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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
28. Januar 2008 Betr.: Titel, Clinton, Briefwechsel, SPIEGEL SPECIAL

E s gab noch keine Hedgefonds oder Subprime-Kredite, aber sehr wohl schon
Banken und die Gier ihrer Manager, als Bertolt Brecht 1928 seinen Mackie Messer
in der „Dreigroschenoper“ rufen ließ: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die
Gründung einer Bank?“ Etwas abgewandelt findet sich das Zitat auf dem SPIEGEL-
Titel, der zugleich den verhüllten Eingang zur New Yorker Börse zeigt. Vorlage dafür
war eine Werbeaktion der Allianz, die im Jahr 2000, zum Börsengang in New York,
das klassizistische Portal in Blau verkleiden ließ; die SPIEGEL-Titelgrafik dekorierte
es nun schwarz. Brechts Zitat indes gewinnt in diesen Tagen angesichts des Chaos auf
den Finanzmärkten neue Aktualität. SPIEGEL-Redakteur Konstantin von Hammer-
stein, 46, beschreibt und analysiert mit seinen Kollegen Beat Balzli, 41, Jan Fleischhauer,
45, Frank Hornig, 38, Christian Reiermann, 45, Wolfgang Reuter, 42, und Michael
Sauga, 48, das Auf und Ab im Bankgeschäft. „Zweifellos sind große und vermeintlich
seriöse Geldinstitute mit riskanten Spekulationsabenteuern schuld an der Vertrauens-
krise und der globalen Angst vor einer Rezession“, sagt Hammerstein (Seite 20).

I
m Berliner Restaurant Borchardt ließ sich Hillary
Clinton, 60, während ihrer Deutschlandreise im Juli
2003 von den SPIEGEL-Redakteuren Stefan Aust, 61,
und Gabor Steingart, 45, über die deutschen Sozial-
versicherungen informieren – über ihr Vorhaben,
Präsidentschaftskandidatin der Demokraten zu wer-
den, schwieg sie sich damals noch aus. Steingart, in-
zwischen Korrespondent in Washington, und sein
Aust, Clinton, Steingart (2003) SPIEGEL-ONLINE-Kollege Gregor Peter Schmitz, 32,
folgten Clinton nun quer durch die USA und beobach-
teten eine radikale Veränderung ihrer Wahlkampfstrategie. „Sie war geradezu präsidial
gestartet und hat jetzt auf Angriff umgeschaltet“, sagt Steingart (Seite 100).

S eit mehr als 50 Jahren zählen SPIEGEL-Gespräche zu den


Markenzeichen des deutschen Journalismus. Mehr als 4000
wurden geführt, fast alle fanden große Beachtung, viele auch
im Ausland. Nun folgte einem SPIEGEL-Gespräch ein längerer,
kontroverser Briefwechsel, den der SPIEGEL dokumentiert.
Ausgangspunkt war ein Gespräch der Redakteure Martin
MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL

Doerry, 52, und Klaus Wiegrefe, 42, mit Saul Friedländer, 75,
dem Friedenspreisträger des Jahres 2007. Sie hatten darin
den Schriftsteller Martin Walser, 80, als jemanden bezeichnet,
der für jene stehe, die „ein Ende der Auseinandersetzung mit
dem Holocaust“ fordern. Walser leidet unter diesem Stigma
und wehrt sich in einem Briefwechsel mit Doerry (Seite 140). Doerry, Walser (1998)

V or 75 Jahren, am 30. Januar 1933, ernannte Reichspräsident


Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Mit der
„Machtergreifung“ des NS-Führers begann der Weg in die Kata-
strophe – und bis heute fragen sich nicht nur die Deutschen, warum
sich das Land so schnell der Nazi-Diktatur gefügt hat. Antworten
geben renommierte Historiker sowie SPIEGEL-Redakteure in einem
SPIEGEL SPECIAL GESCHICHTE. Es ist ab Dienstag im Handel.

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen des Rosenmontags bereits


am Samstag, dem 2. Februar, verkauft und den Abonnenten zugestellt.

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 3
In diesem Heft
Titel
Wie die größten Banken der Welt die Zukunft
der Wirtschaft verspielen ...................................... 20
Das verrückte Milliardenspiel bei
der Société Générale ............................................. 26

RAINER DREXEL / BILDERBERG


Deutschland
Panorama: Clement kritisiert Parteien /
Studenten aus Deutschland kämpfen für al-Qaida /
Finanzaffäre bei den Republikanern ...................... 15
SPD: Der ruppige Politikstil des Fraktionschefs
Peter Struck ........................................................... 34
Umweltpolitik: SPIEGEL-Gespräch mit
Minister Sigmar Gabriel über Klimaschutz, Bankenmetropole Frankfurt am Main
Tempolimits und AKW-Laufzeiten ........................ 36
Verfassungsgericht: Die Union hadert mit
dem SPD-Vorschlag für das
Vizepräsidentenamt in Karlsruhe .......................... 41
Bundeswehr: Durch Havarien und Selbstbeschuss
Flächenbrand im Weltfinanzsystem Seite 20
macht sich die Marine zum Gespött ...................... 42 Was als Krise auf dem US-Immobilienmarkt begann, hat sich zu einer globalen Ban-
Zeitgeschichte: Interview mit dem ehemaligen ken- und Finanzkrise ausgeweitet. Und die bedroht mittlerweile nicht nur die Welt-
sächsischen Ministerpräsidenten konjunktur – sondern auch das wirtschaftliche Machtgefüge rund um den Erdball.
Kurt Biedenkopf über seine Zeit als Uni-Rektor
in Bochum Ende der sechziger Jahre .................... 44
Affären: Die letzten Besitzer des Oberhausener
Trickfilmzentrums verklagen das Land

Gabriel: „Kleinvieh macht auch Mist“


Nordrhein-Westfalen auf Schadensersatz .............. 46
Discounter: Schlecker-Märkte sind
das Lieblingsziel von Räubern ............................... 48
Seite 36
Integration: In Köln demonstrieren Migranten Von einem Tempolimit auf Auto-
gegen Rassismus in Deutschland ........................... 50 bahnen hielt Umweltminister Sigmar
Schule: Interview mit dem Frankfurter Gabriel bis vor kurzem nichts. Dann
Bildungsforscher Udo Rauin über Unlust nahm sich seine Partei des Themas
und Überforderung deutscher Lehrer .................... 52
Verbrechen: Wie eine Frau mehr als an, und nun ist er dafür: „Kleinvieh
macht auch Mist“, so Gabriel im

DANNY GOHLKE / DDP


ein Dutzend Männer ausnahm – und vier
von ihnen ums Leben kamen ................................ 54 SPIEGEL-Gespräch. Forderungen
Mediziner: Die Affäre um den Organtransplanteur nach längeren Laufzeiten für Kern-
Christoph Broelsch weitet sich aus ......................... 58 kraftwerke wies der SPD-Politiker
strikt zurück. Diese Technologie sei
Gesellschaft „einfach nicht beherrschbar“. Gabriel
Szene: Warum Schwarze anders einkaufen
als Weiße / Skandalbuch über
Prostitution an der Universität .............................. 60
Eine Meldung und ihre Geschichte – über einen Mann,

Arsen und Spitzenhäubchen


der seine Mutter im Baumarkt kennenlernte ............ 61
Aufbau Ost: Kampf der Kulturen – in Brandenburg
soll das erste Chinatown Deutschlands entstehen ... 62
Seite 54
Ortstermin: Eine Anwältin bittet in Berlin Mehr als zwei Jahrzehnte lang versprach eine Frau aus Niedersachsen alten Män-
um Asyl für Guantanamo-Häftlinge ...................... 67 nern ein spätes Glück – um an deren Geld zu kommen. Nun steht die Schwarze
Witwe vor Gericht. Vier der Senioren sollen angeblich ermordet worden sein.
Wirtschaft
Trends: Arbeitsminister möchte Staatsfonds kontrol-
lieren / Bahn will zum Börsengang Fakten schaffen /
Pin-Mutter in Luxemburg trudelt in die Insolvenz ... 68

Die Sonnenseiten des TUI-Aufsichtsrats


Energie: Den großen Stromkonzernen droht
an vielen Fronten neuer Ärger .............................. 70
Konzerne: TUI-Aufsichtsräte genossen
Seite 73
besondere Annehmlichkeiten ................................ 73 Von der bunten Truppe sei-
Unternehmenskultur: Wie Microsoft Frauen nes Aufsichtsrats bekam TUI-
in Spitzenpositionen hilft ...................................... 76 Chef Michael Frenzel bislang
Standorte: Nach dem Aus für Bochum zittern kaum Gegenwind. Die Kon-
auch andere deutsche Nokia-Belegschaften .......... 82
Weshalb Boykottaufrufe gegen den Handy- trolleure goutierten die Stra-
WOLFGANG FUCHS / BILDERBERG

Hersteller verständlich sind – aber auch absurd .... 83 tegien des Konzernchefs –
Handel: In Duisburg soll Deutschlands größter und genossen Spaßreisen
Outlet-Store entstehen .......................................... 84 durch die schöne Ferienwelt
des Touristikkonzerns, etwa
Medien auf Luxus-Kreuzfahrtschiffen
Trends: Interview mit Kai Wiesinger über die wie der MS „Europa“. Doch
Schnell-Absetzung seiner RTL-Serie / Springer- nun regt sich Widerstand.
Enkel will vor den Bundesgerichtshof ziehen ........ 86
Fernsehen: Vorschau / Rückblick ........................ 87
Journalismus: Wie die amerikanische TV-Legende TUI-Hotelanlage
Dan Rather gegen Weißes Haus und CBS kämpft ... 88
4 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ausland

Prodis Absturz
Panorama: Brüssel sucht „Mister Europa“ /
Seite 96 Kopftuch schafft Konfliktstoff in Ankara /
Peking verschärft Zensur ...................................... 93
Nach nur 20 Monaten einer wackeligen Italien: Meuchelmord im Senat ............................ 96
Regierungskoalition mit elf linken Par- Pakistan: Offensive gegen die neuen Taliban ...... 98
teien stürzte Romano Prodi über ein USA: Der Kampf der Clintons gegen Obama ....... 100
Misstrauensvotum im Senat. Obwohl Tschechische Republik: Ein Präsident sieht rot ... 104
Nahost: Der ehemalige israelische Geheimdienst-
der Reformer Mafia und Korruption chef Ami Ajalon über die Krise in Gaza und
bekämpfte und auch die Wirtschaft in die Friedensgespräche mit den Palästinensern ..... 106
Schwung brachte, hat sein rechter Wi- Russland: Besserungsanstalt Sibirien ................. 107
dersacher Berlusconi beste Chancen, Global Village: Norwegens Premier auf
vorgezogene Wahlen zu gewinnen. Werbe-Tour in der Antarktis ................................ 109

Sport
Szene: Duell der Football-Quarterbacks beim US-
Super-Bowl / BMW-Motorsportchef Mario Theissen

MAURIZIO BRAMBATTI / ANSA / DPA


über ein mögliches Budget-Limit in der Formel 1 ... 111
Karrieren: Wie der Vater des brasilianischen Fußball-
SCHIAVELLA / ANSA / DPA

Profis Diego seinen Sohn zum Weltstar aufbaut ..... 112


Treppenlaufen: Zwei Deutsche dominieren
einen bislang unterschätzten Sport ...................... 115

Wissenschaft · Technik
Prisma: Gewalt als Suchtverhalten / Ameisen
Berlusconi Prodi auf Eroberungszug ............................................... 120
Medikamente: Wie eine Frau in Nigeria gegen
die Mafia der Arzneifälscher kämpft ................... 122

Schwarzes Gold im Wattenmeer


Genforschung: Wissenschaftler suchen nach dem
Seite 128 Geheimnis der menschlichen Einzigartigkeit ......... 126
Interview mit dem US-Forscher Craig Venter
RWE und Wintershall suchen nach Öl vor der Nordseeküste. Sechs Probebohrun- über künstliches Leben aus dem DNA-Labor ...... 126
gen sind geplant – ausgerechnet im Wattenmeer, einem ökologisch einzigartigen Umwelt: Ölsuche im deutschen Wattenmeer ...... 128
Lebensraum, der jetzt sogar Unesco-Weltnaturerbe werden soll.
Kultur
Szene: Kabarettist Werner Schneyder erzählt
vom Krebstod seiner Frau / Interview mit
Andrea Maria Schenkel, die den Deutschen

Afrikanisches Abenteuer
Krimi-Preis erhalten hat ....................................... 131
Seite 138 Showbusiness: Wer profitiert vom neuen Flirt
zwischen Kino und Musikbranche? ..................... 134
Zwei Tage lang saß der Berliner Musiker: Interview mit Swingstar Andrej Hermlin
Swingmusiker Andrej Hermlin in über sein Haft-Abenteuer in Kenia ...................... 138
kenianischem Polizeigewahrsam. Er Autoren: Briefwechsel mit Martin Walser über
wurde verdächtigt, Terroranschlä- die Haltung zum Holocaust ................................. 140
ge vorbereitet zu haben. Inzwi- Kino: Der Regisseur Mike Nichols und seine
schen ist der Sohn des Schriftstel- Komödie „Der Krieg des Charlie Wilson“ ........... 144
Bestseller .......................................................... 146
lers Stephan Hermlin, der im Wahl-
FRANK ZAURITZ / LAIF

Nahaufnahme: „Der Kick“ von Andres Veiel


kampf den Oppositionsführer Raila im Theater von Halberstadt ................................. 147
Odinga unterstützt hatte, wieder in
Deutschland. Im SPIEGEL resü-
miert er seine Erlebnisse: „Ich bin Briefe ..................................................................... 6
Impressum, Leserservice ................................ 148
wohl einfach zu weit gegangen.“ Ehepaar Joyce und Andrej Hermlin in Kenia
Chronik ............................................................... 149
Register ............................................................. 150
Personalien ........................................................ 152
Hohlspiegel /Rückspiegel ................................ 154

Kino mit Popstars


Titelbild: Foto PR Allianz

Seite 134
Madonna debütiert als Filmregisseurin, Norah Die erste Beste
DARIUS KHONDJI / PROKINO

Jones spielt die Hauptrolle in einem Melo-


dram, Bob Dylan ist Mittelpunkt einer wilden Schöne blonde Schauspiele-
Huldigung, ein Konzertfilm der Rolling Stones rinnen gibt es in Hollywood
eröffnet die Berlinale. Die kriselnde Musik- viele. Katherine Heigl aber ist
industrie und ihre Helden flirten heftig mit der besser als sie alle. Außerdem
Kinobranche – zum beiderseitigen Vorteil? im KulturSPIEGEL: wie die
neue Ökobewegung Genuss
Sängerin Jones (l.) in „My Blueberry Nights“ und Konsum vereint.

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 5
Briefe

Sarkozy war so clever, erst nach seiner


Wahl die Affäre zu beginnen. Deutsche
„Sarkozy hat noch nicht begriffen, Politiker wie Seehofer und Pauli waren
nicht so klug; man sollte sich also nicht er-
dass die Grande Nation einen wischen – oder Lack- und Lederfotos erst
nach einem Wahlsieg machen lassen.
‚Monsieur le Président‘ haben will Dresden Andres Martin-Birner

und keinen Polit-Clown. Sie Wenn Ihnen der Narzissmus im politischen


wird es ihm noch beibringen.“ Geschäft zuwider ist, tun Sie uns allen einen
Gefallen, indem Sie ihn ignorieren. Jede
Alfred Dahmen aus Köln zum Titel Seite, die nicht für die Selbstinszenierung
„Staatsaffäre Sarkozy / Bruni – Die Erotik der Macht. der Sarkozys und Brunis verschwendet
Die Vermählung von Sex, Politik und Soap“ wird, ließe sich mit Wichtigerem füllen.
SPIEGEL-Titel 4/2008 Berlin Martin Post

Ihren Vergleich von Fürst und Mätresse


Bravo für Ihren großartigen Artikel. Ich finde ich peinlich. Wer aber als Präsident
Das tut mir weh! wünschte nur, alle Franzosen, die Sarkozy eine Uhr für 45 680 Euro öffentlich trägt,
Nr. 4/2008, Titel: gewählt haben, könnten ihn lesen. Leider beweist sein gestörtes Verhältnis zur Armut
Staatsaffäre Sarkozy / Bruni – Die Erotik der Macht. gibt es außer dem „Canard enchaîné“ keine weiter Bevölkerungskreise in Frankreich.
Die Vermählung von Sex, Politik und Soap Zeitung, die es wagt, Sarkozy zu kritisieren. Sarkozy ist als Tiger gesprungen und als
Sainte-Livrade-sur-Lot (Frankreich) Bettvorleger vor Carla Bruni gelandet.
Sollten Sie mal was zu Merkel und Co. ma- Barbara Bazoge Hamburg Horst Mühl
chen, würde ich die Titelzeile „Der Charme
der seriösen Kinderlosen“ vorschlagen. Das, was Sarkozy treibt, hätte man sicher- Wie viele von Sarkozys Wählern bin ich
Kloten (Schweiz) Walter Löffler lich treffender und kürzer auf einen Punkt enttäuscht. Er kann sein Privatleben ge-
bringen können: Er ist halt ein gallischer stalten, wie er will, aber man muss sich
Mein tief empfundenes Mitgefühl gilt Frank- Gockel. Kann man mögen, fragen, wo in seinem Kopf,
reich – dem herrlichen Land, seinen Men- muss man nicht. Blicken bei so großer Hormonaus-
schen mit ihrer großartigen Kultur, die ich wir freilich zurück in der schüttung, noch Platz für
als deren Freund durch einen Hallodri und Geschichte der Weltpolitik, eine effiziente Regierungs-
Hansdampf in allen Gassen der Lächerlich- so waren einige der trei- arbeit ist.
keit preisgegeben sehe. Das tut mir weh! bendsten und getriebensten Stuttgart Françoise Müller
Erkrath-Hochdahl (Nrdrh.-Westf.) G. Rabe Politiker solche, die eben
nicht immer im Einklang Endlich ist es ausgesprochen.
Mit Sarkozy hat eine der ganz seltenen Aus- mit den gängigen gesell- Erfolgreiche Männer neh-
nahmepersönlichkeiten die politische Büh- schaftlichen Vorstellungen men sich auch Anfang des
ne betreten, die statt „kluger“ Taktik scho- von Familie und „Moral“ 21. Jahrhunderts noch ihre
nungslose Offenheit gegen Freund und standen. Kennedy, Clinton, Gespielinnen mit in ihre
Feind, statt geheuchelten Gutmenschen- Brandt, mit Einschränkung Höhle – und manchmal auch
tums ein offenes Bekenntnis zu Machtwillen Schröder, und nun eben zur Frau. Wahrscheinlich ist
und Luxus und statt kitschiger „Heile Fa- Sarkozy. es auch das, was Frauen heu-
milienwelt“ kurzen Prozess auch in Privat- Venningen (Rhld.-Pf.) te immer noch wollen: Lie-
anglegenheiten vorführen. Matthias F. Mangold ber als x-te Frau von Herrn
Poznań (Polen) Ekkehard Grube Megawichtig verheizt, denn
REUTERS

Mehr als 200 Jahre nach als eigene Persönlichkeit


Zu dem wunderschö- der Französischen Revolu- wahrgenommen zu werden.
nen Titelbild beglück- tion hat die Bürgergesell- Präsident Sarkozy Wer will bei solch unvorein-
wünsche ich Sie. Noch schaft ebensolche feudalen Vom Tiger zum Bettvorleger genommenem Journalismus
MAL LANGSDON / REUTERS

passender wäre gewe- Erscheinungen herausge- schon einen so hochge-


sen, statt „Hawks“ bildet wie jene, die sie einst zu beseitigen schätzten, erfolgreichen Professor der Quan-
der Kunstflugstaffel wünschte. Oder anders: Nicht die Revolu- tenchemie, der sich dem journalistischen
Red Arrows der Royal tion frisst ihre Kinder, die Kinder der Voyeurismus entzieht, an der Seite der Frau
Air Force (Großbri- Revolution fressen die Revolution. Nummer eins in unserem Land sehen?
tannien) die Alpha- Wuppertal Christoph Schürmann Gescher (Nrdrh.-Westf.) Anja Meuter
Cover-Vorlage Jets der Patrouille de
Quel affront! France der Armée de
l’air (Frankreich) „bleu,
blanc, rouge“ in den leicht bedeckten
Vor 50 Jahren der spiegel vom 29. Januar 1958
Wiedergutmachungsdebatte Diskussion über unberechtigte Ansprüche.
Himmel ziehen zu lassen. Quel affront! Sozialer Wohnungsbau Hamburg befürwortet „System der Staffel-
Gotha (Thüringen) Andreas Ernst Schlipp miete“ nach Einkommen. Arbeitslosigkeit Für den Winter entlassene
Bauarbeiter belasten Statistik. US-Präsident Zweifel an Eisenhowers
Der Leser hat recht. Die Cover-Vorlage Gesundheit. Venezuela Aufstand gegen Diktator Marcos Pérez Jiménez.
DDR-Fernsehen Propaganda für Westdeutschland. Science-Fiction
zeigt Flugzeuge der British-Red-Arrows- Berühmter Astrophysiker veröffentlicht „Die schwarze Wolke“.
Kunststaffel zum Jubiläum des 100-jähri- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
gen Bestehens der „Entente cordiale“, der oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
englisch-französischen Freundschaft, in Titel: Büste des Philosophen Friedrich Nietzsche
Paris. –Red.
6 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Briefe

eingebaut werden müssen. Die Lebens- len könnten dabei viele Probleme lösen:
Härtetest vor dem Familiengericht standardgarantie – wenn die Kranken- mehr Zeit für Bildung und Übung, weniger
Nr. 3/2008, Scheidungen: schwester den Chefarzt heiratet – ist abge- Jugendkriminalität, da die Kinder länger in
Das reformierte Unterhaltsrecht sorgt für eine Prozesswelle schafft worden. Im Wesentlichen geht es der Schule sind, bessere Integration aus-
nach der Regelbetreuungszeit von drei Jah- ländischer Schüler.
Schade, dass gerade der SPIEGEL eine ren langfristig um die Ermittlung der ehe- Stuttgart Helgard Woltereck
derart einseitige Berichterstattung zulässt. bedingten Nachteile, insbesondere durch Grund- und Hauptschulrektorin i. R.
Immerhin werden Scheidungsanträge heu- Kindererziehung. Jetzt müssen die Frauen
te in der Mehrzahl von Frauen gestellt. wach werden und die Auswirkungen der Die illusorische Forderung, man müsse
Und das nicht, weil sie vom Ehemann miss- Auszeiten für Kindererziehung vertraglich künftig in acht Jahren so viel lernen wie
handelt werden, sondern weil sie endlich regeln oder auch die Männer Erziehungs- bislang in neun, führt einerseits zu einer
wieder die verlorene Freiheit genießen urlaub nehmen lassen. permanenten Überforderung der meisten
Hilden (Nrdrh.-Westf.) Ute Geenen Schüler (und Lehrer), andererseits zeigt
Fachanwältin für Familien- und Arbeitsrecht sich schon jetzt, dass sie nicht zu erfüllen
ist. Immer mehr Lehrer – und das sind
Wer Kinder betreut, hat weiterhin An- nicht die schlechtesten – sehen sich nicht in
spruch auf Unterhalt. Weiterhin entstehen der Lage, die überhöhten Vorgaben der
durch langjährige Ehedauer Unterhaltsan- neuen Lehrpläne zu erfüllen, und müssen
sprüche. Auch für die Altfälle wird es indi- deshalb Lernstoff in die nächsthöhere Klas-
viduelle Lösungen geben, dafür sorgen die se verschieben. Die Folgen für die Hoch-
MARCUS KAUFHOLD

Gerichte. Wir warnen davor, nur so auf schulen sind katastrophal: Man wird sich
Verdacht, aus dem Gefühl heraus einen dort auf Abiturienten einstellen müssen,
Prozess zu führen. Es wird sich für Altfälle deren Hochschulreife nur auf dem Papier
weniger ändern, als so manch ehemaliger ihrer Abiturzeugnisse steht.
Scheidungsanwältin, Mandant (in Wiesbaden) Partner sich erhofft. Man sollte die sinn- Neustadt / Aisch Dr. Dieter Geißendörfer
Von einem Extrem ins andere volle Unterhaltsrechtsreform nicht schlecht- Studiendirektor i. R.
reden, bevor sie den Härtetest vor den Fa-
wollen. Dafür hatte dann der Ex-Mann, miliengerichten bestanden hat. In jedem So funktioniert Schulpolitik: Um ein Pisa-
egal in welche wirtschaftlichen Verhältnis- Fall war sie eine notwendige Reform: Es Problem zu lösen (zu alte Schulabgänger),
se er nach der Ehe geraten ist, Unterhalt war einfach nicht einsichtig, dass der Le- werden viele andere verschlimmert: Bil-
teilweise bis runter auf den gesetzlichen bensstandard auch nach der Ehe, wenn die dungschancen sind stärker vom sozialen
Selbstbehalt (1000 Euro bei Erwerbstä- Geschäftsgrundlage – die Liebe – weg ist, Status der Eltern abhängig (wer kann sich
tigen) zu bezahlen. Ein neues Leben zu garantiert und finanziert werden muss. Nachhilfe leisten, wer kann mit seinem
beginnen oder gar eine neue Familie zu Würzburg Josef Linsler Kind lernen?), es gibt noch weniger Stu-
gründen war bisher vielen aufgrund der Bundesvorsitzender Interessenverband dierende, Kreativität wird dem Tempo und
hohen „Altlasten“ schlichtweg verwehrt. Unterhalt und Familienrecht damit dem Stress geopfert (wer hat noch
Denn nicht alle geschiedenen Männer sind Zeit, auf hohem Niveau ein Instrument zu
Oberärzte oder erfolgreiche Juristen, Ar- Leider wird in dem Artikel nicht mit einem lernen?). Solange Lehrpläne nicht über-
chitekten, Unternehmer … Was spricht Wort von Fällen gesprochen, bei denen arbeitet und Fächer viel stärker verknüpft
denn dagegen, dass die Trennungswilligen Frauen nachehelichen Unterhalt für ihre
ihre neugewonnene Freiheit nach einer ge- Männer zahlen müssen. Aus eigener Er-
wissen Übergangsfrist selbst zu finanzie- fahrung weiß ich, dass es solche Fälle gibt.
ren haben? Dresden Erik Bauch
Uhingen (Bad.-Württ.) Max Biermaier

DAVID AUSSERHOFER / ULLSTEIN BILD


Nach dieser Änderung kann keine halb-
Ich kann Frau Zypries zur Reform nur be- wegs vernünftig ausgebildete Frau riskie-
glückwünschen. Wer etwas dagegen sagt, ren, ihren Beruf durch Erziehungszeiten
verteidigt unhaltbare Zustände. Wäre die oder Teilzeitarbeit zu gefährden. Ob dann
Reform nicht gekommen, hätte ich meine das Programm der Bundesregierung zur
Arbeit eingestellt und mich vom Staat ver- Geburtensteigerung noch greift, ist frag-
sorgen lassen. Nach der alten Regelung lich. Verlierer sind die Frauen, die auf
wären mir von 100 Euro Verdienst nach bestehendes Recht vertrauend in die „Kar-
Steuern und Unterhaltszahlung 25 Euro rierefalle“ getappt sind. Schulkantine in Münchner Gymnasium
netto übrig geblieben. Obwohl meine Ex- Ludwigshafen (Rhld.-Pf.) Jutta Blankenburg Ein dilettantisches Stückwerk
Frau Vollzeit arbeitet, die Kinder 16 und
12 Jahre alt sind, fordert sie 1000 Euro mo- werden, bleibt „G8“ ein dilettantisches
natlich als Ehegattenunterhalt neben dem
Kindesunterhalt.
Kontraproduktive Reform Stückwerk.
Nr. 3/2008, Bildung: Waldkirch (Bad.-Württ.) Stefan Goeritz
Puchheim (Bayern) Erhard Schemel Gestresste Schüler, besorgte Lehrer – die Auswirkung des
auf zwölf Jahre verkürzten Wegs zum Abitur Ob der Weg zum Abitur 12 oder 13 oder
Grundsätzlich ist die Gesetzesänderung zu auch 8 oder 20 Jahre dauert, scheint mir
begrüßen, trifft aber viele Mütter völlig Viele Eltern verlangen: „Schule, mach mein nicht relevant. Es scheint so zu sein, dass
unvorbereitet. Es ist tatsächlich der Wech- Kind schlau, ohne dass es sich anstrengen man längst vergessen hat, wozu die Schu-
sel von einem Extrem in das andere. Dies, muss“ – ganz nach dem Motto der heuti- le überhaupt da ist. Was ist der Sinn der
obwohl immer noch die meisten Ehen mit gen Spaßgesellschaft. Das funktioniert Schule? Ein wesentlicher Punkt kommt in
Kindern leider so aufgebaut sind, dass nicht! Nach Manfred Spitzer, dem be- der Debatte nicht vor: die Bedeutung der
der Ehemann der Grundverdiener ist und kannten Neurobiologen und Bildungsfor- Menschenbildung – dass Fächer wie Kunst
allenfalls zwei Monate Erziehungsurlaub scher, muss zehntausendmal geübt wer- und Musik endlich ernst genommen wer-
nimmt. Es hätte hier eine Übergangsfrist den, bis etwas richtig sitzt! Ganztagsschu- den. Ist es gewünscht, dass die geplagten
10 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Briefe

Kinder und Jugendlichen weiterhin blind Schule ist nie Freude pur, aber das im Ar-
pauken, so dass man den Eindruck hat, es tikel beschriebene Horrorszenario ist eben-
sollen nur schlaue Fachidioten gezüchtet so wenig zutreffend. Vielleicht sollte ein-
werden zum alleinigen Zweck der Fütte- mal in Sachsen nachgefragt werden, ob
rung einer fragwürdigen Industrie-, Ge- Schulzeitverkürzung und Zentralabitur zur
schäfts- und Arbeitswelt? Gesamt- und/oder Ganztagsschule führen
Zell (Mosel) Paul Trein müssen. Eine inzwischen über 17-jährige
Erfahrung hätte das vielleicht verdient und

MARCUS KAUFHOLD
Noch immer bleibt rätselhaft, warum sich wäre unter Umständen sogar zielführend –
die erfolgreiche deutsche Industrienation auch wenn sie nur aus Sachsen kommt.
nicht einmal darauf einigen kann, was für Freiberg (Sachsen) Prof. Dr. Klaus Husemann
Jugendliche zwischen den Alpen und der Staatssekretär a. D.
Ostsee verbindlicher Lehrstoff sein soll. Fünftklässler Leon Meister
Sie beschreiben sehr plastisch, dass Schu- Permanente Überforderung der Schüler? Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.
len in Deutschland noch oft als Anstalten Schickt eure Kinder auf die Waldorfschule!
gesehen werden, in denen Kindern Wis- Wir waren damals halt etwas zäher und Da können sie ganz kindgerecht ihren Ab-
sen eingetrichtert wird. Das ist Schulpraxis ausdauernder. schluss erlangen. Theater, Musizieren, Mit-
des 19. Jahrhunderts. Lehrte (Nieders.) Ulrich Gürtler tagessen und Bewegung an der frischen
Potsdam Hans-Dieter Rutsch Luft inklusive. Nachmittagsunterricht ist
Schon lange hat mir ein Artikel nicht mehr zwar die Regel – was sich aber mit arbei-
Mit Vergnügen lese ich das Gejammer über so sehr aus der Seele gesprochen. Als Mut- tenden Eltern super vereinbaren lässt. Und
34 oder gar 36 Wochenstunden Unterricht. ter zweier Kinder in der siebten und ach- am Ende reichen zwei Jahre, um das allge-
In den sechziger Jahren des vergangenen ten Gymnasialklasse kann ich die Inhalte meine bayerische Abitur zu erlangen.
Jahrhunderts waren 36 Schulstunden zu- nur bestätigen. Die Ergebnisse der „Schul- Flörsheim am Main (Hessen) Matthias Bogár
meist der Standard. Dazu kamen noch reform“ sind erschreckend, denn nach sie-
AGs. Dazu kam bei mir noch Sport ben bis acht Unterrichtsstunden pro Tag Ich bin „G8“-Schülerin, zwölf Jahre, und
(Hockey in der Oberliga). Wir haben auch fehlt den Kindern nicht nur die Zeit für habe dieses Jahr Latein als zweite Fremd-
regelmäßig unsere Partys gefeiert. Außer- Freunde oder Hobbys. Die Kinder sind am sprache zu Englisch dazubekommen. Die
dem hatte ich noch die segensreiche Ein- Ende so überfüttert mit Lerninhalten, dass Schule macht mir Spaß, meine Noten sind
richtung der Kurzschuljahre. Haben wir al- sie sich nichts mehr merken können. Un- gut, und nachmittags bin ich in der Thea-
les ohne größeren Schaden überstanden! term Strich erscheint die Reform damit tergruppe, treibe Sport und bin viel mit
Meine Mitschüler belegen heute Spitzen- kontraproduktiv. Freunden unterwegs. Meine Hausaufgaben
positionen in Wirtschaft und Verwaltung. Berlin Ruth Weiler erledige ich seit der Grundschulzeit selb-
ständig, und Nachhilfe käme nicht in Frage, eingepasst. Kein Wunder, wenn deutsche
weil meine Mutter meint, wer Nachhilfe Hersteller jetzt in den Pannenstatistiken
braucht, sei für das Gymnasium ungeeignet. nach vorn rutschen; dazu brauchen sie ei-
Pocking (Bayern) Deborah De Lorenzo gentlich gar nichts zu tun. Toyota erledigt
das schon selbst.
Ich kann Ihnen versichern, dass es (sogar Laatzen (Nieders.) Peter Fündeling
im rot-roten Berlin) Gymnasien gibt, auf
denen der zusätzliche „G8“-Lernstoff ver- Der Sieger BMW X3 in der ADAC-Pan-
nünftig vermittelt wird, und die Kinder nenliste wird gar nicht von BMW selbst
durchaus nebenher noch Zeit zum Spie- gebaut, sondern in Auftragsarbeit bei
len und für den Sportverein haben. Zu- Magna Steyr in Graz! Die Trophäe gebührt
dem stehen wir als voll berufstätige Eltern somit zu einem erheblichen Teil den öster-
dem vermehrt anfallenden Nachmittags- reichischen Autowerkern. Was BMW aber
unterricht nicht ideologisch ablehnend ge- nicht davon abhält, den nächsten X3 in den
genüber, sondern begrüßen ihn als zeit- USA bauen zu lassen. Welchen Platz wird
gemäß und im internationalen Vergleich dann der neue X3 in der ADAC-Pannenlis-
angemessen. Auch in Berlin müssen die te einnehmen?
Kinder nachmittags nicht mehr zum Kar- Bad Fallingbostel (Nieders.) Dieter Fabian
toffelnsammeln aufs väterliche Feld wie zu
den Zeiten, als die reine Vormittagsschule Mein Verdacht: Die Qualität dieser Autos
in Deutschland eingeführt wurde. wird gezielt auf ein gutes Abschneiden in
Berlin Nils Morgenthaler der Pannenstatistik optimiert. Aber überall
dort, wo Mängel nicht gleich zum Ruf der
Die Verkürzung der Schulzeit hin zum „Gelben Engel“ führen, wird gepfuscht
Abitur setzt nicht nur alle daran Beteiligten und gespart, wo es geht.
unter Stress, sondern wird sich auch nega- Bremen Claus Hanske
tiv auf das Engagement vieler begabter
junger Menschen im Bereich der ehren- Dass deutsche Autos in der Pannenstatistik
amtlichen Mitarbeit in Kirchen, Vereinen, so schlecht abschneiden, war für Fachleu-
politischen und kreativen Gruppen aus- te der Autobranche immer schon zweifel-
wirken. Die Vergreisung dieser Wirkungs- haft. Ausländische und insbesondere japa-
felder ist vorgezeichnet. Nach dem Abitur nische Marken befinden sich kaum in den
wird sich wohl kaum ein junger Mensch kilometerintensiven Firmenfuhrparks. Ent-
noch für diese Tätigkeit begeistern, stehen sprechend niedriger sind die Jahresfahrleis-
dann doch Studium und Jobsuche im Vor-
dergrund. Die Motivation für ein freiwil-
liges Engagement ist, entwicklungspsycho-
logisch bedingt, gerade bei Eintritt in die
Oberstufe besonders hoch.
Grünberg (Hessen) Hartmut Miethe
Pfarrer

Zweifelhafte Statistiken
Nr. 3/2008, Automobile:
Erstaunliche Trendwende in der Pannenstatistik

Es ist sicher richtig, dass die Qualität deut- „Gelber Engel“-Gewinner BMW X3
scher Autos besser geworden ist. Dennoch Premiummarke mit Versorgungsdienst
möchte ich darauf hinweisen, dass die Her-
steller deutscher Premiummarken einen tungen und das Pannenrisiko. Außerdem
Versorgungsdienst für ihre Kunden bei werden die Fahrzeuge erheblich defensiver
Fahrzeugausfall errichtet haben. Audi-, bewegt.
BMW- oder Mercedes-Kunden rufen heu- Senden Kr. Neu-Ulm (Bayern)
te nicht nach dem ADAC, sondern nach Wolfgang Steurer
dem Werkshilfsdienst. Insofern ist die
ADAC-Liste „Gelber Engel“ nicht mehr Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
fair. Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
München Peter Graf von Ingelheim

Dem Artikel kann ich nur zustimmen. Ich In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist um den
fahre seit 1980 Toyota, jetzt das zehnte Titel ein Umhefter des SPIEGEL-Verlags, Hamburg, ge-
Fahrzeug. Die Fahrzeuge aus Japan waren legt. Eine Teilauflage enthält einen Partner-Durchhefter
der Firma ING DiBa, Frankfurt, sowie der Firma SPIE-
top verarbeitet. Schlechter war schon die GEL-Verlag, Hamburg. In einer Teilauflage dieser SPIE-
Qualität, als ein Fahrzeug aus Burnaston GEL-Ausgabe befindet sich in der Heftmitte ein vierseiti-
in England kam. Das jetzige Fahrzeug ger Beihefter der Firma Lexus, Köln. In einer Teilauflage
(Corolla Verso, hergestellt in der Türkei) ist befinden sich Beilagen der Firmen Handelsblatt, Düssel-
dorf, SPIEGEL-Verlag / SPIEGEL-Forum, Hamburg, sowie
schlampig verarbeitet. Zum Beispiel sind die Verlegerbeilage SPIEGEL-Verlag / KulturSPIEGEL,
Tür- und Fensterdichtungen nicht richtig Hamburg.

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 13
Panorama Deutschland
SPD

Clement legt nach


E x-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) bekräftigt
im Streit mit den Genossen noch einmal seine Kritik.
Die demokratischen Parteien und damit auch die SPD müss-
ten „endlich wieder zu ihren ureigenen Aufgaben zurück-
finden, statt sich abzukapseln und abzuschotten und Quer-
denkende auszustoßen“, sagt Clement. „Die Parteien wirken
an der politischen Willensbildung mit, heißt es im Grundge-
setz, aber sie sind nicht die Willensbildung und haben auch

JEWEL SAMAD / AFP


keinen Alleinvertretungsanspruch. Selbstbescheidung und
mehr Bürgernähe sind geboten.“ Scharfe Kritik übt Clement
an den Auswahlverfahren für politische Mandate. „Dass die
Aufstellung von Wahllisten der Parteien hierzulande immer
noch wie eine Verschlusssache gehandhabt wird, ist ein Ana- Anschlag auf US-Konvoi (in Bagdad)
chronismus und einer Demokratie nicht würdig.“ Öffentliche
Vorwahlverfahren könnten helfen, die Politik wieder näher TERRORISMUS

Al-Qaida-Kämpfer aus Braunschweig


zu den Bürgern zu bringen. Zugleich sollten politische Man-
date oder Ämter künftig nur noch für maximal zwei Legis-
laturperioden vergeben werden, so Clement. Die SPD dis-
kutiert derweil über ein Ausschlussverfahren gegen ihren
früheren stellvertretenden Vorsitzenden. Dies kann von jeder
Untergliederung beantragt werden. In Clements Heimatbe-
IListen
m Irak kämpft offenbar eine Gruppe junger Studenten aus
Deutschland auf Seiten von al-Qaida gegen die US-Armee. In
mit Namen ausländischer Rekruten, die amerikanische
zirk Bochum sind die Meinungen geteilt. Während dort einige Soldaten in einem Zeltlager im Irak beschlagnahmten, finden
Genossen einen Ausschluss befürworten, lehnt der Vorsit- sich die Personalien von vier Männern aus Niedersachsen, die
zende von Clements Ortsverein Weitmar-Mitte, Andreas sich demnach freiwillig für den Dschihad gemeldet haben. Zwei
Marten, dies klar ab. „Davon will ich nichts wissen“, sagt er. der Männer, Radhuan Ibn Jussif N., 25, und Siad B., 30, ver-
schwanden im Frühjahr vergangenen Jahres plötzlich aus dem
Braunschweiger Studentenwohnheim „Affenfelsen“. Die bei-
den Tunesier hatten an der Technischen Universität Braun-
schweig studiert und galten als unauffällig; B. lebte seit zehn
Jahren in Deutschland, N. seit 2003. Noch unklar ist der Hin-
tergrund bei den anderen zwei Mitgliedern der Dschihad-
Reisegruppe: Ein weiterer Tunesier namens Nidal al-K. gab
gegenüber al-Qaida an, Arzt zu sein, und stellte sich den Un-
terlagen zufolge als Selbstmordattentäter zur Verfügung. Ob er
noch lebt, ist ungewiss. Deutsche Ermittler prüfen nun, wer die
vier Dschihadisten in Deutschland rekrutierte und den Kontakt
vermittelte. Die Gruppe gab an, über die Türkei und Syrien
in das Kampfgebiet gereist zu sein. Bundeskriminalamt und
Verfassungsschutz gehen davon aus, dass seit 2003 bundesweit
mehr als 80 Freiwillige aus Deutschland in den Irak gereist
sind, von denen etwa die Hälfte aktiv auf Seiten al-Qaidas
TEICH / CARO / ULLSTEIN BILD

gekämpft hat. In einem weiteren Ermittlungsverfahren gehen


die Fahnder derzeit möglichen Verbindungen zwischen einer
Islamistenzelle in Barcelona und deutschen Kontaktleuten
nach: Die spanische Polizei hatte am vorvergangenen Samstag
Clement in Barcelona zwölf Pakistaner und zwei Inder festgenommen,
die im Verdacht stehen, einen Anschlag geplant zu haben.

DEUTSCH E BAH N Chef eines bundeseigenen Unterneh- Pflüger, CDU-Fraktionsvorsitzender im

Mehdorn erzürnt
mens ist eine solche Parteinahme eine Berliner Abgeordnetenhaus, die Stargäs-
klare Grenzüberschreitung“, sagt der te sind, soll an diesem Dienstag stattfin-

Genossen
Sprecher der SPD-Linken im Bundestag, den. Die Teilnehmer werden um eine
Niels Annen. „Herr Mehdorn sollte sei- Spende für die Berliner CDU gebeten,
ne Teilnahme absagen.“ Ähnlich wird um deren Kampf gegen die geplante

B ahn-Chef Hartmut Mehdorn sorgt für


Verärgerung in der SPD. Stein des
Anstoßes ist ein geplanter Auftritt des
der Vorgang im SPD-geführten Bundes-
verkehrsministerium gesehen, inoffiziell
heißt es dazu: „Wir verstehen Herrn
Schließung des City-Flughafens Tempel-
hof zu unterstützen. Mehdorn, der par-
teilos ist, wolle sich mit seinem Auftritt
Managers bei einem Spenden-Dinner zu- Mehdorn nicht mehr.“ Das Spenden- vor allem für die Offenhaltung des Flug-
gunsten der Berliner CDU. „Für den Dinner, bei dem Mehdorn und Friedbert hafens einsetzen, heißt es bei der Bahn.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 15
Panorama
PA R T E I F I N A N Z E N

Selbstbedienung bei
den Republikanern
N ach der NPD ist nun eine weitere
rechtsradikale Partei wegen dubio-
sen Finanzgebarens ins Visier der Bun-
destagsverwaltung geraten: die Repu-
blikaner (Rep). Hintergrund ist ein ak-
tuelles Urteil des Landgerichts Stuttgart
gegen einen langjährigen Schatzmeister
des baden-württembergischen Rep-Lan-
PHOTOTHEK / ULLSTEIN BILD
desverbands. Der Ex-Funktionär hatte
bis 2001 rund 60 000 Euro aus der Par-
teikasse für private Zwecke abgezweigt,
unter anderem für das Leasing eines
Sportwagens und zur Begleichung pri-
vater Steuerschulden. Wegen Untreue
in 37 Fällen wurde der Mann im Okto- Merkel (in einem Technologieunternehmen in Dresden)
ber zu einer Bewährungsstrafe von ei-
nem Jahr und neun Monaten verurteilt. FORSCHUNG

Fehlende Milliarden
Die diskrete Geldentnahme in Baden-
Württemberg, wo die Republikaner
bis 2001 im Landtag saßen, war aber
offenbar kein Einzelfall: In „finanziel-
len Angelegenhei-
ten“, so das Gericht,
„herrschte im gesam-
B und, Länder und Unternehmen in Deutschland müssen die jährlichen Zuwen-
dungen für Forschung bis 2010 um deutlich mehr als zehn Milliarden Euro
steigern. Nur so kann das von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) propagier-
ten Präsidium“ des te Innovationsziel erreicht werden. Demnach sollen 3 Prozent des Bruttoinlands-
Landesverbands eine produkts in Forschung und Entwicklung (FuE) fließen, um international wett-
Art „Selbstbedie- bewerbsfähig zu bleiben. Aus neuen Zahlen des Bundesforschungsministeriums und
nungsmentalität“; des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft geht hervor, dass bisher nur ein
zudem habe man Wert von knapp 2,6 Prozent erreicht wurde. Zwar stiegen die FuE-Ausgaben der
versucht, „dieses Wirtschaft von 2005 auf 2006 um sieben Prozent und damit fast doppelt so stark wie
Finanzgebaren zu in den Vorjahren. Auch will die Bundesregierung über die gesamte Legislaturperi-
SASCHA RHEKER / ATTENZIONE

verschleiern“. Doch ode 6,5 Milliarden Euro zusätzlich für FuE-Ausgaben zur Verfügung stellen. Doch
auch die merkwürdi- um bei anhaltendem Wirtschaftswachstum das Drei-Prozent-Ziel zu erreichen,
ge Buchungspraxis sind erhebliche zusätzliche Investitionen nötig. Die nationalen FuE-Ausgaben müss-
des bayerischen Rep- ten selbst bei Nullwachstum von heute rund 63 Milliarden Euro auf 73 Milliarden
Landesverbands er- Euro steigen. Größte Schwachstelle der Innovationsoffensive bleiben viele Bun-
regt das Interesse der desländer, vor allem im Norden und im Osten.
Schlierer Parteienkontrolleure
von Bundestagspräsi-
dent Norbert Lammert (CDU): Den
dortigen Finanzbehörden war aufgefal-
len, dass die Summe der ausgestellten gierten Rheinland-Pfalz weiter im
Spendenbescheinigungen die Summe Visier der Verfassungsschützer
der Partei-Einnahmen in den neunziger bleiben. Wie das dortige Innen-
Jahren mitunter deutlich überstieg. ministerium dem SPIEGEL bestä-
Nach einem Urteil des Bundesfinanz- tigte, sollten weiterhin öffentlich
hofs muss das Finanzgericht München zugängliche Quellen der Linken
AMIN AKHTAR / OSTKREUZ

jetzt entscheiden, ob die Steuerbehör- durch die Geheimen ausgewertet


den das wundersame Spendenaufkom- werden. Begründet wird die Beob-
men erneut unter die Lupe nehmen achtung mit dem starken Einfluss
müssen. Der Rep-Bundesvorsitzende der ehemaligen PDS in der rhein-
Rolf Schlierer weist die Vorwürfe land-pfälzischen Linkspartei; etwa
zurück: „Wir warten erst die Entschei- jedes fünfte der rund 1500 Mitglie-
dung des Finanzgerichts München ab, V E R FA S S U N G S S C H U T Z der stammt aus der PDS. In einem Brief

Stures Beck-Land
bevor wir uns zu Einzelheiten äußern.“ an Ministerpräsident Kurt Beck hatte
Danach will auch die Bundestagsver- der rheinland-pfälzische Bundestagsab-
waltung prüfen, ob eventuell Staatszu- geordnete Alexander Ulrich die Einstel-
schüsse zurückgefordert werden. Im
vorigen Jahr erhielten die Republikaner
rund 1,2 Millionen Euro Steuergeld aus
W ährend selbst das CDU-geführte
Saarland auf die Beobachtung der
Partei Die Linke durch den Verfassungs-
lung der Beobachtung gefordert – und
darauf hingewiesen, dass „ein nicht
unerheblicher Teil der Mitgliedschaft
der Parteienfinanzierung. schutz verzichtet, soll sie im SPD-re- ursprünglich aus der SPD“ komme.
16 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland
JUSTIZ Schritt und Tritt beobachten. „Wir

Mit GPS gegen Sextäter


wollen nur besonders rückfallgefährde- AM RANDE
te Gruppen wie Pädophile von be-
stimmten Sicherheitszonen, zum Bei- Europas Wolfsbarsch
A ls erstes Bundesland erwägt Bayern
manche entlassene Sexualstraftäter
mit Hilfe von Ortungs-
spiel Kindergärten, fernhalten.“ Die
technische Umsetzung ist noch nicht
geklärt: Diskutiert wird
Man muss über Finnland sprechen.
Finnland hat ein Imageproblem. Damit
geräten zu kontrollieren. ein elektronisches Arm- war nicht zu rechnen. Finnland und der
Im Justizministerium band, in dem das satel- Finne waren eigentlich immer ganz
wird derzeit geprüft, wie litengestützte Naviga- okay. Ein Land mit viel Wald, eine Wis-
man Aufenthaltsverbote tionssystem GPS instal- sensgesellschaft im Norden Europas. In
durchsetzen könnte, mit liert ist. So wäre die den vergangenen Jahren stiegen deut-
denen eine Reihe von Position der Person sche Politiker in Gruppen durch das

MAGO STOCK & PEOPLE


Sexualstraftätern nach ermittelbar, bei der finnische Unterholz, um in Lapplands
Haftverbüßung belegt Annäherung an einen Gesamtschulen das finnische Bildungs-
wird. „Ziel ist nicht Kindergarten würde das system zu studieren – beim ewigen
die Totalüberwachung“, Gerät per SMS Alarm Pisa-Sieger. Anschließend kehrten sie
sagt Justizministerin auslösen. mit saunaroten Gesichtern nach Berlin
Beate Merk (CSU); man zurück und erklärten: Von Finnland ler-
wolle niemanden auf Merk nen heißt siegen lernen.
Jetzt will die finnische Firma Nokia ihr
Werk in Bochum schließen, und alle
Politiker sagen: Nokia, das ist ein schwei-
AT O M M E I L E R Kotting-Uhl. Die Forschungsanlage hatte nekapitalistischer, globalisierungsgeiler

Teure Entsorgung
1977 den Betrieb aufgenommen und Konzern, kalt wie der Finnische Meer-
wurde 14 Jahre später stillgelegt. Brüter- busen. Beck hat sein Nokia-Handy aus
Technologie, die sowohl zur Erzeugung Protest zurückgegeben. Und

D er Abriss der Karlsruher Versuchs-


anlage für einen Schnellen Brüter in
Deutschland kostet den Steuerzahler
von Energie als auch von spaltbarem
Material dient, ist in Deutschland auch
wegen massiver Proteste der Bevölke-
Struck auch.
Niemand hatte mit den Fin-
nen gerechnet. Der Finne
weit mehr als vorgesehen. Wie das Bun- rung nie zur kommerziellen Anwendung schien an der Globalisierung
desforschungsministerium jetzt einräum- gekommen. Der Abriss alter Kerntech- nicht besonders interessiert.
te, kostet die Entsorgung des Meilers 309 nik wird zunehmend zur Belastung für Er galt als der melancholische
Millionen Euro und damit 100 Millionen den Bundesetat. Erst kürzlich hatte das Friedfisch Europas. Mit Finn-
mehr als geplant. Verantwortlich dafür Forschungsministerium eingeräumt, die land verband man die Schluss-
seien unter anderem technische Proble- Entsorgung der atomaren Wiederaufar- akte von Helsinki, den Wohl-
me beim Ausbau des Reaktortanks, heißt beitungsanlage Karlsruhe (WAK) werde fahrtsstaat, den freundlichen
es in einer Antwort auf eine Anfrage der 239 Millionen Euro teurer als bisher Mika Häkkinen, den sanften
Grünen-Bundestagsabgeordneten Sylvia angenommen. Suizid, den friedlichen Suff und Wörter
mit ä. Den schönsten finnischen Namen
trug der Skilangläufer Mika Myllylä,
weil er zeigte, dass Finnisch eine Spra-
che ist, die sich leichter spricht, je mehr
man trinkt. In den Filmen von Aki Kau-
rismäki wurde wenig geredet, unter fin-
nischen Skispringern wurde wenig ge-
redet, und im Norden Finnlands, bei
den Samen, wurde womöglich über-
haupt nie geredet.
Heute, nach Bochum, muss man sagen:
Das nette Finnland-Image wurde ver-
mutlich in die Welt gesetzt von Spin-
Doctors der Regierung und vom finni-
schen Fremdenverkehrsamt. Der Finne
ist knallhart und globalisierungsmäßig
völlig angefixt. Der Wolfsbarsch Euro-
pas. Ein fieser Möpp.
Beck sucht jetzt eine neue Handy-
Marke. Struck auch. Motorola war im
Gespräch, was aber nicht geht, wegen
PETER SANDBILLER / IMAGO

der Werksschließung in Flensburg.


Samsung ist auch schwierig, wegen der
Werksschließung vor zwei Jahren in
Berlin. Bis auf weiteres sind Beck und
Struck nur über das Festnetz erreichbar.
Jochen-Martin Gutsch
Forschungszentrum Karlsruhe
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 17
Deutschland Panorama
STROMERZEUGER

Konzerne sollen
Konkurrenz finanzieren
D ie rheinland-pfälzische Landesregie-
rung von SPD-Chef Kurt Beck ver-
langt von Bundeswirtschaftsminister
Michael Glos (CSU), mehr Wettbewerb
auf dem Strommarkt zu schaffen. Der
Versuch des Unionspolitikers, die Strom-
konzerne durch die Ankündigung einer
Kartellrechtsverschärfung in die Knie zu
zwingen, habe sich „als Luftnummer
erwiesen“, beklagt Wirtschaftsminister

WERNER OTTO
Hendrik Hering (SPD). Um die preis-
treibende Marktmacht der vier großen
Erzeuger RWE, E.on, EnBW und Vatten-
Rhein bei St. Goarshausen fall zu brechen, müsse die öffentliche
Hand „so schnell wie möglich“ den Bau
LORELEY neuer Kraftwerke forcieren, drängt He-

Unesco prüft Rheinbrücke


ring – und zwar auf Kosten der Strom-
konzerne selbst. Becks Wirtschaftsminis-
ter verlangt staatliche Förderprogramme
für umweltfreundliche regionale Kraft-

E ine Expertenkommission der Unesco will im Februar untersuchen, ob eine Rhein-


brücke in der Nähe des Loreley-Felsens bei St. Goarshausen mit dem Titel „Welt-
erbe“ des Oberen Mittelrheintals vereinbar ist. Die rheinland-pfälzische Landes-
werke, die dann von Stadtwerken, Pri-
vatpersonen oder mittelständischen
Unternehmen betrieben werden sollten.
regierung hat der Uno drei mögliche Standorte für das von Anwohnern seit Jahr- Finanzieren will Hering die Förderpro-
zehnten geforderte Bauwerk genannt. Im Gegensatz zu Sachsen, wo Straßenplaner gramme aus dem Verkauf von CO2-Zer-
und Denkmalschützer erbittert über die Dresdner Waldschlösschenbrücke streiten, will tifikaten an die großen Stromerzeuger.
die SPD-geführte Landesregierung in Mainz den Verlust des prestigeträchtigen Welt- Bis zum Jahr 2013 werde dadurch insge-
erbe-Status „keinesfalls riskieren“, so ein Sprecher des Verkehrsministeriums. Des- samt rund eine halbe Milliarde Euro ein-
halb räumen die Planer derzeit allenfalls einer etwa vier Kilometer nordwestlich von genommen, anschließend könnten die
der Loreley gelegenen Brücke zwischen Fellen und Wellmich Realisierungschancen Erlöse aus dem Zertifikate-Verkauf sogar
ein. Von dort bestehe „keine Sichtbeziehung“ zu dem markanten Felsen. Überdies auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr
hat das Land ein Konzept für eine Tunnelvariante ausarbeiten lassen, die mit rund steigen.
72 Millionen Euro allerdings um mehr als 30 Millionen Euro teurer wäre als eine
Brücke. Nur mit dem Ausbau der vorhandenen Fährverbindungen, den der Interna-
tionale Rat für Denkmalpflege (Icomos) empfiehlt, lässt sich nach Ansicht des Main-
zer Ministeriums der vorausgesagte Verkehrszuwachs in der Region nicht bewältigen.
Nachgefragt

zwölfte Schüler in den zehnten und


Kirchen-WG
SCHULBILDUNG
In einigen evangelischen
Erhebliches Nichtwissen
elften Klassen kannte nicht einmal Erich
Honecker, jeder sechste Realschüler Landeskirchen und katholi-
schen Bistümern zieht man in
über die DDR
hielt ihn sogar für einen bundesdeut-
schen Politiker. Etliche Schüler ordneten Erwägung, bestimmte
umgekehrt die Westdeutschen Willy Kirchengebäude
A uf erschreckende Unkenntnis über
die jüngere deutsche Geschichte
stieß der Forschungsverbund SED-Staat
Brandt und Ludwig Erhard der DDR zu.
40 Prozent der Befragten wussten nicht,
in welchem Jahr die Berliner Mauer
aus Kostengrün-
den gemeinsam
der Freien Universität Berlin bei einer gebaut wurde. Jeder dritte Haupt- und zu nutzen. Soll das
repräsentativen Befragung unter baye- Realschüler hält die Stasi für einen möglich sein?
rischen Schülern. Erhebliches Nicht- „normalen Geheimdienst“. Fazit der Konfession
Gesamt evan- katho-
wissen über die DDR führe, so der ver- Berliner Forscher: In den Schulen beste- gelisch lisch
antwortliche Politikprofessor Klaus he dringend Nachholbedarf in deutscher
Schroeder, „zu einem eher Nachkriegsgeschichte – zu- Ja 79 % 81 88
diffusen oder neutralen mal die Schüler angaben,
T. BARTH / LAIF

Bild“ des ehemaligen zwei-


ten deutschen Staates. Über
in ihren Familien würde
über diese Themen kaum
Nein 13 % 13 9
ein Viertel der Schüler gesprochen. TNS Forschung für den SPIEGEL vom 22. und 23. Januar;
wusste mit Walter Ulbricht 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
keine Angabe
nichts anzufangen; jeder Schüler (in München)
18
Titel

Abschreibungen
der Banken
3. und 4. Quartal 2007*
in Mrd. Dollar

2,7 10,8** 23,6 14,4 2,7


24,6

Kursverluste
gegenüber
1. Januar 2007
Stand: 24. Januar 2008 – 36,1 % – 32,7 %
– 41,1 % – 38,3 %
– 46,1 %
– 50,9 %

Der kranke Gorilla


Börsencrash, Milliardenverluste, Rezessionsängste: Die Krise an den Finanzmärkten
ist zu einer Gefahr für die Weltwirtschaft geworden. Ausgelöst von
renditehungrigen Bankern, bedroht sie inzwischen das Gefüge des weltweiten Finanzsystems.

20 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Bankenmetropole Frankfurt am Main

* Barclays, HSBC und Deutsche Bank nur 3. Quartal; ** inkl. außerordentlicher Verluste; Quelle: Thomson Financial Datastream, Unternehmensdaten
Credit Bank of
Suisse America

4,7 5,3 9,4 3,2 3,4

– 16,2 %
– 25,3 % – 24,2 % – 22,6 %
– 29,7 %

S
eit dem Morgen fallen die Aktien- geflimmert, mit Bildern der schlimmsten sen hält jeder Teilnehmer eine kleine graue
kurse auf breiter Front, am Mittag hat Börsencrashs der letzten 80 Jahre, ange- Box mit ein paar Tasten in der Hand, eine
es die Technologiewerte erwischt, fangen mit dem Schwarzen Donnerstag im Art Fernbedienung, mit der er darüber
und auch die ersten Nachrichten von der Oktober 1929. Das Schlussbild zeigt eine abstimmen soll, was er für die „größte Ge-
Wall Street sind düster. In der schwer ge- Liste mit den Abschreibungen der größten fahr für die Weltwirtschaft in diesem Jahr“
sicherten Betonfestung im Zentrum des amerikanischen Banken, Stand Mitte des hält. Es ist ein ziemlich sardonischer Regie-
Schweizer Skiorts Davos haben sie sich Monats. Es sind schwindelerregende Zah- einfall.
ein kleines Spiel zur Lage ausgedacht. Es len – und das ist noch lange nicht das Ende, Zur Auswahl stehen ein „globaler Zu-
THILO WAITZ / BILDMASCHINE.DE

ist Mittwoch der vergangenen Woche, der wie jeder hier im Saal weiß. sammenbruch der Kreditversorgung“,
erste Tag des jährlichen Weltwirtschafts- Normalerweise wäre jetzt ein Vortrag an „steigende Energiepreise“, ein „genereller
forums. Der Kongresssaal ist gut gefüllt mit der Reihe zu den großen Themen, die es Vertrauensverlust der Verbraucher“. Es ist
Leuten, die auf die eine oder andere Wei- dieses Mal abzuhandeln gilt, irgendetwas eine lange, düstere Liste, bei der eine Op-
se vom Börsengeschäft leben. Gehaltvolles über Klimawandel oder die tion schlimmer ist als die andere. Was man
Über die große Leinwand an der Stirn- Herausforderung der Globalisierung. So ist auch wählt – es bedeutet, dass die Welt
seite ist gerade ein Film zur Einstimmung es üblich zum Auftakt in Davos. Stattdes- in eine Rezession stürzen könnte. Das
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 21
Titel

MAURICIO LIMA / AFP (L.); EUGENE HOSHIKO / AP (M.)


Brasilianische Börsenhändler (in São Paulo), chinesischer Investor (in Shanghai), Aktienbroker (an der New Yorker Wall Street): Schlimmste

Publikum entscheidet sich für „allgemeine Schlimm erwischte es auch Frankfurt. schrumpft sei, in 7 weiteren stagniere sie.
Führungskrise“. Keine dumme Wahl – an- In nur vier Stunden rasten die Kurse der Schwächelt die größte Volkswirtschaft der
gesichts des Taifuns, der draußen tobt. 30 größten deutschen Konzerne um 500 Erde, wird das zwangsläufig alle Handels-
Als die Leute nach 90 Minuten zurück Punkte nach unten. Am Ende hatte der partner der USA in Mitleidenschaft zie-
ins Foyer strömen, zeigen die Bildschirme Dax 7,2 Prozent und damit 63 Milliarden hen, auch die Deutschen.
neue Kursverluste; die Eilaktion der Euro an Wert verloren, der übelste Tages- Schon korrigiert die Bundesregierung
amerikanischen Notenbank, den Leitzins verlust seit dem 11. September. ihre Wachstumsprognose nach unten. Öko-
außerplanmäßig gleich um 75 Basispunkte Der Sturm, der im vergangenen Jahr nomen halten es damit für unwahrschein-
auf nur noch 3,5 Prozent zu senken, ist durch die amerikanische Hypothekenkrise lich, dass die Arbeitslosigkeit weiter zu-
ohne nachhaltige Wirkung verpufft. „Was ausgelöst wurde, habe sich zum Hurrikan rückgeht. Auch der Export wird einbre-
für ein Massaker“, entfährt es einem In- entwickelt, schreibt der britische „Econo- chen – die Frage ist nur, wie stark. Und die
vestmentbanker, der gerade noch tapfer mist“. In den ersten drei Januarwochen Hoffnung, die Deutschen würden dies da-
gegen zu viel Pessimismus angeredet hatte. verloren die Aktien aller Unternehmen, durch kompensieren, dass sie endlich mehr
Vom „Ende einer Ära“ spricht der in New die weltweit an den Börsen gehandelt wer- konsumieren und damit die Wirtschaft an-
York und London lebende Finanzjongleur den, die schier unfassbare Summe von fast kurbeln, hegt kaum noch jemand.
George Soros. fünf Billionen US-Dollar an Wert. Am Donnerstag schossen die Kurse
Der Schock der beiden Vortage steckt Die heftigen Kursverluste zeigen die zwar wieder in die Höhe, nachdem US-
den Teilnehmern sichtlich in den Knochen. Angst vor den weltweiten Folgen einer Präsident George W. Bush die Zustimmung
Wie ein hochansteckender Virus hatte sich amerikanischen Rezession, die wahr- der oppositionellen Demokraten zu einem
die Angst vor einer weltweiten Rezession scheinlich längst begonnen hat. Am ver- gewaltigen Konjunkturprogramm bekom-
am Montag in rasender Geschwindigkeit gangenen Dienstag gab die regionale ame- men hatte. 145 Milliarden Dollar will die
zunächst in Asien ausgebreitet. Als dann rikanische Notenbank in Philadelphia be- amerikanische Regierung in die Wirtschaft
Stunden später die großen europäischen kannt, dass die Wirtschaft in 23 der 50 US- pumpen. Etwa 117 Millionen Amerikaner –
Börsen den Handel eröffneten, sprang der Bundesstaaten im Dezember bereits ge- gut ein Drittel der Bevölkerung – können
Erreger auf den alten Kontinent über, um nun einen Steuernachlass von bis zu 1200
am Nachmittag auch noch die amerika- Dollar erwarten. „Die Anreize in diesem
nischen Handelsplätze von Kanada über Paket werden zu höherem Konsum und
Mexiko bis nach Brasilien zu infizieren. mehr Unternehmensinvestitionen führen“,
Die Ironie wollte es, dass ausgerechnet die hofft Bush.
USA von der Plage erst einmal verschont Der Präsident steht mit dieser Hoffnung
blieben. Wegen eines Feiertages hatte die aber ziemlich allein. Das Paket komme viel
New Yorker Börse geschlossen. zu spät, kritisierte etwa der amerikanische
In Tokio sackte der japanische Leitin- Ökonom Joseph Stiglitz umgehend. Der
dex Nikkei um fast 4 Prozent ab, in Shang- Weg aus der Krise werde „lang und
hai fielen die Kurse um 5,1 Prozent. Hong- schmerzvoll“ sein, prophezeite der Nobel-
kong erlebte den schlimmsten Börsentag preisträger. Der erfahrene Star-Spekulant
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS

seit den Terroranschlägen des 11. Septem- Soros spricht gar von der „schlimmsten
ber 2001. An der Börse in Bombay sackten Krise seit 60 Jahren“, bei der „alles schief-
die Kurse zwischenzeitlich um fast 11 Pro- ging, was nur schiefgehen konnte“.
zent ab, um dann immer noch mit einem Die Hauptschuldigen sind längst identi-
satten Minus von 7,4 Prozent aus dem Han- fiziert. Und es sind nicht die neureichen
del zu gehen. Spekulanten der Hedgefonds- und Private-
Equity-Szene, die bisher als die größte Be-
* Mit Kanzlerin Angela Merkel und Commerzbank-Chef Banker Ackermann (r.)* drohung der Weltfinanzmärkte galten. Es
Klaus-Peter Müller am 25. April 2006 in Berlin. Stunde der Offenbarung sind die Banken – und zwar alle Vertreter
22 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
BRENDAN MCDERMID / REUTERS

Finanzkrise der Nachkriegszeit

dieses Gewerbes: die modernen angel- leisten konnten, dazu, mit billigen Krediten auf den ersten Blick sichtbar ist. Dass es
sächsischen Investmentbanken, die klassi- Immobilien zu kaufen. Dann verpackten sich bei dem Debakel um mehr als einen
schen Großbanken und die eher biederen sie diese Forderungen in hochkomplizier- Unfall handelt, dessen Folgen schon nach
deutschen Landesbanken, die sogar ganz te, neuartige Finanzprodukte, die sie gegen wenigen Tagen taxiert werden können und
besonders. hohe Gebühren weltweit an Investoren den die Branche nach einigen Monaten ab-
Sie alle haben die klassischen Prinzipien verkauften. Die wussten häufig gar nicht gehakt haben wird.
der Branche verraten: Sie haben Kredite genau, welche Zeitbomben da nun auf Dieses Mal steht das gesamte System auf
an Leute gegeben, die nie welche hätten einmal in ihren Portfolios schlummerten. dem Prüfstand, die Ordnung der Welt-
bekommen dürfen, in einem Ausmaß, das Sie wollten es wohl auch gar nicht wissen; wirtschaft. Ist das globale Finanzsystem in-
jeden vernünftigen Rahmen sprengt. Und Hauptsache, die Rendite stimmte. zwischen so komplex, dass es nicht mehr
sie haben die Risiken, die sie nie hätten Wie sehr die Kontrollmechanismen der beherrschbar ist? Sind die staatlichen Re-
eingehen dürfen, verschleiert. Branche außer Kraft gesetzt waren, zeigte gulierungsbehörden dem Erfindungsreich-
Dass klassische Sicherheiten im Geld- in der vergangenen Woche der spekta- tum der Finanzakteure noch gewachsen?
gewerbe nicht mehr zählen und Schulden- kuläre Fall des Aktienhändlers Jérôme Und schließlich: Ist die derzeitige Macht-
pakete außerhalb der Bilanz gelagert wer- Kerviel. Innerhalb weniger Monate ver- verteilung der globalisierten Welt auf Dau-
den, damit das Hochrisikogeschäft immer zockte der Franzose mit riskanten Finanz- er haltbar?
weiter ausgedehnt werden kann – wer wetten 4,9 Milliarden Euro seines Arbeit- „Es läuft eine Wette“, sagt der Vorstand
hätte das vor wenigen Jahren gedacht? gebers, der angesehenen Société Générale einer großen deutschen Bank, „wie wich-
„Man kann in diesen Wochen wirklich den in Paris, deren „Risiko-Management“ bis- tig die USA noch für das globale Wirt-
Glauben an die Banken verlieren“, schreibt lang branchenweit gerühmt wurde (siehe schaftsgeschehen sind.“ Dabei steht nichts
selbst das Hausblatt der Branche, die Kasten Seite 26). weniger auf dem Spiel als die Vormacht-
Frankfurter „Börsenzeitung“. Viele Banker spüren, dass es dieses Mal stellung der größten Volkswirtschaft der
Zunächst verführten die Banken in den um mehr geht als in früheren Krisen. Dass Erde. Und die der übrigen westlichen Staa-
USA Menschen, die es sich eigentlich nicht die Welt mehr Schaden genommen hat, als ten dazu.
16 Jahre lang hat das amerikanische
8200 Wirtschaftswunder gehalten, das jetzt zu
0
Deutsche Bank implodieren droht. Und auf einmal merkt
8000 Veränderung gegenüber die ganze Welt, was bislang nur vereinzel-
dem 2. Januar 2008 te Warner realisierten: Der beispiellose
7800 Boom war durch und durch wurmstichig.
–4 in Prozent
„Die guten Zeiten“, urteilte vergange-
7600
ne Woche die „New York Times“ voller
7400 –8 Ernüchterung, „waren eine Fata Morga-
Dax 25. Jan. na.“ Denn sie waren auf Pump gebaut.
7200 – 14,1% Der scheinbar endlose Aufschwung, der
Deutscher
Aktienindex 25. Jan. –12 nur zwischendurch kurz unterbrochen
7000 wurde, erscheint im Rückblick als eine rie-
6817
sige Doppel-Blase – zuerst eine Mega-Spe-
6800 –16 kulation mit Aktien der jungen Internet-
6600 Branche und dann, als die „Dot.com-Bub-
23. Jan. 23. Jan. ble“ platzte, mit Immobilien.
6400 6439 –20 – 18,6% Scheinbar sorglos wechselten die Ame-
rikaner von der kollabierten „New Eco-
nomy“ zur „Ownership-Society“, die von
Januar 2008 Quelle: Thomson Financial Datastream Januar 2008 US-Präsident George W. Bush euphorisch
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 23
AURORA / LAIF (L.); AARON ALLMON / UPI / GAMMA / LAIF (R.)
Terroranschläge vom 11. September 2001, US-Soldaten (im Irak): Die führende Wirtschaftsmacht ist angeschlagen

gefeiert wurde, eine Gesellschaft von Ei- Pump Firmen übernahmen, erblühten wie Präsident den Segen „finanzieller Innova-
gentümern, in der ein jeder locker seine nie zuvor. Die Manager der jungen Bran- tion“ stets für größer als den Nutzen von
Raten zahlen sollte, Immobilienpreise che realisierten schnell, dass sie mit dem im Regulierung.
grundsätzlich stiegen und ohnehin nichts Überfluss vorhandenen Geld alles Mög- Greenspans Niedrigzinspolitik gilt heu-
schiefgehen konnte. Seit 1992 haben die liche kaufen und handeln konnten, Aktien, te als Hauptgrund für das Entstehen der
amerikanischen Verbraucher ihre Ausga- Rohstoffe, Unternehmen und selbst die Blase. „Die Geldpolitik war zu entgegen-
ben Quartal für Quartal gesteigert. Ein so Hypotheken von Millionen Amerikanern. kommend. Mit Ein-Prozent-Sätzen wur-
lange andauerndes Selbstvertrauen hatten Die Deals dieser vorher wenig bekann- den alle möglichen Arten riskanten Ver-
sie vorher noch nie gezeigt. ten, renditeversessenen Investorengruppe haltens ermutigt“, sagt Anna Schwartz.
Der Boom wurde aus Washington mun- wurden immer größer und riskanter, eine Die 92-jährige Ökonomin hat die Welt-
ter angefeuert. Eine möglichst ungezügel- Milliardenfusion jagte die nächste, die Wall wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jah-
te Marktwirtschaft, Deregulierung der Fi- Street bebte vor Euphorie. Und die Ban- re des vergangenen Jahrhunderts noch
nanzmärkte, niedrige Zinsen, wenig Steu- ken spielten mit, sie schraubten ihre Ren- selbst erlebt, Jahrzehnte später kritisierte
ern – mit diesem radikalen Marktver- diteerwartungen immer weiter nach oben. sie in einem gemeinsam mit Nobel-
ständnis versuchten Bush und der lang- Die US-Behörden mochten niemandem preisträger Milton Friedman („A Mone-
jährige Zentralbankchef Alan Greenspan, die Laune verderben. Schließlich hielt der tary History of The United States“) ver-
die amerikanische Konjunktur und die fassten Standardwerk die Rolle
Kapitalmärkte in immer neue Höhen zu der US-Zentralbank während
treiben. Doppeltes 236 der „Great Depression“.

Defizit
Das war auch ihr Rezept nach den An- Auch dieses Mal, sagt
schlägen vom 11. September, als die US- Schwartz, die noch jeden Tag
Wirtschaft in die Rezession zu rutschen
69 im National Bureau of Econo-
Quelle: CBO
drohte. Elfmal senkte Greenspan 2001 die mic Research in New York ar-
Zinsen, von 6,5 auf schließlich nur noch beitet, hätten die Währungshü-
1,75 Prozent. Die Wirtschaft bewahrte er ter versagt: „Die Fed versäum-
so vor dem Absturz, doch gleichzeitig te, die offensichtlichen Proble-
schaffte er damit die Grundlage für die – 158 – 163 me anzugehen.“
bald wachsende Blase im Immobilienge- – 255 Das Treiben auf dem Immo-
schäft. Haus- und Wohnungsfinanzierun- bilienmarkt wurde derweil im-
gen waren so günstig wie lange nicht, ein US-Bundeshaushalt mer toller. „Dieser Tage verdie-
regelrechter Bauboom quer durch die Defizit/Überschuss, – 413 nen Amerikaner ihren Lebens-
Staaten begann. Schon 2002 zogen die Im- in Milliarden Dollar unterhalt, indem sie sich gegen-
mobilienpreise in wichtigen Märkten wie Schätzung
seitig Häuser verkaufen und mit
Florida, Kalifornien und Neu-England ra- Geld bezahlen, das von China
sant an. geliehen wurde“, wunderte sich
Greenspan, an der Wall Street damals – 70 Princeton-Ökonom Paul Krug-
als „Maestro“ und „Zauberer der Finanz- Quelle: Census man schon im Sommer 2005 in
märkte“ verehrt, senkte weiter die Zinsen. seiner Kolumne in der „New
Von Juni 2003 bis Juni 2004 betrugen die – 380 York Times“.
US-Leitzinsen nur ein Prozent. Es war der US-Handelsbilanz Während sich die Haus- und
niedrigste Stand seit einem halben Jahr- – 497 Wohnungspreise von Arizona
Defizit bei Gütern
hundert. und Dienstleistungen, bis Hawaii seit Ende der neun-
Geld gab es damit praktisch umsonst, in Milliarden Dollar – 710 ziger Jahre mehr als verdoppelt
und das begeisterte nicht nur normale haben, eroberten am unteren
Häuslebauer. Hochspekulative Hedgefonds Rand der US-Gesellschaft ag-
und Private-Equity-Unternehmen, die auf 1993 95 97 99 2001 03 05 2007 gressive Kredithaie den Markt.

24 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ZUMA PRESS / ACTION PRESS (L.); TIM SLOAN / AFP (R.)
US-Eigenheim, Präsident Bush*: „Jeder, der eine Hypothek haben wollte, bekam auch eine“

Jeder, der eine Hypothek haben wollte, ren Hauseigentumsrate waren das Risiko Alles wirkte logisch und klar struktu-
bekam auch eine, selbst die finanziell wert“, schrieb er in seiner Autobiografie, riert. Rating-Agenturen wie Moody’s oder
Schwächsten. Viele Schwarze und Latinos die im vergangenen Herbst erschien. Standard & Poor’s prüften mit aufwendi-
hatten den amerikanischen Traum vom Ei- In dieser Welt war Christopher Ricciardi gen Computerprogrammen die Bonität der
genheim bislang vergebens geträumt. eine der Schlüsselfiguren. Der Karriere- unterschiedlichen Schuldnergruppen und
Doch jetzt gab es ohne Probleme Kredit, banker hatte schon Mitte der neunziger vergaben dann ihre Triple-A oder BB-Ra-
Anzahlung war nicht nötig, das Einkom- Jahre bei Prudential Securities, einem nicht tings.
men durfte frei, und vor allem nachweis- sonderlich prominenten Wall-Street-Haus, Dabei ließen sich die Rating-Firmen
frei, angegeben werden. Niedrige Ein- begonnen, alle Arten von Forderungen, also von den Investmentbanken bezahlen und
stiegszinsen machten das Angebot beson- beispielsweise Immobiliendarlehen, Auto- stützten ihr Urteil auf die Informationen,
ders attraktiv. Dass sich die Sätze später und Konsumentenkredite, Kreditkarten- die ihnen von den Erfindern der Produk-
von sechs auf zwölf Prozent verdoppeln, forderungen oder normale Firmendarlehen, te geliefert wurden. Es war so, als würde
spielte da noch keine Rolle. zusammenzuschnüren und daraus handel- sich der TÜV von Mercedes und VW ent-
Dieses sogenannte Subprime-Geschäft bare Finanzinstrumente zu machen. lohnen lassen, Abgas- und Bremsfunk-
mit Kunden von zweifelhafter Bonität wur- Die Produktionsabläufe waren wie in ei- tionswerte einfach vom Hersteller über-
de in kurzer Zeit zum Milliardenbusiness. ner Fabrik, deren Arbeiter Rohstoffe ein- nehmen und dann seine Plakette aufs
2006 stammten schon 20 Prozent aller kaufen, sie veredeln und dann vom Vertrieb Nummernschild kleben – ein klarer Inter-
Darlehen aus dem riskanten Subprime- an Stammkunden vermarkten lassen. Das essenkonflikt.
Segment, fünf Jahre zuvor waren es nur Ergebnis, ein hochkompliziertes, im Ban- Das Geschäft boomte, selbst wenn vie-
5 Prozent. kerslang „Collateralized Debt Obligation“ len Investoren schon zu Anfang nicht rich-
Große Teile des amerikanischen Immo- (CDO) genanntes Produkt, wurde in Kürze tig klar war, womit sie eigentlich ihr Geld
bilienmarkts waren zur Zeitbombe gewor- zum Hit. Reiche Privatanleger, Hedgefonds verdienten. Sie sahen nur, dass die Rendi-
den. Bereits im Jahr 2000 verlang- und institutionelle Investoren schätzten die te stimmte. Ihre rätselhafte Finanzanlage
te US-Zentralbanker Edward Gramlich, die Verbindung aus scheinbar wertsicheren Im- bekam oft das gleiche Rating wie seriöse
Aufsicht über besonders aggressive Hypo- mobilien und hohen Erträgen. Unternehmensanleihen, brachte aber deut-
thekenbanken zu verschärfen. Im Mai 2004 Und auch die Geschäftsbanken gaben lich höhere Erträge.
warnte er vor massenhaft drohenden ihre Darlehen gern an Ricciardi oder seine Noch 1996 waren CDOs ein Nischen-
Zwangsversteigerungen. „Im Subprime- Wettbewerber ab. Mit deren Hilfe waren markt im Wert von gut fünf Milliarden
Markt herrschten Wildwestmethoden“, sie ihr Kreditrisiko los und konnten sich Dollar. Zehn Jahre später brachten Banken
fasste Gramlich kurz vor seinem Tod im aufs Neugeschäft konzentrieren. Für die CDO-Papiere für 388 Milliarden Dollar auf
vergangenen Herbst die Lage zusammen. Wall Street bedeutete die Idee des smarten den Markt, ein Plus von 7700 Prozent.
Seine Kollegin aus dem Finanzministe- Bankers ein neues Mega-Business. Inner- Ricciardi stieg in die erste Liga des In-
rium, Sheila Bair, versuchte, die Subprime- halb weniger Jahre schwoll der Markt für vestmentbankings auf. Bei Merrill Lynch
Anbieter wenigstens zu einem freiwilligen die als „innovativ“ gefeierten Immobilien- brauchte er ab 2003 nur zwei Jahre, um sei-
Verhaltenskodex zu bewegen – ohne mess- papiere auf über sagenhafte 1,3 Billionen nen Arbeitgeber von Platz 15 an die Spit-
baren Erfolg. „Finanzielle Innovation ist Dollar an. ze der CDO-Hitparade zu katapultieren.
klasse“, sagt die lebenskluge Frau, „aber Um den Wünschen ihrer internationalen 50 Leute arbeiteten ihm allein in der New
man braucht ein paar Grundregeln. Die Investoren entgegenzukommen, teilten die Yorker Zentrale zu. Topinvestoren umheg-
wichtigste lautet: Kreditnehmer sollten Wall-Street-Häuser ihre Hypothekenpro- ten die Merrill-Manager in exklusiven US-
zahlungsfähig sein.“ dukte in unterschiedliche Risikogruppen Ski-Resorts oder im holzvertäfelten Har-
Doch Greenspan wollte von all dem lan- ein. Konservative Versicherungen konnten vard-Club von Manhattan und auch beim
ge nichts wissen. „Die Vorzüge einer höhe- sich für Tranchen mit besonders hoher Bo- Golf im Sleepy-Hollow-Country-Club bei
nität und niedrigerer Rendite entscheiden, New York.
* Bei der Ankündigung des Konjunkturprogramms mit
Hedgefonds durften mit den hochprofita- In den besten Zeiten schlossen sie Deals
Vizepräsident Dick Cheney und Finanzminister Henry blen und -riskanten Tranchen des Sub- in dreistelliger Millionenhöhe fast im Wo-
Paulson am 18. Januar. prime-Geschäfts spekulieren. chenrhythmus ab. Ricciardi bestellte dann
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 25
Titel

1,5 Milliarden Euro einen geradezu

Harry Potter im Casino


astronomischen Gewinn aus.
Doch als Kerviel zu Beginn des Jahres
auf den Anstieg der Börsen setzt, kom-
men die Verluste. Laut Händlerkreisen
Wie konnte ein kleiner Börsenhändler der großen Société Générale baute er unter anderem eine gigantische
einfach so fünf Milliarden Euro verzocken? Wette auf dem deutschen Börsenindex
Dax auf. Nach Schätzungen von Pariser

S
elbst bei der Konkurrenz genoss Gegenschäfte seien fiktiv gewesen. Da- Marktexperten soll er rund 140 000 so-
Jérôme Kerviel einen guten Ruf. her waren die offenen Positionen viel genannte Dax-Futures gekauft haben.
Der Börsenhändler des franzö- größer als die Zahlen auf dem Radar- Das sind Terminkontrakte, die an der
sischen Bankriesen Société Générale schirm der internen Kontrolleure. deutsch-schweizerischen Börse Eurex
(SocGen) galt „als netter und patenter Doch wie kann es bei einer Großbank gehandelt werden und mit einer bruta-
Typ“, erzählt ein Pariser Banker. „Wir von Weltruf zu einem solchen GAU len Unmittelbarkeit funktionieren. Er-
wollten ihn sogar mal einstellen.“ kommen? Haben die Institute aus dem folg und Misserfolg schlagen täglich in
Kerviel war kein Überflieger, aber Fall Nick Leeson nichts gelernt, der 1995 bar auf den Kontostand durch.
auch kein arroganter Yuppie. Kein auf- die britische Barings Bank mit Fehlspe- Nimmt man an, dass Kerviel bei ei-
geblasener „Golden Boy“, eher „ein in- kulationen ruinierte? nem Dax-Stand von knapp 8000 Punk-
trovertierter Typ, der mit sich selbst Offenbar konnte Kerviel, von der Pa- ten eingestiegen war, so galt für ihn fol-
nicht im Reinen war“, sagt ein Kollege. riser Notenbank als „Computer-Genie“ gende Formel: Für jeden Punkt, den der
„Er kam nicht als Angeber rüber, son- beschrieben, ohne Mitwisser und Mit- Dax über 8000 läge, würde die Börse
dern als ziemlich hübscher Typ à la Tom täter das gesamte interne Netz von Si- dem SocGen-Konto am Ende des Tages
Cruise“, meint ein anderer. Gegenüber cherheitsvorkehrungen glatt zerfetzen. 25 Euro pro Future gutschreiben. Für
den Vorgesetzten sei er ein Kriecher, Dabei half ihm seine Karriere innerhalb jeden Punkt darunter würde sie vom
„zum Händler hatte er eigentlich nicht der drittgrößten Geschäftsbank Frank- Konto 25 Euro abbuchen.
die nötigen Voraussetzungen“. reichs. Denn Kerviel hatte nach seiner Da wird schnell klar: Gerät die Börse
ins Rutschen, ergibt sich für den Spe-
kulanten eine Rechnung des Grauens. Bis
zum 18. Januar verlor der Dax 600 Punk-
te – und Kerviel vermutlich rund zwei
Milliarden Euro, spekulieren Insider.
Zu diesem Zeitpunkt könnten das
Riesenloch und die Überschreitung von
Handelslimits der deutschen Niederlas-
sung des Finanzdienstleisters Newedge
aufgefallen sein. Die Firma wickelt für
die SocGen die Eurex-Geschäfte ab. Je-
denfalls erhielten die Chefs der SocGen
MEIGNEUX / SIPA PRESS

angeblich die Alarmsignale aus Deutsch-


land. Panisch liquidierten sie alle Positio-
nen „und bauten die Verluste durch die-
REUTERS

ses unfassbare Missmanagement noch


deutlich mehr aus“, glaubt ein Händler.
Händler Kerviel, Pariser Bankzentrale: „Talent zur Verheimlichung“ Am schwarzen Montag vergangener
Woche wurden an der Eurex genau
Doch vergangene Woche stieg der Anstellung im Jahr 2000 zunächst im 411 701 Dax-Futures gehandelt. Die
nette Softie mit Überschallgeschwindig- „Middle Office“ der Bank gearbeitet – SocGen dürfte daran erheblich beteiligt
keit in den Olymp des Casinokapitalis- einem jener elektronischen Hinterzim- gewesen sein – und den Börsencrash an
mus auf – als größter Börsenbetrüger mer, in denen die Geldflüsse der Aktien- jenem Tag zumindest verstärkt haben.
der Geschichte. Am Donnerstag musste händler ständig überwacht werden. Hier „Kein Kommentar“, quittiert eine Bank-
die SocGen bestätigen, dass man wegen erfuhr Kerviel vieles über Zugangscodes sprecherin die Spekulationen.
der heimlichen Spekulationen des klei- und Sicherheitsprogramme. Dabei verschafften Kerviel seine
nen Dealers Kerviel 4,9 Milliarden Euro In seiner Parallelwelt mutierte er zu Zockereien nicht mal persönliche Vor-
abschreiben muss. einer Art Harry Potter der Finanzmärk- teile; bislang gibt es keine Hinweise dar-
„Es handelt sich hier um einen Ein- te. Ein heimlicher Magier unter seinen auf, dass er Gewinne auf ein privates
zelnen, der die Intelligenz besaß, allen Händlerkollegen, der dank seiner regel- Konto umleitete. Die Einzeltäterthese
Kontrollprozeduren zu entkommen“, so mäßigen Mittagessen mit einem Kolle- lässt indes Verschwörungstheorien blü-
SocGen-Chef Daniel Bouton, der Ker- gen aus der Kontrollabteilung stets hen. Handelte Kerviel vielleicht im Auf-
viel „ein außerordentliches Talent zur rechtzeitig von bevorstehenden Kon- trag von Konkurrenzbanken? Oder ver-
Verheimlichung“ bescheinigte. trollstichproben erfahren haben soll. steckt die Société Générale hinter dem
Der Chef seines Investmentbankings Mittlerweile war er in der Bank für Betrug andere Managementfehler?
wurde deutlicher: Kerviel habe inner- den Handel mit europäischen Börsen- Im Geschäft mit US-Ramschhypothe-
halb der Bank eine Art „Scheinfirma“ indizes zuständig. Offenbar getrieben ken vernichteten die Franzosen allein
aufgebaut. Für jede seiner Aktienwet- vom Kick des Millionen-Zockens, be- im vierten Quartal 2007 zusätzlich mehr
ten habe er Absicherungsgeschäfte ge- wegte er immer größere Beträge: 2007 als zwei Milliarden Euro. Dank Kerviel
bucht, so dass die eingegangenen Risi- zunächst mit Erfolg, denn zum 31. De- ging das im allgemeinen Medienwirbel
ken nicht aufgefallen seien. Doch die zember weist sein SocGen-Konto mit glatt unter. Beat Balzli, Stefan Simons

26 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Fed-Chef Bernanke vor dem Haushaltskomitee des US-Senats am 18. Januar 2007: Geld gab es praktisch umsonst

zur Feier gern vom Chinesen Schweine- Zahllose Amerikaner hatten sich ver- als Erstes die Subprime-Industrie. Im April
fleisch süß-sauer fürs ganze Team in die spekuliert. Im Vertrauen auf andauernde ging einer von Amerikas größten Anbie-
Merrill-Büros im Finanzdistrikt von Wertsteigerungen nahmen sie immer neue tern, Century Financial, pleite, Dutzende
Manhattan mit Blick auf den New Yorker Kredite auf ihre Eigenheime auf, das Geld Konkurrenten ereilte das gleiche Schicksal.
Hafen. „Mit solchen Deals wird man floss oft direkt in den Konsum und hielt Dann merkten Großanleger weltweit,
berühmt“, feuerte Ricciardi noch im ver- so US-Wirtschaft und Weltkonjunktur in dass sie nicht in abstrakte Finanzprodukte
gangenen Frühjahr amerikanische Finanz- Schwung. investiert hatten, sondern tausendfach in
manager an. Mit dem Wertverlust ihrer Häuser platz- ganz gewöhnliche Hypothekenverträge von
Die zweifelhaften Geschäfte wären wohl te ihr amerikanischer Traum. Bei der Re- nun zahlungsunfähigen Schuldnern. Mitte
noch eine Weile lang gut gelaufen, wenn finanzierung ihrer Hypotheken schossen Juli krachten deshalb zwei große New Yor-
nicht die amerikanische Immobilien- die Zinsen und Monatsraten in die Höhe. ker Hedgefonds zusammen, zwei Wochen
Blase plötzlich geplatzt wäre. Befeuert Besonders hart betroffen waren die oh- später rutschte die brave Düsseldorfer In-
durch die Niedrigzinspolitik der Noten- nehin finanzschwachen Kunden im Sub- dustriebank IKB in die Beinahe-Pleite,
bank hatten die Investoren quer durch die prime-Segment. Kredithaie hatten sie mit kurz darauf folgten deutsche Landesban-
meisten Bundesstaaten gebaut. Das Über- niedrigen Eingangszinsen gelockt, Häuser ken und Finanzriesen wie BNP Paribas
angebot war riesig, viele Häuser und Woh- zu kaufen. Nun sollten sie auf einmal oder die Bank of China mit Schreckens-
nungen standen leer. Ende 2005 began- Wucherwerte von zwölf Prozent auf ihre meldungen.
nen die Preise zu fallen. Ein gutes Jahr Darlehen zahlen. Die Zahl der Zwangs- Und schließlich traf es auch jene, die
später war klar, dass der gesamte ameri- versteigerungen explodierte. den ganzen Kreislauf erfunden und in Be-
kanische Immobilienmarkt schrumpfen Das gewaltige Kartenhaus fiel in sich zu- wegung gehalten hatten – die renommier-
würde. sammen. Nach den Häuslebauern traf es ten Investmentbanken der Wall Street.
Eine nach der anderen entdeckte gewal-
5,40 tige Löcher in den Bilanzen. Bis heute
werden die Abschreibungen laufend nach
oben korrigiert. Insgesamt dürften sie sich
5,00
Leitzinsen USA nach jüngsten Schätzungen auf bis zu 400
in Prozent Milliarden Dollar addieren.
Und die Krise wird sich noch auswei-
4,60
ten, denn die Wall-Street-Manager hatten
es geschafft, einen guten Teil ihres CDO-
4,20
Geschäfts nach Übersee zu verkaufen –
Quelle:
Thomson Financial
etwa ein Viertel davon, so schätzen Ex-
Datastream perten, nach Europa.
HRVOJE POLAN / AFP

3,80 Euro- Das Erstaunliche am weltweiten Fi-


Zone nanzdesaster ist, dass selbst die Branchen-
Riesen auf die schön verpackten Ramsch-
3,40 kredite reingefallen sind, obwohl Ökono-
EZB-Chef Trichet Jan. Mai Sept. Jan. men schon seit Jahren vor der amerikani-
Knappes Geld ist gutes Geld 2007 2008 schen Immobilien-Blase warnen. So muss-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 27
Titel

te die amerikanische Citigroup in den ver-


gangenen beiden Quartalen bislang 24,6
Milliarden Dollar abschreiben, bei Merrill
Lynch waren es 23,6 und bei der wesentlich
kleineren Deutschen Bank allein im dritten
Quartal immer noch 3,2 Milliarden (siehe
Grafik).
Denn auch die großen deutschen Ban-
ken hatten kräftig in die vermeintlichen
amerikanischen Wunderinstrumente inves-
tiert. Die Deutsche Bank, die Dresdner
Bank und die Commerzbank steckten Mil-
liarden in die Hypothekenpapiere – bis-
lang allerdings ohne existentielle Folgen.
Bei der Dresdner Bank liegt der opera-
tive Verlust für das vierte Quartal bei 450
Millionen Euro. Am 7. Februar wird die
Deutsche Bank ihre vorläufigen Ge-
schäftszahlen vorlegen. Gut möglich, dass
Vorstandschef Josef Ackermann dann, an
seinem 60. Geburtstag, weitere Milliarden
an zusätzlichen Abschreibungen bekannt-
geben muss. Womöglich drohen dann ähn-
lich böse Überraschungen wie bei der Im-
mobilienbank Hypo Real Estate, die vor
zwei Wochen ohne Vorwarnung eine Ab-
schreibung von beinahe 400 Millionen
Euro gestand.
Ackermann hatte die Krise für die Deut-
sche Bank im Herbst nach Abschreibungen
von 2,2 Milliarden Euro für beendet er-
klärt. Kurz danach schloss auch sein obers-
ter Investmentbanker Anshu Jain weitere
Wertberichtigungen aus.
Während einer Vorlesung an der Lon-
don School of Economics klang der mäch- Börse in Kuweit: Die Gewichte in der Weltwirtschaft verschieben sich
tige Bankenchef vor zwei Wochen nicht
mehr ganz so optimistisch. Ackermann be- WestLB verpackten noch Ende 2006 eifrig liarden-Monopoly im ganz großen Stil mit-
fürchtet, dass zahlreiche Banken noch Hypotheken. Nach einem Bericht der spielten. „Die Bank hatte nie eine Exis-
Milliarden abschreiben müssten und dass Rating-Agentur Fitch waren darunter Pro- tenzberechtigung“, sagt heute ein ehema-
der Preisverfall der Kreditprodukte noch dukte mit einem Subprime-Anteil von über liger Manager der Sachsen LB. Es gab sie
lange nicht gestoppt sei. Analysten sind 70 Prozent. nur, weil sich in den neunziger Jahren der
sicher, dass das auch für sein eigenes Das eigentlich Verblüffende war, dass es damalige Ministerpräsident Kurt Bieden-
Haus gilt. immer noch genug Banker gab, die diesen kopf ein Machtinstrument nach dem Vor-
In Deutschland waren es aber vor allem „Giftmüll“ kaufen wollten. Sie saßen etwa bild der WestLB wünschte.
die Landesbanken, die sich mit den lukra- in Düsseldorf und Sachsen, bei der Deut- Der Größenwahn nahm seinen Lauf.
tiven und scheinbar so risikoarmen Papie- schen Industriebank (IKB) und der Säch- 1998 holte man sich von der damaligen
ren vollsogen, ohne das Geschäft auch nur sischen Landesbank (Sachsen LB). Beide DGZ-Bank Claus-Harald Wilsing, der aus
im Ansatz zu verstehen. Die ahnungslo- konnten schließlich nur mit milliarden- dem Nichts ein Auslandsgeschäft aufbauen
sen Provinzbanker glaubten an die Qua- schweren Stützungsmaßnahmen gerettet sollte. Wilsing zögerte nicht lange und
dratur des Kreises, wonach eine hohe Ren- werden. Die Sachsen mussten sogar an die gründete 1999 in Irland eine Bank. Munter
dite offenbar ohne Risiko zu haben war. Landesbank Baden-Würt-
Was die Rating-Agenturen mit der Best- temberg (LBBW) notver-
note AAA versehen hatten, wurde unge- kauft werden. Am Ende
prüft gekauft. „Du hast keine Zeit, dir musste der Steuerzahler für
jeden einzelnen Schuldner genau anzu- das Versagen der Banker
schauen“, gestand Michael Thiemann, Ma- einstehen. Der Staat haftete
nager der Hypo-Real-Estate-Tochter Colli- mit einer Landesbürgschaft
neo, im vergangenen Mai voll gespielter für die Sachsen LB, die Ver-
Unschuld dem „Wall Street Journal“. luste der IKB wurden von
Noch im vergangenen Juni verkaufte der staatseigenen KfW auf-
Collineo zusammen mit der Citigroup ein gefangen.
Bündel dieser Papiere mit einem Volumen Besonders hart hatte es
von rund 2,2 Milliarden Dollar. Fast die die Sachsen getroffen, die
Hälfte bestand aus den toxischen Darle- offenbar aus Mangel an an-
GETTY IMAGES

hen an zahlungsschwache US-Hausbesit- deren Geschäften beim Mil-


zer, deren Gefahren bereits in Zeitungen
beschrieben wurden. Auch große deutsche * Mit Dubais Herrscher Scheich Mo-
Adressen wie die Deutsche Bank und die hammed Ibn Raschid Al Maktum. Emirate-Präsident Scheich Chalifa (r.)*: Frisches Geld investiert

28 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ges Geschäftsmodell war ihnen trotz ihrer
hohen Gehälter nicht eingefallen. Deshalb
gingen sie voll ins Risiko.
Das Resultat war ernüchternd. Die
LBBW muss eine Abschreibung von 1,7
Milliarden Euro verkraften, kann aber im-
merhin noch einen Jahresgewinn von über
300 Millionen Euro ausweisen. Und die
BayernLB zögert bislang noch, die neuen
Zahlen bekanntzugeben. In der Branche
wird damit gerechnet, dass sie 1,9 Milliar-
den Euro vernichtet haben dürfte. Die Zahl
setzt sich zusammen aus direkten Verlusten
und Rücklagen für Neubewertungen.
Bei der angeschlagenen WestLB haben
die Eigner bereits eine Kapitalspritze von
zwei Milliarden Euro ausgehandelt. Am
vergangenen Freitag erhöhte sich der not-
wendige Betrag auf bis zu vier Milliarden.
Die Rating-Agenturen drohen, die Bonität
der Bank massiv herabzustufen. Dadurch
wäre es für die WestLB deutlich teurer,
sich Kredite zu beschaffen. Sie hätte kaum
noch eine Überlebenschance.
Doch die beiden nordrhein-westfälischen
Sparkassenverbände, die jeweils 25,2 Pro-
zent der Anteile halten, weigerten sich,
noch mehr Geld lockerzumachen. Ihre
Kapitaldecke sei dafür zu dünn. Nordrhein-
Westfalen wiederum, mit knapp 40 Prozent

YASSER AL-ZAYYAT / AFP


größter Anteilseigner, war nicht bereit, den
Anteil der Sparkassen an der Kapital-
erhöhung zu übernehmen. „Monatelang
haben deren Verbände verhindert, dass die
WestLB ein vernünftiges Geschäftsmodell
bekommt – und jetzt sollen wir das lah-
mende Pferd kaufen?“, sagt ein hoher Lan-
wurden daraufhin Vermögenswerte in de- haftung durch das Land Sachsen konnte desbeamter. Kommt es zu keiner Einigung,
ren Bücher übertragen, um zu Hause die man billig geliehenes Geld in hochriskan- droht der Bank der schnelle Ruin.
Erträge nicht versteuern zu müssen, an- te Kreditpapiere pumpen. Es sollte der An- Aber auch viele Sparkassen in Nord-
geblich mit dem Segen des damaligen Fi- fang vom Ende sein. rhein-Westfalen kämen in schweres Fahr-
nanzministers Georg Milbradt, dem heuti- Die Dubliner Operation war schließlich wasser. Denn sie alle haben die WestLB-
gen Ministerpräsidenten. weit über 20 Milliarden Euro schwer – und Anteile zu völlig überhöhten Werten in
Das Steuersparmodell Irland machte im- damit um ein Vielfaches größer als das Ei- ihren Bilanzen stehen. Die Zahlen müssten
mer größere Gewinne, während das Heim- genkapital der Bank. Am Ende sorgten die noch vor dem Jahresabschluss 2007 korri-
geschäft stagnierte. 2003 hatten die ge- Wackeldarlehen klammer US-Hausbesit- giert werden. Damit aber brauchten einige
plagten Manager eine scheinbar geniale zer in der ostdeutschen Provinz für die der Institute, darunter beispielsweise die
Idee: Sie schufen in Irland Finanzkon- größte Bankenrettungsaktion der deut- Köln-Bonner Sparkasse, ebenfalls frisches
strukte, die unter den obskuren Namen schen Nachkriegsgeschichte. Eigenkapital. Sollten die Eigentümer das
Georges Quay und ein Jahr später Ormond Ähnlich agierten auch die im globalen nicht bereitstellen, müsste der Einlagen-
Quay firmieren sollten. Dank der Staats- Geschäft unerfahrenen Banker der IKB sicherungsfonds der S-Finanzgruppe ein-
und anderer Landesbanken. springen.
Mit der Staatshaftung fielen Um das zu verhindern, verhandelte der
Staatsfonds Anlagevolumen in Mrd. Dollar auch die günstigen Finanzie- Chef des Deutschen Sparkassen- und Giro-
verbands am Freitag mit. Heinrich Haasis
Verein. Arabische Emirate 875 aber zeigte kein Interesse an einer Hilfs-
aktion für die WestLB. Er sei nicht bereit,
Singapur 438 der Bank Geld aus dem Sicherungsfonds
rungsmöglichkeiten der öf- zu geben, raunte er – und verließ den Ver-
Norwegen 325 fentlichen Banken weg – und handlungstisch.
Saudi-Arabien 300 damit ihr Geschäftsmodell. Für das Wochenende waren weitere Ver-
Um trotzdem überleben zu handlungen anberaumt – deren Ergebnisse
Kuweit 250 können, erhöhten die Mana- bei Redaktionsschluss noch nicht feststan-
ger kurzerhand den Einsatz. den. Möglicherweise wären private Inves-
China 200 Sie bauten außerhalb der Bi- toren bereit, den Anteil der öffentlich-
Russland 144 lanz die milliardenschweren rechtlichen Institute zu übernehmen. Ge-
Quelle:
Positionen mit hochriskanten nau das aber wollten die Sparkassen stets
Hongkong 140 DB Research Kreditpapieren kräftig aus. verhindern. Sollten sie ihre harte Linie bei-
Eine Idee für ein nachhalti- behalten, würde das Ende der WestLB in
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 29
Titel

SINOPIX / LAIF
Textilarbeiterinnen (in China): Dass Asien das globale Wachstum quasi im Alleingang antreiben könnte, halten Experten für pure Phantasie

greifbare Nähe rücken. Doch auch dann zeit, und erst am Ende zeigt sich, ob die schon eine „neue Weltwirtschaftskrise“
hätte die S-Finanzgruppe ein Problem: Sie Bank einen Gewinn erzielt. Der Bonus heraufziehen, andere prognostizieren le-
hat sich nämlich verpflichtet, ihre Mit- aber wird im Jahr des Geschäftsabschlusses diglich eine kleine Konjunkturdelle. Dass
gliedsinstitute zu retten und ihren Fortbe- fällig. Und so kommt es immer wieder vor, sich das weltweite Wachstum aber ver-
stand zu sichern. Wozu aber braucht die dass Banker für Geschäfte belohnt wer- langsamen wird, darüber sind sich alle ei-
Republik einen Sparkassenverbund, wenn den, die sich einige Jahre später als De- nig. Eine „deutliche Abschwächung“ in
der den gegenseitigen Schutz innerhalb der saster herausstellen. diesem Jahr erwartet etwa der Internatio-
Bankenfamilie nicht mehr leisten kann? Die Folgen der Krise werden über den nale Währungsfonds – und sieht sich an-
Das gesamte öffentlich-rechtliche Ban- ganzen Erdball zu spüren sein. Jahrelang gesichts der unklaren Lage derzeit noch
kensystem steht damit auf der Kippe. „Wir standen die US-amerikanischen Verbrau- außerstande, eine genaue Wachstumspro-
erleben eine extrem heikle Gratwande- cher im Zentrum des weltweiten Wirt- gnose abzugeben.
rung“, sagt ein hoher Regierungsbeamter schaftswachstums. Gestützt auf die schein- Zu offenkundig ist inzwischen, dass die
in Berlin, „und wenn sich nicht alle Betei- bar unaufhaltsam steigenden Preise ihrer Malaise auf dem amerikanischen Immobi-
ligten vernünftig verhalten, wird sie im Ab- Häuser und Grundstücke, nahmen sie im- lienmarkt längst die reale Wirtschaft an-
sturz enden.“ mer neue Kredite auf und trieben damit gesteckt hat. Um die Hypotheken für ihre
Ob private oder öffentlich-rechtliche jenes Konsumwunder an, von dem chine- viel zu teuer gekauften Häuser abzahlen zu
Banken: Sie alle haben sich vom ver- sische Textilhersteller in den vergangenen können, müssen die US-Bürger radikal
meintlich sicheren Geschäft mit dem Jahren genauso profitierten wie die euro- sparen. Und die Banken, die auf Hunder-
schnellen Geld verleiten lassen. Dabei lernt päische Automobilindustrie. Im Gefolge ten Milliarden fauler US-Kredite sitzen,
jeder Banklehrling, dass hohe Renditen nur wuchs die globale Ökonomie mit Jahres- können ihr Geld nur noch an zuverlässigs-
mit hohen Risiken zu erwirtschaften sind. raten von fünf Prozent und mehr, es te Schuldner verleihen, falls sie nicht sogar
Seit sich auch die klassischen Geldinstitu- begann eine der stärksten Aufschwung- selbst in Schieflage geraten. So überträgt
te am angelsächsischen Investmentbanking perioden der Geschichte. sich die Krise derzeit wie ein Grippevirus
orientieren, haben sich nicht nur die Rendi- Damit ist es nun vorbei. Was als Flaute von einem Sektor der Finanzindustrie auf
ten erhöht, sondern auch die Gehälter der auf dem US-Immobilienmarkt begann und den nächsten. Am Ende könnte sie sich zu
Banker. Denn die orientierten sich zuneh- sich jüngst zu einer globalen Banken- und einer globalen Kreditklemme ausweiten,
mend am Geschäftsabschluss. Das ist in kaum Finanzkrise auswuchs, wird die Weltwirt- die das Wachstum in nahezu allen Welt-
einer Branche so fatal wie im Bankgewerbe. schaft stärker verändern als die meisten regionen drosseln würde.
Das Gehaltssystem der Banker hat dazu Crashs der vergangenen 25 Jahre. Eine Sicher, es gibt auch Gegenbewegungen:
geführt, dass es sich lohnte, besonders neue Ordnung der Weltwirtschaft zeichnet Die asiatischen Neulinge von Indien bis
große Risiken einzugehen. Sie erhalten sich ab, die Macht und Wohlstand auf dem China sowie die ölexportierenden Länder
vielfach nur ein vergleichsweise geringes Planeten neu verteilt, die internationale haben milliardenschwere Devisenreserven
Grundgehalt, aber oft das Fünf- bis Zehn- Banken- und Finanzszene tiefgreifend um- angehäuft und sind heute weit weniger
fache davon als Bonus. Wer viel Geschäft gestaltet und die Hoffnungen auf einen an- vom Wohlergehen der US-Wirtschaft ab-
akquiriert, erhält in der Regel hohe Boni. haltenden Boom in Frage stellen wird. hängig als früher.
Doch Bankgeschäfte wie beispielsweise Noch rätseln die Experten, wie tief der Doch dass die asiatischen Schwellenlän-
Kredite haben oft eine mehrjährige Lauf- Einbruch geht. Manche Ökonomen sehen der das globale Wachstum quasi im Allein-
30 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ULRICH BAUMGARTEN / VARIO IMAGES
Autoverladung (im Emdener Hafen): Der deutsche Export wird einbrechen – die Frage ist nur, wie stark?

gang antreiben könnten, halten Experten Die Zeichen sind eindeutig, aber nicht Wachstumseinbruchs für Stabilisierung
für „pure Phantasie“. Mit einem Anteil von alle möchten sie sehen. Die Große Koali- und Stimulierung der Binnennachfrage
25 Prozent am Welt-Sozialprodukt sei die tion etwa hat beschlossen, an ihrem rosigen machen ließe.
amerikanische Wirtschaft noch immer Konjunkturausblick festzuhalten, schließ- Glos muss nicht lange gebeten werden.
der „große Gorilla“, so US-Finanzstaats- lich fällt das Regieren erheblich leichter, Längst hat er ein Maßnahmenpaket in Auf-
sekretär David McCormick. Die Bewegun- wenn sich in regelmäßigen Abständen Po- trag gegeben. „Für die Schublade“, wie er
gen dieses Riesen sind weltweit zu spüren. sitives vom Arbeitsmarkt verkünden lässt sagt. Was sich davon bereits abzeichnet,
Schwächelt der Goliath, gehen auch die und genug Geld in die Kassen strömt, um läuft auf ein Konjunkturprogramm hinaus.
vielen Zwerge ringsum in die Knie. Wohltaten unter das Wahlvolk zu verteilen. Danach soll die staatliche Förderbank KfW
In welchem Tempo die Finanzkrise der- Und so beschrieb Wirtschaftsminister zusätzliche Maßnahmen beim „energeti-
zeit auf die reale Wirtschaft übergreift, zei- Michael Glos (CSU) vergangene Woche die schen Gebäudesanierungsprogramm“ und
gen jüngste Einschätzungen amerikani- Konjunkturlage mit Vokabeln, die in eini- bei den gerade auf den Weg gebrachten
scher Konjunkturexperten. Danach hat die gem Widerspruch zu den Nachrichten von Klimaschutzvorhaben finanzieren.
US-Rezession bereits begonnen. den internationalen Finanzmärkten stan- Außerdem sollen Investitionen in der
Auch in Deutschland sind erste Schleif- den. Von „robuster Verfassung“ und „gu- Verkehrsinfrastruktur vorgezogen werden.
spuren zu sehen. Nach einer Umfrage der ter Konstitution“ sprach Glos bei der Prä- Dabei bekommt der Straßenbau den Vor-
Bundesbank pflanzt sich die Finanzkrise sentation seines Jahreswirtschaftsberichts zug vor der Bahn. Der Grund: Asphalt und
derzeit nach geradezu klassischem Muster und fügte den Hinweis an, dass es „keinen Beton lassen sich erfahrungsgemäß schnel-
auf den Unternehmenssektor fort. So sei es Grund zur Panik“ gebe. ler verlegen als Schienen.
im Schlussquartal 2007 im Firmenkunden- In Wirklichkeit sehen die Konjunktur- Und damit auch die Bürger die Kon-
geschäft zu einem „restriktiveren Kreditan- experten der Bundesregierung die Lage junktur ankurbeln können, wollen Glos’
gebotsverhalten der befragten Banken“ ge- längst nicht mehr so rosig. „Das Szenario Beamte ihre Lieblingsidee eines Steuerra-
kommen, nachdem „in den Jahren zuvor stinkt“, sagt einer. Jeden Tag gebe es neue batts ins Programm nehmen. So sollen in-
tendenziell Lockerungen zu beobachten ge- Nachrichten, „und keine davon ist gut“. flationsbedingt zu viel eingezogene Steu-
wesen waren“, so die Studie. Im Klartext: Zudem habe der weltweite Aufschwung ern durch niedrigere Tarife an Bürger und
Die Banken stellen den Unternehmen we- schon ein erhebliches Reifestadium er- Unternehmen zurückgegeben werden. Zu-
niger Geld zur Verfügung, und die Wachs- reicht, er befinde sich im sechsten Jahr. gleich schlagen die Ministerialen vor, den
tumsaussichten trüben sich weiter ein. Alles deute deshalb auf Abschwung hin. Kündigungsschutz zu lockern und die Zeit-
Entsprechend schwarz malt etwa Mi- Auch in den Koalitionsfraktionen macht arbeit weiter zu liberalisieren. Das soll die
chael Burda von der Berliner Humboldt- sich Sorge breit. Die Koalitionsrunde Investitionsbedingungen verbessern und
Universität das Konjunkturbild. In Wirtschaft, ein Gremium von Wirtschafts- so die Binnennachfrage stützen.
Deutschland und Europa sei mit einer experten beider Regierungsfraktionen, Dass die Regierung ihren oft beschwo-
„kräftigen Delle“ zu rechnen, sagt der vergab auf ihrer letzten Sitzung am renen Dreiklang aus „Sanieren, Investieren
Volkswirt. Bekommen die Notenbanken vergangenen Montag einen Auftrag an und Reformieren“ womöglich schon bald
die Misere nicht bald in den Griff, sieht den Vertreter des Wirtschaftsministeriums. durch den einstimmigen Ruf nach mehr
der Ökonom gar „das Potential für eine Die Fachleute von Minister Glos sollten Ausgaben ersetzt, ist nur eine der Crash-
Weltwirtschaftskrise“. doch prüfen, was sich im Falle eines Folgen – und vermutlich nicht einmal die
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 31
Etwas ist grundsätzlich schiefgelaufen
im schuldenfinanzierten Wirtschaftsboom
der vergangenen Jahre, das haben die
Ökonomen inzwischen gelernt. Erstens: Es
kann hochgefährlich sein, wenn die No-
tenbanken jede Börsenkorrektur mit einer
Welle frischen Geldes kontern. Zweitens:
Der Crash ist programmiert, wenn Risiken
im Finanzsektor allzu leichtsinnig behan-
delt werden. Was daraus folgt, liegt auf der
Hand. Die Finanzindustrie muss sich vom
gefährlichen Hype ständig neuer Finanz-
produkte verabschieden und wieder zu
den soliden Regeln des klassischen Bank-
geschäfts zurückfinden. Doch wie soll das
gehen, in einer globalisierten Finanzwelt –
mit nationalen Aufsichtsbehörden?
Nur knappes Geld ist auf die Dauer

FABRICE COFFRINI / AFP


gutes Geld, so lautet die Lehre für die
Währungshüter. Doch auch hier gilt: Was,
wenn eine Notenbank ausschert?
Und die Banken müssen akzeptieren,
dass Risiken nicht dadurch kleiner werden,
Weltwirtschaftsforum in Davos*: Es gelten die Regeln des globalen Kapitalismus dass sie neu verpackt werden. Was aber,
wenn ihnen die Rating-Agenturen genau
gravierendste. Die jüngste Finanz- und Staatsfonds mit, die möglicherweise nicht das einreden wollen?
Bankenkrise, so viel steht heute schon fest, nur finanzielle, sondern auch politische In- Nichts weniger ist gefordert als eine
wird die etablierten Machtverhältnisse in teressen ihrer Regierungen im Sinn haben. neue Finanzarchitektur, in der die Noten-
der Weltwirtschaft erschüttern. Nicht weniger schwer wiegt der Anse- banken sich nicht länger als Erfüllungsge-
Verlieren werden vor allem die USA, für hensverlust der US-Notenbank. Bis vor hilfen von Börsenhändlern verstehen und
deren auf Pump gegründete Konsumöko- kurzem galt die Federal Reserve als ein- Kreditgeschäfte wieder ausreichend mit Si-
nomie die Zeit endgültig abgelaufen ist. flussreichste Währungsinstitution der Welt, cherheiten unterlegt werden. Klare Bilan-
Nun muss das Land seine tiefroten Bilanzen die mit vermeintlich klug gesetzten Liqui- zierungsregeln für alle Finanzinstitute wer-
in Ordnung bringen. Die Folgen werden ditätsspritzen die Weltwirtschaft vor dro- den gebraucht, genauso wie eine schärfere
schmerzhaft sein, für Verbraucher und Un- henden Einbrüchen schützte und nebenbei Bankenaufsicht und wirklich unabhängige
ternehmen, aber auch für die Regierenden auch die Interessen der politischen Elite in Rating-Agenturen.
in Washington. Es gelten die Regeln des Washington bediente. Mit ihren Entschei- Es ist eine ungewohnte Aufgabe, der sich
globalen Kapitalismus, nach denen ein Land dungen steuerte die Fed das wirtschaftliche die Institutionen der weltweiten Finanz-
bei einem Verlust an Wirtschaftskraft stets Geschehen in der ganzen Welt. industrie vom Internationalen Wäh-
auch politischen Einfluss einbüßt. Teure Jetzt gilt die lange Zeit unumstrittene rungsfonds bis zu den nationalen Bank-
Abenteuer wie der Irak-Krieg könnten Politik von Greenspan und Co. als Krisen- aufsichtsbehörden stellen müssen: Anstatt
künftig viel stärker unter dem Vorbehalt verursacher, und die Möglichkeiten der die Hürden fürs globale Geldgeschäft im-
der Finanzierung stehen. US-Währungsbehörde zum Gegensteuern mer weiter zu senken wie in den vergan-
Nichts zeigt den bevorstehenden Bedeu- sind auf ein Minimum begrenzt. Dass Fed- genen Jahren, müssen wirksame Regeln
tungsverlust der Vereinigten Staaten so Chef Ben Bernanke in der vergangenen gefunden werden, die den Anlegern wie-
deutlich wie die jüngsten Rettungsaktionen Woche die US-Zinsen drastisch um 0,75 der Sicherheit und Vertrauen geben.
für eine Reihe von notleidenden amerika- Prozentpunkte senkte, werten Ökonomen In Davos ließen sich in der vorigen Wo-
nischen Finanzinstituten. Um ihre milliar- eher als Panikreaktion denn als vernünfti- che die Trümmer einer fröhlichen Wissen-
denschweren Verluste aus der Subprime- ge Maßnahme. „Die Zinsen lassen sich schaft besichtigen, die stets das Gute hofft.
Krise auszugleichen, mussten sich die stol- nicht unter null drücken“, warnt Ökonom Wie versteinert saßen die Optimisten da,
zen Wall-Street-Institute frisches Geld aus Burda und rät den Notenbankern, das Pul- die der US-Wirtschaft gerade noch ein al-
den aufstrebenden Staatsfonds der asiati- ver so lange wie möglich trocken zu halten. lenfalls leicht abflauendes Wachstum pro-
schen und arabischen Boom-Regionen bor- Die Europäische Zentralbank unter ih- phezeit hatten. Der Held der Stunde war
gen. Abu Dhabis Herrscher Scheich Chalifa rem Vorsitzenden Jean-Claude Trichet ein Mann mit dichtem Kraushaar und einer
Ibn Sajid al-Nahajan, zugleich Präsident scheint diesen Kurs zu verfolgen. Sie sorgt Vorliebe für weit geöffnete Hemden, der
der Vereinigten Arabischen Emirate, inves- sich eher vor der Inflation. Auch die US-No- von Interview zu Interview eilte. Der New
tierte 7,5 Milliarden Dollar in die ange- tenbank steht vor einem echten Dilemma, Yorker Wirtschaftsprofessor Nouriel Rou-
schlagene Citigroup, die weitere 12,5 Milli- denn der Preisauftrieb hat sich in den bini war im vergangenen Jahr der Einzige
arden, vornehmlich aus Singapur und Ku- vergangenen Monaten weltweit verstärkt. in Davos, der eine Rezession in den USA
weit, einsammelte. Singapurs Staatsfonds Senkt die Fed die Zinsen weiter wie in den voraussah – zum Spott vieler Kollegen.
stiegen außerdem bei der Schweizer UBS vergangenen Monaten, heizt sie die Infla- Jetzt lachte keiner mehr, als er einen
und bei Merrill Lynch ein. Bei Morgan tion möglicherweise entscheidend an. Wi- langen, schweren Abstieg voraussagte. „Die
Stanley beteiligte sich die China Investment dersetzt sie sich dagegen dem Drängen nach Frage ist nicht mehr, ob wir weich oder hart
Corporation mit 5 Milliarden Dollar. weiteren Geldspritzen, vertieft sie die Re- aufschlagen werden“, sagt er. „Die Frage
Die Folgen sind absehbar. Bei wichtigen zession. Am Ende könnte jenes Szenario ist nur noch, wie hart der harte Aufschlag
Finanzinstituten der Vereinigten Staaten stehen, das die Volkswirtschaften der Indu- wird.“ Beat Balzli, Jan Fleischhauer,
reden künftig Vertreter ausländischer strieländer schon einmal über Jahre lähmte: Konstantin von Hammerstein, Frank Hornig,
Christian Reiermann, Wolfgang Reuter,
eine Stagflation aus gleichzeitig steigenden Michael Sauga
* Mit US-Außenministerin Condoleezza Rice (M.). Preisen und schwacher Konjunktur.
32 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
WERNER SCHUERING

SPD-Politiker Struck

SPD

Ein hartes Brot


Fraktionschef Peter Struck wird immer lauter. Er schimpft gegen die Union, schimpft
gegen die Kanzlerin, versöhnt sich und schimpft von neuem. Es ist
auch ein Aufstand gegen den eigenen Abschied. Von Christoph Schwennicke

P
eter Struck gehört zu jenen Politi- will mehr davon. Also sagt Peter Struck: tag 65 Jahre alt geworden. Er wird immer
kern, die im Lauf der Jahre ihren „Die CDU hat mich aufgefordert, mich zu lauter. Es ist der Schrei desjenigen, der kei-
Karikaturen immer ähnlicher sehen. entschuldigen. Ich hab gesagt, die kann ne Rücksichten mehr nimmt. „Wissen Sie“,
Dieser Schädel mit seinem tonsurartigen mich mal, und dabei bleibe ich!“ sagt er bei einem Glas Bier, „ich bin in ei-
Haarkranz, der dem Kopf die Silhouette „Die kann mich mal.“ Das ist neben der ner Phase, in der ich aus meinem Herzen
eines Frühstückseis gibt. Die langsamen Verteidigung Deutschlands „auch am Hin- keine Mördergrube mehr machen muss.
Bewegungen, der coole Blick, das immer dukusch“ der zweite Satz, der von Peter Und das fühlt sich sehr gut an.“
etwas abwesende mechanische Kopf- Struck wohl bleiben wird. In dem Fall In Strucks Kopf streiten Verstand und
nicken, wenn jemand auf ihn einquatscht, nicht als Fachminister gesagt, sondern Leidenschaft. Ein Streit, in dem es um die
die Freude am abrupten Lachen, bei dem als Fraktionsvorsitzender in einer Großen Kunst des Abgangs geht. Er kann nicht
sich die Augen zu Schlitzen verengen, der Koalition und damit als Schlüsselfigur die- lassen und redet zugleich oft rührend
Schnurrbart. ses zwar großen und doch so fragilen Ge- sehnsüchtig von seinen Enkeln, von denen
Er grüßt nicht groß, als er im Festsaal bildes. Dieser Satz ist auf den ersten Blick es immer mehr gibt. Struck sucht nach
des Gasthauses Saalburg bei Bad Homburg nur plump, aber auf den zweiten perfide. Antworten und hört nur Stille. Und viel-
auf den bewaldeten Höhen des alten Rö- „Die kann mich mal“ heißt im Original: leicht hört er es manchmal flüstern, dass er
merkastells die Bühne betritt. Er leiert Die CDU kann mich mal. Aber jeder weiß, einen guten Abgang schon verpasst habe,
nicht lange den Honoratiorensermon her- er meint auch: Die Merkel kann mich mal. dass er nicht mehr in der Verfassung sei,
unter inklusive des obligatorischen Danks Es geht auf die Kanzlerin. Deshalb wirkt ein so wichtiges Amt zu bekleiden. Viel-
an die örtliche Feuerwehr. Peter Struck dieser Satz so, deshalb tragen SPD-An- leicht krakeelt er deshalb manchmal so.
geht ans Mikrofon, erhebt die Stimme, die hänger ihn im Gasthaus Saalburg als But- Um das Flüstern nicht hören zu müssen.
einige Zentner Pfeifentabak im Lauf seines ton am Revers. Peter Struck war ein Rot-Grüner, zu-
Lebens tief eingefärbt haben, schimpft auf Was geht vor in diesem Kopf, diesem sammen mit diesen ganzen Männern wie
Roland Koch und sagt: „Aber die Merkel markanten Sturschädel? Manche Politiker Schröder, Fischer, Schily. Die sind alle weg.
muss auch weg im nächsten Jahr, meine werden ruhiger und leiser, wenn sie älter Zuletzt auch noch Franz Müntefering. Mit
Damen und Herren!“ Der Saal tobt und werden. Struck ist vergangenen Donners- dem hatte er einen gemeinsamen Abgang
34 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

geplant, Zielmarke 2009. Aber Müntefering diesen Schwarzen da in Berlin zu regie- Peter, lies das lieber nicht. Meistens hat er
ist zu seiner Frau gegangen. Und Struck ren, das kann ich euch sagen!“ es doch getan.
bleibt übrig. Es geht ihm ein wenig wie dem Diese Schwarzen stehen jetzt vor der Vor fast 28 Jahren ist er in den Bundes-
Mammut in „Ice Age 2“, das einen Artge- Bühne im Reichstag und machen eine tag gekommen, wollte wie so viele zwei
nossen sucht und das auch sein Freund, das möglichst angemessene Miene zu diesem Legislaturen bleiben und dann wieder ge-
freche Faultier Sid, in seiner Einsamkeit Spiel. Struck fragt Kauder, ob er eine Rede hen. Struck aber blieb. Er machte seine
nicht mehr trösten kann. „Wenn du ausge- halten will. Der will nicht. Was er Struck zu Gesellenprüfung als Vertreter der SPD
storben bist und dich niemand mehr ver- sagen hat, sagt er ihm am Telefon. Muss im Flick-Untersuchungsausschuss, wurde
misst ...“, singt es hinter dem Mammut her. das sein?, fragt Kauder ihn nach solchen Haushälter und Parlamentarischer Ge-
Struck versucht sich zu arrangieren mit Vorfällen immer wieder. Ja, das muss sein, schäftsführer, Fraktionschef, Verteidigungs-
der Großen Koalition. Er hat tapfer eine antwortet Struck jedes Mal. minister, erst wider Willen und dann vol-
Männerfreundschaft mit seinem Frak- Seine Versöhnungstreffen mit Angela ler Leidenschaft, schließlich wieder Frak-
tionskollegen Volker Kauder von der CDU Merkel gehen, Bier hin, Wein her, ergeb- tionsvorsitzender.
inszeniert. Aber es ist nicht mehr seine nislos aus. „Sie wirft mir vor, ich würde die Das Reinkommen in diese Welt ist nicht
Welt, durch die er sich da poltert. Struck gute Arbeit der Regierung konterkarie- die Kunst, das Drinbleiben und Hoch-
pflegt seinen zunehmenden Starrsinn, wie ren“, sagt Struck hinterher. „Ich versuch- kommen ist schon schwerer. Aber nichts
er sich in dieser Lebensphase oft einstellt, te ihr klarzumachen, dass die SPD eine ist in der Politik so schwer wie die Kunst
findet, dass früher alles besser war, auch streitlustige Partei ist und meine Fraktion des gelungenen Abschieds. Wie am Reck.
wenn ihn bei Wehner und Brandt und nicht so stromlinienförmig ist wie ihre.“ Man turnt und turnt, und noch einen Rie-

THOMAS IMO / PHALANX


SIMONE M. NEUMANN

Unionspolitiker Kauder und Merkel, Verteidigungsminister Struck*: „Aber die Merkel muss auch weg im nächsten Jahr“

Schmidt genervt hat, dass die ihm das Und dann heuchelt er Verständnis für die sen und noch eine Schraube, aber dann
auch schon gesagt haben, als er jung war. Führungsschwäche, die er ihr unterstellt: muss man den Abgang stehen. Sonst ist al-
Seine Urteile über andere werden immer „Ich kann sie teilweise ja verstehen. Als les nichts. Müntefering hat vorgemacht,
schroffer, schnell belegt mit Begriffen, die Frau hat sie es nicht einfach, sich gegen wie man diesen Abgang sauber steht. Und
sonst Körperöffnungen vorbehalten sind. die Männerriege der Unionsministerpräsi- Struck? Er dreht und dreht, womöglich
Doch diese Urteile untermauert er nicht denten durchzusetzen.“ Das ist Strucks überdreht er. Er ist dabei, den richtigen
mit einer entschiedenen Politik. Der spä- Kunst des erniedrigenden Einfühlens. Ausstieg zu verpassen. Vielleicht hat er
te Struck attackiert und umarmt in rascher So brüllt das Mammut kunstvoll immer ihn schon verpasst. Zwei Herzinfarkte,
Folge. weiter und behauptet doch, von stillen Ta- eine Operation an der Halsschlagader,
So war es beim Neujahrsempfang der gen zu träumen. Irgendwann aussteigen schließlich vor dreieinhalb Jahren ein
SPD-Bundestagsfraktion, Strucks Fest. Er und mit einem Motorrad monatelang Schlaganfall.
geht wieder ans Mikrofon. Aber es redet durch die Staaten fahren wolle er. Es wird Struck kam wieder, nach neun Wochen,
ein anderer Mann als Tags zuvor in Hes- nicht passieren. Die Wahrheit ist: Hinter er regenerierte sich erstaunlich, aber der,
sen. Struck sagt, er „freue sich immer wie- dem hoch elektrisierten und zugleich de- der da wiederkam, war nicht mehr der
der, wenn wir die Kolleginnen und Kolle- generierten Leben eines Spitzenpolitikers gleiche Struck. Das merkten alle, aber das
gen von der Union zu Gast haben“. Ganz gähnt ein Loch, vor dem sie alle Angst ha- sagte keiner. Wie sollte er auch der Glei-
vorn an der Bühne stehen Volker Kauder ben. Auch Peter Struck. Er lebt nur ein che sein nach einer solchen Krankheit.
und Peter Ramsauer, Landesgruppenchef Leben, und das spielt in dieser Welt. Er Seither spielen alle mit bei einem merk-
der CSU. Volker Kauder hat die Hände giert nach Zeitungen, auch wenn er heute würdigen und manchmal unwürdigen
vor dem Unterleib, mehr verschraubt als behauptet, es sei ihm egal, was über ihn ge- Spiel. Und Struck bestreitet sein politi-
verschränkt. Er weiß, dass Struck heuchelt, schrieben werde. Früher haben seine Leu- sches Dasein wie ein Altboxer, der den
dass er keine 30 Stunden vorher in Bad te bei kritischen Stücken zu ihm gesagt: Jungen an Kraft längst nicht mehr eben-
Homburg unter dem Jubel des Saals ge- bürtig ist. Er spielt seine Erfahrung aus
sagt hat: „Es ist schon ein hartes Brot, mit * Beim Hoffest der SPD-Bundestagsfraktion (2003). und setzt darauf, mit minimalem Aufwand
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 35
Deutschland

maximalen Erfolg zu haben. Deshalb wer-


den die Sprüche immer extremer. Ein
„Die kann mich mal“ ist der Versuch des
K.-o.-Schlags eines alternden Boxers. Er
hat nur ein, zwei solcher Chancen in ei-
nem Kampf.
Wenn Struck im Bundestag reden muss,
wie etwa zum Kanzlerhaushalt, dann
schauen alle betreten an der Nase nieder
oder tun, als merkten sie nichts, wenn
Struck die Silben verschleift und aus dem
Stegreif seltsame Dinge sagt. Struck war
nie ein großer Redner. Aber das, was sich
da abspielt, wird dem Begriff Rede manch-
mal nicht mehr gerecht. Alle denken das
Gleiche und flüstern das, was ein SPD-
Bundestagsabgeordneter nur anonym sa-
gen will: „Ich bin nicht zufrieden. Das geht
so eigentlich nicht. Das geht so schon lan-
ge eigentlich nicht mehr.“
Nur: Wieso geht es dann doch, weiter
und weiter und weiter, jedenfalls bis 2009,
obwohl manche meinen, es wäre besser,
schon vor der Bundestagswahl im Herbst
kommenden Jahres Struck durch Sigmar
Gabriel zu ersetzen. Doch Struck und Kurt
Beck sehen das nicht so, mindestens was
den Zeitpunkt anlangt, also kommt es auch
nicht so.
Warum geht es immer weiter? Warum
WERNER SCHUERING

gilt nicht der Spruch, dass bisher am Ende


noch jeder ersetzlich war? Weil Struck
nicht aufhören will und weil keiner ihn am Sozialdemokrat Gabriel
Weitermachen ernstlich hindert. Weil
Struck gemocht wird, auch von den politi-
schen Gegnern. Helmut Kohl hat ihn ein-
SPI EGEL-GESPRÄCH
mal seinen „Lieblingssozi“ genannt. Mer-

„Wir haben alle geschlafen“


kel erträgt seine Ausfälle wie das lichtlose
Schmuddelwetter Berlins Ende Januar.
Kurt Beck gesteht ihm die Freiheit des
Altmeisters zu und hat Peter Struck außer-
dem sehr viel zu verdanken. Struck war die Umweltminister Sigmar Gabriel, 48, über die Kosten des
Schlüsselfigur in Becks Sach- und Macht-
kampf mit Franz Müntefering um das Ar- Klimaschutzes, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen und
beitslosengeld I und damit um die Rich- Forderungen nach längeren Laufzeiten für Atomkraftwerke
tung der SPD.
Struck hatte sich sofort auf Becks Seite SPIEGEL: Herr Gabriel, wir haben mal ins ges all das aufbereitet, was wir heute dis-
gestellt und behauptet, dass die Fraktion Archiv geschaut und nach Artikeln ge- kutieren.
das auch so sehe, die Fraktion allerdings sucht, die die Begriffe „Gabriel“ und „Kli- SPIEGEL: Und wie erklären Sie sich das?
hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass sie maschutz“ enthielten. Und zwar bevor Sie Gabriel: Es bedarf eben bestimmter Um-
das mehrheitlich auch so sieht. Außerdem Umweltminister wurden. stände, damit ein solches Thema Auf-
fällt es schwer, Peter Struck lange böse zu Gabriel: Und? Haben Sie einen Artikel ge- merksamkeit und Dynamik gewinnt.
sein, denn – es klingt merkwürdig, aber – funden? SPIEGEL: Als Sie Umweltminister wurden,
auf seine Weise ist er charmant und sehr, SPIEGEL: Genau einen. Da hatten Sie gera- dachten alle: Gabriel und Klimapolitik, das
sehr menschlich geblieben in diesem un- de einen Windpark auf dem Wybelsumer ist wie Michael Schumacher und Tour de
menschlichen Geschäft. Einer, der sich Polder eingeweiht. Wir haben den Ein- France. Das passt nicht.
kümmert um seine Leute und sich für sie druck: Ihr Lieblingsthema von heute war Gabriel: Das liegt vermutlich daran, dass
und ihre Probleme interessiert, gerade in Ihnen früher ziemlich wurscht. nur wenige wissen, dass ich meine politi-
existentiellen Notlagen. Weil er weiß, was Gabriel: Wurscht ganz sicher nicht. Aber sche Laufbahn als Umweltpolitiker begon-
eine Grenzerfahrung ist. richtig durchdrungen hatte ich das Thema nen habe. Damals ging es freilich weni-
Peter Struck ist eher ungeduldiger ge- bestimmt nicht. ger ums Klima. Aber ich habe mich einge-
worden in den letzten Jahren. Als hätte er SPIEGEL: Sie haben geschlafen. arbeitet, ich habe Feuer gefangen.
keine Zeit mehr zu verlieren. „So. War’s Gabriel: Wir haben alle geschlafen, auch SPIEGEL: Momentan wollen Sie die Welt
das?“, pflegt er Gespräche zu beenden, die der SPIEGEL. Klimaschutz war sehr lan- retten. Aber würden Sie nicht mit der glei-
gerade noch im Fluss waren, in denen er ge ein Thema von Experten, obwohl die chen Verve den Ausbau des Autobahnnet-
bis eben voll engagiert schien. Bedrohung durch den Klimawandel be- zes fordern, wenn Sie zufällig Autobahn-
Struck bräuchte jemanden, einen Ver- reits seit mehr als 20 Jahren bekannt ist. minister geworden wären?
trauten, der ihm in so einem Moment sagt: Schon Anfang der neunziger Jahre hatte Gabriel: Politiker werden ja nicht Minister,
„Ja, Peter, das war’s.“ eine Enquete-Kommission des Bundesta- weil sie das, für das sie verantwortlich sind,
36 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
noch mehr CO2 einsparen als ursprüng-
lich geplant. Allein die Brüsseler Maß-
nahmen kosten jeden Bürger drei Euro
pro Woche. Haben Sie Angst, dass die Ak-
zeptanz für die Klimapolitik von nun an
schwindet?
Gabriel: Ich schaue von meinem Büro aus
auf einen Plattenbau. Der Anblick ist nicht
schön, aber sehr hilfreich, denn ich muss
mich bei allen Entscheidungen fragen, ob
die Leute dort bezahlen können, was wir

PANOS PICTURES / VISUM


beschließen. Nur wenn wir die soziale Sei-
te mitdenken, bleibt Klimaschutz mehr-
heitsfähig und tauglich für die Nordkurve.
SPIEGEL: Die EU hat bei ihrem Klimapaket
nur bedingt Rücksicht auf Deutschland ge-
nommen. Das gefällt der Nordkurve nicht.
Gabriel: Die EU-Kommission ist unseren
Forderungen in weiten Teilen nachgekom-
men. Allerdings stimmt leider auch, dass
sie nicht daran denkt, Staaten wie Spanien,
die ihre Klimaschutzpflichten bei weitem
nicht erfüllt haben, dafür zur Rechenschaft
zu ziehen. Die Kommission muss uns drin-
gend erklären, wie sie klimapolitisches

JAN-PETER KASPER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


Nichtstun künftig bestrafen will.
SPIEGEL: Vor allem die deutschen Autoher-
steller klagen über die scharfen Klima-
schutzauflagen.
Gabriel: Wir unterstützen die EU bei dem
Ziel, dass alle Neufahrzeuge künftig im
Schnitt nur 120 Gramm Kohlendioxid pro
Kilometer ausstoßen sollen. Worum wir
mit der EU streiten, ist die Frage, ob alle
Chinesische Stahlarbeiter (in Baotou), Stau auf der A9: „Ein Tempolimit wird kommen“ Teile der europäischen Automobilindustrie
dazu beitragen oder im Wesentlichen nur
studiert haben. Wir übernehmen eine poli- sie Parteitagsbeschlüsse vertreten. Gera- die deutsche. Von einigen Herstellern in
tische Managementaufgabe, und die müs- de, weil es sich hier nicht um eine Gewis- Europa verlangt die Kommission nicht ein-
sen wir gut erfüllen. Allerdings gilt für die sensfrage handelt. Jetzt versuche ich ge- mal den heutigen Stand der Technik. Da-
Umweltpolitik vielleicht mehr als für an- meinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion gegen liegt zum Beispiel der sehr effizien-
dere Politikbereiche, dass man Emotionen diesen Beschluss umzusetzen. te Passat Blue Motion schon nah an der
für sie haben muss, eine innere Einstellung. SPIEGEL: Wäre ein Tempolimit jetzt keine Grenze, bei der Strafzahlungen fällig wer-
SPIEGEL: Waren Sie früher selbst ein Kli- Symbolpolitik mehr? den sollen. Das ergibt weder ökologischen
maferkel? Gabriel: Tempo 130 auf deutschen Auto- noch ökonomischen Sinn.
Gabriel: Ich war Aufsichtsratsmitglied von bahnen würde dem Klima wohl wenig hel- SPIEGEL: Jetzt klingen Sie auf einmal wie
Volkswagen, und natürlich war ich damals fen, wenn in Zukunft Millionen Chinesen der deutsche Autominister.
auch von der Technik begeistert, auch bei das Autofahren entdecken. Dafür brau- Gabriel: Man kann sich bestimmten Argu-
Autos, deren Umweltbilanz auf die Skalen chen wir andere Motoren und andere menten nicht allein deswegen verschließen,
des Klimaschutzes vermutlich gar nicht Kraftstoffe. weil sie von der Autoindustrie kommen.
mehr draufpasst. Ingenieurskunst fasziniert SPIEGEL: Das Limit wäre ein Symbol des Zum Beispiel beginnt die Entwicklung
mich. Aber es muss eben auch darum ge- Verzichts, der Mäßigung? neuer, auch umweltfreundlicherer Tech-
hen, ökologische Herausforderungen zu Gabriel: Sie haben recht. Und ich gebe zu, nologien zumeist im oberen Preissegment,
erkennen und sich zu überlegen: „Was ma- auch beim Klimaschutz gilt: „Kleinvieh bei den schweren Limousinen. Deren hohe
che ich da eigentlich?“ macht auch Mist.“ Gerade jetzt, da die EU Verkaufspreise erlauben es, mit neuen Ma-
SPIEGEL: Das fragen sich auch einige, wenn uns ein noch ehrgeizigeres Ziel gesetzt hat. terialien und Motoren zu experimentieren,
Sigmar Gabriel über das Tempolimit auf SPIEGEL: Wann wird es denn die Gesetzes- die später auch bei den preiswerten Klein-
deutschen Autobahnen redet. Im vergan- vorlage geben? wagen verwendet werden.
genen Frühjahr hielten Sie einen solchen Gabriel: Für die Union ist das ein Tabuthe- SPIEGEL: Die deutschen Autohersteller ma-
Schritt noch für reine „Symbolpolitik“, die ma. Ein Tempolimit wird aber kommen, chen demnach alles richtig und werden
dem Klima nichts bringe. Dann entschied da bin ich sicher. Vermutlich aber erst nach immer nur von der bösen EU geärgert?
der SPD-Parteitag anders, und plötzlich 2009. Außer uns haben nur noch Länder Gabriel: Quatsch. Natürlich hat die deut-
sind auch Sie dafür. wie Nepal die freie Fahrt, und dort liegt es sche Autoindustrie geschlafen. Jetzt kom-
Gabriel: Gemessen an der Notwendigkeit, eher am Zustand der Straßen, dass man men riesige Umstellungen auf sie zu. Wenn
rund 500 Millionen Tonnen in Deutschland kein Limit braucht. Es ist also ein bisschen sie auf den Märkten der Zukunft präsent
einzusparen, ist der Beitrag eines Tem- verrückt, was wir in Deutschland bei dem bleiben will, muss sie neue, ökologische
polimits von vielleicht 2,5 Millionen Ton- Thema treiben. Modelle entwickeln, und zwar schnell. Es
nen CO2-Minderung wohl auch über- SPIEGEL: Die EU hat vergangene Woche darf nicht wieder so laufen wie bei Kata-
schaubar. Und außerdem darf die SPD ihr Klimaschutzprogramm vorgelegt. Da- lysator, Dieselfilter und Hybridantrieb. Die
wohl von ihren Ministern verlangen, dass nach muss Deutschland bis zum Jahr 2020 wurden bei uns erfunden, aber in allen drei
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 37
steigen. Das sollen die Grünen mal den
Leuten erzählen.
SPIEGEL: Konzernbosse warnen bereits vor
einer „Riesenlücke“ in der Stromversor-
gung, wenn ältere Atom- und Kohlekraft-
werke reihenweise vom Netz gehen. Dro-
hen uns bald Stromausfälle wie in Kali-
fornien?
Gabriel: Alles blanker Unsinn. Solche Hor-
rorszenarien ergeben sich nicht einmal aus
den Studien des Kollegen Glos zum Ener-

ALFRED BUELLESBACH / VISUM


giegipfel im vergangenen Jahr.
SPIEGEL: 2007 war das Jahr der Klimadi-
plomatie. Was bleibt Ihnen vom Gipfel auf
Bali am stärksten in Erinnerung?
Gabriel: Dass solche Verhandlungen schlim-
mer sind als jede Tarifverhandlung. Es
Kernkraftwerk Gundremmingen: „Einfach nicht beherrschbar“ scheint da unter Klimadiplomaten eine
feste Regel zu geben: dass am Ende immer
Fällen waren uns die Japaner bei der Ein- send Atommeiler gebaut werden. Derzeit 24 Stunden durchverhandelt werden muss.
führung voraus. gibt es nur rund 430, und von denen sind Auch wenn alle schon fix und fertig sind
SPIEGEL: Wer ist eigentlich der bessere Kli- 200 so alt, dass sie durch neue Anlagen er- oder der Kompromiss schon feststeht. Aber
maschutzpolitiker, Frau Merkel oder Sie? setzt werden müssten, wenn man die Zahl wenigstens hat es sich gelohnt. Der Erfolg
Gabriel: Ich würde natürlich uns beiden der Reaktoren auch nur stabil halten woll- von Bali ist im Wesentlichen, dass endlich
Bestnoten geben. Der Unterschied ist nur: te. Bauanträge gibt es aber nur für weniger nicht nur klima- sondern auch wirtschafts-
Meine Partei steht hinter mir, die Union als 30. politische Interessen offen auf dem Tisch
aber nicht immer hinter Frau Merkel. De- SPIEGEL: Ihr alter Parteifreund Wolfgang liegen.
ren Ministerpräsidenten loben Merkels Clement hat gerade erst vor einem Aus- SPIEGEL: Bis 2009 soll ein verbindliches
Klimapolitik nur am Sonntag. Während stieg aus Kohle und Atom gewarnt. Auf Uno-Klimaschutzabkommen beschlossen
der Woche versuchen sie im Bundesrat, den haben Sie doch mal große Stücke ge- sein. Halten Sie das nach dem zähen Auf-
Löcher in den Dampfer zu schießen. Frau halten. takt in Bali für möglich?
Merkel kann froh sein, dass sie die SPD Gabriel: Da hat mein alter Freund Wolf- Gabriel: Ja, ich bin optimistisch, auch wenn
hat. Wir helfen ihr jedenfalls gern dabei, gang wohl Erinnerungslücken. Er hat den ein echter Durchbruch erst nach den ame-
unser nationales Klimaschutzpaket, das Atomkonsens als Minister mitgetragen, da rikanischen Präsidentschaftswahlen zu er-
weltweit schärfste, gegen die unionsregier- kann er jetzt nicht sagen, der Atomaus- warten ist.
ten Länder durchzusetzen. stieg sei abenteuerlich. Und dann stimmt SPIEGEL: Ihr Staatssekretär fährt in dieser
SPIEGEL: Wirtschaftsminister Michael Glos seine Behauptung schlicht und ergreifend Woche nach Honolulu, zu einem eigenen
will längere Laufzeiten der Atomkraftwer- nicht, dass die SPD völlig gegen neue US-Klimagipfel. Warum nehmen Sie an sol-
ke zum Wahlkampfthema machen, andere Kohlekraftwerke wäre. Das Gegenteil ist chen Showveranstaltungen eigentlich teil?
Unionspolitiker plädieren sogar für neue der Fall. Es geht allerdings darum, mit wel- Gabriel: Hätten die USA Bali blockiert,
Atomkraftwerke. cher Technik sie betrieben werden. wären wir aus ihren Konferenzen der größ-
Gabriel: Wenn der Herr Glos ein solches SPIEGEL: Gegen neue Kohlekraftwerke pro- ten Energieverbraucher ausgestiegen. Aber
Wahlkampfgeschenk machen will, werde testieren wiederum die Umweltverbände. am Ende wird das Uno-Klimaabkommen
ich es nicht zurückweisen. Ich halte die Gabriel: Selbst wenn wir bis zum Jahr 2020 von genau den 20 Ländern geschlossen,
Technologie einfach nicht für beherrsch- einen Anteil von 30 Prozent an erneuer- die dort als größte Emittenten vertreten
bar, besonders ältere Anlagen nicht. Des- baren Energien hätten, müssten immer sind. Es hilft nichts, die USA dauernd vor
halb müssen die Reaktoren vom Netz. noch 70 Prozent unseres Energiebedarfs den Kopf zu stoßen, denn irgendwann neh-
SPIEGEL: Gibt es überhaupt Bedingungen, gedeckt werden. Das allein mit Erdgas zu men das auch die wohlwollenden Ameri-
unter denen Sie über einen Ausstieg aus tun, wie es die Grünen und manche Öko- kaner persönlich.
dem Atomausstieg reden würden? verbände fordern, käme Industrie und Ver- SPIEGEL: Und was können Sie während Ih-
Gabriel: Nein, die gibt es nicht. braucher teuer zu stehen. Der künftige rus- rer Reise diese Woche in China ausrichten?
SPIEGEL: Letztes Wort? sische Präsident hat ja schon gesagt, dass Gabriel: Wir wollen zusammen mit den
Gabriel: Das hat immer der Gesetzgeber. 2008 die Gaspreise um 40 Prozent steigen Chinesen Klimaschutzprojekte starten, die
SPIEGEL: Wir steigen aus, aber um uns her- werden. Wenn wir uns ganz auf das Gas von uns mitfinanziert und Deutschland als
um werden munter neue Atomkraftwerke verließen, würde der Strompreis extrem Schadstoffreduktionen gutgeschrieben
gebaut. Das macht im Zeitalter der Globa- werden.
lisierung wenig Sinn. SPIEGEL: Die Chinesen haben genug Geld,
Gabriel: Die Briten müssen ihre AKW des- um neue Kriegsschiffe zum Schutz von
halb durch neue ersetzen, weil sie zu we- Ölimporten zu bauen. Aber ihre Umwelt-
nig in erneuerbare Energiequellen inves- projekte müssen wir bezahlen?
tiert haben. Die Vorstellung, den weltweit Gabriel: Wenn wir Klimaschutz weltweit
wachsenden Bedarf an Energie durch durchsetzen wollen, werden Länder wie
Atomkraft decken zu können, ist Unsinn. Deutschland, die in der Lage sind, neue
WERNER SCHUERING

Um mit Atomkraft einen nennenswerten Technologien zu entwickeln, von ihrem


Beitrag zum Klimaschutz leisten zu kön- Wissen etwas abgeben müssen. Wasch
nen, müssten weltweit zwei- bis dreitau- mich, aber mach mir den Pelz nicht nass,
das geht nicht.
* Christian Schwägerl und Markus Feldenkirchen in Gabriel, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Gabriel, wir danken Ihnen
Berlin. „Meine Partei steht hinter mir“ für dieses Gespräch.
38 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

Andere Bedenken am Kandidaten Drei- Veto des Schwaben. Als das nicht kam, ging
V E R FA S S U N G S G E R I C H T
er haben die Christdemokraten. Sie sto- man in Berlin und Bremen offenbar davon

Schwierige ßen sich an seinen Aussagen zum Schutz


des ungeborenen Lebens – und anders als
die Grünen kann die Union verhindern,
aus, die Personalie Dreier sei durch.
Nach den ersten Pressemeldungen kam
es am 14. Januar zu einer turbulenten

Meinungsbildung dass der Bundesrat ihn wie vorgesehen


wählt.
Schon als Mitglied des Nationalen Ethik-
rats hatte Dreier plädiert, embryonale
CDU-Präsidiumssitzung in Berlin. Oettin-
ger beteuerte, keineswegs habe er der Per-
sonalie zugestimmt. Dabei findet es aller-
dings auch mancher Unionspolitiker merk-
Die Nachfolge an der Spitze des
Stammzellen nach einer Einzelfallprüfung würdig, dass der Ministerpräsident davon
obersten deutschen Gerichts zur Forschung sowie zur Diagnose und absah, sofort nach der Präsidiumssitzung
in Karlsruhe galt als geklärt – doch Behandlung von Krankheiten freizugeben. auch öffentlich Widerspruch anzumelden,
nun sehen die Ministerpräsidenten Wegen dieser Haltung gebe es unter den und dass Oettinger seine Länderkollegen
der Union noch Diskussionsbedarf. Unions-Ministerpräsidenten „noch Ge- sogar erst am 22. Januar offiziell per
sprächsbedarf“, teilte der baden-württem- Schreiben über den SPD-Vorschlag infor-

M
it dem Namen Horst Dreier wuss- bergische Regierungssprecher nun kryp- mierte – davor hatte es nur informelle
te bis vor wenigen Tagen außer- tisch mit. Gespräche gegeben.
halb von Expertenzirkeln kaum Dabei schien bereits vor zwei Wochen „Frühestens“ Ende dieser Woche, heißt
jemand etwas anzufangen. alles klar, die Zustimmung der Union galt es jetzt in der Union, könne man die Mei-
Das hat sich schlagartig ge- nungsbildung abschließen. Sollten
ändert, seit bekannt wurde, dass die Christdemokraten doch noch
die SPD den Würzburger Jura- ein Veto gegen den SPD-Vorschlag
professor als Nachfolger des schei- einlegen, wäre die für den 15. Fe-
denden Vizepräsidenten Winfried bruar vorgesehene Wahl Dreiers
Hassemer ans Bundesverfassungs- im Bundesrat geplatzt.
gericht schicken und damit ab Auch wenn die Personalie jetzt
2010 zu dessen Präsidenten ma- kritisch gesehen wird, besteht
chen will. offenbar keine „Atmosphäre
Denn der Rechtsphilosoph eindeutiger Ablehnung“, heißt es
und Staatsrechtslehrer Dreier, in Unionskreisen. Zwar haben
seit den siebziger Jahren SPD- manche CDU-Ministerpräsiden-

DANIEL KARMANN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


Mitglied, genießt zwar als Her- ten mit Dreiers Positionen in Sa-
ausgeber eines großen Grund- chen Embryonenforschung und
gesetz-Kommentars in Juristen- Präimplantationsdiagnostik er-
kreisen höchstes Ansehen. Doch hebliche Schwierigkeiten; selbst
seine Positionen zum Schutz der Insider wagen derzeit nicht zu
Menschenwürde, die er unter prognostizieren, ob am Ende alle
anderem in diesem Kommentar Unionsländer an Bord sind. Ein
vertritt (SPIEGEL 3/2008), ha- klares Nein zur Person Dreiers
ben nun eine öffentliche Debat- kam aber bislang offenbar von
te darüber ausgelöst, ob jemand Rechtsphilosoph Dreier: „Dazu stehe ich“ niemandem.
mit derartigen Ansichten wirk- Eigentlich müsste die Union
lich an die Spitze des höchs- mit Dreier sogar relativ zu-
ten deutschen Gerichts rücken frieden sein – denn niemand
kann. kann erwarten, dass ein von
Linke Rechtspolitiker – vor den Sozialdemokraten nominier-
allem Volker Beck von den ter Jurist beim Schutz des unge-
Grünen – empörten sich über borenen Lebens genauso denkt
Dreiers Vorschlag, möglicherwei- wie ein katholischer Hard-
se auch beim Schutz der Men- liner. Stattdessen dürften sich
schenwürde in Ausnahmefällen zumindest einige CDU-Innen-
RAINER WEISFLOG

eine juristische Abwägung zuzu- politiker klammheimlich freuen,


lassen. So erkennt Dreier in sei- dass Dreier auch sonst die
nem Kommentar zwar an, dass Grenzen des Menschenwürde-
nach „herrschender Auffassung“ schutzes eher enger ziehen will,
polizeiliche Folter etwa zur Ret- Embryonenforschung: Plädoyer für Einzelfallprüfung etwa wenn es um die zwangs-
tung des Lebens einer Geisel ver- weise Verabreichung von Brech-
boten sei; wenn aber die Würde des Täters als sicher. Doch bei der Abstimmung zwi- mitteln an Drogendealer geht; oder dass er
gegen die Würde des Opfers stehe, so Drei- schen Christdemokraten und SPD hat es eben gegen ein Denkverbot beim Thema
er, sei eine „rechtfertigende Pflichten- offenbar eine schwere Kommunikations- Folter ist.
kollision“ denkbar. panne gegeben. Indes ist kaum anzunehmen, dass sich
Beck verlangte, Dreier solle dieser Aus- Tatsächlich informierte der Bremer SPD- Dreiers Ansichten später im Amt unver-
sage öffentlich abschwören. Doch der Bürgermeister Jens Böhrnsen bereits Mitte ändert in der Verfassungsrechtsprechung
Protestant reagierte mit den Worten, die Dezember Baden-Württembergs Minister- niederschlagen würden. Denn in Karlsruhe
laut Bibel einst Pontius Pilatus gebrauch- präsidenten Günther Oettinger per SMS gilt nach einem Wort der früheren Verfas-
te: „Was ich geschrieben habe, habe ich über den Richter-Vorschlag der SPD. Oet- sungsgerichts-Präsidentin Jutta Limbach
geschrieben.“ Und fügte im Geiste des tinger koordiniert bei der Richterwahl die die „Macht der Acht“ – auch der Chef hat
Reformators Martin Luther an: „Dazu CDU-Länder. In den ersten beiden Januar- nur eine Stimme unter den acht Richtern
stehe ich.“ wochen wartete die SPD auf ein mögliches des jeweiligen Senats. Dietmar Hipp

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 41
Deutschland

Havariertes Minenjagdboot „Grömitz“


„Navigationsfehler“ im Schneetreiben

jäger „Bad Rappenau“ fegten unversehens


fünf 27-Millimeter-Geschosse aus der Ka-
none. Mitarbeiter des Kieler Marine-
arsenals suchten eilig Deckung.
Niemand wurde verletzt. Doch stellt sich
die Frage, ob die Seestreitkräfte, des lan-
gen Friedens überdrüssig, nach einem Geg-
ner gesucht und endlich einen gefunden
haben: sich selbst.
Es gelte, das „Verantwortungsbewusst-
sein wach zu halten“, ermahnte Vizeadmiral
Nolting seine Offiziere, auch die „Sicher-
heitsausbildung“, erklärte der Marinechef
mit besorgtem Blick auf die Schießunfälle,
müsse man „ständig verbessern“.
Immerhin bescherte die „Braunschweig“-
Havarie den Teilnehmern von Hafenrund-
fahrten in Hamburg ein seltenes Spektakel.
In den Docks von Blohm+Voss lagen nach
den Weihnachtsfeiertagen gleich zwei Kor-
vetten: Werftarbeiter schraubten einen in-

HARRY WAHLVAAG / SCANPIX / DPA


takten Antriebspropeller der „Oldenburg“
ab – und montierten ihn flink an die lä-
dierte „Braunschweig“.
Die Marine hatte es eilig mit der Repa-
ratur. Sie möchte das neue Schiff, das for-
mal noch der Werft gehört, endlich offiziell
in Betrieb nehmen, möglichst bis März.
Längst ist die „Braunschweig“-Klasse in
Betrunken oder nicht, für die Seestreit- Verzug. Ursprünglich wollte Verteidigungs-
BUNDESWEHR
kräfte sind die vielen Unfälle enorm pein- minister Franz Josef Jung das erste von fünf

Eilig in Deckung lich – und teuer. „Leider hatten wir einige


Havarien, die in der Öffentlichkeit großes
Aufsehen erregten“, klagt Vizeadmiral
Wolfgang Nolting, der Marineinspekteur.
Schiffen 2006 in Dienst stellen. Wegen di-
verser Mängel hatte Marineinspekteur Nol-
ting die Feier mehrmals vertagt.
Mal ging eine Antriebswelle der „Braun-
Die Marine ist im Krieg. Allerdings
Der letzte größere Unfall ereignete sich schweig“ kaputt, mal zickte die Elektro-
mit sich selbst. Rammstöße und am 13. Dezember und wird von den See- nik. Durchs Unterdeck waberte Abgasmief
Selbstbeschuss sorgen für Schrott streitkräften gern beschwiegen. Diesmal traf der beiden 10 000 PS starken Dieselmoto-
bei den eigenen Schiffen. es ausgerechnet ein neues Renommierschiff, ren und erregte Übelkeit bei der Besat-
die Korvette „Braunschweig“, 89 Meter lang zung. So manövrierfähig wie von den

D
ie Luft war klar, die Sicht war gut, und gut 13 Meter breit. Bei einem Aus- Werften versprochen, ist das rund 300 Mil-
da gab der Kommandant des weichmanöver knallte sie mit dem Heck in lionen Euro teure Schiff auch nicht.
Schnellboots „Frettchen“ den Be- die steinerne Böschung des Nord-Ostsee- Ein Bugstrahlruder, mit dem sich ein
fehl für ein schneidiges Manöver. In voller Kanals. Ein Antriebspropeller war Schrott. Schiff quer zur Fahrtrichtung verschieben
Fahrt ließ er am Heck einer Fregatte vor- Damit ging ein miserables Jahr der lässt, gehört bei Kreuzfahrtdampfern und
beikreuzen. Gejohle an Bord, dann der Deutschen Marine zu Ende. Angefangen Frachtern zur Standardausrüstung. Es hät-
Ausruf: „Pass auf!“ hatte es im Februar, als der Minensucher te der „Braunschweig“ die Havarie im Ka-
Zu spät. Leider hatte die Besatzung ein „Grömitz“ vor der norwegischen Küste auf nal wahrscheinlich erspart. Aus Kosten-
weiteres Boot der Deutschen Marine über- einen Felsen lief. Ein „Navigationsfehler“ gründen hatte das Wehrressort allerdings
sehen und rauschte hinein. Die Reparatur im Schneetreiben war die Ursache dafür, darauf verzichtet.
kostet Millionen. Der Kommandant wurde dass das Boot in der Nähe der Stadt Ber- Nun soll das Bugstrahlruder nachgerüs-
abgelöst. gen mehrere Tage auf dem Trockenen lag: tet werden, allerdings zu Lasten der Werft.
Das Video von dem Unfall, der sich Ende „Grömitz on the Rocks“ lautete dazu der Dafür akzeptiert die Marineführung, dass
April vor der libanesischen Küste ereigne- Soldatenspott. die Korvetten die vorgesehene Spitzenge-
te, macht gerade Karriere bei YouTube Kaum war der nächste Ärger über den schwindigkeit von gut 26 Knoten (48 km/h)
(„German Navy Boats crashing“). Mehr als Rammstoß vom „Frettchen“ im Mittelmeer nicht erreichen.
42 000 Betrachter haben sich bereits ein Ende April verebbt, krachte es im Ärmel- Auch eine andere Konsequenz hat die
paar Sekunden Schadenfreude gegönnt. kanal: Am 2. Mai verpasste sich die Fre- Marine aus der Malaise gezogen. Sie be-
Inzwischen könnte die Deutsche Ma- gatte „Lübeck“ einen Schuss in den Bug. grub die Pläne, insgesamt 15 Exemplare
rine eine kleine Serie mit ihren Miss- Ein 76-Millimeter-Geschoss donnerte ne- dieses Baumusters zu beschaffen. Anstelle
geschicken bestreiten. Langsam stellt sich ben dem Ankerspill ins Vorschiff, als Sol- der „Braunschweig“-Klasse verlangt Vize-
die Frage, was eigentlich mit den deut- daten eine Ladehemmung der Bordkanone admiral Nolting nun „Korvetten eines
schen Seelords los ist. „Völlig blaue beseitigen wollten. neuen Typs“.
Jungs?“, höhnte schon die Rostocker „Ost- Schon im August wummerte es abermals Vielleicht wäre ihm auch mit Seeleuten
see-Zeitung“, die sonst freundlich mit der – nun an der Kieler Förde. Beim Einbau eines neuen Typs geholfen.
Marine umgeht. eines „Leichtgeschützes“ auf dem Minen- Alexander Szandar

42 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

das fruchtbar. Und selbst Scheitern kann


fruchtbar sein.
ZEITGESCHICHTE
SPIEGEL: War der Aufruhr keine Bedro-

„An Widerstand wächst man“


hung für die Hochschulen und die Gesell-
schaft?
Biedenkopf: Die Studenten waren damals
in ihrer großen Mehrheit keine Radikalin-
Der ehemalige sächsische Ministerpräsident und CDU-General- skis. Sie haben Fragen gestellt, unbequeme
Fragen. Das war folgerichtig in einer Pha-
sekretär Kurt Biedenkopf, 78, über seine Zeit als Bochumer se des Umbruchs. Von einer unkontrollier-
Uni-Rektor Ende der sechziger Jahre und die Motive der 68er baren Revolution, die die gesellschaftliche
Ordnung bedroht hätte, waren wir weit
SPIEGEL: Herr Biedenkopf, Sie waren von tät in Bochum wollten beispielsweise über entfernt.
1967 bis 1969 Rektor der Ruhr-Universität alternative Lehrkonzepte diskutieren, fan- SPIEGEL: Gerade unter Unionspolitikern
Bochum. Wie haben Sie dort die Studen- den in ihrer Fakultät aber keine Resonanz. gehört es noch heute zum guten Ton, die
tenrevolte erlebt? Ich stellte ihnen einige Uni-Räume zur Ver-68er zu verdammen.
Biedenkopf: Wir haben vor allem unterrich- fügung, unter der Bedingung, dass sie den Biedenkopf: Ich kann mich einem solchen
tet, geforscht und eine Universität betrie- Laden selbst sauber halten. Unseren Putz- Urteil nicht anschließen, sondern halte es
ben. Es ging in Bochum nicht so wild zu frauen wollte ich das nicht zumuten. Nach für eine unbegründete Verallgemeinerung.
wie an einigen traditionellen
Hochschulen, etwa Frankfurt
oder Berlin. Die Bochumer Uni-
versität war gerade erst eröffnet
worden. Es war die erste Uni im
Ruhrgebiet. Sie sollte auch Ar-
beiterkindern einen Studienort in
der Nähe bieten. Die Leute im
Revier waren stolz auf ihre Uni.
SPIEGEL: An welche Turbulenzen
erinnern Sie sich?
Biedenkopf: Eine Gruppe von Stu-
denten besetzte einmal das Ge-
bäude, in dem sich auch das Rek-
torat befand. Ich musste den Um-
weg über den Keller nehmen, um
an meinen Schreibtisch zu gelan-
gen. Dort bekam ich einen Anruf
des Betriebsratsvorsitzenden der
Opel-Werke in Bochum. Er frag-
te, wie viele Leute ich brauchte,
sie kämen gern vorbei, um mir
zu helfen. Ich habe gedankt und
gesagt, wir kämen schon zurecht.
SPIEGEL: Wie haben Sie den Kla-
mauk gestoppt?
Biedenkopf: Es ist eine Legende,
CHRISTIAN THIEL

dass damals an den Hochschulen


nur Klamauk herrschte. Unter
hundert Studenten waren viel-
leicht drei, die nur dafür zu ha- Professor Biedenkopf: „Streit ist der Vater des Fortschritts“
ben waren. Mit ihnen muss ein
guter Pädagoge fertig werden. Ich erinne- mehreren Tagen Diskussion kamen die Stu- SPIEGEL: Sie haben das Bochumer Rektorat
re mich an einen Besuch Helmut Schmidts denten zu der Erkenntnis, dass man über im Alter von 37 Jahren übernommen, als
in Bochum. Er war damals Vorsitzender wissenschaftliche Wahrheiten nicht basis- damals jüngster Rektor in Deutschland.
der SPD-Bundestagsfraktion. Ein Student demokratisch abstimmen kann – eine wich- Haben Sie mit den Forderungen der Stu-
in Armeejacke kam in den Raum, legte vor tige Einsicht. denten sympathisiert?
Schmidt einen Stein auf den Tisch und SPIEGEL: So viel Realitätssinn war selten: Biedenkopf: Wenn sie berechtigt waren, ja.
blickte ihn prüfend an. Schmidt erstarrte. Die 68er wollten ja nicht nur die Hoch- Viele von uns waren junge Hochschul-
Ich kannte den Studenten und sagte ihm, schule, sondern die ganze Welt verändern. lehrer und nicht mit den Traditionen
Schmidt sei unser Gast und es passe jetzt Biedenkopf: Das zu wollen ist das Privileg verhaftet, die als Muff unter den Talaren
nicht. Dann ist er wieder abgezogen. der Jugend. Sicher: Es gab in den Jahren angeprangert wurden. Ich hatte mich
SPIEGEL: Reichte gutes Zureden aus? ab 1967 an den Hochschulen Entwicklun- zuvor dreimal für ein akademisches Jahr
Biedenkopf: Ich habe die jungen Leute da- gen, die ich auf keinen Fall wiedererleben in den USA aufgehalten. Es waren prä-
mals auch verteidigt, gerade auch gegen- möchte, Gewalt und die Verniedlichung gende Jahre. Sie begründeten eine gewis-
über meinen Kollegen, die teilweise ent- von Gewalt. Das waren Entladungen vol- se Distanz zum klassischen deutschen
setzt waren und den Verfall der Sitten be- ler Phantastereien, ohne rationale Ziele. Hochschulbetrieb.
klagten. Die pauschalen Vorwürfe trafen Wenn aber Studenten zu ihrem Rektor SPIEGEL: Wie sah dieser Betrieb damals aus?
und treffen auch heute nicht zu. Einige Stu- kommen und mehr Mitsprache bei dem Biedenkopf: Ein Beispiel aus der evangeli-
denten der sozialwissenschaftlichen Fakul- fordern, was sie lernen sollen, dann ist schen Theologie: Nach Studentenprotesten
44 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
wurde ich als Rektor in eine Sitzung der entlud sich ein aufgestauter Generations- gen? Die jungen Leute suchten nach neuen
Fakultät eingeladen. Viele der Professoren konflikt. Die Nachwachsenden wollten von Zielen, und sie bekamen keine Antworten.
sahen darin einen Affront und empfingen ihren Eltern wissen, wie es zum National- SPIEGEL: Was waren die Langzeitfolgen?
mich mit schweigender Ablehnung. Ich bat sozialismus und seinen Verbrechen kom- Biedenkopf: Am meisten gelitten haben
jedoch die Kollegen einfach darum, mir als men konnte und was das für Deutschlands die Schulen: Dort trat kaum jemand den
Nichttheologen ihre jeweiligen Fachgebiete Zukunft bedeutete. Die Älteren blieben die studentenbewegten Lehrern entgegen, die
zu erklären. Am Ende der Runde kam der Antwort weitgehend schuldig. Die jungen Regeln und Anforderungen als Repression
Dekan zu mir und sagte: Magnifizenz, so Leute spürten die Verkrampfungen, die aus denunzierten mit der Folge, dass eben-
haben wir noch nie miteinander geredet. der deutschen Katastrophe rührten. Und diese elementaren Grundlagen einer hoch-
Der Austausch der Lehrenden untereinan- sie gingen dagegen an. entwickelten Gesellschaft diskreditiert wur-
der und der Austausch mit den Studenten SPIEGEL: Waren die allgegenwärtigen Rück- den. Erst seit den neunziger Jahren kam
fanden offenbar kaum statt. Dazu bedurfte bezüge auf die NS-Zeit nicht nur ein vor- es dann zu einer deutlichen Gegenbewe-
es erst eines Anstoßes von außen. geschobener Grund für die Revolte? gung.
SPIEGEL: Und der Verfall der Werte? Biedenkopf: Mein Eindruck war, die Jünge- SPIEGEL: Haben die 68er Leistung auch des-
Biedenkopf: Die Relativierung der Werte ren litten auch darunter, dass die Älteren halb diskreditieren können, weil sie nach
hatte damals schon längst begonnen. Das nicht mit ihnen über die Vergangenheit dem Protest in großer Zahl bequem im Öf-
kann man aber nicht den 68ern allein an- sprachen. Schließlich lastete die Hypothek fentlichen Dienst unterkamen?
lasten. Verantwortlich waren vor allem ihre der Nazi-Verbrechen auch auf den Nach- Biedenkopf: Die Behauptung, dass sich
Eltern. Sie hatten sich geweigert, argu- wachsenden. Sie gerieten in Erklärungs- diese Generation in besonders großer
Zahl im Öffentlichen Dienst fest-
gesetzt habe, ist – von den Leh-
rern abgesehen – ohne Grund-
lage. So viele Positionen im
Staatsdienst gab es nicht. Dort,
wo Akademiker eingestellt wur-
den, war der Öffentliche Dienst
weitgehend das Monopol der
Juristen.
SPIEGEL: Wie hat es sich auf die
Bundesrepublik ausgewirkt, dass
die Studentenrevolte die indivi-
duellen Kräfte, den Drang nach
Selbstverwirklichung stärker frei-
gesetzt hat?
Biedenkopf: Das war sicher nütz-
lich und wäre dem Land noch
mehr zugutegekommen, hätte
man dabei nicht die Verant-
wortung vergessen. Deshalb ha-
ben wir heute ein großes Pro-
blem: Die Leute wollen sich
GÜNTER ROSSENBACH / DER SPIEGEL

selbst verwirklichen, aber der


Staat soll die Verantwortung tra-
gen. Es gibt aber keine Selbst-
verwirklichung ohne Verantwor-
tung. Diesen Zusammenhang
haben die 68er noch nicht gese-
hen. Es ihnen klarzumachen
wäre auch die Aufgabe der Äl-
Protestierende Studenten*: „Ein aufgestauter Generationskonflikt“ teren gewesen. Die 68er waren
in ihrer großen Mehrheit noch
mentativen Widerstand zu leisten. Eine not: Wie sollte man sich auf einer Frank- immer in erster Linie junge Leute, die
wirkliche, inhaltliche, öffentliche Ausein- reich-Reise verhalten, wenn man als Nazi- sich Raum schaffen wollten, ungefähr wie
andersetzung fehlte. Als die jungen Leute Deutscher beschimpft wurde? Als ich ein Schüler, der einen unsicheren Lehrer
merkten, dass sie nicht auf Widerstand 1949/50 das erste Mal in den USA war, hat- testet.
stießen, wenn sie beispielsweise die Fami- te ich Angst, ich könnte auf der Straße an- SPIEGEL: Was haben Sie für Ihre politische
lie als Hort der Repression niedermach- gespuckt werden. Das ist zum Glück nie Karriere aus der Zeit gelernt?
ten, wurden sie immer übermütiger. passiert. Heute können wir auf all das Biedenkopf: Ich habe immer versucht zu
SPIEGEL: Was hätten die Älteren denn tun Positive verweisen, das sich in der Bundes- unterscheiden: Gibt es eine Unruhe, de-
sollen? republik seitdem entwickelt hat. Ob es ren Ursache begründet ist, dann ist sie
Biedenkopf: Sich den Fragen inhaltlich stel- dazu kommen würde, war damals nicht vielleicht schrecklich unbequem. Aber es
len und sich nicht mit Formverletzungen entschieden. hat keinen Zweck, sie zu unterdrücken. In
herausreden. Echte Autorität setzt immer SPIEGEL: Die Demokratie war Ende der der Regel entsteht dabei etwas Pro-
Erklärungsaufwand voraus, den Verweis sechziger Jahre bereits ziemlich gefestigt. duktives. Widerstand belebt das Geschäft
auf künftige Notwendigkeit. Es reicht nicht Biedenkopf: Der Wiederaufbau war gelun- genauso wie Wettbewerb. An Widerstand
aus, sich auf die Tradition zu berufen. 1968 gen. Das war die Leistung der Elterngene- wächst man. Streit ist der Vater des Fort-
ration der 68er. Doch was sollte danach schritts. Das war immer meine Überzeu-
* Demonstration gegen den Vietnam-Krieg im Februar kommen? Wo sollten die produktiven Span- gung. Interview: Jan Friedmann,
1968 in Berlin. nungen entstehen, die ein Land voranbrin- Dietmar Pieper

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 45
A F FÄ R E N

Getäuscht und
reingelegt
Zwei Unternehmer verklagen das
Land Nordrhein-Westfalen auf über
13 Millionen Euro Schadensersatz –
verantwortlich ist die Subven-
tionspolitik aus rot-grünen Zeiten.

E
s war ein ziemlich dickes Paket, das
der Bote am vergangenen Mittwoch

JÖRG CARSTENSEN / DPA


an der Pforte der Düsseldorfer Staats-
kanzlei abgab. Es enthielt eine 102-sei-
tige Amtshaftungsklage gegen das Land
Nordrhein-Westfalen, drei rote Aktenord-
ner mit Anlagen und eine hochrangige
Zeugenliste: Auf ihr stehen Bundesfinanz- Landeschef Clement, Berater Thoma*: „Er braucht deine Hilfe“
minister Peer Steinbrück, Ex-Minis-
terpräsident Wolfgang Clement, Regenten in Gefahr gebracht hätte. Die da-
Ex-RTL-Chef Helmut Thoma so- malige Opposition, die heute das Land
wie eine Handvoll Spitzenbeamte führt – und mithin die Klage entgegenzu-
aus der letzten rot-grünen Landes- nehmen hat –, mutmaßte diesen Zusam-
regierung. menhang schon lange. „Ein Offenbarungs-
Sie alle sollen geladen werden, eid in Sachen HDO“, davon ist der dama-

JENS DIETRICH / NETZHAUT


um eines der dubiosesten Regie- lige CDU-Fraktionschef Laurenz Meyer
rungsprojekte der vergangenen überzeugt, „hätte die SPD im Mai 2000
Jahrzehnte juristisch aufzuarbeiten: den Wahlsieg gekostet.“
High Definition Oberhausen, kurz Das Engagement der Brüder Breuer in
HDO, war als Musterbeispiel für Oberhausen geht zurück auf ihre enge Be-
den Strukturwandel an Rhein und ziehung zum früheren RTL-Boss Helmut
Ruhr gebaut worden – ein Trick- HDO-Gebäude in Oberhausen: Geschönte Bilanzen? Thoma. Die Breuers hatten jene Fernseh-
filmzentrum, das Produzenten aus studios in Hürth gebaut, in denen der Pri-
aller Welt ins Revier locken sollte. vatsender viele seiner Shows aufzeichnet.
Als Kläger treten zwei Unter- „Ministerpräsident Clement braucht dei-
nehmer aus Hürth bei Köln an: ne Hilfe“, so meldete sich der seinerzeit als
Bernd Breuer, 62, und sein Bruder Medienberater für Clement tätige Thoma
Helmut, 59, haben das Studio- am 19. März 2000 bei Bernd Breuer. In we-
gelände im Jahr 2001 übernommen nigen Stunden müssten 1,4 Millionen Mark
– und mit dem Betrieb in der Folge beschafft werden, um die Insolvenz von
angeblich mehr als 13 Millionen Clements „Leuchtturmprojekt“ HDO ab-
Euro verloren, weshalb sie sich zuwenden. Die damaligen Eigentümer –
HANS-GÜNTHER OED

von der damaligen Regierung in ein Konsortium aus britischen, amerikani-


Düsseldorf „vorsätzlich getäuscht schen und israelischen Investoren – droh-
und reingelegt“ fühlen. Sie wollen ten mit dem Gang zum Insolvenzrichter.
beweisen, dass ihnen das Land Bernd Breuer, der mit Schwerlasttrans-
eine längst insolvente Firma auf- Anwältin Wenk*: „Alte Genossen-Seilschaften“ porten und dem Verleih von Kränen ein
gedrängt hat, mit geschönten Bilan- Vermögen gemacht hatte und Anfang der
zen und haltlosen Zusagen. Und sie klagen wurden. Wolfgang Clement, der Spiritus Neunziger ins Mediengeschäft eingestie-
auf Schadensersatz in Höhe von genau Rector von HDO, will sich zu den Vor- gen war, leistete ein Sicherheitspfand in
13 394 813,49 Euro plus Zinsen – schließ- würfen, wie auch die übrigen seinerzeit der gewünschten Höhe. Clement bedank-
lich haftet ein Land für die Verfehlungen Verantwortlichen, unter Hinweis auf das te sich, am Tag nach seiner Wiederwahl,
seiner Beamten, wenn sie ihre Amtspflicht „laufende Verfahren“ nicht äußern. mit einem Essen im kleinen Kreis.
schuldhaft verletzt haben. Vor allem wird vor Gericht zu klären Doch Breuers Hilfsdienst hatte nur das
Treffen die Anschuldigungen zu, dann sein, ob das mit weit über hundert Millio- Siechtum eines überambitionierten Pro-
lieferte der Fall HDO ein Zeugnis über den nen Mark aus der Landeskasse geförderte jekts verlängert, das wirtschaftlich nie ins
Filz eines Bundeslandes, das 39 Jahre lang Hätschelkind HDO im Frühjahr 2000 ein- Laufen kam. Nicht, als es anfangs der
von derselben Partei regiert wurde; in dem fach nicht insolvent gehen durfte – weil Stadt Oberhausen und der WestLB ge-
sich Genossen wie Beamte über Vorschrif- die Pleite so eines Imageträgers kurz vor hörte. Nicht, nachdem es an private In-
ten und Gesetze hinwegsetzten; in dem die den Landtagswahlen den Machterhalt der vestoren gegangen war. Im Gegenteil:
Regierenden Steuermillionen für ein wirt- Das Konsortium, das sich 1998 als Retter
schaftlich unsinniges Prestigeobjekt ver- * Oben: beim Internationalen Filmkongress am 20. Juni geriert hatte, verpulverte 30 Millionen
pulverten; und in dem das Parlament und 2002 in Köln; unten: mit den Klägern Bernd und Helmut Mark Staatsgelder, die teils auf die Konten
zwei Untersuchungsausschüsse belogen Breuer. ausländischer Briefkastenfirmen flossen
46 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

(SPIEGEL 38/2005). „Um das Schreckge-


spenst Insolvenz abzuwenden“, das will
DISCOUNTER
Breuer-Anwältin Silke Wenk belegen,

Zittern im Schleckerland
„entwickelten Beamte kreative und abso-
lut rechtswidrige Fördermöglichkeiten.“
So habe das Land zum Beispiel das Film-
projekt „Librium“ mit 2,7 Millionen Mark
subventioniert, obwohl kaum ein Bild da- Bei den geplanten Streiks im Einzelhandel geht es nicht nur um
von in der Oberhausener Traumfabrik be-
arbeitet worden sein soll – was laut Klage Löhne. Um das Personal besser vor Überfällen zu schützen,
„schon zum Zeitpunkt der Auszahlung fordert Ver.di in den Läden eine Mindestanzahl von Verkäufern.
feststand“.

D
Als die Breuer-Brüder nach einer Wei- er Räuber war ausnehmend höflich. würde; und mal sind die Geräte bloße At-
le um die Rückgabe ihrer 1,4-Millionen- „Geben Sie mir bitte das Geld“, trappen.
Mark-Sicherheit baten, wurde ihnen die sagte der Mann ruhig und richtete Zudem ist es gerade in kleineren Filialen
Übernahme des kompletten Trickfilmzen- eine Pistole auf die Verkäuferin des üblich, dass eine einzelne Angestellte – bei
trums angeboten. Die Offerte aus der Schlecker-Marktes im Münchner Süden. Schlecker arbeiten fast ausnahmslos Frauen
Staatskanzlei habe Versprechungen ent- Noch im Flüchten entschuldigte er sich – stundenlang allein die Stellung hält. Das
halten, so die Kläger, „die ein profitables dafür, dass er neben den 200 Euro aus der Drogerie-Imperium des gelernten Metzgers
Geschäft suggerierten“. Anscheinend Kasse auch noch ein Stück Seife mitgehen Anton Schlecker, 63, gilt unter Polizisten
glaubten die Unternehmer, dass Clements ließ. Drei Filialen der Drogeriekette nahm denn auch vielerorts als das meistüber-
großzügiges Patronat fortbestehen werde. der Mann im vergangenen Herbst aus, fallene Einzelhandelsunternehmen. Erst am
„Uns wurden Fördergelder in Millionen-
höhe versprochen“, behauptet Helmut
Breuer heute.
Schon kurz nach der HDO-Übernahme
im April 2001 sah sich Breuer indes mit
der harten Realität konfrontiert: Die Ener-
gieversorgung Oberhausen drohte den
Strom abzusperren – wegen offener Rech-
nungen in Höhe von 100 000 Mark. Wenig
später verlangte die Stadt über 700 000
Mark für von diversen Voreigentümern
nicht bezahlte Grund- und Gewerbesteu-
ern. Und das war erst der Anfang.
Clement und seine Beamten sollen laut
Klägern immer wieder zugesichert haben,
den Schaden auf anderem Wege zu er-
statten. In einem handschriftlichen Ver-
merk notierte Clements Büroleiter etwa:
„4,5 Millionen Mark für ein Projekt im
Rahmen der Ruhrgebietsförderung“.
Doch weil über Jahre nichts geschah,
beauftragte Breuer Mitte 2006 die Wirt-
schaftsrechtlerin Wenk. Monatelang muss-
MEIßNER / ULLSTEIN BILD

te die Anwältin um Akteneinsicht ringen.


Obwohl in Düsseldorf inzwischen Jürgen
Rüttgers (CDU) regierte, zögerten Behör-
den, „offenbar alte Genossen-Seilschaften“
(Wenk), die Herausgabe von Dokumenten
hinaus. Zudem seien Akten vielfach un- Ver.di-Streik (in Berlin): Die Forderungen können richtig teuer werden
vollständig und bearbeitet: „Paraphen und
handschriftliche Notizen wurden überklebt während des vierten Versuchs wurde er vergangenen Mittwoch waren zwei Filialen
und unkenntlich gemacht.“ festgenommen. Beim Täter handelte es fast zeitgleich betroffen. Unabhängig von-
Für Laurenz Meyer, der in zwei Par- sich, wie die Polizeibeamten verwundert einander zwangen Räuber – der eine bei
lamentarischen Untersuchungsausschüs- feststellten, um einen bis dahin unbeschol- Frankfurt, der andere in Hamburg – mit
sen daran scheiterte, den HDO-Skan- tenen 72-Jährigen. vorgehaltenem Messer zwei Schlecker-Mit-
dal gänzlich aufzuklären, ist das keine Das Alter des Räubers war ungewöhn- arbeiterinnen, ihre Kassen zu öffnen.
Überraschung. Auch er erinnert sich an lich, die Masche alltäglich. Denn viele Fi- Jede Woche werden in Deutschland
„manipulierte Akten“ – und dass viele lialen des Discounters Schlecker muten an rund 50 Einzelhandelsgeschäfte ausge-
„belastende Unterlagen“ dem Untersu- wie Trainingseinrichtungen für kriminelle raubt. Schlecker-Märkte sind besonders
chungsausschuss vorenthalten wurden, mit Anfänger. Oft in unbelebten Vorstädten häufig betroffen – nicht zuletzt, weil es so
dem Argument, es betreffe „regierungs- gelegen, stören besonders am Abend kaum viele von ihnen gibt. Aber auch bei den
nahes Handeln“. Deshalb, so Meyer, sei- Passanten. In den beengten Läden ist es personalarmen Läden anderer Handels-
en vermutete Delikte wie Insolvenzver- meist nur ein Schritt von der Eingangstür ketten ist die Gefahr, als Kassiererin Opfer
schleppung und Betrug nicht zu beweisen zur Kasse. Mal gibt es überhaupt keine Vi- eines Überfalls zu werden, beängstigend
gewesen. deokameras, mal übertragen sie nur ein hoch.
Helmut Breuer ist fest entschlossen, dies Livebild auf den Monitor neben der Kasse, Bei den Streiks im Einzelhandel, die im
nachzuholen. Barbara Schmid ohne dass das Geschehen aufgezeichnet Februar wieder aufgenommen werden sol-
48 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
len, geht es der Gewerkschaft Ver.di des- haupt mal zu zweit ist, dann zur Ablösung. ne Unfallkasse. In deren Regelwerk zum
halb nicht nur um Löhne und Arbeitszei- Das überschneidet sich bestenfalls um „Umgang mit Zahlungsmitteln in Ver-
ten: Erstmals fordern die Arbeitnehmer- zwei, drei Stunden“, schildert eine Be- kaufsstellen“ heißt es etwa, dass „bei An-
vertreter bundesweit auch einen „Sicher- triebsrätin die Erfahrungen vieler Kolle- wesenheit nur einer Person in der Ver-
heitstarifvertrag“. Der Entwurf sieht neben ginnen. Die restliche Zeit sei mitunter zer- kaufsstelle“ ein „erhöhtes Überfallrisiko“
der verbindlichen Ausstattung der Läden mürbend, besonders nach Einbruch der vorliegen könne und der Unternehmer da-
mit Alarmanlagen und besonders gesicher- Dunkelheit: „Wenn Sie allein sind, drehen her „zu prüfen“ habe, ob „weitere Maß-
ten Tresoren etwa vor, dass Mitarbeiter sie sich nach jedem Geräusch um.“ nahmen für die jeweilige Verkaufsstelle ge-
nicht mehr mit den Tageseinnahmen zur Fällt eine Kollegin wegen Urlaub oder eignet und erforderlich“ seien.
Bank geschickt werden. Künftig sollen das Krankheit aus, bekommen die Alleinge- Das ist den Gewerkschaftern zu schwam-
Spezialfirmen übernehmen – oder der Chef lassenen nicht zuverlässig Ersatz gestellt. mig. Für Achim Neumann, im Ver.di-Fach-
selbst. Dann, so berichten einige, müssen sie bis bereich Handel für Schlecker zuständig,
Eine der Forderungen ist den Gewerk- zu zehn Stunden durcharbeiten – ohne liegt auf der Hand: „Die Hemmschwelle
schaftern besonders wichtig – und könnte Pause. Wie soll man etwa zur Toilette ge- für einen Täter ist einfach höher, wenn
für einige Unternehmen richtig teuer wer- hen, wenn man den Laden keine Sekunde zwei Menschen im Laden sind.“ Das deckt
den: Der Vertrag sieht eine „Mindestbeset- aus den Augen lassen darf? sich mit den Erfahrungen der Polizei. Beim
zung“ von Filialen vor. Nur wenn „ständig Zu solchen Vorfällen – immerhin Ver- Hessischen Landeskriminalamt berichtet
mindestens zwei Beschäftigte anwesend stöße gegen das Arbeitszeitgesetz, welches man gar von Tätern, die mehrfachbesetzte
sind, die sich gegenseitig sehen können“, nach spätestens sechs Stunden eine Pause Filialen nur deswegen überfielen, weil sie
sollen Läden ihre Türen öffnen dürfen. vorschreibt – äußert man sich bei Schle- die anderen Angestellten einfach nicht ge-
Nach Beobachtungen der Arbeitneh- cker nicht gern. „Grundsätzlich ist jeder sehen hatten und sich mit einer Mitarbei-
mervertreter dünnen immer mehr Unter- Schlecker-Markt mit mindestens zwei terin allein wähnten.
Allerdings dürfte eine ver-
pflichtende Doppelbeset-
zung lediglich Einzeltäter
abhalten, gibt Kerstin Streich
vom Hamburger Raubde-
zernat zu bedenken: „Raub-
überfälle werden aber oft
von Gruppen verübt. Die
stürmen zu zweit oder zu
dritt den Laden und küm-
mern sich nicht darum, ob
mehrere Angestellte oder
Kunden anwesend sind.“
Zurück bleiben nicht sel-
ten nachhaltig verstörte An-
gestellte, schreckhaft am
Tage und schlaflos in der
Nacht, die das Bild des Tä-
ters nicht aus dem Kopf be-
kommen, die sich mit immer
wiederkehrenden Erinne-
rungsfetzen plagen oder mit
FLORIAN BÜH / ACTION PRESS

diffusen Schuldgefühlen, ob
sie womöglich etwas falsch
gemacht haben.
Joachim Schottmann kennt
solche Fälle aus seiner tägli-
chen Arbeit. Der Psychothe-
Überfallene Schlecker-Filiale (in Hamburg): Wie Trainingseinrichtungen für kriminelle Anfänger rapeut arbeitet beim Kölner
Dienstleister HumanProtect,
nehmen zu umsatzschwachen Tageszeiten Angestellten besetzt“, beteuert das Unter- der jährlich Hunderte Opfer direkt nach
ihr Personal aus. Ob bei Penny, Plus, Nor- nehmen. Merkwürdig ist allerdings, dass Überfällen betreut. Bei einem Teil der Be-
ma oder Aldi: Besonders in den letzten es die Ver.di-Pläne ausgerechnet mit der troffenen, berichtet Schottmann, klingen
Stunden vor Ladenschluss, wenn die Kas- Begründung ablehnt, bei verpflichtender die Symptome auch nach Wochen nicht ab
sen voll sind und die Straßen leer, werde Doppelbesetzung „wäre ein rentabler – oder werden durch nichtige Anlässe wie-
immer öfter ein einzelner Mitarbeiter al- Geschäftsbetrieb für Schlecker nicht mehr dererweckt. Zurück im Laden, gerate man-
lein gelassen. möglich“. che Verkäuferin schon in Angst, wenn ein
Schlecker gilt hier als Vorreiter. Allein- Auch die Arbeitgeberverbände des Ein- Kunde nur etwas zu lange in der Jacken-
besetzungen gehören beim angeblich zelhandels verwahren sich gegen die tasche nestelt.
„preisberühmten“ Discounter schon lan- Gewerkschaftsforderung. „Mindestbeset- Selbst für einen Betrieb, der seine
ge zum Geschäftskonzept. Anders könnte zungsregeln sind Eingriffe in unternehme- Mitarbeiter hauptsächlich als Kosten-
er kaum seine bundesweit rund 10 600 Fi- rische Entscheidungen, die wir grund- faktor betrachtet, könnte es sich lohnen,
lialen mit gerade mal 40 000 Mitarbeitern sätzlich ablehnen“, sagt Peter Schröder, sie besser vor Raubzügen zu schützen.
betreiben, von denen nicht mal die Hälfte Referent für Sozial- und Tarifpolitik beim Denn mitunter, berichtet Schottmann, sei
Vollzeit arbeitet. Drei oder vier Frauen pro Handelsverband BAG. Zuständig für alle eine langwierige Psychotherapie nötig:
Verkaufsstelle teilen in der Regel die Wo- Aspekte der Arbeitssicherheit ist die Be- „Wir haben Leute, die monatelang aus-
che unter sich auf. „Wenn man da über- rufsgenossenschaft, also die brancheneige- fallen.“ Oliver Rezec

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 49
IKHLAS ABBIS
Demonstration am vergangenen Donnerstag in Köln-Kalk: „Uns drohen Zustände wie in den Vorstädten von Paris“

die Antwort auf eine Frage, die alle hier


I N T E G R AT I O N
bewegt. Was wäre, wenn ein Deutscher tot,

Stich ins Herz


der Täter einer von ihnen wäre?
Schon acht Stunden nach der Tat teilte
die Polizei mit, es sei Notwehr gewesen
und es werde keine Anklage geben. „Das
Nach dem gewaltsamen Tod eines Marokkaners gingen in Köln war wohl etwas unglücklich formuliert“,
räumt Catherine Maus von der Kölner
vorige Woche jeden Abend Hunderte Ausländer auf die Polizei im Nachhinein ein.
Straße: Sie fühlen sich wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Die unglückliche Formulierung fiel in
eine unglückliche Zeit. „Wir haben zu

D
ie Gitter vor dem Schaufenster hat- Denn der Stich des Deutschen traf auch viele kriminelle Ausländer“, hatte Ende
te der Inhaber des Elektronikladens das Selbstbewusstsein all jener Zugewan- Dezember Hessens Ministerpräsident Ro-
an der Kalker Hauptstraße in Köln derten, die sich abgekoppelt fühlen – ohne land Koch (CDU) gesagt. Ausländer hätten
aus Angst vor Randale vorsorglich runter- ordentlichen Schulabschluss, ohne Berufs- sich anzupassen, ein Entgegenkommen der
gelassen. An den Stäben hängen jetzt ausbildung, ohne Perspektive. Der Frust Deutschen dürften sie nicht erwarten.
Bilder des 17-jährigen Marokkaners Salih, ist groß. „Wir sitzen auf einem Pulverfass. Mal abgesehen davon, dass viele der
der hier am vorvergangenen Freitag getö- Uns drohen Zustände wie in den Vorstäd- Kalker Jugendlichen sich nicht als Auslän-
tet wurde. Auf den Betonplatten des Geh- ten von Paris“, warnt der ehemalige Poli- der fühlen, weil sie im Schatten der Dom-
wegs brennt ein Meer von Kerzen. „Salih, zeipräsident und CDU-Fraktionschef im türme geboren sind und das kölsche Idiom
Salih!“, skandieren Hunderte Kehlen: „Wir Kölner Stadtrat, Winrich Granitzka. pflegen: Kochs populistischer, dem Wahl-
wollen Gerechtigkeit!“ Köln ist nicht Paris, und in Kalk sieht es kampf geschuldeter Frontalangriff hallt un-
Salih war einer von ihnen, ein Jugend- nicht aus wie in den Banlieues, den Vor- ter Zuwanderern nach.
licher mit Migrationshintergrund. Für die städten der französischen Hauptstadt mit „Stoppt diesen Rassisten“, titelte die tür-
Polizei ist die Sache klar. Salih habe einen ihren Hochhäusern. Doch in Kalk, wo kische Zeitung „Hürriyet“ und zeigte eine
20-jährigen Deutschen ausrauben wollen. früher ein Chemiewerk stand, ist es ähnlich Karikatur des hessischen Hardliners mit
Der wehrte sich, geriet in Panik, zog ein trist. Das neue Einkaufszentrum ist grell überlanger Nase. SPD, Linke und Grüne
kleines Taschenmesser – und traf Salih mit und wuchtig, es will so gar nicht ins Grau und auch manche Christdemokraten gin-
einem unglücklichen Stich ins Herz. Der dieses Stadtteils passen. gen auf Distanz zu Koch. Nur die „Bild“-
Staatsanwalt erkannte auf Notwehr. Es gibt 54,7 Prozent der Einwohner von Kalk Zeitung hielt dagegen und präsentierte fast
sogar Zeugen. Doch das spielt längst keine sind Ausländer oder stammen von mindes- täglich ausländische Intensivtäter mit lan-
Rolle mehr. tens einem ausländischen Elternteil ab, es gen Sündenregistern.
Und deshalb zogen an jedem Abend der leben überdurchschnittlich viele junge Leu- Aber auch die Menschen mit Migrations-
vergangenen Woche bis zu 300 Demon- te zwischen 15 und 18 Jahren dort, unter- hintergrund in Kalk lesen „Bild“. „Was soll
stranten an den Tatort, forderten „Gerech- durchschnittlich dagegen ist das Bildungs- die Scheiße? Wir sind hier aufgewachsen,
tigkeit“, weil einer der ihren starb und der niveau. 90 Prozent der Arbeitslosen in wir sind nicht kriminell, warum werden
Täter schon wieder auf freiem Fuß ist. Sie Kalk gelten als Langzeitarbeitslose. wir anders behandelt als die anderen Deut-
protestierten gegen „Rassismus in Deutsch- „Mir kommt es so vor, als würden sie schen?“, erregt sich ein junger Mann.
land“ – und eben weil die Notwehr-Version immer nur Verlierer hierher schicken“, sagt Mehr als 40 Jahre lang sollte Deutsch-
so klar scheint, zeigen die Proteste, dass es Kemal Düzardic, 22, ein Freund des To- land kein Einwanderungsland sein. Das
um mehr geht als den 17-jährigen Salih. Es ten. Bei Regen und Kälte verharren sie vor blieb nicht ohne Folgen. 72 Prozent der
geht darum, wie sich Migranten in Deutsch- den Bildern des Toten und den Kerzen, in Deutschland lebenden Türken, die mit
land derzeit behandelt fühlen. die an ihn erinnern sollen. Und sie suchen rund 1,7 Millionen die größte Ausländer-
50 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

das Kopftuch tief ins Gesicht. „Nach der


Grundschule werden wir an die Haupt-
schule weitergereicht. Keiner von uns darf
auf die Realschule, dahin gehen nur Deut-
sche“, sagt sie. Ihre drei älteren Geschwis-
ter haben nach der Hauptschule keine
Lehrstelle gefunden. Auch Fatima macht
sich kaum Hoffnungen.
Experten sind sich einig, dass die
Jugendkriminalität in Deutschland kein
ethnisches Problem ist, sondern ein sozia-
les. Zuwandererkinder aus Mittelschicht-
familien und jene, die Erfolg haben in der
Schule, bleiben in der Regel unauffällig.
Und wer den Anschluss findet an Ausbil-
dung und Arbeit, weiß Jugendforscher
Skrobanek, der habe auch ein „signifikant
geringeres Gefühl der Benachteiligung“.
„Wir müssen alles tun, damit der hohe
Anteil von 40 Prozent junger Migrantinnen
und Migranten ohne berufliche Qualifika-

ARTON KRASNIQI
tion entscheidend gesenkt wird“, kündigte
die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer
jüngst an. 350 Millionen Euro will die
Täter, Polizisten: Kein Zweifel an der Notwehr-Version Bundesregierung dafür in den kommenden
drei Jahren ausgeben. Mindestens 4000
gruppe darstellen, haben keine qualifizier- Mann. „Salih, Salih!“, ruft eine Gruppe Euro Zuschuss sollen Arbeitgeber erhalten,
te Ausbildung. 40 Prozent der Jugendli- härterer Typen. Sie wollen eine andere die einem bereits gescheiterten Bewerber
chen aus Ausländerfamilien gehen weder Gerechtigkeit. Es klingt eher wie ein Ruf einen Ausbildungsplatz geben. Ein Anfang.
zur Schule noch machen sie eine Lehre. Sie nach Rache. „Die Einwanderer müssen aber auch
jobben, hängen rum, sie stellen einen über- „Es muss ein Ruck durch Deutschland dazu beitragen“, fordert SPD-Politikerin
proportionalen Anteil an Gewalttätern. gehen“, fordert die SPD-Bundestagsabge- Lale Akgün. „Sie müssen ihre Blockade-
„Die Stadt Köln tut viel für die Integra- ordnete Lale Akgün in Anlehnung an den haltung aufgeben und ankommen in dieser
tion“, sagt der Leitende Polizeidirektor Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog. Gesellschaft.“ Ein Drittel der ausländi-
Michael Temme, der den Demo-Einsatz „Wir brauchen endlich eine Gesellschafts- schen Eltern, ergab eine Befragung des
sorgfältig überwacht und analysiert. Doch politik, die auf Akzeptanz basiert, und eine Zentrums für Türkeistudien in Essen, hätte
es gebe „Brennpunkte“ in der Stadt, auch grundlegende Reform der Bildungs- und ein Problem mit einem deutschen Schwie-
in Kalk. Dort stellt er sich jetzt jeden Sozialpolitik“, sagt sie. Die Deutschen gersohn. Von den Alten ist also wenig
Abend die bange Frage: Kommt gleich der brauchten die Ausländer, und die brauch- zu erwarten – was die Zukunft der Kinder
Funke, der das Pulverfass zur Explosion ten die Deutschen. Demografen und Ar- erschwert.
bringt? Klirren dann Schaufensterscheiben, beitsmarktforscher sehen das genauso. „Viele Kinder erleben in der Erziehung
gehen Autos in Flammen auf? Wenn man den Menschen keine qualifi- häufig eine Inkonsistenz, die sie überfor-
„Wir fühlen uns wie Menschen zweiter zierte Ausbildung verschafft, so das Institut dert“, sagt Haci-Halil Uslucan von der Uni-
Klasse“, sagt ein Marokkaner, so um die für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, versität Magdeburg. Zu Hause das patriar-
40. „Es wird niemals aufhören, vielleicht drohe „Massenarbeitslosigkeit bei gleich- chalisch geprägte, auf Gehorsam bedachte
wird es immer schlimmer“, sagt ein junger zeitigem Fachkräftemangel“. Schon jetzt Elternhaus, in der Schule Eigenverantwor-
beziffert eine Studie im Auftrag der Ber- tung, Entscheidungsfreiheit und Gleichbe-
telsmann Stiftung die Kosten mangelnder rechtigung. „Diese Brüche können sie nur
Integration auf 16 Milliarden Euro. Viele schwer verarbeiten“, sagt Uslucan.
Migranten seien häufig arbeitslos, ver- Wer Chancengleichheit herstellen und
dienten schlechter, zahlten weniger Steu- verhindern will, dass ausländische Ju-
ern und Sozialabgaben. gendliche in die Kriminalität abgleiten, so
Die Demonstranten von Köln-Kalk wis- der Volkswirt und Kriminologe Horst En-
sen das, und es ist dieses Gefühl, das die torf, müsse bei Sprachförderung und der
Lage so brisant macht. Das Gefühl, keine Erziehung in Kindergärten anfangen.
Chance zu haben, ausgegrenzt zu werden. Salih, der Tote von Kalk, war für die Po-
Etwa ein Fünftel der Ausländerkinder, lizei ein unbeschriebenes Blatt. „Er wollte
so ergab eine Befragung des Deutschen sein Fachabitur machen“, sagt sein Bruder
Jugendinstituts (DJI) in München, sieht Abdallah, 23, der Elektrotechnik studiert.
sich „stark diskriminiert“ oder „individu- Auch Abdallah war vorige Woche auf der
ell benachteiligt“. Mehr als die Hälfte fühlt Straße. Aber die Scharfmacher unter den
sich weder anerkannt noch gleichberech- Demonstranten sind ihm unheimlich.
BERND KAMMERER / AP

tigt. „Das sind dramatische Einschätzun- Vor ein paar Tagen war der marokkani-
gen, die sie aufgrund eigener Erfahrungen sche Generalkonsul bei ihm und seinen El-
gemacht haben“, sagt DJI-Wissenschaftler tern. Er hat ihnen erklärt, dass die Polizei
Jan Skrobanek. sauber ermittelt habe. Und dennoch fragt
„Wir sind hier nicht willkommen“, sagt sich Abdallah: Wäre ein Ausländer genau-
Ministerpräsident Koch die 14-jährige Fatima aus Kalk und zieht so schnell freigekommen?
Populistischer Frontalangriff sich vor dem Bild Salihs demonstrativ Barbara Schmid, Andreas Ulrich

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 51
Deutschland

her werden solche Problemfälle höchstens


versetzt und damit hin und her geschoben.
SCHULE
Der Staat muss in den Schulen eine echte

„Ein gewisser Schlendrian“


Personalpolitik betreiben und klar formu-
lieren, was er von den Lehrern erwartet.
SPIEGEL: Immerhin wollen 670 000 Arbeits-
plätze für Lehrer besetzt werden …
Rauin: Zugegeben. Der Bedarf an Lehrern
Der Frankfurter Bildungsforscher Udo Rauin über wird hoch bleiben. Dennoch gilt es, schon
ungeeignete Lehrer und die Versäumnisse der Schulpolitik im Studium einen gewissen Schlendrian zu
verhindern. Bislang ist die Personalrekru-
Rauin, 55, ist Professor dass der Arbeitsplatz in der Nähe des bis- tierung nicht gerade selektiv.
für empirische Schul- herigen Wohnorts liegt und auf Dauer SPIEGEL: Die Note im Staatsexamen sorgt
und Unterrichtsfor- sicher ist. doch für eine Auswahl.
schung an der Uni- SPIEGEL: Ist das verwerflich? Rauin: Ach, das ist doch fiktiv. Die Einstel-
versität Frankfurt am Rauin: Zumindest wird es problematisch, lung neuer Lehrer hängt stärker vom Be-
Main. In einer Längs- wenn solche Motive überwiegen. Wenn darf in einzelnen Fächern oder Jahrgän-
schnittstudie unter- beispielsweise die Hälfte aller Lehrkräfte gen ab als von der Qualifikation. Und die
suchte er den Zusam- in Teilzeit arbeitet, lässt sich der normale Lehrer, die man aus der Not genommen
menhang zwischen Betrieb kaum aufrechterhalten. Die Schu- hat, verstopfen die Kollegien dann über
TIM WEGNER

Studienverhalten und le zieht Personal regelrecht an, das nur mit Jahre. Wir brauchen zusätzliche Kriterien.
Erfolg im Lehrerberuf. verminderter Kraft arbeiten will. SPIEGEL: Welche?
SPIEGEL: Viele Pädagogen wählen den Be- Rauin: Die Leistung sollte zu verschiede-
ruf aus echter Überzeugung. nen Zeitpunkten während des Studiums
SPIEGEL: Ihre Studie wird viele deutsche Rauin: Ja, nach unseren Daten rechne ich und im Beruf festgestellt werden. Zudem
Lehrer verärgern: Das Burn-out durch den über ein Drittel der angehenden Lehrer zu müsste die Belastbarkeit der angehenden
angeblich so schwierigen Beruf, so das den Engagierten. Sie studieren erfolgreich Lehrer stärker geprüft werden, um unge-
Fazit, sei nichts als ein Mythos. Wie kom- und haben später im Beruf wenig Proble- eigneten Kandidaten beizeiten abzuraten.
men Sie zu diesem Befund? me. Nur steigen leider viele Leistungs- SPIEGEL: Dafür sind Sie und Ihre Kollegen
Rauin: Wir haben den Berufsweg von über starke schon während des Studiums aus, an den Hochschulen zuständig, die die
tausend angehenden Lehrern über zwölf weil sie sich unterfordert fühlen und sich Lehrer ausbilden.
Jahre hinweg begleitet. Dabei zeigte sich: deshalb nach Alternativen umsehen. Rauin: Klar, auch die Hochschulen sind ge-
Wer sich im Job ausgebrannt fühlt, der hat SPIEGEL: Ist nicht auch das ständige Lehrer- fragt. Die Dozenten sind in der Pflicht, die
häufig bereits während seiner Ausbildung Bashing mit daran schuld, dass Hochmoti- Leistungen ihrer Studenten genauer zu-
nicht für den künftigen Beruf gebrannt. vierte abspringen? rückzuspiegeln und ihnen zu sagen, wo sie
Unsere Schulen sind von Per- gut oder schwach sind. Bislang
sonen belastet, die schon im läuft die Lehrerausbildung an
Studium Symptome der Über- den meisten Hochschulen nur
forderung zeigten. als fünftes Rad am Wagen mit.
SPIEGEL: Wie haben Sie das ge- SPIEGEL: Nach dem ersten Pisa-
messen? Schock von 2001 haben Schul-
Rauin: In den Befragungen be- politiker mit Schul-TÜV und
schrieben sich über ein Vier- Bildungsstandards viele Initia-
tel der angehenden Pädagogen tiven zur Verbesserung des
selbst als kaum für den Beruf Unterrichts angeschoben. Sind
geeignet. Viele wählten das die alle nutzlos?
Lehramt aus Verlegenheit, sie Rauin: Das ist alles gut ge-
haben eine resignative Grund- meint. Trotzdem hat die Poli-
FRANK HOERMANN / SVEN SIMON

haltung. Trotzdem schafft es tik bislang nicht in den Kern-


ein großer Teil dieser Gruppe bereich der Probleme einge-
in den Schuldienst. griffen. Sie hat kein Qualitäts-
SPIEGEL: Sie haben angehende management in den Schulen
Lehrer für Grund-, Haupt- und entwickelt, das diesen Namen
Realschulen befragt. Sind Gym- verdient.
nasiallehrer motivierter? SPIEGEL: Aber die deprimieren-
Rauin: Forscherkollegen aus Grundschulunterricht (in München): „Es lohnt sich nicht, gut zu sein“ de Realität, die vor allem an
Potsdam und Bielefeld sind so- Problemschulen herrscht, ver-
gar zu noch negativeren Befunden gekom- Rauin: Ich betreibe kein Lehrer-Bashing. bessert auch das beste Qualitätsmanage-
men. Ein Viertel der Gymnasialkollegien Ich weise auf Probleme hin. Für die Leis- ment nicht …
besteht demnach aus Lehrern, bei denen es tungsstarken müsste man zusätzliche An- Rauin: Natürlich ist es nicht einfach, in
mit Motivation, Belastbarkeit und Leistung reize schaffen. Es lohnt sich für sie gar schwierigen sozialen Milieus Lehrer zu sein.
nicht stimmt. nicht, besser zu sein als die anderen … Aber die Arbeit mit Kindern und Jugendli-
SPIEGEL: Warum entscheiden sich diese SPIEGEL: … und schuld ist vermutlich das chen hängt entscheidend von den fachlichen
Leute dann für den Lehrerberuf? Beamtenrecht? und personellen Ressourcen und dem Durch-
Rauin: Ich sehe da hedonistische und prag- Rauin: In der Tat ist das Beamtensystem haltevermögen der Lehrer ab. Wenn ich von
matische Motive. Die Hedonisten wün- nicht gerade geeignet, um eine Bestenaus- Anfang an Angst vor diesen Kindern habe,
schen sich ein leichtes Studium und für lese zu befördern. Ohne Beamtenstatus kann es nicht funktionieren. Wir brauchen
später genug Zeit, um ihren Hobbys nach- hätten die Schulen auch die Möglichkeit, gute Rahmenbedingungen, aber auch moti-
zugehen. Die Pragmatiker achten darauf, völlig ungeeignete Lehrer zu entlassen. Bis- viertes Personal. Interview: Jan Friedmann
52 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ANDREAS HARTMANN (L.)
Frauengefängnis in Hildesheim, verdächtigte Lydia L.: „Muss ich nein sagen, wenn mir einer was schenkt?“

VERBRECHEN

Die Schwarze Witwe


Mehr als 20 Jahre lang hat die Polizei ohnmächtig zugesehen, wie eine Frau im niedersächsischen
Bodenfelde alten Männern ein spätes Glück versprach – und deren Geld nahm. Nun steht sie
vor Gericht: Ein mutmaßlicher Komplize hat gestanden, in dieser Zeit vier der Greise getötet zu haben.

D
ie Dame am anderen Ende der Lei- Die Ermittler glauben Siggi S. „Das So was kommt schon mal vor, denn
tung sitzt im Gefängnis von Hildes- ganze Geld, der ganze Scheiß hat sie ver- Lydia L. zankt sich ständig mit den Nach-
heim und redet und redet – einen rückt gemacht“, hat er in einer Verneh- barn. Die sind angeblich zu laut, oder sie
Sturzbach aus Sätzen, die Stimme am Tele- mung über Lydia L. gesagt, und wenn es so sollen über die Grundstücksgrenze gebaut
fon empört, verbittert, leidend. Was da war, dann wird der Fall ein Stück deutsche haben, und weil es eine Hecke gibt, gibt es
alles über sie in den Zeitungen stehe, wirk- Kriminalgeschichte schreiben: Kripo und natürlich auch Streit um die Hecke. Aber
lich schlimm. Selbst der Carsten falle über Staatsanwalt gehen davon aus, dass Lydia am heftigsten streitet sich Lydia L. mit
sie her, ihr eigener Sohn, aber der habe ihr L. ständig alte, am besten einsame Männer ihrem Sohn Carsten. Sie will das Sorge-
ja früher sogar auf den Kopf gerotzt, das suchte, um sie auszunehmen. Und das in ei- recht für dessen Tochter, ihre Lieblings-
müsse man sich mal vorstellen. Und dann ner Zahl – mehr als ein Dutzend – und über enkelin, sie kämpft darum schon seit Jah-
der Siggi, der Mann, der ihr jahrzehntelang einen Zeitraum – mehr als 20 Jahre –, wie ren, mit allen Mitteln, durch alle Instanzen.
in Haus und Garten zur Hand ging, was es die Republik noch nicht erlebt hat. Dort hatte Lydia L. sogar behauptet, der
der jetzt alles bei der Polizei über sie zu- Es geht damit in Göttingen um „Arsen zeitweise drogensüchtige Carsten habe vor
sammenspinne. Vier Morde, zu denen sie und Spitzenhäubchen“ in der deutschen Jahren seine Freundin umgebracht. Und
ihn angestiftet haben soll. Sie! Den Siggi! Provinz. Aber abgesehen von der üblichen deshalb muss die Polizei nun ermitteln,
Vier Morde! Alles falsch! Alles gelogen! Suche nach den Beweisen und Beweg- auch wenn wahrscheinlich doch nichts da-
Na hören Sie mal ... gründen wirft der Fall noch eine andere bei herauskommt; „völliger Quatsch“, sagt
Vor allem aber redet Lydia L., 68, so Frage auf: Wie konnte es sein, dass es seit der Sohn.
schnell, als müsse sie nicht lange nachden- zwei Jahrzehnten immer wieder Verdäch- So gesehen ist die Aussage von Siggi S.
ken, weil sie ja die Wahrheit sagt, nur die tigungen gegen Lydia L. gab, ja sogar An- also nichts Besonderes; eines aber ist an
Wahrheit. Und so ist die Frau, die sie zeigen und Ermittlungsverfahren, ohne diesem Morgen anders: Früher musste der
nun nach der männermordenden Spinne dass die Polizei sie aus dem Verkehr ziehen Polizist nach so einer Vorladung erst mal
„Schwarze Witwe“ nennen, jetzt auch im konnte? Stattdessen reihte sie, wenn man zehn Minuten lüften, so selten wusch sich
Gespräch mit dem SPIEGEL, was sie im- den Fahndern glauben darf, Opfer an Op- der Siggi. Diesmal kommt er ordentlich ge-
mer schon war: sehr überzeugend. fer – jeder Fall schon eine Geschichte für föhnt herein, und die Haare sind nicht das
Wie überzeugend, wird sich Mitte Fe- sich. Und alle Geschichten zusammen die Einzige, was er in seinem Leben nun wie-
bruar herausstellen. Dann soll vor dem unglaubliche Geschichte eines Lebens jen- der ins Reine bringen will. „Wenn ich hier
Landgericht Göttingen der Prozess gegen seits von Moral und Gewissen. fertig bin, klicken die Handschellen“, sagt
sie und ihren mutmaßlichen Komplizen, Montag, der 27. August 2007: Es ist er unvermittelt.
Sigmund „Siggi“ S., 53, anlaufen, beide der Tag, an dem das alles endet, auf der Stundenlang erzählt er, an diesem Tag,
aus dem niedersächsischen Flecken Bo- Polizeiwache in Bodenfelde. Ein Raum, in den nächsten Wochen, immer wieder,
denfelde. Vor der 6. großen Strafkammer 15 Quadratmeter groß, an den Wänden immer mehr, so eifrig wie ein Schüler, der
muss sich zeigen, ob Siggi S. von 1994 bis speckige Raufaser, ein Kalender, noch von sich eine Eins für eine gute Nacherzählung
2000 vier Möchtegernlebensgefährten der 2005, und in der Mitte Jürgen U., der Dorf- verdienen will. Es ist sein Schlussstrich
Frau in deren Auftrag getötet hat – das ist polizist, der einzige Beamte hier. Siggi S. unter eine Beziehung zu Lydia L., eine Be-
seine Version. Oder ob er die Männer aus kommt an diesem Morgen pünktlich; er ist ziehung, die nie in die Nähe eines Bettes
Eifersucht umbrachte und sie davon nichts bestellt, für zehn Uhr, er soll eine Aussage geriet, aber für ihn wohl trotzdem alles be-
ahnte, wie Lydia L. behauptet. machen, als Zeuge, für Lydia L. deutete: eine Art Familienanschluss, etwas,
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Tödliche Beziehung
Lydia L. und ihre Männerbekanntschaften
Ehemänner
mutmaßlich ermordete Männer

ECKHARD JÜNGEL / THÜRINGER ALLGEMEINE


gemeinsam verbrachte Zeit

1. Richard L . Sohn Bernd L.


1961 – 1964 geb. 1927 geb. 1962

2. Hermann S. Sohn Carsten S.


1971 – 1985 geb. 1940 geb. 1972

3. Ludwig G. setzte Lydia als


1983 – 1986 geb. 1901 Alleinerbin ein Spurensicherung der Polizei in Volkerode (1995): Verkohlte Leiche im Straßengraben

4. Wilhelm S. schenkte ihr das er schon in seiner Kindheit verloren sie das. Das sei doch schön, und die Arbeit
geb. 1911 215 000 Euro hatte, als Heimkind, als Schwererziehbarer. nicht so schwer wie im Altenheim“.
1987 – 1992
„Ich bin das schwarze Schaf meiner Fa- Also keine Liebe?
stirbt 6 Monate milie“, sagte Siggi S. in einer der Verneh- „Nein; sie fand das widerlich, wenn die
5. Paul P. mungen. Die Mutter war bei der Geburt Alten noch was von ihr wollten.“
geb. 1907
nach Ehe-
1990 – 1991 schließung schon 44, nach vier Kindern war das fünf- Der erste: Ludwig Geller aus dem hessi-
schenkte ihr te nicht mehr eingeplant. Er fliegt von der schen Biebertal. 1983, als er Lydia L. ken-
6. Alois M. Volksschule, weil er ständig schwänzt, nenlernt, ist er 82 Jahre alt, sie 44, aktiv,
geb. 1905
Pelz, Wohnmo-
1992 – 1994 bil, BMW-Cabrio kommt auf die Sonderschule, aber „da war attraktiv, eine Frau, bei der die Männer
es noch bekloppter“. Als er zwölf ist, hat immer zehn Jahre vom echten Alter abzie-
7. Günter S. endlich jede Schule genug von ihm, und hen. Im September 1985 setzt er sie als
geb. 1920 verbrannt auch die Familie: Er muss ins Heim, wech- Alleinerbin ein, im November 1985 über-
1994 selt von einem ins nächste, schlägt sich spä- schreibt er ihr elf Grundstücke, am 5. Ja-
ter als Hilfsarbeiter durch. nuar 1986 ist er tot, nach ein paar Monaten
8. Adolf B. erstickt, ver- 1987 strandet er schließlich in einem in ihrer Obhut. Zwar stirbt er im Kran-
geb. 1910 erbte ihr Haus Mehrfamilienhaus in Uslar, neun Kilo- kenhaus; aber schon damals gibt es Er-
1994 in Melsungen meter von Bodenfelde entfernt. Und in mittlungen wegen ungeklärter Todesur-
einer der anderen Wohnungen lebt eine sache: Verwandte wundern sich, dass
Frau, die er bis zu jenem 27. August 2007 Geller so plötzlich abgebaut hat. Noch im
nicht mehr verlassen wird: Lydia L. gleichen Jahr wird das Verfahren einge-
Auch sie hat zu diesem Zeitpunkt schon stellt – das erste von so vielen ohne Folgen,
reichlich Erfahrung im Verlassen und Ver- die noch kommen werden.
lassenwerden. Kriegsflüchtling aus dem So wie bei Wilhelm S., Maurermeister
oberschlesischen Orzesche, 1961 die erste aus dem Sauerland. 1992 stellten seine Kin-
Hochzeit, 1964 die erste Scheidung, 1971 der Strafanzeige. Sie waren überzeugt,
der nächste Ehemann, Hermann S. Einige dass Lydia L. ihren Vater langsam vergiftet
Jahre arbeitet sie als Altenpflegerin im und schnell ums Ersparte gebracht hatte.
nordrhein-westfälischen Scherfede. Fünf Jahre vorher hatte er eine Kontakt-
Bei Celle führt das Paar einen Landpuff, anzeige aufgegeben. Kurz darauf kam
die Rubin-Bar, mit ratternden Super-8-Por- Lydia L. ins Sauerland, und dann alle paar
nos an der Wand und Verkehr im Hinter- Monate wieder: Lief leichtbekleidet durch
zimmer. Es zieht bald weg, eröffnet die den Garten, dass sich das ganze Dorf das
Gesichtsrekonstruktion von Paul G.
nächste Rubin-Bar und nach dem Umzug Maul zerriss. Schrieb ihrem „Schatz“ Lie-
in die Nähe von Uslar die dritte. Zwei besbriefe: „Sieh zu, dass du gesund wirst.
9. Paul G. erstickt, Wohnwagen gehören zum Geschäft, in ei- Ich brauche deine Beine noch zum Spa-
geb. 1913 schenkte ihr
mehrere zehn- nem bietet sich Lydia L. später selbst an. zierengehen und für anderes.“ Wilhelm S.,
1995 tausend Euro Die Ehe geht 1985 zu Bruch. „Mein 77, vor Liebe so verzückt wie verrückt,
Mann hat mich kaputtgeschlagen“, be- bezahlte ihr einen Mercedes samt Sprit,
hauptet sie am Telefon aus dem Gefängnis Reisen, schenkte ihr Geld.
10. Gerhard G. erstickt, schenk- und: „Ich hatte danach die Nase voll von Damit kaufte sie sich dann 1988 jenes
geb. 1929 te ihr Geld für
2000 Wohnmobil jungen Männern.“ Damals will sie einen Anwesen in Bodenfelde, in dem sie bis zu
Entschluss fürs Leben gefasst haben: nur ihrer Festnahme lebte. Ein Vorderhaus und
noch ältere Männer. „Ich wollte endlich ein Hinterhaus an der Dammstraße, in dem
11. Henry im Dezember
meine Ruhe.“ Und dass diese alten Männer auch die meisten Männer wohnten, die sie
Hans U. 2002 von der
2002 geb. 1925 Polizei gerettet ihr dann immer wieder Autos kaufen, Häu- köderte, mit Zeitungsannoncen wie: „Sie,
ser übertragen, Reisen schenken würden – 61, Witwe, sucht älteren, pflegebedürftigen
was war schon dabei? „Muss ich denn nein Herren zwecks Altenpflege“.
Lydia L. hatte darüber hinaus bis sagen, wenn mir einer was schenken will?“ Zwei der vier mutmaßlichen Mordopfer
2006 eine unbekannte Anzahl Ihr Sohn Carsten erinnert sich anders: logierten hier, und auch Wilhelm S., der
weiterer Bekannter wie z. B. Sie habe ihm mal gesagt, ältere Männer Rentner aus dem Sauerland, der dort ein-
Manfred F., Albin P. und Karl S. hätten Geld, „und wenn sie sterben, erbt zog und wenige Wochen später schwer-
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Deutschland

krank wurde. Ohne einen Pfennig in der für eine männermordende Gemahlin taugt Gehen der Männer irgendwann „ganz nor-
Tasche, verstört und ängstlich sei er zu der Fall also nicht, wohl aber dafür, dass mal“ gefunden haben; Fragen habe er nicht
ihnen zurückgekommen, erinnert sich sein Ehen mit Lydia L. sehr kostspielig waren. gestellt. Einmal aber, so behauptet er, habe
Sohn Kurt. „Da war nichts mehr zu Sie ging damals monatelang auch in Spa- ihm seine Mutter anvertraut, dass sie mit
machen. Fünf Monate später war er tot“ – nien auf Herrenjagd, lernte den verwitwe- dem Siggi „einen umgebracht“ habe und
und Lydia L. um 215 000 Euro reicher. So ten M. kennen, der nach einem Berufs- dass sie den dann weggefahren und ange-
zumindest hat das die Polizei hochge- leben bei Köln an die Costa Blanca gezo- zündet hätten. Falsch, beteuert Lydia L.
rechnet. Aus der gleichen Aufstellung geht gen war. heute, sie habe Carsten nur mal so einen
hervor, dass alle Senioren zusammen Lydia Minirock und Hochgestöckelte hatten Spruch vom Siggi weitererzählt, ohne das
L. mindestens ein Vermögen im Wert von auch auf ihn die kalkuliert belebende Wir- selbst ernst genommen zu haben.
670 000 Euro verehrten. kung. Manchmal kraulte Lydia L. ihren Auf jeden Fall lag die Leiche zur angeb-
Einer aber zieht nach Bodenfelde, der Alois hinter den Ohren, setzte sich keck lichen Falschbehauptung am 25. Juni 1994
bleibt: Siggi S., als eine Art Haus- und Hof- auf seinen Schoß. Dafür schenkte er ihr: an einem Parkplatz der A 7 bei Lutterberg
knecht. Er wohnt in einem Gartenhaus in ein BMW Cabrio, einen Silberfuchsmantel, im Kreis Göttingen. Der Mann hieß Gün-
der Nähe. Lydia L. hat ihm angeblich mal knallrot gefärbt, ein Wohnmobil. 1992 hei- ter Schwenke, 74, was damals niemand
Geld geliehen, das macht Siggi, den Sozial- rateten sie, zogen nach Bodenfelde. Hin- wusste, weil ihn keiner vermisste. Den Na-
hilfeempfänger, von ihr abhängig, aber das terher erzählte der Greis seinen Kindern, men erfuhr die Polizei erst am Tag, als Sig-
scheint ihm auch nur recht: Allein be- die Frau habe ihn eingesperrt und versucht gi S. auspackte – Mord Nummer eins.
kommt er in seinem Leben nichts in den zu vergiften. Auch er zeigte sie an, aber Schwenke habe ständig an Lydia L. her-
Griff; seine Bude: ein Chaos, dazu der Bernd, ihr zweiter Sohn, sagte vor dem umgetatscht, deshalb habe sie ihn mit Ta-
Alkohol; er trinkt damals viel zu viel. Gericht in Northeim für sie aus. Sie selbst bletten im Essen ruhiggestellt, und als
JÜRGEN DUMNITZ (R.)

Geständiger „Siggi“ S., Durchsuchung in seiner Gartenlaube: „Wenn ich hier fertig bin, klicken die Handschellen“

1990 wird Lydia L. ihrem Vorsatz, nur bestritt alles. Ergebnis des Verfahrens: Ein- Schwenke zum Arzt wollte, weil er sich so
noch alte Männer kennenzulernen, untreu: stellung, die übliche. merkwürdig fühlte, soll Lydia L. Angst
Heinz, ehemaliger Fallschirmjäger bei der Wenn Sohn Carsten etwas an den bekommen haben, dass die Rückstände
Bundeswehr, damals 50. Er ist die große Männern in Bodenfelde immer wieder auffallen könnten. Mit einem geliehenen
Liebe. Sie schenkt ihm ein Auto, einen Ur- auffiel, dann ihre Leistungskurve: steil Wohnmobil, so Siggi S., seien sie dann zum
laub – und sogar ihr Vertrauen. Sie sei da- abfallend. „Die kamen fit hierher, kurz Rastplatz gefahren – er selbst, Lydia L. und
mals durch ganz Deutschland gereist, zu danach wurden sie immer träger, schließ- Schwenke. „Ich sollte den erdrosseln“, und
alten Männern, um an deren Vermögen zu lich lagen sie nur noch im Bett.“ Was an so habe er es auch gemacht; sie hätten
kommen, erinnert sich Heinz S. heute. den Mitteln gelegen haben soll, die sie Schwenke dann abgelegt und mit Teppich-
„Einmal hat sie vor so einer Tour sogar ge- bekamen und sie möglicherweise auch so resten verbrannt.
sagt: ,Ich muss noch eben einen Opa be- großzügig, so freigiebig machten. Immer Tatsächlich hatte sich Lydia L. für den
erben.‘“ Heinz trennt sich, aber nicht, ohne wieder will Carsten für seine Mutter in die Tattag auch ein Wohnmobil geliehen, an-
sie noch bei der Polizei anzuzeigen. Die Bodenfelder Greif-Apotheke gegangen geblich aber, um zu ihrem Bruder nach
Kripo bestätigt: Auch diese Anzeige gab sein, um Psychopharmaka wie Diazepam Hannover zu fahren. Da müsse Siggi S.
es, auch dieses Verfahren wurde eingestellt mit Rezepten, die ein Arzt für seine Mutter wohl die Gelegenheit genutzt haben,
– Genaueres unbekannt; Akte vernichtet. ausgestellt hatte, zu besorgen. Großpa- Schwenke in ihrer Abwesenheit umzu-
Ehemann Nummer drei, Paul Passon, ckungen seien das gewesen, die hätten die bringen, sagt Lydia L. Der Siggi sei eben
83, stirbt im Februar 1991 einen verhält- Alten ins Essen bekommen, grüne und auf alle Männer eifersüchtig gewesen, de-
nismäßig unverdächtigen Tod – er wird bei weiße Tabletten – das hat Siggi S. auch nen sie ihre Zeit gewidmet habe.
einem Raub in seiner Wohnung im fernen ausgesagt. Klaus Kunze, Anwalt von Lydia Der zweite, den die Ermittler heute für
Bad Ems erschlagen, von zwei Männern. L., sagt dazu, weder die Angaben des einen Ermordeten halten, lag in seinem
Die Hochzeit ist gerade sechs Monate her. Sohnes noch die von Siggi S. seien glaub- Bett: Adolf Berge, Ehemann Nummer fünf,
Nummer vier, Alois M., beim Kennen- würdig. 84 Jahre alt und ein Kurschatten aus Bad
lernen 87, überlebt seine 18-monatige Carsten S., inzwischen 35, will das stän- Pyrmont. Sein Neffe Jürgen ist sicher, dass
Kurzehe sogar um neun Jahre. Als Beleg dige Kommen, vor allem aber das ständige Lydia L. „ihm was in den Kaffee getan
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hat“, um ihn zur Heirat zu bewegen. Wenn aufenthalt.“ „Er war ein zäher Bursche“, zusammen mit Siggi S. begangen habe. Ein
es stimmt, hielt die Wirkung aber nicht sagt seine Ex-Frau, nie krank, nie weh- Toter, verbrannt auf einem Rastplatz.
lang genug an: Berge habe sich schon nach leidig. Seine verkohlte Leiche lag am Carsten S. geht zur Polizei, kurz vorher
wenigen Wochen scheiden lassen wollen, 23. April 1995 in einem Straßengraben in hatte außerdem die Nichte des vierten To-
sagte Siggi S. nun aus – zu früh, um noch der Nähe von Volkerode in Thüringen, und ten, Gauger, eine Vermisstenanzeige ge-
an sein Vermögen zu kommen. wieder soll es das übliche Muster gewesen stellt; die Kripo in Göttingen fängt an zu
Also sei er im September 1994 mit Lydia sein: Er sei, sagt Siggi S., mit der Lydia ermitteln. Angeblich dreht sie jeden Stein
L. zu Berge gefahren, nach Melsungen in und dem Gräf in das leerstehende Haus um, drei Jahre lang, auch die Telefone
Hessen; vorher habe er mit ihr alles ab- vom toten Berge gefahren, nach Melsun- werden abgehört, aber 2004 wird die Akte
gesprochen. Dann die Tat in Berges Haus: gen; dort habe Lydia dem Gräf eine Ta- wieder geschlossen. Kein Ergebnis.
eine Tablette in die Erbsensuppe, den be- blette in die Suppe getan. Es folgt: Er- Mit herkömmlichen Ermittlungen scheint
täubten Berge aufs Bett gelegt, mit einem sticken mit einer Plastiktüte. Das will Sig- man Lydia L. damals nicht beikommen zu
Kissen erstickt, am nächsten Tag mit einem gi S. dann allein erledigt haben. können. So weiß sich selbst die Kripo 2002
Nachbarn als Zeugen scheinbar arglos ins Der letzte Tote, Gerhard Gauger, 71, soll nur noch damit zu helfen, dass sie einem
Haus zurückgekehrt, um den Toten zu schließlich am 13. Juli 2000 in seinem Haus alten Mann den Tipp gibt, schnell wieder
finden. Ein Testament, ausgestellt auf den in Völksen bei Hannover getötet worden auszuziehen; sogar ein Taxi ruft eine
Neffen und die Nichte, hätten Lydia L. und sein – wieder mit einer Plastiktüte erstickt, Beamtin für ihn. Der Grund: In abgehörten
er beseitigt. nur dass Lydia L. diesmal laut Siggi S. Telefonaten hatte Lydia L. über das Spar-
Lydia L. behauptet, Berge sei eines selbst mitgeholfen hat. Seine Mandantin buch des Mannes gesprochen.
natürlichen Todes gestorben. Fest steht: sei zur Tatzeit in Tschechien gewesen, be- So laufen die Geschäfte mit dem Alters-
Sie erbt sein Haus, sein Auto, sein Geld, hauptet ihr Anwalt. Gauger habe dagegen starrsinn, -leichtsinn, -schwachsinn in Bo-

FRANK SCHINSKI (L.); JÜRGEN DUMNITZ (R.)

Lydia L.s Anwesen in Bodenfelde, Garten hinter dem Hinterhaus: Schlaftabletten in das Essen der Alten?

das meiste davon zumindest, wenngleich eine Freundin in Polen besuchen wollen denfelde weiter gut. Bis Siggi S. – ja was?
die Angehörigen noch darum kämpfen. Al- und sei von dort eben nicht mehr zu ihr Den Druck auf seinem Gewissen nicht
lerdings will sich Lydias Sohn Carsten er- zurückgekehrt. Warum sich da Gedanken mehr aushält, wie er angeblich ausgesagt
innern, wie nervös seine Mutter geworden machen? Erst recht, weil Gauger sie aus haben soll? Oder er sich an Lydia L. rächen
sei, als sie hörte, dass die Polizei im April Polen ja noch zweimal angerufen habe. will? Es gab ein paar Tage vor dem Ge-
1995 Berges Leiche wieder ausgraben ließ, Das Problem: Die Freundin weiß nichts ständnis einen Streit, um irgendeine bana-
nach Gerüchten im Ort. Die Obduktion von dem Besuch. Und bei den angeblichen le Sache, angeblich warf sie ihn vom Hof.
ergab mal wieder: keine Auffälligkeiten. Telefongesprächen, die Lydia L. mit Gau- Oder wollte er sich nicht noch mehr,
Später, 1997, brennt Berges Haus – ger geführt haben will, lag Gauger schon in nicht noch tiefer verstricken? Der Polizei
gleich zweimal, durch Brandstiftung. Siggi einem ewigen Funkloch: einen Meter unter hat er gesagt, Lydia L. habe von ihm ver-
will es angezündet haben, die Balken habe der Erde, vergraben in seinem Garten. langt, Carsten eine Abreibung zu verpas-
er noch extra mit Benzin angestrichen. Die Das alles hätte nun nach so vielen er- sen. Damit der endlich nachgebe im Streit
Versicherungssumme ging an die Dame des gebnislosen Verfahren im Jahr 2001 endlich um die Enkelin. Und auch eine Brandstif-
Hauses, die mit der Brandstiftung nichts herauskommen können, sechs Jahre vor tung sollte er angeblich noch begehen.
zu tun haben will. Allerdings leidet ihre dem Geständnis von Siggi S., sechs Jahre, Obwohl die Ermittler ihre Arbeit weit-
Glaubwürdigkeit in solchen Fragen unter in denen noch so viele Männer in die Ve- gehend abgeschlossen haben, haben sie
einem gut gefüllten Vorstrafenregister. Die nusfalle der Lydia L. tappten, dass auch keine Erklärung dafür, weshalb Siggi S. die
Einträge lauten auf Unterschlagung, Ur- die Polizei den Überblick verloren hat. Taten gerade jetzt gestanden hat. „Ich war
kundenfälschung, Widerstand gegen Voll- In jenem Jahr 2001 ist die Tochter von es leid“, hat Siggi S. bei den Vernehmun-
streckungsbeamte, Sachbeschädigung, um Sohn Carsten zwei Jahre alt. Nachdem sie gen nur gesagt. „Ich wollte schon früher
nur einiges zu nennen. einige Zeit bei Lydia L. gewohnt hat, fordert zur Polizei, aber da war noch der Hund.“
Noch vor den Bränden stirbt der dritte der Vater sein Kind zurück. Aber Lydia L. Im Mai sei seine Katze gestorben, Anfang
Mann: Paul Gräf, 81, ein alleinstehender will sie nicht wieder hergeben. Da erinnert Juni dann sein Hund. Danach habe er end-
Unternehmer aus Zweibrücken, der selbst er sich: dass ihm seine Mutter mal was von lich gehen können. Jürgen Dahlkamp,
inseriert hatte: „Alleskönner sucht Ferien- einem Mord erzählt hatte, den sie angeblich Michael Fröhlingsdorf

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Deutschland

DAVID KLAMMER
Operateur Broelsch (2. v. l.) bei einer Lebertransplantation, Durchsuchung der Essener Uni-Klinik am vergangenen Donnerstag: „Das Leben

des Professors. Bisher hat Broelsch alle


MEDIZINER
Vorwürfe gegen sich abgestritten.

Billigkräfte am Skalpell?
Einer der Zeugen für die Fahnder ist
Hans-Peter Mandl. Fünf Jahre lang hatte
Mandls Ehefrau Elisabeth auf eine neue Le-
ber gewartet. Dann endlich meldete sich die
Vorige Woche durchsuchten Fahnder erneut die Essener Uni-Klinik. Klinik, das begehrte Organ für sie stehe zur
Verfügung. Am 2. Juli 2001 gegen Mittag
Dort sollen Ärzte ohne Berufserlaubnis operieren. Und sollte Elisabeth Mandl in den Operations-
wieder scheint der Star-Transplanteur Christoph Broelsch beteiligt. saal geschoben werden, als eine Mitarbei-
terin von Broelsch mit einem Schriftstück

D
ie Fachleute der Bezirksregierung Ärzte ohne weitere Bezeichnung in den hereinkam und noch auf einer Unterschrift
in Düsseldorf sind allerhand ge- OP-Berichten auf. Wegen der undurch- bestand: Hans-Peter Mandl sollte einer
wohnt, wenn sie die Zulassung aus- sichtigen Bezahlung von Stipendiaten er- Rechnung zustimmen, die in etwa das Dop-
ländischer Mediziner überprüfen. Sie mittelt zudem die Finanzkontrolle Schwarz- pelte von dem betragen haben soll, was sei-
schlagen sich mit unleserlichen Dokumen- arbeit des Zolls. ne Versicherung übernommen hätte.
ten in vielen Sprachen herum, sie erleben Sollten sich die Vorwürfe der Beamten „Das hatte bei keinem der Vorgespräche
freche Bestechungsversuche und enttarnen bestätigen, dann hat seit Jahren unqualifi- mit Professor Broelsch eine Rolle gespielt,
plump gefälschte Zeugnisse. ziertes Personal in dieser Vorzeigeklinik darum habe ich das abgelehnt“, sagt
Aber so dreist wie Vitaly M. war ihnen des Ruhrgebiets das Skalpell geführt – und Mandl. Grausam sei diese Situation ge-
noch keiner gekommen: Der angebliche dabei sogar bei lebensgefährlichen Ein- wesen, so kurz vor dem Ziel und dann
Mediziner aus einem ehemaligen GUS- griffen mitgewirkt. Für Stipendiaten sollen das Geschachere um Geld. Daraufhin sei
Staat beantragte im Januar 2003 die Be- sich nach Erkenntnissen der Staatsanwalt- Broelsch persönlich und ziemlich aufge-
rufserlaubnis – und fiel durch, weil die not- schaft zwei Chefärzte besonders einge- bracht im Krankenzimmer erschienen, am
wendigen Voraussetzungen nicht erfüllt setzt haben, darunter Professor Christoph Bett der fassungslosen Patientin. „Wenn
waren. Im Mai 2006 stellte der Mann er- Broelsch, 63, einer der berühmtesten und Ihr Mann nicht unterschreibt, dann ope-
neut einen Antrag und legte Arbeitszeug- gleichzeitig umstrittensten Mediziner riere ich Sie nicht“, soll Broelsch gesagt
nisse bei. Aus ihnen ging hervor, dass M. Deutschlands. haben, dann würden seine Oberärzte ope-
seit 2002 im Herzzentrum der Essener Uni- Bereits seit Monaten ermittelt das „Ein- rieren. Mandl weigerte sich.
versitätsklinik operierte. satzkommando Klinik“ der Essener Staats- Laut OP-Bericht ist Elisabeth Mandl
Der Fall ist womöglich nur eine beson- anwaltschaft gegen Broelsch, der als einer dann doch von Broelsch und seinen Ober-
dere Blüte einer unglaublichen Praxis in der besten Organtransplanteure der Welt ärzten operiert worden. Während des Ein-
der Ruhrmetropole. Ein Großaufgebot von gilt. Seit vergangenem Herbst ist Broelsch griffs stellte sich heraus, dass ihre eigene
über 40 Kripo-Leuten und Schwarzarbeit- vom Dienst suspendiert. Die Vorwürfe ge- Leber nicht so geschädigt war wie erwar-
fahndern vom Zoll durchsuchte am ver- gen den Chirurgen reichen von Organhan- tet. „Es wurde sogar überlegt, die Patien-
gangenen Donnerstag das Essener Klini- del bis zu räuberischer Erpressung; er tin zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht zu
kum – mehr als ein Dutzend Ärzte aus Chi- soll todkranke Patienten behandelt haben, transplantieren“, schrieb Broelsch später
na und Russland, die nach deutschem wenn sie dafür extra bezahlten – bis zu an den behandelnden Arzt von Frau
Recht gar keine sind, sollen dort arbeiten 400 000 Euro für eine neue Leber. Ober- Mandl, unter anderem wegen der langen
oder gearbeitet haben. Darüber hinaus staatsanwalt Hans-Joachim Koch überprüft Vorgeschichte hätte man sich dann aber
taucht eine hohe Zahl sogenannter Gast- derzeit rund 80 Transplantationen im Haus doch für den Eingriff entschieden.
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Von Spenden und Dritt- ken rechtfertigen, machen Krankenhaus-
mittelkonten redet Broelsch ärzte inzwischen mitverantwortlich für die
seit Monaten, wenn es um Misere der deutschen Organspende. Je-
das Abkassieren bei lebens- des Jahr sterben rund tausend Patien-
rettenden Operationen geht. ten auf der Warteliste für Herz, Leber,
Er stellt sich als Wohltäter Niere, Bauchspeicheldrüse oder Lunge,
dar, der „aus humanitären weil nicht genügend Spender zur Verfü-
Gründen auch Kassenpatien- gung stehen. Besonders die Zahl der unter
ten“ behandelt habe, die sich 65-Jährigen, die bereit sind, ihre Orga-
seine Chefarztbehandlung ne nach dem Tod zur Verfügung zu stel-
niemals hätten leisten kön- len, stagniert seit Jahren oder geht gar
nen: Und wenn er gefragt zurück. Viele potentielle Spender oder
habe, „ob sie eine freiwillige Hinterbliebene sind abgeschreckt, weil sie
Spende für unsere Forschung den Eindruck haben, dass mit den Orga-
leisten wollen“, so Broelsch, nen nicht selten Geschacher und Geldma-
„kann ich darin wirklich kei- cherei betrieben werden. Das Institut für
ne Erpressung sehen“. Gesundheitsökonomie an der Universität
Der Professor verkörpert Köln bekräftigte unlängst nach Auswer-
wie kein zweiter Chirurg in tungen von OP-Zahlen solche Vermutun-
Deutschland die Kaste der gen. Die Gesundheitswissenschaftler hat-
Weißkittel mit Starallüren. Er ten herausgefunden, dass Privatpatienten
gilt weltweit als ein Pionier in als Empfänger von Spenderorganen be-
der Technik, eine Leber zu vorzugt werden.
GEORG LUKAS

splitten: Vor 18 Jahren über- Broelsch, Träger des Großen Verdienst-


trug er erstmals ein Stück Le- kreuzes, verdankt es wohl auch seinen gu-
ber einer Mutter auf ihre ten Kontakten in die Politik, dass bisher
von Patienten in Gefahr“ Tochter. Doch seine Metho- jegliche Kritik an seiner Person folgenlos
den waren oft umstritten. Bei verstummte. Er war lange Skatbruder und
Der Körper nahm das neue Organ nicht Lebendorganspenden etwa von Nieren Leibarzt von Johannes Rau, dem er 1992
an, eine Woche später wurde ihr erneut schreiben die Gesetze vor, dass Spender die linke Niere entfernte.
eine Leber transplantiert, weitere Nach- und Empfänger verwandt sein oder sich Die jüngsten Vorwürfe über das Billig-
operationen waren erforderlich, einen gu- nahestehen müssen. Als Broelsch einem is- personal aus dem Osten haben indes eine
ten Monat später starb Elisabeth Mandl. raelischen Patienten die Niere eines Molda- neue Qualität. Inzwischen beschweren sich
Eigentlich wollte Hans-Peter Mandl da- wiers einsetzen wollte, verweigerte die zu- nämlich bereits junge Mediziner in der
nach nur noch vergessen. Erst als er las, ständige Kommission die Zustimmung. Facharztweiterbildung, dass sie wegen der
dass sich Broelsch im Herbst nach dem Be- Flugs verlegte er die Transplantation zu ei- ausländischen Gastoperateure in Essen
kanntwerden der Vorwürfe in der Öffent- nem Kollegenfreund nach Jena – die dorti- nicht mehr an den OP-Tisch kommen und
lichkeit weiter als humanitären Christen gen Kontrolleure waren einverstanden. sie die Zahl ihrer Pflichtbehandlungen
bezeichnete, setzte er sich hin und schrieb Einmal stand der Professor im Verdacht, nicht mehr erfüllen können.
einen siebenseitigen Brief an die Staatsan- Israelis Organe aus der Ukraine, Molda- Zudem gehörte zu den Ärzten ohne ord-
waltschaft. Wegen eines Auslandsauf- wien und Weißrussland in Essen trans- nungsgemäße Erlaubnis nach Überprüfun-
enthaltes war Broelsch in der vergangenen plantiert zu haben. Broelsch widersprach gen der Bezirksregierung pikanterweise
Woche für eine Stellungnahme zu dem Fall allen Vorwürfen mit dem unschlagbaren auch einer, der eine besondere Funktion in
nicht zu erreichen. Argument, er habe stets zum Wohle der der Klinik hatte: Bokdan N., der An-
Wie es in der Klinik des Transplanteurs todkranken Menschen gehandelt. sprechpartner für Eurotransplant – jene
zuging, ist derzeit auch Gegenstand eines Die hemdsärmelige Haltung, mit der Organisation, die zuständig für die Ver-
Prozesses vor dem Düsseldorfer Landge- Star-Transplanteure wie Broelsch ihr Wir- mittlung von Spenderorganen ist. Sein
richt. Ein Witwer verklagt den Chefarzt Name taucht zudem in mindestens vier
auf Rückzahlung von 11 000 Euro. Die Frau OP-Berichten auf.
des Mannes litt an Leberkrebs, war einer Die Uni-Klinik Essen erklärt, dass sie
dieser angeblich „unheilbaren Fälle“, die selbst bei einer Stichprobe „keine Ver-
ihre letzte Hoffnung in die genialen Hände stöße“ entdeckt habe. Sie bestätigt aber,
von Broelsch gesetzt haben. Der Arzt war dass Vitaly M. operiert habe, ohne eine
bereit, sie im Januar 2002 zu operieren, Erlaubnis zu besitzen. Die Universität habe
verlangte dafür aber, so die Behauptung aber „Sorge getragen“, dass künftig „auf
des Klägers, 20 000 Mark. „Mein Mandant keinen Fall Patienten von ausländischen
wurde von Professor Broelsch regelrecht Ärzten ohne Approbation oder Berufser-
erpresst“, sagt der Krefelder Rechtsanwalt laubnis“ behandelt würden.
STEPHANIE PILICK / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Bernd Herbertz, „um das Leben seiner Die Staatsanwälte gehen im Essener Kli-
Frau zu retten, hätte er wahrscheinlich jede nikum indes einem weiteren besonders
Summe gezahlt.“ schweren Fall nach, in dem „das Leben
Die Operation fand statt, der Barscheck von Patienten in Gefahr“ gewesen sei.
über 20 000 Mark wurde am 21. Januar Nach ersten Ermittlungen soll eine Ärztin
2002 eingelöst, eine Woche später starb die auf der Intensivstation beschäftigt gewe-
54-jährige Patientin. Über seinen Anwalt sen sein, die bei der Prüfung durch die Be-
ließ Broelsch dem Gericht erklären, dass es zirksregierung sogar zweimal durchgefallen
sich bei den 20 000 Mark um eine „freiwil- war. Sie hatte weder einen Druckverband
lige Spende zur Unterstützung von vier Politiker Rau, Leibarzt Broelsch (2001) anlegen noch einen Patienten reanimieren
chinesischen Fachärzten“ gehandelt habe. Hilfe für den Skatbruder können. Udo Ludwig, Barbara Schmid

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 59
Szene

Was war da los,


Herr Guerrero?
Der mexikanische Gießer Enrique
Guerrero, 49, über heiße Hollywood-
Träume

„Auch wenn unsere Anzüge etwas


übertrieben aussehen, sie müssen sein.
Die geschmolzene Bronze in dem Kes-
sel ist über tausend Grad heiß. Hier
gießen wir gerade die Gewinner-Statuen
für die Screen Actors Guild Awards,
der Preis nennt sich ,The Actor‘. Nach-
dem die Gala der Oscar-Verleihung
wegen des Autorenstreiks unsicher ge-
worden ist, geht es in Hollywood nur
noch um die Actors. Eigentlich sind wir
auf Kunstwerke spezialisiert, wir ver-
vielfältigen die Arbeiten von Bildhau-
ern, weltweit. Solche Filmtrophäen zu

DAMIAN DOVARGANES / AP
gießen ist im Vergleich unkompliziert,
sie sind klein, das Metall wird einfach
in Keramikförmchen gegossen, nach
drei Stunden sind sie abgekühlt.“ Guerrero (M.)

KON S U M Hilfe landesweiter Erhebungen, die PROSTITUTION

Schwarze kaufen Erst Sex, dann zur Uni


sich über 16 Jahre strecken, und sie sa-
gen: Es stimmt, Schwarze geben einen

anders
größeren Teil ihres Einkommens für
Statusgüter aus als Weiße mit gleichem
Einkommen. Der Grund dafür, sagen D ie Bekenntnisse einer 19-Jährigen
sowie eine Sammlung mit Interviews

E s ist ein altes Vorurteil, verbreitet


vor allem in den USA. Es lautet:
Schwarze seien anfälliger für die Ver-
die Wissenschaftler, sei in der Gesell-
schaft zu finden. Schwarze in den USA
lebten und arbeiteten in der Regel in
sorgen in Frankreich zurzeit für einen
Skandal. In ihrer Autobiografie „Mes
chères études“ (Mein teures Studium)
suchungen der Konsumgesellschaft Vierteln, in denen alle etwa gleich arm schildert die Sprachenstudentin Laura D.,
als Weiße. Sie gäben mehr Geld aus seien. Weil sie alle in etwa dieselbe wie sie sich ihr Studium durch Prostitution
für Markenkleidung, für protzigen Menge Geld zur Verfügung hätten, finanzierte. Ihre Kunden waren meist
Schmuck, prollige Autos. Drei ameri- könnten sie versucht sein, einander zu wohlhabende Männer, die zwischen 250
kanische Wirtschaftswissenschaftler beeindrucken. Weiße, so die Wissen- und 400 Euro für ein Treffen zahlten. Lau-
haben diese These nun überprüft, mit schaftler, lebten in den USA in viel he- ra D. sagt, sie sei zur Prostitution gezwun-
terogeneren Vierteln, die gen worden, nicht durch Zuhälter, sondern
Einkommensunterschie- durch die immensen Lebenshaltungskosten
de seien oft zu groß, um und die Gesetze des Staates. Trotz eines
auch nur den Versuch Jobs in einem Callcenter sei sie nicht in
zu unternehmen, den der Lage gewesen, ihre Miete und ihr Es-
Wohlhabenden mit ei- sen zu bezahlen. Unterstützung vom Staat
nem noch teureren An- bekam sie nicht, weil ihre Eltern arbeiteten
zug, einem luxuriöseren – allerdings in Jobs nahe am Existenzmini-
Auto zu beeindrucken. mum. Geteilt wird die Kritik von der Stu-
Vergleiche man die dentenorganisation SUD. Die schätzt,
Konsumausgaben von dass sich etwa 40 000 Studentinnen prosti-
Schwarzen und Weißen, tuieren, während die Polizei von bis zu
die in ähnlich armen 20 000 ausgeht. „Die meisten treffen wohl
Vierteln leben, sei kein einen oder zwei Kunden im Monat“, be-
BEDDER BRIAN / GAMMA

Unterschied festzustel- richtet die Soziologiestudentin Eva Clouet.


len, sagen die Wissen- Sie hat eine Studie veröffentlicht, die auf
schaftler. Die Weißen Interviews mit Kommilitoninnen beruht.
konsumierten dann Ihre zentralen Forderungen, so Clouet, sei-
nicht anders als die en eine Aufstockung der staatlichen Unter-
Amerikaner beim Einkaufen Schwarzen. stützung und günstigere Wohnungen.
60 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Gesellschaft
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE hatte sie hin und wieder gesehen. Sie
war eine zierliche Frau, einen Kopf

Der verlorene Sohn


kleiner als Flaig, und man sah ihr an,
dass das Leben es nicht immer gut mit
ihr gemeint hatte. Bei ihrer ersten Be-
gegnung hatte Flaig sie begrüßt: „Hi, ich
Wie ein Amerikaner seine Mutter im Baumarkt kennenlernte bin Steve.“ Sie hatte geantwortet: „Nett,
dich kennenzulernen. Ich bin Chris.“

C
hristine Tallady fühlte sich vom arbeiten, einen Baumarkt in seiner Hei- Was jetzt, fragte sich Flaig.
Leben überfordert, damals, vor matstadt Plainfield, Michigan. Sollte er ihr während der Arbeit auf
22 Jahren. Sie war fast noch ein Vier Jahre später, Flaig kann nicht die Schulter klopfen und sagen: „Hi
Teenager, sie war unverheiratet und sagen, warum, nahm er abermals die Chris, ich bin’s. Dein Sohn.“
schwanger. Das Kind, das in ihr wuchs, Dokumente der Stiftung zur Hand, las Sollte er zu ihr nach Hause fahren
war gesund, doch Tallady fühlte sich sie und erkannte, dass er den Namen und an ihrer Tür klingeln? Sollte er ihr
nicht bereit für ein Leben als Mutter, seiner leiblichen Mutter nie korrekt aus- Blumen mitbringen? Oder doch lieber
als Alleinerziehende, als übermüdete gesprochen, nie korrekt geschrieben etwas anderes? Würde sie sich freuen,
und überarbeitete Arme am Rand der hatte. Sie hieß Christine Tallady. Flaig ihn zu sehen? Flaig wusste es nicht.
amerikanischen Gesellschaft. Sie war nannte sie Christine Talladay. Er setzte Zwei Monate lang fragte er sich, wie
jung, sie wollte leben, nicht verzichten, sich an einen Computer und tippte den er den Kontakt herstellen könnte. Er
und so gab sie ihren Sohn im Oktober Namen seiner Mutter ein. Der Rechner wollte nicht abgewiesen werden. Nicht
1985, kaum dass er ihren Leib verlassen meldete: ein Treffer. Eine Christine Tal- noch einmal.
hatte, zur Adoption frei. In Schließlich gestand Flaig
den kommenden Jahren fragte sich ein, dass er Hilfe brauch-
sie sich oft, was für ein Kind, te. Er fuhr ins Büro von D. A.
was für ein Teenager und Blodgett for Children. Eine
schließlich, was für ein Mann Mitarbeiterin der Stiftung rief
ihr Sohn wohl geworden sei. Christine Tallady an. Im Bau-
Steve Flaig fragte sich Zeit markt.
seines Lebens, was für ein Tallady war beunruhigt, als
Mensch seine Mutter wohl sei, sie hörte, dass die Stiftung sie
seine leibliche Mutter. Flaig sprechen wolle. Wie konnte

REX LARSEN/ THE GRAND RAPIDS PRESS


wuchs auf bei Pat und Lois, die Mitarbeiterin wissen, wo
seinen Adoptiveltern. Sie hat- sie arbeitete? War Steve etwas
ten ihm schon früh gesagt, dass Schlimmes widerfahren? Wür-
er ihr angenommener Sohn de sie ihren Sohn im Kran-
sei, dass sie ihn aber liebten kenhaus wiedersehen, auf der
wie einen eigenen. Flaig glaub- Intensivstation? Dann hörte
te ihnen das. Aber er wollte sie die Stimme am anderen
mehr erfahren über seine Mut- Ende der Leitung sagen:
ter, über sich. Als er 18 Jahre Christine Tallady, Sohn Steve „Chris, dein Sohn arbeitet mit
alt war, versuchte er zum ers- dir bei Lowe’s.“
ten Mal, das Rätsel seiner Herkunft zu Flaig gab seiner Mutter ein wenig
lösen. Zeit. Er rief sie später am Tag an, sie
Flaig wandte sich an „D. A. Blodgett verabredeten sich im „Cheers Good
for Children“, eine Adoptionsstiftung, Time Saloon“ nahe dem Baumarkt.
benannt nach ihrem Gründer. Die Stif- Flaig sah die Frau, die er schon kannte.
tung hatte auch Flaig vermittelt, und Tallady sah einen ganz neuen Men-
Christine Tallady hatte damals verfügt, schen. Steve Flaig trug einen imposan-
dass ihre Identität offenbart werden ten Backenbart, der ihn älter erscheinen
dürfe, sollte ihr Sohn jemals nachfra- ließ, als er war. Er hatte ihre Haare. Ihre
gen. Sie wollte ihm nicht die Chance Augen.
nehmen, später einmal zu erfahren, wer Sie umarmten sich. Es war nicht wie
er sei, woher er komme. Wo sich seine im Kino, es gab kein großes Drama.
Mutter zurzeit aufhielt, ob sie noch am Flaig hatte Fragen, er war neugierig,
Leben war, konnten ihm die Mitarbeiter Aus der „Berliner Morgenpost“ nicht auf Rache aus. Mutter und Sohn
der Stiftung nicht sagen. redeten zweieinhalb Stunden mitein-
Flaig nahm die Papiere, setzte sich lady lebte in Michigan, in Plainfield, im ander.
an einen Computer und tippte den Na- West River Drive, keine Meile von Flaig erfuhr nicht nur, wer seine Mut-
men seiner Mutter in das Fenster einer Flaigs Arbeitsplatz entfernt. Flaig holte ter ist, sondern auch, dass er Geschwis-
Suchmaschine ein. Die Maschine mel- tief Luft und versuchte sich zu beruhi- ter hat. Einen Halbbruder, Brandon,
dete: kein Treffer. Flaig war ratlos. Er gen. Am nächsten Tag erzählte er das zehn Jahre alt. Eine Halbschwester,
wusste nicht, wo er noch suchen sollte. Unmögliche seiner Chefin, die sagte: Alexandra, sie ist zwölf.
Er stand auf und machte weiter mit sei- „Chris Tallady? Die arbeitet doch hier.“ Er hat sie schon getroffen, einmal
nem Leben. Flaig beendete die Schule Seine Mutter war acht Monate zuvor bisher. Seine Mutter sieht er jetzt jeden
und begann als Fahrer für „Lowe’s“ zu eingestellt worden, als Kassiererin. Flaig Tag. Uwe Buse

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 61
Gesellschaft

AU F BAU O ST

Der lange Marsch


In Brandenburg will ein chinesischer Geschäftsmann das erste
Chinatown Deutschlands bauen – und lernt nun schmerzlich die
Bedeutung von Wörtern wie „Lärmverträglichkeitsgutachten“
und „Bebauungsplanvorentwurf“. Von Markus Feldenkirchen

Ü
ber die Reste eines alten Flugplat- Westen, im Norden und Süden. Die Men-
zes in Brandenburg spazieren ein schen sollen auf der großen Mauer spazie-
Deutscher und zwei Chinesen und ren können, genau wie in China.
diskutieren darüber, wie hoch die Pago- Sie falten den Plan wieder zusammen.
den denn nun werden, die hier einmal ste- Fast drei Jahre hat es gedauert, aber jetzt,
hen sollen, 7-geschossig oder 13-geschossig. da die Stadtverordneten schließlich zuge-
Er sei für 13, sagt der Chinese. Je höher, stimmt haben, kann es Wirklichkeit wer-
desto besser. den. Sie dürfen das Gelände kaufen und
7 Stockwerke seien das Maximum, sagt sollen einen „vorhabenbezogenen Bebau-
der Deutsche, man müsse an die Behörden ungsplan“ erarbeiten.
denken. „Das kriegen wir baurechtlich Dafür haben Herr und Frau Ren zusam-
nicht durch.“ men mit Stefan Kunigam und dessen Bü-
„Bei uns in China darf man so hoch bau- ropartner die Brandenburg-China-Projekt
en, wie man will“, sagt der Chinese, seine Management GmbH gegründet. Kunigam
Frau nickt. leitet ein Ingenieurbüro in Frankfurt (Oder).
Man einigt sich schließlich darauf, die Herr Ren, heißt es, habe gute Beziehungen
Pagodenfrage zu einem späteren Zeitpunkt zur chinesischen Regierung.
zu klären. Es ist ein heiterer Tag, die Eu- Ren trägt an diesem Sommertag ein
phorie soll nicht gestört werden. Gerade weißes Leinenoberteil mit aufgestickten
erst hat das Stadtparlament von Oranien- chinesischen Schriftzeichen. Er sagt, dass
burg dem Plan zugestimmt, hier, auf diesen dieses Gelände ideal geeignet sei. „Auch
fast 80 Hektar Land, das erste Chinatown unter Feng-Shui-Gesichtspunkten.“ Dann
Deutschlands zu bauen. steckt er sich einen Grashalm ins Ohr.
Herr Ren, der Investor aus China, und Sie bleiben vor einem verwitterten
Herr Kunigam, der Ingenieur aus Deutsch- Schild stehen, das auf dem Boden liegt und
land, wollen den alten Flugplatz gleich auf dem kyrillische Schriftzeichen stehen.
neben der Bundesstraße 96 in Klein-China Es ist ein Relikt aus den DDR-Jahren, als
verwandeln. In wenigen Jahren sollen hier die Sowjetarmee hier einen Militärflug-
2000 Chinesen wohnen, leben, arbeiten, in hafen betrieb. Die Russen, sagt Herr Ren,
7- oder 13-geschossigen Pagoden. hätten für ein dunkles Kapitel der deut-
Kunigam bleibt vor einem Büschel Ge- schen Geschichte gesorgt. Bald aber werde
strüpp stehen, in dem eine Schnapsflasche hier das chinesische Kapitel beginnen, und
liegt. Genau hier, sagt er, werde das Ein- dieses werde ein leuchtendes sein.
gangstor stehen, er denkt an ein schwung- Herr Ren redet nicht gern über seine
volles, wie das Tor des Yuyuan-Gartens Geschäfte, aber er ist kein Blender, davon
von Shanghai, in das er sich einst auf einer hat sich Hans-Joachim Laesicke überzeugt.
Gruppenreise verliebt hat. Er malt mit dem Laesicke sitzt an seinem Bürgermeister-
Schuh ein Kreuz in den Schotter. „Hier schreibtisch aus Eiche und sagt, dass er of-
wird China beginnen.“ fen sei für China, sehr offen sogar, er sagt:
Dann holt er einen Plan aus seiner Ta- „Da müssen wir offensiv draufzugehen als
sche und faltet ihn auseinander, bis er Stadt Oranienburg.“ Er hat den Leiter sei-
knattert im Wind. „Rahmenplan China- nes Planungsamts gebeten, Erkundungen
Areal Oranienburg“ steht drüber, die Gär- über den Chinesen einzuholen. Der fragte
ten sind grün gekennzeichnet, die Plätze nach in deutsch-chinesischen Wirtschafts-
gelb, die Pagodenbauten rot. kreisen, und was er erfuhr, erleichterte ihn.
„Hier vorn wird die Verbotene Stadt ste- Herr Ren ist dort bekannt, es heißt, er
hen, unser Kulturzentrum“, sagt der Inge- kenne viele Investoren aus China, er habe
nieur, er zeigt mit dem Zeigefinger in Rich- eine halbe Milliarde Dollar im Rücken.
tung Wald. „Und da wird es Pekingopern Auch die chinesische Botschaft unter-
geben“, sagt Herr Ren. stützt das Vorhaben. Es gibt keinen Anlass,
Er deutet nun hinüber zur Schnellstraße, an der Ernsthaftigkeit des Projekts zu zwei-
über die sich zwei Lkw kämpfen und vor feln. Das Problem ist ein anderes.
der künftig eine Chinesische Mauer die Laesickes Büro liegt im zweiten Stock
Stadt schützen soll, fünf Meter hoch, im des Oranienburger Schlosses, eines Pracht-
62 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ehepaar Ren, Geschäftspartner Kunigam
„Unter Feng-Shui-Gesichtspunkten ideal“

baus, von dem schon Theodor Fontane


in seinen „Wanderungen durch die Mark
Brandenburg“ schwärmte.
Laesicke ist Fontane-Liebhaber, und
ebenso leidenschaftlich ist er Bürgermeis-
ter. Seit 14 Jahren kämpft er nun schon für
seine 41 000 Bürger, aber selbst er konnte
nicht verhindern, dass Oranienburg, 35 Ki-
lometer nördlich von Berlin, meist im
Schatten des Aufschwungs lag.
Er ist ein gemütlicher Mann, er hat ei-
nen Bart wie Kurt Beck und die Körper-
form von Helmut Kohl. An seiner Büro-
wand hängt Willy Brandt mit einer Man-
doline im Arm und einer Zigarette im
Mundwinkel, ein schönes Foto. Wegen
Brandt ist Laesicke, der sich die ganze
DDR lang geweigert hatte, Parteimitglied
zu werden, in die SPD eingetreten. Er sagt,
er habe etwas bewegen wollen.
Laesicke hörte viel über die Globalisie-
rung, aber was er hörte, spielte irgendwo
da draußen, weit weg, es hatte nichts mit
Oranienburg zu tun. Er war schon froh,
dass es bei ihm „den Papprollenhersteller
Merker“ und „Tiefbau Peter“ gab.
Jetzt aber möchte Hans-Joachim Lae-
sicke ein Stück von der Globalisierung ab-
haben. Er will nicht jammern über eine
Welt, die immer schneller und immer kom-
plizierter wird. Gejammert werde schon
genug in Deutschland, sagt er, besonders
im Osten. Er möchte Gewinner der Glo-
balisierung werden.
Am 15. Dezember 2005, um 11 Uhr, hat-
ten der Ingenieur Kunigam und das Ehe-
paar Ren einen Vorstellungstermin bei ihm.
Dem Bürgermeister gefiel die Idee mit Chi-
natown, aber um 13.15 Uhr sollte er mit Mi-
nisterpräsident Matthias Platzeck an einer
Gedenkfeier für die ermordeten Sinti und
Roma teilnehmen. Die Chinesen saßen um
seinen Tisch, sie guckten freundlich, und
Laesicke dachte: „Wenn ich jetzt gehe, sehe
ich die nie wieder.“ Er blieb.
Laesicke war nie in China, aber er hat
sich informiert. Er greift nach einem Buch,
es heißt „Der China Code. Wie das boo-
mende Reich der Mitte Deutschland ver-
MARKUS FELDENKIRCHEN / DER SPIEGEL (O.); IFA-BILDERTEAM (U.)

ändert“. Auf dem Titel sieht man einen


Drachen gefräßig mit der Zunge wedeln,
innen wird man aufgefordert, sich schleu-
nigst mit China zu befassen, „sonst werden
wir eines Tages von unseren Enkeln zur
Rede gestellt werden: Warum habt ihr den
Aufstieg Chinas verschlafen?“ Laesicke
will nichts verschlafen.
Das chinesische Oranienburg könnte
eine Mischung aus Freizeitpark und Na-
turmuseum werden, es würde gut in eine
Welt passen, in der sich die Völker ge-
genseitig immer öfter kopieren. Überall
in China bauen Architekten derzeit alte

Vorbild Verbotene Stadt in Peking


Gärten, Plätze, Pagoden
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 63
europäische Orte nach. Chinatown Ora-
nienburg wäre die deutsche Gegenoffen-
sive.
Hongbin Ren und sein Büro befinden
sich im zweiten Stock eines Betonklotzes im
Gewerbegebiet von Berlin-Marzahn. Er
steht vor einer Landkarte und tippt auf eine
Stadt, die Harbin heißt, sie befindet sich im
Nordosten Chinas, in der Nähe von Russ-
land, sie ist seine Heimatstadt.
Vor gut drei Jahren, sagt er, hätten ihn
Projekte zum ersten Mal nach Deutsch-
land gebracht. Hier lernte er Zhaohui ken-
nen, die in Stuttgart studiert und Deutsch
gelernt hat. Inzwischen ist sie seine Ehe-
frau und Dolmetscherin.
Herr Ren dreht sich ab von der China-
karte, läuft über den PVC-Boden und
bleibt vor einer Europakarte stehen. Er be-
trachtet sie wie ein Feldherr.
„Wir haben lange nach dem richtigen
Standort für Chinatown gesucht. Bis wir
auf Oranienburg gestoßen sind.“ Er zeigt
mit dem Finger auf Lübeck.
Es ist Zeit fürs Mittagessen, Ren und sei-
ne Frau fahren zu einem Chinarestaurant,
das „Mittelpunkt der Erde“ heißt. Am
Fenster hängen orangefarbene Lampions,
in einer Ecke sitzt ein Rentnerpaar und
isst Ente süß-sauer.
„In China isst niemand süß-sauer“, sagt
Herr Ren. „Jedenfalls nicht so wie die
Deutschen.“ Er freue sich, endlich für ein
realistischeres Chinabild in Deutschland
sorgen zu können.
Er sei viel durch Europa gereist, sagt Ren.
Von den Engländern sei nichts mehr zu er-
warten, die seien dem Untergang geweiht.
Den Franzosen fehle Disziplin, von den Ita-
lienern brauche man gar nicht zu reden.
Die Deutschen aber seien fleißig, deshalb
sei Deutschland der richtige Ort für sein
GETTY IMAGES

Projekt. Während Herr Ren Europa erklärt,


schnappt er mit der Hand nach Fliegen und
freut sich, wenn er eine gefangen hat.
Es gibt offene Fragen. Zum Beispiel, wer Chinatown in San Francisco: „In China isst niemand süß-sauer wie die Deutschen“
die Investoren sind, die die 500 Millionen
Euro für das Projekt am Ende bezahlen wer- fach anfangen. Einfach mal machen. Er enttäuscht über die Nein-Stimmen, bei ihm
den. Ren sagt, dies sei eine Frage der Dis- schnappt sich noch eine Fliege. zu Hause entscheidet die Politik meistens
kretion. Kein chinesischer Investor werde Aus Hongbin Ren sprudelt der Glaube, einstimmig, aber dann erklärte man ihm,
sich zu erkennen geben, bevor die deutsche dass alles möglich ist, das Selbstbewusst- dass 20:8 für demokratische Verhältnisse
Politik nicht garantiere, dass sie das Projekt sein eines Landes, auf das die Welt in einer ein prima Ergebnis sei. Und dass man die
unterstütze. Mischung aus Angst und Hoffnung starrt, Argumente der Gegner jetzt dennoch ernst
Oder woher die vielen Chinesen kom- eines Landes mit 1,3 Milliarden Menschen, nehmen müsse.
men sollen? Es soll chinesische Restaurants eines Landes mit Hunger auf Wohlstand. Friedrich Seifert von der CDU sagte an
geben, Geschäfte, chinesische Kultur, aber Die Kellnerin bringt ein Tellerchen, auf diesem Tag, er habe die Sorge, dass ein
all das ergibt noch kein Chinatown, solan- dem die Rechnung und Glückskekse lie- Ghetto am Stadtrand entstehen könne,
ge die Chinesen fehlen. gen. Herr Ren bricht seinen Keks auf und eine chinesische Stadt neben der Stadt.
Herr Ren sagt, man solle sich keine zieht den Zettel mit der Weisheit heraus: Chinatown sei „ein unkalkulierbares Risi-
Sorgen machen. Notfalls müssten eben „Einen Anfang zu machen ist das Ge- ko“. Seifert war einer der acht.
der Bürgermeister oder Angela Merkel mit heimnis zum Weiterkommen.“ Er sitzt in seinem Garten unter einem
ihren Kollegen aus China über eine An- Er nickt, als seine Frau den Spruch über- Baum, in dessen Krone die Vögel eines der
siedlung reden. Er glaubt, dass es so funk- setzt hat. letzten Konzerte des Jahres geben. Seifert
tioniere, aus seiner Heimat ist er es nicht Am 21. Mai 2007 saßen Herr und Frau trägt kreisrunde Brillengläser, sein Blick
anders gewohnt. In China kann die Politik Ren auf der Besuchertribüne des Oranien- ist freundlich, die Stimme sanft.
fast alles verordnen. burger Stadtparlaments und sahen den Ab- Sein Leben ist bislang übersichtlich ver-
Herr Ren wirkt inzwischen genervt. geordneten bei der Diskussion über ihr Pro- laufen. Das Haus, in dem er heute wohnt
Er mag die vielen Fragen nicht. Er sagt, jekt zu. Am Ende stimmten 20 für China- und als Architekt arbeitet, war früher sei-
man solle weniger Fragen stellen und ein- town und 8 dagegen. Herr Ren war etwas ne Schule. Wo er als Erstklässler im Unter-
64 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Gesellschaft

richt saß, steht heute sein Schreibtisch. kam er ein Schreiben vom Stadtplanungs- Am nächsten Tag schrieb er eine E-Mail.
Er ist Mitglied der Gartenkolonie „Eden“, amt, drei Seiten, auf denen stand, was jetzt Er bedankte sich für den „wunderschönen
einer alten Genossenschaft, die sich mit zu tun sei, Herrn Rens Hausaufgaben. Abend“ und die „freundliche und kräfti-
Obst- und Gemüseanbau selbst ernähren Nun seien die Voraussetzungen ge- ge Unterstützung“. Er werde jetzt „eine
wollte. Es war der Versuch, sich mit Hilfe schaffen, „auf Grundlage der Bestimmun- Freundschaftsstadt in China“ suchen. Es
der Natur von der Außenwelt unabhängig gen des Baugesetzbuchs (BauGB) mit dem folgte noch ein Wunsch: „Wir würden uns
zu machen. Es war das Gegenteil von Glo- Planverfahren zu beginnen“, las er. Er las sehr freuen, wenn Ihre Frau beim nächsten
balisierung. Wörter, die er nie gehört hatte, sie hießen Treffen auch mitkommen würde. Das wür-
Eden existiert noch heute, auch wenn „Raumordnungsverfahren“, „ÖPNV-Er- de wohl zu tiefen Verständnissen dienen.“
die meisten Mitglieder der Kolonie nur schließung“ oder „konkretisierter Bebau- Die unverbindliche Freundlichkeit des
noch in ihrer Freizeit ihre Beete bewirt- ungsplanvorentwurf“. Chinesen empfand man im Rathaus all-
schaften. Für Seifert ist sie Heimat geblie- Herr Ren sollte Deutschland erst jetzt mählich als störend. Man wunderte sich,
ben und Zufluchtsort. Und jetzt sollen die richtig kennenlernen. Bislang hatte er in dass Herr Ren nie auf das dreiseitige
Chinesen seine Nachbarn werden? „Das der Bundesrepublik ein Land mit guter Schreiben eingegangen war.
Chinatown wäre hier nicht mal ’nen Kilo- Luft, weiten Flächen und fleißigen Men- Dann kommt es im Oranienburger
meter weg.“ Er zeigt über den Zaun. schen gesehen. Jetzt sollte er das unsicht- Schloss zu einem wichtigen Treffen. Lae-
Dann steht er auf und läuft quer durch bare Deutschland kennenlernen, das Land sicke hat das Ehepaar Ren zu sich geladen.
seinen Garten, läuft vorbei an Beeten, auf der Verordnungen und Paragrafen. Das Projekt ist ins Stocken geraten, beide
denen im Sommer verschiedene Kräuter
wachsen und Erdbeeren, Sellerie, Radies-
chen.
„Man weiß ja gar nicht, mit wem man es
da zu tun bekommt.“ Seifert ist nicht frem-
denfeindlich, er ist nur im tiefsten Sinne
des Wortes heimatverbunden, und er hat
ein wenig Angst bekommen, seit die Chi-
nesen durch die Zeitung geistern. Er fürch-
tet, sich bald in der eigenen Heimat nicht
mehr zurechtzufinden.
Mit diesen Ängsten spielt auch die
NPD. Eines Tages lag in allen Briefkästen
Oranienburgs ein Flugblatt der Rechten:
„Heute sind Sie tolerant, morgen fremd
im eignen Land!“ lautete die Überschrift.
Neben dem Text lugte ein gezeichneter
Chinese mit Strichaugen, Hasenzähnen
und Reisbauernhütchen um die Ecke. Er
sah unheimlich aus, wie ein Geist.
Schon Oranienburgs Lieblingsschrift-
steller Theodor Fontane wusste, was „der
Chinese“ bei seinen Landsleuten auslösen
konnte. Für seinen Roman „Effi Briest“
CARSTEN KOALL

machte Fontane einen Chinesen zur zen-


tralen Figur, auch wenn dieser gar nicht
selbst auftritt. Es gibt ihn nur als Geist,
als Sinnbild für das Fremde und Unheim- Chinatown-Gegner Seifert: Er fürchtet, sich in der Heimat nicht mehr zurechtzufinden
liche. Während er durch den Roman spukt,
verbinden sich in ihm sowohl die Ängste Er erfuhr, dass es „umweltrelevante Seiten sind inzwischen enttäuscht vonein-
als auch die Sehnsüchte Effis. Auswirkungen“ zu berücksichtigen gel- ander.
Schon zu Fontanes Zeiten, Ende des 19. te, dass man „Zentrenverträglichkeits- Herr Ren, weil ihm der Preis für das
Jahrhunderts, war China jenes Land, das gutachten“ benötige und „Lärmver- Grundstück zu hoch erscheint und weil das
bei den Deutschen die Sehnsucht nach träglichkeitsgutachten“ natürlich auch. Bauen in Deutschland so kompliziert ist.
Abenteuer und Exotik beflügelte und zu- Zudem solle er möglichst bald „Planungs- Die Stadt, weil Herr Ren seine Hausauf-
gleich die Ängste vor dem Ungewissen. büros für die Erarbeitung des Bauleit- gaben nicht gemacht hat, nicht mal ein Pla-
Heute verunsichert die Menschen kaum planes“ benennen. nungsbüro hat er benannt. Deshalb hat der
etwas so sehr wie das laute Erwachen Bürgermeister an diesem
Chinas. Sie wissen nicht, wie sie reagieren Herr Ren erfuhr, dass 20:8 in einer Tag Paul Lösse vom Pla-
sollen, ob mit Abschottung, wie Friedrich nungsbüro p4 eingeladen.
Seifert, oder wie Bürgermeister Laesicke, Demokratie ein prima Ergebnis ist. Er hat sich auch informiert,
der alles, was nach China klingt, als riesi- was bei Gesprächen mit
ge Chance begreift. Herr Ren bestellte dann doch keine Bag- Chinesen wichtig ist. Man müsse Sprach-
Als das Stadtparlament dem Chinatown- ger. Aber er ignorierte auch das Schrei- bilder verwenden, sagt er.
Konzept zugestimmt hatte, dachte Herr ben, lieber lud er den Bürgermeister zu ei- Es soll ein klärendes Gespräch werden.
Ren, dass es nun losgehen könne. Er woll- nem Essen ins Restaurant ein, und zwar zu Lösse hat einen Beamer mitgebracht,
te schon die Bagger bestellen. einem „richtigen chinesischen, wo an der mit dem er seine Präsentation an die Wand
In Wahrheit hatte das Parlament nur die Ente noch der Knochen ist“, wie Laesicke wirft. Auf jeder Seite steht oben „Projekt
Erlaubnis gegeben, mit den Planungen später berichtete. Vielleicht hoffte Herr Chinatown“ und daneben ein chinesisches
fortzufahren. Es war nur ein erster Schritt. Ren, das Baugesetzbuch mit einer guten Schriftzeichen. „Excuse me“, unterbricht
Zwei Wochen nach der Abstimmung be- Ente umgehen zu können. Herr Ren den Vortrag nach einer Weile. Er
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 65
unserem Fall ein Deutscher.
Wir müssen nach deutschen
Regeln und Gesetzen spie-
len. Sonst gibt’s keine
Musik.“
Laesicke ist stolz auf sei-
nen Vergleich, aber er
merkt, dass es nicht viel än-
dert. Herr Ren lächelt höf-
lich, er sagt immer wieder,
dass China und Deutschland
hervorragende Partner sei-
en, dass die Zukunft wun-
derbar werde.
„Ja, dann kommen wir
wohl nicht viel weiter heu-
te“, sagt Laesicke. Seine
kräftige Stimme wirkt nun
kraftlos. Als das Paar ge-
gangen ist, bleibt er mit sei-
nem Amtsleiter zurück.

HOLLANDSE HOOGTE / LAIF


„Die haben völlig falsche
Vorstellungen von der
Macht eines Bürgermeis-
ters“, sagt Laesicke. „Ich
bin doch kein chinesischer
Niederländische Architektur in Shanghai: Oranienburg wäre die Gegenoffensive KP-Funktionär.“ „Sicher
nicht“, bestätigt sein Amts-
wirkt genervt. Er verstehe nicht, was der „In China wurde neulich ein Projekt in leiter. „Das Schwierige bei den Chine-
Herr Lösse hier am Tisch zu suchen habe, Höhe von 1,7 Milliarden Euro in nur drei sen ist: Du kannst nicht in die hinein-
wofür man überhaupt ein Planungsbüro Monaten bewilligt“, sagt Herr Ren. „Unser gucken.“
brauche und diese Präsentation. Projekt dauert jetzt schon drei Jahre.“ „Überhaupt nicht“, sagt Laesicke. „Die
„Das Zeichen dort oben, was soll das Das ist der Kern des Konflikts, es ist der reden immer freundlich, es ist immer alles
bedeuten?“ Unterschied zwischen einer Entwicklungs- prima, und wenn man dann hinterher da-
„Ähm, ähem“, stottert Lösse. „Ich habe diktatur und einer Demokratie. In China steht wie wir jetzt, fragt man sich: Was
meine Leute extra nach einem passenden, muss man keine Zentrenverträglichkeits- haben wir denn konkret gelöst?“
nun ja, chinesischen Zeichen suchen las- gutachten vorlegen. In der Demokratie sind „Nichts“, sagt der Amtsleiter. Genau,
sen, ähm, ich dachte, es hieße ‚Erfolg‘.“ die Dinge vielleicht mühsamer, sie dauern sagt der Bürgermeister, „nichts“.
„Das ist Unsinn“, sagt Herr Ren. „Die- länger, es gibt viele, die mitreden, es wird Es ist Winter geworden in Oranienburg,
ses Zeichen gibt es bei uns gar nicht.“ Rücksicht genommen, auf Anwohner, auf die Euphorie des Sommer ist geschrumpft,
Dann stoppt er die Präsentation, er sagt, Einzelhändler, auf Skeptiker wie Herrn Sei- die Stadt wartet noch immer auf das Geld
dass er sich vielleicht melden werde. Jetzt fert, sogar auf Frösche. Die Demokratie er- und auf den Bebauungsplan.
aber wolle er mit dem Bürgermeister und fordert Geduld, ihre Resultate sind selten Es wird nicht so schnell gehen, wie sich
dem Leiter vom Stadtplanungsamt allein gigantisch, aber oft solide. Die Mitsprache beide Seiten es am Anfang gewünscht hat-
reden. Lösse packt seinen Beamer und der vielen mag die Nerven strapazieren, aber ten. Sie wollen noch immer, dass es klappt,
geht. sie schützt vor der Willkür der wenigen. das haben sie sich vor zwei Wochen noch
Herr Ren sagt, er brauche Klarheit für einmal im Zimmer des Bür-
die Investoren. Wenn es in China solche Die Demokratie nimmt Rücksicht, auf germeisters versichert, aber
Projekte gebe, dann sage der Staat klipp es ist viel mühsamer, viel
und klar, wie er selbst es fördere, dann ga- Anwohner, auf Skeptiker, auf Frösche. komplizierter, als beide sich
rantiere er das Gelingen. Er verlange jetzt das gedacht haben.
konkrete Zusagen vom Land Brandenburg Irgendwann hat Herr Ren im Rathaus Demnächst will Herr Ren nach China
und von der Stadt Oranienburg, ob sie das anfragen lassen, ob er 13-geschossige Pa- fliegen, um mit den Investoren zu reden.
Projekt genehmigen und wie sie dies för- goden bauen dürfe und wie es mit einem Bis Juni, so hofft er, soll alles geklärt sein,
dern wollten. richtigen Hochhaus wäre, er denke da an dann sollen endlich die Bagger kommen.
Das sei in Deutschland etwas anders, das höchste Europas. Man hat ihm den Er hat schon Kontakt aufgenommen zu
sagt der Bürgermeister. Außerdem sei das Plan dann wieder ausreden können. einem berühmten Kulturensemble aus Chi-
Land vorsichtig, es habe seit der Wende Laesicke wirkt verzweifelt, es ist ihm na, das dann in Berlin eine Pekingoper auf-
viele Projekte subventioniert, die in den bislang nicht gelungen, seinem Gast führen soll. Der Auftritt soll ein Signal
Sand gesetzt wurden. „In Deutschland sagt Deutschland zu erklären. Es hilft nichts, er werden, dass es endlich losgeht.
man, das sind gebrannte Kinder.“ braucht jetzt dringend ein Sprachbild. Bürgermeister Laesicke möchte gern
„Verbrannte Kinder“, murmelt Herr „Stellen Sie sich vor, wir beide spielen daran glauben. Aber es fällt ihm nicht
Ren. „In China sagt man: Wenn jemand zusammen in einem Orchester. Sie spie- mehr so leicht. Er ist sich nicht mehr so
von der Schlange gebissen wurde, hat er len, sagen wir, Flöte, und ich spiele Tuba.“ sicher, dass Oranienburg Globalisierungs-
Angst vor ihr.“ Aber nur weil man gebissen Herr Ren freut sich, er spielt mit den Fin- gewinner wird. Zwischendurch überkom-
wurde, dürfe man doch nicht aufhören gern Flöte in der Luft. men ihn Zweifel.
weiterzuarbeiten. Er rutscht unruhig auf „Damit wir gemeinsam gute Musik ma- Vielleicht, sagt der Bürgermeister dann,
seinem Stuhl. Das Arbeitstempo stimme chen, brauchen wir einen Dirigenten“, sind die Chinesen doch ein bisschen zu
nicht, es müsse schneller gehen. fährt Laesicke fort. „Und der Dirigent ist in anders. ™
66 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Gesellschaft

Die Achse der Besseren


Ortstermin: Eine amerikanische Anwältin sucht in Berlin nach
einer neuen Heimat für Guantanamo-Häftlinge.

S
ie kommt am frühen Nachmittag aus ten dürften, die sie nicht fürchten müssen „And now“, sagt Ströbele und nimmt
Kairo, Ägypten liegt hinter ihr, der wie ihre Heimat. seine Lesebrille ab, „it’s your turn.“
Jemen, Jordanien, Dänemark, Län- Emilou MacLean geht durch einen end- Es sind Sätze, wie Emilou MacLean sie
der, die verbunden sind in ihrem Kopf. Ihre losen Regen, durch ein unbekanntes Land. gern von den Regierungsbeamten gehört
Weltkarte ist ein kompliziertes Geflecht. Sie bereitet sich vor. Sie geht durch das hätte, mit denen sie zuvor gesprochen hat.
Sie fliegt hin und her zwischen den Län- Brandenburger Tor, sie sucht nach der Li- Sie würde sich solche Sätze besonders von
dern und versucht, Türen zu öffnen, Re- nie, auf der die Mauer stand, sie betrach- einer Kanzlerin wünschen, die den ameri-
gierungen zu bewegen. Sie will eine Koali- tet die weißen Kreuze für die Toten an die- kanischen Präsidenten aufforderte, das La-
tion bilden, die wie ein Gegenentwurf zum ser Mauer, sie steht vor dem Reichstag und ger in Guantanamo zu schließen.
Weltbild ihres Präsidenten klingt, eine fragt, wofür das Schwarz, das Rot und das Ströbele blättert in seinen Unterlagen,
Achse der Besseren. Gold in den Flaggen stehen. Es ist, als wür- er glaubt, es gebe einen Punkt, an dem
Sie nimmt die S9 vom Flughafen in die de sie Deutschland vermessen. sie ansetzen könnten, die amerikanische
Stadt, sie fährt durch Berlin und überlegt, Es ist nicht leicht, ihr auf der Reise durch Anwältin und der grüne Abgeordnete.
ob Deutschland eine Achsenmacht sein Deutschland zu folgen. Sie ist vorsichtig, Es ist ein Satz, der am 17. Januar 2007
könnte. sie will ihre Mission nicht gefährden. Sie gesagt wurde, es war ein Mittwoch, die
Emilou MacLean ist Anwäl- 75. Sitzung der 16. Wahlperi-
tin, sie hat ein kleines Büro ode des Bundestags, so steht
in New York. Sie arbeitet dort es im Protokoll. Damals stell-
im Center for Constitutional te der grüne Abgeordnete
Rights und verteidigt die Ver- Volker Beck der Regierung die
fassung ihres Landes, meistens Frage, warum sie keine Häft-
gegen die eigene Regierung. linge aufnehme, die nicht in
An einem Abend im frühen ihre Heimatländer zurück-
Januar packte sie einen brau- gehen könnten, warum sie
nen Ordner, auf den sie „Re- nicht helfe, das Lager zu
settlements“ schrieb, in ihre Ta- schließen.
sche und brach zu einer Reise „Die Bundesregierung ist
hinter die Frontlinien des Ter- durchaus bereit, einen Beitrag
FOTOS: NORBERT MICHALKE

rors auf. Es klingt banal, „Re- zu leisten, wenn sie dazu auf-
settlements“, nach Umsiedlun- gefordert wird“, antwortete
gen von einem Ort an einen an- Gernot Erler, der Staatsminis-
deren. Doch die Dokumente in ter im Auswärtigen Amt. Er
diesem Ordner erzählen von hängte dann noch einen der
der Angst gebrochener Män- Nebensätze an, die Staats-
ner, von ihrer Furcht vor einem Anwältin MacLean, Politiker Ströbele: „Männer ohne Land“ minister sagen, wenn sie sich
Leben außerhalb des Ortes, an Auswege offenhalten wollen,
dem die Linien auf Emilou MacLeans Welt- weiß, wie nervös das Wort Guantanamo er sprach von der „Berücksichtigung an-
karte zusammenlaufen: Guantanamo. Regierungen und manchmal auch Opposi- derer politischer Wirkungen einer solchen
Sie trägt eine Liste bei sich, auf der die tionen macht, und sie will offene Ge- Maßnahme“. Es ist die Sprache der Bei-
Namen von 50 Männern stehen, die Angst spräche. Manche ihrer Gespräche finden packzettel.
vor der Freiheit haben. Sie haben Angst, an merkwürdigen Orten statt, einige ha- Aber auf den Hauptsatz könnte man die
verfolgt und gefoltert zu werden, zu ver- ben offiziell nie stattgefunden. Regierung festlegen, glaubt Ströbele.
schwinden in der Freiheit von Usbekistan, Hans-Christian Ströbele ist ein Sonder- Emilou MacLean schreibt das auf. Sie
China, Somalia, Libyen, Algerien, Syrien, fall. Ströbele, der Grüne, hat keine Angst. hat eine klare Handschrift, sie passt zu ei-
Tunesien und Russland. Es sind die Länder, Er empfängt Emilou MacLean mit einem ner Anwältin mit einer klaren Sprache. In
die einmal ihre Heimat waren. Lächeln und führt sie in Besprechungs- ihrem Notizblock stehen jetzt viele Namen
„Sie sind Männer ohne Land“, sagt raum 1511. „Vielleicht“, sagt Ströbele, „darf und Strategien, es ist ein Anfang. Sie muss
Emilou MacLean. ich’s zunächst auf Deutsch sagen: Also, mehr Türen öffnen. Guantanamo lässt sie
Sie ist nach Berlin gekommen, um für herzlich willkommen im Deutschen Bun- nicht los, es verfolgt sie. Vielleicht ist es
diese Männer nach etwas zu suchen, für destag.“ Er breitet Papiere vor sich aus, in auch umgekehrt.
das es in ihrer Sprache kein Wort gibt: Hei- denen Passagen gelb markiert sind, er ist Morgen wird sie zurück nach New York
mat. Einige der Männer sind „cleared“ in vorbereitet. „Ich halte Guantanamo für ein fliegen, doch sie wird bald zurückkommen
der Sprache des Pentagon, als wären sie Foltergefängnis, das vorweg“, sagt er. „Und nach Europa. Sie muss die Achse verlän-
gereinigt worden in Guantanamo. Sie sol- ich halte es für einen Skandal, dass die zi- gern, Emilou MacLean, ein Jüdin mit ei-
len nicht „freigelassen“ werden, das klän- vilisierten Staaten noch keine Möglichkeit nem braunen Ordner, unterwegs in
ge zu sehr nach unschuldig, sie sollen gefunden haben, wenigstens die Gefange- Deutschland auf der Suche nach einer Hei-
„transferiert“ werden. Sie könnten Guan- nen dort herauszuholen, die Guantanamo mat für gefangene muslimische Männer.
tanamo verlassen, wenn sie Länder betre- verlassen dürften.“ Mario Kaiser

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 67
Trends

PATRICK LUX / AP
DB-Güterzüge

BÖRSENGANG chen Lösung zustimmen. Die hatten immer wieder betont, dass

Bahn will Fakten schaffen


der Bund die Mehrheit an der künftigen Verkehrsgesellschaft be-
halten sowie die bisherige Zahl der Jobs gewährleistet sein müs-
se. Sollte die Politik nach der Hamburg-Wahl am 24. Februar das
Thema Privatisierung nicht auf die Agenda setzen, könnten Ende

D ie Deutsche Bahn möchte in der schier endlosen Debatte um März die rechtlichen Voraussetzungen für das Hol-

LIESA JOHANNSSEN / PHOTOTHEK.NET


ihren Börsengang offenbar Fakten schaffen – und die zöger- ding-Modell geschaffen werden. Theoretisch wäre da-
liche Politik vor sich her treiben. Am 1. Februar soll das Aufsichts- mit auch eine Teilprivatisierung des Schienenkon-
ratspräsidium des Staatskonzerns in einer außerordentlichen Sit- zerns am Parlament vorbei möglich. Dazu genügten
zung die Chancen für das sogenannte Holding-Modell ausloten. ein Beschluss von Aufsichtsrat und Hauptversamm-
Danach würde das Schienennetz bei einer DB Holding im hun- lung. Bei der Bahn fürchtet man allerdings, dass sich
dertprozentigen Staatsbesitz bleiben, die Bereiche Nah-, Fern- in diesem Fall die in der Privatisierungsfrage ohnehin
und Güterverkehr in eine Tochtergesellschaft ausgegliedert und hochemotionale Stimmung unter den Bundestagsab-
teilprivatisiert werden. Bei der Präsidiumssitzung dürfte es ins- geordneten noch stärker gegen das Unternehmen und
besondere um die Frage gehen, ob die Gewerkschaften einer sol- Vorstandschef Hartmut Mehdorn drehen könnte. Mehdorn

S TA AT S F O N D S AU TOMOB I L I N D U ST R I E

Scholz contra Glos Letzte Ausfahrt


A rbeitsminister Olaf Scholz (SPD)
stößt mit seiner Forderung, künftig
Einigung
an der Prüfung von Investitionen aus-
ländischer Staatsfonds in deutsche Un-
ternehmen beteiligt zu werden, auf
B ernd Osterloh, Betriebsratsvorsit-
zender von VW, und sein Porsche-
Kollege Uwe Hück wollen sich diese
heftigen Widerstand des von Michael Woche zu einem letzten Einigungs-
Glos geführten Bundeswirtschaftsminis- versuch im Streit um die Mitbestim-
teriums. In einem Schreiben an das mung in der neuen Porsche Holding
Arbeitsministerium (BMAS) lehnt Wirt- treffen. Die Wolfsburger Arbeitnehmer-
schaftsstaatssekretär Bernd Pfaffenbach vertreter haben bislang bemängelt, dass
JOERN WOLTER / VARIO-IMAGES

das Ansinnen mit Verweis auf europa- sie nicht ausreichend berücksichtigt
rechtliche Vorgaben ab. Einschränkun- würden. So sollen im Aufsichtsrat der
gen des Kapitalverkehrs seien gemäß Porsche Holding künftig drei Arbeit-
EU-Vertrags nur zulässig, wenn die öf- nehmervertreter von VW und drei von
fentliche Sicherheit oder Ordnung ge- Porsche sitzen. Vor allem IG-Metall-
fährdet sei, argumentiert er in dem Chef Berthold Huber drängt Hück und
Brief. „Wirtschaftspolitische Auswirkun- Telekom-Zentrale in Bonn Osterloh zu einer Einigung. Der Streit
gen eines Erwerbs einschließlich be- schadet seiner Ansicht nach dem Image
schäftigungspolitischer Aspekte reichen BMAS-Staatssekretär Kajo Wasserhövel, der Gewerkschaft. Schwierig sind die
hierfür regelmäßig nicht aus“, heißt es eine arbeitsmarktpolitische Prüfung Gespräche vor allem, weil das Verhält-
weiter. Das Arbeitsministerium beharrt könne „nicht von vornherein unzulässig nis zwischen Hück und Osterloh sehr
aber weiterhin auf Mitsprache, wenn sein“. Schließlich seien an der Entschei- gespannt ist. Sollten sich die beiden
demnächst beispielsweise ein russischer dung neben dem Wirtschaftsministerium Funktionärsstreithähne nicht näher-
Investor mehr als 25 Prozent der Tele- auch das Außenamt und das Finanz- kommen, wird das Arbeitsgericht Stutt-
kom kaufen wollte. In einem Antwort- ministerium beteiligt. Insofern würden gart am 13. Februar über die Klage der
schreiben an Pfaffenbach erklärt der auch andere Aspekte berücksichtigt. VW-Betriebsräte befinden.
68 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wirtschaft
POSTDIENSTLEISTER erneut geweigert, weiteres Geld zuzu-

Pin-Mutter meldet
schießen, da ein Käufer nach Meinung
des Verlags nicht in Sicht sei. Durch die

Insolvenz an
Insolvenz haben die bisherigen Pin-Ge-
sellschafter, neben Springer unter ande-
rem der Verlag Holtzbrinck und die

N achdem in der vergangenen Woche


bereits 19 weitere Regionalgesell-
schaften des angeschlagenen privaten
WAZ-Gruppe, nun keinen Einfluss mehr
auf einen möglichen Verkauf. Zwar su-
chen die Pin-Sanierer Horst Piepenburg
Postdienstleisters Pin in die Insolvenz und Hans-Joachim Ziems weiter nach
geschlittert sind, hat am
Freitag auch die Luxem-
burger Muttergesellschaft
Pin Group in Köln Insol-
venz angemeldet. Dort ist
seit Beginn der Sanierung
auch die Geschäftsführung
des Unternehmens ange-
siedelt. Der Schritt wurde
nötig, weil ein Berliner
Pin-Aktionär nicht bereit
war, eine Forderung von
rund 1,5 Millionen Euro

RAINER JENSEN / DPA


gegenüber der Mutterge-
sellschaft zu stunden. Um
die Holding bis in den Fe-
bruar am Leben zu halten
und einen Käufer suchen Pin-Mitarbeiter
zu können, wären aus
Sicht der Sanierer insgesamt rund zehn einem Interessenten für eine Komplett-
Millionen Euro erforderlich gewesen. übernahme. Sollte sich bis Mitte Fe-
Vor allem der Hauptaktionär, der Axel- bruar jedoch kein Einzelinvestor finden,
Springer-Verlag, hatte sich auf einer Ge- würden die regionalen Pin-Gesellschaf-
sellschafterversammlung am 15. Januar ten einzeln veräußert werden.

HANDEL dels- und Touristikkonzern mit neuen

Quelle baut
Umbauaktionen von sich reden. Inner-
halb der nächsten Monate will die Ar-

Callcenter um
candor-Versandtochter Quelle vier ihrer
Callcenter in Leipzig, Chemnitz, Essen
sowie im dänischen Padborg mit ins-

Z wei Tage nachdem Arcandor-Chef


Thomas Middelhoff für seinen „Pio-
nier- und Unternehmergeist im globalen
gesamt fast 1200 Mitarbeitern schließen.
Stattdessen sollen drei neue Center in
Berlin, Magdeburg und Cottbus die Auf-
Kontext“ die Ehrendoktorwürde der re- gaben übernehmen. Rund 30 Millionen
nommierten Handelshochschule Leipzig Euro investiert der Versandhändler, der
erhielt, macht der angeschlagene Han- 2007 im Deutschland-Geschäft erneut
einen Umsatzrückgang verbuch-
te, in die Center. Besonders ver-
bittert über die Pläne sind die
rund 530 Mitarbeiter im däni-
schen Padborg. Denn Quelle
weigert sich, den fast ausschließ-
lich deutschen Mitarbeitern, die
teilweise seit mehr als zehn Jah-
ren im dortigen Callcenter ar-
beiten, eine Abfindung zu zah-
len. Der Konzern beruft sich
CHRISTOPH BUSSE / KEYSTONE

dabei auf dänisches Recht, das


eine soziale Abfederung bei
Betriebsschließungen nicht
zwingend vorschreibt. Verhand-
lungen über einen freiwilligen
Sozialplan sind vergangene
Quelle-Callcenter (in Leipzig) Woche endgültig gescheitert.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 69
LANDOV/INTER-TOPICS (O.); DPA (M.); M. DARCHINGER (U.)

Konzernchefs Bernotat, Großmann, Villis, Braunkohlekraftwerk Jänschwalde: Radikale Veränderungen für die gesamte Branche

ENERGIE

Jahr der Entscheidung


Dem Quartett der deutschen Strom- und Gasriesen droht in den nächsten Monaten an allen
Fronten gewaltiger Ärger – von der Berliner Regierung bis zur Europäischen Kommission,
von den Verbrauchern bis zum Kartellamt. Und im Hintergrund lauern französische Konkurrenten.

E
s fing schon schlecht an in diesem reflexhaft polterte Behördenchef Matthias Unterstützt von höchsten Regierungs-
Januar für die Bosse der vier gro- Kurth, die anvisierten Summen seien viel stellen, drängen nicht nur russische Unter-
ßen Stromkonzerne. Kaum waren zu hoch. Also kürzten seine Beamten die nehmen wie Gasprom ins Geschäft. Auch
die Beamten der Bundesnetzagentur aus Anträge drastisch zusammen. Beim Esse- und gerade Energieriesen wie die fran-
ihrem Weihnachtsurlaub zurückgekehrt, ner RWE-Konzern etwa um rund 28 Pro- zösische EDF haben den hiesigen Markt
bereiteten sie den Unternehmenslenkern zent, bei EnBW sogar noch um einen Pro- entdeckt. Selbst Übernahmen von Dax-
von E.on, RWE, EnBW und Vattenfall eine zentpunkt mehr. Jede Kommastelle ist in Schwergewichten wie dem Essener Strom-
erste schmerzhafte, weil kostspielige Nie- diesen Rechnungen Millionen wert. produzenten RWE scheinen nicht mehr
derlage. Zwar bemühte man sich in den Kon- ausgeschlossen. Zwar ist der französische
Die Unternehmen hatten vorher ihre zernzentralen, Fassung zu bewahren. Tat- Konzern bereits an EnBW beteiligt. Doch
Anträge eingereicht zur Genehmigung der sächlich jedoch ist die Stimmung nervös für den Branchen-Vize RWE würden sich
sogenannten Netzentgelte. Das sind jene bis düster. Denn auch den hartgesottenen die Angreifer möglicherweise von dem
Quasi-Mautgebühren, die neue Konkur- Strommanagern ist mittlerweile klar, dass Paket trennen.
renten und eigene Kunden dem Quartett der Schlag aus Bonn nur ein erster Vor- Gleichzeitig stehen bei Kartellwächtern
der Großen bezahlen müssen, um deren geschmack auf das ist, was in den nächsten und Gesetzgebern in Berlin und Brüssel
Stromleitungen verwenden zu dürfen. Fast Monaten auf die Branche zukommt. weitreichende Entscheidungen an. Den
70 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wirtschaft

21
Haushaltsstrom 20,64
20
Preis in Deutschland*,
in Cent pro Kilowattstunde 19

17,13 April 1998


18
Quelle: BDEW
Liberalisierung * Musterhaushalt, 17
des Strom- Basis: 3500 kWh
markts Verbrauch pro Jahr
16

15

14
13,92 13
1998 2000 2002 2004 2007

8,0
Die Gewinne**
der großen
Stromkonzerne
5,8 1. bis 3. Quartal 2007
in Milliarden Euro
**Betriebsergebnis

Steigerung zum
Vorjahreszeitraum

+ 77 % + 21 % + 11 % +9%
1,4
RAINER WEISFLOG

1,3 Vattenfall
E.on RWE EnBW Europe

deutschen Energieversorgern drohen Stra- durch massive Verbraucherproteste, ver- seit Monaten Gegenstand heftiger Ausein-
fen und Sanktionen in Milliardenhöhe – suchten die Verantwortlichen da erstmals, andersetzungen zwischen Wettbewerbs-
möglicherweise sogar die Zerschlagung. die Marktmacht der Stromkonzerne auf hütern und E.on.
„Was in den nächsten Monaten auf uns allen nur erdenklichen Ebenen einzu- Während die Ermittler davon ausgehen,
zukommt“, befürchten auch hochrangige dämmen. dass das Siegel beim Anbringen in Ord-
E.on-Manager, „könnte die ganze Branche Neue, schärfere Gesetze wurden erlas- nung war und somit in der Zwischenzeit
radikal verändern.“ Zumindest aber dürf- sen, die Aufsichtsbehörden verschärften möglicherweise Akten entfernt oder ma-
te es die Bilanzen der Energiekonzerne ihre Gangart. Auch die Kartellwächter in nipuliert worden sein könnten, wider-
schwer belasten. Brüssel und Bonn wurden ermuntert, sich spricht man bei E.on vehement. Das Siegel
Der plötzliche Wandel kommt nicht von das merkwürdige Treiben auf den Strom- sei nur leicht beschädigt und nicht zerris-
ungefähr. Jahrelang hatte die Energie- und Gasmärkten doch noch genauer an- sen, heißt es dort, den Raum habe somit
branche Wettbewerbshüter, Politik und zusehen – mit Erfolg. Langsam trudeln die auch niemand betreten können.
Verbraucher an der Nase herumgeführt. ersten Ergebnisse des Rundumschlags ein. Noch weiß man auch bei E.on nicht, ob
Eingebettet in ein sicheres Oligopol, dik- Den Auftakt wird demnächst EU-Wett- Kroes die drohende Strafe am Umsatz
tierten die vier großen Konzerne die Prei- bewerbskommissarin Neelie Kroes ma- des Gesamtkonzerns oder der betroffenen
se, Mengen und Investitionen auf dem mil- chen. Seit langem ermittelt die Nieder- Tochter E.on Energie bemisst. Selbst die
liardenschweren heimischen Energiemarkt länderin in zahlreichen Verfahren gegen kleinere Variante zöge ein Bußgeld von bis
fast nach Belieben. europäische und vor allem deutsche Ener- zu 250 Millionen Euro nach sich. Würde
Man tat sich gegenseitig nicht weh und gieversorger. Mit dem sogenannten Siegel- sich Kroes aber am Mutterkonzern orien-
war sich einig in der Abwehr von neuen bruchverfahren, weiß man auch bei E.on, tieren, könnten es sogar über 500 Millio-
Konkurrenten, Verbraucherärger und Poli- steht nun eine der skurrilsten Auseinan- nen werden.
tikerpopulismus. Die Folgen für den Markt dersetzungen offenbar unmittelbar vor So viel Geld elektrisiert selbst einen
waren fatal: Während die Konzerne Jahr dem Abschluss. profitverwöhnten Stromriesen. Und doch
für Jahr Milliardengewinne einfuhren, Hintergrund ist eine Durchsuchung von wirkt auch diese Summe geradezu harmlos
kletterten die Strom- und Gaspreise auf E.on-Geschäftsräumen in München vor im Vergleich zu den möglichen Sanktio-
Rekordmarken. Gleichzeitig wurden wich- knapp zwei Jahren. Damals hatten die Er- nen, die den deutschen Strom- und Gas-
tige Investitionen in moderne, CO2-arme mittler kistenweise Geschäftsunterlagen versorgern aus den weiteren Brüsseler
Kraftwerke verschoben. und Akten beschlagnahmt und in einem Wettbewerbsverfahren drohen.
Die Politik schaute dem Treiben hilf- E.on-Büroraum deponiert. Als sie zurück- In denen nämlich geht Kroes dem Ver-
und tatenlos zu – zumindest bis Anfang kehrten, war das angebrachte Siegel be- dacht nach, dass es im Strom- und Gas-
vergangenen Jahres. Aufgeschreckt auch schädigt. Wie, wann und durch wen, ist sektor zu wettbewerbswidrigen Abspra-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 71
Wirtschaft

chen gekommen sein könnte und dass die den Willen der Anrainer wollte selbst
etablierten Konzerne neue Anbieter aus
dem Markt gedrängt hätten.
Deutscher Energie-Mix der Essener Goliath nicht mobil-
machen. Der Baustopp in Ensdorf
Wettbewerbshüter, die in das euro- Gesamte Netto-Stromerzeugung in Deutschland wirkte wie ein Alarmsignal – in der
päische Verfahren involviert sind, glauben, 2006 in Prozent Politik, besonders aber in den Kon-
dass Kroes genug Indizien für einen Energieträger zernen.
großen Schlag gesammelt hat. Im Strom- Mit immer weniger Kraftwerken
bereich etwa gibt es eindeutige Unterla- Braunkohle droht in Deutschland nicht nur eine
gen für gesetzwidriges Verhalten, die sogar 23 Versorgungslücke. Etablierten An-
schon Eingang in Gerichtsverfahren ge- Kern- Stein- bietern wie RWE könnten damit
funden haben (SPIEGEL 45/2007). energie kohle große Teile der Basis ihres Stromge-
Und auch auf dem Gasmarkt, wissen Ex- 27 21 schäfts in Deutschland wegbrechen.
perten, habe es in der Vergangenheit Ab- Selbst ausländischen Konkurren-
sprachen über Märkte, Mengen und Pipe- ten wie dem französischen Staats-
lines gegeben. Auch hier soll Kroes durch konzern EDF scheint diese Schwäche
die Durchsuchungen mittlerweile im Be- erneuerbare nicht verborgen geblieben zu sein.
sitz von sehr detaillierten Unterlagen sein. Energien Erdgas Zumindest, wissen Energiemanager,
Die betroffenen Konzerne streiten sol- 5 12 12 hat Frankreichs Staatspräsident Ni-
che Vorwürfe bisher ab. Sollte Kroes ihnen colas Sarkozy erst vor wenigen Wo-
Heizöl,
im Laufe des Jahres aber das Gegenteil be- Pumpspeicher chen bei Bundeskanzlerin Angela
weisen können, hätte das umso gravieren- und Sonstige Quelle: BDEW
Merkel vorgefühlt, ob mit großen
dere Konsequenzen. Dann nämlich könn- Widerständen zu rechnen sei, wenn
te die EU-Kommissarin zum großen Schlag der vom französischen Staat mas-
ausholen und die Konzerne doch noch zur siv geförderte Versorger den Ver-
Abgabe ihrer milliardenschweren Strom- such unternehmen würde, RWE zu
und Gasnetze zwingen. kapern.
Doch nicht nur aus Brüssel drohen tiefe Angesichts solcher Bedrohungen
Einschnitte. Schon in den kommenden von allen Seiten versuchen die Chefs
zwei bis drei Wochen wird auch die Bon- der Energieversorger seit Wochen
ner Bundesnetzagentur weitere millio- schon, das angeschlagene Verhältnis
nenschwere Kürzungen bei den Netznut- zur Politik zu verbessern – und das
zungsentgelten vornehmen. Diesmal sind nicht nur, indem sie plötzlich ganz
die regionalen Netze an der Reihe. Deren ernsthaft über Sozialtarife beim
Kosten gehen mit immerhin knapp einem Strom oder über Rückerstattungen
Drittel in die Strompreise ein. wegen zu hoher Netzgebühren nach-
Und weil die Versorger unter scharfer denken.
Beobachtung sämtlicher Aufsichtsbehör- Fast im Wochenrhythmus reisen
den stehen, dürfte ihnen diesmal kaum RWE-Chef Jürgen Großmann und
eine andere Chance bleiben, als die Preis- E.on-Chef Ulf Bernotat nach Berlin
nachlässe wirklich an ihre Kunden weiter- zu Gesprächen mit CSU-Wirtschafts-
zugeben. Zumindest E.on und RWE ha- minister Michael Glos, dessen SPD-
ben entsprechende Schritte angekündigt. Umweltkollegen Sigmar Gabriel,
OLAF BALLNUS

Selbst mit neuen Gesetzen versucht die aber auch mit der Bundeskanzlerin.
Politik, die „Marktmacht“ der Energie- „Eine umweltfreundliche, sichere
konzerne zu brechen. Vergangene Woche und preiswerte Energieversorgung“,
preschte Hessens Wirtschaftsminister Alois Atomkraftwerk Krümmel bei Geesthacht so das neue Motto der Energiebosse,
Rhiel (CDU) mit einer neuen Gesetzes- Keine Verlängerung der Laufzeiten könne man nur „mit- und nicht ge-
initiative vor. Danach sollen die großen geneinander etablieren“.
Versorger gezwungen werden, Stadt- und teure Verschmutzungszertifikate zukaufen. Erste kleinere Erfolge konnten Groß-
Kraftwerke zu verkaufen. Der Betrieb vieler Braun- und Steinkohle- mann und Bernotat tatsächlich bereits ver-
Nur so, glaubt Rhiel, lasse sich das meiler dürfte sich dann kaum noch loh- buchen. In neu eingerichteten Runden im
„volkswirtschaftlich schädliche Oligopol“ nen. Ersatz jedoch ist nicht in Sicht. Wirtschafts- und Umweltministerium sollen
wirkungsvoll bekämpfen. Regenerative Energien wie Wind und wichtige Themen der Energieversorgung
Für E.on & Co. wäre das der GAU. Sonne können die entstehende Lücke noch neu diskutiert werden.
Denn schon heute zeichnen sich gravie- lange nicht füllen. Und eine Verlängerung Außerdem wurde schon über eine
rende Kapazitätsengpässe bei Kraftwerken der Laufzeiten bestehender Atomkraft- neue Art von Energiegipfel nachgedacht.
in Deutschland ab. „Da droht eine Rie- werke ist in der schwarz-roten Koalition Gemeinsam sollen Umwelt- und Ver-
senlücke“, warnte vor wenigen Tagen ein absolutes Tabu. braucherverbände, Politik und Energie-
etwa der neue EnBW-Chef Hans-Peter Selbst gegen den Bau moderner Kohle- wirtschaft dabei versuchen, ein weithin
Villis. meiler, die zumindest pro erzeugter Kilo- tragfähiges Konzept für die künftige Ener-
Allein durch den beschlossenen Atom- wattstunde deutlich weniger Kohlendioxid gieversorgung in Deutschland zu erar-
ausstieg fallen in den kommenden Jahren ausstoßen und aus der gleichen Menge des beiten.
rund 27 Prozent der Stromproduktion schwarzen Rohstoffs mehr Energie gewin- Ob solche Veranstaltungen ausreichen,
komplett weg. Gleichzeitig werden alte nen als die Vorgängermodelle, regt sich das ramponierte Image der Energieversor-
Kohlekraftwerke immer unrentabler. landauf, landab Widerstand. ger nachhaltig zu verbessern, wird sogar in
Nach den in der vergangenen Woche in Im saarländischen Ensdorf beispielswei- den Konzernen bezweifelt. Entscheidend,
Brüssel vorgestellten ehrgeizigen Klima- se hat eine Bürgerinitiative den Bau eines glaubt man dort, wird die nächste Preis-
schutzzielen der Kommission müssen die milliardenschweren RWE-Kohlekraftwerks runde – und die steht zumindest beim Gas
Unternehmen bereits in wenigen Jahren zuletzt endgültig zu Fall gebracht. Gegen kurz bevor. Frank Dohmen

72 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
FOTO POLLEX / ACTION PRESS
TUI-Chef Frenzel (auf der Hauptversammlung im Mai 2007 in Hannover): Mit Volldampf in den nächsten vermeintlich sicheren Hafen

um. Nun will er weg vom Kerngeschäft


UNTERNEHMEN
und dafür lieber das Logistikgeschäft aus-

Dienstlich genießen
bauen.
Doch am jüngsten Kurswechsel des
Unternehmens hatten einige Großaktio-
näre wie der russische Stahlmagnat Alexej
Erstmals torpedieren die TUI-Aufsichtsräte die Pläne ihres Mordaschow sowie namhafte Hoteliers be-
reits im Vorfeld heftige Kritik geübt. Einer
langgedienten Vorstandschefs Michael Frenzel. Dabei der mächtigsten Anteilseigner, der nor-
verstand man sich über Jahre hinweg besonders gut – fast zu gut. wegische Milliardär und Multiunternehmer
John Frederiksen, ging die derzeitige TUI-

W
er gewohnt ist, in den schönsten Der TUI-Chef nimmt den Warnschuss Führung massiv an und forderte gar, die
Hotels der Welt zu residieren, seiner Widersacher und Kontrolleure ge- Fusionspläne zu stoppen.
kann einen Trip zur TUI-Zen- lassen – noch. „Das war eine richtig gute Dass Frederiksens Brief während der
trale in Hannover leicht als ähnlich ab- und lebhafte Sitzung“, ließ er über seinen Sitzung des Aufsichtsrats verlesen wurde,
schreckend empfinden wie die Teilnahme Sprecher danach ausrichten. Tatsächlich hat auf die Kontrolleure offenbar nach-
am RTL-Dschungelcamp. Mit seiner tristen könnte das Aufmucken von Frenzels Auf- haltigen Eindruck gemacht. Der lange Frie-
Fassade aus Glas und Granit wirkt der sehern der Anfang vom Ende einer Ära den zwischen den Aufsehern und Frenzel
nüchterne Zweckbau wie eine Trutzburg – sein: Seit 14 Jahren herrscht Frenzel über war ohnehin suspekt geworden.
zur Abwehr unerwünschter Eindringlinge den Konzern, der noch Preussag hieß und Die Erklärung dafür könnte unter an-
der Gattung Finanz-Heuschrecke oder an- mit Stahl und Öl handelte, als er anfing. derem in der Zusammensetzung des Kon-
derer feindlicher Invasoren. Frenzel baute das Unternehmen in einer trollgremiums liegen. Das mutet – vorsich-
Die 20 Damen und Herren des Auf- beispiellosen Verkaufs- und Einkaufstour tig ausgedrückt – ähnlich bunt und schil-
sichtsrats, darunter prominente Ex-Mana- zum größten europäischen Urlaubsmulti lernd an wie die große, weite Urlaubswelt
ger wie der ehemalige Deutsche-Bank-Vor-
stand Jürgen Krumnow oder Bayer-Auf-
sichtsratschef Manfred Schneider, würdig-
ten das unwirtliche Ambiente kaum eines
Blickes, als sie am Mittwoch vergangener
Woche kurz nach zehn Uhr morgens durch
die Eingangshalle in die Führungsetage eil-
ten. Es ging auch um Wichtigeres.
Die Kontrolleure sollten eine der be-
deutendsten Weichenstellungen in der jün-
geren Unternehmensgeschichte beschlie-
ßen: die Verschmelzung der TUI-Holding
mit ihrem Schifffahrtsableger Hapag-Lloyd
sowie den Umzug des Topmanagements
an den deutlich repräsentativeren Haupt-
CHRISTIAN OHDE / ACTION PRESS

sitz der Tochter am Hamburger Ballin-


damm.
Doch die sonst eher milden Kontrolleu-
re zeigten sich diesmal überraschend reni-
tent. Die Umzugs- und Fusionspläne von
TUI-Chef Michael Frenzel wurden erst ein-
mal vertagt – auf Mitte März oder sogar
noch später. Luxus-Kreuzfahrtschiff „Europa“: Hauseigene Vergnügungsflotte

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 73
Wirtschaft

des Konzerns. Neben Arbeitnehmerver- delstar Mike Krüger und Ex-Tenniscrack


tretern, Hotelbetreibern oder Tourismus- Michael Stich bei einer Sause auf der „Eu-
lobbyisten aus ganz Europa tummeln sich ropa“ vor Sylt. Normalsterbliche durften
dort alte Recken der längst verbliche- auch dabei sein – zu Preisen von rund 2300
nen Deutschland AG wie Ex-RWE-Chef bis knapp 4500 Euro für die viertägige
Dietmar Kuhnt, Krumnow und Schneider. Mini-Kreuzfahrt auf dem Fünf-Sterne-Plus-
Auch der ehemalige österreichische Bun- Luxusliner.
deskanzler Franz Vranitzky ist seit Jahren Auch Krumnows Kontrolleurskollege
mit von der Partie. Schneider könnte als Beiratsmitglied bei
Die meisten von ihnen hatte Frenzel bis- Hapag-Lloyd zumindest einmal im Jahr für
lang ziemlich gut im Griff – aus unter- kleines Geld die hauseigene Vergnügungs-
schiedlichen Gründen: Die Besitzer großer flotte nutzen. Doch dafür fehlt ihm offen-
Bettenburgen etwa muckten in der Ver- bar die Zeit.
gangenheit nur selten auf, weil die TUI als Er sitzt nebenher noch in knapp ei-
Reiseveranstalter ihnen zugleich hilft, ihre nem halben Dutzend anderer Aufsichts-
Zimmer auszulasten. gremien. So reichte es im Frühjahr 2004
Zudem haben Arbeitnehmervertreter, nur für einen dreitägigen Kurztrip auf der
die als Mitarbeiter des Konzerns oder von „Europa“.
Tochterfirmen in das Gremium einrücken,
das Anrecht auf bis zu drei verbilligte Ur-
laubsreisen pro Jahr mit Rabatten von bis
zu 50 Prozent – je nachdem, welche Posi-
tion der Aufseher bekleidet. Solche An-
nehmlichkeiten fördern erfahrungsgemäß
nicht gerade die Lust am Widerspruch.
Auch einige Vertreter der Kapitalseite

JÜRGEN JOOST / ACTION PRESS


wissen den Komfort, den der Urlaubsriese
mit sich bringt, offenbar zu schätzen. Nach
unabhängigen Schilderungen mehrerer
hoher TUI-Mitarbeiter machten in der Ver-
gangenheit unter anderen Chefaufseher
Krumnow und Multi-Aufsichtsrat Schnei-
der gern von der Möglichkeit Gebrauch, TUI-Bosse Krumnow, Frenzel, Gattinnen
mit Damenbegleitung zu Schnäppchen- Fünf Sterne plus zu Schnäppchenpreisen
preisen um die Welt zu reisen.
So schipperten Krumnow und seine Bis Mittwoch vergangener Woche konn-
Frau, ähnlich wie Familienangehörige des te Frenzel noch hoffen, dass sich diese und
ehemaligen WestLB-Chefs Thomas Fischer andere vom Konzern gewährten Vorteile
(SPIEGEL 4/2008), von Mitte Dezember auch für ihn selbst auszahlen – indem seine
2006 bis Anfang Januar 2007 ebenfalls zum Kontrolleure ihn weiter treu unterstützen.
Dumping-Preis von rund hundert Euro pro Doch diesmal hat der Überlebenskünst-
Tag und Nase auf einem luxuriösen Ha- ler Frenzel offenbar überreizt, obwohl er
pag-Lloyd-Kreuzfahrtschiff, der „Hansea- wie kaum ein anderer deutscher Vor-
tic“, durch internationale Gewässer. standschef in den vergangenen Jahren ech-
Nötig hätte Krumnow den großzügigen te Steherqualitäten bewiesen hat.
Rabatt nicht: Seine Aufsichtsratsbezüge Frenzel baute erst den einstigen Energie-
beliefen sich allein im Jahr 2006 auf fast und Rohstoffriesen Preussag zum Touris-
310 000 Euro. Auch Multi-Aufsichtsrat musriesen um – und riss das Ruder jäh her-
Schneider kommt allein bei der TUI auf um, als die erhofften Gewinne ausblieben.
73 000 Euro. Seither versucht er, mit Volldampf den
„Die mir privat in Rechnungen gestell- nächsten vermeintlich sicheren Hafen an-
ten Aufwendungen für den Aufenthalt auf zusteuern: die Schifffahrt.
dem Schiff entsprachen den Konditionen, Branchenkenner rätseln schon lange,
die den Mitarbeitern der Hapag-Lloyd AG weshalb der Aufsichtsrat – zumindest bis
und damit auch den Mitgliedern des Auf- vor kurzem – Frenzels waghalsige Wende-
sichtsrats eingeräumt werden, sobald freie manöver immer so bereitwillig mitgetra-
Plätze zur Verfügung stehen“, erklärt gen haben. Die kamen oft so plötzlich, wie
Krumnow, der auch im Kontrollgremium die jüngste Volte, die gerade durchsickerte:
der Schifffahrtstochter sitzt. Auch die Flü- Längst arbeitet Frenzel demnach schon am
ge zum Einschiffungshafen habe er „zu nächsten Coup und visiert die Übernahme
normalen Preisen privat bezahlt“. der asiatischen Reederei Neptune Orient
Als Doppel-Aufsichtsrat bei der TUI und Lines an.
Hapag-Lloyd kann Krumnow ohnehin Damit würde er indirekt einen Staats-
dienstlich genießen, wofür andere teuer fonds aus Singapur als neuen Großaktionär
bezahlen müssen. Im vergangenen Som- ins Haus holen. Doch bei der Vorstellung,
mer zum Beispiel empfing die Konzern- dass bald asiatische Finanzjongleure in
tochter Hapag-Lloyd unter anderem die Hamburg auftreten könnten, wurde es of-
Verlegerwitwe Friede Springer, ARD- fenbar selbst treuen Frenzel-Anhängern
Nachrichtensprecher Tom Buhrow, Blö- mulmig. Dinah Deckstein

74 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wirtschaft

nen, stehen wir spätestens in fünf Jahren


vor massiven Problemen“, beschreibt der
U N T E R N E H M E N S K U LT U R deutsche Microsoft-Geschäftsführer Achim

„Ein Sache des Wollens“


Berg die Herausforderung des Bevölke-
rungsschwundes.
Weitaus wichtiger jedoch als der Fach-
kräftemangel sind die überraschenden
Erkenntnisse mehrerer Studien vom ver-
Frauen sind selten im Top-Management. Microsoft Deutschland gangenen Jahr. Deren übereinstimmendes
zeigt, wie man Gleichberechtigung systematisch organisiert. Ergebnis lautet: Firmen, in denen Mitar-
beiterinnen führende Positionen einneh-
men, erwirtschaften mehr Gewinn.
Die US-Frauenorganisation Catalyst un-
tersuchte die 500 größten Aktiengesell-
schaften Amerikas und kam zum gleichen
Schluss wie die vergleichsweise unver-
dächtige Unternehmensberatung McKin-
sey: Gemischte Führungsgremien sind
sowohl ökonomisch als auch von der Un-
ternehmenskultur her signifikant erfolg-
reicher. Die Firmen mit den meisten Frau-
en im Vorstand erzielten im Vergleich zu
solchen ohne Frauen eine bis zu 53 Pro-
zent höhere Eigenkapitalrendite.
Wo sich mindestens drei Frauen im Vor-
stand finden, steigen die Erträge nach-
weislich. Drei allerdings müssen es sein,
um die dominierende Kultur in einer Grup-
pe zu beeinflussen. Die klassische Einzel-
kämpferin, so viel steht fest, kann nichts
verändern. Entweder sie passt sich dem
männlichen Verhaltenskodex an – oder sie
scheitert.
„Vielfalt ist extrem wichtig, sagt Micro-
soft-Mann Berg, „Vielfalt schafft Quali-
tät.“ Anfang 2007 wechselte der ehemali-
MATHIAS WOLTMANN

ge T-Com-Vorstand in die deutsche Ge-


schäftsführung von Microsoft – und fand
bereits drei Direktorinnen vor. Zwei wei-
tere hat er selbst berufen, nun sitzen
Microsoft-Chef Berg (2. v. l.), Mitarbeiterinnen: „Vielfalt schafft Qualität“ 5 Frauen im 13-köpfigen Leitungsgremium
– eine Ausnahme in der deutschen Wirt-

E
in wenig nervös war Isabel Vogel weis, dass seine Personalstrategie aufgeht. schaft.
durchaus, als sie bei Microsoft in Un- Die lautet: Frauen, an die Arbeit! „Wenn es „Jedes Mal, wenn ich das anderen Ma-
terschleißheim zum Vorstellungs- uns jetzt nicht gelingt, Frauen zu gewin- nagern erzähle, wird eine halbe Stunde
gespräch erschien. Du hast nichts zu ver- lang über nichts anderes mehr gespro-
lieren, sprach sie sich selbst Mut zu. Schon chen“, amüsiert sich Berg. Verrät der
eingeladen zu werden ist ein Sieg, sagte Lukrative Leitung 43-Jährige dann noch, dass alle fünf Top-
sie sich, denn sie wusste: Bei den meisten Durchschnittliche finanzielle Entwicklung Managerinnen erziehende Mütter sind,
anderen Firmen hätte ihre Bewerbung von Firmen* mit ... bringt er damit so manches Weltbild ins
trotz brillanter Zeugnisse keine Chance ge- Wanken.
... drei oder mehr Frauen im Vorstand
habt. Ihr Makel: Isabel Vogel, 41, ist Denn nur eine einzige Frau arbeitet der-
Mutter dreier Kleinkinder. ... weniger zeit im Vorstand eines Dax-Unternehmens,
Die Zwillinge waren damals gerade Frauen oder 16,8 % Bettina von Oesterreich vom Immobilien-
16,7 %
mal zwei, das dritte Kind dreieinhalb keiner Frau finanzierer Hypo Real Estate. Ansonsten:
Jahre alt. Trotzdem wollte die Marke- im Vorstand Nadelstreifen, wohin man schaut.
tingassistentin 30 Stunden pro Woche In den Top 50 börsennotierten Unter-
arbeiten. Ein Unding, fanden Bekann- nehmen Europas halten Frauen nur elf
te. „Kein Problem“, fand der Mann von 11,5 11,5 10 % Prozent aller Sitze in den Führungsgre-
Microsoft. „Ich vertraue Ihnen, das schaf- % % mien, so EU-Statistiker von Eurostat.
fen Sie“, sagte er und stellte sie ein. Deutsche Aufsichtsräte sind gerade mal zu
Zwei Jahre ist das nun her, und Isabel 6,2 zehn Prozent weiblich besetzt – und auch
Vogel hat es geschafft. Mehr noch: Aus ih- % das nur dank der Arbeitnehmerseite.
rer Teilzeitstelle im Marketing ist ein Full- Obendrein existiert eine enorme Ent-
time-Job geworden. Keinen Tag fiel sie aus lohnungslücke. Pro Arbeitsstunde erhal-
– auch dank des familienfreundlichen Um- EIGENKAPITAL- UMSATZ- GESAMT- ten Frauen hierzulande durchschnittlich
felds, das die Firma bietet. Jungen Kolle- RENDITE RENDITE KAPITALRENDITE 22 Prozent weniger Geld. So ist die Lage,
ginnen dient sie seither als strahlendes *Top 500 börsennotierte US-Firmen von 2001 bis 2004; Quelle: Catalyst sechs Jahre nachdem die Bundesregierung
Vorbild – und ihrem Arbeitgeber als Be- mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft
76 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
vereinbarte, die Chancengleichheit zu för-
dern.
Mittlerweile ist zwar klar, dass man die
Frauen-Führung
Anteil der Frauen in den obersten Ent-
Frauen braucht. Doch sie zu gewinnen scheidungsgremien der jeweils 50 größten
wird immer schwieriger. „Das familiäre börsennotierten Unternehmen 2006
Umfeld ist für Frauen das Killerkriterium.
Wenn das nicht stimmt, kriegen wir sie NORWEGEN 32%
nicht“, sagt Microsoft-Personalchefin Bri- SCHWEDEN 24%
gitte Hirl-Höfer, die im Kampf um die bes-
ten Talente alles unternimmt, um das ge- FINNLAND 19%
wünschte Ambiente zu schaffen: Microsoft GROSSBRITANNIEN 12%
organisiert Kita-Plätze und finanziert sie DEUTSCHLAND 11%
mit, betreibt eine Eltern- und Babysitter-
börse und zahlt die Vermittlungsgebühr für FRANKREICH 8%
alle möglichen Familienservices, von der NIEDERLANDE 7%

FLORIAN JAENICKE / LAIF


Kinder- bis zur Elternbetreuung. BELGIEN 6% Quelle:
Aus der Babypause zurückkehren- Europäische
den Müttern werden Joblösungen maßge- SPANIEN 4% Kommission

schneidert. Mit dem Ergebnis, dass die ITALIEN 3% EU-Durchschnitt


meisten nur sechs bis zwölf Monate zu
Hause bleiben. Alle nur denkbaren Teil- Top-Managerin Oesterreich: Einzige Frau im Vorstand eines Dax-Konzerns
zeitmodelle sind zudem im Angebot,
Jobsharing und sogar virtuelle Teams, die Wirklich entscheidend für die Gleichbe- Doch trotz ihrer geschützten Zone in
per Internet kooperieren. Wer von zu Hau- rechtigung von Frauen ist indes, dass das Unterschleißheim wissen die Managerin-
se aus arbeiten möchte, bekommt ohnehin Alphatier den Weg leuchtet. Wenn die Fir- nen, wie im wahren Leben mit unter-
die technische Ausrüstung gestellt. Wäh- menleitung das Ziel Frauenförderung nicht schiedlichem Maß gemessen wird. Gifford
rend ihrer Elternzeit bleiben Mitarbeiter aktiv unterstützt und aggressiv einfordert, ist sich sicher, dass männlichen Managern
in allen Verteilern und so im Bilde. werde sich nichts ändern, warnt McKinsey. Fehltritte generell leichter verziehen wer-
Doch alle diese Maßnahmen funktio- „Kinder sind kein Hindernis. Es ist eine den. „Unvorstellbar, wenn Top-Manage-
nieren nur unter einer Voraussetzung, er- Sache des Wollens“, sagt Microsoft-Chef rinnen bei einem der anscheinend im-
klärt Hirl-Höfer: „Die Kultur der flexiblen Berg. Dorothee Belz, 46, Chefsyndikus, mer noch üblichen ‚Herrenprogramme‘ er-
Arbeitszeiten muss stark akzeptiert sein.“ weiß dieses Klima zu schätzen. Bis 2002 wischt würden. Das wäre sofort das Ende
Vertrauensarbeitszeit heißt das Zauber- hat die Juristin im Männerreich von Medien- ihrer Karriere.“
wort, mit dem der drittgrößte Microsoft- größe Leo Kirch gearbeitet. 2003 wechsel- Dorothee Belz fällt auf, dass Frauen vie-
Ableger außerhalb der USA nicht nur gute te die ehemalige Staatsanwältin für Wirt- les differenzierter sehen und Probleme
Renditen erwirtschaftet, sondern auch schaftskriminalität zu dem Software-Kon- ausdiskutieren wollen. Dann spotten die
wiederholt zum beliebtesten Arbeitgeber zern – und entdeckte vier Wochen später, Männer, man solle es „nicht gar so kom-
Deutschlands gewählt wurde. „Wir verein- dass sie schwanger war. Ihr neuer Arbeit- pliziert machen“. „Dabei ist es gar nicht
baren mit jedem Mitarbeiter bestimmte geber war nicht verstimmt. Sie solle so wei- kompliziert“, sagt Belz, „nur komplex.“
Ziele. Wie die erreicht werden und wo, ist terarbeiten, wie es ihr passe. Zwei Wochen Es sind solche Sätze, die Achim Berg im-
zweitrangig“, sagt Hirl-Höfer. Erfrischend vor der Geburt verließ Belz ihr Büro, zwei mer wieder von der Weisheit gemischter
einfach klingt das und unkompliziert, doch Monate danach richtete sie sich ein Home- Teams überzeugen: „Frauen haben einen
für viele Unternehmen sei das noch weit office ein, nach fünf Monaten kam sie Voll- anderen Führungsstil. Sie profitieren von
entfernte Zukunft, bilanziert die McKin- zeit zurück. Ihre Mutterpflichten organi- ihrer sozialen Intelligenz.“
sey-Studie „Women matter“ (zu Deutsch: siert sie mit Hilfe von Kindermädchen, Doch ist dieser vermeintlich weibliche
Frauen sind wichtig). Denn fast allerorten Großmutter und Kita. Anstrengend sei das Führungsstil nicht womöglich eine Art
sind die Regeln des Berufslebens auf Män- schon und auch teuer: „Frauen müssen Notwehr? Benehmen sich weibliche Chefs
ner zugeschnitten, deren Gattinnen Haus- dafür bezahlen, dass sie arbeiten dürfen.“ sozialer, mitfühlender, lösungsorientierter,
halt und Kindererziehung regeln. Dafür erntet sie im Bekanntenkreis auch weil genau das von ihnen erwartet und
Das Prinzip etwa, jederzeit und überall noch schiefe Blicke und offene Vorwürfe. jede andere Form reglementiert wird? Stu-
einsetzbar zu sein, verträgt sich nicht mit Das Unverständnis Außenstehender dien bestätigen: Es wird nicht anerkannt,
der Doppelbelastung von Frauen. Dem er- nervt gelegentlich auch ihre Kollegin An- wenn Chefinnen sich wie Chefs aufführen.
warteten lückenlosen Lebenslauf können gelika Gifford, 41. Die für Kunden in der Auf der Suche nach einem eigenen Füh-
besonders Mütter nicht gerecht werden. öffentlichen Verwaltung zuständige Direk- rungsstil befinden sich Frauen also in einer
„Solange die Kriterien für Beförderun- torin ist seit 15 Jahren im Management bei Zwickmühle. Die erwartete Sanftmut und
gen nicht geändert werden, wird sich nur Microsoft, baute den Bereich Europa, Mitt- Rücksichtnahme mit den Führungseigen-
Unwesentliches an der Situation von Frau- lerer Osten und Afrika auf und den Service schaften Dominanz und Durchsetzungs-
en in Führungspositionen ändern“, resü- im Großkundengeschäft. Doch noch nie kraft unter einen Hut bringen ist ein oft
miert die Studie. hat sie etwas so gestresst wie die Schnapp- schwieriges Unterfangen.
Bei Microsoft fängt das Umdenken tür in der Kita ihres dreijährigen Sohnes. Offenkundig lohnt es aber, glaubt Micro-
schon ganz unten an: Frauen werden bei Kommt sie nur wenige Minuten zu spät, soft-Chef Berg. Männliche Top-Manager
gleicher Qualifikation bevorzugt eingestellt schnappen Tür wie Kindergärtnerin ein. reagierten mit einer deutlichen Verhal-
und machen derzeit 28 Prozent der 2200 Dann muss sie klingeln und darf in die vor- tensänderung, sobald Frauen im Team
Angestellten aus. Jeder wird zweimal im wurfsvollen Gesichter der Erzieherinnen sind: Sie produzieren sich längst nicht
Jahr beurteilt und bewertet seinerseits sei- und pünktlichen Mütter schauen. „Da sagt mehr so stark wie vorher.
ne Vorgesetzten. Die wiederum müssen jeder Blick: was musst du auch arbeiten „Es scheint, als lasse das Revierverhalten
verstärkt weiblichen Nachwuchs fördern gehen!“ Wenigstens in der Firma wird Gif- dann merklich nach. Aber da fragt man
und sollten auch Frauen für ihre Nachfolge- ford nicht mit Rabenmütter-Vorwürfen am besten mal einen Zoologen“, sagt Berg
planung berücksichtigen. konfrontiert. und lacht. Michaela Schießl

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 81
Wirtschaft

S TA N D O R T E

Abschied auf Finnisch


Ist die geplante Schließung des Handy-Werks in Bochum
erst der Anfang? Auch in anderen deutschen
Belegschaften von Nokia geht nun die Angst um.

D
as Erfolgsgeheimnis des größten
Handy-Herstellers der Welt klingt
zu schön, um wahr zu sein: „Bei
Nokia heißt es Mensch“, behauptet das Un-
ternehmen salbungsvoll auf seinen Inter-
net-Seiten. „Teamgeist, Respekt vor dem

LEHTIKUVA JUSSI NUKARI / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


Einzelnen, Fairness und offene Kommuni-
kation“ seien „gelebte Werte“ – ebenso
wie die „Verpflichtung zur sozialen Ver-
antwortung“. Denn Nokia „möchte zum
Wohl der Gesellschaft beitragen“.
Bis vor zwei Wochen glaubte zumindest
ein Großteil der rund 16 000 Menschen,
die sich in Deutschland für den Nokia-
Konzern ins Zeug legen, an die fromme
Firmenlyrik aus Finnland. Doch was die
hehren Worte im Ernstfall wert sind, wird
deutlich, seit der Handy-Riese die geplan- Vorstandschef Kallasvuo, Protestaktion in Bochum: „Entsetzt, auf welche Art und Weise Nokia
te Schließung seines Werks in Bochum
bekannt gab: Von Teamgeist, Fairness oder dort deuteten die Finnen
auch offener Kommunikation keine Spur. bereits an, wohin die Reise
Trotz Massenprotesten und drohendem geht. Schon kurz nach dem
Kundenboykott (siehe Kasten) rückt Kon- Zusammenschluss wollten
zernchef Olli-Pekka Kallasvuo, 54, keinen die Nokia-Manager, die im
Millimeter von seiner harten Linie ab. Joint Venture das Sagen ha-
„Der Beschluss zu Bochum steht“, sagte ben, erst einmal bis zu 15
der Finne, als er vergangene Woche neue Prozent der weltweit rund
FRANK MÄCHLER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
Rekordgewinne von 7,2 Milliarden Euro 60 000 Jobs streichen – davon
veröffentlichte, die mit einer Steigerungs- fast 3000 in Deutschland.
rate von 67 Prozent sogar noch über den Nach heftigen Protesten
hohen Erwartungen der Analysten lagen. und zähen Verhandlungen
Läuft also alles super. Nur für die Art mit den Gewerkschaften gab
und Weise, wie das Aus für Bochum sich der Konzern schließlich
vermittelt worden sei, entschuldigte sich mit dem Abbau von knapp
Kallasvuo: „Das hätten wir viel besser ma- 2300 Stellen in Deutschland
chen müssen.“ Alles also nur ein Kommu- zufrieden. Ein Ziel, das der
nikationsproblem? NSN-Sitz in München: Sparkurs verschärft Konzern in den vergangenen
Ohne jede Vorwarnung hatte Nokia am Monaten schon weitgehend
15. Januar mitgeteilt, „die Produktion mo- sicher.“ Denn der Betrieb in Bochum ar- erreicht hat – in aller Stille. Anders als in
biler Endgeräte in Deutschland einzustel- beitet rentabel, hat mehr als zwei Milliar- Bochum verteilte sich der Jobabbau auf
len und den Standort Bochum bis Mitte den Euro auf der hohen Kante und steht mehrere Standorte. Viele der überflüssig
2008 zu schließen“. Selbst der Aufsichtsrat mit einer Eigenkapitalquote von über 70 gewordenen Spezialisten konnten schnell
wurde nur eine Stunde vor der offiziellen Prozent blendend da. bei anderen Firmen unterkommen.
Meldung von Oberkontrolleur Veli Sund- In Angst leben deshalb nun auch die Doch der Blitz über Bochum hat die
bäck informiert. Die Kosten seien zu hoch. anderen Nokia-Mitarbeiter in Deutschland. deutsche NSN-Belegschaft wieder elektri-
Selbst neue Investitionen würden „nicht „Wir sind entsetzt, auf welche Art und siert – insbesondere die Mitarbeiter der
dazu führen, die Produktion weltweit wett- Weise Nokia dabei ist, seinen Ruf bei Be- Fabriken in Berlin, Bruchsal, Durach und
bewerbsfähig zu machen“, behauptete das schäftigten und Verbrauchern zu beschä- Greifswald. Denn im Vergleich mit der
Top-Management. digen“, sagt Georg Nassauer, der als Be- hochprofitablen Handy-Sparte steht die
„Nicht mal andeutungsweise war das triebsrat die rund 13 000 Mitarbeiter der Netzwerkabteilung schlecht da.
aus den Vorlagen zur Sitzung erkennbar“, Nokia Siemens Networks in Deutschland Der Wettkampf in der Branche ist seit
sagt Jürgen Ulber, der als Jurist der IG Me- vertritt. dem erstaunlichen Aufstieg des chinesi-
tall in mehreren Nokia-Aufsichtsräten sitzt Das Gemeinschaftsunternehmen ist erst schen Konkurrenten Huawei mörderisch
und die betriebswirtschaftlichen Daten der vor knapp einem Jahr gestartet: Im April geworden. Und er wird vor allem über den
Fabrik kennt. „Wenn Nokia sich mit diesen 2007 haben Siemens und Nokia darin ihre Preis geführt. Zwar konnte NSN in den
Begründungen durchsetzt“, ahnt Ulber, kriselnden Netzwerksparten unter dem vergangenen Monaten einige Großaufträge
„dann ist keine Fabrik in Europa mehr Kürzel NSN zusammengelegt. Und auch – unter anderem aus Saudi-Arabien – an
82 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Land ziehen. Dennoch steckt das deutsch- muss der Betriebsrat über so weitreichen-
finnische Gemeinschaftsunternehmen mit de Veränderungen „rechtzeitig“, also noch
einem operativen Verlust von 1,3 Milliarden bevor alles entschieden ist, informiert wer-
Euro immer noch tief in den roten Zahlen. den. Ob das in diesem Fall so war, könnte
Schon im Sommer hatte Konzernchef schon bald zu einem juristischen Zankapfel
Kallasvuo deshalb den Kurs verschärft. werden.
Bereits 2008 und nicht erst 2010, wie ur- Wirksam werden die Pläne mit Sicher-
sprünglich geplant, sollen die Kosten um heit aber erst, wenn der Nokia-Aufsichts-
zwei Milliarden Euro sinken, verlangte er. rat in Bochum auf seiner nächsten Sitzung
„Die Angst, dass auch uns das Schicksal am 28. Februar einen entsprechenden
von Bochum ereilt, ist in den letzten Tagen Beschluss fasst – indem der finnische Auf-
dramatisch gewachsen“, sagt ein NSN- sichtsratsvorsitzende von seinem doppel-
Techniker aus München. Zwar sind die ten Stimmrecht Gebrauch machen wird.
ehemaligen Siemens-Mitarbeiter bei NSN Bis dahin wollen die Nokianer in Bo-
durch alte Betriebsvereinbarungen noch chum die Hoffnung nicht aufgeben. Druck
bis Herbst 2009 vor Kündigungen ge- sollen nicht nur die Verbraucher machen.
schützt. Doch für die Zeit danach gibt es Große Hoffnungen setzt die Belegschaft
keine Ansagen von der Spitze. auch auf Großkunden wie die Deutsche
Sorgen machen sich inzwischen selbst Telekom oder Vodafone. Betriebsräte bei-
die rund 300 Mitarbeiter der Forschungs- der Unternehmen sind bereits aktiv ge-
und Entwicklungsabteilung in Ulm. Die worden und fordern von ihren Firmenchefs
Labors gelten zwar als ausgesprochen einen Boykott von Nokia-Produkten.
innovativ. Doch das allein reicht den rendi- Doch die Chancen, dass Nokia eine
tehungrigen Finnen offensichtlich nicht Kehrtwende vollzieht, stehen schlecht. Fir-
mehr, wie das Beispiel Bochum zeigt. menchef Kallasvuo gab sich vergangene
FRANK AUGSTEIN / AP

Offiziell werden die von langer Hand Woche jedenfalls erneut knallhart und
vorbereiteten Entschlüsse zum Aus an der betonte: „Es ist kaum vorstellbar, dass wir
Ruhr bislang noch als „Pläne“ bezeichnet. einen neuen Aspekt finden, der uns zu ei-
Doch der Terminus hat vor allem juristi- ner Änderung unserer Entscheidung brin-
dabei ist, seinen Ruf zu beschädigen“ sche Gründe, denn nach hiesigen Gesetzen gen könnte.“ Klaus-Peter Kerbusk

strierten, ließ sich die Konzernspitze von ihren Shareholdern

No Nokia?
für Rekord-Milliardengewinne feiern.
Die Boykott-Träume sind aber auch populistisch bis absurd,
denn was tat die gleiche, nun zeternde deutsche Politik, als
BenQ im vorvergangenen Jahr seinen hiesigen Siemens-Ab-
Die eiskalte Unternehmenspolitik des Konzerns leger dichtmachte?
hätte einen schmerzhaften Boykott Am Donnerstag witzelte ARD-Unterhalter Harald Schmidt:
„Deutsche, kauft nicht bei Finnen!“ Aber bei wem dann? Bei
verdient – der aber zugleich absurd ist. den Japanern und Schweden von Sony Ericsson? Den Ame-
rikanern von Motorola? Den Asiaten von Samsung? Nokia ist

D
as deutsche Contact Center des finnischen Mobilfunk- der letzte Konzern, der in Deutschland noch Handys herstellt.
konzerns Nokia verspricht, „immer ein offenes Ohr“ Andere Produkte sind ohnehin längst verschwunden.
für seine Kunden zu haben. Die Callcenter-Agenten Boykottiert Seehofer etwa die urdeutsche Textilfirma Boss,
dort sind freundlich, einsilbig und völlig überfordert von der die ihre Anzüge mittlerweile gern in der billigeren Türkei
Protestwelle, die neuerdings täglich über sie hereinbricht. schneidern lässt? Hat schon irgendjemand sein Blaupunkt-
Egal übrigens, ob man sie wegen technischer Details kon- Autoradio weggeschmissen, das heute überwiegend in Billig-
taktiert oder für ihre Führungsspitze beschimpfen möchte – lohnländern zusammengeschraubt wird?
kostet alles die gleichen Gebühren: „79 Cent pro Minute aus Carrera-Rennbahnen kommen immer aus China, Steiff-Tie-
dem Festnetz“. Sie hören sich alles an. Sie sagen, sie hätten re immer wieder. AEG-Waschmaschinen werden unter schwe-
auch eine eigene Meinung, aber die dürften sie natürlich nicht discher Ägide von polnischen Arbeitern gebaut. Adidas-Turn-
verraten. Das Unternehmen lässt sich auch noch die Wut sei- schuhe und Puma-Klamotten? Alles global gefertigt und da-
ner Kunden bezahlen. Diese Wut ist durchaus groß. durch deutlich günstiger. Seehofer bliebe noch Unterwäsche
Von der SPD-Muräne Peter Struck über CSU-Verbraucher- von Trigema oder ein Schlappen-Ensemble von Birkenstock.
minister Horst Seehofer bis in die Niederungen der Bonner „No Nokia“ wird gar nichts ändern. Weder in den Bilanzen
Stadtverwaltung hinein tut sich eine seltene bis seltsame Alli- der Finnen noch in den Köpfen deutscher Verbraucher. Jeder
anz auf: Verbraucher proben den Aufstand. dieser Boykott-Aufrufe ist letztlich ein irrationaler Angriff auf
Sie alle telefonierten bisher mit Nokia-Handys. Nun ist eine ebenso rationale wie rationalisierte Arbeitswelt.
Schluss. Jetzt soll sich endlich mal gewehrt werden gegen die Wer auch soll so etwas wie das Nichtstun der Verweigerung
hässliche Fratze des globalisierten Kapitals! Laut SPIEGEL- wahrnehmen? Allenfalls einer: jener Kunde, der nun für ein
Umfrage wollen 49 Prozent der Bundesbürger die Produkte paar Sekunden den Guerillakrieger in sich spüren darf. Aktiv
des Konzerns durch Boykott bestrafen. Die Empörung ist ver- gerade in seiner Passivität. Es ist eine gefühlte Revolution, eine
ständlich, populistisch und absurd zugleich. Protestillusion wie Internet-Seiten der Sorte sag-nokia-deine-
Verständlich, weil Nokia wirklich keinen Fettnapf ausließ, meinung.de, die vergangene Woche Zulauf hatten. Im Ge-
sich als eiskalter Profitmaximierer zu gerieren. Das Bochumer gensatz zur Nokia-Hotline kann man seinen Protest dort so-
Werk ist hochprofitabel, die Subventionen flossen reichlich. gar gratis abladen. So günstig kann ein gutes Gewissen sein.
Doch zur gleichen Zeit, da in Bochum Tausende demon- Fast ein bisschen arg billig. Thomas Tuma

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 83
HANDEL

Luxusriese am
Stadtrand
Ausgerechnet in der Arbeitslosen-
Hochburg Duisburg soll
Deutschlands gewaltigstes

JARDAI / MODUSPHOTO.COM
Outlet-Center für
Designer-Schnäppchen entstehen.

N
ach Roermond kommt man nur aus
einem Grund: zum Sparen. Und
auch wenn das zunächst dubios Einkaufsparadies (im niederländischen Roermond): „Ein satter Kunde ist fröhlicher“
klingt: Sparen kann man in Roermond vor
allem, indem man Geld ausgibt. gebaut hat. Im vergangenen Jahr mar- trotz des großen, nahen Wettbewerbers aus
Wie Sophie Beiter zum Beispiel: Konfek- schierten 2,9 Millionen Käufer durch das Holland neuerdings das elfte deutsche Fac-
tionsgröße S, 28 Jahre alt, modebewusste Nirwana für Schnäppchenjäger mit seinen tory-Outlet-Center geplant.
Single-Frau, die gemeinsam mit einer Freun- über hundert Geschäften. Mit 140 Geschäften auf 25 000 Quadrat-
din im Auto mehr als 70 Kilometer angereist Hier gibt es Marken von Hugo Boss bis metern Verkaufsfläche würde es das größ-
ist. Sophie Beiter ist sozusagen eine Durch- Dolce & Gabbana. Ein Angebot wie in der te Deutschlands werden. Der Investor rech-
schnittssparerin. Nach über vier Stunden 60 Kilometer entfernten Düsseldorfer Kö, net mit jährlich drei Millionen Kunden.
verlassen die beiden Roermond. In ihren nur bis zu 70 Prozent günstiger und an 363 Anlocken werden sie dann wohl eher
Einkaufstüten: mehrere Pullover, zwei Ho- Tagen im Jahr geöffnet. die Mindestrabatte in Höhe von 30 Pro-
sen, ein Kleid und ein geblümter Bikini. Ausgerechnet in der deutschen Nach- zent als der Charme der Stadt Duisburg,
Ihr Ziel war ein ehemaliges Kasernen- barschaft von Roermond soll es schon bald die zwar einen netten Zoo und neuerdings
gelände der niederländischen Stadt, auf Konkurrenz geben. Im Norden von Duis- einen zum Trendviertel mutierten Innen-
dem der britische Investor McArthurGlen burg, auf dem Gelände der baufälligen hafen aufzuweisen hat, aber auch eine der
im Jahr 2001 ein Factory-Outlet-Center Rhein-Ruhr-Halle direkt an der A 59, ist höchsten Arbeitslosenquoten des Landes.
Wirtschaft

Obwohl die rund 550 klassischen Ein-


kaufszentren in Deutschland durchaus Rabatt-Fieber mancher Designer in einem Outlet-Zen-
trum niederlässt.
hohe Gewinne erwirtschaften, gilt der Zahl der Factory-Outlet-Center in Europa Die Investitionen lohnen sich für den
Markt für Neugründungen als gesättigt. In Betreiber dennoch: Er wird an den meist
den Großstädten sind die lukrativsten Großbritannien 42 hohen Umsätzen beteiligt. Über 20 000
Standorte besetzt. „Heute ist ein Shop- Quelle: Institut für Euro Jahresumsatz kann zum Beispiel ein
ping-Center-Betreiber schon zufrieden, Italien 17 Gewerbezentren, Factory-Outlet von Hugo Boss pro Qua-
Starnberg
wenn 100 000 Einwohner im direkten Ein- dratmeter Verkaufsfläche erwirtschaften.
zugsgebiet leben“, sagt Bernd Falk, Bera-
Frankreich 16 Während in Deutschland neue Kom-
ter für Gewerbeimmobilien. plexe nur zögerlich geplant werden, wächst
In völlig anderen Dimensionen denken
Spanien 16 deren Zahl im Ausland rasant. Vor allem
die Betreiber von Outlet-Centern: Die Deutschland 10 bei den Briten ist diese Einkaufsform be-
Einzugsgebiete der künstlichen Tiefpreis- liebt (siehe Grafik). Das liegt nicht nur an
paradiese wie in Wertheim oder Zwei- den Kunden. Deutschland hat im EU-Ver-
brücken umfassen oft mehr als fünf Mil- noch lange keinen ganztägigen Familien- gleich das komplizierteste Genehmigungs-
lionen Menschen. Und die sind auch bereit, ausflug rechtfertigen, sorgt man beispiels- verfahren. Jahrelanger Papierkrieg mit
90 Minuten Autofahrt auf sich zu nehmen, weise in den USA bereits für Multiplex- Behörden schreckt Investoren ab.
um so ein Center zu erreichen. kinos, Showbühnen und Ausstellungen. Ohne Donner und Debatten geht es
Dafür bekommen sie meist mehr als In Roermond gibt es einen Abenteuer- auch in Duisburg nicht, wo die CDU den
hundert verschiedene Marken geboten. Im spielplatz, im Sommer säumen Klein- Bürgermeister stellt. Die will das Shop-
Sortiment: Auslaufmodelle, Überproduk- künstler die Straßen; sieben Restaurants ping-Projekt, die SPD dagegen sieht jede
tion oder Zweite-Wahl-Waren der hoch- und Cafés sind auf dem Gelände. „Damit Menge Ungereimtheiten. Die Grundfrage:
preisigen Modedesigner. erhöht man die Aufenthaltsdauer. Ein sat- Lockt das Outlet-Orakel neue Massen an,
Angesichts dieser Aussichten fürchtet ter Kunde ist fröhlicher und kauft mehr oder saugt es die Innenstadt endgültig
mancher Einzelhändler in Duisburg schon ein“, sagt Immobilienfachmann Falk. aus?
heute um seine Existenz. Nach einer Ana- Jeder Betreiber von Factory-Outlet-Cen- Rolf Paffenholz, verantwortlicher Pro-
lyse des Handelsverbandes BAG liegt der tern weiß: Hat er nicht die Premiummar- jektleiter bei der German Development
Umsatzrückgang für den innerstädtischen ken von Hugo Boss bis Tommy Hilfiger an Group, kann die Vorstellungen seines
Einzelhandel in betroffenen Regionen bei Bord, schrumpfen die Besucherzahlen. Die Unternehmens jedenfalls auf ein schlichtes
bis zu sieben Prozent, wenn solche Riesen Hersteller kalkulieren damit und lassen Ziel reduzieren: „Wir hoffen auf hohen
kommen. sich von den Betreibern ihre Anwesenheit Warenumsatz bei kleinstem Raum.“ Von
Dabei haben auch die zu kämpfen. Weil bisweilen teuer bezahlen. Millionensum- 800 neuen Jobs ist die Rede – im Niedrig-
Schnäppchenangebote allein heutzutage men können notwendig sein, bevor sich lohnbereich. Martin U. Müller
Medien
T V- S E R I E N

„RTL gab uns


keine Chance“
Schauspieler Kai Wiesinger, 41, über die
rekordverdächtige Schnell-Absetzung

MARION VON DER MEHDEN / RTL


der RTL-Serie „Die Anwälte“

SPIEGEL: In „Die Anwälte“ hatten Sie Ihre


erste Serienhauptrolle überhaupt. RTL
hat die Serie nach der ersten Folge abge-
setzt. Wer ist schuld an diesem Flop?
Wiesinger: „Die Anwälte“ sind ja kein Wiesinger in „Die Anwälte“
Flop. RTL gab uns überhaupt keine
Chance. Die Serie ist weder so beworben geholt. Auf dem Platz hat RTL offen- den USA an Serien läuft. Zeitgleich mit
worden, wie es sich für den Start einer sichtlich ein Problem. Es ist ja aus- uns startete Vox die US-Anwaltsserie
großen Abendserie gehört, noch war der drücklich eine Serie bestellt worden, die „Shark“. Doch dafür wurde massiv und
Programmplatz günstig gewählt. Meine anders ist als das übliche Programm zu sehr auffällig geworben. Das hat neugie-
Agentur und ich werden mit Anrufen und dem Zeitpunkt. Nicht mit den typischen rig gemacht. Von „Die Anwälte“ hat ja
Mails von enttäuschten Zuschauern über- Seriendarstellern, nicht in der üblichen kaum jemand was mitbekommen. Und
schüttet. Die fragen mich: Warum ist RTL Machart. Wir dachten, RTL will mehr sein die, die es sahen, blieben dabei.
da derart drakonisch? Was soll ich da als nur der Dschungelcamp- und „Bauer SPIEGEL: War die erste auch Ihre letzte
sagen? sucht Frau“-Sender. Serienhauptrolle?
SPIEGEL: Sie könnten antworten, dass die SPIEGEL: Vielleicht hat deutsche Serien- Wiesinger: Ich würde gern wieder eine
Quote mit 10,8 Prozent in der jungen ware gegen die US-Konkurrenz keine Serie machen, wenn es wieder in dieser
Zielgruppe nun mal weit unter dem Sen- Chance mehr? Qualität möglich wäre. Aber ich muss
derschnitt lag, auch wenn’s weh tut. Wiesinger: Erstens: Die Feuilletons haben schon glauben können, dass ein Sender
Wiesinger: Selbst „CSI“ hat eine Woche uns sehr gelobt. Zweitens: Wir sehen hier- auch wirklich zu seiner Sache steht. Bei
später zur gleichen Zeit nur 11,8 Prozent zulande ja nur das Beste von dem, was in RTL bin ich mir da zurzeit nicht sicher.

NDR VERLAGE

Drei Kandidaten für Springer klagt weiter gegen Springer


Herres-Nachfolge D ie Akte Springer gegen Springer
kann noch nicht geschlossen
Erbes geprellt fühlte. In seinem ur-
sprünglichen Testament hatte der

K aum ist der neue NDR-Intendant Lutz


Marmor im Amt, ist der Sender schon
wieder auf Kandidatensuche. Im November
werden. In dem Erbstreit zwischen
Friede Springer und ihrem Stiefenkel
Axel Sven um die Machtverhältnisse
Verleger verfügt, dass seine fünfte
Frau Friede 50 Prozent seiner Fir-
menanteile erhalten sollte, Lieblings-
soll Fernsehdirektor Volker Herres, dessen im Konzern plant der Enkel des enkel Axel Sven sollte 25 Prozent
Vertrag allerdings noch nicht unterschrieben Verlagsgründers Axel Springer den erhalten. Nach Springers Tod im Sep-
ist, als Nachfolger von Günter Struve ARD- nächsten juristischen Schritt. Nach- tember 1985 hatten Friede Springer
Programmdirektor werden. Nun wird hinter dem am Dienstag vergangener Wo- und Testamentsvollstrecker Bernhard
den Kulissen bereits mit Nachdruck nach che das Hanseatische Ober- Servatius jedoch behaup-
einem Herres-Nachfolger gesucht, der auch landesgericht die Berufung tet, der Verleger habe kurz
vor den politisch geprägten Aufsichtsgremien von Axel Sven in dem vor seinem Ableben seinen
des NDR bestehen kann. Intendant Marmor seit knapp sechs Jahren letzten Willen noch einmal
setzt dabei offenbar auf einen Kandidaten andauernden Rechtsstreit geändert. Allerdings gibt
außerhalb der NDR-Hierarchie. Die besten zurückgewiesen hatte, es dafür kein notariell
Aussichten habe zurzeit der WDR-Kultur- will der Verlegerenkel nun beglaubigtes Testament.
chef Helfried Spitra, heißt es senderintern. Beschwerde beim Bundes- Nach dem vermeintlich
Er gilt zwar als liberal. Doch wegen seiner gerichtshof in Karlsruhe neuen Erbenschlüssel
Aussiedlerbiografie sei der im siebenbürgi- einlegen – und hofft so auf sollte Friede 70 Prozent
STEPHAN SCHRAPS / DDP

schen Hermannstadt geborene Spitra auch die Zulassung einer Revi- erhalten und Axel Sven
konservativen Kreisen im Rundfunkrat sion des Verfahrens. Der nur noch 5 Prozent. Der
vermittelbar, so das Kalkül. Zum engeren 41-Jährige hatte seine Stief- damals 19-Jährige stimmte
Favoritenkreis zählen zudem der ARD- großmutter im Jahr 2002 seinerzeit zu, allerdings
aktuell-Chef Kai Gniffke und ARD-Chef- verklagt, weil er sich ohne sich mit einem
redakteur Thomas Baumann. um einen Großteil seines Springer junior Anwalt beraten zu haben.
86 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Fernsehen

TV-Vorschau ternommen hat. Die


Männer Schubert und
Nachtschicht – Ich habe Angst Mommsen dagegen wi-
derstehen rippenbewusst
Montag, 20.15 Uhr, ZDF jeder Versuchung zur
Der Krimi als Quickie – die Fälle die- Übertreibung.
ser Reihe werden in einer Nacht-
schicht gelöst. Das Schauspielerteam,
das da wirbelt, überzeugt: Min-Khai
Das Leben ist schön
Phan-Thi, Ken Duken, Barbara Auer Donnerstag, 0.35 Uhr, ARD
und vor allem Armin Rohde. In die- Roberto Benignis Film
ARD
sem Stück (Buch und Regie: Lars (Italien, 1997) beweist auf
Becker) geht es um Kindesmisshand- Stappenbeck mit Elena Uhlig in „Der Mann …“ ergreifende Weise, dass
lung und die Frechheiten, die sich das Scherzen das Entset-
Schülereltern gegenüber einer Lehre-
rin (Ulrike Krumbiegel) herausneh-
Der Mann an ihrer Seite zen noch entsetzlicher machen kann.
Drei Oscars.
men. Matthias Brandt brilliert in der Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD
Rolle eines Fieslings. Dass Duken Der Schöpfungsordnung hat es be-
kanntlich gefallen zu berichten, wie die
Polizeiruf 110: Geliebter Mörder
Frau aus der Rippe des Mannes gefer- Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
tigt wurde. Dass jemand wie die tutige Obwohl diese Sendung des finanz-
Angestellte Eva (Stefanie Stappenbeck) schwachen RBB nur zweimal im Jahr
zur Eventmanagerin aufsteigt und mehr zu sehen ist, stellt sich beim Zuschau-
Image und Verdienst hat als ihr Adam, er ein positiver Wiedererkennungs-
im Falle dieser Komödie ihr Mann, der effekt ein. Das liegt an den gut be-
STEPHAN PERSCH / ZDF

arbeitslose Tischler (Oliver Mommsen), setzten Figuren mit Imogen Kogge


davon war nirgends die Rede. Hascherls als Kommissarin, Horst Krause als
Aufstieg hat dann auch erotische Folgen. Revierpolizist mit Ostcharme und
Ein flotter Rechtsexperte (Götz Schu- Anja Franke als Assistentin. Auch
bert) interessiert sich für die Tischlers- dieser Fall (Regie: Christiane Baltha-
Krumbiegel in „Nachtschicht“ gattin, besonders seit sie ein schickes sar, Buch: Daniela Mohr), in dem es
Kleid trägt. Schade, dass Regisseur Mat- um Sexualverbrechen und falsche
aus der fulminanten Reihe aussteigt, thias Tiefenbacher so wenig gegen die Verdächtigungen geht, hält das gute
dies ist seine letzte Folge, verwun- Chargiererei der Schauspielerinnen un- Niveau.
dert nicht. Rohde, dieser Kiez-Vul-
kan, faucht den jüngeren Schauspie-
ler, wohl unabsichtlich, geradezu an
die Wand. Die Nachtschicht ist uner-
TV-Rückblick ner Lebensmittel in der „Leberzirrho-
bittlich. se“, wie die Deutschen vor Ort in ei-
24 Stunden nem Anflug von Selbstironie den Su-
Hotel 22. Januar, Sat.1
permarkt getauft haben. Und die Ratte,
die da im Laden mal der Gabi um die
Mittwoch, 22.45 Uhr, Arte Arme Dixi? Glückliche Dixi? Die Hün- Füße wieselte? Gabi: „Die siehst du
Dass Franziska Weisz im roten Bade- din von Gabi und Günther aus dem nicht mehr.“ Das Land entstresst. Den
anzug so attraktiv aussieht wie Scar- Bayerischen darf nicht wie sonst immer Currywurst-Sven ebenso wie den ehe-
lett Johansson in „Scoop“, kann man mitkommen, wenn der gelernte Klemp- maligen Butterfahrtorganisator Manne.
nicht erwarten. Trotzdem könnte ner und seine Frau dem deutschen Wi- Sven ist nicht reich, brät Würste, be-
Jessica Hausners (Buch und Regie) schiwaschi-Winter für drei treibt eine Art kleines
Thriller über eine weibliche Spürnase Monate nach Thailand ent- Kino. Manne hat Thailand
aufregender sein. Die junge Irene fliehen. Der Zuschauer aber nach deutscher Art erobert:
(Weisz) tritt ihren neuen Job als Re- durfte mit, dank der Repor- „Ich habe es mir gemütlich
zeptionistin in einem österreichischen tage von Kai Hümmer. Oh, gemacht.“ Fernseher, Nip-
Berghotel an, nachdem ihre Vorgän- Dixi, was hast du diesmal pes an der Wand – Manne
gerin spurlos verschwunden ist. Man versäumt. Thailand ist aus vermisst nichts. Käpten
munkelt von einer spukenden Wald- Herrchensicht warm, schön Raimund hat es noch besser
hexe, die einst verbrannt wurde. So und preiswert. Wer es nicht getroffen: Seine einheimi-
weit, so gut. Immerhin wagt sich das gleich glauben wollte, dem sche Gattin hat viele Ver-
biedere Rotkäppchen allein in den wurde es eingehämmert. wandte, die sich auf seiner
Wald. Doch dann folgen 80 Minuten Günther und vor allem Gabi Touristendschunke nützlich
gähnend lange Einstellungen, dunkle wiederholten gefühlte hun- machen. Außerdem: „Die
Flure und knarzende Wälder – ohne dertmal: „Es gibt keine Stei- Thai-Frau hat das Kochen
eine Auflösung. Gruselstimmung hin gerung.“ Essen am Strand im Blut.“ Keine Ironie,
oder her, ein bisschen passieren darf für umgerechnete vier Euro, keine Skepsis trüben das
SAT 1

schon noch. zwanzig Euro für einen Filmbild. Glücklich ist,


Einkaufswagen voller schö- Günther, Gabi wer glücklich sein will.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 87
Medien

JOURNALISMUS

Die letzte Meldung


Dan Rather war eine der einflussreichsten TV-Legenden der USA, bis er einen Bericht über die
Militärvergangenheit von George W. Bush präsentierte. Sein Sender stellte ihn kalt, nun klagt Rather.
Es geht um 70 Millionen Dollar – aber auch um Medien- und Staatsmacht. Von Klaus Brinkbäumer

BEBETO MATTHEWS / AP
CBS-Star Rather (kurz vor seinem Abgang im März 2005): „Ein glücklicher Krieger“

E
r war nicht im Sender in jenen Stun- den sie die „Stimme Gottes“ nannten, er Als er im Studio war und die Papiere
den, er war ja wieder Reporter wie war Dan Rather, eine der bedeutendsten sah, nannte er sie „radioaktiv“, weil sie so
früher, er stand mit seinem Mikro in Fernsehstimmen Amerikas. eine Wucht ausstrahlten. Er hatte keine
einem Hurrikan und erzählte Amerika, Sie brauchten ihn, weil der Feind der Zweifel, er hat ja noch heute keine Zweifel.
wie sich das anfühlt, wenn es windet und Präsident der Vereinigten Staaten war, ein „Wenn die Geschichte nicht gestimmt hät-
weht. Präsident im Krieg. Es waren noch jene te, hätte das Weiße Haus sie dementiert“,
Sie riefen ihn zurück nach New York, Jahre, in denen nicht alle Medien über sagt er an diesem Donnerstag Mitte Januar
weil sie für diese Moderation ihn wollten George W. Bush herfielen; treu war die in New York, 42. Straße, 8. Etage, Suite
und keinen anderen. Es wunderte ihn „New York Times“, zahm die „Washington 850, ein 76-jähriger Herr mit grauem Sei-
nicht. Natürlich war er der Mann, den sie Post“. Es ist ganz schön lange her. Dan tenscheitel in einem Büro voller antiker
brauchten bei CBS, er war schließlich der, Rathers letzte Geschichte beginnt 2004. Möbel. „Ist Ihnen aufgefallen“, fragt er,
88 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
„dass bis heute niemand gesagt hat, die „Ja“, sagt Dan Rather, „so war es.“ kutierten über den Zweiten Weltkrieg, die
Geschichte sei falsch? Sie greifen immer Es gibt ein Großraumbüro hier in der Rezession und über Amerika, sie glaubten
nur die Papiere an.“ 42. Straße, junge, schöne Menschen sitzen an Zeitungen: Sie lasen dem Sohn die Mel-
Die Papiere, Mister Rather, sind der an schmalen Tischen und telefonieren vor dungen vor, „Zeitungen sind die Univer-
Kern der Geschichte. ihren Computern, „Dan Rather Reports“ sität des kleinen Mannes“, sagte der Vater.
„Und ich glaube, sie sind echt.“ heißt die Firma. Als Dan an Rheumatischem Fieber er-
Er ist jetzt lauter geworden, klopft auf Einmal pro Woche läuft seine Sendung, krankte, musste er neun Monate lang im
die Schreibtischunterlage bei jeder Silbe. aber sie läuft nur bei HDNet, einem Bett liegen. Er hörte Radio, Edward R.
„Jedenfalls sagen sie die Wahrheit. Ich Kabelsender, den sieben Millionen Ameri- Murrow berichtete für CBS von der Front.
werde es beweisen, darum gehe ich ja vor kaner abonniert haben; das Senderchen „Ich bewunderte diesen würdevollen
Gericht. Das ist der Sinn meines Kampfes. gehört Mark Cuban, einem Milliardär aus Abenteurer“, sagt Rather.
Es wird schwer, aber ich bin ein glücklicher Dallas, der auch die Basketball-Mannschaft Er ging zu den Marines, schaffte es zum
Krieger.“ Dan Rather greift die Kaffeetas- der Dallas Mavericks besitzt. „Chronicle“, scheiterte aber an der Recht-

Der Feind war der Präsident der Vereinigten Staaten, ein Präsident im Krieg
HECTOR MATA / AFP (L.); AP (R.)

Bush auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“ (2003) Nationalgardist Bush (1968)

se beidhändig, er trägt Nadelstreifen und Cuban sagt, er verehre Dan Rather, und schreibung; er studierte am Sam Houston
ein offenes Hemd. Rather sagt, Mark Cuban sei einer der letz- State Teachers College, der erste Student
Seine Kollegin Mary Mapes hatte die Pa- ten Eigentümer, die verstünden, dass Jour- der Familie, sprach an den Sonntagen für
piere damals besorgt. Die zarte, zähe Frau nalisten Freiheit brauchen. In Rathers Re- das Universitätsradio, und dort mochten
mit den blonden Locken war Produzentin galen stehen DVDs, „Der beste Kongress, sie seine Stimme und ließen ihn machen.
bei CBS News, eine der besten Recher- den man für Geld haben kann“, solche Fil- So kam er zu KHOU-TV, einer lokalen
cheurinnen der Redaktion. Vier Doku- me darf er jetzt wieder machen, aber er Tochter von CBS. Und als der Hurrikan
mente hatte sie herangeschafft, Kopien von spricht nicht von der Gegenwart, er spricht „Carla“ Texas verwüstete, war Rather in
1972 und 1973. Von dem jungen First Lieu- von den 44 Jahren bei CBS, von seinem Galveston, ehe die Straßen gesperrt wur-
tenant George W. Bush war die Rede in einsamen Kampf. den. Er berichtete und berichtete, bei CBS
den Papieren, davon, dass dieser Bush Dan Rather gegen CBS. erzählen sie heute noch die Legende, Ra-
„nicht die Zeit“ habe, den Befehlen zu fol- Dan Rather gegen Viacom, den Me- ther habe sich damals an einen Telefon-
gen und seine medizinische Untersuchung dienkonzern, zu dem CBS gehörte. mast gebunden, damit er nicht fortgeblasen
zu absolvieren. Dan Rather gegen alle, die er einst lieb- wurde; und weil niemand sonst Bilder von
Und deshalb sah es so aus, als bewiesen te, gegen das, was übrig ist von dem „ma- „Carla“ hatte, kaufte CBS zuerst Rathers
die Papiere, dass George W. Bush sich um gischen, mystischen journalistischen König- Filme und dann den Reporter vom Markt.
den Dienst in der National Guard der USA reich“, das CBS News für ihn war, diese So begann es, 1961. Rather verdiente in
herumgedrückt hätte, während Gleich- Bastion „voller Elan und Werte, wo selbst seinem ersten Jahr bei CBS 17 200 Dollar.
altrige in Vietnam starben. Es schien, als die Kantinenkräfte stolz waren, Teil von 44 Jahre später waren es 6 Millionen.
hätten Offiziere George W. Bush vor der CBS News zu sein“, so sagt es Rather. Lässt sich daraus Schadensersatz ablei-
unehrenhaften Entlassung geschützt. „Er Er sei immer schon ein Reporter gewe- ten, weil Rather ein Jahr früher vom Bild-
spricht auch mit jemandem weiter oben“, sen, erzählt er nun, selbst als Kind, als er schirm verschwand, als es mit der Leitung
das hatte Lieutenant Colonel Jerry Killian noch gar nicht wusste, was Reporter ei- abgesprochen war? Das ist die Frage, deren
über seinen Soldaten Bush geschrieben. gentlich tun. „Ich wollte nie Indianer- Beantwortung den Prozess entscheiden
Es waren Zeiten des Wahlkampfs, 2004, häuptling oder Kapitän werden, immer nur wird, aber Dan Rather, so jedenfalls wür-
Bush gegen John Kerry, und Bushs Re- Reporter. Ich träumte von einer Autoren- de er das formulieren, kämpft in Wahrheit
publikaner zweifelten Kerrys Heldenge- zeile im ‚Houston Chronicle‘.“ natürlich nicht für sich, sondern für eine
schichten aus Vietnam an, als CBS die Pa- Daniel Irvin Rather, der Vater, verlegte Rückkehr der Reporter, für freien Journa-
piere in die Finger bekam. Das sah nicht einst Ölleitungen für Humble Pipeline in lismus kämpft er und auch für die Neu-
gut aus: Ein Präsident, der nicht mal an Houston, Texas; nie tankte er bei einer an- gierde, für Recherche, für Mut, all das.
der Heimatfront hatte dienen wollen, intri- deren Firma als jener, die ihn bezahlte; Er kämpft mit maximalem Pathos, kein
gierte gegen einen dekorierten Veteranen? Veda, die Mutter, putzte. Die Eltern dis- Begriff ist ihm zu klein, „ich bin unabhän-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 89
Medien

gig, wer soll diesen Kampf kämpfen, wenn mit Stimmen, die nach Whiskey, Zigarren Gutachter schlossen nicht aus, dass die
nicht ich?“, sagt er, aber er hat schon auch und den Krisengebieten des Kalten Krieges Dinger echt seien, das Weiße Haus äußer-
Zahlen im Kopf. 70 Millionen Dollar will klangen. „This is CBS Evening News te sich vage und meldete später Zweifel
Rather von seinem Sender, der ihn vom with Dan Rather“, das war ein erster Satz, an. Das Problem der Rather-Truppe war
Schirm nahm und dann fallenließ. der der Nation Sicherheit schenkte, Abend ihr Informant: Bill Burkett, Bush-Hasser
Es sagen viele in New York, dass da ein für Abend. und Ex-Offizier bei der National Guard,
eitler, alter Mann nicht loslassen könne. So wie Rather ist kein Fernsehgott je ab- hatte zuerst gesagt, ein Kollege habe die
Dass Dan Rather es nicht aushalte ohne getreten, es wird ein Prozess werden wie Papiere besorgt; dann hatte er behauptet,
das Rotlicht der Kameras. „Traurig“, sa- bei Michael Jackson oder O. J. Simpson, er habe sie von einer Frau namens Lucy
gen sie bei CBS, „ein Jammer, wie da einer und Dan Rather sagt jetzt ganz leise, dass erhalten, aber Lucy war weg, tauchte nie
unserer Helden seine Legende zerstört.“ er sich doch nur Aufklärung wünsche. wieder auf. Existierte Lucy?
Aber wenn man Dan Rather reden hört, Eine echte Beweisaufnahme. Bush im Es könnte dennoch stimmen, was in Mi-
viele Stunden lang, klingt es doch anders. Zeugenstand. Die Führungsmannschaft litärkreisen erzählt wird: dass Akten ge-

Dan Rather war immer Teil seiner Nachrichten, er trat darin auf und sprach über seine Gefühle, er moderierte leidenschaftlich

In Vietnam (1966) Mit Präsident Nixon (1972)

Da redet ein Journalist, der an der Me- schreddert wurden. Möglich ist auch, dass
dienmoderne leidet. Burkett die Papiere selbst geklaut oder ge-

S. 90: GETTY IMAGES (L.); GLOBE/INTER-TOPICS (M.); LANDOV/INTER-TOPICS (R.); S. 91: DAVID TURNLEY/CORBIS (L.); LANDOV/INTER-TOPICS (R.)
Ist Journalismus noch möglich in Kon- sichert hat, vielleicht ist dies sogar die
zernen wie Viacom? Wenn Nachrichten wahrscheinlichste aller Versionen – dann
ein Produkt von Mischwarenfirmen sind hätte Burkett seine Lucy nur erfunden, um
und sicherlich nicht das profitabelste Pro- seine Straftat zu vertuschen, und natürlich
dukt? Wenn Rechercheure die Geschäfts- wären die Papiere echt, aber war es
Bei Fidel Castro auf Kuba (1996)
kunden stören und die Verbandsvorsit- tatsächlich so? Ein Lügner ist nach der
zenden ständig zum Telefon greifen, weil Lüge kein guter Kronzeuge mehr.
jeder kritische Film irgendwem lästig ist? von Viacom und CBS unter Eid. Eine Re- Nur Dan Rather glaubt Bill Burkett noch
„Die Distanz zwischen denen, die die cherchereise in die Vergangenheit, nichts immer.
Konglomerate führen, und den Journalis- als die Wahrheit, endlich. Es ist still geworden um Rather, selten
ten wird größer und größer“, sagt Dan Ra- Die Gegenseite sagt, das sei eine seltsa- klingelt sein Telefon, nur seine Frau ruft
ther, „und damit verschwindet selbst in me Hoffnung. „Dieses Verfahren soll ein- zweimal am Tag an, um den „Enkelreport“
den Medien das Verständnis dafür, dass zig und allein dazu dienen, dass Dan Ra- durchzugeben, wie er sagt. Gern würde
Nachrichten ein öffentliches Gut sind. Die ther seinen zerstörten Ruf zurückerhält“, Jean nach Texas ziehen, so hatten sie es
Frage ist, ob man die Öffentlichkeit dafür sagt James Quinn, Partner bei Weil, Got- geplant für die Jahre nach dem letzten
interessieren kann und ob sie noch wach shal & Manges, den Rechtsberatern von Wetterbericht. Jean war gegen die Klage,
ist, zu bemerken, was sich da verändert.“ CBS im Fall Rather. „Das Gericht wird nur „Lass gut sein, Dan“, das sagte sie.
Sie wird wach sein, die Öffentlichkeit, darüber entscheiden, ob CBS Herrn Ra- Die Anhänger von früher sind ver-
wenn in Downtown New York in einigen ther fair behandelt hat, und ich kann Ihnen stummt, die alten Vertrauten auch, da heu-
Wochen das Hauptverfahren beginnt, das heute schon sagen, das hat CBS getan“, te Dan Rather radioaktiv ist für jeden, der
wird ein amerikanisches Spektakel wer- sagt Quinn, „und übrigens, die Frage, ob bei CBS auf eine Karriere hofft. Vier Leu-
den. Es leben nicht viele Amerikaner, die die Papiere echt waren, kann man gar nicht te mussten CBS sofort verlassen wegen der
so berühmt sind wie Rather. mehr klären. Es sind über 30 Jahre ver- Affäre, selbst diese vier sind unerreichbar
Drei große amerikanische Fernseh- gangen – falls es jemals Originale gab, sind für Rather, weil sie Schweigevereinbarun-
sender gab es im 20. Jahrhundert und drei sie für alle Zeiten verschwunden.“ gen unterschrieben und Abfindungen be-
Ikonen am Mikrofon: Über Jahrzehnte Damals überprüften sie die Kopien bei kommen haben. „Warum“, fragt Rather,
sprachen Dan Rather, Peter Jennings und CBS, aber sie hatten nicht viel Zeit. Auch „wenn der Sender doch nichts zu verber-
Tom Brokaw die Abendnachrichten bei „USA Today“ war an der Geschichte dran, gen hat?“
CBS, ABC und NBC. Weise Männer, all- darum ging CBS ziemlich flott auf den Sen- Damals ging alles sehr schnell, „Rather-
wissend, so sollten sie wirken, Welterklärer der damit. gate“ nannten sie die Affäre im Sender.
90 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ein paar Tage lang verteidigte CBS die eine hat nichts mit dem anderen zu tun, Buchstaben „F.E.A.“, was „Fuck ’Em All“
Geschichte, aber dann musste Rather sich niemals hat die Regierung Einfluss auf die bedeutet haben mag, aber das konnte dann
öffentlich entschuldigen. Dann sagten die Nachrichten genommen oder nehmen kön- keiner beweisen.
Manager des Senders, dass sie eine Unter- nen“, sagt er. Ein Zitat des Viacom-Chefs Der Fall Rather gegen CBS begann vor
suchung des Falls angeordnet hätten, die Sumner Redstone ist allerdings überliefert, ein paar Tagen. Der New York State Su-
von dem ehemaligen Staatsanwalt Dick es stand in „Time“: „Ich glaube, eine re- preme Court ist ein altes Gebäude, 30 Stu-
Thornburgh geleitet werde, einem Freund publikanische Regierung ist besser für Me- fen, viele Säulen, in Saal 242 viel dunkles
der Familie Bush. „Das ist unglaublich“, dienunternehmen als eine demokratische.“ Holz; eine erste Anhörung hatte der Rich-
schrie Rather, „un-fucking-believable!“ Wenn Dan Rather an seine 44 Jahre bei ter angesetzt, der dort oben vor dem
„Das kannst du nicht tun“, sagte er sei- CBS denkt, tut er das in Bildern. Martin Schriftzug „In God we trust“ saß.
nem Chef Andrew Heyward, dem Präsi- Luther King fällt ihm ein. Die dunklen Die Leute von CBS hatten gehofft, dass
denten von CBS News. „Es ist getan“, sag- Tage von Dallas, die Ermordung John F. der Fall schon hier erledigt würde. „Wenn
te Heyward. Kennedys: Dan Rathers Team meldete zu- man den ganzen Rauch mal wegbläst, dann

Mit Soldaten in Somalia (1992) In Bagdad bei Saddam Hussein (2003)

Die Kommission fand Versäumnisse. Sie erst, dass der Präsident tot war. Dann bleibt ein enttäuschter alter Mann“, so ar-
fand heraus, dass die Nachrichtenleute, ge- Vietnam: Einmal trug Rather einen Ver- gumentierte Mister Quinn, „es ist doch
trieben vom Eifer, alle Zweifel ignoriert wundeten vom Schlachtfeld und brüllte kristallklar: Dan Rathers Vertrag besagte,
hätten, dass sie die Quellen und vor allem dem Kameramann zu, er solle mit dem dass CBS das Recht hatte, ihn auf dem
die Dokumente nicht hinreichend geprüft, verdammten Drehen aufhören, aber der Bildschirm einzusetzen, und die Pflicht,
viel zu schnell viel zu heftige Behauptun- Kameramann drehte weiter, CBS zeigte ihn zu bezahlen. Wenn Sie ein Football-
gen als Beweise dargestellt hätten. 224 Sei- die Bilder, und Rather war ein amerikani- trainer sind, müssen Sie Ihren Quarterback
ten hat der Bericht, eine Chronologie des scher Held. auch nur bezahlen, aber Sie dürfen ihn
Versagens, und als Dan Rather die Akte Später dann Nixon. Afghanistan. Die doch auf die Bank setzen.“ Das aber sah
auf dem Tisch hatte, es war der 10. Januar Live-Sendung aus China, 1989, vom Platz der Richter anders, er verwarf keinen der
2005, 8.49 Uhr, so erzählt er es heute, da des Himmlischen Friedens. Der 11. Sep- sieben Punkte aus Rathers Klage, er deu-
habe er gedacht: „What bullshit. Was für tember. „Ich wandere durch das Museum tete an, dass er den Prozess zulassen wer-
ein Komplott. Was für eine Verdrehung.“ meiner Erinnerung“, sagt er, „neulich war de; zerstörte Reputationen können teuer
Ein gehetzter Mann muss der große Dan ich im Wahlkampf in New Hampshire und werden in Amerika. Rather sagt, wenn er
Rather in jenen Wochen gewesen sein. dachte doch an eine Patrouille in Vietnam. gewinne, werde er die meisten Millionen
Morgens um sechs fuhr er von seiner Woh- Mein Hirn ist wie eine Jukebox, immer für die Ausbildung von Reportern stiften.
nung an der Upper Eastside ins Studio in spielt irgendein alter Film.“ Er nämlich will nur diese eine, die letz-
der 57. Straße. Selten spazierte er durch Dan Rather war immer auch Teil seiner te Meldung noch hören: „Rather besiegt
den Central Park, angeln ging er kaum Nachrichten, er trat darin auf und sprach CBS.“ Und sprechen soll diesen Satz seine
noch, und wenn die Nachrichten began- über seine Gefühle, er moderierte leiden- Nachfolgerin.
nen, abends um halb sieben, war der Mo- schaftlich und erfand Redewendungen, die Als Dan Rather zuvor an diesem Don-
derator längst erschöpft; am Telefon mel- in Amerika „Ratherisms“ genannt werden: nerstag mit dem Fahrstuhl zu seinem Büro
dete er sich mit den Worten: „Hier ist Ra- „Ärgere den Alligator nicht, bevor du den hinauffuhr, stand eine Frau mit dem Rü-
ther plus drei.“ Er meinte sich und die drei Fluss durchquert hast.“ Er war komisch, er cken zu ihm, sie hieß Veronica. Rather er-
Gläser Bourbon. war manieriert, langweilig war er nie. zählte etwas, und Veronica drehte sich um
Heute erzählt Dan Rather noch eine an- Die Wahlnacht von 2004 ließen sie ihn und sagte: „Diese Stimme kenne ich doch,
dere Geschichte von CBS. Er sagt, damals noch moderieren, und wenn Kerry und sie hat mich durch mein Leben geführt.“
sei es für den Sender und vor allem für nicht Bush gewonnen hätte, wäre Dan Ra- „Ich will ja nicht kokettieren“, sagt Dan
Viacom um Steuererleichterungen gegan- ther vielleicht noch heute bei CBS. Nach Rather nun in seiner Suite.
gen, um neue Gesetze, für die der Sender der Wahl nahmen sie ihm die Nachrichten Aber?
das Weiße Haus brauchte, um Milliarden. weg, bei seiner letzten Moderation trug er „Im Taxi war es vorhin genauso. Das
Ein CBS-Sprecher widerspricht heftig, „das unter der Krawatte ein T-Shirt mit den passiert mir ja immer noch ständig.“ ™
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 91
Panorama Ausland
TÜRKEI

Kopftuchstreit am Bosporus
E inem seiner wichtigsten Ziele, das
Kopftuchverbot an türkischen Uni-
versitäten abzuschaffen, ist Ministerprä-
das laizistische Erbe Atatürks dar, wet-
terte Generalstaatsanwalt Abdurrahman
Yalçinkaya und brachte gar ein Verbots-
sident Recep Tayyip Erdogan nur schein- verfahren gegen Erdogans Regierungs-
bar einen Schritt näher gekommen. Am partei AKP als treibende Kraft der Kopf-
vergangenen Donnerstag einigte sich der tuch-Renaissance ins Gespräch. Auch aus
islamisch-konservative Premier mit der Armeekreisen wurden Drohungen laut:

CRISTINA QUICLER / AFP


rechtsnationalistischen Opposition im Die Aufhebung des Kopftuchverbots sei
Parlament auf eine entsprechende Ver- die „rote Linie“, deren Überschreitung
fassungsänderung: Danach soll künftig die Generäle unter keinen Umständen
niemand mehr wegen seiner Kleidung akzeptieren würden. Im April vergange-
von der Hochschulausbildung ausge- nen Jahres hatte Generalstabschef Yasar
schlossen sein. Das heute für viele from- Erdogan, Ehefrau Emine Büyükanit der Regierung bereits indi-
me Musliminnen unverzichtbare Kopf- rekt mit einem Putsch gedroht, wenn
tuch hatte Staatsgründer Mustafa Kemal dentinnen tatsächlich schon bald mit dem sie die Türkei weiter islamisieren sollte.
Atatürk einst als Zeichen der Rückstän- „Türban“ in die Hörsäle strömen. Das Der säkularen Elite gilt die Freigabe des
digkeit aus Amtsstuben und Lehranstal- Militär und viele kemalistische Richter Kopftuchs als Indiz dafür, dass die AKP
ten verbannt. Politische Beobachter be- haben erbitterten Widerstand angekün- das Land in einen Gottesstaat verwan-
zweifeln allerdings, dass religiöse Stu- digt. Der Vorstoß stelle einen Angriff auf deln will.

CHRYSSA PANOUSSIADOU / PANOS

UMIT BEKTAS / REUTERS

Musliminnen in Istanbul Generalstabschef Büyükanit

K A S A C H S TA N hat ein kasachisches Unternehmen die Zur Verringerung der Umweltschäden

Giftmüll für Deutschland


Lieferung von Problemabfällen per setzt Kasachstan auf den Westen, denn
Luftfracht an ein Entsorgungsunterneh- in der Staatengemeinschaft GUS fehlt
men in Bremen vereinbart. Bei den gif- es an modernen Müllbeseitigungsanla-

D ie zentralasiatische Republik, Kino-


gängern in aller Welt seit der
Komödie „Borat“ ein Begriff, baut ihre
tigen Rückständen handelt es sich vor
allem um Hinterlassenschaften einer
früheren sowjetischen Luftwaffenbasis
gen. Eine erste Fuhre mit krebserregen-
den Stoffen ist bereits in Deutschland
eingetroffen. Die Regierung Kasach-
Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland am Balchasch-See. Das Gewässer, stans, dank heimischer Rohstoffe wie Öl
aus – durch den Export von Sonder- 30-mal so groß wie der Bodensee, ist und Gas derzeit gut bei Kasse, hat für
müll. Mit Unterstützung des Umwelt- zudem teilweise durch ein Kupferkom- den Müllversand 8,7 Millionen Euro
ministeriums in der Hauptstadt Astana binat stark mit Schwermetallen belastet. bereitgestellt.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 93
Panorama

Wer wird „Mister Europa“? und privat bestens versteht. Etliche Sozial-
demokraten und die meisten christdemo-
kratischen Abgeordneten im Europäischen
Der Top-Job ist neu und heißt gravi- Parlament sind allerdings gegen ihn,
tätisch „Präsident des Europäischen ebenso die deutsche Bundeskanzlerin
Rates“. Ab dem 1. Januar 2009, Angela Merkel. Blair selbst käme der
so steht es im Verfassungsvertrag, ehrenvolle Titel teuer zu stehen.
soll der neue Amtsinhaber für min- Derzeit verdient er als Bank-
destens zweieinhalb Jahre den Lobbyist, Buchautor und VIP-
Vorsitz bei den Gipfeltreffen der Redner Millionen britischer
Staats- und Regierungschefs über- Pfund. Damit wäre dann Schluss.
VO N LINKS: STE PHE N HIRD / RE UTE RS; JE AN- CHRISTO P HE V ERHAEGEN / AF P ;

nehmen und die 27 EU-Länder Weniger Glanz würde der lang-


repräsentieren. Bislang wechselt die jährige luxemburgische Regie-
Führung im wichtigsten Gremium der rungschef Jean-Claude Juncker
Gemeinschaft halbjährlich, bis zum Som- dem Amt verleihen. Dafür hat
mer etwa steht der slowenische Premier er umso mehr Freunde in allen
C O NTACTO / AGT. F O C US; C E SARE O / F OTOGRAM MA / RO P I
GE E RT VAND E N W IJNGAE RT / AP; MO NTSE RRAT VEL AND O /

Janez JanΔa dem Rat vor. Aber wer darf Lagern und Ländern. Juncker
„Mr Europa“ werden? wäre der Garant der Kleinen
Der Andrang der Polit-Prominenz auf das Amt gegen die Übermacht der Großen
ist groß. Gute Chancen werden zum Beispiel in Europa, mit besten Beziehungen
dem ehemaligen britischen Premier Tony Blair zu Merkel wie zu Sarkozy. Aber
zugesprochen. Er ist der erklärte Favorit des auch der polnische Ex-Präsident
konservativen französischen Staatspräsidenten Aleksander Kwa£niewski oder der
Nicolas Sarkozy, mit dem dieser sich politisch belgische Premier Guy Verhofstadt
Tony Blair Jean-Claude Juncker Guy Verhofstadt
Premier Großbritanniens Regierungschef Premierminister
von 1997 bis 2007 Luxemburgs seit 1995 Belgiens seit 1999

Die Guerilla sei ein wichtiger Partner


VENEZUELA CHINA

Bündnis mit Banditen Fest im Griff


im Kampf für die von Chávez propa-
gierte „bolivarianische Revolution“.
Auch die Freilassung der Geiseln Clara

P räsident Hugo Chávez strebt offen-


bar eine politische Allianz mit der
kolumbianischen Guerilla Farc an. Das
Rojas und Consuelo González Anfang
Januar war offenbar von den Banditen
mit Chávez abgesprochen. Nahezu zeit-
G ut sechs Monate vor Beginn der Olym-
pischen Spiele verschärft die Kommu-
nistische Partei die Zensur, vor allem im
geht aus einem Dokument des Geheim- gleich forderte der Caudillo die inter- Internet. Video-Web-Seiten etwa müssen
dienstes in Caracas hervor. Dessen Chef nationale Anerkennung der Guerilla künftig entweder im Staatsbesitz sein oder
Henry de Jesús Rangel, ein Vertrauter „als kriegführende Partei“. Militärisch unter Kontrolle des Staates stehen, dem
des Präsidenten, unterstützt darin ein ist Chávez seit langem der wichtigste „Sozialismus dienen“ und dem „Moral-
„vorübergehendes Bündnis“ mit den Verbündete der Farc: Die Rebellen kodex des Sozialismus“ folgen. Damit wol-
Rebellen im Nachbarland Kolumbien. beziehen einen Großteil ihrer Muni- len die Behörden sicherstellen, dass nur
tion aus dem Nachbar- politisch genehme Filme im Netz erschei-
land und schmuggeln nen. Die Propagandabehörde schreibt den
erhebliche Mengen privaten und staatlichen Providern fast
Kokain über Venezuela täglich den Inhalt ihrer Web-Seiten vor. Be-
Richtung Europa und gründungen sind selten, Unternehmen, die
USA. Der Streit über die nicht Folge leisten, riskieren Geldstrafen
Anerkennung der Farc, und sogar Stilllegung.
die von den meisten Einige dieser „Arbeitsanweisungen“ wurden
Staaten als „terroristische jetzt bekannt. Danach müssen Web-Seiten
Vereinigung“ eingestuft „sofort Beiträge über die Pläne der Zentral-
XINHUA NEWS AGENCY / AGENTUR FOCUS

wird, hat Spannungen regierung löschen, ein Energieministerium


mit den Nachbarstaaten zu gründen und die Aufsichtsbehörden für
provoziert und gefährdet Börsen, Banken und Versicherungen zusam-
die Stabilität der ganzen menzulegen“, Grund: „Es handelt sich um
Region: In der vergan- Gerüchte.“
genen Woche verkünde- Zu einer Entscheidung des Nationalen
te Chávez die Entsen- Volkskongresses (NVK) heißt es in diesen
dung zusätzlicher Solda- Anweisungen:
ten an die Grenze zu
Chávez (r.), freigelassene Geisel González (M.) Kolumbien. Internet-Café in Peking
94 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ausland
SERBIEN Macht komme. Eine Antwort blieb aus.

Überraschende Hilfe
Weil der Kreml dem vergleichsweise
könnten kleinere EU-Länder hinter sich gemäßigten Tadiƒ einen Gefallen er-
scharen. Allenfalls Außenseiterchancen wies, ist nun in den europäischen Regie-
hat dagegen der frühere spanische Regie-
rungschef José María Aznar. Der heftigs-
te Widerstand kommt
D urch einen plötzlichen Pakt mit
Moskau hofft Präsident Boris Tadiƒ
die Wiederwahl am kommenden Sonn-
rungszentralen die Hoffnung auf dessen
Wiederwahl gestiegen. Von Tadiƒ wird
eine maßvollere Reaktion auf die Ent-
aus Madrid: Premier tag zu schaffen. Öffentlichkeitswirksam wicklung im Kosovo erwartet. Die ser-
José Luis Rodríguez unterzeichneten der westlich orientierte bische Provinz dürfte sich bald schon
Zapatero kann Staatschef und Premier Vojislav KoΔtu- für unabhängig erklären – mit Billigung
seinen kon- nica ein umfassendes Energieabkom- fast aller EU-Staaten und der USA, aber
servativen men mit dem Kreml. Gegen den Deal, gegen den erklärten Willen Belgrads.
Vorgänger den der serbische Staat mit Gasprom
nicht aus- vereinbarte, hatte sich Tadiƒ eigentlich UNGARN 100 km
stehen. gesträubt, da der Vertrag Russland
enormen Einfluss auf den serbischen KROATIEN Vojvodina
Energiesektor einräumt. Nun aber lenk- RUMÄNIEN
te Tadiƒ aus taktischen Gründen ein. So
möchte er das Argument seines Gegen-
spielers Tomislav Nikoliƒ entkräften, er BOSNIEN- Belgrad
Aleksander allein verfüge über beste Beziehungen HERZE-
Kwa£niewski nach Moskau. Nikoliƒ, einer der Führer GOWINA SERBIEN
Präsident Polens der Radikalen Partei, war aus der ersten
von 1995 Wahlrunde mit knapp 40 Prozent der
bis 2005 Stimmen als Sieger hervorgegangen; PriΔtina
MONTE-
Tadiƒ brachte es nur auf rund 35 Pro-
José María Aznar NEGRO
zent. Als sich die Übereinkunft abzeich- Kosovo
Regierungschef nete, schrieb Nikoliƒ einen Brief an Prä-
Spaniens von sident Wladimir Putin und bat um Auf-
1996 bis 2004 schub, bis er „als langjähriger Verfechter ALBANIEN MAZEDONIEN
russischer Interessen“ in Serbien an die

„A: Verwenden Sie nur Berichte der Nach- G O L F S TA AT E N selbst über Atomwaffen verfügt, sollte

„Teheran muss
richtenagentur Xinhua und Kommentare seine Nuklearanlagen den Uno-Kon-
der ,Volkszeitung‘, keine Artikel anderer trolleuren öffnen und den Atomwaf-

nachgeben“
Quellen. fensperrvertrag unterschreiben.
B: Bekommen Sie Nachrichten, Beiträge, SPIEGEL: Aber auch arabische Herrscher
Foren und Blogs in den Griff. Kommentare wie König Abdullah II. von Jordanien
dürfen nur nach Prüfung veröffentlicht wer- Der Generalsekretär des Golf-Koope- befürchten, dass Teheran mit den schi-
den. Schaffen Sie nicht aktiv neue Themen rationsrates, Abd al-Rahman al-Attija, itischen Bevölkerungsteilen in den Golf-
in Foren. Die Kontrolle der Blogs muss ver- 57, über Washingtons Nahost-Politik staaten und im Libanon eine militante
schärft werden. Jene Beiträge, die den Geist und den mächtigen Nachbarn Iran Allianz schmiedet.
der NVK-Entscheidung negieren und unser Attija: Dafür sehe ich keine Anhalts-
politisches System kritisieren, müssen abso- SPIEGEL: Werden die Golfaraber den punkte. Außerdem machen wir keine
lut blockiert oder gelöscht werden. von Präsident George W. Bush gefor- Unterschiede zwischen Sunniten und
C: Verstärken Sie die positive Meinungsfüh- derten harten Kurs gegenüber Teheran Schiiten, vor dem Gesetz sind alle
rerschaft. Web-Seiten müssen proaktiv die einschlagen? Staatsbürger gleich.
öffentliche Meinung in positiver Manier an- Attija: Diese Forderung SPIEGEL: Das Verhältnis
leiten, betonen Sie positive Stimmen und lehnen wir strikt ab. Mi- der Golfaraber zum Got-
schaffen Sie online eine Pro-NVK-Atmo- litärische Einsätze schaf- tesstaat ist dennoch be-
sphäre.“ fen nur neue Brandherde, lastet, auch weil Iran drei
wie die Geschehnisse in Inseln im Golf besetzt
Palästina, im Irak und in hält.
Afghanistan zeigen. Attija: Damit hat Teheran
SPIEGEL: Washington be- das Prinzip der territo-
schuldigt Teheran, insge- rialen Unantastbarkeit
heim den Bau von Atom- eines fremden Staats-
waffen zu betreiben, um gebiets verletzt. Wir ver-
eines Tages Israel anzu- langen, dass es diese
YASSER AL-ZAYYAT / AFP

greifen. Inseln räumt. Teheran


Attija: Für uns ist Israel die muss nachgeben. Krieg
eigentliche Gefahr, weil es wird es deswegen je-
REDUX / LAIF

arabisches Territorium be- doch nicht geben, wir


setzt und Friedensangebo- setzen auf eine friedliche
te ausschlägt. Israel, das Attija Lösung.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 95
Ausland

TONY GENTILE / REUTERS


Ministerpräsident Prodi, Siegesfeier der Opposition im Senat, Oppositionschef Berlusconi: Anderswo kollabieren die Börsenkurse, in Rom

I TA L I E N

Die Stunde der Clowns


Am Ende der Regierung Romano Prodi lässt sich ablesen, was dem Land in den nächsten Monaten
droht: Stillstand, Parteiengezänk und ein weiteres Mal Silvio Berlusconi an der Macht.
Präsident Giorgio Napolitano will eine Übergangsregierung ernennen, um Neuwahlen vorzubereiten.

I
n der neunten Reihe der Parlaments- hänge mit den Troddeln, und lässt die Sze- natorin auf Lebenszeit, erscheinen? Mit
aula sitzt, wächsern und sonderbar ha- nerie unwirklich werden. Parole, parole, dem kränkelnden Karosserieschneider und
ger, ein Mann und streicht in einem parole. Senator auf Lebenszeit Sergio Pininfarina
Manuskript herum. Ab und zu reicht er Berlusconi schreibt. Vielleicht an einem wird schon gar nicht mehr gerechnet.
eine Hand, blickt kaum auf dabei, schreibt Regierungsprogramm für die ersten hun- Ein Vertreter der Auslandsitaliener ist
in sich versunken weiter. Der Mann ist Sil- dert Tage. Man sieht es nicht. Gianfranco nicht auffindbar, wohl in Südamerika ver-
vio Berlusconi, 71. Fini kommt, wie zufällig, zu dem Platz in schollen. „Entweder Wahlen, oder wir
Seine Mutter, die 97-jährige Mamma der neunten Reihe geschlendert. Ein Ca- machen eine Revolution“, meldet sich
Rosa, liegt im Sterben. Was kümmert da nossa-Gang. Der Vorsitzende der rechten Umberto Bossi von der Lega Nord. „Die
der Untergang einer Regierung? Alleanza Nazionale hatte kürzlich erst mit Waffen werden wir finden, früher oder
Um ihn herum werden mit Zahlen be- Berlusconi gebrochen. Jetzt sehen die Um- später.“ Keiner ruft den Nervenarzt.
kritzelte Zettel herumgetragen, hinter vor- fragen einen Vorsprung von zehn Prozent Bossis Gefährte Roberto Maroni steht
gehaltener Hand wird telefoniert. Es wird für ein Mitte-rechts-Bündnis unter Führung derweil in der Parlamentsbar, ein Caffè-
lautstark geflüstert oder demonstrativ dis- Berlusconis voraus. Das verbindet. Tässchen in den Hand, und plaudert mit
kret zur Seite gegangen, um eine Abspra- Die erste Vertrauensabstimmung, im politischen Gegnern. Ein Murmeln, La-
che zu treffen oder zu brechen. Unterhaus, wo Prodi eine klare Mehrheit chen, Unterhaken, Küsschen hier und
Gerade hat der Noch-Ministerpräsident für seine Koalition aus elf Parteien (von Küsschen dort. Die italienische Politik ist
Romano Prodi, 68, in der Kammer den den Kommunisten über die Grünen bis zu jetzt ganz bei sich, fern von Inhalten und
„Pakt der Legislatur“ beschworen, hat er- den Christdemokraten) hat, ist überstan- verpflichtet allein der eigenen Macht.
klärt, den Abtrünnigen beim Verrat in die den. 326 zu 275. Kaum einer achtet auf das Der Separatist Giovanni Pistorio aus Si-
Augen sehen zu wollen. Morgen, bei der Ergebnis, alle kalkulieren die entscheiden- zilien hat jedem seine Stimme angeboten,
alles entscheidenden Vertrauensabstim- de Sitzung, am Donnerstag voriger Woche falls ihm dafür eine Brücke auf die Insel ge-
mung im Senat. Alles ist gedämpft, matt im Senat. Krankenbulletins werden ange- baut würde. Ein ergrauter Kommunist,
scheint es vom Oberlicht auf die Schnitze- fordert. Wird Rita Levi-Montalcini, an die Franco Turigliatto, lehnt dagegen jeden
reien in Rotbraun, die gerafften Samtvor- 100 Jahre alt, Nobelpreisträgerin und Se- Cent ab, er gehorche nur seinem Gewis-
96 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ALESSANDRA TARANTINO / AP

ANDREAS SOLARO / AFP


aber leistet sich die politische Klasse das Schauspiel der Selbstzerfleischung

sen, stimme gegen diese pseudolinke Re- sein. Der christdemokratische Präsident aus dem Irak zurück und brachte in der
gierung, und wenn dann Berlusconi der Region Sizilien, Totò Cuffaro, ist gera- Uno ein Moratorium der Todesstrafe auf
zurückkehre – nicht seine Schuld. Basta. de zu fünf Jahren Haft wegen Begünsti- den Weg.
So stürzen in Italien Regierungen. gung der Mafia verurteilt worden. Kaum Finanzminister Tommaso Padoa-Schiop-
Selbst der wegen eines Korruptions- jemand hat den Rücktritt verlangt. Cuffa- pa erbte von Berlusconi eine gepflegte Kul-
verfahrens zurückgetretene Justizminister ro setzt auf die zweite Instanz und lud nach tur der Steuerflucht und dementsprechend
Clemente Mastella, selbst der Brutus Mas- dem Urteil erst einmal zum Feiern mit si- große Haushaltslöcher. Heute ist die Quo-
tella, dessen Rücktritt den Zusammen- zilianischen Leckereien. Er hatte wohl mit te der Neuverschuldung mehr als halbiert
bruch der Regierung auslöste, sondiert Schlimmerem gerechnet. und liegt bei zwei Prozent. Die Privilegien
schon wieder nach allen Seiten, wägt die Angesichts der Clownerien der Mas- mächtiger Korporationen wurden gestutzt,
Last-Minute-Angebote ab: 20 sichere Lis- tella und Cuffaro inmitten der Müllber- Steuersünder aufgespürt – wenn auch de-
tenplätze von Berlusconi oder doch lieber ge schrieb der Politikprofessor Martin ren Schutzpatron, Silvio Berlusconi, sträf-
ein maßgeschneidertes Wahlrecht von Rhodes in der „Financial Times“, Italien lich in Ruhe gelassen wurde.
Prodi? Hauptsache, man bleibt im Spiel. sei „das am schlechtesten regierte Land Dank der findigen Industrien im Nor-
Mastellas Partei „Udeur“ aus ehemaligen Europas“. den steigen die Exporte wieder, trotz der
Christdemokraten bekam vor zwei Jahren Das saß und schmerzte vor allem die Attacken aus Fernost. Die Arbeitslosen-
1,4 Prozent und stellt 14 Abgeordnete. Italiener. Sie wissen, wie es um sie steht. quote ist mit sieben Prozent auf dem nied-
In einer anderen Welt kollabieren gera- Noch immer ist der Öffentliche Dienst ku- rigsten Stand seit 30 Jahren. Die Wirtschaft
de die Börsenkurse. In Rom leistet sich die rios aufgebläht, die Verwaltungen in Vet- hält sich aus eigener Kraft über Wasser. Es
politische Klasse das Schauspiel der Selbst- ternwirtschaft gelähmt. Doch gegenüber ist die Politik, die am Kentern ist.
zerfleischung. Romano Prodi und vielen seiner Minister Die Verfassung feierte gerade ihren 60.
Welch eine Parallelität: In Paris liefert ist das Urteil ungerecht. Geburtstag, aber der Parlamentarismus
die „Attali-Kommission“ dem Präsidenten In den 20 Monaten seiner Regierung hat steckt noch im Krabbelalter. 39 Parteien
Nicolas Sarkozy eine komplette Blaupause Prodi den Versuch unternommen, ein we- sitzen in den beiden Kammern. Ein unsor-
für die Modernisierung der Wirtschaft. Der nig Vernunft in die italienischen Zustände tierter Haufen, wie es ihn sonst nur in
Plan der Weisen soll unverzüglich umge- zu bringen. Das hatte etwas Tragisches, frischgebackenen Demokratien gibt.
setzt werden. In Italien, einem der Grün- von Anfang an. Er kam mit 25224 Stimmen In Italien hat das in den Regionen ge-
dungsländer der EU, wackelt die Regie- Vorsprung an die Macht und war auf- wählte Oberhaus absurderweise die glei-
rung, weil der Richter von Santa Maria Ca- grund der knappen Mehrheiten den politi- chen Kompetenzen wie die Abgeordneten-
pua Vetere einem angesehenen Bürger (der schen Empfindlichkeiten seiner Bünd- kammer. Jede Regierung muss sich ihre
zufällig auch Justizminister ist) Günst- nispartner ausgeliefert. Dass die Regierung Mehrheiten für fast alle Gesetze in beiden
lingswirtschaft vorgeworfen hat und die überhaupt Reformen durchgebracht hat, Häusern holen.
Gattin unter Arrest stellen ließ, tief unten ist ein mittleres Wunder und spricht für Anders als in Spanien, Griechenland,
in Kampanien, jener Provinz, die gerade die politische Kunst des kleinen Professors Frankreich haben sich noch keine stabi-
am eigenen Müll erstickt. aus Bologna. len Volksparteien herausgebildet, die im
All dies wäre Stoff für eine Opera buffa, Innenminister Giuliano Amato hat spek- Wechsel die Geschäfte führen. Stattdessen
wenn es nicht so traurig wäre. takuläre Erfolge im Kampf gegen die Ma- bildeten sich in den vergangenen Mona-
Dabei muss eine politische Karriere mit fia erzielt und das Land durch die Fährnis- ten Protestbewegungen, fast über Nacht,
einer Verurteilung keineswegs beendet se des Terrors geschleust. Italien zog sich wie die „Leck mich!“-Kampagne des Sati-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 97
Ausland

rikers Beppe Grillo oder die Massenkund- Pablo Neruda über das langsame Sterben.
PA K I S TA N
gebungen von „Family day“, einer tief ka- Dann wird Romano Prodi das Vertrauen
tholischen Gruppierung. Niemand vermag
zu sagen, welchen Effekt diese neuen
außerparlamentarischen Kräfte auf die
nächsten Wahlen haben werden. Die Ver-
entzogen. Mit 161 zu 156 Stimmen. „Eine
Ära ist zu Ende“, sagt der Gestürzte, ohne
seine Enttäuschung zu verbergen.
Zweimal gelang es Prodi, seinen Anti-
Ruchlose Söhne
In den Stammesgebieten nahe
bitterung ist groß und gefährlich auch für poden Silvio Berlusconi in Wahlen zu be-
einen Berlusconi mit schnell geschriebe- siegen, zweimal sanierte er die Finanzen, Afghanistan hat eine neue Genera-
nem Hunderttageprogramm. zweimal wurde er durch Hinterzimmer- tion von Taliban das Kommando
Roms Bürgermeister Walter Veltroni Scharaden seiner Verbündeten aus dem übernommen. Ihr Anführer soll am
hatte vergebens versucht, Prodi von der Amt gejagt. Das ist bitter. Bhutto-Mord beteiligt gewesen sein.
Vertrauensabstimmung im Senat abzu- Prodis breites Bündnis ist gescheitert,

W
bringen: Besser wäre es, zurückzutreten zerbrochen am Egoismus von Klientelpar- enn ein Untergebener seine Be-
und mit einer Übergangsregierung ein teien und einer skandalösen Verantwor- fehle nicht befolgt, pflegt Baitul-
neues Wahlrecht auszuarbeiten. Veltroni tungslosigkeit des Personals. Der kleinste lah Mehsud, der neue Taliban-
erklärte kürzlich, seine neue „Demo- gemeinsame Nenner, die Gegnerschaft zu Chef von Pakistan, dem Missetäter 1000
kratische Partei“ werde allein in die Berlusconi, hatte eine kurze Halbwerts- Rupien, etwa 11 Euro, nach Hause zu
Wahl ziehen, ohne das fatale Bündnis mit zeit. Was vor 20 Monaten keiner hätte schicken, dazu Nadel und Faden sowie die
Neokommunisten oder Grünen. Dafür glauben können, ist nun quasi sicher: Silvio Aufforderung, er solle sich binnen 24 Stun-
braucht er aber ein verändertes Wahl- Berlusconi, längst Inbegriff eines schlech- den ein Totenkleid nähen lassen. Ist die
recht mit einer Drei- oder Fünfprozent- teren Italien, wird wieder, zum dritten Mal, Zeit verstrichen, hat der Verräter meist
klausel, die winzige Parteien aus dem in den Regierungspalast einziehen. sein Leben ausgehaucht – hingerichtet von
Parlament heraushält, und einem Mehr- Am vorigen Freitag traf Staatspräsident den Milizen des Extremistenführers.
heitsbonus. Romano Prodis Traum vom Giorgio Napolitano die Vorsitzenden der Im Stammesgebiet von Süd-Waziristan
ausgreifenden Bündnis war nichts als eine beiden Kammern. Nach dem derzeitigen kursieren viele grausame Geschichten über
Notgeburt. Stand der Dinge dürfte er rasch eine Über- den erst 34-jährigen neuen starken Mann
der Taliban. Allerdings hat kaum einer den
Islamisten-Kommandeur je zu Gesicht be-
kommen. Kein einziges Foto zeigt den
Taliban-Führer aus dem Dorf Landidog,
der sich in der weitgehend von der Zivili-
sation abgeschnittenen Region vor unge-
betenem Besuch versteckt. Hier herrschen
die Broomikhels, ein Unterstamm der
Mehsuds, den schon die britischen Kolo-
nialherren wegen ihres kriegerischen We-
sens als „Wölfe“ fürchteten.
Dennoch ist der geheimnisvolle Baitul-
lah Mehsud in Pakistan heute bekannt wie
ein Cricket-Star: Präsident Pervez Mu-
sharraf hat ihn zum Staatsfeind Nummer
eins erklärt.
Als enger Verbündeter von al-Qaida
FRANCO ORIGLIA / GETTY IMAGES

baute er in den vergangenen Jahren die


entlegenen Täler Süd-Waziristans zum si-
cheren Rückzugsgebiet für die Terroristen
aus. Ein großer Teil der Selbstmordatten-
tate in Afghanistan geht auf das Konto sei-
ner Kämpfer. Die Entführungen von Hun-
derten pakistanischer Soldaten und fast
Zusammengebrochener Senator (am vorigen Donnerstag): „Verräter! Gekaufter!“ alle Attentate der vergangenen drei Mona-
te auf die Sicherheitskräfte seines Landes
Am Donnerstagabend hält ein alter Se- gangsregierung ernennen, möglicherweise seien von Mehsuds Anhängern verübt wor-
nator der Mastella-Partei Udeur eine lei- geführt von Franco Marini, dem Vorsit- den, erklärte Musharraf.
denschaftliche Rede für die Freiheit seines zenden des Senats. Er soll Wahlen auf der Auch am tödlichen Anschlag auf die Op-
Gewissens. Er werde, anders als seine Grundlage eines neuen Wahlrechts vorbe- positionsführerin Benazir Bhutto war er
Partei, Prodi das Vertrauen aussprechen. reiten. Danach ist alles offen. beteiligt, behauptet der amerikanische
Prompt springt tobend ein weißhaariger Nur einer weiß immer, was geschehen CIA-Chef Michael V. Hayden: „Wir haben
Parteifreund über die Bänke, macht das wird. Der 89-jährige Giulio Andreotti, der keinen Grund, das anzuzweifeln.“ Meh-
Zeichen einer Pistole, spuckt den Senator in allen Parlamenten der Nachkriegszeit sud dementierte mehrfach, etwas mit der
an und versucht, ihn zu ohrfeigen: „Verrä- saß und ungezählte Ämter bekleidete, hat- Tat zu tun zu haben.
ter! Gekaufter!“ Dann wird dem Wüten- te erst angekündigt, er werde Prodi im Als Beleg für seine Verstrickung gilt un-
den der Mund zugehalten, Gerichtsdiener Senat das Vertrauen aussprechen. Dann ter anderem ein abgehörtes Telefonat des
ringen ihn nieder. Der Angegriffene bricht änderte er wieder mal in letzter Minute pakistanischen Geheimdienstes, das der
unter Tränen zusammen und liegt leblos die Überzeugung, blieb dem Votum fern Chef-Talib kurz nach der Tat mit einem
zwischen den Bänken. (Er wird sich später und meinte nur, zynisch und weltweise: Vertrauten, Maulvi Sahib, geführt haben
erholen.) „Eine alte Regel besagt, dass jede Regie- soll:
Es wird ernst, zumindest pathetisch. rung schlechter ist als die vorangegan- Maulvi Sahib: Glückwunsch, ich bin ge-
Mastella zitiert ein elegisches Gedicht von gene.“ Alexander Smoltczyk rade jetzt nachts zurückgekehrt.
98 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ter der zweiten Taliban-Generation, Mul-
lah Dadullah Akhund. Der einbeinige
Feldherr gründete sein Terrorregime auf
Selbstmordattentate, Entführungen und
Enthauptungen. Vergangenen Mai wurde
Mullah Dadullah, damals 38, im Süden
Afghanistans von westlichen Truppen er-
schossen.
Der einflussreichste Aufsteiger im Ter-
rornetzwerk am Hindukusch neben Bai-
tullah Mehsud ist jedoch Siraj Haqqani,
der Sohn des berühmten afghanischen
Mudschahidin-Führers Jalaluddin Haqqa-
ni. Der Vater hatte gelegentlich auf der Sei-

JOHN MOORE / GETTY IMAGES


te der Taliban mitgekämpft, vor allem um
sein Einflussgebiet im Südosten Afghani-
stans zu sichern. Als er im Sommer 2007
starb, übernahm Sohn Siraj die Geschäfte.
Major Chris Belcher, der Sprecher der
US-Armee in Afghanistan, wirft den neu-
Tote, Verwundete nach dem Bhutto-Attentat*: „Sind es unsere Männer gewesen?“ en Taliban besondere Grausamkeit vor:
„Die jüngere Generation schiebt die alten
Baitullah Mehsud: Glückwunsch auch noch die Stammeshierarchien und den Führer einfach zur Seite und diktiert eine
dir, sind es unsere Männer gewesen? rauen Ehrenkodex der Paschtunen respek- neue Brutalität, zu der wahlloses Töten
Maulvi Sahib: Ja, es waren unsere. tiert. Der kennt zwar auch die Blutrache, ebenso gehört wie das Köpfen von Frau-
Baitullah Mehsud: Wer hat es gemacht? schreibt aber etwa den Schutz von Un- en.“ 200 000 Dollar haben die Amerikaner
Maulvi Sahib: Es waren Saeed und Bilal schuldigen, vor allem von Frauen und Kin- auf die Ergreifung von Siraj Haqqani aus-
von Badar und Ikramullah. dern, zwingend vor. Heute dagegen scheint gesetzt.
Baitullah Mehsud: Die drei haben es ge- im Namen des Dschihad alles erlaubt. Die Inzwischen fordert der Emporkömmling
macht? Kooperation zwischen al-Qaida und Tali- sogar die Autorität des afghanischen Tali-
Maulvi Sahib: Ikramullah und Bilal ha- ban brach mit den Regeln der ultrakonser- ban-Chefs Mullah Omar heraus. Der hatte
ben es gemacht. vativen, aber geordneten Welt der Stämme die hohe Zahl der zivilen Opfer bei den
Baitullah Mehsud: Dann Glückwunsch! im Grenzgebiet zu Afghanistan. Selbstmordattentaten der jüngsten Zeit
Die Beweise für eine Beteiligung an dem Das führt zu neuen Spannungen. Tradi- kritisiert.
Mord bleiben bis heute dünn. Doch tionelle Stammesobere lehnen inzwischen Anfänglich hatte Staatschef Musharraf
tatsächlich kooperieren Osama bin Ladens die Zusammenarbeit mit dem Terrornetz- noch versucht, mit den skrupellosen
Terrortruppe und die neu- jungen Kriegern handelseinig zu werden.
en Taliban längst im engen Ein Friedensabkommen verpflichtete seine
Verbund. Sie trainieren und Truppen im Februar 2005, aus dem Stam-
planen gemeinsam. Ausge- mesgebiet in Süd-Waziristan abzuziehen,
führt werden die Anschläge wenn die Aufständischen im Gegenzug die
und Angriffe jeweils von Unterstützung von Qaida-Kämpfern ein-
demjenigen, der in der ent- stellen. Unterzeichnet wurde der Vertrag
sprechenden Region das auf der Taliban-Seite vom mutmaßlichen
Kommando führt und über Drahtzieher des Bhutto-Mordes Baitullah
die schlagkräftigste Organi- Mehsud.
sation verfügt. Das Ergebnis war allerdings ein De-
Gegen Ende des vergan- saster: Nirgendwo sonst konnten die Ex-
SIPA PRESS

genen Jahres bestimmte ein tremisten so ungestört aufrüsten wie dort.


AFP

Gremium hochrangiger Ta- Heute herrscht wieder Konfrontation.


liban Baitullah Mehsud zum Taliban-Führer Mullah Omar, Haqqani: Neue Terrorkarrieren Seit Wochen führt die pakistanische Ar-
Anführer der neu gegrün- mee in Süd-Waziristan einen Feldzug ge-
deten „Tehrik-i-Taliban Pakistan“ (Taliban- werk Bin Ladens mehrheitlich ab. Die jun- gen Baitullah Mehsud, dessen Truppen
Bewegung Pakistans). Auf den ersten Blick gen Neo-Taliban schützen jedoch ihre aus- systematisch versuchen, Wachposten und
hat der junge Koranschüler-Chef viel ge- ländischen „Gäste“ mit allen Mitteln: Im sogar militärische Forts unter ihre Kon-
mein mit dem Gründer der Taliban-Bewe- Streit um die Vorherrschaft töteten die trolle zu bringen. Fast täglich gibt es
gung, Mullah Omar, einem ehemaligen neuen Taliban-Kommandeure bisher über Dutzende Tote auf beiden Seiten. Mu-
Dorfgeistlichen aus dem Süden Afghani- 250 Stammesführer. sharraf ließ Taliban-Stellungen bombar-
stans. Der frisch gekürte Chef-Taliban ver- Der Aufstieg der ruchlosen Söhne be- dieren, um die Extremisten auszuschal-
körpert jedoch eine neue, deutlich aggres- gann vor gut sechs Jahren. Mit dem Fall ten – doch Mehsud konnte immer wieder
sivere Generation der Glaubensfanatiker. des Taliban-Regimes in Afghanistan trie- entkommen.
Er kennt nichts anderes als Krieg, ist 14 ben die Bomben der Amerikaner Tausen- Die Amerikaner denken inzwischen laut
Jahre jünger als Mullah Omar und hat kei- de Kämpfer in die pakistanischen Stam- über eigene verdeckte Operationen im
ne religiöse Ausbildung. mesgebiete und nach Belutschistan, unter Stammesgebiet nach, was Musharraf, selbst
Die alten Mudschahidin aus dem Kampf den Flüchtlingen waren auch die Batail- ein ehemaliger Kommandosoldat, aller-
gegen die Sowjets und auch die 2001 aus lone der Qaida: junge Araber, Usbeken, dings eher belustigt: „Die USA scheinen zu
Afghanistan vertriebenen Taliban hatten Tschetschenen und Uiguren. glauben, dass sie etwas können, was unse-
Als grausamster unter den neuen Füh- re Armee nicht kann. Diese Einschätzung
* Am 27. Dezember 2007 in Rawalpindi. rern galt lange Zeit der erste Kriegsminis- ist völlig falsch.“ Susanne Koelbl

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 99
Ausland

USA

Die Clintons im Krieg


Der Vorwahlkampf wird härter und schmutziger. Nach den überraschenden Erfolgen von Barack
Obama ging die New Yorker Senatorin zum Angriff über. Mit großem Engagement
stürzt sich vor allem Hillary Clintons wichtigster Wahlhelfer in die Schlacht – ihr Ehemann Bill.

W
er für einen Augenblick den Ton
ihres Streitgesprächs ausblendet,
wer einfach nur die Akteure bei
ihren Reden beobachtet, wird plötzlich den
Unterschied erkennen: Die beiden aus-
sichtsreichsten Präsidentschaftsbewerber
der Demokraten, Barack Obama und Hil-
lary Clinton, mögen zwar auf einer Bühne
stehen, aber sie kommen aus verschiede-
nen Welten.
Am vergangenen Montag, bei ihrer
großen Fernsehdebatte in South Carolina,
wirkte Obama elegant wie immer. Seine
Arme malten Bilder in die Luft. Es waren
kraftvolle und zugleich sanfte Bewegun-
gen. Sein Wahlkampfstil lässt sich mit
Beach-Volleyball vergleichen. Alles sieht
schön und elegant aus, Beach-Volleyball
ist ein Spiel für Ästheten.
Neben ihm wartete Hillary Clinton auf
ihren Einsatz. Ihr Körper in gespannter
Haltung, die Augen starr auf den Kontra-
henten gerichtet, die Füße bewegungslos
fest in den Boden gestemmt. Ihr Wahl-
kampfstil ähnelt jetzt dem amerikanischen
Football, der von Einsatz, Attacke und
Zweikampf lebt. Football ist ein roher
Sport, es geht darum, dem Gegner mög-
lichst viel Raum abzujagen.
Obama sprach von Hoffnung und ver-
sprach die Wende. Es waren hohe, schöne
Bälle, die er da in die Luft warf. Er sagte
auch, dass er sich von Hillarys Ehemann
JONATHAN ERNST / REUTERS

Bill nicht korrekt behandelt fühle in die-


sem Wahlkampf.
Da flackerten ihre Augenlider, das war
ihr Startsignal.
Selbstverständlich gehe es bei Wahl-
kämpfen um die Zukunft der Nation, be-
gann Clinton. Aber man müsse eben auch Clinton, Obama im TV-Duell: So weit, so fies
auf die Karriere des Mitbewerbers zurück-
blicken und prüfen: Was hat er gesagt? mer und immer wieder“. Darum gehe es für ihre Ideen gelobt. Sie dagegen habe
Und was getan? eben auch in diesem Wahlkampf: zu über- immer gegen diese Ideen gekämpft, „übri-
Da müsse sie nun Zweifel anmelden: Si- prüfen, ob Taten und Worte zusammen- gens auch zu jener Zeit, als du in Chicago
cher habe Barack Obama eine große Rede passen. für einen Immobilienspekulanten gearbei-
gegen den Irak-Krieg gehalten, eine be- Im Saal wurde es unruhig, Applaus und tet hast“. Im Februar steht der Mann, um
eindruckende Rede, aber damals sei er Pfiffe wurden laut. „Hold on“, „Moment den es hier geht, vor Gericht und muss
noch gar nicht Senator gewesen. Und was mal“, rief der Moderator. „Wir wärmen sich wegen Betrugs verantworten. Er war
sei dann passiert? Ein Jahr später, als die uns doch gerade erst auf“, erwiderte eine ein Förderer von Obama, weiß Clinton
meisten Amerikaner kriegsbegeistert hin- angriffslustige Hillary Clinton. triumphierend zu berichten.
ter ihrem Präsidenten standen, da sei Obama versuchte, sich wieder ins Spiel So weit, so fies: Der große elegante
die Rede plötzlich von seiner Website zu bringen, und beschwerte sich über ihren Obama wirkt wie erstarrt. Ihr Spiel ist er-
verschwunden. Ein weiteres Jahr später, Wahlhelfer Bill Clinton. „Ich bin hier, nicht kennbar nicht sein Spiel. Buhrufe tönen
mittlerweile als Senator in Washington, er“, fuhr sie dazwischen, um anschließend aus dem Publikum. Millionen von Fernseh-
habe er die Hand für die Finanzierung wieder loszustürmen: Obama habe kürz- zuschauern haben soeben erlebt, was
des Feldzugs gehoben – „immer und im- lich die Republikaner unter Ronald Reagan Wahlkampfstrategen leidenschaftslos eine
100 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Charakter-Beschädigung nennen. So etwas Sein Buch „Mikrotrends“ beschreibt In Wahrheit hat Obama dem Marketing-
gehört seit neuestem zum Wahlkampf- „die kleinen Kräfte hinter den großen Ver- Guru eine empfindliche Schlappe bereitet.
arsenal der Favoritin. änderungen von morgen“. Es zergliedert Penn hat ihn erst nicht wahrgenommen
Die Entscheidung des Clinton-Teams, die amerikanische Gesellschaft – und die und dann unterschätzt. Warnungen des
alle Höflichkeit fahren zu lassen und zum Welt – in eine Unzahl winziger Randgrup- eigenen Teams hat er ignoriert oder abge-
Angriff überzugehen, war Wochen vorher pen und potentieller Kunden – da die bürstet. Erst kürzlich landete eines jener
gefallen, in der Nacht vom 3. auf den Linkshänder, dort Ehepaare, die ihre Hun- Memos in der Presse, die Penn nicht gut
4. Januar, als Hillary Clinton überraschend de wie Kinder behandeln, nicht zu verges- aussehen lassen. „Man kann Obama nicht
die erste Vorwahl verloren hatte. sen die Gruppe der Sonnenhasser. schlagen, wenn man ihn nicht richtig an-
Für einige Stunden schien es damals, als Es gebe nicht mehr ein Amerika, sagt greift“, hatte ein Stratege gewarnt.
habe Obama die Regeln des politischen Penn, oder zwei oder drei oder acht. Es Nun also wird geholzt. Das „negative
Betriebs außer Kraft gesetzt. Der schwarze gebe Hunderte neuer Nischen, die nur campaigning“, das Schlechtreden des an-
Bewerber erhielt im blüten- deren, ist die schwierigste, die
weißen Agrarstaat Iowa die gefährlichste und – wenn sie
meisten Stimmen. Die Partei- funktioniert – auch die effek-
jugend geriet aus dem Häus- tivste Wahlkampfstrategie. Sie
chen. Im Fernsehen war von zielt darauf, den anderen zu
„Obamania“ die Rede. zerstören.
Im Charterflugzeug ver- Solche Schlammschlachten
ließen das Ehepaar Clinton bedienen sich bewährter Me-
und der engste Beraterstab thoden: Da ist zunächst ein-
den Ort der Niederlage. Die mal die Flüsterkampagne, bei
Stimmung in dem kleinen der die Urheber im Dunkeln
Flugzeug war grimmig, eine agieren und die Helfershel-
Einigung schnell erreicht, be- fer Gerüchte, Halbwahrheiten
richtete ein Clinton-Berater oder auch schlichte Verleum-
später. „Hillary has to go ne- dungen des Gegners verbrei-

EMMANUEL DUNAND / AFP


gative“ – sie dürfe nicht länger ten. Dem Republikaner John
nur die eigenen Vorzüge prei- McCain haben die unsicht-
sen, sondern müsse die Nach- baren Einflüsterer bei den re-
teile des Rivalen deutlicher publikanischen Vorwahlen des
herausarbeiten – vor allem sei- Jahres 2000 ein uneheliches
ne fehlende Erfahrung. Obama-Anhänger (in South Carolina): Jammern bringt keine Stimmen schwarzes Kind angedichtet –
Die kleine Truppe beschloss das in Wahrheit sein Adoptiv-
eine Offensive, wie sie das kind aus Bangladesch ist. Der
Land in dieser frühen Wahl- Senator aus Arizona war da-
kampfphase selten erlebt hat. mals dem Establishment-Kan-
Obama sei der Mann der Wor- didaten George W. Bush zu
te, sie die Frau der Wirklich- nahe gekommen.
keit. Er sei ein guter Redner, Fast alle Wähler behaupten,
sie die bessere Präsidentin. dass sie Werbespots und An-
Das war die neue Angriffs- zeigen, in denen der jeweilige
linie. Ab sofort war ein Wahl- Gegner niedergemacht wird,
kampf angesagt, bei dem die schrecklich finden. Fast alle
Betonung auf Kampf lag. Forscher sagen aber auch, dass
Allen im Clinton-Team war sie trotzdem wirken. Die Ge-
das Risiko der Entscheidung schichte der amerikanischen
ANDREW GOMBERT / DPA

bewusst. Aus Wahlwerbung Wahlkämpfe ist auch eine


würde nun ein Zweikampf Geschichte der dreisten Lü-
werden. Der strategische gen wie der der subtilen Ver-
Schwenk von Sympathiewer- leumdung.
bung, bei der die Bewerberin Das schärfste Geschütz der
ihren Gegner wegzulächeln Clinton-Anhänger (in Las Vegas): „Ist das der neue Stil?“ Wahlkämpfer ist ohne Zweifel
versuchte, hin zu einer offe- der Angriff auf den Charakter
nen Feldschlacht kann für sie alles bedeu- zusammengehalten würden durch gemein- des Rivalen, der einem Säureattentat auf
ten – einen triumphalen Sieg auf dem No- same Interessen. Präsident oder Präsiden- dessen Glaubwürdigkeit gleichkommt. Im
minierungsparteitag der Demokraten in tin könne nur werden, wer aus der Mitte Wahlkampfteam der Senatorin Clinton er-
Denver, aber auch das unrühmliche Ende der Gesellschaft heraus wie ein starker Ma- ledigt vornehmlich ihr Ehemann Bill solch
der Ära Clinton. gnet die einzelnen Teile zusammenhalte. riskante Arbeit. Und der macht sich an die
Der Mann, der die Senatorin gegen Für Penn ist Amerika das größte Unter- Aufgabe mit der Lust eines geborenen
ihren Willen zu diesem Schwenk getrie- nehmen der Welt. Gesucht wird, sagt er, Raufbolds. Ein Politikerleben lang hat sich
ben hat, heißt Mark Penn, 54. Er ist der ein „Chief Operating Officer“, ein Zu- Bill Clinton verteidigen müssen – wegen
Chef ihres Wahlkampfstabs, und er gilt als packer, kein Wolkenschieber, ein Leitender seines Marihuanakonsums, wegen frag-
Zauberer. Im Hauptberuf arbeitet er als Angestellter der USA Inc. und nicht ein würdiger Grundstücksgeschäfte, wegen sei-
Präsident des weltweiten PR-Giganten Prediger. Hoffnung und Wandel? Penn ver- ner vielen Frauengeschichten; im Falle der
Burson-Marsteller. Sein Tagesgeschäft sind zieht das Gesicht, wenn er Obamas wich- Praktikantin Monica Lewinsky brachte ihm
Zahlen, Trends, Marktnischen, denen er tigste Schlagworte nur hört. Der Bewer- das sogar ein Amtsenthebungsverfahren
bis in kleinste Verästelungen hinterher- ber habe „doch selbst schon zugegeben, ein. Nun kann er selbst austeilen, kann als
spürt. dass er sich nicht vorbereitet fühlt“. „attack dog“ antreten, als Kampfhund, der
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 101
Ausland

sich fest in die Hosenbeine des Barack werden und damit parteischädigend wir- und Bewunderer seiner Thesen. Wenige
Obama verbissen hat. ken. Hillarys Senatskollege Ted Kennedy Monate später, Westen saß gerade in einer
In einem wohlkalkulierten Zornaus- mahnte den Ex-Präsidenten am Telefon zu Starbucks-Filiale in Atlanta, klingelte des-
bruch griff der Ex-Präsident Obamas mehr Überparteilichkeit. Als „Elder States- sen Handy.
Image als Gegner des Irak-Krieges an. man“ dürfe er nicht derart aggressiv in den Ob er sprechbereit sei für den ehemaligen
„Give me a break“, rief er Studenten am Wahlkampf eingreifen und Obama, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, fragte
noblen Dartmouth College in New Hamp- Hoffnungsträger für Millionen, so zurich- eine freundliche Frauenstimme. Bill Clin-
shire zu, was so viel heißt wie, hört doch ten. Sein einflussreicher Kollege Patrick ton knüpfte da an, wo ihr letztes Gespräch
mit so was auf. „Diese Geschichte vom Leahy, der Vorsitzende des Justizausschus- geendet hatte. Er wollte lernen. 30 Minuten
Kriegsgegner Obama ist das größte Mär- ses im Senat, schimpfte: „Diese billigen erläuterte Westen, die Straße vor dem Star-
chen, das ich kenne.“ Attacken sind unter der Würde eines ehe- bucks auf und ab marschierend, seine Kern-
Seither muss Obama landauf, landab er- maligen Präsidenten.“ botschaft. Man müsse das über den Gegner
klären, dass er immer noch gegen den Krieg Doch so leicht lässt sich Bill Clinton sagen, was die Masse auch denkt, aber bis-
ist, obwohl er inzwischen mehrfach für des- nicht zur Ordnung rufen. Wie viele an- her nicht auszusprechen wagt.
sen Finanzierung gestimmt hat. Er habe halt dere Wahlkämpfer schätzt auch er die Er- Obama hat nun zwei Clintons gegen sich.
nicht der kämpfenden Truppe in den gebnisse des Psychologen Drew Westen, Manchmal wisse er nicht mehr, gegen wen
Rücken fallen wollen. Die Clinton-Berater der in seinen Untersuchungen belegt, dass er da Wahlkampf führe, klagte er jüngst.
reiben sich die Hände: Ein Popstar, Aber Jammern bringt keine Stim-
der sich fortwährend rechtfertigen men, ein Wahlkampf ist eben auch
muss, hört irgendwann auf, ein ein Härtetest für die Belastbarkeit
Popstar zu sein. So macht man aus des jungen Konkurrenten.
Gegnern Beschuldigte. Für Obama ist es schwer, die-
Gern erklärt Bill Clinton in sem Wahlkampfstil zu begegnen.
schönster Gönnerpose, Obama sei Sein Schlüsselwort heißt Wan-
ein exzellenter Politiker – um dann del. Er verspricht ein Ende des
listig nachzusetzen, er habe leider Parteienhaders, nicht seine Neu-
noch nicht genug Erfahrung. In auflage.
schöner Scheinheiligkeit vergleicht Clintons dagegen setzt auf „Er-

SPLASH / ACTION PRESS


Clinton den Konkurrenten seiner fahrung“. Sie bietet sich als Ma-
Frau mit sich selbst – im Jahre nagerin der America Inc. an: „Ich
1988. Damals entschied sich der bin ein Problemlöser.“
junge Gouverneur von Arkan- Die unterschiedlichen Botschaf-
sas gegen eine Präsidentschafts- ten bedingen einen unterschied-
bewerbung. Wahlkämpfer Bill Clinton, Familie: Rempeleien erwünscht lichen Wahlkampfstil. Der Bot-
Vorige Woche verbrachte Bill schafter des Wandels hat sauber
Clinton in South Carolina, um zu bleiben. Das Klein-Klein der
schwarze Wähler davon abzuhal- Sachpolitik muss er meiden,
ten, Obama zu wählen. In seinen schmutzige Tricks sind für ihn ver-
Reden griff er den 46-jährigen Se- boten. Von ihm wird eine gewisse
nator aus Illinois als politischen Eleganz geradezu erwartet. Beach-
Naivling an, als Reagan-Bewunde- Volleyball kennt keinen Körper-
rer, Kriegsunterstützer – und als kontakt und kein Foulspiel.
unfairen Wahlkämpfer. Der „Chief Operating Officer“
WIN MCNAMEE / GETTY IMAGES

Der Vorwurf bezieht sich auf die dagegen hat die Ärmel hochge-
Vorwahlen von Nevada, in denen krempelt. Durchsetzungskraft und
die Gewerkschaft der Casino-Mit- Raffinesse sind seine Spezialität.
arbeiter Obama unterstützte. Beim Er darf ruhig ruppig spielen, Rem-
Ex-Präsidenten hörte sich das viel peleien sind erwünscht.
dramatischer an: Clinton-Wähler Obamas Gegenwehr fällt daher
seien von der Gewerkschaft unter Wahlkampfstratege Penn: Den anderen zerstören eher verzagt aus. Natürlich be-
Druck gesetzt worden. „In meinen streitet er Verbindungen zu du-
35 Jahren in der Politik habe ich so etwas Wahlkämpfe durch Emotionen und nicht biosen Geschäftemachern in Chicago. Nur
noch nicht erlebt. Ist das der neue Stil der durch Sachthemen entschieden werden. fünf Stunden habe er als junger Anwalt in
Politik?“ Und Westen ist überzeugt, dass ein Wahl- einem Team seiner Kanzlei für den jetzt
Clinton ist der beliebteste Aggressor, der kämpfer beide Arten von Emotionen frei- angeklagten Immobilienspekulanten gear-
sich denken lässt. Die Menschen hängen an setzen muss, positive und negative, Zu- beitet, sagt er.
seinen Lippen, nicht zuletzt weil seine Prä- neigung und Hass. Obama will – bisher jedenfalls – nicht
sidentschaft den Wohlstand der kleinen Von höflicher Zurückhaltung hält Wes- aggressiver zurückschlagen. „Ich möchte in
Leute spürbar gemehrt hat. Begeistert be- ten wenig. Es sei ein weitverbreiteter Irr- den nächsten vier Jahren nicht noch ein-
klatscht, paddelt Clinton sich durch die tum der Demokraten zu glauben, „nega- mal die Schlachten der neunziger Jahre
Menschenmengen, als sei er noch immer tive campaigning“, die Angriffe auf die ausfechten“, sagt er. Damit meint er die
im Amt, als habe es die sieben mageren Integrität des Gegners, seien unethisch, polarisierenden Clinton-Jahre, die sich
Bush-Jahre nie gegeben. unwirksam, und wenn sie von der Gegen- nicht wiederholen dürften.
Diese hohe Glaubwürdigkeit beim Wahl- seite betrieben werden, lasse man sie bes- Aber solche rhetorischen Spitzen sind
volk setzt das Clinton-Team nun ein, um ser unbeantwortet. wie Blumen in einem Gewehrlauf. Gegen
die nächste Trophäe nach Hause zu tra- Wenn er so etwas hört, spitzt Bill Clin- die Clinton-Artillerie vermögen sie wenig
gen: eine dritte Amtszeit für die Familie. ton die Ohren. Auf einem Kongress der auszurichten. Eines ihrer schwereren Ge-
Parteiveteranen sind bereits besorgt, der Demokraten kam es zum ersten Kontakt schütze ist der Vorwurf an Obama, er sei
Wahlkampf könne zu schnell zu schmutzig mit Westen. Clinton zeigte sich als Kenner ein Drogennutzer gewesen.
102 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Dazu muss man wissen: Auch Bill Clin- kann. In einer Fernsehdebatte schwor er Das heikelste und zugleich vielverspre-
ton wurde in seinem ersten Präsident- feierlich, „dass wir das ganze Thema Ko- chendste Spiel der Strategieberater aber
schaftswahlkampf 1992 des Drogenkon- kain-Missbrauch nicht hochziehen wer- ist das mit der „race card“, der Rassen-
sums bezichtigt, es ging um einen Joint in den“. Ein Teilnehmer der Talkshow heul- Karte. Das Spiel hat zwei Teile. Der offi-
Studententagen. Clinton musste schließ- te auf: „Genau das machen Sie jetzt schon zielle Teil sieht so aus: Feierlich erklärt die
lich erklären, er habe wohl dran ge- wieder.“ Präsidentschaftsbewerberin Clinton: „Es
zogen, aber eben nicht inhaliert, womit Auch in der Abtreibungsfrage, seit je sollte bei dieser Wahl weder um Haut-
die Angelegenheit im Hohngelächter eines der wichtigsten Themen für die farbe noch ums Geschlecht gehen. Wir ver-
unterging. Frauen an der Parteibasis, knöpft sich das danken es den Verdiensten von Martin
Weil er solche Peinlichkeit vermeiden Clinton-Team den Herausforderer vor. Luther King, dass wir hier sind. Aber
wollte, hat Obama seinen Drogenkonsum Dass weibliche Wähler in Iowa nicht für manchmal haben wir etwas zu leiden-
zu Jugendzeiten frühzeitig selbst einge- die Senatorin stimmten, war ein Schock, schaftliche Anhänger.“
räumt. Als einsamer Teenager, schreibt er den Hillarys Helfer seither nicht verges- So weit, so hochgemut. Teil zwei des
in seiner Autobiografie, sei er wie so viele sen können. Pokers mit der Rassenzugehörigkeit ist
schwarze Jugendliche auf dem besten Weg In einem Flugblatt, das in New Hamp- komplizierter und düsterer. Die Spieler
zum Junkie gewesen: Haschisch, auch Ko- shire vor allem an Frauen verschickt wur- wissen, dass die Gesellschaft und ihre ver-
kain, habe er konsumiert, wenn er es sich de, berichtet das Clinton-Team, Obama schiedenen ethnischen Teile auf bestimm-
te Reizworte reagieren. Die Volksgruppen
lassen sich schon durch feine rassistische
Untertöne beeinflussen und gegeneinan-
der ausspielen.
Barack Obama tut daher einiges, um
nicht ausschließlich als Interessenvertreter
der Afroamerikaner wahrgenommen zu
werden. Je deutlicher Obama sich als
Schwarzer zu erkennen gibt, je aggressiver
er das Erbe Martin Luther Kings für sich in
Anspruch nimmt und damit in die Fuß-
stapfen gescheiterter schwarzer Präsident-
schaftsbewerber wie Al Sharpton oder
Jesse Jackson tritt – desto besser für Hil-
lary Clinton. Sie hat ja nichts dagegen, ihn
zum Minderheiten-Kandidaten schrump-
fen zu lassen, zum Außenseiter, der in
zu kleinen Schuhen steckt, um das ganze
Land zu repräsentieren.
In ihrem Beraterstab heißt dieser heikle
Wahlkampffaktor „Jesse Jackson plus“.
Der Prediger und Bürgerrechtler Jackson
hat sich zweimal um die Präsidentschaft
beworben, 1984 und 1988. Beim zweiten
Mal hat er immerhin elf Vorwahlstaaten
gewonnen – doch ein ernsthafter nationa-
ler Bewerber, wie es Obama heute ist, war
LANDOV / INTER-TOPICS

Jackson nie.
Ein tiefschwarz lackierter Obama, so
funktioniert die Logik des Rassenpokers,
lässt Hillary umso weißer erstrahlen. Wie
aber führt man das Thema in den Wahl-
Demonstration von Hispanoamerikanern (in Los Angeles): Leidenschaftliche Anhänger kampf ein, ohne dass es auf einen selbst
zurückschlägt?
leisten konnte. Heroin probierte er angeb- habe als Parlamentarier in Illinois sieben- Etwa so, wie es Hillary Clinton gemacht
lich nur deshalb nicht, weil er den Dealer mal mit „Enthaltung“ gestimmt, als es um hat bei ihrem Versuch, die historische Rol-
nicht leiden konnte. Abtreibungsgesetze ging. „Das Recht ei- le von Martin Luther King zu relativieren.
Damit hat er nun selbst die Munition ner Frau zu entscheiden“, heißt es in dem „Der Traum von Dr. Martin Luther King
geliefert, die das Clinton-Team gegen ihn Papier, „erfordert einen Führer, der auf- wurde Wirklichkeit, als Präsident Lyndon
abfeuert. Es war Bill Shaheen, ein haupt- steht und dieses Recht verteidigt.“ Johnson 1964 die Bürgerrechte per Gesetz
amtlicher Clinton-Mitarbeiter in New Mit solcher Wahlwerbung zielt die Se- in Kraft setzte“, sagte sie in einem Fernseh-
Hampshire, der sich als Erster scheinbar natorin direkt auf die Frauen, die 57 Pro- interview. „Es brauchte einen Präsidenten,
fürsorglich Gedanken über Obamas da- zent der eingeschriebenen demokrati- um diese Dinge zu schaffen.“
maligen Fehltritt machte. Shaheen heu- schen Parteimitglieder ausmachen. Clin- Die unausgesprochene Botschaft war
chelte Besorgnis: „Die Republikaner könn- ton-freundliche Organisationen haben in klar: Träumer allein verändern die Welt
ten fragen: Hast du jemals Drogen an an- den Tagen vor der Wahl in New Hamp- nicht. Taten zählen mehr als Worte, Er-
dere gegeben? Oder gar welche verkauft?“ shire bis zu 300 000 Dollar pro Tag für sol- fahrung ist wichtiger als Inspiration.
Für solche Abgefeimtheiten ihres prompt che Wurfsendungen ausgegeben. Mit Er- Natürlich zielte das auf Obama und
gefeuerten Mitarbeiters musste sich Hil- folg. Just in dieser Zeit vor der Wahl zwang ihn gleichzeitig, sich zum Erbe des
lary Clinton bei Obama entschuldigen. schwenkten viele Frauen ins Hillary-La- Bürgerrechtlers aus Atlanta zu bekennen.
Aber Chefstratege Penn weiß, wie man ger. Das Ausspielen der „gender card“, der Gezwungenermaßen musste er nun selbst
auch nach Spielende noch Punkte machen Geschlechter-Karte, hatte sich gelohnt. Clinton angreifen: „Sie hat viele gekränkt,
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 103
Ausland

die an King und die Bürgerrechtsbewegung „Er hält sich für ein verkanntes Genie“,
glauben“, sagte er. Er war in der Rassen- TSCHECHISCHE REPUBLIK hatten Spitzel schon in seiner Stasi-Akte

Gewiefter Eiferer
frage deutlich geworden, hatte sich beken- notiert. Klaus könne die Meinungen ande-
nen müssen, wahrscheinlich gegen seinen rer kaum ernst nehmen, außerdem sei er
ursprünglichen Willen. geltungssüchtig. Das trifft auch heute noch
Clinton dagegen ging es wohl gar nicht zu und hat ihn nicht an einer fulminanten
darum, Bürgerrechtserfolge für weiße Poli- Hartnäckig leugnet Präsident Klaus Karriere gehindert. Klaus war nacheinan-
tiker zu reklamieren. Sie hatte eine andere den Klimawandel und hetzt gegen der Minister, Premier und Parlamentsprä-
Minderheit im Sinn. Die Spannungen zwi- die EU. Seine Landsleute teilen nicht sident, bevor er vor fünf Jahren ins höchs-
schen Afroamerikanern und Latinoame- te Staatsamt gewählt wurde. Nun hat er
rikanern sind in den vergangenen Jahren
alle Ansichten, dennoch hat er gute Aussichten, noch eine weitere Amts-
gewachsen, beide Volksgruppen konkurrie- gute Chancen auf eine Wiederwahl. zeit lang von der Höhe der Prager Burg
ren um Aufstiegschancen. Viele Einwande- auf seine rund zehn Millionen tschechi-

A
rer lateinamerikanischer Herkunft wollen, m 24. September 2007 gegen 17.40 schen Untertanen herabblicken zu können.
das zeigen die einschlägigen Untersuchun- Uhr mitteleuropäischer Zeit tritt ein Die verwinkelte Feste liegt hoch über
gen, keinen schwarzen Präsidenten. Mann mit Schnurrbart und feiner der Altstadt auf dem felsigen Bergsporn
Je mehr Obama als Kandidat der Drahtbrille an das schwarze Rednerpult des Hradschin. Hier herrschte im Spät-
Schwarzen auftritt, desto stärker die La- in New York. Im Vollversammlungssaal mittelalter Kaiser Karl IV. Im Schatten der
tino-Unterstützung für Clinton. Zu den der Vereinten Nationen haben mehr als Burg schrieb Franz Kafka an seinem Alp-
Meinungsforschern, die für das Clinton- 70 Staats- und Regierungschefs Platz ge- traumroman „Das Schloss“. Generationen
Team arbeiten, gehört auch Sergio Bendi- nommen. Mit leiser Stimme, in fehler- von Baumeistern haben ihre Spuren hin-
xen, der sich auf das Wahlverhalten der freiem Englisch darf Präsident Václav terlassen: Gotische Gemäuer, romanische
verschiedenen Minderheiten spezialisiert Klaus aus dem kleinen Tschechien irgend- Säulen und barocke Spiegelsäle wechseln
hat: Das Votum der Latinos, sagt er, sei wo in Europa vortragen, wie er den Zu- einander ab. Und genauso viele Gesichter
extrem wichtig für Clintons Chancen. Die
Latinos seien ihre „firewall“.
Beim Computer soll so eine „firewall“
das Eindringen schädlicher Viren verhin-
dern, auf den Wahlkampf bezogen soll die
Brandmauer der Hispanoamerikaner hel-
fen, dass sich der Flächenbrand, den Oba-
ma entfachen konnte, nicht weiter aus-
breitet.
Ein Wahlsieg in schwarzen Bundesstaa-
ten wirkt sich, dieser Logik folgend, posi-
tiv auf die Hochburgen der Hispanics aus:
Gewinnt Obama das stark von Afroameri-
kanern geprägte South Carolina, bekommt
ROBERT MICHAEL / MOMENTPHOTO.DE

er die Quittung dafür im deutlich größeren


Kalifornien – wo Weiße und Latinos do-
minieren. Dort sind ungleich mehr Dele-
giertenstimmen zu holen.
Mit einer solch wuchtigen Angriffswelle
hatten Obama und seine Berater offenbar
nicht gerechnet. „Wir spüren, dass die
Wähler unsere Botschaft eigentlich attrak-
tiver finden. Aber die Clintons sind einfach Staatschef Klaus: Häme für Gutmenschen
verdammt gerissene Wahlkämpfer“, sagt
einer aus dem persönlichen Umfeld des stand der Welt sieht: Den Treibhauseffekt wie sein imposanter Amtssitz hat auch der
Senators. gibt es gar nicht, das Wetter ändert sich Hausherr. In seinen maßgeschneiderten
Bill und Hillary Clinton scheinen dage- alle paar hundert Jahre mal, der Mensch Anzügen, mit seinem schmalen Mund, der
gen ganz zufrieden mit ihrer Arbeitstei- kann nichts dafür und den Klimawandel leisen Stimme und den perfekten Um-
lung: Während der eine Partner bellt, kann schon gar nicht aufhalten. Es muss einer gangsformen kann er arrogant wirken –
der andere beißen. der schönsten Tage im Leben des Quer- und schon im nächsten Augenblick wieder
Und beide haben jetzt einen neuen Geg- kopfs von der Prager Burg gewesen sein. freundlich und bescheiden auftreten.
ner entdeckt – die Obama-freundlichen Am Ende der 15-minütigen Rede gab Er legte sich mit den kommunistischen
Medien der USA. es zwar kaum Beifall, aber den braucht Machthabern an – aber nach der Wende
Einer CNN-Reporterin, die es gewagt Klaus ohnehin nicht. Er hat es allen mal auch mit den Dissidenten um Václav Ha-
hatte, die ausgeklügelte Negativstrategie wieder gezeigt: den Ökologen, den Büro- vel. Er ist mit einer Slowakin verheiratet –
der Clintons zu beleuchten, hielt der Ex- kraten, den Gutmenschen vom Schlage und war trotzdem 1993 an der Spaltung
Präsident eine Standpauke: „Die Obama- eines Al Gore. Nachher, so erzählt Klaus der Tschechoslowakei beteiligt. Der Pro-
Leute füttern Sie mit diesen Geschichten gern, seien etliche Staatschefs zu ihm ge- fessor der Wirtschaftswissenschaften ist ein
über unsere Angriffe, weil sie wissen, dass kommen, hätten ihm auf die Schulter ge- ausgewiesener Intellektueller und gleich-
Sie nach so was lechzen – aber die Wähler klopft und verstohlen gratuliert. Er allein, zeitig ein Populist, ein gewiefter Taktiker
interessiert das gar nicht. Sie sollten sich der unbestechlich scharfe Denker, habe und gleichzeitig ideologischer Triebtäter.
schämen.“ sich getraut, gegen die weltweite Political Nicht nur seine Haltung zum Klima-
Und dann noch mal, aus vollstem Her- Correctness zu verstoßen. Es ist immer das wandel macht ihn weltweit zum Außensei-
zen: „Shame on you.“ Gleiche: Nur er hat recht, nur er hat Mut, ter unter den Politikern. Die EU, der sein
Gregor Peter Schmitz, Gabor Steingart alle anderen sind feige oder blöd. Land erst seit fast fünf Jahren angehört,
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schmäht er als ein bürokratisch-autoritäres dem Eiferer Klaus und seiner Beliebtheit Dissidenten, die nach der Wende Karrieren
Monstrum. Václav Havel, den weltweit ver- als Landesvater: „Klaus ist ein liberaler gemacht hatten, während der normale
ehrten Dichterpräsidenten und Vorgänger, Ideologe, aber zuallererst geht es ihm um Tscheche um seinen Job bangen musste?
hält er für einen moralisierenden, halb- die Macht“, sagt er. „Er beherrscht eine Eigentlich hatte auch Klaus als Dissi-
linken Politik-Legastheniker – und trotz- elegante Form des Populismus. Er vertritt dent begonnen. Schon Ende der sechziger
dem: Wenn das Staatsoberhaupt vom Volk spektakuläre Minderheitenmeinungen, Jahre schloss er sich der Opposition ge-
gewählt würde, wäre dem 66-Jährigen eine deshalb wird er gehört. Aber er würde nie gen die Kommunisten an. Nachdem die
zweite Amtszeit wohl sicher. Doch legt so weit gehen, dass er sich vollständig sowjetischen Panzer in Prag eingerückt
die Verfassung fest, dass Abgeordneten- isoliert.“ waren, verlor Klaus seinen Posten an der
haus und Senat am 8. Februar gemeinsam In der Tat scheint es die große politi- Akademie der Wissenschaften, konnte aber
das Staatsoberhaupt bestimmen. „Er wird sche Begabung des tschechischen Präsi- als Ökonom an der Nationalbank weiter-
gewinnen“, sagt sein Weggefährte Jan denten zu sein, auf dem schmalen Grat der forschen. Liberale Denker wie Friedrich
Stráský, der ihn seit 40 Jahren kennt: „Er Querdenkerei zu wandeln, ohne in den August von Hayek sind bis heute seine
ist ein politisches Ausnahmetalent.“ Abgrund des Sektierertums abzurutschen. Vorbilder geblieben.
„Blauer Planet in grünen Fesseln“ heißt Beispiel EU: Zwar kritisiert er die Union Schon bald nach der Samtenen Revo-
sein neuestes Buch, dessen deutsche Über- wegen ihrer bürokratischen Unbeweglich- lution von 1989 gründete er seine Demo-
setzung Klaus im vorigen Dezember in keit. Aber er vermied es, sich auf die Seite kratische Bürgerpartei (ODS), die aus der
Berlin präsentierte. Es ist ein eiferndes der kompromisslosen EU-Gegner zu stel- Wahl 1992 siegreich hervorging. Als Pre-
Pamphlet geworden. „Die Einstellung der len. So konnte er das Misstrauen vieler mier trieb er den schnellen Umbau der
Environmentalisten zur Natur ist dem Tschechen gegenüber der Mega-Behörde Planwirtschaft voran. Er ließ Anteilsschei-
marxistischen Ansatz zu den Gesetzen der bedienen, ohne jedoch die hohen Wohl- ne für die Staatsbetriebe an die Tschechen
Volkswirtschaftslehre ähnlich, weil auch standserwartungen zu frustrieren, die vie- ausgeben: Aus den Werktätigen sollte ein
die sich darum bemüht, die natürliche Ent- le trotzdem mit dem Beitritt zum Brüsseler Volk regsamer Kleinkapitalisten werden.
wicklung durch eine vorgeblich optimale, Bündnis verbanden. „Er wollte beweisen, dass seine Theorie
stimmt, dass er recht hat“, erklärt Pilip.
Der Versuch schlug trotzdem fehl: Zwar
wuchs die Wirtschaft, doch die noch nicht
privatisierten Banken kauften die Anteils-
scheine gleich wieder auf, und Mitte der
neunziger Jahre kontrollierte der Staat
schon wieder das Gros der Betriebe. Be-
trüger bereicherten sich, marode Unter-
nehmensstrukturen blieben erhalten.
Später erreichte die Krise auch die ODS,
die in den Ruch der Korruption geraten
war. Sein Konkurrent Pilip und andere
forderten, Klaus müsse gehen. Doch der
Putsch gegen den Parteichef scheiterte:
„Wir haben den Personenkult um Klaus
unterschätzt“, sagt Pilip, der damals die
Klaus-Partei verlassen musste. „Er ist ein
CHMURA / IFA-BILDERTEAM

politisches Stehaufmännchen.“
Auch als Klaus vor fünf Jahren auf dem
Tiefpunkt seiner Karriere angelangt schien
und die Parteifreunde ihn auf den einfluss-
losen Posten des ODS-Ehrenvorsitzenden
Prager Burg, Karlsbrücke: Böhmischer Sekt in der Präsidentenvilla abgeschoben hatten, gab er nicht auf. Um
Präsident zu werden, schreckte der Wirt-
zentralistische, global geplante Entwick- Einen schmerzt die stetige Querköpfig- schaftsliberale nicht davor zurück, bei der
lung der Welt zu ersetzen“, heißt es da. keit des Präsidenten ganz besonders – sei- radikalen Linken Stimmen zu werben.
Umweltschützer sind derzeit sein Feind- nen Vorgänger auf dem Hradschin, Václav Nach seinem Amtsantritt holte er Tsche-
bild Nummer eins. Doch neben der Dikta- Havel. Mit ihm verbindet Klaus eine herz- chiens bis heute kaum gewendete Kom-
tur der Ökos sieht Klaus die Welt und vor liche gegenseitige Abneigung. Dem Macht- munisten aus ihrer politischen Isolierung,
allem das eher gemütliche Tschechien von pragmatiker Klaus waren die Dissidenten, indem er ihre Spitzenpolitiker an wichtigen
einem ganzen Rudel „populärer Ismen“ ihr moralischer Rigorismus und besonders Feiertagen in die Präsidentenvilla Lány
bedroht: Es gebe noch den „Sozialdemo- Havels hamlethaftes Hadern mit der Macht zum böhmischen Sekt lud – eine Ach-
kratismus“, den „Menschenrechtismus“, immer suspekt geblieben. tungsbezeugung, die unter seinem Vor-
den „Feminismus“, den „Multikulturalis- Noch heute kratzt er gern am histori- gänger Havel undenkbar gewesen wäre.
mus“ und viele andere. Allen „Ismen“ sei schen Ruhm der Bürgerrechtler: Es seien Damit Klaus gegen seinen von den So-
gemein, dass sie Ziele wie soziale Gerech- nicht die Oppositionellen gewesen, die den zialdemokraten unterstützten Rivalen Jan
tigkeit, Frauengleichheit oder eben die eu- Kommunismus zu Fall gebracht hätten, Svejnar gewinnt, benötigt er derzeit noch
ropäische Integration zu Dogmen erheben sondern die „normalen Tschechen“, die mehr als ein Dutzend Stimmen in den bei-
und über die individuelle Freiheit stellen – mit ihrer Bummelei passiven Widerstand den Parlamentskammern. Und auch die
ganz so, wie es ehedem der Kommunis- geleistet und die wirtschaftlichen Grund- wird er sich wohl wieder bei den Kommu-
mus mit seinen Glaubenssätzen getan lagen des böhmischen Kommunismus un- nisten holen, allen ideologischen Anfein-
habe. tergraben hätten, sagte Klaus nach seinem dungen zum Trotz.
Sein einstiger Mitstreiter, der Invest- Einzug auf der Burg. Und wahrscheinlich Was wirklich zählt, sagt sein einstiger
mentmanager Ivan Pilip, versucht eine hat er auch damit eine weitverbreitete Vertrauter Pilip, ist allein die Macht.
Erklärung für den Widerspruch zwischen Stimmung getroffen. Waren es nicht die Jan Puhl

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 105
Anstürmende Palästinenser*
„Zynische Führung“

SPIEGEL: Es hat nicht den An-


schein, dass sich die Menschen
im Gaza-Streifen gegen die
Hamas auflehnen.
Ajalon: An eine innerpalästi-
nensische Intifada gegen die
Hamas glaube ich auch nicht.
Trotzdem ist unsere Strategie
erfolgreich: Schon jetzt bittet
die Hamas um eine Waffen-
ruhe …
SPIEGEL: … über die Premier
Olmert nicht verhandeln will.
Ajalon: Viele warnen, eine Waf-
fenruhe stärke die Hamas. Ich
sage dagegen: Die Hamas ist
auch ohne Waffenruhe stärker
geworden.

KHALIL HAMRA / AP
SPIEGEL: Sollte Israel also mit
der Hamas verhandeln?
Ajalon: Offiziell ist unser Ver-
handlungspartner Palästinen-
ser-Präsident Mahmud Abbas,
den zwei Drittel seines Volkes gewählt ha-
NAHOST
ben. Mit der Hamas sollten wir nicht direkt

„Mit der Hamas reden“


reden, aber über Dritte, zum Beispiel über
Ägypten. Wenn wir mit der Hamas über
die Freilassung des entführten Soldaten Gi-
lad Schalit verhandeln, sehe ich keinen
Der israelische Minister und Ex-Geheimdienstchef Ami Ajalon Grund, warum wir mit ihr nicht über eine
Waffenruhe reden sollten, um das Leben
über die Krise im Gaza-Streifen, die Friedensgespräche der Kinder von Sderot zu retten, die täglich
mit den Palästinensern und die Zukunft von Premier Olmert unter dem Raketenbeschuss leiden.
SPIEGEL: Halten Sie Kompromisse mit den
Ajalon, 62, wurde über Ajalon: Und ich glaube nicht an die Wir- Islamisten für möglich?
die Grenzen Israels kung solcher Kollektivstrafen. Wir müssen Ajalon: Die Hamas ist kein monolithischer
hinaus bekannt, als er vor allem geheimdienstlich und militärisch Block. In der Hamas gibt es eine Vielzahl
mit dem palästinen- gegen die Terroristen vorgehen. Ich war von Meinungen und Ideologien. Ich halte
sischen Philosophen Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet es für wahrscheinlich, dass die Pragmatiker
Sari Nusseiba einen al-
AMIT SHABI / LAIF

und bevorzuge gezielte Operationen. Israel innerhalb der Hamas ein Interesse daran
ternativen Friedens- hat das Recht, sich zu verteidigen. Mora- haben, zur Mekka-Vereinbarung mit der
plan vorlegte – ein un- lisch gesehen schließt dieses Recht sogar Fatah vom vergangenen Jahr zurück-
gewöhnlicher Schritt die Tötung von Terroristen ein. Wir kön- zukehren …
für einen Karriere- nen nicht zulassen, dass unsere Bürger un- SPIEGEL: … in der Präsident Mahmud
militär: Der Admiral war Oberbefehls- ter ständigem Raketenbeschuss stehen. Abbas das Recht zugestanden wurde, mit
haber der Marine und von 1996 bis 2000 SPIEGEL: Bei den israelischen Versuchen, Israel zu verhandeln.
Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin militante Palästinenser zu liquidieren, Ajalon: Hamas-Führern wie Premierminis-
Bet. Im September berief ihn Premier starben in der vergangenen Woche wieder ter Ismail Hanija in Gaza oder dem Polit-
Ehud Olmert als Minister ohne Ge- Unschuldige. bürovize Mussa Abu Marsuk in Damaskus
schäftsbereich in sein Sicherheitskabinett. Ajalon: Solche Fehler müssen wir verhin- traue ich einen solchen Schritt zu.
dern. Sie schüren den Hass. Deshalb SPIEGEL: Sie sagen, Israel muss den Paläs-
SPIEGEL: Im Gaza-Streifen durchbrachen widersetze ich mich auch einer großange- tinensern in den Verhandlungen die Hoff-
vergangene Woche Zehntausende Paläs- legten Militäroperation, die nur die Soli- nung auf einen eigenen Staat geben. Bis-
tinenser die Grenze zu Ägypten, um sich darität der Palästinenser mit der Hamas lang sind noch nicht einmal jene Siedler-
mit Lebensmitteln einzudecken. Welche stärken würde. Diesen Mechanismus ver- außenposten im Westjordanland geräumt
Verantwortung trägt Israel für die Krise? stehen viele Israelis nicht. Die Motivation worden, die selbst nach israelischem Recht
Ajalon: Ich bezweifle, dass es im Gaza- von Selbstmordattentätern wird hier gern illegal sind.
Streifen eine humanitäre Krise gibt. Die mit religiösen Motiven erklärt und mit dem Ajalon: In diesem Punkt ist die internatio-
Hamas-Führung vor Ort manipuliert Infor- Versprechen, dass im Paradies 72 Jung- nale Roadmap eindeutig: Israel muss alle
mationen, um den Eindruck einer Krise zu frauen auf die Märtyrer warten. Die wah- Außenposten räumen. Wenn Abbas seine
erwecken. Sie handelt zynisch gegenüber ren Motive für die Anschläge sind aber Verpflichtungen erfüllen soll, muss Israel
der eigenen Bevölkerung. Erniedrigung, Verzweiflung und Hoff- seine auch erfüllen. Alle Außenposten
SPIEGEL: Israel hat unter anderem aber nungslosigkeit. Daher müssen wir parallel müssen verschwinden, wenn möglich, mit
auch die Einfuhr von Diesel gekürzt, mit zu unseren militärischen Operationen ei-
dem die Generatoren von Krankenhäusern nen politischen Prozess in Gang setzen, der * Beim Zusammenstoß mit ägyptischen Sicherheitskräften
betrieben werden. den Menschen Hoffnung gibt. am vergangenen Freitag nahe der Grenzstadt Rafah.

106 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ausland

Zustimmung der Siedler, wenn nicht, mit


Gewalt. Ohne diesen Schritt wird es keine
RUSSLAND
Verhandlungen geben. Und wenn es keine

Der Gulag als Therapie


Verhandlungen mehr gibt, hat unsere Ar-
beitspartei in dieser Regierung nichts zu
suchen. Wir müssen den gesamten Sied-
lungsbau jenseits des Sicherheitszauns ein-
frieren. Abseits vom Wahlkampfgetöse in seiner Heimat Hessen gelang
SPIEGEL: Das würde bedeuten, Siedlungen
in Ost-Jerusalem dürften weiter gebaut dem schwererziehbaren Florian in Sibirien
werden. Haben Sie nicht 2002 gemeinsam womöglich ein Neuanfang. Am liebsten würde er sogar bleiben.
mit dem palästinensischen Intellektuellen

D
Sari Nusseiba die Teilung Jerusalems ge- ie Holzhäuser mit ihren fein- hatte der hessische Ministerpräsident sei-
fordert? geschnitzten Fensterläden ducken nen Wahlkampf auf Trab bringen wollen.
Ajalon: Der Baustopp muss sofort erfolgen. sich in die Taiga, als wollten sie sich „Es geht offenbar auch anders“, jubelte
Der Status von Jerusalem entscheidet sich vor dem Nordwind verstecken. 3300 Kilo- „Bild“ Mitte Januar: „Jugendlicher aus
erst am Ende der Verhandlungen. Dann ist meter trennen das Dorf von Russlands Hessen nach Sibirien verbannt.“ Für ei-
die Ajalon-Nusseiba-Formel allerdings der westlichster Stadt Kaliningrad, 4300 von nen Schwererziehbaren, der gegenüber
einzige Weg zu einem echten Frieden zwi- der Pazifikküste. Umgeben von Birken- Mutter und Betreuern handgreiflich ge-
schen Israelis und Palästinensern. wäldern liegt Sedelnikowo fast in der Mit- worden war, hatte das Zentralblatt für die
SPIEGEL: Vor acht Monaten forderten Sie te von Wladimir Putins Riesenreich – und kochende Volksseele Sibirien als angemes-
den Rücktritt von Premierminister Olmert doch ganz weit im Abseits. sene Höchststrafe ausgemacht.
wegen der Fehler im Libanon-Krieg 2006. Sieben Stunden zuckelt der Bus bis in Nach Sibirien, für Dichter Maxim Gor-
Sehen Sie den Feldzug heute mit anderen die nächste Großstadt. In der vergangenen ki ein „Land von Ketten und Eis“, hatte
Augen? Woche aber hat es der Ort mit seinen 5500 der letzte Zar den Revolutionsführer Lenin
Ajalon: Nein, ich sage heute dasselbe wie Einwohnern bis in die Nachrichten des verbannt. In Sibirien büßten Hunderttau-
damals: Man darf sich nicht innerhalb we- Staatsfernsehens geschafft. sende deutsche Gefangene für Hitlers An-
niger Stunden für einen Krieg entschei- Boulevardreporter aus der Hauptstadt griffskrieg. Im Gulag, dem von Diktator
den. Man muss erst nachdenken. Der Pre- rückten an, andere telefonierten von Mos- Josef Stalin errichteten Lagersystem, be-
mier und sein Verteidigungsminister hätten kau aus derart ausdauernd nach Sedelni- trug die Überlebensdauer der zu Zwangs-
der Hisbollah ein Ultimatum stellen sol- kowo, dass der Direktor der Schule Num- arbeit verurteilten Oppositionellen, Kri-
len, die entführten Soldaten innerhalb von mer 2 entnervt von einer „Belagerung“ minellen und Intellektuellen oft weniger
48 Stunden auszuliefern. Das hätte ihnen sprach. Der Radiosender Echo Moskaus als zwei Jahre. So wurde Sibirien zum In-
Zeit verschafft, alle Szenarien durchzu- höhnte: „Vielleicht können wir unsere De- begriff grausamer Vergeltung.
spielen. visenreserven noch weiter aufstocken, in- „Es ist wunderbar hier. Ich möchte gern
SPIEGEL: Haben Sie damals mit Olmert dem wir Kriminelle aus der ganzen Welt noch bleiben“, sagt der junge Deutsche,
gesprochen? aufnehmen.“ der während der großen Pause etwas
Ajalon: Ich habe ihm nach gut einer Woche Die Aufregung hatte mit einem Mann schüchtern in der Schulkantine von Se-
gesagt: Jetzt müssen Sie den Krieg been- zu tun, dessen Name in Sedelnikowo nicht delnikowo sitzt. Das überrascht: „Sibi-
den. Die Welt steht hinter uns, sogar die einmal der Leiter der Dorfverwaltung rien-Dennis wäscht T-Shirts bei minus
arabischen Staaten, und der libanesische kennt: mit Roland Koch. Durch Vorschlä- 55 Grad“, hatte „Bild“ aus der Wärme
Premierminister will sich mit Ihnen treffen, ge, das Jugendstrafrecht zu verschärfen, der heimischen Redaktionsstube gemel-
um einen Waffenstillstand auszuhandeln.
SPIEGEL: Olmert entschied sich fürs Wei-
termachen. Er befahl am Ende sogar noch
eine Bodenoffensive, obwohl die Waffen-
stillstandsresolution der Uno absehbar
war.
Ajalon: Die letzten 60 Stunden des Krieges
waren das Ergebnis einer Fehlkalkulation,
wie der gesamte Waffengang – ein schwe-
rer politischer Fehler, der 33 Soldaten das
Leben kostete.
SPIEGEL: In dieser Woche erscheint der Ab-
schlussbericht über die Versäumnisse des
Libanon-Kriegs 2006. Warum wiederholen
Sie Ihre Rücktrittsforderung nicht?
Ajalon: Zunächst einmal will ich den Ab-
schlussbericht lesen. Ob Olmert zurück-
treten muss, hängt auch von der Reaktion
der Öffentlichkeit ab. Wenn er den Bericht
lediglich überlebt, kann ich ihn nicht wei-
ter unterstützen. Wenn er sich aber als
stark genug erweist, den Friedensprozess
YEVGENY KONDAKOV

mit den Palästinensern voranzubringen,


dürfen wir ihn nicht in Neuwahlen stür-
zen. Die Zukunft des Friedensprozesses
ist viel wichtiger als ein vergangener
Krieg. Interview: Christoph Schult Schüler Florian (in Sedelnikowo): „Die hier sind weiter als bei uns zu Hause“

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 107
gendliche den Dienst-Wolga der
Dorfoberen, und manche, die
vorher auf Heroin waren, ga-
ben sich in Sedelnikowo exzes-
siv dem Wodka hin. Das be-
stärkt eine kleine Minderheit im
Dorf, die meint, dass man
„selbst schon genug Probleme“
habe und auf die deutschen
Hooligans getrost verzichten
könne.
Doch für die Menschen von
Sedelnikowo sind die Schwer-
erziehbaren die Verbindung
nach draußen, zur großen wei-
ten Welt. Hunderte Bewohner
haben ihrer Heimat in den ver-
gangenen zwei Jahrzehnten den
Rücken gekehrt. „Bevor Mitte
der Neunziger die ersten Deut-
schen kamen, hatten wir noch

YEVGENY KONDAKOV
nie Ausländer gesehen“, sagt
Wladimir Jerochin, Chefredak-
teur der Lokalzeitung „Der ar-
beitsame Sibirier“.
Zentrum von Sedelnikowo: „Bis Mitte der Neunziger hatten wir noch nie Ausländer gesehen“ Die Kooperation mit dem
Thüringer „Pfad ins Leben“, je-
det. Tatsächlich heißt „Sibirien-Dennis“ gen Klimas können sie nicht länger mit ner Organisation, die schwererziehbare
Florian, und in Sedelnikowo war es dieses Landwirtschaftsprodukten aus Russlands Jugendliche nach Sedelnikowo verschickt,
Jahr nie kälter als minus 30 Grad. Der ein- Süden konkurrieren. hat dem Taigadorf plötzlich den Anschluss
silbige Halbwüchsige mit den braun- „Als wir hier ankamen, musste sich Flo- an die Globalisierung verschafft. Deutsche
blonden Haaren ist auch nicht zur Strafe rian seine Bleibe selbst herrichten“, erzählt Pfadfinder kamen zum Sommerlager, Kin-
hier, sondern zur Therapie – zur „Umer- Wilhelm Brant, ein Russlanddeutscher, den der und Jugendliche aus Sibirien besuchten
ziehung“, wie seine Klassenkameraden sa- das Jugendamt als Betreuer eingesetzt hat. Deutschland.
gen. Eine „reizarme Umgebung“, so Stefan Florian mähte das im Garten wuchernde Seine freie Zeit nutzt Florian, um ein
Becker, Jugenddezernent des Landkreises Gras und war stolz, als er zum ersten Mal Buch zu schreiben. Siebzig Seiten hat er
Gießen, soll dem 16-Jährigen helfen, Ag- in seinem Leben einen Nagel ins Holz schon zu Papier gebracht: Er selbst ist der
gressivität und Aufmerksamkeitsdefizit- einschlug. Er reparierte den Zaun und Held; in einem Krieg der Galaxien rettet er
störungen in den Griff zu bekommen. hob die Grube für das Plumpsklo aus. Be- Sterne vor der Vernichtung. In zwei Wo-
Im Westen des Orts liegt der Fluss Ir- treuer Brant, ein Hüne mit stahlblauen Au- chen wird er mit seinem Betreuer nach
tysch. Hier versinken im Frühjahr und im gen, eisernem Willen und großem Herzen, Deutschland zurückkehren – nicht nach
Herbst immer wieder Autos leichtsinniger hatte ihm drei Tage Zeit gegeben. Florian Gießen, sondern in einen anderen Ort. Er
Fahrer im Eis. Im Osten erstrecken sich schaffte es an einem. will nun sogar den Realschulabschluss
Sümpfe, im Norden liegt die Taiga, eine Wenn er es warm haben will, muss er schaffen.
Landmasse so gewaltig, dass Anton Tsche- den Ofen mit Holz heizen. Wenn er seine Als „knallharte Strafmaßnahme statt
chow über Sibirien schrieb: „Wo es endet, Kleider wäscht, holt er das Wasser von Kuschelpädagogik“ hatte „Bild“ den Auf-
wissen nur die Zugvögel.“ der Pumpe in der Gasse nebenan. Jeden enthalt bezeichnet. Mit dem Strafen aber
Wer von Süden, aus der 300 Kilometer Morgen läuft er zweieinhalb Kilometer zur scheint es in Sedelnikowo gar nicht so
entfernten Millionenstadt Omsk, in Sedel- Schule. „Exakt 22 Minuten“, sagt er. Er schlimm zu sein. „Am meisten werde ich
nikowo eintrifft, erblickt als Erstes eine kommt nie zu spät, und seine Lehrer be- meine russische Schule vermissen“, sagt
moderne Tankstelle mit einem 24-Stunden- richten, dass sie ihn selten ermahnen Florian, „hier ist alles so geordnet und
Laden – sie könnte so auch in Gießen ste- mussten. Der Deutsche hat ein paar Wor- diszipliniert.“
hen. Am Ortsrand ragen schmucke drei- te Russisch gelernt, versteht aber wenig. Für die 700 Kinder in Sedelnikowo steht
stöckige Häuser aus Backstein empor. Eine „In Mathe kann ich folgen, aber die hier ein Freizeitangebot bereit, mit dem die we-
Kirche mit goldenen Kuppeln ist gerade sind weiter als bei uns zu Hause“, erklärt nigsten deutschen Dörfer mithalten kön-
fertig geworden, bald öffnet ein Kranken- er. Nur in Deutsch ist er natürlich der nen. Der Verein „Wiktorija“ bietet Eis-
haus. Fast jeder Einwohner hat ein Mobil- Beste. hockey und Biathlon an, im Haus der Kul-
telefon, viele Haushalte leisten sich Satel- Sollte aus dem Problemkind in Sibirien tur gibt es zwei Dutzend Arbeitskreise und
litenfernsehen, auch das Internet gibt es nun gar ein Musterknabe geworden sein? Tanzstunden. Und in der Schule reichen
hier schon: Der Wirtschaftsaufschwung hat „Er hat tatsächlich große Fortschritte ge- die Offerten bis zu Schauspielunterricht
inzwischen selbst Orte wie Sedelnikowo macht“, sagt sein Betreuer. Und Klassen- und Stricken. „Alle sind irgendwie viel
erreicht. kameradin Lilija erklärt: „Florian ist schon ehrgeiziger hier“, sagt Florian, mindestens
Florian aber kam sein neues Leben an- der 43. Wir mögen die Kinder aus Deutsch- jeder zweite Schüler schaffe es später auf
fangs vor wie ein Ausflug ins 19. Jahrhun- land; für uns ist nicht wichtig, was sie da eine Hochschule oder Universität.
dert. Er wohnt in einem Holzhaus, das in drüben angestellt haben.“ Sie habe viel Vielleicht hätte dies ja als Wahlkampf-
der „Straße der Industrie“ steht. Dabei über Deutschland gelernt, vielleicht könne munition in Hessen getaugt – zumindest
gibt es in Sedelnikowo so gut wie keine sie ja mal später dort studieren. für die Opposition. Mit einer Schlagzeile
Industrie. Aber selbst den bestehenden Nicht immer läuft es so gut wie bei Flo- wie: „Schande! Sibirische Schulen besser
Kolchosen droht das Aus – wegen des eisi- rian. Einmal klauten zwei deutsche Ju- als deutsche.“ Matthias Schepp

108 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ausland

TROLL Patriot am kalten Pol


Global Village: Wie der norwegische Ministerpräsident die Antarktis eroberte

D
ie Türen der „Hercules“-Transport- nutzte Stoltenberg zur symbolischen wie Gebiets. Fünf Tage vor der Ankunft der
maschine öffnen sich in gleißendes semantischen Landnahme. „Schwabenland“ wurde der Vertrag rechts-
Licht. Geblendet von der Strahl- Gleich nach dem Frühstück stürmt der gültig.
kraft der antarktischen Eiswüste, springt Premier den Hang zu den drei Bergzinnen Selbstverständlich liegt solche Groß-
Norwegens Premier aus der Militärma- empor, die sich hinter der Troll-Station mannssucht vergangener Tage den norwe-
schine. Ein weißer Teppich aus feinen schützend aus dem Eis erheben. Auf hal- gischen Polarforschern von heute völlig fern.
Schneekristallen liegt vor ihm, darunter bem Wege hält er inne, um den drei Fels- Immer wieder betont der Premier, dass es
schimmert blaues, klares Eis. zacken altnorwegische Namen zu geben: „ausschließlich“ um wissenschaftliche In-
Jens Stoltenberg, der Eroberer: „Seit ich Trollmädchen, Trolljunge und Trollspitze. teressen gehe. „Unter dem Eis der Antarktis
als Kind von unseren Polarhelden gelesen Dann prescht er ungestüm weiter und lauern Geheimnisse, die zu entschlüsseln für
habe, träumte ich von einem Besuch in der bleibt erst nach einer Kraxelei von 500 unser Verständnis vom Klima des Planeten
Antarktis“, ruft er. „Jetzt bin ich hier, um Höhenmetern auf einem Felssprung un- von großer Wichtigkeit sind“, raunt er.
die norwegischen Interessen in diesem Ge- mittelbar unter dem Gipfel wieder stehen. Vom bedrohten Klima redet Stoltenberg
biet zu markieren.“ In jedem anderen Land hätten die Sicher- ständig. In der Nacht unmittelbar vor dem
Die sind handfest genug. Als erster nor- heitskräfte solch riskanten Aktivismus zu Abflug brachte seine Regierungskoalition
wegischer Regierungschef setzte er vor- verhindern gewusst. Nicht aber in Nor- noch ein Gesetz durch, wonach Norwegen
vergangene Woche seinen Fuß auf die Ant- wegen, wo die Geländegängigkeit des Re- „als erste Nation dieser Welt“ bis zum
arktis – betrat aber gleichzeitig Jahre 2030 kohlendioxidneutral
Heimatboden. Denn Norwegen sein will.
beansprucht seit rund 70 Jahren In der Station haben ihm
2,8 Millionen Quadratkilometer Helfer eine Videoverbindung
der Antarktis. Und zu Beginn eingerichtet. Auf dem Bildschirm
des neuen Jahrtausends wird die erscheint Jan-Gunnar Winther,
Eiswüste wieder interessant. der Chef des Norwegischen
Die Polargebiete haben infolge Polarinstituts. Auf einer Ex-
globaler Erwärmung erneut gro- pedition von Troll zum Südpol
ße geostrategische Bedeutung er- ist er soeben in der amerikani-
langt. Anrainer und Großmächte schen Amundsen-Scott-Station
HEIKO JUNGE / SCANPIX NORWAY / DPA
liefern sich einen Wettlauf, um angekommen. Frage seines Re-
ihre territorialen Ansprüche zu gierungschefs: „Konnten Sie An-
wahren. Dabei sind die Wissen- zeichen eines Klimawandels er-
schaftler, deren Aufgabe es ist, kennen?“
Daten über Geologie oder den Winther ringt um Fassung.
Klimawandel zusammenzutra- Gerade hat er sich zwei Monate
gen, lediglich die Vorreiter. lang bei bis zu minus 50 Grad
Denn ihre Regierungen, die Celsius über das Eisplateau
sie plötzlich wieder mit groß- Premier Stoltenberg: „Unter dem Eis lauern Geheimnisse“ gequält. An den Treibhauseffekt
zügigeren Forschungsbudgets zu denken ist unter solchen
ausstatten, benutzen sie gleichzeitig auch gierungschefs für viele ein Wahlargument Umständen beinahe töricht. Sie hätten
dazu, das Revier zu markieren. Der Nord- ist. „Für uns Norweger sind die Polarexpe- viele wichtige Daten erhoben. „Mit deren
pol, wo große Gas-, Öl- und Mineralien- ditionen der Vergangenheit ein Mythos“, Hilfe wird man genauere Computermo-
vorkommen vermutet werden, wird des- sagt Stoltenberg, 48, und lächelt selig. delle erstellen können, um den Klimawan-
halb auch am Südpol verteidigt. „Es geht Das Land, auf dem Stoltenberg jetzt sei- del zu berechnen“, lautet Winthers aus-
uns auch darum zu zeigen, wie erfahren ne Marschverpflegung verzehrt, war schon weichende Antwort vom 90. Breitengrad.
und sicher sich norwegische Wissenschaft- früher Schauplatz skurriler historischer Das Belegbild zum Klimawandel – die
ler im ewigen Eis bewegen können“, ver- Auseinandersetzungen. Ein großer Teil des Rechtfertigung für den ganzen Trip – findet
kündet Stoltenberg. von Norwegen reklamierten „Königin- sich am folgenden Tag. Auf einem von
Wie elegant selbst die ferne Eisöde mitt- Maud-Landes“ hieß auf deutschen Ant- einer Pistenraupe gezogenen Schlitten ent-
lerweile zu erreichen ist, demonstrierte die arktiskarten „Neuschwabenland“. 1938 decken Stoltenberg und die Journalisten
norwegische Luftwaffe mit ihrem acht- hatten die Nazis den Kapitän Alfred Rit- den Gletscher. Für die Mittagspause hatten
stündigen Flug von Kapstadt aus und einer scher mit dem Katapultschiff „Schwaben- die PR-Leute eine halbrunde Mulde ausge-
butterweichen Landung auf der Blaueis- land“ auf geheime Mission gen Südpol ge- sucht, an deren Schneewänden sich große
piste unweit der Forschungsstation Troll. schickt. Von zwei Dornier-Flugbooten aus Eiszapfen gebildet haben.
Wenn die Welt ein globales Dorf ist, ließ der Deutsche anderthalb Meter lange „Jens, hier herüber“, ruft der Agentur-
dann wirkt die Ankunft fast so, als wäre die Aluminiumpfeile mit eingravierten Haken- fotograf, und Stoltenberg begutachtet das
Antarktis nichts weiter als dessen Nah- kreuzen auf das Eis abwerfen. getaute und wieder erstarrte Wasser. End-
erholungsgebiet – zumindest im Vergleich Doch norwegische Polarfahrer hatten lich haben die Journalisten ihr Symbolbild
mit den Qualen, die der erste Mensch am Wind von der Nazi-Expedition bekommen. zur Klimaerwärmung. Die Kameras sur-
Südpol, der Norweger Roald Amundsen, Daraufhin vereinbarte die Regierung in ren. Dann gibt es Eintopf mit Bohnen und
erleiden musste. Jede Minute seiner Visite Oslo mit den Briten die Übergabe des Hackfleisch. Gerald Traufetter

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Szene Sport
FORMEL 1

Limitierte Kassen
BMW-Motorsportchef Mario Theissen,
55, über den Plan einer Obergrenze
für die Jahresetats der Rennställe

SPIEGEL: Der Automobil-Weltverband


Fia möchte vorschreiben, wie viel Geld
jedes Team maximal ausgeben darf.
Halten Sie solch ein Limit für sinnvoll?
Theissen: Es könnte eine reizvolle Lö-
sung sein. Der Aufwand in der Formel 1
geht über ein vernünftiges Maß hinaus.
Das Ziel, die Ausgaben einzudämmen,
wird mit einer Obergrenze am ehesten
erreicht. Zumal es jedem einzelnen
Team überlassen bleibt, wo genau es
Kosten einspart.
SPIEGEL: Sie fürchten nicht, dass

GETTY IMAGES
schwarze Kassen angelegt werden?
Brady Manning Theissen: Ich gehe davon aus, dass da-
mit niemand in großem Stil operieren
würde. Es gibt Wirtschaftsprüfer, die
AM ERICAN FOOTBALL einer Bilanz ansehen, wenn da etwas

Duell der Quarterbacks


nicht stimmt. Aber natürlich muss die
Frage, wie man die Budgets überwacht,
noch geklärt werden. Wir fangen erst
an, über Details zu diskutieren. Was

E s ist die größte und wichtigste Sportveranstaltung in Amerika, im vergangenen


Jahr saßen 93 Millionen Fans vorm Fernseher und sahen das Endspiel in der
National Football League. Am Sonntag ist es wieder so weit, dieses Mal spielen die
fällt alles unter die Obergrenze? Wo soll
sie überhaupt liegen?
SPIEGEL: Ein Fallbeispiel: Fahrer X ver-
New York Giants gegen die New England Patriots um die XLII. Super Bowl. Es wird dient zehn Millionen Euro Gehalt.
ein Duell der Quarterbacks: New Englands Tom Brady gewann mit den Patriots be- Künftig zahlt ihm das Team nur noch
reits dreimal den Pokal, und im Falle eines Sieges würde er sein Team zum unge- zwei Millionen – den Rest steckt ihm
schlagenen Meister machen. Champion ohne Niederlage, das gelang bisher nur den ein Teamsponsor zu. Wie soll so ein Bu-
Miami Dolphins, vor 35 Jahren. Brady gegenüber steht New Yorks Eli Manning. chungstrick verhindert werden?
Sollten die Giants das Finale in Glendale, Arizona, gewinnen, bliebe der Titel in der
Familie: Mannings älterer Bruder Peyton gewann 2007 die Super Bowl mit den
Indianapolis Colts. 73 000 Zuschauer werden im Stadion den Kampf der Spiel-
macher verfolgen, Tom Petty singt in der Halbzeitpause, die billigste Karte kostet
2699 Dollar. Und wer kein Ticket ergattert hat, will in der Nähe sein. Weil die Hotels
ausgebucht sind, bieten die Schlachtenbummler den Anwohnern Unsummen, um
XPB.CC LIMITED / ACTION PRESS

übers Wochenende in ihr Haus ziehen zu dürfen. Auch Popstar Beyoncé Knowles
soll ihre Bleibe an einen Football-Narren vermietet haben. Für 250 000 Dollar.

FUSSBALL-EM Vernehmen nach handelte es sich dabei


Theissen, Nick Heidfeld
Edelfan aus Russland
um Roman Abramowitsch, den Eigner
des englischen Clubs FC Chelsea.
Abramowitschs Ansinnen, so heißt es, Theissen: Genau aus diesem Grund wer-

I n den EM-Stadien Österreichs und der


Schweiz hat Exklusivität ihren Preis –
in Basel etwa, wo es bis zum Halb-
sei höflich, aber bestimmt abgelehnt
worden – die teuersten Plätze sind
bei den Sponsoren des Verbands und
den Fahrergehälter wahrscheinlich nicht
eingerechnet. Es geht vor allem um die
Kosten für die Technik, also Entwick-
finale sechs Spiele zu sehen gibt, kostet wohlhabenden Fußballfreunden aus lung, Herstellung und Einsatz.
eine Loge für acht Personen rund aller Welt außerordentlich begehrt. Bei SPIEGEL: Warum sollte ein Spitzenteam
120 000 Euro. Wie Insider nun zu be- der Uefa gibt man sich zum Vorstoß mit einem Saisonetat von bislang 400
richten wissen, überraschte ein russi- des russischen Edelfans zugeknöpft. Millionen Euro einer Regel zustimmen,
scher Milliardär den Europäischen „Selbst wenn es so wäre“, sagt Turnier- die ihm untersagt, sein Geld mit vollen
Fußballverband Uefa mit der direktor Christian Mutsch- Händen auszugeben?
Anfrage, ob er sämtliche ler, „würden wir es nicht Theissen: Weil alle, auch die Größten,
65 verfügbaren Logen in den kommentieren.“ mittlerweile zu der Erkenntnis gelangt
BPI / IMAGO

acht EM-Arenen für seinen sind, dass die Kosten begrenzt werden
Clan buchen könne. Dem Abramowitsch müssen.
111
Sport

KARRIEREN

Papas Plan
Die Rückrunde der Bundesliga wird wohl zur Abschiedsshow
des besten Spielers im deutschen Fußball:
Der Vater des Brasilianers Diego hat Großes vor mit
seinem Sohn – der Profi von Werder Bremen
soll ein Weltstar werden, am besten bei Real Madrid.

D
as Boss-Shirt ist ein wenig zu eng Früher hat Djair Silvério da Cunha als
für einen Mann von 53 Jahren, in Wirtschaftsingenieur gearbeitet, heute
den silbernen Locken etwas zu viel plant er die Karriere seines Sohnes. Er
Gel. Er trägt ein schweres Kreuz auf der habe kein Vertrauen in diese geldgierigen
Brust und Adidas-Turnschuhe. Mit ausge- Berater und lasse nicht zu, dass sein Sohn
strecktem Zeigefinger steht Djair Silvério wie ein Pingpongball von Verein zu Verein
da Cunha da, mitten auf einem Bolzplatz geworfen werde. „Das Fußballgeschäft“,
im Armenviertel von Santos, einer Hafen- sagt er, „ist eine große Mafia.“
stadt eine Stunde südlich von São Paulo Diegos Vater hat sich nicht viele Freun-
entfernt, und zeigt auf ein Plakat. „Das de gemacht in diesem Geschäft. Er gilt als
ist er, mein Sohn“, sagt er und wischt sich unbeherrscht und als ein Mann, der im-
den Schweiß von der Stirn. „Sieht er nicht mer nur für Probleme sorgt. Es gibt Leute,
stark aus, mein Großer?“ die behaupten, ohne den Vater wäre Die-
Auf dem Plakat brüllt Diego wie ein go längst ein Weltstar.
Löwe, der Mund aufgerissen, die Mähne Die Familie lebt nun von dem, was sie
flatternd im Wind, er trommelt sich mit mit Diego verdient. Bei jedem neu ab-
der rechten Hand auf die Brust. Ein Löwe geschlossenen Vertrag seines Sohnes
mit Zahnspange. bekommt Djair eine Provision. „Aber das
Der Bolzplatz ist eine Stiftung von Die- ist doch ganz normal, oder?“, sagt er. Ein
gos früherem Verein FC Santos. Die Kin- ziemlich außergewöhnliches Modell: Der
der aus dem Elendsviertel sollen für den branchenfremde Vater sitzt zwölf Flug-
Fußball begeistert werden, und Diego dient stunden entfernt in Brasilien und steuert
als Vorbild, einer, der es geschafft hat nach von dort aus die Karriere seines Sohnes.
Europa. Neben dem Bolzplatz steht ein Seit eineinhalb Jahren spielt Diego für
kleines weißgetünchtes Gebäude, das aus- Werder Bremen und wurde dort zum bes-
sieht wie ein Vereinsheim, in dem sich die ten Spieler der Liga. Vor ein paar Wochen
Kinder umziehen. „Das ist keine Umkleide- haben ihn 275 Bundesliga-Profis in einer
NORDPHOTO

kabine“, sagt Djair, „sondern eine Leichen- Umfrage zum dritten Mal gewählt, jedes
halle für die Toten aus der Favela.“ halbe Jahr stimmen sie ab. Franck Ribéry

bekam nur 22 Prozent der Stimmen, Rafael


van der Vaart noch weniger.
Sie haben ihn gewählt, weil er der einzi-
ge Fußballer in der Bundesliga ist, der Fuß-
ball nicht spielt, sondern zaubert. Im April
vergangenen Jahres im Spiel gegen Ale-
mannia Aachen lupfte er aus 63 Metern den
Ball ins Tor. Seitdem vergleicht man ihn
in Deutschland mit Maradona. In Brasilien
gibt es solche Vergleiche nicht. Noch nicht.
Diego wohnt in einem Einfamilienhaus
in Schwachhausen, einem Stadtteil von
LUIZ MAXIMIANO / WPN / AGENTUR FOCUS

Bremen. Zwei Gartenzwerge stehen im


Vorgarten, im Wohnzimmer hängt ein
Flachbildschirm, und in der Küche arbeitet
Janaína, seine Haushälterin, die er aus
Brasilien mitgebracht hat, damit sie ihm
„Feijão“ kocht, schwarze Bohnen; mit
Reis. Diegos Freundin lebt noch in Santos.
Ein Zuhause fühlt sich anders an.
In einem Monat wird Diego 23 Jahre alt,
Diegos Eltern Cecília, Djair: „Das Fußballgeschäft ist eine große Mafia“ er wirkt schüchtern, fast kindlich, und hat
112 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ballzauberer Diego

ein Grübchen in der linken Wange, wenn schicken Hochhäusern liegen Bettler und sen. „Anfangs haben mich meine Freun-
er verlegen ist. Abends nach dem Training Junkies in den Eingängen, ehemalige Feld- dinnen gefragt, wie ich dem Jungen das
sitzt er am Computer und redet mit Mama arbeiter. nur antun könne, mit den Slumkindern zu
Cecília in Brasilien, manchmal stunden- Diegos Familie lebt in einem dieser spielen. Später haben sie mich gemieden.“
lang. An ihren Computern haben sie Web- Hochhäuser. Djair hat gut verdient als In- Der Weltfußballer Ronaldo, der heute
cams, damit sie sich sehen können. genieur, er gehört zur oberen Mittelschicht beim AC Mailand spielt, stammt aus Ben-
Die Mutter pflegt Diegos Herz, hilft des Landes, die 120 Quadratmeter große to Ribeiro, einem der ärmsten Stadtteile
bei Heimweh, spendet Trost, wenn es nicht Luxuswohnung haben sie sich gekauft, be- Rios. Nationalspieler Adriano, der lange
so gut läuft. Der Vater treibt die Karriere vor Diego nach Europa ging. Es riecht nach in Italien spielte, war zehn Jahre alt, als
an. Diegos Telefonate mit ihm sind kurz Putzmittel, alles ist akkurat, im Wohnzim- sein Vater in der Favela Vila Cruzeiro in
und sachlich, eigentlich haben sie nur ein mer hängen Fotos des berühmten Sohns, Rio angeschossen wurde. Und Robinho,
Thema: den nächsten Schritt in Diegos vor dem Balkon spannt sich Maschendraht, der jüngste Star Brasiliens, bekam erst mit
Karriere. Djair hat einen Plan, Bremen soll um Einbrecher abzuhalten. Diegos Kin- 14, auf dem Internat des FC Santos, sein
nur eine Station sein auf dem Weg zum derzimmer sieht aus, als wäre er gestern erstes Paar Fußballschuhe. Slumkinder
Weltruhm. ausgezogen, dort steht auch der Computer können Schnösel wie Diego nicht aus-
Diego kommt aus Ribeirão Preto, einer samt Webcam. „Mein Mann wollte die stehen. „Dass er sich beim FC Ribeirão
Stadt mit 570 000 Einwohnern, 320 Kilo- Kamera schon abbauen“, sagt Cecília. Preto durchgesetzt hat, gleicht einem
meter nordwestlich von São Paulo. Es gibt Djair halte nicht viel von diesem „Rum- Wunder“, sagt Cecília, die Mutter. „Die
wenige Orte in Brasilien, wo die Extreme geglucke“. anderen haben Diego anfangs nur ge-
dieses Landes deutlicher zu spüren sind. Sie hätte Diego als Kleinkind lieber beim hänselt.“
Ribeirão Preto ist eine Insel in einem Tennis oder Volleyball angemeldet, aber Mit fünf meldete ihn sein Vater beim
Meer von Zuckerrohrplantagen. Vor den er habe sich einfach nicht aufhalten las- FC Ribeirão Preto an, zwei Jahre später
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 113
Sport

führte Diego sein Team als Kapitän zur Im vergangenen Jahr saß Djair 56 Tage Ein paar Wochen lang spielte Diego nur
regionalen Jugendmeisterschaft. Mit acht lang in Untersuchungshaft, weil er den noch durchschnittlich. Ein Leben ohne sei-
wurden Talentspäher auf ihn aufmerksam, Liebhaber seiner Frau vorsätzlich ange- nen Vater? Der ganze Plan schien zu plat-
mit elf kam er aufs Fußballinternat des fahren haben soll. Er hatte zufällig von zen. „Der Vater ruiniert die Karriere seines
FC Santos. „Dabei war er doch noch ein der Affäre erfahren und drehte durch. Der Sohnes“, berichteten deutsche Medien.
Kind“, sagt Cecília. „Er wurde von einem Mann saß auf einem Motorrad, zweimal Im Juli, fünf Monate später, bei der
auf den anderen Tag erwachsen. Viel zu versuchte es Djair, sogar im Rückwärts- Copa América, wurde Diegos Freund Ro-
früh.“ Sie habe sich fast geschämt, nicht so gang. 56 Tage U-Haft sind für einen Mann binho Torschützenkönig und bester Spieler
stark sein zu können wie er. „Mama“, habe seiner Bekanntheit viel in Brasilien, die des Turniers. Diego durfte kein einziges
er immer gesagt, „ich schaffe das schon. Richter fürchteten, Djair würde sich ins Mal durchspielen, im Finale gegen Argen-
Du musst dir keine Sorgen machen.“ Ausland absetzen oder, schlimmer noch, tinien wurde er in der 90. Minute einge-
Mit 16 debütierte Diego bei den Profis es ein weiteres Mal versuchen. Das Ver- wechselt. Und weil er mit den Schuhen der
des FC Santos. Dort lernte er Robinho fahren ruht derzeit, eine Anklage auf falschen Marke auflief, zog sein Ausrüster
kennen, die beiden sind seither Freunde. Mordversuch wird es nicht geben, wohl vor Gericht. Künftig muss er eine Konven-
Gemeinsam gewannen sie 2002 die brasi- aber auf Körperverletzung. Wahrschein- tionalstrafe von 50 000 Euro zahlen, wenn
lianische Meisterschaft. Beim FC Santos lich wird Djair nicht ins Gefängnis müssen, er in anderen Schuhen aufläuft. „Das kann
hat auch Pelé seine Karriere begonnen, er sondern mit ein paar Stunden gemein- ja mal passieren“, sagt Djair.
bot seine Hilfe an, weil er Diego für das nütziger Arbeit davonkommen. 17-mal wurde Diego bisher in der brasi-
größte Talent Brasiliens hielt. Er könne „Der Horror ist vorbei“, sagt Cecília nun, lianischen Nationalmannschaft eingesetzt,
Kontakte zu den richtigen Beratern schaf- fast ein Jahr nach dem Angriff. Ihr Mann Robinho kommt auf 40 Einsätze. Robinho,
fen, zum Beispiel zu Juan Figer, das Slumkind, spielt bei Real
dem mächtigsten Spieleragenten Madrid, immer noch eine der
der Welt. besten Adressen des Weltfuß-
Figer beschäftigt rund hun- balls; Diego, der Sohn des Wirt-
dert Scouts und unterhält Bü- schaftsingenieurs, bei Werder
ros in São Paulo, Madrid und Bremen.
Tokio. Die Verträge für den Der Schweizer Spielerberater
aktuellen Weltfußballer Kaká Dino Lamberti ist der einzige,
vom AC Mailand, Bayern Mün- mit dem Djair jemals zusammen-
chens Zé Roberto und Diegos gearbeitet hat. Das war noch zu
Freund Robinho werden von ihm Diegos Internatszeiten. Lamberti
verhandelt. Sogar Ronaldinho, empfahl damals, noch ein Jahr
der wie Diego von Familienmit- mit dem Sprung nach Europa
gliedern gemanagt wird, folgt zu warten. Diegos Vater dachte,
Figers Rat. Lamberti gönne ihm den Wechsel

NORDPHOTO
Djair wollte keinen Rat. Nie- nicht, und beendete die Zusam-
mals würde er seinen Sohn diesen menarbeit. „Ich glaube“, sagt
Leuten überlassen. Das Geld, das Profi Diego: „Keine Sekunde an meinem Vater gezweifelt“ Lamberti, „er war eifersüchtig auf
sich mit Diego verdienen lässt, mein gutes Verhältnis zu Diego.“
soll in der Familie bleiben. Lamberti hätte viel Geld ver-
Für acht Millionen Euro wech- dienen können mit Diego, er
selte Diego 2004 von Santos zum weiß auch, wie viele Berater sich
FC Porto, dem besten Club Por- damals um ihn rissen und wie
tugals. Doch in der zweiten Sai- schwer es ist, ohne das nötige
son saß er fast nur noch auf der Fachwissen jemanden in Europa
Bank, es fehle ihm an Torgefähr- aus dem fernen Brasilien zu ma-
CORDON PRESS / DIARIO AS / IMAGO

lichkeit, hieß es. Auf der offiziel- nagen. Trotzdem kann er verste-
len Internet-Seite seines Sohnes hen, dass Djair seinen Sohn nicht
bezeichnete Djair das Verhalten einfach irgendjemandem anver-
des Trainers als Unverschämtheit, traut habe. „Djair macht das nicht
der Coach wisse nicht, was er tue. schlecht“, sagt Lamberti. „Ich
Diego wurde nicht mehr auf- habe Respekt vor seiner Stand-
gestellt. Wenige Monate später festigkeit.“
ging er nach Bremen, sein erstes Der Vater wollte seinen Sohn
Bundesliga-Tor schoss er nach Ehemaliger Internatskollege Robinho: Die Nr. 10 von Real nie wie einen Favela-Fußballer
19 Spielminuten. an einen Großhändler verkaufen.
Sein Sohn gilt in Deutschland nun als sitzt neben ihr auf dem Balkon, hinter ih- Gut möglich, dass Djairs Plan aufgeht und
Star, jetzt soll der nächste Schritt kommen, nen, getrennt durch den Maschendraht, das Diego in ein paar Jahren Robinho, seinen
und Vater Djair macht längst kein Ge- Panorama von Ribeirão Preto, die Hoch- Freund aus dem Internat des FC Santos,
heimnis mehr aus seinem Plan: Juventus häuser und die Hütten. Er starrt auf den überholt hat.
Turin? Bayern München? Real Madrid? Boden und möchte dazu nichts mehr sagen. Bei Werder Bremen gibt es wohl kaum
Alles sei möglich, auch wenn Bremen „Es war eine schwierige Zeit“, sagt Cecília. noch Hoffnung, den Brasilianer zu halten.
öffentlich erklärt, der Brasilianer bleibe in Gott sei Dank hätten sie wieder zueinander- Djair Silvério da Cunha sagt, er habe mit
Bremen, sein Vertrag läuft bis 2011. gefunden. „Das sind wir Diego doch schul- Klaus Allofs, Bremens Manager, bespro-
Auch Pelé beschreibt Djair als „keinen dig.“ Sie behandeln das wie eine große Pein- chen, dass Werder für Diego nur eine
einfachen Menschen“. Er wolle bestimmt lichkeit, die man am besten vergessen soll. Zwischenstation ist.
nur das Beste für seinen Sohn, wie jeder Und Diego? „Es dauert nicht mehr lange, dann spielt
Vater, aber er sei ehrgeizig und manchmal „Ich habe keine Sekunde an meinem Diego auch bei Real Madrid.“
unberechenbar. Vater gezweifelt“, sagt er und schweigt. Cathrin Gilbert

114 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
NEW YORK DAILY NEWS / WENN

ADAM ROUNTREE / AP
Starterfeld im Empire State Building, Sieger Dold (2007): „Total im roten Bereich“

200 Meter hohen Main Tower, Sitz der Meistens sind die Stufen aus Stein. In
T R E PPE N L AU F E N
Landesbank Hessen-Thüringen. Die Pfört- Fernsehtürmen wie in Stuttgart sind es Git-

Schneller ner und Sicherheitsleute kennen die Ath-


leten seit zwei Jahren, sie dürfen ihre Du-
sche benutzen. 55 Stockwerke, das sind
ter, manche Stahltreppen schwingen, in
New York sind die zwei Geländer aus Holz.
Die Technik bleibt gleich: zwei Stufen auf

als der Lift „sechs Minuten Belastung“, sagt Jahn. Er


rennt dreimal nacheinander hoch.
Anfang Februar starten die beiden Deut-
schen beim renommiertesten Event ihrer
einmal, in kurzen Sprüngen. Jahn trägt
Einlagen, damit er in den Kurven nicht mit
der Ferse nach außen rutscht.
Beide, Dold aus Steinach im Kinzigtal
In diesem Jahr findet zum 31. Mal
Disziplin, dem 31. Empire State Building und der Fuldaer Jahn, kamen vom Berg-
der Lauf auf das Empire State Run-Up in New York. 320 Meter Höhen- laufen zu ihrem Sport: Der steilste Berg,
Building statt – zwei deutsche Athleten unterschied bis zur Aussichtsplattform, sagen sie, sei halt die Treppe. Mit dem
gehören zu den Top- 1576 Stufen. Von rund 1500 Bewerbern Berglaufnationalteam der Junioren ge-
Favoriten der aufstrebenden Disziplin. dürfen etwa 200 Läufer starten. Thomas wannen sie 2002 bei der Weltmeisterschaft
Dold hat die letzten beiden Läufe in New in Innsbruck gemeinsam Bronze. Ein Trai-

Ü
ber dem Reisezentrum im Frank- York gewonnen, vergangenes Jahr in 10:25 ner brachte sie dann zur Treppe, Dold zu-
furter Hauptbahnhof liegt ein Bi- Minuten. Jahn wurde in 10:56 Zweiter. erst. Sie begannen jeweils beim Donau-
stro, und das eiserne Prinzip von „Wir sind besser als andere, weil wir es turm-Lauf in Wien. Seither reisen und lau-
Thomas Dold und Matthias Jahn gilt sogar ernster nehmen“, sagt Dold im Bistro der fen sie gemeinsam, das sei lustiger, findet
hier: nach oben zu Fuß, abwärts mit dem Deutschen Bahn. „So professionell wie wir Jahn: „Man trifft ja sonst nicht viele Men-
Lift. macht es keiner.“ schen im Treppenhaus.“
Die beiden haben sich an diese Regel Der Main Tower, das vierthöchste Ge- Anfangs war es nicht leicht, Trainings-
aus dem Trainingsalltag gewöhnt. Es gilt, bäude in Deutschland, hat zwei Treppen- gebäude zu finden. Dold wurde einmal in
auf dem Weg nach unten nicht unnötig hausschächte, sie trainieren derzeit im Tübingen, als er sich in ein Wohnhaus
Zeit zu verlieren, außerdem droht Mus- rechtsdrehenden Treppenhaus, rechtsher- schlich und hochstürmte, für einen Selbst-
kelkater, wenn man die Stufen hinabrennt. um geht es auch in New York. Die Beson- mörder gehalten, der vom Dach springen
Dold und Jahn sind Treppenläufer. Sie derheit im Empire State Building: Es gibt wollte. Und Naturtreppen bringen nichts,
machen das nicht zum Spaß, sie betreiben kurze Flachstücke. Einmal muss das Ge- weil es keine Lifte gibt für den Rückweg.
es als Leistungssport. Sie trainieren 10 bis bäude gekreuzt, zweimal das Treppenhaus Auf Strecken von 400 bis 3000 Metern
25 Stunden die Woche, beide haben Fir- gewechselt werden. Und es ist ein Mas- hält Thomas Dold auch sechs Weltrekorde
men für die eigene Vermarktung gegrün- senstart. Die zehn Besten des Vorjahres im Rückwärtslaufen. Ein Spaß sei das, aber
det, Dold hat zehn Sponsoren, Jahn fünf. dürfen aus der ersten Startreihe laufen. auch gutes Training: „tierisch gut für die
Sie laufen nur hinauf, und zwar richtig. Die Schwächsten aus der Frauengruppe, Koordination“. Wichtig sei Abwechslung,
Jahn nennt das Hochhaus am Aschenberg die fünf Minuten vorher losrennt, werden sagt Jahn, Schwimmen etwa und Aquajog-
in seiner Heimatstadt Fulda sein „Sprint- vom 40. Stock an überholt. ging. Trainingsvielfalt beuge Verletzungen
treppenhaus“: Es hat nur 14 Stockwerke. Treppenlauf-Wettbewerbe gibt es überall vor. Leicht zu sein und viel Kraft in den
Er trainiert dort die Spritzigkeit, in einer auf der Welt: in Chicago im Sears Tower, Beinen zu haben, das sind die Vorausset-
Minute ist er oben. Bei nur 14 Stockwer- 442 Meter hoch, im Messeturm in Frankfurt zungen für den Treppenlauf. Wer ganz
ken ist er zwölf Sekunden schneller als am Main, 257 Meter, im Donauturm in nach oben will, sollte auch leiden können.
der Aufzug. Wien, 252 Meter, und auch in Taiwan, im Die letzten Stockwerke im Wettkampf lege
An jedem Wochenende treffen sich der Taipei 101, dem zweithöchsten Gebäude der er stets mit übersäuerten Muskeln zurück,
Stuttgarter Wirtschaftsstudent Dold, 23 Welt, 508 Meter hoch, 91 Stockwerke mit sagt Dold, „total im roten Bereich“. Do-
Jahre alt, und Jahn, 24, angestellt bei einer 2046 Stufen, 390 Höhenmeter, ein einziger ping? „Wäre zu teuer.“
Münchner Agentur, die Erlebnisse wie Schacht ist das dort, aber vom achten Stock Reich wird man, trotz der Sponsoren,
Bungee-Jumping oder Hai-Tauchen ver- an sind die Stufen höher. „Das fühlt sich an wohl nicht. In Taipeh gibt es 2000 Euro
kauft, zur gemeinsamen Wettkampfvorbe- wie ein Schlag mit dem Hammer“, sagt Prämie für den Sieger. In New York kostet
reitung in Frankfurt am Main. Sie haben Dold. Er wurde dort im November in 11:56 die Teilnahme 30 Dollar Startgeld.
dort Zugang zum Fluchttreppenhaus des Minuten Zweiter, Jahn kam auf Platz vier. Jörg Kramer

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 115
Prisma

MEDIZIN

„Wir waren geschockt“


Der niederländische Darmspezialist
Hein Gooszen, 59, über die Behand-
lung von Bauchspeicheldrüsen-Patien-
ten mit Probiotika, bei der es zu
vielen Todesfällen gekommen ist

SPIEGEL: Sie mussten die Hinterblie-


benen über den gescheiterten Therapie-
versuch informieren …
Gooszen: Ja, das war schrecklich. Wir
sind sehr bestürzt. Was da passiert ist,
war ein Unglück.
CHRISTIAN KÖNIG

SPIEGEL: Was hatten Sie erwartet?


Gooszen: Patienten mit Bauchspeichel- Argentinische Ameisen beim Kampf
drüsen-Entzündung leiden starke
Schmerzen. Jeder Zehnte stirbt daran.
Selbst Antibiotika helfen da nicht. TIERE

Erfolgsrezept für Kriegerameisen


Deshalb hatten wir die Idee, mit pro-
biotischen Bakterien, wie sie auch in
Joghurt verwendet werden, jene schäd-
lichen Bakterien zurückzudrängen,
die aus dem Darm in die entzündete
Drüse eindringen. Eine Untersuchung
in Ungarn war positiv verlaufen.
S ie hat einen Siegeszug rund um den Erdball angetreten, mittlerweile ist die
Argentinische Ameise („Linepithema humile“) auf sechs Kontinenten zu fin-
den. Das Geheimnis ihres Erfolgs lüften jetzt Forscher der University of Illinois
SPIEGEL: Gab es dort keine Probleme? in Urbana, die acht Jahre lang beobachtet haben, wie die Insekten den südkali-
Gooszen: Nein, eben nicht. Deshalb fornischen Rice Canyon erobert haben. Demnach verfolgen die Neuankömm-
waren wir auch so geschockt. Wir haben linge auf ihrem Weg zum Ziel zwei unterschiedliche Strategien: Anfangs greifen
150 Patienten über eine Magensonde sie ihre ortsansässigen Verwandten an, um diese zu verspeisen; später, in einem
die probiotischen Bakterien zugeführt. zweiten Schritt, beuten sie die Nahrungsquellen der Konkurrenten systematisch
24 von ihnen starben. In der ebenso aus. Fressen und Aushungern – mit dieser Doppelstrategie sind sie offenbar
äußerst erfolgreich: Vor ihrer Ankunft im Rice Canyon lebten dort 23 einhei-
mische Ameisenarten, zuletzt waren es nur noch 2. „Nur wenn wir eine solche
Invasion in Echtzeit verfolgen, können wir die dynamischen Prozesse verstehen, die
es fremden Arten ermöglichen, letztendlich zu gewinnen“, erklärt Ameisenforscher
Andrew Suarez.
ERIK VAN 'T WOUD / ANP / DPA

ARCHÄOLOGI E dienten, sowie Gazellenknochen, aus

Waffenhort von
denen sich beim Warten auf Beute
Mediziner Gooszen Schmuck fertigen ließ. Verstaut waren

Eiszeitjägern
die Utensilien wahrscheinlich in einem
großen Kontrollgruppe, die künstliche Sack aus Tierhaut oder geflochtenem
Ernährung ohne Probiotika erhielt, star- Material, den die Jäger der Natufien-
ben nur neun Patienten. Leider fiel
die höhere Sterblichkeitsrate in der Pro-
biotika-Gruppe erst auf, als wir am
D as komplette Jagdbesteck eines
prähistorischen Jägers und Samm-
lers haben Archäologen in Jordanien ge-
Kultur an einem Riemen über die Schul-
ter trugen. Zwar wurden schon mehr-
fach ganze Horte von Jagdwaffen aus
Ende die Ergebnisse ausgewertet haben. funden. Zu der 14 000 Jahre alten Aus- der ausgehenden Eiszeit gefunden, doch
SPIEGEL: Welche Konsequenzen ziehen rüstung gehören eine kunstvoll gearbei- dieser sei „der spektakulärste von al-
Sie aus der Studie? tete Sichel, Speerspitzen aus Feuerstein, len“, freut sich François Valla, Archäo-
Gooszen: Weltweit gibt es 70 vergleich- Steine, die vermutlich als Wurfgeschosse loge am Französischen Forschungszen-
bare Untersuchungen, in denen zum trum in Jerusalem. Abgesehen hatten es
Beispiel auch Leber-Transplantierte mit die nahöstlichen Vorläufer von Alpen-
den Bakterien behandelt werden. In Ötzi nach Ansicht des australischen
Fällen, wo die von uns verwendeten Experten Phillip Edwards neben Auer-
Stämme eingesetzt werden, raten wir, ochsen, Rotwild oder Hasen vor allem
zu warten, bis wir mehr über die Todes- auf Berggazellen: „Ein erster Wurf dürf-
PHILLIP EDWARDS

ursachen in unserer Studie wissen. te das Tier verwundet, aber nicht getö-
SPIEGEL: Sind probiotische Bakterien tet haben“, glaubt er. Anschließend
womöglich auch schädlich für Gesunde? habe sich der Jäger auf die Suche nach
Gooszen: Nein, davon gehen wir absolut der Beute gemacht und das erlegte Tier
nicht aus. Ausgegrabene Jagdwaffen auf den Schultern nach Hause getragen.
120 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wissenschaft · Technik
KRIMINALGESCHICHTE HIRNFORSCHUNG

DNA-Jagd auf Süchtig nach Gewalt


Serienmörderin A ggressives Verhalten löst
im Hirn dieselben dopamin-

E inen der bizarrsten Massenmorde in


der US-Kriminalgeschichte wollen
Experten von der University of Indiana-
gesteuerten Belohnungskas-
kaden aus wie Sex, Essen oder
Drogen – und kann deshalb,
polis mit Hilfe von DNA-Tests neu auf- genauso wie diese, in manchen
rollen. Die in den achtziger Jahren des Fällen zur regelrechten Sucht
19. Jahrhunderts in die USA eingewan- werden. Das haben Forscher der
derte Norwegerin Belle Gunness steht Vanderbilt University in Nash-
im Verdacht, Dutzende Männer, Frauen ville, US-Bundesstaat Tennessee,
und Kinder ermordet, die Leichen bei Versuchen mit Labormäusen
zerstückelt und auf ihrer Farm in nachgewiesen. Dazu setzten sie
La Porte im US-Bundesstaat Indiana einem männlichen Tier einen
verscharrt zu haben. Neue Opfer hatte Rivalen in den Käfig. Der wü-
die Immigrantin offenbar immer wieder tende Mäuserich vertrieb den
durch Heiratsannoncen geködert, in Eindringling nicht nur durch
denen sie von den Kandidaten verlang- aggressives Beißen und Boxen –

SNAPS
te, zwecks Nachweis ihrer Bonität ihre er blieb auch ein Gewalt-
gesamte Barschaft mitzubringen. Als am Junkie, der durch das Berühren Randalierer im Fußballstadion
28. April 1908 Belle Gunness’ Haus ab- einer bestimmten Vorrichtung
das Auftauchen des Nebenbuhlers im- hemmte. Nach Auffassung des Vander-
mer wieder selbst herbeiführte, um sich bilt-Experten Craig Kennedy ist es von
dann mit dem Geschlechtsgenossen Mäusen zu Hooligans nur ein kleiner
hingebungsvoll zu prügeln. Dagegen war Schritt: „Die Experimente zeigen, dass
es mit der Rauflust des Mäuserichs vor- Einzelne gezielt Gewalt und Konfron-
bei, wenn ihm die Wissenschaftler ein tation suchen, weil sie dadurch ihr
Medikament verabreichten, das ihn zwar Belohnungssystem im Kopf stimulieren –
nicht weniger agil machte, aber die und dabei spielt der Hirnbotenstoff
Dopaminrezeptoren in seinem Gehirn Dopamin eine zentrale Rolle.“

ERNÄHRUNG

Fahndung nach Saftpanschern


LA PORTE COUNTY HISTORICAL SOCIETY MUSEUM

G enaue biochemische Fingerabdrü-


cke von Fruchtsäften könnten in
Zukunft Saftpanschern das Leben deut-
Durch die Auswertung von markanten
Stellen der Polyphenol-Profile können
die Forscher derzeit nichtdeklarierte
lich erschweren. Wissenschaftler der Cocktails aus Orangen-, Grapefruit-
Universität des Baskenlandes in Leioa und Zitronensaft sicher erkennen. Nur
haben 16 Obstarten mit insgesamt 77 am verdeckten Verschnitt von Manda-
Sorten mit Hilfe von Massenspektro- rinen- und Orangensaft scheitern sie
metrie und Hochleistungs-Flüssigkeits- noch immer, weil die beiden Profile zu
chromatografie ihr individuelles ähnlich sind. Aber die Chemiker wol-
Profil von Polyphenolen zugeordnet. len ihre Methode in nächster Zeit wei-
Belle Gunness und drei ihrer Kinder Die Zusammensetzung dieser Stoffe terverfeinern, um dann auch die letzten
ist von Obstart zu Obstart sehr variabel. Saftmogler überführen zu können.
brannte, fand die Polizei in den Trüm-
mern einen Frauenkörper ohne Kopf
sowie die Überreste dreier Kinder – und
auf dem Farmgelände nach und nach
mehr als 40 Leichen. Seinerzeit hatte
man angenommen, bei der Geköpften
handle es sich um die Massenmörderin
selbst. Durch den Vergleich ihres Gewe-
VARIO IMAGES / ULLSTEIN BILD

bes mit DNA-Spuren auf Briefumschlä-


gen, die Gunness an eines ihrer Opfer
adressiert hatte, will das US-Team diese
Hypothese nun überprüfen. Ergebnisse
sollen spätestens am 28. April vorliegen
– dann jährt sich Belle Gunness’ ge-
heimnisvoller Abgang zum 100. Mal. Unterschiedliche Obstsäfte
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 121
PAOLO WOODS / ANZENBERGER
Pharmakontrolleurin Akunyili, Leibwächter: Es geht um gigantische Geldsummen und um die Gesundheit von 140 Millionen Menschen

MEDIKAMENTE

Alptraum der Arzneifälscher


Der weltweite Handel mit gefälschten Medikamenten blüht, die Plagiate werden
immer raffinierter. Eine Drehscheibe des Milliardengeschäfts ist Nigeria. Dort riskiert die
Chefin der Gesundheitsbehörde im Kampf gegen die Fälschermafia ihr Leben.

D
ora Akunyili saß neben ihrem Bru- nach dem silbernen Schal, den sie sich um auf und rümpft die Nase. Dass ein Busfah-
der auf der Rückbank der dunklen den Kopf gewickelt hatte – er war durch- rer bei dem Attentat tödlich verletzt wurde,
Limousine, sie plauderten und lach- löchert. Da erst begriff sie und schrie: erfuhr sie erst später: „Wir sind einfach
ten. Dass die Killer ihnen folgten, merkten „Officer, helfen Sie mir, ich habe eine weitergerast zur nächsten Polizeistation.“
sie nicht. Kugel im Kopf!“ Der Polizist drehte sich Dora Akunyili, 53, Pharmakologin und
Vorn auf dem Beifahrersitz saß ein Poli- um und brüllte zurück: „Halten Sie die sechsfache Mutter, hat ein rundes Gesicht
zist, die anderen Wachmänner fuhren vor- Klappe, Madam, wenn eine Kugel in Ihrem und eine Vorliebe für bunte traditionelle
aus. Es war ein sonniger Winternachmittag, Kopf stecken würde, könnten Sie jetzt Gewänder. Weil sie die Generaldirektorin
Dora Akunyili kam von einer Feier und nicht reden!“ der nigerianischen Kontrollbehörde für Le-
wollte noch kurz bei Verwandten in ihrem Dora muss lachen, wenn sie jetzt an bensmittel und Arzneien (Nafdac) ist, muss
Heimatdorf vorbeischauen. diese Szene denkt: „Ein Streifschuss, die sie jederzeit mit Anschlägen rechnen – sie
Den Schmerz an der Schädeldecke spür- Kugel hat meine Kopfhaut und ein paar führt einen Kampf, bei dem es um gigan-
te sie im gleichen Moment, in dem sie das Haare versengt, die Stelle war einige Tage tische Geldsummen geht und um die Ge-
Splittern der Heckscheibe hörte. Sie tastete lang geschwollen“, sagt sie, reißt die Augen sundheit von 140 Millionen Menschen.
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Wissenschaft

Der Handel mit gefälschten Me- die echte Medikamente produzier-


dikamenten kostet weltweit jedes ten, hatten das Land verlassen.
Jahr Hunderttausende Menschen- „Überall auf der Welt sterben
leben, und kaum irgendwo steht Menschen, weil sie gefälschte Me-
es so schlimm wie in Nigeria. Die dikamente nehmen“, sagt Akun-
Mischung von Öl-Dollars, Gewalt yili. „Aber hier in Nigeria hat
und Korruption hat das Land zur praktisch jede Familie Opfer zu
Drehscheibe dieses Milliardenge- beklagen.“ Sie presst die Lippen
schäfts gemacht. zusammen und starrt auf ihre
Es geht dabei um Pillen, Trop- Hände. „Meine Schwester Vivian
fen und Salben, die falsche oder starb mit 21 Jahren an Diabetes.
gar keine Wirkstoffe enthalten, Sie fiel einfach ins Koma und
oder aber sie sind gestreckt bis starb.“ Später stellte sich heraus,
zur Wirkungslosigkeit. Bestenfalls dass sie gefälschtes Insulin be-
handelt es sich um Vitamintablet- kommen hatte.
ten aus Kreide oder Potenzmittel Frisch ernannt, entrümpelte
aus Maisstärke, viel zu oft aller- Akunyili als Erstes die eigene
dings um nutzlose oder gar giftige Behörde. Binnen kurzem hatte sie
Kopien von Markenpräparaten ge- ein Zehntel ihrer rund 3000 Mit-
gen Krebs, Bluthochdruck, Diabe- arbeiter gefeuert. „Den meisten
tes, Malaria oder Aids. war nicht einmal bewusst, dass
Die meisten Fälschungen kom- sie eine Kontrollfunktion ausüben
men aus Indien und China, ein in- sollten. Jeder Händler konnte Me-
ternationales Netzwerk von Händ- dikamente zu Nafdac bringen, und
lern verbreitet sie vor allem in sie wurden registriert, einfach so“,
den Entwicklungs- und Schwel- berichtet sie kopfschüttelnd. „Na-
lenländern. Nigeria gilt als einer türlich verlangten die Angestell-
der wichtigsten Umschlagplätze ten für die Registrierung Geld. Die
der Pharmapiraten und erreichte meisten waren korrupt.“
vor wenigen Jahren einen trauri- Künftig werde jedes Medikament
gen Rekord: Damals waren Studi- in einem hauseigenen Labor unter-
en zufolge bis zu 70 Prozent aller sucht, bevor es für maximal fünf
Pharmazeutika im Land gefälscht. Jahre zugelassen wird, verkündete
Dass es heute nur noch knapp Akunyili ihrem Team. Zahnpasta,

PIUS UTOMI EKPEI / AFP


20 Prozent sein sollen, liegt an die- abgepacktes Trinkwasser, Babynah-
ser rundlichen Frau im blau-golde- rung, Schoko-Riegel – alles müsse
nen Kostüm, die sich nun in ihrem auf Hygiene und Inhaltsstoffe ge-
Hotelzimmer in Lagos aufs Sofa testet werden. Auch Fabriken, die
plumpsen lässt und mit einem Pharmazeutika oder Lebensmittel
Seufzer ihre roten Lackpumps ab- Verbrennung von Fälscherware: Wie misst man Erfolge? produzierten, würden ab jetzt re-
streift. Es ist fast Mitternacht, der gelmäßig inspiziert, verfügte die
Tag war hart, abends ist sie wieder vom ben Jahren, unter Magenbeschwerden ge- neue Chefin. Die wichtigste Neuerung aber:
Nafdac-Hauptsitz in Abuja nach Lagos litten, die Ärzte waren ratlos. Großzügig Wer sich bestechen lässt, wird gefeuert.
geflogen. „Das echte Leben spielt sich nun spendierte ihr der Arbeitgeber, der Petro- Wenig später bewies Akunyili, dass sie
mal in Lagos ab“, sagt Akunyili und grinst. leum Special Trust Fund, einen Scheck es ernst meinte: „Ich musste den jüngeren
Das echte Leben: Chaos, Müllberge und über 17 000 britische Pfund: Dafür solle sie Bruder meines Ehemanns entlassen, weil
Menschenmassen, ein stinkendes Höllen- sich in London behandeln lassen. Doch er Geld angenommen hatte“, erzählt sie.
loch, eine der gefährlichsten Metropolen dann stellte sich heraus, dass sie gar keine „Die Familie hat mir das bis heute nicht
der Welt. Mehr als 15 Millionen Menschen teure Therapie brauchte, sondern nur ein verziehen.“ Sie beißt sich auf die Unter-
kämpfen sich durch den Alltag von Lagos, bestimmtes Medikament. Sie dankte ihrem lippe. Dann sagt sie trotzig: „Ich musste.
die Regierung hat längst das Weite gesucht: Vorgesetzten und gab das Geld zurück. „Er Sonst hätte ich die Kontrolle verloren.“
Sie hat sich Anfang der neunziger Jahre war ziemlich beeindruckt“, erinnert sie Auf den großen Märkten zeigt sich, wie
Abuja gebaut, eine kleinere, aufgeräum- sich kichernd, in Nigeria gibt eigentlich viel sich Akunyili vorgenommen hat. Denn
tere, kontrollierbare Hauptstadt im Innern niemand Geld zurück, das er nicht braucht. dort werden die Medikamente verkauft;
des Landes, in sicherer Entfernung zum Der Chef erzählte die Geschichte einem Apotheken, die diese Bezeichnung verdie-
Moloch an der Küste. Bekannten, der wiederum erzählte sie dem nen, gibt es kaum. Der Weg zum Idumota-
Akunyili fühlt sich hier nur noch hin- Staatspräsidenten, und zwei Wochen später, Markt führt durch den allgegenwärtigen
ter den Barrikaden des Sheraton-Hotels an einem Sonntagnachmittag, klingelte Stau von Lagos. Zwischen den Autokolon-
einigermaßen sicher. Unten am Eingang Akunyilis Telefon. Sie sei die Richtige für nen drängen sich in brütender Hitze Stra-
neben den Sicherheitsschleusen stehen den Job, sprach der Präsident, denn das ßenverkäufer, Männer und Frauen mit stau-
Wachmänner, sie patrouillieren auf jedem größte Problem von Nafdac sei die Korrup- bigen Gesichtern, auf dem Kopf tragen sie
Stockwerk und in der Lobby aus Gold und tion. Als Dora Akunyili 2001 an die Spitze Körbe mit Wassertüten, Obst oder Nüssen.
Marmor, und deshalb dürfen Akunyilis der Kontrollbehörde berufen wurde, hatten Einer bietet tote Ratten an, die an einem
Leibwächter sich jetzt ein paar Stunden andere afrikanische Staaten den Import Stab baumeln. Zwischen dem Müll am
lang ausruhen, während ihre Chefin er- von Medikamenten aus Nigeria gerade aus Straßenrand kriechen Bettler herum, zer-
zählt, wie sie zum Alptraum der Arznei- Sicherheitsgründen verboten; ehrliche Arz- lumpt, ohne Beine, niemand beachtet sie.
fälscher geworden ist. neihändler hatten vielerorts aufgegeben, weil Declan Ugwu, ein Mitarbeiter der Be-
Alles hatte begonnen, weil Akunyili ein- sie mit den Dumping-Preisen der Fälscher hörde, will heute versuchen, eine größere
mal ehrlich war. Sie hatte, damals vor sie- nicht mithalten konnten; Pharmakonzerne, Menge eines gefälschten Allergiehemmers
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 123
Wissenschaft

zu kaufen. Früher wurde das Plagiat an je- Land und halten Vorträge. Und als all das mehr als drei Jahren dahin. Die anderen
der Ecke offen feilgeboten, doch nun sind zu wirken begann, da setzte die Gegen- Vorfälle wurden nicht untersucht.
die Händler vorsichtig geworden. Die letz- bewegung ein. „Ich möchte nicht darüber nachdenken,
te Razzia war erst vor ein paar Tagen, ein Zunächst versuchten es ihre Gegner auf warum die Regierung nichts unternimmt“,
Polizist liegt seither mit einer Kopfverlet- die sanfte Tour. „Sie schickten Mittels- sagt Akunyili. „Es macht mir Angst.“ Sie
zung im Krankenhaus. männer, die mir Bestechungsgelder in Mil- zögert, wägt ihre Worte ab. „Wenn ich zehn
Ugwu, ein rundlicher Mann mit sanftem lionenhöhe anboten“, erzählt Akunyili. weitere Polizisten verlangen würde, bekä-
Gesicht und einem traditionellen braun- Einige Händler hätten sich so unangreifbar me ich sie sofort, das weiß ich.“ Sie formu-
gelben Gewand, balanciert auf Holzbret- gefühlt, dass sie sich gar nicht bemühten, liert jetzt sehr vorsichtig. „Auch wenn
tern durch klaustrophobisch enge Gassen. ihre kriminellen Geschäfte zu verstecken. manche Leute mit den Kriminellen be-
Der Boden ist schlammig, links und rechts Zudem seien die Gesetze gegen Arznei- freundet sind, legen sie Wert auf die öf-
werden in kleinen Verschlägen alle mög- fälscher leider lasch. Wer erwischt wird, fentliche Meinung. Deshalb wollen sie, dass
lichen Arzneien angeboten: Pillen gegen hat mit einer maximalen Buße von 500 000 ich auf meinem Posten bleibe.“
Aids, Antibiotika, Insulin, Beruhigungs- Naira zu rechnen – ungefähr 3000 Euro. An diesem Nachmittag empfängt Akunyili
tabletten, es gibt auch Hustensirup von Die Gesetze kann sie nicht ändern und zwei Inder und deren nigerianischen Beglei-
einer Firma namens Nigerian-German auch korrupte Richter nicht. „Aber ich ter. Sie thront auf einem schwarzen Leder-

Verhaftung eines Straßenverkäufers in Lagos: Plagiate an jeder Straßenecke Qualitätsprüfung in einem Nafdac-Labor: Wer sich

Chemicals. Die Verkäufer hocken zu dritt nutze die Schlupflöcher“, sagt sie und sofa in ihrem riesigen Büro im dritten Stock,
oder zu viert in den Läden, sie kauen auf lächelt. Sie kann Läden und Märkte schlie- die Wand hinter ihr ist bis an die Decke
Zahnstochern, mustern die Kundschaft. ßen lassen. Sie kann ein Spektakel daraus zugepflastert mit Preisen und Ehrungen. Die
Die ersten drei Händler winken ab, als machen, Fälschergut öffentlich zu verbren- Besucher werden von Leibwächtern in den
Ugwu nach dem Antiallergikum fragt. So nen. Und sie kann überführte Händler an Raum gescheucht, sie eilen herbei, verneigen
etwas gebe es hier nicht. Der vierte, ein den Pranger stellen. Marcel Nnakwe etwa, sich. Akunyili nickt huldvoll, setzt ihre gol-
junger Mann mit kahlem Schädel und den König der Fälscherbande von Onitsha, dene Lesebrille auf und bedeutet ihnen, sich
fleckigem T-Shirt, bittet Ugwu in seinen führte sie live im Fernsehen vor: Er musste zu setzen. „Entschuldigen Sie, dass Sie seit
Verschlag. Er müsse das kurz abklären, sich entschuldigen und geloben, nie mehr dem frühen Morgen warten mussten“, sagt
sagt er und verschwindet. Seine beiden „diesem illegalen Geschäft“ nachzugehen. sie und lächelt sanft. „Ich hatte viel zu tun.“
Kollegen sitzen schweigend da, einer tippt Er tat es mürrisch; hinterher schwor er Die drei versichern, das sei überhaupt
Zahlen in einen Taschenrechner. Rache. kein Problem. Dann spricht der jüngere
Nach einer Viertelstunde kehrt der Dann begannen die Angriffe. Sechs der beiden Inder, ein hagerer Mann mit
Verkäufer zurück. Vielleicht könne er das bewaffnete Männer drangen in Akunyilis Schnauzbart und schwarzem Anzug: Sie
Gewünschte liefern, sagt er, aber es sei Haus in Abuja ein, überwältigten das Per- handelten mit importiertem Speisesalz und
teuer und nicht ungefährlich. Ugwu solle sonal und durchsuchten alle Räume. Ein wollten nun eine Produktionsstätte im Süd-
ihn später anrufen. Er schreibt eine Handy- Bündel Banknoten, das auf dem Schreib- osten aufbauen. Die Salzmine, die sie dazu
Nummer und einen Namen auf einen Zet- tisch lag, rührten sie nicht an. brauchten, gehöre jedoch dem Staat.
tel. „Chosen“ nennt er sich, der Erwählte. Ein Jahr später, im August 2002, zer- „Phantastisch“, sagt Akunyili gedehnt.
Und Ugwu bricht wieder auf, zurück in störte ein Brand eines der neuen Labors „Ich soll Ihnen helfen, die Mine zu be-
den Menschenstrom. Eine Woche darauf in Lagos. Im März 2004 brannten zur glei- kommen?“ Alle drei nicken eifrig. „Okay,
findet auf dem Idumota-Markt die nächste chen Zeit mehrere Nafdac-Büros in ver- ich werde mit dem Minister sprechen. Wir
Razzia statt. schiedenen Bundesstaaten. haben ja alle etwas davon, wenn mehr im
Mit Plakaten, Broschüren und Fernseh- Wer steckt hinter den Anschlägen? Es Land produziert wird.“ Sie blickt zur Tür:
spots machen Ugwu, seine Chefin und die gibt Hinweise darauf, dass Nnakwe be- „Der Nächste, bitte.“ Das rosa verpackte
anderen Nafdac-Mitarbeiter aufmerksam zahlte Killer auf Akunyili angesetzt hat. Geschenk, das der Schnauzbärtige ihr
auf die Gefahr. Mitarbeiter reisen durchs Ein Prozess gegen ihn schleppt sich seit überreichen will, weist sie zurück.
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Es gibt auch Menschen in Lagos, die selbst schuld, sagt er heute, als Mediziner stämme, die man mit schlechten Kopien
es vorziehen, heimlich mit Akunyili zu- hätte er seinen Blutdruck überwachen von Antibiotika ja regelrecht züchtet, ver-
sammenzuarbeiten. „Diese Arzneifälscher, müssen. „Aber wie viele Nigerianer ha- breiten sich in der ganzen Welt.“ In Zu-
das sind keine kleinen Kriminellen. ben das nötige Geld und die Bildung, um kunft will sie deshalb enger mit den Ge-
Wenn ihnen zu Ohren käme, dass ich ihr sich vor diesen Mördern zu schützen?“ sundheitsbehörden der westafrikanischen
Geschäft schädige, könnten sie die Klinik Dafür haben die Nigerianer Dora Akun- Nachbarstaaten zusammenarbeiten.
niederbrennen und mich erschießen“, yili. Und die verehren sie glühend. Sie wird Sie war auch schon in Indien und
sagt George Okpagu. Er sitzt an seinem mit Briefen und Gedichten überschüttet, China, um Inspektoren anzuwerben und
Schreibtisch in einem kleinen Kranken- mit Zeichnungen, Glücksbringern, Süßig- die Behörden zu sensibilisieren – bis-
haus in Lagos, die Klimaanlage ist aus- keiten. Unbekannte sprechen sie auf der lang mit mäßigem Erfolg. Und sie ist stell-
gefallen. Okpagu hat kurzgeschorenes Straße an, wollen sie berühren, müssen vertretende Vorsitzende einer Spezial-
Haar, er trägt einen weißen Arztkittel, von ihren Leibwächtern zurückgedrängt einheit der WHO, die Ende 2006 gegründet
aber keine Schuhe. Er leitet die Klinik seit werden. „Mommy“ nennen sie Akunyili – wurde, um die internationale Zusammen-
22 Jahren. in Nigeria ist das ein Zeichen von Respekt. arbeit zu verbessern und die Mitgliedstaa-
Oft bittet er seine Patienten, ihm die Me- Manchmal ist es auch anstrengend, ten zu einer strengeren Gesetzgebung zu
dikamente zu bringen, die sie einnehmen. eine Volksheldin zu sein. Drei Jahre will bewegen.

FOTOS: QUIDU NOEL / GAMMA / STUDIO X


bestechen lässt, wird gefeuert Arznei-Marktstand in Lagos: Apotheken, die diese Bezeichnung verdienen, gibt es kaum

„Wenn etwas nach einer Fälschung aus- Akunyili noch durchhalten, bis zum Ende Erreicht sie etwas, kann Dora Akunyili
sieht, frage ich den Patienten, wo er es ge- ihrer zweiten Amtszeit. Sie träumt von Nigeria wirklich verändern? Wie misst man
kauft hat. Dann rufe ich die Nafdac-Leute einem erholsamen Job, vielleicht als Bot- Erfolge auf einem Feld wie diesem?
an und sage ihnen, sie sollen diesen oder schafterin irgendwo in einem fernen, fried- Am nächsten Tag bittet Nafdac das Volk
jenen Laden mal durchsuchen“, erzählt er. lichen Land. Sobald sie ihr Amt aufgebe, von Lagos zur „Zerstörungsübung“. Auf
„Das ist die einzige Möglichkeit, Dora müsse sie ihre Heimat ohnehin verlassen, einer Wiese außerhalb der Stadt türmen
Akunyili zu unterstützen, ohne mich selbst glaubt sie. „Ohne die Leibwächter, die mir Männer Kartons mit Medikamentenpa-
in Gefahr zu bringen.“ die Regierung zur Verfügung stellt, würde ckungen aufeinander und übergießen den
Er lacht bitter. Vor vier Jahren wäre er ich nicht lange überleben.“ Berg anschließend mit Diesel. Fernsehka-
beinahe selbst an gefälschten Blutdruck- Ihre Kinder leben längst in den USA. meras und Fotoapparate halten fest, wie ein
senkern gestorben. „Ich hatte die Tabletten Der jüngste Sohn hat gerade Abitur ge- glatzköpfiger Mann im schwarzen Anzug
unterwegs in einer Apotheke gekauft, die macht. Wenigstens ihn hätten die Eltern mit einer Fackel das Feuer entfacht.
Verpackung sah völlig normal aus“, be- gern noch eine Weile bei sich behalten, Der Mann heißt Dioka Ejionueme, er ist
richtet er. Er nehme das Medikament seit doch nach einem Entführungsversuch vor Vollzugsdirektor der Behörde. Während
Jahren und habe bis dahin immer gut vier Jahren schickten sie ihn fort. „Ich dan- die Flammen emporschießen, spricht er mit
darauf reagiert. Doch wenige Wochen ke Gott, dass weder ich noch meine Fami- heiserer Stimme von den jüngsten Erfolgen:
später sei ihm bei der Arbeit schwindelig lie vorher wussten, wie gefährlich dieser Dies sei nun die 116. öffentliche Verbren-
geworden. „Meine letzte Erinnerung ist, Job sein würde“, sagt Akunyili leise. „Mein nung, erneut seien Fälschungen im Wert von
dass ein anderer Arzt meinen Blutdruck Mann lebt in ständiger Angst, ich mache mehreren Millionen Dollar zerstört worden!
maß: 200 zu 110. Dann verlor ich das Be- mir Sorgen um seine Gesundheit.“ Aber Die eigentliche Neuigkeit verrät er erst,
wusstsein.“ aufhören, jetzt? als die Journalisten weg sind, es ist ihm ein
Okpagu hatte eine Hirnblutung, er war Die grünen Leuchtziffern auf dem Fern- wenig unangenehm. Ab sofort, flüstert der
acht Tage lang bewusstlos, und als er er- seher in Akunyilis Hotelzimmer zeigen Vollzugsdirektor, werde die Fälscherware
wachte, war er vorübergehend halbseitig 02:00 Uhr. Sie ist todmüde, aber eines nicht mehr öffentlich in Brand gesetzt, son-
gelähmt. In der Zwischenzeit hatten seine will sie noch klarstellen. „Was wir hier be- dern in modernsten Verbrennungsöfen –
Kollegen die Tabletten untersuchen lassen kämpfen, ist nicht nur ein afrikanisches der nigerianische Beitrag zum Umwelt-
– sie enthielten keinen Wirkstoff. Er sei Problem“, sagt sie. „Resistente Bakterien- schutz. Samiha Shafy

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 125
Wissenschaft

tät sogar zur wichtigsten Entdeckung des


Jahres.
GENFORSCHUNG
Kein Forscher würde sich heute noch

Was macht mich zu mir?


zur These hinreißen lassen, dass sich etwa
Angela Merkel und Heidi Klum genetisch
zu 99,9 Prozent gleichen. An rund 15 Mil-
lionen Stellen im Erbgut, so schätzen die
In nur drei Jahren will ein internationales Wissenschaftlerteam Experten, kann sich ein Mensch vom an-
deren abgrenzen. Nur 3 Millionen dieser
die Genome von 1000 Menschen analysieren. Das Ziel: möglichen Punktmutationen sind bisher
Die Forscher wollen das Geheimnis der Einzigartigkeit knacken. bekannt und kartiert. Durbins Projekt wird
für die menschliche Individualität Millio-
was Tausende Genforscher in 25 Jahren nen weiterer Ankerplätze im Genom aus-
Arbeit bisher in die öffentlichen Daten- kundschaften.
banken eingespeist haben. Mindestens so wichtig wie genetische
„Dies sind“, sagt Durbin, „sehr span- Veränderung in nur einem Punkt ist aber
nende Zeiten“ – und das ist feines briti- die „strukturelle Variation“ – eine teils
sches Understatement. In der Bibliothek schöpferische, teils zerstörerische Kraft,
der 1000 Genome werden Forscher mit ele- die bislang in ihrer Bedeutung übersehen
ganter Leichtigkeit den genetischen Ein- wurde. Wenn sich Samen- und Eizelle bil-
fluss auf zahlreiche Leiden finden – selbst den, kann nämlich einiges durcheinander
dann, wenn dieser Faktor wie bei man- gehen. Ganze Versatzstücke aus Millionen
chen Formen von Diabetes, Prostatakrebs Basenpaaren können abhandenkommen,
oder koronarer Herzkrankheit nicht in nur sich an anderer Stelle, in anderer Reihen-
einer Erbanlage, sondern im komplexen folge oder in doppelter Zahl im Chromo-
Zusammenspiel vieler Gene zu suchen ist. som einnisten. Vielleicht ist diese Form der
WELLCOME LIBRARY

Die Bibliothek wird aber auch philosophi- Variation zwischen den Menschen sogar
sche Debatten neu beleben, etwa die Fra- die wichtigere, denn sie betrifft oft sehr
ge: Inwiefern ist jeder Jeck anders? Und lange Strecken im Erbgut.
Genforscher Durbin
was macht mich zu mir? Die Folgen solcher Erdrutsche in den Ge-
Zum Geheimnis der Einzigartigkeit ha- nen können dramatisch sein. Sie spielen

D
er Fortschritt ist mitunter ein Schnö- ben die Genforscher schon im vergange- nachweislich eine Rolle beim Autismus. Sie
sel: In seinem Licht erscheinen nen Jahr Erstaunliches herausgefunden. sind mitbeteiligt an manchen Autoimmun-
Großtaten der Vergangenheit oft Menschen unterscheiden sich nämlich erkrankungen, und sie können beeinflussen,
lächerlich. Die Entschlüsselung des mensch- viel stärker voneinander als gedacht. Das ob jemand gut oder schlecht auf bestimmte
lichen Erbguts (Genom) etwa hat mehr als Wissenschaftsfachblatt „Science“ kürte die Medikamente anspricht. Mitunter sind sie
zehn Jahre gedauert und Milliarden Dollar Neubewertung der genetischen Variabili- ein Segen. Wer das Glück hat, zufällig meh-
verschlungen; was dabei herauskam, wur-
de im Jahr 2000 weltweit gefeiert als „Buch
des Lebens“.

„Es ist der ideale Weg“


Darüber kann Richard Durbin, 47, heu-
te nur milde lächeln. Der Wissenschaftler
vom Wellcome Trust Sanger Institute nahe
dem englischen Cambridge hat mit viel we-
niger Geld viel Größeres vor. Mit Partnern Genom-Pionier Craig Venter, 61, über künstliches Leben
in den USA und in China will er das Buch und die Lösung des Weltenergieproblems
des Lebens jetzt fortschreiben – und zwar
zu einer ganzen Bibliothek. SPIEGEL: Als wichtiger Schritt hin zum SPIEGEL: Und wozu wäre so ein Kunstbak-
Vergangene Woche fiel der Startschuss. künstlichen Leben wird Ihr neuester Coup terium gut?
In nur drei Jahren will das internationale gefeiert. Aber wäre ein Bakterium, bei Venter: Man könnte zum Beispiel Gene
Forscherkonsortium unter Führung des dem nur das Genom synthetisch ist, wirk- hineinpacken, die Biokraftstoffe, Arznei-
Initiators Durbin und eines Harvard-Wis- lich schon künstliches Leben? en oder andere Chemikalien herstellen.
senschaftlers mindestens 1000 Genome Venter: Sicher nicht in dem Sinne, dass SPIEGEL: Molekularbiologen führen doch
en detail analysiert haben – und dafür wir alle Ingredienzen zusammengeschmis- seit Jahrzehnten erfolgreich Gene in Koli-
dank der vielen Fortschritte auf dem Ge- sen, geschüttelt und mit einem Blitzschlag bakterien ein. Warum da die Gentechnik
biet der Bioinformatik insgesamt lediglich zum Leben erweckt hätten, das nicht. noch einmal neu erfinden?
30 bis 50 Millionen Dollar ausgeben. Aber die Basenpaare in unserer DNA ha- Venter: Weil es der ideale Weg ist. DuPont
Bisher gibt es auf Erden nur drei Men- ben ihren Ursprung tatsächlich jeweils in hat zehn Jahre gebraucht, um Kolibak-
schen, die ihr Genom vollständig ent- einer Chemikalienflasche. terien so zu verändern, dass sie Propan-
schlüsselt in der Hand halten können: den SPIEGEL: DNA lässt sich schon lange im diol aus Zucker produzieren. Sie muss-
schillernden US-Genforscher Craig Ven- Labor bauen – was ist da so neu? ten Dutzende von Stoffkreisläufen ver-
ter, den Nobelpreisträger James Watson Venter: Unser Chromosom ist fast 20-mal ändern. Wir hingegen wollen mit dem
sowie einen anonymen Chinesen, dessen so groß wie die längste bisher syntheti- Design am Computer beginnen, dann
Erbgut das ehrgeizige Beijing Genomics sierte Sequenz. Und wir schicken uns an, chemisch das Chromosom herstellen und
Institute durch seine Sequenziermaschinen eine gedankliche Schallmauer zu durch- am Ende eine neue Lebensform haben,
gejagt hat. Nun aber wird eine wahre Flut brechen. Niemand hat je einen syntheti- die genau das tut, wofür sie gestaltet wur-
von Information über die Wissenschaftler schen Organismus geschaffen. de. Ich bin absolut überzeugt, dass dies
hereinschwappen: Das neue Genom-Pro-
jekt liefert 60-mal mehr Daten als alles,
126 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
1
2 Chromosom Nr. 19

Lokalisation eines 1 Das gesamte Genom 3 3 In dem hervorge-


eines Menschen – wie hobenen Abschnitt
Gens im Erbgut hier von Craig Venter – (roter senkrechter
am Beispiel des APOE-Gens umfasst rund 3 Milliarden Balken) liegt das
von Craig Venter chemische Bausteine bei Venter mutierte
(Basen). APOE-Gen; die
Mutation erhöht das
2 Das Erbgut ist aufgeteilt Risiko, an Alzheimer
auf 23 Chromosomen- zu erkranken.
paare. Nirgends sind die
Chromosom Nr. 19 Gene dabei so dicht ge-
packt wie auf dem eher
kurzen Chromosom Nr. 19.

rere Kopien eines besonderen Gens in sich Dennoch: In fünf Jahren oder so, glaubt Einer indes ist wenig begeistert: Craig
zu tragen, der hat einen Körper, der dem Genforscher Durbin, wird auch er selbst Venter, der Berserker unter den Gentüft-
Angriff des HI-Virus besser standhält. der Versuchung nicht mehr standhalten lern. Seit je liefert er sich Scharmützel mit
Das 1000-Genome-Projekt wird helfen, können und mehr wissen wollen über sein den Genforschern öffentlich finanzierter
die Unterschiede zwischen den Menschen eigenes Genom. „Natürlich ist es faszinie- Institute. Dieser Venter hat jetzt zu Proto-
deutlicher als je zuvor herauszustellen – und rend“, sagt er. So wie man ja auch mehr koll gegeben, dass die 1000 Genome doch
sie orakelhaft zu bewerten. Welche Muta- über die Geschichte seines Hauses erfah- höchstens „einen groben Überblick“ lie-
tionen spielen bei Manisch-Depressiven ren wolle, so werde man sich dann auch ferten. Er selbst plane ein ehrgeizigeres
eine Rolle? Welche Genkombination erhöht um seine genetische Konstitution küm- Unterfangen: 10 000 Genome.
das Risiko für Darmkrebs? Wer ist von sei- mern wollen: „Das bereichert das Leben.“ Auch Ende voriger Woche gelang es Ven-
ner Anlage her herzinfarktgefährdet? Seine 1000 Studienobjekte hat er bereits ter wieder, seinen Gegenspielern die Show
Schon bald dürften massenweise herge- beieinander. Angehörige der Yoruba aus zu stehlen. Da erschien in „Science“ sein
stellte Schnelltests für dies oder jenes ge- Nigeria sind ebenso dabei wie kenianische jüngster Streich: Aus einfachen Bausteinen
netische Risiko Alltag sein in den Arztpra- Massai, Einwohner Pekings und Tokios, hat Venter das vollständige Genom eines
xen. Fraglich ist nur, wie aussagefähig die- in Los Angeles wohnhafte Mexikaner und Bakteriums geschaffen (siehe Interview).
se wirklich sein werden. Was bringt es zu Bewohner Utahs mit westeuropäischem „Die Biologie“, sagt Venter in gewohnt
erfahren, dass ein ohnehin winziges Risiko Hintergrund. In diesem Mix hoffen die unbescheidener Manier, „könnte in eine
für Nierenkrebs wegen bestimmter Gene Wissenschaftler, nahezu alle häufigen Gen- neue Designphase hinübergetreten sein.“
um 19 Prozent gewachsen sein könnte? varianten der Menschheit zu finden. Marco Evers

die Methode der Wahl sein wird, sobald som in eine Empfängerzelle transferieren Venter: Na ja, sie sind immerhin auch dar-
diese Prozesse stabil und rasch ablaufen. und darin zum Leben erwecken. Bis dahin an beteiligt, all den Sauerstoff herzustel-
SPIEGEL: Auch Sie haben zwölf Jahre für ist es noch ein weiter Weg. len, den wir atmen.
Ihr künstliches Genom gebraucht … SPIEGEL: Sie wähnten sich schon im Juni SPIEGEL: Wie groß müssen wir uns eine
Venter: … ja, und trotzdem fehlt noch der fast am Ziel – offenbar war das zu opti- Fabrik vorstellen, in der Kunstbakterien
letzte Schritt. Wir müssen das Chromo- mistisch. Was macht die Sache so kom- den Weltvorrat an Treibstoff herstellen?
pliziert? Venter: Das ist doch gerade der Unter-
Venter: Es ist jedenfalls kein Selbstgän- schied zur herkömmlichen Art der Ener-
ger. Wir stoßen auf viele Hindernisse, gieerzeugung: Mit unserer Methode
von denen keines trivial ist. Wir müssen könnte der Treibstoff vor Ort produziert
das Chromosom entweder in eine Zelle werden. Im Moment haben wir weltweit
übertragen, deren Erbgut wir vorher ent- nur wenige hundert Raffinerien. Das Roh-
fernt haben. Oder in eine Zelle mit Erb- öl muss dorthin und als Benzin von dort
gut; dann müssen wir dieses Erbgut an- wieder wegtransportiert werden – und all
schließend loswerden – und zwar ohne das benötigt wiederum gewaltige Mengen
dass es mit dem neueingepflanzten Ge- an Treibstoff. Ist es da nicht viel besser,
nom rekombiniert. wenn jede Stadt, jedes Dorf, vielleicht so-
SPIEGEL: Eine neue Schätzung bitte: Wann gar jeder Haushalt den Treibstoff selber
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF

wird es gelingen? herstellen könnte? Die Biologie kann ei-


Venter: Es hieße nicht Forschung, wenn ne Menge beitragen zur Lösung unseres
wir die Antwort kennen würden. Aber es Energieproblems!
ist machbar. Ich wäre ebenso überrascht SPIEGEL: Sie wollen der Mineralölindu-
wie enttäuscht, wenn wir es nicht 2008 strie mit dem künstlichen Kraftstoffmi-
schaffen würden. kröbchen das Geschäft stehlen?
SPIEGEL: Und Sie glauben, dass Mikroben Venter: Ja, es wäre wohl das erste Billio-
Erbgutforscher Venter nennenswert zur Treibstoffversorgung nen-Dollar-Lebewesen der Welt.
„Wir durchbrechen eine Schallmauer“ der Welt beitragen könnten? Interview: Rafaela von Bredow

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Bohrlöcher im Paradies DÄNEMARK
Geplante Explorationen
durch die RWE Dea AG und
die Wintershall Holding AG Flensburg

SCHLESWIG-
HOLSTEINISCHES
WATTENMEER

DEUTSCHLAND Nordsee

Bohr- und Förderinsel „Mittelplate“


HAMBURGISCHES
WATTENMEER Itzehoe
Brunsbüttel
NIEDERSÄCHSISCHES
WATTENMEER Cuxhaven
Elbe

Konzession erteilt Wilhelms- Bremerhaven Hamburg


haven
Konzession beantragt
Probebohrungsgebiete 50 km
beantragt

ziosen wie dem Grand Canyon oder dem


U M W E LT
Galápagos-Archipel.

Texas im Watt
Das Wattenmeer hat die Unesco-Me-
daille durchaus verdient, fand schon An-
gela Merkel, als sie noch Umweltministerin
war und das Bewerbungsverfahren anleier-
RWE will vor der Nordseeküste nach neuen Ölreserven bohren – te. Denn die glitzernde Weite der Nordsee-
küste ist eine weltweit einzigartige ökolo-
ausgerechnet im Ökoparadies Wattenmeer, für das die gische Kostbarkeit. Im rhythmischen Spiel
Bundesregierung jetzt den Status des Weltnaturerbes beantragen will. der Gezeiten wurzeln spezialisierte Pflan-
zen, tummeln sich perfekt angepasste Tie-

I
n Tagen wie diesen sind Werner Schuh- die Öffentlichkeit, dass RWE vor der deut- re in den ausgedehnten Schlick- und Sand-
bauers Talente besonders gefragt. Denn schen Nordseeküste sechs neue Probe- flächen; bis zu 4000 Spezies sind es ins-
wie kaum ein anderer bei RWE Dea ist bohrungen in die Tiefen des Erdgesteins gesamt, 250 davon gibt es überhaupt nur in
er es gewohnt, die Rolle des Bösen spielen treiben will: fünf davon vor Schleswig- den Salzwiesen der Nordseeküste.
zu müssen. Holstein, eine vor Niedersachsens Strän- Was dort überleben will, muss Salz,
Wann immer irgendwo am Nordsee- den (siehe Karte). Schon bald, so die Hoff- Überflutung und Trockenheit gleicher-
strand eine Ölpfütze schillert, muss Schuh- nung der Exploratoren, werden im zutage maßen widerstehen können. Tiere, die die-
bauer an die Front. Denn sein Unterneh- geförderten Bohrwasser erste Schlieren sen Härtetest bestehen, werden gut ent-
men fördert hier Öl aus dem Untergrund. vom schwarzen Gold in den Gesteins- lohnt. Denn der Tisch ist im Watt immer
Und deshalb ist klar, dass RWE Dea immer gründen künden. gedeckt: Muscheln, Würmer, Schnecken,
als Erstes verdächtigt wird. Schuhbauers Problem: Das Wattenmeer Garnelen im Überfluss. Von allen Lebens-
RWE-Mann Schuhbauer, 60, weiß, wie ist Nationalpark. Und damit steht es unter räumen der Erde übertrifft allein der tro-
er sich dann zu verhalten hat: respektvoll dem strengsten Naturschutz, den die west- pische Regenwald das Watt an lebendiger
vom Anliegen der Umweltschützer spre- liche Welt zu bieten hat. Da ist es kein Biomasse.
chen, wohlklingende Leitlinien zitieren, Wunder, dass Greenpeace-Parolen über Nirgends in Mitteleuropa finden sich
freundlich an die Meriten der Firma im dem Watt flatterten, kaum dass die RWE- mehr Vögel als hier. Bis zu zwölf Millionen
Naturschutz erinnern – all das hat der stu- Pläne bekannt geworden waren. Zugvögel rasten im Watt und mästen sich
dierte Chemiker und Ingenieur jahrelang „Eine Bohrinsel im Watt“, findet auch für die Brutzeit. Um die Elbmündung her-
trainiert. Denn er ist damit betraut, Na- Hans-Ulrich Rösner vom WWF, „das ist um sammeln sich bis zu 200 000 Brand-
turschützer, Bürger und die Beamten der wie eine Pommesbude im Kölner Dom.“ gänse zur sommerlichen Mauser. Hier sind
Umweltbehörden von den hehren Absich- Die Kathedrale hat der Umweltschützer sie geschützt, wenn sie alle Flugfedern
ten seiner Firma zu überzeugen. Wie tröst- bewusst als Beispiel gewählt: Sie zählt abwerfen und dann wochenlang völlig
lich ist es da, dass sich am Ende bisher zum Weltkulturerbe der Unesco – und das ungeschützt überleben müssen.
noch jedes Mal herausgestellt hat, dass der Wattenmeer soll, wenn es nach dem Willen Ausgerechnet in diesem Paradies also
schwarze Schleim nicht aus der RWE- der Bundesregierung sowie dem der An- nach Erdöl gründeln? „Wir sind davon
Bohrinsel, sondern aus irgendeinem ma- rainer Dänemark und Niederlande geht, überzeugt, dass sich Erdölförderung und
roden Tanker geleckt war. zum Weltnaturerbe geadelt werden. Der Umweltschutz nicht ausschließen“, beteu-
Doch diesmal geht es nicht um die übli- nasse Küstenstreifen würde mit diesem Eti- ert Schuhbauer. Eine Gefahr für die Tier-
chen Lachen am Strand. Diesmal drang an kett aufsteigen in die Liga von Naturpre- welt gehe von den Bohrungen nicht aus.
128 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Wissenschaft

Wattwanderer bei Büsum wig-Holstein nämlich besagt ebenso wie


Aufstieg in die Liga der Naturpreziosen? der trilaterale Wattenmeerplan, dass Probe-
bohrungen nur dann genehmigt werden,
Deutschland. Und an welchen Stellen? In wenn RWE Dea und Wintershall nach-
Nationalparks natürlich.“ weisen können, dass sie die Quellen von
Tatsächlich hat sich Shell 2003 dazu ver- Land oder von der bestehenden Bohrinsel
pflichtet, niemals Bodenschätze aus Welt- Mittelplate aus abteufen können – niemand
erbe-Stätten auszubeuten. RWE und Win- will eine neue Bohrinsel mitten unter die
tershall aber wollen davon nichts wissen. Brandgänse setzen.
Sie beunruhigt, dass der erreichbare Öl- Dazu müssten die Ingenieure aber kom-
vorrat der Nordsee zur Neige geht. Zwar plizierte Schrägbohrungen in Richtung der
schätzen die RWE-Geologen das gesamte erwarteten Pfründen setzen. Im nieder-
Mittelplate-Lager auf 100 Millionen Ton- sächsischen Wattenmeer müsste sich der
nen. Hochholen können sie aber mit der Bohrmeißel gar durch 12 bis 15 Kilometer
aktuellen Technik höchstens noch 30 bis 35 Gestein quer nach unten fressen. Die längs-
Millionen Tonnen. Irgendwann drücken te Querbohrung in der Mittelplate aber
die Pumpen immer mehr Wasser, immer – und die geht durch einen windelweichen
weniger Rohöl durch die Bohrlöcher nach Salzstock – reicht gerade mal etwas weiter
oben. „Zurzeit sind unsere Anstrengun- als 9 Kilometer. „Ob sie das hinkriegen,
gen darauf gerichtet, die jetzige Förder- ist fraglich“, meint Rösner.
menge zu halten“, sagt Schuhbauer. Den ersten Antrag auf Erlaubnis der
Deswegen hat RWE Dea schon mal vor- Probebohrungen beim Nationalparkamt
sorglich gleich zwei neue Konzessio- Schleswig-Holstein musste RWE Dea be-
nen beim Bergamt beantragt, also groß- reits zurückziehen. Es fehlte genau der
SCHÖNING / IMAGO

flächige Claims abgesteckt, in denen die Nachweis, dass die Förderung von Land
Exploratoren die Jagd nach dem Öl aus- oder von der Plattform aus erfolgen könn-
weiten können – beide im Nationalpark te. Inzwischen hat das Konsortium dem
Wattenmeer. Nationalparkamt zwar einen neuen An-
Der außerordentlich hohe Ölpreis ist da- trag eingereicht, aber den Nachweis der
WWF-Mann Rösner ist anderer Ansicht: bei die wahre Verlockung, der erhoffte Ge- wattenmeerfreundlichen Förderung kann
„Stellen Sie sich mal vor, was es für einen winn so hoch, dass sich die öffentliche es immer noch nicht erbringen. „Wir ar-
Aufschrei geben würde, wenn Energie- Rolle als Nationalparkschänder ertragen beiten daran“, sagt Schuhbauer.
konzerne plötzlich anfingen, im Yellow- lässt. Bei einem Preis von 90 Dollar pro Es ist kein Zufall, dass die Probeboh-
stone-Nationalpark zu bohren oder in der Barrel des Nordseeöls Marke „Brent“ rungen gerade jetzt publik geworden sind:
Serengeti!“ lohnt es sich RWE zufolge sogar, „die paar Es geht darum, Stimmung zu machen ge-
Umso mehr empört die Umweltschüt- Fettaugen auf dem Wasser abzuschöp- gen die Nominierung zum Weltnaturerbe.
zer, dass schon 1985 Fakten geschaffen fen“, die noch aus einer nahezu leer- Hamburg hatte sich in letzter Minute
wurden: Zeitgleich mit der Ausweisung des gepumpten Lagerstätte beim niedersäch- ausgeklinkt aus der Bewerbung – es ist
Nationalparks erlaubten die Behörden dem sischen Hankensbüttel quellen. Aus RWE- Wahlkampf, und die Hanseaten befürch-
Ölsucherkonsortium damals, die Bohr- Sicht sind Probebohrungen unerlässlich, ten Einschränkungen bei der Bewilligung
plattform „Mittelplate“ ins Wattenmeer zu um neue Reserven des schwarzen Goldes der Elbvertiefung für große Container-
setzen – mitten ins Ökoparadies. um die Goldgrube Mittelplate herum zu schiffe. Und auch RWE-Mann Schuhbauer
Bis heute pumpt das Konsortium aus erspähen. macht sich Sorgen über eine mögliche
RWE und Wintershall mehr als zwei Mil- Diese anzuzapfen ist für die RWE- „Einengung unserer Tätigkeit bis hin zu
lionen Tonnen im Jahr aus 2000 bis 3000 Manager nun vor allem ein technisches einer Behinderung“.
Meter Tiefe empor. Das ist mehr als die Problem. Das Nationalparkgesetz in Schles- „Alles Propaganda“, findet Christiane
Hälfte der Gesamtfördermenge in Deutsch- Paulus, die im Bundesumweltministerium
land – das Depot unterm Wattenmeer ist
das germanische Texas. „Es handelt sich Ölversorgung in Deutschland für das Welterbe zuständig ist. Weder für
die Ölsucher noch für die Elbebagger wer-
um ähnliche Mengen, wie wir sie aus Aser- Lieferanteil 2006 de sich irgendetwas ändern. Die Autoren
baidschan, Saudi-Arabien oder Nigeria in Prozent Quelle: des Welterbe-Antrags haben nämlich alle
Börsen-Zeitung
importieren“, sagt Schuhbauer stolz. „Wir Faktoren, die das Wattenmeer stören könn-
leisten hier unseren Beitrag zur Versor- Norwegen ten, bereits im Bewerbungsdossier ver-
gungssicherheit.“ Umweltschützer Rösner 16,6 % merkt. Wenn die Unesco das norddeutsche
hingegen findet die Menge „so gering, dass Ökoparadies trotzdem anerkennen sollte,
man ebenso gut darauf verzichten könnte“. Groß- tut sie dies wohl wissend, dass diese Vor-
Der WWF-Mann weiß, dass eine Boh- britannien haben geplant sind und ausgeführt wer-
rung das Ökosystem nicht gravierend 11,5 % den, sofern das Naturschutzrecht vor Ort
stören würde. Deshalb verzichtet er darauf, GUS dies zulässt.
die Angst mit Bildern elend krepierender 40,9 % Libyen Ändern lässt sich der Antrag ohnehin
Heuler oder Eiderenten zu schüren. Ihm 11,2 % nicht mehr durch die Kommentare der
geht es ums Prinzip: Die Industrie müsse Hamburger oder der RWE-Manager. Denn
anfangen, wenigstens Nationalparks zu re- Opec die Bewerbung des Wattenmeers für den
(ohne Libyen)
spektieren: „Wenn wir den Klimaschutz Son- Ritterschlag durch die Weltgemeinschaft
ernst nehmen, müssen wir doch irgendwo stige 9,8 % ist gedruckt und gebunden. Noch in dieser
anfangen, die fossilen Brennstoffe in der 6,9 % Woche wird ein Bote sie zur Unesco in
Anteil
Erde zu lassen“, meint er. „Und wo soll „Mittelplate“: Paris tragen: „Das ist in Sack und Tüten“,
man beginnen, die Förderung zu stoppen? aus eigener sagt Paulus. Und freut sich.
Am besten doch in reichen Ländern wie Förderung 3,1 % 1,8 % Rafaela von Bredow

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 129
Szene Kultur
MODE

Seriell einmalig
E in altes Gesetz der Mode besagt, dass
Kleidung angeblich dadurch interessan-
ter wird, dass sie nur an ausgewählten Or-
ten und in niedrigen Auflagen zu haben ist.
Auf der Internet-Seite „noeditions.com“
kann der Mode-Interessierte nun betrach-
ten, wie Exklusivität in Zeiten der Massen-
produktion in Zukunft aussehen könnte:
Die Seite zeigt eine Palette schlichter
Alltagskleidung (Jeans, T-Shirts, Wind-
jacken, Hemd- und Überkleider), die aus
historisch erprobten, bewusst nicht trend-
gemäßen Materialien (Denim, Seide, Jer-
sey, Chiffon) gefertigt und mit unterschied-
lichen Motivserien bedruckt wird – von de-
zenten Bunttönen bis zum Grau. Der Clou:
Jeden Druck und damit jedes Kleidungs-
stück gibt es nur einmal. Codes im Inneren
der Kleidung informieren über die jewei-
lige Seriennummer. Nach dem Kauf hat

DEREK KETELLA
der Kunde das schöne Erlebnis, zu sehen,
wie im Online-Archiv über seinem Stück
die Kennung „not available“ (nicht verfüg-
bar) erscheint. Hinter dem Hersteller mit Modelabel No Editions
dem programmatischen Titel No Editions
(Keine Auflagen) stehen der aus München stammende, in New Berater selbständig machte. Derzeit arbeitet das Team an
York arbeitende Künstler und Modemacher Christian Niessen, einem Motiv, das so offen gestaltet sein muss, dass es für eine
41, und seine Partnerin Nicole Lachelle. Niessen war lange die unendlich variable T-Shirt-Serie taugt – eine Aufgabe, die den
rechte Hand der Modelegende Helmut Lang, bevor er sich als Designern wohliges Kopfzerbrechen bereitet.

M it 16 schlug ich das Buch zum ersten


Mal auf. 25 Seiten später flog es in
die Ecke. In den nächsten Jahren folgten
Das Buch meines Lebens die Fotos in einem Entwicklungsbad. Aus
ihnen werden Orte und Menschen, weit
über hundert: Swann, Saint-Loup, Char-
weitere Annäherungsversuche. Immer lus, Morel, Vinteuil, Elstir, Bergotte, Mme
wieder scheiterte ich, mal am Text, mal Verdurin, der Prinz von Guermantes und
MARKUS TEDESKINO (L.); KEYSTONE (R.)

an meinem Widerstand, meistens an bei- immer wieder Marcel und Albertine. In


dem. 1996 entschied ich mich, nur ein der Beschreibung ihrer Beziehung legt
Buch in die Sommerferien mitzunehmen: Proust die Irrationalität jeder Liebe bloß,
„In Swanns Welt“, den ersten Band von vom langsamen Erwachen bis zur zerstö-
Marcel Prousts siebenteiligem Roman- rerischen Leidenschaft.
zyklus „Auf der Suche nach der verlo- Proust beschreibt in nicht enden wollen-
renen Zeit“. Auf einer Terrasse in Süd- den Sätzen voller Musikalität, die das
frankreich klappte ich den Buchdeckel Strömen der Erinnerung nachvollziehen,
auf. 18 Monate später, auf einem Sofa in Berkel Proust das komplexe Nebeneinander verschie-
meiner damaligen Berliner Wohnung lie- dener zeitlicher Ebenen im Bewusstsein
gend, las ich die letzte Zeile – und zog Christian Berkel des Erzählers. Während die Figur Marcel
aus. Ich war ein anderer geworden. an den eigenen literarischen Fähigkeiten
Worum geht es in dem Buch? Um die über Marcel Prousts zweifelt, zerstört Proust den klassischen
Liebe, das Leben, den Tod, mit einem
Wort: um Verlust. Um die Differenz zwi- „Auf der Suche Roman und schafft das entscheidende
Werk der Moderne. Darin findet der Held
schen innerer und äußerer Wirklichkeit. nach der verlorenen Zeit“ das Leben erst, als er sich dem Tod nä-
Und um die Erinnerung und ihr Verhält- hert. In der Bibliothek sieht er Kinder,
nis zur Kreativität. Der Biss in die Made- die seit der letzten Begegnung gewachsen
leine, das Ausrutschen auf unebenen Stei- Der Franzose Marcel Proust (1871 bis sind, und erkennt durch sie seine eigene
nen lösen Erinnerungen aus, die sich je- 1922) schildert in dem zwischen 1913 Vergänglichkeit und sein Thema: die Zeit.
dem kausalen Zusammenhang entziehen. und 1927 publizierten Romanzyklus
Die Bilder tauchen vor dem inneren Au- „Auf der Suche nach der verlorenen Berkel, 50, ist Schauspieler und demnächst in den Fil-
ge auf, ebenso magisch, ebenso real wie Zeit“ den Vorgang des Erinnerns. men „Valkyrie“ und „Mogadischu“ zu sehen.

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 131
Szene
STREITSCHRIFTEN

Krankheit im Hirn
M ehr als drei Jahre ist es her, dass die
Frau des österreichischen Kabaret-
tisten und Boxreporters Werner Schney-
der gestorben ist, nun hat der Witwer
ein Buch über dieses Sterben geschrie-
ben. Es handelt von der Erkrankung
und den Qualen der geliebten Frau, von
den Ratschlägen und Operationen der
Ärzte, klar. Aber vor allem handelt es
von Werner Schneyder selbst. Wer den
Mann kennt, ob Freund oder Verächter, FABIAN BIMMER / AP
wird es kaum anders erwarten. Anrüh-
rend und eitel, anklagend und mitunter
auf krasse Weise entblößend ist diese
Erzählung, die nach dem Willen ihres
Verfassers unbedingt auch ein Manifest Prämiertes Foto, prämierte Karikatur
sein soll gegen die mit chemotherapeuti-
schen Mitteln bewirkte Lebensverlänge- AU S ST E L L U NGE N

Ferien an der
rung für todgeweihte Krebspatienten:
Schneyder wird also in Talkshows auf-
treten, als Erstes bei „Maischberger“ an

Ostsee
diesem Dienstag.
Das Buch schildert zunächst lapidar, wie
ein befreundeter Arzt den Eheleuten
berichtet, dass Schney-
ders Frau an Blasen-
E s war das Jahr 2007, in dem als Clowns

KLAUS STUTTMANN
krebs erkrankt ist; wie verkleidete Demonstranten behelmten
der Künstler sich (und Polizisten auf die Nerven gingen, wäh-
sie) mit Vorwürfen ein- rend Angela Merkel mit Tony, George und
deckt, weil er ihr nicht Romano in der Sonne von Mecklenburg-
energisch genug das Vorpommern ein kühles Bier trank. Zum
Rauchen verboten hat. 24. Mal hat die „Rückblende“, der Preis für politische Fotografie und Karikatur, ein
Dann wird die Ehefrau Kalenderjahr auf seine visuellen Höhepunkte hin untersucht. Mit ersten Preisen
operiert und ihr Chir- ausgezeichnet wurden Fabian Bimmer für sein Foto der Clowns-Army im Vorfeld der
urg, ein erfahrener G-8-Proteste in Heiligendamm und der Karikaturist Klaus Stuttmann, der Innen-
Mediziner, stirbt groteskerweise am minister Schäuble als Wiedergänger des Stasi-Hauptmanns im Film „Das Leben der
Abend der Operation den Herztod. Die Anderen“ gezeichnet hat. Die Ausstellung mit ausgewählten Fotos und Karikaturen
Krankheit schreitet fort, und es setzt ein ist in Berlin in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz zu sehen.
Wüten ein über undurchschaubare ärzt-
liche Winkelzüge, das Schneyder mit
Berichten über den eigenen, wie er es
nennt, „Hirnkrebs“ garniert: Gemeint ist VERLAGE lagslandschaft“ (Grossner über Suhr-

Wehrhafte Ikone
die Horrorvorstellung, sein Leben künf- kamp) wehrte sich und erstattete Straf-
tig allein leben zu müssen. Der Künstler anzeige wegen übler Nachrede. Wie
schwadroniert plötzlich enthemmt über jetzt aus einem Schreiben des Amtsge-
das eigene Los, ein bejubelter Auftritt
jagt den nächsten Bühnenerfolg, dazwi-
schen weint er in der U-Bahn zum Kran-
G roße Worte, nicht immer vorgetra-
gen auf die feine hanseatische Art:
Nachdem die Hamburger Geschäftsleu-
richts München hervorgeht, das dem
SPIEGEL vorliegt, müssen Grossner und
Barlach im Gegenzug für die Einstellung
kenhaus und verzeiht sich großzügig die te Hans Barlach und Claus Grossner dieses Verfahrens jeweils 15 000 Euro an
sexuellen Abschweifungen während sei- Ende 2006 mit dem Suhr- eine gemeinnützige Insti-
nes 40 Jahre dauernden Ehelebens. Und kamp-Anteilseigner An- tution zahlen. Für Barlach
dann ist er, als die Gattin stirbt, weit weg dreas Reinhart eine Über- war das Verfahren offen-
auf Tournee. nahme seiner Verlagsantei- sichtlich nur eine Lappa-
Ein seltsames Buch: Über die moderne le vereinbart hatten, warfen lie: „Mit so einem Unfug
Krebsmedizin sagt es, trotz des lauten sie Verlegerin Ulla Unseld- sollen sich meine Anwälte
OLAF BALLNUS / AGENTUR FOCUS

„J’accuse“, nur wenig. Über den Men- Berkéwicz „Vermischung nicht beschäftigen. Auf
schen Werner Schneyder sagt es oft von Privatem und Ge- Nebenkriegsschauplätze
herz- und markerschütternd viel. Maxi- schäftlichem“ vor. Aller- haben wir keine Lust.“
mal freundlich formuliert: Der Mann dings: Die versprochenen Der Streit um die Besitz-
verstellt sich nicht. Belege für diese Behaup- verhältnisse im Suhrkamp-
tung blieben die Hambur- Verlag geht demnächst vor
* Werner Schneyder: „Krebs. Eine Nacherzählung“. ger schuldig. Die „Brain- dem Landgericht Frank-
Verlag Langen Müller, München; 160 Seiten; 17,90 Euro. Ikone der deutschen Ver- Barlach, Grossner furt in die nächste Runde.
132 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Kultur
AU TOR E N SPIEGEL: Ihre Krimis sind unkonventio-

„Ich lese das Ende


nell geschrieben. Sie verzichten sogar
auf Kommissare oder Ermittler. Sehen

immer zuerst“
Sie sich überhaupt als Krimi-Autorin?
Schenkel: Die Ermittler sollten kein zu
großes Eigenleben erhalten, sonst wer-
Die Schriftstellerin Andrea Maria den sie wichtiger als die Fälle, die sie
Schenkel, 45, über den anhaltenden bearbeiten. Bin ich eine Krimi-Autorin?
Erfolg ihrer Krimis „Tannöd“ (2006) Ich weiß es nicht. Ich schreibe jedenfalls
und „Kalteis“ (2007), die beide seit gern spannende und auch dunkle Ge-
Monaten auf der Bestsellerliste stehen schichten. Ob ich dem Genre treu blei-
und jeweils mit dem Deutschen Krimi-

THEO KLEIN / FACE TO FACE


be, kann ich jetzt noch nicht sagen.
Preis ausgezeichnet worden sind SPIEGEL: Sie montieren Bruchstücke,
Zitate und Verhörprotokolle mit inne-
SPIEGEL: Frau Schenkel, schauen Sie ren Monologen, oft gegen die Chrono-
noch jede Woche in der Bestsellerliste, logie. Wie kommt diese komplizierte
auf welchem Platz Ihre Romane stehen? Erzählweise zustande?
Schenkel: Glauben Sie mir, ich habe Schenkel: Es liegt an meinen eigenen Schenkel
schon lange nicht mehr reingeschaut. Lesegewohnheiten. Ich bin sehr undis-
Ich könnte Ihnen nicht einmal die ak- zipliniert. Ich lese bei Krimis grundsätz- Schenkel: Ich habe einiges über Serien-
tuelle Auflage von „Tannöd“ sagen. lich das Ende zuerst, habe mich schon mörder gelesen und glaube nicht, dass
SPIEGEL: Ihr Debütroman hat sich bis- häppchenweise von hinten nach vorn man sie verstehen kann. Mörder dieses
lang 550 000-mal verkauft. Jetzt wurde – gelesen. Das nimmt bei guten Krimis Kalibers haben eine völlig andere Wahr-
nach „Tannöd“ – gerade auch Ihr zwei- nichts von der Spannung. Es ist doch nehmung ihrer Umwelt. Für sie sind die
ter Roman „Kalteis“ mit dem Deut- interessant zu beobachten: Wie bringt Opfer keine Menschen, jedenfalls nicht
schen Krimi-Preis ausgezeichnet. Ist Ih- mich der Autor zu diesem Schluss? im Moment der Tat.
nen Ihr Erfolg bisweilen unheimlich? SPIEGEL: Und so beginnen Sie Ihren Ro- SPIEGEL: Der Mord an Kathie wird mit
Schenkel: Es erstaunt mich ganz ein- man „Kalteis“ gleich mit dem Ende, der allen schrecklichen Einzelheiten geschil-
fach. Und es freut mich, dass meine Exekution des Mörders Josef Kalteis? dert, bis hin zu sexuell motivierten Ver-
Bücher Leser finden. Schenkel: Ich fand es interessant, die stümmelungen. Hat Sie das Überwin-
SPIEGEL: Dabei wollte zunächst kein beiden Gestalten, den Mörder und sein dung gekostet beim Schreiben?
Verlag Ihr Debüt veröffentlichen … Opfer Kathie, aufeinander zulaufen zu Schenkel: Das war schwierig. Ich war
Schenkel: … das war so, ich erhielt lassen. Erst in der Mitte des Buches hinterher wirklich fix und fertig.
Absagen über Absagen. Ein halbes Jahr treffen die beiden aufeinander. SPIEGEL: Gab es nachträgliche Skrupel?
lang, dann hatte ich das Glück, bei SPIEGEL: Sie wagen es, den inneren Schenkel: Ich schreibe einmal durch.
einem Hamburger Verlag zu landen, Monolog des Triebtäters während der Beim Lautlesen spüre ich, ob es klappt
der das Buch gern drucken wollte. Tat zu imaginieren. Glauben Sie, den oder nicht. Die Mordszene in „Kalteis“
Ein wahnsinniges Gefühl war das. Serientäter verstanden zu haben? habe ich fünfmal laut gelesen.

Kino in Kürze

ben einer Hauptstra- Emile Hirsch) quasi zur Handlungsan-


ße, die Leiche von weisung. Das Ergebnis sind 148 Minu-
Christopher McCand- ten geballter Zivilisationsekel mit reich-
less, einem 24-jähri- lich Lagerfeuerromantik (Geldscheine
gen Aussteiger. Der verbrennen!), aber ohne jeden Funken
junge Mann, ohne Selbstzweifel.
brauchbare Landkar-
te auf Selbstfindungs- „Die Band von nebenan“ sind acht Mit-
tour, war verhungert. glieder einer ägyptischen Polizeikapelle,
Ein Tatsachenroman die sich bei einem Auftritt in Israel in
des Wildnis-Literaten der Provinz verirren und so mitten in
Jon Krakauer verklär- das Alltagsleben ihres Gastlandes ge-
te McCandless pos- raten. Der vielfach preisgekrönte Film
tum zum Helden al- des Regisseurs Eran Kolirin ist eine be-
ler selbsternannten zaubernde Komödie über die Tücken
Naturburschen. Hol- der Völkerverständigung. Lakonisch und
TOBIS

lywood-Star Sean mit absurdem Humor beschreibt er die


„Into the Wild“-Regisseur Penn Penn, Experte fürs zarten Annäherungsversuche zwischen
Extreme, geht in sei- Menschen zweier einst verfeindeter Na-
„Into the Wild“. Im September 1992 ent- ner vierten Regiearbeit sogar noch wei- tionen, kurzweilig und rührend erzählt
deckten Elchjäger im Denali-National- ter: Er überhöht das naive, selbstgerech- er vom kulinarischen, musikalischen und
park in Alaska, nur wenige Kilometer ne- te Pathos des Abenteurers (gespielt von erotischen Friedensschluss.

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 133
Kultur

Sängerin Jones in ihrem Kinodebüt „My Blueberry Nights“, Rolling-Stones-Musiker Jagger mit Bühnenpartnerin Aguilera: Mal aktuelle, mal trotzig

SHOWBUSI N ESS

Freunde in der Not


Die kriselnde Musikbranche flirtet heftig mit dem Kino. Profi-Entertainer wie Norah Jones
oder Madonna, Bob Dylan oder die Rolling Stones sollen
ein vom Dilettanten-Kult des Internet genervtes Publikum in den Bann ziehen.

H
inter seiner dicken Hornbrille zieht Guy schrummt sich die Seele aus dem schen Journalisten, als auf Güterzüge auf-
der berühmte Regisseur lustige und Leib, und mittendrin taucht plötzlich ein springenden Vagabunden und in der Rolle
zornige Grimassen und zetert: „Ich Interviewschnipsel aus den sechziger Jah- des jungen Superstars, der in teuren Hotel-
weiß nicht, was hier vorgeht“, weil ihm die ren auf, in dem ein jugendfrischer Mick zimmern drogensatt herumphilosophiert;
lässigste Rock’n’Roll-Band der Welt offen- Jagger gesteht: „Ich hätte nie gedacht, dass verkörpert aber wird der Musiker abwech-
bar nicht mal den Programmablauf des wir auch nur zwei Jahre durchhalten.“ selnd von vier erwachsenen Männern (dem
Abends verraten hat. Hektische Techniker, Die Rolling Stones haben inzwischen vergangene Woche verstorbenen Heath
paffende Musiker, kreischende Zuschauer, viereinhalb Jahrzehnte Bandgeschichte auf Ledger, außerdem Christian Bale, Ben
das alles sieht man im Trailer für den jüngs- den (wie Scorseses Film zeigt) bemerkens- Wishaw und Richard Gere), einem kleinen
ten Film des Regisseurs Martin Scorsese, wert durchtrainierten Buckeln, noch etwas schwarzen Jungen (Marcus Carl Franklin)
der in anderthalb Wochen die Berlinale länger im Musikgeschäft ist Bob Dylan. und einer Frau (Cate Blanchett).
eröffnen soll. Ihm hat der US-Regisseur Todd Haynes Hört sich irre an, ist aber ein großarti-
„Shine a Light“ heißt das Werk, für das den künstlerisch aufregendsten Musikfilm ger, auch musikalisch mitreißender Trip
Scorsese zwei Auftritte der Rolling Stones seit Ewigkeiten gewidmet, in dem der durch die Lebensphasen des faszinieren-
im New Yorker Beacon Theatre im Herbst Meister selbst allerdings gar nicht mitspielt. den und bis heute rätselhaften Großkünst-
2006 abfilmte. Eines der Konzerte fand zur Ende Februar läuft „I’m Not There“ in den lers Dylan, der unter dem Namen Robert
Feier von Bill Clintons 60. Geburtstag statt. deutschen Kinos an. Zimmermann aufwuchs.
Christina Aguilera hüpft mit auf der Bühne Regisseur Haynes zeigt den glorreichen Verdiente Popmusik-Helden wie die Rol-
herum, der schwarze Bluesgitarrist Buddy Barden Dylan im Streit mit schlaumeieri- ling Stones und Bob Dylan als Kinostars –
134 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
aus der Welt osteuropäischer Migranten in
London, ist aber, wie man hört, vor allem
eine Huldigung an die Gipsy-Punkmusiker
von Gogol Bordello und ihren Sänger Eu-
gene Hütz, mit denen die regieführende
Sängerin auch schon gemeinsame Konzert-
auftritte absolviert hat.
Natürlich ist auch der desaströse Zu-
stand der Musikwirtschaft daran schuld,
dass sich derzeit so viele Popkünstler hin-
ter und vor den Kameras verausgaben. Seit
die CD-Verkäufe einbrechen, mühen sich
Künstler und Manager um die Sicherung
verbliebener Einnahmequellen: Das Abfil-
men von Konzertauftritten ist eine davon.
Popmusik-DVDs gelten als zuverlässige
Geldbringer, sie gehören längst so zwin-
gend zu Konzertreisen wie das sogenann-
te Merchandising, der Verkauf von be-
drucktem Krimskrams wie Kaffeebechern
oder T-Shirts. Auf erfolgreiche Tourneen
folgt zuverlässig ein DVD-Mitschnitt, ob
von Madonna, David Gilmour oder Her-
bert Grönemeyer. Die Rolling Stones lie-
ßen ihre „A Bigger Bang“-Tournee ge-
wohnt größenwahnsinnig gleich mit einem
4-DVD-Set verewigen.
Allerhand Geld eingespielt wird auch
DARIUS KHONDJI / PROKINO

mit filmischer Recyclingware. Paul Mc-


Cartney beispielsweise publizierte jüngst
seine gesammelten Post-Beatles-Clips aus
vier Jahrzehnten auf drei DVDs.
KINOWELT Ungleich brisanter, nicht nur in musika-
lischer, sondern auch in politischer Hin-
nostalgische Beschwörung eines Lebensgefühls sicht, ist da die im vergangenen Jahr ver-
öffentlichte Dokumentation „Shut Up &
auf dieses Rezept setzen Kinomacher der- teure am Werk: „Alles, was uns die Web- Sing“ über die Musik und den kämpferi-
zeit aus vielerlei Gründen. Der interes- 2.0-Revolution schenkt, ist also mehr von schen Charme der wegen ihrer Kritik an
santeste hat mit den Segnungen des uns selbst – statt dass sie, wie sie behauptet, George W. Bush jahrelang angefeindeten
Computerfortschritts und des Internet zu neuen Mozarts, van Goghs und Hitchcocks US-Countryband Dixie Chicks.
tun, die der aus Großbritannien stammen- zum Durchbruch verhilft.“ Die Königsdisziplin des Genres aber
de Silicon-Valley-Unternehmer Andrew Die Beschäftigung mit unbestritten bleibt die biografische Verewigung einer
Keen vergangenes Jahr in seinem Buch genialen Heroen der Musikgeschichte, wie Musikerkarriere. Gediegene Dokumenta-
„The Cult of the Amateur“ kritisch be- sie das Kino derzeit so emsig betreibt,
schrieben hat*. wirkt da wie eine trotzige Reaktion auf
Es schwäche „die Vitalität der Künste“, den Amateurkult. Allein im Programm der
so fasste Keen kürzlich in der Wochenend- Berliner Filmfestspiele finden sich mehr
beilage des Schweizer „Tages-Anzeigers“ als ein halbes Dutzend Huldigungen an
seine Thesen zusammen, dass jeder musikalische Virtuosen und Lichtgestal-
technisch halbwegs versierte Computer- ten; eine Dokumentation über die Coun-
nutzer heute eigene Texte, eigene Songs tryrocker Crosby, Stills, Nash & Young
und eigene Filme produziere und in die („CSNY Déjà vu“) zum Beispiel, andere
Netz-Öffentlichkeit hinausschleudere. Die über Meister des argentinischen Tangos,
schöne neue Internet-Kultur verkläre das Stars philippinischer Ghettomusik und
Dilettantentum zum Stilprinzip, die derart über Helden des ugandischen HipHop.
basisdemokratisch fabrizierte Jedermanns- Sogar ein Reisebericht über den jüngsten
kunst aber zeuge nur von privatistischen Asien-Ausflug der Berliner Philharmoni-
Befindlichkeiten, „statt die Welt zu spie- ker wird auf der Leinwand zu sehen sein.
geln, in der wir leben“. Mehr Rummel dürfte es um die ameri-
Der moderne Netz-Nutzer, glaubt Keen, kanische Sängerin Patti Smith geben, die
JONATHAN HORDLE / REX FEATURES

konfrontiere sich kaum mehr mit Kulturgut, in einer Dokumentation mit dem Titel
das „über seine eigenen Gedanken hinaus- „Patti Smith: Dream of Life“ gefeiert wird.
geht“. Überall, in Blogs, in Nachschlage- Am zweiten Tag des Filmfestivals (also am
werken, vor allem aber auf dem Feld künst- 8. Februar) gibt sie in der Berliner Passions-
lerischer Betätigung, sieht er blutige Ama- kirche auch gleich noch ein Konzert.
Und schließlich Madonna: Die bekannt
* Andrew Keen: „The Cult of the Amateur. How Today’s
superehrgeizige Popdiva präsentiert ihr Re-
Internet Is Killing Our Culture“. Verlag Currency Double- giedebüt „Filth and Wisdom“ in Berlin als Filmregisseurin Madonna (in London)
day, New York; 240 Seiten; 22,95 Dollar. Weltpremiere. Der Spielfilm zeigt Szenen Jagdszenen aus dem Immigrantenleben
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 135
Kultur

JAN PERSSON / REDFERNS


TOBIS
Dylan-Darstellerin Blanchett in „I’m Not There“, Musiker Dylan (in Kopenhagen 1966): Schillernde Facetten eines Mysteriums

tionen lieferten etwa Martin Scorsese mit Ende Februar läuft in den deutschen Jean-Luc Godard gruselte sich Ende der
seiner Dylan-Story „No Direction Home“ Kinos die Rock’n’Roll-Komödie „Walk Siebziger vor Musikfilmen wie „Saturday
(2005) und Hollywood-Großmeister Peter Hard“, die dieses Prinzip gründlich ver- Night Fever“ und „Grease“ und nannte sie
Bogdanovich mit der Tom-Petty-Lebensge- äppelt. Der Held des Films schläft mit 411 „richtige Monsterfilme, die einem keine
schichte „Runnin’ Down a Dream“ (2007). Frauen, zeugt 22 Kinder und trifft Elvis Angst, die einen aber hinterher selber
Publikumshits wurden die Spielfilm-Le- ebenso wie die Beatles, außerdem wirft er monströs machen“ – weil sie aufs Klebrigs-
bensstorys des schwarzen Sängers Ray mehr Drogen ein, als ihm guttut – das te das Bewusstsein manipulierten.
Charles und des Countryhelden Johnny ganze Programm wird hier noch mal zum Das Elend aller reinen Musikfilme seit
Cash, „Ray“ (2004) und „Walk the Line“ finalen Ablachen durchgenudelt. der Konzertdokumentation „Woodstock“
(2005) brachten den Darstellern sogar Os- In einer originelleren Story ist die Sän- ist dagegen ihre Unfähigkeit zur Mani-
cars ein. gerin Norah Jones derzeit in „My Blue- pulation. Für uneingeweihte Menschen, die
Kein Wunder also, dass sich Holly- berry Nights“ zu bestaunen. Die sentimen- Nichtfans, sind sie sturzlangweilig. Das gilt
wood-Stars um Hauptrollen in diversen tale Amerika-Ballade des chinesischen Re- sogar für Martin Scorseses „The Last
anstehenden Musikfilmen bewerben. Für gisseurs Wong Kar-wai zeigt, wie Jones als Waltz“ über das Abschiedskonzert der
die lang geplante Janis-Joplin-Leinwand- Wandersfrau durch ein buntes Traumland Dylan-Begleitcombo The Band im Jahr
biografie war Lindsay Lohan im Gespräch, stapft, das so wohlig warm und watteweich 1976, die Mutter aller modernen Konzert-
das Rennen machte Jungstar Zooey ist wie ihre schwer kitschverdächtigen Lie- filme – und es dürfte in ganz besonderer
Deschanel. Don Cheadle will den legen- der. Die meisten Kritiker langweilten sich Weise für die Rolling-Stones-Gala „Shine a
dären Jazz-Trompeter Miles Davis verkör- ein bisschen mit diesem Film, für den Jones Light“ gelten.
pern, Mike Myers als extrovertierter und auch Musik lieferte, weil aber Jude Law die Die Stones setzen zwar bei ihren Tour-
exzentrischer Who-Schlagzeuger Keith männliche Hauptrolle in Wongs buntem neen Rekordsummen um, schafften es zu-
Moon vor der Kamera kaspern. Und Scar- Märchen ist, sind viele weibliche Zuschau- letzt aber nicht mehr, die überteuerten
lett Johansson soll in der Verfilmung des er absolut hingerissen von „My Blueberry Karten für ihre Auftritte komplett loszu-
tragisch kurzen Lebens von Grunge-Ikone Nights“. schlagen. In Deutschland spielten sie in
Kurt Cobain auf Wunsch von Courtney Bei allen Schwächen knüpft Wong nicht ausverkauften Arenen – und nun
Love deren junges Double spielen. durchaus geschickt an die Tradition jener soll ihnen Scorseses Beistand neue künst-
Bereits in den deutschen Kinos an- Musikfilme an, die wie Richard Lesters lerische Attraktivität bescheren? Mal ab-
gelaufen ist „Control“, das Spielfilmdebüt Beatles-Film „A Hard Day’s Night“ (1964) warten.
des Musiker-Fotografen Anton Corbijn. Pop und Kinobilder zum Ausdruck eines In Interviews hat sich der Regisseur
Es erzählt vom kurzen Leben des unglück- aktuellen Lebensgefühls verschmelzen. Die bereits dafür gerechtfertigt, dass er sich
lichen, epilepsiekranken, genialen Joy- Rock’n’Roll-Filme der fünfziger Jahre, nur der Musik widmet und den faltigen
Division-Sängers Ian Curtis, der sich 1980 Fließbandproduktionen mit marginaler Rockern selbst nicht noch mal Fragen zum
das Leben nahm. Die Musik, der Haupt- Handlung und viel Musik von Bill Haley Beispiel nach ihrem Polit-Engagement
darsteller Sam Riley und Alexandra Maria oder Elvis Presley, hatten dieses Verspre- stellt: Die Jungs seien oft genug verhört
Lara in einer Nebenrolle machen das ge- chen nur ausposaunt, aber nicht eingelöst. worden, „was, um Himmels willen, soll
stylte Schwarzweißwerk erträglich, trotz- In den sechziger Jahren jedoch, zuerst in man von denen noch wissen wollen?“
dem gilt für „Control“ das Verdikt des „A Hard Day’s Night“, später in Godard- Vermutlich ist genau das der Unter-
kalifornischen Popkultur-Professors Todd Werken wie „One Plus One“ (1968), wur- schied, der die Dylan-Hommage „I’m Not
Boyd: „Wenn man einen dieser Musiker- den Pop und Kino wirklich eins. Und in ein There“ zum großen Ereignis macht: Todd
filme gesehen hat, kennt man eine Mil- paar anderen großartigen Filmen spielten Haynes zelebriert nicht den schrillen Aus-
lion.“ Stets setze sich ein armer, begabter Popsongs immerhin tragende Rollen, so verkauf, sondern das fröhliche Mysterium
Schlucker gegen böse Widerstände durch die verhuschten Balladen von Simon & einer Poplegende: Tausend Facetten erge-
und werde auf dem Gipfel des Erfolgs von Garfunkel in „Die Reifeprüfung“ (1967) ben das glanzvolle Porträt eines niemals
den Dämonen seiner Kindheit eingeholt. oder der Rock von den Byrds und von greifbaren Helden. Christoph Dallach,
Schluchz. Steppenwolf in „Easy Rider“ (1969). Wolfgang Höbel

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G. U. HAUTH
Musiker Hermlin, Ehefrau Joyce mit kenianischen Dorfkindern (2007): „Ich reagiere sehr emotional“

tion war der Versuch, mir auf den Zahn zu


MUSIKER
fühlen.

„Ich bin zu weit gegangen“


SPIEGEL: Sie kamen durch Einsatz des deut-
schen Botschafters wieder frei.
Hermlin: Botschafter Walter Lindner hat
sich enorm für uns eingesetzt, dafür bin
Der Berliner Swingmusiker Andrej Hermlin über seine Haft ich ihm unendlich dankbar.
SPIEGEL: Der Diplomat, ein Jazz-Fan, hat-
in Kenia, sein politisches Engagement te Sie im Oktober ja schon ins Gebet ge-
und seine Liebe zur Eleganz der dreißiger Jahre nommen und Sie aufgefordert, Ihre politi-
schen Aktivitäten in Kenia einzustellen.
Hermlin, 42, leitet das Berliner Swing wie Terrorverdächtige in den USA oder Hermlin: Richtig. Ich hatte im August auf
Dance Orchestra, das er schon zu DDR- Großbritannien behandelt werden, lief al- dem Land eine Rede für die Odinga-Partei
Zeiten gegründet hat. Der Sohn des les bei uns geradezu herzlich ab. Es gab nie ODM gehalten. Die führende Zeitung Ke-
Schriftstellers Stephan Hermlin („Abend- eine Drohung. nias, „Daily Nation“, machte daraus einen
licht“) wuchs in Pankow auf und lebt SPIEGEL: Und wie erklären Sie sich die Ak- hanebüchenen Artikel, in dem behauptet
abwechselnd in seinem Elternhaus in tion? Sie sind ja im Präsidentschaftswahl- wurde, ich sei dort mit Investoren aufge-
Berlin und in Kenia. Er ist in zweiter Ehe kampf als Anhänger des jetzigen Opposi- treten, ich hätte im Namen der deutschen
mit einer Kenianerin verheiratet. tionsführers Raila Odinga aufgetreten. Bundesregierung gesprochen und zur Re-
Hermlin: Ja, ich bin schon auffällig gewor- volution nach venezolanischem Muster
SPIEGEL: Herr Hermlin, Sie sind zwei Tage den, sicher. Wenn ein Weißer sich pro- aufgerufen, was schon deshalb Schwach-
lang in Kenia wegen des Verdachts, terro- nonciert für Odinga einsetzt, mit dem ich sinn ist, weil es dort keine Revolution ge-
ristische Akte vorzubereiten, festgehalten übrigens bekannt bin, dann kann es schon geben hat. Walter Lindner hat mich jeden-
worden. Was haben Sie verbrochen? sein, dass sich die Behörden fragen, was falls später gebeten, mich in politischen Fra-
Hermlin: Ich weiß es immer noch nicht. Mir macht der da eigentlich? Mein Verhalten gen zurückzuhalten.
hat man bis heute die Vorwürfe nicht er- hat Missverständnisse und falsche Schluss- SPIEGEL: Was treibt Sie dazu, sich un-
klärt. Der Fotograf Uwe Hauth und ich folgerungen provoziert. Ich glaube, die Ak- gebeten in die inneren Angelegenheiten
sind auf dem Flughafen von Nairobi fest- eines fremden Landes einzu-
genommen worden, als wir schon einge- mischen?
checkt hatten und im Duty-free-Bereich Hermlin: Ich habe eine keniani-
waren. Wir haben nie eine Anklage aus- sche Frau, habe mir ein Haus am
gehändigt bekommen. Wir wurden durch- Fuße des Mount Kenya gebaut
sucht, aber die Beamten haben nichts Re- und bin sehr oft in diesem herr-
levantes gefunden, weil es nichts Relevan- lichen Land. Ich reagiere beim
tes gab. Thema Kenia sehr emotional. In
SPIEGEL: Wie wurde Ihnen die Arrestierung dem Dorf, in dem unser Haus
erklärt? steht, haben meine Frau und ich
Hermlin: Gar nicht. Uns wurden Fragen für Straßenbeleuchtung, Müll-
gestellt. Das aber geschah sehr freundlich. abfuhr, einen Kinderspielplatz
BEN CURTIS / AP

Wenn ich mir jetzt überlege, dass gegen und anderes gesorgt.
uns immerhin der Verdacht auf Terrorver- SPIEGEL: Sind Sie nun ernüchtert?
bindungen bestand, ist diese Freundlich- Hermlin: Ich muss mein Engage-
keit noch erstaunlicher. Im Vergleich dazu, Oppositionsführer Odinga: „Falsche Schlussfolgerungen“ ment in Kenia überdenken. Ich
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Kultur

Musik war nicht automatisch Wider-


standsmusik. Natürlich griff der „Völkische
Beobachter“ den amerikanischen Swing
an – mit Formulierungen wie „das jüdisch-
bolschewistische Klarinettengewinsel von
Benny Goodman“.
SPIEGEL: Klang deutscher Swing anders?
Hermlin: Ja, steif und ein bisschen zickig,
wie das im Jazzjargon heißt. Ich traue mir
zu, nach einer Minute Zuhören sagen zu
können, ob es eine deutsche oder eine ame-
rikanische Aufnahme ist, die gespielt wird.
SPIEGEL: Sind Sie aus nostalgischen Grün-
den oder aus Protest zum Swingmusiker
geworden?
Hermlin: Weder noch. Ich habe mich als klei-
ner Junge in diese Musik verliebt. Es gibt
keinen Moment meiner Kindheit, an den
ich mich erinnern kann, ohne diese Musik.
Wenn mein Vater Jazzmusik auflegte, was
selten genug geschah, kam ich die Treppe
hinunter und hörte aufmerk-sam zu. Das

G. U. HAUTH
begann, als ich drei Jahre alt war. Ich liebe
an dieser Musik und auch am Stil der
Bandleader Hermlin (M.) und sein Swing Dance Orchestra*: „Als Junge in den Jazz verliebt“ dreißiger Jahre diese wunderbare Eleganz.
SPIEGEL: Wie kamen Sie denn mit einer sol-
werde mich auf das Dorf beschränken. Po- Hermlin: Das DDR-System habe ich immer chen Einstellung ausgerechnet zur PDS?
litisch werde ich mich künftig zurückhalten. kritisiert. Ich habe die DDR aber nicht weg- Hermlin: Ich bin 1990 eingetreten, als alle
Ich bin wohl einfach zu weit gegangen. gewollt, ich wollte sie anders. Ich habe 1989 anderen austraten. Ich liege mit einigen
Und: Habe ich Odinga wirklich genützt? im Palast der Republik gespielt, weil ich Dingen, die die heutige Linkspartei ver-
Das ist ja auch nicht sicher. vorhatte, dort etwas zu sagen. Ich habe tritt, quer, besonders hier in Berlin. Zum
SPIEGEL: Jedenfalls ist er nicht Präsident tatsächlich eine pathetische Rede gehalten. Beispiel bin ich vehement gegen die Schlie-
geworden. Dem Sinn nach ging das so: Dies ist kein ßung des Flughafens Tempelhof.
Hermlin: Ich halte das Wahlergebnis nach Tag zum Feiern, sondern einer zum Nach- SPIEGEL: Warum?
wie vor für gefälscht. Ich glaube weiter, denken. Wenn wir morgen nicht mit Re- Hermlin: Weil ich die Fliegerei mag und es
dass Kenia unter einem Präsidenten Odin- formen im Sinne von Gorbatschow begin- deshalb ungern sehe, wenn ein Flughafen
ga ein gerechteres Land geworden wäre. nen, werden wir die DDR verlieren. Von geschlossen wird. Ich habe immer ver-
SPIEGEL: Im Land herrscht Chaos, Hun- den anderen Künstlern, die da aufgetreten sucht, mir eigenständiges Denken zu be-
derte Menschen sind getötet worden, und sind und die sich nach der Wende so kri- wahren, deshalb bin ich für Parteien auch
Sie hielten über Tage die deutsche Bot- tisch über die DDR äußerten, hat übrigens nicht wirklich geeignet. Wenn schon eine
schaft auf Trab. Haben Sie kein schlechtes an jenem Abend niemand etwas gesagt. Partei, kann es für mich nur die Linkspar-
Gewissen? SPIEGEL: Wie haben die Regierenden auf tei sein, weil sie die einzige Partei ist, die
Hermlin: Doch natürlich, aber ich habe mich Ihren Vorstoß reagiert? noch Fragen aufwirft.
noch nie so gefreut, die deutsche Flagge zu Hermlin: Die hatten in den Tagen anderes SPIEGEL: Sie sind eine schwer zu verorten-
sehen, wie in jenem Augenblick, als Lind- zu tun, als einer kleinen Swingband die de Persönlichkeit: Sie machen auf eigene
ner mit dem Botschafts-Mercedes und Spielerlaubnis zu entziehen, die waren ge- Faust Entwicklungspolitik, treten als Dan-
Staatsstander vor dem Polizeigebäude vor- rade dabei, ihr Land zu verlieren. dy auf, arbeiten in der Linkspartei und
fuhr. Das war ein rührender Moment. SPIEGEL: Wie politisch ist Swingmusik? machen Swingmusik. Eine exzentrische
Plötzlich wusste ich, wo ich zu Hause bin. Hermlin: Sie hat weder etwas mit Kapita- Mischung.
SPIEGEL: Welches Deutschland hatten Sie lismus noch mit Sozialismus zu tun. Swing Hermlin: Ich sehe mich nicht als Exzentri-
da vor Augen? Sie sind in der DDR aufge- ist Unterhaltungsmusik, die in den frühen ker. Ich bin ein politisch interessierter Jazz-
wachsen. dreißiger Jahren in den USA entstanden musiker, der vielleicht zu einer gewissen
Hermlin: In dem Moment war es das ist. Sie ist natürlich im Zweiten Weltkrieg Extravaganz neigt. Mir war immer gleich,
Deutschland der Freiheit und der Demo- von beiden Seiten für propagandistische was andere über mich denken. Ich versu-
kratie. Kenia hat allerdings auf diesem Ge- Zwecke verwendet worden. Die Amis hat- che, nichts zu tun, wofür ich mich schämen
biet, glaube ich, in den letzten Jahren Fort- ten Glenn Miller, und in Deutschland gab müsste. Ich werde manchmal unwirsch, das
schritte gemacht. Als ehemaliger DDR- es Charlie and his Orchestra, eine Swing- gefällt mir nicht an mir. Aber ich kann
Bürger kann ich das einschätzen. Wenn band von Goebbels’ Gnaden. mich inzwischen auch für verbale Attacken
die Stasi mich unter Terrorverdacht ver- SPIEGEL: Aber die Nazis haben doch die entschuldigen.
haftet hätte, wäre ich nicht in zwei Tagen sogenannte Swingjugend verfolgt. SPIEGEL: Woher kommt die Aggression?
rausgekommen, und ich wäre mit Sicher- Hermlin: Schon, diese jungen Leute moch- Hermlin: Vielleicht daher, dass ich viele Jah-
heit anders behandelt worden. ten ja die HJ nicht, trugen das Haar lang re hindurch ein Außenseiter war. Schon in
SPIEGEL: Immerhin haben Sie in der DDR und schwärmten für amerikanische Musik. der Schule. Als Sohn eines Schriftstellers
ganz gut gelebt. Ihr Vater war ein privile- Etliche von ihnen sind im KZ gelandet. war ich natürlich Neid ausgesetzt. Wir
gierter Schriftsteller, und Sie haben sogar Aber es gab eben auch quasioffizielle machten zum Beispiel im Westen Urlaub,
noch am 40. Jahrestag der Staatsgründung Swingbands. Und selbst in Ufa-Filmen die anderen nicht. Ich laufe aber nieman-
im Palast der Republik ein Konzert mit finden sich Anklänge an den Swing. Diese dem hinterher. Da blieb mir nur, mich ab-
Ihrer Band gegeben. Da war das System zusetzen. Im Habitus und rhetorisch.
schon aus den Fugen. * In New York, um 2002. Interview: Joachim Kronsbein

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 139
Kultur

Die „Schluss-Strich-Debatte“
Ein SPIEGEL-Gespräch mit Saul Friedländer, ner Meinung nach Auschwitz als „Moralkeu- hatte mit diesem Buch seiner in Auschwitz
dem Friedenspreisträger des Jahres 2007, le“ im politischen Diskurs missbrauchten. ermordeten Großmutter ein literarisches
hat den Schriftsteller Martin Walser, 80, pro- Walsers Rede wurde in der Paulskirche noch Denkmal gesetzt. Walser lobte den „histori-
voziert. Es erschien wenige Tage vor der mit Standing Ovations quittiert, kurz darauf schen Rang“ und die „vollkommene Glaub-
Preisverleihung (SPIEGEL 41/2007). Darin aber erhob sich eine heftige Debatte über würdigkeit“ der Dokumentation; sein Fazit:
hatten die Redakteure Martin Doerry, 52, seinen Umgang mit der deutschen Vergan- „Ich habe noch nie von einem Buch gesagt,
und Klaus Wiegrefe, 42, gesagt, Walser ste- genheit. Er selbst lieferte seinen Kritikern es gehöre in die Schule, hier muss ich das
he für jene, „die einen Schlussstrich fordern, weitere Anlässe zur Empörung, so in dem sagen.“ Dennoch blieb an Walser der Makel
ein Ende der Auseinandersetzung mit dem Roman „Tod eines Kritikers“ (2002), in dem des historisch Unsensiblen haften, der
Holocaust“. Zur Begründung verwiesen sie sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zum Holocaust keine klare Haltung zeigt. Der
auf die umstrittene Paulskirchen-Rede des antisemitisch karikiert sehen konnte. Wenig Schriftsteller leidet darunter, sieht sich
Autors aus dem Jahr 1998. Walser hatte da- später allerdings, im August 2002, veröffent- missverstanden. Und so protestierte er auch
mals ebenfalls den Friedenspreis erhalten lichte Walser eine Rezension in der „Süd- schon kurz nach der Veröffentlichung des
und in seiner Dankesrede die „Dauerpräsen- deutschen Zeitung“, die in der Buchbranche Friedländer-Gesprächs gegen die darin vor-
tation unserer Schande“ in den Medien be- als vorsichtige Korrektur gewertet wurde: In genommene Einordnung seiner Person in die
klagt. „Von den schlimmsten Filmsequenzen einem umfangreichen Text stellte der Phalanx der „Schluss-Strich-Macher“, und
aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt Schriftsteller die Briefbiografie „,Mein ver- zwar mit einem handgeschriebenen Brief an
schon zwanzigmal weggeschaut“, gestand er wundetes Herz‘. Das Leben der Lilli Jahn Doerry. Daraus ergab sich ein Briefwechsel,
und attackierte jene Intellektuellen, die sei- 1900 – 1944“ vor. SPIEGEL-Redakteur Doerry der hier dokumentiert wird.

Friedenspreisträger Walser in der


Frankfurter Paulskirche (1998)

DPA

Wegschauen oder Hinschauen


E i n B r i e f w e c h s e l m i t M a r t i n Wa l s e r ü b e r d e n U m g a n g m i t d e m H o l o c a u s t

Sehr geehrter Herr Doerry, 22. Oktober 2007 sehen davon, meine Aufsätze „Unser Auschwitz“ und „Auschwitz
und kein Ende“ könnten Ihnen dem Titel nach bekannt sein.
wenn nicht Ihr Name unter dem „Spiegel“-Text stünde, der mich Und in diesem September ist der 2. Band meiner Tagebücher er-
unter die Schluss-Strich-Macher schiebt, hätte ich den schienen, unter meinem Namen könnten Sie darin über Auschwitz
Beitrag bzw. diese Stelle für eine der fahrlässig gedankenlosen mehr lesen als irgendwo anders in diesem Herbst.
Frechheiten gehalten, die eben vorkommen. Aber dass Sie Ich trage das alles vor, trage es Ihnen vor, weil es mich irre ma-
namentlich zeichnen, ich sei ein Schluss-Strich-Macher, geht mir chen könnte an Verschiedenem, wenn ich lesen muss, was Sie da
nach. Ich habe in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben über unterzeichnet haben.
„Mein verwundetes Herz“: „Ich habe noch nie von einem Buch Mit freundlichem Gruß,
gesagt, es gehöre in die Schule, hier muss ich das sagen.“ Abge- Martin Walser.
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Lieber Herr Walser, Hamburg, 7. November 2007 wirklich vorgestellt? Oder hat Ihr inneres Auge auch dort weg-
geschaut?
vielen Dank für Ihren Brief vom 22. Oktober. Ich muss Ihnen Lieber Herr Walser, wir kennen uns eigentlich nicht gut
gestehen, dass ich mich fast ein wenig über Ihren Widerspruch genug, um so persönliche Briefe zu wechseln. Aber Ihr Brief hat
gefreut habe. Vielleicht lässt sich nun etwas zwischen uns mir dazu Mut gemacht.
Stehendes ausräumen, was mich schon seit Jahren umtreibt. Mit freundlichen Grüßen,
Tatsächlich habe ich mich im August 2002 sehr über Ihre Ihr Martin Doerry
Rezension meines Buches gefreut. Ihr Lob kam von Herzen und
hat auch sicher viele Leser überzeugt. Zugleich allerdings habe ich
mich damals gefragt: Wie kann es sein, dass dieser Martin Wal- Lieber Herr Doerry, 10. Dezember 2007
ser, der in seiner Paulskirchen-Rede die „Dauerpräsentation un-
serer Schande“ in den Medien beklagt hat, nun, da ein weiteres Ihr Brief wird eine Last. Sie wählen die Zitate als Satzfragmente so
Buch ebendiese Schande anprangert, so euphorisch reagiert? Wie aus, dass bewiesen wird, was Sie längst wissen. Sie lassen weg:
passt das zusammen, dass jemand bekennt, er könne diese – an- „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch
geblich – tägliche Konfrontation mit den schrecklichen Bildern des zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von
Holocaust nicht mehr ertragen, und zugleich die Geschichte einer Auschwitz herum.“ Sie setzen erst ein damit, dass ich mich gegen
Mutter, die von den Nazis drangsaliert und ermordet wird, so die „Dauerpräsentation unserer Schande“ wehre, „etwas in mir“
ohne jede Einschränkung lobt? wehrt sich. So kommen Sie zum „Wegschauen“.
In Ihrer Paulskirchen-Rede haben Sie etwas gesagt, was viele Aber schon am Anfang der Rede sage ich, dass ich „habe ler-
Menschen zutiefst verletzt hat. Sie haben nicht nur behauptet, der nen müssen, wegzuschauen“, „wenn mir der Bildschirm die Welt
Holocaust werde uns „jeden Tag in den Medien … vorgehalten“, als eine unerträgliche vorführt“. Das heißt doch, dass ich nicht zu-
sondern auch noch bekannt, dass Sie „bestimmt schon zwan- schauen kann, wenn eine Mutter ihr totes Kind der Kamera hin-
zigmal weggeschaut“ hätten, wenn wieder die „schlimmsten hält u.s.w. Und die viel schlimmeren Bilder aus Auschwitz ertra-
Filmsequenzen aus Konzentrationslagern“
gezeigt würden.
Zum Wegschauen bekennen Sie sich
im weiteren Verlauf der Rede noch mehr-
mals. Ich hingegen bin der Überzeugung,
dass ein deutscher Intellektueller nicht
gut beraten ist, wenn er bei diesem Thema
wegschaut.
Ich weiß, dass diese Bilder schmerzen,
aber mit welchem vernünftigen Argument
wollen Sie sich diesen Schmerz ersparen?
Durch Verdrängung wird niemand aus der
Geschichte klug – wenn denn überhaupt je-
mand aus der Geschichte lernt. Mit Ihrem
Plädoyer für das Wegschauen leisten Sie all
jenen Schützenhilfe, die bei diesem Thema
den berühmten Schlussstrich ziehen wollen.
Selbstverständlich beklagen Sie zu Recht,
dass der Begriff Auschwitz in der politischen
Debatte häufig missbraucht wird, um An-
dersdenkende zum Schweigen zu bringen.
Generell aber kann ich die von Ihnen be-
klagte „Dauerpräsentation unserer Schan-
de“ nicht erkennen. Im Gegenteil: Wenn Sie
die alltäglich über uns kommende Informa-
tionsflut betrachten, so spielt der Holocaust
AKG
in all dem eine Nebenrolle. Weite Kreise der
Bevölkerung teilen ohnehin Umfragen zu- KZ-Opfer in Bergen-Belsen (1945): Schmerzende Bilder – jedem Deutschen zuzumuten
folge die Meinung, dass die NS-Zeit längst
ausreichend häufig thematisiert worden sei.
Vielleicht erklärt sich Ihr Eindruck einer „Dauerpräsentation“ ge ich noch viel weniger. Dass Sie dann sagen: „Mit Ihrem Plä-
mit einer sehr persönlichen, intensiven Wahrnehmung, zu der Ihre doyer für das Wegschauen leisten Sie all jenen Schützenhilfe, die
Generation neigt, also eine Generation, die das NS-Regime noch bei diesem Thema den berühmten Schlussstrich ziehen wollen.“
bewusst miterlebt hat. Und weil Sie mich dafür in Gebrauch genommen haben, habe ich
Und darf ich eine weitere Vermutung äußern? Vielleicht Ihnen geschrieben. Bitte, lesen Sie Ihren Satz noch einmal! Ich
erklärt sich auch Ihr positives Urteil über „Mein verwunde- habe gestanden, was ich nicht ertrage auf dem Bildschirm, ich
tes Herz“ mit dem Umstand, dass der Holocaust in diesem Buch persönlich! Und Sie machen daraus ein Plädoyer! Und Schluss-
nur zwischen den Zeilen vorkommt. Dort finden Sie die sicher be- strich! Da hätte es sich gehört, daran zu denken, was ich, seit ich
wegende Geschichte einer Mutter, die aus dem Kreis ihrer Kinder im Auschwitz-Prozess war, darüber geschrieben habe. Ich zähle
fortgerissen wird. Über das, was in Auschwitz mit ihr geschehen es nicht auf.
ist, lässt sich jedoch wenig in Erfahrung bringen. Das Einzige, was Ich lege Ihnen eine Fotokopie bei, 1 Seite des gerade publi-
meine Mutter und ihre Geschwister am Ende erhalten haben, ist zierten Tagebuchs, und schlage vor, Sie blättern in diesem Tage-
eine Todesurkunde aus Auschwitz-Birkenau. buch einmal die Seiten 99 bis 105 durch und noch die Seiten
Ich spreche Ihnen selbstverständlich nicht die Fähigkeit zur 133 bis 136. Dann müssten Sie – ich kann nicht aufhören zu
Vorstellung davon ab, was mit meiner Großmutter im Ver- hoffen – die schwerste Stelle in Ihrem Brief noch einmal be-
nichtungslager geschehen ist. Aber haben Sie sich das auch denken: dass ich mir die Tatsächlichkeit des Todes Ihrer Groß-
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S. MUCHA / AKG
Ehemaliges KZ Auschwitz (1945): „Kein zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit herum“

mutter vielleicht erspart hätte: „… hat Ihr inneres Auge auch komische Witwe, denkt man. Wahrscheinlich ist ihr Mann vor ein-
dort weggeschaut?“ einhalb Monaten gestorben, denkt man, sie kommt noch nicht
Lieber Herr Doerry, ich könnte protestieren gegen diese Frage, darüber hinweg. Alles ist noch zu frisch. Da man ihren Mann nicht
aber es ist nicht nötig, es genügt, Sie auf die Tagebuchseiten hin- gekannt hat und sie auch kaum kennt, empfindet man die hart-
zuweisen. So bin ich damals damit umgegangen. Und was näckigen Assoziationen als ein bisschen lästig. Am anderen Mor-
ich seitdem darüber geschrieben habe, könnte Ihnen Ihre Frage als, gen erfährt man: Der Mann wurde in Auschwitz ermordet.
gestatten Sie, eine Art Anmaßung vorkommen lassen. Ich weiß, so
weit wird es nicht kommen. Protestieren darf ich (wirkungslos) ge-
gen das andauernde Zitiertwerden mit ganz genau 4 Schlagwör- Lieber Herr Walser, Hamburg, 19. Dezember 2007
tern. In aller Regel nehme ich das hin als typische Medienpraxis
(denn die, die mich mit diesen Schlagwörtern bewerfen, kennen herzlichen Dank für Ihren Brief vom 10. Dezember, für den ich
nichts von mir), Ihnen musste ich aber schreiben. Auch wir- Ihnen noch eine Antwort schuldig bin.
kungslos, wie ich an Ihren 2 Fragen gegen Ende Ihres Briefes Mein letzter Brief, so schreiben Sie, sei Ihnen „eine Last“
sehe. Diese 2 Fragen, lieber Herr Doerry, enthalten ja die Antwort, geworden. Das war eigentlich nicht mein Ziel, aber vielleicht
die Sie mir, so fragend, unterstellen. Und diese Unterstellung er- war es unumgänglich, denn, zugegeben, er enthielt Vorwürfe,
trage ich nicht. Vorhaltungen, die sich nicht mit leichter Hand abtun lassen.
Mit freundlichen Grüßen, Zunächst: Ich behaupte nirgends, dass Sie Auschwitz geleugnet
Ihr Martin Walser. und das Ausmaß des nationalsozialistischen Völkermords ver-
harmlost hätten. Sicher sind Ihnen solche Unterstellungen schon
begegnet. Von mir würden Sie so etwas nie hören. Sie haben
Aus Martin Walsers Tagebuch: 16.4.1963, Brüssel. tatsächlich schon in den sechziger Jahren in Ihren Aufsätzen und
Tagebüchern unmissverständlich über Auschwitz geschrieben.
Lesung. Hotel Astoria. Mir geht es um etwas anderes, nämlich um unsere Bereitschaft
Am Empfang die Fürstin von Liechtenstein. zur Wahrnehmung des Holocaust, um eine Sensibilität, die uns erst
Professor Plart, Dr. Plinke, Jean Améry, Frau Morgenstern, zu politischen Menschen macht. Sie berufen sich, so verstehe ich
Frau Kinkin, Rosemarie Lederer, Familie Levy. Pater Boone fehlt, Ihren letzten Brief jedenfalls, auf ebendiese besondere Sensibilität,
und das tut weh. Frau Morgenstern spricht immer wieder von die es Ihnen unmöglich mache, die Bilder des Schreckens in der
ihrem Mann, alles erinnert sie an ihn. Pfeife: Am Volant rauchte heute üblichen Häufung zu ertragen. Und Sie haben recht, wenn
er immer so ein kurzes Pfeifchen. Auto: Im Taxi fuhr er immer Sie mir vorhalten, dass meine Formulierung, Sie hätten in der
mit, bremste mit beiden Beinen. Ich sagte immer: Lass doch, das Paulskirche ein „Plädoyer für das Wegschauen“ gehalten, so nicht
geht dich doch nichts an. Er konnte es nicht lassen. Bücher: Er hat- zutreffend ist. In Wahrheit haben Sie nur für sich selbst das Recht
te 5000 Bände. Ließ Besucher nicht an die Regale. Sagte immer: beansprucht, wegschauen zu dürfen – eben weil Ihnen diese Bil-
An den Wäscheschrank lässt man sie doch auch nicht. Zigaretten: der so zusetzen. Das ist ein Unterschied.
Wenn ich Zigaretten in der Handtasche hatte, rauchte er keine Nun kann und darf jeder Mensch wahrnehmen oder verdrän-
mehr, die riechen alle nach deinem Parfum, sagte er immer. Eine gen, was er will. Aber sollte einer der bedeutendsten Schriftstel-
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Kultur

ler dieses Landes, ein öffentlicher Mensch, ein Mann des Wortes Thema oder ob es anderen ähnlich gehe. Ich will also niemanden
und der klugen Reflexion, sollte dieser Mensch von diesem Recht überzeugen oder belehren. Die Zuhörer oder Leser können ihre
in diesem Zusammenhang Gebrauch machen? Sollte er wirklich eigenen Erfahrungen mit diesem Thema an meinem Beispiel
bekennen, dass er die „Dauerpräsentation unserer Schande“ in überprüfen.
unseren Medien nicht mehr ertragen kann? Meine Hoffnung ist natürlich immer, es gehe mit diesem The-
Und das auch noch an einem zentralen Gedächtnisort wie der ma nicht nur mir so, sondern anderen auch. Das heißt, ich hoffe
Frankfurter Paulskirche, in der von jedem Redner erwartet wer- auf eine Art Gemeinsamkeit. Und das heißt: Ich will nie provo-
den darf, dass er sich der politischen Tragweite seiner Worte bei zieren, nie Anstoß erregen. Das heißt aber auch: Ich kann in der
jeder Silbe bewusst ist? Muss er nicht doch damit rechnen, dass Paulskirche nicht anders sprechen als im Literaturhaus in Stuttgart
ihm viele in seiner Abwehr gegen die – wie ich finde: notwendi- oder im Kaisersaal in Erfurt. Meine durch Erfahrung genährte
gen – emotionalen Zumutungen der deutschen Geschichte folgen Hoffnung: Das Publikum – und es gibt bei uns ein Publikum auch
werden, und zwar, weil diese Menschen nicht wie er mit einer be- für das Anspruchsvollste – spürt den Anspruch, erlebt die Nicht-
sonderen Empfindsamkeit ausgestattet sind, sondern mit Gleich- adressiertheit meines Textes, wird Zeuge eines eher tendenzlosen
gültigkeit, mit Kaltherzigkeit? Bekenntnisses. Und das Publikum spürt, dass ihm nichts weisge-
Vielleicht ist meine Vorstellung etwas naiv, aber für mich hat ein macht werden soll.
prominenter Intellektueller auch die Funktion eines Vorbilds – Ich habe also in der Paulskirche in einer persönlichen Sprache
und dieser Rolle sind Sie, so meine ich, mit Ihrer Rede nicht geredet über ein Thema, über das sonst in öffentlichen Sprachen
wirklich gerecht geworden. geredet und geschrieben wird. Die öffentlichen Sprachen leben
Lieber Martin Walser, ich möchte Ihnen nochmals für Ihre bei- vom Argument, die persönliche Sprache von der Erfahrung, und
den Briefe danken und mich dafür entschuldigen, wenn ich Ihnen sei es die Selbsterfahrung.
mit einer unbedachten Formulierung zu nahe getreten sein sollte. Was ich so im Zuhörer oder Leser allenfalls wecke, ist die
Erfahrung, dass es ihm oder ihr ähnlich gehe. Das könnte dazu
Mit den besten Grüßen und Wünschen führen, dass jeder und jede mit diesem Thema jetzt persönlicher
für die Festtage und das neue Jahr, umgehen kann als vorher. Und in der Paulskirche hat das Publi-
Ihr Martin Doerry kum, das schlechthin das Gegenteil von dem ist, was man Masse
nennt, hat dieses Publikum deutlich genug applaudiert. Und ich
habe nichts anderes getan als ausgedrückt, dass ich, wenn ich an
Lieber Herr Doerry, 1. Januar 2008 die deutsche Vergangenheit denke, dem entkommen will, was
Salomon Korn lange vor mir den „Jargon der Betroffenheit“ ge-
für Ihren letzten Brief kann ich Ihnen danken. Vor allem, weil Sie nannt hat.
dann sozusagen instinktsicher ins Innerste meiner Formulier- Zum Schluss darf ich anmerken, dass dieses Rollenverständnis
Existenz kommen. Wenn auch mit Hilfe eines soliden Vorwurfs, in der „Sonntagsrede“ auch Thema war. Da hieß es: „ … je be-
der heißt: Ich persönlich, weil ich eben als Schriftsteller so und kannter ein Schriftsteller wird, desto mehr gilt er als zuständig für
so empfindlich bin, dürfe das und das … Zuständig ist
vielleicht von den im Fern- er aber nur für sich selbst,
sehen gelieferten Greueln und auch das nur, wenn er
wegschauen, aber durfte ich, sich das nicht ausreden lässt;
fragen Sie, als „öffentlicher und gerade dadurch, dass er
Mensch“, als „Mann des nur für sich selber zuständig
Wortes und der klugen Re- ist, kann er brauchbar wer-
flexion“ an einem „zentra- den auch für andere … die-
MONIKA ZUCHT/DER SPIEGEL (L.); GABY GERSTER / LAIF (R.)

len Gedächtnisort wie der se Brauchbarkeit kann aber


Paulskirche“ von diesem nicht angestrebt und nicht
Recht Gebrauch machen? Als bedient werden … Gibt es
„prominenter Intellektueller“ außer der literarischen
sei ich der „Funktion“, ein Sprache noch eine, die mir
Vorbild zu sein, nicht gerecht nichts verkaufen will? Ich
geworden. kenne keine … Es soll ein-
Das betrifft nun wirklich fach gehofft werden dürfen,
das Innerste des Schreibens. man könne einem anderen
Ich selber bin vorbildlos auf- nicht nur dadurch entspre-
gewachsen. Mein Vater ist zu chen, dass man sein Wissen
früh gestorben. Ich habe vermehrt, seinen Stand-
dann Franz Kafka fünf Jahre Walser-Kritiker Friedländer, Reich-Ranicki: Kein Schlussstrich punkt stärkt, sondern ...
lang als den Autor empfun- auch dadurch, dass man sein
den, bei dem ich am liebsten Dasein streift auf eine nicht
gelernt habe. Nach Kafka noch zwei Jahre lang Marcel Proust. kalkulierbare, aber vielleicht erlebbare Art.“ Damit bin ich prak-
Beide könnte ich nicht Vorbilder nennen, weil ich nicht sein woll- tisch bei einem meiner Hausheiligen gelandet, bei Kierkegaard.
te wie sie, aber ich habe gespürt, ich kann nirgends so viel lernen Der war zehn Jahre lang mein Meister.
wie bei diesen zwei großen Schriftstellern. Es muss mir natürlich leid tun, dass ich die mir von Ihnen so
Ich selber wäre für die Vorbild-Rolle immer und überall die un- großmütig angebotene Rolle nicht spielen kann. Ich verstehe,
möglichste Besetzung. Wenn ich öffentlich spreche, gleichgültig, dass Sie, in einem Magazin arbeitend, das sich andauernd bewusst
wo und worüber, dann habe ich einen Text ausgearbeitet, der machen muss, was es will, welche Funktion es haben soll, dass
sagen soll, wie es mir geht mit dem Thema, über das ich spreche. Sie dieses Selbstverständnis auch dem Schriftsteller anbieten.
Nichts als das: Was sind meine Erfahrungen mit diesem Thema? Ich versteh’s und sehe, dass ich damit nicht dienen kann. Dafür,
Was empfinde ich bei diesem Thema? Wie geht es mir, wenn die- dass Sie mich mein Selbstverständnis andeuten ließen, danke
ses Thema dran ist? Warum spreche ich dann in aller Öffentlich- ich Ihnen.
keit über nichts als über mein Verhältnis zum gewählten Thema? Und grüße herzlich,
Weil ich erfahren will, ob es nur mir allein so gehe mit diesem Ihr Martin Walser.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 143
Kultur

Schauspielerin Roberts*
Rasantes Tempo, fröhlicher Sarkasmus

die. „Der Krieg des Charlie Wilson“ zeigt


– in rasantem Tempo und mit fröhlichem
Sarkasmus – Weihnachtsfeiern bei der
CIA, US-Politiker auf Weltbeglückungs-
mission und dass Pakistans Präsident sei-
nen Gästen keinen Whisky servieren lässt
(aber fragen kann man ihn ja mal, denkt
Charlie Wilson, gespielt von Tom Hanks).
Außerdem dürfte „Der Krieg des Charlie
Wilson“ wohl der erste Film über afghani-
sche Widerstandskämpfer sein, in dem Ju-
lia Roberts im Bikini auftritt.
Eine Farce also? „Nein“, sagt Mike Ni-
chols, der Regisseur des Films, „es ist ein-
fach eine Geschichte über einen Typen, der
die Welt veränderte. Ich bin begeistert, ge-
rade jetzt zu zeigen, dass das möglich ist.“
Nichols, 76, dunkle Hornbrille, leichter
Sonnenbrand auf der Nase, sitzt entspannt
im turnhallengroßen Kaminzimmer des
Hotel Adlon in Berlin – Interviews mit

UNIVERSAL STUDIOS
Journalisten zum Filmstart in Deutschland
(7. Februar). Nur die Kollegen vom Fern-
sehen müssen leider draußen bleiben, denn
deren Branche kennt er zu gut: Nichols ist
(in vierter Ehe) seit 20 Jahren verheiratet
mit der Moderatorin Diane Sawyer, der
KINO
Sabine Christiansen Amerikas.

Die afghanische Komödie


Die Reise nach Berlin ist eine Art Heim-
kehr für den Film- und Theaterveteranen,
der seit über 40 Jahren in Hollywood und
am New Yorker Broadway Erfolge feiert.
Vierzig Jahre nach der „Reifeprüfung“ scheint Regisseur Mike Nichols hat Klassiker inszeniert wie „Wer
hat Angst vor Virginia Woolf?“ (1966) mit
Nichols immer noch gut in Form: Die Polit-Satire „Der Krieg Elizabeth Taylor und Richard Burton oder
des Charlie Wilson“ ist ein Höhepunkt seiner erstaunlichen Karriere. „Die Reifeprüfung“ (1967) mit Dustin Hoff-
man. Zuletzt drehte er, mit Julia Roberts

P
olitiker sind immer im Dienst, aber Politik ist ein kompliziertes Geschäft und und Jude Law, das Beziehungsdrama
manche Termine erträgt der Kon- Wilsons Geschichte fast zu schön, um wahr „Hautnah“ (2004); am Broadway verant-
gressabgeordnete Charles Wilson nur zu sein. wortete er das Monty-Python-Musical
mit einem Glas Whisky in der Hand und Aber sie ist wahr, und deshalb haben „Spamalot“.
einer Prise Kokain in Reichweite. Charles jetzt einige von Hollywoods besten Leuten Doch Mike Nichols kann nicht nur im
Wilson, genannt Charlie, sitzt im Whirl- Wilsons erstaunliches Wirken in der einzig Showgeschäft als Überlebenskünstler gel-
pool eines Luxushotels, hinter dem Fenster möglichen Form rekonstruiert: als Komö- ten. Denn geboren wurde er, damals hieß
leuchten die Lichter von Las Vegas bei er noch Michael Igor Pesch-
Nacht, und neben ihm im Pool räkelt sich kowsky, im Jahr 1931 in Ber-
eine junge Frau, die schon von Berufs lin. Die Familie – Vater Rus-
wegen fast nichts anhat. Sie war mal Play- se, Mutter Deutsche – lebte
mate, jetzt will sie Karriere machen als am Olivaer Platz in Char-
Fernsehschauspielerin. Ob Charlie ihr nicht lottenburg. Der kleine Mi-
dabei helfen könne? chael ging bald auf eine
Ganz ausgeschlossen ist das nicht, denn „Judenschule“ – eines der
Charlie Wilson ist ein versierter Strippen- wenigen Wörter, die Nichols
zieher, in Whirlpools, in Washington, in auch heute noch auf Deutsch
seiner Heimat Texas, überall. Wilson hat beherrscht.
Freunde beim Geheimdienst CIA, er kennt Trotzdem hatte er offen-
Waffenhändler in Israel, Diktatoren in Pa- bar, gemessen an den Um-
kistan und die Schwäche ägyptischer Ver- ständen, eine glückliche
teidigungsminister für Bauchtänzerinnen. Kindheit. Die sogenann-
Mit diesem Wissen sowie einem Ge- te „Reichskristallnacht“?
flecht aus Geld und Gefälligkeiten hat Nichols zuckt mit den
UNIVERSAL STUDIOS

Wilson in den achtziger Jahren Amerikas Schultern, den Begriff kennt


damaligen Erzfeind bekämpft, die Sowjet-
union. Nebenbei hat er einen heutigen * Oben: Szene aus „Der Krieg des
Erzfeind der USA aufgerüstet, nämlich is- Charlie Wilson“; unten: mit Tom
lamistische Extremisten in Afghanistan. Filmemacher Nichols*: Ein Berliner in Hollywood Hanks bei den Dreharbeiten.

144 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
er nicht. Aber dass damals etwas Unge- „Ich hätte in meinem Regiestuhl sitzen und sorgte der echte Charles Wilson (heute 74,
heuerliches vor sich ging, das habe er ge- den Statisten zurufen müssen: ,Alle Juden er schied 1996 aus dem Repräsentanten-
spürt als Kind, „denn alle haben darüber nach rechts, alle anderen nach links‘ – das haus aus) in den achtziger Jahren dafür,
gesprochen“. kann ich nicht.“ dass die US-Regierung ihr Budget für Waf-
Letztlich, sagt Nichols, „rettete der Hit- Nichols’ Revanche fiel subtiler aus: Er fen und Geheimoperationen in Afghani-
ler-Stalin-Pakt meiner Familie und mir das parodierte seine Kollegin Leni Riefen- stan von fünf Millionen auf eine Milliarde
Leben“. Mit russischen Ausweispapieren stahl. Die Fahrt eines US-Offiziers im Dollar erhöhte.
gelangte er im Frühjahr 1939 („Es war, im offenen Wagen, eine Szene seiner Kriegs- Auftritt Philip Seymour Hoffman, 40,
Nachhinein betrachtet, ziemlich knapp“) satire „Catch 22“ von 1970, ähnelt verblüf- als zynisch-bulliger Geheimagent Gust
an Bord des Flüchtlingsdampfers „Bre- fend einer Riefenstahl-Dokumentation, die Avrakotos (auch diesen Herrn, mittlerwei-
men“. Im Hafen musste er, wie alle Anwe- Hitlers Triumphtour durch Berlin zeigt. le verstorben, gab es wirklich): Anfangs
senden, ein letztes Mal strammstehen, „Die Nazis hatten allerdings mehr Statis- demoliert er, frustriert über eine verwei-
während eine Hitler-Rede via Lautspre- ten als wir.“ gerte Beförderung, das Büro seines Chefs
cher übertragen wurde. Ein paar Tage spä- Es ist dieses seltene Talent, schwere Din- in der CIA-Zentrale und wird zur Afgha-
ter kam Nichols in New York an, ein paar ge ganz leicht erscheinen zu lassen und nistan-Abteilung strafversetzt. Dort aller-
Jahre später wurde er eingebürgert. gerade dadurch auf den Punkt zu bringen, dings leistet er gute Arbeit: Als Wilsons
„Ich liebte Amerika auf Anhieb“, sagt das Nichols nun auch beim „Krieg des Mann fürs Grobe organisiert er die tragba-
Nichols, wenn auch anfangs eher aus prak- Charlie Wilson“ zugutekommt. Unterstützt ren Luftabwehrraketen vom Typ Stinger,
tischen Gründen. „Ich mochte Coca-Cola durch den genreerfahrenen Drehbuchau- mit denen die afghanischen Glaubenskrie-
und Reis-Crispies. Wo ich herkam, mach- tor Aaron Sorkin, Erfinder der Fernsehse- ger später die russischen Hubschrauber ab-
te das Essen kein Geräusch, wenn man rie „The West Wing“, komprimiert Nichols schießen – der Anfang vom Ende der mi-
draufbiss.“ die amerikanische Außenpolitik der acht- litärischen Supermacht Sowjetunion.
Es folgte die Blitzkarriere eines Außen- ziger Jahre auf flotte hundert Minuten Film Dass diese Waffen auch den Aufstieg is-
seiters – „der perfekte Standpunkt für ei- und unzählige Bonmots, verteilt auf drei lamistischer Kämpfer zur Bedrohung für
nen Künstler“. Nichols lernte Englisch, so Oscar-gekrönte Hauptdarsteller. den gesamten Weltfrieden befördern soll-
gut, dass er mit Mitte 20 eine landesweit Julia Roberts, 40, spielt – mit blonder ten, eine Art Vorspiel für die Anschläge
berühmte Kabarettgruppe leitete. Mit An- Perücke, die sie wie eine Drag-Queen aus- vom 11. September 2001 – das konnten
fang 30 war Nichols, mittlerweile Regis- sehen lässt – die reiche Texanerin Joanne Charlie Wilson und seine Helfer damals
seur von Broadway-Hits wie „Barfuß im Herring, eine engagierte Kommunisten- natürlich nicht ahnen. Oder doch?

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Nichols-Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, „Die Reifeprüfung“*: „Manchmal löst man etwas aus, ohne es zu ahnen“

Park“, Millionär und zum zweiten Mal ge- fresserin mit kurzem Draht nach Washing- Nichols serviert diese böse Pointe der
schieden. Mit „Die Reifeprüfung“, der ihm ton. Herring hat eine Mission: die Sowjets, Geschichte erst kurz vor dem Abspann, und
einen Oscar einbrachte, lieferte er die epo- die 1979 nach Afghanistan einmarschiert natürlich eher beiläufig. Die Russen sind
chale Komödie der 68er-Bewegung und waren, von dort zu vertreiben. Doch die geschlagen, in Berlin ist die Mauer gefal-
zerlegte Hollywoods Heile-Welt-Moral. USA wollen sich anfangs aus dem Kon- len, und die US-Regierung interessiert sich
„Das war nicht geplant“, behauptet flikt in Afghanistan heraushalten, um eine nicht mehr für Afghanistan. Finanzhilfe für
Nichols heute. „Manchmal löst man etwas Eskalation des Kalten Kriegs zu vermei- Schulen? Damit die Kinder lernen, dass die
aus, ohne es zu ahnen – wie ein Schmet- den. „Warum“, fragt Herring, „redet der USA ihnen geholfen haben? Charlie, du
terling, der in Südamerika furzt und damit Kongress nur und unternimmt nichts?“ spinnst wohl, sagen seine Kollegen. Wilson
den USA einen Hurrikan beschert.“ „Aus Tradition, hauptsächlich“, erwidert bekommt einen Orden für seine Verdienste,
Dass auch Stationen aus Nichols’ eige- Charlie Wilson. und das war’s dann – fast jedenfalls.
nem Leben Stoff für einen Film abgeben Tom Hanks, 51, spielt Wilson als jovial- Denn über Wilsons Bürotür in Washing-
würden – über das Genre lässt sich strei- gerissenen Politiker, der – nach einem ton hing, als Erinnerung, noch jahrelang ein
ten –, darauf ist der Regisseur natürlich Besuch in einem Flüchtlingslager – die Geschenk aus Afghanistan: das Abschuss-
schon selbst gekommen. „Anfang der acht- Lobbyarbeit für die afghanischen Wider- rohr der ersten Stinger-Rakete, die seinerzeit
ziger Jahre sollte ich ,Sophies Entschei- standskämpfer übernimmt. Tatsächlich am Hindukusch abgefeuert worden war.
dung‘ inszenieren“, das Holocaust-Drama Es war die einzige Waffe, die die Glau-
mit Meryl Streep, erzählt Nichols. Aber * Links: mit Elizabeth Taylor, Richard Burton (1966); benskrieger je zurückgegeben haben.
nach zwei Wochen Bedenkzeit sagte er ab: rechts: mit Dustin Hoffman (1967). Martin Wolf

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Kultur

Monster mit Biografien


Nahaufnahme: Das Theater in Halberstadt, vergangenes Jahr Opfer
einer Schlägerattacke, führt die Gewaltstudie „Der Kick“ auf.

Z
wei Stunden bevor das Theaterstück tarfilme wie „Black Box BRD“, reist für Erfahrungen mit Gewalt. Wie in Berlin nach
„Der Kick“ in Halberstadt seine Monate nach Potzlow. Zusammen mit sei- der Wende plötzlich immer mehr Jugend-
Premiere feiern wird, steht der Tän- ner Co-Autorin Gesine Schmidt spricht er liche sich bewaffneten, erzählt der Schau-
zer Timo im Foyer des Theaters und sagt, mit Eltern, Freunden und auch mit den Tä- spieler Sebastian Müller. Die Darstellerin
er traue sich nachts immer noch nicht tern selbst. Alle Aussagen sowie Verhör- Susanne Hessel gesteht, dass sie fast auch
wieder auf die Straße. Er sagt auch, dass protokolle und Trauerreden montiert er zu einmal in so eine Sauf- und Gewaltclique
er immer noch in psychiatrischer Behand- einem Theaterstück, an dessen Ende die geraten sei, nicht in Ostdeutschland, son-
lung sei, dass er weiterhin unter Trauma- Täter zwar immer noch Monster sind, aber dern im Odenwald. Sie habe damals „riesi-
ta leide und es nur sehr langsam besser eben auch bemitleidenswerte arme Schwei- ges Glück gehabt“.
werde. Es ist Donnerstagabend vergange- ne, die plötzlich eine Biografie haben. Und Es ist nicht zu übersehen, dass es hier
ner Woche. ein prallvolles „Zornkonto“ (Peter Sloter- alle – Schauspieler, Regisseur, Intendant,
Timo, birkenstockartige Sandalen, die Theaterwelt allgemein – unge-
etwas längere Haare, 22 Jahre alt, heuer ernst meinen: Es muss diese
gehört zu jener inzwischen traurig Verrohung, ob in Halberstadt oder
berühmten Schauspielergruppe des Potzlow, verstanden, gefasst und
Nordharzer Städtebundtheaters, die vernunftsmäßig domestiziert wer-
im Juni des vergangenen Jahres nach den: eine wahnsinnige Anstrengung.
ihrer Premiere der „Rocky Horror Nach der Aufführung, heißt es, sol-
Show“ von offenbar rechtsradikalen le man bitte noch bleiben, dann wür-
jugendlichen Schlägern krankenhaus- de diskutiert. Und das Publikum?
reif geprügelt wurde. Das war gleich Dort sitzen zum Großteil Neunt-
hier um die Ecke, nachts um drei, vor klässler einer Realschule in Werni-
der Musikkneipe „Spucknapf“. Da gerode, 15-jährig, pubertierend –
steht jetzt ein Granitstein, zum Ge- aber gebannt. Die Pädagogin des
denken. Timo wird sich die Premiere Theaters, Frau Grasmeier, hat die
BERTRAM BOELKOW (O.); JAN-PIETER FUHR (U.)

von „Der Kick“, die seine Kollegen Schüler hierher gelotst. Keiner von
gleich aufführen, nicht ansehen. ihnen sieht aus wie ein rechtsradika-
„Ich habe Probe für ein anderes ler Barbar.
Stück“, sagt er, aber es ist ihm an- Echte Gewalttäter, das hatte Autor
zumerken, dass er darüber nicht so Veiel am Nachmittag noch am Tele-
unglücklich ist. Denn „Der Kick“ fon erklärt, erreiche er mit seinem
erzählt auf so eindrückliche wie un- Stück ohnehin nicht. Wohl aber die
erträgliche Weise von vielem, was Umgebung, in der Gewalt gedeiht:
Timo aus seinem Kopf kriegen will. Eltern, die sich ihre Kinder schönre-
Es geht um unfassbare Gewalt, ihre „Kick“-Schauspieler Hessel, Müller: Verrohung verstehen den, Dorfpolizisten, die nichts unter-
Entstehungsbedingungen, um Sprach- nehmen, Freunde, die dichthalten.
armut, Demütigungen und das Wegsehen dijk), auf das alle einzahlen, von dem aber Ein solcher Dichthalter könnte womög-
der Umstehenden. nur die Jugendlichen abheben. lich Franz sein, einer der Schüler aus Wer-
Das Stück untersucht die Ermordung Dass dieses Stück nun knapp drei Jahre nigerode. Er ist mit seiner Mutter hier,
des 16-jährigen Marinus Schöberl, die im nach seiner Uraufführung in Berlin von ei- dummerweise, die ihn nun verpflichtet, mit
Jahr 2002 Entsetzen in Deutschland auslös- nem Theater auf die Bühne gebracht wird, dem Journalisten zu reden. Also: Er sei
te. Die Brüder Marco und Marcel Schön- dessen Ensemblemitglieder selbst jene Fas- nicht rechts, sagt Franz, aber er habe seine
feld, damals 23 und 17 Jahre alt, sowie ein sungslosigkeit erlebt haben, die sich bei „eigene Meinung“ gerade zu Ausländern.
weiterer Kumpel hatten Marinus in Potz- Gewaltopfern einstellt, ist natürlich sym- Die Mutter blickt den Sohn streng an. Er
low, einem Dorf in der Uckermark, eine bolträchtig und führt zu der alten, immer kenne, fährt Franz fort, Leute, die „rechts
Nacht lang geschlagen, ausgezogen, bepin- unbequemen Frage: Was kann Theater, was eingestellt sind“, die auch gern zuschla-
kelt, wieder geschlagen und dabei, wie fast kann Kultur bewirken? Kann das bürgerli- gen, besonders wenn sie getrunken haben.
jeden Abend, gesoffen. Am Ende der che Schauspiel sich rechten Schlägern wir- Das seien trotzdem Freunde.
Nacht zwang der 17-jährige Marcel das kungsvoll in den Weg stellen? Oder be- „Was?“, ruft die Mutter. „Wer?“
Opfer, auf den Rand eines Futtertrogs zu kommt es dabei nur selbst auf die Fresse? Der Sohn flüstert einen Namen.
beißen, dann sprang er ihm, die Springer- Als um kurz nach halb acht die beiden „Ja. Stimmt. Das ist der Sohn meiner
stiefel voran, auf den Schädel. Marinus Schauspieler die Bühne betreten, stellen besten Freundin. Was will man machen?“
stirbt, die drei Täter vergraben ihn in einer sie sich vor, erwähnen den Angriff auf die Dann sagt Franz, dass er versteht, wie es
Jauchegrube. Über ein halbes Jahr wird Kollegen und gestehen, wie sehr ihnen das zu so exzessiver Gewalt wie in Potzlow
seine Leiche nicht gefunden. Veiel-Stück zugesetzt hat. Dann beginnen kommen kann. Oder auch in Halberstadt.
Danach werden die Täter in der Öffent- sie zu spielen, die Rollen der Täter, die der Wenn man getrunken hat, dann passie-
lichkeit als „Monster“ gebrandmarkt , und Freunde, der Eltern. Immer wieder unter- re das. Und wenn man eine solche Wut
Andres Veiel, berühmt durch Dokumen- brechen sie ihr Spiel, berichten von eigenen hat. Philipp Oehmke

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148 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Chronik 19. bis 25. Januar SPIEGEL TV

Der ukrainische 7,5 Prozent. Weltweit MONTAG, 28. 1.


Präsident Wiktor tätigen Anleger Panik- 22.25 – 22.55 UHR SAT.1
Juschtschenko verkäufe.
SPIEGEL TV REPORTAGE
badet anlässlich GAMMELFLEISCH Ermitt-
des Epiphanias- Der fremde Planet –
lungen gegen einen Eine deutsche Schule in Kairo
Festes in Eis- Fleischproduzenten in
wasser. Hier dürfen Mädchen mit Jungen reden, es
Lohne geraten an die herrscht Meinungsfreiheit, man kann Haut
Öffentlichkeit. Vereiter- zeigen und spricht Deutsch. Doch nur die
te Schweineköpfe sol- ägyptische Oberschicht kann sich das
len zu Wurst verarbei- Schulgeld leisten – 150 Euro monatlich.
tet worden sein.
D I E N S TA G , 2 2 . 1 . DIENSTAG, 29. 1.
23.15 – 0.10 UHR VOX
NOKIA Rund 15000 Men-
schen demonstrieren ge- SPIEGEL TV EXTRA
gen die Werksschließung „Verrückt bei klarem Verstand“ –
in Bochum. Bundes- Wenn Zwänge das Leben bestimmen
kanzlerin Angela Merkel Habe ich die Tür auch wirklich abge-
sagt den Mitarbeitern schlossen? Den Herd ausgestellt? Bei rund
Unterstützung zu. zwei Millionen Menschen in Deutschland
WIRTSCHAFT Der US-
lösen die immer wiederkehrenden Zwei-
Notenbankchef Ben fel Höllenqualen aus. SPIEGEL TV be-
Bernanke senkt den gleitet Betroffene.
Leitzins um 0,75 Punk-
te auf 3,5 Prozent. FREITAG, 1. 2.
LAZARENKO NIKOLAY / EASTWAY

22.45 – 0.45 UHR VOX


MITTWOCH, 23. 1.
SPIEGEL TV THEMA
GAZA-STREIFEN Palästi- Wenn andere schlafen –
nenser sprengen die Dienst nach Mitternacht
Barrikaden an der Sie retten Leben, sorgen für frische Bröt-
Grenze zu Ägypten und chen oder kümmern sich um die Sicher-
strömen in das Land. heit auf Flughäfen: Deutschlands Nacht-
S A M S TA G , 1 9 . 1 . arbeiter.
ERDERWÄRMUNG Die EU-Kommission
BANKENKRISE Es wird bekannt, dass die stellt ehrgeizige Ziele zum Klimaschutz
WestLB mit etwa zwei Milliarden Euro ge- vor. Die Kosten werden auf 60 Milliar- SAMSTAG, 2. 2.
stützt werden muss. Die Haushaltskon- den Euro geschätzt. 20.15 – 23.45 UHR VOX
solidierung von NRW ist damit in Gefahr. SPIEGEL TV DOKUMENTATION
FLUGVERKEHR Ein polnisches Militärflug-
SPORT Der US-Amerikaner Scott Ma- zeug stürzt beim Landeanflug auf 12 Jahre, 3 Monate, 9 Tage –
cartney stürzt bei der Ski-Abfahrt Miroslawiec ab. Keiner der 20 Insassen Die Jahreschronik des Dritten Reichs
in Kitzbühel und erleidet ein Schädel- überlebt. Mit seltenen, teilweise unveröffentlichten
Hirn-Trauma. Das Unglück entfacht Filmaufnahmen entwirft Michael Kloft
TERROR Mit einer Tonbandaufnahme
eine Diskussion über die Sicherheit der ein Bild der nationalsozialistischen Dik-
ruft al-Qaida zum weltweiten Dschihad
Pisten. tatur auch jenseits der Propaganda.
auf.
S O N N TA G , 2 0 . 1 . D O N N E R S TA G , 2 4 . 1 . SONNTAG, 3. 2.
WAHLKAMPF Nach Wolfgang Clements 22.35 – 23.20 UHR RTL
ITALIEN Premier Romano Prodi stellt im
Kritik an Hessens SPD-Spitzenkandida- Senat die Vertrauensfrage. Er scheitert SPIEGEL TV MAGAZIN
tin Andrea Ypsilanti fordert Fraktions- und tritt zurück.
chef Peter Struck den Parteiausschluss Tod auf der Piste – Streit um Helmpflicht
von Clement. AKTIEN Die französische Bank Société beim Skifahren; Boomtown Temesvár –
Générale gibt bekannt, dass ein ein- Deutsche Firmen in Rumänien; Verraten
SAARLOUIS Zwei Babys, die im Kranken- zelner Händler 4,9 Milliarden Euro ver- und verkauft – Heuschrecken übernehmen
haus der Stadt vertauscht worden zockt hat. Kredite.
waren, gelangen nach gut einem halben
Jahr in die Obhut ihrer leiblichen Eltern. KÜNSTLICHES ERBGUT Craig Venter veröf-
EDDY RISCH / KEYSTONE ZÜRICH / DPA

fentlicht in der Fachzeitschrift „Science“,


SERBIEN Weder Ultranationalist Tomislav dass ihm die chemische Synthese des
Nikoliƒ noch Amtsinhaber Boris Tadiƒ Bakterien-Genoms von Mycoplasma
erreichen die 50-Prozent-Marke bei der genitalium gelungen ist.
Präsidentenwahl. Die Stichwahl findet
am 3. Februar statt. F R E I TA G , 2 5 . 1 .
LIBANON Bei einem Bombenanschlag in
M O N TA G , 2 1 . 1 .
Beirut werden sechs Personen getötet.
BÖRSE Der internationale Aktienmarkt Unter den Toten befindet sich ein führen- Rettungshubschrauber im Einsatz
bricht ein. Der Dax fällt zeitweise um der Anti-Terror-Ermittler.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 149
Register
gestorben Horst Männchen, 72. Dieser Stasi-Gene-
ralmajor empfand sich als „Soldat an ei-
Heath Ledger, 28. Er wirkte kraftstrot- nem besonderen Frontabschnitt“, gemeint
zend, jungenhaft, manchmal aber auch war „der funkelektronische Kampf“:
sehr schwermütig. Der in Australien ge- Männchen und seine zuletzt 2361 haupt-
borene Schauspieler galt als eines der beruflichen Mitarbeiter machten Tag und
größten Talente Hollywoods. Nach seinem Nacht große Ohren. Sie hörten heim-
Durchbruch in dem Historienfilm „Ritter lich die Telefonate der
aus Leidenschaft“ (2001) versuchten Agen- Mächtigen im Westen
ten und Produzenten, ihn zum neuen Star und, sicherheitshalber,
aufzubauen, doch Ledger ging lieber auch die der DDR-Bür-

KAI PFAFFENBACH / REUTERS

HEINZ ZIPP / ACTION PRESS


den Weg des größten Widerstands. Er ver- ger ab. Der Aufwand,
körperte einen verzweifelten Gefängnis- den die „Hauptabtei-
wärter (2001 in „Monster’s Ball“), einen lung III“ des Ministe-
schwulen Cowboy (2005 in „Brokeback riums für Staatssicher-
Mountain“) oder einen drogensüchtigen heit dabei trieb, war
Späthippie (2006 in gigantisch: Männchen,
„Candy“). Er kam auf ein Ingenieur für Hoch-
der Leinwand oft da- frequenztechnik, ließ rund 100 000 Fern-
her wie ein Surfer, in meldeanschlüsse im Westen permanent

STARTRAKS / ACTION PRESS


dem sich ein Grübler überwachen, das Bundeskabinett, Militärs,
verbarg, erschien wie Wirtschaftsmanager, Mätressen, Bischöfe
eine seltsam verdüster- und den SPIEGEL. Richtfunkstrecken, Sa-
te Lichtgestalt. Es gibt tellitenverbindungen, selbst Glasfaserka-
bereits Trailer für den bel und Codiermaschinen waren den Lau-
neuen Batman-Film schern ein offenes Buch. Als die DDR 1989
„The Dark Knight“, in implodierte, hinterließen Männchens ge-
dem Ledger als Bösewicht „The Joker“ zu heime Truppen Zehntausende Tonbänder.
sehen sein wird. Sein jüngstes Projekt war Ihr Inhalt, sagt ein ehemaliger West-
„The Imaginarium of Doctor Parnassus“, geheimdienstchef, war so schrecklich, dass
Terry Gilliams Adaption des „Faust“- sie ohne Auswertung sofort vernichtet
Stoffs. Es wird unvollendet bleiben. Heath wurden. In seinen alten Tagen überkam
Ledger starb am 22. Januar unter bislang den armamputierten Cheflauscher Ost oft
ungeklärten Umständen in New York. Resignation. Horst Männchen starb am
12. Januar in Berlin an Herzversagen.
Karl Diehl, 100. Der Maschinenbauinge-
nieur übernahm 1938 von seinem Vater John Stewart, 68. „Daydream Believer“ –
eine Kunstgießerei in Nürnberg, die schon diesen einen Song schrieb der aus San Die-
kurz darauf zu den als kriegswichtig ein- go stammende Sohn eines Rennpferde-
gestuften Betrieben zählte. In den fünf- trainers für die Retortenband The Monkees,
ziger Jahren wurde Diehl auch für die und der wurde ein gewaltiger Erfolg. Die
Bundeswehr zu einem begehrten Lieferan- Originalversion hielt sich 1967 mehrere Wo-
ten von Munition und Waffensystemen. chen auf dem ersten Platz der US-Hitliste,
Der geschäftstüchtige und zwölf Jahre später kam die Sängerin
Unternehmer schaffte Anne Murray mit der genialen Melodie
es, seine Firma mit ak- noch einmal in die Charts in Amerika. Seit-
tuell rund 11 000 Mitar- dem ist der Song mehrfach erfolgreich recy-
beitern und 2,2 Mil- celt worden: U2 sangen ihn bei Konzerten,
DANIEL KARMANN / DPA

liarden Euro Umsatz britische Fußballfans grölen ihn im Stadion.


zu einer der größten Als Folksänger war Stewart Anfang der
Rüstungsschmieden im sechziger Jahre mit dem Kingston Trio
Land auszubauen. Der erfolgreich und spielte später mehr als
Industrielle war nicht 45 Soloalben ein. Doch obwohl sein 1969 er-
unumstritten, die Firma schienenes Country-Rock-Werk „California
hatte während der Nazi-Zeit millionenfach Bloodlines“ vom Fachblatt „Rolling Stone“
Patronen und Aufschlagzünder für Hitlers unter die 200 besten Alben aller Zeiten ge-
Kriegsmaschinerie produziert – auch mit wählt wurde, blieb er als Solist eher un-
Hilfe von Zwangsarbeitern und Kriegsge- bekannt. Er wirkte hin-
fangenen. Später suchte der Patriarch, der ter den Kulissen: Als
bereits 1933 in die NSDAP eingetreten war, Komponist für Joan
das Gespräch und zahlte freiwillig Ent- Baez, Nanci Griffith
schädigungen. Als es Ende der neunziger oder Rosanne Cash ge-
Jahre dennoch eine Debatte um seine Eh- wann er viel Anerken-
renbürgerwürde gab, ließ Diehl die Ver- nung. John Stewart
strickungen seines Unternehmens in der starb am 19. Januar in
NS-Zeit von Historikern aufarbeiten. Karl San Diego an den Fol-
Diehl starb am 19. Januar in Nürnberg. gen eines Schlaganfalls.
AP

150 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Personalien
Fritz Ferdinand Pleitgen, 69, ehemali-
ger Intendant des WDR und Vorsitzen- Eva Amurri, 22, Tochter von
der der Geschäftsführung der RUHR.2010, Oscar-Preisträgerin Susan Sa-
outete sich als Liebhaber scharfer Geträn- randon, fühlt sich endlich be-
ke. Während eines gemütlichen Abend- reit, die eigene Schauspielkar-
essens mit der NRW-Landtagsfraktion der riere ernsthaft zu starten, und
Grünen warb er mit Begeisterung für die beweist dabei eine gute Portion
Kulturhauptstadt 2010, die durch das ge- Pragmatismus. Sie habe zwar
samte Ruhrgebiet repräsentiert wird. Dabei schon als Kind gewusst, dass sie
schwärmte Pleitgen von einem Mammut- in die Fußstapfen ihrer Mutter
projekt, das auch bei den Grünen Eindruck treten wolle, so Amurri, aber
machte: ein langer Tisch quer durch das erstens hätten ihre Eltern sie
Ruhrgebiet von Dortmund bis Duisburg immer gebremst, und zweitens
auf der A 40. Das, trumpfte der Kulturbot- sei es ihr selbst wichtig gewe-
schafter auf, sei aber nur ein Aushänge- sen, eine gute Schulausbildung
schild, um auf die vielen tollen Ideen aus zu bekommen. Nach sehr posi-
der Region aufmerksam zu machen. Ver- tiv aufgenommenen Filmauf-
traulich wandte sich Pleitgen an seine tritten (2002 und 2004) wider-
Zuhörer: „Aber sind wir mal ehrlich, die stand sie weiteren Angeboten,
besten Ideen kommen einem doch um 0.48 um ihre Noten nicht zu be-
Uhr nach 29 Grappas, und wenn Jürgen einträchtigen. Diese Zurück-
Flimm dabei ist.“ Wohl um das leichte haltung ist nun vorbei: In der
Befremden in der Runde zu mildern, füg- nächsten Zeit starten in den
te der Journalist augenzwinkernd hinzu: USA insgesamt vier Filme mit
„Na ja, vielleicht waren es auch nur 28.“ dem Nachwuchstalent. Einen
Die Fraktionsvorsitzende Sylvia Löhrmann davon erwartet Amurri beson-
meinte, einen Wink verstanden zu haben, ders gespannt. In „Animals“
und kredenzte ihm ein Glas des italieni- spielt sie ein Mädchen, das
schen Tresterbranntweins mit den Worten: sich in eine Art Werwolf ver-
„Damit Ihnen die kreativen Ideen nicht wandelt, inklusive einer Nackt-
ausgehen.“ szene – aus rein professionel-
ANDREA RENAULT / GLOBE PHOTOS

len Gründen, versteht sich: „Es


Jan Ullrich, 34, Ex-Radprofi, der zuletzt war für die Geschichte uner-
lieber im Verborgenen blieb, ließ sich beim lässlich, deswegen habe ich es
Hahnenkamm-Rennwochenende in Kitz- gemacht. Und außerdem“, stellt
bühel blicken. Der einstige Held der Deut- sie nüchtern fest, „wenn ich
schen startete bei einem Wohltätigkeits- schon was zeigen muss, dann
Skirennen. Mit der Startnummer 47 quäl- zeige ich es lieber mit 22.“ Amurri

te sich der Sportler über die Piste. Im Ziel- vor allem in den Bergen leben, zerstörten
raum entdeckte Ullrich einen Stand mit die Umwelt. Cochran – Vietnam-Kämpfer,
allerlei Krimskrams. Und plötzlich fiel dem ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, lang-
gebürtigen Rostocker wohl ein, wem er jähriges Parlamentsmitglied und Nachfahre
seinen Aufstieg zum Weltstar zu verdanken einer der ersten Siedler Australiens – ist
hatte. „Die hol ich mir“, sagte Ullrich kurz- wild entschlossen, die Pläne zu durch-
entschlossen – und kaufte eine DDR-Fah- kreuzen. Er ist der Kopf einer landesweiten
ne, die er dann seiner Tochter in die Hand Kampagne gegen „das Schlachten unseres
drückte. Vielleicht war die Geste auch zum kulturellen Erbes“, und wenn politische
eigenen Trost gedacht: Beim Wettkampf Aufrufe nichts nutzen sollten, ist er zum
war Ullrich ohne Chance geblieben – er Äußersten bereit: „Wir sind vorbereitet,
wurde Letzter. die Tiere auch unter Einsatz unseres Le-
bens zu schützen.“ Als Vorbild dienen ihm
Peter Cochran, 63, Betreiber einer Ranch todesmutige Walschützer, die sich mit win-
für Reittouristen im australischen New zigen Booten japanischen Walfängern in
South Wales in der Nähe des Kosciuszko den Weg stellen.
National Park, bereitet sich auf einen har-
ten Kampf gegen seine Regierung vor. Die
australischen Behörden haben beschlos- Cochran
sen, dass der Bestand der Brumbys – Wild-
pferde, die noch bei der Eröffnung der
Olympischen Spiele im Jahr 2000 als Na-
THOMAS PURSCHKE

tionalsymbol gefeiert wurden – weiter re-


CHRISTOPHER MEDER

duziert werden soll. 2001 sind in Cochrans


Heimatbundesstaat 600 Tiere von Helikop-
tern aus erschossen worden, weitere sollen
Ullrich mit Tochter nun folgen. Begründung: Die Pferde, die
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Rin, 22, japanische Lehrerin, ist eine der Anna Wintour, 58, einflussreiche Heraus- auf Plakate und Tischsets drucken. Dass
erfolgreichsten Vertreterinnen einer neuen geberin der US-Stilbibel „Vogue“, reagiert ihm Geldbußen bis zu 750 Euro drohen,
Generation von Autoren in Nippon: jung, empfindlich auf Ablehnung. Eigentlich war ficht den Tabak-Rebellen nicht an: Er
weiblich und mobiltelefonsüchtig. Rin Präsidentschaftsanwärterin Hillary Clinton hat 800 Aschen-
landete mit ihrem Erstlingswerk „Moshimo für Fotos in dem Hochglanzmagazin ange- becher herstellen
Kimiga“ („Wenn du …“) mit 400 000 ver- sagt. Die Verabredung wurde recht kurz- lassen, die mit
kauften Hardcover-Exemplaren im ver- fristig durch Clintons Wahlkampfhelfer- seinen Kippen-
gangenen Jahr auf Platz fünf der Ver- team abgesagt, mit der Begründung, Mrs Fotos bedruckt
kaufslisten in ihrer Heimat. Zuvor war Clinton befürchte, „zu weiblich“ zu er- sind. Die bietet
die leicht kitschige Liebesgeschichte aber scheinen, wenn sie in der berühmten er für je 20 Euro
schon online und Modezeitschrift auftauchen würde. Win- zum Verkauf an,
umsonst zu le- tour, bekannt und gefürchtet für ihre um mit dem
sen, denn Rin hat scharfe Zunge, schlug nun in einem Edito- Erlös die Geld-
den Urtext nach rial zurück: „Die Annahme, dass eine Frau bußen zu zahlen.
und nach in ihr unserer Zeit männlich aufzutreten habe, Bisher zeigten
Mobiltelefon ein- um als Machtfaktor ernst genommen zu die Ordnungs-
getippt und per werden, ist einfach bestürzend. Dies ist hüter Nachsicht:
E-Mail als Fort- Amerika, nicht Saudi-Arabien.“ Seit Inkrafttreten
setzungsgeschich- des Verbots An-
te an eine Web- Christophe Cedat, 41, Café-Besitzer in fang des Jahres
site geschickt, die Frankreich, trotzt dem von der Pariser kontrollierten sie
KO SASAKI / NEW YORK TIMES

sich auf die Ver- Regierung verhängten Rauchverbot in das „Café 203“

FAYOLLE / SIPA PRESS


öffentlichung von Restaurants und Bars. Der Franzose, der erst einmal. Und
mobilen Hobby- sich selbst als „Widerstandskämpfer in obwohl praktisch
autoren spezia- Friedenszeiten“ versteht, fordert die Gäste alle der 40 an-
lisiert hat. In der seines „Café 203“ in Lyon auf, nach Kräf- wesenden Gäste
Bahn, auf dem ten zu qualmen – und damit einen „künst- rauchten, erhiel- Cedat
Weg zum Job Rin lerischen Akt“ zu unterstützen. Cedat fo- ten nur der Wirt
oder in die Schu- tografiert bereits seit Oktober jeden Abend und ein Raucher ein Knöllchen. Sein Café
le – vor allem junge Japanerinnen haben die vollen Aschenbecher. Mittlerweile hat sei ein „kulturelles Experimentierfeld“,
ihr Mobiltelefon als Instrument der Selbst- er eine Sammlung von über 7000 Fotos. eine Schließung wäre ein „Akt der Zen-
verwirklichung entdeckt. Und Verlage Die Aufnahmen lässt er vergrößern und sur“, lautet Cedats Credo.
haben die neue Einnahmequelle schnell
erkannt; stößt ein Stoff online auf gute
Resonanz, wird ein Buch daraus gemacht.
Stilistisch sind die Werke ebenso schlicht
wie eine SMS-Botschaft. Rin erklärt das
große Interesse bei der jungen Leser-
schaft: „Sie lesen keine Bücher von

INEZ VAN LAMSWEERDE & VINOODH MATADIN / ART&COMMERCE / CONTACTO


professionellen Schriftstellern, weil deren
Sätze zu schwierig zu verstehen sind und
die Geschichten nichts mit ihrem Leben
zu tun haben.“

Bärbel Höhn, 55, stellvertretende Frak-


tionsvorsitzende der Grünen im Bundestag
und ehemalige Umweltministerin von
Nordrhein-Westfalen, hat einmal mehr
ihren Hang zur Unnachgiebigkeit unter
Beweis gestellt. Zu ihrer eigenen Über-
raschung bekam Höhn zu Weihnachten
von dem Essener Stromriesen RWE zwei
edle Flaschen Wein geschickt. Höhn, die
seit Jahren im ganzen Land gegen die
Atom- und Kohlekraftwerke von RWE
ankämpft, wollte das freundliche Präsent
auf keinen Fall akzeptieren. Ihre Mitarbei- Carla Bruni, 40, Freundin des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy,
ter wies sie an, die edlen Tropfen für einen schockiert die Grande Nation: Die künftige First Lady Frankreichs räkelt sich,
„guten Zweck“ zu stiften. Der ist nun ge- lediglich mit einem Ring und knielangen schwarzen Stiefeln bekleidet, für ein
funden: Eine Bürgerinitiative im saarlän- spanisches Herrenmagazin lasziv auf schwarzen Lederkissen. Bruni ließ sich wäh-
dischen Ensdorf soll die Höhn-Flaschen rend ihrer Modelkarriere zwar schon mehrmals nackt fotografieren, zuletzt im
zur Aufheiterung erhalten. Die Mitglieder Jahr 2000. Doch dies sei definitiv „das letzte und gewagteste Foto“ des ehemaligen
der Gruppe hatten im vergangenen Jahr Supermodels, kündigt die Hochglanzzeitschrift „DT“ vollmundig in ihrer Februar-
mit Protestaktionen dazu beigetragen, dass ausgabe an. Das exklusiv für die spanische Presse bestimmte Bild kursierte schnell
in ihrem Ort die Planungen für den Bau im Internet und bringt den ohnehin durch ein Umfragetief angeschlagenen Präsi-
eines Kohlekraftwerks gestoppt wurden. denten noch weiter in Verlegenheit.
Der Auftraggeber damals: RWE.
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Hohlspiegel Rückspiegel

Aus dem „Tagesspiegel“ über den hessi- Zitat


schen Ministerpräsidenten Roland Koch:
„Gelassen wischte er mit dem strengen Die „Welt“ zum SPIEGEL-Gespräch
Seitenscheitel alle Einwände gegen seine „‚Ohne Wenn und Aber‘“ mit dem
Kampagne zur Jugend- und Ausländer- Präsidenten des Bundesverfassungs-
kriminalität beiseite.“ gerichts Hans-Jürgen Papier über
die Herausforderungen des internatio-
nalen Terrorismus (Nr. 3/2008):

Schäuble ist verärgert über den Präsiden-


ten des obersten deutschen Gerichts, Hans-
Jürgen Papier. Der hatte den Plan des
Aus den „Schaumburger Nachrichten“ CDU-Politikers, ein neues Luftsicherheits-
gesetz zum Abschuss entführter Passagier-
maschinen vorzulegen, in einem SPIEGEL-
Aus der „Märkischen Allgemeinen Zei- Interview als verfassungswidrig bezeichnet.
tung“: „Die Vorschläge stammen nicht al- Schäuble betrachtet das als Anmaßung.
lein aus Deutschland. Selbst aus Baden- „Die Repräsentanten der Verfassungsorga-
Württemberg kamen Beiträge für den ne sollten untereinander ein großes Maß
Wettbewerb.“ an Rücksicht walten lassen, wenn es um
die Kommentierung des Handelns anderer
Verfassungsorgane geht“, schrieb der Poli-
Aus dem „Westfalen-Blatt“: „Zwar seien tiker dem Richter ins Stammbuch. Die
damit Banküberfälle nicht grundsätzlich Beschreibung der Grenzen von Grund-
zu verhindern, wenn jedoch potentielle rechten sei Sache des Gesetzgebers. Das
Räuber sähen, dass sie schnell aufgeklärt Verfassungsgericht habe nur zu entschei-
würden, könne es diese von ihrer geplan- den, ob dabei rechtliche Regeln eingehal-
ten Tat abhalten.“ ten werden.

Der SPIEGEL berichtete …


… in Nr. 28/2004 „Abzocker – Schatz
im Keller“ über ein Urteil des Frankfur-
Aus dem „Oberhessen Kurier“ ter Oberlandesgerichts gegen eine
Geschäftsfrau, die sich mit ihrem inzwi-
schen verstorbenen Mann in den
Aus der „Aachener Zeitung“: „Doch um das sechziger und siebziger Jahren staatliche
Areal überhaupt bebauen zu können, müs- Entschädigungen über 35 Millionen
sen zunächst die ehemaligen Dienstwoh- Euro erschlichen haben soll – für angeb-
nungen der Vollzugsbeamten weichen, deren lich in den Wirren der Nach-
Skelette bereits in den Himmel ragen.“ kriegszeit verlorenen Aktienbesitz.

Gegen den Bericht erwirkte die in Liech-


Bildunterschrift aus der „ADAC Motor- tenstein lebende Geschäftsfrau eine Ge-
welt“: „Wer überholt, muss immer schnel- gendarstellung, die der SPIEGEL laut Ge-
ler sein als der zu Überholende.“ richtsbeschluss in Nr. 48/2004 abdrucken
musste. Darin attackierte die Betroffene
auch „Deutungen“, die sich aus dem Artikel
„nicht zwingend“ ergeben. Das hielten zwei
Hamburger Gerichte für zulässig. Diese Ent-
scheidungen hat nun das Bundesverfas-
sungsgericht aufgehoben. Die Verfassungs-
Aus einer Broschüre einer Nordic-Walking- richter halten den Abdruck von Gegendar-
Schule in Dreieich stellungen nur dann für zwingend, wenn sie
sich auf die im Text enthaltenen „eindeuti-
gen“ Tatsachenbehauptungen beziehen. Es
Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Unge- reiche nicht aus, dass sich der Betroffene
achtet eines frühen Todes aber werden die durch eine mögliche Interpretation nach-
Deutschen immer dicker.“ teilig dargestellt fühle. Sonst bestünden,
heißt es in dem Beschluss, „erhebliche Ri-
siken für die Presseberichterstattung“. Die
Medien könnten „mit Gegendarstellungs-
ansprüchen überhäuft und in der Folge zu
einer starken Zurückhaltung in ihrer Be-
richterstattung veranlasst sein“, befanden
die Verfassungsrichter. Das sei aber mit der
Aus dem Jahreskalender „Zauber der Pressefreiheit, wie sie im Artikel 5 des
Meere“ zum Reformationstag. Grundgesetzes geregelt ist, nicht vereinbar.
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