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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung
28. Januar 2008 Betr.: Titel, Clinton, Briefwechsel, SPIEGEL SPECIAL

E s gab noch keine Hedgefonds oder Subprime-Kredite, aber sehr wohl schon
Banken und die Gier ihrer Manager, als Bertolt Brecht 1928 seinen Mackie Messer
in der „Dreigroschenoper“ rufen ließ: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die
Gründung einer Bank?“ Etwas abgewandelt findet sich das Zitat auf dem SPIEGEL-
Titel, der zugleich den verhüllten Eingang zur New Yorker Börse zeigt. Vorlage dafür
war eine Werbeaktion der Allianz, die im Jahr 2000, zum Börsengang in New York,
das klassizistische Portal in Blau verkleiden ließ; die SPIEGEL-Titelgrafik dekorierte
es nun schwarz. Brechts Zitat indes gewinnt in diesen Tagen angesichts des Chaos auf
den Finanzmärkten neue Aktualität. SPIEGEL-Redakteur Konstantin von Hammer-
stein, 46, beschreibt und analysiert mit seinen Kollegen Beat Balzli, 41, Jan Fleischhauer,
45, Frank Hornig, 38, Christian Reiermann, 45, Wolfgang Reuter, 42, und Michael
Sauga, 48, das Auf und Ab im Bankgeschäft. „Zweifellos sind große und vermeintlich
seriöse Geldinstitute mit riskanten Spekulationsabenteuern schuld an der Vertrauens-
krise und der globalen Angst vor einer Rezession“, sagt Hammerstein (Seite 20).

I
m Berliner Restaurant Borchardt ließ sich Hillary
Clinton, 60, während ihrer Deutschlandreise im Juli
2003 von den SPIEGEL-Redakteuren Stefan Aust, 61,
und Gabor Steingart, 45, über die deutschen Sozial-
versicherungen informieren – über ihr Vorhaben,
Präsidentschaftskandidatin der Demokraten zu wer-
den, schwieg sie sich damals noch aus. Steingart, in-
zwischen Korrespondent in Washington, und sein
Aust, Clinton, Steingart (2003) SPIEGEL-ONLINE-Kollege Gregor Peter Schmitz, 32,
folgten Clinton nun quer durch die USA und beobach-
teten eine radikale Veränderung ihrer Wahlkampfstrategie. „Sie war geradezu präsidial
gestartet und hat jetzt auf Angriff umgeschaltet“, sagt Steingart (Seite 100).

S eit mehr als 50 Jahren zählen SPIEGEL-Gespräche zu den


Markenzeichen des deutschen Journalismus. Mehr als 4000
wurden geführt, fast alle fanden große Beachtung, viele auch
im Ausland. Nun folgte einem SPIEGEL-Gespräch ein längerer,
kontroverser Briefwechsel, den der SPIEGEL dokumentiert.
Ausgangspunkt war ein Gespräch der Redakteure Martin
MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL

Doerry, 52, und Klaus Wiegrefe, 42, mit Saul Friedländer, 75,
dem Friedenspreisträger des Jahres 2007. Sie hatten darin
den Schriftsteller Martin Walser, 80, als jemanden bezeichnet,
der für jene stehe, die „ein Ende der Auseinandersetzung mit
dem Holocaust“ fordern. Walser leidet unter diesem Stigma
und wehrt sich in einem Briefwechsel mit Doerry (Seite 140). Doerry, Walser (1998)

V or 75 Jahren, am 30. Januar 1933, ernannte Reichspräsident


Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Mit der
„Machtergreifung“ des NS-Führers begann der Weg in die Kata-
strophe – und bis heute fragen sich nicht nur die Deutschen, warum
sich das Land so schnell der Nazi-Diktatur gefügt hat. Antworten
geben renommierte Historiker sowie SPIEGEL-Redakteure in einem
SPIEGEL SPECIAL GESCHICHTE. Es ist ab Dienstag im Handel.

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen des Rosenmontags bereits


am Samstag, dem 2. Februar, verkauft und den Abonnenten zugestellt.

Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 3
In diesem Heft
Titel
Wie die größten Banken der Welt die Zukunft
der Wirtschaft verspielen ...................................... 20
Das verrückte Milliardenspiel bei
der Société Générale ............................................. 26

RAINER DREXEL / BILDERBERG


Deutschland
Panorama: Clement kritisiert Parteien /
Studenten aus Deutschland kämpfen für al-Qaida /
Finanzaffäre bei den Republikanern ...................... 15
SPD: Der ruppige Politikstil des Fraktionschefs
Peter Struck ........................................................... 34
Umweltpolitik: SPIEGEL-Gespräch mit
Minister Sigmar Gabriel über Klimaschutz, Bankenmetropole Frankfurt am Main
Tempolimits und AKW-Laufzeiten ........................ 36
Verfassungsgericht: Die Union hadert mit
dem SPD-Vorschlag für das
Vizepräsidentenamt in Karlsruhe .......................... 41
Bundeswehr: Durch Havarien und Selbstbeschuss
Flächenbrand im Weltfinanzsystem Seite 20
macht sich die Marine zum Gespött ...................... 42 Was als Krise auf dem US-Immobilienmarkt begann, hat sich zu einer globalen Ban-
Zeitgeschichte: Interview mit dem ehemaligen ken- und Finanzkrise ausgeweitet. Und die bedroht mittlerweile nicht nur die Welt-
sächsischen Ministerpräsidenten konjunktur – sondern auch das wirtschaftliche Machtgefüge rund um den Erdball.
Kurt Biedenkopf über seine Zeit als Uni-Rektor
in Bochum Ende der sechziger Jahre .................... 44
Affären: Die letzten Besitzer des Oberhausener
Trickfilmzentrums verklagen das Land

Gabriel: „Kleinvieh macht auch Mist“


Nordrhein-Westfalen auf Schadensersatz .............. 46
Discounter: Schlecker-Märkte sind
das Lieblingsziel von Räubern ............................... 48
Seite 36
Integration: In Köln demonstrieren Migranten Von einem Tempolimit auf Auto-
gegen Rassismus in Deutschland ........................... 50 bahnen hielt Umweltminister Sigmar
Schule: Interview mit dem Frankfurter Gabriel bis vor kurzem nichts. Dann
Bildungsforscher Udo Rauin über Unlust nahm sich seine Partei des Themas
und Überforderung deutscher Lehrer .................... 52
Verbrechen: Wie eine Frau mehr als an, und nun ist er dafür: „Kleinvieh
macht auch Mist“, so Gabriel im

DANNY GOHLKE / DDP


ein Dutzend Männer ausnahm – und vier
von ihnen ums Leben kamen ................................ 54 SPIEGEL-Gespräch. Forderungen
Mediziner: Die Affäre um den Organtransplanteur nach längeren Laufzeiten für Kern-
Christoph Broelsch weitet sich aus ......................... 58 kraftwerke wies der SPD-Politiker
strikt zurück. Diese Technologie sei
Gesellschaft „einfach nicht beherrschbar“. Gabriel
Szene: Warum Schwarze anders einkaufen
als Weiße / Skandalbuch über
Prostitution an der Universität .............................. 60
Eine Meldung und ihre Geschichte – über einen Mann,

Arsen und Spitzenhäubchen


der seine Mutter im Baumarkt kennenlernte ............ 61
Aufbau Ost: Kampf der Kulturen – in Brandenburg
soll das erste Chinatown Deutschlands entstehen ... 62
Seite 54
Ortstermin: Eine Anwältin bittet in Berlin Mehr als zwei Jahrzehnte lang versprach eine Frau aus Niedersachsen alten Män-
um Asyl für Guantanamo-Häftlinge ...................... 67 nern ein spätes Glück – um an deren Geld zu kommen. Nun steht die Schwarze
Witwe vor Gericht. Vier der Senioren sollen angeblich ermordet worden sein.
Wirtschaft
Trends: Arbeitsminister möchte Staatsfonds kontrol-
lieren / Bahn will zum Börsengang Fakten schaffen /
Pin-Mutter in Luxemburg trudelt in die Insolvenz ... 68

Die Sonnenseiten des TUI-Aufsichtsrats


Energie: Den großen Stromkonzernen droht
an vielen Fronten neuer Ärger .............................. 70
Konzerne: TUI-Aufsichtsräte genossen
Seite 73
besondere Annehmlichkeiten ................................ 73 Von der bunten Truppe sei-
Unternehmenskultur: Wie Microsoft Frauen nes Aufsichtsrats bekam TUI-
in Spitzenpositionen hilft ...................................... 76 Chef Michael Frenzel bislang
Standorte: Nach dem Aus für Bochum zittern kaum Gegenwind. Die Kon-
auch andere deutsche Nokia-Belegschaften .......... 82
Weshalb Boykottaufrufe gegen den Handy- trolleure goutierten die Stra-
WOLFGANG FUCHS / BILDERBERG

Hersteller verständlich sind – aber auch absurd .... 83 tegien des Konzernchefs –
Handel: In Duisburg soll Deutschlands größter und genossen Spaßreisen
Outlet-Store entstehen .......................................... 84 durch die schöne Ferienwelt
des Touristikkonzerns, etwa
Medien auf Luxus-Kreuzfahrtschiffen
Trends: Interview mit Kai Wiesinger über die wie der MS „Europa“. Doch
Schnell-Absetzung seiner RTL-Serie / Springer- nun regt sich Widerstand.
Enkel will vor den Bundesgerichtshof ziehen ........ 86
Fernsehen: Vorschau / Rückblick ........................ 87
Journalismus: Wie die amerikanische TV-Legende TUI-Hotelanlage
Dan Rather gegen Weißes Haus und CBS kämpft ... 88
4 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Ausland

Prodis Absturz
Panorama: Brüssel sucht „Mister Europa“ /
Seite 96 Kopftuch schafft Konfliktstoff in Ankara /
Peking verschärft Zensur ...................................... 93
Nach nur 20 Monaten einer wackeligen Italien: Meuchelmord im Senat ............................ 96
Regierungskoalition mit elf linken Par- Pakistan: Offensive gegen die neuen Taliban ...... 98
teien stürzte Romano Prodi über ein USA: Der Kampf der Clintons gegen Obama ....... 100
Misstrauensvotum im Senat. Obwohl Tschechische Republik: Ein Präsident sieht rot ... 104
Nahost: Der ehemalige israelische Geheimdienst-
der Reformer Mafia und Korruption chef Ami Ajalon über die Krise in Gaza und
bekämpfte und auch die Wirtschaft in die Friedensgespräche mit den Palästinensern ..... 106
Schwung brachte, hat sein rechter Wi- Russland: Besserungsanstalt Sibirien ................. 107
dersacher Berlusconi beste Chancen, Global Village: Norwegens Premier auf
vorgezogene Wahlen zu gewinnen. Werbe-Tour in der Antarktis ................................ 109

Sport
Szene: Duell der Football-Quarterbacks beim US-
Super-Bowl / BMW-Motorsportchef Mario Theissen

MAURIZIO BRAMBATTI / ANSA / DPA


über ein mögliches Budget-Limit in der Formel 1 ... 111
Karrieren: Wie der Vater des brasilianischen Fußball-
SCHIAVELLA / ANSA / DPA

Profis Diego seinen Sohn zum Weltstar aufbaut ..... 112


Treppenlaufen: Zwei Deutsche dominieren
einen bislang unterschätzten Sport ...................... 115

Wissenschaft · Technik
Prisma: Gewalt als Suchtverhalten / Ameisen
Berlusconi Prodi auf Eroberungszug ............................................... 120
Medikamente: Wie eine Frau in Nigeria gegen
die Mafia der Arzneifälscher kämpft ................... 122

Schwarzes Gold im Wattenmeer


Genforschung: Wissenschaftler suchen nach dem
Seite 128 Geheimnis der menschlichen Einzigartigkeit ......... 126
Interview mit dem US-Forscher Craig Venter
RWE und Wintershall suchen nach Öl vor der Nordseeküste. Sechs Probebohrun- über künstliches Leben aus dem DNA-Labor ...... 126
gen sind geplant – ausgerechnet im Wattenmeer, einem ökologisch einzigartigen Umwelt: Ölsuche im deutschen Wattenmeer ...... 128
Lebensraum, der jetzt sogar Unesco-Weltnaturerbe werden soll.
Kultur
Szene: Kabarettist Werner Schneyder erzählt
vom Krebstod seiner Frau / Interview mit
Andrea Maria Schenkel, die den Deutschen

Afrikanisches Abenteuer
Krimi-Preis erhalten hat ....................................... 131
Seite 138 Showbusiness: Wer profitiert vom neuen Flirt
zwischen Kino und Musikbranche? ..................... 134
Zwei Tage lang saß der Berliner Musiker: Interview mit Swingstar Andrej Hermlin
Swingmusiker Andrej Hermlin in über sein Haft-Abenteuer in Kenia ...................... 138
kenianischem Polizeigewahrsam. Er Autoren: Briefwechsel mit Martin Walser über
wurde verdächtigt, Terroranschlä- die Haltung zum Holocaust ................................. 140
ge vorbereitet zu haben. Inzwi- Kino: Der Regisseur Mike Nichols und seine
schen ist der Sohn des Schriftstel- Komödie „Der Krieg des Charlie Wilson“ ........... 144
Bestseller .......................................................... 146
lers Stephan Hermlin, der im Wahl-
FRANK ZAURITZ / LAIF

Nahaufnahme: „Der Kick“ von Andres Veiel


kampf den Oppositionsführer Raila im Theater von Halberstadt ................................. 147
Odinga unterstützt hatte, wieder in
Deutschland. Im SPIEGEL resü-
miert er seine Erlebnisse: „Ich bin Briefe ..................................................................... 6
Impressum, Leserservice ................................ 148
wohl einfach zu weit gegangen.“ Ehepaar Joyce und Andrej Hermlin in Kenia
Chronik ............................................................... 149
Register ............................................................. 150
Personalien ........................................................ 152
Hohlspiegel /Rückspiegel ................................ 154

Kino mit Popstars


Titelbild: Foto PR Allianz

Seite 134
Madonna debütiert als Filmregisseurin, Norah Die erste Beste
DARIUS KHONDJI / PROKINO

Jones spielt die Hauptrolle in einem Melo-


dram, Bob Dylan ist Mittelpunkt einer wilden Schöne blonde Schauspiele-
Huldigung, ein Konzertfilm der Rolling Stones rinnen gibt es in Hollywood
eröffnet die Berlinale. Die kriselnde Musik- viele. Katherine Heigl aber ist
industrie und ihre Helden flirten heftig mit der besser als sie alle. Außerdem
Kinobranche – zum beiderseitigen Vorteil? im KulturSPIEGEL: wie die
neue Ökobewegung Genuss
Sängerin Jones (l.) in „My Blueberry Nights“ und Konsum vereint.

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 5
Briefe

Sarkozy war so clever, erst nach seiner


Wahl die Affäre zu beginnen. Deutsche
„Sarkozy hat noch nicht begriffen, Politiker wie Seehofer und Pauli waren
nicht so klug; man sollte sich also nicht er-
dass die Grande Nation einen wischen – oder Lack- und Lederfotos erst
nach einem Wahlsieg machen lassen.
‚Monsieur le Président‘ haben will Dresden Andres Martin-Birner

und keinen Polit-Clown. Sie Wenn Ihnen der Narzissmus im politischen


wird es ihm noch beibringen.“ Geschäft zuwider ist, tun Sie uns allen einen
Gefallen, indem Sie ihn ignorieren. Jede
Alfred Dahmen aus Köln zum Titel Seite, die nicht für die Selbstinszenierung
„Staatsaffäre Sarkozy / Bruni – Die Erotik der Macht. der Sarkozys und Brunis verschwendet
Die Vermählung von Sex, Politik und Soap“ wird, ließe sich mit Wichtigerem füllen.
SPIEGEL-Titel 4/2008 Berlin Martin Post

Ihren Vergleich von Fürst und Mätresse


Bravo für Ihren großartigen Artikel. Ich finde ich peinlich. Wer aber als Präsident
Das tut mir weh! wünschte nur, alle Franzosen, die Sarkozy eine Uhr für 45 680 Euro öffentlich trägt,
Nr. 4/2008, Titel: gewählt haben, könnten ihn lesen. Leider beweist sein gestörtes Verhältnis zur Armut
Staatsaffäre Sarkozy / Bruni – Die Erotik der Macht. gibt es außer dem „Canard enchaîné“ keine weiter Bevölkerungskreise in Frankreich.
Die Vermählung von Sex, Politik und Soap Zeitung, die es wagt, Sarkozy zu kritisieren. Sarkozy ist als Tiger gesprungen und als
Sainte-Livrade-sur-Lot (Frankreich) Bettvorleger vor Carla Bruni gelandet.
Sollten Sie mal was zu Merkel und Co. ma- Barbara Bazoge Hamburg Horst Mühl
chen, würde ich die Titelzeile „Der Charme
der seriösen Kinderlosen“ vorschlagen. Das, was Sarkozy treibt, hätte man sicher- Wie viele von Sarkozys Wählern bin ich
Kloten (Schweiz) Walter Löffler lich treffender und kürzer auf einen Punkt enttäuscht. Er kann sein Privatleben ge-
bringen können: Er ist halt ein gallischer stalten, wie er will, aber man muss sich
Mein tief empfundenes Mitgefühl gilt Frank- Gockel. Kann man mögen, fragen, wo in seinem Kopf,
reich – dem herrlichen Land, seinen Men- muss man nicht. Blicken bei so großer Hormonaus-
schen mit ihrer großartigen Kultur, die ich wir freilich zurück in der schüttung, noch Platz für
als deren Freund durch einen Hallodri und Geschichte der Weltpolitik, eine effiziente Regierungs-
Hansdampf in allen Gassen der Lächerlich- so waren einige der trei- arbeit ist.
keit preisgegeben sehe. Das tut mir weh! bendsten und getriebensten Stuttgart Françoise Müller
Erkrath-Hochdahl (Nrdrh.-Westf.) G. Rabe Politiker solche, die eben
nicht immer im Einklang Endlich ist es ausgesprochen.
Mit Sarkozy hat eine der ganz seltenen Aus- mit den gängigen gesell- Erfolgreiche Männer neh-
nahmepersönlichkeiten die politische Büh- schaftlichen Vorstellungen men sich auch Anfang des
ne betreten, die statt „kluger“ Taktik scho- von Familie und „Moral“ 21. Jahrhunderts noch ihre
nungslose Offenheit gegen Freund und standen. Kennedy, Clinton, Gespielinnen mit in ihre
Feind, statt geheuchelten Gutmenschen- Brandt, mit Einschränkung Höhle – und manchmal auch
tums ein offenes Bekenntnis zu Machtwillen Schröder, und nun eben zur Frau. Wahrscheinlich ist
und Luxus und statt kitschiger „Heile Fa- Sarkozy. es auch das, was Frauen heu-
milienwelt“ kurzen Prozess auch in Privat- Venningen (Rhld.-Pf.) te immer noch wollen: Lie-
anglegenheiten vorführen. Matthias F. Mangold ber als x-te Frau von Herrn
Poznań (Polen) Ekkehard Grube Megawichtig verheizt, denn
REUTERS

Mehr als 200 Jahre nach als eigene Persönlichkeit


Zu dem wunderschö- der Französischen Revolu- wahrgenommen zu werden.
nen Titelbild beglück- tion hat die Bürgergesell- Präsident Sarkozy Wer will bei solch unvorein-
wünsche ich Sie. Noch schaft ebensolche feudalen Vom Tiger zum Bettvorleger genommenem Journalismus
MAL LANGSDON / REUTERS

passender wäre gewe- Erscheinungen herausge- schon einen so hochge-


sen, statt „Hawks“ bildet wie jene, die sie einst zu beseitigen schätzten, erfolgreichen Professor der Quan-
der Kunstflugstaffel wünschte. Oder anders: Nicht die Revolu- tenchemie, der sich dem journalistischen
Red Arrows der Royal tion frisst ihre Kinder, die Kinder der Voyeurismus entzieht, an der Seite der Frau
Air Force (Großbri- Revolution fressen die Revolution. Nummer eins in unserem Land sehen?
tannien) die Alpha- Wuppertal Christoph Schürmann Gescher (Nrdrh.-Westf.) Anja Meuter
Cover-Vorlage Jets der Patrouille de
Quel affront! France der Armée de
l’air (Frankreich) „bleu,
blanc, rouge“ in den leicht bedeckten
Vor 50 Jahren der spiegel vom 29. Januar 1958
Wiedergutmachungsdebatte Diskussion über unberechtigte Ansprüche.
Himmel ziehen zu lassen. Quel affront! Sozialer Wohnungsbau Hamburg befürwortet „System der Staffel-
Gotha (Thüringen) Andreas Ernst Schlipp miete“ nach Einkommen. Arbeitslosigkeit Für den Winter entlassene
Bauarbeiter belasten Statistik. US-Präsident Zweifel an Eisenhowers
Der Leser hat recht. Die Cover-Vorlage Gesundheit. Venezuela Aufstand gegen Diktator Marcos Pérez Jiménez.
DDR-Fernsehen Propaganda für Westdeutschland. Science-Fiction
zeigt Flugzeuge der British-Red-Arrows- Berühmter Astrophysiker veröffentlicht „Die schwarze Wolke“.
Kunststaffel zum Jubiläum des 100-jähri- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
gen Bestehens der „Entente cordiale“, der oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
englisch-französischen Freundschaft, in Titel: Büste des Philosophen Friedrich Nietzsche
Paris. –Red.
6 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Briefe

eingebaut werden müssen. Die Lebens- len könnten dabei viele Probleme lösen:
Härtetest vor dem Familiengericht standardgarantie – wenn die Kranken- mehr Zeit für Bildung und Übung, weniger
Nr. 3/2008, Scheidungen: schwester den Chefarzt heiratet – ist abge- Jugendkriminalität, da die Kinder länger in
Das reformierte Unterhaltsrecht sorgt für eine Prozesswelle schafft worden. Im Wesentlichen geht es der Schule sind, bessere Integration aus-
nach der Regelbetreuungszeit von drei Jah- ländischer Schüler.
Schade, dass gerade der SPIEGEL eine ren langfristig um die Ermittlung der ehe- Stuttgart Helgard Woltereck
derart einseitige Berichterstattung zulässt. bedingten Nachteile, insbesondere durch Grund- und Hauptschulrektorin i. R.
Immerhin werden Scheidungsanträge heu- Kindererziehung. Jetzt müssen die Frauen
te in der Mehrzahl von Frauen gestellt. wach werden und die Auswirkungen der Die illusorische Forderung, man müsse
Und das nicht, weil sie vom Ehemann miss- Auszeiten für Kindererziehung vertraglich künftig in acht Jahren so viel lernen wie
handelt werden, sondern weil sie endlich regeln oder auch die Männer Erziehungs- bislang in neun, führt einerseits zu einer
wieder die verlorene Freiheit genießen urlaub nehmen lassen. permanenten Überforderung der meisten
Hilden (Nrdrh.-Westf.) Ute Geenen Schüler (und Lehrer), andererseits zeigt
Fachanwältin für Familien- und Arbeitsrecht sich schon jetzt, dass sie nicht zu erfüllen
ist. Immer mehr Lehrer – und das sind
Wer Kinder betreut, hat weiterhin An- nicht die schlechtesten – sehen sich nicht in
spruch auf Unterhalt. Weiterhin entstehen der Lage, die überhöhten Vorgaben der
durch langjährige Ehedauer Unterhaltsan- neuen Lehrpläne zu erfüllen, und müssen
sprüche. Auch für die Altfälle wird es indi- deshalb Lernstoff in die nächsthöhere Klas-
viduelle Lösungen geben, dafür sorgen die se verschieben. Die Folgen für die Hoch-
MARCUS KAUFHOLD

Gerichte. Wir warnen davor, nur so auf schulen sind katastrophal: Man wird sich
Verdacht, aus dem Gefühl heraus einen dort auf Abiturienten einstellen müssen,
Prozess zu führen. Es wird sich für Altfälle deren Hochschulreife nur auf dem Papier
weniger ändern, als so manch ehemaliger ihrer Abiturzeugnisse steht.
Scheidungsanwältin, Mandant (in Wiesbaden) Partner sich erhofft. Man sollte die sinn- Neustadt / Aisch Dr. Dieter Geißendörfer
Von einem Extrem ins andere volle Unterhaltsrechtsreform nicht schlecht- Studiendirektor i. R.
reden, bevor sie den Härtetest vor den Fa-
wollen. Dafür hatte dann der Ex-Mann, miliengerichten bestanden hat. In jedem So funktioniert Schulpolitik: Um ein Pisa-
egal in welche wirtschaftlichen Verhältnis- Fall war sie eine notwendige Reform: Es Problem zu lösen (zu alte Schulabgänger),
se er nach der Ehe geraten ist, Unterhalt war einfach nicht einsichtig, dass der Le- werden viele andere verschlimmert: Bil-
teilweise bis runter auf den gesetzlichen bensstandard auch nach der Ehe, wenn die dungschancen sind stärker vom sozialen
Selbstbehalt (1000 Euro bei Erwerbstä- Geschäftsgrundlage – die Liebe – weg ist, Status der Eltern abhängig (wer kann sich
tigen) zu bezahlen. Ein neues Leben zu garantiert und finanziert werden muss. Nachhilfe leisten, wer kann mit seinem
beginnen oder gar eine neue Familie zu Würzburg Josef Linsler Kind lernen?), es gibt noch weniger Stu-
gründen war bisher vielen aufgrund der Bundesvorsitzender Interessenverband dierende, Kreativität wird dem Tempo und
hohen „Altlasten“ schlichtweg verwehrt. Unterhalt und Familienrecht damit dem Stress geopfert (wer hat noch
Denn nicht alle geschiedenen Männer sind Zeit, auf hohem Niveau ein Instrument zu
Oberärzte oder erfolgreiche Juristen, Ar- Leider wird in dem Artikel nicht mit einem lernen?). Solange Lehrpläne nicht über-
chitekten, Unternehmer … Was spricht Wort von Fällen gesprochen, bei denen arbeitet und Fächer viel stärker verknüpft
denn dagegen, dass die Trennungswilligen Frauen nachehelichen Unterhalt für ihre
ihre neugewonnene Freiheit nach einer ge- Männer zahlen müssen. Aus eigener Er-
wissen Übergangsfrist selbst zu finanzie- fahrung weiß ich, dass es solche Fälle gibt.
ren haben? Dresden Erik Bauch
Uhingen (Bad.-Württ.) Max Biermaier

DAVID AUSSERHOFER / ULLSTEIN BILD


Nach dieser Änderung kann keine halb-
Ich kann Frau Zypries zur Reform nur be- wegs vernünftig ausgebildete Frau riskie-
glückwünschen. Wer etwas dagegen sagt, ren, ihren Beruf durch Erziehungszeiten
verteidigt unhaltbare Zustände. Wäre die oder Teilzeitarbeit zu gefährden. Ob dann
Reform nicht gekommen, hätte ich meine das Programm der Bundesregierung zur
Arbeit eingestellt und mich vom Staat ver- Geburtensteigerung noch greift, ist frag-
sorgen lassen. Nach der alten Regelung lich. Verlierer sind die Frauen, die auf
wären mir von 100 Euro Verdienst nach bestehendes Recht vertrauend in die „Kar-
Steuern und Unterhaltszahlung 25 Euro rierefalle“ getappt sind. Schulkantine in Münchner Gymnasium
netto übrig geblieben. Obwohl meine Ex- Ludwigshafen (Rhld.-Pf.) Jutta Blankenburg Ein dilettantisches Stückwerk
Frau Vollzeit arbeitet, die Kinder 16 und
12 Jahre alt sind, fordert sie 1000 Euro mo- werden, bleibt „G8“ ein dilettantisches
natlich als Ehegattenunterhalt neben dem
Kindesunterhalt.
Kontraproduktive Reform Stückwerk.
Nr. 3/2008, Bildung: Waldkirch (Bad.-Württ.) Stefan Goeritz
Puchheim (Bayern) Erhard Schemel Gestresste Schüler, besorgte Lehrer – die Auswirkung des
auf zwölf Jahre verkürzten Wegs zum Abitur Ob der Weg zum Abitur 12 oder 13 oder
Grundsätzlich ist die Gesetzesänderung zu auch 8 oder 20 Jahre dauert, scheint mir
begrüßen, trifft aber viele Mütter völlig Viele Eltern verlangen: „Schule, mach mein nicht relevant. Es scheint so zu sein, dass
unvorbereitet. Es ist tatsächlich der Wech- Kind schlau, ohne dass es sich anstrengen man längst vergessen hat, wozu die Schu-
sel von einem Extrem in das andere. Dies, muss“ – ganz nach dem Motto der heuti- le überhaupt da ist. Was ist der Sinn der
obwohl immer noch die meisten Ehen mit gen Spaßgesellschaft. Das funktioniert Schule? Ein wesentlicher Punkt kommt in
Kindern leider so aufgebaut sind, dass nicht! Nach Manfred Spitzer, dem be- der Debatte nicht vor: die Bedeutung der
der Ehemann der Grundverdiener ist und kannten Neurobiologen und Bildungsfor- Menschenbildung – dass Fächer wie Kunst
allenfalls zwei Monate Erziehungsurlaub scher, muss zehntausendmal geübt wer- und Musik endlich ernst genommen wer-
nimmt. Es hätte hier eine Übergangsfrist den, bis etwas richtig sitzt! Ganztagsschu- den. Ist es gewünscht, dass die geplagten
10 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Briefe

Kinder und Jugendlichen weiterhin blind Schule ist nie Freude pur, aber das im Ar-
pauken, so dass man den Eindruck hat, es tikel beschriebene Horrorszenario ist eben-
sollen nur schlaue Fachidioten gezüchtet so wenig zutreffend. Vielleicht sollte ein-
werden zum alleinigen Zweck der Fütte- mal in Sachsen nachgefragt werden, ob
rung einer fragwürdigen Industrie-, Ge- Schulzeitverkürzung und Zentralabitur zur
schäfts- und Arbeitswelt? Gesamt- und/oder Ganztagsschule führen
Zell (Mosel) Paul Trein müssen. Eine inzwischen über 17-jährige
Erfahrung hätte das vielleicht verdient und

MARCUS KAUFHOLD
Noch immer bleibt rätselhaft, warum sich wäre unter Umständen sogar zielführend –
die erfolgreiche deutsche Industrienation auch wenn sie nur aus Sachsen kommt.
nicht einmal darauf einigen kann, was für Freiberg (Sachsen) Prof. Dr. Klaus Husemann
Jugendliche zwischen den Alpen und der Staatssekretär a. D.
Ostsee verbindlicher Lehrstoff sein soll. Fünftklässler Leon Meister
Sie beschreiben sehr plastisch, dass Schu- Permanente Überforderung der Schüler? Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.
len in Deutschland noch oft als Anstalten Schickt eure Kinder auf die Waldorfschule!
gesehen werden, in denen Kindern Wis- Wir waren damals halt etwas zäher und Da können sie ganz kindgerecht ihren Ab-
sen eingetrichtert wird. Das ist Schulpraxis ausdauernder. schluss erlangen. Theater, Musizieren, Mit-
des 19. Jahrhunderts. Lehrte (Nieders.) Ulrich Gürtler tagessen und Bewegung an der frischen
Potsdam Hans-Dieter Rutsch Luft inklusive. Nachmittagsunterricht ist
Schon lange hat mir ein Artikel nicht mehr zwar die Regel – was sich aber mit arbei-
Mit Vergnügen lese ich das Gejammer über so sehr aus der Seele gesprochen. Als Mut- tenden Eltern super vereinbaren lässt. Und
34 oder gar 36 Wochenstunden Unterricht. ter zweier Kinder in der siebten und ach- am Ende reichen zwei Jahre, um das allge-
In den sechziger Jahren des vergangenen ten Gymnasialklasse kann ich die Inhalte meine bayerische Abitur zu erlangen.
Jahrhunderts waren 36 Schulstunden zu- nur bestätigen. Die Ergebnisse der „Schul- Flörsheim am Main (Hessen) Matthias Bogár
meist der Standard. Dazu kamen noch reform“ sind erschreckend, denn nach sie-
AGs. Dazu kam bei mir noch Sport ben bis acht Unterrichtsstunden pro Tag Ich bin „G8“-Schülerin, zwölf Jahre, und
(Hockey in der Oberliga). Wir haben auch fehlt den Kindern nicht nur die Zeit für habe dieses Jahr Latein als zweite Fremd-
regelmäßig unsere Partys gefeiert. Außer- Freunde oder Hobbys. Die Kinder sind am sprache zu Englisch dazubekommen. Die
dem hatte ich noch die segensreiche Ein- Ende so überfüttert mit Lerninhalten, dass Schule macht mir Spaß, meine Noten sind
richtung der Kurzschuljahre. Haben wir al- sie sich nichts mehr merken können. Un- gut, und nachmittags bin ich in der Thea-
les ohne größeren Schaden überstanden! term Strich erscheint die Reform damit tergruppe, treibe Sport und bin viel mit
Meine Mitschüler belegen heute Spitzen- kontraproduktiv. Freunden unterwegs. Meine Hausaufgaben
positionen in Wirtschaft und Verwaltung. Berlin Ruth Weiler erledige ich seit der Grundschulzeit selb-
ständig, und Nachhilfe käme nicht in Frage, eingepasst. Kein Wunder, wenn deutsche
weil meine Mutter meint, wer Nachhilfe Hersteller jetzt in den Pannenstatistiken
braucht, sei für das Gymnasium ungeeignet. nach vorn rutschen; dazu brauchen sie ei-
Pocking (Bayern) Deborah De Lorenzo gentlich gar nichts zu tun. Toyota erledigt
das schon selbst.
Ich kann Ihnen versichern, dass es (sogar Laatzen (Nieders.) Peter Fündeling
im rot-roten Berlin) Gymnasien gibt, auf
denen der zusätzliche „G8“-Lernstoff ver- Der Sieger BMW X3 in der ADAC-Pan-
nünftig vermittelt wird, und die Kinder nenliste wird gar nicht von BMW selbst
durchaus nebenher noch Zeit zum Spie- gebaut, sondern in Auftragsarbeit bei
len und für den Sportverein haben. Zu- Magna Steyr in Graz! Die Trophäe gebührt
dem stehen wir als voll berufstätige Eltern somit zu einem erheblichen Teil den öster-
dem vermehrt anfallenden Nachmittags- reichischen Autowerkern. Was BMW aber
unterricht nicht ideologisch ablehnend ge- nicht davon abhält, den nächsten X3 in den
genüber, sondern begrüßen ihn als zeit- USA bauen zu lassen. Welchen Platz wird
gemäß und im internationalen Vergleich dann der neue X3 in der ADAC-Pannenlis-
angemessen. Auch in Berlin müssen die te einnehmen?
Kinder nachmittags nicht mehr zum Kar- Bad Fallingbostel (Nieders.) Dieter Fabian
toffelnsammeln aufs väterliche Feld wie zu
den Zeiten, als die reine Vormittagsschule Mein Verdacht: Die Qualität dieser Autos
in Deutschland eingeführt wurde. wird gezielt auf ein gutes Abschneiden in
Berlin Nils Morgenthaler der Pannenstatistik optimiert. Aber überall
dort, wo Mängel nicht gleich zum Ruf der
Die Verkürzung der Schulzeit hin zum „Gelben Engel“ führen, wird gepfuscht
Abitur setzt nicht nur alle daran Beteiligten und gespart, wo es geht.
unter Stress, sondern wird sich auch nega- Bremen Claus Hanske
tiv auf das Engagement vieler begabter
junger Menschen im Bereich der ehren- Dass deutsche Autos in der Pannenstatistik
amtlichen Mitarbeit in Kirchen, Vereinen, so schlecht abschneiden, war für Fachleu-
politischen und kreativen Gruppen aus- te der Autobranche immer schon zweifel-
wirken. Die Vergreisung dieser Wirkungs- haft. Ausländische und insbesondere japa-
felder ist vorgezeichnet. Nach dem Abitur nische Marken befinden sich kaum in den
wird sich wohl kaum ein junger Mensch kilometerintensiven Firmenfuhrparks. Ent-
noch für diese Tätigkeit begeistern, stehen sprechend niedriger sind die Jahresfahrleis-
dann doch Studium und Jobsuche im Vor-
dergrund. Die Motivation für ein freiwil-
liges Engagement ist, entwicklungspsycho-
logisch bedingt, gerade bei Eintritt in die
Oberstufe besonders hoch.
Grünberg (Hessen) Hartmut Miethe
Pfarrer

Zweifelhafte Statistiken
Nr. 3/2008, Automobile:
Erstaunliche Trendwende in der Pannenstatistik

Es ist sicher richtig, dass die Qualität deut- „Gelber Engel“-Gewinner BMW X3
scher Autos besser geworden ist. Dennoch Premiummarke mit Versorgungsdienst
möchte ich darauf hinweisen, dass die Her-
steller deutscher Premiummarken einen tungen und das Pannenrisiko. Außerdem
Versorgungsdienst für ihre Kunden bei werden die Fahrzeuge erheblich defensiver
Fahrzeugausfall errichtet haben. Audi-, bewegt.
BMW- oder Mercedes-Kunden rufen heu- Senden Kr. Neu-Ulm (Bayern)
te nicht nach dem ADAC, sondern nach Wolfgang Steurer
dem Werkshilfsdienst. Insofern ist die
ADAC-Liste „Gelber Engel“ nicht mehr Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-
schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
fair. Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de
München Peter Graf von Ingelheim

Dem Artikel kann ich nur zustimmen. Ich In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist um den
fahre seit 1980 Toyota, jetzt das zehnte Titel ein Umhefter des SPIEGEL-Verlags, Hamburg, ge-
Fahrzeug. Die Fahrzeuge aus Japan waren legt. Eine Teilauflage enthält einen Partner-Durchhefter
der Firma ING DiBa, Frankfurt, sowie der Firma SPIE-
top verarbeitet. Schlechter war schon die GEL-Verlag, Hamburg. In einer Teilauflage dieser SPIE-
Qualität, als ein Fahrzeug aus Burnaston GEL-Ausgabe befindet sich in der Heftmitte ein vierseiti-
in England kam. Das jetzige Fahrzeug ger Beihefter der Firma Lexus, Köln. In einer Teilauflage
(Corolla Verso, hergestellt in der Türkei) ist befinden sich Beilagen der Firmen Handelsblatt, Düssel-
dorf, SPIEGEL-Verlag / SPIEGEL-Forum, Hamburg, sowie
schlampig verarbeitet. Zum Beispiel sind die Verlegerbeilage SPIEGEL-Verlag / KulturSPIEGEL,
Tür- und Fensterdichtungen nicht richtig Hamburg.

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 13
Panorama Deutschland
SPD

Clement legt nach


E x-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) bekräftigt
im Streit mit den Genossen noch einmal seine Kritik.
Die demokratischen Parteien und damit auch die SPD müss-
ten „endlich wieder zu ihren ureigenen Aufgaben zurück-
finden, statt sich abzukapseln und abzuschotten und Quer-
denkende auszustoßen“, sagt Clement. „Die Parteien wirken
an der politischen Willensbildung mit, heißt es im Grundge-
setz, aber sie sind nicht die Willensbildung und haben auch

JEWEL SAMAD / AFP


keinen Alleinvertretungsanspruch. Selbstbescheidung und
mehr Bürgernähe sind geboten.“ Scharfe Kritik übt Clement
an den Auswahlverfahren für politische Mandate. „Dass die
Aufstellung von Wahllisten der Parteien hierzulande immer
noch wie eine Verschlusssache gehandhabt wird, ist ein Ana- Anschlag auf US-Konvoi (in Bagdad)
chronismus und einer Demokratie nicht würdig.“ Öffentliche
Vorwahlverfahren könnten helfen, die Politik wieder näher TERRORISMUS

Al-Qaida-Kämpfer aus Braunschweig


zu den Bürgern zu bringen. Zugleich sollten politische Man-
date oder Ämter künftig nur noch für maximal zwei Legis-
laturperioden vergeben werden, so Clement. Die SPD dis-
kutiert derweil über ein Ausschlussverfahren gegen ihren
früheren stellvertretenden Vorsitzenden. Dies kann von jeder
Untergliederung beantragt werden. In Clements Heimatbe-
IListen
m Irak kämpft offenbar eine Gruppe junger Studenten aus
Deutschland auf Seiten von al-Qaida gegen die US-Armee. In
mit Namen ausländischer Rekruten, die amerikanische
zirk Bochum sind die Meinungen geteilt. Während dort einige Soldaten in einem Zeltlager im Irak beschlagnahmten, finden
Genossen einen Ausschluss befürworten, lehnt der Vorsit- sich die Personalien von vier Männern aus Niedersachsen, die
zende von Clements Ortsverein Weitmar-Mitte, Andreas sich demnach freiwillig für den Dschihad gemeldet haben. Zwei
Marten, dies klar ab. „Davon will ich nichts wissen“, sagt er. der Männer, Radhuan Ibn Jussif N., 25, und Siad B., 30, ver-
schwanden im Frühjahr vergangenen Jahres plötzlich aus dem
Braunschweiger Studentenwohnheim „Affenfelsen“. Die bei-
den Tunesier hatten an der Technischen Universität Braun-
schweig studiert und galten als unauffällig; B. lebte seit zehn
Jahren in Deutschland, N. seit 2003. Noch unklar ist der Hin-
tergrund bei den anderen zwei Mitgliedern der Dschihad-
Reisegruppe: Ein weiterer Tunesier namens Nidal al-K. gab
gegenüber al-Qaida an, Arzt zu sein, und stellte sich den Un-
terlagen zufolge als Selbstmordattentäter zur Verfügung. Ob er
noch lebt, ist ungewiss. Deutsche Ermittler prüfen nun, wer die
vier Dschihadisten in Deutschland rekrutierte und den Kontakt
vermittelte. Die Gruppe gab an, über die Türkei und Syrien
in das Kampfgebiet gereist zu sein. Bundeskriminalamt und
Verfassungsschutz gehen davon aus, dass seit 2003 bundesweit
mehr als 80 Freiwillige aus Deutschland in den Irak gereist
sind, von denen etwa die Hälfte aktiv auf Seiten al-Qaidas
TEICH / CARO / ULLSTEIN BILD

gekämpft hat. In einem weiteren Ermittlungsverfahren gehen


die Fahnder derzeit möglichen Verbindungen zwischen einer
Islamistenzelle in Barcelona und deutschen Kontaktleuten
nach: Die spanische Polizei hatte am vorvergangenen Samstag
Clement in Barcelona zwölf Pakistaner und zwei Inder festgenommen,
die im Verdacht stehen, einen Anschlag geplant zu haben.

DEUTSCH E BAH N Chef eines bundeseigenen Unterneh- Pflüger, CDU-Fraktionsvorsitzender im

Mehdorn erzürnt
mens ist eine solche Parteinahme eine Berliner Abgeordnetenhaus, die Stargäs-
klare Grenzüberschreitung“, sagt der te sind, soll an diesem Dienstag stattfin-

Genossen
Sprecher der SPD-Linken im Bundestag, den. Die Teilnehmer werden um eine
Niels Annen. „Herr Mehdorn sollte sei- Spende für die Berliner CDU gebeten,
ne Teilnahme absagen.“ Ähnlich wird um deren Kampf gegen die geplante

B ahn-Chef Hartmut Mehdorn sorgt für


Verärgerung in der SPD. Stein des
Anstoßes ist ein geplanter Auftritt des
der Vorgang im SPD-geführten Bundes-
verkehrsministerium gesehen, inoffiziell
heißt es dazu: „Wir verstehen Herrn
Schließung des City-Flughafens Tempel-
hof zu unterstützen. Mehdorn, der par-
teilos ist, wolle sich mit seinem Auftritt
Managers bei einem Spenden-Dinner zu- Mehdorn nicht mehr.“ Das Spenden- vor allem für die Offenhaltung des Flug-
gunsten der Berliner CDU. „Für den Dinner, bei dem Mehdorn und Friedbert hafens einsetzen, heißt es bei der Bahn.
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 15
Panorama
PA R T E I F I N A N Z E N

Selbstbedienung bei
den Republikanern
N ach der NPD ist nun eine weitere
rechtsradikale Partei wegen dubio-
sen Finanzgebarens ins Visier der Bun-
destagsverwaltung geraten: die Repu-
blikaner (Rep). Hintergrund ist ein ak-
tuelles Urteil des Landgerichts Stuttgart
gegen einen langjährigen Schatzmeister
des baden-württembergischen Rep-Lan-
PHOTOTHEK / ULLSTEIN BILD
desverbands. Der Ex-Funktionär hatte
bis 2001 rund 60 000 Euro aus der Par-
teikasse für private Zwecke abgezweigt,
unter anderem für das Leasing eines
Sportwagens und zur Begleichung pri-
vater Steuerschulden. Wegen Untreue
in 37 Fällen wurde der Mann im Okto- Merkel (in einem Technologieunternehmen in Dresden)
ber zu einer Bewährungsstrafe von ei-
nem Jahr und neun Monaten verurteilt. FORSCHUNG

Fehlende Milliarden
Die diskrete Geldentnahme in Baden-
Württemberg, wo die Republikaner
bis 2001 im Landtag saßen, war aber
offenbar kein Einzelfall: In „finanziel-
len Angelegenhei-
ten“, so das Gericht,
„herrschte im gesam-
B und, Länder und Unternehmen in Deutschland müssen die jährlichen Zuwen-
dungen für Forschung bis 2010 um deutlich mehr als zehn Milliarden Euro
steigern. Nur so kann das von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) propagier-
ten Präsidium“ des te Innovationsziel erreicht werden. Demnach sollen 3 Prozent des Bruttoinlands-
Landesverbands eine produkts in Forschung und Entwicklung (FuE) fließen, um international wett-
Art „Selbstbedie- bewerbsfähig zu bleiben. Aus neuen Zahlen des Bundesforschungsministeriums und
nungsmentalität“; des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft geht hervor, dass bisher nur ein
zudem habe man Wert von knapp 2,6 Prozent erreicht wurde. Zwar stiegen die FuE-Ausgaben der
versucht, „dieses Wirtschaft von 2005 auf 2006 um sieben Prozent und damit fast doppelt so stark wie
Finanzgebaren zu in den Vorjahren. Auch will die Bundesregierung über die gesamte Legislaturperi-
SASCHA RHEKER / ATTENZIONE

verschleiern“. Doch ode 6,5 Milliarden Euro zusätzlich für FuE-Ausgaben zur Verfügung stellen. Doch
auch die merkwürdi- um bei anhaltendem Wirtschaftswachstum das Drei-Prozent-Ziel zu erreichen,
ge Buchungspraxis sind erhebliche zusätzliche Investitionen nötig. Die nationalen FuE-Ausgaben müss-
des bayerischen Rep- ten selbst bei Nullwachstum von heute rund 63 Milliarden Euro auf 73 Milliarden
Landesverbands er- Euro steigen. Größte Schwachstelle der Innovationsoffensive bleiben viele Bun-
regt das Interesse der desländer, vor allem im Norden und im Osten.
Schlierer Parteienkontrolleure
von Bundestagspräsi-
dent Norbert Lammert (CDU): Den
dortigen Finanzbehörden war aufgefal-
len, dass die Summe der ausgestellten gierten Rheinland-Pfalz weiter im
Spendenbescheinigungen die Summe Visier der Verfassungsschützer
der Partei-Einnahmen in den neunziger bleiben. Wie das dortige Innen-
Jahren mitunter deutlich überstieg. ministerium dem SPIEGEL bestä-
Nach einem Urteil des Bundesfinanz- tigte, sollten weiterhin öffentlich
hofs muss das Finanzgericht München zugängliche Quellen der Linken
AMIN AKHTAR / OSTKREUZ

jetzt entscheiden, ob die Steuerbehör- durch die Geheimen ausgewertet


den das wundersame Spendenaufkom- werden. Begründet wird die Beob-
men erneut unter die Lupe nehmen achtung mit dem starken Einfluss
müssen. Der Rep-Bundesvorsitzende der ehemaligen PDS in der rhein-
Rolf Schlierer weist die Vorwürfe land-pfälzischen Linkspartei; etwa
zurück: „Wir warten erst die Entschei- jedes fünfte der rund 1500 Mitglie-
dung des Finanzgerichts München ab, V E R FA S S U N G S S C H U T Z der stammt aus der PDS. In einem Brief

Stures Beck-Land
bevor wir uns zu Einzelheiten äußern.“ an Ministerpräsident Kurt Beck hatte
Danach will auch die Bundestagsver- der rheinland-pfälzische Bundestagsab-
waltung prüfen, ob eventuell Staatszu- geordnete Alexander Ulrich die Einstel-
schüsse zurückgefordert werden. Im
vorigen Jahr erhielten die Republikaner
rund 1,2 Millionen Euro Steuergeld aus
W ährend selbst das CDU-geführte
Saarland auf die Beobachtung der
Partei Die Linke durch den Verfassungs-
lung der Beobachtung gefordert – und
darauf hingewiesen, dass „ein nicht
unerheblicher Teil der Mitgliedschaft
der Parteienfinanzierung. schutz verzichtet, soll sie im SPD-re- ursprünglich aus der SPD“ komme.
16 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland
JUSTIZ Schritt und Tritt beobachten. „Wir

Mit GPS gegen Sextäter


wollen nur besonders rückfallgefährde- AM RANDE
te Gruppen wie Pädophile von be-
stimmten Sicherheitszonen, zum Bei- Europas Wolfsbarsch
A ls erstes Bundesland erwägt Bayern
manche entlassene Sexualstraftäter
mit Hilfe von Ortungs-
spiel Kindergärten, fernhalten.“ Die
technische Umsetzung ist noch nicht
geklärt: Diskutiert wird
Man muss über Finnland sprechen.
Finnland hat ein Imageproblem. Damit
geräten zu kontrollieren. ein elektronisches Arm- war nicht zu rechnen. Finnland und der
Im Justizministerium band, in dem das satel- Finne waren eigentlich immer ganz
wird derzeit geprüft, wie litengestützte Naviga- okay. Ein Land mit viel Wald, eine Wis-
man Aufenthaltsverbote tionssystem GPS instal- sensgesellschaft im Norden Europas. In
durchsetzen könnte, mit liert ist. So wäre die den vergangenen Jahren stiegen deut-
denen eine Reihe von Position der Person sche Politiker in Gruppen durch das

MAGO STOCK & PEOPLE


Sexualstraftätern nach ermittelbar, bei der finnische Unterholz, um in Lapplands
Haftverbüßung belegt Annäherung an einen Gesamtschulen das finnische Bildungs-
wird. „Ziel ist nicht Kindergarten würde das system zu studieren – beim ewigen
die Totalüberwachung“, Gerät per SMS Alarm Pisa-Sieger. Anschließend kehrten sie
sagt Justizministerin auslösen. mit saunaroten Gesichtern nach Berlin
Beate Merk (CSU); man zurück und erklärten: Von Finnland ler-
wolle niemanden auf Merk nen heißt siegen lernen.
Jetzt will die finnische Firma Nokia ihr
Werk in Bochum schließen, und alle
Politiker sagen: Nokia, das ist ein schwei-
AT O M M E I L E R Kotting-Uhl. Die Forschungsanlage hatte nekapitalistischer, globalisierungsgeiler

Teure Entsorgung
1977 den Betrieb aufgenommen und Konzern, kalt wie der Finnische Meer-
wurde 14 Jahre später stillgelegt. Brüter- busen. Beck hat sein Nokia-Handy aus
Technologie, die sowohl zur Erzeugung Protest zurückgegeben. Und

D er Abriss der Karlsruher Versuchs-


anlage für einen Schnellen Brüter in
Deutschland kostet den Steuerzahler
von Energie als auch von spaltbarem
Material dient, ist in Deutschland auch
wegen massiver Proteste der Bevölke-
Struck auch.
Niemand hatte mit den Fin-
nen gerechnet. Der Finne
weit mehr als vorgesehen. Wie das Bun- rung nie zur kommerziellen Anwendung schien an der Globalisierung
desforschungsministerium jetzt einräum- gekommen. Der Abriss alter Kerntech- nicht besonders interessiert.
te, kostet die Entsorgung des Meilers 309 nik wird zunehmend zur Belastung für Er galt als der melancholische
Millionen Euro und damit 100 Millionen den Bundesetat. Erst kürzlich hatte das Friedfisch Europas. Mit Finn-
mehr als geplant. Verantwortlich dafür Forschungsministerium eingeräumt, die land verband man die Schluss-
seien unter anderem technische Proble- Entsorgung der atomaren Wiederaufar- akte von Helsinki, den Wohl-
me beim Ausbau des Reaktortanks, heißt beitungsanlage Karlsruhe (WAK) werde fahrtsstaat, den freundlichen
es in einer Antwort auf eine Anfrage der 239 Millionen Euro teurer als bisher Mika Häkkinen, den sanften
Grünen-Bundestagsabgeordneten Sylvia angenommen. Suizid, den friedlichen Suff und Wörter
mit ä. Den schönsten finnischen Namen
trug der Skilangläufer Mika Myllylä,
weil er zeigte, dass Finnisch eine Spra-
che ist, die sich leichter spricht, je mehr
man trinkt. In den Filmen von Aki Kau-
rismäki wurde wenig geredet, unter fin-
nischen Skispringern wurde wenig ge-
redet, und im Norden Finnlands, bei
den Samen, wurde womöglich über-
haupt nie geredet.
Heute, nach Bochum, muss man sagen:
Das nette Finnland-Image wurde ver-
mutlich in die Welt gesetzt von Spin-
Doctors der Regierung und vom finni-
schen Fremdenverkehrsamt. Der Finne
ist knallhart und globalisierungsmäßig
völlig angefixt. Der Wolfsbarsch Euro-
pas. Ein fieser Möpp.
Beck sucht jetzt eine neue Handy-
Marke. Struck auch. Motorola war im
Gespräch, was aber nicht geht, wegen
PETER SANDBILLER / IMAGO

der Werksschließung in Flensburg.


Samsung ist auch schwierig, wegen der
Werksschließung vor zwei Jahren in
Berlin. Bis auf weiteres sind Beck und
Struck nur über das Festnetz erreichbar.
Jochen-Martin Gutsch
Forschungszentrum Karlsruhe
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 17
Deutschland Panorama
STROMERZEUGER

Konzerne sollen
Konkurrenz finanzieren
D ie rheinland-pfälzische Landesregie-
rung von SPD-Chef Kurt Beck ver-
langt von Bundeswirtschaftsminister
Michael Glos (CSU), mehr Wettbewerb
auf dem Strommarkt zu schaffen. Der
Versuch des Unionspolitikers, die Strom-
konzerne durch die Ankündigung einer
Kartellrechtsverschärfung in die Knie zu
zwingen, habe sich „als Luftnummer
erwiesen“, beklagt Wirtschaftsminister

WERNER OTTO
Hendrik Hering (SPD). Um die preis-
treibende Marktmacht der vier großen
Erzeuger RWE, E.on, EnBW und Vatten-
Rhein bei St. Goarshausen fall zu brechen, müsse die öffentliche
Hand „so schnell wie möglich“ den Bau
LORELEY neuer Kraftwerke forcieren, drängt He-

Unesco prüft Rheinbrücke


ring – und zwar auf Kosten der Strom-
konzerne selbst. Becks Wirtschaftsminis-
ter verlangt staatliche Förderprogramme
für umweltfreundliche regionale Kraft-

E ine Expertenkommission der Unesco will im Februar untersuchen, ob eine Rhein-


brücke in der Nähe des Loreley-Felsens bei St. Goarshausen mit dem Titel „Welt-
erbe“ des Oberen Mittelrheintals vereinbar ist. Die rheinland-pfälzische Landes-
werke, die dann von Stadtwerken, Pri-
vatpersonen oder mittelständischen
Unternehmen betrieben werden sollten.
regierung hat der Uno drei mögliche Standorte für das von Anwohnern seit Jahr- Finanzieren will Hering die Förderpro-
zehnten geforderte Bauwerk genannt. Im Gegensatz zu Sachsen, wo Straßenplaner gramme aus dem Verkauf von CO2-Zer-
und Denkmalschützer erbittert über die Dresdner Waldschlösschenbrücke streiten, will tifikaten an die großen Stromerzeuger.
die SPD-geführte Landesregierung in Mainz den Verlust des prestigeträchtigen Welt- Bis zum Jahr 2013 werde dadurch insge-
erbe-Status „keinesfalls riskieren“, so ein Sprecher des Verkehrsministeriums. Des- samt rund eine halbe Milliarde Euro ein-
halb räumen die Planer derzeit allenfalls einer etwa vier Kilometer nordwestlich von genommen, anschließend könnten die
der Loreley gelegenen Brücke zwischen Fellen und Wellmich Realisierungschancen Erlöse aus dem Zertifikate-Verkauf sogar
ein. Von dort bestehe „keine Sichtbeziehung“ zu dem markanten Felsen. Überdies auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr
hat das Land ein Konzept für eine Tunnelvariante ausarbeiten lassen, die mit rund steigen.
72 Millionen Euro allerdings um mehr als 30 Millionen Euro teurer wäre als eine
Brücke. Nur mit dem Ausbau der vorhandenen Fährverbindungen, den der Interna-
tionale Rat für Denkmalpflege (Icomos) empfiehlt, lässt sich nach Ansicht des Main-
zer Ministeriums der vorausgesagte Verkehrszuwachs in der Region nicht bewältigen.
Nachgefragt

zwölfte Schüler in den zehnten und


Kirchen-WG
SCHULBILDUNG
In einigen evangelischen
Erhebliches Nichtwissen
elften Klassen kannte nicht einmal Erich
Honecker, jeder sechste Realschüler Landeskirchen und katholi-
schen Bistümern zieht man in
über die DDR
hielt ihn sogar für einen bundesdeut-
schen Politiker. Etliche Schüler ordneten Erwägung, bestimmte
umgekehrt die Westdeutschen Willy Kirchengebäude
A uf erschreckende Unkenntnis über
die jüngere deutsche Geschichte
stieß der Forschungsverbund SED-Staat
Brandt und Ludwig Erhard der DDR zu.
40 Prozent der Befragten wussten nicht,
in welchem Jahr die Berliner Mauer
aus Kostengrün-
den gemeinsam
der Freien Universität Berlin bei einer gebaut wurde. Jeder dritte Haupt- und zu nutzen. Soll das
repräsentativen Befragung unter baye- Realschüler hält die Stasi für einen möglich sein?
rischen Schülern. Erhebliches Nicht- „normalen Geheimdienst“. Fazit der Konfession
Gesamt evan- katho-
wissen über die DDR führe, so der ver- Berliner Forscher: In den Schulen beste- gelisch lisch
antwortliche Politikprofessor Klaus he dringend Nachholbedarf in deutscher
Schroeder, „zu einem eher Nachkriegsgeschichte – zu- Ja 79 % 81 88
diffusen oder neutralen mal die Schüler angaben,
T. BARTH / LAIF

Bild“ des ehemaligen zwei-


ten deutschen Staates. Über
in ihren Familien würde
über diese Themen kaum
Nein 13 % 13 9
ein Viertel der Schüler gesprochen. TNS Forschung für den SPIEGEL vom 22. und 23. Januar;
wusste mit Walter Ulbricht 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
keine Angabe
nichts anzufangen; jeder Schüler (in München)
18
Titel

Abschreibungen
der Banken
3. und 4. Quartal 2007*
in Mrd. Dollar

2,7 10,8** 23,6 14,4 2,7


24,6

Kursverluste
gegenüber
1. Januar 2007
Stand: 24. Januar 2008 – 36,1 % – 32,7 %
– 41,1 % – 38,3 %
– 46,1 %
– 50,9 %

Der kranke Gorilla


Börsencrash, Milliardenverluste, Rezessionsängste: Die Krise an den Finanzmärkten
ist zu einer Gefahr für die Weltwirtschaft geworden. Ausgelöst von
renditehungrigen Bankern, bedroht sie inzwischen das Gefüge des weltweiten Finanzsystems.

20 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Bankenmetropole Frankfurt am Main

* Barclays, HSBC und Deutsche Bank nur 3. Quartal; ** inkl. außerordentlicher Verluste; Quelle: Thomson Financial Datastream, Unternehmensdaten
Credit Bank of
Suisse America

4,7 5,3 9,4 3,2 3,4

– 16,2 %
– 25,3 % – 24,2 % – 22,6 %
– 29,7 %

S
eit dem Morgen fallen die Aktien- geflimmert, mit Bildern der schlimmsten sen hält jeder Teilnehmer eine kleine graue
kurse auf breiter Front, am Mittag hat Börsencrashs der letzten 80 Jahre, ange- Box mit ein paar Tasten in der Hand, eine
es die Technologiewerte erwischt, fangen mit dem Schwarzen Donnerstag im Art Fernbedienung, mit der er darüber
und auch die ersten Nachrichten von der Oktober 1929. Das Schlussbild zeigt eine abstimmen soll, was er für die „größte Ge-
Wall Street sind düster. In der schwer ge- Liste mit den Abschreibungen der größten fahr für die Weltwirtschaft in diesem Jahr“
sicherten Betonfestung im Zentrum des amerikanischen Banken, Stand Mitte des hält. Es ist ein ziemlich sardonischer Regie-
Schweizer Skiorts Davos haben sie sich Monats. Es sind schwindelerregende Zah- einfall.
ein kleines Spiel zur Lage ausgedacht. Es len – und das ist noch lange nicht das Ende, Zur Auswahl stehen ein „globaler Zu-
THILO WAITZ / BILDMASCHINE.DE

ist Mittwoch der vergangenen Woche, der wie jeder hier im Saal weiß. sammenbruch der Kreditversorgung“,
erste Tag des jährlichen Weltwirtschafts- Normalerweise wäre jetzt ein Vortrag an „steigende Energiepreise“, ein „genereller
forums. Der Kongresssaal ist gut gefüllt mit der Reihe zu den großen Themen, die es Vertrauensverlust der Verbraucher“. Es ist
Leuten, die auf die eine oder andere Wei- dieses Mal abzuhandeln gilt, irgendetwas eine lange, düstere Liste, bei der eine Op-
se vom Börsengeschäft leben. Gehaltvolles über Klimawandel oder die tion schlimmer ist als die andere. Was man
Über die große Leinwand an der Stirn- Herausforderung der Globalisierung. So ist auch wählt – es bedeutet, dass die Welt
seite ist gerade ein Film zur Einstimmung es üblich zum Auftakt in Davos. Stattdes- in eine Rezession stürzen könnte. Das
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 21
Titel

MAURICIO LIMA / AFP (L.); EUGENE HOSHIKO / AP (M.)


Brasilianische Börsenhändler (in São Paulo), chinesischer Investor (in Shanghai), Aktienbroker (an der New Yorker Wall Street): Schlimmste

Publikum entscheidet sich für „allgemeine Schlimm erwischte es auch Frankfurt. schrumpft sei, in 7 weiteren stagniere sie.
Führungskrise“. Keine dumme Wahl – an- In nur vier Stunden rasten die Kurse der Schwächelt die größte Volkswirtschaft der
gesichts des Taifuns, der draußen tobt. 30 größten deutschen Konzerne um 500 Erde, wird das zwangsläufig alle Handels-
Als die Leute nach 90 Minuten zurück Punkte nach unten. Am Ende hatte der partner der USA in Mitleidenschaft zie-
ins Foyer strömen, zeigen die Bildschirme Dax 7,2 Prozent und damit 63 Milliarden hen, auch die Deutschen.
neue Kursverluste; die Eilaktion der Euro an Wert verloren, der übelste Tages- Schon korrigiert die Bundesregierung
amerikanischen Notenbank, den Leitzins verlust seit dem 11. September. ihre Wachstumsprognose nach unten. Öko-
außerplanmäßig gleich um 75 Basispunkte Der Sturm, der im vergangenen Jahr nomen halten es damit für unwahrschein-
auf nur noch 3,5 Prozent zu senken, ist durch die amerikanische Hypothekenkrise lich, dass die Arbeitslosigkeit weiter zu-
ohne nachhaltige Wirkung verpufft. „Was ausgelöst wurde, habe sich zum Hurrikan rückgeht. Auch der Export wird einbre-
für ein Massaker“, entfährt es einem In- entwickelt, schreibt der britische „Econo- chen – die Frage ist nur, wie stark. Und die
vestmentbanker, der gerade noch tapfer mist“. In den ersten drei Januarwochen Hoffnung, die Deutschen würden dies da-
gegen zu viel Pessimismus angeredet hatte. verloren die Aktien aller Unternehmen, durch kompensieren, dass sie endlich mehr
Vom „Ende einer Ära“ spricht der in New die weltweit an den Börsen gehandelt wer- konsumieren und damit die Wirtschaft an-
York und London lebende Finanzjongleur den, die schier unfassbare Summe von fast kurbeln, hegt kaum noch jemand.
George Soros. fünf Billionen US-Dollar an Wert. Am Donnerstag schossen die Kurse
Der Schock der beiden Vortage steckt Die heftigen Kursverluste zeigen die zwar wieder in die Höhe, nachdem US-
den Teilnehmern sichtlich in den Knochen. Angst vor den weltweiten Folgen einer Präsident George W. Bush die Zustimmung
Wie ein hochansteckender Virus hatte sich amerikanischen Rezession, die wahr- der oppositionellen Demokraten zu einem
die Angst vor einer weltweiten Rezession scheinlich längst begonnen hat. Am ver- gewaltigen Konjunkturprogramm bekom-
am Montag in rasender Geschwindigkeit gangenen Dienstag gab die regionale ame- men hatte. 145 Milliarden Dollar will die
zunächst in Asien ausgebreitet. Als dann rikanische Notenbank in Philadelphia be- amerikanische Regierung in die Wirtschaft
Stunden später die großen europäischen kannt, dass die Wirtschaft in 23 der 50 US- pumpen. Etwa 117 Millionen Amerikaner –
Börsen den Handel eröffneten, sprang der Bundesstaaten im Dezember bereits ge- gut ein Drittel der Bevölkerung – können
Erreger auf den alten Kontinent über, um nun einen Steuernachlass von bis zu 1200
am Nachmittag auch noch die amerika- Dollar erwarten. „Die Anreize in diesem
nischen Handelsplätze von Kanada über Paket werden zu höherem Konsum und
Mexiko bis nach Brasilien zu infizieren. mehr Unternehmensinvestitionen führen“,
Die Ironie wollte es, dass ausgerechnet die hofft Bush.
USA von der Plage erst einmal verschont Der Präsident steht mit dieser Hoffnung
blieben. Wegen eines Feiertages hatte die aber ziemlich allein. Das Paket komme viel
New Yorker Börse geschlossen. zu spät, kritisierte etwa der amerikanische
In Tokio sackte der japanische Leitin- Ökonom Joseph Stiglitz umgehend. Der
dex Nikkei um fast 4 Prozent ab, in Shang- Weg aus der Krise werde „lang und
hai fielen die Kurse um 5,1 Prozent. Hong- schmerzvoll“ sein, prophezeite der Nobel-
kong erlebte den schlimmsten Börsentag preisträger. Der erfahrene Star-Spekulant
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS

seit den Terroranschlägen des 11. Septem- Soros spricht gar von der „schlimmsten
ber 2001. An der Börse in Bombay sackten Krise seit 60 Jahren“, bei der „alles schief-
die Kurse zwischenzeitlich um fast 11 Pro- ging, was nur schiefgehen konnte“.
zent ab, um dann immer noch mit einem Die Hauptschuldigen sind längst identi-
satten Minus von 7,4 Prozent aus dem Han- fiziert. Und es sind nicht die neureichen
del zu gehen. Spekulanten der Hedgefonds- und Private-
Equity-Szene, die bisher als die größte Be-
* Mit Kanzlerin Angela Merkel und Commerzbank-Chef Banker Ackermann (r.)* drohung der Weltfinanzmärkte galten. Es
Klaus-Peter Müller am 25. April 2006 in Berlin. Stunde der Offenbarung sind die Banken – und zwar alle Vertreter
22 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
BRENDAN MCDERMID / REUTERS

Finanzkrise der Nachkriegszeit

dieses Gewerbes: die modernen angel- leisten konnten, dazu, mit billigen Krediten auf den ersten Blick sichtbar ist. Dass es
sächsischen Investmentbanken, die klassi- Immobilien zu kaufen. Dann verpackten sich bei dem Debakel um mehr als einen
schen Großbanken und die eher biederen sie diese Forderungen in hochkomplizier- Unfall handelt, dessen Folgen schon nach
deutschen Landesbanken, die sogar ganz te, neuartige Finanzprodukte, die sie gegen wenigen Tagen taxiert werden können und
besonders. hohe Gebühren weltweit an Investoren den die Branche nach einigen Monaten ab-
Sie alle haben die klassischen Prinzipien verkauften. Die wussten häufig gar nicht gehakt haben wird.
der Branche verraten: Sie haben Kredite genau, welche Zeitbomben da nun auf Dieses Mal steht das gesamte System auf
an Leute gegeben, die nie welche hätten einmal in ihren Portfolios schlummerten. dem Prüfstand, die Ordnung der Welt-
bekommen dürfen, in einem Ausmaß, das Sie wollten es wohl auch gar nicht wissen; wirtschaft. Ist das globale Finanzsystem in-
jeden vernünftigen Rahmen sprengt. Und Hauptsache, die Rendite stimmte. zwischen so komplex, dass es nicht mehr
sie haben die Risiken, die sie nie hätten Wie sehr die Kontrollmechanismen der beherrschbar ist? Sind die staatlichen Re-
eingehen dürfen, verschleiert. Branche außer Kraft gesetzt waren, zeigte gulierungsbehörden dem Erfindungsreich-
Dass klassische Sicherheiten im Geld- in der vergangenen Woche der spekta- tum der Finanzakteure noch gewachsen?
gewerbe nicht mehr zählen und Schulden- kuläre Fall des Aktienhändlers Jérôme Und schließlich: Ist die derzeitige Macht-
pakete außerhalb der Bilanz gelagert wer- Kerviel. Innerhalb weniger Monate ver- verteilung der globalisierten Welt auf Dau-
den, damit das Hochrisikogeschäft immer zockte der Franzose mit riskanten Finanz- er haltbar?
weiter ausgedehnt werden kann – wer wetten 4,9 Milliarden Euro seines Arbeit- „Es läuft eine Wette“, sagt der Vorstand
hätte das vor wenigen Jahren gedacht? gebers, der angesehenen Société Générale einer großen deutschen Bank, „wie wich-
„Man kann in diesen Wochen wirklich den in Paris, deren „Risiko-Management“ bis- tig die USA noch für das globale Wirt-
Glauben an die Banken verlieren“, schreibt lang branchenweit gerühmt wurde (siehe schaftsgeschehen sind.“ Dabei steht nichts
selbst das Hausblatt der Branche, die Kasten Seite 26). weniger auf dem Spiel als die Vormacht-
Frankfurter „Börsenzeitung“. Viele Banker spüren, dass es dieses Mal stellung der größten Volkswirtschaft der
Zunächst verführten die Banken in den um mehr geht als in früheren Krisen. Dass Erde. Und die der übrigen westlichen Staa-
USA Menschen, die es sich eigentlich nicht die Welt mehr Schaden genommen hat, als ten dazu.
16 Jahre lang hat das amerikanische
8200 Wirtschaftswunder gehalten, das jetzt zu
0
Deutsche Bank implodieren droht. Und auf einmal merkt
8000 Veränderung gegenüber die ganze Welt, was bislang nur vereinzel-
dem 2. Januar 2008 te Warner realisierten: Der beispiellose
7800 Boom war durch und durch wurmstichig.
–4 in Prozent
„Die guten Zeiten“, urteilte vergange-
7600
ne Woche die „New York Times“ voller
7400 –8 Ernüchterung, „waren eine Fata Morga-
Dax 25. Jan. na.“ Denn sie waren auf Pump gebaut.
7200 – 14,1% Der scheinbar endlose Aufschwung, der
Deutscher
Aktienindex 25. Jan. –12 nur zwischendurch kurz unterbrochen
7000 wurde, erscheint im Rückblick als eine rie-
6817
sige Doppel-Blase – zuerst eine Mega-Spe-
6800 –16 kulation mit Aktien der jungen Internet-
6600 Branche und dann, als die „Dot.com-Bub-
23. Jan. 23. Jan. ble“ platzte, mit Immobilien.
6400 6439 –20 – 18,6% Scheinbar sorglos wechselten die Ame-
rikaner von der kollabierten „New Eco-
nomy“ zur „Ownership-Society“, die von
Januar 2008 Quelle: Thomson Financial Datastream Januar 2008 US-Präsident George W. Bush euphorisch
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 23
AURORA / LAIF (L.); AARON ALLMON / UPI / GAMMA / LAIF (R.)
Terroranschläge vom 11. September 2001, US-Soldaten (im Irak): Die führende Wirtschaftsmacht ist angeschlagen

gefeiert wurde, eine Gesellschaft von Ei- Pump Firmen übernahmen, erblühten wie Präsident den Segen „finanzieller Innova-
gentümern, in der ein jeder locker seine nie zuvor. Die Manager der jungen Bran- tion“ stets für größer als den Nutzen von
Raten zahlen sollte, Immobilienpreise che realisierten schnell, dass sie mit dem im Regulierung.
grundsätzlich stiegen und ohnehin nichts Überfluss vorhandenen Geld alles Mög- Greenspans Niedrigzinspolitik gilt heu-
schiefgehen konnte. Seit 1992 haben die liche kaufen und handeln konnten, Aktien, te als Hauptgrund für das Entstehen der
amerikanischen Verbraucher ihre Ausga- Rohstoffe, Unternehmen und selbst die Blase. „Die Geldpolitik war zu entgegen-
ben Quartal für Quartal gesteigert. Ein so Hypotheken von Millionen Amerikanern. kommend. Mit Ein-Prozent-Sätzen wur-
lange andauerndes Selbstvertrauen hatten Die Deals dieser vorher wenig bekann- den alle möglichen Arten riskanten Ver-
sie vorher noch nie gezeigt. ten, renditeversessenen Investorengruppe haltens ermutigt“, sagt Anna Schwartz.
Der Boom wurde aus Washington mun- wurden immer größer und riskanter, eine Die 92-jährige Ökonomin hat die Welt-
ter angefeuert. Eine möglichst ungezügel- Milliardenfusion jagte die nächste, die Wall wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jah-
te Marktwirtschaft, Deregulierung der Fi- Street bebte vor Euphorie. Und die Ban- re des vergangenen Jahrhunderts noch
nanzmärkte, niedrige Zinsen, wenig Steu- ken spielten mit, sie schraubten ihre Ren- selbst erlebt, Jahrzehnte später kritisierte
ern – mit diesem radikalen Marktver- diteerwartungen immer weiter nach oben. sie in einem gemeinsam mit Nobel-
ständnis versuchten Bush und der lang- Die US-Behörden mochten niemandem preisträger Milton Friedman („A Mone-
jährige Zentralbankchef Alan Greenspan, die Laune verderben. Schließlich hielt der tary History of The United States“) ver-
die amerikanische Konjunktur und die fassten Standardwerk die Rolle
Kapitalmärkte in immer neue Höhen zu der US-Zentralbank während
treiben. Doppeltes 236 der „Great Depression“.

Defizit
Das war auch ihr Rezept nach den An- Auch dieses Mal, sagt
schlägen vom 11. September, als die US- Schwartz, die noch jeden Tag
Wirtschaft in die Rezession zu rutschen
69 im National Bureau of Econo-
Quelle: CBO
drohte. Elfmal senkte Greenspan 2001 die mic Research in New York ar-
Zinsen, von 6,5 auf schließlich nur noch beitet, hätten die Währungshü-
1,75 Prozent. Die Wirtschaft bewahrte er ter versagt: „Die Fed versäum-
so vor dem Absturz, doch gleichzeitig te, die offensichtlichen Proble-
schaffte er damit die Grundlage für die – 158 – 163 me anzugehen.“
bald wachsende Blase im Immobilienge- – 255 Das Treiben auf dem Immo-
schäft. Haus- und Wohnungsfinanzierun- bilienmarkt wurde derweil im-
gen waren so günstig wie lange nicht, ein US-Bundeshaushalt mer toller. „Dieser Tage verdie-
regelrechter Bauboom quer durch die Defizit/Überschuss, – 413 nen Amerikaner ihren Lebens-
Staaten begann. Schon 2002 zogen die Im- in Milliarden Dollar unterhalt, indem sie sich gegen-
mobilienpreise in wichtigen Märkten wie Schätzung
seitig Häuser verkaufen und mit
Florida, Kalifornien und Neu-England ra- Geld bezahlen, das von China
sant an. geliehen wurde“, wunderte sich
Greenspan, an der Wall Street damals – 70 Princeton-Ökonom Paul Krug-
als „Maestro“ und „Zauberer der Finanz- Quelle: Census man schon im Sommer 2005 in
märkte“ verehrt, senkte weiter die Zinsen. seiner Kolumne in der „New
Von Juni 2003 bis Juni 2004 betrugen die – 380 York Times“.
US-Leitzinsen nur ein Prozent. Es war der US-Handelsbilanz Während sich die Haus- und
niedrigste Stand seit einem halben Jahr- – 497 Wohnungspreise von Arizona
Defizit bei Gütern
hundert. und Dienstleistungen, bis Hawaii seit Ende der neun-
Geld gab es damit praktisch umsonst, in Milliarden Dollar – 710 ziger Jahre mehr als verdoppelt
und das begeisterte nicht nur normale haben, eroberten am unteren
Häuslebauer. Hochspekulative Hedgefonds Rand der US-Gesellschaft ag-
und Private-Equity-Unternehmen, die auf 1993 95 97 99 2001 03 05 2007 gressive Kredithaie den Markt.

24 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ZUMA PRESS / ACTION PRESS (L.); TIM SLOAN / AFP (R.)
US-Eigenheim, Präsident Bush*: „Jeder, der eine Hypothek haben wollte, bekam auch eine“

Jeder, der eine Hypothek haben wollte, ren Hauseigentumsrate waren das Risiko Alles wirkte logisch und klar struktu-
bekam auch eine, selbst die finanziell wert“, schrieb er in seiner Autobiografie, riert. Rating-Agenturen wie Moody’s oder
Schwächsten. Viele Schwarze und Latinos die im vergangenen Herbst erschien. Standard & Poor’s prüften mit aufwendi-
hatten den amerikanischen Traum vom Ei- In dieser Welt war Christopher Ricciardi gen Computerprogrammen die Bonität der
genheim bislang vergebens geträumt. eine der Schlüsselfiguren. Der Karriere- unterschiedlichen Schuldnergruppen und
Doch jetzt gab es ohne Probleme Kredit, banker hatte schon Mitte der neunziger vergaben dann ihre Triple-A oder BB-Ra-
Anzahlung war nicht nötig, das Einkom- Jahre bei Prudential Securities, einem nicht tings.
men durfte frei, und vor allem nachweis- sonderlich prominenten Wall-Street-Haus, Dabei ließen sich die Rating-Firmen
frei, angegeben werden. Niedrige Ein- begonnen, alle Arten von Forderungen, also von den Investmentbanken bezahlen und
stiegszinsen machten das Angebot beson- beispielsweise Immobiliendarlehen, Auto- stützten ihr Urteil auf die Informationen,
ders attraktiv. Dass sich die Sätze später und Konsumentenkredite, Kreditkarten- die ihnen von den Erfindern der Produk-
von sechs auf zwölf Prozent verdoppeln, forderungen oder normale Firmendarlehen, te geliefert wurden. Es war so, als würde
spielte da noch keine Rolle. zusammenzuschnüren und daraus handel- sich der TÜV von Mercedes und VW ent-
Dieses sogenannte Subprime-Geschäft bare Finanzinstrumente zu machen. lohnen lassen, Abgas- und Bremsfunk-
mit Kunden von zweifelhafter Bonität wur- Die Produktionsabläufe waren wie in ei- tionswerte einfach vom Hersteller über-
de in kurzer Zeit zum Milliardenbusiness. ner Fabrik, deren Arbeiter Rohstoffe ein- nehmen und dann seine Plakette aufs
2006 stammten schon 20 Prozent aller kaufen, sie veredeln und dann vom Vertrieb Nummernschild kleben – ein klarer Inter-
Darlehen aus dem riskanten Subprime- an Stammkunden vermarkten lassen. Das essenkonflikt.
Segment, fünf Jahre zuvor waren es nur Ergebnis, ein hochkompliziertes, im Ban- Das Geschäft boomte, selbst wenn vie-
5 Prozent. kerslang „Collateralized Debt Obligation“ len Investoren schon zu Anfang nicht rich-
Große Teile des amerikanischen Immo- (CDO) genanntes Produkt, wurde in Kürze tig klar war, womit sie eigentlich ihr Geld
bilienmarkts waren zur Zeitbombe gewor- zum Hit. Reiche Privatanleger, Hedgefonds verdienten. Sie sahen nur, dass die Rendi-
den. Bereits im Jahr 2000 verlang- und institutionelle Investoren schätzten die te stimmte. Ihre rätselhafte Finanzanlage
te US-Zentralbanker Edward Gramlich, die Verbindung aus scheinbar wertsicheren Im- bekam oft das gleiche Rating wie seriöse
Aufsicht über besonders aggressive Hypo- mobilien und hohen Erträgen. Unternehmensanleihen, brachte aber deut-
thekenbanken zu verschärfen. Im Mai 2004 Und auch die Geschäftsbanken gaben lich höhere Erträge.
warnte er vor massenhaft drohenden ihre Darlehen gern an Ricciardi oder seine Noch 1996 waren CDOs ein Nischen-
Zwangsversteigerungen. „Im Subprime- Wettbewerber ab. Mit deren Hilfe waren markt im Wert von gut fünf Milliarden
Markt herrschten Wildwestmethoden“, sie ihr Kreditrisiko los und konnten sich Dollar. Zehn Jahre später brachten Banken
fasste Gramlich kurz vor seinem Tod im aufs Neugeschäft konzentrieren. Für die CDO-Papiere für 388 Milliarden Dollar auf
vergangenen Herbst die Lage zusammen. Wall Street bedeutete die Idee des smarten den Markt, ein Plus von 7700 Prozent.
Seine Kollegin aus dem Finanzministe- Bankers ein neues Mega-Business. Inner- Ricciardi stieg in die erste Liga des In-
rium, Sheila Bair, versuchte, die Subprime- halb weniger Jahre schwoll der Markt für vestmentbankings auf. Bei Merrill Lynch
Anbieter wenigstens zu einem freiwilligen die als „innovativ“ gefeierten Immobilien- brauchte er ab 2003 nur zwei Jahre, um sei-
Verhaltenskodex zu bewegen – ohne mess- papiere auf über sagenhafte 1,3 Billionen nen Arbeitgeber von Platz 15 an die Spit-
baren Erfolg. „Finanzielle Innovation ist Dollar an. ze der CDO-Hitparade zu katapultieren.
klasse“, sagt die lebenskluge Frau, „aber Um den Wünschen ihrer internationalen 50 Leute arbeiteten ihm allein in der New
man braucht ein paar Grundregeln. Die Investoren entgegenzukommen, teilten die Yorker Zentrale zu. Topinvestoren umheg-
wichtigste lautet: Kreditnehmer sollten Wall-Street-Häuser ihre Hypothekenpro- ten die Merrill-Manager in exklusiven US-
zahlungsfähig sein.“ dukte in unterschiedliche Risikogruppen Ski-Resorts oder im holzvertäfelten Har-
Doch Greenspan wollte von all dem lan- ein. Konservative Versicherungen konnten vard-Club von Manhattan und auch beim
ge nichts wissen. „Die Vorzüge einer höhe- sich für Tranchen mit besonders hoher Bo- Golf im Sleepy-Hollow-Country-Club bei
nität und niedrigerer Rendite entscheiden, New York.
* Bei der Ankündigung des Konjunkturprogramms mit
Hedgefonds durften mit den hochprofita- In den besten Zeiten schlossen sie Deals
Vizepräsident Dick Cheney und Finanzminister Henry blen und -riskanten Tranchen des Sub- in dreistelliger Millionenhöhe fast im Wo-
Paulson am 18. Januar. prime-Geschäfts spekulieren. chenrhythmus ab. Ricciardi bestellte dann
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 25
Titel

1,5 Milliarden Euro einen geradezu

Harry Potter im Casino


astronomischen Gewinn aus.
Doch als Kerviel zu Beginn des Jahres
auf den Anstieg der Börsen setzt, kom-
men die Verluste. Laut Händlerkreisen
Wie konnte ein kleiner Börsenhändler der großen Société Générale baute er unter anderem eine gigantische
einfach so fünf Milliarden Euro verzocken? Wette auf dem deutschen Börsenindex
Dax auf. Nach Schätzungen von Pariser

S
elbst bei der Konkurrenz genoss Gegenschäfte seien fiktiv gewesen. Da- Marktexperten soll er rund 140 000 so-
Jérôme Kerviel einen guten Ruf. her waren die offenen Positionen viel genannte Dax-Futures gekauft haben.
Der Börsenhändler des franzö- größer als die Zahlen auf dem Radar- Das sind Terminkontrakte, die an der
sischen Bankriesen Société Générale schirm der internen Kontrolleure. deutsch-schweizerischen Börse Eurex
(SocGen) galt „als netter und patenter Doch wie kann es bei einer Großbank gehandelt werden und mit einer bruta-
Typ“, erzählt ein Pariser Banker. „Wir von Weltruf zu einem solchen GAU len Unmittelbarkeit funktionieren. Er-
wollten ihn sogar mal einstellen.“ kommen? Haben die Institute aus dem folg und Misserfolg schlagen täglich in
Kerviel war kein Überflieger, aber Fall Nick Leeson nichts gelernt, der 1995 bar auf den Kontostand durch.
auch kein arroganter Yuppie. Kein auf- die britische Barings Bank mit Fehlspe- Nimmt man an, dass Kerviel bei ei-
geblasener „Golden Boy“, eher „ein in- kulationen ruinierte? nem Dax-Stand von knapp 8000 Punk-
trovertierter Typ, der mit sich selbst Offenbar konnte Kerviel, von der Pa- ten eingestiegen war, so galt für ihn fol-
nicht im Reinen war“, sagt ein Kollege. riser Notenbank als „Computer-Genie“ gende Formel: Für jeden Punkt, den der
„Er kam nicht als Angeber rüber, son- beschrieben, ohne Mitwisser und Mit- Dax über 8000 läge, würde die Börse
dern als ziemlich hübscher Typ à la Tom täter das gesamte interne Netz von Si- dem SocGen-Konto am Ende des Tages
Cruise“, meint ein anderer. Gegenüber cherheitsvorkehrungen glatt zerfetzen. 25 Euro pro Future gutschreiben. Für
den Vorgesetzten sei er ein Kriecher, Dabei half ihm seine Karriere innerhalb jeden Punkt darunter würde sie vom
„zum Händler hatte er eigentlich nicht der drittgrößten Geschäftsbank Frank- Konto 25 Euro abbuchen.
die nötigen Voraussetzungen“. reichs. Denn Kerviel hatte nach seiner Da wird schnell klar: Gerät die Börse
ins Rutschen, ergibt sich für den Spe-
kulanten eine Rechnung des Grauens. Bis
zum 18. Januar verlor der Dax 600 Punk-
te – und Kerviel vermutlich rund zwei
Milliarden Euro, spekulieren Insider.
Zu diesem Zeitpunkt könnten das
Riesenloch und die Überschreitung von
Handelslimits der deutschen Niederlas-
sung des Finanzdienstleisters Newedge
aufgefallen sein. Die Firma wickelt für
die SocGen die Eurex-Geschäfte ab. Je-
denfalls erhielten die Chefs der SocGen
MEIGNEUX / SIPA PRESS

angeblich die Alarmsignale aus Deutsch-


land. Panisch liquidierten sie alle Positio-
nen „und bauten die Verluste durch die-
REUTERS

ses unfassbare Missmanagement noch


deutlich mehr aus“, glaubt ein Händler.
Händler Kerviel, Pariser Bankzentrale: „Talent zur Verheimlichung“ Am schwarzen Montag vergangener
Woche wurden an der Eurex genau
Doch vergangene Woche stieg der Anstellung im Jahr 2000 zunächst im 411 701 Dax-Futures gehandelt. Die
nette Softie mit Überschallgeschwindig- „Middle Office“ der Bank gearbeitet – SocGen dürfte daran erheblich beteiligt
keit in den Olymp des Casinokapitalis- einem jener elektronischen Hinterzim- gewesen sein – und den Börsencrash an
mus auf – als größter Börsenbetrüger mer, in denen die Geldflüsse der Aktien- jenem Tag zumindest verstärkt haben.
der Geschichte. Am Donnerstag musste händler ständig überwacht werden. Hier „Kein Kommentar“, quittiert eine Bank-
die SocGen bestätigen, dass man wegen erfuhr Kerviel vieles über Zugangscodes sprecherin die Spekulationen.
der heimlichen Spekulationen des klei- und Sicherheitsprogramme. Dabei verschafften Kerviel seine
nen Dealers Kerviel 4,9 Milliarden Euro In seiner Parallelwelt mutierte er zu Zockereien nicht mal persönliche Vor-
abschreiben muss. einer Art Harry Potter der Finanzmärk- teile; bislang gibt es keine Hinweise dar-
„Es handelt sich hier um einen Ein- te. Ein heimlicher Magier unter seinen auf, dass er Gewinne auf ein privates
zelnen, der die Intelligenz besaß, allen Händlerkollegen, der dank seiner regel- Konto umleitete. Die Einzeltäterthese
Kontrollprozeduren zu entkommen“, so mäßigen Mittagessen mit einem Kolle- lässt indes Verschwörungstheorien blü-
SocGen-Chef Daniel Bouton, der Ker- gen aus der Kontrollabteilung stets hen. Handelte Kerviel vielleicht im Auf-
viel „ein außerordentliches Talent zur rechtzeitig von bevorstehenden Kon- trag von Konkurrenzbanken? Oder ver-
Verheimlichung“ bescheinigte. trollstichproben erfahren haben soll. steckt die Société Générale hinter dem
Der Chef seines Investmentbankings Mittlerweile war er in der Bank für Betrug andere Managementfehler?
wurde deutlicher: Kerviel habe inner- den Handel mit europäischen Börsen- Im Geschäft mit US-Ramschhypothe-
halb der Bank eine Art „Scheinfirma“ indizes zuständig. Offenbar getrieben ken vernichteten die Franzosen allein
aufgebaut. Für jede seiner Aktienwet- vom Kick des Millionen-Zockens, be- im vierten Quartal 2007 zusätzlich mehr
ten habe er Absicherungsgeschäfte ge- wegte er immer größere Beträge: 2007 als zwei Milliarden Euro. Dank Kerviel
bucht, so dass die eingegangenen Risi- zunächst mit Erfolg, denn zum 31. De- ging das im allgemeinen Medienwirbel
ken nicht aufgefallen seien. Doch die zember weist sein SocGen-Konto mit glatt unter. Beat Balzli, Stefan Simons

26 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Fed-Chef Bernanke vor dem Haushaltskomitee des US-Senats am 18. Januar 2007: Geld gab es praktisch umsonst

zur Feier gern vom Chinesen Schweine- Zahllose Amerikaner hatten sich ver- als Erstes die Subprime-Industrie. Im April
fleisch süß-sauer fürs ganze Team in die spekuliert. Im Vertrauen auf andauernde ging einer von Amerikas größten Anbie-
Merrill-Büros im Finanzdistrikt von Wertsteigerungen nahmen sie immer neue tern, Century Financial, pleite, Dutzende
Manhattan mit Blick auf den New Yorker Kredite auf ihre Eigenheime auf, das Geld Konkurrenten ereilte das gleiche Schicksal.
Hafen. „Mit solchen Deals wird man floss oft direkt in den Konsum und hielt Dann merkten Großanleger weltweit,
berühmt“, feuerte Ricciardi noch im ver- so US-Wirtschaft und Weltkonjunktur in dass sie nicht in abstrakte Finanzprodukte
gangenen Frühjahr amerikanische Finanz- Schwung. investiert hatten, sondern tausendfach in
manager an. Mit dem Wertverlust ihrer Häuser platz- ganz gewöhnliche Hypothekenverträge von
Die zweifelhaften Geschäfte wären wohl te ihr amerikanischer Traum. Bei der Re- nun zahlungsunfähigen Schuldnern. Mitte
noch eine Weile lang gut gelaufen, wenn finanzierung ihrer Hypotheken schossen Juli krachten deshalb zwei große New Yor-
nicht die amerikanische Immobilien- die Zinsen und Monatsraten in die Höhe. ker Hedgefonds zusammen, zwei Wochen
Blase plötzlich geplatzt wäre. Befeuert Besonders hart betroffen waren die oh- später rutschte die brave Düsseldorfer In-
durch die Niedrigzinspolitik der Noten- nehin finanzschwachen Kunden im Sub- dustriebank IKB in die Beinahe-Pleite,
bank hatten die Investoren quer durch die prime-Segment. Kredithaie hatten sie mit kurz darauf folgten deutsche Landesban-
meisten Bundesstaaten gebaut. Das Über- niedrigen Eingangszinsen gelockt, Häuser ken und Finanzriesen wie BNP Paribas
angebot war riesig, viele Häuser und Woh- zu kaufen. Nun sollten sie auf einmal oder die Bank of China mit Schreckens-
nungen standen leer. Ende 2005 began- Wucherwerte von zwölf Prozent auf ihre meldungen.
nen die Preise zu fallen. Ein gutes Jahr Darlehen zahlen. Die Zahl der Zwangs- Und schließlich traf es auch jene, die
später war klar, dass der gesamte ameri- versteigerungen explodierte. den ganzen Kreislauf erfunden und in Be-
kanische Immobilienmarkt schrumpfen Das gewaltige Kartenhaus fiel in sich zu- wegung gehalten hatten – die renommier-
würde. sammen. Nach den Häuslebauern traf es ten Investmentbanken der Wall Street.
Eine nach der anderen entdeckte gewal-
5,40 tige Löcher in den Bilanzen. Bis heute
werden die Abschreibungen laufend nach
oben korrigiert. Insgesamt dürften sie sich
5,00
Leitzinsen USA nach jüngsten Schätzungen auf bis zu 400
in Prozent Milliarden Dollar addieren.
Und die Krise wird sich noch auswei-
4,60
ten, denn die Wall-Street-Manager hatten
es geschafft, einen guten Teil ihres CDO-
4,20
Geschäfts nach Übersee zu verkaufen –
Quelle:
Thomson Financial
etwa ein Viertel davon, so schätzen Ex-
Datastream perten, nach Europa.
HRVOJE POLAN / AFP

3,80 Euro- Das Erstaunliche am weltweiten Fi-


Zone nanzdesaster ist, dass selbst die Branchen-
Riesen auf die schön verpackten Ramsch-
3,40 kredite reingefallen sind, obwohl Ökono-
EZB-Chef Trichet Jan. Mai Sept. Jan. men schon seit Jahren vor der amerikani-
Knappes Geld ist gutes Geld 2007 2008 schen Immobilien-Blase warnen. So muss-
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 27
Titel

te die amerikanische Citigroup in den ver-


gangenen beiden Quartalen bislang 24,6
Milliarden Dollar abschreiben, bei Merrill
Lynch waren es 23,6 und bei der wesentlich
kleineren Deutschen Bank allein im dritten
Quartal immer noch 3,2 Milliarden (siehe
Grafik).
Denn auch die großen deutschen Ban-
ken hatten kräftig in die vermeintlichen
amerikanischen Wunderinstrumente inves-
tiert. Die Deutsche Bank, die Dresdner
Bank und die Commerzbank steckten Mil-
liarden in die Hypothekenpapiere – bis-
lang allerdings ohne existentielle Folgen.
Bei der Dresdner Bank liegt der opera-
tive Verlust für das vierte Quartal bei 450
Millionen Euro. Am 7. Februar wird die
Deutsche Bank ihre vorläufigen Ge-
schäftszahlen vorlegen. Gut möglich, dass
Vorstandschef Josef Ackermann dann, an
seinem 60. Geburtstag, weitere Milliarden
an zusätzlichen Abschreibungen bekannt-
geben muss. Womöglich drohen dann ähn-
lich böse Überraschungen wie bei der Im-
mobilienbank Hypo Real Estate, die vor
zwei Wochen ohne Vorwarnung eine Ab-
schreibung von beinahe 400 Millionen
Euro gestand.
Ackermann hatte die Krise für die Deut-
sche Bank im Herbst nach Abschreibungen
von 2,2 Milliarden Euro für beendet er-
klärt. Kurz danach schloss auch sein obers-
ter Investmentbanker Anshu Jain weitere
Wertberichtigungen aus.
Während einer Vorlesung an der Lon-
don School of Economics klang der mäch- Börse in Kuweit: Die Gewichte in der Weltwirtschaft verschieben sich
tige Bankenchef vor zwei Wochen nicht
mehr ganz so optimistisch. Ackermann be- WestLB verpackten noch Ende 2006 eifrig liarden-Monopoly im ganz großen Stil mit-
fürchtet, dass zahlreiche Banken noch Hypotheken. Nach einem Bericht der spielten. „Die Bank hatte nie eine Exis-
Milliarden abschreiben müssten und dass Rating-Agentur Fitch waren darunter Pro- tenzberechtigung“, sagt heute ein ehema-
der Preisverfall der Kreditprodukte noch dukte mit einem Subprime-Anteil von über liger Manager der Sachsen LB. Es gab sie
lange nicht gestoppt sei. Analysten sind 70 Prozent. nur, weil sich in den neunziger Jahren der
sicher, dass das auch für sein eigenes Das eigentlich Verblüffende war, dass es damalige Ministerpräsident Kurt Bieden-
Haus gilt. immer noch genug Banker gab, die diesen kopf ein Machtinstrument nach dem Vor-
In Deutschland waren es aber vor allem „Giftmüll“ kaufen wollten. Sie saßen etwa bild der WestLB wünschte.
die Landesbanken, die sich mit den lukra- in Düsseldorf und Sachsen, bei der Deut- Der Größenwahn nahm seinen Lauf.
tiven und scheinbar so risikoarmen Papie- schen Industriebank (IKB) und der Säch- 1998 holte man sich von der damaligen
ren vollsogen, ohne das Geschäft auch nur sischen Landesbank (Sachsen LB). Beide DGZ-Bank Claus-Harald Wilsing, der aus
im Ansatz zu verstehen. Die ahnungslo- konnten schließlich nur mit milliarden- dem Nichts ein Auslandsgeschäft aufbauen
sen Provinzbanker glaubten an die Qua- schweren Stützungsmaßnahmen gerettet sollte. Wilsing zögerte nicht lange und
dratur des Kreises, wonach eine hohe Ren- werden. Die Sachsen mussten sogar an die gründete 1999 in Irland eine Bank. Munter
dite offenbar ohne Risiko zu haben war. Landesbank Baden-Würt-
Was die Rating-Agenturen mit der Best- temberg (LBBW) notver-
note AAA versehen hatten, wurde unge- kauft werden. Am Ende
prüft gekauft. „Du hast keine Zeit, dir musste der Steuerzahler für
jeden einzelnen Schuldner genau anzu- das Versagen der Banker
schauen“, gestand Michael Thiemann, Ma- einstehen. Der Staat haftete
nager der Hypo-Real-Estate-Tochter Colli- mit einer Landesbürgschaft
neo, im vergangenen Mai voll gespielter für die Sachsen LB, die Ver-
Unschuld dem „Wall Street Journal“. luste der IKB wurden von
Noch im vergangenen Juni verkaufte der staatseigenen KfW auf-
Collineo zusammen mit der Citigroup ein gefangen.
Bündel dieser Papiere mit einem Volumen Besonders hart hatte es
von rund 2,2 Milliarden Dollar. Fast die die Sachsen getroffen, die
Hälfte bestand aus den toxischen Darle- offenbar aus Mangel an an-
GETTY IMAGES

hen an zahlungsschwache US-Hausbesit- deren Geschäften beim Mil-


zer, deren Gefahren bereits in Zeitungen
beschrieben wurden. Auch große deutsche * Mit Dubais Herrscher Scheich Mo-
Adressen wie die Deutsche Bank und die hammed Ibn Raschid Al Maktum. Emirate-Präsident Scheich Chalifa (r.)*: Frisches Geld investiert

28 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ges Geschäftsmodell war ihnen trotz ihrer
hohen Gehälter nicht eingefallen. Deshalb
gingen sie voll ins Risiko.
Das Resultat war ernüchternd. Die
LBBW muss eine Abschreibung von 1,7
Milliarden Euro verkraften, kann aber im-
merhin noch einen Jahresgewinn von über
300 Millionen Euro ausweisen. Und die
BayernLB zögert bislang noch, die neuen
Zahlen bekanntzugeben. In der Branche
wird damit gerechnet, dass sie 1,9 Milliar-
den Euro vernichtet haben dürfte. Die Zahl
setzt sich zusammen aus direkten Verlusten
und Rücklagen für Neubewertungen.
Bei der angeschlagenen WestLB haben
die Eigner bereits eine Kapitalspritze von
zwei Milliarden Euro ausgehandelt. Am
vergangenen Freitag erhöhte sich der not-
wendige Betrag auf bis zu vier Milliarden.
Die Rating-Agenturen drohen, die Bonität
der Bank massiv herabzustufen. Dadurch
wäre es für die WestLB deutlich teurer,
sich Kredite zu beschaffen. Sie hätte kaum
noch eine Überlebenschance.
Doch die beiden nordrhein-westfälischen
Sparkassenverbände, die jeweils 25,2 Pro-
zent der Anteile halten, weigerten sich,
noch mehr Geld lockerzumachen. Ihre
Kapitaldecke sei dafür zu dünn. Nordrhein-
Westfalen wiederum, mit knapp 40 Prozent

YASSER AL-ZAYYAT / AFP


größter Anteilseigner, war nicht bereit, den
Anteil der Sparkassen an der Kapital-
erhöhung zu übernehmen. „Monatelang
haben deren Verbände verhindert, dass die
WestLB ein vernünftiges Geschäftsmodell
bekommt – und jetzt sollen wir das lah-
mende Pferd kaufen?“, sagt ein hoher Lan-
wurden daraufhin Vermögenswerte in de- haftung durch das Land Sachsen konnte desbeamter. Kommt es zu keiner Einigung,
ren Bücher übertragen, um zu Hause die man billig geliehenes Geld in hochriskan- droht der Bank der schnelle Ruin.
Erträge nicht versteuern zu müssen, an- te Kreditpapiere pumpen. Es sollte der An- Aber auch viele Sparkassen in Nord-
geblich mit dem Segen des damaligen Fi- fang vom Ende sein. rhein-Westfalen kämen in schweres Fahr-
nanzministers Georg Milbradt, dem heuti- Die Dubliner Operation war schließlich wasser. Denn sie alle haben die WestLB-
gen Ministerpräsidenten. weit über 20 Milliarden Euro schwer – und Anteile zu völlig überhöhten Werten in
Das Steuersparmodell Irland machte im- damit um ein Vielfaches größer als das Ei- ihren Bilanzen stehen. Die Zahlen müssten
mer größere Gewinne, während das Heim- genkapital der Bank. Am Ende sorgten die noch vor dem Jahresabschluss 2007 korri-
geschäft stagnierte. 2003 hatten die ge- Wackeldarlehen klammer US-Hausbesit- giert werden. Damit aber brauchten einige
plagten Manager eine scheinbar geniale zer in der ostdeutschen Provinz für die der Institute, darunter beispielsweise die
Idee: Sie schufen in Irland Finanzkon- größte Bankenrettungsaktion der deut- Köln-Bonner Sparkasse, ebenfalls frisches
strukte, die unter den obskuren Namen schen Nachkriegsgeschichte. Eigenkapital. Sollten die Eigentümer das
Georges Quay und ein Jahr später Ormond Ähnlich agierten auch die im globalen nicht bereitstellen, müsste der Einlagen-
Quay firmieren sollten. Dank der Staats- Geschäft unerfahrenen Banker der IKB sicherungsfonds der S-Finanzgruppe ein-
und anderer Landesbanken. springen.
Mit der Staatshaftung fielen Um das zu verhindern, verhandelte der
Staatsfonds Anlagevolumen in Mrd. Dollar auch die günstigen Finanzie- Chef des Deutschen Sparkassen- und Giro-
verbands am Freitag mit. Heinrich Haasis
Verein. Arabische Emirate 875 aber zeigte kein Interesse an einer Hilfs-
aktion für die WestLB. Er sei nicht bereit,
Singapur 438 der Bank Geld aus dem Sicherungsfonds
rungsmöglichkeiten der öf- zu geben, raunte er – und verließ den Ver-
Norwegen 325 fentlichen Banken weg – und handlungstisch.
Saudi-Arabien 300 damit ihr Geschäftsmodell. Für das Wochenende waren weitere Ver-
Um trotzdem überleben zu handlungen anberaumt – deren Ergebnisse
Kuweit 250 können, erhöhten die Mana- bei Redaktionsschluss noch nicht feststan-
ger kurzerhand den Einsatz. den. Möglicherweise wären private Inves-
China 200 Sie bauten außerhalb der Bi- toren bereit, den Anteil der öffentlich-
Russland 144 lanz die milliardenschweren rechtlichen Institute zu übernehmen. Ge-
Quelle:
Positionen mit hochriskanten nau das aber wollten die Sparkassen stets
Hongkong 140 DB Research Kreditpapieren kräftig aus. verhindern. Sollten sie ihre harte Linie bei-
Eine Idee für ein nachhalti- behalten, würde das Ende der WestLB in
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 29
Titel

SINOPIX / LAIF
Textilarbeiterinnen (in China): Dass Asien das globale Wachstum quasi im Alleingang antreiben könnte, halten Experten für pure Phantasie

greifbare Nähe rücken. Doch auch dann zeit, und erst am Ende zeigt sich, ob die schon eine „neue Weltwirtschaftskrise“
hätte die S-Finanzgruppe ein Problem: Sie Bank einen Gewinn erzielt. Der Bonus heraufziehen, andere prognostizieren le-
hat sich nämlich verpflichtet, ihre Mit- aber wird im Jahr des Geschäftsabschlusses diglich eine kleine Konjunkturdelle. Dass
gliedsinstitute zu retten und ihren Fortbe- fällig. Und so kommt es immer wieder vor, sich das weltweite Wachstum aber ver-
stand zu sichern. Wozu aber braucht die dass Banker für Geschäfte belohnt wer- langsamen wird, darüber sind sich alle ei-
Republik einen Sparkassenverbund, wenn den, die sich einige Jahre später als De- nig. Eine „deutliche Abschwächung“ in
der den gegenseitigen Schutz innerhalb der saster herausstellen. diesem Jahr erwartet etwa der Internatio-
Bankenfamilie nicht mehr leisten kann? Die Folgen der Krise werden über den nale Währungsfonds – und sieht sich an-
Das gesamte öffentlich-rechtliche Ban- ganzen Erdball zu spüren sein. Jahrelang gesichts der unklaren Lage derzeit noch
kensystem steht damit auf der Kippe. „Wir standen die US-amerikanischen Verbrau- außerstande, eine genaue Wachstumspro-
erleben eine extrem heikle Gratwande- cher im Zentrum des weltweiten Wirt- gnose abzugeben.
rung“, sagt ein hoher Regierungsbeamter schaftswachstums. Gestützt auf die schein- Zu offenkundig ist inzwischen, dass die
in Berlin, „und wenn sich nicht alle Betei- bar unaufhaltsam steigenden Preise ihrer Malaise auf dem amerikanischen Immobi-
ligten vernünftig verhalten, wird sie im Ab- Häuser und Grundstücke, nahmen sie im- lienmarkt längst die reale Wirtschaft an-
sturz enden.“ mer neue Kredite auf und trieben damit gesteckt hat. Um die Hypotheken für ihre
Ob private oder öffentlich-rechtliche jenes Konsumwunder an, von dem chine- viel zu teuer gekauften Häuser abzahlen zu
Banken: Sie alle haben sich vom ver- sische Textilhersteller in den vergangenen können, müssen die US-Bürger radikal
meintlich sicheren Geschäft mit dem Jahren genauso profitierten wie die euro- sparen. Und die Banken, die auf Hunder-
schnellen Geld verleiten lassen. Dabei lernt päische Automobilindustrie. Im Gefolge ten Milliarden fauler US-Kredite sitzen,
jeder Banklehrling, dass hohe Renditen nur wuchs die globale Ökonomie mit Jahres- können ihr Geld nur noch an zuverlässigs-
mit hohen Risiken zu erwirtschaften sind. raten von fünf Prozent und mehr, es te Schuldner verleihen, falls sie nicht sogar
Seit sich auch die klassischen Geldinstitu- begann eine der stärksten Aufschwung- selbst in Schieflage geraten. So überträgt
te am angelsächsischen Investmentbanking perioden der Geschichte. sich die Krise derzeit wie ein Grippevirus
orientieren, haben sich nicht nur die Rendi- Damit ist es nun vorbei. Was als Flaute von einem Sektor der Finanzindustrie auf
ten erhöht, sondern auch die Gehälter der auf dem US-Immobilienmarkt begann und den nächsten. Am Ende könnte sie sich zu
Banker. Denn die orientierten sich zuneh- sich jüngst zu einer globalen Banken- und einer globalen Kreditklemme ausweiten,
mend am Geschäftsabschluss. Das ist in kaum Finanzkrise auswuchs, wird die Weltwirt- die das Wachstum in nahezu allen Welt-
einer Branche so fatal wie im Bankgewerbe. schaft stärker verändern als die meisten regionen drosseln würde.
Das Gehaltssystem der Banker hat dazu Crashs der vergangenen 25 Jahre. Eine Sicher, es gibt auch Gegenbewegungen:
geführt, dass es sich lohnte, besonders neue Ordnung der Weltwirtschaft zeichnet Die asiatischen Neulinge von Indien bis
große Risiken einzugehen. Sie erhalten sich ab, die Macht und Wohlstand auf dem China sowie die ölexportierenden Länder
vielfach nur ein vergleichsweise geringes Planeten neu verteilt, die internationale haben milliardenschwere Devisenreserven
Grundgehalt, aber oft das Fünf- bis Zehn- Banken- und Finanzszene tiefgreifend um- angehäuft und sind heute weit weniger
fache davon als Bonus. Wer viel Geschäft gestaltet und die Hoffnungen auf einen an- vom Wohlergehen der US-Wirtschaft ab-
akquiriert, erhält in der Regel hohe Boni. haltenden Boom in Frage stellen wird. hängig als früher.
Doch Bankgeschäfte wie beispielsweise Noch rätseln die Experten, wie tief der Doch dass die asiatischen Schwellenlän-
Kredite haben oft eine mehrjährige Lauf- Einbruch geht. Manche Ökonomen sehen der das globale Wachstum quasi im Allein-
30 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
ULRICH BAUMGARTEN / VARIO IMAGES
Autoverladung (im Emdener Hafen): Der deutsche Export wird einbrechen – die Frage ist nur, wie stark?

gang antreiben könnten, halten Experten Die Zeichen sind eindeutig, aber nicht Wachstumseinbruchs für Stabilisierung
für „pure Phantasie“. Mit einem Anteil von alle möchten sie sehen. Die Große Koali- und Stimulierung der Binnennachfrage
25 Prozent am Welt-Sozialprodukt sei die tion etwa hat beschlossen, an ihrem rosigen machen ließe.
amerikanische Wirtschaft noch immer Konjunkturausblick festzuhalten, schließ- Glos muss nicht lange gebeten werden.
der „große Gorilla“, so US-Finanzstaats- lich fällt das Regieren erheblich leichter, Längst hat er ein Maßnahmenpaket in Auf-
sekretär David McCormick. Die Bewegun- wenn sich in regelmäßigen Abständen Po- trag gegeben. „Für die Schublade“, wie er
gen dieses Riesen sind weltweit zu spüren. sitives vom Arbeitsmarkt verkünden lässt sagt. Was sich davon bereits abzeichnet,
Schwächelt der Goliath, gehen auch die und genug Geld in die Kassen strömt, um läuft auf ein Konjunkturprogramm hinaus.
vielen Zwerge ringsum in die Knie. Wohltaten unter das Wahlvolk zu verteilen. Danach soll die staatliche Förderbank KfW
In welchem Tempo die Finanzkrise der- Und so beschrieb Wirtschaftsminister zusätzliche Maßnahmen beim „energeti-
zeit auf die reale Wirtschaft übergreift, zei- Michael Glos (CSU) vergangene Woche die schen Gebäudesanierungsprogramm“ und
gen jüngste Einschätzungen amerikani- Konjunkturlage mit Vokabeln, die in eini- bei den gerade auf den Weg gebrachten
scher Konjunkturexperten. Danach hat die gem Widerspruch zu den Nachrichten von Klimaschutzvorhaben finanzieren.
US-Rezession bereits begonnen. den internationalen Finanzmärkten stan- Außerdem sollen Investitionen in der
Auch in Deutschland sind erste Schleif- den. Von „robuster Verfassung“ und „gu- Verkehrsinfrastruktur vorgezogen werden.
spuren zu sehen. Nach einer Umfrage der ter Konstitution“ sprach Glos bei der Prä- Dabei bekommt der Straßenbau den Vor-
Bundesbank pflanzt sich die Finanzkrise sentation seines Jahreswirtschaftsberichts zug vor der Bahn. Der Grund: Asphalt und
derzeit nach geradezu klassischem Muster und fügte den Hinweis an, dass es „keinen Beton lassen sich erfahrungsgemäß schnel-
auf den Unternehmenssektor fort. So sei es Grund zur Panik“ gebe. ler verlegen als Schienen.
im Schlussquartal 2007 im Firmenkunden- In Wirklichkeit sehen die Konjunktur- Und damit auch die Bürger die Kon-
geschäft zu einem „restriktiveren Kreditan- experten der Bundesregierung die Lage junktur ankurbeln können, wollen Glos’
gebotsverhalten der befragten Banken“ ge- längst nicht mehr so rosig. „Das Szenario Beamte ihre Lieblingsidee eines Steuerra-
kommen, nachdem „in den Jahren zuvor stinkt“, sagt einer. Jeden Tag gebe es neue batts ins Programm nehmen. So sollen in-
tendenziell Lockerungen zu beobachten ge- Nachrichten, „und keine davon ist gut“. flationsbedingt zu viel eingezogene Steu-
wesen waren“, so die Studie. Im Klartext: Zudem habe der weltweite Aufschwung ern durch niedrigere Tarife an Bürger und
Die Banken stellen den Unternehmen we- schon ein erhebliches Reifestadium er- Unternehmen zurückgegeben werden. Zu-
niger Geld zur Verfügung, und die Wachs- reicht, er befinde sich im sechsten Jahr. gleich schlagen die Ministerialen vor, den
tumsaussichten trüben sich weiter ein. Alles deute deshalb auf Abschwung hin. Kündigungsschutz zu lockern und die Zeit-
Entsprechend schwarz malt etwa Mi- Auch in den Koalitionsfraktionen macht arbeit weiter zu liberalisieren. Das soll die
chael Burda von der Berliner Humboldt- sich Sorge breit. Die Koalitionsrunde Investitionsbedingungen verbessern und
Universität das Konjunkturbild. In Wirtschaft, ein Gremium von Wirtschafts- so die Binnennachfrage stützen.
Deutschland und Europa sei mit einer experten beider Regierungsfraktionen, Dass die Regierung ihren oft beschwo-
„kräftigen Delle“ zu rechnen, sagt der vergab auf ihrer letzten Sitzung am renen Dreiklang aus „Sanieren, Investieren
Volkswirt. Bekommen die Notenbanken vergangenen Montag einen Auftrag an und Reformieren“ womöglich schon bald
die Misere nicht bald in den Griff, sieht den Vertreter des Wirtschaftsministeriums. durch den einstimmigen Ruf nach mehr
der Ökonom gar „das Potential für eine Die Fachleute von Minister Glos sollten Ausgaben ersetzt, ist nur eine der Crash-
Weltwirtschaftskrise“. doch prüfen, was sich im Falle eines Folgen – und vermutlich nicht einmal die
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 31
Etwas ist grundsätzlich schiefgelaufen
im schuldenfinanzierten Wirtschaftsboom
der vergangenen Jahre, das haben die
Ökonomen inzwischen gelernt. Erstens: Es
kann hochgefährlich sein, wenn die No-
tenbanken jede Börsenkorrektur mit einer
Welle frischen Geldes kontern. Zweitens:
Der Crash ist programmiert, wenn Risiken
im Finanzsektor allzu leichtsinnig behan-
delt werden. Was daraus folgt, liegt auf der
Hand. Die Finanzindustrie muss sich vom
gefährlichen Hype ständig neuer Finanz-
produkte verabschieden und wieder zu
den soliden Regeln des klassischen Bank-
geschäfts zurückfinden. Doch wie soll das
gehen, in einer globalisierten Finanzwelt –
mit nationalen Aufsichtsbehörden?
Nur knappes Geld ist auf die Dauer

FABRICE COFFRINI / AFP


gutes Geld, so lautet die Lehre für die
Währungshüter. Doch auch hier gilt: Was,
wenn eine Notenbank ausschert?
Und die Banken müssen akzeptieren,
dass Risiken nicht dadurch kleiner werden,
Weltwirtschaftsforum in Davos*: Es gelten die Regeln des globalen Kapitalismus dass sie neu verpackt werden. Was aber,
wenn ihnen die Rating-Agenturen genau
gravierendste. Die jüngste Finanz- und Staatsfonds mit, die möglicherweise nicht das einreden wollen?
Bankenkrise, so viel steht heute schon fest, nur finanzielle, sondern auch politische In- Nichts weniger ist gefordert als eine
wird die etablierten Machtverhältnisse in teressen ihrer Regierungen im Sinn haben. neue Finanzarchitektur, in der die Noten-
der Weltwirtschaft erschüttern. Nicht weniger schwer wiegt der Anse- banken sich nicht länger als Erfüllungsge-
Verlieren werden vor allem die USA, für hensverlust der US-Notenbank. Bis vor hilfen von Börsenhändlern verstehen und
deren auf Pump gegründete Konsumöko- kurzem galt die Federal Reserve als ein- Kreditgeschäfte wieder ausreichend mit Si-
nomie die Zeit endgültig abgelaufen ist. flussreichste Währungsinstitution der Welt, cherheiten unterlegt werden. Klare Bilan-
Nun muss das Land seine tiefroten Bilanzen die mit vermeintlich klug gesetzten Liqui- zierungsregeln für alle Finanzinstitute wer-
in Ordnung bringen. Die Folgen werden ditätsspritzen die Weltwirtschaft vor dro- den gebraucht, genauso wie eine schärfere
schmerzhaft sein, für Verbraucher und Un- henden Einbrüchen schützte und nebenbei Bankenaufsicht und wirklich unabhängige
ternehmen, aber auch für die Regierenden auch die Interessen der politischen Elite in Rating-Agenturen.
in Washington. Es gelten die Regeln des Washington bediente. Mit ihren Entschei- Es ist eine ungewohnte Aufgabe, der sich
globalen Kapitalismus, nach denen ein Land dungen steuerte die Fed das wirtschaftliche die Institutionen der weltweiten Finanz-
bei einem Verlust an Wirtschaftskraft stets Geschehen in der ganzen Welt. industrie vom Internationalen Wäh-
auch politischen Einfluss einbüßt. Teure Jetzt gilt die lange Zeit unumstrittene rungsfonds bis zu den nationalen Bank-
Abenteuer wie der Irak-Krieg könnten Politik von Greenspan und Co. als Krisen- aufsichtsbehörden stellen müssen: Anstatt
künftig viel stärker unter dem Vorbehalt verursacher, und die Möglichkeiten der die Hürden fürs globale Geldgeschäft im-
der Finanzierung stehen. US-Währungsbehörde zum Gegensteuern mer weiter zu senken wie in den vergan-
Nichts zeigt den bevorstehenden Bedeu- sind auf ein Minimum begrenzt. Dass Fed- genen Jahren, müssen wirksame Regeln
tungsverlust der Vereinigten Staaten so Chef Ben Bernanke in der vergangenen gefunden werden, die den Anlegern wie-
deutlich wie die jüngsten Rettungsaktionen Woche die US-Zinsen drastisch um 0,75 der Sicherheit und Vertrauen geben.
für eine Reihe von notleidenden amerika- Prozentpunkte senkte, werten Ökonomen In Davos ließen sich in der vorigen Wo-
nischen Finanzinstituten. Um ihre milliar- eher als Panikreaktion denn als vernünfti- che die Trümmer einer fröhlichen Wissen-
denschweren Verluste aus der Subprime- ge Maßnahme. „Die Zinsen lassen sich schaft besichtigen, die stets das Gute hofft.
Krise auszugleichen, mussten sich die stol- nicht unter null drücken“, warnt Ökonom Wie versteinert saßen die Optimisten da,
zen Wall-Street-Institute frisches Geld aus Burda und rät den Notenbankern, das Pul- die der US-Wirtschaft gerade noch ein al-
den aufstrebenden Staatsfonds der asiati- ver so lange wie möglich trocken zu halten. lenfalls leicht abflauendes Wachstum pro-
schen und arabischen Boom-Regionen bor- Die Europäische Zentralbank unter ih- phezeit hatten. Der Held der Stunde war
gen. Abu Dhabis Herrscher Scheich Chalifa rem Vorsitzenden Jean-Claude Trichet ein Mann mit dichtem Kraushaar und einer
Ibn Sajid al-Nahajan, zugleich Präsident scheint diesen Kurs zu verfolgen. Sie sorgt Vorliebe für weit geöffnete Hemden, der
der Vereinigten Arabischen Emirate, inves- sich eher vor der Inflation. Auch die US-No- von Interview zu Interview eilte. Der New
tierte 7,5 Milliarden Dollar in die ange- tenbank steht vor einem echten Dilemma, Yorker Wirtschaftsprofessor Nouriel Rou-
schlagene Citigroup, die weitere 12,5 Milli- denn der Preisauftrieb hat sich in den bini war im vergangenen Jahr der Einzige
arden, vornehmlich aus Singapur und Ku- vergangenen Monaten weltweit verstärkt. in Davos, der eine Rezession in den USA
weit, einsammelte. Singapurs Staatsfonds Senkt die Fed die Zinsen weiter wie in den voraussah – zum Spott vieler Kollegen.
stiegen außerdem bei der Schweizer UBS vergangenen Monaten, heizt sie die Infla- Jetzt lachte keiner mehr, als er einen
und bei Merrill Lynch ein. Bei Morgan tion möglicherweise entscheidend an. Wi- langen, schweren Abstieg voraussagte. „Die
Stanley beteiligte sich die China Investment dersetzt sie sich dagegen dem Drängen nach Frage ist nicht mehr, ob wir weich oder hart
Corporation mit 5 Milliarden Dollar. weiteren Geldspritzen, vertieft sie die Re- aufschlagen werden“, sagt er. „Die Frage
Die Folgen sind absehbar. Bei wichtigen zession. Am Ende könnte jenes Szenario ist nur noch, wie hart der harte Aufschlag
Finanzinstituten der Vereinigten Staaten stehen, das die Volkswirtschaften der Indu- wird.“ Beat Balzli, Jan Fleischhauer,
reden künftig Vertreter ausländischer strieländer schon einmal über Jahre lähmte: Konstantin von Hammerstein, Frank Hornig,
Christian Reiermann, Wolfgang Reuter,
eine Stagflation aus gleichzeitig steigenden Michael Sauga
* Mit US-Außenministerin Condoleezza Rice (M.). Preisen und schwacher Konjunktur.
32 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
WERNER SCHUERING

SPD-Politiker Struck

SPD

Ein hartes Brot


Fraktionschef Peter Struck wird immer lauter. Er schimpft gegen die Union, schimpft
gegen die Kanzlerin, versöhnt sich und schimpft von neuem. Es ist
auch ein Aufstand gegen den eigenen Abschied. Von Christoph Schwennicke

P
eter Struck gehört zu jenen Politi- will mehr davon. Also sagt Peter Struck: tag 65 Jahre alt geworden. Er wird immer
kern, die im Lauf der Jahre ihren „Die CDU hat mich aufgefordert, mich zu lauter. Es ist der Schrei desjenigen, der kei-
Karikaturen immer ähnlicher sehen. entschuldigen. Ich hab gesagt, die kann ne Rücksichten mehr nimmt. „Wissen Sie“,
Dieser Schädel mit seinem tonsurartigen mich mal, und dabei bleibe ich!“ sagt er bei einem Glas Bier, „ich bin in ei-
Haarkranz, der dem Kopf die Silhouette „Die kann mich mal.“ Das ist neben der ner Phase, in der ich aus meinem Herzen
eines Frühstückseis gibt. Die langsamen Verteidigung Deutschlands „auch am Hin- keine Mördergrube mehr machen muss.
Bewegungen, der coole Blick, das immer dukusch“ der zweite Satz, der von Peter Und das fühlt sich sehr gut an.“
etwas abwesende mechanische Kopf- Struck wohl bleiben wird. In dem Fall In Strucks Kopf streiten Verstand und
nicken, wenn jemand auf ihn einquatscht, nicht als Fachminister gesagt, sondern Leidenschaft. Ein Streit, in dem es um die
die Freude am abrupten Lachen, bei dem als Fraktionsvorsitzender in einer Großen Kunst des Abgangs geht. Er kann nicht
sich die Augen zu Schlitzen verengen, der Koalition und damit als Schlüsselfigur die- lassen und redet zugleich oft rührend
Schnurrbart. ses zwar großen und doch so fragilen Ge- sehnsüchtig von seinen Enkeln, von denen
Er grüßt nicht groß, als er im Festsaal bildes. Dieser Satz ist auf den ersten Blick es immer mehr gibt. Struck sucht nach
des Gasthauses Saalburg bei Bad Homburg nur plump, aber auf den zweiten perfide. Antworten und hört nur Stille. Und viel-
auf den bewaldeten Höhen des alten Rö- „Die kann mich mal“ heißt im Original: leicht hört er es manchmal flüstern, dass er
merkastells die Bühne betritt. Er leiert Die CDU kann mich mal. Aber jeder weiß, einen guten Abgang schon verpasst habe,
nicht lange den Honoratiorensermon her- er meint auch: Die Merkel kann mich mal. dass er nicht mehr in der Verfassung sei,
unter inklusive des obligatorischen Danks Es geht auf die Kanzlerin. Deshalb wirkt ein so wichtiges Amt zu bekleiden. Viel-
an die örtliche Feuerwehr. Peter Struck dieser Satz so, deshalb tragen SPD-An- leicht krakeelt er deshalb manchmal so.
geht ans Mikrofon, erhebt die Stimme, die hänger ihn im Gasthaus Saalburg als But- Um das Flüstern nicht hören zu müssen.
einige Zentner Pfeifentabak im Lauf seines ton am Revers. Peter Struck war ein Rot-Grüner, zu-
Lebens tief eingefärbt haben, schimpft auf Was geht vor in diesem Kopf, diesem sammen mit diesen ganzen Männern wie
Roland Koch und sagt: „Aber die Merkel markanten Sturschädel? Manche Politiker Schröder, Fischer, Schily. Die sind alle weg.
muss auch weg im nächsten Jahr, meine werden ruhiger und leiser, wenn sie älter Zuletzt auch noch Franz Müntefering. Mit
Damen und Herren!“ Der Saal tobt und werden. Struck ist vergangenen Donners- dem hatte er einen gemeinsamen Abgang
34 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

geplant, Zielmarke 2009. Aber Müntefering diesen Schwarzen da in Berlin zu regie- Peter, lies das lieber nicht. Meistens hat er
ist zu seiner Frau gegangen. Und Struck ren, das kann ich euch sagen!“ es doch getan.
bleibt übrig. Es geht ihm ein wenig wie dem Diese Schwarzen stehen jetzt vor der Vor fast 28 Jahren ist er in den Bundes-
Mammut in „Ice Age 2“, das einen Artge- Bühne im Reichstag und machen eine tag gekommen, wollte wie so viele zwei
nossen sucht und das auch sein Freund, das möglichst angemessene Miene zu diesem Legislaturen bleiben und dann wieder ge-
freche Faultier Sid, in seiner Einsamkeit Spiel. Struck fragt Kauder, ob er eine Rede hen. Struck aber blieb. Er machte seine
nicht mehr trösten kann. „Wenn du ausge- halten will. Der will nicht. Was er Struck zu Gesellenprüfung als Vertreter der SPD
storben bist und dich niemand mehr ver- sagen hat, sagt er ihm am Telefon. Muss im Flick-Untersuchungsausschuss, wurde
misst ...“, singt es hinter dem Mammut her. das sein?, fragt Kauder ihn nach solchen Haushälter und Parlamentarischer Ge-
Struck versucht sich zu arrangieren mit Vorfällen immer wieder. Ja, das muss sein, schäftsführer, Fraktionschef, Verteidigungs-
der Großen Koalition. Er hat tapfer eine antwortet Struck jedes Mal. minister, erst wider Willen und dann vol-
Männerfreundschaft mit seinem Frak- Seine Versöhnungstreffen mit Angela ler Leidenschaft, schließlich wieder Frak-
tionskollegen Volker Kauder von der CDU Merkel gehen, Bier hin, Wein her, ergeb- tionsvorsitzender.
inszeniert. Aber es ist nicht mehr seine nislos aus. „Sie wirft mir vor, ich würde die Das Reinkommen in diese Welt ist nicht
Welt, durch die er sich da poltert. Struck gute Arbeit der Regierung konterkarie- die Kunst, das Drinbleiben und Hoch-
pflegt seinen zunehmenden Starrsinn, wie ren“, sagt Struck hinterher. „Ich versuch- kommen ist schon schwerer. Aber nichts
er sich in dieser Lebensphase oft einstellt, te ihr klarzumachen, dass die SPD eine ist in der Politik so schwer wie die Kunst
findet, dass früher alles besser war, auch streitlustige Partei ist und meine Fraktion des gelungenen Abschieds. Wie am Reck.
wenn ihn bei Wehner und Brandt und nicht so stromlinienförmig ist wie ihre.“ Man turnt und turnt, und noch einen Rie-

THOMAS IMO / PHALANX


SIMONE M. NEUMANN

Unionspolitiker Kauder und Merkel, Verteidigungsminister Struck*: „Aber die Merkel muss auch weg im nächsten Jahr“

Schmidt genervt hat, dass die ihm das Und dann heuchelt er Verständnis für die sen und noch eine Schraube, aber dann
auch schon gesagt haben, als er jung war. Führungsschwäche, die er ihr unterstellt: muss man den Abgang stehen. Sonst ist al-
Seine Urteile über andere werden immer „Ich kann sie teilweise ja verstehen. Als les nichts. Müntefering hat vorgemacht,
schroffer, schnell belegt mit Begriffen, die Frau hat sie es nicht einfach, sich gegen wie man diesen Abgang sauber steht. Und
sonst Körperöffnungen vorbehalten sind. die Männerriege der Unionsministerpräsi- Struck? Er dreht und dreht, womöglich
Doch diese Urteile untermauert er nicht denten durchzusetzen.“ Das ist Strucks überdreht er. Er ist dabei, den richtigen
mit einer entschiedenen Politik. Der spä- Kunst des erniedrigenden Einfühlens. Ausstieg zu verpassen. Vielleicht hat er
te Struck attackiert und umarmt in rascher So brüllt das Mammut kunstvoll immer ihn schon verpasst. Zwei Herzinfarkte,
Folge. weiter und behauptet doch, von stillen Ta- eine Operation an der Halsschlagader,
So war es beim Neujahrsempfang der gen zu träumen. Irgendwann aussteigen schließlich vor dreieinhalb Jahren ein
SPD-Bundestagsfraktion, Strucks Fest. Er und mit einem Motorrad monatelang Schlaganfall.
geht wieder ans Mikrofon. Aber es redet durch die Staaten fahren wolle er. Es wird Struck kam wieder, nach neun Wochen,
ein anderer Mann als Tags zuvor in Hes- nicht passieren. Die Wahrheit ist: Hinter er regenerierte sich erstaunlich, aber der,
sen. Struck sagt, er „freue sich immer wie- dem hoch elektrisierten und zugleich de- der da wiederkam, war nicht mehr der
der, wenn wir die Kolleginnen und Kolle- generierten Leben eines Spitzenpolitikers gleiche Struck. Das merkten alle, aber das
gen von der Union zu Gast haben“. Ganz gähnt ein Loch, vor dem sie alle Angst ha- sagte keiner. Wie sollte er auch der Glei-
vorn an der Bühne stehen Volker Kauder ben. Auch Peter Struck. Er lebt nur ein che sein nach einer solchen Krankheit.
und Peter Ramsauer, Landesgruppenchef Leben, und das spielt in dieser Welt. Er Seither spielen alle mit bei einem merk-
der CSU. Volker Kauder hat die Hände giert nach Zeitungen, auch wenn er heute würdigen und manchmal unwürdigen
vor dem Unterleib, mehr verschraubt als behauptet, es sei ihm egal, was über ihn ge- Spiel. Und Struck bestreitet sein politi-
verschränkt. Er weiß, dass Struck heuchelt, schrieben werde. Früher haben seine Leu- sches Dasein wie ein Altboxer, der den
dass er keine 30 Stunden vorher in Bad te bei kritischen Stücken zu ihm gesagt: Jungen an Kraft längst nicht mehr eben-
Homburg unter dem Jubel des Saals ge- bürtig ist. Er spielt seine Erfahrung aus
sagt hat: „Es ist schon ein hartes Brot, mit * Beim Hoffest der SPD-Bundestagsfraktion (2003). und setzt darauf, mit minimalem Aufwand
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 35
Deutschland

maximalen Erfolg zu haben. Deshalb wer-


den die Sprüche immer extremer. Ein
„Die kann mich mal“ ist der Versuch des
K.-o.-Schlags eines alternden Boxers. Er
hat nur ein, zwei solcher Chancen in ei-
nem Kampf.
Wenn Struck im Bundestag reden muss,
wie etwa zum Kanzlerhaushalt, dann
schauen alle betreten an der Nase nieder
oder tun, als merkten sie nichts, wenn
Struck die Silben verschleift und aus dem
Stegreif seltsame Dinge sagt. Struck war
nie ein großer Redner. Aber das, was sich
da abspielt, wird dem Begriff Rede manch-
mal nicht mehr gerecht. Alle denken das
Gleiche und flüstern das, was ein SPD-
Bundestagsabgeordneter nur anonym sa-
gen will: „Ich bin nicht zufrieden. Das geht
so eigentlich nicht. Das geht so schon lan-
ge eigentlich nicht mehr.“
Nur: Wieso geht es dann doch, weiter
und weiter und weiter, jedenfalls bis 2009,
obwohl manche meinen, es wäre besser,
schon vor der Bundestagswahl im Herbst
kommenden Jahres Struck durch Sigmar
Gabriel zu ersetzen. Doch Struck und Kurt
Beck sehen das nicht so, mindestens was
den Zeitpunkt anlangt, also kommt es auch
nicht so.
Warum geht es immer weiter? Warum
WERNER SCHUERING

gilt nicht der Spruch, dass bisher am Ende


noch jeder ersetzlich war? Weil Struck
nicht aufhören will und weil keiner ihn am Sozialdemokrat Gabriel
Weitermachen ernstlich hindert. Weil
Struck gemocht wird, auch von den politi-
schen Gegnern. Helmut Kohl hat ihn ein-
SPI EGEL-GESPRÄCH
mal seinen „Lieblingssozi“ genannt. Mer-

„Wir haben alle geschlafen“


kel erträgt seine Ausfälle wie das lichtlose
Schmuddelwetter Berlins Ende Januar.
Kurt Beck gesteht ihm die Freiheit des
Altmeisters zu und hat Peter Struck außer-
dem sehr viel zu verdanken. Struck war die Umweltminister Sigmar Gabriel, 48, über die Kosten des
Schlüsselfigur in Becks Sach- und Macht-
kampf mit Franz Müntefering um das Ar- Klimaschutzes, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen und
beitslosengeld I und damit um die Rich- Forderungen nach längeren Laufzeiten für Atomkraftwerke
tung der SPD.
Struck hatte sich sofort auf Becks Seite SPIEGEL: Herr Gabriel, wir haben mal ins ges all das aufbereitet, was wir heute dis-
gestellt und behauptet, dass die Fraktion Archiv geschaut und nach Artikeln ge- kutieren.
das auch so sehe, die Fraktion allerdings sucht, die die Begriffe „Gabriel“ und „Kli- SPIEGEL: Und wie erklären Sie sich das?
hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass sie maschutz“ enthielten. Und zwar bevor Sie Gabriel: Es bedarf eben bestimmter Um-
das mehrheitlich auch so sieht. Außerdem Umweltminister wurden. stände, damit ein solches Thema Auf-
fällt es schwer, Peter Struck lange böse zu Gabriel: Und? Haben Sie einen Artikel ge- merksamkeit und Dynamik gewinnt.
sein, denn – es klingt merkwürdig, aber – funden? SPIEGEL: Als Sie Umweltminister wurden,
auf seine Weise ist er charmant und sehr, SPIEGEL: Genau einen. Da hatten Sie gera- dachten alle: Gabriel und Klimapolitik, das
sehr menschlich geblieben in diesem un- de einen Windpark auf dem Wybelsumer ist wie Michael Schumacher und Tour de
menschlichen Geschäft. Einer, der sich Polder eingeweiht. Wir haben den Ein- France. Das passt nicht.
kümmert um seine Leute und sich für sie druck: Ihr Lieblingsthema von heute war Gabriel: Das liegt vermutlich daran, dass
und ihre Probleme interessiert, gerade in Ihnen früher ziemlich wurscht. nur wenige wissen, dass ich meine politi-
existentiellen Notlagen. Weil er weiß, was Gabriel: Wurscht ganz sicher nicht. Aber sche Laufbahn als Umweltpolitiker begon-
eine Grenzerfahrung ist. richtig durchdrungen hatte ich das Thema nen habe. Damals ging es freilich weni-
Peter Struck ist eher ungeduldiger ge- bestimmt nicht. ger ums Klima. Aber ich habe mich einge-
worden in den letzten Jahren. Als hätte er SPIEGEL: Sie haben geschlafen. arbeitet, ich habe Feuer gefangen.
keine Zeit mehr zu verlieren. „So. War’s Gabriel: Wir haben alle geschlafen, auch SPIEGEL: Momentan wollen Sie die Welt
das?“, pflegt er Gespräche zu beenden, die der SPIEGEL. Klimaschutz war sehr lan- retten. Aber würden Sie nicht mit der glei-
gerade noch im Fluss waren, in denen er ge ein Thema von Experten, obwohl die chen Verve den Ausbau des Autobahnnet-
bis eben voll engagiert schien. Bedrohung durch den Klimawandel be- zes fordern, wenn Sie zufällig Autobahn-
Struck bräuchte jemanden, einen Ver- reits seit mehr als 20 Jahren bekannt ist. minister geworden wären?
trauten, der ihm in so einem Moment sagt: Schon Anfang der neunziger Jahre hatte Gabriel: Politiker werden ja nicht Minister,
„Ja, Peter, das war’s.“ eine Enquete-Kommission des Bundesta- weil sie das, für das sie verantwortlich sind,
36 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
noch mehr CO2 einsparen als ursprüng-
lich geplant. Allein die Brüsseler Maß-
nahmen kosten jeden Bürger drei Euro
pro Woche. Haben Sie Angst, dass die Ak-
zeptanz für die Klimapolitik von nun an
schwindet?
Gabriel: Ich schaue von meinem Büro aus
auf einen Plattenbau. Der Anblick ist nicht
schön, aber sehr hilfreich, denn ich muss
mich bei allen Entscheidungen fragen, ob
die Leute dort bezahlen können, was wir

PANOS PICTURES / VISUM


beschließen. Nur wenn wir die soziale Sei-
te mitdenken, bleibt Klimaschutz mehr-
heitsfähig und tauglich für die Nordkurve.
SPIEGEL: Die EU hat bei ihrem Klimapaket
nur bedingt Rücksicht auf Deutschland ge-
nommen. Das gefällt der Nordkurve nicht.
Gabriel: Die EU-Kommission ist unseren
Forderungen in weiten Teilen nachgekom-
men. Allerdings stimmt leider auch, dass
sie nicht daran denkt, Staaten wie Spanien,
die ihre Klimaschutzpflichten bei weitem
nicht erfüllt haben, dafür zur Rechenschaft
zu ziehen. Die Kommission muss uns drin-
gend erklären, wie sie klimapolitisches

JAN-PETER KASPER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


Nichtstun künftig bestrafen will.
SPIEGEL: Vor allem die deutschen Autoher-
steller klagen über die scharfen Klima-
schutzauflagen.
Gabriel: Wir unterstützen die EU bei dem
Ziel, dass alle Neufahrzeuge künftig im
Schnitt nur 120 Gramm Kohlendioxid pro
Kilometer ausstoßen sollen. Worum wir
mit der EU streiten, ist die Frage, ob alle
Chinesische Stahlarbeiter (in Baotou), Stau auf der A9: „Ein Tempolimit wird kommen“ Teile der europäischen Automobilindustrie
dazu beitragen oder im Wesentlichen nur
studiert haben. Wir übernehmen eine poli- sie Parteitagsbeschlüsse vertreten. Gera- die deutsche. Von einigen Herstellern in
tische Managementaufgabe, und die müs- de, weil es sich hier nicht um eine Gewis- Europa verlangt die Kommission nicht ein-
sen wir gut erfüllen. Allerdings gilt für die sensfrage handelt. Jetzt versuche ich ge- mal den heutigen Stand der Technik. Da-
Umweltpolitik vielleicht mehr als für an- meinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion gegen liegt zum Beispiel der sehr effizien-
dere Politikbereiche, dass man Emotionen diesen Beschluss umzusetzen. te Passat Blue Motion schon nah an der
für sie haben muss, eine innere Einstellung. SPIEGEL: Wäre ein Tempolimit jetzt keine Grenze, bei der Strafzahlungen fällig wer-
SPIEGEL: Waren Sie früher selbst ein Kli- Symbolpolitik mehr? den sollen. Das ergibt weder ökologischen
maferkel? Gabriel: Tempo 130 auf deutschen Auto- noch ökonomischen Sinn.
Gabriel: Ich war Aufsichtsratsmitglied von bahnen würde dem Klima wohl wenig hel- SPIEGEL: Jetzt klingen Sie auf einmal wie
Volkswagen, und natürlich war ich damals fen, wenn in Zukunft Millionen Chinesen der deutsche Autominister.
auch von der Technik begeistert, auch bei das Autofahren entdecken. Dafür brau- Gabriel: Man kann sich bestimmten Argu-
Autos, deren Umweltbilanz auf die Skalen chen wir andere Motoren und andere menten nicht allein deswegen verschließen,
des Klimaschutzes vermutlich gar nicht Kraftstoffe. weil sie von der Autoindustrie kommen.
mehr draufpasst. Ingenieurskunst fasziniert SPIEGEL: Das Limit wäre ein Symbol des Zum Beispiel beginnt die Entwicklung
mich. Aber es muss eben auch darum ge- Verzichts, der Mäßigung? neuer, auch umweltfreundlicherer Tech-
hen, ökologische Herausforderungen zu Gabriel: Sie haben recht. Und ich gebe zu, nologien zumeist im oberen Preissegment,
erkennen und sich zu überlegen: „Was ma- auch beim Klimaschutz gilt: „Kleinvieh bei den schweren Limousinen. Deren hohe
che ich da eigentlich?“ macht auch Mist.“ Gerade jetzt, da die EU Verkaufspreise erlauben es, mit neuen Ma-
SPIEGEL: Das fragen sich auch einige, wenn uns ein noch ehrgeizigeres Ziel gesetzt hat. terialien und Motoren zu experimentieren,
Sigmar Gabriel über das Tempolimit auf SPIEGEL: Wann wird es denn die Gesetzes- die später auch bei den preiswerten Klein-
deutschen Autobahnen redet. Im vergan- vorlage geben? wagen verwendet werden.
genen Frühjahr hielten Sie einen solchen Gabriel: Für die Union ist das ein Tabuthe- SPIEGEL: Die deutschen Autohersteller ma-
Schritt noch für reine „Symbolpolitik“, die ma. Ein Tempolimit wird aber kommen, chen demnach alles richtig und werden
dem Klima nichts bringe. Dann entschied da bin ich sicher. Vermutlich aber erst nach immer nur von der bösen EU geärgert?
der SPD-Parteitag anders, und plötzlich 2009. Außer uns haben nur noch Länder Gabriel: Quatsch. Natürlich hat die deut-
sind auch Sie dafür. wie Nepal die freie Fahrt, und dort liegt es sche Autoindustrie geschlafen. Jetzt kom-
Gabriel: Gemessen an der Notwendigkeit, eher am Zustand der Straßen, dass man men riesige Umstellungen auf sie zu. Wenn
rund 500 Millionen Tonnen in Deutschland kein Limit braucht. Es ist also ein bisschen sie auf den Märkten der Zukunft präsent
einzusparen, ist der Beitrag eines Tem- verrückt, was wir in Deutschland bei dem bleiben will, muss sie neue, ökologische
polimits von vielleicht 2,5 Millionen Ton- Thema treiben. Modelle entwickeln, und zwar schnell. Es
nen CO2-Minderung wohl auch über- SPIEGEL: Die EU hat vergangene Woche darf nicht wieder so laufen wie bei Kata-
schaubar. Und außerdem darf die SPD ihr Klimaschutzprogramm vorgelegt. Da- lysator, Dieselfilter und Hybridantrieb. Die
wohl von ihren Ministern verlangen, dass nach muss Deutschland bis zum Jahr 2020 wurden bei uns erfunden, aber in allen drei
d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 37
steigen. Das sollen die Grünen mal den
Leuten erzählen.
SPIEGEL: Konzernbosse warnen bereits vor
einer „Riesenlücke“ in der Stromversor-
gung, wenn ältere Atom- und Kohlekraft-
werke reihenweise vom Netz gehen. Dro-
hen uns bald Stromausfälle wie in Kali-
fornien?
Gabriel: Alles blanker Unsinn. Solche Hor-
rorszenarien ergeben sich nicht einmal aus
den Studien des Kollegen Glos zum Ener-

ALFRED BUELLESBACH / VISUM


giegipfel im vergangenen Jahr.
SPIEGEL: 2007 war das Jahr der Klimadi-
plomatie. Was bleibt Ihnen vom Gipfel auf
Bali am stärksten in Erinnerung?
Gabriel: Dass solche Verhandlungen schlim-
mer sind als jede Tarifverhandlung. Es
Kernkraftwerk Gundremmingen: „Einfach nicht beherrschbar“ scheint da unter Klimadiplomaten eine
feste Regel zu geben: dass am Ende immer
Fällen waren uns die Japaner bei der Ein- send Atommeiler gebaut werden. Derzeit 24 Stunden durchverhandelt werden muss.
führung voraus. gibt es nur rund 430, und von denen sind Auch wenn alle schon fix und fertig sind
SPIEGEL: Wer ist eigentlich der bessere Kli- 200 so alt, dass sie durch neue Anlagen er- oder der Kompromiss schon feststeht. Aber
maschutzpolitiker, Frau Merkel oder Sie? setzt werden müssten, wenn man die Zahl wenigstens hat es sich gelohnt. Der Erfolg
Gabriel: Ich würde natürlich uns beiden der Reaktoren auch nur stabil halten woll- von Bali ist im Wesentlichen, dass endlich
Bestnoten geben. Der Unterschied ist nur: te. Bauanträge gibt es aber nur für weniger nicht nur klima- sondern auch wirtschafts-
Meine Partei steht hinter mir, die Union als 30. politische Interessen offen auf dem Tisch
aber nicht immer hinter Frau Merkel. De- SPIEGEL: Ihr alter Parteifreund Wolfgang liegen.
ren Ministerpräsidenten loben Merkels Clement hat gerade erst vor einem Aus- SPIEGEL: Bis 2009 soll ein verbindliches
Klimapolitik nur am Sonntag. Während stieg aus Kohle und Atom gewarnt. Auf Uno-Klimaschutzabkommen beschlossen
der Woche versuchen sie im Bundesrat, den haben Sie doch mal große Stücke ge- sein. Halten Sie das nach dem zähen Auf-
Löcher in den Dampfer zu schießen. Frau halten. takt in Bali für möglich?
Merkel kann froh sein, dass sie die SPD Gabriel: Da hat mein alter Freund Wolf- Gabriel: Ja, ich bin optimistisch, auch wenn
hat. Wir helfen ihr jedenfalls gern dabei, gang wohl Erinnerungslücken. Er hat den ein echter Durchbruch erst nach den ame-
unser nationales Klimaschutzpaket, das Atomkonsens als Minister mitgetragen, da rikanischen Präsidentschaftswahlen zu er-
weltweit schärfste, gegen die unionsregier- kann er jetzt nicht sagen, der Atomaus- warten ist.
ten Länder durchzusetzen. stieg sei abenteuerlich. Und dann stimmt SPIEGEL: Ihr Staatssekretär fährt in dieser
SPIEGEL: Wirtschaftsminister Michael Glos seine Behauptung schlicht und ergreifend Woche nach Honolulu, zu einem eigenen
will längere Laufzeiten der Atomkraftwer- nicht, dass die SPD völlig gegen neue US-Klimagipfel. Warum nehmen Sie an sol-
ke zum Wahlkampfthema machen, andere Kohlekraftwerke wäre. Das Gegenteil ist chen Showveranstaltungen eigentlich teil?
Unionspolitiker plädieren sogar für neue der Fall. Es geht allerdings darum, mit wel- Gabriel: Hätten die USA Bali blockiert,
Atomkraftwerke. cher Technik sie betrieben werden. wären wir aus ihren Konferenzen der größ-
Gabriel: Wenn der Herr Glos ein solches SPIEGEL: Gegen neue Kohlekraftwerke pro- ten Energieverbraucher ausgestiegen. Aber
Wahlkampfgeschenk machen will, werde testieren wiederum die Umweltverbände. am Ende wird das Uno-Klimaabkommen
ich es nicht zurückweisen. Ich halte die Gabriel: Selbst wenn wir bis zum Jahr 2020 von genau den 20 Ländern geschlossen,
Technologie einfach nicht für beherrsch- einen Anteil von 30 Prozent an erneuer- die dort als größte Emittenten vertreten
bar, besonders ältere Anlagen nicht. Des- baren Energien hätten, müssten immer sind. Es hilft nichts, die USA dauernd vor
halb müssen die Reaktoren vom Netz. noch 70 Prozent unseres Energiebedarfs den Kopf zu stoßen, denn irgendwann neh-
SPIEGEL: Gibt es überhaupt Bedingungen, gedeckt werden. Das allein mit Erdgas zu men das auch die wohlwollenden Ameri-
unter denen Sie über einen Ausstieg aus tun, wie es die Grünen und manche Öko- kaner persönlich.
dem Atomausstieg reden würden? verbände fordern, käme Industrie und Ver- SPIEGEL: Und was können Sie während Ih-
Gabriel: Nein, die gibt es nicht. braucher teuer zu stehen. Der künftige rus- rer Reise diese Woche in China ausrichten?
SPIEGEL: Letztes Wort? sische Präsident hat ja schon gesagt, dass Gabriel: Wir wollen zusammen mit den
Gabriel: Das hat immer der Gesetzgeber. 2008 die Gaspreise um 40 Prozent steigen Chinesen Klimaschutzprojekte starten, die
SPIEGEL: Wir steigen aus, aber um uns her- werden. Wenn wir uns ganz auf das Gas von uns mitfinanziert und Deutschland als
um werden munter neue Atomkraftwerke verließen, würde der Strompreis extrem Schadstoffreduktionen gutgeschrieben
gebaut. Das macht im Zeitalter der Globa- werden.
lisierung wenig Sinn. SPIEGEL: Die Chinesen haben genug Geld,
Gabriel: Die Briten müssen ihre AKW des- um neue Kriegsschiffe zum Schutz von
halb durch neue ersetzen, weil sie zu we- Ölimporten zu bauen. Aber ihre Umwelt-
nig in erneuerbare Energiequellen inves- projekte müssen wir bezahlen?
tiert haben. Die Vorstellung, den weltweit Gabriel: Wenn wir Klimaschutz weltweit
wachsenden Bedarf an Energie durch durchsetzen wollen, werden Länder wie
Atomkraft decken zu können, ist Unsinn. Deutschland, die in der Lage sind, neue
WERNER SCHUERING

Um mit Atomkraft einen nennenswerten Technologien zu entwickeln, von ihrem


Beitrag zum Klimaschutz leisten zu kön- Wissen etwas abgeben müssen. Wasch
nen, müssten weltweit zwei- bis dreitau- mich, aber mach mir den Pelz nicht nass,
das geht nicht.
* Christian Schwägerl und Markus Feldenkirchen in Gabriel, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Gabriel, wir danken Ihnen
Berlin. „Meine Partei steht hinter mir“ für dieses Gespräch.
38 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

Andere Bedenken am Kandidaten Drei- Veto des Schwaben. Als das nicht kam, ging
V E R FA S S U N G S G E R I C H T
er haben die Christdemokraten. Sie sto- man in Berlin und Bremen offenbar davon

Schwierige ßen sich an seinen Aussagen zum Schutz


des ungeborenen Lebens – und anders als
die Grünen kann die Union verhindern,
aus, die Personalie Dreier sei durch.
Nach den ersten Pressemeldungen kam
es am 14. Januar zu einer turbulenten

Meinungsbildung dass der Bundesrat ihn wie vorgesehen


wählt.
Schon als Mitglied des Nationalen Ethik-
rats hatte Dreier plädiert, embryonale
CDU-Präsidiumssitzung in Berlin. Oettin-
ger beteuerte, keineswegs habe er der Per-
sonalie zugestimmt. Dabei findet es aller-
dings auch mancher Unionspolitiker merk-
Die Nachfolge an der Spitze des
Stammzellen nach einer Einzelfallprüfung würdig, dass der Ministerpräsident davon
obersten deutschen Gerichts zur Forschung sowie zur Diagnose und absah, sofort nach der Präsidiumssitzung
in Karlsruhe galt als geklärt – doch Behandlung von Krankheiten freizugeben. auch öffentlich Widerspruch anzumelden,
nun sehen die Ministerpräsidenten Wegen dieser Haltung gebe es unter den und dass Oettinger seine Länderkollegen
der Union noch Diskussionsbedarf. Unions-Ministerpräsidenten „noch Ge- sogar erst am 22. Januar offiziell per
sprächsbedarf“, teilte der baden-württem- Schreiben über den SPD-Vorschlag infor-

M
it dem Namen Horst Dreier wuss- bergische Regierungssprecher nun kryp- mierte – davor hatte es nur informelle
te bis vor wenigen Tagen außer- tisch mit. Gespräche gegeben.
halb von Expertenzirkeln kaum Dabei schien bereits vor zwei Wochen „Frühestens“ Ende dieser Woche, heißt
jemand etwas anzufangen. alles klar, die Zustimmung der Union galt es jetzt in der Union, könne man die Mei-
Das hat sich schlagartig ge- nungsbildung abschließen. Sollten
ändert, seit bekannt wurde, dass die Christdemokraten doch noch
die SPD den Würzburger Jura- ein Veto gegen den SPD-Vorschlag
professor als Nachfolger des schei- einlegen, wäre die für den 15. Fe-
denden Vizepräsidenten Winfried bruar vorgesehene Wahl Dreiers
Hassemer ans Bundesverfassungs- im Bundesrat geplatzt.
gericht schicken und damit ab Auch wenn die Personalie jetzt
2010 zu dessen Präsidenten ma- kritisch gesehen wird, besteht
chen will. offenbar keine „Atmosphäre
Denn der Rechtsphilosoph eindeutiger Ablehnung“, heißt es
und Staatsrechtslehrer Dreier, in Unionskreisen. Zwar haben
seit den siebziger Jahren SPD- manche CDU-Ministerpräsiden-

DANIEL KARMANN / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


Mitglied, genießt zwar als Her- ten mit Dreiers Positionen in Sa-
ausgeber eines großen Grund- chen Embryonenforschung und
gesetz-Kommentars in Juristen- Präimplantationsdiagnostik er-
kreisen höchstes Ansehen. Doch hebliche Schwierigkeiten; selbst
seine Positionen zum Schutz der Insider wagen derzeit nicht zu
Menschenwürde, die er unter prognostizieren, ob am Ende alle
anderem in diesem Kommentar Unionsländer an Bord sind. Ein
vertritt (SPIEGEL 3/2008), ha- klares Nein zur Person Dreiers
ben nun eine öffentliche Debat- kam aber bislang offenbar von
te darüber ausgelöst, ob jemand Rechtsphilosoph Dreier: „Dazu stehe ich“ niemandem.
mit derartigen Ansichten wirk- Eigentlich müsste die Union
lich an die Spitze des höchs- mit Dreier sogar relativ zu-
ten deutschen Gerichts rücken frieden sein – denn niemand
kann. kann erwarten, dass ein von
Linke Rechtspolitiker – vor den Sozialdemokraten nominier-
allem Volker Beck von den ter Jurist beim Schutz des unge-
Grünen – empörten sich über borenen Lebens genauso denkt
Dreiers Vorschlag, möglicherwei- wie ein katholischer Hard-
se auch beim Schutz der Men- liner. Stattdessen dürften sich
schenwürde in Ausnahmefällen zumindest einige CDU-Innen-
RAINER WEISFLOG

eine juristische Abwägung zuzu- politiker klammheimlich freuen,


lassen. So erkennt Dreier in sei- dass Dreier auch sonst die
nem Kommentar zwar an, dass Grenzen des Menschenwürde-
nach „herrschender Auffassung“ schutzes eher enger ziehen will,
polizeiliche Folter etwa zur Ret- Embryonenforschung: Plädoyer für Einzelfallprüfung etwa wenn es um die zwangs-
tung des Lebens einer Geisel ver- weise Verabreichung von Brech-
boten sei; wenn aber die Würde des Täters als sicher. Doch bei der Abstimmung zwi- mitteln an Drogendealer geht; oder dass er
gegen die Würde des Opfers stehe, so Drei- schen Christdemokraten und SPD hat es eben gegen ein Denkverbot beim Thema
er, sei eine „rechtfertigende Pflichten- offenbar eine schwere Kommunikations- Folter ist.
kollision“ denkbar. panne gegeben. Indes ist kaum anzunehmen, dass sich
Beck verlangte, Dreier solle dieser Aus- Tatsächlich informierte der Bremer SPD- Dreiers Ansichten später im Amt unver-
sage öffentlich abschwören. Doch der Bürgermeister Jens Böhrnsen bereits Mitte ändert in der Verfassungsrechtsprechung
Protestant reagierte mit den Worten, die Dezember Baden-Württembergs Minister- niederschlagen würden. Denn in Karlsruhe
laut Bibel einst Pontius Pilatus gebrauch- präsidenten Günther Oettinger per SMS gilt nach einem Wort der früheren Verfas-
te: „Was ich geschrieben habe, habe ich über den Richter-Vorschlag der SPD. Oet- sungsgerichts-Präsidentin Jutta Limbach
geschrieben.“ Und fügte im Geiste des tinger koordiniert bei der Richterwahl die die „Macht der Acht“ – auch der Chef hat
Reformators Martin Luther an: „Dazu CDU-Länder. In den ersten beiden Januar- nur eine Stimme unter den acht Richtern
stehe ich.“ wochen wartete die SPD auf ein mögliches des jeweiligen Senats. Dietmar Hipp

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 41
Deutschland

Havariertes Minenjagdboot „Grömitz“


„Navigationsfehler“ im Schneetreiben

jäger „Bad Rappenau“ fegten unversehens


fünf 27-Millimeter-Geschosse aus der Ka-
none. Mitarbeiter des Kieler Marine-
arsenals suchten eilig Deckung.
Niemand wurde verletzt. Doch stellt sich
die Frage, ob die Seestreitkräfte, des lan-
gen Friedens überdrüssig, nach einem Geg-
ner gesucht und endlich einen gefunden
haben: sich selbst.
Es gelte, das „Verantwortungsbewusst-
sein wach zu halten“, ermahnte Vizeadmiral
Nolting seine Offiziere, auch die „Sicher-
heitsausbildung“, erklärte der Marinechef
mit besorgtem Blick auf die Schießunfälle,
müsse man „ständig verbessern“.
Immerhin bescherte die „Braunschweig“-
Havarie den Teilnehmern von Hafenrund-
fahrten in Hamburg ein seltenes Spektakel.
In den Docks von Blohm+Voss lagen nach
den Weihnachtsfeiertagen gleich zwei Kor-
vetten: Werftarbeiter schraubten einen in-

HARRY WAHLVAAG / SCANPIX / DPA


takten Antriebspropeller der „Oldenburg“
ab – und montierten ihn flink an die lä-
dierte „Braunschweig“.
Die Marine hatte es eilig mit der Repa-
ratur. Sie möchte das neue Schiff, das for-
mal noch der Werft gehört, endlich offiziell
in Betrieb nehmen, möglichst bis März.
Längst ist die „Braunschweig“-Klasse in
Betrunken oder nicht, für die Seestreit- Verzug. Ursprünglich wollte Verteidigungs-
BUNDESWEHR
kräfte sind die vielen Unfälle enorm pein- minister Franz Josef Jung das erste von fünf

Eilig in Deckung lich – und teuer. „Leider hatten wir einige


Havarien, die in der Öffentlichkeit großes
Aufsehen erregten“, klagt Vizeadmiral
Wolfgang Nolting, der Marineinspekteur.
Schiffen 2006 in Dienst stellen. Wegen di-
verser Mängel hatte Marineinspekteur Nol-
ting die Feier mehrmals vertagt.
Mal ging eine Antriebswelle der „Braun-
Die Marine ist im Krieg. Allerdings
Der letzte größere Unfall ereignete sich schweig“ kaputt, mal zickte die Elektro-
mit sich selbst. Rammstöße und am 13. Dezember und wird von den See- nik. Durchs Unterdeck waberte Abgasmief
Selbstbeschuss sorgen für Schrott streitkräften gern beschwiegen. Diesmal traf der beiden 10 000 PS starken Dieselmoto-
bei den eigenen Schiffen. es ausgerechnet ein neues Renommierschiff, ren und erregte Übelkeit bei der Besat-
die Korvette „Braunschweig“, 89 Meter lang zung. So manövrierfähig wie von den

D
ie Luft war klar, die Sicht war gut, und gut 13 Meter breit. Bei einem Aus- Werften versprochen, ist das rund 300 Mil-
da gab der Kommandant des weichmanöver knallte sie mit dem Heck in lionen Euro teure Schiff auch nicht.
Schnellboots „Frettchen“ den Be- die steinerne Böschung des Nord-Ostsee- Ein Bugstrahlruder, mit dem sich ein
fehl für ein schneidiges Manöver. In voller Kanals. Ein Antriebspropeller war Schrott. Schiff quer zur Fahrtrichtung verschieben
Fahrt ließ er am Heck einer Fregatte vor- Damit ging ein miserables Jahr der lässt, gehört bei Kreuzfahrtdampfern und
beikreuzen. Gejohle an Bord, dann der Deutschen Marine zu Ende. Angefangen Frachtern zur Standardausrüstung. Es hät-
Ausruf: „Pass auf!“ hatte es im Februar, als der Minensucher te der „Braunschweig“ die Havarie im Ka-
Zu spät. Leider hatte die Besatzung ein „Grömitz“ vor der norwegischen Küste auf nal wahrscheinlich erspart. Aus Kosten-
weiteres Boot der Deutschen Marine über- einen Felsen lief. Ein „Navigationsfehler“ gründen hatte das Wehrressort allerdings
sehen und rauschte hinein. Die Reparatur im Schneetreiben war die Ursache dafür, darauf verzichtet.
kostet Millionen. Der Kommandant wurde dass das Boot in der Nähe der Stadt Ber- Nun soll das Bugstrahlruder nachgerüs-
abgelöst. gen mehrere Tage auf dem Trockenen lag: tet werden, allerdings zu Lasten der Werft.
Das Video von dem Unfall, der sich Ende „Grömitz on the Rocks“ lautete dazu der Dafür akzeptiert die Marineführung, dass
April vor der libanesischen Küste ereigne- Soldatenspott. die Korvetten die vorgesehene Spitzenge-
te, macht gerade Karriere bei YouTube Kaum war der nächste Ärger über den schwindigkeit von gut 26 Knoten (48 km/h)
(„German Navy Boats crashing“). Mehr als Rammstoß vom „Frettchen“ im Mittelmeer nicht erreichen.
42 000 Betrachter haben sich bereits ein Ende April verebbt, krachte es im Ärmel- Auch eine andere Konsequenz hat die
paar Sekunden Schadenfreude gegönnt. kanal: Am 2. Mai verpasste sich die Fre- Marine aus der Malaise gezogen. Sie be-
Inzwischen könnte die Deutsche Ma- gatte „Lübeck“ einen Schuss in den Bug. grub die Pläne, insgesamt 15 Exemplare
rine eine kleine Serie mit ihren Miss- Ein 76-Millimeter-Geschoss donnerte ne- dieses Baumusters zu beschaffen. Anstelle
geschicken bestreiten. Langsam stellt sich ben dem Ankerspill ins Vorschiff, als Sol- der „Braunschweig“-Klasse verlangt Vize-
die Frage, was eigentlich mit den deut- daten eine Ladehemmung der Bordkanone admiral Nolting nun „Korvetten eines
schen Seelords los ist. „Völlig blaue beseitigen wollten. neuen Typs“.
Jungs?“, höhnte schon die Rostocker „Ost- Schon im August wummerte es abermals Vielleicht wäre ihm auch mit Seeleuten
see-Zeitung“, die sonst freundlich mit der – nun an der Kieler Förde. Beim Einbau eines neuen Typs geholfen.
Marine umgeht. eines „Leichtgeschützes“ auf dem Minen- Alexander Szandar

42 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
Deutschland

das fruchtbar. Und selbst Scheitern kann


fruchtbar sein.
ZEITGESCHICHTE
SPIEGEL: War der Aufruhr keine Bedro-

„An Widerstand wächst man“


hung für die Hochschulen und die Gesell-
schaft?
Biedenkopf: Die Studenten waren damals
in ihrer großen Mehrheit keine Radikalin-
Der ehemalige sächsische Ministerpräsident und CDU-General- skis. Sie haben Fragen gestellt, unbequeme
Fragen. Das war folgerichtig in einer Pha-
sekretär Kurt Biedenkopf, 78, über seine Zeit als Bochumer se des Umbruchs. Von einer unkontrollier-
Uni-Rektor Ende der sechziger Jahre und die Motive der 68er baren Revolution, die die gesellschaftliche
Ordnung bedroht hätte, waren wir weit
SPIEGEL: Herr Biedenkopf, Sie waren von tät in Bochum wollten beispielsweise über entfernt.
1967 bis 1969 Rektor der Ruhr-Universität alternative Lehrkonzepte diskutieren, fan- SPIEGEL: Gerade unter Unionspolitikern
Bochum. Wie haben Sie dort die Studen- den in ihrer Fakultät aber keine Resonanz. gehört es noch heute zum guten Ton, die
tenrevolte erlebt? Ich stellte ihnen einige Uni-Räume zur Ver-68er zu verdammen.
Biedenkopf: Wir haben vor allem unterrich- fügung, unter der Bedingung, dass sie den Biedenkopf: Ich kann mich einem solchen
tet, geforscht und eine Universität betrie- Laden selbst sauber halten. Unseren Putz- Urteil nicht anschließen, sondern halte es
ben. Es ging in Bochum nicht so wild zu frauen wollte ich das nicht zumuten. Nach für eine unbegründete Verallgemeinerung.
wie an einigen traditionellen
Hochschulen, etwa Frankfurt
oder Berlin. Die Bochumer Uni-
versität war gerade erst eröffnet
worden. Es war die erste Uni im
Ruhrgebiet. Sie sollte auch Ar-
beiterkindern einen Studienort in
der Nähe bieten. Die Leute im
Revier waren stolz auf ihre Uni.
SPIEGEL: An welche Turbulenzen
erinnern Sie sich?
Biedenkopf: Eine Gruppe von Stu-
denten besetzte einmal das Ge-
bäude, in dem sich auch das Rek-
torat befand. Ich musste den Um-
weg über den Keller nehmen, um
an meinen Schreibtisch zu gelan-
gen. Dort bekam ich einen Anruf
des Betriebsratsvorsitzenden der
Opel-Werke in Bochum. Er frag-
te, wie viele Leute ich brauchte,
sie kämen gern vorbei, um mir
zu helfen. Ich habe gedankt und
gesagt, wir kämen schon zurecht.
SPIEGEL: Wie haben Sie den Kla-
mauk gestoppt?
Biedenkopf: Es ist eine Legende,
CHRISTIAN THIEL

dass damals an den Hochschulen


nur Klamauk herrschte. Unter
hundert Studenten waren viel-
leicht drei, die nur dafür zu ha- Professor Biedenkopf: „Streit ist der Vater des Fortschritts“
ben waren. Mit ihnen muss ein
guter Pädagoge fertig werden. Ich erinne- mehreren Tagen Diskussion kamen die Stu- SPIEGEL: Sie haben das Bochumer Rektorat
re mich an einen Besuch Helmut Schmidts denten zu der Erkenntnis, dass man über im Alter von 37 Jahren übernommen, als
in Bochum. Er war damals Vorsitzender wissenschaftliche Wahrheiten nicht basis- damals jüngster Rektor in Deutschland.
der SPD-Bundestagsfraktion. Ein Student demokratisch abstimmen kann – eine wich- Haben Sie mit den Forderungen der Stu-
in Armeejacke kam in den Raum, legte vor tige Einsicht. denten sympathisiert?
Schmidt einen Stein auf den Tisch und SPIEGEL: So viel Realitätssinn war selten: Biedenkopf: Wenn sie berechtigt waren, ja.
blickte ihn prüfend an. Schmidt erstarrte. Die 68er wollten ja nicht nur die Hoch- Viele von uns waren junge Hochschul-
Ich kannte den Studenten und sagte ihm, schule, sondern die ganze Welt verändern. lehrer und nicht mit den Traditionen
Schmidt sei unser Gast und es passe jetzt Biedenkopf: Das zu wollen ist das Privileg verhaftet, die als Muff unter den Talaren
nicht. Dann ist er wieder abgezogen. der Jugend. Sicher: Es gab in den Jahren angeprangert wurden. Ich hatte mich
SPIEGEL: Reichte gutes Zureden aus? ab 1967 an den Hochschulen Entwicklun- zuvor dreimal für ein akademisches Jahr
Biedenkopf: Ich habe die jungen Leute da- gen, die ich auf keinen Fall wiedererleben in den USA aufgehalten. Es waren prä-
mals auch verteidigt, gerade auch gegen- möchte, Gewalt und die Verniedlichung gende Jahre. Sie begründeten eine gewis-
über meinen Kollegen, die teilweise ent- von Gewalt. Das waren Entladungen vol- se Distanz zum klassischen deutschen
setzt waren und den Verfall der Sitten be- ler Phantastereien, ohne rationale Ziele. Hochschulbetrieb.
klagten. Die pauschalen Vorwürfe trafen Wenn aber Studenten zu ihrem Rektor SPIEGEL: Wie sah dieser Betrieb damals aus?
und treffen auch heute nicht zu. Einige Stu- kommen und mehr Mitsprache bei dem Biedenkopf: Ein Beispiel aus der evangeli-
denten der sozialwissenschaftlichen Fakul- fordern, was sie lernen sollen, dann ist schen Theologie: Nach Studentenprotesten
44 d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8
wurde ich als Rektor in eine Sitzung der entlud sich ein aufgestauter Generations- gen? Die jungen Leute suchten nach neuen
Fakultät eingeladen. Viele der Professoren konflikt. Die Nachwachsenden wollten von Zielen, und sie bekamen keine Antworten.
sahen darin einen Affront und empfingen ihren Eltern wissen, wie es zum National- SPIEGEL: Was waren die Langzeitfolgen?
mich mit schweigender Ablehnung. Ich bat sozialismus und seinen Verbrechen kom- Biedenkopf: Am meisten gelitten haben
jedoch die Kollegen einfach darum, mir als men konnte und was das für Deutschlands die Schulen: Dort trat kaum jemand den
Nichttheologen ihre jeweiligen Fachgebiete Zukunft bedeutete. Die Älteren blieben die studentenbewegten Lehrern entgegen, die
zu erklären. Am Ende der Runde kam der Antwort weitgehend schuldig. Die jungen Regeln und Anforderungen als Repression
Dekan zu mir und sagte: Magnifizenz, so Leute spürten die Verkrampfungen, die aus denunzierten mit der Folge, dass eben-
haben wir noch nie miteinander geredet. der deutschen Katastrophe rührten. Und diese elementaren Grundlagen einer hoch-
Der Austausch der Lehrenden untereinan- sie gingen dagegen an. entwickelten Gesellschaft diskreditiert wur-
der und der Austausch mit den Studenten SPIEGEL: Waren die allgegenwärtigen Rück- den. Erst seit den neunziger Jahren kam
fanden offenbar kaum statt. Dazu bedurfte bezüge auf die NS-Zeit nicht nur ein vor- es dann zu einer deutlichen Gegenbewe-
es erst eines Anstoßes von außen. geschobener Grund für die Revolte? gung.
SPIEGEL: Und der Verfall der Werte? Biedenkopf: Mein Eindruck war, die Jünge- SPIEGEL: Haben die 68er Leistung auch des-
Biedenkopf: Die Relativierung der Werte ren litten auch darunter, dass die Älteren halb diskreditieren können, weil sie nach
hatte damals schon längst begonnen. Das nicht mit ihnen über die Vergangenheit dem Protest in großer Zahl bequem im Öf-
kann man aber nicht den 68ern allein an- sprachen. Schließlich lastete die Hypothek fentlichen Dienst unterkamen?
lasten. Verantwortlich waren vor allem ihre der Nazi-Verbrechen auch auf den Nach- Biedenkopf: Die Behauptung, dass sich
Eltern. Sie hatten sich geweigert, argu- wachsenden. Sie gerieten in Erklärungs- diese Generation in besonders großer
Zahl im Öffentlichen Dienst fest-
gesetzt habe, ist – von den Leh-
rern abgesehen – ohne Grund-
lage. So viele Positionen im
Staatsdienst gab es nicht. Dort,
wo Akademiker eingestellt wur-
den, war der Öffentliche Dienst
weitgehend das Monopol der
Juristen.
SPIEGEL: Wie hat es sich auf die
Bundesrepublik ausgewirkt, dass
die Studentenrevolte die indivi-
duellen Kräfte, den Drang nach
Selbstverwirklichung stärker frei-
gesetzt hat?
Biedenkopf: Das war sicher nütz-
lich und wäre dem Land noch
mehr zugutegekommen, hätte
man dabei nicht die Verant-
wortung vergessen. Deshalb ha-
ben wir heute ein großes Pro-
blem: Die Leute wollen sich
GÜNTER ROSSENBACH / DER SPIEGEL

selbst verwirklichen, aber der


Staat soll die Verantwortung tra-
gen. Es gibt aber keine Selbst-
verwirklichung ohne Verantwor-
tung. Diesen Zusammenhang
haben die 68er noch nicht gese-
hen. Es ihnen klarzumachen
wäre auch die Aufgabe der Äl-
Protestierende Studenten*: „Ein aufgestauter Generationskonflikt“ teren gewesen. Die 68er waren
in ihrer großen Mehrheit noch
mentativen Widerstand zu leisten. Eine not: Wie sollte man sich auf einer Frank- immer in erster Linie junge Leute, die
wirkliche, inhaltliche, öffentliche Ausein- reich-Reise verhalten, wenn man als Nazi- sich Raum schaffen wollten, ungefähr wie
andersetzung fehlte. Als die jungen Leute Deutscher beschimpft wurde? Als ich ein Schüler, der einen unsicheren Lehrer
merkten, dass sie nicht auf Widerstand 1949/50 das erste Mal in den USA war, hat- testet.
stießen, wenn sie beispielsweise die Fami- te ich Angst, ich könnte auf der Straße an- SPIEGEL: Was haben Sie für Ihre politische
lie als Hort der Repression niedermach- gespuckt werden. Das ist zum Glück nie Karriere aus der Zeit gelernt?
ten, wurden sie immer übermütiger. passiert. Heute können wir auf all das Biedenkopf: Ich habe immer versucht zu
SPIEGEL: Was hätten die Älteren denn tun Positive verweisen, das sich in der Bundes- unterscheiden: Gibt es eine Unruhe, de-
sollen? republik seitdem entwickelt hat. Ob es ren Ursache begründet ist, dann ist sie
Biedenkopf: Sich den Fragen inhaltlich stel- dazu kommen würde, war damals nicht vielleicht schrecklich unbequem. Aber es
len und sich nicht mit Formverletzungen entschieden. hat keinen Zweck, sie zu unterdrücken. In
herausreden. Echte Autorität setzt immer SPIEGEL: Die Demokratie war Ende der der Regel entsteht dabei etwas Pro-
Erklärungsaufwand voraus, den Verweis sechziger Jahre bereits ziemlich gefestigt. duktives. Widerstand belebt das Geschäft
auf künftige Notwendigkeit. Es reicht nicht Biedenkopf: Der Wiederaufbau war gelun- genauso wie Wettbewerb. An Widerstand
aus, sich auf die Tradition zu berufen. 1968 gen. Das war die Leistung der Elterngene- wächst man. Streit ist der Vater des Fort-
ration der 68er. Doch was sollte danach schritts. Das war immer meine Überzeu-
* Demonstration gegen den Vietnam-Krieg im Februar kommen? Wo sollten die produktiven Span- gung. Interview: Jan Friedmann,
1968 in Berlin. nungen entstehen, die ein Land voranbrin- Dietmar Pieper

d e r s p i e g e l 5 / 2 0 0 8 45
A F FÄ R E N

Getäuscht und
reingelegt
Zwei Unternehmer verklagen das
Land Nordrhein-Westfalen auf über
13 Millionen Euro Schadensersatz –
verantwortlich ist die Subven-
tionspolitik aus rot-grünen Zeiten.

E
s war ein ziemlich dickes Paket, das
der Bote am vergangenen Mittwoch

JÖRG CARSTENSEN / DPA


an der Pforte der Düsseldorfer Staats-
kanzlei abgab. Es enthielt eine 102-sei-
tige Amtshaftungsklage gegen das Land
Nordrhein-Westfalen, drei rote Aktenord-
ner mit Anlagen und eine hochrangige
Zeugenliste: Auf ihr stehen Bundesfinanz- Landeschef Clement, Berater Thoma*: „Er braucht deine Hilfe“
minister Peer Steinbrück, Ex-Minis-
terpräsident Wolfgang Clement, Regenten in Gefahr gebracht hätte. Die da-
Ex-RTL-Chef Helmut Thoma so- malige Opposition, die heute das Land
wie eine Handvoll Spitzenbeamte führt – und mithin die Klage entgegenzu-
aus der letzten rot-grünen Landes- nehmen hat –, mutmaßte diesen Zusam-
regierung. menhang schon lange. „Ein Offenbarungs-
Sie alle sollen geladen werden, eid in Sachen HDO“, davon ist der dama-

JENS DIETRICH / NETZHAUT


um eines der dubiosesten Regie- lige CDU-Fraktionschef Laurenz Meyer
rungsprojekte der vergangenen überzeugt, „hätte die SPD im Mai 2000
Jahrzehnte juristisch aufzuarbeiten: den Wahlsieg gekostet.“
High Definition Oberhausen, kurz Das Engagement der Brüder Breuer in
HDO, war als Musterbeispiel für Oberhausen geht zurück auf ihre enge Be-
den Strukturwandel an Rhein und ziehung zum früheren RTL-Boss Helmut
Ruhr gebaut worden – ein Trick- HDO-Gebäude in Oberhausen: Geschönte Bilanzen? Thoma. Die Breuers hatten jene Fernseh-
filmzentrum, das Produzenten aus studios in Hürth gebaut, in denen der Pri-
aller Welt ins Revier locken sollte. vatsender viele seiner Shows aufzeichnet.
Als Kläger treten zwei Unter- „Ministerpräsident Clement braucht dei-
nehmer aus Hürth bei Köln an: ne Hilfe“, so meldete sich der seinerzeit als
Bernd Breuer, 62, und sein Bruder Medienberater für Clement tätige Thoma
Helmut, 59, haben das Studio- am 19. März 2000 bei Bernd Breuer. In we-
gelände im Jahr 2001 übernommen nigen Stunden müssten 1,4 Millionen Mark
– und mit dem Betrieb in der Folge beschafft werden, um die Insolvenz von
angeblich mehr als 13 Millionen Clements „Leuchtturmprojekt“ HDO ab-
Euro verloren, weshalb sie sich zuwenden. Die damaligen Eigentümer –
HANS-GÜNTHER OED

von der damaligen Regierung in ein Konsortium aus britischen, amerikani-


Düsseldorf „vorsätzlich getäuscht schen und israelischen Investoren – droh-
und reingelegt“ fühlen. Sie wollen ten mit dem Gang zum Insolvenzrichter.
beweisen, dass ihnen das Land