
ist. Sophie Beiter ist sozusagen eine Durch- Dolce & Gabbana. Ein Angebot wie in der te Deutschlands werden. Der Investor rech-
schnittssparerin. Nach über vier Stunden 60 Kilometer entfernten Düsseldorfer Kö, net mit jährlich drei Millionen Kunden.
verlassen die beiden Roermond. In ihren nur bis zu 70 Prozent günstiger und an 363 Anlocken werden sie dann wohl eher
Einkaufstüten: mehrere Pullover, zwei Ho- Tagen im Jahr geöffnet. die Mindestrabatte in Höhe von 30 Pro-
sen, ein Kleid und ein geblümter Bikini. Ausgerechnet in der deutschen Nach- zent als der Charme der Stadt Duisburg,
Ihr Ziel war ein ehemaliges Kasernen- barschaft von Roermond soll es schon bald die zwar einen netten Zoo und neuerdings
gelände der niederländischen Stadt, auf Konkurrenz geben. Im Norden von Duis- einen zum Trendviertel mutierten Innen-
dem der britische Investor McArthurGlen burg, auf dem Gelände der baufälligen hafen aufzuweisen hat, aber auch eine der
im Jahr 2001 ein Factory-Outlet-Center Rhein-Ruhr-Halle direkt an der A 59, ist höchsten Arbeitslosenquoten des Landes.
Wirtschaft
NDR VERLAGE
schen Hermannstadt geborene Spitra auch die Zulassung einer Revi- erhalten und Axel Sven
konservativen Kreisen im Rundfunkrat sion des Verfahrens. Der nur noch 5 Prozent. Der
vermittelbar, so das Kalkül. Zum engeren 41-Jährige hatte seine Stief- damals 19-Jährige stimmte
Favoritenkreis zählen zudem der ARD- großmutter im Jahr 2002 seinerzeit zu, allerdings
aktuell-Chef Kai Gniffke und ARD-Chef- verklagt, weil er sich ohne sich mit einem
redakteur Thomas Baumann. um einen Großteil seines Springer junior Anwalt beraten zu haben.
86 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Fernsehen
JOURNALISMUS
BEBETO MATTHEWS / AP
CBS-Star Rather (kurz vor seinem Abgang im März 2005): „Ein glücklicher Krieger“
E
r war nicht im Sender in jenen Stun- den sie die „Stimme Gottes“ nannten, er Als er im Studio war und die Papiere
den, er war ja wieder Reporter wie war Dan Rather, eine der bedeutendsten sah, nannte er sie „radioaktiv“, weil sie so
früher, er stand mit seinem Mikro in Fernsehstimmen Amerikas. eine Wucht ausstrahlten. Er hatte keine
einem Hurrikan und erzählte Amerika, Sie brauchten ihn, weil der Feind der Zweifel, er hat ja noch heute keine Zweifel.
wie sich das anfühlt, wenn es windet und Präsident der Vereinigten Staaten war, ein „Wenn die Geschichte nicht gestimmt hät-
weht. Präsident im Krieg. Es waren noch jene te, hätte das Weiße Haus sie dementiert“,
Sie riefen ihn zurück nach New York, Jahre, in denen nicht alle Medien über sagt er an diesem Donnerstag Mitte Januar
weil sie für diese Moderation ihn wollten George W. Bush herfielen; treu war die in New York, 42. Straße, 8. Etage, Suite
und keinen anderen. Es wunderte ihn „New York Times“, zahm die „Washington 850, ein 76-jähriger Herr mit grauem Sei-
nicht. Natürlich war er der Mann, den sie Post“. Es ist ganz schön lange her. Dan tenscheitel in einem Büro voller antiker
brauchten bei CBS, er war schließlich der, Rathers letzte Geschichte beginnt 2004. Möbel. „Ist Ihnen aufgefallen“, fragt er,
88 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
„dass bis heute niemand gesagt hat, die „Ja“, sagt Dan Rather, „so war es.“ kutierten über den Zweiten Weltkrieg, die
Geschichte sei falsch? Sie greifen immer Es gibt ein Großraumbüro hier in der Rezession und über Amerika, sie glaubten
nur die Papiere an.“ 42. Straße, junge, schöne Menschen sitzen an Zeitungen: Sie lasen dem Sohn die Mel-
Die Papiere, Mister Rather, sind der an schmalen Tischen und telefonieren vor dungen vor, „Zeitungen sind die Univer-
Kern der Geschichte. ihren Computern, „Dan Rather Reports“ sität des kleinen Mannes“, sagte der Vater.
„Und ich glaube, sie sind echt.“ heißt die Firma. Als Dan an Rheumatischem Fieber er-
Er ist jetzt lauter geworden, klopft auf Einmal pro Woche läuft seine Sendung, krankte, musste er neun Monate lang im
die Schreibtischunterlage bei jeder Silbe. aber sie läuft nur bei HDNet, einem Bett liegen. Er hörte Radio, Edward R.
„Jedenfalls sagen sie die Wahrheit. Ich Kabelsender, den sieben Millionen Ameri- Murrow berichtete für CBS von der Front.
werde es beweisen, darum gehe ich ja vor kaner abonniert haben; das Senderchen „Ich bewunderte diesen würdevollen
Gericht. Das ist der Sinn meines Kampfes. gehört Mark Cuban, einem Milliardär aus Abenteurer“, sagt Rather.
Es wird schwer, aber ich bin ein glücklicher Dallas, der auch die Basketball-Mannschaft Er ging zu den Marines, schaffte es zum
Krieger.“ Dan Rather greift die Kaffeetas- der Dallas Mavericks besitzt. „Chronicle“, scheiterte aber an der Recht-
Der Feind war der Präsident der Vereinigten Staaten, ein Präsident im Krieg
HECTOR MATA / AFP (L.); AP (R.)
Bush auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“ (2003) Nationalgardist Bush (1968)
se beidhändig, er trägt Nadelstreifen und Cuban sagt, er verehre Dan Rather, und schreibung; er studierte am Sam Houston
ein offenes Hemd. Rather sagt, Mark Cuban sei einer der letz- State Teachers College, der erste Student
Seine Kollegin Mary Mapes hatte die Pa- ten Eigentümer, die verstünden, dass Jour- der Familie, sprach an den Sonntagen für
piere damals besorgt. Die zarte, zähe Frau nalisten Freiheit brauchen. In Rathers Re- das Universitätsradio, und dort mochten
mit den blonden Locken war Produzentin galen stehen DVDs, „Der beste Kongress, sie seine Stimme und ließen ihn machen.
bei CBS News, eine der besten Recher- den man für Geld haben kann“, solche Fil- So kam er zu KHOU-TV, einer lokalen
cheurinnen der Redaktion. Vier Doku- me darf er jetzt wieder machen, aber er Tochter von CBS. Und als der Hurrikan
mente hatte sie herangeschafft, Kopien von spricht nicht von der Gegenwart, er spricht „Carla“ Texas verwüstete, war Rather in
1972 und 1973. Von dem jungen First Lieu- von den 44 Jahren bei CBS, von seinem Galveston, ehe die Straßen gesperrt wur-
tenant George W. Bush war die Rede in einsamen Kampf. den. Er berichtete und berichtete, bei CBS
den Papieren, davon, dass dieser Bush Dan Rather gegen CBS. erzählen sie heute noch die Legende, Ra-
„nicht die Zeit“ habe, den Befehlen zu fol- Dan Rather gegen Viacom, den Me- ther habe sich damals an einen Telefon-
gen und seine medizinische Untersuchung dienkonzern, zu dem CBS gehörte. mast gebunden, damit er nicht fortgeblasen
zu absolvieren. Dan Rather gegen alle, die er einst lieb- wurde; und weil niemand sonst Bilder von
Und deshalb sah es so aus, als bewiesen te, gegen das, was übrig ist von dem „ma- „Carla“ hatte, kaufte CBS zuerst Rathers
die Papiere, dass George W. Bush sich um gischen, mystischen journalistischen König- Filme und dann den Reporter vom Markt.
den Dienst in der National Guard der USA reich“, das CBS News für ihn war, diese So begann es, 1961. Rather verdiente in
herumgedrückt hätte, während Gleich- Bastion „voller Elan und Werte, wo selbst seinem ersten Jahr bei CBS 17 200 Dollar.
altrige in Vietnam starben. Es schien, als die Kantinenkräfte stolz waren, Teil von 44 Jahre später waren es 6 Millionen.
hätten Offiziere George W. Bush vor der CBS News zu sein“, so sagt es Rather. Lässt sich daraus Schadensersatz ablei-
unehrenhaften Entlassung geschützt. „Er Er sei immer schon ein Reporter gewe- ten, weil Rather ein Jahr früher vom Bild-
spricht auch mit jemandem weiter oben“, sen, erzählt er nun, selbst als Kind, als er schirm verschwand, als es mit der Leitung
das hatte Lieutenant Colonel Jerry Killian noch gar nicht wusste, was Reporter ei- abgesprochen war? Das ist die Frage, deren
über seinen Soldaten Bush geschrieben. gentlich tun. „Ich wollte nie Indianer- Beantwortung den Prozess entscheiden
Es waren Zeiten des Wahlkampfs, 2004, häuptling oder Kapitän werden, immer nur wird, aber Dan Rather, so jedenfalls wür-
Bush gegen John Kerry, und Bushs Re- Reporter. Ich träumte von einer Autoren- de er das formulieren, kämpft in Wahrheit
publikaner zweifelten Kerrys Heldenge- zeile im ‚Houston Chronicle‘.“ natürlich nicht für sich, sondern für eine
schichten aus Vietnam an, als CBS die Pa- Daniel Irvin Rather, der Vater, verlegte Rückkehr der Reporter, für freien Journa-
piere in die Finger bekam. Das sah nicht einst Ölleitungen für Humble Pipeline in lismus kämpft er und auch für die Neu-
gut aus: Ein Präsident, der nicht mal an Houston, Texas; nie tankte er bei einer an- gierde, für Recherche, für Mut, all das.
der Heimatfront hatte dienen wollen, intri- deren Firma als jener, die ihn bezahlte; Er kämpft mit maximalem Pathos, kein
gierte gegen einen dekorierten Veteranen? Veda, die Mutter, putzte. Die Eltern dis- Begriff ist ihm zu klein, „ich bin unabhän-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 89
Medien
gig, wer soll diesen Kampf kämpfen, wenn mit Stimmen, die nach Whiskey, Zigarren Gutachter schlossen nicht aus, dass die
nicht ich?“, sagt er, aber er hat schon auch und den Krisengebieten des Kalten Krieges Dinger echt seien, das Weiße Haus äußer-
Zahlen im Kopf. 70 Millionen Dollar will klangen. „This is CBS Evening News te sich vage und meldete später Zweifel
Rather von seinem Sender, der ihn vom with Dan Rather“, das war ein erster Satz, an. Das Problem der Rather-Truppe war
Schirm nahm und dann fallenließ. der der Nation Sicherheit schenkte, Abend ihr Informant: Bill Burkett, Bush-Hasser
Es sagen viele in New York, dass da ein für Abend. und Ex-Offizier bei der National Guard,
eitler, alter Mann nicht loslassen könne. So wie Rather ist kein Fernsehgott je ab- hatte zuerst gesagt, ein Kollege habe die
Dass Dan Rather es nicht aushalte ohne getreten, es wird ein Prozess werden wie Papiere besorgt; dann hatte er behauptet,
das Rotlicht der Kameras. „Traurig“, sa- bei Michael Jackson oder O. J. Simpson, er habe sie von einer Frau namens Lucy
gen sie bei CBS, „ein Jammer, wie da einer und Dan Rather sagt jetzt ganz leise, dass erhalten, aber Lucy war weg, tauchte nie
unserer Helden seine Legende zerstört.“ er sich doch nur Aufklärung wünsche. wieder auf. Existierte Lucy?
Aber wenn man Dan Rather reden hört, Eine echte Beweisaufnahme. Bush im Es könnte dennoch stimmen, was in Mi-
viele Stunden lang, klingt es doch anders. Zeugenstand. Die Führungsmannschaft litärkreisen erzählt wird: dass Akten ge-
Dan Rather war immer Teil seiner Nachrichten, er trat darin auf und sprach über seine Gefühle, er moderierte leidenschaftlich
Da redet ein Journalist, der an der Me- schreddert wurden. Möglich ist auch, dass
dienmoderne leidet. Burkett die Papiere selbst geklaut oder ge-
S. 90: GETTY IMAGES (L.); GLOBE/INTER-TOPICS (M.); LANDOV/INTER-TOPICS (R.); S. 91: DAVID TURNLEY/CORBIS (L.); LANDOV/INTER-TOPICS (R.)
Ist Journalismus noch möglich in Kon- sichert hat, vielleicht ist dies sogar die
zernen wie Viacom? Wenn Nachrichten wahrscheinlichste aller Versionen – dann
ein Produkt von Mischwarenfirmen sind hätte Burkett seine Lucy nur erfunden, um
und sicherlich nicht das profitabelste Pro- seine Straftat zu vertuschen, und natürlich
dukt? Wenn Rechercheure die Geschäfts- wären die Papiere echt, aber war es
Bei Fidel Castro auf Kuba (1996)
kunden stören und die Verbandsvorsit- tatsächlich so? Ein Lügner ist nach der
zenden ständig zum Telefon greifen, weil Lüge kein guter Kronzeuge mehr.
jeder kritische Film irgendwem lästig ist? von Viacom und CBS unter Eid. Eine Re- Nur Dan Rather glaubt Bill Burkett noch
„Die Distanz zwischen denen, die die cherchereise in die Vergangenheit, nichts immer.
Konglomerate führen, und den Journalis- als die Wahrheit, endlich. Es ist still geworden um Rather, selten
ten wird größer und größer“, sagt Dan Ra- Die Gegenseite sagt, das sei eine seltsa- klingelt sein Telefon, nur seine Frau ruft
ther, „und damit verschwindet selbst in me Hoffnung. „Dieses Verfahren soll ein- zweimal am Tag an, um den „Enkelreport“
den Medien das Verständnis dafür, dass zig und allein dazu dienen, dass Dan Ra- durchzugeben, wie er sagt. Gern würde
Nachrichten ein öffentliches Gut sind. Die ther seinen zerstörten Ruf zurückerhält“, Jean nach Texas ziehen, so hatten sie es
Frage ist, ob man die Öffentlichkeit dafür sagt James Quinn, Partner bei Weil, Got- geplant für die Jahre nach dem letzten
interessieren kann und ob sie noch wach shal & Manges, den Rechtsberatern von Wetterbericht. Jean war gegen die Klage,
ist, zu bemerken, was sich da verändert.“ CBS im Fall Rather. „Das Gericht wird nur „Lass gut sein, Dan“, das sagte sie.
Sie wird wach sein, die Öffentlichkeit, darüber entscheiden, ob CBS Herrn Ra- Die Anhänger von früher sind ver-
wenn in Downtown New York in einigen ther fair behandelt hat, und ich kann Ihnen stummt, die alten Vertrauten auch, da heu-
Wochen das Hauptverfahren beginnt, das heute schon sagen, das hat CBS getan“, te Dan Rather radioaktiv ist für jeden, der
wird ein amerikanisches Spektakel wer- sagt Quinn, „und übrigens, die Frage, ob bei CBS auf eine Karriere hofft. Vier Leu-
den. Es leben nicht viele Amerikaner, die die Papiere echt waren, kann man gar nicht te mussten CBS sofort verlassen wegen der
so berühmt sind wie Rather. mehr klären. Es sind über 30 Jahre ver- Affäre, selbst diese vier sind unerreichbar
Drei große amerikanische Fernseh- gangen – falls es jemals Originale gab, sind für Rather, weil sie Schweigevereinbarun-
sender gab es im 20. Jahrhundert und drei sie für alle Zeiten verschwunden.“ gen unterschrieben und Abfindungen be-
Ikonen am Mikrofon: Über Jahrzehnte Damals überprüften sie die Kopien bei kommen haben. „Warum“, fragt Rather,
sprachen Dan Rather, Peter Jennings und CBS, aber sie hatten nicht viel Zeit. Auch „wenn der Sender doch nichts zu verber-
Tom Brokaw die Abendnachrichten bei „USA Today“ war an der Geschichte dran, gen hat?“
CBS, ABC und NBC. Weise Männer, all- darum ging CBS ziemlich flott auf den Sen- Damals ging alles sehr schnell, „Rather-
wissend, so sollten sie wirken, Welterklärer der damit. gate“ nannten sie die Affäre im Sender.
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Ein paar Tage lang verteidigte CBS die eine hat nichts mit dem anderen zu tun, Buchstaben „F.E.A.“, was „Fuck ’Em All“
Geschichte, aber dann musste Rather sich niemals hat die Regierung Einfluss auf die bedeutet haben mag, aber das konnte dann
öffentlich entschuldigen. Dann sagten die Nachrichten genommen oder nehmen kön- keiner beweisen.
Manager des Senders, dass sie eine Unter- nen“, sagt er. Ein Zitat des Viacom-Chefs Der Fall Rather gegen CBS begann vor
suchung des Falls angeordnet hätten, die Sumner Redstone ist allerdings überliefert, ein paar Tagen. Der New York State Su-
von dem ehemaligen Staatsanwalt Dick es stand in „Time“: „Ich glaube, eine re- preme Court ist ein altes Gebäude, 30 Stu-
Thornburgh geleitet werde, einem Freund publikanische Regierung ist besser für Me- fen, viele Säulen, in Saal 242 viel dunkles
der Familie Bush. „Das ist unglaublich“, dienunternehmen als eine demokratische.“ Holz; eine erste Anhörung hatte der Rich-
schrie Rather, „un-fucking-believable!“ Wenn Dan Rather an seine 44 Jahre bei ter angesetzt, der dort oben vor dem
„Das kannst du nicht tun“, sagte er sei- CBS denkt, tut er das in Bildern. Martin Schriftzug „In God we trust“ saß.
nem Chef Andrew Heyward, dem Präsi- Luther King fällt ihm ein. Die dunklen Die Leute von CBS hatten gehofft, dass
denten von CBS News. „Es ist getan“, sag- Tage von Dallas, die Ermordung John F. der Fall schon hier erledigt würde. „Wenn
te Heyward. Kennedys: Dan Rathers Team meldete zu- man den ganzen Rauch mal wegbläst, dann
Die Kommission fand Versäumnisse. Sie erst, dass der Präsident tot war. Dann bleibt ein enttäuschter alter Mann“, so ar-
fand heraus, dass die Nachrichtenleute, ge- Vietnam: Einmal trug Rather einen Ver- gumentierte Mister Quinn, „es ist doch
trieben vom Eifer, alle Zweifel ignoriert wundeten vom Schlachtfeld und brüllte kristallklar: Dan Rathers Vertrag besagte,
hätten, dass sie die Quellen und vor allem dem Kameramann zu, er solle mit dem dass CBS das Recht hatte, ihn auf dem
die Dokumente nicht hinreichend geprüft, verdammten Drehen aufhören, aber der Bildschirm einzusetzen, und die Pflicht,
viel zu schnell viel zu heftige Behauptun- Kameramann drehte weiter, CBS zeigte ihn zu bezahlen. Wenn Sie ein Football-
gen als Beweise dargestellt hätten. 224 Sei- die Bilder, und Rather war ein amerikani- trainer sind, müssen Sie Ihren Quarterback
ten hat der Bericht, eine Chronologie des scher Held. auch nur bezahlen, aber Sie dürfen ihn
Versagens, und als Dan Rather die Akte Später dann Nixon. Afghanistan. Die doch auf die Bank setzen.“ Das aber sah
auf dem Tisch hatte, es war der 10. Januar Live-Sendung aus China, 1989, vom Platz der Richter anders, er verwarf keinen der
2005, 8.49 Uhr, so erzählt er es heute, da des Himmlischen Friedens. Der 11. Sep- sieben Punkte aus Rathers Klage, er deu-
habe er gedacht: „What bullshit. Was für tember. „Ich wandere durch das Museum tete an, dass er den Prozess zulassen wer-
ein Komplott. Was für eine Verdrehung.“ meiner Erinnerung“, sagt er, „neulich war de; zerstörte Reputationen können teuer
Ein gehetzter Mann muss der große Dan ich im Wahlkampf in New Hampshire und werden in Amerika. Rather sagt, wenn er
Rather in jenen Wochen gewesen sein. dachte doch an eine Patrouille in Vietnam. gewinne, werde er die meisten Millionen
Morgens um sechs fuhr er von seiner Woh- Mein Hirn ist wie eine Jukebox, immer für die Ausbildung von Reportern stiften.
nung an der Upper Eastside ins Studio in spielt irgendein alter Film.“ Er nämlich will nur diese eine, die letz-
der 57. Straße. Selten spazierte er durch Dan Rather war immer auch Teil seiner te Meldung noch hören: „Rather besiegt
den Central Park, angeln ging er kaum Nachrichten, er trat darin auf und sprach CBS.“ Und sprechen soll diesen Satz seine
noch, und wenn die Nachrichten began- über seine Gefühle, er moderierte leiden- Nachfolgerin.
nen, abends um halb sieben, war der Mo- schaftlich und erfand Redewendungen, die Als Dan Rather zuvor an diesem Don-
derator längst erschöpft; am Telefon mel- in Amerika „Ratherisms“ genannt werden: nerstag mit dem Fahrstuhl zu seinem Büro
dete er sich mit den Worten: „Hier ist Ra- „Ärgere den Alligator nicht, bevor du den hinauffuhr, stand eine Frau mit dem Rü-
ther plus drei.“ Er meinte sich und die drei Fluss durchquert hast.“ Er war komisch, er cken zu ihm, sie hieß Veronica. Rather er-
Gläser Bourbon. war manieriert, langweilig war er nie. zählte etwas, und Veronica drehte sich um
Heute erzählt Dan Rather noch eine an- Die Wahlnacht von 2004 ließen sie ihn und sagte: „Diese Stimme kenne ich doch,
dere Geschichte von CBS. Er sagt, damals noch moderieren, und wenn Kerry und sie hat mich durch mein Leben geführt.“
sei es für den Sender und vor allem für nicht Bush gewonnen hätte, wäre Dan Ra- „Ich will ja nicht kokettieren“, sagt Dan
Viacom um Steuererleichterungen gegan- ther vielleicht noch heute bei CBS. Nach Rather nun in seiner Suite.
gen, um neue Gesetze, für die der Sender der Wahl nahmen sie ihm die Nachrichten Aber?
das Weiße Haus brauchte, um Milliarden. weg, bei seiner letzten Moderation trug er „Im Taxi war es vorhin genauso. Das
Ein CBS-Sprecher widerspricht heftig, „das unter der Krawatte ein T-Shirt mit den passiert mir ja immer noch ständig.“ ™
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 91
Panorama Ausland
TÜRKEI
Kopftuchstreit am Bosporus
E inem seiner wichtigsten Ziele, das
Kopftuchverbot an türkischen Uni-
versitäten abzuschaffen, ist Ministerprä-
das laizistische Erbe Atatürks dar, wet-
terte Generalstaatsanwalt Abdurrahman
Yalçinkaya und brachte gar ein Verbots-
sident Recep Tayyip Erdogan nur schein- verfahren gegen Erdogans Regierungs-
bar einen Schritt näher gekommen. Am partei AKP als treibende Kraft der Kopf-
vergangenen Donnerstag einigte sich der tuch-Renaissance ins Gespräch. Auch aus
islamisch-konservative Premier mit der Armeekreisen wurden Drohungen laut:
Wer wird „Mister Europa“? und privat bestens versteht. Etliche Sozial-
demokraten und die meisten christdemo-
kratischen Abgeordneten im Europäischen
Der Top-Job ist neu und heißt gravi- Parlament sind allerdings gegen ihn,
tätisch „Präsident des Europäischen ebenso die deutsche Bundeskanzlerin
Rates“. Ab dem 1. Januar 2009, Angela Merkel. Blair selbst käme der
so steht es im Verfassungsvertrag, ehrenvolle Titel teuer zu stehen.
soll der neue Amtsinhaber für min- Derzeit verdient er als Bank-
destens zweieinhalb Jahre den Lobbyist, Buchautor und VIP-
Vorsitz bei den Gipfeltreffen der Redner Millionen britischer
Staats- und Regierungschefs über- Pfund. Damit wäre dann Schluss.
VO N LINKS: STE PHE N HIRD / RE UTE RS; JE AN- CHRISTO P HE V ERHAEGEN / AF P ;
Janez JanΔa dem Rat vor. Aber wer darf Lagern und Ländern. Juncker
„Mr Europa“ werden? wäre der Garant der Kleinen
Der Andrang der Polit-Prominenz auf das Amt gegen die Übermacht der Großen
ist groß. Gute Chancen werden zum Beispiel in Europa, mit besten Beziehungen
dem ehemaligen britischen Premier Tony Blair zu Merkel wie zu Sarkozy. Aber
zugesprochen. Er ist der erklärte Favorit des auch der polnische Ex-Präsident
konservativen französischen Staatspräsidenten Aleksander Kwa£niewski oder der
Nicolas Sarkozy, mit dem dieser sich politisch belgische Premier Guy Verhofstadt
Tony Blair Jean-Claude Juncker Guy Verhofstadt
Premier Großbritanniens Regierungschef Premierminister
von 1997 bis 2007 Luxemburgs seit 1995 Belgiens seit 1999
Überraschende Hilfe
Weil der Kreml dem vergleichsweise
könnten kleinere EU-Länder hinter sich gemäßigten Tadiƒ einen Gefallen er-
scharen. Allenfalls Außenseiterchancen wies, ist nun in den europäischen Regie-
hat dagegen der frühere spanische Regie-
rungschef José María Aznar. Der heftigs-
te Widerstand kommt
D urch einen plötzlichen Pakt mit
Moskau hofft Präsident Boris Tadiƒ
die Wiederwahl am kommenden Sonn-
rungszentralen die Hoffnung auf dessen
Wiederwahl gestiegen. Von Tadiƒ wird
eine maßvollere Reaktion auf die Ent-
aus Madrid: Premier tag zu schaffen. Öffentlichkeitswirksam wicklung im Kosovo erwartet. Die ser-
José Luis Rodríguez unterzeichneten der westlich orientierte bische Provinz dürfte sich bald schon
Zapatero kann Staatschef und Premier Vojislav KoΔtu- für unabhängig erklären – mit Billigung
seinen kon- nica ein umfassendes Energieabkom- fast aller EU-Staaten und der USA, aber
servativen men mit dem Kreml. Gegen den Deal, gegen den erklärten Willen Belgrads.
Vorgänger den der serbische Staat mit Gasprom
nicht aus- vereinbarte, hatte sich Tadiƒ eigentlich UNGARN 100 km
stehen. gesträubt, da der Vertrag Russland
enormen Einfluss auf den serbischen KROATIEN Vojvodina
Energiesektor einräumt. Nun aber lenk- RUMÄNIEN
te Tadiƒ aus taktischen Gründen ein. So
möchte er das Argument seines Gegen-
spielers Tomislav Nikoliƒ entkräften, er BOSNIEN- Belgrad
Aleksander allein verfüge über beste Beziehungen HERZE-
Kwa£niewski nach Moskau. Nikoliƒ, einer der Führer GOWINA SERBIEN
Präsident Polens der Radikalen Partei, war aus der ersten
von 1995 Wahlrunde mit knapp 40 Prozent der
bis 2005 Stimmen als Sieger hervorgegangen; PriΔtina
MONTE-
Tadiƒ brachte es nur auf rund 35 Pro-
José María Aznar NEGRO
zent. Als sich die Übereinkunft abzeich- Kosovo
Regierungschef nete, schrieb Nikoliƒ einen Brief an Prä-
Spaniens von sident Wladimir Putin und bat um Auf-
1996 bis 2004 schub, bis er „als langjähriger Verfechter ALBANIEN MAZEDONIEN
russischer Interessen“ in Serbien an die
„A: Verwenden Sie nur Berichte der Nach- G O L F S TA AT E N selbst über Atomwaffen verfügt, sollte
„Teheran muss
richtenagentur Xinhua und Kommentare seine Nuklearanlagen den Uno-Kon-
der ,Volkszeitung‘, keine Artikel anderer trolleuren öffnen und den Atomwaf-
nachgeben“
Quellen. fensperrvertrag unterschreiben.
B: Bekommen Sie Nachrichten, Beiträge, SPIEGEL: Aber auch arabische Herrscher
Foren und Blogs in den Griff. Kommentare wie König Abdullah II. von Jordanien
dürfen nur nach Prüfung veröffentlicht wer- Der Generalsekretär des Golf-Koope- befürchten, dass Teheran mit den schi-
den. Schaffen Sie nicht aktiv neue Themen rationsrates, Abd al-Rahman al-Attija, itischen Bevölkerungsteilen in den Golf-
in Foren. Die Kontrolle der Blogs muss ver- 57, über Washingtons Nahost-Politik staaten und im Libanon eine militante
schärft werden. Jene Beiträge, die den Geist und den mächtigen Nachbarn Iran Allianz schmiedet.
der NVK-Entscheidung negieren und unser Attija: Dafür sehe ich keine Anhalts-
politisches System kritisieren, müssen abso- SPIEGEL: Werden die Golfaraber den punkte. Außerdem machen wir keine
lut blockiert oder gelöscht werden. von Präsident George W. Bush gefor- Unterschiede zwischen Sunniten und
C: Verstärken Sie die positive Meinungsfüh- derten harten Kurs gegenüber Teheran Schiiten, vor dem Gesetz sind alle
rerschaft. Web-Seiten müssen proaktiv die einschlagen? Staatsbürger gleich.
öffentliche Meinung in positiver Manier an- Attija: Diese Forderung SPIEGEL: Das Verhältnis
leiten, betonen Sie positive Stimmen und lehnen wir strikt ab. Mi- der Golfaraber zum Got-
schaffen Sie online eine Pro-NVK-Atmo- litärische Einsätze schaf- tesstaat ist dennoch be-
sphäre.“ fen nur neue Brandherde, lastet, auch weil Iran drei
wie die Geschehnisse in Inseln im Golf besetzt
Palästina, im Irak und in hält.
Afghanistan zeigen. Attija: Damit hat Teheran
SPIEGEL: Washington be- das Prinzip der territo-
schuldigt Teheran, insge- rialen Unantastbarkeit
heim den Bau von Atom- eines fremden Staats-
waffen zu betreiben, um gebiets verletzt. Wir ver-
eines Tages Israel anzu- langen, dass es diese
YASSER AL-ZAYYAT / AFP
I TA L I E N
I
n der neunten Reihe der Parlaments- hänge mit den Troddeln, und lässt die Sze- natorin auf Lebenszeit, erscheinen? Mit
aula sitzt, wächsern und sonderbar ha- nerie unwirklich werden. Parole, parole, dem kränkelnden Karosserieschneider und
ger, ein Mann und streicht in einem parole. Senator auf Lebenszeit Sergio Pininfarina
Manuskript herum. Ab und zu reicht er Berlusconi schreibt. Vielleicht an einem wird schon gar nicht mehr gerechnet.
eine Hand, blickt kaum auf dabei, schreibt Regierungsprogramm für die ersten hun- Ein Vertreter der Auslandsitaliener ist
in sich versunken weiter. Der Mann ist Sil- dert Tage. Man sieht es nicht. Gianfranco nicht auffindbar, wohl in Südamerika ver-
vio Berlusconi, 71. Fini kommt, wie zufällig, zu dem Platz in schollen. „Entweder Wahlen, oder wir
Seine Mutter, die 97-jährige Mamma der neunten Reihe geschlendert. Ein Ca- machen eine Revolution“, meldet sich
Rosa, liegt im Sterben. Was kümmert da nossa-Gang. Der Vorsitzende der rechten Umberto Bossi von der Lega Nord. „Die
der Untergang einer Regierung? Alleanza Nazionale hatte kürzlich erst mit Waffen werden wir finden, früher oder
Um ihn herum werden mit Zahlen be- Berlusconi gebrochen. Jetzt sehen die Um- später.“ Keiner ruft den Nervenarzt.
kritzelte Zettel herumgetragen, hinter vor- fragen einen Vorsprung von zehn Prozent Bossis Gefährte Roberto Maroni steht
gehaltener Hand wird telefoniert. Es wird für ein Mitte-rechts-Bündnis unter Führung derweil in der Parlamentsbar, ein Caffè-
lautstark geflüstert oder demonstrativ dis- Berlusconis voraus. Das verbindet. Tässchen in den Hand, und plaudert mit
kret zur Seite gegangen, um eine Abspra- Die erste Vertrauensabstimmung, im politischen Gegnern. Ein Murmeln, La-
che zu treffen oder zu brechen. Unterhaus, wo Prodi eine klare Mehrheit chen, Unterhaken, Küsschen hier und
Gerade hat der Noch-Ministerpräsident für seine Koalition aus elf Parteien (von Küsschen dort. Die italienische Politik ist
Romano Prodi, 68, in der Kammer den den Kommunisten über die Grünen bis zu jetzt ganz bei sich, fern von Inhalten und
„Pakt der Legislatur“ beschworen, hat er- den Christdemokraten) hat, ist überstan- verpflichtet allein der eigenen Macht.
klärt, den Abtrünnigen beim Verrat in die den. 326 zu 275. Kaum einer achtet auf das Der Separatist Giovanni Pistorio aus Si-
Augen sehen zu wollen. Morgen, bei der Ergebnis, alle kalkulieren die entscheiden- zilien hat jedem seine Stimme angeboten,
alles entscheidenden Vertrauensabstim- de Sitzung, am Donnerstag voriger Woche falls ihm dafür eine Brücke auf die Insel ge-
mung im Senat. Alles ist gedämpft, matt im Senat. Krankenbulletins werden ange- baut würde. Ein ergrauter Kommunist,
scheint es vom Oberlicht auf die Schnitze- fordert. Wird Rita Levi-Montalcini, an die Franco Turigliatto, lehnt dagegen jeden
reien in Rotbraun, die gerafften Samtvor- 100 Jahre alt, Nobelpreisträgerin und Se- Cent ab, er gehorche nur seinem Gewis-
96 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ALESSANDRA TARANTINO / AP
sen, stimme gegen diese pseudolinke Re- sein. Der christdemokratische Präsident aus dem Irak zurück und brachte in der
gierung, und wenn dann Berlusconi der Region Sizilien, Totò Cuffaro, ist gera- Uno ein Moratorium der Todesstrafe auf
zurückkehre – nicht seine Schuld. Basta. de zu fünf Jahren Haft wegen Begünsti- den Weg.
So stürzen in Italien Regierungen. gung der Mafia verurteilt worden. Kaum Finanzminister Tommaso Padoa-Schiop-
Selbst der wegen eines Korruptions- jemand hat den Rücktritt verlangt. Cuffa- pa erbte von Berlusconi eine gepflegte Kul-
verfahrens zurückgetretene Justizminister ro setzt auf die zweite Instanz und lud nach tur der Steuerflucht und dementsprechend
Clemente Mastella, selbst der Brutus Mas- dem Urteil erst einmal zum Feiern mit si- große Haushaltslöcher. Heute ist die Quo-
tella, dessen Rücktritt den Zusammen- zilianischen Leckereien. Er hatte wohl mit te der Neuverschuldung mehr als halbiert
bruch der Regierung auslöste, sondiert Schlimmerem gerechnet. und liegt bei zwei Prozent. Die Privilegien
schon wieder nach allen Seiten, wägt die Angesichts der Clownerien der Mas- mächtiger Korporationen wurden gestutzt,
Last-Minute-Angebote ab: 20 sichere Lis- tella und Cuffaro inmitten der Müllber- Steuersünder aufgespürt – wenn auch de-
tenplätze von Berlusconi oder doch lieber ge schrieb der Politikprofessor Martin ren Schutzpatron, Silvio Berlusconi, sträf-
ein maßgeschneidertes Wahlrecht von Rhodes in der „Financial Times“, Italien lich in Ruhe gelassen wurde.
Prodi? Hauptsache, man bleibt im Spiel. sei „das am schlechtesten regierte Land Dank der findigen Industrien im Nor-
Mastellas Partei „Udeur“ aus ehemaligen Europas“. den steigen die Exporte wieder, trotz der
Christdemokraten bekam vor zwei Jahren Das saß und schmerzte vor allem die Attacken aus Fernost. Die Arbeitslosen-
1,4 Prozent und stellt 14 Abgeordnete. Italiener. Sie wissen, wie es um sie steht. quote ist mit sieben Prozent auf dem nied-
In einer anderen Welt kollabieren gera- Noch immer ist der Öffentliche Dienst ku- rigsten Stand seit 30 Jahren. Die Wirtschaft
de die Börsenkurse. In Rom leistet sich die rios aufgebläht, die Verwaltungen in Vet- hält sich aus eigener Kraft über Wasser. Es
politische Klasse das Schauspiel der Selbst- ternwirtschaft gelähmt. Doch gegenüber ist die Politik, die am Kentern ist.
zerfleischung. Romano Prodi und vielen seiner Minister Die Verfassung feierte gerade ihren 60.
Welch eine Parallelität: In Paris liefert ist das Urteil ungerecht. Geburtstag, aber der Parlamentarismus
die „Attali-Kommission“ dem Präsidenten In den 20 Monaten seiner Regierung hat steckt noch im Krabbelalter. 39 Parteien
Nicolas Sarkozy eine komplette Blaupause Prodi den Versuch unternommen, ein we- sitzen in den beiden Kammern. Ein unsor-
für die Modernisierung der Wirtschaft. Der nig Vernunft in die italienischen Zustände tierter Haufen, wie es ihn sonst nur in
Plan der Weisen soll unverzüglich umge- zu bringen. Das hatte etwas Tragisches, frischgebackenen Demokratien gibt.
setzt werden. In Italien, einem der Grün- von Anfang an. Er kam mit 25224 Stimmen In Italien hat das in den Regionen ge-
dungsländer der EU, wackelt die Regie- Vorsprung an die Macht und war auf- wählte Oberhaus absurderweise die glei-
rung, weil der Richter von Santa Maria Ca- grund der knappen Mehrheiten den politi- chen Kompetenzen wie die Abgeordneten-
pua Vetere einem angesehenen Bürger (der schen Empfindlichkeiten seiner Bünd- kammer. Jede Regierung muss sich ihre
zufällig auch Justizminister ist) Günst- nispartner ausgeliefert. Dass die Regierung Mehrheiten für fast alle Gesetze in beiden
lingswirtschaft vorgeworfen hat und die überhaupt Reformen durchgebracht hat, Häusern holen.
Gattin unter Arrest stellen ließ, tief unten ist ein mittleres Wunder und spricht für Anders als in Spanien, Griechenland,
in Kampanien, jener Provinz, die gerade die politische Kunst des kleinen Professors Frankreich haben sich noch keine stabi-
am eigenen Müll erstickt. aus Bologna. len Volksparteien herausgebildet, die im
All dies wäre Stoff für eine Opera buffa, Innenminister Giuliano Amato hat spek- Wechsel die Geschäfte führen. Stattdessen
wenn es nicht so traurig wäre. takuläre Erfolge im Kampf gegen die Ma- bildeten sich in den vergangenen Mona-
Dabei muss eine politische Karriere mit fia erzielt und das Land durch die Fährnis- ten Protestbewegungen, fast über Nacht,
einer Verurteilung keineswegs beendet se des Terrors geschleust. Italien zog sich wie die „Leck mich!“-Kampagne des Sati-
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Ausland
rikers Beppe Grillo oder die Massenkund- Pablo Neruda über das langsame Sterben.
PA K I S TA N
gebungen von „Family day“, einer tief ka- Dann wird Romano Prodi das Vertrauen
tholischen Gruppierung. Niemand vermag
zu sagen, welchen Effekt diese neuen
außerparlamentarischen Kräfte auf die
nächsten Wahlen haben werden. Die Ver-
entzogen. Mit 161 zu 156 Stimmen. „Eine
Ära ist zu Ende“, sagt der Gestürzte, ohne
seine Enttäuschung zu verbergen.
Zweimal gelang es Prodi, seinen Anti-
Ruchlose Söhne
In den Stammesgebieten nahe
bitterung ist groß und gefährlich auch für poden Silvio Berlusconi in Wahlen zu be-
einen Berlusconi mit schnell geschriebe- siegen, zweimal sanierte er die Finanzen, Afghanistan hat eine neue Genera-
nem Hunderttageprogramm. zweimal wurde er durch Hinterzimmer- tion von Taliban das Kommando
Roms Bürgermeister Walter Veltroni Scharaden seiner Verbündeten aus dem übernommen. Ihr Anführer soll am
hatte vergebens versucht, Prodi von der Amt gejagt. Das ist bitter. Bhutto-Mord beteiligt gewesen sein.
Vertrauensabstimmung im Senat abzu- Prodis breites Bündnis ist gescheitert,
W
bringen: Besser wäre es, zurückzutreten zerbrochen am Egoismus von Klientelpar- enn ein Untergebener seine Be-
und mit einer Übergangsregierung ein teien und einer skandalösen Verantwor- fehle nicht befolgt, pflegt Baitul-
neues Wahlrecht auszuarbeiten. Veltroni tungslosigkeit des Personals. Der kleinste lah Mehsud, der neue Taliban-
erklärte kürzlich, seine neue „Demo- gemeinsame Nenner, die Gegnerschaft zu Chef von Pakistan, dem Missetäter 1000
kratische Partei“ werde allein in die Berlusconi, hatte eine kurze Halbwerts- Rupien, etwa 11 Euro, nach Hause zu
Wahl ziehen, ohne das fatale Bündnis mit zeit. Was vor 20 Monaten keiner hätte schicken, dazu Nadel und Faden sowie die
Neokommunisten oder Grünen. Dafür glauben können, ist nun quasi sicher: Silvio Aufforderung, er solle sich binnen 24 Stun-
braucht er aber ein verändertes Wahl- Berlusconi, längst Inbegriff eines schlech- den ein Totenkleid nähen lassen. Ist die
recht mit einer Drei- oder Fünfprozent- teren Italien, wird wieder, zum dritten Mal, Zeit verstrichen, hat der Verräter meist
klausel, die winzige Parteien aus dem in den Regierungspalast einziehen. sein Leben ausgehaucht – hingerichtet von
Parlament heraushält, und einem Mehr- Am vorigen Freitag traf Staatspräsident den Milizen des Extremistenführers.
heitsbonus. Romano Prodis Traum vom Giorgio Napolitano die Vorsitzenden der Im Stammesgebiet von Süd-Waziristan
ausgreifenden Bündnis war nichts als eine beiden Kammern. Nach dem derzeitigen kursieren viele grausame Geschichten über
Notgeburt. Stand der Dinge dürfte er rasch eine Über- den erst 34-jährigen neuen starken Mann
der Taliban. Allerdings hat kaum einer den
Islamisten-Kommandeur je zu Gesicht be-
kommen. Kein einziges Foto zeigt den
Taliban-Führer aus dem Dorf Landidog,
der sich in der weitgehend von der Zivili-
sation abgeschnittenen Region vor unge-
betenem Besuch versteckt. Hier herrschen
die Broomikhels, ein Unterstamm der
Mehsuds, den schon die britischen Kolo-
nialherren wegen ihres kriegerischen We-
sens als „Wölfe“ fürchteten.
Dennoch ist der geheimnisvolle Baitul-
lah Mehsud in Pakistan heute bekannt wie
ein Cricket-Star: Präsident Pervez Mu-
sharraf hat ihn zum Staatsfeind Nummer
eins erklärt.
Als enger Verbündeter von al-Qaida
FRANCO ORIGLIA / GETTY IMAGES
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 99
Ausland
USA
W
er für einen Augenblick den Ton
ihres Streitgesprächs ausblendet,
wer einfach nur die Akteure bei
ihren Reden beobachtet, wird plötzlich den
Unterschied erkennen: Die beiden aus-
sichtsreichsten Präsidentschaftsbewerber
der Demokraten, Barack Obama und Hil-
lary Clinton, mögen zwar auf einer Bühne
stehen, aber sie kommen aus verschiede-
nen Welten.
Am vergangenen Montag, bei ihrer
großen Fernsehdebatte in South Carolina,
wirkte Obama elegant wie immer. Seine
Arme malten Bilder in die Luft. Es waren
kraftvolle und zugleich sanfte Bewegun-
gen. Sein Wahlkampfstil lässt sich mit
Beach-Volleyball vergleichen. Alles sieht
schön und elegant aus, Beach-Volleyball
ist ein Spiel für Ästheten.
Neben ihm wartete Hillary Clinton auf
ihren Einsatz. Ihr Körper in gespannter
Haltung, die Augen starr auf den Kontra-
henten gerichtet, die Füße bewegungslos
fest in den Boden gestemmt. Ihr Wahl-
kampfstil ähnelt jetzt dem amerikanischen
Football, der von Einsatz, Attacke und
Zweikampf lebt. Football ist ein roher
Sport, es geht darum, dem Gegner mög-
lichst viel Raum abzujagen.
Obama sprach von Hoffnung und ver-
sprach die Wende. Es waren hohe, schöne
Bälle, die er da in die Luft warf. Er sagte
auch, dass er sich von Hillarys Ehemann
JONATHAN ERNST / REUTERS
sich fest in die Hosenbeine des Barack werden und damit parteischädigend wir- und Bewunderer seiner Thesen. Wenige
Obama verbissen hat. ken. Hillarys Senatskollege Ted Kennedy Monate später, Westen saß gerade in einer
In einem wohlkalkulierten Zornaus- mahnte den Ex-Präsidenten am Telefon zu Starbucks-Filiale in Atlanta, klingelte des-
bruch griff der Ex-Präsident Obamas mehr Überparteilichkeit. Als „Elder States- sen Handy.
Image als Gegner des Irak-Krieges an. man“ dürfe er nicht derart aggressiv in den Ob er sprechbereit sei für den ehemaligen
„Give me a break“, rief er Studenten am Wahlkampf eingreifen und Obama, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, fragte
noblen Dartmouth College in New Hamp- Hoffnungsträger für Millionen, so zurich- eine freundliche Frauenstimme. Bill Clin-
shire zu, was so viel heißt wie, hört doch ten. Sein einflussreicher Kollege Patrick ton knüpfte da an, wo ihr letztes Gespräch
mit so was auf. „Diese Geschichte vom Leahy, der Vorsitzende des Justizausschus- geendet hatte. Er wollte lernen. 30 Minuten
Kriegsgegner Obama ist das größte Mär- ses im Senat, schimpfte: „Diese billigen erläuterte Westen, die Straße vor dem Star-
chen, das ich kenne.“ Attacken sind unter der Würde eines ehe- bucks auf und ab marschierend, seine Kern-
Seither muss Obama landauf, landab er- maligen Präsidenten.“ botschaft. Man müsse das über den Gegner
klären, dass er immer noch gegen den Krieg Doch so leicht lässt sich Bill Clinton sagen, was die Masse auch denkt, aber bis-
ist, obwohl er inzwischen mehrfach für des- nicht zur Ordnung rufen. Wie viele an- her nicht auszusprechen wagt.
sen Finanzierung gestimmt hat. Er habe halt dere Wahlkämpfer schätzt auch er die Er- Obama hat nun zwei Clintons gegen sich.
nicht der kämpfenden Truppe in den gebnisse des Psychologen Drew Westen, Manchmal wisse er nicht mehr, gegen wen
Rücken fallen wollen. Die Clinton-Berater der in seinen Untersuchungen belegt, dass er da Wahlkampf führe, klagte er jüngst.
reiben sich die Hände: Ein Popstar, Aber Jammern bringt keine Stim-
der sich fortwährend rechtfertigen men, ein Wahlkampf ist eben auch
muss, hört irgendwann auf, ein ein Härtetest für die Belastbarkeit
Popstar zu sein. So macht man aus des jungen Konkurrenten.
Gegnern Beschuldigte. Für Obama ist es schwer, die-
Gern erklärt Bill Clinton in sem Wahlkampfstil zu begegnen.
schönster Gönnerpose, Obama sei Sein Schlüsselwort heißt Wan-
ein exzellenter Politiker – um dann del. Er verspricht ein Ende des
listig nachzusetzen, er habe leider Parteienhaders, nicht seine Neu-
noch nicht genug Erfahrung. In auflage.
schöner Scheinheiligkeit vergleicht Clintons dagegen setzt auf „Er-
Der Vorwurf bezieht sich auf die dagegen hat die Ärmel hochge-
Vorwahlen von Nevada, in denen krempelt. Durchsetzungskraft und
die Gewerkschaft der Casino-Mit- Raffinesse sind seine Spezialität.
arbeiter Obama unterstützte. Beim Er darf ruhig ruppig spielen, Rem-
Ex-Präsidenten hörte sich das viel peleien sind erwünscht.
dramatischer an: Clinton-Wähler Obamas Gegenwehr fällt daher
seien von der Gewerkschaft unter Wahlkampfstratege Penn: Den anderen zerstören eher verzagt aus. Natürlich be-
Druck gesetzt worden. „In meinen streitet er Verbindungen zu du-
35 Jahren in der Politik habe ich so etwas Wahlkämpfe durch Emotionen und nicht biosen Geschäftemachern in Chicago. Nur
noch nicht erlebt. Ist das der neue Stil der durch Sachthemen entschieden werden. fünf Stunden habe er als junger Anwalt in
Politik?“ Und Westen ist überzeugt, dass ein Wahl- einem Team seiner Kanzlei für den jetzt
Clinton ist der beliebteste Aggressor, der kämpfer beide Arten von Emotionen frei- angeklagten Immobilienspekulanten gear-
sich denken lässt. Die Menschen hängen an setzen muss, positive und negative, Zu- beitet, sagt er.
seinen Lippen, nicht zuletzt weil seine Prä- neigung und Hass. Obama will – bisher jedenfalls – nicht
sidentschaft den Wohlstand der kleinen Von höflicher Zurückhaltung hält Wes- aggressiver zurückschlagen. „Ich möchte in
Leute spürbar gemehrt hat. Begeistert be- ten wenig. Es sei ein weitverbreiteter Irr- den nächsten vier Jahren nicht noch ein-
klatscht, paddelt Clinton sich durch die tum der Demokraten zu glauben, „nega- mal die Schlachten der neunziger Jahre
Menschenmengen, als sei er noch immer tive campaigning“, die Angriffe auf die ausfechten“, sagt er. Damit meint er die
im Amt, als habe es die sieben mageren Integrität des Gegners, seien unethisch, polarisierenden Clinton-Jahre, die sich
Bush-Jahre nie gegeben. unwirksam, und wenn sie von der Gegen- nicht wiederholen dürften.
Diese hohe Glaubwürdigkeit beim Wahl- seite betrieben werden, lasse man sie bes- Aber solche rhetorischen Spitzen sind
volk setzt das Clinton-Team nun ein, um ser unbeantwortet. wie Blumen in einem Gewehrlauf. Gegen
die nächste Trophäe nach Hause zu tra- Wenn er so etwas hört, spitzt Bill Clin- die Clinton-Artillerie vermögen sie wenig
gen: eine dritte Amtszeit für die Familie. ton die Ohren. Auf einem Kongress der auszurichten. Eines ihrer schwereren Ge-
Parteiveteranen sind bereits besorgt, der Demokraten kam es zum ersten Kontakt schütze ist der Vorwurf an Obama, er sei
Wahlkampf könne zu schnell zu schmutzig mit Westen. Clinton zeigte sich als Kenner ein Drogennutzer gewesen.
102 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Dazu muss man wissen: Auch Bill Clin- kann. In einer Fernsehdebatte schwor er Das heikelste und zugleich vielverspre-
ton wurde in seinem ersten Präsident- feierlich, „dass wir das ganze Thema Ko- chendste Spiel der Strategieberater aber
schaftswahlkampf 1992 des Drogenkon- kain-Missbrauch nicht hochziehen wer- ist das mit der „race card“, der Rassen-
sums bezichtigt, es ging um einen Joint in den“. Ein Teilnehmer der Talkshow heul- Karte. Das Spiel hat zwei Teile. Der offi-
Studententagen. Clinton musste schließ- te auf: „Genau das machen Sie jetzt schon zielle Teil sieht so aus: Feierlich erklärt die
lich erklären, er habe wohl dran ge- wieder.“ Präsidentschaftsbewerberin Clinton: „Es
zogen, aber eben nicht inhaliert, womit Auch in der Abtreibungsfrage, seit je sollte bei dieser Wahl weder um Haut-
die Angelegenheit im Hohngelächter eines der wichtigsten Themen für die farbe noch ums Geschlecht gehen. Wir ver-
unterging. Frauen an der Parteibasis, knöpft sich das danken es den Verdiensten von Martin
Weil er solche Peinlichkeit vermeiden Clinton-Team den Herausforderer vor. Luther King, dass wir hier sind. Aber
wollte, hat Obama seinen Drogenkonsum Dass weibliche Wähler in Iowa nicht für manchmal haben wir etwas zu leiden-
zu Jugendzeiten frühzeitig selbst einge- die Senatorin stimmten, war ein Schock, schaftliche Anhänger.“
räumt. Als einsamer Teenager, schreibt er den Hillarys Helfer seither nicht verges- So weit, so hochgemut. Teil zwei des
in seiner Autobiografie, sei er wie so viele sen können. Pokers mit der Rassenzugehörigkeit ist
schwarze Jugendliche auf dem besten Weg In einem Flugblatt, das in New Hamp- komplizierter und düsterer. Die Spieler
zum Junkie gewesen: Haschisch, auch Ko- shire vor allem an Frauen verschickt wur- wissen, dass die Gesellschaft und ihre ver-
kain, habe er konsumiert, wenn er es sich de, berichtet das Clinton-Team, Obama schiedenen ethnischen Teile auf bestimm-
te Reizworte reagieren. Die Volksgruppen
lassen sich schon durch feine rassistische
Untertöne beeinflussen und gegeneinan-
der ausspielen.
Barack Obama tut daher einiges, um
nicht ausschließlich als Interessenvertreter
der Afroamerikaner wahrgenommen zu
werden. Je deutlicher Obama sich als
Schwarzer zu erkennen gibt, je aggressiver
er das Erbe Martin Luther Kings für sich in
Anspruch nimmt und damit in die Fuß-
stapfen gescheiterter schwarzer Präsident-
schaftsbewerber wie Al Sharpton oder
Jesse Jackson tritt – desto besser für Hil-
lary Clinton. Sie hat ja nichts dagegen, ihn
zum Minderheiten-Kandidaten schrump-
fen zu lassen, zum Außenseiter, der in
zu kleinen Schuhen steckt, um das ganze
Land zu repräsentieren.
In ihrem Beraterstab heißt dieser heikle
Wahlkampffaktor „Jesse Jackson plus“.
Der Prediger und Bürgerrechtler Jackson
hat sich zweimal um die Präsidentschaft
beworben, 1984 und 1988. Beim zweiten
Mal hat er immerhin elf Vorwahlstaaten
gewonnen – doch ein ernsthafter nationa-
ler Bewerber, wie es Obama heute ist, war
LANDOV / INTER-TOPICS
Jackson nie.
Ein tiefschwarz lackierter Obama, so
funktioniert die Logik des Rassenpokers,
lässt Hillary umso weißer erstrahlen. Wie
aber führt man das Thema in den Wahl-
Demonstration von Hispanoamerikanern (in Los Angeles): Leidenschaftliche Anhänger kampf ein, ohne dass es auf einen selbst
zurückschlägt?
leisten konnte. Heroin probierte er angeb- habe als Parlamentarier in Illinois sieben- Etwa so, wie es Hillary Clinton gemacht
lich nur deshalb nicht, weil er den Dealer mal mit „Enthaltung“ gestimmt, als es um hat bei ihrem Versuch, die historische Rol-
nicht leiden konnte. Abtreibungsgesetze ging. „Das Recht ei- le von Martin Luther King zu relativieren.
Damit hat er nun selbst die Munition ner Frau zu entscheiden“, heißt es in dem „Der Traum von Dr. Martin Luther King
geliefert, die das Clinton-Team gegen ihn Papier, „erfordert einen Führer, der auf- wurde Wirklichkeit, als Präsident Lyndon
abfeuert. Es war Bill Shaheen, ein haupt- steht und dieses Recht verteidigt.“ Johnson 1964 die Bürgerrechte per Gesetz
amtlicher Clinton-Mitarbeiter in New Mit solcher Wahlwerbung zielt die Se- in Kraft setzte“, sagte sie in einem Fernseh-
Hampshire, der sich als Erster scheinbar natorin direkt auf die Frauen, die 57 Pro- interview. „Es brauchte einen Präsidenten,
fürsorglich Gedanken über Obamas da- zent der eingeschriebenen demokrati- um diese Dinge zu schaffen.“
maligen Fehltritt machte. Shaheen heu- schen Parteimitglieder ausmachen. Clin- Die unausgesprochene Botschaft war
chelte Besorgnis: „Die Republikaner könn- ton-freundliche Organisationen haben in klar: Träumer allein verändern die Welt
ten fragen: Hast du jemals Drogen an an- den Tagen vor der Wahl in New Hamp- nicht. Taten zählen mehr als Worte, Er-
dere gegeben? Oder gar welche verkauft?“ shire bis zu 300 000 Dollar pro Tag für sol- fahrung ist wichtiger als Inspiration.
Für solche Abgefeimtheiten ihres prompt che Wurfsendungen ausgegeben. Mit Er- Natürlich zielte das auf Obama und
gefeuerten Mitarbeiters musste sich Hil- folg. Just in dieser Zeit vor der Wahl zwang ihn gleichzeitig, sich zum Erbe des
lary Clinton bei Obama entschuldigen. schwenkten viele Frauen ins Hillary-La- Bürgerrechtlers aus Atlanta zu bekennen.
Aber Chefstratege Penn weiß, wie man ger. Das Ausspielen der „gender card“, der Gezwungenermaßen musste er nun selbst
auch nach Spielende noch Punkte machen Geschlechter-Karte, hatte sich gelohnt. Clinton angreifen: „Sie hat viele gekränkt,
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 103
Ausland
die an King und die Bürgerrechtsbewegung „Er hält sich für ein verkanntes Genie“,
glauben“, sagte er. Er war in der Rassen- TSCHECHISCHE REPUBLIK hatten Spitzel schon in seiner Stasi-Akte
Gewiefter Eiferer
frage deutlich geworden, hatte sich beken- notiert. Klaus könne die Meinungen ande-
nen müssen, wahrscheinlich gegen seinen rer kaum ernst nehmen, außerdem sei er
ursprünglichen Willen. geltungssüchtig. Das trifft auch heute noch
Clinton dagegen ging es wohl gar nicht zu und hat ihn nicht an einer fulminanten
darum, Bürgerrechtserfolge für weiße Poli- Hartnäckig leugnet Präsident Klaus Karriere gehindert. Klaus war nacheinan-
tiker zu reklamieren. Sie hatte eine andere den Klimawandel und hetzt gegen der Minister, Premier und Parlamentsprä-
Minderheit im Sinn. Die Spannungen zwi- die EU. Seine Landsleute teilen nicht sident, bevor er vor fünf Jahren ins höchs-
schen Afroamerikanern und Latinoame- te Staatsamt gewählt wurde. Nun hat er
rikanern sind in den vergangenen Jahren
alle Ansichten, dennoch hat er gute Aussichten, noch eine weitere Amts-
gewachsen, beide Volksgruppen konkurrie- gute Chancen auf eine Wiederwahl. zeit lang von der Höhe der Prager Burg
ren um Aufstiegschancen. Viele Einwande- auf seine rund zehn Millionen tschechi-
A
rer lateinamerikanischer Herkunft wollen, m 24. September 2007 gegen 17.40 schen Untertanen herabblicken zu können.
das zeigen die einschlägigen Untersuchun- Uhr mitteleuropäischer Zeit tritt ein Die verwinkelte Feste liegt hoch über
gen, keinen schwarzen Präsidenten. Mann mit Schnurrbart und feiner der Altstadt auf dem felsigen Bergsporn
Je mehr Obama als Kandidat der Drahtbrille an das schwarze Rednerpult des Hradschin. Hier herrschte im Spät-
Schwarzen auftritt, desto stärker die La- in New York. Im Vollversammlungssaal mittelalter Kaiser Karl IV. Im Schatten der
tino-Unterstützung für Clinton. Zu den der Vereinten Nationen haben mehr als Burg schrieb Franz Kafka an seinem Alp-
Meinungsforschern, die für das Clinton- 70 Staats- und Regierungschefs Platz ge- traumroman „Das Schloss“. Generationen
Team arbeiten, gehört auch Sergio Bendi- nommen. Mit leiser Stimme, in fehler- von Baumeistern haben ihre Spuren hin-
xen, der sich auf das Wahlverhalten der freiem Englisch darf Präsident Václav terlassen: Gotische Gemäuer, romanische
verschiedenen Minderheiten spezialisiert Klaus aus dem kleinen Tschechien irgend- Säulen und barocke Spiegelsäle wechseln
hat: Das Votum der Latinos, sagt er, sei wo in Europa vortragen, wie er den Zu- einander ab. Und genauso viele Gesichter
extrem wichtig für Clintons Chancen. Die
Latinos seien ihre „firewall“.
Beim Computer soll so eine „firewall“
das Eindringen schädlicher Viren verhin-
dern, auf den Wahlkampf bezogen soll die
Brandmauer der Hispanoamerikaner hel-
fen, dass sich der Flächenbrand, den Oba-
ma entfachen konnte, nicht weiter aus-
breitet.
Ein Wahlsieg in schwarzen Bundesstaa-
ten wirkt sich, dieser Logik folgend, posi-
tiv auf die Hochburgen der Hispanics aus:
Gewinnt Obama das stark von Afroameri-
kanern geprägte South Carolina, bekommt
ROBERT MICHAEL / MOMENTPHOTO.DE
politisches Stehaufmännchen.“
Auch als Klaus vor fünf Jahren auf dem
Tiefpunkt seiner Karriere angelangt schien
und die Parteifreunde ihn auf den einfluss-
losen Posten des ODS-Ehrenvorsitzenden
Prager Burg, Karlsbrücke: Böhmischer Sekt in der Präsidentenvilla abgeschoben hatten, gab er nicht auf. Um
Präsident zu werden, schreckte der Wirt-
zentralistische, global geplante Entwick- Einen schmerzt die stetige Querköpfig- schaftsliberale nicht davor zurück, bei der
lung der Welt zu ersetzen“, heißt es da. keit des Präsidenten ganz besonders – sei- radikalen Linken Stimmen zu werben.
Umweltschützer sind derzeit sein Feind- nen Vorgänger auf dem Hradschin, Václav Nach seinem Amtsantritt holte er Tsche-
bild Nummer eins. Doch neben der Dikta- Havel. Mit ihm verbindet Klaus eine herz- chiens bis heute kaum gewendete Kom-
tur der Ökos sieht Klaus die Welt und vor liche gegenseitige Abneigung. Dem Macht- munisten aus ihrer politischen Isolierung,
allem das eher gemütliche Tschechien von pragmatiker Klaus waren die Dissidenten, indem er ihre Spitzenpolitiker an wichtigen
einem ganzen Rudel „populärer Ismen“ ihr moralischer Rigorismus und besonders Feiertagen in die Präsidentenvilla Lány
bedroht: Es gebe noch den „Sozialdemo- Havels hamlethaftes Hadern mit der Macht zum böhmischen Sekt lud – eine Ach-
kratismus“, den „Menschenrechtismus“, immer suspekt geblieben. tungsbezeugung, die unter seinem Vor-
den „Feminismus“, den „Multikulturalis- Noch heute kratzt er gern am histori- gänger Havel undenkbar gewesen wäre.
mus“ und viele andere. Allen „Ismen“ sei schen Ruhm der Bürgerrechtler: Es seien Damit Klaus gegen seinen von den So-
gemein, dass sie Ziele wie soziale Gerech- nicht die Oppositionellen gewesen, die den zialdemokraten unterstützten Rivalen Jan
tigkeit, Frauengleichheit oder eben die eu- Kommunismus zu Fall gebracht hätten, Svejnar gewinnt, benötigt er derzeit noch
ropäische Integration zu Dogmen erheben sondern die „normalen Tschechen“, die mehr als ein Dutzend Stimmen in den bei-
und über die individuelle Freiheit stellen – mit ihrer Bummelei passiven Widerstand den Parlamentskammern. Und auch die
ganz so, wie es ehedem der Kommunis- geleistet und die wirtschaftlichen Grund- wird er sich wohl wieder bei den Kommu-
mus mit seinen Glaubenssätzen getan lagen des böhmischen Kommunismus un- nisten holen, allen ideologischen Anfein-
habe. tergraben hätten, sagte Klaus nach seinem dungen zum Trotz.
Sein einstiger Mitstreiter, der Invest- Einzug auf der Burg. Und wahrscheinlich Was wirklich zählt, sagt sein einstiger
mentmanager Ivan Pilip, versucht eine hat er auch damit eine weitverbreitete Vertrauter Pilip, ist allein die Macht.
Erklärung für den Widerspruch zwischen Stimmung getroffen. Waren es nicht die Jan Puhl
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 105
Anstürmende Palästinenser*
„Zynische Führung“
KHALIL HAMRA / AP
SPIEGEL: Sollte Israel also mit
der Hamas verhandeln?
Ajalon: Offiziell ist unser Ver-
handlungspartner Palästinen-
ser-Präsident Mahmud Abbas,
den zwei Drittel seines Volkes gewählt ha-
NAHOST
ben. Mit der Hamas sollten wir nicht direkt
und bevorzuge gezielte Operationen. Israel innerhalb der Hamas ein Interesse daran
ternativen Friedens- hat das Recht, sich zu verteidigen. Mora- haben, zur Mekka-Vereinbarung mit der
plan vorlegte – ein un- lisch gesehen schließt dieses Recht sogar Fatah vom vergangenen Jahr zurück-
gewöhnlicher Schritt die Tötung von Terroristen ein. Wir kön- zukehren …
für einen Karriere- nen nicht zulassen, dass unsere Bürger un- SPIEGEL: … in der Präsident Mahmud
militär: Der Admiral war Oberbefehls- ter ständigem Raketenbeschuss stehen. Abbas das Recht zugestanden wurde, mit
haber der Marine und von 1996 bis 2000 SPIEGEL: Bei den israelischen Versuchen, Israel zu verhandeln.
Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin militante Palästinenser zu liquidieren, Ajalon: Hamas-Führern wie Premierminis-
Bet. Im September berief ihn Premier starben in der vergangenen Woche wieder ter Ismail Hanija in Gaza oder dem Polit-
Ehud Olmert als Minister ohne Ge- Unschuldige. bürovize Mussa Abu Marsuk in Damaskus
schäftsbereich in sein Sicherheitskabinett. Ajalon: Solche Fehler müssen wir verhin- traue ich einen solchen Schritt zu.
dern. Sie schüren den Hass. Deshalb SPIEGEL: Sie sagen, Israel muss den Paläs-
SPIEGEL: Im Gaza-Streifen durchbrachen widersetze ich mich auch einer großange- tinensern in den Verhandlungen die Hoff-
vergangene Woche Zehntausende Paläs- legten Militäroperation, die nur die Soli- nung auf einen eigenen Staat geben. Bis-
tinenser die Grenze zu Ägypten, um sich darität der Palästinenser mit der Hamas lang sind noch nicht einmal jene Siedler-
mit Lebensmitteln einzudecken. Welche stärken würde. Diesen Mechanismus ver- außenposten im Westjordanland geräumt
Verantwortung trägt Israel für die Krise? stehen viele Israelis nicht. Die Motivation worden, die selbst nach israelischem Recht
Ajalon: Ich bezweifle, dass es im Gaza- von Selbstmordattentätern wird hier gern illegal sind.
Streifen eine humanitäre Krise gibt. Die mit religiösen Motiven erklärt und mit dem Ajalon: In diesem Punkt ist die internatio-
Hamas-Führung vor Ort manipuliert Infor- Versprechen, dass im Paradies 72 Jung- nale Roadmap eindeutig: Israel muss alle
mationen, um den Eindruck einer Krise zu frauen auf die Märtyrer warten. Die wah- Außenposten räumen. Wenn Abbas seine
erwecken. Sie handelt zynisch gegenüber ren Motive für die Anschläge sind aber Verpflichtungen erfüllen soll, muss Israel
der eigenen Bevölkerung. Erniedrigung, Verzweiflung und Hoff- seine auch erfüllen. Alle Außenposten
SPIEGEL: Israel hat unter anderem aber nungslosigkeit. Daher müssen wir parallel müssen verschwinden, wenn möglich, mit
auch die Einfuhr von Diesel gekürzt, mit zu unseren militärischen Operationen ei-
dem die Generatoren von Krankenhäusern nen politischen Prozess in Gang setzen, der * Beim Zusammenstoß mit ägyptischen Sicherheitskräften
betrieben werden. den Menschen Hoffnung gibt. am vergangenen Freitag nahe der Grenzstadt Rafah.
106 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ausland
D
Sari Nusseiba die Teilung Jerusalems ge- ie Holzhäuser mit ihren fein- hatte der hessische Ministerpräsident sei-
fordert? geschnitzten Fensterläden ducken nen Wahlkampf auf Trab bringen wollen.
Ajalon: Der Baustopp muss sofort erfolgen. sich in die Taiga, als wollten sie sich „Es geht offenbar auch anders“, jubelte
Der Status von Jerusalem entscheidet sich vor dem Nordwind verstecken. 3300 Kilo- „Bild“ Mitte Januar: „Jugendlicher aus
erst am Ende der Verhandlungen. Dann ist meter trennen das Dorf von Russlands Hessen nach Sibirien verbannt.“ Für ei-
die Ajalon-Nusseiba-Formel allerdings der westlichster Stadt Kaliningrad, 4300 von nen Schwererziehbaren, der gegenüber
einzige Weg zu einem echten Frieden zwi- der Pazifikküste. Umgeben von Birken- Mutter und Betreuern handgreiflich ge-
schen Israelis und Palästinensern. wäldern liegt Sedelnikowo fast in der Mit- worden war, hatte das Zentralblatt für die
SPIEGEL: Vor acht Monaten forderten Sie te von Wladimir Putins Riesenreich – und kochende Volksseele Sibirien als angemes-
den Rücktritt von Premierminister Olmert doch ganz weit im Abseits. sene Höchststrafe ausgemacht.
wegen der Fehler im Libanon-Krieg 2006. Sieben Stunden zuckelt der Bus bis in Nach Sibirien, für Dichter Maxim Gor-
Sehen Sie den Feldzug heute mit anderen die nächste Großstadt. In der vergangenen ki ein „Land von Ketten und Eis“, hatte
Augen? Woche aber hat es der Ort mit seinen 5500 der letzte Zar den Revolutionsführer Lenin
Ajalon: Nein, ich sage heute dasselbe wie Einwohnern bis in die Nachrichten des verbannt. In Sibirien büßten Hunderttau-
damals: Man darf sich nicht innerhalb we- Staatsfernsehens geschafft. sende deutsche Gefangene für Hitlers An-
niger Stunden für einen Krieg entschei- Boulevardreporter aus der Hauptstadt griffskrieg. Im Gulag, dem von Diktator
den. Man muss erst nachdenken. Der Pre- rückten an, andere telefonierten von Mos- Josef Stalin errichteten Lagersystem, be-
mier und sein Verteidigungsminister hätten kau aus derart ausdauernd nach Sedelni- trug die Überlebensdauer der zu Zwangs-
der Hisbollah ein Ultimatum stellen sol- kowo, dass der Direktor der Schule Num- arbeit verurteilten Oppositionellen, Kri-
len, die entführten Soldaten innerhalb von mer 2 entnervt von einer „Belagerung“ minellen und Intellektuellen oft weniger
48 Stunden auszuliefern. Das hätte ihnen sprach. Der Radiosender Echo Moskaus als zwei Jahre. So wurde Sibirien zum In-
Zeit verschafft, alle Szenarien durchzu- höhnte: „Vielleicht können wir unsere De- begriff grausamer Vergeltung.
spielen. visenreserven noch weiter aufstocken, in- „Es ist wunderbar hier. Ich möchte gern
SPIEGEL: Haben Sie damals mit Olmert dem wir Kriminelle aus der ganzen Welt noch bleiben“, sagt der junge Deutsche,
gesprochen? aufnehmen.“ der während der großen Pause etwas
Ajalon: Ich habe ihm nach gut einer Woche Die Aufregung hatte mit einem Mann schüchtern in der Schulkantine von Se-
gesagt: Jetzt müssen Sie den Krieg been- zu tun, dessen Name in Sedelnikowo nicht delnikowo sitzt. Das überrascht: „Sibi-
den. Die Welt steht hinter uns, sogar die einmal der Leiter der Dorfverwaltung rien-Dennis wäscht T-Shirts bei minus
arabischen Staaten, und der libanesische kennt: mit Roland Koch. Durch Vorschlä- 55 Grad“, hatte „Bild“ aus der Wärme
Premierminister will sich mit Ihnen treffen, ge, das Jugendstrafrecht zu verschärfen, der heimischen Redaktionsstube gemel-
um einen Waffenstillstand auszuhandeln.
SPIEGEL: Olmert entschied sich fürs Wei-
termachen. Er befahl am Ende sogar noch
eine Bodenoffensive, obwohl die Waffen-
stillstandsresolution der Uno absehbar
war.
Ajalon: Die letzten 60 Stunden des Krieges
waren das Ergebnis einer Fehlkalkulation,
wie der gesamte Waffengang – ein schwe-
rer politischer Fehler, der 33 Soldaten das
Leben kostete.
SPIEGEL: In dieser Woche erscheint der Ab-
schlussbericht über die Versäumnisse des
Libanon-Kriegs 2006. Warum wiederholen
Sie Ihre Rücktrittsforderung nicht?
Ajalon: Zunächst einmal will ich den Ab-
schlussbericht lesen. Ob Olmert zurück-
treten muss, hängt auch von der Reaktion
der Öffentlichkeit ab. Wenn er den Bericht
lediglich überlebt, kann ich ihn nicht wei-
ter unterstützen. Wenn er sich aber als
stark genug erweist, den Friedensprozess
YEVGENY KONDAKOV
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 107
gendliche den Dienst-Wolga der
Dorfoberen, und manche, die
vorher auf Heroin waren, ga-
ben sich in Sedelnikowo exzes-
siv dem Wodka hin. Das be-
stärkt eine kleine Minderheit im
Dorf, die meint, dass man
„selbst schon genug Probleme“
habe und auf die deutschen
Hooligans getrost verzichten
könne.
Doch für die Menschen von
Sedelnikowo sind die Schwer-
erziehbaren die Verbindung
nach draußen, zur großen wei-
ten Welt. Hunderte Bewohner
haben ihrer Heimat in den ver-
gangenen zwei Jahrzehnten den
Rücken gekehrt. „Bevor Mitte
der Neunziger die ersten Deut-
schen kamen, hatten wir noch
YEVGENY KONDAKOV
nie Ausländer gesehen“, sagt
Wladimir Jerochin, Chefredak-
teur der Lokalzeitung „Der ar-
beitsame Sibirier“.
Zentrum von Sedelnikowo: „Bis Mitte der Neunziger hatten wir noch nie Ausländer gesehen“ Die Kooperation mit dem
Thüringer „Pfad ins Leben“, je-
det. Tatsächlich heißt „Sibirien-Dennis“ gen Klimas können sie nicht länger mit ner Organisation, die schwererziehbare
Florian, und in Sedelnikowo war es dieses Landwirtschaftsprodukten aus Russlands Jugendliche nach Sedelnikowo verschickt,
Jahr nie kälter als minus 30 Grad. Der ein- Süden konkurrieren. hat dem Taigadorf plötzlich den Anschluss
silbige Halbwüchsige mit den braun- „Als wir hier ankamen, musste sich Flo- an die Globalisierung verschafft. Deutsche
blonden Haaren ist auch nicht zur Strafe rian seine Bleibe selbst herrichten“, erzählt Pfadfinder kamen zum Sommerlager, Kin-
hier, sondern zur Therapie – zur „Umer- Wilhelm Brant, ein Russlanddeutscher, den der und Jugendliche aus Sibirien besuchten
ziehung“, wie seine Klassenkameraden sa- das Jugendamt als Betreuer eingesetzt hat. Deutschland.
gen. Eine „reizarme Umgebung“, so Stefan Florian mähte das im Garten wuchernde Seine freie Zeit nutzt Florian, um ein
Becker, Jugenddezernent des Landkreises Gras und war stolz, als er zum ersten Mal Buch zu schreiben. Siebzig Seiten hat er
Gießen, soll dem 16-Jährigen helfen, Ag- in seinem Leben einen Nagel ins Holz schon zu Papier gebracht: Er selbst ist der
gressivität und Aufmerksamkeitsdefizit- einschlug. Er reparierte den Zaun und Held; in einem Krieg der Galaxien rettet er
störungen in den Griff zu bekommen. hob die Grube für das Plumpsklo aus. Be- Sterne vor der Vernichtung. In zwei Wo-
Im Westen des Orts liegt der Fluss Ir- treuer Brant, ein Hüne mit stahlblauen Au- chen wird er mit seinem Betreuer nach
tysch. Hier versinken im Frühjahr und im gen, eisernem Willen und großem Herzen, Deutschland zurückkehren – nicht nach
Herbst immer wieder Autos leichtsinniger hatte ihm drei Tage Zeit gegeben. Florian Gießen, sondern in einen anderen Ort. Er
Fahrer im Eis. Im Osten erstrecken sich schaffte es an einem. will nun sogar den Realschulabschluss
Sümpfe, im Norden liegt die Taiga, eine Wenn er es warm haben will, muss er schaffen.
Landmasse so gewaltig, dass Anton Tsche- den Ofen mit Holz heizen. Wenn er seine Als „knallharte Strafmaßnahme statt
chow über Sibirien schrieb: „Wo es endet, Kleider wäscht, holt er das Wasser von Kuschelpädagogik“ hatte „Bild“ den Auf-
wissen nur die Zugvögel.“ der Pumpe in der Gasse nebenan. Jeden enthalt bezeichnet. Mit dem Strafen aber
Wer von Süden, aus der 300 Kilometer Morgen läuft er zweieinhalb Kilometer zur scheint es in Sedelnikowo gar nicht so
entfernten Millionenstadt Omsk, in Sedel- Schule. „Exakt 22 Minuten“, sagt er. Er schlimm zu sein. „Am meisten werde ich
nikowo eintrifft, erblickt als Erstes eine kommt nie zu spät, und seine Lehrer be- meine russische Schule vermissen“, sagt
moderne Tankstelle mit einem 24-Stunden- richten, dass sie ihn selten ermahnen Florian, „hier ist alles so geordnet und
Laden – sie könnte so auch in Gießen ste- mussten. Der Deutsche hat ein paar Wor- diszipliniert.“
hen. Am Ortsrand ragen schmucke drei- te Russisch gelernt, versteht aber wenig. Für die 700 Kinder in Sedelnikowo steht
stöckige Häuser aus Backstein empor. Eine „In Mathe kann ich folgen, aber die hier ein Freizeitangebot bereit, mit dem die we-
Kirche mit goldenen Kuppeln ist gerade sind weiter als bei uns zu Hause“, erklärt nigsten deutschen Dörfer mithalten kön-
fertig geworden, bald öffnet ein Kranken- er. Nur in Deutsch ist er natürlich der nen. Der Verein „Wiktorija“ bietet Eis-
haus. Fast jeder Einwohner hat ein Mobil- Beste. hockey und Biathlon an, im Haus der Kul-
telefon, viele Haushalte leisten sich Satel- Sollte aus dem Problemkind in Sibirien tur gibt es zwei Dutzend Arbeitskreise und
litenfernsehen, auch das Internet gibt es nun gar ein Musterknabe geworden sein? Tanzstunden. Und in der Schule reichen
hier schon: Der Wirtschaftsaufschwung hat „Er hat tatsächlich große Fortschritte ge- die Offerten bis zu Schauspielunterricht
inzwischen selbst Orte wie Sedelnikowo macht“, sagt sein Betreuer. Und Klassen- und Stricken. „Alle sind irgendwie viel
erreicht. kameradin Lilija erklärt: „Florian ist schon ehrgeiziger hier“, sagt Florian, mindestens
Florian aber kam sein neues Leben an- der 43. Wir mögen die Kinder aus Deutsch- jeder zweite Schüler schaffe es später auf
fangs vor wie ein Ausflug ins 19. Jahrhun- land; für uns ist nicht wichtig, was sie da eine Hochschule oder Universität.
dert. Er wohnt in einem Holzhaus, das in drüben angestellt haben.“ Sie habe viel Vielleicht hätte dies ja als Wahlkampf-
der „Straße der Industrie“ steht. Dabei über Deutschland gelernt, vielleicht könne munition in Hessen getaugt – zumindest
gibt es in Sedelnikowo so gut wie keine sie ja mal später dort studieren. für die Opposition. Mit einer Schlagzeile
Industrie. Aber selbst den bestehenden Nicht immer läuft es so gut wie bei Flo- wie: „Schande! Sibirische Schulen besser
Kolchosen droht das Aus – wegen des eisi- rian. Einmal klauten zwei deutsche Ju- als deutsche.“ Matthias Schepp
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Ausland
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ie Türen der „Hercules“-Transport- nutzte Stoltenberg zur symbolischen wie Gebiets. Fünf Tage vor der Ankunft der
maschine öffnen sich in gleißendes semantischen Landnahme. „Schwabenland“ wurde der Vertrag rechts-
Licht. Geblendet von der Strahl- Gleich nach dem Frühstück stürmt der gültig.
kraft der antarktischen Eiswüste, springt Premier den Hang zu den drei Bergzinnen Selbstverständlich liegt solche Groß-
Norwegens Premier aus der Militärma- empor, die sich hinter der Troll-Station mannssucht vergangener Tage den norwe-
schine. Ein weißer Teppich aus feinen schützend aus dem Eis erheben. Auf hal- gischen Polarforschern von heute völlig fern.
Schneekristallen liegt vor ihm, darunter bem Wege hält er inne, um den drei Fels- Immer wieder betont der Premier, dass es
schimmert blaues, klares Eis. zacken altnorwegische Namen zu geben: „ausschließlich“ um wissenschaftliche In-
Jens Stoltenberg, der Eroberer: „Seit ich Trollmädchen, Trolljunge und Trollspitze. teressen gehe. „Unter dem Eis der Antarktis
als Kind von unseren Polarhelden gelesen Dann prescht er ungestüm weiter und lauern Geheimnisse, die zu entschlüsseln für
habe, träumte ich von einem Besuch in der bleibt erst nach einer Kraxelei von 500 unser Verständnis vom Klima des Planeten
Antarktis“, ruft er. „Jetzt bin ich hier, um Höhenmetern auf einem Felssprung un- von großer Wichtigkeit sind“, raunt er.
die norwegischen Interessen in diesem Ge- mittelbar unter dem Gipfel wieder stehen. Vom bedrohten Klima redet Stoltenberg
biet zu markieren.“ In jedem anderen Land hätten die Sicher- ständig. In der Nacht unmittelbar vor dem
Die sind handfest genug. Als erster nor- heitskräfte solch riskanten Aktivismus zu Abflug brachte seine Regierungskoalition
wegischer Regierungschef setzte er vor- verhindern gewusst. Nicht aber in Nor- noch ein Gesetz durch, wonach Norwegen
vergangene Woche seinen Fuß auf die Ant- wegen, wo die Geländegängigkeit des Re- „als erste Nation dieser Welt“ bis zum
arktis – betrat aber gleichzeitig Jahre 2030 kohlendioxidneutral
Heimatboden. Denn Norwegen sein will.
beansprucht seit rund 70 Jahren In der Station haben ihm
2,8 Millionen Quadratkilometer Helfer eine Videoverbindung
der Antarktis. Und zu Beginn eingerichtet. Auf dem Bildschirm
des neuen Jahrtausends wird die erscheint Jan-Gunnar Winther,
Eiswüste wieder interessant. der Chef des Norwegischen
Die Polargebiete haben infolge Polarinstituts. Auf einer Ex-
globaler Erwärmung erneut gro- pedition von Troll zum Südpol
ße geostrategische Bedeutung er- ist er soeben in der amerikani-
langt. Anrainer und Großmächte schen Amundsen-Scott-Station
HEIKO JUNGE / SCANPIX NORWAY / DPA
liefern sich einen Wettlauf, um angekommen. Frage seines Re-
ihre territorialen Ansprüche zu gierungschefs: „Konnten Sie An-
wahren. Dabei sind die Wissen- zeichen eines Klimawandels er-
schaftler, deren Aufgabe es ist, kennen?“
Daten über Geologie oder den Winther ringt um Fassung.
Klimawandel zusammenzutra- Gerade hat er sich zwei Monate
gen, lediglich die Vorreiter. lang bei bis zu minus 50 Grad
Denn ihre Regierungen, die Celsius über das Eisplateau
sie plötzlich wieder mit groß- Premier Stoltenberg: „Unter dem Eis lauern Geheimnisse“ gequält. An den Treibhauseffekt
zügigeren Forschungsbudgets zu denken ist unter solchen
ausstatten, benutzen sie gleichzeitig auch gierungschefs für viele ein Wahlargument Umständen beinahe töricht. Sie hätten
dazu, das Revier zu markieren. Der Nord- ist. „Für uns Norweger sind die Polarexpe- viele wichtige Daten erhoben. „Mit deren
pol, wo große Gas-, Öl- und Mineralien- ditionen der Vergangenheit ein Mythos“, Hilfe wird man genauere Computermo-
vorkommen vermutet werden, wird des- sagt Stoltenberg, 48, und lächelt selig. delle erstellen können, um den Klimawan-
halb auch am Südpol verteidigt. „Es geht Das Land, auf dem Stoltenberg jetzt sei- del zu berechnen“, lautet Winthers aus-
uns auch darum zu zeigen, wie erfahren ne Marschverpflegung verzehrt, war schon weichende Antwort vom 90. Breitengrad.
und sicher sich norwegische Wissenschaft- früher Schauplatz skurriler historischer Das Belegbild zum Klimawandel – die
ler im ewigen Eis bewegen können“, ver- Auseinandersetzungen. Ein großer Teil des Rechtfertigung für den ganzen Trip – findet
kündet Stoltenberg. von Norwegen reklamierten „Königin- sich am folgenden Tag. Auf einem von
Wie elegant selbst die ferne Eisöde mitt- Maud-Landes“ hieß auf deutschen Ant- einer Pistenraupe gezogenen Schlitten ent-
lerweile zu erreichen ist, demonstrierte die arktiskarten „Neuschwabenland“. 1938 decken Stoltenberg und die Journalisten
norwegische Luftwaffe mit ihrem acht- hatten die Nazis den Kapitän Alfred Rit- den Gletscher. Für die Mittagspause hatten
stündigen Flug von Kapstadt aus und einer scher mit dem Katapultschiff „Schwaben- die PR-Leute eine halbrunde Mulde ausge-
butterweichen Landung auf der Blaueis- land“ auf geheime Mission gen Südpol ge- sucht, an deren Schneewänden sich große
piste unweit der Forschungsstation Troll. schickt. Von zwei Dornier-Flugbooten aus Eiszapfen gebildet haben.
Wenn die Welt ein globales Dorf ist, ließ der Deutsche anderthalb Meter lange „Jens, hier herüber“, ruft der Agentur-
dann wirkt die Ankunft fast so, als wäre die Aluminiumpfeile mit eingravierten Haken- fotograf, und Stoltenberg begutachtet das
Antarktis nichts weiter als dessen Nah- kreuzen auf das Eis abwerfen. getaute und wieder erstarrte Wasser. End-
erholungsgebiet – zumindest im Vergleich Doch norwegische Polarfahrer hatten lich haben die Journalisten ihr Symbolbild
mit den Qualen, die der erste Mensch am Wind von der Nazi-Expedition bekommen. zur Klimaerwärmung. Die Kameras sur-
Südpol, der Norweger Roald Amundsen, Daraufhin vereinbarte die Regierung in ren. Dann gibt es Eintopf mit Bohnen und
erleiden musste. Jede Minute seiner Visite Oslo mit den Briten die Übergabe des Hackfleisch. Gerald Traufetter
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Szene Sport
FORMEL 1
Limitierte Kassen
BMW-Motorsportchef Mario Theissen,
55, über den Plan einer Obergrenze
für die Jahresetats der Rennställe
GETTY IMAGES
schwarze Kassen angelegt werden?
Brady Manning Theissen: Ich gehe davon aus, dass da-
mit niemand in großem Stil operieren
würde. Es gibt Wirtschaftsprüfer, die
AM ERICAN FOOTBALL einer Bilanz ansehen, wenn da etwas
übers Wochenende in ihr Haus ziehen zu dürfen. Auch Popstar Beyoncé Knowles
soll ihre Bleibe an einen Football-Narren vermietet haben. Für 250 000 Dollar.
acht EM-Arenen für seinen sind, dass die Kosten begrenzt werden
Clan buchen könne. Dem Abramowitsch müssen.
111
Sport
KARRIEREN
Papas Plan
Die Rückrunde der Bundesliga wird wohl zur Abschiedsshow
des besten Spielers im deutschen Fußball:
Der Vater des Brasilianers Diego hat Großes vor mit
seinem Sohn – der Profi von Werder Bremen
soll ein Weltstar werden, am besten bei Real Madrid.
D
as Boss-Shirt ist ein wenig zu eng Früher hat Djair Silvério da Cunha als
für einen Mann von 53 Jahren, in Wirtschaftsingenieur gearbeitet, heute
den silbernen Locken etwas zu viel plant er die Karriere seines Sohnes. Er
Gel. Er trägt ein schweres Kreuz auf der habe kein Vertrauen in diese geldgierigen
Brust und Adidas-Turnschuhe. Mit ausge- Berater und lasse nicht zu, dass sein Sohn
strecktem Zeigefinger steht Djair Silvério wie ein Pingpongball von Verein zu Verein
da Cunha da, mitten auf einem Bolzplatz geworfen werde. „Das Fußballgeschäft“,
im Armenviertel von Santos, einer Hafen- sagt er, „ist eine große Mafia.“
stadt eine Stunde südlich von São Paulo Diegos Vater hat sich nicht viele Freun-
entfernt, und zeigt auf ein Plakat. „Das de gemacht in diesem Geschäft. Er gilt als
ist er, mein Sohn“, sagt er und wischt sich unbeherrscht und als ein Mann, der im-
den Schweiß von der Stirn. „Sieht er nicht mer nur für Probleme sorgt. Es gibt Leute,
stark aus, mein Großer?“ die behaupten, ohne den Vater wäre Die-
Auf dem Plakat brüllt Diego wie ein go längst ein Weltstar.
Löwe, der Mund aufgerissen, die Mähne Die Familie lebt nun von dem, was sie
flatternd im Wind, er trommelt sich mit mit Diego verdient. Bei jedem neu ab-
der rechten Hand auf die Brust. Ein Löwe geschlossenen Vertrag seines Sohnes
mit Zahnspange. bekommt Djair eine Provision. „Aber das
Der Bolzplatz ist eine Stiftung von Die- ist doch ganz normal, oder?“, sagt er. Ein
gos früherem Verein FC Santos. Die Kin- ziemlich außergewöhnliches Modell: Der
der aus dem Elendsviertel sollen für den branchenfremde Vater sitzt zwölf Flug-
Fußball begeistert werden, und Diego dient stunden entfernt in Brasilien und steuert
als Vorbild, einer, der es geschafft hat nach von dort aus die Karriere seines Sohnes.
Europa. Neben dem Bolzplatz steht ein Seit eineinhalb Jahren spielt Diego für
kleines weißgetünchtes Gebäude, das aus- Werder Bremen und wurde dort zum bes-
sieht wie ein Vereinsheim, in dem sich die ten Spieler der Liga. Vor ein paar Wochen
Kinder umziehen. „Das ist keine Umkleide- haben ihn 275 Bundesliga-Profis in einer
NORDPHOTO
kabine“, sagt Djair, „sondern eine Leichen- Umfrage zum dritten Mal gewählt, jedes
halle für die Toten aus der Favela.“ halbe Jahr stimmen sie ab. Franck Ribéry
ein Grübchen in der linken Wange, wenn schicken Hochhäusern liegen Bettler und sen. „Anfangs haben mich meine Freun-
er verlegen ist. Abends nach dem Training Junkies in den Eingängen, ehemalige Feld- dinnen gefragt, wie ich dem Jungen das
sitzt er am Computer und redet mit Mama arbeiter. nur antun könne, mit den Slumkindern zu
Cecília in Brasilien, manchmal stunden- Diegos Familie lebt in einem dieser spielen. Später haben sie mich gemieden.“
lang. An ihren Computern haben sie Web- Hochhäuser. Djair hat gut verdient als In- Der Weltfußballer Ronaldo, der heute
cams, damit sie sich sehen können. genieur, er gehört zur oberen Mittelschicht beim AC Mailand spielt, stammt aus Ben-
Die Mutter pflegt Diegos Herz, hilft des Landes, die 120 Quadratmeter große to Ribeiro, einem der ärmsten Stadtteile
bei Heimweh, spendet Trost, wenn es nicht Luxuswohnung haben sie sich gekauft, be- Rios. Nationalspieler Adriano, der lange
so gut läuft. Der Vater treibt die Karriere vor Diego nach Europa ging. Es riecht nach in Italien spielte, war zehn Jahre alt, als
an. Diegos Telefonate mit ihm sind kurz Putzmittel, alles ist akkurat, im Wohnzim- sein Vater in der Favela Vila Cruzeiro in
und sachlich, eigentlich haben sie nur ein mer hängen Fotos des berühmten Sohns, Rio angeschossen wurde. Und Robinho,
Thema: den nächsten Schritt in Diegos vor dem Balkon spannt sich Maschendraht, der jüngste Star Brasiliens, bekam erst mit
Karriere. Djair hat einen Plan, Bremen soll um Einbrecher abzuhalten. Diegos Kin- 14, auf dem Internat des FC Santos, sein
nur eine Station sein auf dem Weg zum derzimmer sieht aus, als wäre er gestern erstes Paar Fußballschuhe. Slumkinder
Weltruhm. ausgezogen, dort steht auch der Computer können Schnösel wie Diego nicht aus-
Diego kommt aus Ribeirão Preto, einer samt Webcam. „Mein Mann wollte die stehen. „Dass er sich beim FC Ribeirão
Stadt mit 570 000 Einwohnern, 320 Kilo- Kamera schon abbauen“, sagt Cecília. Preto durchgesetzt hat, gleicht einem
meter nordwestlich von São Paulo. Es gibt Djair halte nicht viel von diesem „Rum- Wunder“, sagt Cecília, die Mutter. „Die
wenige Orte in Brasilien, wo die Extreme geglucke“. anderen haben Diego anfangs nur ge-
dieses Landes deutlicher zu spüren sind. Sie hätte Diego als Kleinkind lieber beim hänselt.“
Ribeirão Preto ist eine Insel in einem Tennis oder Volleyball angemeldet, aber Mit fünf meldete ihn sein Vater beim
Meer von Zuckerrohrplantagen. Vor den er habe sich einfach nicht aufhalten las- FC Ribeirão Preto an, zwei Jahre später
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Sport
führte Diego sein Team als Kapitän zur Im vergangenen Jahr saß Djair 56 Tage Ein paar Wochen lang spielte Diego nur
regionalen Jugendmeisterschaft. Mit acht lang in Untersuchungshaft, weil er den noch durchschnittlich. Ein Leben ohne sei-
wurden Talentspäher auf ihn aufmerksam, Liebhaber seiner Frau vorsätzlich ange- nen Vater? Der ganze Plan schien zu plat-
mit elf kam er aufs Fußballinternat des fahren haben soll. Er hatte zufällig von zen. „Der Vater ruiniert die Karriere seines
FC Santos. „Dabei war er doch noch ein der Affäre erfahren und drehte durch. Der Sohnes“, berichteten deutsche Medien.
Kind“, sagt Cecília. „Er wurde von einem Mann saß auf einem Motorrad, zweimal Im Juli, fünf Monate später, bei der
auf den anderen Tag erwachsen. Viel zu versuchte es Djair, sogar im Rückwärts- Copa América, wurde Diegos Freund Ro-
früh.“ Sie habe sich fast geschämt, nicht so gang. 56 Tage U-Haft sind für einen Mann binho Torschützenkönig und bester Spieler
stark sein zu können wie er. „Mama“, habe seiner Bekanntheit viel in Brasilien, die des Turniers. Diego durfte kein einziges
er immer gesagt, „ich schaffe das schon. Richter fürchteten, Djair würde sich ins Mal durchspielen, im Finale gegen Argen-
Du musst dir keine Sorgen machen.“ Ausland absetzen oder, schlimmer noch, tinien wurde er in der 90. Minute einge-
Mit 16 debütierte Diego bei den Profis es ein weiteres Mal versuchen. Das Ver- wechselt. Und weil er mit den Schuhen der
des FC Santos. Dort lernte er Robinho fahren ruht derzeit, eine Anklage auf falschen Marke auflief, zog sein Ausrüster
kennen, die beiden sind seither Freunde. Mordversuch wird es nicht geben, wohl vor Gericht. Künftig muss er eine Konven-
Gemeinsam gewannen sie 2002 die brasi- aber auf Körperverletzung. Wahrschein- tionalstrafe von 50 000 Euro zahlen, wenn
lianische Meisterschaft. Beim FC Santos lich wird Djair nicht ins Gefängnis müssen, er in anderen Schuhen aufläuft. „Das kann
hat auch Pelé seine Karriere begonnen, er sondern mit ein paar Stunden gemein- ja mal passieren“, sagt Djair.
bot seine Hilfe an, weil er Diego für das nütziger Arbeit davonkommen. 17-mal wurde Diego bisher in der brasi-
größte Talent Brasiliens hielt. Er könne „Der Horror ist vorbei“, sagt Cecília nun, lianischen Nationalmannschaft eingesetzt,
Kontakte zu den richtigen Beratern schaf- fast ein Jahr nach dem Angriff. Ihr Mann Robinho kommt auf 40 Einsätze. Robinho,
fen, zum Beispiel zu Juan Figer, das Slumkind, spielt bei Real
dem mächtigsten Spieleragenten Madrid, immer noch eine der
der Welt. besten Adressen des Weltfuß-
Figer beschäftigt rund hun- balls; Diego, der Sohn des Wirt-
dert Scouts und unterhält Bü- schaftsingenieurs, bei Werder
ros in São Paulo, Madrid und Bremen.
Tokio. Die Verträge für den Der Schweizer Spielerberater
aktuellen Weltfußballer Kaká Dino Lamberti ist der einzige,
vom AC Mailand, Bayern Mün- mit dem Djair jemals zusammen-
chens Zé Roberto und Diegos gearbeitet hat. Das war noch zu
Freund Robinho werden von ihm Diegos Internatszeiten. Lamberti
verhandelt. Sogar Ronaldinho, empfahl damals, noch ein Jahr
der wie Diego von Familienmit- mit dem Sprung nach Europa
gliedern gemanagt wird, folgt zu warten. Diegos Vater dachte,
Figers Rat. Lamberti gönne ihm den Wechsel
NORDPHOTO
Djair wollte keinen Rat. Nie- nicht, und beendete die Zusam-
mals würde er seinen Sohn diesen menarbeit. „Ich glaube“, sagt
Leuten überlassen. Das Geld, das Profi Diego: „Keine Sekunde an meinem Vater gezweifelt“ Lamberti, „er war eifersüchtig auf
sich mit Diego verdienen lässt, mein gutes Verhältnis zu Diego.“
soll in der Familie bleiben. Lamberti hätte viel Geld ver-
Für acht Millionen Euro wech- dienen können mit Diego, er
selte Diego 2004 von Santos zum weiß auch, wie viele Berater sich
FC Porto, dem besten Club Por- damals um ihn rissen und wie
tugals. Doch in der zweiten Sai- schwer es ist, ohne das nötige
son saß er fast nur noch auf der Fachwissen jemanden in Europa
Bank, es fehle ihm an Torgefähr- aus dem fernen Brasilien zu ma-
CORDON PRESS / DIARIO AS / IMAGO
lichkeit, hieß es. Auf der offiziel- nagen. Trotzdem kann er verste-
len Internet-Seite seines Sohnes hen, dass Djair seinen Sohn nicht
bezeichnete Djair das Verhalten einfach irgendjemandem anver-
des Trainers als Unverschämtheit, traut habe. „Djair macht das nicht
der Coach wisse nicht, was er tue. schlecht“, sagt Lamberti. „Ich
Diego wurde nicht mehr auf- habe Respekt vor seiner Stand-
gestellt. Wenige Monate später festigkeit.“
ging er nach Bremen, sein erstes Der Vater wollte seinen Sohn
Bundesliga-Tor schoss er nach Ehemaliger Internatskollege Robinho: Die Nr. 10 von Real nie wie einen Favela-Fußballer
19 Spielminuten. an einen Großhändler verkaufen.
Sein Sohn gilt in Deutschland nun als sitzt neben ihr auf dem Balkon, hinter ih- Gut möglich, dass Djairs Plan aufgeht und
Star, jetzt soll der nächste Schritt kommen, nen, getrennt durch den Maschendraht, das Diego in ein paar Jahren Robinho, seinen
und Vater Djair macht längst kein Ge- Panorama von Ribeirão Preto, die Hoch- Freund aus dem Internat des FC Santos,
heimnis mehr aus seinem Plan: Juventus häuser und die Hütten. Er starrt auf den überholt hat.
Turin? Bayern München? Real Madrid? Boden und möchte dazu nichts mehr sagen. Bei Werder Bremen gibt es wohl kaum
Alles sei möglich, auch wenn Bremen „Es war eine schwierige Zeit“, sagt Cecília. noch Hoffnung, den Brasilianer zu halten.
öffentlich erklärt, der Brasilianer bleibe in Gott sei Dank hätten sie wieder zueinander- Djair Silvério da Cunha sagt, er habe mit
Bremen, sein Vertrag läuft bis 2011. gefunden. „Das sind wir Diego doch schul- Klaus Allofs, Bremens Manager, bespro-
Auch Pelé beschreibt Djair als „keinen dig.“ Sie behandeln das wie eine große Pein- chen, dass Werder für Diego nur eine
einfachen Menschen“. Er wolle bestimmt lichkeit, die man am besten vergessen soll. Zwischenstation ist.
nur das Beste für seinen Sohn, wie jeder Und Diego? „Es dauert nicht mehr lange, dann spielt
Vater, aber er sei ehrgeizig und manchmal „Ich habe keine Sekunde an meinem Diego auch bei Real Madrid.“
unberechenbar. Vater gezweifelt“, sagt er und schweigt. Cathrin Gilbert
114 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
NEW YORK DAILY NEWS / WENN
ADAM ROUNTREE / AP
Starterfeld im Empire State Building, Sieger Dold (2007): „Total im roten Bereich“
200 Meter hohen Main Tower, Sitz der Meistens sind die Stufen aus Stein. In
T R E PPE N L AU F E N
Landesbank Hessen-Thüringen. Die Pfört- Fernsehtürmen wie in Stuttgart sind es Git-
Ü
ber dem Reisezentrum im Frank- York gewonnen, vergangenes Jahr in 10:25 ner brachte sie dann zur Treppe, Dold zu-
furter Hauptbahnhof liegt ein Bi- Minuten. Jahn wurde in 10:56 Zweiter. erst. Sie begannen jeweils beim Donau-
stro, und das eiserne Prinzip von „Wir sind besser als andere, weil wir es turm-Lauf in Wien. Seither reisen und lau-
Thomas Dold und Matthias Jahn gilt sogar ernster nehmen“, sagt Dold im Bistro der fen sie gemeinsam, das sei lustiger, findet
hier: nach oben zu Fuß, abwärts mit dem Deutschen Bahn. „So professionell wie wir Jahn: „Man trifft ja sonst nicht viele Men-
Lift. macht es keiner.“ schen im Treppenhaus.“
Die beiden haben sich an diese Regel Der Main Tower, das vierthöchste Ge- Anfangs war es nicht leicht, Trainings-
aus dem Trainingsalltag gewöhnt. Es gilt, bäude in Deutschland, hat zwei Treppen- gebäude zu finden. Dold wurde einmal in
auf dem Weg nach unten nicht unnötig hausschächte, sie trainieren derzeit im Tübingen, als er sich in ein Wohnhaus
Zeit zu verlieren, außerdem droht Mus- rechtsdrehenden Treppenhaus, rechtsher- schlich und hochstürmte, für einen Selbst-
kelkater, wenn man die Stufen hinabrennt. um geht es auch in New York. Die Beson- mörder gehalten, der vom Dach springen
Dold und Jahn sind Treppenläufer. Sie derheit im Empire State Building: Es gibt wollte. Und Naturtreppen bringen nichts,
machen das nicht zum Spaß, sie betreiben kurze Flachstücke. Einmal muss das Ge- weil es keine Lifte gibt für den Rückweg.
es als Leistungssport. Sie trainieren 10 bis bäude gekreuzt, zweimal das Treppenhaus Auf Strecken von 400 bis 3000 Metern
25 Stunden die Woche, beide haben Fir- gewechselt werden. Und es ist ein Mas- hält Thomas Dold auch sechs Weltrekorde
men für die eigene Vermarktung gegrün- senstart. Die zehn Besten des Vorjahres im Rückwärtslaufen. Ein Spaß sei das, aber
det, Dold hat zehn Sponsoren, Jahn fünf. dürfen aus der ersten Startreihe laufen. auch gutes Training: „tierisch gut für die
Sie laufen nur hinauf, und zwar richtig. Die Schwächsten aus der Frauengruppe, Koordination“. Wichtig sei Abwechslung,
Jahn nennt das Hochhaus am Aschenberg die fünf Minuten vorher losrennt, werden sagt Jahn, Schwimmen etwa und Aquajog-
in seiner Heimatstadt Fulda sein „Sprint- vom 40. Stock an überholt. ging. Trainingsvielfalt beuge Verletzungen
treppenhaus“: Es hat nur 14 Stockwerke. Treppenlauf-Wettbewerbe gibt es überall vor. Leicht zu sein und viel Kraft in den
Er trainiert dort die Spritzigkeit, in einer auf der Welt: in Chicago im Sears Tower, Beinen zu haben, das sind die Vorausset-
Minute ist er oben. Bei nur 14 Stockwer- 442 Meter hoch, im Messeturm in Frankfurt zungen für den Treppenlauf. Wer ganz
ken ist er zwölf Sekunden schneller als am Main, 257 Meter, im Donauturm in nach oben will, sollte auch leiden können.
der Aufzug. Wien, 252 Meter, und auch in Taiwan, im Die letzten Stockwerke im Wettkampf lege
An jedem Wochenende treffen sich der Taipei 101, dem zweithöchsten Gebäude der er stets mit übersäuerten Muskeln zurück,
Stuttgarter Wirtschaftsstudent Dold, 23 Welt, 508 Meter hoch, 91 Stockwerke mit sagt Dold, „total im roten Bereich“. Do-
Jahre alt, und Jahn, 24, angestellt bei einer 2046 Stufen, 390 Höhenmeter, ein einziger ping? „Wäre zu teuer.“
Münchner Agentur, die Erlebnisse wie Schacht ist das dort, aber vom achten Stock Reich wird man, trotz der Sponsoren,
Bungee-Jumping oder Hai-Tauchen ver- an sind die Stufen höher. „Das fühlt sich an wohl nicht. In Taipeh gibt es 2000 Euro
kauft, zur gemeinsamen Wettkampfvorbe- wie ein Schlag mit dem Hammer“, sagt Prämie für den Sieger. In New York kostet
reitung in Frankfurt am Main. Sie haben Dold. Er wurde dort im November in 11:56 die Teilnahme 30 Dollar Startgeld.
dort Zugang zum Fluchttreppenhaus des Minuten Zweiter, Jahn kam auf Platz vier. Jörg Kramer
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 115
Prisma
MEDIZIN
Waffenhort von
denen sich beim Warten auf Beute
Mediziner Gooszen Schmuck fertigen ließ. Verstaut waren
Eiszeitjägern
die Utensilien wahrscheinlich in einem
großen Kontrollgruppe, die künstliche Sack aus Tierhaut oder geflochtenem
Ernährung ohne Probiotika erhielt, star- Material, den die Jäger der Natufien-
ben nur neun Patienten. Leider fiel
die höhere Sterblichkeitsrate in der Pro-
biotika-Gruppe erst auf, als wir am
D as komplette Jagdbesteck eines
prähistorischen Jägers und Samm-
lers haben Archäologen in Jordanien ge-
Kultur an einem Riemen über die Schul-
ter trugen. Zwar wurden schon mehr-
fach ganze Horte von Jagdwaffen aus
Ende die Ergebnisse ausgewertet haben. funden. Zu der 14 000 Jahre alten Aus- der ausgehenden Eiszeit gefunden, doch
SPIEGEL: Welche Konsequenzen ziehen rüstung gehören eine kunstvoll gearbei- dieser sei „der spektakulärste von al-
Sie aus der Studie? tete Sichel, Speerspitzen aus Feuerstein, len“, freut sich François Valla, Archäo-
Gooszen: Weltweit gibt es 70 vergleich- Steine, die vermutlich als Wurfgeschosse loge am Französischen Forschungszen-
bare Untersuchungen, in denen zum trum in Jerusalem. Abgesehen hatten es
Beispiel auch Leber-Transplantierte mit die nahöstlichen Vorläufer von Alpen-
den Bakterien behandelt werden. In Ötzi nach Ansicht des australischen
Fällen, wo die von uns verwendeten Experten Phillip Edwards neben Auer-
Stämme eingesetzt werden, raten wir, ochsen, Rotwild oder Hasen vor allem
zu warten, bis wir mehr über die Todes- auf Berggazellen: „Ein erster Wurf dürf-
PHILLIP EDWARDS
ursachen in unserer Studie wissen. te das Tier verwundet, aber nicht getö-
SPIEGEL: Sind probiotische Bakterien tet haben“, glaubt er. Anschließend
womöglich auch schädlich für Gesunde? habe sich der Jäger auf die Suche nach
Gooszen: Nein, davon gehen wir absolut der Beute gemacht und das erlegte Tier
nicht aus. Ausgegrabene Jagdwaffen auf den Schultern nach Hause getragen.
120 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wissenschaft · Technik
KRIMINALGESCHICHTE HIRNFORSCHUNG
SNAPS
te, zwecks Nachweis ihrer Bonität ihre er blieb auch ein Gewalt-
gesamte Barschaft mitzubringen. Als am Junkie, der durch das Berühren Randalierer im Fußballstadion
28. April 1908 Belle Gunness’ Haus ab- einer bestimmten Vorrichtung
das Auftauchen des Nebenbuhlers im- hemmte. Nach Auffassung des Vander-
mer wieder selbst herbeiführte, um sich bilt-Experten Craig Kennedy ist es von
dann mit dem Geschlechtsgenossen Mäusen zu Hooligans nur ein kleiner
hingebungsvoll zu prügeln. Dagegen war Schritt: „Die Experimente zeigen, dass
es mit der Rauflust des Mäuserichs vor- Einzelne gezielt Gewalt und Konfron-
bei, wenn ihm die Wissenschaftler ein tation suchen, weil sie dadurch ihr
Medikament verabreichten, das ihn zwar Belohnungssystem im Kopf stimulieren –
nicht weniger agil machte, aber die und dabei spielt der Hirnbotenstoff
Dopaminrezeptoren in seinem Gehirn Dopamin eine zentrale Rolle.“
ERNÄHRUNG
MEDIKAMENTE
D
ora Akunyili saß neben ihrem Bru- nach dem silbernen Schal, den sie sich um auf und rümpft die Nase. Dass ein Busfah-
der auf der Rückbank der dunklen den Kopf gewickelt hatte – er war durch- rer bei dem Attentat tödlich verletzt wurde,
Limousine, sie plauderten und lach- löchert. Da erst begriff sie und schrie: erfuhr sie erst später: „Wir sind einfach
ten. Dass die Killer ihnen folgten, merkten „Officer, helfen Sie mir, ich habe eine weitergerast zur nächsten Polizeistation.“
sie nicht. Kugel im Kopf!“ Der Polizist drehte sich Dora Akunyili, 53, Pharmakologin und
Vorn auf dem Beifahrersitz saß ein Poli- um und brüllte zurück: „Halten Sie die sechsfache Mutter, hat ein rundes Gesicht
zist, die anderen Wachmänner fuhren vor- Klappe, Madam, wenn eine Kugel in Ihrem und eine Vorliebe für bunte traditionelle
aus. Es war ein sonniger Winternachmittag, Kopf stecken würde, könnten Sie jetzt Gewänder. Weil sie die Generaldirektorin
Dora Akunyili kam von einer Feier und nicht reden!“ der nigerianischen Kontrollbehörde für Le-
wollte noch kurz bei Verwandten in ihrem Dora muss lachen, wenn sie jetzt an bensmittel und Arzneien (Nafdac) ist, muss
Heimatdorf vorbeischauen. diese Szene denkt: „Ein Streifschuss, die sie jederzeit mit Anschlägen rechnen – sie
Den Schmerz an der Schädeldecke spür- Kugel hat meine Kopfhaut und ein paar führt einen Kampf, bei dem es um gigan-
te sie im gleichen Moment, in dem sie das Haare versengt, die Stelle war einige Tage tische Geldsummen geht und um die Ge-
Splittern der Heckscheibe hörte. Sie tastete lang geschwollen“, sagt sie, reißt die Augen sundheit von 140 Millionen Menschen.
122 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wissenschaft
zu kaufen. Früher wurde das Plagiat an je- Land und halten Vorträge. Und als all das mehr als drei Jahren dahin. Die anderen
der Ecke offen feilgeboten, doch nun sind zu wirken begann, da setzte die Gegen- Vorfälle wurden nicht untersucht.
die Händler vorsichtig geworden. Die letz- bewegung ein. „Ich möchte nicht darüber nachdenken,
te Razzia war erst vor ein paar Tagen, ein Zunächst versuchten es ihre Gegner auf warum die Regierung nichts unternimmt“,
Polizist liegt seither mit einer Kopfverlet- die sanfte Tour. „Sie schickten Mittels- sagt Akunyili. „Es macht mir Angst.“ Sie
zung im Krankenhaus. männer, die mir Bestechungsgelder in Mil- zögert, wägt ihre Worte ab. „Wenn ich zehn
Ugwu, ein rundlicher Mann mit sanftem lionenhöhe anboten“, erzählt Akunyili. weitere Polizisten verlangen würde, bekä-
Gesicht und einem traditionellen braun- Einige Händler hätten sich so unangreifbar me ich sie sofort, das weiß ich.“ Sie formu-
gelben Gewand, balanciert auf Holzbret- gefühlt, dass sie sich gar nicht bemühten, liert jetzt sehr vorsichtig. „Auch wenn
tern durch klaustrophobisch enge Gassen. ihre kriminellen Geschäfte zu verstecken. manche Leute mit den Kriminellen be-
Der Boden ist schlammig, links und rechts Zudem seien die Gesetze gegen Arznei- freundet sind, legen sie Wert auf die öf-
werden in kleinen Verschlägen alle mög- fälscher leider lasch. Wer erwischt wird, fentliche Meinung. Deshalb wollen sie, dass
lichen Arzneien angeboten: Pillen gegen hat mit einer maximalen Buße von 500 000 ich auf meinem Posten bleibe.“
Aids, Antibiotika, Insulin, Beruhigungs- Naira zu rechnen – ungefähr 3000 Euro. An diesem Nachmittag empfängt Akunyili
tabletten, es gibt auch Hustensirup von Die Gesetze kann sie nicht ändern und zwei Inder und deren nigerianischen Beglei-
einer Firma namens Nigerian-German auch korrupte Richter nicht. „Aber ich ter. Sie thront auf einem schwarzen Leder-
Verhaftung eines Straßenverkäufers in Lagos: Plagiate an jeder Straßenecke Qualitätsprüfung in einem Nafdac-Labor: Wer sich
Chemicals. Die Verkäufer hocken zu dritt nutze die Schlupflöcher“, sagt sie und sofa in ihrem riesigen Büro im dritten Stock,
oder zu viert in den Läden, sie kauen auf lächelt. Sie kann Läden und Märkte schlie- die Wand hinter ihr ist bis an die Decke
Zahnstochern, mustern die Kundschaft. ßen lassen. Sie kann ein Spektakel daraus zugepflastert mit Preisen und Ehrungen. Die
Die ersten drei Händler winken ab, als machen, Fälschergut öffentlich zu verbren- Besucher werden von Leibwächtern in den
Ugwu nach dem Antiallergikum fragt. So nen. Und sie kann überführte Händler an Raum gescheucht, sie eilen herbei, verneigen
etwas gebe es hier nicht. Der vierte, ein den Pranger stellen. Marcel Nnakwe etwa, sich. Akunyili nickt huldvoll, setzt ihre gol-
junger Mann mit kahlem Schädel und den König der Fälscherbande von Onitsha, dene Lesebrille auf und bedeutet ihnen, sich
fleckigem T-Shirt, bittet Ugwu in seinen führte sie live im Fernsehen vor: Er musste zu setzen. „Entschuldigen Sie, dass Sie seit
Verschlag. Er müsse das kurz abklären, sich entschuldigen und geloben, nie mehr dem frühen Morgen warten mussten“, sagt
sagt er und verschwindet. Seine beiden „diesem illegalen Geschäft“ nachzugehen. sie und lächelt sanft. „Ich hatte viel zu tun.“
Kollegen sitzen schweigend da, einer tippt Er tat es mürrisch; hinterher schwor er Die drei versichern, das sei überhaupt
Zahlen in einen Taschenrechner. Rache. kein Problem. Dann spricht der jüngere
Nach einer Viertelstunde kehrt der Dann begannen die Angriffe. Sechs der beiden Inder, ein hagerer Mann mit
Verkäufer zurück. Vielleicht könne er das bewaffnete Männer drangen in Akunyilis Schnauzbart und schwarzem Anzug: Sie
Gewünschte liefern, sagt er, aber es sei Haus in Abuja ein, überwältigten das Per- handelten mit importiertem Speisesalz und
teuer und nicht ungefährlich. Ugwu solle sonal und durchsuchten alle Räume. Ein wollten nun eine Produktionsstätte im Süd-
ihn später anrufen. Er schreibt eine Handy- Bündel Banknoten, das auf dem Schreib- osten aufbauen. Die Salzmine, die sie dazu
Nummer und einen Namen auf einen Zet- tisch lag, rührten sie nicht an. brauchten, gehöre jedoch dem Staat.
tel. „Chosen“ nennt er sich, der Erwählte. Ein Jahr später, im August 2002, zer- „Phantastisch“, sagt Akunyili gedehnt.
Und Ugwu bricht wieder auf, zurück in störte ein Brand eines der neuen Labors „Ich soll Ihnen helfen, die Mine zu be-
den Menschenstrom. Eine Woche darauf in Lagos. Im März 2004 brannten zur glei- kommen?“ Alle drei nicken eifrig. „Okay,
findet auf dem Idumota-Markt die nächste chen Zeit mehrere Nafdac-Büros in ver- ich werde mit dem Minister sprechen. Wir
Razzia statt. schiedenen Bundesstaaten. haben ja alle etwas davon, wenn mehr im
Mit Plakaten, Broschüren und Fernseh- Wer steckt hinter den Anschlägen? Es Land produziert wird.“ Sie blickt zur Tür:
spots machen Ugwu, seine Chefin und die gibt Hinweise darauf, dass Nnakwe be- „Der Nächste, bitte.“ Das rosa verpackte
anderen Nafdac-Mitarbeiter aufmerksam zahlte Killer auf Akunyili angesetzt hat. Geschenk, das der Schnauzbärtige ihr
auf die Gefahr. Mitarbeiter reisen durchs Ein Prozess gegen ihn schleppt sich seit überreichen will, weist sie zurück.
124 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Es gibt auch Menschen in Lagos, die selbst schuld, sagt er heute, als Mediziner stämme, die man mit schlechten Kopien
es vorziehen, heimlich mit Akunyili zu- hätte er seinen Blutdruck überwachen von Antibiotika ja regelrecht züchtet, ver-
sammenzuarbeiten. „Diese Arzneifälscher, müssen. „Aber wie viele Nigerianer ha- breiten sich in der ganzen Welt.“ In Zu-
das sind keine kleinen Kriminellen. ben das nötige Geld und die Bildung, um kunft will sie deshalb enger mit den Ge-
Wenn ihnen zu Ohren käme, dass ich ihr sich vor diesen Mördern zu schützen?“ sundheitsbehörden der westafrikanischen
Geschäft schädige, könnten sie die Klinik Dafür haben die Nigerianer Dora Akun- Nachbarstaaten zusammenarbeiten.
niederbrennen und mich erschießen“, yili. Und die verehren sie glühend. Sie wird Sie war auch schon in Indien und
sagt George Okpagu. Er sitzt an seinem mit Briefen und Gedichten überschüttet, China, um Inspektoren anzuwerben und
Schreibtisch in einem kleinen Kranken- mit Zeichnungen, Glücksbringern, Süßig- die Behörden zu sensibilisieren – bis-
haus in Lagos, die Klimaanlage ist aus- keiten. Unbekannte sprechen sie auf der lang mit mäßigem Erfolg. Und sie ist stell-
gefallen. Okpagu hat kurzgeschorenes Straße an, wollen sie berühren, müssen vertretende Vorsitzende einer Spezial-
Haar, er trägt einen weißen Arztkittel, von ihren Leibwächtern zurückgedrängt einheit der WHO, die Ende 2006 gegründet
aber keine Schuhe. Er leitet die Klinik seit werden. „Mommy“ nennen sie Akunyili – wurde, um die internationale Zusammen-
22 Jahren. in Nigeria ist das ein Zeichen von Respekt. arbeit zu verbessern und die Mitgliedstaa-
Oft bittet er seine Patienten, ihm die Me- Manchmal ist es auch anstrengend, ten zu einer strengeren Gesetzgebung zu
dikamente zu bringen, die sie einnehmen. eine Volksheldin zu sein. Drei Jahre will bewegen.
„Wenn etwas nach einer Fälschung aus- Akunyili noch durchhalten, bis zum Ende Erreicht sie etwas, kann Dora Akunyili
sieht, frage ich den Patienten, wo er es ge- ihrer zweiten Amtszeit. Sie träumt von Nigeria wirklich verändern? Wie misst man
kauft hat. Dann rufe ich die Nafdac-Leute einem erholsamen Job, vielleicht als Bot- Erfolge auf einem Feld wie diesem?
an und sage ihnen, sie sollen diesen oder schafterin irgendwo in einem fernen, fried- Am nächsten Tag bittet Nafdac das Volk
jenen Laden mal durchsuchen“, erzählt er. lichen Land. Sobald sie ihr Amt aufgebe, von Lagos zur „Zerstörungsübung“. Auf
„Das ist die einzige Möglichkeit, Dora müsse sie ihre Heimat ohnehin verlassen, einer Wiese außerhalb der Stadt türmen
Akunyili zu unterstützen, ohne mich selbst glaubt sie. „Ohne die Leibwächter, die mir Männer Kartons mit Medikamentenpa-
in Gefahr zu bringen.“ die Regierung zur Verfügung stellt, würde ckungen aufeinander und übergießen den
Er lacht bitter. Vor vier Jahren wäre er ich nicht lange überleben.“ Berg anschließend mit Diesel. Fernsehka-
beinahe selbst an gefälschten Blutdruck- Ihre Kinder leben längst in den USA. meras und Fotoapparate halten fest, wie ein
senkern gestorben. „Ich hatte die Tabletten Der jüngste Sohn hat gerade Abitur ge- glatzköpfiger Mann im schwarzen Anzug
unterwegs in einer Apotheke gekauft, die macht. Wenigstens ihn hätten die Eltern mit einer Fackel das Feuer entfacht.
Verpackung sah völlig normal aus“, be- gern noch eine Weile bei sich behalten, Der Mann heißt Dioka Ejionueme, er ist
richtet er. Er nehme das Medikament seit doch nach einem Entführungsversuch vor Vollzugsdirektor der Behörde. Während
Jahren und habe bis dahin immer gut vier Jahren schickten sie ihn fort. „Ich dan- die Flammen emporschießen, spricht er mit
darauf reagiert. Doch wenige Wochen ke Gott, dass weder ich noch meine Fami- heiserer Stimme von den jüngsten Erfolgen:
später sei ihm bei der Arbeit schwindelig lie vorher wussten, wie gefährlich dieser Dies sei nun die 116. öffentliche Verbren-
geworden. „Meine letzte Erinnerung ist, Job sein würde“, sagt Akunyili leise. „Mein nung, erneut seien Fälschungen im Wert von
dass ein anderer Arzt meinen Blutdruck Mann lebt in ständiger Angst, ich mache mehreren Millionen Dollar zerstört worden!
maß: 200 zu 110. Dann verlor ich das Be- mir Sorgen um seine Gesundheit.“ Aber Die eigentliche Neuigkeit verrät er erst,
wusstsein.“ aufhören, jetzt? als die Journalisten weg sind, es ist ihm ein
Okpagu hatte eine Hirnblutung, er war Die grünen Leuchtziffern auf dem Fern- wenig unangenehm. Ab sofort, flüstert der
acht Tage lang bewusstlos, und als er er- seher in Akunyilis Hotelzimmer zeigen Vollzugsdirektor, werde die Fälscherware
wachte, war er vorübergehend halbseitig 02:00 Uhr. Sie ist todmüde, aber eines nicht mehr öffentlich in Brand gesetzt, son-
gelähmt. In der Zwischenzeit hatten seine will sie noch klarstellen. „Was wir hier be- dern in modernsten Verbrennungsöfen –
Kollegen die Tabletten untersuchen lassen kämpfen, ist nicht nur ein afrikanisches der nigerianische Beitrag zum Umwelt-
– sie enthielten keinen Wirkstoff. Er sei Problem“, sagt sie. „Resistente Bakterien- schutz. Samiha Shafy
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 125
Wissenschaft
Die Bibliothek wird aber auch philosophi- Variation zwischen den Menschen sogar
sche Debatten neu beleben, etwa die Fra- die wichtigere, denn sie betrifft oft sehr
ge: Inwiefern ist jeder Jeck anders? Und lange Strecken im Erbgut.
Genforscher Durbin
was macht mich zu mir? Die Folgen solcher Erdrutsche in den Ge-
Zum Geheimnis der Einzigartigkeit ha- nen können dramatisch sein. Sie spielen
D
er Fortschritt ist mitunter ein Schnö- ben die Genforscher schon im vergange- nachweislich eine Rolle beim Autismus. Sie
sel: In seinem Licht erscheinen nen Jahr Erstaunliches herausgefunden. sind mitbeteiligt an manchen Autoimmun-
Großtaten der Vergangenheit oft Menschen unterscheiden sich nämlich erkrankungen, und sie können beeinflussen,
lächerlich. Die Entschlüsselung des mensch- viel stärker voneinander als gedacht. Das ob jemand gut oder schlecht auf bestimmte
lichen Erbguts (Genom) etwa hat mehr als Wissenschaftsfachblatt „Science“ kürte die Medikamente anspricht. Mitunter sind sie
zehn Jahre gedauert und Milliarden Dollar Neubewertung der genetischen Variabili- ein Segen. Wer das Glück hat, zufällig meh-
verschlungen; was dabei herauskam, wur-
de im Jahr 2000 weltweit gefeiert als „Buch
des Lebens“.
rere Kopien eines besonderen Gens in sich Dennoch: In fünf Jahren oder so, glaubt Einer indes ist wenig begeistert: Craig
zu tragen, der hat einen Körper, der dem Genforscher Durbin, wird auch er selbst Venter, der Berserker unter den Gentüft-
Angriff des HI-Virus besser standhält. der Versuchung nicht mehr standhalten lern. Seit je liefert er sich Scharmützel mit
Das 1000-Genome-Projekt wird helfen, können und mehr wissen wollen über sein den Genforschern öffentlich finanzierter
die Unterschiede zwischen den Menschen eigenes Genom. „Natürlich ist es faszinie- Institute. Dieser Venter hat jetzt zu Proto-
deutlicher als je zuvor herauszustellen – und rend“, sagt er. So wie man ja auch mehr koll gegeben, dass die 1000 Genome doch
sie orakelhaft zu bewerten. Welche Muta- über die Geschichte seines Hauses erfah- höchstens „einen groben Überblick“ lie-
tionen spielen bei Manisch-Depressiven ren wolle, so werde man sich dann auch ferten. Er selbst plane ein ehrgeizigeres
eine Rolle? Welche Genkombination erhöht um seine genetische Konstitution küm- Unterfangen: 10 000 Genome.
das Risiko für Darmkrebs? Wer ist von sei- mern wollen: „Das bereichert das Leben.“ Auch Ende voriger Woche gelang es Ven-
ner Anlage her herzinfarktgefährdet? Seine 1000 Studienobjekte hat er bereits ter wieder, seinen Gegenspielern die Show
Schon bald dürften massenweise herge- beieinander. Angehörige der Yoruba aus zu stehlen. Da erschien in „Science“ sein
stellte Schnelltests für dies oder jenes ge- Nigeria sind ebenso dabei wie kenianische jüngster Streich: Aus einfachen Bausteinen
netische Risiko Alltag sein in den Arztpra- Massai, Einwohner Pekings und Tokios, hat Venter das vollständige Genom eines
xen. Fraglich ist nur, wie aussagefähig die- in Los Angeles wohnhafte Mexikaner und Bakteriums geschaffen (siehe Interview).
se wirklich sein werden. Was bringt es zu Bewohner Utahs mit westeuropäischem „Die Biologie“, sagt Venter in gewohnt
erfahren, dass ein ohnehin winziges Risiko Hintergrund. In diesem Mix hoffen die unbescheidener Manier, „könnte in eine
für Nierenkrebs wegen bestimmter Gene Wissenschaftler, nahezu alle häufigen Gen- neue Designphase hinübergetreten sein.“
um 19 Prozent gewachsen sein könnte? varianten der Menschheit zu finden. Marco Evers
die Methode der Wahl sein wird, sobald som in eine Empfängerzelle transferieren Venter: Na ja, sie sind immerhin auch dar-
diese Prozesse stabil und rasch ablaufen. und darin zum Leben erwecken. Bis dahin an beteiligt, all den Sauerstoff herzustel-
SPIEGEL: Auch Sie haben zwölf Jahre für ist es noch ein weiter Weg. len, den wir atmen.
Ihr künstliches Genom gebraucht … SPIEGEL: Sie wähnten sich schon im Juni SPIEGEL: Wie groß müssen wir uns eine
Venter: … ja, und trotzdem fehlt noch der fast am Ziel – offenbar war das zu opti- Fabrik vorstellen, in der Kunstbakterien
letzte Schritt. Wir müssen das Chromo- mistisch. Was macht die Sache so kom- den Weltvorrat an Treibstoff herstellen?
pliziert? Venter: Das ist doch gerade der Unter-
Venter: Es ist jedenfalls kein Selbstgän- schied zur herkömmlichen Art der Ener-
ger. Wir stoßen auf viele Hindernisse, gieerzeugung: Mit unserer Methode
von denen keines trivial ist. Wir müssen könnte der Treibstoff vor Ort produziert
das Chromosom entweder in eine Zelle werden. Im Moment haben wir weltweit
übertragen, deren Erbgut wir vorher ent- nur wenige hundert Raffinerien. Das Roh-
fernt haben. Oder in eine Zelle mit Erb- öl muss dorthin und als Benzin von dort
gut; dann müssen wir dieses Erbgut an- wieder wegtransportiert werden – und all
schließend loswerden – und zwar ohne das benötigt wiederum gewaltige Mengen
dass es mit dem neueingepflanzten Ge- an Treibstoff. Ist es da nicht viel besser,
nom rekombiniert. wenn jede Stadt, jedes Dorf, vielleicht so-
SPIEGEL: Eine neue Schätzung bitte: Wann gar jeder Haushalt den Treibstoff selber
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 127
Bohrlöcher im Paradies DÄNEMARK
Geplante Explorationen
durch die RWE Dea AG und
die Wintershall Holding AG Flensburg
SCHLESWIG-
HOLSTEINISCHES
WATTENMEER
DEUTSCHLAND Nordsee
Texas im Watt
Das Wattenmeer hat die Unesco-Me-
daille durchaus verdient, fand schon An-
gela Merkel, als sie noch Umweltministerin
war und das Bewerbungsverfahren anleier-
RWE will vor der Nordseeküste nach neuen Ölreserven bohren – te. Denn die glitzernde Weite der Nordsee-
küste ist eine weltweit einzigartige ökolo-
ausgerechnet im Ökoparadies Wattenmeer, für das die gische Kostbarkeit. Im rhythmischen Spiel
Bundesregierung jetzt den Status des Weltnaturerbes beantragen will. der Gezeiten wurzeln spezialisierte Pflan-
zen, tummeln sich perfekt angepasste Tie-
I
n Tagen wie diesen sind Werner Schuh- die Öffentlichkeit, dass RWE vor der deut- re in den ausgedehnten Schlick- und Sand-
bauers Talente besonders gefragt. Denn schen Nordseeküste sechs neue Probe- flächen; bis zu 4000 Spezies sind es ins-
wie kaum ein anderer bei RWE Dea ist bohrungen in die Tiefen des Erdgesteins gesamt, 250 davon gibt es überhaupt nur in
er es gewohnt, die Rolle des Bösen spielen treiben will: fünf davon vor Schleswig- den Salzwiesen der Nordseeküste.
zu müssen. Holstein, eine vor Niedersachsens Strän- Was dort überleben will, muss Salz,
Wann immer irgendwo am Nordsee- den (siehe Karte). Schon bald, so die Hoff- Überflutung und Trockenheit gleicher-
strand eine Ölpfütze schillert, muss Schuh- nung der Exploratoren, werden im zutage maßen widerstehen können. Tiere, die die-
bauer an die Front. Denn sein Unterneh- geförderten Bohrwasser erste Schlieren sen Härtetest bestehen, werden gut ent-
men fördert hier Öl aus dem Untergrund. vom schwarzen Gold in den Gesteins- lohnt. Denn der Tisch ist im Watt immer
Und deshalb ist klar, dass RWE Dea immer gründen künden. gedeckt: Muscheln, Würmer, Schnecken,
als Erstes verdächtigt wird. Schuhbauers Problem: Das Wattenmeer Garnelen im Überfluss. Von allen Lebens-
RWE-Mann Schuhbauer, 60, weiß, wie ist Nationalpark. Und damit steht es unter räumen der Erde übertrifft allein der tro-
er sich dann zu verhalten hat: respektvoll dem strengsten Naturschutz, den die west- pische Regenwald das Watt an lebendiger
vom Anliegen der Umweltschützer spre- liche Welt zu bieten hat. Da ist es kein Biomasse.
chen, wohlklingende Leitlinien zitieren, Wunder, dass Greenpeace-Parolen über Nirgends in Mitteleuropa finden sich
freundlich an die Meriten der Firma im dem Watt flatterten, kaum dass die RWE- mehr Vögel als hier. Bis zu zwölf Millionen
Naturschutz erinnern – all das hat der stu- Pläne bekannt geworden waren. Zugvögel rasten im Watt und mästen sich
dierte Chemiker und Ingenieur jahrelang „Eine Bohrinsel im Watt“, findet auch für die Brutzeit. Um die Elbmündung her-
trainiert. Denn er ist damit betraut, Na- Hans-Ulrich Rösner vom WWF, „das ist um sammeln sich bis zu 200 000 Brand-
turschützer, Bürger und die Beamten der wie eine Pommesbude im Kölner Dom.“ gänse zur sommerlichen Mauser. Hier sind
Umweltbehörden von den hehren Absich- Die Kathedrale hat der Umweltschützer sie geschützt, wenn sie alle Flugfedern
ten seiner Firma zu überzeugen. Wie tröst- bewusst als Beispiel gewählt: Sie zählt abwerfen und dann wochenlang völlig
lich ist es da, dass sich am Ende bisher zum Weltkulturerbe der Unesco – und das ungeschützt überleben müssen.
noch jedes Mal herausgestellt hat, dass der Wattenmeer soll, wenn es nach dem Willen Ausgerechnet in diesem Paradies also
schwarze Schleim nicht aus der RWE- der Bundesregierung sowie dem der An- nach Erdöl gründeln? „Wir sind davon
Bohrinsel, sondern aus irgendeinem ma- rainer Dänemark und Niederlande geht, überzeugt, dass sich Erdölförderung und
roden Tanker geleckt war. zum Weltnaturerbe geadelt werden. Der Umweltschutz nicht ausschließen“, beteu-
Doch diesmal geht es nicht um die übli- nasse Küstenstreifen würde mit diesem Eti- ert Schuhbauer. Eine Gefahr für die Tier-
chen Lachen am Strand. Diesmal drang an kett aufsteigen in die Liga von Naturpre- welt gehe von den Bohrungen nicht aus.
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Wissenschaft
flächige Claims abgesteckt, in denen die Nachweis, dass die Förderung von Land
Exploratoren die Jagd nach dem Öl aus- oder von der Plattform aus erfolgen könn-
weiten können – beide im Nationalpark te. Inzwischen hat das Konsortium dem
Wattenmeer. Nationalparkamt zwar einen neuen An-
Der außerordentlich hohe Ölpreis ist da- trag eingereicht, aber den Nachweis der
WWF-Mann Rösner ist anderer Ansicht: bei die wahre Verlockung, der erhoffte Ge- wattenmeerfreundlichen Förderung kann
„Stellen Sie sich mal vor, was es für einen winn so hoch, dass sich die öffentliche es immer noch nicht erbringen. „Wir ar-
Aufschrei geben würde, wenn Energie- Rolle als Nationalparkschänder ertragen beiten daran“, sagt Schuhbauer.
konzerne plötzlich anfingen, im Yellow- lässt. Bei einem Preis von 90 Dollar pro Es ist kein Zufall, dass die Probeboh-
stone-Nationalpark zu bohren oder in der Barrel des Nordseeöls Marke „Brent“ rungen gerade jetzt publik geworden sind:
Serengeti!“ lohnt es sich RWE zufolge sogar, „die paar Es geht darum, Stimmung zu machen ge-
Umso mehr empört die Umweltschüt- Fettaugen auf dem Wasser abzuschöp- gen die Nominierung zum Weltnaturerbe.
zer, dass schon 1985 Fakten geschaffen fen“, die noch aus einer nahezu leer- Hamburg hatte sich in letzter Minute
wurden: Zeitgleich mit der Ausweisung des gepumpten Lagerstätte beim niedersäch- ausgeklinkt aus der Bewerbung – es ist
Nationalparks erlaubten die Behörden dem sischen Hankensbüttel quellen. Aus RWE- Wahlkampf, und die Hanseaten befürch-
Ölsucherkonsortium damals, die Bohr- Sicht sind Probebohrungen unerlässlich, ten Einschränkungen bei der Bewilligung
plattform „Mittelplate“ ins Wattenmeer zu um neue Reserven des schwarzen Goldes der Elbvertiefung für große Container-
setzen – mitten ins Ökoparadies. um die Goldgrube Mittelplate herum zu schiffe. Und auch RWE-Mann Schuhbauer
Bis heute pumpt das Konsortium aus erspähen. macht sich Sorgen über eine mögliche
RWE und Wintershall mehr als zwei Mil- Diese anzuzapfen ist für die RWE- „Einengung unserer Tätigkeit bis hin zu
lionen Tonnen im Jahr aus 2000 bis 3000 Manager nun vor allem ein technisches einer Behinderung“.
Meter Tiefe empor. Das ist mehr als die Problem. Das Nationalparkgesetz in Schles- „Alles Propaganda“, findet Christiane
Hälfte der Gesamtfördermenge in Deutsch- Paulus, die im Bundesumweltministerium
land – das Depot unterm Wattenmeer ist
das germanische Texas. „Es handelt sich Ölversorgung in Deutschland für das Welterbe zuständig ist. Weder für
die Ölsucher noch für die Elbebagger wer-
um ähnliche Mengen, wie wir sie aus Aser- Lieferanteil 2006 de sich irgendetwas ändern. Die Autoren
baidschan, Saudi-Arabien oder Nigeria in Prozent Quelle: des Welterbe-Antrags haben nämlich alle
Börsen-Zeitung
importieren“, sagt Schuhbauer stolz. „Wir Faktoren, die das Wattenmeer stören könn-
leisten hier unseren Beitrag zur Versor- Norwegen ten, bereits im Bewerbungsdossier ver-
gungssicherheit.“ Umweltschützer Rösner 16,6 % merkt. Wenn die Unesco das norddeutsche
hingegen findet die Menge „so gering, dass Ökoparadies trotzdem anerkennen sollte,
man ebenso gut darauf verzichten könnte“. Groß- tut sie dies wohl wissend, dass diese Vor-
Der WWF-Mann weiß, dass eine Boh- britannien haben geplant sind und ausgeführt wer-
rung das Ökosystem nicht gravierend 11,5 % den, sofern das Naturschutzrecht vor Ort
stören würde. Deshalb verzichtet er darauf, GUS dies zulässt.
die Angst mit Bildern elend krepierender 40,9 % Libyen Ändern lässt sich der Antrag ohnehin
Heuler oder Eiderenten zu schüren. Ihm 11,2 % nicht mehr durch die Kommentare der
geht es ums Prinzip: Die Industrie müsse Hamburger oder der RWE-Manager. Denn
anfangen, wenigstens Nationalparks zu re- Opec die Bewerbung des Wattenmeers für den
(ohne Libyen)
spektieren: „Wenn wir den Klimaschutz Son- Ritterschlag durch die Weltgemeinschaft
ernst nehmen, müssen wir doch irgendwo stige 9,8 % ist gedruckt und gebunden. Noch in dieser
anfangen, die fossilen Brennstoffe in der 6,9 % Woche wird ein Bote sie zur Unesco in
Anteil
Erde zu lassen“, meint er. „Und wo soll „Mittelplate“: Paris tragen: „Das ist in Sack und Tüten“,
man beginnen, die Förderung zu stoppen? aus eigener sagt Paulus. Und freut sich.
Am besten doch in reichen Ländern wie Förderung 3,1 % 1,8 % Rafaela von Bredow
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Szene Kultur
MODE
Seriell einmalig
E in altes Gesetz der Mode besagt, dass
Kleidung angeblich dadurch interessan-
ter wird, dass sie nur an ausgewählten Or-
ten und in niedrigen Auflagen zu haben ist.
Auf der Internet-Seite „noeditions.com“
kann der Mode-Interessierte nun betrach-
ten, wie Exklusivität in Zeiten der Massen-
produktion in Zukunft aussehen könnte:
Die Seite zeigt eine Palette schlichter
Alltagskleidung (Jeans, T-Shirts, Wind-
jacken, Hemd- und Überkleider), die aus
historisch erprobten, bewusst nicht trend-
gemäßen Materialien (Denim, Seide, Jer-
sey, Chiffon) gefertigt und mit unterschied-
lichen Motivserien bedruckt wird – von de-
zenten Bunttönen bis zum Grau. Der Clou:
Jeden Druck und damit jedes Kleidungs-
stück gibt es nur einmal. Codes im Inneren
der Kleidung informieren über die jewei-
lige Seriennummer. Nach dem Kauf hat
DEREK KETELLA
der Kunde das schöne Erlebnis, zu sehen,
wie im Online-Archiv über seinem Stück
die Kennung „not available“ (nicht verfüg-
bar) erscheint. Hinter dem Hersteller mit Modelabel No Editions
dem programmatischen Titel No Editions
(Keine Auflagen) stehen der aus München stammende, in New Berater selbständig machte. Derzeit arbeitet das Team an
York arbeitende Künstler und Modemacher Christian Niessen, einem Motiv, das so offen gestaltet sein muss, dass es für eine
41, und seine Partnerin Nicole Lachelle. Niessen war lange die unendlich variable T-Shirt-Serie taugt – eine Aufgabe, die den
rechte Hand der Modelegende Helmut Lang, bevor er sich als Designern wohliges Kopfzerbrechen bereitet.
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Szene
STREITSCHRIFTEN
Krankheit im Hirn
M ehr als drei Jahre ist es her, dass die
Frau des österreichischen Kabaret-
tisten und Boxreporters Werner Schney-
der gestorben ist, nun hat der Witwer
ein Buch über dieses Sterben geschrie-
ben. Es handelt von der Erkrankung
und den Qualen der geliebten Frau, von
den Ratschlägen und Operationen der
Ärzte, klar. Aber vor allem handelt es
von Werner Schneyder selbst. Wer den
Mann kennt, ob Freund oder Verächter, FABIAN BIMMER / AP
wird es kaum anders erwarten. Anrüh-
rend und eitel, anklagend und mitunter
auf krasse Weise entblößend ist diese
Erzählung, die nach dem Willen ihres
Verfassers unbedingt auch ein Manifest Prämiertes Foto, prämierte Karikatur
sein soll gegen die mit chemotherapeuti-
schen Mitteln bewirkte Lebensverlänge- AU S ST E L L U NGE N
Ferien an der
rung für todgeweihte Krebspatienten:
Schneyder wird also in Talkshows auf-
treten, als Erstes bei „Maischberger“ an
Ostsee
diesem Dienstag.
Das Buch schildert zunächst lapidar, wie
ein befreundeter Arzt den Eheleuten
berichtet, dass Schney-
ders Frau an Blasen-
E s war das Jahr 2007, in dem als Clowns
KLAUS STUTTMANN
krebs erkrankt ist; wie verkleidete Demonstranten behelmten
der Künstler sich (und Polizisten auf die Nerven gingen, wäh-
sie) mit Vorwürfen ein- rend Angela Merkel mit Tony, George und
deckt, weil er ihr nicht Romano in der Sonne von Mecklenburg-
energisch genug das Vorpommern ein kühles Bier trank. Zum
Rauchen verboten hat. 24. Mal hat die „Rückblende“, der Preis für politische Fotografie und Karikatur, ein
Dann wird die Ehefrau Kalenderjahr auf seine visuellen Höhepunkte hin untersucht. Mit ersten Preisen
operiert und ihr Chir- ausgezeichnet wurden Fabian Bimmer für sein Foto der Clowns-Army im Vorfeld der
urg, ein erfahrener G-8-Proteste in Heiligendamm und der Karikaturist Klaus Stuttmann, der Innen-
Mediziner, stirbt groteskerweise am minister Schäuble als Wiedergänger des Stasi-Hauptmanns im Film „Das Leben der
Abend der Operation den Herztod. Die Anderen“ gezeichnet hat. Die Ausstellung mit ausgewählten Fotos und Karikaturen
Krankheit schreitet fort, und es setzt ein ist in Berlin in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz zu sehen.
Wüten ein über undurchschaubare ärzt-
liche Winkelzüge, das Schneyder mit
Berichten über den eigenen, wie er es
nennt, „Hirnkrebs“ garniert: Gemeint ist VERLAGE lagslandschaft“ (Grossner über Suhr-
Wehrhafte Ikone
die Horrorvorstellung, sein Leben künf- kamp) wehrte sich und erstattete Straf-
tig allein leben zu müssen. Der Künstler anzeige wegen übler Nachrede. Wie
schwadroniert plötzlich enthemmt über jetzt aus einem Schreiben des Amtsge-
das eigene Los, ein bejubelter Auftritt
jagt den nächsten Bühnenerfolg, dazwi-
schen weint er in der U-Bahn zum Kran-
G roße Worte, nicht immer vorgetra-
gen auf die feine hanseatische Art:
Nachdem die Hamburger Geschäftsleu-
richts München hervorgeht, das dem
SPIEGEL vorliegt, müssen Grossner und
Barlach im Gegenzug für die Einstellung
kenhaus und verzeiht sich großzügig die te Hans Barlach und Claus Grossner dieses Verfahrens jeweils 15 000 Euro an
sexuellen Abschweifungen während sei- Ende 2006 mit dem Suhr- eine gemeinnützige Insti-
nes 40 Jahre dauernden Ehelebens. Und kamp-Anteilseigner An- tution zahlen. Für Barlach
dann ist er, als die Gattin stirbt, weit weg dreas Reinhart eine Über- war das Verfahren offen-
auf Tournee. nahme seiner Verlagsantei- sichtlich nur eine Lappa-
Ein seltsames Buch: Über die moderne le vereinbart hatten, warfen lie: „Mit so einem Unfug
Krebsmedizin sagt es, trotz des lauten sie Verlegerin Ulla Unseld- sollen sich meine Anwälte
OLAF BALLNUS / AGENTUR FOCUS
„J’accuse“, nur wenig. Über den Men- Berkéwicz „Vermischung nicht beschäftigen. Auf
schen Werner Schneyder sagt es oft von Privatem und Ge- Nebenkriegsschauplätze
herz- und markerschütternd viel. Maxi- schäftlichem“ vor. Aller- haben wir keine Lust.“
mal freundlich formuliert: Der Mann dings: Die versprochenen Der Streit um die Besitz-
verstellt sich nicht. Belege für diese Behaup- verhältnisse im Suhrkamp-
tung blieben die Hambur- Verlag geht demnächst vor
* Werner Schneyder: „Krebs. Eine Nacherzählung“. ger schuldig. Die „Brain- dem Landgericht Frank-
Verlag Langen Müller, München; 160 Seiten; 17,90 Euro. Ikone der deutschen Ver- Barlach, Grossner furt in die nächste Runde.
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Kultur
AU TOR E N SPIEGEL: Ihre Krimis sind unkonventio-
immer zuerst“
Sie sich überhaupt als Krimi-Autorin?
Schenkel: Die Ermittler sollten kein zu
großes Eigenleben erhalten, sonst wer-
Die Schriftstellerin Andrea Maria den sie wichtiger als die Fälle, die sie
Schenkel, 45, über den anhaltenden bearbeiten. Bin ich eine Krimi-Autorin?
Erfolg ihrer Krimis „Tannöd“ (2006) Ich weiß es nicht. Ich schreibe jedenfalls
und „Kalteis“ (2007), die beide seit gern spannende und auch dunkle Ge-
Monaten auf der Bestsellerliste stehen schichten. Ob ich dem Genre treu blei-
und jeweils mit dem Deutschen Krimi-
Kino in Kürze
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Kultur
Sängerin Jones in ihrem Kinodebüt „My Blueberry Nights“, Rolling-Stones-Musiker Jagger mit Bühnenpartnerin Aguilera: Mal aktuelle, mal trotzig
SHOWBUSI N ESS
H
inter seiner dicken Hornbrille zieht Guy schrummt sich die Seele aus dem schen Journalisten, als auf Güterzüge auf-
der berühmte Regisseur lustige und Leib, und mittendrin taucht plötzlich ein springenden Vagabunden und in der Rolle
zornige Grimassen und zetert: „Ich Interviewschnipsel aus den sechziger Jah- des jungen Superstars, der in teuren Hotel-
weiß nicht, was hier vorgeht“, weil ihm die ren auf, in dem ein jugendfrischer Mick zimmern drogensatt herumphilosophiert;
lässigste Rock’n’Roll-Band der Welt offen- Jagger gesteht: „Ich hätte nie gedacht, dass verkörpert aber wird der Musiker abwech-
bar nicht mal den Programmablauf des wir auch nur zwei Jahre durchhalten.“ selnd von vier erwachsenen Männern (dem
Abends verraten hat. Hektische Techniker, Die Rolling Stones haben inzwischen vergangene Woche verstorbenen Heath
paffende Musiker, kreischende Zuschauer, viereinhalb Jahrzehnte Bandgeschichte auf Ledger, außerdem Christian Bale, Ben
das alles sieht man im Trailer für den jüngs- den (wie Scorseses Film zeigt) bemerkens- Wishaw und Richard Gere), einem kleinen
ten Film des Regisseurs Martin Scorsese, wert durchtrainierten Buckeln, noch etwas schwarzen Jungen (Marcus Carl Franklin)
der in anderthalb Wochen die Berlinale länger im Musikgeschäft ist Bob Dylan. und einer Frau (Cate Blanchett).
eröffnen soll. Ihm hat der US-Regisseur Todd Haynes Hört sich irre an, ist aber ein großarti-
„Shine a Light“ heißt das Werk, für das den künstlerisch aufregendsten Musikfilm ger, auch musikalisch mitreißender Trip
Scorsese zwei Auftritte der Rolling Stones seit Ewigkeiten gewidmet, in dem der durch die Lebensphasen des faszinieren-
im New Yorker Beacon Theatre im Herbst Meister selbst allerdings gar nicht mitspielt. den und bis heute rätselhaften Großkünst-
2006 abfilmte. Eines der Konzerte fand zur Ende Februar läuft „I’m Not There“ in den lers Dylan, der unter dem Namen Robert
Feier von Bill Clintons 60. Geburtstag statt. deutschen Kinos an. Zimmermann aufwuchs.
Christina Aguilera hüpft mit auf der Bühne Regisseur Haynes zeigt den glorreichen Verdiente Popmusik-Helden wie die Rol-
herum, der schwarze Bluesgitarrist Buddy Barden Dylan im Streit mit schlaumeieri- ling Stones und Bob Dylan als Kinostars –
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aus der Welt osteuropäischer Migranten in
London, ist aber, wie man hört, vor allem
eine Huldigung an die Gipsy-Punkmusiker
von Gogol Bordello und ihren Sänger Eu-
gene Hütz, mit denen die regieführende
Sängerin auch schon gemeinsame Konzert-
auftritte absolviert hat.
Natürlich ist auch der desaströse Zu-
stand der Musikwirtschaft daran schuld,
dass sich derzeit so viele Popkünstler hin-
ter und vor den Kameras verausgaben. Seit
die CD-Verkäufe einbrechen, mühen sich
Künstler und Manager um die Sicherung
verbliebener Einnahmequellen: Das Abfil-
men von Konzertauftritten ist eine davon.
Popmusik-DVDs gelten als zuverlässige
Geldbringer, sie gehören längst so zwin-
gend zu Konzertreisen wie das sogenann-
te Merchandising, der Verkauf von be-
drucktem Krimskrams wie Kaffeebechern
oder T-Shirts. Auf erfolgreiche Tourneen
folgt zuverlässig ein DVD-Mitschnitt, ob
von Madonna, David Gilmour oder Her-
bert Grönemeyer. Die Rolling Stones lie-
ßen ihre „A Bigger Bang“-Tournee ge-
wohnt größenwahnsinnig gleich mit einem
4-DVD-Set verewigen.
Allerhand Geld eingespielt wird auch
DARIUS KHONDJI / PROKINO
konfrontiere sich kaum mehr mit Kulturgut, in einer Dokumentation mit dem Titel
das „über seine eigenen Gedanken hinaus- „Patti Smith: Dream of Life“ gefeiert wird.
geht“. Überall, in Blogs, in Nachschlage- Am zweiten Tag des Filmfestivals (also am
werken, vor allem aber auf dem Feld künst- 8. Februar) gibt sie in der Berliner Passions-
lerischer Betätigung, sieht er blutige Ama- kirche auch gleich noch ein Konzert.
Und schließlich Madonna: Die bekannt
* Andrew Keen: „The Cult of the Amateur. How Today’s
superehrgeizige Popdiva präsentiert ihr Re-
Internet Is Killing Our Culture“. Verlag Currency Double- giedebüt „Filth and Wisdom“ in Berlin als Filmregisseurin Madonna (in London)
day, New York; 240 Seiten; 22,95 Dollar. Weltpremiere. Der Spielfilm zeigt Szenen Jagdszenen aus dem Immigrantenleben
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Kultur
tionen lieferten etwa Martin Scorsese mit Ende Februar läuft in den deutschen Jean-Luc Godard gruselte sich Ende der
seiner Dylan-Story „No Direction Home“ Kinos die Rock’n’Roll-Komödie „Walk Siebziger vor Musikfilmen wie „Saturday
(2005) und Hollywood-Großmeister Peter Hard“, die dieses Prinzip gründlich ver- Night Fever“ und „Grease“ und nannte sie
Bogdanovich mit der Tom-Petty-Lebensge- äppelt. Der Held des Films schläft mit 411 „richtige Monsterfilme, die einem keine
schichte „Runnin’ Down a Dream“ (2007). Frauen, zeugt 22 Kinder und trifft Elvis Angst, die einen aber hinterher selber
Publikumshits wurden die Spielfilm-Le- ebenso wie die Beatles, außerdem wirft er monströs machen“ – weil sie aufs Klebrigs-
bensstorys des schwarzen Sängers Ray mehr Drogen ein, als ihm guttut – das te das Bewusstsein manipulierten.
Charles und des Countryhelden Johnny ganze Programm wird hier noch mal zum Das Elend aller reinen Musikfilme seit
Cash, „Ray“ (2004) und „Walk the Line“ finalen Ablachen durchgenudelt. der Konzertdokumentation „Woodstock“
(2005) brachten den Darstellern sogar Os- In einer originelleren Story ist die Sän- ist dagegen ihre Unfähigkeit zur Mani-
cars ein. gerin Norah Jones derzeit in „My Blue- pulation. Für uneingeweihte Menschen, die
Kein Wunder also, dass sich Holly- berry Nights“ zu bestaunen. Die sentimen- Nichtfans, sind sie sturzlangweilig. Das gilt
wood-Stars um Hauptrollen in diversen tale Amerika-Ballade des chinesischen Re- sogar für Martin Scorseses „The Last
anstehenden Musikfilmen bewerben. Für gisseurs Wong Kar-wai zeigt, wie Jones als Waltz“ über das Abschiedskonzert der
die lang geplante Janis-Joplin-Leinwand- Wandersfrau durch ein buntes Traumland Dylan-Begleitcombo The Band im Jahr
biografie war Lindsay Lohan im Gespräch, stapft, das so wohlig warm und watteweich 1976, die Mutter aller modernen Konzert-
das Rennen machte Jungstar Zooey ist wie ihre schwer kitschverdächtigen Lie- filme – und es dürfte in ganz besonderer
Deschanel. Don Cheadle will den legen- der. Die meisten Kritiker langweilten sich Weise für die Rolling-Stones-Gala „Shine a
dären Jazz-Trompeter Miles Davis verkör- ein bisschen mit diesem Film, für den Jones Light“ gelten.
pern, Mike Myers als extrovertierter und auch Musik lieferte, weil aber Jude Law die Die Stones setzen zwar bei ihren Tour-
exzentrischer Who-Schlagzeuger Keith männliche Hauptrolle in Wongs buntem neen Rekordsummen um, schafften es zu-
Moon vor der Kamera kaspern. Und Scar- Märchen ist, sind viele weibliche Zuschau- letzt aber nicht mehr, die überteuerten
lett Johansson soll in der Verfilmung des er absolut hingerissen von „My Blueberry Karten für ihre Auftritte komplett loszu-
tragisch kurzen Lebens von Grunge-Ikone Nights“. schlagen. In Deutschland spielten sie in
Kurt Cobain auf Wunsch von Courtney Bei allen Schwächen knüpft Wong nicht ausverkauften Arenen – und nun
Love deren junges Double spielen. durchaus geschickt an die Tradition jener soll ihnen Scorseses Beistand neue künst-
Bereits in den deutschen Kinos an- Musikfilme an, die wie Richard Lesters lerische Attraktivität bescheren? Mal ab-
gelaufen ist „Control“, das Spielfilmdebüt Beatles-Film „A Hard Day’s Night“ (1964) warten.
des Musiker-Fotografen Anton Corbijn. Pop und Kinobilder zum Ausdruck eines In Interviews hat sich der Regisseur
Es erzählt vom kurzen Leben des unglück- aktuellen Lebensgefühls verschmelzen. Die bereits dafür gerechtfertigt, dass er sich
lichen, epilepsiekranken, genialen Joy- Rock’n’Roll-Filme der fünfziger Jahre, nur der Musik widmet und den faltigen
Division-Sängers Ian Curtis, der sich 1980 Fließbandproduktionen mit marginaler Rockern selbst nicht noch mal Fragen zum
das Leben nahm. Die Musik, der Haupt- Handlung und viel Musik von Bill Haley Beispiel nach ihrem Polit-Engagement
darsteller Sam Riley und Alexandra Maria oder Elvis Presley, hatten dieses Verspre- stellt: Die Jungs seien oft genug verhört
Lara in einer Nebenrolle machen das ge- chen nur ausposaunt, aber nicht eingelöst. worden, „was, um Himmels willen, soll
stylte Schwarzweißwerk erträglich, trotz- In den sechziger Jahren jedoch, zuerst in man von denen noch wissen wollen?“
dem gilt für „Control“ das Verdikt des „A Hard Day’s Night“, später in Godard- Vermutlich ist genau das der Unter-
kalifornischen Popkultur-Professors Todd Werken wie „One Plus One“ (1968), wur- schied, der die Dylan-Hommage „I’m Not
Boyd: „Wenn man einen dieser Musiker- den Pop und Kino wirklich eins. Und in ein There“ zum großen Ereignis macht: Todd
filme gesehen hat, kennt man eine Mil- paar anderen großartigen Filmen spielten Haynes zelebriert nicht den schrillen Aus-
lion.“ Stets setze sich ein armer, begabter Popsongs immerhin tragende Rollen, so verkauf, sondern das fröhliche Mysterium
Schlucker gegen böse Widerstände durch die verhuschten Balladen von Simon & einer Poplegende: Tausend Facetten erge-
und werde auf dem Gipfel des Erfolgs von Garfunkel in „Die Reifeprüfung“ (1967) ben das glanzvolle Porträt eines niemals
den Dämonen seiner Kindheit eingeholt. oder der Rock von den Byrds und von greifbaren Helden. Christoph Dallach,
Schluchz. Steppenwolf in „Easy Rider“ (1969). Wolfgang Höbel
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G. U. HAUTH
Musiker Hermlin, Ehefrau Joyce mit kenianischen Dorfkindern (2007): „Ich reagiere sehr emotional“
Wenn ich mir jetzt überlege, dass gegen und anderes gesorgt.
uns immerhin der Verdacht auf Terrorver- SPIEGEL: Sind Sie nun ernüchtert?
bindungen bestand, ist diese Freundlich- Hermlin: Ich muss mein Engage-
keit noch erstaunlicher. Im Vergleich dazu, Oppositionsführer Odinga: „Falsche Schlussfolgerungen“ ment in Kenia überdenken. Ich
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Kultur
G. U. HAUTH
begann, als ich drei Jahre alt war. Ich liebe
an dieser Musik und auch am Stil der
Bandleader Hermlin (M.) und sein Swing Dance Orchestra*: „Als Junge in den Jazz verliebt“ dreißiger Jahre diese wunderbare Eleganz.
SPIEGEL: Wie kamen Sie denn mit einer sol-
werde mich auf das Dorf beschränken. Po- Hermlin: Das DDR-System habe ich immer chen Einstellung ausgerechnet zur PDS?
litisch werde ich mich künftig zurückhalten. kritisiert. Ich habe die DDR aber nicht weg- Hermlin: Ich bin 1990 eingetreten, als alle
Ich bin wohl einfach zu weit gegangen. gewollt, ich wollte sie anders. Ich habe 1989 anderen austraten. Ich liege mit einigen
Und: Habe ich Odinga wirklich genützt? im Palast der Republik gespielt, weil ich Dingen, die die heutige Linkspartei ver-
Das ist ja auch nicht sicher. vorhatte, dort etwas zu sagen. Ich habe tritt, quer, besonders hier in Berlin. Zum
SPIEGEL: Jedenfalls ist er nicht Präsident tatsächlich eine pathetische Rede gehalten. Beispiel bin ich vehement gegen die Schlie-
geworden. Dem Sinn nach ging das so: Dies ist kein ßung des Flughafens Tempelhof.
Hermlin: Ich halte das Wahlergebnis nach Tag zum Feiern, sondern einer zum Nach- SPIEGEL: Warum?
wie vor für gefälscht. Ich glaube weiter, denken. Wenn wir morgen nicht mit Re- Hermlin: Weil ich die Fliegerei mag und es
dass Kenia unter einem Präsidenten Odin- formen im Sinne von Gorbatschow begin- deshalb ungern sehe, wenn ein Flughafen
ga ein gerechteres Land geworden wäre. nen, werden wir die DDR verlieren. Von geschlossen wird. Ich habe immer ver-
SPIEGEL: Im Land herrscht Chaos, Hun- den anderen Künstlern, die da aufgetreten sucht, mir eigenständiges Denken zu be-
derte Menschen sind getötet worden, und sind und die sich nach der Wende so kri- wahren, deshalb bin ich für Parteien auch
Sie hielten über Tage die deutsche Bot- tisch über die DDR äußerten, hat übrigens nicht wirklich geeignet. Wenn schon eine
schaft auf Trab. Haben Sie kein schlechtes an jenem Abend niemand etwas gesagt. Partei, kann es für mich nur die Linkspar-
Gewissen? SPIEGEL: Wie haben die Regierenden auf tei sein, weil sie die einzige Partei ist, die
Hermlin: Doch natürlich, aber ich habe mich Ihren Vorstoß reagiert? noch Fragen aufwirft.
noch nie so gefreut, die deutsche Flagge zu Hermlin: Die hatten in den Tagen anderes SPIEGEL: Sie sind eine schwer zu verorten-
sehen, wie in jenem Augenblick, als Lind- zu tun, als einer kleinen Swingband die de Persönlichkeit: Sie machen auf eigene
ner mit dem Botschafts-Mercedes und Spielerlaubnis zu entziehen, die waren ge- Faust Entwicklungspolitik, treten als Dan-
Staatsstander vor dem Polizeigebäude vor- rade dabei, ihr Land zu verlieren. dy auf, arbeiten in der Linkspartei und
fuhr. Das war ein rührender Moment. SPIEGEL: Wie politisch ist Swingmusik? machen Swingmusik. Eine exzentrische
Plötzlich wusste ich, wo ich zu Hause bin. Hermlin: Sie hat weder etwas mit Kapita- Mischung.
SPIEGEL: Welches Deutschland hatten Sie lismus noch mit Sozialismus zu tun. Swing Hermlin: Ich sehe mich nicht als Exzentri-
da vor Augen? Sie sind in der DDR aufge- ist Unterhaltungsmusik, die in den frühen ker. Ich bin ein politisch interessierter Jazz-
wachsen. dreißiger Jahren in den USA entstanden musiker, der vielleicht zu einer gewissen
Hermlin: In dem Moment war es das ist. Sie ist natürlich im Zweiten Weltkrieg Extravaganz neigt. Mir war immer gleich,
Deutschland der Freiheit und der Demo- von beiden Seiten für propagandistische was andere über mich denken. Ich versu-
kratie. Kenia hat allerdings auf diesem Ge- Zwecke verwendet worden. Die Amis hat- che, nichts zu tun, wofür ich mich schämen
biet, glaube ich, in den letzten Jahren Fort- ten Glenn Miller, und in Deutschland gab müsste. Ich werde manchmal unwirsch, das
schritte gemacht. Als ehemaliger DDR- es Charlie and his Orchestra, eine Swing- gefällt mir nicht an mir. Aber ich kann
Bürger kann ich das einschätzen. Wenn band von Goebbels’ Gnaden. mich inzwischen auch für verbale Attacken
die Stasi mich unter Terrorverdacht ver- SPIEGEL: Aber die Nazis haben doch die entschuldigen.
haftet hätte, wäre ich nicht in zwei Tagen sogenannte Swingjugend verfolgt. SPIEGEL: Woher kommt die Aggression?
rausgekommen, und ich wäre mit Sicher- Hermlin: Schon, diese jungen Leute moch- Hermlin: Vielleicht daher, dass ich viele Jah-
heit anders behandelt worden. ten ja die HJ nicht, trugen das Haar lang re hindurch ein Außenseiter war. Schon in
SPIEGEL: Immerhin haben Sie in der DDR und schwärmten für amerikanische Musik. der Schule. Als Sohn eines Schriftstellers
ganz gut gelebt. Ihr Vater war ein privile- Etliche von ihnen sind im KZ gelandet. war ich natürlich Neid ausgesetzt. Wir
gierter Schriftsteller, und Sie haben sogar Aber es gab eben auch quasioffizielle machten zum Beispiel im Westen Urlaub,
noch am 40. Jahrestag der Staatsgründung Swingbands. Und selbst in Ufa-Filmen die anderen nicht. Ich laufe aber nieman-
im Palast der Republik ein Konzert mit finden sich Anklänge an den Swing. Diese dem hinterher. Da blieb mir nur, mich ab-
Ihrer Band gegeben. Da war das System zusetzen. Im Habitus und rhetorisch.
schon aus den Fugen. * In New York, um 2002. Interview: Joachim Kronsbein
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Kultur
Die „Schluss-Strich-Debatte“
Ein SPIEGEL-Gespräch mit Saul Friedländer, ner Meinung nach Auschwitz als „Moralkeu- hatte mit diesem Buch seiner in Auschwitz
dem Friedenspreisträger des Jahres 2007, le“ im politischen Diskurs missbrauchten. ermordeten Großmutter ein literarisches
hat den Schriftsteller Martin Walser, 80, pro- Walsers Rede wurde in der Paulskirche noch Denkmal gesetzt. Walser lobte den „histori-
voziert. Es erschien wenige Tage vor der mit Standing Ovations quittiert, kurz darauf schen Rang“ und die „vollkommene Glaub-
Preisverleihung (SPIEGEL 41/2007). Darin aber erhob sich eine heftige Debatte über würdigkeit“ der Dokumentation; sein Fazit:
hatten die Redakteure Martin Doerry, 52, seinen Umgang mit der deutschen Vergan- „Ich habe noch nie von einem Buch gesagt,
und Klaus Wiegrefe, 42, gesagt, Walser ste- genheit. Er selbst lieferte seinen Kritikern es gehöre in die Schule, hier muss ich das
he für jene, „die einen Schlussstrich fordern, weitere Anlässe zur Empörung, so in dem sagen.“ Dennoch blieb an Walser der Makel
ein Ende der Auseinandersetzung mit dem Roman „Tod eines Kritikers“ (2002), in dem des historisch Unsensiblen haften, der
Holocaust“. Zur Begründung verwiesen sie sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zum Holocaust keine klare Haltung zeigt. Der
auf die umstrittene Paulskirchen-Rede des antisemitisch karikiert sehen konnte. Wenig Schriftsteller leidet darunter, sieht sich
Autors aus dem Jahr 1998. Walser hatte da- später allerdings, im August 2002, veröffent- missverstanden. Und so protestierte er auch
mals ebenfalls den Friedenspreis erhalten lichte Walser eine Rezension in der „Süd- schon kurz nach der Veröffentlichung des
und in seiner Dankesrede die „Dauerpräsen- deutschen Zeitung“, die in der Buchbranche Friedländer-Gesprächs gegen die darin vor-
tation unserer Schande“ in den Medien be- als vorsichtige Korrektur gewertet wurde: In genommene Einordnung seiner Person in die
klagt. „Von den schlimmsten Filmsequenzen einem umfangreichen Text stellte der Phalanx der „Schluss-Strich-Macher“, und
aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt Schriftsteller die Briefbiografie „,Mein ver- zwar mit einem handgeschriebenen Brief an
schon zwanzigmal weggeschaut“, gestand er wundetes Herz‘. Das Leben der Lilli Jahn Doerry. Daraus ergab sich ein Briefwechsel,
und attackierte jene Intellektuellen, die sei- 1900 – 1944“ vor. SPIEGEL-Redakteur Doerry der hier dokumentiert wird.
DPA
Sehr geehrter Herr Doerry, 22. Oktober 2007 sehen davon, meine Aufsätze „Unser Auschwitz“ und „Auschwitz
und kein Ende“ könnten Ihnen dem Titel nach bekannt sein.
wenn nicht Ihr Name unter dem „Spiegel“-Text stünde, der mich Und in diesem September ist der 2. Band meiner Tagebücher er-
unter die Schluss-Strich-Macher schiebt, hätte ich den schienen, unter meinem Namen könnten Sie darin über Auschwitz
Beitrag bzw. diese Stelle für eine der fahrlässig gedankenlosen mehr lesen als irgendwo anders in diesem Herbst.
Frechheiten gehalten, die eben vorkommen. Aber dass Sie Ich trage das alles vor, trage es Ihnen vor, weil es mich irre ma-
namentlich zeichnen, ich sei ein Schluss-Strich-Macher, geht mir chen könnte an Verschiedenem, wenn ich lesen muss, was Sie da
nach. Ich habe in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben über unterzeichnet haben.
„Mein verwundetes Herz“: „Ich habe noch nie von einem Buch Mit freundlichem Gruß,
gesagt, es gehöre in die Schule, hier muss ich das sagen.“ Abge- Martin Walser.
140 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Lieber Herr Walser, Hamburg, 7. November 2007 wirklich vorgestellt? Oder hat Ihr inneres Auge auch dort weg-
geschaut?
vielen Dank für Ihren Brief vom 22. Oktober. Ich muss Ihnen Lieber Herr Walser, wir kennen uns eigentlich nicht gut
gestehen, dass ich mich fast ein wenig über Ihren Widerspruch genug, um so persönliche Briefe zu wechseln. Aber Ihr Brief hat
gefreut habe. Vielleicht lässt sich nun etwas zwischen uns mir dazu Mut gemacht.
Stehendes ausräumen, was mich schon seit Jahren umtreibt. Mit freundlichen Grüßen,
Tatsächlich habe ich mich im August 2002 sehr über Ihre Ihr Martin Doerry
Rezension meines Buches gefreut. Ihr Lob kam von Herzen und
hat auch sicher viele Leser überzeugt. Zugleich allerdings habe ich
mich damals gefragt: Wie kann es sein, dass dieser Martin Wal- Lieber Herr Doerry, 10. Dezember 2007
ser, der in seiner Paulskirchen-Rede die „Dauerpräsentation un-
serer Schande“ in den Medien beklagt hat, nun, da ein weiteres Ihr Brief wird eine Last. Sie wählen die Zitate als Satzfragmente so
Buch ebendiese Schande anprangert, so euphorisch reagiert? Wie aus, dass bewiesen wird, was Sie längst wissen. Sie lassen weg:
passt das zusammen, dass jemand bekennt, er könne diese – an- „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch
geblich – tägliche Konfrontation mit den schrecklichen Bildern des zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von
Holocaust nicht mehr ertragen, und zugleich die Geschichte einer Auschwitz herum.“ Sie setzen erst ein damit, dass ich mich gegen
Mutter, die von den Nazis drangsaliert und ermordet wird, so die „Dauerpräsentation unserer Schande“ wehre, „etwas in mir“
ohne jede Einschränkung lobt? wehrt sich. So kommen Sie zum „Wegschauen“.
In Ihrer Paulskirchen-Rede haben Sie etwas gesagt, was viele Aber schon am Anfang der Rede sage ich, dass ich „habe ler-
Menschen zutiefst verletzt hat. Sie haben nicht nur behauptet, der nen müssen, wegzuschauen“, „wenn mir der Bildschirm die Welt
Holocaust werde uns „jeden Tag in den Medien … vorgehalten“, als eine unerträgliche vorführt“. Das heißt doch, dass ich nicht zu-
sondern auch noch bekannt, dass Sie „bestimmt schon zwan- schauen kann, wenn eine Mutter ihr totes Kind der Kamera hin-
zigmal weggeschaut“ hätten, wenn wieder die „schlimmsten hält u.s.w. Und die viel schlimmeren Bilder aus Auschwitz ertra-
Filmsequenzen aus Konzentrationslagern“
gezeigt würden.
Zum Wegschauen bekennen Sie sich
im weiteren Verlauf der Rede noch mehr-
mals. Ich hingegen bin der Überzeugung,
dass ein deutscher Intellektueller nicht
gut beraten ist, wenn er bei diesem Thema
wegschaut.
Ich weiß, dass diese Bilder schmerzen,
aber mit welchem vernünftigen Argument
wollen Sie sich diesen Schmerz ersparen?
Durch Verdrängung wird niemand aus der
Geschichte klug – wenn denn überhaupt je-
mand aus der Geschichte lernt. Mit Ihrem
Plädoyer für das Wegschauen leisten Sie all
jenen Schützenhilfe, die bei diesem Thema
den berühmten Schlussstrich ziehen wollen.
Selbstverständlich beklagen Sie zu Recht,
dass der Begriff Auschwitz in der politischen
Debatte häufig missbraucht wird, um An-
dersdenkende zum Schweigen zu bringen.
Generell aber kann ich die von Ihnen be-
klagte „Dauerpräsentation unserer Schan-
de“ nicht erkennen. Im Gegenteil: Wenn Sie
die alltäglich über uns kommende Informa-
tionsflut betrachten, so spielt der Holocaust
AKG
in all dem eine Nebenrolle. Weite Kreise der
Bevölkerung teilen ohnehin Umfragen zu- KZ-Opfer in Bergen-Belsen (1945): Schmerzende Bilder – jedem Deutschen zuzumuten
folge die Meinung, dass die NS-Zeit längst
ausreichend häufig thematisiert worden sei.
Vielleicht erklärt sich Ihr Eindruck einer „Dauerpräsentation“ ge ich noch viel weniger. Dass Sie dann sagen: „Mit Ihrem Plä-
mit einer sehr persönlichen, intensiven Wahrnehmung, zu der Ihre doyer für das Wegschauen leisten Sie all jenen Schützenhilfe, die
Generation neigt, also eine Generation, die das NS-Regime noch bei diesem Thema den berühmten Schlussstrich ziehen wollen.“
bewusst miterlebt hat. Und weil Sie mich dafür in Gebrauch genommen haben, habe ich
Und darf ich eine weitere Vermutung äußern? Vielleicht Ihnen geschrieben. Bitte, lesen Sie Ihren Satz noch einmal! Ich
erklärt sich auch Ihr positives Urteil über „Mein verwunde- habe gestanden, was ich nicht ertrage auf dem Bildschirm, ich
tes Herz“ mit dem Umstand, dass der Holocaust in diesem Buch persönlich! Und Sie machen daraus ein Plädoyer! Und Schluss-
nur zwischen den Zeilen vorkommt. Dort finden Sie die sicher be- strich! Da hätte es sich gehört, daran zu denken, was ich, seit ich
wegende Geschichte einer Mutter, die aus dem Kreis ihrer Kinder im Auschwitz-Prozess war, darüber geschrieben habe. Ich zähle
fortgerissen wird. Über das, was in Auschwitz mit ihr geschehen es nicht auf.
ist, lässt sich jedoch wenig in Erfahrung bringen. Das Einzige, was Ich lege Ihnen eine Fotokopie bei, 1 Seite des gerade publi-
meine Mutter und ihre Geschwister am Ende erhalten haben, ist zierten Tagebuchs, und schlage vor, Sie blättern in diesem Tage-
eine Todesurkunde aus Auschwitz-Birkenau. buch einmal die Seiten 99 bis 105 durch und noch die Seiten
Ich spreche Ihnen selbstverständlich nicht die Fähigkeit zur 133 bis 136. Dann müssten Sie – ich kann nicht aufhören zu
Vorstellung davon ab, was mit meiner Großmutter im Ver- hoffen – die schwerste Stelle in Ihrem Brief noch einmal be-
nichtungslager geschehen ist. Aber haben Sie sich das auch denken: dass ich mir die Tatsächlichkeit des Todes Ihrer Groß-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 141
S. MUCHA / AKG
Ehemaliges KZ Auschwitz (1945): „Kein zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit herum“
mutter vielleicht erspart hätte: „… hat Ihr inneres Auge auch komische Witwe, denkt man. Wahrscheinlich ist ihr Mann vor ein-
dort weggeschaut?“ einhalb Monaten gestorben, denkt man, sie kommt noch nicht
Lieber Herr Doerry, ich könnte protestieren gegen diese Frage, darüber hinweg. Alles ist noch zu frisch. Da man ihren Mann nicht
aber es ist nicht nötig, es genügt, Sie auf die Tagebuchseiten hin- gekannt hat und sie auch kaum kennt, empfindet man die hart-
zuweisen. So bin ich damals damit umgegangen. Und was näckigen Assoziationen als ein bisschen lästig. Am anderen Mor-
ich seitdem darüber geschrieben habe, könnte Ihnen Ihre Frage als, gen erfährt man: Der Mann wurde in Auschwitz ermordet.
gestatten Sie, eine Art Anmaßung vorkommen lassen. Ich weiß, so
weit wird es nicht kommen. Protestieren darf ich (wirkungslos) ge-
gen das andauernde Zitiertwerden mit ganz genau 4 Schlagwör- Lieber Herr Walser, Hamburg, 19. Dezember 2007
tern. In aller Regel nehme ich das hin als typische Medienpraxis
(denn die, die mich mit diesen Schlagwörtern bewerfen, kennen herzlichen Dank für Ihren Brief vom 10. Dezember, für den ich
nichts von mir), Ihnen musste ich aber schreiben. Auch wir- Ihnen noch eine Antwort schuldig bin.
kungslos, wie ich an Ihren 2 Fragen gegen Ende Ihres Briefes Mein letzter Brief, so schreiben Sie, sei Ihnen „eine Last“
sehe. Diese 2 Fragen, lieber Herr Doerry, enthalten ja die Antwort, geworden. Das war eigentlich nicht mein Ziel, aber vielleicht
die Sie mir, so fragend, unterstellen. Und diese Unterstellung er- war es unumgänglich, denn, zugegeben, er enthielt Vorwürfe,
trage ich nicht. Vorhaltungen, die sich nicht mit leichter Hand abtun lassen.
Mit freundlichen Grüßen, Zunächst: Ich behaupte nirgends, dass Sie Auschwitz geleugnet
Ihr Martin Walser. und das Ausmaß des nationalsozialistischen Völkermords ver-
harmlost hätten. Sicher sind Ihnen solche Unterstellungen schon
begegnet. Von mir würden Sie so etwas nie hören. Sie haben
Aus Martin Walsers Tagebuch: 16.4.1963, Brüssel. tatsächlich schon in den sechziger Jahren in Ihren Aufsätzen und
Tagebüchern unmissverständlich über Auschwitz geschrieben.
Lesung. Hotel Astoria. Mir geht es um etwas anderes, nämlich um unsere Bereitschaft
Am Empfang die Fürstin von Liechtenstein. zur Wahrnehmung des Holocaust, um eine Sensibilität, die uns erst
Professor Plart, Dr. Plinke, Jean Améry, Frau Morgenstern, zu politischen Menschen macht. Sie berufen sich, so verstehe ich
Frau Kinkin, Rosemarie Lederer, Familie Levy. Pater Boone fehlt, Ihren letzten Brief jedenfalls, auf ebendiese besondere Sensibilität,
und das tut weh. Frau Morgenstern spricht immer wieder von die es Ihnen unmöglich mache, die Bilder des Schreckens in der
ihrem Mann, alles erinnert sie an ihn. Pfeife: Am Volant rauchte heute üblichen Häufung zu ertragen. Und Sie haben recht, wenn
er immer so ein kurzes Pfeifchen. Auto: Im Taxi fuhr er immer Sie mir vorhalten, dass meine Formulierung, Sie hätten in der
mit, bremste mit beiden Beinen. Ich sagte immer: Lass doch, das Paulskirche ein „Plädoyer für das Wegschauen“ gehalten, so nicht
geht dich doch nichts an. Er konnte es nicht lassen. Bücher: Er hat- zutreffend ist. In Wahrheit haben Sie nur für sich selbst das Recht
te 5000 Bände. Ließ Besucher nicht an die Regale. Sagte immer: beansprucht, wegschauen zu dürfen – eben weil Ihnen diese Bil-
An den Wäscheschrank lässt man sie doch auch nicht. Zigaretten: der so zusetzen. Das ist ein Unterschied.
Wenn ich Zigaretten in der Handtasche hatte, rauchte er keine Nun kann und darf jeder Mensch wahrnehmen oder verdrän-
mehr, die riechen alle nach deinem Parfum, sagte er immer. Eine gen, was er will. Aber sollte einer der bedeutendsten Schriftstel-
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Kultur
ler dieses Landes, ein öffentlicher Mensch, ein Mann des Wortes Thema oder ob es anderen ähnlich gehe. Ich will also niemanden
und der klugen Reflexion, sollte dieser Mensch von diesem Recht überzeugen oder belehren. Die Zuhörer oder Leser können ihre
in diesem Zusammenhang Gebrauch machen? Sollte er wirklich eigenen Erfahrungen mit diesem Thema an meinem Beispiel
bekennen, dass er die „Dauerpräsentation unserer Schande“ in überprüfen.
unseren Medien nicht mehr ertragen kann? Meine Hoffnung ist natürlich immer, es gehe mit diesem The-
Und das auch noch an einem zentralen Gedächtnisort wie der ma nicht nur mir so, sondern anderen auch. Das heißt, ich hoffe
Frankfurter Paulskirche, in der von jedem Redner erwartet wer- auf eine Art Gemeinsamkeit. Und das heißt: Ich will nie provo-
den darf, dass er sich der politischen Tragweite seiner Worte bei zieren, nie Anstoß erregen. Das heißt aber auch: Ich kann in der
jeder Silbe bewusst ist? Muss er nicht doch damit rechnen, dass Paulskirche nicht anders sprechen als im Literaturhaus in Stuttgart
ihm viele in seiner Abwehr gegen die – wie ich finde: notwendi- oder im Kaisersaal in Erfurt. Meine durch Erfahrung genährte
gen – emotionalen Zumutungen der deutschen Geschichte folgen Hoffnung: Das Publikum – und es gibt bei uns ein Publikum auch
werden, und zwar, weil diese Menschen nicht wie er mit einer be- für das Anspruchsvollste – spürt den Anspruch, erlebt die Nicht-
sonderen Empfindsamkeit ausgestattet sind, sondern mit Gleich- adressiertheit meines Textes, wird Zeuge eines eher tendenzlosen
gültigkeit, mit Kaltherzigkeit? Bekenntnisses. Und das Publikum spürt, dass ihm nichts weisge-
Vielleicht ist meine Vorstellung etwas naiv, aber für mich hat ein macht werden soll.
prominenter Intellektueller auch die Funktion eines Vorbilds – Ich habe also in der Paulskirche in einer persönlichen Sprache
und dieser Rolle sind Sie, so meine ich, mit Ihrer Rede nicht geredet über ein Thema, über das sonst in öffentlichen Sprachen
wirklich gerecht geworden. geredet und geschrieben wird. Die öffentlichen Sprachen leben
Lieber Martin Walser, ich möchte Ihnen nochmals für Ihre bei- vom Argument, die persönliche Sprache von der Erfahrung, und
den Briefe danken und mich dafür entschuldigen, wenn ich Ihnen sei es die Selbsterfahrung.
mit einer unbedachten Formulierung zu nahe getreten sein sollte. Was ich so im Zuhörer oder Leser allenfalls wecke, ist die
Erfahrung, dass es ihm oder ihr ähnlich gehe. Das könnte dazu
Mit den besten Grüßen und Wünschen führen, dass jeder und jede mit diesem Thema jetzt persönlicher
für die Festtage und das neue Jahr, umgehen kann als vorher. Und in der Paulskirche hat das Publi-
Ihr Martin Doerry kum, das schlechthin das Gegenteil von dem ist, was man Masse
nennt, hat dieses Publikum deutlich genug applaudiert. Und ich
habe nichts anderes getan als ausgedrückt, dass ich, wenn ich an
Lieber Herr Doerry, 1. Januar 2008 die deutsche Vergangenheit denke, dem entkommen will, was
Salomon Korn lange vor mir den „Jargon der Betroffenheit“ ge-
für Ihren letzten Brief kann ich Ihnen danken. Vor allem, weil Sie nannt hat.
dann sozusagen instinktsicher ins Innerste meiner Formulier- Zum Schluss darf ich anmerken, dass dieses Rollenverständnis
Existenz kommen. Wenn auch mit Hilfe eines soliden Vorwurfs, in der „Sonntagsrede“ auch Thema war. Da hieß es: „ … je be-
der heißt: Ich persönlich, weil ich eben als Schriftsteller so und kannter ein Schriftsteller wird, desto mehr gilt er als zuständig für
so empfindlich bin, dürfe das und das … Zuständig ist
vielleicht von den im Fern- er aber nur für sich selbst,
sehen gelieferten Greueln und auch das nur, wenn er
wegschauen, aber durfte ich, sich das nicht ausreden lässt;
fragen Sie, als „öffentlicher und gerade dadurch, dass er
Mensch“, als „Mann des nur für sich selber zuständig
Wortes und der klugen Re- ist, kann er brauchbar wer-
flexion“ an einem „zentra- den auch für andere … die-
MONIKA ZUCHT/DER SPIEGEL (L.); GABY GERSTER / LAIF (R.)
Schauspielerin Roberts*
Rasantes Tempo, fröhlicher Sarkasmus
UNIVERSAL STUDIOS
Journalisten zum Filmstart in Deutschland
(7. Februar). Nur die Kollegen vom Fern-
sehen müssen leider draußen bleiben, denn
deren Branche kennt er zu gut: Nichols ist
(in vierter Ehe) seit 20 Jahren verheiratet
mit der Moderatorin Diane Sawyer, der
KINO
Sabine Christiansen Amerikas.
P
olitiker sind immer im Dienst, aber Politik ist ein kompliziertes Geschäft und und Jude Law, das Beziehungsdrama
manche Termine erträgt der Kon- Wilsons Geschichte fast zu schön, um wahr „Hautnah“ (2004); am Broadway verant-
gressabgeordnete Charles Wilson nur zu sein. wortete er das Monty-Python-Musical
mit einem Glas Whisky in der Hand und Aber sie ist wahr, und deshalb haben „Spamalot“.
einer Prise Kokain in Reichweite. Charles jetzt einige von Hollywoods besten Leuten Doch Mike Nichols kann nicht nur im
Wilson, genannt Charlie, sitzt im Whirl- Wilsons erstaunliches Wirken in der einzig Showgeschäft als Überlebenskünstler gel-
pool eines Luxushotels, hinter dem Fenster möglichen Form rekonstruiert: als Komö- ten. Denn geboren wurde er, damals hieß
leuchten die Lichter von Las Vegas bei er noch Michael Igor Pesch-
Nacht, und neben ihm im Pool räkelt sich kowsky, im Jahr 1931 in Ber-
eine junge Frau, die schon von Berufs lin. Die Familie – Vater Rus-
wegen fast nichts anhat. Sie war mal Play- se, Mutter Deutsche – lebte
mate, jetzt will sie Karriere machen als am Olivaer Platz in Char-
Fernsehschauspielerin. Ob Charlie ihr nicht lottenburg. Der kleine Mi-
dabei helfen könne? chael ging bald auf eine
Ganz ausgeschlossen ist das nicht, denn „Judenschule“ – eines der
Charlie Wilson ist ein versierter Strippen- wenigen Wörter, die Nichols
zieher, in Whirlpools, in Washington, in auch heute noch auf Deutsch
seiner Heimat Texas, überall. Wilson hat beherrscht.
Freunde beim Geheimdienst CIA, er kennt Trotzdem hatte er offen-
Waffenhändler in Israel, Diktatoren in Pa- bar, gemessen an den Um-
kistan und die Schwäche ägyptischer Ver- ständen, eine glückliche
teidigungsminister für Bauchtänzerinnen. Kindheit. Die sogenann-
Mit diesem Wissen sowie einem Ge- te „Reichskristallnacht“?
flecht aus Geld und Gefälligkeiten hat Nichols zuckt mit den
UNIVERSAL STUDIOS
144 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
er nicht. Aber dass damals etwas Unge- „Ich hätte in meinem Regiestuhl sitzen und sorgte der echte Charles Wilson (heute 74,
heuerliches vor sich ging, das habe er ge- den Statisten zurufen müssen: ,Alle Juden er schied 1996 aus dem Repräsentanten-
spürt als Kind, „denn alle haben darüber nach rechts, alle anderen nach links‘ – das haus aus) in den achtziger Jahren dafür,
gesprochen“. kann ich nicht.“ dass die US-Regierung ihr Budget für Waf-
Letztlich, sagt Nichols, „rettete der Hit- Nichols’ Revanche fiel subtiler aus: Er fen und Geheimoperationen in Afghani-
ler-Stalin-Pakt meiner Familie und mir das parodierte seine Kollegin Leni Riefen- stan von fünf Millionen auf eine Milliarde
Leben“. Mit russischen Ausweispapieren stahl. Die Fahrt eines US-Offiziers im Dollar erhöhte.
gelangte er im Frühjahr 1939 („Es war, im offenen Wagen, eine Szene seiner Kriegs- Auftritt Philip Seymour Hoffman, 40,
Nachhinein betrachtet, ziemlich knapp“) satire „Catch 22“ von 1970, ähnelt verblüf- als zynisch-bulliger Geheimagent Gust
an Bord des Flüchtlingsdampfers „Bre- fend einer Riefenstahl-Dokumentation, die Avrakotos (auch diesen Herrn, mittlerwei-
men“. Im Hafen musste er, wie alle Anwe- Hitlers Triumphtour durch Berlin zeigt. le verstorben, gab es wirklich): Anfangs
senden, ein letztes Mal strammstehen, „Die Nazis hatten allerdings mehr Statis- demoliert er, frustriert über eine verwei-
während eine Hitler-Rede via Lautspre- ten als wir.“ gerte Beförderung, das Büro seines Chefs
cher übertragen wurde. Ein paar Tage spä- Es ist dieses seltene Talent, schwere Din- in der CIA-Zentrale und wird zur Afgha-
ter kam Nichols in New York an, ein paar ge ganz leicht erscheinen zu lassen und nistan-Abteilung strafversetzt. Dort aller-
Jahre später wurde er eingebürgert. gerade dadurch auf den Punkt zu bringen, dings leistet er gute Arbeit: Als Wilsons
„Ich liebte Amerika auf Anhieb“, sagt das Nichols nun auch beim „Krieg des Mann fürs Grobe organisiert er die tragba-
Nichols, wenn auch anfangs eher aus prak- Charlie Wilson“ zugutekommt. Unterstützt ren Luftabwehrraketen vom Typ Stinger,
tischen Gründen. „Ich mochte Coca-Cola durch den genreerfahrenen Drehbuchau- mit denen die afghanischen Glaubenskrie-
und Reis-Crispies. Wo ich herkam, mach- tor Aaron Sorkin, Erfinder der Fernsehse- ger später die russischen Hubschrauber ab-
te das Essen kein Geräusch, wenn man rie „The West Wing“, komprimiert Nichols schießen – der Anfang vom Ende der mi-
draufbiss.“ die amerikanische Außenpolitik der acht- litärischen Supermacht Sowjetunion.
Es folgte die Blitzkarriere eines Außen- ziger Jahre auf flotte hundert Minuten Film Dass diese Waffen auch den Aufstieg is-
seiters – „der perfekte Standpunkt für ei- und unzählige Bonmots, verteilt auf drei lamistischer Kämpfer zur Bedrohung für
nen Künstler“. Nichols lernte Englisch, so Oscar-gekrönte Hauptdarsteller. den gesamten Weltfrieden befördern soll-
gut, dass er mit Mitte 20 eine landesweit Julia Roberts, 40, spielt – mit blonder ten, eine Art Vorspiel für die Anschläge
berühmte Kabarettgruppe leitete. Mit An- Perücke, die sie wie eine Drag-Queen aus- vom 11. September 2001 – das konnten
fang 30 war Nichols, mittlerweile Regis- sehen lässt – die reiche Texanerin Joanne Charlie Wilson und seine Helfer damals
seur von Broadway-Hits wie „Barfuß im Herring, eine engagierte Kommunisten- natürlich nicht ahnen. Oder doch?
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URSULA RÖHNERT
Nichols-Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, „Die Reifeprüfung“*: „Manchmal löst man etwas aus, ohne es zu ahnen“
Park“, Millionär und zum zweiten Mal ge- fresserin mit kurzem Draht nach Washing- Nichols serviert diese böse Pointe der
schieden. Mit „Die Reifeprüfung“, der ihm ton. Herring hat eine Mission: die Sowjets, Geschichte erst kurz vor dem Abspann, und
einen Oscar einbrachte, lieferte er die epo- die 1979 nach Afghanistan einmarschiert natürlich eher beiläufig. Die Russen sind
chale Komödie der 68er-Bewegung und waren, von dort zu vertreiben. Doch die geschlagen, in Berlin ist die Mauer gefal-
zerlegte Hollywoods Heile-Welt-Moral. USA wollen sich anfangs aus dem Kon- len, und die US-Regierung interessiert sich
„Das war nicht geplant“, behauptet flikt in Afghanistan heraushalten, um eine nicht mehr für Afghanistan. Finanzhilfe für
Nichols heute. „Manchmal löst man etwas Eskalation des Kalten Kriegs zu vermei- Schulen? Damit die Kinder lernen, dass die
aus, ohne es zu ahnen – wie ein Schmet- den. „Warum“, fragt Herring, „redet der USA ihnen geholfen haben? Charlie, du
terling, der in Südamerika furzt und damit Kongress nur und unternimmt nichts?“ spinnst wohl, sagen seine Kollegen. Wilson
den USA einen Hurrikan beschert.“ „Aus Tradition, hauptsächlich“, erwidert bekommt einen Orden für seine Verdienste,
Dass auch Stationen aus Nichols’ eige- Charlie Wilson. und das war’s dann – fast jedenfalls.
nem Leben Stoff für einen Film abgeben Tom Hanks, 51, spielt Wilson als jovial- Denn über Wilsons Bürotür in Washing-
würden – über das Genre lässt sich strei- gerissenen Politiker, der – nach einem ton hing, als Erinnerung, noch jahrelang ein
ten –, darauf ist der Regisseur natürlich Besuch in einem Flüchtlingslager – die Geschenk aus Afghanistan: das Abschuss-
schon selbst gekommen. „Anfang der acht- Lobbyarbeit für die afghanischen Wider- rohr der ersten Stinger-Rakete, die seinerzeit
ziger Jahre sollte ich ,Sophies Entschei- standskämpfer übernimmt. Tatsächlich am Hindukusch abgefeuert worden war.
dung‘ inszenieren“, das Holocaust-Drama Es war die einzige Waffe, die die Glau-
mit Meryl Streep, erzählt Nichols. Aber * Links: mit Elizabeth Taylor, Richard Burton (1966); benskrieger je zurückgegeben haben.
nach zwei Wochen Bedenkzeit sagte er ab: rechts: mit Dustin Hoffman (1967). Martin Wolf
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 145
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Kultur
Z
wei Stunden bevor das Theaterstück tarfilme wie „Black Box BRD“, reist für Erfahrungen mit Gewalt. Wie in Berlin nach
„Der Kick“ in Halberstadt seine Monate nach Potzlow. Zusammen mit sei- der Wende plötzlich immer mehr Jugend-
Premiere feiern wird, steht der Tän- ner Co-Autorin Gesine Schmidt spricht er liche sich bewaffneten, erzählt der Schau-
zer Timo im Foyer des Theaters und sagt, mit Eltern, Freunden und auch mit den Tä- spieler Sebastian Müller. Die Darstellerin
er traue sich nachts immer noch nicht tern selbst. Alle Aussagen sowie Verhör- Susanne Hessel gesteht, dass sie fast auch
wieder auf die Straße. Er sagt auch, dass protokolle und Trauerreden montiert er zu einmal in so eine Sauf- und Gewaltclique
er immer noch in psychiatrischer Behand- einem Theaterstück, an dessen Ende die geraten sei, nicht in Ostdeutschland, son-
lung sei, dass er weiterhin unter Trauma- Täter zwar immer noch Monster sind, aber dern im Odenwald. Sie habe damals „riesi-
ta leide und es nur sehr langsam besser eben auch bemitleidenswerte arme Schwei- ges Glück gehabt“.
werde. Es ist Donnerstagabend vergange- ne, die plötzlich eine Biografie haben. Und Es ist nicht zu übersehen, dass es hier
ner Woche. ein prallvolles „Zornkonto“ (Peter Sloter- alle – Schauspieler, Regisseur, Intendant,
Timo, birkenstockartige Sandalen, die Theaterwelt allgemein – unge-
etwas längere Haare, 22 Jahre alt, heuer ernst meinen: Es muss diese
gehört zu jener inzwischen traurig Verrohung, ob in Halberstadt oder
berühmten Schauspielergruppe des Potzlow, verstanden, gefasst und
Nordharzer Städtebundtheaters, die vernunftsmäßig domestiziert wer-
im Juni des vergangenen Jahres nach den: eine wahnsinnige Anstrengung.
ihrer Premiere der „Rocky Horror Nach der Aufführung, heißt es, sol-
Show“ von offenbar rechtsradikalen le man bitte noch bleiben, dann wür-
jugendlichen Schlägern krankenhaus- de diskutiert. Und das Publikum?
reif geprügelt wurde. Das war gleich Dort sitzen zum Großteil Neunt-
hier um die Ecke, nachts um drei, vor klässler einer Realschule in Werni-
der Musikkneipe „Spucknapf“. Da gerode, 15-jährig, pubertierend –
steht jetzt ein Granitstein, zum Ge- aber gebannt. Die Pädagogin des
denken. Timo wird sich die Premiere Theaters, Frau Grasmeier, hat die
BERTRAM BOELKOW (O.); JAN-PIETER FUHR (U.)
von „Der Kick“, die seine Kollegen Schüler hierher gelotst. Keiner von
gleich aufführen, nicht ansehen. ihnen sieht aus wie ein rechtsradika-
„Ich habe Probe für ein anderes ler Barbar.
Stück“, sagt er, aber es ist ihm an- Echte Gewalttäter, das hatte Autor
zumerken, dass er darüber nicht so Veiel am Nachmittag noch am Tele-
unglücklich ist. Denn „Der Kick“ fon erklärt, erreiche er mit seinem
erzählt auf so eindrückliche wie un- Stück ohnehin nicht. Wohl aber die
erträgliche Weise von vielem, was Umgebung, in der Gewalt gedeiht:
Timo aus seinem Kopf kriegen will. Eltern, die sich ihre Kinder schönre-
Es geht um unfassbare Gewalt, ihre „Kick“-Schauspieler Hessel, Müller: Verrohung verstehen den, Dorfpolizisten, die nichts unter-
Entstehungsbedingungen, um Sprach- nehmen, Freunde, die dichthalten.
armut, Demütigungen und das Wegsehen dijk), auf das alle einzahlen, von dem aber Ein solcher Dichthalter könnte womög-
der Umstehenden. nur die Jugendlichen abheben. lich Franz sein, einer der Schüler aus Wer-
Das Stück untersucht die Ermordung Dass dieses Stück nun knapp drei Jahre nigerode. Er ist mit seiner Mutter hier,
des 16-jährigen Marinus Schöberl, die im nach seiner Uraufführung in Berlin von ei- dummerweise, die ihn nun verpflichtet, mit
Jahr 2002 Entsetzen in Deutschland auslös- nem Theater auf die Bühne gebracht wird, dem Journalisten zu reden. Also: Er sei
te. Die Brüder Marco und Marcel Schön- dessen Ensemblemitglieder selbst jene Fas- nicht rechts, sagt Franz, aber er habe seine
feld, damals 23 und 17 Jahre alt, sowie ein sungslosigkeit erlebt haben, die sich bei „eigene Meinung“ gerade zu Ausländern.
weiterer Kumpel hatten Marinus in Potz- Gewaltopfern einstellt, ist natürlich sym- Die Mutter blickt den Sohn streng an. Er
low, einem Dorf in der Uckermark, eine bolträchtig und führt zu der alten, immer kenne, fährt Franz fort, Leute, die „rechts
Nacht lang geschlagen, ausgezogen, bepin- unbequemen Frage: Was kann Theater, was eingestellt sind“, die auch gern zuschla-
kelt, wieder geschlagen und dabei, wie fast kann Kultur bewirken? Kann das bürgerli- gen, besonders wenn sie getrunken haben.
jeden Abend, gesoffen. Am Ende der che Schauspiel sich rechten Schlägern wir- Das seien trotzdem Freunde.
Nacht zwang der 17-jährige Marcel das kungsvoll in den Weg stellen? Oder be- „Was?“, ruft die Mutter. „Wer?“
Opfer, auf den Rand eines Futtertrogs zu kommt es dabei nur selbst auf die Fresse? Der Sohn flüstert einen Namen.
beißen, dann sprang er ihm, die Springer- Als um kurz nach halb acht die beiden „Ja. Stimmt. Das ist der Sohn meiner
stiefel voran, auf den Schädel. Marinus Schauspieler die Bühne betreten, stellen besten Freundin. Was will man machen?“
stirbt, die drei Täter vergraben ihn in einer sie sich vor, erwähnen den Angriff auf die Dann sagt Franz, dass er versteht, wie es
Jauchegrube. Über ein halbes Jahr wird Kollegen und gestehen, wie sehr ihnen das zu so exzessiver Gewalt wie in Potzlow
seine Leiche nicht gefunden. Veiel-Stück zugesetzt hat. Dann beginnen kommen kann. Oder auch in Halberstadt.
Danach werden die Täter in der Öffent- sie zu spielen, die Rollen der Täter, die der Wenn man getrunken hat, dann passie-
lichkeit als „Monster“ gebrandmarkt , und Freunde, der Eltern. Immer wieder unter- re das. Und wenn man eine solche Wut
Andres Veiel, berühmt durch Dokumen- brechen sie ihr Spiel, berichten von eigenen hat. Philipp Oehmke
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 147
SERVICE
Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg
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Personalien
Fritz Ferdinand Pleitgen, 69, ehemali-
ger Intendant des WDR und Vorsitzen- Eva Amurri, 22, Tochter von
der der Geschäftsführung der RUHR.2010, Oscar-Preisträgerin Susan Sa-
outete sich als Liebhaber scharfer Geträn- randon, fühlt sich endlich be-
ke. Während eines gemütlichen Abend- reit, die eigene Schauspielkar-
essens mit der NRW-Landtagsfraktion der riere ernsthaft zu starten, und
Grünen warb er mit Begeisterung für die beweist dabei eine gute Portion
Kulturhauptstadt 2010, die durch das ge- Pragmatismus. Sie habe zwar
samte Ruhrgebiet repräsentiert wird. Dabei schon als Kind gewusst, dass sie
schwärmte Pleitgen von einem Mammut- in die Fußstapfen ihrer Mutter
projekt, das auch bei den Grünen Eindruck treten wolle, so Amurri, aber
machte: ein langer Tisch quer durch das erstens hätten ihre Eltern sie
Ruhrgebiet von Dortmund bis Duisburg immer gebremst, und zweitens
auf der A 40. Das, trumpfte der Kulturbot- sei es ihr selbst wichtig gewe-
schafter auf, sei aber nur ein Aushänge- sen, eine gute Schulausbildung
schild, um auf die vielen tollen Ideen aus zu bekommen. Nach sehr posi-
der Region aufmerksam zu machen. Ver- tiv aufgenommenen Filmauf-
traulich wandte sich Pleitgen an seine tritten (2002 und 2004) wider-
Zuhörer: „Aber sind wir mal ehrlich, die stand sie weiteren Angeboten,
besten Ideen kommen einem doch um 0.48 um ihre Noten nicht zu be-
Uhr nach 29 Grappas, und wenn Jürgen einträchtigen. Diese Zurück-
Flimm dabei ist.“ Wohl um das leichte haltung ist nun vorbei: In der
Befremden in der Runde zu mildern, füg- nächsten Zeit starten in den
te der Journalist augenzwinkernd hinzu: USA insgesamt vier Filme mit
„Na ja, vielleicht waren es auch nur 28.“ dem Nachwuchstalent. Einen
Die Fraktionsvorsitzende Sylvia Löhrmann davon erwartet Amurri beson-
meinte, einen Wink verstanden zu haben, ders gespannt. In „Animals“
und kredenzte ihm ein Glas des italieni- spielt sie ein Mädchen, das
schen Tresterbranntweins mit den Worten: sich in eine Art Werwolf ver-
„Damit Ihnen die kreativen Ideen nicht wandelt, inklusive einer Nackt-
ausgehen.“ szene – aus rein professionel-
ANDREA RENAULT / GLOBE PHOTOS
te sich der Sportler über die Piste. Im Ziel- vor allem in den Bergen leben, zerstörten
raum entdeckte Ullrich einen Stand mit die Umwelt. Cochran – Vietnam-Kämpfer,
allerlei Krimskrams. Und plötzlich fiel dem ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, lang-
gebürtigen Rostocker wohl ein, wem er jähriges Parlamentsmitglied und Nachfahre
seinen Aufstieg zum Weltstar zu verdanken einer der ersten Siedler Australiens – ist
hatte. „Die hol ich mir“, sagte Ullrich kurz- wild entschlossen, die Pläne zu durch-
entschlossen – und kaufte eine DDR-Fah- kreuzen. Er ist der Kopf einer landesweiten
ne, die er dann seiner Tochter in die Hand Kampagne gegen „das Schlachten unseres
drückte. Vielleicht war die Geste auch zum kulturellen Erbes“, und wenn politische
eigenen Trost gedacht: Beim Wettkampf Aufrufe nichts nutzen sollten, ist er zum
war Ullrich ohne Chance geblieben – er Äußersten bereit: „Wir sind vorbereitet,
wurde Letzter. die Tiere auch unter Einsatz unseres Le-
bens zu schützen.“ Als Vorbild dienen ihm
Peter Cochran, 63, Betreiber einer Ranch todesmutige Walschützer, die sich mit win-
für Reittouristen im australischen New zigen Booten japanischen Walfängern in
South Wales in der Nähe des Kosciuszko den Weg stellen.
National Park, bereitet sich auf einen har-
ten Kampf gegen seine Regierung vor. Die
australischen Behörden haben beschlos- Cochran
sen, dass der Bestand der Brumbys – Wild-
pferde, die noch bei der Eröffnung der
Olympischen Spiele im Jahr 2000 als Na-
THOMAS PURSCHKE
sich auf die Ver- Regierung verhängten Rauchverbot in das „Café 203“