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Herausgegeben von
Johannes Birgfeld und Claude D. Conter
Band 1
Das Unterhaltungsstück um 1800
Literaturhistorische Konfigurationen –
Signaturen der Moderne
Zur Geschichte des Theaters als Reflexionsmedium von
Gesellschaft, Politik und Ästhetik
Herausgegeben von
Johannes Birgfeld und Claude D. Conter
Wehrhahn
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
1. Auflage 2007
Wehrhahn Verlag
www.wehrhahn-verlag.de
Satz und Gestaltung: Wehrhahn Verlag
Gesamtherstellung: Inprint, Erlangen
Vorbemerkung
JOHANNES BIRGFELD / CLAUDE D. CONTER
Das Unterhaltungsstück um 1800. Funktionsgeschichtliche und
gattungstheoretische Vorüberlegungen ..................................... VII
I
III. Väter, Mütter, Töchter und Familien, oder: Oikos und
Gender auf dem unterhaltenden Theater
MICHAEL NIEHAUS
Voreilige Reden, zurückgehaltene Worte.
Familienkommunikation bei Iffland ......................................... 121
MARTIN KAGEL
»Unglückliche Weiber haben wir heutiges Tages ohnehin genug«.
Erziehung der Geschlechter in Marianne Ehrmanns Leichtsinn
und gutes Herz ......................................................................... 144
ELIN NESJE VESTLI
»Nun schrieb ich und schrieb glücklich --- das heißt meine Stücke
gefielen«. Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um
1800 ......................................................................................... 166
II
Ausführliche Inhaltsübersicht
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JAN ROIDNER
»Ist aber ein Fürst nicht allgemeiner Vater,
so ist er allgemeiner Feind«. Der Herbst der Patriarchen:
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen (S. 30-62)
Exemplarisch inszeniert der Münchener Dramatiker Joseph Marius Babo in sei-
nen Schauspielen das Scheitern seiner rebellischen Helden als Affirmation patriar-
chalischer Ordnung: eine wesentliche Struktur von Staat und Gesellschaft im auf-
geklärten Absolutismus. Typisch für Babos Stücke ist die Privatisierung politi-
scher Konflikte.
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SANDRO JUNG
August von Kotzebue’s Realism and Societal Satire in
Die deutschen Kleinstädter (S. 65-80)
Die offensichtliche Gesellschaftssatire, die Kotzebue im Kontrast zwischen Kräh-
winkel und der Residenz in Die deutschen Kleinstädter entwickelt, betont nicht
nur die Provinzialität der Kleinstadt und die aufgeklärte Einstellung der Residenz,
III
sondern richtet sich (nicht nur im anti-revolutionären Sinne) gegen die willkürli-
che Ausübung von titularer Macht. Kotzebue vertraut auf den Realismus gesell-
schaftlichen Nichtfunktionierens und die Hoffnung, die Engstirnigkeit der Fami-
lie Staar (und somit Krähwinkels) am Ende zu überwinden.
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JOHANNES BIRGFELD
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
Das Unterhaltungstheater als Reflexionsmedium von
Modernisierungsprozessen (S. 81-117)
Der Aufsatz geht der These nach, das Unterhaltungstheater insgesamt könnte im
späten 18. Jahrhundert als Spiegel und Teilnehmer des politischen und gesell-
schaftlichen Diskurses agiert haben. Zugleich wird ein Weg gesucht, die in sozial-
geschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Textzugängen virulente Gefahr zu
umgehen, literarische Werke lediglich als historische (Diskurs-)Dokumente zu be-
trachten. Im Fall des Unterhaltungstheaters erscheint die Profilierung einer die
Texte prägenden ›Ästhetik der Professionalität‹ als Basis für eine angemessene
Würdigung des ästhetischen Eigensinns der Texte. Die Überprüfung der Leitthe-
sen erfolgt anhand von Friedrich Ludwig Schröders Posse Die Heurath durch ein
Wochenblatt (1786).
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MICHAEL NIEHAUS
Voreilige Reden, zurückgehaltene Worte
Familienkommunikation bei Iffland (S. 121-143)
Das bürgerliche Drama Ifflands entwirft die Bühne als einen Raum familialer
Kommunikation, in dessen Zentrum der Vater im Moment der Weitergabe seines
Amtes als Vater an den Sohn steht. Es gibt keinen Herrn der Kommunikation.
Die Zerbrechlichkeit des Vateramtes erweist sich in der Rührung, in der der gute
Vater als lebendes Bild erhalten bleibt. An die Stelle des väterlichen Gesetzes tritt
das Prinzip der Kommunikation unter Anwesenden, bei dem der Vater auch die
Position der Mutter einnehmen kann.
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IV
MARTIN KAGEL
»Unglückliche Weiber haben wir heutiges Tages ohnehin genug«
Erziehung der Geschlechter in Marianne Ehrmanns
Leichtsinn und gutes Herz (S. 144-165)
Der Beitrag diskutiert Marianne Ehrmanns 1786 erschienenes Schauspiel Leicht-
sinn und gutes Herz sowohl im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Darstel-
lung der Erziehung als auch auf die Funktion des Schauspiels in Ehrmanns eige-
nem Erziehungsprogramm. Er geht, neben einer Einführung in Leben und Werk
der Autorin, der Frage nach, in welchem Verhältnis die Autorin und ihr Stück
zum zeitgenössischen Sturm und Drang stehen.
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ELIN NESJE VESTLI
»Nun schrieb ich und schrieb glücklich – das heißt meine Stücke
gefielen«. Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel
um 1800 (S. 166-185)
Der Beitrag behandelt die um 1800 entstandenen Lustspiele von Johanna Franul
von Weißenthurn (1772-1847). Nach einer biographischen Skizze, die sowohl ih-
re schauspielerische als auch ihre schriftstellerische Karriere umreißt, folgt eine
Auseinandersetzung mit ausgewählten Dramentexten. Im Mittelpunkt des Inter-
esses stehen die in den Stücken beleuchten weiblichen Lebenskonzepte der Zeit:
von der Mädchenerziehung über die Neigungen und Pflichten der jungen Frau
und Gattin bis zum Witwenstand.
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CLAUDIA NITSCHKE
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
Ludwig Achim von Arnims Schattenspiel
Das Loch, oder: das wiedergefundene Paradies (S. 189-207)
Arnims Schattenspiel ist trotz offensichtlich politisch-satirischer Stoßrichtung in
einen spielerischen Kontext der Illusionsdurchbrechung nach frühromantischem
Vorbild eingebunden; in der Verwendung solcher parabatischer Elemente scheint
sich auf den ersten Blick primär eine absurde Komik zu manifestieren, die mit
dem politisch-verbindlichen Gehalt konfligiert. Bei genauerer Betrachtung zeigt
sich jedoch, daß sich gerade in der Form der komischen Überschreitung ein Me-
dium verbirgt, über das wesentliche poetologische Ideen und politische Konzepte
Arnims kommuniziert werden können: Die Komik tritt in den Dienst politischer
Vorstellungen.
V
STEPHAN KRAFT
Identifikatorisches Verlachen – distanziertes Mitlachen
Tendenzen in der populären Komödie um 1800 (Iffland – Schröder
– Kotzebue – von Steigentesch – von Voß) (S. 208-229)
Der Beitrag zeichnet die Entwicklung der populären Komödie um 1800 in Rich-
tung Rekomisierung und Entdidaktisierung nach. Orientiert sich Iffland noch
stark an der Aufklärungskomödie, so deutet sich bei Schröder bereits ein Wandel
an, der dann bei Kotzebue und von Steigentesch manifest wird Bei von Voß radi-
kalisieren sich diese Tendenzen schließlich so weit, dass seine Texte ihre An-
schlussfähigkeit verlieren.
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CLAUDE D. CONTER
August Klingemanns Theaterreform
Zur Bedeutung Schillers und der Frühromantik für die
Neubegründung des Unterhaltungsdramas um 1800 (S. 230-267)
August Klingemann ist zwar ein Außenseiter des Jenaer Kreises, doch sind es die
ästhetischen Vorstellungen der Frühromantiker, an denen der Braunschweiger
Dichter seine Vorstellung zur Neubegründung des Schauspiels orientiert. Seine
Kritik an den Rührstücken Kotzebues und den Familiengemälden Ifflands moti-
vieren ihn zu einer Reform des Schauspiels und des Theaters, die er auf der
Grundlage der Schillerschen Ästhetik und der romantischen Poesiekonzeption
ausführt. Mit dem Schauspiel Selbstbewußtseyn konkretisiert Klingemann seine
Reform, indem er das Unterhaltungsstück entlang der frühidealistischen Ästhetik
revitalisiert.
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VI
Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
Stücken,4 und zwar nach solchen, die erstens die technischen Möglichkeiten der Büh-
nen nicht überstiegen, ihnen im Idealfall sogar angeglichen waren, und die zweitens
vermochten, ein finanzkräftiges Publikum so zu interessieren und zu binden, dass die-
ses regelmäßig zurückkehren und dem Haus damit seine wirtschaftliche Existenz er-
möglichen würde.
Die Veränderungen in der Theaterlandschaft setzten damit in Gang, was man als
eine massive Professionalisierung des Theaterbetriebes vornehmlich auf Seiten der Au-
toren bezeichnen könnte. Gemeint ist damit deren wachsende Bereitschaft, beim Ver-
fassen von Theaterstücken eigene Bedürfnisse nach ästhetischer oder diskursiver Ori-
ginalität gegen die Bedürfnisse der Bühnen abzuwägen.
Diese Professionalisierung lässt sich nicht ohne einen genaueren Blick auf das Pu-
blikum der neuen Theater angemessen skizzieren. So ist (a) festzuhalten, dass schon
allein die Größe des zu erreichenden und zu bindenden Publikums jene der besonders
intellektuellen, geistig besonders mobilen und meist auch besonders (ästhetisch, dis-
kursiv) progressiv denkenden Eliten weit überstieg. Es gilt (b) aber auch, dass bis 1800
und darüber hinaus der Großteil des Publikums nicht aus bildungsfernen und mehr-
heitlich illiteraten Unterschichten, sondern aus jenen bildungsorientierten und gebil-
deten Mittelschichten bestand, die sowohl die Nationaltheateridee ideologisch mittru-
gen als auch durch ihren wirtschaftlichen Erfolg das nötige Maß an Freizeit und
Geldmitteln besaßen, regelmäßig die Schauspielhäuser zu besuchen. Jene Faktoren,
die schon die Leserevolution in Gang gesetzt hatten, griffen auch im Theater. Wer
mithin in dieser Zeit ein wirtschaftlich gesundes Theater leiten wollte, hatte sich mit
seinem Programm vor allem an den bildungsinteressierten und finanziell potenten
Mittelschichten auszurichten --- was ihn aber nicht daran hinderte, auch Autoren wie
Goethe oder Schiller, wenn auch in geringerem Rahmen, ein Forum zu bieten. Wäh-
rend etwa Goethe in Weimar den Erfolg seines Hauses nicht zuletzt mit einer Vielzahl
von Kotzebue-Aufführungen sicherte,5 gehörte es zu den Verdiensten von Ifflands
Berliner Direktion, den Zuschauern der preußischen Metropole Schillers Dramen na-
hegebracht zu haben. Beide Fälle sind Beleg dafür, dass es keine institutionelle Tren-
nung zwischen breitenwirksamerem und besonders ›anspruchsvollem‹ Theater gab. Sie
belegen zudem, wie falsch es ist, der Mehrheit des Theaterpublikums zu unterstellen,
es habe einen unausgebildeten Geschmack und Interesse bloß an schematisch vorge-
tragenen, altbekannten Stoffen ohne jede kommunikative Produktivität besessen.
Ganz im Gegenteil erlaubte der durchschnittlich hohe »Bildungsstand ihrer Leser-
zielgruppe« den Autoren des Theaters sehr wohl (wenn es sie nicht sogar dazu ver-
pflichtete), »differenziertere ästhetische Mittel einzusetzen«.6 Anders formuliert: Ob-
wohl sich mit dem wachsenden Bedarf der Theater nach erfolgreichen Stücken durch-
aus Frühformen einer Unterhaltungsindustrie herausbilden, ist die so entstandene Li-
VIII
Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
IX
Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
X
Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
Schillers bewähren. Und Knigge befasste sich öffentlich mit den Problemen privat-
wirtschaftlicher Theater, räsonierte etwa über die Frage Wie soll ein Schauspiel-
Director es anfangen, das Publicum sowohl durch die Wahl der Stücke, welche er auf-
führen läßt, als auch durch die Art, wie er sie aufführen läßt, zufrieden zu stellen? 13
Vor allem aber, und das wird zu oft übersehen, versteht sich ein großer Teil jener
Dramatiker, die den Ansprüchen der neuen ›Professionalität‹ genügen wollen, keines-
wegs als unambitioniert. Natürlich entstehen auch für die neuen Theater Stücke, die
sich an konventionelle Handlungsschemata binden, diese mit altbekannten Typen be-
leben, auf jede originelle Formulierung oder Handlungswende ebenso wie auf produk-
tive Bezugnahmen auf die zeitgenössische Gegenwart verzichten und die kein anderes
Ziel verfolgen, als ihrem Publikum für einen begrenzten Zeitraum mit dem geringsten
literarischen Einsatz die Zeit zu vertreiben. Für sie empfiehlt sich in der Tat der Be-
griff des trivialen Theaters, der vielleicht in leichter Abwandlung einer unlängst von
Peter Nusser vorgeschlagenen Definition der Trivialliteratur wie folgt umrissen wer-
den kann: Als ›trivial‹ würde danach ein Drama angesehen, das um des Profits seiner
Produzenten (der Verleger und Autoren) willen, aber auch aus anderen Gründen,14
den geringsten Bedürfnissen, Erwartungen, Dispositionen eines möglichst großen Le-
ser- und Käuferpublikums unmittelbar, ohne Investition in ästhetische oder diskursive
Innovation und/oder ohne jedes Bemühen um die Nutzung der Literatur als Medium
der Selbstvergewisserung einer Gesellschaft und ihrer Problemlösungsbemühungen
entgegenkommt.15
Schon ein Blick aber auf das Theater eines lange als besonders trivial verschrienen
Autors wie Joseph Felix von Kurz zeigt, wie Johann Sonnleitners Analyse dargelegt
hat, dass selbst bei den scheinbar offensichtlichsten Fällen wenig origineller Literatur
nicht zu schnell geurteilt werden sollte: »Die ästhetische Autonomie«, so notiert Sonn-
leitner,
bei Kurz-Bernardon ist derart radikal gefaßt, daß sich seine Texte jeder Instru-
mentalisierung außerhalb des Theaters verweigern: weder für die höfische Selbst-
repräsentation noch für die bürgerliche Sittenschule und Konstitution einer bür-
gerlichen Öffentlichkeit war dieses Theater in irgendeiner Form tauglich, es ge-
nügte sich selbst. Es bietet theatralischen Avantgarden weit mehr potentielle An-
knüpfungspunkte, als die literatur- und theaterwissenschaftliche Forschung je
wahrgenommen hat.16
Der Großteil der Autoren jedoch, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts für die
Theater schreiben, folgen weder einem solch radikalen Autonomiekonzept noch tre-
ten sie an, triviale Literatur im oben skizzierten Sinne zu verfassen. Keineswegs kon-
zeptlos, sondern durchaus poetologisch profiliert, fußen die meisten von ihnen fest in
der Ästhetik der Aufklärung, deren grundlegenden Balancierungsversuch zwischen
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Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
prodesse und delectare sie allerdings alle, wenn auch in stark unterschiedlichem Grad,
so auszuführen versuchen, dass dem Publikum die Nützlichkeitsabsichten nicht die
Freude am Zuschauen nehmen. Typisch für dieses ›Oszillieren‹ zwischen zwei An-
sprüchen sind die Ausführungen Stephanies des Jüngeren im zweiten Band seiner viel-
zähligen und vielfach gespielten Schauspiele von 1774. »Der Endzweck des Trauer-
spiels ist«, konstatiert Stephanie dort, Marmontel zitierend, »durch die Nachahmung,
die in einer Handlung geschieht, welche zum Exempel dient, die Sitten zu bessern.«17
Neben der aufklärerischen Theaterästhetik fühlt sich Stephanie zugleich auch dem
Publikum bzw. dem Erfolg des Theaters verpflichtet, wie seine Erläuterungen zu sei-
ner Einrichtung des Macbeth für die Bühne verdeutlichen:
Um meine Absicht [Macbeth für die Bühne brauchbar zu machen] ganz zu errei-
chen, mußte ich sowohl für das Auge, als für das Ohr arbeiten. [...] Im Don Juan,
den man jährlich hier aufführte, spielte Hannswurst eine wichtige Rolle, und be-
lebte nach damaliger Art, das schreckliche Spiel. Ich gab also dem Macbeth einen
lustigen Hofcavalier.18
Leicht lässt sich zeigen, dass Stephanies doppelte Orientierung mitsamt ihrer festen
Verwurzelung in einer ernst gemeinten und ambitionierten Aufklärungsästhetik bis
zum Ausklang des Jahrhunderts nicht allein von den meisten Autorenkollegen, son-
dern gleichermaßen von großen Teilen der Theaterkritik19 und von der Mehrheit der
Theatermacher geteilt wurden. So findet sich in einem Aufruf des Mannheimer Thea-
ters zu einem Stückewettbewerb folgende Beschreibung der erbetenen Texte:
Man erinnert aufs neue, daß Lustspiel hier im eigentlichen Verstande genommen
werde, und daß die Absicht der Gesellschaft eben so wenig auf die ernsthafte,
zärtliche und ins traurige übergehende Komödie als auf das Possenspiel gehe. [...]
Sie richtet hauptsächlich ihr Augenmerk auf das was unsere Schaubühnen am
meisten angehet. Bearbeitung komischer Charaktere, Erfindung neuer angemes-
sener Situationen, Philosophie im Gewand des Scherzes, Dialog voll Annehm-
lichkeit und Salz, mannigfaltige Absicht eines und mehrerer Charaktere zur Erhal-
tung einer Hauptlaune, treffende Zeichnung, den Thoren zum Lachen über sich
selbst zu reizen, auch den Weisen zu belustigen.20
Auch die sogenannte Unterhaltungsdramatik um 1800 ist folglich weitgehend mit je-
ner bürgerlich-aufklärerischen Literatur identisch, unter der Christa Bürger eine Lite-
ratur subsumierte, die auf Bedürfnisse des Publikums nach Normendiskussion und
Orientierung in lebenspraktischen Fragen reagierte.21 Sie erscheint sogar als jenes Re-
flexionsmedium par excellence, das kulturelle, politische und gesellschaftliche Prozesse
der Mittelschichten nicht für eine kleine, hoch begabte, kreative und gebildete Elite,
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Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
sondern für die breite, weniger ambitionierte und progressive Mehrheit dieser Schicht
verhandelt, problematisiert und mit Lösungsangeboten kommentiert.
Gerade vor diesem Hintergrund scheint es fraglich, ob sich ein Beschreibungsmo-
dell, das strikt zwischen Trivial-, Unterhaltungs- und Hochliteratur unterscheidet, für
die Dramenproduktion vor 1800 als hilfreich erweist. Peter Nusser etwa favorisierte in
Anlehnung an Überlegungen Hans Friedrich Foltins ein solches ›Dreischichtenmodell
literarischer Qualität‹. Für die Zeit des theatergeschichtlichen Umbruchs vor 1800
aber lässt es sich wohl nur mit Modifikationen fruchtbar machen. Vor allem scheint es
notwendig, den Bereich des Trivialdramas wirklich auf den Bereich der oben vorge-
schlagenen engen Begriffsdefinition zu beschränken: Der Begriff der Trivialität ist al-
len anders lautenden Versuchen der Forschung zum Trotz ein markant negativ besetz-
ter, der bislang für die Mehrzahl der Texte des ausgehenden 18. Jahrhunderts in An-
schlag gebracht wird und daher mit fataler Wirkung ganze Textgattungen dem Ver-
dikt literarischen Unoriginalität und Unambitioniertheit aussetzt, was den realen Ver-
hältnissen nicht entspricht.22 Nur Texte, die ausschließlich altbekannten Handlungs-
schemata vertrauen, bloß bewährte Typen einsetzen, sich um keinerlei Innovation in
literarischer Form, Sprache und um keine ernst gemeinte Stellungnahme zu Fragen
des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses bemühen, scheinen tatsächlich die Kategori-
sierung als ›trivial‹ zu verdienen.
Der Regelfall des Dramas in den Jahrzehnten nach 1770 hingegen ist der von
Texten, die sich einerseits weitgehend dem didaktischen Literaturkonzept der Aufklä-
rung verpflichtet fühlen, dieses aber zugleich mit einer politisch progressiven oder eher
konservativen, mitunter aber auch beide Haltungen (Kotzebue ist sittlich eher pro-
gressiv, politisch hingegen konservativ) verknüpfenden Intention verbinden und zu-
dem den Ehrgeiz besitzen, beim Publikum zu reüssieren. Dessen enormes Interesse am
Theater in diesen Jahrzehnten lässt sich dabei nicht allein mit der Zunahme an Frei-
zeit und Geldmitteln erklären, sondern muss zu einem großen Teil auf ein stark wach-
sendes Bedürfnis nach Kommunikation und Selbstreflexion zurückgeführt werden,
wie es die politisch, geistesgeschichtlich und gesellschaftlich radikale Umbruchszeit
zwischen 1770 und 1820 hervorgerufen hat (Unabhängigkeitserklärung der USA
1776, Publikation der kritischen Schriften Kants 1781-90, Französische Revolution
1789, Hinrichtung des Französischen Königs und der Pariser Terror 1793, die philo-
sophischen Schriften Fichtes, Schellings und schließlich Hegels, die Selbsterhebung
Napoleons zum Kaiser 1804 und der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deut-
scher Nation 1806 sowie schließlich die Niederlage Napoleons und der Beginn der
Kongresspolitik 1814/15). Die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche bedin-
gen, dass Theater in dieser Zeit, gerade wenn es sich an den Interessen des Publikums
orientiert, eben nicht trivial sein darf, sondern den Bedürfnissen der Betrachter nach
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Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
einem ästhetisch wie diskursiv nicht allzu radikalen, wohl aber originellen fiktionalen
Kommunikationsangebot über die sittlichen oder politischen Themen der Zeit zu ent-
sprechen hatte.
Vor diesem Hintergrund hat der in der Forschung bereits eingeführte Begriff des
›Unterhaltungstheaters‹ zur Charakterisierung der Mehrheit der Theatertexte um
1800 durchaus den Nachteil, dass er suggeriert, das Bemühen, ein Publikum zu ver-
gnügen und zu unterhalten, dominiere alle anderen Interessen so nachhaltig, dass es
auf seine Unterhaltungsfunktion reduziert werden könne.23 Tatsächlich jedoch zeigen
Einzeltextanalysen --- etwa jene Wolfgang Martens’ zu Ifflands Kokarden24 --- ebenso
wie Genreanalysen, dass die Dramenproduktion der Zeit nicht sinnvoll in drei klar
abgegrenzte ›Lager‹ unterteilt werden kann. Betrachtet man etwa das Soldatenstück,
das zwischen 1770 und 1800 eines der beliebtesten Genres darstellte, so legt schon al-
lein die hohe Zahl von über 250 verfassten Texten nahe,25 dass diese Literaturform in
der Lage gewesen sein muss, formal wie inhaltlich zentrale Probleme der Zeit anzu-
sprechen und immer wieder so zu verarbeiten, dass die Mittelschichten den Besuch
dieser Stücke als Gewinn empfanden. Auch zeigt ein Blick auf die Verfasser und Ein-
zeltexte, dass sich hier Autoren ganz unterschiedlicher Ambitionen --- Wezel, Lessing,
Engel neben Vielschreibern wie Iffland, Kotzebue, Stephanie --- engagierten, und dass
originelle neben trivialen Variationen des Themas produziert wurden. Ähnliches ha-
ben bereits die Untersuchungen zum bürgerlichen Trauerspiel erwiesen, dessen Ge-
schichte ebenfalls nicht die eines Nebeneinanders von eindeutig unterscheidbar trivia-
len, unterhaltenden und wahrhaft literarischen Texten ist. Der Realität entspricht
eher, graduelle Unterschiede zwischen den Texten und den von ihnen verfolgten Am-
bitionen zu beschreiben: So gibt es keinen Grund, ausschließlich Texte mit besonders
hohem Innovationspotenzial auf ästhetischer und inhaltlicher Ebene für literarisch
bemerkenswert und wertvoll zu erachten. Genauso wenig gibt es Anlass, alle Dramen,
die weniger umfassend progressive bzw. andere Ambitionen verfolgen, auf eine bloße
Unterhaltungsfunktion zu reduzieren.
Gleichzeitig hat der Begriff des Unterhaltungstheaters aber auch Vorteile: Weil
Vergnügen bzw. Unterhaltung Teil der didaktischen Grundkonzeption des aufkläreri-
schen Dramas von prodesse und delectare ist, enthält der Begriff der ›Unterhaltungs‹-
Literatur immerhin auch einen Verweis auf diese Formel und Konzeption. Er leistet
mit dem Signalwort einen Rückbezug auf die poetologische Fundierung dieser Text-
gruppe und ist dem Begriff von der ›Schemaliteratur‹, der der Bandbreite der Qualität
der Stücke zwischen den Extremen der Trivialliteratur und des Höhenkamms nicht
gerecht wird, ebenso vorzuziehen wie der Kategorie des ›populären Stücks‹, die ihrer-
seits den Erfolg und die Verbreitung zu stark artikuliert, den Charakter des von prag-
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Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
XV
Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
nal wirke noch immer hemmend auf potenziell Interessierte. Dabei ist man durchaus
auch der Rhetorik der Zeit aufgesessen, die sich mustergültig an einer Äußerung
Schlegels in seinem Gespräch über die Poesie von 1800 beobachten lässt:
Man forderte einmal von einem Gelehrten eine Inschrift für das Schauspielhaus.
Ich würde vorschlagen, daß man darüber setzte: Komm Wandrer und sieh das
Platteste; welches dann in den meisten Fällen eintreffen würde.36
Die radikale Distanzierung, die Schlegel hier für sich und die Frühromantik von den
Autoren des Unterhaltungstheaters polemisch formulierte, diente natürlich zunächst
einem: der Festigung einer Gruppenidentität durch Abgrenzung von der Konkurrenz,
die auf dem Buchmarkt erfolgreicher agierte als die Frühromantik.37 Wie wenig man
sich aber von solchen Äußerungen täuschen lassen darf, zeigt ein näherer Blick auf die
Genese der romantischen Komödie. Sie vollzieht sich nicht in Ignoranz des Unterhal-
tungstheaters, sondern in seiner Kenntnis und in Auseinandersetzung mit ihm.38
Ebenso steht zu vermuten, dass auch ideologisch geprägte Ansätze in der Nachfol-
ge der Frankfurter Schule, etwa der Arbeiten von Siegfried Kracauer, Max Horkhei-
mer und Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas zur konstan-
ten Abwertung der Texte beigetragen haben.39 Differenzierte Einzeltextanalysen wur-
den hier oftmals vom einprägsamen Generalangriff verdrängt, Unterhaltungsliteratur
übernähme als Symptom und Bestandteil der Kulturindustrie die Funktion einer ideo-
logischen Vereinnahmung der Bürger in ein kapitalistisches System und befördere so
die Systemstabilisierung. Ein solcher Ansatz übersieht, dass Autoren des Unterhal-
tungstheaters um 1800 von Schröder und Kotzebue bis zu von Voß selbst der politi-
schen Willkür (Zensur) unterlagen und zugleich als Zuträger (Stückeschreiber) und
Mitarbeiter (Dramaturg, Theaterleiter, Schauspieler) privatwirtschaftlicher Bühnen
stärker einem wirtschaftlichen als einem politischen Druck ausgeliefert waren. Nicht
selten sind diese Autoren selbst Opfer der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse.
Als durchaus problematisch erweist sich zugleich auch, dass sich seit den 1970er
Jahren so etwas wie ein Kanon der Unterhaltungsliteratur herauskristallisiert, welcher
seinerseits nicht folgenlos für die Einschätzung literaturhistorischer Entwicklungen
geblieben ist. August von Kotzebues Die deutschen Kleinstädter oder Menschenhaß
und Reue gehören ebenso dazu wie August Wilhelm Ifflands Stück Die Jäger. Diese
wichtige Erweiterung des Kanons hat eigene Nachteile: Sie basiert auf der Eingren-
zung ganzer Gattungstypen und Genres auf vereinzelte Stücke, die dann zum Genre-
muster in struktureller, dramatischer und thematischer Hinsicht erhoben wurden. Es
entstanden Typologien auf der Grundlage weniger Stücke, in denen die Strukturkon-
sistenz auf Kosten der literarischen Varietät konstruiert wurde: Diese Praxis führte da-
zu, sowohl den Dialog zwischen den Stücken des Unterhaltungsdramas um 1800 wie
XVI
Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
die Entwicklungen innerhalb der einzelnen Genres (wie z. B. dem Ritterstück oder der
Märchenkomödie) und auch die wechselseitige Beeinflussung der Genres zu vernach-
lässigen. So hat etwa Horst Albert Glaser in Das bürgerliche Rührstück. Analekten
zum Zusammenhang von Sentimentalität mit Autorität in der trivialen Dramatik
Schröders, Ifflands, Kotzebues und anderer Autoren am Ende des 18. Jahrhunderts40
anhand von wenigen Autoren Strukturtypen darzulegen versucht, die eine Beschäfti-
gung mit einzelnen Texten des Genres sowie mit anderen Dramatikern überflüssig
machen sollen.
Ausgehend von der skizzierten Sach- und Forschungslage hat es sich der hier vor-
liegende Sammelband Das Unterhaltungsdrama um 1800 zum Ziel gesetzt, das Genre
und die Konzeption des Unterhaltungstheaters um 1800 neu zu profilieren. Er schlägt
neue Forschungswege ein, indem er etwa unter dem Unterhaltungstheater nicht vor-
nehmlich die Werke der sogenannten Vielschreiber subsumiert, sondern alle Schrei-
benden und Texte, die sich nicht primär einer Ästhetik der Originalität und Autono-
mie verschreiben, sondern subjektive und individuelle Schreibimpulse im Rahmen
dessen, was als Ästhetik der Professionalität bezeichnet werden könnte, mit den prag-
matischen Ansprüchen wirtschaftlich arbeitender Theaterbühnen in Balance zu brin-
gen versuchen. Der Sammelband geht auch darin neue Wege, dass er --- ausgehend von
der Struktur des Publikums und seines von den Umbrüchen der Zeit begründeten
Kommunikationsbedürfnisses --- das Unterhaltungsdrama als ein wichtiges Reflexi-
onsmedium von Gesellschaft, Politik und Literatur begreift und seine Stücke als Be-
gleit- und Beobachtungsmedium der um 1800 sich vollziehenden Modernisierungs-
prozesse untersucht. Dies ist insofern ein neuer Weg, als die Unterhaltungsliteratur
von den ersten Forschungsbeiträgen an das Odium des Eskapismus begleitete. Bereits
Robert Prutz hatte sich als einer der ersten Literaturhistoriker überhaupt und als Vor-
läufer der sozialgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft 1847 in dem Essay
Über die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen mit der erfolgreichen
und weit verbreiteten Literatur beschäftigt. Prutz analysierte die historischen Produk-
tionsbedingungen und meinte zu beobachten, dass die Literatur dem Rekreationsbe-
dürfnis eines Publikums entspreche, das in seiner Freizeit zu keiner Leistung mehr be-
reit sei:
Wenn sie [Beamte, Kaufleute, Rechtsanwälte, Gewerbetreibende usw.] lesen, so
geschieht es, weil sie nichts anderes mehr tun können; sie haben sich müde ge-
rechnet, geschrieben, prozessiert, das Buch soll sie auf eine behagliche Art ab-
spannen, es soll ihnen eine Beschäftigung gewähren, die im Grunde keine Be-
schäftigung ist, nämlich bloßes Empfangen, ohne eigene Tätigkeit.41
Prutz allerdings beschrieb vor allem die Unterhaltungsliteratur in einer arbeitsteiligen
Gesellschaft für seine eigene Zeit und diagnostizierte mit linkshegelianischer Verve das
XVII
Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
Lesebedürfnis des deutschen Bürgertums als Symptom seiner politischen Trägheit und
als Zeugnis seines Ausschlusses von der politischen Praxis. Im Unterhaltungsstück des
späten 18. Jahrhunderts aber ist stattdessen noch der Optimismus der Mittelschichten
erkennbar, gesellschaftlich und politisch mitzuwirken:42 Die zunehmende Lesefähig-
keit in den Städten, die Organisation des Wissens in Lesezirkeln, Salons und Ge-
sprächsgemeinschaften sowie der Ausbau der Schulen sind wichtige Indikatoren für
den Wissensdrang der wirtschaftlich erstarkenden Mittelschichten. Es konnte daher
nicht ausbleiben, dass auch die stehenden Bühnen, als sie im letzten Drittel des Jahr-
hunderts in hoher Zahl entstanden, einen wesentlichen Beitrag zu diesem Bedürfnis
leisten mussten, auch wenn sie zugleich Züge des Produktionskalküls einer Unterhal-
tungsindustrie entwickelten.
Eine Grundlage der Konzeption dieses Sammelbandes war daher die These, dass
das Unterhaltungsdrama aufgrund des Akzeptanz ermöglichenden, engen Austauschs
zwischen den Bewusstseinsstrukturen des Publikums und den kommunikativen der
Stücke eine Orientierungsfunktion besitzt,43 die sich nicht nur, wie bisher hervorge-
hoben, auf Verhaltensweisen und Haltungen bezieht, sondern auch auf Wissensforma-
tionen.44 Das Unterhaltungsdrama diskursiviert Zeitfragen und scheint auch in dieser
Hinsicht einem Bedürfnis der Mittelschichten zu entsprechen, Modelle und Problem-
lösungen zu erörtern und Informationen in lebensweltlicher Intention einzufangen.45
Im Zentrum des Sammelbandes steht mithin das Anliegen, das Unterhaltungs-
theater und seine Rolle innerhalb des literarischen Systems der fünf Jahrzehnte des
großen kulturellen Umbruchs zwischen 1770 und 1820 neu zu erkunden. Man wird
den Aufschwung der stehenden Theater im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als
Zeichen eines in Reaktion auf die zunehmende Beschleunigung gesellschaftlicher
Umbrüche gestiegenen Diskursbedürfnisses der Mittelschichten deuten dürfen. Die
Kompetenz, dramatische Traditionen zu variieren und dennoch Kontinuitäten in Fi-
gurenkonstellationen und Handlungssträngen beizubehalten, befähigte das Unterhal-
tungsdrama dabei in besonderer Weise --- und darin besteht auch sein Innovationspo-
tenzial ---, gesellschaftlichen Wandel im Rahmen bekannter Erzählmuster zu themati-
sieren und ihn so aktuell, aber diskursiv zurückhaltend bzw. ›schonend‹ den nicht ganz
so progressiven Teilen der Mittelschichten wahrnehmbar und diskursivierbar zu ma-
chen. Die Stücke nehmen produktiv und gestaltend an gesellschaftlichen Prozessen
teil, indem sie sie ausstellen. Dies setzt zugleich eine hohe Ausdifferenzierung bezüg-
lich der Professionalität und Komplexität des Theaters voraus und beweist die sprach-
liche, formale und produktive Kreativität des Unterhaltungstheaters. Anstelle einer
Konzentration auf die Vielschreiber werden auch profilierte Autoren des Unterhal-
tungstheaters vorgestellt, deren Œuvre weniger umfangreich ist. Beleuchtet werden
die mit dem Wandel der Theaterlandschaft einhergehenden Chancen zur Etablierung
XVIII
Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
für schreibende Frauen ebenso wie die Rolle, die dem Unterhaltungsstück bei der Be-
wältigung der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche um 1800 zukommt, im
Diskurs etwa um Geschlechterrollen oder konkrete politische Fragestellungen, und
zwar insbesondere als literarisches Medium. Schließlich wird auch die literarische
Entwicklung und Anregungskraft des Unterhaltungsstücks im genannten Zeitraum
untersucht --- der Wandel des Komikbegriffs innerhalb des Unterhaltungstheaters so-
wie die Bedeutung des Unterhaltungsstücks für die Profilierung des Komik- und Ko-
mödienkonzepts in der Früh- und Hochromantik.
Gegenstand der Beiträge sind jene Dramatiker und Werke, die um 1800 auf viel-
fältige Weise praktisch oder diskursiv am Phänomen des Unterhaltungstheaters parti-
zipiert haben, insbesondere Achim von Arnim, Joseph Mario Babo, Marianne Ehr-
mann, August Wilhelm Iffland, August Klingemann, Karl Freiherr von Reitzenstein,
Friedrich Ludwig Schröder, August von Steigentesch, Julius von Voß und Johanna
Franul von Weißenthurn.
Den Herausgebern sei es erlaubt, an dieser Stelle den Beiträgern für ihr Engage-
ment und die ertragreiche Zusammenarbeit ganz herzlich zu danken. Den Verfassern
stand es im Übrigen frei, sich der alten oder neuen Rechtschreibung zu bedienen.
1
Gotthold Ephraim Lessing: Briefe die neueste Literatur betreffend. Ein und achtzigster
Brief. Den 7. Februar 1760. In: Ders.: Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 4: Werke
1758-1759. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997,
S. 700.
2
Zit. n. Franz Hadamowsky: Die Josefinische Theaterreform und das Spieljahr 1776/77
des Burgtheaters. Eine Dokumentation. Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesell-
schaften Österreichs 1978, S. 15.
3
Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. 3., neubarb. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1997, S. 27.
4
Für Zahlen zum dramatischen Anstieg der Nachfrage und Produktion von Theaterstük-
ken ab den 1770er Jahren vgl. u.a. Jochen Schulte-Sasse: Die Kritik an der Triviallitera-
tur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs. München:
Fink 1971, S. 46. Schulte-Sasse erkennt in dem Anstieg der Zahlen vornehmlich ein
Zeichen für einen »Prozeß der Trivialisierung« des Dramas (ebd.), doch scheint es gebo-
ten, den Versuch einer differenzierteren Interpretation der Entwicklung zu wagen, wie
ihn der vorliegende Sammelband unternimmt.
5
Unter Goethes Leitung waren von 4156 Spieltagen allein 638 den Stücken Kotzebues
gewidmet (vgl. Gustav Sichelschmidt: Liebe, Mord und Abenteuer. Eine Geschichte der
deutschen Unterhaltungsliteratur. Berlin: Haude & Spener 1969, S. 115).
XIX
Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
6
Peter Nusser: Entwurf einer Theorie der Trivial- und Unterhaltungsliteratur. In: Ders.:
Unterhaltung und Aufklärung. Studien zur Theorie, Geschichte und Didaktik der po-
pulären Lesestoffe. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2000, S. 13-53, hier: S. 13.
7
Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick.
München: Beck 1991, S. 199: »Eine tatsächlich numerische Demokratisierung des Le-
sens wurde erst rund hundert Jahre später mit der ›zweiten Leserevolution‹ erreicht.«
8
Vgl. Wittmann: Geschichte (1991), S. 179.
9
Anne Fleig: Handlungs-Spiel-Räume. Dramen von Autorinnen im Theater des ausge-
henden 18. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 25.
10
Fleig: Handlungs-Spiel-Räume (1999), S. 27.
11
Vgl. zur literarischen Öffentlichkeit als eine der wenigen lebenspraktischen Perspektiven
der Professionalität für Frauen um 1800: Eva Kammler: Zwischen Professionalisierung
und Dilettantismus. Romane und ihre Autorinnen um 1800. Opladen: Westdeutscher
Verlag 1992. Es sei auch daran erinnert, dass in diesen Jahren nicht wenige Frauen als
Schauspielerinnen und als Autorinnen arbeiteten, um wirtschaftliche Unabhängigkeit zu
sichern.
12
Vgl. Christoph Weiß: Comédie (in)humaine. Johann Karl Wezels »Lustspiele«. In: Jo-
hann Karl Wezel (1747-1819). Hg. v. Alexander Košenina u. Christoph Weiß. St. Ing-
bert: Röhrig Universitätsverlag 1997, S. 217-236.
13
Adolph Freiherr Knigge: Ausgewählte Werke in 10 Bänden. Bd. 5: Theater. Hg. v.
Wolfgang Fenner. Hannover: Fackelträger-Verlag 1993, S. 206-207.
14
Es liegt auf der Hand, dass qualitativ triviale Texte nicht allein aus kommerziellen Inter-
essen, sondern etwa auch zum privaten Gebrauch entstehen können.
15
Nussers Vorschlag lautete: »Als ›trivial‹ wird Literatur angesehen [...], die um des Profits
ihrer Produzenten (der Verleger und Autoren) willen den Bedürfnissen, Erwartungen,
Dispositionen eines möglichst großen Leser- und Käuferpublikums unmittelbar entge-
genkommt.« (Peter Nusser: Trivialliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwis-
senschaft. Bd. III. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 691-
695, hier: S. 691).
16
Johann Sonnleitner: Hanswurst, Bernardon, Kasperl und Staberl. In: Hanswurstiaden.
Ein Jahrhundert Wiener Komödie. Mit einem Nachwort hg. v. Johann Sonnleitner.
Salzburg: Residenz 1996, S. 331-389, hier: S. 357.
17
Stephanie der Jüngere: Sämmtliche Schauspiele. 2. Bd. Wien: in der von Ghelenschen
Buchhandlung 1774, S. XVII.
18
Stephanie: Schauspiele 2 (1774), S. XXVII.
19
Vgl. die Ergebnisse der Studie von Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie
und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts
(1750-1800). Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2002, v.a. S. 338ff.
20
Zitiert nach Fleig: Handlungs-Spiel-Räume (1999), S. 28.
21
Vgl. Christa Bürger: »Das menschliche Elend oder der Himmel auf Erden«. Zur Dicho-
tomisierung von hoher und niederer Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts. In:
Sprachkunst 9 (1978), S. 203-219.
XX
Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
22
Jörg Schönert hat zwar die Wertung von Trivialliteratur als unergiebige literaturwissen-
schaftliche Herausforderung betrachtet und stattdessen eine Historisierung der Vorstel-
lung von Trivial- oder Unterhaltungsliteratur empfohlen, dennoch hält auch er an einer
Rangordnung von Texten fest. Vgl. Jörg Schönert: Literarische Wertung und Trivialfor-
schung. Kritische Bemerkungen und systematische Überlegungen zur 2. Aufl. von Jo-
chen Schulte-Sasses »Literarischer Wertung«. In: Sprachkunst 9 (1978), S. 340-356,
hier: S. 350.
23
Es lohnt sich, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass Gerhard Plumpe und Niels Wer-
ber den Vorschlag unterbreitet haben, die Unterhaltung als spezifische Funktion des So-
zialsystems Literatur insgesamt zu bestimmen (vgl. Gerhard Plumpe/Niels Werber: Lite-
ratur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Litera-
turwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Hg. v.
Siegfried J. Schmidt. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 9-43, vor allem S. 32-
35). Richtig haben beide erkannt, dass die Ausdifferenzierung der Unterhaltung nach
1770 auch vor dem historischen Hintergrund der Entstehung von Freizeit zu verstehen
ist. Ein Vorzug ihrer Überlegungen besteht darin, den Begriff der Unterhaltung wert-
neutral verwendet und das Bewusstsein dafür geschärft zu haben, dass sich literarische
Wertung allein anhand des Unterhaltungscharakters einzelner Texte und Textgruppen
kaum plausibel vornehmen lässt. Genau in diesem Sinne ist auch hier die Wendung ge-
gen eine scheinbare Reduktion von Literatur auf ihre Unterhaltungsfunktion gemeint.
Wenn im Folgenden trotz der These von der allgemeinen Unterhaltungsfunktion des
Systems Literatur der (traditionelle, und ungleich einschränkende und spezifische) Be-
griff des Unterhaltungstheaters weiterhin verwandt wird, dann auch deshalb, weil er je-
ne Texte zu gruppieren hilft, deren Leistung in der literarischen Entwicklung entspre-
chend einer Ästhetik der Professionalität bestand. Spannend ist, dass Plumpe und Wer-
ber zugleich den Code ›langweilig/interessant‹ zur Beschreibung von Literatur statt des
Vorschlages von Luhmann --- ›schön/hässlich‹ --- in die Diskussion einbringen. Tatsäch-
lich mag dieser Beschreibungscode die Spezifizität von Unterhaltung zu unterstreichen,
insofern langweilig sich eher auf triviale Literatur beziehen würde, während der Begriff
der Unterhaltung eben nicht auf Rekreationsbedürfnisse beschränkt bliebe, sondern
auch Innovationen, das »Erwartungsirritierende« (S. 32) beinhaltet.
24
Wolfgang Martens: Der Literat als Demagoge. Zum Thema der politischen Gefährlich-
keit des Schriftstellers um 1790, entwickelt am Bespiel von Ifflands Antirevolutions-
drama Die Kokarden. In: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommuni-
kationsforschung. München: Verlag Dokumentation 1977, S. 100-136.
25
Vgl. dazu die verdienstvolle Zusammenstellung von Texten des Genres in: Karl Hayo
von Stockmayer: Das deutsche Soldatenstück des XVIII. Jahrhunderts seit Lessings
Minna von Barnhelm. Weimar: Verlag von Emil Felber 1898, S. 101-120.
26
Über die Entstehung der wertungsspezifischen Aufteilung von Hoch- und Unterhal-
tungsliteratur vgl. Schulte-Sasse: Kritik (1971).
27
Vgl. Bürger: Elend (1978).
28
Vgl. Uwe Böker: Die Institutionalisierung literarischer Produktions- und Rezeptions-
XXI
Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
XXII
Funktionsgeschichtliche und gattungstheoretische Vorüberlegungen
XXIII
Johannes Birgfeld / Claude D. Conter
XXIV
I.
Rebellion, Revolution
und der Beitrag des Unterhaltungstheaters
zum politischen Diskurs um 1800
Norbert Otto Eke
Schreckbilder: Die Revolution als Aufstand der
›schwarzen Männer‹
The following article focuses on the complex relationship between the im-
age of the Black and that of the revolution within the political debates
around 1800. Starting with August von Kotzebues sentimental play Die
Negersklaven (The Negroslaves, 1796), the article traces the image of the
black man as a representative of disorder and that of the revolution as a re-
lapse of civilization into barbarism, drawing on Karl Freiherr von Reitzen-
stein’s tragedy Die Negersclaven (The Negroslaves, 1793) and Johanna
Franul von Weißenthurn’s play Die Schwestern St. Janvier (The Sisters St.
Janvier, 1821). Reitzenstein’s tragedy marks the point where the image of
the noble savage turns into that of the political barbarian; Weißenthurn’s
play shows this barbarian in power. A glance at Christian Dietrich
Grabbe’s tragedy Herzog Theodor von Gothland (Duke Theodor of Goth-
land, 1822), in which the European images of the self and the other col-
lapse, concludes this discussion.
nicht wieder heiraten wollte, an Weibes Statt eine alte Mulattin, namens Ba-
bekan, aus seiner Pflanzung bei, mit welcher er durch seine erste verstorbene
Frau weitläufig verwandt war. Ja, als der Neger sein sechzigstes Jahr erreicht
hatte, setzte er ihn mit einem ansehnlichen Gehalt in den Ruhestand und
krönte seine Wohltaten noch damit, daß er ihm in seinem Vermächtnis sogar
ein Legat auswarf; und doch konnten alle diese Beweise von Dankbarkeit
Herrn Villeneuve vor der Wut dieses grimmigen Menschen nicht schützen.
Congo Hoango war, bei dem allgemeinen Taumel der Rache, der auf die un-
besonnenen Schritte des National-Konvents in diesen Pflanzungen aufloderte,
einer der ersten, der die Büchse ergriff, und, eingedenk der Tyrannei, die ihn
seinem Vaterlande entrissen hatte, seinem Herrn die Kugel durch den Kopf
jagte. Er steckte das Haus, worein die Gemahlin desselben mit ihren drei Kin-
dern und den übrigen Weißen der Niederlassung sich geflüchtet hatte, in
Brand, verwüstete die ganze Pflanzung, worauf die Erben, die in Port au Prince
wohnten, hätten Anspruch machen können, und zog, als sämtliche zur Besit-
zung gehörige Etablissements der Erde gleich gemacht waren, mit den Negern,
die er versammelt und bewaffnet hatte, in der Nachbarschaft umher, um sei-
nen Mitbrüdern in dem Kampfe gegen die Weißen beizustehen.1
Kleists einleitende Skizzierung einer historischen Situation, in der eine neue Unge-
rechtigkeit eine alte abgelöst hat, bedient sich aus dem rhetorischen Bildarchiv des
im Gedächtnis der Zeitgenossen noch lebendigen Revolutionsjahrzehnts 1789-
1799. Das Schreckbild des ›fürchterlichen alten Negers‹ (das im übrigen in dem
Maße seine Eindeutigkeit verliert, in dem der Beschriebene selbst aus dem Blick-
feld der Erzählung gerät) und seiner Rache-»Wut« kürzt, zusammen mit der fast
beiläufigen Erinnerung an die »unbesonnenen Schritte des [Pariser] National-
Konvents« zur Abschaffung der Sklaverei, die Beschreibung des Zeit/Raums eines
Ausnahmezustands ab, vor dessen Hintergrund Kleist die andere ›unerhörte Bege-
benheit‹ eines tödlichen Irrtums aus mangelndem Vertrauen erzählt. Damit reflek-
tiert Kleists Erzählung die Verfestigung diskursiver Muster der politischen Debat-
ten nach dem 14. Juli 1789 zu feststehenden Topoi, an denen sich die immer glei-
chen Assoziationen anlagern (lassen).
Hatte der von der Idee einer universellen Brüderlichkeit getragene Kosmopoli-
tismus der Aufklärung im Frankreich nach 1789 zunächst Züge eines revolutionä-
ren Universalismus, spätestens mit der Verfassung von 1793 dann eines revolutio-
nären Messianismus angenommen, der die ganze Menschheit als ›eine Nation‹ zu
betrachten forderte --- und von hier aus auch die Situation der schwarzen Sklaven in
den überseeischen Kolonien in den Blick bekam2 ---, begegnet mit dem wachsenden
Einfluss der sansculottisch-plebejischen Unterschichten auf die Politik in Paris
ausgerechnet der versklavte Natur-Wilde in den publizistisch-literarischen Reak-
tionen auf die Revolution nun zunehmend als Schreckbild einer dem Chaos und
4
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
der Anarchie die Schleusen öffnenden Politik. Im gebannten Blick auf die Schrek-
ken der Umwälzung erscheint das revolutionäre System der Gleichheit als Aus-
drucksform einer Bedrohung ›von unten‹, die mit einem zivilisatorischen Rückfall
identifiziert und mit den Vorstellungsmomenten des Wilden bzw. der ›Verwilde-
rung‹ und ›Vertierung‹, des (auch sexuell) Ungezügelten, Grausamen und insbe-
sondere in diesem Zusammenhang Kannibalischen ausgemalt wurde.3 »Ihr laßt uns
durch Zeitungsschreiber, die unter eurer Aufsicht stehen, mit Feuerfarben die Un-
ordnungen hinmalen, welche getheilte, und durch Meinungen erhitzte Köpfe be-
gehen«, schreibt Fichte bereits 1793 in Reaktion auf dieses in den Zeitungen und
Journalen verbreitete Bild in seiner Denkschrift »Zurückforderung der Denkfrei-
heit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten« an die Adresse der
Fürsten; »[ihr] deutet dort auf ein sanftes Volk, herabgesunken zur Wuth der Can-
nibalen, wie es nach Blut dürstet und nicht nach Thränen, wie es gieriger sich zu
Hinrichtungen hindrängt, als zu Schauspielen, wie es abgerissene Glieder seiner
Mitbürger, noch triefend und dampfend, unter Jubelgesängen zur Schau herum-
trägt, wie seine Kinder blutende Köpfe treiben, statt des Kreisels«4 --- und er scheut
sich dabei nicht, in diesem Zusammenhang an die »blutigere[n] Feste« zu erinnern,
»welche Despotismus und Fanatismus im gewohnten Bunde eben diesem Volke
gaben«5.
Dieses die Debatten über die Ereignisse in Frankreich durchziehende Vorstel-
lungsbild der Verwilderung, das nicht zuletzt durch die Europa ab 1791 aufschrek-
kenden Nachrichten über Sklavenaufstände in den überseeischen Besitzungen der
Kolonialmächte Nahrung erhielt, setzt die Französische Revolution ins Licht eines
gleichsam anthropologisch verbürgten Rückfalls der Menschheitsgeschichte hinter
gefestigte zivilisatorische Standards. In immer neuen Variationen durchkreuzen
nicht eben wenige Publizisten und Schriftsteller von hier aus die auf die Revoluti-
on projizierten Fortschrittshoffnungen mit Bildern des Niedergangs (Verlust sozi-
alethischer Orientierungen, Freisetzung der ›Tierheit‹ des Menschen, Entfesselung
atavistischer Grausamkeit und Gewalt); in der Tat mit »Feuerfarben« (Fichte) be-
schreiben sie die Ereignisse in Frankreich als unendliches Theater des Schreckens,
dem mit dem ›fürchterlichen Neger‹ (und hier als pars pro toto insbesondere dem
aus den anthropologischen, philosophischen und ästhetischen Debatten der Auf-
klärung hinlänglich bekannten Hottentotten) ein Abscheu erregender Protagonist
des status naturalis zugeordnet ist.6 Klopstocks Ode Das Neue (1793) bietet dafür
mit der »Hottentottade« der ›wilden‹ »Clubbergmunicipalguillotinoligokra- / Tier-
republik«, die den blutigen ›Volksfreund‹ Marat »zum Gott« erhebt, lediglich ein ---
ebenso frühes wie exponiertes --- Beispiel:
5
Norbert Otto Eke
6
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
schen‹ Heldin Charlotte Corday (Charlotte Corday oder die Rebellion von Calva-
dos, 1794) in exemplarischer Weise in den Mund gelegt:
Wir sinken
Der Barbarei in ihren Negerarm
Zurük, dem wir zuerst entsprangen;
Tyrannen, Kannibalen werden
Sich da die Schädel tettowiren, und am Knochen
Erschlagner Brüder nagen, wo Voltaire
Und Rousseau weiland allen Völkern
Das himmlische Gesez der Menschlichkeit
Gepredigt.9
Wo das allgemeine Sitten-Gesetz keine Beachtung mehr findet, also Anarchie
herrscht --- diese Lehre werden konservative und von der Entwicklung in Frank-
reich enttäuschte Liberale gleichermaßen nach 1789 nicht müde zu behaupten,
fällt die Gesellschaft auf den Natur-Zustand der Wildheit zurück. »Losgebunden
erscheint, sobald die Schranken hinweg sind, / Alles Böse, das tief das Gesetz in die
Winkel zurücktrieb«10 --- kommentiert so Goethes Richter im sechsten Gesang von
Hermann und Dorothea (1797) die »schnöde Verirrung« der Zeit. Und Gustav
Hagemann lässt in seinem »Volkslustspiel« Die glückliche Werbung (1793) den
hannoveranischen Grenadierkorporal Brand sagen: »Er muß die Gesetze respecti-
ren und das muß Er allenthalben, oder Er muß ein Hottentott werden«11.
7
Norbert Otto Eke
mit seiner Behauptung über die Unempfänglichkeit der »Negers von Afrika« ge-
genüber den Gefühlen des Schönen und Erhabenen und ihrer Unfähigkeit zu ab-
straktem Denken keine Ausnahme. Im vierten Abschnitt seiner vorkritischen Be-
obachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) heißt es im Zu-
sammenhang eines kursorischen Vergleichs der verschiedenen Nationalcharaktere:
Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das
Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel an-
zuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den
hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt
werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch
nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wis-
senschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vor-
gestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem nied-
rigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein
Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei
Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Ansehung der Ge-
müthsfähigkeiten, als der Farbe nach zu sein. Die unter ihnen weit ausgebreite-
te Religion der Fetische ist vielleicht eine Art von Götzendienst, welcher so tief
ins Läppische sinkt, als es nur immer von der menschlichen Natur möglich zu
sein scheint. Eine Vogelfeder, ein Kuhhorn, eine Muschel, oder jede andere
gemeine Sache, so bald sie durch einige Worte eingeweiht worden, ist ein Ge-
genstand der Verehrung und der Anrufung in Eidschwüren. Die Schwarzen
sind sehr eitel, aber auf Negerart und so plauderhaft, daß sie mit Prügeln müs-
sen aus einander gejagt werden.16
In Hegels Bestimmung der Schwarzafrikaner als »Kindernation« hat sich diese Vor-
stellung kultureller Inferiorität einige Jahrzehnte später dann in signifikanter Weise
mit einem Blick auf die Einrichtung der Sklaverei verbunden. Das afrikanische
Kernland, so Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
(1833-1836), liege in seiner Entwicklung weit hinter dem europäischen zurück:
»Jenes eigentliche Afrika ist, soweit die Geschichte zurückgeht, für den Zusam-
menhang mit der übrigen Welt verschlossen geblieben; es ist das in sich gedrunge-
ne Goldland, das Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte
in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist«17. Diese Kindgleichheit zeige sich in
einer Unfähigkeit der schwarzen Afrikaner zur Abstraktion --- darin, dass ihr Be-
wusstsein »noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität [...], wie
zum Beispiel Gott« gekommen sei, »bei welcher der Mensch mit seinem Willen
wäre und darin die Anschauung seines Wesens hätte«18. Zwar stellt auch für Hegel
die Sklaverei als solches ein fundamentales Unrecht dar; im Falle der Schwarzafri-
kaner aber sei sie, da diese noch auf der Stufe des Naturzustands lebten und selbst
8
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
9
Norbert Otto Eke
10
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
[ABDERITINNEN] Von welcher Farbe? --- Warum sollten sie eine andre Farbe
haben als die übrigen Menschen? Sagten Sie uns nicht, daß sie die Nase
mitten im Gesichte trügen, und in allem Menschen wären wie wir Grie-
chen?
[DEMOKRIT] Menschen, ohne Zweifel; aber sollten sie darum weniger Men-
schen seyn, wenn sie schwarz oder olivenfarb wären?
[ABDERITINNEN] Was meinen Sie damit?
[DEMOKRIT] Ich meine, daß die schönsten unter den Äthiopischen Nazionen
(nehmlich diejenigen, die nach unserm Maßstabe die schönsten, das ist,
uns die ähnlichsten sind) durchaus olivenfarb wie die Ägypter, und dieje-
nigen, welche tiefer im festen Lande und in den mittäglichen Gegenden
wohnen, vom Kopf bis zur Fußsohle so schwarz und noch ein wenig
schwärzer sind als die Raben zu Abdera.
[ABDERITINNEN] Was Sie sagen! --- Und erschrecken die Leute nicht vor einan-
der, wenn sie sich ansehen?
[DEMOKRIT] Erschrecken? Warum dieß? Sie gefallen sich sehr mit ihrer Ra-
benschwärze, und finden daß nichts schöner seyn könne.
[ABDERITINNEN] O das ist lustig! --- riefen die Abderitinnen. --- Schwarz am
ganzen Leibe, als ob sie mit Pech überzogen wären, sich von Schönheit
träumen zu lassen! Was das für ein dummes Volk seyn muß! Haben sie
denn keine Mahler, die ihnen den Apollo, den Bacchus, die Göttin der
Liebe und die Grazien mahlen? Oder könnten sie nicht schon von Homer
lernen, daß Juno weiße Arme, Thetis Silberfüße, und Aurora Rosenfinger
hat?22
Zeigt Wielands Dialog auf der einen Seite das allmähliche Verblassen stereotyper
Vorstellungsbilder am Ende des Jahrhunderts, erhalten sich auf der anderen Seite
unabhängig davon tradierte Imagines des ›Schwarzen‹ gleichwohl bis weit ins 19.
Jahrhundert hinein: zum Teil in den abgewandelten Bildern der Rousseau’schen
Natur-Konzeption, zum Teil getragen vom Gestus herablassender Überlegenheit,
in jedem Fall aber entlang der eurozentrischen Konstruktion Schwarzafrikas als
früher Phase einer universalen Zivilisationsgeschichte. Sie liefert die Blaupause für
die augenfällige Re-Justierung des Fremdbilds als politisches Schreckbild im Zuge
der Französischen Revolution, nachdem zu Beginn der 1790er Jahre die Konzep-
tualisierung des schwarzen Sklaven als Projektionsfigur eines auf die Zustände im
Ancien Régime zurückverweisenden antikolonialen Befreiungskampfes --- etwa im
revolutionären französischen Liedgut23 --- zunächst noch ein ganz anderes Bild sug-
geriert hatte. Ungeachtet vor allem auch der über die Epochenzäsur von 1789 hin-
ausreichenden kontroversen Diskussion über die Sklavenfrage, die sich in einer
Vielzahl nicht zuletzt auch dramatischer Auseinandersetzungen mit dem Sklaven-
handel niedergeschlagen hat.
11
Norbert Otto Eke
12
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
selbst »verschenkt« (S. 28) hat und sich nun dem Sklavenhalter John im Tausch
gegen die Freilassung seines Sohnes als Arbeitssklave anbietet. Dass er mit diesem
Angebot überhaupt zu dem Pflanzer durchdringen kann, verdankt er allein dessen
jüngerem Bruder William, einem seinem Vater in jeder Hinsicht nacheifernden
Philanthropen, der sich zu einem Besuch auf der Pflanzung Johns befindet und
sich über die Zustände dort entsetzt. In einer Welt ohne Erbarmen ist William die
Ausnahme: »Sieh da, ein Weißer der auch ein Mensch ist« (S. 61) --- lässt Kotzebue
an einer Stelle bitter einen Sklaven sagen.
Gegen eine exorbitant hohe Summe kann dieser würdige Nachfahre eines ›gu-
ten Herrn‹, der die Sklaverei im Unterschied zu seinem Bruder nicht als naturge-
gebene Einrichtung betrachtet und überdies davon überzeugt ist, dass die (als sol-
che nicht in Frage gestellte!) kulturelle Unterlegenheit der Schwarzafrikaner Folge
ihrer Erniedrigung ist,29 Zameo freikaufen. Als er eben im Begriff ist, mit ihm und
Ayos die Insel zu verlassen, begegnen Ada und Zameo einander zufällig. Mit der
unverhofften Wiederbegegnung des nichts ahnenden Paares aber droht Johns Ab-
sichten auf Ada endgültig das Scheitern. Rasend in seiner Gier stellt er Ada vor die
grausame Alternative, die eigene Tugend auf- oder den Geliebten dem Tod preis-
zugeben. Ada gibt unter der Bedingung nach, Zameo noch einmal unter vier Au-
gen sprechen zu dürfen. Bei dieser letzten Begegnung bedrängt sie ihren Mann, sie
zu erstechen, um so ihre Tugend zu retten. Nach langem Zögern tötet Zameo die
Gattin und erdolcht sich selbst über ihrer Leiche (Variante 1). Diesem tragischen
Ausgang hat Kotzebue (Variante 2) einen glücklich endenden Ausgang als Alterna-
tive an die Seite gestellt, derzufolge es dem edlen William gelingt, unter Einsatz
seines halben Vermögens auch Ada von seinem Bruder freizukaufen.
Im selbstlos-humanen Wirken des Menschenfreundes William und dem ihm
zugeordneten sittlich Handeln der schwarzen Sklaven, die sich gemessen an den
Maßstäben einer universalen (europäischen) Moral beispielhaft verhalten (Ada
durch ihre standhafte Verweigerung gegenüber dem Begehren ihres weißen Herrn;
Zameo, indem er sich für den Vater opfert und obendrein einem brutalen Aufseher
ohne zu Zögern das Leben rettet; Ayos, indem er sich für den versklavten Sohn
›verschenkt‹), feiert das mit dem alten Herrn zu Grabe getragene Modell einer ›gu-
ten Herrschaft‹ seine Auferstehung als Vorbild eines Reformmodells für den Abso-
lutismus, das die deutsche Literatur in den Revolutionsjahren in vielfachen Varia-
tionen ausschreibt. Im durch die Konfliktmodellierung wieder ins Recht gesetzten
Verhältnis des ›guten‹ Herrn zu ›seinen‹ Sklaven spiegelt sich das Idealbild einer
harmonischen politischen Ordnung im Staat, die Aufstände und Revolutionen
nicht nur verhindert, sondern von vornherein unnötig macht --- wobei sich die Rol-
lenmodelle wechselseitig bedingen: Dem ›guten‹ Herrn entspricht der ›edle‹ Wilde
13
Norbert Otto Eke
(der ›gute‹ Untertan, das ›sanfte Volk‹), dem ›bösen‹ Herrn dagegen, der seine
Herrschaft missbraucht, der Unmensch (der ›fürchterliche Neger‹, das ›vertierte‹
aufrührerische Volk).
Keineswegs also hat, wie das Beispiel Kotzebues zeigt, der Typus des ›edlen
Wilden‹ in den 1790er Jahren ausgespielt; in auffallender Häufung aber treten ihm
im Kontext der Revolution nun wieder Figurationen des ›hässlichen‹, mental infe-
rioren, dabei wilden und ungezügelten ›Negers‹ als Sinnbild der Un-Natur und
Warnfigur zugleich an die Seite, von dem aus der politische Gleichheits- und Frei-
heitsanspruch der Französischen Revolution ins Zwielicht rückt (was den Ex- bzw.
Import ihrer Ideen einen Riegel vorschieben soll).
14
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
»Namen der kommenden Freyheit« (S. 111) mit dem Aufruf »Die Europäer wollen
euch also euer heiligstes Eigenthum mit Güte nicht wiedergeben; so nehmt es mit
Gewalt« (S. 109) eine Kraft, die er am Ende nicht mehr bändigen kann.
Donalds Traum von der allgemeinen Durchsetzung des Naturrechts auf
»Menschwürde und Menschenwerth« (S. 85) kommt zu früh; darüber lässt das
Stück, das in seinem letzten Drittel --- etwas überraschend und nur schlecht moti-
viert --- in eine Angstprojektion des anarchischen Aufruhrs mündet, keinen Zweifel.
Die Tragik des Revolutionärs ›aus Mitleid‹ (und eben nicht, wie im Falle der
schwarzen Sklaven, aus existentieller Not), den am Ende die von ihm entfesselte
Natur-Gewalt selbst verschlingt, resultiert aus seiner geschichtsphilosophischen
Ungeduld. Sie macht ihn blind gegenüber den realpolitischen Bedingungen und
Möglichkeiten von Veränderung und verkehrt von hier aus das gut aufklärerisch
gemeinte Projekt einer allgemeinen Sklavenbefreiung in das Gegenteil seines hu-
manistischen Anspruchs. Die Brüchigkeit von Donalds Konzepts einer mit dem
Natur-Recht auf Menschenglück begründeten legitimen Revolte gegen die verfass-
te Ordnung (»Höret, er ruft das Parlament und die Colonie an; und wir: Gott und
die Natur. Gott und die Natur, sey euer Wahlspruch« [S. 149]) wird offenkundig,
als sich mit der Zurücknahme des ersten Beschlusses zur Beibehaltung der Sklave-
rei durch das Parlament in London die politische Situation für den Idealisten
schlagartig verändert. »Die weißen Vertreter unsers Volks, überzeugt, daß gräuliche
Verwirrungen entstehen würden durch die zu plötzliche Abschaffung des Handels,
und die zu schnelle Befreyung der Neger, haben beschlossen, daß dieses große
Werk nicht auf einmahl, sondern allmählich vollendet werden soll« (S. 184). Der
auf Abwege geratene Philanthrop kommt in dieser Situation gleichsam wieder zur
Vernunft, der ursprünglich von den Idealen der Aufklärung angestoßene Aufstand
aber ›verwildert‹. Donalds Versuch, die einmal angestoßene gesellschaftliche Dy-
namik einfach dadurch wieder still zu stellen, dass er die Sklaven auf die mit dem
zweiten Londoner Parlamentsbeschluss eröffnete legale und schrittweise Verände-
rungsperspektive verweist, um von hier aus gleichzeitig die Revolution für beendet
zu erklären, führt direkt ins Chaos. Die einmal entfesselte Natur-Gewalt einer re-
volutionären »Tiegerwuth« (S. 41; die Tiermetapher verweist bereits auf die archa-
isch-atavistischen Antriebskräfte des Aufstands) lässt sich weder steuern noch ab-
brechen --- im Gegenteil: Aus der (mehr oder weniger) geordneten Emanzipations-
bewegung wird ein anarchischer Aufruhr, den das Stück unter Aufgabe der bis da-
hin grundlegenden gedanklichen Perspektive nun seiner legitimen Vorzeichen ent-
kleidet und mit den stereotypen Bildern des Terreurjournalismus als Raserei eines
entfesselten Mobs beschreibt.
15
Norbert Otto Eke
Eine Figur der Verfrühung ist auch der von Donalds Vater ausgebildete und
von Donald selbst in die Freiheit entlassene Afrikaner Tado, der in England den
politischen Kampf der Abolitionisten unterstützt hat und nun in die Kolonien zu-
rückkehrt, um gemeinsam mit seinem Herzensbruder Donald die Befreiung der
Sklaven in die eigenen Hände zu nehmen. Vor der Hand hat auch Reitzenstein mit
der Figur des hochkultivierten Afrikaners das Musterbeispiel eines ›edlen Wilden‹
auf die Bühne gestellt. Auch Tado allerdings verkörpert diesen Typus nicht, inso-
fern er sich innerhalb seiner eigenen Sittlichkeit, sondern --- damit unterscheidet er
sich nicht von den anderen ›edlen Wilden‹ auf den (deutschen) Bühnen --- insofern
er sich innerhalb der europäisch definierten Sittlichkeit sittlich verhält: Tado ist
der kultivierte Europäer in ›schwarzer‹ Gestalt, d.h. in seinem Habitus ganz der eu-
ropäischen Kultur angepasst --- was für die weißen Rassisten freilich keinen Unter-
schied macht. Für den Pflanzer Barkly, der mit dem Totschlag an einem Sklaven-
kind das Signal zum Aufstand gibt, bleibt er unabhängig von seiner Bildung so,
was er aufgrund seiner Hautfarbe und seines Herkommens aus Afrika immer schon
war: »ein niedriges Geschöpf« (S. 9), und als »Rebell« das Produkt eines sentimen-
talen Philanthropismus.31 Unfähig, im Fremden das Eigene wahrzunehmen, ver-
kennt der Sklavenhalter damit die »schöne Seele« (S. 35) des ›Negers‹ (wie Kotze-
bue arbeitet auch Reitzenstein mit diesem Vorstellungsbild). Entscheidende Be-
deutung im Rahmen dieser Übertragung des Konzepts der ›schönen Seele‹ nun auf
den Angehörigen der fremden Ethnie kommt dabei der Entsexualisierung der Be-
ziehung zwischen Tado und Julie, der Tochter des britischen Statthalters Osdal zu,
welcher der ehemalige Sklave bei einem Bootsunfall das Leben gerettet hat. Julie
erkennt in Tado die ›schöne Seele‹ nicht im biblischen Sinn; sie ist »dem höheren
Zauber der Schönheit der Seele« (S. 91) unterlegen, nicht der erotischen Anzie-
hung des Fremden und bleibt so ›rein‹, selbst noch in der mit Tado geschlossenen
Ehe, die sie einstweilen vor der Welt geheim hält. Donald, den allein Julie ins Ver-
trauen zieht, wird später den rasenden Osdal gerade mit diesem Argument zur
Vernunft zu bringen versuchen: »erkenne, daß Deine Tochter nicht von thieri-
schen Wallungen, nur von Edelsinn und Seelengröße hingerissen ward« (S. 168).
Die Verbindung der weißen Bürgertochter, die dem Willen ihres in jeder Hinsicht
ahnungslosen Vaters nach ausgerechnet den bösartigen Sklavenschinder Barkly hei-
raten soll, mit dem in die Freiheit entlassenen schwarzen Sklaven wird vorgeführt
als durchdachte Folge eines sympathetischen Erkenntnisaktes --- der eine Mensch
erkennt den anderen Menschen und im Menschsein des anderen sich selbst ---, der
im Hinblick auf die Utopie der Gleichheit aller Menschen in einer aufgeklärten
Bürgergesellschaft gelesen werden will.
16
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
17
Norbert Otto Eke
facht zu haben, durch die Übernahme der Verantwortung und den Tod auf dem
Hochgericht zu sühnen (und sich so über das Moment der Strafe wieder in Über-
einstimmung mit dem zuvor bekämpften System zu bringen), wird aber von den
Aufständischen getötet.
Mit der Unreife der Sklaven, die sich nicht mehr mit dem Versprechen lang-
samer Reformen zufrieden geben wollen und auf ihr Menschenrecht auf Glück im
Hier und Jetzt pochen, bietet das Stück eine mögliche Erklärung an für die déra-
page des Aufstands. Da die Revolution zu früh kommt, die Zeit und mit ihr die
Menschen noch nicht reif zur Freiheit sind, kommt auch die Freiheit nicht zur
Reife. Das nimmt nur auf den ersten Blick den zitierten Gedanken Hegels über die
Sklaverei als Kultivierungsvehikel vorweg, auch wenn das Stück mit der Verwand-
lung Donalds vom Revolutionär zum Reformer eine reformkonservative Perspekti-
ve stark macht, denn das Stück wendet mit dem Argument, dass die Unfreiheit erst
die meisten Sklaven »zum Thiere herabgewürdiget« (S. 94) habe, den Blick zu-
gleich zurück auf die »Europäische Barbarey« (ebd.).
Das letzte Wort gewährt das Stück dem alten Pflanzer Silly, der --- adressiert an
das zeitgenössische Publikum --- an der Bahre Donalds die Absage an den Gewalt
und Anarchie gebärenden Enthusiasmus der ›Jünglinge‹ formuliert. Den Idealisten
birgt er als Irrenden (und für seinen Irrtum mit dem Leben Bezahlenden) im
Schoß der Bürgergesellschaft/Menschengemeinschaft; über die Revolution aber
bricht er als Vertreter eines politischen Vernunftprinzips den Stab:
O ihr verwegenen, brausenden Iünglinge! Die ihr euch Götter dünket, im
Taumel euerer hohen Träumereyen, und wähnet mit dem Schwerte in der
Hand, Menschenelend zu vermindern; --- O bedenket, daß ihr es nur befördert,
wenn ihr nicht die Gesetze eueres Landes und die Macht euerer Beherrscher zu
dessen Verminderung anrufet. Unterdrückung unserer Mitmenschen ist ab-
scheulich, doch abscheulicher noch und ruchlos ist der Gedanke, durch Ver-
wirrung der Unterdrückung abzuhelfen. O! erkühnet euch nicht, den weisen
Planen der heiligen Vorsehung vorzugreifen. Sie weiß es, wenn es Zeit ist, dem
herrschenden Laster Einhalt zu thun und die weinende Unschuld wieder auf-
zurichten. Groß und edel war die Seele, welche in dieser Hülle wohnte, --- (auf
den Leichnam zeigend) aber möchten doch diese Schreckensscenen, die jede
Menschennatur mit Abscheu und Entsetzen erfüllen; möchten sie der Welt
und euch, ein schaudervolles Beyspiel seyn, wie ihr auch mit einer großen und
edlen Seele, der unsäglichsten Verbrechen euch schuldig macht, und wie leicht
ihr in euere friedlichen Gefilde das wildeste Ungeheuer locket, das je auf Erden
gewüthet hat: --- Das weltenverheerende Ungeheuer, Anarchie! (S. 197f.)
18
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
19
Norbert Otto Eke
führung seines Planes zur Schaffung einer ›rassereinen‹ schwarzen Gesellschaft be-
auftragt Dessalines so ausgerechnet den mit dem weißen Pflanzer St. Janvier be-
freundeten General Diakue. St. Janvier hatte dem kultivierten Offizier in der Ver-
gangenheit das Leben gerettet, »als eig’ne Sklaven ihm den Tod gedroht« (S. 55;
das Stück spielt mit der Vorstellung, dass sich die wohlhabenden und freien
Schwarzen ihrerseits Sklaven halten; siehe Hegel!). Mit dem General Diakue hat
Franul von Weißenthurn dem in seinem Hass verfangenen Repräsentanten einer
schwarzen Rache einen politisch handelnden schwarzen Vertreter der Vernunft
entgegengestellt, der am Ende als ›Menschheitsretter‹ (»Die Menschheit will ich
retten« [S. 91]) die gestörte Ordnung --- wenn auch durch Gewalt --- wiederherstellt.
Diakues Versuch, St. Janvier durch eine List zu retten --- er bittet Dessalines,
sich persönlich an dem angeblichen Feind rächen zu dürfen ---, schlägt auf tragische
Weise fehl. Unbeabsichtigt lenkt Diakue durch seine Intervention die Aufmerk-
samkeit des Despoten auf die Familie St. Janvier, die durch ein Versehen nicht auf
den Proskriptionslisten aufgeführt war. St. Janvier wird zusammen mit anderen
Geiseln unverzüglich ermordet, auch für seine Frau und seine zwei kleinen Töchter
scheint es keine Rettung mehr zu geben. Die Dynamik der Ereignisse vereitelt ihre
Flucht »in ein Land, wo es noch Menschen giebt« (S. 39), konkret nach Frank-
reich; ihr Versteck in einem verborgenen Gewölbe ihres Hauses, wo sie von einer
treuen Dienerin verborgen werden, wird durch Verrat entdeckt, die Frau St. Jan-
vier daraufhin von dem ehemaligen Kutscher der Familie auf offener Bühne er-
dolcht. Zwar gelingt es Diakue, wenigstens die Kinder Hortensia und Marie unter
dem Vorwand, sie dort in aller Ruhe zu Tode quälen zu wollen (»Zur Höhle
schleppt der Tieger seine Beute« [S. 64]) in seinem Haus vorübergehend in Sicher-
heit zu bringen; dort aber werden sie schon bald durch eine Unvorsichtigkeit von
einem Anhänger Dessalines entdeckt und unverzüglich an den Gewaltherrscher
ausgeliefert, der (wie später Napoleon) sein Regiment mit dem Griff nach der Kai-
serwürde krönen will. Damit aber überspannt der Despot endgültig den Bogen
und fällt im Ergebnis seiner hybriden Selbstüberhebung letztlich der von ihm vor-
dergründig im Namen der Freiheit entfesselten Gewalt selbst zum Opfer. Diakue
nämlich setzt sich an die Spitze einer geheimen Aufstandsbewegung gegen den
»Würger«, der gegen Jedermann Feind ist35, beendet im Bund mit anderen auf-
ständischen Offizieren durch einen Staatstreich die anarchische Pöbelherrschaft. Er
treibt der jungen Republik gleichsam den Teufel mit dem Beelzebub aus, indem er
sich auf gewaltsame Weise des neuen Tyrannen entledigt und so wieder Ordnung
schafft. Vor allem --- und das ist entscheidend nimmt Diakue selbst sich, nachdem
er die Freilassung der Kinder erwirkt hat (die unverzüglich die Insel verlassen, wo-
20
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
mit Dessalines Traum der ›schwarzen‹ Gesellschaft doch noch Wirklichkeit wird),
nach der Erfüllung seiner Aufgabe politisch wieder zurück.36
Auf die von Tado, dem ›edlen Wilden‹, verlassene Bühne des Theaters der Ge-
schichte rückt in Franul von Weißenthurns dramatischen Szenen aus den »Schrek-
kenstagen« mit dem schwarzen ›Thermidorianer‹ Diakue eine Spiegelfigur der
›vernünftigen‹ (patrimonialen) Ordnung nach, welche die Zeit von ihren Aus-
wüchsen reinigt und die drohende Unordnung eines zivilisatorischen Rückfalls
durch das ›Gesetz‹ wieder in die Schranken weist: der ›weiße‹ Neger. Am Eurozen-
trismus, mit dem die Philosophen, Wissenschaftler und Künstler seit dem 18. Jahr-
hundert immer wieder ihre Wertmaßstäbe (und Schönheitsideale), kurz das eigene
Selbstbild zum universell gültigen Wertmaßstab erklärt hatten, ändert sich damit
nichts. Wie der ›edle Wilde‹ ist auch der ›weiße Neger‹ als Repräsentant einer dem
Chaos der Volks-Herrschaft Einhalt gebietenden politischen Vernunft nach euro-
päischen Vorstellungen modelliert, der Fremde damit in seiner Eigenheit ausge-
löscht.
Dieser Rückspiegelung des Eigenen im nahegerückten Fremden hat Grabbe
bereits kurze Zeit später mit seinem dramatischen Erstling Herzog Theodor von
Gothland (1822) --- wiederum im Rückgriff auf den nun aber geradezu ins Parodi-
stische überdehnten Schreckenstopos einer ›schwarzen Rache‹ --- freilich endgültig
den Boden entzogen.37 Im Schreckensmythos des ›schwarzen‹ Mannes, des »Ne-
gers« Berdoa, der mit dem Geschlecht der Gothlands die durch Regeln (Recht und
Gesetz) geordnete ›schwedisch‹-europäische Welt in den Taumel der Vernichtung
reißt, choreographiert er den Hass und das Böse zu einem Theater des nicht mehr
enden wollenden Schreckens, in dessen Taumel die europäisch-aufgeklärten Selbst-
und Fremdbilder in sich zusammenstürzen.
Mit erbarmungsloser Grausamkeit rächt der ursprünglich als Sklave aus »Äthi-
opien« verschleppte, nun als Heerführer und Oberpriester der ›asiatischen‹ Finnen
gegen das christlich-europäische Schweden Krieg führende Berdoa im Rahmen ei-
nes von Darstellungen exzessiver Grausamkeit fortgetragenen Fabelverlaufs seine
Erniedrigung zum Sklaven (Nichtmenschen) an dem schwedischen Herzog Theo-
dor von Gothland als dem »Größten / Der Europäer«38 und damit als dem idealty-
pischen Repräsentanten der weißen ›Herren‹-Rasse, die dem ›schwarzen‹ Afrikaner
das Menschsein (im emphatischen Sinne der Aufklärung) abgesprochen und ihn
zur Natur-Bestie erklärt hat.39 Ausgeschlossen aus dem Kulturzusammenhang und
zum Un-Menschen erklärt, überblickt Berdoa mit einem ›fremden‹, gleichsam eth-
nologischen Blick40 die gesellschaftlichen Codes (Moral, Tugend, Liebe, Ehre, Fa-
milie etc.) der europäischen Zivilisation und überschreibt sie mit den Zeichen ei-
ner Rache, die mit der Vorstellung der möglichen Durchsetzung konkreter Huma-
21
Norbert Otto Eke
nität in der Geschichte auch die alten Ideen normativen Handelns aufgegeben hat,
welche noch die französische Revolution geleitet hatten.
Grabbe schreibt mit dieser Figur den von den Revolutionsspielen unter politi-
sche Vorzeichen gestellten Topos des zivilisatorischen Rückfalls als Wiederkehr der
Natur fort und gibt ihm zugleich damit eine entscheidend neue Wendung. In der
Gestalt des »blutbefleckten Negers« (S. 11) tritt der europäisch-abendländischen
Kultur in seinem Stück nicht das Fremde, sondern das Eigene als Natur entgegen.
Mit Berdoa meldet sich einerseits so die sorgsam eingehegte ›Tierheit‹ des Men-
schen zurück. Keineswegs aber --- gerade das macht das Stück in seinem Zuschnitt
so modern --- errichtet Berdoas Rachehandeln von außen die Herrschaft des frem-
den und fernstehenden Natur-Wilden (Bösen) in der wohlgeordneten europäi-
schen Welt, wo (nach eigener Einschätzung Gothlands) »schon der Mensch zum
Menschen ist geworden« (S. 32), sondern vielmehr von innen; es bringt das unter
der Oberfläche der Kultur sorgsam versteckt gehaltene destruktive Gewalt- und
Vernichtungspotential der schwedisch-abendländischen Gesellschaft zur Implosi-
on; es öffnet die verriegelte Tür zum ›schwarzen‹ Kontinent, dem »wahre[n] inne-
re[n] Afrika«41 des Natur-Unbewussten.
Berdoas Rache erfüllt sich zum einen in der moralischen Demontage des Ti-
telhelden, den der als ›Finne‹ wiederkehrende ›Neger‹ systematisch aller Gewisshei-
ten entfremdet, auf die Gothlands »innre Größe« (S. 88) sich stützt: den Glauben
»an die Menschheit« (S. 33), an die Bindungskraft des Blutes und des Rechts, kurz
»Glück, Freundschaft, Vaterliebe, Vaterland« (S. 87); zum anderen (und wichtiger)
erfüllt sich Berdoas Rache in einem Akt imagologischer Anverwandlung. Von der
Warte der Schweden aus gesehen ist Berdoa als Anführer der Finnen Protagonist
des aus »Asiens Steppen« (S. 16)42 ins christliche Kulturland vordringenden Nicht-
Europäischen; dieses wiederum ist in Form einer »negative[n] Projektion des Eige-
nen«43 als Anti-Europäisches konstruiert: als »das ›rassische, moralische, vernunft-
mäßige und ästhetische Chaos‹«44. Berdoa setzt den Hebel der Rache unmittelbar
an der damit verbundenen Selbst-Präsentation des schwedischen Abendlandes als
aufgeklärter Zivilgesellschaft an. Fluchtpunkt seiner Vergeltungsstrategie ist der
›Umbau‹ des ›großen‹ Feldherrn Gothland in das abgewiesene Zerrbild der (seiner)
Natur; Berdoa bringt das Konstrukt des ›kultivierten‹ Europa mit dessen negativer
Projektion zur Deckung, macht den schwedischen Feldherrn sich, d.h. dem ›ge-
machten‹ Schreckensbild gleich, damit zu der Bestie, als die sich die weiße Kultur-
gesellschaft den schwarzen Afrikaner konstruiert. So führt sein »Rachekrieg« (S.
21) gegen alles, was »Europa« ist45, den Titelhelden auf eine abschüssige Bahn, die
letztlich kein Schlupfloch zur Erlösung mehr lässt.
22
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
1
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. v. Helmut
Sembdner. Bd. 3. München, Wien: Hanser 1982, S. 160f.
2
Der Kosmopolitismus der Aufklärung hatte den Akzent noch auf eine universelle
Brüderlichkeit gelegt, welche die Identität des Menschengeschlechts postulierte.
Ethnische, nationale, soziale oder religiöse Unterschiede spielten in diesem Konzept
noch keine Rolle. Mit den Girondisten dann nahm der universalistische Kosmopo-
litismus --- Gonthier-Louis Fink hat darauf mit Recht hingewiesen --- geradezu »die
Form eines revolutionären Apostolats an« --- was entscheidende Konsequenzen nach
sich zog: »Davon ausgehend, daß die französische Nation allen Völkern der Erde
das Beispiel der Emanzipation gegeben habe, glaubten sie sich mit einer wenn nicht
weltweiten, so doch europäischen Sendung betraut und wollten zur Befreiung der
noch geknechteten Völker beitragen.« (Gonthier-Louis Fink: Kosmopolitismus ---
Patriotismus --- Xenophobie. Eine französisch-deutsche Debatte im Revolutions-
jahrzehnt 1789-1799. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklä-
rung. Festschrift für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ortrud Gutjahr,
Wilhelm Kühlmann u. Wolf Wucherpfennig. Würzburg: Königshausen & Neu-
mann 1993, S. 23-42; S. 31f.)
3
Vgl. dazu Peter Schmidt: Der Terreurjournalismus und die Darstellung des Ter-
reurs in Deutschland nach dem Ende der Jakobinerherrschaft. In: Weimarer Bei-
träge 29 (1983), H. 12, S. 2092-2111.
4
Johann Gottlieb Fichte: Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Euro-
pens, die sie bisher unterdrückten. Eine Rede. In: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob.
23
Norbert Otto Eke
Bd. 1: Werke 1791-94. Hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob unter Mitwirkung v.
Manfred Zahn u. Richard Schottky. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1964, S.
163-192; S. 184.
5
Ebd., S. 184f.
6
Ich knüpfe hier an Überlegungen aus meiner Studie Signaturen der Revolution.
Frankreich --- Deutschland: deutsche Zeitgenossenschaft und deutsches Drama zur
Französischen Revolution um 1800 (München: Fink 1997) an. Vgl. hier insbeson-
dere Kap. 4: Über die Unnatur der Revolution.
7
Friedrich Gottlieb Klopstock: Das Neue. In: Klopstocks sämmtliche Werke. Bd. 4:
Oden. Erster Theil. Leipzig: Göschen 1854, S. 344-346; S. 344f.
8
Friedrich Gottlieb Klopstock: Sie und nicht wir. In: Ebd., S. 320f.; S. 320.
9
[Heinrich Zschokke:] Charlotte Corday oder die Rebellion von Calvados. Ein re-
publikanisches Trauerspiel in vier Akten. (Aus den Zeiten der französischen Revo-
lution.) Stettin: Kaffke 1794, S. 36f.
10
Johann Wolfgang von Goethe: Hermann und Dorothea. In: Goethes Werke. Hg.
im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abtheilung, Bd. 50. Weimar:
Böhlau 1900, S. 187-267; S. 234f.
11
Gustav Hagemann: Die glückliche Werbung, oder Liebe zum König. Volkslustspiel
in einem Aufzuge. [Hannover] 1793 (= Theatralische Sammlung, Bd. 42), S. 229-
247; S. 240.
12
Peter Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren. Mit einem Nachwort v. Hans Wer-
ner Debrunner. Hamburg: Junius 1993, S. 240.
13
Das Schreck-Bild des ›schwarzen Mannes‹ als solches ist keine Erfindung des 18.
Jahrhunderts, kann vielmehr auf eine lange, im jüdisch-christlichen Denken ver-
wurzelte Tradition zurückblicken. Die Kulturwissenschaften, insbesondere die I-
magologie, haben sich ausführlich mit der wechselvollen Geschichte der Bilder be-
schäftigt, die sich die Europäer (und Nordamerikaner) durch die Jahrhunderte von
den Schwarzafrikanern gemacht haben. Aus dieser umfangreichen Forschungslitera-
tur seien nur einige wenige, für diese Studie wichtigere, Beispiele genannt: Urs Bit-
terli: Die Entdeckung des schwarzen Afrikaners. Versuch einer Geistesgeschichte
der europäisch-afrikanischen Beziehungen an der Guineaküste im 17. und 18.
Jahrhundert. Zürich, Freiburg i.Br.: Atlantis-Verlag 21980; Ders.: Die ›Wilden‹
und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europä-
isch-überseeischen Begegnung. München: Beck 32004; Martin Steins: Das Bild des
Schwarzen in der europäischen Kolonialliteratur 1870-1918. Frankfurt/M.: The-
sen-Verlag 1972; Willfried Feuser: Das Bild des Afrikaners in der deutschen Litera-
tur. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A. Bd. 2, 4. Bern, Frank-
furt/M.: Lang 1976, S. 306-315; Ders.: Slave to Proletarian. Images of the Black in
German literature. In: German Life and Letters 32 (1979), H. 2, S. 122-134; Uta
Sadji: Der Negermythos am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Eine Ana-
lyse der Rezeption von Reiseliteratur über Schwarzafrika. Frankfurt/M. u.a.: Lang
1979; Uta Sadji: Der Mohr auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts. Anif,
Salzburg: Müller-Speiser 1992; Beverly Harris-Schenz: Black Images in Eighteenth-
24
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
25
Norbert Otto Eke
nach 1789: Karl Edler Gruber von Grubenfels: Die Negersklaven, 1790; Karl Frei-
herr von Reitzenstein: Die Negersclaven, 1793.
25
Dass ein despotisches Regime erst den Aufruhr/die Revolution hervorruft, ist ein
Gedanke, den das Stück --- eher beiläufig --- dem Philantropen William in den
Mund legt: »Kein Wunder, wenn es [das Blut der Sklaven] siedend heiß wäre!
wenn die Verzweiflung es in Flammen sezte, und ihr eure Henker erwürgtet« (Au-
gust von Kotzebue: Die Negersklaven. Ein historisch-dramatisches Gemählde in
drey Akten. Leipzig 1796, S. 48).
26
Vgl. dazu den Bericht der Sklavin Lilli vom Tod des alten Herrn: »Er ließ alle seine
Sklaven herein kommen. Kinder, sagte er, ich gehe zu Gott. --- Vater! riefen wir,
gieb uns deinen Segen! --- Da segnete er uns, und wir segneten ihn. Er lächelte ---
und wir weinten« (Ebd., S. 44.).
27
Das Barbarische des Sklavenhalterregimes wird offenkundig unter anderen am Zy-
nismus des Sklavenhalters John im Umgang mit alten und zur Arbeit nicht mehr
tauglichen Sklaven: »John: Er wird schon zu alt, man muß ihn nach und nach ru-
hig sterben lassen. / Will[iam]: Ruhig sterben? wie machst du das? / John. Ich lasse
ihn weniger arbeiten, und gebe ihm weniger zu essen, so verlischt er endlich wie ein
Licht« (Ebd., S. 26.).
28
Der Pflanzer steht nicht an, sich seine Sklavinnen auch durch Folter verfügbar zu
machen: »Ich ließ ihr den ganzen Leib mit Stecknadeln sanft zerprickeln«, be-
schreibt er einer anderen Sklavin seine Methode, den Widerstand von Frauen wie
Ada zu brechen. »Dann wurde ihr in Oel getauchte Baumwolle um die Finger ge-
wickelt, und angezündet. Drey Tage nachher liebte sie mich auf das zärtlichste«
(Ebd., S. 20.).
29
Vgl. ebd., S. 34: »John: Sie [die Schwarzen] sind spitzbübisch, boshaft und dumm.
Sie erkennen selbst die Ueberlegenheit unsers Geistes, und folglich die Gerechtig-
keit unserer Herrschaft. / Will[iam]: Sie sind dumm, weil Sklaverey jede Kraft der
Seele zermalmt; sie sind boshaft, aber nicht genug gegen euch. Sie lügen, weil man
keinem Tyrannen die Wahrheit sagen muß. Sie erkennen die Ueberlegenheit unse-
res Geistes, weil wir sie in ewiger Unwissenheit erhalten; die Gerechtigkeit unserer
Herrschaft, weil wir ihre Schwäche mißbrauchen. O ihr habt Alles gethan, um diese
Unglücklichen herabzuwürdigen, und dann beklagt ihr euch noch, daß sie dumm
und boshaft sind.«
30
Carl Freiherr von Reitzenstein: Die Negersclaven. Ein Trauerspiel in fünf Aufzü-
gen. Iamaika [Wien]: Schaumburg 1793, S. 122; Hervorhebung von mir.
31
Vgl. ebd., S. 10: »Er ist ein Rebell, ein niedriger Rebell, den man von Kindheit auf
besonders dazu erziehen ließ, ein Rebell dereinst zu werden; dem man hier und in
England aufrührerische Grundsätze beybrachte, um sie später zu dem zerstöhren-
den Vorhaben anzuwenden, mit dem man sich jetzt im Parlamente beschäftigt, und
dem endlich ein Thor die Freyheit schenkte, uns alle zu beunruhigen, und unser al-
ler Eigenthum anzugreifen. Fluch dem, der ihn so erziehen ließ!«
32
Auf diese wichtige Voraussetzung hat Ingrid Korte hingewiesen. Vgl. Ingrid Korte:
Das Bild von der Afrikanerin in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur
26
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den Kolonialkriegen. In: Der Afrikaner im
deutschen Kinder- und Jugendbuch. Untersuchungen zur rassistischen Stereoty-
penbildung im deutschen Kinder- und Jugendbuch von der Aufklärung bis zum
Nationalsozialismus. Eine Ausstellung im Rahmen der 11. Oldenburger Kinder-
und Jugendbuchmesse aus den Beständen der Universitätsbibliothek Oldenburg,
aus Privatbesitz und Sammlungen. November 1985 Stadtmuseum Oldenburg. Aus-
stellung und Katalog: Gottfried Mergner und Ansgar Häfner. Oldenburg: BIS
1985. S. 99-104: S. 102.
33
Dieses Bild wird im Stück unter Verwendung der traditionellen Raubtiermetapho-
rik ausgemalt durch den deutschen (!) Maler Walter, der sich dem Versuch Dessa-
lines, die Kunst zur Verewigung seines Ruhms zu missbrauchen, mit einem (komi-
schen) Beispiel deutschen Mannesmuts vor Fürstenthronen widersetzt: »Walter.
Der Tiger muß die Kraft im Würgen zeigen. / (mit Feuer) Komm! Phantasie, voll-
ende mir dies Bild, / o mahl’ das Schreckliche mit wildem Feuer! / Der Deutsche
braucht Verstellung nicht als Schild / und selbst im Tod ist ihm die Wahrheit
theuer / Ja, Du stehst hoch, auf einem Wall von Leichen, / wer könnte Deine Grö-
ße je erreichen? / Wer späh’t wie Du nach Raub und Mord umher? / Bald wird es
still, und öde um Dich her. / Gewitter thürmen sich im Hintergrunde, / ein Blitz
zeigt Dir, wo sich noch Leben regt, / der Hölle Furien sind mit Dir im Bunde, /
Du würgst und wüthest, bis kein Herz mehr schlägt --- / Ha --- das ist Dessalines ---
ihr müsst ihn kennen, / ich brauche seine Thaten nur zu nennen. // Dessalines.
Wie, frecher Sklave --- Du erkühnst Dich --- // Walter. Vor meinem Tod die Wahr-
heit Dir zu sagen? / Ja, das erkühn’ ich mich als deutscher Mann. / Verwahre wohl
dies Bild, es ist getroffen, / mit andern Farben mahlt Dich Walter nicht. / Sein
Ruhm ist ihm zu lieb, die Kunst zu heilig, / als daß er sie durch Dich entweihen
sollte / und Dessalines die letzte Arbeit wäre. / Verheere, wüthe fort, dann mahlt
man Dich / wie man den Tiger in die Ferne sendet, / daß jeder ob dem Ungethüm
erstaune, / das ihm der heim’sche Boden nicht erzeugt. / Durch meine Kunst sollst
Du nicht länger leben, / sie darf das Große nur der Nachwelt geben.« (Johanna
Franul von Weißenthurn: Die Schwestern St. Janvier. Schauspiel in fünf Aufzügen.
Nach einer wahren Begebenheit, aus den Schreckenstagen auf St. Domingo. Berlin:
Schlesinger 1821 [= Neueste Schauspiele der Frau Johanna Franul v. Weißenthurn.
Neunter Band oder Neue Folge erster Band], S. 10f.)
34
Ebd., S. 22. Mit Hilfe der Anspielung auf Klopstocks Ode Sie oder wir (1790) de-
savouiert Franul von Weißenthurn den revolutionären Enthusiasmus.
35
Ebd., S. 88f.: »frei sind wir unter diesem Würger nicht; / die ganze Menschheit tritt
er frech mit Füßen, / auch unser Blut wird seiner Laune fließen; / Nicht nur die
Weißen, jeder ist sein Feind, / der menschlich fühlt, bei fremden Jammer weint. /
Zum Fluch der Menscheit wurdest Du geboren, / zum Thron von Haiti bist Du
nicht erkoren. / Wer nicht für Liebe, Freundschaft --- Tugend glüht, / den Bruder
nicht in jedem Menschen sieht, / der strebe nicht auf einem Throne zu stehn / und
thut er es --- so muß er untergehn!«
27
Norbert Otto Eke
36
Das Modell der Zurücknahme wird Grabbe wenig später in seinem Dramenfrag-
ment Marius und Sulla, das dem Bonapartismus ganz offensichtlich ein Denkmal
setzt, wieder aufnehmen. Hier ist es der herz- und mitleidlose Machtpolitiker Sulla,
der die Anarchie im Staate mit den Mitteln des Schreckens bekämpft, »um dann
desto sicherer das Bessere wieder aufrichten zu können« (Christian Dietrich Grab-
be. Marius und Sulla. Eine Tragödie in fünf Akten. Zweite Fassung. In: Werke und
Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hg. v. der Akademie
der Wissenschaften in Göttingen. Bearbeitet v. Alfred Bergmann. Emsdetten: Lech-
te 1960-1973. Bd. 1. Emsdetten: Lechte 1960, S. 393). Er setzt sich über Recht
und Gesetz hinweg, um Recht und Gesetz zur Geltung zu bringen; und er tritt am
(von Grabbe nur noch skizzierten) Ende auf dem Höhepunkt seiner Macht als
»Herr der Welt« (ebd., S. 408) freiwillig von der Bühne der Geschichte ab.
37
Vgl. Zu diesem Abschnitt weiterführend Vf.: »Alle Ehre deiner Narbe« Die Spur
des Körpers im Werk Grabbes. In: Grabbes Welttheater. Christian Dietrich Grabbe
zum 200. Geburtstag. Hg. v. Detlev Kopp u. Michael Vogt. Bielefeld: Aisthesis
2001, S. 71-101.
38
Christian Dietrich Grabbe: Herzog Theodor von Gothland. In: Werke und Briefe.
Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Hg. v. der Akademie der
Wissenschaften in Göttingen. Bearbeitet v. Alfred Bergmann. Emsdetten: Lechte
1960-1973. Bd. 1. Emsdetten: Lechte 1960, S. 20.
39
Vgl. ebd., 37: »Ich wand mich vor / Dem Abschaum unseres Geschlechts im Stau-
be, rief: / Erbarmet euch! ich bin ein Mensch! / ›Du wärst / Ein Mensch?‹ (hohn-
lachten sie mich an) ›du bist nur / Ein Neger!‹«
40
Zum ›fremden‹ Blick Berdoas vgl. auch Raimar Zons: Der Tod des Menschen. Von
Kleists Familie Schroffenstein zu Grabbes Gothland. In: Grabbe und die Dramati-
ker seiner Zeit. Beiträge zum II. Internationalen Grabbe-Symposium 1989. Hg. v.
Detlev Kopp und Michael Vogt unter Mitwirkung v. Werner Broer. Tübingen:
Niemeyer 1990, S. 75-102; S. 95f.; Harro Müller: »Meine Gnade ist der Mord!«
Interpretationsvorschläge zu Grabbes Gothland. In: Grabbe-Jahrbuch 12, 1993, S.
49-58; S. 54.
41
Jean Paul: Selina oder über die Unsterblichkeit. In: Werke. Hg. v. Norbert Miller.
München: Hanser 1963. Bd. 6, S. 1182.
42
Dort lokalisiert das Stück die ursprüngliche Heimat der Finnen, während der
schwedische Gesandte Holm die Finnen --- zumindest Berdoa gegenüber --- als ›eu-
ropäisches‹ Volk anspricht. Vgl. S. 16: »Holm. Tor, du schmähst das Volk, / Das
dir gehorcht, denn auch der Finne ist / Ein Europäer. // Berdoa. Gott behüte! Das
ist / Der Finne nicht, er ist verwandten Stamms / Mit mir. [...] Der Finne weiß,
daß seine Väter / In grauer Urzeit ausgezogen sind / Aus Asiens Steppen; jahrelang
sind sie / Gereist; --- sie bauten endlich ihre Hütten an / Der Ostsee ewig donnern-
den Gestaden.«
43
Wulf R. Halbach/Ralph Konitzer: Asiens Steppen an unseren Grenzen? Zu ›Ver-
nunft‹ und ›Rasse‹ in Christian Dietrich Grabbes Herzog Theodor von Gothland.
In: Grabbe Jahrbuch 6, 1987, S. 33-41, S. 37.
28
Die Revolution als Aufstand der ›schwarzen Männer‹
44
Ebd., S. 38.
45
Vgl. zu dieser Anti-Europäischen Stoßrichtung von Berdoas Rachelauf sein im
Dom zu Northal erneuertes Gelübde: »Nie will ich mich erfreun, nie will ich la-
chen, / Als wenn ich Europäer leiden sehe! / Kein Schlaf soll mir am Abend jenes
Tages nahn, / An welchem ich nicht Einen dieser Brut / Erwürgte! Auf jedes, jedes
Glück / Des Himmels und der Erde leiste ich / Verzicht, Ermordung nur der Eu-
ropäer / Sei meine Seligkeit! Ihr Wimmern sei / Mir Wonnelaut; ihr Blut mein
Wein; ihr Tod / Mein Leben; ihre Freude meine Hölle!« (Ebd., S. 37)
46
Vgl. Immanuel Kant über Pädagogik. Hg. v. Friedrich Theodor Rink. In: Kant’s
gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissen-
schaften. Bd. IX: Logik. Physische Geographie. Pädagogik. Berlin, Leipzig: de
Gruyter 1923. In: I. K.: Werke. Bd. 12. S. 437-499; bes. S. 449: »Bei der Erzie-
hung muß der Mensch also 1) discipliniert werden. Disciplinieren heißt suchen zu
verhüten, daß die Thierheit nicht der Menschheit in dem einzelnen sowohl als ge-
sellschaftlichen Menschen, zum Schaden gereiche. Disciplin ist also blos Bezäh-
mung der Wildheit. / 2) Muß der Mensch cultivirt werden. Cultur begreift unter
sich die Belehrung und die Unterweisung. Sie ist die Verschaffung der Geschick-
lichkeit.«
29
Jan Roidner
»Ist aber ein Fürst nicht allgemeiner Vater,
so ist er allgemeiner Feind«1
Der Herbst der Patriarchen:
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
In his plays, Munich playwright Joseph Maria Babo stages the failure of his
rebellious heroes as an affirmation of a patriarchal order, a central aspect of
state and society in the era of Enlightened Despotism. Representing political
conflicts as private is typical for Babo’s plays.
Der Dichter, Publizist und spätere Intendant des Münchener Hoftheaters Joseph Ma-
rius Franz von Babo (1756-1822)2 teilt das Schicksal der meisten Unterhaltungs-
schriftsteller um 1800: Längst sind ihre einst beliebten Stücke aus dem Repertoire un-
serer Bühnen verschwunden. Werk und Biographie sind vergessen, bestenfalls einer
spezialistischen Literaturwissenschaft vertraut.3 Während vergleichbare Autoren wie If-
fland --- als Rivale Schillers in Mannheim und bedeutendster Schauspieler seiner Zeit ---
oder Kotzebue --- wenigstens noch partiell aus dem Schatten germanistischer Amnesie
treten, schweigt sich die Literaturwissenschaft über Babo fast vollständig aus.4
Dabei fanden seine Stücke einst aufgrund ihrer spannungsreichen Szenen, der ak-
tuellen, oft brisanten Thematik, in wirkungsvoller Prosa, die ihn als versierten Thea-
terpraktiker ausweisen, großen Anklang. So standen Babos drei bekanntesten Stücke
unter Goethes Direktion auch auf dem Spielplan des Weimarer Hoftheaters: Otto von
Wittelsbach (1782), ein Trauerspiel gemäß der Götz-Mode, wurde von 1791 bis
1797 fünfmal, Die Strelizen (1790), ein Stück über eine Verschwörung gegen Zar Pe-
ter I., von 1791 bis 1799 elfmal und die Komödie Bürgerglück (1792), eine Tour de
Raison zwischen Bürgern, Adeligen und Künstlern, in Bearbeitung von Goethes
Schwager Vulpius von 1792 bis 1795 siebenmal und noch einmal 1801 gespielt.5
Es geht im Folgenden nicht um die Frage, ob es sich bei Joseph Marius Babo um
einen poeta minor handle. Sicherlich wird man aus der Kenntnis von Babo und sei-
nem Werk keinen ›zu Unrecht vergessenen‹, ›übersehenen‹, oder gar ›genialen‹ Autor
(zurück-)gewinnen. Eine eingehende Lektüre kann für die Literatur und Kultur der
Zeit trotzdem eine aufschlußreiche, angesichts der poetischen Qualität der Texte auch
spannende Perspektive auf den literarischen Betrieb um 1800 liefern: Zwischen 1778
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
und 1792 gelang es dem Erfolgsautor immer wieder, gesellschaftlich relevante The-
men in seinen Komödien und Tragödien auf die Bühnen zu bringen.
Babos Beliebtheit beim Publikum dürfte wohl auch mit der favorisierten Darstel-
lung familiärer Konflikte --- ob zwischen Ehegatten oder Kindern und Eltern --- zu-
sammenhängen. Häusliche Konstellationen werden oft mit Konflikten aus der öffent-
lich-politischen Sphäre verknüpft. So gewinnen die Stücke ein tragisches Handlungs-
potential, das --- durchaus mit pädagogischem Interesse versehen --- über den Rahmen
familiärer Dispositionen hinaus politische Perspektiven auf die Lebenssituation von
Adel und Bürgertum vor dem Hintergrund des aufgeklärten Absolutismus eröffnet.
Joseph Marius Babo wird man eher als Aufklärungskritiker und konservativen
Geist bezeichnen müssen. Kennzeichnend für die Schauspiele ist das Propagieren einer
Privatisierung öffentlicher Konflikte in der familiären Sphäre des Hauses. Dabei ist es
für die politische Lösung der Stücke am Vorabend der Französischen Revolution be-
zeichnend, daß Aufstandsversuche stets scheitern und bestehende patriarchalische
Ordnungs- und Machtstrukturen, gegen die sich die Revoltierenden auflehnen, durch
das dramatische Geschehen kaum modifiziert, jeweils bewahrt werden. Selbst schein-
bar legitime Revolten gegen eidbrüchige Herrscher, Usurpatoren oder Despoten bre-
chen am Ende zusammen. An den Stücken Die Römer in Teutschland (1779/80),
Otto von Wittelsbach (1782) und Die Strelizen (1790), sollen nach einer Skizze zu
Leben und Werk Babos drei Fälle vergeblicher anti-patriarchalischer Rebellion para-
digmatisch untersucht werden.
31
Jan Roidner
tiert, die mittlere Periode, die nach Jahren des Rückzugs 1789 einsetzt und bis 1793
dauert sowie das selbstepigonale Spätwerk, das nach einer erneuten längeren Schaf-
fenspause in die Jahre 1804 bis 1808 fällt. Den Schwerpunkt bildet die Dramatik mit
16 Stücken, darunter Lustspiele, Tragödien und historische Schauspiele, aber auch
Singspiele und ein Libretto. Daneben stehen Prosaarbeiten sowie ein breites publizisti-
sches Werk.
Früh macht Babo Erfahrungen mit der Bühne. Im Alter von 18 Jahren wird er
1774 Sekretär am Mannheimer Theater und debütiert zwei Jahre später mit dem
Preußenstück Arno (1776)8, ein »militärisches Drama« wie es der Offizierssohn gemäß
der modischen Soldatenstücke im Untertitel nennt. Es zielt auf eine staatstreue Erzie-
hung des Militärs und propagiert in kontrastierender Anlehnung an Lessings Erfolgs-
stück Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück (1767) die Vermeidung jeglicher
Liebesaffären als Frage der Offiziersehre. In seiner Ausrichtung auf ein vorrangig ade-
liges und militärisches Publikum gilt es Sengle als »Ausdruck für die im Umkreis des
Hofes versuchte Überwindung des üblichen bürgerlichen Dramas«.9
Als Max III. Joseph von Bayern 1777 ohne direkten Erben stirbt, tritt der Kur-
fürst der Pfalz Karl Theodor (1724-1799) aufgrund der Wittelsbachischen Hausver-
träge die Nachfolge an. Der Hof verläßt Mannheim, und München wird Zentrum des
niederrheinisch-pfälzisch-bayerischen Territorienkomplexes. Mit diesem politischen
Ereignis ist Babos Laufbahn eng verknüpft. Offenbar im Gefolge der Residenzverle-
gung siedelt er 1778 --- eventuell auch erst 1781 oder 178410 --- mit der kurfürstlichen
Theatergesellschaft in die neue Landeshauptstadt über und läßt sich dort als freier
Schriftsteller nieder. Rasch macht er im vom Kurfürsten geförderten kulturellen Le-
ben Karriere.
Der in dieser Zeit äußerst produktive Autor schreibt in vier Jahren einen Großteil
seiner Dramen: Das Winterquartier in Amerika (Lustsp.) (1779)11, sein in Hamburg
preisgekröntes Stück Die Römer in Teutschland (Tr.) (1779), Cora und Alonzo (Me-
lodr.) (1780), Reinhold und Almida (Opern-Libr.) (1780), das modische Bigamie-
Stück Oda oder Die Frau von zween Männern (Tr.) (1782)12 und als Höhepunkt des
Frühwerks das Ritterdrama Otto von Wittelsbach (1782)13. Mit der Bearbeitung des
Kaisermordes an Philipp von Schwaben vor dem Hintergrund des Thronkonflikts
zwischen Staufern und Welfen provoziert Babo in München angesichts der Wittelsba-
chischen Arrondierungspolitik --- der Kurfürst vertritt unpopuläre Ländertauschpläne
mit Österreich --- einen veritablen Theaterskandal. Peter Höyng vermutet, »daß Kur-
fürst Karl Theodor sich […] von der Darstellung der geschichtlichen Ereignisse be-
droht fühlte«.14 Nach der zweiten Aufführung am 25.11.1781 wird das Stück vom
Kurfürsten selbst, der sich seines Rückhalts in der Bevölkerung noch nicht sicher ist,
in Bayern verboten, im übrigen Reich aber weiter mit Erfolg gezeigt.15 Wie so oft bei
32
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
Skandalen zieht der Autor hieraus großen Nutzen --- Kritik und Publikum feiern den
patriotischen Geist des Stückes, der ›Baiern so viel Ehre‹ mache. Ab 1782/83 gibt er
die angesehene Theaterzeitschrift Der literarische Censor heraus und kann nun die li-
terarische Öffentlichkeit über Süddeutschland hinaus gestalten.
Der Dramatiker entdeckt die Prosa. Seine Skepsis gegenüber einer radikalen Auf-
klärung belegt die Bürger- und Fürstenspiegel kombinierende Erzählung Gemälde aus
dem Leben der Menschen (1783). Gegen den Rationalismus favorisiert Babo darin die
Instanz des Gefühls. Das ›Herz‹ gilt ihm als normative Richtschnur für die Moralität
sittlichen Handelns:
Denn wer bürgt uns für die Wahrheit aller unsrer philosophischen Grundsätze,
unsrer politischen und religiosen Maximen, die unsre Vernunft in künstliche Sy-
steme gewebt hat, wenn nicht ihre erste Bestandtheile aus unsrem Herzen, aus un-
serm sittlichen Gefühl’ geschöpft sind? alle philosophische Spekulationen über
wichtige moralische Wahrheiten müssen von dem Herzen des Menschen ausge-
hen, und wieder dahin zurück kehren, sonst ist’s eitle Grübelei. (GM 8)
Für den Vernunftskeptiker Babo ist die ratio hinsichtlich der Fundierung von Sitt-
lichkeit gegenüber dem Gefühl von Natur aus defizitär, denn die Erkenntniskraft des
empfindenden Herzens ist metaphysisch garantiert. Sie beruht auf dem unmittelbaren
Erleben der Gegenwart Gottes, das sich der Vernunft entzieht. So ist es in Anspielung
auf Moses’ Berufung in 2. Mose, 3,2 ein Dornbusch, der dem Erzähler das »Herz zum
Leben weckt und in Bewegung sezte« (GM 6). Nur die gefühlte Erfahrung Gottes in
der Natur verleiht theoretische und praktische Erkenntnisgewißheit. Auf die Instanz
des Herzens, die eigentlich Führung Gottes ist, kann das Subjekt stets bauen:
Dein Herz ist liebevoll gegen die Menschen, dankbar, und voll des Bestrebens
nach dem Guten; warum sollst du dich seiner Führung nicht überlassen? die Ver-
nunft hat keine so zuverläßige Bürgen für ihr Ansehen, die Natur gab ihr kein so
sicheres Erkenntnisvermögen des Wahren, als sie dem Herzen Empfindungsver-
mögen des Guten gab. (GM 10)
Der gesellschaftskritische Teil der Schrift schildert den »bedauernswerthen Zustande
des Landvolkes« in Süddeutschland, das, obwohl »Herzblut des Staates« (GM 171) in
Elend und Armut leben muß und warnt, daß so »ein großes Gebrechen der gesell-
schaftlichen Verfassung […] einst zu Rom und Athen eine gänzliche Umwälzung des
Staates verursachte« (GM 172). Babo, der sowohl die Rolle des Klerus als auch den
Einfluß der Freimaurer in Staat und Gesellschaft verurteilt, sieht Bauern und Hand-
werker als »wesentliche[n] Theil Ihres Staates«; wohingegen »die Degenträger alle,
vom höchsten bis zum niedrigsten, […] eher als Nebensache zu betrachten« (GM
283f.) seien. Er fordert eine Verbesserung ihrer Lebensumstände, denn »ein Fürst
33
Jan Roidner
[kann] sich selbst nie mehr erheben […], als wenn er den sogenannten dritten Stand
seiner Unterthanen erhebt […]. Wahre Fürstengröße ist sichtbarer in der Hütte des
Landmannes, als in den Sälen des Palastes« (GM 288f.).16 Babo verteidigt das Konzept
des aufgeklärten Absolutismus: Die Pflicht der Fürsten sei es, alles zu tun, »was zum
Glücke ihrer Unterthanen nöthig« sei, und dazu gehört »Geistes Aufklärung so gut, als
leibliche Nahrung« (GM 290). Das sittliche Fundament von Staat und Gesellschaft
bildet in seiner Konzeption aber nicht die Vernunft, sondern die emotional erfahrene
Religion: »Denken Sie nicht; fühlen Sie nur erst, Prinz, was Religion sei. Die Quelle
jeder gesellschaftlichen Tugend, der Inbegriff aller Moralität« (GM 309f.).
Als Dramatiker steht Babo 1783/1784 im Zenit seines Schaffens. Er veröffentlicht
die Lustspiele Die Mahler und Das Fräulein Wohlerzogen, die Tragödie Dagobert der
Frankenkönig sowie das Singspiel Das Lustlager. Als Anerkennung für den Fürsten-
spiegel beruft ihn Herzogin Maria Anna (1753-1824) 1784 zu ihrem Sekretär. Mit
dem beruflich-gesellschaftlichen Aufstieg endet die erste Phase seiner Karriere. Als
Hofbeamter widmet er sich pädagogischen --- von 1789 bis 1799 fungiert er als Studi-
endirektor der neu errichteten Militärakademie --- und kulturpolitischen Aufgaben.
Obgleich ein geachtetes Mitglied des reformorientierten Kreises um Graf Rumford17
lehnt Babo eine radikale Aufklärung weiterhin ab. So bekämpft er publizistisch erfolg-
reich die Illuminaten in dem anonymen Pamphlet Über Freymaurer. Erste Warnung
(1784). Ein Jahr später verbietet Karl Theodor den Orden.
Nach längerer Abstinenz gelingt Babo ein fulminantes Theater-Comeback mit
dem antirevolutionären Stück Die Strelizen (1790), eine Reaktion auf die Vorgänge in
Frankreich, die er ebenfalls publizistisch begleitet (Vollständiges Tagebuch der merk-
würdigen Begebenheiten und Revolutionen in Paris [1790]). Seinen weiteren Aufstieg
belegen Auszeichnungen: 1791 wird er zum Zensor ernannt und findet mit seiner
Nobilitierung Aufnahme in den höchsten Kreisen der bayerischen Hofgesellschaft.
Die Forderungen von 1789 lehnt er ab, statt dessen feiert er Biedersinn des Bürgers
und Selbstbewußtsein des Künstlers in seinem letzten erfolgreichen Lustspiel Bürger-
glück (1792).
Der Tribut für die Vielzahl öffentlicher Ämter liegt im dichterischen Verstum-
men. Nach dem Tod Karl Theodors (1799) widmet sich Babo als Intendant --- bereits
seit 1792 ist er Kommissar des Münchner Hoftheaters --- fast nur noch administrativen
Tätigkeiten.18 Meriten erwirbt er sich aber nicht durch seine künstlerische Leitung,
aus der er sich zugunsten des Regisseurs Heinrich Beck heraushält, sondern durch eine
gute Verwaltung.19 Als erste Pflicht gilt ihm, die »Ersparung für die Staatskasse« (Brief
an W. A. v. Dalberg, 6.7.1799). So gelingt ihm nach der desaströsen Finanzpolitik
seines Vorgängers Graf Seeau (1778-1799) die Konsolidierung des Theaters.
34
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
Nach 1800 meldet sich der Publizist und Dichter noch einmal zurück. Mit Jo-
hann Christoph von Aretin gibt Babo die von Goethe geschätzte Zeitschrift Aurora
(1804/05) heraus. Neben der Komödie Der Puls (1804) und der Tragödie Genua
und Rache (1804) liefert er mit Albrechts Rache für Agnes (1808) eine patriotische
Fortsetzung zu Joseph August von Törrings Agnes Bernauerinn. Der 1807 zum Mit-
glied der Akademie der Wissenschaften ernannte Babo stirbt schließlich am 5. Februar
1822 in München.
35
Jan Roidner
Ähnlich definiert Zedlers Universal-Lexicon (1734) den Begriff ›Familie‹ als »eine An-
zahl Personen, welche der Macht und Gewalt eines Haus-Vaters […] unterworfen
sind«.26 Die Analogisierung der Herrschaftsstruktur in Haus und Familie mit der im
Staat belegen Ausführungen Johann Heinrich Gottlob von Justis. Er sieht die »häusli-
che Herrschaft des Mannes« als unabdingbar für »die gute Ordnung, die Ruhe des
Hauswesens und die Glückseligkeit der Republiken«27 an. Tatsächlich wiederholt sich
die patriarchalische Struktur, die der Führung des ›Ganzen Hauses‹ zugrunde liegt, in
der öffentlich-politischen Sphäre des Absolutismus im Verhältnis zwischen dem regie-
renden Fürsten und den regierten Untertanen, dem Verständnis vom ›Landesvater‹
und seinen ›Landeskindern‹.
In der Literatur der Aufklärung erfreut sich die Figur des ›Hausvaters‹ großer Be-
liebtheit, als moralische Instanz, in der Komödie aber auch als Verlachfigur, worin
sich bereits ein Autoritätsschwund zeigt.28 Diese Tendenz verstärkt sich in den Texten
des Sturm und Drang. Hier versuchen die Jungen (Männer) den Alten (Männern) die
Herrschaft streitig zu machen. Die Autorität von Vätern und Fürsten ist nicht länger
sakrosankt, wie die Motivik vieler Dramen zeigt: Rebellion und Revolte --- in der er-
sten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum thematisiert29, der Konflikt zwischen Vätern
und Söhnen sowie der Tyrannenmord werden immer beliebter. Wurde im Drama des
Barock das Schicksal aufständischer Rebellen noch unter dem christlichen Aspekt der
vanitas30 gezeigt, so steht im Sturm und Drang der Kampf um individuelle Freiheit
gegen gesellschaftliche Tyrannis im Vordergrund.
Goethes Götz, Leisewitzens Guido, Klingers Guelfo oder Schillers Franz Moor,
immer bekämpfen die Helden die durch Väter und Fürsten getroffenen Beschlüsse
zugunsten ihrer eigenen Zwecke. Freilich bedurfte es für den Aufstand auf der Bühne
gegen Despotie und Unfreiheit einer neuen Figur --- der ›Kraftnatur‹, der Goethe im
Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) epochemachend zum Durch-
bruch verhalf, denn mit dem Personal, das die Stücke von Gottsched bis Lessing be-
reitstellten, war eine glaubwürdige Darstellung dieser Konfrontation nicht möglich.
Noch im Drama der Aufklärung spielte der Widerstand gegen die Fürsten kaum eine
Rolle.31 Man erinnere sich, daß Odoardo Galotti, um Emilia zu retten, lieber die
Tochter erdolcht, als den Prinzen für ihre Entehrung zur Rechenschaft zu ziehen.
Dem liegt zum einen der Einfluß von Naturrecht und Pflichtbegriff zugrunde: Obrig-
keitsfeindliche Handlungen werden als vernunftwidrig diskreditiert. Zum anderen
auch die enge Anbindung der deutschen Aufklärung an das christliche Verständnis
vom Herrschaftsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten: Gemäß Luthers
Zwei-Reiche-Lehre wurde etwa bäuerlicher Widerstand gegen weltliche Herrschaft als
Sünde zurückgewiesen.32
36
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
Der nun forcierte Konflikt mit dem System des Patriarchalismus läßt sich mehr-
fach deuten: retrospektiv im Lichte der Französischen Revolution als Ausdruck des
Freiheitskampfes eines vom aufgeklärten Absolutismus enttäuschten mündig gewor-
denen Bürgertums33, aber auch als eine genuin bürgerliche Reaktion auf Binnenverän-
derungen in der alten Familienstruktur. Aus psychoanalytischer Sicht läßt sich der Va-
ter-Sohn-Konflikt als ein ödipal-symbolischer Kampf um die Macht- und Herr-
schaftspositionen innerhalb von Staat, Gesellschaft und Familie beschreiben.34
37
Jan Roidner
sichtbare Gift« (FM 39). Neben der strikten Ablehnung einer sich öffentlicher Kon-
trolle entziehenden, arkanen und daher despotischen Organisations- und Herrschafts-
struktur steht die Kritik an den Zielen der Illuminaten im Vordergrund. Für den kon-
servativen Vernunft- und Aufklärungskritiker Babo sind nicht nur die Illuminaten,
sondern Rationalisten jeglicher Coleur »Sektenführer, die das Volk listenreich zu betö-
ren suchten«.39 Zwar gesteht er dem Orden zu, Vorurteile und Irrtümer der Wissen-
schaften überwinden zu wollen, wirft ihm aber zugleich vor, dabei weder das indivi-
duelle intellektuelle Vermögen von Mitgliedern und Bürgern zu beachten noch für ei-
nen ausreichenden Erkenntnisersatz zu sorgen:
Ihr reißt den Verstand aus seinen Schranken, statt ihn zu bilden. Ihr nehmt den
Menschen Vorurteile und gebt ihnen nichts Besseres, keine überzeugende Er-
kenntnis dafür: dadurch entsteht Leere, die ihn aller Ruhe, alles Glückes auf ewig
unfähig macht: Hier, glaub ich, ist das Rätsel gelöst, warum Sittenverderbnis glei-
chen Schrittes mit der Aufklärung geht. (FM 20)
Babo moniert den Rationalisierungsprozeß der Aufklärung als einseitige ›Entzaube-
rung der Welt‹ (Max Weber). Zwar gelingt es der Vernunft, durch immer weiter vo-
ranschreitende Erkenntnis veraltetes und vermeintliches Wissen als falsch zu entlar-
ven, aber sie versäumt es in seinen Augen, in die nun entstehende ›Lücke‹ eine neue,
vor allem normativ-sittliche Perspektive aufzuzeigen, die aufgrund der grundsätzlichen
Anbindung des Wissens an die Moral notwendig wäre. So ergibt sich das Paradoxon,
daß der Rationalismus selbst, die Werte einer --- sei es durch Anerkennung eines Erlö-
sergottes, sei es durch Kreation eines deistischen Schöpfergottes --- sittlich-gut einge-
richteten Welt nach und nach destruiert. Auf diese Weise »trägt die wissenschaftliche
Betrachtung ihrerseits mit bei zu dem, was aufzudecken und zu beheben sie auszog:
zur Entzauberung und Sinnentleerung menschlichen Tuns«.40 Anders gesagt: Babo
wirft der Aufklärung das Erzeugen eines für die Moralität von Staat und Gesellschaft
verhängnisvollen Wertevakuums vor, das die bestehende Ordnung allmählich destabi-
lisiert und schließlich destruiert.
Diese normative Leere wiederum verstünden die Illuminaten hinter der betrügeri-
schen Geheimnistuerei ihrer Bewegung raffiniert zu verbergen: »Die Freimaurer sagen
ihr Geheimnis nicht, weil sie keines wissen« (FM 22). Verheerend wirkt sich das aus
der Erkenntniskritik gewonnene Wertevakuum in Babos Augen in der praktischen
›Politik‹, im Bezirk der Moralphilosophie aus, denn gerade hier erzeugt der zum Prin-
zip erhobene Egalitarismus und Kosmopolitismus des Ordens die Destabilisierung
etablierter sittlicher Werte und Normen: »Vaterland, Landesfürst, Eltern, Verwandte,
Freunde, werden dem Maurer ganz sinnleere Namen, denn sein Kosmopolitengeist
umfasset das All und achtet der näheren häuslichen Pflichten nicht« (FM 15). Statt
der Akzeptanz und Befolgung der für jeden Bürger verbindlichen naturrechtlichen
38
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
39
Jan Roidner
Land und Vater zu befreien. Der zunächst erfolgreich verlaufende Aufstand scheitert,
als Hatto sich aufgrund seines Treueeids weigert, die Römer zu bekämpfen. Statt des-
sen ersticht er den unerkannten Sohn, da er ihn für den römischen Geliebten seiner
Gemahlin hält. Mathilde entleibt sich, als sie erfährt, daß der inzwischen von seiner
Liebe kurierte Drusus sie als Gefangene nach Rom bringen lassen will. In der Stunde
ihres Todes wird die Intrige des Kaßius entdeckt, und mit einem patriotischen Appell
werden die Römer über den Wert von Pflicht und Treue belehrt.
Mit Drusus und Flakkus stehen zwei Hauptfiguren im Zentrum. Babo hält sich
nur an die aristotelische Forderung nach der Einheit der Zeit. Die Orte variiert er be-
hutsam, die Handlung, bedingt durch die Figurenkonstellation, ist aufgelöst in ein Ei-
fersuchts- und ein heroisches Drama. Diese Zweiteilung ist keine Schwäche des
Stücks, findet sie ihre Begründung doch in der doppelten patriarchalischen Lektion:
Während Drusus’ Entschluß, Hatto freizulassen, eine Mißachtung der Autorität des
Senats und Pflichtverletzung der Ausbreitung und Sicherung des Imperium Roma-
num zu dienen, bedeutet, verstößt Flakkus, jedoch unbewußt, gegen das Ehrenwort
des freigelassenen Vaters, die Römer nicht anzugreifen. Den Konflikt der Figuren in-
szeniert Babo als Konfrontation von Tugenden: Die Versuchung der Kraft des Her-
zens --- ein zentraler Diskurs des 18. Jahrhunderts --- gegen die Moralität von Treue
und Pflicht: Nicht nur Drusus und Flakkus, auch die Nebenfiguren Kaßius und Hat-
to lassen sich, durch ihr Gefühl verführt, zu pflichtverletzendem Handeln verleiten.
Während aber die Leidenschaften der Hauptfiguren --- Liebe bzw. Heroismus --- nicht
per se normativ verurteilt werden, sondern nur situativ und daher durch Pädagogik
korrigierbar sind, erweisen sich die der Nebenfiguren --- Kaßius’ Ehrgeiz und Hattos
Eifersucht45 --- per se als negativ und moralisch-normativ nicht akzeptabel. Die poli-
tisch interessante, um 1780 allerdings rein theoretische Frage, ob die Revolte ein legi-
times Mittel im Freiheitskampf ist, wird bei Babo als Familientragödie verhandelt und
dort angesichts der Behauptung patriarchalischer Strukturen negativ beantwortet.
Der verliebte Drusus verzehrt sich nach der Gattin seines Feindes und versäumt
darüber --- Kennzeichen seiner hamartia, das im Aristotelischen Modell die Katastro-
phe herbeiführendes Fehlverhalten --- auf Kosten der Herrschaft (»Welt«) und des
Ruhms (»Olympus«) seine Feldherrenpflicht:
Siehe, Kaßius! wenn ich eine Welt in dieser Hand hielte, und mit der andern
nach einem widerstrebenden Gegenstand haschte, von dessen Erreichung die Be-
ruhigung meines Herzens abhieng; so würde ich die Welt, und den Olympus fah-
ren lassen, und mit beyden Händen nach dem Gegenstande greifen. […] Sagt
dein Herz dir nichts, Kaßius? --- Glücklicher, harter Mann, du kennst die Liebe
nicht! (RiT I, 4ff.)
40
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
Natürlich verurteilt Babo nicht den Wert der Liebe an sich, wohl aber das Zulassen
eines situativ nicht angemessenen Affekts. Für die Tugend des Subjekts entsteht auf-
grund der alleinigen, unkontrollierten Regierung des Herzens eine enorme Gefahr, die
nicht nur zum Verlust der moralischen Wertewelt, sondern sogar zur völligen Aufgabe
der Identität führen kann, wie Drusus’ Lamento, das Babo der Sprache Shakespeares
nachbildet, belegt:
Bin ich Drusus? --- Wo sind sie, die stolzen Entwürfe, wo ist das kühne Bestreben
nach Größe, nach Unsterblichkeit, wo? --- --- O die Hand der Allmacht hat meine
Seele getroffen! --- Sonst schwang sich mein Geist vol erhabner Gedanken in jene
Wohnungen des Lichts, und wog dort mit den unsterblichen Göttern das Schick-
sal der Nationen! --- Nun ist ihm ein Weib alles. Vaterland, Ehre, Unsterblichkeit ist
nichts, Mathilde ist alles. (RiT I, 28)
Seine erotische Leidenschaft treibt Drusus --- Zeichen seiner Untugend --- so weit, Hat-
to ohne Rücksprache mit dem Senat freizulassen, um Mathildes Liebe zu gewinnen.
Selbst Varo, Personifikation von Vernunft und Moral, gelingt es nicht, Drusus zu ei-
nem pflichtgemäßen, Handeln zurückzuführen:
O Drusus, ich glaubte dich nur einer Leidenschaft fähig, der edeln Ruhmsucht ---
nun sehe ich dich von deiner Erhabenheit herabgesunken, Sklave einer Leiden-
schaft, die den Ruhm deiner Thaten verschlingt, von dir nichts übrig läßt, als was
zu einem gemeinen Menschen gehört. Unsre Enkel werden deinen Namen nicht
kennen, nur ein junger Wohllüstling wird seine Thorheit durch dein Beispiel
rechtfertigen wollen. (RiT III, 62)
Gegen die Vorhaltungen Varos setzt der schmachtende Drusus sein »fühlendes Herz«
(RiT III, 61). Diese in den Augen rationalistischer Moralphilosophie unvernünftige,
weil selbst- und ordnungsgefährdende Haltung kann Varo als Wahrer der Tugend
nicht akzeptieren. Die herausfordernde Macht des Herzens, die zum »Scheideweg von
Tugend und Laster« führt, will er daher in Drusus besiegen, und sei es radikal durch
seine Auslöschung: »O ich muß deine Ehre retten, und wenn dein Herz drüber ver-
bluten soll« (RiT III, 87f.).
Auch der erst 19-jährige Flakkus/Ardulph wird in seinem Handeln durch das Ge-
fühl bestimmt. Angespornt den Ruhm einer großen mutigen Tat zu ernten, läßt er
sich zur Revolte hinreißen, um Vater und Vaterland zu befreien: »Du o heilige Frei-
heit, Vaterlandsliebe bemächtigt euch meiner Seele!« (RiT I, 10) Im Unterschied zu
Drusus jedoch, der unter der Macht des Gefühls leidet, versucht Ardulph autosugge-
stiv zur Stärkung der eigenen kriegerischen Entschlossenheit eine bewußte Enthem-
mung der Affekte gegen die moderaten Einwendungen der kühlenden Vernunft her-
beizuführen, die in ihrer Radikalität und tellurischen Sprache auf den antirationalen
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Jan Roidner
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Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
fährdeten, aber noch präsenten Autorität nieder: »Varo! sie sind in deiner Gewalt. Du
sahest, das mein Wort mir heiliger ist, als Freiheit und Rache« (RiT IV, 110).
Ardulph entgeht indes nicht seiner Strafe. Im Gemach der Mutter, der er sich zu
erkennen gibt, wird er vom eifersüchtigen Vater, der ihn immer noch für einen Rö-
mer hält, ermordet: »Unsre That war Römervertilgung und Rettung des Vaterlands.
Aber der Himmel mißgönnte uns das Glück sein Werk gethan zu haben!« (RiT V,
116) Tatsächlich ist Ardulphs tragisches Ende in einem Alptraum zu Beginn des Stük-
kes bereits vorweggenommen:
Ich suchte Ruhe in meinem Lager, und es war umringt von schwarzen Schreck-
bildern, sie ergriffen bald mit eiskalter bald mit heißer Hand meine Seele und
schleuderten sie tief, tief hinab in einen fürchterlichen Abgrund. --- Dann sah ich
meinen Vater, ich wollte ihn umfassen, aber der Schatten entflohe meinem Arm.
--- Oft war diese Hand mit meinem Dolch bewafnet ausgestreckt, um tief in mei-
ner Brust den nagenden Schmerz zu tödten, aber eine unbekannte Macht hielt die
Hand. (RiT I, 14)
Die Mißachtung des väterlichen Wortes, das Infragestellen der Autorität des Patriar-
chen, wird bereits im Traumerlebnis in der rächenden Gestalt des Vaters, symbolisch
ein moralisches Über-Ich, bestraft. Aber auch Hatto unterliegt der hamartia, denn
aufgrund seiner rasenden Eifersucht ist sein Herz nicht in der Lage, den eigenen Sohn
zu erkennen.
Welche Rolle bleibt angesichts der patriarchalischen Gesellschafts- und Familien-
struktur bei Babo den Frauen bzw. Müttern? Die Akzeptanz des Mannes als Familien-
oberhaupt wird trotz seiner Gefangennahme und Entmachtung von Mathilde nicht
disputiert: »Mein Herz fühlt die gränzenlose Dankbarkeit, die mein Gemahl von mir
verdient« (RiT II, 29). Die Ordnung der Familie wird bestätigt, eigener Handlungs-
spielraum reduziert sich auf ein bloßes Erdulden. Das Weibliche wird zum sexuellen
Objekt männlicher Begierde und Versuchung depraviert. So gipfelt Drusus’ Begehren
im Ausruf: »Du bist meine Sklavinn!« (RiT V, 128) Auch Hatto (»Sei der Fußschemel
einer wohllüstigen Römerinn, mit deinen Haaren schmücke sie ihr Haupt«) und Varo
(»Du sollst mit dem schönen Haare der Mathilde der Claudia ein Geschenk machen«)
bilden hier keine Ausnahme.46 Ein Entkommen aus der drohenden Versachlichung
bietet dem weiblichen Subjekt nur die Flucht in den Selbstmord. Die individuelle
Handlungsfähigkeit muß paradoxerweise letal auf Kosten des eigenen Selbsterhalts zu-
rückgewonnen werden.
Rehabilitiert wird das weibliche Gefühl aber angesichts der Blindheit der Männer.
So bestätigt sich Mathildes Intuition bezüglich des Schicksals ihres verschollenen Soh-
nes am Ende: »Warlich! die ahndende Fühlbarkeit eines weiblichen Herzens thut oft
mehr Wunder, als die kalte Vernunft der Männer!« (RiT II, 54) Freilich bleibt die
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Jan Roidner
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Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
diese Ordnung zur Konstituierung eines mündigen Subjekts, sondern muß sich stets
den Regeln der ganzen Gemeinschaft (›Treue‹) unterwerfen. Sie ist daher kein absolu-
ter, sondern nur ein relativer Wert, kann also lediglich im Beachten hierarchischer
Kanäle (›Gehorsam‹) liegen. Eigenverantwortliches politisches Handeln birgt --- selbst
bei guter Absicht --- die Gefahr, die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu beseitigen
und die Familie bzw. den Staat ins Chaos zu stürzen. Da patriarchalische Ordnung
naturrechtlich und vernünftig legitimiert wird, liegt die Pflicht jedes einzelnen in der
Beachtung ihrer Regeln. Der junge Babo ist noch dem rationalistischen Diskurs ver-
pflichtet. Daneben etabliert sich der Herz-Diskurs. Er reguliert gegen die Autorität
der Vernunft die individuelle Sphäre des Gefühls. Findet er in der Sphäre der Politik
Anwendung, kann er allerdings, wie die folgenden Überlegungen zu Otto von Wit-
telsbach zeigen, verheerende Auswirkungen haben.
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Jan Roidner
zur Rede und ermordet ihn aus Rachsucht. Das Reichsgericht verhängt die Acht über
ihn. Otto leistet zunächst noch wegen seiner unschuldig mitverurteilten Brüder Wi-
derstand, akzeptiert das Urteil aber, als er erfährt, daß der Kaiser ihm noch auf dem
Sterbebett vergab. Erschüttert will er nach Jerusalem pilgern, um dort Buße zu tun,
wird aber durch den Gerechtigkeit übenden Heinrich von Kallheim ermordet.
Im Unterschied zu den Römern steht in diesem »vaterländischen Trauerspiel«
(Babo) mit dem Wittelsbacher nur eine Figur im Zentrum, der keine gleichwertige
Gegenfigur korreliert. Die Handlungsführung ist vom Treuebruch und Verrat (I. und
II. Akt) über den Mord (III. Akt) bis hin zur Einsicht (IV. Akt) und Sühne Ottos (V.
Akt) stringent entwickelt, und nimmt im Verlauf der fünf Akte Züge des bürgerlichen
Rührstücks an. Wird mit dem Thema Kaisermord die Einheit der Handlung gewahrt,
so löst Babo die Einheit von Ort und Zeit gemäß der Mode von Goethes Götz bzw.
der Sturm-und-Drang-Poetik in einen Reigen vieler Szenenfolgen mit zahlreichen
Ortswechseln und großzügigen Zeitsprüngen auf.
Das Stück verhandelt den Konflikt, privaten Affekten, der Macht des Herzens, zu
folgen oder der Pflicht, dem Staatsethos, das in der Anerkennung patriarchalisch-
feudaler Kaiserherrschaft besteht, zu gehorchen. Treue und Lohn Ottos im Kampf um
den Thron werden eingangs durch den Knappen Wolf explizit herausgestellt, um die
Tugend des Helden hervorzuheben: »Ohne den Wittelsbacher wäre der Kaiser Philipp
ein Arm ohne Schwert oder ein Schwert ohne Arm« (OW I, 11). Auch für die Öffent-
lichkeit steht die verdiente Vermählung Ottos mit der Kaisertochter Kunegunde außer
Frage:
ERSTER BÜRGER. Der Kaiser muß doch unsern Otto recht kaiserlich belohnen:
nicht wahr Wolf
WOLF. Recht väterlich belohnt er ihn. Wißt ihr’s denn noch nicht? […] Daß er
ihm eine seiner Töchter giebt? […] Otto von Wittelsbach wird des Kaisers
Schwiegersohn. (OW I, 11)
Diese alte Zusage Philipps wird angesichts der Befriedung des Reiches aktuell, denn
Otto, dessen Dienste als Ritter nicht mehr gefragt sind, will sich nun um seine Pflich-
ten als Vater zweier Halbwaisen kümmern. Babo überführt das heroische Ritterthema
in ein bürgerliches Genrebild:
Ich war zu Wittelsbach, und da fand ich, daß meine Söhne eine Mutter brauchen.
[…] Ich will meine Waffenstücke in Küchengeräth verwandeln. Seht! dieser
Helm wird ein guter Topfn werden. […] Ihr bedürft meiner nicht mehr. Eure
Würde ist fest, eure Feinde sind gesunken. Nun ruft mich eine andre Pflicht in
mein Vaterland zu meinen Söhnen. (OW II, 61f.)
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Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
Der Kaiser kann aber sein einst als Herzog von Schwaben gegebenes Versprechen aus
Gründen der Staatsräson nicht einhalten. Sein dreimaliger Wortbruch gegenüber Otto
ist aber nicht nur ein ehrenrühriges Handeln, sondern unterminiert gerade die ange-
sichts der Vasallentreue zunächst nachrangige, aufgrund der Friedensstiftung aber ak-
tuell gewordenen Pflicht Ottos als pater familias für seine verwaisten minderjährigen
Söhne eine (Stief-)Mutter zu finden und deren Erziehung neu zu organisieren.
Ottos Reaktion auf den Verrat liegt in seinem Charakter. Darauf weist etwa der
alte Kampfgenosse Friedrich von Reuß hin: »Gott schuf ihn mit feurigem Blut’ und
großer Seele; dadurch ward er Held und --- Verbrecher« (OW IV, 141). Als Vertreter
des Schwertadels ist Otto im Unterschied zu Artenberg ein Verächter staatsklugen
Handelns und diplomatischer Kniffe. Er favorisiert das unverstellte Wort und die kla-
re Tat: »Ich rede frey und laut; denn ich denke nichts, was ein Mann nicht reden soll«
(OW I, 20). Neben der Treue --- trotz des Streits lehnt er Hilfe des Welfen und Kai-
sergegners Otto von Braunschweig ab (»Ich brauch keine fremde Hülfe, bin mir selbst
genug« [OW III, 95]) ---, beseelt ihn ein fanatisches Ehr- und Gerechtigkeitsgefühl, das
den Ausschlag für die im Affekt begangene Bluttat gibt:
Ich hab’ meine eigne Natur bekämpft, hab’ meinen Stolz und meine Hitze ge-
beugt, um das zu erdulden, was ich ohne Falsch und Fährde und aus guter Ab-
sicht geschehen zu seyn glaubte. Nun aber hast du selbst den Schafpelz abgeschüt-
telt, du wolfartiges Ungheuer, da du deine Klauen in mein Herz, in meine Ehre,
schlugst! (OW III, 94)
Um angesichts der Treuepflicht die unerhörte Tat des Kaisermordes für sich über-
haupt denkbar und durchführbar zu machen, muß Otto jedoch Amt und Person des
Kaisers erst voneinander trennen: »Bete du für den Kaiser; indeß will ich mit dem
Philipp von Schwaben reden« (OW III, 110). Im Gespräch mit den Brüdern bezwei-
felt er Angemessenheit und Rechtmäßigkeit des kaiserlichen Handelns, um seiner Ra-
che Legitimität zu verleihen:
OTTO. Selbst meine Ansprüche auf seine Tochter, die er mir feyerlich zugestan-
den hatte, gab ich ihm zurück, weil seine Wohlfahrt meinem Herzen näher
lag, als meine eigne. […] Ruft es nicht um Rache?
HEINRICH VON ANDECHS. Um Blut?
OTTO. (stutzt) Blut!
ECKBERT. Gott sey dir barmherzig, Bruder! du hast ein entsetzliches Wort gespro-
chen! Bedenkt, es ist der Kaiser, des heiligen Reiches heiliges Haupt! […]
OTTO. Es ist der Kaiser! Willst du mich […] an Pflicht und Achtung erinnern?
Ist nicht ganz Deutschland Zeuge von meiner unverbrüchlichen Treue, von
meinem heißen Eifer, die Kaiserwürde zu schützen? Ist das kaiserlich gehan-
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Jan Roidner
delt, seinen treuen Freund auf eine so betrügerische Art zu hintergehen? (OW
III, 111f.)
Das Einklagen des Versprechens und die maßlose Leidenschaft, mit der Otto seine
Kränkung verfolgt --- ähnlich wie in Kleists Novelle Michael Kohlhaas --- wird im Ver-
lauf des Stücks allerdings unmißverständlich verurteilt und auch von Otto selbst als
inakzeptables Fehlverhalten erkannt, so daß er später seine Bestrafung akzeptiert, um
die verletzte Ordnung wiederherzustellen.
Entsprechend hat Babo nach dem Mord im dritten Akt die letzten beiden Akte
am Rührstück orientiert und stärker die Psychologie seiner Figur fokussiert. Im Vor-
dergrund steht nun nicht mehr das Ritterthema --- mit dem Turnier in Bamberg als
Höhepunkt ---, sondern der innere Konflikt und die Wandlung Ottos hin zur Analyse
seiner schweren Schuld: »Kaisermord! --- O, Jammer und Wehe über den Menschen,
der mit solcher Kraft, mit solchem Blut und Herzen und Sinn, in diese Welt kommt!«
(OW IV, 125) Der Mord wird gemäß der patriarchalischen Regierung dem Vater-
mord gleichgesetzt. Eine moralisch besonders verwerfliche Tat, nihiliert sie doch den
Urheber, Bewahrer und Beschützer der eigenen Existenz. Der erste Schritt zur Ein-
sicht Ottos in sein Fehlverhalten liegt in der Anerkennung des Fürstenurteils:
O, Bruder, ich bin hart geschlagen; aber selbst in meinem Unglück liegt Trost,
wenn ich bedenk, zu welcher Größe Teutschland sich schwingen kann durch die-
sen Geist der Gerechtigkeit, der nicht geblendet vom Stand und Größe über Tha-
ten richtet. […] Ich weiß, daß die Fürsten lieber vergeben als verdammt hätten;
aber wie konnten sie? Das Reich, die Sicherheit der Völker und der Staaten for-
dern Rache an mir. Es war ein unseliger Augenblick, da das erwachende Gefühl
der natürlichen Freyheit in mir den Bürger, den Freund, den Diener betäubte; da
war ich nichts als Mensch der Natur, unwissend alles Gesetzes außer ihr, äußerst
beleidigter, gemißhandelter, zur Wuth gepeitschter Mensch --- und er fiel! (OW IV,
131)
Verführt durch das Naturrecht als ein unbeschränktes Recht auf alles, sich selbst zu
verteidigen, hat sich Otto mit dem Vollzug seiner Rache außerhalb des Hobbesiani-
schen Gesellschaftsvertrags gestellt. Mit der Anerkennung des Urteils akzeptiert er die
Wiederherstellung von Ordnung, Sicherheit und Frieden und delegiert diese Frage an
den Staat. Endgültig läutert Otto die Nachricht von der großmütigen Vergebung des
sterbenden Kaisers: »Ha, itzt fühl’ ich den wahren Bannfluch in meiner Seele von
Gottes Zorn gesprochen! […] Ich bin nicht mehr Otto! So war ihm nie zu Muthe! ---
Meinen Freund ermordet! meinen Philipp! meinen Kaiser! dessen Herz nie Falschheit
gegen mich hegte!« (OW IV, 151) Die kaiserliche Geste der Versöhnung wiederholt
sich in Ottos Vergebung gegenüber seinem Mörder Kallheim, wodurch seine schwere
48
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
Tat nicht nur gesühnt, sondern die patriarchalische Ordnung und kaiserliche Herr-
schaft wieder in ihr Recht gesetzt werden:
HEINRICH V. KALLHEIM. Sey zufrieden mit diesem Lohn! Kaisermord hat mehr
verdient.
OTTO. Das ist wahr, Bube! deshalb verzeih’ ich dir --- (OW V, 176)
Aber auch der Kaiser erscheint nicht ohne Schuld. Ist die Weigerung, eine der Töch-
ter mit Otto zu vermählen aus Gründen der Staatsräson noch nachvollziehbar, so ist
zumindest der Betrug an Otto im Falle der Tochter des Herzogs von Polen im höfi-
schen Kontext besonders verwerflich. Wie Otto ist Philipp jedoch ein Opfer persönli-
cher Schwäche. Statt als Freund auf die Stimme des Herzens zu hören, folgt er als
Herrscher den ›staatsklugen‹ Einflüsterungen seines Beraters Artenberg, das gegebene
Versprechen nicht zu halten. Die Schuld, das Verdienst und den Wert der Freund-
schaft mißachtet zu haben, wird von Philipp denn auch explizit anerkannt:
PHILIPP. Auf mich fällt alle Schuld. […] Der Kaiser hat für des Reiches Wohl ge-
sorgt; aber der Freund ---
ARTENBERG. Des Kaisers Herzensfreund ist das Vaterland. […]
PHILIPP. Mein Herz wirft mir dies Verfahren als unbillig vor; aber die Klugheit
heißt es gut. […] Otto fühlt sich beleidigt, und es ist gefährlich, in beleidigte
Freundschaft Vertrauen zu setzen. (OW II, 74f. und 78)
Ahnungsvoll --- wie es den Figuren bei Babo oft geschieht --- befällt Philipp angesichts
seines Wortbruchs tiefe Reue (»Sag’ mir doch, Artenberg, was hat er verbrochen, daß
ich so mit ihm verfuhr?« [OW III, 101]). Daß der Umgang mit der Macht, d.h. die
Ausübung der Kaiserwürde Tugend und Charakter verderben könne, beklagt auch
Otto: »Es giebt wohl der Beyspiele, daß eine neue Krone das Gehirn verrückt und das
Herz verstimmt hat!« (OW I, 39) So wird die Macht des Herrschers vom Willen des
Schwertadels beschränkt. Das feudale Kaisertum ist nicht gottgegeben, sondern laut
Reuß auf die Ritter selbst zurückgeführt: »Ein Deutscher Ritter läßt sich auch von ei-
nem Kaiser nicht verächtlich anblicken; denn er ist Kaiser, weil wir wollen, daß er un-
ser Kaiser seyn soll« (OW III, 88). Und trotzdem --- dies steht im Einklang mit Babos
Überzeugungen als Anhänger eines aufgeklärten Absolutismus --- können Ungerechtig-
keiten und persönliche Verfehlungen des Herrschers keine Legitimation für das Ver-
folgen eigennütziger, bloß zufälliger Motive liefern, die letztlich nur zur Destruktion
der Staatsordnung führen. So lautet das patriarchalische Herrschaft verteidigende Fa-
zit: »Fürstenmord ist Vatermord; denn Fürsten sollen Väter seyn, und Vatermord ist
unverzeihlich selbst vor dem ewigen Erbarmer« (OW IV, 154).
Ein zweites Zwischenresümee: Im Otto von Wittelsbach zeigt Babo die Ambivalenz
des Herz-Diskurses, sofern er die sozialen Beziehungen in der öffentlich-politischen
49
Jan Roidner
Sphäre reguliert. Während Otto gerade durch sein verletztes Gefühl sich zu einer ekla-
tanten Pflichtverletzung hinreißen läßt, versäumt es der Kaiser, der Stimme des Her-
zens, auf der sein freundschaftlich-väterliches Verhältnis zu Otto basiert, zu folgen
und unterliegt den Einflüsterungen rational-kluger Strategie kalter Staatsräson. Babos
Vorstellungen von einer guten Regierung sind am Modell der bürgerlichen Familie o-
rientiert. Dies läßt sich um so leichter einfordern, weil beide Sphären --- sowohl Staat
als auch Familie patriarchalisch strukturiert sind. Der feudal-absolutistische Staat, den
Babo propagiert, soll wie die Großfamilie im Ganzen Haus organisiert sein. Insofern
muß also der Landesvater, wenn er gut regieren will, nicht nur klug sein, sondern
auch dem familiären Gefühl des Herzens folgen, sonst erweist er sich als schlechter
(Landes-)Vater, vielleicht sogar als Tyrann. Dennoch folgt aus der schlechten Regie-
rung keineswegs die Legitimation für den Sturz des Tyrannen, gar eines Kaisermords.
Denn dieser wäre eine Verletzung naturrechtlicher (Vatermord) und vertragsrechtli-
cher (Fürstenmord) Pflichten des einzelnen gegenüber Staat und Gesellschaft. Um de-
ren Ordnung zu garantieren, ist der Gehorsam des Untertans bzw. Familienmitglieds
gegenüber der Herrschaft väterlicher und fürstlicher Autorität verbindliche Pflicht.
50
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
51
Jan Roidner
In keinem anderen Stück hat sich Babo so konkret mit Fragen der Regierung be-
schäftigt. Im Unterschied zu früher finden sich hier Reflexionen über Macht, Herr-
schaft und Gewalt, was angesichts der weltgeschichtlichen Vorgänge in Frankreich
wenig überrascht. Babo zeichnet zunächst aus der Perspektive unzufriedener Unterta-
nen ein Bild des fürstlichen Regiments. Die verbannte Ossakova, die Fedor im nächt-
lichen Moskau verzweifelt sucht, verurteilt im Verbund mit Ihrem Beschützer Prosto-
serdof die Herrschaft des Zaren als despotisch, ungerecht und willkürlich:
OSSAKOVA. --- --- Im Gebiete der Eigenmacht ist die Pest zu Hause, und sie wohnt
im Auge des Despoten! Auf seinen Wink harren Knute, Kerker, Ketten, Beil
in den Händen seiner Würger. --- Prostoserdof vielleicht gefiel es dem Czaar,
auch meinen Sohn seiner Majestät zu opfern!
PROSTOSERDOF. Pfui der gefräßigen Majestät!54
Dem Bild der ›gefräßigen Majestät‹ liegt das antike Mythologem des Titanenkönig
Kronos zugrunde, der bis auf Zeus alle seine Kinder verspeiste, aus Furcht, sie könn-
ten ihn einst stürzen.55 Dieses Motiv erfreute sich im revolutionären Zeitalter, wenn es
um die Darstellung von Machtmißbrauch ging, großer Beliebtheit.56 Es allegorisiert
aber nicht nur die eklatante Pflichtverletzung der Beschützung der Kinder bzw. Un-
tertanen durch den (Landes-)Vater, sondern zeigt im Akt der Einverleibung ein dop-
peldeutiges Bild von Herrschaft: Es formuliert nicht nur Protest gegen absolutistische
Macht, sondern deren totalen Kontrollanspruch selbst. Ist die Klage der Ossakova
aufgrund des Schicksals des Sohnes nur persönlich bedingt, so liegt der Unzufrieden-
heit des Strelitzen Prostoserdof ein politischer Anlaß zugrunde. Er beklagt die Ent-
machtung des Regiments durch den Zaren:
Er trennte unsre Schaar, weil sie seiner Willkühr zu mächtig, und seinem Throne
gefährlich schien […] Auf den Schultern unsres tapfern Heeres ruhete der Glanz
der Moskowitischen Krone; vereint war es einst der Czaaren Stolz und Stütze,
und nun getrennt, vertilgt, kann kein Strelize dem Vertilger gleichgültig seyn. (ST
I, 221f.)
Prostoserdof verkörpert den nostalgischen Anhänger des alten Rußlands (›Glanz der
Moskowitischen Krone‹), der nicht erkennt, daß die Modernisierung an den Allein-
herrschaftsanspruch des absoluten Monarchen --- im russischen Staatsrecht wird der
Zar auch Autokrator, d.h. Selbstherrscher genannt --- geknüpft ist. Obwohl er den Za-
ren verurteilt, ist Prostoserdof kein Gegner patriarchalischer Herrschaft per se, denn
auch sein Regiment wird entsprechend regiert. So schätzt er seinen Vorgesetzten als
»Vater Ossakof« und die Ossakova als »gute Mutter« (ST I, 224).
Wie schon in den früheren Stücken nimmt Babo durch die Aufnahme des ›Herz‹-
Diskurses wieder die Problematik Affekt-geleiteter Personen unter die Lupe. Hier
52
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
zeigt sich, was schon in den Römern und im Otto vorgeführt wurde: Die Instanz des
Gefühls besitzt für Babo eine weibliche und eine männliche Dimension. In privaten
Fragen --- im Rahmen der Mutterschaft --- findet es eine zulässige Anwendung:
»OSSAKOVA. Wir Weiber folgen unserm Gefühle oft so sicher, wie ihr der Überle-
gung« (ST I, 229). In politischen Dingen können Affekte bei Unreife hingegen ein
schlechter Ratgeber sein und zu Pflichtverletzung führen. Dies zeigt Fedors Reaktion,
als die Mutter ihn über die Lage des Vaters informiert. Dieser wurde durch seine Ver-
bannung aus der bürgerlichen Gemeinschaft als Rechtssubjekt ausgelöscht:
OSSAKOVA. Wisse, mein Sohn […] nie, nie kehrt dein Vater in das bürgerliche
Leben, noch weniger in seine Rechte zurück. Wär’ er ein Verbrecher, so
könnte man ihm v e rzeihen, ihn b egnadigen; allein dem unschuldigen
Opfer der Politik und Eigenmacht bleibt auf ewig alle Rettung versagt.
F. OSSAKOF. Eure Reden, Mutter, betäuben meine Sinne! Was soll ich denken?
was soll ich sagen? was soll ich thun? --- Nein, unmöglich! Mein Vater muss
frei, muss glücklich werden! […] Mein kindisches Herz erkannte das für
Wohlthat, was nur die Folge einer tyrannischen Handlung war. (ST I, 235f.)
Der Wunsch Fedors, Freiheit, Ehre und (bürgerliches) Glück des Vaters auch kriege-
risch wiederherzustellen, konfligiert --- wie in Die Römer in Teutschland --- mit dem
Willen des abwesenden Vaters. Stellvertretend äußert die Mutter: »Ich verließ deinen
Vater, um dich hier zu suchen, und dir in seinem Nahmen zu sagen, daß du diese
Stadt, daß du dein Vaterland fliehen sollst, wo dir die Bahn des Glücks und der Ehre
auf immer versperrt ist« (ST I, 237f.). Als Ausweg angesichts der desolaten Patria wird
der Gang ins Exil, die Zuflucht in den Kosmopolitismus gesehen, keineswegs zum
Aufruhr aufgefordert. Explizit wird Fedor an das Gebot des Vaters, der --- trotz Ver-
bannung --- oberste familiäre Rechtsinstanz ist, erinnert:
Denk’ an den Willen deines Vaters, und mache dich gefasst ein Land zu verlassen,
wo uns das eiserne Zepter der Eigenmacht in den Staub drückt. Reiss den Namen
V a t e r l a n d , aus deinem Gedächtniss, aus deinem Herzen, und fülle die grosse
Lücke mit Edelsinn, Ruhm- und Menschenliebe. (ST I, 241)
Fedor ignoriert dieses Gebot und läßt sich für den Putsch gewinnen. Der Verschwörer
Suchanin nutzt dabei seine Jugend aus: »Wär’ ich der Sohn Ossakof, ich stellte mich
an die Spitze der zerstreuten, wackern, Rache dürstenden Strelizen, dränge […] nach
Sibirien, und zerhiebe da mit meinem Säbel die Fesseln meines Vaters« (ST I, 242).
Er appelliert an Fedors Affekte: »Rache der Mutter; dem Vater Hülfe!« (ST III, 283)
So erscheint seine Mobilisierung als sittliche Unreife, die verwerflich, aber korrigierbar
ist: »Das Schicksal meines Vaters, die Reden meiner Mutter, dein Antrag, Suchanin ---
53
Jan Roidner
das alles wälzt sich in meinem Gehirne durch einander, daß ich nicht weiß, bey wel-
chem ich harren soll« (ST I, 243).
Im zweiten Akt korrigiert Babo das Bild durch Fokussierung der Sicht des Zaren.
Aus einem generellen Skeptizismus wird der revolutionären Forderung nach allgemei-
ner Gleichheit eine Absage erteilt. Der sehr positiv gezeichnete, die Last der Regie-
rungsverantwortung gar beklagende Zar Peter konstatiert:
Wenn alle Menschen gleich weise, gleich gerecht wären, so wären wir Fürsten
unsrer Ämter enthoben. O, ich thäte herzlich gern Verzicht darauf; und wollte
Gott, es käme noch bey meinen Lebzeiten dahin! […] Nur ein eingesperrter
Schulfuchs kann von allgemeiner Aufklärung träumen. (ST II, 250f.)
Die Möglichkeit einer »allgemeine[n] Aufklärung« wird zwar bezweifelt, aber die Not-
wendigkeit ihrer Verbreitung von oben dennoch nicht bestritten. Dieses Ziel, das al-
lein zum Wohl des Staats erfolgt, kann nur vom Fürst durch eine langfristige Politik
erfolgreich betrieben werden. Affirmativ wird angesichts der Widerstände und Unreife
der eigenen Zeit absolutistische Herrschaft verteidigt. Eine öffentliche Diskussion ih-
rer Maximen findet nicht statt, ihre Größe erschließt sich ohnehin erst der Nachwelt.
So betont Peter gemäß des Credos einer allmählichen Aufklärung des Volkes von o-
ben:
Der große Haufe ist wider mich, weil ich ihn aus seinem lieben, alten Schlafe we-
cke, worin ihn die Popen und eigennützige Beamte gern noch wiegen möchten.
Aber wenn einst meine Russen in Sittlichkeit, Cultur und Aufklärung weiter vor-
gerückt sind; wenn sie einst in dem Range der ersten Völker sich mit Kraft und
Würde behaupten: dann werden sie erkennen und fühlen, was Peter für sie that!
(ST II, 253)
Die Frage der Legitimität absolutistischer Herrschaft erörtert Peter im Gespräch mit
Fedor --- ein Höhepunkt der Handlung. Auch hier existiert keine Öffentlichkeit, denn
der Diskurs wird nur durch das Inkognito des Zaren --- Fedor erkennt ihn nicht --- er-
möglicht. In Peter begegnet Fedor einer zweiten Vaterfigur. Der historische Konflikt
mit dem Zarewitsch Fjodor dürfte Babo angeregt haben --- man beachte die Namens-
gleichheit ---, der als mutmaßlicher Verschwörer unter der Folter 1718 in Haft ver-
starb. Vielleicht auch --- den Zeitgenossen vertraut --- der Streit zwischen dem jungen
Friedrich und seinem Vater Friedrich Wilhelm I., der mit der Inhaftierung des Kron-
prinzen in Schloß Rheinsberg (1730) endete. Wie schon die Mutter vertritt Fedor im
Disput über das von Peter als Ausgeburt eines »moralischen Ungeheuers« gebrand-
markte »Complott« keine konkreten politischen Forderungen. Er verlangt vom Zaren
»meine Eltern, mein Gut, meinen Stand« (ST III, 293) und klagt nur die verletzten
bürgerlichen Werte Familie, Besitz und Ehre ein. Allerdings wird --- machttheoretisch
54
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
bedeutsam ---, angesichts der Frage der rechtmäßigen Inhaftierung der Eltern, die
Letztbegründung absolutistischer Herrschaft, das Berufen auf die Legitimierung durch
Gott, bezweifelt:
PETER. Und wie hat er sie [Fedors Eltern] bekommen?
F. OSSAKOF. Wie alles: durch Gewalt
PETER. Und diese Gewalt, woher?
F. OSSAKOF. (spöttisch) Von Gott etwa? Wo ist die Urkunde?
PETER. In der Einstimmung des Volkes.
F. OSSAKOF. Ha! gut. Wer also seine Stimme zurücknimmt, ist frey.
PETER. Nicht doch, junger Mensch! Darüber muß man erst den andern Theil
vernehmen, ob auch dieser ihn lossagt, ob keine Schulden abzurechnen sind.
--- Aufrührer und andre Verbrecher nehmen auch ihre Stimme zurück, indem
sie die Bedingungen übertreten. Sind sie frey?
F. OSSAKOF. Wer ist aber jener andre Theil, der so genaue Rechnung zu führen
hat?
PETER. Die Nation und, in ihrem Nahmen, der Czaar. (ST, III 294)
Der Verweis des Zaren auf die »Einstimmung des Volkes« --- aufschlußreich, daß hier
nicht Rousseaus Contrat Social, sondern die vertragstheoretische Konzeption aus dem
17. und 18. Kapitel von Thomas Hobbes' Leviathan Pate steht ---, verankert die Herr-
schaft im Diesseits. Die Regierten können sich nicht ohne weiteres vom Staat, d.h.
seinem Regenten, dem Fürsten, dem sie die Macht zur Wahrung von Leben, Frieden,
Eigentum und der Ordnung abgetreten haben, lossagen, da er selbst kein Vertrags-
partner ist, sondern durch die Beistimmung erst erzeugt und legitimiert wird. Als al-
leinige »Richtschnur, die Gränze und einzige Absicht seiner Gewalt« wird die »Wohl-
fahrt« des Staatswesens angesehen, wobei --- Schwäche des Arguments --- als letzte In-
stanz, der eingangs bezweifelte »Gott« (ST III, 295) wieder ins Spiel kommt. Somit
wird den Regierten angesichts ungerechter, schlechter Herrschaft ein universales, indi-
viduelles (Menschen-)Recht auf Widerstand bestritten, und die Legitimität von Revo-
lutionen zurückgewiesen. Der Untertan bleibt bloßes Objekt fürstlicher Gewalt und
muß sich bezüglich der Entwicklung seines politischen Glücks allein auf die guten Ab-
sichten des Fürsten verlassen. Entsprechend resignativ fällt Fedors Urteil aus:
Ha! d a h i n also, nur d a h i n bleibt uns der Weg offen, wenn Unrecht, Unter-
drückung, Verfolgung, Eigensinn, Vorurtheil uns das Leben zur Hölle machen?
[…] Wir müssen unsre Hände in den Schooß legen, und blindlings glauben, daß
der einzige Czaar, der die Macht, die Rechte und Kräfte des Volkes zusammen be-
sitzt, auch die alleinige Einsicht und Wohlwollen, die allumfassende Bruderliebe,
den festen, beharrlichen Sinn, diese Gewalt nie zu mißbrauchen, im höchsten
Grade eigen habe? Freund, dies müssen wir g l a u b e n , aber nicht wissen, nicht
einmal fragen: ob es so ist? (ST III, 296f.)
55
Jan Roidner
Der politischen Misere des Bürgers entspricht auf der Seite des Zaren angesichts von
Aufruhr und Revolution der machtpolitische Verweis auf die Staatsräson als ultima ra-
tio seines Handelns:
Deine Schuld heißt: E m p ö r u n g ; und die wird nur mit Blute bezahlt. […]
Wie? wenn er [= der Zar] sagte: die Vertilgung der unbändigen Strelizenschaar
war ein unvermeidliches Opfer für Rußlands Wohlfahrt. […] Ruhe, Ordnung,
Sicherheit und Gerechtigkeit heischten seine [= Ossakofs] Entfernung und Strafe.
--- Eben so fehlte Ossakova. […] du fragst, ob der Czaar darüber entscheiden kön-
ne? Ja, er kann, und nur er allein; nicht weil er, wie du verlangst, der Weiseste
und Einsichtsvollste des Volkes seyn soll; sondern weil ihm allein der ganze Bau
des […] Staatskörpers, und alle, auch die geheimsten Verhältnisse bekannt und al-
le Kräfte und Triebfedern in ihm vereinigt sind. Ohne eben der Weiseste zu seyn,
kann nur er das Ganze übersehen, und kein Mensch kann ohne Frevel seine ein-
zelnen Handlungen beurtheilen. (ST III, 296f.)
An Stelle der revolutionären Forderungen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wird die
machtstaatliche Trias Ruhe, Ordnung und Sicherheit etabliert, um die bestehende
Herrschaft zu wahren. Freilich nicht ohne ›die Gerechtigkeit‹ zu erwähnen. Deren
Problematik liegt aber darin, daß unter absolutistischer Autokratie keine unabhängige
Justiz, im Sinne der Gewaltenteilung möglich ist. Ähnlich wie ein deistischer Schöp-
fergott wird der Fürst als Zentrum der Welt aufgefaßt, in dem alle Fäden des Staates
kulminieren. Nicht absolutes Wissen --- Zeichen von Babos Erkenntnisskepsis --- garan-
tiert Glück und Gerechtigkeit, sondern Kenntnis der Arcana und die Identität von
Staats- und Fürstenwohl. Die Selbstliebe (amour de soi) --- gemäß Rousseau natur-
rechtlich gegeben --- ist Teil der Liebe des Zaren zum Volk, denn der »Czaar […] fühlt
kein wahres Vergnügen, als in dem Glücke […] seiner Russen; und was ihre Wohl-
fahrt trübt, ist seines Herzens einziger, höchster Kummer« (ST III, 297). Ein Wirken
zum Nachteil des Volkes wäre also ›unvernünftige‹ Selbstschädigung.
Der machttheoretische Diskurs im dritten Akt ist bloß der erste Teil der Lektion
über fürstliche Herrschaft, die Fedor bzw. der Zuschauer erfährt. Der zweite Teil folgt
im letzten Akt. Erneut ähnelt Babos Konzeption späterer Motivik Heinrich von
Kleists frappierend. Ähnlich wie im Prinz Friedrich von Homburg wird der Sünder
für seine Übertretung zunächst zum Tode verurteilt, dann aber doch freigesprochen.
Bedingung für die Begnadigung ist die Verurteilung Fedors durch die eigene Familie.
Trotz Verbannung steht der alte Ossakof loyal zum Zaren: »Ich selbst, ich der hart
gekränkte Ossakof, hätte zuerst meinen Säbel gegen den Empörer gezogen!« (ST IV,
307) In Spiegelung zum ersten Akt sucht nun der heimgekehrte Vater die Familie und
erfährt vom Aufstand, den er unmißverständlich ablehnt:
56
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
Verflucht sey Aufruhr! Durch ihn fallen tausend unschuldige Opfer, bis er dem
Tyrannen nur ein Haar krümmt! Empörung giebt dem blutdürstigen Fürsten ein
Jubelfest, dem gerechten ein bluttriefendes Ehrenmal, dem gütigen die Märtyrer-
krone, dem Volke allezeit Verderben, und dem Empörer Fluch! (ST IV, 304)
Die Treuepflicht zum Zaren bezwingt sogar das natürliche Gefühl, so daß die Eltern
den Sohn für seinen Ungehorsam zum Tod verurteilen:
PETER. Und dein Sohn, Ossakof! Weißt du die abscheuliche Geschichte? --- Sage
selbst, was hätt’ er wohl verdient?
OSSAKOFF. --- Den Tod.
PETER. (stutzt) --- Und du, Ossakova! Was hätt’ er wohl verdient?
OSSAKOVA. V e r d i e n t ? --- Den Tod. (Alle sind bestürzt)
PETER. Wie? --- Wird es euch so leicht, euren Sohn zu verdammen? Was soll denn
ich?
OSSAKOVA. V e r z e i h e n . --- Ew. Majestät haben uns jetzt zu Richtern über den
Jüngling Fedor Ossakof bestellt, und wir haben ihn streng --- nach Verdienst ---
gerichtet. (ST IV, 328f.)
Über das ›Verdienst‹ als Kategorie fürstlicher ›Entlohnung‹, die hier tödlich wäre, tritt
mit dem ›Verzeihen‹ der Großmut, die magnanimitas, eine höhere Tugend des Regie-
rens, die aufgrund der vorherigen Unterwerfungsgeste am Leben erhält. Damit erweist
sich Babos Staatskonzeption aber als anti-modern. Gemäß einer Formel Michel Fou-
caults läßt sich der moderne Staat nämlich durch »das Recht, leben zu machen und
sterben zu lassen«, der souveräne Staat alter Prägung hingegen gerade durch das »ster-
ben zu machen und leben zu lassen« definieren.57 Angesichts von Aufruhr und Revo-
lution --- hier formuliert Die Strelizen aufgrund der französischen Erfahrung eine kon-
servative Diagnose --- erweist sich gerechte Herrschaft nicht nur im strengen Urteil,
sondern auch im Akt der Gnade, sofern vom Begnadigten Besserung zu erwarten ist.
Als Zeichen politisch-moralischer Reife des Zaren besteht an dieser Stelle auch kein
Konflikt zum Herz-Diskurs, denn der gute Fürst soll seinen Untertanen strenger
Richter und liebender (Landes-)Vater zugleich sein:
PETER. So werde ich, wenn ich muss, immer strafen: schnell und gewiss; aber, wo
ich kann, auch eben so verzeihen. --- Euch (zu den Verschwornen) Unbeson-
nen, verführten sey Leben und Freyheit geschenkt!
ALLE. O Czaar, unserer Hoffnung Herr!
PETER. (zu Ossakof und seiner Gattinn) Nehmt diesen Jüngling hin; er ist mein.
Nach einem Jahre bringt mir ihn wieder; und dann bin ich, wenn er’s ver-
dient, ihm, wie euch Allen, Vater. (geht ab)
ALLE. O Vater! [...]
OSSAKOVA. […] es lebe unser Czaar und Vater!
57
Jan Roidner
Joseph Marius Babo erweist sich in seinen Schauspielen als ein überzeugter Apologet
des aufgeklärten Absolutismus. Skeptisch gegenüber der radikalen Aufklärung fordert
er statt dessen vom Fürsten die Umsetzung einer allmählichen allgemeinen Aufklä-
rung von oben zur Sicherung von Ordnung, Wohlstand und Frieden in Staat und Ge-
sellschaft. Charakteristisch für Babos konservative Sicht ist die Übertragung der Struk-
tur der Familie auf den Staat, womit eine Privatisierung politischer Konflikte einher-
geht. Der gut regierende Fürst soll --- will er nicht als Tyrann erscheinen --- nicht nur
Beherrscher seiner Untertanen, sondern zugleich Hausvater bzw. allgemeiner Vater
sein. Aus dieser Perspektive ist der ideale Staat, in dem der einzelne Glück und Ge-
rechtigkeit erfahren kann, entsprechend nach der Struktur und den Maximen der pa-
triarchalischen bürgerlichen Familie organisiert. Der Staat erscheint als eine große
Familie und verkörpert den Zusammenschluß der Ganzen Häuser. Insofern ist es kein
Zufall, daß der Rationalismuskritiker Babo vom gut regierenden Landes-Vater mehr
verlangt als nur kluge politische Maximen und Strategien, die in das Gebiet der Staats-
räson fallen. Er soll seine Entschlüsse und Urteile, allerdings nur --- siehe Drusus oder
Otto --- sofern ihn nicht Leidenschaften wie Ruhm, Liebe oder Rache steuern, auf den
Prüfstand seines familiären Gefühls stellen. Sein Herz soll daher, sofern er quasi als
Familienoberhaupt handelt, beim Belohnen oder Bestrafen die Richtschnur seiner Ur-
teile bilden. Folglich bekennt Peter nach Ossakovas Begnadigung, die er als zu hart
empfand: »Ich habe es g e f ü h l t « (ST II, 264).
Bestärkt der Patriarchalismus die hierarchisch-vertikale Struktur zwischen Regie-
rendem und Regierten, so zementiert die Pflicht der Untertanen zum unbedingten
Gehorsam die statische Konzeption von Staat und Gesellschaft. Veränderungen, Ver-
stöße, ja ein Revoltieren des einzelnen gegen diese Ordnung --- sei es politisch oder
moralisch noch so sehr nachvollziehbar --- wird als Pflichtverletzung zurückgewiesen,
denn schon der Ungehorsam eines einzigen kann das ganze Gefüge erschüttern. Stär-
ker noch als durch eine kluge Politik läßt sich --- so Babos Hoffnung --- die Gefahr einer
Revolution durch eine Erziehung des Herzens zur Pflichtbefolgung abwenden, d.h.
durch pädagogisches Einwirken auf die Instanz des Gefühls. In der Hoffnung auf den
Erfolg solcher Maßnahmen erweist sich Babo als Konservativer und skeptischer Auf-
klärer zugleich. Seine Figuren bleiben eingebunden in die Klaviatur eines patriarchali-
58
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
1
Joseph Marius Babo: Gemälde aus dem Leben der Menschen. Hg. v. Jörn Garber. Königstein/Ts.:
Scriptor 1979, S. 305. In Folge zitiert als GM.
2
Der bürgerlich geborene Babo wurde 1791 in den Adelsstand erhoben.
3
Schon bei der Überlieferung von Babos Vornamen gab es Unklarheiten: Während noch
Otto Brahm in seiner Studie Das deutsche Ritterdrama (Strassburg: Trübner 1880, S.
109) für den Vornamen lediglich die Initialen ›F. M.‹ (sic!) mitteilte, korrigierte bereits
die ADB (Berlin: Duncker & Humblodt 1875, Reprint 1967, Bd. 1, S. 726) zu »Joseph
Marius«. Die NDB (Berlin: Duncker & Humblodt 1953, Bd. I, S. 481), die DBE
(Saur: München u.a. 1995, Bd. 1, S. 234) und Bosls Bayerische Biographie (Regens-
burg: Pustet 1983, S. 37) wiederum geben als Vornamen »Joseph Marius Franz« an. Kil-
lys Deutsches Literatur Lexikon (Gütersloh: Bertelsmann 1988, Bd. 1, S. 203) bevor-
zugt im Lemma ›Babo‹ die Schreibweise Josef Marius. Daneben findet sich bisweilen in
der Literatur mit Maria auch die feminisierte Form des zweiten Vornamens. Babo selbst
veröffentlichte die Dramen-Sammlungen Schauspiele (Berlin 1793) und Neue Schau-
spiele (Berlin 1804) unter dem Namen Joseph Marius Babo.
4
Seit der nur maschinenschriftlich vorliegenden Dissertation von Wilhelm Trappl: Jo-
seph Marius Babo (1756-1822). Sein literarisches Schaffen und seine Stellung in der
Zeit (1970) ist keine Monographie über den Autor mehr erschienen. Neuerdings hat
jedoch Peter Höyng in einer sachkundigen Studie zur Theaterzensur im 18. Jahrhun-
dert den Fokus auf die Entstehungshintergründe des Otto von Wittelsbach gelegt. Vgl.
Peter Höyng: Die Sterne, die Zensur und das Vaterland. Geschichte und Theater im
späten 18. Jahrhundert. Köln u.a. Böhlau 2003.
5
Vgl. Goethe Handbuch. Goethe, seine Welt und Zeit in Werk und Wirkung. Hg. v. Al-
fred Zastrau, Bd. 1: Aachen-Farbenlehre. Stuttgart: Metzler ²1961, S. 516.
6
Die biografische Skizze zu Babo orientiert sich an den oben genannten einschlägigen
Lexika. Ungenauigkeiten lassen sich u.a. damit erklären, daß »fast alle Acten über ihn
[…] bei dem Münchener Theaterbrand von 1823 verloren gegangen« sind (ADB, Bd.
1, S. 727).
7
Vgl. Hans Grassl: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesge-
schichte 1765-1785. München: Beck 1968.
59
Jan Roidner
8
Uraufführung: München 1778. Sämtliche Daten zu den Uraufführungen im Folgenden
nach Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier.
München: Beck 2001.
9
Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen
Mythos. Stuttgart: Metzler 1969, S. 111.
10
Laut DBE (Bd. 1, S. 234) ist Babo seit 1778, laut NDB (Bd. 1, S. 481) seit 1781, laut
ADB (Bd. 1, S. 726) erst seit 1784 in München.
11
Uraufführung: Mannheim, 20.4.1778.
12
Uraufführung: München, 10. oder 11.12.1780
13
Uraufführung: München, 23.11.1781
14
Höyng: Sterne (2003), S. 118.
15
Das Schauspiel stand bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts auf dem Spielplan der
deutschen Bühnen und hielt sich damit am längsten von allen Stücken Babos.
16
Man vergleiche den radikalen Wandel dieser Botschaft zur berühmten revolutionären
Devise Georg Büchners und Friedrich Ludwig Weidigs in der Streitschrift Der Hessi-
sche Landbote (1834): »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« markiert dort die Kon-
frontation mit dem System der vom Wiener Kongreß installierten Restauration.
17
Vgl. George I. Brown: Graf Rumford. Das abenteuerliche Leben des Benjamin Thomp-
son. München: dtv 2002, S. 43ff. Sir (seit 1784) Benjamin Thompson, Graf Rumford
(seit 1791) geboren am 26. März 1753 in North Woburn (Mass.), war Chemiker und
Physiker britisch-amerikanischer Herkunft. Anfangs in englischen, ab 1784 in bayeri-
schen Diensten reorganisierte er als Kriegsminister das bayerische Heer. Er gründete
Arbeitshäuser, ließ den Englischen Garten in München anlegen, führte die Kartoffel in
Bayern ein. Als Physiker untersuchte er die Reibungswärme, konstruierte ein Kalorime-
ter und Photometer. Er starb am 21. August 1814 in Auteuil bei Paris.
18
Babo leitete das Theater von 1799 bis 1810.
19
Vgl. Hans Knudsen: Deutsche Theatergeschichte. Stuttgart: Kröner 1959, S. 258.
20
Vgl. Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das
Drama im 18. Jahrhundert. München: Beck 1984, S. 11-61.
21
Aristoteles: Politik, 1259a40-1259b4. Nach der Übersetzung v. Franz Susemihl. Hg. v.
Nelly Tsouyopoulos u. Ernesto Grassi. Reinbek: Rowohlt 1965, S. 31.
22
D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft […], Bd. 3. Hg. v. Hans Volz. München:
dtv 1974, S. 2362.
23
Martin Luther: Vom ehelichen Leben. Hg. v. Dagmar C. G. Lorenz. Stuttgart: Reclam
1978, S. 70.
24
Vgl. die immer noch grundlegende Untersuchung von Otto Brunner: Das ›Ganze Haus‹
und die alteuropäische Ökonomik. In: Ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozial-
geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht ²1968, S. 103-127.
25
Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Men-
schen. Die fünfte Auflage. Frankfurt/M., Leipzig: Renger 1740, § 195.
26
Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon […]. Halle, Leipzig:
60
Joseph Marius Babos scheiternde Rebellen
61
Jan Roidner
62
II.
The apparent societal satire that Kotzebue develops of the provincial popula-
tion of Krähwinkel in Die deutschen Kleinstädter is juxtaposed with the en-
lightened values that the Residenz represents. Far from considering Krähwin-
kel merely as an anti-revolutionary statement against the arbitrary exertion of
titular power, the Lustspiel’s serious concern is to depict the realism of socie-
tal malfunctioning, as well as the hope that the Staar family’s (and Krähwin-
kel’s) narrowmindedness may be overcome in due course.
August von Kotzebue, one of the most successful playwrights of his time, was a widely
translated author whose Lovers’ Vows,1 for instance, were read by Jane Austen’s com-
pany at Mansfield Park.2 His most popular theatrical production, however, is, without
any doubt, Die Deutschen Kleinstädter, which was published and performed in
1803.3 One of the reasons why the play was received so positively by its original audi-
ence consists in the fact that Kotzebue was using the then extremely fashionable genre
of the Lustspiel, exploiting the »transsubjektive Partnerschaft«4 between the play and
the audience:
Er [der Zuschauer] wird in die Rolle des Beobachters vesetzt, des urteilenden Be-
obachters. Er soll durchschauen oder zumindest den Verdacht erhalten, daß dort
auf der Bühne im Verhalten der agierenden Figuren zueinander, in ihren Hand-
lungen, Meinungen und Reaktionen etwas nicht stimmt und er soll zugleich
durch diese Distanz in einer heiteren Unbetroffenheit und Überlegenheit bleiben.
Der andere Pol ziehlt darauf, was auf der Bühne und zwischen den agierenden
Personen geschieht, soll den Zuschauer betroffen machen; er soll an dem Spiel,
dessen Verwicklungen und Täuschungen teilnehmen und sich mit diesen Figuren,
Vorgängen, Konflikten auf eine ernsthafte Weise identifizieren.5
Yet, a mere identification with the conflicts that are introduced by the actors or a sym-
pathetic concern (on the part of the audience) for the nature of the predicaments illus-
trated does not fulfil the didactic intention nor does it do justice to the realism of
Kotzebue’s Lustspiel.
Sandro Jung
66
August von Kotzebue's Realism and Societal Satire
in Kotzebues Lustspielen [erlebt] das Publikum ein Relativieren aller Moral, aber
auch aller Unmoral, des Ernstes, aber auch des Scherzens (der in Ernst umschla-
gen kann) […], das dem Bedürfnis des einzelnen Bürgers entspricht, der als Teil
seiner ökonomischen Privatkarriere die Bereitschaft entwickeln muß, umstandslos
seine Moralwerte umzukrempeln, wenn er seine Klassensolidarität aufheben
will.18
Rather than providing a biting satire of the society that is represented by Krähwinkel
and its inhabitants, however, the author pays (apparent) homage to such characters as
the town’s mayor by humouring him, superficially acknowledging his authority and
importance, but, at the same time, by exaggerating this deference to such an extent of
ridiculous willingness to conform to the standards of the inhabitants of the town that
the inevitable result is the discrediting of a society whose central representatives are
guided by Quixotic notions of vain self-importance and unjustified titular pride. Un-
like other plays by Kotzebue, this »Lustspiel enthält keine rührenden Elemente, es ist
nicht nach dem Vorbild des comédie larmoyante gebaut, sondern durchgängig ko-
misch und satirisch«.19
However, it must be borne in mind that Kotzebue does not reject the idea of a
bourgeoisie per se; rather, he singles out a prominent group within the bourgeoisie
whose members are not content with the status that they have acquired but who as-
pire to a higher sphere, imitating blindly, yet not appropriating sensibly, the manners
of the aristocracy. As Maurer notes, »Kotzebue verspottet mit den ›Deutschen Klein-
städtern‹ die Spezies der Spießbürger in all ihrer Borniertheit und ihrer kleinkarierten
Lebensweise«.20 In so doing, the author inverts the traditional critique of the aristoc-
racy, the numerous complaints the rising middle classes expressed in the disparity of
fortune and wealth, social status, individuality and liberty, by transferring all the for-
mer evils and pride associated with the aristocracy onto the inhabitants of Krähwinkel.
Although it is easy to mistake the seriousness of Kotzebue’s critique of societal mal-
functioning in Krähwinkel, he deals with questions and problems that are larger than
the contexts of Krähwinkel or the Residenz. Fritz Martini, defining the Lustspiel,
emphasises that »es ist der Weltstoff, aus dem es [das Lustspiel] mit allen seinen satiri-
schen und ironischen, also kritischen, mit seinen komisch-heiteren, also befreienden
und mit seinen utopischen Implikationen auffüllt«.21
While urbanity and urban decadence have traditionally been attacked by critics
who favoured the pedestrian harmony of a country town or --- even better --- a village as
centre of simplicity and innocence, Kotzebue inverts this traditional constellation by
projecting the complaints associated with the corruption, disharmony and public
character of city life (Residenz) onto the rather unenlightened town of Krähwinkel. In
that sense, »[i]n den ›Deutschen Kleinstädtern‹ [...] erscheint die Residenz als ein Ort,
67
Sandro Jung
der --- im Gegensatz zu Krähwinkel --- frei ist von Kleinkariertheit und gesellschaftli-
chen Zwängen«.22 This essay focuses on the satirical representation that Kotzebue pro-
vides of the town life of Krähwinkel, as well as on the depiction of the ›other‹ (intro-
duced by Olmers and the Residenz), and it considers at the same time the realism and
didactic import that inform the writer’s Lustspiel.
68
August von Kotzebue's Realism and Societal Satire
69
Sandro Jung
70
August von Kotzebue's Realism and Societal Satire
taries, as well as an anticipated court case of twenty years’ duration to punish the un-
willingness to remove excrement from the street. On escaping from her nine-year con-
finement, the cow thief is suddenly demonized as a witch who, if caught, ought to be
burnt at the stake. Read against the background of the French Revolution, the Resi-
denz has become enlightened and has rejected these ceremonial demonstrations of ar-
bitrary power and control while the less accessible provincial towns were able to adopt
or retain the structures formerly characteristic of the Residenz. Krähwinkel, on the
other hand, especially in its legal practice of detaining the cow thief is strongly remi-
niscent of the arbitrary exertion of power that was so characteristic of the terreur of
the Revolution.
Sabine’s way out of the dilemma of having her passion for Olmers discovered ad-
dresses her grandmother’s recognition of superficial and meaningless signs of status
and rank. In that respect, the portrait of Olmers is translated into a portrait of the
king who the grandmother --- due to her never having left the town --- has never be-
held. But even the king’s supposed image is subjected to the superficial scrutiny of the
old dame in that she complains: »Aber er hat ja keinen Stern?« (I, iv, p. 9). She
thereby indicates that it is not sufficient (even for the king) to command a certain
status but insists that this rank should be displayed by means of a star, a crown or a
medal. While, in her long harangue, Mrs Staar had argued for restraining the wish for
possessing the images of men --- other than portraits that could be displayed publicly ---
she decides to wear Olmers’s picture as a special symbol of her regard for the king,
but, more importantly, as an explicit manifestation of her own importance. Addres-
sing Sabine, she delights in noting: »Ich will es an eine Zitternadel befestigen, und auf
meine Haube stecken« (I, iv, p. 10). This portrait adds to the status of the grand-
mother and is symbolically turned into a crown, publicly confirming her status and
her reverence for the king, thereby establishing a relationship between the king and
herself which, in reality, does not exist. Mrs Staar, however, offers to lend the portrait
to her granddaughter on her engagement with Mr Sperling.
Sabine expresses her unwillingness to be engaged to Mr Sperling and explains her
aversion to him on grounds of his unpleasant person: »Ich kann den Herrn Sperling
nicht ausstehn. Er hängt sich an wie eine Klette, und schwatzt wie eine Elster --- und
kurz, er ist ein Narr« (I, iv, p. 10). The grandmother, though, is untouched by Sa-
bine’s reservations against Sperling but mentions his title in favour of him. The rather
ridiculous title of »Bau-, Berg- und Weginspectors-Substitut«, in Mrs Staar’s opinion,
entitles him to marry her granddaughter. Personal qualities are neglected in favour of
his non-meaning and undeserved qualification of having a title. On being informed by
his mother that Sabine is unwilling to marry Sperling, the mayor of Krähwinkel, Sa-
bine’s father, pompously states: »ich bin Bürgermeister, auch Oberältester, mir macht
71
Sandro Jung
man keine Einwendungen« (I, vii, p. 14), thereby not even granting his daughter the
right to articulate her reluctance but, on the contrary, demanding absolute and un-
questioning obedience.
The mayor’s self-importance knows no bounds, and when he receives the minis-
ter’s letter that Olmers forwards to him, proudly speaks of the minister as the »hohen
Gönner und Patron dieser Stadt«, and continues: »Se. Excellenz haben mich immer
geliebt« (I, ix, p. 16). When he learns that the minister recommends Olmers to him,
since Olmers intends to stay in Krähwinkel, he self-confidently asserts that »in der
Residenz sprechen sie von nichts, als von mir und unserer Stadt« (I, ix, p. 16). The
mayor, in focusing on his own town, diverts any attention from the Residenz and its
administrative powers. When the minister lets him know that he wants Staar to treat
Olmers as if he were his own son, and concludes his letter by saying that he is the
mayor’s »Dienstwilliger« who will take any future opportunity of serving the mayor,
Staar condescendingly addresses his family by saying: »Das ist ein Mann! Kinder, das
ist ein Mann! der könnte alle Tage Bürgermeister in Krähwinkel werden« (I, ix, p.
17). Schumacher interprets the extreme alienation of the titled inhabitants of Kräh-
winkel as a means of illustrating Kotzebue’s »platte[…] Verzweiflung an seiner Zeit«.25
Kotzebue’s Die deutschen Kleinstädter »besteht als negatives Abbild einer Gesell-
schaft, die […] ihr Zentrum verloren hat und sich mit leeren Formeln, in gleichgültig
witzigen Situationen umeinanderdreht«.26 What Schumacher terms the »grotesken
Züge«27 of Kotzebue’s Lustspiel should not only be understood as the author’s attempt
at providing an amusing satire on the society of Krähwinkel. Rather, this blatant satire
attacks an illusion some elements of which had also corrupted the society of the
dramatist’s own society in Germany. In that respect, the satire that he is illustrating on
the basis of Krähwinkel may also be a response to the reality of his disagreements with
the Schlegel brothers, especially A. W. Schlegel, which was also reflected in the for-
mer’s preference of Weimar and Goethe over Jena and its early Romanticism.
Mrs Staar applauds her son’s self-importance but reprimands him for recommend-
ing himself to Olmers in terms that, to her, appear too low for his rank:
FRAU STAAR. Aber das gefällt mir nicht, mein Sohn, daß du dem Fremden deinen
unterthänigsten Respect hast vermelden lassen. Das ist zu viel.
BÜRGERMEISTER. Zu viel? ist er nicht der Freund des Herrn Grafen? und ist der
Herr Graf nicht mein Dienstwilliger?
FRAU STAAR. Alles gut, aber er ist doch nun einmal gar nichts, hat weder Titel
noch Amt, Herr Olmers schlechtweg. Du bist Bürgermeister, auch Ober-
ältester. (I, ix, p. 17)
72
August von Kotzebue's Realism and Societal Satire
The mayor’s brother, however, points out that the minister would never bother to rec-
ommend Olmers if the latter did not have the merit of both title and office, conclud-
ing therefore that Olmers must be travelling incognito.
Inspired by his brother’s conjecture, the mayor is convinced that Olmers must be
a high dignitary who visits Krähwinkel in order to admire the various curiosities that
are mentioned by Sabine’s family in support of the supposed importance of the town:
BÜRGERMEISTER. Fehlt es uns an Merkwürdigkeiten? Das alte Rathaus! 1430 ist
es erbaut worden. Auf dem großen Saale hat ein Hussitengeneral dem dama-
ligen Bürgermeister eine Ohrfeige gegeben.
HERR STAAR. Und die Walfischrippe an der Decke –
BÜRGERMEISTER. Und die Stadtuhr, wo der Hahn kräht, und der Apostel Petrus
mit dem Kopfe nickt.
FRAU STAAR. Und unsere Leinwandbleiche –
HERR STAAR. Und das große Hirschgeweih –
BÜRGERMEISTER. Ein Pommerscher Herzog hat den Hirsch höchst eigenhändig
erlegt.
FRAU STAAR. Vielleicht kommt er auch wegen der Tuchfabriken?
BÜRGERMEISTER. Possen! ein solcher Herr hat in seinem Leben genug Tuch gese-
hen.
FRAU STAAR. Meinen Cichoriencaffe soll er bewundern.
HERR STAAR. Ein gutes Buch dabey aus meiner Lesebibliothek.
BÜRGERMEISTER. Oder die merkwürdigsten Acten, welche vor einem Hochlöbli-
chen Rathe verhandelt worden. (I, x, pp. 18-19)
The ridiculous character of Krähwinkel is confirmed by the family’s enumeration of
trivial objects such as the ever-so-singular town clock, the books of Mr Staar’s circulat-
ing library, as well as the coffee on which the mayor’s mother prides herself so much.
When Olmers is introduced to the company present in the Staar household, the
mayor exuberantly welcomes Olmers in biblical terms: »Heil ist meinem Haus wider-
fahren! Heil der guten Stadt Krähwinkel« (II, i, p. 29). This extravagant welcome,
however, changes into the general disapprobation of Olmers’s apparent impoliteness
and unwillingness to acknowledge the titled ranks of those that welcomed him. Once
he has left their company, they break forth in their complaints against his behaviour.
Mrs Staar, in particular, feels offended by his addressing her (in her opinion, not very
courteously) as »Madam« and notes: »Mein Sohn hat ihm deutlich genug gesagt: Frau
Untersteuereinnehmerin; und dennoch hat er mich recht unverschämterweise zur
Madam gemacht« (II, iii, p. 33). Shortly after, however, she remembers to have seen
Olmers before and, referring to the picture that she took from Sabine, identifies them
to be »Se. allerglorreichste Majestät«. Full of consternation, she changes her tone and
remarks: »Ja, nun will auch ich in Gottes Namen eine Madam seyn! Der König mag
73
Sandro Jung
mich Madam nennen, so viel er will! --- Horch? Da oben geht er auf und nieder --- man
hört es doch gleich, es ist ein königlicher Schritt! --- Wenn ich nur von der Stelle könn-
te --- wenn nur mein Sohn erst wußte --- das er nicht gegen den Respect manquirt« (II,
iv, p. 34). Rather than being genuine in her reverence for the king as the head of state,
she is merely concerned for her son’s career and the advantages that the king may con-
fer. Despite being aware of her own rank and station she is willing to mortify herself
before the king by recognising his superiority of rank and title.
After Mrs Staar has informed all members of the family of what she supposes to
be the true identity of Olmers, a farcical scene ensues in which Mrs Staar and the
mayor, in particular, express their gratitude at being able to serve the king. Notwith-
standing Olmers’s protestations that he is not the king, his complaints are not re-
garded. This behaviour, once again, illustrates that the population of Krähwinkel is
not prepared to accept anything that is not in accordance with the views of self-
importance to which they have become accustomed over the years. This order, which
Olmers earlier in Act II had termed the »alte […] Ordnung« (II, ii, p. 30), as well as
»die Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung«,28 while confirming superficially
the respect they owe to superiors, nevertheless emphasise the inhabitants’ self-
importance by ignoring Olmers’s protestations of not being the king. After being un-
deceived with regard to Olmers’s not being the king, Mrs Staar is offended again
when, after she assigned a place of honour to Olmers at the table, he declines this
place of honour and prefers the company of Sabine. The first scene of the third act is a
soliloquy in which Mrs Staar gives voice to her indignation:
Nein, so etwas dergleichen von Ungezogenheit ist mir noch nicht vorgekommen.
Sind das die feinen Sitten in der Residenz? Gott behüte und bewahre! --- Von der
Madam will ich gar nichts mehr reden, denn die liegt mir schon tief im Magen.
Aber --- ich weise ihm den Ehrenplatz an zwischen zwey respectablen alten Frauen,
was thut er? Er läßt sie sitzen wie ein paar Wachsbilder in der Jahrmarktsbude,
und planzt sich mitten unter das junge Volk! --- Ey!ey!ey --- Nein, da lob’ ich mir
den Herrn Bau-, Berg- und Weginspectors-Substituten! das ist noch ein Männ-
gen! Gallant und scharmant, gebiegelt und geschniegelt. (III, i, p. 44)
All her admonitions and complaints are to the effect that he had better observed the
manners of his hosts to behave more appropriately. Consequently: »Was Lebensart
heißt, muß er erst in Krähwinkel lernen« (II, iii, p. 33). Mr Staar even goes so far as to
say that »[w]eil er selbst keinen Titel hat, so giebt er auch keinem Menschen seine ge-
bührende Ehre« (III, iii, p. 47).
Sabine defends her hero, arguing that in the Residenz the recognition of and ad-
herence as well as deference to forms and titles was generally unpractised: »Der Titel
bedient man sich bloß im Amte, im geselligen Leben würden sie nur die Freude ver-
74
August von Kotzebue's Realism and Societal Satire
scheuchen. Kurz, ein guter Wirt sucht Alles zu entfernen, was die Behaglichkeit seiner
Gäste stören könnte« (III, vi, p. 49). This view of the Residenz is in stark contradic-
tion to what the inhabitants of the town have imagined it to be; therefore they are
shocked and compare the Residenz to a »Dorfschenke«. The Residenz, according to
Sabine, is devoid of their superficial formalism but nevertheless seems to have retained
(if not cultivated) the pre-French Revolution courtly culture that did not respect any-
body untitled or without property.
Very straightforwardly and, in their view, equally offensively (dispensing with the
forms that the inhabitants of Krähwinkel consider as so essential) Olmers asks the
mayor’s consent to marry Sabine, stressing: »Als ein ehrlicher Mann hab’ ich meine
Anwerbung in wenig Worten ohne Schminke vorgetragen« (III, vi, p. 51). He expects
an equally frank answer but is disappointed when he is informed by the mayor that a
family council has to be called where the matter will be decided. One of Sabine’s rela-
tions points out that »[d]ie Heirathen nach der Residenz gedeihen nicht allzuwohl«
(III, ix, p. 54), referring to the town secretary’s daughter. Olmers summarises his mis-
fortune of falling in love with a town (or country) girl by saying:
Man ist wahrhaftig übel daran, wenn man sein ganzes Leben in einer großen Re-
sidenz zugebracht hat. Führt einen der Zufall dann in eine kleine Stadt, so steht er
da wie eine Eule auf der Stange; die Krähen flattern rings umher und ärgern sich
über den Fremdling. (III, xii, p. 59)
Aware that the family assembly would by no means decide in his favour, he laments
his lot and his having spent most of his life in the presumably enlightened urban con-
text of the Residenz. The catastrophe, as well as turning-point of the Lustspiel, is in-
troduced when the female thief who had stolen a cow, and whose trial had been de-
layed for nine years, escapes and leaves the mayor in the predicament of having to ex-
plain this matter to his superiors in the Residenz.
BÜRGERMEISTER. […] Aber was wird man in der Residenz dazu sagen?
HERR STAAR. Keine Ordnung wird es heißen.
BÜRGERMEISTER. Keine Vorsicht, keine Wachsamkeit.
HERR STAAR. Der Minister wird außer sich seyn.
BÜRGERMEISTER. Der König in Zorn gerathen.
HERR STAAR. Der Herr Bruder wird abgesetzt.
BURGERMEISTER. Und der Herr Bruder kommt ins Zuchthaus. (IV, xi, p. 78)
Full of anxiety, his imagination paints the worst consequences and, above all, the loss
of his rank and title, in such terms that he alarms his whole family whom he impli-
cates as having been, in some respect or another, responsible for the thief’s flight.
Olmers, on learning about the mayor’s plight, offers to intercede on the latter’s behalf
75
Sandro Jung
and reveals at the same time that he actually possesses a title. He is thereby able not
only to save the fame and honour of Krähwinkel but also rescues the mayor from the
personal disgrace that he thinks he would inevitably have to face. The mayor makes
his consent to Olmers’s marrying Sabine contingent on Olmers’s resolving the matter
of the escaped cow thief. The final decision about the consent to marry is referred to
Mrs Staar. Olmers addresses her in terms of the titular flattery so essential to move the
old lady’s vanity, and succeeds in convincing her that she has got an interest in admit-
ting her into her family. She even acknowledges that Olmers’s association with the
family would be a great honour to the Staar community. The mayor’s method of con-
vincing his mother of the advantages gained from the marriage turn from mentioning
Olmers’s financial independence to revealing that he actually has got a title:
BÜRGERMEISTER. Der Herr hat Geld –
FRAU STAAR. Ist Nummero zwey.
HERR STAAR. Und Verdienste –
FRAU STAAR. Ist Nummero drey.
BÜRGERMEISTER. Er hat auch einen feinen Titel.
FRAU STAAR. Einen Titel? Wie? Was hat er denn für einen Titel? (IV, xii, p. 81)
In the end it is the fact that Olmers is a »Geheimde-Commisionsrath« which con-
vinces the grandmother that she must not withhold her consent from accepting him
into her family, not because she considers him for his own sake but because she hopes
to heighten her own sense of self-importance through his title.
3. Conclusion
Although the Lustspiel culminates in a happy ending in which the Staar family’s per-
mission is granted to Olmers to marry Sabine, this happy ending can only take place
through Olmers’s making the concession of adopting the style of flattery that is so
important to the society of Krähwinkel. It is not his frank style that secures his happi-
ness but his dissembling and disguise by means of formalism and the »ehrbare[…]
Ceremoniel« that make him succeed in obtaining the family’s consent to marry Sa-
bine. At the same time, Kotzebue’s play represents the inevitability of change since, al-
though forced by the very contradictions of their behaviour, the Staar family cannot
refuse to give the consent for Sabine’s marriage that Olmers is soliciting. In that re-
spect, he is hopeful that in due course society will reform and become somewhat more
enlightened. Also, the town’s librarian, Herr Staar, through his library holdings of
books on robbers, enables the cow thief to escape from her prison. His Romantic sto-
ries of robbers, therefore, not only represent a fashion but a trend that connects
Krähwinkel with the ›other‹. Merely reading the play as an anti-revolutionary stance,
76
August von Kotzebue's Realism and Societal Satire
for that reason, means to misunderstand the society of Krähwinkel as well as Olmers
as inevitably unchangeable. Ultimately the rise of the bourgeoisie will entail the indi-
vidualism so characteristic of the rise of the middle classes in Europe, and it will neces-
sitate --- albeit initially forcefully --- to change opinions, habits and attitudes.
Therefore, »the Gordian knot« is severed, and a more or less accepting attitude
towards people from outside of the Krähwinkel society of »sonorous titles«29 which
will be introduced in the follow-up Lustspiele by Kotzebue, Carolus Magnus and Des
Esels Schatten is prepared. At the same time, Mrs Staar’s character is inconsistent and
seems to have made a compromise by her accepting Olmers despite the various reser-
vations and objections that she had previously uttered against Sabine’s lover. In that
respect, Kotzebue’s Lustpiel, unlike Romantic German comedy, is, in Schumacher’s
words, not a »Spiel der Sprache der Konvention« which has lost »den widerständigen
Boden der Realität unter den Füßen«.30 Kotzebue’s societal satire, although exaggera-
ted beyond any measure, attacks the realism of »laxer Zeitgeist«.31
While criticism of Die deutschen Kleinstädter has exclusively focussed on the co-
mic and grotesque features of Kotzebue’s Lustspiel, it has been overlooked that his re-
presentation of Krähwinkel not only attacks the aspiring provincial culture that is re-
presented by the Staar family, but Kotzebue at the same time articulates an implicit
criticism of the Residenz which is not considered as the example of an enlightened
eighteenth-century city founded on rationalist principles and ideals. Rather, the ›over-
done‹ liberalism of the urban context that is here represented by the Residenz through
its explicit juxtaposition with Krähwinkel is censured, while Kotzebue, adhering to the
didactic intention of satire, seems to argue for a balanced concept of urban society that
avoids the extreme formalism of politesse as well as the excessive liberalism that the
inhabitants of Krähwinkel associate with and Sabine attributes to the city.
Kotzebue’s production, as Otto C. A. zur Nedden points out, has got a national
dimension to it, too, since the author satirically highlights a »typisch deutsche Eigen-
schaft, die Freude an Titeln und die Unterwürfigkeit ihren Trägern gegenüber«.32
This stereotypical representation of both Krähwinkel and the Residenz is in clear con-
trast to the »sentimentale[…] Familien- und Sittengemälde, die sich in der Gestaltung
und Ideengehalt stärker an das Vorbild Schröders und Ifflands annehmen«, and which
invert the picture given by the dichotomy of Krähwinkel and the Residenz by means
of an equally unbalanced critique of the »negativen Einflüsse[…] des höfischen Adels
und der Residenzen«.33 This type of critique he had used, like Wieland or Tieck, in
his earlier dramas. According to Klingenberg, »Die Darstellung widerspricht […] völ-
lig der sonst beim Autor üblichen Gegenüberstellung ländlicher Idylle mit der Ver-
derbtheit und Unnatur der Residenz in seinen Rührstücken«.34 The enduring popular-
ity of Kotzebue’s play indicates, however, that the realism that he portrayed was re-
77
Sandro Jung
sponded to by the complex variety of members of the audience which comprised aris-
tocrats, the bourgeoisie as well as (labouring) country people who found various
means of becoming familiar with the play.
What Frithjof Stock, in that regard, terms »Liebhabertheater«35 would, in an aris-
tocratic context, have been closet drama. Stock’s term, however, is used to blur the
distinction between professional and private (as well as amateur) performances. These
various ways of performing the Lustspiel contributed to disseminating the play which
some interpreted as satire and burlesque, others as realism however. In any case, the
play was a contribution to what Benno von Wiese terms the »Überbrückung der Stan-
desgegensätze«.36 In that respect, Kotzebue’s use of the genre of the Lustspiel is not
void of the element of ›docere‹ but takes good care to appeal to a wide audience by not
articulating a biting satire. Instead, he uses ridicule and exaggeration as effective means
to question the societal maxims introduced in Die deutschen Kleinstädter and encou-
rages the reader not to straightforward reform but a more open-minded attitude to-
wards the ›other‹.
1
Kotzebue’s Das Kind der Liebe was translated by Elizabeth Inchbald as Lovers’ Vows in
1798.
2
See Stephen Derry and Peter Miles: Kotzebue Unbound: Manfield Park, the Play-Book
and the ›Jacobinical‹, Trivium, 29-30 (1997), pp. 257-63; Syndy McMillen Conger:
Reading Lovers’ Vows: Jane Austen’s Reflections on English Sense and German Sensi-
bility, Studies in Philology, 85:1 (1988), pp. 93-113 as well as L. F. Thomson: Kotze-
bue: A Survey of his Progress in France and England, preceded by a Consideration of
the Critical Attitude to him in Germany. Paris: Champion 1928.
3
All references to the play are to the following edition of the text: August von Kotzebue:
Die Deutschen Kleinstädter. Ein Lustspiel in vier Akten 1803. Text und Materialien zur
Interpretation besorgt von Hans Schumacher. Berlin: Walter de Gruyter 1964. This edi-
tion will be used, and references will be given parenthetically by act, scene and page
number in the text. Few critical studies are dedicated to Kotzebue’s Die deutschen
Kleinstädter. See, for instance, Peter Putz: Zwei Krähwinkeliaden 1802/1848. Kotze-
bue: Die deutschen Kleinstädter. Nestroy: Freiheit in Krähwinkel. In: Die Deutsche
Komödie: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ed. by Walter Hinck. Düsseldorf: Au-
gust Bagel 1977, pp. 175-194; Karl-Heinz Klingenberg: Iffland und Kotzebue als Dra-
matiker. Weimar: Arion 1962; Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück. Analekten
zum Zusammenhang von Sentimentalität mit Autorität in der trivialen Dramatik
Schröders, Ifflands, Kotzebues und anderer Autoren am Ende des 18. Jahrhunderts.
Stuttgart: Metzler 1969; Oscar Mandel: August von Kotzebue. The comedy, the man.
78
August von Kotzebue's Realism and Societal Satire
University Park: Pennsylvania State University Press 1990, as well as Erich Zdenek: Die
Problemgestaltung in Kotzebues dramatischem Werk als soziologische Ursache für des-
sen Erfolg. Vienna doctoral dissertation, 1949.
4
Fritz Martini: Lustspiele --- und das Lustspiel. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1974, p. 14.
On the poetics of the Lustspiel, see also Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel: Von
der Aufklärung bis zur Romantik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982,
pp. 110-192. See also Markus Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit, 1780-1805.
Produktion und Rezeption. Bonn: Bouvier 1982.
5
Martini: Lustspiele (1974), p. 16.
6
Karl Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-
sellschaft 1964, p. 210.
7
Holl: Geschichte (1964), p. 209.
8
Holl: Geschichte (1964), p. 210.
9
Otto Mann: Geschichte des deutschen Dramas. Stuttgart: Alfred Kröner 1963, p. 316.
10
Klingenberg: Iffland (1962), p. 140.
11
Leif Ludwig Albertsen: Internationaler Zeitfaktor Kotzebue: Trivialisierung oder sinn-
volle Entliterarisierung und Entmoralisierung des strebenden Bürgers im Frühliberalis-
mus. In: Sprachkunst: Beiträge zur Literaturwissenschaft 9 (1978), pp. 220-240; here p.
224.
12
Albertsen: Zeitfaktor (1978), p. 224.
13
Karl S. Guthke: Das bürgerliche Drama des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts. In:
Handbuch des deutschen Dramas. Ed. by Walter Hinck. Düsseldorf: Bagel 1980, pp.
76-92, here p. 91.
14
Albertson: Zeitfaktor (1978), p. 226.
15
Albertsen: Zeitfaktor (1978), p. 226.
16
Doris Maurer, August von Kotzebue: Ursachen seines Erfolges. Konstante Elemente der
unterhaltenden Dramatik. Bonn: Bouvier 1979, p. 133.
17
Albertsen: Zeitfaktor (1978), p. 232.
18
Albertsen: Zeitfaktor (1978), p. 238.
19
Maurer: Kotzebue (1979), p. 130.
20
Maurer: Kotzebue (1979), p. 130.
21
Martini: Lustspiele (1974), p. 15.
22
Maurer: Kotzebue (1979), p. 129.
23
Hans Schumacher: Materialien zum Verständnis des Textes. In: Kotzebue: Kleinstädter
(1964), pp. 84-110, here p. 103.
24
Maurer: Kotzebue (1979), pp. 129-30.
25
Schumacher: Materialien (1964), p. 95.
26
Schumacher: Materialien (1964), p. 96.
27
Schumacher: Materialien (1964), p. 96.
28
Schumacher: Materialien (1964), p. 103.
29
Albert William Holzmann: Family Relationships in the Dramas of August von Kotze-
bue. Princeton: Princeton University Press 1935, p. 22, p. 23.
79
Sandro Jung
30
Schumacher: Materialien (1964), p. 92. See also R. L. Kahn: Kotzebue’s Treatment of
Social Problems. in Studies in Philology, 1952, pp. 631-42.
31
Schumacher: Materialien (1964), p. 92.
32
Otto C. A. zur Nedden: Nachwort. In: August von Kotzebue: Die deutschen Kleinstäd-
ter, mit einem Nachwort von Otto C. A. zur Nedden. Stuttgart: Philipp Reclam Jun.
1963, pp. 79-87, here p. 87.
33
Klingenberg: Iffland (1962), p. 222.
34
Klingenberg: Iffland (1962), p. 134.
35
Frithjof Stock: Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit. Polemik, Kritik, Publi-
kum. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag, 1971, p. 153, mentions Kotzebue’s
Almanach dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande as evidence
that the labouring class were also familiar with Kotzebue’s productions. For a more gen-
eral discussion of the constitution of Kotzebue’s audience, see Stock: Kotzebue (1971),
pp. 133-58.
36
Benno von Wiese: Einführung. In: August von Kotzebue: Schauspiele. Mit einer Ein-
führung von Benno von Wiese. Herausgegeben und kommentiert von Jürg Mathes.
Frankfurt/M.: Athenäum 1972, pp. 7-39, here p. 13. Wiese also notes that the various
appeal of Die deutschen Kleinstädter is due to the »kaleidoskophafte Bewegung« of Kot-
zebue’s text, for: »An Kotzebue läßt sich lernen, welche Wunschvorstellungen das bür-
gerliche und adlige Publikum des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhun-
derts gehabt hat« (p. 13).
80
Johannes Birgfeld
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
Das Unterhaltungstheater als Reflexionsmedium
von Modernisierungsprozessen
This paper explores the thesis that the popular theatre (Unterhaltungsthea-
ter) of the late eighteenth century may not only have mirrored, but also
contributed to the political and social discourse of the period. At the same
time, it is concerned to find ways of avoiding a danger often encountered
when texts are approached from the angle of social history or cultural stud-
ies: that of reducing works of literature to the status of mere historical
documents. In the case of the popular theatre of around 1800, it appears
that the best way to arrive at a proper appreciation of the peculiar aesthetic
qualities of particular texts is to trace the development of an »aesthetics of
professionalism«. These hypotheses will be tested in the paper by means of
an exemplary analysis of Friedrich Ludwig Schröder’s Die Heurath durch
ein Wochenblatt (1784/86)
82
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
sei. Damit aber ist Hahn alles andere als das Ergebnis einer simplen Parodie eines
Revolutionärs. In dieser Figurenkonzeption kulminieren und spiegeln sich stattdes-
sen mehrere zeitgenössische Debatten zugleich: Spätestens seit den 1770er Jahren
etablieren sich Wochen- und Monatsschriften als Forum für die Erörterung politi-
scher und sozialer Zustände. Und seit in der französischen Nationalversammlung
die große Bedeutung aufklärerischer Philosophen für die Revolution betont wird
und seit in Deutschland Schriftsteller den Umsturz in Frankreich feiern, verdichtet
sich auch hier die Vorstellung vom Schriftsteller als »ernstzunehmende[m] und
möglicherweise gefährliche[m] politische[m] Faktor«4. In den frühen 1790er Jah-
ren, parallel zu den Kokarden, entspinnt sich eine lebhafte publizistische Debatte
über den realen und potentiellen Anteil der Literaten als Journalisten und Dichter
am Aufkommen revolutionärer Bewegungen. Die Auffassungen sind, wie über die
Revolution selbst, geteilt. Debattiert man einerseits über die hohe »Anfälligkeit der
›Gelehrten‹ für politische Neuerung« (L 124), wird zugleich staatlicherseits eine
massive Verschärfung der Zensur vollzogen.
Ifflands Erfindung des Magisters Hahn als Hauptträger der Revolution in den
Kokarden ebenso wie die vom Stück vermittelte Warnung vor einer allzu großen
Pressefreiheit und vor der politischen Gefährlichkeit der Dichter angesichts leicht
verführbarer Untertanen ist daher ganz dezidiert weder ein Akt trivialen Theaters
noch Ausdruck eines Bemühens, das Politische durch Privatisierung zu entschär-
fen. Martens’ Analyse vermag vielmehr vor Augen zu führen, dass Iffland als Un-
terhaltungsautor, als der er sich immer begriffen hat, zugleich ein äußerst genauer
Beobachter seiner Zeit war, der durchaus die Ambition hatte, mit seinem Theater
am gesellschaftlichen Diskurs der Zeit zu partizipieren. Statt sich vor den politi-
schen Herausforderungen zu verstecken, thematisiert Iffland sie auf der Bühne im
Medium einer Figur, die nicht als Reflex einer einzigen, sondern einer Vielzahl von
Debatten zu begreifen ist und damit die Komplexität der Zeit mehr spiegelt, als
sie, wie vom Unterhaltungstheater so gerne behauptet, zu reduzieren.
Ein großes Verdienst von Martens’ Analyse besteht daher darin, den Verdacht
genährt zu haben, nicht allein Ifflands Kokarden, sondern auch andere Unterhal-
tungsstücke könnten sich als Spiegel und Teilnehmer des politischen und allge-
meiner: gesellschaftlichen Diskurses profiliert haben, ohne dabei trivial zu sein, nur
weil sie ästhetisch weniger avanciert waren als jene Stücke, die diesem Genre nicht
zugerechnet werden. Denn wie der Fall von Ifflands Kokarden zeigt, bedeutet we-
der die konservative Grundüberzeugung eines Autors (Iffland) noch das Begehren,
ein breites Publikum zu interessieren und zu unterhalten, dass Unterhaltungsstük-
ke sich allein in der Reproduktion immer gleicher Handlungsmuster und
-lösungen unter Ausblendung der Herausforderungen einer sich wandelnden
83
Johannes Birgfeld
84
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
ner Vorwurf besondere Aufmerksamkeit, der schon oft erhoben und auch von
Lauber und Huber wiederholt wurde, wonach sozialgeschichtlich geprägte Text-
analysen den »Eigensinn literarischer Texte, ihre Autonomie«10 nicht genügend be-
rücksichtigten.
Dieser Vorwurf ist vor allem deshalb von hoher Relevanz, weil er nicht allein
die Sozialgeschichte der Literatur, sondern ebenso die --- heute bei der Neukonzep-
tualisierung der Literaturwissenschaft so oft genannten --- kulturwissenschaftlichen
Zugänge zur Literatur betrifft. Dabei ist die Gefahr, Texte zum bloßen Dokument
kultureller Prozesse und als Zeugnis von Diskursen zu betrachten, dort besonders
groß, wo Texte zum Analysegegenstand werden, die von vornherein als ästhetisch
minderwertig eingestuft werden. An Flugblätter oder Werbetexte etwa wäre da zu
denken, ebenso wie an die Stücke des Unterhaltungstheaters. Zweifellos aber ge-
hört es zur Verantwortung der literaturwissenschaftlichen Erforschung dieser Gen-
res, ihnen auch mit Blick auf ihren ästhetischen Eigensinn gerecht zu werden.
Die in den letzten Jahrzehnten erfolgten Nobilitierungsversuche der Unterhal-
tungsliteratur allerdings haben häufig die ästhetische Dimension der behandelten
Texte ausgeblendet. Helmut Kreuzer etwa ließ 1967 sein Plädoyer für die »Trivial-
literatur als Forschungsproblem« mit der Hoffnung ausklingen, dass »eine wissen-
schaftliche Umfunktionierung des Begriffs Trivialliteratur zum Anstoß für eine
Geschichte des literarischen Lebens werden könnte«11 --- und so erscheint nicht eine
verfeinerte Literaturgeschichtsschreibung, sondern eine Erweiterung der Literatur-
wissenschaft in Richtung der Erforschung des literarischen Lebens als langfristige
Perspektive seiner Überlegungen.
Gut 15 Jahre später betonte Markus Krause in seiner breiten, Kreuzer ver-
pflichteten Studie zum Trivialdrama der Goethezeit, dass seine Arbeit von der »Be-
tonung literatursoziologischer Problemstellungen und der bewussten Hintanstel-
lung im eigentlichen Sinne ästhetischer Fragen«12 geprägt sei. Und selbst Wolfgang
Martens’ Untersuchung zu Ifflands Kokarden könnte den Vorwurf auf sich ziehen,
den literarischen Text auf seinen Charakter als Diskurspartikel reduziert zu haben.
Schließlich betont Martens, »Dramaturgisches, die psychologische Stimmigkeit,
die künstlerische Qualität des Ganzen als Trauerspiel sollen uns hier nicht weiter
beschäftigen« (L 108) --- und fährt fort: »Interessieren soll uns von jetzt an nur noch
der historische Aussagewert dieser Figur [= des Magister Hahn]« (L 108).
Die Motivation Kreuzers, Krauses oder Martens’ in den 1960er bis 80er Jahren
von einer ästhetischen Evaluierung der Texte Abstand zu nehmen, liegt auf der
Hand: Nur so konnte es gelingen, sich einen Forschungsgegenstand überhaupt erst
zu erschließen, der zuvor eben unter dezidiert ästhetischer Bewertung vom Stand-
punkt der Höhenkammliteratur aus als nicht literaturwissenschaftswürdig einge-
85
Johannes Birgfeld
stuft wurde.13 Heute freilich, da das Konzept von der Lesbarkeit der Kultur seinen
Siegeszug feiert und es --- mit guten Argumenten --- als Errungenschaft wahrge-
nommen wird, dass es der Literaturwissenschaft nun möglich wird, ihr Arbeitsfeld
über [...] jenes streng begrenzte Textkorpus [hinaus zu erweitern], das sie als
Disziplin im Laufe ihrer Forschungsgeschichte selbst erst hergestellt, aus dem
kulturellen Gewebe ausgegrenzt und damit als solches ›kulturell‹ hervorge-
bracht, festgeschrieben und kanonisiert hat,14
erscheint es gegenläufig geboten, im Blick zu behalten, dass kaum ein zeichenhaft
codiertes Kulturprodukt einfach, ohne Betrachtung seines Kontextes wie seiner
Codierung gelesen und gedeutet werden kann.
Mit Blick auf die nun entscheidende Frage, wie genau und anhand welcher
Kriterien sich eine angemessene Würdigung der ästhetischen Qualitäten des Un-
terhaltungstheaters um 1800 vollziehen könnte, scheint eine Lösung ebenso viel-
versprechend, wie möglich. Ein hilfreicher Ansatz könnte es wohl sein, zunächst
davon auszugehen, dass Autoren wie Kotzebue, Schröder und Iffland, anders als
Goethe oder Schiller, nicht primär eine Ästhetik der Innovation oder der Autono-
mie verfolgten. Ihnen war nicht die literarische, formale, gedankliche oder sprach-
liche Novität, Ambition oder Autonomie in Auseinandersetzung mit den Heraus-
forderungen der sich rapide verändernden Umwelt primär bedeutsam.
Bei jenen Autoren, die das Phänomen des Unterhaltungsschauspiels wohl am
mustergültigsten verkörperten, und zu denen die genannten Kotzebue, Schröder
und Iffland besonders zu zählen sind, lässt sich in der Rückschau vielmehr ein pro-
duktionsästhetisches Kalkül bzw. eine produktionsästhetische Haltung beobachten,
die von dem Versuch einer Ausbalancierung literarästhetischer Programmatiken
und theaterpragmatischer Notwendigkeiten geprägt waren: Der Einsatz literari-
scher Mittel, die Konzeption der Dramaturgie einer Bühnenhandlung, auch Ent-
scheidungen zu Thematik, Figurenwahl und -konstellation waren durchaus von
poetologischen Überzeugungen bestimmt. Auch die Verfasser des Unterhaltungs-
theaters im späten 18. Jahrhundert waren im Wesentlichen und, wie Peter Heßel-
mann unlängst dargestellt hat,15 in Übereinstimmung mit dem Gros der Theater-
kritik einem Theaterideal verpflichtet, das aufklärerisch blieb, Besserung, ja Erzie-
hung des Publikums in ästhetischer und ethischer Hinsicht wünschte, emotionale
Wirkung (Rührung, Tränen) als Kern der eigenen Wirkungsästhetik ansah und
zugleich eine emotionale »Disziplinierung der Zuschauer«16 anstrebte.
Trotzdem wird man nicht übersehen können, dass ab 1770/80 ein Typus von
Dramatikern die Theater zu erobern beginnt, der in der deutschen Literaturge-
schichte in vergleichbarer Form und Häufung bis dahin nicht zu verzeichnen war:
Mit der erstmaligen Etablierung und dann massiven Zunahme fester Sprechthea-
86
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
terbühnen mit festen Ensembles an verschiedenen Orten zugleich (und nicht mehr
nur in Wien) entstand ein plötzlich enormer Bedarf an deutschsprachigen Stücken
und mit ihm ein Kreis von Schreibenden, der nicht allein in hoher Frequenz Thea-
terstücke produzierte,17 sondern zudem solche, die Publikum in der notwendigen
Größe anzuziehen und zur Wiederkehr zu motivieren vermochten, und die meist
selbst eng dem Theaterbetrieb als Theaterleiter (Iffland, Schröder, Klingemann,
Babo), Dramaturg (Vulpius) oder Schauspieler (Iffland, Schröder) verbunden wa-
ren, oder die, wie Gotter, ihre Stücke in engem Kontakt mit Schauspielern und
Theaterleitern verfassten und bearbeiteten. Bedenkt man, dass parallel das Wiener
Volkstheater in seine sogenannte Glanzzeit eintrat, die ihrerseits eine auch in Wien
bis dato unbekannte Massierung von Vielschreibern hervorbrachte,18 so lässt sich
für die Zeit nach 1770/80 vielleicht sogar von der Entstehung der Frühform einer
regelrechten Unterhaltungsindustrie sprechen.
Dieser Begriff ist nicht falsch zu verstehen: Zunächst beschreibt er nicht viel
mehr als die Tatsache, dass die Mehrzahl der genannten Autoren in kurzer Zeit
viele Stücke schrieben, die jeweils in der Lage sein sollten, ein angestrebtes großes
Publikum mehrfach zu interessieren. So sehr sie einerseits individuellen poetologi-
schen Programmatiken eines Verfassers verpflichtet waren, so sehr mussten sie zu-
gleich geeignet sein, regelmäßig auf der Bühne eine gelingende Kommunikation
zwischen dem Autor und einem Publikum herzustellen, dessen Größe den fortdau-
ernden Betrieb eines Hauses und den Unterhalt des Autors garantierte. Um jene
besondere Poetik, die sich im Unerhaltungstheater umsetzte, begrifflich fassbarer
zu machen, ließe sich vielleicht in Abgrenzung von der Ästhetik der Autonomie
und als überdeutlicher Kontrast dazu davon sprechen, dass das Unterhaltungsthea-
ter so etwas wie einer Ästhetik der Professionalität folgte. In diesem Begriff wäre
freilich nicht die ganze Komplexität des Produktionskalküls des Unterhaltungs-
theaters eingefangen, er würde aber recht anschaulich signalisieren, dass die ge-
meinten Autoren ästhetische Innovationen überhaupt nur soweit zu wagen bereit
gewesen wären bzw. waren, wie sich diese ohne Gefährdung des Erfolges der Stük-
ke beim Publikum und unter Berücksichtigung der technischen und personellen
Möglichkeiten der Theater, also unter Achtung der Voraussetzungen eines profes-
sionellen, am Publikumserfolg notwendig orientierten Theaterbetriebes umsetzten
ließen.
Literatur aber, die einer solchen Ästhetik der Professionalität verpflichtet ist,
muss allein aufgrund dieser Verpflichtung keineswegs --- und das ist zu betonen ---
zwingend inhaltliche Konformität nach sich ziehen: Wer, wie die Unterhaltungs-
autoren, nicht wenige Zuschauer eines Liebhabertheaters, sondern jeweils mehrere
hundert zahlende Besucher an mehreren Abenden in mehreren Städten ansprechen
87
Johannes Birgfeld
will und folglich auf ein Publikum hinschreibt, das allein aufgrund seiner Größe
den Kreis der intellektuellen Avantgarde überschreitet, das deshalb auch in der
Mehrzahl nicht nur gedanklich, sondern auch politisch nicht gleichermaßen flexi-
bel und an Neuerungen interessiert ist, wie die recht kleinen Zirkel politischer Re-
former, philosophischer Köpfe und literarischer Neuerer, der wird gut daran tun,
die gesellschaftlichen Herausforderungen, die sein Publikum beschäftigen, zu-
nächst nicht in Form einer Affirmation der Transgression bestehender Codes und
Grenzen zu inszenieren. Erfolgversprechender wäre wohl die Auseinandersetzung
mit dem Neuen vom Standpunkt des Bekannten, Vertrauten, Alten aus. Politisch
mag diese Haltung konservativ sein, ästhetisch ebenfalls. Diese Tatsache aber sollte
nicht zu zwei Fehlschlüssen verführen: 1. dass es einem so konzipierten Unterhal-
tungstheater fremd sei, die sozialen, historischen oder politischen Herausforderun-
gen der Zeit aufzugreifen und zu diskutieren; 2. dass dieses Theater nicht eine zen-
trale Rolle innerhalb der alltäglich vor sich gehenden Selbstverständigung der Ge-
sellschaft über ihre Identität, Geschichte und Zukunft besäße.
Eines wird über das Unterhaltungstheater immer wahr sein: Solange es nicht
die am wenigsten Gebildeten, sondern die Mittelschichten anzusprechen bemüht
war, was für die meisten (auch der in Wien) literarisch tätigen Unterhaltungsdra-
matiker um 1800 galt, konnte es dauerhaft kein Publikum für sich gewinnen,
wenn es sich allein auf die bloße Wiederholung und rein äußerliche Variation
gleichbleibender Scherze (Stolperkomik, Missverstehenswitze, Geschlechterkomik,
etc.) und Handlungsmuster (Eheanbahnung mit Hindernissen etc.) beschränkte.
Insbesondere Komödien, die ihr Publikum banden, indem sie es zum Lachen
brachten, brauchten die Bezugnahme auf den Alltag des Publikums, auf das Aktu-
elle. Sie lebten fast immer auch von der Parodie, Brechung, Travestie des Zeitge-
nössischen, das sie damit zugleich in das Bewusstsein des Publikums brachten. Ge-
nau darin aber liegt ein Teil des gesellschaftlichen Wertes des Unterhaltungsthea-
ters: eine (durch Fiktionalität und Komik bedingt) unbedrohliche Annäherung an
und Auseinandersetzung mit dem Neuen und den Folgen gesellschaftlicher Um-
brüche zu leisten, in der die Komik zudem eine Distanzierung des Publikums vom
eigenen, auf der Bühne übersteigerten und dadurch sichtbar gemachten Alltag er-
möglicht.
Es scheint durchaus wichtig, dem Unterhaltungstheater weder dramaturgische
Trivialität noch Ausblendung der Wirklichkeit als notwendiges Charakteristikum
zu unterstellen. Beides wird sich vornehmlich in Texten finden, die als misslunge-
nes Unterhaltungstheater für ein anspruchsvolles Publikum anzusehen oder erklär-
termaßen für ein stark bildungsfernes und bildungsuninteressiertes Publikum kon-
zipiert sind.
88
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
89
Johannes Birgfeld
zwingend ergibt, den Blick nicht auf die Beteiligung dieser Texte am gesellschaftli-
chen Diskurs auch mit progressiven und innovativen Stellungnahmen verstellen.
Es ist ein unscheinbares Stück, eine kleine, kurze Posse und noch nicht einmal
ein ›rein-deutsches‹ Originalstück, sondern eine Übersetzung bzw. Adaption aus
dem Französischen, an der im Folgenden der Versuch unternommen werden soll,
das Unterhaltungsdrama exemplarisch als ein Forum zu betrachten und zu unter-
suchen, das den gesellschaftlichen Wandel des ausklingenden 18. Jahrhunderts zu
begleiten und wahrzunehmen in der Lage war. 1786 erstmals gedruckt, gehört Die
Heurath durch ein Wochenblatt von Friedrich Ludwig Schröder zweifellos zu je-
nen Texten, denen als Posse und Übersetzung auf den ersten Blick kaum literari-
sche Qualität noch kulturgeschichtliche Relevanz zugesprochen würde.
90
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
91
Johannes Birgfeld
sche Zeitschriften, zudem die Gelehrten Zeitungen und schließlich die Intelligenz-
blätter zur Auswahl standen.30 Da die meisten von ihnen nicht direkt Sachverhalte
der Tagespolitik verhandelten und für Eingriffe durch den Staat wenig interessant
waren, vielmehr der Vermittlung und Debatte von Werten, Normen und Proble-
men der Mittelschichten und zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse
dienten, waren ihnen gegenüber deutlich geringere Vorbehalte bezüglich ihrer Ver-
lässlichkeit angebracht. Ihre Lektüre konnte durchaus als Zeichen der Zugehörig-
keit zur bürgerlichen Kultur der Mittelschichten gewertet und als wünschenswert
betrachtet werden: Zeitungen erfreuten sich großer Beliebtheit an den Universitä-
ten, als Freizeitvergnügen der Studierenden, als Voraussetzung eines galanten,
weltläufigen Lebensstils --- noch 1788 schildert Knigge die »Verlegenheit«, in der
sich »zuweilen ein Mann [befindet], der nicht viel Journale und neuere Mode-
schriften liest, wenn er in eine Gesellschaft von schöngeisterischen Herren und
Damen geräth«31 --- und als wichtige zeitgenössische Quelle in Fragen der Geogra-
phie, Geschichte, Politik oder moralischer Diskurse. Vorbehalte aber gab es natür-
lich auch hier. Besonders wurde als Schwierigkeit empfunden, das rechte Maß im
Gebrauch der neuen Medien zu finden und nicht »der Krankheit [zu verfallen],
nur Journale, Wochenblätter und gelehrte Tagesregister zu lesen«32. Auch diesen
Diskurs hat die Literatur begleitet und gespiegelt, etwa in Gellerts Fabel Der junge
Dichter von 1748.33 Gellert jedoch wird bei jenen Zeitungen, deren Rang als
Lernquelle er diskutierte, weniger an die Intelligenzblätter gedacht haben, die sich
seit den 1720er Jahren in Deutschland etablierten. Ein solches aber steht im Mit-
telpunkt der von Friedrich Ludwig Schröder erstmals 1786 publizierten Posse Die
Heurath durch ein Wochenblatt.34
Medienwandel und Literatur --- Edme Boursaults Le Mercure galant (1683)
Schröder, Jahrgang 1744, der zunächst mit Ackermann und Kurz-Bernardon als
Wanderschauspieler durch Deutschland zog, ehe er als Theaterleiter, Schauspieler
und Autor in den 1770er Jahren und von 1786 bis 1796 in Hamburg, sowie von
1781 an für einige Jahre in Wien berühmt wurde, schrieb die Heurath in Wien als
Theatermann, der den Erfolg beim Publikum anstrebte. Erstmals gespielt wurde
die Posse am 9. Oktober 1784 am Wiener Burgtheater. Es war ein erfolgreiches
Stück, das allein in Wien bis 1806 32-mal aufgeführt35 und auch in Weimar, zu-
nächst von der Bellomoschen Gesellschaft, dann am Hoftheater unter Goethe ge-
geben wurde.36 Von der Literaturkritik wurde es wahrgenommen, aber nicht be-
sonders beachtet, wie Knigges37 äußerst knappe Rezension in der ADB nahe legt:
Es ist dies Stück eigentlich, ohne daß die geringste Intrigue zum Grund liegt,
ein kleiner Guckkasten, in welchem eine Menge abentheuerlicher Carricaturen
vor unsern Augen vorbeyspatzieren.38
92
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
Schröder hat sein Stück nicht vollständig selbst konzipiert. Vielmehr handelt es
sich, wie bei einem so großen Teil des Unterhaltungstheaters der Zeit, um eine
Übersetzung, die freilich meist im freizügigen Umgang mit dem Original zur
Übertragung mit Zügen der Neuschöpfung wurde. Im Fall der Heurath war der
Verfasser der Vorlage der französische Dichter und Publizist39 Edme Boursault,
1638 bis 1701, dessen heute verbliebener, nicht eben großer Restruhm mindestens
ebenso auf Auseinandersetzungen mit Moliere und Boileau zurückgeht, wie auf
seine Stücke. Immerhin hat Schröder seine Vorlage aus Boursaults Werk offen-
kundig mit gutem dramaturgischen Instinkt ausgewählt, gilt doch Le Mercure ga-
lant von 1683 als eine von nur zwei Komödien »[d]e l’œuvre dramatique de Bour-
sault [qui] méritent de survivre«40.
Wie Schröders Heurath in den Augen Knigges, so zeichnete sich schon Bour-
saults Mercure galant durch einen Mangel an »intrigue« aus und bot »rien [d’]autre
[chose] qu’une galerie des portraits«41 oder anders formuliert: ›nur‹ »a sort of revue
of various ridiculous characters who seek to use the publicity of journalism for
their own ends«42. Schauplatz der Handlung sind die Redaktionsräume der fiktiven
Zeitung Le Mercure Galant, die in diesem Fall mit der »maison de l’Auteur du
Mercure Galant«43 identisch sind. Nicht der Hauptautor des Mercure aber steht im
Mittelpunkt der Handlung, sondern dessen Cousin Oronte, seines Zeichens ver-
liebt in die junge Cecile. Weil deren Vater jedoch ein glühender Verehrer des Mer-
cure ist --- »Le Mercure galant n’a pas de lecteur plus assidu, d’ami dévoué, de parti-
san plus béat que M. de Boisluisant«44, wie Saint-Renè Taillandier zusammenge-
fasst hat --- und Oronte alles zu tun bereit ist, seine Liebste zu ehelichen, gibt er
sich, die kurzfristige Abwesenheit des eigentlichen Verfassers des Mercures nut-
zend, flugs für selbigen aus und erhält tatsächlich bereits in der 1. Szene des zwei-
ten Aktes die Tochter vom närrischen Vater angetragen (MG 16).
Weil damit die Eheanbahnung, die so häufig mit ihren Hindernissen den
Handlungskern von Komödien bildet, besonders früh abgeschlossen ist, kann
Boursault den Hauptteil des Stückes zur Präsentation eines komischen Reigens
seiner Zeitgenossen nutzen: Da der Mercure als Zeitung ein Medium der Öffent-
lichkeit ist, das nicht nur darauf beschränkt ist, über Ereignisse von großer öffentli-
cher Bedeutung besonders aus der staatlichen Sphäre zu berichten, sondern zu-
gleich in der Lage ist, Ereignissen und Personen des privaten Lebens Öffentlichkeit
zu verschaffen, geben sich in den Räumen der Zeitung die eigenwilligsten Bittstel-
ler die Klinke in die Hand, deren Abfolge das Bild einer Gesellschaft zeichnet, in
der offenbar Mittel- wie Unterschichten so sehr nach sozialem Aufstieg streben,
dass ihnen dafür jedes Mittel recht ist, insbesondere jenes, sich für etwas aus-
zugeben, das sie nicht sind.
93
Johannes Birgfeld
Schon Orontes erster Gast (I, 2-4) verlangt vom vermeintlichen Herausgeber
das, was einer Zeitung nicht gut ansteht: Weil Monsieur Michaut in eine junge
Gräfin (»une jeune Marquise«; MG 8) verliebt ist, bittet er Oronte, ihn im Mercu-
re Galant als Adeligen zu präsentieren. Moralische Skrupel kennt Michaut dabei
nicht. Denn als Oronte den Auftrag ablehnt --- verbunden mit einer deutlichen Kri-
tik an der aus seiner Sicht falschen Titelsucht der Nichtadeligen45 ---, lässt Michaut
nicht etwa von seinem Ziel ab, sondern variiert allein das Mittel, das ihn dorthin
führen soll: Wenn es mit der Zeitung nicht klappt, so muss halt ein »Généalogiste«
(MG 10), ein Ahnenforscher herhalten und die Vorspiegelung einer falschen Iden-
tität ermöglichen.
Doch damit ist erst der Anfang des Defilees gemacht. Auf Michaut folgen
nacheinander: Der Drucker Boniface (I, 7), der Oronte überreden kann, im Mer-
cure für dessen gedruckte Einladungen zur Bestattung (»les billets nécessaires /
Pour inviter le monde aux convois mortuaires«; MG 13) zu werben; zwei Schwe-
stern, die im Mercure vom Schweigen als weiblicher Tugend gelesen haben und
nun Oronte wortreich darum bitten, zu entscheiden, wer von ihnen am besten zu
schweigen verstünde (III, 3-4); ein Soldat, der kriegsmüde ist, vom König jedoch
nicht entlassen wird und Oronte drängt, seine --- nicht vorhandenen --- Heldentaten
zu loben, wozu es dann nicht kommt (III, 6); zwei Anwälte, die sich bekämpfen
und ihren Streit nun über die Zeitung austragen wollen (IV, 4-5); sowie schließlich
ein unbekannter und schwacher, aber selbstverliebter Poet, der aus seinen unveröf-
fentlichten Schriften vorträgt in der (sich erfüllenden) Hoffnung, im Mercure ein
Veröffentlichungsforum zu finden (IV, 7).
Eingewoben in diese Handlung, die mehrfach von kurzen Szenen über den
Fortschritt der Eheschließung zwischen Oronte und Cecile mehr begleitet als un-
terbrochen wird, ist eine längere Passage, die mit dem Mercure nur lose verbunden
ist: In der dritten Szene des zweiten Aktes lässt Boursault eine Cousine Orontes
und des eigentlichen Autors des Mercure auftreten, die soeben von ihrem bisheri-
gen Liebhaber, dem Monsieur de La Motte verlassen wurde. Der wiederum betritt
in der 4. Szene die Bühne, so dass der zweite Akt zu einem großen Teil zu einer
komödiantischen Reflexion über die Probleme von Liebesbeziehungen zwischen
reichen, älteren Männern und jungen Geliebten wird, an deren Treue der alte
Liebhaber so recht nicht zu glauben vermag.
Boursaults Komödie vereint traditionelle Lustspieltopoi (den lächerlichen Nar-
ren: Ceciles Vater; den sich selbst überschätzenden Dichter; den in die Jugend ver-
liebten Alten) mit Elementen der konkreten Zeitsatire, wie sie schon im Titel des
Stückes erkennbar ist, der das Stück für die Zeitgenossen natürlich sofort in Bezug
zum tatsächlich existierenden, 1672 gegründeten Mercure Galant und damit auch
94
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
allgemein zum Zeitungsgeschäft im Paris der 1680er Jahre setzt. In der Summe
freilich dominieren die ›zeitlosen‹ Komikelemente und besonders die Typensatire,
wie sie sich in den schwatzhaften Schwestern oder in den sich ewig streitenden
Anwälten manifestiert.
Schröders Heyrath als literarische Adaption und kulturelle Transposition
Schröder hat in seiner Adaption von Boursaults Le Mercure Galant zum einen We-
sentliches übernommen. Wieder gibt ein Arbeitszimmer den Schauplatz der Hand-
lung ab, genauer: eine »Bibliothek« mit zwei »Schreibtische[n], die voller Bücher
und Schriften sind« (HW 3) und in der die Redaktionsarbeit einer Zeitschrift ge-
leistet wird. Wieder bildet das Verhältnis von Schein und Sein, auf das Individuen
über das Medium der Zeitung Einfluss zu ihren Gunsten zu nehmen versuchen,
den vordergründigen Mittelpunkt des Geschehens. Und schließlich kommt es
auch hier zu einer Revue von Bittstellern in den Räumen der Redaktion.
Nicht die Übernahmen jedoch, sondern die geschickten Anpassungen der Vor-
lage an die historischen Umstände von 1784 sowie Variationen der Dramaturgie
und der Mechanik des Komischen prägen Schröders Übertragung und Bearbeitung
der Vorlage. Schröder gelingt es dabei, aus einem 101 Jahre alten französischen ein
vielschichtiges deutsches Stück über die medialen Umbrüche seiner Zeit in
Deutschland zu machen. Damit dokumentiert er nicht allein sein hohes literari-
sches und dramaturgisches Talent, sondern verdeutlicht zugleich, wie wenig sinn-
voll es ist, Bearbeitungen fremder Stücke im 18. Jahrhundert generell mit dem
Verdikt der Minderwertigkeit zu belegen, allein weil sie mit einem (von der Mehr-
heit der Zeitgenossen zudem nicht geteilten) Konzept der Kunst als Originalkunst
nicht übereinstimmen.
Bemerkenswert ist zunächst, dass Schröder seine Heurath nicht, wie Boursault
seinen Le Mercure Galant, als Comédie, sondern als Posse ausgibt. Stücke dieser
Gattung waren in Deutschland im 18. Jahrhundert nicht unüblich, zumal in
Wien, das seit Stranitzkys Übernahme des Kärntnertortheaters 1710/12 und noch
mehr seit der Spektakelfreiheit von 1776 die Hauptstadt deutschsprachigen Un-
terhaltungstheaters, des Harlekinspiels und besonders der Lokalposse war. Die pe-
jorative Prägung des Begriffs, die sich seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hat
und bereits 1811 in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch in der Defini-
tion der Posse als »scherzhafte Geberde, oder Rede, welche bloß zur niedrigen Be-
lustigung dienet«46, einschlägig formuliert ist, hat zweifellos dazu geführt, dass Pos-
sen (von jenen Nestroys abgesehen) in der germanistischen Literaturwissenschaft
bis heute kaum als würdiger Untersuchungsgegenstand gelten, auch wenn diese
Geringschätzung den Usancen der Zeit keineswegs entsprach: Es lohnt sich etwa,
daran zu erinnern, dass Schröder die Heurath, also eine Posse, nicht für die Vor-
95
Johannes Birgfeld
stadttheater des sogenannten Wiener Volkstheaters, sondern für das kaiserlich ge-
förderte Nationaltheater an der Wiener Burg verfasste. Sein Stück sollte gewiss ein
»Spaß und Scherz« sein,47 eine kurze, leichtfüßige Unterhaltung --- und doch ist
daraus, wie bereits der Aufführungskontext verdeutlicht, mitnichten auf einen pro-
grammatischen Verzicht auf didaktische Intentionen oder dramaturgische Quali-
tätsansprüche zu schließen.
Der vollzogenen Genre-Variation mit ihren skizzierten Implikationen ent-
spricht eine von Schröder ebenfalls vollzogene Entschlackung der Handlungsstruk-
tur: Statt wie Boursault das revuehafte Geschehen etwas künstlich in 4 Akte zu
gliedern, entschließt sich Schröder, einen Einakter aus 15 Bildern zu entwerfen. Er
eliminiert des Weiteren die umfängliche Szene um den närrisch verliebten Alten
(MG II 3-4) ebenso wie die vor allem als klassische Juristenschelte funktionierende
Szene mit den streitenden Anwälten, und ermöglicht damit eine produktive Kon-
zentration der Spielhandlung auf das Defilee von Menschen, deren Besuch in den
Redaktionsräumen unmittelbar mit dem dort hergestellten Journal in Beziehung
steht. Schröder erreicht auf diesem Wege eine Verengung des Spielgegenstandes
auf die Welt des Journalismus in ihrer Verortung innerhalb der zeitgenössischen
deutschen Gesellschaft um 1784.
Auffällig ist weiterhin Schröders Entscheidung, zur Hauptfigur seines Stückes
nicht (wie bei Boursault) eine mit dem Zeitungsgeschäft nur familiär verbundene
Figur zu wählen. Zwar ist auch sein ›Held‹ Wiesenberg ein Simulant: Wie Bour-
saults Oronte gibt er sich fälschlich als der Verfasser eines Wochenblattes aus. Wie-
senbergs Lüge jedoch hat einen anderen Charakter: Denn wenn er auch nicht der
Verfasser des Blattes ist, so ist er doch sein Herausgeber und Finanzier. Auf die
Frage seines Schreibers Sperber, warum er, »ein Herr mit fünftausend Gulden Ein-
künfte« (HW 4), die er außerhalb des Verlagswesens erwirbt, überhaupt ein Wo-
chenblatt betreibt, zeigt sich bereits im 2. Auftritt des Stückes, dass Wiesenberg
(ähnlich Oronte) durchaus eigennützige Interessen verfolgt:
Ich stehe im Begrif, durch dieß Wochenblatt der glücklichste Mensch zu wer-
den. [...] Es soll mir eine Frau erwerben [...] Ich stehe seit [einiger] Zeit mit
der Tochter [des Herrn Klingbach] in einem geheimen Verständnisse. Ich liebe
und werde geliebt; aber der alte Klingbach will der Natur zum Trotze ein
schöner Geist seyn; will seiner Tochter nur einem Manne geben, der sich
durch seine Schriften verewigen kann. Ich bin nicht gelehrt genug, ein wichti-
ges Werk zu schreiben, so wie der Alte zu dumm ist, es zu verstehen --- und so
entstand mein Wochenblatt. (HW 5)
96
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
Zugleich, und das macht die Konzeption dieser Figur bei Schröder interessant, be-
greift sich Wiesenberg als Verleger mit einem Ethos, das dem des aufklärerischen
Zeitungsdiskurses entspricht. Ebenfalls noch in der zweiten Szene betont er:
Die Stille Tugend bekannt zu machen; dem Laster die Larve abzuziehen --- das
ist der Lohn, der mir aus meiner Arbeit entspringt. (HW 4)
Weiter ergänzt er, noch immer im Rahmen eines didaktisch-aufklärerischen Kon-
zepts des Journalismus:
Ueberdieß lehrt mich mein Wochenblatt eine menge Thorheiten der Men-
schen kennen, die mir bis itzt noch fremd waren. (HW 4)
Solches Pathos bleibt bei Schröder --- lustspielgemäß --- nicht unbeantwortet. Flugs
ergänzt Sperber: »Das ist wahr! Narren von jedem Alter und Stande wählen das
Blatt um sich bekannt zu machen« (HW 4).
Dieser kurze Dialog lässt sich für Schröders Posse in zweifachem Sinne deuten.
Zum einen wird indirekt die Poetik von Schröders Stück verhandelt: Seinem Leser
bzw. dem Zuschauer versichert er, dass dieser von nun an eine rechte Narrenrevue
zu erwarten hat. Über die darf herzlich gelacht werden. Und doch ist nicht zu ver-
gessen, dass sie, so wie Wiesenbergs Wochenblatt, unterhaltend und belehrend zu
verstehen ist, als Spiegel und Parodie der Zeitgenossen (»lehrt mich Thorheiten«).
Vorgeführt werden dabei, auch darin ist Schröder klar, konkret jene ›Torheiten‹,
die sich im Umfeld einer Zeitungsredaktion ereignen --- oder anders gesagt: die in
Reaktion auf den fortschreitenden medialen Wandel der Gesellschaft im ausge-
henden 18. Jahrhundert zu Tage treten.
Zum anderen aber zeigt sich in diesem kurzen Wortwechsel, dass es Schröder
auch um ein Porträt der Medienwelt selber geht. Wie präzise es ihm schließlich ge-
lingt, sowohl die Torheiten seiner Mitbürger in Reaktion auf die medialen Ent-
wicklungen wie die Abgründe und Charakteristika der Medienwelt selber in den
frühen 1780er Jahren einzufangen und damit für sein Publikum greifbar und ver-
handelbar zu machen, zeigt ein Durchgang durch den Text.
Zu den produktiven Variationen seiner französischen Vorlage gehört bereits
die Wahl eines neuen Titels. Boursault hatte mit der Betitelung seines Stückes als
Le Mercure Galant nicht einfach, wie es heute scheinen mag, durch Entleihung ei-
nes etablierten Namens billig Aufmerksamkeit für seine Comédie gesucht. Der
Mercure Galant war vielmehr, als er 1672 von Jean Donneau de Visé gegründet
und dann erst bis 1673, ab 1677 dann kontinuierlich herausgegeben wurde, eine
mediale Sensation: Hatte das seit 1665 in Paris erscheinende Journal des Scavans
den Grundstein für eine neue Pressegattung, die Zeitschrift gelegt, sich aber als Fo-
rum für gelehrte Kommunikation profiliert, so ist der Mercure der erste Schritt zur
97
Johannes Birgfeld
weiteren Ausdifferenzierung der Gattung und lässt sich als Salonblatt charakterisie-
ren, das vornehmlich, aber nicht allein »Neuigkeiten aus der mondänen Welt des
Hofes«48 verbreitete. Entsprechend bezeichnet es Boursault in seinem Stück als eine
»bonne chose: / On y trouve de tout, Fable, Histoire, vers, Prose, / Sieges, Com-
bats, Procès, Mort, Mariage, Amour, / Nouvelles de Province, & nouvelles de
Cour« (MG 7). So sehr Boursault also einerseits Anschluss an ein konkretes, be-
rühmtes Blatt suchte, so sehr nimmt er zugleich mit dem konkreten Blatt einen
spezifischen Typus von Printmedium in den Blick.
Fast genau 100 Jahre nach Boursault hat sich die Lage auf dem Zeitungs- und
Zeitschriftenmarkt dramatisch verändert --- auch in Deutschland. Sowohl die Ex-
pansion wie die Diversifikation der Massenkommunikation ist im Bereich der Zei-
tungen und Zeitschriften so weit fortgeschritten, dass mit dem Verlauf des Jahr-
hunderts bald nicht nur in den großen Städten oft mehrere Organe erscheinen,
sondern dass darüber hinaus auch an vielen kleineren Orten über längere oder kür-
zere Zeiträume Zeitungen, Zeitschriften oder Intelligenzblätter produziert werden.
Die Diversität der obrigkeitlichen Regulationen (die sich etwa beim Intelligenz-
blatt zeigt, das in Preußen ein weitgehendes Monopol auf Anzeigen besaß, welche
in Hamburg auch von normalen Zeitungen gedruckt werden durften49) sowie die
unterschiedlichen Bedürfnisse der lokalen, regionalen oder überregionalen Leser-
schaften führten dazu, dass sich in der Praxis jene rückblickend isolierbaren Ideal-
typen verschiedener Zeitungs- und Zeitschriftentypen an vielen Orten zu Misch-
formen überlagerten:50 Im Fall des Wochenblattes etwa, das Schröder zum Spielort
seiner Posse erhebt, kreuzen sich begrifflich wie inhaltlich die Erinnerungen an die
moralischen Wochenschriften und ihre realen letzten Ausläufer (man denke
nochmals an Wiesenbergs Rhetorik der Tugendförderung),51 mit den als Wochen-
blatt bezeichneten, »an Unterschichten und das breite Volk speziell auf dem Lan-
de« gerichteten »Bauernzeitungen«,52 wie schließlich mit den sogenannten Intelli-
genz- und Anzeigenblättern. Letztere publizierten neben geschäftlichen Anzeigen
zunehmend auch Privatanzeigen von Verlobungen und Eheschließungen, Todes-
fällen und Geburten, dazu Edikte und Verordnungen, Steckbriefe und Gerichts-
termine, aber auch Einladungen zu Bällen und Soireen,53 je später im Jahrhundert
umso mehr »unterhaltende Beiträge [...] Novellen, Anekdoten, moralische Exem-
pel, Gedichte, Rätsel«54. Schröders Wochenblatt, das vornehmlich »Fabeln, Histo-
rien, Begebenheiten, Räthsel, Epigramme, Hochzeiten, Konzerte, Bälle, Geschen-
ke, Krankheiten, Todesfälle« (HW 3-4) druckt, steht dem Intelligenzblatt typolo-
gisch am nächsten, wird aber offenbar ganz bewusst nicht als solches bezeichnet.
Während sich Boursault also mit Le Mercure Galant literarisch auf einen gera-
de erst neu entstandenen und äußerst konkret umrissenen Typ Zeitschrift bezieht,
98
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
unternimmt Schröder das Gegenteil: Der Begriff des Wochenblattes verweist we-
niger auf einen klar profilierten Medientypus, als auf eine inzwischen allerorten
bekannte, fest im Alltagsleben verankerte Institution: das wöchentlich erscheinende
lokale Blatt, in dem sich, je nach individueller Ausprägung, unterhaltende und in-
formative Elemente, Literarisches und Didaktisches, bloßer Zeitvertreib und An-
zeigen zum lokalen Geschehen vermischen.
Schröder war mitnichten der einzige Autor, dem das Wesen der Wochenblät-
ter mitunter komisch und suspekt erschien. Bereits 1775 artikuliert Friedrich Ni-
colai im 2. Band des Sebaldus Nothanker eine gewisse Frustration mit den Wo-
chenblättern (»Weisheit und Tugend dünkt sich jetzt jeder Wochenblättler oder
Romaschreiber zu lehren!«55). Goethe wiederum lässt sie im ersten Teil des Faust
(1808) gleichsam als Hort des Biedersinns erscheinen (Marthe: »Ich bin von je der
Ordnung Freund gewesen, / Möcht ihn [= ihren Mann] auch todt im Wochen-
blättchen lesen«56). Statt sich aber über das Wochenblatt zu erregen oder es zu dis-
qualifizieren, unternimmt Schröder eine Begehung dieses Ortes und eine Analyse
der kulturellen Praxis, die mit dem Begriff des Wochenblattes bezeichnet ist.
Zu den Grundtatsachen des Zeitungs- und Zeitschriftengeschäftes gehört, dass
es einerseits Schriftstellern Gelegenheit zu einem Nebenverdienst bot. Andererseits
sorgte die Zunahme der Organe dafür, dass immer mehr Menschen in Redaktio-
nen arbeiteten und zugleich Träumen möglichen Dichterruhms nachhingen. Sper-
ber, Schröders Wochenblattschreiber, repräsentiert genau diesen Typ und diese
Praxis: In jeder freien Minute seiner Arbeit wendet er sich einem Trauerspiel zu,
das er, da ist er ehrlich, nur schreibt, um sich »Geld damit zu verdienen« (HW 8).
Dabei überragt Sperbers Talent zur Klage über sein elendes Dichterschicksal sein
literarisches Vermögen bei weitem: Wie die Szenen 1, 3 und 4 demonstrieren, ist
er ebenso von der Konzeption eines Dramas überfordert wie vom Abfassen seiner
Verse. Ungeniert stiehlt er deshalb Passagen aus Shakespeares Richard III. (natür-
lich auch eine Parodie der Shakespearemanie der Zeit) sowie Gedichte, die dem
Wochenblatt zum Abdruck eingereicht werden, welches seinerseits, wie Schröder
richtig beobachtet, wie andere Printmedien für Dichter ein Forum zur Erstpubli-
kation und damit zum literarischen Gelderwerb bot.57
Erlebt der Leser in der 5. und 6. Szene endlich Klingebach als jenen Narren,
der Wiesenberg für die zumeist von Sperber selbst verfassten, ja gar erfundenen
Beiträge gleich für den »erste[n] Gelehrten Deutschlands« hält, so beginnt mit der
7. Szene der Reigen der eigentlichen Zeitungs-Narren, bzw. die Revue jener Zeit-
genossen, die die Macht des Wochenblattes zur Beeinflussung der öffentlichen
Meinung und zur Stimulation des Handels klar erkannt haben. Das freilich bedeu-
99
Johannes Birgfeld
tet nicht notwendig, dass ihnen alle Regeln der sich ausbreitenden kapitalistischen
Wirtschaftsordnung ebenso wohl vertraut sind.
Schröders Heyrath als Beobachtungsort medialen Wandels
im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess
Die Modernisierung, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beschleunigt,
bietet mit der Auflösung tradierter sozialer Strukturen viele Chancen zum schnel-
len sozialen Aufstieg, aber auch manches Risiko, wie der erste Gast in der Redakti-
on des Wochenblattes zeigt, der Sprachenlehrer Lindner. Klagend und seine Le-
bensgeschichte summierend, wendet er sich an Wiesenberg als vermeintlichen Re-
dakteur des Wochenblattes:
Seit langer Zeit bemerkte ich, daß die mehresten Sprachmeister hie ein be-
quemes Leben führen. Ich legte mich daher mit allem ersinnlichen Fleiß auf
die Wallachische Sprache. Als ich die ersten Gründe weg hatte, verließ ich
meinen Dienst; machte alles zu Gelde, und reißte nach der Wallachey um
mich völlig zu perfectioniren. Ich kam vor drey Monaten zurück; miethete ein
Haus; hieng eine Tafel aus, um die sich täglich hunderte versammelten --- Aber
ach, mein Herr! In dem ersten Monate meldete sich auch nicht ein einziger
Schüler. (HW 14-15)
Es ist aus der Rückschau in der Tat bemerkenswert, wie präzise es Schröder hier
gelingt, den Wandel der sich modernisierenden Gesellschaft auf die Bühne zu
bringen. Denn nicht allein, dass Lindner, um es modern auszudrücken, erkannt
hat, dass Spezialisierung angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung ein Ge-
bot der Stunde sein kann. In seiner Antwort auf die Frage, warum er gerade das
wenig nachgefragte Wallachische anstelle etwa des Französischen zu seiner Sprache
erwählt habe, zeigt Lindner sich auch als prototypische Verkörperung des ebenfalls
im ausgehenden 18. Jahrhundert weiter wachsenden Individualismus und Indivi-
duationsdranges der Zeitgenossen:
Wie mein Herr! Ich sollte die Summe, die das Publikum für Erlernung frem-
der Sprachen ausgiebt, mit zwanzig anderen theilen? --- Wimmelt es nicht von
Lehrern in diesen Sprachen? Eben darum legte ich mich auf die wallachische,
um der einzige zu seyn --- um mir nicht das Brod vor dem Munde wegfischen
zu lassen. --- Dazu kommt der Ehrgeitz! --- Ich mögte kein alltäglicher Sprach-
meister seyn, und ein Professor der wallachischen Sprache ist ein seltener
Mann. (HW 16)
Natürlich ist Lindner eine Person, über die ein Publikum herzlich lachen, ja die es
verlachen kann ob ihrer offenbaren Fehleinschätzung des Offensichtlichen, des
wahren Verhältnisses von Angebot und Nachfrage in Sachen Sprachunterricht. Die
Fähigkeit jedoch, über Lindner und seine falsche Strategie zur erfolgreichen Ver-
100
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
bindung von individuellem Geltungsdrang einerseits und den neuen Chancen der
Ausdifferenzierung und Kapitalisierung andererseits zu lachen, setzt beim Publi-
kum die Anerkennung voraus, dass dieses Problem existiert,58 und hat zugleich zur
Folge, dass ihm selbiges durch das komische Theaterspiel in differenzierter Weise
vorgeführt und bewusst(er) gemacht wird.59
In Schröders Posse ist die Szene mit dem Porträt der Nöte eines risikolustigen
Unternehmers und ›Opfers‹ der Modernisierung allerdings noch nicht abgeschlos-
sen. Zu klären bleibt, was Lindner von Wiesenberg und seinem Wochenblatt erbit-
ten möchte:
Wenn Sie in einem lieblichen Gedichte dem Adel einschärften sich auf die
wallachische Sprache zu legen --- ihm die Vortheile dieser Sprache erklärten --- er
würde wahrlich in sich gehen. Mein Talent könnte auch durch Ihr vortref-
fliches Blatt, das in jedermans Händen ist, bey Hofe bekannt und ich bey der
Akademie als Professor der wallachischen Sprache angesetzt werden. (HW 15)
Wiesenberg stimmt dem Ansinnen zu --- und bestätigt damit ebenso die in der Lite-
ratur schon lange grassierenden Zweifel an der Neutralität und Objektivität jour-
nalistischer Berichterstattung (s.o.), wie er andererseits ein Porträt der realen Inter-
essenüberlagerung lokaler Printmedien, insbesondere aber der Intelligenzblätter
zeichnet, deren primäre Aufgabe es war, durch Abdruck von Anzeigen einen Bei-
trag zur »Ankurbelung von Warenverkehr und Arbeitsmarkt«60 zu leisten. Nicht
Wahrheitsvermittlung, sondern Dienst an den wirtschaftlichen Interessen der loka-
len Handelsgemeinschaft, merkantilistische Unterstützung der eigenen Wirtschaft
prägten das Ethos gerade der lokalen Blätter.
Solchem Dienst an der Gemeinschaft wohnt dabei freilich eine Dialektik inne,
die Schröder ebenfalls gesehen und zu einem zentralen Gegenstand seines Spieles
erhoben hat. Werbung dient nicht immer allein den Interessen der Gemeinschaft,
nicht jeder Bittsteller ist Merkantilist. Zu den faszinierenden Facetten der Lindner-
Szene gehören Lindners Ausführungen über jene Meinungsmacht, die er dem Blatt
zusammen mit einer enormen sozialen Reichweite (»in jedermans Händen ist, bey
Hofe bekannt«; HW 15) zuschreibt. Natürlich ist auch das einerseits übertrieben
und auslachenswert naiv. Andererseits ist die reale Meinungsmacht der Medien
keineswegs gering --- und sie wird, anders als Wolfgang Martens mit Blick auf If-
fland noch glaubte, nicht erst im Zeichen der französischen Revolution erkannt,
sondern von den Fürsten in den 1740er Jahren und, wie Schröders Posse illustriert,
auch vom Bürger als Medium der gezielten Arbeit am eigenen Status innerhalb der
Mittelschichten spätestens in den 1780er Jahren bewusst wahrgenommen. Eben
diese öffentliche Wahrnehmung und Unterstellung der Medienmacht ist es, die die
Dialektik der Funktion des Wochenblattes herbeiführt: Was zum Nutzen der Ge-
101
Johannes Birgfeld
meinschaft gedacht ist, verselbständigt sich und wird von den Nutzern bald zum
Medium der Selbstdarstellung im bloßen Eigeninteresse umfunktioniert.
Ein schönes Beispiel dafür gibt Schröders achte Szene, die einer Madame Fall-
berg gehört, welche das Wochenblatt regelmäßig nutzt, um dort den jeweiligen
Tod ihrer Ehemänner anzuzeigen, nun des dritten in kurzer Zeit. Für Fallberg er-
füllt das Wochenblatt vor allem die Funktion, »dem Publikum den Schmerz
mit[zuteilen]« den Fallberg öffentlich empfinden und zur Schau stellen will (»daß
ich jammere, wie eine verlassene Taube«; HW 19), tatsächlich aber erkennbar
nicht verspürt. Indem Wiesenberg ihrem Wunsch gehorcht, leistet er einer Heu-
chelei Vorschub, die zumindest moralisch mitnichten im Interesse jener Gemein-
schaft steht, der er eigentlich dienen soll. Die Presse, so weiß Schröder und lernt
der Zuschauer hier, ist ein zweifelhaftes Metier, vor allem jedoch ein Geschäft, das
nach den Regeln von Angebot und Nachfrage funktioniert, sich daher auch mora-
lische Maßstäbe kaum leisten kann. Es vermag der Öffentlichkeit zu dienen, tut
dies jedoch nicht sehr verlässlich, nicht zuletzt deshalb, weil seine größte Attrakti-
vität für die Leser offenbar darin besteht, dass es ein Medium der Öffentlichkeit, ja
in gewisser Hinsicht das zentrale Medium lokaler öffentlicher Selbstdarstellung
nicht mehr allein der Mittelschichten als Wertegemeinschaft wie noch in den mo-
ralischen Wochenschriften, sondern zunehmend des einzelnen Individuums und
seiner Interessen darstellt.
Zeigt die Fallberg-Szene die Schattenseiten dieser Funktion der Printmedien,
so bestätigt die neunte Szene eindrucksvoll sowohl die Hochschätzung der Macht
der Medien wie ein residuales Vertrauen, dass diese noch immer auch zur morali-
schen Besserung der Leserschaft beizutragen vermöchten: Nun nämlich tritt ein
Jude auf, der eine in einer früheren Nummer des Wochenblattes als verloren ange-
zeigte goldene Dose in der Redaktion abgibt. Die Annahme des ausgeschriebenen
Finderlohns jedoch verweigert er, und erklärt dazu:
Wenn Sie wollen, so machen Sies in Ihren Wochenblatte bekannt, daß auch
ein Jud ein ehrlicher Mann sey, und unintrressiert handeln kann. --- Laß sich
immer einige Christen ein wenig darüber wundern. (HW 20)
Hatten Juden in der Wahrnehmung der Intellektuellen des 18. Jahrhunderts ü-
berwiegend mit Vorurteilen zu kämpfen und wurden sie in der Literatur, wenn für
vorbildliches, moralisches Verhalten gepriesen, dann meist als Ausnahme insze-
niert,61 so stellt Schröders Szene ein bemerkenswertes, weil gänzlich uneinge-
schränktes Plädoyer für eine Neukonzeption des Zusammenlebens mit Juden dar:
Denn nicht nur wird in der Szene der vorwurfsvolle Ton des Juden nicht gerügt.
Seine Handlung wird vielmehr als »gute Gelegenheit [...][,] ein grausames Vorur-
teil zu bestreiten«, affirmiert (HW 21). Bedenkt man dabei zugleich, dass nur zwei
102
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
Jahre vor der Entstehung der Heurath in Wien, dem Entstehungs- und Urauffüh-
rungsort der Posse, Joseph II. in seinen Toleranzpatenten die Stellung der Juden in
Österreich und Wien nachhaltig verbessert hatte,62 dann fällt es schwer, in dieser
Szene nicht auch eine dezidiert politische Stellungnahme zur Unterstützung des
von Joseph eingeschlagenen Kurses zu vermuten, dem Schröder im Medium litera-
rischer Fiktion narrative Bestätigung zuteil werden lässt: Schließlich waren Josephs
Patente nicht auf allgemeine Zustimmung gestoßen. Die öffentlich-publizistische
Diskussion etwa um die »Judenfrage«63, die Joseph II. selbst durch Publikation ei-
nes Handbillets 1781 angestoßen hatte, beruhigte sich auch nach der Verkündi-
gung der Patente nicht, sondern wurde in den folgenden Jahren vielstimmig fort-
geführt.64 Und obwohl die Zahl der regulären Wiener Juden bis 1790 nicht über
840 stieg in einer Stadt von ca. 220.000 Einwohnern,65 und sich in dieser kleinen
jüdischen Gemeinde nur »very few poor members«66 fanden, gelang es etwa dem
Bankier Nathan Adam Arnstein erst 1786, die »Behörden zu veranlassen, [...] die
Wiener Juden nicht mehr mit ›Jud‹ sondern mit ›Herr‹ anzureden«67.
Die ganze Brisanz der Szene bei Schröder zeigt sich allerdings erst dann, wenn
man sich bewusst macht, dass Schröder nicht einen der reichen Wiener Juden auf-
treten lässt, sondern in seiner Regieanweisung dezidiert betont, er sei »schlecht ge-
kleidet« (HW 20). Josephs Toleranzpolitik war ja bekanntlich nicht in Sympathie
des Regenten für die Juden gegründet, sondern folgte dem Wunsch, sowohl das
»ihnen innewohnende[] wirtschaftliche[] Potential«68 für das Habsburgerreich zu
nutzen, wie andererseits die mit der Erweiterung des Habsburgerreiches nach Os-
ten und in Gebiete mit vielen ärmeren Juden wachsende ›Gefahr‹ einer massiven
Westwanderung der Juden durch wirtschaftliche und kulturelle Integration in die
zur Zeit von ihnen bewohnten Gegenden zu mindern. War die »allgemeine Wan-
derbewegung der Juden [...] nach dem Südwesten gerichtet«, so versuchten viele
auch, auf »Schleichwegen in die Hauptstadt Wien einzudringen«69. Insbesondere
die galizischen Juden wurden mit »Bettelwesen [...] Wegelagerei und Unzucht«70 in
Verbindung gebracht, und es ist die allgemeine, auch vom Kaiser geteilte Sorge vor
dem Einwandern der als moralisch zweifelhaft geltenden ärmeren Ostjuden, die
Schröders Szene als eine außerordentliche politische Stellungnahme erkennbar
werden lässt: Schröder kämpft hier nicht allein für einen normalen Umgang mit
den bereits stark assimilierten, wohlhabenden Wiener Juden, sondern auch für ei-
nen vorurteilsfreien Blick auf die zuwandernden Juden aus dem Osten, wie sie in
diesen Jahren in Wien und vermehrt an anderen Orten anzutreffen waren und al-
ten Vorurteilen erneut Auftrieb zu geben vermochten.
Auf solch politische Einlassungen folgt in Schröders Posse in der nächsten Sze-
ne eine Verfeinerung seiner Analyse des zeitgenössischen Mediengebrauchs als Fo-
103
Johannes Birgfeld
104
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
tionalisierung und Säkularisierung auch des privaten Lebens, wie er ein zentrales
Merkmal der Modernisierung ausmacht.
Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass Schröders Szenen zu Trauer-
gebräuchen an eine an Maßstäben wahrer Frömmigkeit wie der Nützlichkeit und
Rationalität ausgerichtete Diskussion über die Angemessenheit verschiedener
Trauergebaren anschließt. So distanziert sich beispielweise Karl Arnold Kortum in
Der Märterer der Mode von 1778 nicht allein von der »Mode« den Tod »zu fürch-
ten«76 --- auch dies eine Folge der Säkularisierung und der allgemein sinkenden reli-
giösen Gewissheiten. Spöttisch und ablehnend beschreibt er zudem (wie Schröder
in Frau Fallberg) die Tendenzen zur Veräußerlichung kaum gefühlter Trauer ---
so vergaß er doch nicht, wegen des Absterbens seiner Schwägerin und seines
lieben einzigen Bruders, nach der Mode ein halbes Jahr lang zu trauern, das
heißt: einen schwarzen Rock anzuziehen und einen Flor um den Hut zu wi-
ckeln77
--- und beklagt die Neigung seiner Zeit, möglichst »prächtige[] Begräbnis[se] [...]
mit Kutschen und Trauermusik«78 zu geben, die am Ende nur die Erben in Armut
stürzen. Joseph Richter, der in seiner Bildergalerie weltlicher Misbräuche 1785 von
Wien aus nochmals beide Klagen Kortums aufgreift und teilt,79 bietet noch explizi-
ter als Kortum eine These über die Ursachen der Veräußerlichung und der Lust an
großen, aber unbezahlbaren Begräbnissen an: Beide Missbräuche fußen, so Richter,
»in der Eitelkeit der Menschen und in der Rangsucht«,80 die, wie man ergänzen
darf, um 1800 besonders deshalb ein zentrales Problem darstellen, weil die wach-
sende soziale Mobilität und das wachsende wirtschaftliche Vermögen der Mittel-
schichten immer häufiger verführten, den eigenen Stand zu verleugnen und sich
durch Güter- und Titelkauf über seinesgleichen zu erheben.81 In den Lustspielen
und der satirischen Literatur der Zeit wird diesem Problem breit Rechnung getra-
gen,82 und nicht zuletzt auch im zwölften Auftritt von Schröders Heurath, der sei-
ne Komik aus dem äußerst hochnäsigen Auftreten einer Schneidersgemahlin be-
zieht, die sich als gnädiges Fräulein ausgibt und deshalb mit der Umwelt nur noch
in einem von französischen Sprachbrocken durchsetzten Deutsch zu kommunizie-
ren bereit ist (HW 25-29). Schröder greift damit einmal mehr auf ein bewährtes
Versatzstück traditionellen Unterhaltungstheaters zurück und nutzt eben dieses,
um vor seinem Publikum einen weiteren Beitrag zu einem ganz zu Recht virulen-
ten Diskurs zu leisten: Schließlich spiegelt sich im parodierten Streben nach sozia-
lem Aufstieg eine reale Gefährdung der im Verlauf der Aufklärung so mühsam
hergestellten Kohärenz der Mittelschichten, auf die diese, wie auf andere mit dem
gesellschaftlichen Wandel aufscheinende Probleme eine Antwort finden müssen.
105
Johannes Birgfeld
106
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
haltlich nicht,88 obwohl er ihn in einer --- anders als bei Lessing --- wirklich komi-
schen Form präsentiert. Sein Soldat nämlich ist ein wenig naiv und spricht ein ver-
besserungswürdiges Deutsch. Diesen ›komischen Mangel‹, ebenso wie den Wunsch
Knochens, endlich aus dem Dienst entlassen zu werden, findet der Leser bereits in
Boursaults Le Mercure Galant vor. Während sich der dort auftretende Soldat aber
flugs als bloßer miles gloriosus ohne jede Tugend erweist,89 dem zu Recht jede Er-
wähnung seiner nicht vorhandenen Heldentaten im Mercure verweigert wird, hat
Schröder ihn von einer Witzfigur zu einem mitleidfähigen Zeitgenossen verwan-
delt. Sein Knochen gleicht, dank der noch immer beibehaltenen Komikelemente
der unsauberen Grammatik und Naivität, ein wenig dem Typus des edlen Wilden,
der aus natürlichem moralischem Instinkt richtig handelt und spürt, dass ihm die
angemessene Würdigung dafür fehlt. Anders aber als Lessings Tellheim hat er we-
der den gesellschaftlichen Stand noch die finanziellen Mittel, um sich gefordert
oder fähig zu sehen, sich öffentlichkeitswirksam gegen den Staat zu empören.
Schröder gibt hier, und das ist in der Soldatenliteratur der Zeit wirklich selten,
einmal nicht dem Mittelstand, sondern dem gemeinen Soldaten ein Forum --- was
aus Sicht der Geschichte der Zeitschriften im 18. Jahrhundert hingegen wieder
weniger ungewöhnlich ist, wandten sich doch gerade die Wochenblätter im enge-
ren Sinne »an Unterschichten und das breite Volk speziell auf dem Land«90. Ob
darin freilich nicht eher eine Belehrung der unteren Schichten erfolgte als eine so
direkte Artikulation ihrer Probleme wie bei Schröder, sei zunächst dahin gestellt.
Schröder jedenfalls tut etwas Bemerkenswertes, indem er Lessings Tellheim
dessen nur selten in der Literatur beachteten, ständisch geringeren Bruder zur Seite
stellt. Nochmals beweist sich, dass die scheinbar triviale Literatur mitunter weit
davon entfernt ist, die ›ernsthaften‹ Diskurse und Probleme der Zeit zu ignorieren
oder zu trivialisieren. Stattdessen sucht sie durchaus Anschluss an sie und kann,
wenn sie es auch sicher nicht in jedem Fallt tut, einen beachtlichen Beitrag zu den
virulenten Debatten leisten, ohne dabei im Gewand allzu ernsthaften und ästhe-
tisch innovativen Theaters gekleidet zu sein.
Es lohnt sich übrigens, um auch die dramaturgische Qualität der komödianti-
schen Einkleidung der politischen Szene beurteilen zu können, etwas länger zu zi-
tieren: Die Art, wie Knochen sein Anliegen vorträgt, erweist ihn als ersten Gast der
Redaktion, der mit der Macht der Medien aus eigener Anschauung kaum vertraut
ist. Man darf vermuten, er liest nicht selbst, oder wenn, dann nicht viel:
Sieht Er! man hat mir gesagt --- in das Wochenblatt wird alles bekannt gemacht
--- was einer so Gutes gethan hat --- und ich habe auch viel Guthes gethan, sieht
Er! --- Und das soll er auch bekannt machen --- und wenn’s der König erfährt,
sieht Er! --- So kann ich meinen Abschied kriegen --- und mein Rittmeister, der
107
Johannes Birgfeld
wohl weiß, daß ich ein ganzes Kerl bin, der will mir ihn nicht geben, sieht Er!
--- und ich mag nicht mehr dienen. (HW 30)
Er ist ein wenig ruppig im Ton (»Schreib Er! --- Ich will mich meine Sachen nicht
verhunzen lassen«; HW 31) und unsicher in der Grammatik (»Thu 25 Jahr unter
das Birkische Kavalerie Regiment dienen«; HW 31), aber, wie sich schnell zeigt,
ein ehrenhafter und guter Soldat: 25 Jahre dient er bereits, hat in »9 Bataillen« ge-
kämpft (HW 31) und sich »nimmer« »wie ein Lumpenhund gehalten« (HW 32).
Seinen Hauptmann fand er einst nach einer Schlacht
unter den Toden --- nahm ihn auf den Buckel --- trug ihn ins Lager --- er ward
kurirt und nun will er mir den Abschied nicht geben. (HW 33)
Knochen hat zudem einmal »einen Juden aus dem Wasser gezogen und wär’ bald
selbst ersoffen« --- nur ist er sich nicht sicher: »ist das was Gutes?« (HS 33). »Aller-
dings« ruft ihm Sperber zu, noch einmal die Forderung nach einem anderen Um-
gang mit den Juden bekräftigend, worauf Knochen weiter offenbart, »einmal eine
alte 80jährige Frau aus des Feuers gerettet« zu haben. Wieder ist er sich nicht si-
cher, ob das eine gute Tat war, schließlich war die Frau aus seiner Sicht schon sehr
alt und nur noch wenig nützlich (HW 34). Immerhin zweifelt er nicht, bei einer
anderen Gelegenheit das richtige getan zu haben:
In dieselbe Kampagne half ich drey von meinem Kameraden desertiren. [...]
Der Hauptmann hat sie wie Hunde traktirt, drum half ich sie weg. (HW 33)
Spätestens jetzt ist jedem Zuschauer der kleinen Posse das Lachen über Knochen
vergangen. Er mag kein rechtes Deutsch verstehen und eine geringe Medienkom-
petenz aufweisen. Moralisch aber ist er ein vorbildlicher Mensch, der Mitleid und
Bewunderung verdient, nicht zuletzt für seine Hilfe bei der Desertion. Und so sehr
die Härte der Behandlung von Soldaten in den Armeen der Zeit ein Klagetopos
der Literatur ist, so wenig lässt sich auch hier Schröders Ausführung als bloß to-
pisch beschreiben. Die hohe Frequenz, mit der die Spannung zwischen den dem
Anspruch der Bürger, tugendhaft zu leben, und der häufigen Amoralität des Mili-
tärdienstes besonders in den vielen Soldatenstücken dieser Tage thematisiert wird,
legt nahe, dass diese Diskrepanz in der Tat als ein virulent bleibendes Problem be-
griffen wurde. Dass Schröder schließlich seinen Verleger Wiesenberg nach Kennt-
nisnahme der Lebensbilanz Knochens diesem die Kosten für sein Inserat in der
Zeitung erlassen und ihn statt dessen mit Geld belohnen lässt, demonstriert noch-
mals, dass er mit Knochen zwar eine lustige Person, jedoch ein ernstes Thema auf
die Bühne bringt, bei dem die Mittelschichten entschlossen sind, die Ansprüche
der bürgerlichen Moral über jene des Staates zu stellen. Dabei wird man nicht ü-
108
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
bersehen dürfen, dass die öffentliche Legitimation der Desertion, wie sie Schröder
betreibt, nur wenige Jahre später auf den Wiener Bühnen unmöglich gewesen wä-
re91 und schon 1784 als heikel angesehen werden musste.
4. Schlussbemerkung
Friedrich Ludwig Schröders Die Heurath durch ein Wochenblatt ist eine Posse,
der es trotz des Ausgangs von einem einhundert Jahre älteren Text gelingt, diffe-
renziert und komplex die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, und zwar
mediale wie politische, von Modernisierungsschüben wie von Regenten verursach-
te zu spiegeln, bewusst zu machen, zu diskutieren und mitunter eindeutig zu
kommentieren. An diesem kleinen Stück überrascht vielleicht auf den ersten Blick
die scheinbare Verspätung, mit der jene Parodie des Journalismus, die Boursault
bereits 1683 verfasst hat, erst 100 Jahre später auf deutschen Bühnen umgesetzt
und als geeignete Vorlage zur Spiegelung auch deutscher Zeitverhältnisse wahrge-
nommen wird. Dass die deutsche Medienentwicklung im 18. Jahrhundert mitun-
ter langsamer verläuft als in Frankreich und England, ist bekannt. So groß aber war
der Abstand bei weitem nicht, dass hundert Jahre hätten vergehen müssen, ehe Pa-
riser Verhältnisse in deutschen Städten anzutreffen und zu ironisieren waren.
Tatsächlich zeigt die nähere Betrachtung der Posse erstens einen geschickt-
produktiven Umgang mit der Vorlage, deren basales Handlungsgerüst übernom-
men, jedoch um ablenkende Szenen entschlackt wird und durch Variationen der
Personenkonstellationen, der Szenenreihenfolge sowie der Anliegen der einzelnen
Redaktionsbesucher präzise auf die Zeitverhältnisse im deutschsprachigen Raum
um 1784 angepasst wird. Insofern ist Schröders Posse beredtes Zeugnis für die zu-
vor skizzierte Ästhetik der Professionalität, als hier die Verhandlung zeitgenössi-
scher Probleme und Entwicklungen, auch solcher, die in einer größeren Öffent-
lichkeit nicht selten besonders prekär sind (religiöse Toleranz, Soldatenglück,
Krieg), mit bewährten Mitteln der Komik angegangen sind, um erfolgreich einem
Mittelschichten-Publikum Probleme vor Augen zu führen und manchmal auch
Stellung zu nehmen.
Ebenso bemerkenswert ist freilich, wie gut es Schröder gelingt, ohne Verlust an
originärer Komik und ohne Verzicht auf erprobte Mittel unterhaltenden Theaters
ein tempo- und abwechslungsreiches Spiel zu inszenieren, das dem Genre der Pos-
se als kurzer, lustiger Scherz würdig zuzuschlagen ist, und doch in jeder Szene zum
produktiven Reflexionsmedium gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit
wird, in der es zudem noch dezidiert Stellung bezieht. Dass solch ein Verfahren bei
Schröder weder eine Projektion der Forschung noch ein Zufall ist, kann der
109
Johannes Birgfeld
Schlussszene der Heurath entnommen werden, in der Schröder eine seiner Figuren
das Programm des Wochenblattes umreißen lässt, welches kurz, aber präzise auch
die Poetik dieser Posse umreißt: Wiesenberg wird darin gelobt, ein Mensch zu
sein, »der seine Zeit zum Nutzen und Vergnügen seiner Mitbrüder anwendet« und
dabei »Ernst und Satyre, nicht Bitterkeit und Pasquillantenton braucht« (HW 52).
Es scheint an der Zeit, solchen programmatischen Äußerungen trotz ihrer Knapp-
heit Gewicht beizumessen und das Unterhaltungstheater eines Autors wie Schröder
darauf zu untersuchen, inwieweit es wirklich zu leisten vermag, was Schröder hier
anstrebt: dem Mitbürger durch Ernst und Satire, also durch ambitioniertes Unter-
haltungstheater zu nutzen.
Es wäre freilich leicht, Schröders Text als bloße Quelle zur Verfeinerung unse-
rer Vorstellungen vom medienkritischen Bewusstsein und von der Entwicklung
der Medienkompetenzen im 18. Jahrhundert zu betrachten. Tatsächlich ist er in
dieser Hinsicht von großem Interesse. Ein mindestens ebenso großer Reiz seiner
Lektüre besteht darin, dass sie uns zu erkennen erlaubt, dass auch das sogenannte
Unterhaltungstheater weder notwendig trivial noch notwendig konservativ oder
weltabgewandt agierte, sondern sehr wohl am gesellschaftlichen Diskurs kritisch
und differenziert zu partizipieren vermochte. Und gerade aus dieser Sicht scheint
es geboten, Schröders Fähigkeit, eben diesen Beitrag mit den altbewährten Mitteln
unterhaltenden Theaters zu leisten, sowohl als literarische Leistung zu würdigen,
wie sich andererseits bei diesem wie anderen Texten nicht von der Professionalität
der Inszenierung über die Möglichkeit täuschen zu lassen, dahinter könnte sich
ebenfalls ernsthaftes literarisches Bemühen verbergen.
1
Wolfgang Martens: Der Literat als Demagoge. Zum Thema der politischen Gefähr-
lichkeit des Schriftstellers um 1790, entwickelt am Beispiel von Ifflands Antirevolu-
tionsdrama Die Kokarden. In: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen
Kommunikationsforschung. München: Verlag Dokumentation 1977, S. 100-136.
Im Folgenden zitiert mit der Sigle L.
2
Vgl. Martens: Literat (1977), S. 104.
3
Vgl. Martens: Literat (1977), S. 105-106.
4
Vgl. Martens: Literat (1977), S. 111.
5
Ifflands Hahn beweist das Gegenteil: Mit ihm betritt eine Figur die Bühne, die auf
der Höhe und im Schnittpunkt zeitgenössischer Diskurse steht, an der sich neue,
zum Teil erst in der Folgezeit intensiver diskutierte Probleme kristallisieren. Und
obwohl Iffland am Ende eine eindeutige Haltung gegen Hahn und die von ihm
110
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
verkörperten Prinzipien und Praktiken bezieht, handelt es sich bei den Kokarden
ebenso um Agitation wie um eine dezidierte dramatische Stellungnahme zu aktuel-
len Problemen, die auf komplexe Weise, nämlich in einer aus noch offenen, unent-
schiedenen öffentlichen Diskursen geborenen Figur gespiegelt und greifbar ge-
macht werden.
6
Vgl. Martens: Literat (1977), S. 116-117.
7
Vgl. Martens: Literat (1977), S. 123-124.
8
Martin Huber, Gerhard Lauer: Vorbemerkung. / Neue Sozialgeschichte? Poetik,
Kultur und Gesellschaft --- zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft. In:
Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Histo-
rischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. v. Dies. Tübin-
gen: Niemeyer 2000, S. 3.
9
Huber, Lauer: Sozialgeschichte (2000), S. 3.
10
Huber, Lauer: Sozialgeschichte (2000), S. 2.
11
Helmut Kreuzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. In: DVjS 41 (1967) 2, S.
173-191, hier: S. 191.
12
Markus Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit 1780-1805. Produktion und Re-
zeption. Bonn: Bouvier 1982, S. 19.
13
Helmut Kreuzer musste noch gegen viele, von ihm aufgezählte Stimmen betonen
und erst durchsetzten, was spätestens seit der sogenannten kulturwissenschaftlichen
Wende selbstredend ist: »Jedes literarische Produkt ist im Prinzip solange (und in
dem Maße) legitimer potentieller Gegenstand der Wissenschaft, als seine Behand-
lung poetologisch oder historisch innovative, erkenntnisfördernde Resultate ver-
spricht« (Kreuzer: Trivialliteratur (1967), S. 178).
14
Gerhard Neumann, Siegrid Weigel: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft.
In: Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und
Ethnographie. Hg. v. Gerhard Neumann u. Sigrid Weigel. München: Wilhelm
Fink Verlag 2000, S. 9-16; hier: S. 13.
15
Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel
deutschsprachige Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800). Frank-
furt/M: Vittorio Klostermann 2002; vgl. etwa Kapitel IV u. XI.
16
Heßelmann: Theater (2002), S. 394.
17
Vgl. dazu u.a. das Vorwort zu diesem Sammelband: Kotzebue kam auf über 220
Stücke, Iffland auf über 50, Gotter überschritt 40, Schröder 30 Stücke und Bear-
beitungen zuzüglich weiterer Übersetzungen; Vulpius schrieb wenig später über 45,
von Voß mehr als 150 Stücke und Stückchen.
18
Schikaneder verfasste ca. 60 Stücke, Gewey 35, Perinet über 110 und Hensler ca.
95.
19
Johann Michael von Loen: Der redliche Mann am Hofe. Faksimiledruck nach der
Ausgabe von 1742. Mit einem Nachwort von Karl Reichert. Stuttgart: Metzler
1966, S. 65.
20
Loen: Mann (1966), S. 275.
111
Johannes Birgfeld
21
Vgl. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von
den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Berlin: Böhlau 2000, S. 79:
»Insbesondere sich über Jahre hinweg erstreckende Ereignisse von herausragender
Bedeutung, wie der Siebenjährige Krieg, die amerikanische Revolution mit dem
Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution, regten das Bedürfnis und
Interesse, über die Zeitläufte informiert zu sein, stark an und stimulierten sowohl
die Nachfrage als auch das Angebot der Zeitungen«.
22
Wilke: Grundzüge (2000), S. 84.
23
Silvia Mazura: Die preußische und österreichische Kriegspropaganda im Ersten und
Zweiten Schlesischen Krieg. Berlin: Duncker & Humblot 1996.
24
Loen: Mann (1966), S. 284-285.
25
Es sei hier lediglich auf die von Karl Kurth 1944 (Brünn, München, Wien: Rudolf
M. Roherer Verlag) herausgegebene, klassische Sammlung Die ältesten Schriften
für und wider die Zeitung verwiesen, und darin etwa auf die nachhaltigen War-
nungen Ahasver Fritschs vor der Unverlässlichkeit der Zeitungen und ihres oftma-
ligen Missbrauchs für »politische Geheimzwecke« (ebd. S. 40).
26
Gleim an Uz, 16.08.1757. In: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Peter Uz:
Briefwechsel. Hg. u. erl. v. Carl Schüddekopf. Tübingen: Literarischer Verein in
Stuttgart 1899, S. 284.
27
Michael Denis: Poetische Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge in Europa, seit
dem Jahr 1756. 1. Teil, 2. Aufl. / 2. Teil. Wien: Joseph Kurtzböcken 1760/1761.
28
Gegenüber der Berichterstattung in Zeitungen vertrat Denis in seinen Poetischen
Bildern zwei Überzeugungen: Erstens: Auch wenn das »Postgetöne« (Denis: Bilder
(1760), S. 12) noch so laut im Ohr klinge, vertrauen dürfe kein Leser den Nach-
richten der Zeitungen. Hier ist es »Preußens Ruhmbegier« (ebd. S. 12), die in den
Blättern die Wirklichkeit verdreht, dort »dichtet [man] Umständ an. Man über-
treibt die Zahl« (ebd. S. 15); was »manches Zeytungsblatt so prächtig angekündet«
ist bloße »Pralerey« (Denis: Bilder (1762), S. 7). Die Blätter sind der Ort, an dem
der Feind ganz bewusst Lügen verbreitet zur Verschleierung der eigenen Niederla-
gen (ebd. S. 13). Zum zweiten jedoch glaubt Denis, es komme der Poesie zu, gera-
de wegen der Unverlässlichkeit der Zeitungen als deren Korrektiv aufzutreten. Da-
bei ist für ihn die höhere Wahrheit der Poesie eine der durch zeitliche Distanz er-
worbenen vorgeblichen Objektivierung des Blicks.
29
Denis: Bilder (1760), unpag. Vorbericht.
30
Zur Ausdifferenzierung des Zeitungs- und Zeitschriftenangebots im 18. Jahrhun-
dert vgl.: Wilke: Grundzüge (2000), S. 78-127; sowie Werner Faulstich: Die bür-
gerliche Mediengesellschaft (1700-1830). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
2002 S. 29-44 sowie S. 225-251.
31
Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Hannover: Fackel-
träger-Verlag 1993, S. 24.
112
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
32
Christian Fürchtegott Gellert: Poetologische und Moralische Abhandelungen. Au-
tobiographisches. Hg. v. Werner Jung, John F. Reynolds, Bernd Witte. Berlin,
New York: de Gruyter 1994, S. 308.
33
Vgl. zur Debatte der Bedeutung der Zeitungen im universitären Studium in diesem
Gedicht: Claude D. Conter: Generationenwechsel --- Medienwechsel. Zu Gellerts
Gedicht Der junge Gelehrte. In: Lyrik lesen! Eine Bamberger Anthologie. Hg. v.
Stefan Neuhaus u. Oliver Jahraus. Düsseldorf: Grupello 2000. S. 108-111.
34
Im Folgenden mit der Sigle HW nach dem Wiener Erstdruck zitiert: [Friedrich
Ludwig Schröder]: Die Heurath durch ein Wochenblatt. Eine Posse in einem Auf-
zuge. Für das K. K. National-Hoftheater. Wien: bey Friedrich August Hartmann,
und beym Logenmeister beyder K. K. Theater 1786.
35
Vgl. zu diesen Daten und dem Tag der Erstaufführung: Franz Hadamowsky: Die
Wiener Hoftheater (Staatstheater) 1776-1966. Verzeichnis der aufgeführten Stücke
mit Bestandsnachweis und täglichem Spielplan. Teil 1: 1776-1810. Wien: Georg
Prachner 1966.
36
Die Aufführung unter Goethe erfolgte am 14. April 1795 in Weimar (vgl. Carl Au-
gust Hugo Burkhardt: Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes
Leitung 1791-1817. Hamburg, Leipzig: Leopold Voß 1891, S. 17; vgl. zur Zuge-
hörigkeit des Stücks zum Repertoire auch der Bellomoschen Truppe: ebd. S. 125).
37
Zu Knigges Autorschaft der Rezension vgl.: Adolph Freiherr Knigge, Friedrich Ni-
colai: Briefwechsel 1779-1795. Mit einer Auswahl und dem Verzeichnis der Rezen-
sionen Knigges in der »Allgemeinen deutschen Bibliothek«. Hg. v. Mechthild u.
Paul Raabe. Göttingen: Wallstein 2004, S. 317.
38
[Knigge]: Die Heyrath durch ein Wochenblatt. In: Allgemeine deutsche Biblio-
thek. 99. Bd. (1791) 1. St., S. 123. Knigge besprach übrigens die Ausgabe: Mainz:
Sartorius 1789.
39
Zur publizistischen Tätigkeit Boursaults vgl.: Bernard Beugnot, Jean-Pierre Colli-
net: Boursault. In: Dictionnaire des Journalistes 1600-1789. Vol. 1. Oxford: Vol-
taire Foundation 1999, Sp. 106-109.
40
Franz Calot: Boursault. In: Dictionnaire des Lettres Françaises publié sous la direc-
tion du Cardinal Georges Grente. Les XVIIe Siècle. Paris: Fayard 1996, S. 207-208,
hier: S. 208.
41
Saint-René Taillandier: Études Littéraires. Un poète comique du temps de Molière.
Boursault, sa vie et ses œuvres. La renaissance de la poésie provençale. Paris: E. Plon
1881, S. 141.
42
Paul Harvey, J.E. Heseltine: Boursault. In: Paul Harvey, J.E. Heseltine: The Ox-
ford Companion to French Literature. Oxford: At the Clarendon Press 1986, S.
85.
43
Zitiert wird die Ausgabe: Edme Boursault: Le Mercure Galant Comédie corrigée et
réduite en quatre Actes, Telle qu’elle vient d’être représentée à Versailles devant Sa
Majesté, & telle qu’elle se joue actuellement à Paris par les Comédiens ordinaires
du Roi. Boursault 1679. A Paris: Par la Compagnie des Libraires MDCCLXVIII
113
Johannes Birgfeld
[1768]. Die zitierte Ortsangabe findet sich auf S. 2. Im Folgenden zitiert mit der
Sigle MG.
44
Taillandier: Études (1881), S. 138.
45
Vgl. MG 10, IV: »Oui jamais de noblesse a vu source moins pure? / Tel est le foi-
ble, hélas! de l’humaine nature. / On veut, sans mériter, un titre qu’on poursuit«.
46
Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeut-
schen Mundart. Dritter Theil. Wien: B. Ph. Bauer 1811, Sp. 812.
47
Adelung: Wörterbuch 3. Theil (1811), Sp. 812.
48
Vgl. u.a. Wilke: Grundzüge (2000), S. 72-77.
49
Vgl. u.a. Wilke: Grundzüge (2000), S. 118-121.
50
Vgl. Faulstich: Mediengeschichte (2002), S. 32-35, sowie Wilke: Grundzüge
(2000), S. 124-125.
51
Man vgl. die Liste der Moralischen Wochenschriften, die Wolfgang Martens zu-
sammengestellt hat (Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Stuttgart:
Metzler 1968, S. 544-548), die Neugründungen bis in die 1770er und 1780er Jah-
re nachweist, sowie --- ebenso interessant --- die lange Liste deutschsprachiger Wo-
chenschriften, »die den Typus der Moralischen Wochenschrift nicht vollkommen
repräsentieren« (ebd., S. 548-550).
52
Faulstich: Mediengesellschaft (2002), S. 35.
53
Faulstich: Mediengesellschaft (2002), S. 33.
54
Wilke: Grundzüge (2000), S. 124.
55
Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus
Nothanker. Kritische Ausgabe. Hg. v. Bernd Witte. Stuttgart: Reclam 1991, S.
209.
56
Goethes Werke. 14. Bd. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen.
Weimar: Böhlau 1887, S. 149.
57
Der letzte Satz der 4. Szene übrigens lautet, auf die Veruntreuung des eingereichten
Gedichtes bezogen: »Auf einen solchen Diebstahle ist keine Strafe gesetzt; drum ist
er auch so häufig« (HW 11) --- ein schöner Beleg, dass auch in Possen Buchmarkt-
politik gemacht und artikuliert werden konnte.
58
Komik, die wie in der Lindner-Szene und in Schröders Heurath insgesamt auf
Übertreibung basiert, funktioniert nur dann, wenn einerseits das übertrieben Dar-
gestellte als realer Teil des Lebens begriffen und andererseits die lächerliche Über-
steigerung desselben zugleich nicht als inakzeptabler Tabubruch, sondern als legi-
tim und produktiv empfunden wird.
59
Es muss kaum ausgiebig erläutert werden, dass eine Gesellschaftssatire, worum es
sich in Schröders Fall zweifelsohne handelt, tatsächlich am Bewusstmachungspro-
zess gesellschaftlicher Wirklichkeiten partizipiert.
60
Wilke: Grundzüge (2000), S. 118.
61
Vgl. dazu ausführlich: Ritchie Robertson: The ›Jewish Question‹ in German Litera-
ture, 1749-1939. Emancipation and its Discontents. Oxford: Oxford University
Press 1999, insbesondere S. 22-45.
114
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
62
Vgl. nochmals: Robertson: Question (1999), S. 46.
63
Joseph Karniel, Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II. Gerlingen: Bleicher Verlag
1986, S. 381.
64
Vgl. Karniel: Toleranzpolitik (1986), S. 388-393, 423-429.
65
Vgl. William O. McCagg: A History of Habsburg Jews, 1670-1918. Bloomington,
Indianapolis: Indiana University Press 1989, S. 48 u. 51.
66
McCagg: History (1989), S. 48-49.
67
Joseph Karniel: Zur Auswirkung der Toleranzpatente für die Juden in der Habs-
burgermonarchie im josephinischen Jahrzehnt. In: Im Zeichen der Toleranz. Auf-
sätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ih-
ren Voraussetzungen und ihren Folgen. Hg. v. Peter F. Barton. Wien: Institut für
protestantische Kirchengeschichte 1981, S. 211.
68
Karniel: Toleranzpolitik (1986), S. 382.
69
Karniel: Auswirkung (1981), S. 206.
70
Karniel: Auswirkung (1981), S. 207.
71
Vgl. etwa Hans Mader: Es ist echt zu bitter. Todesanzeigen --- gesammelt und
kommentiert von Hans Mader. Hamburg: Germa-Press 1990, S. 18. Dort findet
sich auch der Wortlaut dieser ersten Todesanzeige in einer Zeitung.
72
Georg Steinhausen spricht in seiner Geschichte des deutschen Briefes (unveränd.
Nachdr. d. 1. Aufl. 1889-1891. Dublin, Zürich: Weidmann 1968, 2. Teil, S. 380-
381) von »Notifikationsschreiben«, »die man auf schwarzgeränderten Quartblättern
durch Schreiberhand abgeschrieben oder in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
meist gedruckt an alle Welt sendet«. An gleichem Ort finden sich auch einige Bei-
spiele solcher Anzeigen im Wortlaut.
73
Hermann Frey: Die Anzeige. Entwicklung des Zeitungsinserats in München bis
1807. Würzburg-Aumühle: Konrad Triltsch-Verlag 1939, S. 51.
74
Frey: Anzeige (1939), S. 52.
75
Philippe Ariès: Geschichte des Todes. Aus dem Französischen v. Hans-Horst Hen-
schen u. Una Pfau. München: Hanser 1980, S. 715.
76
Karl Arnold Kortum: Der Märterer der Mode eine Geschichte satirischen Inhalts.
Wesel, Leipzig: bey F. J. Röder u. J. S. Heinsius 1778, S. 72.
77
Kortum: Märterer (1778), S. 17.
78
Kortum: Märterer (1778), S. 74.
79
Vgl. Joseph Richter: Bildergalerie weltlicher Misbräuche. Originalgetreuer Nach-
druck der Erstausgabe von 1785. Dortmund: Harenberg Kommunikation 1977, S.
38-47.
80
Richter: Bildergalerie (1977), S. 45.
81
Vgl. etwa allein für Wien in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts: McCagg:
History (1989), S. 53: »[T]here were new-wealthy Christian industrialists in some
number in Vienna who had risen to riches by extracting privileges from the treasury
to build factories either in the suburbs or (more often) in various parts of Upper
and Lower Austria. Further, there were many new-wealthy Christians who became
115
Johannes Birgfeld
rich as bureaucrats or government agents of one sort or another. [...] Since many
members of the new upper bourgeoisie managed to win noble status, it was known
very generally by the end of Joseph II’s reign as the ›second nobility‹ [...] to distin-
guish it at once from the higher, titled aristocracy of the past«.
82
Vgl. dazu etwa: Nicolai: Leben (1991), S. S. 251 (»der alte Säugling, der schon ein
Rittergut gekauft hatte«); Kortum: Märterer (1778), S. 60; Friedrich Ludwig
Schröder: Das Porträt der Mutter oder Die Privatkomödie. Ein Lustspiel in vier
Aufzügen [ED 1790]. In: Bibliothek der Deutschen Klassiker. Mit literargeschicht-
lichen Einleitungen, Biographien und Porträts. 11. Band. Klassische Periode. 8.
Theil. Hildburghausen: Bibliographisches Institut 1862, in dem u.a. Madame Wa-
ker damit befasst ist, dem Sohn ein »Freiherrendiplom« (ebd. S. 636) zu erwerben
sowie einer Baronesse von Korn das passende »Rittergut« abzukaufen (ebd. S. 643);
sowie Richter: Bildergalerie (1977), S. 93-105 zum verwandten Problem der »Titu-
laturen«.
83
Vgl. dazu nochmals Heßelmann: Theater (2002), der die Naturnachahmung als
weitgehenden Konsens des Theaterbetriebes, vor allem aber der Theaterkritiker
herausgearbeitet hat (u.a. S. 338-350).
84
Wie weit Abbts politische Utopie dabei reichte, verdeutlicht folgende Passage aus
dem ersten Hauptstück der Abhandlung: »Allein wenn ein allgemeines Bestes statt-
findet, [...] so muß es auch nur eine einzige politische Tugend geben. Aus diesem
Gesichtspunkt betrachtet, verschwindet der Unterschied zwischen Bauer, Bürger,
Soldat und Edelmann. Alles vereinigt sich, und stellt sich unter dem vormals so
herrlichen Namen eines Bürgers dar. Dann ist jeder Bürger ein Soldat, jeder Soldat
ein Bürger, und jeder Edelmann Soldat und Bürger, wie man will« (Thomas Abbt:
Vom Tode für das Vaterland. In: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeit-
zeugen zum Siebenjährigen Krieg. Hg. v. Johannes Kunisch. Frankfurt a.M.: Deut-
scher Klassiker Verlag 1996, S. 589-650, hier: S. 600).
85
Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm. In: Lessing: Werke und
Briefe in 12 Bänden. Bd. 6. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt/M.: Deutscher Klassi-
ker Verlag 1985, S. 9-110, hier: S. 62 (III,7), Tellheim: »Man muß Soldat sein, für
sein Land; oder aus Liebe zu der Sache, für die gefochten wird«. Aus Sicht von
Thomas Abbt war beides identisch, weil nur jenes Vaterland den Dienst seiner Un-
tertanen verlangen konnte, das ein wohlregiertes war und folglich für eine verteidi-
genswerte Sache stand.
86
Vgl. Lessing: Minna (1985), S. 99 (V,9), Tellheim: »Ich ward Soldat aus Partei-
lichkeit, ich weiß selbst nicht für welche politische Grundsätze«.
87
Vgl. Lessing: Minna (1985), S. 81 (IV,6), Tellheim: »Es ist gekommen, wie es
kommen müssen. Die Großen haben sich überzeugt, daß ein Soldat aus Neigung
für sie ganz wenig; aus Pflicht nicht viel mehr: aber alles seiner eignen Ehre wegen
tut. Was können sie ihm also schuldig zu sein glauben? Der Friede hat ihnen meh-
rere meines gleichen entbehrlich gemacht; und am Ende ist ihnen niemand unent-
behrlich«.
116
Medienrevolutionen und gesellschaftlicher Wandel
88
Typisch in diesem Sinne wäre etwa eine Wendung, in der sich zeigt, dass der Re-
gent gegen seinen Willen über die Verdienste des Soldaten nicht informiert wurde
und diesem den Abschied natürlich schon lange gewährt hätte und nun auch
prompt zuspricht.
89
Es genügt ein kurzer Blick auf das folgende Selbstlob von Boursaults Soldat namens
»La Rissole«, um dessen Zugehörigkeit zum Typus des miles gloriosus zu erkennen:
»Or donc, pour en venir à ma belle action, / Vous saurez que toujours je fus
homme de guerre, / Et brave sur la mer autant que sur la terre. / J’étois sur un Vais-
seau quand Ruyter fut tué, / Et j’ai même à sa mort le plus contribué: / Je fus cher-
cher le feu que l’on mit à l’amorce / Du canon qui lui fit rendre l’ame par force. /
Lui mort, les Hollandais souffrirent bien des mals!« (MG 35)
90
Faulstich: Mediengesellschaft (2002), S. 35.
91
Franz Karl Hägelin formuliert 1795, auf der Höhe der antirevolutionären Zensur-
maßnahmen in seiner Denkschrift über die Theaterzensur (in: Jahrbruch der Grill-
parzer-Gesellschaft 7. Jg. (1897), S. 298-340) und als Leitlinie für österreichische
Zensoren: »[Es] ist der Militärstand besonders zu schonen, damit keine entehrende
Handlung oder Kritick auf diesen angesehenen Stand, dessen delikateste Seite das
point d’honneur ist, gewälzt werde; deßwegen muß auch keine Kritick oder anspie-
lender Tadel auf die Verfassung oder Einrichtung und Gebräuche des innländi-
schen Militärs vorkommen. [...] Auch ist nicht zu passiren was den gemeinen
Mann vom Militärdienste oder der Rekrutenstellung abschrecken könnte« (ebd. S.
314).
117
III.
Man hat abschätzig gesagt, Ifflands »Familiengemälde« seien »Rührstücke«, die »eine
autoritative Struktur der Familie abbilden« und »von den Rechten und Pflichten aller
Familienmitglieder zueinander und gegenüber dem Familienoberhaupt handeln«1.
Wessen Blick dergestalt auf die unbestreitbar affirmative Tendenz dieser Dramen fi-
xiert ist, setzt als ausgemacht voraus, was in ihnen gerade als Problem zur Darstellung
kommt. Und er blendet die Frage aus, unter welchen Voraussetzungen diese Dramen
überhaupt etwas »abbilden« können, was in Wahrheit die Darstellung oder genauer
die Bearbeitung eines Problems ist. Als problematisch erweist sich die Ordnung der
Familienkommunikation. Sie ist ein Problem, das --- da wir alle aus einer Familie
kommen --- uns betrifft, und dessen wir uns auch durch ein abschätziges Urteil nicht
entledigen können. Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist es notwendig, zunächst
kurz die gattungsgeschichtliche Stellung der Dramen Ifflands zu rekapitulieren, um sie
als Möglichkeitsbedingung für die Darstellung von Familienkommunikation auf der
Bühne auszuweisen.
auch nicht einmal lächelt; worinne man durchgängig weich gemacht wird«, wohl noch
den »Namen Komödie« verdiene.4 Konstitutiv für die Entstehung einer dritten Gat-
tung wurden zwei Schauspiele von Diderot, Le fils naturel und Le Père de famille
(1757 und 1758), die zusammen mit den Unterredungen zum Fils naturel und seiner
Abhandlung Von der dramatischen Dichtkunst in der Übersetzung Lessings im Jahre
1760 auf deutsch erschienen5 und in der Folge in Deutschland eine größere Wirkung
ausübten als in Frankreich.6
Am Père de famille, dem Hausvater, lassen sich die innere Logik und die Im-
plikationen des drame serieux (der »ernsthafte[n] Gattung«7) ablesen. Die Figur des
Hausvaters ist gleichsam das natürliche Zentrum der Gattung Schauspiel. Wie sehr
»das Schauspiel zur bürgerlichen Dramenform schlechthin« gerät, läßt sich Helmut
Koopmann zufolge daran ersehen, »daß das zentrale Thema nahezu aller dieser Dra-
men immer wieder die Familie ist«.8 In Diderots Schauspiel zeigt sich, daß die Dar-
stellung von Familienbeziehungen eine neue Auffassung dessen voraussetzt, was das
Theater überhaupt zu sehen geben kann. Sie ist bündig in einer Anweisung auf den
Punkt gebracht, die Diderot in seiner Abhandlung gibt:
Man denke also sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen, an den
Zuschauer ebenso wenig, als ob keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten
Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird.
Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.9
Durch das Einziehen dieser imaginären Mauer hört die Theaterbühne auf, ein Ort in-
nerhalb eines Raumes zu sein, der Zuschauer und Darsteller nach der Logik rhetori-
scher Kommunikation umfaßt. Nach Maßgabe ihrer statuierten Abschließung fun-
giert die Bühne nicht mehr »als Plattform für Mitteilungen«, sondern ihrerseits »als
Raum«.10 Dieser Raum wird vom Zuschauer auf die Kommunikation hin beobachtet,
die in ihm stattfindet. Das bedeutet aber, daß in der beobachteten Kommunikation
selbst wiederum Beobachtung vorkommt. Die Figuren auf der Bühne kommunizieren
und nehmen sich gegenseitig wahr; sie stehen in Interaktion und können insofern
nicht nicht kommunizieren. Es entsteht Kommunikation unter Anwesenden.11 Die
Probe aufs Exempel für die Auffassung der Bühne als geschlossenem Interaktionsraum
findet daher umgekehrt statt, wenn die Kommunikation auszubleiben scheint und
durch eine asymmetrische Organisation der Blicke ersetzt wird, wie es in der revolu-
tionären Bühnenanweisung Diderots zum Auftakt des Père de famille geschieht: Den
fragwürdigen Titelhelden erblickt man im Vordergrund auf- und abgehend, anschei-
nend »in sehr tiefen Gedanken« versunken; die Tochter des Hauses spielt mit ihrem
Onkel ein Brettspiel; der hinter ihnen mit einem Buch in der Hand sitzende Germeuil
»wirft zärtliche Blicke auf Cäcilien, wenn sie eben mit ihrem Spiele beschäftiget ist,
122
Familienkommunikation bei Iffland
und nicht auf ihn Acht haben kann«; der Onkel argwöhnt diese Blicke, was ihn »in
einer beständigen Unruhe« hält, »die sich aus seinen Bewegungen wahrnehmen
läßt«.12
Der Zuschauer beobachtet eine häusliche Szene, in der die Beteiligten unter sich
sind. Sie können sehen, von wem sie beobachtet werden. Und sie dürfen gegebenen-
falls davon absehen, daß sie wahrgenommen werden können, da sie --- anders als in ei-
nem öffentlichen Raum --- mit denjenigen vertraut sind, die sie wahrnehmen mögen.
Dem Schauspiel, das eine vierte Wand einzieht, entspricht daher statt eines Schauplat-
zes ein Raum zwischen vier Wänden. Lessing führt in der Hamburgischen Dramatur-
gie (mit Bezug auf Diderot) aus, daß man sich die alten Tragödien unter anderem
auch deshalb nicht zum Muster nehmen dürfe, weil alle Personen dort »auf einem
freien, öffentlichen Platze« sprechen; »sie können sich ihrer Gedanken und Empfin-
dungen nicht in den ersten und besten Worten entladen«, während »wir Neuern« »un-
sere Personen größtenteils zwischen ihren vier Wänden lassen«13.
Innerhalb dieser vier Wände sind die Körper, Blicke und Reden der Figuren Teil
von Beziehungen, die schon bestehen, bevor das Schauspiel beginnt (und weder auf
Schicksal noch auf Charakter zu reduzieren sind). Unter dieser Voraussetzung kehrt
»das Verhältnis von Blick und Gebärde, von Beobachtung und Körperausdruck, das
gemäß der Vierten Wand zwischen Zuschauern und Bühne besteht, […] auf der Büh-
ne selbst wieder und wird hier als Kommunikation beobachtbar«.14 Und die so zu Be-
obachtbarkeit gelangte Kommunikation unter Anwesenden beginnt als Familien-
kommunikation. »Gleich mit dem ersten Blick«, lobt Johann Friedrich Schink in sei-
nen Dramaturgischen Fragmenten Diderots Stück, steht »die ganze Familie des Haus-
vaters […] vor unseren Augen da. Mit dem ersten Anschaun erhalten wir Winke von
ihren Verhältnissen, Launen und Karakteren«.15 Man sieht: Der Raum der Familien-
kommunikation präsentiert sich zunächst und zumeist als Tableau. Mit dieser von
Diderot immer wieder ins Feld geführten Kategorie --- im Deutschen von Lessing mit
»Gemälde« wiedergegeben --- ist eine Stellung der Figuren auf der Bühne gemeint, »die
so natürlich und so wahr ist, daß sie mir in einer getreuen Nachahmung des Malers
auf der Leinwand gefallen würde«.16
Letztlich geht es dabei weniger um den Vergleich mit einem gerahmten Bild als
um den »Situationsrahmen, der als Bühne für Verhalten, Rede und Körperausdruck
der Figuren mitbeobachtbar sein muß«17 Es ist kein Zufall, daß der Begriff der Situa-
tion selbst zunächst mit seiner dramentheoretischen Verwendung bei Diderot in Um-
lauf kommt. Dessen Entwicklung hin zur heutigen »Kommunikationssituation« ist
darin schon angelegt.18 Als den »wahre[n] Contrast« in einem Drama bezeichnet Di-
derot etwa denjenigen, »den die Charaktere mit den Situationen machen«. Die Cha-
raktere sind »gut getroffen, wenn die Situationen dadurch verwirrter und schwieriger
123
Michael Niehaus
werden«.19 In diesem Sinne heißt es etwa bei Schink, Diderots Hausvater sei »vom er-
sten Augenblik in die Situazion gesezt«.20
Die Beobachtbarkeit und Einsichtigkeit der auf der Bühne entworfenen Situatio-
nen ermöglichen die Teilnahme der aus der Kommunikation unter Anwesenden aus-
geschlossenen Zuschauer. »Für den Zuschauer« muß --- so Diderots von Iffland befolg-
te Maxime --- »alles klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was
vorgeht, alles, was vorgegangen ist«; und es sei in der Regel besser, wenn man »ihm ge-
rade voraus sagt, was noch vorgehen soll«.21 Denn »Unwissenheit und Ungewißheit
erregen und unterhalten« zwar »die Neugierde des Zuschauers«, es müssen jedoch
»bekannte und immer erwartete Dinge sein, die ihn rühren und bewegen sollen«.22
Das Theater der Vierten Wand erzeugt durch die Schließung des Bühnenraums eine
Art »Innen-Raum« beim Zuschauer, in dem sich dessen »imaginäre Beteiligung an der
Situation« vollzieht.23 Sie nimmt die Form kollektiver Rührung an, die sich nicht nur
in der Güte und dem Wert der beteiligten Figuren selbst affirmiert, sondern idealiter
auch das Publikum --- wie Iffland sagt --- »zu einer Familie vereinigt«24.
Das Schauspiel ist also gewissermaßen in seiner Idealform ein rührendes Famili-
engemälde, in dem sich alle zeigen, wie sie sind. In der Mitte steht der gute Hausvater,
der das Beste für die Seinen will. Zum Gegenstand der Rührung wird die familiale
Ordnung freilich erst, weil sie sich nicht von selbst versteht, weil sie bedroht wird. Die
Gefährdung kommt scheinbar von außen. In Diderots Père de famille ist es die heim-
liche und unstandesgemäße Objektwahl des Sohnes. Nachdem der Vater die tugend-
hafte und bitterarme Sophia gesehen und gesprochen hat, macht er jedoch in einem
kurzen Monolog seinem Herzen Luft: »O Gesetze der Welt! O grausame Vorurtheile!«
ruft er aus, und er muß sich mit Gewalt »des Eindrucks entschlagen, den dieses Kind
auf meine Seele gemacht hat«, um dem Sohn vorstellen zu können, »was er mir schul-
dig ist, was er sich selbst schuldig ist«.25 Damit ist der Konflikt zwar nicht gelöst, aber
schon entschieden. Insofern der Zuschauer in der anschließenden Auseinandersetzung
mit dem Sohn einen Vater erblickt, der sich zu seiner väterlichen Position zwingen
muß, der eine Rolle spielt und sich nicht mehr so zeigen kann, wie er ist, ist diese Po-
sition unhaltbar geworden. Das zeitigt in der Folge den Zusammenbruch der Famili-
enkommunikation. Das Äußerste findet seinen Ausdruck: »Ein Vater! Ein Vater! Es
gibt keine Väter. --- Es gibt nur Tyrannen!«, heißt es auf der einen, »Ich gebe dir mei-
nen Fluch! Fort! Fliehe mich!«26 auf der anderen Seite.
Man sollte meinen, daß es diese Eskalation, dieses Zerschneiden des kommunika-
tiven Bandes ist, was den Konflikt zwischen Vater und Sohn unlösbar macht. Was a-
ber tatsächlich nicht gelöst wird, ist das Problem der Objektwahl. Hier gibt es nur ei-
ne »Theaterlösung, durch die hindurch die Unlösbarkeit des Problems spürbar
bleibt«27: Sophia entpuppt sich als eine Verwandte. Diderot benötigt also einen jener
124
Familienkommunikation bei Iffland
von ihm eigentlich abgelehnten coups de théatre, um den Vater in die Lage zu verset-
zen, seinen väterlichen Segen zu spenden. Nur so läßt sich das Amt des Vaters restitu-
ieren. Und dessen Verneinung durch den Sohn? Und der väterliche Fluch? Das waren
nur voreilige Worte.
2. Ifflands Familienväter
Die Objektwahl der Kinder ist auch in den meisten Dramen Ifflands ein entscheiden-
des Element. Die Familienväter treten uns in einem Moment des Übergangs entgegen:
Die bestehende Familie löst sich auf, eine neue hat zu entstehen. Die Familienväter
befinden sich am Rande des Alters und blicken zurück, die Kinder sind schon erwach-
sen (wirkliche Kinder kommen bei Iffland kaum auf die Bühne28). Ihre richtige Ob-
jektwahl ist die Bedingung dafür, daß sich die Familie als geordnete Struktur fortsetzt,
und sie ist der Beweis dafür, daß die Erziehung den Kindern die richtigen Prinzipien
eingepflanzt hat, daß die Familie also eine wohlgeordnete Struktur gewesen ist. Aus
beidem zusammen folgt, daß der Vater die Objektwahl nicht für den Sohn oder die
Tochter vornehmen kann, sondern daß die Kinder von sich aus eine Wahl treffen, die
den mutmaßlichen Erwartungen des Vaters entspricht. Zu dem Konflikt, der die Be-
teiligten in Diderots Hausvater zu den äußersten Sprechakten treibt, soll es gar nicht
kommen können. Weder soll der Vater dem Sohn die geliebte Frau verbieten noch
umgekehrt der Sohn eine Verbindung eingehen, die der Vater nicht billigen kann.
Wie das geht, zeigt modellhaft der Auftakt von Ifflands erstem großen Bühnener-
folg, Das Verbrechen aus Ehrsucht. Hier eröffnet der Oberkommissär Ahlden seinem
Sohn, daß er ihm mit einer jungen Dame namens Wohlzahn eine gute Partie ausge-
sucht hat. Der Sohn entgegnet aber: »Ich kann die Wohlzahn nicht heirathen«. Es
stellt sich heraus, daß der junge Sekretär schon eine andere liebt, die junge Ruhberg.
Der Vater erklärt »sehr fest«: »Das ist nichts für Dich!« (V 4f.).29 Der Sohn fragt nach
den Gründen:
OBERKOMMISSÄR. Meine Gründe? Vor der Hand sind es folgende: Es kann nicht
seyn – es soll nicht seyn – ich will’s nicht haben. Nach den andern Gründen
thue der Herr Sohn in einem halben Jahr weitere Nachfrage. Ich rede nicht
gerne vernünftige Dinge in den Wind. (Geht heftig umher, und braucht ohne
sein Wissen viel Tabak.)
SEKRETÄR. Ich gehorche willig jedem väterlichen Befehl –
OBERKOMMISSÄR. Versteht sich.
SEKRETÄR. Aber wenn sie auf Kosten meines Glückes – (V 5f.).
Der Sohn beharrt auf seiner Wahl. In der folgenden Auseinandersetzung stellt sich
heraus, daß der Vater nichts gegen die vom Sohn Erkorene, wohl aber gegen deren
125
Michael Niehaus
126
Familienkommunikation bei Iffland
nach dem Abgang seines Vaters aus: »Fürwahr, das ist früher gewonnen, als ich dach-
te!« (V 10).
Was besagt dieser ebenso realitätsgerechte wie rührende Ablauf für die Position
des Vaters und für die eingangs zitierte »autoritative Struktur der Familie«? Wer im
Familiengemälde nur die Affirmation sieht, sieht auch in solchen Szenen bloß Beispie-
le für die »Internalisierung väterlicher Autorität«31. Darauf läßt sie sich aber nicht re-
duzieren. Die Rede von der Internalisierung vernachlässigt das Problem der Darstel-
lung. Wie kann die internalisierte väterliche Norm dargestellt werden? Welche Figur
kann ein Vater unter diesen Voraussetzungen machen? Was der Zuschauer im ersten
Auftritt des Verbrechens aus Ehrsucht zu sehen bekommt, ist zunächst einmal ein Va-
ter, der sich nicht durchsetzen kann oder sich eines besseren belehren lassen muß. Er
sieht ihn folglich in einem Moment der Schwäche. Er soll lernen, diese Schwäche als
Stärke wahrzunehmen.
Im weiteren Verlauf des Dramas wird das Ergebnis dieser Szene bestätigt. Der
junge Ahlden und die junge Ruhberg werden ein glückliches Paar. Auch des Vaters
Bedenken erweisen sich freilich als begründet. Der Sohn kann nur glücklich werden,
weil sein Vater im entscheidenden Moment Stärke zeigt: Er ersetzt dem ruinierten Va-
ter Ruhberg die Staatsgelder, die dessen Sohn Eduard --- die eigentliche Hauptfigur ---
daraus entwendet hatte, um sich die Heirat mit einer Adligen zu ermöglichen, und
bewahrt so die Familie vor der Schande. Der Oberkommissär Ahlden wird insofern als
»erste[r] Repräsentant aller energischen, autoritären Väter« dem alten Ruhberg als »er-
ste[m] liebenswürdige[m], schwache[n] Vater« kontrastiv zur Seite gestellt.32 Der so
herausgestellte Gegensatz ist aber prekär. Denn der gute Vater ist nicht immer stark
und der schwache Vater ist gleichwohl gut. Zwar kann man feststellen, daß bei Iffland
und in vielen anderen »bürgerlichen Rührstücken« --- wie etwa Schröders Der Vetter in
Lissabon --- die »Unordnung im Familienleben […] aus einer Autoritätsschwäche des
Hausherrn« hergeleitet wird,33 aber es handelt sich eben um eine gewissermaßen kon-
stitutive Schwäche des Vaters als solchen, die nicht durch bloße Stärke eliminiert wer-
den kann.
Glaser nennt dies »Ifflands sentimentales Verhältnis zur Autorität«, deren Norm
zwar bestätigt, deren »rigide Durchsetzung« jedoch vermieden werde.34 Das ist freilich
kein Kennzeichen Ifflands, da das bürgerliche Schauspiel überhaupt nur unter dieser
Voraussetzung möglich ist. Rigide Durchsetzung von Normen taugt nicht zum Fami-
liengemälde --- sie ist nicht kommunizierbar---, und der bloß befehlende Familienvater
kann keine Anteilnahme erwecken. Schon Diderots Hausvater hält sich zugute, daß er
den »bloßen Gehorsam« des Sohnes »niemals begehrt habe«35. Daß er von seinem
Sohn kurz darauf »bei aller der Gewalt, die ein Vater über seine Kinder hat«36, doch
den Gehorsam verlangt, macht gerade sein Scheitern aus. An diesem Punkt ist die
127
Michael Niehaus
Kommunikation am Ende. Und dieser Endpunkt enthüllt nicht etwa --- wie man mei-
nen könnte --- den Vater als Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet und
nur noch in Befehlen spricht. Souveränität ist kein Schauspiel. Sie entzieht sich der
Darstellung. Der Rückzug auf die Befehlsgewalt erweist sich vielmehr in der Darstel-
lung der Familienkommunikation als deren Zusammenbruch und als Zeichen der
Schwäche und Zerbrechlichkeit.
Ifflands Dramen handeln schon aus diesem gleichsam darstellungslogischen
Grund von Vätern, die nicht die Gewalt über ihre Kinder haben. Und darüber hinaus
werden sie ja in der Regel in dem Moment der Krise gezeigt, in dem sie im Begriff
sind, das Amt des Vaters an die nächste Generation zu übertragen. Genau unter dieser
Voraussetzung können diese Dramen eine für jede Kultur grundlegende Frage bear-
beiten: Was ist ein Vater?37 Diese Frage hat --- worauf der Rechtshistoriker und Psy-
choanalytiker Pierre Legendre insistiert --- eine historische und eine anthropologische
Dimension. Ihm zufolge tut es not, »ernsthaft danach zu fragen, warum --- jenseits aller
historischen Betrachtungen über den gegenwärtigen Okzident --- das Amt des Vaters so
zerbrechlich ist«.38
Das bürgerliche Trauerspiel mag vornehmlich mit Vater und Tochter befaßt
sein39; im bürgerlichen Schauspiel hingegen ist die Beziehung zwischen Vater und
Sohn das Entscheidende. Denn in dieser Beziehung erweist sich die strukturelle Zer-
brechlichkeit des väterlichen Amtes, und Ifflands Dramen markieren den historischen
Ort, an dem sie zur Darstellung kommen kann. »Was ein Vater ist, als Funktion und
als Prinzip, wird vielleicht verständlich«, so Legendre, »wenn man den Vater als je-
manden begreift, der selbst ein Sohn ist, und zwar ein Sohn, der subjektiv daran arbei-
tet, Vater zugunsten seines eigenen Sohnes zu werden«. Die Formel des Römischen
Rechts, derzufolge der Vater immer ungewiß ist (pater semper incertus), läßt sich in
diesem Sinne ins Subjektive wenden:
Denn subjektiv ist der Vater immer ungewiß. Warum? Aus einem einfachen
Grund, weil ein Vater […] seinen Platz als Kind --- als Sohn --- zugunsten seines ei-
genen Kindes letztlich nie ganz aufgibt. Im Grunde seines Herzens und im Inner-
sten seiner Person bleibt er immer Kind.40
Daher ist es notwendig, die Person des Vaters von dem Amt, das er ausübt, zu unter-
scheiden. Zugleich aber muß der Sohn in der Person des Vaters das väterliche Amt
bewahren. Dies ist die Perspektive, aus der Iffland seine Väter auf die Bühne bringt:
die Perspektive des Sohnes, der um alles in der Welt an der väterlichen Funktion fest-
zuhalten sucht, ohne die es keine Ordnung gibt. Dafür zeugen schon die ungezählten
Stellen, in denen der Sprechakt »Vater!« ausgestoßen wird. Aber nach der Logik des
bürgerlichen Schauspiels hat dieser Versuch ohne Rückgriff auf den mythischen Vater
128
Familienkommunikation bei Iffland
zu erfolgen. Die Ordnung der Familie soll nichts gemein haben mit Gewalt und
Verbrechen, sondern sich als Ort der Kommunikation darstellen. Es geht nicht um
die Instituierung des Verbots über die Inszenierung und Bearbeitung des Parrizids, des
Mordes am Vater (Ödipus) oder des Opfers des Sohnes (Abraham), sondern um das
Festhalten an der väterlichen Funktion als solcher in einem Moment, da diese zur
Disposition zu stehen scheint. Daher birgt schon das Aussprechen des Titels »Vater«
das Potential der Rührung. Das väterliche Prinzip wird gerade dort aufgerufen und
mit einem Träger identifiziert, wo es sich von den Trägern abzulösen beginnt und den
Sohn in ihnen erneut durchscheinen läßt. Wir sehen bei Iffland keine erziehenden Vä-
ter, sondern solche, die die Früchte ihrer Erziehung ernten. Die Erziehung, die das vä-
terliche Gesetz im Subjekt verankert hat, hat immer schon stattgefunden.
Besonders augenfällig wird dies in dem späten Schauspiel Das Erbtheil des Vaters,
mit dem Iffland im Jahre 1800 La Brouette de vinaigrier von Louis-Sébastien Mercier
aus dem Jahre 1775 fortsetzt. Dominique, schon Vater eines sechsjährigen Sohnes, ist
mit seinem Schwiegervater Delomer nach Deutschland gekommen, um sich den Wir-
ren der französischen Revolution zu entziehen. Der bürgerliche Delomer trachtet nach
Höherem zum Besten seiner Kinder --- am Geburtstag seines Schwiegersohnes soll die
Familie in den Adelsstand erhoben werden: »So bin ich denn jetzt dicht am Ziel mei-
ner Wünsche. Meine Kinder, die wackeren Seelen, die des Guten so viel verdienen ---
werden zu Glück und Ehre erhoben« (VI 141). Dem Schwiegersohn will er die
»Treue […] vergelten« und ihm zurufen: »nimm aus der Hand deines Vaters den
Lohn dafür!« (VI 141). Dem treuen Schwiegersohn sind diese Prätentionen natürlich
unangenehm. Er läßt den stellvertretenden Vater --- »Ach mein Vater!« »Mein guter
Sohn« (VI 147) --- nur vorläufig und mit innerem Widerstreben gewähren (da der
wahre Sohn im Herzen stets ein Bürger, und das wahre Erbteil jederzeit kein Titel ist).
Darum spielt der zweite Akt im Garten des Anwesens, in dem sich der exilierte
Dominique einen besonderen familiären Platz eingerichtet hat, an dem er zur inneren
Einkehr dem väterlichen Prinzip als solchem huldigt. »Vorne linker Hand, oder in der
Mitte« --- so die Bühnenanweisung --- »ein Tempel, dessen Kuppel auf freistehenden
Säulen ruht. An der Fronte des Tempels die Inschrift: Der Vatertreue« (VI 159). Die-
ser Ort steht keineswegs in Konkurrenz zur gegenwärtigen Vaterfigur mit ihren
Schwächen und Unvollkommenheiten, sondern stützt vielmehr auch deren Position.
Aus Rücksicht auf die Vater-Sohn-Beziehung --- »Habe Geduld mit des Vaters Schwä-
che, und empfinde seine Liebe!« (VI 176), bittet seine Gattin --- schlägt Dominique
das falsche Erbteil vorerst nicht aus.
Die Lösung des sich daraus anbahnenden Problems erwächst aus einer für das
bürgerliche Schauspiel charakteristischen Verlebendigung des väterlichen Prinzips.
Der Tempel ist nämlich keineswegs dem Gedenken eines gesetzgebenden toten, son-
129
Michael Niehaus
dern dem vor vier Jahren noch höchst lebendig in Frankreich zurückgelassenen Vater
geweiht, der nun im zweiten Akt inkognito auftaucht und zunächst dieses Tempels
ansichtig wird. Gerührt darf sich der alte Dominique mit dem väterlichen Prinzip i-
dentifizieren und den Tempel für eine durch störungsfreie Kommunikation ersetzbare
Äußerlichkeit erklären:
DOMINIQUE. Der Vatertreue? Ja, Dominique! treu war ich Dir und bleibe es, so
lange noch ein Athem in mir ist. Jeden Morgen warst du mein erster Gedan-
ke, und jeden Abend betete ich für Dich. Sey mir treu, bleib mir treu! Laß
mir den alten Platz in deinem Herzen, so mag immer kein Tempel für mich
gebauet werden, wenn du mir nur so offen und vertraulich ins Angesicht se-
hen kannst, wie sonst (VI 171).
Die Verlebendigung des väterlichen Prinzips ermöglicht die Erweiterung des Begriffs
»Vatertreue«, mit der der Sohn seine Treue zum Vater, der Vater aber darüber hinaus
auch seine Treue zum Sohn bezeichnet. Die Szene, in der die Verlebendigung schließ-
lich realisiert wird, gibt deren Logik sehr genau an. Die Familie nähert sich samt zwei-
er gräflicher Gäste dem Tempel, in dem sich der alte Dominique verborgen hat. Das
Kind hat für den Geburtstag des Vater etwas vorbereitet, eine kleine Rede:
DAS KIND. Lieber Vater!
DOMINIQUE. (wendet sich um – gibt seiner Frau die Hand und setzt sich).
DAS KIND. Du hast von uns allen gute Wünsche für dein Leben empfangen. Ich
bin ein Abgesandter, und spreche für den Großpapa in Frankreich zu dir.
DOMINIQUE SOHN. Ach! (Er sinkt an den Busen seiner Frau.)
DELOMER. (trocknet die Augen).
DAS KIND. Du bist sehr gut und wohlthätig; darum segnet Dich Gott mit vielem
Glück. Du bist noch sehr jung; darum sey froh und fröhlich. Denn wir sind
nur glücklich, wenn du recht vergnügt bist.
DOMINIQUE SOHN. (richtet sich auf, sieht aber vor sich nieder).
DAS KIND: Nun will der Großpapa in Frankreich, daß Du ihm schreibst, und bit-
test, daß, er daher komme.
DOMINIQUE VATER. (wird hinter dem Altare sichtbar).
DAS KIND. So kommt er auch zu uns, und wird dich hier an dieser Stelle segnen
und uns alle.
DOMINIQUE VATER. (steht zitternd, schwankend, eine Hand ausgebreitet, hinter
dem Altar; er will reden und kann es nicht).
DAS KIND. Dann sind wir alle recht glücklich und froh.
DOMINIQUE SOHN. (streckt unwillkürlich die Arme nach dem Altar, und wie er
die Augen dahin hebt fährt er auf). Allmächtiger Gott.
DOMINIQUE VATER. Dominique!
130
Familienkommunikation bei Iffland
DOMINIQUE SOHN. (stürzt hinauf). Mein Vater! mein Vater! Das ist der Vater!
(VI 179f.).
Hier kann man sehen, wie es um das bestellt ist, was Legendre »den Mechanismus der
Filiation« nennt. Der Tempel repräsentiert das »Paternalitätsprinzip«, das »die jeweili-
gen genealogischen Plätze definiert«: »Die Familie dient […] als institutioneller Rah-
men, in dem der symbolische Platztausch stattfindet, und dieser symbolische Platz-
tausch bedingt den Zugang jedes Kindes zur Vernunft«.41 Vernünftig (und sonst
nichts) ist die Rede des Kindes, weil sie das Prinzip der »Vatertreue« herbeizitiert, auf
dem die Vernunft und die Ordnung der Kultur gegründet ist. Solange der Vater noch
nicht leibhaftig erschienen ist, kann der Sohn zu seinem Vater als der Stellvertreter
von dessen Vater sprechen und ihn auf diese Weise zugleich daran erinnern, daß wir
alle Söhne sind --- gleichsam, als sei die »Menschheit […] ein Universum aus lauter
Kindern, durch das die Kategorie des (mythischen) Vaters wandert«.42
Zugleich aber wird der konkrete Vater herbeizitiert. Der Wunsch, dem die Briefe
Ausdruck verleihen sollen, ist bereits erfüllt geworden. Rührend ist --- wie man dem
Gebaren der Beteiligten entnehmen kann --- schon die Vorstellung, daß »Dominique
Vater« diese Rede hören könnte; der Zuschauer weiß schon, daß er sie tatsächlich
hört. Und am besten weiß es der Angesprochene selbst. Weil ihn die Rührung über-
mannt, muß er sich genau in dem Moment zeigen, in dem des Enkels Rede sein
Kommen vorhersagt. Er ist --- wie man sagt --- seiner selbst nicht mehr mächtig und a-
giert gewissermaßen ferngelenkt. Er ist nicht bei sich und kann in dem Moment, in
dem die Rede des Enkels ihm »hier an dieser Stelle« den Segen diktiert, nur die Hand
dazu heben, nicht aber sprechen.
Man versteht den Stellenwert dieser Szene nur, wenn man begreift, daß hier nicht
einfach den Vätern auf rührende Weise die Ehre erwiesen und die Treue gehalten
wird, sondern daß damit eine Depotenzierung des Vaters notwendig einhergeht. Auf
dieser Ebene gilt es, in dem seiner Sprache beraubten »Dominique Vater« eine zwar
nicht rührende, aber vielleicht ergreifende Allegorie dieser Depotenzierung und damit
der Zerbrechlichkeit des Vateramtes zu sehen. Der gerührte »Dominique Vater« ist
gewissermaßen das Gegenteil des steinernen Gastes, der die Einladung des losen Don
Juan beim Worte genommen hat, um ihn zu holen. Denn durch die Verlebendigung
wird er ein »lebendes Bild« des gründenden Paternalitätsprinzips, das »ihm seine Qua-
lität als Vater erst verleiht«.43 Wenn der Vater darüber gerührt ist, daß in ihm das
Prinzip geehrt wird, so nimmt er sich selbst als ein derartiges lebendes Bild wahr. Aber
weil er sich als ein solches wahrnimmt, entspricht er diesem Bild nicht, da ihm die
Rührung darüber die Sprache verschlägt. Die Rührung heftet sich jederzeit an das le-
bende Bild, das sie auf der anderen Seite affiziert. Auch die Rührung von »Dominique
Sohn« rührt ja daher, daß ihm dieser Ort jederzeit das Prinzip der Vatertreue als le-
131
Michael Niehaus
bendes Bild erstehen läßt. Die allumfassende Rührung ist gewissermaßen der Beweis
dafür, daß wir alle (der Vater nicht ausgenommen) Söhne sind und das lebende Bild
des Vaters in uns tragen.44 Allein das Kind, der tatsächlich minderjährige Sohn, ist
nicht gerührt. Er ist noch nicht alt genug, um die Zerbrechlichkeit des Vateramtes zu
schauen.
Die Rührung entsteht daraus, daß das lebende Bild trotz seiner Zerbrechlichkeit
intakt gelassen und damit anerkannt wird. »Dominique Sohn« bräuchte das Bild des
Vaters nur wegzuwischen. Daß er ihm die Treue hält, ist rührend und zeigt nicht nur,
daß die Rührung ihrem Wesen nach affirmativ ist, sondern auch, daß sie in ihrer logi-
schen Beziehung zum Vatermord betrachtet werden muß. Die Rührung ergeht dar-
über, daß der Vatermord ausgeblieben ist, ausbleibt und ausbleiben soll --- und sie tilgt
zugleich diesen Bezug. Sie löscht den Vatermord also gleichsam aus, indem sie dessen
Möglichkeit leugnet. Während nach Freuds Totem und Tabu die Instituierung des
Gesetzes und die Haltbarkeit der Institutionen bekanntlich den (symbolischen, sym-
bolisierten) Vatermord logisch voraussetzt, kommt die gerührte Affirmation ohne ei-
nen solchen aus. Vor den toten Vater schiebt sie dessen lebendes Bild. Wenn eine
Kultur Geschichten benötigt, in denen die Frage nach den »Katastrophen der Über-
tretung« inszeniert und bearbeitet wird, und etwa die »sophokleische Tragödie« in die-
sem Sinne »ein Traktat über die Fundamente des Verbots« darstellt,45 so ersetzt das
bürgerliche Schauspiel diese Notwendigkeit durch wiederholte Rührung.46 Einem
Wiederholungszwang gehorcht diese Rührung, weil der Vatermord stets möglich
bleibt und insofern immer wieder ausgelöscht werden muß. Die Gewähr, die das rüh-
rende Festhalten am lebenden Bild des Vaters bietet, bleibt --- könnte man sagen ---
stets auf die jeweilige Situation bezogen. Sie muß kommuniziert werden.
132
Familienkommunikation bei Iffland
133
Michael Niehaus
ten Worte mit den Worten: »Ich weiß nicht, was ich thue«, und: »Ich kann es nicht
leiden, wenn die Kinder die Fehler ihrer Aeltern sehen« (I 63).47
Nur unter den äußersten Bedingungen, die im Verbrechen aus Ehrsucht am jun-
gen Ruhberg vorgeführt werden, wird ein insistierendes Schuldbewußtsein installiert,
das sich in keiner Rührung mehr aufzulösen vermag. Im allgemeinen lassen sich die in
den Schauspielen Ifflands entfalteten Konflikte als Mißverständnisse --- als gegenseitige
Mißverständnisse und Selbstmißverständnisse --- auffassen, die durch offene Familien-
kommunikation bereinigt und vor allem vergessen werden können. Im Bedarfsfall
werden Interessenkonflikte auf der Ebene der Handlungskonstruktion familial gelöst:
Wenn zum Beispiel in Bewußtsein zwei Männer die gleiche Frau lieben, erweist sich
diese --- nach dem Vorbild von Diderots Fils naturel --- als die Halbschwester des Ei-
nen, der seine Neigung zu ihr mithin nur mißverstanden hat. Im Verbrechen aus Ehr-
sucht kann es eine glückliche Lösung nicht mehr geben. Das Schuldbewußtsein des
Protagonisten rückt die Angelegenheit in die Nähe eines Trauerspiels --- wie es das spä-
tere Drama Das Gewissen realisiert. Abgefedert wird sie dadurch, daß Vater Ahlden
das fehlende Geld aus eigener Tasche ersetzt und die Familie Ruhberg vor der Schan-
de bewahrt. Zudem wird das Ableben des alten Ruhberg in eine vorerst noch nicht
dingfest gemachte Zukunft verlegt. Das Verdikt der Ausstoßung, in dem Segen und
Fluch ununterscheidbar sind, bleibt gleichwohl erhalten: »Junger Mensch, --- fort muß
Er, das versteht sich« (V 110), heißt es nun von Seiten des Oberkommissärs Ahlden.
Außerhalb der Familie ist das Subjekt bei Iffland jedoch nur vorübergehend le-
bensfähig. Außerhalb der Familie wird es vom Schuldbewußtsein regiert. Das Schuld-
bewußtsein treibt das Subjekt einerseits fort von der Familie, und es kann andererseits
nur in der Familie aufgehoben werden. Dadurch wird die Weisung von Vater Ahlden:
»Unglück mag ihn bessern!« (V 111) zur Aporie. Sie wird mit dem Hinweis auf eine
spätere eigene Familiengründung des jungen Ruhberg verbunden. Wie kann aber
»Ruhberg Sohn« den Platz des Sohnes räumen und zum Vater werden, wenn er das
lebende Bild des toten »Ruhberg Vater« nicht los wird?
Dies hat Iffland zu der gattungsgeschichtlichen Innovation geführt, zwei Fortset-
zungen zu diesem Drama zu schreiben, die durch das insistierende Schuldbewußtsein
des jungen Eduard Ruhberg miteinander verknüpft sind, was das zweite Schauspiel
schon mit seinem Titel Bewußtsein verlautbaren läßt. Es kann nun gar nicht anders
sein, als daß das Schlußstück der »Ruhberg-Trilogie«, Reue versöhnt, Jahre später wie-
der in einer Familie spielt --- in der des Fabrikanten Walsing mit seinen drei Kindern.
Eduard Ruhberg hat sich nicht nur in Walsings Fabrik unentbehrlich gemacht, er ist
auch zum --- freilich außenstehenden --- Familienmitglied geworden. Wie alle Ifflandi-
schen Söhne ist er rückhaltlos bereit, die jeweils dafür in Frage kommende Figur als
Vater zu titulieren. Die formale Auflösungsbedingung des Schuldbewußtseins --- des
134
Familienkommunikation bei Iffland
gesegneten Fluchs oder des verfluchten Segens --- ist damit freilich noch nicht erzielt.
Zu dessen Lösung durch Rührung kommt es erst am Ende, als nicht nur Ruhbergs ge-
liebte Sophie aus dem zweiten Stück, sondern auch seine geliebte Mutter aus dem er-
sten Stück beim alten Walsing auftauchen. Nicht von ihnen, sondern von seinem neu-
en Vater läßt er sich nun --- nachdem er zuvor zum Unglück in der Fremde verpflichtet
war --- widerstrebend auf das Glück verpflichten (da er Sophie töten würde, wenn er
ihre Liebe ausschlüge):
WALSING. […] Dein Gewissen sey für dich die Welt.
RUHBERG. Und das spricht laut: – ›Du bist deines Vaters Mörder!‹
WALSING. Du bist nicht Schuld an deines Vaters Tode.
RUHBERG. Ich bin’s!
WALSING. Ich sage nein. Wer so fühlt, mußte sich erheben; das mußte der Vater
fühlen. Der Vater fühlte es gewiß ! – Hoffnung nährt ein Vaterherz. Nein, sa-
ge ich, nein! Du möchtest in dem Uebermaß von Reue gern tausendfach ab-
büßen – Du häufest alle Qual auf dich – allein du bist nicht Schuld an deines
Vaters Tode – Die Schwäche der Natur vollendete...
RUHBERG. Was ich begann! – Noch seh’ ich ihn – wie täglich – ach – mit jeder
Stunde, Kraft, Freude, Leben von ihm wich! wie – O das steht ewig vor mir!
läßt meine Thränen nie versiegen – jagt mich unstät auf der Welt umher!
[…] (I 249).
Wer hierin nur die Vorbereitung für die umfassende Versöhnung im Schlußtableau
sieht, wer also vom Endzweck der Rührung aus argumentiert, der macht mit der Rüh-
rung insofern gemeinsame Sache, als ihm das Problem entgeht, das die Rührung aus-
zulöschen hat. Ein Sohn wird präsentiert, der um alles in der Welt an seiner Schuld
festhält, weil er nur mit ihr dem Bild des Vaters die Treue bewahrt. Walsing macht
den bedenklichen Versuch, an diesem Bilde Korrekturen anzubringen: Ruhberg soll
seinen Vater als jemanden sehen, der ihn nicht mit brechenden Augen, sondern voll
berechtigter Hoffnung anschaut. Ruhberg Sohn hält vorerst gleichwohl an seiner Fi-
xierung auf die brechenden Augen des Vaters fest, und ergänzend spricht er gar von
dem »Fluch«, der etwaige Nachkommen von ihm kraft ihres Vaternamens »durch das
Leben verfolgen würde« (I 249). Derlei nennt Walsing im weiteren Verlauf »Ue-
berspannung« und empfiehlt ihm statt dessen, der »Stimme des Herzens« zu folgen:
WALSING. […] Mit aller heißen Liebe – im Namen deines Vaters sag’ ich – folg
ihr!
RUHBERG. Mein Vater! – Ja Sie sind es – verlassen Sie mich nicht. Trennen Sie
sich nie von mir –
WALSING. Niemals! (I 250).
135
Michael Niehaus
Wenn sich dann kurz darauf die beiden mit dem Ausruf »Mein Vater!« und »Mein
Sohn!« einander in die Arme fallen, ist die Vaterschaft des Sohnes schon auf dem be-
sten Weg. Entscheidend für die voraussehbare Wendung ist nicht, was Walsing sagt,
sondern daß er es im Namen des Vaters sagt. Und genau darin liegt das Gespenstische
dieser Szene. Ruhberg Sohn nimmt dieses Im-Namen-des-Vaters-Sprechen als ein
Sprechen-des-Vaters und begeht damit eine Art Kategorienfehler. Denn das Regime
des alten Vaterbildes kann nur zu einem Ende kommen, indem das Bild des auf im-
mer abwesenden Vaters durch das Bild eines neuen, anwesenden Vaters gleichsam ü-
berklebt wird. Daß die Anwesenheit notwendige Bedingung ist, bringt die befrem-
dende Forderung Ruhbergs zum Ausdruck, daß Walsing ihn nicht verlassen und sich
nie von ihm trennen möge. Der Vater muß immer da sein (und kann so an die Stelle
des Schuldbewußtseins treten). Der abwesende Vater hingegen muß verschwinden.
Auf diese Weise verdeckt die Familienkommunikation als Kommunikation unter An-
wesenden, verdeckt die Rührung, daß sie auf einer Wiederholung des Vatermordes in
effigie beruht.
4. Kommunikationsideale
Einerseits beruhen die Konflikte in Ifflands Dramen in der Regel auf Mißverständnis-
sen und Selbstmißverständnissen, die mit kommunikativen Mitteln aus der Welt ge-
räumt werden können. In diesem Sinne hat man gesagt, habe das »Bürgerliche Dra-
ma« weniger den »Charakter eines ›Spiegels des Lebens‹« als »den eines Idealbildes«.48
Tatsächlich kann es aber nur als Spiegel des Lebens fungieren, weil es ein Idealbild lie-
fert. Denn die Sache nimmt unter der Voraussetzung ein gutes Ende, daß der Zu-
schauer --- mit Diderot gesprochen --- »die Katastrophe beständig in Gedanken«49 hat.
Die Kommunikationsverhältnisse, die Ifflands Dramen auf die Bühne bringen, sind
sowohl Segen und Fluch, weil es in ihnen (bei näherem Hinsehen) weder beim Segen
noch beim Fluch bleiben kann. Insofern stellen sie die Familienkommunikation wirk-
lich dar.
In Hegels Vorlesungen über die Ästhetik werden Ifflands Dramen unter der Über-
schrift »Die subjektive Nachahmung des Vorhandenen« gewürdigt. Hegel stellt fest,
daß die Kunst »heutigentags« zur »Nachahmung der Natur, zur absichtlichen Annähe-
rung nämlich an die Zufälligkeit des unmittelbaren, für sich genommen unschönen
und prosaischen Daseins« zurückkehrt.50 Den »Namen von Kunstwerken« dürfe man
derartigen Produktionen »nicht vorenthalten«, da sie »den Gestaltungen des Geistes
auch noch in den äußersten Enden der Zufälligkeit, zu denen dasselbe ausläuft, treu
[…] bleiben und das für sich Bedeutungslose selber durch diese Wahrheit wie durch
die bewunderungswürdigste Geschicklichkeit der Darstellung bedeutend […] ma-
136
Familienkommunikation bei Iffland
chen«.51 Im Bereich der Poesie habe Iffland --- in der Nachfolge Diderots --- das »ge-
meine häusliche Leben« in seinen »gewöhnlichen bürgerlichen Verwicklungen« zur
Darstellung gebracht, und zwar im Vergleich zu Kotzebue »mit ernsthafterer Genau-
igkeit und spießbürgerlicher Moralität«.52 Hegels Einschätzung macht deutlich, daß
die Kunst Ifflands erstens Darstellungskunst ist (bei der die Nachahmung im Sinne
einer Illusionsbildung verstanden werden kann), und daß sie zweitens »schlechthin
dem Inhalt und der Darstellung nach das Unsrige« zum Stoff nimmt, »und selbst mit
Aufopferung der Schönheit und Idealität bei uns zu Hause« bleibt.53 Nur unter der
Voraussetzung eines außerordentlich hohen technischen Niveaus sind die Schauspiele
Ifflands in der Lage, nicht nur Familienkommunikationen zur Darstellung zu bringen,
sondern auch darzustellen, wie Familienkommunikation funktioniert. Neu an diesen
Dramen ist ihr genauer Blick auf Kommunikationssituationen, auf kommunikative
Prozesse in ihrer Eigendynamik, die weder auf das Schicksal noch auf den Charakter
der beteiligten Figuren reduziert werden können. In der Kommunikation unter Anwe-
senden, die zunächst und zumeist Familienkommunikation ist, tritt das Ideal der
Kommunikation ebenso hervor wie ihr Katastrophales. Sie ist labil und stabil zugleich.
Man darf die Verwicklungen zum Beispiel in Ein Mann von Wort nicht auf die
Verschlossenheit des Ehemanns und den Leichtsinn seiner Frau zurückführen, oder
die Konflikte in Scheinverdienst nicht einfach auf den Ehrgeiz der Mutter und die
Untauglichkeit ihrer Kinder. Worum es geht, ist vielmehr die Darstellung von im
Grunde heillos verzerrten Kommunikationsverhältnissen, deren Heilung folglich eher
dem Wunderbaren zuzurechnen ist und durch keine Instanz befohlen werden kann.
Zur Darstellung kommt eine väterliche Funktion, die nicht Herr der Kommunikation
ist. Daher ist es häufig ein Außenstehender, der im Namen des Vaters dem Vater bei-
springt und die Verhältnisse zurecht rückt (wie etwa der Freund mit dem sprechenden
Namen »Rechtler« in Scheinverdienst).
Besonders deutlich wird der väterliche Mangel dort, wo der Vater selbst das Idyll
in sein Gegenteil umkippen läßt. Der Beginn von Reue versöhnt zeigt den Vater Wal-
sing, der am Ende zum jungen Ruhberg im Namen des Vaters spricht, am Geburts-
tagsmorgen im Kreise seiner lieben drei Kinder (und Ruhbergs), die ihm zunächst ihre
Gaben überreichen. Als der Sohn das folgende gemeinsame Frühstück für »Zeitver-
lust« hält, formuliert der Vater das Anwesenheitsprinzip:
Am frühen Morgen ist eure Seele noch ein unbeschriebenes Blatt; nichts steht
darauf als: wir lieben uns. Indem wir nun so im vertraulichen Zirkel da sitzen,
nehmen wir Liebe und Muth einer in des andern Blicken, und alle sind gestärkt (I
151).
137
Michael Niehaus
Es kommt aber ganz anders, als Karoline ihrem Vater beim Frühstück enthüllt, daß
sie den »Major« liebt, den nicht zu lieben sie ihm einst hoch und heilig versprechen
mußte. Walsing will diese Tatsache zunächst kraft seines Amtes aus der Welt schaffen:
WALSING. (weist ihr den Stuhl an. Karoline bleibt noch stehen). Du irrst dich; du
liebst den Major nicht.
KAROLINE. Vater – mehr wie mein Leben!
WALSING. Besinne dich – es ist gewiß nicht so.
KAROLINE. Vergebung dem reuigen Mädchen – gütigster Vater! Vergebung! Die
Liebe – die Gewalt–
WALSING. Ich sage dir: es ist nicht so! Du weißt, was ich von dir gebeten habe.
KAROLINE. (schuldig). Ich weiß es, ich weiß es! – (Mit schmerzendem Tone der
Reue.) Vater!
WALSING. (wendet sein Gesicht weg) (I 153).
Die übrigen betätigen sich als Fürsprecher für Karolinen, sie selbst fleht schließlich
kniend »Strafen Sie mich!« und »Trennen Sie mich von ihm!«, aber der Vater hat nur
seine Sehnsucht im Kopf, daß die Familie auf immer Kommunikation unter Anwe-
senden sein möge:
WALSING. (zu den andern). Mein erstgeborenes Kind tritt von mir – seht, sie gibt
euch die Lehre, des Vaters Sehnsucht sey ein Nichts, mit dem ihr tändeln
könnt. Ihr werdet ihr folgen –
KAROLINE. (ist außer sich).
WILHELM. (stützt sie).
MARIE. Vergebung für Karolinen! (I 153f.).
Walsing spricht davon, daß »Kindertreue« ein »Mährchen« (I 154) sei, ergeht sich in
Sentenzen und erklärt gar in vielsagender Umkehrung der genealogischen Ordnung
die Kinder zu den Wurzeln des Vaters: »Haue einem Baum die Wurzeln ab, nimm ei-
nem Vater den Glauben an seine Kinder --- sie fallen beide!« (I 155).
Es muß schon der außenstehende Ruhberg sein, der solche Reden zum Symptom der
»Vaterangst« (I 156) erklärt. Wie beim Fluch erweist sich auch hier die Familien-
kommunikation als der Ort, wo es im Zweifel nicht so gemeint gewesen ist und die
Entgleisungen vergessen werden müssen. Der Vater Walsing war nicht nur voreilig in
seiner Reaktion auf den Versprechensbruch der Tochter, er war --- wie der moderie-
rende Ruhberg dem schon halb Einsichtigen darlegt --- auch voreilig darin, ihr dieses
Versprechen abzuringen:
Die Tochter, in dem Gefühle der innigsten Liebe zu dem Vater --- verspricht aus
ganzer Seele alles --- der Vater, hingerissen durch Vaterliebe, läßt sich mehr ver-
sprechen, als ihm Welterkenntnis sagen mußte, daß gehalten werden kann (I
158).
138
Familienkommunikation bei Iffland
Das gegebene Wortes ist --- wie man hier sieht --- zwar integraler Bestandteil des Kom-
munikationsideales, es ist jedoch seinerseits --- was die Familie betrifft --- nur von einem
relativen Wert. Anders als das Heiratsversprechen, an dessen Einlösung nach Vater
Ahlden kein Weg vorbei führt, sind die Versprechen, die innerhalb der Familie gege-
ben werden, stets im Zusammenhang der Situation zu sehen, in der sie möglicherwei-
se abgerungen oder erpreßt wurden. Nicht die Haltbarkeit des Wortes ist das bestim-
mende Ideal, sondern die Kommunikation unter Anwesenden als solche: daß alle allen
alles sagen können (wie es die rührenden Schlußtableaus der Schauspiele bedeuten
wollen).
Dieses Ideal --- das Ideal, nichts zurückzuhalten --- kann ebenfalls zum Gegenstand
eines notgedrungen voreiligen Versprechens gemacht werden. In Herbsttag hat Marie,
eine der beiden Töchter des Vater Selbert, eine falsche Objektwahl getroffen. Sie hat
sich in den jungen von Lechner verliebt, der sie mit seinen falschen Schwüren an sich
gebunden hat. Dort, wo dies endlich zur Sprache kommt, erklärt ihr Bruder Peter:
»Daß sie ihn lieb hat, kann ich begreifen«. Daß sie aber nicht gleich zu Beginn zu ih-
rem Vater gesagt habe: »Vater, da habe ich den Herrn von Lechner gesehen, der ge-
fällt mir, ich ihm --- wie stellen wir es an, daß dies in Ordnung kommt?«, das sei »ab-
scheulich von ihr« gewesen (II 210) --- ein Vergehen gegen die Regeln der Familien-
kommunikation, mit denen es in diesem Fall, wie Peter weiter ausführt, eine besonde-
re Bewandtnis hat: »Der Vater hat uns immer alles gesagt, was er thut, und warum er
es thut«; und einmal, als die Geschwister noch klein waren, hat er Marie zuliebe ein
Vogelnest von einem Baum herunter holen wollen:
Wie er oben war --- brach unter ihm ein Ast --- er rutschte --- ach Gott! --- Zur Erde
warf ich mich --- die Augen zu --- heulte in den Boden und grub in der Angst meine
Finger tief in die Erde --- sie [Marie] winselte erbärmlich. Da war er aber hängen
geblieben; und kam noch glücklich herunter. Er brachte ihr das Vogelnest; ganz
blutig war er am Nacken --- die Narbe hat er noch auf der linken Seite. ›Tochter,‹
sprach er --- ›Peter‹ --- und nahm uns an seine Hand --- ›Kinder, ich will immer
thun, was ich kann, eure Wünsche zu befriedigen --- seyd nur immer vertraulich
und aufrichtig!‹ Da hingen wir an ihm und versprachen es, und schluchzten, um-
faßten seine Knie so fest, und dankten Gott, daß er ganz herabgekommen war.
Ich habe auch dem Vater von jeher alles gesagt, und würde es ihm sagen, wenn
ich auch einen Mord begangen hätte, das würde ich! Du hast es auch gewollt --- ja
du hast schön Wort gehalten! (II 210).
Der Vater führt also --- in dieser für Iffland exzeptionellen Reminiszenz einer Instituie-
rung --- für seine Kinder das Kommunikationsgebot ein, dem er selbst schon gehorcht.
Damit verpflichtet er auf ein Ideal, dem gegenüber alle empirische Kommunikation
immer schon unzulänglich bleibt. Da diese Unzulänglichkeit ihrerseits verdeckt wer-
139
Michael Niehaus
1
Horst Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück. Stuttgart: Metzler 1969, S. 21.
2
Vgl. Robert Bauer: Die wiedergefundene dritte Gattung, oder: Wie bürgerlich ist das
bürgerliche Drama. In: Revue D’Allemagne 5 (1973), S. 475-496.
140
Familienkommunikation bei Iffland
3
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. v. Karl Eibl u.a. München: Hanser 1973. Bd. 4:
Dramaturgische Schriften, S. 13.
4
Lessing: Werke 4 (1973), S. 54f. Vgl. auch zur Zusammenfassung der zeitgenössischen
Diskussion die Abschnitte »Das Ernsthafte Lustspiel« und »Das Bürgerliche Trauer-
spiel«. In: Alois Wierlacher: Das Bürgerliche Drama. Seine theoretische Begründung im
18. Jahrhundert. München: Fink 1968, S. 15-39.
5
Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen. Erster Theil, Berlin 1760,
und: Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen. Zweyter Theil. Berlin:
Voß 1760. Im folgenden wird nach der einzigen Lessing-Ausgabe zitiert, die die Les-
singsche Übersetzung vollständig wiedergibt: Lessing’s Werke. Hg. v. Julius Petersen u.
Waldemar von Olenhusen. 25 Bde. Berlin: Gustav Hempel 1925. Elfter Theil. Kleinere
Schriften zur dramatischen Poesie und zur Fabel. Zweite Abtheilung, S. 3-330.
6
Vgl. Roland Mortier: Diderot in Deutschland. 1750-1850. Stuttgart: Metzler 1967, S.
47ff.
7
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 113 (dort die Definition).
8
Helmut Koopmann: Mögliche und unmögliche Aufklärung: zum Verhältnis von dra-
matischer Form und Bürgerlichkeit. In: Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Phi-
losophie und Poesie um 1800. Hg. v. Chistoph Jamme u. Gerhard Kurz. Stuttgart:
Klett-Cotta 1988, S. 219-237, hier: S. 229. Vgl. auch Ingrid Ladendorf: Die Familie
unter dem Patronat des Deus-ex-Machina: zum deutschen Familienschauspiel (1750-
1800) zwischen Affirmation und Subversion bürgerlicher Werte. In: Bürgerlichkeit im
Umbruch. Studien zum deutschsprachigen Drama 1750-1800. Hg. v. Hemut Koop-
mann. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 93-127 --- mit einer Auswahlliste von Familien-
schauspielen (S. 124-127).
9
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 278.
10
Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theater-
zuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg: Rombach 2000, S. 97.
11
Vgl. zum Begriff der Interaktion aus systemtheoretischer Perspektive André Kieserling:
Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1999; zur Unmöglichkeit, unter dieser Bedingung nicht zu kommunizieren,
bekanntlich Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Menschliche Kommu-
nikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 10. Aufl. Bern: Huber 2003, S. 50ff.
12
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 149.
13
Lessing: Werke 4 (1973), S. 503f. (Hamburgische Dramaturgie. 59. Stück).
14
Lehmann: Blick (2000), S. 110.
15
Johann Friederich Schink: Dramaturgische Fragmente. Bd. 4. Graz: Widmannstätten
1782, S. 729.
16
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 76.
17
Lehmann: Blick (2000), S. 103.
18
Vgl. dazu Michael Niehaus: Das Verhör. Geschichte --- Theorie --- Fiktion. München:
Fink 2003, S. 265ff.
19
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 280.
141
Michael Niehaus
20
Schink: Fragmente. Bd. 4 (1782), S. 729. Vgl. zur Verwendung des Terminus Situation
auch Wierlacher: Drama (1968), S. 154ff.
21
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 273.
22
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 277.
23
Lehmann: Blick (2000), S. 147.
24
August Wilhelm Iffland: Ueber meine theatralische Laufbahn [1798]. Wien: Ignaz
Klang 1843, S. 102.
25
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 174f.
26
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 180.
27
Lehmann: Blick (2000), S. 115.
28
Eine Ausnahme bildet das Schauspiel Der Spieler von 1796, in dem der kleine Sohn des
bereits verheirateten Spielers in die entscheidende Position eines Unterpfandes bzw.
Spieleinsatzes gerät. Letztlich wird aber auch hier die unstandesgemäße Objektwahl des
Spielers selbst nachträglich verhandelt, mit der er sich von dem ihm zugedachten Erbe
ausgeschlossen hatte.
29
Zitiert wird nach: August Wilhelm Iffland: Theatralische Werke in einer Auswahl. 10
Bde. Leipzig: Göschen 1859.
30
Im Zusammenhang mit der Ausübung des »Vateramtes« ist es bemerkenswert, daß die
in Ifflands Dramen auftauchenden Väter fast durchweg Beamte sind.
31
Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Katego-
rie der bürgerlichen Gesellschaft. 10. Aufl. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1979, S.
65. Vgl. Glaser, Das bürgerliche Rührstück (1969), S. 40.
32
Sigrid Salehi: August Wilhelm Ifflands dramatisches Werk. Versuch einer Neubewer-
tung. Frankfurt/M.: Lang 1990, S. 142.
33
Glaser: Rührstück (1969), S. 17.
34
Glaser: Rührstück (1969), S. 41.
35
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 176.
36
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 180.
37
Die verschiedenen Vatergestalten in Ifflands Stücken sind daher nicht als verschiedene
Charaktere aufzufassen, in ihnen werden vielmehr verschiedene Seiten der väterlichen
Funktion in Betracht gezogen.
38
Pierre Legendre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Aus
dem Französischen v. Clemens Pornschlegel. Freiburg/Breisgau: Rombach 1998, S. 35.
39
So jedenfalls die tradierte Forschungsmeinung; vgl. etwa den Abschnitt »Der zärtliche
Vater und seine tugendhafte Tochter« in Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas.
Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Von
der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen: Francke 1990, S. 268-277.
40
Legendre: Verbrechen (1998), S. 36.
41
Legendre: Verbrechen (1998), S. 73.
42
Legendre: Verbrechen (1998), S. 69.
43
Legendre: Verbrechen (1998), S. 73.
142
Familienkommunikation bei Iffland
44
In dieser Hinsicht ist zu bedenken, daß das Christentum die einzige Religion ist, die ein
Potential der Rührung in sich trägt.
45
Legendre: Verbrechen (1998), S. 39.
46
Auf eine weitergehende Analyse der Kategorie der Rührung kann und muß an dieser
Stelle verzichtet werden. Für die Diskussion um das Rührende in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts vgl. etwa die Materialien, die Wierlacher (Drama (1968), S. 132-165)
zusammengetragen hat. Die Reduktion des Ifflandschen Dramas auf das Rührende hat
Tradition; vor allem zu nennen ist: Arthur Stiehler: Das Ifflandische Rührstück, ein Bei-
trag zur Geschichte der dramatischen Technik. Hamburg und Leipzig: Voß 1898. Daß
die Rührung eine Art »Gefühlsgefühl« ist und immer wieder als »Wollust« (Wierlacher:
Drama (1968), S. 165) beschrieben wird, bedeutet nicht, daß der Anlaß, der die Selb-
staffektation in Gang setzt, unerheblich ist.
47
Auch in Scheinverdienst wird der väterliche Sprechakt »Nimm meinen Fluch« (IV 87)
gegenüber dem ungeratenen Sohn Ludwig später wieder revidiert.
48
Wierlacher: Drama (1968), S. 101.
49
Lessing/Diderot: Theater (1925), S. 277.
50
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke
von 1832-1845 hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. 2. Aufl. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1990. Bd. 14: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 223.
51
Hegel: Werke 14 (1990), S. 224.
52
Hegel: Werke 14 (1990), S. 224. Man kann hier noch einmal sehen, daß diese Drama-
tik das Darstellungsproblem selbst betrifft. Nur wer dies verkennt, kann leichthin und
umstandslos von der »unvermeidlichen Trivialdramatik eines Iffland und Kotzebue«
(Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas, Bd. 1, S. 352) sprechen.
53
Hegel: Werke 14 (1990), S. 225. Die Illusionsbildung, die man als für das Bürgerliche
Schauspiel (etwa im Vorwurf des »Plattrealistischen«) charakteristisch bezeichnet hat,
setzt sowohl ein spezifisches Interesse des Zuschauers am Dargestellten voraus als auch
ein spezifisches Ineinanderwirken von Wahrscheinlichem und Unwahrscheinlichem;
vgl. dazu genauer den Abschnitt »Illusion« in: Lehmann: Blick (2000), S. 122-129.
54
Vgl. etwa folgende Zusammenfassung in Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800 ---
1900, München: Fink 1985, S. 32: »Der langwierige Prozeß, die Bevölkerungen Mittel-
europas in moderne Kernfamilien umzuwandeln, ist nur in seiner ersten Phase --- in
Deutschland bis zur Lessingzeit --- über etablierte Hausväter gelaufen. […] In einer zwei-
ten Phase, die die Goethezeit ausfüllt«, treten an »Vaters Statt […] Mütter«.
55
Vgl. etwa das folgende Räsonnement der Madam Seefeld über ihre Nachsichtigkeit ge-
genüber dem Fehltritt des Sohnes in Scheinverdienst, das als sozusagen Symptom für
das Fehlen der Narbe des Vater Selbert aufgefaßt werden kann: »Ich hätte ihn nicht so
leicht wegkommen lassen sollen. Aber was thut man nicht, um das Vertrauen der Kin-
der in den Jahren zu erhalten, wo so viele glauben, gar keine Rechenschaft schuldig zu
seyn!« (IV 43) In dieser Bemerkung steckt nun allerdings wahrhaft Realismus.
143
Martin Kagel
»Unglückliche Weiber haben wir heutiges Tages
ohnehin genug«
Erziehung der Geschlechter in
Marianne Ehrmanns Leichtsinn und gutes Herz
1.
Als Marianne Ehrmann 1786 ihr erstes und einziges Schauspiel Leichtsinn und gutes
Herz oder Die Folgen der Erziehung anonym veröffentlichte, war sie 31 Jahre alt, eine
erfahrene und erfolgreiche Schauspielerin, die in Wien und Straßburg reüssierte, und
seit zwei Jahren auch eine angehende Schriftstellerin. 1784 hatte sie ihre ersten Schrit-
te in Richtung einer literarischen Karriere mit der Philosophie eines Weibs unter-
nommen, einem Traktat über den Umgang mit dem anderen Geschlecht, der immer-
hin so viel Unmut erregte, daß nur ein Jahr später als »Gegenstück« die Philosophie
eines Mannes erschien.1 Der kritische Ton von Ehrmanns Abhandlung und das
selbstbewußte Auftreten der Autorin ließen erkennen, daß hier jemand schrieb, dem
es nicht bloß um Betrachtung, sondern auch um den praktischen Nutzen der Schrift
ging. Die didaktische Ausrichtung ihrer ersten Veröffentlichung war, mit anderen
Worten, nicht bloß der Form praktisch-moralischer Philosophie geschuldet, sondern
diese Form war umgekehrt Ausdruck des aufklärerischen Anspruches der Autorin, di-
rekten Einfluß auf die weibliche Erziehung zur Mündigkeit nehmen zu wollen. Im-
merhin hatte Immanuel Kant im selben Jahr wissen lassen, daß insbesondere »das gan-
ze schöne Geschlecht« den Schritt zur Mündigkeit für gefährlich halte und deshalb
hartnäckig in selbstverschuldeter Unmündigkeit verharre.2 Diesem Zustand zumindest
im Teilbereich Geschlechterbeziehung abzuhelfen, hatte sich Marianne Ehrmann zur
Aufgabe gemacht, und diese bestimmte nicht nur die Philosophie, sondern auch die
weitere schriftstellerische und journalistische Tätigkeit der Autorin.3
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
145
Martin Kagel
rem Leib was wohne [gemeint ist die Seele, M.K.], das edler ist, als er; daß sie
durch dieses der Gottheit wie durch jenen dem Nichts verwandt seye; daß dassel-
be all ihrer Sorgfalt würdig sey, und daß sie, [je] nachdem sie es anbaue, glücklich
oder unglücklich seyn werde (EP 38).
Ist bereits die Betonung des Themas Erziehung Jean-Jacques Rousseau geschuldet, so
folgt Ehrmanns Charakterisierung des Geschlechterverhältnisses vollends --- und zum
großen Teil verbatim --- dem französischen Kulturphilosophen und verschreibt sich
dabei jener Konstellation, welche der Frau eine supplementäre Rolle im Verhältnis der
Geschlechter zuspricht.6 Die Einübung dieser Rolle beginnt bereits im Kindesalter.
Demgemäß unterscheidet sich die Erziehung von Mädchen und Knaben, »weil sie
weder im Charakter, weder im Temperament noch gleich sind noch gleich seyn müs-
sen«. Indessen müsse die Erziehung des weiblichen Geschlechts »immer auf jene des
männlichen sich beziehen, weil die Pflichten des Weibs bloß darin bestehen: dem
Mann zu gefallen; ihm nützlich zu seyn; sich geehrt und beliebt bey ihm zu machen
[...] und ihm das Leben angenehm zu machen« (EP 36). Solches notiert Ehrmann oh-
ne Ironie und mit der von Rousseau entlehnten Begründung, daß die Geschlechter
zwar einen gemeinsamen Zweck verfolgten, diesem jedoch auf unterschiedliche Weise
nacheiferten. Darüber hinaus sei auch ihre wechselseitige Abhängigkeit voneinander
unterschiedlich definiert: »Des Mannes Vergnügen macht ihn vom Weib abhängig,
und des Weibs Vergnügen und Nothdurft macht sie abhängig vom Mann, der immer
eher ohne sie, als sie ohne ihn bestehen könnte« (EP 35). An und für sich stand Ehr-
manns eigene Erfahrung der vorausgegangenen fünf Jahre quer zu dieser Formulie-
rung, hatte sie doch völlig unabhängig gelebt und sich sehr wohl selbst versorgen kön-
nen. Indessen bringt die Tatsache, daß sie diese Erfahrung in ihrem Text nicht pro-
noncierter artikuliert, eine für sie typische Haltung zum Ausdruck, die Charakteristik
eines Denkens nämlich, das »submission with subversion«7 verknüpfte, die eigenen
Ansichten in den Inhalten zurückhaltend, in der Form hingegen radikal vertrat.
Schon die Tatsache, daß Ehrmann, die keinerlei formale Ausbildung genossen
hatte, ein Buch mit dem Begriff »Philosophie« im Titel veröffentlichte, konnte als
Provokation begriffen werden, annoncierte der Titel doch, daß die Autorin ein auf
Vernunft basierendes Verständnis der Geschlechter im Hinblick auf die Aufklärung
ihrer Leserinnen zu diskutieren beabsichtigte und damit in ein diskursives Feld eintrat,
aus dem Frauen im 18. Jahrhundert weitgehend ausgeschlossen waren.8 Berücksichtigt
man dazu den Raum, den Ehrmann in ihrem Text Fragen der Bildung und Erziehung
einräumte, so läßt sich erkennen, daß Bildung und Räsonnement in ihren Augen in
direkter Beziehung zur erfolgreichen Emanzipation von Frauen standen, ein Prozeß,
den Ehrmann nicht nur einklagte, sondern auch selbst vorführte. Kurzum, wenn
Ehrmann inhaltlich einem empfindsamen Frauenbild das Wort redet, so ist damit ihre
146
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
ganze Absicht noch nicht erfaßt. Sie wird erst deutlich, wenn man versteht, daß den
Schriften der Autorin ein umfassenderes Anliegen zugrunde liegt: die Erziehung ihrer
überwiegend weiblichen Leserschaft zu einer vernunftorientierten Klientel, die den
Anspruch auf Bildung wie selbstverständlich vertritt. Radikalität im Denken ist die lo-
gische Folge der Verwirklichung dieses Anspruchs.
2.
Marianne Ehrmann wurde 1755 in der Nähe des schweizerischen Rapperswil als
Tochter von Maria und Franz Xaver Brentano geboren.9 Der Vater, ein erfolgreicher
und angesehener Kaufmann, war Mitglied des Großen Rates von Rapperswil und die
Familie besaß ein Haus in der Stadt. Obschon in ihrer Kindheit gut situiert, mußte
sich Marianne bereits als Zehnjährige an ärmere Verhältnisse gewöhnen, denn der Va-
ter besaß offenbar nicht die notwendige charakterliche Härte, den von ihm angesam-
melten Reichtum auch zu erhalten und auszubauen. Ab Mitte der sechziger Jahre gibt
es Hinweise auf ökonomische Schwierigkeiten im Hause Brentano, verursacht unter
anderem durch die »übergroße Gutherzigkeit des Vaters«.10 Nach dem Tod der Mut-
ter 1770 zog der Vater mit zwei Töchtern ins süddeutsche Wurzach um, in die Nähe
von Mariannes Onkel Dominikus von Brentano. Dieser nahm sich seiner Nichte so-
wohl erzieherisch als auch materiell an. Als 1775 auch ihr Vater verstarb, zog Marian-
ne zu ihm. Der Versorgung durch ihren Onkel zum Trotz gehörten die nun folgenden
Jahre zu den schwierigsten im Leben der Ehrmann. Als bürgerliche Tochter war sie
eingeschränkt in ihren beruflichen Möglichkeiten, als junge Frau von zwanzig Jahren
jedoch zugleich von dem Wunsch erfüllt, sich finanziell unabhängig zu machen.
Demgemäß versuchte sie sich zunächst in verschiedenen Häusern als Gouvernante,
konnte sich aber über zwei Jahre keine feste Anstellung sichern. So heiratete sie
schließlich übereilt und offenbar aus rein ökonomischen Überlegungen heraus einen
ihr kaum bekannten Offizier.11 Die Ehe stand, wenig überraschend, unter keinem gu-
ten Stern. »Finanziell und psychisch ruiniert« ließ der Soldat, auf der Flucht vor
Gläubigern, die junge Ehefrau nur zwei Jahre später zurück.12 Zu den Traumata dieser
Zeit gehörte neben der Spiel- und Trunksucht des Mannes auch eine Fehlgeburt in-
folge seiner Mißhandlungen. Nach weiteren erfolglosen Versuchen als Gouvernante
entschied sich die Ehrmann 1779 dann dafür, den Schauspielberuf zu ergreifen, im
18. Jahrhundert für Frauen bekanntlich keine sonderlich ehrenhafte Profession. Aus
später veröffentlichten autobiographischen Schriften Ehrmanns geht hervor, daß sie
ihrer Berufswahl aufgrund der moralischen Anrüchigkeit des Gewerbes zwiespältig ge-
genüberstand. Gleichzeitig aber hatte sie auf der Bühne durchaus Erfolg. Auch bildete
ihre Karriere als Schauspielerin offenbar die Brücke zu der als Schriftstellerin, die ihre
147
Martin Kagel
eigenen Früchte trug: nach der Philosophie eines Weibes und Leichtsinn und gutes
Herz der Briefroman Amalie: Eine wahre Geschichte in Briefen (1788), Graf Bilding.
Eine Geschichte aus dem mittleren Zeitalter (1788), Nina’s Briefe an ihren Geliebten
(1788) und die aphoristische Sammlung Kleine Fragmente für Denkerinnnen (1789),
schließlich die Arbeit als Herausgeberin einer eigenen Monatsschrift, Amaliens Erho-
lungsstunden (1790-92) --- später fortgeführt unter dem Titel Die Einsiedlerinn aus
den Alpen (1793-94) ---, die zu den ersten von einer Frau herausgegebenen deutschen
Journalen gehörte. Auch bei diesem Unternehmen tat sich Ehrmann hervor, denn
»mit ihrer insgesamt fünfjährigen Herausgeberschaft«, so Ulrike Weckel in ihrer um-
fangreichen Untersuchung von Frauenzeitschriften im Zeitalter der Aufklärung, »war
Marianne Ehrmann die erfolgreichste Publizistin des 18. Jahrhunderts«.13 Vorherge-
gangen war die zweite Eheschließung mit Theophil Ehrmann, den sie 1785 bei einem
Aufenthalt ihrer Schauspieltruppe in Straßburg kennengelernt hatte und mit dem sie
1787 gegen den Willen seiner Familie, die die Verbindung für nicht standesgemäß
hielt, die Ehe schloß. Es folgte der Umzug nach Stuttgart, wo beide ihren publizisti-
schen Ambitionen nachgehen konnten. Denn auch Theophil Ehrmann war Publizist
und seines Zeichens Herausgeber der Frauenzimmer-Zeitung (1787-88) sowie der po-
litisch-moralisch-satirischen Wochenschrift Der Beobachter (1788-89), Zeitschriften,
zu denen Marianne Ehrmann Beiträge beisteuerte, bevor die Ehepartner 1790 die
Rollen vertauschten.
Ehrmann ging ihrer schriftstellerischen Tätigkeit zeitlebens nicht ohne Ambiva-
lenz nach. Betrachtet man den Umfang ihres Werkes und die Verve, mit der sie sich
literarisch engagierte, so muß man davon ausgehen, daß das Schreiben zumindest in
den letzten zehn Lebensjahren einen zentralen Platz in ihrem Alltag einnahm: Das
Ehepaar Ehrmann lebte zeitweise ausschließlich von ihren Einkünften als Herausgebe-
rin und Schriftstellerin.14 Auch verstand sie sich fraglos als Intellektuelle, führte eine
umfangreiche Korrespondenz, unterhielt Kontakt zu anderen Schriftstellern wie Chri-
stian Friedrich Daniel Schubart und Johann Caspar Lavater, »und wurde von Herzo-
gin Franziska von Württemberg geschätzt und protegiert«.15 Ihrem schriftstellerischen
Schaffen entgegen stand das empfindsam-klassische Frauenbild, welches bürgerliche
Frauen in die Rolle von Hausfrau und Mutter zwängte und auf das Verrichten häusli-
cher Tätigkeiten verpflichtete.16 Ehrmann selbst hatte ja, wie oben gesehen, die Auf-
gabe der Frau dahingehend festgelegt, »dem Mann zu gefallen [...] und ihm das Leben
angenehm zu machen«. Daß ihre selbständige literarische Arbeit keineswegs mit dieser
›Philosophie‹ in Einklang stand und sich auch ihre öffentliche Herausgeberschaft in
direktem Widerspruch dazu befand, war der Autorin durchaus bewußt, oft schmerz-
haft, wie ihre Bemühungen, ihre Autorschaft öffentlich herunterzuspielen, zeigten. In
ihrer ›Antrittsrede‹ zur ersten Ausgabe von Amaliens Erholungsstunden etwa deutete
148
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
Ehrmann an, daß sie sich allein dann schriftstellerisch betätigt habe, wenn die Haus-
geschäfte erledigt waren.17 Der Titel der Zeitschrift und das Titelkupfer der ersten
Ausgabe, welches zwei Frauen im Gespräch im Garten zeigt, suggerieren ebenfalls,
daß es sich sowohl beim Verfassen der Zeitschrift als auch bei der Lektüre um eine
Freizeitbeschäftigung handele. Explizit rechtfertigte Ehrmann ihre eigene Tätigkeit als
Ausnahme, die die Regel bestätige, denn, so heißt es devot, »wenn alle Frauenzimmer
thun wollten, was ich itzt thue, so gäbe dies in unserer guten Welt eine Unordnung,
die nicht zu ertragen wäre!«18
Daß Ehrmann sich kontrafaktisch als häuslich orientierte Ehefrau präsentierte
und damit das gesellschaftlich akzeptierte Frauenbild affirmierte, war sicherlich auch
ihrem eigenen Bedürfnis nach Anerkennung und Respektabilität als Frau geschuldet.19
Ausdrücklich äußerte sie in diesem Sinne Kritik an Frauen, die sich durch Lektüre da-
zu verleiten ließen, von ihren häuslichen Pflichten abzusehen, und auch den Typus
der Gelehrten bewertete sie durchweg negativ. Der von ihr alternativ entworfene Ty-
pus der Denkerin stand mit dem herrschenden weiblichen Geschlechtscharakter of-
fenbar nicht in Konflikt. Ehrmanns Aussage, daß die von ihr erworbene individuelle
Freiheit als Schriftstellerin nicht universal realisiert werden konnte --- im Prinzip ba-
sierte ihr Privileg gerade auf diesem Widerspruch ---, war am Ende wohl auch ge-
schäftsbezogen motiviert: Denn schließlich wandte sich ihre Zeitschrift ja gerade an
Frauen, die eben nicht jene Autonomie einklagten, welche die Autorin zum Verfassen
ihrer Artikel benötigte.
Objektiv verweisen Ehrmanns Versuche, den Widerspruch weiblicher Autorschaft
zu vermitteln, auf die enormen psychischen und sozialen Spannungen, die von Frauen
ausgehalten werden mußten, die die »Nähnadel mit der Feder«20 vertauschten. Anders
als ihre männlichen Kollegen, mußten sie sich der Legitimität ihres Unterfangens im
ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder auch schreibend versichern, das heißt, die
eigene Tätigkeit und gesellschaftliche Position in ihren Schriften reflektieren und the-
matisieren.
3.
Ehrmanns Originalschauspiel in fünf Aufzügen Leichtsinn und gutes Herz oder die
Folgen der Erziehung wurde 1786 in Straßburg veröffentlicht und dort im selben Jahr
auch zum ersten Mal aufgeführt.21 Es kann, auch wenn weiter nichts über dessen Auf-
führungsgeschichte bekannt ist, durchaus dem Genre Unterhaltungsstück zugerechnet
werden, handelt es sich hier doch um ein bühnenwirksames Schauspiel, das formal
und inhaltlich auf zahlreiche Versatzstücke zeitgenössischer Dramatik zurückgreift
und dazu selbstredend auch die extensive Bühnenerfahrung der Autorin reflektiert.
149
Martin Kagel
150
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
in sie verliebt hat. Treuberg versucht seitdem das von ihm als Inbild der Tugend ver-
ehrte Lottchen für sich einzunehmen, muß aber zu seinem Leidwesen erkennen, daß
Lottchen nicht nur tugendliebend, sondern auch vernunftbegabt ist: »Ich sagte ihr
tausend Schmeicheleien vor, machte ihr eben so viele glänzende Vorstellungen, aber
in einem Hui widerlegte sie meinen ganzen Kram mit so vieler Vernunft, daß ich gar
nichts mehr einzuwenden wußte« (189). Dabei ist Lotte dem Grafen durchaus zuge-
neigt, doch überwiegt bei ihr zu Beginn des Schauspiels die Loyalität gegenüber ihrem
Vater, der eine Verbindung mit dem Grafen kategorisch ablehnt und seine Tochter
am liebsten bei Nonnen verbergen würde.
Unglückliche Weiber haben wir heutiges Tages schon genug, die gern den Pflug
führen wollten, wenn sie nur von ihren Männern geschieden wären. Und kurz zu
sagen, sie soll ins Kloster, das ist der beste Ort, wo man ein Mädchen aufbewah-
ren kann (193).
Das starre Gegenüber in dieser Konstellation bringt Mekler, der ehemalige Hofmei-
ster des Grafen, in Bewegung. Mekler bietet Treuberg an, ihm die ländliche Unschuld
in die Hände zu spielen, eine Offerte, die bei Treuberg zwar gewisse Bedenken bezüg-
lich der Methoden und der Folgen auslöst, am Ende aber mit einem »alles überlasse
ich Ihnen, wenn sie mir das Mädchen verschaffen« (191) bedingungslos angenommen
wird.
Meklers Plan ist es, Lotte zunächst dem ›schädlichen‹ Einfluß ihres Vaters zu ent-
ziehen, was ihm auch ohne größere Schwierigkeiten gelingt. Am Ende des ersten Ak-
tes erhält Breiner einen Brief, in dem er aufgefordert wird, aufs Schloß zu kommen,
wo sich seine Tochter dem Schreiben zufolge bereits befindet. Anders als sein Arbeit-
geber, der die von ihm idealisierte Lotte mit jugendlichem Überschwang liebt, sieht
Mekler in dieser vornehmlich ein Objekt seiner Intrigen. Das Perfide seines Planes be-
steht darin, daß er Lotte nicht allein dem Grafen zuspielen will, sondern sie anschlie-
ßend selbst zu mißbrauchen beabsichtigt. Der Ortswechsel vom ersten zum zweiten
Akt, von der ländlichen Meierei zum gräflichen Stadtschloß, verschärft der Dramatur-
gie des Schauspiels entsprechend den Konflikt.
Im Schloß hat Lotte inzwischen ihre Unschuld eingebüßt und steht nun »entehrt,
verlassen und beschimpft« (210) da, denn Treuberg hatte zwar erfolgreich die körper-
liche Vereinigung gesucht, scheut vor der gesetzlichen jedoch zurück, auch, wenn-
gleich nicht ausschließlich, auf Anraten Meklers. Die öffentliche Verbindung der bei-
den, so versucht Treuberg Lotte darzulegen, sei aus Rücksicht auf Einwände der Fami-
lie verschoben worden, was für Lotte zum Anlaß wird, die Ständegesellschaft selbst in
Frage zu stellen.
Familien Einwendungen? --- Also der Geburt wegen! Denn sonst wüßt’ ich nicht,
auf was diese Bezug haben könnten? Und was ist denn eigentlich Geburt? Ein e-
151
Martin Kagel
lender Zufall, ein Ungefähr, ein Nichts, ein so unbedeutendes Nichts, daß sich
der Rechtschaffene nicht schämen darf, wenn es ihm nicht zu Theil geworden ist.
Der kleinste Theil eigener Verdienste ist mir lieber, als eine große Reihe geerbter
Ahnen (220).
Die Replik des Grafen hält Lottes idealistischer Weltsicht den Spiegel des Realen vor.
Nach der Natur mag Lottes Einstellung »immer die ächte Sprache seyn« (220). Indes-
sen lebe man in einer Welt, wo »Politik und Eigennutz« (220) herrsche. Nach weite-
rem kurzem Hin und Her eskaliert die Situation, und es kommt zu einer Szene, die
selbst auf der Bühne des Sturm und Drang selten so radikal verwirklicht worden ist.
Lotte nämlich reißt in ihrer Wut eine Pistole von der Wand, richtet diese auf den
Grafen und drückt ab --- ohne Erfolg, denn die Waffe ist nicht geladen. Der Schock
ihrer Verwandlung --- »sonst ganz Sanftmuth, und jezt ganz Furie!« (223) --- bringt
Treuberg jedoch zur Besinnung. Er entscheidet sich, Lotte, die den Raum inzwischen
verlassen hat, am folgenden Tag zu heiraten, und weist Mekler an, entsprechende
Vorbereitungen zu treffen. Dieser nutzt die kommunikative Lücke allerdings zu eige-
nen Absichten und überzeugt die auf Flucht sinnende Lotte davon, diese mit seiner
Hilfe zu unternehmen, mit dem Versprechen, sie wieder mit ihrem Vater zusammen-
führen. Um das Maß des Bösen voll zu machen, beauftragt er im selben Zug Treu-
bergs Bedienten Friedrich, den jungen Grafen zu vergiften.
In einem Gasthof, dem ersten Aufenthaltsort der Flüchtenden, offenbart Mekler
Lottchen sein Begehren und versucht, als diese seinem Drängen nicht stattgibt, sie zu
vergewaltigen. Auch diese Szene ist ähnlich wie die versuchte Erschießung des Grafen
oder der Mordauftrag Meklers durch ihre krasse Unverhülltheit gekennzeichnet. In
letzter Minute wird Lottchen von einem tugendbeflissenen Leutnant, der ihre Hilferu-
fe hörte, gerettet. Der Soldat, der die Welt davon überzeugen möchte, »daß Männer
von meiner Gattung mehr empfinden, als solche Lecker, die ohne Religion und
Grundsätze nur Diebe der Unschuld sind« (235) --- gemeint ist Mekler ---, eskortiert
Lotte im Anschluß zum Aufenthaltsort ihres Vaters.
In einer Bauernstube treffen im fünften und letzten Akt alle Akteure zusammen.
Hier wird Mekler, von dessen Anschlag Treuberg in der Zwischenzeit erfahren hat,
entlarvt und ins Gefängnis geschickt, Lotte und dem Grafen, der von seinen Ver-
wandten die Einwilligung zur Heirat erhalten hat, vom Vater vergeben und die anste-
hende Hochzeit abgesegnet, und dem mitgereisten Soldaten --- »Tausend Dank! Bester
der Menschen!« --- seine Tugendhaftigkeit attestiert. Das Stück endet in allgemeiner
Versöhnung und mit der moralisierenden Aufforderung an die Eltern: »Väter, Mütter!
um dieser Thräne willen, geht [sic] doch auf die Erziehung eurer Kinder acht!« (251).
152
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
4.
In gewisser Weise ist der Hofmeister Mekler die interessanteste Figur des Schauspiels.
Schon dramaturgisch ist er der zentrale Charakter, denn allein seine Intrigen treiben
die ansonsten weitgehend statische Handlung voran. In seiner Funktion als eigentli-
cher Dirigent des Geschehens dient er der Autorin zugleich als Medium literarischer
Selbstreflexion. Bereits zu Beginn kommentiert Mekler, gleichsam in der Rolle des
Maître de plaisir, das Geschehen mit den Worten: »Wir haben jezt einmal den Roman
angefangen, wir müssen ihn auch ausspielen« (196), und setzt die Figuren dement-
sprechend in Bewegung. Als Lotte dem Grafen durch Meklers Reden animiert aufs
Schloß folgt, verweist der Hofmeister auf das überlebensnotwendige Vermögen, Lite-
ratur und Leben zu unterscheiden. Treuberg, der glaubte, die Geliebte nicht besitzen
zu können und melodramatisch dahinzusiechen versprach, ruft er hinterher:
Bravo! bravissimo! Nun läuft sie ihm gar selbst nach. Wer wird denn wegen einem
Weibe einen Selbstmord begehen? Da lassen wir unsre Herrn Dichter dafür sor-
gen, die lieber einen Dolch einem Schauspieler in die Hände schreiben, als daß
wir derlei Werkzeuge für uns brauchen sollten (203).
In einer besonders gelungenen Form von Selbstironie kommentiert Mekler schließlich
kurz vor seiner eigenen Ächtung das Versöhnungsgeschehen der Bauernstube gegen-
über dem Grafen mit den Worten: »Ich dächte, wir entfernen uns; denn sehen Sie,
der Offizier bekommt das Mädchen gewis zum Lohn« (245). Wäre das Schauspiel
nach empfindsamem Muster geschrieben, so wäre dies gewiß ein passender Schluß
gewesen. Daß es dazu nicht kam, zeigt nicht allein, daß Ehrmann größeren Realismus
für sich in Anspruch nimmt; die Autorin stellt damit zugleich die Notwendigkeit ihres
eigenen Lösungsvorschlags zur Debatte. Mit anderen Worten: Ehrmann behauptet di-
alektisch sowohl den realistischen Anspruch der Bühnenhandlung als auch die Litera-
rizität ihres eigenen Textes. Der dieser Haltung unterliegende Anspruch ist pädago-
gisch. Denn insofern die Funktion von Literatur im Erziehungsprozeß nicht nur im
Text thematisiert wird, sondern Leserinnen und Leser zugleich aufgefordert werden,
das Dargestellte als Literatur kritisch zu befragen und mit eigenen Erfahrungen und
Einsichten zu vergleichen, kann sich das Schauspiel selbst als Teil aufklärerischer Pra-
xis begreifen.
Was an Mekler als Charakter fasziniert, ist nicht nur seine abgrundtiefe Boshaftig-
keit, nicht nur seine nimmerendende Bereitschaft zur Instrumentalisierung anderer,
sondern auch die tiefe Menschenkenntnis, die er zu besitzen scheint. Wie Schillers
Wurm kann er von sich behaupten, den Menschenschlag, mit dem er umgeht, ge-
nauestens zu kennen. Anders als Vater, Tochter und Graf, die häufig aneinander vor-
beireden, zeigt der Hofmeister Einsicht in ihre Verhältnisse und Verständnis für die
153
Martin Kagel
Wünsche der Figuren. Dabei scheint er wesentlich nur das zu artikulieren, was die je-
weilige Figur begehrt: in Lottes Fall ihre Liebe zum Grafen, in Breiners die Wunsch-
vorstellungen eines sentimentalen Tugendapostels, beim gewissenlosen Treuberg des-
sen latente Gewaltbereitschaft. Nichts davon ist frei erfunden. Mekler treibt lediglich
eine Handlung voran, die virtuell, nämlich in der Konstellation, immer schon vor-
handen ist. Allein die Manipulation der Gefühle beherrscht er meisterhaft.
Erst als er selbst von Gefühlen getrieben wird, die er bei andern bis dahin glän-
zend kontrollierte, zerfällt das Netz der Intrigen. Es entspricht der inneren Logik des
Stückes, daß die authentischste Liebeserklärung nicht vom empfindsamen Treuberg
oder der gemarterten Lotte, sondern von der Figur stammt, die die Tugendhaften
deshalb durchschaut, weil sie sich selbst nach Rechtschaffenheit sehnt. Da blitzt für
einen Moment jenes Verlangen auf, durch die das schlechthin Böse an die Tugend ge-
kettet ist:
MEKLER. Verweilen Sie nur noch einen Augenblick; auf meinen Knien beschwöre
ich Sie. ---
LOTTCHEN. Sind Sie rasend mein Herr?
MEKLER. Und wenn ich es bin, wer hat mich dazu gebracht? --- Ihre Kälte, Ihr
Widerstand müssen das Gefühl eines Mannes reitzen. --- Ich bin weg, verloren
auf ewig, wenn Sie mich nicht anhören. --- Vergrössern Sie nicht durch ihre
Härte meine Leiden; ich sage Ihnen, Sie werden mich auf’s äusserste treiben.
LOTTCHEN. Und das sagen sie mir so dreist unter die Augen? --- Kein Wort weiter,
entlarvter Bösewicht; jezt versteh’ ich dich lasterhafter Bube! hämischer ver-
dammter Heuchler! [...]
MEKLER. Mädchen stelle dich nicht so; bist ja kein Neuling mehr in der Liebe. ---
Nun laß Dir das nicht abnöthigen, was du so gerne gegeben hast. (Lotte ringt
mit ihm) Bei’m Gott der Liebe! ich halte den Zwang nicht länger aus. --- (will
Gewalt brauchen, umfaßt sie in der Mitte, und sie schreit) (232).
Der krude Realismus dieser Szene ist verstörend. Wo männliche Kollegen gern aus-
blenden, bleibt Ehrmann unerbittlich bei der Sache und zeigt die brutale Wirklichkeit
eines Gewaltverhältnisses, das sich hier, wie es scheint, lediglich extremen Ausdruck
verschafft.
Es ist auffällig, daß Mekler die einzige Figur ist, die am Ende bestraft wird, ob-
schon doch alle Figuren auf verschiedene Weise an Lottes Verführung teilhatten. Der
unbewegliche Vater, der sich weigerte, die Leidenschaft der Tochter ausreichend zur
Kenntnis zu nehmen und sie für den eigenen Tugendkatalog instrumentalisierte;
Treuberg, der Mekler immerhin engagierte, seine eigenen Pläne durchzusetzen, und
ihm nun »die Haut [...] abschinden, Pauken davon machen« (238) will; Treubergs
Bedienter Friedrich, der erst für, dann gegen Mekler arbeitete; schließlich Lottchen
154
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
selbst, die sich nur allzu gern vom Hofmeister von ihren eigenen Absichten überzeu-
gen ließ --- ihnen allen diente Mekler als Sprachrohr und ihnen allen wird nun durch
das Bauernopfer des Hofmeisters Absolution erteilt. Daß der um Gnade winselnde
Mekler ähnlich wie Lessings Marinelli kurzerhand »an den Ort« verdammt wird, »wo
der Abschaum der Menschen hingehört« (249), sagt weniger über ihn als über seine
Funktion im Kreise der Gerechten aus: An einer solchen Figur läßt es sich leicht auf-
richten und es tut wohl, sich mit ihrer Entfernung zugleich der Erinnerung an die ei-
gene Komplizenschaft zu entledigen.
Gerade der entscheidungsschwache Treuberg tut sich in dieser Beziehung hervor,
schiebt er die eigene Willfährigkeit doch nur allzu bequem auf die Erziehung des
Hofmeisters ab:
Ihnen wurde also mein Herz, meine Jugend anvertraut! Sie waren also der Lehrer,
der meinen moralischen Karakter hätte bilden sollen! --- Sie hatten die Gabe sich
durch künstliche Schmeicheleien in das Haus meiner Verwandten einzuschlei-
chen; und ich war der, der ihre schönen Grundsätze öfters aus jugendlichem
Leichtsinn befolgte; der Sie sogar zum Vertrauten meiner Fehler wählte, der --- so
blind war, daß Sie mich am Zügel meiner Leidenschaften nach Ihrem Gutdünken
leiten konnten. (immer etwas steigend) Sie lehrten mich das andere Geschlecht
für ein Spielwerk meiner Sinnen halten; durch Sie --- durch Sie entführte ich dieses
Mädchen! --- Sie machten mich meine Unterthanen, und das Wohl meines Landes
vergessen. --- Sie kannten so die rechten Kniffe, einen treuherzigen Handlanger
vorzustellen (249).
Bei so viel Fremdbestimmung bleibt an Selbstverantwortung freilich nicht viel übrig.
Daß er selbst den Auftrag zur Überführung Lottchens gab, möchte der durch den Pi-
stolenschuß zum moralischen Leben erweckte Treuberg auf solche Weise gern verges-
sen machen. Schon früher hatte er geklagt, er könne es seinem Hofmeister nicht ver-
zeihen, »daß er mein weiches Herz zu keinem festen Karakter bildete«. Tugend und
Laster stritten hier um den Vorzug, und es sei bei seiner »verzärtelten Erziehung« und
»Empfindung« nur natürlich, daß »das letztere öfters mächtiger, als das erstere ist«
(219). Die mangelnde Charakterstärke des Zöglings allein dem Hofmeister anzula-
sten, scheint allerdings auch hier höchst fraglich. Am ehesten dürfte der Vorwurf der
Nachlässigkeit noch auf die vom Lehrer wohl kontrollierte Lektüre des jungen Grafen
zutreffen, die einen nicht unwesentlichen Anteil an der Herausbildung des »phantasi-
renden Liebhaber[s]« (195) gehabt zu haben scheint. Denn in Sachen Liebe spricht
Treuberg zumeist die Sprache belletristischer Vorbilder, und die zeichneten sich of-
fenbar stärker durch blinden Enthusiasmus als moralische Festigkeit aus.23
Ähnliches gilt es Lottchen zu attestieren, die lesend an der Realität vorbeilebt, und
im Stück gleich mehrfach als Schwärmerin, also der Phantasie, nicht der Vernunft ge-
155
Martin Kagel
156
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
Jetzt zu dir, allsehender, gütiger Beschützer der Gekränkten! Hier liege ich im
Staube vor dir! Kann dir außer meiner innigen Reue des Herzens nichts bringen,
was dich versöhnen könnte; höre mich bei deiner unendlichen Barmherzigkeit!
laß nicht zu, daß mir der Weg zu meinem leidenden Vater, der Weg zur Besse-
rung, durch Betrügereien abgeschnitten werde. Sei an meiner Seite, laß mich lie-
ber dies Leben unter tausend Martern aushauchen, als durch neue Mishandlung
meine Schwachheit versuchen. (235)
Die Passage, die die Protagonistin durchlaufen muß, bevor sie zum Glück erhoben
werden kann, entspricht der protestantischen Sequenz von Sündenfall und Gna-
denstand. Nach ihrem Fall muß Lotte erst sämtlichen Ansprüchen entsagen, bevor sie
auf Vergebung hoffen kann. Letztere aber ist im Kodex der Protestanten nicht er-
werbbar, sondern zufällig, da es keine kausale Beziehung zwischen Reue und Erhe-
bung gibt. Der Mangel an Plausibilität, der das Ende des Schauspiels auszeichnet, re-
flektiert eben diesen Tatbestand.
Die Rückkehr in den Schoß der Tugend wird von der gedemütigten Tochter zu-
dem mit dem Verlust der eigenen Stimme bezahlt, denn nach der Unterwerfungsgeste
im 4. Akt hat Lotte buchstäblich nichts mehr zu sagen. In den wortreichen Verhand-
lungen über Schuld, Sühne und Vergebung am Ende des Stückes kommt sie, die
Grund hätte, sich bei allen zu beklagen, bis auf ein schüchternes »Herr Graf! Ich weiß
nicht ---« nur noch als Objekt vor. Den Anspruch, Subjekt ihrer Geschichte zu sein,
hatte sie wohl schon aufgegeben, als sie den aufrechten Leutnant als Reisebegleitung
akzeptierte. Diese Entscheidung, auch eine Geste der Unterwerfung, restituiert den
gesellschaftlichen Status quo, da es nun erneut ein Mann ist, der die Unberührtheit
weiblicher Tugend garantiert. So bleibt, auch wenn die Handlung rein äußerlich kein
tragisches Ende nimmt, zumindest aus Sicht der Protagonistin ein bitterer Geschmack
zurück. Schließlich kehrt Lotte in die Verhältnisse zurück, denen ihr Unglück ur-
sprünglich zu verdanken war. Vorsichtig und nur ansatzweise deutet Ehrmann hier an,
daß auch im hohen Anspruch moralischer Integrität eine Gewalt liegt, die sich, wie es
das bürgerliche Trauerspiel vorgeführt hatte, zuletzt gegen die Tugend selbst richten
kann.
5.
Die Frage, ob Marianne Ehrmann als Autorin und ihr Schauspiel dem Sturm und
Drang zuzurechnen seien, ist bereits mehrfach und mit unterschiedlichem Ergebnis
diskutiert worden. Es ist keine unwesentliche Frage, geht es hier doch nicht allein um
eine literarhistorische Kategorisierung, sondern auch um den sozialen und intellektuel-
len Ort schreibender Frauen im 18. Jahrhundert. Helga Madland würde sie dem
157
Martin Kagel
Sturm und Drang zwar nicht im Sinne der Periodisierung, wohl aber in Stil und Hal-
tung zurechnen.26 Susanne Kord sieht Schriftstellerinnen wie Marianne Ehrmann eher
als Beobachterinnen der Bewegung denn als Teilnehmerinnen. Wirkliche Teilnahme
sei schreibenden Frauen schon deshalb nicht möglich gewesen, weil der Sturm und
Drang die Bewegung in der deutschen Literatur gewesen sei, »that by its very nature
excluded women from the ranks of its authors«.27 Insofern sich Schriftstellerinnen der
Haltung oder Sprache der Bewegung bedienten, nahmen sie eine hybride Position ein,
standen zugleich drinnen und draußen. Schon aus diesem Grund machte es wenig
Sinn, ihre Werke allein mit dem Maßstab männlicher Sturm-und-Drang-Literatur zu
messen.
The very fact that women’s works were not at the »center« but at the margins of
contemporary discourse [...] means that they wrote from a position of privileged
marginality. They wrote sometimes as members, always as observers of the epoch
and its aesthetic ideas; from a forced, but at times also a critical distance; and of-
ten with a complexity resulting from their observer status that critics who simply
»compare« their works to standard works of the male literary canon are sure to
miss.28
Auch Ruth P. Dawson betont die dezidiert männlichen Ideale, die der Literatur des
Sturm und Drang unterlagen. Radikaler noch als Kord lehnt sie es kategorisch ab,
Schriftstellerinnen im literarhistorischen Rückblick in die Bewegung integrieren zu
wollen, selbst wenn ihre Werke gewisse Charakteristika mit den Schriften der männli-
chen Stürmer und Dränger teilten. Denn neben der Gefahr, daß Werke von Schrift-
stellerinnen der Epoche aufgrund ihrer zeitlichen Verspätung als rein epigonal gelesen
werden würden, würde eine solche Erweiterung auch den eigentlichen Charakter der
Bewegung verfälschen.
Thus, rather than stretch our understanding of Sturm und Drang to include
women, that literary moment [sic] should be left as it is: a male-ordered, misogy-
nist, exclusionist movement that proposed to emancipate men while (and to some
extent by) reinforcing women’s subordination.29
Statt den Begriff des Sturm und Drang zu erweitern, wäre es Dawson zufolge sinnvol-
ler, den der Empfindsamkeit zu differenzieren. In diesem Sinne schlägt sie vor, für
Ehrmann und andere die Kategorie »Empfindsamkeit of alienation« einzuführen.
Die Frage, die Dawson und Kord aufwerfen, nämlich die nach dem Ort der Wer-
ke schreibender Frauen in einer Epoche, in der Literatur in Praxis und Theorie von
männlichen Autoren dominiert wurde, ist zweifellos bedeutsam. Die Schwierigkeiten
bei ihrer Beantwortung scheinen mir im Bezug auf den Sturm und Drang jedoch zu-
mindest zum Teil darin zu liegen, daß beide mit einem sehr engen Begriff der Bewe-
158
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
gung operieren. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, daß die überlieferte Bestimmung
des Sturm und Drang eine Definition post festum darstellt, die selbst historisch ist
und nicht notwendig dem Selbstverständnis jedes Autors entsprechen mußte. Zumin-
dest einer dieser Autoren, Jakob Michael Reinhold Lenz --- keine eben marginale Figur
---, läßt sich kaum unter der von ihnen angeführten Begrifflichkeit subsumieren. Im
Gegenteil, Lenz selbst würde sich eher dem von Dawson in die Diskussion geworfe-
nen Empfindsamkeitsbegriff zuschlagen lassen beziehungsweise als Autor der hybriden
Position gelten können, womit die systematische Abgrenzung hinfällig würde.
Prinzipiell geht den Differenzierungsversuchen die Frage voraus, warum es eigent-
lich keine weibliche Version des Sturm und Drang gegeben hat, immerhin drängten
schreibende Frauen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in bis dato nicht ge-
kannter Anzahl auf den literarischen Markt. Der Teilerklärung, daß es sich hier um
eine strukturell männliche Bewegung gehandelt habe, ließe sich nicht nur hinzufügen,
daß der Sturm und Drang als Protestbewegung bereits Positionen in sich aufnahm,
die sich mit denen schreibender Frauen zumindest berührten, sondern auch, daß es
innerhalb der Bewegung selbst Positionen gab, die prinzipiell von dem im nachhinein
konstruierten Selbstverständnis der Bewegung abwichen. Inge Stephan hat gezeigt,
daß die weibliche Position der Marginalität, inklusive der Artikulation einer gebro-
chenen Subjektivität, von Schriftstellern wie Jakob Lenz bereits besetzt worden war,
einem Autor, der selbst unter dem enormen Konkurrenzdruck des homosozialen
Männerbundes litt, als Mann jedoch nominal unter dem Begriff der Bewegung erfaßt
werden konnte.
Die Übereinstimmungen mit der Position des Weiblichen im Konkurrenzkampf
der Männer sind unübersehbar. Lenz [...] wird, da es keine Frau mit Anspruch auf
Autorschaft im Kreis der Stürmer und Dränger gibt, in die ›weibliche‹ Position
gedrängt und erfährt all die Mechanismen von Marginalisierung, Vergessen und
Verdrängen, denen sonst Autorinnen ausgesetzt sind. Diese Position aber wird
von Lenz emphatisch besetzt und in eine Textpraxis übersetzt, die ›weiblich‹ ist.30
Stimmt dies, so war die Möglichkeit eines separaten Sturm und Drang schreibender
Frauen strukturell nicht gegeben. Umgekehrt aber ließe sich Ehrmann unter solchen
Vorzeichen nun doch noch dem Sturm und Drang zuordnen, nämlich in Affinität zu
einem Autor wie Lenz. In einer solchen Assoziation liegt meiner Auffassung nach kei-
ne unrechtmäßige Vereinnahmung, sondern sie läßt genügend Offenheit, jenseits ge-
meinsamer Merkmale auch noch den genuinen Beitrag ihres Werkes sichtbar zu ma-
chen, etwa was die Darstellung und Diskussion weiblicher Erfahrung angeht. Umge-
kehrt bietet eine solche Zuordnung die Möglichkeit, kanonische Schriften des Sturm
und Drang neu zu lesen, nämlich im offenen Vergleich mit denen schreibender Frau-
en und in der Absicht wechselseitiger Beleuchtung. Erhellend wirkt im Falle Ehr-
159
Martin Kagel
manns beispielsweise der Bezug zu Lenz’ Der Hofmeister, verbunden mit der Frage,
wie die Autoren ihre Charaktere und sich selbst im pädagogischen Diskurs der Aufklä-
rung situieren.31
6.
Das Thema Erziehung nimmt, wie eingangs erwähnt, eine zentrale Position im Werk
Marianne Ehrmanns ein. »Das wichtige Werk der Erziehung«, schreibt sie an einer
Stelle, »wird ewig nie ausstudirt, ewig nie realisiert«,32 und führt weiter aus, daß dieses
zumeist von jenen vorgenommen wird, die selbst noch der Erziehung bedürften. Un-
geachtet solcher objektiven Schwierigkeiten, propagiert Ehrmann jedoch unablässig,
Frauen im Hinblick auf die Herausbildung einer weiblichen Vernunft zu erziehen, zu
der neben der Einsicht in die eigene gesellschaftliche Position auch die in das Ge-
schlechterverhältnis gehört. Ziel einer solchen Erziehung ist es, den gesellschaftlichen
Umgang der Geschlechter kritisch begreifen zu lernen und die soziale Position von
Frauen zu stärken, ihre Handlungsoptionen zu vermehren, ihren Handlungsrahmen
zu erweitern.
Für Ehrmann steht die Entwicklung des Intellekts nicht im Gegensatz zum zeit-
genössischen Begriff des weiblichen Geschlechtscharakters, der die künstlerische und
intellektuelle Aktivität von Frauen weitgehend ausschließt. Vielmehr unterläuft Ehr-
mann diese Opposition, indem sie vorgibt, den Intellekt allein zwecks Verbesserung
der Rolle von Hausfrau und Mutter herauszufordern. Die taktisch kluge Positionie-
rung, die die herrschenden Attribute des weiblichen Geschlechtscharakters zugleich
bestätigt und in Frage stellt, erlaubt es Ehrmann, ein Reformprogramm zu entwickeln,
welches nach außen konservativ, von innen betrachtet jedoch radikal ist.
Männer bildet den Weibern und Mädchen hinlänglich ihre Köpfe; macht diese
fähig, die Folgen einer übeln Wirthschaft zu überdenken, lehrt sie säuberlich sein
ohne Koketterie, sanft ohne Schwäche, gut ohne Verschwendung, wirthschaftlich
ohne Geiz [...] warm für Gatten- und Mutterliebe, religiös ohne Bigotterie, offen-
herzig ohne Unbesonnenheit [...]. Wäre dies etwa nicht das Bild einer edeln
Hausmutter? --- Aber nie kann es bei einer bloß sinnlichen Erziehung realisirt wer-
den. Nur Geisteskultur ist die Schöpferinn einer gefühlvollen Mutter, einer zärtli-
chen Gattinn, einer guten Hauswirthinn.33
An keiner Stelle wendet sich Ehrmann gegen eine gehobene Bildung als solche. Allein
bestimmte Arten der Ausbildung sind ihr ein Dorn im Auge, vor allem eine solche Er-
ziehung, die es versäumt, den Leidenschaften frühzeitig Einhalt zu gebieten. Trieb-
kontrolle ist etwas, was nicht früh genug eingeübt werden kann:
160
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
Sobald sich der Verstand in einem Kinde zu entwickeln anfängt, so muß man ihm
auch Nahrung geben --- sonst wird es von den früh aufkeimenden Leidenschaften
umnebelt.34
Der Verlust der Kontrolle über die eigene Leidenschaft stellt auch in Leichtsinn und
gutes Herz die eigentliche Problematik im Bezug auf Fragen der Erziehung dar, nicht
die Tatsache, daß Lottchens Vater sie »gut und über meinem Stand erziehen lassen«
(218) hatte. Statt in der Ausbildung selbst bestehen die Mängel von Lottes Erziehung
im Zuschnitt des Unterrichts, wie der Verweis auf »Lectur, und Schwärmerei« deut-
lich macht, das heißt in der Betonung einer schöngeistigen, weltfremden Lektüre, die
die Phantasie, nicht aber ihre Vernunft heranbildet. »Warum nützt das Lesen so vielen
Frauenzimmern so wenig?«, fragt Ehrmann in anderem Zusammenhang rhetorisch:
Weil sie selten so lesen, wie sie lesen sollten, weil sie meistens nur das benutzen,
was ihren Lieblingsleidenschaften schmeichelt, weil die wenigsten Leserinnen bei
dieser Beschäftigung denken; weil sie oft gar nicht wissen, was sie lesen.35
Ganz so irrational erscheint Lottes Verhalten in Ehrmanns Schauspiel indessen nicht.
Nicht nur begegnet sie den ersten Avancen des Grafen mit ablehnendem Räsonne-
ment, auch dort, wo sie später die Möglichkeit hat, selbst zu entscheiden, dominiert
das Kalkül der Vernunft. Wenn Lottchen demnach davon spricht, daß Einbildung
und Leidenschaft das Gefühl der Ehre und des Gehorsams betäubt und so zu Ent-
schlüssen beigetragen hätten, die sie im Nachhinein mißbillige, dann heißt das, daß es
ihr im entscheidenden Moment an Mitteln fehlte, dem von literarischen Vorbildern
angefeuerten Rausch der Leidenschaft zu widerstehen. Wie eine solche »Betäubung«
durch Literatur vor sich gehen kann, führt die Autorin beispielhaft in einer Szene im
Schloß vor, wo Lotte nach ihrer Verführung die Flucht in der Lektüre sucht.
Da steh’ ich nun, überlege, verwünsche, verdamme den schleichenden Bösewicht,
und das alles zu spät. --- --- (nimmt das Buch) Her mit dir, du willst mir meine
Gewissensbisse übertäuben helfen. (liest) --- »Alpharabe verachtete alles eitle
Glück, verließ das Haus seines Vaters, um als Sklave zu dienen, und studierte die
Naturkenntniß und Seelenlehre. Sein Fleiß kam in Ruf, man bot ihm Reichthü-
mer und Ehrenstellen an, er schlug sie aus, und lebte zufrieden in einer Einöde
[...]«. Seliger Alpharabe! O wenn du noch lebtest! Um den ganzen Erdkreis wollt’
ich dich suchen, mich mit deiner Einsamkeit verbinden, und den Tag verfluchen,
da ich dem glänzenden Glücke zuviel getraut (210).
Die Lektüre wird nicht kritisch der eigenen Erfahrung entgegengehalten, sondern sie
dient dazu, die realen Umstände schlechthin zu negieren. Die Sehnsucht nach dem
ganz anderen, wie sie hier zum Ausdruck kommt, entspricht jener nach erfüllter Lie-
be, die Lotte erst an den Ort der Verzweiflung gebracht hatte.
161
Martin Kagel
162
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
ständigt hat, und einer Leidenschaft, die nach Ausdruck verlangt. Daß der Hofmeister
im abschließenden Tableau beider Stücke fehlt, zeigt, daß die Versöhnung nur ohne
ihn stattfinden kann, und die Figur, sprich: der der Handlung unterliegende gesell-
schaftliche Konflikt, buchstäblich von der Bühne verdrängt werden muß, um Har-
monie walten zu lassen.
Darüber hinaus lassen sich die Dramen auch als eine eigene Form der Pädagogik
verstehen. Marianne Ehrmanns Schauspiel nimmt bewußt selbst die Position des Er-
ziehers ein. Auch deshalb wird der Hofmeister hier von der Bühne verabschiedet. Die
Autorin nämlich leitet ihr Publikum dazu an, das Stück, welches dialektisch Realität
reflektiert und schönen Schein produziert, kritisch mit dem Ziel eigener Aufklärung
zu lesen. Die Reflexion weiblicher Erfahrung auf der Bühne fordert ihrerseits kritische
Prüfung auf Seiten der Leserinnen: Lotte kann nicht einfach als Modell goutiert oder
als Negativbeispiel verworfen werden. Die Handlung ermöglicht es, die komplexe so-
ziale Realität durchschaubarer zu machen und dem weiblichen Publikum Handlungs-
optionen und Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Lottes Pistolenschuß sollte
wohl nicht nur den Grafen, sondern auch das Publikum aufschrecken. Denn anders
als ein Bühnenmord, der die Realität im Sinne einer Ersatzhandlung entlastet, wird
die Entlastung der Bühnenhandlung hier von der Realität gefordert.
1
Marianne Ehrmann: Philosophie eines Weibs. Von einer Beobachterin. [Kempten]
1784; sowie Ignaz Andreas Anton Felner: Philosophie eines Mannes. Ein Gegenstück
zur Philosophie eines Weibes. Von einem Beobachter. Basel: bey Johann Schweighauser
1785. Ehrmanns Text erlebte zwei weitere Auflagen und wurde dazu ins Französische
übersetzt. Er wird im Folgenden nach der Ausgabe von 1784 mit der Sigle EP zitiert.
2
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In: Was ist Aufklärung:
Thesen und Definition. Hg. v. Ehrhard Bahr. Stuttgart: Reclam 1996, S. 9.
3
So auch Ruth P. Dawson: »And this shield is called --- self-reliance«. Emerging Feminist
Consciousness in the Late Eighteenth Century. In: German Women in the Eighteenth
and Nineteenth Centuries: New Studies in Social and Literary History. Hg. v. Ruth-
Ellen B. Joeres u. Mary Jo Maynes. Bloomington: Indiana UP 1985, S. 161.
4
Ehrmann: Philosophie (1784), S. 5.
5
Ehrmann: Philosophie (1784), S. 26 u. 31.
6
Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Hg. u. übersetzt v. Ludwig
Schmidts. 7. Aufl. Paderborn et al.: Schöningh 1985, S. 386ff. Die von Ehrmann über-
nommenen Stellen befinden sich im 5. Buch.
7
Ruth P. Dawson: The Contested Quill. Literature by Women in Germany, 1770 ---
1800. Newark et al.: Rosemount Publishing 2002, S. 222.
163
Martin Kagel
8
Vgl. Helga Stipa Madland: An Introduction to the Life and Works of Marianne Ehr-
mann (1755-95): Writer, Editor, Journalist. In: Lessing Yearbook 21 (1989), S. 171-96,
hier: S. 179.
9
Cf. zum folgenden Doris Stump: Eine Frau »von Verstand, Witz, Gefühl, Fantasie und
Feuer«. Zu Leben und Werk Marianne Ehrmanns. In: Marianne Ehrmann: Amalie: Ei-
ne wahre Geschichte in Briefen. Hg. v. Maya Widmer u. Doris Stump. Bern et al.:
Haupt 1995, S. 487ff.
10
Stump: Frau (1995), S. 487.
11
Helga Stipa Madland: Marianne Ehrmann: Reason and Emotion in her Life and Works.
New York et al.: Peter Lang 1998, S. 11.
12
Stump: Frau (1995), S. 489.
13
Ulrike Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit: Die ersten deutschen Frau-
enzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum. Tübingen: Niemeyer
1998, S. 123.
14
Weckel: Häuslichkeit (1998), S. 120.
15
Weckel: Häuslichkeit (1998), S. 120f.
16
Zur Beschreibung der Geschlechtscharaktere im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Ka-
rin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Disso-
ziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie der Neuzeit
Europas. Neue Forschungen. Hg. v. Werner Conze. Stuttgart: Klett 1976, S. 363ff. Zur
Kritik von Hausens wegweisendem Aufsatz siehe Brita Rang: Zur Geschichte des duali-
stischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von
Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhun-
dert. In: Frauenmacht in der Geschichte: Beiträge des Historikerinnentreffens 1985 zur
Frauengeschichtsforschung. Hg. v. Jutta Dalhoff et al. Düsseldorf: Schwann 1985, S.
194ff.
17
Marianne Ehrmann: Amaliens Erholungsstunden 1 (1790), S. 2ff. Hier zitiert nach fol-
gendem Faksimilenachdruck: Marianne Ehrmann, beb. Brentano: Amaliens Erholungs-
stunde. Nachdruck einer Monatsschrift. Originalausgabe Stuttgart 1790. 1. Bändchen.
Hg. v. Sigrid Düll. Sankt Augustin: Academia Verlag 1998.
18
Ehrmann: Erholungsstunden 1 (1790), S. 2.
19
Vgl. Dawson: »And this shield is called --- self-reliance« (1985), S. 168. Ehrmanns Hal-
tung ist typisch für den Widerspruch, dem schreibende Frauen zu der Zeit unterworfen
waren. Man vergleiche Ihre Ausführungen etwa mit einem Brief Sophie von LaRoches
an Elise zu Solms-Laubach, in dem erstere ihren Tagesablauf schildert. In LaRoches
Darstellung spielt ihre schriftstellerische Tätigkeit, durch die sie zu diesem Zeitpunkt
immerhin den Lebensunterhalt der Familie bestritt, eine völlig untergeordnete Rolle.
Sophie von LaRoche: Ich bin mehr Herz als Kopf. München: C.H. Beck 1985, S. 259.
20
Ehrmann: Erholungsstunden 1 (1790), S. 1.
21
Maria Anna Antonia Sternheim [d.i. Marianne Ehrmann]: Leichtsinn und gutes Herz
oder die Folgen der Erziehung. Straßburg: auf Kosten der Verfasserin gedruckt bey Joh.
Heinrich Heitz 1786. Hier zitiert nach Frauen und Drama im achtzehnten Jahrhundert.
164
Erziehung der Geschlechter bei Marianne Ehrmann
Hg. v. Karin A. Wurst. Köln, Wien: Böhlau 1991. Der Hinweis auf die Uraufführung
stammt von Theophil Ehrmann. Vgl. Madland: Introduction (1989), S. 177. Diese An-
gabe fehlt im jüngst erschienenen Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts; vgl. Dramenle-
xikon des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier. München: Beck
2001, S. 56.
22
Wurst: Frauen (1991), S. 189. Zitate aus dem Schauspiel werden im Weiteren mit Sei-
tenangabe im Text nachgewiesen.
23
Karin A. Wurst: Women Dramatists in Late Eighteenth-Century Germany: The Haz-
ards of Marriage as Love Match. In: Seminar 38 (2002) 4, S. 321: »Treubergs verbose
expression of desire for Lottchen is so full of clichés from the literary discourse of the
time [...] that he seeems likely to have read the same literature that Lottchen enjoys«.
24
Susanne Kord: Discursive Dissociations: Women Playwrights as Observers of the Sturm
und Drang. In: Literature of the Sturm und Drang. Hg. v. David Hill. Rochester, NY:
Camden House 2003, S. 259.
25
Kord: Dissociations (2003), S. 259ff.
26
Madland: Introduction (1989), S. 178.
27
Kord: Dissociations (2003), S. 242.
28
Kord: Dissociations (2003), S. 243.
29
Dawson: Quill (2002), S. 236.
30
Inge Stephan: Geniekult und Männerbund: Zur Ausgrenzung des ›Weiblichen‹ in der
Sturm und Drang-Bewegung. In: Text + Kritik: Jakob Michael Reinhold Lenz. Hg. v.
Martin Kagel. München: Edition text + kritik 2000, S. 54. Vgl. außerdem Inge Ste-
phan: »Gemählde des Erschlagenen« und »Lied eines schiffbrüchigen Europäers«. Kon-
struktion und Dekonstruktion des lyrischen Ichs bei J.M.R. Lenz. In: Die Wunde Lenz:
J.M.R. Lenz Leben, Werk und Rezeption. Hg. v. Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter.
Bern et al.: Lang 2003, S. 95ff.
31
Der Hinweis auf Lenz zuerst bei Madland: Introduction (1989), S. 172 und 176. In
diesem Sinne sollte man in der Kategorisierung des Schauspiels als Unterhaltungsstück
auch kein Urteil über dessen literarische Qualität sehen. Charakterisiert wird dadurch
lediglich das darin zum Ausdruck kommende Selbstverständnis.
32
Marianne Ehrmann: Ein Weib. Ein Wort. Kleine Fragmente für Denkerinnen. Hg. v.
Doris Stump u. Maya Widmer. Freiburg i.Br.: Kore 1994, S. 47.
33
Ehrmann: Weib (1994), S. 28f.
34
Ehrmann: Weib (1994), S. 47.
35
Ehrmann: Weib (1994), S. 26.
36
Ehrmann: Erholungsstunden 1 (1790), S. 12.
37
Ehrmann: Erholungsstunden 1 (1790), S. 15.
38
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 1. Leipzig:
Insel 1987, S. 68f.
39
Ehrmann: Erholungsstunden 1 (1790), S. 15.
40
Lenz: Werke 1 (1987), S. 123.
41
Vgl. Kord: Dissociations (2003), S. 254f.
165
Elin Nesje Vestli
»Nun schrieb ich und schrieb glücklich
--- das heißt meine Stücke gefielen«1
Johanna Franul von Weißenthurn
und das Lustspiel um 1800
This paper deals with the comedies written by Johanna Franul von Weißen-
thurn (1772-1847) between 1800 and 1810. A biographical overview, which
comprises both her career as an actress and as a playwright, is followed by an
exploration of a selection of her dramatic works. Contemporary female con-
cepts of life, as represented in these plays, are the focus of interest, spanning
the upbringing of young girls, the desires and duties of young women and
wives, and finally widowhood.
167
Elin Nesje Vestli
genannt, worüber er ihr einige Tage darauf hat öffentlich Abbitte thun müssen.«7 Und
als ihr 1821 eine unerwünschte Rolle zugeteilt wird, beschwert sie sich und bittet, dass
diese Rolle »anderweitig« besetzt wird:
Ich habe […] eine Rolle erhalten, die mich in Verlegenheit setzt; sie ist Etwas zu
launig, Etwas zu eingebildet, Etwas schwach, und Etwas vernünftig, sie ist kei-
neswegs so hervorstechend, daß sie die Leute ansprechen könnte, was eigentlich
das Schlimmste ist. Da ich nun aber noch besorgen muß, daß der eingebildete
Theil der Rolle, sie Etwas zur Karikatur herabzieht, zu der ich nicht gerne herab
sinken möchte, so ersuchte ich Sie um Ihr freundliches Fürwort bei der hohen
Direction, diese Rolle anderweitig zu besetzen.8
Der Wunsch wird ihr erfüllt.
Ihre höchste Auszeichnung erhält Weißenthurn 1829, als ihr die goldene Civil-
Verdienst-Medaille von Kaiser Franz 1. verliehen wird. Der direkte Anlass ist ihr 40-
jähriges Bühnenjubiläum, die Auszeichnung jedoch eine Würdigung sowohl der
Schauspielerin als auch der Theaterautorin: Weißenthurn habe, so lautet die Begrün-
dung, »in doppelter Hinsicht dem Theater Ehre und Vortheil gebracht.«9 Als sie zu
diesem Anlass vom Maler Ferdinand Georg Waldmüller für die Ehrengalerie des
Burgtheaters porträtiert wird, malt dieser die damals 56jährige Frau nicht mit den
gängigen Requisiten einer Schauspielerin, sondern mit schriftstellerischen und männ-
lich besetzten Attributen: Manuskript, Schreibutensilien, Büchern und einem Lor-
beerkranz.10 Weißenthurn ist Anfang des 19. Jahrhunderts die einzige Frau, die die
Schauspielerkarriere mit dem männlich konnotierten Dramatikerberuf erfolgreich
kombiniert. Dies wird durch Waldmüllers Portrait gewürdigt.
Von einer außergewöhnlichen Karriere zeugt ebenfalls die kaiserlich bewilligte
Benefizvorstellung bei ihrem Abschied von der Bühne 1842, bei der ihre Stücke Sie
hilft sich selbst und Die stille Braut gespielt werden. Dass diese Laufbahn für eine
Frau jedoch nicht immer leicht gewesen ist, zeigt eine schon 1810 geschriebene Vor-
rede: »sie [die Laufbahn] liegt nun ein Mahl außer dem uns angezeigten engen Wir-
kungskreise, und wir scheinen uns zu verirren, wenn wir ihn überschreiten« (VR I).
Wer ein traditionelles apologetisches Vorwort erwartet, wird jedoch enttäuscht:
Doch --- wer sich entschuldigt, bekennt gefehlt zu haben. Ich habe allerdings wi-
der die Kleiderordnung gefehlt und --- statt Strümpfe zu stricken, ein paar Federn
stumpf geschrieben. Die Männer sehen nur ein Mahl die Federn lieber auf unsern
Köpfen, und wollen nicht dulden, daß wir sie in die Dinte tauchen; aber ich be-
kenne hier öffentlich: --- ich kann das Stricken nicht leiden; das muß mich auch
für die Zukunft entschuldigen, wenn dieß meine letzte Arbeit ist. (VR V)
168
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
169
Elin Nesje Vestli
gen Literatur und dem damaligen politischen Denken ihren Stempel aufdrückten«,17
zu exemplifizieren. Weißenthurns erste Lustspiele --- Das Nachspiel (1800), Beschämte
Eifersucht (1801), Der Reukauf (1802), Die Erben (1803), Das Mißverständnis
(1804), Die Radikalkur (1805), Die Ehescheuen (1808) und Die erste Liebe (1809) ---
werden im Folgenden unter diesem Gesichtspunkt erörtert.
170
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
Christoph Meiners, dem Autor der vierbändigen Geschichte des weiblichen Ge-
schlechts20 oder Carl Friedrich Pockel, dessen fünfbändiger Versuch einer Charakteri-
stik des weiblichen Geschlechts21 es nahelegen würden. Es gibt natürlich zu dieser Zeit
auch konträre Positionen in der Diskussion um den Standort des weiblichen Ge-
schlechts, wie z.B. von Theodor Gottlieb Hippel in Ueber die Ehe,22 oder auch von
weiblichen Stimmen, wie etwa Emilie von Berlepsch.23 Aus Frankreich dringt die Stel-
lungnahme einer Olympe de Gouges, aus England einer Mary Wollstonecraft nach
Deutschland. Weißenthurns Figurenkonzeption der jungen Frau bzw. der Tochter ist
jedoch nicht als eine differenzierte Auseinandersetzung mit der politischen Diskussion
anzusehen --- das wäre einem Lustspiel dieser Zeit kaum angemessen.
Bei Weißenthurn vertritt die Figur der jungen Frau in der Regel die Stimme der
Vernunft, --- manchmal auch durch einen älteren Bruder oder einen Onkel, der sich
vom tyrannischen und cholerischen Vater unterscheidet, unterstützt. Der Charakter
der jungen Frau hebt sich vorteilhaft ab. Was Rose Götte in Die Tochter im Famili-
endrama des achtzehnten Jahrhunderts konstatiert, trifft auch auf die Weißenthurn-
schen jungen Frauenfiguren zu. Die Tochter
bildet oft den Maßstab, an dem alle anderen Figuren des Dramas gemessen wer-
den. […] Ihr klarer Blick für die Umwelt und die realen Gegebenheiten des Le-
bens bringt immer wieder allerlei schiefe Verhältnisse ins rechte Lot. Oft ist die
Tochter die einzige Person, die hinter der täuschenden Fassade eines Menschen
sein wahres Gesicht erkennt, die einzige, die sich überhaupt die Mühe macht, ihr
Gegenüber einmal genauer zu betrachten.24
Darin schließt das Lustspiel um 1800 an klassische Strukturen des Lustspiels der Auf-
klärung an, das gerne junge Frauen als Repräsentantinnen der Klugheit und vorbildli-
chen Moralität inszenierte.
In Die Erben werden Erziehungsfragen ins Licht gerückt. Nach dem frühen Tod
ihrer Mutter wird Julie nach England geschickt und dort von einer Tante erzogen.
England wird generell mit freieren und natürlichen Erziehungsgrundsätzen assoziiert;
in diesem Falle kommt die Abwesenheit einer männlichen Autoritätsperson, die die
Möglichkeit einer freieren Entfaltung des Charakters impliziert, hinzu. Die Tante hat
auf Tugenden wie Redlichkeit und Offenheit Wert gelegt und Julie eingeschärft, man
müsse den Menschen »mit unbefangenem Blick ins Auge sehen«25 können. Als der
Vater die Tochter gegen ihren Willen aus England zurückholt und sie verheiraten will,
um an das Vermögen seines Mündels heranzukommen, stellt Julie nüchtern fest: »Die
Pläne unserer Väter machen nicht immer glücklich« (ER 32). Sie will zwar gern dem
Vater gehorchen, --- die väterliche Autorität an sich wird nicht in Frage gestellt ---, aber
ein unreflektierter Gehorsam steht im Gegensatz zu den ihrer Erziehung zugrunde lie-
171
Elin Nesje Vestli
172
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
Lustspiels gibt ihr Recht. Eben durch ihren Einfluss hat sich Karls Charakter gefestigt
und entfaltet: Ihre Erziehung hat eine Basis gelegt, die keinen unreflektierten Gehor-
sam fördert, sondern einen trotz seiner jungen Jahre reifen Mann bildet, der durch die
Wahrnehmung der Gefühle anderer Menschen auf die Befriedigung eigener Wünsche
zu verzichten vermag.
Eine Gegenüberstellung von Julie und Karl zeigt exemplarisch den Unterschied
zwischen den Geschlechtern --- wie er offenbar selbst aus der Sicht der Autorin besteht
und, was noch überraschender ist, akzeptiert wird: Die Charakterfestigkeit Julies ist
nur bühnenfähig und annehmbar, weil sie durch ihre Tugend einen ebenso tugend-
haften Bräutigam anzieht und der aufkeimende Konflikt mit der väterlichen Autorität
spielerisch gelöst wird. Was sich bei einem Mann organisch entfalten darf, wird bei
einer jungen Frau durch das sich schnell einstellende Happyend entschärft. Eine
Tochter, die die gleiche Entwicklung wie Karl durchläuft, hält offenbar auch Wei-
ßenthurn dem Lustspiel bzw. dem Publikum für kaum zumutbar. So bleibt der ge-
schlechtsspezifische Unterschied zwischen der Bestimmung des Mannes und der Frau
aufrechterhalten und harmoniert letztendlich mit Campes Vorstellung der Geschlech-
ter: »er die Eiche, sie der Epheu«.27
173
Elin Nesje Vestli
aber dem Manne von Ehre muß das Glück anderer stets heilig seyn« (ES 230). Au-
gust, der lustspielgemäß außerordentlich schnell von seiner Ehescheu geheilt wird,
stellt den vernünftigen Mann dar, den Gegentypus zum tyrannischen pater familias.
Er will nur eine Ehefrau, die frei wählen darf: »S i e [sagt er zu der ihm vom Vater be-
stimmten Braut] sind frey --- dürfen w ä h l e n und glauben Sie mir, es gibt noch
Männer, die den Werth eines Weibes fühlen […] was lebt, muß lieben, der Mensch
wird, k a n n nur durch L i e b e glücklich werden« (ES 241).
Aber auch die auf gegenseitige Neigung gegründete Verbindung ist selten ganz frei
von Verstimmungen. Eine vorsichtige Fehlerkorrektur, in der Form einer traditionel-
len Verlachkomödie, sucht das Glück wiederherzustellen. Ein nicht nur von Wei-
ßenthurn beliebtes Motiv ist das Eifersuchtsmotiv. Die unbegründete Eifersucht eines
Gatten stellt das Eheglück auf eine harte Probe und bedeutet für die Frau eine Einen-
gung ihrer ohnehin beschränkten Bewegungsfreiheit. Dies wird in Beschämte Eifer-
sucht --- einer von Weißenthurns größten Bühnenerfolgen, das Stück wird 62 Mal am
Burgtheater gespielt --- demonstriert. Marie und Julie leiden unter der völlig unbe-
gründeten Eifersucht ihrer Männer. Auf einem Spaziergang trifft Julie einen fremden
Offizier, der sich später als ihr unbekannter Bruder herausstellt.30 Der Bruder erfährt
von der maßlosen Eifersucht, die als ein Ergebnis von männlicher Willkür geschildert
wird, und möchte den schwierigen Männern durch ein Intrigenspiel eine Lehre ertei-
len und Fehlerkorrektur ausüben. Julie beschwert sich, dass die Männer, die zwar an-
geblich das Recht auf ihrer Seite haben, durch ihre Eifersucht Frauen zwingen, sich
übertriebenen Vorschriften zu unterwerfen, z.B. dass sie nicht ohne männliche Beglei-
tung spazieren gehen dürfen: »wir werden regiert […] die Männer haben die Gesetze
gemacht, die uns ihnen zu gehorchen zwingen.«31 Ihr Bruder, der die Stimme der
Vernunft vertritt, bestätigt das und sagt zu Marie, die ebenfalls unter den sinnlosen
Gesetzen ihres Ehemannes leidet: »Ihr Gemahl mißbraucht sein Recht« (BE 140).
Dieser Missbrauch wird aber nicht als eine Absage an die Ehe ausgelegt, vielmehr wird
vorsichtige Fehlerkorrektur geleistet, in der Hoffnung, dass die Heilung auch auf
Dauer ihre Wirkung zeigt.
Auch in Die Radikalkur geht es um Eifersucht. Die junge Friderike liebt ihren
Bräutigam, Heinrich von Wolken. Wolken ist jedoch extrem eifersüchtig, und Fride-
rikes Onkel will ihr dabei helfen, den Bräutigam zu heilen. Ein kompliziertes und so-
gar gefährliches, weil fast zu weit getriebenes Spiel-im-Spiel wird inszeniert, das Hap-
pyend --- Wolken sei, so sagt er, von seiner Eifersucht geheilt --- wird nur knapp er-
reicht. Ein kleiner Verdacht angesichts der geheilten Eifersucht bleibt, wie auch in Be-
schämte Eifersucht. Denn wie lange wird Wolken, der aus Eifersucht sogar zur Gewalt
greift und Friderikes Leben in Gefahr bringt, gebessert bleiben?
174
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
Eine Nebenhandlung deutet die unterschwellige Gefahr an: Wie auch in anderen
Stücken, werden in Die Radikalkur Kriegsmetaphern verwendet, um die Ehe zu be-
schreiben, so wird z.B. die Brautübergabe mit dem Abtreten eines Rekruten vergli-
chen,32 was einer juristischen Übergabe gleichkommt, bei der ein anderer das Verfü-
gungsrecht übernimmt. In Die Radikalkur wird aber auch ein wirklicher Krieg ausge-
fochten. Friderikes Vater ist begeisterter Kriegsanhänger und verschlingt die Kriegsbe-
richterstattung der Zeitung. Ihr Bruder, August, ist Soldat, ihr Onkel Obristlieute-
nant. Friderike steht aber dem Krieg ablehnend gegenüber. Solange Krieg ist, kann sie
»unmöglich fröhlich seyn. […] Weil der Krieg Blut kostet« (RK 107). Auch wenn ihr
Onkel berufsbedingt vom Krieg lebt, teilt er nicht den begeisterten Patriotismus seines
Bruders. Dass z.B. fünf Männer gegen hundert Mann sich zur Wehr setzen sollen, fin-
det der Obristlieutenant Wartburg nicht heldenhaft, sondern »muthwillig« (vgl. RK
104). Friderikes Bruder kommt aus dem Krieg erblindet zurück. Der kriegsbegeisterte
Vater ist stolz: »ein Aug weniger, aber Oberlieutenant, einen Grad mehr« (RK 172).
Der Onkel aber erwidert nüchtern: »Wenn er jeden Grad mit dem Verlust eines ge-
sundes Gliedes erkaufen muß, so wird er Feldmarschall ohne Händ und Füße« (RK
172).33 Friderikes Bruder wird befördert, aber der Preis ist hoch. Ein gesundes Auge
wird dem Krieg geopert, ein halberblindeter Oberlieutenant bleibt zurück. Appliziert
auf Friederikes blinden Optimismus im Hinblick auf Wolkens (hoffentlich) geheilte
Eifersucht deutet der Vergleich eine eher düstere Zukunft an.
Die Ehe ist und bleibt bei Weißenthurn, auch wenn sie für eine auf Neigung ge-
gründete Heirat plädiert, eine geschäftsmäßige Verbindung. Schon der Titel Der Reu-
kauf verweist provokant auf den merkantilen Aspekt des Ehestandes: ein Reukauf ist
ein Kauf mit Rücktrittsrecht gegen Zahlung eines Reugeldes. Baron Hochberg hat ei-
ne Tochter, Jette, die er dem schon durch den Namen abschätzig gekennzeichneten
Baron Hügel versprochen hat: »Ich habe für sie gewählt. […] Sie war immer ein gutes
Kind, sie wird des Vaters Sorge für ihr Wohl nicht verkennen.«34 Der Bräutigam in
spe ist reich, adlig, allerdings »nicht mehr in der Blüthe der Jahre« (RA 178). Was der
Vater als Vorzüge hervorhebt, erkennt seine Nichte Amalie als Lügen: Baron Hügel
sei hässlich, unwissend, geizig und spielsüchtig (vgl. RA 183-184). Jette liebt den ar-
men Hauslehrer Wallen, der zu scheu ist, um Jette seine Liebe zu deklarieren. Die
junge Frau ist unglücklich, wird zwischen ihrer Liebe zu Wallen und ihrem Gehorsam
zum Vater hin und her gezerrt, sieht aber keine andere Möglichkeit, als dem Vater zu
gehorchen. Als sie sich letztendlich überwindet und ihrem Vater ihre Liebe zu Wallen
gesteht, nimmt die Handlung einen unerwarteten Verlauf. Der Vater wirft seiner
Tochter vor, dass sie ihre Liebe zu Wallen verheimlicht hat und teilt ihr mit, dass er
nur deshalb auf die Werbung des Barons Hügel eingegangen ist, um sie und Wallen
zu prüfen. Jettes Schwanken zwischen Gehorsam und Auflehnung erweist sich damit
175
Elin Nesje Vestli
als Zwischenspiel, das den Regeln der schon in frühaufklärerischer Dramatik veran-
kerten Tugendprobe folgt. Weißenthurn thematisiert zwar konstante, tatsächlich seit
Jahrhunderten bestehende Probleme des Alltagslebens von Frauen, zu radikalen Lö-
sungen derselben, wie sie am Ende des 18. Jahrhunderts mehrfach zumindest litera-
risch bedacht und gewagt wurden, vermag sie sich aber nicht zu entschließen. Das
Happyend tritt ein, nicht weil die Tochter sich auflehnt, sondern weil der Vater ihre
Wahl von Anfang an gutheißt. Das Spiel-im-Spiel ist eher eine vom Vater inszenierte
Posse als eine wirkliche Gefahr.
Weder die Institution der Ehe noch die Ehe als die eigentliche Bestimmung der
Frau werden angeprangert. Heirat muss sein, das ist Weißenthurns Credo, aber die
Frau soll wenigstens die Möglichkeit haben, selbst auf die Wahl des zukünftigen Gat-
ten Einfluss zu nehmen. Die Liebesheirat setzt sich durch, manchmal sogar durch die
Unterstützung eines vernünftigen Vaters. Gegen einen tyrannischen Vater kann aller-
dings nur eine durch einen deus ex machina bewegte Wendung --- etwa die Unterstüt-
zung durch einen männlichen Helfer oder eine unerwartete Erbschaft --- ankommen.
Dies gilt auch für das Beseitigen eventueller Verstimmungen in der Ehe. Das schon in
der Aufklärung beliebte Motiv der Fehlerkorrektur ist nach wie vor bühnenwirksam.
Allerdings wird die lustspielübliche Doppelheirat bei Weißenthurn ausgespart. Auf die
am Ende von Die Erben sich anbahnende Doppelverlobung wird in letzter Minute
verzichtet: »Aber nein, eine doppelte Heirat sieht gar zu theatralisch aus« (ER 122) ---
ein Metakommentar zur theatralischen Mode der Zeit, der dem damaligen Publikum
vertraut ist und als ein Akt der wechselseitigen Selbstversicherung zwischen Autorin
und Publikum gelesen werden kann.
176
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
reen Fischer über den Witwenstand in Texten aus dem Mittelalter und der frühen
Neuzeit feststellt, nämlich dass die Witwenschaft einen »individuellen Freiraum für
Selbstverwirklichung […] [und] die Möglichkeit, sich auf den für eine Witwe angebo-
tenen idealtypischen Lebensentwurf zu berufen und somit ihren Eheverzicht zu legi-
timieren«36 bedeutet, ist auch bei Weißenthurn gültig.
In Die Ehescheuen steht eine junge und mit ihrem Familienstand äußerst zufrie-
dene Witwe auf der Bühne. Albertine genießt offen die Freiheit ihres Witwenstandes
und hat nicht vor, ihre neugewonnene Freiheit wegen eines Mannes aufs Spiel zu set-
zen: »ein fataler Handschlag hat mich schon einmahl um meine Freyheit gebracht,
nun hab’ ich sie wieder, nun heirathe wer da wolle, ich nicht« (ES 210). Ausführlicher
wird die Witwe als Lebensentwurf in Die erste Liebe gestaltet. Hier spielt die Hand-
lung auf dem Landgut einer seit einem halben Jahr verwitweten Gräfin. Ihr verstorbe-
ner Gatte hat seine Güter heruntergewirtschaftet und seit seinem Tod ist die Witwe
damit beschäftigt, Ordnung zu schaffen. Die Gräfin beschränkt sich nicht auf die
Hauswirtschaft, sondern will jetzt ihre Güter bereisen und dort nach dem Rechten
schauen. Als sie erkennt, dass einer ihrer Angestellten die Bauern einer entlegenen Ge-
gend ausgebeutet hat, ist sie gnadenlos und entlässt ohne zu zögern den unehrlichen
Inspektor. Diese Tatkräftigkeit findet ihr Bruder wenig damenhaft und wirft ihr vor,
sie verwende nach dem Tod ihres Gatten zu wenig Zeit auf ihre Toilette. Er moniert
ihr Aussehen und noch mehr ihre Denkungsart, sie sei eine »geschäftige Landwirthinn
geworden, mischt dich in alles, willst alles sehen und prüfen« (EL 126). Ihre Antwort
ist unmissverständlich: »Ich bin wie ich war; aber ich darf jetzt mehr zeigen, wie ich
bin« (EL 126). Die erste Liebe ist ernster und konsequenter als die Mehrzahl der
Weißenthurnschen Lustspiele. Keine sich anbahnende neue Ehe schließt das Stück ab,
sondern der Entschluss der Gräfin, ihre Güter zu bereisen und die dort noch vorherr-
schenden Missstände zu beheben: »es gibt […] Unrecht gut zu machen, Thränen zu
trocknen, und abgebrannte Häuser aufzubauen« (EL 199). Die mutige und ent-
schlussfähige Gräfin Buchberg ist eine der interessantesten Protagonistinnen, die die
Autorin geschaffen hat.
177
Elin Nesje Vestli
terschiedlicher Spielebenen. Der Vormund erweist sich als der bessere Regisseur und
Schauspieler, und bald ist das junge Paar vollkommen überfordert von den undurch-
schaubaren Intrigen und schauspielerischen Anforderungen. Das Benehmen des jun-
gen Paares, vor allem Leonores, wird zunehmend karikiert, entstellt, bis es letztendlich
wie schlechte Schauspieler entblößt und verloren auf der Bühne steht. Leonore und
Wilburg vermögen nicht zu erkennen, dass es wahrscheinlich möglich sein werde, den
Vormund von ihrer Liebe zu überzeugen, oder gar offen mit ihm zu reden, ohne ihm
eine Komödie vorspielen zu müssen. Als Leonore und Baron Willburg schließlich
glauben, dass alles aus sei und verzweifelt weglaufen wollen, kündigt der Vormund ei-
nen weiteren Auftritt an und vereinigt großzügig theatralisch das junge Paar: »Er
streckt seine Arme nach ihnen aus, und lieber sieht er sie an seinem Herzen, als zu sei-
nen Füßen liegen.«38
In die Liebeshandlung ist eine Literatursatire eingebettet, eine Parodie auf den
Kunstgeschmack und die Kulturdebatte der Zeit. Alle im Stück auftretenden Personen
wollen sich künstlerisch betätigen, sie diskutieren Fragen der Dramaturgie und der
Schauspielkunst, etwa die Regelpoetik, das Verhältnis zwischen Theatralität und Rea-
lismus auf der Bühne sowie auch die Vorzüge des Singspiels kontra das Sprechtheater.
Leonore ist musikalisch interessiert und schreibt Gedichte, bei denen das Reimschema
zwar nicht ganz sauber ist, aber »wenn man es singt, bemerkt man diesen Fehler
kaum« (N 179). Deshalb zieht sie Opern dem Sprechtheater vor. Baron Willburg da-
gegen bevorzugt ausdrucksvolle Gestik und Mimik: »Ein Wink, ein Seitenblick, ein
halbes Wort, --- die stummen Scenen sind oft auf dem Theater von ungemein viel
Wirkung« (N 196-197), vor allem stumme Frauenrollen finden seine Bewunderung
(vgl. N 196). Baron Berg hasst Trauerspiele, schreibt »für die Nachwelt« (N 175) und
möchte diese zukünftigen Meisterwerke gern selbst inszenieren (vgl. N 175-176). Die-
sen Wunsch erfüllt er sich in seinem »Privat-Theater« (N 176), wo er sein »Nachspiel«
(N 190) mit den »Hauptpersonen: Ein Vormund, seine Mündel und der Liebhaber
der Mündel« (N 191) inszeniert: Spiel und Spiel-im-Spiel werden eins.
In Das Nachspiel werden dramaturgische Strukturen, Motive und Themen, die
für Weißenthurns Gesamtwerk charakteristisch sind, auf- und eingeführt. Gleichzeitig
kann der Text als eine leichte Verspottung der von ihr selbst sowohl wahrgenomme-
nen als auch ausgebeuteten Tradition interpretiert werden dürfen. Das Nachspiel ist
eine Gratwanderung zwischen Bühnenwirksamkeit, Handwerk, Publikumsgeschmack
und literarischem Geschmack: Intrigen, Spiel-im-Spiel, Verwechslungen, Liebesheirat,
Happyend. Das Nachspiel demonstriert auf humorvolle und bühnenwirksame Weise
den Leerlauf sowohl der gesellschaftlichen als auch der theatralen Konventionen.
178
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
179
Elin Nesje Vestli
Der Vorwurf der Trivialität, die Ausgrenzung aus der Literatur- und Theaterge-
schichtsschreibung oder das Etikett Frauenliteratur, das Weißenthurn außerhalb der
kanonisierten Bühnenliteratur des 19. Jahrhunderts einstuft, ändern nicht die Tatsa-
che, dass ihre Stücke ein halbes Jahrhundert lang die deutschsprachigen Spielpläne
beherrscht haben. Trotzdem schätzt die Autorin die eigene Arbeit nüchtern ein:
Nun schrieb ich und schrieb glücklich --- das heißt meine Stücke gefielen dem Zu-
schauer, der nun freilich durch das gute Spiel der Schauspieler sehr oft bestochen
wurde, für die lesende Welt glaube ich daher, sehr wenig geleistet zu haben.55
Sie schlägt ihrem Testamentsvollstrecker eine unsentimentale Lösung für unveröffent-
lichte, sich im Nachlass befindende Manuskripte vor: wenn die Manuskripte den For-
derungen der Zeit nicht genügen: »ins Feuer damit!«56 Diese pragmatische Einschät-
zung der eigenen Stücke als Ware mit beschränkter Haltbarkeit teilt sie mit ihrer
Nachfolgerin, der ebenfalls erfolgreichen und jahrzehntelang die Bühnen beherr-
schenden Charlotte Birch-Pfeiffer, die die eigenen Lustspiele als Modeware betrachte-
te: »wird der Moment nicht ausgebeutet, sind sie erst aus der Mode, so sind sie vorbei
und Niemand kann sie wieder in Kurs bringen.«57
Weißenthurns Lustspiele sind im Birch-Pfeifferschen Sinne Modeware, konven-
tionelle und zeitgebundene Unterhaltungsdramatik. Dramaturgisch entsprechen ihre
Texte den formalen Konventionen und dem Geschmack des zeitgenössischen Publi-
kums. Die geschlossene Form, die häufige Verwendung des Spiel-im-Spiels, die stan-
dardisierten dramatis personae sowie beliebte Motive (etwa Verwechslungsspiele und
Verkleidungen) zeugen von einer routinierten Autorin, die nicht nur ihr schriftstelleri-
sches Handwerk beherrscht, sondern auch die Bühnenpraxis kennt. Vor allem in Das
Nachspiel, aber auch durch verstreute Kommentare in anderen Stücken (z.B. in Die
Erben), zeigt Weißenthurn jedoch, dass sie sich nicht nur den Konventionen anpasst,
sondern auch selbstironisch mit dem theatralen Geschmack der Zeit spielt.
Aber Weißenthurns Lustspiele zeichnen sich auch durch unkonventionelle Ele-
mente aus, vor allem im Bereich der Motive und der Figurenkonzeption. Das komö-
dienwirksame und häufig eingesetzte Eifersuchtsmotiv wird von Weißenthurn in
mehreren Stücken ernster dargestellt als die gängige Komödientradition zusagt. Dass
männliche Eifersucht nicht nur ein vorübergehendes und belustigendes Phänomen ist,
das durch optimistische Fehlerkorrektur beseitigt werden kann, sondern für eine Frau
lebensbedrohlich ist und als Machtmissbrauch eingestuft werden muss, wird in den
Stücken Die Radikalkur und Beschämte Eifersucht demonstriert. Im Bereich der Fi-
gurenkonzeption hebt sich vor allem die Figur der selbstsicheren und tatkräftigen
Witwe von den übrigen dramatis personae hervor. Die Aussage der Gräfin Buchberg,
»Ich bin wie ich war; aber ich darf jetzt mehr zeigen, wie ich bin« (EL 126), ist kein
180
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
1
Johanna Franul von Weißenthurn: Über meine Schreiberei. Zit. nach Paul Alfred Mer-
bach: Zwei Aufsätze von Johanna Franul v. Weißenthurn. In: Jahrbuch der Grillparzer-
Gesellschaft 24 (1913), S. 211-224, hier: S. 214.
2
Johanna Franul von Weißenthurn: Vorrede. In: Johanna Franul von Weißenthurn:
Schauspiele. Bd. 1. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1810, S. I. Im Folgenden
zitiert mit der Sigle VR.
3
Sowohl 1772 als auch 1773 werden als Geburtsjahr angegeben. Carl von Schindel gibt
1773 an (vgl. Carl Wilhelm Otto August von Schindel: Die deutschen Schriftstellerin-
nen des neunzehnten Jahrhunderts. Drei Teile in einem Band. Hildesheim, New York:
Georg Olms Verlag 1978. Nachdruck der Ausgaben Leipzig 1823-25, S. 407-417), laut
181
Elin Nesje Vestli
Johannes du Toit ist das korrekte Geburtsjahr 1772 (vgl. Johannes du Toit: Johanna
von Weißenthurn. Göttingen: [Diss.] 1923, S. 3-4).
4
Carl von Schindel schreibt, dass sie auf Veranlassung von Kaiser Joseph II., der von ei-
ner jungen, begabten Schauspielerin in Baden gehört habe, engagiert wird. Vgl. Schin-
del: Schriftstellerinnen (1978), S. 410.
5
Diese Informationen sind der ausführlichen Rollenliste des 2. Bandes der Dissertation
von Ludmilla Antonia Steyskal entnommen: Ludmilla Antonia Steyskal: Johanna Fra-
nul von Weißenthurn als Schauspielerin am Burgtheater. Bd. 1: Johanna Franul von
Weißenthurn als Schauspielerin am Burgtheater, Bd. 2: Spielplan: Protokoll der am
Burgtheater (und Kärntnertortheater) aufgeführten Stücke und Rollen, in denen Johan-
na Franul von Weißenthurn auftrat. Wien: [Diss.] 1963.
6
Steyskal: Weißenthurn, Bd. 1 (1963), S. 35. Steyskal bezieht sich auf Alexander von
Weilen: Die Theater Wiens. 2. Bd., 2. Halbband, 1. Theil. Wien: Gesellschaft für Ver-
fielfältigende Kunst 1903, S. 132f.
7
Steyskal: Weißenthurn, Bd. 2 (1963), S. X.
8
Brief an Schreyvogel, 5.7.1821, Handschriftensammlung der Nationalbibliothek Wien
VIII --- 107, hier zit. nach Steyskal: Weißenthurn, Bd. 1 (1963), S. 231.
9
Zit. nach Ulrike Jenni: F. G. Waldmüllers Porträt der Hofschauspielerin und Dichterin
Johanna Franul von Weißenthurn. Zur Wechselbeziehung von Biographie und Bildnis-
gestaltung. In: Die Kunst als Spiegel des Lebens. Romantik und Realismus. Festschrift
für Hannelore Gärtner. Hg. v. Gerd-Helge Vogel. Greifswald: Steinbecker Verlag 1999,
S. 131-144, hier: S. 140, Anmerkung 24.
10
Für eine Beschreibung und Interpretation des Portraits siehe Jenni: Porträt (1999), S.
131-144.
11
Vgl. du Toit: Weißenthurn (1923), S. 59-61.
12
Der Wald bei Hermannstadt wird im Zeitraum 1807-1840 117 Mal im Burgtheater ge-
spielt. Vgl. Franz Peschel: Die Theaterdichtungen der Frau Johanna Franul von Wei-
ßenthurn. Wien: [Diss.] 1913, S. 185.
13
Laut Seykals Überprüfung des Spielplans des Burgtheaters werden 48 von 60 Stücken
auf dieser Bühne inszeniert, vgl. Steyskal: Weißenthurn, Bd. 1 (1963), S. 184.
14
Gerade ihre Dialogführung wird häufig positiv kommentiert, vgl. z.B. du Toit: Wei-
ßenthurn (1923), S. 73.
15
Vgl. Steyskal: Weißenthurn, Bd. 1 (1963), S. 198.
16
Vgl. Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das
Drama im 18. Jahrhundert. München: C. H. Beck 1984, S. 13.
17
Sørensen: Herrschaft (1984), S. 14.
18
Johann Heinrich Campe: Väterlicher Rath für Meine Tochter. Ein Gegenstück zum
Theophron. Der erwachsenen weiblichen Tugend gewidmet. Leipzig: [ohne Verlag]
1812, S. 14.
19
Campe: Rath (1812), S. 250.
20
Christoph Meiners: Geschichte des weiblichen Geschlechts. Hannover: Verlag der Hel-
wingschen Hofbuchhandlung 1799-1800.
182
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
21
Carl Friedrich Pockels: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Ein
Sittengemählde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens. Hannover:
Christian Ritscher 1797-1802.
22
Theodor Gottlieb Hippel: Ueber die Ehe. Berlin: Voß 1774 (spätere und umgearbeitete
Fassungen folgen, vgl. dazu Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die
Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. 2. Auflage. Frankfurt/M.,
New York: Campus Verlag 1992, S. 78-85).
23
Emilie von Berlepsch: Über einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und
Grundsätze. In: Neuer Teutscher Merkur, 5. und 6. Stück 1791. Zur komplexen Dis-
kussion der Gender-Frage im Zeitraum 1750-1850 vgl. Honegger: Ordnung (1992).
Zum weiblichen Bildungs- und Erziehungsprogramm um 1800 vgl. Hansjürgen Blinn:
»Das Weib wie es seyn sollte.« Der weibliche Bildungs- und Entwicklungsroman um
1800. In: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Ge-
genwart. Hg. v. Hiltrüd Gnüg u. Renate Möhrmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S.
81-91.
24
Rose Götte: Die Tochter im Familiendrama des achtzehnten Jahrhunderts. Bonn:
[Diss.] 1964, S. 18. Götte berücksichtigt nicht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt,
etwa das Kloster, dies ist aber für die in diesem Beitrag aufgegriffenen Texte nicht aktu-
ell.
25
Johanna Franul von Weißenthurn: Die Erben. In: Johanna Franul von Weißenthurn:
Schauspiele. Bd. 3. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1809, S. 1-123, hier: S.
33. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ER.
26
Vgl. Johanna Franul von Weißenthurn: Die erste Liebe. In: Johanna Franul von
Weißenthurn: Schauspiele. Bd. 6. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1809, S.
111-199, hier: S. 128-136. Im Folgenden zitiert mit der Sigle EL.
27
Campe: Rath (1812), S. 23.
28
Götte: Tochter (1964), S. 27.
29
Johanna Franul von Weißenthurn: Die Ehescheuen. In: Johanna Franul von Wei-
ßenthurn: Schauspiele. Bd. 5. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1809, S. 205-
248, hier: S. 228. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ES.
30
Dadurch wird nicht nur das beliebte Verkleidungsmotiv eingesetzt, sondern Julies Tu-
gend wird durch diese Begegnung auch nicht gefährdet.
31
Johanna Franul von Weißenthurn: Beschämte Eifersucht. In: Johanna Franul von Wei-
ßenthurn: Schauspiele. Bd. 2. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1805, S.93-
171, hier: S. 109. Im Folgenden zitiert mit der Sigle BE.
32
Vgl. Johanna Franul von Weißenthurn: Die Radikalkur. In: Johanna Franul von Wei-
ßenthurn: Schauspiele. Bd. 4. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1809, S. 99-
188, hier: S. 187. Im Folgenden zitiert mit der Sigle RK.
33
Die Radikalkur erscheint 1809 während der napoleonischen Kriege. Der Patriotismus
der Zeit kommt durch das Verhalten von Friderikes Vater und Bruder zum Ausdruck,
während vor allem Friderike diesen --- und jeglichen --- Krieg eindeutig ablehnt. Ihre ern-
183
Elin Nesje Vestli
ste Stellungnahme (vgl. RK 107) hebt sich dem im Stück eindeutig als unreflektierten
Kriegspathos vorteilthaft gegenüber ab.
34
Johanna Franul von Weißenthurn: Der Reukauf. In: Johanna Franul von Weißenthurn:
Schauspiele. Bd. 1. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1810, S. 173-236, hier: S.
177-178. Im Folgenden zitiert mit der Sigle RA.
35
Johanna Franul von Weißenthurn: Das Mißverständnis. In: Johanna Franul vno Wei-
ßenthurn: Schauspiele. Band 3. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1809, S. 209-
268, hier: S. 218.
36
Doreen Fischer: Witwe als weiblicher Lebensentwurf in deutschen Texten des 13. bis
16. Jahrhunderts. Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien: Pe-
ter Lang 2002, S. 270.
37
Ein noch früheres Stück, Die Drusen, ist nicht veröffentlicht.
38
Johanna Franul von Weißenthurn: Das Nachspiel. In: Johanna Franul von Wei-
ßenthurn: Schauspiele, Bd. 2. Wien: In der Degenschen Buchhandlung 1810, S. 175-
204, hier: S. 203. Im Folgenden zitiert mit der Sigle N.
39
Zit. nach Steyskal: Weißenthurn Bd. 1 (1963), S. 171-172. Steyskal bezieht sich auf die
von Bäuerle herausgegebene Theaterzeitung (Jg. 1842, S. 246).
40
Ludwig Tieck: Dramaturgische Blätter. Zum ersten Male vollständig gesammelt. Erster
Theil. Kritische Schriften. Zum ersten Male gesammelt und mit einer Vorrede heraus-
gegeben von Ludwig Tieck. Brockhaus: Leipzig 1852, S. 34.
41
Tieck: Blätter (1852) S. 37.
42
Ian F. Roe weist auf zeitgenössische Rezensionen hin, die gerade die Zeitgebundenheit
der Weißenthurnschen Stücke betonen: »As the Theaterzeitung and Der Sammler, in
1813, and the Modenzeitung, in 1816, all commented, her plays were very much in
keep with the literary taste and fashions of the time, but the reviewers had doubts as to
whether their appeal would be lasting.« Ian F. Roe: The Comedies of Johanna von Wei-
ßenthurn. In: The Austrian Comic Tradition: Studies in Honour of W. E. Yates. Edin-
burgh: Edinburgh University Press 1998, S. 41-57, hier: S. 54-55, vgl. auch S. 57, An-
merkung 41.
43
Vgl. Arthur Eloesser: Das bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahr-
hundert. Genève: Slatkine Reprints 1970, S. 198.
44
Eloesser: Drama (1970), S. 197.
45
Paul Schlenther: Theater im 19. Jahrhundert. Ausgewählte theatergeschichtliche Aufsät-
ze. Berlin: Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte 1930, S. 115.
46
Wilhelm Kosch: Das deutsche Theater und Drama im 19. und 20. Jahrhundert. 3. völ-
lig umgearbeitete und erweiterte Aufl. Würzburg: Wachter 1939, S. 29.
47
Georg Witkowski: Das deutsche Drama des neunzehnten Jahrhunderts. 5. durchgese-
hene Aufl. Leipzig, Berlin: Teubner 1923, S. 35.
48
Peschel: Theaterdichtungen der Frau Johanna Franul von Weißenthurn (1913).
49
du Toit: Weißenthurn (1923).
50
Steyskal: Weißenthurn (1963).
184
Johanna Franul von Weißenthurn und das Lustspiel um 1800
51
Zu erwähnen ist vor allem Ian F. Roe, der sich mit ihrem Werk im Rahmen der öster-
reichischen Komödientradition auseinandersetzt, vgl. Roe: Comedies (1998).
52
Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulisssen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im
18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler, 1992, S. 58-64.
53
Helga Kraft: Ein Haus aus Sprache. Dramatikerinnen und das andere Theater. Stutt-
gart, Weimar: Metzler 1996, S. 43-44.
54
Beate Reiterer: »Mit der Feder erwerben ist sehr schön«. Erfolgsdramatikerinnen des 19.
Jahrhunderts. In: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis
zur Gegenwart. Hg. von Hiltrüd Gnüg u. Renate Möhrmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp
2003, S. 247-260.
55
Weißenthurn: Schreiberei (1913), S. 214.
56
Zit. nach Steyskal: Weißenthurn Bd. 1 (1963), S. 244. Steyskal bezieht sich auf einen
Nekrolog, geschrieben von Pfundheller in den Sonntagsblättern Der Wiener Bote (Jg.
1847, Nr. 21, S. 166).
57
Charlotte Birch-Pfeiffer in einem Brief an Heinrich Laube am 13.3.1858. Dieser Brief
ist abgedruckt in Alexander von Weilen: Charlotte Birch-Pfeiffer und Heinrich Laube
im Briefwechsel. Berlin: Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte 1917, S.
132f., hier zit. nach Birgit Pargner: Zwischen Tränen und Kommerz. Das Rührtheater
Charlotte Birch-Pfeiffers (1800-1868) in seiner künstlerischen und kommerziellen Ver-
wertung. Quellenforschung am Handschriften-Nachlaß. Bielefeld: Aisthesis Verlag
1991, S. 16.
185
IV.
In spite of its obvious political intentions, Arnim’s shadow play Das Loch
draws on early romantic techniques which aim at perturbing the poetic illu-
sion. Primarily, these parabatic elements seem to generate the notion of ab-
surd humour, colliding with the apparently serious political impact of the
text. Yet further scrutiny shows how the comical transgression serves as a me-
dium to convey essential ideas concerning poetics and political concepts:
Hence Humour does not compromise but conduces to Arnim’s very utopia.
Die romantische Komödie stützt sich, folgt man Uwe Japps Kategorisierungsversuch,1
auf ein besonderes Illusionskonzept, innerhalb dessen das selbstbezügliche, komplexe
Spiel mit der Illusion zum komischen Effekt avanciert --- sei es in einem illudierenden
Rahmen (in dem die Handlung zwar innerhalb einer einzigen fiktiven Realität ange-
siedelt ist, dabei aber integral von Spiel im Spiel-Elementen, Intrigen, Täuschungen
etc. durchzogen ist), in einem parabatischen Kontext (in dem sich eine ostentative
Durchbrechung der Illusion vollzieht) oder in einer Amalgamierung beider Verfahren.
Genau diese spezielle Form des komischen Spiels mit der Illusion findet sich in spezi-
fisch variierter Form auch in Ludwig Achim von Arnims Schattenspiel Das Loch, o-
der: das wiedergefundene Paradies.2 Schon Japp weist darauf hin, daß es bei Arnim
nicht bei einer »mutwilligen« Komik bleibt, da Arnim einen »residuell[en] Ernst« be-
wahrt, »der die Repräsentation der Welt (und die Erlösung der Menschen) auf der
Bühne für möglich hält«.3 Dieses Ergebnis ist mit Blick auf Arnim weniger überra-
schend als die Art und Weise, in der diese »Repräsentation« gewährleistet wird. Um
diese besondere Form der Synthese einer »Heiterkeit des Spiels mit dem spezifischen
Gewicht einer politischen Thematik«4 soll es im folgenden gehen.
Bei der »Heiterkeit« und der »politischen Thematik« handelt es sich allerdings
nicht um zwei konfligierende Tendenzen, sondern es wird vielmehr zu zeigen sein,
daß sich gerade in der spezifischen Komik der Illusionsdurchbrechung eine transgres-
sive Technik verbirgt, mit der radikale politische Vorstellungen kommunizierbar ge-
macht bzw. poetologische Konzepte realisiert werden. Indem auf der Basis eines früh-
romantisch generierten Ironiekonzepts gezielt Wertvorstellungen vermittelt werden,
Claudia Nitschke
instrumentalisiert der Text die scheinbar schwebende Komik im Sinne einer spezifi-
schen politischen und poetologischen Botschaft. Gerade in den grotesken Passagen
läßt sich also eine Absicht ablesen, die einen bloßen Unterhaltungsanspruch transzen-
diert.
Die Handlung des Schattenspiels in zwei Aufzügen, 1811 im häuslichen Kontext
bei Arnims Schwager Georg Friedrich von Guaita uraufgeführt (wie Arnim in den
Briefen vom 27. und 28. Dezember 1811 an Savigny und Clemens Brentano ver-
merkt) und 1812 für seine Schaubühne (1813) überarbeitet, ist schnell zusammenge-
faßt: Analog zum Volksbuch Die sieben weisen Meister, das dem Handlungsverlauf
im ersten Teil zu großen Teilen zugrunde liegt, handelt es sich im ersten Aufzug um
ein Intrigenspiel, bei dem ein frisch im Rhabarberland eingetroffener Ritter die ihm
im Traum erschienene Braut des Kaisers entführt. Zwischen seiner ersten Begegnung
mit der Kaiserin und ihrer Flucht auf einem Schiff entspinnt sich eine partiell poli-
tisch-satirische, partiell schwankartige Verwechslungskomödie. Der zweite Teil weicht
vom plot des Volksbuches ab, knüpft an die politisch-satirischen Elemente des ersten
Teils an und transponiert die Liebeskomödie vor eine noch phantastischere Kulisse, in
der --- in deutlicher Referenz auf die Französische Revolution --- ein Aufstand des Rha-
barbervolks stattfindet, das schließlich zusammen mit dem zuvor desertierten Kaiser in
die Hölle abwandert. Übrig bleiben die Tiere, die (vorübergehend von der Freiheit
begeistert) bald ihre Abhängigkeit von den Menschen erkennen. Das utopische Finale
nimmt dann wieder auf den Teufel als Verführer Bezug und führt mit »Engeln« eine
schließlich obsiegende Gegenkraft ein, die Ritter und Kaiserin zurück ins Rhabarber-
land führt und sie mit der Erziehung der Tiere zu Menschen betraut.
190
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
191
Claudia Nitschke
von Arnim betriebenen, mehr oder weniger adaptierten und eigenständig erweiterten
»Textsammlungen« --- so Des Knaben Wunderhorn, Der Wintergarten, Zeitung für
Einsiedler, Schaubühne --- wird den jeweilig zugrundeliegenden Quellen ein präsumtiv
heilsamer Einfluß auf die brachliegende, degenerierte »Volkstätigkeit« unterstellt: In
Rückbesinnung auf eine vermeintlich (supponierte) authentische Volksliteratur kann
die verlorengegangene volksgemäße Identität nach dieser Vorstellung wiederbelebt
werden und die drohende Entgleisung (erschreckend verkörpert in der Französischen
Revolution) verhindert werden.9
Arnim weicht also keineswegs von seinen zentralen poetologischen und politi-
schen Themen ab. Insofern das Schattenspiel zentrale Aspekte von Arnims Weltbild
wiedergibt, stellt sich die Frage, ob die parabatischen und illudierenden Elemente des
Stücks »zielgerichtet« angewendet werden und welche Botschaft »residuellen Ernstes«
(Japp) sie in diesem Fall zu transportieren helfen.
Ausgangspunkt des Arnimschen Schattenspiels ist eine Erzähleinlage aus dem
Volksbuch Die sieben weisen Meister, dessen plot er im Wesentlichen beibehält. Bei
den Sieben weisen Meistern handelt es sich um einen Erzählzyklus mit einer Rah-
menhandlung; letztere entfällt bei Arnims Adaption. Obwohl der Zyklus in verschie-
denen Varianten überliefert wurde, bleibt die Rahmenerzählung (abgesehen von Na-
mens- und Ortsveränderungen) die gleiche:10 Ein Kaiser- oder Königssohn wird von
seiner zudringlichen Stiefmutter beim Vater verleumdet, indem sie eine Vergewalti-
gung durch den Sohn vortäuscht. Eine besondere Sternenkonstellation hindert den
Sohn sieben Tage lang, sich zu verteidigen. Seine Erzieher, die sieben Weisen, über-
nehmen die Aufgabe, durch Beispielerzählungen Zweifel an der Aussage der Stiefmut-
ter zu wecken, und es gelingt ihnen, die angesetzte Hinrichtung des Sohnes sieben
Tage lang aufzuschieben; nach dem Verstreichen dieser Frist kann der Prinz schließ-
lich durch seine eigene Rechtfertigung rehabilitiert und die Stiefmutter bestraft wer-
den. In der abendländischen Tradition des Stoffes11 werden diese Erzählungen der
Meister von Geschichten der Stiefmutter ergänzt, die mit ihren persuasiven Beispieler-
zählungen eine Vollstreckung des Urteils bewirken will.
Diese Darlegung des plots der Rahmenhandlung ist insofern unabdingbar, als Ar-
nim aus den Erzähleinlagen eine der Beispielerzählungen der Stiefmutter auswählt,
und zwar die Historie, wie nemlich ein Ritter einem König seine Gemahlin aus einem
Thurn listig entführet, mit der sie ihren Mann zu überzeugen versucht, seinen Augen
(damit allerdings auch der falschen Version der Geschichte) zu trauen. Dabei ent-
spricht das Ende der Verwechselungsgeschichte dem bei Arnim, wenn der Kaiser be-
merkt, daß er betrogen wurde:
Der König stund an dem Ufer, und sahe ihnen nach, bis sie ihm aus den Augen
kamen, darnach begab er sich wieder nach der Burg. Da er aber in den Thurn
192
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
kam, und die Königin nicht fand, erschrack er, als er sich aber ein wenig umsahe,
ward er des Lochs, da sie hinaus gegangen, gewahr, und schrie mit kläglicher
Stimme. Ach! wehe mir, der Ritter, dem ich wohl getrauet, hat mich mit meu-
chellistischer Untreu hintergangen, und schändlich betrogen. Zu gleicher Weis,
sagte die Kaiserin ferner, trauet Euer Liebden den sieben Meistern allzuviel, wel-
che doch Tag und Nacht darauf bedacht sind, wie sie mich in Schand setzen mö-
gen, dennoch stellet Euer Liebden ihnen mehr Glauben zu, als mir. Er hat gese-
hen, wie mich sein Sohn zugerichtet hat, er siehet auch nun jetzund, wie die
Meister seinen Sohn beschirmen, darum wird es ihm nicht anders ergehen als die-
sem Könige. Der Kaiser sprach: Liebste Gemahlin, der Sache werde ich schon
Rath zu schaffen wissen, denn morgen muß mein Sohn ohne einzige Gnade ster-
ben.12
Dieser Ausschnitt aus dem Volksbuch macht bereits deutlich, daß die Intention der
Bespielerzählung mit Blick auf den Kaiser (in der Vorlage: der König) im Vergleich zu
Arnims Adaption verschoben ist: Im Volksbuch liegt der Fokus nicht nur auf der
Gutgläubigkeit des Königs, sondern vor allem auch auf der »meuchellistischen« Täu-
schung, mit der ihm seine Frau von seinem Vertrauten entführt wurde. In Arnims
Loch sind Kaiser und Kaiserin verlobt, nicht verheiratet und der Kaiser vernachlässigt
seine Braut zudem offensichtlich. Der Ritter erscheint in diesem Kontext mit einer
größeren Legitimation als Retter und kann am Ende plausibel dem »wiedergefunde-
nen Paradieses« (wie es der Titel antizipiert) vorstehen, da er weder als Ehebrecher
noch als feindlicher Eindringling in eine intakte Zweierbeziehung eingeführt wird.
Die Adaption scheint mit diesem entscheidenden Eingriff die Erzähleinlage des
Volksbuches in ihrem Sinn zu verkehren --- tatsächlich aber handelt es sich um eine ge-
schickte Überblendung, mit der die Rahmenhandlung logisch auf die Erzähleinlage
angewendet wird. Indem die betrügerische Königin aus den Sieben weisen Meistern
sich der Erzählung listig bedient, um gegen besseres Wissen den König für ihre Versi-
on des Vorfalls zu gewinnen, diskreditiert sich die Erzählung im Kontext der Rah-
menerzählung. Arnim berücksichtigt diese Inversion insofern, als er die Lehre, die sich
aus dem Beispiel der Königin ergibt, einfach umkehrt: Ritter und Kaiserin sind nicht
nur in Arnims Adaption gerechtfertigter Weise romantisch Liebende, die dem unfähi-
gen, unmännlichen Kaiser entfliehen; sie sind es gerade auch vor dem Hintergrund
des Prätextes, der sich als Ganzes immer wieder mit gerechten und angemessenen Ur-
teilen von Herrschern sowie der Untreue von Frauen befaßt, vor deren Falschheit ge-
warnt wird. Der Betrug der Königin in den Sieben weisen Meistern wird damit
zugleich ausgeglichen und abschließend im Sinne der Rahmenhandlung bereinigt. Im
Changieren zwischen populärem Volksbuchtext und Arnims Adaption beglaubigen
sich Prätext und Adaption in ihrer Quintessenz und stärken auf diese Weise keines-
wegs die humoristische Ironisierung der zentralen Paarbindung zwischen Ritter und
193
Claudia Nitschke
194
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
Mit der humoristischen Brechung, bei der die problematische Rolle der Königin teil-
weise in komisch-läßlicher Weise auf die Kaiserin im Das Loch übergeht, wird der
Urkontext der Rahmenhandlung (mit der die Erzähleinlage relativiert wird) bewahrt
und unterschwellig vermittelt (so lautet der Wahlspruch der Kaiserin gemäß dem
Kerngehalt der Sieben weisen Meister: »Erfahrung macht uns Weiber klug, / Doch
klüger macht uns der Betrug«; L 202), zugleich aber auch entschärft: Ritter und Kaise-
rin können, ohne diskreditiert zu sein, die finale Utopie tragen.
In diesem Sinne fungiert das Komische als virtuose poetologische Maßnahme: Ar-
nim extrahiert eine Erzähleinlage aus dem Volksbuch, schreibt ihr aber --- gerade über
die Abweichung von der Erzähleinlage --- sinngemäß die Quintessenz der Rahmen-
handlung ein und stellt auf diese Weise eine spezifische Vermittlungsgenauigkeit der
Quelle als Ganze sicher: Das Komische funktioniert als präzises, sinngemäßes Archiv
für den Originaltext.
195
Claudia Nitschke
Zum anderen hat dieses Nicht-Wörtlich-Nehmen, der Verweis auf die Gemacht-
heit des Kunstwerks, noch einen anderen Effekt, der mit Blick auf die politische Uto-
pie des Schattenspiels entscheidend wird.15 Die phantastische Kulisse des zweiten Teils
knüpft an die spezifische, parabatische Komik des ersten an: Über diese komische
Vermittlung der Kaiserin hinaus fällt dabei besonders die (für Arnim nicht ungewöhn-
liche) physische Zerstückelung bzw. Demontage/Remontage ins Auge. Eingeführt
wird dieses Thema zunächst als List des Ritters, da der Rat Kasper zum Durchbruch
im Turm erst bewegt werden kann, als ihm der Ritter eine kuriose Jahrmarktsattrakti-
on (nämlich den angeblich an- und abschraubbaren Kopf der Kaiserin) in Aussicht
stellt. Dieses Zergliederungsmotiv präfiguriert den Mord an dem Rat, insofern sich
diese der Kaiserin zugeschriebene, erfundene Eigenschaft am Rat physisch-real be-
wahrheitet.
Anders als in der Vorlage16 wird der Rat (im Volksbuch ein Maurer) allerdings
nicht umgebracht, um vor Verrat geschützt zu sein (auch hier bewährt sich die Inver-
sion des Quellentextes im Sinne der Rahmenhandlung; erst später kommt dem Ritter
dieser strategische Gedanke), sondern um uneigennützig die Geliebte zu schützen, als
der Rat den vermeintlich abnehmbaren Kopf abzumontieren versucht:
KASPER. Ich kann an dem Kopf nichts besondres sehen,
Ich möchte ihr einen Stoß mit der Kelle geben,
Ob ich ihr könnte den Kopf abheben.
RITTER. (Er zerhaut ihn mit dem Schwerdt). Du wolltest sie schlagen, du
dummer Tropf. (L 195)
Kasper wird zwar »zerhauen«, die beiden »Hälften« seines Körpers »schreien« nichts-
destoweniger, was einen performativ komischen Effekt zeitigt:
KASPER. […] Ich will nur probieren den Kopf,
Ich will nur probieren den Kopf (L 195)
worauf der Ritter verblüfft feststellt:
Ich bin verwundert, wo steht mir der Kopf
Je mehr ich Stücken aus ihm mag hauen,
Je mehr sie fragen und wollen schauen (L 195).
Das Grausame des Vorgangs wird von der absurden Verdopplung des Rates überlagert
--- das Nicht-Literale bestätigt sich durch Arnims transponierendes Wortspiel »Ich will
probieren den Kopf« --- »wo steht mir der Kopf«, das ostentativ vom Wörtlichen zum
Figurativen überleitet. Das Lachen über die Demontage des Rates bestätigt sich in die-
sem Sinne am Ende, wenn der Rat einfach wieder zusammengesetzt wird (wenn auch
--- als kleine Referenz auf den Vorgang --- falsch).
196
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
197
Claudia Nitschke
198
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
petenten Regierungspersonals, wird nunmehr zur Bühne, auf der die historischen Ab-
läufe einem allgemeinen triadischen Modell subsumiert werden. Diese philosophische
Analyse der »Schloßgeister« bestätigt die Ernsthaftigkeit der Arnimschen politischen
Utopie, gleichzeitig aber auch seines Inspirationskonzepts, das im christlichen Rah-
men transzendental verankert wird.
Der »Chor der Schloßgeister« eröffnet den zweiten Aufzug mit einer moralhistori-
schen Verortung der Gegenwart, in der die Besonderheiten und Gefahren menschli-
cher Freiheit benannt werden: Freiheit scheint für Arnim nur als göttliche Freiheit zu
funktionieren, in der die Menschen selbständig in der Lage sind, sich der göttlichen
Freiheit wiederum anzunähern (als ein wiedergefundenes Paradies):
Wo der glühende Schöpfungswagen
Nahe der gährenden Erde fuhr,
Steiget die bildende Kraft der Natur,
Was sie thut, das muß sie vollbringen,
Ohne Freiheit ein Allesgelingen,
Denn sie thut nur, was fordert die Noth.
Auch der Mensch folgt ihrem Gebot,
Seine Gesetze sind ewige Schranken,
Seine Träume ewge Gedanken,
So entwickelt sich Menschenkraft,
Die in spielender Freiheit schafft,
Und es geschieht das göttlich Freie,
Und er empfängt des Glaubens Weihe,
Herrlich ist nur, was frei geschaffen,
Was sich versündgen kann und sich bestrafen,
Und so steiget im Menschengeschlecht
Frei empor, was nichtig und schlecht,
Und die Geschlechter wachsen vergessen,
Was sie einst als Höchstes besessen,
Lassen die Erde aus ihrer Haft,
Wo sie gebunden von Schöpfungskraft,
Und sie tritt zerstörend hinaus,
Freies Wirken erlischt in Graus. (L 205f.)
Zwischen »Gesetzes Schranken« und »Träumen« hatte sich die menschliche Kraft zu
einem Höhepunkt entwickelt, auf dem der Mensch schließlich »des Glaubens Weihe«
empfängt; dieser göttlich protegierte Zustand ist jedoch keine einseitig göttliche Gabe;
sie begründet sich vielmehr auf der »Freiheit«, zu der nur Menschen imstande sind,
und läßt damit Raum für Aberration und »Sünde«. Der Konvergenz zwischen Freiheit
und göttlichem Willen folgt in diesem Sinne in einer verkehrten dialektischen Über-
199
Claudia Nitschke
steigerung der Freiheit die Transgression des »geweihten« Zustandes. Aus dem Bereich
des freien Glaubens entlassen, produziert die Freiheit »Graus«, indem das Nichtige
und Schlechte ungehindert wächst --- nur die freie Unterordnung unter den göttlichen
Willen stände dieser scheinbar zwangsläufigen Eskalation entgegen; auch wenn das
(schließlich im Schattenspiel als Maschinenprodukt degradierte) Gesetzeskorpus nicht
das entscheidende Gegengewicht zu den »Träumen ewge[r] Gedanken« darstellt, wird
doch mit der »göttlichen Freiheit« die Notwendigkeit einer gebundenen Freiheit deut-
lich vermittelt: Auf dieser allgemeinen Ebene gelingt es Arnim nicht nur, die Regie-
rungspraxis des Kaisers anzuprangern, die als verdinglichende, maschinenartige Aus-
beutungsautomatismus eine klare Freiheitsberaubung darstellt. Überdies wird auch
seine unrühmliche Desertion zum Gegenstand seiner Satire: Der Kaiser selbst versteht
seine Flucht als Betrug, als »Anführen« der »Leute« (L 205), da sie mit dem Wegfall
aller Schranken endgültig aus der Sphäre des göttlich-menschlichen Paktes austreten
und auf diese Weise dem Teufel21 ausgeliefert werden, ein Vorgang, dessen Ausmaß
sie offensichtlich nicht nachvollziehen können.
Der absoluten Herrschaft schließt sich nach der Flucht des Kaisers konsequent die
Entgleisung an, in der das Volk dem Teufel22 in satirisch überzogener Begeisterung in
die Hölle folgt --- die Bezüge zur Französischen Revolution werden in der Folge mit
der Gleichstellung der »Thiere« mit den Menschen unübersehbar, war doch die »ab-
surde Gleichmacherei« als eines der Kernanliegen der Revolution ein Orgelpunkt der
Arnimschen Revolutionskritik.23
Die fragwürdige Idee der Auslöschung eines unwürdigen Menschenschlags, in die-
sem Fall der Preußen, im Sinne einer Bewährungsprobe thematisiert Arnim bereits
während seines Briefwechsels mit Clemens Brentano:
Nicht daß ich den Krieg überhaupt für unser Land fürchte, es muß sich zeigen,
ob es Kraft zu leben hat, sonst fort ausgewischt, fort mit uns, nur jezt in diesem
blinden Zutrauen unsrer Regierung auf Bonapartes wiederholte Versicherungen,
die Armeen zerstreut, ich brachte eine schreckliche Nacht zu.24
Die Niederlage wird als Krisis eines langen Krankheitsverlaufes verstanden, die im
Zeichen der notwendigen Genesung ein Engagement für die preußische Erneuerung
und Befreiung25 forciert:
Es mußte ein Krieg sein, um es zu bewähren, mit wem Gott sei; die Überzeugung
kommt nur aus einem Kampfe auf Leben und Tod. Wo ist Gott? Da wo sich
auch das Ekelhafteste, Gemeinste zu einem Großen vereinigt, von dessen Glanze
durchstrahlt und geheiligt wird. Wo ist der Teufel? Wo auch das Beste im Einzel-
nen durch allgemeine Verkehrtheit vernichtet, wenigstens untätig erhalten wird.
In der Vernunft ist Gott, Unvernunft ist der Teufel.26
200
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
Dabei verweist die »allgemeine Verkehrtheit« auf den ex negativo göttlich verbürgten
fundamentalen Gestaltungs- und Neuorientierungsbedarf und indiziert gleichzeitig die
Möglichkeit und unumgängliche Notwendigkeit einer Staats- und Gesellschaftsent-
wicklung.
Die kathartische Wirkung, die Arnim politisch-analytisch in den Zustand der Kri-
se projiziert, korrespondiert mit der Situation im Loch, wobei komisch mit einer pro-
fanen Variante der Katharsis gespielt wird: Mit einer doppelten Referenz (einmal auf
das Rhabarberland, einmal auf Hypekakuana)27 wird die Notwendigkeit einer kathar-
tischen Regeneration des Rhabarberlandes unmittelbar mit ihrem physischen Pendant,
der Purgation, verbunden --- die kathartische Idee ist also von vornherein in einer ko-
mischen Brechung der Idee des Rhabarberlandes (und indirekt auch dem Titel Das
Loch) eingeschrieben.
201
Claudia Nitschke
Verdopplung der Menschen in Menschen und »Thiere« erlaubt die doppelte Kritik an
den Privilegierten (die dem Teufel in die Hölle folgen) und an den Untertanen, die
glauben, sich gewaltsam und einseitig von ihren Herrschern lossagen zu können.
Die Einführung der »Thiere« erscheint als Möglichkeit, das akzidentelle Fehlver-
halten der niederen Volksschichten als Ressentiment auszuweisen. Dieser satirischen
Bestandsaufnahme schließt sich jedoch zugleich ein utopisches Konzept an, in der die
Tiersymbolik zu einem substantiellen Kern der Textutopie avanciert: So werden die
»Thiere« am Ende des zweiten Aufzugs plötzlich zum Platzhalter für das zu erziehende
Volk --- ein Erziehungsgebot, das unverhofft an das frisch angetraute Paar, den Ritter
und die Kaiserin, ergeht, die von »Engeln« zurück an den Strand des Rhabarberlandes
geführt werden.28
Wenn die Engel diesen Auftrag: »Ihr sollt die »Thiere« zu Menschen erziehen /
Das ist ein göttlich reines Bemühen« (L 209) erteilen, werden die »Thiere« explizit als
potentielle Menschen benannt --- damit ist der qualitative Sprung unternommen, der
die figurative Ebene mit Blick auf die »Thiere« auflöst und innerhalb des Spiels als fik-
tiv reale Ebene annimmt. Die fiktiv-realen »Thiere« im Stück, die als metaphorischer
Verweis auf das Verhalten bestimmter Gruppen in der Revolution gedeutet werden
können, werden in diesem Sinne zunächst zu figurativen »Thieren« und damit zu ei-
ner fiktiv-realen Vorstufe eines neuen Volks: Das auf diese Weise fiktiv-real »verthier-
te« Volk bedarf dann im letzten argumentativ transformierenden Schritt in offensicht-
licher Weise der Erziehung: An die Stelle der Satire tritt die Utopie.
Antizipiert wird diese Brücke zwischen figurativer und wörtlicher Rede in dem
Dialog zwischen König und Ritter, der sich nach der Enthauptungs- (bzw. Zerstücke-
lungs-)Szene abspielt. Der Kopf des Rates wird dem König als »Widderkopf« präsen-
tiert. Wenn der König daraufhin nachdenklich die Ähnlichkeit des vermeintlichen
Tierschädels mit seinem Rat vermerkt, entgegnet der Ritter: »Ein jeder Mensch hat
etwas vom Thiere, / Damit er sich nicht zu edel aufführe.« (L 197) Während zuvor
die figurativen »Thiere« zu fiktiv-realen potentiellen Menschen avancieren, erscheint
hier umgekehrt der degenerierte Rat als Tier.
Diese gesellschaftliche Bestandsaufnahme korrespondiert mit Arnims Vorstellun-
gen über verschiedene Menschenklassen: Obwohl er immer wieder eine meritorische
Position einnimmt (vor allem auch im Horizont eines Entwicklungs- und Erziehungs-
gedankens), verschiebt sich später die Überzeugung von dem gebesserten, geadelten
Volk zu nüchterner Resignation, die eine tradierte, lamarckisch vererbte Konstitution
des Einzelnen konstatiert. Dieser Gedanke deutet sich --- im Sinne eines göttlichen Er-
ziehungsauftrages optimistisch gewendet --- bereits im Loch an. In einem Brief an
Brentano (September 1815) formuliert Arnim das folgendermaßen:
202
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
[E]s wird mir immer klarer, wenn ich den Bauernkindern zusehe, daß es nicht
blos poetische Einbildung ist, die Kinder aus höhern Ständen schon frühzeitig un-
ter gleichen Umständen erzogen, auszeichnet, es ist wirklich eine durch Jahrhun-
derte fortgebildete verschiedne Entwicklungsreihe, die nur als Ausnahmen in die
andere überspringt und so gegenseitig. Diese Verschiedenheit zeigt sich im Guten,
wie im Bösen. Revoluzionen, die alle diese Entwickelungsreihen gewaltsam mi-
schen, bringen daher nothwendig ein Geschlecht hervor, das in keiner ruhigen
Beschäftigung zufrieden den Krieg nothwendig macht, um entweder gewaltsam
dadurch seine Richtung zu bekommen oder unterzugehn.29
Die Rolle des Adels wird 1815 in der provokanten Gegenüberstellung indirekt bestä-
tigt. Entweder --- so Arnims Argumentation --- komme dem Adel eine umfassendere
Funktion zu oder er müsse aufgehoben werden:30 Die dem Ritter übertragene Erzie-
hungsfunktion schreibt für das Loch die exponierte Funktion des »Würdigen« als Er-
neuerer fest: Entsprechend diesem Sendungsbewußtsein wird als erstes die entfrem-
dende Regierungsmaschine zerstört:
RITTER. Ihr Freunde, nehmt die Regierungsmaschine,
Sie hat vernichtet alles Freie und Kühne,
Und werfet sie in das tiefe Meer,
Damit uns kein unnütz Gesetz mehr beschwer,
Dann leben wir hier wie im Paradies (L 210).
Beide das Paradies bedingende Voraussetzungen --- zum einen die Selbst-Eliminierung
des Rhabarbervolkes und zum anderen das konstitutive Erziehungsprogramm, das
»Thiere« zu besseren Menschen machen soll --- können in ihrer doppelten Drastik vor
allem deswegen in aller Unbefangenheit vermittelt werden, weil der komische Kontext
ein beständiges Changieren zwischen Ernst und Scherz erlaubt.
Diese Gratwanderung zwischen figurativer und wörtlicher Ebene wird im Schat-
tenspiel funktional eingesetzt, um sowohl die doppelte, poetologische sowie politische
Botschaft --- die Beschwörung der Volkstätigkeit und den Erziehungsauftrag des (wie
auch immer zu fassenden) »Adels« --- in einem unterhaltsamen Rahmen zu vermitteln.
Die für das Stück signifikante Überlagerung von humoristischen und ernsten
Tendenzen findet sich bereits in der Rahmung des Schattenspiels: Der ernste An-
spruch wird von dem vorgeschalteten Schattendichter vermittelt, der den nachfolgen-
den phantastischen »Spaß« dezidiert an die zeitgenössische Gegenwart anbindet; der
humoristische Impetus dagegen scheint vorgängig im Titel sedimentiert, in dem das
Loch und das »wiedergefundene Paradies« in einer ironischen Unverhältnismäßigkeit
der jeweiligen begrifflichen Reichweiten miteinander verbunden werden: Das Loch ---
Fluchtweg der Kaiserin und damit das Tor zum final evozierten Paradies, zugleich a-
ber auch offensichtlich das Höllentor, das die Etablierung des Paradieses über die pu-
203
Claudia Nitschke
1
Eine Differenz, die zum Teil auch in den Stücken kommentiert wird: »Die am häufigs-
ten verspotteten Autoren in den romantischen Komödien sind […] Iffland und Kotze-
bue sowie mit einer gewissen Verzögerung, die sog. Schicksalsdramatiker.« Uwe Japp:
Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick. Tübingen: Niemeyer 1999, S.
10. Insgesamt müßte man die Frage aufwerfen, ob es überhaupt ein Textkorpus gibt,
das sich unter der Rubrik romantische Komödie zusammenfassen läßt.
2
Der Text wird im Folgenden mit der Sigle L zitiert nach der Ausgabe: Achim von Ar-
nim: Das Loch, oder: das wiedergefundene Paradies. In: Achim von Arnims Schaubüh-
ne. Bd. 1. Berlin: In der Realschulbuchhandlung 1813.
3
Japp: Komödie (1999), S. 61.
4
Japp: Komödie (1999), S. 67.
5
Trotz des möglichen Verweises auf Napoleon handelt es sich mit Blick auf die Staats-
form um keine konsistente politische Utopie, d.h., mit der Kaiserwürde ist weder eine
Restitution noch eine antimonarchistische Haltung verbunden. Arnim selbst propagiert
hier vielmehr mit Blick auf den Ritter ein spezifisches Regenerierungskonzept, das auf
den Schultern eines meritorisch verstandenen Adels ruht. Vgl. dazu das folgende.
6
Martin Neuhold: Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman Die Kronenwäch-
ter im Kontext ihrer Epoche mit einem Kapitel zu Brentanos Die mehreren Wehmüller
und ungarischen Nationalgesichtern und Ahnung und Gegenwart. Niemeyer: Tübingen
1994.
7
Während im frühromantischen Konzept von einem ironischen Prinzip ausgegangen
wird, das als bloß regulative Idee abwesend ist, gilt bei Arnim ein ontologischer Begriff,
der die Welt als Ort der Anwesenheit des Transzendentalen versteht.
8
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden.
Hg. v. Ernst Behler u. Hans Eichner. Bd. 2. Paderborn, München, Wien Zürich: Schö-
ningh 1988, S. 114.
9
Die Diagnose und das Anliegen, das sich mit der Forderung nach einer Wiederbelebung
des Volkes und gesunden Volkstätigkeit verknüpft, gehen Hand in Hand mit der politi-
schen Bestandsaufnahme und der politischen Utopie des Schattenspieles.
10
Eine Zusammenfassung dazu bei Yvonne Pietsch: Ludwig Achim von Arnims Schau-
bühne (1813). Textkonstitution, historisch-kritische Kommentierung und Interpretati-
204
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
on. Phil. Diss. Masch. München 2005. (Erscheint bei Niemeyer als 13. Band der Histo-
risch-Kritischen Arnim Ausgabe), Überblickskommentar zu Das Loch.
11
Ebd.
12
Zitiert nach Pietsch: Schaubühne (2005). Zugrundegelegt wurde dabei: Nützliche Un-
terweisung / Der Sieben / Weisen Meister, / wie / Pontianus der Kaiser zu Rom, / sei-
nem Sohn Diocletianum, den sieben / weisen Meistern befiehlet, die sieben freien /
Künste zu lernen, und wie derselbe hernach durch Untreu sei-/ ner Stiefmutter, sie-
benmal zum Galgen geführet, aber alle-/ weg durch schöne Gleichnisse derer Meister
vom Tod er-/ rettet, und ein gewaltiger Kaiser zu Rom ward. Sehr lustig und nützlich
wider der falschen Weiber Untreu zu lesen. Frankfurt/O., Berlin: Trowitzsch & Sohn
1800, S. 106. Im folgenden abgekürzt mit SW und entsprechender Seitenzahl.
13
Auch in der Sekundärliteratur werden die Phänomene des Komischen in seinen Texten,
insbesondere sein Humor, der sich zu großen Teilen auf Sprachspiele stützt, eher ver-
nachlässigt. Vgl. exemplarisch zur Komik im Drama u.a.: Dorothea Streller: Arnim und
das Drama. Phil. Diss. Göttingen 1957; und zur Komik generell u.a. Karl Blöchlinger:
Humor in Arnims Novellen. Phil. Diss. Weinfelden 1971.
14
Vgl. dazu u.a. Peter Wenzel: Von der Struktur des Witzes zum Witz der Struktur. Hei-
delberg: Winter 1989.
15
Dient die parabatische Komik in Das Loch der Vermittlung einer politischen Utopie,
wird bei Klingemann die Parabase für die Beschreibung und Bewertung eines ästheti-
schen Positionsstreites genutzt, insofern in den Freimüthigkeiten die Polemik gegen
Kotzebue parabatisch in die Zuschauerdialoge verlegt wird. Vgl. dazu den Beitrag von
Conter in diesem Band.
16
»Als solches gänzlich aufgeführet, bat er einen Maurer, daß er ihm heimlich ein Loch
durch die Mauer des Thurns machen wollte, da solches der Maurer gemacht hat, tödtete
ihn der Ritter, damit es nicht offenbahr würde.« (SW 101)
17
Daniel Fulda weist in dem von ihm herausgegebenen Sammelband zum Kannibalismus
als Motiv und Metapher in der Literatur auf den spezifischen Reiz der Kannibalismus-
Metapher hin, dem in der »metaphorischen Spannung zwischen literalem und übertra-
genen Sinn […] das Erkenntnispotential zwischen Fremd- und Selbstbezug [entspricht],
das die Spannung zwischen Fremd- und Selbstbezug im Anthropophagiediskurs für eine
kulturwissenschaftlich interessierte Literaturwissenschaft bereithält«; Ders.: Vorwort. In:
Das andere Essen --- Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Hg. v.
Daniel Fulda u. Walter Pape. Freiburg i. Br.: Rombach 2001, S. 31. Die Referenz auf
ein kannibalistisches Motiv provoziert also bereits in sich das hier entscheidende Chan-
gieren der Ebenen.
18
Gerhard Kluge vermutet, daß die Regierungsmaschine im Schattenspiel von Arndts
Geist der Zeit inspiriert wurde, vgl. dazu Gerhard Kluges Kommentar zu Das Loch
oder das wiedergefundene Paradies. Ein Schattenspiel von Ludwig Achim von Arnim.
Text und Materialien zur Interpretation besorgt v. Gerhard Kluge. Das Incognito oder
die mehreren Könige oder alt und neu von Joseph von Eichendorff. Berlin: de Gruyter
205
Claudia Nitschke
1968, S. 90-91, mit weiteren Beispielen zum Maschinenstaat aus Arndts Geist der Zeit.
Vgl. zum weiteren Kontext dieses Terminus Pietsch: Schaubühne (2005), S. 303.
19
Yvonne Pietsch vermutet in der Idee mit den gestempelten Fingern etwa eine Anspie-
lung auf das am 10. November 1810 von der Regierung Hardenberg erlassene Stempel-
edikt. Diese Umsatzsteuer wurde durch Anbringen einer Stempelmarke oder durch
Stempelaufdruck erhoben. Vgl. dazu Pietsch: Schaubühne (2005), 306.
20
»KASPER. Das Volk ist in uns, wir sind im Volke! / Das Volk ist eine ungestaltete Wol-
ke, / Ich und der Kaiser, wir sind die Winde, / Wir blasen bald stark und bald gelinde, /
Und wenn wir einander entgegenblasen, / Da stehet sie stille mitten im Rasen.« (L
194f.)
21
»Der Teufel (steigt aus der Regierungsmaschine heraus). / Verlassen steht der mächtge
Thron, / Da kann ich sprechen der Welt Hohn, / Die Regierungsmaschine ist unbe-
setzt, / O süße Bosheit, wie wirst du ergötzt, / Wie will ich spotten der ganzen Welt, /
Wenn sie in sich selber zerfällt, / Ich nehme die Krone, ich nehme das Kleid, / Und ge-
heiligt erschein ich der Welt zum Leid.« (L 206)
22
Nach Johannes Barth könnte der Teufel als Napoleon interpretiert werden. Vgl. dazu
Ders.: Der höllische Philister. Die Darstellung des Teufels in Dichtungen der deutschen
Romantik. Trier: WVT 1993.
23
Exemplarisch wird dies in den Majorats-Herren deutlich: »Wie reich erfüllt war damals
die Welt ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle
Formen zusammenstürzte; wie gleichförmig arm ist sie jetzt geworden!« In: Achim von
Arnim: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael
Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs u. Hermann F. Weiss. Bd. 4. Hg. v. Renate
Moering. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 107.
24
Achim von Arnim, Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe. Bd. 1. Hg. v. Hartwig
Schultz. Frankfurt/M.: Eichborn 1998, S. 416. In einem ähnlich gefaßten Brief an Bet-
tine Brentano vom selben Tag konterkariert er die preußische Situation und die mögli-
che Niederlage mit einem autosuggestiven Optimismus: »Wahrscheinlich sind wir von
Frankreich aufgeopfert, es soll aber bei allen guten Geistern ein willig Opferthier finden,
die Armee ist voll Freude, unser Sand wirbelt vor Luft, daß er getränkt wird, die Erndte
ist reif, schneide sie, wer die Sichel führen kann. Was soll bestehen, was nicht die Kraft
dazu hat! Fort mit uns, wenn wir nicht würdig dieser stolzen Erde, sonst wollen wir uns
aber anklammern und einbeißen an dieses leibliche Eigenthum, der Teufel will sich
nicht mehr brauchen lassen mit seinen Kräften, so muß er fallen! Ich spreche in so gu-
tem Zutrauen, ich kann nicht dafür, aber bewahren Sie es wie meine liebste Hoffnung
im sichern Herzen, es kann auch wohl alles schlecht und mittelmäßig werden, im Frie-
den ist kein Heil mehr, im Kriege Verzweiflung.« Achim von Arnim und die ihm nahe
standen. Hg. v. Reinhold Steig u. Herman Grimm. 2. Bd. Achim von Arnim und Betti-
ne Brentano. Bearb. v. Reinhold Steig. Stuttgart: Cotta 1913, S. 37, Hervorhebung v.
C. N.
25
Albert Portmann-Tinguely: Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des
Krieges bei deutschen Romantikern und »Freiheitssängern«: Adam Müller, Joseph Gör-
206
Unterhaltung im Dienst politischer Ideen
res, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf und Theodor Kör-
ner. Freiburg, Schweiz: Universitäts-Verlag 1989, S. 200ff.
26
Achim von Arnim: Schriften. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Hg. v. Roswitha
Burwick, Jürgen Knaack, Hermann F. Weiß. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag
1992, S. 189f.
27
Der Ritter bezieht sich angesichts des Rhabarberlandes auf diese Konnotation: »So führ-
te mich die Liebe zum Rhabarberschloß, / O Mißgeschick --- mich trifft dein ganz Ge-
schoß, / Du triebst mich erst zu der Hypekakuana, / Bis ich dies gelbbraun widerliche
Schloß ersah«. (L 192) Hypecacuanha, eine brasilianische Ruhr-Wurtz oder Brechwur-
zel dient allgemein zur Purgation und entspricht in dieser Hinsicht dem Rhabarber,
dem zu Arnims Zeit eine ähnliche Funktion zugesprochen wurde.
28
Als Pendant zum Teufel ergänzen die Engel das christliche Pantheon und versehen die
finale Perspektive des Stückes mit einer christlich-göttlichen Legitimität, mit der die
Gewichtigkeit des Endes von der illudierenden Verwechselungskomödie des Anfangs
unterschieden wird. Zugleich bleibt ein parabatisches Element (die »Thiere« erklären
das Schattenspiel für beendet) und eine spezifische Komik (ebenfalls über die unge-
schickten »Thiere« gewährleistet) erhalten, über die ein fließender Wechsel von Analyse
zu Zielvorgabe geleistet wird. Unter der Hand dieser Komik werden gesellschaftliche
Hierarchien fortgeschrieben und die zuvor angeprangerte Verdinglichung als Ausgangs-
punkt für zukünftige Unternehmungen angenommen.
29
Arnim/Brentano: Freundschaftsbriefe Bd. 2 (1998), S. 726. Hervorhebungen von C. N.
30
»Entweder den Adel aufzuheben, und sonst eine Vermittelung zwischen der Menge und
der Einheit des Throns zu bilden, oder aber den Adel durch eine notwendige und uner-
läßliche Verpflichtung, zur Bewahrung alles Guten und Schönen, in mehreren Klassen
gegliedert als den Kern der Heldenkraft, der Geistesbildung und des Landbesitzes einer
ganzen Nation wieder zu erneuen.« Achim von Arnim: Schriften. In: Arnim: Werke Bd.
6 (1992), S. 492f.
31
In beiden Fällen scheint das Loch überdies in derber Weise auf jeweils entsprechende
menschliche Körperöffnungen anzuspielen: einmal im Sinne der Prokreation, einmal im
Sinne der Purgation.
207
Stephan Kraft
Identifikatorisches Verlachen ---
distanziertes Mitlachen
Tendenzen in der populären Komödie um 1800
(Iffland --- Schröder --- Kotzebue --- von Steigentesch ---
von Voß)
»Ich wollte einen Versuch machen, durch Laune, wenn sie mir gelungen ist, durch
Heiterkeit, durch wirkliche Possen zu belustigen, da uns unsere neuesten Stücke so
selten zum Lachen Gelegenheit geben«1. Mit diesen Worten verteidigt die namen-
lose Figur des Dichters in Ludwig Tiecks 1797 entstandenem Lustspiel Der gestie-
felte Kater gegenüber dem auf der Bühne präsenten bürgerlichen Publikum sein
Vorhaben, ein komisches Märchenstück, in dem zudem noch eine Hanswurstfigur
eine tragende Rolle spielt, zur Aufführung zu bringen. Tiecks Stück spiegelt in ei-
nem Spiel im Spiel diesen letztlich misslingenden Plan in den Erwartungen der
Zuschauer, die derartige »Laune«, »Heiterkeit« und »Possen« allenfalls im Bereich
der opera buffa zu akzeptieren bereit sind, während ihr Geschmacksempfinden für
das Sprechtheater vor allem von den bürgerlichen Rührstücken2 eines Schröder,
eines Kotzebue und vor allem eines Iffland geprägt ist.
Trotz der um 1800 fortbestehenden Vorherrschaft der Rührstücke auf den e-
tablierten deutschen Bühnen ist der Rekurs von Tiecks Dichter zumindest auf die
zentrale Kategorie der »Heiterkeit« aber vielleicht doch etwas weniger originell, als
er es seinem Publikum glauben machen will. Zum einen ist natürlich an die
durchgängig fortbestehende Präsenz von komischen bis derbkomischen Elementen
in der Tradition des Extemporierens auf den Wanderbühnen und im Wiener
Volkstheater zu erinnern.3 Zum anderen ist innerhalb des letzten Drittels des 18.
Jahrhunderts europaweit auch innerhalb des zeitgenössisch anerkannten Sprech-
theaters, das hier im Fokus des Interesses steht, eine literarhistorische Entwicklung
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
1. Voraussetzungen
In den Poetiken der Frühaufklärung wurde Literatur bekanntlich eine didaktische
Funktion zugeordnet, und besonders das Lustspiel schien in der Form der Ver-
lachkomödie geradezu ideal für eine derartige Indienstnahme geeignet. In der von
Gottsched initiierten so genannten aufklärerischen Typenkomödie6 beispielsweise
sollten die Hauptfiguren, die auf einen verzerrt dargestellten negativen Charakter-
zug fokussiert waren, dem Verlachen preisgegeben und im Laufe der Handlung
entweder von ihrem moralischen Fehler kuriert oder aber am Ende aus der Gesell-
schaft der Gutwilligen ausgeschlossen werden. Als problematisch erwies sich dabei
jedoch, dass aufklärerische Werte so nur negativ vermittelt werden konnten. Die
positiven Gegenfiguren, die die Vernunft repräsentieren sollten, blieben in der Re-
gel blass und boten dem Publikum somit kaum eine wirkliche Möglichkeit der
Identifikation.
Der Schluss der Typenkomödie bestand in der Wiederherstellung der zwi-
schenzeitlich gestörten vernunftmäßigen Ordnung und mithin im Ende des Ver-
Lachens, wodurch die primäre Affektwirkung auf das Publikum im Finale aufge-
hoben wurde. Das Lachen hatte hier also einen rein transitorischen Charakter und
wurde erregt, um das Verlachenswerte zu beseitigen und sich damit sozusagen
selbst ein Ende zu bereiten. Es handelt sich letztlich um das Lachen des Agelasten.
Ein Problem dieses Versuchs der vollständigen Didaktisierung der Komödie
lag nun aber in der potentiellen Ambivalenz des Lachens in seinen zwei Grund-
formen des Verlachens und des Mitlachens. Gottsched versuchte diese Ambivalenz
209
Stephan Kraft
durch eine Reihe von Einschränkungen auszuschalten,7 wie etwa der Ausgrenzung
der komischen Hyperbolik und der Abschaffung des Hanswurst: Das Lachen sollte
nach Möglichkeit rein exkludierend wirken --- jegliches inkludierende Lachen, jegli-
che Möglichkeit einer Solidarisierung des Zuschauers mit einer der komischen Fi-
guren, wie es beim Harlekin ja die Regel ist, wäre zu einer Gefahr für die klar defi-
nierte Wirkungsabsicht geworden.8 Zudem hätte sich ein solches Mitlachen durch
eine simple Restitution der Vernunft im Finale auch nicht mehr so einfach bändi-
gen lassen.
In der rührenden Komödie eines Richard Steele, eines Nivelle de La Chaussée
oder eines Gellert als einem Gegenentwurf zu diesem Konzept rückte nun an Stelle
des verlachten Gegenspielers die tugendhafte Person in den Mittelpunkt. Der An-
satzpunkt der Neuakzentuierung lag also vor allem beim Problem der mangelnden
Möglichkeit der Identifikation durch die Zuschauer: Aus der Komödie als einem
Medium der kritischen Distanz sollte eines der Einfühlung werden.
Mit dieser Verschiebung änderte sich auch das Verhältnis von primärer Af-
fektwirkung und der sich vor allem im Finale manifestierenden allgemeinen Wir-
kungsabsicht, und zwar sowohl in der rührenden Komödie als auch noch im sich
daraus entwickelnden bürgerlichen Rührstück. Der Affekt der Rührung zeichnet
sich dadurch aus, dass er im Gegensatz zum Lachen in der Verlachkomödie sowohl
innerhalb des Stücks selbst --- etwa durch in die Handlung eingestreute Akte der
Großmut --- als auch im obligatorischen Schlusstableau hervorgerufen werden
konnte. Dies ermöglichte eine viel engere Verklammerung der Handlung mit dem
Finale. Das Rührstück erschien somit gegenüber dem Typenlustspiel gerade wegen
seiner Stringenz und der daraus folgenden geringeren Tendenz zur Ambivalenz als
das letztlich geeignetere Medium für die Propagierung von als verbindlich aner-
kannten Wertvorstellungen. Sein Problem war dabei jedoch die genaue Kehrseite
seiner Stärke: Die Dominanz des Affekts der Rührung sowohl im Verlauf als auch
im Schluss führten zu einem Überbietungszwang, der sowohl das einzelne Stück als
auch die Gattungstradition insgesamt betraf. Dies hatte zur Folge, dass sich das
Genre mit der Zeit totzulaufen drohte.
Die Autoren des populären Dramas reagierten auf diese Gefahr der Monotoni-
sierung und mischten in ihre rührenden Stücke verstärkt komische Elemente. Und
auch die populäre Lachkomödie selbst erlebte in diesem Zusammenhang eine
Wiederbelebung. Da nun auch in den Stücken, die paratextuell als Lustspiele be-
zeichnet wurden, nicht selten rührende Elemente eine wichtige Rolle spielten, ver-
schwammen die Gattungsgrenzen vor allem bei Iffland und Schröder zusehends.
Doch die daraus resultierenden Abgrenzungsfragen sollen hier gar nicht im Zen-
trum stehen. Wichtiger ist mir, dass für die restituierte Komik selbst zumindest
210
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
prinzipiell die Möglichkeit bestand, wieder variabler eingesetzt zu werden als zuvor
in der Typenkomödie, da sich der im engeren Sinne didaktische Zug nun vorwie-
gend auf das rührende Element verschoben hatte. Es konnte wieder verstärkt mit
der komischen Ambivalenz von Ausgrenzung und Solidarisierung, von Verlachen
und Mitlachen gearbeitet werden.
211
Stephan Kraft
reits kurz vor einer Rebellion. Der falsche Figaro, der an diesen Hof kommt, ent-
spricht jedoch keinesfalls dem aufsässigen Diener der Vorlage, sondern ist in Wirk-
lichkeit ein verkleideter deutscher Edelmann, der zum Ziel hat, den Geliebten der
Tochter der Baronin, den jungen und aufgeklärten Grafen Bardenrode, an die
Macht zu bringen. Als dies nach (über)reichlichen Verwirrungen geschafft ist, wird
damit auch zugleich die drohende Revolte der Bauern abgewendet: Aus dem fran-
zösischen Figaro, der verbal mit dem Umsturz droht, wird also ein deutscher, der
alles daran setzt, ihn zu verhindern. Und aus dem gewitzten Plebejer, der ohne
große Gewissensbisse vor allem seine eigenen Interessen verfolgt, wird ein unei-
gennütziger Helfer, der ausschließlich das Gemeinwohl im Auge hat. Auch der
deutsche Figaro spielt mit seinen Gegnern und nimmt wie sein Vorbild deren ver-
quere Wünsche und Träume zur Grundlage seiner Intrigen, doch bleibt er letztlich
so bieder, dass Sigrid Salehi sicher nicht zuzustimmen ist, wenn sie meint, man sol-
le hier weniger über die Grafen und die Baronesse lachen, sondern vor allem mit
dem Figaro über seine lustigen Einfälle.12 Um so etwas wie komische Ambivalenz
aufkommen zu lassen, ist die Figur des Figaro hier zu wenig vielschichtig angelegt,
und vor allem fehlt es ihr an der gehörigen Portion moralischer Indifferenz, die die
französische Vorlage auszeichnete. Und obwohl Iffland die negativen Auswüchse
der alten Adelsgesellschaft, das muss hier eingeräumt werden, mindestens so scharf
kritisiert wie Beaumarchais, gerät das an die Tradition des Rührstücks angelehnte
Finale um so versöhnlicher: Der aufgeklärte Adel kann das Ancien Régime noch-
mals konsolidieren, und die entmachteten Teile der alten Eliten werden dadurch,
dass sie zwar die Entscheidungsgewalt verlieren, aber Rang und Vermögen behal-
ten dürfen, ebenfalls in das Schlusstableau integriert.
212
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
sich in ihrer im Jahr 1919 erschienenen Studie über Schröders Bearbeitungen eng-
lischer Dramen den englischen Lustspielen aus der Zeit um 1700 mit kaum ver-
hohlener Empörung:
Was die Restaurations-Komödien anbetrifft, so sind dies jene mit Recht viel
gescholtenen, inhaltlich frechen Lustspiele, die mit cynischer Unverschämtheit
die anstößigsten Laster dem Publikum vor Augen führen, sich lustig machen
über Tugend und Sittlichkeit und mit einem Wort das zügellose, ausschwei-
fende Leben der Restaurationsepoche widerspiegeln.19
Träger dieser, nach Pfenniger, »cynische[n] Unverschämtheit« ist im konkreten
Fall des Constant Couple vor allem die nominelle Nebenfigur des Sir Harry Wil-
dair, ein in der Konversation äußerst witziger adeliger Lebemann, der eine faszinie-
rende Wirkung entfaltet, bürgerlich-asketischen Moralvorstellungen aber in keiner
Weise entspricht. In der deutschen Bearbeitung durch Schröder geht es sowohl
sprachlich als auch auf der Ebene der Handlung deutlich gemäßigter zu als im eng-
lischen Original --- so sind zum Beispiel die zahlreichen Prügelszenen getilgt ---,
doch anders als Ifflands Figaro behält diese heimliche Hauptfigur, die hier den
Namen Graf von Klingsberg trägt, durchaus noch genug von ihrer ursprünglichen
Vitalität bei.
Der auf Klingsberg zentrierte Nebenstrang, der sich in seinen Grundzügen so
auch schon bei Farquhar findet, sei kurz vorgestellt: Der Graf will sich von dem
jungen Louis von Holm eine Prostituierte empfehlen lassen, woraufhin dieser ihn
zu der durchaus ehrbaren Witwe von Darring und deren Tochter Henriette
schickt, der er einen Streich spielen will, weil sie sich seinen eigenen Avancen ge-
genüber zuletzt sehr spröde verhalten hat. Von Holm gibt Klingsberg dabei einen
verschlossenen Brief für die Witwe mit, in dem er der Mutter Heiratsabsichten des
Grafen vorspiegelt (I, 9). In den Gesprächen bei seinem ersten Besuch bei den
Darrings (III, 6-13)20 gehen beide Seiten somit von grundverschiedenen Voraus-
setzungen aus. Klingsberg sucht eine höflich verklausuliert vorgetragene, aber doch
möglichst zügige Geschäftsanbahnung mit einer Prostituierten, wohingegen die
Mutter für ihre Tochter eine gute Partie erhofft --- nur Henriette ist sowohl das
Verhalten des Grafen als auch das ihrer Mutter von Beginn an äußerst unange-
nehm. Die Komik der Szenenfolge resultiert vor allem daraus, dass das Missver-
ständnis bis zum Schluss nicht aufgedeckt wird. Klingsberg vermeint vor allem in
der Mutter die vollendete Kupplerin zu entdecken, scheut aber aus Bargeldmangel
vor einem konkreten Angebot zurück. Erst beim zweiten Besuch (V, 3-4), als
Klingsberg das Geld auf den Tisch legt, scheint der Skandal perfekt. Als sich aber
bald darauf herausstellt, dass Henriette überraschend die Erbin eines reichen Ban-
kiers geworden ist, fällt seine Entscheidung, ihr zur Genugtuung und nicht zuletzt
213
Stephan Kraft
zur Vermeidung eines ansonsten anstehenden Duells mit dem jungen von Holm
seine Hand anzubieten.
Dieser Handlungsstrang und seine spezifische Komik bauen auf den ersten
Blick auf einem Kontrast von Anstand und Unmoral auf, doch allein die Möglich-
keit, eine solche Situation so lange in der Schwebe zu halten, macht zugleich schla-
gend deutlich, wie nahe sich Prostitution und die zeitgenössische Praxis der Ehe-
anbahnung letztlich sind: Klingsberg wird von den Darrings so oder so als eine Art
Käufer empfangen, die Mutter hat in jedem Fall Züge einer Kupplerin, und die
Tochter bleibt in beiden Varianten ein weitgehend wehrloses Handelsobjekt. Und
wenn der Graf sie am Ende doch heiraten will, dann haben sich zwar die Bedin-
gungen des angestrebten Kontrakts geändert, nicht jedoch die Tatsache selbst, dass
hier vor allem ein Geschäft gemacht wurde, zumal nach der Nachricht von der
Erbschaft Henriettes. Anders als in der Figarobearbeitung Ifflands bleibt von die-
sen Ambivalenzen in Schröders Stück genug erhalten, um für eine Irritation zu
sorgen, wie sich auch in den zeitgenössischen Rezensionen deutlich zeigt.21 Und
die finale Besserung Klingsbergs ist hier --- ungeachtet seiner dahingehenden Be-
teuerungen --- auch nur als eine Möglichkeit für die Zukunft angelegt.22 Der
Schluss der Haupthandlung des Stücks ist dagegen viel konventioneller gestaltet,
wenn auch nach der Kategorie der Wahrscheinlichkeit schlicht hanebüchen: Hier
erfahren die Baronin von Schönhelm und der Hauptmann Stelting als jahrelang
voneinander getrenntes und nun, ohne einander zu erkennen, neu ineinander
verliebtes Ehepaar doch endlich, wer der jeweils andere wirklich ist, und versöhnen
sich tränenreich.
Die Klingsberg-Handlung geht, wie bereits betont, nicht so glatt auf. Hier
bleibt einer moralisch ambivalenten Figur, die aufgrund ihres Witzes beim Publi-
kum Sympathien erwerben kann und keineswegs nur verlacht wird, ihre Unein-
deutigkeit bis ganz zum Ende erhalten. Schröders Ring ist nicht nur wegen seines
großen Erfolgs beim Publikum von Bedeutung. Das Stück markiert eine bedeu-
tende Etappe in der Geschichte der deutschen Komödie des 18. Jahrhunderts weg
von der Fixierung auf Fragen der Moralvermittlung. Der Ring regte zudem zu ei-
ner ganzen Reihe von Nachfolgestücken an: Schröder selbst hat --- wenn auch mit
deutlich geringerem Erfolg --- Farquhars eigenes Nachfolgestück Sir Harry Wildair
(1700)23 unter dem Titel Der Ring oder die unglückliche Ehe durch Delikatesse
(1788)24 bearbeitet. Und auch zwei Autoren, die zentral für den Abschied vom Pa-
radigma der moralischen Belehrung durch die Komödie stehen, August von Kot-
zebue und August von Steigentesch, haben beide Lustspiele verfasst, die auf den
Charakter Klingsbergs und auf den Stoff des Ring zurückgreifen,25 Kotzebue in
214
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
Die beiden Klingsberg (1799)26 und Steigentesch in Wer sucht, findet, auch was er
nicht sucht (1810).27
215
Stephan Kraft
216
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
Unschuldig sind wir alle! doch laßt uns auch sämtlich in Demut bekennen,
daß wir --- wie so manche hochgepriesene Tugendhelden --- die Erhaltung unse-
rer Grundsätze bloß dem Glücke verdanken. (III, 13, S. 523f.)
Deutlich erkennbar ist der versöhnliche Schluss bei Kotzebue anders motiviert als
bei Iffland. Bei jenem hatten die Gegenspieler die allfällige Verzeihung durch die
Guten prinzipiell nicht verdient, und für die positiven Helden stellt die Schluss-
szene vor allem eine letzte Möglichkeit dar, nochmals ihre überlegene Großmut
unter Beweis zu stellen. Bei Kotzebue hingegen hat das Verzeihen seine Grundlage
in der Einsicht, dass der Mensch nun einmal fehlbar ist.35
Häufig ist dem populären Drama um 1800 vorgeworfen worden, lediglich
Scheinkonflikte modelliert und damit die wirklichen, vor allem die gesellschaftli-
chen Antagonismen kaschiert zu haben.36 Mit dem gleichen Recht ließe sich vor al-
lem bei den letzten beiden analysierten Komödien Kotzebues auch von Scheinlö-
sungen des immer wieder verhandelten, durchaus realen Grundkonflikts zwischen
dem Tugendanspruch und der Unmöglichkeit, diesem aus eigenem Willen gerecht
zu werden, sprechen, wobei die Scheinhaftigkeit der Lösungen keinesfalls verbor-
gen, sondern in der Regel geradezu ausgestellt wird.
Im engeren Sinne Gesellschaftliches spielt gleichwohl mit hinein: Die Zentral-
figuren der hier zuletzt behandelten Komödien entstammen dem niederen Adel.
Dieser ist einerseits nach der immer noch nachwirkenden Ständeklausel gerade
noch komödienfähig, gehört aber andererseits schon einer Gesellschaftsschicht an,
die mit einem vor allem in Fragen der Erotik insgesamt lockereren Lebensstil kon-
notiert ist. Doch griffe die Interpretation zu kurz, es handele sich bei diesen Stük-
ken vor allem um eine satirische Kritik am lasterhaften Adel aus bürgerlicher Per-
spektive --- dafür wird, wie ganz ausdrücklich im Rehbock, zu sehr das Allgemein-
Menschliche herausgearbeitet.
Parallele Konflikte können im Rahmen des Bühnenschwanks im späten 19.
und frühen 20. Jahrhunderts, der deutlich in der Tradition der Kotzebue-
Dramatik steht,37 dann auch problemlos in ein bürgerliches Milieu versetzt wer-
den. Der Bühnenschwank wird endgültig zu einem Lachtheater nicht nur für Bür-
ger, sondern explizit auch über Bürger.38 Und wie in den Komödien Kotzebues
empfiehlt auch im Bühnenschwank vor allem die regelmäßige Schlusspointe die
immergleiche Geschichte von der Gefährdung der bürgerlichen Tugendordnung
und ihrer Errettung durch den bestochenen Zufall zur baldigen Wiederaufnahme.
Im Saal sitzt ein Publikum, das sich die Aporien der eigenen Verfasstheit immer
wieder präsentieren lässt, das immer wieder an den Abgrund geführt und von die-
sem scheinbar sicher wieder zurückgeholt wird: Der Bühnenschwank ist in seiner
eigentümlichen Kombination von Verlachkomödie und Identifikationstheater, von
217
Stephan Kraft
Exklusion und Inklusion ein Theater des kühl kalkulierten Nervenkitzels, der da-
durch entsteht, dass immer wieder klar gemacht wird, dass die Erfüllung der gesell-
schaftlich zentralen Forderung nach Tugend --- oder zumindest nach einem Schein
von Tugend --- in Wirklichkeit, wie es die Gräfin im Rehbock klar ausspricht, le-
diglich eine Sache des Glücks und des Zufalls darstellt.
218
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
in der Zeit --- vor allem in Wien44 --- schon so bekannt und in diesem Falle auch so
durchsichtig angelegt, dass die Frage nach der Auflösung für die Zuschauer keine
allzu große Rolle spielen konnte. Die beiden Kavaliere von Seten und Graf Wart-
feld steigen Julie und ihrer Gesellschafterin Luise nach. Der etwas dümmliche
Gutsbesitzer Goll, der Julies Vormund ist, bildet das obligatorische Hindernis.
Und am Ende finden die Paare programmgemäß zueinander.
Die Handlung, in der der bei Farquhar und Schröder so wichtige Nebenstrang
um Sir Harry Wildair beziehungsweise den Grafen Klingsberg ausgespart wurde,
scheint durchaus vernachlässigenswert. Die Konzentration liegt --- noch stärker als
bei Kotzebues Kleinstädtern oder Schröders Ring --- auf den sich vor allem durch
ihre sprachliche Ausgestaltung verselbstständigenden Einzelszenen und ihrer Poin-
tenstruktur. Besonders gern wird dabei über Moral und Ehe gespottet --- so etwa,
als sich Wartfeld und von Seten fragen, welche Rolle wohl der Gutsbesitzer Goll in
Luises Leben spielen mag:
SETEN. Wenn das ihr Mann wäre.
WARTFELD. Nein! er hat gestern mit ihr gesprochen, und der Mensch war so
höflich gegen sie, daß ich über diesen Umstand ganz beruhigt bin. (1. Auf-
tritt, S. 220f.)45
Hierzu passt auch, dass sich Wartfeld gegen Ende des Stücks keineswegs besonders
davon angetan zeigt, dass Luise bereits seine Ehefrau ist. Sein Interesse an ihr
scheint allein hierdurch bereits merklich zu schwinden. Von einer tränenreichen
Wiedervereinigung, wie sie noch bei Schröder den Schluss dominiert, kann hier
keine Rede sein. Vielmehr zielt alles auf die Gewinnung einer weiteren Pointe ab.
WARTFELD. Gott im Himmel! das ist meine Frau.
[...]
JULIE. Der Engel mit der schönen Stimme?
WARTFELD. Ich weiß nicht, die Stimme kommt mir lange nicht mehr so
hübsch vor.
JULIE. Das reizendste --- das gebildetste Weib, das wir besitzen?
WARTFELD. Das muß sie sich doch alles erst angewöhnt haben, seitdem wir ge-
trennt sind. Da sehen Sie, der vortheilhafteste Augenblick in der Ehe ist
die Trennung. (19. Auftritt, S. 272f.)
Das Konversationsstück war neben dem Bühnenschwank (und später der Lokal-
posse) wohl die erfolgreichste komische Bühnengattung, die das 19. Jahrhundert
hervorgebracht hat. Auch in ihm werden Aporien verhandelt, wenn auch weniger
durch die Handlung selbst als vielmehr durch ihre sprachliche Formung.46 Aber
anders als der Bühnenschwank bleibt das Konversationsstück auch weiterhin stark
mit dem in Fragen der Moral eher libertär konnotierten adeligen Milieu verbun-
219
Stephan Kraft
den und behandelt die Aporien der bürgerlichen Werteordnung nicht so sehr als
permanente Gefährdung, sondern vor allem als Spielmaterial in einer auf den Ef-
fekt ausgelegten Konversation.
Während der Zuschauer beim Bühnenschwank über die unvermeidlichen
Missgeschicke der Figur lacht, die letztlich die eigenen sein könnten, und dabei
zwischen Verlachen und Identifikation gefangen bleibt, vermittelt das Einver-
ständnis heischende Bonmot des Konversationsstücks vor allem eine sich überlegen
gebende Außensicht auf die eigenen Problemkonstellationen. Bühnenschwank und
Konversationsstück sind in ihrer jeweiligen latent paradoxen Wirkungsstruktur
somit dadurch spiegelbildlich aufeinander bezogen, dass der eine ein identifikatori-
sches Verlachen hervorruft und das andere ein distanziertes Mitlachen.
220
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
ständig machen. Als gegen Ende des zweiten Teils Emma, die bodenständigere der
beiden Töchter Lahns, den biederen Bleicher Taps heiraten will, wird dies von den
mittlerweile wieder auf freiem Fuß stehenden, dünkelhaften Zeitschriftenmachern
heftig kritisiert --- allerdings nur bis kurz darauf die ehemalige Dienstbotin Catha-
rina wieder auftaucht. Sie ist im Krieg als Marketenderin und fünfmalige Soldaten-
frau reich geworden. Das Stück endet damit, dass sie sich vor Heiratsanträgen der
anwesenden Männer, die natürlich allesamt nur auf ihr Geld spekulieren, kaum
retten kann.
Eine kausal aufgebaute und folgerichtige Handlung findet sich hier kaum.
Über die Herausgeber des Sublimen und über Lahns vergeistigte Tochter Kassan-
dra, die ausschließlich in Sentenzen spricht, wird Hohn und Spott ausgegossen.
Anerkennung finden hingegen die in der Anpassung an die Umstände viel ge-
schickteren, jedoch auch ziemlich skrupellosen Figuren aus der Unterschicht. Die
Welt, wie sie hier dargestellt wird, scheint, sieht man einmal von der Nebenfigur
des rechtschaffenen Bleichers ab, nur den Weg in den Wahn oder in den Betrug zu
ermöglichen --- eine Analyse, über die stückintern übrigens keinerlei Empörung laut
wird.
Der literarische Paria Julius von Voß ist derjenige, der die Tendenz zur Entdi-
daktisierung der Komödie der Zeit auf die Spitze treibt und dabei jegliche bis da-
hin noch gültige Regel bricht und verlacht. Recht hat am Ende der Stärkere oder
Wendigere. Dabei stellt sich die Frage, ob seine Texte immer noch als implizite di-
daktische Satiren eines konservativen Altaufklärers und bekennenden Preußen zu
lesen sind,50 oder ob hier nicht vielmehr die immer wieder beobachtete andere Sei-
te von Voß, die Faszination der Vitalität des um jegliche Moral Unbekümmerten
die Überhand hat: »Die Zusammenstellungen vermieden das Grelle nicht, suchten
aber das Ziel der Wahrheit zu erreichen«, schreibt er selbst im Vorwort zum ersten
Band der Ausgabe seiner Lustspiele von 1807(-1812).51 Hahn merkt dazu an:
Voß wagt es, die schmutzigsten Situationen mit einem zynischen Realismus
darzustellen; die widrigen und häßlichen Szenen in den ›Klippen der Frauen-
zucht‹, der ›Retraite pour les dames‹ und der ›Liebe im Zuchthause‹ überragen
Kotzebues versteckte Schlüpfrigkeit bei weitem, und manches Vorwort be-
weist, daß Voß sich wohl bewußt war, jede Grenze des Anstandes überschrit-
ten zu haben.52
In der von Hahn erwähnten Liebe im Zuchthause (1807)53 trifft eine wenig illustre
Gesellschaft, bestehend aus einer Kindsmörderin, einer Kupplerin, einer beim
Diebstahl erwischten Prostituierten, einer Kassenbeutelfälscherin, einem Straßen-
räuber, einem Taschendieb, einem Blutschänder, einem Mordbrenner und einem
Falschmünzer, im Gefängnis aufeinander und berichtet einander von den jeweili-
221
Stephan Kraft
gen Untaten. Alle empören sich zuerst über die Verbrechen der jeweils anderen,
kommen aber schließlich zu dem Fazit, dass sie sämtlich nur Opfer widriger Um-
stände und einer feindlichen Umwelt waren, wie der wegen Geschwisterinzest ein-
sitzende Kandidat, dessen Untat die bei weitem ausführlichste und eingehendste
Darstellung erfährt (Szene 5, S. 24-37), die Berichte seiner Mitgefangenen zusam-
menfasst:
Recht, die Umstände sind es, die den Menschen bestimmen. Les’t nur die neu-
ern Philosophen. Aber ist hier [das Gefängnis, SK] nicht eine wahre hohe
Schule? Wie weise doch unsere Richter einzusperren verstehn. Wer hier als ein
Stümper einzieht, kehrt als ein Meister zurück in die Gesellschaft. H --- i, Kup-
pelei, Falschmünzen, Stehlen, Brandstiften, Morden, das lernen wir alles in
seinen Ursachen begreifen, als Erscheinung erklären, mit dem Blick der Tole-
ranz ansehen. (Szene 6, S. 55)
Gemeinsam plant man den Ausbruch, um dann mit den im Gefängnis perfektio-
nierten Fähigkeiten erst einmal reich zu werden. Anschließend will man in eine
bessere Weltgegend emigrieren, damit zumindest aus den Kindern mit Hilfe des
erbeuteten Geldes edle Menschen werden können: »Ist ein mäßig Kapital erwor-
ben, dann enden wir, eilen in einen andern Welttheil, legen eine Kolonie an, und
erziehen unsre Nachkommenschaft edel« (Szene 6, S. 59). Doch vor der Umset-
zung der Tat fliegt die Versammlung jedoch auf, und der Stockmeister des Gefän-
gnisses sorgt für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung.
Aufgeführt werden konnte ein solches Stück, das die hier skizzierte Komödien-
entwicklung der immer weiter forcierten Entdidaktisierung an ein konsequentes
Ende führt, zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht. Voß war sich dessen wohl be-
wusst, als er unter dem Personenverzeichnis der Liebe im Zuchthause vermerkte:
»Die deutschen Bühnen werden bestens ersucht, dies Stück nicht zu geben« (S. 6).
Insofern ist es problematisch, die Farcen von Voß immer noch unter dem Signum
des populären Unterhaltungsstücks um 1800 zu führen. Die Entwicklung der Er-
folgskomödie der Zeit endet wohl bereits bei Kotzebue und Steigentesch. Das, was
Voß gemacht hat, liegt zwar in einer Linie hiermit, war jedoch wegen seiner Radi-
kalität nicht mehr anschlussfähig.
7. Fazit
Die Entwicklung der populären Komödie um 1800, die hier anhand einiger weni-
ger signifikanter Stationen nachgezeichnet wurde, hat bei Iffland noch gar nicht
eingesetzt, sie begann bei Schröder und endete, wie gesagt, bei Kotzebue und Stei-
gentesch. Allerdings lässt sich diese Betrachtungsweise auch umdrehen, indem man
222
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
feststellt, dass genau bei den beiden letztgenannten nicht nur End-, sondern auch
wichtige Startpunkte liegen. Auf der Basis der aufklärerischen Verlachkomödie und
des bürgerlichen Rührstücks sind unter Rückgriff auf das ältere Komödienmuster
der Commedia dell’Arte Formen entwickelt worden, die für lange Zeit und zum
Teil bis heute im Unterhaltungsstück dominant geblieben sind, sei es im bürgerli-
chen Bühnenschwank und dem Konversationsstück um 1900, sei es im Boulevard-
theater, sei es in der Screwballkomödie oder sei es auch noch im heutigen Fernseh-
lustspiel.
Als besonders erfolgreich erwiesen sich die Muster, die in den Stücken Kotze-
bues bereitgestellt worden sind. Die Gleichzeitigkeit von Identifikations- und
Lachtheater, die Gegenüberstellung von Konvention und Herz und das akzeptie-
rende Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen sind Elemente, die für einen be-
stimmten und immer noch erfolgreichen Typ von Boulevard- und Fernsehkomö-
die ihre zentrale Bedeutung behalten haben. Dass die Originale Kotzebues nicht
mehr gespielt werden, liegt wohl vor allem am Wandel der Konventionen selbst,
wodurch mit der Zeit das Moment der Identifikation durch die Zuschauer pro-
blematisch geworden ist. Von ihrer Grundanlage her würden sie aber in bestimm-
ten Zusammenhängen durchaus auch heute noch funktionieren.
Die populäre Komödie gewinnt hier ihre in der frühen Aufklärung verloren
gegangene Ambivalenz zurück, bleibt aber gerade in der fortgeführten Grenzer-
kundung weiterhin fest auf die Moralfrage bezogen. Die »Heiterkeit«, die Tiecks
Dichter im Gestiefelten Kater eingefordert hat, wird damit zwar erreicht, doch von
der Vorstellung kindlich-unschuldiger »wirklicher Possen« oder auch nur von der
amoralischen Vitalität von Beaumarchais’ Figaro ist man dabei immer noch weit
entfernt.
Steigenteschs Stücke haben sicherlich nicht in dem Maße konkret modellbil-
dend gewirkt wie die von Kotzebue. Die Karriere des Konversationsstücks in
Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verdankt sie wohl eher
späteren Vorbildern aus Frankreich und England --- also Ländern, in denen eine für
diesen Komödientyp notwendige Großstadtkultur etabliert war. Frühe Beispiele
für ein später bis hin zur Screwballkomödie wirksam bleibendes Muster bieten sie
gleichwohl.
Für die Komödienentwicklung bedeuten die Jahre um 1800 einen höchst si-
gnifikanten Umschlagpunkt. Erkennbar wird aber auch, wie sehr die populäre
Komödie als ein gering evolutives Genre sich vor allem durch ein Neuarrangement
bereits vorhandener Muster entwickelt und nur sehr partiell am ebenfalls um 1800
einsetzenden emphatischen Innovationsdiskurs der ästhetischen Moderne teilge-
nommen hat. Die Geschichte der populären Komödie, die um 1800 beginnt,
223
Stephan Kraft
funktioniert etwas anders als die Geschichten, die man gewöhnlich auf diese Jah-
reszahl zurückführt.
1
Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater. Kindermärchen in drei Akten mit Zwischen-
spielen, einem Prologe und Epiloge. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Hg. v. Mari-
anne Thalmann. Band II. München: Winkler 1963, S. 205-269, hier: Prolog, S.
211.
2
Vgl. dazu allgemein Horst Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück. Stuttgart:
Metzler 1969; Markus Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit 1780-1805. Pro-
duktion und Rezeption. Bonn: Bouvier 1982; zur europäischen Dimension vgl. A-
lois Wierlacher: Das bürgerliche Drama. In: Walter Hinck u.a.: Neues Handbuch
der Literaturwissenschaft. Band 1: Europäische Aufklärung. 1. Teil. Frankfurt/M.:
Athenaion 1974, S. 137-160.
3
Vgl. hierzu zuletzt Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaß-
theater im 18. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh 2003.
4
Oliver Goldsmith: She Stoops to Conquer. In: Ders.: Collected Works. Hg. v. Ar-
thur Friedman. Band 5. Oxford: University Press 1966, S. 87-217.
5
Der Barbier von Sevilla oder die nutzlose Vorsicht (1775), Der tolle Tag oder Figa-
ros Hochzeit (1784) und Ein zweiter Tartuffe oder die Schuld der Mutter (1792).
Vgl. Pierre Augustin Caron de Beaumarchais: Die Figaro-Trilogie. Übers. von Ger-
da Scheffel. Mit einem Nachwort von Norbert Miller. Frankfurt/M.: Insel 1976.
6
Vgl. immer noch Horst Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung. Stuttgart: Metz-
ler 1966; Hartmut von der Heyde: Die frühe deutsche Komödie Mitte 17. bis Mit-
te 18. Jahrhundert. Zu Struktur und gesellschaftlicher Rezeption. Frankfurt/M.,
Bern: Peter Lang 1982.
7
Vgl. dazu Johann Christoph Gottsched: Das XI. Capitel. Von Komödien oder
Lustspielen. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Joachim Birke, Brigitte Birke.
Band 6/2: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer besonderer Teil. Berlin,
New York: de Gruyter 1973, S. 337-360.
8
Tatsächlich ist es ja nicht so selten, dass selbst in der Verlachkomödie der komi-
schen Figur entweder Bewunderung für die Geschicklichkeit, mit der sie ihre Narr-
heit verteidigt, oder gar Mitleid zuteil wird. Letzteres zeigt beispielsweise die kon-
troverse Debatte des späten 18. Jahrhunderts um die Frage, ob Molière seinem Mi-
santhrope Unrecht getan habe, als er sich über seine übertriebene Aufrichtigkeit lu-
stig gemacht hat. Vgl. dazu Hartmut Köhler: Nachwort. In: Molière: Le Misan-
thrope / Der Menschenfeind. Französisch / Deutsch. Übers. und hg. von Hartmut
Köhler. Stuttgart: Reclam 1993, S. 223-236, hier: S. 224f.
9
Zur Person und zum Werk Ifflands vgl. Glaser: Rührstück (1969), S. 39-52; Alois
Wierlacher: Iffland. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und
224
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
Werk. Hg. v. Benno von Wiese. Berlin: Erich Schmidt 1977, S. 911-930; Sigrid
Salehi: August Wilhelm Ifflands dramatisches Werk. Versuch einer Neubewertung.
Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1990; vgl. speziell zu Ifflands Komödien Winfried
Hartkopf: August Wilhelm Iffland (1759-1814). Die Lustspiele. In: Literarische
Fundstücke. Festschrift für Manfred Windfuhr. Hg. v. Ariane Neuhaus-Koch u.
Gertrude Cepl-Kaufmann. Heidelberg: Winter 2002, S. 40-70. Der Aufsatz Hart-
kopfs geht allerdings kaum auf die Frage nach der Komik in den Komödien If-
flands ein.
10
Eine vergleichbare antagonistische Struktur findet sich auch in Stücken anderer Au-
toren der Zeit, etwa in den Mahlern (1783) von Joseph Marius von Babo. Vgl. Jo-
seph Marius Babo: Die Mahler. In: Ders.: Schauspiele. Erster Band. Berlin: Voss
1793, S. 177-216. Zur Person und zum Werk Babos vgl. Wilhelm Trappl: Josef
Marius von Babo. Sein literarisches Schaffen und seine Stellung in der Zeit. Diss.
Wien 1970, speziell zu den Mahlern vgl. ebd., S. 61-64.
11
August Wilhelm Iffland: Figaro in Deutschland. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen.
Berlin: Rottmann 1790. Vgl. hierzu auch Hartkopf: Iffland (2002), S. 52-57, und
Salehi: Werk (1990), S. 204-215.
12
Vgl. Salehi: Werk (1990), S. 206. Eher gelungen ist die Rolle des positiv-
komischen Intriganten in Heinrich Becks lebhaftem Unterhaltungsstück Die
Schachmaschine (1797). Vgl. Heinrich Beck: Die Schachmaschine. Berlin: Schade
1826, S. 1-116. Vgl. zur Person und zum Werk Becks, der 1796 Nachfolger If-
flands als Intendant des Nationaltheaters Mannheim wurde, Horst Hartmann:
»Moral war mein Augenmerk«. Der Schauspieler Heinrich Beck als Dramatiker. In:
Weimarer Beiträge 37 (1991), S. 527-540; Wolfgang Weismantel: Heinrich Beck.
In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walther Kil-
ly. Band 1. Gütersloh, München: Bertelsmann 1988, S. 370.
13
Zur Person und zum Werk Schröders vgl. Ludwig Tieck: Einleitung. In: Friedrich
Ludwig Schröder: Dramatische Werke. Hg. v. Eduard von Bülow. Band 1. Berlin:
Reimer 1831, S. III-LXXXII; Berthold Litzmann: Friedrich Ludwig Schröder. Ein
Beitrag zur deutschen Literatur- und Theatergeschichte. Erster und zweiter Theil.
Hamburg, Leipzig: Voß 1890/94; Ders.: Friedrich Ulrich Ludwig Schröder. In:
ADB. Band 32. Leipzig: Duncker und Humblot 1891, S. 506-512; Paul F. Hoff-
mann: Friedrich Ludwig Schröder als Dramaturg und Regisseur. Berlin: Gesell-
schaft für Theatergeschichte 1939; Glaser: Rührstück (1969), S. 12-21.
14
Vgl. dazu u.a. Helmut Arntzen: Die ernste Komödie. Das deutsche Lustspiel von
Lessing bis Kleist. München: Nymphenburger 1968, hier: Kap. IX: Die Komödie
als Ideologie: Schröder und Iffland, S. 113-124.
15
Als paradigmatisch gilt hier vor allem sein Bühnenerfolg Der Vetter in Lissabon
(1786). Vgl. Friedrich Ludwig Schröder: Der Vetter in Lissabon. In: Ders.: Werke.
Band 3 (1831), S. 59-100.
16
Vgl. dazu Else Pfenniger: Friedrich Ludwig Schröder als Bearbeiter englischer
Dramen. Diss. Zürich 1919, die insgesamt zehn Komödien mit englischen Vorla-
225
Stephan Kraft
gen ausgemacht hat, darunter auch Oliver Goldsmiths bereits erwähntes Stück She
Stoops to Conquer (1768). Vgl. Friedrich Ludwig Schröder: Irrthum auf allen Ek-
ken. In: Ders.: Werke, Band 3 (1831), S.1-58.
17
Friedrich Ludwig Schröder: Der Ring. In: Ders.: Werke. Band 2 (1831), S. 212-
284. Der Ring war vor allem in Wien, der Stadt der Uraufführung, ein großer Er-
folg. Auf die Premiere folgten noch insgesamt 105 weitere Aufführungen bis 1865.
Bis 1794 können Erstaufführungen in 15 weiteren Städten nachgewiesen werden.
Vgl. dazu die theatergeschichtliche Sammlung Oscar Fambach am Germanistischen
Seminar der Universität Bonn (unter dem Datum 1. Dezember 1795 = Erstauffüh-
rung des Stücks in Weimar unter der Direktion Goethes).
18
George Farquhar: The Constant Couple. In: The Works of George Farquhar. Hg.
v. Shirley Strum Kenny. Band 1. Oxford: University Press 1988, S. 113-233.
19
Pfenniger: Schröder (1919), S. 61.
20
In Farquhars The Constant Couple handelt es sich um die Szene II, 2.
21
Der anonyme Rezensent der Wiener Uraufführung spricht sich zustimmend aus,
berichtet aber auch von Missvergnügen im Publikum: »Die Satyre ist stark in die-
sem Lustspiele, aber treffend. Daher haben auch einige unsrer Damen und Cavalie-
re ein wenig die Nasen gerümpft. Der Graf Clingsberg, den Hr. Brockmann vor-
trefflich spielt, sagt unter andern ungefehr: ›Ich glaube, der Schein der Ehrbarkeit,
den sich dergleichen Mädchen geben, ist Ursache, daß einige unsrer Damen die
Ehrbarkeit ein wenig vernachläßigen, um nicht mit jenen in Parallele zu stehen.‹«
[Anonym:] Vom Wiener Theater. Aus einem Schreiben vom 12. Nov. 1783. In:
Litteratur und Theater Zeitung (Berlin: Wever) XLVIII (29. November 1783),
Band IV, S. 760. --- Auch in Hamburg fällt genau diese Szene besonders auf: »Und
dieses ganze Gemisch, worin Hr. Schröder in der Rolle des Grafen glänzt, macht
eine zwar etwas schlüpfrige, aber interessante Scene aus«. [Anonym:] Brief über das
Hamburger Theater. In: Journal aller Journale (Hamburg: Chaidron) 2 (Juni
1786), S. 360f. --- In Mannheim ist der Rezensent Trierweiler hingegen geradezu
empört: »Die Scene mit dem Grafen Klingsberg und der Fräulein von Darring,
scheint aus der verächtlichsten Klasse der Menschen genommen zu seyn, und ist so
äuserst unanständig, daß die Sittlichkeit sich dagegen empöret. Noch mehrere an-
dere Sachen sind in diesem Stücke, welche die Bescheidenheit zwar weniger belei-
digen, aber doch gegen den Wohlstand sind. Es soll eine Zeichnung der Sitten in
den grosen Städten Deutschlands seyn; welche sich so gar bis auf die Schilderung
gewisser lebenden Personen erstreckt. In diesem Fall hätte man aber besser gethan,
dieses Stück dem Orte eigenthümlich zu lassen, wo es entstanden ist. Auf unserer
Bühne und für unser Publikum sind die Farben zu grell aufgetragen --- und das Un-
anständige übertrifft das Anziehende in diesem Stück«. In: Tagebuch der Mann-
heimer Schaubühne (Mannheim: o.V.) 2/9 (1787), S. 137f. Vgl. dazu nochmals die
Sammlung Oscar Fambach.
22
Else Pfenniger, die die glättende Bearbeitung Schröders ansonsten in allen Punkten
gutheißt, hält die Zeichnung dieser Figur erwartungsgemäß weiterhin für etwas
226
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
227
Stephan Kraft
33
Vgl. Anm. 17. Bis 1874 erreichte es allein dort 141 Aufführungen. Vgl. den Kom-
mentar von Jürg Mathes. In: Kotzebue: Schauspiele (1972), S. 572.
34
August von Kotzebue: Der Rehbock. In: Ders.: Schauspiele (1972), S. 467-524.
Diese sehr späte Komödie Kotzebues ist sein einziges Stück, das in der Opernfas-
sung von Albert Lortzing als Der Wildschütz (1842) noch heute auf der Bühne prä-
sent ist. Vgl. zum Stück Maurer: August von Kotzebue (1979), S. 120-124.
35
Der bereits zeitgenössische topische Vorwurf an Kotzebue, seine Stücke seien im
Kern unmoralisch, hat hier einen seiner Ursprünge. Vgl. Frithjof Stock: Kotzebue
im literarischen Leben der Goethezeit. Polemik --- Kritik --- Publikum. Düsseldorf:
Bertelsmann Universitätsverlag 1971, hier v.a.: Kapitel V: Kotzebues ›Unmoral‹, S.
73-111. Der enge Konnex zwischen einem Wiederaufleben der Lachkomödie und
dem Aufbrechen starrer Moralkonventionen auf der Bühne, um den es mir hier
insgesamt geht, wird übrigens auch von Glaser indirekt dadurch bestätigt, dass er in
seinen Ausführungen zu Iffland und Schröder ausschließlich auf Rührstücke im en-
geren Sinne rekurriert, bei Kotzebue aber, an dem er die Ironisierung und Unter-
wanderung dieses Moralparadigmas zu zeigen versucht, auch auf die Komödien zu-
rückgreift. Vgl.: Glaser: Rührstück (1969).
36
Vgl. etwa Glaser: Rührstück (1969), S. 15 u. 24.
37
Nicht zufällig stellt Volker Klotz mit den Deutschen Kleinstädtern ein Stück Kot-
zebues an den Anfang seiner Studie zum bürgerlichen Lachtheater. Vgl. Volker
Klotz: Bürgerliches Lachtheater. Komödie --- Posse --- Schwank --- Operette. Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt 1987, S. 20-29.
38
Als ein wichtiges Beispiel sei hier Die spanische Fliege (1913) von Franz Arnold
und Ernst Bach genannt. Bekannter als derartige Stücke selbst dürften allerdings
heute die Parodien auf dieses Genre sein, etwa Ludwig Thomas Lustspiel Moral
(1908) oder die Komödien Carl Sternheims aus der Reihe Aus dem bürgerlichen
Heldenleben. Vgl. Franz Arnold, Ernst Bach: Die spanische Fliege. In: Bühnen-
schwänke: Der Raub der Sabinerinnen, Pension Schöller, Die spanische Fliege. Hg.
v. Helmut Schmiedt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 195-270.
Vgl. Ludwig Thoma: Moral. In: Ders.: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Erwei-
terte Neuausgabe. Band 2. München: Piper 1968, S. 313-383. Vgl. zu Sternheim
etwa Die Hose (1911), Bürger Schippel (1913) oder Der Snob (1914) in: Carl
Sternheim: Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Komödien. Schauspiele. In: Ders.:
Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hg. v. Fritz Hofmann. Band 2. Neuwied:
Luchterhand 1962, S. 5-82, S. 153-213, S. 215-269.
39
Zu Person und Werk Steigenteschs vgl. Wilhelm Eilers: August von Steigentesch,
ein deutscher Lustspieldichter. Leipzig, Halle: John 1905; Cornelia Fischer: August
Ernst Frhr. von Steigentesch. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher
Sprache. Hg. v. Walther Killy Band 11. Gütersloh, München: Bertelsmann 1991,
S. 150f.
40
Hier zitiert nach August von Steigentesch: Bemerkungen über das Lustspiel. In:
Ders.: Lustspiele. Erster Theil. Leipzig: Göschen 1813, S. 1-46. Im Folgenden zi-
228
Identifikatorisches Verlachen --- distanziertes Mitlachen
tiert mit der Sigle BL. Ein Nukleus dieser Theorie findet sich auch bereits in Au-
gust von Steigentesch: Vorrede. In: Ders.: Dramatische Versuche. Osnabrück: Karl
1798, S. V-XIII. Vgl. zu den Bemerkungen Eilers: Steigentesch (1905), S. 32-40.
41
»Aber das Lustspiel darf sich nie von seinem Zweck entfernen, die heitere Seite des
Lebens darzustellen; die Personen, die in ihm auftreten, müssen fröhlich erscheinen
und verschwinden; [...] und kein Ausdruck des Schmerzes und der Wehmuth darf
diesen Eindruck stören«. (BL 4f.)
42
Vgl. BL 28f. Auf S. 30 resümiert er: »Gewiß ist es indessen, daß auf der englischen
Bühne Darstellungen öffentlicher Örter vorkommen, die man in guten Gesellschaf-
ten nicht nennt, und daß die Schüchternheit über die Handlung mancher ihrer
Stücke erröthen kann. Aber noch lebt der wirkliche Geist des Lustspiels dort, wie er
bei seiner Entstehung erschien, und alle seine Fehler können nie die Kraft vermin-
dern, mit der die Fröhlichkeit in starken, oft unverhältnißmäßigen Umrissen, aber
immer erheiternd, die Scene belebt«.
43
Vgl. bereits Anm. 27. Vgl. dazu Eilers: Steigentesch (1905), S. 97f.
44
Bereits Schröders Ring hatte ja hier seine Uraufführung und seine größten Erfolge.
45
Das Problem, wie sich von außen erkennen lässt, ob ein Paar verheiratet ist oder
nicht (vor allem natürlich an Nachlässigkeiten im Umgang miteinander), bildet
den Schwerpunkt einer anderen Komödie Steigenteschs. Vgl. August von Steigen-
tesch: Die Zeichen der Ehe. In: Ders.: Lustspiele (1813), S. 47-152. Vgl. dazu Ei-
lers: Steigentesch (1905), S. 98f.
46
Oscar Wildes Stücke mit ihrer extremen Vorliebe für paradoxes Sprechen mögen
dazu als Musterbeispiele dienen.
47
Zu Person und Werk von Voß vgl. Georg Ellinger: Einleitung. In: Julius von Voß:
Faust. Hg. v. dems. Berlin: Paetel 1890, S. V-XXXVI; Johannes Hahn: Julius von
Voß. Berlin: Mayer & Müller 1910; Leif Ludwig Albertsen: Die Eintagsliteratur in
der Goethezeit. Proben aus den Werken von Julius von Voß. Mit einer Einleitung
von Leif Ludwig Albertsen. Frankfurt/M., Bern: Peter Lang 1975, hier: S. 9-229.
48
Vgl. Julius von Voß: Der travestierte Nathan der Weise (1804). Stuttgart: Scheible
1856; [Julius von Voß:] Die travestierte Jungfrau von Orleans. Berlin 1805; Julius
von Voß: Faust (1823). Hg. v. Georg Ellinger. Berlin: Paetel 1890.
49
Julius von Voß: Die Musen im Kriege. Ein traurig Lustspiel in zwei Akten. Tri-
umph der Schreibewuth. Ein lustig Trauerspiel. In: Ders.: Farcen der Zeit. Berlin:
Weiß 1808, Einzelpaginierung.
50
Hahn wie Ellinger beharren darauf, dass Voß in erster Linie als Aufklärer zu verste-
hen sei. Vgl. Hahn: Voß (1910), S. 1, und Ellinger: Einleitung (1890), S. VIII.
51
Julius von Voß: Vorrede. In: Ders.: Lustspiele. Band 1. Berlin: Schmidt 1807, S. I-
VI, hier: S. VI.
52
Hahn: Voß (1910), S. 175.
53
Julius von Voß: Die Liebe im Zuchthause (1807). Reprint in: Albertsen: Eintagsli-
teratur (1975), nach S. 229. Vgl. hierzu auch Albertsen: Eintagsliteratur (1975), S.
161-165; Hahn: Voß (1910), S. 157f.
229
Claude D. Conter
August Klingemanns Theaterreform
Zur Bedeutung Schillers und der Frühromantik für die
Neubegründung des Unterhaltungsdramas um 1800
August Klingemann ist zwar ein Außenseiter des Jenaer Kreises, doch sind
es die ästhetischen Vorstellungen der Frühromantiker, an denen der
Braunschweiger Dichter seine Vorstellung zur Neubegründung des Schau-
spiels orientiert. Seine Kritik an den Rührstücken Kotzebues und den Fa-
miliengemälden Ifflands motivieren ihn zu einer Reform des Schauspiels
und des Theaters, die er auf der Grundlage der Schillerschen Ästhetik und
der romantischen Poesiekonzeption ausführt. Mit dem Schauspiel
Selbstbewußtseyn konkretisiert Klingemann seine Reform, indem er das
Unterhaltungsstück entlang der frühidealistischen Ästhetik revitalisiert.
gramms mit Rühr- und Ritterspielen. Bezeichnend ist, dass sein dramatisches De-
büt Ahnenstolz das literarische Vorbild im Untertitel ausdrücklich mit dem Ver-
merk »nach Cramer« nannte und damit dem Unterhaltungsschriftsteller Carl Gott-
lob Cramer seine Reverenz erwies.2 Mit dem zweibändigen Roman Wildgraf E-
ckard von der Wölpe (1794) eiferte er besonders der publikumswirksamen Ritter-
mode3 nach. Auch an die schon verhallende Erfolgsgeschichte der Stürmer und
Dränger suchte er noch einmal Anschluss, als er 1797 die Tragödie Die Maske ver-
fasste, in der es um einen Bruderzwist, eine frühzeitig aufgedeckte Verschwörung
und einen niedergeschlagenen Aufruhr gegen den Thron geht und in dem der Au-
tor, der im selben Jahr eine Abhandlung über Leisewitzens Julius von Tarent und
Klingers Zwillinge schrieb, mehrere Zitate und Wendungen aus Schillers, Leisewit-
zens und Klingers Dramen aufnahm. Das Stück wurde vom Weimarer Biblio-
theksbeamten und Dramaturgen an Goethes Theater Christian August Vulpius zur
Aufführung vorgeschlagen und am 8. September 1797 in Rudolstadt als Gastspiel
des Weimarer Hoftheaters mit der Hoffnung uraufgeführt,4 es möge auch wegen
Motivähnlichkeiten zu den Dramen der Stürmer und Dränger erfolgreich sein.5
Klingemann war demnach als Zuschauer und beginnender Autor bestens mit
dem Repertoire des Unterhaltungstheaters wie den Klassikern des deutschsprachi-
gen Theaters des 18. Jahrhunderts vertraut. Er schulte zugleich seine eigenen
Formtechniken daran. Für den jungen Autor bedeutete die sich an den Stücken
des Sturm-und-Drangs anschließende Mode der Ritterliteratur aber natürlich auch
die Möglichkeit, sich im literarischen Feld zu positionieren, waren doch Julius von
Soden mit Ignez de Castro (1791) oder Friedrich Gustav Hagemann mit Otto der
Schütz, Prinz von Hessen (1792) auch nach der konjunkturellen Hochphase der
Ritterspiele in den 1780er Jahren immer noch erfolgreich. Klingemann wurde sich
der Schwächen rigider Strukturmuster allerdings zunehmend bewusst und, was bis-
lang kaum zur Kenntnis genommen wurde, suchte Anregungen, wie das Theater
zu erneuern sei. Vor allem auf Grund des Kontakts mit dem frühromantischen
Kreis entwickelte August Klingemann seine Kritik am Unterhaltungstheater,6 die
schließlich in eine Neukonzeptualisierung des Dramas mündete. Insbesondere in
den Jahren 1798 bis 1805 arbeitete er intensiv an einer Synthese des erfolgreichen
Unterhaltungsdramas mit den frühromantischen Poesievorstellungen,7 indem er
einerseits die konventionellen Muster des Rührstücks variierend aufnahm und die
Schlegelschen Vorstellungen der romantischen Komödie sowie Schillers ästhetische
Ideen in seine Konzeption des neuen Schauspiels integrierte, um ein romantisches
Unterhaltungsdrama zu entwerfen.
231
Claude D. Conter
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August Klingemanns Theaterreform
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August Klingemanns Theaterreform
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Claude D. Conter
menlegte. Kotzebue hatte die erste Nummer seiner Zeitschrift am 3. Januar 1803
literaturpolitisch mit dem Preisausschreiben eines Lustspiels eröffnet,29 um den
Nachwuchs für die Fronde des Unterhaltungstheaters gegen die Romantiker zu
fördern. Der Freimüthige war somit geradezu ein Werbeblatt für die Rühr- und
Familienstücke von Kotzebue, Iffland und Johanna von Weißenthurm sowie ein
Forum der persönlichen Auseinandersetzungen mit literarischen Feinden, bei de-
nen man auch vor Invektiven gegen Goethe nicht zurückschreckte. Ihr waren ent-
gegengesetzt die Allgemeine Literaturzeitung,30 für die auch Klingemann schrieb,
und die Zeitung für die elegante Welt, die sich vor allem für die Romantiker und
Goethe einsetzte. Die in Klingemanns Titel erwähnten »Expektorationen« bezie-
hen sich auf ein gleichnamiges, Kotzebue zugeschriebenes, gegen Goethe und die
Romantiker gerichtetes Pamphlet.
Die Kritik an Kotzebue und Merkel offenbart sich in Klingemanns Literatursa-
tire Freimüthigkeiten auch dort, wo die auftretenden lächerlichen Autoren Hilarius
und Theobald für jeden Zuschauer und Leser erkennbar auf die Unterhaltungsin-
dustrie zurückgeführt werden können. Klingemann lässt Theobald alias Garlieb
Merkel sich selbst vorstellen und erinnert zugleich an dessen berüchtigte Polemik
gegen den Gebrauch des Reims in Schillers Dramen: »Ach ich habe die Prosa gar
lieb, merke auch, dass ich ganz für sie geschaffen bin.«31 Hilarius seinerseits kennt
das Koetzebuesche Oeuvre in- und auswendig, preist den Erfolgsdramatiker als be-
deutendsten Dichter und bekennt frei: »Ohne Komplimente, ich liebe die Frei-
müthigkeit!« (F 83) Theobald rühmt ihn »unser berühmtester Dichter [der] einen
Preis von 100 Friedrichsd’oren auf das beste Lustspiel gesetzt« (F 74) habe.
Was Klingemann zu dieser dezidierten Parteinahme gegen Kotzebue und Mer-
kel bewog, ist bislang in der Forschung nicht erörtert worden. Dass es sich um eine
marktstrategische Maßnahme, vergleichbar seiner vorausgehenden Adaption er-
folgreicher Stücke der Stürmer-und-Dränger, handeln sollte, ist wenig überzeu-
gend. Denn Klingemann hat während seiner Jenaer Zeit von 1798 bis 1801 zwar
Zugang zum frühromantischen Kreis gehabt, doch hielten sich nicht nur Schlegel,
Schleiermacher, Fichte und Novalis ihm gegenüber bedeckt, sondern er selbst blieb
auf Distanz gegenüber dem eingeschworenen Kreis, nicht zuletzt wegen dessen
Vorbehalten gegenüber Schiller, den Klingemann seinerseits verehrte und als Aus-
gangspunkt einer Theaterreform für unabdingbar hielt. Nach Klingemanns Rück-
kehr Ende 1801 nach Braunschweig gab es zudem 1803 und 1804 keine Notwen-
digkeit für ihn, sich dieser Schriftstellergruppierung anzuschließen, zumal diese
sich nach dem Tode von Novalis 1801, nach dem literarischen Verstummen von
Ludwig Tieck 1804 und nach Friedrich Schlegels desaströsem Frankreich-
Aufenthalt stärker von einer --- literatursoziologisch betrachtet --- den literarischen
236
August Klingemanns Theaterreform
237
Claude D. Conter
[Die Poesie] durfte sich gar nicht mehr ins Blaue versteigen wollen, sondern
mußte fein ordentlich auf der Erde gehen und stehen lernen, sich der Ökono-
mie befleißigen und sich in der Familie anständig betragen, die Moral des Ta-
ges auswendig lernen und besonders recht klug und gar nicht überspannt re-
den. Da erhielten wir nun von allen Seiten verständige poetische Schauspiele,
Romane, in denen es wie in kleinen Städten zuging, wo der Nachbar sich vom
Nachbar erzählt, und mitunter auch etwas Rührendes fürs Haus.35
Die Rührstücke und Familiengemälde bewertet Klingemann als der Vernunft ver-
pflichtete Stücke, die den bürgerlichen Mittelschichten nützlichen Moralvorstel-
lungen dienen und so die der Poesie inhärente Zweckfreiheit aufgeben würden.36
Dass Theobald alias Merkel in der Literatursatire Freimüthigkeiten Apoll, den an-
tiken Gott der Poesie, kurzzeitig zum Bürger erzieht, indem er ihn von seiner Ge-
wohnheit kuriert, in jambischen Trimetern zu sprechen, bringt Klingemanns Kri-
tik von der letztlich verarmten, entzauberten bürgerlichen, dem Utilitarismus und
der Ökonomie verpflichteten Welt mahnend zum Ausdruck. Zugleich kritisiert er
die Erwartungshaltung des Publikums an das Theater, wenn er in der Satire den
Zuschauer Markus lauthals fordern lässt: »Corrigere mores! Sittenverbesserung,
Sittenverbesserung wollen wir: moralische Streiche und Stöße« (F 23). Eine solche
Erwartung reduziere das Theater als Ort der Poesie auf eine Anstalt öffentlicher
Lebensbewältigung.
Klingemann befindet die Auffassung der Bühne als Sittenschule der Nation für
historisch überwunden; lediglich für Lessing und seine Zeitgenossen lässt er diese
Vorstellung gelten, da sie zu jenem Zeitpunkt als eine »Schutzrede« gedacht gewe-
sen sei, Schauspieler und Autoren vor der sozialen Ächtung verteidigen zu wollen.
Ansonsten gelte: »Das Theater ist keine Sittenschule«37. In diesem Kontext setzt
sich Klingemann in Was für Grundsätze müssen eine Theaterdirektion bei der
Auswahl der aufzuführenden Stücke leiten mit Iffland auseinander, der den An-
spruch gehabt habe, mit seinen Stücken moralisch zu wirken:
Ifland hat uns nicht weniger als einen Sittenspiegel in seinen Schauspielen auf-
gestellt, so sehr auch das Gegentheil beim ersten Anblick zu erhellen scheinen
mögte. Auf das Prädikat eines moralischen Schriftstellers kann nur derjenige
gerechten Anspruch machen, der jede Handlung mit der andern in das gehöri-
ge Gleichgewicht zu setzen sucht, und stets den einmal als recht befundenen
Gesetzen treu bleibt. Eine Sittenlehre, die nach den entgegengesetzten Grund-
sätzen ausgeführt wäre, würde inkonsequent und widersprechend genannt
werden müssen. Nun wünschte ich aber, daß jemand den Versuch anstellen
möchte, die Iflandschen Schauspiele in dieser Rücksicht als Ganzes zusammen
zu stellen, und daraus gültige Grundsätze für die Moralität herzuleiten; es
würde dann ohne Zweifel das Lächerliche seines Unternehmens ihm klar wer-
238
August Klingemanns Theaterreform
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Claude D. Conter
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August Klingemanns Theaterreform
einen sozialen Kontext, auf eine Verbesserung der Sitten, eine Veränderung fehler-
hafter Verhaltensweisen oder auf die Besserung und Vervollkommnung morali-
scher und sozialer Tugenden, sondern allein auf eine ästhetische Erziehung.
Dem neuen Theater wies er die Aufgabe der reinen Freude oder des reinen
Vergnügens zu: »Reine Freude soll das Theater befördern«, es sei »dem Vergnügen
geweiht« (F 12). Reines Wohlgefallen müsse das Theaterstück bewirken, dort wo
dies nicht gewährleistet sei, wirke wie in den Rührstücken, deren Rezeptionsver-
ständnis auf Erfahrung beruhe, die Moral hinein. Die reine Freude wäre indes
dann getrübt. Freude ist nun jenes zentrale anthropologische Begründungsmo-
ment, das Friedrich Schlegel als grundlegende Erfahrung des Schönen in der Ab-
handlung Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie beschrieben hatte41
und das auch bereits Kant unterstrichen hatte. Im Mittelpunkt des neuen Schau-
spiels bei Klingemann steht kein moralischer, sondern ein »schöner Karakter«, der
»völlig mit sich eins« (G 14) ist und Pflicht und Neigung nicht trennt:
Dem Vergnügen ist diese Stätte geweihet; --- aber erst, indem es sich den Be-
dingungen des Schönen unterwirft, mag sich das Vergnügen veredeln, und ein
höherer Geist wird es umschweben. […] Das Schöne selbst ist der Gegenstand
der reinsten Freude, und (um den Ausdruck der Schule beizubehalten) eines
uninteressierten Wohlgefallens, d.h. eines solchen, das durch keine Nebenab-
sicht bedingt ist, und auf keiner Weise in unser Begehrungsvermögen eingreift.
(G 15f.)
Klingemann positioniert sich in seiner theaterpraktischen Abhandlung, in der er
seine Reform begründet, ohne Umschweife innerhalb der idealistischen Ästhetik,
die er als Ausweg aus der aufklärerischen Poetik begreift. Interesselos meint hier,
dass sich mit dem Schönen kein materielles Interesse verbinden dürfe. Die Freude
am Schönen sei rein, die Freude am Moralischen hingegen führe wieder der Wirk-
lichkeit zu, wodurch ein Zweck erkennbar würde: »Die Moral sucht den entarteten
Menschen dem Gesetze zu unterwerfen; die Schönheit will ihn nicht bessern, weil
sie sich gar keinen Zwecken unterwirft; aber sie stellt ihn sich selbst als harmonisch
in der Erscheinung entgegen, und strahlt ein Bild aus dem goldenen Zeitalter der
Unschuld zurück.« (G 17) Klingemann suchte nichts Geringeres als Wege für eine
praktische Umsetzung von Schillers ästhetischen Schriften auf die Bühne: Die Stü-
cke sollten das Kunstverständnis fördern, und nicht Muster sozialen Verhaltens
oder Unterhaltung sein. Familiengemälde, Rührstücke, aber auch antike Tragödien
allerdings boten keine adäquaten Dramenmittel, eine solche ästhetische Erziehung
zu befördern.
Da das zeitgenössische Unterhaltungstheater die Wirkung der reinen Freude
nicht zu erfüllen vermochte, sondern mit »überhäufte[r] Vervielfältigung des Ge-
241
Claude D. Conter
schmacklosen und Gemeinen« »den Eckel« auf den »sichersten Wege«42 führe, ver-
suchte sich Klingemann an der Reform des Schauspiels, das an jenen Dichtern ge-
schult sein sollte, die zugleich eine literaturgeschichtliche Legitimation des inten-
dierten Paradigmenwechsels darstellen: Aristophanes, Shakespeare und Schiller ---
die Gewährsdichter für eine Reform des Theaters
Aristophanes gehörte zu jenen Dichtern, deren Werke im frühromantischen
Kreis wiederentdeckt wurden. Bereits 1793 plante Friedrich Schlegel eine Apologie
des Aristophanes und verfasste ein Jahr später seine Abhandlung Vom ästhetischen
Werte der griechischen Komödie. Für Friedrich Schlegel kommt in der griechi-
schen Komödie im Sinne einer Darstellung des öffentlichen Lebens die Freiheit
zum Ausdruck, insofern sie sich auf das gesellige Leben bezieht. Was ihn in den
Komödien Aristophanes’ überzeugte, war die Aufhebung der Täuschung, auf deren
Prinzip das Unterhaltungsstück die Vermittlung moralischer Lehren gründete. In-
dem das Rührstück vom wirkungsästhetischen Grundsatz her auf die Erschütte-
rung zielt, welche den Zuschauer erst für moralische Erkenntnisse zugänglich ma-
che, setzt es Täuschung voraus.43 Die Aufhebung der Täuschung hingegen würde
nach Ansicht von Schlegel und Klingemann erst einen Erkenntnisprozess beim Zu-
schauer in Gang setzen. Schlegel sah in der von ihm als Parekbase bezeichneten Pa-
rabase, einer Rede, die in der Mitte des Stücks vom Chor im Namen des Dichters
an das Volk gehalten wurde,44 ein wirkungsvolles Mittel, Täuschungen und Illu-
sionen zu durchbrechen:
Ja, es war eine gänzliche Unterbrechung und Aufhebung des Stückes, in wel-
cher, wie in diesem, die größte Zügellosigkeit herrschte und dem Volk von
dem bis an die äußerste Grenze des Proszeniums heraustretenden Chor die
größten Grobheiten gesagt wurden.45
Aristophanes gilt Schlegel dann auch als Begründer der romantischen Ironie, der
»permanente[n] Parekbase«46, deren Prinzip der Reflexion und der Selbstaufhe-
bung jegliche Erkenntnis erschüttert. Die Funktion der Parabase übernahm im
Drama um 1800 das Spiel-im-Spiel, das in Zwischenspielen oder in der Verdoppe-
lung der Theaterbühne die Illusion aufhob und in den Reflexionen über die unter-
schiedlichen Wirkungskonzepte des Dramas eine auf Handlung konzentrierte
Vermittlung moralischer Lehrsätze zerstörte. Was Ludwig Tieck im Gestiefelten
Kater oder im Prinzen Zerbino exemplifizierte, was Clemens Brentano in seiner
Kotzebue-Parodie Gustav Wasa illustrierte, was August Wilhelm Schlegel im satiri-
schen Pasquill Ehrenporte und Triumphbogen für den Theater-Präsidenten von
Kotzebue vorgemacht hatte, wandte Klingemann in den Freimüthigkeiten eben-
falls an. Vermeintliche Regellosigkeit, zumindest im handwerklichen Sinne, erweist
242
August Klingemanns Theaterreform
sich als Ideal der romantischen Komödie, weil sie, so Friedrich Schlegels Auffas-
sung, eine offenbare Störung von Publikumserwartungen erwirkt:
Diese eigentümliche Einheit der Komödie entspricht vollkommen dem Inhalt
derselben, wo alles, also auch die Handlung selbst, Witz, Scherz und Spiel ist,
eine Handlung, die ohne allen Zweck und alle Absicht sich in sich selbst auf-
löst, durchaus unsinnig, närrisch und possenhaft ist. Eben diese Regellosigkeit,
Formlosigkeit, Wildheit und absolute Willkürlichkeit der Handlung ist die
schönste und beste Form der Komödie.47
Die Aufhebung der Täuschung durch gezielte Desillusionierung erreicht der ro-
mantische Dichter laut dieser Vorstellung, indem er die Mittel der Täuschung zum
Thema des Stückes macht. Eine parabatische Funktion der Illusionsdurchbrechung
übernimmt in Klingemanns Literatursatire Freimüthigkeiten jene dramentheoreti-
sche Debatte, welche die Zuschauer48 über die zu erwartende Wirkung des Rühr-
stücks führen. Denn in Klingemanns Stück gehört das (vermeintliche) Publikum
bereits zum Figurenarsenal des Spiel-im-Spiels, insofern es zwischen den Akten des
angeblich vorgeführten (aber in Wirklichkeit aufgrund zahlreicher Pannen zum
Improvisationstheater verkommenen) Rührstücks das Vorgeführte heftig disku-
tiert. In den Zwischenakten führt Klingemann die Publikumserwartungen einer
Mittelschicht vor und bedient sich dabei eines Arlequins, der sich eingeschlichen
hat und dessen (unerwartete) Reaktionen die gängige Wirkung irritieren. Die Zu-
schauer wünschen Rührung und deuten vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Er-
fahrungen ungewöhnliche Bühnengeschehnisse wie den Mord im ersten Aufzug
oder Improvisationen als Verstärkung und Bekräftigung der Täuschung zum Zwe-
cke der Rührung.
Mit dem als Arlequin verkleideten Hanswurst, der sich unter die Zuschauer
mischt, führt Klingemann jene Figur ein, die sich den anderen Zuschauern als Hy-
perboräer zu erkennen gibt und das Prinzip der Parabase darstellt. Wie die Hyper-
boräer, die »alles im verkehrten Verhältnisse« (F 18) treiben, verwirrt er die Zu-
schauer derart, dass sie wegen der ununterbrochenen Reflexion über das Darge-
stellte der Rührung abspenstig zu werden drohen. Der Arlequin ist auch dafür ver-
antwortlich, dass die Zuschauer auf der Reflektionsebene Kritik im Sinne der früh-
romantischen Poetik üben.49 So erstaunt selbst der Zuschauer Tobias über die Irri-
tationen: »Die Augen sind uns gleichsam wider Willen geöffnet, und manche
schöne Täuschung ist dadurch verschwunden.« (F 50f.) Tatsächlich entwickelt sich
das vorgeführte Stück nach dem Modell eines Kotzebueschen Rührstückes zuse-
hends zu einem romantischen Spiel-im-Spiel, da durch einen raschen Wechsel der
Fiktionsebenen, Improvisationen der Schauspieler und dem Hineinwirken mytho-
logischer Gestalten, die Fiktionalität potenziert wird und ein großes ›Unzusam-
243
Claude D. Conter
244
August Klingemanns Theaterreform
245
Claude D. Conter
Die Ästhetik selbst ist demnach verhandelbar geworden, und die Verstöße ge-
gen die Poetiken der Aufklärung sind keineswegs provokante Spielereien, Bekun-
dungen ästhetischer Positionen im Dichterstreit zwischen den Romantikern und
Kotzebue, sondern nicht zuletzt auch Ausdruck des
Kontingenzbewußtseins[,] einer Skepsis gegenüber geltenden Sinnsetzungen,
insbesondere gegenüber dem Anspruch einer nach den Regeln der Wahr-
scheinlichkeit und des guten Geschmacks gefügten Kunst, dass sie der wahren
Ordnung des Wirklichen entspreche und dadurch der Sittenbildung dienen
könne56.
Bei Klingemann wünschen sich die Zuschauer, welche die Namen der Evangelisten
tragen, Rührstücke von Kotzebue, von denen sie Erlösung und sittliche Erneue-
rung erhoffen. Deren Publikumserwartung zielt auf die Bestätigung eines aufkläre-
rischen Programms, das mit Vernunft, Humanität und sittlichem Fortschritt zu
beschreiben wäre. Eben die Identifizierung des Unterhaltungsstückes à la Kotzebue
mit der Aufklärung gibt der Literatursatire eine weiterführende Bedeutung. Der
Zweifel am aufklärerischen Programm ist beeinflusst von der Überzeugung an die
Degeneration einer aufklärerischen Ordnung. Dies wird auch am Zuschauer na-
mens Bonifatius erkennbar, dessen explizite intertextuelle Verweisstruktur die Kri-
tik Klingemanns verdeutlicht. Ausgerechnet Bonifatius, der lediglich im ersten
Zwischenspiel als Bewunderer der Kotzebueschen Stücke auftaucht, trägt densel-
ben Namen wie jene Figur, die im Prolog von Ludwig Tiecks 1799 im Jenaer Kreis
entstandenem Trauerspiel Leben und Tod der heiligen Genoveva in das Spiel ein-
führt, die Kritik der Frühromantiker an der Aufklärung formuliert und zugleich
eine Erneuerung von religiöser und ästhetischer Erfüllung in einer Neuen Mytho-
logie proklamiert.
246
August Klingemanns Theaterreform
der Seele zurück[lässt], der dauert, und der selbst dann noch ganz bestimmt vor
unserem Gemüthe schwebt, wenn schon die Zusammensetzung des Werks nicht
mehr deutlich in unserer Erinnerung ist.« (G 32) Unter diesen Voraussetzungen
sind Schauspiele, denen das wirkungsästhetische Prinzip der Illusion zugrunde
liegt, wenig erfolgreich. Die an Schiller, Shakespeare und Aristophanes geschulten
Stücke wie etwa die Freimütigkeiten vermögen zwar, die Täuschung durch Refle-
xion und Kritik aufzuheben, den diesen Autoren verpflichtete frühromantische
Komödie fehlte zur Reform des Theaters allerdings eine entscheidende Prämisse:
der Publikumserfolg. Nicht zuletzt die persönliche Ausrichtung der frühromanti-
schen Literatursatiren erwies sich als untauglich für eine ästhetische Erziehung.
Zudem bemängelte Klingemann bereits 1800 die Eingrenzung auf die Lustspiel-
tradition und machte sich zum Fürsprecher von Trauerspielen, insbesondere in der
Abhandlung Ueber die romantische Tragödie (1808). Sich stärker auf Shakespeare
berufend und vor allem den Erfolg der zeitgenössischen Schauspiele und der Ver-
bindung von Elementen aus dem Trauer- und dem Lustspiel vor Augen, suchte er
nach einer dramatischen Form, die eine Synthese ermöglichte.
Mit dem 1798 entstandenen und 1800 erschienenen Schauspiel Selbstgefühl
legte August Klingemann seinen Versuch eines neuen Schauspiels dar, das an früh-
romantische Poesievorstellungen anschließt und dezidiert gegen das Unterhal-
tungsstück gerichtet ist.59 Bereits die unübliche Gattungsbezeichnung ›Karakter-
gemälde‹ zeigt den Gegenentwurf zum Unterhaltungsstück an, verweigert er doch
die Bezeichnung des Familiengemäldes und ersetzt es durch jenen Begriff, der seit
der Shakespeare-Rezeption ab 1761,60 als Wieland Popes Vorrede zu Shakespeare
übersetzte, zum Kern des modernen Schauspiels wurde: der Charakter. Er wurde
zugleich auch als Original und als Natur verstanden und bezog sich, wie in Goe-
thes Rede Zum Schäkespears Tag (1771), Herders Shakespear (1773) oder Wie-
lands Der Geist Shakespeares (1773) oder Jakob Michael Reinhold Lenz’ Anmer-
kungen übers Theater (1774) auf die Individualität des Einzelschicksals im Gegen-
satz zur Regelhaftigkeit und zur Typisierung der Figuren in den an französischen
Mustern orientierten Dramen. Klingemann stellt damit eine Verbindung zum
Drama des Sturm-und-Drangs her und evoziert mit der neologistischen Gattungs-
bezeichnung zugleich Strukturen des Familiengemäldes. Folgerichtig stellt er sei-
nem Stück ein programmatisches Vorwort voran, in dem er Stellung zum aktuellen
Diskurs über die Literatur bezieht und dabei zentrale Positionen der Frühromanti-
ker wiederholt:
Diese Dichtungsart [das eigene Stück] ist ein reines Produkt des modernen
Kunstcharakters und ein Nebenzweig des Romans, dessen Tendenz nur eine
247
Claude D. Conter
höhere Universalität ist, die hier wegen der strengen Forderungen der dramati-
schen Form, nothwendig beschränkter erscheinen muß.61
Wie auch Friedrich Schlegel und Novalis begreift Klingemann das Drama als Ab-
wandlung des Romans, der Universalpoesie. Doch bereits in der Folge erschöpft
Klingemann seine poetologische Bestimmung nicht in der frühromantischen Spe-
kulation, sondern konkretisiert seine Überlegungen auf der Folie des Unterhal-
tungstheaters. So warnt er, seine Kritik am Wirklichkeitsbegriff des Rührstücks
aufgreifend, davor, das Schauspiel nicht nach »Kopistengeschicklichkeit« zu ent-
werten, wonach »das Leben im todten Bilde« wiedergegeben würde, vielmehr müs-
se dem Einzelnen und Konkreten »durch eine idealische Zusammenstellung […]
ein allgemeiner Werth zugesichert« werden.
Daraus folgert er, dass ein Schauspiel sich eben dadurch auszeichne, dass es im
Wesentlichen auf einen erkennbaren Realitätsbezug verzichte62 und keine »rauen
und verunstalteten Auswüchse[n]« darbiete --- ein Gedanke, den Schlegel für kon-
stitutiv für das romantische Drama hält.63 Klingemann wertet so zugleich die Phan-
tasie als Wahrnehmungsmedium gegenüber der aufklärerischen Aisthesis auf, wel-
che stärker auf die Präsenz der Dinge angewiesen ist als dies Klingemann für die
Poesie fordert. Er will vor allem eine Aufhebung der traditionellen Formen des
Lustspiels und der Tragödie. Diese im Unterhaltungsdrama auch in Rücksicht auf
das Publikum vorgenommene Trennung von Lust- und Trauerspiel, gedenkt er
aufgeben:
Es kann, wie der Roman, mit Ernst und mit Laune behandelt werden, ohne
sich deswegen weder dem ächt Komischen, noch dem Tragischen zu nähern;
denn beides wird nur die schöne Kunst uns darstellen können, und das Erha-
bene begründet erst alsdann das rein Tragische, wenn es sich den Gesetzen des
Schönen unterwirft. --- Mit dem Romane, dem es sich in so vielen Stükken nä-
hert, trift es auch noch in der Rücksicht zusammen, daß es mehr auf Begeben-
heiten, als auf Handlungen beruhet, und daß es das Schicksal, diese gewaltige
Kraft der ächten Tragödie, gar nicht kennt. (S 5f.)
Die Vorstellung, dass komische und tragische Elemente zu vereinen seien, orien-
tiert Klingemann nicht am Modell der Comédie larmoyante, sondern am frühro-
mantischen Gegenentwurf einer Theorie der Komödie, die insofern Berührungs-
punkte mit dem Roman teilt, als sie wie letzterer eine Gattungsvermischung64 pro-
grammatisch umsetzt.
Klingemann schließt seine Vorbemerkungen, indem er ein konstitutives
Merkmal des Unterhaltungsdramas, die poetische Gerechtigkeit, diskutiert und sie
als eine der Poesie fremde ästhetische Kategorie ablehnt. Dass er nicht weiter auf
diesen wirksamen Mechanismus des Unterhaltungsstückes eingeht, ihm aber eine
248
August Klingemanns Theaterreform
249
Claude D. Conter
durch öffentlichen Prunk eine Adlige als Frau gewinnen zu können, wurde als poe-
tische Verwegenheit scharf verurteilt.65 Iffland hatte in den beiden darauf folgen-
den Stücken den Leidensweg von Ruhberg nachgezeichnet, dessen Edelmut, Fleiß
und soziale Anerkennung bei ehrlichen Bürgern zwar eine Läuterung offenbarten,
dessen ungesühntes Verbrechen – die Kasse war von einem Wohltäter wieder ge-
füllt worden, um dem sterbenden Vater eine öffentliche Schande zu ersparen –
bleibt indes unvergessen und ermöglicht Intriganten und Neidern, seine Person zu
verleumden, was in der Konsequenz zu einem durch Flucht und Verfluchungen
unbehaustem Leben führt. Am Ende jedoch findet eine Versöhnung statt und
Eduard Ruhberg wird seiner Verdienste und seines jahrelangen bezeugten tugend-
haften Benehmens in den Schoß der Familie und der Gesellschaft aufgenommen.
Eduard Ruhberg bleibt in Ifflands Trilogie eine an Ungerechtigkeiten leidende
Figur, deren Makel leichtsinnigen Handelns in ihrer Jugendzeit zu einem leidvol-
len Leben auf Bewährung führt, wobei allein die Erinnerung anderer an das einsti-
ge Verbrechen Ruhbergs sogleich zum sozialen Ausschluss führen kann. Ruhberg
ist ein »beschädigtes Juwel« wie Iffland seinen Protagonisten bezeichnete. Dass If-
fland erst im dritten Stück zu einem für das Publikum und die Kritiker akzepta-
blen, traditionellen Ende, der Familienzusammenführung und der Hochzeit, fin-
det, zeigt, wie schwer sich Iffland selbst getan hat, sein Familiengemälde den Pu-
blikumserwartungen anzupassen. Vielmehr suchte er nach einem wahren dramati-
schen Konflikt. Aus den ungewöhnlichen Wechselwirkungen, die von den Span-
nungen zwischen Ifflands erstem Stück und den vom Publikum und von der Kritik
erzwungenen Korrekturen herrührten, entstand eine nicht geplante Trilogie, an der
zum einen deutlich wird, dass das an Rührstücken verwöhnte Publikum ein öko-
nomisches und poetologisches Diktat durchführt und Autoren zwingt, sich am Ge-
schmack des Unterhaltungsstückes zu orientieren, zum anderen aber wird auch er-
kennbar, wie Iffland, der, wie Klingemann unter dem Einfluss Schillers stand, sich
mit dem Gedanken einer Theaterreform trug und eine Veränderung des Theater-
repertoires wünschte. Die Begründung gelang dem gestandenen Theaterschriftstel-
ler und hochgeschätzten Iffland zunächst nicht, da er zu stark vom Theaterbetrieb
in Mannheim abhängig war. Erst in Berlin, wo ihm eine unbegrenzte Macht ver-
traglich zugesichert war, konnte er seine Reformen durchführen.
August Klingemann hingegen, der ohne Rücksicht auf ökonomische Zwänge
und berufliches Taktieren, zudem ohne Anbindung an ein Theater sein literari-
sches Entrée feiern durfte, hat mit dem Schauspiel Selbstgefühl die Ruhberg-
Tragödie Ifflands aufgenommen und als Begründung eines neuen Theaters weiter-
entwickelt. Ruhbergs Erlösung am Ende --- »Ach täglich sinken tausende --- verloren
ohne Rettung --- weil in dem Augenblick der letzten gräßlichen Versuchung jede
250
August Klingemanns Theaterreform
Hand, nach der sie hülferingend fassen, --- sich zurückzieht!«66 --- radikalisiert Klin-
gemann ins Aporetische.
Dies wird gleich zu Beginn des Stückes erkennbar, als der Rat Ludwig Seltau,
Ruhbergs Pendant, mit einem Verzweiflungsmonolog eingeführt wird: »Nichts!
Nichts! --- (er legt die Hand an den Kopf) Wüst und wild --- da komt kein ruhiger
Gedanke auf. […] Alles Glück ist Täuschung, Rausch, weiter nichts!« (S 11f.)
Vermutet der Zuschauer zunächst die Skepsis und die Zerrüttung eines Sturm-
und-Drang-Charakters, wird bald deutlich, dass Klingemann seinem Protagonisten
keinen Ausweg und keine Rettung bescheinigen will. Denn spätestens mit der Ra-
dikalität, mit der Seltau bezweifelt, dass das Herz eines Menschen rein sein könne
und dass die Handlungen ergründbar sind,67 treten die irrationalen Elemente in
seiner Weltsicht zutage. Auch verweigert sich der bis zum Nihilismus und zur Me-
lancholie neigende Seltau jeglicher Hilfe und Besserung. Wo der Zuschauer zu Be-
ginn vermutet, Seltau befürchte, kinderlos zu bleiben, wird allmählich ersichtlich,
dass sich Seltau durch Opportunismus, verdienstlose Sehnsucht nach sozialem
Aufstieg in die Gefahr einer sozialen Ächtung begangen hat, da er nicht bereit war,
Verantwortung für sein Fehlverhalten zu übernehmen. Denn er, der einst »allein
durch seine Fähigkeiten sich auszeichnete« (S 35), verließ vordem seine schwangere
Freundin, Auguste Walter, um in der Stadt eine Stelle anzutreten. Nachdem ihm
im Hause des Ministers von Wallenheim eine vielversprechende Laufbahn winkt,
opfert er seine Liebe und heiratet die Tochter des Ministers, seine Vergangenheit
und seinen unehelichen Sohn verheimlichend. Der die soziale Anerkennung über
die Ehre setzende Seltau fürchtet die Konsequenzen seines Handelns eingedenk der
Erkenntnis von Augustes Vater, der infolge von Seltaus Verhalten die Stadt wegen
der erlittenen Verunglimpfungen verlassen musste:
Damals als es bekannt wurde --- verließ mich ja alles! denn die Welt richtet nur
nach dem Scheine, und es ist der Menschen liebstes Geschäft, wenn sie einen
guten Namen hinabdrükken können; man hielt mich für einen schlechten
niedrigen Mann --- es gehört viel Größe dazu sich über das Gerede der Welt
hinaussezzen zu können --- ich verliß Vaterland und Amt und floh vor den bö-
sen Zungen meiner Mitbürger (S 27).
Seltau, die Gegenfigur zum tugendhaften Vater Walter, einer Variation der unbe-
strittenen familienoberhauptlichen Autoritätsfigur aus Gemmingens Deutschem
Hausvater, will seine Stellung am Hofe auf Kosten seines schlechten Gewissens
und des zunehmend belastenden psychischen Verfalls nicht preisgeben.
Als die Walters sich in der Stadt niederlassen, beauftragt der Minister, der die
verarmte Familie finanziell unterstützen will, den als gerecht und gewissenhaft gel-
tenden Seltau mit der Aufgabe, die Gründe der Armut zu erforschen. Die Begeg-
251
Claude D. Conter
nung Seltaus mit den Walters, drei Jahre nachdem er Auguste verlassen hat, stürzt
ihn in eine tiefe Krise, die zu bewältigen ihm lediglich einfällt, den Walters zu-
nächst ein Schmerzensgeld von zweitausend Thalern anzubieten und sie im Ge-
genzug aufzufordern, die Stadt zu verlassen und den Skandal zu verheimlichen.
Der einst rechtschaffene Seltau, Vertreter des positiven Rechts am Hofe, über-
denkt seine Pflichten nicht. Seine Verzweiflung, sein Ruf könne geschädigt wer-
den, steigert sich hin zur Hoffnungslosigkeit:
Der Schleier ist zerrissen, der alles um mich her verhüllte --- zum erstenmale
blikke ich tief in mich zurück --- eine kalte Hand fasst die meinige --- ich selbst
bin es, vor dem ich zurückschaudre! --- --- O die That reißt den Menschen so
schnell mit sich --- und was geschehen ist, bleibt! Da ist nun nichts mehr zu än-
dern. (S 92f.)
Die Möglichkeit, dass das Unrecht öffentlich werde und dem gerechten Fürsten
geklagt würde, führt zumindest zur Erkenntnis, dass Seltau, wie Eduard Ruhberg
in Verbrechen aus Ehrsucht, aus »Ehrgeiz« (S 101 und 102) zum »Verbrecher« (S
102) geworden sei. Die Parallele zwischen Ifflands und Klingemanns Stück, der auf
Kosten der Ehre und der Tugend erzwungene soziale Aufstieg, macht deutlich,
dass Klingemann bei ähnlichem Ausgangspunkt nunmehr eine Lösung fernab der
Rührstücke und der Familiengemälde sucht. Die Aufstiegschancen, die Seltau
durch den Minister ermöglicht wurden, haben ihn dazu verleitet, seine Tugend
aufzugeben. Dort wo Eduard Ruhberg einen langen Lernprozess nicht scheut und
ununterbrochen seine Tugend als Wiedergutmachung unter Beweis stellt, hat Rat
Seltau nicht mehr die Kraft zum Handeln: »Handeln? --- Ich bin ohne Kraft. […]
Mein Verhängnis reißt mich fort --- ich vermag nicht zu widerstehen! --- Ich muß es
erwarten an welcher Klippe mich die kommende Welle zerschmettern wird.« (S
104) Seltau ist kein kraftvoller, handelnder Sturm-und-Drang-Charakter, sondern
der gefährdete, zweifelnde, zerrissene moderne Charakter.
Der Rat von Augustes Bruder --- »Entdecke Deinem betrogenen Weibe Dein
Verbrechen --- entflieh von hier; versuch es an einem andern Orte eine neue Lauf-
bahn anzufangen --- werde durch Dich selbst was Du hier durch andere geworden
bist --- --- und dann komm zurück und meine Arme sollen geöffnet für Dich seyn.«
(S 105) --- entspricht Eduard Ruhbergs Lebensweg und der Ifflandschen Konzepti-
on. Alle rechtlichen Möglichkeiten und soziale Alternativen zum Trotz, die Seltau
geboten werden, überwindet er die zu befürchtenden Erniedrigungen nicht und tö-
tet sich selbst.
In Klingemanns ›Karaktergemählde‹, in dem der Konflikt von Liebe und
Pflicht dem von Pflicht und Ehre gewichen ist, ist auch die Liebe kein verbindli-
ches Konzept der Selbstdarstellung des Bürgers mehr. Vielmehr ersetzen der soziale
252
August Klingemanns Theaterreform
Aufstieg und die mögliche Beteiligung am politischen Wirken die Bedeutung der
Familie durch die des Staates. Aus dem Familiengemälde wird auch deswegen ein
Charaktergemälde, da nicht mehr die Familie jene soziale Ordnung darstellt, in der
die Probleme der Zeit angemessen gelöst werden könnten.
Seltau ist auch unter einem anderen Gesichtspunkt eine Gegenfigur zu den
Protagonisten im Unterhaltungsdrama, insofern Klingemann die literaturge-
schichtlich nobilitierten Lösungsmodelle von Dreiecksgeschichten und der Wahl
zwischen Liebe und Pflicht verwirft: Nicht der Opfertod aus Liebe wie in Goethes
Stella, das Klingemann im Liebhabertheater von Anna Henriette Schütz gesehen
hatte,68 sondern die Handlungsunfähigkeit und die Verzweiflung, andeutungsweise
bereits in der Person Fernandos in Goethes Stella dargelegt, kennzeichnen die Fi-
gur, deren Ansprüche sich nicht mehr am Sinnzentrum der Familie, sondern am
beruflichen Erfolg orientieren. Der zwischen zwei Frauen stehende Mann ist auch
eine Konstellation, deren soziale Gefährdungen Kotzebue in seinen Rührstücken
thematisierte. Scheute Kotzebue die Provokation nicht, so suchte er dennoch im-
mer noch nach versöhnlichen Lösungen. So ist der zwischen zwei Frauen stehende
Mann ein Motiv, das Kotzebue in La Peyrouse (1798) bereits in dem Maße ver-
handelt hatte, als er gängige Moralvorstellungen irritierte und die Publikumserwar-
tung an ein Familiengemälde enttäuschte. Doch Selbstgefühl ist zugleich eine
Antwort auf Kotzebues Schauspiel. Kotzebue verwarf nämlich in La Peyrouse den
Selbstmord als Ausweg aus einer in gleichem Maße verpflichtenden Ehe von Alexis
La Peyrouse mit Adelaide, die ihm einen Sohn namens Heinrich gebar, und mit
Malvida. Die von La Peyrouse zivilisierte edle Wilde einer unbewohnten Südmeer-
insel, wo der Weltumsegler gestrandet war, ist ebenfalls Mutter eines mit La Pey-
rouse gezeugten Kindes. Als Adelaide ihren Gatten nach acht Jahren auf der Insel
wiederfindet und erfährt, dass La Peyrouse in der Zwischenzeit Malvida geehelicht
hat, entsteht ein Konflikt um die Wahrung der Pflichten, den vor Gott geschlosse-
nen Ehebündnissen. La Peyrouse, der aus mangelndem Entscheidungswillen keine
der von ihm geliebten Frauen verlassen will, will zunächst den Freitod wählen,
doch entreißen ihm beide Frauen den Dolch. Die im Folgenden durchgespielten
Auswegsmöglichkeiten werden ebenfalls verworfen: Sowohl Adelaide als Malvida
wollen aus Liebe zur schwesterlich geliebten Freundin aus Edelmut den Freitod
wählen. Adelaide wird darauf hin »brennende Einbildungskraft« vorgeworfen, der
Mut sich zu opfern sei »edle[] Schwärmerei«, weil die Tat nicht »nothwendig«69 sei.
Malvida leitet ihre Opferbereitschaft von ihrer religiösen Erziehung ab, überzeugt,
die Idee des Freitodes sei ihr »wie ein Strahl in meine Seele« anlässlich eines Gebe-
tes eingegeben worden. Der als Deus ex machina auftretende Bruder Adelaides,
Clairville,70 spöttelt über solche Irrationalismen und religiöse Verirrungen: »Wei-
253
Claude D. Conter
ber! Weiber! daß ihr doch immer die Stimme eurer Leidenschaften zur Stimme
Gottes macht« (La P 53).
Clairevilles aufklärerische Hellsichtigkeit, die bereits im ersten Bestandteil sei-
nes Namens (clair = hell, klar) allzu deutlich wird, befugt ihn auch, einen vernünf-
tigen Vorschlag auszubreiten. Nicht zuletzt aufgrund seiner Flucht vor der in der
französischen Heimat ausgebrochenen Terreur der Revolution und dem Zusam-
menbruch der alten Ordnung ist die Rückkehr nach Frankreich und damit in eine
Gesellschaft, in der ein Ménage à trois verboten ist, ausgeschlossen. Claireville
schlägt daher die Gründung einer Kolonie, ein »Paradies der Unschuld« (La P 60)
vor, »wie die Griechen, als sie aus Egypten flohn« und wo »Sicherheit«, »Ueber-
fluß«, »Liebe und Ruhe« (La P 58) herrschen. Eine Kolonie stiften, eine Stadt der
Vernunft zu gründen, worauf Clairevilles Name (hell[sichtige] = vernünftige Stadt)
programmatisch vorausweist, ist Kotzebues exotisch-utopischer Gegenentwurf auf
eine europäische, sozial und moralische verkrustete Ordnung, in der die Liebe
selbst nicht mehr Pflicht sein könne.71
Für August Klingemann ist die eskapistische Utopie Kotzebues kein gangbarer
Weg. Die koloniale Eroberung des bukolischen Ortes in den Südseeinseln mag
noch plausibel für einen adligen Weltumsegler sein, in dessen Heimat die Republik
ausgebrochen ist und der eine edle Wilde mit einer empfindsam fühlenden Gattin
teilt, doch für einen in der engen Welt der Höfe lebenden Beamten, dessen Auf-
stieg aus der unteren Mittelschicht in die Machtzentrale mit der bewussten Abkehr
von der ersten Verlobten einhergeht, ist nicht die Liebe und die Suche nach einer
sozialen Ordnung, wo ein Ménage à trois möglich wäre, der gesuchte Ausweg,
sondern die soziale Pflicht und politische Ordnung, in der dem sozialen Ansehen
ein ebenso großes Gewicht zukäme wie der treuen Liebe. Denn Seltau bekennt an
keiner Stelle seine Liebe zu Auguste oder Luise. Unter den von Klingemann be-
stimmten Bedingungen ist der Freitod tatsächlich eine dystopische Lösung. Die
noch von Kotzebue und Iffland avisierten Lösungen würden letztlich eine Rück-
kehr in die traditionellen Muster von Familiengemälden darstellen und eine Lö-
sung in einem familiären Umfelde suggerieren, welche aber eher einer sozialen und
politischen Lösung bedürften.
Klingemanns Neubegründung der dramatischen Funktion des Schauspiels als
reine Freude und als dezidierte Gegenposition zu einem Theater, das sich als Sit-
tenschule geriert, könnte in Selbstgefühl als Abkehr von den Grundsätzen vernünf-
tigen Handelns verstanden werden. Denn die Affektdisziplin gerät bei Seltau außer
Kontrolle, Gerechtigkeitsvorstellungen werden von Intrigen und Machtansprüchen
verschiedener bürgerlicher Aktanten am Hofe pervertiert, die soziale Ordnung der
Familie ist brüchig geworden, insofern sich Seltau aus der Verantwortung als Fa-
254
August Klingemanns Theaterreform
milienvater flüchtet und die Familie der Walters in ihrer Zerrissenheit gezeigt wird,
die politische Macht --- vor allem der Fürstenhof mit dem aufgeklärten, gerechten
Herrscher --- erweist sich als unzulänglich in der Ausführung der beabsichtigten
Wohltaten. Klingemann exponiert demnach einen Blick auf eine Gesellschaft, die
trotz aller moralisch hoher Vorgaben und Vernunftideale in prekären Situationen
scheitert. Eduard Walter, der eine verbürgerlichte Deus ex machina-Figur aus den
Rührstücken darstellt und Modelle für eine mögliche Lösung des Konflikts durch
die Wiederherstellung der sozialen Ordnung vorlegt, findet kein Gehör. Dass des-
sen Lösungsversuche in Selbstgefühl systematisch ausgeschlagen werden, ist nicht
zuletzt auch Klingemanns Programmatik geschuldet, das Theater als Sittenschule
zu demontieren und eine Figur wie Claireville, welche soziale und politische Pro-
bleme mit familiären Modellen zu lösen versucht, aus dem Theater zu verbannen.
Klingemanns Alter Ego in den Nachtwachen des Bonventura pointierte diese
Sichtweise mit bitterem Unterton:
Die kleinen Wizbolde und guthmütigen Komödienverfasser dagegen, die sich
nur blos in den Familien umhertreiben, und nicht, wie Aristophanes, selbst
über die Götter sich lustig zu machen wagen, sind mir herzlich zuwider, eben-
so wie jene schwachen, gerührten Seelen, die, statt ein ganzes Menschenleben
zu zertrümmern, um dem Menschen selbst darüber zu erheben, sich nur mit
der kleinen Quälerei beschäftigen72.
Ganz in diesem Sinne artikuliert Klingemann mit Selbstgefühl Kritik am bürgerli-
chen Trauerspiel, sogar an Schillers Kabale und Liebe.73 Seltaus sozialer Aufstieg
durch die Heirat mit Luise von Wallenheim ist Ferdinand von Walters selbstge-
wähltem Ausschluss aus der höfischen Gesellschaft durch die Liebe zur bürgerli-
chen Luise in Schillers Stück entgegengesetzt. Ist Ferdinand Opfer höfischer Intri-
gen, bleibt Seltaus Ausweglosigkeit selbstverschuldet. Wo sich Ferdinand zu Luise
bekennt und der Liebe Lady Milfords widersteht, verleugnet Seltau Auguste Wal-
ter und bietet wie der Sekretär Wurm Geld als Entlastung der eigenen Ehrlosig-
keit. Während Schiller den Konflikt von Liebe und Ehre in einem bürgerlich-
höfischen Antagonismus ausbreitet, thematisiert Klingemann den Verlust bürgerli-
chen Ehrverhaltens. Setzte Schiller seine Hoffnung noch auf die Übernahme bür-
gerlicher Ehrvorstellung durch den Adel mit dem Ziele eines gerechteren Han-
delns, dekonstruiert Klingemann das bürgerliche Dispositiv, das er als Grundlage
ungerechten Handelns beschreibt. Die bürgerlichen Vorstellungen des Fleißes und
der Ehre im Sinne der sozialen Anerkennung und der moralischen Integrität füh-
ren zwar zur Teilnahme an der Machtausübung am Hofe, doch stellen sich diese
Voraussetzungen bei Klingemann zugleich als Quelle ungerechten Handelns her-
aus, da sie ausschließlich auf den Nutzen des Einzelnen ausgerichtet sind. Selbstge-
255
Claude D. Conter
fühl variiert zwar ebenso die Strukturen des bürgerlichen Trauerspiels wie auch des
Rührstücks, aber es wendet sich zugleich gegen diese beide Formen des Unterhal-
tungstheaters um 1800, weil sie der Idee der Schaubühne als moralische Anstalt
verpflichtet sind und durch moralische Unterweisung die reine Freude, welche
Klingemann in den Mittelpunkt seiner an den Frühromantikern und Schiller ori-
entierten Theaterreform stellte, verhindern.
256
August Klingemanns Theaterreform
257
Claude D. Conter
1
Vgl. Hugo Burath: August Klingemann und die deutsche Romantik. Berlin: Im
Vieweg 1948, S. 28ff.
2
Neeb-Crippen hat in der bisher einzigen Darstellung des Frühwerkes von Klinge-
mann das Lustspiel Ahnenstolz als »bloß[e] dramatische Bearbeitung eines Kurzro-
mans von Carl Gottlob Cramer« bewertet. (Jerry Eugene Neeb-Crippen: Bürgerli-
ches Lustspiel und Ritterroman. Zur Unterhaltungsliteratur im ausgehenden 18.
Jahrhundert, unter besonderer Berücksichtigung der frühen Werke Ernst August
Klingemann. Urbana. Illinois: UMI 1994, S. 5.)
3
Vgl. Markus Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit 1780-1805. Produktion und
Rezeption. Bonn: Bouvier 1982, S. 194-223 sowie 368-385.
4
Burath: Klingemann (1948), S. 50.
5
Klingemann will mit seinem Roman Albano der Lautenspieler (1802) an den Er-
folg in Rudolstadt anknüpfen, schreibt er doch im Untertitel »vom Verfasser der
Maske«.
6
Klingemann setzt sich nicht nur mit dem aufklärerischen Unterhaltungsstück aus-
einander, sondern reagiert in seiner Kritik des literarischen Geschmacks seiner
Zeitgenossen auch auf die Opern, Ballette und die französischen Komödien, welche
die Braunschweiger Bühne beherrschen.
7
Als Klingemann Jena Ende 1801 verlässt und nach Braunschweig zurückkehrt, ar-
beitet er zunächst an seinem Projekt eines neuen Unterhaltungsschauspiels fort,
wenngleich er in seinem bürgerlichen Leben zunächst als Adjunkt seines Vaters,
später als Registrator beim fürstlichen Obersanitätskollegium arbeitete. Die Anre-
gungen durch die Frühromantiker und durch Schiller prägten seine Vorstellungen
in dieser Zeit derart, dass die literarischen und theoretischen Schriften im Zeitraum
zwischen 1798 und 1805 als Beiträge einer Auseinandersetzung gelten können. Ab
258
August Klingemanns Theaterreform
1805 betätigt sich Klingemann in der Braunschweiger Theatertruppe und wird spä-
ter die Walthersche Truppe leiten, aus der das Braunschweigische Theater entste-
hen sollte. Vgl. Burath: Klingemann (1948), S. 83-115.
8
Vgl. dazu Campes emphatisches Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit Vieweg:
»Mehre sich die liebe Brut, / Vieweg-Campe’s Fleisch und Blut! / Blühend wachse
dieser Baum / Bis zu euch, ihr hohen Sterne« (J.H. Campe: Beim Einweihen des
Vieweg’schen Neuen Hauses. In: Jakob Anton Leyser: Joachim Heinrich Campe.
Ein Lebensbild aus dem Zeitalter der Aufklärung. Braunschweig: Friedrich Vieh-
weg und Sohn 1877, S. 47-49, hier: S. 49.
9
Der Braunschweiger Franz Horn ist von den Zeitgenossen als Nachahmer von
Tieck und den Schlegels wahrgenommen worden. Klingemann hat dessen Roman
Oktavio in der Zeitung für die elegante Welt besprochen. Horn ist auch als Litera-
turhistoriker hervorgetreten. Er ist schließlich von Grabbe, Heine und von Platen
deswegen verulkt worden. Vgl. Lisel Grützmacher: Franz Horn, ein Nachfahre der
Romantik. in Münster-Westfalen: Münsterchse Buchdruckerei und Verlagsanstalt
1928, S. 10 sowie 13ff. Vor allem wegen der zahlreichen abgedruckten Briefe im-
mer noch lesenswert die biographische Eloge: Franz Horn. Ein biographisches
Denkmal. Leipzig: Brockhaus 1839.
10
Vgl. Stephan August Winkelmann. Philosoph, Poet & Arzt. Mit einer Einführung
v. Ingeborg Schnack. Braunschweig: Literarische Vereinigung 1996.
11
Vgl. Horst Schröpfer: Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz
als Wegbereiter der kritischen Philosophie. Stuttgart, Bad CannstadtCannstatt:
Friedrich Frommann - Günther Holzboog 2003, S. 373ff.
12
Dies mag auch überwiegend auf Friedrich Schlegel zurückzuführen sein, der Klin-
gemanns Beiträge eher als lästige Nachahmung eigener Ideen betrachtet hat und
sich in Briefen an August Wilhelm Schlegel und an Ludwig Tieck wenig vom jun-
gen Autor erhoffte. Vgl. dazu Jost Schillemeit: Bonaventura. Der Verfasser der
»Nachtwachen». München: C.H. Beck 1973, S. 37f, insbesondere Fußnote 34.
13
Harro Segeberg: Phasen der Romantik. In: Romantik-Handbuch. Hg. v. Helmut
Schanzer. Stuttgart: Kröner 1994, S. 31-78, hier: S. 48.
14
Valentin Hauck: Ernst August Klingemann als Dramatiker. Würzburg: Triltsch
1926, S. 10.
15
Vgl. die für die Biographie nach wie vor unabdingbar: Burath: Klingemann (1948),
S. 64f.
16
Vgl. Schillemeit: Bonaventura (1973), S. 37.
17
August Klingemann: Romano. Erster Theil. Braunschweig: Schröder 1800, S. 5.
18
Klingemann: Romano (1800), S. 6-8.
19
Klingemann ist sehr wahrscheinlich im Hause von Christian Gottfried Schütz mit
Kants Werk bekannt geworden, war doch Jena seit den 1780er Jahren bis zum
Weggang von Schütz 1804 die Hochburg des Frühkantianismus. Schütz war es
259
Claude D. Conter
auch, der August Wilhelm Schlegels Gesuch auf eine Professur in Jena befürworte-
te. Vgl. Schröpfer: Kants Weg (2003), S. 185.
20
Klingemann bekräftigt mit der Figur des Nachtwächters im anonym erschienenen
und für reichlich Diskussionsstoff um die Autorschaft sorgenden Roman Nachtwa-
chen des Bonaventura diese frühromantische Ahnengalerie. Der Nachtwächter,
welcher ununterbrochen unbequeme Wahrheiten ausspricht und unverhohlen die
Familiengemälde Ifflands und die Rührstücke Kotzebues kritisiert (vgl. dazu Peter
Kohl: Der freie Spielraum im Nichts. Eine kritische Betrachtung der »Nachtwa-
chen« von Bonaventura. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1986, S. 121-124), erkennt
in Jakob Böhme, in den Fastnachtsspielen von Hans Sachs, in Dantes Divina Co-
media, in Shakespeares Narren in King Lear sowie in der Tradition der Commedia
dell’Arte und der Hanswurstiaden einen Gegenentwurf zum Unterhaltungsdrama.
Der Nachtwächter eröffnet damit eine literaturgeschichtliche Skizze einer der ro-
mantischen Poetik verpflichteten Tradition, die der Schlegelschen literaturge-
schichtlichen Begründung der romantischen Dichtung seit der Frühen Neuzeit in
mancherlei Hinsicht entspricht. Der Nachtwächter bezieht sich schließlich auch auf
Schiller, aus dessen Gedicht Shakespeares Schatten er zitiert. Vgl. dazu Schillemeit:
Bonaventura (1973), S. 30, Fußnote 11. Ähnlich seinem Nachtwächter hält Klin-
gemann dem Unterhaltungsdrama eine ästhetische Position entgegen, die in vielem
der romantischen Dichtungstradition entspricht. Jost Schillemeit hat darauf auf-
merksam gemacht, dass Hans Sachs und Dante auch in anderen Frühwerken Klin-
gemanns, in seinem Roman Romano sowie in mehreren Essays, auftauchen. Vgl.
Schillemeit: Bonaventura (1973), S. 56-61.
21
August Klingemann: Romano. Zweiter Theil. Braunschweig: Schröder 1801, S. 10.
22
Das Verhältnis zu August Winkelmann wird sich merklich abkühlen, insbesondere
auch als beide wieder nach Braunschweig zurückkehren. Zeitgenossen haben dies
vor allem auf den Forschungseifer von Winkelmann zurückgeführt, der sich oftmals
wochenlang zurückzog, um seine medizinischen Studien voranzutreiben. Vgl. Carl
von Savigny / Stephan August Winkelmann: Briefwechsel (1800-1804) mit Do-
kumenten und Briefen aus dem Freundeskreis. Gesammelt, hg. u. kommentiert v.
Ingeborg Schnack. Marburg: Elwert 1984, S. 90.
23
August Klingemann und Clemens Brentano haben sich innerhalb eines Jahres auf-
grund eines nicht bekannten Grundes einander entfernt. Auf die anfängliche Ein-
forderung Brentanos der Freundschaft mit Klingemann folgte die spöttische Di-
stanzierung. In einem Brief an Winkelmann begründet Brentano seine Verweige-
rungshaltung, nicht an der Aufführung der Tragödie Die Maske am Liebhaberthea-
ter mitzuwirken: »[I]ch konnte mich nicht entschließen, da mit zu figurieren, weil
ich finde daß ich ganz stum sein müßte - denn ich kann nichts sagen, wobei einer
nichts dachte, und Klingemann dachte nur bei den Gedankenstreichen.« (Clemens
Brentano an August Winkelmann vom 16. Juli 1800. In: Briefwechsel Savigny /
Winkelmann [1984], S. 234.)
260
August Klingemanns Theaterreform
24
Klingemann folgt etwa Friedrich Schlegel auch in der Bewertung der Moderne und
der Antike. Schlegel hatte in seinem Studium-Aufsatz bereits die Überlegungen zu
einer Neuen Mythologie vorbereitet, als er das Mittelalter als Bezugsepoche der
Moderne beschreibt. Klingemann stimmt dem zu, als er meint: »Durch das Phanta-
stische und Abentheuerliche, welches das Mittelalter charakterisirt, mußte auch in
der wiedererwachenden Poesie ein origineller Geist zur Erscheinung kommen, und
die Phantasie eine größere Obergewalt sich zueignen, als dieses in der antiken
Kunst der Fall seyn konnte.« (August Klingemann: Ueber die romantische Tragö-
die. In: Ders.: Theater. Erster Band: Heinrich der Löwe. Martin Luther. Tübingen:
J.G. Cotta’sche Buchhandlung 1808, S. IIII-XII, hier: S. VI.)
25
Vgl. ausführlich über den mit publizistischen und literarischen Schriften ausgetra-
genen Streit: Die ästhetische Prügeley. Streitschriften der antiromantischen Bewe-
gung. Hg. v. Rainer Schmitz. Göttingen: Wallstein 1992.
26
Schillemeit: Bonaventura (1973), S. 110 und 114.
27
Zu welchen Mitteln man gegen andere Autoren wie Klingemann in seiner Polemik
gegen Kotzebue und Merkel greifen konnte, war dem Neffen Campes durchaus
bewusst, hatte doch Campe bereits 1789 einen in der literarischen Öffentlichkeit
Aufsehen erregenden Streit mit Karl Philipp Moritz ausgefochten. Vgl. Moritz con-
tra Campe. Ein Streit zwischen Autor und Verleger im Jahr 1789. Mit einem
Nachw. hg. v. Reiner Marx u. Gerhard Sauder. St. Ingbert: Rörig 1993.
28
August Klingemann: Molière im Gewande. Etwas auf Veranlassung der Ecole des
femmes, auf dem franz. Theater in Braunschweig. In: Zeitung für die elegante Welt
vom 21./23.04.1803.
29
Der Preis wurde nicht vergeben. Vierzehn Stücke, darunter eines von E.T.A.
Hoffmann waren eingesandt worden. Vgl. dazu: Schillemeit: Bonaventura (1973),
S. 75.
30
Bezeichnend ist, dass Klingemann der Allgemeinen Literatur-Zeitung auch dann
die Treue hielt, als August Wilhelm Schlegel infolge des Streits zwischen Schütz
und Karl Leonhard Reinhold über dessen Fichte-Apologetik seinen Austritt aus der
Rezensentengemeinschaft bekannt gab. Vgl. Schröpfer: Kants Weg (2003), S. 373f.
31
August Klingemann: Freimüthigkeiten. Ein Seitenstück zu den Expektorazionen
und zugleich ein blöder Mitbewerber um den vom Herrn v. Kotzebue ausgesetzten
Preis für das beste Lustspiel. Mit einer Einleitung und Anmerkungen v. Jost Schil-
lemeit. Braunschweig: Literarische Vereinigung Braunschweig 1976, S. 66. Das
Stück wird im Folgenden unter der Sigle F im laufenden Text zitiert.
32
Dies gilt auch für den produktiven Dramenautor Ludwig Tieck, der sich nicht um
die Aufführung seiner Stücke gekümmert hat. Ähnliches gilt für Clemens Brentano
und Achim von Arnim. Vgl. Gerhard Schulz: Romantisches Drama. Befragung ei-
nes Begriffs. In: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition
und Innovation. Hg. v. Uwe Japp, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger. Tübingen:
Niemeyer 2000, S. 1-19, hier: S. 12. Schulz hat die »Bühnenuntauglichkeit« (13)
261
Claude D. Conter
262
August Klingemanns Theaterreform
wohl an die Vorzüge wie auch an die Fehler des Autors. Dessen Stücke würden zur
Autorität, was zu einer einseitigen Bildung führe. Lieblingsstücke des Publikums
stellten kein Problem dar, hingegen Lieblingsautoren sehr wohl, weil dadurch eine
Vereinheitlichung des Repertoires stattfände; auch die Schauspieler könnten bei ei-
nem wenig abwechslungsreichen Repertoire nicht weiterentwickeln: »[e]in solcher
z.B., der beständig in Iflandschen Familiengemälden auftreten muß, wird unfähig
seyn, der Darstellung einer Schillerschen oder Shakespearschen Tragödie Genüge
zu leisten, und der Sekretär Dollner wird mit dem Max Pikolomini in Kampf ge-
rathen, und die Oberherrschaft beherrschen wollen.« (Klingemann: Grundsätze
[1802], S. 3).
40
Mag Klingemanns Entwurf zu den vielen ästhetischen Utopien um 1800 gehören,
so erwachsen seine Zuversicht und sein Fortschrittsoptimismus doch aus der grund-
sätzlichen Überzeugung, dass das Publikum sich vom Unterhaltungstheater abzu-
wenden bereit ist: Klingemann spottet daher über jene »temporaire[n] Schriftstel-
ler«, die zu der »irrigen Meinung veranlassten, als ob die Masse des Volkes, und
nicht vielmehr die Freiheit der Künstler selbst, über den höhern und niedern
Standpunkt der Kunst, als eines bloßen Sinnenreizes, oder eines veredelnden poeti-
schen Spieles, bestimme.« Für ihn zeige das Theater um 1800 viel eher, dass das
Publikum auch die »höheren Kunsterscheinungen« wie etwa Schillers Stücke mit
»Enthusiasmus« aufnehmen würde, so dass es nur auf den »beharrlichen Eifer der
Künstler ankomme, die Kunst in ihre lange verlorenen Rechte wieder einzusetzen.«
(Klingemann: Tragödie (1808) S. IIII-XII, hier: S. III-IV.)
41
Michele Cometa: Die Theorie des romantischen Dramas bei Friedrich Schlegel. In:
Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation.
Hg. v. Uwe Japp, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger. Tübingen: Niemeyer 2000,
S. 21-43, hier: S. 31f.
42
Klingemann: Tragödie (1808), S. IV.
43
Die Täuschung wurde als Aufrechterhaltung einer Illusionswelt verstanden, die der
realen, dem menschlichen Leben ähnlich sein sollte, um überhaupt erst die Voraus-
setzung einer moralischen Unterweisung zu schaffen. So hatte es u.a. Adolph von
Knigge in seinem Artikel Von dramatischen Schriftstellern und solchen, die über
andre schöne Künste schreiben pointiert dargelegt, als er meinte, dass »auf unsre
Schaubühne, mit möglichster Täuschung und Wahrscheinlichkeit, Szenen, Hand-
lungen aus dem bürgerlichen Leben zu bringen [seien], in der Absicht, durch Bei-
spiele aus der würklichen Welt, moralische Vorschriften und allgemein nützliche
Aufklärung unter alle Volksklassen zu verbreiten.« Zitiert nach Markus Krause: Das
Trivialdrama der Goethezeit 1780 --- 1805. Produktion und Rezeption. Bonn: Bou-
vier 1982, S. 140. Über die Täuschung und die Rührung im Unterhaltungsdrama
vgl. ebd., S. 135-149.
44
Eine Besonderheit der Satire Klingemanns besteht darin, dass der Arlequin im drit-
ten Zwischenspiel auf Aufforderung des Publikums ein Lied vorträgt, in dem der
Chor, gesungen vom Publikum selbst, durch Zustimmung den Inhalt des Liedes
263
Claude D. Conter
bekräftigt. Das Lied, das Arlequin als Beiwerk eines Lustspiels ankündigt, das sich
am Ende --- autopoetisch gedacht --- selbst »auspfeift«, um das Publikum dieser Mü-
hen zu entheben, bedient sich eines Liedes, das Kotzebue in den Freimüthigkeiten
abgedruckt hat. Dem Zuschauer Johannes entgeht weder der Betrug, das (böse, sich
entlarvende) Plagiat Arlequins, noch die Pointe, dass der von Kotzebue als undra-
matisch und unnatürlich kritisierte Chor dessen Werke ins Lächerliche zieht und
zugleich als aristophanische Parabase das Rührstück sich in der Art einer frühro-
mantischen Komödie selbst reflektieren lässt (vgl. F 97f).
45
Friedrich Schlegel: Charakteristik der griechischen Komödie. In: Kritische Fried-
rich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 11: Wissenschaft der europäischen Literatur. Hg. v.
Ernst Behler. Paderborn, München u.a.: Schöningh 1958, S. 86-97, hier: S. 88.
46
Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente. Erste Epoche II (1796-1798). In:
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 18: Philosophische Lehrjahre 1796-
1798. Hg. v. Ernst Behler. München, Paderborn u.a.: Schöningh 1963, S. 85.
47
Schlegel: Charakteristik der griechischen Komödie (1958), S. 89.
48
Klingemann verwandelt demnach das chorische Element aus der aristophanischen
Parabase in die Rolle des Publikums, eine Vorgehensweise, die Uwe Japp als Poten-
zierung der Komik begreift, da die Parabase selbst zum Gegenstand der Satire wür-
de. Vgl. Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick. Tübin-
gen: Niemeyer 1999, S. 22.
49
Am Ende des Stücks erfährt das Publikum, das sich des Spielendes noch nicht be-
wusst wurde, vom Lampenputzer des Theaterpersonals, dass der Poet nach Schle-
gels Idealvorstellung »zugleich de[r] Kritikus« in einer Person war, woraus sich das
vermeintliche Rührstück als frühromantische Parodie erweisen sollte (vgl. F 129).
50
Klingemanns Funktionalisierung der Parabase in einem ästhetischen Kontext unter-
scheidet sich demnach von dem politisierenden Gebrauch der parabatischen Illusi-
onsdurchbrechung, die Ludwig Achim von Arnim im Schattenspiel Das Loch vor-
führt. Vgl. dazu den Beitrag von Claudia Nitschke in diesem Band.
51
Vgl. zum parabatischen Typus der romantischen Komödie: Japp: Komödie der
Romantik (1999), S. 10 u. 21f. Die Desillusionierung erfolgt darüber, dass distink-
te dramatische Ebenen (Spiel-im-Spiel, fiktive Schauspiel, Komödie) zueinander in
Beziehung gesetzt werden. Japp verweist zugleich auf die Unterschiede zur Parabase
bei Aristophanes: »In der Komödie der Romantik wird die Parabase aus ihrer Bin-
dung an den Chor befreit und tritt als struktureller Ermöglichungsgrund allfälliger
Komik in Erscheinung.« (ebd. S. 22)
52
Klingemann: Tragödie (1808), S. IV.
53
Schlegel: Charakteristik der griechischen Komödie (1958), S. 89.
54
Vgl. Manfred Frank: Das Problem »Zeit« in der deutschen Romantik. Zeitbewußt-
sein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in
Tiecks Dichtung. München: Winkler 1972.
264
August Klingemanns Theaterreform
55
Die gezielte Wirklichkeitsfremde ist Klingemann indes keine zwingende Vorausset-
zung des neuen Schauspiels. Ganz im Gegenteil fordert er infolge der Verschmel-
zung von Komödie und Tragödie eine Abkehr von der frühaufklärerischen Vorstel-
lung, die Stoffe der Bibel oder der Geschichte zu entnehmen. Klingemann ist be-
fremdet, dass der Stoff der Tragödien der Geschichte entlehnt ist. Er erklärt es sich
dadurch, dass in der Tragödie das »höchste Gut«, die Freiheit, als erreichbar darge-
stellt werden soll, weshalb sie in ein goldenes Zeitalter verlegt worden wäre. So
werde die Freiheit gleichsam verfügbar als das Vergangene. Für das romantische
Stück fordert Klingemann hingegen eine größere zeitliche Nähe zur Wirklichkeit,
da die Leidenschaften, die inneren Verhältnisse, eng mit den äußeren in Verbin-
dung stehen sollten. Vgl. Klingemann: Tragödie (1808), S. IIII-XII, hier: S. X.
56
Jürgen Burmmack: Narrenfiguren in der dramatischen Literatur der Romantik. In:
Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation.
Hg. v. Uwe Japp, Stefan Scherer u. Claudia Stockinger. Tübingen 2000, S. 45-64,
hier: S. 51.
57
»Rührung aber, sobald sie als Zweck erscheinen soll, ist in so fern ebenfalls von der
schönen Kunst ausgeschlossen.« (Klingemann: Grundsätze [1802], S. 32).
58
Klingemann: Über den Geist tragischer Dichtung. In: Ders: Theater. Dritter Band:
Alsonso der Große, Das Vehmgericht, Oedipus und Jokasta. Stuttgart, Tübingen:
J.B. Cotta’sche Buchhandlung 1820, S. III-XIV, hier: S. S. IV.
59
Burath hingegen betrachtet das Stück in der Nachfolge von Schillers Kabale und
Liebe und meint, ohne allerdings konkrete Stücke zu nennen, Iffland und Kotze-
bue als Vorbilder (vgl. Burath: Klingemann [1948], S. 62). Allerdings geht Burath
nicht auf die Variation der Rührspielstrukturen ein.
60
Vgl. Roger Bauer: »The fairy way of writing«. Von Shakespeare zu Wieland und
Tieck. In: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik.
Hg. v. Roger Bauer in Verbindung mit Michael de Graat u. Jürgen Wertheimer.
Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1988, S. 143-161.
61
August Klingemann: Selbstgefühl. Ein Karaktergemälde in fünf Aufzügen. Braun-
schweig: Carl August Schröder 1800, S. 3. Das Stück wird im Folgenden unter der
Sigle S im laufenden Text zitiert.
62
Wenn man wie Burath, Selbstgefühl lediglich als Fortschreiben der Tradition der
Familiengemälde verstehen will, muss Klingemanns Konzept missverstanden wer-
den. Was Burath dem Autor vorwirft, die fehlende Wirklichkeitsnähe, ist Bestand-
teil der Neukonzeptualisierung: »Man wünschte, Klingemann wäre auf diesem We-
ge ehrlicher Wirklichkeitserfassung geblieben, anstatt Schillers dramatischen Gebil-
den nacheifernd den ›hohen Kothurn‹ zu erstreben.« (Burath: Klingemann [1948],
S. 63). Selbstgefühl ist daher kein sozialkritisches Stück im Sinne des Sturm-und-
Drang.
265
Claude D. Conter
63
Vgl. Cometa: Theorie des romantischen Dramas (2000), S. 31. Das romantische
Drama solle Schlegel zufolge keine zeitnahen Themen wählen, sondern solche aus
der nahen, vor allem deutschen Vergangenheit.
64
Friedrich Schlegel: Fragmente zu Poesie und Literatur (Kritische Friedrich-
Schlegel-Ausgabe Bd. 17). Hg. v. Ernst Behler. München, Paderborn, Zürich u.a.:
Schöningh, Thomas-Verlag 1991, S. 316 [Fragment 246]: »Im romantischen Dra-
ma sollte ein tragischer und ein KOMISCHER Chor Statt finden, - der komische -
nicht bloß in Volksscenen«.
65
Vgl. Sigrid Salehi: August Wilhelm Ifflands dramatisches Werk. Versuch einer
Neubewertung. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1990, S. 147f.
66
August Wilhelm Iffland: Reue versöhnt. Schauspiel in fünf Akten. In: A.W. If-
flands theatralische Werke in einer Auswahl. Band 1: Leipzig: Göschen 1844, S.
149-272, hier: S. 271.
67
»Und doch, wer hat je das Herz ergründet! die Handlung scheut das Licht und ver-
stekt sich vor dem Auge des Forschers. Wo ist der Mensch der ganz frei wäre, in
dessen Brust sich nichts zu verbergen hätte! Das ist nicht anders; ganz rein kann es
zwischen niemand sein.« (S 15)
68
Burath: Klingemann (1948), S. 60.
69
August von Kotzebue: La Peyrouse. Ein Schauspiel in zwey Akten. In: Neueste
deutsche Schaubühne. Zweyter Jahrgang. 1 Band. Augsburg 1804, S. 51. Der Text
wird im Folgenden unter der Sigle La P im laufenden Text zitiert.
70
La Peyrouse, der Vertrauen auf Gott als Haltung in der schwierigen Situation emp-
fiehlt, hatte als aufgeklärter Christ in der Szene vor der Ankunft Clairevilles den
Wunsch gehegt: »Ich bitte um kein Wunder, ich begehre nicht, daß Gott einen
Engel herabsende; nur einen Menschen, einen kalten, unbefangenen Menschen, der
für drei kranke Geschwister denke.« (La P 50)
71
Auch im Drama Adelheid von Wulfingen. Ein Denkmal der Barbarei des 13. Jahr-
hunderts (1789) über die inzestuöse Ehe zweier Geschwister schifft sich ein Prota-
gonist, Bruder Moritz, welcher eine ledige Mutter hatte heiraten wollen, ein in
Richtung Südseeinseln.
72
August Klingemann: Nachtwachen. Von Bonaventura. Im Anhang: Des Teufels
Taschenbuch. Neu hg. mit einem Nachwort v. Peter Küpper. 2., verbesserte Aufl.
Gerlingen: Lambert Schneider 1993, S. 38.
73
Insofern widerspreche ich Schillemeits These, dass Klingemann mit dem Drama
Selbstgefühl Schillers Kabale und Liebe nachgeahmt hätte (Schillemeit: Bonaventu-
ra [1973], S. 100.) Das Epigonentum Klingemanns unterstreichend, verkennt
Schillemeit den eigenständigen Entwurf des Braunschweigers Schriftstellers. So
wichtig Schillers ästhetische Vorstellung für Klingemanns Reform auch ist, so viel
Bewunderung Klingemann den Schillerschen Dramen entgegengebracht hat, so ist
nicht zu vergessen, dass Klingemann die ›romantische Tragödie‹ Die Jungfrau von
Orleans und nicht Kabale und Liebe wertschätzte.
266
August Klingemanns Theaterreform
74
Ansichten der Literatur und Kunst unsres Zeitalters. 1. Heft Mit einem Kupfer.
Deutschland 1803. Neudruck: Weimar: Gesellschaft der Bibliophilen 1903, S. 38.
75
Vgl. Burath: Klingemann (1948), S. 99ff.
76
Burath: Klingemann (1948), S. 107.
77
Clemens Brentano an August Winkelmann in Göttingen, Frankfurt, Anfang No-
vember 1801. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 29: Briefe
1. Köln, Berlin u.a.: Kohlhammer 1988, S. 386ff, hier: S. 388.
267
Autoren des Bandes
JOHANNES BIRGFELD, research assistant und lecturer an der University of Oxford. Stu-
dium der Germanistik und Philosophie in Hamburg, London und Bamberg. Wissen-
schaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität
Bamberg, dann an der Universität des Saarlandes. Vertretungsdozentur an der Univer-
sity of the South (Sewanee, Tennessee; 2003). Zurzeit Abschluss einer Studie über
Krieg und Aufklärung. Forschungen und Publikationen zur Literatur des 17., 18. und
20. Jahrhunderts, u.a. Aufsätze zu Anna Louisa Karsch, Klopstock, Iffland, Handke,
Hensel, Dea Loher, Kirchhoff. Zuletzt: Andreas Gryphius: Fewrige Freystadt. Erste
Neuedition seit 1637. Text, Autographen, Materialien, Kommentar (2006).
NORBERT OTTO EKE, Promotion 1988, Habilitation 1995; 2004 o. Prof. für deutsche
Literatur an der Universität Amsterdam, 2006 Universitätsprofessor für Neuere deut-
sche Literaturwissenschaft u. Literaturtheorie an der Universität Paderborn; Gastpro-
fessuren und -aufenthalte in den USA, in Ungarn und China. --- Zahlreiche Arbeiten
zum Drama und Theater, zur Literatur zwischen Spätaufklärung und Vormärz, zur
Gegenwartsliteratur und zur deutsch-jüdischen Literatur; Herausgeber u.a. der Zeit-
schrift für deutsche Philologie und der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germani-
stik. Zuletzt erschienen: Literaturwissenschaft (2004, mit A. Allkemper); Angst en
vrees in het theater van de herinnering. Heiner Müllers tragedie (2005); Vormärz und
Exil --- Vormärz im Exil (2005, hg. mit F. Wahrenburg); Einführung in die Literatur
des Vormärz (2005); Shoah in der deutschsprachigen Literatur (2006, hg. mit H.
Steinecke).
269
eighteenth century. He has produced four books on eighteenth-century English po-
etry, written extensively on genre (esp. the ode) and comparative literary studies, and
is currently engaged on a study of wanderers, travellers and adventurers in European
literature, a monograph on the eighteenth-century long poem, as well as a study of the
German editor and translator, Christian Heinrich Schmid. His study of the poetic
fragment in the eighteenth century is forthcoming.
STEPHAN KRAFT, geb. 1968, Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte
in Göttingen, Pau (F) und Bonn. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen
Seminar der Universität Bonn. Redakteur der Zeitschrift für deutsche Philologie. Pro-
motion über die Geschlossenheit und Offenheit der ›Römischen Octavia‹ von Herzog
Anton Ulrich (2004). Aktuelles Projekt über Finalstrukturen der Komödie. Publika-
tionen u.a. zur Literatur um 1700, zum Ich in der Frühen Neuzeit, zur Komödie, zu
Arno Schmidt, seiner Frau und zu einer Indianerin.
CLAUDIA NITSCHKE, Promotion 2003 mit einer Arbeit zu Utopie und Krieg bei Lud-
wig Achim von Arnim (2004). Wissenschaftliche Assistentin in Tübingen; seit 2005
Stipendiary Lecturer am Lincoln College in Oxford. Publikationen zur politischen
Romantik und zu Kafka.
270
ELIN NESJE VESTLI, Professorin für deutschsprachige Literatur. Studium der Germani-
stik, Theaterwissenschaft und Nordistik an den Universitäten Oslo, Wien und FU
Berlin. Seit 1992 an der Hochschule Östfold (Halden, Norwegen) tätig. Publikatio-
nen zum Dokumentartheater der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts und zu Dramatike-
rinnen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie einzelne Beiträge u.a. zu Doris
Gercke, Erich Hackl, Gertrud Kolmar, Gerlind Reinshagen, Friederike Roth, Marlene
Streeruwitz und Uwe Timm.
271
Die Reihe Forum für deutschsprachiges Drama in Geschichte und Gegenwart
versteht sich als Diskussionsforum für textzentrierte wissenschaftliche Ausein-
andersetzungen mit deutschsprachigen Theaterstücken vom Mittelalter bis zur
Gegenwart sowie ihren Autoren und der Sachgeschichte der Entwicklung des
deutschen Theaterspiels. Sie erschließt einerseits kaum erforschte Dramen
und berücksichtigt Autoren und Themen, die bisher eher vernachlässigt wur-
den. Diese stellt sie andererseits ins Verhältnis zu den bereits kanonisierten
Werken und Verfassern, für deren wissenschaftliche Untersuchung das Forum
ebenfalls bereit steht.
Die Reihe steht für Veröffentlichungen von Monographien wie von Sammel-
bänden offen, die diesen Ansatz weiterführen. Vorschläge wären an die Rei-
henherausgeber zu richten: Johannes Birgfeld (johannes.birgfeld@mod-
langs.ox.ac.uk bzw. j.birgfeld@mx.uni-saarland.de) und Claude D. Conter
(claude.conter@germanistik.uni-muenchen.de).
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