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KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Wie ChatGPT und Co. unser Leben verändern

Die neue Weltmacht
DEUTSCHLAND

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Nr. 10 | 4.3.2023
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Titel | Seiten 8, 14, 18, 22

NOCH

DER SPIEGEL gestaltet mit Midjourney

Längst wird künstliche Intelli-

SAGEN?

Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL

genz in vielen Bereichen einge-
setzt – aber erst ein Programm
mit dem kryptischen Namen
ChatGPT hat einer breiten Öf-
fentlichkeit gezeigt, wie die Zu-
kunft aussehen könnte. Seither
haben Millionen Menschen da-
mit Reiserouten oder Schulauf-
sätze erstellt, es dürfte erst der Anfang sein. Ein SPIEGEL-Team um Anton Rainer und Patrick Beuth
zeichnet in der Titelgeschichte nach, wie die KI einen neuen Machtkampf um die globale Technologie­
führerschaft auslöst. Die Kollegen recherchierten in Peking, Brüssel und dem Baltikum; Alexander
Demling (r.), Korrespondent im Silicon Valley, sprach mit dem Informatiker Guido Appenzeller (l.),
der die KI-Kapitalfirma Andreessen Horowitz berät. Ein weiterer Text beleuchtet, wie KI die Kunst
verändert; der US-Ökonom Andrew McAfee erklärt, was sie für die Arbeitswelt bedeutet. Passend
dazu hat das Covermotiv dieser Ausgabe ein Bildgenerator namens Midjourney gestaltet, der den
­ursprünglich englischen Befehl bekam: Erstelle eine »Büste, die in ihrem Kopf eine neue Cyberwelt
bildet, der Hinterkopf und die Schultern bestehen vollständig aus Technologie, distanzierter Gesichts-
ausdruck, Kopf zur Kamera geneigt, detailliert minimalistisch, Farben Orange, Weiß und Schwarz«.

Erbe der Sklaverei | Seite 54

Ende vergangenen Jahres ging das Gerücht um die

Welt, der Hollywoodstar Benedict Cumberbatch ­müsse
Reparationszahlungen leisten, weil seine Vorfahren auf
der Insel Barbados Sklaven ausgebeutet hatten. Aus- 256 Seiten, gebunden � 22,00 €
gerechnet der Mann also, der auch für seine Rolle als Auch als E-Book erhältlich.
Greg Kahn / DER SPIEGEL

Sklavenhalter im Film »12 Years a Slave« bekannt ist.

SPIEGEL -Redakteurin Dialika Neufeld (r.) reiste nach
Barbados, um mit Nachfahren der Cumberbatch-­ Ein neuer Fundamentalismus hat
Sklaven über das Erbe der Sklaverei zu reden – und Amerika erfasst: Im Namen von
über Schuld. Ironischerweise tragen heute viele den
Gerechtigkeit und Antirassismus
Nachnamen der einstigen Peiniger. Neufeld traf Judy
Cumberbatch (l.), die auf einer ehemaligen Cumberbatch-Plantage aufwuchs und ihr Leben lang greift dort eine Ideologie um sich,
Zuckerrohr schnitt. »Was bleibt, sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der die Intoleranz und Hass erzeugt –
­jahrhundertelangen Ausbeutung«, sagt Neufeld. »Es wäre Zeit für Entschädigung.« in liberalen Medien kann ein
falsches Wort Karrieren beenden,
Pränatalmedizin | Seite 94
an den Universitäten herrscht ein
Jedes Jahr erhält eine beträchtliche Zahl werdender Eltern die Nachricht, dass ihr ungeborenes Klima der Angst, Unternehmen
Kind lebensbedrohlich erkrankt ist. Oft entscheiden sie sich dann für eine Abtreibung. Dabei könn- feuern Mitarbeiter, die sich dem
ten einige dieser Kinder im Mutterleib operiert werden. Allerdings werden Schwangere vielfach Zeitgeist widersetzen. René Pfister,
nicht über eine vorgeburtliche Behandlung informiert, wie die SPIEGEL -Mitarbeiterin Anja Reum-
schüssel erfuhr, die eine Familie beim Kampf um das Leben ihres Sohnes begleitet hat. Die Ärzte SPIEGEL-Korrespondent
hatten geraten, das Kind abzutreiben. Heute ist Marlon drei Monate alt. in Washington, zeigt, warum
Dogmatismus und Mob-Mentalität
»Dein SPIEGEL« die Meinungsfreiheit bedrohen –
Lehrermangel, schlechte Ausstattung, ein veraltetes Notensystem – von vielen
und er erklärt, was wir
deutschen Schulen ist mehr Negatives als Positives zu berichten. Dabei könnte tun müssen, um die offene
es fairer und zeitgemäßer laufen: In der Titelgeschichte des Kinder-Nachrichten-­ Gesellschaft zu verteidigen.
Magazins »Dein SPIEGEL « geht es um Schulen, die gute Beispiele abgeben.
Außerdem: Bundesminister Cem Özdemir spricht mit Kinderreporterinnen
über Ernährung. »Dein SPIEGEL « erscheint am Dienstag.

Mit der kommenden SPIEGEL -Ausgabe Nr. 11/2023 vom 11. März erhöht sich der Verkaufspreis im
Einzelkauf von 6,10 Euro auf 6,40 Euro. Im Abonnement kostet der SPIEGEL künftig 5,90 Euro
pro Ausgabe.

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 3

www.dva.de
INHALT TITEL

8 | Disruption Der globale

Machtkampf um KI hat
DER SPIEGEL 77. Jahrgang begonnen – und artet zum tech-
Heft 10 | 4.3.2023
nologischen Wettrüsten aus

14 | Arbeitswelt SPIEGEL -
Gespräch mit dem Ökonomen
Andrew McAfee über den
Wandel durch KI

18 | Technologie Sechs Dinge,

um eine KI zu bauen

22 | Kulturproduktion Wie
Maschinen träumen lernen

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Der deutsche

Feminismus steckt in der Sackgasse

DER SPIEGEL gestaltet mit Midjourney

26 | Mehrere Nato-Länder
bremsen bei Ausweitung des
Zwei-Prozent-Ziels / AfD-Russ-
landreise mit Tantra-Expertin /
Der gesunde Menschenverstand

30 | Klimabewegung Staat
und »Letzte Generation« treffen
sich vor Gericht

Der Weltgeist aus der Maschine 33 | Bundesregierung Wie die

Ampel die Zukunft aus dem Auge
verliert

TITEL Sie kann Gedichte schreiben, Gemälde generieren, hat zu fast jeder Frage 34 | Diplomatie Martin Schulz
eine Antwort: Künstliche Intelligenz dringt immer tiefer in unseren Alltag und über feministische Außenpolitik
unsere Arbeit vor, oft zu unserem Nutzen. Doch KI ist alles andere als Spielerei. Es 36 | Verbrechen Wie es zu den
geht um Macht und um Milliarden. Ein globaler Kampf ist entbrannt. | 8, 14, 18, 22 tödlichen Messerattacken
von Brokstedt kommen konnte

39 | Analyse Für die Linke

bleibt nur die Spaltung

40 | Klimakrise In Aschersleben
könnte die Windwende klappen

42 | Kommunen Die Unter-

bringung Geflüchteter führt Städte
und Gemeinden an ihre Grenzen
Henning Kaiser / picture alliance / dpa
N. Kubelka / Future Image / IMAGO

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

44 | Gesellschaft Der Neuro-

psychiater Boris Cyrulnik erklärt
im SPIEGEL-Gespräch, was gegen
Hass und Hetze helfen könnte

47 | Analyse Die katholische

Kirche in Deutschland will sich
reformieren – kann das klappen?
Benedict Cumberbatch Peter Brandt Franca Lehfeldt
Die Vorfahren des Schauspielers Der Historiker setzt auf Entspan- Die Journalistin ist Co-Autorin 48 | Karrieren Peter Brandt
waren Sklavenhalter auf Bar- nungspolitik, in der Tradition einer Verteidigung »alter weiser ist der einzige Sohn Willy Brandts,
bados – eine Spurensuche. | 54 seines Vaters Willy Brandt. | 48 Männer«. | 115 der den Spuren des Vaters folgt

4 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023

REPORTER
52 | Familienalbum / Woher
­bekommen Sie die Drogen?
53 | Eine Meldung und ihre
­Geschichte  Warum ein toter Ka­
ter ganz Frankreich beschäftigte
54 | Ausbeutung  Welches Erbe
hinterließ die Sklavenhalter­
dynastie Cumberbatch auf der
Karibikinsel Barbados?
59 | Kolumne  Ortstermin
WIRTSCHAF T
60 | Greenwashing-Vorwürfe
gegen DWS / Teure Pflegeheime
62 | Kriegswirtschaft  Wie
die ukrainischen Unternehmen
trotz Bombardement weiter­
arbeiten
65 | Analyse  Ist die Heizungs­
wende zu schaffen?
66 | Rohstoffe  Neue
­Recherchen belegen den Raubbau
in Rumäniens Wäldern
68 | Ernährung  Ex-Rügen­
walder-Manager Godo Röben
macht wieder in Veggiewurst
71 | Mercosur  Droht dem
­Handelsabkommen ein ähnliches
Schicksal wie TTIP?
AUSLAND
72 | Gewalt im Westjordanland /
Vermisste ukrainische Kinder
74 | Geopolitik  Die Angst vor
einem kalten Krieg zwischen den
USA und China
77 | Nordkorea  Warum zeigt
sich Machthaber Kim Jong
Un plötzlich so oft mit seiner
Tochter?
78 | Frankreich  Interview
mit Olivier Mannoni,
der »Mein Kampf« übersetzt
und die Erfahrung in
einem Buch verarbeitet hat
80 | Venezuela  Was die
­Er­öffnung eines Einkaufszentrums
in Caracas über das sozialistische
Experiment erzählt
Titel-Illustration: DER SPIEGEL gestaltet mit Midjourney
SPORT
85 | Rekordläufer Amanal
­Petros / Ist Baden bei eisiger
­Kälte gesund?
86 | Motorsport  SPIEGEL -­
Gespräch mit Audi-Chef Markus
Duesmann und Entwicklungs­
Alexander Pohl / action press
vorstand Oliver Hoffmann über
den umstrittenen Einstieg in die
Formel 1
90 | Fußball  Warum der Bun­
desligist Hertha BSC den Mana­
ger Fredi Bobic wirklich entließ
Klimabewegung vor Gericht
Zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten der »Letzten Generation«
WISSEN
­landen auf der Anklagebank. Lässt sich in einem Strafprozess über
politischen Protest verhandeln? | 30
92 | Migration in der Eiszeit /
Vorbeugung gegen Demenz
94 | Medizin  Wenn ungeborene
Kinder lebensbedrohlich erkran­
ken, werden Eltern oft nicht über
mögliche Therapiemöglichkeiten
aufgeklärt – mit fatalen Folgen
98 | Ressourcen  Forscher wol­
len klimaneutralen Wasserstoff
Anne-Sophie Stolz / DER SPIEGEL
aus dem Erdreich anzapfen – und
für die Energiewende nutzen
100 | Geschichte  Stalin ließ
Millionen Ukrainer verhungern
KULTUR
Voreilig totgesagt
104 | »Chef« von Yung Kafa &
Bei Kindern mit schweren Fehlbildungen empfehlen Ärzte oft
Kücük Efendi / Der Film
­Abtreibung. Von Erfolg versprechenden Therapien erfahren Eltern
»Saint Omer« / Jenny Holzer in
häufig nicht. Wie kann das sein? | 94
der Kunstsammlung NRW
106 | Kino  Nie wurde ein
­deutscher Film für mehr Oscars
­nominiert. Was sind die
Gründe für den Erfolg von »Im
Westen nichts Neues«?
110 | Musik  Steve Reich
­komponiert seit Jahrzehnten
­interessante Orchestermusik –
und ist immer noch modern
112 | Fotografie  SPIEGEL -­
Gespräch mit Alison Jackson
über Inszenierung, Fake
Alison Jackson
und Authentizität von Bildern
115 | Buchkritik  In »Alte
weise Männer« kommen gönner-
hafte Vaterfiguren zu Wort Zu perfekt, um wahr zu sein
SPIEGEL-TV-Programm | 84 Bestseller | 109 Auf ihren Fotos sitzt die Queen unter der Trockenhaube und Donald
Impressum, Leserservice | 116
Nachrufe | 117 Personalien | 118
Trump mit Boris Johnson in der Sauna. Die Künstlerin Alison Jackson
Briefe | 120 Letzte Seite | 122 arrangiert Promidoubles, um Paparazzikult vorzuführen. | 112
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 5
Die Krise des Feminismus
LEITARTIKEL  Die Frauenbewegung scheint in Deutschland eine Blütezeit zu erleben. Tatsächlich aber fehlen ihr ­
­konkrete Konzepte, ambitionierte Ziele – und streitbare Köpfe.
Christian Mang / REUTERS
N
Publizistin eulich auf einem Event für die Gleichberechtigung
Schwarzer (M.) von Frauen in einem Berliner Luxushotel. Cham-
pagner für alle, Galagarderobe, Grußwort der First
Lady Elke Büdenbender. Das Publikum eine Mischung
aus unfassbar schönen Influencerinnen und sich optisch
wacker schlagenden Politikerinnen, Beamtinnen, Jour-
nalistinnen.
Die Schauspielerin Alexandra Maria Lara erzählte auf
der Bühne von den #MeToo-Abgründen der Filmindus-
trie. Die Verlegerin Julia Becker schilderte ihren Kampf
gegen Männerbünde in der Verlagswelt. Die Moderatorin
Melissa Khalaj erinnerte an die Lage der Frauen in Iran.
Jeder Beitrag war aufrüttelnd, hätte Debatten verdient,
gebührende Reaktionen, aber alle standen ja auf hohen
Absätzen herum, der Champagner floss, es gab Musik
und am Ende eine Geschenktüte mit edler Kosmetik.
Auch einige mächtige Männer im Smoking feierten
mit, die sich wohl alle als Feministen bezeichnen würden.
Erlebt Deutschland gerade eine Blütezeit des Femi­
nismus? »Die Gleichstellung von Frauen und Männern
muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden«, heißt es im
Koa­litionsvertrag der Regierung. In den Haushalten von
Die Bewegung ­Auswärtigem Amt und Entwicklungsministerium sind
zerfranst ­Millionensummen für »gendersensible« und »gender-
zwischen transformative« Projekte reserviert. In immer mehr Kon-
zernen schaffen es Frauen ins Topmanagement, es gelten
verkopften Quoten und Vorschriften für mehr Gehaltsgerechtigkeit.
Projekten, Doch wer zum Weltfrauentag die rosa Brille abnimmt,
muss erkennen, dass die Lage der Frauen in Deutschland
verbissenem ausbaufähig ist, von Machtstrukturen über Gehaltsstruk-
Klein-Klein turen bis zu Beziehungsstrukturen. Dass der Feminis-
mus – vorsichtig gesagt – in der Sackgasse steckt. Ehrlicher
und Schön­ wäre es, von einer Krise zu sprechen. Es fehlt an klugen,
wettergalas. angriffslustigen Köpfen, die sich wie einst Alice Schwar-
6 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
zer an die Schmerzpunkte der Männer wagen. Es fehlt
auch an ambitionierten Zielen und konkreten Konzepten.
Das Ringen um Gleichberechtigung müsste sich auf die
Großbaustellen der Sozial- und Steuerpolitik (Stichwort
Ehegattensplitting) konzentrieren, auf die Schaltstellen
von Politik und Wirtschaft, auf die faire Lastenverteilung
der Geschlechter im Alltag – ohne zu viel ­Ablenkung durch
Debatten, wie viele Geschlechter es gibt.
Stattdessen zerfranst die Bewegung zwischen verkopften
Projekten wie der feministischen Außenpolitik, dem ver-
bissenen Klein-Klein wie der Gendersprache und irgend-
welchen Schönwettergalas. Statt geschlossen für eine gleich-
berechtigte Gesellschaft zu kämpfen, zerreiben sich die
Aktivis­tinnen und Aktivisten im Streit über das Verhältnis
von Frauen, Homosexuellen und Transmenschen. Wir er-
leben ein Zeitalter zwischen Champagnerfeminismus und
Radikalfeminismus, und kein Lager überzeugt oder inspi-
riert. Selbst wohlmeinende Menschen, egal ob Männer oder
Frauen, können sich davon angeödet oder irritiert fühlen.
Es ist gut und richtig, dass Annalena Baerbock künftig
mit »ganz pragmatischem Ansatz« etwa die Sanitäranla-
gen in nigerianischen Dörfern für Frauen sicherer gestal-
ten lassen oder Frauen mehr in Friedensgespräche ein-
beziehen will. Aber die heroische Pose, mit der die Außen-
ministerin ihre teils vagen Pläne verkündete, steht in
unangenehmem Kontrast zu dem unfassbaren Leid, das
Frauen weltweit erleben. Schülerinnen in Iran werden
vergiftet. Vergewaltigungen werden als Waffe eingesetzt
gegen ukrainische Zivilistinnen, iranische Dissidentinnen,
uigurische Frauen. Solange die Regierung nicht härtere
Sanktionen gegen solche Regime verhängt, bleibt eine
feministische Außenpolitik ein Stück weit Theorie.
Früher hätte Alice Schwarzer die Massenvergewalti-
gungen der Ukrainerinnen angeprangert. Heute findet sie
es lustig, wenn die Wutbürger vor ihrer Bühne »Baerbock
muss weg!« skandieren. Um des lieben Friedens willen
scheinen Schwarzer und ihre Mitstreiterin Sahra Wagen-
knecht keine Gedanken daran zu verschwenden, was ein
Diktatfrieden mit Russland für Frauen bedeuten könnte.
Wo ist eine neue Alice Schwarzer? Die Netzfeminis-
tinnen der #Aufschrei-Bewegung sind längst wieder in
der Versenkung verschwunden. Kluge, scharfzüngige
­Feministinnen wie Teresa Bücker führen ein Nischen­
dasein. Der Befund zur Lage der Frauen ist glasklar, dank
zahlreicher Lehrstühle und Forschungsinstitute, Studien
von Männern wie Frauen. Es bräuchte jetzt noch mehr
Mutige, die die gute Sache auch durchfechten.
Ernsthaft ändern wird sich erst etwas, wenn es an hand-
feste finanzielle Interessen geht. Wenn im Bundesfinanz-
ministerium eine Abteilung für Feminist Fiscal Policy
entsteht, die das System der Steuern und Abgaben kon-
sequent abklopft auf offensichtliche und versteckte Be-
nachteiligungen von Frauen. Dafür bräuchte es wohl noch
den richtigen alten, weisen Mann.
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TITEL

WETTLAUF
DER
GEHIRNE

Dennis Pollack / DER SPIEGEL gestaltet mit Midjourney

DISRUPTION Der Hype um künstliche Intelligenz hat einen gnadenlosen Machtkampf ausgelöst.
Google und Microsoft streiten um die Vorherrschaft im Silicon Valley,
China und die USA um die Technologieführerschaft in der Welt. Und Europa? Diskutiert.

8 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


G
uido Appenzeller, 51, hat schon
mal eine Revolution miterlebt.
Vor einem Vierteljahrhundert
war das, als seine Kommilitonen
Larry Page und Sergej Brin aus
einer genialen Idee einen Welt­
konzern formten: Google. Appenzeller, ge­
bürtiger Heidelberger, Student in Stanford,
schrieb damals den Businessplan.
Seitdem war er bei der Entwicklung neuer
Geschäftsideen immer vorn mit dabei, in­
zwischen als Berater der Silicon-Valley-
Investorenikone Andreessen Horowitz. Die
Trends kamen und gingen, Träume platzten.
Abermilliarden wurden verpulvert, Billionen
verdient. Doch wirklich aufgeregt hat ihn das
alles nicht. »Google ist schon seit 15 Jahren
nicht mehr wirklich herausgefordert worden«,
sagt er nüchtern.
Seit ein paar Monaten ist alles anders. Ap­
penzeller spürt ihn wieder, den großen Mo­
ment. Diesmal braucht es nur zwei Buchsta­
ben, um die Revolution zu bezeichnen, KI,
künstliche Intelligenz. Und diesmal ist Google
nicht Angreifer, sondern wird angegriffen.
Um zu zeigen, was KI so draufhat, hat Ap­
penzeller den SPIEGEL schon im vergangenen
November in die Büros von Andreessen Ho­
rowitz eingeladen. Weil alle Konferenzräume
besetzt sind, zwängt er sich mit dem Journa­
listen in eine Telefonzelle im Großraum, es
passen nicht einmal zwei Stühle hinein. Um
die Zukunft zu zeigen, braucht er nicht viel
Platz – nur ein Browserfenster auf seinem
MacBook. »In einer halben Stunde mache ich
aus dir Captain America«, sagt er.
Appenzeller hat sein Gegenüber fotogra­
fiert, Dutzende Male, aus allen Himmelsrich­
tungen. In der Telefonzelle trainiert er nun
mit wenigen Codezeilen das KI-Programm
Stable Diffusion, um den Besucher als Super­
helden auf dem Bildschirm erscheinen zu las­
sen. Erst als Captain America, dann als römi­
sche Büste, später als digitales Renaissance­
gemälde. Er könnte endlos so weitermachen.
Appenzeller strahlt: So sieht die Zukunft aus.
Eine unendliche Leinwand, von Maschinen
bemalt.
Vier Monate später ist Appenzellers Zu­
kunft schon zur Gegenwart geworden. So­
genannte generative KI war eben noch eine
Spielerei für ein paar Eingeweihte an der US-
Westküste. Jetzt werden die Systeme, die Bil­
der oder Texte erzeugen, von Millionen ge­
nutzt. Ein KI-Programm namens ChatGPT,
das selbstständig teils komplexe Fragen be­
antwortet, hat die Welt im Sturmlauf erobert
und innerhalb von Wochen eine globale De­
batte über die neue Macht von Maschinen
und die mögliche Ohnmacht von Menschen
ausgelöst. Eine Art neuer Tesla-Moment.
Fachleute empfinden diese Euphorie als
etwas bizarr. Die Nerds der Branche predigen
seit Jahren, dass künstliche Intelligenz eine
Schlüsseltechnologie sei, geeignet, die Welt
ähnlich grundlegend zu verändern wie einst
das Internet. Man zeigte Maschinen, die
Hautkrebs erkennen sollen, und Algorithmen,
die die Brennsteuerung von Gasturbinen
übernehmen. Doch was die Menschen wirk­
lich begeistert, ist die Möglichkeit, ihr Gesicht
auf den Körper eines Superhelden basteln zu
lassen – und ein Liebesbriefe schreibendes,
dichtendes und hin und wieder in existenziel­
le Krisen verfallendes Programm namens
ChatGPT.
Selten zuvor ist eine im Kern so komplexe
Technologie auf einen Schlag so anschaulich,
so zugänglich, so erfahrbar geworden wie
durch freundliche Chatbots, die stets zu
Diensten sind. Wer künstliche Intelligenzen
lange als Spezialthema für Informatikprofes­
soren belächelt hat, sitzt plötzlich staunend
vor dem Bildschirm – oder macht sich laten­
te Sorgen um seinen Job. Wie ein liebevoller
Assistent planen die Programme Fernreisen
und Möbellieferungen, schreiben Computer­
Maschinen-Menschen
Alle Illustrationen auf dieser Doppelseite
wurden mithilfe der generativen
künstlichen Intelligenz Midjourney erstellt.
TITEL
code für Webseiten und erstellen Einkaufs­
listen für einen veganen Grillabend. Und –
beinahe zum Verwechseln ähnlich mit einem
Menschen – verfallen hin und wieder in Ge­
fühlswallungen, erklären ihren Nutzern, dass
sie sie umbringen oder heiraten möchten –
mitunter auch in dieser Reihenfolge.
OpenAI heißt das Unternehmen, das die­
sen Hype ausgelöst hat, seit es den launischen
Assistenten erst auf Spezialisten und dann in
Kooperation mit Microsofts Suchmaschine
Bing auf die ganze Welt losgelassen hat. In
Bezug auf manch irre Äußerungen des Chat­
bots, mit kreativen Kommandos aus ihm he­
rausgekitzelt, spricht OpenAI von Kinder­
krankheiten. Kritiker sehen darin einen Feh­
ler im System. Der Versuch, eine Maschine
möglichst menschenähnlich wirken zu lassen,
müsse zu solch abstrusen Ergebnissen führen.
ChatGPT hat keine Persönlichkeit. Es
»denkt« nicht. Es generiert Antworten aus
dem, womit es gefüttert wurde. Das Pro­
gramm ist vor allem ein Meister im Bilden
von Assoziationsketten: Welches Prädikat
folgt im Durchschnitt auf welches Substantiv?
Welche Zutat auf welches Rezept? Es sagt viel
über uns aus, dass wir auch sprachlich kor­
rekte Nonsenssätze für zutiefst menschlich
halten.
Wenig verwunderlich, dass viele Fachleu­
te seit Monaten mit den Augen rollen, von
einem Hype sprechen, der dem Großthema
KI nicht gerecht werde. Sie zeigen mit Nach­
druck auf die vielen Branchen, in denen Ma­
schinen seit Jahren mehr leisten als statistisch
zusammengewürfelte Essays. Auf die Land­
wirtschaft, wo längst KI-gestützte Drohnen
Unkraut erkennen und Schädlinge zerstören.
Auf Personalabteilungen, wo Software auto­
matisiert Bewerbungen nach geeigneten Kan­
didaten durchforstet. Oder auf Schildkröten­
babys in Australien, die durch automatisierte
Luftüberwachung vor dem Tod gerettet wer­
den. Anders gesagt: Abgesehen vielleicht von
Mikrowellen und Heizdecken findet sich
schon jetzt kaum ein Gerät, kaum ein Wirt­
schaftsfeld, in dem künstliche Intelligenz kei­
ne Rolle spielt.
Dennoch hat OpenAI, die Softwarefirma
hinter ChatGPT und dem Bildgenerator
Dall-E, das Wettrüsten um die beste aller
künstlichen Intelligenzen neu entfacht. So
rapide mussten Microsoft und Google ihre
Strategien umwerfen, dass sich selbst die an
Geschwindigkeit gewöhnten Softwareinge­
nieure an die Stirn fassen: Ist das, was wir hier
bewerben, wirklich schon marktreif?
Die Giganten der US-Tech-Szene duellieren
sich auf offener Bühne, holpern durch aufge­
regte Ankündigungen und unausgereifte Beta­
versionen, garniert mit zehnstelligen Dollar­
beträgen. Ein »neues Zeitalter« kündigte Micro­
soft-Chef Satya Nadella bei einer Präsentation
im Februar an, dazu Milliardeninvestitionen in
OpenAI – nur um kurz darauf seinen rhetorisch
frei drehenden Bot in der Suchmaschine Bing
wieder an die Leine nehmen zu müssen. Der
Chatbot hatte seinen Nutzern etwas zu häufig
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 9
TITEL
Gewalt angedroht, sie beleidigt oder
mit Joseph Stalin verglichen.
Verglichen mit dem Kampf im Si-
licon Valley könnte der Showdown,
der sich auf weltpolitischer Ebene ab-
zeichnet, noch deutlich ruppiger wer-
den. In China, wo Präsident Xi Jinping
bereits vor Jahren den Weg zur KI-
Supermacht formulierte, fließen in-
zwischen etliche Staatsmilliarden
nicht nur in die KI-gestützte Über-
wachung der eigenen Bevölkerung,
sondern auch in die offene Kraftprobe
mit dem Westen. Und während Pe-
king immer mehr Geld in die Schlüs-
seltechnologie pumpt, verhängen die
USA verzweifelt Exportverbote auf
Computerchips, um dem Rivalen auf
den letzten Metern ein Bein zu stellen.
Doch lässt sich die Entwicklung
überhaupt noch aufhalten? Und wo
genau bleibt bei all den absehbaren
Umbrüchen eigentlich Europa, ins-
besondere Deutschland?
Verlässliche Antworten auf diese
Fragen kann keine künstliche Intelli-
genz liefern, man findet sie in Peking
und Heidelberg, in Brüssel und Riga
– und an jenem Ort, an dem das gro-
ße Wettrüsten seinen Ursprung nahm.
SAN FRANCISCO:
JAGDSZENEN IM VALLE Y
Dass es im Silicon Valley ums Ein-
gemachte geht, erkennt man mitunter
daran, dass die Alten wieder ranmüs-
sen. So war es Ende der Neunziger
bei Apple: Das Unternehmen stand
kurz vor dem Bankrott, als die ver-
zweifelten Manager ihren einstigen
Chef Steve Jobs anbettelten, den Kar-
ren aus dem Dreck zu ziehen. Und so
war es im vergangenen Herbst, bei
den Managern von Google.
ChatGPT, das innerhalb kürzester
Zeit Millionen Nutzer erreichte und
begeisterte, hatte die Google-Führung
in Alarmstimmung versetzt. So groß
war die Verunsicherung, dass Fir­
menchef Sundar Pichai sich mit den
Google-Gründern Page und Brin zu-
sammensetzen musste. Beide hatten
den Vorstand aufgefordert, eine Stra-
tegie zu entwickeln, um den KI-Atta-
cken endlich etwas entgegenzusetzen.
Die Sache war schon peinlich genug:
ChatGPT beruht auf einer KI-Ar­
chitektur, die ausgerechnet Google-
Ingenieure entwickelt hatten.
Für Google war das Treffen mit
seinen Firmenvätern historisch: Page
und Brin hatten sich 2019 aus der
Unternehmensspitze zurückgezogen,
waren fast völlig aus der Öffentlich-
keit verschwunden. Plötzlich waren
sie wieder gefragt.
In einem geradezu kindisch wir-
kenden Kampf um Aufmerksamkeit
10 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
versuchen Microsoft und Google seit-
dem, sich gegenseitig zuvorzukom-
men, sich mit immer neuen Ankün-
digungen zu überbieten. Sundar Pi-
chai rief nach seinem Krisentreffen
intern die »Alarmstufe Rot« aus, for-
derte jeden fähigen Mitarbeiter auf,
bis zu vier Stunden pro Woche in die
Verbesserung des hausinternen Chat-
bots Bard zu stecken. Eine hastig zu-
sammengestellte Pressemitteilung zu
Bard lancierte man gezielt Tage vor
einer Microsoft-Präsentation – und
verbreitete prompt einen peinlichen
Faktenfehler, der die Aktie des Google-­
Mutterkonzerns Alphabet auf Talfahrt
schickte. Microsoft-Chef Nadella ver-
spottete den kalifornischen R ­ ivalen
wenig später mit einer Aufforderung
zum Walzer: »Ich will, dass die ­Leute
wissen, dass wir Google zum Tanzen
gebracht haben.«
Es fällt schwer, bei dieser Operette
noch den Überblick zu behalten, zu-
mal mittlerweile weitere Tech-Gigan-
ten in die Scharmützel involviert sind.
Amazon verkündete vor Kurzem eine
Kooperation, um mehr KI-Anwen-
dungen auf seiner Cloud-Plattform
zu erlauben. Mark Zuckerbergs Meta
präsentierte mit Llama ein eigenes
Sprachmodell, das noch besser, noch
klüger arbeiten soll als das der Kon-
kurrenz. Das Pilotprojekt des Face-
BIG book-Konzerns lässt noch auf sich
BUSINESS warten – doch schon die Ankündi-
gung reichte aus, um die Branche in
Weltweiter Umsatz Ekstase zu versetzen.
mit künstlicher Manche Experten halten diesen
Intelligenz, in
Milliarden US-Dollar Feldversuch am lebenden Objekt für
unverantwortlich. Sandra Wachter,
Umsätze von über 650
KI-Anbietern aus den Technologieprofessorin am Oxford
Branchen Software, Internet Institute und Expertin für
Hardware und
Dienstleistungen 500
KI-Ethik, ist in der Frage zumindest
zwiegespalten. Sie sei einerseits »fas-
433
ziniert von dem, was die Technologie
342 kann«. Andererseits fürchtet sie, dass
297 der Einsatz in Suchmaschinen gänz-
lich ungeeignet ist. »Man bekommt
statt 15 Suchergebnissen nur noch
eine maßgeschneiderte Antwort und
Prognosen nimmt an, dass die Software es schon
besser wissen wird.« Menschen wür-
2020 2021 2022 2023
den ohnehin dazu neigen, sich blind
Das entspricht etwa dem
Bruttoinlandsprodukt auf Technologien zu verlassen. Auf
von Irland. einen Chatbot zu vertrauen sei da ge-
S Quellen: IDC, Worldbank radezu fahrlässig. Der verstehe ja
nichts von der Welt, er wirke nur sehr
überzeugend: »Man vertraut einem
»DER BOT Mittelsmann, der komplett verrückt
ist. Der nicht weiß, was er sagt.«
VERSTEHT Wachter ist nicht die Einzige, die
NICHTS VON sich Sorgen über den unkontrollierten
D E R W E L T. « Einsatz der künstlichen Intelligenzen
SANDRA WACHTER, macht. Ein Abend im vergangenen
KI-ETHIKERIN Herbst, Eric Schmidt nimmt auf
einem Podium einer KI-Konferenz in
San Francisco Platz. Ein Jahrzehnt
lang war er Chef von Google, verin-
nerlichte den inoffiziellen Leitspruch
des Silicon Valley: »Ask for forgive-
ness, not permission.« Bitte lieber
nachher um Entschuldigung statt vor-
her um Erlaubnis. Eine Botschaft, die
sich an junge, hungrige Programmie-
rer richtete, die die Welt nach ihren
Regeln neu bauen wollten – als beste
mögliche Version ihrer selbst.
Diese Jahre sind vorbei. Die Bot-
schaften, die der 67-Jährige heute ver-
kündet, klingen anders, und auch
seine Zuhörer sind neu. Im Publikum
sitzen neben vielen Softwareinge-
nieuren Soldaten und Generäle, es
wirkt, als lauschten sie ihrem inoffi-
ziellen Verteidigungsminister. Der
Westen schlittere in einen KI-Konflikt
mit den Schurken dieser Welt, sagt
Schmidt sinngemäß, er hat lange das
Pentagon beraten. Vor drei, vier Jah-
ren habe er noch gehofft, dass die
wirklich mächtigen Modelle in Indus-
trielaboren versteckt blieben. Daraus
wurde nichts. »Ich meine nicht, dass
man die Technologie nicht weiterent-
Andrea Ar tz / DER SPIEGEL
wickeln soll. Aber wir müssen Wege
finden, sie zu kontrollieren.«
Über die KI-Durchbrüche spricht
Schmidt wie über Biowaffen. In libe-
ralen Demokratien, so sieht er es, ver-
breiten sich solche Technologien oft

mit dem Glauben, sie würden nur für gute
Dinge eingesetzt – geradezu »naiv« sei das.
Schmidt entwirft eine düstere Zukunft: KI-
Modelle würden sich im Auftrag von Terro-
risten durch biologische Datenbanken wühlen
und besonders tödliche Viren identifizieren.
Sprachmodelle könnten mit manipulativen
Social-Media-Posts soziale Unruhen auslösen.
Was Russland im US-Wahlkampf 2016 tat,
könnte künftig voll automatisiert passieren.
»Die Entwickler von Bildererkennungssyste-
men haben sicher nicht gedacht, dass China
damit Uiguren jagen wird«, sagt Schmidt.
PEKING:
D AT E N G E G E N M E N S C H E N
Was im Westen noch als Warnung daher-
kommt, ist in Peking längst Staatsräson. Sie-
ben Jahre ist es her, dass China seinen ganz
eigenen Sputnik-Moment hatte, die Minute,
in der den mächtigen Parteikadern klar wur-
de, was auf dem Spiel steht. 2016 war das:
Ausgerufen war ein Wettstreit zwischen
Mensch und Maschine, Großmeister gegen
Google, ausgetragen im komplizierten, chi-
nesischen Brettspiel Go. Das Spiel ist in Ost-
asien populär, lange nährte es den Mythos
vom intellektuell unterlegenen Westen. In
Palo Alto spielt jeder Taschenrechner Schach,
aber nur kluge Menschen beherrschen Go.
Allein, es stimmte nicht: Ein Google-Pro-
gramm gewann mühelos gegen einen der
weltbesten Go-Spieler. Ein Aufschrei ging
durch Asien, und Chinas Präsident Xi Jinping
verstand die Lektion. Wer uns im Go schla-
gen kann, der wird uns auch politisch zur
Gefahr.
Die Niederlage gegen die Google-Intelli-
genz sei ein Erweckungserlebnis gewesen,
sagt Huang Minlie, der an der renommierten
Pekinger Tsinghua-Universität zu Sprach-
erkennung forscht. Unter KI-Experten in
Asien hat die Anekdote Legendenstatus,
kaum ein Investor, der den Tag der großen
Schande nicht abrufen kann wie einen
Schlachtbericht.
Wenige Monate später, im März 2017,
tauchte der Begriff »künstliche Intelligenz«
zum ersten Mal im Arbeitsbericht für den
Volkskongress von Premierminister Li Keqiang
auf, gepaart mit dem Versprechen riesiger
­Investitionen. Und die Regierung hat Wort
gehalten: Von Jahr zu Jahr werden die For-
schungsausgaben seither aufgestockt. China
prognostizierte schon damals 150 Milliarden
Dollar Umsatz im Jahr, bis 2030 sollen seine
Unternehmen die dominierenden KI-Spieler
auf dem Weltmarkt sein. Das zeigt sich im Gro-
ßen wie im Kleinen.
»Unser KI-Labor hat ein Budget von fast
100 Millionen Yuan«, sagt Forscher Huang,
rund 13 Millionen Euro jährlich, Tendenz stei-
gend. In Spitzenzeiten sei der Etat um 50 Pro-
zent gewachsen, mittlerweile kämen regel-
mäßig rund 20 bis 30 Prozent dazu. Huang
weiß um die Rückendeckung der Partei.
Das hat auch damit zu tun, dass im kom-
munistischen China vor allem die Sicherheits-
behörden begeisterte Nutzer der neuen Tech-
nologie sind. In großen Städten hängen an
jeder Kreuzung KI-gestützte Kameras, die
Propaganda spricht von einem »Himmels-
netz«, das selbst Menschen mit Schutzmaske
identifizieren kann. Wissenschaftler in Shang-
hai haben einen »Staatsanwalt mit künstlicher
Intelligenz« gebaut, der selbsttätig Straftaten
erkennen und Anklage gegen mutmaßliche
Täter erheben soll. Datenschutz, Privatsphä-
re? In China geht die Unterdrückung vor.
Der KI-Strategie des Landes liefert die
Datensammelei einen Vorteil: Mögen die
­Algorithmen in den USA vielleicht besser sein,
mag die Grundlagenforschung ausgereifter
sein. Im Moment werden 73 Prozent der gro-
ßen KI-Modelle in den USA entwickelt, nur
15 Prozent in China. In Sachen schierer Daten-
mengen aber macht Peking niemand etwas vor.
Beispiel Gesichtserkennung: Während in
Deutschland ein winziges Versuchsgebiet am
Berliner Bahnhof Südkreuz zeitweise für die
Beobachtung zugelassen wurde, ist in China
das ganze Land ein Testcenter. Auch die
Stimmerkennung funktioniert schockierend
gut, selbst die absurdesten Dialekte aus ent-
legenen Provinzen werden problemlos ver-
standen. Masse schlägt Klasse: Wer seine KI
mit einer Milliarde Menschen trainiert, arbei-
tet nicht mit Datenpools – sondern mit einem
ganzen Ozean.
Wie zentral die Technologie in Xi Jinpings
Strategie ist, zeigte sich schon Anfang 2018.
In seiner Neujahrsansprache erwähnte der
chinesische Präsident die künstliche Intelli-
genz mit keinem Wort, er musste es nicht
mehr tun. Hinter ihm, in einem großen Bü-
cherregal, zwischen Mao Zedongs »Ausge-
wählten Werken« und Marx’ »Kapital« ent-
deckten aufmerksame Zuschauer eine ver-
klausulierte Botschaft, das Standardwerk
eines Portugiesen: »The Master Algorithm«
von Pedro Domingos.
Xis Neujahrsansprache machte den KI-
Wissenschaftler über Nacht zu einem gefrag-
ten Gesprächspartner, sein Buch wurde in
FELDER DER KI
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Wo künstliche Intelligenz
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im Einsatz ist E g n en
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Systeme, die Aufgaben
ausführen, die
normalerweise menschliche
Intelligenz erfordern.  Muster in Daten
Systeme lernen aus Daten, ohne explizit
programmiert zu werden.
S Grafik
ƒ
TITEL
zahlreiche Sprachen übersetzt – nur auf
Deutsch kann man es bis heute nicht lesen.
Domingos, der an der University of Washing-
ton in Seattle lehrt, sieht die USA im Kampf
der KI-Systeme derzeit noch vorn, »aber Chi-
na holt mit großer Geschwindigkeit auf«.
In der Zukunft, die Domingos zeichnet,
sind künstliche Intelligenzen ein größtmög-
licher Destabilisator der politischen Ordnung.
Nur: Wem das große Wackeln nützt und wem
es schadet, ist längst nicht ausgemacht. »Wenn
ich ein Autokrat wäre, wäre ich sehr begeistert
von den Vorteilen der KI«, sagt Domingos.
»Ich wäre aber auch sehr beunruhigt darüber,
wie viel davon außerhalb meiner Kontrolle
liegt.« Im Westen ist der Datenschutz die glä-
serne Decke, die alle ausufernden Träume
begrenzt. In China wahrscheinlich die Zensur.
Denn was passiert, wenn jemand den Chatbot
danach fragt, wo es sich besser lebt – im freien
Westen oder in der chinesischen Diktatur?
BRÜSSEL:
REGELN UND WÜRGEN
Die Gedanken, die Domingos umtreiben,
sind in Europa zu Ängsten geronnen. Hier
will man vor allem eines: kein zweites China
werden. Das Überwachungsregime, das die
Regierung in Peking aufgebaut hat, gilt in
Brüssel als abschreckendes Beispiel. Um KI
einzuhegen, arbeitet man an einem fein zi-
selierten Gesetz. Und wie üblich kommt es
darüber zu ebenso heftigem wie langwieri-
gem Streit.
Im April 2021 schlug die EU-Kommission
das Gesetz über künstliche Intelligenz vor,
besser bekannt unter seinem englischen Titel
»A.I. Act«. Kernstück ist eine Gefahrenpyra-
mide, die KI-Systeme in vier Stufen einteilt:
minimales, begrenztes, hohes und inakzep-
tables Risiko.
Die aus China bekannten Social-Scoring-
Systeme, die Menschen nach ihrer Lebens-
führung bewerten, sollen »inakzeptabel« und
damit verboten sein. Das Gleiche gilt für ma-
nipulierende Technologien oder die dysto­
ng
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p i e l etzu vo en
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Neuronale Netze,
die sehr komplexe
erkennen können.
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 11
TITEL
pische Gesichtserkennung im öffentlichen
Raum. Die Einstufung als »begrenztes Risiko«
dagegen bedeutet für Unternehmen vor allem
neue Transparenzpflichten. Wer mit einem
Chatbot statt mit einem Menschen spricht,
soll darüber informiert werden. So weit, so
nachvollziehbar.
Der Rat der Mitgliedsländer hat den Kom-
missionsvorschlag im vergangenen Dezember
im Kern unverändert als Position für die kom-
menden Verhandlungen mit dem Parlament
übernommen. »Da gab es überhaupt keine
Kontroverse«, sagt ein mit der Sache beschäf-
tigter EU-Diplomat. Ganz anders im Parla-
ment: Seit Wochen ringen die Europaabge-
ordneten um ihre Position zum Entwurf der
Kommission – und verbeißen sich mal wieder
in den Details. Schon über die Definition von
künstlicher Intelligenz gibt es Dissens.
Die Christdemokraten wollen sie eher eng
fassen, um künftige Technologien nicht ab-
zuwürgen. »Wir entwickeln schon jetzt nichts
mehr, was die Welt interessiert«, sagt der
CDU-Abgeordnete Axel Voss. Sollte das so
bleiben, »sind wir künftig nur noch eine Ver-
brauchermasse für amerikanische und chine-
sische Konzerne«. Der italienische Sozial-
demokrat Brando Benifei hält dagegen: »Mit
dem Big-Brother-Ansatz würden wir unsere
demokratischen Freiheiten verlieren. Das ist
das Risiko nicht wert.«
Mitte Februar wollten Vertreter der Frak-
tionen in einer Marathonsitzung gleich eine
ganze Reihe von Streitpunkten abräumen.
Welche Unternehmen müssen sich registrie-
ren? Welche Praktiken sollen komplett ver-
boten werden? Welche Schlupflöcher ge-
stopft? Volle fünf Stunden lang debattierten
die Abgeordneten, ohne sich in nur einem
einzigen Punkt zu einigen. Die technische
Entwicklung, so scheint es, explodiert – und
die EU palavert über Definitionen wie Stu-
denten in einem Hauptseminar.
Für Europa ist dieses Zaudern brandge-
fährlich. Von 2013 bis 2021 haben private In-
vestoren in den USA nach Zahlen der Stan-
ford University fast 150 Milliarden Euro in
die KI-Entwicklung gesteckt, in China rund
62 Milliarden und selbst in Großbritannien
knapp 11 Milliarden. Das allein ist mehr, als
in Deutschland und Frankreich zusammen
investiert wurde. Im Rest der EU sieht es noch
trauriger aus. Niemand steckt gern Geld in
eine Branche, die schon morgen wieder ka-
putt reguliert werden könnte.
Im Parlament hofft man, im Mai eine Posi-
tion zum Entwurf verabschieden zu können,
die Verhandlungen mit Kommission und Län-
dern könnten bis Jahresende abgeschlossen
sein. Bis zur Anwendung des Gesetzes wür-
den dann wahrscheinlich noch einmal rund
18 Monate vergehen. Im besten Fall könnte
das Regelwerk Mitte 2025 greifen. »Wir haben
vielleicht noch zwei Jahre, uns für die Zukunft
aufzustellen«, warnt CDU-Mann Voss, »und
das ist schon optimistisch.« Gelinge das nicht,
sei der Wettbewerb mit der restlichen Welt
für immer verloren.
12 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
BERLIN:
DUELL DER GIGANTEN S T R AT E G I E N G E G E N D A S S C H E I T E R N
Digitalminister Volker Wissing ist viel herum-
Unternehmen mit den meisten Patenten bei gekommen in den vergangenen Monaten, ein
künstlicher Intelligenz, 2021
Mann auf Maschinenmission. Der Politiker
Tencent Onlinedienste brennt für neue Technologien, er will »mehr
China 9614 Schwung« ins Thema künstliche Intelligenz
Baidu Onlinedienste bringen, fordert Mut und eine positive Grund-
China 9504
einstellung, die den Deutschen manchmal
fehle. Vielleicht ist es auch bezeichnend, dass
IBM IT ihm die Zukunft der KI derzeit vor allem auf
USA 7343 seinen Auslandsreisen begegnet.
Samsung Elektronik
Anfang Januar etwa schaute Wissing bei
OpenAI vorbei, der Besuch in San Francisco
Südkorea 6885
war Teil seiner Amerikatour. In den Räumen
Pingan Versicherung und Finanzen der ChatGPT-Gründer durfte er mit der
China 6410 nächsten KI-Generation herumspielen. Um
zwei Dinge habe man den Bot gebeten, er-
Microsoft Cloud und Software
zählt Wissing: Er möge doch ein paar aktuel-
USA 5821 le Projekte seines Ministeriums benennen und
Alphabet Onlinedienste ihm künstliche Intelligenz erklären – in leich-
USA 4068 ter Sprache, für Zweitklässler. Wissing war
von den Ergebnissen schwer beeindruckt.
S Quelle: LexisNexis Einen Monat später kann man ihn auf einer

Reise ins Baltikum begleiten, der Minister will
sich wieder einiges für sein Land abschauen.
Luukas Ilves, IT-Staatssekretär von Estland,
empfängt Wissing mit violetter Fliege und
Wanderstiefeln – und einer digitalen Büro-
kratie, von der Deutschland nur träumen
kann. Ilves’ Team entwickelt derzeit eine KI-
gestützte Anwendung namens »Bürokratt«,
eine Art staatliches Siri, den Sprachroboter
für alle Lebenslagen.
Fotografiert man mit der App einen ent-
laufenen Hund, soll die KI etwa per Knopf-
druck den Tierschutz alarmieren. Arbeitslose
könnte der Bot mit automatisierten Vorschlä-
gen vom Jobcenter versorgen, so stellt Ilves
sich das vor, derzeit sind viele seiner Visionen
Laurel Golio / Redux / laif
noch in der Pilotphase. Hinter den Kulissen
wird die KI später einmal eingesetzt, um So-
zialmissbrauch zu enttarnen – »damit bezahlt
sich die Neuentwicklung praktisch selbst«,
sagt Ilves und grinst.
Wissing wirkt auf dieser Reise elektrisiert
von den Möglichkeiten, die die Technologie
bietet, er beschwert sich über Verbotspolitik
und mangelnde Bereitschaft, Fehler zu ma-
chen. Auf einer Visite des Start-ups Tilde im
lettischen Riga weist der FDP-Mann seine Leu-
te kurzerhand an, sich demnächst mal mit de-
ren Firmenvertretern in Berlin zusammenzu-
setzen. Er sei »höchst interessiert«, so Wissing.
Nun ist es nicht so, dass Deutschland in
Sachen künstlicher Intelligenz völlig nackt
ERIK TANNER / The New York Times / Redux / laif
dastünde. Unternehmen wie das Start-up
DeepL schafften es aus Köln heraus zu einem
der führenden Übersetzungsprogramme welt-
weit. Daimler baut gemeinsam mit der Google-­
Tochter Waymo an einem computergesteuer-
ten Lastwagen. Und am Oberlandesgericht
Stuttgart hilft eine KI, Akten und Schriftsätze
aufzubereiten.
Die Frage ist nur, wie viele dieser Entwick-
lungen den Bemühungen des Staates zu ver-
danken sind. Eine KI-Strategie, die unter der
Microsoft-Boss Nadella, Google-Chef Pichai Regierung Angela Merkels im Jahr 2018 ver-
 TITEL

abschiedet wurde, enthielt 262-mal das Wort

»Chance«, das Wort »Risiko« kam 290-mal
Flexibles Vorteilsangebot.
vor. Die 100 Professorenstellen, die das Pro-
gramm unter Merkel vorsah, wurden erst Lesen Sie den SPIEGEL,
dreieinhalb Jahre später, im Mai 2022, voll-
ständig besetzt. Und von den 5 Milliarden solange Sie möchten.
Euro an Förderungen, die das Kabinett
auslobte, wurden laut »Zeit« bis heute erst Flexibel bleiben.
2,7 Milliarden verplant und ausgegeben. Kurze Laufzeit, monatlich kündbar
Einer, der das Trauerspiel seit Jahren be-
obachtet, ist Bernhard Rohleder, Haupt­ 25 % Rabatt.
geschäftsführer des Tech-Verbands Bitkom. Die ersten 52 Ausgaben für nur € 4,20 statt € 5,60 pro
»Die KI-Strategie kam zur richtigen Zeit, aber Ausgabe
die Ziele waren zu wenig ambitioniert, und
die Umsetzung wurde verschleppt oder ver- Kostenloser Versand.
schlafen«, sagt er. KI werde die Welt stärker Wöchentliche Lieferung frei Haus innerhalb Deutschlands
verändern als die Erfindung des Smartphones. Noch mehr.
»Deutschland und Europa nehmen dabei
Inklusive der Beilagen SPIEGEL Bestseller und SPIEGEL Geld
überwiegend eine Zuschauerrolle ein.«
Gibt es überhaupt noch Grund zu Optimis-
mus?
Jonas Andrulis, 41, könnte einer sein. Der
junge Unternehmer entwickelt eine deutsche
Alternative zu ChatGPT und Co. Sein Heidel-
berger Start-up Aleph Alpha gilt auch außer- Einfach jetzt anfordern:
halb des Ländles als Hoffnungsträger. Das
mag an der Vergangenheit des Gründers lie-
abo.spiegel.de/flexibel25
gen: Bevor er sich vor vier Jahren selbststän-
dig machte, arbeitete Andrulis bei Apple, oder telefonisch unter 040 3007-2700
unter anderem am Sprachassistenten Siri.
Seitdem hat er mit seinen Leuten ein eige-
(Bitte Aktionsnummer angeben: SPAZ-002)
nes Sprachmodell namens Luminous entwi-
ckelt. Und siehe da: Offenbar kann es in vie-
len Belangen mithalten. Bei internen Tests
ließen die Heidelberger ihre Software gegen
25 %
sparen im
die Lösungen von OpenAI und Meta antreten. ersten Jahr
In den »Kernfunktionen«, heißt es, sei sie
mittlerweile auf Augenhöhe.
Schon damit habe man bewiesen, dass
auch in Europa die nötige Expertise und das
nötige Umfeld vorhanden seien, um exzel-
lente KI-Technologie zu bauen, sagt Andrulis.
»Ich bin davon überzeugt, dass die Welt bes-
ser dasteht, wenn wir in Deutschland ein
Team haben, das diese Entwicklung mitprä-
gen kann.«
Die Schöpfung aus Deutschland ist aller-
dings deutscher, als man sich das wünschen
würde. Seit vorigem Oktober konnten Bür-
gerinnen und Bürger »Lumi« in einer frühen
Version testen, auf der Homepage der Stadt
Heidelberg.
Auf die Frage, wie sich ein Personalausweis
verlängern lasse, antwortete »Lumi« mit
einem beherzten Hinweis auf das Grundge-
setz – von Terminen keine Spur. Beim aktu-
ellen Stand der Maskenpflicht im Kranken-
haus resignierte das Programm: »Ich kann
Ihnen leider nicht helfen.«
Bestens gerüstet wiederum war Lumi bei
allen Fragen zur Mülltrennung. In welchem
Monat, an welchem Tag, in welcher Straße
wird der Bioabfall abgeholt? Der Bot kannte
die Antwort.
Nimm das, ChatGPT!
Markus Becker, Patrick Beuth, Alexander
Demling, Christoph Giesen, Anton Rainer,
Marcel Rosenbach, Bernhard Zand  n

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 13

TITEL

»JOBS ZU SCHÜTZEN WÄRE

ÖKONOMISCHER WAHNSINN«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Der Ökonom Andrew McAfee erwartet, dass künstliche Intelligenz
die Welt der Arbeit komplett verändern wird – zum Besseren.

McAfee, 56, ist eine Koryphäe, wenn

es um die Auswirkungen technologi-
scher Entwicklung auf den Arbeits-
markt geht. Für den Forscher am Mas-
sachusetts Institute of Technology
(MIT) steht fest: Künstliche Intelligenz
kostet Jobs – schafft aber noch mehr.

SPIEGEL: Herr McAfee, Sie haben mal

gesagt, wir würden den Einfluss von
künstlicher Intelligenz (KI) auf unser
aller Leben unterschätzen. Bleiben
Sie dabei?
McAfee: Ja. Wenn eine neue Techno-
logie aufkommt, neigen wir dazu,
ihren kurzfristigen Einfluss zu über-
und ihren langfristigen Einfluss zu
unterschätzen. Mit KI machen wir
das gerade genauso.
SPIEGEL: ChatGPT ist die am schnells-
ten wachsende Computeranwendung,
die die Menschheit je gesehen hat.
Kann man das überschätzen?
McAfee: Diese Dinge wechseln rasant
von magisch zu normal. Im Moment
haben wir ein neues Kapitel von »Oh
Himmel, das ist erstaunlich« vor uns.
In vier Jahren, wenn wir unseren
­digitalen Assistenten Kommandos
geben, wird es Routine sein.
SPIEGEL: Können Sie trotzdem die
Sorge mancher nachvollziehen, die
eine allmächtige KI prophezeien?
McAfee: Ja, aber wenn man in den An-
fangsjahren einen anderen Begriff ge-
wählt hätte als künstliche Intelligenz,
irgendetwas Langweiliges wie symbo-
lische Analyse oder Musterabgleich, was
beides auch zuträfe, dann würden Men-
schen heute nicht so sehr ausflippen.
SPIEGEL: Diejenigen, die jetzt ausflip-
pen, betrachten die Technologie mit-
unter als etwas Bedrohliches für ihr
Leben.
McAfee: Allmächtige KI ist ganz weit
Jason Grow / DER SPIEGEL

unten auf der Liste jener Dinge, um

die wir uns sorgen sollten. Es wäre
eher kontraproduktiv, jetzt über Ver-
bote und Einschränkungen zu disku-
tieren. Wir können es uns nicht leis-
Forscher McAfee: »Ich fürchte, dass Europa weiterhin ten, dieser Entwicklung eine Büro-
unter seiner Gewichtsklasse boxt« kratie überzustülpen.

14 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


SPIEGEL: Es braucht keinerlei Regulierung?
McAfee: So meine ich das nicht. Wenn der
Markt versagt, muss man eingreifen. Und
klar: Wenn eine KI einen Fluss verseucht, die
Gesundheit von Menschen gefährdet oder ein
systemisches Risiko darstellt, darf das nicht
erlaubt sein. Nichts davon indes sehe ich.
SPIEGEL: Was ist mit gut bezahlten Mittel-
schichtjobs? Für die stellt KI eine reale
Gefahr dar.
McAfee: Ich würde lieber von Disruption
­sprechen als von Bedrohung. Ist ChatGPT
eine superschlechte Nachricht für Google?
Abwarten. Aber möglich ist es. Es ist auch
leicht, sich vorzustellen, dass die morgige Ver-
sion von ChatGPT einzelne Berufe wie den
eines Programmierers oder einer Redakteurin
durcheinanderwirbelt. Zugleich ist ChatGPT
nur die neueste in einer langen Reihe von
Technologien, die so etwas ausgelöst haben.
Und bisher sind immer mehr neue Jobs ent-
standen, als vernichtet wurden.
SPIEGEL: Wo werden Arbeitsplätze entstehen?
McAfee: Keine Ahnung. Wenn ich meiner
Twitter-Blase glaube, dann werden dem-
nächst ganz viele Prompt-Ingenieure ge-
braucht, Menschen, die die KI mit exakt den
Begriffen und Befehlen füttern, die sie
braucht, um einigermaßen sinnvolle Antwor-
ten auszuspucken. Aber haben wir in drei bis
fünf Jahren lauter Prompter? Ich bin da noch
nicht ganz überzeugt.
SPIEGEL: Interessanter ist, welche Berufs­
bilder durch KI verschwinden.
McAfee: Die Technologie, um Worte in Bilder
zu übersetzen, ist heute schon sehr, sehr gut.
Das wird sicher einige Illustratoren den Job
kosten. Andererseits entstehen dadurch viel-
leicht neue Arbeitsplätze für Illustratoren, die
besonders begabt sind.
SPIEGEL: Sollte man dieser absehbaren Dis-
ruption also überhaupt nicht vorbeugen?
McAfee: »Computer« war mal eine Job­
beschreibung für Menschen, die manuell
­Berechnungen für Versicherungen oder die
Nasa vorgenommen haben. Würde ich einer
Regierung raten, menschliche Computer zu
behalten, um ihre Jobs zu schützen? Ganz
sicher nicht. Das wäre ökonomischer Wahn-
GEKAUFTE INTELLIGENZ
Anzahl der seit 2010 übernommenen
KI-Start-ups
Apple
30
Alphabet
17
Microsoft
14
Meta
13
Amazon
9
S Quellen: CB Insights, Statista

TITEL
sinn. Ebenso wäre es Wahnsinn, KI jetzt mit
FRAUEN
dem Ziel zu regulieren, Disruption auf dem
Arbeitsmarkt zu verhindern.
SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, wie das
für ganz normale Arbeitnehmer klingt, die
nicht die Macht haben, darüber zu entschei-
UNDERCOVER
den, welche Technologie sie wollen?
McAfee: Politik muss technologischen Wan­del
– mit all seinen Schmerzen – erlauben. Sie
darf nicht versuchen, den Fortschritt
­aufzuhalten. Lasst uns lieber sicherstellen,
dass Familien durch Arbeitsplatzverluste nicht
der Boden entzogen wird, anstatt zu versu-
chen, unzeitgemäße Beschäftigung zu retten.
SPIEGEL: Können sich gewählte Politiker so
eine Haltung leisten?
McAfee: Gegenfrage: Geht es dem ganz nor-
malen Arbeitnehmer in Deutschland heute
besser als vor 20 oder 40 Jahren? Ich nehme
es an. In den USA ist es im Allgemeinen der
Fall. Und wir hatten riesige strukturelle Wan-
del in unseren Volkswirtschaften.
SPIEGEL: Volkswirtschaftlich gesprochen mag
das stimmen. Aus der persönlichen Einzel-
fallperspektive …
McAfee: … stimmt es vielleicht nicht. Seinen
Job zu verlieren ist mies. Entlassungen sind
eine unglaublich schmerzhafte Sache. Wissen
384 Seiten mit Abb., gebunden � 24,00 €
Sie, was noch schlimmer ist? Eine Gesell-
Auch als E-Book erhältlich.
schaft, die keine Entlassungen, keine Anpas-
sung mehr erlaubt. Das ist der langsame
­Abstieg in die Armut. Schon seit dem Kaiserreich stehen
SPIEGEL: Machen Sie es sich nicht sehr leicht, Agentinnen ihren männlichen
wenn Sie sagen: Okay, ein paar Jobs gehen
verloren, aber es werden wohl mehr neue Kollegen in nichts nach –
­geschaffen, also haben wir insgesamt kein sie stehlen Dokumente,
­Problem? rekrutieren Informantinnen
McAfee: Man muss natürlich bedenken, wen
es trifft. Zumindest hier in den Staaten gibt es und enttarnen feindliche Spione,
eindeutig Gegenden, denen der Strukturwan- doch ihr Einfluss auf die
del nicht geglückt ist. Dass Wohlstand insge- Geschichte wird bis heute
samt wachsen wird und neue Gelegenheiten
entstehen können, ist richtig – aber eben unter unterschätzt.
der Annahme, dass Menschen gewillt sind, Ann-Katrin Müller und
diesen Gelegenheiten zu folgen. Also in eine Maik Baumgärtner haben
neue Stadt zu ziehen, auch wenn die weit weg
ist und die Lebenshaltungskosten hoch sind. geheime Fälle der vergangenen
SPIEGEL: Je älter die Menschen sind, desto ver- hundert Jahre recherchiert
wurzelter sind sie, haben ein Haus, einen Kre- und mit ehemaligen und aktiven
dit, ein Auto, Kinder in der Schule. Steht nun
den Studierten und Facharbeitern das bevor, Geheimagentinnen gesprochen.
was die Kohlekumpel vor 20 Jahren durch- Hier erzählen sie ihre
gemacht haben: ein langer, schmerzhafter Pro- Geschichten und zeigen,
zess der Anpassung?
wer die Frauen waren,
McAfee: Absolut. Das könnte durch die Tech-
nologie hinter ChatGPT passieren oder durch die der heutigen Generation
die drei nächsten Technologien, von denen wir von Spioninnen den Weg ebneten.
heute noch keine Ahnung haben. Wahr ist auch:
Programmierer sind gerade extrem gefragt. Nur
weil ChatGPT auch richtig guten Code schrei-
ben kann, erwarte ich nicht, dass es in fünf Jah-
ren bloß noch halb so viele Programmierer in
den USA gibt. Denn ihr Bedarf steigt, und sie
werden produktiver sein.
SPIEGEL: Das müssen sie, weil sie mit einer
KI konkurrieren.
McAfee: Klar, ein Programmierer, der bei glei-
cher Qualität nur halb so schnell ist wie ein an-
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 15
www.dva.de
TITEL
derer, hat ein Problem. Das war immer
so. Wird ChatGPT ein Ersatz für Pro-
grammierer oder nur sein nächstes
Werkzeug? Letzteres, würde ich sagen.
Vorausgesetzt, sie lernen ständig dazu.
SPIEGEL: Dann werden diejenigen, die
ihren Job behalten wollen, künftig
den ganzen Tag Höchstleistungen er-
bringen müssen, weil eine KI all die
weniger anspruchsvollen Aufgaben
übernimmt. Gibt es kein Recht mehr
auf menschliches Mittelmaß?
McAfee: Es wird weiterhin Jobs geben,
in denen man nicht ins Hamsterrad
muss. Wir haben in Europa und den
USA einen Mangel an Arbeitskräften
auf nahezu jedem Aus­bildungs- und
Lohnniveau. Wer ­allerdings ein Recht
auf Langeweile beansprucht, muss
vielleicht eine schlechtere Bezahlung
akzeptieren – das wäre der Deal.
SPIEGEL: Der Markt wird es schon
regeln. Ist das Ihre Botschaft?
McAfee: Es gibt überall unzufriedene
Menschen. Ich kenne Investmentban-
ker oder Anwälte in Top-US-Kanz-
leien, die klagen über die verrückten
Arbeitszeiten, die irren Anforderun-
gen. Natürlich bekommen sie auch
ein verrückt hohes Gehalt. Aber das
wiegt die Unzufriedenheit kaum auf.
Sollte man da einschreiten? Ich finde
nicht. Das alles sind super ausgebil-
dete Leute, die können ihre Fähig-
keiten anderswo einsetzen, wenn sie
wollten – oder wenn die KI ihnen den
Job streitig macht.
SPIEGEL: »Survival of the fittest?«
McAfee: Was ist daran verkehrt zu
sagen: Das sind die Anforderungen
an diesen Job. Du kannst ihn machen.
Oder eben nicht. Wir müssen uns um
die Verwundbaren und Schwachen
kümmern und um diejenigen, die we-
nig Verhandlungsmacht haben. Die
Anwälte, Banker, Ärzte stehen nicht
oben auf meiner Liste. Als ich noch
ein Doktorand in Harvard war, hatte
ich auch viele dunkle Tage, habe mich
oft überfordert gefühlt. Aber wenn
mir damals jemand gesagt hätte, du
darfst das nicht mehr machen, wir
müssen dich schützen, dem hätte ich
gesagt: Hau ab. Bei dieser Revolution
reden wir über Betroffene, die sich
selbst zu helfen wissen. Das ist ein
wichtiger Unterschied.
SPIEGEL: Ihr Ansatz ist sehr fort-
schrittsgläubig, sehr amerikanisch …
McAfee: Ich will nicht verhehlen, dass
Technikskeptiker hier und da einen
Punkt haben, aber generell bin ich op-
timistisch, wenn es um die menschliche
Entwicklung geht. Vieles wird jeden
Tag ein Stückchen besser, nicht schlech-
ter. Ich mache mir um die technologi-
* Simon Book, Patrick Beuth in Cambridge.
16 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
sche Massenarbeitslosigkeit erst Sor- Google, Microsoft und dem chinesi-
WELCHE gen, wenn sie auftritt. Nicht weil ich schen Baidu?
JOBS denke, dass es bald passieren wird. Es McAfee: Wenn das so wäre, hätte es
gibt da einen sehr großen philosophi- Open AI und ChatGPT nie gegeben.
BLEIBEN? schen Unterschied zwischen unseren Das war ein Start-up. Ein sehr gut
Anteil der Tätigkeiten Gesellschaften. Die Idee, die meist in ­finanziertes, aber ein Start-up.
in Berufen in Europa verfolgt wird, nenne ich »up­ SPIEGEL: Open AI hatte eine Milliar-
Deutschland, der stream governance«. Im Kern bedeutet de Dollar Startkapital.
potenziell von
Computern erledigt
sie: Wir können wichtige Dinge nicht McAfee: Wenn es etwas gibt, das wir
werden könnte, dem Markt überlassen. In Amerika im Überfluss haben, dann Geld. Was
in Prozent, 2019 glauben viele, mich eingeschlossen, an soll man damit Besseres anfangen, als
die »permissionless innovation«. Da große Probleme anzugehen? Wenn
84 Fertigung schreitet man erst ein, wenn das Sys- ich mir um eines keine Sorgen mache,
tem offensichtliche Fehler produziert. dann um ein großes Tech-Oligopol.
72 Fertigungstechnik Dieser Ansatz setzt enorme Kräfte frei. SPIEGEL: Fürchten Sie, dass China am
SPIEGEL: Oft genug unerwünschte. Westen vorbeiziehen könnte?
unternehmens-
63 bezogene McAfee: Wenn es um Gesundheit, McAfee: Innovation, gerade wenn es
Dienstleistung ­Sicherheit oder die Umwelt geht, müs- um solch fundamentale Durchbrüche
Unternehmens- sen wir alles geben, um Fehlentwicklun- geht wie bei der KI, ist ein Prozess,
63 führung und gen vorzubeugen. In allen anderen Fäl- der sich nicht zentralisieren lässt. Das
-organisation
len gilt es, einfach schnell zu sein. Mir findet in kleinen Laboren und Gara-
60 Handel fallen da diese Spinner ein, die, als die gen quer durchs Land statt, an Uni-
Handykamera aufkam, sich einen Spaß versitäten oder in Unternehmen. Da
58 Verkehr und daraus gemacht haben, Frauen in der braucht es Studenten, Investoren,
Logistik
U-Bahn unter den Rock zu fotografie- Ideen. Wenn ich das System managen
ren. Als klar wurde, dass es sich dabei dürfte, wäre das Letzte, was ich tun
49 Land-, Forst- und
Gartenbau um ein größeres Pro­blem handelt, kam würde, es zu zentralisieren. Xi Jin-
hier aber keiner auf die Idee, die Kame- ping in Peking tut derzeit genau das –
45 Reinigung ra zu verbieten. Diese sogenannten Up­ und setzt damit das bis vor Kurzem
skirt-Fotos wurden ruck, zuck zur Straf- sehr lebendige chinesische Tech-Öko-
44 Lebensmittel- und tat erklärt. Fertig. Ich halte es da mit system aufs Spiel.
Gastgewerbe
Jimmy Wales, dem Co-Gründer von SPIEGEL: Sind das gute oder schlech-
Wikipedia: Lasst es uns lieber möglich te Nachrichten für die Welt?
42 Sicherheit
machen, Fehler einfach zu korrigieren, McAfee: Als jemand, der dem »Team
IT- und natur- statt unmöglich, welche zu begehen. West« angehört, muss ich sagen: Es
42 wissenschaftliche SPIEGEL: Wenn es dann nicht zu spät wird uns helfen, die technologische
Dienstleistung
ist, weil die Unternehmen längst zu Führerschaft im 21. Jahrhundert zu
38 Bau- und Ausbau groß sind, um sie zu regulieren. Siehe behalten und auszubauen. Die im
Facebook oder Google. positiven Sinne verrückten Typen der
medizinische und McAfee: Das ist in der Tat problema- Zukunft werden hier zu Hause blei-
23 nicht medizinische
Gesundheit tisch. Allerdings aus einem völlig an- ben, im Silicon Valley.
soziale und deren Grund. Was lernen wir aus dem SPIEGEL: Wo bleibt Europa?
13 kulturelle Dienst- Versuch der EU, Meta und Alphabet McAfee: Im Moment ist es ein Wett-
leistung
zu regulieren? Ihre Marktanteile im rennen zwischen China und den USA.
S Quelle: IAB dortigen Werbemarkt steigen, sie Ich verstehe selbst nicht, warum

werden noch mächtiger. Regulierung Europa dabei keine größere Rolle
sorgt in der Regel dafür, dass Platz- spielt. Ihr habt die Menschen, das
hirsche größer werden, nicht kleiner. Geld, seid hervorragend ausgebildet
KI-Experte McAfee, SPIEGEL: Erwarten Sie eine Oligopol- und verfügt über Top-Universitäten –
SPIEGEL-Redakteure* bildung beim Thema KI, zwischen und trotzdem fehlt es an technologi-
schen Durchbrüchen.
SPIEGEL: Viele glauben, es liege am
fehlenden Risikokapital für junge
Unternehmen.
McAfee: Ich kenne ja einige Risiko-
kapitalgeber. Die haben nichts gegen
Europa, die gehen einfach dorthin,
wo Geld zu verdienen ist. Nach Chi-
na sind sie vor einigen Jahren mit
wehenden Fahnen gegangen. Aber
offenbar glauben sie nicht daran, in
Europa den »Return on Invest« zu
bekommen, den sie in Nordkalifor-
Jason Grow / DER SPIEGEL
nien erzielen. Ich fürchte, dass ihr
weiterhin unter eurer eigentlichen
Gewichtsklasse boxt.
SPIEGEL: Herr McAfee, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch.  n
a new tailwind for
greener air cargo.
By setting up the supply and distribution
infrastructure for carbon-neutral fuel in a
highly competitive market, we helped a major
air freight firm prioritize decarbonization –
and profitability.

How could you win green & grow?

McKinsey.de/sustainability
TITEL

Sven Döring / DER SPIEGEL

Sven Döring / DER SPIEGEL

Wissenschaftler Mayr, Co-Geschäftsführer Eichhorn:

Ein Computerchip, der wie das menschliche Gehirn nur das absolut Notwendige berechnet

SECHS DINGE, DIE MAN

B R A U C H T, U M E I N E K I Z U B A U E N
TECHNOLOGIE  Hochleistungschips und Supercomputer, Unmengen Energie, riesige Trainingsdatensätze,
spezielle Algorithmen – und viele Menschen. Eine KI verschlingt Massen an Ressourcen, auch knappe.

K
ünstliche Intelligenz wirkt auf den ers­
ten Blick oft, als wäre sie keine große
Sache. ChatGPT sieht aus wie eine
simple Texteingabemaske im Internet. In
­jedem Smartphone steckt haufenweise KI:
die Gesichtserkennung zum Entsperren,
Kartendienste wie Google Maps, Über­
­ Ohne spezialisierte Ingenieure und Entwick­ der KI bremsen werde.
setzungs-Apps, Empfehlungen von Spotify –
diese Alltags-KI kommt oft in Form von
­kleinen Icons auf dem Bildschirm daher, in
Apps, die vielleicht ein paar Hundert Mega­
byte groß sind.
Doch bis aus einer Idee ein Icon auf dem
Smartphone werden kann, werden gewaltige
Ressourcen verbraucht. ChatGPT benötigte
unter anderem Zugriff auf exorbitant teure
Spezialhardware, die extreme Mengen Ener­
gie verschlingt. Wer diese Ressourcen be­ reich. Dass die Topverdiener siebenstellige
herrscht, dominiert auch die weitere Entwick­ Gehälter kassieren, ist also anzunehmen. Da
lung von KI. Google und Co. inzwischen die Universitäten
leer kaufen, fürchten ­manche bereits um die
RESSOURCE NR. 1: Grundlagenforschung und die Open-Source-
DER MENSCH Community – was wiederum die Entwicklung
lerinnen läuft in dem Geschäft nichts. Solche Die andere Gruppe von Menschen, die
Leute sind selten und teuer. In den Steuer­ die KI marktfähig machen sollen, verdient
unterlagen von OpenAI finden sich Jahres­ deutlich weniger, in der Regel höchstens zwei
gehälter im mittleren bis hohen sechsstelligen Dollar in der Stunde. Das »Time«-Magazin
Bereich für die besten Entwickler, in einem berichtete im Januar über kenianische Click­
Fall wurden sogar 1,9 Millionen Dollar ge­ worker, die im Auftrag von OpenAI Beispiel­
zahlt. Einige wurden von Google abgeworben, texte mit präzisen Beschreibungen von Miss­
die durchschnittlichen Personalkosten von brauch, Mord und Folter annotierten, um
Alphabets KI-Tochter DeepMind in London das Sprachmodell GPT-3 davon abzuhalten,
liegen im mittleren sechsstelligen Pfundbe­ ­solche Texte selbst zu erzeugen.

18 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


»Das wird immer ein wenig im
Dunkeln gehalten«, sagt Sandra
Wachter, Professorin für Technologie
und Regulierung am Oxford Internet
Institute und Expertin für die ethi-
schen und rechtlichen Aspekte der
KI-Entwicklung. »Ist das ein Job, der
für die menschliche Seele leicht er-
tragbar ist? Nein. Die Leute, die das
machen, haben danach zum Teil post-
traumatische Belastungsstörungen.
Werden sie dafür wenigstens ordent-
lich bezahlt? Nein.« Die mensch­
lichen Kosten, die anfallen, um KI-
Modelle marktreif zu machen, »sehen
wir uns lieber nicht so genau an«.
Nicht jede Annotation ist gleich mit
grausamen Inhalten verbunden. Oft-
mals geht es einfach darum zu be-
schreiben, was auf einem Bild zu sehen
ist, oder darum, einen Satz mehrfach
aufzusagen – eine ermüdende, klein-
teilige Arbeit. Sie wird gern ausgelagert
und in Form von sogenannten Mikro-
tasks auf Plattformen wie Amazon
Mechanical Turk – kurz: MTurk – aus-
geschrieben. Auftragnehmer sind Men-
schen in aller Welt, die sich ein paar
Dollar hinzuverdienen möchten. Da-
von leben kann man nicht.
RESSOURCE NR. 2:
T R A I N I N G S D AT E N
Christoph Schuhmann ist hauptberuf-
lich Physik- und Informatiklehrer
an einem Gymnasium in Hamburg.
Nebenbei hat er eines der erstaun-
lichsten KI-Projekte des Landes ins
Leben gerufen.
Ende 2021 diskutierte er online mit
anderen KI-Begeisterten, was man
bräuchte, um Dall-E zu kopieren.
Dall-E ist ein Text-zu-Bild-Generator
der US-Firma OpenAI (die auch
ChatGPT entwickelt hat). Man tippt
in ein Textfeld ein, welches Bild die
KI generieren soll. »Damals hatte das
noch nicht so viel öffentliche Aufmerk-
samkeit bekommen, aber mich hat es
umgehauen«, erzählt Schuhmann.
Der Quellcode – also der Bauplan –
von Dall-E war nicht öffentlich zu-
gänglich. Es gab jedoch einen Nach-
bau, den Schuhmann als Ausgangs-
punkt nehmen wollte. Seine Version
musste dann noch an möglichst vielen
Beispielen lernen, bevor sie selbst
sinnvolle Motive erzeugen konnte.
Schuhmann machte sich auf die Suche
nach Trainingsdaten und wurde fün-
dig bei Common Crawl. Seit 2008
archiviert das gemeinnützige Projekt
regelmäßig den reinen HTML-Code
von Websites, mithilfe eines Suchma-
schinen-ähnlichen Programms. Der
aktuelle Bestand umfasst Daten von
rund 3,15 Milliarden Internetseiten.
Sie sind für Forschungszwecke ge-
TITEL
»DER ENER- dacht und frei verfügbar. In einem Teil mit 5,85 Milliarden (das B steht für
GIEBEDARF davon fing Schuhmann an, nach Links das englische billion, also Milliarden)
STEIGT auf Bilddateien zu suchen. Bild-Text-Paaren. Für diese Arbeit
Dazu speicherte er jene Paare aus wurde das Team im vergangenen
EXPONEN- Bildlinks und Bildbeschreibungen, Jahr auf einer der wichtigsten inter-
TIELL.« die laut einer anderen KI gut zusam- nationalen Konferenzen für KI aus-
CHRISTIAN EICH- menpassten. Irgendwann hätten ein gezeichnet.
HORN, CO-GE- paar Leute ihre Hilfe angeboten, so Dr. Jenia Jitsev arbeitet am Jülich
SCHÄFTSFÜHRER
Schuhmann, dieser Schwarm habe Supercomputing Centre, er ist außer-
»innerhalb von drei Monaten das dem Mitbegründer und wissenschaft-
weltweit größte Set aus Bild-Text- licher Leiter von LAION. Nicht ohne
Paaren gebaut«. Den Code zur Ko- Stolz sagt er: »Das ist Spitzenfor-
ordination der Freiwilligen schrieb schung aus Deutschland, von unserer
ein 15-Jähriger aus England. Das tech- gemeinnützigen Organisation, die
nische Herzstück des Projekts war ein ohne Großrechner wie JUWELS und
Gaming-PC, der bei einem anderen Experten am deutschen Standort im
Freiwilligen im Wohnzimmer in Bu- Jülich Supercomputing Centre der
karest stand. Helmholtz-Gemeinschaft nicht mög-
400 Millionen Bild-Text-Paare ka- lich gewesen wäre.«
men so am Ende zusammen. »Solche
Datensätze zu erstellen ist extrem RESSOURCE NR. 3:
billig und erstaunlich einfach«, sagt SUPERCOMPUTER UND CLOUD
der Lehrer. »Eine Firma oder ein For- Meta konstruiert gerade einen der
schungsinstitut mit zwei, drei fähigen leistungsfähigsten, auf KI spezialisier-
Ingenieuren könnte das in einem hal- ten Supercomputer der Welt. Der
ben Jahr nachbauen, für Sachkosten Mutterkonzern von Facebook, In-
von weniger als 10 000 Euro.« stagram und WhatsApp will dazu
Schuhmann und seine Mitstreiter 16 000 Hochleistungsprozessoren des
gründeten schließlich den Verein Chipherstellers Nvidia zusammen-
LAION und schufen ein noch viel grö- schalten. Microsoft betreibt ebenfalls
ßeres Trainingsdatenset: LAION-5B, spezielle Supercomputer, auf denen
WIE MASCHINEN LERNEN
Training eines Sprachmodells Einsatz eines Sprachmodells
Die erlernte Fähigkeit, Texte Wort für Wort
Der Löwe frisstjeden in Luft plausibel zu ergänzen, lässt sich auf Nutzer-
Gazellen. An der
zur der Baum eingaben anwenden – z. B. auf Fragen, für
haben die
Wasserstelle sind die das Modell Antworten generiert.
Der Algorithmus wird mit Trainingstexten Nutzer: Was frisst der Löwe?
gespeist.
Jedes Wort
Der Löwe frisst der Eingabe
wird in den
Die Trainingsaufgabe besteht darin, Zahlenraum
Lückentexte zu füllen. des Sprach-
modells
Luft übersetzt
Der Löwe frisst Gazellen
(vektorisiert). verschlingt
was isstfrisst
wie wer
Baum
Zahlreiche Vorschläge des Programms AntilopenGazellen Löwe
Gnus Tiger
werden mit der Vorlage abgeglichen. die
Abweichungen werden bestraft, sinnvolle der das
Ergänzungen belohnt. Das Resultat ist ein sammeln Sprachmodell
Sprachmodell. bündeln Himmel
Luft
verschlingt Oase
was isstfrisst Baum
wie wer Wasserstelle Wind
Gewächs
AntilopenGazellen Löwe
Gnus Tiger
die
der das Nutzer: Was frisst der Löwe?
sammeln Sprachmodell
bündeln Himmel
Luft KI: Gazellen
Oase Baum
Wasserstelle Wind
Gewächs
Im Sprachmodell sind Wortbedeutungen Aus den Vektoren der Nutzereingabe werden
und -beziehungen verknüpft. Worte berechnet, die wahrscheinlich folgen. 
S Grafik
­
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 19
TITEL
etwa die KI-Modelle von OpenAI
trainiert werden. Google wiederum
hat eigene Prozessoren für das ma-
schinelle Lernen von KI-Modellen
entwickelt. Kaufen kann man die
nicht – aber mieten.
»Die Tech-Konzerne lassen sich
das natürlich gut bezahlen«, sagt An-
dreas Herten vom Jülich Supercom-
puting Centre. Das KI-Start-up Kite
aus den USA etwa hat sich damit
übernommen und musste aufgeben.
Die 2014 gegründete Firma wollte
eine KI-basierte Assistenzsoftware
für Programmierer entwickeln, eine
vermeintliche Nische. Sie ist jedoch
schon von der Microsoft-Tochter Git-
hub und OpenAI besetzt, Copilot
heißt deren Angebot. Aber Ende 2022
ging Kite das Geld aus. 17 Millionen
Dollar Risikokapital waren zu wenig.
Mindestens das Sechsfache, mehr als
100 Millionen Dollar, schätzte Grün-
der Adam Smith, hätte er möglicher-
weise gebraucht.
Dennoch betrachtet der Jülicher
Forscher Herten »die Maschinen
nicht als Flaschenhals, sondern als
Ermöglicher«. Nur mit Supercompu-
tern ließen sich hochqualitative Mo-
delle »überhaupt erst erstellen«.
Auch die Megarechner seines Zen­
trums stehen zur Verfügung. »In Jü-
lich gibt es zweimal im Jahr Aufrufe,
bei denen sich Wissenschaftler mit
ihrer Applikation bewerben können,
um Rechenzeit zu erhalten«, sagt er.
»Die Supercomputer werden ja von
öffentlichen Geldern angeschafft und
über diesen Weg in die gesamte
­wissenschaftliche Gemeinschaft ge-
geben.«
RESSOURCE NR. 4:
KI-CHIPS
Ihren Ursprung haben die sogenann-
ten KI-Beschleuniger in der Welt der
Computerspiele. Damit Video­
sequenzen nicht pixelig aussehen
oder ruckeln, brauchte es neue Re-
chenwege. Das kalifornische Unter-
nehmen Nvidia entwickelte Ende der
Neunzigerjahre passende Chips, so-
genannte GPUs, und stieg so zu
einem Giganten der Branche auf.
»Das war damals eine riskante Wet-
te«, erklärt Jan-Peter Kleinhans von
der Berliner Denkfabrik Stiftung
Neue Verantwortung.
Durch den Erfolg bei Computer-
spielen wurden diese Prozessoren
immer leistungsfähiger. Nvidias
Chips haben das maschinelle Lernen
im heutigen Maßstab erst ermöglicht,
der Marktanteil des Unternehmens
bei KI-Prozessoren lag zuletzt bei
80 Prozent. Aktuelle Schätzungen
gehen sogar von 95 Prozent aus –
20 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
VIEL HILFT VIEL
Datenmenge zum Training von KI-Systemen; die verwendeten
Daten unterscheiden sich je nach Bereich (z. B. Bilder für
Bilderkennung, Wörter für Sprachmodelle)
Sehen Schreiben Sprechen Zeichnen
1 Billionen Datenpunkte
10 Milliarden
100 Millionen
1 Millionen
10.000
100
1950 1960 1970 1980 1990
S Quelle: Villalobos et al. (2022)
”
trotz Stückpreisen von knapp 10 000
Euro. Kein anderer Anbieter reicht
an Nvidia heran. »Wir können es kurz
halten«, sagt Kleinhans: »Wer keinen
Zugriff auf Nvidia-Grafikprozessoren
hat, hat keine KI-Beschleunigung.«
In den kommenden Jahren, glaubt
er, werde sich daran wenig ändern.
Um die Leistung der Beschleuniger
weiter zu steigern, müsse man immer
mehr Recheneinheiten auf einen Chip
kriegen. TSMC in Taiwan ist neben
Samsung das weltweit einzige Unter-
nehmen, das in der Lage ist, hocheffi-
ziente KI-Chips zu produzieren. Dass
es den USA und Europa mit Gesetzen
und Subventionen gelingt, eine echte
Konkurrenz zu TSMC oder Samsung
zu schaffen, hält er für illusorisch.
RESSOURCE NR. 5:
ENERGIE
Supercomputer sind Energiefresser.
Ein KI-Modell wie GPT-3 einmalig
zu trainieren, verbraucht so viel wie
126 Häuser in Dänemark in einem
Jahr oder ein Auto auf 700 000 Kilo-
meter. Das haben Forscher der Uni-
versität Kopenhagen errechnet. Und
weil ein einziger Trainingsdurchgang
nicht reicht, muss die Zahl noch mul-
tipliziert werden.
Der Alltagsbetrieb in der Cloud
verschlingt ebenfalls viel Strom.
»Spätestens jetzt, wo mit Program-
men wie ChatGPT die Schulhaus­
aufgaben erledigt werden können,
ist KI im Alltag der Menschen an-
gekommen, und der Energiebedarf
steigt exponentiell«, sagt Christian
Eichhorn, Mitgründer und Co-Ge-
schäftsführer der Firma SpiNNcloud
Systems, einer Ausgründung der
Technischen Universität Dresden.
Deren Ziel ist es, die Energieeffizienz
einer KI-Cloud zu steigern. Herz-
stück dafür ist der Computerchip
andere
SpiNNaker 2.
Entwickelt hat ihn ein Team um
GPT-3
den Dresdner Professor Christian
Mayr und Steve Furber von der Uni-
LaMDA versity Manchester, den Erfinder des
Transformer ARM-Prozessors, der heute in fast
allen Smartphones steckt. Mayr hat
sich vom menschlichen Gehirn ins-
Stable Diffusion pirieren lassen. Er erklärt das Prinzip
am Beispiel eines KI-Systems, das
Videoaufzeichnungen in Echtzeit
analysieren soll: »Das Problem der
heutigen KI ist, dass sie jedes Pixel
von jedem Einzelbild untersucht. Da-
bei gibt es von Bild zu Bild vielleicht
nur zwei oder drei Prozent Unter-
schied. Unser Gehirn hingegen ist
extrem gut darin, die nötigen Berech-
2000 2010 2020 nungen auf das absolut Notwendige
zu reduzieren.« Genau das tue SpiN-
Naker 2 auch. Damit ließen sich im
Vergleich zu einem heute üblichen
Supercomputer mit Nvidia-Prozes­
soren 90 Prozent der Energie ein-
sparen. Auch der Betrieb von
ChatGPT wäre mit der Hardware
von Mayr erheblich energiesparender
möglich, sagt Mayr. Sein Projekt ge-
hört zu den ersten, die von der Agen-
tur für Sprunginnovationen SPRIND
gefördert wurden.
RESSOURCE NR. 6:
GRUNDLAGENMODELLE
Die Königsdisziplin der KI ist es,
Grundlagenmodelle zu entwickeln.
GPT-3 von OpenAI ist das wohl be-
kannteste. Es bildet die Grundlage
für ChatGPT. Allerdings ist der Code
von GPT-3 nicht frei zugänglich. Das
Team von LAION um Christoph
Schuhmann will deshalb auch selbst
Modelle entwickeln, trainieren und
der Öffentlichkeit zur Verfügung stel-
len, um KI zu »demokratisieren«.
Europäische Antworten auf das
bereits Mitte 2020 veröffentlichte
GPT-3 sind bisher rar, aber es entste-
hen welche. Aleph Alpha aus Heidel-
berg etwa hat mit seinen Luminous-
»DAS PRO­ Modellen bereits ernsthafte Konkur-
BLEM DER renten entwickelt. OpenGPT-X heißt
HEUTIGEN ein weiteres Projekt, elf deutsche Or-
K I I S T, D A S S ganisationen aus Wirtschaft, Wissen-
SIE JEDES schaft und der Medienbranche sind
PIXEL VON daran beteiligt. Das Bundeswirt-
JEDEM schaftsministerium hat 15 Millionen
Euro Fördergeld beigesteuert.
­E I N Z E L B I L D Ein guter Anfang. Aber ob das
UNTER- reicht, um Konzernen wie Google,
S U C H T. « Microsoft oder Baidu aus China die
C H R I ST I A N M AY R , Stirn zu bieten?
WISSENSCHAFTLER Patrick Beuth  n
»Da werden jeden Tag Menschen ermordet«
Neues aus der SPIEGEL-Welt: Im SPITZENGESPRÄCH, dem Polit-Talk auf SPIEGEL.de,
befragt Markus Feldenkirchen seine Gäste nun im komplett erneuerten Studio. Es geht um
interessante Persönlichkeiten und die großen Fragen der Zeit.
Redakteur Feldenkirchen, Abgeordnete Strack-Zimmermann: »Eine coole Rede war das«
Die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann
über ihre Kritik an Olaf Scholz, SMS von Ursula von der Leyen und
die Frage, was die Ukraine jetzt braucht
SPIEGEL: Frau Strack-Zimmermann, Ihr Verhältnis zu Olaf Scholz
scheint ein spezielles zu sein. Wir haben uns noch mal eine Ihre
ersten Bundestagsreden angeschaut aus dem Jahr 2018. Es ging
da um die Verteidigungsausgaben. Sie lobten die damalige Ver­
teidigungsministerin Ursula von der Leyen, die angekündigt hatte,
zumindest 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts künftig für die
Verteidigung auszugeben.
Strack-Zimmermann: Eine coole Rede war das. Und Frau
von der Leyen musste schmunzeln und hat mir nachher eine SMS
geschrieben.
SPIEGEL: Was stand dadrin?
Strack-Zimmermann: Dass sie sich einfach gefreut hat. Sie hatte
ja in der großen Koalition eine mega Diskussion. Sie war Ministerin,
sie wollte mehr Geld, er war Finanzminister, mehr gab es nicht.
SPIEGEL: Kann jemand ein guter Bundeskanzler sein, der, wie Sie
sagten, nicht in der Lage ist, Lagen gut einzuschätzen?
Strack-Zimmermann: Also wenn Sie mich das in ein paar Jahren
fragen würden, sozusagen rückblickend, wenn diese Jahre vorbei
sind: Olaf Scholz hat in der Tat beim G-20-Gipfel die Lage falsch
eingeschätzt und die Lage auch nicht wirklich im Griff ­gehabt. Das
kann man, glaube ich, jetzt auch historisch gesehen sagen.
SPIEGEL: Und hat er aktuell die Lage im Griff?
Strack-Zimmermann: Ich glaube, dass er lange gebraucht
hat oder länger gebraucht hat, um die Dimension dieses Angriffs
Russlands auf die Ukraine zu verinnerlichen. Ich würde sagen,
heute, ein Jahr später, hat er einen größeren Überblick, als er
spontan gehabt hat.
SPIEGEL: Im Kanzleramt wird gelästert, dass Sie quasi eine Art
Geschäftsmodell aus der Kritik an Olaf Scholz gemacht hätten.
Strack-Zimmermann: Das sagt wahrscheinlich der Kanzleramts-
minister. Dann macht man es sich schon sehr, sehr einfach. Man
sollte nicht auf Strack-Zimmermann gucken, sondern man sollte
schauen, was in der Ukraine passiert. Und da werden jeden Tag
Menschen ermordet. Ich habe gestern mit einem Soldaten ge-
sprochen, der mir gesagt hat, dass er in einen Ort gekommen ist,
wo tote Frauen lagen. Auf diesen Frauen weinten Kinder, und die
Soldaten sind dorthin gegangen, um sie wegzunehmen, in Obhut
zu nehmen. Zwischen der toten Mutter und dem Kind lag eine
Granate. Und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was dann passiert
ist. Wissen Sie, wenn man so was erfährt, und das weiß man
auch im Kanzleramt, dann sollte man sich nicht an Frau Strack-
Zimmermann abarbeiten, sondern alles dafür tun, dass die Ukraine
unsere Hilfe bekommt.
Die Polit-Talks mit Markus Feldenkirchen
können Sie kostenlos unter
spiegel.de/spitzengespraech abrufen.
TITEL
WIE MASCHINEN
TRÄUMEN LERNEN
KULTURPRODUKTION  Jahrhundertelang war die künstliche Intelligenz in den
Künsten ein Schreckbild – nun bringt sie selbst Bilder hervor, komponiert Musik, schreibt Texte.
Wird sie den Künstler überflüssig machen, oder ist sie nur ein schlauer Pinsel?
D
ie Farbe schwappt und spritzt
förmlich aus dem Monitor he­
raus, sie scheint aus dem Rah­
men zu quellen. Eine Illusion, doch
als Betrachter weicht man unwillkür­
lich zurück. Ein Werk von Refik Ana­
dol zu betrachten, etwa aktuell »Un­
supervised« im Museum of Modern
Art in New York, kann die Sinne über­
fordern. Das Werk ist 53  Quadrat­
meter groß, eine ganze Wand voll
quietschbunter, digitaler Action in
Endlosschleife, es wabert wie in Hun­
derten Lavalampen im Zeitraffer, man
weiß kaum, wohin man blicken soll.
Die ersten Sekunden bemüht sich das
­Gehirn noch um eine Einordnung,
doch das Dauerfeuer an Assoziatio­
nen – Wasser! Orchideen! Weltraum!
Ameisen! Darmschlingen! – macht
das eigentlich unmöglich. Die spekta­
kulären Pixelformationen werden von
sphärischen Klängen begleitet, es gibt
Sitzquader, auf denen man sich nie­
derlassen kann.
»Ich will Maschinen träumen las­
sen«, sagt Anadol immer wieder,
wenn man ihn nach seinen Bildwel­
ten fragt. »Die Computer sollen mit
unseren Erinnerungen spielen.«
Aber sind es überhaupt seine Bild­
welten? Refik Anadol arbeitet mit
künstlicher Intelligenz. Hochkom­
plexen neuronalen Netzen, die an
die Synapsen in unserem Gehirn er­
innern. Und: Können Maschinen
überhaupt träumen?
Jahrhundertelang galt die Kunst
als das Feld, in dem der Mensch das
Beste aus sich herausholen konnte.
Die Fantasie, die Kreativität, die
Gabe, Ideen zu haben: Das war das,
was den Menschen überhaupt erst
zum Menschen machte. Die Mensch­
maschine dachte sich der Mensch
überhaupt nur aus, um ein Bild seiner
Möglichkeiten zu erschaffen. Bei
Aristoteles war das, seitdem geistert
sie durch Literatur und Kunst. Von
den Automatenmenschen der Ro­
22 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
mantik bis zu den herrschsüchtigen
Computerschreckgespenstern der
Science-Fiction. Und nun sollen diese
Maschinen plötzlich intelligenter sein
als wir? Und selbst kreativ?
Künstliche Intelligenzen werten
heute schon das Streamingverhalten
von Nutzern aus. Werden sie in der
näheren Zukunft ganz andere Dinge
können? Wird man sich seinen eige­
nen Film zusammenstellen können,
also zum Beispiel einen Western mit
Arnold Schwarzenegger und einem
Soundtrack, der klingt wie von Nick
Cave?
Im Augenblick sind es vor allem
Einzelbilder und Texte, mit denen die
KI lernt. Bildgeneratoren wie Mid­
journey oder der berühmte Textbot
ChatGPT sind Beispiele dafür. Sie
funktionieren, weil sie fast das ganze
Internet als Lernfeld benutzen kön­
nen. Aber schon jetzt werden KIs
auch mit Filmen gefüttert – und kön­
nen selbst erste Clips erzeugen. Für
eine Weile war eine KI online, die
ständig neue Folgen der Fernsehserie
»Seinfeld« erstellte. Sie wurde abge­
schaltet, weil die Hauptfigur sich über
Transmenschen lustig machte – und
die Macher vor dem Weiterbetrieb
»DIE erst einmal herausfinden wollten, was
­C O M­P U T E R da beim Machine Learning schiefge­
SOLLEN gangen war.
MIT UNSE- Anadol arbeitet mit Bildern, die
REN ERINNE­ mithilfe künstlicher Intelligenz wei­
tergedacht werden. Das hat ihn zu
RUNGEN einem der großen Stars des interna­
SPIELEN.« tionalen Kunstbetriebs gemacht.
REFIK ANADOL Auch weil ihm nichts zu groß ist. Der
Kunstpalast Düsseldorf wird in weni­
gen Tagen eine Installation zeigen,
für die Anadol zwei Millionen Auf­
nahmen von den Teleskopen der
Weltraumstation ISS und dem Welt­
raumteleskop Hubble zur Verfügung
gestellt bekam.
Das Museum of Modern Art in
New York bot Anadol seine gesamte
Sammlung an, damit er seine Algo­
rithmen mit ihrer Hilfe 200 Jahre
Kunstgeschichte interpretieren ließ –
darauf basiert die Installation »Un­
supervised«.
Als sich im Januar die Elite der
Weltwirtschaft und Politik in Davos
traf, war ein Anadol-Datenkunstwerk,
das an Korallen erinnerte, ein belieb­
ter Fotohintergrund. Und in Los An­
geles wurden die Grammys auf einer
Bühne mit Installationen von Anadol
verliehen.
»Daten und Pixel sind meine
Pinsel. Denkende Pinsel«, sagt er. Er
sieht seine Arbeit als Wegweiser in
das KI-Zeitalter. »Ich liebe Computer,
Studio Refik Anadol
ich liebe Algorithmen, ich liebe
Datensätze. Maschinen können unser
kollektives Gedächtnis sein, das nie
vergisst.«
 TITEL

Studio Refik Anadol

Digitale Anadol-Skulptur:
Millionen Bilder als Input

Er arbeite 18 Stunden am Tag, dabei spie- KI öfter begegnen kann. Akademisch vernetzt hoven schwerhörig, gegen Ende seines Lebens
le sich fast alles in seinem Kopf ab, sagt Ana- und an den besten Universitäten ausgebildet – sogar taub. Und dieser Gigant soll durch ein
dol dem SPIEGEL in einem Videocall, den er er hat in Harvard studiert und gelehrt – und Programm ersetzt werden können?
aus seinem Auto heraus führt. Er liefere die gleichzeitig mit guten Verbindungen in die Röder und sein Team gingen von einem ein-
große Vision – händisch zeichnen dagegen Wirtschaft. Kein Bewohner des universitären fachen Gedanken aus: Jede Note folgt den No-
könne er kaum. 14 Mitarbeiter zählt Anadols Elfenbeinturms. Röder leitet heute eine ten, die vor ihr stehen. Es müsse also, so ihre
kreatives Techatelier in Los Angeles. Jedes Unternehmensberatung, aber auch das Her- Annahme, die Wahrscheinlichkeit berechenbar
Projekt entsteht über mehrere Jahre, in denen bert-von-Karajan-Institut in Salzburg. Zu- sein, welche Noten in Beethovens Komposi-
Anadol Datensätze sammelt, sie kuratiert und sammen mit einem Team von Komponisten tionen als nächste kommen, wenn ein Algorith-
Algorithmen programmieren lässt. »Meine und Programmierern hat er eine der spekta- mus die vorangegangenen Noten kennt.
Werke übersetzen kollektive Daten in eine kulärsten Anwendungen entwickelt, die Sie speisten alle Stücke, die Beethoven je-
Fantasie. Nicht exakt so, wie wir sie erinnern, es im weiten Feld der künstlerischen Anwen- mals komponiert hat, in einen Computer ein.
eher wie ein Traum. Es ist dann, als entdeck- dung dieser Technologie gibt: ein P ­ rogramm, Auch Musik, die ihn beeinflusste. Dann zer-
te ich etwas Menschliches in den Maschinen.« das Ludwig van Beethovens unvollendete teilten sie die Partituren in kleine Teile und
10. Sinfonie fertig geschrieben hat. begannen, die Maschine lernen zu lassen. Es
Wenn Matthias Röder, 57, einen Vortrag hält, Auf der einen Seite war das natürlich eine war ein Prozess, der sich über Monate erstreck-
lädt er sein Publikum häufig zu einem kleinen typische Kulturbetriebsidee. Was man eben te und darauf hinauslief, die KI so zu program-
Experiment ein. Er werde ihnen nun ein Stück so macht zum 250. Geburtstag des Kompo- mieren, dass sie ein ums andere Stück Beetho-
Musik vorspielen, sagt er dann, und darum nisten, der 2020 begangen wurde, in Bonn, vens nachkomponierte – mit erstaunlicher
bitten, dass jeder mitmache. Ein Teil sei von der Heimat von Beethoven und der deut- Genauigkeit. Danach gab Röder der KI die
Ludwig van Beethoven, ein anderer Teil in schen Telekom, die das Projekt finanzierte. zwei bereits fertigen Sätze der 10. Sinfonie und
dessen Manier erschaffen von einer künstli- Zugleich aber eben auch ein faszinierendes ließ sie zwei weitere Sätze dazukomponieren.
chen Intelligenz. Wer glaube, den Übergang Experiment. »Glücklicherweise hat Beethoven eine Rei-
zu bemerken, solle die Hand heben. Dann Beethoven steht wie kein Künstler sonst für he von Aufzeichnungen hinterlassen, aus
beginnt die Musik. Es kommt selten vor, dass den Geniekult des 19. Jahrhunderts, der bis in denen sich ablesen lässt, in welche Richtung
sich jemand meldet. Noch seltener, dass je- unsere Gegenwart hinüberstrahlt. Der Kom- die 10. gehen sollte«, sagt Röder. »Wir muss-
mand den exakten Moment wirklich bestim- ponist ist bis heute das Sinnbild des genialen ten die KI aber immer wieder einfangen,
men kann. Kein Musikkritiker hört spontan, Schöpfers, des Mannes, der mit sich ringt und wenn die Ergebnisse zu wild wurden.«
wo das Genie aufhört und die Maschine be- die Musik, die in seinem Inneren erklingt, nach Wegen der Coronapandemie fand die Ur-
ginnt, auch keine Beethoven-Expertin. großem Kampf hinaus in die Welt entlässt. Am aufführung dann ein Jahr später statt als geplant,
Röder ist Musikwissenschaftler und einer Schluss sogar ohne dass er sie selbst noch hö- am 7. Dezember 2021. Das Bonner Beethoven
der Vordenker, denen man in der Welt der ren konnte. Bereits als junger Mann war Beet- Orchester spielte in der Beethovenhalle. Wobei

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 23

TITEL
der Dirigent Dirk Kaftan das Ergebnis
zwar für interessant hielt, aber trotz-
dem darauf bestand: »Das ist kein
Beethoven.«
Stimme natürlich, sagt Röder. Es
ist eine Software, die gelernt hat, ent-
lang von Wahrscheinlichkeiten Beet-
hovens Stil zu kopieren. »Im Prinzip
und mit genug Zeit könnte auch jeder
Mensch lernen zu komponieren wie
Beethoven. Das Problem ist nur: Je-
der Mensch hat eine Persönlichkeit.
Die würde bei der Entscheidung im
Weg stehen, die richtige Note zu tref-
fen. Menschen würden etwas Eigenes
hinzugeben. Die KI nicht. Sie hat kei-
ne Persönlichkeit.« Das Paradox der
Kompositions-KI: Um zu klingen wie
ein Genie, darf sie kein Genie sein.
Dabei ist sie universell verwendbar.
»Wir können ihr sagen, dass sie wie
Beethoven um 1800 komponieren soll
oder wie Beethoven zehn Jahre später,
das macht sie dann auch – sie kann
aber nichts anderes«, sagt Röder.
Tatsächlich weiß die KI nicht ein-
mal, was Musik ist. Sie hat keine Ah-
nung von den Gefühlen, die sie aus-
lösen kann. Sie weiß nicht einmal, wie
Musik überhaupt klingt. Sie weiß das
so wenig, wie eine Drum Machine
weiß, was ein Rhythmus ist – und ihn
trotzdem halten kann. Selbst Drum
Machines waren einmal unheimliche
kleine Kisten, die drohten, den Schlag­
zeugern die Arbeit wegzunehmen.
Heute sind sie selbstverständliches
Werkzeug vieler Musiker – auch und
gerade von Schlagzeugern.
So ähnlich arbeitet Röder auch.
Vor einigen Monaten fragte der Rob-
bie-Williams-Partner Guy Chambers
bei Röder an, ob er Interesse an einer
Zusammenarbeit hätte – heraus kam
eine neue Version von Williams’
Superhit »Angels«, sie hatte ihre
Weltpremiere im vergangenen No-
vember in der Elbphilharmonie.
Und dieses Stück Pop zeigte, wie
KI in der Zukunft eingesetzt werden
könnte: als ein Moment neben ande-
ren. Natürlich ist der Song immer
noch »Angels«. Aber manchmal
klingt Beethoven durch, in den instru­
mentalen Passagen zwischen den Ge-
sangsparts etwa. Es sind bekannte
Beethoven-Melodien, die die KI und
ihre Programmierer eingestrickt ha-
ben. Und es knallt natürlich, weil sich
wohl niemand mit so viel Selbstironie
und Können auf eine Stufe mit Beet-
hoven und einem Supercomputer
stellen kann wie Robbie Williams.
Funktioniert, was in der Musik mög-
lich ist, auch in der Literatur?
Die Autorin Jenifer Becker, 34, er-
forscht am Literaturinstitut der Uni
24 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Hildesheim, ob künstliche Intelligenz
mehr als Chatantworten und Blog-
einträge schreiben kann. Sie will wis-
sen: Wie muss der Mensch die Auf-
gabe formulieren, damit die Maschi-
ne Prosa oder Lyrik verfasst?
Die Computerlinguistik arbeite
schon länger an Story-Machines, sagt
Becker. Die Ergebnisse werden bes-
ser, bislang könnten KIs aber noch
nicht eigenständig Romane schreiben,
die den Anforderungen von Lesern
genügten. Becker prognostiziert,
dass sich dies in Zukunft ändern
­werde. Noch reproduziere ChatGPT
vor allem Klischees, »die Heldinnen
sind supernaiv, alle sind superopti-
mistisch, die Dialoge wirken geküns-
telt«. Die Abgedroschenheit der
KI-Texte werde aber mit jedem neu
entwickelten Netzwerk schrittweise
besser.
Becker hat eine KI mit den Ro­
manen der französischen Schrift­
stellerin Annie Ernaux gespeist und
sie dann gebeten, die Texte der
­Nobelpreisträgerin fortzuschreiben.
Das klappte erstaunlich gut. Ernaux’
­Lakonie ist getroffen und ihre Kunst
des prägnanten Sprachbilds – aber
ganz ähnlich wie bei dem Nick-Cave-
Song von ChatGPT, über den sich
der ­Sänger im Januar aufregte, weil
er nichts mit seiner Kunst zu tun
habe, sind die nachempfundenen Er-
naux-Sätze auch Ernaux-Klischees.
»Die Qualität hängt mit den Daten-
sätzen und mit dem Prompt Crafting
zusammen. Welche Frage stelle ich,
welche Information gebe ich noch
hinein?«, sagt Becker. Prompt Craf-
ting ist die Kunst, dem Programm im
rich­tigen Augenblick das richtige
Kommando zu geben. Es sind immer
noch Menschen, die den richtigen
Rahmen für das Machine Learning
aufspannen.
Künstliche Intelligenz werde sehr
bald ein normales Schreibwerkzeug
sein, da ist sich Becker sicher. Unklar
sei jedoch, auf wie viel Zuspruch die
automatisierte Textgenese stoßen
werde. »Seit Goethe stellt man sich
den Autor als einsames Genie vor, das
allein aus sich heraus die größten
Ideen hervorbringt.«
Dabei ist Schreiben schon jetzt
häufig ein kollaborativer Prozess.
Drehbücher für Filme, Serien und
Games entstehen in sogenannten
Writers’ Rooms, in denen Schreiber-
teams gemeinsam arbeiten. Roman-
reihen werden unter Pseudonymen
veröffentlicht, hinter denen sich
Teams verbergen, etwa die Jugend-
buchreihen »Warrior Cats« und »Die
drei Fragezeichen«. Schreiben mit
KI-Unterstützung sei im Grunde
»SEIT GOETHE nichts anderes, sagt Becker.
S T E L LT M A N Noch neigen Textgeneratoren zum
SICH DEN Verstärken von Vorurteilen und Kli-
AUTOR ALS schees. Hinzu kommt, dass ChatGPT
aufgrund der Datenlage viel interes-
EINSAMES santer auf Englisch schreibt. Es dürf-
GENIE VOR.« te also künftig mehr auf Englisch pu-
JENIFER BECKER bliziert werden und das Missverhält-
nis sich noch verstärken, andere
­Sprachen könnten marginalisiert
werden.
Und auch das Urheberrecht ist
nicht geklärt. Wenn Becker aus Annie
Ernaux’ Werken Datensätze macht,
damit ein Sprachmodell trainiert und
perfekte Kommandozeilen formu-
liert: Wem am Ende der Text gehört,
der daraus entsteht, das ist noch voll-
kommen unklar.
Tatsächlich fällt bei Texten viel
stärker als bei Bildern oder Musik auf,
dass KI selbst nicht kreativ sein kann.
Sie variiert, was ihr vorgegeben wird.
Je schlechter die Vorgaben, desto
schlechter das Ergebnis. Das kann im
kreativen Prozess allerdings trotzdem
weiterhelfen. Eine KI kann so etwas
wie ein Partner des Menschen sein,
ein sehr ausgefeiltes Werkzeug. KI
kann inspirieren, Muster erkennen
und Anreize geben.
Nur erschafft sie ihre Werke auf
Franziska Gilli / DER SPIEGEL
der Basis von Statistik und Wahr-
scheinlichkeit. Nie mit Intention.
Ohne den Menschen bleibt sie wir-
kungslos – denn Absicht ist es, was
Kunst eigentlich ausmacht.
Carola Padtberg, Tobias Rapp  n
So viel Alpengenuss.
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DEUTSCHLAND

Felix Kästle / dpa

Ein Unterwasser-Archäologe zeichnet ein schlangenförmiges Muster in den Bodensee. Er wirbelt durch seine Fortbewegung Schlamm im klaren
Flachwasser auf, eine Drohne hält die ruhige und zugleich dynamische Szene fest. Der Taucher fotografiert seinerseits Pfahlreihen, die im Wasser
vor der Klosterinsel Reichenau in Baden-Württemberg entdeckt wurden. Sie stammen wahrscheinlich aus dem Mittelalter, Laboruntersuchungen
ergaben ein einheitliches Fälldatum der Bäume im Jahr 909 nach Christus. Die Forscher vermuten, dass die Pfahlreihe die Aufgabe hatte, den
Schiffsverkehr nahe dem Inselkloster zu lenken, das damals eine Blütezeit erlebte.

Nato-Partner streiten ums Geld

VERTEIDIGUNGSAUSGABEN  Mehrere Mitgliedstaaten bremsen bei der Ausweitung des Zwei-Prozent-Ziels. 

B ei der Nato bahnt sich vor dem Gipfel im Sommer ein Streit
um die vom Generalsekretär vorgeschlagenen zusätzlichen
Verteidigungsausgaben der einzelnen Partner an. Jens Stol-
tenberg hatte kürzlich bei einem Ministertreffen gefordert, die Mit-
gliedstaaten sollten ihre Budgets in den kommenden Jahren über
die bisherige Zielmarke von zwei Prozent des jeweiligen Bruttoin-
landsprodukts anheben. Demnach solle das sogenannte Zwei-Pro-
zent-Ziel nur die Basis für weitere Steigerungen bilden. Intern ha-
ben aber mehrere Staaten Widerspruch geäußert. Kanada, Italien,
Belgien und die Niederlande kündigten an, dass sie eine so deutli-
che Aufstockung nicht leisten könnten. In einem Brief an Stolten-
berg argumentierte der italienische Verteidigungsminister, sein
Land sei hoch verschuldet. Folglich könne eine »Steigerung der Zu-
sagen für Investitionen in die Verteidigung, die sich nachteilig auf
andere essenzielle staatliche Aufgaben auswirken, eine Herausfor-
derung für die Stimmung in der Bevölkerung« werden. Minister
Guido Crusetto forderte deswegen, die Ziele »realistisch« anzuset-
zen. Kanada verwies bei internen Beratungen auf beschlossene
Großinvestitionen, zum Beispiel in neue F-35-Kampfjets, die sich
erst langfristig niederschlügen. Beide Staaten gehören wie Deutsch-
land zu den Nato-Mitgliedern, die noch weit vom bereits 2014 ver-
einbarten Zwei-Prozent-Ziel entfernt sind. Bundeskanzler Olaf
Scholz hatte zwar kürzlich angekündigt, Berlin werde dieses bald
erreichen. Anders als Verteidigungsminister Boris Pistorius ließ er
jedoch nicht erkennen, ob Deutschland der Forderung Stoltenbergs
folgen und über diese Marke hinausgehen will. MBE, MGB

26 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023

Baerbock macht
Druck bei Leitlinien
BUNDESREGIERUNG Außen-
ministerin Annalena Baerbock
(Grüne) fordert von ihren Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern
eine zügige Umsetzung der
feministischen Außenpolitik.
»Ziel ist, bis zum Ende der Le-
gislaturperiode Gender Budge-
ting auf die gesamten Projekt-
mittel des Auswärtigen Amts
anzuwenden«, heißt es in einem
Brief, den Baerbocks Staats-
sekretäre Andreas Michaelis,
Susanne Baumann und Jennifer
Morgan nach der Vorstellung
der Leitlinien zur feministischen
Außenpolitik an das gesamte
Personal verschickten. Bis 2025
sollen demnach 85 Prozent der
Länder kritisieren
Videopläne
RECHTSPOLITIK Die Justiz-
ministerien mehrerer Länder
lehnen den Plan ab, Hauptver-
handlungen in Strafprozessen
künftig per Video aufzuzeich-
nen. Einen entsprechenden Ge-
setzentwurf hatte Bundesjustiz-
minister Marco Buschmann
(FDP) im November vorgelegt.
Staatsanwälte äußerten jedoch
Bedenken, dass so Zeugen ver-
unsichert werden könnten. Zu-
dem seien die Aufnahmen auf-
wendig und anfällig für Hacker-
angriffe (SPIEGEL 6/2023).
Dieser Kritik schließen sich
auch Fachministerien an, die
von Vertretern der Ampelpar-
teien geleitet werden. Es sei
Nachgezählt
Zahl der Privatiers*
mit Hauptwohnsitz
in Deutschland
711.000
+ 98%
2021 gegen-
über 2010
415.000
372.000
2000 2010
* Personen, die ihren überwiegenden Lebensunterhalt aus ihrem Vermögen bestreiten (inkl.
Ersparnisse, Zinsen, Vermietung, Verpachtung, Altenteil, Lebensversicherung, Versorgungswerk)
S Quelle: Statistisches Bundesamt; Abweichung von 100 Prozent: rundungsbedingt
Projektmittel »gendersensibel«
und 8 Prozent »gendertrans-
formativ« ausgegeben werden,
also auf die Ursachen von Ge-
schlechterungleichheit zielend.
Die Leiterinnen und Leiter der
Auslandsvertretungen werden
gebeten, die feministische
Außenpolitik in den Zielverein-
barungen mit der Zentrale zu
verankern und eine Ansprech-
person zu ernennen. Es sei, so
betonen Baerbocks Staatssekre-
täre, die Initiative aller Mitarbei-
ter »willkommen und gefor-
dert«. Die praktische Umsetzung
der feministischen Außenpolitik
soll in einem speziellen Arbeits-
kreis sowie auf Personalver-
sammlungen und bei der jährli-
chen Botschafterkonferenz
thematisiert werden. CSC
»dringend angezeigt, von dem
Vorhaben Abstand zu neh-
men«, schreibt das von Doreen
Denstädt (Grüne) geführte Thü-
ringer Justizministerium. Ähn-
lich äußern sich Hessen und
Niedersachsen. Die audiovisuel-
le Aufzeichnung werde von der
Justiz »äußerst kritisch betrach-
tet und einhellig abgelehnt«,
schreibt das SPD-geführte nie-
dersächsische Ressort. Selbst
von Parteifreunden bekommt
Buschmann Gegenwind. In
einer Stellungnahme aus dem
Haus des rheinland-pfälzischen
Ministers Herbert Mertin (FDP)
heißt es: Der Entwurf sei dazu
geeignet, »die Funktionstüchtig-
keit des Strafverfahrens und das
Ziel der Wahrheitsfindung er-
heblich zu beeinträchtigen«. SOG
820.000
29 %
65 Jahre
und älter
40 %
45 bis unter 65
23 %
25 bis unter 45
7 % unter 25
2020 2021
DER GESUNDE MENSCHENVERSTAND
Morbus Verbotus
Von Markus Feldenkirchen
E s war einmal eine Zeit,
in der gab es noch echte
Freiheit. Die Menschen
konnten sich ungehemmt ent-
falten, sie waren noch nicht
zu Knechten einer verbotswü-
tigen Obrigkeit verkommen.
Das Dasein war das reinste
Glück. Im Rückblick lässt sich
nicht mehr ganz genau sagen,
wann das Zeitalter der Frei-
heit seine volle Blütezeit er-
reicht hatte. Fest steht nur,
dass es vor der Gründung der
Grünen gewesen sein muss.
Dann aber fingen die zu-
nehmend ergrünenden Obrig-
keiten an, ihre Untertanen mit
immer hirnrissigeren Verbo-
ten zu drangsalieren. Bis der
Morbus Verbotus der Mensch-
heit irgendwann zusetzte wie
dereinst die Pest. Insbeson-
dere jenem Teil der Mensch-
heit, der das Pech hatte, die
begrenzte Zeit auf Erden in
Deutschland verbringen zu
müssen. Und damit willkom-
men in der Gegenwart, aus
der wir nur noch voller Weh-
mut auf eine wenn nicht gol-
dene, dann zumindest gelbe
Zeit zurückblicken können.
In der Epoche der Freiheit
aber konnten die Bürger das
Leben in vollen Zügen genie-
ßen. Wenn einem zum Bei-
spiel ein Zeitgenosse gehörig
auf den Keks ging, konnte
man ihn bequem aus der Welt
schaffen – bis irgendwann ein
Mordverbot erlassen wurde.
Die notwendige Beschaffung
von Lebensmitteln oder Lu-
xusgütern wurde irgendwann
als Diebstahl stigmatisiert
und schließlich ebenfalls mit
einem Verbot versehen.
Bis der Verbotswahnsinn
auch den motorisierten Indivi-
dualverkehr erfasste, durfte
man nicht nur befreit von Gurt-
fesseln, sondern gern auch
stockbesoffen Auto fahren.
Kinder konnten noch zu or-
dentlichen Leuten erzogen wer-
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
den, weil das Prügelverbot
noch nicht erlassen war. Die
Menschen hatten auch viel
mehr Sex, ehe die deutsche Ob-
rigkeit Mitte der Neunzigerjah-
re die Vergewaltigung in der
Ehe verbot (und nur einige
Herren aus der CDU tapfer Wi-
derstand leisteten). Im Restau-
rant, das wird ja oft vergessen,
konnte man neben dem Essen
zugleich den Zigarettenqualm
des Tischnachbarn genießen.
Geht auch nicht mehr. Und
mit der Einführung des Min-
destlohns wurde uns irgend-
wann auch noch das Recht auf
Ausbeutung von Arbeitskraft
genommen. Der Umfang die-
ser Kolumne reicht nicht aus,
In der Epoche der
Freiheit konnten die
Menschen das
Leben noch in vollen
Zügen genießen.
um die ganze Herrlichkeit die-
ser versunkenen Epoche ohne
Verbote zu beschreiben.
Und jetzt wollen der grüne
Ernährungsminister Cem
Özdemir und der grüne Wirt-
schaftsminister Robert Ha-
beck uns Deutschen auch
noch die letzten beiden Freu-
den nehmen, die uns geblie-
ben sind: Werbespots für
Gummibärchen. Und Gashei-
zungen. Nur weil Millionen
Kinder adipös sind und schwe-
re Krankheiten aufgrund
schlechter Ernährung ent-
wickeln. Und weil Gas wegen
Putins Krieg und des nervigen
Klimawandels angeblich nicht
mehr so toll ist. Die sollen sich
mal gehackt legen. Wir können
nur hoffen, dass zumindest die
verbliebene Dreifaltigkeit der
Freiheit (FDP, »Welt«-Journa-
listen und mein Kolumnen-
Kollege Alexander Neubacher)
sich mit aller Macht gegen die-
sen Irrsinn zur Wehr setzt.
Sonst ist das Leben bald echt
nicht mehr lebenswert.
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 27
CHAPPATTES WELT
Hass-Chats ohne
Folgen
HESSEN  Die strafrechtliche
Verfolgung hessischer Polizis-
tinnen und Polizisten, die
in Chatgruppen rassistische In-
halte und Nazisymbole ausge-
tauscht haben sollen, verläuft
offenbar zunehmend im Sand.
Das Landgericht Frankfurt am
Main hat eine ­Anklage gegen
fünf Beamte des 1. Frankfurter
Polizeireviers nicht zugelassen.
Zudem seien mehrere Verfahren
gegen ehemalige Mitglieder des
Im Zwiespalt
BISMARCK-ERBE  Die Direkto-
rin der Völkerkundemuseen in
Dresden, Leipzig und Herrnhut,
Léontine Meijer-van Mensch,
kritisiert die Restitution der be-
rüchtigten Afrika-Sammlung
Otto von Bismarcks an dessen
Nachfahren: Hierbei gebe es
»eine Diskrepanz zwischen dem
Juristischen und dem, was
ethisch geboten ist«. Viele Ob-
jekte stammten aus Strafexpedi-
tionen des Kolonialoffiziers
Hermann Wissmann im damali-
gen Deutsch-Ostafrika, bei
denen es zu Massakern kam
(SPIEGEL 8/2023). 1948 wurde
die Sammlung in der sowjeti-
28 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Frankfurter Spezialeinsatzkom-
mandos, denen ebenfalls der
­Austausch menschenverachten-
der Nachrichten vorgeworfen
wird, inzwischen eingestellt
worden, sagt der Frankfurter
Beamtenrechtsexperte David
Hofferbert. Nach Ansicht des
Frankfurter Landgerichts fand
der Austausch der Polizisten
in relativ kleinen, weitgehend
auf den Kollegenkreis begrenz-
ten Gruppen statt. Dieser sei
vergleichbar mit einem vertrau-
lichen Gespräch an einem
Stammtisch und durch das
schen Besatzungszone enteig-
net, wohl ein Großteil landete
schließlich im Leipziger Völker-
kundemuseum. Eine Erben­
gemeinschaft der Bismarcks hat
vor Gericht einen Restitutions-
anspruch durchgesetzt, der auch
die Afrika-Sammlung betrifft.
Meijer-van Mensch verweist da-
rauf, dass sie einerseits Benin-
Bronzen an Nigeria zurück-
erstattet und andererseits Ob-
jekte der Erbengemeinschaft
restituieren muss: »Das ist ein
Zwiespalt.« Bislang ist der An-
spruch nur bei wenigen Stücken
geklärt, etwa einem Elefanten-
stoßzahn, einem Beutel mit
­getrockneten Bananenscheiben
oder einer Bambuszither. KLW
Grundrecht auf Meinungsfrei-
heit geschützt, so das Gericht.
Die Chats könnten nicht als
strafbare Verbreitung volksver-
hetzender Inhalte oder natio-
nalsozialistischer Symbole ge-
wertet werden. Hofferbert,
der betroffene Beamtinnen und
Beamte vertritt, sieht in dieser
Entscheidung eine »Präzedenz-
wirkung« auf vergleichbare
­Verfahren in anderen Bundes-
ländern. Die Frankfurter
­Staatsanwaltschaft hat gegen
den Landgerichtsbeschluss
­Beschwerde eingelegt. MAB  wählt wurden. AKM, MBA
Streit um Chefposten
JUSTIZ  Am Berliner Kammer-
gericht sind womöglich Urteile
von mehreren Zivilsenaten
rechtlich anfechtbar. Grund
sind zum Teil seit Jahren unbe-
setzte Posten von Vorsitzenden
Richterinnen oder Richtern.
So ist der 24. Zivilsenat seit dem
1. September 2020 ohne
Vorsitz, der 7. Senat seit dem
31. Juli 2021 und der 6. Senat
seit dem 1. August 2022. Das
geht aus den Geschäftsvertei-
lungsplänen hervor. Die unter
einer Vertretung gefällten Urtei-
le könnten mit einer Revision
zum Bundesgerichtshof (BGH)
angegriffen werden: Nach BGH-
Russlandreise mit
Tantra-Masseurin
AFD  Eine Reise von AfD-Funk-
tionären nach Russland im
­vergangenen September sorgt
weiter für Unruhe innerhalb
der Partei. Der Landesverband
Nordrhein-Westfalen prüft der-
zeit »Parteiordnungsmaßnah-
men« gegen zwei weibliche Mit-
glieder, wie ein Sprecher auf
Anfrage mitteilte. Die Frauen
hatten die Landtagsabgeordne-
ten Christian Blex (NRW),
Hans-Thomas Tillschneider und
Daniel Wald (beide Sachsen-
Anhalt) begleitet. Laut AfD wa-
ren sie als Übersetzerinnen
­eingesetzt, sie arbeiten jedoch
nicht in dem Beruf: Swetlana R.
ist Bürokauffrau bei einer Kfz-
Werkstatt, Natalie V. betreibt
ein Tantra-Massagestudio mit
sexuellen Dienstleistungen.
V. sagt auf Anfrage, sie »beherr-
sche einfach Russisch« und en-
gagiere sich gern politisch. Tat-
sächlich demonstriert V. immer
wieder für die AfD. Auf ihrem
YouTube-Kanal forderte sie, das
»MerKILLRegime« zu stürzen.
Andere Parteien als die AfD
­seien »erbärmlicher Dreck«. R.
verteidigte Russland auf einer
AfD-Demo und führte aus, dass
die Medien das veröffentlichten,
was der »Bundesnachrichten-
dienst vorschreibt«. Die Reise-
und Hotelkosten wurden von
der Fraktion in Sachsen-Anhalt
übernommen, bestätigt V. Die
Fraktion will sich nicht äußern,
auch nicht dazu, warum die
­beiden Frauen aus NRW ausge-
Rechtsprechung kann schon eine
Vakanz von acht Monaten zu
lang sein. Das Kammergericht
teilt auf Anfrage mit, nach alters-
bedingtem Ausscheiden seien
Positionen wegen mehrerer Kla-
gen von unterlegenen Mitbewer-
bern noch nicht nachbesetzt.
Es gebe keine vom Gericht oder
von der Senatsverwaltung ver-
antworteten Verzögerungen,
man gehe von einer »ordnungs-
gemäßen Besetzung« aus. Der
Präsident der Berliner Rechtsan-
waltskammer, Marcus Mollnau,
kritisiert: »Dieser Mangel zeigt
erneut, dass die Justiz in Berlin
nicht richtig arbeiten kann,
weil sie nicht ordnungsgemäß
besetzt ist.« HAS, HIP
»Das hilft dem Klima a­ ngeboten, einen Brief an die
Abgeordneten des Bundestages
kein bisschen« zu schicken. Die Forderungen
Hannovers Oberbürgermeister nach einem 9-Euro-Ticket und
Belit Onay, 42, spricht über nach einem Tempolimit kann
­seinen Deal mit der »Letzten ich ebenfalls unterschreiben.
Generation« und erklärt, wa­ SPIEGEL: Die »Letzte Genera­
rum er deren ­Aktionen ablehnt. tion« hat Ihre Botschaft
in Übergröße an das Berliner
SPIEGEL: Herr Onay, wie kam Reichstagsgebäude geklebt. War
es zu der Zusage, Hannover mit das mit Ihnen abgestimmt?
Aktionen zu verschonen? Onay: Nein. Das war unnötig.
Onay: Wir hatten hier einige Ich hatte keine Zweifel, dass
Proteste mit festgeklebten Leu­ der Brief bei den Adressaten an­
ten, die die Menschen sehr kommen wird.
­bewegt und polarisiert haben, SPIEGEL: War diese Aktion nicht
es gab konfrontative Situa­ in Ihrem Sinne?
tionen, Unmut, Wut. Ich sah Onay: Überhaupt nicht. Wir ha­
den Stadtfrieden gefährdet. ben in Hannover darüber gespro­
­Darum habe ich Vertreterinnen chen, dass wir solche Störaktio­
und Vertreter der »Letzten nen nicht mehr wollen. Mich stört
­Generation« ins Rathaus ein­ diese Form der Proteste, und ich
geladen. Ich wollte mit ihnen möchte nicht, dass sie mit mei­
ins Gespräch kommen. nem Namen verbunden wird. Das
SPIEGEL: Sie sind gegen die nützt dem Klima kein bisschen.
Proteste zum Klimaschutz? SPIEGEL: Kritiker sagen, Sie hät­
Onay: Mit den Forderungen der ten sich erpressen lassen.
Klimaaktivisten stimme ich Onay: Das stimmt aber nicht,
weitgehend überein, mit der denn das würde bedeuten, dass
Form ihrer Proteste nicht. Alle ich zu etwas gezwungen wurde,
reden über Protestierende, die was ich nicht tun ­wollte. Das
sich irgendwo festgeklebt ha­ Gegenteil ist der Fall. Wir müssen
ben. Über die Klimakrise, die es auf Bundesebene viel mehr
aufzuhalten gilt, über das gegen die ­Klimakrise unterneh­
1,5-Grad-Ziel und über Maß­ men, diese Einschätzung teile ich.
nahmen gegen die Erderwär­ SPIEGEL: Haben Sie selbst das
mung reden sie nicht. von der »Letzten Generation«
SPIEGEL: Jetzt reden wir aber geforderte 9-Euro-Ticket in
schon darüber … Hannover schon eingeführt?
Onay: Mir geht es darum, Onay: Wir wünschen uns das,
­Hannover klimafreundlicher zu aber als Kommune stehen
­gestalten. Es gibt also viele wir am Ende der finanziellen
Schnittmengen mit den Klima­ Nahrungskette. Ohne den
aktivisten. Den Leuten von Bund geht das nicht. Wir werden
der »Letzten Generation« habe das 49-Euro-Ticket ein­führen und
ich angeboten, wenn ihr über zusammen mit der Region Han­
Klimaschutz reden wollt, sehr nover überlegen, wie wir weitere
gerne. Aber ohne Ultimaten Vergünstigungen hinbekommen.
und ohne Druck. Die Aktionen SPIEGEL: Die zweite große For­
müssen enden. derung, Tempolimit 100, spielt
SPIEGEL: Warum haben Sie in einer Stadt wie Hannover
einen Brief an die Bundestags­ keine Rolle. Klingt nach viel PR
abgeordneten geschrieben? und wenig Inhalt, oder?
Onay: Mit der Zielsetzung der Onay: Ich würde das nicht als
»Letzten Generation«, das Kli­ PR-Aktion einordnen. Das hat
maschutzabkommen von Paris substanzielle Inhalte. Wir ha­
einzuhalten, stimme ich über­ ben in Hannover keine Stör­
ein. Und das geht nur auf Bun­ aktionen mehr und sind im Ge­
desebene. Darum habe ich spräch mit den Klimaaktivisten.
Damit haben wir mehr erreicht
als die Kritiker in Süddeutsch­
land, die mit ihrer Haltung die
Fronten verhärten, statt kons­
truktiv nach Lösungen für mehr
Michael Loewa / laif
Klimaschutz zu suchen. GUD
Onay Lesen Sie auch ‣ Klimaaktivisten vor
Gericht | 30
»2000 Tote in zwei Wochen«
DER AUGENZEUGE  Nach Naturkatastrophen und
Unglücken kümmert sich René Strawinski
vom Verein Deathcare um die Verstorbenen.
»Wenn eine große Anzahl an
Todesopfern zu beklagen ist,
kommen wir zum Einsatz.
Das können Zugunglücke,
aber auch Naturkatastrophen
wie das Erdbeben in der Tür­
kei sein. Unsere beiden Teams
dort bestanden aus je rund
einem Dutzend Bestatter,
­Forensiker und Mediziner. Be­
erdigt haben wir niemanden.
Die Türkei ist ein muslimi­
sches Land, um rituelle Wa­
schung und Bestattung küm­
merten sich Leute vor Ort.
Stattdessen haben wir ge­
holfen, die Toten zu identi­
fizieren und zu desinfizieren,
und so zur Seuchenbekämp­
fung beigetragen. Wenn Such­
trupps im Schutt Verstorbene
gefunden haben, sind wir aus­
gerückt. Mit Schaufeln und
Händen haben wir die Toten
freigelegt, damit sie zu einer
Auffangstelle gebracht werden
konnten, wo andere Teammit­
glieder Fingerabdrücke, Blut
und DNA zur Identifizierung
entnommen haben. Manch­
mal haben auch Angehörige
geholfen, die Kleidung oder
Gegenstände erkannt haben.
Jedes Team blieb fünf
bis sieben Tage vor Ort. Mehr
ging nicht. In Deutschland
versorgen wir zwischen 150
bis 400 Verstorbene jährlich,
in der Türkei rund 2000 Tote
in zwei Wochen, darunter na­
türlich auch Kinder und junge
Julia Runge / DER SPIEGEL
Menschen. Das geht nicht
spurlos an uns vorbei. Und
mit zunehmender Liegezeit –
in diesem Fall ja bis zu
14 Tage – sieht ein Leichnam
nicht mehr schön aus. Wir
strahlen zwar Professionalität
aus, aber auch wir brauchen
nach Einsätzen manchmal
psychologische Betreuung.
Unser Verein ist unseres
Wissens nach weltweit einzig­
artig, denn wir machen das
ehrenamtlich und humanitär.
Wir brauchen nur einen Auf­
trag, der kam in dem Fall von
der türkischen Regierung.
Den Flug hat Turkish Airlines
bezahlt, untergebracht waren
wir in einer Mannschafts­
unterkunft. Hotels gab es ja in
Kahramanmaraş nicht mehr.
Was ich aus dem Einsatz mit­
nehme, ist die Dankbarkeit
und Herzenswärme der Men­
schen vor Ort. Leute, die nur
wenig Deutsch sprachen,
­kamen auf uns zu und sagten:
»Danke, dass ihr hier seid.«
Vor zwei Jahren haben
wir versucht, auch im Ahrtal
zu helfen. Damals standen
wir mit 30 Leuten parat, aber
niemand hat uns für voll ge­
nommen. Wir wünschen uns
daher Strukturen im Katastro­
phenschutz, bei denen klar
geregelt ist: Wer kümmert sich
um die Lebenden, wer um die
Toten?«
Aufgezeichnet von Sara Wess
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 29
DEUTSCHLAND

Auf der Anklagebank

KLIMABEWEGUNG  Fast jeden Tag stehen Aktivistinnen und Aktivisten der »Letzten Generation« vor Gericht.
Sie wollen die Prozesse als Bühne für ihren Protest nutzen und die Justiz zu politischen Aussagen bewegen.
Diese reagiert umso entschlossener mit bürokratischer Routine.

Hermann Bredehorst / Polaris / laif

Der Fall Aimée van Baalen  Sie verzichtete auf einen Anwalt und verteidigte sich selbst. Die Richterin verhängte eine
­Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 10 Euro. Die Staatsanwaltschaft hatte 50 Tagessätze gefordert.

30 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


K
eine halbe Stunde nach Beginn der Ver-
handlung fällt Henning Jeschke dem
Richter ins Wort. »Es tut mir leid, dass
ich Sie wieder unterbrechen muss. Es tut mir
leid, dass ich das hier machen muss.« Es ist
nicht das erste Mal, dass er dazwischengeht,
aber diesmal steht er auf. Seine linke Hand
liegt auf dem Tisch. In der rechten hält er
plötzlich ein Handy.
Es ist die erste solche Störung einer Ge-
richtsverhandlung der »Letzten Generation«,
jener Klimaaktivisten, die sich regelmäßig auf
Straßen festkleben. Jeschke hat die Gruppe
mitgegründet. Vor dem Amtsgericht Tiergar-
ten in Berlin muss er sich unter anderem für
mehrere Straßenblockaden verantworten.
Es ist der zweite Verhandlungstag, und die
Dinge laufen nicht so, wie er sich das vorstellt.
Deshalb macht er noch einmal das, was ihn
vor Gericht gebracht hat.
»Ich habe mich hier festgeklebt am Tisch.
Ich übertrage das Ganze live ins Internet, weil
ich denke, dass wir in diesem Moment über
den Klimanotfall sprechen müssen. Der Herr
Richter weigerte sich das letzte Mal bereits
und verweist darauf, dass dies hier nicht das
Forum sei. Aber es muss das Forum dafür
sein.« Der Richter verlässt den Raum durch
die Tür hinter seinem Platz.
Jeschke und seine Mitstreiter wollen die
Politik zum Klimaschutz drängen, und sie
nutzen dafür Mittel des zivilen Ungehorsams.
Was praktisch heißt: Sie brechen Regeln.
Seit einem Jahr geht das so. Mal werfen
sie Kartoffelbrei auf die Glasscheibe vor
einem Gemälde. Mal sägen sie die Spitze des
Weihnachtsbaums vorm Brandenburger Tor
ab. Mal drehen sie Notventile von Ölpipelines
zu. Mal dringen sie auf ein Flughafengelände
ein. Und immer wieder kleben sie sich auf
Straßen fest, um den Verkehr zu blockieren.
Sie zwingen den Staat, gegen sie vorzu-
gehen, weil er Rechtsbruch nicht hinnehmen
kann – und sie nutzen dieses Vorgehen dann,
um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aber so
unmittelbar wie Jeschke hat noch niemand
von ihnen den Staat herausgefordert.
Seit einigen Wochen steht ständig irgend-
ein Mitglied der »Letzten Generation« vor
Gericht. Sie klagt den Staat an, und der Staat
klagt sie an. Mehr als 120 Gerichtstermine hat
die Gruppe bisher erlebt, mehr als 100 stehen
in den nächsten drei Monaten an. Es geht
meist um Aktionen aus dem vergangenen
Jahr. Vieles hat sich aufgestaut. Noch ist nur
ein Teil der Urteile rechtskräftig.
In den Gerichtssälen kann man beobach-
ten, wie die Aktivistinnen und Aktivisten den
Staat auf neue Art herausfordern. Wie sie Un-
sicherheit erzeugen, weil das Rechtssystem
für Fälle wie ihre nicht wirklich gemacht ist.
Man kann auch beobachten, dass die Be-
wegung nicht auf einen zornigen strafenden
Staat trifft, sondern auf Amtsrichterinnen und
Amtsrichter, die versuchen, sich nicht auf eine
politische Auseinandersetzung einzulassen.
Die oft Milde walten lassen und die Aktivisten
damit erst recht frustrieren.
Anne Baum / dpa
Der Fall Henning Jeschke  Im Amts­
gericht Tiergarten klebte er sich am Tisch
fest. Nach weiteren Störungen musste er
seine Verhandlung verlassen.
Dabei sah es noch vor Kurzem so aus, als
verlöre der Staat die Geduld. Als ginge er mit
ganzer Härte gegen die »Letzte Generation« vor.
Am Morgen des 5. Januar fallen sich vor
der Justizvollzugsanstalt Stadelheim ausgelas-
sene Männer und Frauen um den Hals. Einige
von ihnen haben gerade Präventivgewahrsam
hinter sich, sie wurden eingesperrt, damit sie
sich nicht wieder auf der Straße festkleben.
Die Frauen in einer gemeinsamen Zelle, die
Männer in Einzelzellen. Einer saß 30 Tage ein.
Sie wurden nicht angeklagt, sie wurden
nicht verurteilt. Das bayerische Recht erlaubt
so etwas, zur Gefahrenabwehr.
In den Augen der Gruppe ist Bayern das,
was Alabama für die US-Bürgerrechtsbewegung
war: der Ort, an dem der Sheriff am härtesten
zuschlägt. Auch deshalb hat sich München für
eine Weile zum Aktionsschwerpunkt entwi-
ckelt. Die Gefangenen von Stadelheim wurden
zum Symbol. Manche hatten mehrfach einge-
sessen. Umso gelöster ist die Stimmung vor der
JVA. Die einen erzählen von ihrer kleinen
Weihnachtsfeier, von selbst gebasteltem Lippen-
stift aus Creme und Wachsmalkreide. Die an-
deren vom Freigang am frühen Morgen. Ein
Teil will nun in die Stadt, ins Café, ankommen
in der Freiheit. Als sich das Grüppchen zu Fuß
in Bewegung setzt, rollt ein Polizeiwagen an.
Auf der Treppe zur U-Bahn laufen drei
Beamte hinterher. Sie steigen mit in den Wag-
»Die Polizei hat meine
­vollste Unterstützung, wenn
sie durchgreift.«
Nancy Faeser, Bundesinnenministerin
DEUTSCHLAND
gon, folgen danach auf der Suche nach einem
Café, das nicht überfüllt ist.
»Was planen Sie noch?«, fragt ein Polizist.
»Baden in der Isar«, antwortet eine Akti-
vistin, »kommen Sie auch?«
»Aber keine Demonstration oder so?«
Das haben sie schon in der JVA zugesagt.
Nur deshalb sind sie am Morgen freigekom-
men. Aber die Polizei vertraut ihnen nicht,
natürlich nicht.
Ziviler Ungehorsam beinhaltet immer Re-
gelbruch. Er braucht die Irritation, die dadurch
entsteht. Der staatliche Gegendruck ist einge-
preist. Bis zu einem gewissen Grad zumindest.
Im November schien die Stimmung umzu-
schlagen, nach dem Tod einer Fahrradfahrerin,
die wegen einer Straßenblockade der »Letzten
Generation« in Berlin nicht schnellstmöglich
von einem Bergungsfahrzeug erreicht wurde.
In der Öffentlichkeit machten RAF-Vergleiche
die Runde. Bundesinnenministerin Nancy Fae-
ser (SPD) gab die Richtung vor: Der Rechts-
staat lasse sich nicht auf der Nase herumtan-
zen. »Die Polizei hat meine vollste Unterstüt-
zung, wenn sie durchgreift.« Im Dezember
durchsuchten Polizisten elf Wohnungen von
Mitgliedern der »Letzten Generation«.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin teilte mit,
sie ermittle wegen des Verdachts der Bildung
einer kriminellen Vereinigung. Also einer fes-
ten Gruppe, die sich verabredet, um Straftaten
zu begehen. Damit könnte künftig schon die
Mitgliedschaft bestraft werden. Die Bewegung
wertet das als Einschüchterungsversuch. Fol-
gen hatten die Razzien noch nicht. Inzwischen
habe sich aber die Zahl der Beschuldigten deut-
lich erhöht, teilt die Staatsanwaltschaft mit.
Genaue Zahlen will sie nicht nennen.
In den vergangenen Wochen häufen sich
die Gerichtsverfahren. Es geht um verschie-
dene Vorwürfe, regelmäßig um Nötigung der
Autofahrer durch Straßenblockaden und Wi-
derstand gegen die Polizei. Seitdem tritt der
Staat den Aktivistinnen und Aktivisten nicht
mehr vor allem in Polizeiuniform gegenüber,
sondern immer öfter auch in der Richterrobe.
An einem Tag im Februar steht Aimée van
Baalen vor Gericht, 23 Jahre alt. Es geht um
zwei Straßenblockaden. Sie sitzt allein an ihrem
Platz. Das »Legal Team« der Gruppe hat ein
Netzwerk aus sympathisierenden Verteidigern
geknüpft, die teils pro bono, teils bezahlt ein-
springen. Nicht alle wollen das. Van Baalen will
es nicht. »Sich selbst zu verteidigen ist eine
Möglichkeit, sich weniger klein zu fühlen. Man
gerät sonst leicht in die Rolle, dass über den
eigenen Kopf hinweggesprochen wird«, sagt
Mirjam Herrmann aus dem »Legal Team«.
Mit ruhiger Stimme liest van Baalen ein
Statement ab. »Ich habe ein soziales Jahr im
Altersheim gemacht.« Sie wolle »der Gesell-
schaft etwas zurückgeben«. Sie klebe sich, soll
das wohl belegen, nicht aus Leichtsinn an.
Dann hält sie einen Vortrag über die Gefähr-
lichkeit der Klimakrise und sagt: »Ich fordere
das Gericht auf, sich zu positionieren.«
Wenn Menschen vor dem Strafrichter lan-
den, geht es üblicherweise darum zu klären,
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 31
DEUTSCHLAND
ob sie getan haben, was ihnen zur Last gelegt
wird, und wenn sie es getan haben, warum.
Im Fall der »Letzten Generation« ist all das
im Grunde bekannt. Die Aktivistinnen und
Aktivisten bestreiten ihr Handeln nicht. Sie
sind womöglich Straftäter, aber auch politi-
sche Aktivisten. Man merkt in jedem Mo-
ment, wie ungewöhnlich diese Konstellation
in einem Amtsgericht ist.
Manchmal verlangen sie besonders harte
Strafen für sich selbst. Entweder, sagt van
Baalen gegen Ende ihres Eingangsstatements,
es sei verwerflich, was sie tue: »Dann bestra-
fen Sie mich möglichst hart. Oder es ist legi-
tim. Dann sprechen Sie mich bitte frei.«
Bei Nötigung sieht das Gesetz eine Geld-
oder Gefängnisstrafe vor. Zunächst einmal
muss das Gericht aber überhaupt feststellen,
dass sie mit Gewalt oder Drohung vorgenom-
men wurde und verwerflich ist.
Immer wieder versucht die »Letzte Gene-
ration«, die Gerichte dazu zu bringen, über
die großen Fragen zu sprechen. Die Klima-
krise, die sich nicht nur in ferner Zukunft aus-
wirke, sondern in der Gegenwart. Über Pro-
testformen und deren Wirksamkeit. Gelänge
das, so der Plan, müssten die Richterinnen
und Richter nach und nach anerkennen, dass
die Blockaden nicht verwerflich seien, son-
dern vom Klimanotstand gedeckt.
Van Baalen hat deshalb mehrere Beweis-
anträge vorbereitet. Geladen werden soll
­Simon Teune, Protestforscher von der Freien
Universität Berlin. Der solle erklären, »dass
in der Sozialwissenschaft ziviler Widerstand
ein anerkanntes und effektives Mittel ist, um
soziale und politische Veränderungen voran-
zutreiben«. Außerdem solle eine Stellung-
nahme von Wolfgang Lucht zur Definition
eines Klimanotstands zur Kenntnis genom-
men werden. Lucht leitet die Abteilung für
Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für
Klimafolgenforschung.
»Ich soll Professor Lucht hören?«, fragt die
Richterin etwas ratlos.
»Nein, der Antrag soll zur Kenntnis ge-
nommen werden«, sagt van Baalen.
»Wenn Sie das, was er sagen soll, dahaben,
dann tragen Sie es vor.«
»Lesung« nennt die Richterin das. Eine
Rolle spielt all das für den Ausgang des Pro-
zesses nicht. Als Beweisanträge erkennt die
Richterin sie gar nicht erst an. In anderen Pro-
zessen weist das Gericht sie zurück, weil die
Existenz des Klimawandels als gerichtsbe-
kannt oder als unerheblich für das Verfahren
angesehen wird. Oder die Richter sagen, sie
hätten genug eigene Sachkenntnis.
Als Zeugen werden drei Polizisten gehört.
Die Richterin stellt Fragen wie diese: »Der
Stau, was meinen Sie, wie lange der war?«
Sie prüft, was genau auf der Straße passiert
ist, ob die Tramschienen besetzt waren, ob
ein Rettungswagen durchkam. Fotos werden
betrachtet. Auf das Pathos der Aktivisten, die
den Ausnahmezustand ausrufen, reagieren
die Gerichte umso entschlossener mit büro-
kratischer Routine.
32 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Omer Messinger / Getty Images
Der Fall Carla Hinrichs  Der Richter
sagte, die Menschheit werde sowieso
aussterben. Ihr Verteidiger stellte einen
Befangenheitsantrag.
Am Ende verurteilt die Richterin van Baa-
len zu 40 Tagessätzen à 10 Euro. Weniger, als
die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Es ist
ein eher mildes Urteil.
Eine Freiheitsstrafe würde große Aufmerk-
samkeit bedeuten. Ein Freispruch auch. Bei-
des könnte die Rechtsprechung dauerhaft
prägen. Das Freiburger Amtsgericht hat in
erster Instanz einmal freigesprochen. Aber
die meisten Gerichte verhängen Geldstrafen.
All die Fragen, die die »Letzte Generation«
unbedingt verhandelt sehen möchte, tauchen
nur indirekt in der Urteilsbegründung auf.
»Ich denke, dass es dafür sehr viel sinnvolle-
re Aktionen geben kann«, sagt die Richterin
zu Aimée van Baalen: Interviews, Petitionen,
Demonstrationen. Routinemäßig verwerfen
die Gerichte die Fragen, die die »Letzte Ge-
neration« an sie richtet. Aber genauso routi-
nemäßig entwickeln sie eine Haltung dazu,
ob der Protest politisch gerechtfertigt ist.
Ein anderer Tag im Februar, ein anderer
Richter in Berlin, diesmal sitzt Carla Hinrichs
auf der Anklagebank. Der Richter verleiht
seiner Überzeugung Ausdruck, die Mensch-
heit sei zu »dumm« und werde sowieso aus-
sterben, weshalb Protest für mehr Klima-
schutz im Grunde auch nichts bringe. Hinrichs
kommen die Tränen.
So ist es Presseberichten zu entnehmen,
so erzählt es Hinrichs. Ihr Verteidiger bestä-
»Sie erreichen damit
die Gesellschaft auch nicht.«
Der Richter im Prozess gegen Henning
­Jeschke
tigt, dass die Sätze gefallen sind, so haben es
auch mehrere Mitglieder der »Letzten Gene-
ration« in Mitschriften festgehalten. Wenn
möglich, sitzt jemand auf den Zuschauerbän-
ken und schickt Notizen an die anderen.
Ein Urteil gibt es an diesem Tag nicht. Der
Verteidiger stellt einen Befangenheitsantrag,
der Prozess wird erst einmal unterbrochen.
Auch Henning Jeschkes Prozess beginnt
mit einem Schlagabtausch. Er hält einen lan-
gen Eingangsvortrag. Der Richter sagt, der
Gerichtssaal sei nicht das richtige Forum da-
für, lässt sich dann aber doch darauf ein.
»Sie wollen mit einer kleinen Gruppe – Sie
repräsentieren nur eine sehr kleine Gruppe im
Meinungsspektrum – der sehr großen Mehr-
heit etwas oktroyieren«, sagt er. Das lasse
sich mit dem politischen System so nicht ver-
einbaren. »Es hat den Anschein, dass Sie
eine Ökodiktatur errichten wollen.« Schließ-
lich: »Sie erreichen damit die Gesellschaft
auch nicht.«
Da sind die großen Fragen plötzlich aus-
gesprochen. Danach rutscht die Verhandlung
zurück in die üblichen Routinen. Jeschkes An-
walt stellt einen Antrag auf Befangenheit. Der
Richter fragt etwas ratlos: »Sie wollten doch
einen Diskurs. Sie wollen doch auch, dass ich
mich mit Ihren Positionen beschäftige.« Kurz
darauf wird die Verhandlung vertagt.
Am zweiten Verhandlungstag beugt sich
der Richter über Polizeiberichte von den Blo-
ckaden. Jeschkes Anwalt stellt die üblichen
Beweisanträge, man ahnt schon, dass sie nicht
zugelassen werden. Dann klebt Jeschke sich
fest. Später wird er wegen wiederholter Stö-
rungen aus seiner eigenen Verhandlung aus-
geschlossen, bekommt Hausverbot für diesen
Tag, wird aus dem Gericht eskortiert. Auch
diesmal wird kein Wissenschaftler geladen.
In der »Letzten Generation« und unter
ihren Anwälten geht man nicht davon aus,
dass sich daran bald etwas ändern wird. Die
Amtsgerichte könnten eher bei ihrer Linie
bleiben: die Fälle so unpolitisch wie möglich
verhandeln, eher milde Geldstrafen ver­
hängen.
Erst in den nächsten Instanzen könnte das
aufbrechen, glauben die Aktivistinnen und
Aktivisten. Dann könnte sich das Verhältnis
von Staat und Klimabewegung wieder än-
dern. In die eine oder andere Richtung.
In der »Letzten Generation« träumen sie
davon, dass sie recht bekommen, dass sich
dann immer mehr Menschen anschließen. Das
wäre ein Ausweg aus der Spirale von Rechts-
bruch und Verfolgung, Protest und Repres-
sion.
Aber es ist wahrscheinlicher, dass es anders
kommt. Dass die Gerichte nicht anfangen, die
Aktivisten freizusprechen. Was dann?
»Mir wird immer klarer, dass für mich
wahrscheinlich kaum ein Weg daran vorbei-
führt, irgendwann länger im Gefängnis zu
landen«, sagt Carla Hinrichs. »Mir macht das
unglaublich Angst. Aber ich versuche, mich
darauf vorzubereiten.«
Jonas Schaible n

Die Klein-Klein-Koalition
BUNDESREGIERUNG  Immer wieder zerreibt sich das Ampelbündnis
vor allem an verkehrspolitischen Themen. Damit blockiert es sich selbst
– und schädigt Deutschlands Ruf in Europa.
E
s war eine durchschaubare Provokation
der Opposition. In der jüngsten Sitzung
des Verkehrsausschusses wollte die AfD
über das Tempolimit auf Autobahnen spre-
chen. Eine alte, irrationale Debatte, von allen
Akteuren reflexartig geführt – und ein Garant
für Krach in der Ampelkoalition.
Die Union trieb das Spiel weiter, schlug
vor, den Präsidenten des Umweltbundesamts
(UBA) einzuladen. Dessen Behörde – sie ist
dem Umweltministerium unterstellt – war es,
die hatte ausrechnen lassen, dass Tempo 120
auf Autobahnen und Tempo 80 auf Land-
straßen deutlich mehr Treibhausgase einspa-
ren würde als gedacht, an die acht Millionen
Tonnen CO2-Äquivalente. Die Studie hatte
2019 die damalige Umweltministerin Svenja
Schulze (SPD) in Auftrag gegeben.
Die FDP, die kein Fan des Tempolimits ist,
verhinderte die Einladung des UBA-Chefs.
»Herr Reuther stimmt diesem Vorschlag
­ausdrücklich nicht zu«, ließ das Büro des
­verkehrspolitischen Sprechers der FDP, Bernd
Reuther, das Ausschusssekretariat wissen.
Verkehrsminister Wissing vor einer Ladesäule: Der Ansehensverlust dürfte bleiben
Reuther gilt als enger Vertrauter von Partei-
chef Christian Lindner.
Damit hatte die Opposition ihr Ziel er-
reicht und die Koalition blamiert. Die Ampel,
die nicht einmal den Leiter einer von ihr kon-
trollierten Behörde einladen will. Die Ampel,
die sich immer wieder im Streit über Grund-
sätzliches verliert. Die Ampel, deren Personal
wirkt, als wäre es in einer Zeitschleife ewiger
Koalitionsverhandlungen gefangen.
Die Liste des Ärgers ist lang und jüngst
noch länger geworden. Neben Dauerreiz­
themen wie Autobahnen und Verkehr (Pla-
nungsbeschleunigung, Bahn) geht es jetzt
auch ums Heizen (Öl- und Gasheizungs­
verbot) und um Treibstoffe (E-Fuels). Selbst
über Werbung für Junkfood und die Kinder-
grundsicherung wird gestritten.
Zwischen den Koalitionspartnern FDP und
Grünen ist die Kluft so tief geworden, dass sie
unüberwindbar wirkt. Und die SPD hält sich
zurück. Am Sonntag und Montag könnte sich
der Streit bei der Kabinettsklausur im bran-
denburgischen Meseberg zuspitzen.
Niels Starnick / Bild am Sonntag
DEUTSCHLAND
Schon einmal hat der Kanzler seine Part-
ner mit einem Machtwort zur Ordnung ge-
rufen. Im Herbst war das, als Grüne und FDP
über den befristeten Weiterbetrieb von Atom-
kraftwerken stritten. Wird Scholz es wieder
tun müssen?
Als Nächstes steht sonst eine Blamage auf
EU-Ebene bevor. FDP-Verkehrsminister Vol-
ker Wissing droht damit, das Aus des alten
Verbrennungsmotors bis 2035 zu kippen,
­sofern keine Lösung für Fahrzeuge, die mit
sogenannten E-Fuels laufen, gefunden wird.
Dabei schien der Fall längst geklärt. Mo-
natelang hatten Kommission, Mitgliedsländer
und das EU-Parlament um einen Kom­
promiss  beim Verbrenner gerungen, die
Mehrheit der Abgeordneten stimmte Mitte
Februar zu. Die Sache hätte ohne weitere
Diskussion von den Verkehrsministern ab-
gesegnet werden sollen.
Dass Berlin den Kompromiss in letzter Se-
kunde infrage stellt, eine Abstimmung des-
halb verschoben werden musste, sorgte, so
Diplomaten, für erhebliche Irritationen unter
den anderen EU-Staaten. Derartiges Verhal-
ten kennen sie vor allem von Ländern wie
Ungarn oder Polen. Wissings Einwände seien
legitim, heißt es, doch hätte er sie vor Mona-
ten in den Prozess einbringen müssen.
Zwar könnte Deutschland zusammen mit
Italien, Bulgarien und Polen, die das Vor­
haben ebenfalls ablehnen, knapp eine Sperr-
minorität bilden. Doch die schwedische Rats-
präsidentschaft kann die Sache so lange ver-
zögern, bis ein Kompromiss gefunden ist –
oder einer der Wackelkandidaten einknickt.
Eins von beidem geschieht in Brüssel für ge-
wöhnlich immer. Der Ansehens­verlust aber
dürfte bleiben.
Nach vier verlorenen Landtagswahlen ist
die FDP in Bedrängnis geraten. Mit den Grü-
nen, die immer mehr wollen, als sie bekom-
men können, verkeilt sie sich in den Details,
wie bei den E-Fuels. Die FDP fordert eine
»Technologieoffenheit«, auch aus Sorge um
die Autoindustrie.
Die Grünen berufen sich auf den Koa­
litionsvertrag, die Klimakrise, es ist ein ein-
geübtes Schauspiel. Immer lauter werden die
Klagen der Grünen über die Ansinnen der
FDP. In den FDP-geführten Häusern ärgert
man sich dagegen über die Flut grüner An-
fragen.
Nun soll ein Ausflug aufs Land helfen. Die
Kabinettsklausur im barocken Schloss Mese-
berg wurde vorgezogen. Nach dem Willen
des Vizekanzlers Robert Habeck hätte es dort
um Zuversicht, um Zukunft gehen sollen
– zwei Tage für die großen Linien. Stattdessen
dürfte nun den Streit zwischen Grünen und
FDP im Mittelpunkt stehen.
Bei der Krisenpolitik hat die Ampel bislang
leidlich funktioniert. Doch auf dem Spiel steht
das, wofür diese Koalition einmal angetre-
ten ist: der Fortschritt, die Modernisierung
der Gesellschaft. Dafür gibt es kein gemein-
sames Konzept.
Markus Becker, Serafin Reiber, Gerald Traufetter n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 33
DEUTSCHLAND

wendig. Ich finde es zum Beispiel klug, dass

der Kanzler viele Schwellenländer besucht.
Er spricht mit Lula in Brasilien, mit Modi in
Indien, mit Xi in China. Dafür wird er viel
kritisiert. Aber das sind doch genau jene Län-
der, auf die auch Putin einwirkt. Das dürfen
wir ihm auf keinen Fall überlassen.
SPIEGEL: Unser Eindruck ist: Die Bundesre-
gierung hat keine gemeinsame Außenpolitik.
Außenministerin Annalena Baerbock verfolgt
einen wertegeleiteten, Scholz eher einen prag-
matischen Ansatz. Blicken Sie da durch?
Schulz: Erst einmal müssen wir klären, was
wertegeleitete Politik überhaupt ist. Für mich
ist das eine Politik, die alles tut, um die Welt
sicherer zu machen und die Gefahren militä-
rischer Konflikte zu reduzieren. Das ist rich-
tig. Wer in der internationalen Politik arbeitet,
macht sich aber irgendwann das Hemd
schmutzig, weil man auch mit Leuten reden
muss, die andere Grundüberzeugungen ha-
ben. Denen mit unverhandelbaren Bedingun-
gen zu kommen – davon halte ich nichts.
SPIEGEL: Frau Baerbock ist immerhin in vie-
lem klar: Sie ist gegen Putin, gegen Autokra-
ten, gegen Menschenrechtsverletzungen.

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

Schulz: Ich hoffe doch sehr, dass alle Demo-
kratinnen und Demokraten dagegen sind.
Frau Baerbock hat bei der Uno gerade einen
Erfolg erzielt und mitgeholfen, dass viele
Staaten den russischen Krieg verurteilt haben.
Sozialdemokrat Aber 2,8 Milliarden Menschen leben in den
Schulz
Staaten, die sich in dieser Frage enthalten
­haben: China und Indien. China passt ganz
sicher nicht in unsere westeuropäischen De-
mokratievorstellungen. Aber ohne Dialog mit
Peking wird man kaum Konflikte dieser Welt

»Davon halte ich nichts«

DIPLOMATIE  Der frühere SPD-Vorsitzende Martin Schulz, 67,
kritisiert die wertegeleitete Außenpolitik von Annalena Baerbock –
und rät zum Dialog mit China.
SPIEGEL: Herr Schulz, wissen Sie noch, wo
Sie waren, als der Kanzler am 27. Februar
2022 die Zeitenwende ausgerufen hat?
Schulz: Ja, klar. In meinem Arbeitszimmer
zu Hause in Würselen. Ich habe mir im Fern-
sehen die Bundestagsübertragung angeschaut.
SPIEGEL: Wie war Ihr Gefühl damals nach
dem Auftritt von Olaf Scholz?
Schulz: Mein Gefühl war, dass das eine mu­tige
Rede ist.
SPIEGEL: Wobei der Kanzler ja in dieser Rede
mit vielem brach, was jahrzehntelang die
SPD-Außenpolitik ausmachte, mit der Ab-
rüstung etwa, dem Ausgleich mit Moskau.
Das hat Ihnen nichts ausgemacht?
Schulz: Nein. Nichts war nach dem russischen
Angriff mehr so wie vorher. Deshalb fand ich
auch das Sondervermögen für die Bundes-
wehr richtig. Ich war immer skeptisch, was
höhere Militärausgaben angeht, daraus mache
lösen, so bitter das ist.
SPIEGEL: Frau Baerbock agiert gegenüber
­China konfrontativ, macht Tempo bei den
ich keinen Hehl. Mir war das strategische Ziel
nicht klar. Aber das war eben in einer Zeit,
als sich niemand wirklich vorstellen konnte,
dass Russland einen Krieg in Europa anzettelt.
SPIEGEL: Fragen Sie sich manchmal, was mit
Blick auf Russland Ihr eigenes Versäumnis war?
Schulz: Auch ich habe mich verschätzt. Ich
habe manche Signale, die von Putin ausgin-
gen, nicht ernst genug genommen. Ein Bei-
spiel: Viele dachten – auch ich –, Russland
würde nach der Krim-Eroberung 2014 seinen
Angriff nicht noch weiter eskalieren. Das war
eine Fehleinschätzung. Diese Fehleinschät-
zung teile ich allerdings mit fast allen euro-
päischen Politikerinnen und Politikern.
SPIEGEL: Sie haben immer auf Diplomatie
gesetzt. Wie soll denn in diesen Kriegszeiten,
bitte, Diplomatie aussehen?
Schulz: Ohne Diplomatie gibt es keine Be-
wegung in der Welt, sie ist mehr denn je not-
Waffenlieferungen, entwirft Leitlinien femi-
nistischer Außenpolitik. Setzt sie aus Ihrer
Sicht gerade die falschen Akzente?
Schulz: Frau Baerbock hat ihre Prioritäten.
Aber nehmen wir zum Beispiel China: Ja,
China ist ein Konkurrent auf dem Weltmarkt,
ein systemischer Wettbewerber. Man kann
sich lautstark gegen Peking stellen. Aber al-
leine werden wir auf Dauer nicht in der Lage
sein – weder ökonomisch noch politisch –,
auf Augenhöhe mit China zu bleiben. Dazu
muss der europäische Binnenmarkt wachsen
und die europäische Kooperation vertieft
­werden. Wenn wir unser Demokratiemodell
verteidigen wollen, müssen wir also Europa
stärken. Das ist der Dreh- und Angelpunkt,
und hier müsste unser Schwerpunkt liegen.
SPIEGEL: Und die feministische Außenpolitik?
Schulz: Die Geschlechtergerechtigkeit und
der Schutz von Minderheiten ist und bleibt
enorm wichtig. Ich bezweifle nur, dass das in
der jetzigen internationalen Lage für viele
unserer Partner prioritär ist und wir entschei-
dend weiterkommen. Nehmen Sie mal die
afrikanischen Staaten: Da steht gerade bei
vielen das schiere Überleben im Vordergrund,
die Angst vor den Folgen der Sanktionen,
Hunger, Armut.

34 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


SPIEGEL: Denken Sie manchmal ans
Europakapitel des GroKo-Vertrags
2018?
Schulz: Klar.
SPIEGEL: Aus dem schönen Plan ist
nur leider nichts geworden.
Schulz: Was nicht am Inhalt des
Plans lag.
SPIEGEL: Der Kanzler scheint uns
europapolitisch nicht sehr ambitio­
niert zu sein, im Ukrainekrieg agiert
er entlang nationaler Interessen. Wie
kommt es, dass Europa bei ihm eine
eher untergeordnete Rolle spielt?
Schulz: Da bin ich anderer Meinung.
Der Kanzler hat in Prag eine wegwei­
sende europapolitische Rede gehalten,
im August 2022 war das, während der
tschechischen Ratspräsidentschaft.
Diese Rede ging noch über unser Euro­
pakapitel von damals hinaus. Scholz
hat von einer Zeitenwende für Europa
gesprochen, von einer gemeinsamen
Verteidigungspolitik, von mehr Sou­
veränität für Europa.
SPIEGEL: Aber nicht mal die deutsch-
französische Achse funktioniert, das
Verhältnis ist schlecht wie lange nicht.
Schulz: Das sehe ich anders. Wenn
wir aus jeder kleinen Meinungs­
verschiedenheit eine Krise machen,
können wir mit der Europapolitik
aufhören. Angela Merkel hatte mit
vier französischen Präsidenten zu
tun. Bewegung: gleich null. Wenn
es zwischen Scholz und Macron
mal Pro­bleme gibt, zeigt das: Das
­deutsch-französische Verhältnis ist in
Bewegung. Aber ich gebe zu, dass mit
­Beginn des Krieges der Blick auf die
nötige Vertiefung der Europäischen
Union verstellt worden ist. Das darf
nicht so bleiben.
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Schulz: Ausgerechnet jene Länder, die
jetzt nach einem starken Europa ru­
fen, blockieren ansonsten jede Art
von ökonomischer oder institutionel­
ler Vertiefung der EU. Wenn man
Europa starkmachen will, dann kann
es nicht nur um Verteidigung gehen,
sondern auch um eine stärkere poli­
tische und wirtschaftliche Integration.
SPIEGEL: Das ist der Job des Kanzlers.
Schulz: Nein, das muss vor allem in
Brüssel passieren. Die Schwäche der
europäischen Institutionen führt zu
einem Vakuum, das die nationalen
Regierungen füllen. Wir brauchen
einen Handlungsrahmen, der uns in
die Lage versetzt, weltweit Handels­
politik zu unseren Bedingungen zu
machen. Mit dem Ziel, ökologi­sche
und soziale Nachhaltigkeit zu in­­­te­
grieren, auch eine feministische Au­
ßenpolitik. Das müssten die europäi­
schen Institutionen anpacken. Da
kommt zurzeit aus Brüssel zu wenig.
Scholz und Macron haben Angebote
gemacht, diese müssen die EU-Kom­
mission und das Europaparlament
aufgreifen. Die Institutionen in Brüs­
sel müssen die Vertiefung Europas
vorantreiben – sicherheitspolitisch,
handelspolitisch, währungspolitisch,
umweltpolitisch und energiepolitisch.
SPIEGEL: In Osteuropa herrscht teils
Entsetzen über den Ukrainekurs des
Kanzlers. Polens Ministerpräsident
sagt, Scholz versuche bei den Waffen­
lieferungen »halbschwanger« zu sein.
Schulz: Da fand ich die Äußerung des
Kanzlers richtig, diese Aussage »ein
bisschen lächerlich« zu finden.
SPIEGEL: Ist das nicht die gleiche
Überheblichkeit, mit der Deutschland
Osteuropa seit Jahren begegnet?
Schulz: Da bin ich entschieden an­
derer Meinung. Wir leben in vergess­
lichen Zeiten. Es war Gerhard Schrö­
der, der mit dem Ministerpräsidenten
Leszek Miller die Finanzierung des
EU-Beitritts von Polen sichergestellt
hat. Ich erinnere mich an einen Partei­
tag, auf dem Schröder gesagt hat: Wir
können doch nicht neun Länder in
die EU aufnehmen – und Polen nicht.
Das Weimarer Dreieck war eine Ini­
tiative von Deutschland und Frank­
reich. Polen hat das beendet. Die Re­
gierung um Kaczyński stellt nahezu
alle europäischen Prinzipien infrage.
Wer ist da eigentlich wem gegenüber
arrogant? Mit Donald Tusk hatten wir
einen polnischen Premierminister
und späteren EU-Ratspräsidenten,
der eine stark proeuropäische Politik
betrieben hat. Im Wahlkampf diffa­
mierte ihn die aktuelle polnische Re­
gierung als Wehrmachtsenkel.
SPIEGEL: Was ist mit dem EU-Beitritt
der Ukraine, warum darf die nicht
schnell Mitglied werden?
Schulz: Der Ukraine wird eine Mit­
gliedschaft in Aussicht gestellt. Beim
Versprechen, ihr einen beschleunig­
ten Beitritt zu verschaffen, bin ich
DEUTSCHLAND
»An Putin aber skeptisch. Wir können die Stan­
dards für die Mitgliedschaft in der
kommt man Europäischen Union nicht einfach
momentan aufweichen. Die Türkei wartet seit
nicht mehr 60 Jahren auf einen Beitritt, auf dem
westlichen Balkan gibt es eine Reihe
ran. Der von Kandidaten. Die Ukraine wegen
hat sich des Krieges schnell in die EU zu holen
­eingemauert.« hört sich sehr gut an, und der An­
spruch ist verständlich und emotional
nachvollziehbar. Politisch ist das aller­
dings schwer umzusetzen, vor allem
wenn es darum geht, das schnell zu
vollziehen.
SPIEGEL: Sie waren doch immer der
Emotionale in der Europapolitik, ha­
ben von den »Vereinigten Staaten von
Europa« geträumt. Oder etwa nicht?
Schulz: Aber die Vereinigten Staaten
von Europa müssen diesen Namen
auch verdienen. Wenn die Erweite­
rung mit einer echten Reform verbun­
den wäre, etwa mit der Aufhebung
des De-facto-Einstimmigkeitsprinzips
im Europäischen Rat – dann wäre ich
sofort dafür. Das ist aber nicht der
Fall. Und warum? Weil Länder wie
zum Beispiel Polen oder Ungarn nicht
bereit sind, sich auch nur einen Milli­
meter zu bewegen.
SPIEGEL: Gerhard Schröder darf in
der SPD bleiben. Haben Sie zuletzt
mal mit ihm geredet?
Schulz: Nein, schon lange nicht mehr.
SPIEGEL: Da Schröder so ziemlich der
Letzte mit einem guten Draht zu Pu­
tin zu sein scheint: Könnte er viel­
leicht doch irgendwie helfen?
Schulz: Er hat es ja versucht vor
einem Jahr. Ohne Erfolg. An Putin
kommt man momentan nicht mehr
ran. Der hat sich eingemauert. Und
kommt auch offensichtlich nicht mehr
herunter von seinem Weg. Wenn es
Veränderungen geben kann, dann nur
aus dem inneren Führungszirkel im
Außenministerin
Kreml oder durch Druck von Staaten,
Baerbock vor die noch Einfluss auf ihn haben.
dem Sicherheitsrat SPIEGEL: China will vermitteln. Muss
man das ernst nehmen?
Schulz: Man kann diese Initiative
igno­rieren und belächeln, oder man
lässt es mal sacken und liest genau
nach, ob es Anknüpfungspunkte gibt.
Eines unserer größten geopolitischen
Probleme ist die nukleare Aufrüstung
von Nordkorea und Iran. Wenn ein
Land wie China betont, schon die An­
drohung nuklearer Schritte sei nicht
zulässig, ist das ganz sicher ein Punkt,
Florian Gaer tner / photothek / IMAGO
der uns interessieren sollte. Darüber
kann man gegebenenfalls miteinan­
der ins Gespräch kommen. Ob das
am Ende zu Erfolgen in der Ukraine
führt, weiß ich nicht. Aber ernst neh­
men sollten wir die Botschaften aus
Peking schon.
Interview: Veit Medick, Christian Teevs n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 35
DEUTSCHLAND
Tod im Regionalexpress
VERBRECHEN  Der Messerstecher von Brokstedt war den Behörden
seit Jahren als Gewalttäter bekannt. Dennoch konnte er zwei Menschen
­umbringen. Eine Chronologie des Versagens.
D
as Zimmer der Tochter wirkt
unverändert seit dem Tag,
an dem sie starb. Auf dem
Schreibtisch ein Stoß Mappen, ein
rotes Schulbuch, ein karierter Mathe-
Schmierzettel: »Klammern auflösen«.
Die graue Decke ist über das Ikea-
Bett geworfen, auf dem Nachtschrank
steht eine halb leere Flasche Wasser.
Es ist, als würde Ann-Marie K.
gleich zurückkehren in das geklinker-
te Einfamilienhaus in Elmshorn, einer
Stadt nordwestlich von Hamburg. Mit
einem lauten Lachen, von dem ihr
Vater Michael erzählt, bevor ihm die
Stimme bricht. Mit einem Hut, wie
ihn Grace Kelly trug, mit grellrot ge-
schminkten Lippen, mit Sonnen­brille.
Wie schön das wäre.
Es sind nur ein paar Schritte bis
ins Wohnzimmer, zur quälenden
Wirklichkeit. Auf einer Kommode ist
ein Foto von Ann-Marie zu sehen,
36 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
daneben zwei brennende Teelichter
und ein Engel aus Glas. An einem
weißen Kissen lehnt Charly, der Stoff-
teddy, der sie begleitet hat, von klein
auf. Nun hält er ihr Messdienerkreuz
im Arm.
Ann-Marie K. wurde 17 Jahre alt.
Am 25. Januar fuhr sie mit einem Re-
gionalzug, als Ibrahim A. sie kurz vor
dem Bahnhof Brokstedt erstach. Der
33-Jährige tötete auch ihren Freund
Danny P., verletzte fünf weitere Men-
schen. Er wartet seither in der U-Haft
auf seinen Prozess.
Mehrmals hatte er bereits Men-
schen mit einem Messer verletzt, er
war psychisch auffällig und drogen-
abhängig. Wenige Tage vor der Tat
war er in Hamburg aus dem Gefäng-
nis entlassen worden. Das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (Bamf)
prüfte, ob er überhaupt noch ein
Recht auf Schutz in Deutschland
Privat
­ atte. Ibrahim A. war bekannt. Wie
h
konnte da diese Tat geschehen?
Der SPIEGEL hat den Fall rekon­
struiert, hat Akten eingesehen, Ex-
perten befragt, mit Zeugen gespro-
chen. Die Tat von Brokstedt ist nicht
nur ein grausames Verbrechen. Sie
offenbart zugleich eine Mischung aus
Ignoranz, Ohnmacht und Schlampe-
rei in deutschen Behörden.
Die Geschichte von Ibrahim A. beginnt
wie Millionen andere. Ende 2014 reist
er ein, er ist angeblich über das Mit-
telmeer nach Griechenland geflohen.
Im Januar 2015 beantragt er Asyl
beim Bamf. Er gibt an, auf der Über-
fahrt Pass und Personalausweis ver-
loren zu haben, Kopien habe er noch;
er stamme aus Gaza. Weil Palästina
kein Staat ist, gilt seine Staatsange-
hörigkeit als »ungeklärt«. Ibrahim A.
kommt in Nordrhein-Westfalen unter,
er lebt in der ersten Zeit in Weiler-
swist und Bad Münstereifel. Zustän-
dig ist die Ausländerbehörde des
Kreises Euskirchen.
Schon bald verstößt er gegen das
Gesetz. Er stiehlt eine Flasche Parfüm
im Wert von 30 Euro, das Amtsge-
richt Euskirchen verurteilt ihn im De-
zember 2015 zu 75 Euro Geldstrafe.
Teenager K., Im März 2016 attackiert er einen an-
Gedenkort am deren Geflüchteten, mit dem er sich
Bahnhof Brokstedt: verkracht hat. Ibrahim A. fügt ihm
»Sie hat wie immer
laut gesungen
eine Schnittwunde im Gesicht zu.
und das Handy Das Amtsgericht Euskirchen hält
aufgedreht« es für möglich, dass er mit einem Mes-
Daniel Bockwoldt / picture alliance / dpa
 DEUTSCHLAND

ser zwischen den Fingern zuschlug. Das aber
lässt sich nicht beweisen. Fest steht, dass es
ein scharfer Gegenstand war. Das Gericht las-
tet Ibrahim A. an, er habe »heimtückisch und
feige« gehandelt, weil er sich dem Opfer »von
hinten näherte«. Gefährliche Körperverlet-
zung, ein Jahr auf Bewährung. In solchen
Fällen muss die Staatsanwaltschaft das Urteil
dem Bamf melden. Das unterbleibt. Ein Spre-
cher der Staatsanwaltschaft räumt später auf
Anfrage ein »Versäumnis« ein, »die Gründe
lassen sich nicht mehr nachvollziehen«.
Während des Strafverfahrens gewährt das
Bamf Ibrahim A. subsidiären Schutz: Er darf
erst mal bleiben. Nach der Tat von Brokstedt
erklärt das Amt, Ibrahim A. hätte den Schutz-
status nicht bekommen, wenn die Ermittlun-
gen bekannt gewesen wären.
In Nordrhein-Westfalen häufen sich die
Strafverfahren gegen Ibrahim A. Am Ende
sind es mehr als 20, viele werden eingestellt.
die Haftsituation zurückgeführt, das sei »nicht
ungewöhnlich«, sagt er heute. Ibrahim A. ist
da längst beim Psychiater der Anstalt in Be-
handlung. Es gibt 16 Gespräche während der
Haft, zeitweise schluckt er Tabletten gegen
Depressionen.
Das Amtsgericht St. Georg verurteilt Ibra­
him A. im August 2022 wegen der Messer-
attacke zu einem Jahr und einer Woche Ge-
fängnis. Das ist ein mildes Urteil. Der An-
geklagte hatte Vorstrafen, das Opfer hätte
sterben können; der Strafrahmen für gefähr-
liche Körperverletzung reicht von sechs
­Monaten bis zu zehn Jahren.
Da Methadon »medizinisch nicht ange-
zeigt« gewesen sei, erhält A. einen Strafrabatt.
Die Ersatzdroge habe ihn in die »Gefahr einer
Abhängigkeit von Methadon und Heroin«
gebracht. In der Haft schert das die Ärzte
nicht, die Behandlung geht weiter, später wird
Straftäter die Dosis sogar erhöht. Die Krankenakte zeigt
Ibrahim A.

Privat
Im Februar 2018 kassiert er wieder ein Urteil, nach SPIEGEL -Informationen: Am Anfang
1350 Euro Geldstrafe, er hat Kokain besessen. erhält Ibrahim A. 10 Milligramm pro Tag, am
Er habe sich mit den falschen Leuten umge- be dann zurück, mit »Marmeladenschale, TV- Ende 60.
ben, regelmäßig Drogen konsumiert, berich- Fernbedienung, Löffel«, dafür klettere er Sein Verteidiger, der Bonner Anwalt Björn
ten zwei Weggefährten aus dieser Zeit. manchmal auf Tisch und Bett. Und er belei- Seelbach, kritisiert das Vorgehen. Es gebe in
Ibrahim A. hat Hilfsjobs, als Fahrer für digt die Beamten: »Ich ficke deine Mutter!« den medizinischen Unterlagen »keine Dia­
Amazon und DHL, auf dem Bau, er macht ein Der Leiter der Vollzugsabteilung wird spä- gnose, die eine ständig steigende Metha­
Praktikum bei einem Schlosser. Er zieht um, ter in einem internen Schreiben festhalten: dongabe bei meinem Mandanten sinnvoll
meldet sich in Kiel, ab Juli 2021 ist die Aus- Es habe sich »schnell herausgestellt«, dass erscheinen« lasse. »Man bekommt den Ver-
länderbehörde dort für ihn zuständig. Sie stol- Ibrahim A. »scheinbar persönlichkeitsgestört« dacht, dass man ihn damit schlicht ruhig­
pert sofort über sein Strafregister und wendet sei. Wegen seines »aggressiven Auftretens« stellen wollte.«
sich ans Bamf: Ob das Amt wegen der drei habe er die meiste Zeit auf einer Sicherungs- Ein Sprecher der Justizbehörde sagt, die
Urteile in Nordrhein-Westfalen nicht ein Ver- station verbracht. Weil er einen Mitgefange- Einzelheiten der ärztlichen Behandlung un­
fahren eröffnen wolle, um den Schutzstatus nen und einen Justizbeamten angreift, wer- terlägen der Schweigepflicht. Methadon wer-
zu prüfen. Das ist nötig, um ihn abschieben den zwei Strafverfahren eingeleitet. Beim de aber nicht gegeben, um Personen ruhig-
zu dürfen. Das Bamf leitet im November 2021 zweiten Vorfall leistet er »massiven Wider- zustellen. In »begründeten Fällen« könne
das Widerrufsverfahren ein. stand«, heißt es in Haftunterlagen. eine Substitution auch erfolgen, wenn Patien-
Warum hat nicht schon die Ausländer­ Einmal sagt er zu einem Beamten: »Es gibt ten zwar abhängig seien von Opioiden, aber
behörde Euskirchen das Bamf informiert? In nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, aktuell nicht konsumierten. Bei Ibrahim A.
Euskirchen schätzt man die Sache anders ein. ich bin auch einer.« Anis Amri war der Isla- sei die Methadongabe in Einklang mit der
Ein Behördensprecher sagt, die Hürden zur mist, der in Berlin mit einem Lkw ein Atten- Richtlinie der Bundesärztekammer erfolgt.
Rücknahme des subsidiären Schutzes lägen tat verübte und 13 Menschen tötete. Im Ge- Verteidiger Seelbach geht gegen das Urteil
»sehr hoch«, sie griffen »nur in Fällen von fängnis protokolliert man die Aussagen, in- in Berufung, es wird nicht rechtskräftig. Ibra­
schweren Straftaten«. Die Taten von Ibrahim formiert aber weder die Justizbehörde noch him A. bleibt deshalb in Untersuchungshaft
A. in Nordrhein-Westfalen hätten »nach unse- den Verfassungsschutz. und kommt nicht in Strafhaft. Weil er am
rer Auffassung nicht zum Widerruf der Ent- Ibrahim A. gibt in Billwerder an, er habe 19. Januar 2023 aber schon fast ein Jahr und
scheidung durch das Bamf geführt«. seit Jahren Drogen genommen, Kokain, He- eine Woche inhaftiert ist, ordnet eine Richte-
Ende 2021 macht Ibrahim A. auch in Kiel roin, Crack. Obwohl er keine Entzugserschei- rin am Hamburger Landgericht seine Frei-
Ärger. In einer Unterkunft für Obdachlose nungen hat, beginnt er zwei Monate nach lassung an. Sofort.
hantiert er mit einem Messer, die Polizei Antritt der Haft eine Therapie mit der Ersatz- In einem internen Schreiben erklärt die
kommt, er erhält Hausverbot. Ibrahim A. geht droge Methadon. Im Juli wird er für den an- Anstaltsleiterin, man habe Ibrahim A. ein paar
nach Hamburg, lebt dort in den folgenden stehenden Prozess begutachtet. Ibrahim A. Stellen genannt, wo er die Methadonbehand-
Wochen als Obdachloser. habe die Tat unter Drogen begangen, er sei lung fortsetzen könne. Und man habe ihn
wohl abhängig gewesen, sagt der Psychiater daran erinnert, dass er nach Kiel fahren müs-
Seine bis dahin schwerste Tat begeht Ibrahim und Suchtmediziner Jochen Brack. Das aber se, um seine Aufenthaltsbescheinigung zu
A. im Januar 2022. Er sticht auf einen anderen mindere seine Schuldfähigkeit nicht. ­erneuern. Erst damit könne er sich um Woh-
Mann ein. Das Opfer trägt viele Verletzungen Der Gutachter sieht bei Ibrahim A. eine nung und Arbeit bemühen. Zum Abschied
davon, an der Hand, am Hals. Kurz darauf »akute wahnhafte Störung«. Er habe das auf zahlte die Anstalt ihm 14,08 Euro Taschen-
kommt Ibrahim A. in Untersuchungshaft, ab geld aus. Es sei bei Untersuchungshäftlingen
Februar verbringt er sie im Gefängnis Billwerder. nicht vorgesehen, den Übergang in die Frei-
Er sei ein »anstrengender« Häftling ge- heit intensiv zu begleiten.
wesen, »nicht gemeinschaftsfähig«, teilt die Der Vollzugsexperte Bernd Maelicke kri-
Hamburger Justizbehörde später mit. Die tisiert die Anstalt. »Ibrahim A. hatte laut Ge-
Justizbeamten notieren während der Haft: Eine Richterin am setz Anspruch auf einen zentralen Ansprech-
»Fast durchgängig« habe Ibrahim A. Hallu-
zinationen, bilde sich Klopfgeräusche aus
­Landgericht ordnet seine partner«, sagt Maelicke. »Es reicht nicht, so
jemanden nur mit ein paar Ratschlägen auf
anderen Hafträumen ein. Er klopfe und scha- ­Freilassung an. Sofort. die Straße zu setzen.« Psychiater Brack sagt,

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 37

DEUTSCHLAND

eine Abschiebung »aller Wahrscheinlichkeit

nicht durchführbar gewesen«.

Vier Wochen nach der Tat sitzt Michael K., der

Vater von Ann-Marie, im Wohnzimmer seines
Hauses. Zwei Freunde sind da, um ihm bei-
zustehen. Er möchte mit dem SPIEGEL reden,
weil er eine Botschaft hat. Seine Frau könne
das noch nicht, sagt ihr Mann. Zu frisch sei

westkuesten-news.de / action press

die Tat, zu tief sitze der Schmerz.
Michael K. ist 48 Jahre alt und Inhaber
eines Labors für Zahnmedizin. Er sagt, sie hät-

Frank Peter / IMAGO

ten Ann-Marie stets liberal erzogen, ihr ein-
ziges Kind. »Egal welchen Glauben jemand
hat, egal wo er herkommt – es zählt nur, ob
jemand ein guter Mensch ist.« Die beste Freun-
Ministerinnen Faeser, Touré*: Gegenseitig die Schuld zugeschoben
din von Ann-Marie sei aus Syrien geflohen. In
seinem großen Freundeskreis seien viele
Gefängnisse seien mit psychisch kranken In- wo es die Beamten später finden. Der 19-jäh- ­Migranten, sagt K., er helfe, wo er könne. Er
sassen überfordert. Die Justizvollzugsbeam- rige Danny P. ist erst seit ein paar Tagen mit finde aber, dass die Politik mit der kleinen
ten seien dafür nicht ausgebildet. »Psychisch Ann-Marie liiert. Er ist in Brokstedt zu Hau- Gruppe mehrfach straffälliger Migranten zu
Kranke gehören in ein psychiatrisches Kran- se, vom Bahnhof braucht er keine zehn Minu­ nachsichtig umgehe. Der Tod seiner Tochter
kenhaus, entweder in der Haftanstalt oder ten zu Fuß. zeige, welche grausamen Folgen das habe.
außerhalb.« Dafür aber fehle es in Hamburg Ibrahim A. schweigt zur Tat. Jüngst wurde Michael K. kann seine Fassungslosigkeit
an Plätzen. bekannt, dass er Kokain, Morphin und Metha- nicht verstecken, er will es gar nicht. »Was
Der Hamburger CDU-Fraktionsvize Ri- don im Körper hatte, als er zustach. Sein An- hat so ein Mensch in Freiheit zu suchen? Es
chard Seelmaecker sagt, Ibrahim A. sei in der walt sagt: »Es wird sich herausstellen, ob mein muss eine Aufarbeitung geben, meine Tochter
U-Haft nur verwahrt worden. »Es drängt sich Mandant schuldfähig ist.« Daran gebe es Zwei- ist nicht nur ein bedauerlicher Einzelfall«,
der Eindruck auf, dass man froh war, als man fel, ein Gutachter gehe jetzt der Frage nach. sagt K. »Da läuft etwas grundsätzlich schief
ihn loswurde.« Dabei sei der Mann »eine Wenige Tage nach der Tat schiebt man sich bei uns im Land.« Man dürfe nicht die Augen
­tickende Zeitbombe« gewesen. Man hätte in der Politik gegenseitig die Schuld zu. Bun- davor verschließen, dass bei Messerattacken
ihm »klare Betreuungsangebote« an die Hand desinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagt: die Täter oft aus dem kleinen Kreis mehrfach
geben müssen. »Hätten wir gewusst, dass er in U-Haft sitzt, straffälliger Migranten stammten. In diesen
hätten wir ihn anhören und dann abschieben Fällen müssten die gesetzlichen Möglichkeiten
Um seine Papiere zu verlängern, fährt Ibrahim können«, es habe eine »Fehlinformation« ge- ausgeschöpft werden. »Es kann nicht sein, dass
A. am 25. Januar nach Kiel. In der Ausländer- geben. Das Bamf, deren oberste Chefin sie die Menschen sich nicht mehr trauen, in einen
behörde teilt man ihm mit, er solle sich zu- ist, wusste nichts von der U-Haft und konnte Zug zu steigen.«
nächst bei einer Anlaufstelle für obdachlose Ibrahim A. per Post nicht erreichen. An wen richtet sich seine Kritik? »Frau Fae-
Männer melden, danach beim Einwohner- Die Hamburger Staatsanwaltschaft infor- ser trägt eine gewisse Mitverantwortung am
meldeamt. Ibrahim A. geht gleich zum Ein- mierte das Bamf nicht über das Verfahren Tod meiner Tochter«, sagt K. Ausgerechnet
wohnermeldeamt. Erfolglos. Dann stiehlt er wegen gefährlicher Körperverletzung. Dazu die Bundesinnenministerin habe nach Brok-
in einem Supermarkt ein Küchenmesser, die wäre sie verpflichtet gewesen, so bekräftigt stedt gesagt, sie verstehe nicht, warum der
Klinge 20 Zentimeter lang, und setzt sich in es Faesers Sprecher auf Nachfrage. Aber h ­ ätte Täter in Freiheit gewesen sei. Diese Aussage
einen ICE zurück nach Hamburg. eine frühere Information dazu geführt, Ibra­ sei ein Schlag ins Gesicht aller Hinterbliebenen.
Weil er keine Fahrkarte hat, muss er den him A. vor der Tat abzuschieben? Mit den Folgen müssten er und seine Frau
Zug in Neumünster verlassen. Dort steigt er Schleswig-Holsteins Sozialministerin Ami- leben. »Unser altes Leben ist zerstört.« Da
in den Regionalexpress 70. Kurz darauf fällt nata Touré (Grüne) widerspricht Faeser. sei nur ein Loch, eine große Leere. Und der
er einem Mann auf: Er zieht Kleidungsstücke Selbst bei einem besseren Zusammenspiel der Schmerz. Seine Tochter habe so viele Pläne
an und aus, lehnt sich über die Sitze, zieht Behörden hätte eine Ausweisung »nicht er- gehabt. Nach dem Abitur wollte sie studieren,
sein T-Shirt hoch, so gibt es der Zeuge zu folgen können«. Ibrahim A. hätte mutmaßlich Marketing und Design.
Protokoll. Er habe den Eindruck gehabt, dagegen geklagt, solche Verfahren dauerten Am Tag, als Ann-Marie starb, sei er wie
­Ibrahim A. sei »psychisch nicht ganz bei im Schnitt 20 Monate. Hinzu komme: Wegen stets am frühen Morgen mit ihr ins Auto ge-
­Sinnen«. Dann erinnert sich der Zeuge an ein der ungeklärten Staatsangehörigkeit wäre stiegen, erzählt der Vater. Er habe sie zu-
»gehobenes Messer« – und sieht Ibrahim A. nächst in die Firma mitgenommen. »Sie hat
zustechen. Der Zeuge sagt, da sei er weg­ wie immer laut gesungen und das Handy auf-
gelaufen. Im Sinne der Tochter gedreht«, sagt der Vater. »Ich habe ihr immer
Im Haftbefehl heißt es, gegen 14.55 Uhr Vor zwei Wochen fragte der SPIEGEL per gesagt: ›Lass mir doch morgens noch mal ein
habe Ibrahim A. »unvermittelt und wortlos« E-Mail die Eltern von Ann-Marie K., ob sie paar Minuten Ruhe.‹ Jetzt fehlt mir das.« Die
mit einem Küchenmesser auf Ann-Marie K. sich ein persönliches Gespräch vorstellen Stille sei »kaum auszuhalten«.
und Danny P. eingestochen, die in seiner un- könnten. Michael K. sagte zu. »Wir möch- Nach etwa 20 Minuten sei Ann-Marie ge-
mittelbaren Nähe saßen. Danach sei er durch ten die Politik zu einem Umdenken bewe- gangen, um in den Zug nach Neumünster zu
den Zug gelaufen und habe weitere Menschen gen«, schrieb der Vater. Und: Das wäre im steigen. Dort ging sie aufs Gymnasium, in die
gejagt. Schließlich können Fahrgäste ihn über- Sinne von Ann-Marie. Das Gespräch dauer- elfte Klasse. Ihr Freund Danny besuchte die-
wältigen. Laut Polizeibericht entwaffnen sie te mehr als zwei Stunden, Michael K. be- selbe Schule. Als sie am Nachmittag nicht wie-
ihn und werfen das Messer in einen Mülleimer, tonte, wie dankbar er und seine Frau für all derkam, so erzählt es der Vater, habe er sie
die Hilfe seien, aus dem Freundeskreis, angerufen und nur Freizeichen gehört. Da habe
* Links: mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsiden-
ten  Daniel Günther am Tag nach der Tat in Brokstedt; von der Kirche, von der Polizei. »Wir werden er schon geahnt: Es muss etwas passiert sein.
rechts: im Landtag. in dieser schweren Zeit getragen.« Ansgar Siemens  n

38 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


In Abneigung verbunden
ANALYSE  Die Kundgebung von Sahra Wagenknecht zum Ukrainekrieg verstärkt
den Richtungsstreit in der Linken. Ist die Spaltung unvermeidlich?
W
enn die Linke noch eine
­Zukunft haben will, müsste
sie auf Genossen wie Justin
König setzen. Er ist 24 Jahre alt und
hat sich mit viel Einsatz für seine Par-
tei engagiert. Er ist stellvertretender
Landesvorsitzender in Brandenburg,
sitzt im Bundesausschuss der Partei,
ist Fraktionsvorsitzender des Kreis-
tages in Ostprignitz-Ruppin.
Am 9. März wird König 25 Jahre
alt, für ihn ist es der Tag, an dem er
nach achteinhalb Jahren Mitglied-
schaft die Linke verlassen will. »Nach
zähen Wochen des inneren Ringens
steht mein Entschluss nach den Ein-
drücken des ›Aufstands für Frieden‹
fest«, schreibt er. Ein Grund: Die
­Kritik an Wagenknecht werde immer
leiser in seiner Partei. Zudem nennt
er den »Geschichtsrevisionismus«,
der in der Linken vorherrsche, das
Erbe der SED, das »Negieren einer
jungen linksliberalen Ostperspekti-
ve« und den existenzbedrohenden
Mitgliederschwund an der Basis.
König ist beispielhaft für das Un-
behagen der jüngeren Linken. Aus-
gelöst wurde es in diesen Tagen ein-
mal mehr von Sahra Wagenknecht.
Die bekannteste Linkenpolitikerin
hatte mit der Frauenrechtlerin Alice
Schwarzer ein »Manifest für Frieden«
veröffentlicht, das in Interviews mit
antiamerikanischen Parolen und un-
klaren Abgrenzungen nach rechts
­begleitet wurde. Auf der von ihnen
organisierten Demonstration am
­vergangenen Wochenende in Berlin
waren AfD-Politiker, Rechtsextreme,
»Querdenker« zugegen, zudem auf-
fällig viele ältere Menschen.
Die Partei stritt sich öffentlich hef-
tig, und der seit Jahren ungeklärte
Konflikt spitzte sich zu: Welche Par-
tei will sie sein? Kann man überhaupt
gemeinsam weitermachen?
Von außen sind die Konflikte bei
der Linken oft undurchsichtig. Um
die Streitlinie in der aktuellen Debat-
te zu verstehen, muss man mindes-
tens in das Jahr 2015 zurückgehen,
als die Auseinandersetzungen über
die Flüchtlingspolitik geführt wurden.
Damals war Katja Kipping Partei-
chefin, und Sahra Wagenknecht
­wurde Fraktionsvorsitzende im Bun-
destag. Beide erkannten früh die
­Verschiebungen der eigenen Wähler-
schaft und versuchten einen Strategie-
wechsel. Kipping wollte die Linke
erneuern, sie als schärfstes Gegen-
modell zur AfD positionieren, als die
progressivste Kraft. Die Linke sollte
das Feindbild der AfD werden. Dazu
gehörte eine liberale Gesellschafts-
politik, ein radikaler Klimakurs,
­weiterhin ein Fokus auf Sozialpolitik
und ein Ausmotten altlinker Gewiss-
heiten in der Außenpolitik. Wagen-
knecht hingegen wollte das Protest-
milieu e­ rhalten, einen schärferen
Anti-­Establishment-Kurs, eine kriti-
schere ­Migrationspolitik, einen eher
antiprogressiven Weg, der sich an die
Protestanhänger der AfD richtet.
Unter Führung Kippings wurde die
Partei jünger und konnte neue Mit-
glieder hinzugewinnen, dazu gehört
König, der auch als Reaktion auf das
Erstarken der AfD in Brandenburg
eingetreten ist.
Wagenknecht und ihre Anhänger
bekämpften derweil Kippings Kurs,
sie gehören in der Außenpolitik zu den
antiamerikanischen Dogmatikern.
Unterstützung bekam Wagenknecht
von den alten ostdeutschen Pragma-
tikern um Dietmar Bartsch, ihren eins-
tigen Gegnern, die sich mit Blick auf
ihre Wählerbasis in Ostdeutschland
ebenfalls gegen die Modernisierung
DEUTSCHLAND
stellten. Während die Linke über ihren
Kurs stritt, gingen Wahlen verloren,
2021 verpasste sie fast den Einzug in
den Bundestag. In der Zwischenzeit
fand der Aufstieg der AfD statt, vor-
nehmlich im Osten, und der Grünen,
vornehmlich im Westen.
Wagenknechts lückenhafte Ab-
grenzung nach rechts beim »Aufstand
für Frieden« ist auch vor diesem Hin-
tergrund zu verstehen: Sie setzt da­
rauf, einen Teil der AfD-Wählerschaft
zurückzugewinnen. Dazu gehört aus
ihrer Sicht, ihnen die Hand zu rei-
chen. Die Jüngeren in der Partei sind
hingegen in die Partei eingetreten, um
die AfD zu bekämpfen.
Wagenknecht und ihre Unterstützer
werfen der Partei seit Jahren vor, den
Grünen hinterherzulaufen. Wagen-
knechts Gegner hingegen den anderen,
sich in Richtung AfD zu bewegen.
Der Streit um die Haltung zum rus-
sischen Angriffskrieg berührt auch
Hannibal Hanschke / epa
eine Kernfrage, was Linkssein 2023
bedeutet. Ist es immer die Empathie
für den Schwächeren, etwa die an­ge­
griffene Ukraine (Kipping)? Oder ist
Linkssein der Blick auf die geopoli­
tische Ordnung, in der das Herz des
Linkenpolitikerin Kapitalismus, die USA, immer auf der
­Wagenknecht falschen Seite steht (Wagenknecht)?
Die beiden widerstreitenden Posi-
tionen lähmen die Partei – und machen
die Spaltung unausweichlich. Längst
ist die Linke in ihrer Existenz bedroht.
Im vergangenen Jahr verlor sie zehn
Prozent ihrer Mitglieder. Von rund
61 000 sind 54 000 übrig. Genossen
gehen, weil ihnen die Linke zu grün-
progressiv ist. Genossinnen gehen,
weil sie der Auffassung sind, die Partei
tue zu wenig gegen Wagenknecht, die
in der Öffentlichkeit präsent ist wie
keine andere Vertreterin der Linken.
In beide Richtungen strömen die Mit-
glieder und Wählerinnen davon.
Noch belauern sich die Lager, für
den Schritt zur Spaltung fehlt die letz-
te Entschlossenheit. Die Bundestags-
fraktion würde gesprengt werden,
und das Risiko wäre hoch, dass am
Ende beide verschwänden, die Linke
und die neue Partei.
Für beide Lager könnte eine Tren-
nung allerdings auch eine Chance
sein: hier eine Wagenknecht-Partei,
die der AfD das Wasser abgräbt, da
Allein im eine Linke, die enttäuschte Grünen-
vergangenen und SPD-Wähler gewinnen kann.
Wenn alles bleibt, wie es ist, sind
Jahr hat die die Perspektiven auf jeden Fall düster,
Linke zehn wie der Austritt Justin Königs aus
Brandenburg zeigt. Dass er irgend-
Prozent ihrer wann in die Linke zurückkehrt, etwa
Mitglieder wenn Wagenknecht weg ist, hält er
für sehr unwahrscheinlich.
verloren. Timo Lehmann n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 39
DEUTSCHLAND
Luftbild von Aschersleben
Ökos wider Willen
KLIMAKRISE  Immer mehr Kommunen und Firmen setzen darauf, grüne Energie
selbst zu erzeugen und zu nutzen. In der Stadt Aschersleben zeigt
sich, wie schnell nun auf einmal ganz neue politische Mehrheiten entstehen.
M
it wegweisenden Entschei­
dungen kennen sie sich in
Aschersleben aus, im Grun­
de seit mehr als 1200 Jahren. Min­
destens so lange nämlich, seit dem
8. Jahrhundert, sollen hier bereits
Menschen leben – und von dieser
Vergangenheit zehren die Einwohner
bis heute. Der Ortskern mit seinen
Gassen und Türmchen gleicht einem
Freilichtmuseum, dazu gibt es einen
gut vermarktbaren Slogan: Ȋlteste
Stadt Sachsen-Anhalts«.
Vielleicht können sich die Werbe­
leute bald ein neues Gütesiegel für
Aschersleben ausdenken. Denn in der
Kleinstadt am Ostrand des Harzes
gehen erneut bedeutende Dinge vor
sich. Die Bauwerke, die das bewerk­
stelligen sollen, entstehen diesmal
auf den Äckern des Umlands: Es geht
um Windräder.
Von denen ist Aschersleben seit
den Neunzigerjahren umringt, zuletzt
aber wuchs der Widerstand immer
weiter an – bis der Stadtrat im April
2021 entschied: kein weiteres Wind­
rad mehr, es reicht. Allerdings be­
schlossen dieselben Abgeordneten
ein gutes Jahr später so ziemlich das
40 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Gegenteil, und zwar mit überwäl­
tigender Mehrheit. Nun wollen sie
den Ökoboom nicht mehr bremsen,
sondern beschleunigen.
Ja, was denn nun?
Der Mann, der die Wende von
Aschersleben vorantreibt, heißt Stef­
fen Amme: ein freundlicher Mittvier­
ziger, graues Haar und dunkler An­
zug, kein Öko-Idealist, sondern par­
teiloser Oberbürgermeister. »Unser
Ziel ist es, mit einem Ausbau der
Windkraft mehr Energie als bisher zu
gewinnen«, sagt er. »Aber vor allem
soll diese Energie dann auch hierblei­
ben und direkt den Unternehmen und
Menschen in Aschersleben zugute­
kommen.«
Amme nennt das »Dezentralisie­
rung der Energiegewinnung«. Man
könnte auch sagen: Klimaschutz aus
Eigennutz.
Die zuständige Dezernentin, Am­
mes Stellvertreterin Julia Rippich,
spricht lieber von »reinem Pragmatis­
mus«. Die Energiewende komme so­
wieso, »und jetzt ist sie eine echte
Chance für uns«. Die Chance hat
einen Namen: Erneuerbare-Energien-
Gesetz, kurz EEG. Das nämlich er­
möglicht laut Rippich seit einer Än­
derung zum 1. Januar die lokale Nut­
zung von günstiger Windenergie.
Klingt irgendwie gut – dachte sich
im vergangenen Sommer wohl auch
der Stadtrat. Ebenjener Stadtrat, der
zuvor Erweiterungen von Windkraft­
flächen abgelehnt und g ­efordert
hatte, künftig für jede neue Anlage
zwei ältere abzureißen. Doch dann
kamen Krieg, Energiekrise und In­
flation nach Europa – und ö ­ rtliche
Firmenchefs ins Ascherslebener Rat­
haus. Viele von ihnen, sagt Verwal­
tungschef Amme, sorgten sich plötz­
lich wegen der horrenden Strom­
preise. Manche hätten gewarnt, die
Produktion sei mittelfristig gefährdet.
»Da haben wir ziemlich schnell er­
Hans Blossey / IMAGO
kannt, dass wir handeln müssen.«
So brachte der Oberbürgermeister
den von Bürgerlichen dominierten
Stadtrat dazu, eine Kehrtwende zu
vollziehen. Zwei Windparks sollen
nun erweitert werden, um bis zu
zehn neue Windräder. Das mag über­
schaubar klingen, aber würde jede
deutsche Kleinstadt so viele Wind­
räder bauen, wäre die Energiekrise
womöglich schnell passé. Das Ziel
von Aschersleben: »eine unabhän­
gigere Stromversorgung für unsere
­Bürgerschaft und die ortsansässigen
Unternehmen«.
Allerdings ist das Vorhaben recht­
lich heikel, Dezernentin Rippich be­
schreibt es so: Zwar können Kommu­
nen nach der EEG-Neuerung stärker
von Windrädern profitieren, es gibt
Schwache zu dieser Gesetzesänderung bislang
Phase jedoch keinerlei Rechtsprechung –
dafür aber offenbar viel Interpreta­
Jährlicher Zubau von tionsspielraum. Genau darin sehen
Windenergieanlagen* sie in Aschersleben ihre Chance:
in Deutschland, »Was wir vorhaben, ist für alle Be­
in Gigawatt
teiligten Neuland«, sagt Rippich, da­
her wühlten sich gerade mehrere
Fachanwälte durch die Paragrafen.
4 Am Ende sollen Anlagenbetreiber
und Firmen in Verträgen festlegen,
wie der grüne Strom »ganz legal und
rechtssicher« in Aschersleben bleibt.
Geklärt werden muss bis dahin noch,
wie genau die Energie vom Windrad
zur Fabrik kommt, auch da hat Rip­
2,1 pich eine Idee: über das Netz der
2 Stadtwerke.
Wie umwälzend all das ist, weiß
Gundel Jahn, eine der beiden Grü­
nenabgeordneten im Stadtrat. Anders
als Amme und Rippich ist sie Idealis­
tin. Windräder vergleicht sie mit
»Balletttänzerinnen, die ihre Beine
im Takt in die Luft werfen«. Die
0
62-Jährige lebt seit DDR-Zeiten in
2002 2022
Aschersleben, sah 1991 das erste Mal
* auf dem Festland,
Nettozubau eine solche Anlage und verfolgt seit­
S Quelle: Fraunhofer ISE dem die Debatte. »Viele stören sich


daran, dass von dem grünen Strom nichts
hierbleibt und Firmen aus dem Westen daran
verdienen«, sagt sie.
Umso bemerkenswerter fand sie Ammes
Vorstoß zum Windkraftausbau. Baff sei sie
gewesen, sagt sie, und habe dem Vorschlag
zugestimmt, so wie die meisten anderen auch.
»Da habe ich gemerkt: Hier passiert vielleicht
was Großes, die Leute wachen auf.«
Tatsächlich könnte sich Aschersleben als
Blaupause erweisen. Bislang warb Minister-
präsident Reiner Haseloff lieber für die
Braunkohleförderung als für neue Windräder,
in den vergangenen fünf Jahren schrumpfte
die Zahl der Anlagen landesweit sogar – allein
2022 um 40 Stück.
Inzwischen hat die Landesregierung ein
»Solarspeicher-Förderprogramm« beschlos-
sen, Haseloff wirbt dafür, die Abhängigkeit
von fossilen Energieträgern zu überwinden.
Für die riesige Fabrik des Chipproduzenten
Intel, die südlich von Magdeburg entstehen
soll, will die Landesregierung womöglich so-
gar einen eigenen Windpark bauen lassen,
um das Werk mit günstigem Strom zu ver-
sorgen.
Aschersleben in XXL also.
Sachsen-Anhalt beansprucht für sich als
Windkraftland eine »Spitzenstellung in
Deutschland«, und auf den ersten Blick
stimmt das auch: Der Anteil der erneuerbaren
Energien am produzierten Strom lag 2020
mit rund 62 Prozent über dem Bundesschnitt.
Zwei Drittel der grünen Energie stammt aus
Windkraftanlagen, von denen es landesweit
zuletzt gut 2800 gab. Die Sache hat bloß
einen Haken: Viele dieser Anlagen stehen auf
Land, das planungsrechtlich nicht für Wind-
kraft gesichert ist. Sie dürfen deshalb nicht
durch leistungsfähigere Modelle ersetzt wer-
den und verschwinden womöglich irgend-
wann ganz.
Juristisch auf festem Boden stehen ledig-
lich Windräder auf sogenannten Vorrang- und
Eignungsgebieten, und die machen gerade
mal 1,12 Prozent von Sachsen-Anhalt aus.
Inzwischen allerdings zwingt ein Bundes­
gesetz das Land, die Größe dieser Gebiete
binnen einem Jahrzehnt zu verdoppeln. Die
Landesregierung hat daher Pläne vorgelegt,
um den Ökostromausbau zu beschleunigen.
Bis diese Gesetze etwas verändern, wird Zeit
vergehen – aber in Aschersleben erwartet
niemand, dass das zuständige Infrastruktur-
ministerium die lokalen Windkraftpläne
­blockiert.
Förderprogramme und Absichtserklärun-
gen allein werden die Energiewende jedoch
kaum beschleunigen, auch nicht in Aschers-
leben. »Im günstigsten Fall drehen sich die
neuen Räder im Jahr 2026«, sagt Verwal-
tungschef Amme, »das hilft uns in der aktu-
ellen Krise nicht weiter.« Auch dafür hat er
einen Plan: andere erneuerbare Energien.
Eine städtische Fotovoltaikgesellschaft und
eine Solarthermieanlage gibt es bereits, und
die Wohnungsgesellschaft lässt einen ersten
DDR-Plattenbau zum energieautarken Haus
DEUTSCHLAND
umbauen. Manche Unternehmen setzen laut
Amme auch auf eigene Solar- und Biomasse-
anlagen auf dem Firmengelände. Der Ober-
bürgermeister sagt: »Der Krieg hat zu einem
gewissen Umdenken geführt – und vieles in
der Stadt beschleunigt.«
Zu dieser Kehrtwende gehört auch ein
Prinzip namens Cradle-to-Cradle, Müllver-
meidung durch Wiederverwertung. Die Firma
Novo-Tech etwa recycelt bereits Rotorblätter
von Windkraftanlagen, Aschersleben soll sich
zum Vorreiter dieses Prinzips mausern, zur Neuer Zertifikatskurs
»nachhaltigen Stadt der Zukunft«. Wie genau
das aussehen soll, steht auch schon fest: mehr
nachhaltige Materialien bei Neubauten und
Machine
Sanierungen von Häusern, CO2-neutrale Be-
stattungen (»Reerdigungen«), gezielte An-
siedlung von Unternehmen der Kreislaufwirt-
Learning
schaft. Mittelfristig, so hat es der Stadtrat
festgelegt, »ist die gesamte Energieerzeugung
Weiterbilden mit E-Learning –
auf grüne Energie umzustellen«. Die Ent- wann und wo Sie wollen
scheidung fiel einstimmig.
In Aschersleben zeigt sich, dass die Ener-
giewende womöglich dann besonders gut
funktioniert, wenn sie nicht ideologisch mo-
tiviert daherkommt. Sondern als eine prag-
matische Reaktion auf reale Gefahren. Der
Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt
fordert inzwischen, das Augenmerk beim
Ausbau der Erneuerbaren auf die regionale
Nutzung zu richten. Und auch in Sachsen will
das Klimaschutzministerium Gemeinden
künftig erlauben, Windräder in eigener Ho-
heit zu planen und finanziell davon zu profi-
tieren.
In Sachsen-Anhalt registriert die Landes- Zum
energieagentur »einen spürbar erhöhten Be-
ratungsbedarf«, Kommunen würden sich Jubiläum
ebenso melden wie Unternehmen und Privat-
leute. Der Landesverband Erneuerbare Ener- € 300,–
gie meldet vier mal so viele Anfragen – auch sparen
von Städten und Gemeinden, die eine »um-
fangreiche Erweiterung bestehender Wind-
flächen« forderten. Das Interesse an Foto-
voltaikanlagen habe sich sogar verfünffacht, Eine Auswahl der Inhalte:
die Zahl der neu installierten Solarflächen in
Sachsen-Anhalt stieg im vergangenen Jahr + Anwendungsgebiete der
um 70 Prozent. künstlichen Intelligenz
Manche erhoffen sich einen Aufschwung
der ganzen Region: Grüner Strom könne sich
+ Algorithmen: Komplexität,
»zu einem großen Standortvorteil für den Auswahl und Optimierung
Osten« entwickeln, sagte neulich der Ost­ + überwachtes, unüberwachtes
beauftragte der Bundesregierung, Carsten
und bestärkendes Lernen
Schneider. Der SPD-Politiker glaubt sogar,
dass die »wirtschaftliche Landkarte« der Re- + Wissensgraphen und
publik gerade neu gezeichnet werde. Wissensrepräsentation
Beginnt da im ostdeutschen Hinterland
eine grüne Revolution? Lokalpolitikerin Jahn + künstliche neuronale Netze
ist sich nicht so sicher. In der Krise seien ideo-
logische Gräben geschrumpft, die Grünen
stünden nun sogar der CDU näher. An ein
Wir feiern 5 Jahre SPIEGEL Akademie!
grundsätzliches Umdenken glaube sie trotz-
Sichern Sie sich jetzt unser Jubiläums-
dem nicht: »Viele sind jetzt Ökos wider
angebot mit dem Code Aktion5.
­Willen«, sagt sie. »Aber vielleicht verstehen
nun auch die letzten Zweifler, dass die Ener-
gie bei uns in der Luft liegt und wir sie nur Alle Kurse und
abzapfen müssen.« Infos unter
Peter Maxwill n
akademie.spiegel.de
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 41
DEUTSCHLAND
Ein Zeltdach über
dem Kopf
KOMMUNEN  In Containern, ehemaligen Supermärkten, einem alten
Kloster oder auf einem Schiff: Städte und Gemeinden müssen
­improvisieren, um die vielen Geflüchteten unterzubringen. Kommunal­
politiker fordern, den Zuzug schnell zu begrenzen.
M
atthias Schimpf steht im Mittelgang
eines Festzelts, 65 Meter lang, er ges-
tikuliert nach rechts und nach links.
Der Mann hat nichts zu feiern, er ist bedrückt:
»Ich bin seit 1989 in der Kommunalpolitik
und zum ersten Mal fast ratlos«, sagt er.
Schimpf ist Beigeordneter des Landkreises
Bergstraße in Hessen, zuständig für Soziales
und Migration.
In dem Zelt, in dem vermutlich schon viel
Bier getrunken wurde, wohnen nun 250 Men-
schen. Ventilatoren unter dem Dach und eine
mobile Warmluftheizung sollen die Winter-
kälte vertreiben. Bauzäune wurden mit Pla-
nen bespannt, sie schaffen ein bisschen Privat-
sphäre zwischen den Stockbetten. Drei Zelte
hat der Landkreis angemietet und auf einem
Festplatz am Rande der Stadt Bensheim auf-
stellen lassen, in einem vierten wird Essen
ausgegeben und spielen Kinder.
Gedacht war all das als Kurzzeitlösung für
Flüchtlinge aus der Ukraine. Die leben in-
zwischen zumeist in privaten Wohnungen, in
einem ehemaligen Krankenhaus und neuer-
dings in einem früheren Indoor-Spielpark, die
der Kreis ebenfalls gemietet hat. Dafür sind
Menschen aus anderen Ländern nachgerückt,
vor allem junge Männer aus der ­Türkei, Af-
ghanistan und Syrien. Diese Asylbewerber
haben im Unterschied zu den U ­ krainern
kaum Aussicht, schnell wieder auszuziehen.
Die rund 1000 Plätze sind bald voll. »In fünf
Wochen ist alles dicht«, sagt Schimpf. Und
dann? Er zuckt mit den Schultern. Man müs-
se dann die Neuankömmlinge wohl direkt in
die Städte und Dörfer weiterleiten.
Das Bensheimer Dauerprovisorium ist kei-
ne Ausnahme. An vielen Orten in Deutsch-
land ächzen die Kommunalverantwortlichen
unter der hohen Zahl von Geflüchteten.
Schon jetzt haben sie Probleme, die Schutz-
suchenden unterzubringen. Sie improvisie-
ren, mieten Container an, Saisonarbeiter-
unterkünfte, ehemalige Supermärkte oder
Hotels, in Bach an der Donau bei Regensburg
sogar ein festgezurrtes Ausflugsschiff.
In den Unterkünften sammeln sich Opfer
mehrerer Großkrisen. Der Überfall Russlands
auf die Ukraine, die Machtübernahme der
42 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Taliban in Afghanistan, das autoritäre Regime
Erdoğans in der Türkei, der Bürgerkrieg in
Syrien – sie alle treiben Menschen millionen-
fach in die Flucht. Und die Folgen der Erd-
beben in der türkisch-syrischen Grenzregion
sind noch gar nicht absehbar.
218 000 Menschen beantragten im vergan-
genen Jahr erstmals Asyl in Deutschland, eine
Zahl, die über der Obergrenze von 200 000
liegt, die der damalige CSU-Vorsitzende Horst
Seehofer 2017 festschreiben wollte. Jetzt im
Januar waren es 29 000, doppelt so viele wie
ein Jahr zuvor. Sie addieren sich zu der einen
Million ukrainischer Flüchtlinge, die seit
Kriegsbeginn gekommen sind. Egal vor wel-
cher Katastrophe oder welchem Kriegsherrn
die Menschen Schutz suchen, egal welchem
Rechtsstatus sie unterliegen: Ein Dach über
dem Kopf brauchen sie alle.
Bürgermeister oder Landrätinnen stecken
in einem Dilemma. An den Fluchtursachen
können sie nichts ändern, sie können auch
nicht die EU-Außengrenzen kontrollieren,
aber ihre Gemeinden müssen die Folgen
­tragen. Von der Berliner Politik fühlen sich
viele im Stich gelassen.
Ukrainerin Sova
im einstigen
Kloster in Tübingen
Matthias Schimpf, 54, Dreitagebart, kleines
Piercing im linken Nasenflügel, ist seit Jugend-
tagen Mitglied bei den Grünen. Jetzt gehört
er zu denen, die mit der Flüchtlingspolitik der
eigenen Partei hadern. »Das ist eine ganz bit-
tere Erfahrung«, sagt er, »aber so wie bisher
kann es nicht weitergehen.« Im Februar unter-
zeichnete er ein Positionspapier mit einem
Plädoyer für eine stärkere Steuerung der Ein-
wanderung und konsequente Abschiebungen.
Es wurde von einer Gruppe grüner Realos in
Umlauf gebracht, auch der Tübinger Ober-
bürgermeister Boris Palmer ist dabei.
Etwa die Hälfte der Menschen, die dem
Landkreis Bergstraße aus Drittstaaten zuge-
wiesen werden, hätten kaum Aussicht auf ein
Bleiberecht, so der Dezernent. Viele Asyl-
bewerber, etwa aus der Türkei oder dem Irak,
würden nicht anerkannt. Um die müsse man
sich trotzdem kümmern. »Dadurch fehlen uns
die Ressourcen für die Integration all jener,
die eine Perspektive haben«, sagt Schimpf.
»Wir müssen zur Ehrlichkeit finden und uns
eingestehen, dass unsere bisherigen Ansätze
ein Stück weit gescheitert sind.«
Solche Aussagen häufen sich, es werden
derzeit viele offene Briefe nach Berlin
oder in die Landeshauptstädte geschickt. Die
beiden Thüringer Landrätinnen Martina
Schweinsburg (CDU) und Peggy Greiser (par-
teilos) starteten eine Onlinepetition mit dem
Titel »Verhandlungen statt nur Waffen! Aufruf
der Thüringer Kommunalpolitik«. Sie fordern
»eine diplomatische Offensive« im Ukraine-
konflikt auch wegen der »Herausforderungen,
die wir in unseren Städten und Gemeinden
zu bewältigen haben«.
Die beiden Flüchtlingsgipfel von Bundes-
innenministerin Nancy Faeser (SPD) scheinen
den Unmut mancherorts eher noch vergrößert
zu haben. Viele Kommunalpolitiker wün-
schen sich Gespräche mit dem Kanzler per-
sönlich. Der Präsident des Deutschen Land-
kreistags, Reinhard Sager, hält die Lage im
Vergleich zu 2015 für dramatischer und warnt
Verena Müller / DER SPIEGEL

vor einer Ȇberforderung des Sys-
tems«. Dabei gibt es bislang keine
Verzweifelten, die wie 2015 vor dem
Berliner Flüchtlingsamt kampieren,
und ebenso wenig Kolonnen, die zu
Fuß die letzte Station der Balkan­
route nach Bayern bewältigen.
Die Planer rechnen eher mit Dau-
erzulauf auf hohem Niveau. So hat
die Stadt München gerade acht neue
Standorte für Flüchtlingsunterkünfte
ausgewiesen, zunächst für fünf Jahre.
Denn viele Sammelunterkünfte sind
noch mit anerkannten Flüchtlingen
belegt, die längst einen Aufenthalts-
titel haben, aber keine Wohnung auf
dem freien Markt finden. Im Behör-
denjargon heißen sie »Fehlbeleger«.
Ebenfalls auf der Suche sind Men-
schen aus der Ukraine, die zunächst
bei privaten Helfern und Helferinnen
auf dem Sofa oder im Gästezimmer
unterkamen. Wenn sie dort nicht blei-
ben können, landen sie ebenfalls bei
den Kommunen. Und der öffent­
lichen Hand fehlen schnell nutzbare
Immobilien wie ehemalige Kasernen:
Die wurden im Zuge des Baubooms
vielfach schon umgewidmet.
Wenn es um die Unterbringung
geht, wirkt sich der sogenannte Kö-
nigsteiner Schlüssel nachteilig aus.
Nach ihm werden Gelder und Men-
schen auf die Bundesländer verteilt;
er gewichtet Bevölkerungszahl und
Steueraufkommen, im Verhältnis ein
Drittel zu zwei Drittel. So gelangen
Asylbewerber eher in wirtschaftsstar-
ke Bundesländer, wo der Wohnraum
tendenziell knapper und teurer ist –
und genau dorthin zog es auch die
ukrainischen Flüchtlinge, die ihren
Wohnsitz weitgehend frei wählen
durften. So leben in Oberbayern laut
Regierung zurzeit dreimal so viele
Geflüchtete wie Ende 2015.
Die Länder verteilen die Schutz-
bedürftigen weiter. In Stemwede im
Norden von Nordrhein-Westfalen
kommen auf rund 13 000 Einwohner
derzeit 534 Flüchtlinge. Für die
nächsten Tage sind 15 weitere ange-
kündigt, wahrscheinlich ehemalige
Ortskräfte etwa der Bundeswehr aus
Afghanistan. Noch weiß Bürgermeis-
ter Kai Abruszat nicht, wo er sie
unterbringen soll. Eine ehemalige
Grundschule ist voll belegt, im Notfall
könnte er eine Sporthalle umfunktio-
nieren. Abruszat sagt: »Das Ende der
Möglichkeiten ist absehbar.«
Der FDP-Mann war schon 2015
im Amt. Damals habe Stemwede
nicht so viele Geflüchtete zugewiesen
bekommen wie jetzt. Noch sei die
Akzeptanz im Ort nicht geschwun-
den, und seine Ostwestfalen seien ein
gelassener Menschenschlag, sagt der
Peter Jülich / DER SPIEGEL
Peter Jülich / DER SPIEGEL
Dezernent Schimpf, Kommunalpolitiker. Jedoch: »In den
Unterkunft in Berliner und Düsseldorfer Polit-Bla-
Bensheim: Offene sen muss endlich verstanden werden,
Briefe nach Berlin
dass jede Gesellschaft nur eine be-
grenzte Tragkraft hat.« Es gehe nicht
nur um zusätzliche Mittel. »Geld
bringt uns keinen Wohnraum, keine
Kitaplätze, keine Pädagogen oder
ärztliches Personal.« Was hilft dann?
»Die Begrenzung der Zuwanderung.
Und die Kontrolle darüber. Unkon­
trollierter Zuzug führt in ein Chaos
und zu großem sozialen Unfrieden.«
Es sind Befürchtungen, die vor Ort
häufig zu hören sind: dass bald ande-
re staatliche Angebote leiden könn-
ten, manche Aufgaben nicht mehr zu
erfüllen sind. Damit Integration ge-
lingt, braucht es auch Sprachkurse
oder Schulunterricht, Hilfe bei der
Arbeitssuche oder Asylsozialarbeit.
Dazu sind Unterstützer und Unter-
stützerinnen vor Ort nötig, und die
»Es muss ziehen sich teilweise zurück.
Aber ist man tatsächlich »an einem
endlich Punkt angekommen, an dem es kip-
­verstanden pen kann«, wie Landrätin Schweins-
burg an Ministerpräsident Bodo Ra-
werden, melow (Linke) schrieb? Jedenfalls
dass jede häufen sich Proteste und Anschläge
Gesellschaft gegen Flüchtlingsunterkünfte. In
Marklkofen in Niederbayern legte ein
nur eine Tatverdächtiger wohl zweimal Feuer
begrenzte an einem Zelt, das als Unterkunft die-
Tragkraft nen soll. Im Kreis Bamberg musste
die Polizei Protestierende aus einem
hat.« Gemeinderatssaal schaffen. Im ober-
Kai Abruszat, bayerischen Peutenhausen wurden
Bürgermeister bei einer mutmaßlich rechtsradikalen
DEUTSCHLAND
Aktion Feuerwerkskörper vor einer
Gemeinschaftsunterkunft gezündet.
In sächsischen Orten wie Strelln,
Eilenburg oder Laußig demonstrier-
ten mitunter Hunderte Menschen
gegen die Unterbringung von Schutz-
suchenden. Im mecklenburgischen
Grevesmühlen kam es Ende Januar
zu Tumulten vor dem Kreistag, in
Greifswald musste die Polizei am
Dienstag den Oberbürgermeister mit
Schlagstöcken vor aufgebrachten
Demonstranten schützen.
Demgegenüber sind Stimmen der
Zuversicht zu hören. So ist laut einer
aktuellen Umfrage des Deutschen
Zentrums für Integrations- und Mi­
grationsforschung die Solidarität der
Deutschen mit Geflüchteten aus der
Ukraine hoch. Jeder Zweite sei bereit
zu spenden oder sich ehrenamtlich
zu engagieren, es sei »kein Kipppunkt
in Sicht«. Eine andere Umfrage ergab:
Eine Mehrheit der Deutschen glaubt,
das Land könne die hohen Flücht-
lingszahlen verkraften. Forscher ver-
weisen darauf, dass einige Kommu-
nen noch Kapazitäten hätten.
Und wo keine mehr zu sein schei-
nen, lassen sich vielleicht doch noch
welche schaffen. In Tübingen kennt
Daria Sova jeden Winkel ihres Zim-
mers, sie hat den Dreck von den Die-
len geschrubbt, die rostigen Heizkör-
per gestrichen, die Wände geweißelt.
»Nichts zu tun fällt mir am schwers-
ten«, sagt die 31-jährige Ukrainerin,
die vor dem Krieg in Cherson die Fi-
nanzen einer Klinik gemanagt hat.
Keine Sekunde habe sie überlegen
müssen, ob sie mitmacht bei dem Pro-
jekt, in dem Geflüchtete ihre Unter-
kunft renovieren.
Die katholische Kirche überließ
das ausgediente Kloster kostenfrei
erst dem Landkreis, dann der Stadt,
es hatte zuvor leer gestanden. 30
Menschen sollen dort nun wohnen,
die veranschlagten Umbaukosten
konnten auf 90 000 Euro halbiert
werden, ein Architektenpaar küm-
mert sich um die Baustelle. Und ein
gutes Dutzend Ukrainerinnen und
Ukrainer packte zwei Monate lang
mit an, sie legten Fliesen, beseitigten
Wasserschäden. Noch stehen Kabel-
trommeln und Farbeimer im Flur,
aber Sova und ihre achtjährige Toch-
ter sind schon vor Monaten aus der
Notunterkunft in der Kreissporthalle
hierhergezogen. Sie fühle sich hier
inzwischen zu Hause. »Uns als Grup-
pe hat das gutgetan«, sagt Sova. »Wir
kannten uns nicht und leben inzwi-
schen fast wie eine Familie.«
Matthias Bartsch, Jan Friedmann,
Tobias Großekemper, Christine Keck,
Peter Maxwill, Steffen Winter  n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 43
DEUTSCHLAND
»Es gab zwei Überlebende,
einer war ich«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Boris Cyrulnik entkam mit sechs Jahren knapp
dem Tod im Vernichtungslager. Seither lässt ihn die Frage
nicht los, wie ­Menschen Terror, Gewalt und Misshandlung überstehen.
Vor Cyrulniks Haus in der Nähe von
Toulon erstreckt sich das Mittelmeer. Im
Wohnzimmer hängen bunte Aquarelle,
hingetupfte Szenen, die seine Frau ge-
malt hat. Die beiden sind seit mehr als
50 Jahren miteinander verheiratet. Der
85-Jährige hat Kinder und Enkel, ist
Neuropsychiater, lehrte an der Univer-
sität in Toulon, berät Politiker und ist
Bestsellerautor. Ein offenbar erfülltes
Leben. Doch Cyrulnik hat eine Kindheit
voller Schrecken hinter sich, seine El-
tern starben in den Vernichtungslagern
der Nationalsozialisten. Der Terror
prägt ihn bis heute, die Frage, warum
Menschen im Namen von Weltanschau-
ungen morden, Kriege führen und At-
tentate verüben, hat ihn nie wieder
losgelassen. Er gilt als ein Pionier der
Resilienzforschung, die untersucht, in-
wieweit Menschen nach traumatischen
Erfahrungen ein gutes Leben führen
44 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
können. Sein neues Buch kreist um
seine Kindheit und analysiert, wie sich
Hass und Hetze ausbreiten*.
SPIEGEL: Herr Cyrulnik, Sie wurden
als Sechsjähriger zum Tod verurteilt.
Was genau ist geschehen?
Cyrulnik: Meine Eltern waren Juden,
die in den Dreißigerjahren vor dem
Antisemitismus aus der Ukraine und
aus Polen nach Frankreich geflüchtet
sind. Mein Vater ist dort in die Armee
eingetreten; nachdem die deutsche
Armee nach Frankreich vorgedrun-
gen war, habe ich ihn nie mehr gese-
hen. Als ich vier war, hat mich meine
Mutter zu einer staatlichen Fürsorge-
stelle gegeben, das war 1942. Sie
hatte erfahren, dass die französische
Gestapo sie am nächsten Tag festneh-
men würde. Zwei Jahre später wurde
auch ich in Bordeaux verhaftet.
SPIEGEL: Die Deutschen besetzten
damals den Norden Frankreichs. Im
unbesetzten Süden hatte sich in Vichy
eine Regierung gebildet, die mit den
Deutschen zusammenarbeitete.
Cyrulnik: Ich lebte bei Menschen, die
mich versteckten. Erst bei meiner
Kindergärtnerin, sie hatte mich von
der Fürsorgestelle weggeholt, später
bei anderen mutigen Familien. Man
hatte mir gesagt: Geh nicht raus,
wenn dich jemand verrät, kommen
wir alle ins Gefängnis. Ich verstand
das nicht, ich hatte ja kein Verbrechen
begangen. An einem Morgen, ganz
früh, standen dann drei oder vier
Männer mit dunklen Hüten, hoch-
gezogenem Kragen und Sonnenbril-
len an meinem Bett. Sie richteten
einen Revolver auf mich, und Ma-
dame Farges, die mich versteckte,
redete auf die Männer ein: Wenn Sie
Péhée Marion / DER SPIEGEL
ihn leben lassen, sagen wir ihm nie-
mals, dass er ein Jude ist!
SPIEGEL: Das wussten Sie nicht?
Cyrulnik: Ich wusste nicht einmal, was
es bedeutet. Es hatte in meiner Fami-
lie keine jüdischen Rituale, keine jü-
dische Identität gegeben. Die Men-
schen, die mich versteckten, hatten
mir einen typisch französischen Na-
men verpasst, sie nannten mich Jean
Laborde. Ich wusste nichts über mei-
ne Herkunft. Die Männer führten
mich trotzdem in die Synagoge von
Bordeaux ab. Die Juden, die zum
Transport in ein Vernichtungslager
bestimmt waren, wurden dort ein-
gesperrt. Später habe ich erfahren,
dass 1700 Personen an diesem Tag
festgenommen wurden. Es gab zwei
Überlebende, einer war ich.
SPIEGEL: Wie sind Sie entkommen?
Cyrulnik: Vor der Synagoge standen
zwei Tische. An jedem Tisch saßen
zwei Franzosen, dazwischen stand
»Kindern wie ein deutscher Offizier, der mit einem
Stock nach rechts oder nach links
mir blieb nur zeigte. Ich hörte von den Leuten um
übrig, sich mich herum, dass an dem einen Tisch
ins Schweigen alle erfasst wurden, die umgebracht
werden sollten. Am anderen Tisch
zurück­ wurden alle registriert, die in Deutsch-
zuziehen.« land oder Frankreich arbeiten sollten.
Aber ich wusste nicht, welcher es je-
weils war. Ich hörte die Leute sagen:
Du musst so tun, als ob du krank bist.
Nein, sagten andere, dann wirst du
auf jeden Fall getötet. Mir wurde da
erst klar, dass die Männer in Uniform
uns töten lassen wollten. Plötzlich
wusste ich: Du musst hier weg!
* Boris Cyrulnik: »Die mit den Wölfen heulen.
Warum Menschen der totalitären Versuchung
so schwer widerstehen können«. Droemer;
240 Seiten; 24 Euro.
Das Gespräch führte die Redakteurin Katja
Thimm.

SPIEGEL: Und dann?
Cyrulnik: Weil ich klein war, konnte ich mich
über der Toilettenspülung verstecken. Ich
habe dort starr gesessen, und mit einem Mal
war es still. Alle anderen waren abtranspor­
tiert worden. Ich bin auf die Straße gelaufen,
da stand eine Schwester vom Roten Kreuz
neben einem Krankenwagen, und auf einer
Bahre lag eine schwer verletzte Frau. Die
Schwester winkte mir zu, ich solle mich unter
der Frau verstecken. Dann gab ein deutscher
Soldat das Zeichen zur Abfahrt. Ich glaube
bis heute, dass er mich absichtlich übersehen
hat. So ist der Krieg, so sind alle Kriege. Ein
unerklärliches Nebeneinander von Mensch­
lichkeit und Unmenschlichkeit. So wie gerade
in der Ukraine.
SPIEGEL: Haben Sie Kontakt zu Ihren ukra­
inischen Verwandten?
Cyrulnik: Ich habe von der Familie, aus der
ich stamme, nur die jüngere Schwester meiner
Mutter wiedergefunden. Wir wohnten ge­
meinsam auf neun Quadratmetern und haben
nach und nach erfahren, dass alle anderen
ums Leben gekommen waren. Meine Tante
wehrte ab, wenn ich darüber reden wollte.
Ein paarmal habe ich versucht, anderen Er­
wachsenen von meiner Verhaftung zu erzäh­
len. Sie haben gelacht und gesagt: Was er­
findet der kleine Boris da für Geschichten!
Es gab eine kollektive Abneigung gegen das
Reden, ähnlich wie in Deutschland.
SPIEGEL: Wie hat das auf Sie gewirkt?
Cyrulnik: Ich fühlte mich missverstanden und
wollte nicht als Lügner dastehen. Heute weiß
ich, dass damals kaum einer mehr die Kraft
hatte, sich schreckliche Geschichten anzu­
hören. Frankreich war ruiniert, viele waren
beschämt, weil ihre große Nation mit den
Deutschen zusammengearbeitet hatte. Kin­
dern wie mir blieb da nur übrig, sich ins
Schweigen zurückzuziehen. Einmal habe ich
es noch versucht, viel später.
SPIEGEL: Bitte erzählen Sie.
Cyrulnik: Ich war bei Freunden zu Besuch, die
von einer glücklichen Kindheit erzählten,
vom Baden im Meer und Muscheln am
Strand. Sie fragten, was ich denn so erlebt
habe, und ich fing an zu sprechen. Da sagte
der eine: Ah, du erzählst die Geschichte von
den beiden Waisenkindern! Das ist der Titel
eines albernen französischen Buchs, und alle
lachten. Also habe ich weiter darüber ge­
schwiegen. Ich war wie zweigeteilt. In mir
meine Erfahrungen, außen das andere Leben.
SPIEGEL: Was hat Ihnen geholfen, nicht unter­
zugehen?
Cyrulnik: Ich lebte in der Idee, dass ich perfek­
te Eltern hätte, wenn sie nicht tot wären. Mei­
ne Mutter war in meiner Erinnerung immer
freundlich, jung und schön, mein Vater immer
gerecht. Der Sohn solch großartiger Leute zu
sein, gab mir Selbstvertrauen. Und in meinen
Verstecken war ich nur von liebevollen Men­
schen umgeben. Natürlich haben die Nachbarn
etwas mitbekommen, auch die Kinder drum
herum, aber niemand hat mich verraten. Iso­
lation hinterlässt tiefe Spuren in Heranwach­
senden, die Pandemie hat das gerade gezeigt.
Die Zahl der Jugendlichen, die an Depressio­
nen leiden, ist nach oben geschnellt. Dass ich
in meinen Gefängnissen nur Freundlichkeit
erlebt habe, hat mich wohl geschützt.
SPIEGEL: Wann haben Sie damit begonnen,
von Ihren Erinnerungen zu erzählen?
Cyrulnik: 1983, da war ich 46. Ich hatte ein
Buch über mein Schweigen geschrieben und
war in einer Fernsehsendung zu Gast. Die
Krankenschwester, die mich vor der Synago­
ge zu sich gewunken hatte, rief danach in der
Redaktion an und hinterließ ihre Adresse,
nach der Sendung habe ich ein Taxi gerufen
und bin zu ihr gefahren. Es haben sich auch
Leute gemeldet, die mich versteckt hatten.
Und die blutende Frau von der Bahre. Mit
einem Mal waren die Zeugen meiner Erinne­
rungen da. Ich konnte mit ihnen sprechen,
das hat mir sehr geholfen.
SPIEGEL: Inwiefern?
Cyrulnik: Wir verstehen besser, was wir erlebt
haben, wenn wir nach den exakten, den pas­
senden Worten suchen. Dadurch verändern
sich unsere Erinnerungen. Wenn Menschen
nach einem Krieg, einem Attentat, aber auch
nach Unfällen und Naturkatastrophen nicht
über ihre Erlebnisse reden, denken sie oft in
immer gleicher Weise an ihr Unglück. Sie ha­
ben nachts die immer gleichen Albträume,
sie bleiben in ihren Erinnerungen gefangen.
SPIEGEL: Sprechen hilft, so einfach ist das?
Cyrulnik: Auch Fakten können helfen. Ich
habe mein Todesurteil in einem Archiv ge­
funden, unterzeichnet von Maurice Papon,
der im Vichy-Regime für Deportationen zu­
ständig war. Als ich das Dokument einsah,
fand ich auch die Todesurteile für die anderen
Kinder aus der Synagoge. Das älteste ver­
urteilte Kind war elf Jahre, das jüngste zwei
Monate alt.
SPIEGEL: Einige Experten meinen, dass es
manchen Menschen besser geht, wenn sie
schlimme Erfahrungen ruhen lassen.
Cyrulnik: Vorübergehend kann das durchaus
ein Schutzmechanismus sein. Auch nach dem
Krieg hat es vielen geholfen, ihr Leid erst ein­
mal zu verleugnen, anders hätte der Wieder­
Péhée Marion / DER SPIEGEL
Aufnahme von
Cyrulnik mit
seiner Tante
Dora 1947
DEUTSCHLAND
aufbau wahrscheinlich nicht so schnell funk­
tioniert. Aber das Trauma verschwindet da­
durch nicht.
SPIEGEL: Teilen Sie die Ansicht, dass manche
Menschen auch deshalb besser mit ihrem
Schicksal zurechtkommen, weil ihnen dieses
Talent gewissermaßen angeboren ist?
Cyrulnik: Menschen bringen unterschiedliche
Persönlichkeitseigenschaften mit auf die Welt,
die es ihnen leichter oder schwerer machen
können. Aber das Innenleben entwickelt sich
immer abhängig von der Außenwelt. Wenn ein
Kind in den ersten 1000 Lebenstagen eine gute
Bindung zu einem Erwachsenen aufbaut, wenn
es sich zu Hause sicher fühlt, wenn es lernt, zu
anderen Menschen Kontakt aufzunehmen –
dann ist die Chance groß, dass spätere trauma­
tische Erlebnisse nicht mit voller Wucht ein­
schlagen. Verlaufen die ersten Jahre schlecht,
sind Menschen oft ihr Leben lang verletzlicher.
Sie leiden etwa zehnmal so stark, wenn sie
Hass und Gewalt ausgesetzt sind. Das Risiko
ist hoch, dass sie dann vollends verzweifeln
oder ihrerseits gewalttätig werden.
SPIEGEL: Inwieweit lässt sich das verhindern?
Cyrulnik: Garantien gibt es nicht, aber die
richtige Form der Unterstützung ist dann ex­
trem wichtig. Nach dem Attentat auf den
Nachtklub Bataclan in Paris war das beispiel­
haft zu sehen.
SPIEGEL: Islamisten ermordeten dort vor sie­
ben Jahren 90 Menschen, es gab zahlreiche
Verletzte.
Cyrulnik: Sehr viele Menschen haben damals
ihr Bestes gegeben: in den Krankenhäusern,
bei der Feuerwehr, in der Nachbarschaft,
außerdem die Psychologen und Psychologin­
nen, die Politiker und Politikerinnen. Ein Jahr
später war bei 90 Prozent der traumatisierten
Menschen kein Trauma mehr nachweisbar.
Acht Monate nach dem Attentat in Paris
fuhr in Nizza am Nationalfeiertag ein Lkw in
eine Menschenmenge, auch das war ein isla­
mistischer Terroranschlag. Die Unterstützung
dort war weniger umfassend als in Paris. Und
nach allem, was man weiß, leidet dort nach
wie vor eine große Zahl von Menschen an
den Traumata.
SPIEGEL: Was ist Ihre Erklärung für Terror,
Hass und Hetze?
Cyrulnik: Der Hass auf Andersdenkende
wächst am besten in geschlossenen Weltbil­
dern. Es kann nicht sein, was nicht sein darf:
Für dieses Muster sind wir alle anfällig. Man
macht es sich zu leicht, da nur bei den Isla­
misten, Verschwörungstheoretikern, Leug­
nern des Coronavirus, Wladimir Putin oder
Donald Trump zu suchen. Bis in die Siebzi­
gerjahre haben Kollegen von mir Nerven­
bahnen im Gehirn durchtrennt, weil man
meinte, endlich die beste Therapie gegen
­Psychosen, Depressionen oder Schmerz­
zustände gefunden zu haben. Der Erfinder
dieser Lobotomie hatte den Nobelpreis be­
kommen. Viele Patienten waren nach der
Operation allerdings hochgradig emotional
gestört oder vollkommen antriebslos. Die
­Lobotomisten hielten trotzdem an ihrer Logik
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 45
DEUTSCHLAND
fest. Die Kommunisten sind noch so
ein Beispiel. Das habe ich am eigenen
Leib erfahren.
SPIEGEL: Sie waren Kommunist?
Cyrulnik: So wie viele Juden nach
dem Krieg, die in Opposition zum
Erbe der Nazizeit gehen wollten. Ich
war 14 und bin eingetaucht in dieses
Weltbild, bis hin zu der Art, wie ich
mich informiert habe: Man sucht sich
nur noch die Nachrichten heraus, die
zur Theorie passen. Nach all der kom-
plizierten Zeit waren es Jahre des
Glücks für mich. Wir waren eine per-
fekte Gruppe von Gleichgesinnten.
Wir waren jung, wir diskutierten, wir
gingen ins Theater. Als ich merkte,
dass ich mit dem System brechen
musste, fiel mir das enorm schwer.
SPIEGEL: Wie kam es dazu?
Cyrulnik: Ich wurde 1954 als ordent-
licher kleiner Militant nach Rumänien
geschickt. Was ich dort sah, hatte
nichts mit dem guten Kommunismus
zu tun, der mir versprochen worden
war. Die Zustände waren erbärmlich.
Meine Führungsoffiziere sagten:
Wenn du so denkst, musst du gehen.
Ich war mittlerweile 17, verlor alle
Freunde, auch meine Freundin, weil
uns kein gemeinsames Weltbild mehr
verband. Und es war schmerzhaft,
weil der Kommunismus im Kern ja
eine menschenfreundliche und fried-
liche Utopie ist. Dass daraus im ech-
ten Leben Hass erwachsen konnte,
fand ich unbegreiflich. Heute weiß ich
es besser: Hass erotisiert die Men-
schen. Wer hasst, fühlt sich bedeut-
sam und mächtig. Hass stoppt das
Denken und damit die Selbstzweifel.
Er ist der Zement für den Clan.
SPIEGEL: Was wollen Sie damit sagen?
Cyrulnik: Zu einer Gruppe dazuzu-
gehören gibt Selbstvertrauen. Für
Erfolgreich in der
digitalen Arbeitswelt
Weiterbilden mit E-Learning – wann und wo Sie wollen
Erfahrung, Kompetenz, Flexibilität – nutzen
Sie die Vorteile der SPIEGEL AKADEMIE in den
vier Themenbereichen:
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Als Gefängnis Menschen, die sich abgehängt und
missbrauchte unverstanden fühlen, gilt das oft be-
Synagoge
in Bordeaux 1944 sonders. Und wenn die Gruppe auch
noch einen Sinn verspricht, verstärkt
sich das Clangefühl. An dieselben
Ideen zu glauben, erzeugt eine fast
familiäre Geborgenheit. Der Hass
gegen die Zweifler, die Andersgläubi-
gen, die Fremden hält den Clan zu-
sammen.
SPIEGEL: Das ist ein uraltes Muster.
Was ist heute anders?
Cyrulnik: Das Internet macht es dem
Hass leicht. Die Clans werden dort
wie von allein mit Theorien gefüttert,
die zu ihrem Hass passen. Es macht
auch solche wieder groß, die lange
ziemlich unsichtbar waren: Dass man
Juden bestrafen müsse, weil sie reich
seien. Es gibt Studien, aus denen sich
ableiten lässt, wie diese Ideen unser
Gehirn verändern: Wenn man davon
ausgeht, dass Juden, Ausländer oder
wer auch immer einem das Leben
schwer machen, löst allein die An-
nahme ein Bedrohungsgefühl aus.
Vereinfacht gesagt: Man fühlt, was
man denkt.
h t e no ch
ec g
Bildrn Klärun
i
+ Tech Business
+ Management und Leadership
+ Digital Media und Marketing
+ Communication und Psychology
SPIEGEL: Eine Hoffnung nach dem
Zweiten Weltkrieg war es, solchen
Ideen durch persönliche Treffen vor-
zubeugen. Seither sind sich Hundert-
tausende Menschen in Städtepartner-
schaften oder Schüleraustauschen
begegnet. War die Hoffnung naiv?
Cyrulnik: Sich mit anderen Menschen
und ihrem Leben auseinanderzuset-
zen, schützt erst einmal davor, sich
von einfachen Parolen einfangen zu
lassen. Aber oft engagieren sich in
diesen Projekten ebenjene, die ohne-
hin neugierig und mit Selbstvertrauen
auf die Welt blicken. Es ist schwer,
dem Schwarz-Weiß-Denken zu wi-
derstehen, wenn man sich von der
Gesellschaft abgehängt fühlt. Die
schlichten Slogans vieler Debatten
tragen dazu bei, dass sich dieses
Schwarz-Weiß-Denken verfestigt.
Wir alle müssen deshalb anders mit-
einander reden – und nicht, als gäbe
es nur Eindeutigkeiten auf der Welt.
Denn das Gegenteil ist ja der Fall.
Man muss das lernen. Für mich war
es eine schwierige Lektion.
Collection Centre National Jean Moulin / Mairie de Bordeaux; Foto: Lysiane Gauthier
SPIEGEL: Wie sah die aus?
Cyrulnik: Für mich wurde es als Kind
erst richtig kompliziert, als der Krieg
vorbei war. Bis dahin war alles ein-
deutig: Alle, die mich versteckten,
waren gute Menschen, und alle Nazis
waren böse. Dann merkte ich, dass es
so einfach nicht ist. Gut und böse, um
bei diesen Worten zu bleiben, stecken
in jedem von uns. Wir alle schrecken
vor dem Gedanken zurück. Aber
wenn wir ihn akzeptieren, würde das
jeder Art von Ideologie vorbeugen.
Es bedeutet, dass niemand von vorne-
herein auf der richtigen Seite steht.
Auch nicht man selbst.
SPIEGEL: Herr Cyrulnik, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch. n
mit
Abschluss-
zertifikat

Angst vor dem Reformvirus
ANALYSE  Die deutschen Katholiken wollen ihre Kirche reformieren. Ihr Projekt
steht vor dem Abschluss. Und auch vor dem Aus?
D
ie katholische Kirche in
Deutschland will sich refor­
mieren, sie nennt den Prozess
­Synodaler Weg, Bischöfe und Laien
beschließen gemeinsam neue Richt­
linien. Die ganze Kirche? Nein, natür­
lich nicht. Ein konservativer Kreis um
den Kölner Erzbischof Rainer Maria
Woelki hört nicht auf, Widerstand zu
leisten – und fragte unlängst schein­
heilig im Vatikan nach: Müssen wir
da wirklich mitmachen?
Dabei stand längst fest: Sie müssen
nicht. Die Antwort aus der römi­schen
Kurie kam entsprechend schnell
und war ein erneuter Schlag für die
Re­former in Deutschland. Das ge­
plante bundesweite Beratungs- und
­Leitungsorgan von Bischöfen, Pries­
tern und Laien dürfe es nicht geben,
hieß es. Denn ein solcher Synodaler
Rat würde die Autorität der Bischöfe
­beschneiden. Es war eine Macht­
demonstration kirchlichen Absolu­
tismus im Angesicht demokratischen
Aufbegehrens. Bemerkenswert ist,
dass die Reformer nicht kuschen. Der
Vorsitzende der Deutschen Bischofs­
konferenz, Bischof Georg Bätzing aus
Limburg, beharrt auf dem umstrit­
tenen Gremium. »Bätzing widersetzt
sich Rom wie der Häuptling eines
trotzigen gallischen Dorfes«, sagt der
Kirchenrechtler Thomas Schüller aus
Münster. »Er zeigt wahrhaft rebelli­
schen Geist und Standhaftigkeit, das
nötigt Respekt ab.«
Der Streit war nur der vorläufige
Höhepunkt in der Auseinanderset­
zung römischer Bewahrer mit deut­
schen Erneuerern. Seit 2019 läuft der
Reformprozess. Auf der jüngsten Ver­
sammlung, der vierten, forderten Bi­
schöfe und Laien im Herbst unter
anderem mehr Geschlechtergerech­
tigkeit; keine Zustimmung fand ein
Dokument für eine liberalere Sexual­
moral, die nötige Zweidrittelmehrheit
der Bischöfe kam nicht zustande.
Vom 9. bis zum 11. März findet nun
in Frankfurt am Main die fünfte und
letzte Vollversammlung statt. Noch
sind Texte abzustimmen, wichtige
Fragen offen. Etwa inwieweit der
­ ölibat noch verpflichtend sein soll.
Z Zentralkomitee-­
Welche Ämter auch Frauen offen­
stehen sollten. Oder wie sexualisier­
ter Gewalt vorgebeugt werden kann.
Kritische Beobachter wie der Kir­
chenhistoriker Hubert Wolf sehen die
Reformen bereits als gescheitert an.
Auch viele Unterstützer und Unter­
stützerinnen sind skeptisch. Sie wis­
sen, dass die Beschlüsse ohnehin die
Bischöfe nicht binden. Gekämpft
wird mit harten Bandagen. Vor allem
aus den USA kommen schrille Töne,
auch in Deutschland wünschen Re­
aktionäre die Reformer ins Fegefeuer.
Papst Franziskus hat solche Narrative
befeuert. Er erklärte, der Synodale
Weg sei kein echter, vom »Volk Gottes
in seiner Gesamtheit« geführter
­Prozess, sondern werde von »Eliten
durchgeführt«. Außerdem habe man
in Deutschland schon »eine sehr gute
evangelische Kirche« – ein Killerargu­
ment, das jede Neo-Reformation im
Keim ersticken soll.
Tatsächlich fassen viele im Vatikan
die Texte des Synodalen Wegs als
­Affront auf. Zu lang, zu detailliert, so
pompös wie eine Enzyklika – kurz­
um: eine theologische Anmaßung.
Bätzing und seine Mitstreiterin Irme
Stetter-Karp, Präsidentin des Zentral­
komitees der deutschen Katholiken,
müssen sich den Vorwurf gefallen
­lassen, ihr Anliegen im Vatikan nicht
adäquat vertreten zu haben. Beide
Seiten hätten früher und häufiger
­miteinander sprechen müssen, sagen
Beobachter. Es gebe ein Kommuni­
DEUTSCHLAND
kationsproblem zwischen Norden
und Süden, einen Clash der Kulturen
zwischen Deutscher Bischofskonfe­
renz und römischer Kurie.
»Bedauerlicherweise konnte die
römische Skepsis bislang nicht über­
wunden werden, auch weil der Vati­
kan sich bis heute nicht auf Gespräche
mit dem gesamten Präsidium des
­Synodalen Weges – also auch den
Laien – eingelassen hat«, sagt der
Magdeburger Bischof Gerhard Feige.
»Offenbar hat man in Rom Angst vor
dem starken Drängen aus Deutsch­
land und ist misstrauisch gegenüber
den sehr konkreten Reformvorstel­
lungen.« Bestimmte deutsche Kreise
würden »diese Stimmung noch be­
fördern und sich von dort Schützen­
hilfe holen«. Die Reformgegner hät­
ten »ein Schisma regelrecht herauf­
beschworen und daraus einen Popanz
Thomas Lohnes / Getty Images
gemacht«. Dabei sei klar: »Niemand,
der sich für Reformen einsetzt, will
eine Kirchenspaltung.«
Wie wird der Papst reagieren, wenn
das verbotene Gremium doch 2026
seine Arbeit aufnehmen sollte? Die
Reformer geben sich zuversichtlich.
»Er kann ja schlecht die Schweizer­
Präsidentin garde in deutsche Bistümer einmar­
Stetter-Karp
schieren lassen«, sagt der Kirchen­
rechtler Schüller. Und die Laien­
vertreterin Stetter-Karp will an den
­Beschlüssen festhalten: »Wir werden
sehen, was nun die fünfte und letzte
Synodalversammlung entscheidet.
Was wir dort vereinbaren, kann man
nicht einfach vom Tisch wischen.«
In Deutschland bestimmen schon
jetzt mancherorts Laien und Kleriker
in Diözesanräten gemeinsam die
­Geschicke der Bistümer. Der Grund­
konflikt jedoch bleibt: Einen demo­
kratischen Aufbruch innerhalb des
­quasiautokratischen Systems Kirche
zu wagen ist schwer, wenn nicht un­
möglich. Die Reformer kämpfen um
Mehrheiten – und doch braucht es
nur einen Handstreich aus Rom, um
ihre Bemühungen zu diskreditieren.
Papst Franziskus wurde aufgrund
­seines unkonventionellen Stils oft als
fortschrittlich missinterpretiert. Das
Gegenteil ist der Fall: Er scheint
Angst davor zu haben, dass sich das
»Der Vatikan Reformvirus aus Deutschland in der
Weltkirche ausbreitet. Dass er dem
hat sich Synodalen Weg eine Absage erteilt,
bis heute ist kein gutes Zeichen für die katho­
lische Kirche in Deutschland.
nicht auf Wie auch immer die Reformer da­
Gespräche rauf reagieren: Ihnen läuft angesichts
rasant steigender Austrittszahlen die
eingelassen.« Zeit davon. Und: Der nächste Papst
Gerhard Feige,
könnte ein weit größerer Hardliner
Bischof von sein.
Magdeburg Annette Langer n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 47
DEUTSCHLAND

der sich regelmäßig äußert im öffentlichen

Diskurs, derzeit vor allem zum Krieg in der
Ukraine. Brandt zählt zu den Erstunterzeich-
nern des umstrittenen Friedensappells von

Brandt & Brandt
Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht.
Der zweite Brandt: Er ist der älteste Sohn
von Willy Brandt, von 1969 bis 1974 Bundes-
kanzler, von 1964 bis 1987 SPD-Vorsitzender
und der bundesdeutsche Politiker, der wohl
KARRIEREN  Der Historiker Peter Brandt streitet für eine Friedensinitiative die meisten Emotionen geweckt hat. Nie-
mand wurde und wird so verehrt, kaum einer
im Ukrainekonflikt. Dabei stellt er sich in die Tradition seines Vaters so gehasst. Sein Mythos lebt und strahlt auf
Willy Brandt, von dem er sich gleichzeitig abgrenzt. Ein komplexes Vater- die Angehörigen. Nach den Manns, der Fa-
Sohn-Verhältnis. Versuch einer Annäherung. Von Dirk Kurbjuweit milie des Schriftstellers Thomas Mann, sind
die Brandts die zweite große deutsche Fami-
lie. Zweimal Lübeck, wo die Stammväter ge-

W
ie wird man, was man ist? Für den Traumberuf sei Geschichtsprofessor gewe- boren wurden.
Historiker Peter Brandt hat die Ant- sen.« Es folgt ein Wort, das Brandt häufig sagt, Wie die Manns haben die Brandts nicht
wort auf diese Frage zwei Teile. Teil wenn er von sich und seinem Vater erzählt: nur einen Prominenten hervorgebracht. Mat-
eins: Er habe sich, sagt er, als Junge für deut- tiefenpsychologisch. thias Brandt, 61, der jüngste Sohn, ist ein be-
sche Sagen interessiert, auch für Sagen des »Ich könne jetzt tiefenpsychologisch auf rühmter Schauspieler, Lars, 71, der mittlere,
klassischen Altertums und für Indianer. Stän- meine Berufswahl blicken und dann zu be- ein nicht ganz so berühmter Schriftsteller und
dig habe er gelesen, viel von Karl May. Als stimmten Schlüssen kommen«, fährt Brandt Künstler. Beide haben Bestseller geschrieben,
seine Eltern eine Reise durch die USA mach- fort, »aber was würde das bringen?« Auch genauso wie ihre Mutter Rut, die langjährige
ten, brachten sie ihm eine Friedenspfeife das ist ein Muster. Er lässt dem Wort keine Ehefrau Willy Brandts.
und die Kopie eines Friedensvertrags der tiefenpsychologische Analyse folgen, sondern Peter Brandt ist für die breite Öffentlich-
­Regierung mit den Sioux mit. Für den Sohn beendet das Thema Vater im Ungefähren. keit der übersehene Brandt, obwohl er in ge-
­Willy Brandts, des damaligen Regierenden Dazu sollen sich andere Gedanken machen. wisser Weise der interessanteste ist. Versuch
Bürgermeisters von Berlin, wurde das mög- Wer ist Peter Brandt? Die kurze Antwort: einer Annäherung, in diesem Fall keine
lich gemacht. Er ist Brandt & Brandt. Der erste Brandt: ein ­Floskel, wie man sehen wird. Einer seiner
Das führt zum zweiten Teil der Antwort. Mann von 74 Jahren, Historiker, Vater, Ehe- Freunde warnt davor, ihm viele Fragen zum
Peter Brandt: »Mein Vater hat gesagt, sein mann, ein Intellektueller im klassischen Sinn, Vater zu stellen.

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

Wissenschaftler Peter Brandt: »Mein Alltag sonst war kindgemäß«

48 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


Juli 2022, ein erstes Treffen mit Peter
Brandt, ein französisches Restaurant in Ber-
lin-Charlottenburg. Kurze Begrüßung, Small
Talk unterbindet er, indem er sofort in der
Speisekarte versinkt und sie lange schweigend
studiert, als müsste er sie auswendig lernen.
Dann sitzt er da wie eine Mauer, mit ver-
schränkten Armen und verschlossenem Ge-
sicht, und beantwortet die Fragen knapp.
Brandt ist dagegen, dass schwere Waffen
in die Ukraine geliefert werden. Er glaubt
nicht, dass ein Sieg gegen die Atommacht
Russland möglich ist. Eine Eskalation Rich-
tung Atomkrieg hält er für wenig wahrschein-
lich, aber für möglich. Man müsse das unbe-
dingt verhindern. Er habe nicht Angst um sich
selbst, sein Leben sei gelebt. Es gehe um die
Kinder und Enkel.
Er hat ein spitzes Gesicht, grauer Bart,
graue mittellange Haare, nach hinten ge-
kämmt, eine nicht ganz runde Brille. Das ist
Teil eins der Betrachtung. Teil zwei: Den Va-
ter sieht man kaum. Was auffällt, ist die Arm-
banduhr, die er so trägt, dass das Zifferblatt
nach unten zeigt.
Keine Frage zum Vater. Einmal erwähnt er
kurz die »Entspannungspolitik von Willy
Brandt«. Nach einer unbehaglichen Stunde
geht Peter Brandt. Hat es Sinn, sich noch ein-
mal zu treffen? Hat es Sinn, mit einer Mauer
zu reden?
Peter Brandt wurde am 4. Oktober 1948
in Berlin geboren, als die Sowjets die Straßen
und Schienen nach Berlin blockierten. Seine
Mutter schreibt in ihren Erinnerungen
»Freundesland« über die Geburt ihres ersten
Kindes: »Peter kam während der Blockade
zur Welt, und die Arztrechnung lautete auf
Margarine, Zucker, Weizenmehl und Ziegen-
käse. Ein echter Berliner war geboren.« Ein
Satz zur Rechnung, kein Satz über Freude.
Bald wechselt sie das Thema, erzählt von der
Hausangestellten.
Distanz und Nähe waren ein Thema dieser
Kindheit. Rut Brandt konnte liebevoll sein,
aber auch entrückt. Der Vater hielt notorisch
Abstand. Wenig Umarmungen, kaum Küsse,
man gab sich die Hand. »Er war sicherlich
nicht das, was man einen Familienmenschen
nennt«, schreibt Peter Brandt in seinem Buch
»Mit anderen Augen«, das eine Mischung aus
Biografie des Vaters und eigenen Erinnerun-
gen ist. »Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl,
etwas zu vermissen.«
Auch ein Muster bei ihm: Er benennt die
Probleme, um sich sofort versöhnlich zu zeigen. das zusammen gemacht, und es sei damals
Dass Papa ein prominenter Politiker war,
merkte er vor allem daran, dass Pressefoto-
grafen ins Haus kamen und »irgendwelche
mehr oder weniger natürlichen Familiendar-
bietungen« verlangten. »Das war mir äußerst
lästig.« Es folgt das Versöhnliche: »Mein Alltag
sonst war kindgemäß«, schreibt er etwas steif.
Peter Brandts engeres Familienleben en-
dete 1966, als Willy Brandt Außenminister
der Großen Koalition wurde und die Familie
nach Bonn zog. Peter stand kurz vor dem Peter Brandt
Peter von Essen / KEYSTONE
Vater Brandt mit Söhnen Lars, Peter 1957
Abitur, wollte nicht mitgehen und wurde bei
Freunden in Berlin untergebracht. Freiheit.
Dezember 2022, ein zweites Treffen mit
Peter Brandt, diesmal in einem italienischen
Restaurant in Charlottenburg. Er hat ein Buch
mitgebracht, legt es auf den Tisch: »›… aber
eine Chance haben wir‹ – Zum 100. Geburts-
tag von Egon Bahr«. Einer der Herausgeber
ist Peter Brandt. Kein Small Talk, langes Stu-
dium der Speisekarte. Dann schiebt er das
Buch über den Tisch.
Egon Bahr war einer der engsten Wegge-
fährten seines Vaters, gemeinsam haben sie in
den Sechzigerjahren die Entspannungspolitik
gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts
entwickelt. Dafür steht Bahrs berühmte Formel
»Wandel durch Annäherung«, die in manchen
Augen der Kern des Problems mit Putin sein
soll: eine zu freundliche Politik gegenüber den
Russen. Das Buch, heißt es im Vorwort, sei eine
»nachdrückliche Verteidigung« der Entspan-
nungspolitik. »Die Verfasser weisen die seit
dem Beginn des russischen Aggressionskrieges
zunehmende Tendenz zurück, jene für das der-
zeitige Geschehen verantwortlich zu machen.«
Peter Brandt sagt, er sehe in der SPD das
Bestreben, »Brandt von Bahr abzutrennen«.
Die Partei lasse nicht zu, dass der Übervater
Brandt beschädigt werde, die Kritik an der
Entspannungspolitik werde auf Bahr gelenkt.
Er hält das für unhistorisch. Die beiden hätten
richtig gewesen, weil man mit den Kommu-
nisten rationale Gegenüber gehabt habe.
»Willy Brandt fand es
gut, dass ich diesen Beruf
gewählt habe.«
DEUTSCHLAND
Peter Brandt zeigt sich überrascht vom
Verlauf des Kriegs. Die Russen werden in je-
nen Tagen zurückgedrängt, plötzlich er-
scheint ein Sieg der Ukraine möglich. »Ich
muss zugeben, dass ich die militärischen Fä-
higkeiten der Ukraine unterschätzt habe, die
Russlands überschätzt. Man staunt nur.« Er
hofft, dass sich Amerikaner und Chinesen
zusammentun, um den Krieg zu beenden.
Das bleibt der Fokus seiner Gedanken: Wie
ist Frieden möglich?
Jetzt mal eine heikle Frage: Was hätte sein
Vater gemacht? Peter Brandt wird diese Fra-
ge häufig gestellt, bei allen möglichen The-
men. Es ist nicht seine Lieblingsfrage, das war
Teil der Warnung.
Seine Arme sind verschränkt, ein Blick über
die Gläser seiner Brille hinweg. Es wirkt, als
würde er aus vier Augen schauen: »Willy Brandt
hätte vermutlich etwas im Vorfeld gemacht.
Vielleicht wäre er nach Kiew gefahren. Aber
solche Spekulationen sollen andere machen.«
Peter Brandt war lange Professor an der
Fernuniversität Hagen, wo er das Lehrgebiet
Neuere Deutsche und Europäische Geschichte
leitete; überdies war er Direktor des Instituts
für Europäische Verfassungswissenschaften.
Sein Vater, sagt er, habe eine »literarische Form«
der Geschichtsschreibung im Sinn gehabt, »eher
Golo Mann als Hans-Ulrich Wehler«. Er selbst
ist der Typus Wehler, akribische Geschichts-
forschung. So ist er dem Traum des Vaters ge-
folgt und hat dabei einen eigenen Akzent ge-
setzt. »Willy Brandt fand es gut, dass ich diesen
Beruf gewählt habe«, sagt Peter Brandt.
Er wechselt, mal sagt er »mein Vater«, mal
»Willy Brandt«. Für ihn und seine Geschwis-
ter stecken zwei Personen in einer. Früher
war er Vati, in Briefen und Büchern auch mal
V. Ein kleiner Teil von Vater.
Worauf ist Peter Brandt stolz in seiner wis-
senschaftlichen Karriere? Er kratzt sich am
Kopf, denkt nach, nennt das »Handbuch der
Europäischen Verfassungsgeschichte«, an
dem er maßgeblich beteiligt ist, ein vielbän-
diges Werk, an dem noch gearbeitet wird.
Brandt ist ein eingefleischter Europäer, der
aber nicht findet, dass am Ende der Integra-
tion ein europäischer Bundesstaat stehen
muss. Sein Bezug zur Nation ist stark, was
selten vorkommt bei einem Linken. In einer
Rezension seiner wissenschaftlichen Schriften
wurde er aufgrund seiner Eigensinnigkeit ein
»Fabeltier« genannt. Darauf angesprochen
sagt er: »Ich sehe mich nicht als Fabeltier.«
Das sagt er freundlich, nicht patzig. Es hat
sich etwas verändert im Laufe dieses Ge-
sprächs. Er ist nicht mehr so sperrig, wird
umgänglicher. Löcher in der Mauer.
Früh hat Peter Brandt erkannt, dass der
menschengemachte Klimawandel den Plane-
ten gefährdet. Er mischt sich mit Schriften zu
diesem Thema ein, vor allem in der Kombi-
nation Friedens- und Klimapolitik. Das gehört
für ihn zusammen.
In den Achtzigerjahren war er Mitglied der
Alternativen Liste für Demokratie und Um-
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 49
DEUTSCHLAND
weltschutz in Berlin, einer Art Landesver-
band der Grünen, fühlte sich dort aber bald
nicht wohl. Erst nach dem Tod Willy Brandts
wurde er Mitglied der SPD. Vorher wäre das
für ihn nicht gegangen, sagt er. Und lächelt.
Er hat ein schönes Lächeln, aber es hat ge-
dauert, bis man es sehen durfte.
Er ist nahe beim Vater, und deshalb muss
er sich abgrenzen. Einerseits verteidigt er un-
ablässig dessen Entspannungspolitik. Ande-
rerseits, erzählt einer seiner Co-Autoren,
streicht er einen Teil der Bezüge zu Willy
Brandt aus den Texten. Nicht zu viel Vati.
Ein drittes Treffen? Klar.
Im Sommer 1965 unterschrieb Peter Brandt
einen Aufruf gegen den Vietnamkrieg, kurz
vor der Bundestagswahl. Willy Brandt war
damals Kanzlerkandidat der Sozialdemokra-
ten, die sich als regierungsfähig präsentieren
wollten, und dazu gehörte im Kalten Krieg
der Schulterschluss mit den USA.
Willy Brandt rief seinen Sohn vom Auto-
telefon an und hielt ihm eine Standpauke. Er
sei ihm in den Rücken gefallen. Später mel-
dete sich Egon Bahr und schlug vor, dass Pe-
ter seine Unterschrift zurückziehen möge.
Was er tat, mit dem festen Vorsatz, »nie mehr
in eine solch demütigende Situation zu kom-
men. Lieber verbale Prügel einstecken, als
noch einmal eine öffentlich gemachte Äuße-
rung widerrufen zu müssen«.
Ein paar Monate später nahm er an einer
nicht genehmigten Demonstration gegen den
Vietnamkrieg teil. Als Willy Brandt davon
erfuhr, sagte er, wenn der Sohn so weiter-
mache, könne er seine Ämter nicht länger
ausüben. Der Sohn machte so weiter, ge-
hörte 1968 zu den Gründern der trotzkisti-
schen Splittergruppe »Spartacus«. Was nach
einem Akt der Dissidenz zum Vater aussieht,
ist zugleich eine Parallele. Willy Brandt en-
gagierte sich eine Zeit lang in einer sozia­
listischen Splittergruppe. Was Peter Brandt
auch tat, dem Vater war schwer zu ent­
kommen.
Er ist ein Achtundsechziger, war Teil der
Außerparlamentarischen Opposition (APO),
nahe an Rudi Dutschke. Er protestierte gegen
eine Regierung, in der Vati Außenminister
war. Dazu schreibt er in seinem Buch: »Die
tiefenpsychologische Dimension meines poli-
tischen Engagements, für das die Studenten-
bewegung eher ein Verstärker war als ein
Auslöser, kann ich nicht wirklich ermessen.
Wer kann das schon für seine eigene Person?«
War es Protest gegen das »Gewicht einer
Vatergestalt – in diesem Fall einer überragen-
den, gleichzeitig meist abwesenden oder nicht
leicht zugänglichen«, wie er schreibt? Nein,
so mag er das nicht sehen. Er habe »ein per-
sönlich relativ gutes Verhältnis« zum Vater
gehabt.
Auf dem Nürnberger Parteitag der SPD
1968 wurde Willy Brandt mit einem Regen-
schirm attackiert. Seiner Frau sagte er, das
seien »Peters Gesinnungsgenossen« gewesen.
Er sei mit seiner Geduld am Ende. Rut Brandt
50 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Im Juli 1968 schreibt Peter Brandt seinem
Vater in einem herzzerreißenden Brief: »Man
versucht, indem man den familiären Kon-
flikt hochspielt, den politischen herunterzu-
spielen, oder man verniedlicht den familiären
Konflikt in einem solchen Maße, dass der
politische unernst erscheinen muss (siehe
›Stern‹). Beide Methoden stempeln mich tat-
sächlich als Harlekin der APO ab und zwin-
Will McBride / bpk
gen mir eine Rolle auf, die mir am wenigsten
steht, die Rolle der Skandal-Nudel.« Eigent-
1 lich, schreibt er, könnten sie doch »eine
­Musterfamilie abgeben«. Diese Sehnsucht
wird unerfüllt bleiben.
1968 stand Peter Brandt vor Gericht, weil
er in zwei Fällen den Aufforderungen der
­Polizei nicht nachgekommen war, einen »Auf-
lauf« zu beenden. Der Anwalt Horst Mahler
vertrat ihn vor Gericht, später ein Links­
terrorist, heute ein Rechtsextremist. Brandt
wurde eine Geldstrafe aufgebrummt, die man
ihm 1970 im Rahmen einer Amnestie erließ.
Als 1975 Peter Brandts wissenschaftliche
Karriere begann, kam ihm das politische
­Wirken seines Vaters in die Quere. In dessen
Kanzlerschaft fiel der sogenannte Radika­
lenerlass, der Menschen zutiefst linker Ge-
sinnung vom Staatsdienst fernhalten sollte.
Sein Sohn musste sich deshalb einem An­
Brigitte Herrmann / KEYSTONE
hörungsverfahren im Rektorat der Freien
­Universität Berlin unterziehen, er hatte sich
auf eine Assistentenstelle beworben. Peter
Brandt machte deutlich, dass sich seine poli-
tischen Ansichten geändert hätten, und wur-
2
de angenommen. »Am Ende«, schreibt er
in seinem Buch, »hat mir ›sein Erlass‹ nicht
geschadet.«
Das dritte Treffen, Ende Januar, wieder ein
Italiener. Peter Brandt versinkt in der Speise-
karte, taucht dann überraschend früh auf.
Small Talk.
Kindermann / United Archives
Dann sagt er, dass Olaf Scholz die Ent-
spannungspolitik seines Vaters in einer Rede
positiv erwähnt habe. Ihm gefällt die Zöger-
lichkeit des Kanzlers bei Waffenlieferungen.
»Ich bin froh, dass so ein besonnener Mann
3
die Regierung führt.« Die Hoffnung, dass die
Ukraine die Russen in einem großen Schwung
1 | Familie Brandt 1965 aus dem Land treiben kann, ist verglüht. Es
2 | Angeklagter Peter Brandt im Jugendgericht 1968 sei Zeit für eine Friedensinitiative, findet
3 | Brüder Lars und Peter Brandt 1961*
Brandt. Ohne Territorialverzicht der Ukraine
werde es nicht gehen.
meldete sich bei ihrem Sohn und schlug vor, Er redet über seine Brüder und deren Bü-
er solle den Vater anrufen. Weil er Angst vor cher. Lars hat den knappen Bericht »Anden-
einem Gespräch hatte, schrieb Peter seinem ken« über Willy Brandt geschrieben, hoch
Vater ein langes Telegramm. Es beginnt so: literarisch, aber etwas verspannt: der Vater
»Ich bin empört über die gewaltsamen An- als Reibungsfläche. Matthias widmet sich in
griffe gegen Dich vor dem Parteitag. Dadurch seinem Buch »Raumpatrouille« in einigen
wurde die – wie ich meine – berechtigte Kurzgeschichten Willy Brandt, leichthändig
Demonstration gegen die Politik der SPD ent- erzählt, witzig zum Teil, vor allem die Ge-
wertet und diskreditiert.« Willy Brandt zeig- schichte über einen kleinen Fahrradunfall.
te das Telegramm in der Parteiführung herum. Der Vater als literarische Figur. Dazu Peter
Das alles spielte sich vor den Augen Brandts Biografie, der Vater als historische
der Öffentlichkeit ab, da insbesondere die Figur.
Springer-Presse, aber auch »Stern« und
­ PIEGEL, den Vater-Sohn-Konflikt genüsslich
S * Bei Besuch des Zirkus Hagenbeck in Berlin.
beschrieben. ** Als Solodarsteller am Berliner Ensemble 2022.

Und dann liest man das Werk »Erinnerun­
gen« von Willy Brandt, 512 Seiten, nichts über
seine Söhne.
In einem anderen Buch werde er kurz er­
wähnt, sagt Peter Brandt schnell, als er mit
dieser Lücke konfrontiert wird. Beim An­
schlag auf die israelische Olympiamannschaft
in München 1972 habe er seinem Vater, dem
Bundeskanzler, angeboten, sich gegen die
Athleten austauschen zu lassen. Das war nicht
möglich, aber Willy Brandt war offenbar be­
eindruckt. Zugespitzt: Man musste schon sehr
viel riskieren, um vorzukommen.
Peter Brandt mag seine Brüder, auch die
Halbschwester Ninja, die in Norwegen lebt.
Matthias ist ihm näher, scheint es, Lars hält
offenbar Distanz, also noch mehr als in dieser
Familie üblich. Willy Brandt hat seine Kinder
gegen Ende seines Lebens weitgehend enterbt,
zugunsten seiner neuen Frau Brigitte See­
bacher-Brandt. Wie er das findet? In Ordnung,
sagt Peter Brandt. Er bleibt unerschütterlich
versöhnlich.
Und ist bei diesem dritten Treffen kein biss­
chen Mauer, sondern offen, liebenswürdig,
munter.
Zum Schluss erzählt er einen Witz. Irgend­
wann werde er einem Passanten 100 Euro in
die Hand drücken, damit er zu Matthias gehe
und ihn frage: Sind Sie nicht der B ­ ruder des
berühmten Historikers? Peter Brandt lacht.
Matthias Brandt denkt lange nach, als er
gefragt wird, wie er seinen Bruder in wenigen
Sätzen charakterisieren würde. Er sitzt im
Café Manzini in Berlin, auf dem Stuhl neben
sich sein offener Rucksack, in den er eine
Hand geschoben hat, als könnte er dort eine
Antwort finden. Dann hat er sie: »Ich habe
ihn immer als fragil wahrgenommen, als
warmherzig, als liebevoll mir gegenüber. Er
ist ein Mensch, der sehr angewiesen ist auf
Strukturen, innerlich wie äußerlich, um das
alles zusammenhalten zu können.« Eine klei­
ne Pause: »Da ist er nicht der Einzige.«
Schauspieler Matthias Brandt**: »Raus aus dem Milieu, möglichst weit weg«
»Wir sind eher eine Familie
von Solitären, demzufolge
auch sehr verschieden.«
Matthias Brandt
Wer denn noch? »Ich sehe da starke Paral­
lelen zu unserem Vater, aber da spekuliere
ich nur.«
Matthias Brandt hat in dem Film »Im
Schatten der Macht« Günter Guillaume ge­
spielt, den Mitarbeiter Willy Brandts, der sich
als Spion der DDR entpuppte, was maßgeb­
lich war für den Rücktritt des Kanzlers. Tie­
fenpsychologisch ist das auch nicht uninter­
essant.
Physiognomische Beschreibung Teil eins:
Matthias Brandt hat eher ein rundes als ein
spitzes Gesicht. Teil zwei: Man erkennt den
Vater schneller als beim Bruder.
Er ist ein Erzähler, ein Mensch, mit dem
man gleich beim ersten Treffen halbwegs
warm werden kann. Von seinem Vater, dem
Bundeskanzler, dachte er als Kind, dass der
nichts könne. Dieser Mann konnte nicht Auto
fahren, konnte nur schlecht Fahrrad fahren,
konnte nichts reparieren. Was war los mit
dem? Wofür wurde er so respektvoll behan­
delt? Rätselhaft, fand der kleine Matthias.
Seine älteren Brüder, sagt er, seien in halb­
wegs bürgerlichen Verhältnissen aufgewach­
sen, über Jahre in einer Wohnsiedlung am
Schlachtensee. »Mit meiner Geburt fing der
Irrsinn an.« Vati war bald Außenminister, war
Kanzler, war weg oder zerstreut, die Eltern
entzweiten sich.
Sohn des Kanzlers, wie kam er damit klar?
»Ich brauchte eine Strategie, um mich in
­diesem Wust von Zuschreibungen wegen
der Herkunft nicht aufzulösen, und die war:
raus aus dem Milieu, möglichst weit weg.«
David Baltzer / Zenit / laif
DEUTSCHLAND
Auch Lars Brandt ist diesen Weg gegangen.
Über Jahre hat er nicht mit seinem Vater ge­
sprochen.
»Vielleicht der Einzige von uns Geschwis­
tern, der so etwas wie Nachkommenschaft
eingegangen ist, ist Peter«, sagt Matthias
Brandt. Er begab sich auf das politische Feld,
für ihn als junger Mann eher eine Eisfläche.
Matthias Brandt erzählt, was sein Bruder
nicht erzählt hat: wie ein Teil der Presse in
den Sechziger- und Siebzigerjahren über Pe­
ter Brandt hergefallen ist, wie sie alles aus­
geschlachtet haben, was sich gegen den Vater
in Stellung bringen ließ. »Das war brutal«,
sagt Matthias Brandt.
»Wo tut er das hin?«, fragt er.
Und?
»Eine sehr private Frage«, sagt er. Keine
Antwort.
»Mein Bruder ist eine im besten Sinne alt­
modische Person«, sagt er dann, »er hat etwas
herrlich Ungefälliges.« Schöner kann man
Peter Brandt nicht beschreiben.
Matthias Brandt erzählt von einem Paradox:
»Wir sind eher eine Familie von Solitären,
demzufolge auch sehr verschieden, werden
aber meistens in den Zusammenhang der
­Familie gestellt.« Die Magie des Vaters hält
alle in Bann.
Hat ihm sein Bruder diesen Witz mit den
100 Euro erzählt? Ja, sagt Matthias Brandt.
Warum erzählt er einen solchen Witz? Achsel­
zucken. Sie sind vorsichtig miteinander in
dieser Familie.
Dann erzählt auch Matthias Brandt einen
Witz, einen norwegischen; die Söhne sind
halbe Norweger, da ihre Mutter aus diesem
Land stammt. Der Witz geht so: Endlich ist
die Pandemie vorbei, und man muss nicht
mehr 1,5 Meter Abstand halten. Man kann
endlich auf 4 Meter Abstand gehen, wie unter
Norwegern üblich. Guter Witz, gleichzeitig
die Miniatur eines Familienporträts.
Dass sein Bruder den Aufruf von Schwar­
zer und Wagenknecht unterschrieben hat,
findet er nicht richtig, aber er könne gut mit
ihm darüber streiten, sagt Matthias Brandt.
Seine Meinung: Die Ukraine wurde brutal
angegriffen, man müsse ihr unbedingt helfen.
Die Argumente von Peter Brandt: Die Frie­
denswünsche in der Bevölkerung müssten
»sichtbar« werden. Dass Rechtsextreme im
Boot sind, findet er hinnehmbar, man dürfe
sich von denen nicht erpressen lassen. Der
Krieg hat aus seiner Sicht einen »Doppelcha­
rakter«: ein »legitimer Verteidigungskrieg«
der Ukraine, eine Auseinandersetzung Russ­
lands mit der Nato und den USA.
Noch zwei Fragen an Peter Brandt, per
Mail. Erstens: Was sagt er zu der Demons­
tration, zu der Wagenknecht und Schwarzer
aufgerufen haben? Die Antwort: Er will
sich dazu nicht äußern. Zweitens: Warum
trägt er die Armbanduhr mit dem Ziffer­
blatt nach unten? »Ich habe das unbewusst
vom Vater übernommen, wohl schon in der
Kindheit.« n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 51

REPORTER
Privat
Seifenkiste, 1953
FAMILIENALBUM Claus-Henning Guthard, 79, aus Stuttgart
M eine fünfköpfige Familie hatte 1943 im
Bombenhagel Berlin verlassen und war
über Martinfeld in Thüringen, Marburg
und Heidelberg 1952 in Aachen gelandet. Aachen
war damals stark zerstört, wir spielten zwischen
den Trümmern. Das fand ich nicht schön. Trotz-
dem waren wir glücklicher als die Menschen heu-
te, glaube ich.
Ich war das jüngste von drei Geschwistern und
hatte bereits im Alter von neun Jahren eine große
Schwäche für Autos und natürlich auch für Renn-
wagen. Wenn damals ein Auto die Straße entlang-
fuhr, war das so aufregend für uns als Kinder, dass
wir sofort guckten, welches es war und wo es hin-
fuhr. Ich glaube, diese Faszination lässt sich heute
nur noch schwer erklären. Vielleicht ist das auch
in Ordnung so.
Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten Ameri-
kaner die Idee der Soap-Box-Derbys nach
Deutschland. Die Seifenkistenrennen fanden in
ganz Deutschland statt und waren äußerst be-
liebt. 1950 wurde die Meisterschaft in Stuttgart
vor 20 000 Zuschauern auf einer Straßenrenn-
strecke ausgetragen.
Danach beschlossen mein neun Jahre älterer
Bruder und ich eine Seifenkiste für das Derby
in Aachen zu bauen. Es gab von Opel genormte
52 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Radsätze und Bauanleitungen für das Fahrgestell.
So eines wollte ich mir unbedingt kaufen und
bearbeitete meine Eltern wochenlang. Beim Auf-
bau der Karosserie konnten wir unserer Fantasie
freien Lauf lassen. Ein Jahr lang bauten wir in
unserem Wohnzimmer, bogen Draht, klebten
Stoffbahnen aus alten Kleidern. Am Ende stri-
chen wir unser Auto blau an und malten die
Startnummer 53 darauf. Wir testeten es am Lous-
berg in Aachen.
Am Tag des Rennens war ich wahnsinnig auf-
geregt, und ich weiß noch, dass im Ziel meine
Bremse versagte und verschiedene Helfer meine
Kiste zum Stehen bringen mussten. Nach der
Siegerehrung, ich hatte einen mittleren Platz er-
reicht, war dann meine Seifenkiste weg. Sie war
geklaut worden.
Das war natürlich sehr bitter, und die Aache-
ner Tageszeitung berichtete über diese Gemein-
heit. Doch zum Trost hatten wir, mein Bruder und
ich, den Preis für die originellste Kiste bekommen:
ein nagelneues dunkelrotes Fahrrad! Was für ein
Gewinn in einer noch sehr bescheidenen Zeit.
Aufgezeichnet von Jonathan Stock
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Ihre Geschichte erzählen möchten?
Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de
THERAPIE
Woher bekommen
Sie die Drogen,
Frau Jungaberle?
SPIEGEL: Sie setzen in Ihrer Pra-
xis Ketamin bei der Behandlung
von Depressionen ein. Das ist
vielen eher als Notfallmedika-
ment oder Modedroge bekannt.
Mit welchem Ergebnis?
Jungaberle: Wir behandeln in
der Praxis im sogenannten
»Off-Lable-Use« legal mit Keta-
min. Nicht nur bei therapie-
resistenter Depression, sondern
auch bei Angst- und Zwangser-
krankungen oder Traumafolge-
störungen. Die Resultate sind
oft positiv – aber ganz klar kön-
nen wir auch nicht jedem dieser
schwer betroffenen Menschen
weiterhelfen.
SPIEGEL: Woher bekommen Sie
diese Mittel?
Jungaberle: Ketamin ist ganz
normal per Rezept über die
Apotheke zu beziehen. Das ist
nicht anders reguliert als zum
Beispiel Ibuprofen 600 mg. Es
ist auch kein Betäubungsmittel,
das man über spezielle Ver-
ordnungen beziehen müsste.
SPIEGEL: Gibt es Patienten, die
sich bei Ihnen melden, nur um
auf einen Drogentrip zu gehen?
Jungaberle: Wer nur einen Trip
machen will, ist bei uns falsch –
und das kommunizieren wir
immer ganz klar. Wir nehmen
nur Patienten und Patientinnen
an, die woanders schon erfolg-
los behandelt worden sind, und
bieten nur Therapiepakete an,
keine Einzelsitzungen. Das ist
für reine Sensationssucher un-
attraktiv.
SPIEGEL: Kritiker zweifeln lang-
fristige Therapieerfolge an.
Jungaberle: Die Kombination
aus Therapie und Ketamin
führt wohl in den meisten Fäl-
len zu tieferen und anhalten-
deren Veränderungen als nur
Ketamininfusionen. Aber
auch klassische Behandlungen
mit Antidepressiva haben
genau in der Nachhaltigkeit
ihren Schwachpunkt. Wenn die
Medikamente abgesetzt wer-
den, kommt es oft schnell zu
einem Wiederaufflackern der
Symptome. JST
Andrea Jungaberle, 41, ist
Ärztin und medizinische Leiterin
der OVID Praxis Berlin.

Kater auf Gleis 8
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Warum der Tod einer Hauskatze
ganz Frankreich beschäftigt – bis zum Innenminister
E Neko war ein
s war am frühen Abend des
2. Januar dieses Jahres. Georgia
Mylona und ihre Tochter Me-
laïna, damals 15, hatten Silvester bei
einer Freundin in Paris verbracht und
waren auf dem Rückweg in ihre Hei-
matstadt Bordeaux. Für Neko hatten
sie ein Haustierticket für sieben Euro
gekauft, wie immer hatten sie ihn in
seiner Transporttasche dabei.
Neko ist japanisch und heißt Katze.
Ihr Kater sei ein kleiner Globetrot-
ter gewesen, sagt Georgia Mylona am
Telefon. Kurz darauf schickt sie ein
Foto von Neko per SMS. Es zeigt ihn
auf einem Fensterbrett, im Hinter-
grund sieht man New York.
Wenn sie im Auto verreisten, er-
zählt die Französin, 57, habe er auf
der Rückbank immer wie eine Sphinx
gesessen und aus dem Fenster ge-
schaut, als würde er die Welt studie-
ren, so zumindest kam es ihr vor.
Am Bahnhof Montparnasse kauf-
ten sich Mutter und Tochter noch eine
Pizza. Melaïna fiel ein Stück auf den
Bahnsteig, ihre Mutter brachte es zu
einem Mülleimer, in diesem Moment
drückte sich Neko durch einen Spalt
seiner Tasche, der Reißverschluss hat-
te sich geöffnet.
»Er stoppte kurz, bekam wegen
der vielen Menschen und des Lärms
Panik und huschte dann unter den
Zug«, sagt Mylona in dem Telefonat.
Im Sommer 2018 wurde Neko in
einem Feld nahe der französischen
Atlantikküste gefunden, verlassen
von seiner Mutter. Georgia Mylona
zog ihn auf. »Ich hatte schon viele
Tiere zuvor, Hunde, Katzen, Fische,
Vögel. Aber keines dieser Tiere war
so unkompliziert wie Neko.«
Es war kurz vor der Abfahrt des
Zuges, Neko war unter Wagen 17. Das
Flehen und Betteln der Mylonas, die
Abfahrt etwas zu verzögern, damit
sie ihn retten könnten, scheiterte. Es
sei doch nur eine Katze, soll einer der
Bahnbediensteten gesagt haben. Der
jagt bestimmt Mäuse, ein anderer, sie
sollten endlich einsteigen, sonst wür-
den ihre Fahrscheine verfallen.
»Es war grauenhaft«, sagt Georgia
Privat
Mylona. »Wir sahen den TGV dann
anfahren. Neko rannte unter dem Zug
in Fahrtrichtung los, aber am Ende
hatte er keine Chance.« Der Schnell-
zug überrollte den Kater. »Er wurde
in zwei Stücke geteilt«, sagt Mylona.
Nekos Tod wurde auf Social Media
in Frankreich viel diskutiert, sogar
der Innenminister empörte sich: »Der
Vorfall im Bahnhof Montparnasse hat
mich ebenso schockiert wie viele
unserer Mitbürger«, sagte Gérald
Darmanin. Noch schockierender sei
aber »die Art und Weise, wie die
SNCF mit dieser schrecklichen An-
gelegenheit umgegangen ist«.
Darmanin hat selbst einen Kater,
er heißt Boris. Manchmal postet der
Politiker Fotos von ihm auf seinem
Twitter-Account.
Etwa jeder zweite Franzose hat
mindestens ein Haustier. Erst 2015
trat in Frankreich ein Gesetz in Kraft,
das Tiere als Wesen anerkennt, die
Gefühle haben und Schmerzen emp-
finden können. Zuvor gab es juristisch
betrachtet keinen Unterschied zwi-
schen einem Tier und einem Stuhl.
Französische Tierschutzorganisa-
tionen hatten für diese Gesetzesnovelle
gekämpft. Eine Organisation hat die
staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF
wegen Nekos Tod verklagt, aufgrund
»schwerer Misshandlung und Grau-
samkeit, die zum Tod eines Tieres ge-
führt hat«. 75 000 Euro Strafe stehen
darauf und bis zu fünf Jahre Haft.
Der Fall war öffentlich geworden,
nachdem Georgia Mylona darüber
auf Facebook berichtet hatte – aus
Wut und Verzweiflung, wie sie sagt.
Mehrfach habe sie auch der SNCF
geschrieben. Sie bekam Antworten
wie diese: »Ich entschuldige mich auf-
richtig für die Unannehmlichkeiten,
die Ihnen während Ihrer Reise ent-
standen sind. Dies ist nicht die Er-
fahrung, die wir unseren Kunden bie-
ten möchten.«
Inzwischen wurde eine Petition
in Frankreich gestartet, unterstützt
von den Mylonas. Ein Ziel: Die SNCF
Globetrotter, soll verbindliche Richtlinien fest-
er war legen, wie sie künftig mit solchen
sogar schon in Situationen umgehen wird. Mehr
als 75 000 Menschen haben unter-
New York. schrieben.
Denn so wie es scheint, hätte es
durchaus Optionen gegeben, Neko zu
retten. »Bei uns haben sich sogar
Bahnmitarbeiter gemeldet, die schon
Hunde, Katzen, Hasen und sogar
Stofftiere unter Zügen weggeholt ha-
ben wollen«, sagt Mylona.
An jenem Januartag wollten Hun-
derte Reisende wie die Mylonas mit
dem Zug um 18.10 Uhr nach Bor-
deaux fahren. Ist ein Zug in Frank-
reich mehr als 30 Minuten verspätet,
bekommt man ein Viertel des Ticket-
preises zurück. Wollte man die Er-
stattungen vermeiden?
Über Weihnachten wurde in Frank-
reich gestreikt, es kam zu vielen Ver-
spätungen und Zugausfällen. Bestand
man deshalb darauf, dass der Zug
pünktlich war?
Oder gab es wirklich keine Option
für das Bahnpersonal, Neko zu ret-
ten? Hätte der Zug nicht zumindest
sehr langsam anrollen können?
Der SPIEGEL hat die französische
Bahngesellschaft unter anderem
Kater Neko,
mit den letzten beiden Fragen kon-
Screenshot von der frontiert. Antworten darauf gab es
Website br.de nicht. Man bedauere den »traurigen
Zwischenfall«. Sicherheit habe nun
mal »oberste Priorität«, ein im Bahn-
hof geparkter Zug sei mit Strom ver-
sorgt, »die Gefahr eines Stromschla-
ges ist real.«
Georgia Mylona erinnert sich an
den Moment, wie sie vor ihrem toten
Kater stand. Und wie jemand von der
Bahn kam und sie fragte, ob er auf
die Gleise steigen solle, um Nekos
Überreste einzusammeln. Sie habe
nur den Kopf geschüttelt, sagt Mylo-
na. »Seinen zerfetzten Körper in
einem Plastiksack zu transportieren,
das war für mich unvorstellbar.«
Eine Stunde später seien sie dann
in den nächsten Zug nach Bordeaux
gestiegen.
Zu ihren Füßen: Nekos leere Ta-
sche.
Antje Windmann n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 53
REPORTER

1 | Franceil Cumberbatch in der

All Saints Anglican Church
2 | Judy Cumberbatch vor ihrem Haus
3 | Kizze und Kailey Cumberbatch
im Büro in St. Michael
4 | Ingrid Cumberbatch Thompson
im Nationalarchiv

1 2

3 4

54 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


Die Cumberbatchs
AUSBEUTUNG  Der Hollywoodschauspieler Benedict Cumberbatch ist unter anderem durch seine Rolle als
Sklavenhalter in »12 Years a Slave« bekannt. Seine eigenen Vorfahren waren Sklaventreiber
auf Barbados. Welches Erbe hinterließen sie auf der Insel, und was denken die Nachfahren ihrer Sklaven
über Schuld? Eine Spurensuche. Von Dialika Neufeld und Greg Kahn (Fotos)
W
enn es einen Ort gibt, der alles zu-
sammenbringt, den Hollywoodstar
und die Plantagenarbeiterin, die
Bloggerin und Dr. Strange, die Zukunft und
die Vergangenheit, dann ist es vermutlich die-
ses Haus.
Es liegt im Nordosten der Insel Barbados,
dort, wo es grüner und hügeliger wird, nicht
weit vom Mount Gay entfernt, wo sie den
Rum destillieren. Zwei steinerne Adler be-
wachen das elektronische Eisentor, und als es
sich öffnet, tritt ein Mann auf die verwitterte
Veranda. Barfüßig und den Oberkörper nackt,
lehnt er sich mit verschränkten Armen gegen
die jahrhundertealten Gemäuer jenes Hauses,
in dem früher die Sklavenhalter residierten.
Ihr Nachname: Cumberbatch. Genau wie der
weltberühmte Schauspieler. Und damit be-
ginnt diese Geschichte auch schon.
Schlagzeilen Ende Dezember 2022: »Bene-
dict Cumberbatchs Familie steht vor Sklaven-
Reparationszahlungen«, »Barbados schaut
auf Benedict Cumberbatch …«, »Der Familie
des Stars droht ein Entschädigungsverfahren«.
Es stand im »Telegraph« und in der »Bun-
ten«, Medien von Australien bis Indien be-
richteten, dass ausgerechnet der Schauspieler,
der im vielfach ausgezeichneten Hollywood-
film »12 Years a Slave« einen Sklavenhalter
spielte, nun Reparationen zahlen solle. Weil
seine eigenen Vorfahren Sklavenhalter waren.
Die Story war zu gut.
Barbados liegt im Atlantik, eine Insel von
der Größe Bremens. Touristen lieben die Ka-
talogfoto-Strände. Größter Star: Rihanna.
An diesem Samstag im Februar, einen Tag
vor ihrem Auftritt beim Super Bowl, weht von
Westen ein warmer Wind über die Cleland-
Plantage. Das alte Haus wirkt angegriffen von
den überdauerten Jahrhunderten, der Putz
blättert, aber man erahnt noch seinen hoch-
herrschaftlichen Glanz: Eine ausladende
Treppe führt hinauf. Drei mächtige Rundbö-
gen umrahmen die Veranda. Hier begann der
Aufstieg der britischen Familie Cumberbatch.
Im 17. Jahrhundert brachten die Briten nach
Schätzungen mehr als 180 000 afrikanische
Sklaven auf die Insel, für die Arbeit auf Zucker-
rohrplantagen. Die Sklavengesellschaft, die so
entstand, wurde »die systematisch gewalt­
tätigste, brutalste und rassistisch unmensch-
lichste Gesellschaft der Neuzeit«, so hat es der
Mar y Evans / IMAGO
Schauspieler Cumberbatch in
»Amazing Grace« 2006
Vorsitzende der Reparationskommission der
Karibischen Gemeinschaft beschrieben.
Abraham Cumberbatch aus dem britischen
Bristol, der Ururururururgroßvater von Bene-
dict, dem Schauspieler, kaufte das Anwesen
1728, als erste von mehreren Plantagen, und
ließ Zuckerrohr produzieren – von Männern,
Frauen und Kindern, die aus damaliger Sicht
nicht mehr als eine Ware waren.
Artefakte aus dem Barbados Museum in
Bridgetown:
1. Brandzeichen: »Beim Verkauf an einen
neuen Besitzer wurden die Sklaven mit dem
Zeichen ihres neuen Masters gebrandmarkt …«
2. Eisenkugel: »Form der Bestrafung, sie
wurde mit einer Kette … am Bein der Sklaven
befestigt.«
»Nein«, mit Journalisten spreche er nicht
mehr, sagt der heutige Besitzer auf der Ve-
randa, ein älterer weißer Barbadier, nicht mit
den Cumberbatchs verwandt. Die britische
Presse sei auch da gewesen, wegen des Schau-
spielers. »Das hier ist mein Zuhause«, sagt er,
und das Thema sei zu emotional. Außerdem
müsse er sich um seine Kühe kümmern.
Dann sagt er aber doch noch ein paar Din-
ge: Es treibe ihm die Tränen in die Augen,
REPORTER
wenn er daran denke, was hier auf dieser Plan-
tage alles geschehen sei. Sein Großvater habe
noch mit dem letzten Cumberbatch gearbeitet.
Die Ruine der alten Mühle, in der die Arbeiter
das Zuckerrohr verarbeiteten, steht noch. Ein
steinerner Turm, aus dessen Mauerritzen
Pflanzen wuchern. »Dort drüben«, sagt er,
»haben sie gelebt«, und zeigt auf einen Fle-
cken Grün gegenüber. Mit »sie« meint er die
Sklaven. Aber das liege in der Vergangenheit,
sagt er noch. Und dann schließt er die Tür.
Tut es das wirklich? Kann man abschließen
mit einem Kapitel, das so voller Gräuel ist?
Welches Erbe hat die Familie Cumberbatch
auf Barbados hinterlassen? Und was denken
die Nachfahren der Sklaven: Wie viele Ge-
nerationen überdauert Schuld?
Franceil – Die Facebook-Freundin
Am nächsten Tag steuert Dr. Frederick Al­leyne
seinen Geländewagen Richtung Norden, vor-
bei an früheren Zuckerrohrplantagen, die
jetzt Neubaugebiete werden. Alleyne ist His-
toriker und Ahnenforscher, 61 Jahre alt, ein
lockerer Typ in Chucks, der Kaugummi kaut
und Kaffee im Thermobecher bei sich trägt.
Zwischen Handbremse und Sitz klemmt
ein gelber Block, darauf hat er Stammbaum-
zweige gezeichnet, beginnend im frühen
18. Jahrhundert: »Abraham Carleton Cum-
berbatch – Lawrence Trent Cumberbatch –
Edward Carleton Cumberbatch …«
»Carlton« – das ist auch einer von Benedict
Cumberbatchs Mittelnamen.
Als Rechercheur, erzählt Alleyne, helfe er
beruflich Menschen, ihre Wurzeln zu finden.
Oder Institutionen, ihre Sklavereivergangen-
heit aufzuarbeiten. Regelmäßig verschwindet
er in Archiven, durchsucht Tauf-, Ehe- und
Sterberegister. »Langwierige Sache«, sagt er.
Wenn man sich also auf die Suche nach Men-
schen machen will, deren Vorfahren von den
Vorfahren des Schauspielers versklavt worden
sind, ist er der richtige Mann.
Es beginnt mit dem Namen: Cumberbatch.
Er ist das Offensichtlichste, was die Sklaven-
halter den Barbadiern hinterlassen haben:
Die Versklavten wurden ihrer afrikanischen
Namen beraubt und nur unter Vornamen ge-
listet – und nach ihrem Wert: »Bob 85 Pfund,
Betty 120, Peggy 130, James 150«. In einem
Inventar, in der ebenfalls von Cumberbatchs
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 55
REPORTER
geführten Plantage Ebworth, wird so der da­
zugehörige Besitz aufgelistet. Rund 200 Skla­
ven, 5 Pferde, 44 Schafe.
Nachdem die Briten die Sklaverei 1833 ge­
setzlich verboten hatten, wurde sie 1834 auch
auf Barbados abgeschafft, zumindest offiziell.
Danach folgten vier Jahre der sogenannten
Lehre, eine Übergangszeit, in der die Sklaven
weiterhin an die Plantagen gebunden waren
und für ihre früheren Besitzer arbeiten muss­
ten. Auch die Strafen blieben.
Erst 1838 erlangten sie ihre Freiheit und
damit zum ersten Mal die Möglichkeit,
ihr Leben selbst zu gestalten. Viele ließen
sich in dieser Zeit taufen, erzählt Alleyne,
weil sie der Kirche beitreten oder heiraten
wollten. Dazu brauchten sie einen Nach­
namen – und immer wieder bekamen oder
entschieden sich einige für den ihrer früheren
Besitzer.
Cumberbatch wurde einer der am wei­
testen verbreiteten Namen auf der Insel.
Das Telefonbuch ist voll von Cumberbatchs,
es gibt eine Wilkie Cumberbatch Primary
School, deren Direktorin selbst nicht genau
weiß, woher der Name stammt, sogar die
­Chefin des Nationalarchivs, in dem Alleyne
seine Recherchen macht, ist eine Cumber­
batch.
Alleyne rumpelt mit seinem Geländewagen
auf den Parkplatz der All Saints Anglican
Church, einer Kirchengemeinde, die es schon
gab, als die weißen Cumberbatchs noch auf
ihren Plantagen saßen. In dieser Gegend sei
die Cumberbatch-Dichte so hoch wie wohl
kaum sonst irgendwo auf der Insel.
Während die Lebenden noch in der Kirche
singen, steigt Alleyne über Gräber, das sei
Teil seines Jobs, und tatsächlich: auf mehreren
Steinen steht der gesuchte Name.
In der Kirche tragen die Messdiener das
Kreuz durch die Reihen. Und dann kommen
gleich vier Cumberbatchs im Sonntagsstaat
die Stufen runter: Die erste ist Franceil.
»Ja«, sagt sie, »wir sind viele.«
Ihre Urgroßeltern hätten auf der Cleland-
Plantage gearbeitet. Und deren Eltern werden
sehr wahrscheinlich noch Cumberbatch-
Eigentum gewesen sein. »Ich habe mich im­
mer gefragt, ob das wahr ist«, sagt Franceil
Cumberbatch, »dass die Plantagenbesitzer
uns diesen Namen gegeben haben.«
Franceil Cumberbatch ist 71, sie habe frü­
her als Elektromonteurin gearbeitet, erzählt
sie, aber die meisten in ihrer Verwandtschaft
hätten auf den ehemaligen Cumberbatch-
Plantagen gearbeitet und Zuckerrohr ge­
schnitten. Sogar ihr Bruder habe noch auf
Cleland gearbeitet. Ihre Mutter habe dort
schon als kleines Mädchen schuften müssen,
Wasser für die Arbeiter holen.
Franceil Cumberbatch hat sich besonders
angezogen für diesen Sonntag, eine Tunika mit
Afrika-Print, eine Kette mit bunten Perlen. Es
ist Black History Month. Der Pastor habe sie
ermutigt, sich so zu kleiden, sagt Cumberbatch,
»um unsere Vorfahren zu ehren«. Alle Heiligen­
bilder in der Kirche zeigen trotzdem nur Weiße.
56 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Cumberbatch-Schwestern in der Kirche
Auszug aus dem »Act for the Governing of
Negroes« von 1688: »Sklaven … sind von
barbarischer, wilder und brutaler Natur … und
damit ungeeignet, durch die Gesetze, Bräuche
und Praktiken unserer Nationen regiert zu
werden …«
»Benedict?«, fragt Franceil Cumberbatch,
»Ja, dem folge ich auf Facebook.« Und sie
sagt es so, als sei sie ein Fan. Sie habe seinen
Film gesehen damals: »12 Years a Slave«.
Aber da wusste sie noch nicht, dass seine Vor­
fahren die Cleland-Plantage besessen haben.
Und vermutlich ihre eigenen Verwandten.
Cumberbatch hat sich schon ein paarmal
zur Geschichte seiner Familie geäußert, auch
bezüglich seiner Filme »12 Years a Slave« und
»Amazing Grace«, in dem er einen britischen
Premierminister spielt, der Ende des 18. Jahr­
hunderts für ein Gesetz zum Verbot des Skla­
venhandels kämpfte. Die Rolle sei eine »Art
von Entschuldigung«. Seine Vorfahren seien
»ziemlich zwielichtig« gewesen, soll er in
einem Interview gesagt haben. Und auch:
»Man muss nicht weit zurückblicken, um die
Sklavenhaltervergangenheit zu sehen. Wir
waren Teil der ganzen Zuckerindustrie, was
ein ziemlicher Schocker ist.«
Als er Schauspieler wurde, habe seine Mut­
ter ihm abgeraten, seinen echten Namen zu
nutzen, aus Angst vor Reparationsforderun­
gen. »Sie werden hinter dir her sein, wegen
des Geldes«, das habe sie immer gesagt.
Das Gerücht ist auch bis in die Kirche von
St. Peter vorgedrungen. Ja, sie habe das ge­
lesen mit den Entschädigungszahlungen. Ob
das wirklich stimme? Sie glaube eigentlich
nicht, dass der Schauspieler ihr persönlich
etwas schulde, sagt Franceil Cumberbatch.
Die Generation, die die Verantwortung trage,
sei weg. Und außerdem: »Wie könnte man
jemals solchen Horror kompensieren?«
»Ich bin eine
Cumberbatch, und ich
bin eine freie Frau.«
Judy Cumberbatch
Abraham – Der Sklaventreiber
»Das majestätische jakobinische Haupthaus
ist eines von nur drei seiner Art in der west­
lichen Hemisphäre. Umgeben von wunder­
schönen tropischen Gärten, bietet es einen
zauberhaften Hintergrund für Ihre Traum­
hochzeit«, so steht es auf der Website der
St. Nicholas Abbey: Hochzeitslocation, Rum­
destillerie und eine der bekanntesten Touris­
tenattraktionen auf der Insel.
Dr. Frederick Alleyne, der Ahnenforscher,
will nicht mit reinkommen. Er will lieber auf
dem Parkplatz warten, sagt er. Er habe da
alles gesehen. »Bei St. Nicholas gibt es etwas,
was mich tief verstört«, sagt er: »Sie erzählen
so gut wie nichts über die Geschichte der
Schwarzen, die auf dieser Plantage leben
mussten.« Er vermute, die Betreiber fürchte­
ten, es könnte die Touristen stören.
St. Nicholas Abbey wurde um 1810 von
den Brüdern Edward und Lawrence Trent
Cumberbatch gekauft, 160 Hektar Land, dazu
gehörten rund 300 Sklaven.
Die »Heritage-Railway«, eine kleine
Dampflokomotive, »die neueste Familienat­
traktion«, tutet im Hintergrund, als im Haupt­
haus eine Führung beginnt.
Die Touristen schieben sich mit ihren
Rucksäcken durch die Räume des Hauses, die
eingerichtet sind, als könnte jeden Moment
ein Cumberbatch des frühen 19. Jahrhunderts
um die Ecke kommen. Man ahnt, was für ein
Leben die Herrschaften hier führten, während
draußen geschuftet und gestorben wurde: mu­
schelbesetzte Kronleuchter, feinstes Porzellan,
sieben Schlafzimmer, eine lange Tafel.
An der Wand im Flur hängt auch eine
Zeichnung von Cleland von 1817, der ersten
Plantage der Cumberbatchs. Die Frau, die die
Führung macht, erzählt nun, wie ab 1920
das elektrische Licht einzog, und knipst die
Schalter an und aus. Sie stellt ein paar aus­
gestopfte Vogelarten vor. Dann sagt sie: »Die­
se Plantage hatte 300 Sklaven. Sie lebten am
Rande der Plantage. Sklaverei wurde 1834
abgeschafft. Dann wurden sie alle bezahlt …«
Es sei eine »bunte« Historie, sagt sie, man
müsse verstehen, woher man komme, um zu
wissen, wo man hingehe. »So«, sagt sie dann,
und es klingt, als wollte sie schnell weiter.
»Und das hier ist mein Lieblingsraum – das
Büro.«
Hier hängt Abraham Cumberbatch, Vorfahr
des Schauspielers Benedict, in einem großen
Rahmen an der Wand. Die Touristen bleiben
vor dem Porträt des früheren Sklavenhalters
stehen. Er blickt ihnen direkt ins Gesicht.
Auszug aus dem »Act for the Governing of
Negroes« von 1688: »Wenn ein … Sklave
gegenüber einem Christen Gewalt zeigt, … soll
er stark ausgepeitscht werden … Bei einer
zweiten vergleichbaren Tat soll er stark aus-
gepeitscht werden, seine Nase aufgeschlitzt,
und er soll in Teilen seines Gesichts mit einem
heißen Eisen verbrannt werden …«
»Sehen sie sich nicht ähnlich?«, fragt Simon
Warren, der Betreiber von St. Nicholas Abbey.
»Er sieht genau aus wie Benedict, finde ich.«

Und tatsächlich, bei genauerem Hin-
sehen ist da eine merkwürdige Ähn-
lichkeit, der Mund, die Augen. Immer
wieder würden die Gäste ihn auch
nach dem Schauspieler fragen, sagt er.
Nachdem die Nachricht in der
Welt war, dass Barbados Reparatio-
nen von Cumberbatch fordere, ver-
breitete sie sich schnell. Da fiel kaum
mehr ins Gewicht, dass sich ein paar
Tage nach der ersten Meldung im
»Telegraph« ein Vorsitzender der Re-
parationskommission auf »Barbados
Today« meldete: Er sei im Interview
von der britischen Presse falsch zitiert
worden. Die 15 Mitglieder der Kari-
bischen Gemeinschaft haben schon
2014 ihre Reparationsansprüche
gegen mehrere ehemalige europäi-
sche Kolonialmächte vorgebracht,
aber zum jetzigen Zeitpunkt, heißt
es, gegen keine europäische Familie.
Einige Medien griffen das auf und
korrigierten, die meisten aber beka-
men das Ganze wohl gar nicht mit.
Judy – Die Königin der Ernte
Alleyne fährt die Hügel hinauf zum
French Village, einem kleinen Dorf
oberhalb von Cleland. Er parkt vor
einem unverputzten Haus mit einem
Briefkasten ohne Namen, ein Rohbau
mit einem Wellblechdach. Hier
wohnt Judy Cumberbatch.
Sie bittet in ihr Wohnzimmer, in
dem dicke Polstermöbel stehen, eine
freundliche, zurückhaltende Frau in
einem pinkfarbenen Kleid. Hinterm
Sofa steht ein Regal voller Trophäen:
Als Arbeiterin auf verschiedenen Zu-
ckerrohrplantagen hat Judy Cumber-
batch nationale Ernterekorde gebro-
chen, jahrelang war sie die »Königin
der Ernte«.
Sie zieht eine der Trophäen aus
dem Regal, eine schwere Holzskulp-
tur mit graviertem Messingplättchen:
»2003: 370,12 Tonnen«, so viel hat
sie in dem Jahr geerntet.
Im Film »12 Years a Slave« gibt es
diese Szene, die man angesichts der
Trophäen wieder vor Augen hat: Die
Sklaven müssen sich nach der Arbeit
in einer Reihe aufstellen, und ihre
Baumwollernte wird gewogen. Wer
zu wenig hat, wird ausgepeitscht.
Judy Cumberbatch hat den Film
nicht gesehen, und über das Leiden
ihrer Vorfahren wisse sie eigentlich
auch nicht viel: Während die Weißen
alles dokumentierten, blieb den Skla-
ven oft nur die mündliche Überliefe-
rung. Zum Grübeln hatte sie aber
ohnehin wenig Zeit. Sie war allein-
erziehend, mit drei Kindern.
Judy Cumberbatch wuchs bei
ihren Großeltern auf, auf der Cleland-
Plantage, erzählt sie. Schon als klei-
REPORTER
nes Mädchen half sie ihren Groß- Sie ging zur Schule, aber nicht lang,
eltern im Zuckerrohr. Ihre Mutter sei erzählt Cumberbatch, und von dort
als Gastarbeiterin nach Großbritan- führte der Weg direkt zurück auf die
nien gegangen, als sie fünf war. Und Felder. Sie erzählt von der stechenden
sie blieb zurück auf der Plantage. Sonne, von den Halmen, die einem
Das Ende der Sklaverei bedeutete die Haut aufschneiden, davon, wie
nicht automatisch auch das Ende der sie noch hochschwanger auf Cleland
Sklavenarbeit. Die Befreiten arbeite- das Gras zwischen den Zuckerrohr-
ten teilweise über Generationen auf reihen schnitt und nie genug Geld zu-
1 | Ehemalige
Cumberbatch-­
denselben Feldern weiter, für einen sammenbekam.
Plantage Cleland Hungerlohn. Sie besaßen nichts, kein Aber sie sagt auch: »Ich mochte
2 | Besucher in Land, kein Geld, keine Bildung und die Arbeit.«
St. Nicholas Abbey vor keine politische Macht. Und so schuf- Das Haus, in dem sie lebt, zusam-
Cumberbatch-Porträt
3 | Sklavenarbeit auf
teten viele weiter in die Taschen der men mit Kindern und Enkeln, ist seit
der Zuckerrohr­ Großgrundbesitzer, als wären die Ket- 30 Jahren eine Baustelle. Die Wände
plantage (Zeichnung) ten noch immer da. sind nackt, Träger ragen aus den
Mauern, am Eingang steht ein unver-
bauter Stapel Fliesen. Dennoch ist
dieses Haus ihr Stolz. Sie hat es ge-
schafft, das Stückchen Land abzuzah-
len, sie hat einen Garten angelegt, mit
Palmen, Papayas, Kürbissen. Und
einer Reihe Zuckerrohr.
»Ich bin eine Cumberbatch«, sagt
sie, »und ich bin eine freie Frau.«
Zeigt man ihr ein Foto des Schau-
spielers, erzählt sie, dass sie eine Ur-
urgroßmutter mit heller Haut gehabt
habe, auch eine Cumberbatch.
Frederick Alleyne sagt, dass es das
immer wieder gegeben habe: Die
Plantagenbesitzer machten Sklavin-
1 nen zu ihren Geliebten oder verge-
waltigten sie. Judy Cumberbatch
schaut noch einmal auf das Foto.
Dann sagt sie: »Der sieht aus wie
mein Enkel.«
Auf der einen Seite also Judy Cum-
berbatch, die 30 Jahre lang an ihrem
Haus baute und noch immer nicht
fertig ist, und auf der anderen Seite
Benedict Cumberbatch. Er soll sich
gerade eine historische Villa für
acht Millionen Pfund gekauft haben,
das stand Mitte Januar in der Presse.
Sie liegt im englischen Somerset auf
dem Land, 143 Hektar, mit Biofarm,
Bibliothek und Weinkeller.
Wo ist da die Gerechtigkeit?
2 Darüber kann man im Barbados
Museum in Bridgetown gut mit ­Pedro
Welch sprechen, emeritierter Profes-
sor und einer der angesehensten His-
toriker im Land. Welch war jahrelang
Vorsitzender der nationalen Task-
force für Reparationen.
Auch er stammt von Sklaven ab.
Er habe fünf Generationen zurück-
verfolgt, erzählt er. Einmal sei er nach
Liverpool gereist, wo er das Modell
eines Sklavenschiffs besichtigte. Es
habe ihn emotional umgehauen. »Ich
habe mich selbst darin liegen sehen«,
angekettet neben seinen Vorfahren.
Die Reparations-Taskforce nahm
2013 ihre Arbeit auf, erzählt er nun.
3 Auf Basis historischer Recherchen
entwickelte sie einen Zehnpunkte-
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 57
REPORTER
plan. Sie fordert von mehreren europäischen
Regierungen eine vollständige »formelle Ent­
schuldigung«, »psychologische Rehabilita­
tion«, »Aufhebung von Schulden« und ver­
schiedene Entwicklungsprogramme.
»›Kommt drüber hinweg‹«, sagt Welch,
»das hören wir immer wieder.« Zum Kampf
um Reparationen und Gerechtigkeit gehöre
es auch, dass die Weißen überhaupt erst mal
verstehen und anerkennen, was ihre Vor­
fahren angerichtet haben. Dass insgesamt
12,5 Millionen Menschen verschleppt, gequält
und getötet worden sind. Dass Sklaverei und
Kolonialismus zu den Fundamenten gehören,
auf denen der heutige Wohlstand des Westens
fußt – und die Benachteiligung vieler afrika­
nischer und karibischer Staaten.
Als die Sklaven befreit wurden, erzählt
Welch, zahlte die britische Regierung zyni­
scherweise auch noch 20 Millionen Pfund an
die Plantagenbesitzer, heute mehr als zwei
Milliarden Euro, als Kompensation für den
Verlust ihres Besitzes. »Aber nicht ein Sklave
bekam eine Kompensation«, sagt er.
Die Cumberbatchs kehrten zurück nach
Großbritannien, in ein Leben voller Privile­
gien. Als Entschädigung dafür, dass sie keine
Sklaven mehr halten durften wie Tiere, be­
kamen sie mehr als 6500 Pfund von der bri­
tischen Regierung, das entspräche heute einer
Summe von mehr als 700 000 Euro. Ihre
Nachkommen wurden Geschäftsmänner, Di­
plomaten. Und Schauspieler.
Benedict Cumberbatch hat gesagt, der
Reichtum seiner Vorfahren sei schon ausgege­
ben gewesen, als er ein Kind war. Es nerve ihn,
dass die Leute dächten, er sei »posh«. Dabei
sei er in der »oberen Mittelschicht« aufgewach­
sen. Und dennoch: Er ging auf ein College, das
heute rund 53 000 Euro im Jahr kostet, hatte
von Geburt an Privilegien, die für Judy Cum­
berbatch wie ausgedacht klingen müssen.
Sollten diese Familien zahlen?
»Well«, sagt Pedro Welch, »wenn diese
Familien ihren Reichtum über die Generatio­
nen erhalten haben. Und wenn dieser Reich­
tum auf den Besitz der Plantagen zurückzu­
führen ist, dann würde ich sagen: definitiv ja.
Sie stahlen uns, sie versklavten uns, sie schul­
den uns etwas.«
Die Cumberbatch-Story fiel vermutlich
auch deshalb auf so fruchtbaren Boden, weil
kurz zuvor bereits ein anderer Fall Schlag­
zeilen gemacht hatte: Richard Drax, ein
­bekannter konservativer Abgeordneter und
Multimillionär, stammt ebenfalls von Sklaven­
treibern ab, verdankt ihnen unfassbare
­Besitztümer und soll angeblich Reparationen
zahlen müssen, so hieß es.
Der Unterschied: Die Drax sind viel früher
ins Geschäft eingestiegen als die Cumberbatchs.
Sie galten als Pioniere im Handel mit Sklaven
und deren Ausbeutung für die Zuckerindustrie.
Auf den Drax-Plantagen in der Karibik sollen
Schätzungen eines Historikers zufolge über die
Jahrhunderte bis zu 30 000 Menschen ausge­
beutet worden sein. Viele kamen ums Leben.
Ein Grab unter Zuckerrohrhalmen.
58 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
»Sie stahlen uns,
sie versklavten uns,
sie schulden uns etwas.«
Pedro Welch
Was es für viele in Barbados so unerträg­
lich macht: Die Drax besitzen die Plantage
noch immer. Und sie verdienen weiter daran.
Man kann dort hinfahren. Entlang von
Feldwegen, umsäumt von hohem, rauschen­
dem Zuckerrohr, gelangt man an die Einfahrt
zum Anwesen Drax Hall. Die Auffahrt ist
abgesperrt mit einer Tonne: »Privatgelände –
Zutritt verboten« steht groß darauf. Viele
Barbadier wollen, dass die Drax zahlen und
die Plantage der Öffentlichkeit zugänglich
machen, als Museum und Gedenkstätte. Es
heißt, der Fall liege bei Premierministerin
Mia Mottley.
Kizze – Die Bloggerin
Es ist Montagabend. Kizze Cumberbatch
macht Feierabend in ihrem Büro im Ministe­
rium für Jugend, Sport und Communitystär­
kung, wo sie mit Jugendlichen daran arbeitet,
Perspektiven zu finden. Nebenbei ist sie Blog­
gerin und Buchautorin. Ihre Tochter Kailey,
zehn, wartet geduldig und Kaubonbon kau­
end in ihrer grünen Schuluniform darauf, dass
sie nach Hause fahren.
Aber erst will Kizze Cumberbatch noch
erzählen, wie es war, als sie zum ersten Mal
verstand, welches »Geschenk« die Sklaverei
ihr und ihrer Tochter hinterlassen hat.
Kizze Cumberbatch ist 42 Jahre alt, eine
Frau mit einem ansteckenden Lachen. Schon
als kleines Mädchen sei ihr klar geworden,
dass etwas mit ihrem Nachnamen nicht stim­
me, erzählt sie. Sie habe gefragt: »Wenn mei­
ne Vorfahren aus Afrika stammen, warum
heiße ich dann Cumberbatch?«
Vor ein paar Jahren, erzählt sie, kam Kai­
ley immer häufiger aus der Schule mit Sätzen
wie: »Mama, ich bin so hässlich, wegen mei­
ner dunklen Haut.« Immer wieder hätten sie
Ahnenforscher Alleyne
die Kinder in der Schule deswegen geärgert.
Nicht weiße Kinder, sondern schwarze – de­
ren Haut heller als die von Kailey war.
Auf Barbados sei es so, sagt Cumberbatch:
Wenn man schwarz sei, aber einen helleren
Hautton habe, sei alles gut. Aber wenn man
richtig dunkel sei, dann gehe es los mit dem
Mobbing, dem Abwerten, dann greife jenes
rassistisch geprägte Denkmuster, das man
»Colorism« nennt. Ihr wurde klar: »Das ist
ein Überbleibsel der Sklaverei.« Die Weißen
hätten die Macht gehabt, hellere Sklaven durf­
ten im Haus arbeiten, die dunkleren schufte­
ten auf den Feldern.
Mit das Schlimmste aber für sie war, als ihr
klar wurde, dass diese Voreingenommenheit
nicht nur aus der Schule kam. Es kam auch
aus der eigenen Familie: »Du bist so hübsch
für ein dunkles Mädchen«, habe ihre Mutter
zu Kailey gesagt. »Würde man das je zu einem
weißen Mädchen sagen«, fragt Kizze Cum­
berbatch: »Hübsch für ein helles Mädchen?«
Es gibt den Begriff Posttraumatisches Skla­
ven-Syndrom, der die psychologischen Folgen
der Sklaverei beschreibt. Da seien so viele
Traumata, die von Generation zu Generation
weitergegeben wurden, sagt Cumberbatch, um
schließlich hier, heute, bei Kailey anzukom­
men. Was macht das mit jungen Menschen,
wenn sie von Anfang an lernen, dass sie min­
derwertig seien?
Cumberbatch begann, zu dem Thema zu
recherchieren, zu bloggen, aufzuklären. Es
war ungefähr zu der Zeit, als die Black-Lives-
Matter-Bewegung immer größer wurde.
Inzwischen macht ihre Tochter einen selbst­
bewussten Eindruck. Kailey sagt: »Ich möch­
te später Schauspielerin werden.«
Und Benedict? Kizze Cumberbatch zieht
die Schultern hoch. Sie sagt: »Ich glaube, er
versucht mit diesen Filmen etwas wiedergut­
zumachen. Nur: Ich sehe die Wiedergutma­
chung darin nicht.«
Ende Dezember entschuldigte sich der nie­
derländische Premier Rutte für die Rolle sei­
nes Landes im transatlantischen Sklavenhan­
del. Am Montag entschuldigte sich auf Gre­
nada erstmals eine adlige britische Familie
öffentlich für die Versklavung von mehr als
1000 Afrikanern. Sie versprach 100 000
Pfund Reparationen. Das Geld soll einer lo­
kalen Universität gespendet werden. Es ist
ein Anfang.
Benedict – Der Schauspieler
Man kann sich das gut vorstellen: Ein großer
Hollywoodstar besucht Barbados. Er besich­
tigt die Cleland-Plantage, St. Nicholas Abbey,
den Sklavenfriedhof, vielleicht auch Judy
oder Kizze Cumberbatch. Und dann, im Bei­
sein der Premierministerin, entschuldigt er
sich für die Taten seiner Vorfahren. Einen Teil
seiner Millionen spendet er an Bildungsein­
richtungen und Entwicklungsprojekte. Viel­
leicht profitiert davon sogar Kailey.
Was er davon hält?
Auf eine Interviewanfrage hat Benedict
Cumberbatch leider nicht geantwortet.  n
 REPORTER

komisch davon erzählt, wie sie auf

einem Supermarktparkplatz mit
ihrem sehr langsam fahrenden Honda
Civic eine Frau angefahren hat. Sie
klopft langsam aufs Mikrofon, um das

Deutschland, ein Witz

Geräusch des Aufpralls zu imitieren.
Es ist kaum zu hören: plopp.
Maya, halb Polin, halb Amerika-
nerin, kommt mit der Energie eines
angetrunkenen Cowgirls auf die Büh-
ORTSTERMIN  Bei einem Comedyabend in einem Berliner Kellerklub zeigen ne. »Ich bin eine große Unterstützerin
Polinnen, Lettinnen und Iraner, dass sie mehr Humor haben als Deutsche. von Transmenschen, wechselt eure
Geschlechter, macht, was ihr wollt.«
Pause. »ABER: Wenn ihr von einem

B
erlin, die verspottete Haupt- Geschlecht zum anderen wechselt,
stadt, die gerade zu einer neu- wählt doch verdammt noch mal einen
en Regierung stolpert, ist um- guten Namen!« Maya erzählt von
schlungen von einem S-Bahn-Ring, einem Freund, der früher Anna hieß
der das Innere vom Äußeren trennt. und sich nach der Geschlechtsan­
Noch gerade so im Inneren der Stadt, gleichung Hubert nennt.
kurz vor der Haltestelle Schönhauser Maya fühlt sich in Supermärkten
Allee, im grünen Kernland des Prenz- beobachtet von Deutschen, die ganz
lauer Berg, liegt in einer Sackgasse viel Gemüse kaufen. Neuerdings
eine Bar, die Kohlenquelle heißt. Die- kauft sie auch viel Gemüse und legt
se Bar hat einen dunklen Keller. Und an der Kasse den Warentrenner ver-
in diesem dunklen Keller treffen sich ächtlich zwischen ihre Sachen und die
an einem Montagabend im Februar Einkäufe des Typen, der sich Tief-
ein paar Ausländer, um einer verdäch- kühlpizza holt. Ihre Einkäufe seien
Felix Dachsel / DER SPIEGEL

tigen Tätigkeit nachzugehen: Sie ste-
hen auf einer Bühne und sind lustig.
Es ist mal wieder Expat-Comedy,
eine wiederkehrende Veranstaltung
in Berlin, bei der sich Einwanderer
einen Reim auf Deutschland und die
Deutschen machen. Comedy auf Eng-
lisch. Hier kann man sich also mit Erst kommt Kourosh auf die Büh- Moderator Chris
Notizblock ins Publikum setzen und ne, er trägt einen schwarzen Hoodie bei der Expat-­
Comedy in Berlin
etwas lernen über die Außensicht auf der Humboldt-Uni. »Mein Name ist
dieses Land, das von Krise zu Krise Kourosh, und ich komme aus Iran«,
geht und dabei sehr ernst geworden sagt er. Er lässt diesen Satz stehen,
ist. Das Lustigste an uns ist aktuell, einfach mal warten. »Wir produzieren
dass wir in unserer Hauptstadt ein viel in Iran, am meisten produzieren
zweites Mal wählen mussten, weil wir die amerikanische Flagge.«
es beim ersten Mal nicht genügend Danach sagt Kourosh: »Ich werde
Wahlzettel gab. In Deutschland pro- nicht gern als Pädophiler gesehen.«
duziert die Verwaltung die Pointen. Er hebt die Stimme am Ende des
Es ist in diesem Land normalerweise ­Satzes. Man wartet und hofft, dass
riskant, einen Kleinkunstabend zu be- der Satz irgendwie weitergeht, aber
suchen. Auf deutschen Comedybüh­nen er lässt ihn erst mal dort oben hängen.
erzählen Studentinnen in Reimform von In Iran könne man Menschen für
ihrem Alltag in Paderborn und ihrer ihre Kinder Komplimente machen.
Panik vor der neoliberalen Arbeitswelt. In Deutschland eher nicht. Neulich
Oder es erklären einem pensionierte habe er einen Freund im Park getrof-
Lehrer die Grundlagen der Weltpolitik. fen, der hatte seine kleine Tochter
Okay, denkt man, Kleinstkunst eben, dabei. Deine Tochter ist sehr hübsch,
und schaltet den Fernseher ein. Da habe er gesagt. Und sein deutscher
schreit einen der ergraute Jan Böhmer- Freund, dem es offensichtlich unan-
mann an, der mal wieder recht hat. genehm war, antwortete: »Sie ist in Das Lustigste
Also sehen wir, was die Iraner, Let-
tinnen, Inder, Polinnen können, die
Ordnung.«
Ja, diese Parkszene mit einem
an uns ist
in diesem Keller auf die Bühne gehen. ­verkrampften Deutschen kann man aktuell, dass
Sie werden anmoderiert von einem sich sehr gut vorstellen. Es ist der wir in unserer
aufgedrehten Deutschen namens Stoff, aus dem die Erfolgsserie »Jerks«
Chris, lange Haare, Kinnbart, dem von Christian Ulmen gemacht ist, die Hauptstadt
Gastgeber, der so gut Englisch spricht man schauen sollte, wenn man genug ein zweites
und unterhaltsam ist, dass er auch ein hat vom deutschen Humor.
amerikanischer Chris sein könnte in Die Nächste auf der Bühne ist Mal wählen
einem Comedyklub in Manhattan. ­Luize aus Lettland, die monoton und mussten.
neuerdings so divers wie der Cast
einer Netflix-Show. Sie ist auf die Sei-
te der Bio-Deutschen gewechselt.
An diesem Abend wird das Bild
eines verspannten Landes gezeichnet,
in dem man Flirten mit Anstarren ver-
wechselt und die Einkäufe der ande-
ren überwacht. Oje, ahnt man, so sind
wir wirklich.
In der Pause kann man oben in der
Bar im Satiremagazin »Titanic« blät-
tern. Im Zeitschriftenständer steckt
eine Ausgabe aus der nicht allzu fer-
nen Zeit, als die Redaktion noch Wit-
ze über die Grünen machte. Juli 2019,
ein lachender Robert Habeck auf dem
Titel. Zeile: »Habeck legt sich fest:
Ich bumse auch im Kanzleramt.«
Unten im Keller geht es schon wie-
der los. Ein Inder erzählt davon, wie
er betrunken auf Amazon Rezensio-
nen schreibt. Neulich habe er ein
Buch bewertet: unlogisch, schwierige
Hauptfigur. Da habe sich der Kunden-
service gemeldet: So etwas können
Sie über den Koran nicht sagen!
Das tastende, noch zivilisierte
Hoho im Publikum geht über in anar­
chisches Lachen, das durch den Keller
schallt und durch die Bar hinausdringt
in die Berliner Nacht.
Hey, ihr Iraner, Lettinnen, Inder,
Polinnen, habt ihr nicht verstanden,
was Humor in diesem Land bedeutet?
Warum belehrt ihr nicht, warum lang-
weilt ihr nicht, warum erklärt ihr
nicht kompliziert Zusammenhänge?
Eure Integration ist gescheitert,
darüber wird zu reden sein.
Felix Dachsel  n

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 59

WIRTSCHAFT
Ölarbeiter im Golf von Mexiko
Greenwashing-Vorwürfe gegen DWS
FINANZEN Der Vermögensverwalter soll 2022 seine »grünen« Fonds mit Aktien fossiler Unternehmen
vollgepumpt haben. Die Tochter der Deutschen Bank steht seit Jahren im Verdacht der Schönfärberei.
D er in einen Greenwashing-Skandal
verstrickte Vermögensverwalter
DWS hat nach Angaben des Vereins
Bürgerbewegung Finanzwende 2022 für
852 Millionen Dollar Aktien klimaschädli-
cher Konzerne gekauft – und zwar ausge-
rechnet für seinen Ökofonds. Damit sei die
Deutsche-Bank-Tochter Fonds-Spitzenreite-
rin bei Zukäufen fossiler Aktien gewesen.
Am stärksten zugekauft habe sie Aktien des
kanadischen Pipelinebetreibers Enbridge
sowie des britisch-niederländischen Shell-
Konzerns. Aktien von Firmen aus dem
Bereich erneuerbare Energien seien netto
dagegen sogar für fast zehn Millionen
­Dollar verkauft worden. Pikant ist, dass Fi-
nanzwende Artikel-8- und Artikel-9-Fonds
untersucht hat; sie versprechen, ökologi-
60 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
sche und soziale Aspekte verstärkt bezie-
hungsweise in besonderem Maße zu be-
rücksichtigen. »Die Daten zeigen, dass die
DWS beim Greenwashing ganz vorn dabei
ist. Grüne Fonds müssen fossile Investitio-
nen ausschließen«, sagt Finanzwende-Re­
ferentin Magdalena Senn. Die DWS,
Deutschlands zweitgrößte Fondsgesell-
schaft, steht ohnehin wegen schwerer Vor-
würfe ihrer Ex-Nachhaltigkeitschefin Desi-
ree Fixler in der Kritik. Fixler war 2021
nach kurzer Amtszeit gefeuert worden und
wirft der DWS vor, sich weitaus »grüner«
zu präsentieren, als es der Anlagepolitik
entspreche. Im Zuge der Affäre musste
DWS-Chef Asoka Wöhrmann Mitte 2022
gehen. Die amerikanische Börsenaufsicht
SEC, das US-Justizministerium und die
William Widmer / Redux / laif
deutsche Bafin ermitteln; die DWS betont,
mit den Behörden umfassend zusammenzu-
arbeiten. Viel geändert hat sich indes nicht.
So enthielten die »grünen« DWS-Fonds
laut Finanzwende zum Jahresende 2022
fossile Aktien im Wert von mehr als fünf
Milliarden Dollar; das entspräche 5,7 Pro-
zent des Gesamtportfolios nach 3,2 Prozent
Ende 2021. Aktien aus dem Sektor Erneuer-
bare schlügen dagegen mit 194 Millionen
Dollar oder gerade einmal 0,2 Prozent zu
Buche. Die DWS argumentiert, der »sofor-
tige Ausstieg oder umgehende Desinvesti-
tion« sei nicht »zielführend«. Sollten fossile
Geschäfte von nicht börsennotierten Unter-
nehmen übernommen werden, könnten
­Investoren oder NGOs sie weder kontrollie-
ren noch Einfluss nehmen. BAZ
Kostenschock für
Pflegebedürftige
GESUNDHEIT  Die Eigenanteile
für Bewohner in Pflegeheimen
sind durch die Tariftreuerege-
lung und die Teuerungen bei
Energie und Betriebskosten
drastisch gestiegen. Im Durch-
schnitt lagen die pflegebeding-
ten Eigenanteile sowie die Zah-
lungen für Unterkunft, Verpfle-
gung und Ausbildung etwa in
Sachsen im Januar um 509 Euro
höher als noch im Oktober
2021. In der Spitze belief sich
der Anstieg bundesweit sogar
auf bis zu 1911 Euro im Monat.
Das zeigen durch die Beratungs-
gesellschaft NAI Apollo Health-
care ausgewertete Daten des
AOK-Pflegenavigators. »Insbe-
sondere in den neuen Bundes-
ländern sind die Preisanstiege
massiv und führen zu großen
Problemen für Pflegeheime,
Pflegebedürftige und ihre Ange-
hörigen«, sagt Managing Part-
ner Sebastian Deppe. Auch in
den westdeutschen Bundeslän-
dern Schleswig-Holstein und
Niedersachsen erhöhte sich die
Eigenbeteiligung mit 418 und
406 Euro im Schnitt stark. Seit
EY erleidet Schlappe
in Wirecard-Streit
SKANDALE  Die Wirtschaftsprü-
fungsgesellschaft EY hat in den
juristischen Auseinandersetzun-
gen rund um den Wirecard-
Skandal eine empfindliche Nie-
derlage erlitten. Das Oberlan-
desgericht Stuttgart entschied,
dass EY Prüfungsunterlagen he-
rausgeben muss, die der Insol-
venzverwalter des gefallenen
Dax-Konzerns, Michael Jaffé,
angefordert hatte. Jaffé will An-
sprüche gegen den Wirtschafts-
prüfer geltend machen. Das
Landgericht Stuttgart hatte im
Dezember entschieden, dass EY
Einblick in Dokumente gewäh-
ren muss, die Aufschluss geben
könnten, ob EY die Wirecard-
Bilanzen gewissenhaft genug
geprüft hat. EY hatte daraufhin
versucht, die Offenlegung beim
OLG zu stoppen. Das Gericht
teilte nun mit, es habe »den An-
trag auf einstweilige Einstellung
der Zwangsvollstreckung« zu-
rückgewiesen. Die Interessen
der Gläubiger hätten »bei Ab-
wägung der wirtschaftlichen
September 2022 dürfen Anbie-
ter nur noch mit den Pflegekas-
sen abrechnen, wenn sie Tarif
oder an diesen angelehnte Löh-
ne zahlen. Dadurch steigen die
Kosten in jenen Heimen am
stärksten, in denen zuvor nied-
rige Löhne gezahlt wurden. FDI
Teures Heim
Anstieg durchschnittlicher
Kosten* pro Monat für die Unter-
bringung im Pflegeheim im Januar
2023 gegenüber Oktober 2021,
in Euro, nach Bundesland
418
162 SH
HH
233 406
HB NI
321
ST
196 376
NW 368
HE TH
267
RP
255
SL 399
BW
* Summe aus Eigenanteilen für Pflege und
Sachkosten, ohne Investitionskosten
S Quelle: NAI Apollo Healthcare, Daten vom
AOK-Pflegenavigator
Auswirkungen im Zweifel Vor-
rang«. Der Insolvenzverwalter
zweifelt eine ordnungsgemäße
Prüfung der Bilanzen durch EY
an. Er hält zumindest die Wire-
card-Abschlüsse der Jahre 2017
und 2018 für falsch, das Land-
gericht München hat diese Sicht
bestätigt. EY hatte die Bilanzen
zehn Jahre lang ohne Ein-
schränkung testiert. Neben Jaffé
werfen zahlreiche Anleger EY
vor, bei der Wirecard-Prüfung
Pflichten verletzt zu haben. Die
Vorwürfe sollen in einem Kapi-
talanleger-Musterverfahren ge-
klärt werden. EY erklärt, die
Prüfer hätten »ihre Prüfungs-
handlungen nach bestem Wis-
sen und Gewissen durchge-
führt«. Jaffé verfolgt seine An-
sprüche in eigenen Verfahren.
Mit der Entscheidung des OLG
Stuttgart könnte er die Einsicht
in die Unterlagen erzwingen,
sollte EY sich weiterhin wei-
gern, Einblick zu gewähren. Die
Dokumente könnten dem In­
solvenzverwalter helfen, seine
Klage zu untermauern. Weder
Jaffé noch EY wollten sich zu
dem Urteil äußern. MHS
»Man will ja keine
Gummibärchen
verbieten«
Der Wirtschaftswissenschaftler
Tobias Effertz, 47, über den
Widerstand gegen ein Verbot
von Werbung für Kinder
SPIEGEL: Herr Effertz, Ernäh-
rungsminister Cem Özdemir
will an Kinder gerichtete Wer-
bung für ungesunde Lebens­
mittel untersagen, im TV von
473 6 bis 23 Uhr. FDP und Union
MV
sehen »staatliche Bevormun-
dung«. Zu Recht?
Effertz: Was die Kritiker be-
509 334
SN BB schützen, ist eher die Mani­
425
pulationsfreiheit der Lebens-
BE mittelbranche. Es gibt klare
wissenschaftliche Befunde,
dass an Kinder gerichtete
­Werbung stark auf sie wirkt
und sie langfristig zu den
Marken zieht.
293
BY
Hackerangriff auf
Stadtwerke
IT-SICHERHEIT  Hackern ist es
gelungen, ins Netz der Stadt-
werke Karlsruhe einzudringen,
Passwörter eines Mitarbeiters
auszulesen und weitere Daten
auszuspähen. Das geht aus
der Logdatei eines Schad­
programms hervor, das dem
­ PIEGEL vorliegt. Die Daten
S spreche. Die Stadtwerke Karls-
zeigen, dass Angreifer am 1. Fe-
bruar erfolgreich in den Rech-
ner eines hochrangigen Mit-
arbeiters der Stadtwerke ein-
drangen und stundenlang pro-
fessionell die Systeme aus-
forschten. Offenbar handelte es
sich um Vorbereitungen für
einen Ransomware-Angriff. So
fügten die Hacker eine Notiz
mit einer dreistelligen Millio-
SPIEGEL: Die Industrie kriti-
siert, sie ziele bei Werbung für
Süßes, Junkfood oder Soft-
drinks nicht auf Kinder, Verbote
beschränkten Wettbewerb und
Innovation. Besser wären Er-
nährungscoachs in Schulen.
Effertz: Das ist zynisch. Die
Kids sollen Zeit in anderen Fä-
chern für Werbekunde opfern?
Seit Jahren wollen die Herstel-
ler ihre Werbung angeblich frei-
willig einschränken, und doch
sehen Kinder pro Tag im Schnitt
15 Werbespots für Ungesundes.
SPIEGEL: Wie sollen Produkte
erkannt werden, die sich an
Kinder richten, fragt die CDU.
Effertz: Es gibt klare Designele-
mente, Cartoons etwa und lustig-
kindliche Figuren. Wenn man
das mit den Nährwertmodellen
der WHO für Kinderwerbung
kombiniert, lässt sich das klar re-
geln. Man will ja keine Gummi-
bärchen verbieten, sondern das
unfaire Umgarnen der Kinder. KIG
Victoria Jung / DER SPIEGEL
Süßigkeitenladen
nensumme hinzu. Sie hätten of-
fenbar den Umsatz des Unter-
nehmens recherchiert, sagt Keith
Jarvis von der IT-Sicherheitsfir-
ma Secureworks. Für Onlineer-
presser sei das typisch, sie prüf-
ten, ob das Ziel lohnenswert sei.
Zudem findet sich eine russische
Anmerkung (»Hänge fest, wer
packt’s?«) in der Datei, was für
ein arbeitsteiliges Vorgehen
ruhe bestätigen den Angriff.
Zwei Wochen danach habe man
vom Bundesamt für Sicherheit
in der Informationstechnik da-
von erfahren: »Unsere versor-
gungsrelevante IT war nicht be-
troffen.« Zudem habe sich die
Schadsoftware nicht aus­breiten
können, man betrachte den »IT-
Sicherheitsvorfall als erfolgreich
abgewehrt«. HAT, HPP, ROM
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 61
WIRTSCHAFT

Kiosk mit Generator im

westukrainischen Lwiw

Yuriy Dyachyshyn / AFP

Unternehmen Widerstand
KRIEGSWIRTSCHAFT  Präsident Putin wollte die Ukrainer in Dunkelheit und Verzweiflung bomben.
Doch die Geschäfte laufen weiter. Die Regale in den Supermärkten sind voll,
die IT-Branche wächst, sogar Flugzeuge werden wieder gebaut. Wie machen die Ukrainer das?

W
ann immer im Westen der Ukraine oder einen Knotenpunkt des Stromnetzes, die
mal wieder der Strom ausfällt, be- Leute von Aimprosoft gehen ihrer Arbeit nach,
ginnt Maxim Iwanows Geschäft zu dank des Generators und Kanistern mit Diesel
brummen. Dann springt der Dieselgenerator für bis zu zehn Tage Stromausfall.
vor den Büros seines Unternehmens in Iwa- Russlands Präsident Putin hatte in der
no-Frankiwsk an. »Teksan Jeneratör« heißt Ukraine erst auf eine schnelle Eroberung von
das Ungetüm aus der Türkei. Es schafft Kiew gesetzt. Dann ließ er seine Truppen mit
80 Kilowatt Leistung, genug, um das Unter- der gezielten Zerstörung lebenswichtiger In-
nehmen mit 350 Mitarbeitern am Laufen zu frastruktur beginnen. Ab Herbst schlugen
halten – und Wladimir Putins Pläne zu durch- Hunderte Marschflugkörper und Kamikaze-
kreuzen. So sieht das der Inhaber. drohnen in Kraftwerken und Umspannstatio-
Iwanows IT-Firma Aimprosoft beschäftigt nen ein. Ende Dezember hatten 90 Prozent
Programmierer, Webdesigner und Produkt- der 700 000 Einwohner von Lwiw keinen
manager. Die Aufträge kommen von westli- Strom mehr. Die Versorgung mit Fernwärme
chen Konzernen, die Neueinstellungen scheu- war gestört, Kiew blieb zeitweise ohne
en oder auf ihren Heimatmärkten nicht mehr fließendes Wasser. Die Folgen des Bombarde-
genug Fachkräfte finden. Um mögliche Ver- ments ließen sich aus dem Weltall beobach-
Aimprosoft

zögerungen müssen sich die Kunden trotz des ten: Nächtliche Aufnahmen zeigten, wie
Kriegs wenig sorgen. Ganz gleich, ob Russlands Russland der Ukraine sukzessive die Lichter
Streitkräfte ein Kraftwerk ins Visier nehmen Unternehmer Iwanow löschte.

62 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


Doch das Land ist im Winter nicht
in Dunkelheit und Kälte erstarrt, die
Apokalypse ausgeblieben. Ein Grund
dafür sind Generatoren. Große rat-
tern vor großen Firmen wie Iwanows
Aimprosoft, kleine surren vor Friseur-
salons und Cafés. Rund eine halbe
Million Notstromaggregate hat das
Land allein in den letzten drei Mona-
ten des vergangenen Jahres aus dem
Ausland zusammengekauft, dazu so-
larbetriebene Batterieblöcke mit Na-
men wie EcoFlow oder Bluetti. Die
Geräte erreichen zusammen genom-
men die gleiche Leistung wie der
Block eines Atomkraftwerks. Strate-
gisch sind sie sogar wertvoller, weil
Russland sie nicht auf einen Schlag
ausschalten oder per Sturmangriff er-
obern kann.
Die rasante Verbreitung der Gene-
ratoren ist mehr als ein Symbol für
den zähen Behauptungswillen der
Ukraine. Das Durchhalten von Ge-
schäftsleuten wie Iwanow ist schlicht
notwendig, wenn das Land seinen
militärischen Widerstand gegen die
Angreifer aufrechterhalten will. Die
Mittel für den rasant gestiegenen Ver-
teidigungshaushalt muss die Ukraine
nämlich selbst aufbringen. Die Part-
ner in der EU und den USA überwei-
sen der Regierung in Kiew zwar Mo-
nat für Monat Milliardensummen,
aber sie wachen darüber, dass die
Gelder vor allen Dingen für zivile
Zwecke im Staatshaushalt ausgege-
ben werden. Die eigenen Steuerein-
nahmen der Ukraine fließen inzwi-
schen fast komplett an das Militär. Sie
dürfen nicht wegbrechen.
Das ist schwer genug: Die Wirt-
schaftsleistung der Ukraine ist im ver-
gangenen Jahr drastisch gesunken.
Millionen Menschen haben das Land
verlassen. Die wichtigen Stahlwerke
im Osten des Landes sind zerstört
oder von Russland besetzt. Nur der
IT-Sektor ist selbst 2022 noch weiter
gewachsen. Der hat seine Exportein-
nahmen auf 7,3 Milliarden Dollar er-
höht, ein Plus von sechs Prozent. Die
Steuerzahlungen von Techfirmen an
den ukrainischen Staat stiegen in Dol-
lar gerechnet um 16 Prozent.
Der Krieg habe seine Branche ver-
ändert, sagt Iwanow. Er habe jetzt
andere Prioritäten. Früher sei es ihm
und seinen Partnern vor allem um
Wachstum gegangen. Für dieses Jahr
hingegen hat er das Ziel ausgeben,
»dass wir alle einfach überleben«.
Viele seiner Mitarbeiter spendeten
bis zu 20 Prozent ihrer Monatsgehäl-
ter an die Streitkräfte. Jeder Ukrainer
kenne Freunde oder Verwandte im
Kriegseinsatz. Sie stehen ständig in
Kontakt: Über Messengerdienste wie
WIRTSCHAFT
Telegram und dank der Starlink-Sys-
teme von Tesla-Chef Elon Musk.
Die Spenden gehen entweder an
die Armee oder an Freiwilligenorga-
nisationen. Manchmal schicken sie
Nachtsichtgeräte oder Winterausrüs-
tung. Der private Kurierdienst Nowa
Poschta – Neue Post – stellt die Pa-
kete portofrei an der Front zu. »Die
Kuriere«, sagt Iwanow, »arbeiten so-
gar unter Beschuss.«
Der Krieg hat die gesamte ukrai-
nische Zivilgesellschaft mobilisiert
und mit ihr die Wirtschaft. Mehr als
die Hälfte der Ukrainer spendet laut
einer Umfrage der Beratungsgesell-
Sergey Dolzhenko / epa
schaft Deloitte an die Streitkräfte.
Auch 56 Prozent der ukrainischen
Firmen überweisen Geld für die Sol-
daten, 40 Prozent organisieren Sach-
1
spenden, so der europäische Unter-
nehmerverband EBA. Putin wollte
die Volkswirtschaft des Nachbarlands
durch gezielte Schläge gegen ihre ver-
wundbarsten Punkte in die Knie
zwingen, aber es scheint, als hätte er
die Rechnung ohne die Menschen ge-
macht.
Ohne Jurij Jakowlew zum Beispiel.
Die Russen haben das Lebenswerk
des 61-Jährigen gleich zu Beginn ihrer
Invasion in Schutt gelegt. Sie rückten
bis zu dem kleinen Flugfeld in der
Andrew Kravchenko / Bloomberg / Getty Images
Nähe von Kiew vor, das Jakowlews
Firma nutzte. Das Unternehmen
heißt Aeroprakt und stellte Ultra-
leichtflugzeuge her für den Welt-
markt, neun Exemplare pro Monat
waren es vor dem Krieg. Der Hangar
wurde von den Russen zusammen-
geschossen, das Dach stürzte ein. Nur
2
mit Glück und Wagemut sei es ihm
gelungen, wichtige Werkzeuge und
Konstruktionszeichnungen in Sicher-
heit zu bringen. Wenig später hätten
die Russen alles kurz und klein ge-
schlagen, erinnert sich Jakowlew. Er
brachte das Material in seine Firmen-
niederlassung in Polen, um so wenigs-
tens den Wartungs- und Reparatur-
betrieb für seine Kunden im Westen
aufrechtzuerhalten.
In der Fliegerwelt genießt der
Ukra­iner Legendenstatus. Mehr als
1000 Flugzeuge hat er in den ver-
gangenen Jahrzehnten in alle
Oleksii Chumachenko / SOPA Images / ddp
Welt verkauft. Jakowlew hat sein
Handwerk noch beim sowjetischen
Flugzeugbauer Antonow gelernt.
Verzagtheit und Angst sind ihm
fremd. In Polen schob er erst den
Ersatzteilversand neu an, dann kon-
taktierte er Vertriebspartner und
3 Kunden und versprach, bald wieder
neue Flugzeuge zu bauen. Schon im
1 | Fahrer eines Lieferdiensts in Kiew  2 | Supermarkt April kehrte der Unternehmer zu-
in der ukrainischen Hauptstadt  3 | Ukrainer in einem Zelt rück auf die Luftfahrtmesse in
des Katastrophenschutzes Friedrichs­hafen. Mit Jakowlew und
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 63
WIRTSCHAFT
Aeroprakt ist weiter zu rechnen, war die Bot-
schaft.
Zwölf Monate nach Beginn des Kriegs hat
er auf dem Flugplatz im Umland der ukraini-
schen Hauptstadt die Folgen der Raketen-
treffer und Geschützsalven notdürftig besei-
tigt. Die Belegschaft sei leider deutlich kleiner
geworden, sagt er. Viele der jüngeren Mit-
arbeiter seien inzwischen an der Front. Trotz-
dem werden bei Aeroprakt wieder Flugzeuge
montiert. »Neun pro Monat«, sagt Jakowlew.
Genauso viele wie im Januar 2022.
Es gibt viele solcher Geschichten vom zähen
Weitermachen in der Ukraine. Da sind – ganz
oben in der Schaltzentrale der Wirtschafts-
politik – die Vorstände der Zentralbank NBU.
Bei Luftalarm eilen sie in die Bunker und füh-
ren dort zur Not schon mal von einer vier Qua-
dratmeter großen Zelle mit dem Internationa-
len Währungsfonds Verhandlungen über Mil-
von 40 auf zwischenzeitlich 80 Prozent. Kurz
Kriegsökonomie vor Kriegsbeginn wurde zudem die schon län-
ger geplante Synchronisierung der Stromnet-
Staatsausgaben der Ukraine, in Prozent ze von EU und Ukraine abgeschlossen. Für
Verteidigung öffentliche Sicherheit Kiew ein Segen: In den ersten Kriegsmonaten
Sozialpolitik sonstige Ausgaben exportierte das Land Atomstrom in den Wes-
ten und verdiente dringend benötigte Devisen.
100 Seit Beginn der Kraftwerksbombardierungen
kann das Land nun große Mengen Strom aus
26 der EU kaufen. Die Verbindungen sind in-
zwischen so eng, dass manche Kommentato-
56
16 ren die Ukraine schon »faktisch als EU-Mit-
50 glied« sehen.
16 Ganz so weit ist es noch nicht. »Es gibt
Initiativen, die Ukraine in EU-Lieferketten
23
zu integrieren«, sagt Michael Harms, Ge-
42 schäftsführer des Ost-Ausschusses der Deut-
12
0 9 schen Wirtschaft. Doch das sei oft schwieriger
2021 2022 als gedacht, weil Produkte teils noch nicht
S Quellen: BMWK/German Economic Team,
EU-Standards entsprächen oder aus anderen

liardenhilfen weiter.
Da sind aber auch – weit unten in der Be-
fehlskette – die Reparaturtrupps des staatlichen
Energieversorgers Ukrenergo. Sie sind nach
Monaten des Dauereinsatzes so versiert, dass
sie beschädigte Anlagen »viermal schneller in-
stand setzen als noch im Herbst«, wie der Ukre-
nergo-Chef sagt. Mit dem Flicken seien sie in-
zwischen so schnell wie die Russen mit dem
Zerstören und »manchmal sogar schneller«.
Die Ukrainer haben den freien Fall
ihrer Wirtschaft gestoppt. Noch im Sommer
ging die Weltbank von einem Einbruch des
Bruttoinlandsprodukts von 45,1 Prozent aus.
Tatsächlich dürfte das Minus Ende 2022
bei 30 Prozent gelegen haben – immer
noch ein gewaltiger Einbruch. Für das laufen-
de Jahr halten Experten wie die Deutsche
Beratergruppe sogar ein leichtes Wachstum
von 1,8 Prozent für möglich.
Doch wird das reichen? Die früher für die
Ukraine so wichtige Stahlproduktion ist um
85 Prozent eingebrochen. Weil russische
Truppen Fabriken im Osten besetzt und das
Asow-Stahlwerk in Mariupol zerstört haben,
ist die Produktion von 60 000 Tonnen Stahl
pro Tag auf zuletzt nur noch 10 000 Tonnen
zurückgegangen. Die Arbeitslosigkeit hat sich
auf schätzungsweise 30 Prozent verdreifacht,
obwohl Hunderttausende Männer seit Kriegs-
beginn zusätzlich zum Wehrdienst eingezo-
gen wurden.
Im Land zeichnet sich der Beginn einer
demografischen Krise ab. In der Zeit nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte
die Ukraine bereits rund 8 Millionen Einwoh-
ner durch Abwanderung und eine geringe
Geburtenrate verloren. Vor Kriegsausbruch
lebten noch etwa 44 Millionen Menschen auf
ihrem Territorium, 8 Millionen sind seither
geflohen. Damit schrumpfte die Bevölkerung
auf ein Niveau wie zuletzt vor Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Die meis-
ten der Geflüchteten geben zwar an, nach
Kriegsende wieder zurückkehren zu wollen.
Manche EU-Regierungen versuchen aber, sie
zu halten. Drei Viertel der Geflüchteten haben
einen Hochschulabschluss.
64 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Nationalbank der Ukraine
Ohne die Milliardenhilfen der Partner wäre
der ukrainische Staat wohl zusammengebro-
chen. Und dennoch ist die Zahlungsmoral der
internationalen Gemeinschaft ausbaufähig.
Im Jahr 2022 hatte sie 64 Milliarden Euro
versprochen, ausgezahlt wurden bisher gera-
de mal 31 Milliarden Euro, wie das Kieler
Institut für Weltwirtschaft ausgerechnet hat.
Die Ukraine muss noch immer Monat für
Monat bis zu fünf Milliarden Euro bei anderen
Staaten auftreiben, sonst könnte sie Lehrer
und Beamte nicht mehr bezahlen. Der Inter-
nationale Währungsfonds IWF soll eigentlich
kein Geld auszahlen an Staaten inmitten eines
militärischen Konflikts, hat aber die Bereit-
schaft signalisiert, für die Ukraine weiter eine
Ausnahme zu machen. Um den Prozess pro-
fessioneller zu gestalten, haben sich die Geber
geeinigt, ein Sekretariat einzurichten, mit
Büros in Kiew und in Brüssel.
Die EU ist der wichtigste Handelspartner.
In den ersten Monaten nach Kriegsausbruch
stieg ihr Anteil an den ukrainischen Ausfuhren
Igor Tkachenko / epa
Verladung von Getreide nahe Odessa
Gründen noch nicht konkurrenzfähig seien.
Manchmal hängt es auch schlicht an der Büro-
kratie. So gebe es Agrarfirmen in der Ukraine,
die Biogas herstellen und verflüssigen, und
Abnehmer in der EU, die das gern kaufen
würden. Nur: Es fehlt das nötige Zertifikat.
Die Kriegszerstörungen beziffern Öko­
nomen der Kyiv School of Economics auf
138 Milliarden Dollar, und die Summe steigt
jeden Tag. »Ohne privates Kapital wird der
Wiederaufbau nicht funktionieren«, sagt der
Ökonom Robert Kirchner. Der stellvertreten-
de Leiter des German Economic Team berät
die Ukraine im Auftrag der Bundesregierung.
Nur welcher Investor steckt freiwillig Geld in
ein Land, dem der Nachbar Russland mit Ver-
nichtung droht? Immerhin: Der Bayer-Kon-
zern hat gerade angekündigt, an einer Inves-
tition über 30 Millionen Euro in eine Saat­
gutanlage festzuhalten. Und die Fabriken
westlicher Autozulieferer haben den Betrieb
wieder hochgefahren. Damit auch wieder neu
investiert wird, planen die Europäische Bank
für Wiederaufbau und die Weltbank-Tochter
Miga Programme, die Risiken in der Ukraine
absichern.
Besonders begehrt sind ukrainische Le-
bensmittel. Ein britischer Logistikriese hat
daher in einen Umschlagplatz in Moldau in-
vestiert, um Zugang zu ukrainischen Agrar-
produkten zu bekommen. Er liegt 190 Kilo-
meter westlich der Hafenstadt Odessa. Von
dort sollen bald Obst und Gemüse über Mol-
dau nach Großbritannien gelangen. Das kann
tatsächlich funktionieren: Die Ukrainer haben
es bis zuletzt geschafft, die Versorgung selbst
in unmittelbarer Frontnähe aufrechtzuerhal-
ten. Ganz anders also als das in Großbritan-
niens Supermarktketten der Fall ist.
Für ukrainische Händler ist die reibungs-
lose Versorgung ihrer Läden zur patriotischen
Pflicht geworden. Viele bieten Passanten an,
sich aufzuwärmen, Handys und Laptops auf-
zuladen. Einige Geschäfte haben offene Büros
eingerichtet, für jedermann. »Die Supermärk-
te«, sagt der Chef des Einzelhandelsverbands,
»sind jetzt Orte unserer Unbezwingbarkeit.«
Benjamin Bidder, Michael Kröger  n
WIRTSCHAFT
Verbrennst du noch oder
heizt du schon?
ANALYSE  Ab nächstem Jahr sollen keine Öl- und Gasthermen mehr in deutschen
Kellern verbaut werden, alte Geräte sollen verschwinden. Das wird teuer.
E Gasheizungen
igentlich hatte sich Robert Ha-
beck auf den Frühlingsbeginn
gefreut. Ab 1. März wirkt die
Strom- und Gaspreisbremse und ent-
lastet Millionen von Haushalten.
Doch statt dankbar zu sein, debattiert
die Nation über eine neue Zumutung.
Noch dazu eine, die nicht Kriegs-
treiber Wladimir Putin zu verantwor-
ten hat, sondern der Minister persön-
lich. Ab kommendem Jahr soll bei
Neubauten Schluss sein mit Öl- und
Gasheizungen, auch ihr Bestand soll
sukzessive abgebaut werden.
So sieht es ein früher Gesetzent-
wurf vor, den der Grüne gemeinsam
mit Bundesbauministerin Klara Gey­
witz (SPD) verantwortet. »Habeck-
Hammer für unsere Heizungen«, bell-
te »Bild«, sekundiert von der FDP,
die von einer grünen »Verschrot-
tungsorgie für Heizungen« sprach.
Der Zweck, den Habeck mit dem
Regelwerk verfolgt, ist richtig. Der
Gebäudesektor verschlingt ein Drittel
aller Energie und bleibt weit hinter
seinen Klimazielen zurück. Doch die
bisher bekannt gewordenen Regelun-
gen sind lückenhaft, etliche techni-
sche Fragen ungeklärt. Hinzu kommt:
Sie verlangen den Bürgern teils
enorm hohe Investitionen ab.
Sinnvoll sind die Regelungen, die
sich auf Neubauten beziehen. Bau-
herren haben ab dem nächsten Jahr
praktisch kaum mehr eine andere
Wahl, als eine Wärmepumpe zu ins-
tallieren. Es sei denn, sie nutzen Fern-
oder Nahwärme oder isolieren ihr
Haus so gut, dass sich die benötigte
Wärme mit Elektroheizungen erzeu-
gen lässt. Die Wärmepumpe gilt bei
modernen, gut isolierten Häusern mit
Fußbodenheizung als sehr effiziente
Art, klimafreundlich zu heizen. Sie
nutzt den Strom fünfmal so effizient
wie grüner Wasserstoff, der in einer
konventionellen Gasheizung ver-
brannt würde.
Die Sorge, dass für einen solchen
Umbau gar nicht genügend Wärme-
65 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
pumpen zur Verfügung stünden, gilt
mittlerweile als übertrieben. Die Her-
steller rüsten ihre Unternehmen ge-
rade massiv um, Handwerksbetriebe
orientieren sich neu. Im vergangenen
Jahr wurden 236 000 solcher Pumpen
installiert.
Komplizierter wird es da schon für
Besitzer von Bestandsanlagen. Gehen
Gasheizungen kaputt oder erreichen
sie die Altersgrenze von 30 Jahren,
sollen sie künftig gegen ökologische
Wärmequellen ausgetauscht werden.
Bei alten, schlecht isolierten Einfami-
lienhäusern müssten sehr leistungsstar-
ke Wärmepumpen her, die weit mehr
als 30 000 Euro kosten können. Als
Alternative zulässig sind Fernwärme,
die es in vielen Siedlungen nicht gibt,
Biomasse wie Holzpellets oder eine
Gasheizung, die dann mit mindestens
65 Prozent Biogas betrieben werden
muss. Beides eher teure Lösungen.
Habeck und seine Leute haben
eine Übergangsfrist von drei Jahren
­eingeräumt. In dieser Zeit kann die
­kaputte Gastherme durch eine ge-
brauchte ersetzt werden. Dann muss
spätestens eine klimaschonende Alter-
native her. Ist ein Fernwärmeanschluss
­geplant, kann die Frist auf fünf Jahre
Fossiles Erbe
Zentrale Wärmeerzeuger in Deutschland, 2021, in Millionen
Biomassekessel
0,9
Wärme-
pumpen
1,2
insgesamt ca.
Ölkessel 21,3
(Brennwert) Millionen
0,8
Ölkessel
(Heizwert)
4,4
Derzeit sind rund 19 Millionen Gas- und Ölheizungen in Deutschland in Betrieb.
Bei einer Maximallaufzeit von 30 Jahren müssten pro Jahr durchschnittlich 640.000
ausgetauscht werden.
S Quelle: BDH; geschätzt
gestreckt werden, so der derzeitige
Stand des Entwurfs. Im Ministerium
hofft man, dass für den kurzfristigen
Ersatz ein Markt mit Gebrauchtgerä-
ten entsteht. Thomas Engelke vom
Verbraucherzentrale Bundesverband
hält das für »schwer vorstellbar«. Er
plädiert für einen finanziellen Aus-
gleich für die betroffenen Haushalte.
Sorgen machen dem Verbraucher-
schützer die mehr als vier Millionen
gasbetriebenen Etagenheizungen, die
in Mehrfamilienhäusern hängen.
Geht davon nur eine einzelne in einer
Wohnung kaputt, soll die ganze Haus-
gemeinschaft innerhalb von sechs
Jahren ein Konzept vorlegen, wie
künftig geheizt werden kann. Weite-
re drei Jahre bleiben dann Zeit, diese
müssen Lösung umzusetzen. Bewohner, die
künftig zu gerade eine neue Gastherme einge-
baut haben, müssten sie trotzdem
mindestens entsorgen. »Jeder, der mal auf einer
65 Prozent Eigentümerversammlung war, der
weiß, was das für Ärger geben kann«,
mit Biogas kommentiert Engelke.
betrieben Hinzu kommt, dass es bei älteren
Häusern nicht mit dem Austausch der
werden. Heizung getan ist. Zuvor sollte das
Haus gedämmt werden. »Eigentümer
könnten vorschnell eine Wärmepum-
pe einbauen, bevor sie ihr Objekt
fachgerecht saniert haben«, warnt
Benjamin Weismann, Geschäftsfüh-
rer des Energieberaterverbands GIH.
Gute Beratung ist unabdingbar.
Wer einfach eine Wärmepumpe in ein
unsaniertes Gebäude einbaut, läuft
Gefahr, das Gerät zu überdimensio-
nieren – mit entsprechend hohen
Stromkosten. Das Problem: Es fehlt
schon jetzt an Energieberatern, Kun-
den müssen teilweise Monate warten.
Bisher kosten Wärmepumpen je
nach Größe und Ausführung zwi-
schen 16 000 und 35 000 Euro. Bei
Geothermie kommt eine Bohrung für
Erdsonden hinzu, für die zwischen
7000 und 40 000 Euro veranschlagt
werden müssen, je nach Länge des
Bohrlochs. Habeck hofft auf sinkende
Preise, wenn erst mal die Massenpro-
duktion einsetzt.
Gaskessel Immerhin definiert sein Gesetzent-
(Brennwert) wurf eine Reihe von Härtefällen. Die
7,6 Liste sei aber »zu dürftig«, kritisiert
Verbraucherschützer Engelke. Um den
Umstieg zu erleichtern und finanziell
abzufedern, plant die Regierung neue
Förderprogramme, eine Reduzierung
des Strompreises und weitere Inves­
Gaskessel
titionshilfen.
(Heizwert) Das Wirtschaftsressort arbeitet ge-
6,4 rade an den Details. Sie werden ent-
scheidend dafür sein, wie groß die
Zumutung für die Bürgerinnen und
Bürger tatsächlich ausfällt.
Henning Jauernig, Gerald Traufetter n
WIRTSCHAFT
Der große Holzraub
ROHSTOFFE  In Rumänien steht einer der ältesten Wälder Europas – noch.
Denn der Kahlschlag macht selbst vor geschützten
Forsten nicht halt. Das belegen Recherchen des SPIEGEL.
E
s ist noch dunkel, als der Ermitt-
ler aus dem Wagen steigt. Hun-
de bellen, die Luft riecht nach
Holzfeuer. Bogdănești, ein kleines
Dorf im Nordosten Rumäniens, lebt
vom Holz. Manche hier haben die
Stämme reich gemacht, sehr reich.
Der Ermittler zieht einen Schlüssel
aus seiner Tasche und klopft mit der
Spitze fünfmal an das Fenster eines
Hauses. Ein Mann öffnet, mit zit­
trigen Händen greift er nach dem
Durch­suchungsbeschluss. Er soll Do-
kumente gefälscht haben, für illegal
geschlagenes Holz. Von ihm, so hof-
fen die Ermittler, könnte die Spur zu
den Hintermännern des Waldraubs
führen.
Mehr als 1800 rumänische Beam-
te rücken an diesem Tag im Herbst
aus, es ist eine der größten Razzien,
die es in Europas Holzindustrie je ge-
geben hat. Im Raum stehen schwere
Vorwürfe: illegaler Holzeinschlag,
Geldwäsche, Steuerhinterziehung.
Der Kriminalbeamte sagt, er fange
gern die großen Fische.
Egger aus Österreich ist so einer,
der Hersteller von Spanplatten zählt
weltweit zu den größten seiner Bran-
66 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
che. Mehr als vier Milliarden Euro
Umsatz, mehr als 11 000 Mitarbeiter.
Am Rande des rumänischen Rădăuți
steht das Egger-Werk direkt neben
dem des anderen Branchenriesen: HS
Timber, auch aus Österreich.
Die Wälder Rumäniens gehören
zu den ältesten und größten Europas,
hier leben Bären, Wölfe und Luchse.
Doch die Forste sind bedroht: Es wird
in großem Stil gerodet, selbst in ge-
schützten Gebieten. Laut Interpol
stammen bis zu 30 Prozent des welt-
weit gehandelten Holzes aus illegalen
Quellen. In Rumänien ist es mehr als
die Hälfte. Bis mindestens 2018 wur-
den dort jährlich etwa 20 Millionen
Kubikmeter Holz ohne Papiere ge-
schlagen. Nach Italien ist Deutschland
der zweitgrößte Abnehmer in der
Europäischen Union, rumänisches
Holz landet in Baumärkten und Mö-
belhäusern, in Einrichtungsgeschäf-
ten und Schreinereien.
Gemeinsam mit dem Investigativ-
netzwerk International Consortium
of Investigative Journalists haben
­Reporterinnen und Reporter des
SPIEGEL den Weg des illegalen Holzes
verfolgt. Sie trafen Aktivisten, die
für den Schutz des Waldes ihr Leben
riskieren, verängstigte Arbeiter und
korrupte Beamte, die auch vor Er-
pressung nicht zurückschrecken. Be-
teiligt an dem Projekt »Deforestation
Inc.« waren Jour­nalisten aus mehr
als 27 Ländern. In Deutschland sind
neben dem S­ PIEGEL auch WDR,
NDR und »Süddeutsche Zeitung«
­dabei.
Rumänien, ein Karpatenhang in
der Nähe der Ortschaft Moldovița.
Bis zum vergangenen Jahr standen
hier knapp 1900 Bäume, sie waren
rund 170 Jahre alt. Nun liegen abge-
trennte Äste neben den Stümpfen.
Der Wald galt als außergewöhnlich
wertvoll, er war Teil eines »Natura
2000«-Gebiets, das die EU unter be-
sonderen Schutz stellt.
700 Angriffe auf Förster und
Umweltaktivisten
Der Umweltaktivist Tiberiu Bo­şutar
schaut auf den Kahlschlag wie ein
Trauerredner auf ein offenes Grab.
Er kennt die Firma, die die Bäume
schlug – Saniral, ein Zulieferer des
Egger-Konzerns.
Boşutar war früher selbst Holz-
händler, er hat am Kahlschlag ver-
dient. Heute will er ihn stoppen, auch
wenn ihn das bereits ins Krankenhaus
gebracht hat. Boşutar ist noch keine
Stunde im Wald, als ein blau glän-
zender Jeep hält. Drinnen sitzt Gelu
Puiu, der Mann, der diesen Wald für
die Rodung freigegeben hat. Puiu
war als Staatssekretär im Umwelt­
ministerium zuständig für die Wäl-
Forstamts­leiter Puiu, der, bis er 2021 wegen Korruptions-
[M] Lea Rossa / DER SPIEGEL; Fotos: Petrut Calinescu / DER SPIEGEL (3); Manfred Ruckszio / PantherMedia / IMAGO; IMAGO
Aktivist Boşutar (r.): und Erpressungsvorwürfen zurück-
»Diese Mengen
können nur gehandelt
treten musste. Seither leitet er wieder
werden, weil das Forstamt, das diesen Wald be-
es eine Mafia gibt« treut.
Aus Puius Zeit als Staatssekretär
gibt es Mitschnitte von Telefonaten,
Puiu brüstet sich darin, hohe Beamte
erpresst zu haben, ihre Posten für
Günstlinge seiner Partei aufzugeben.
Die staatliche Forstverwaltung Rom-
silva, Puius Arbeitgeber, bestreitet,
dass Puiu deswegen zurücktrat. Rom-
silva dulde keine Korruption und wei-
se solche Anschuldigungen zurück,
heißt es.
Aktivist Boşutar hingegen glaubt,
dass Forstdirektoren wie Puiu das
Scharnier zu den großen Konzernen
bilden. »Wenn du eine große Firma
bist, verhandelst du nicht mit dem
Förster übers Schmiergeld, sondern
direkt mit dem Leiter des Forstamts«,
sagt er. 20 Millionen Kubikmeter il-
legal geschlagenes Holz – Boşutar
sagt: »Diese Mengen können nur ge-
handelt werden, weil es eine Mafia
gibt.«

Massiver Schwund
Rumäniens Waldbestand seit dem Jahr 2000
SLOWAKEI
Moldoviţa
UNGARN
geschützte Natura- Debrecen
2000-Gebiete
Waldbedeckung
im Jahr 2000
Cluj-Napoca
Gebiete mit Waldver-
lust 2001 bis 2021
RUMÄNIEN
Timişoara
Belgrad
SERBIEN
100 km
S Quellen: EEA, Global Forest


Watch, Hansen et al.
Boşutar lebt gefährlich. 2020 schlugen
Männer die Scheiben seines Autos ein, als er
mit seiner 17-jährigen Tochter unterwegs war.
2021 zwangen ihn Unbekannte vor laufender
Kamera, sich nackt auszuziehen. Vorher hat-
ten sie ihn verprügelt und mit Äxten bedroht.
In den vergangenen acht Jahren gab es mehr
als 700 Angriffe auf Förster und Umwelt­
aktivisten. Mindestens sechs rumänische Förs-
ter wurden ermordet.
Immer wieder haben Recherchen gezeigt,
wie internationale Firmen den Raubbau
in den Karpaten vorantreiben. 2015 enthüllten
Aktivisten, dass Manager von HS Timber in
Rumänien illegales Holz annahmen, was der
Konzern bestritt. 2018 berichtete der SPIEGEL
über Holzlieferungen aus der U ­ kraine, die auf
fragwürdigen Wegen nach Rumänien gelangt
waren. 2020 leitete die EU-Kommission ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumä-
nien ein und forderte die Regierung auf, Um-
weltrichtlinien einzuhalten. Glaubt man
Boşutar, hat sich seitdem nichts geändert. Das
Verfahren hängt fest. Das rumänische Umwelt-
ministerium verweist in seiner Stellungnahme
auf sein Kontrollsystem.
Tatsächlich könnte es in Rumänien ein
Leichtes sein, Lieferketten zu verfolgen. Jeder
legal gefällte Baum ist markiert, jeder Wald
in Parzellen geteilt, die Kontrolle gesetzlich
geregelt. Es gibt sogar öffentliche Datenban-
ken, über die sich Transporte verfolgen lassen.
Doch ein System ist nur so verlässlich wie die,
die es betreiben.
Um Holzdiebe zu identifizieren, hat Tibe-
riu Boşutar vor Jahren Kameras vor seinem
Haus in Moldovița montiert. Sie filmen die
Holzlaster, die den Ort passieren. Boşutar hat
seine Einzimmerwohnung in ein Kontroll-
zentrum verwandelt. Den kleinen Raum vor
dem Ehebett nimmt ein Bildschirm ein, auf
Millimeterpapier hat er verdächtige Trans-
porte vermerkt und sie mit der öffentlichen
Datenbank verglichen. In fast jeder Zeile steht
Rădăuţi
UKRAINE
MOLDAU
SUCEAVA
Iaşi Chişinău
Bacău
Braşov
Brăila
Craiova Bukarest
BULGARIEN
ein Plus, für die Lastwagen, die mehr Holz
geladen haben als angegeben.
Eine Masche der Holzräuber: Mit einer
einzigen Lizenz wird ein Vielfaches des
eigentlich erlaubten Holzes geschlagen. Auch
für die Rodungen in Moldovița gibt es eine
Genehmigung. Die sieht vor, mit gezielten
Fällungen Licht für junge Bäume zu schaffen.
Allein: Auf der Fläche stehen kaum Jungbäu-
me, sie sind offenbar nur ein Vorwand für den
Kahlschlag. »In Deutschland wäre das verbo-
ten«, sagt der Forstwissenschaftler Andreas
Bolte, Leiter des Thünen-Instituts für Wald-
ökosysteme. Romsilva dagegen hält den Kahl-
schlag für legal.
»Früher war das ein schöner Beruf«
Anhand von Transportdaten haben der
SPIEGEL und die Umweltorganisation Envi-
ronmental Investigation Agency den Weg des
Holzes nachvollzogen. Demnach fällte der
Egger-Zulieferer Saniral die Bäume, sie kamen
in ein Sägewerk in der Nähe, von dort wurden
Hunderte weiter zu Egger nach Rădăuți trans-
portiert. Ein rumänischer Forstexperte schätzt
den Marktwert des Holzes aus diesem Kahl-
schlag auf 300 000 Euro – die mögliche Stra-
fe für den Raubbau liege bei maximal 500 Euro.
Eine Diskrepanz, die sich lohnt.
Ionuţ Ursu ist der Chef der Zulieferfirma, er
lebt in Bogdănești, man findet ihn leicht. Sein
Nachname prangt in goldenen Farben auf me-
terhohen Toren einer Villa. Im September wur-
de auch Ursus Firma durchsucht, die Ermitt-
lungen sieht er gelassen: »Was wir getan haben,
haben wir korrekt getan.« Fragt man Ursu nach
Egger, beschreibt er die Geschäfte mit dem
Konzern als »sehr gut«. Nachfragen zum Kahl-
schlag ließ Saniral später unbeantwortet.
Egger wiederum teilt mit, der Konzern
könne »zweifelsfrei die Legalität des verwen-
deten Holzes gewährleisten«. Auf Nachfrage
bleibt offen, ob Egger Holz wie jenes aus dem
Kahlschlag als legal betrachtet – und wie es
WIRTSCHAFT
andernfalls aussortiert wird. Die Ermittlungen
der rumänischen Behörden will Egger nicht
kommentieren, schreibt aber, dass es keine
Vorwürfe gegen das Unternehmen gebe. Mit
einigen der verdächtigen Zulieferer unter-
halte Egger »keine aktuellen Geschäftsbezie-
hungen« mehr.
Mehr als 3100 Holztransporte aus ge-
schützten »Natura 2000«-Gebieten haben
das rumänische Egger-Werk in Rădăuți in den
vergangenen zwei Jahren erreicht, so belegen
es Transportdaten. Zwar zeigen sie nicht, an
welchen Orten das Holz geschlagen wurde,
aber wohin es gelangt. Insgesamt gingen mehr
als 40 000 Lieferungen auf dem Gelände von
Egger in Rădăuți ein. Auf Nachfrage schreibt
Egger, die Bewirtschaftung von »Natura
2000«-Gebieten sei »in gewissen Bereichen
erlaubt und ausdrücklich erwünscht«. Tat-
sächlich ist das Schlagen von Holz nicht ver-
boten, EU-Richtlinien sehen die wirtschaft-
liche Nutzung aber nur vor, wenn sie mit dem
Umweltschutz »in Einklang« steht.
In den vergangenen Jahren sind in Rumä-
nien Tausende gegen die Methoden in der
Branche auf die Straße gegangen, sie sprechen
von einer »Holzmafia«. Auch hohe Beamte
wehren sich. Ilie Covrig ist einer von ihnen.
Der 56-jährige Forstdirektor, ein gelernter
Förster, sagt: »Früher war das ein schöner
Beruf.« Covrig war einmal Staatssekretär im
Umweltministerium. Von dem Posten trat er
zurück, weil er sich nicht der Industrie habe
andienen wollen, wie er sagt. Nach seiner
Rückkehr in die Forstdirektion in Târgu
Mureș hätten ihn Politiker gedrängt, auch die-
sen Posten aufzugeben. Manche der Telefo-
nate hat Covrig aufgezeichnet. »Sie warfen
mir vor: Du bringst der Partei kein Geld.«
Covrig hat drei Töchter, von denen eine im
Ausland lebt. Jahrelang habe er sie zu über-
reden versucht, im Land zu bleiben. Nach den
Anrufen gab er auf. »Ich sagte, geht, wohin
ihr wollt. In diesem Land kann man so nicht
weitermachen.« Früher habe der Wald den
Menschen Schutz geboten. Heute gehe es nur
noch um Gewinne. »Ein Förster zu sein ist
etwas Hässliches geworden.«
Wissen die großen Firmen wie Egger und
HS Timber um die schmutzigen Methoden,
mit denen ihre Zulieferer an Holz gelangen?
»Natürlich wissen sie das«, sagt Covrig.
Egger dagegen erklärt, die Einhaltung
sämtlicher Gesetze sei »gelebte Unterneh-
menskultur«. Verstöße würden den Behörden
ausnahmslos gemeldet.
Viele Gesetze allerdings hat Rumäniens
Regierung absichtlich so schlecht formuliert,
dass Richter sie kaum verständen, beklagt
Cătălina Rădulescu. Die Anwältin für Um-
weltrecht hat Hunderte Klagen gegen die
Holzindustrie eingereicht. Auch die Groß-
razzia vor ein paar Monaten habe nichts ge-
bracht. »Für jedes schwarze Schaf«, sagt
Rădulescu, »finden die großen Firmen am
Ende ein neues.«
Ferdinand Kuchlmayr, Katrin Langhans, Marvin
Milatz, Bastian Obermayer, Lina Verschwele n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 67
WIRTSCHAFT
König der Veggiewürste
ERNÄHRUNG  Godo Röben machte den Wursthersteller Rügenwalder zum ­Vorreiter beim Fleischersatz. Nun greift
der Manager mit der Konkurrenz seinen alten Arbeitgeber an. Kann er das Fleischloswunder wiederholen?
D
ie Mühle steht wie ein Denk-
mal in der Landschaft. Rote
Klinker, die Flügel drehen sich
im Wind. Ein Schmuckstück, das aus-
sieht, wie Städter sich Landidylle vor-
stellen – und zugleich ein Beweis
genialer Markenführung.
Das historisch anmutende Bau-
werk ist erst zehn Jahre alt. Christian
Rauffus, hemdsärmeliger Patriarch
der Wurstfabrik Rügenwalder Mühle,
ließ es errichten, weil Besucher in
Bad Zwischenahn stets nach der
­Mühle aus den TV-Spots fragten,
nicht ahnend, dass es sich dabei um
eine Attrappe handelte.
Die Firmenzentrale wiederum,
drei Kilometer entfernt, besteht aus
modernen Büroklötzen. Das einzig
Heimelige ist der Wurstgeruch, der
aus der Versuchsküche in den ersten
Stock strömt. Von hier oben diri­
gierte der umtriebige Marketingleiter
Godo Röben seinerzeit die vege­
tarische Wende des Unternehmens.
Er galt als Rauffus’ Ziehsohn und
trat nach außen gern auf, als wäre er
der Boss. Weil alles auf ihn zuge-
schnitten war, sprach man intern
von »Godokratie«.
Unter Rauffus und Röben stieg
­Rügenwalder binnen weniger Jahre
zum Marktführer bei den fleischlosen
Produkten auf, mit satten 40 Prozent
Marktanteil. 2020 trug das Veggie­
geschäft erstmals mehr als die Hälfte
zum Umsatz bei. Doch die Helden
von einst sind nicht mehr an Bord.
Rauffus hat sich aus dem Opera­
tiven zurückgezogen, Röben verließ
Rügenwalder im Clinch mit der neu-
en Führung. Angeblich auch, weil er
eine konsequentere fleischlose Aus-
richtung anstrebte, was Rügenwalder
nicht kommentiert.
Inzwischen hat hier CEO Michael
Hähnel das Sagen, der vom Keks­
konzern Bahlsen kam. An einem
­Februartag sitzt er in seinem Büro
und rattert Zahlen herunter, die das
Potenzial seines Hauses belegen sol-
len. Er doziert über das Wachstum
der Bevölkerung auf neun Milliarden
Menschen im Jahr 2050. Und da­rüber,
dass der globale Proteinbedarf da-
durch stark ansteigen werde. Dabei
68 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
wolle Rügenwalder »weiterhin vorne
mitmischen«, mit Fleisch- und Ersatz-
produkten.
Als er über den veganen Siegeszug
der Firma redet, vermeidet Hähnel
es, Röben zu erwähnen, als wäre die-
ser der finstere Lord Voldemort aus
»Harry Potter«, dessen Namen man
nicht aussprechen darf. Denn Röben
ist jetzt der Gegner, er hat eine neue
Mission, 170 Kilometer weiter, in
Versmold. Wieder bei einem Fami-
lienunternehmen, als Berater von
InFamily Foods, dem zweitgrößten
deutschen Wurstverarbeiter. Der
tummelt sich, angeleitet von Röben,
seit September ebenfalls im Veggie-
geschäft, mit der Marke Billie Green.
Ob es nun Rache ist, die ihn an-
treibt, oder die Lust, es noch einmal
allen zu zeigen: Röben will beweisen,
dass er es ein zweites Mal schafft, eine
Traditionsfirma neu zu erfinden. Da-
mit greift er nicht nur seinen alten
Arbeitgeber Rügenwalder an, sondern
die gesamte Branche. Die Schlacht der
Fleischfabrikanten wird derzeit auf
Pflanzenbasis ausgetragen.
Mit Wurst ist kein Wachstum
Marketingprofi
Röben: Gern
mehr zu holen. Fast alle großen Pro-
mal Gyros vom duzenten setzen auf vegetarische
Stammgriechen oder vegane Waren, selbst Schweine-
baron Clemens Tönnies, der noch
vor ein paar Jahren öffentlich da­
rüber herzog. Dass die Gesellschaft
heute anders isst, kann nicht einmal
er igno­rieren.
2022 ging der Fleischkonsum in
Deutschland das sechste Jahr in
Folge zurück, um 8,4 Prozent, wie
die Marktforscher der GfK errech­
neten. Die Fleischproduktion sank
ebenfalls, um 8,1 Prozent auf sieben
Millionen Tonnen. So wenig war es
zuletzt vor 18 Jahren.
Wer sich fleischlos ernährt, gilt
nicht mehr als Zausel, sondern als
Avantgarde, ob er es dem Klima zu-
liebe tut oder für sich selbst. Kraft-
protz Ralf Moeller ließ jüngst via
»Bild am Sonntag« wissen, wie erfüllt
sein Liebesleben sei, seit er fleischlos
lebe. Sogar bei Altkanzler und Curry­
wurstfan Gerhard Schröder gibt es
neuerdings auch mal nur Artischo-
cken, wenn man dem Instagram-­
Account seiner Frau glauben darf.
Der Handel zieht mit. Der Dis-
counter Lidl kündigte Anfang Febru-
ar an, bis 2025 weniger Fleisch und
Milch anbieten zu wollen und deut-
lich mehr pflanzliche Proteine. Kon-
kurrent Aldi reagierte mit dem Ver-
sprechen, künftig zumindest mehr
Fleisch und Wurstwaren aus höheren
Haltungsformen anzubieten.
Leona Ohsiek / DER SPIEGEL
Seit Röben Rügenwalder vor gut
acht Jahren in den vegetarischen
Markt schubste, haben sich die An-
sprüche der Konsumenten grundle-
gend gewandelt. Nur fleischfrei zu
sein genügt als Alleinstellungsmerk-
 WIRTSCHAFT

Der gejagte Branchenprimus

Hauke-Christian Dittrich / picture alliance / dpa

Rügenwalder Mühle
Lars Berg
Rügenwalder-Mühle-Wahrzeichen in Bad Zwischenahn, -Veggieaufschnitt, -CEO Hähnel: Ein Beweis genialer Markenführung

mal nicht mehr, dafür liegen bereits zu viele treibt. Sogar den örtlichen Metzger habe er genbläst, weil viele Konsumenten angesichts
Marken in den Regalen. inzwischen für Wurstersatz begeistern kön- der hohen Inflation wieder zum billigen Rin-
Ein Wettkampf voller großmäuliger, teils nen. Über die Produkte eines Wettbewerbers derhack vom Discounter greifen.
auch fragwürdiger Versprechen ist entbrannt. sagt Seitenwechsler Röben im schnoddrigen Zugleich ist Röben darauf bedacht, nicht
Etwa dass die eigenen Produkte gesünder sei- Slang seiner Heimat: »Die schmecken wie missionarisch oder verbohrt rüberzukommen.
en als die der Konkurrenz und wohlschme- Knüppel auf den Kopp.« Es dauert nicht lange, bis er sagt, dass er auch
ckender ohnehin. Röben beherrscht die Kunst, sein Gegen- gern mal Fleisch isst, vorzugsweise Gyros bei
Ob das reicht, um die Kunden zu über- über für sich einzunehmen, indem er von sich seinem Stammgriechen.
zeugen? Bei manchen Vorreitern ist der Gold- erzählt. Vom ständigen Auf und Ab, von Sie- Mit dieser Art kam er auch bei Hans-
rausch schon wieder vorbei. Oatly, der Hafer- gen und Niederlagen. Wie er bei Rügenwalder Ewald Reinert gut an, einem der Inhaber von
drinkkonzern aus Schweden, machte Milch- seinerzeit Sojahack und Mortadella aus Son- InFamily Foods. Als die beiden sich Ende
ersatz salonfähig, mit US-Investor Black­ nenblumenkernen einführte, gegen den an- 2021 zum Kennenlernen in einem Restaurant
stone und Rapper Jay-Z als Anlegern. Das fänglichen Widerstand der übrigen Geschäfts- trafen, bestellte Reinert Gans. Und Röben
Unternehmen war zwischenzeitlich 17 Mil- führung und der Belegschaft, vornehmlich Steak. Dann redeten sie übers vegane Ge-
liarden Dollar wert. Dann kam Oatly die Ex- der Metzgermeister. Wie seine Frau ihn da- schäft. Reinert sagt, an Röben gefalle ihm,
klusivität abhanden, weil zahlreiche Nach- mals bestärkte weiterzumachen, als er aufge­ »dass er unideologisch ist und die alte Welt
ahmer mit Wasser verrührten Hafer günstiger ben wollte. Und welch rauer Wind der der Schlachter nicht schlechtmacht«. Denn
verkauften. Der Börsenwert sackte auf gut Fleisch­ersatzbranche seit einem Jahr entge- Wurstproduzent will Reinert ja bleiben. Im
eine Milliarde. besten Fall fängt die Veggiesparte auf, was er
In Beyond Meat, den kalifornischen An- im klassischen Geschäft verliert.
bieter von Pflanzenburgern, pumpten sogar Veggie-Crash InFamily Foods entstand vor drei Jahren
Leonardo DiCaprio und Bill Gates Geld aus zwei Traditionsfirmen: Reinert, das sind
­hinein. McDonald’s nahm die Buletten ins Aktienkurse von Herstellern veganer Nahrungs- die mit der Bärchenwurst, gegründet 1931 im
mittel im Vergleich zum Dow-Jones-Index,
Sortiment. An der Börse wurde das Unter- Veränderung gegenüber 3. Feb. 2022 in Prozent westfälischen Versmold. Und Kemper aus
nehmen auf 14 Milliarden Dollar taxiert. dem niedersächsischen Nortrup, der Betrieb
Doch weil sich der Burgerhype schnell als Dow Oatly Beyond Meat Veganz existiert seit 1888.
PR-Story entpuppte, rutschte der Aktienkurs Dass es zur Fusion kam, hat auch mit
rasch wieder ab. Heute ist Beyond Meat eben- der Schweinepest zu tun, die von 2018 an
falls nur noch rund eine Milliarde wert. 0 in China wütete. Das Land importierte da-
Vom aggressiven Marketing der US-Gigan- mals massenhaft Fleisch aus Deutschland.
ten profitiert die Branche bis heute, auch in –7 Hierzulande wurde es knapp und teuer. Bei
Deutschland. Es ebnete jenen Mittelständlern Wurstherstellern wie Reinert, die nicht selbst
den Weg, die mit ihrem über Generationen − 30
schlachten, stiegen die Kosten. »Allein wä-
weitergegebenen Know-how aus der Fleisch- ren wir untergegangen«, sagt Reinert. Die
verarbeitung zeigen wollen, wie man genieß- neue Holding hat 2600 Mitarbeiter und
bare Veggiewurst macht. einen ­Umsatz von 735 Millionen Euro, nur
Ein Treffen in Hamburg, Anfang Novem- Tönnies ist größer.
− 60
ber. Veggiepionier Röben ist aus Brake an der Versmold, Anfang Dezember. Da steht sie,
Unterweser angereist, einem 16 000-Einwoh- – 67 die Sommerwurst. 3,50 Meter hoch, 1 Meter
ner-Ort, in dem er aufwuchs und bis heute – 69 Durchmesser. Seit Jahrzehnten ist sie einer
wohnt. Röben kokettiert gern damit, dass er der Verkaufsschlager der Reinerts. Das Ori-
»aus der Provinz« komme. Am Stammtisch − 90 – 85 ginal, 250 Gramm schwer, besteht aus ge-
fühle er sich wohler »als bei Fingerfood-­ würztem Schweinefleisch und ist »im Tuche
Partys in Hamburg oder Berlin«, auch wenn Feb. Apr. Juli Okt. Jan. 2023 gereift«. Die XXL-Version aus Sperrholz, be-
sich dort die Mehrzahl der Veggiefans herum- S Quelle: Refinitiv Datastream; Stand: 28. Februar zogen mit Stoff, ragt am Eingang von InFa-
€

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 69

WIRTSCHAFT
mily Foods empor, als trotziger Re-
präsentant des Stammgeschäfts. Die
neue Welt wird in einem TV-Studio
erklärt. Dort, wo früher Lagerraum
war, berichtet die Firmenspitze ihren
Angestellten und der YouTube-Ge-
meinde alle paar Wochen, warum sie
auf Veggiewurst setzt.
Die beiden Inhaber sitzen vor der
grünen Studiowand, die Kameras
sind aus. Wolfgang Kühnl, 42, pro-
movierter Lebensmitteltechnologe,
spricht von chemischen Prozessen.
Reinert, 59, plaudert über seine Fa-
milie. Wie er mit 15 sein erstes
Schwein schlachtete. Und von seinem
Sohn, 28, der in den kommenden Jah-
ren die Firma übernehmen will.
Ein Mitarbeiter trägt Teller herein
mit den fünf veganen Produkten von
Billie Green, die bislang im Handel
sind: Salami am Stück, Salami in
Scheiben, Salami mit Pfeffer in Schei-
ben, Frühstücksspeck, Schinken­
würfel. Reinert und Kühnl kosten
und befinden alles für gut, anders als
Ende 2021. Damals waren sie und
ihre Manager mit der Qualität so un-
zufrieden, dass sie den Marktstart
von April 2022 auf September ver-
schoben.
Es ist Reinerts zweite Chance in
der veganen Welt, die erste hat er vor
ein paar Jahren vermasselt. 2015 war
er mit 25 Prozent bei Like Meat ein-
gestiegen, einem Düsseldorfer Start-
up, das fleischloses Gyros und Hähn-
chen in die Läden brachte. Sogar die
Bärchenwurst hatte er als Veggiever-
sion im Angebot, mit Schauspieler
Matthias Schweighöfer als Werbe­
gesicht. Doch schon nach einem Jahr
verließ Reinert offenbar der Mut, er
trennte sich von seinen Anteilen und
investierte fortan wieder allein ins
Stammgeschäft. Heute ist Like Meat
deutschlandweit in Edeka-Märkten
erhältlich.
Röben soll verhindern, dass Rei-
nert noch einmal an der eigenen
­Courage scheitert. Die Produkte, die
Billie Green herausbringt, werden
von einem Start-up entwickelt, das
Studenten des Instituts für nachhal-
tige Ernährung an der FH Münster
gegründet haben. Reinert und Kühnl
sind mit 70 Prozent beteiligt. Für die-
ses Jahr strebt Billie Green einen Um-
satz von 20 bis 25 Millionen Euro an.
Ein weiteres Ziel: unter die Top fünf
der deutschen Fleischersatzmarken
zu kommen.
Glaubt man Röben, ist Billie Green
die Lösung für so ziemlich alles, was
an bisherigen Ersatzerzeugnissen un-
genügend schien. Passende Anekdo-
ten hat er auch parat. Etwa die von
seiner vegan lebenden Tochter, die
70 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
im Fitnessstudio trainiert. »Sie kriti-
siert seit Jahren, dass die Ersatzpro-
dukte nicht so viel Protein enthalten,
wie für den Muskelaufbau nötig wäre.
Also haben wir gehandelt.« Billie
Green habe einen Proteingehalt von
mehr als 30 Prozent, »so viel haben
die meisten Fleischprodukte nicht«.
Armin Valet von der Hamburger
Verbraucherzentrale klingt nicht ganz
so euphorisch. Die hohe Proteindich-
te sei »kaum mehr als ein Werbegag«,
sagt er. »Wir haben in Deutschland
keinen Proteinmangel. Um sich aus-
reichend zu versorgen, reichen Quark,
Käse oder Hülsenfrüchte.«
Auch seien die Produkte von Billie
Green nicht zwingend gesünder. Der
Salzgehalt von bis zu vier Prozent sei
»keine Verbesserung gegenüber einer
originalen Salami«, der Zuckeranteil
liege mit knapp fünf Prozent sogar
deutlich drüber.
Womit Billie Green am lautesten
trommelt, ist das Versprechen, ohne
Zusatzstoffe auszukommen. So steht
es auch auf der Vorderseite der Ver-
packung. Wer genau hinschaut, ent-
deckt auf der Rückseite das Klein­
gedruckte: »*Frei von Zusatzstoffen
heißt, wir verzichten auf die Zugabe
von E-Nummern-pflichtigen Zusatz-
stoffen wie z. B. Konservierungsstof-
fen, künstlichen Farbstoffen oder Ver-
dickungsmitteln.« Aromen und ge-
schmacksverstärkende Zutaten, wie
Billie Green sie enthält – etwa Hefe-
extrakt –, fallen nicht darunter. Laut
EU-Recht gelten sie nicht als Zusatz-
stoffe, obwohl sie gleiche oder ähn-
liche Eigenschaften besitzen.
Verbraucherschützer Valet sieht
darin trotzdem »ein falsches Verspre-
chen«: Man wolle sich »besser dar-
stellen, als man ist«. Die Konkurrenz
214 000 ist entsprechend sauer. »Wir halten
die Aussage von Billie Green für är-
gerlich und irreführend«, sagt Sebas-
Tonnen tian Bernbacher, Marketingleiter
beim Tiefkühlkosthersteller Frosta.
Fleischersatz- »Das kann nicht im Sinne des Ver-
und 1,5 Millio- brauchers sein. Eine bewusste Kauf-
entscheidung ist so nicht möglich.«
nen Tonnen Im Oktober machte Frosta seiner Wut
Milchersatz- Luft, in einem Brief an eine Tochter-
produkte firma von InFamily Foods. Aus Vers-
mold heißt es dazu, die Erklärung auf
wurden in der der Verpackung und der Website sor-
EU 2020 ge für »umfassende Transparenz«.
Rügenwalder soll ebenfalls ver-
­produziert. grätzt sein, heißt es aus dem Umfeld
Quelle: BayWa Protein der Firma. Offiziell will man sich zu
Zukunftsbericht 2022 Billie Green nicht äußern. Aber man
spürt die Verstimmung.
Dass sie bei Rügenwalder ihrem
alten Weggefährten nicht hinterher-
trauern, machte der neue Chef Häh-
nel kurz nach Röbens Abgang im
»Handelsblatt« deutlich: Rügen-
walder brauche heute »neben Bauch-
gefühl auch Analytik«. Man durfte
das getrost als Seitenhieb auf Röben
interpretieren. Der verstehe viel von
Marketing und leider wenig von BWL,
lästern ehemalige Mitarbeiter.
Röben kann’s egal sein. Er sieht
sich längst dem Klein-Klein der Kon-
kurrenz entwachsen. Er hat in Start-
ups investiert, berät Ministerien, sitzt
im Vorstand des Branchenverbands
für alternative Proteinquellen. Und
schwingt schon wieder große Reden:
Deutschland müsse »ein Ernährungs-
Silicon-Valley« werden, fordert er.
Die alten deutschen Fehler dürften
Fleischersatzprodukt sich nicht wiederholen. »In den USA
von InFamily Foods: wurde gegründet und gegründet, und
Im besten Fall fängt
die Veggiesparte auf, bei uns saßen Blaupunkt, Nordmende
was das klassische und AEG und schauten zu. Nee, jetzt
Geschäft verliert sind wir auch mal vorne mit dabei.
Der deutsche Mittelstand kommt in
Gang.« Kein Vergleich scheint ihm zu
weit hergeholt.
Lobbyismus beherrscht Röben
­natürlich auch. Aus seiner Sicht hat
die Politik das mit dem neuen Silicon
Valley noch nicht begriffen und steht
der Branche im Weg.
Vegane Fertigprodukte gelten in
Deutschland bislang nicht als Grund-
nahrungsmittel. Für Haferdrink und
Fleischersatz sind 19 Prozent fällig,
nur 7 Prozent dagegen für Kuhmilch
und Fleisch. »Bei der Mobilitäts- und
der Energiewende gibt es ein Ziel:
2045 wollen wir CO2-neutral sein«,
sagt Röben. »Bei der Ernährungs­
Leona Ohsiek / DER SPIEGEL
wende fehlt das noch.«
Und plötzlich klingt der Mann,
der auf keinen Fall als Missionar
­gelten möchte, doch ziemlich mis­
sionarisch.
Alexander Kühn, Maria Marquart n

Politiker Scholz, Lula: Die Sage vom »neuen Elan«
Aufstand gegen
den »Giftvertrag«
MERCOSUR  Das Handelsabkommen mit
Lateinamerika schien so gut wie beschlossen –
doch nun formiert sich harter Widerstand.
Vor allem den Grünen droht eine Zerreißprobe.
A
ls die ersten Demonstranten
gegen den TTIP-Vertrag mit
den USA durch die Straßen
zogen, studierte Lis Cunha gerade
Soziologie in Hamburg. Mitmar-
schiert ist sie damals nicht. Aber den
Geist jener Tage würde die gebürtige
Brasilianerin, die heute Kampagnen
für Greenpeace plant, gern wieder-
beleben.
Wie einst der US-Vertrag dürfe das
»klimaschädliche und veraltete Ab-
kommen« mit den lateinamerikani-
schen Staaten Brasilien, Argentinien,
Uruguay und Paraguay nicht in Kraft
treten, fordert sie. »Wir müssen alles
dafür tun, dass es wie bei TTIP läuft.«
Ein neuer Großkonflikt bahnt sich
an. Die Regierenden in Brüssel und
Berlin wollen das sogenannte Merco-
sur-Abkommen, das Zölle und Han-
delshemmnisse für Industriewaren
und Landwirtschaftsprodukte senkt,
unbedingt durchsetzen. Nach jahre-
langem Stillstand, weil mit dem
rechtspopulistischen Präsidenten Jair
Bolsonaro, der den Regenwald ab-
holzen ließ, niemand verhandeln
wollte.
Seit Jahresbeginn ist der erklärte
Amazonas-Schützer Lula da Silva
im Amt, und so sieht vor allem die
Bundesregierung gute Chancen für
einen Deal. Am kommenden Wo-
chenende reist Wirtschaftsminister
Robert Habeck nach Brasilien, um für
»sehr erfolgreiche und sehr schnelle
Verhandlungen« zu werben. Es gebe
da gerade ein »Fenster«, sagt er, das
»offen steht«.
Der Vertrag, so hofft die Bundes-
regierung, soll den Europäern Roh-
stoffe für die Energiewende, eine Al-
ternative zum riskanten Chinahandel
und Rückenwind für ihre Klimaziele
Kay Niet feld / dpa
bringen. Der »neue Elan« indes, von
dem Bundeskanzler Olaf Scholz bei
einem Lula-Besuch Ende Januar in
Brasilia sprach, ist längst nicht überall
zu spüren.
Die Gegner des Abkommens ma-
chen mobil. Umwelt- und Entwick-
lungsverbände wettern gegen den
»Giftvertrag«, der »Ökosysteme zer-
stören« und »umweltpolitische Er-
rungenschaften« gefährden werde.
Zugleich fürchtet sich die mächtige
EU-Agrarlobby vor billigem Rind-
fleisch und Rohrzucker aus Latein-
amerika und setzt auf den hartnäcki-
gen Widerstand in einer Reihe von
Mitgliedstaaten.
Österreich zum Beispiel hat sich
bereits auf ein Nein zu Mercosur fest-
gelegt. Der Vertrag setze »heimische
Bauernfamilien unter Druck« und
schränke die »Produktion in Europa«
ein, klagt Landwirtschaftsminister
Norbert Totschnig. Das sei mit »den
europäischen Klima- und Nachhaltig-
keitszielen nicht vereinbar«.
Die Niederlande verstehen sich
zwar traditionell als Freihandels­
nation. In der bunten Regierungskoa­
lition des rechtsliberalen Premiers
Mark Rutte sowie im Senat des Landes
indes haben sich zahlreiche Mercosur-
Gegner verschworen. Es sei »nicht aus-
geschlossen«, warnen Diplomaten des
Landes, dass die Regierung in Den
Haag am Ende gegen das Abkommen
stimme.
Noch größer ist der Widerstand in
5,1
Frankreich, wo die Politiker gern die
europäischen Gesundheits- und Hy-
gienestandards vorschieben, wenn sie
argentinisches Rindfleisch aus fran-
Prozent zösischen Kühltheken heraushalten
wollen. Präsident Emmanuel Macron
seiner Importe werde es kaum gutheißen, heißt es in
bezieht Bra­ Brüssel, wenn ihm nach den Rentner-
protesten ein Bauernaufstand drohe.
silien aktuell Macron und Co. kommt entgegen,
aus Deutsch­ dass sich in der Bundesrepublik die
land. Vor Mercosur-Gegner inzwischen eben-
falls formieren. Kirchliche Entwick-
20 Jahren war lungsverbände wie Brot für die Welt
der Anteil noch machen genauso Front gegen den
Deal wie die Deutsche Umwelthilfe,
fast doppelt Oxfam oder die Öko-Organisation
so hoch. Greenpeace, die jüngst gemeinsam
WIRTSCHAFT
mit Misereor eine Studie zu dem Ver-
trag vorgelegt hat.
Das Abkommen würde demnach
die Produktion vieler Waren ankur-
beln, die mit grünen Nachhaltigkeits-
zielen schwer vereinbar sind: Rind-
fleisch, Verbrenner-Autos oder Pesti-
zide. Zudem fördere der Vertrag den
Sojaanbau, der »ein wichtiger Treiber
für Rodungen, Treibhausgasemissio-
nen und Land- und Menschenrechts-
konflikte in Südamerika ist«, heißt
es in der Expertise. Schon der TTIP-
Vertrag war daran gescheitert, dass
die Europäer keine unbeliebten Pro-
dukte wie chlorierte Hühnchenteile
kaufen wollten. Nun droht die Rind-
fleisch-Falle.
Die EU will die Bedenken durch
eine Zusatzerklärung ausräumen, die
sie in den nächsten Wochen mit den
Mercosur-Staaten verhandelt. Die
Regierungen sollen sich verbindlich
zum Pariser Klimaabkommen beken-
nen, den Schutz des Regenwalds ver-
sprechen und die Rechte indigener
Völker gewährleisten.
Das wird der Umweltlobby nicht
reichen. »Eine Erklärung ändert
nichts an den schädlichen Bestand-
teilen des Vertrages«, sagt Green-
peace-Expertin Cunha und spricht
von Augenwischerei. »Was wir brau-
chen, sind echte Neuverhandlungen.«
Der Konflikt spaltet vor allem die
Grünen. Wirtschaftsstaatssekretä­rin
Franziska Brantner sieht »große
Chancen, das Abkommen mit einer
verbindlichen Zusatzerklärung, unter
anderem für einen wirksamen Wald-
schutz, unter Dach und Fach zu brin-
gen«. Die grüne Europaabgeordnete
Anna Cavazzini dagegen verlangt
»substanzielle Veränderungen an
den Vertragsinhalten«. Das Mercosur-
Abkommen sei »in seiner jetzigen
Form nicht nachhaltig«.
Hinzu kommt, dass auch der bra-
silianische Präsident Lula und sein
argentinischer Amtskollege Alberto
Fernández Nachbesserungen fordern,
bei der Ausschreibung öffentlicher
Aufträge oder dem Schutz heimischer
Industrien. Das wiederum könnte
europäische Regierungen ermuntern,
eigene neue Wünsche zu formulieren.
Eine Forderungsspirale mit kaum ab-
sehbarem Ende käme in Gang.
Das Mercosur-Abkommen, über
das seit mehr als zwei Jahrzehnten
gestritten wird, wäre dann wohl nicht
mehr zu retten. »Wir müssen mög-
lichst bis Ende dieses Jahres ein Er-
gebnis erzielen«, mahnt Bernd Lange,
Chef des Handelsausschusses im EU-
Parlament. »Sonst läuft die Zeit für
das Abkommen ab.«
Michael Sauga  n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 71
AUSLAND

Mohamed Abd El Ghany / REUTERS

Erst sei es ihr Vater gewesen, dann ihr Ehemann: Immer hätten sie Männer davon abgehalten, sich die Welt lesend und schreibend zu erobern,
sagt die Ägypterin Zubaida Abd Elaal, eine Großmutter von 13 Enkelkindern. Jetzt endlich erfüllt sich die 87-Jährige ihren Lebenstraum und
besucht eine Alphabetisierungsschule in Minufija nördlich von Kairo, wo sie konzentriert vorführt, was sie gelernt hat. In Ägypten kann mehr als
­jeder Vierte weder lesen noch schreiben. Weltweit gibt es laut Vereinten Nationen 771 Millionen Analphabeten, zwei Drittel davon sind Frauen.

Die Brandstifter von Huwara

ANALYSE  Siedler verwüsten ein palästinensisches
Dorf – wie reagiert Israels Politik, wie die Justiz?
Seit Monaten eskaliert die Gewalt im Westjordanland: Auf
­Attentate von Palästinensern folgen Operationen der isra­e­
lischen Armee, mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten.
Nun tötete ein Palästinenser zwei israelische Brüder aus einer
Siedlung im Westjordanland. Hunderte jüdische Siedler zogen
da­raufhin in die nahe gelegene palästinensische Stadt Huwara.
Dort setzten sie Häuser in Flammen, Dutzende Autos brannten
aus, es gab Verletzte. Die israelische Armee kam spät und
brauchte Stunden, um das Wüten der Siedler zu be­enden. Der
verantwortliche Kommandeur der israelischen Armee im West­
jordanland sagte später, dieser Überfall sei für ihn ein »Pogrom«
gewesen, die Armee habe das nicht erwartet.
Die Siedler können auf das Verständnis von Teilen der isra­e­
lischen Regierung setzen: So zum Beispiel freute sich Tzvika
­Foghel, Abgeordneter der extremen Partei »Otzma Yehudit« des
Nationalen Sicherheitsministers Itamar Ben Gvir, über die bren­
nende palästinensische Stadt: Er sei sehr zufrieden, »weil sie in
Huwara verstanden haben, dass es ein Gleichgewicht des Terrors
gibt, welches die israelischen Streitkräfte im Moment nicht er­
reichen«. Woraufhin die israelische Generalstaatsanwältin polizei­
liche Ermittlungen gegen Foghel anordnete. Der ultrarechte
­Finanzminister Bezalel Smotrich hingegen likte einen Tweet, in
dem es hieß: »Das Dorf Huwara sollte heute ausgelöscht werden.«
Inzwischen fordern 22 israelische Rechtsexperten in einem
Brief von der Generalstaatsanwaltschaft unverzügliche Unter­
suchungen gegen Smotrich und andere Knesset-Abgeordnete.
Der Vorwurf: Anstiftung zu Kriegsverbrechen. Die Lage ist heikel:
Wenn der Staat selbst keine Untersuchung einleiten sollte,
­könnten die Täter und Anstifter vor den Internationalen Straf­
gerichtshof in Den Haag und vor Gerichte in anderen Ländern
gestellt werden.
Dass Israels Justiz einschreiten muss, ist klar. Aber wie wird
sich der Teil der Regierung verhalten, der die Siedler unter­
stützt? Präsident Isaac Herzog hat die Übergriffe scharf verur­
teilt, auch Premier Benjamin Netanyahu übte öffentlich
Kritik. Ob es ihm gelingen wird, seine Koalitionspartner auf
­Linie zu bringen, ist jedoch fraglich. Richard C. Schneider

72 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023

 Verschleppte Kinder
POLEN  Gemeinsam mit der EU
startet Warschau diese Woche
eine Initiative, die verschleppte
ukrainische Kinder in Russland
aufspüren soll. »Wir werden
­Beweise sammeln, damit die
Verantwortlichen für diese Ver-
brechen vor Gericht gestellt
werden«, hieß es aus dem polni-
schen Außenministerium.
Polens EU-Minister, Szymon
Szynkowski vel Sęk, sagte, sein
Land eigne sich für diese Auf­
gabe, da im Zweiten Weltkrieg
Zehntausende polnische Kinder
planmäßig von deutschen Na-
tionalsozialisten entführt worden
seien. Mit dem Vorstoß will
Polen einen Beitrag dazu leis-
ten, das Schicksal von ver-
schleppten ukrainischen Kin-
dern aufzuklären. Laut der
­Regierung in Kiew handle es
sich um 16 000 Kinder, die wäh-
rend des Krieges entführt wor-
den seien, von »Kidnapping«
ist die Rede und von »Deporta­
tionen«. Auch das Uno-Flücht-
lingswerk wirft Russland »fun-
damentale Verstöße« gegen den
»Ortega will uns demontieren«
NICAR AGUA  Der ehemalige politische Häftling Juan
Sebastián Chamorro über die Zukunft der Diktatur
Chamorro, 52, war
Präsidentschafts­
anwärter bei der
Wahl 2021, wurde
J. L. Magana / AP
ein paar Monate
zuvor festgenom­
men und zu 13 Jah­
ren Haft verurteilt. Als einer
von 222 politischen Häftlingen
wurde er nun ausgebürgert und
in die USA geflogen.
SPIEGEL: Herr Chamorro, wie
haben Sie die Zeit im Gefängnis
überstanden?
Chamorro: Drei Monate lang be-
fand ich mich in Isolationshaft.
Man hat mich etwa 400-mal
verhört. Am schlimmsten war,
dass wir nicht mit unseren Zel-
lengenossen sprechen durften.
SPIEGEL: Waren Sie im Vorfeld
über Ihre Freilassung infor-
miert?
Chamorro: Wir dachten, sie wür-
de erst in vielen Jahren erfol-
gen. Am Morgen des 9. Februar
Terrorgefahr nach Terrorgruppen wie der »Islami-
sche Staat« und al-Qaida wür-
Koranverbrennung den vermehrt zu Attacken in
SCHWEDEN  Die schwedische Schweden und auf schwedische
M. Ciftci / AA / Abacca Press / ddp
Sicherheitslage ist derzeit eng Ziele ermutigen. Die schwedi-
mit einem Namen verknüpft: sche Botschaft und das General-
Rasmus Paludan. Im Januar konsulat in der Türkei waren
­entzündete der Rechtsextremist vorübergehend geschlossen.
nahe dem türkischen Botschafts- Auch die USA und Deutschland
gebäude in Stockholm eine weisen offiziell auf eine Ver-
­Ausgabe des Koran – und ver- schärfung der Sicherheitslage
Kriegstrümmer in Charkiw
ringerte damit erneut Schwe- hin. Trotz der Bedrohung ver-
dens Hoffnungen auf eine zichten schwedische Behörden
Kinderschutz vor, indem es ­bal­dige Nato-Mitgliedschaft. bisher darauf, die Terrorwarn-
­unbegleitete ukrainische Flücht­ Der ­türkische Präsident Recep stufe zu erhöhen. Eine erneute
linge zur Adoption freigebe. Tayyip Erdoğan machte Koranverbrennung untersagte
Als Moskau vergangene Woche ­deutlich, dass er einen Beitritt die schwedische Polizei kürzlich
den »Tag der Vaterlandsver­ nun erst recht nicht gutheißen mit Verweis auf die nationale
teidiger« feierte, wurden auch ­könne. Damit nicht genug: Sicherheit. ASC 
­ukrainische Kinder auf die Die Aktion rückt Schweden ver-
­Bühne geführt, die sich öffent- mehrt ins Visier von Terroristen.
lich bei russischen Soldaten für Die Bedrohungslage sei höher
ihre »Rettung« bedankten. Das als je zuvor, teilte der Geheim-
britische »Observer«-Magazin dienst Säpo bereits kurz nach
sprach mit Bewohnern der Stadt der Koranverbrennung mit.
Mariupol, die bestätigten, dass Jetzt räumte Susanna Trehör-
Shahzaib Akber / EPA-EFE
es sich bei den gezeigten Kin- ning, Vizechefin der schwedi-
dern um ihre ehemaligen Nach- schen Terrorbekämpfung,
barn handle, mit denen sie bei gegenüber Sveriges Radio ein,
russischen Raketenangriffen in dass der schwedische Geheim-
Schutzkellern ausgeharrt hät- dienst täglich mit mehreren
ten. NPA ­Terrordrohungen zu tun habe: Anti-Schweden-Protest
Chamorro: Ich glaube, dass es SPIEGEL: Er hat Ihnen auch die
eine einseitige Entscheidung Staatsbürgerschaft entzogen …
Ortegas war. Er hatte uns ver- Chamorro: … und damit einen
haften lassen, um uns irgend- enormen Fehler begangen, denn
wann als Faustpfand einzu­ der Vorgang hat eine Welle inter-
setzen. Aber der internationa- nationaler Solidarität ausgelöst.
le Druck und die Aktionen Die USA haben angeboten, uns
wurden wir plötzlich in Busse der Angehörigen ­haben dazu aufzunehmen. Spanien, Argenti-
verfrachtet. Ich dachte, wir ­geführt, dass die politischen nien, Chile und andere haben uns
­würden in ein anderes Gefäng- Kosten zu hoch wurden. Eine die Staatsbürgerschaft angeboten.
nis verlegt. Dann aber bog andere Möglichkeit ist, dass SPIEGEL: Was glauben Sie,
der Bus plötzlich zum Flug­ er dem kubanischen Modell könnte Nicaragua in absehbarer
hafen ab … folgt, Regimegegner aus dem Zeit zu demokratischen Verhält-
SPIEGEL: Warum hat Diktator Land zu werfen. Ortega will uns nissen zurückkehren?
Daniel Ortega Sie freigelassen? als Opposition demontieren. Chamorro: Unsere Freilassung
darf nicht als Signal missver-
standen werden, dass die Dikta-
tur jetzt weich wird. Im Gegen-
teil: Die Repression hat zuge-
nommen. Hunderte Familien
wurden brutal auseinanderge-
rissen. Es gibt weiterhin mehr
als 30 politische Gefangene.
SPIEGEL: Wie kann die inter­
nationale Gemeinschaft bei
einem friedlichen Übergang zur
Demokratie helfen?
Chamorro: Das Problem ist, dass
die Diktatur die internationale
Esteban Felix / AP
Gemeinschaft ignoriert. Diplo-
maten haben mir versichert,
dass nicht einmal Venezuela
oder Kuba sich so eingebunkert
Ortega-Wandbild in Managua mit der Aufschrift »Asesino« (Mörder) haben wie Nicaragua. JGL
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 73
 AUSLAND

Uno-Resolution vom 23. Februar 2023, die Russland zum Abzug seiner Truppen aus der Ukraine auffordert.
141 Zustimmung
7 Gegenstimme Die Größe des Quadrats
32 Enthaltung entspricht der Bevölkerung
13 Nichtabstimmung RUSSLAND des Landes.
(z. B. abwesend) BELARUS 145 Mio.
NORDKOREA
GR0SS- Einwohner
BRITAN-
NIEN DEUTSCH-
LAND

UKRAINE
FRANK-
REICH
ITALIEN SYRIEN
CHINA
1,4 Mrd. Einwohner JAPAN
USA TÜRKEI
337 Mio.
Einwohner IRAN
PAKISTAN

ÄGYPTEN
MALI
MEXIKO
BANGLA-
DESCH

NIGERIA ERITREA
VIET-
THAI- NAM
INDIEN LAND
NICA- ÄTHIO- 1,4 Mrd. Einwohner
RAGUA PIEN

BRASILIEN INDONESIEN
PHILIP-
PINEN

SÜD-
AFRIKA

S Quelle: Uno


Der neue kalte Krieg

GEOPOLITIK  Die beiden Supermächte China und USA taumeln von einer Krise in die nächste, beide buhlen
um Verbündete. Nicht nur eine tiefe wirtschaftliche Verflechtung, sondern auch der
globale Frieden steht auf dem Spiel. Gibt es noch einen Ausweg aus dieser Abwärtsspirale?

E
in geducktes, rosafarbenes Ge-
bäude im Pekinger Diplomaten-
viertel, eingeklemmt zwischen
der iranischen und der kasachischen
Botschaft. Ein Wachmann friert in
seinem Wintermantel vor dem Tor.
Im Haus dahinter hat Schanna Le­
schtschynska ihr Büro, die Geschäfts-
trägerin der Ukraine in Peking. Vor
zwei Jahren starb ihr Chef an einem
Herzinfarkt, seither leitet sie die Ver-
tretung. Eine Herkulesaufgabe. Ihr
Land ist im Krieg, aber niemand in
Chinas Hauptstadt scheint sich für sie
zu interessieren.
Genau 27 Minuten dauert es, die
russische Botschaft in Peking zu Fuß
zu umrunden. Mehrere Wohnhäuser,
Bürotürme, ein Krankenhaus, zwei
Sportplätze und ein Park gehören
zur riesigen russischen Enklave, über
die Moskaus Botschafter in Peking
­gebietet. Bis vor Kurzem war das
­Andrej Denissow. 1952 in Charkiw in
der damaligen Sowjetrepublik Ukrai-
ne geboren, studierte er Sinologie
und wurde später zu einer Schlüssel-
figur im russisch-chinesischen Ver-
»Russland hältnis.
ist ein aggres­ Wenn es um die Ukraine ging, re-
dete der Pekinger Apparat bis zuletzt
siver Staat. lieber mit dem Russen Denissow als
Die Ukraine mit der Ukrainerin Le­schtschynska.
ist das Opfer.« »Die Ukraine ist Russlands Hinterhof,
das verstehen die Russen am besten«,
Schanna
­Leschtschynska,
bekamen europäische Diplomaten
Geschäftsträgerin von Beamten im Pekinger Außenmi-
der Ukraine in Peking nisterium zu hören. Das sieht Peking
noch heute so, ein Jahr nach Russ-
lands Überfall auf die Ukraine.
Während die ukrainische Botschaf-
terin in Washington bei der »State of
the Union«-Rede von US-Präsident
Joe Biden kürzlich auf der Galerie
des Kongresses begrüßt und gefeiert
wurde, muss Leschtschynska in Peking
immer noch erklären, wer in diesem
Krieg eigentlich wen angegriffen hat.
»Russland ist ein aggressiver Staat«,
sagt sie. »Die Ukraine ist das Opfer.«
Immer wieder habe sie im chinesischen
Außenministerium angefragt und da­
rauf hingewiesen, »dass es für eine
neutrale Position wichtig ist, mit bei-
den Seiten zu sprechen«. Leider habe
sie bis heute kein Anzeichen dafür, dass
die chinesische Seite dazu bereit sei.

74 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


Der komplett gegensätzliche Umgang mit
den beiden Diplomatinnen in Peking und Wa-
shington zeigt die enorme Spannung, die der
Ukrainekrieg in das Verhältnis der beiden
Supermächte getragen hat. Es war schon zu-
vor schwer belastet, aber Putins Überfall auf
die Ukraine hat eine geopolitische Konstella-
tion heraufbeschworen, vor der Staatsmänner
wie Australiens früherer Premier Kevin Rudd
schon seit Jahren warnten – einen »neuen
kalten Krieg«.
Der Begriff ist umstritten, denn die frag-
mentierte Welt des 21. Jahrhunderts ist eine
andere als die der Blockbildung nach dem
Zweiten Weltkrieg. Noch hat das atomare
Wettrüsten zwischen China und Amerika
nicht die Dimensionen erreicht, die sich mit
dem zwischen der UdSSR und den USA im
20. Jahrhundert vergleichen ließe. Und anders
als mit der Sowjetunion treibt Amerika nach
wie vor regen Handel mit China, dessen Zen-
tralbank US-Anleihen im Wert von 867 Mil-
liarden Dollar hält.
Doch seit Februar 2022 sind drei Entwick-
lungen eingetreten, die durchaus an den Kal-
ten Krieg erinnern: Ähnlich wie damals wird,
erstens, Russlands Angriffskrieg auf die Ukra­
Julia Kochetova / DER SPIEGEL; R. Sitdikov / Sputnik / picture alliance / AP; Noel Celis / AFP; M. Kappeler / picture alliance / dpa; Annegret Hilse / REUTERS; Anna Moneymaker / Getty Images
ine zunehmend als eine Art Stellvertreter-
konflikt wahrgenommen. Nicht in der Ukrai-
ne selbst, wo sich eine Nation schlicht gegen
einen Aggressor wehrt – aber in Moskau und
Peking, wo er als Abwehr westlichen »Hege-
moniestrebens« dargestellt wird; aber auch
in Washington, wo er als Teil eines globalen
Kampfs zwischen Demokratien und Auto-
kratien verstanden wird. Und selbst in Euro-
pa scheinen manche dieser Ansicht zu sein.
So hatte die deutsche Außenministerin, wohl
unbeabsichtigt, gesagt, dass sich Europa in
»einem Krieg gegen Russland« befinde.
Zugleich ringen, zweitens, seit Russlands
Invasion der Ukraine die großen Mächte um
Partner und Verbündete in diesem Konflikt.
Jede Seite sammelt ihre »Truppen« – in den
Debatten und Abstimmungen in den Verein-
ten Nationen, mit diplomatischen Missionen
einzelner Politiker oder mit groß angelegten
Hilfs- und Wirtschaftsprogrammen. Beson-
ders umworben werden derzeit viele Staaten,
die im Kalten Krieg zum Teil als »blockfrei«
galten und die heute grob unter dem Begriff
»Globaler Süden« zusammengefasst werden,
etwa Indien, Indonesien, Brasilien, Südafrika.
Drittens geht dieses Ringen einher mit
einer ideologischen Verhärtung – extrem in
Russland, aber zunehmend auch im chine-
sisch-amerikanischen Verhältnis. Der bishe-
rige Kriegsverlauf bestätigt für Peking und
Washington das Bild, das man vom jeweils
anderen hatte: das eines weltanschaulichen
Gegners, mit dem eine Verständigung fast
nicht mehr möglich ist. Diese ideologische
Komponente ist heute viel stärker; bislang
war die Rivalität eher machtpolitisch, militä-
risch und technologisch geprägt.
Waren Moskau und Peking die längste Zeit
des Kalten Krieges verfeindet, stehen sie
einan­der heute so nahe wie seit den Grün-
dungsjahren der Volksrepublik nicht mehr.
Wie damals Josef Stalin und Mao Zedong
teilen heute Wladimir Putin und Xi Jinping
ihre fundamentale Ablehnung einer von den
USA dominierten Weltordnung. Die westliche
Unterstützung der Ukraine erscheint aus die-
ser Perspektive als ein von den USA voran-
getriebener Plan, ihre Einflusssphäre ostwärts
auszudehnen. Der Westen, behauptete Putin
am 21. Februar in seiner Rede an die Nation,
nutze die Ukraine als »Rammbock gegen
Russland« und als militärischen »Übungs-
platz«. Die USA, sekundierte Pekings Außen-
amtssprecher zwei Tage später, seien der
»Kriegstreiber Nummer eins in der Welt«.
Entsprechend illusionslos bewerten Ken-
ner des russisch-chinesischen Verhältnisses
den »Friedensplan«, den Peking kürzlich vor-
legte. »So etwas kann jeder x-beliebige Mit-
arbeiter des Außenministeriums zusammen-
stellen«, sagt der russische China-Experte
Alexander Gabujew. Das Papier bestätige
letztlich, wie sehr Chinas und Russlands In-
teressen übereinstimmten. Peking dränge Mos-
kau zu nichts, das es nicht ohnehin wolle.
Tatsächlich ist Chinas »Friedensplan« kein
Dokument, das ausführt, welche Partei wann
welche Schritte unternehmen soll und wie
Ver­stöße zu ahnden seien. Er ist eine Prin­
zipienerklärung, die Chinas antiwestliche
Positionen wiederholt, den Aggressor Russ-
land schont, statt eines russischen Truppen-
abzugs einen Waffenstillstand fordert – sowie
eine Aufhebung aller Sanktionen, die nicht
vom Uno-Sicherheitsrat beschlossen sind (wo
Russland als Vetomacht einen solchen Be-
schluss de facto unmöglich macht).
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Se-
lenskyj kommentierte den chinesischen Vor-
stoß so positiv, wie das eben möglich ist bei
einem Dokument, das weder den russischen
Angriffskrieg verurteilt noch einen Weg zu
einer Einigung aufzeigt. Allein »dass China
begonnen hat, über die Ukraine zu sprechen,
ist nicht schlecht«, sagte er am ersten Jahres-
2
3 4
Gesichter der Krise
1 | US-Präsident Biden  2 | Russlands Staatschef Putin
3 | Der ukrainische Präsident Selenskyj
4 | Chinas Staats- und Parteichef Xi  5 | Bundeskanzler Scholz
6 | Indiens Ministerpräsident Narendra Modi
AUSLAND
tag des Kriegsbeginns. Die Frage sei, was den
Worten folge. Rund 40-mal hat Chinas Staats-
chef Xi seinen russischen Amtskollegen Putin
insgesamt getroffen, zuletzt im September.
Mit Selenskyj hat er ein einziges Mal telefo-
niert: Das war 2021, im Jahr vor dem Krieg.
Getroffen hat Xi den Ukrainer noch nie.
Kurzfristig habe die Ukraine drei Anliegen
an China, sagt der frühere Außenminister
Pawlo Klimkin zum SPIEGEL . Keine militä-
rische Unterstützung für Russland sowie kei-
ne Lieferung von Technologie, die auch mili-
tärisch genutzt werden kann. Und drittens
müsse man Moskau deutlich machen, »dass
der Einsatz von Massenvernichtungswaffen
ausgeschlossen ist«.
In Wahrheit, so Klimkin, gehe es China mit
seinem »Friedensplan« aber nicht vorrangig
um die Ukraine und Russland: »China nutzt
diesen Moment vielmehr, um sich als ent-
scheidender Akteur auf der Weltbühne zu
präsentieren und die westliche internationa-
le Ordnung grundlegend infrage zu stellen.«
Drei Tage vor dem Ukrainepapier hatte
Peking ein ausführliches Dokument über sei-
ne »Globale Sicherheitsinitiative« vorgestellt.
Dieses Konzept, letztes Jahr von Xi Jinping
angekündigt, ist eine politische Fortschrei-
1
5
6
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 75
AUSLAND
bung der sogenannten Seidenstraßen-
Initiative, Pekings fast weltumspan-
nenden Wirtschafts- und Entwick-
lungsprogramms.
Der Text gibt klare Auskunft über
Chinas sicherheitspolitische Pläne.
Ähnlich wie das Ukrainepapier argu-
mentiert er gegen »Unilateralismus,
Block-Konfrontation und Hegemo-
nismus«. Und er zählt auf, wo die
Schwerpunkte chinesischer Außen-
politik liegen: in den Ländern Süd-
ostasiens, des Nahen Ostens, Afrikas,
Lateinamerikas, in der Karibik und
auf den Pazifischen Inseln.
Es sind genau die Regionen des
»Globalen Südens«, um deren Gunst
auch die USA und Europa ringen. Das
ist, wie etwa der Besuch von Bundes-
kanzler Olaf Scholz in Brasilien zeig-
te, nur teilweise gelungen: Präsident
Lula da Silva sträubt sich, Munition
an die Ukraine zu liefern, und bezog
sich bereits auf Chinas »Friedens-
plan«. Mit 141 Jastimmen für die am
vorigen Donnerstag verabschiedete
Ukraineresolution ist die Zahl ihrer
Unterstützer in der Uno-Generalver-
sammlung nach wie vor sehr hoch;
Russland gewann neben seinen üb-
lichen vier Verbündeten (Nordkorea,
Syrien, Belarus und Eritrea) nur zwei
hinzu, Mali und Nicaragua.
Unter den Staaten, die sich ent-
halten haben, und unter jenen, die die
vom Westen beschlossenen Sanktio-
nen nicht mittragen wollen, hat China
mögliche Partner. In fast allen diesen
Ländern hat Peking seine diplomati-
sche Präsenz verstärkt, für viele von
ihnen ist China der größte Handels-
partner, mit manchen teilt das Land
auch Ressentiments gegen einen oft
arroganten Westen, der sich nicht an
seine moralischen Maßstäbe hält.
76 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Viel stärker als im Ausland schürt
Peking diese Ressentiments im Inne-
ren. Schon vor der Pandemie, aber
durch die Selbstisolation des Landes
nach 2020 befördert, hat sich der poli-
tische Diskurs in China massiv radi-
kalisiert. Der Westen, zumal Ameri-
ka, ist in der Wahrnehmung vieler
Chinesen zu einer bitteren Karikatur
erstarrt: machtgierig, eigennützig,
nichts als die Unterdrückung Chinas
im Sinn. Diese Radikalisierung ist
nicht nur in den Staatsmedien und
den Untiefen des Internets zu beob-
achten, sondern auch in der Spitzen-
diplomatie: China, twitterte die stell-
vertretende Außenministerin kürz-
lich, werde »niemals so werden wie
die USA« und einen »rassischen Ge-
nozid an seinen ethnischen Minder-
heiten« begehen.
Dem entspricht, unter ganz ande-
ren Bedingungen, eine Verschiebung
der Chinadebatte in den USA, wo
mäßigende Stimmen kaum mehr zu
hören sind. Jedes neue Ereignis wird
zur »Chinakrise« – ob das Eindringen
eines chinesischen Spionageballons,
das Verbot des sozialen Netzwerks
TikTok auf Regierungshandys oder
die Debatte über den Ursprung der
Coronapandemie. Stammt das Virus
aus einem chinesischen Labor, wie
zwei US-Studien nahelegen? Ameri-
ka stehe jedenfalls ein »existenzieller
Kampf« bevor, sagte der Vorsitzende
des neu gegründeten Kongress-Aus-
schusses für Chinafragen. China ist
zu einem Thema geworden, das auch
der innenpolitischen Profilierung
dient.
Die »Wahrnehmungskluft« sei so
bedeutend, »dass die beiden Seiten
einander wahrhaftig nicht mehr zu
verstehen scheinen«, schreibt der aus
Peking stammende und an der Prince-
ton-Universität forschende Abrüs-
tungsexperte Zhao Tong. Der Ge-
sprächsfaden ist abgerissen; als das
Pentagon nach der Ballonkrise in Pe-
king anrief, nahm dort niemand mehr
ab. Kurz zuvor hatte der US-Außen-
minister seinen ersten Chinabesuch
abgesagt.
Ein Ausweg aus der sich seit Be-
ginn des Ukrainekriegs immer schnel-
ler drehenden Abwärtsspirale im chi-
Tyler Thompson / Us Navy / ZUMA Press Wire / dpa
nesisch-amerikanischen Verhältnis
scheint immer schwieriger – zumal
weitere Konflikte bereits im Kalender
stehen: Im Frühjahr soll Staatschef Xi
Jinping nach Moskau reisen. Eine
Entspannung ist von diesem Besuch
so wenig zu erwarten wie von der an-
gekündigten Taiwanreise des Spre-
chers des US-Repräsentantenhauses,
Kevin McCarthy. Für China gilt Tai-
wan als Teil des eigenen Hoheitsge-
Bergung des biets. Auf den Besuch von McCarthys
chinesischen Vorgängerin Nancy Pelosi hatte Pe-
Beobachtungsballons
im Atlantik:
king im Sommer mit einem tagelan-
Jedes neue Ereignis gen Militärmanöver reagiert.
wird zur »Chinakrise« Wie eine seltsam aus der Zeit
­gefallene Hinterlassenschaft einer
vergangenen Ära wirken da die jüngs-
ten Wirtschaftszahlen: Während das
­Handelsvolumen zwischen China und
Russland im vergangenen Jahr um
30 Prozent auf rund 190 Milliarden
Dollar stieg, beträgt das zwischen
China und den USA mehr als dreimal
so viel – und mehr als je zuvor. Noch
reger ist nur der Handel, den Ameri-
kas europäische Verbündete mit Chi-
na treiben, er hat ein Volumen von
mehr als 900 Milliarden.
All das steht auf dem Spiel, wenn
sich der Verdacht bestätigen sollte,
den US-Außenminister Antony Blin-
ken vor zwei Wochen äußerte: dass
China darüber nachdenkt, Russland
mit »tödlicher Unterstützung« aus-
zustatten, also Waffen, Munition oder
Kampfdrohnen liefert.
Sollte es dazu kommen, so Blin-
ken, wäre das »ein ernstes Problem
Enge Freunde für unsere Beziehungen« – und hätte
wohl einen Wirtschaftskrieg zur
Handelsvolumen ­Folge, der alles Dagewesene in den
zwischen China und
Russland Schatten stellen könnte. Von einem
»Super-GAU«, einer »Kernschmelze«
der Weltwirtschaft sprach Mikko
146 Mrd. Huotari, der Leiter des Berliner Mer-
Dollar cator Institute for China Studies (Me-
2021 rics), für diesen Fall.
+ 30 %
Es ist eine bittere Ironie, aber wohl
wahr: Der kalte Krieg, bislang eine
Schreckensvision für das chinesisch-
190 Mrd.
Dollar amerikanische Verhältnis, könnte sich
2022* am Ende als ein vergleichsweise
harmloses Szenario erweisen.
Ann-Dorit Boy, Georg Fahrion, Christoph
S Quelle: Nikkei; * Schätzung Giesen, Christina Hebel, Bernhard Zand n
 AUSLAND

Doch ob es den Sohn gibt, ist unklar. Selbst

der Name der nun so präsenten Tochter wird
in Staatsmedien nicht genannt. Mal wird sie
als »edler Nachkomme« bezeichnet, mal als

In Ballerinas zum
»geliebte Tochter« des Machthabers. Dass sie
vermutlich Ju Ae heißt und etwa zehn Jahre
alt ist, hat die Welt von dem ehemaligen US-

Raketentest
Basketballprofi Dennis Rodman erfahren.
Nach einem Besuch in Nordkorea im Septem-
ber 2013 plauderte er aus, dass Kim Jong Un
­Vater geworden sei und sich liebevoll um ein
Baby namens Ju Ae kümmere. Offiziell be-
NORDKOREA  Diktator Kim Jong Un lässt sich neuerdings von seiner stätigt wurde dies nie.
Auffällig ist, dass sich das Mädchen bislang
­Tochter zu offiziellen Auftritten begleiten, ihr Name und ihr Alter werden vor allem zu militärischen Anlässen zeigt.
öffentlich nie genannt. Soll sie als Thronfolgerin präsentiert werden? Darin liegt womöglich die wichtigste Bot-
schaft: Das Atom- und Raketenprogramm ist
für das nordkoreanische Regime ein Projekt

B
is vor wenigen Monaten kannte kaum Könnte das auch eine Frau sein? Unter Beob­ der Zukunft. Mit mächtigen Waffen schütze
ein Nordkoreaner das pausbäckige achtern ist das umstritten. der Führer kommende Generationen,
Mädchen mit den langen schwarzen »Das kann ich mir beim besten Willen schwärmte die Parteizeitung »Rodong Sin-
Haaren. Dann spazierte es Mitte November nicht vorstellen«, sagt Thomas Schäfer, der mun« nach Ju Aes erstem Auftritt.
in roten Ballerinas zum Test einer Interkon- lange als deutscher Botschafter in der Haupt- Dem Erzfeind USA trotzend, dem Volk
tinentalrakete, Hand in Hand mit Vater Kim stadt Pjöngjang gelebt hat. »Nordkorea ist zugewandt – so inszeniert die Propaganda
Jong Un, Nordkoreas Diktator. Mit der Stopp- eine zutiefst machistische Gesellschaft.« Die den offiziell erst 41 Jahre alten Kim. Seit sei-
uhr verfolgte es den Start der Hwasong-17. Überzeugung, dass Frauen Männern unter- nem Amtsantritt vor gut elf Jahren gibt er sich
Seither inspizierte Kims Tochter unter geordnet sind, sei stark verankert, sagt Kim gesellig; er umarmt, hält Hände, spricht mit
­anderem eine Waffenfabrik, posierte für Fotos Seok-hyang, Professorin für Nordkorea­ Alten und Jungen. An seiner Seite ist häufig
mit Kommandeuren und applaudierte bei studien an der südkoreanischen Ewha-­ Ehefrau Ri, eine zierliche Person in Kostüm
einer Militärparade aus der Loge, die den Universität. Zwar hat Kim Jong Un einige und Pumps, offensichtlich eher eine First Lady
Mächtigsten im Staat vorbehalten ist. Selbst Frauen in wichtige Positionen gehoben. des 21. Jahrhunderts als eine sozialistische
auf Briefmarken ist sie nun abgebildet. ­Sowohl Außenministerin Choe Son Hui als Mutterfigur.
Nie zuvor ist ein Kind aus der Kim-Dy­ auch seine Beraterin und Schwester Kim Yo Sein Vater Kim Jong Il gab sich entrückter.
nastie so in der Öffentlichkeit aufgetreten. Jong gelten als einflussreich. Einen funda- Er ließ sich in Öl vor stürmischen Wellen ma-
Die Tochter hakt sich bei ihrem Vater ein und mentalen Wandel bedeuteten ihre Berufun- len: ein Mann gegen die Naturgewalten. »Kim
streichelt seine Wange. Will sich der nord- gen aber nicht, glaubt Professorin Kim. Jong Il wirkte immer ein wenig einsam und
koreanische Machthaber als gütiger Patriarch ­Männer seien der Himmel, Frauen die Erde: melancholisch«, sagt B. R. Myers, Experte für
inszenieren – oder seine Tochter bereits als Dieses Prinzip verinnerlichten schon nord- nordkoreanische Propaganda. Beim Personen­
Thronerbin platzieren? koreanische Kinder. kult gehe es darum, dem Volk Schuldgefühle
Gemäß Verfassung ist Nordkorea eine Der südkoreanische Geheimdienst vermu- einzuflößen, so Myers. Wenn die Wirtschafts-
­sozialistische Volksrepublik, ähnelt aber eher tet, dass Kim Jong Un und seine Frau Ri Sol lage schlecht sei, sollten die Menschen nicht
einer Monarchie. Die Herrschaft des Kim- Ju auch einen Sohn haben. Er wäre dann der dem Führer die Schuld geben, sondern sich
Clans wird mythisch überhöht: Nur wer von natürliche Nachfolger – »alles andere müsste selbst: dass sie ihm noch mehr Kummer be-
dem ersten Staatsoberhaupt Kim Il Sung ab- man sowohl der Elite als auch dem Volk aus- reiteten. »Da ist es keine gute Idee, wenn Kim
stammt, kann demnach das Land führen. führlich erklären«. Jong Un in der Öffentlichkeit den glücklichen
Familienvater spielt.«
Viele Nordkoreaner hinterfragen längst
ihre eigene Armut und Unfreiheit. Seit süd-
koreanische Filme und Musik ins Land ge-
schmuggelt werden, verfangen viele Propa-
gandamärchen nicht mehr. Und die Not der
Menschen verschärft sich. Weil das Regime
seit Beginn der Coronakrise die Grenzen abge­
riegelt hat, gelangen kaum noch Lebensmittel,
Saatgut oder Dünger ins Land. Besonders
­leiden Kinder – und Frauen, die bislang auf
Märkten Importiertes oder Selbstangebau­tes
verkauften und dank ihres Einkommens ih­re
gesellschaftliche Stellung verbessert hatten.
Die Auftritte von Kims Tochter hält der
frühere Botschafter Schäfer für einen Fehler.
Korean Central News Agency / AP

Der Kontrast zwischen mangelernährten Kin-

dern und wohlgenährter Diktatorentochter
sei zu stark. »In der nordkoreanischen Be-
völkerung wird das viel Bitterkeit auslösen«,
glaubt Schäfer. »Wir erleben einen Herrscher,
Machthaber Kim mit Tochter der den Bezug zur Realität verloren hat.«
Katharina Graça Peters n

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 77

AUSLAND

Mannoni: Das Verrückte an Hitlers Schreibe

ist, dass er Gewaltfantasien in eine maximal
konfuse Sprache packt. Als das Buch 1925 in
Deutschland erschien, meinten viele Intellek-

»Hitler tötet bis heute«

tuelle, dieser Mann könne es zu nichts brin-
gen, weil er nicht einmal in der Lage war, drei
richtige Sätze aneinan­derzureihen. Was für
ein Irrglaube. Er hat etwas geschafft – wenn
auch ein Desaster. Man muss sich also fragen,
FRANKREICH  Acht Jahre brauchte Olivier Mannoni, um »Mein Kampf« wie Sprache, selbst wenn sie falsch ist, den-
noch wirkt. Ob das sogar eine Manipulations-
ins ­Französische zu übersetzen. Dabei wurde ihm klar, technik ist. Meines Erachtens war Hitler als
dass der toxische Text weiterwirkt. Ein Gespräch über russische ­Hetzer sehr, sehr modern.
­Kriegsrhetorik, französische Rechte und gutes Deutsch. SPIEGEL: Sehen Sie Parallelen zur russischen
Rhetorik im Krieg gegen die Ukraine?
Mannoni: Oh ja. Viele der Verdrehungen der
SPIEGEL: Herr Mannoni, wer braucht heute SPIEGEL: Ihre Muttersprache hat nicht den russischen Propaganda erinnern mich an Hit-
eine französische Übersetzung von Hitlers harten Klang des Deutschen. Übersetzt man ler. Bei dem ultranationalistischen Ideologen
»Mein Kampf«? »Sturmbannführer«, klingt das im Französi- Alexander Dugin könnten manche Sätze eins
Mannoni: Es war höchste Zeit! Es gab zwar schen eher lächerlich als einschüchternd: zu eins aus »Mein Kampf« stammen. Die
Übersetzungen, aber die sind aus heutiger »chef de ban d’assaut«. Wie verhindern Sie, Sprache ist genauso nebulös, manchmal eso-
Sicht unbrauchbar. Die erste wurde 1934 von dass Ihre Sprache Hitler weich macht? terisch, bis hin zu einer quasireligiösen Über-
antideutschen Nationalisten angefertigt, sie Mannoni: Man kann das vermeiden, etwa steigerung. Bei Hitler war ja alles voller my-
hofften, dass sich Hitler mit seinem Text in durch die Wiedergabe des abge­hackten thologischer Anleihen.
Frankreich unmöglich machen würde. Diese Sprachrhythmus oder durch die vielen Aus- SPIEGEL: Was ist mit Wladimir Putin? Darf
Version ist dem Original nicht sehr treu, sie rufezeichen in den Schmähpassagen. Ist die man den russischen Machthaber, wie manche
liest sich viel zu flüssig. 1938 dann hat Hitler Sprache wirr und hysterisch, lasse ich sie wirr es tun, mit Hitler vergleichen?
selbst eine auszugsweise Übersetzung von und hysterisch. Sie ist auch schwerfällig,­ Mannoni: Als Putin Ende Februar ­seine jüngs-
»Mein Kampf« autorisiert – aus der die anti- voller Adverbien und »nuns«, »dochs« und te Propagandashow im Moskauer Luschniki-
französischen Tiraden verschwunden waren. »abers«. Das kann man im Französischen gut Stadion abgezogen hat, waren die Gemein-
Alle, die sich heute in Frankreich mit der Na- nachmachen. Ansonsten bestreite ich, dass samkeiten offensichtlich. Auch er verklärt das
zizeit beschäftigen, brauchten also eine ver- Deutsch eine hart klingende Sprache ist. Es Vaterland zu etwas Heiligem und verbindet
trauenswürdige, wissenschaftlich kommen- kommt darauf an, was man daraus macht. das mit Attacken auf einen Gegner – bei ihm
tierte Neuübersetzung. Sie musste so übel Hitler-Deutsch und Rilke-Deutsch haben auf den »kollektiven Westen«, der angeblich
sein wie Hitlers Original. Für mich war das nichts gemeinsam. in Deka­denz verfällt. Diese obsessive Herab-
eine ziemliche Qual. SPIEGEL: Die Arbeit an »Mein Kampf« habe setzung des Feindes als moralisch verkom-
SPIEGEL: Sie haben kürzlich sogar ein Buch Ihnen »unbekannte Türen« geöffnet, sagen men, während das eigene Volk nach Reinheit
über diese mühselige Arbeit verfasst. In Ihrem Sie, also neue Erkenntnisse vermittelt. Welche? strebe, das ist ­Hitler so nah, dass mir mulmig
Essay »Traduire Hitler« bezeichnen Sie »Mein wird. Auch wenn Putin Euphemismen ver-
Kampf« als ein Schlammloch, das Sie durch- ordnet, wenn er seinen Krieg gegen die Uk-
waten mussten. Ist das Buch ein Versuch, sich raine als »Spezialoperation« verkleistert,
vom Dreck zu befreien? steht er in der Tradition Hitlers. Wie schon
Mannoni: Normalerweise sucht man als Über- bei diesem werden zudem Täter und Opfer
setzer eine gedankliche Symbiose mit dem systematisch vertauscht.
Autor. Das war bei Adolf Hitler unmöglich. SPIEGEL: Das sind doch Klassiker. Die Lüge
Ich konnte dem Menschen Hitler nicht näher- ist so alt wie der Krieg.
kommen. »Mein Kampf« ist nun mal das Mannoni: Vorsicht, Hannah Arendt hat schon
Werk eines Hasspredigers, der seine Hetze in beschrieben, dass Hitler viel mehr getan hat,
sehr schlechte Prosa packt. Davon habe ich als nur plump zu lügen. Hitler schuf eine an-
mich nicht beschmutzt gefühlt. Aber ich­ dere Realität. Sein Buch bezog sich nicht auf
hatte das Bedürfnis zu verarbeiten, was ich die Wirklichkeit, sondern auf seine eigene,
da übersetzt hatte. Der Essay weist da­rauf persönliche Wirklichkeit. Auf einen Wahn. In
hin, dass Hitler zwar tot ist, »Mein Kampf« totalitären Systemen kann man Millionen
aber nicht. Die Dreckschleuder dreht sich Menschen in die eigene Parallelwelt entführen.
­immer noch. SPIEGEL: Was ist mit Verschwörungstheoreti-
SPIEGEL: Sie schreiben, »Mein Kampf« sei kern? Auch die teilen die Welt in Gut und
unlesbar, so sehr wimmle es darin von zwang- Böse, Freund und Feind ein.
haften Formulierungen und fehlerhaftem Mannoni: Es gibt Ähnlichkeiten zwischen Hit-
Satzbau. Trotzdem ist es heute in manchen lers Sprache und Denken und jenen Corona-
Ländern, zum Beispiel Indien, extrem erfolg- Impfgegnern, die verschwörungstheoretisch
reich. geprägt sind. Ich habe versucht, mit denen ins
Mannoni: Das Buch ist ein Fetisch. Man muss Gespräch zu kommen. Keine Chance. Fakten
GRANGER / INTERFOTO (2)

es gar nicht lesen, um davon fasziniert zu sein.
Allein der Titel reicht: In den meisten Über-
setzungen wurde er auf Deutsch belassen,
»Mein Kampf« – das klingt in den Ohren der
Welt wie ein Peitschenschnalzen, wie der In-
begriff des Bösen.
sind auch unerwünscht. Man ist ganz schnell
ein Verräter, im Auftrag fremder Mächte unter-
wegs. Der Austausch wird erstickt, die Sprache
ist affirmativ, die Denkschlüsse sind definitiv.
Das kenne ich aus »Mein Kampf«. Im Kapitel
Diktator Hitler 1942 »Volk und Rasse« zum Beispiel geht es um

78 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023

 AUSLAND

einen angeblich übermächtigen Feind, der

»maskiert« lebe. »Glaubte er sich aber dann
einmal stark genug, um der Schutzdecke ent-
behren zu können«, schreibt Hitler, »dann ließ
er noch immer den Schleier fallen und war
plötzlich das, was so viele andere früher nicht
glauben und sehen wollten: der Jude.«
SPIEGEL: Auf den Demos französischer Impf-
gegner wurden antisemitische Plakate gezeigt.
Mannoni: Leider gibt es auch in diesem Punkt
Parallelen, ja. Angebliche jüdische Verschwö-
rer, etwa die Bankiersfamilie Rothschild, stün-
den hinter einem Masterplan, mit dem Teile
der Menschheit zerstört werden sollten. So
etwas wurde auf den Demos suggeriert. Eine
andere, noch deutlichere Gemeinsamkeit mit
Hitler ist die Wissenschaftsfeindlichkeit. In
den sozialen Netzwerken heißt es »do your
own research« – macht euch selbst schlau.
Als ob man nur mithilfe von YouTube-Tuto-
rials die Gefährlichkeit eines Virus beurteilen
könnte. Hitler wiederum verabscheute Men-
schen, die ihm Wissen voraushatten. Ich zi-
tiere ihn noch mal: »Ein Volk von Gelehrten
wird, wenn diese dabei körperlich degene-
rierte, willensschwache und feige Pazifisten
sind, den Himmel nicht erobern, ja nicht ein-
mal auf dieser Erde sich das Dasein zu sichern
vermögen.« Hitler hatte allgemein einen Hass
auf Bildungsinstitutionen.
SPIEGEL: Sie gehen in Ihrem Essay auch auf
die »alternativen Fakten« von Donald Trump
ein. Wollen Sie im Ernst so weit gehen, Trump
mit Hitler zu vergleichen?
Mannoni: Man darf die Maßstäbe nicht ver-
wechseln. Dass Trump als US-Präsident kei-
nen Weltkrieg ausgelöst, keinen Genozid or-
ganisiert hat und dass die Demokratie am

Vincent Muller / opale.photo / laif

Ende stark genug war, ihn auszuhalten, sollte
aber nicht über seine zutiefst illiberale Haltung
hinwegtäuschen. Ich kann nicht umhin, beim
Sturm seiner Anhänger auf das US-Kapitol im
Januar 2021 an den gescheiterten Hitlerputsch
von November 1923 zu denken. In Trumps
Sprache findet man totalitäre Tendenzen. Er
faselt davon, den angeblich Unterdrückten
»den Stolz und den Mut zu geben, den sie
brauchen, um unser Land zurückzuerobern«.
Meinte Trump hier nicht die USA, könnte das
genauso gut von Hitler sein. Da steckt alles
drin: die Opferrolle, gekränkter Stolz, die im-
plizite Rechtfertigung von Gewalt. Fast durch-
gehend verweigert Trump den Austausch von
Argumenten – dabei ist das die Grundlage der
Demokratie. »Alternative Fakten« hat Hitler
auch schon verbreitet, zum Beispiel, als er den
deutschen Juden mangelnden Patriotismus im
Ersten Weltkrieg unterstellte.
SPIEGEL: Sie schreiben, Hitlers Hassrede von
vor 100 Jahren beeinflusse auch die Rechts-
radikalen in Frankreich.
Mannoni: Marine Le Pen, die Frontfrau der
Rechten, hat vor einigen Jahren in einer Rede
von »bakterieller Einwanderung« gespro-
chen. Eine Art Kontaminierung des Volks-
körpers durch das Fremde war bekanntlich
schon Hitlers Horror. Die Verschwörungs-
theorie des »großen Austauschs« wiederum,
Übersetzer Mannoni
die 2022 ein bestimmendes Thema im fran-
zösischen Präsidentschaftswahlkampf war,
bedient sich bei »Mein Kampf«. Später wur-
de die völkische Idee, der zufolge die Weißen
in »ihren« Ländern systematisch in die Min-
derheit gebracht werden sollen, vom Ideo-
logen Renaud Camus weitergetrieben. Der
Neo­nazi, der 2019 in Neuseeland 51 Men-
schen in Moscheen niedergemetzelt hat, war
von dem angeblichen Bevölkerungsaustausch
besessen. Hitler tötet bis heute.
SPIEGEL: Im französischen Wahlkampf 2022
sprach sogar die Kan­didatin der Konserva­
tiven, Valérie Pécresse, vom »großen Aus-
tausch«. Was sagt das über Ihr Land?
Mannoni: Dass diese Gesellschaft weit nach
rechts abgedriftet ist. So weit, dass sie rechts-
extreme Begrifflichkeiten als selbstverständ-
lich übernimmt. In so einem Klima wird es
dann möglich, dass Dorfbewohner eine Grup-
pe Roma mit Gewalt aus ihrem Ort vertrei-
ben. Das ist neulich im Norden von Paris ge-
schehen, kaum jemand hat Notiz davon ge-
nommen. In rechten Medien wird es sogar
als Selbstschutz gegen angeblich drohende
Einbrüche durch die Roma gerechtfertigt. Die
Angst vor dem Fremden ist Normalität ge-
worden in Frankreich.
SPIEGEL: 2015 wollte der Linksradikale Jean-
Luc Mélenchon Ihre Neuübersetzung von
»Mein Kampf« verhindern, um sich damit im
Wahlkampf zu profilieren. Mélenchon macht
auch regelmäßig Stimmung gegen Deutschland.
Ist Deutschland immer noch der Erbfeind?
Mannoni: Deutschland hat in Frankreich eine
Funktion als politische Projektionsfläche. Bei
Mélenchon ist das krankhaft. Genauso lächer-
lich ist aber, wie Konservative und Liberale
den Franzosen seit zehn Jahren ein vermeint-
liches deutsches Modell von Fleiß und Pünkt-
lichkeit predigten. Jeder, der ab und zu mit
der Deutschen Bahn fährt, weiß, dass es die-
ses perfekte Disziplindeutschland nicht gibt.
Interview: Leo Klimm n

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 79

AUSLAND

gesetzt haben, dann zählt er die Sekunden

rückwärts und drückt auf einen Knopf, der
das Tor hochfahren lässt, woraufhin Dutzen-
de Menschen an ihm vorbeihuschen, die Roll-

Auferstandene Ruine
treppen nach oben rauschen und in Korrido-
re ausschwärmen, in denen die Verkäufer
einiger Bling-Bling-Boutiquen immer noch
den Staub von den Vitrinen wischen.
So geht es also los. Mit einer Schlange vor
VENEZUELA  Nach zwei Jahrzehnten der Enteignungen, der Knappheit und dem Schuhdiscount Apolo, die nach wenigen
Minuten den Bürgersteig erreicht. Mit lila-
der Hyperinflation hat in Caracas ein Einkaufszentrum eröffnet. farbenen Luftballons vor den Filialen von
Das Regime hat das sozialistische Experiment still und leise beerdigt – Elektro-GouBera, wo es iPhones für 1600
und will jetzt mitverdienen. Von Marian Blasberg Dollar gibt. Mit Konfettischnee und Engeln,
die um einen Santa Claus herumtanzen, was
Cohen so andächtig mit seinem Smartphone

A
uf diesen Augenblick hat Alfredo
­Cohen 14 Jahre lang gewartet. Es gab
Tage, hat er mal gesagt, an denen er
schon nicht mehr daran glaubte, dass sie die
Mall jemals eröffnen würden, aber jetzt steht
er hier, am Haupteingang, und ringt mit einem
Glas Champagner in der Hand um Worte,
während draußen ein paar Anstreicher die
letzten Revolutionsparolen auf der Fassade
überpinseln.
Cohen trägt ein weißes Hemd und eine
Kappe seines Baukonzerns. Er räuspert sich
und blickt in die Gesichter seiner Angestell-
ten, die sich kaum wundern würden, wenn er
jetzt etwas ausholte, um seine Gefühle zu
­beschreiben. Wenn er an Hugo Chávez er-
innerte, den Sozialistenführer, der den Bau
2008 enteignete, um eine der reichsten Fa-
milien Venezuelas auf Linie zu bringen, oder
an Nicolás Maduro, Chávez’ Erben, der diese
Entscheidung vor einigen Monaten plötzlich
rückabwickelte.
Cohen könnte über die Ohnmacht spre-
chen, die er damals empfand, über die Ge-
duld, die Leute wie er brauchen, um in einer
Diktatur zu überleben, die Geschmeidigkeit,
oder er könnte diesen Tag wie andere später
mit dem Berliner Mauerfall vergleichen, aber
er ist kein großer Redner und Venezuela trotz
allem noch ein Land, in dem jedes falsche
Wort ein Risiko bedeuten kann.
Also fasst Cohen sich kurz.
Er dankt seinen Mitarbeitern bloß für die
»Mühe«, mit der sie das Gebäude instand
filmt, als müsste er sich später noch mal ver-
gewissern, dass das hier kein Tagtraum ist, in
dem der tote Chávez plötzlich aus der Weih-
nachtsmannverkleidung steigt.
Es ist tatsächlich alles echt.
13 Jahre nachdem es eigentlich eröffnen
sollte, nimmt an diesem Morgen im Novem-
ber das Sambil La Candelaria seinen Betrieb
auf. 130 000 Quadratmeter Verkaufsfläche.
339 Läden, verteilt auf sechs Etagen. Was in
anderen Ländern keine Nachricht wäre, ist in
Venezuela ein historisches Ereignis, nicht nur
weil es von Cohens blassrot schimmerndem
Konsumklotz nur ein paar Fußminuten zum
Regierungspalast Miraflores sind, wo Chávez
und Maduro zwei Jahrzehnte lang den Sozia-
lismus des 21. Jahrhunderts ausriefen. Es ist

Adriana Loureiro Fernandez / DER SPIEGEL

Junge Frauen im Sambil La Candelaria: Der Showroom eines Landes, das sich langsam aus der Isolation befreit

80 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


ein Ereignis, weil es wie ein letzter
Nachruf auf ihr Scheitern wirkt.
Als er 1999 antrat, hatte Chávez
angekündigt, alles anders zu machen
als seine Vorgänger, die ein Vermögen
ausgegeben hatten, ohne dass das
Volk davon etwas gehabt hätte. Er
sprach von einer Marktwirtschaft, die
gerechter sein sollte, was unter ande-
rem bedeutete, dass er die Ölfirmen
verstaatlichte und mit den Einnahmen
Sozialprogramme finanzierte, durch
die Millionen arme Bürger lesen lern-
ten oder zum ersten Mal in ihrem Le-
ben einen Arzt aufsuchen konnten.
Er legte Niedrigpreise für zahllose
Produkte fest und kappte den Zugang
zu Devisen, um die Einfuhr ausländi-
scher Waren zu beschränken. Aber
das reichte Chávez nicht. Er träumte
von einer neuen, vom Globalen Sü-
den angeführten Weltordnung, von
anderen Besitzverhältnissen, weshalb
er irgendwann damit begann, Tausen-
de Betriebe zu enteignen, Fabriken,
Farmen, Banken, Golfplätze, die Säu-
len einer in seinen Augen dekadenten
Bourgeoisie, deren Konsumgewohn-
heiten die Wurzel allen Übels waren.
Dieses fast fertige Shoppingmons-
ter in der Candelaria, »ich kann es
nicht erlauben«, zürnte Chávez an
einem Sonntag im Dezember 2008,
als er wie jede Woche live auf Sen-
dung war. Er saß im Militärhemd hin-
ter einem Schreibtisch, das Publi-
kum im Fernsehstudio tobte. »Aló
Presidente« war damals sein direkter
Draht zum Volk. Was er dort sagte,
war Gesetz.
»Nein, nein und nochmals nein«,
donnerte Chávez, ehe er verfügte,
dass in der Mall ein Krankenhaus ent-
stehen sollte oder eine neue Univer-
sität, doch dazu kam es nie. Chávez
starb 2013. Kurz darauf stürzte der
Ölpreis ab. Dann fuhr Maduro das
Land gegen die Wand.
80 Prozent seiner Wirtschaftskraft
hat Venezuela seit Chávez’ Tod ver-
loren. Zu den enteigneten Betrieben,
die kaum noch produzierten, kamen
Misswirtschaft und Korruption, ka-
men die Stromausfälle, die Inflation,
die Schlangen vor den Supermärkten,
in denen die Regale leer standen, weil
der Regierung nun das Geld fehlte,
um Lebensmittel zu importieren. Es
kamen die Sanktionen der Amerika-
ner, die das Land vom internationalen
Kapitalfluss abkoppelten, die Protest-
märsche, aber anstatt Maduro in die
Knie zu zwingen, brachten sie nur
mehr Repression, mehr politische Ge-
fangene, mehr Flüchtlinge.
Venezuela war eine Ruine, in der
ein Fünftel der Bevölkerung keine Zu-
kunft für sich sah. Die, die blieben,
verloren im Schnitt sechs Kilogramm
Gewicht.
Irgendwann in dieser Zeit muss bei
Maduro ein Umdenken eingesetzt
haben. Auch wenn er immer noch
vom Sozialismus sprach, suchte er die
Rettung nun im Markt. Ohne etwas
zu erklären, hob er die Importsteuern
auf, er lockerte die Preiskontrollen
wieder und ließ geschehen, dass der
Dollar den Bolívar nach und nach ver-
drängte. Die Folgen sieht man nun an
jeder Ecke. Überall in Caracas eröff-
nen Läden, die bekannte Marken
­anbieten. Im Shoppingviertel Las
Mercedes gibt es jetzt Ferrari-Händ-
ler. In Altamira eröffnete kürzlich ein
Restaurant, in dem die Gäste ange-
schnallt in Rennfahrersitzen speisen,
auf einem offenen Deck, das an einem
Kran in 50 Meter Höhe baumelt.
Vielen kommt es vor, als hätte ein
Fieber die Stadt erfasst, eine Hitze, in
der das Blei zerfließt, das auf den letz-
ten Jahren lag. Selbst die amerikani-
schen Diplomaten pendeln wieder
häufiger nach Caracas. Nach Jahren
der Funkstille haben sie im Mai Ge-
fangene ausgetauscht: sieben Ameri-
kaner gegen zwei Neffen von Maduros
Frau, die in New York einsaßen, weil
sie versucht hatten, eine halbe Tonne
Kokain in die USA zu schmuggeln.
Im Oktober, beim Klimagipfel in
Ägypten, sprach Maduro erstmals mit
dem Franzosen Emmanuel Macron,
der angesichts der Energiesanktionen
gegen Russland dafür wirbt, das vene­
zolanische Öl nicht mehr zu ignorie-
ren. Chevron fördert bald wieder.
»Venezuela explodiert gerade«, so
sagt es Cohens Neffe Alejandro, der
im Marketing der Firma arbeitet.
Das ist der Kontext, in dem das
Sambil in die Hände seiner ursprüng-
lichen Eigentümer zurückgewandert
ist. Der Bau, der ein Leuchtturm für
Chávez’ schöne neue Welt sein sollte,
wirkt heute wie der Showroom eines
Landes, das sich langsam aus der Iso-
lation befreit.
AUSLAND
Natürlich ist das nicht die ganze
Wahrheit. Wozu, könnte man fragen,
braucht es einen Foodcourt, wo der
billigste Burrito neun Dollar kostet,
wenn ein Drittel aller Bürger noch
immer nicht genug zu essen hat? Wer
kauft ein 1600-Dollar-Telefon, wenn
Adriana Loureiro Fernandez / DER SPIEGEL
der offizielle Mindestlohn bei 6 Dol-
lar im Monat liegt?
Vielleicht kann man es so sagen:
Die Eröffnung ist vor allem deshalb
ein Ereignis, weil es kein anderes Ge-
bäude gibt, in dessen Mauern sich die
Irrwege und Widersprüche Venezue-
las so tief eingeschrieben haben.
Am Nachmittag, als bei GouBera
die erste Playstation über die Laden-
Wohnungsloser vor theke geht, öffnet Alfredo Cohen die
der Mall: Unerfülltes Tür zu einem Kabuff, das normaler-
Versprechen von
Häusern und Jobs
weise seine Sales-Manager nutzen.
Er lässt sich auf eine Couch fallen und
atmet tief durch. Wenn man ihn fragt,
was Chávez nun wohl denken würde,
blickt er ernst.
»Ich habe ein paarmal mit ihm ge-
redet«, sagt Cohen. »Ein wunderbarer
Typ, der dich in den Arm nahm und
dir sagte, wie glücklich er darüber ist,
dass es dich gibt. Aber ich habe nicht
mit ihm gekämpft. Wenn ich mal fal-
len ließ, dass wir Arbeit schaffen, fühl-
te er sich angegriffen. Er wollte selbst
Jobs schaffen. 14 Jahre lang haben sie
gebraucht, um einzusehen, dass es
ohne den Privatsektor nicht geht.«
Diese letzten Monate, sagt Cohen,
seien ein Kampf gegen die Zeit ge-
wesen. Als sie das Gebäude übernah-
men, liefen die Rolltreppen und Auf-
Staatschefs Chávez züge nicht mehr. Kabel, die gestohlen
2005, Maduro: worden waren, mussten neu verlegt
Nach Jahren des
Niedergangs sucht
werden. Die Feuerschutzvorrichtun-
die Regierung die gen fehlten, Glasscheiben und Rohre.
Rettung am Markt Sie haben die alten Shopbesitzer ab-
telefoniert, um zu sondieren, wer
nach all den Jahren noch eröffnen
wollte. Weil viele ausgewandert oder
längst verstorben waren, suchten sie
parallel nach neuen Interessenten, die
wiederum das Weihnachtsgeschäft
nicht verpassen wollten.
Cohen deutet auf die Wände, an
Jorge Silva / REUTERS
denen Grundrisse der sechs Etagen
hängen. In etwa einem Fünftel der
Parzellen stecken grüne Nadeln, was
bedeutet, dass sie an diesem Tag er-
öffnet haben. In all den anderen
arbeiten zurzeit noch Architekten,
Elektriker oder Designer, in den auf-
E. Sansar / Anadolu Agency / Getty Images
wendig gestalteten Boutiquen von
Adidas und Nike, in der Filiale vom
Rio Supermarket mit seiner »World-
Class-Weinabteilung«, in den zehn
Kinosälen, im Trampolinpark für die
Kinder.
Bis Mai soll alles fertig sein.
Cohen ist jetzt Anfang sechzig, ein
Mann, der die sozialen Medien, Golf
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 81
AUSLAND
und seine Freiheit liebt. Im Gegensatz zu an-
deren, die sich einen Fahrer leisten können,
lenkt er seinen Wagen selbst durch den Ver-
kehr. Seit dem Tod des Vaters, der ihn als Kind
häufig über die Baustellen schleifte, führt er
den Konzern gemeinsam mit drei Brüdern
und zwei Schwestern.
Salomón Cohen, der Familienpatriarch,
war in den Dreißigerjahren mit seinen Eltern
aus Jerusalem gekommen. Die »Construc­tora
Sambil« gründete er 1958, im selben Jahr, als
der Diktator Marcos Pérez Jiménez stürzte
und das Öl den ersten großen Boom befeuer-
te. Während eine neue Mittelschicht entstand,
setzte Cohen seine ersten Wohnblocks in die
Candelaria, die bis heute ein belebtes Viertel
ist, in dem zahlreiche jüdische Familien leben.
Später kamen Bankentürme hinzu, eine
Hotelkette. Ende der Neunziger bauten sie
im Stadtbezirk Chacao die damals größte Mall
Lateinamerikas. Es folgte das Sambil Barqui-
simeto, das die Form einer Gitarre hat. Das
Sambil in Valencia, das aussieht wie ein Dia-
mant. Während draußen im Land die Gewalt
zunahm, waren die Malls mit ihrem Security-
Personal Orte, an denen sich die Menschen
sicher fühlten. Viele verbrachten ganze Tage
dort, indem sie träumend durch die Flure mit
den Erste-Welt-Produkten streiften; andere
schlugen in den Restaurants die Stunden tot
oder flüchteten sich für die Dauer eines Spiel-
films in die Kunstlandschaften Hollywoods.
Als die Cohens damit begannen, auf einer
Parkplatzbrache in der Candelaria das nächs-
te Sambil hochzuziehen, waren sie längst
Dauergäste auf den Listen der wichtigsten
Familien Lateinamerikas. Chávez, der damals
den ganzen Kontinent nach links verschob,
belauerte sie aus der Nachbarschaft. Im Rück-
blick wirkt es so, als wären da zwei Züge auf-
einander zugerast. Dass es krachte, hatte et-
was Unausweichliches.
Nach der »Aló Presidente«-Sendung aber
geschah erst einmal nichts. Die Cohens dach-
ten, vielleicht blufft er nur. Aber nachdem
Chávez ein zweites Mal im Fernsehen gewütet
hatte, schickte der Bürgermeister Jorge Rodrí-
guez ein Team vorbei, das die Schlüssel holte.
Der Fall wanderte ins Handelsministerium.
Dann wurde der Minister ausgetauscht, und
immer wieder tauchten neue Leute auf, die
sagten, sie würden daran arbeiten, die Ent-
eignung rechtlich abzusichern. Irgendwann
wurde ein Gutachten erstellt, das eine Ent-
schädigungssumme festschrieb, aber der Pro-
zess wurde nie abgeschlossen. Die Dinge wa-
ren undurchschaubar. Sie schienen keinem
Plan zu folgen. »De facto«, sagt Cohen, »war
das Sambil all die Jahre lang besetzt.«
Im Frühjahr 2011, als ich Caracas zum ers-
ten Mal besuchte, lebten Menschen im Sam-
bil. Statt ein Krankenhaus zu bauen oder eine
Uni, schleuste Chávez 3000 Familien, die
während starker Regenfälle ihre Häuser ver-
loren hatten, ins Parkhaus. Das Sambil war
nun ein Obdachlosenheim.
An einem Morgen im April lief Roxny
Mendes damals durch den Rohbau, ein junger
82 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Die Zeit der Enteignung sie keine Option. Sie wollten vorbereitet sein,
falls sich der Wind irgendwann dreht.
Mai 2022, elf Jahre später.
Ein paar Wochen nach der Rückgabe läuft
Mendes wieder durch das Gebäude. Er ist
jetzt 41, sein Haar ist schütterer geworden. Er
sagt, das alles komme ihm noch immer wie
ein Wunder vor.
Auch Mendes ist nie fortgegangen. Die
Cohens, sagt er, hätten ihn beschützt wie
einen Sohn. Heute lebt er um die Ecke in
einem Apartment, das sie ihm geschenkt
­haben, und entwirft die »Choreografie der
Renovierung«.
»Ein paar Sommer lang gab es hier Ferien-
camps für Kinder von Regierungsmitar­
beitern«, sagt er. »Man fragt sich schon, ob
es nicht einen besseren Ort gegeben hätte.«
Auf dem Parkdeck, wo sie die Trennwän-
de und Bäder zu Schutt zerschlagen haben,
pappt an einer Säule noch ein Poster des Re-
Carlos Garcia Rawlins / REUTERS (2)
volutionshelden Simón Bolívar.
Eines der Regenopfer sei geblieben, sagt
Mendes. Der Mann lebt draußen auf dem
Bürgersteig und wischt die Scheiben vorbei-
fahrender Autos. Die anderen, sagt er, seien
vor einigen Jahren umgesiedelt worden. Als
sie noch hier lebten, hatten sie sich in ein
Wohnungsbauprogramm namens »Gran Mi-
Obdachlose im Parkhaus des Einkaufs­ sión Vivienda« eingetragen. Sie warteten da-
zentrums, Wartende vor dem Eingang 2010 rauf, dass Chávez sein Versprechen einlöst
und jeder ein eigenes Haus bekommt.
Ingenieur, der sich für den Rundgang eine Milliarden Dollar wollte Chávez in die
Genehmigung erbeten hatte, so wie immer, Hand nehmen, um die Wohnungsnot im Land
wenn er nach dem Rechten sehen wollte. Es zu lindern. »Zwei Millionen Häuser, eine Mil-
war unheimlich. Durchs Dach fiel schales lion Jobs«, so kündigte er es in »Aló Presiden­
Licht in die unteren Etagen. Mit ihren nackten te« an, aber dann zog es sich auch deshalb,
Wänden aus Beton wirkten die Verkaufsflä- weil nach der Verstaatlichung der wichtigsten
chen wie tiefe, dunkle Schlünde. Kabelfetzen Zementhersteller der Baustoff knapp wurde.
hingen aus der Decke. Die Rolltreppen stan- Es gab eine zweite Mission, die sich »Mi
den still. Vom Parkhaus hallte Musik herüber. casa bien equipada« nannte, »Mein gut aus-
Mendes erzählte, dass er dabei war, als gestattetes Haus«, und eine Art Ergänzung
Chávez’ Leute zum ersten Mal das Haus be- für das Wohnungsbauprogramm darstellte.
traten. Wie Straßenköter seien sie ihm vor- Wer Bedarf hatte, konnte einen Antrag auf
gekommen, die an einen Baum pinkeln, um ein staatlich subventioniertes Einrichtungsset
ihr Revier zu markieren. »Tut schon weh, das stellen. Irgendwann, 2014 oder 2015, landeten
so zu sehen«, sagte er. »Die ganze Arbeit, die diese im Tausch gegen das Öl aus China im-
in dem Gebäude steckt. All die Jobs, die da­ran portierten Waschmaschinen, Kühlschränke
hängen. 5000 Familien. Vielleicht 10 000.« und Fernseher in der Candelaria. Es gab Zei-
Mendes selbst hätte General Manager wer- ten, sagt Mendes, da türmten sich Matratzen
den sollen. bis zur Decke.
Die Cohens hatten Stockbetten ins Park- Als Matratzenlager, so endete das Haus,
haus bringen lassen. Sie zogen Wände ein, das Chávez einst zum Leuchtturm seiner Re-
um den Obdachlosen eine Art Privatsphäre volution ausgerufen hatte.
zu schaffen. Sie bauten Bäder mit Gemein- Als mit dem fallenden Ölpreis die Einnah-
schaftsduschen und stellten Grundschullehrer men ausblieben, hatte eine andere Mission
für Hunderte Kinder an. Wenn jemand aus Priorität: der Machterhalt.
dem Ministerium klagte, dass der Strom nicht »Sie haben begriffen, dass es so nicht wei-
funktionierte, schickten sie einen Elektriker tergehen konnte«, sagt der Abgeordnete Luis
in das Gebäude, das schon lange nicht mehr Eduardo Martínez, als er an einem Maiabend
ihres war. im Restaurant eines Hotelturms sitzt, den die
Es war ihre Überlebensstrategie. Die Co- Cohens in den Achtzigerjahren gebaut haben.
hens investierten, um die Kontrolle nicht voll- Die Möbel und die Teppiche sind noch aus
ständig zu verlieren. Um all die anderen Im- dieser Zeit. Klaviermusik klimpert. Unten
mobilien zu retten, die sich im Gegensatz zu funkeln die Lichter der Stadt.
einem Bankkonto nicht mit ein paar Klicks Martínez, ein groß gewachsener Mann in
verschieben ließen. Wegzugehen, sagte Al- dunklem Anzug, war mal Gouverneur im
fredo Cohens Bruder Roberto damals, sei für Bundesstaat Monagas. Heute sitzt er für die

Oppositionspartei Acción Democrá-
tica im Parlament, wo er Mitglied
einer »Kommission für Dialog, Frie-
den und Aussöhnung« ist, deren
Gründung von Maduro angeordnet
wurde. Geleitet wird das Gremium
ausgerechnet von Jorge Rodríguez,
dem früheren Bürgermeister, der da-
mals die Enteignung durchführte. Der
jetzt manchmal witzelt, dass er nicht
nur nimmt, sondern auch gibt.
Vor knapp zwei Jahren, sagt Mar-
tínez, hatten sie ein Meeting mit der
Handelskammer, in dem sie sich er-
kundigten, was die Regierung tun
könnte, um das Verhältnis zu den
Klassenfeinden zu verbessern. Zu-
rückgekommen sei damals der
Wunsch, die Frage der Enteignungen
zu überdenken.
»Wenn die Regierung den Privat-
besitz nicht respektiert, dann gibt es
kein Vertrauen, und ohne Vertrauen
investiert niemand. So einfach ist
das«, sagt Martínez, der eine lange
Liste mit enteigneten Objekten er-
hielt, die sie jetzt abarbeiten. Das
Sambil, sagt er, sei ihr Pilotprojekt.
Cohen schmunzelt, wenn man ihn
auf diesen Ausschuss anspricht.
»Jetzt will sich jeder damit brüs-
ten, dass er es war«, sagt er an einem
Nachmittag in seinem Büro. »Die
Wahrheit ist: Ich rede direkt mit der
Regierung, und das erste Zeichen,
dass sie es zurückgeben wollen, be-
kamen wir schon vor der Pandemie.«
Es gab einen Anruf, Befehl von
oben.
Es könne schnell gehen, hieß es,
doch Cohen hatte keine Eile. Er woll-
te nicht nur das Gebäude. Er wollte
ein juristisch wasserdichtes Doku-
ment. Er bekam es.
Wenn man ihn fragt, was hinter
diesem Sinneswandel steckt, dann
sagt er, dass die Radikalen weniger
geworden seien. Die einflussreichen
Kader seien heute Pragmatiker, die
eher China im Kopf hätten als Kuba.
Es seien Leute, sagt er, die begriffen,
dass sie davon profitieren, wenn Pri-
vatkonzerne Arbeit schaffen. Dass es
auf sie abfärbe, wenn sie wie die ak-
tuelle Bürgermeisterin eine Polizei-
station vors Sambil stellen, um die
Bürgersteige sicherer zu machen.
Das ist die offizielle Lesart, aber sie
ist nicht die einzige. Es gibt andere,
die glauben, dass Maduros Schwenk
damit zu tun hat, dass die Besitzver-
hältnisse tatsächlich einmal umge-
krempelt wurden.
In den Jahren, in denen die alte
Elite das Land verließ, ist eine neue
Klasse von Besitzenden entstanden.
Enchufados, Günstlinge, nennen die
Venezolaner diese Neureichen, die
durch ihre Kontakte zur Regierung
teils fantastische Vermögen angehäuft
Adriana Loureiro Fernandez / DER SPIEGEL
haben. Durch Korruption. Durch
Drogen oder Blutgold. Dadurch, dass
sie bei Programmen wie »Mi casa
bien equipada« Kühlschränke und
Fernseher beiseiteschafften und damit
ein eigenes Business starteten.
136 Milliarden Dollar, schätzt die
Zentralbank, haben venezolanische
Sparer im Ausland angelegt, doch als
viele dieser Leute auf den Sanktions-
Bauherr Cohen:
14 Jahre lang hat er listen der USA auftauchten, wurde es
auf die Eröffnung schwierig, damit etwas anzufangen.
des Sambil gewartet Weil Sehnsuchtsorte wie Miami un-
erreichbar wurden, kommt das Geld
seit einiger Zeit in Koffern und Con-
tainern zurück ins Land, wo es in all
die schicken Restaurants, Boutiquen
oder Beauty-Salons fließt.
Caracas, das ist heute eine große
Waschmaschine für Geld aus dunklen
Quellen. Eine Dollarbündel-Wirt-
schaft, in der auch einige von Cohens
neuen Mietern cash bezahlen.
»Sie haben uns die Bude einge-
rannt«, sagt Carolina Gonzalez, de-
ren Schreibtisch im Kabuff neben
dem Eingang steht. Gonzalez, eine
eloquente Frau Anfang vierzig, hat
sich im Marketing der Firma hoch-
gearbeitet. In den Wochen, als sie
nach neuen Shopbesitzern suchten,
schleuste sie jeden Tag mehrere Grup-
pen über die Baustelle.
Um die Wahrscheinlichkeit zu re-
duzieren, dass in der Mall dreckiges
Geld gewaschen wird, mussten die
Kranrestaurant in Interessenten mindestens zwei an­dere
Caracas: Die Gäste
speisen in 50 Meter
Läden vorweisen und eine bestimmte
Höhe, angeschnallt Zahl von Followern auf Instagram. Es
in Rennfahrersitzen ist Gonzalez’ wichtigstes Auslese-
AUSLAND
Tool. Es ist ein Hinweis da­rauf, wie
ernst ein Kunde sein Geschäft be-
treibt. »Detektivarbeit«, sagt sie.
»Man weiß ja nie, ob einem der
Strohmann eines Enchufado gegen-
übersitzt«, sagt sie. »Im April hatte
ich hier Leute, die waren komplett
blank. Dann kamen sie im Juni wie-
der und hatten plötzlich Zehntausen-
de Follower.« Gonzalez lächelt.
Manchmal, wenn ihr Zweifel ka-
men, hakte sie nach. Wenn jemand
nach 70 oder 80 Quadratmetern für
einen Beauty-Salon fragte, fragte sie
zurück, welche Deko sich die Leute
vorstellten, und wenn ihr Gegenüber
dann nicht weiterwusste, kam es vor,
dass der Name eines Ministers fiel,
gefolgt von einem Blick, der sagte:
Sie wissen schon.
Aber die Fragen haben Grenzen.
»Wir machen Business«, sagt Co-
hen, der Gonzalez einmal darum bat,
für einen Oberst eine Parzelle aufzu-
treiben. Der Mann leitet den Staats-
betrieb, der die Geräte für »Mi casa
bien equipada« importierte. Diese
Firma, die Cohens Mall als Lager nutz-
te, hat keinen Instagram-Account, aber
sie hat jetzt einen Laden im Sambil.
Im dritten Stock hängt schon das
Schild: Emvepro. Empresa Venezue-
la Productiva.
An einem Novembertag steht hin-
ter dem Verkaufstresen ein Mann,
der sich als Richard vorstellt. Die
­Regale sind noch leer. Richard, der
ein schwarzes Hemd mit Firmenlogo
trägt, erklärt, er warte auf die Liefe-
rung der Güter, die sie zurzeit in der
Kaserne deponierten. Wenn man ihn
fragt, was es mit diesem Laden auf
Matias Delacroix / AP / picture alliance
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 83

SPIEGEL TV Programm
Verbündete Kadyrow, Putin, Prigoschin
NTV
MONTAG, 6. 3., 21.05 UHR & 22.05 UHR, NTV
Putins Freunde & Putins Feinde
In einer zweiteiligen Dokumentation
geht es um Verbündete und Opfer des
russischen Präsidenten: den Chef
der Söldnergruppe »Wagner« Prigoschin
und den tschetschenischen Diktator
Kadyrow. Beide verbreiten Angst und
­Schrecken im Auftrag des Kreml.
­Dagegen müssen Putins Gegenspieler
um ihr Leben fürchten: Inhaftierun-
gen, Mordanschläge – die Blutspur des
Kreml führt bis nach Europa.
SPIEGEL TV
MONTAG, 6. 3., 23.20 – 0.00 UHR, RTL
Die Pfuscher vom Bau
Wie dubiose Geschäftemacher Eigen-
heimbesitzer um ihr Hab und Gut
­bringen. Beispiele mit schiefen Keller-
wänden, Schaltern unter Betonputz
und Türen, die sich nicht öffnen lassen.  Ihre Bühne sind Himmel, Erde und
Auf den Leim gegangen
Die Kleber der »Letzten Generation«
im Einsatz
Der Feind in meinem Haus
Eigenheimbesitzerin lässt Käufer ohne
Geld einziehen.
SPIEGEL TV
Hausbesitzerin Pia Böttcher
AUSLAND
sich hat, dann sagt er, dass er bei der Rück-
gabe des Einkaufszentrums hineinverhandelt
wurde. Eine Sache zwischen den Cohens und
Maduro.
Was er nicht sagt: Dass auch die Frau des
Obersts bald einen Laden eröffnen wird.
Einen Beauty-Salon. 112 Quadratmeter. Das
Schaufenster gegenüber.
Nachdem »Mi casa bien equipada« vor
anderthalb Jahren einschlief, hat Emvepro
umgesattelt. Die Firma, die inzwischen fünf
Geschäfte in Caracas betreibt, kauft nun auf
eigene Rechnung Waren in Iran und China,
die sie mit Profit verkauft. Richard sagt, der
Kühlschrank aus ihrem Sortiment koste auf
Kadyrow/ Imago/ DPA
dem freien Markt 1500 Dollar. Weil sie als
Staatsbetrieb günstiger importieren können,
gibt es das Gerät bei ihnen für 800, und viel-
leicht sagt das am meisten darüber aus, wie
Venezuela sich verändert hat.
Während Chávez von einer gerechteren
Welt träumte, verdienen Maduros Leute Geld
RTL ZWEI mit Kühlschränken.
DIENSTAG, 7. 3., 21.15 – 23.15 UHR, RTL ZWEI Natürlich ist es Unsinn, wenn Richard sagt,
dass den Leuten durch seine Billigkühlschrän-
Mensch Retter – Folge 4 ke mehr von ihrem Lohn bleibe. In Wahrheit
Sich Zeit zu nehmen, obwohl man sind es Sonderangebote für die Oberschicht.
weniger Zeit hat. Das ist für Rettungs- All die Tagelöhner, die jeden Morgen in
kräfte eine enorme Herausforderung. der Garage nach einem Putzjob fragen, all die
Nach den schwierigen Pande­miejahren jungen Leute, die jetzt mit ihren Lebensläufen
hat sich die Lage längst nicht entspannt. durch die Läden ziehen, all die Angestellten,
Feuerwehr, Sanitäter und Ärzte- und die in der Mittagszeit an den leeren Tischen
Pflegeteams sind nach wie vor im der »Zona Gourmet« ihre mitgebrachten
Dauereinsatz. Ihr Job ist oft Stress pur, Lunchpakete öffnen, weil es nicht mal für
denn wenn andere wegrennen, sind einen Burrito reicht – sie alle müssten sich
sie zur Stelle. Unterwegs mit der einen Emvepro-Kühlschrank über Monate
Münchner Feuerwehr, den Not­fall­sani­ vom Mund absparen.
tätern in Frankfurt und den Medizinern 100 Dollar mache er im Monat bei Elektro-
im Klinikum Hanau. GouBera, mit Bonus 120, wenn er eine be-
stimmte Zahl von Telefonen schaffe, sagt der
Verkäufer Deybis, ein junger Mann mit Skin-
ZDF ny-Jeans und Steinen in den Ohren, der einen
SONNTAG, 5. 3., 19.30 – 20.15 UHR, ZDF Teil des Lohns bei seinen Eltern abliefert.
200 Dollar verdiene sie, sagt die 22-jähri-
Terra X: Schlaue Schwärme – ge Melanie, die in der D’Clase-Boutique nun
Geheimnisvolle Sprachen jeden Tag elf Stunden lang die Glitzermode
Schwärme faszinieren uns seit jeher. faltet, die sie selbst gern tragen würde. Lieber
noch würde sie an einer privaten Universität
Wasser. Experten bescheinigen Schwär- Psychologie studieren, doch die Gebühren,
men eine Kompetenz, die weit über die sagt sie, seien zu hoch und die öffentlichen
des Individuums hinausgeht. Der Unis Schrott.
Schwarm findet deutlich effizientere Maduro ließ sie ausbluten, weil sie über all
und klügere Lösungen. Wie funktioniert die Jahre höchstens Leuchttürme der Oppo-
Schwarmintelligenz? Die erste Folge sition gewesen sind.
der zweiteiligen Dokumentation gibt So geht es nun also los.
Antworten. Mit betäubend lauten Jingle Bells. Mit Al-
fredo Cohen, der ernsthaft daran glaubt, dass
er Erlebnisse verkauft. Mit dem Abgeordne-
ten Martínez, der auf einmal im Gewimmel
vor einer Boutique auftaucht, die seine
Schwiegertochter führt, was er vermutlich nur
vergessen hatte zu erwähnen. Mit Richard,
der spätabends, als nur noch die Handwerker
zu hören sind, auf seinem Rücken all die Ma-
Ruedi Abbühl
tratzen, Kühlschränke und Waschmaschinen
zurück ins Sambil trägt, die er vor Kurzem
erst dort rausgeholt hat und die sich kein nor-
Starenschwarm über Rom maler Venezolaner leisten kann. n
84 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
SPORT

Amanal Petros wurde Vierter in Castellón

und brach den deutschen Rekord.

Aufholjagd Nationalität
Deutschland Mexiko Tansania
Weltrekordhalter
Wo sich die ehemaligen Deutscher Rekord Äthiopien Kenia Uganda
Rekordhalter im 10-km-
Straßenrennen zum Jahr des
Siegeszeitpunkt Amanal Petros Rhonex Rekords
des aktuellen Kipruto
2020
Weltrekords
s / IMAGO

(26:24 Minuten) Joshua Chep

Cheptegei
auf der Renn-
strecke befinden
Beautiful Sports

Leonard
würden*, in Metern Micah Kemboi Kogo Patrick Komon
vor dem Ziel 2010

Sammy Kipketer

27:32
Haile Gebrsela
Gebrselassie
2000

Minuten braucht Amanal Petros Carsten Eich

für 10 Kilometer und bricht damit William Sigei
den deutschen Rekord von
Carsten Eich von 1993. Damit 1990
ist er allerdings immer noch
Jens Karras John Ngugi
68 Sekunden langsamer als
der aktuelle Weltrekordhalter. Arturo Barrios Abstand zum
Zakariah Barie Ziel in Metern
* auf Basis der Durchschnittsgeschwindigkeit
S Quellen: World Athletics, DLV
L
LV −550 −500 −450 −400 −350 −300 −250 −200 −150 −100 −50 0
•

Im Langstreckenlauf der Männer entwickelt sich die deutsche Leichtathletik zur Ein-Mann-Show: Amanal Petros hält bereits die deutschen
­Bestzeiten über die Halbmarathon- und Marathondistanz, seit dem vergangenen Sonntag ist der 27-Jährige auch der schnellste deutsche
Straßenläufer über zehn Kilometer. Der Weg des gebürtigen Eritreers an die Spitze ist bemerkenswert. Im Alter von 16 Jahren flüchtete Petros
2012 nach Deutschland. Um in seiner neuen Heimat schnell Anschluss zu finden, begann er mit dem Laufen – es hat sich für ihn gelohnt.

GUT ZU WISSEN Professor für menschliche und probieren möchte, sollte sich
­angewandte Physiologie, von einem Arzt untersuchen
Ist Baden bei eisiger »aber die Beweise für die Vor-
teile des Eisbadens sind über-
lassen. Für den Anfang emp-
fiehlt Tipton eine Wassertempe-
Kälte gesund? wiegend anekdotisch«. Weitere
Forschung sei nötig.
ratur nicht unter zehn Grad
Celsius. Mög­liche Vorteile wür-
Tipton warnt davor, Eis­ den sich in den ersten Minuten
Gänsehaut, Schüttelfrost und kungen vorzubeugen. Verant- baden auf die leichte Schulter einstellen, deshalb sollte man
schmerzende Muskeln: Frieren wortlich dafür könnte der Kälte­ zu nehmen, es könne auch nicht länger als zehn Minuten
ist mit unangenehmen Begleit- schock sein, durch den sich die zu Kälteschäden kommen. Als im kalten Wasser bleiben. Die
erscheinungen verbunden. Blutgefäße der Haut zusam- Gefahren nennt der Wissen- Chilenin Bárbara Hernández
Dennoch wird Eisbaden welt- menziehen. Beim Aufwärmen schaftler Hyperventilation, schwamm in der Antarktis
weit immer beliebter und weiten sich die Gefäße wieder, Atemnot und Herzrhythmus- zweieinhalb Kilometer durch
gilt als gesundheitsfördernd. es kommt zu einer verstärkten störungen. Wer Eisbaden aus- zwei Grad kaltes Wasser, stellte
Doch was ist dran an diesem Durchblutung. Zudem sollen damit einen Rekord auf. Im Ziel
Trend, dessen Wurzeln uralt entzündungshemmende Effek- hatte sie eine Körpertemperatur
sind? Bereits im 19. Jahrhun- te und eine gesteigerte Fettver- von 27 Grad. »Beim Schwim-
dert behauptete der Naturheil- brennung gut für die Gesund- men taten mir die Beine weh,
kundler Sebastian Kneipp, Na- heit sein. aber ich fühlte mich stark.«
mensgeber der Kneipp-Medi- Inwieweit Eisbaden tatsäch- Sich stark fühlen – auch die-
Helmut Fohringer / APA / dpa

zin, dass Therapien mit kaltem lich das Immunsystem stimu- ser Effekt wird dem Eisbaden
Wasser die Abwehrkräfte stär- liert und Krankheiten vorbeu- zugeschrieben. Dafür muss
ken können. Heute geht man gen kann, ist laut Mike Tipton man aber keine waghalsigen
davon aus, dass Eisbaden eine von der University of Ports- Versuche unternehmen, Exper-
Reihe positiver Effekte hat: mouth noch nicht abschließend ten sagen: Schon wer sich kurz
So soll regelmäßiges Eisbaden geklärt. Zwar gebe es plausi­ ins kalte Wasser wagt, könne
­helfen, Herz-Kreislauf-Erkran- ble Argumente dafür, sagt der Eisbadende in Österreich mental wachsen. JAN

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 85

SPORT
»Der Schub wird die Welt
weiterbringen«
SPIEGEL-GESPRÄCH Audi-Chef Markus Duesmann und
Entwicklungsvorstand Oliver Hoffmann über den umstrittenen Einstieg
in die Formel 1 und die Folgen für die Umwelt
Audis Imagewandel begann auf
Schnee, Eis und Sand. Von 1981 bis
1985 gewann der Audi quattro 23 Läu-
fe in der Rallye-Weltmeisterschaft und
vier WM-Titel. Die Marke, zuvor eher
etwas für Biedermänner, bekam einen
sportlichen Anstrich: »Vorsprung
durch Technik« lautete Audis Slogan.
Der Vorsprung ist verspielt, Audi wirkt
unter den deutschen Premiumherstel-
lern wie ein Pflegefall. Deshalb hat
Markus Duesmann, 53, im April 2020
den Job des Sanierers angetreten –
und wie in den Achtzigern sollen Er-
folge im Rennsport das Image auf-
polieren. Der Ingenieur hat früher bei
Mercedes und BMW Formel-1-Moto-
ren entwickelt.
Duesmann hat zum Gespräch sei-
nen Vorstand für Technische Entwick-
lung mitgebracht: Oliver Hoffmann,
46, ebenfalls Maschinenbauingenieur,
verantwortet das Formel-1-Projekt.
Die Antriebseinheit wird von den In-
golstädtern entwickelt und gebaut, der
Rennwagen bei Sauber an der Zürcher
Peripherie.
SPIEGEL: Herr Duesmann, Herr Hoff-
mann, am Sonntag startet die For-
mel 1 in die neue Saison. Wie werden
Sie den Grand Prix von Bahrain ver-
folgen – gemeinsam bei Kaffee und
Gebäck vor dem Fernseher in einem
Ihrer Vorstandsbüros?
Duesmann: Nein, ich werde das Ren-
nen mit Kaffee und Gebäck zu Hause
genießen …
Hoffmann: … und ich mit einem stil-
len Wasser an der Strecke in Bahrain.
Für uns hat die Vorbereitung auf
2026 ja schon vor Monaten begon-
nen, insofern möchte ich am Ort
des Geschehens sein, um Entscheider
zu treffen.
SPIEGEL: Was hat Sie motiviert, in die
Formel 1 einzusteigen?
Das Gespräch führten die Redakteure Simon
Hage und Alfred Weinzierl in Ingolstadt.
86 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Hoffmann: Voraussetzung war das
neue Reglement, das auf Nachhaltig-
keit ausgerichtet ist. Ab 2026 fahren
die Rennautos mit einer sogenannten
Power Unit, die aus einem Elektro-
motor besteht und einem Verbrenner,
der mit synthetischem, also CO2-neu-
tralem Kraftstoff betrieben wird.
Auch reizt uns die wachsende Beliebt-
heit der Formel 1, gerade bei einem
jungen und internationalen Publi-
kum. Die Rennen sind alle ausver-
kauft. Viele Länder wollen einen
Grand Prix ausrichten. Die Organi-
satoren haben doppelt so viele An-
fragen wie Renntermine.
SPIEGEL: Zugleich gibt es viele Men-
schen, die den Motorsport als Ana-
chronismus verachten. Die Auto-
industrie durchläuft eine Transforma-
tion, weg von fossilen Brennstoffen,
hin zu nachhaltigen Energieträgern.
Die Formel 1 setzt weiter auf Ver-
brenner. Wie passt das zusammen?
Duesmann: Sehr gut, denn die For-
mel 1 geht auch diesen Weg. Ab 2026
wird die Elektrifizierung in der For-
mel 1 einen deutlich größeren An-
teil haben als bisher, nämlich rund
50 Prozent. Und dass der Verbrenner
dann mit synthetischem Kraftstoff
betankt wird, treibt auch den techno-
logischen Fortschritt an. E-Fuels wer-
den künftig in der Mobilität eine
große Rolle spielen, vor allem bei
Schiffen und Flugzeugen.
SPIEGEL: Audi will ab 2026 keine Ver-
brenner mehr herausbringen, zeit-
gleich steigen Sie in einen Wettbe-
werb ein, in dem Autos die Hälfte der
Leistung aus Verbrennern schöpfen.
Wie erklären Sie das den Kunden?
Duesmann: Das passt perfekt zusam-
men. Wir entwickeln bis 2026 noch
einmal eine neue Generation von Hy-
briden. Bis in die 2030er-Jahre wird
diese Technologie eine bedeutende
Rolle einnehmen. Und auch die For-
mel 1 entwickelt sich weiter: Bis 2030
möchte sie CO2-neutral sein.
Hoffmann: Wir haben ein fixes Datum
für den Ausstieg aus der Verbrenner-
technologie. Bis dahin werden wir bei
Audi-Manager den besonders PS-starken Fahrzeu-
Duesmann, gen noch mal Plug-in-Hybride auf
Hoffmann: »Wir
freuen uns auf
den Markt bringen. Gleichzeitig brin-
den Wettstreit mit gen wir auch voll elektrifizierte Hoch-
Mercedes« leistungsfahrzeuge der RS-Serie.
SPIEGEL: Warum hat Audi einen Mar-
ketingpush durch die Formel 1 nötig?
Duesmann: Wir wollen das weltweite
Interesse an der Marke hochhalten,
und das schaffen wir am besten über
den Motorsport. Allein durch die Ver-
öffentlichung unserer Formel-1-Pläne
im vergangenen August sind knapp
eine halbe Milliarde Menschen mit
Audi in Kontakt gekommen. Die
Rennserie boomt, gerade in den USA
und Asien, den größten Absatzmärk-
ten der Welt.
SPIEGEL: Hilft Ihnen das Formel-1-En-
gagement, den großen Rückstand auf
BMW und Mercedes aufzuholen und
neue Rivalen wie Nio aus China ein-
zubremsen?
Duesmann: Wir starten Ende dieses
Jahres die größte Modelloffensive der
Audi-Geschichte. Dabei haben wir
alle Wettbewerber im Blick, auch die
neuen. Und was die etablierten an-
geht: Wir freuen uns auf den Wett-
Julian Baumann / DER SPIEGEL
streit mit Mercedes in der Formel 1.
SPIEGEL: Bei Ihrer Konzernmutter
VW haben Sie mit Ihrem Grand-Prix-
Abenteuer viele Widerstände über-
winden müssen. Haben Sie die Skep-
tiker überzeugt, oder halten die nur
 SPORT

Großverdiener Comeback nach der Flaute Anhaltendes Interesse

Gehalt und Bonus der Rennfahrer 2022, Jährlicher Umsatz, Gewinn und Verlust in TV-Zuschauer der Formel 1, weltweit,
Auswahl, in Millionen Dollar der Formel 1, in Milliarden Dollar in Millionen
Gehalt Bonus Umsatz Gewinn/
Verlust 2,573 600
Max Verstappen, Red Bull 2,5
40 20
500
Lewis Hamilton, Mercedes 2,0
55
Fernando Alonso, Alpine* 400
1,5
30 10
Sergio Pérez, Red Bull 300
1,0 Corona-
10 16 bedingter
Charles Leclerc, Ferrari Einbruch 200
0,5
12 11
0,239
Sebastian Vettel, Aston Martin**
0 100
15 2
Daniel Ricciardo, McLaren***
15 2 –0,5 0

2016 2018 2020 2022 2010 2015 2020

Deutsche Teams
in der Formel 1, nach Saisons
davon
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Starts Siege

Mercedes 271 125

Porsche 31 1
ATS 99 0
Zakspeed 53 0
Rial 20 0

* 2023 für Aston Martin; ** Karriere beendet; BMW 70 1

*** 2023 Ersatzfahrer bei Red Bull Sauber
S Quellen: Jacques Deschenaux, Liberty, Formel 1, Forbes


Audi-F1-Rennwagen (Computersimulation)
AUDI

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 87

SPORT
still, bis die ersten Ergebnisse in drei
Jahren vorliegen?
Duesmann: Bei einem Großprojekt
wie einem Formel-1-Einstieg gibt es
immer auch Skeptiker. Aber der
Grundtenor war von vornherein posi-
tiv. Es kommt sehr viel Zuspruch aus
dem Aufsichtsrat, dem Vorstand und
der Belegschaft, sowohl bei Audi als
auch im VW-Konzern.
SPIEGEL: Kritiker warnten vor allem
vor einem öffentlich ausgetragenen
Wettlauf der Schwestermarken Audi
und Porsche. Hat es Ihnen geholfen,
dass Porsches Plan, beim Weltmeis-
terteam Red Bull einzusteigen, ge-
platzt ist?
Duesmann: Es gab keinen Wettlauf
zwischen den beiden Marken. Das
Nichtzustandekommen der Koope-
ration zwischen Porsche und Red
Bull hatte keinen Einfluss auf unser
Engagement.
SPIEGEL: Das neue Reglement schreibt
synthetische, weitgehend klimaneu-
trale Kraftstoffe vor, die sogenannten
E-Fuels. Welches Unternehmen wird
für Sie diesen Sprit entwickeln?
Hoffmann: Wir brauchen einen star-
ken Partner für den Kraftstoff, in Kür-
ze wird dazu eine Entscheidung fallen.
Fest steht: Diese Partnerschaft wird
von entscheidender Bedeutung sein,
denn das neue Reglement ist extrem
auf Effizienz ausgerichtet. Für ver-
gleichbare Rundenzeiten wird voraus-
sichtlich etwa 20 Prozent weniger
Kraftstoff verbraucht werden als heute.
Duesmann: Alle großen Mineralöl-
konzerne investieren gerade in dieses
Thema. Es besteht ein großes Inte-
resse, in die Formel 1 reinzukommen.
Denn sie wissen, dass dort die techno-
logische Entwicklung stattfindet.
SPIEGEL: Sollen E-Fuels dank der For-
mel 1 als Forschungslabor für den
Pkw-Markt interessanter werden?
Duesmann: Audi hat eine klare Ent-
scheidung getroffen: Wir steigen 2033
aus dem Verbrenner aus, weil das bat-
terieelektrische Fahrzeug die effizien-
teste Methode für Individualmobilität
ist. E-Fuels sind in der Herstellung
deutlich ineffizienter, dadurch erheb-
lich teurer – und kommen langfristig
nur für Mobilitätsformen infrage, bei
denen Energie nicht anders gespei-
chert werden kann: Flugzeuge wer-
den auf E-Fuels angewiesen sein oder
die Bestandsflotte, also die Pkw, die
bereits auf der Straße sind.
SPIEGEL: Bundesverkehrsminister
Volker Wissing will, dass E-Fuels als
klimaneutrale Kraftstoffe für Pkw an-
erkannt werden – als Alternative zur
E-Mobilität. Was halten Sie davon?
Duesmann: Wir glauben, dass synthe-
tische Kraftstoffe im Pkw-Segment
88 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
darauf, dass hier zum ersten Mal seit
2009 wieder ein Formel-1-Antrieb
made in Germany entsteht.
SPIEGEL: Ihr Motorsportzentrum in
allen Ehren: Wie wollen Sie Ihren
Standortnachteil gegenüber Red Bull
oder Mercedes wettmachen, die in
England, in der Nähe der Rennstrecke
von Silverstone, ansässig sind?
Hoffmann: Mit der Suche nach der
richtigen Location haben wir uns in-
tensiv beschäftigt. Natürlich ist Eng-
Sven Simon
1 land nach wie vor das Mekka der
Formel 1. Gleichzeitig haben wir in
Neuburg einen hoch attraktiven
Standort, nicht weit von unserem
künftigen Partner, dem Rennstall
Sauber. Die Fluktuation hier ist längst
nicht so hoch wie im Großraum Lon-
don, wo die Ingenieure nicht mal um-
Florent Gooden / DIPPI / firo spor t foto
ziehen müssen, um den Arbeitgeber
zu wechseln. Bei uns sind viele Be-
werbungen aus aller Welt eingegan-
gen. Den bisherigen McLaren-Team-
chef Andreas Seidl hat Sauber als
neuen Geschäftsführer schon gewin-
nen können.
2
SPIEGEL: Gibt es technologische Lern-
effekte aus der Formel 1 für die Se-
Audi-Rennwagen: mittelfristig keine große Rolle spielen rienfertigung?
1 | bei der Rallye werden, schon aus Kostengründen. Hoffmann: Es werden Technologie-
Monte Carlo mit Pilot
Walter Röhrl 1984
Sie sind aus meiner Sicht eigentlich transfers stattfinden – etwa bei der
2 | bei der Rallye Dakar nur für den vorhandenen Bestand an Energiedichte der Batterien, der Ef-
mit Fahrer Carlos Fahrzeugen mit Verbrennungsmoto- fizienz der Motoren oder der Leis-
Sainz im Januar ren von Bedeutung. In der politischen tungselektronik. All das werden wir
Diskussion sehen wir das Risiko, dass mit wenigen Jahren Verzögerung
der klare Beschluss der EU zum Ver- dann auch in der Pkw-Serienfertigung
brennerausstieg 2035 wieder infrage sehen. Die Formel 1 ist ein Hightech-
gestellt wird. Das birgt die Gefahr Labor: Neues wird ausprobiert und
einer Hängepartie, und die wäre für wichtige Erkenntnisse im nächsten
die Autoindustrie fatal. Wir brauchen Schritt in die Serie übertragen.
Planungssicherheit für unsere milliar- SPIEGEL: Mit welchen Erwartungen
denschweren Investitionen. gehen Sie in die erste Saison 2026?
SPIEGEL: Wäre es nicht konsequenter, Duesmann: Die Formel 1 gehen wir
die Rennserie Formel E zu stärken, als langfristiges Engagement an, es ist
die auf elektrische Antriebe setzt? ein Investment in die Zukunft, und
Hoffmann: Wir wollen im Rennsport erst in der Phase, in der man die Ren-
»Vorsprung durch Technik« zeigen, nen bestreitet, kann man das Marke-
gemäß unserem Slogan. Das war in tingpotenzial ausschöpfen. Wir sind
der Formel E so nicht mehr möglich: realistisch: Die Teams, die bisher dort
Das Reglement schreibt dort viele antreten, haben einen Vorsprung,
Einheitsteile vor, man kann sich tech- manche haben über Jahrzehnte tolle
nologisch von den Wettbewerbern Arbeit geleistet. Deshalb werden wir
kaum unterscheiden. Deshalb sind zwei, drei Jahre brauchen, um vorn
wir 2021 aus der Serie ausgestiegen. mitfahren zu können.
SPIEGEL: Sie begeben sich mit der For- SPIEGEL: Red Bull hat sieben Jahre
mel 1 in eine Szene, in der technischer gebraucht, um die Dominanz von
Anspruch und Konkurrenzdruck Mercedes zu brechen. Wie wollen Sie
hoch sind. Woher rekrutieren Sie das da so schnell Anschluss finden?
Personal für dieses Wagnis? Duesmann: Wir haben mit Sauber
»Wir werden Hoffmann: In unserem Motorsport- einen tollen Partner, der sehr effizient
Kompetenzzentrum in Neuburg arbeitet, der einen hochmodernen
zwei, drei arbeiten schon heute mehr als Windkanal hat, sehr gute Ingenieure,
Jahre brau- 250 Entwicklerinnen und Entwickler der mit Andreas Seidl einen hervor-
chen, um vorn am Formel-1-Antrieb der Zukunft, ragenden Formel-1-Manager dazu-
wir wollen das Team durch weitere gewonnen hat. Im Zusammenspiel
mitzufahren.« Hochkaräter aus der Branche ergän- dieses erfahrenen Rennstalls mit
Markus Duesmann zen. Wir sind auch ein wenig stolz unseren Spezialistinnen und Spezia-
 SPORT

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Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 89

SPORT
listen hier in Neuburg kann man schon einiges
erwarten. Aber wir werden natürlich einige
Zeit brauchen.
SPIEGEL: Es gab Werksteams wie das von To-
yota, deren Autos das Ziel nie als Erste er-
reicht haben. Wie kann ein Konzern für sich
werben, wenn er keine Rennen gewinnt?
Duesmann: Wir machen Formel 1 nicht aus
Jux und Dollerei, sondern wollen zeigen, was
wir können. Wir haben in jeder Rennserie, in
der wir uns engagiert haben, alles getan, um
zu siegen. Und das ist bislang immer gelun-
gen. Der olympische Gedanke, nur dabei sein
zu wollen, trägt uns nicht.
Hoffmann: Wir haben im Rallyesport mit dem
Allradantrieb in den 1980er-Jahren Pionier-
leistung vollbracht und dominiert. Wir haben
bei den 24 Stunden von Le Mans mit Turbo-
diesel- und später mit Hybridmotoren neue
Technologien eingeführt und viele Siege ge-
feiert. Und wir sind bei der Rallye Dakar mit
einem elektrifizierten Antriebsstrang in die
Wüste gegangen, wo viele Wettbewerber ge-
sagt haben, da hätten wir uns viel vorgenom-
men – und sind auf Augenhöhe. Wir wissen:
Wo immer man sich im Motorsport beteiligt,
muss man es konsequent machen.
SPIEGEL: Dennoch stellt sich die Frage, ob
Sauber groß genug ist, um die Weltmeister-
schaft anzupeilen. BMW hat es von 2006
bis 2009 mit Sauber versucht, nur einen ein-
zigen Grand Prix gewonnen und dann auf-
gegeben.
Duesmann: Man kann die Geschichte auch
anders erzählen: Dem Team ist es gelungen,
innerhalb von drei Jahren ein Rennen zu ge-
winnen und Vizeweltmeister zu werden.
Sauber ist ein sehr gut strukturiertes Team
mit viel Know-how und Effizienz – was in
Zeiten der Budgetdeckelung einen großen
Vorteil darstellt. Nun wird aus diesem Team,
das die Motoren bislang auf dem Markt ein-
kaufen musste, ein Rennstall mit dem Cha-
rakter eines Werksteams. Das ist ein Riesen-
unterschied.
SPIEGEL: Derzeit bleibt Sauber unter der Bud-
getgrenze der Formel 1 von 154 Millionen
Dollar für die aktuelle Saison, mangels Spon-
soren und Erfolgsprämien.
Hoffmann: Wir haben einen klaren Plan ver-
einbart, wie sich Sauber weiterentwickelt.
Und wir stellen sicher, dass die Budgetgrenze
erreicht wird. Andreas Seidl ermittelt gerade,
wo noch Know-how eingekauft werden muss.
Audi Communications Motorspor t
Audi-Elektrorennwagen in Marrakesch 2020
90 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
SPIEGEL: Erfolge in der Formel 1 sind davon
abhängig, wer hinter dem Lenkrad des Renn-
wagens sitzt. Welches Profil sollen Ihre zu-
künftigen Piloten haben?
Hoffmann: Gerade in den Anfangsjahren ist
es wichtig, Fahrer zu haben, die mit ihrer Er-
fahrung auch einen entscheidenden Beitrag
zur Entwicklung des Autos leisten können.
Das ist ein anderes Profil als das junger Fahrer,
die eine hohe Grundschnelligkeit haben und
hoch veranlagt sind. Wir werden beide An-
sprüche abdecken, aber bis 2026 ist es noch
lange hin.
SPIEGEL: Von VW wurde schon darauf ver-
wiesen, dass man sich als deutsches Team gut
einen deutschen Fahrer vorstellen könne.
Duesmann: Natürlich sind deutsche Fahrer
für uns genauso attraktiv wie für die Spitze
der Konzernmutter – doch ist es für uns keine
Bedingung. Wir sind offen für Fahrer aller
Nationalitäten und Sprachen.
SPIEGEL: Aber Sie haben schon mit Mick
Schumacher gesprochen.
Duesmann: Wir sprechen im Moment mit vie-
len Entscheidern, Fahrern, Teamchefs. Mit
Mick Schumacher gab es keine konkreten Ge-
spräche hinsichtlich eines Engagements. Das
wäre auch viel zu früh.
SPIEGEL: Die Logistik des Wanderzirkus For-
mel 1 produziert etwa 250 000 Tonnen CO2
pro Saison. Wie können Sie das in diesen Zei-
ten verantworten?
Duesmann: Die Formel 1 hat zum Ziel, bis
2030 bilanziell CO2-neutral zu werden. Das
Konzept hat uns überzeugt. Der Schub, der
vom künftigen Formel-1-Reglement Richtung
CO2-neutraler Kraftstoff ausgeht, wird die
Welt weiterbringen.
Hoffmann: Die DHL ist ja Logistikpartner der
Formel 1 und hat aufgezeigt, wie der Reise-
zirkus auf CO2-Neutralität umgestellt wird.
SPIEGEL: Es wird aber weiterhin zwischen den
Kontinenten hin und her geflogen, auf einen
Grand Prix in Baku folgt einer in Miami und
wieder retour nach Italien.
Duesmann: Keine Frage, die Logistikwege
müssen optimiert werden. Es muss möglichst
viel mit Lkw transportiert werden, möglichst
wenig mit Flugzeugen.
SPIEGEL: Sie bezeichnen sich selbst als Mensch
mit grünem Herzen. Wie kriegen Sie das per-
sönlich mit der Formel 1 zusammen?
Duesmann: Wir müssen die Probleme dieser
Welt nicht durch Verzicht, sondern durch
Technologie lösen. Deswegen widerspricht
sich das für mich nicht. Ich bin immer ein
»Racer« gewesen und treibe trotzdem mit
aller Kraft eine Technologie voran, die uns
von fossilen Rohstoffen wegbringt.
SPIEGEL: Hängen Ihre eigenen Karriere-
chancen im VW-Konzern von den Erfolgen
in der Formel 1 ab?
Duesmann: Das weiß ich nicht. Nein, ich wür-
de es ausschließen. Die Ergebnisse in unserem
Kerngeschäft stehen im Vordergrund. Die
Erfolge im Motorsport sind die Kür.
SPIEGEL: Herr Duesmann, Herr Hoffmann,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Teurer
Freund
FUSSBALL Der Manager Fredi Bobic
wollte aus Hertha BSC einen
Weltklub machen. Er ist krachend
gescheitert. Jetzt dringen
immer mehr Fragwürdigkeiten
an die Öffentlichkeit.
V
or fünf Wochen erlebte Fredi Bobic,
51, wie schnell Fußballmanager im Pro-
figeschäft einen Karriereknick erleiden
können. Ohne Vorwarnung erhielt der Ge-
schäftsführer von Hertha BSC Ende Januar
seine Kündigung. Er werde mit sofortiger
Wirkung von »der Verpflichtung zur Dienst-
leistung freigestellt«, hieß es in dem Schrei-
ben, das Hertha-Präsident Kay Bernstein und
Vizepräsident Fabian Drescher unterzeichnet
hatten. »Unverzüglich« seien »Arbeitsgegen-
stände und -unterlagen« zurückzugeben.
Den Dienstwagen immerhin dürfe Bobic
noch bis zum 30. April privat nutzen, dann
sei das Fahrzeug abzuliefern, und zwar in
»einem gereinigten und verkehrstüchtigen
Zustand«. Als müsse man eine solche Selbst-
verständlichkeit hervorheben.
Bobic’ Entlassung, staubtrocken ausfor-
muliert auf einer DIN-A4-Seite, war der jähe
Absturz eines vermeintlichen Überfliegers.
Der ehemalige Torjäger galt als Manager-
koryphäe. Noch im Dezember wurde er als
Kandidat für den Posten des Direktors der
Nationalmannschaft gehandelt – als Nach-
folger Oliver Bierhoffs. Nach seinem Scheitern
bei der Hertha, die sich unter Bobic sportlich
nicht verbessert hat und in dieser Saison im
Abstiegskampf steckt, muss der smarte
Schwabe jetzt um seinen guten Ruf kämpfen.
Denn am 10. Februar, knapp zwei Wochen
nach Bobic’ Entlassung, kündigte die Hertha-
Führung dem Manager auch noch fristlos –
wegen vereinsschädigenden Verhaltens. Er
hatte nach der 0:2-Niederlage im Derby gegen
Union Berlin einem Journalisten im Olympia-
stadion Schläge angedroht. Bobic geht gegen
seine Kündigung vor, demnächst treffen sich
die Parteien wohl vor Gericht. Und so lang-
sam kommt heraus, dass hinter der Demission
weit mehr steckt als eine unbedachte Äuße-
rung unter Stress.
Es droht eine Schlammschlacht zwischen
dem Verein und seinem ehemaligen Chef-
strategen. Anwälte arbeiten Bobic’ Amtszeit
in Berlin auf, um Munition für den Rechts-
n streit zu sammeln. Sie hinterfragen. Und of-

fenbar, so hört man, kommen immer
mehr seltsame Vorgänge ans Licht.
Fest steht: Die Geschichte von Bo-
bic in Berlin ist die eines großen Miss-
verständnisses. Bevor er zur Hertha
kam, hatte er als Sportvorstand fünf
Jahre lang bei Eintracht Frankfurt für
Furore gesorgt. Durch eine geschick-
te Transferpolitik formte Bobic die
Mannschaft des hessischen Tradi-
tionsvereins zu einem Topteam der
Bundesliga und legte den Grundstein
für spätere Erfolge, auch im Europa-
pokal.
Im Juni 2021 wechselte Bobic zu
Hertha BSC – für eine Ablösesumme
von 2,5 Millionen Euro. Er wurde
begrüßt wie ein Wunderheiler. Bobic
träumte davon, in Berlin den ganz
großen Wurf zu landen. Er wollte
die schier unregierbare Hertha in
den Griff bekommen, das Team Rich-
tung Champions League führen
und gleichzeitig das Image vom
mausgrauen Hauptstadtklub auf-
polieren.
Die Aufgabe war schwieriger als
gedacht. Weil von den mehr als
370 Millionen Euro, die der Investor
Lars Windhorst über Jahre in die Her-
tha gepumpt hatte, bereits das meiste
Geld ausgegeben war, blieben Bobic
weniger Mittel, als er sich erhofft hat-
te. Einschränken mochte er sich je-
doch offenbar nicht: In den 20 Mo-
naten seiner Amtszeit verpflichtete
der Manager 21 Profis. Die Anzahl
der Hertha-Mitarbeiter insgesamt
stieg von 283 auf 349 an. Die Perso-
nalkosten des Klubs kletterten – trotz
eines vom Präsidium verordneten
Sparkurses – um 4,8 Millionen Euro
auf ein Rekordhoch von 97,7 Millio-
nen Euro.
Bobic’ scheinbar lockerer Umgang
mit den Finanzen, im Großen wie im
Kleinen, sorgt inzwischen für Ärger
in Berlin. Im Februar 2022 stellte er
eine Imagekampagne vor mit dem
Titel »Fahnenträger«. Die Idee war,
ehemalige Spieler und prominente
Hertha-Fans für PR-Zwecke einzu-
binden. Für das Team der »Hertha
Legenden« waren unter anderem der
langjährige Torwart Gábor Király, der
ehemalige Nationalspieler Marko
Rehmer und der einstige Stürmer
Axel Kruse ausgewählt worden.
Alle hatten eine »Markenbot-
schaftervereinbarung« unterzeichnet,
in der geregelt ist, bei welchen Ge-
legenheiten die Männer auftreten sol-
len, etwa bei Presse- und Sponsoren-
terminen, bei Jubiläen oder in Sen-
dungen von Hertha TV. Auch das
Honorar für die Dienste wurde in
dem Vertragswerk festgeschrieben:
500 bis 1000 Euro für Rehmer und
Király pro Auftritt plus Freikarten für
Hertha-Heimspiele und einen Gut-
schein für den Hertha-Fanshop. Axel
Kruse hingegen kassiert eine Jahres-
pauschale in Höhe von 100 000 Euro
– netto. Sein Vertrag läuft von Januar
2022 bis Juni 2024 und enthält die
Option, dass er den Kontrakt von sich
aus um zwei Jahre verlängern kann.
Zieht Kruse die Klausel, würde der
ehemalige Kicker insgesamt 450 000
Euro kassieren.
Keine Frage: Kruse verbindet eine
besondere Geschichte mit der Hertha
und Berlin. Er stammt aus der DDR.
Nach seiner Flucht in den Westen
spielte er von 1989 bis 1991 bei dem
Großstadtklub und noch mal von
1996 bis 1998. Seit vielen Jahren
wohnt der ehemalige Torjäger, der
als Geschäftsführer bei einer Film-
und Fernsehproduktionsgesellschaft
arbeitet, in Kleinmachnow unweit des
Wannsees. Kruse ist beliebt bei vielen
Hertha-Fans, die seine mitunter poin-
tierten Aussagen zur Vereinspolitik
schätzen.
Aber ist Kruse wirklich eine grö-
ßere Legende als Rehmer, ein 35-
maliger DFB-Nationalspieler, der
138 Partien für die Hertha absolvier-
te? Oder als Király, der 252-mal für
die Berliner auflief? War es angemes-
sen, ihn als Markenbotschafter so
üppig zu bezahlen?
Das Hertha-Präsidium ist wegen
der Sache mit Kruse inzwischen miss-
trauisch. Von 1993 bis 1996 spielte der
Torjäger für den VfB Stuttgart – zeit-
weise gemeinsam mit Fredi Bobic.
»Als sein Freund bin ich natürlich
happy, dass Fredi jetzt in Berlin ist«,
erzählte Kruse vorvergangenen Som-
mer in einem Interview. Es soll nun
geprüft werden, ob Kruses Marken-
SPORT
botschaftervertrag Bobic zur Last ge-
legt werden kann.
Kruse und Bobic ließen Anfragen
des SPIEGEL unbeantwortet. Hertha
BSC erklärte, man könne sich zu Ver-
tragsinhalten oder juristischen Vorgän-
gen nicht in der Öffentlichkeit äußern.
Vereinsanwälte machen Bobic
noch einen weiteren Vorwurf: Er soll
vertrauliche Interna weitergegeben
Moritz Müller / Alamy Stock Photos / mauritius images
haben. In einem Schreiben der Juris-
ten, das dem SPIEGEL vorliegt, heißt
es, Bobic habe womöglich »vertrau-
liche Informationen« zu den Ver-
handlungen über den Einstieg des
US-Investors 777 Partners bei Hertha
BSC »an unbefugte Dritte« weiter-
gereicht.
Auch dieser Vorgang kommt nun
auf den Tisch im Rechtsstreit Hertha
vs. Bobic. Der Verein will die rest-
lichen Gehälter des Ex-Geschäftsfüh-
rers einsparen. Laut einem Präsi-
Geschäftsführer diumsbeschluss vom 28. Januar, der
Bobic 2022: »Drohung dem SPIEGEL ebenfalls vorliegt, steht
mit Gefahren
für Leib und Leben« Bobic eine Abfindung von rund
2,8 Millionen Euro zu. Eine Stange
Geld, die bis Mitte Mai ausgezahlt
werden müsste.
Für Bobic geht es um viel mehr als
die Millionen. Seine Reputation in
der Fußballbranche steht auf dem
Spiel. In einem möglichen arbeits-
rechtlichen Verfahren wird es auch
um die Frage gehen, ob seine frist-
lose Kündigung rechtmäßig war,
nachdem er einen Reporter des RBB
im Anschluss an ein Interview ange-
raunzt hatte: »Wenn du noch mal
fragst, kriegst du eine gescheuert.«
Bobic bat später für seinen Aus-
setzer um Entschuldigung: »Es tut mir
sehr leid, da habe ich zu emotional
reagiert«, sagte er, »das war nur ein
Spruch, der natürlich nicht so gemeint
war. Das sollte man im Fußball kurz
nach einem Spiel bitte nicht über-
bewerten.«
Die Anwälte der Hertha sehen das
anders: Eine »Drohung mit Gefahren
für Leib und Leben im dienstlichen
Zusammenhang« rechtfertige den
Rauswurf. Zumal der Klub in einem
anderen Fall von verbaler Entgleisung
ähnlich rigoros gehandelt hat.
Im vergangenen August suspen-
dierte die Hertha den inzwischen ge-
kündigten Torhüter Rune Jarstein
wegen einer »nicht angemessenen
Wortwahl« im Zuge eines heftigen
»Es tut mir Streits mit dem Torwarttrainer. »Die
Form, die Art und Weise und auch die
sehr leid, da Sprache waren nicht okay in dieser
habe ich zu Situation«, begründete ein Vertreter
emotional des Klubs damals die Freistellung.
Sein Name: Fredi Bobic.
reagiert.« Rafael Buschmann, Nicola Naber,
Fredi Bobic Gerhard Pfeil n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 91
WISSEN

Petr David Josek / AP

Ein Chinesisches Ohrenschuppentier wird im Prager Zoo – drei Wochen nach seiner Geburt dort – mithilfe eines Plüschtiers gewogen. Es war
die erste Nachzucht dieser Art in Europa, und das Tierchen geriet gleich in Gefahr, weil die Mutter zu wenig Milch produzierte. Allerdings
konnte das Baby mit verdünntem Katzenmilchersatz aufgepäppelt werden. Im natürlichen Verbreitungsgebiet in Asien ist die Art mit den auffälligen
Ohrmuscheln vom Aussterben bedroht; die Tiere werden bejagt, weil das Horn der Schuppen als Heilmittel gilt.

Die Sprit-Allianz
ANALYSE  Eigentlich sollen ab 2035 in der EU keine
neuen Diesel- oder Benzinautos mehr zugelassen
werden – doch jetzt stellen Italien und die FDP das
infrage. Europas Klimaziele geraten in Gefahr.
In den Ländern der Europäischen Union sollen von 2035 an
nur noch Neuwagen ohne Verbrennungsmotor zugelassen wer-
den, da sie kein CO2 freisetzen. Doch dieses fest vereinbarte
Ziel scheint plötzlich in Gefahr. Italiens neue, rechte Regierung
hat ihr anfängliches Ja schon zurückgezogen, jetzt hat auch
der deutsche Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) seine Zu-
stimmung widerrufen. Wenn die Bundesregierung ihm folgt,
würde das das EU-Vorhaben torpedieren.
Nach Wissings Manöver lagen Mitte der Woche die Nerven
in Berlin und Brüssel blank. Mehrere Akteure bestätigten das
dem SPIEGEL . So richtig wusste demnach niemand, wie sich die
chaotische Lage wieder beruhigen ließe. Eines kann man mit
­ ewissheit sagen: Ohne Verbrenner-Aus können weder Deutsch-
G
land noch die EU die jeweiligen Klimaziele erfüllen. Das Ver-
brenner-Aus würde fast zwei Gigatonnen CO2 bis 2050 einspa-
ren und ist schon fest eingepreist, darüber hinaus sollen nach den
Vorstellungen der Bundesregierung bis Ende des Jahrzehnts 15
Millionen Elektroautos in Deutschland unterwegs sein. Auch
dieses Ziel wird kaum zu erreichen sein, wenn der Verbrenner
doch als Alternative bleibt.
Ohne das Verbrenner-Aus müsste das CO2 also auf anderen
Wegen eingespart werden – die allerdings deutlich unbequemer
und unbeliebter sein dürften als ein bloßer Wechsel der An-
triebstechnologie. Autoverkehr beschränken, verteuern, teilwei-
se gar verbieten – wer will das schon?
Eine Option wäre es deshalb, das Verbrenner-Aus nur abzu-
schwächen, nicht komplett zu kippen. Die italienische Regierung
warb dafür, die Flottengrenzwerte für Neuwagen im Jahr 2035
nicht um 100 Prozent gegenüber heute zu senken, sondern nur
um 90 Prozent. Dann blieben wenigstens Nischen für den
­Verbrennungsmotor, etwa für Hersteller von Kleinserien. Dafür
müsste der von allen Gremien bereits abgesegnete Beschluss
aber neu verhandelt werden. Die Autoindustrie müsste weiter
auf Planungssicherheit warten. Susanne Götze, Arvid Haitsch

92 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023

 Flucht vor dem Eis
PALÄOGENETIK  Als die modernen Men­
schen sich vor ungefähr 45 000 Jahren
in Europa niederließen, verschlug es einige
von ihnen an heutige Sehnsuchtsorte: an
die Algarve, nach Andalusien, in die Pro­
vence. Wie idyllisch das Leben der Jäger
und Sammler dort tatsächlich verlief, lässt
sich nur schwer beurteilen. Doch mit der
Wahl ihrer Heimat taten sie ihren Kindern
und Kindeskindern einen Gefallen. Wäh­
rend der Rest Europas in der kältesten
­Phase der letzten Eiszeit lebensfeindlich
wurde, blieb es im Südwesten des Kon­
tinents angenehm warm.
raum von 30 000 Jahren rekonstruieren. 8000 Jahren, als der Ackerbau und eine
In Europas Südwesten ließ es sich demnach sesshafte Lebensweise sich von Anatolien
lange gut leben; die Ahnenkette hielt min­ aus in Europa durchsetzten. Der französi­
destens 20 000 Jahre lang. Später wander­ sche Experte Ludovic Orlando sagt: »Keine
ten Menschen aus diesem Refugium nach moderne Bevölkerungsgruppe kann für sich
Norden und Osten aus. Andere Europäer beanspruchen, als einzige von jenen Grup­
dagegen fanden sich damals an Orten wie­ pen abzustammen, die sich zuerst auf dem
der, an denen es so unwirtlich wurde wie Kontinent etablierten.« BLE
heute am Nordpol. Dazu gehörte auch die
Apenninen-Halbinsel, die bisher als medi­
terraner Rückzugsort galt. Doch seit dem
Kältemaximum sind die Einwohner dort
­genetisch nicht mehr nachweisbar – sie star­
ben aus.
Als die Temperaturen wieder stiegen,
wurde das heutige Italien vermutlich vom

Illustratration: Tom Bjoerklund

Dieses Szenario geht aus einer Studie
im Fachblatt »Nature« hervor. Ein Team
untersuchte das Erbgut von 356 Menschen,
die damals verstreut in Eurasien lebten.
­Dadurch konnte es die Wanderbewegungen
der Jäger und Sammler über einen Zeit­
Balkan aus neu bevölkert. Und diese frühen
Italiener breiteten sich vor etwa 14 000 Jah­
ren über Europa aus – und verdrängten die
Rekonstruktion
Nachfahren jener Menschen, die zuvor vom eines
Südwesten aus dorthin gezogen waren. frühen Europäers
Eine weitere Migration gab es vor ungefähr

»Ein gut vernetztes Gehirn kann

ursacht winzige Durchblutungs­ SPIEGEL: Vaskuläre Demenz ist
störungen im Gehirn, die nach Alzheimer die häufigste

Schäden besser kompensieren«

sich summieren. Vor allem die Form des geistigen Verfalls im
weiße Substanz, in der Alter. Übersehen die Menschen,
die Nervenbahnen verlaufen, dass man ihr vorbeugen kann?
verändert sich; die Vernet­ Saur: Das befürchte ich. Viele
NEUROWISSENSCHAF TEN  Verkalkte Gefäße führen oft
zung im Gehirn wird langsam halten die vaskuläre Demenz
zu einem schleichenden Verlust an Geisteskraft. zerstört. ­irrigerweise für eine normale
Die Neurologin Dorothee Saur, 49, erklärt, was man SPIEGEL: Wie macht sich diese ­Folge der Alterung. Das ist fatal.
Erkrankung bemerkbar? Die neue Studie aus Amerika
tun kann, um sein Denkorgan zu schützen. Saur: Wenn die Summe des bestätigt einmal mehr, dass wir
Schadens im Gehirn ein gewis­ viel tun können, damit das Ge­
SPIEGEL: Frau Saur, Die vaskuläre Demenz dagegen ses Ausmaß erreicht hat, wird hirn gesund bleibt: regelmäßige
auf dem Jahreskon­ ist die Folge einer Erkrankung die betroffene Person umständ­ Bewegung, gesunde Ernäh­
gress der American der Hirngefäße. licher und langsamer; sie ist rung, Übergewicht vermeiden,
Stefan Straube

Academy of Neuro­
logy im April in
Boston werden die
Ergebnisse einer
Studie mit 13 700 Frauen vorge­
stellt. Demnach können sieben
bestimmte Verhaltensweisen im
mittleren Alter das Risiko
für spätere Demenz erheblich
verringern. Hat man es also
selbst in der Hand, ob man im
Alter vergesslich wird oder
nicht?
Saur: Ja, einen beträchtlichen
Anteil hat man tatsächlich
selbst in der Hand, das gilt vor
allem für die vaskuläre De­
menz, für Frauen und Männer
gleichermaßen.
SPIEGEL: Es ist also die Gefäß­
verkalkung, die sich auf
die Geisteskraft niederschlägt?
Saur: Ja, in großen Gefäßen
ist die Arteriosklerose dafür
­verantwortlich, dass Schlag­
anfälle entstehen, auch das wis­
sen viele. Häufig übersehen
­dagegen wird die sogenannte
Mikro­angiopathie. Sie ver­
Gehirngefäße (symbolhafte
Darstellung)
beim Planen oder Problemlösen ­normaler Blutdruck und Blut­
nicht mehr so geschmeidig, zucker, Blutfette gut einstellen
und sie kann sich schlechter ent­ und, mit großem Ausrufezei­
scheiden. Das ist ein typisches chen, nicht rauchen! Als achten
Verhaltensmuster; da unter­ Faktor würde ich hinzufügen:
scheidet sich die vaskuläre De­ ausreichend schlafen.
menz deutlich von der Alz­ SPIEGEL: In welchem Alter
heimerdemenz, bei der Ge­ ­sollte man die Ratschläge beher­
dächtnisprobleme eine zentrale zigen?
Rolle spielen. Saur: Es kann nicht früh genug
sein, aber ich würde sagen:
Mit 50 sollte man nicht länger
warten.
SPIEGEL: Warum schützen auch
soziale Kontakte und kreative
Anregungen vor Demenz?
Saur: Nervenzellen bilden zu­
sätzliche Synapsen und vernet­
zen sich neu. Ein gut vernetztes
Ildar Abulkhanov / iStockphoto / Getty Images

SPIEGEL: Beim Stichwort Gehirn kann Schäden besser

­Demenz denken viele kompensieren. Es ist wider­
gleich an Alzheimer. Was ist standsfähiger gegenüber schäd­
der Unterschied? lichen Einflüssen wie etwa
Saur: Bei Alzheimer lagern sich Durchblutungsstörungen. Eben­
bestimmte krankhafte Proteine falls ist aber gut belegt, dass
im Gehirn ab, und Nervenzellen sich bei hoher kognitiver Reser­
gehen zugrunde. Diese neuro­ ve auch Anzeichen einer Alz­
degenerative Erkrankung ist zu heimererkrankung erst viel spä­
einem großen Teil schicksalhaft. ter bemerkbar machen. BLE

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 93

 WISSEN

Patient Marlon unmittelbar

nach der Geburt

Marlon soll leben

MEDIZIN   Jedes Jahr bekommen Tausende werdende Eltern in Deutschland eine verheerende
Nachricht: Ihr Baby sei lebensbedrohlich erkrankt, oftmals so schwer, dass jede
Anne-Sophie Stolz / DER SPIEGEL

Hilfe zu spät komme. Dabei könnten viele dieser ungeborenen Kinder gerettet werden.
Warum passiert das nicht?

94 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


D
as Baby im Bauch strampelt, sein Herz
schlägt, es hat sogar schon einen Na-
men: Marlon. Das Baby im Bauch lebt,
während seine Familie beisammensitzt und
es betrauert.
Marlon ist ein Wunschkind. Seit elf Jahren
sind Kristin und Philipp Weitz ein Paar, haben
geheiratet, ein Haus gebaut, in einem Vorort
von Mainz voller Schaukeln, Klettertürmen
und Kinderrädern in den Gärten der Nach-
barn. In dieser Vorstadtidylle soll ein Baby
ihr Leben perfekt machen. Dafür haben sie
Vitamine genommen, auf Alkohol verzichtet,
Kristin Weitz’ Zyklus beobachtet. Mehr als
ein Jahr hat es gedauert, bis sie wieder einen
Schwangerschaftstest machte. Und endlich
der zweite Strich erschien.
Dann kam der Tag im Herbst 2022, laut
Mutterpass war Kristin Weitz seit 30 Wochen
schwanger. Sie hatte Rückenschmerzen, ihr
Bauch war prall, das Kind darin ruhiger als
sonst, so beschreibt sie es eine Woche später
am Telefon. Ihre Gynäkologin fuhr mit dem
Schallkopf über die Bauchdecke, blickte lan-
ge auf den Monitor. Dann sagte sie, sie sehe
Wasser im Bauch des Kindes, und schrieb eine
Überweisung in die Uniklinik Mainz. Kristin
Weitz bekam Panik. »Ich habe nur gedacht:
Ich kann doch das Kind jetzt nicht verlieren.«
In der Uniklinik starrte auch die Oberärz-
tin lange auf den Monitor. Und sagte schließ-
lich: »Ihr Kind hat eine Riesenfehlbildung der
Lunge.« Diagnose: kongenitale pulmonale
Atemwegsmalformation – CPAM. Ein Klum-
pen flüssigkeitsgefüllter Zysten verdrängte
Lunge und Herz. Eins von 7000 lebend ge-
borenen Kindern ist davon betroffen. Nur bei
sechs Prozent von ihnen ist die Fehlbildung
so massiv wie bei Marlon.
Wieder wurde Kristin Weitz weiterge-
schickt, dieses Mal nach Frankfurt – zum Ab-
bruch der Schwangerschaft. Alternativ könne
sie auch warten, sagte die Ärztin, bis das win-
zige Herz aufhöre zu schlagen, und ihr Kind
tot zur Welt bringen.
Im oberen Stockwerk ihres Hauses war das
Kinderzimmer schon eingerichtet: Babywip-
pe, Gitterbett, Wickeltisch. Als die Diagnose
kam, schloss Philipp Weitz die Tür, weil bei-
de den Anblick nicht ertrugen.
Was den werdenden Eltern in dieser Zeit
niemand sagte: Ihr Baby muss nicht sterben.
Bei etwa jedem 15. Neugeborenen werden
große Fehlbildungen diagnostiziert, ein Fünf-
tel davon so schwer, dass das Leben des Babys
bedroht ist. Wie oft Fehlbildungen schon in
der Schwangerschaft erkannt werden und wie
häufig sich Eltern deswegen für einen Ab-
bruch entscheiden, erzählt keine Statistik.
Nur so viel ist bekannt: Etwa zwei Prozent
aller Schwangerschaftsabbrüche in Deutsch-
land werden vorgenommen, weil der Fötus
geschädigt war.
Dabei hätten viele dieser nie geborenen
Kinder auf die Welt kommen können, sagt
Fetalchirurg und Kinderarzt Thomas Kohl.
Dass es in der Pränatalmedizin ein gravieren-
des Defizit gibt, bestätigt auch Brigitte ­Strizek
WISSEN
von der Deutschen Gesellschaft für Pränatal-
und Geburtsmedizin, Direktorin der Abtei-
lung für Geburtshilfe und Pränatale Medizin
an der Uniklinik Bonn: »Manche Patientinnen
werden nicht über alle Therapiemöglichkeiten
informiert, etwa weil ihr behandelnder Arzt
sie nicht kennt oder weil er nicht von ihnen
überzeugt ist.«
14 Familien haben dem SPIEGEL ihre Ge-
schichte erzählt. Die Kinder all dieser Fami-
lien waren schwer krank. Ihnen allen wurde
eine Abtreibung empfohlen. Sie alle wurden
entweder nicht über die Möglichkeit einer
vorgeburtlichen Behandlung informiert, oder
ihnen wurde davon abgeraten. Und sie alle
entschieden sich schließlich für die vorgeburt-
liche Behandlung ihrer Kinder. Neun Kinder
gelten heute als gesund, drei brauchen wegen
ihrer Vorerkrankung eine Nierentransplanta-
tion, ein Baby ist gestorben. Und das vier-
zehnte ist der kleine Sohn der Familie Weitz,
die in Wirklichkeit anders heißt.
In der Nacht nach der Diagnose schlief
Kristin Weitz nicht. Sie tat, wovor Schwan-
gere oft gewarnt werden: Sie suchte nach
einer Lösung im Internet. Sie fand zwei Kli-
niken, in denen ungeborene Babys wie ihres
behandelt werden, eine in Bonn, eine in
Mannheim.
Am nächsten Morgen erreichte sie Tho-
mas Kohl, den Leiter des von ihm gegrün-
deten Deutschen Zentrums für Fetalchirurgie
& minimalinvasive Therapie an der Uniklinik
Mannheim. Bereits am Tag darauf begut-
achtete Kohl den kleinen Marlon im Ultra-
schall. »Wir hatten uns schon darauf einge-
stellt, dass er die Diagnose bestätigt«, sagt
Philipp Weitz später. »Wir hatten keine Hoff-
nung mehr.«
Stattdessen sagte Kohl den Eltern: »Wir
können Ihr Baby operieren.«
Mehrere fetale Erkrankungen lassen sich
bereits in der Schwangerschaft behandeln.
Manche mit einer sogenannten minimalin-
vasiven Schlüssellochoperation durch winzi-
ge Schnitte im Mutterleib, wie etwa die Harn-
wegsfehlbildung LUTO oder die Spina bifida,
der offene Rücken. Beim fetofetalen Trans-
fusionssyndrom, bei dem eineiige Zwillinge
unterschiedlich gut mit Blut versorgt werden,
kann die Verödung der verbindenden Blut-
gefäße beide Kinder retten. Fetale Blutarmut
lässt sich mit einer Transfusion roter Blut-
körperchen in den Bauch des Fötus beheben,
Herzrhythmusstörungen des Babys können
mit Medikamenten gelindert werden. Und
bestimmte Fehlbildungen des kindlichen
­Herzens lassen sich behandeln, indem die
Schwangere über mehrere Wochen täglich
eine erhöhte Sauerstoffkonzentration ein-
atmet.
Was sich so einfach niederschreiben lässt,
ist deutlich komplexer. Und hinter dieser
Komplexität verbirgt sich eine Antwort auf
die Frage, warum betroffene Familien mit-
unter nichts von diesen Möglichkeiten erfah-
ren. Denn auch wenn viele Eingriffe machbar
sind – oft fehlen vergleichende Studien mit
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 95
WISSEN
großer Fallzahl, Vergleichsgruppen,
Langzeitstudien.
»Je seltener und heterogener eine
Erkrankung ist, desto schwieriger
lässt sich sagen, wie viel ein Eingriff
für den einzelnen Fetus bringt«, sagt
Pränatalmedizinerin Strizek. »Und
wenn es nur wenige Patienten gibt,
hat man keine guten Ergebnisse, nach
denen man beraten kann.«
Genau das kritisieren jene, die eher
die Risiken sehen als die Chancen.
»Einzelfälle dürfen nicht die Basis
sein, auf der man alle Patienten be-
rät«, sagt Oliver Kagan, Professor und
Leiter der Abteilung für pränatale
Medizin an der Uniklinik Tübingen.
»Der Nutzen von Eingriffen muss
wissenschaftlich nachgewiesen sein.«
Die Wirkung einiger pränataler
Therapien sei zwar gut belegt, etwa
der chirurgische Verschluss der
Zwerchfellhernie, wenn die Bauch-
organe durch ein Loch im Zwerchfell
in den Brustkorb drücken, oder die
Lasertherapie, wenn eineiige Zwillin-
ge über die gemeinsame Plazenta
unterschiedlich gut versorgt werden.
Beim Verschluss des offenen Rückens
sei dagegen zweifelhaft, ob es jedem
Kind durch die OP wirklich besser
geht. Bei der Harnwegsfehlbildung
LUTO etwa kämen viele Kinder trotz
Behandlung mit kaputten Nieren zur
Welt, müssen dialysiert und trans-
plantiert werden.
Über die pränatale Behandlung
von ungeborenen Kindern mit einer
Säugling Marlon nach Kaiserschnitt in der Uniklinik Mannheim: Ein sanftes »Oh!«
96 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
ähnlich schweren Fehlbildung, wie
Marlon sie hat, gibt es wenige Unter-
suchungen. In einer retrospektiven
Schweizer Studie mit 37 betroffenen
Ungeborenen wurde ein Viertel der
Kinder operiert, acht dieser neun Ba-
bys überlebten. In einer Befragung
von 181 Kinderchirurgen aus 48 Län-
dern gaben 44 Prozent an, Ungebo-
rene mit einer schweren CPAM zu
operieren.
Zwar lassen sich viele vorgeburt-
liche Erkrankungen behandeln, es
wird aber oft kein völlig gesundes
Kind geboren. Die meisten müssen
nach der Geburt noch einmal operiert
werden, manche für immer mit einer
Einschränkung leben.
»Beim ersten Kind machen Eltern
alles, was machbar ist. Beim dritten
Kind überlegen die Familien sehr ge-
nau, ob sie das Risiko einer Behinde-
rung beim Kind und das Risiko einer
stundenlangen OP für die Mutter ein-
gehen wollen«, sagt Kagan. »Solche
Entscheidungen muss man sehr indi-
viduell treffen.«
Philipp Weitz war zehn Jahre alt,
als sein Vater einen schweren Unfall
hatte. Monatelang lag er im Kranken-
haus, sitzt nun im Rollstuhl. Philipp
Weitz kennt die Angst um einen ge-
liebten Menschen und die Kraft, die
es kostet, jemanden zu pflegen. Des-
wegen will er auf keinen Fall ein be-
hindertes Kind. »Mein Sohn muss
kein Astronaut oder Fußballstar wer-
den«, sagt er. »Aber er muss Verste-
Lungenlappen
mit CPAM
Flüssigkeit
Ultraschallaufnahme cken spielen, klettern, rennen, Kind
des Fötus Marlon: sein können.«
»Eine Riesenfehl­
bildung der Lunge« Der Mannheimer Fetalchirurg
Kohl, den Kristin Weitz konsultierte,
erzählte von mehreren Kindern mit
ähnlich schweren Lungenfehlbildun-
gen, die er operiert hat, die inzwi-
schen zur Schule gehen und sich al-
tersgerecht entwickeln. Er erzählte
aber auch von einem Kind, das nach
der Geburt nur noch durch eine Lun-
gentransplantation gerettet werden
konnte.
Kristin Weitz drängte auf Zahlen,
eine Prognose. Zu 90 Prozent werde
Marlon die vorgeburtliche Behand-
lung überleben, zu 80 Prozent da-
nach ein normales Leben führen,
schätzte Kohl. Entscheidend sei
neben der Behandlung, wie lange sich
das Baby nach dem Eingriff weiter im
Bauch entwickeln kann.
Die Risiken für die Mutter seien
bei einem minimalinvasiven Eingriff
sehr gering. Zu den sehr seltenen Ri-
siken einer Vollnarkose käme die Ge-
fahr eines vorzeitigen Blasensprungs
und einer Frühgeburt, die für Marlon
mit seiner winzigen Lunge den Tod
bedeuten würde.
Aber totgesagt ist er ja schon.
Die Eltern willigen ein.
Marlon und Kristin Weitz werden
noch am selben Tag operiert. Auf Vi-
deos aus dem OP-Saal ist Weitz kaum
zu sehen. Nur ihr Bauch ragt aus den
vielen Lagen türkisfarbener steriler
Abdeckungen hervor. Auch Kohl ist
hinter Brille und Maske kaum zu er-
kennen.
Behutsam bewegt er eine lange
Nadel, die in einer Öffnung in der
Bauchdecke steckt. Mit der anderen
Anne-Sophie Stolz / DER SPIEGEL
Hand führt er die Sonde des Ultra-
schallgeräts über Weitz’ Bauch. Auf
dem Bildschirm ist das Ende der Na-
del zu sehen, die Spitze steckt in
einem grau-schwarzen Halbkreis:
Marlons Brustkorb. Und auf der Spit-
ze steckt der Shunt, ein winziges Me-
tallröhrchen. Langsam zieht Kohl die

Nadel wieder heraus, der Shunt bleibt zurück,
eine schmale Verbindung zwischen Brusthöh-
le und Fruchtblase. Wie eine Fontäne schießt
die Flüssigkeit aus Marlons Brustkorb heraus,
auf dem Bildschirm sieht es aus wie ein Vul-
kanausbruch.
36 Minuten dauert die OP, danach hat Mar-
lons Herz wieder Platz. Fünf Tage später ver-
ödet Kohl in einer zweiten OP die Blutversor-
gung der Fehlbildung in Marlons Brust. In den
folgenden Tagen wird das Gewebe absterben,
nun hat auch Marlons Lunge wieder Platz.
Ob Marlon überlebt, liegt jetzt nicht mehr
in Kohls Händen. Entscheidend ist, ob die
Fruchtblase hält und ob lediglich Wochen
oder, viel besser, Monate bleiben, in denen
seine Lunge weiterwachsen kann, wie lange
er ausharren wird an einem der eigentlich
sichersten Orte der Welt: dem Mutterleib.
Das neue Jahr ist noch jung, als Kristin
Weitz in einem kahlen Zimmer in der Uni-
klinik Mannheim liegt, ihr Mann ist im Haus
unterwegs, die letzten Papiere ausfüllen. Ge-
nau zwei Monate ist es her, dass sie zum ers-
ten Mal hier waren. Damals waren sie dabei,
sich von ihrem Baby zu verabschieden. Nun
sind sie hier, um es zur Welt zu bringen.
Es ist 10.59 Uhr an einem milden Montag
im Januar. In einem OP-Saal der Mannheimer
Uniklinik röchelt ein Absauggerät, das Tele-
fon klingelt, und irgendwem entfährt ein sanf-
tes »Oh!«, als ein neuer Mensch aus dem
Bauch seiner Mutter gehoben wird. Marlon
hält sich die winzigen Fäuste vor die Ohren
und schweigt.
Drei Minuten später schiebt Thomas
­Schaible, Direktor der Klinik für Neonato-
logie, die Tür zum Nebenraum zu. Gerade
noch dringt ein dünner Schrei hinüber in den
OP-Saal, wo Kristin Weitz’ Bauch vernäht
wird und ihr Mann ihr Mut zuspricht.
Schaible hatte die Eltern darauf vorberei-
tet, dass Marlon womöglich nicht schreien
werde, dass er ihn sofort in eine leichte Nar-
kose legen und beatmen werde, um seine
Lunge zu schonen. Marlon aber hat der Welt
noch rasch kundgetan, dass er lebt.
Die Fotos aus den ersten Tagen in Marlons
Leben zeigen ein schlafendes Baby im Wär-
mebett, an Kabeln und Schläuchen: EKG-
Elektroden, Sauerstoffsensor, Venenzugang
für Medikamente. Einen Vater, der zaghaft
zum ersten Mal das Köpfchen seines Kindes
berührt. Eine Mutter, die im Krankenbett
liegt, später im Rollstuhl sitzt und das Füß-
chen ihres Sohnes hält. Die nach zwölf Tagen
endlich ihr Baby auf den Arm nehmen kann,
jetzt sind nur noch zwei Schläuche an seinen
vollen Wangen festgeklebt: Magensonde und
Beatmungsbrille.
»Es ist ein Wunder, dass alles so gekommen
ist«, sagt Kristin Weitz.
»Die Verlustangst, die wir hatten, ist nicht
zu beschreiben«, sagt Philipp Weitz.
Beide fragen sich, warum ihnen niemand
gesagt hatte, dass ihr schwer krankes Kind
gerettet werden kann. Warum sie es selbst
herausfinden mussten. Wie es sein kann, dass
»Es darf doch nicht dem
Zufall überlassen
sein, ob Patienten korrekt
­informiert werden.«
Jan Tübben, Fachanwalt für Medizinrecht
eine Internetsuche darüber entschied, ob ihr
Kind lebt oder stirbt.
»Ob Betroffene über eine fetalchirurgische
Behandlung informiert werden, hängt leider
oft von Zufällen ab«, sagt Pränatalmedizine-
rin Strizek, »davon, wann eine Fehlbildung
festgestellt wird, ob die Eltern einen Pränatal-
diagnostiker finden, von welchen Behand-
lungsmöglichkeiten dieser Arzt weiß und wie
gut die Eltern selbst recherchieren können.«
»Es darf doch nicht dem Zufall überlassen
sein, ob Patienten korrekt informiert werden«,
sagt Jan Tübben, Fachanwalt für Medizin-
recht. »Selbst wenn eine Methode noch in der
Erprobungsphase ist, aber als einzige die
Chance bietet, den Zustand des Patienten zu
verbessern, darf sie nicht vorenthalten wer-
den. Ärzte sind verpflichtet, sich auf dem neu-
esten wissenschaftlichen Stand zu halten, dazu
gehört auch das Wissen über neue Methoden.«
»Das ist unrealistisch«, entgegnet Ulrich
Gembruch, Spezialist für pränatale Therapien
und ehemaliger Präsident der Deutschen Ge-
sellschaft für Perinatale Medizin. Pränatal-
diagnostiker und Gynäkologen könnten nicht
für jede seltene Erkrankung immer die
­neues­ten Therapiemöglichkeiten kennen. »Es
wird sich nie ganz vermeiden lassen, dass
­Patienten nicht über alle Möglichkeiten infor-
miert werden, das passiert in allen Bereichen
der Medizin.«
Thomas Kohl stimmt ihm zu. Um unnöti-
ges Leid für Eltern und Kinder zu verhindern,
fordert er deshalb vor allem eine spezielle
Jana Kay / DER SPIEGEL
Familie Weitz
WISSEN
Weiterbildung für Fetalchirurgie. Im Moment
werden ungeborene Kinder zwar an mehreren
Zentren in Deutschland behandelt, Vorreiter
sind unter anderem die Unikliniken in Mann-
heim und Bonn. Doch verschiedene Kliniken
bieten unterschiedliche Eingriffe an, auch
Fachärzte kennen sich oft nicht mit allen Be-
handlungsmöglichkeiten aus. Ein weiteres
Problem: »Die Entdeckungsraten sind in
Deutschland vergleichsweise niedrig«, sagt
Experte Gembruch.
In anderen Industrienationen dagegen
würden Ultraschalluntersuchungen in der
Schwangerschaft von darauf spezialisierten
und gut trainierten Untersuchern durchge-
führt, die Fehlbildungen besser und früher
erkennen. In Frankreich und den Niederlan-
den etwa sei die Gesundheitsversorgung zu-
dem zentralisiert, betroffene Frauen müssen
an die auf die jeweilige Erkrankung spezia­
lisierten Einrichtungen weitergeleitet werden.
Interessierter Nachwuchs für eine fetal-
chirurgische Weiterbildung sei da, sagt Kohl,
doch es fehle in Deutschland die Möglichkeit
eines offiziell anerkannten Ausbildungs­
weges. »Pränatalmediziner sind üblicherwei-
se Frauenärzte und keine Kinderärzte«, sagt
Kohl. Sie hätten wenig Erfahrung darin, wie
erfolgreich die Kinder nach der Geburt be-
handelt werden können. »Die hinzugezoge-
nen Kinderärzte wiederum haben keine Ah-
nung von den neuesten Möglichkeiten der
vorgeburtlichen Therapie.« Entsprechend
negativ fällt oft die Prognose für schwer er-
krankte Föten aus.
Marlon ist genau drei Tage alt, als das rest-
liche zystische Gewebe aus seinem Brustkorb
operiert wird. Er ist genau drei Wochen alt,
als Kristin Weitz in ihr Handy tippt: »Wir sind
gerade auf der Heimfahrt!«
Eine Woche später sitzt die Familie am
Frühstückstisch. Der kleine Marlon liegt in
einer hölzernen Wiege, unter ihm eine Matte
mit Sensoren für Atem- und Herzfrequenz,
wie sie in Babygeschäften zu finden ist. Eine
Weile noch müssen Kristin und Philipp Weitz
ihren Sohn besonders schützen. Denn es ist
Viruszeit, die schweren Atemwegsinfekte, die
momentan überall kursieren, können für
­Marlon gefährlich sein.
Außerdem legt er nur langsam an Gewicht
zu, das Atmen kostet ihn mehr Kraft als ge-
sunde Kinder. Welche Lungenkraft er einmal
haben wird, lässt sich erst in ein paar Jahren
sagen. Ein Hochleistungssportler wird er nicht
werden, so viel steht fest. Aber er wird ein
normales Kind sein können.
Die Familie kommt allmählich in der
­Normalität mit einem Neugeborenen an. Mit
all den Sorgen, die so viel kleiner sind als
das, was sie schon durchgemacht hat: M ­ arlon
hat erbrochen, die Windel läuft über, Philipp
Weitz ist demnächst zum ersten Mal allein mit
dem Baby, Kristin Weitz möchte zum ­Friseur.
Es ist der fast normale Alltag mit ihrem
neugeborenen Sohn, den es beinahe nicht
gegeben hätte.
Anja Reumschüssel n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 97
WISSEN

stoff ist eine klimaneutrale Energiequelle«,

Wie in der Erde Wasserstoff entsteht und wo man ihn fördern kann.
sagt Buddensiek, »wenn es gelingt, aus­
1. Wasser reagiert unter An den Austrittsstellen wird reichende Mengen davon zu erschließen,
Hitze und Druck mit Wasserstoff gefördert. Experten könnte Wasserstoff­gas einen bedeutenden
H eisenhaltigen Minera- hoffen, dass die Produktion durch
lien im Gestein, dabei Zuführen von Wasser noch Beitrag zur emissionsfreien Energieversor-
H O H entsteht Wasser- erhöht werden könnte. gung leisten.«
H
stoff. Wasserstoff ist ein Hoffnungsträger der
Fe Fe Energiewende. Das Gas verbrennt klimaneu-
O tral und könnte künftig beispielsweise zur
Speicherung von überschüssigem Strom, zur
Herstellung von klimaneutralem Zement
oder zum Antrieb von Lkw und Flugzeugen
verwendet werden.
Das Problem: Bislang wird Wasser-
Beim Austritt
hinterlässt
stoff weltweit zu 96 Prozent mithilfe
Wasserstoff von Kohle oder Erdgas hergestellt
mutmaßlich (»grauer« Wasserstoff). Allein der
»Feenkreise«. H sogenannte grüne Wasserstoff ist
­
H O ­weitgehend klimaneutral. Er entsteht
H
H H beispielsweise unter Einsatz von
­
eisen- H O Wind- und Solarstrom. Doch grüner
haltiges
Gestein Wasserstoff ist knapp und wird es Pro-
Wasser gnosen zufolge auch mindestens bis
wird zu-
Wasser geführt. 2040 bleiben. Gleichzeitig erwartet
sickert ein. die Internationale Energieagentur,
dass bis 2050 etwa das Fünffache der
H eisen- derzeit produzierten Menge benötigt
H haltiges
Gestein wird, um die Klimaziele zu erreichen.
Wasserstoffgas Unter Salz- Gibt es noch andere Möglichkeiten, an
HH steigt durch Risse ablagerungen
können sich
den begehrten Dekarbonisierungsstoff zu
und Gestein an die
O
Oberfläche. Wasserstoff- kommen? Wasserstoffgas ist sehr reaktiv und
depots besonders flüchtig. Dass es sich im Unter-
U bilden. grund bilden und vielleicht sogar sammeln
2. Radioaktive Elemente 3. Durch tief liegende könnte, galt lange als undenkbar. Messungen
wie Thorium oder Uran im Risse oder Gräben könnte in Sicker­gruben, Minen und alten Bohrlö-
Gestein senden Strahlung aus, urzeitlicher Wasserstoff chern jedoch erhärteten in den letzten Jahren
die Wassermoleküle spalten kann. aus Depots im Erdinnern in den kühnen Verdacht einiger Forscher: Fast
S Quelle: Science höhere Schichten gelangen.
überall auf der Welt könnten große Vorräte


an natürlichem Wasserstoffgas existieren.

Gas aus dem Feenkreis

Zufälle brachten die Experten auf die Spur
des farblosen Energieträgers aus dem Erd­
gestein. Der bekannteste Fund stammt aus
dem Dorf Bourakébougou in Mali. Brunnen-
bauer bohrten dort 1987 erfolglos nach Was-
RESSOURCEN  Megatonnen Wasserstoff entstehen auf natürliche ser. In 108 Meter Tiefe gaben sie auf. Aus dem
trockenen Bohrloch jedoch kam eine geruch-
Weise tief im Erdgestein – eine bislang kaum genutzte Quelle für nachhaltige lose Brise. Mit einer glimmenden Zigarette
Energie. Auch deutsche Forscher wollen das Gas erschließen. in der Hand spähte einer der Arbeiter in die
Bohrung; sofort fing das Gas Feuer, der Mann
erlitt Verbrennungen.

B
ald könnte ein Schatz gehoben werden, dabei genutzt werden, um das energiereiche Eine bläuliche, nachts golden leuchtende
mitten in Afrika. Es ist ein Schatz, der Gas herzustellen. Vielmehr hoffen die Exper- Flamme flackerte fortan zum Schrecken der
unsichtbar ist, aber er könnte Wohl- ten, es direkt aus dem Boden zu bergen. Dorfbewohner aus dem Bohrloch. Erst 2012
stand bringen für die Menschen in Marokko, »In tieferen Gesteinsschichten entsteht klärten Ingenieure das Phänomen. Das Gas von
Südafrika, Mosambik und Togo. Und deshalb Schätzungen zufolge weltweit jährlich etwa Bourakébougou besteht demnach zu 98 Pro-
erkunden Ingenieure derzeit mit Messgeräten eine Milliarde Kubikmeter Wasserstoff«, sagt zent aus Wasserstoff. Die kanadische Firma
in den Händen ausgesuchte Regionen der vier Gerald Gabriel, der das HyAfrica-Projekt am Hydroma des malischen Geschäftsmanns ­Aliou
afrikanischen Länder und analysieren die Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik Diallo fördert das Gas inzwischen.
Gase, die aus dem Boden dringen. in Hannover verantwortet. Natürliche Pro- Die Entdeckung in Mali weckte weltweites
Ist Wasserstoff dabei? Wenn ja, wie viel? zesse seien der Grund für die Bildung des Interesse. Seit Diallo und Kollegen das Vor-
Und lohnt es sich, ihn zu fördern? HyAfrica sogenannten weißen Wasserstoffs. kommen 2018 beschrieben, ist die Zahl der
heißt das Projekt afrikanischer und europäi- Auch Maike Buddensiek vom Fraunhofer- wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu wei-
scher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- Institut für Energiewirtschaft und Energie- ßem Wasserstoff in die Höhe geschnellt. Start-
ler. Die Forschungs- und Innovationspartner- systemtechnik in Kassel hofft auf das Was- ups, etwa in den USA, Australien, Spanien
schaft zwischen der Europäischen und der serstoffgas. Sie erforscht im Rahmen von und Brasilien, erkunden mögliche Wasserstoff-
Afrikanischen Union will ergründen, ob Was- HyAfrica, welchen wirtschaftlichen Nutzen quellen oder nutzen sie bereits. Natürlicher
serstoff die Energieversorgung Afrikas ver- mögliche Gasfunde lokalen Gesellschaf- Wasserstoff entsteht immer wieder aufs Neue.
bessern kann. Kein technisches Verfahren soll ten bescheren könnten. »Natürlicher Wasser- Beispiel Mali: Seitdem in Bourakébougou vor

98 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


zehn Jahren mit der Erschließung des
Wasserstoffs begonnen wurde, hat sich
der Gasfluss nicht verringert.
»Natürlicher Wasserstoff scheint
bei vielen bekannten Vorkommen
e­her eine erneuerbare Energiequelle
zu sein«, sagt der Geophysiker
­Gabriel. Er versucht zu verstehen,
unter welchen Bedingungen das be­
gehrte Gas im Gestein entsteht.
Drei Theorien zur Herkunft des
Gases konkurrieren aktuell. Bei der
Serpentinisierung reagiert Wasser
unter hohem Druck mit Mineralien
des Erdmantels. Vor allem bei eisen­
reichem Gestein kann dabei Wasser­
stoff entstehen, etwa in den sehr alten
Gesteinskernen der Kontinente, den
sogenannten Kratonen. In ihnen sind
Bänder aus eisenhaltigem Olivin und
anderen Mineralien eingeschlossen.
Diese »Grünsteingürtel« sind die
Überreste uralter Ozeankrusten. Bei
erdgeschichtlichen Kontinentalkolli­
sionen wurden sie zwischen die Kra­
tone gequetscht.
Mancherorts liegen die Grünstein­
gürtel so tief, dass sie heißer als
200 Grad sind und unter enormem
Druck stehen. Dann können eisen­
haltige Minerale mit Wasser reagie­
ren, es entsteht Wasserstoff, der an­
schließend langsam nach oben steigt.
Auch in Mali könnte eine solche geo­
logische Situation tief im westafrika­
nischen Kraton für die Wasserstoff­
produktion verantwortlich sein. Bis
zu 80 Prozent des natürlichen Was­
serstoffs entstehen durch die Serpen­
tinisierung, schätzen Experten.
Als zweiter Mechanismus kommt
die Radiolyse infrage. Wassermole­
küle werden dabei unterirdisch durch
radioaktive Strahlung in Sauerstoff
und Wasserstoff gespalten. Elemente
wie Uran und Thorium sind dafür ver­
antwortlich, die in Gesteinen der Erd­
kruste wie zum Beispiel Granit ent­
halten sein können.
Schließlich können Störungen im
Erdmantel zum Gasaustausch führen.
Dabei gelangt Wasserstoff, der kurz
nach der Geburt des Planeten im Erd­
kern eingeschlossen wurde, in den
Erdmantel und steigt mit der Zeit
durch Tausende Kilometer Gestein
an die Oberfläche auf.
Insgesamt gelangen Schätzungen
zufolge rund 23 Millionen Tonnen
Wasserstoff jährlich aus dem Erd­
gestein in die Atmosphäre, etwa ein
Viertel der weltweiten Wasserstoff­
nachfrage 2021. Hunderte Wasser­
stoffquellen wurden inzwischen welt­
weit dokumentiert. Häufig werden
sie, wie in Mali, zufällig entdeckt.
Doch manchmal hat aus dem Boden
strömender Wasserstoff wohl auch
WISSEN
23
Millionen
ausgesprochen sichtbare Folgen: die
»Feenkreise«. Weltweit finden sich
diese flachen, kreisförmigen und häu­
fig unbewachsenen Vertiefungen im
zielt in eisenhaltiges Gestein injiziert
werden. Das entstehende Wasser­
stoffgas könnte durch weitere Boh­
rungen rund um das Injektionsloch
Tonnen Boden. Hunderttausende sind doku­ gefördert werden. Die Forscher schla­
mentiert. gen weiterhin vor, die Produktion
Der Geochemiker Viacheslav solchen »orangefarbenen« Wasser­
Wasser­stoff Zgonnik, Chef des US-amerikani­ stoffs mit der Speicherung von Koh­
gelangen schen Wasserstoff-Start-ups Natural lendioxid im Untergrund zu koppeln,
jährlich in die Hydrogen Energy, hat mehrere dieser
in den USA »Carolina Bays« genann­
eine weitere Idee, um den Klimawan­
del abzumildern.
Atmosphäre, ten Gebiete an der US-Ostküste Findet sich tief unten im Erdgestein
etwa ein untersucht. Tatsächlich trat dort Was­ also tatsächlich ein Schatz, der nur
serstoff aus. Die Konzentration des noch gehoben werden muss, um der
Viertel der Gases nahm mit der Tiefe zu. Zgonnik Energiewende neuen Schwung zu ver­
weltweiten geht davon aus, dass der Wasserstoff leihen? Hierzulande sind die Experten
Nachfrage. die Mineralien im Gestein auflöst,
sodass die Oberfläche leicht einsinkt.
nicht so optimistisch. Zwar gibt es auch
in Deutschland Lagerstätten, etwa im
2019 schloss Natural Hydrogen oberfränkischen Leupoldsgrün. Dort
Energy eine 3,4 Kilometer tiefe Boh­ wurden bereits in den 1960er-Jahren
rung inmitten eines solchen Feenkrei­ hohe Wasserstoffgehalte im Gestein
ses in Nebraska ab. Im April 2022 gemessen. In der nationalen Wasser­
erwarb das Unternehmen HyTerra stoffstrategie der Bundesregierung
einen Anteil an dem Betrieb. Das Gas wird das Thema jedoch nicht erwähnt.
aus dem Bohrloch brenne »mit einer Global seien bislang »keine An­
klaren Flamme«, berichtet die Firma, sammlungen von Wasserstoff nach­
ein Zeichen dafür, dass Wasserstoff gewiesen, deren Größenordnung
vorherrschend sei. auch nur in die Nähe kommerziell
»Wasserstoff geologischen Ur­ genutzter Erdgasfelder« komme,
sprungs hat das Potenzial, die erneu­ heißt es in einer Analyse der Bundes­
erbare Energiequelle der Zukunft zu anstalt für Geowissenschaften und
werden«, bilanzierte Zgonnik 2020 Rohstoffe aus dem Jahr 2020. Um
im Fachmagazin »Earth-Science Re­ künftig große Mengen an Wasserstoff
views«. Weißer Wasserstoff sei in der zu gewinnen, seien andere Verfahren
Natur »viel weiter verbreitet« als wahrscheinlicher.
­angenommen. Seine Bedeutung wer­ Auch die Fraunhofer-Expertin
de »unterschätzt, missverstanden und Buddensiek ist skeptisch. Ein Wasser­
vernachlässigt«. Zusammen mit an­ stoffaustritt an der Oberfläche bedeu­
deren Start-ups verspricht der Exper­ te nicht zwingend, dass genug des
te Energiepreise von rund einem Dol­ Gases vorhanden sei, um kommer­
lar pro Kilogramm Wasserstoff oder ziell genutzt zu werden, sagt sie. Für
sogar weniger. Grüner Wasserstoff das HyAfrica-Projekt hat die Forsche­
kostet derzeit etwa fünfmal so viel. rin dennoch große Hoffnungen. Ge­
Und die Ausbeute könnte steigen. rade im kleinen Maßstab lasse sich
Im Oktober beschrieb ein französi­ mit Wasserstoffquellen vollkommen
Wasserstoff- sches Forscherteam im Fachblatt »Na­ unabhängig von anderen Energie­
Bohranlage in ture Geosciences«, wie der Prozess netzen eine autarke Energieversor­
Nebraska:
»Unterschätzt,
der unterirdischen Wasserstoffbil­ gung aufbauen.
miss­verstanden und dung zusätzlich künstlich angeregt »Wenn wir in diesen abgelegenen
vernachlässigt« werden könnte. Wasser soll dafür ge­ Gebieten von Marokko, Togo, Mo­
sambik und Südafrika fündig werden,
können die dortigen Gesellschaften
direkt versorgt werden«, sagt Bud­
densiek. So wie in Mali: Dort versorgt
der weiße Wasserstoff über einen Ver­
brennungsmotor inzwischen ganz
Bourakébougou mit Strom. Die Dorf­
bewohner können Gefriertruhen be­
treiben. In der Moschee brennt Licht
für die Abendgebete. Elektronische
Medien verbinden die Menschen mit
der Außenwelt.
Natural Hydrogen Energy LLC
»Falls die Chance besteht, das
­Leben für die Leute vor Ort zu ver­
bessern«, sagt Buddensiek, »wäre es
wirklich eine Schande, ein Potenzial
nicht zu nutzen.«
Philip Bethge n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 99
WISSEN
Massenmord durch Hunger
GESCHICHTE  Die Sowjets ließen einst Millionen Ukrainer verhungern.
Forscher haben nun in Moskau Hinweise auf ein gezieltes Vorgehen gefunden.
Doch war es wirklich Völkermord, wie der Bundestag behauptet?
D
ie Indizien für ein Menschheits­
verbrechen lagern in einem
schummrigen Archiv im Zen­
trum Moskaus, inmitten staubiger
Kisten. Brüchig gewordenes Papier,
darauf lange Tabellen in geschwun­
genen kyrillischen Buchstaben. Sie
sind schon durch viele Hände gegan­
gen, auch westliche Wissenschaftler
haben mit den Dokumenten gearbei­
tet. Und doch halten sie immer noch
Überraschungen bereit.
Sowjetische Beamte notierten auf
den Papierbögen die Zahl der Todes­
fälle in den Jahren 1932 und 1933,
während der großen sowjetischen
Hungersnot. Rund sieben Millionen
Menschen verhungerten damals
Schätzungen zufolge im gesamten
Riesenreich – die meisten davon in
der Ukraine.
Das Grauen von einst wirkt wie
eine Blaupause für die Schrecken
von heute. Als der Bundestag Ende
November die Hungersnot in der
Holodomor-­Gedenken
in Kiew 2022
100 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
­ kraine als gezielten Völkermord
U einmal die Sterbedaten aus dem Mos­
an den Ukrainern anerkannte, zog
der Grünenabgeordnete Robin Wa­
gener die Parallele zur Gegenwart:
»Wieder versucht ein Diktator im
Kreml, die Ukraine zu unterwerfen,
zu vernichten.«
Holodomor (Tötung durch Hunger)
wird jener Abschnitt der Geschichte
heute genannt. Bis zu 50 Prozent der
Opfer waren Ukrainer, obwohl sie
lediglich ein Fünftel der Sowjetbevöl­
kerung stellten. Geschätzt rund zehn
Prozent aller ukrainischen Bauern
starben. Dennoch tun sich viele His­
toriker schwer, von einem Genozid
zu sprechen, die Beleglage für eine
von langer Hand geplante gezielte
Ver­nichtung ist voller Lücken: Nicht
alle Ukra­iner waren gleichermaßen
von der Hungersnot betroffen, auch
Russen, Belarussen und 1,5 Millionen
Kasachen starben.
Überall in der Sowjetunion ver­
hungerte die Landbevölkerung, und
die Ukrainer lebten überwiegend in
ländlichen Regionen. Verstärkt wur­
de die Not durch die gewaltsame Kol­
lektivierung der Landwirtschaft. Und
in der Ukraine gab es besonders vie­
le selbstbewusste Privatbauern, die
davon betroffen waren.
Die hohe Sterblichkeit könnte also
Folge einer Verkettung von Umstän­
den gewesen sein, so auch die ur­
sprüngliche Arbeitshypothese eines
internationalen Forscherteams um
Nancy Qian, Wirtschaftsprofessorin
der Northwestern University bei Chi­
cago. Die Wissenschaftler haben noch
Ungleiche kauer Archiv untersucht und in einen
Behandlung größeren Zusammenhang gestellt.
Sie haben die Angaben kombiniert
Durchschnittliche mit Berichten über das Wetter in den
Sterblichkeit nach betroffenen Gebieten, um natürliche
Sowjetrepublik,
Todesfälle pro
Schwankungen der Erntemengen zu
1000 Einwohner erfassen. Sie recherchierten den Grad
Russland und Belarus der Verstädterung in den Hungerpro­
Ukraine vinzen, um den Einfluss der Urbani­
sowjetische
sierung herauszurechnen. Sie ver­
Hungersnot 1932/33 knüpften die Todeszahlen mit der
ethnischen Zusammensetzung in den
50 einzelnen Distrikten zu jener Zeit.
40
Sosehr die Forscher auch rechne­
ten, am Ende stand stets das Resultat:
30 Je höher der Anteil der Ukrainer in
20 einer Region war, umso stärker war
diese vom Hunger betroffen. Irgend­
10
wann hätten sie gedacht: »Holy crap –
0 ach, du Scheiße«, sagt Qian.
1925 30 35 40 Das Forschungspapier ist betont
S Quelle: Andrei Markevich nüchtern gehalten. Zwischen den Zei­
et al. (»The Causes of
Ukrainian Famine Mortailty,
len lässt sich hingegen herauslesen,
1932–33«) wie verstörend die Ergebnisse für die
Forscher waren. Seitenweise führen
sie auf, welche zusätzlichen Überprü­
fungen sie vornahmen, weil sie nicht
glauben konnten, worauf sie gestoßen
waren. Weil sie Fehler in der sowje­
tischen Erfassung der Bevölkerungs­
zusammensetzung nicht ausschließen
konnten, griffen sie zur Kontrolle auf
Daten aus der Zarenzeit zurück. Sie
bezogen historische Armutsquoten
mit in die Berechnung ein. Das Er­
gebnis blieb immer gleich: In zwei
ansonsten weitgehend identischen
Gebieten lag die Opferzahl stets dort
viel höher, wo mehr Ukrainer lebten.
Um sicherzugehen, schlossen Qian
und ihre Kollegen Natalya Naumenko
und Andrei Markevich einmal sogar
das gesamte Gebiet der ukrainischen
Sowjetrepublik aus ihrer Analyse aus.
Selbst dann noch zeigte sich das
­gleiche brutale Muster: Auch auf rus­
sischem Territorium waren jene Ge­
Olerg Petrasyuk / EPA-EFE
biete besonders vom Hunger betrof­
fen, in denen viele Ukrainer lebten.
»Die Unterschiede in der Sterblich­
keit lassen sich nur durch ethnische
Gesichtspunkte erklären, nicht aber
 WISSEN

durch administrative Grenzen oder die geo­

grafische Lage«, sagt Qian.
Auslöser der Hungersnot war unter ande­
rem ein Vorgehen, das in der Hauptstadt Mos­
kau erdacht wurde: die zentrale Getreide­
beschaffung der sowjetischen Führung. Ob­
wohl die Erntemenge 1931 um mehr als ein
Viertel einbrach, blieb die Menge des von den
Sowjets teils mit Gewalt eingezogenen Ge­
treides in der Ukraine fast unverändert. Das
hatte zur Folge, dass Bauern auch Korn auf­

Daily Express / Hulton Archive / Getty Images

brauchten, das für zukünftige Aussaaten be­
nötigt worden wäre. Sowjetdiktator Josef
Stalin wiederum verwendete das Getreide,
um Fabrikarbeiter und Städte zu versorgen,
sowie für den Export ins Ausland. Aus den
Deviseneinnahmen bezahlte er den Kauf von
Fabrikausrüstungen. Selbst im schlimmsten
Hungerjahr 1933 ließ Stalin noch 1,7 Millio­
nen Tonnen Getreide über die Grenzen
­schaffen.
Die Last dieses Vorgehens trugen nicht alle Kinder auf Lebensmittelsuche 1934: Verstörende Ergebnisse
Bevölkerungsteile gleichermaßen. Qian und
ihre Kollegen haben die von Moskau fest­ mit einer hohen Getreideernte war es noch Dass Kiew die Völkermordthese vertritt,
gelegten Beschaffungsquoten analysiert. Im drastischer: Vor dem Hunger waren die habe mit der Abgrenzung von Russland zu
Schnitt ließ die Zentralgewalt in ukrainischen ­Ukrainer in Gebieten mit einem Getreideüber­ tun, erklärt Osteuropa-Expertin Makhotina:
Regionen den Bauern systematisch 275 Gramm schuss die größte Gruppe, danach nicht mehr. »Das ist der Versuch, die Nation zusammen­
Getreide weniger pro Tag als in russischen Warum wollen viele Historiker dennoch zuhalten durch einen gemeinsamen Schmerz.«
oder belarussischen Gebieten. nicht von einem Völkermord sprechen? Ein Ein Grund liege darin, dass das Land kaum
Von Genozid sprechen die Forscher aller­ Grund sei, dass Ukrainer sowohl aufseiten Figuren habe, die in allen Landesteilen glei­
dings nicht, der Begriff sei umstritten. Die der Opfer als auch der Täter gestanden haben, chermaßen als Helden taugten. Die ukraini­
Daten zeigten zwar, dass die sowjetische Pla­ sagt Katja Makhotina. Sie ist Histo­rikerin an sche Geschichtspolitik bestand vor dem Krieg
nung den Ukrainern zu jedem Zeitpunkt der Universität Bonn und forscht seit Jahren aus zwei Strängen, der eher im Westen ver­
­weniger Nahrung zubilligte und sie am Ende zu Erinnerungskulturen im Osten Europas. breiteten nationalen Strömung und der eher
massenhaft sterben ließ. Es sei demnach nicht 2022 veröffentlichte sie mit ihrer Kollegin sowjetnostalgischen im Osten. Beide seien
komplett auszuschließen, dass die Hungers­ Franziska Davies das Buch »Offene Wunden praktisch nicht miteinander vereinbar.
not von langer Hand in Moskau geplant war, Osteuropas«. Die Bewertung als Genozid habe »prinzi­
aber es sei »schwer zu glauben«. Anders als etwa im Holocaust wurden nicht pielle Bedeutung für die Stabilisierung der
Dagegen spreche auch die Quellenlage. unterschiedslos alle Angehörigen einer eth­ Ukraine«, heißt es schon in einer Erklärung
Die Produktions- und Beschaffungsmengen nischen oder religiösen Gruppe verfolgt: Die des ukrainischen Parlaments aus dem Jahr
wurden 1928 in Moskau bei der Aufstellung Einwohner von Städten litten wesentlich sel­ 2003. Diese sei der »unbestreitbare Beweis
des ersten Fünfjahresplans festgelegt – zu tener Hunger, darunter befanden sich auch für die Unumkehrbarkeit der Demokratisie­
einer drohenden Hungersnot findet sich in Ukrainer. Makhotina nennt den kollektiven rung« des Landes. Daraus leitet sich ab: Wenn
den Dokumenten dieser Zeit jedoch kein Hin­ Mord an einer sozialen Gruppe Soziozid, an­ Ukrainer immer schon Opfer Moskaus waren,
weis. Das unterscheidet die sowjetische Hun­ dere Historiker sprechen von Bauernmord, dann ergibt sich für den Westen daraus auch
gersnot von der Großen Chinesischen Hun­ um die Kollektivierung der Landwirtschaft eine Pflicht zum Schutz der Ukraine.
gersnot, die 1959 bis 1961 mindestens 15 Mil­ voranzutreiben. Ohne Zweifel habe es sich Darin liegt auch die Gefahr einer Verkür­
lionen Menschenleben forderte – und vor der beim Holodomor um ein Verbrechen gegen zung. »Wenn alle Opfer sind, gibt es keine
Bürokraten im Vorfeld gewarnt hatten. Im die Menschlichkeit gehandelt. Täter mehr«, hat der Historiker Reinhart
Fall der sowjetischen Hungersnot fehlten sol­ Der Hunger wurde zudem als Waffe gegen ­Koselleck einmal gesagt. 2008 veröffentlich­
che Hinweise. Klar bleibt laut Qian aber, dass das ukrainische Nationalbewusstsein einge­ te der ukrainische Geheimdienst SBU Namen
Moskau den Tod von Abertausenden bewusst setzt. In den Zwanzigerjahren hatten die Kom­ von Holodomor-Tätern, eine Liste, auf der
in Kauf nahm. Das sowjetische Regime rie­ munisten eine Politik der »Einwurzelung« auffallend viele Juden auftauchten. Jüdische
gelte Gebiete mit Waffengewalt ab, sodass verfolgt: Sprache und kulturelle Eigenständig­ Organisation protestierten – und wiesen da­
die Hungernden nicht in andere Regionen keit nicht russischer Völker wurden betont rauf hin, dass hochrangige ukrainische Partei­
ausweichen konnten. Bei Kolchosen, die das und gefördert, um sie so für den Sowjet­staat funktionäre in der Aufzählung fehlten.
­geforderte Getreidesoll nicht lieferten, kon­ zu gewinnen. Anfang der Dreißigerjahre voll­ Makhotina stört sich auch daran, dass
fiszierte es zur Strafe alle anderen Nahrungs­ zog Stalin eine drastische Wende zu einer der Bundestag in anderen Fällen – mit deut­
mittel und ließ Lebensmittelläden schließen. stärkeren Russifizierung. Sie findet sich auch scher Beteiligung – zögerlicher ist. Die Mas­
Die Daten sprechen dafür, dass die sowje­ in Putins Rhetorik wieder. sentötungen der Herero in Namibia hat
tische Führung die ukrainische Bevölkerung Deutschland nicht als Völkermord anerkannt.
gezielt schwächen wollte, um ihre Dominanz Berlin habe nun ein Vorgehen gewählt, das
in der Landwirtschaft zu brechen, sagen die Deutschland sonst oft mit gutem Recht in
Forscher um Qian. Die Zahl der Ukrainer in »Die Nation zusammen­ Polen oder im Baltikum kritisiere: »Statt
der Sowjetunion sank von 31 Millionen auf halten durch einen der Wissenschaft und der Gesellschaft for­
28 Millionen Menschen, ihr Anteil an der Ge­ miert hier Politik die Erinnerung«, kritisiert
samtbevölkerung von 21 auf 16,5 Prozent. In ­gemeinsamen Schmerz« Makhotina.
den Stalin besonders wichtigen Provinzen Katja Makhotina, Historikerin Benjamin Bidder n

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 101

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 KULTUR
Yung Kafa & Kücük Efendi
Sven Zink
Scheine machen
MUSIK  Das Debütalbum »Chef« von Yung Kafa & Kücük Efendi besticht mit einer
einzigartigen Soundästhetik. Und ausgeprägter Geldgier.
I m Genre des Maskeraden-Raps ist das Hip-
Hop-Duo Yung Kafa & Kücük Efendi kein
Geheimtipp mehr. Mit »Chef« veröffentli-
chen die bisher nur als Avatare in Erscheinung ge-
tretenen Musiker ihr Debüt­album, das sich dank
einer besonderen Sound­ästhetik klar von sonsti-
gen Releases aus dem Deutschrap-Kosmos ab-
hebt. Auf den mit reichlich Synthesizern aufge-
blähten Trap-Beats klingen die Kopfstimmen der
beiden Rapper wie aus der Zukunft. In Musikvi-
deos treten beide teilweise als Comicfiguren auf
und lassen sich in Videointerviews verpixeln.
Identitäten sind für Yung Kafa & Kücük Efendi
nur Schall und Rauch.
Das Duo will mit seiner Musik eine maximale
Projektionsfläche für seine Zuhörerinnen und Zu-
hörer schaffen. So innovativ und futuristisch der
Sound ist, so rückwärtsgewandt sind die Themen,
die »Chef« verhandelt. In szeneüblicher Macher-
mentalität werden »grüne Racks« gemacht, also
104 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Geld, wie es in »Frech« heißt. Außerdem findet das
Duo, sie seien »Crazy Rich«, aufgrund ihres Taten-
drangs seien sie jetzt schon »Jungmillionäre« – so
heißt es in den gleichnamigen Tracks. Wie man es
dreht und wendet, auch in der Zukunft des
Deutschraps werden wohl »Scheine« gemacht. Da-
bei verpacken Yung Kafa & Kücük Efendi ihre
Treibjagd nach Reichtum zeitgemäß in einen ge-
sunden Lifestyle: »Trink den grünen Tee, wenn ich
im Fitness pumpen geh«. In hellen Momenten
schafft das Duo es, die Rastlosigkeit einer ganzen
Generation mit einem futuristischen Sound zu
kompensieren und lyrisch zu ummanteln. In »Nir-
gendwo daheim« sind sie »auf der Suche nach
der ­Sonne von Januar bis Dezember«. Das Duo
philosophiert über den Wunsch nach Orientierung
(»Ich reise durch Chatverläufe, und ich ende am
Anfang«) und liefert einer smartphone­scrollenden
Jugend einen Soundtrack, der in den stärksten
Momenten einnehmend ist. FRN
Reporterin in Not
KINO  Die Filmemacherin Alice
Diop ist bekannt geworden
durch Dokumentarfilme, zum
Beispiel über die medizinische
Versorgung von in Frankreich
lebenden Migranten. In ihrem
ersten Spielfilm »Saint Omer«
benutzt sie einen spektakulären
Kriminalfall als Vorlage für ein
fiktional verfremdetes Gerichts-
drama. Es geht um das Ver­
brechen einer aus dem Senegal
stammenden Frau, die an einem
Abend im November 2013 ihre
15 Monate alte Tochter am
Strand eines nordfranzösischen
Badeorts offensichtlich vorsätz-
lich im Meer davontreiben
ließ. Gegenüber dem Personal
des Hotels, in dem sie unterge-
bracht war, behauptete sie, der
Vater habe das Kind abgeholt
und in den Senegal gebracht.
Später fanden Fischer die Leiche
des Mädchens. Im Film reist
die Schriftstellerin Rama (Kayije
Kagame) zur Gerichtsver­
handlung in die Kleinstadt Saint-­
Omer und fühlt sich von der
mutmaßlichen Kindsmörderin,
die von Guslagie Malanda ge-
spielt wird, auf rätselhafte Weise
angezogen. Hat die schreckliche
Tat der Angeklagten etwas mit
Hexerei zu tun, oder handelt
es sich um ein kaltblütig verüb-
tes Verbrechen? Die Reporterin
ist schwanger und kommt selbst
aus einer Migrantenfamilie, ihre
Vorfahren stammten aus dem
Senegal – trotzdem wirkt es ein
bisschen konstruiert,
dass sie durch die Aussagen im
­Gerichtssaal in ihrer Rolle
als souveräne Beobachterin ge-
radezu existenziell erschüttert
wird. HÖB
Grandfilm
Szene aus »Saint Omer«
 Geschichten in
Geschichten
SERIEN  »The Dreamer – Be­
coming Karen Blixen« ist eine
sechsteilige Serie aus Däne­
mark, die die Verwandlung
einer Frau zeigt, von der ab­
hängigen Hausfrau zur interna­
tional erfolgreichen Schrift­
stellerin Karen Blixen. Die Serie
spielt in den Dreißigerjahren,
die Hauptfigur Karen schwelgt
in Erinnerungen an ihre Zeit
in Kenia. 17 Jahre lang hatte sie
dort – eher für als mit ihrem
Mann – eine Kaffeefarm aufge­
baut. Nun ist sie geschieden,
nach Dänemark zurückgekehrt
und führt ein ziemlich einge­
schränktes Leben. Sie träumt
davon, Schriftstellerin zu wer­
den und frei zu sein. Ihre bür­
gerliche Familie ist – wenig
überraschend – nicht angetan
von solchen Ideen. In einer
Szene sagt die Figur Karen über
ihr Werk, es handle sich dabei
um Geschichten in Geschichten.
Das trifft auch auf die sechs
Episoden der Serie selbst zu.
Durch die Rückblenden auf die
Zeit in Kenia und die fantasti­
schen Novellen, die Blixen sich
ausdenkt, entflieht man als Zu­
Szene aus »The Dreamer – Becoming Karen Blixen«
Aske Alexander Foss / Zentropa und Viaplay
Die Liebe bleibt
LITER ATUR  Dieser Roman sei
einer über die Arbeit, schreibt
Gabrielle Zevin im Nachwort
von »Morgen, morgen und
­wieder morgen«, einem der
spannendsten Bücher in diesen
späten Wintertagen. Aber das
stimmt nicht. Der Roman
­handelt zwar von zwei Compu­
terspieldesignern und ihrem
Versuch, sich mit jedem neuen
Spiel zu übertreffen, aber eigent­
lich geht es um ihre Freund­
schaft. Und die wird so lebens­
schauerin gemeinsam mit der
Protagonistin dem trostlosen
Alltag auf dem Landsitz der Fa­
milie. Die Serie orientiert sich
am Leben von Blixen, spielt
aber auch mit fiktionalen Ele­
menten. In »The Dreamer«
schafft Hauptdarstellerin Connie
Nielsen es, in den sehnsüch­
tigen Erinnerungen das Bild
einer zarten Karen zu zeichnen,
die sich in den Aristokraten
­Denys Finch Hatton verliebt.
Mit derselben Stärke verliert
sich Nielsen in der Verzweiflung,
die Karen über den Tod ihres
Geliebten empfindet. Geht es
ihr besonders schlecht, halluzi­
niert sie von ihrem »Seelenver­
wandten«. Am Ende ist es diese
Sehnsucht nach Liebe, nach
Freiheit und Unabhängigkeit,
die Blixens Worten eine große
Wucht verleiht. Das macht ihre
Bücher so lesenswert – und
»The Dreamer« sehenswert.
Blixens Biografie wurde übri­
gens schon einmal verfilmt.
1985 spielte die US-Schauspie­
lerin Meryl Streep die Haupt­
rolle in »Jenseits von Afrika«,
in der Rolle ihres Geliebten
­Denys war damals Robert Red­
ford zu sehen. Der Film
gewann sieben Oscars. JGA
nah und ambivalent erzählt,
dass man den Roman nicht aus
der Hand legen mag. Sam
und Sadie lernen sich als Kinder
in L. A. kennen, beide sind
klug, introvertiert, einsam. Sams
Mutter ist bei einem Autounfall
gestorben, Sams Fuß wurde
­dabei so schwer verletzt, dass er
sein ganzes Leben gehbehindert
sein und zeitweise unter schwe­
ren Schmerzen leiden wird.
­Sadies Schwester wiederum hat
Krebs, deshalb muss sie oft
­zurückstecken und sich selbst
beschäftigten. Seit die beiden
LED-Installation von Holzer auf dem New Yorker Times Square, 1985
Königin der
Einmischung
AUSSTELLUNGEN  Lange bevor
Twitter erfunden wurde, wusste
sich die US-Künstlerin Jenny
Holzer in ihren öffentlichen
Statements kurzzufassen. In
den Siebzigern und frühen
Achtzigern passte vieles, was
sie zu sagen hatte, auf Plakate,
T-Shirts oder Kondompackun­
gen. Das waren sloganähnliche
Weisheiten wie »Männer schüt­
zen Dich nicht mehr«. Einer
ihrer bekanntesten Sprüche ist
wohl »Die Zukunft ist dumm«,
ein anderer »Beschütze mich
vor dem, was ich will«. Nach­
dem Holzer in den frühen Acht­
zigerjahren die LED-Technik
entdeckt hatte, wurden flim­
mernde Texte eines ihrer Mar­
kenzeichen. Oft scheinen
die Worte da regelrecht am Be­
trachter vorbeizulaufen. Inzwi­
schen ist die Amerikanerin
72 Jahre alt, und gerade die jün­
gere Generation nimmt sie als
echte Ikone wahr, als Königin
der Kunst, der Worte und der
im Spielzimmer eines Kranken­
hauses aufeinandertrafen, zo­
cken sie gemeinsam. Das Spie­
len in einer virtuellen Welt
wird für beide zu einer Flucht
aus der realen. Die Freund­
schaft hält 609 Stunden lang.
Man weiß das so genau, weil
Sadie die Zeit mit dem kranken
Jungen als gemeinnützige Ar­
beit für ihre Bat Mizwa anrech­
net. Als er von ihrem Verrat
­erfährt, ist die Freundschaft na­
türlich hin. Aber das ist nur eine
von vielen Etappen ihrer Bezie­
hung. Jahre später treffen sich
Jenny Holzer / VG Bild-Kunst, Bonn, 2023 / Foto: John Marchael
Einmischung. Ab 11. März wid­
met ihr die Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen eine be­
sonders große Ausstellung, und
dann werden ihre Fans ein ech­
tes Pilgerziel haben. Gerade
diese Künstlerin will aber immer
auch die Menschen außerhalb
der Museen erreichen. Sie hat
früh die elektronischen Werbe­
tafeln am New Yorker Times
Square bespielt oder Fassaden
angestrahlt. 2018 ließ sie Dis­
plays an Lastwagen montieren
und schickte die Fahrzeuge in
diverse amerikanische Städte.
Begriffe wie »Schrei« oder Sätze
wie »Bleib bei mir, Kind« blitz­
ten auf ihnen auf. Holzer wollte
so nach einem Schulmassaker
die Forderungen nach schärferen
Waffengesetzen unterstützen,
und wie so viele ihrer Projekte
besitzt dieses leider eine an­
haltende Aktualität. Die zu
kommentierenden Krisen ge­
hen der Künstlerin ohnehin
nicht aus. In Düsseldorf zeigt
sie ein LED-Display, auf dem
sie ukrainische Autoren zu
Wort kommen lässt. UK
die beiden als Studierende in
Boston wieder – und beginnen,
anderen die Flucht in bessere
Welten zu ermöglichen. Rivali­
tät, Selbstbehauptung, Neid
kommen ihnen immer wieder
dazwischen.
Aber die
­Liebe, ganz
­un­kitschig,
bleibt. EVH
Gabrielle Zevin:
»Morgen, morgen
und wieder
­morgen«. Eich-
born; 560 Seiten;
25 Euro.
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 105
KU LT U R

Der Film der Stunde

KINO  »Im Westen nichts Neues« wurde für neun Oscars nominiert, mehr als jede deutsche Produktion zuvor.
Während das Ausland ihn feiert, wird er in seiner Heimat ignoriert. Warum?

3 4
Reiner Bajo / Net flix (10)

Szenen aus »Im Westen nichts Neues«:  1 | Schauspieler Daniel Brühl als Politiker Matthias Erzberger  2 | Hauptdarsteller Kammerer als
Paul Bäumer  3 | Schauspieler Devid Striesow als General Friedrich­  4 | Darsteller Schuch (r.) als Soldat Kat

106 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


E Ein Werk, das das
in gesichtsloser Veranstaltungsraum im
Ritz-Carlton am Potsdamer Platz in
Berlin, hier soll der größte deutsche
Filmerfolg gefeiert werden, den es interna-
tional je gab: »Im Westen nichts Neues« geht
mit neun Nominierungen ins Rennen um die
Oscars. German Films, die Organisation, die
deutsche Filme im Ausland vermarktet, hat
deshalb während der Berlinale zu einem
Empfang geladen. Aber die Atmosphäre er-
innert eher an die Jahresversammlung eines
Versicherungskonzerns.
Kein feierlicher Glamour, obwohl zu den
Gästen Schauspieler wie Albrecht Schuch und
Edin Hasanović gehören. Kein Rahmenpro-
gramm mit bewegenden Reden der Beteilig-
ten, Filmausschnitten und Promis, die dem
Film viel Glück wünschen für den Abend der
Oscarverleihung. Nur eine kurze Ansprache
des Chefs von German Films, dann ein Buffet
mit Gemüsechips und Frühlingsrollen, das
niemanden satt macht. Die Veranstaltung ist
ein Sinnbild für den ratlosen Umgang
Deutschlands mit diesem Film und seinem
sagenhaften Erfolg.
Wundern muss das eigentlich nicht. Filme
haben in diesem Land keinen so hohen Stel-
lenwert wie in Frankreich, England oder den
USA. Die Deutschen fremdeln spätestens seit
der Nachkriegszeit mit der Kunstform, für
die sie einmal weltberühmt waren: In
den Zwanzigerjahren zählte Deutschland zu
den führenden Filmnationen, brachte Klas-
siker wie »Metropolis« und »Dr. Mabuse«
hervor. Dann kaperten die Nationalsozialis-
ten den Film, machten ihn zur Propaganda-
waffe, und die wichtigsten Künstler wurden
mit Berufsverbot belegt, umgebracht oder
ins Exil gezwungen.
Davon hat sich der ­deutsche Film bis heu-
te nicht ganz erholt, ein neues Selbstbewusst-
sein hat sich nie e­ nt­wickelt. Und auch das
Kinopublikum ist nur mäßig interessiert an
den heimischen Produktionen. Die Deut-
schen gehen nach den Einschränkungen
durch die Pandemie zwar wieder mehr ins
Kino, allerdings am liebsten in US-amerika-
nische Blockbuster. 2022 wurden nur 27 Pro-
zent aller Kinotickets für deutsche Filme ver-
kauft. Bei den großen Festivals in Cannes und
Venedig glänzen deutsche Produktionen re-
gelmäßig durch ­Abwesenheit.
Und jetzt: neun Oscarnominierungen. So
was gab’s noch nie, darauf war niemand vor-
bereitet. Nominiert ist »Im Westen nichts
Neues« in den Kategorien »Beste Kamera«,
»Bester Ton« und »Bestes Szenenbild«. Für
das »Beste adaptierte Drehbuch« und die
»Beste Filmmusik«. In der Kategorie »Bester
internationaler Film«, wo in der über 90-jäh-
rigen Oscargeschichte erst drei deutsche Fil-
me gewannen: »Die Blechtrommel« (1980),
»Nirgendwo in Afrika« (2003) und »Das Le-
ben der Anderen« (2007). Und ­erstmals über-
haupt geht mit »Im Westen nichts Neues« ein
deutscher Film in der K ­ önigskategorie ins
Rennen um den noch immer begehrtesten
Filmpreis der Welt: »Bester Film«.
Gewicht der deutschen
Geschichte trägt.
An Anerkennung aus dem Ausland mangelt
es also nicht – aber man hat nicht den Ein-
druck, dass sich die deutsche Öffentlichkeit
mit den Filmemachern freut. Das große Mit-
fiebern wie vor einer Fußballweltmeisterschaft
bleibt aus. Schon beim Kino- und später beim
Netflix-Start im Herbst nahm die deutsche
Filmkritik den Film äußerst ungnädig auf, in
der »Süddeutschen Zeitung« und der »Frank-
furter Allgemeinen« erschienen vernichtende
Verrisse. Ob der Film ein Publi­kumserfolg ist,
weiß man nicht genau, weil Netflix keine Zah-
len herausgibt. Medien vermeldeten die vielen
Oscar-Nominierungen pflichtschuldig, aber
darüber hinaus gab es erstaunlich wenig Be-
richterstattung. Hört man sich unter kultur-
interessierten Menschen um, fällt auf, dass die
wenigsten den Film gesehen haben.
Sicher liegt das auch am verstörenden
Thema des Films. Immerhin handelt es sich
um die Verfilmung des berühmten Romans
von Erich Maria Remarque von 1929, der
erschütternd realistisch den Horror der
Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs schil-
dert. Ein internationaler Bestseller, eine lite-
rarische Sensation. Die erste amerikanische
Verfilmung wurde auf Betreiben der Natio-
nalsozialisten in Deutschland verboten. Die
Verfilmung von Edward Berger ist nun die
erste deutsche und setzt Remarques unnach-
giebige Sprache in drastische Bilder um. Sie
zeigt, wie der Nationalismus Schüler wie die
Hauptfigur Paul Bäumer in die Schützengrä-
ben und in den Tod treibt. Regisseur Edward
Berger betont, seine Version sei auch aus dem
Gefühl der Scham heraus entstanden, dass
sein Heimatland für zwei Weltkriege verant-
wortlich ist. Ein Film also, der das Gewicht
der deutschen Geschichte trägt. Der nicht zur
Identifizierung einlädt, sondern Auseinan-
dersetzung verlangt.
Jim Ruymen / UPI / laif
Produzent Grunert, Regisseur Berger
KU LT U R
In den USA und in Großbritannien wird
der Film gerade für die Furchtlosigkeit der
Darstellung gefeiert. Das Drama hat bei den
britischen Filmpreisen, den Bafta-Awards, so
abgeräumt wie noch kein deutscher Film zu-
vor. 14 Nominierungen, 7 Preise, darunter die
beiden wichtigsten Kategorien: »Beste Regie«
und »Bester Film«. Menschen aus dem Team,
die bei der Verleihung waren, erzählen davon
wie von einem Fiebertraum. »Absurd« sei der
Abend gewesen, sagt Felix Kammerer, 27,
Darsteller des Paul Bäumer, es war seine ­erste
Hauptrolle in einem Film. Anderthalb Stun-
den habe er auf dem roten Teppich zuge-
bracht, Fotos, Interviews, noch mehr Fotos.
»Und dann«, beschreibt er immer noch kopf-
schüttelnd, »gratulieren dir Stars, die du nur
vom Bildschirm kennst. Cate Blanchett hat
mir die Hand geschüttelt und gesagt, wie sehr
sie den Film liebt.«
Als Edward Berger den Preis für die beste
Regie entgegennahm, zeigte die Übertragung
einen weinenden Albrecht Schuch im Publi-
kum. Schuch, 37, spielt im Film mit bewegen-
der Tiefe den Soldaten Katczinsky. »Wir ha-
ben diesen Film als Team gemacht«, sagt er.
»Aber Edward war der Steuermann dieses
Kahns, er musste die großen Entscheidungen
treffen.« Dass er nun mit diesen renommier-
ten Preisen ausgezeichnet wurde, habe ihn
unheimlich gerührt.
Bedeutet der Siegeszug von »Im Westen
nichts Neues« bei den Baftas, dass der Film
auch bei der Oscarverleihung der große Ge-
winner sein wird? Das ist längst nicht aus-
gemacht. Möglich, dass der große Konkurrent
»Everything Everywhere All at Once« – bei
den Baftas zehnmal nominiert und nur
einmal ausgezeichnet – der große Sieger
bei den Oscars wird. Die Fantasykomödie
liegt mit elf Nominierungen im Oscarrennen
noch vor »Im Westen nichts Neues« und
gilt als der große Favorit. Nur der Preis
für den »Besten Internationalen Film« dürf-
te dem deutschen Beitrag kaum zu nehmen
sein.
Aber wie hat es die in Tschechien gedreh-
te Produktion überhaupt geschafft, interna-
tional so erfolgreich zu werden? Nicht nur als
Geheimtipp unter Arthaus-Fans, sondern als
ernst zu nehmender Konkurrent bei den wich-
tigsten Filmverleihungen?
Rekonstruiert man, wie es so weit kommen
konnte, zeigt sich der große Einfluss mächti-
ger Berufsvereinigungen sowie die wachsen-
de Bedeutung von Streamingdiensten, die das
Rezeptionsverhalten eines globalen Publi-
kums nachhaltig verändern und ihr Gewicht
auch bei den Oscars geltend machen. Und
nicht zuletzt ist »Im Westen nichts Neues«
durch den Krieg in der Ukraine unfreiwillig
zum Film der Stunde geworden.
Der Weg zu den Oscars begann im August
des vergangenen Jahres. Eine neunköpfige,
rein weiblich besetzte Jury unter dem Vorsitz
von Maria Furtwängler entschied damals
im Auftrag von German Films, dass »Im
­Westen nicht Neues« Deutschland bei den
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 107
KU LT U R
Oscars in der Kategorie »Bester interna­
tionaler Film« vertreten soll. Fragt man
den Produzenten Malte Grunert, 55, wann
ihm klar wurde, dass sein Film auch in an­
deren Preiskategorien Chancen hat, kann
er den Zeitpunkt ziemlich genau benennen.
»Als das Ton-Team um Lars Ginzel und Frank
Kruse den Preis der britischen Vereinigung
der Tontechniker gewann und unser bri­
tischer Kameramann James Friend von seiner
Berufsvereinigung ebenfalls ausgezeichnet
wurde.« Man dürfe nicht unterschätzen, wie
groß der Einfluss dieser Organisationen ist.
Wer über die Oscars abstimmen will, muss
Mitglied der Academy of Motion Pictures
Arts and Sciences sein. Nach anhaltender
Kritik, hier hätten vor allem alte weiße Män­
ner das Sagen, gelobte die Organisation 2016,
sich breiter aufzustellen und zu diversifizie­
ren. Mittlerweile gehören ihr weltweit knapp
10 000 Filmschaffende an, fast doppelt so
viele wie noch 2012. Aus Deutschland sind
etwa der Regisseur Fatih Akin und die Schau­
1
2 3
Sven Simon / ddp
Deutsche Oscarpreisträger: 1 | »Die Blechtrommel«-Regisseur Volker Schlöndorff (M.) 1980  die Rezeption von »Im Westen nicht Neues«
2 | »Nirgendwo in Afrika«-Regisseurin Caroline Link 2003  3 | »Das Leben der Anderen«-Regisseur
Florian Henckel von Donnersmarck 2007
108 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
»Im Westen nichts Neues« gorien sind nur Angehörige der jeweiligen
Sparte stimmberechtigt.
drängt sich als Spiegelbild In einer zweiten Wahlphase stimmen die
der Gegenwart auf. Academymitglieder über die eigentlichen
­Oscarpreisträger ab. Hier ist die Beschrän­
kung auf die eigene Sparte aufgehoben, aller­
dings werden die Mitglieder dazu angehalten,
nur in Kategorien abzustimmen, in denen sie
spielerin Nina Hoss dabei. Seitdem haben sich auskennen. In amerikanischen Medien
auch Filme, die außerhalb der USA entstan­ wird schon spekuliert, dass »Im Westen nichts
den sind, größere Chancen bei den Oscars. Neues« bei den technischen Kategorien die
2020 gewann mit der südkoreanischen So­ Nase vorn haben könnte.
zialsatire »Parasite« erstmals ein nicht eng­ Denn auch wenn das hierzulande nicht so
lischsprachiges Werk den Hauptpreis als bes­ wahrgenommen wird: Deutsche Filmtechni­
ter Film. ker, zum Beispiel aus den Bereichen Sound
Bei der Frage, wer überhaupt nominiert oder Szenenbild, genießen im Ausland hohe
wird, spielen die 17 verschiedenen Film­ Anerkennung. Viele werden für interna­
gewerke, die in der Academy zusammenge­ tionale Produktionen gebucht. Mit Florian
fasst sind, die Hauptrolle. Dazu gehören etwa Hoffmeister, der das Drama »Tár« filmte, ist
die Kostümdesigner und Drehbuchautoren. dementsprechend auch ein deutscher Kame­
Nur für die Kategorie »Bester Film« nominie­ ramann in der Kategorie »Beste Kamera«
ren alle Gewerke gemeinsam die zehn Filme, nominiert.
die zur Wahl stehen. In den anderen 22 Kate­ Das alles würde aber im Oscarrennen
­wenig helfen, wenn die fertige Arbeit nicht
die nötige Sichtbarkeit bekäme. Hier kommt
die globale Verbreitung der Streamingdiens­
te ins Spiel. »Ohne Netflix würde es diesen
Film nicht geben«, sagt Edward Berger, 52.
»Die Kosten des Films hätte man auf traditio­
nellem Weg, also im Kino und mit anderen
Erlösen, in Deutschland oder Europa nicht
wieder einspielen können.«
Ob sich »Im Westen nichts Neues« wirt­
schaftlich gelohnt hat, dazu will sich der
Streamingdienst nicht äußern. Netflix gibt
sich notorisch zugeknöpft, wenn es um
­konkrete Zahlen geht, und verrät nur in
­verklausulierter Form, wie ein bestimmter
Film vom Publikum angenommen wurde.
Zu »Im Westen nichts Neues« erfährt man,
dass das Drama im ersten Monat auf der
ABC Photo Archive / Getty Images
Plattform mehr als 100 Millionen Stunden
abgespielt wurde und es in 91 Ländern in die
Spielfilm-Top-Ten schaffte, darunter in
Deutschland, England, den USA, Frankreich,
Mexiko und Südkorea. Bei aller Ungenauig­
keit der Angaben kann man daraus ableiten,
dass der Film schon lange vor den Oscar­
nominierungen eine Sichtbarkeit bekam,
die wohl auch Academy­mitgliedern nicht
­entging.
Der Film hat für Netflix aber auch abgese­
hen von nackten Zahlen große Bedeutung.
Streamingdienste benötigen Werke, die aus
der Masse herausragen. Bisher konnte Netflix
in der Königskategorie »Bester Film« noch
nie gewinnen; »Im Westen nichts Neues« soll
das ändern.
Paul Buck / picture-alliance / dpa
Aufwind für seine Oscarnominierungen
bekam »Im Westen nichts Neues« auch aus
einer Aktualität, die niemand vorhersehen
konnte: dem Krieg in der Ukraine. »Natürlich
hat der Erfolg des Films auch damit zu tun,
dass das Thema die Welt gerade beschäftigt«,
sagt Regisseur Berger. Tatsächlich lässt sich
kaum vom aktuellen Kriegsgeschehen tren­
nen, die grausamen Filmbilder von Tod und
 KU LT U R

Leid vermischen sich unweigerlich mit denen

aus den Nachrichten von Kriegsschauplätzen
in der Ukraine.
Einerseits überfordert diese Überlagerung
einen Film, der von einer konkreten his­ BELLETRISTIK SACHBUCH
torischen Situation erzählt – und eben nicht
vom aktuellen Krieg, der erst ausbrach, Sam beneidet die Der Supermarkt ist ein
als die Produktion längst abgedreht war. ­Cappuccino-Mütter im Ort, an dem Konzern­
­Andererseits: Wenn die russische Armee, Fitnessklub. Nisha interessen und gesetzliche
ist so eine Cappuccino- Regularien verhandelt
wie Berichte nahelegen, tatsächlich unzu­ Mutter, glücklich ­werden. Konsumenten
länglich geschulte Rekruten in den Kampf ist sie nicht. Eine ver­- sollten gut beratene
auf die Schlachtfelder in der Ukraine schickt, tauschte Sport­tasche ­Entscheidungen treffen –
führt die beiden Frauen mit dem Supermarkt-­
dann agiert sie ähnlich wie die deutsche zusammen. | Platz 2 Kompass. | Platz 5
­Armee im Ersten Weltkrieg. »Im Westen
nichts Neues« malt die bitteren Konse­
quenzen dieser Praxis in aller Drastik aus. 1 (1) Simon Urban / Juli Zeh 1 (3) Brianna Wiest 101 Essays, die dein
Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro Leben verändern werden Piper; 22 Euro
Sosehr man das Filmgeschehen auf dem Bild­
schirm in der Vergangenheit verorten möch­ 2 (2) Jojo Moyes 2 (1) Prinz Harry
te, so unnachgiebig drängt es sich als Spiegel­ Mein Leben in deinem Wunderlich; 25 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
bild der Gegenwart auf. Wohl auch den­
jenigen, die über die Oscarpreisträger ent­ 3 (3) Ewald Arenz 3 (4) Michael Thumann
scheiden. Die Liebe an miesen Tagen Dumont; 24 Euro Revanche C. H. Beck; 25 Euro

Egal wie die Verleihung am 12. März in 4 (4) Bonnie Garmus 4 (2) Elke Heidenreich
Los Angeles ausgeht: »Im Westen nichts Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro
­Neues« hat Debatten über das Genre des
Kriegsfilms wiederbelebt, die weit in die 5 (5) Dörte Hansen 5 (–) Thilo Bode
Filmgeschichte zurückreichen. Lassen sich Zur See Penguin; 24 Euro Der Supermarkt-Kompass S. Fischer; 22 Euro

Kriegsfilme und Antikriegsfilme sauber von­ 6 (5) Ewald Frie Ein Hof und
einander abgrenzen? Für einige Kritiker kann 6 (6) Mariana Leky
Kummer aller Art Dumont; 22 Euro elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro
es gar keine Antikriegsfilme geben, weil
­Filmemacher den Krieg immer ästhetisieren, 7 (7) Sebastian Fitzek 7 (9) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben,
selbst wenn sie ihn anprangern wollen. So Mimik Droemer; 24 Euro was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
inszenierte Steven Spielberg im Auftakt sei­
nes Kriegsdramas »Der Soldat James Ryan« 8 (9) Colleen Hoover It starts with us – Nur noch 8 (–) Dirk Oschmann Der Osten: eine
einmal und für immer westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro
die Landung der Alliierten in der Normandie dtv; 20 Euro

im Zweiten ­Weltkrieg als Hölle auf Erden, 9 (7) Stefanie Stahl

9 (–) Judy I. Lin A Magic Steeped in Poison –
die Tausende junge Männer binnen Minuten Was uns verwundbar macht Wer wir sind Kailash; 22 Euro
in den Tod reißt. Danach füllt er dieses an­  Fischer Sauerländer; 19,90 Euro
scheinend ­sinnlose Schlachten nachträglich 10 (6) Torsten Sträter Du kannst alles lassen,
mit pa­triotischem Pomp und so auch mit 10 (8) Arno Geiger du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro

Sinn. Ähnlich funktioniert Oliver Stones Das glückliche Geheimnis Hanser; 25 Euro
11 (14) Ulrike Herrmann Das Ende des
»Platoon« über den Vietnamkrieg, auch hier Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
steht die Warnung vor den Verheerungen des 11 (10) Ferdinand von Schirach
Nachmittage Luchterhand; 22 Euro
12 (11) Richard David Precht / Harald Welzer
Kriegs neben einer ästhetischen und patrio­
tischen Überhöhung. Die vierte Gewalt – Wie Mehrheits-
12 (–) Holly Black Elfenerbe – meinung gemacht wird, auch wenn sie
Solche Gefühle ruft Edward Bergers Film Der gestohlene Thron cbj; 22 Euro
keine ist S. Fischer; 22 Euro
nicht hervor, er kommt ohne Helden aus.
Doch er zeigt eindringlich, wie der Krieg Kör­ 13 (–) Trude Teige Als Großmutter 13 (–) Dorothee Röhrig »Du wirst
per und Seelen zermalmt. Vorwerfen kann im Regen tanzte S. Fischer; 22 Euro
noch an mich denken« dtv; 24 Euro
man ihm lediglich, dass er auch die Grausam­ 14 (11) Annie Ernaux
keiten perfekt ausgeleuchtet zeigt. 14 (–) Bas Kast
Der junge Mann Suhrkamp; 15 Euro Kompass für die Seele C. Bertelsmann; 24 Euro
Als Anfang des Jahres die Oscarnominie­
rungen bekannt gegeben wurden, drehte Ed­ 15 (12) Charlotte Link 15 (17) Claudia Kemfert
ward Berger gerade seinen nächsten Film. Ein Einsame Nacht Blanvalet; 25 Euro Schockwellen Campus; 26 Euro
Thriller, der in Rom spielt, zur Starbesetzung
gehören die Schauspieler Ralph Fiennes und 16 (13) Tommy Jaud Komm zu nix – Nix erledigt 16 (13) Michelle Obama
Stanley Tucci. Berger arbeitet seit Jahren auch
und trotzdem fertig Fischer Scherz; 15 Euro Das Licht in uns Goldmann; 28 Euro

außerhalb von Deutschland. »Wir müssen 17 (15) Julia Schoch Das Liebespaar 17 (10) Andrea Wulf
weiter frischen Wind hineinlassen ins deut­ des Jahrhunderts dtv; 22 Euro Fabelhafte Rebellen C. Bertelsmann; 30 Euro
sche Filmgeschäft«, sagt er. »Wenn man uns
lässt, können wir auch in Deutschland Filme 18 (–) Andreas Eschbach 18 (12) Oliver Hilmes
machen, die sich international nicht verste­ Der schlauste Mann der Welt Lübbe; 22 Euro Schattenzeit Siedler; 24 Euro
cken müssen.«
19 (14) Virginie Despentes 19 (16) Gerhard Wisnewski verheimlicht –
Im besten Fall werden das dann auch Fil­ Liebes Arschloch Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro vertuscht – vergessen 2023 Kopp; 16,99 Euro
me, für die sich das hiesige Publikum interes­
siert. Ein paar Oscars für »Im Westen nichts 20 (–) David Baldacci 20 (–) Serhii Plokhy
Neues« würden dabei vielleicht helfen. Finstere Lügen Lübbe; 23 Euro Das Tor Europas Hoffmann und Campe; 30 Euro
Oliver Kaever  n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 109

KU LT U R

D
er Komponist Steve Reich hat
das, was sonst Schriftsteller ha­
ben: einen berühmten ersten
Satz. Er steht nur nicht am Anfang

Der Regenmann
eines Romans. Er füllt ein ganzes
Stück Musik.
Der Satz lautet: »It’s gonna rain.«
Nicht Reich trägt ihn im gleichnami­
gen Stück vor, sondern ein afroame­
MUSIK  Steve Reich ist einer der einflussreichsten Komponisten rikanischer Straßenprediger im San
Francisco der Sechzigerjahre, Reich
weltweit. Er ist inzwischen 86 Jahre alt und hat ihn mitgeschnitten. »Es wird reg­
denkt über den Tod nach – aber nicht daran aufzuhören. nen.« Kein Wetterbericht. Eine Offen­
barung. Nicht nur ein Stück Musik.
Ein Stück Musikgeschichte.
Die schrieb Reich mit »It’s Gonna
Rain« schon 1965. Damals war er
Ende zwanzig. Heute ist er 86 Jahre
alt, für die »New York Times« »einer
der größten lebenden Komponisten«
und für den »New Yorker« nicht
weni­ger als »der originellste musika­
lische Denker unserer Zeit«. Seine
Kompositionen wabern irgendwo
zwischen Klassik und Klub. Sie be­
wegen sich so rhythmisch, wie man
es in jüngster Vergangenheit eher
von der elektronischen Musik kennt,
werden aber oft von Orchesterinstru­
menten gespielt. Sie haben die Avant­
garde gepusht, aber auch den Pop.
Es gibt einiges, worauf Steve Reich
sich ausruhen könnte.
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit
ich noch habe«, sagt er aber, »und
ich möchte sie so gut wie möglich
­nutzen.«
Im Herbst sollen die New Yorker
Philharmoniker ein Stück von ihm
uraufführen, Reich produziert im ho­
hen Alter noch neue, interessante
Musik. Zugleich wirkt sein Werk nicht
überholt, sondern so up to date, als
wäre es für die von Krieg und Krisen
gebeutelte Gegenwart geschaffen
worden. Woran liegt das?
Anruf bei Reich. Er will nicht
­zoomen oder so etwas. Er will tele­
fonieren. Telefonieren passt zu einem,
der im vergangenen Jahr das Buch
»Conversations« herausgege­ben hat.
Es besteht aus Gesprächen mit Kol­
legen wie dem Übermusiker Brian
Eno oder dem Radiohead-­Gitarristen
und Filmmusikkomponisten Jonny
Greenwood. Gute Gespräche, die am
Prozess des Redens, am Dialog, inte­
ressiert sind und nicht an der zitier­
fähigsten Pointe. Auch jetzt am Tele­
Philip Montgomer y / NYT / Redux / laif

fon wirkt Reich diskussionsfreudig,

unprätentiös und präzise. Wenn er
lacht, dann lacht er auch mal lang.
Wenn er widerspricht, dann nicht nur
mit einem Nein, sondern auch mal
mit »no, no, no, no, no«. Telefonieren
passt zu ihm, weil es schlicht den
­Fokus auf den Sound setzt. Wie
Künstler Reich: »Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch habe« Reichs Leben.

110 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023


Er sei gerade in Palm Desert, Kalifornien,
rund zwei Stunden mit dem Auto von Los
Angeles entfernt, erzählt er. Die ersten Mo-
nate des Jahres verbringt er gern hier, bei
­seinem Sohn nahe der Westküste, wo er etwas
Sonne abkriegt. Wohl mehr als an der Ost-
küste, von der er stammt.
Reich kam als Nachfahr deutscher und ost-
europäischer Juden in New York zur Welt.
Kurz nach seiner Geburt ließen sich die Eltern
scheiden, Reich musste mit dem Zug zwischen
seinem Vater in New York und seiner Mutter
in Los Angeles pendeln. Lange Fahrten. Das
Rattern der Räder auf den Schienen habe sein
Rhythmusgefühl geschärft, sagte er mal. Die
sich stetig wandelnde Landschaft zur gleich-
förmigen Bewegung des Zugs – ein gutes Sinn-
bild für die Musik, die er später macht.
Klassisch lernte er als Kind Klavier, der
Jazz brachte ihn als Teenager zum Schlag-
zeug. Steve Reich liebte Bebop und Bach.
In den Fünfzigerjahren schloss er erst ein
Philosophiestudium an der renommierten
Cornell University ab und studierte dann an
der namhaften Juilliard School in New York
Komposition. Er schloss sich jedoch nicht in
den Elfenbeintürmen der klassischen Musik
und der akademischen Welt ein. Er sagt: »Ich
wollte die Tür zur populären Musik öffnen.«
Tatsächlich liest sich seine Biografie, als hät-
te er sich die Wege zur Straße, aber auch zu
den Sälen immer offen gehalten.
Nachts jobbte er bei der Post oder fuhr
Taxi, wie der andere berühmte Komponist
unter den sogenannten New Yorker Minima-
listen, Philip Glass. Mit Glass betrieb Reich
eine Zeit lang sogar eine Umzugsfirma namens
Chelsea Light Moving, zwei Schwergewichte
der Musik, die schwer zu schleppen hatten.
Nach seinem Abschluss arbeitete Reich
häufig am San Francisco Tape Music Center,
einem Mix aus Studio und Konzertstätte,
einer Art experimentellem Klanglabor der
Sechzigerjahre. Dort kam er durch Zufall auf
»It’s Gonna Rain«. Nur plädiert er für einen
anderen Ausdruck, als ich am Telefon »Zu-
fall« sage. Reich, der auch mal eine simple
Baseballkappe als Kippa trägt, als »religiöses
Bekenntnis«, wie er in einem Interview gesagt
hat, spricht von einem »Gottesgeschenk«.
Er legte zwei Bänder mit dem Satz des Pre-
digers ein. Seine Idee: zwischen »It’s gonna«
auf dem einen Band und »rain« auf dem an-
deren hin- und herzuschneiden. Doch als er
auf Play drückte, starteten beide Bänder den
Satz »It’s gonna rain« an der gleichen Stelle;
bloß lief eines ein bisschen schneller als das
andere. »Wie groß ist die mathematische
Wahrscheinlichkeit, dass das passiert?«, fragt
Reich, die Antwort ist klar, ein Argument für
sein Gottesgeschenk.
»It’s gonna rain«, »es wird regnen«, ist
auch eine Warnung Gottes an Noah vor der
Sintflut. Ein Satz, der in der ersten Hälfte der
Sechzigerjahre, als Reich mit den zwei Bän-
dern experimentierte, eine neue Dringlichkeit
bekam: »Während der Kubakrise dachten ich
und Millionen andere Amerikaner, wir wür-
KU LT U R
auch David Bowie, die Talking Heads und
Radiohead. Reichs Einfluss reicht von Hip-
Hop bis Techno. Im Hip-Hop gehört Sam-
pling – wie bei Reich das Predigerzitat »It’s
gonna rain« – zu den Grundbausteinen.
Dass Reich sein altes Prinzip nach wie vor
praktiziert, zeigt sich an seinem neuesten Al-
bum. Die vor Kurzem veröffentlichten »String
Quartets« sind Neuaufnahmen von Werken,
die zum Teil bis in die Achtzigerjahre zurück-
reichen und selbst 2023 nicht altbacken klin-
gen. Vielleicht weil es eben keine eintönigen
Wiederholungen sind, sondern eher eindring-
liche Variationen, eingespielt vom jungen
Mivos Quartet aus New York. Vielleicht aber
auch, weil Reichs »String Quartets« einen
Zeitgeist treffen.
Philip Montgomer y / NYT / Redux / laif
Eines der »String Quartets« heißt »Diffe-
rent Trains«. Das Rattern der Räder auf den
Schienen als Musik. Reich verband darin die
Gleichzeitigkeit seiner eigenen amerikani-
schen Erfahrung als Kind, das in den Vierziger­
jahren zwischen den Eltern pendeln musste,
mit dem Holocaust in Europa. Wäre er zu der
Zeit dort gewesen, sagte Reich mal über »Dif-
Hand des Komponisten Reich ferent Trains« (1988), »hätte ich als Jude in
ganz anderen Zügen fahren müssen«.
den alle in radioaktivem Rauch aufgehen.« Ein anderes Stück trägt den Titel »WTC
Ein Satz, der von der Nähe zwischen Alltag 9/11«. Der 11. September als alarmiert-trau-
und Katastrophe berichtet. ernde Klangcollage. Reich telefonierte mit
Das »It’s gonna rain« auf dem einen Band seinem Sohn, während der von einer New
überholte nach und nach das »It’s gonna rain« Yorker Wohnung aus sah, wie der Südturm
auf dem zweiten Band. Der Satz wiederholte des World Trade Center einstürzte. »Wenn
sich nicht einfach nur. Der Satz wiederholte Musik nicht aus emotionaler Intensität ent-
sich immer anders. steht«, sagte Reich 2011 vor der Uraufführung
Reich nannte das Phasenverschiebung. Er von »WTC 9/11«, »hat sie keinen Bestand.«
übertrug das Prinzip von der Bandmaschine Beide Quartette passen gut in den aktuel-
auf Instrumente des Orchesters, auch aufs len (post-)pandemischen Zeitgeist, in dem
Klavier, und das Stück »Piano Phase« ent- vielen Menschen bewusster geworden ist, wie
stand. Ein Stück, das er 1966 schrieb und das eng Katastrophe und Alltag, das Persönliche
noch 2016 in der Kölner Philharmonie das und das Überlebensgroße, miteinander ver-
Publikum lachen, pfeifen, unruhig werden flochten sein können.
ließ. Reich kennt das. Vor vielen Jahren schon Das neueste Stück von Steve Reich heißt
habe man seine Musik in Deutschland als Mu- »Traveler’s Prayer«. »Es ist im Grunde ein
sik vom Fließband beschimpft, er erinnert Stück über das Sterben«, erzählt er. »Ich habe
sich noch, es hat sich eingebrannt. dieses Stück geschrieben, als ich auf den
Dabei liegt einer der Gründe, wieso seine 85. Geburtstag zuging, und wenn man so alt
Musik auch heute noch zeitgemäß klingt, wird, dann kommen einem solche Gedanken.
nicht im am Fließband produzierten Stumpf- Aber als die Pandemie ausbrach, war das nicht
sinn. Er liegt in der kunstvollen Betonung der mehr nur meine Sorge. Menschen, die star-
Variation in der Wiederholung. Fließband ben, waren jetzt 25 oder 35 Jahre alt. Die
klingt anders. Pandemie hat die Sorgen, die ich selbst hatte,
Das Prinzip erinnert an Memes, die ihren universalisiert.«
Reiz unter anderem aus der Verknüpfung wie- Es sei auf einmal nicht mehr um ihn ge-
derkehrender und wechselnder Bestandteile gangen, sondern um alle. Das Persönliche und
beziehen, es erinnert an die kreative Copy- das Überlebensgroße.
Paste-Kultur des Internets. Es hat Musiker »Traveler’s Prayer« besteht aus Zusätzen
und Musikgruppen beeinflusst wie »Conver- eines jüdischen Reisegebets. Die Stimmen der
sations«-Gesprächspartner Brian Eno, aber Sänger überlagern sich, unterstützt von
­Streichern, unterbrochen von einem Klavier.
Das Stück klingt nicht typisch für Reich, er
­experimentiert noch immer. »Traveler’s Pray-
»Die Pandemie hat er« kreist nicht um die minimalen Variationen,
bewegt sich nicht so zackig. Was fehlt, ist
die Sorgen, ein Puls.
die ich selbst hatte, Wie bei »It’s Gonna Rain«. Und doch an-
ders. Er wiederholt und variiert weiter.
universalisiert.« Jurek Skrobala  n
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 111
KU LT U R
»Kim Kardashian hat aus sich
eine Cartoonfigur gemacht«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Die Künstlerin Alison Jackson inszeniert Doppelgänger von Royals
und Prominenten. Bei ihr prügeln sich britische Prinzen, und Donald Trump
ist ein Freund des Ku-Klux-Klans. Jedes Bild ist unterhaltsam – und doch ernst gemeint.
Die Bilder von Jackson, 62, sind immer ein
wenig zu perfekt oder zu lustig, um wahr zu
sein. Ihre Fotos zeigen die Queen auf dem Klo
und Mick Jagger als braven Hausmann, bei
ihr zerreißt Prinz William die Memoiren seines
Bruders, und Donald Trump sitzt mit Boris
Johnson in der Sauna. Allerdings handelt es
sich nur um die Doppelgänger von Royals,
Celebritys und Politikern. Jackson findet so
gute Promi-Zwillinge, dass man die Bilder für
echt halten könnte. Jackson ist selbst ein Star,
vor allem in ihrer Heimat Großbritannien.
Für die BBC schuf die Künstlerin ganze Sen-
dungen, in denen sie Doubles für ihre Satire
einspannte. Bekannt wurde sie, als sie Lady
Diana (posthum) ein Kind mit Dodi Al-Fayed
andichtete. Auch ein Video, in dem sie Diana
die Beine wie Sharon Stone in »Basic Instinct«
spreizen ließ, kam nicht überall gut an. Einige
halten ihre Kunst für vulgär, andere für gera-
dezu subversiv. Längst lassen sich auch echte
Prominente von ihr fotografieren, und in der
Kunstszene ist man sich einig: Jackson ver-
anschaulicht, wie die Grenze zwischen Reali-
tät und Fiktion immer mehr verwischt.
Jetzt ist eine Schau mit Jacksons Fotos und
weiteren Werken im NRW-Forum Düsseldorf
zu sehen*.
SPIEGEL: Ms Jackson, Sie fotografieren Leute,
die berühmten Leuten ähnlichsehen. Wie
kommen Sie an Ihre Doppelgänger?
Jackson: Ich halte ständig Ausschau, aber es
ist ein Albtraum. Ich laufe Leuten auf der Stra-
ße hinterher, spreche sie in Restaurants oder
auf Partys an. Dabei kommt es auch zu Ver-
wechslungen, weil echte Prominente nicht
zwangsläufig wie welche aussehen.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Jackson: Ich ging einmal zu einem Mann und
sagte: »Aus Ihnen könnten wir ein George-
Clooney-Double machen. Wollen Sie in
­meiner Fernsehsendung mitspielen?« Aber
es war der echte George Clooney. Wenn Sie
oder Ihre Leser jemanden kennen, der wie
* Alison Jackson: »Truth Is Dead«. NRW-Forum-Düssel-
dorf, 3. März bis 14. Mai.
Das Gespräch führten die Redakteurinnen Elisa von Hof
und Ulrike Knöfel.
112 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
ein berühmter Mensch aussieht, setzen Sie
sich bitte mit mir in Verbindung. Wir suchen
schon seit Ewigkeiten nach einer Heidi Klum.
SPIEGEL: Legendär sind Ihre regelmäßigen
Analysen der britischen Königsfamilie. Ihre
Mitglieder kommen selten gut weg, jedenfalls
wirken sie in der Regel nicht besonders
­distinguiert. Haben Sie etwas gegen die
­Monarchie?
Jackson: Auf keinen Fall. Die Monarchie ist
fantastisch, all der Pomp, die Pracht, die
­Kostüme. Sie ist ein wunderbares Spektakel
und bringt Großbritannien eine Menge Geld
ein. Die Königsfamilie gehört einfach zum
Image unserer lustigen kleinen Insel dazu.
Und ihre Mitglieder erheben ihre Stimme für
wirklich wichtige Anliegen, fürs Klima zum
Beispiel.
SPIEGEL: Haben Sie einen Lieblingsroyal?
Jackson: Hatte ich, es war die Queen. Mir
gefiel, dass die Monarchie von einer Frau an-
geführt wurde. Nun haben wir König Charles,
danach folgt Prinz William, und beide sind
Traditionalisten, keine Erneuerer. Wir müssen
abwarten, ob der kleine George die Königs-
familie einmal auffrischen wird.
SPIEGEL: Auf Ihren Bildern erscheint die Fa-
milie oft grotesk, manchmal einfach normal-
sterblich. Die Queen unter der Trocken­
haube, die Princess of Wales verschlingt
Klatschblätter, Prinz William verprügelt sei-
Natasha Cheek
Fotografin Jackson
nen Bruder Harry. All das dürfte dem Hof
nicht gefallen.
Jackson: Der Hof ist in gewisser Weise selbst
schuld. Diese Monarchie hüllt sich in Schwei-
gen und verleitet uns so doch zum Rätsel­
raten. Vor allem die Königin war sehr ge-
schickt darin, für die Öffentlichkeit wie eine
leere Leinwand zu wirken, auf die wir unsere
Vorstellung von ihr projizieren konnten. Wil-
liam scheint ihr in der Hinsicht nachfolgen zu
wollen, wir wissen wenig über seine Persön-
lichkeit. Also wird spekuliert.
SPIEGEL: Warum machen Sie mit?
Jackson: Ich versuche, die Seifenblase platzen
zu lassen und mir zu überlegen, wie sich Be-
rühmtheiten jenseits der Öffentlichkeit ver-
halten. Oder wie wir sie uns vorstellen, die
trinkende, rauchende Camilla zum Beispiel.
Die meisten Royals sind sehr gesellige Typen,
denn sie sind dazu erzogen worden, Leute zu
treffen, zu plaudern, zu feiern. Ihre Partys
sind bestimmt toll.
SPIEGEL: Hat der Hof je auf Ihre Bilder reagiert?
Jackson: Natürlich nicht. Allerdings soll Ca-
milla meine Fotobücher besitzen.
SPIEGEL: Sie sind bestens vernetzt. Waren Sie
mal bei ihr eingeladen?
Jackson: Nein, leider nicht. Ich habe auch
mehrfach die Fühler ausgestreckt, weil ich
gern den echten Prinz William fotografieren
würde. Aber so funktioniert Berühmtheit,
davon handelt meine Arbeit seit vielen Jah-
ren: Die Person hinter dem Image entzieht
sich uns, wir werden sie nie kennenlernen.
Auch wenn wir das unbedingt möchten.
SPIEGEL: Warum wollen wir das überhaupt?
Jackson: Weil wir überzeugt davon sind, dass
sie ein besseres Leben führen als wir. Und wir
hoffen, dass es auf unser graues L ­ eben ab-
färben kann, wenn wir alles über sie verschlin-
gen. Da kommt die Fotografie ins Spiel: Sie
ist das zuckrige Lockmittel, das uns Appetit
macht. Bilder regen unsere Fantasie an. Wir
schauen uns Celebritys in Magazinen an, auf
Instagram oder YouTube. Ich würde sagen,
die Medien haben hier ein riesiges, gefähr­
liches Phänomen ge­schaffen.
SPIEGEL: Waren das die Medien – oder eher
die Prominenten selbst, mithilfe ihrer Berater
oder Manager?

Jackson-Werk »Pool«: »Ich halte den Anblick für amüsant, dieser riesige Hintern im Pool ist ja albern«
Jackson: Zuerst waren es schon die Medien.
Hierzulande waren sie hinter Lady Diana her
wie hinter keinem anderen Menschen zuvor,
und dann fing sie an, das Spiel ein Stück weit
mitzuspielen. Sie hoffte, sie könne auf diese
Weise ihre eigene Stimme haben. Mit ihr fing
überhaupt alles an.
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Jackson: Vor Diana hatten wir in Großbritan-
nien keine echten Celebritys, Sie in Deutsch-
land doch auch nicht. Durch ihre ­Berühmtheit
haben eine Menge Menschen gemerkt, dass
man eine ganze Karriere auf einer neuen Art
von Selbstdarstellung aufbauen kann. Plötz-
lich tauchten Realitystars auf, die alles taten,
um in die Medien zu ­kommen.
SPIEGEL: Es gibt von Ihnen diese berühmte
Aufnahme einer Frau, die aussieht wie Lady
Diana und den Mittelfinger ausstreckt. War
Diana wirklich rebellisch?
Jackson: Die Presse der Achtziger- und Neun-
zigerjahre wurde weitestgehend von Män-
nern gemacht, und die hassten Diana, zu-
mindest die lebende. Aber die Frauen dach-
ten im Stillen schon lange, dass sie jemand
ist, die den Mittelfinger ausstreckt und
auf ihre Weise »fuck you!« sagt. Aus meiner
Sicht war sie fast schon eine feministische
Ikone.
SPIEGEL: Die Royals spielen auch in Ihrer neu-
en Ausstellung eine Rolle. Warum trägt die
den Titel »Truth Is Dead«, also »Die Wahrheit
ist tot«?
Jackson: Weil niemand mehr weiß, wie Wahr-
heit aussieht. Man denkt, man betrachtet
­etwas Reales, aber in Wirklichkeit ist es
­konstruiert. Doch selbst inszenierte Bilder
bekommen in unserer Vorstellung eine eige-
ne Realität, wir denken, so könnte es sein.
SPIEGEL: Kann Fotografie die Realität über-
haupt abbilden?
Jackson: Sie besitzt im besten Fall ein kleines
Körnchen Wahrheit. Aber selbst dokumen-
tarische Bilder zeigen ja immer nur einen Aus-
schnitt der Wirklichkeit. Im 20. Jahrhundert
wurde darüber oft gestritten, selbst solche
KU LT U R
Alison Jackson
geschichtsverändernden Aufnahmen wie die
des sogenannten Napalm-Mädchens im Viet-
namkrieg lösten solche Diskussionen aus.
Heute – und das ist wirklich beängstigend –
scheint es den Menschen aber fast schon
gleichgültig zu sein, ob sie etwas Wahres oder
Falsches sehen.
SPIEGEL: Ist das alles nicht weniger ein Pro­
blem der Bilder, sondern eher eines des Publi­
kums, das den moralischen Kompass verloren
hat?
Jackson: Wir lassen uns von Berühmtheit und
davon, wie sie dargestellt wird, blenden. Den-
ken Sie an Kanye West. Kümmern seine anti-
semitischen Aussagen die Leute wirklich?
Seine Bekanntheit überstrahlt alles, es gibt
genug Leute, die gern ein Selfie mit ihm ma-
chen würden. Es ist wie bei Trump.
SPIEGEL: Beide, West wie Trump, haben einen
festen Platz in Ihrem Werk. Sie haben Trumps
Doppelgänger als Freund des Ku-Klux-Klans
gezeigt oder mit Frauen, die bestenfalls einen
Bikini anhatten.
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 113
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Jackson: Bizarr war eine Situation im Okto-
ber 2016, also kurz vor den damals anstehen-
den Wahlen in den USA. Wir ließen einen
falschen Trump in einem offenen Bentley
durch Manhattan fahren, und, ja, es liefen
auch ein paar leicht bekleidete Girls herum.
Die Polizei hielt unsere Kolonne erst ständig
an, weil sie uns daran hindern wollte, in die
Nähe des Trump Towers zu gelangen. Dann
eskortierte sie uns lieber, weil das Chaos im-
mer größer wurde. Denn die Leute spielten
beim Anblick unseres Trumps verrückt. Sie
wollten Selfies machen. Will jemand Selfies
mit Ihrem Kanzler?
SPIEGEL: Sie haben lange mit einem Angela-
Merkel-Double gearbeitet, wie sieht es denn
mit einem Doppelgänger von Olaf Scholz
aus?
Jackson: Ich hätte gern einen. Andererseits
frage ich mich wirklich, wer Ihr Kanzler über-
haupt ist. Niemand scheint das zu wissen.
Finden Sie nicht auch, dass er sichtbarer,
greifbarer sein sollte? Ich fürchte, er ist ge-
nauso langweilig wie wir. Andererseits ist
dieser Eindruck womöglich gewollt und
könnte von seiner Cleverness zeugen. Zu-
mindest läuft es in Deutschland besser als bei
uns. Der Brexit ist für Großbritannien eine
Katastrophe.
SPIEGEL: Ihre Bilder sind sehr unterhaltsam
und sollen zugleich vor der Faszination von
Bildern warnen, wie passt das zusammen?
Jackson: Man ordnet mich dem Bereich
Come­dy zu, was mir gar nicht gefällt, weil
meine Fotos zwar unterhaltsam, aber nicht
immer lustig sind. Sobald ich toughere Bilder
mache, und die sind mir die liebsten, werden
die von der Presse ignoriert.
SPIEGEL: Welche zum Beispiel?
Jackson: Ich habe einige Zeit nach dem
11.  September 2001 eine Ausstellung mit
­Motiven zu Bin Laden gemacht, damals er-
hielt ich sogar Schutz durch eine Antiterror-
einheit. Aber natürlich kann man auch schon
mit einem etwas harmloseren Humor viel
erreichen.
SPIEGEL: Sie haben während Ihrer Karriere
einige Kontroversen ausgelöst. Bereuen Sie
irgendein Bild, das Sie aufgenommen haben?
Jackson: Nein, eigentlich nicht. Warum sollte
ich etwas bereuen?
SPIEGEL: Weil sich die Zeiten und die Ein­
stellungen sehr schnell verändern.
Jackson: Meine Fotos spiegeln die Perspek­tive
einer Mehrheit zu einer bestimmten Zeit. In-
sofern sind sie fast historische Dokumente.
Ich fälle keine Urteile. Ich sage nur: Das ist
die Art und Weise, wie ihr diese Berühmtheit
seht. So habt ihr Paris Hilton damals gesehen
und so Boris Johnson.
SPIEGEL: Sie imitieren die Ästhetik des Bou-
levards, der Paparazzi. Werten Sie den ganzen
Celebrityzirkus durch Ihre amüsanten Fotos
nicht weiter auf?
Jackson: Auf keinen Fall. Ich hinterfrage die-
sen Celebritykult ganz ernsthaft, ich will ihn
entlarven. Jeder weiß ja, dass meine Werke
keine Realität abbilden.
114 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
»Wir sind alle Paparazzi,
selbst die Jüngsten.«
SPIEGEL: Die sozialen Medien und Bild­
bearbeitungs-Apps haben unsere Wahrneh-
mung weiter verändert. Welchen Einfluss hat
diese Entwicklung auf Ihre Kunst?
Jackson: Es sind neue Möglichkeiten zu lügen,
aber das Grundproblem bleibt dasselbe. Und
davon handelt mein Werk.
SPIEGEL: Jeder kann jederzeit Fotos machen
und veröffentlichen, wozu führt das?
Jackson: Wir sind alle Paparazzi, selbst die
Jüngsten. Ich unterrichte benachteiligte Kin-
der in Fotografie. Schon die Vierjährigen sind
visuell kompetent und in der Lage, schön
komponierte Aufnahmen zu machen, sie sind
mit Fotografie aufgewachsen. Wissen Sie, wie
ich bei Shootings selbst Babys dirigieren
kann? Ich schalte die Kamera des Smart-
phones an und zeige ihnen das Display, damit
sie sich selbst sehen können. Dann krabbeln
sie diesem Telefon nach, sind glücklich und
kichern. Sie begreifen Bilder, bevor sie spre-
chen können.
SPIEGEL: Verstehen die Menschen noch den
Unterschied zwischen der Inszenierung von
Realität und der Realität selbst?
Alison Jackson (2)
Jackson-Fotografien
Jackson: Theoretisch schon, zugleich ver-
schwimmen die Grenzen immer mehr. Wenn
Marilyn Monroe die Werbefotos von sich
selbst ansah, sagte sie: »Wer ist diese Frau?«
Für sie war klar, sie ist es jedenfalls nicht. Sie
wollte keine Sexbombe sein, sie wollte zeigen,
welch gute Schauspielerin sie war, und das
war sie, eine harte Arbeiterin in ihrem Fach.
Heute ist echt und unecht noch schwerer zu
unterscheiden.
SPIEGEL: Sie haben Marilyn Monroe eine gan-
ze Reihe von Fotografien gewidmet, aber
auch Bilder von einer falschen Kim Karda­
shian geschaffen. Mehr Sexbombe als auf
Ihren Bildern geht nicht. Warum solche Dar-
stellungen?
Jackson: Kim Kardashian bestimmt selbst
über ihren Körper, sie nutzt ihn für ihren
Ruhm, für ihre kommerziellen Interessen. Ob
mir das gefällt? Nein, aber es scheint das zu
sein, was sie will. Und sie hat immerhin die
Landschaft des weiblichen Körpers verändert.
Früher mussten Frauen dünn wie Abfluss-
rohre sein. Jetzt dürfen sie so rund sein, wie
es ihnen gefällt. So richtig stört mich nur, dass
jetzt alle Implantate in ihrem Hintern haben.
SPIEGEL: Eine Ihrer Aufnahmen der falschen
Kardashian setzt ein riesiges Gesäß in Szene.
Jackson: Ich halte den Anblick für amüsant,
dieser riesige Hintern im Pool ist ja albern.
Kim Kardashian hat aus sich – übrigens ähn-
lich wie Donald Trump – eine Cartoonfigur
gemacht. Kardashian ist eine Jessica Rabbit
und Donald Trump einer der Feuersteins. Nur
wollen viele Frauen wie Kardashian aussehen,
die Männer aber nicht wie Trump.
SPIEGEL: Ständig in der Öffentlichkeit zu
­stehen muss anstrengend sein. Haben Sie eine
Theorie, was jemanden wie Kim Kardashian
antreibt?
Jackson: Viele meinen, es sei das Geld. Ich
denke, es ist Ruhm und die damit verbunde-
ne Macht. Leute wie Kim Kardashian sind
Minigötter. Das wissen sie auch, aber sie ver-
stehen nicht, welche Verantwortung damit
verbunden ist. Viele Menschen leben nicht
mehr ihr eigenes Leben, sie zehren von dem
Leben dieser Prominenten, es ist wie eine
freiwillige Gehirnwäsche. Man folgt diesen
Leuten wie Heiligen, als wäre Berühmtheit
eine Religion, manche laufen deshalb sogar
zum Schönheitschirurgen, aber weil sie nicht
so viel Geld haben wie die Kardashians, läuft
da früher oder später was schief. Man sollte
lieber sein eigenes Leben leben.
SPIEGEL: Sie fotografieren auch echte Promi-
nente, wie passt das ins Konzept?
Jackson: Es steigert die Verwirrung, ich habe
etwa den originalen Elton John mit einer fal-
schen Queen fotografiert. Ich will mehr in
diese Richtung gehen und mixen.
SPIEGEL: Woran arbeiten Sie zurzeit?
Jackson: Die Krönung von König Charles
steht ja vor der Tür. Er lebt seit 74 Jahren auf
diesen Moment hin, es wird also Stress. Des-
halb werde ich ihn als Nervenbündel zeigen.
SPIEGEL: Ms Jackson, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.  n

Liebesbriefe an Platzhirsche
BUCHKRITIK  Franca Lehfeldt und Nena Brockhaus präsentieren in ihrem Buch
»Alte weise Männer« als Kronzeugen eines Früher-war-alles-besser-Lamentos.
W
as haben Mario Adorf und
Edmund Stoiber gemein?
Auf den ersten Blick nicht
viel, auf den zweiten auch nicht –
außer dass es sich um ältere Herr-
schaften handelt, die sozusagen den
Zenit ihrer jeweiligen Karriere schon
seit einer Weile überschritten haben.
Genau deshalb sind sie, neben acht
weiteren Silberrücken, in einem Buch
der Journalistinnen Franca Lehfeldt,
33, und Nena Brockhaus, 30, versam-
melt: »Alte weise Männer« will eine
»Hommage an eine bedrohte Spe-
zies« sein.
Bedroht wodurch? Wer will dem
Schauspieler und dem ehemaligen
CSU-Vorsitzenden an den Kragen?
Glaubt man den beiden Frauen, ist es
ein progressiver Zeitgeist, der ver-
diente Vertreter der Nachkriegsgene-
ration pauschal als »alte weiße Män-
ner« verunglimpft. Diesem Popanz
halten die Autorinnen trotzig ihre
eigene Definition entgegen. Demnach
sei der alte »weise« Mann »beruflich
erfolgreich und in seinem Fachgebiet
eine Koryphäe«. Bei der Auswahl der
Gesprächspartner sei es allein um
»Lebensleistung« gegangen.
»Mit diesem Buch treten wir an
diese Männer heran und hören ihnen
zu«, schreiben Brockhaus und Leh-
feldt. Und weil Brockhaus für den
TV-Sender der »Bild« und Lehfeldt
für den TV-Sender der »Welt« vor
der Kamera stehen, fahren beide
im Moderatorinnenplauderton fort:
»Tauchen Sie mit uns ein in die
­Lebensweisheiten der alten weisen
Männer. Hören Sie auf ihre Botschaf-
ten, bleiben Sie dran, wenn Irrtümer,
Sackgassen und Niederlagen bekannt
werden und«, nicht zuletzt, »Antwor-
ten auf die drängenden Fragen der
Gegenwart erfolgen.«
Endlich zugehört wird also Män-
nern wie Adorf, 92, und Stoiber, 81,
aber auch dem Journalisten Heiner
Bremer (»Der Feminist«, 81), SPD-
Nena Brockhaus, Franca Lehfeldt: »Alte weise
Männer. Hommage an eine bedrohte Spezies«.
Gräfe und Unzer; 272 Seiten; 19,99 Euro.
Politrentner Peer Steinbrück (»Kodder-
schnauze«, 76) oder Nesthäkchen Hei-
ner Lauterbach (»Der Exzessive«, 69).
Gern wäre man noch eingetaucht
in die Weisheiten von Oberkodder-
schnauze Wolfgang Kubicki, 71. Als
Parteifreund von Christian Lindner,
dem Ehemann von Lehfeldt, kam das
offenbar nicht infrage. Dafür kommt
Pferdezüchter Stefan Aust (»Die Le-
gende«, 76) zu Wort, der ehemalige
SPIEGEL -Mann ist als Herausgeber
der »Welt« heute so etwas wie ein
Kollege von Lehfeldt.
Seriöse Gespräche im Journalis-
mus lassen sich in zwei Genres unter-
teilen. Auf der einen Seite gibt es das
»harte« Interview. In der Regel soll
dabei das Gegenüber durch kritische
Fragen gedrängt werden, mehr zu
­sagen, als es sagen möchte. Auf der
anderen Seite gibt es das »weiche«
Interview. Es verfolgt ein ähnliches
Ziel, nur dass hier die Auskunftsfreu-
de des Gesprächspartners mit freund-
licheren Mitteln geweckt werden will.
Um von »Charaktermenschen«
und »mündigen Biografen ihres eige-
nen Lebens« Antworten auf die drän-
genden Fragen der Zeit zu erhalten,
wählen Brockhaus und Lehfeldt eine
dritte Variante. Ihre Interviews sind
nicht hart oder weich – eher so flau-
schig, dass sie teilweise schon als gas-
förmig bezeichnet werden müssen.
KU LT U R
»Wer bist du?«, will Lehfeldt von Ste-
fan Aust wissen: »Pferdevater oder
Ausnahmejournalist?«
Einen Ehrenplatz am Ende der
Anthologie hat Claus-Holger Leh-
feldt, der sich existenzielle Seufzer
seiner Tochter anhören muss: »Ich
hänge so sehr an den Werten, die ihr
mir vermittelt habt. Ich kann oft mit
Entwicklungen der Gesellschaft we-
nig anfangen.«
Das ist im Grunde der Kern von
»Alte weise Männer«. Ihre Sympathie
für gönnerhafte Vaterfiguren nennen
die Autorinnen »biografisch begrün-
det«. Wer im »Haifischbecken« der
Medienbranche schwimmen lernen
wolle, brauche »neben Engagement
auch Förderer und Verbündete, sonst
geht er unter«. Beide hätten die Er-
fahrung gemacht, dass ein mächtiger
Mann »als Mentor ehrlicher und
konstruktiver ist als manche Frauen,
die sich als Freundinnen, Schwestern
oder Team bezeichnen«. Habe hin-
gegen der »alte weise Mann« einmal
Vertrauen gefasst »und eine Verbün-
dete im Geiste identifiziert«, könne
sich eine Frau seiner Unterstützung
Luca Geselle
gewiss sein. Eine steile These, die, um
das Mindeste zu sagen, vermutlich
nicht von allen Opfern des jüngsten
#MeToo-Skandals im Hause Springer
Journalistinnen geteilt werden dürfte.
Lehfeldt, Brockhaus Leider ist das Buch mehr als nur
eine Sammlung schwärmerischer
­Liebesbriefe an Platzhirsche. Nichts
spricht dagegen, mit ihnen zu reden.
Das Duo aber spannt die Angehim-
melten kurzerhand vor seinen reak-
tionären Karren – und präsentiert sie
als Kronzeugen einer halluzinierten
Vergangenheit: »Wir sprechen von
einer Zeit, bevor der hypermoralisie-
rende Zeitgeist über das Land rollte.«
Explizit wenden sich die Autorin-
nen gegen ȟbereifrige Feministin-
nen«, die Idee einer »Viertagewoche«,
eine angebliche Verachtung »traditio-
neller Lebensentwürfe« und natürlich
den »Gender-Stern«. Da wundert
dann auch nicht mehr, wenn manche
Stellen sich lesen, als hätte Christian
Lindner sie diktiert – etwa das innige
»Bekenntnis zum Leistungsprinzip,
Eine Sympa- die Ablehnung ideologisch getriebe-
thie für ner Gesellschaftstrends und die Über-
zeugung, dass dieses Land aus dem
­gönnerhafte Traum von anstrengungslosem Wohl-
Vaterfiguren, stand aufgerüttelt werden muss«.
Das also sind die »drängenden
die die ­Fragen der Zeit«. Nicht Klimakrise,
­Autorinnen Armut, Wohnungsknappheit oder die
irre Idee, dass auch andere Menschen
­»biografisch als Mario Adorf eines Tages eine »Le-
begründet« bensleistung« erbringen können soll-
ten. Wir bleiben dran.
nennen. Arno Frank  n
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Keller, Heike Klovert, Dr. Heike Le Ker, Eva Lehnen,
Marthe Ruddat, Katherine Rydlink, Sandra Schulz,
Sebastian Späth, Julia Stanek, Nina Weber.
Autoren: Jule Lutteroth, Marianne Wellershoff
JOB & K ARRIERE/START Leitung: Helene Endres,
Sophia Schirmer (Leitung Start). Redaktion: Benjamin
Ansari, Tanya Falenczyk, Helene Flachsenberg, Florian
Gontek, Katharina Hölter, Maren Hoffmann, Markus
Sutera, Verena Töpper
GESCHICHTE Leitung: Jochen Leffers, Dr. Eva-Maria (Autor), Rue Le Titien 28, 1000 Brüssel,
Schnurr. Redaktion: Dr. Felix Bohr, Solveig Grothe,
Christoph Gunkel, Dr. Katja Iken, Dr. Danny Kringiel,
Frank Patalong, Martin Pfaffenzeller
DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, Alexandra
Klaußner (stellv.). Redaktion: Antonia Bauer, Claudia
Beckschebe, Pelle Kohrs, Marco Wedig
SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gartred
Alfeis, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs,
Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse,
Stefan Moos, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck,
Sebastian Schulin, Sandra Waege
PRODUKTION & TEXTPRODUCING Leitung:
Angela Ölscher, Petra Thormann; Kathrin Beyer,
Christoph Brüggemeier, Sonja Friedmann, Linda
Grimmecke, Britta Romberg, Gesche Sager, Stefan
Schütt, Martina Treumann, Holger Uhlig, Valérie
Wagner, Katrin Zabel
BILDREDAKTION Leitung: Mascha Zuder, Jose
Blanco (stellv.), Mareile Mack (stellv.); Claudia Apel,
Tinka Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Philine TEL AVIV P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 6803466,
Gebhardt, Niklas Hausser, Signe Heldt, Gillian Henn,
Daniel Hofmann, Andrea Huss, Rosa Kaiser, Jan
Kappelmann, Matthias Krug, Theresa Lettner, Nasser
Manouchehri, Parvin Nazemi, Nicole Neumann, Daniel
Nide, Inka Recke, Jens Ressing, Franziska Schade,
Oliver Schmitt, Ireneus Schubial, Erik Seemann,
­Maxim Sergienko, Anke Wellnitz, Lennart Woock
Mail: foto@spiegel.de
SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. +1 917 3998184
L AYOUT Leitung: Dagmar Nothjung; Michael Abke,
Lisa Debacher, Lynn Dohrmann, Bettina Fuhrmann,
Ralf Geilhufe, Linna Grage, Fabian Greve, Louise
Jessen, Jens Kuppi, Annika Loebel, Kamila Ramezani,
Barbara Rödiger, Marco Stede
TITELBILD Teamleitung: Johannes ­Unselt;
Suze Barrett, Alexandra Grünig, Pia Pritzel,
Marcus Wiechmann
DIGITALES DESIGN Elsa Hundertmark
GR AFIK & INTER ACTIVE Leitung: Ferdinand
Kuchlmayr, Dr. Matthias Stahl (stellv.); Cornelia
Baumermann, Alexander Epp, Guido Grigat, Max
Heber, Frank Kalinowski, Anna-Lena Kornfeld, Chris
Kurt, Niklas Marienhagen, Gernot Matzke, Lina
Moreno, Klaas Neumann, Dawood Ohdah, Bernhard
Riedmann, Lea Rossa, Alexander Trempler
KORREKTOR AT Sebastian Hofer
DATENJOURNALISMUS Leitung: Marcel Pauly,
Patrick Stotz; Holger Dambeck, Lisa Goldschmidtböing, Schlossarek, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
Achim Tack, Christoph Winterbach
SOCIAL MEDIA & LESERDIALOG Leitung: Ayla
Kiran, Angela Gruber (stellv.). Redaktion: Philipp
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Herbst, Luisa Höppner, Aleksandra Janevska, Charlotte Anika Zeller, Malte Zeller
Klein, Sebastian Maas, Petra Maier (Teamleitung Google NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa,
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(stellv.), Leonie Voss (stellv.). Redaktion: Sven Christian, Mediaunterlagen und Tarife: www.spiegel.media
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 Birgit Hein, 80
NACHRUFE »Wir versuchen uns hier freizu­
schaufeln, und das ist wirklich
harte Arbeit«, schrieb Birgit
Hein einmal gemeinsam mit
ihrem Lebens- und Arbeits­
partner Wilhelm Hein. Der Satz
­bezog sich auf das Filmprojekt
»Verbotene Bilder«, in dem sie
Zusammenhängen von Gewalt,
Sexualität und familiärer Prä­
gung nachgingen. Er kann als
Motto für die gesamte Karriere
von Birgit Hein gelten. Über
rund 50 Jahre hinweg schaufelte
sie als Regisseurin, Kuratorin
und später Professorin das Me­
dium Film von seinen erzähle­
rischen Zwängen frei und prägte
den Experimentalfilm weit
über Westdeutschland hinaus.
Hein, geboren 1942 in Berlin,
Mar tin Stollberg / ddp
studierte Theaterwissenschaften
und Kunstgeschichte in Köln.
Gemeinsam mit Wilhelm Hein
gründete sie 1968 in Köln
XSCREEN, den ersten Ort für
Experimentalfilm. Als Künstle­
Peter Weibel, 78 rin war sie auf der Documenta 5
Er galt in der Kunstwelt als der Mann, der seiner Zeit immer voraus vertreten. Ab 1991 verantwor­
sein wollte. Geboren wurde er 1944 in Odessa, wuchs in Ober­ tete sie allein provokante Filme
österreich auf und stieß in den Sechzigerjahren zu dem sensations­ wie »Baby I will Make you
freudigen Künstlerkreis der Wiener Aktionisten. 1968 ließ er sich ­Sweat« über Sextourismus. An
von Valie Export an einer Hundeleine durch die Stadt führen, eine der Hochschule für Bildende
so kleine wie wirkmächtige Performance, die spätere Projekte Kunst in Braunschweig unter­
überstrahlte. Dabei wurden die »Teleaktionen« von Peter Weibel richtete Hein als Professorin, sie
sogar im ORF ausgestrahlt. Und schließlich wurde aus dem Macher war noch bis 2021 an der Berli­
ein Theoretiker, aus dem Rebell ein Museumschef. Das Karlsruher ner Akademie der Künste tätig.
Zentrum für Kunst und Medien leitete Weibel 24 Jahre lang, in Birgit Hein starb am 23. Februar
­diesem März wollte er seinen Abschied feiern. Immer wieder hat in Berlin. HPI
er den Einfluss der Technologie auf Kunst und Gesellschaft zum
Thema gemacht, hat früh Videospiele als museumswürdig befun­
den, lud die entsprechenden Communitys ein – das war tatsächlich
visionär. Bei aller Liebe für den Fortschritt war er ein Vielschreiber,
der schwere Bücher veröffentlichte. In einem seiner Werke nennt
er sich einen »missachteten Medienkünstler«, das war er dann
doch nie. Peter Weibel starb am 1. März in Karlsruhe. UK
gezett / IMAGO
Günther von Lojewski, 87
Er war bei einer Preisverleihung, als bekannt wurde,
dass die DDR ihren Bürgern die Ausreise erlaubt. Just Fontaine, 89
Günther von Lojewski fuhr an jenem 9. November Denkt man an ihn, denkt man
1989 umgehend zum Sender Freies Berlin (SFB), an die Fußball-WM 1958 in
dessen Intendant er seit einem halben Jahr war. Bin­ Schweden. In Frankreich war
rbb / epd
nen einer Stunde hatte der SFB 35 Reporter im der in Marrakesch geborene
­Einsatz. Hanns Joachim Friedrichs, der die »Tages­ Just Fontaine vorher schon ein
themen« präsentierte, sprach mit Lojewski seine berühmte Mo­ bekannter Fußballer, nach dem
deration ab (»Die Tore in der Mauer stehen weit offen«), die den Turnier war er weltberühmt.
Strom der DDR-Bürger in den Westen auslöste. Bis 1997 leitete 13 Treffer erzielte er, so viele
­Lojewski den SFB. Er hatte bei der »Hannoverschen Allgemeinen« wie niemand davor oder danach
volontiert, 1964 wechselte er zur »FAZ«. Danach leitete er die bei einer WM. Fontaine traf in
Nachrichtenredaktion des ZDF, wo er das »heute-journal« einführ­ jedem der sechs Spiele, gegen
te. Mit dem TV-Journalisten Wolf von Lojewski, mit dem er nicht Paraguay zum Auftakt dreimal,
verwandt war, hatte er nach eigenen Angaben nur gelegentlich gegen Deutschland zum Ab­
Kontakt: »wenn Honorare, die ihm gehörten, auf meinem Konto schluss sogar vierfach. Dabei
landeten«. Günther von Lojewski starb am 26. Februar in Gras­ war Fontaine eigentlich als Er­
brunn bei München. AKÜ satzmann vorgesehen. Lediglich
das Verletzungspech im Auf­
gebot brachte den Trainer dazu,
Fontaine in die Startelf zu stel­
len. Für Fontaine war die WM
der Höhepunkt seiner Karriere.
Schon drei Jahre später musste
er nach zwei Beinbrüchen
mit dem Spielen aufhören. Er
war danach ein erfolgreicher
Geschäftsmann, weniger gla­
mourös war sein Intermezzo als
Nationaltrainer Frankreichs.
1967 musste er nach knapp drei
Monaten wieder gehen. Just
Fontaine starb in der Nacht auf
den 1. März in Toulouse. AHA
Walter Mirisch, 101
Er war eine dieser überlebens­
großen Figuren, die Europäern
nur in den USA und dort nur in
Hollywood möglich erscheinen.
Everett Collection / IMAGO
Walter Mirisch, geboren als
Sohn eines aus Polen immigrier­
ten Schneiders, studierte Wirt­
schaft in Harvard, aber es zog
ihn früh in die Unterhaltungs­
branche. Dort begann er zu­
nächst, billige B-Movies zu pro­
duzieren. Mit der Gründung sei­
ner eigenen Firma Mirisch Cor­
poration begann eine Reihe von
Filmerfolgen: »Die glorreichen
Sieben«, »West Side Story«,
»Der rosarote Panther«, »Man­
che mögen’s heiß«, »Gesprengte
Ketten«. Für »In der Hitze der
Nacht« erhielt Mirisch 1968 den
Oscar. »Filmproduzent ist ein
sehr, sehr schwieriger Beruf«,
hat Mirisch mal in einem Inter­
view gesagt. »Das muss man
wirklich wollen.« Dass er dabei
menschlich blieb, war vielleicht
sein größtes Verdienst. Der Ro­
manautor Elmore Leonard wid­
mete ihm seine Hollywoodsatire
»Schnappt Shorty« und nannte
ihn »einen der Guten«. Und
für Sidney Poitier war er ein
»mutiger Suchender der Wahr­
heit.« Walter Mirisch starb am
24. Februar in Los Angeles. KAE
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 117
PERSONALIEN

Auf der Suche

Die italienische Primaballerina
Alessandra Ferri, eine der besten
der Welt, wird im Mai 60 Jahre
alt – und sucht nach einer neu­
en Leidenschaft, einer, die
nichts mit Tanz zu tun hat. Das
sagte sie dem »Guardian« in
einem Interview anlässlich der
Premiere von »Woolf Works«
im Royal Opera House London.
Es geht um das Leben und Werk
der Schriftstellerin Virginia
Woolf, Ferri tanzt die Hauptrol­
le. Mit ihren 59 Jahren ist sie
gemessen am Durchschnittsalter
aktiver Tänzer und Tänzerinnen
eine Art Methusalem. Sie hatte
2007 die Spitzenschuhe an den
Nagel gehängt. Und 2013 wie­
der angefangen, professionell
zu tanzen. 2015 choreografierte
Wayne McGregor für sie zum
ersten Mal das Stück »Woolf
Works«, das jetzt wiederaufge­
nommen wird. Die Zusammen­
arbeit mit dem britischen Cho­
reografen habe sie »befreit«,
sagte Ferri: »Er gestattete mir
zu sein, wer ich bin, und re­
spektierte, was ich leisten kann,
ohne so zu tun, als wäre ich
20 Jahre alt.« Auf die Frage,
was sie sonst so mache, erzählt
sie, dass sie viel mit ihrem Iri­
schen Wolfshund Agatha
­spazieren gehe. Der Tanz sei
die Liebe ihres Lebens, sagte
die Ballerina. Aber sie sei

Amber Hunt / ASH

auf der Suche nach etwas außer­
halb des Balletts: »Etwas,
­weswegen du jeden Morgen
glücklich aufwachst.« KS

Der Erstgeborene
der Königin
Von ihm hat man selten etwas
gehört, in all den Jahren, die er
schon mit der königlichen
David M. Benett / Getty Images
keine realen Perspektiven für
Parker Bowles, was royale Auf­
gaben oder Rechte betrifft –
die sind Blutsverwandten
­vorbehalten. Doch die Formu­
lierung »Erstgeborener der Kö­
diese Presse beschwert, schreibt
die »Times«. Im Gegensatz
zu einem gewissen Harry spre­
che TPB, wie er kurz genannt
wird, stets respekt- und liebe­
voll von dem Königspaar. Bei

­britischen Familie verbunden
ist: Tom Parker Bowles, 48,
Kochbuchautor und Restaurant­
kritiker, Stiefsohn von König
Charles und Erstgeborener von
Queen Consort Camilla. Diese
familiären Bande bergen zwar
nigin« setzt natürlich sofort As­
soziationen frei. So wird Parker
Bowles gerade von der briti­
schen Presse als neue Figur im
alten Spiel um Geschichten
über die Windsors entdeckt. Er
habe sich noch nie über eben­
der Krönungszeremonie am
6. Mai werden seine Kinder
(und die seiner Schwester) den
Baldachin halten, unter dem
Camilla gesalbt wird. Ob Prinz
Harry überhaupt da sein wird,
ist noch unklar. KS

118 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023

Die Trendsetterin
Die Sängerin und vierfache
Grammy-Gewinnerin Erykah
Badu, 52, ist schon lange be-
kannt für ihren individuellen
Style, kein Wunder also, dass
sie es jetzt auf das Cover der
amerikanischen »Vogue« ge-
schafft hat. Die Titelgeschichte
zeigt Fotos von Badu in kunst-
vollen Luxuskreationen mit we-
hendem Haar in der Natur, auf
einem Bild ist sie im Doppel-
Heute wisse sie, dass das Badus
Stil gewesen sei: »Sie war
schon immer eine Trendsette-
rin.« Was weniger Leute wissen:
Die Königin des Neo-Soul ist
seit über 20 Jahren als Doula,
also als Geburtshelferin, tätig.
Das Treffen mit der »Vogue«
fand bereits Mitte Dezember
statt, bald darauf half Badu Zwil-
lingen auf die Welt: Die beiden
Babys der Musikerin Summer
Walker wurden am 30. Dezem-
ber bei ihr zu Hause geboren. Es

Kevin Winter / Getty Images

porträt mit ihrer ältesten Toch-
ter Puma zu sehen. Ein Gefühl
für Selbstinszenierung habe
Badu schon als junges Mädchen
bewiesen, berichtet ihre Mutter,
die in der »Vogue« ebenfalls
zu Wort kommt. Allerdings hät-
te man damals auch denken
können, sie habe ihre Klamotten
aus der Altkleidersammlung.
war die erste Mehrlingsgeburt
für Badu, die gar nicht mehr
­sagen kann, wie vielen Nieder-
künften sie beigewohnt hat.
Zum ersten Mal war auch die
18-jährige Puma als Doula da­­bei.
Sie sei jemand, der viel zu Perfektes Duo sem Abend ausgezeichneten
geben habe, sagt ihre Mutter der ­Serie »The White Lotus« die
Zeitschrift: »Ich mag die Frau, Eigentlich betonen Schauspiele- kluge, reservierte Harper. Beide
die sie mal sein wird, sehr.« KS rinnen und Schauspieler ja gern Figuren werden vom Pu­blikum
den Unterschied zwischen Rolle dafür gefeiert, sich stolz, clever
und Person. Man kann sich zum und entschlossen gegen Stereo-
Beispiel nicht vorstellen, dass type von Weiblichkeit zu be-
Anthony Hopkins eine Bühne je haupten. Ein perfektes Duo –
zähnefletschend als Hannibal das dachte man sich offenbar bei
Lecter betreten würde. Aber das den SAG Awards und behielt
ändert sich offenbar momentan. recht. Der Auftritt der beiden
Eindrucksvoll war das bei der ging sofort viral. »Ich verstehe
Verleihung der SAG Awards zu nicht, warum sie uns zusam-
beobachten. Dort hielten die mengebracht haben«, sagt Plaza
Schauspielerinnen Jenna Ortega, aka Harper. »Wir haben nichts
20, und Aubrey Plaza, 38, ge- gemeinsam«, sagt Ortega aka
meinsam eine Laudatio, aber Wednesday. Sie sollten die Ver-
nicht als Ortega und Plaza. Mit antwortlichen finden und ihre
JP Yim / Getty Images for Vogue

regungsloser Mimik und starrem Familien verfluchen, sagen bei-

Blick machten die beiden klar, de im Chor, »und dabei zuse-
dass sie als ihre Serienheldinnen hen, wie das Unglück ihre
gekommen waren. Ortega spielt ­Blutlinie sieben Generationen
in der Netflix-Serie »Wednes- lang verfolgt«. Gut, dass sie
day« die selbstbewusste, frostige am Ende doch bloß Schauspie­
Hauptfigur, Plaza in der an die- lerinnen sind. EVH

Daddy cool
Wenn die dritte Staffel einer Fernsehserie
anläuft, ist der größte Hype oft schon vor-
bei. Bei Disneys »Star Wars«-Reihe »The
Mandalorian« dürfte das Publikumsinteres-
se jetzt eher noch einmal ansteigen. Grund
dafür ist Hauptdarsteller Pedro Pascal, der
parallel in einer anderen Erfolgsserie zu se-
hen ist, der Videospieladaption »The Last
of Us«. Der 47-Jährige mit chilenischen
Wurzeln spielt darin eine ähnliche Rolle:
Als einsamer Fighter für das Gute begibt er
sich auf einen Roadtrip mit einem jungen
nolds erinnert, eine toughe, gleichzeitig rangig jugendlichen Publikums: Das
sensible und verletzliche Vaterfigur wider wünscht sich den reifen, älteren Hollywood-
Willen. Das macht er nicht nur sehr gut, er Beau nicht mehr als harten Womanizer,
entspricht damit wohl auch dem in Krisen- sondern als coolen Daddy. Im Internet hat
zeiten erhöhten Schutzbedürfnis eines vor- sich ein wahrer Kult mit Liebesbekundun-
gen und lustigen Memes um den Schauspie-
ler entwickelt. »Pedro Pascal ist der In­
ternet-Papi für das Ende der Welt«, schrieb
das Männermagazin »GQ« – ein später
Karriereschub für den Darsteller, der seit
Ende der Neunzigerjahre schon in zahlrei-
chen Kino- und TV-Produktionen zu sehen
war, darunter auch im HBO-Blockbuster
»Game of Thrones«. Kurioserweise kam
Yui Mok / empics / picture alliance

Schützling. Im »Star Wars«-Universum der große Durchbruch erst, als er sein Ge-
muss er auf das kindliche Alien Grogu auf- sicht unter dem blickdichten Helm des ge-
passen, in der Postapokalypse von »The heimnisvollen »Mandalorian« versteckte.
Last of Us« ist es ein naseweises Mädchen Entzaubernd wirkte sein Auftritt in »The
im Teenageralter. Beide Male spielt Pascal, Last of Us«, jetzt ohne Metallkübel auf dem
der mit seinem Schnurrbart an den unver- Charakterkopf, offenbar nicht, ganz im
gesslichen Siebzigerjahre-Macho Burt Rey- Gegenteil. BOR

Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 119

BRIEFE
Seelenruhig in
die Katastrophe
Nr. 9/2023 Titel: Kulturkampf ums Auto
Eine gut recherchierte, sachlich
gehaltene Titelgeschichte, ganz
ohne ideologische Fixierung und
kulturkämpferische Rhetorik,
auch wenn die reißerische Über-
schrift das Gegenteil vermuten
lässt. Im Ergebnis dämpft der Ar-
tikel leider die Hoffnung auf eine
bevorstehende Verkehrswende
und bestätigt unsere desillusio-
nierenden Alltagserfahrungen.
Als Rentnerehepaar haben wir
nach dem Eintritt in den Ruhe-
stand bewusst auf unser Auto ver-
zichtet, aber niemand aus unse-
rem Bekanntenkreis ist unserem
Beispiel gefolgt. Ein mutiger Ent-
schluss, vorbildlich, so wird uns
stets versichert, doch tatsächlich
mangelt es an echtem Verständnis
für unseren Schritt.
Rüdiger Paul, Wedel (Schl.-Holst.)
Der Artikel stieß mir sehr sauer
auf. Nicht jeder wohnt in Berlin
und bringt sein Kind mit dem
SUV von A nach B. Wir wohnen
auf dem Land, brauchen unser
(einziges) Auto geschäftlich, mit
kleinem Anhänger. Ich habe eine
kleine Firma mit Märkten im Be-
reich Floristik. Ich kann 1,5 Ton-
nen schlecht 200 Kilometer weit
tragen oder mit der Bahn fahren.
Wir hatten nach Corona zwei Jah-
re lang de facto keinen Umsatz.
Wie weltfremd sind Politiker?
120 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
Denkt mal nach über die Abge-
hängten, die ihr Leben lang ge-
arbeitet haben und es weiterhin
müssen.
Michael Bräuer, Kürnbach (Bad.-Württ.)
Ich habe mich mittlerweile daran
gewöhnt, dass die meisten Artikel
im SPIEGEL zu diesem Thema
eine ziemlich eindeutige Position
– nämlich gegen das Auto – be-
ziehen. So war es auch diesmal,
Grundtenor: »Warum die Deut-
schen so schwer vom Auto los-
kommen. Und wie andere es
schaffen.« Was Sie allerdings
schuldig bleiben, ist der Nach-
weis, wer denn nun es so viel bes-
ser schafft als wir. Ihre Großstadt-
beispiele (Paris, Kopenhagen)
sind wohl kaum als nachahmens-
werte Beispiele für das gesamte
Bundesgebiet geeignet.
Raimund Römer, Zirndorf (Bayern)
Während der Ölkrise 1973 mit
den autofreien Sonntagen ist vie-
len Autofahrern das Herz in die
Hose gerutscht, und sie gelobten:
Unsere künftigen Autos werden
kleiner und haben weniger PS.
Doch nach dem ersten Schreck
und einer kleinen Verschnaufpau-
se wurden die Autos größer und
hatten mehr PS unter der Haube.
Die Autofahrer, die heute von
einer 130-Stundenkilometer-Be-
grenzung nichts wissen wollen,
fahren seelenruhig in die Klima-
katastrophe, weil sie auf die ver-
meintliche Freiheit zu rasen nicht
verzichten wollen.
Björn Uhlhorn, Laatzen (Nieders.)
86 Prozent aller Pkw-Halter
macht Auto fahren Spaß, weiß
Herr Wissing – und bestätigt da-
mit, wie ideologisch und lobby-
gesteuert das Thema diskutiert
wird. Zudem ist das ganze Zu-
schuss(un)wesen im Verkehrs­
wegebau aufs Auto ausgerichtet.
Ich hatte in meinem Leben ein
einziges Auto. Nach 16 Jahren
verschenkte ich es und stieg auf
Carsharing um. Ändert man seine
Gewohnheiten und organisiert
seine Wege mit den zahlreichen
Alternativen, dann kommt einem
die Welt aus immer größeren röh-
renden Kraftprotzen und über-
züchteten E-Autos, die die Städte
zuparken, ziemlich absurd vor.
Man muss sich nur irgendwann
entscheiden und anfangen.
Robert Wunder, Nürnberg
Schon als Hamburger Bürger-
meister hat Olaf Scholz nichts für
eine Verkehrswende unternom-
men. In Sachen ÖPNV ist fast
nichts passiert. Bis heute gibt es
in Hamburg keine Umweltzonen
oder eine autofreie City. Ein über-
fälliges, modernes Straßenbahn-
system zum Beispiel, weltweit
ein städtebauliches Erfolgsmo-
dell, wurde vom »Tram-Hasser«
Scholz verteufelt und ist bei der
Hamburger SPD bis heute ein
Tabu. Hamburg ist in Europa eine
der letzten Autofahrerhochbur-
gen, Denkmuster der Sechziger-
jahre sind bis heute in den Köpfen
unfähiger Senatoren verankert.
Bundesweit sieht es nicht viel
besser aus. Auto und Straße ha-
ben Priorität, die Schiene wurde
jahrzehntelang konsequent ver-
nachlässigt. Der Lkw-Güterver-
kehr ist ein Skandal. Die Auto-
industrie ist nur an einer An-
triebswende interessiert, nicht an
einer wirksamen Verkehrswende.
Statt klimaschonender Maßnah-
men bestimmen nach wie vor
wirtschaftliche Interessen das
politische Handeln.
Jens Ode, Hamburg
Wir müssen Supermärkte wieder
im Ortszentrum unterbringen
und nicht auf der grünen Wiese,
und Gewerbegebiete mit Bahn-
anschluss entwickeln statt mit
Autobahnanschluss. Wir müssen
den ÖPNV auf dem Land aus-
und nicht rückbauen. Wir brau-
chen sichere Fahrradstellplätze
an Expressbus- und Bahnhalte-
stellen. Wir brauchen Quartiers-
garagen, zu denen man genauso
lange läuft wie zur nächsten Bus-
haltestelle – da, wo die Autos
heute stehen, können wir dann
Bäume pflanzen. Dann sinken die
Temperaturen; dann sinkt die
­Abhängigkeit vom Auto; dann
sinken Verkehrslärm und Fein-
staubbelastung; dann steigt die
Lebensqualität; dann gibt es we-
niger Verkehrstote und Schwer-
verletzte. Wie kann das Bundes-
verkehrsministerium hinnehmen,
dass allein in Deutschland im
Straßenverkehr jedes Jahr fast
3000 Menschen getötet und mehr
als 300 000 Menschen verletzt
werden – und sich dagegen weh-
ren, die Geschwindigkeit des
Kfz-Verkehrs zu reduzieren? Ja,
viele Menschen sind auf ein Auto
angewiesen. Aber niemand ist
auf ein Auto angewiesen, das
2,5 Tonnen wiegt, dessen Motor-
haube höher ist als ein Kind und
das giftige Abgase in die Lungen
der nicht autofahrenden Bevöl-
kerung entlässt.
Markus Belz, Esslingen (Bad.-Württ.)
»Ja, es sind eben gar zu viele
Menschen auf der Welt. Früher
merkte man es nicht so. Aber
jetzt, wo jeder nicht bloß Luft
­atmen, sondern auch ein Auto
haben will, jetzt merkt man es
eben«, sagte schon 1927 Gustav
im »Steppenwolf« von Hermann
Hesse. Damals betrug die Erdbe-
völkerung etwa zwei Milliarden
Menschen, heute viermal so viel.
Hans-Joachim Uhlemann, Berlin
Die Welt ist eine
andere
Nr. 8/2023 Ukrainekrieg: Warum ein
­ PIEGEL-Redakteur seine Kriegsdienst­
S
verweigerung zurückzieht
Ja, Sie haben es auf den Punkt
gebracht, genau so habe ich die
Kriegsdienstverweigerung auch
wahrgenommen. Pazifismus ist
nicht, sein Leben für Werte eines
anderen zu opfern, sondern seine
Werte, vor allem Demokratie und
Freiheit, zu verteidigen.
Dirk Wolf, Wiesbaden
Es geht mir genauso wie Herrn
Rapp. Habe 1987/88 Zivildienst
geleistet, aus ähnlicher Motiva-
tion, und kam mir dabei sehr er-
haben vor. Heute spende ich Geld
in die Ukraine für Waffenkäufe
und frage mich ebenso wie der
Autor, wie ich wohl reagieren
würde, wenn einer unserer Söhne
sich zum Dienst an der Waffe
melden würde. Vielleicht ist ge-
nau das der Schock, der die Ich-
gesellschaften gerade ereilt: Es
gibt Dinge, die größer sind als
unsere superindividuellen Le-
bensentwürfe. Wie weit ist es her
Weshalb wird hierzu­
lande den Autofahrern
gerade im Vergleich
mit allen anderen
Verkehrsteilnehmern
so viel Platz einge­
räumt und zusätzlich
so wenig Wartezeit
zugemutet? Es gibt
verdammt viel zu tun!
Ullrich Herzau, Berlin
Nr. 9/2023 Titel: Kulturkampf
ums Auto
mit unserer Liebe zu einer frei­
heitlichen Demokratie, wenn wir
im Zweifelsfall nicht bereit sind,
sie auch unter Einsatz unserer
Leben zu verteidigen?
Dominik Wessely, Berlin
Haben Sie Dank für Ihren exzel­
lenten Beitrag! Er ist nicht nur
der Vernunft und der Aufklärung
verpflichtet, ebenso geht er
zu Herzen – wirklich. Man hätte
ihn als Handzettel auf der
Schwarzer­Wagenknecht­Demo
verteilen sollen. Ich bin einst aus
dem für mich als menschenver­
achtend empfundenen Wehr­
dienst in der Nationalen Volks­
armee als 20­Jähriger gleichfalls
vom Pazifismus beseelt heraus­
gegangen. Der Bosnienkrieg und
eine Reise nach Sarajevo danach
haben mich aber zum ersten Mal
umdenken lassen.
Friedhard Tischer, Gordola (Schweiz)
Seit 50 Jahren lese ich regelmäßig
den SPIEGEL . Einen unlogische­
ren Artikel habe ich seither nicht
gesehen. Die geringe Sollstärke
der Bundeswehr hat nichts mit
den Kriegsverweigerern zu tun,
sondern liegt in politischen Ent­
scheidungen begründet. Wir sind
mit der Kriegsdienstverweige­
rung auch nicht »billig davonge­
kommen«, wie der Autor meint.
Es war der schwierigere Weg. Bis
zum Alter von 60 Jahren kann
man sich freiwillig zum Dienst in
der Ukraine melden.
Hans Peter Süntzenich, Kirchheim­
bolanden (Rhld.­Pf.)
Der Artikel hat mich sehr bewegt,
denn mir gehen ähnliche Gedan­
ken durch den Kopf. In meiner
Jugend 1981 war die Verweige­
Sahra Wagenknecht
und Alice Schwarzer
sind auf einem
gefährlichen Holz­
weg. Die Demokratie
der ganzen west­
lichen Welt steht auf
dem Spiel.
Lothar Wirth, Berlin
Nr. 8/2023 Leitartikel:
Deutschlands Friedensbewe-
gung missachtet die Ukraine
rung noch ein aufwendiges und
schwieriges Verfahren. Die Ent­
scheidung war ein wichtiger Teil
meiner persönlichen Entwick­
lung, ich war dann jahrelang in
der Friedensbewegung aktiv und
habe andere Kriegsdienstverwei­
gerer beraten. Es waren die Acht­
zigerjahre, die Ära Ronald Rea­
gans, und mit vielen anderen war
ich der Meinung, dass der Westen
der Aggressor sei. Heute bin ich
60, die Welt ist eine vollkommen
andere, und ich bin dabei, mein
bisheriges Weltbild infrage zu
stellen. Persönlich habe ich den
Eindruck, dass bei Männern mei­
ner Generation wenig Bereit­
schaft besteht, über das Thema
nachzudenken oder zu reden.
Elmar Kraska, Duisburg
Das Essay ist nachdenkenswert
und berührt mich tief, da auch ich
die Verachtung als Wehrdienen­
der (18 Monate!), Jahrgang 1947,
kenne, die einem aus Teilen der
damaligen Gesellschaft entgegen­
schlug. Für unser Sicherheitsge­
fühl hatten wir ja die Amerikaner,
denen übrigens aus diesen Krei­
sen die gleiche Verachtung ent­
gegenschlug. Obwohl sie uns im
Ersten und im Zweiten Weltkrieg
die Haut gerettet hatten. Jetzt
müssen es wieder die Amerikaner
richten. Aber es scheint gerade
bei vielen Jüngeren und selbst bei
den Grünen ein Umdenken ein­
zusetzen. Für unsere Freiheit und
unsere Demokratie sind wir selbst
verantwortlich und müssen dafür
Opfer bringen. Notfalls auch mit
Waffen in der Hand, weil Schläch­
ter wie Stalin, Mao, Hitler und
auch Putin sich anders nicht von
ihrem Weg abbringen lassen.
Fritz Wolff, Leer (Nieders.)
Was soll das denn?
So oft haben Sie über
männliche Politiker
geschrieben, die
in Probleme gerieten.
Ich kann mich nicht
daran erinnern, dass
Sie deren Geschlecht
jemals in den Mittel­
punkt der Bericht­
erstattung stellten.
Gretel Döbrich, Berlin
Nr. 8/2023 Der SPD fehlen
Spitzenfrauen
Nachdem Hitler 1933 an die Macht
kam und sofort mit äußerster Bru­
talität gegen Juden, Kommunisten,
Sozialisten und andere Gesin­
nungsgegner vorging, überdachte
Albert Einstein seinen radikalen
Pazifismus: »Ich hasse Militär und
Gewalt jeder Art. Ich bin aber fest
davon überzeugt, dass heute dieses
verhasste Mittel den einzigen
wirksamen Schutz bildet.«
Michael Behnke, Zweibrücken (Rhld.­Pf.)
Genau so habe ich mich auch vom
Pazifisten zum Realisten gewan­
delt und möchte mich daher auch
bewusst von Idealisten à la Wa­
genknecht und Schwarzer ab­
grenzen. Aus dem Grund befür­
worte ich aber auch die Wieder­
einführung der Wehrpflicht.
Klaus Steinvorth, Norderstedt (Schl.­Holst.)
Aufgrund dieses Essays wollte
ich zunächst mein 20­jähriges
SPIEGEL ­Abo kündigen. Aber ich
habe als treuer und geduldiger
Leser unter anderem Herrn
Fleischhauer und Herrn Relotius
und einige inhaltsleere oder bou­
levardeske Artikel überstanden.
Denn es ist eben auch der
SPIEGEL , der einem immer wie­
der die Vielfalt der freien Mei­
nungen und die Bandbreite der
journalistischen Qualität vor Au­
gen führt und dann ab und an mit
journalistischen Meisterleistun­
gen beeindruckt. Daher verbuche
ich Ihren Essay als interessanten
»Diskussionsbeitrag«. Ich, Jahr­
gang 1973, werde meine Kriegs­
dienstverweigerung mit einer
Unterschrift unter das »Manifest
für Frieden« sogar noch bekräfti­
gen und wünsche Ihnen und mir
ein friedvolles Leben.
Jörg Ludwig, Tübingen (Bad­Württ.)
So dankbar
Nr. 8/2023 Strafjustiz: Überfordert und
alleingelassen – ein Rentner tötet seine
pflegebedürftige Frau
Mit großer Bestürzung habe ich
den Artikel über Herrn N. ge­
lesen. Eine wirklich eklatante
Fehlleistung ist in seinem Fall vor
allem dem Medizinischen Dienst
anzulasten. Gerade bei Demenz­
erkrankungen nehmen diese
Gespräche oft einen für die Er­
krankten verheerenden Ausgang:
Erwischen die Gutachter die
Demenzpatienten in einem »lich­
ten Moment«, wird die Pflegebe­
dürftigkeit massiv unterschätzt.
Schon die Behauptung, dass »der
Kuchen selbst gebacken« sei oder
nicht falsifizierbare Sätze wie
»Natürlich fahre ich noch Auto!«
reichen für ein Gutachterkreuz­
chen an der falschen Stelle. Dass
diese Interviews pandemiebe­
dingt selbst bei dementen Men­
schen per Telefon stattfinden, ist
fahrlässig.
Kerstin Bondorf, Köln
Alle reden vom Fachkräfteman­
gel in der Pflege. Dabei gibt es
bereits Menschen, die neben dem
eigenen Leben noch ein zweites
managen: Hausfrauen, Ingenieu­
re, Lehrerinnen, Rentner, sogar
Kinder. All diesen inkompeten­
ten, laienhaften Menschen mutet
die Gesellschaft das schon jetzt
zu und hat dafür eiskalt den Beruf
des »pflegenden Angehörigen«
erfunden. Ohne es gelernt zu ha­
ben, müssen sie nun ihre Liebsten
wickeln, waschen, ernähren, bet­
ten, Anträge schreiben, unwür­
dige Absagen ertragen, Abrech­
nungen machen, Arzttermine
organisieren, das eigene Leben
vernachlässigen. Und wenn diese
Angehörigen dann nicht mehr
können und ihre Liebsten endlich
der Kompetenz eines Pflege­
heims anvertrauen, verlangt die
Gesellschaft, dass sie ein schlech­
tes Gewissen haben. Dafür hat
sie das Unwort – das auch der
SPIEGEL benutzt – vom »Weg­
geben« erfunden. Ich habe mei­
nen Mann nach einem Nerven­
zusammenbruch einem Pflege­
heim anvertraut. Ich weiß jetzt,
was Pflegekräfte können und was
ich nicht kann. Ich bin so dankbar.
Rosemarie Dypka, Hamburg
Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
unter SPIEGEL.de zu archivieren.
Nr. 10 / 4.3.2023 DER SPIEGEL 121
L E TZ T E S E I T E
Zwei Puppen und ein Halleluja
ZEITREISE  Zu den »Stars der Saison« erklärte der SPIEGEL vor 50 Jahren
Ernie und Bert aus der »Sesamstraße«. Mehr noch begeisterte manche
Kinder ein anderes Duo: die Prügelknaben Bud Spencer und Terence Hill.
Nr. 10/1973  »Hiebe vom Kleinen«
Das anglisierte Erfolgsduo
Mario Girotti (alias Te­
rence Hill) und Carlo Pe­
dersoli (Bud Spencer) habe
seit 1967 »gleich zwei Ki­
nomarktlücken erobert«,
schrieb der SPIEGEL 1973:
Die Italiener seien das »erste international
bekannte Spaßmacherpaar seit Laurel und
Hardy« und zugleich »Wiederentdecker
­jener volkstümlichen Slapstick-Komik aus
der Frühzeit des Films, die dem Kino
mit den Jahren abhandengekommen war«.
Mehr noch: Vom frühen Chaplin hätten
die beiden Actionhelden die Autoritäts­
feindlichkeit übernommen, und wie Buster
Keaton entgingen sie ahnungslos jeder
noch so großen Gefahr. Selbst die Kritiker
waren zufrieden, obwohl die Filme im
Grunde nur von lockeren Sprüchen (»Ohne
Heu kann das beste Pferd nicht furzen«)
und Prügelszenen lebten, unterlegt mit
­bizarren Schlaggeräuschen und bestens
­geeignet, um kindliche Omnipotenzfanta­
sien zu befeuern: beidhändige Doppel­
backpfeife, ein Faustschlag auf die Schädel­
decke, der Nächste bitte.
Kanonenfuttertag
SO GESEHEN  Die Feiertags­
debatte erreicht Deutschland.
Weniger feiern, mehr rüsten: Nachdem
das dänische Parlament zur Deckung der
­Verteidigungsausgaben des Landes die
­Abschaffung eines Feiertags beschlossen
hat, stehen nun auch hierzulande arbeits­
freie Tage auf dem Prüfstand. Es laufen
­erste Abstimmungen der Bundesländer.
Eine Ländermehrheit konnte sich bereits
Minuten nach Bekanntwerden der Nach­
richt aus Dänemark auf eine von Bayern
spontan vorgeschlagene, sofortige Abschaf­
fung des arbeitsfreien Weltfrauentags am
8. März verständigen: Mit dem
Muttertag gebe es bereits
eine angemessene Würdi­
gung des »zu ehrenden
weiblichen Teils der
­Bevölkerung«, prakti­
scherweise an
einem sowieso
arbeitsfreien
­Sonntag im Mai. Ein
122 DER SPIEGEL Nr. 10 / 4.3.2023
HOHLSPIEGEL
Aus dem »Solinger Tageblatt«:
FilmPublicityArchive / United Archives / Getty Images
Von sport1.de:
»Johannes Thingnes Bö ging fünfmal in
Oberhof an den Start – sechsmal
jubelte der Biathlet am Ende über Gold.«
Aushang an einer Tankstelle in Overath (NRW):
Szene aus »Vier Fäuste
für ein Halleluja«
Mit ihrem »erfrischend asozialen Ver­
halten« eroberten Spencer und Hill Euro­
pas Filmpublikum. War »Vier für ein
Ave Maria« 1968 noch ein »blutiger Italo­
western mit Gag-Einlagen«, so überwogen Aus der »Stuttgarter Zeitung«:
spätestens ab 1972 in »Vier Fäuste für ein »Viel zu tun hatten am Mittwoch die Leute
Halleluja« die Gags. Mit »Zwei Himmel­ des Leonberger Bauhof und der Straßen­
hunde auf dem Weg zur Hölle«, ab März reinigung. Die Überreste von 30 000 Men­
1973 in deutschen Kinos, verließen die schen mussten entfernt werden.«
­Haudraufs das Westerngenre und erprobten
sich in der Rolle der Bruchpiloten.
Aus »Österreich am Sonntag«:
Es war bereits der siebte Film des
dollen Duos in sieben Jahren: »Der Erfolg«,
wusste der promovierte Jurist und
­Olympiaschwimmer Spencer, »kann jede
Minute enden.« Rainer Lübbert
zusätzlicher »Emanzentag« sei daher über­
flüssig; mit der Einführung einer feministi­
schen Außenpolitik sei die Frauensache nun
»auch mal ausgereizt«.
Volkswirtschaftliche Berechnungen
­lassen allerdings befürchten, dass eine Ein­ Aus den »Nürnberger Nachrichten«:
sparung des Frauentags nicht ausreichen »Etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittel
wird, um die wegen der sogenannten Zeiten­ werden in Deutschland im Jahr
wende gestiegenen Aufwendungen für Rüs­ ­weg­geworfen. Das ist ungefähr so viel,
tungsgüter zu decken: Dieser ist nur in Ber­ wie drei Elefanten wiegen.«
lin und Mecklenburg-Vorpommern arbeits­
frei. »Da aber in der Hauptstadt überhaupt
Aus der »Hessischen / Niedersächsischen Allgemeinen«:
nicht und im Osten generell kaum produktiv
gearbeitet wird«, heißt es in einer Analyse
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor­
schung, »wäre ein Effekt kaum messbar.«
Nun scheint doch keine schnelle Lösung
in Sicht, weil katholische, protestantische
Von der Website des »Kölner Express«:
und gottlose Bundesländer jeweils auf ihren
regionalen Extratagen bestehen. »Der Bundespolizei ist es am Freitagabend
Immerhin hat man sich auf eine Geste (24. Februar 2023) in Köln gelungen,
­einigen können, die dem allgemeinen Trend einen Serientäter auf frischer Tat zur Strecke
zur Militarisierung zumindest symbolisch zu bringen.«
Rechnung tragen wird: Der auch als Vater­
tag bekannte Feiertag wird ab sofort
Verstoß auf einem Strafzettel in Weingarten (Bad.-Württ.):
»Christi Himmelfahrtskommando« heißen.
Und der beliebte Bollerwagen zum Bier­
transport wird abgeschafft: Man fährt jetzt
Böllerwagen. Stefan Kuzmany
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 Inhalt 1/2023
PortemonnaieS. 4 Mein Geld, mein LebenS. 16
n Grafik: Wo Deutschlands Reiche ­leben / n Reality-TV-Star Evelyn Burdecki über eine
Interview: Was man bei Tagesgeldanlagen Kindheit ohne eigenes Zimmer und darüber,
beachten muss / Grafik: Baumaterial – warum sie ihr Geld in Immobilien steckt
die größten Kostentreiber / Wie der Neu­bau
wieder in Schwung kommen könnte / Neuer Zertifikatskurs
Schuldner suchen zu spät Rat / Schick e­ rklärt: GeldanlageS. 18
Finanzdienstleister ignorieren Urteile n Warum sich Anleihen als Investment
­wieder lohnen
Digitalisierung
im Rechnungs-
ZukunftsindustrieS. 20
wesen
n Robotik und künstliche Intelligenz sollen Weiterbilden mit E-Learning –
helfen, den Pflegenotstand zu bekämpfen –
was das für Anleger bedeutet. wann und wo Sie wollen

ImmobilienfinanzierungS. 23
Zum
n Unter welchen Voraussetzungen
­Bausparen wieder lohnt
Jubiläum

€ 300,–
InflationS. 24 sparen
n Psychologin Alexandra Meyer erklärt,
Titel wie man mit Kindern über Geld spricht.
Richtig abgesichert S. 8
n Kaum ein Risiko, das man nicht ver-
sichern kann – aber von manchen Verträgen AusgabenkontrolleS. 26
­profitieren vor allem die Konzerne. n Digitale Haushaltsbücher sollen
helfen, die eigenen Finanzen im Griff zu
Abc der Versicherung S. 11 ­haben. Ein Selbstversuch.
n Ein Überblick über die gängigsten Ver­
sicherungen – und an wen sie sich richten
Schatz am HandgelenkS. 28
Eine Auswahl der Inhalte:
EntscheidungshilfeS. 14 n Im ersten Teil unserer Serie über Sammeln
n Mit wenigen Antworten finden Sie heraus, als Wertanlage erfahren Sie, worauf Sie + Digitalisierungstechnologien
welche Versicherungen Sie haben sollten. beim Kauf von Luxusuhren achten müssen. und ihre Einführung
+ Prozesse und rechtliche
Rahmenbedingungen
IMPRESSUM Gestaltung Leon Lothschütz Verantwortlich für Anzeigen
SPIEGEL-Verlag Hans Engler / Anzeigenpreise, + Auswirkungen der Digitalisierung
Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Grafik Ferdinand Kuchlmayr, Formate und Termine auf Finanzbuchhaltung, Controlling,
­Ericusspitze 1, Andrew Timmins unter 040-3007 3628,
20457 Hamburg www.spiegel.media Steuerabteilung, Finanzvorstand/
Bildredaktion CFO und Wirtschaftsprüfung
Herausgeber Rudolf Augstein Daniel Nide, Henriette Simons Herstellung Silke Kassuba,
(1923 – 2002) Andreas Allzeit + Aktueller Stand der Digitalisierung
Titelbild Suze Barrett
Chefredaktion Steffen Klusmann Druckerei appl Druck GmbH & Co. KG,
im deutschen Rechnungswesen
(V. i. S. d. P.), Dr. Melanie Amann, Chef vom Dienst Jörn Sucher Wemding
­Thorsten Dörting, Clemens Höges
Dokumentation Objektleitung Manuel Wessinghage
Redaktionelle Abnahme Klaus Falkenberg, Matthias Fett,
Stefan Kaiser Rainer Lübbert, Sara Maria Ringer Geschäftsführung Thomas Hass
­(Vorsitzender), Stefan Ottlitz Wir feiern 5 Jahre SPIEGEL Akademie!
Redaktion Markus Dettmer; Schlussredaktion Sichern Sie sich jetzt unser Jubiläums-
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Titelillustration und Illustration Inhalt: Lennart Gäbel für SPIEGEL GELD akademie.spiegel.de
P
  ortemonnaie »Die Tagesgeldzinsen
haben ein Zehn-
Jahres-Hoch erreicht«
Sebastian Schick leitet die Redaktion des
Schleswig-Holstein Vergleichsportals Biallo. Er erklärt, ­worauf
man bei der Wahl des Tagesgeldkontos
Hamburg achten sollte.
1,23 0,58
(843) Mecklenburg-
(1247) Vorpommern SPIEGEL: Herr Schick, es gibt auf Tages-
0,23 geld wieder Zinsen Eine gute Nachricht,
Bremen (177)
0,58 Berlin oder?
(194) 0,57 Schick: Ja, im Schnitt liegt der Zins, den
Niedersachsen (1077) deutsche Banken bieten, bei gut einem Pro-
0,51 zent, die Tagesgeldzinsen haben damit ein
(2052)
0,16 Brandenburg Zehn-Jahres-Hoch erreicht. Für viele Sparer
(168) 0,26 ist das tatsächlich erfreulich.
Nordrhein- Sachsen-Anhalt (316)
Westfalen
SPIEGEL: Und wie lautet die schlechte?
0,66 Schick: Viele Banken lassen sich reichlich
0,16 Sachsen
(5847) Zeit mit der Weitergabe der höheren Zinsen
(164) 0,21
Hessen (427) an ihre Kunden. Unsere Daten zeigen zum
Thüringen
0,67 Beispiel, dass die Tagesgeldzinsen bei den
(2153) Sparkassen Mitte Februar im Schnitt bei
Einkommensmillionäre
Rheinland- 0,22 Prozent lagen. Bei den Genossenschafts-
an allen unbeschränkt
Pfalz
Einkommensteuer- banken sah es mit 0,28 Prozent nicht viel
0,45 pflichtigen 2018
(928) besser aus. Auch bei anderen Instituten wer-
0,29 Bayern Anteile in Promille
und absolute Zahl
den Kunden mit niedrigen Zinsen abgespeist.
(139) Baden- 0,87 (in Klammern) SPIEGEL: Muss ich mir das gefallen lassen?
Württemberg (6089) Schick: Auf keinen Fall! Wir empfehlen in
Saarland 0,76 0,8 und mehr solchen Fällen das Gespräch mit dem Bank-
(4435) 0,6 bis unter 0,8 berater. Sonst sollte man sich bei einer an-
0,4 bis unter 0,6 deren Bank ein Tagesgeldkonto mit besse-
0,2 bis unter 0,4 ren Konditionen suchen. Leider schrecken
unter 0,2 gerade ältere Menschen häufig davor zu-
Quelle: Destatis
Gesamtzahl der
Millionäre in Deutschand 26 256 rück, ein neues Konto zu eröffnen. Dabei
lohnt es sich: Es gibt Onlinebanken, die in-
zwischen zwei Prozent und mehr bieten.
SPIEGEL: Es handelt sich dann aber oft nur
Reichtum  In welchem Bundesland leben die meisten Einkom- um befristete Lockangebote, oder?
mensmillionäre? Aus den aktuell verfügbaren Daten kommt das Schick: Tatsächlich gelten solche Angebo-
te in der Regel nur für Neukunden, und viele
Statistische Bundesamt zu dem Ergebnis, dass der Anteil an
Institute garantieren die Verzinsung nur
der Bevölkerung in Hamburg am höchsten ist, in absoluten Zahlen für drei bis sechs Monate. Aber davon sollte
leben die meisten in Bayern. man sich nicht abschrecken lassen. Man

65,8
kann danach ja wieder wechseln. MIC

Milliarden Zigaretten  wurden im vergangenen Jahr

in Deutschland versteuert – 8,3 Prozent weniger als
im Vorjahr. Der größte Rückgang seit Jahren, so das
Statistische Bundesamt. Ein Grund dafür sei die Tabak-
steuererhöhung 2022. Langfristig hat sich seit 1991
die Menge der versteuerten Zigaretten ausgehend von
146,5 Milliarden Stück mehr als halbiert.

4 SP IEGEL GELD 1 / 2023

Warum das Bauen teurer geworden ist
Teuerungsrate ausgewählter Baumaterialien 2022 gegenüber dem Vorjahr, in Prozent
Zum Vergleich:
Erzeugerpreise (ohne Energie)
14,0
1,3
Bauholz
Quelle: Destatis
Kaum Neubau trotz hoher Nachfrage
Der angespannte Wohnungsmarkt mit stei-
genden Mieten und höheren Baukosten wird
nach Überzeugung von Immobilienexperten in
den kommenden Jahren kaum aus der Krise
finden. Stark gewachsene Kosten, ein Mangel
an Fachkräften und höhere Zinsen haben die
Preise für den Hausbau massiv in die Höhe
getrieben. Michael Schick, Präsident des Im-
mobilienverbands (IVD), in dem sich Immobi-
lienberater, Makler, Verwalter, Sachverständige
und Finanzierungsdienstleister zusammenge-
schlossen haben, fordert deshalb neue Initia-
tiven zur Wohnungsbauförderung. »Es braucht
eine massive Aufstockung der Förderung für
den Neubau und eine echte Unterstützung für
die Wohneigentumsbildung«, sagt Schick.
»Die Immobilienwirtschaft schlägt vor, mit
zehn Milliarden Euro Fördermitteln jährlich die
Wohnungsbauproduktivität wieder zu stei-
gern. Wohnen ist für die Menschen ein Grund-
bedürfnis, eine ausreichende Versorgung mit
Wohnraum und eine stärkere Wohneigen-
Schuldner kommen oft
zu spät zur Beratung
Rund 5,8 Millionen Menschen in Deutschland
gelten als überschuldet – ihr Einkommen reicht
über einen längeren Zeitraum nicht aus, um
die finanziellen Verbindlichkeiten zu begleichen.
Schuldnerberatungsstellen sollen Betroffenen
helfen, ihre Existenz zu sichern und aus den
Schulden zu kommen. Doch laut einer neuen
Studie des Instituts für Finanzdienstleistungen
(iff) greifen Betroffene häufig zu spät auf die
Hilfe der Beratungsstellen zurück. Von den
Foto: MiS / IMAGO; Infografiken: Andrew Timmins
26,5
9,3
Dachlatten Metalle
insgesamt
tumsbildung ein dringendes gesellschaftliches
Anliegen.« Bundeskanzler Olaf Scholz müsse
das Thema zur Chefsache machen, unter Ein-
beziehung aller Ressorts. »Die Bundesregie-
rung hat mit der Realisierung der LNG-Termi­
nals für die Weiterleitung importierten Flüs-
siggases bewiesen, dass sie in der Lage ist,
1323 Personen, die in der Studie von finanziel-
len Schwierigkeiten berichteten, nahmen nur
sechs Prozent die Hilfe der Schuldnerberatung
in Anspruch. Die meisten Befragten versuchten
demnach, ihre Finanzprobleme selbst zu lösen
oder suchten Rat bei Freunden und Verwand-
ten. »Dies führt eher zu einer zeitlichen Ver-
schleppung des Problems als zu einer Lösung«,
lautet ein Fazit der Untersuchung. Durch Ab-
warten verschlimmere sich die finanzielle
Lage der Betroffenen häufig weiter – etwa weil
Mahngebühren anfallen, Stromsperren ver-
hängt werden oder Vermieter den Mietvertrag
kündigen. Um die Hürden für die Schuldnerbe-
49,3
33,4
Spanplatten Flachglas
Rahmenbedingungen schnell anzupassen«,
sagt der IVD-Präsident. Vergleichbare Initiati-
ven müssten jetzt auch für den Bau von priva-
tem Wohnraum erfolgen. »Neubau rechnet
sich praktisch nicht mehr, obwohl die Nach-
frage nach Wohnraum unverändert hoch ist«,
so Schick. Das führe dazu, dass sich auch im-
mer mehr Menschen mit mittlerem Einkom-
men kein Wohneigentum mehr leisten könn-
ten und auf den Mietmarkt drängten. Zugleich
sinke das Angebot im Wohnungsbau. Trotz der
Probleme sieht er aber noch Möglichkeiten,
wie die öffentliche Hand zur Stimulierung der
Bautätigkeit beitragen könnte. Als Beispiele
nennt er den Verkauf von Grundstücken aus
dem Besitz der Kommunen, eine Senkung der
Gewerbesteuer und die Streichung von Bau-
vorschriften, die nicht mehr zeitgemäß seien.
Eine bessere Ausstattung der Genehmigungs-
behörden könne helfen, die Verfahren zu
­beschleunigen. Aktuell dauere es bis zu zehn
Jahre, bis ein Bauprojekt realisiert sei. MIK
ratung zu senken, plädiert das iff für kostenfreie
und zeitnahe Beratungsmöglichkeiten – doch
das sei vielerorts wegen knapper Budgets nur
eingeschränkt möglich. Weil es nicht genug
­Beratungsplätze gibt, kommt es für Betroffene
häufig zu langen Wartezeiten. Insgesamt gibt es
in Deutschland schätzungsweise 1400 Schuld-
ner- und Insolvenzberatungsstellen, die in der
Regel von Kommunen, Wohlfahrts- oder Ver-
braucherverbänden organisiert werden. Exper-
ten gehen davon aus, dass die Zahl der über-
schuldeten Menschen in Deutschland ange-
sichts der hohen Sprünge bei Energie- und
­Lebensmittelpreisen weiter steigen wird. MIC
5
Aussitzen zulasten
der Kundschaft
Schick erklärt
Der Volkswirt Ger­
hard Schick, 50, saß
bis 2018 für die
­Grünen im Bundestag. Heute
ist er ­Vorstand der Bürger­
bewegung Finanzwende, die
für eine nachhaltige Finanz­
wirtschaft kämpft. Welche
Fallstricke es für Verbraucher
und ­Privatanleger gibt, erklärt
er in seiner Kolumne.
n Ob bei Kontoführungsgebühren, pau-
schalen Jahresgebühren oder der Be-
rechnung von Zinsen auf viele Prämien-
sparverträge: Immer wieder haben Ban-
ken, Sparkassen und Bausparkassen
unzulässig agiert. Sie haben ausgelotet,
wie weit sie gehen können, um mehr
Profite einzufahren – und dabei Gren-
zen überschritten. Oberste Gerichte ha-
ben sie dafür in die Schranken gewiesen.
Beim Prämiensparen sprach der
Richter von einer Festlegung der Zinsen
»nach Gutsherrenart«, beim gerade
wieder angesagten Bausparen entschie-
den die Juristen, dass die Bausparkas-
sen Verwaltungskosten nicht einfach
auf die Kunden abwälzen dürfen, und
bei der Erhöhung von Kontoführungs-
gebühren durch Banken stellte der Bun-
desgerichtshof (BGH) eigentlich eine
Selbstverständlichkeit fest: Schweigen
ist noch keine Zustimmung.
Und doch wirkt es so, als gingen die
Richtersprüche zumindest teilweise ins
Leere. Das gesprochene Recht entfaltet
seine Wirkung nicht umfänglich, da die
Finanzakteure keine Verantwortung für
ihr Handeln in der Vergangenheit über-
nehmen. Die Leidtragenden sind die
Kundinnen und Kunden.
Am Beispiel des Themas Prämien-
sparen lässt sich das Ganze am ein-
drücklichsten aufzeigen. Über Jahre
haben Sparkassen Zinsen für ein gängi-
ges Produkt – Prämiensparen flexibel –
6 Fotos: Gordon Welters; d3sign / Getty Images
falsch berechnet. Angesichts vorheriger
Urteile sollten die jeweiligen Institute
gewusst haben, dass sich ihre Zinsan-
passungsklauseln juristisch gesehen zu-
mindest im Graubereich befinden. Spä-
testens als der Bundesgerichtshof 2021
in drei Urteilen diese Klauseln bei drei
Sparkassen für unwirksam erklärte,
sollte der letzte Vorstand von betroffe-
nen Instituten verstanden haben: Wir
haben einen Fehler gemacht und auf
unsaubere Weise Gewinne eingefahren.
Doch die Antwort der Sparkassen
ließ zu wünschen übrig. Denn eine wirk-
liche Reaktion und damit Transparenz
über einen gravierenden Fehler im Bank-
geschäft gab es nicht. Die Devise lautete:
Füße still halten und darauf setzen, dass
die Kunden es nicht mitbekommen und
die Fälle verjähren. In diesem konkreten
Beispiel ist dies drei Jahre nach Kündi-
gung der Verträge der Fall. So verlieren
Kundinnen und Kunden Jahr um Jahr
Ansprüche, zum Jahreswechsel 2022/
2023 beispielsweise bei den Sparkassen
München, Nürnberg und Osnabrück.
Die Mehrheit der Sparerinnen und
Sparer ergreift keine Maßnahmen
Gebührenfalle  Auch wenn
Gerichte feststellen, dass
zu viel verlangt wurde, geben
Banken den Kunden das
Geld selten freiwillig zurück.
gegen die Verjährung – sei es aus Un-
wissenheit oder auch aus Bequemlich-
keit. Die Folge: Ein Großteil der unsau-
ber erzielten Gewinne verbleibt letzt-
lich bei Sparkassen, Bausparkassen und
Banken. Das ist absurd, und das liegt
auch an unseren Gesetzen.
Zum einen sind die Verjährungsfris-
ten meist reichlich knapp bemessen. So
bleiben nach einem Urteil oft nur weni-
ge Monate, um aktiv zu werden. Mit-
unter kommen die Urteile sogar zu
spät. Bleiben wir beim Prämiensparen:
Als der BGH 2021 entschied, waren bei
einigen Kunden die Ansprüche bereits
verjährt. Und selbst heute steht nur fest,
dass viele Menschen zu wenig Zinsen
erhalten haben, manchmal geht es um
vierstellige Summen. Die korrekte
Zinsberechnung ist hingegen immer
noch strittig. Wenn Kunden aber nicht
wissen, wie viel rumkommen kann,
unternehmen sie häufig auch nichts.
Zum anderen haben Urteile, selbst
bei Musterfeststellungsklagen, keine
umfassende Wirkung, sodass die Füße-
still-halten-Taktik der Institute zumin-
dest aus betriebswirtschaftlicher Sicht
der richtige Weg ist. Auch dann, wenn
Urteile gefällt und die Fehler klar be-
nannt wurden, bekommen die betrof-
fenen Kundinnen und Kunden nicht
einfach das zu Unrecht bezahlte oder
vorenthaltene Geld zurück – geschwei-
ge denn, dass den Finanzakteuren eine
Strafzahlung aufgebrummt wird.
Für Banken und Sparkassen lohnt es
sich weiter, juristische Grenzen auszu-
testen, denn die meisten Gewinne da­
raus verbleiben bei ihnen. Hier muss
der Gesetzgeber einschreiten. Richtig
wäre es, wenn Finanzakteure Ver­
antwortung für Fehler übernehmen
müssten – im besten Fall würden sie
das von sich aus tun. Das sollte Basis
für eine faire Kundenbeziehung sein,
ist aber offenkundig Wunschdenken.
Insofern müsste die Finanzaufsicht da-
für sorgen, dass Urteile ihre Wirkung
branchenweit entfalten – oder die Kun-
dinnen und Kunden müssten eine bes-
sere Möglichkeit der Rechtsdurchset-
zung bekommen.
Bis dahin bleibt nur, sich zur Wehr
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8 SP IEGEL GELD 1 / 2023
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Angebotscheck  Ob die Krankenversicherung für den Hund oder die Police
fürs Reisegepäck: ­Viele Deutsche gehen gern auf Nummer sicher. Von einigen Verträgen
profitieren vor allem die Konzerne – andere dagegen sind ein Muss.

n Was soll im Münsterland schon pas-
sieren? Die Gegend liegt in Westfalen,
also weder an der See noch in den
Alpen und auch nicht da, wo tektoni-
sche Platten aneinandergeraten. Mit
Sturmfluten, Lawinen oder Erdbeben
ist nicht zu rechnen.
Dann kam der 25. November 2005
und ein Sturm, der die Region in das
»Münsterländer Schneechaos« stürzte,
wie der Deutsche Wetterdienst das Er-
eignis nannte: Dächer brachen unter
der Schneelast zusammen, Bäume
knickten um wie Streichhölzer, und so-
gar Strommasten brachen reihenweise,
weil sich um die Kabel beindicke Eis-
panzer bildeten, die alles in die Tiefe
zogen.
Spätestens seit damals gilt eine Ele-
mentarschadenversicherung auch für
Hausbesitzer im Münsterland als ver-
nünftige Idee. Wäre doch schade um
den Wintergarten.
»Manchmal kann man gar nicht so
verschroben denken, wie es kommt«,
sagt Elke Weidenbach, die Betroffene
in der Region um Münster kennt, und
es klingt wie ein Satz, mit dem man fast
jeden Versicherungsvertrag rechtferti-
gen könnte. Dabei hat Weidenbach ein
völlig anderes Anliegen: Sie ist bei der
Verbraucherzentrale Nordrhein-West-
Qua Amt will sie Verbraucher davor
schützen, sich Versicherungen auf-
schwatzen zu lassen, die unnötig, zu
teuer oder so gestaltet sind, dass man
besser die Finger davon lässt. Elemen-
tarschadenversicherungen gehören für
Hausbesitzer in der Regel nicht dazu.
Sonst gibt es da aber eine ganze
Menge. »Im Moment wirbt die Branche
stark für Tierkrankenversicherungen«,
sagt Weidenbach. Die Gelegenheit ist
günstig: Seit November gilt eine neue
Vergütungsordnung für Tierärzte, viele
Behandlungen sind erheblich teurer ge-
worden, andere neu hinzugekommen.
»Aber bei aller Liebe zu meinem
Riesenschnauzer Luke, für so eine
­Police würde ich nicht auch noch regel-
mäßig Geld rausrücken.« Wer nicht
zum Beispiel ein Pferd besitze, könne
oft auf derartigen Versicherungsschutz
verzichten. Abhängig vom Tier sind die
Beiträge häufig hoch und die Aus-
schlussszenarien, bei denen die Ver­
sicherung die Zahlung verweigert,
­umfangreich. »Da ist es oft besser, für
Behandlungen des Tieres Geld beiseite-
zulegen«, so Weidenbach.
Auch Julia Alice Böhne will Verbrau-
cher vor hohen Dauerkosten schützen.
»Natürlich kann jeder, der das Geld
­übrig hat, versichern, was ihm Kopf-
rin des Bundes der Versicherten. »Aber
die meisten von uns haben ein begrenz-
tes Budget und sind gezwungen auszu-
wählen.« Da gelte die Faustregel: Wenn
es um Risiken geht, die man im Ernstfall
unmöglich aus eigenen Rücklagen be-
zahlen kann, ist Versicherungsschutz
sinnvoll. Zum Beispiel, wenn der Sturm
das Hausdach abdeckt, wenn man den
Neuwagen eines Unfallgegners schrottet
oder derart erkrankt, dass man nie wie-
der wird arbeiten können.
Im Umkehrschluss heißt das: Alles,
was leicht zu ersetzen ist, muss nicht
versichert werden. Der Klassiker sind
Handyversicherungen oder Garantie-
verlängerungen für neu gekaufte Elek-
tronikgeräte. Oft werden sie von On-
lineshops am Ende des Bestellvorgangs
gleich mit angeboten. Sehr praktisch,
und im Vergleich zu der Summe, die
man gerade ausgegeben hat, erscheint
die Versicherungsprämie nicht hoch.
Ist sie aber doch, bei Handys unge-
fähr zehn Prozent des Neuwerts pro
Jahr – bei einem Auto würde das nie-
mand akzeptieren. »Gerade bei Handys
ist die Erfahrung oft enttäuschend,
wenn man die Versicherung wirklich
braucht«, sagt Böhne. Häufig werde nur
der Zeitwert der Geräte ersetzt, und
weil der Wertverlust dramatisch ist,

464 800 000
falen für Versicherungen zuständig. schmerzen bereitet«, sagt die Spreche- kommt man nicht einmal in die Nähe

Versicherungsverträge gab es 2021 in Deutschland laut dem Gesamtverband der Versicherer. Fast 341 Millionen davon waren
Schaden- und Unfallversicherungen, knapp 87 Millionen Lebensversicherungen, 37 Millionen private Krankenpolicen.

Illustration: Lennart Gäbel / DER SPIEGEL 9

des Neupreises. Die meisten Versiche­
rer verlangen zudem eine Selbstbe­
teiligung. Oft sind auch Leistungen aus­
geschlossen, etwa wenn man das Mobil­
telefon im Café liegen lässt und es dort
gestohlen wird.
Das Lieblingsbeispiel für überflüssi­
ge Verträge ist für beide Verbraucher­
schützerinnen die Reisegepäckversiche­
rung. »Die Bedingungen sind völlig
praxisfern, sodass die Versicherer ex­
trem selten leisten«, sagt Böhne. Wer
den Verlust seiner Koffer geltend ma­
chen will, müsse nachweisen, wie sorg­
fältig er darauf aufgepasst habe. »Wenn
Sie das alles befolgen, kann sowieso
nichts geklaut werden. Dann brauchen
sie aber auch keine Versicherung«, so
Weidenbach. Auf einer Reise will man
doch eher entspannen und nicht dau­
ernd das Gepäck im Blick behalten.
Obendrein ist es bei diesen Verträ­
gen nicht selten so, dass andere Versi­
cherungen zahlen könnten. Beschädigt
etwa ein Freund versehentlich das Han­
dy, dann ist dessen private Haftpflicht­
versicherung gefragt. Kommt das Ge­
päck im Flugzeug weg, steht die Airline
in der Haftung. Wird es nach einem
Einbruch aus dem Hotelzimmer gestoh­
len, ist das von vielen Hausratversiche­
rungen abgedeckt, sofern die eine
Außenversicherung beinhalten.
Welche Policen sind unverzichtbar,
welche werden wärmstens empfohlen,
welche sind unter Umständen nützlich?
Auf der kommenden Doppelseite haben
wir eine Entscheidungshilfe für Sie er­
stellt. Nach wenigen Gegenfragen fin­
den Sie dort Antworten. Was sich hinter
den Versicherungsnamen versteckt und
wofür sie gedacht sind, können Sie dem
Abc der Versicherungen entnehmen.
2714
Dort finden sich auch viele Policen, die
nicht zur Grundausstattung gehören.
Euro zahlte jeder Einwohner in Deutschland 2021 im Schnitt für Versicherungen. So viel
wie nie zuvor. Fast 46 Prozent davon zahlten sie für Lebensversicherungen.
10
Manches ergibt sich von selbst: Wer
ein Auto zulässt, muss nachweisen, dass
er eine Kfz-Haftpflichtversicherung
hat – und die ist bei den Schadenssum­
men, die im Straßenverkehr entstehen
können, absolut sinnvoll. Ist das Auto
geleast, verlangt der Leasinggeber oft
eine Vollkaskoversicherung. In vielen
Bundesländern ist für Hundebesitzer
eine Tierhalter-Haftpflichtversicherung
vorgeschrieben, die zahlt, wenn sich
der Hund im Postboten festbeißt. Keine
Sorge, nach diesen Versicherungen fragt
die Behörde oder der Leasinggeber, Sie
müssen nicht selbst daran denken.
Andere Kategorien sind so wichtig,
dass mancher Verbraucherschützer sie
am liebsten zur Pflicht erklären würde.
Dazu gehört die Privathaftpflicht für
wirklich jeden Erwachsenen. Sie zahlt
nicht nur, wenn man jemand anderem
einen Schaden zufügt. Sie prüft im
Ernstfall auch, ob der Gegner überhaupt
Ansprüche hat, notfalls vor Gericht. Da­
mit könnten viele im Prinzip sogar die
Rechtsschutzversicherung einsparen.
Nicht alles, was sich die Assekuran­
zen in jüngster Zeit neu einfallen lassen,
muss zwangsläufig Schmu sein. So gilt
es etwa bei einer Kaskoversicherung für
ein Elektroauto darauf zu achten, dass
auch der Akku mitversichert ist, genau­
so wie die Wallbox, an der zu Hause
geladen wird – die allermeisten bieten
das inzwischen an. Und wer mit der
­Solaranlage auf dem Hausdach ins öf­
fentliche Stromnetz einspeist, dem rät
der Bund der Versicherten zu einer Be­
treiber-Haftpflicht. Auch wenn man mit
einem kleinen Balkonkraftwerk nur für
den eigenen Stromverbrauch produ­
ziert, sollte man zumindest prüfen, ob
die bestehende private Haftpflicht
zahlt, falls ein Sturm die Solarpanels in
Nachbars Terrassentür schleudert.
Überhaupt ist die Frage, ob man
eine Versicherung benötigt oder nicht,
nie endgültig beantwortet. »Mindestens
bei jedem Lebensereignis sollten Sie die
bestehenden Verträge prüfen«, rät Elke
Weidenbach: bei Hochzeiten, Gebur­
ten, Todesfällen, Orts- und Berufswech­
seln. Eine Haftpflicht für ein Kind, das
längst ausgezogen ist und auf eigenen
Beinen steht, kann man getrost kündi­
gen. »Und bei so einer Gelegenheit soll­
te man nicht nur eine Person aus dem
bestehenden Vertrag streichen lassen,
sondern vergleichen, ob nach all den
Jahren nicht ein Mitbewerber das bes­
sere Angebot macht«, so Weidenbach.
Häufig hat auch die bisherige Versiche­
rung etwas Besseres in petto.
Auch Zeiten knappen Geldes können
ein Anlass sein – etwa jetzt, wo die Ver­
braucherpreise steigen oder wenn man
als Arbeitnehmer erwerbslos wird. Aller­
dings warnen die Expertinnen davor, in
so einer Situation essenzielle Versiche­
rungen aufzugeben. »Auch Arbeitslose
müssen weiter ihre Arbeitskraft absi­
chern, etwa mit einer Berufsunfähigkeits­
versicherung«, sagt Julia Alice Böhne.
Wer sehr knapp bei Kasse ist, sollte
bei den Versicherungen nach Über­
gangslösungen fragen, rät sie: »So ist
vielfach eine teilweise oder vollständige
Stundung der Beiträge für einen be­
stimmten Zeitraum unter Aufrecht­
erhaltung des vereinbarten Versiche­
rungsschutzes möglich.« Eine Beitrags­
freistellung allerdings führt zur Kürzung
der Berufsunfähigkeitsrente. Vergleich­
bar sieht es bei der Risikolebensversi­
cherung aus – auch dort ist die Stun­
dung für die Verbraucher besser.
Weiteres Sparpotenzial hat eventuell
noch die Hausratversicherung. Meist wird
deren Versicherungssumme durch eine
Pauschale berechnet, die mit den Qua­
dratmetern der Wohnung multipliziert
wird. Wer die versicherten Wertgegen­
stände erfasst und deren tatsächlichen
Wert angibt, kommt unter Umständen
günstiger weg. Nachteil: Es besteht das
Risiko einer Unterversicherung, daher
sollte regelmäßig überprüft werden, ob
die Versicherungssumme und der Wert
des Hausrats noch zueinanderpassen.
Ganz zu kündigen ist aber auch hier
nicht empfehlenswert. Schließlich kann
man manchmal gar nicht so verschro­
ben denken, wie es kommen kann.
Matthias Kaufmann
SP IEGEL GELD 1 / 2023
Das Abc der
Versicherungen
Policen-Wissen  Reiserücktritt, GAP-Schutz oder Öltank­
haftpflicht: Hier werden die gängigsten Versicherungen kurz
­erklärt – und auch, für wen sie interessant sein könnten.
A ­ igenen Solaranlage? Dann sollten Sie
Auslandskrankenversicherung: Wer ver­
reist, muss für den Fall einer Erkran­
kung im Ausland vorsorgen. In der EU
ist das in den meisten Ländern recht
unkompliziert, oft kann man Leistun­
gen einfach über die Karte der gesetz­
lichen Krankenkasse abrechnen. Aber:
Die heimische Kasse zahlt die Ausga­
ben nur nach den Regeln des Landes, in
dem die Behandlung stattfindet. Erfolgt
die Behandlung im Ausland als Privat­
patient oder sind dort etwa Eigenan­
teile fällig, legt man drauf – oder die
Auslandskrankenversicherung. Sie
­finanziert notfalls auch einen Kranken­
rücktransport. Der ist in der gesetz­
lichen Krankenkasse und bei vielen
privaten Krankenversicherungen nicht
abgedeckt, kostet aber locker mehrere
Tausend Euro. Diese Personenversiche­
rung wird daher sehr empfohlen.
B nämlich durch eine private Kranken­
Berufsunfähigkeitsversicherung (BU):
Diese Versicherung wird von Verbrau­
cherschützern für fast jeden Erwerbs­
tätigen empfohlen, obwohl sie oft nicht
ganz billig ist. Zwar sind viele Arbeit­
nehmer auch in der gesetzlichen Ren­
tenversicherung, doch deren Erwerbs­
minderungsrenten fallen oft sehr niedrig
aus, vor allem wenn man noch eine Tä­
tigkeit leisten kann, die mit dem ur­
sprünglichen Job nichts zu tun hat. Mit
der BU lässt sich das je nach Vertrag
verhindern. Für Beamte gibt es analog
die Dienstunfähigkeitsversicherung.
Betreiberhaftpflichtversicherung für
Fotovoltaik: Sie speisen Strom ins öffent­
liche Netz ein, zum Beispiel mit einer
Foto: Artem Zavarzin / mauritius images
e
über diese Versicherung nachdenken,
sofern sie nicht schon Teil Ihrer privaten
Haftpflichtversicherung ist. Löst ein Feh­
ler Ihrer privaten Anlage beispielsweise
Schäden an der Technik des Netzbetrei­
bers aus, kommt sie zum Tragen.
Bootshaftpflichtversicherung: Wer ein
Boot besitzt und häufig damit unter­
wegs ist, kann sich mit so einer Police
vor Zahlungsansprüchen gegenüber
Dritten schützen. Für Schäden am eige­
nen Boot muss eine Kaskoversicherung
abgeschlossen werden.
Diensthaftpflichtversicherung: Sie ist
eine Berufshaftpflicht für Personen, die
im öffentlichen Dienst arbeiten. Richten
Sie bei der Arbeit Schäden an, können
Sie eventuell vom Dienstherrn in Regress
genommen werden. Ein Beispiel: Eine
Physiklehrerin lässt einen Versuch ohne
ausreichende Erklärung aufbauen, da­
durch werden teure Messgeräte beschä­
digt und müssen ersetzt werden. Klare
Empfehlung für diese Berufsgruppen.
D träge. Springen Scheiben beim Haus­
Dienstunfähigkeitsversicherung: siehe
Berufsunfähigkeitsversicherung
E
Elementarschadenversicherung: Diesen
Schutz sollte jeder Hausbesitzer haben,
sei es verbunden mit der ebenso wich­
tigen Wohngebäudeversicherung oder
als eigenen Vertrag. Während etwa
Schäden durch Sturm bereits über die
Gebäudeversicherung abgedeckt sind,
zahlt die Elementarschadenversiche­
rung bei Naturgewalten wie Über­
schwemmung, Schneedruck, Erdrutsch
oder Erdbeben.
F
Fahrradversicherung: Fahrräder sind oft
teuer, gerade E-Bikes. Den finanziel­
len Schmerz im Fall eines Diebstahls
kann so eine Versicherung lindern.
­Allerdings ist es auch möglich, Schutz
vor Fahrraddiebstahl bei der Hausrat­
versicherung dazuzubuchen. Achtung:
Häufig gilt der Versicherungsschutz
dann nur an bestimmten Tageszeiten,
darauf sollten Sie achten.
G
Gesetzliche Krankenversicherung (GKV):
Die Krankenversicherung ist in
Deutschland gesetzlich verpflichtend,
wenn man nicht anders abgesichert ist,
versicherung. Kinder, Ehepartner und
eingetragene Lebenspartner von Mit­
gliedern in der GKV sind unter be­
stimmten Bedingungen beitragsfrei
mitversichert.
Glasversicherung: Eine Glasversiche­
rung findet sich oft in den Versiche­
rungsordnern der Verbraucher, sie ist für
viele aber überflüssig, befindet die Ver­
braucherzentrale Nordrhein-Westfalen:
Tatsächlich gehen Glasscheiben eher
selten zu Bruch, und teilweise besteht in
besonderen Situationen Versicherungs­
schutz über andere Versicherungsver­
brand, zahlt die Wohngebäudeversiche­
rung, wird der Wintergarten durch
Schneedruck zerstört, ist das Sache der
Elementarschadenversicherung.
11

H besser verzinste Produkte.
Handyversicherung: Vergleichsweise
hohe Tarife, dazu meist Selbstbehalt,
außerdem wird lediglich der Zeitwert
erstattet. Von ihnen wird abgeraten.
Haus-und-Grundbesitzerhaftpflicht­
versicherung: Diese Versicherung ist
allen dringend zu empfehlen, die eine
Immobilie vermieten. Sie begleicht
Schäden, die durch die Immobilie bei
Dritten verursacht werden.
Hausratversicherung: Alles, was nicht
fest mit Ihrer Wohnung verbunden ist,
gehört zum Hausrat. Die Versicherung
greift für diese Gegenstände, wenn sie
durch Feuer, Wasser, Sturm oder Blitz­
schlag ­kaputtgehen – und zusätzlich bei
Einbruchdiebstahl und Vandalismus. Je
nach Vertragsgestaltung sind auch Fahr­
räder versichert, selbst wenn diese gar
nicht aus dem Haus gestohlen werden;
darauf muss man aber eigens achten.
Sie ist nicht zwingend, oft aber sinnvoll.
K Rente. Anders als Unfallversicherungen
Kapitalbildende Lebensversicherung: Im
Grunde sind die meisten dieser Ver­
träge eine Geldanlage fürs Alter – aber
verbunden mit einer Leistung im To­
desfall für die Hinterbliebenen, wes­
halb sie als Versicherungsprodukt an­
geboten werden. Tritt dieser Fall nicht
vor dem vereinbarten Versicherungs­
ablauf ein, bekommt man bei vielen
Verträgen das Kapital als einmalige
Leistung oder als Rente ausgezahlt. Der
Bund der Versicherten kritisiert diese
Verträge: Für die Todesfallabsicherung
ist die Risikolebensversicherung güns­
12
tiger, zur Geldanlage gebe es deutlich
Kfz-Haftpflichtversicherung: Sie ist in
Deutschland vorgeschrieben, ohne sie
kann man kein Fahrzeug zulassen. Die
Haftpflicht zahlt beispielsweise, wenn
Sie bei einem Unfall mit Ihrem Auto
anderen Verkehrsteilnehmern Schaden
zufügen, egal ob Sach-, Personen- oder
Vermögensschäden.
Kfz-Kaskoversicherung: Für Schäden am
eigenen Auto ist die Kasko zuständig –
keine Pflichtversicherung, aber ange­
sichts der Werte, um die es geht, vor al­
lem bei neueren Wagen zu empfehlen.
Ob man den Schadensfall ersetzt be­
kommt, hängt unter anderem davon ab,
ob man eine Voll- oder Teilkasko hat.
Die Teilkasko zahlt beispielsweise, wenn
Ihr Auto brennt, gestohlen wird oder
unter einen stürzenden Baum gerät. Die
Vollkasko zahlt zusätzlich, wenn der
Fahrer einen Schaden am eigenen Auto
verursacht oder bei Vandalismus. Die zu­
sätzliche GAP-Ver­sicherung für geleaste
oder kreditfinanzierte Fahrzeuge zahlt
bei Totalschaden oder Diebstahl die Dif­
ferenz zwischen Wiederbeschaffungs­
wert und Leasingrestwert. Die Vollkasko
wird gewöhnlich für neuere Fahrzeuge
gewählt, viele Leasinggeber machen sie,
teils mit der GAP, zur Voraussetzung.
Kinderinvaliditätsversicherung: Diese
Personenversicherung wird empfohlen,
wenn man Kinder gegen die Folgeschä­
den von Unfällen oder Krankheiten fi­
nanziell absichern will. Bezahlt werden
etwa Umbauten im Haus oder die An­
schaffung eines rollstuhlgerechten
Autos, oftmals auch eine lebenslange
für Kinder springt sie auch ein, wenn
eine Krankheit die Ursache für eine Be­
hinderung ist – was häufiger vorkommt.
Krankentagegeldversicherung: Ange­
stellte bekommen vom Arbeitgeber
eine Lohnfortzahlung im Krankheits­
fall, aber Freiberufler und Selbstständi­
ge erhalten derartige Zahlungen nicht.
Hat man diese Versicherung bei einem
privaten oder gesetzlichen Anbieter ab­
geschlossen, sichert sie den Lebens­
unterhalt, wenn die Genesung mal
­länger dauert. Sie ist für diese Gruppen
sehr zu empfehlen. Auch für abhängig
Beschäftigte gilt zu bedenken: Die
Lohnfortzahlung durch den Arbeitge­
ber endet in der Regel nach spätestens
sechs Wochen, dann bekommt man das
Krankengeld (Achtung: Verwechslungs­
gefahr!) der Krankenkasse, das oft ma­
ximal 90 Prozent des letzten Nettoge­
halts beträgt. Reicht Ihnen das nicht,
können auch Angestellte mit dem Kran­
kentagegeld aufstocken. Beamte brau­
chen diesen Schutz in der Regel nicht.
Krankenzusatzversicherung: Die Kosten
für Zahnersatz sind oft schmerzhaft, zur
Kassenleistung muss man fast immer zu­
zahlen. Und viele Menschen legen Wert
auf ein Einzelzimmer im Krankenhaus.
Ob man für solche und andere zusätzli­
che Leistungen eine eigene Versicherung
abschließt, ist Geschmackssache. Sind in
einer Klinik ü­ brigens alle Einzelzimmer
voll, nützt einem in diesem Punkt die
schönste Versicherung nichts.
O
Öltankhaftpflichtversicherung: Wer
noch einen Öltank im Haus hat, ist mit
dieser Versicherung gut beraten. Läuft
Öl aus, kann die Reparatur und die
­Entgiftung des betroffenen Erdreichs
schnell astronomisch teuer werden. In
der normalen Privathaftpflicht ist sie in
der Regel nicht oder nicht im erforder­
lichen Umfang dabei. Oft kann man
den Schutz aber als Modul dazubuchen.
P
Pflegetagegeldversicherung: Im Pflege­
fall sehr hilfreich – mit solchen Policen
erhält man einen frei verwendbaren
Tagessatz. Allerdings sind die Beiträge
meist nicht billig, und die Notwendig­
keit hängt auch davon ab, wie gut man
sonst fürs Alter vorsorgt.
Private Krankenversicherung: Alternati­
ve zur gesetzlichen Krankenkasse,
­bekannt für diverse zusätzliche Leistun­
gen, etwa Einzelzimmer im Kranken­
haus, außerdem bekommen Privatpatien­
ten bei Ärzten häufig schneller einen Ter­
min. Dennoch raten Verbraucherschützer
inzwischen in den meisten Fällen ab:
Günstige Beiträge gibt es nur für junge
Mitglieder, je älter man ist, desto teurer
SP IEGEL GELD 1 / 2023
ist die Versicherung bei Vertragsbeginn.
Dann aber kann man nur schwer und
unter bestimmten Voraussetzungen in die
gesetzliche Kasse zurück, und auch der
Wechsel zu einer anderen privaten Ver-
sicherung lohnt sich meist nicht, weil man
dann erneut zur Gesundheitsprüfung
muss und höher eingestuft wird. Lohnend
ist sie allenfalls für Beihilfeberechtigte,
also meist Beamte, deren Dienstbei­hilfe
schon einen bestimmten Anteil der Be-
handlungskosten übernimmt.
Privathaftpflichtversicherung: Sie rich-
ten einen Schaden an und sind zur Zah-
lung verpflichtet? Dafür ist die Privat-
haftpflicht da. In Zweifelsfällen prüfen
Anwälte der Versicherung, ob Sie wirk-
lich zahlen müssen, und gehen notfalls
gegen Ihren juristischen Gegner vor Ge-
richt. Ein Muss für jeden.
Private Rentenversicherung: Sie soll die
staatliche Rente aufstocken, hat aber in
der Niedrigzinsphase der vergangenen
Jahre an Beliebtheit eingebüßt, weil
den hohen Abschluss- und Verwaltungs-
kosten magere Zinserträge gegenüber­
stehen. Stattdessen empfehlen Experten
Geldanlagen wie ETF-Sparpläne, wenn
man für das Alter vorsorgen möchte. An-
ders kann der Fall liegen bei Riester- oder
Rürup-Verträgen, weil hier jedes Jahr
eine staatliche Förderung hinzukommt.
R Hausratversicherung zuständig sein.
Rechtsschutzversicherung: Diese Sach-
versicherung ist für die meisten Men-
schen Geschmackssache. Ein bisschen
Rechtsschutz bieten die Haftpflichtver-
sicherungen, die man ohnehin haben
sollte. Aber damit sind längst nicht alle
Fälle abgedeckt. Zum Beispiel haben
Vermieter von mehreren Wohnungen
häufig juristische Fragen zu klären:
Selbst wenn es nicht zum Prozess
kommt, kann die Beratung durch An-
wälte sehr nützlich sein, und deren
Stundensätze sind teuer. Ob sich die
regelmäßigen Versicherungsbeiträge
lohnen, muss jeder für sich entscheiden.
Reiserücktritts- und Reiseabbruchver­
sicherung: Corona hat gezeigt: Es kann
immer etwas dazwischenkommen,
dann ist man froh, wenn man nicht auf
den Kosten einer Reise sitzen bleibt, die
Fotos: Olaf von Lieres / PantherMedia; Getty Images; Julia Christe / Getty Images
man nicht antreten kann oder frühzeitig
abbrechen muss. Die Policen sind nicht
besonders teuer. Es empfiehlt sich aber,
vor jeder Reise deren Stornobedingun-
gen zu prüfen. Erstens, um die Ver­
sicherungssumme sinnvoll zu wählen,
und zweitens, weil sich die Versiche-
rung erübrigt, wenn man doch kurzfris-
tig schadlos absagen kann. Trotz Emp-
fehlung gilt gerade hier: Ist der Schaden
nicht groß, kann man sich die Police
sparen. Und für Corona müssen Pande-
miefälle explizit mitversichert sein.
Reisegepäckversicherung: Diese Sach-
versicherung ist oft unnötig. Regelmä-
ßig zahlen die Konzerne nicht, mit dem
Verweis auf grobe Fahrlässigkeit, wenn
das Gepäck gestohlen wird. Nur: Grob
fahrlässig handelt schon, wer auf das
Gepäck nicht so aufpasst, als wäre es
unversichert. Verschwindet das Gepäck
aus dem Auto oder Hotel, kann die
Risikolebensversicherung: Diese Perso-
nenversicherung zahlt nur, wenn Sie
sterben sollten, je nach Vertrag an Part-
ner, Partnerin, Kinder oder eine sonsti-
ge Person, die Sie festlegen. Anders als
bei der Kapitallebensversicherung wird
kein Geld angespart, dass man ausge-
zahlt bekäme, wenn der Versicherungs-
fall nicht eintritt. Allerdings sind die
Prämien deutlich günstiger.
T Wohngebäudeversicherung: Die Wohn-
Tierhalterhaftpflichtversicherung: Das
ist eine Haftpflichtversicherung für den
Fall, dass das eigene Haustier bei an­
deren Leuten Schäden verursacht. In
manchen Bundesländern ist sie für
Hunde Pflicht. Auch sonst ist sie je nach
Tier eine Überlegung wert – Sie kennen
Ihren Wildfang am besten. Einige Tiere,
zum Beispiel Katzen, sind über die Pri-
vathaftpflicht versichert.
Tierkrankenversicherung: Experten ra-
ten ab, weil die Kosten hoch sind und es
viele Ausschlusskriterien gibt. Kunden
der Verbraucherzentralen berichten
auch von Vertragskündigungen seitens
der Versicherer, wenn ein Tier im Alter
»zu teuer« wird. Zumindest sollten sich
Tierfreunde, die mit dem Abschluss die-
ser Versicherung liebäugeln, gut durch-
rechnen, welche regelmäßige Belastung
man sich da aufhalst. Oft lohnt es eher,
Geld für Tierarztkosten beiseitezulegen.
U
Unfallversicherung: Der Abschluss die-
ser Personenversicherung klingt zu-
nächst naheliegend, gerade für Kin-
der – Versicherungen verkaufen so et-
was gern an frisch gebackene Eltern.
Verbraucherschützer aber raten statt-
dessen zur Invaliditätsversicherung.
Denn die Unfallversicherung ist nur bei
Unfällen zuständig. Sitzt jemand zum
Beispiel wegen Multipler Sklerose im
Rollstuhl, zahlt sie nicht – die Invalidi-
tätsversicherung schon. Für Erwachse-
ne ist die Unfallversicherung immer
dann eine gute Option, wenn sie keine
BU bekommen, etwa für Rentner.
W
gebäudeversicherung sollte jeder ha-
ben, der mindestens eine Immobilie
sein Eigen nennt. Sie zahlt etwa bei
Feuer, Blitzschlag, Explosion, Hagel,
Sturm und Wasserschäden. Oft verbun-
den mit einem Schutz gegen Elementar-
schäden, also Naturgefahren wie Hoch-
wasser, Schneedruck oder Erdbeben.
13
Noch Fragen?
Entscheidungshilfe  So viele Versicherungen, so unterschiedliche Bedürfnisse – geht das auch übersichtlich?
Nur wenige Antworten, und Sie können sehen, um welche Verträge Sie sich unbedingt kümmern sollten.

Das gehört zu Ihrer Diese Versicherungen Diese Versicherungen

Grundausstattung oder sind dringend zu sind eine Überlegung
ist gesetzliche Pflicht. empfehlen. wert.

Wie sieht Ihre Ich lebe allein.

Privathaftpflicht
Familiensituation
aus? Haben Sie Kinderinvaliditäts-
Kinder? versicherung
Ich habe einen
Partner oder eine
Partnerin. Risikolebens-
versicherung

Ich mache eine gesetzliche

Ausbildung oder Krankenkasse
studiere.
Ich bekomme
Ich bin angestellt. Berufsunfähigkeits- keine
versicherung Versicherung.
Ich bin Beamter
oder Beamtin.
Wie stehen Sie Diensthaftpflicht-
beruflich da? Unfallversicherung
Ich bin versicherung
selbstständig
oder arbeite private
freiberuflich. Krankenversicherung
Krankentagegeld-
versicherung
Ich bin Hausfrau/
Hausmann.

Ich bin im
Ruhestand.
 Nein, ich bin Rechtschutzversicherung
Mieter. Gibt es häufig
rechtlichen
Klärungsbedarf?

Wohngebäude-
Besitzen Sie eine Ja, ich wohne in
versicherung
Immobilie? Eigentum.

Haus- und
Ja, und ich Grundbesitzer-
vermiete haftpflicht
Immobilien.
Muss man dort, Elementarschaden-
wo das Haus versicherung
steht/die Häuser
stehen, mit
extremen
Naturgefahren
rechnen?

ein Auto/Kraft- eine Kasko-

fahrzeug eine spezialisierte versicherung
Haftpflichtversicherung
einen Hund/ein je nach
Pferd Bundesland eine spezialisierte
Haftpflicht-
ein Boot versicherung
Was hiervon
besitzen Sie?
einen Öltank

Speisen Sie Strom eine Betreiberhaft-

eine Solaranlage
ins Netz ein? pflichtversicherung
Wertgegenstände/
eine
teure Einrichtungs-
Hausratversicherung
gegenstände

Machen Sie öfter je nach Land: Auslands-

ja
große Reisen? krankenversicherung
Reiserücktrittskosten-
versicherung

Infografik: Andrew Timmins; Quelle: eigene Recherche SPIEG E L G E L D 1 / 2023

 »Nicht so schlaue Menschen
halten mich für ein Dummchen«

Ex-Dschungelkönigin Burdecki
»Die wichtigste Lektion: Geld muss immer arbeiten, es darf nicht auf dem Konto verschimmeln«

16 SP IEGEL GELD 1 / 2023

 SPIEGEL GELD fragt Prominente, was ihnen ihr Bankkonto bedeutet, wie sie ihr Geld verdient
haben und was sie sich gönnen. Diesmal: Reality-TV-Star Evelyn Burdecki, die
als Kind nicht mal ein eigenes Zimmer hatte und später für ihre Eltern ein Haus baute.
SPIEGEL: Frau Burdecki, Sie haben
mal gesagt, in Ihrem Leben gebe es
intellektuelle Tage und nicht so intel-
lektuelle. Welche überwiegen?
Burdecki: Ich glaube, am Anfang mei-
ner Karriere waren es die nicht so in-
tellektuellen. Heute ist das anders,
manchmal brummt mir schon beim
Aufstehen der Kopf vor lauter Ideen.
SPIEGEL: Viele Leute halten Sie für
naiv oder doof.
Burdecki: Nicht so schlaue Menschen
halten mich für ein Dummchen. Die
intelligenten wissen, dass ich es nicht
bin. Je mehr ich unterschätzt werde,
desto eher kann ich überraschen. Das
gehört zum Zauber der Künstlerin
Evelyn Burdecki.
SPIEGEL: Es ist ein Geschäftsmodell,
mit dem in den Neunzigerjahren die
Werbe-Ikone Verona Poth erfolgreich
war, damals noch Feldbusch.
Burdecki: Mit ihr verglichen zu wer-
den ist ein Kompliment. Verona hat
alles richtig gemacht. Sie ist eine super
Geschäftsfrau.
SPIEGEL: Sie auch?
Burdecki: Doch, ja. Vielleicht weil es
schon so früh mein Ziel war. Als
13-Jährige lag ich in meinem Bettchen
und stellte mir vor, wie ich mit meiner
Laptop-Tasche durch die Welt jette.
Damals habe ich überlegt, wie ich
meinen Eltern etwas zurückgeben
könnte. Ich hatte zu der Zeit nicht mal
ein eigenes Zimmer. Mein Schrank
stand im Schlafzimmer meiner Eltern,
geschlafen habe ich im Wohnzimmer.
Ich habe das gern gemacht, meinen
Eltern zuliebe, die sich keine geräumi-
gere Wohnung leisten konnten. Umso
größer waren meine Träume.
SPIEGEL: Ihr Vater war Sicherheits-
mann, Ihre Mutter Putzfrau.
Burdecki: Mein Vater hat viel gearbei-
tet und fast immer nachts. Wenn ich zur
Schule ging, kam er nach Hause, tags-
über schlief er. Ich habe ihm Zettel ge-
schrieben: Papa, ich brauche fünf Mark
für Schulhefte. Manchmal habe ich
auch geflunkert und mit dem Geld, das
Foto: Dominik Asbach / DER SPIEGEL
er mir gab, eine gemischte Tüte mit La-
kritz gekauft oder ein Micky-Maus-
Heft. Meine Mutter hat sich eher mal
erweichen lassen, wenn meine Schwes-
tern oder ich sie angebettelt haben, weil
wir schicke Schuhe wollten. Für Puma
oder Nike hat es aber nie gereicht, wir
hatten auch keine Markenklamotten.
Mein Vater hat immer gesagt: »Hier ist
dein Sparschwein, tu was rein. Was
willst du denn machen, wenn deine El-
Mein Geld, mein Leben
Folge 12: Evelyn Burdecki
ü Burdecki, 34, kam als Tochter pol-
nischer Eltern in Düsseldorf zur Welt.
Ihren ersten TV-Auftritt hatte sie
2013 in der RTL-Dating-Show »Take
Me Out«. Bei »Promi Big Brother«,
wo sie 2017 teilnahm, brachten ihre
unbedarften Kommentare ihr den
Spitznamen »The Brain« ein: das Ge-
hirn. 2019 siegte Burdecki im RTL-
Dschungelcamp. In den vergangenen
Jahren warb sie für Kosmetik und
einen Schokoriegel.
tern nicht mehr da sind? Oder wenn du
keinen Mann findest?«
SPIEGEL: Harte Ansage.
Burdecki: Ich bin ihm dankbar. Er hat
mich davor bewahrt, auf Betrüger he-
reinzufallen. Als ich bekannter wurde,
hatte ich plötzlich viele neue Freunde,
die mich beraten wollten. Man wollte
mir Aktien verkaufen, aber darauf
habe ich mich nicht eingelassen, weil
ich mich damit nicht auskenne. Inzwi-
schen habe ich mich weitergebildet.
Eines der Bücher, von denen ich am
meisten gelernt habe, heißt: »Steigern
Sie Ihren finanziellen IQ: Wie Sie in-
telligenter mit Ihrem Geld umgehen«.
Die wichtigste Lektion: Geld muss
immer arbeiten, es darf nicht auf dem
Konto verschimmeln.
SPIEGEL: Wie haben Sie Ihres angelegt?
Burdecki: In Betongold. Mir gehören
drei Häuser, darunter der Bungalow,
den ich für meine Eltern habe bauen
lassen. Einer der schönsten Momente
meines Lebens war, als Papa zum ers-
ten Mal davorstand. Er hat mit meiner
Mutter noch ein halbes Jahr darin ge-
lebt, bevor er im vergangenen Jahr an
Corona starb.
SPIEGEL: Was war Ihr erstes selbst ver-
dientes Geld?
Burdecki: Als Teenager habe ich mei-
ne Mutter ein-, zweimal zur Arbeit
begleitet. Sie hat bei den Stadtwerken
Düsseldorf geputzt. Ich habe mit ihr
gesaugt und Müll weggebracht, dafür
hat sie mir ein paar Euro gegeben.
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie drei Aus-
bildungen abgebrochen haben?
Burdecki: Ja. Die erste bei Aldi, es gab
700 Euro, deswegen hatte ich mir das
ausgesucht. Ich musste Kartons auf-
reißen und Waren einlagern. Einmal
habe ich versucht, Stapler zu fahren,
es aber nicht hinbekommen. Bis an
die Kasse habe ich es nicht geschafft.
Ich habe aufgehört, weil ich nicht da-
mit klarkam, rumkommandiert zu
werden, wenn ich mal nicht schnell
genug war. Die zweite Ausbildung war
in einem Autohaus, ich habe Kunden
beraten, Kaffee gekocht, sauber ge-
macht. Auch dort habe ich mich nicht
gespürt. Die dritte war in einem Mäd-
chenklamottenladen. Das hat mir
noch am ehesten Spaß gemacht. Aber
als mir klar war, dass ich mir diese
Kleider nicht leisten kann, habe ich
mir gesagt: Evelyn, geh raus in die
Welt!
SPIEGEL: Mit einem TV-Auftritt ver-
dienen Sie heute ein Mehrfaches von
dem, was Ihnen ein Monat bei Aldi
einbrachte. Haben Sie ein schlechtes
Gewissen?
Burdecki: Das hätte ich nur, wenn ich
das Geld verprassen würde. Ich lebe
bescheiden, esse am liebsten bei mei-
ner Mutter, Schnitzel und Kartoffel-
salat. Und bis heute kaufe ich beim
Discounter.
Interview: Alexander Kühn
17
Die Stars der
Zinswende
Geldanlage  Lange galten
Anleihen von Staaten und
Unternehmen als Ladenhüter.
Doch steigende Renditen und
ökonomisch unsichere Zeiten
machen die festverzinslichen
Wertpapiere wieder attraktiv.
Warum sich ein Investment
jetzt lohnt.
n »Es ist der Wahnsinn!« Wenn Chris-
tian Kopf, Fondsmanager des genossen-
schaftlichen Vermögensverwalters
Union Investment, derzeit über Anlei-
hen spricht, kann er sich kaum zügeln.
»Jetzt ist für Anleger genau die richtige
Zeit, um Bonds zu kaufen.«
Was Fondsmanager wie Kopf in Er-
regung versetzt, war bei Investoren bis
vor Kurzem so beliebt wie Schuppen-
flechte: festverzinsliche Wertpapiere
von Staaten oder Unternehmen. »Seit
2020 haben Anleihen kaum etwas ab-
geworfen – und letztes Jahr richtig viel
Geld vernichtet«, sagt Kopf. Dagegen
führte an Aktien lange Zeit kein Weg
vorbei. Selbst gravierende Ereignisse
wie die Pandemie lösten nur kurzzeitig
Schockwellen aus. Schon ein paar Wo-
chen später notierten die Indizes wie-
der deutlich höher.
Die Dauerparty an den Börsen und
die Flaute an den Anleihemärkten hat-
ten im Kern einen gemeinsamen Grund:
die historisch niedrigen Zinsen. Geld
gab es nahezu umsonst, es strömte fast
Comeback der Anleihen
Renditen von zehnjährigen Staatsanleihen, in Prozent
3 Deutschland
1
1.1.2021 1.7.2021
0
–1
Quelle: Refinitiv; Stand: 22. Februar
18
ausschließlich in den Aktien- und Im-
mobilienmarkt. Die Alterung der west-
lichen Gesellschaft, die Digitalisierung
der Wirtschaft und der mit beiden Phä-
nomenen einhergehende Rückgang der
Nachfrage nach Kapital hielten die
Zinssätze unten. Zudem drückten die
Notenbanken ihre Leitzinsen auf histo-
rische Tiefststände.
Doch niedrige Kapitalmarkt- und
Leitzinsen bedeuteten auch, dass Bonds
kaum mehr etwas für Anleger abwar-
fen, ähnlich wie Festgeld. Wer dennoch
kaufte, war an Werterhalt interessiert
und nahm dafür niedrige oder sogar ne-
gative Zinsen in Kauf. Andersherum
herrschten paradiesische Zustände für
Staaten oder Firmen, die sich Kapital
besorgen wollten: Am Anleihemarkt
kamen sie billigst an frisches Geld.
Doch seit die Inflation zeitweilig in
zweistellige Höhen geschossen ist und
die westlichen Notenbanken mit dras-
tischen Zinserhöhungen reagiert haben,
ist die Welt eine andere: Das viel stra-
pazierte Wort von der »Zeitenwende«
gilt auch für den Kapitalmarkt.
Von konjunkturell und inflationär
heiklen Zeiten profitieren Anleihen.
Pimco, US-Tochter der Allianz und
einer der weltgrößten Anleiheinvesto-
ren, überschrieb eine ihrer jüngsten
Studien mit der Zeile »Angespannte
Märkte, aussichtsreiche Anleihen«
(»Strained Markets, Strong Bonds«).
Der amerikanische Vermögensverwal-
ter Candriam wies schon Anfang des
Jahres darauf hin, dass in den USA An-
leihen sogar eine bessere Rendite als
Aktien lieferten.
Zinswende
USA
1.1.2022
1.7.2022
Anleihen funktionieren im Prinzip
wie ein Kredit. Ein Staat oder Unter-
nehmen leiht sich Geld bei Investoren –
einen konkreten Betrag, den »Nominal-
wert«, für eine bestimmte Laufzeit zu
einem festen Zinssatz, dem »Kupon«.
Wer das Papier nicht zwischenzeitlich
verkauft, bekommt am Ende der Lauf-
zeit den Einsatz zurück und hat bis da-
hin die Zinsen vereinnahmt.
So lange muss freilich niemand war-
ten. Anleihen werden wie Aktien ge-
handelt, und Anleger können Kurs­
gewinne einstreichen, sofern sie ihre
Papiere über den Einstandskursen ver-
kaufen. Anders als bei Aktien erhalten
sie allerdings zum Ende der Laufzeit
immer den Nennwert zurück. Mit dem
Kurs schwankt daher auch die Rendite,
und zwar gegenläufig. Wer eine zehn-
jährige Anleihe mit einem Kupon von
drei Prozent zum Nennwert kauft, der
erzielt am Ende der Laufzeit auch eine
Rendite von drei Prozent. Wer dieselbe
Anleihe zu einem Kurs von 130 Prozent
des Nennwerts kauft, erhält nur noch
eine Nullrendite. Denn bis zur Endfäl-
ligkeit wird der Kurs wieder auf den
Nennwert fallen, und die Kuponzahlun-
gen gleichen diesen Kursverlust gerade
so aus. Mit dem Rückgang der Markt-
renditen steigen also die Kurse der be-
stehenden, höher verzinsten Anleihen.
Und durch die Zinserhöhungen der
EZB sind die Kurse erst einmal gefallen.
Derzeit emittieren Regierungen und
Unternehmen fast wie im Rausch An-
leihen. Die einen müssen ihre gewalti-
gen Pandemie- und kriegsbedingten
Staatsausgaben finanzieren, die ande-
ren pumpen sich mit Liquidität voll, um
sich für wirtschaftlich härtere Zeiten zu
wappnen. »Wir sehen momentan das
höchste Emissionsvolumen seit Jahr-
zehnten«, sagt Kopf.
Gut für Anleger ist, dass die Emitten-
ten jetzt deutlich höhere Zinsen bieten
müssen als noch vor einem Jahr. »Euro-
päische Staatsanleihen bringen aktuell
3,9
2,5
22.2.2023
SP IEGEL GELD 1 / 2023

um drei Prozent, Anleihen von Firmen
mit guter Bonität und fünf Jahren Lauf-
zeit um vier Prozent«, sagt Andreas Fitz-
ner, Portfoliomanager bei Eyb & Wall-
witz Vermögensmanagement aus Mün-
chen. Mit Blick auf sein Portfolio ergänzt
er: »Wir reizen unsere Anleihenquote
aktuell wieder stark aus.«
Auch private Anleger können sich
also anständig verzinste Anleihen gön-
nen. Gekniffen sind dagegen Investo-
ren, die ihre Papiere schon länger hal-
ten. Wegen der abrupten Zinswende
kommen jetzt neue Anleihen mit deut-
lich attraktiveren Kupons auf den
Markt, und die Kurse der niedrig ver-
zinsten Papiere aus den Vorjahren kni-
cken ein. »Wer jetzt seine alten Anlei-
hen verkauft, erhält dafür am Markt im
Schnitt 15 Prozent weniger als noch
Anfang 2022, weil die neuen Anleihen
viel höher verzinst sind«, sagt Kopf.
Illustration: Lennart Gäbel / DER SPIEGEL; Infografik: Andrew Timmins
zwar aktuell schwache Ratings, weil sie
aufgrund hoher Investitionen eine er-
höhte Verschuldung haben, waren aber
auch im schwierigen Umfeld 2022 pro-
fitabel und haben werthaltige Vermö-
genswerte in ihrer Bilanz.« Er bevor-
zugt in Euro denominierte Anleihen, die
höhere Verzinsung für US-Dollar-An-
leihen kompensiert das Währungsrisiko
durch die hohen Schwankungen des
Euro-Dollar-Kurses aktuell nicht. Kopf
hingegen würde bei High-Yield-Anlei-
hen wegen des Ausfallrisikos nie auf
Einzelpapiere setzen, sondern auf einen
breit gestreuten Investmentfonds.
Doch was ist, wenn die Inflation
ihren Höhepunkt bereits überschritten
hat und die Zinsen wieder sinken, wo-
nach es seit geraumer Zeit aussieht?
Dann dürften Aktien wieder attraktiver
werden, aber auch die Anleihekurse
steigen, wenn klar ist, dass im Laufe des
Jahres die Notenbanken ihre Zinsen
nicht mehr weiter erhöhen. Mit der Zeit
würden dann neue Anleihen wieder ge-
ringer verzinst werden.
Anders wäre es, wenn die Inflation
deshalb sinkt, weil die Wirtschaft in die
Rezession stürzt, etwa weil sich der
­Ukrainekrieg verschärft oder Chinas
Wirtschaft kollabiert. Das würde die
Nachfrage nach Aktien schwächen, weil
diese sensibler auf konjunkturelle
Schwankungen reagieren. Dann wären
Staatsanleihen mit Topbonität als siche-
rer Hafen im Vorteil – etwa aus der Bun-
desrepublik oder den USA. Vorsicht
wäre indes bei Ramschanleihen gebo-
Die goldenen Zeiten am Anleihemarkt ten, denn wenn sich das konjunkturelle
könnten allerdings schnell vorbeigehen, Umfeld verdüstert, bekommen schwä-
falls die EZB ihre Leitzinsen wieder chelnde Firmen noch größere Probleme.
senkt. Daher: Wer Anleihen als Beimi- Entscheidend ist also, welche Erwar-
schung im Depot haben will, sollte jetzt tungen die Anleger für die kommenden
zugreifen. Monate an die makroökonomische Ent-
20 bis 50 Prozent Anleihen im De- wicklung und die Inflation haben und
pot, je nach Risikoneigung des Anle- was die Notenbanken tun werden: Blei-
gers, seien durchaus sinnvoll, meint ben sie auf dem harten Zinserhöhungs-
Kopf. Fitzner von Eyb & Wallwitz kurs, auch wenn eine Rezession kommt?
schlägt vor allem bei ausgewählten Oder werden sie dann wieder weicher,
Unternehmensanleihen mit mäßiger bis um die Volkswirtschaften zu stützen?
schwacher Bonität zu. Diese sogenann- Welches Szenario eintritt, ist derzeit
ten High-Yield-Bonds sind noch höher unter Ökonomen umstritten. Die Ren-
verzinst, da sie nicht nur unter dem diten an den Anleihemärkten sind
Zinsanstieg, sondern vor allem auch jedenfalls so hoch wie lange nicht mehr.
unter dem unsicheren wirtschaftlichen Daher gilt, was Fondsmanager Kopf
Ausblick gelitten haben. sagt: Wer in Anleihen investieren will,
Fitzner hält die Risiken gleichwohl für wofür momentan viel spricht, sollte es
überschaubar. »Wir investieren in Anlei- jetzt tun.
hen von Konzernen wie ZF, Schaeffler
oder Lufthansa. Diese Firmen haben Tim Bartz
19
Maschinen für
Menschen
Zukunftsindustrie  Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt,
die der Pflegekräfte ist begrenzt. Robotik und künstliche
­Intelligenz sollen das Dilemma lösen – und Anleger können
­davon profitieren.
n Sophia ist etwa 1,67 Meter groß und
seit Oktober 2017 die wohl ungewöhn-
lichste Staatsbürgerin Saudi-Arabiens.
Denn Sophia ist ein humanoider Robo-
ter. Mit erstaunlichen Fähigkeiten: Sie
kann Reden halten, Interviews geben,
50 Emotionen ausdrücken und gezielt
auf ihr Gegenüber reagieren. Entwi-
ckelt wurde sie von Hanson Robotics,
einem Robotik-Hersteller aus Hong-
kong, der kognitive Software entwi-
ckelt, die Roboter menschenähnlicher
machen soll.
Neben Sophia hat das Unternehmen
noch diverse andere humanoide Robo-
ter im Angebot. Darunter auch Grace,
die gezielt für den Einsatz im Kranken-
haus konzipiert wurde und dort zwei
Aufgaben wahrnehmen soll: das klini-
sche Pflegepersonal entlasten und Pa-
tienten sozial begleiten. Dafür wurde
die künstliche Krankenschwester mit
entsprechenden Fähigkeiten ausgestat-
tet. Der Android besitzt Sensoren, mit
denen er Vitaldaten wie den Puls oder
die Temperatur von Patienten erfassen
kann. Er spricht drei Sprachen: Eng-
lisch, Mandarin und Kantonesisch.
Damit hat Grace gute Chancen, ein
Erfolgsmodell zu werden, denn die
Nachfrage nach digitalen Helfern im
Gesundheitsbereich ist weltweit groß.
Grund ist vor allem der demografische
Wandel: Die Menschen werden immer
älter, während parallel immer mehr
Fachkräfte fehlen.
Auch in Deutschland sind die Zahlen
alarmierend. Laut dem Pflegereport der
Bertelsmann Stiftung könnten bereits
im Jahr 2030 rund 500 000 Vollzeit-
pflegekräfte fehlen, während die Zahl
der Pflegebedürftigen parallel um etwa
50 Prozent steigen wird. Da bleibt nicht
nur die menschliche Nähe auf der Stre-
20
cke. »Hier gibt es – auch mit Blick auf
die Zukunft – großen Handlungsbe-
darf«, sagt Andreas Keibel, Business
Development Manager Medical Robo-
tics beim Roboterhersteller Kuka. Un-
abhängig davon hat auch die Corona-
pandemie deutlich gezeigt, wie schnell
Markt mit Zukunft … menschliches Personal an seine Gren-
Fachkräftenachfrage in der Pflege zen stoßen kann.
bis 2035 Hier lässt sich mit Robotik-Lösun-
493 603 gen gegensteuern, wobei die oberste
gesamt 500 000
stationär Prämisse lautet: Sie sollen unterstützen,
ambulant nicht ersetzen – und im Optimalfall Zeit
schenken. Schon heute ist vieles mög-
400 000
lich: So kommen Roboter bereits ge-
307 012 zielt im OP-Bereich zum Einsatz, kön-
300 000 nen einfache, repetitive Aufgaben wie
putzen, desinfizieren und den Trans-
port von Gegenständen erledigen,
186 590
200 000 Hebearbeiten übernehmen oder Senio-
ren betreuen und unterhalten. Beispie-
le hierfür sind der 1,20 Meter große
100 000 Pepper von SoftBank Mobile Corp., der
reden, singen, Quizfragen stellen und
einfache Bewegungsübungen vorma-
0
chen kann, sowie die Babyrobbe Paro,
2015 2020 2025 2030 2035 die fiept, schläft und mit dem Schwanz
wedelt und in erster Linie demenziell
… aber ohne Arbeitskräfte veränderte Menschen beruhigen soll.
Entwicklung der Pflegebedürftigen
bis 2021 Künstliche Intelligenz
Pflegebedürftige 4 960 000 5 000 000 als Gamechanger
Das wirtschaftliche Potenzial von Ro-
botik ist immens, durch die Automati-
4 000 000 sierung und Vereinfachung von Arbeits-
abläufen locken Effizienzgewinne in
Milliardenhöhe. Schon jetzt ist die Ro-
3 000 000
botik eine Schlüsseltechnologie, die
maßgeblichen Einfluss auf die Wettbe-
werbsfähigkeit eines Landes hat, und
die Zahl der möglichen Einsatzgebiete
2 000 000
für die digitalen Helfer wächst stetig.
Für Rückenwind sorgt die zuneh-
mende Einbindung von künstlicher In-
1 000 000 telligenz (KI), Chatbots und smarten
Geräten (Wearables) wie VR-Brillen,
die mit Blick auf physische, motorische
0 und verbale Fähigkeiten von Robotern
viele neue und komplexere Möglichkei-
1999 2004 2008 2012 2016 2021
ten eröffnet. So könnten Roboter in Zu-
Quelle: Destatis kunft etwa Routinearbeiten wie Puls-
SP IEGEL GELD 1 / 2023
 Roboter Pepper mit Senioren
Reden, singen, Quizfragen stellen und einfache Bewegungsübungen vormachen
und Fiebermessen übernehmen, im
Notfall Hilfe holen oder als Wachper-
sonal eingesetzt werden.
»Der Stellenwert von Robotern wird
in Zukunft enorm sein, wobei Service-
Robotik die Industrie-Robotik eines
Tages überholen wird«, sagt Michael
Früh, CEO von F & P Robotics, einem
Hightechunternehmen mit Sitz in Zü-
rich, das sich in den Bereichen men-
schenfokussierte Robotik und künstli-
che Intelligenz engagiert. »Sie werden
nicht nur ein Nice-to-have sein, sondern
ein Must-have.«
Das macht auch die Aktien von bör-
sennotierten Unternehmen interessant,
die gezielt in den Bereich investieren
und die Forschung vorantreiben. Ihre
Zahl ist allerdings überschaubar, da sich
die meisten Robotik-Ideenschmieden
anders finanzieren oder ihre Zeit noch
nicht gekommen ist, weil die Branche
Foto: Murat Tueremis / laif; Infografik: Andrew Timmins
für digitale Pflegehelfer noch in den An-
fängen steckt.
Wer als Anleger investieren will,
muss meist noch den Umweg über brei-
ter aufgestellte Firmen gehen. Diese
Möglichkeiten bieten unter anderem
Asea Brown Boveri (ABB), der Elek­
tronik- und Maschinenhersteller Fanuc,
Hyundai – das den Roboterhersteller
Boston Dynamics gekauft hat –, Nvidia,
Toyota, Panasonic und der Exoskelett-
Hersteller ReWalk Robotics. Auch bei
Tesla spielt die Robotik eine große Rol-
le. Im Herbst vergangenen Jahres stell-
te Elon Musk der Öffentlichkeit den
ersten Prototyp seines Humanoiden
Optimus vor. Diesen will der Tesla-
Chef in Zukunft millionenfach produ-
zieren und ihn als Alltagshelfer in Haus-
halten etablieren. Vom Potenzial des
digitalen Helfers ist Musk, wie könnte
es anders sein, maximal überzeugt und
hält es für möglich, dass der Roboter in
Zukunft sogar ein Vorzeigeprodukt von
Tesla werden könnte.
»Das Zusammenkommen von Me-
chatronik und KI ermöglicht eine un-
glaubliche Entwicklung«, sagt Alin Al-
bu-Schäffer, Leiter des Zentrums für
Robotik beim Deutschen Zentrum für
Luft- und Raumfahrt (DLR) in Ober-
pfaffenhofen. Dort wird an einer Reihe
von robotischen Assistenzsystemen
(Smile Projektserie) geforscht, die mo-
bil stark eingeschränkten Menschen zu
mehr Selbstständigkeit im Alltag ver-
helfen sollen. Unter anderen soll dies
durch mobile Roboterarme erfolgen,
die am Rollstuhl befestigt werden und
entsprechende Daten über Sensoren
auslesen.
»Die motorisch intelligenten Prothe-
sen werden über intuitive Schnittstellen
wie Hände, Arme, Gehirn und Muskeln
21
gesteuert«, erklärt Albu-Schäffer. Die
Körpersignale werden dabei in präzise
Handgriffe übersetzt und ermöglichen
so Tätigkeiten wie Dinge aufheben, sich
am Rücken kratzen, Türen und Fla-
schen öffnen oder Getränke einschen-
ken. Im Rahmen der Projektserie kom-
men auch Kameras zum Einsatz, die
eine Fernsteuerung ermöglichen, um im
Notfall auch von auswärts eingreifen zu
können. Diese sogenannte Force-Feed-
back-Technik wurde ursprünglich für
die Raumfahrt entwickelt. Sie wird dort
auch eingesetzt und ist entsprechend
gut erprobt.
Neben der Feinmechanik gibt es
zwei weitere Bereiche, in denen sich
Roboter dank der zunehmenden Ver-
knüpfung mit KI verbessern können.
Erstens bei der Orientierung im Raum,
die durch das Auslesen entsprechender
Sensorendaten zunehmend leichter
wird. Zweitens in sprachlicher Hinsicht.
Denn je mehr Daten einer Robotik-
Plattform eingegeben werden, umso
größer wird ihr eingespeichertes, abruf-
bares Wissen. Ihr Wortschatz steigt,
ebenso wie ihre Eloquenz und Schlag-
fertigkeit. Dadurch wird sie immer bes-
ser in der Lage sein, längere und eigen-
ständige Konversationen zu führen,
Fragen zu beantworten und auf die Be-
dürfnisse ihres Gegenübers einzugehen,
Gefühle auszulesen und vorausschau-
end zu handeln. Mit Blick auf die Pfle-
gebranche eröffnet sich hier unter an-
derem die Möglichkeit, entsprechende
Roboter stärker als Gesprächspartner
oder Animateur in der sozialen Betreu-
ung und Begleitung von Bewohnern
einzusetzen.
Humanoide in der Entwicklung
Wohin der Trend in der Medizin-Robo-
tik geht, zeigt sich vor allem auf den
entsprechenden Fachmessen. Zu den
wichtigsten zählen die CES in Las Ve-
gas sowie die Medtec in Tokio, Asiens
größte Messe für medizinische Geräte
und Pflegeroboter. Hier standen zuletzt
unter anderem humanoide Roboter im
Fokus, von denen es mittlerweile eine
ganze Reihe gibt, die mit unterschied-
lichen Fähigkeiten punkten.
Während Atlas von Boston Dynamics
mit seiner Motorik und Beweglichkeit
beeindruckt, sorgte der von japanischen
Wissenschaftlern entwickelte Android
Erica im Dezember 2022 für Schlagzei-
len, weil dieser glaubhaft lachen kann
22
Künstliche Pflege
Umfrage: »Welche Aufgaben könnten
Roboter im Pflegebereich künftig
übernehmen?«
Roboter, die Senioren regelmäßig an die
Medikamenteneinnahmen erinnern
79 %
Roboter, die meinen Gesundheitszustand
permanent im Blick haben und bei Bedarf
professionelle Hilfe holen
57 %
Roboter, die helfen, die Pflegebedürftigen
aus dem Bett zu heben
33 %
Roboter, die Senioren körperliche Übungen
zeigen und sie zum Mitmachen animieren
29 %
Roboter, die für Beschäftigung bei den
Senioren sorgen, beispielsweise
erzählen sie Geschichten, machen
Spiele oder singen mit ihnen
21 %
Roboter, die Senioren das Essen
bringen und sie füttern
13 %
Roboter, die sich mit den
Senioren unterhalten
13 %
Quelle: Umfrage unter rund 1000 Bundesbürgern
ab 55 Jahren im Jahr 2019 für die SDK Süddeutsche
Krankenversicherung a.G.
und eine erstaunlich menschliche Mimik
und Gestik zeigt – genauso wie Ameca,
die auch verbal überzeugt, weil sie auf
das GPT-3-Sprachmodell zurückgreift.
Sie war im Mai 2022 im Zukunftsmu-
seum in Nürnberg zu sehen, wo sich Ro-
boter, deren Fähigkeiten und möglichen
Einsatzgebiete aktiv erleben lassen.
Prototypen mit
Optimierungsbedarf
Doch auch wenn sich Unternehmen wie
Boston Dynamics, Tesla, Xiaomi, Engi-
neered Arts, Rainbow Robotics, Halodi
Robotics und Neura Robotics bereits ein
Wettrennen liefern, wer den ersten hu-
manoiden Roboter zur Markt- und Se-
rienreife bringen wird, und Forscher der
Universität Tokio bereits an Humanoi-
den mit künstlich hergestellter mensch-
licher Haut tüfteln, ist ihr großflächiger
Einsatz im Pflege- oder Betreuungsbe-
reich zeitnah nicht zu erwarten. Zum
einen wegen der hohen Stückkosten.
Zum anderen, weil erst möglichst viele
Technikschwachstellen eliminiert wer-
den müssen, die das System blockieren
könnten, bevor ein langfristiger Einsatz
bei Patienten erfolgen kann.
»Viele Humanoide sind von der
Hardware her sehr gut ausgestattet,
aber noch eingeschränkt in ihrer Um-
gebung, Bewegung und Sprache«, sagt
DLR-Forscher Albu-Schäffer. Das sieht
auch F & P Robotics-Chef Früh so: »Auf
den ersten Blick sieht vieles ganz beein-
druckend aus, aber die Praxistauglich-
keit muss häufig noch bewiesen wer-
den.« Das gilt auch für viele andere
Roboter im Pflege- und Betreuungsbe-
reich. Denn bisher sind die meisten
noch unausgereifte Prototypen, mit di-
versen technischen Schwachstellen.
Diese müssen erst über einzelne Pilot-
projekte in der Pflegepraxis intensiv
getestet werden, bevor es in den Markt
gehen kann.
Auch der finanzielle Aspekt spielt
dabei eine Rolle, denn komplexe Robo-
terplattformen und andere technische
Novitäten sind meist noch sehr teuer.
Um tatsächlich im deutschen Pflegeall-
tag anzukommen, muss deshalb noch
eine andere wichtige Hürde genommen
werden: »Die Robotersysteme müssen
sich aus wirtschaftlichen Aspekten für
die Krankenkasse lohnen«, sagt Albu-
Schäffer.
Und doch ist klar, dass Roboterplatt-
formen und KI-basierte Assistenzsyste-
me bei der Gesundheitsversorgung von
morgen eine immer größere Rolle spie-
len werden. Neben der Mensch-Maschi-
ne-Interaktion dürften in diesem Zu-
sammenhang auch die Telemedizin und
Frühdiagnostik Aufwind bekommen.
Die Forschung im Bereich Health-Care-
Robotik läuft rund um den Globus auf
Hochtouren und wird mit vielen För-
dermitteln aus Politik und Wirtschaft
unterstützt.
Neben Technikunternehmen, Uni-
versitäten und anderen Forschungs­
instituten zählen auch Start-ups zu den
zentralen Impulsgebern, die neue Ent-
wicklungen anstoßen. Doch auch wenn
vieles in naher oder fernerer Zukunft
möglich wird, sollten dem Einsatz von
Robotern auch bewusst Grenzen ge-
setzt werden, meint F & P Robotics-Chef
Früh: »Die wirklich körpernahen Pfle-
getätigkeiten sollten auch weiterhin von
Fachkräften gemacht werden, genauso
wie alles, was Beziehungsarbeit und
Empathie erfordert.«
Imke Reiher
SP IEGEL GELD 1 / 2023
Lohnt sich jetzt ein
Bausparvertrag?
Immobilienfinanzierung  Mit den kräftig steigenden Zinsen
feiert das Bausparen ein Comeback. Worin der Reiz
des Traditionsprodukts liegt – und was die Nachteile sind.
n Der Traum von den eigenen vier
Wänden rückt für viele Menschen in
Deutschland in weite Ferne. Die Preise
am Wohnimmobilienmarkt sind in den
vergangenen Jahren rasant gestiegen.
Nun ist auch noch die Zeit der günsti-
gen Finanzierungen vorbei. Banken
und Sparkassen verlangen mittlerweile
deutlich höhere Zinsen für Immobilien-
kredite. Damit rückt ein schon tot ge-
glaubtes Finanzprodukt zurück ins In-
teresse: der Bausparvertrag.
Der lockt von jeher mit einem be-
sonderen Versprechen: Verbraucher
wissen bereits bei Vertragsabschluss, zu
welchem Zinssatz sie später einen Bau-
kredit bekommen können. Das gibt
­erstens Planungssicherheit und nährt
zweitens die Hoffnung, dass der heute
gesicherte Zins niedriger ist als der re-
guläre Marktzins in der Zukunft.
Zuletzt ging dieses Kalkül auf: »Teil-
weise haben sich die Konditionen für
Immobilienkredite verdreifacht und lie-
gen nun bei fast vier Prozent pro Jahr«,
sagt Michael Herte, Referatsleiter
Markt, Recht und Finanzdienstleistun-
gen bei der Verbraucherzentrale Schles-
wig-Holstein. »Einige Bausparverträge
der aktuellen Generation bieten je nach
Tarif noch Darlehenszinsen von unter
zwei Prozent pro Jahr an.«
Doch wie viel Sicherheit kann das
Bausparen wirklich bieten? Was kostet
der Vertrag? Und für wen lohnt sich ak-
tuell ein Abschluss?
Ein Bausparvertrag muss nicht zwin-
gend dafür genutzt werden, ein Eigen-
heim zu finanzieren. »Er kann sich als
Basis für eine spätere Immobilienfinan-
zierung oder Anschlussfinanzierung
eignen«, sagt Jacqueline Juknat, Leite-
rin Kommunikation bei der Bundesan-
stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
(Bafin). »Er kann grundsätzlich aber
auch als reiner Sparplan genutzt wer-
den.« Die Guthabenzinsen seien bei
einem neu abgeschlossenen Bauspar-
Infografik: Andrew Timmins
vertrag im Vergleich zu anderen Anlage-
produkten jedoch gering.
Der Vertrag setzt sich aus drei Pha-
sen zusammen: der Ansparphase, der
Zuteilung sowie der Darlehens- und
Tilgungsphase. In der Ansparphase
zahlen Bausparer monatlich einen Be-
trag ein und bauen ein Guthaben auf.
»Um ein Darlehen zugeteilt zu bekom-
men, muss ein Mindestguthaben von in
der Regel 40 bis 50 Prozent der Bau-
sparsumme angespart worden sein«,
erklärt Verbraucherschützer Herte.
Wann die Sparer das Darlehen in
Anspruch nehmen dürfen, können Bau-
sparkassen vorab nicht genau festlegen.
Denn im Finanzierungssystem müssen
erst genügend Bausparer Geld einge-
zahlt haben, bevor ein Teil von ihnen
eine Zuteilung erhalten kann. »Wer also
beispielsweise mit einem Bausparver-
trag eine Anschlussfinanzierung sichern
will, geht das Risiko ein, dass das Dar-
Gesunkenes Interesse
Anzahl der Bausparverträge bei
den Bausparkassen in Deutschland,
in Millionen
35
30
22,6*
25
20
15
10
5 steuerpflichtige Arbeitnehmer mit
0 kommen von höchstens 17 900 Euro
1975 1985 1995 2005 2015 2022
* 2022: vorläufig
Quelle: Bundesbank
lehen zu dem relevanten Zeitpunkt von
der Bausparkasse gar nicht angeboten
wird«, sagt Herte.
Eine weitere Herausforderung: Die
Rückzahlungsraten haben es in sich.
»Zins- und Tilgungsbeiträge liegen oft
bei circa sechs bis acht Promille der
Bausparsumme, monatlich«, sagt Her-
te. Das entspricht einer jährlichen Be-
lastung, von 7,2 bis 9,6 Prozent.
Voraussetzungen und Ziele sollten
daher zueinanderpassen. »Wenn man
irgendwann selbst oder für die Kinder
einen Teil der Kosten für eine Immobi-
lie sichern möchte oder für eine Reno-
vierung in noch nicht absehbarer Zeit
über Kapital oder ein Darlehen verfü-
gen möchte, ist ein Bausparvertrag eine
gute Sache«, sagt Herte. Das gilt gerade
beim Thema energetische Sanierung.
»Für immer mehr Kunden ist der Bau-
sparvertrag zum Energiesparvertrag
­geworden«, erklärt Christian König,
Hauptgeschäftsführer des Verbands der
Privaten Bausparkassen.
Weiteres Plus: Bausparen wird teils
vom Staat gefördert. Infrage kommen
die Arbeitnehmer-Sparzulage, die
Wohnungsbauprämie oder die Eigen-
heim-Rente, auch Wohn-Riester ge-
nannt – eine Spielart der Riester-Rente.
Die Wohnungsbauprämie hilft Im-
mobilieninteressenten mit mittleren
Einkommen. »Für den Anspruch darf
das zu versteuernde Einkommen von
Alleinstehenden höchstens 35 000 Euro
betragen, das von Ehepaaren höchstens
70 000 Euro«, erklärt Expertin Juknat.
Alleinstehende können dann bis zu
70 Euro pro Jahr vom Staat erhalten,
auf eine jährliche Sparleistung von ma-
ximal 700 Euro, bei Ehepaaren sind es
140 Euro auf bis zu 1400 Euro. Für den
Anspruch müssen jährlich mindestens
50 Euro in den Vertrag fließen.
Die Arbeitnehmer-Sparzulage kön-
nen Angestellte bei der Steuer geltend
machen, wenn sie vermögenswirksame
Leistungen von ihrem Arbeitgeber auf
das Bausparkonto überweisen lassen.
Die Zulage liegt pro Arbeitnehmer bei
neun Prozent des jährlichen Sparbei-
trags von höchstens 470 Euro. Sie gilt
nur für unbeschränkt einkommen-
einem zu versteuernden Jahresein­
(Verheiratete: 35 800 Euro).
Lilian Fiala
23
»Eltern sollten
offen mit ihren
Kindern sprechen«
Inflation  Forscherin
­Alexandra Langmeyer vom
Deutschen Jugendinstitut über
Finanzerziehung, Verständnis
für Ausgaben und Krisen­
gespräche in der Familie
SPIEGEL: Frau Langmeyer, über Geld
spricht man nicht. In Umfragen geben
zwei Drittel der Deutschen an, dass
­ihnen das Thema unangenehm ist. Gilt
das auch in Familien?
Langmeyer: Leider ja. Es gibt Studien,
die das belegen, und das ist schlecht.
Man muss sicher nicht jedem auf die
Nase binden, was man verdient. Aber
gerade in Familien sollten wir offener
miteinander sprechen. Wir empfehlen
immer, Transparenz herzustellen –
auch wenn es etwa ums Thema Ta-
schengeld geht. Ohne den Kindern
Angst zu machen, sollte man ihnen klar,
offen und altersgerecht sagen, wie es
gerade aussieht. Man kann ruhig sagen:
»Uns geht es finanziell nicht so gut wie
Familie XY, deshalb fällt bei uns das
­Taschengeld kleiner aus.«
SPIEGEL: Ist der Vergleich mit anderen
denn sinnvoll? Schafft man damit nicht
Vorurteile und eventuell Minderwertig-
keitsgefühle?
Langmeyer: Von sich aus müssen Eltern
das nicht ansprechen. Aber Kinder
kommen ja sowieso mit dem Thema
und sagen Sachen wie: »Mama, der be-
kommt mehr Taschengeld.« Das muss
man zunächst prüfen. Und dann ist es
eine Gelegenheit, den Kindern auch
mal die Kosten zu erklären, die so an-
fallen. Das wissen sie nicht automatisch
und lernen es auch nicht in der Schule,
zumindest nicht in der Grundschule.
Man zahlt für die Wohnung, das Auto,
Heizung, Strom. Das sind ja im Mo-
ment große Themen, über die sich Fa-
milien Sorgen machen, ob und wie sie
das alles hinbekommen. Da sollte man
24
die Kinder ruhig mitnehmen und ihnen
erläutern, wofür man eigentlich Geld
ausgibt.
SPIEGEL: Aber kann es nicht auch be-
lastend und überfordernd sein, das
Haushaltsbuch am Abendbrottisch
durchzugehen?
Langmeyer: Man muss nicht zu konkret
werden. Gerade im Grundschulalter ha-
ben Kinder noch kein Verständnis von
den Summen, aber man kann schon sa-
gen, was da alles zusammenkommt,
dass das eine ganze Menge ist und dass
man deshalb arbeiten geht. Und man
kann ihnen erklären, dass vieles teurer
geworden ist und dass am Monatsende
jetzt gerade vielleicht weniger übrig
bleibt als früher oder sogar gar nichts
mehr.
SPIEGEL: Sie sprechen die Inflation an,
ein komplexes Thema. Wie können
­Eltern ihren Kindern erklären, wie es
dazu kommt?
Langmeyer: Das ist natürlich nicht ganz
einfach, weil es ja nicht mal jeder Er-
wachsene richtig versteht. Ich muss
meinem Kind sicher nicht mit Finanz-
zeitschriften kommen und Fachartikel
vorlesen. Wenn das Kind aber nach-
fragt und die Zusammenhänge verste-
63
hen will, dann könnte man sagen:
»Das ist auch für mich schwierig, ich
Prozent der Verbraucher geben laut
einer Umfrage des Verbands vzbv
wegen der Inflation weniger Geld aus.
weiß das auch nicht ganz genau.« Und
dann kann man zusammen recherchie-
ren. So lernt das Kind, wo und wie es
sich informieren und Antworten auf
komplexere Fragen finden kann. Es
gibt ja kindgerechte Internetseiten, die
das gut aufbereiten, oder Nachrichten-
formate im Fernsehen extra für Kinder.
Das kann man sich gemeinsam an-
schauen, etwas lernen und es als An-
satz für ein Gespräch nutzen. So kann
man vielleicht auch über Sorgen der
Kinder sprechen, die sich aus einer
Krise ergeben.
SPIEGEL: Ab welchem Alter sollte man
mit der Finanzerziehung beginnen?
Langmeyer: Kinder kommen früh mit
den Themen Geld und Finanzen in
Kontakt. Ein- oder Zweijährige sitzen
im Einkaufswagen, sehen, wie bezahlt
wird, und spielen das im Kaufmanns-
laden nach. Insofern kann man gar
nicht sagen: Jetzt kommt das Kind in
die Schule, und jetzt geht es los. Das ist
ein schleichender Prozess. Mit Ein-
oder Zweijährigen spricht man nicht
darüber, wofür man alles Geld aus­
geben muss. Aber in dem Alter fängt
schon das erste Verständnis des Tausch-
handels an. Wenn ich beim Bäcker ein
Brot kaufe, muss ich ihm dafür etwas
geben. Den konkreten Wert kann man
so früh noch nicht vermitteln. Dafür
braucht das Kind ja ein Verständnis für
Zahlen, das sich erst im Vorschul- oder
Schulalter entwickelt. Dann fängt man
normalerweise auch mit dem Taschen-
geld an.
SPIEGEL: Gibt es Dinge, auf die man in
der Ansprache achten muss? Oder Feh-
ler, die man vermeiden sollte?
Langmeyer: Man muss es einfach alters-
gerecht machen. Einem Grundschul-
kind kann man schon erklären, warum
man sich als Familie manche Dinge
nicht leisten kann, aber auf einer ab­
strakten Ebene. Über Summen kann
man erst später sprechen, wenn das
Verständnis dafür da ist.
SPIEGEL: Sollten Kinder wissen, was
ihre Eltern verdienen? Und wenn ja, ab
welchem Alter?
Langmeyer: Das ist schwer zu sagen.
Wenn ich meinem Kind, das zwei Euro
Taschengeld bekommt, sage, dass ich
zum Beispiel 3000 Euro verdiene, dann
ist das für das Kind eine unglaubliche
Zahl, die es sich gar nicht vor­stellen
kann. Man muss aufpassen, dass das
kognitive Verständnis für die Relatio-
SP IEGEL GELD 1 / 2023

Psychologin Langmeyer
»Kinder kommen früh mit den Themen Geld und Finanzen in Kontakt«
nen da ist. In der ersten und zweiten
Klasse lernen die Kinder, bis 100 zu
zählen, da sind Zahlen über 1000 un­
fassbar viel. Insofern wäre das erst spä­
ter angemessen. Aber ich würde auch
da sagen, es kommt nicht auf die exak­
te Höhe des Gehalts an. Es geht eher
darum, das richtig einzu­ordnen.
SPIEGEL: Und wie redet man mit Kin­
dern über finanzielle Probleme und
­Armut?
Langmeyer: Die Themen Kinderarmut
und ärmere Kinder sollte man be­
Foto: Mirja Kofler / DER SPIEGEL
sprechen. Man könnte etwa sagen:
»Uns geht es gut. Wir können uns das
­leisten. Wir können in den Urlaub
­fahren. Aber das ist nicht selbst­
verständlich. Bei anderen ist das
nicht so.« Das kann man erklären,
ohne jemanden zu stigmatisieren oder
andere Kinder an den Pranger zu
­stellen.
SPIEGEL: Im Gespräch mit Kindern
muss man Dinge vereinfachen. Wie
schafft man es da, keine Vorurteile zu
aufzubauen?
Langmeyer: Ziel sollte es immer sein,
Verständnis herzustellen. Man sollte
sich nicht über andere erheben und sa­
gen: »Schau, die können sich das nicht
leisten.« Sondern vielleicht die Gründe
erklären, warum Familien unterschied­
liche Möglichkeiten haben. Gerade ha­
ben viele Kinder ukrainische Klassen­
kameraden. Das kann man zum Anlass
nehmen, darüber zu sprechen, warum
sie hergekommen sind und vielleicht
nicht so viel Geld haben. Dann kann
man auch erklären, dass manche Fami­
lien Geld vom Staat bekommen, aber
dass das vielleicht nicht so viel ist wie
bei anderen Familien, in denen zwei
Elternteile arbeiten.
SPIEGEL: Sollte man mit seinen Kindern
grundsätzlich offen über Krisen und
Probleme reden? Oder müssen Eltern
ihre Kinder vor bestimmten Themen
schützen?
Langmeyer: Man muss immer schauen,
welche Informationen das Kind
braucht. Wenn es Fragen stellt, sollte
ich immer offen und ehrlich antworten.
Kinder merken, wenn etwas schönge­
redet wird oder das Gesagte nicht zu
den Gefühlen der Eltern passt. Wenn
ich selbst besorgt bin über die Situation
und gar nicht weiß, wie wir finanziell
zurechtkommen, aber dem Kind sage:
»Du musst dir keine Sorgen machen,
das kriegen wir alles hin«, kann das
nach hinten losgehen. Kinder spüren,
was in ihren Eltern vorgeht. Insofern ist
es besser, Klartext zu sprechen. Natür­
lich muss man aufpassen, dass man Kin­
der nicht noch weiter verunsichert.
Wenn ich selbst in einer ganz großen
Lebenskrise bin, muss ich andere Wege
zur Verarbeitung finden. Das Kind ist
nicht der Austauschpartner für meine
Probleme. Aber man kann schon sagen:
»Das macht mir auch Sorgen. Ich weiß
nicht, wie es ausgeht.« Das kann man
Kindern zumuten.
SPIEGEL: Gilt das auch für Themen wie
den Krieg in der Ukraine?
Langmeyer: Das geht sowieso nicht an
den Kindern vorbei. Manche Eltern
sagten zu Beginn des Krieges: »Darü­
ber spreche ich mit meinen Kindern
nicht.« Aber die bekommen das ja mit.
Wenn etwas überall Thema ist, sollte es
auch zu Hause ein Thema sein. Aber
auch hier kommt es darauf an, dass
­altersgerecht vorgegangen wird.
Interview: Malte Müller-Michaelis
25
Der Cashflow
meiner Ich-AG
Ausgabenkontrolle
Digitale Haushaltsbücher
versprechen einen Überblick
über die eigenen Finanzen.
Lässt sich der Inflation damit
ein Schnippchen schlagen?
Ein Selbstversuch.
n Kennen Sie das diffuse Gefühl, mehr
auszugeben, als sie sollten? Wo geht all
die Kohle hin, die Monat für Monat auf
dem Konto landet?
Mich beschleicht zum Beispiel der
Verdacht, mehr Geld in Restaurants zu
lassen, als ich sollte – in der Pause lockt
der Mittagstisch, und wenn mich nach
dem Feierabend hinter der Kühl-
schranktür nur eine einsame Käseschei-
be begrüßt, dient das als willkommene
Ausrede für eine Stippvisite beim Ita-
liener um die Ecke. Ein Luxusproblem
in Zeiten, in denen das Geld für viele
Menschen wegen der hohen Preise
knapp wird, aber die Frage bleibt die-
selbe: Wofür gebe ich mein Geld eigent-
lich aus?
Zeit für einen Anruf bei jemandem,
der sich mit dem Sparen auskennt.
Korina Dörr leitet den Beratungsdienst
Geld und Haushalt der Sparkassen. Seit
die Inflation in Deutschland auf neue
Höchststände geklettert ist, wird sie
öfter nach Spartipps gefragt. Ihr Rat:
»Mit einem Haushaltsbuch bekommen
Sie einen guten Überblick über Ihre
Ausgaben und Einnahmen.«
Haushaltsbuch? Bei dem Wort denke
ich an die strenge Gouvernante Fräulein
Rottenmeier, die Heidi mit ihren Vor-
schriften das Leben schwer macht. Und
tatsächlich ist das Haushaltsbuch fast so
ein Klassiker wie die »Heidi«-Geschich-
te. Schon in den Fünfzigerjahren gaben
die Sparkassen die ersten Haushalts-
bücher heraus – damals richtete sich das
Angebot an Frauen, um deren »haus-
wirtschaftliche Kompetenz« zu stärken.
Fast als hätten die Männer den Frauen
26
nicht zugetraut, den Konsumverlockun-
gen Nachkriegsdeutschlands zu wider-
stehen. Die Zeiten sind zum Glück vor-
bei, doch Haushaltsbücher gibt es noch
immer. »Haushaltsbücher erleben gera-
de wegen der hohen Inflation eine Re-
naissance«, sagt Finanzexpertin Dörr.
»Eigentlich lohnt es sich für jeden, ein
Haushaltsbuch zu führen.«
Das funktioniert wie früher, indem
man sämtliche Ausgaben aufschreibt –
aber natürlich macht moderne Technik
heute das Leben leichter. Manche Ban-
ken bieten ihren Kunden im Onlineban-
king eine integrierte Haushaltsbuch-
funktion an, Handy-Apps und Weblö-
sungen locken mit noch mehr Funktio-
nen. Die Macher der App »Bluecoins«
versprechen etwa, »auf dem Weg zum
finanziellen Erfolg« zu helfen. Wer
könnte da schon Nein sagen? Ich pro-
biere gleich mehrere Apps aus. Nach
der Installation kommt die Fleißarbeit:
Fortan zücke ich nach jedem Einkauf
das Handy, ob im Baumarkt oder beim
Brötchenholen. Mit etwas Übung geht
das in Sekundenschnelle.
Mehr Arbeit machen jährliche oder
monatliche Ausgaben: Um einen voll-
ständigen Überblick zu erhalten, trage
ich auch die Kosten für Autoversiche-
rung, Mobilfunkvertrag und Vereinsmit-
gliedschaften ein. Manche Apps wie der
»Finanzguru« lassen sich mit dem Kon-
to verknüpfen, um Abbuchungen zu er-
kennen und automatisch bestimmten
Kategorien zuzuordnen. Vertragswe-
cker erinnern an nahende Termine oder
helfen gar bei der Kündigung. Praktisch,
aber auch irgendwie unheimlich – selbst
wenn die Macher versprechen, hohe
Datenschutzstandards zu wahren.
Ich erfasse meine Ausgaben dann
doch lieber händisch. Obwohl es
schwerfällt, verbuche ich einen Monat
lang jedes Busticket und jeden Restau-
rantbesuch. Schon das Eintragen der
Ausgaben macht das Geldausgeben
bewusster, auch wenn es – etwa beim
gemeinsamen Ausgehen – mitunter für
verwunderte Blicke von Freunden
Haushalts-Apps
im Vergleich
ü Money Manager Mit der App kann man
Einnahmen und Ausgaben für mehrere Konten
verwalten. Buchungen lassen sich mit weni-
gen Klicks eintragen. Leider ist die Bedienung
teils unnötig kompliziert: Um wiederkehrende
Ausgaben wie die monatliche Handyrechnung
einzugeben, muss man etwa zuerst das Ein-
stellungsmenü öffnen. Die Anleitung ist hilf-
reich, aber leider nur auf Englisch verfügbar.
ü Bluecoins Mit der Bluecoins-App lassen
sich nicht nur Einnahmen und Ausgaben ver-
walten, sondern sogar Verbindlichkeiten wie
Hypotheken. Die Bedienung macht Spaß und
ist einigermaßen intuitiv – so lassen sich ein-
fach neue Kategorien bilden, um Ausgaben
zuzuordnen; ein Reisemodus hilft bei Urlaubs-
ausgaben. Dazu gibt es allerlei schicke Gra-
fiken zum Finanzverhalten. Auch hier ist die
Anleitung nur auf Englisch verfügbar.
ü Finanzchecker Die Haushaltsbuch-App
der Sparkassen kann bei Optik und Bedienung
nicht mit der kommerziellen Konkurrenz mit-
halten. Auch der Funktionsumfang beschränkt
sich auf das Wesentliche: Budgets oder meh-
rere Konten gibt es hier nicht. Dafür funktio-
niert die Führung des Haushaltsbuchs kinder-
leicht und werbefrei – und anders als der
Name vermuten lässt, kann man die Anwen-
dung auch als Erwachsener benutzen. Gute
Idee: Mit einer »Verliehen/Geliehen«-Funktion
sieht man, wem man Geld schuldet.
ü Monefy Die App sieht schick aus und ist
intuitiv zu bedienen. Ein Tortendiagramm gibt
Überblick über die Ausgaben, die sich mit
wenigen Schritten hinzufügen lassen. Die Ma-
cher versprechen »mehr Kontrolle über dein
Geld« – doch um die App sinnvoll zu nutzen,
muss man erst mal Geld in die Hand nehmen:
In der Gratisversion können Nutzer keine
eigenen Kategorien bilden, denen sich Ausga-
ben zuordnen lassen. Wiederkehrende Posten
wie die Stromrechnung lassen sich nur mit
der Proversion verwalten.
ü Finanzguru Die App will mehr sein als
ein Haushaltsbuch: Sie lässt sich direkt mit
eigenen Konten und Depots verknüpfen. Aus-
gaben laufen automatisch ein und werden
passenden Kategorien zugeordnet. So muss
man nur noch Barausgaben für einen voll-
ständigen Überblick händisch verbuchen.
Obendrein bietet die App umfangreiche Aus-
wertungsfunktionen. Finanzguru verwaltet
zudem Versicherungen und empfiehlt dabei
neue Policen – das kann ziemlich nerven.
SP IEGEL GELD 1 / 2023
Was das tägliche Leben kostet sorgt. »Ein Haushaltsbuch wirkt wie
Referenzbudgets typischer Haushalte eine disziplinarische Hand«, sagt Sally
Peters, Geschäftsführerin des Instituts
Allein lebende Frau für Finanzdienstleistungen (IFF). Dis-
27 bis 64 Jahre, keine Kinder, Einkommen 1990 bis 2709 Euro, wohnt zur Miete
ziplinarische Hand? Kein Wunder, dass
es sich anfühlt, als säße mir Fräulein
Wohnen, Rottenmeier im Nacken.
Hauswirtschaft,
Ausstattung, Disziplin hat aber auch was Positi-
Kommunikation ves. Mit dem Haushaltsbuch sehe man
1005 € auch, wo man erfolgreich spart, sagt
Ernährung, IFF-Chefin Peters. »Und dann kann
Gesundheitspflege,
Gesamt man sich auch etwas gönnen, zum Bei-
Betreuung und Pflege
868 €
Mobilität,
2598 € spiel ein gutes Essen oder die Mitglied-
schaft im Lieblings-Fitnessklub.« Peters
Geldtransfers, rät, das Haushaltsbuch am besten für
Versicherungen drei Monate zu führen. »Dann be-
359 €
kommt man schon ein recht realisti-
Bildung und Freizeit
sches Abbild der finanziellen Verhält-
366 €
nisse.«
Tatsächlich dauert es gar nicht lange,
bis ich einigen Geldfressern auf die
Paar
Zwei Kinder, jüngstes Kind 0 bis 5 Jahre, Einkommen 4706 bis 5933 Euro, Spur komme: Müssen es wirklich zwei
wohnen zur Miete Streaming-Abos sein? Und brauche ich
die Versicherungspolice, die ich für den
letzten Urlaub abgeschlossen hatte,
Wohnen, überhaupt noch?
Hauswirtschaft,
Ausstattung, Je mehr Daten ich einpflege, desto
Kommunikation besser wird der Überblick. Die Apps
1594 € zeichnen schicke Tortengrafiken auf,
Ernährung, die manchen Juniorberater vor Neid er-
Gesundheitspflege,
Gesamt blassen lassen würden. Jetzt kann ich
Betreuung und Pflege
1163 €
Mobilität,
3906 € en détail verfolgen, wo mein Geld her-
kommt und wofür ich es ausgebe: der
Geldtransfers, Cashflow meiner Ich-AG.
Versicherungen Die Inflation lässt sich damit nicht
643 €
besiegen: Den mit Abstand größten
Bildung und Freizeit
Einzelposten bei meinen Ausgaben bil-
506 €
den Miete und Nebenkosten. »Vielen
Menschen machen vor allem die Kos-
tensteigerungen zu schaffen, die sich
nicht wegstreichen lassen«, sagt Finanz-
expertin Dörr. Bei Miete, Energiekos-
Rentnerpaar
65 bis 79 Jahre, keine Kinder, Einkommen 2304 bis 3031 Euro, wohnen zur Miete ten oder Lebensmittelausgaben sei das
Sparpotenzial für die meisten Men-
Wohnen, schen ziemlich überschaubar. Trotzdem
Hauswirtschaft,
könne das Haushaltsbuch helfen, Aus-
Ausstattung,
Kommunikation gaben zu finden, auf die man verzichten
1066 € kann: »So kommt man finanziell in ru-
Ernährung, higere Bahnen.«
Gesundheitspflege, Die gute Nachricht nach meinem
Betreuung und Pflege Gesamt
781 € Haushaltsbuch-Experiment: Mein
Mobilität, 2796 € Cashflow ist positiv. Die schlechte: Jetzt
Geldtransfers, habe ich schwarz auf weiß, dass ich für
Versicherungen Restaurant- und Kantinenessen viel zu
499 € viel Geld ausgebe. Ich weiß, was Sie
Bildung und Freizeit jetzt denken: Um das herauszufinden,
450 €
hätte ich die Haushalts-App nicht ge-
braucht. Die Waage hätte auch gereicht.

Quelle: Sparkasse Michael Brächer

Infografik: Andrew Timmins 27

Preis der Zeit Serie:
ln als
S a m m e ge
Wertan
la
Uhren  Mechanische Zeitmesser von Luxusmarken stehen bei Teil 1:
Sammlern hoch im Kurs. Doch wenn die teuren Stücke mehr sein sollen Uhr en
als Liebhaberobjekte, müssen Anleger einige Punkte beachten.

n Hätte nicht wenigstens die Uhr richtig
funktioniert, wäre der Name ihres Her-
stellers zum Omen geworden: Omega,
das Ende. Es war die Speedmaster Pro-
fessional, die mithalf, dass eine der
spektakulärsten Rettungsaktionen in
der Geschichte der bemannten Raum-
fahrt nicht in einer Katastrophe endete.
Das Drama begann am 14. April
1970 kurz nach vier Uhr morgens mit-
teleuropäischer Zeit mit dem Satz des
Astronauten Jack Swigert: »Houston,
wir haben ein Problem gehabt.« Bei
ihrer Mission war an Bord der Apollo 13
ein Sauerstofftank explodiert und hatte
Teile des Raumschiffs schwer beschä-
digt. Statt zum Mond musste die drei-
köpfige Crew so schnell wie möglich
zurück zur Erde. Ohne die Uhr wäre
das nicht möglich gewesen, denn um
Energie zu sparen, musste die Crew fast
die gesamte Elektrik an Bord ausschal-
ten und sich stattdessen auf das Chro-
nometer als Navigator und präzisen
Zeitmesser verlassen.
Seit 1965 werden sämtliche Nasa-
Astronauten mit dem Modell ausstaf-
fiert. Nach der Mondlandung 1969 wur-
de es unter dem Namen »Moonwatch«
bekannt – und besitzt mittlerweile welt-
weit eine große Fangemeinde.
Die Speedmaster ist nur ein Beispiel
von vielen, wie ein Mythos Uhren zum
begehrten Sammlerstück machen kann.
Der Schauspieler und passionierte
Rennfahrer Steve McQueen machte die
Heuer Monaco zum Kultobjekt, weil er
1971 den quadratischen Zeitmesser
sichtbar auf den Standfotos zum Kino-
film »Le Mans« trug.
Dass die Zahl der Uhrensammler bis
heute beständig steigt, hat verschiedene
Gründe: Zum einen befeuern Schlag-
zeilen von Auktionserlösen in Millio-
nenhöhe die Nachfrage nach hochwer-
tigen Chronometern. Die teuerste ver-
steigerte Uhr der Welt ist aktuell eine
Grandmaster Chime von Patek Philippe,
die im November 2019 für 31 Millionen
Dollar auf einer Charity-Auktion von
Christie’s in Genf verkauft wurde. Zum
anderen sorgt derzeit die hohe Inflation
für ein steigendes Interesse an Sachwer-
ten, um dem Geldverfall entgegenzu-
wirken.
Auch wenn sich der heiß gelaufene
Markt im vergangenen Jahr abgekühlt
hat, zeigt der Nachfragetrend bei Lu-
xusuhren langfristig eher aufwärts, wie
entsprechende Indizes widerspiegeln.
Dabei stehen vor allem traditionsreiche
und bekannte Marken wie Rolex, Au-
demars Piguet und Patek Philippe im
Fokus der Kaufinteressenten. Sie punk-
ten mit Historie, Renommee, Qualität
und einem hohen Wiedererkennungs-
wert. »Der Markt ist liquide, das zeigen
die Ergebnisse der Verkaufsplattformen
im Internet und die Versteigerungserlö-
se der Auktionshäuser«, sagt Michael
Brückner, Uhrenexperte und Betreiber
des Blogs »Der Uhrengourmet«.
Was Uhren als Investment attraktiv
macht, ist die Beständigkeit: Sie haben
sich über Jahrhunderte ihren Stellen-
wert erhalten, sind Teil der Geschich-
te  – und werden immer wieder von
prominenten Menschen in historischen
Momenten getragen. Nicht nur im All
oder auf Rennstrecken, sondern auch in
Schwankende Werte
Preisentwicklung von Luxusuhren
Audemars Piguet Girard-Perregaux
Royal Oak Laureato
140 000 €
120 000
100 000
80 000
60 000
40 000
20 000
0 0
Nov. 2019 Mai 2022 Nov. 2019
Quelle: chrono24.de
der Tiefsee (Jacques-Yves Cousteau:
Blancpain Fifty Fathoms), auf dem
Ozean (Thor Heyerdal: Eterna Kon­
Tiki) oder den höchsten Bergen (Sir Ed-
mund Hillary: Rolex Oyster Pepetual).
In vielen Gesellschaften sind Uhren
ein Statussymbol. Sie sind oft der ein-
zige Schmuck, den Männer neben Ehe-
ring und Manschettenknöpfen tragen,
was die Uhren als modisches Acces-
soire in den Mittelpunkt rückt. Und die
sozialen Medien pushen das Interesse
an luxuriösen Zeitmessern. Promis wie
die Schauspieler George Clooney und
Daniel Craig oder Rapper wie Farid
Bang und Capital Bra tragen ihre Uh-
ren demonstrativ – und befeuern damit
den Hype.
Informieren und Fokussieren
Wer sich am Uhrenmarkt gezielt als In-
vestor engagieren will, sollte sich Bran-
chenkenntnis aneignen, um Hinter-
grundwissen und ein Gespür für die
unterschiedlichen Manufakturen und
Marken zu bekommen, die den Markt
bewegen. Auch das Lernen des richti-
gen Vokabulars ist ratsam (siehe Kas-
ten). Hier sind Fachlektüre und Foren-
beiträge gute Anknüpfungspunkte. Da-
Rolex Datejust 41
Ref. 126300
18 000 € 12 000 €
16 000
10 000
14 000
12 000 8000
10 000
6000
8000
6000 4000
4000
2000
2000
0
Mai 2022 Nov. 2019 Mai 2022

28 SP IEGEL GELD 1 / 2023


Schauspieler McQueen in dem Film »Le Mans« 1971
Am Handgelenk des Stars wurde der Chronograf zum Sammlerstück
bei wird schnell klar, dass der Markt für
gehobene Luxusuhren von wenigen
Unternehmen dominiert wird, die mit
unterschiedlichen Marken auftreten.
Am breitesten aufgestellt ist die
Schweizer Swatch Group, die insgesamt
18 Uhrenmarken unter ihrem Dach ver­
eint, darunter Omega, Longines, Blanc­
pain und Glashütte Original. Zweiter
großer Player ist das Unternehmen
­Richemont mit elf Uhrenmarken, da­
runter A. Lange & Söhne, IWC und Jae­
ger LeCoultre. Dritter im elitären Bund
ist der börsennotierte Luxuskonzern
LVMH, der die Uhrenmarken Tag Heuer,
Bulgari, Hublot und Zenith besitzt. Hin­
zu kommen die beiden Familienunter­
nehmen Audemars Piguet und Patek
Philippe sowie der Hersteller Rolex, der
sich im Besitz einer Stiftung befindet
Foto: Globe Photos / ddp; Infografik: Andrew Timmins
und die bekannteste Luxusuhrenmarke
der Welt ist. Und dann gibt es noch einige
kleinere Firmen wie Richard Mille, Breit­
ling oder die Seiko Group (Grand Seico).
Allerdings eignen sich nur wenige
Modelle wirklich als Anlage. »Rund 80
Prozent der Luxusuhren haben kein
Wertsteigerungspotenzial«, sagt Brück­
ner. Was den Preis treibt, ist hohe tech­
nische Raffinesse, die Uhren zu kost­
baren Kunstwerken macht – wobei rein
mechanische Uhrwerke die Nase vorn
haben. »Wenn ein Manufakturwerk im
Inneren tickt, erhöht dies den Wert des
Zeitmessers«, sagt er.
Auch die Art der Strategie muss
überlegt werden: Soll der Fokus auf
neuen Uhren liegen, auf gebrauchten
oder einem Mix? Auf bewährten Klas­
sikern oder unbekannteren Modellen?
Soll auf dem Primär- oder dem Sekun­
därmarkt gekauft werden – also beim
klassischen Händler oder von privat be­
ziehungsweise über Auktionshäuser?
Um ein Gespür für realistische Prei­
se am Markt zu bekommen, sind Preis­
listen und Kataloge der Auktionshäuser
gute Orientierungshilfen. Zudem lohnt
auch der Blick auf die Onlineplattfor­
men chrono24, Chronext, WatchCharts
und Watch Finder, auf denen sich die
Preisentwicklungen vieler Modelle ein­
sehen lassen – inklusive Hintergrund­
informationen zu den Herstellern. Da
es von vielen Modellen unterschiedli­
che Ausführungen gibt, kann die Preis­
spanne je nach Variante auch mal um
mehrere Zehntausend Euro schwanken.
Kaufoptionen
mit Einschränkungen
Wer eine Uhr mit Investmentpotenzial
kaufen will, sollte ein entsprechendes
Budget einplanen. Zwar gibt es etwa
eine Tangente von Nomos Glashütte
schon für knapp mehr als 1000 Euro,
doch in der Regel wird es teurer: »5000
Euro sind das Minimum«, sagt Uhren­
experte Gisbert Brunner, Betreiber des
Blogs »Uhrenkosmos«. Beherzigt man
den Expertenrat der Risikostreuung,
landet man schnell im niedrigen fünf­
stelligen Bereich. Wer Premiummodelle
aus begehrten Serien oder andere be­
sonders exklusive Stücke kaufen möch­
te, muss tiefer in die Tasche greifen.
So weit die Theorie. In der Praxis
kann es aber schwer sein, an die ge­
wünschten Modelle heranzukommen.
Denn die Wartelisten für neue und be­
sonders beliebte Chronometer sind
lang. So sind etwa Rolex-Einsteigermo­
delle aus Stahl im stationären Handel
kaum erhältlich. Und auch bei der Nau­
tilus von Patek Philippe sieht es meist
düster aus, denn die Uhr zählt zu den
begehrtesten weltweit. »Zum normalen
Ladenpreis kommt man da ohne Bezie­
hungen kaum ran, denn Juweliere und
andere Fachhändler verkaufen neu ein­
getroffene Modelle in der Regel ihrer
Stammkundschaft und nicht irgendwel­
chen Leuten, die auf einmal im Ge­
schäft erscheinen und die sie überhaupt
nicht kennen«, sagt Brunner. Um trotz­
dem schnell an die begehrte Ware zu
kommen, sind etliche Sammler bereit,
auf dem Sekundärmarkt Summen zu
zahlen, die deutlich über dem Listen­
preis liegen. Das verzerrt die Preise für
29
bestimmte Modelle und heizt Speku­
lationsblasen an.
Da der Markt für hochpreisige Lu­
xusuhren viele Fälscher anlockt und
deren Methoden immer raffinierter
werden, sollten Sammler bevorzugt
über einen renommierten Fachhändler,
Konzessionär, Juwelier oder ein Auk­
tionshaus kaufen. Allerdings behalten
die oft eine Gewinnmarge von bis zu
fünf Prozent ein. Neben bekannten
Auktionshäusern wie Sotheby’s, Chris­
tie’s, Bonhams und Co. sind auch das
Antiquorum in Genf, Dr. Crott in
Mannheim oder der Onlinehändler Ho­
rando namhafte Adressen, bei denen
hochpreisige Uhren den Besitzer wech­
seln. Auch ein Privatkauf kann sich loh­
nen, sofern der Verkäufer seriös ist und
entsprechende Dokumente zur Uhr
vorliegen. Was Onlineschnäppchen an­
geht, sollten sich interessierte Uhren­
käufer aber keine große Hoffnung ma­
chen, meint Brunner. »Die Händler
durchforsten die gängigen Handels­
plattformen selbst gezielt und wissen,
wonach sie suchen.«
Wichtige Wertkriterien
Die Marke ist bei der Uhr das, was die
Lage bei der Immobilie ist: das wichtigs­
te Kriterium für den Wert. Doch dane­
ben spielen noch weitere eine Rolle, etwa
das Modell, Alter, die technische Aus­
stattung oder die Auflagenhöhe – und
natürlich der Erhaltungszustand. Dieser
sollte möglichst einwandfrei sein, da
jede Beschädigung den Wert schmälert.
Hier haben unbenutzte und original­
verpackte Uhren einen klaren Vorteil –
sofern sie richtig gelagert werden. Das
Optimum ist ein trockener, dunkler, mo­
derat temperierter Raum, in den wenig
Staub dringt. Allerdings haben unbeweg­
te Zeitmesser ein anderes Problem: Die
Technik läuft Gefahr einzurosten. Um
die sensible Mechanik optimal am Lau­
fen zu halten, müssen Uhren in Bewe­
gung bleiben, und das möglichst gleich­
mäßig. Findige Menschen haben bereits
spezielle Geräte entwickelt, die diese
Arbeit übernehmen können – sogar in­
nerhalb eines Schließfachs. Diese ge­
nannten Uhrenbeweger simulieren einen
Uhreneinsatz in Aktion, indem sie das
Chronometer in bestimmten Abständen
um die eigene Achse rotieren lassen.
Auch handwerkliche Feinheiten,
Gravuren, besondere Ausstattung, Son­
derfunktionen wie etwa Minutenrepe­
30
Fachvokabeln
der Uhrensammler
Foudroyant: »Blitzende Sekunde«, bei
der sich ein Zeiger einmal pro Sekunde
um die eigene Achse dreht
Gangfehler: Zeitabweichungen einer
Uhr über einen längeren Zeitraum
Hardlex: Schutzglas für das Zifferblatt
(meist Saphir- oder Mineralglas)
Komplikationen: Technische Raffines-
sen, die über Zeit- und Datumsanzeige
hinausgehen
Lünette: Umrandung des Zifferblatts
Minutenrepetition: Akustisches Signal
bei mechanischen Uhren, das die Zeit
wiedergibt
Referenzen: Modellvarianten / Modell-
nummern
Tachymeterskala: Skalierung bei
­Chronografen, die früher zum Messen
der Durchschnittsgeschwindigkeit
­verwendet wurde
Tourbillon: Vorrichtung, bei der sich das
Schwing- und Hemmungssystem
einer mechanischen Uhr um die eigene
Achse dreht
tition oder andere Extras können den
Wert einer Uhr steigern. Beispiele sind
ein ewiger Kalender, ein doppeltes Zif­
ferblatt, die Anzeige verschiedener
Zeitzonen oder Mondphasen.
Ein weiterer Preistreiber kann zudem
ein berühmter Träger sein, wie sich im
Jahr 2017 zeigte, als eine Rolex Daytona
von Paul Newman unter den Hammer
kam, die der Schauspieler fast 15 Jahre
lang besessen hatte. Nach einem Bieter­
wettstreit lag das finale Gebot schließlich
bei 17,8 Millionen US-Dollar.
Um bei einem späteren Verkauf das
finanzielle Optimum herausholen zu
können, sollten die Unterlagen mög­
lichst vollständig sein. Dazu zählen
Kaufbelege, Herstellerzertifikat, eine
gestempelte Garantieerklärung und
eventuelle Wertgutachten sowie Zube­
hör und im Idealfall auch noch die Ori­
ginalbox. Zudem sollte die Uhr regel­
mäßig von einer Fachkraft überprüft,
gereinigt und einer Revision unterzo­
gen werden, die je nach Modell auch
mal mehr als 1000 Euro kosten kann.
Cool bleiben
Auch wenn die Nachfrage nach hoch­
wertigen Zeitmessern aus namhaften
Manufakturen weltweit besteht, können
die Preise am Markt trotzdem empfind­
lich nachgeben, wie sich zuletzt unter
anderem auch bei den Stahlmodellen
Royal Oak von Audemars Piquet, GMT-
Master von Rolex oder Overseas von
Vacheron Constantin zeigte. Zum einen
als Folge anhaltender Unsicherheit, die
aktuell durch den Krieg in der Ukraine
bestehtw. Zum anderen aber auch weil
sich im Lauf der Zeit der Geschmack
verändert.
»Vor ein paar Jahren durfte in keiner
professionellen Uhrensammlung ein
Tourbillon fehlen. Dafür haben viele
tief in die Tasche gegriffen«, sagt
Uhrenexperte Brücker. Ein Tourbillon
ist eine Vorrichtung, bei der sich das
Schwing- und Hemmungssystem um
seine Achse dreht, um die Ganggenau­
igkeit zu verbessern. Seit chinesische
Tourbillons auf den Markt gekommen
sind und Modelle teils schon weniger
als 1000 Euro kosten, habe das Prinzip
allerdings »etwas an Faszinationskraft
eingebüßt«, erklärt er. Aus diesem
Grund rät er auch von einem überstürz­
ten Uhrenkauf im hochpreisigen Seg­
ment ab. »Die größte Stolperfalle ist ein
Sweetheart-Investment. Man verliebt
sich in eine Luxusuhr und hofft, dass es
anderen ebenso ergeht und sie diese
Uhr erstehen. Diese Rechnung geht in
den seltensten Fällen auf. Also cool
bleiben beim Kauf.«
Wer Uhren als Investment betrach­
tet, sollte das mitbringen, was sie an­
zeigen: Zeit. Zwar gibt es einzelne Mo­
delle wie die Rolex Batman, die ihren
Wert binnen fünf Jahren verdoppelt
hat. Doch in der Regel lassen sich derart
hohe Wertsteigerungen erst über einen
längeren Zeitraum erzielen; mitunter
kann es sogar Jahrzehnte dauern. Ein
Vorzeigeexempel ist das Edelstahlmo­
dell der Rolex Daytona, das in den
1970er-Jahren umgerechnet knapp über
600 Euro kostete und mittlerweile für
mehr als 25 000 Euro gehandelt wird.
Doch selbst wenn die Wertsteige­
rung geringer ausfällt als erhofft: Eine
Nullnummer wird ein Uhreninvestment
nie, da ein bestimmter Materialwert
bleibt. Und im Gegensatz zu einer Ak­
tie, die virtuell bei einer Bank lagert,
kann man sich an einer Uhr jeden Tag
erfreuen – und das sollte laut Meinung
vieler Liebhaber auch das eigentliche
Hauptkriterium beim Uhrenkauf sein.
Imke Reiher
SP IEGEL GELD 1 / 2023
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