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8,56 Österreich € 7,10 Schweiz sfr 9,40 Slowenien € 7,50 Spanien / Kanaren € 8,00 Ungarn Ft 3790,–
Dänemark dkr 74,95 Frankreich € 7,70 Italien € 8,20 Norwegen NOK 125,– Portugal (cont) € 7,50 Slowakei € 7,70 Spanien € 7,70 Tschechien Kč 229,– Printed in Germany

Die Narben
eines Jahres
ROBERT HABECK

ODER?
GELDANLAGE

Börsenparty?
Wie lange hält die

Warum wir wieder rechnen lernen müssen


JON FOSSE

Nobelpreisträger
Gespräch mit dem
Nr. 50 | 9.12.2023
DEUTSCHLAND € 6,40
TISSOT PRX AUTOMATIC
HAUSMITTEILUNG

Titel | Seiten 10, 15, 16, 19


Stephanie Lieske / DER SPIEGEL

Konnten Sie die Aufgabe auf dem Titelbild lösen? Nein, 2 + 2 × 2 ist
nicht 8. Die Regel lautet: Punktrechnung vor Strichrechnung. 2 mal
2 ist 4 plus 2 macht 6. Schämen Sie sich nicht, wenn Sie daneben­
lagen. Auch hier beim SPIEGEL waren sich manche unsicher, selbst
in der Chefredaktion. Und Deutschlands Schüler? Viele von ihnen
können nicht mehr richtig rechnen, ergab die aktuelle Pisa­Studie.
Ein Team um Redakteur Jan Friedmann recherchierte, was an Schu­
len schiefläuft und wie Universitäten und Betriebe damit umgehen. »Die Politik hat die Schulen
mit so vielen Zusatzaufgaben überfrachtet, dass der Unterricht leidet«, sagt Friedmann. Wie ein­
fach Mathe sein kann, erlebte Redakteurin Miriam Olbrisch (r.) in einer Kölner Kita. Eine Papp­
schachtel, zwei Klopapierrollen, eine Handvoll Tischtennisbälle – mehr brauchten die Pädagogin
Rania Lösener und ihre Kolleginnen nicht, um mit den Kindern Zählen und Addieren zu üben.

Geiseln | Seite 92

Fast zwei Monate lang waren sie Geiseln der Hamas:

Lauren DeCicca / DER SPIEGEL


32 Thailänder, die als Gastarbeiter in Israel waren, als die
Terroristen im Oktober das Land überfielen. Seit Kur­
zem sind die meisten von ihnen zurück in ihrer Heimat
und versuchen, die Erlebnisse zu verarbeiten. SPIEGEL ­
Mitarbeiterin Verena Hölzl und Korrespondentin Maria
Stöhr (r.) trafen Boonthom Phankhong und seine Le­
bensgefährtin Natthawaree Yo Mulkan, die in einer 352 Seiten mit Farbbildteil, gebunden � 24,00 €
Kartoffelfabrik nahe dem Gazastreifen gearbeitet hatten, sowie einen weiteren Freigelassenen. Die
Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich.
Journalistinnen verbrachten mehrere Tage mit ihnen und ihren Eltern, die schon davon ausgegan­
gen waren, ihr Sohn oder ihre Tochter seien tot. »Die Thailänder sind am anderen Ende der Welt in
einen Konflikt geraten, den sie nicht einmal verstehen«, sagt Stöhr. Bei einer buddhistischen Feier
legten sie und Hölzl den Freigelassenen Segensbändchen an.
In einer Nacht im November
Fosse | Seite 114 2019 dringen Unbekannte ins
Zwei Termine stellte der norwegische Autor Jon Fosse
Dresdner Residenzschloss ein
Rune Hammerstad / DER SPIEGEL

(l.) dem Redakteur Wolfgang Höbel und seiner Kollegin und stehlen Kunstschätze von
Anke Dürr zur Wahl: Montag oder Dienstag vorvergan­
gener Woche, auf jeden Fall morgens um neun; der
unschätzbarem Wert.
64­Jährige ist Frühaufsteher. Fosse, der am Sonntag den Wie konnte das gelingen?
Literaturnobelpreis erhält, hatte für das Treffen das
Foyer des Norske Teatret in Oslo ausgewählt, das viele Das neue Buch von Thomas
seiner Stücke aufgeführt hat. Beim Interview redete er Heise und Claas Meyer-Heuer,
leise und behielt den Mantel auf den Knien, als wollte er gleich wieder gehen, blieb dann aber
zwei Stunden. Auf seine Zeit als Gitarrist einer Schülerband und seinen Nobelpreisvorgänger Bob den beiden Experten für
Dylan angesprochen, sagte Fosse: »In meiner Generation musste man sich entscheiden. Ich war Clan-Kriminalität in Deutschland,
nie für Dylan, ich war immer Team Neil Young.«
erzählt die ganze Geschichte –
SPIEGEL START, »Dein SPIEGEL« mit sensationellem Insiderwissen
Viele junge Erwachsene fühlen sich psychisch belastet. Sie sagen das im Freundeskreis, zur Familie, und exklusiven Einblicken
auf Instagram und TikTok. Aber gilt die neue Offenheit genauso fürs Universitäts­ und Arbeits­ in die Ermittlungen.
leben? Kann man mit Vorgesetzten über eine psychische Erkrankung sprechen? Darum geht es in
der neuen, letzten Ausgabe von SPIEGEL START . Sie liegt ab
diesem Samstag an Hochschulen aus und ist für Studierende
Teil des SPIEGEL ­Abos. Was gibt es morgen zu essen? Und
übermorgen? Algen vielleicht, Insekten oder Fleisch aus dem
Labor. Die Titelgeschichte des Kinder­Nachrichten­Magazins
»Dein SPIEGEL « geht der Frage nach, wie sich die Ernährung
der Menschheit verändern könnte. Und Bundesfamilienminis­
terin Lisa Paus erklärt, was es mit der Kindergrundsicherung
auf sich hat. »Dein SPIEGEL « erscheint am Dienstag.

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 3


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INHALT TITEL

10 | Bildung Das deutsche


Mathe-Desaster und seine Folgen
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 50 | 9.12.2023
15 | Protokolle Austausch-
schüler berichten von ihren
Erfahrungen

16 | Studien Die Pisa-Experten


Doris Lewalter und Olaf Köller
erklären den deutschen Absturz

19 | Ratschläge Mathe-
Influencer geben Tipps für Eltern

DEUTSCHLAND

8 | Leitartikel Die Welt darf


Israel im Kampf gegen
die Hamas nicht alleinlassen

Michael Kor te / FUNKE Foto Ser vices / IMAGO


20 | Letzte Generation hat laut
BKA rund 1200 Straftaten
begangen / Neuer Ampel-Ärger
um Cannabis / Gesetz soll un-
durchsichtige Parteienfinanzie-
rung verhindern / Die da unten

24 | Karrieren Die Härtung


des Robert Habeck

28 | Spionage Welchen
Schaden ein Verrat im BND
Bruch-Landung anrichtete

32 | Affären Der Korruptions-


TITEL Deutschland, das Land der Tüftler und Techniker? Damit könnte es skandal im Europäischen
bald vorbei sein. Denn die Rechenschwäche von Jugendlichen und Berufsanfängern Parlament weitet sich aus
bedroht Wohlstand und Wissensgesellschaft. Der neue Pisa-Schock lehrt, 37 | Union Angela Merkel
dass sich die Schule auf ihre Kernkompetenzen besinnen muss. | 10, 15, 16, 19 verlässt die Konrad-Adenauer-
Stiftung

38 | Sozialdemokraten
SPD-Urgestein Axel Schäfer
wünscht sich vom Kanzler
mehr Kampfeslust

40 | Gleichberechtigung Wa-
rum Politiker wie Markus Söder
das Gendern verbieten wollen

42 | Migration Immer mehr


Türken fliehen nach Deutsch-
Jerome Bonnet / DER SPIEGEL
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

land

46 | Hauptstadt Wie der


Patr ycia Lukas

Neuköllner Bezirksbürger-
meister Martin Hikel gegen
Antisemitismus kämpft

Angela Merkel Eva Kaili Verena Pausder 48 | Missbrauch Sexuelle


Die Altbundeskanzlerin kappt Die griechische EU-Abgeordnete Die neue Chefin des Start-up- Gewalt in der Psychotherapie?
die Verbindungen zu steckt offenbar tiefer als geahnt Verbands erklärt, woran es Gegen einen Tübinger Arzt
ihrer politischen Heimat. | 37 in der »Katargate«-Affäre. | 32 deutschen Gründern fehlt. | 76 wurde jetzt Anklage erhoben

6 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
52 | Aufarbeitung Das Schick- 92 | Südostasien Freigelassene
sal deutscher Waisenkinder thailändische Geiseln erzählen,
in den »Ostgebieten« nach 1945 was sie in Gaza erlebt haben

54 | Ortstermin Ein israelischer 94 | Israel Ex-Geheimdienst-


Soldat in Berlin chef Yuval Diskin im SPIEGEL -
Gespräch über den Krieg gegen

Marlena Waldhausen / Agentur Focus


die Hamas
REPORTER

56 | Familienalbum / Wie geht SPORT


Wohnungslotto?
97 | Deutsche Erfolge im
57 | Eine Meldung und ihre Biathlon / Hall of Fame: Ivalu
Geschichte Warum ein Bjerge, Handballerin
US-Amerikaner die schärfsten
Chilis der Welt gezüchtet hat 98 | Karrieren Wie der Fuß- Der Leidgeprüfte
baller Marius Kunde beinahe
2023 wurde Robert Habeck zum Buhmann der Nation.
58 | Musikindustrie Kool Savas berühmt geworden wäre
Er sagt, er habe aus seinen Fehlern gelernt. Und will wieder
ist einer der bekanntesten Rapper
angreifen. | 24
Deutschlands. Im SPIEGEL - 101 | Geldanlage Der ehemalige
Gespräch spricht er über Sex mit Nationaltrainer Flick steigt ins
Groupies und seine Fehler Geschäft mit Trainingsapps ein

64 | Kolumne Leitkultur
WISSEN

WIRTSCHAF T 102 | Gefährden GPS-Störsender


die zivile Luftfahrt? / Analyse:
66 | Mehr Spielraum für künftige Checks für Senioren am Steuer?
Finanzminister / Kritik an
VW-Standort im chinesischen 104 | Energiewende Öl und
Ürümqi Gas sind gefragt wie nie

Peter Rigaud / DER SPIEGEL


68 | Digitalkonzerne Eine 108 | Physiknobelpreis Der
neue Super-KI soll Google Forscher Ferenc Krausz will mit
wieder an die Spitze bringen seinen Attoblitzen die Medizin-
diagnostik revolutionieren
72 | Klimawandel Wo die
grüne Transformation neue Jobs 111 | Kläranlagen Coronaviren Ein Rapper bereut
schafft im Abwasser geben wichtige
Nach Vorwürfen mehrerer Frauen redet der Rapper
Hinweise
Kool Savas im SPIEGEL-Gespräch über sein jahrelanges
74 | Geldpolitik Die Inflation
sexistisches Fehlverhalten. | 58
sinkt, die Zinsen bleiben hoch.
Und die Börse? KULTUR

76 | Start-ups Unternehmerin 112 | Retrospektive von Anna


Verena Pausder erklärt im Oppermann / Thriller mit Julia
SPIEGEL -Gespräch, warum Roberts und Ethan Hawke
Frauen selten gründen
114 | Literaturnobelpreis Jon
79 | Mobilität Lohnt Leasing Fosse im SPIEGEL-Gespräch über
bei Dienstfahrrädern? Schreiben als Flucht vor sich selbst

118 | Graphic Novels Barbara


AUSLAND Yelin und ihr berührender Comic
über eine Holocaustüberlebende
82 | Trump will die Diktatur /
Machtkampf in der Ukraine 120 | Essay Historiker Trent-
mann über die Konsequenzen der
84 | Russland Frauen von deutschen »Nie wieder!«-Politik
Soldaten werden für Putin zum
Problem 123 | Filmkritik Das Fantasy-
spektakel »Wonka« Drei haben es geschafft, einer nicht
88 | Rumänien Wie der SPIEGEL-TV-Programm | 14 Bestseller | 117 Als Teenager galt Marius Kunde (2. v. l.) als großes Fußballtalent,
Influencer Andrew Tate Frauen Impressum, Leserservice | 124
Nachrufe | 125 Personalien | 126
er spielte zusammen mit Timo Werner, Serge Gnabry und Joshua
manipuliert Briefe | 128 Letzte Seite | 130 Kimmich. Besuch bei einem, der seinem Traum nachhängt. | 98

Titelbild: DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 7


Die Scheinheiligen
LEITARTIKEL Arabische Staaten und die Uno appellieren an Israel, seine Militäraktion in Gaza zu stoppen. Besser
wäre, sie beteiligten sich am Kampf gegen die Hamas. Mit der Terrormiliz kann es keinen Frieden geben.

besiegen? Was ist Israels Plan für die Zeit danach? Wie
sollen sich die Menschen in Gaza auf verbrannter Erde
und in zerstörter Infrastruktur eine Existenz aufbauen?
Die Fragen sind berechtigt – aber wer sie nur an
Israel stellt, tut so, als liege die Suche nach Antworten
allein in der Verantwortung des jüdischen Staats.
Versöhnung und Nationbuilding sind genauso eine
internationale Aufgabe wie der Kampf gegen eine inter-
national vernetzte und finanzierte Terrormiliz.
Das Emirat Katar hat eine wichtige Vermittlerrolle
bei der Freilassung von Geiseln gespielt. Aber warum
dürfen Hamas-Chefs noch im Luxus in Doha leben,
sich in Propagandafilmen beim freudigen Gebet für das
Massaker inszenieren? Wo bleiben die Initiativen der
Arabischen Liga, von Ägypten oder Saudi-Arabien für
einen Marshallplan für das palästinensische Volk?
Oft wird auf die Zwangslage der arabischen Macht-
haber hingewiesen. Bei versöhnlichen Signalen zu
Israel drohe ihnen der Volkszorn. Diese Zwangslage ist
auch eine selbst geschaffene – allzu oft haben sie das
AFP

Leid der Palästinenser politisch ausgeschlachtet.


Ausschnitt aus wei Monate sind vergangen seit dem Massaker Es gibt gute Gründe, die Politik Israels zu kritisieren:
einem Hamas-Video
vom Überfall
auf das Supernova-
Musikfestival in
Z der Hamas und anderer Extremisten an Zivilisten
in Israel. Während die Kritik aus den arabischen
Staaten und der Uno an Israels Reaktion immer lauter
den aggressiven Kurs der israelischen Rechten, den
Landraub der Siedler, die Blockade Gazas oder die All-
tagsschikanen gegen Palästinenser. Ja, in diesem Krieg
Israel wird, scheinen weite Teile der Welt den Kampf gegen zählt der »Kontext«, wie Uno-Generalsekretär António
die Terrormiliz als eine Art Privatproblem des jü- Guterres sagte, zu dem ein Hardliner wie Benjamin
dischen Staats zu betrachten. Diese Haltung ist schein- Netanyahu mit seinem politischen Zerstörungswerk na-
heilig und verhindert eine Lösung des Konflikts. türlich beiträgt. Das ändert aber nichts daran, dass mit
Der Massenmord des 7. Oktober hat gezeigt, dass der Hamas kein Frieden möglich ist.
die Hamas eine Kampfkraft und Brutalität an den Tag Die wichtigste Plattform für die Suche nach Aus-
legt, die sich mit der des »Islamischen Staats« (IS) mes- wegen wären die Vereinten Nationen. Doch in New York
sen kann. Beide Gruppen töten aus einer mörderischen konzentriert man sich nach anfangs klarer Verurteilung
Ideologie heraus, mit bestialischen Methoden und einer der Hamas-Gräueltaten nun auf Mahnungen gen Israel.
professionellen Inszenierung. Jüngst appellierte Guterres an den Sicherheitsrat, die
Eine Truppe, deren Schlächter Frauen die Genitalien »humanitäre Katastrophe« in Gaza zu stoppen. Ein
verstümmeln, Familien in ihren Häusern verbrennen Appell, der angesichts der schrecklichen Zahl von wohl
und Säuglinge als Geiseln nehmen, hat jede Legitimität mehr als 16.000 Toten in Gaza angebracht ist.
als Stimme der Palästinenser verloren. Die Hamas Doch solange nicht alle Geiseln frei sind, solange
müsste mit der gleichen internationalen Geschlossen- Israel de facto allein gegen die Hamas kämpft, solange
heit und Entschiedenheit bekämpft werden wie ihre IS- Guterres die Uno nicht für die aktive Vermittlung und
Brüder im Geiste in Syrien und im Irak. Doch viele Re- das konzertierte Bemühen um das Existenzrecht von Is-
gierungen scheinen die Hamas wie eine Naturgewalt zu raelis wie Palästinensern nutzt, sind die Statements hohl.
betrachten, mit deren Existenz man sich abfinden muss. Derweil erodiert die Glaubwürdigkeit der Uno. Die
Der IS wurde ab 2014 erfolgreich von einer inter- Frauenrechtsorganisation UN Women verurteilte erst
nationalen Koalition bekämpft, an der sich auch Staaten nach gut 50 Tagen die sexualisierte Gewalt der Hamas.
wie Saudi-Arabien beteiligten. Frankreichs Präsident Die Gesundheitsorganisation WHO prangerte zwar die
Emmanuel Macron hat vorgeschlagen, die Allianz nun Lage im Schifa-Krankenhaus von Gaza an, nicht aber,
Wo bleiben gegen die Hamas einzusetzen. Es sieht nicht danach dass dort Geiseln unter den Augen von medizinischem
aus, als finde sein Vorschlag Gehör. Personal durch die Flure geschleift wurden.
arabische Umso lauter sind die Appelle an Israel, das Bombarde- Auf der jüngsten Generalversammlung, noch vor
Initiativen für ment und das Massensterben der palästinensischen dem Massaker, sagte Guterres: »Die Welt hat sich
Zivilbevölkerung zu beenden – ein Massensterben, das verändert. Die Institutionen aber nicht.« Er sollte aus
einen Gaza- die Hamas bewusst provoziert hat. Israel müsse seine den eigenen Worten die richtigen Schlüsse ziehen.
Marshallplan? Strategie präzisieren, heißt es: Wie will man die Hamas Melanie Amann n

8 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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TITEL

BILDUNGSchülerinnen und Schüler können immer schlechter rechnen. Und oft sind
auch die Eltern keine Hilfe mehr. Warum das Mathematikdesaster den
Wohlstand gefährdet – und was Deutschland von anderen Ländern lernen kann.

W
I R

N U L
L E N
4+6
TITEL

Ein Schock, auch für die Forscher. »Dass Woher rührt die Trendumkehr vom Plus ins

W
es runtergeht, haben wir erwartet«, sagt die Minus, der deutsche Vorzeichenwechsel? Die
Leiterin der deutschen Pisa-Studie, Doris Le- Pisa-Forscher haben zwei Sonderfaktoren aus-
walter. »Aber wie weit die Leistungen abge- gemacht. In der Coronakrise wurden die Schu-
sackt sind, das haben wir in der Form nicht len unvorbereitet geschlossen, häufiger und
kommen sehen.« Ihr Kollege Olaf Köller länger als anderswo. Und: Deutschland hat
spricht von einer »Bildungskatastrophe«. viele Zuwanderer aufgenommen, mehr als an-
In Politik und Wirtschaft fallen die Reak- dere Länder. Beide politischen Entscheidungen,
tionen ähnlich aus. Das Bundesbildungsminis- so gute Gründe es für sie jeweils gab, haben
terium konstatiert ein »generelles Absinken offenbar auf die Lernleistung durchgeschlagen.
des Leistungsniveaus«. Besorgniserregend Die »Corona-Pandemie und die Maßnah-
seien die Resultate, urteilt ein Sprecher der men zu deren Eindämmung«, so heißt es in
Bundesregierung. »Wir brauchen einen fast der deutschen Pisa-Studie, hätten »sicherlich
Während in Berlin gerade die aktuelle Pisa- schon revolutionären Neuanfang in unserem eine Rolle für die Abnahme der grundlegenden
Studie vorgestellt wird, haben sich in Duisburg Bildungswesen«, fordert Arbeitgeberpräsident Kompetenzen der Jugendlichen in Deutsch-
acht junge Leute versammelt. Im Gruppen- Rainer Dulger. »Wenn die Verantwortlichen land« gespielt. Einige Staaten konnten hin-
raum 0520 lernen sie für »Mathematik 1«, jetzt nicht umgehend handeln, ist ein Kompe- gegen trotz der widrigen Umstände ihre Ma-
»Mathematik 2« oder »Mathematik 3«, so tenzverlust nicht mehr aufzuholen.« theleistungen halten oder sogar verbessern,
heißen die Grundlagenscheine, die sie dem- An der Uni Duisburg-Essen hört Dozentin darunter Japan, Singapur und die Schweiz.
nächst in Maschinenbau, Wirtschaftsingenieur- Böttinger, wie sie erzählt, häufig den Satz: Diese Länder verbinden laut Pisa-Studie der
wesen oder Elektrotechnik bestehen müssen. »Das haben wir in der Schule nicht mehr ge- OECD einige Gemeinsamkeiten, »darunter
Wer sich nicht sicher fühlt, darf an fünf schafft.« Manchen Studienanfängern fehlten kürzere Schulschließungen, weniger Hinder-
Tagen pro Woche ins »Ludi« kommen, das ganze Themenblöcke, besonders seit der Co- nisse beim Distanzlernen, fortwährende
Lern- und Diskussionszentrum der Universi- ronapandemie. Einzelne Studierende berich- Unterstützung durch Lehrkräfte und Eltern«.
tät Duisburg-Essen, um dort unter Anleitung teten, dass sie etwa den Satz des Pythagoras Der zweite Sonderfaktor ist für die poli-
seine Aufgaben durchzugehen. An diesem in der Schule nicht behandelt hätten. Wichtig tisch Verantwortlichen nicht minder un-
Dienstag hat Johanna Vornholt, 22 Jahre alt sei es, die Leute nicht reihenweise »rauszu- angenehm. In fast allen europäischen Staaten
und im fünften Semester, den Nachhilfedienst. prüfen«, sagt Böttinger, sondern zu unter- zeige sich »eine geringere mathematische
Johanna hilft, wo sie kann, und erklärt alles stützen. »Von einem Studienabbruch hat nie- Kompetenz bei Jugendlichen aus zugewan-
notfalls immer wieder: Integralrechnung, Dif- mand etwas.« derten Familien im Vergleich zu Jugendlichen
ferenzialgleichungen, aber auch Mengenleh- Deutschland kann sich den Verlust an Zah- ohne Zuwanderungshintergrund«, so steht es
re oder Analytische Geometrie. lenkompetenz schlicht nicht leisten. Schon nüchtern in der Pisa-Studie. Und in Deutsch-
»Wir wollen möglichst niedrigschwellig Hil- jetzt fehlen mehr als 280.000 Fachkräfte in land fällt der Unterschied groß aus, nämlich
fe anbieten«, sagt die Mathematikdozentin Mathematik, Informatik, Naturwissenschaf- 53 Punkte auf der Pisa-Skala. Das Fazit der
Claudia Böttinger. Rund um die Studien- ten und Technik, den sogenannten MINT-Be- Forscher: »Es ist offensichtlich, dass die Inte-
anfänger seien zahlreiche Angebote entstanden, rufen, rechnet der Ökonom Axel Plünnecke gration der Jugendlichen der ersten Genera-
Vorkurse vor Studienbeginn, Hilfe in den ers- vor, Leiter des Bereichs Bildung beim Institut tion in das deutsche Bildungssystem nicht
ten Monaten, ein Intensivkurs vor der Klausur. der deutschen Wirtschaft in Köln. Die gebur- gelingt.« Besser schneiden Staaten ab, die
»Viele merken erst in den ersten Vorlesungen, tenstarken Jahrgänge gingen in den Ruhe- wenig Zuwanderung haben (Japan, Estland)
dass sie nicht mitkommen«, sagt Böttinger. stand, die nachfolgenden Generationen seien oder den Schwerpunkt auf die Fachkräfte-
Hochschulreif sollen die Studienanfänger laut kleiner. »Bisher haben wir darin vor allem zuwanderung legen (Kanada).
Abi-Zeugnis sein. »Doch die Lücke zwischen ein demografisches Problem gesehen«, sagt Das eigentliche Problem allerdings besteht
Schule und Hochschule wird immer größer.« Plünnecke. »Spätestens jetzt wissen wir: Wir darin, dass Deutschland auch ohne diese Son-
Das »Ludi« ist ein akademischer Reparatur- haben nicht nur ein Demografie-, sondern derfaktoren vermutlich schlecht abgeschnitten
betrieb. Dort wird Stoff nachgeholt, den die auch ein großes Qualitätsproblem.« hätte. Der Niedergang hat vielmehr früher be-
Schule hätte lehren sollen. Und nachzuholen
gibt es eine Menge, denn die Deutschen sind
offenbar dabei, das Rechnen zu verlernen.
Die neue Pisa-Studie bescheinigt den
15-Jährigen hierzulande mangelhafte Leistun-
gen, vor allem in Mathematik, dem Schwer-
punkt der aktuellen Untersuchung: ein All-
zeittief seit dem Pisa-Start vor gut 20 Jahren.
Deutschland, einst Land der Techniker und
Tüftler, rangiert im internationalen Vergleich
nur noch im Mittelfeld, überholt von vielen
europäischen Nachbarn und weit abgehängt
von den Mathestrebern Japan und Südkorea.
Für die Schulpolitik sind die neuen Pisa-Zah-
len eine Art Kernschmelze. Mathematik ist ein
Kernfach, es gilt als Indikator für die schulische
Dominik Asbach / DER SPIEGEL

Leistungsfähigkeit insgesamt. Gegenüber der


Voruntersuchung Pisa 2018 sind die Teilnehme-
rinnen und Teilnehmer im Schnitt um fast ein
ganzes Schuljahr zurückgefallen. Der Abwärts-
trend zieht sich durch alle Schulformen, fast ein Studentin Vornholt
Drittel der Alterskohorte zählt zur Kategorie mit Kommilitonin
der »Leistungsschwachen«.

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 3×4−1


TITEL

gonnen, schon vor dem Flüchtlingsherbst 2015 Quick-Fix für 15 oder 20 Jahre Versäumnisse gedeckt, müssen die Kinder die richtige An-
und dem Ausbruch der Pandemie 2020. Und in der Bildungspolitik.« zahl an Tellern, Schüsseln und Besteckteilen
er rührt an einen Punkt, den die Bildungsfor- Anfangen müsste man bei den ganz Kleinen, aus dem Schrank holen, »nachdem sie vorher
scher immer wieder angemahnt hatten: dass und zumindest vereinzelt passiert das auch. gezählt haben, wie viele Kinder und Erwach-
es am Ende auf die Qualität des Unterrichts Eine Pappschachtel, zwei leere Toiletten- sene heute anwesend sind«.
ankomme. Die Schule, das ist ihre Kernauf- papierrollen und eine Handvoll Tischtennis- Einmal im Jahr testen die Fachkräfte, wie
gabe, vermittelt Wissen und Fähigkeiten. Oder bälle, mehr braucht es dafür nicht. Im For- gut sich die Kinder entwickeln. Leiterin Irina
eben nicht. scherraum des Kindergartens Tausendfüßler Cipa erzählt von einem Jungen, der außer-
Bis zur ersten Pisa-Studie vor gut 20 Jah- im Kölner Stadtteil Mülheim hat sich ein gewöhnlich gut puzzeln konnte, er werde nun
ren konnten sich alle das Niveau des Unter- blondes Mädchen über die Schachtel gebeugt. besonders gefördert. An diesem Morgen brü-
richts noch schönreden, die wenigen Studien Auf den Deckel sind zwei Zahlen gesteckt, 2 tet er über einem dreidimensionalen Logik-
dazu interessierten allenfalls die Fachwelt. und 6. Eifrig zählt das Mädchen sechs Bälle spiel.
Dann kam der Schock. Leistungstests wie Pisa ab und steckt sie in die rechte Schachtel. Da- Von dem Argument, man solle die Kinder
und andere sind unerbittllich, sie messen und nach: zwei weitere in die linke. »Gut gemacht. doch einfach in Ruhe spielen lassen, in der
ermöglichen es zu vergleichen: was klappt, Möchtest du jetzt einmal zählen, wie viele du Schule werde schon früh genug gelernt, hält
was hilft, wer wird besser – und umgekehrt. insgesamt hast?«, fragt die Pädagogin Rania Irina Cipa nichts. Kinder seien aus sich heraus
Dass etwa die Lehrerbildung für den Lern- Lösener. Das Mädchen nickt und strahlt. neugierig. »Wenn man sie spielerisch in die
erfolg der Kinder eine wichtige Rolle spielt, Der Kindergarten, der zur Fröbel-Gruppe Welt der Mathematik einführt, merken sie
weiß die Forschung schon lange. Eine gute gehört, einem überregionalen Anbieter, hat nicht einmal, dass sie gerade eine wichtige Ent-
Mathematiklehrkraft müsse immer wieder einen Schwerpunkt im Bereich Mathematik wicklungsaufgabe bewältigt haben«, sagt Cipa.
nachhaken, diskutieren, geduldig sein »und und Naturwissenschaften. »Wir versuchen, Doch der Alltag in den deutschen Bildungs-
nicht gleich die korrekte Lösung zum Nach- überall im Alltag Berührpunkte zu schaffen«, einrichtungen sieht oft anders aus: Spielerisch
machen präsentieren«, sagt Susanne Prediger, sagt Lösener. Wird der Tisch zum Mittagessen ist vermutlich das Letzte, was viele mit dem
Professorin für Mathematikdidaktik an der Matheunterricht verbinden. Stumpfe Auf-
Technischen Universität Dortmund. Zusam- gaben, Kreuzchentests, so hat auch Pawan
men mit der Kultusministerkonferenz und SINKENDE LEISTUNG Kumar den Mathematikunterricht an seiner
Kollegen hat sie QuaMath entwickelt, ein Schule empfunden. Der Lehrer habe nur
Fortbildungsprogramm für Lehrkräfte, das Veränderung der mittleren Kompetenz* durchgenommen, was in den Lehrbüchern
in Mathematik …
lernwirksame Unterrichtskonzepte bundes- stand. Wenig anwendungsbezogen, wenig
weit an Schulen bringen soll. Deutschland OECD-Durchschnitt kreativ. Der 22-jährige Hamburger machte sein
Doch an vielen Brennpunktschulen unter- Abi während der Coronazeit, doch digital sei
richten Lehrkräfte häufig fachfremd, also außer- 510 die Schule kaum gut aufgestellt gewesen, er-
halb ihres erlernten Sujets, zudem gibt es dort 500
zählt er. Er habe Nachhilfe genommen, um
viele Seiten- und Quereinsteiger. »Für eine sich auf die mündliche Prüfung in Mathe vor-
tiefere Diskussion über mathematische Zu- 490 zubereiten. Am Ende bekam er elf Punkte.
sammenhänge fehlt oft die Zeit«, sagt Prediger. 480
475 Inzwischen absolviert Kumar eine Ausbil-
Statt sich auf die Wissensvermittlung zu dung zum E-Commerce-Kaufmann an einer Be-
konzentrieren, wurden die Schulen mit immer 470
472
rufsschule in Hamburg, da geht es viel ums Rech-
neuen Aufgaben überzogen: mit Inklusion, nen. Am Tag nachdem die Pisa-Ergebnisse in
einer Umstellung der Gymnasiumsdauer von Berlin vorgestellt wurden, erarbeitet er ein Kom-
neun auf acht Jahre und zumeist wieder zurück 2006 2009 2012 2015 2018 2022 munikationskonzept für eine fiktive Firma na-
auf neun, mit der Integration von Flüchtlings- mens »F for Fashion«. Zusammen mit drei Mit-
kindern. Politiker, die sich profilieren wollen, Lesen … schülern soll er klären, wie der Kundendienst
fordern gern irgendein neues Schulfach oder 510 verbessert werden kann, ob die Mitarbeiter
zumindest ein neues Unterrichtselement – zu- eventuell auf eine Fortbildung geschickt werden
500
letzt Ministerpräsident Markus Söder (CSU) müssen. »Wenn ich nicht weiterkomme, kann
in Bayern mit der »Verfassungs-Viertelstunde«. 490 ich mich immer an Jessica wenden«, sagt er.
Unterdessen mutierte Mathe, das zentrals- 480 Jessica Brüdgam, 52, ist Kumars Lehrerin.
te aller Kernfächer, zu einem Angst-, besten- 480 In ihrer Klasse sitzen Schülerinnen und Schü-
falls zu einem lästigen Pflichtfach. Die aktu- 470 476 ler, die unterschiedlicher kaum sein könnten,
elle Pisa-Studie erhob unter anderem auch, Pädagogen reden in so einem Fall gern von
welche Emotionen die Befragten mit dem einer »heterogenen Schülerschaft«. Einige
Mathematikunterricht verbinden. Am häu- 2006 2009 2012 2015 2018 2022
von ihnen haben den ersten allgemeinbilden-
figsten genannt: »müde« oder »gelangweilt«. den Schulabschluss in der Tasche, andere den
An Rezepten dagegen mangelt es nicht. So und Naturwissenschaften Mittleren Schulabschluss, es gibt Abiturienten
rief die Deutsche Telekom Stiftung 2010 eine in der Klasse und Geflüchtete, die noch ge-
520
Expertengruppe »Mathematik entlang der brochen Deutsch sprechen.
Bildungskette« ins Leben. Über ein Jahr lang 510 Die Schülerinnen und Schüler müssen an
diskutierte man Probleme der Mathematik- der Berufsschule beispielsweise verstehen, wie
500
vermittlung, in ihrem Abschlussbericht kons- 492 sie Listenverkaufspreise berechnen: Wie hoch
tatieren die Experten: »Die Lehre der Mathe- 490 ist der Einkaufspreis, welche Rabatte gibt es,
matik ist ein ungelöstes Problem.« wie viel kosten Transport und Lagerung? Sie
480 485 müssen die Umsatzsteuer berechnen, den
Dieses Problem bestehe zu großen Teilen
weiter, sagt Jacob Chammon, Geschäftsführer Break-Even-Point, die Gewinnverteilung. Da
der Stiftung. »Wir haben zwar als Gesellschaft braucht es den Dreisatz, Prozentrechnen.
in den vergangenen Jahren viel gelernt über 2006 2009 2012 2015 2018 2022 »Es gibt immer eine Gruppe, die kann das
guten Matheunterricht und teilweise auch * auf einer Skala von 0 bis (theoretisch) über 800 Punkte easy rechnen. Und es gibt immer eine Grup-
Fortschritte gemacht – aber es gibt keinen S Quelle: Pisa-Studie 2022 pe, die hat Schwierigkeiten«, erzählt Brüd-

√ 144
TITEL

gam. Sie habe mehrere Methoden, um auf die


Leistungsniveaus ihrer Schüler einzugehen.
Sie macht etwa offenen, projektorientierten
Unterricht und begleitet die Schülerinnen und
Schüler individuell in ihrem Lernprozess. In
gemischten Teams unterstützen die Stärkeren
die Schwächeren. Das Unterrichtsmaterial ist
differenziert. Manche arbeiten mit originalen
Gesetzestexten im Juristendeutsch, andere
mit Zusammenfassungen in einfacher Spra-
che. »Es ist wichtig, dass die Schüler das
Unterrichtsmaterial verstehen.«

Stephanie Lieske / DER SPIEGEL


Also ist das die Lösung: Schachteln und Bäl-

Lucas Wahl / DER SPIEGEL


le in alle deutschen Kitas, mehr Praxisbezug
und Projekte in den Schulen? Es wäre ein An-
fang, immerhin, aber natürlich müsste sich viel
mehr tun, damit Deutschland zu den Besten
nicht nur aufschaut, sondern aufschließt. Ale-
xander Brand, 28, ist Lehrer für Mathematik
und Physik an der Stadtteilschule Helmuth
Hübener in Hamburg und arbeitet auch als
Bildungsjournalist für das Deutsche Schulpor-
tal. Nach seinem Lehramtsstudium wollte er
wissen, was die Schulen in den Pisa-Sieger-
ländern wie Estland, Japan oder Singapur besser
machen. Also ging Brand auf Bildungsreise.
»Die Grundschule in Japan misst den Basis-
kompetenzen viel Bedeutung zu«, erzählt er.
Jeden Tag habe es in der Schule, die er be-
suchte, zehn Minuten gegeben, in denen die
Kinder übten: 100 Aufgaben auf dem Blatt,
die Schüler riefen »fertig«, wenn sie alles er-
Lucas Wahl / DER SPIEGEL

Lucas Wahl / DER SPIEGEL


ledigt hatten, die Lehrerin stoppte die Zeit,
danach wurde im Schnelldurchgang korrigiert.
»Das wirkt von außen vielleicht erst mal etwas
dröge, natürlich ist das auch Drill«, sagt Brand.
»Aber ich hatte den Eindruck, dass den Kin-
dern das Ganze viel Spaß gemacht hat.« Lehrer Brand, Erzieherin Lösener mit Kind, Schüler Kumar, Lehrerin Brüdgam: Viele kleine Schritte
Brand kontert gängige Sichtweisen auf die
asiatischen Mathe-Wunderländer. »Ich halte Mathematik habe in Deutschland jeden- Das Problem lässt sich noch weiter fassen.
nichts von der Kritik, dass solche Routinen falls ein Imageproblem, sagt Tanja Holstein- Schlechte Rechner kapitulieren vor komple-
Problemlösestrategien im Weg stehen.« Das Wirth, die Geschäftsführende Vorständin der xen Themen wie Klimawandel oder Digitali-
Gegenteil sei der Fall. »Routinen sind die Stiftung Rechnen. »Unter Schülerinnen und sierung. Womöglich schaden sie sogar der
Grundlage dafür, dass man kreativere Auf- Schülern, aber auch unter Erwachsenen ist Demokratie. Sie haben weniger Verständnis
gaben bewältigen kann«, sagt Brand. »Das der Ruf leider nicht gut. Im Gegensatz zu für die Arbeitsweise von Parlamentarismus
ist wie im Sport oder wenn man ein Instru- Menschen, die gern und viel lesen und als und Marktwirtschaft, sie lassen sich leichter
ment lernt: Man muss üben, um anschließend eloquent und gebildet gelten, werden Men- ängstigen. Ein mathematisches Grundver-
kreativ spielen zu können.« schen, die gern und viel rechnen, als trockene ständnis, sagt etwa Wirtschaftsforscher Plün-
Die Kreativität gebe es im japanischen Zahlenmenschen wahrgenommen.« Dem gel- necke, sei unerlässlich, um sich an demokra-
Unterricht durchaus: »Aufgaben, die man te es entgegenzuwirken, beispielsweise bei tischen Prozessen zu beteiligen – »und die
nicht nach Schema F lösen kann, Aufgaben, den Berufsidealen junger Menschen. Die Welt um uns herum zu verstehen«.
bei denen es mehrere Lösungen gibt, Knobel- glaubten teils: »Ich werde Influencer, Mathe In vielen Unternehmen sind die Schwierig-
aufgaben.« Er habe oft beobachtet, wie in brauche ich nicht.« Sie antworte dann: »Auch keiten längst greifbarer, sie zeigen sich im
Japan Schülerinnen und Schüler in Kleingrup- als Influencer muss ich Marketing betreiben Arbeitsalltag. »Ohne Mathematik läuft im
pen an Aufgaben getüftelt und ihre Lösungen und meine Zahlen im Blick haben.« Anlagenbau nichts«, sagt Mark Frankenstein,
diskutiert hätten. Wer nicht richtig rechnen kann, kommt im 32, Kundendienstleiter beim Berliner Hei-
Die deutsche Mathemisere lässt sich wohl Alltag schwer zurecht. Schlechte Rechner tun zungs- und Sanitärfachbetrieb MF Mercedöl.
nur lösen wie eine komplexere Matheaufgabe. sich schwer, Preise im Supermarkt zu ver- »Das beginnt schon bei banalen Dingen wie
Viele kleine Schritte sind nötig, damit am Ende gleichen, geschweige denn Finanzprodukte dem Ausmessen der Grundfläche für den
das richtige Ergebnis steht. Allerdings kreist für die Altersversorgung. Schlechte Rechner Heizkessel und der Kalkulation, ob die De-
die öffentliche Diskussion bislang lieber ums fallen leichter auf Falschinformationen und ckenhöhe für den Ausbau reicht. Nicht selten
große Wort als um die kleine Zahl. »Mehr Bil- gefakte Zahlenrelationen herein. Sie können können Bewerber nicht einmal ausrechnen,
dungsgerechtigkeit«, so ein Slogan, klingt bes- kaum dazu beitragen, Daten wirtschaftlich wie viel 5 Prozent von 30 sind.«
ser als: Bitte mehr verpflichtende Übungsstun- oder wissenschaftlich nutzbar zu machen. Der Der Heizungsfachmann ist nicht überrascht
den fürs betreute Selbstrechnen. Münchner Bildungsökonom Ludger Wöß- von den Ergebnissen der jüngsten Pisa-Studie.
Ist Deutschland nicht mehr das Land der mann schätzt den volkswirtschaftlichen Scha- »Wir registrieren bereits seit Jahren, dass die
Tüftler und Techniker, sondern der Schwafler den der Mathemisere, wenn er sich über Jahr- Lücken in der Schulausbildung immer größer
und Selbstdarsteller? zehnte summiert, auf mehrere Billionen Euro. werden.« Allein 120 Stunden seien im aktuel-

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 39 ÷ 3


TITEL

len Berliner Ausbildungsjahrgang für Anlagen-


SPIEGEL TV Programm mechaniker reserviert, um an den Berufsschu-
len solche Lücken zu füllen.
Für die auszubildenden Betriebe sei das
Nachsitzen ein Problem. Es bleibt weniger
Zeit, um erforderliches Spezialwissen zu ver-
mitteln, bei Anlagenbauern etwa Wärmelehre,
Materialkunde oder Kenntnisse über elektri-
schen Strom. Und auch dafür brauche man
Grundlagen in Mathematik und Physik, so
Frankenstein: »Wer nie etwas von Hebel-
gesetzen gehört hat, kommt womöglich gar
nicht auf die Idee, über die Tragkraft eines
Dachs nachzudenken – oder dass der Aus-
leger eines Krans nicht zu lang sein darf, wenn
da ein schwerer Kessel dranhängt.«
»Die Qualifikationen der Bewerberinnen
und Bewerber haben sich in den letzten Jahren
spürbar zum Negativen entwickelt«, sagt auch
Ariane Reinhart, Vorständin für Personal und

SPIEGEL TV
Nachhaltigkeit bei Continental. »Immer we-
niger Schulabgängerinnen und -abgänger brin-
Reichsbürger K. vor Gericht gen ausreichend gute Mathematikkenntnisse
mit, um den Anforderungen an eine techni-
sche Ausbildung gerecht zu werden.«
SPIEGEL TV Mit 50 Jahren gehen die Lichter aus. Und Thomas Leubner, globaler Leiter Aus-
MONTAG, 11. 12., 23.25 – 0.00 UHR, RTL Diese Erfahrung machen viele Frauen, bildung bei Siemens, sagt über die neue Pisa-
die im Scheinwerferlicht stehen, unge- Studie: »Das Ergebnis hat uns nicht über-
Die Radikalisierung eines achtet ihres Talents und ihrer Beliebtheit. rascht. Die Mathematikkenntnisse haben sich
Reichsbürgers Die Rollenangebote verkümmern zu bei Schulabgängern, die sich bei uns bewerben,
45-mal. So oft schießt Ingo K. bei einer Abziehbildern, abgekämpfte Mütter, seit 2012 leider kontinuierlich verschlechtert.«
Razzia an seinem Wohnort auf Polizei- verlassene Ehefrauen, demente Groß- Siemens sucht 80 Prozent der Auszubilden-
beamte. Das Sondereinsatzkommando mütter stehen zu oft auf dem Programm. den für technische Berufe wie Mechatroniker,
war kurz zuvor angerückt, um dem Der Film »Unsichtbar?« wirft einen Elektrotechnikerinnen oder IT-Spezialisten.
Reichsbürger eine illegale Waffe abzu- kritischen Blick auf die Rolle des Alters »In diesen Berufen ist Mathematik die Spra-
nehmen. Jetzt verurteilte ihn ein Gericht für Frauen in der Filmindustrie und fragt che der Wahl: also Prozentrechnen, Gleichun-
zu 14 Jahren Haft. Wie und wann wurde Schauspielerinnen, Regisseurinnen und gen lösen oder Geometrie sind unentbehr-
der ehemalige Personenschützer zum Produzentinnen nach ihren Erfahrungen. liche Fähigkeiten«, sagt Leubner.
Staatsfeind? Ähnlich im kaufmännischen Bereich. Mit-
arbeiter müssten Statistiken interpretieren und
Deutscher Bürokratie-Wahnsinn ARTE RE: mathematische Zusammenhänge analysieren
Immer neue Vorschriften, Anträge, Proto- DIENSTAG, 12. 12., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE können. Dabei gehe es nicht um die Mathe-
kolle und Listen – Deutschland droht noten, sondern um die tatsächlichen Kennt-
sich zu verzetteln. Das kostet Unterneh- Papageientaucher-Patrouille nisse – und die bessert Siemens in Eigenregie
men viel Geld. Wenn bei Metzgereien auf Island auf. Inzwischen absolviert jeder neue Siemens-
das Regelwerk größer ist als die Auswahl Azubi einen Mathetest. Danach bekommt er
der Wurstsorten oder in Bäckereien oder sie im Rahmen des Programms »Fit für
mehr Aktenberge als Brötchen produziert Mathematik« passgenaue Nachhilfe.
werden, dann läuft was schief im Leubner bemängelt vor allem, dass den Schü-
ehemaligen Wirtschaftswunderland. lern und Schülerinnen nicht vermittelt werde, für
welche konkrete Anwendung sie Mathe lernen.
»Daher kommt oftmals ein zu geringes Interesse«,
3SAT KULTURDOKU sagt er. Siemens schickt daher Experten an die
SPIEGEL TV

SAMSTAG, 16. 12., 19.20 – 20.00 UHR, 3SAT Schulen, um den Praxisbezug zu vermitteln.
»Der Pisa-Test ist ein Weckruf, aber wir
Unsichtbar? sollten auch nicht alles schwarzmalen«, sagt
Papageientaucher auf Heimaey
Schauspielerinnen ab 50 der Siemens-Manager noch. Die Schüler
In Island leben weltweit die meisten brächten schließlich auch neue Qualitäten mit.
Papageientaucher. Die pummeligen »Sie können durch die Bank mehr Englisch,
Vögel mit dem bunten Schnabel können sind wesentlich besser in der Lage, selbst The-
nicht gut fliegen, und ihr Fleisch gilt men zu präsentieren, und sind bereit, Neues
gebraten als Delikatesse. Doch jedes spielerisch zu lernen.«
Jahr brüten weniger Puffins, wie die Tiere Was in seiner lobenden Liste der mit-
im englischen Sprachraum heißen, auf gebrachten Kompetenzen leider fehlt: irgend-
Island. Das ruft Tierschützer auf den was mit Zahlen.
SPIEGEL TV

Plan: Sie gehen regelmäßig auf Patrouille, Silke Fokken, Jan Friedmann, Simon Hage, Kristin
um verirrte Papageientaucherküken Haug, Martin Hesse, Armin Himmelrath, Michael
Künstlerin Ulrike Kriener zu retten. Kröger, Miriam Olbrisch, Swantje Unterberg n

20 2 − 386
TITEL

Hongkong ist das nicht so. Die Schüler haben


Angst, sich zu blamieren, wenn sie etwas
Falsches sagen.

LAURIDS SCHRAUT,

KOPFRECHNEN 19, AUS GÖTTINGEN


WAR IM SCHULJAHR
2020/21 AN

IN JAPAN EINEM GYMNASIUM


IN PAIDE IN ESTLAND
Ich hatte nie Schwie-
rigkeiten in Mathe,
PROTOKOLLE Was läuft in Pisa-Gewinnerländern im Matheunterricht auch den Stoff in Est-

Rosa Bremer
land fand ich nicht an-
anders, was besser? Austauschschüler berichten von ihren Erfahrungen. spruchsvoller. Aber
pädagogisch war das
HANNA, 16, AUS KOCHI le in Hamburg gibt es in Mathe nur wenig echt ein Unterschied.
IN JAPAN BESUCHT Gruppenarbeit, oft habe ich das Gefühl, es Die Beziehung zwischen Schülern und Leh-
FÜR ZEHN MONATE melden sich nur die leistungsstarken Schüler. rern war viel freundlicher, mehr auf Augen-
DAS GYMNASIUM Die anderen steigen aus, wenn sie etwas nicht höhe als an meiner Schule in Göttingen, wir
RAHLSTEDT verstehen. Wenn die Eltern es ihnen dann haben uns geduzt. Die Mathelehrerin hat sich
IN HAMBURG nicht zu Hause erklären können, sind sie viel Zeit für uns genommen. Wenn man ein
Zwischen dem Mathe- abgehängt. Thema nicht verstanden hat, hat sie angebo-
unterricht in Deutsch- ten, sich vor dem Schulbeginn zu treffen. Das
land und in Japan gibt JENNA, 16, AUS HONGKONG BESUCHT
Claudia Dziallas

habe ich einmal genutzt, für eine halbe Stun-


es einen großen Unter- FÜR ZEHN MONATE EIN GYMNASIUM de waren wir nur zu fünft, die Lehrerin hat
schied: Wir benutzen IN NEUSTADT IN HOLSTEIN alles noch mal erklärt und ist auf jede Frage
in Japan keinen Ta- In Hongkong haben wir vier bis fünf Stunden eingegangen. Das ist ein tolles Angebot, sozial
schenrechner. An mei- Mathematik die Woche. Hier sind es nur gerecht, weil kostenlos, und total nieder-
ner deutschen Gastschule lerne ich gerade, mit drei – und 10 bis 15 Minuten davon gehen schwellig, weil man sich nicht privat kümmern
dem Gerät umzugehen, und wenn es geht, meistens für den Raumwechsel drauf. In oder Geld bezahlen muss. Außerdem fängt
rechne ich die Aufgaben lieber schriftlich aus. Hongkong hat jede Klasse einen eigenen die Schule nie vor halb neun an. Insgesamt
Die Stimmung und die Unterrichtsmethoden Raum, da kann das nicht passieren. Und die war der Schulbesuch in Estland ein Kultur-
gefallen mir in Deutschland aber besser. Zu Klassen sind mit 25 Schülern etwas kleiner. schock, aber im positiven Sinn. Die Schule
Hause sind 50 Schüler in der Klasse, die vor Inhaltlich unterscheidet sich der Unterricht war topmodern und sehr gut ausgestattet. In
allem dem Lehrer vorn zuhören. Was er sagt, nicht groß, auch die Ausstattung der Schulen jeder Klasse gab es zwei Whiteboards, und
stimmt, wir diskutieren oder widersprechen ist ähnlich. Die Schülerinnen und Schüler in die Lehrer wussten, wie man sie einsetzt. Die
nicht. Der Leistungsdruck ist sehr hoch und Hongkong pauken aber viel mehr, die Kon- Klassenräume waren größer und gemütlich
die Angst groß, etwas falsch zu machen. Wir kurrenz und der Leistungsdruck sind höher. eingerichtet. In der Fünfminutenpause konn-
haben viel mehr Matheunterricht, jede Woche Die Atmosphäre an meiner Gastschule gefällt te man sich auf den Sitzsäcken echt mal ent-
sechsmal 50 Minuten. Neben Schule, Lernen, mir besser als zu Hause, die Schüler haben spannen. Ich glaube, das wirkt sich auch auf
Essen und Schlafen bleibt nicht mehr viel Zeit. weniger Stress, und es gibt kaum Konkur- das Lernen aus.
renzdenken. Meine Mitschüler hier beteiligen
MARTJE REHLING, 18, sich am Unterricht, sind aktiv und melden LENNART WINTER, 18, GYMNASIAST
GYMNASIASTIN AUS sich. Wenn sie nicht sicher sind, ob die Ant- AUS HAMBURG, WAR IM
HAMBURG, WAR wort stimmt, probieren sie es einfach. In SCHULJAHR 2021/22 IN KELOWNA, KANADA
IM SCHULJAHR 2021/22 Ich bin nach der zehnten Klasse nach Kana-
IN CASTLEBLAYNEY IN da gegangen. An meiner Austauschschule
IRLAND DEUTSCHES MITTELMASS konnte ich aus verschiedenen Mathekursen
In Irland hatten wir je- auswählen. Ich habe »Calculus 12« genom-
den Tag Mathe und Top-7-Länder mit den höchsten Mittel- men, eigentlich ein Kurs für die zwölften
werten* in mathematischer Kompetenz
haben die Grundlagen der 15-Jährigen in OECD-Staaten Klassen, aber ich kannte fast den ganzen
so besser stärken kön- Stoff schon aus Deutschland. Im Unterricht
nen. Wir haben meist 480 500 520 540 saß jeder an Einzeltischen und musste die
Privat

in Gruppen gearbeitet, 1. Japan Aufgaben allein lösen. Ich hatte das Gefühl,
leistungsstärkere Schü- 2. Südkorea der Lehrer hat mich freundlicher bewertet,
ler konnten schwächeren Schülern so Dinge 3. Estland weil ich Austauschschüler war. Mir gefällt
erklären, die sie nicht verstanden haben. Wir 4. Schweiz der Matheunterricht in Hamburg besser,
haben zwischendurch immer wieder Tests 5. Kanada unser Lehrer nimmt jeden mit. Wenn sich
geschrieben, die aber nicht bewertet wurden. 6. Niederlande niemand meldet und er merkt, jemand
Der Lehrer wollte nur sehen, wo wir noch kommt nicht hinterher, erklärt er es noch
7. Irland
Lücken haben. Manchmal haben wir am Ende mal. Aber insgesamt hat die kanadische
eines Themas auch ein Kahoot gemacht, das zum Vergleich: Schule mehr geboten: Es gab Kurse, in denen
ist ein Quiz auf einer Lernplattform. Der 21. Deutschland wir gelernt haben, wie man Videospiele ent-
Unterricht war generell sehr anwendungsbe- 25. OECD- wickelt, in der Wildnis überlebt oder Autos
zogen, wir mussten beispielsweise ausrech- Durchschnitt repariert.
nen, wie viel Steuern wir bei einem gewissen * auf einer Skala von 0 bis (theoretisch) über 800 Punkte Aufgezeichnet von Kristin Haug,
Einkommen zahlen müssen. An meiner Schu- S Quelle: Pisa-Studie 2022 Swantje Unterberg n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 7,5 × 2


TITEL

»DIE SCHEITERN 100 kg 500 €


AM DREISATZ«
1 kg 5€
STUDIEN Der neue Pisa-Test stellt der deutschen Politik ein
miserables Zeugnis aus. Doris Lewalter koordiniert
die Untersuchung hierzulande, Olaf Köller entwickelt Konzepte 104 kg 520 €
für Matheunterricht. Hier erklären sie, wie
sich der Absturz seit langer Zeit angebahnt hat.

Lewalter, 58, ist Professorin für Formelles weil diese Jugendlichen in der Berufsschule 50 Punkte verloren, das entspricht etwa ein-
und Informelles Lernen an der Technischen scheitern. einhalb Schuljahren. Ein bitteres Ergebnis.
Universität München sowie Vorstandsvor- SPIEGEL: Am Gymnasium hingegen erreichten Und auch am Gymnasium fallen mittlerweile
sitzende des Zentrums für internationale die Schülerinnen und Schüler durchschnittlich vier Prozent der Jugendlichen in die Kate-
Bildungsvergleichsstudien. Köller, 60, ist Pro- 546 Punkte – mehr als der Durchschnitt der gorie »leistungsschwach«. Vor zehn Jahren
fessor für Empirische Bildungsforschung an Jugendlichen im neuen Pisa-Spitzenreiterland war es noch weniger als ein Prozent. Insge-
der Universität Kiel sowie wissenschaftlicher Japan. Ist die Welt hier also noch in Ordnung? samt hat sich die Gruppe der Leistungsstarken
Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik Lewalter: Mitnichten. Im Vergleich zu 2009 fast halbiert, seit Mathematik 2012 zuletzt als
der Naturwissenschaften und Mathematik. haben die Gymnasiasten in Mathematik rund Schwerpunkt bei Pisa getestet wurde.

SPIEGEL: Frau Lewalter, Herr Köller, wie wür-


den Sie das deutsche Pisa-Zeugnis mit einem
Wort zusammenfassen?
Köller: Bildungskatastrophe. Pisa-Schock gin-
ge auch, aber das ist ja schon besetzt. Der
Begriff wurde nach der ersten Studie 2001
verwendet.
SPIEGEL: Schock? War es nicht absehbar, dass
die Schülerleistungen nach der Pandemie ein-
brechen?
Lewalter: Dass es runtergeht, haben wir er-
wartet. Andere Studien aus den vergangenen
Monaten hatten darauf hingewiesen. Aber
wie weit die Leistungen abgesackt sind, das
haben wir in der Form nicht kommen sehen.
Im Vergleich zu 2018 haben wir in Mathema-
tik 25 Punkte verloren. Das entspricht fast
einem ganzen Schuljahr.
Köller: Was mir Sorgen macht, ist die Größe
der Risikogruppe in Mathematik. Rund
30 Prozent der 15-Jährigen fallen in die Kate-
gorie »leistungsschwach«, acht Prozentpunk-
te mehr als 2018.
SPIEGEL: Was bedeutet das konkret?
Köller: Ihre mathematischen Kenntnisse lie-
gen etwa auf dem Niveau der fünften oder
sechsten Klasse. Bestenfalls. Die scheitern
garantiert am Dreisatz. In unserem Ausbil-
dungssystem wird es schwierig sein, mit die-
sen Kompetenzen eine Nische zu finden.
Lewalter: Wenn sie in eine Ausbildung finden,
werden sie ohne weitere Förderung in Ma-
thematik und im Lesen an der Berufsschule
erhebliche Schwierigkeiten bekommen. Vie-
Max Eicke / DER SPIEGEL

le sind nicht in der Lage, aus einem Fachbuch


Wissen aufzunehmen.
Köller: In einfachen Ausbildungsberufen wie
Lackierer oder Friseurin liegen die Abbruch- Pisa-Leiterin Lewalter
quoten teilweise bei über 50 Prozent – auch

80 ÷ 5
TITEL

Köller: Das ist vor allem deshalb bemerkens- nur wenige Anknüpfungspunkte zur Lebens- umsteigen zu können. Das haben andere Län-
wert, weil sich die Schülerschaft am Gymna- welt. Jugendliche stellen sich die Frage: Wa- der besser hinbekommen, etwa Estland.
sium in den vergangenen zehn Jahren kaum rum soll ich das lernen? Mangelnde Motiva- Köller: Das Ifo-Institut in München hat ja auch
verändert hat. Die Gymnasien tragen nicht die tion schlägt sich dann letztlich auch in der festgestellt, dass wir in der ersten Schulschlie-
Last der Inklusion von Kindern mit sonder- Leistung nieder. ßung fast eine Halbierung der Arbeitszeit
pädagogischem Förderbedarf, nicht die Last SPIEGEL: Welchen Anteil hat die Pandemie hatten. Statt 7,3 Stunden lernten die Kinder
der Integration zugewanderter Kinder und am Leistungseinbruch? und Jugendlichen ungefähr 4 Stunden am Tag.
Jugendlicher. Das Gymnasium kann sich nicht Köller: Ich warne ganz ausdrücklich davor, die Da ist eine Menge Lernzeit verloren gegan-
damit herausreden, dass die falschen Schüler Ergebnisse allein der Coronapandemie zuzu- gen. Manche Schülerinnen und Schüler waren
kommen. Es liegt an der Unterrichtsqualität. schreiben. Der Abwärtstrend hat schon 2012 komplett vom Onlineunterricht abgeschnit-
SPIEGEL: Inwiefern? begonnen. Die Pandemie hat diesen Effekt ten, etwa weil es in ländlichen Regionen teil-
Lewalter: Aus den Daten zur Lernmotivation verstärkt. Wir wissen aus anderen Studien, weise noch immer kein Breitbandinternet
erkennen wir, dass der Unterricht die Schü- dass im Mittel 10 Punkte im Lesen und gibt. Da wurden Aufgabenzettel zu Hause in
lerinnen und Schüler nicht mehr so gut er- 18 Punkte in Mathematik auf das Konto der die Briefkästen geworfen. Oft haben die Schü-
reicht – gerade am Gymnasium. Zwischen Pandemie gehen. lerinnen und Schüler sehr lange auf Rück-
2012 und 2022 gab es einen massiven Ein- SPIEGEL: Woran liegt das genau? An den meldung zu ihren Arbeitsergebnissen gewar-
bruch bei der Freude und dem Interesse am Schulschließungen? tet. Das demotiviert zusätzlich.
Fach Mathematik. Der Unterricht, der damals Lewalter: In Deutschland waren die Schulen SPIEGEL: Die Daten für die Pisa-Studie wurden
gut und passend war, passt offenbar nicht länger ganz oder teilweise geschlossen als im im Frühjahr 2022 erhoben. Die letzten Teil-
mehr zu den Jugendlichen von heute. Sie se- Durchschnitt der OECD-Länder, das stimmt. schließungen lagen noch nicht lange zurück,
hen darin keinen Nutzen für ihr Leben. Aber die internationalen Pisa-Daten zeigen, die Aufholprogramme waren noch nicht über-
SPIEGEL: Weil Computer die lästige Rechen- dass man die Schließtage nicht eins zu eins in all angelaufen. Kann es sein, dass Sie einfach
arbeit übernehmen werden? Leistungsabfall umrechnen kann. Wir wissen einen schlechten Zeitpunkt erwischt haben?
Lewalter: Wir beobachten, dass es im Unter- auch, dass Deutschland auf den Distanzunter- Köller: Eine internationale Metaanalyse zeigt:
richt häufig schlichte Berechnungen und ein- richt nicht gut vorbereitet war. Die digitale Bis zum Ende des vergangenen Jahres gibt es
fache Anwendungsaufgaben gibt. Eine Art Ausstattung war nicht von vornherein in dem nirgendwo Evidenz dafür, dass Lücken ge-
Rechentraining, relativ wenig kreative Aus- Ausmaß vorhanden, wie wir sie gebraucht schlossen wurden. Im Gegenteil, aus der For-
einandersetzung mit Mathematik. Da gibt es hätten, um nahtlos in den Distanzunterricht schungsliteratur wissen wir, dass sich Defizi-
te, die in Zeiten von Schulschließungen ent-
stehen, mit der Zeit verschärfen können. Es
gibt eine große Studie über pakistanische
Drittklässler, die nach einem Erdbeben für
etwa ein Drittelschuljahr nicht beschult wer-
den konnten. Und am Ende der zehnten Klas-
se hatten die ein ganzes Schuljahr verloren.
SPIEGEL: Welche Lehren sollten wir aus der
Pandemie ziehen?
Lewalter: Wir müssen die Digitalisierung mit
aller Vehemenz weiter vorantreiben. Mit di-
gitalen Medien sinnvoll zu lernen muss kon-
tinuierlich geübt werden. Es muss so selbst-
verständlich werden, dass es im Falle einer
neuen Pandemie kein Hemmschuh ist. Die
Arbeit mit digitalen Materialien ist außerdem
nicht nur während einer Pandemie sinnvoll,
sondern bietet tolle Möglichkeiten, komplexe
Sachverhalte zu vermitteln – sofern sie sinn-
voll eingesetzt werden.
SPIEGEL: Es heißt, im Zuge der Pandemie hät-
ten Deutschlands Schulen einen Digitalisie-
rungsschub erhalten. Wie steht es darum?
Köller: Schulen haben fast flächendeckend
Lernplattformen. Lehrkräfte können hier
Material ablegen, Schüler können darauf zu-
greifen. Und fast alle haben inzwischen mit
Videokonferenzsystemen gearbeitet. Was per-
spektivisch ein Problem sein wird, ist die Er-
neuerung der Hardware. Es ist kein Geheimnis,
dass die Schulen in der Pandemie alles gekauft
haben, was auf dem Markt verfügbar war. Da
war viel Schrott dabei. Ein Tablet für 150 Euro
kann man nach zwei Jahren wegwerfen. Da
gibt es keine Updates mehr, die Geräte wer-
Kaja Grope / DER SPIEGEL

den nicht mehr gepflegt. Wie kriegt man lang-


fristig eine Finanzierung hin?
SPIEGEL: Sie spielen an auf den Digitalpakt
Bildungsforscher Köller 2.0, den die Ampel im Koalitionsvertrag in
Aussicht gestellt hat …

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL DIE SIEBTKLEINSTE PRIMZAHL


TITEL

Köller: … und der wegen der aktuellen Haus- SPIEGEL: Bei neu zugewanderten Schülerin- Lewalter: Ein Schulsystem lässt sich nicht ko-
haltslage auf Eis liegt. Eine Streichung wäre nen und Schülern scheint die Herausforde- pieren. Ob ein System funktioniert, hängt von
ein fatales Signal. rung größer. Im Bericht zur Pisa-Studie findet zahlreichen Faktoren ab, etwa von der Ge-
SPIEGEL: Welchen Anteil trägt die Bildungs- sich der Satz: »Es ist offensichtlich, dass die sellschaftsstruktur oder der Bildungsaspira-
politik in Deutschland am Leistungsabfall? Integration der Jugendlichen der ersten Ge- tion der Bevölkerung. Finnland mit seiner
Köller: Einen erheblichen. neration ins deutsche Bildungssystem nicht Einheitsschule war jahrelang erfolgreich.
Lewalter: Zwischen Pisa 2000 und Pisa 2012 gelingt.« Doch deshalb wäre es kein Erfolgsgarant, das
haben die mathematischen Kompetenzen Köller: Die Grundkenntnisse in Deutsch und Gymnasium abzuschaffen und die Einheits-
auch dank guter Förderprogramme stetig zu- Mathematik werden zu wenig trainiert. Da- schule einzuführen. Es gibt auch zahlreiche
genommen. Wir hatten uns vom OECD- rauf baut die weitere Schulkarriere auf. Wir Länder mit Einheitsschule, die deutlich
Schnitt nach oben abgesetzt. wissen aus zahlreichen Studien, dass diese schlechter abschneiden als wir. Es kommt da-
Köller: Doch schon damals warnte der Bil- Grundkenntnisse zentral sind. Hamburg und rauf an, wie der Unterricht gestaltet ist. Das
dungsforscher Jürgen Baumert in einem Inter- Schleswig-Holstein immerhin haben die An- ist das Wesentliche.
view, dass sich die Schülerschaft in den fol- zahl der Mathestunden in der Grundschule Köller: Finnland ist keine Erfolgsgeschichte.
genden Jahren stark verändern werde. Die erhöht, einige andere Bundesländer haben Das Land hat seit der ersten Pisa-Studie 2001
Geburtenkohorten der Jüngsten zeigten be- mehr Lesezeit eingeführt. Das ist ein Anfang. mit am meisten verloren.
reits, dass wir deutlich mehr Zuwandererkin- Aber es wird nicht reichen, um die Leistungs- Lewalter: Und in Japan, einem Inselstaat,
der aus benachteiligten Familien an unseren schwachen so zu fördern, wie sie es brauchen. hatte die Pandemie einen anderen Verlauf
Schulen haben würden. Baumert hat den SPIEGEL: Die Bundesregierung verweist bei als bei uns. Die Schulen waren nicht oder
16 Kultusministern deutlich gesagt: Wenn solcher Kritik auf ihr Startchancenprogramm, höchstens an ein paar Tagen geschlossen.
wir nicht sofort zusätzliche systematische das im nächsten Sommer beginnen soll. 4000 Gleichzeitig geht die Zuwanderung dort
Förderung aufsetzen, wird der ganze Vor- Schulen in schwierigen Lagen sollen zusätz- gegen null.
sprung verloren gehen. Die Warnungen sind liche Unterstützung bekommen. Köller: Auffällig finde ich, dass Japan, aber
verhallt. 2015 kam die neue Zuwanderungs- Köller: Ganz ehrlich, meine Prognose ist: Es auch andere asiatische Länder wie China und
welle hinzu, und wieder geschah kaum etwas. wird nicht schaden, es wird aber auch nichts Singapur sehr modernen, ansprechenden
Und nun ist genau das passiert, wovor Baum- nützen. Unterricht machen. Lehrkräfte stellen intel-
ert gewarnt hat. SPIEGEL: Das müssen Sie erklären. ligente Aufgaben, die mehrere Lösungen er-
SPIEGEL: Was genau wurde versäumt? Köller: Wenn wir Gebäude sanieren, eine wei- lauben. Die Lehrer wissen in der Regel vorher,
Köller: Es gab nach 2000 zunächst eine regel- tere Sozialarbeiterin an die Schule schicken welche Schüler welche Lösungen entwickeln
rechte Offensive, etwas für Schulen zu tun und der Schule noch ein bisschen Geld geben, werden – und in dieser Reihenfolge rufen sie
und systematische Sprachförderung in die das sie nach eigenen Maßstäben ausgeben die Klasse auf. Als Letztes kommt dann der
Kitas zu bringen. Das ist alles verpufft. Dabei darf, dann ist das bestimmt nicht falsch. Aber dran, der die Musterlösung erarbeitet hat.
ist Förderung im Kindergarten ein zentraler ich kann mir nicht vorstellen, dass die be- Davon abgesehen produzieren solche Pilger-
Schlüssel, um Probleme frühzeitig zu erken- nachteiligten Jugendlichen deshalb besser reisen aber vor allem CO2. Denn die Wissen-
nen und zu beheben. Leider passiert das rechnen lernen. Hinzu kommt: Obwohl es schaft hierzulande weiß längst, was unser
Gegenteil. Die Benachteiligung verschärft erwiesenermaßen falsch ist, wollten die Bun- Bildungssystem braucht, um besser zu wer-
sich teilweise durch frühpädagogische An- desländer wohl wieder einen erheblichen Teil den. Nur setzen wir es nicht um.
schauungen, die nicht besonders bildungs- der Gelder nach dem Königsteiner Schlüssel Lewalter: Wir brauchen endlich verbindliche
freundlich sind. Viele betrachten die Kita als verteilen. Mit der Gießkanne. Alle sollen was Sprachtests im Kindergartenalter – mit ent-
letzte Bastion vor der grausamen Schule. abbekommen, ob sie es brauchen oder nicht. sprechenden Konsequenzen. Hamburg hat
Dabei sollte sie ein Bildungsort sein – viel- SPIEGEL: Auch die neue Pisa-Studie zeigt: Ka- damit beachtliche Erfolge erzielt. Werden
leicht sogar der wichtigste. Wenn wir auf die nada hat sehr viele Einwanderer und schnei- beim Test Defizite festgestellt, müssen die
mathematischen Vorläuferfähigkeiten schau- det trotzdem regelmäßig gut ab. Kinder eine Vorschule mit entsprechender
en, gibt es Kinder, die hängen am Tag der Lewalter: Die dortige Migrationspolitik ist Förderung besuchen. Die Wissenschaft for-
Einschulung schon rund 1,5 Jahre hinterher. sehr selektiv. Es ist Arbeitsmigration auf sehr dert das seit Jahren.
Diese Lücken dann zu schließen ist praktisch hohem Ausbildungsniveau, es gibt in Kanada SPIEGEL: Warum passiert so wenig? Sie beide
unmöglich. vergleichsweise wenige Geflüchtete, unter sitzen in der Ständigen Wissenschaftlichen
SPIEGEL: Wie kommen diese Unterschiede denen natürlich Menschen verschiedener Bil- Kommission (SWK) und beraten die Kultus-
zustande? dungsgrade sind. Gleichzeitig sorgt das dor- ministerkonferenz. Hört die nicht auf Sie?
Lewalter: Wir kümmern uns zu wenig um be- tige System dafür, dass vorwiegend Menschen Köller: Wahlen und Veränderungen im Kabi-
nachteiligte Kinder. Sprache ist hierbei ein mit sehr guten Englischkenntnissen einwan- nett führen oft dazu, dass Dinge, die auf den
besonderes Problem. Fast in allen OECD- dern. Das macht es leichter. Mit Deutschland Weg gebracht wurden, vergessen oder nicht
Staaten haben Kinder mit Zuwanderungs- lässt sich das nicht vergleichen. mehr priorisiert werden. Jedes Ende einer
hintergrund geringere Kompetenzen als Kin- SPIEGEL: In der Vergangenheit pilgerten Legislaturperiode birgt diese Gefahr. Bei den
der ohne. Doch in Deutschland ist das be- Bildungspolitiker gleich scharenweise ins Corona-Aufholprogrammen haben wir von
sonders stark ausgeprägt. Pisa-Musterland Finnland, um vom Sieger der SWK im Auftrag der Kultusministerkon-
SPIEGEL: Gelingt es Deutschland zumindest, zu lernen. Sollen wir jetzt Flüge nach Japan ferenz früh ein Papier veröffentlicht. Darin
die hier geborenen Kinder aus Zuwanderer- buchen? haben wir dazu geraten, besonders die be-
familien zu fördern? nachteiligten Kinder und Jugendlichen zu
Lewalter: Tatsächlich haben sie bei Pisa im fördern, weil die Lücken bei ihnen besonders
Vergleich zu 2012 sogar weniger Punkte ver- groß waren. Am Ende lief das Programm am
loren als die Schüler ohne Migrationshinter- »DIE GRUNDKENNTNISSE Gymnasium nicht viel anders als am sonder-
grund. pädagogischen Förderzentrum – weil die Sor-
Köller: Bei einigen Herkunftsländern, etwa IN DEUTSCH UND ge bestand, dass die Eltern der Gymnasiasten
Polen, unterschieden sich die Leistungen der MATHEMATIK WERDEN ZU sonst protestieren.
zweiten Generation im Mittel nicht mehr von Lewalter: Politik folgt ihren eigenen Spiel-
denen der Schülerinnen und Schüler ohne WENIG TRAINIERT.« regeln.
Migrationshintergrund. Olaf Köller, Forscher Interview: Susmita Arp, Miriam Olbrisch n

1 + 23 + 32
TITEL

r=1 2 das Buch »Das neue Lernen heißt verstehen«


des Hirnforschers Henning Beck.

WAS BEDEUTEN
DIE PISA-ERGEBNISSE

WARUM NICHT MAL FÜR ELTERN?


Nicolas Klupak emp-
fiehlt den Eltern Ge-

FORMELN RAPPEN? lassenheit und argu-


mentiert mit Mathe-
matik: »Die Pisa-

Benedikt Köglmeier
Ergebnisse sind ein
RATSCHLÄGE Ein Millionenpublikum folgt ihren Nachhilfekursen statistischer Durch-
schnittswert, der El- Klupak
auf YouTube & Co: Hier erklären drei Mathfluencer, wie Kinder und Eltern tern und ihre Kinder
mehr Spaß und Erfolg beim Rechnen haben können. nicht direkt betrifft.«
Als Motivationsquelle für mehr eigene An-
strengungen im Unterrichtsfach Mathe eigne
Daniel Jung hat mal Mathe und Sport studiert, Ausprobieren, Verstehen und Weiterlernen. sich der Schulleistungsvergleich daher über-
dann aber abgebrochen – und erklärt Mathe- Deshalb gelte es, vor allem am Anfang viele haupt nicht.
matik heute in Videos, die 60 Millionen Mal richtige Ergebnisse zu produzieren: »Dafür Natürlich gebe es nach der Veröffent-
pro Jahr geklickt werden. Nicolas Klupak kann auch der Schwierigkeitsgrad mal runter- lichung der Daten Handlungsbedarf, sagt
kommt bei TikTok unter dem Namen »Ma- gefahren werden.« Klupak – aber nicht zwingend aufseiten der
theMitNick« auf mehr als 600.000 Follower, Klupak will das allerdings nicht als Plädo- Eltern: »Für die ist das nun wirklich keine
bei Instagram noch einmal auf über 200.000. yer für anspruchsloses Herumrechnen ver- Katastrophe, höchstens für das Bildungs-
Und Johann Beurich hat vor Kurzem seine standen wissen – sondern vor allem als Ab- system insgesamt.«
Doktorarbeit in Operatortheorie abgegeben sage an Leistungsdruck, wie er allzu oft durch
und rappt als »DorFuchs« über Zahlen. Sein Eltern erzeugt werde. »Mathe lernen ist wie WIE FINDEN ELTERN GUTE MATHEANGEBOTE
Video über binomische Formeln wurde bereits Laufen lernen«, sagt Klupak, der auch eine IM NETZ?
4,8 Millionen Mal aufgerufen. Nachhilfeschule betreibt und da »zu 90 Pro- Vertrauenswürdige Inhalte seien wichtig, sagt
zent« Mathenachhilfe und Mathekurse an- Daniel Jung. Und ob ein Creator von mathe-
WIE MACHT MATHE bietet: »Du lernst Mathe nur, wenn du immer matischen Erklärfilmen etwas tauge, zeige
SPASS? mal wieder hinplumpst, wieder aufstehst und sich beispielsweise an seinen Follower-Zahlen,
Erster Schritt: Dis- weitermachst. Fehler gehören dazu – und an seinem Werdegang, aber auch an Preisen
tanz zu schulischen dementsprechend auch eine fehleroffene At- und Auszeichnungen für das Engagement und
Erfahrungen schaffen, mosphäre im Elternhaus.« bei einem Blick auf die Quellen eines Videos.
sagt Johann Beurich. Und: Mathe lasse sich überall spielerisch Außerdem könnten sich Eltern untereinan-
»Matheunterricht ist in den Alltag integrieren. Etwa bei der Frage, der, mit Lehrerinnen und Lehrern und auch
leider manchmal eine in wie vielen unterschiedlichen Reihenfolgen mit Kindern und Jugendlichen darüber aus-
Antiwerbekampagne, man fünf Bücher nebeneinander ins Regal tauschen, welche Angebote es gibt und wel-
Johann Beurich

die man mal über- stellen kann (5 mal 4 mal 3 mal 2 mal 1) oder che Erfahrungen damit gemacht wurden.
Beurich arbeiten muss.« In beim Sprudelkastenrechnen mit 3 mal 4 Kosten müssen dafür nicht anfallen. »Sogar
der Schule seien die Pfandflaschen à 0,7 Liter. US-amerikanische Vorzeige-Unis stellen ihre
Aufgaben oft geküns- Mathevorlesungen teilweise kostenfrei ins
telt und ohne Praxisbezug, es gebe zu wenig WARUM IST MATHE Netz«, sagt Jung. Und verweist, falls die Fa-
Raum für Kreativität, sondern starre Vor- ÜBERHAUPT WICHTIG? milien zu Hause keine Flatrate haben, auf die
gaben. »Mathematik ist die öffentlichen Bibliotheken, wo man ebenfalls
Dass es anders geht, zeigt der 30-Jährige Lehre von Struktu- preiswert oder kostenlos ins Netz und zu den
in Videos auf seinem YouTube-Kanal: Die ren und Mustern«, Matheangeboten komme.
Percussions setzen nach dem Refrain ein, der sagt Daniel Jung.
Song wird treibender, und Johann Beurich Nie sei es wichtiger AB WELCHEM ALTER EIGNEN SICH
beginnt zu rappen. Bei ihm reimt sich plus gewesen als heute, ONLINEANGEBOTE?
auf Schluss und studiert auf quadriert, denn diese Lehre zu ver- Das hängt vom Angebot ab. Johann Beurich
was er bereits vor zwölf Jahren in seinem er- stehen und als Werk- möchte mit seinen Mathesongs vor allem
Daniel Jung

folgreichsten Video besungen hat, sind die zeug benutzen zu Jung angehende Abiturienten erreichen, einige
binomischen Formeln. »Klammer auf A plus können, »denn die Lieder seien auch schon ab Klasse sieben ge-
B, Klammer zu ins Quadrat, ist gleich A Qua- Strukturen um uns eignet. Allerdings sind die Musikvideos sel-
drat plus 2 AB plus B Quadrat.« Spätestens herum verändern sich ständig«. Schon jetzt ten: In den zwölf Jahren als »DorFuchs«
nach dem dritten Refrain hat sich die Formel und erst recht in der Zukunft werde es im- hat er im Schnitt drei Songs pro Jahr ver-
einem Ohrwurm gleich ins Gedächtnis ein- mer wieder neue Anforderungen geben, bei öffentlicht.
gebrannt. denen mathematisches Wissen Voraussetzung Dazwischen wendet sich Beurich in Fach-
sei – wie Programme der künstlichen Intel- videos an ausgewiesene Mathecracks. Fest-
UND WENN DIE MATHE-AVERSION ligenz. gelegt ist er aber nicht: In seinem jüngsten
ZU GROSS IST? Weil auch viele Eltern erst selbst wieder Song erklärt er, wie man den größten gemein-
Dann gehe es, sagt Nicolas Klupak, um grund- auf den Geschmack kommen müssten, emp- samen Teiler zweier Zahlen findet – und
legende klassische Pädagogik: »Über allem fiehlt Jung zwei Werke zum Einstieg: die Film- kommt damit sogar schon für Grundschüler
steht ein Wort: Erfolgserlebnis.« Nur wer sich doku »Social Dilemma« auf Netflix, die in Betracht.
als erfolgreich erlebe, entwickle auch Lust am der Macht der Algorithmen nachgeht, und Armin Himmelrath, Swantje Unterberg n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 100 − 81


DEUTSCHLAND

HC Plambeck / DER SPIEGEL


Berlin, Dienstag, 20.39 Uhr: In der Hauptstadt wird es Nacht, im Kanzleramt brennt noch Licht. Während die Ampel zunehmend verzweifelt um eine
Lösung ihrer Haushaltskrise ringt, schießt der Fotograf Christian Plambeck dieses Distanzporträt von Olaf Scholz. Die Hoffnung auf ein rasches
Ende des Finanzstreits verblasste im Lauf der Woche immer mehr: Am Donnerstag informierte Scholz’ SPD-Fraktion ihre Mitglieder, dass der Haus-
halt für 2024 nicht mehr rechtzeitig in diesem Jahr beschlossen werden könne.

Letzte Generation mit 1200 Straftaten


PROTESTE Laut einem vertraulichen Lagebild des BKA kennen die Behörden 983 Aktivisten der Gruppe.

A ktivisten der Klimaschutzgruppe Letzte Generation haben


laut Polizei seit 2022 rund 1200 Straftaten begangen. Das
geht aus einem vertraulichen Lagebild des Bundeskriminal-
amts (BKA) hervor. Den Schwerpunkt der Aktionen bildete dem-
te ein, darunter gefährlicher Eingriff in den Luft-, Bahn- und Stra-
ßenverkehr sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Die
Zahl der tatverdächtigen Aktivisten der Gruppe beziffert das
BKA auf 983, sie kämen vor allem aus Berlin, Baden-Württemberg,
nach Berlin. Bei den Delikten handle es sich vor allem um Blocka- Bayern und Niedersachsen. Fast 40 Prozent seien Frauen.
den, bei denen sich Aktivisten auf der Fahrbahn festkleben; regel- Das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzen-
mäßig bewerten Gerichte dies als Nötigung. Zuletzt sei es häufiger trum von Bund und Ländern hat sich laut dem Bericht in den
auch zu Sachbeschädigungen gekommen, etwa zu Farbattacken auf vergangenen zwei Jahren 75-mal mit der Gruppe befasst. Der Ver-
das Brandenburger Tor, einen Privatjet oder eine Luxusjacht. Da- fassungsschutz stuft die Letzte Generation bislang aber nicht als
bei seien Schäden von bis zu einer Million Euro entstanden. Im extremistisch ein. Die Staatsanwaltschaften bewerten die Gruppe
Vergleich zu einem ersten BKA-Lagebild aus dem Frühjahr habe unterschiedlich. So wird in Neuruppin und München wegen des
sich die Zahl der Straftaten, die der Letzten Generation vorgewor- Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt,
fen werden, verdoppelt. 59 davon stuft die Polizei als Gewaltdelik- während Berlin und Halle (Saale) dies ablehnten. WOW

20 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023

DIGAS_B2B-/tmp/divibib/digas_out/2878-sp2350
Lammert für Pau als laut Lammert nicht »von der
DIE DA UNTEN
Zugehörigkeit zu einer Frak-
Vizepräsidentin tion« abhängig gemacht wer-
PARLAMENT Obwohl sich die den. Die Legitimation beruhe Vom Nikolaus beklaut
Fraktion der Linken im Bundes- vielmehr auf der »souveränen
tag aufgelöst hat, plädiert der Entscheidung aller Mitglieder
langjährige Parlamentspräsident des Deutschen Bundestages«. Von Anna Clauß Das Erschreckende war
Norbert Lammert (CDU) für Damit widerspricht der CDU- nicht der Diebstahl an sich.
einen Verbleib der Linkenpoliti- Politiker seinem Parteifreund n unserer Familie gibt es Unheimlich war, wie sich
kerin Petra Pau im Bundestags-
präsidium. Pau sei »mit über-
zeugender Mehrheit aller Mit-
Sepp Müller, dem Vizechef der
Unionsfraktion. Müller hatte
kürzlich den Rücktritt von Pau
I die Tradition, am 6. De-
zember einen Korb voll
mit Schokolade und Leb-
mein Mann und ich auf der
Suche nach dem Täter schlei-
chend der Gedankenwelt von
glieder des Hauses inzwischen gefordert (SPIEGEL 47/2023). kuchen neben die Eingangstür Friedrich Merz und Alice
mehrfach für die Dauer der Le- Hintergrund war die Auflösung zu stellen. Als Dankeschön Weidel annäherten. Zum Bei-
gislaturperiode als Vizepräsi- der Bundestagsfraktion der für alle Nikoläuse der Neu- spiel bei der Frage: Wer hat
dentin gewählt und im Amt be- Linken: Zehn Abgeordnete um zeit: die Mitarbeiter und Mit- an einem Mittwochvormittag
stätigt worden«, argumentiert die Politikerin Sahra Wagen- arbeiterinnen der Post und Zeit, einen Nikolauskorb zu
Lammert, der inzwischen die knecht hatten die Linke verlas- der Paketdienste. klauen? War es womöglich ein
CDU-nahe Konrad-Adenauer- sen und angekündigt, eine neue Dieses Jahr dauerte unsere Bürgergeldempfänger aus den
Stiftung leitet. Linkenpolitikerin Partei gründen zu wollen. Da- vorweihnachtliche Besche- Sozialwohnungen schräg
Pau ist seit 2006 Bundestagsvize- raufhin beschloss die Fraktion rung nur wenige Stunden. gegenüber? Der statt zu ar-
präsidentin. Dieses Amt dürfe ihre Auflösung. FLO Offenbar gibt es in unserer beiten lieber Geld vom Staat
Nachbarschaft einen Niko- bezieht und seine Gier vor
laus, der gute Gaben selbst unserer Haustür schamlos
Ampel uneins über und Verkauf von Cannabis- einsackt, statt sie mit anderen ausgelebt hat? Oder könnten
pflanzen ermöglicht werden zu teilen. Dort, wo am Mor- die Ausländer aus dem nahe
Cannabis soll. Ursprünglich sollte das Ge- gen noch der prall gefüllte
DROGEN Die Verzögerung setz noch in diesem Jahr von Schokoladenkorb stand, war War es womöglich
beim geplanten Cannabisgesetz SPD, Grünen und FDP im Bun- gegen Mittag nichts mehr zu
führt zu neuem Unmut in der destag verabschiedet werden. sehen.
ein Bürgergeld­
Ampelkoalition. »Die öffentli- Nun soll das Vorhaben nach Hatte ein DHL-Mitarbeiter empfänger aus den
che Vielstimmigkeit aus der Aussagen aus der SPD-Frak- unseren Zettel mit den Wor- Sozialwohnungen
SPD zum fertig verhandelten tionsführung erst im neuen Jahr ten »Besten Dank, liebe Pa- schräg gegenüber?
Gesetz ist zum jetzigen Zeit- erfolgen. Die FDP-Drogenex- ketboten. Greift zu!« so in-
punkt äußerst irritierend«, kriti- pertin Lütke verteidigte den bis- terpretiert, dass der ganze gelegenen Flüchtlingsheim
siert die drogenpolitische Spre- herigen Gesetzentwurf. Das Er- Korb samt Inhalt einen neu- unsere deutsche Gutmütigkeit
cherin der FDP-Fraktion, Kristi- gebnis der Verhandlungen zwi- en Besitzer suchte? Hatten ausgenutzt haben?
ne Lütke. Ein zügiger Abschluss schen den Fraktionen sei ein die dicke Nachbarskatze oder Erinnerungen an einen sizi-
des Gesetzgebungsprozesses »sinnvoller Ausgleich zwischen ein herrchenloser Hund so lianischen Bekannten wurden
dürfe daher »nicht an Abstim- Minderjährigen- und Gesund- großen Hunger gehabt, dass wach, der einmal mit Blick auf
mungsproblemen in der SPD heitsschutz, Sicherheit und sie die Süßigkeiten nebst Be- die vor deutschen Bauernhö-
scheitern«. Innenpolitiker der Strafverfolgung sowie den An- hältnis gleich mitverzehrt ha- fen aufgetürmten Apfeltüten
SPD hatten zuvor Bedenken forderungen einer neuen Dro- ben? Eher unwahrscheinlich. und Kartoffelbeutel lachend
gegen das Gesetzesvorhaben genpolitik«. Das Gesetz sollte Der monetäre Verlust gefragt hatte: »Wer ist denn so
geäußert, mit dem künftig eine »schnellstmöglich« im Bundes- schmerzt uns nicht, zum dumm und wirft freiwillig
Teillegalisierung beim Anbau tag beschlossen werden. SEV Glück hatte der Schokoladen- Geld in die Kasse daneben?«
räuber nicht noch die Fahr- Der Mann kannte halt unsere
räder und Schlitten vor der schwäbische Leitkultur nicht:
Tür mitgenommen. Dennoch Ehrlichkeit, Anstand, Fleiß!
Nachgezählt hat uns der Vorfall in eine Art Wir haben uns dann selbst
Haushaltskrise gestürzt. Mein zur Ordnung gerufen. Viel-
Verfügbarkeit des Mobilfunkstandards 5G in Deutschland, Mann bestellte sofort eine leicht gibt eines der schmel-
in Prozent der Landesfläche
Überwachungskamera. Bei zenden Iglus in den Gärten
Juli 2022 Juli 2023
g-
Amazon, geliefert am nächs- der Nachbarn den verschwun-
swi Nieders ten Tag, womöglich vom die- denen Schokoladenkorb eines
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sönlich. Ich blieb skeptisch. rascht uns das eigene Kind mit
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Auf die moralische Verkom- einem Geständnis. Vielleicht


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A An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Bundesnetzagentur

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 21


CHAPPATTES WELT Bund droht
Maskenschlappe
CORONA In den Maskenprozes-
sen vor dem Bonner Landge-
richt haben sich die Chancen
des Gesundheitsministeriums
weiter verschlechtert. Dort kla-
gen noch Dutzende Händler auf
Zahlungen, weil der Bund zu
Beginn der Pandemie zunächst
zugesagt hatte, jede bis zum
30. April 2020 gelieferte FFP2-
Maske für 4,50 Euro anzukau-
fen. Dann aber zeichnete sich
ein Überangebot ab. Der Bund
beendete das Verfahren vorzei-
tig, und Händler bekamen ihr
Gerd nicht – in zahlreichen
Fällen mit der Begründung des
Bundes, die Masken hätten
Mängel gehabt. Eine Kammer
des Landgerichts hat nun in
einem Termin ihre Position
dazu geändert, ob der Bund
den Händlern eine Chance zur
Nachbesserung einräumen
musste. Bisher hieß es, bei
einem Fixgeschäft mit einem
festen Termin sei er dazu nach
»Undurchsichtige gunsten der AfD organisiert und gen. Will diese die Unterstüt- Ablauf der Frist nicht mehr ver-
unter anderem Hunderttausen- zung nicht annehmen, muss sie pflichtet gewesen. Nun teilte die
Vereine« de Gratiszeitungen mit Wahl- von dem Werbenden Unterlas- Kammer mit, sie gedenke »an
PARTEIEN Ampel und Union aufrufen an deutsche Haushalte sung verlangen. Nimmt sie die ihrer Rechtsauffassung nicht
wollen für mehr Transparenz in verteilen lassen (SPIEGEL Werbung aber an, gilt diese als weiter festzuhalten«. Stattdes-
der Wahlkampffinanzierung 12/2017). Wer die Werbung fi- Spende und muss veröffentlicht sen seien auch hier die üblichen
sorgen. Das geht aus einem ge- nanzierte, blieb im Dunkeln: werden. Noch unklar ist, inwie- Regeln für Schlechtleistungen
meinsamen Entwurf zur Ände- Anders als eine Partei muss ein weit Unterstützervereine ihre gültig, nämlich »der Vorrang
rung des Parteiengesetzes her- Verein seine Gönner nicht of- Geldgeber offenlegen müssen. einer Nacherfüllung und das
vor. Die Reform sieht auch eine fenlegen. Die AfD behauptete Das Gesetz soll nächste Woche Recht einer zweiten Andienung
Neuregelung für Parteiwerbung indes, nichts mit dem Verein zu im Bundestag beschlossen wer- durch den Verkäufer«. Sollten
durch »undurchsichtige Verei- tun zu haben. Mit der Reform den. »Verdeckter Parteienwer- abgelehnte Händler nun doch
ne« vor – sogenannte Parallel- sollen nun »eigenmächtig wer- bung schieben wir damit einen Mangel-Ware austauschen und
aktionen. Vor wenigen Jahren bende Dritte« dazu verpflichtet Riegel vor«, sagt die Parlamen- für ihre Lieferung kassieren dür-
hatte ein solcher Verein millio- werden, Werbeaktionen der be- tarische Geschäftsführerin der fen, könnten auf den Bund er-
nenschwere Kampagnen zu- troffenen Partei vorab anzuzei- Grünen, Irene Mihalic. SRÖ, SVE hebliche Kosten zukommen. AMP

Asyl für Queere aus fen. Aufnahmeprogramme der Kommunen gegen Nancy Faeser (SPD) hatte er-
Bundesländer können sicherere klärt, in solchen Fällen seien
Russland Fluchtwege ermöglichen, etwa Doppelpass Einbürgerungen in dem Ent-
FLÜCHTLINGE In mehreren durch bezahlte Flugtickets. EINBÜRGERUNG Die Ampel- wurf bereits ausgeschlossen.
Bundesländern gibt es Pläne, Ebenso könnte es Erleichterun- Pläne für ein neues Staatsange- Die Koalition prüft hier aller-
Menschen aus Russland aufzu- gen bei der Erteilung von Visa hörigkeitsrecht stoßen auf Kri- dings noch Klarstellungen. Die
nehmen, die dort wegen ihrer geben. In Bremen wird bereits tik bei den Kommunen. »Eine Reform könnte kommende Wo-
sexuellen Identität oder Orien- an einer Vorlage gearbeitet. Einbürgerung sollte nur dann che beschlossen werden, am
tierung verfolgt werden. Ein »Wir müssen angesichts der be- möglich sein, wenn wie bislang Montag gibt es dazu eine Anhö-
Aufnahmeprogramm ist etwa in reits stattfindenden Verhaftun- üblich auf die bisherige Staats- rung im Innenausschuss – auch
Bremen in Arbeit. Vor Kurzem gen so schnell wie möglich agie- angehörigkeit verzichtet wird«, mit Vertretern der Kommunen.
hat der oberste Gerichtshof in ren«, sagt die Bremer Linkenab- sagt Reinhard Sager, Präsident Wer eingebürgert werden wolle,
Russland die »internationale öf- geordnete Maja Tegeler. Das des Deutschen Landkreistages. müsse sich »erfolgreich in unse-
fentliche LGBT-Bewegung« als Bundesinnenministerium muss Erforderlich sei »ein klares Be- re Gesellschaft integriert ha-
»extremistische Organisation« den Programmen der Länder kenntnis zu unserem Land« und ben«, so Sager. Den deutschen
eingestuft. Strafbehörden könn- zustimmen. Der Berliner Linke zu seinen Wertvorstellungen: Pass zu erhalten, markiere das
ten somit künftig auch gegen Klaus Lederer sagt: »Ich erwar- »Daran fehlt es, wenn jemand Ende dieses Prozesses. Die Am-
Personen vorgehen, die sich für te vom Bund, dass er diejeni- mit antisemitischen Äußerun- pel will Einbürgerungen erleich-
queere Belange einsetzen. Es gen, die sich solidarisch zeigen, gen oder Aktivitäten aufgefal- tern und doppelte Staatsbürger-
drohen mehrjährige Haftstra- nicht im Regen stehen lässt.« TIL len ist.« Bundesinnenministerin schaften generell zulassen. BUC

22 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


»Ein fataler Fehler!« Politik und Gesellschaft viel zu
wenig Aufmerksamkeit. Hantzko, Model
Jan-Niclas Gesenhues, 33, SPIEGEL: Darüber haben Sie ge-
umweltpolitischer Sprecher rade ein Buch geschrieben.
der grünen Bundestagsfraktion, Gesenhues: Wir müssen besser
kritisiert die Umweltpolitik erklären, warum neben dem
von SPD-Kanzler Olaf Scholz Klima der Schutz unserer Na-
und seiner liberalen Koali- tur das Fundament für Wohl-
tionspartner. stand und Freiheit ist. Teile

Hendrik Schmidt / picture alliance / dpa


der Umweltschutzbewegung
SPIEGEL: Herr Gesenhues, wa- sind in die Jahre gekommen
rum wird in einer Bundesregie- und haben an Kampagnenfä-
rung, an der die Grünen betei- higkeit eingebüßt. Die Um-
ligt sind, der Umweltschutz so weltbewegung muss sich brei-
oft hinten angestellt? ter, jünger, weiblicher aufstel-
Gesenhues: Diese Regierung len. Sie muss mehr in der Lage
hat trotz schwieriger Bedin- sein, Machtproben zu gewin-
gungen viel beim Umwelt- nen. In meinem Buch fordere
schutz erreicht. Aber der Um- ich deshalb einen offensiven
weltschutz steht stark unter Umweltschutz: raus aus der »Da kommt die Krawatte
Beschuss, von Konservativen, Nische, rein ins Gestalten.
Populisten. Auch der Ausbau SPIEGEL: Die Ampel ringt in die- ins Spiel«
der Energieinfrastruktur und sen Tagen um eine Lösung der
die Planungsbeschleunigung Haushaltskrise. Besonders da-
DIE AUGENZEUGIN Miriam Hantzko, 27, Mode­
wirken sich auf den Umwelt- von betroffen ist auch die wich-
schutz aus … tigste umweltpolitische Maß- designerin aus Halle (Saale), hat Anstalts­
SPIEGEL: … die der grüne Wirt- nahme der Regierung. Ist deren kleidung entworfen, die den Gefangenen mehr
schaftsminister und Vizekanzler vier Milliarden schweres »Ak-
Robert Habeck massiv forciert tionsprogramm Natürlicher Kli-
Individualität ermöglichen soll.
hat, gegen den Widerstand sei- maschutz« in Gefahr?
ner eigenen Umweltministerin. Gesenhues: Das Programm ist »Dass Gefängnisinsassen ihre oft wenig mit ihrem erlernten
Gesenhues: Ich würde das Pro- zu wichtig für den Schutz unse- eigene Kleidung tragen dür- Beruf zu tun hat. Da kommt
blem nicht primär bei Robert rer Ökosysteme, als dass man es fen, ist die Ausnahme. Die die Krawatte ins Spiel, die auf
Habeck suchen. Den Abbau streichen könnte. Außerdem Strafvollzugsgesetze schreiben eine Tätigkeit im Büro hin-
von Umweltstandards hat Bun- gibt es einen Kabinettsbe- in der Regel Anstaltskleidung deutet, und der weiche Stoff.
deskanzler Olaf Scholz selbst schluss. Die Summe ist zudem vor, alle Insassen laufen uni- Die Zeit im Gefängnis ver-
vorangetrieben, unterstützt nur ein kleiner Teil des Klima- form herum. Sie haben keinen ändert Menschen und ihre
von der FDP. Ein fataler Fehler! und Transformationsfonds. Ich Gestaltungsspielraum, so, Selbstwahrnehmung. Beson-
Auch deswegen fordere ich erwarte, dass die Regierung da wie sie ja auch keinen selbst- ders berührt hat mich ein Ge-
ein schnelles Gesetz zur Rena- eine Lösung findet. bestimmten Alltag haben. spräch mit einer ehemaligen
turierung unserer stark geschä- SPIEGEL: Das Umweltministe- Ich habe mit ehemaligen Inhaftierten, die nicht mehr
digten Natur. rium hat einen aufwendigen Inhaftierten Gespräche ge- als Erzieherin arbeiten möch-
SPIEGEL: Derselbe Olaf Scholz Weg gewählt, die Gelder auszu- führt, über ihre Erfahrungen te. Sie sagte, welche Mutter
hat gerade 1,5 Milliarden Euro geben – fast so kompliziert wie in der Haft, was für sie Frei- lässt denn schon freiwillig ihr
für die internationale Biodiver- bei der Kindergrundsicherung heit bedeutet. Aus diesen Ge- Kind von einer Frau betreuen,
sität versprochen. von Lisa Paus. Scheitert das danken heraus habe ich dann die im Gefängnis war?
Gesenhues: Umso mehr sehe Programm am Ende an der Bü- die neue Anstaltskleidung ent- Ich habe mich während
ich den Kanzler im Inland rokratie? worfen. Nicht als Alternative meines Modedesignstudiums
in der Pflicht. Wer internatio- Gesenhues: Das glaube ich zu der bisherigen, sondern um immer gefragt, was für einen
nal viel verspricht, aber im nicht. Das Programm ist auf je- eine Debatte anzuregen über Einfluss ich mit dem haben
eigenen Land Umweltstan- den Fall umsetzbar, und es gibt den Alltag im Gefängnis. Je- kann, was ich mache. Ich woll-
dards abbauen will, ist nicht jede Menge Projektvorschläge der Mensch hat ja ein mehr te die Mode nutzen, um mich
glaubwürdig. von Kommunen und Unterneh- oder weniger großes Bedürf- mit gesellschaftlichen Fragen
SPIEGEL: In einer internen Um- men. Auch ein Kompetenzzen- nis nach Individualität und auseinanderzusetzen. Mit mei-
frage der Grünen zur Frage, trum für den natürlichen Klima- eigener Gestaltung, gerade bei nen Entwürfen habe ich den
welche Werte besonders schüt- schutz wurde schon gegründet. der Kleidung. Warum kann Giebichenstein-Design-Preis
zenswert seien, kommt der Be- Trotzdem würde ich mir wün- man das Menschen im Ge- gewonnen, die sachsen-anhal-
reich Umwelt gar nicht mehr schen, dass es deutlich schneller fängnis nicht ermöglichen? tische Justizministerin Franzis-
vor. Hat Ihre Partei das Thema geht mit den Förderungen. FIN Bei dem Outfit mit dem ka Weidinger hat die Ausstel-
aufgegeben? blauen über dem weißen Over- lung dazu besucht. Es soll wei-
Gesenhues: In meiner Partei Gesenhues all geht es zum Beispiel um tere Treffen mit ihr geben.
gibt es viele überzeugte Natur- das Thema Arbeit im Gefäng- Wir haben beispielsweise über
und Umweltschützer, die haben nis. Es erinnert an Arbeits- Strickwaren gesprochen, die
sich dazu bei der Parteizentrale kleidung, wie man sie aus Kfz- viele Menschen gern im Winter
gemeldet. Was stimmt: Ange- Werkstätten kennt, weil die tragen. Warum gibt es die im
sichts der Dramatik der ökolo- Inhaftierten oft Handwerks- Gefängnis nicht?«
Heye Jensen

gischen Krise erfahren Umwelt- berufe ausüben. Arbeit, die Aufgezeichnet von David Fuhrmann
und Naturschutz insgesamt in

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

Habecks Härtung

KARRIEREN Kaum ein Spitzenpolitiker hat im vergangenen Jahr einen solchen Absturz erlebt wie
Robert Habeck. Doch sein nächstes Ziel, so paradox es klingen mag, könnte die Kanzlerkandidatur
Peter Rigaud / laif

sein. Unterwegs mit einem, der sich gestärkt fühlt. Von Markus Feldenkirchen

24 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


DEUTSCHLAND

m ersten Freitag im Dezember balan- dere die USA. Habecks Sprecherin, die damals Herbsttag in der Berliner Landesvertretung
A ciert Robert Habeck einen Stapel Akten
durch sein Büro und legt ihn im Vor-
zimmer ab. Sein Ministerschreibtisch ist jetzt
offenbar nicht stundenlang vor der Glotze
hing, kringelt sich im Hintergrund vor Lachen.
Immer kommt etwas dazwischen, immer
seines Bundeslands und redet über Habeck,
der einst in seinem Kabinett als Landesminis-
ter diente, unter anderem für Landwirtschaft
picobello aufgeräumt. Das, sagt Habeck, habe fehlt etwas zum Sieg. »Das ist meine Amts- und Umwelt. Günther ist in der CDU, doch
ihm sein erster Büroleiter mitgegeben: »Ein realität seit zwei Jahren.« er schätzt den Grünen Habeck. »Ich hatte
Schreibtisch muss frei sein wie eine Lande- Ullrich hat es trotzdem immer wieder ver- immer eine große Affinität für seine Art, Poli-
bahn.« Es gab Zeiten, in denen Habeck das sucht. Und Habeck? tik zu machen«, sagt er. Habeck habe die
schwerfiel, inzwischen ist er da disziplinierter. Draußen liegt der erste Schnee, es geht ein Gabe, Leute zusammenzubringen und Lö-
Er nimmt am ebenfalls leer geräumten Be- Jahr zu Ende, in dem er zum Buhmann der sungen fernab parteipolitischer Linien zu fin-
sprechungstisch Platz und umklammert die Nation wurde, weiter abstürzte, in den Um- den. Durch Überzeugungskraft und eine gute
frisch servierte Tasse Kaffee wie im Norwegen- fragen, aber auch im Vertrauen der Bürgerin- Art zu kommunizieren.
urlaub. Dabei ist die Heizung, anders als nen und Bürger. War er noch vor Kurzem der Man will widersprechen, das Stichwort
vorigen Winter, nicht bei 18 Grad gedrosselt. Superstar der deutschen Politik, der das Land Heizungsgesetz nennen, jenes Vorhaben, mit
Gleich wird er wieder zur Krisensitzung sicher durch die Energiekrise lotst, rangiert dem Habeck in diesem Jahr das halbe, ach
ins Kanzleramt fahren, wie so oft in diesen er in einer aktuellen Umfrage für die »Bild«- was, fast das ganze Land gegen sich aufbrach-
Tagen. Seit Mitte November ist die ohnehin Zeitung sogar hinter Alice Weidel. Hinter te. Aber Günther will erst mal die Sache mit
knifflige Lage für Habeck noch mal um zwei Habeck liegt eine Reifeprüfung der besonde- den Schweinswalen erzählen.
Umdrehungen komplizierter geworden. Nach ren Art.
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts So etwas kommt in der Spitzenpolitik im- Als Habeck noch Landesminister war, ver-
fehlen 60 Milliarden Euro im Klima- und mer wieder vor, es geht schnell nach oben, endeten viele der Tiere in Fischernetzen.
Transformationsfonds, jenem Topf, aus dem schnell nach unten. Die Frage ist, wie man Naturschützer wüteten gegen die Fischer, die
Habeck große Teile seines Megaprojekts damit umgeht, wie man herauskommt. Ob verteidigten sich und kämpften um ihre Le-
finanzieren wollte: den Umbau der deutschen man da unten bleibt oder noch mal hoch- bensgrundlage, die Stimmung war vergiftet.
Wirtschaft, auf dass sie wettbewerbsfähig, kommt. An dieser Frage entscheidet sich, wie Habeck handelte eine Vereinbarung zwischen
modern und vor allem klimaneutral werde. politische Karrieren verlaufen. Ob sie nach Fischern und Naturschützern aus: Die Netze
Plötzlich steht alles zur Debatte, wofür er ganz oben führen. Oder eine Etage darunter wurden mit akustischen Signalgebern aus-
angetreten, wofür er Wirtschaftsminister und stecken bleiben. gestattet, als Warnung an die Tiere. Die Zahl
Vizekanzler geworden ist. Helmut Kohl wurde als bräsiger Provinzler der getöteten Schweinswale sank einer Studie
»Es ist ein Uphill-Battle«, sagt Habeck, verspottet, saß das aus und wurde Kanzler. zufolge um 70 Prozent.
über seine Kaffeetasse gebeugt. Ein Kampf Angela Merkel wurde als Frau aus dem Osten Daniel Günther war gerade erst in Eckern-
bergauf. Man hört das jetzt oft von ihm, belächelt, als farblos, ahnungslos. Dann zog förde, um einen Förderbescheid zu übergeben.
Kampf- oder Kriegsrhetorik. sie an allen vorbei. »Vor Ort waren noch immer alle begeistert«,
Die Verhandlungen dauern an, es geht Habeck ist immer noch da, was nach die- sagt er. Überall seien wieder Schweinswale zu
hin und her zwischen Kanzler Olaf Scholz, sem Jahr nicht selbstverständlich ist. Er hat sehen. Dank Habeck.
Finanzminister Christian Lindner und Ha- an Zustimmung verloren, für viele ist er nach Der nennt das, was Günther beschreibt,
beck, aber an diesem Freitag in seinem Büro diesem Jahr eine Reizfigur. Er hat aber auch »meine Idee, wie Politik funktioniert«: ande-
verbreitet Habeck Optimismus oder versucht noch etliche Fans, und das heißt etwas. ren die Hand reichen, über den Graben, das
es zumindest. Er sei »zuversichtlich bis si- Man lerne im Amt und verstehe sich immer eigene Lager hinweg in Kontakt treten, sich
cher«, dass er die Kernprojekte des Trans- stärker als Amtsperson, sagt Habeck in sei- nicht an abstrakte Beschlüsse der eigenen Par-
formationsfonds erhalten könne, sagt er. »Sie nem Büro. »Ich glaube, dass man wächst oder tei klammern. Einen Schritt auf andere zu-
glauben doch wohl nicht, dass wir um 17 Uhr reift oder lernt, persönliche Angriffe nicht gehen, sich in die Lage des Gegenübers ver-
nach Hause gehen, die Füße auf das Sofa legen persönlich zu nehmen. Das wäre mir be- setzen, um Kompromisse zu finden.
und sagen: Wolln wir mal gucken, was bei stimmt früher schwerer gefallen.« Aber wo war dieser Habeck, als er dem
Netflix Neues hochgeladen wurde.« Über dieses Früher kann Daniel Günther Land das Heizungsgesetz mehr oder weniger
Und damit ist er plötzlich bei Jan Ullrich, einiges erzählen, der Ministerpräsident von überstülpen wollte, im ersten Schritt sogar
dem Radrennfahrer. Über den gibt es jetzt Schleswig-Holstein. Günther sitzt an einem ohne Vorschläge für sozialen Ausgleich, ohne
eine dieser Dokus, wie sie auch auf Netflix allzu viel Rücksicht auf Verluste? Warum fehl-
laufen. Habeck blüht auf. te ihm das Gespür für die Stimmung in der
»Ich war ein Riesenfan!«, sagt er. Ende der Weiter unbeliebt Bevölkerung, für die Sorgen und Ängste im
Neunziger fuhr er mit seinen Kindern extra Lande? Warum verabschiedete er sich zu-
früh vom Baggersee nach Hause, um fernzu- »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit des mindest vorübergehend von den Prinzipien,
Bundesministers für Wirtschaft und Klima
sehen. Die epischen Bergetappen der Tour de Robert Habeck?«, in Prozent die in Schleswig-Holstein funktioniert hatten,
France, die Duelle Jan Ullrich gegen Lance zufrieden unentschieden unzufrieden
die ihn überhaupt erst nach Berlin brachten
Armstrong, viele Stunden hat er mitgefiebert. und zu einem der beliebtesten deutschen Poli-
»Immer war man für Jan Ullrich, immer 80 tiker hatten werden lassen? Und warum hielt
hatte der ’nen guten Antritt, und immer kam 70 er viel zu lang am Architekten des neuen
Lance Armstrong zwei Kilometer vor dem 60 Heizungsgesetzes fest, seinem Staatssekretär
Gipfel angetreten, als wär es nichts«, sagt Ha- Patrick Graichen, als herausgekommen war,
beck. Ein bisschen komme ihm das vor wie 40 dass dieser seinen eigenen Trauzeugen für
die laufende Legislaturperiode, wobei in die- den Chefposten der bundeseigenen Deutschen
sem Gleichnis er selbst und die deutsche Wirt- 24 Energie-Agentur mitberufen hatte?
20
schaft Ullrich sind – und Armstrong für all das Habeck hat darauf nicht die eine, alles er-
6
Überraschende steht, das sie immer wieder 0 klärende Antwort. Zum Thema Graichen sagt
einholt und zurückwirft: der Krieg, die Ener- 2022 2023 2024 er: »Ich will kein Hire and Fire. Das wider-
giekrise, die Karlsruher Richter, die Milliar- S Quelle: Civey für den SPIEGEL; Befragungszeiträume je strebt meinem Verständnis von paritätischer

densubventionen, mit denen andere Länder 14 Tage; jüngster Befragungszeitraum vom 22. November bis
6. Dezember 2023; Stichprobengröße: 4785 bis 5092 Befragte;
Führung, vom gemeinsamen Projekt. Wenn
ihre heimische Wirtschaft stützen, insbeson- statistische Ungenauigkeit bis zu 2,5 Prozentpunkte ein Sportverein seinen Trainer entlässt, weil

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DEUTSCHLAND
Marlena Waldhausen / Agentur Focus

Filip Singer / EPA-EFE


Vizekanzler Habeck Minister Habeck auf Betriebsbesuch
in seinem Ministerbüro in Berlin bei Sunfarming im Juli in Brandenburg

er dreimal verloren hat, finde ich das irgend- schluss, nur das zu tun, was jeweils die Mehr- Schröder hätte es so ausgedrückt: Haupt-
wie ehrlos.« Klar, wenn es sich um eine Nul- heit gerade wolle. Dafür sind wir wiederum sache, regieren.
pe handle, müsse das so sein. »Aber wenn ein nicht gewählt.« Politik sei kein Beautycontest. Habeck sagt, er habe im zurückliegenden
Verein dreimal Meister wird und die Cham- »Es geht schon darum, und das ist am Ende Jahr über sich gelernt, »dass ich in Krisen viel
pions League holt, und in der nächsten Saison eine politische Wette, sich für die Strecke be- ruhiger und konzentrierter bin, als ich es vor
wird man nur Zweiter und entlässt dann aber urteilen zu lassen. Jedenfalls ist das mein Jahren gewesen wäre«.
den Trainer, dann ist das irgendwie würdelos. Wetteinsatz. Und ich bin mir gar nicht so si- Wodurch?
So geht das nicht.« Man stehe zusammen, cher, dass ich den verlieren werde.« »Erfahrung.« Kurzes Innehalten. »Am An-
auch in harten Zeiten. Am Ende musste er Am nächsten Tag, ein Treffen in seinem fang denkt man mehr über seine Wirkung
Graichen trotzdem absetzen. Bundestagsbüro. Vereinbart ist ein Gespräch nach. Aber irgendwann ist das nicht mehr
Und beim Heizungsgesetz, mit dem aus- über die bisherigen Erfahrungen aus seiner wichtig.«
gerechnet Habeck, der so oft vom gesell- Amtszeit, über Fehler. Und darüber, wie ihn Wenn man lange genug dabei sei, wisse
schaftlichen Frieden spricht, zur Polarisierung das Amt verändert hat. man: Mal gewinne man, mal verliere man.
beitrug, womöglich sogar der AfD neue Wäh- Hat er mal an Rückzug gedacht in den tur- Mal bekomme man gute Schlagzeilen, mal
ler zutrieb? Da, sagt Habeck, sei es ihm leider bulenten Monaten, die hinter ihm liegen? werde man runtergeschrieben. »Aber das
zunächst nicht gelungen, die Hand immer »Nie, nicht eine Sekunde«, sagt Habeck. nicht auf sich zu beziehen, da cool zu bleiben,
wieder auszustrecken, das Argument der an- Das jetzt sei die Phase, auf die er sich seit dafür braucht es einige Krisen, die man über-
deren immer wieder neu ernst zu nehmen. Er Ewigkeiten vorbereitet habe. Jetzt sei sie da. standen hat.«
war sich und seiner Idee von Politik untreu Und er sage sich: »Du wirst gestählter, klüger, Über die Hochphase des Heizungsstreits
geworden. Aber er habe daraus gelernt, sagt erfahrener, vielleicht gelassener im Umgang sagt er: »Es ist wie ein Sturm, der vorüber-
er. »Das Heizungsgesetz war die härteste Pro- mit anderen Krisen da rauskommen.« geht. Ich habe es hingenommen und weiter-
be, die härteste Härtung.« Sein »Mindset« sei so: Gut sei es ihm im- gearbeitet. Zu meiner Überraschung. Weil ich
Habeck war vielen in seiner Partei immer mer dann gegangen, wenn er etwas bewegen mich selbst auch anders kenne. Oder kannte.«
etwas suspekt, weil er im Zweifel das gesell- konnte, auch wenn es in der jeweiligen Situ- Emotionaler?
schaftliche Interesse über die grünen Prinzi- ation mal unangenehm war. »Aber nachträg- »Ja.«
pien stellte. Vielleicht wollte er, nachdem lich bleibt etwas. Und darum geht es.« Zwei Tage nach der alles verändernden
Annalena Baerbock Kanzlerkandidatin wer- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
den durfte, endlich mal den eigenen Leuten Seine schlimmste Zeit als Politiker erlebte er darf Habeck endlich mal positive Nachrichten
gefallen, ihren Applaus ernten. Womöglich während der Hochphase der Pandemie. Er verkünden. Die US-Firma Lilly, ein Pharma-
wirkte es deshalb für eine gewisse Zeit so, als war Parteichef, aber die Grünen waren im unternehmen, will 2,3 Milliarden Euro in eine
stünde da nicht mehr Habeck, sondern Jürgen Bund in der Opposition, man brauchte ihn neue Produktionsstätte in Deutschland in-
Trittin im Körper von Robert Habeck. und seine Partei nicht wirklich. Die Corona- vestieren und dort rund 1000 neue Arbeits-
Mittlerweile hat man mehr und mehr den Shutdowns zwangen ihn, mehr oder weniger plätze schaffen. Nun soll es in Berlin eine
Eindruck, der alte Habeck ist zurück. untätig zu Hause zu hocken. Nicht mal unter- Pressekonferenz mit den Firmenbossen und
Ende September sitzt er am Fuße der Büh- wegs sein konnte er. In Gesprächen damals Gesundheitsminister Karl Lauterbach geben.
ne, als die Moderatorinnen der SPIEGEL - wirkte er tief frustriert darüber, dass anders- Habeck sitzt neben Lauterbach auf dem
Klimakonferenz ihren Gast ankündigen: »Er wo die großen Entscheidungen fielen und kein Podium, und während die Lilly-Leute reden,
ist einst im Wahlkampf ausgezogen, die Grü- Hahn nach ihm krähte, außer dem in der tuscheln die beiden Minister. Habeck macht
nen zur Volkspartei zu machen.« Flensburger Nachbarschaft. »Das war wirk- es wie der tief misstrauische Fußballtrainer
»Sieht wieder gut aus«, murmelt Habeck lich wie eine Lähmung«, sagt er im Rückblick. Thomas Tuchel vom FC Bayern: Er hält sich
halb zu sich selbst, noch bevor er sich erhebt. Im Vergleich zu dieser Zeit seien alle Er- eine Hand vor dem Mund, damit potenzielle
Er scheint wieder an das Projekt zu glauben, fahrungen im Amt weit weniger schlimm. »Ich Lippenleser keine Chance haben. Lauterbach
allen Umfragen zum Trotz. Parallelwelt? Oder kann das sagen, dass das der Sinn von allem tuschelt ohne diese Sicherheitsmaßnahme.
ein tiefer Glaube an sich selbst? für mich ist: in die Gestaltungsoption zu kom- Habeck ist in der Zeit als Vizekanzler kon-
Oben auf der Bühne sagt er, dass es natür- men und sie so lange, wie es einem gewährt trollierter, vorsichtiger, auch misstrauischer
lich falsch sei, politische Entscheidungen auf ist, auszuüben.« geworden. Früher haute er flotte Sprüche in
Dauer gegen Mehrheiten durchzusetzen. Es ist einer dieser Habeck-Sätze, über allen Lagen raus, plauderte in einer Offenheit
»Umgekehrt allerdings wäre es ein Fehl- die man kurz nachdenken muss. Gerhard und Unbekümmertheit, die selten war im

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politischen Berlin, die ihn nahbar wirken ließ. aber die Zeiten sind schnelllebig, deshalb dürf- Auch wenn das niemand von ihnen öffentlich
Das ist vorbei. ten die Grünen auch vor der nächsten Wahl sagt. Erst recht nicht Habeck selbst.
Man kann das schon im Juli besichtigen, über einen Kanzlerkandidaten, eine Kanzler- Allerdings hängt die Sache unter anderem
als Habeck das Forschungszentrum des Unter- kandidatin diskutieren. Beim letzten Mal wur- davon ab, wie die Verhandlungen zum Haus-
nehmens Sunfarming in Brandenburg be- de es Baerbock. Und diesmal? halt ausgehen. Ob Habeck der große Verlierer
sucht. Der Betrieb versucht, Landwirtschaft ist und seine Projekte vergessen kann. Oder
mit der Gewinnung von Sonnenenergie zu Im Sommer besuchen Habeck und Baerbock ob sie, wohl mit Abstrichen, erhalten bleiben.
verbinden, die Hühner und Kühe stehen hier in Dresden die Halbleiterproduktion von In- Klar ist, dass er noch etwas vorhat mit sich,
unter Solarpaneelen. fineon. Bevor die beiden wie zwei wandelnde mit dem Land. Dafür muss er auch diejenigen
Erste Station, Kuhstall. Habeck lehnt sich Riesenkondome in sogenannten Reinraum- überzeugen, für die er spätestens seit dem
ans Geländer, aber die Kühe laufen in die an- Overalls durch die Hallen stapfen, gibt es eine Heizungsgesetz das große Feindbild ist.
dere Ecke, auf die Fotografen zu. »Ey, ich bin Pressekonferenz mit dem Infineon-Chef. Es Noch mal zurück in den Sommer, Habeck
hier! Ich bin der Minister!«, ruft er den Kühen ist der erste gemeinsame Termin dieser Art, besucht einen Dachdeckerbetrieb in der säch-
nach. Das klingt nach dem alten Habeck, dem seit Habeck und Baerbock Minister sind. sischen Gemeinde Ottendorf-Okrilla. Es geht,
Entertainer, der gern im Mittelpunkt stand. Als der Firmenchef zu Ende geredet hat, natürlich, schnell ums Heizungsgesetz, er
Kurz darauf steht Habeck vor dem Gehe- ist es Habeck, der Baerbock per Handzeichen bekommt die Leviten gelesen. »In der Politik
ge für Gänse und Hühner. Jemand öffnet die das Wort erteilt. Er verströmt aus jeder Pore, ist immer von handwerklichen Fehlern die
Tür, die Fotografen und Kameramänner brin- dass er hier die Regie führt. Plötzlich wirkt Rede«, sagt der Senior des Betriebs. »Im
gen sich in Stellung. Es könnte gute Bilder die weltläufige, selbstbewusste Außenminis- Handwerk sagt man dazu Pfusch. Warum sagt
geben, Habeck im Hühnerstall. terin wie eine Referentin, die vom Chef das man nicht auch in der Politik Pfusch?«
Früher hätte er wohl nicht lange gezögert. Wort erteilt bekommt. Immerhin findet der Chef auch ein paar
Wäre ins Gehege gestapft, hätte sich vielleicht Journalistenfragen, die nicht speziell an ihn versöhnliche Sätze für den Gast aus Berlin.
noch zwei Hühner auf die Schultern gesetzt, oder an sie gerichtet sind, beantwortet wie »Sie beweisen, dass Sie sich Mühe geben, und
eine Gans auf den Arm genommen. Legendär selbstverständlich: er. Das fällt auch Baerbock dafür bin ich Ihnen dankbar.«
sind die Fotos, auf denen er sich kamera- auf, an einer Stelle sagt sie: »Der Wirtschafts- Kurz darauf soll Habeck vor Publikum sei-
gerecht von Ponys beschmusen ließ. Diesmal minister hat für alle geantwortet auf die Frage, ne handwerklichen Fähigkeiten unter Beweis
ignoriert er die Einladung. die an alle gestellt wurde.« Leicht bemühtes stellen. Er muss einen Dachziegel zuschnei-
Manchmal schimmert er noch durch, der Lächeln. »Deshalb von mir nur ein Satz.« den, eine Ecke abtrennen, ihn passend ma-
alte Habeck, der nicht nur etwas eitel daher- Offiziell ist offen, wer von beiden bei der chen. Der Ziegel wird dafür an der gewünsch-
kam, sondern auch ein wenig dünnhäutig oder nächsten Wahl als Spitzenkandidatin oder ten Bruchstelle angeritzt, dann muss die Ecke
ehrpusselig. Das passiert vor allem dann, Spitzenkandidat ins Rennen gehen wird. In mit dem Hammer abgeschlagen werden.
wenn er sich ärgert. Dann beklagt er sich im Habecks engstem Umfeld halten sie die Frage Habeck holt aus, aber statt die markierte
»Tagesthemen«-Interview darüber, dass sein für weniger offen. Sie verweisen darauf, dass Ecke abzuschlagen, zertrümmert er den gan-
Gesetzentwurf an die Presse durchgestochen ihm der Posten des Vizekanzlers nicht ohne zen Ziegel.
worden sei – was im Berliner Betrieb zum Grund sehr wichtig gewesen sei – er sei die »Das hat schon mal nicht geklappt«, sagt
täglichen Geschäft gehört, bei Habeck aber Kompensation dafür gewesen, dass Baerbock der Firmenchef.
so klingt, als hätte jemand einen Anschlag auf zuvor die Kandidatur übernehmen durfte. »Das lag an Ihrem Anritzen«, kontert
ihn persönlich verübt. Die Vizekanzlerschaft habe schon eine Habeck.
Oder wenn Friedrich Merz aus Habecks gewisse Kraft, sagen Habecks Vertraute. Sie »Dann ritzen Sie mal selbst an.«
Sicht mal wieder etwas Unlauteres gesagt glauben nicht, dass Baerbock dem amtieren- Habeck macht sich ans Werk. Bevor er das
oder getan hat – dann schlägt er zuweilen in den Vizekanzler die Spitzenkandidatur strei- zweite Mal zuschlägt, sagt er: »Jetzt hab ich
einer Härte zurück, die echte Kränkung ver- tig machen kann. Dass eine grüne Kanzler- Angst.« Wenn es das zweite Mal schiefgehe,
muten lässt. Zum Beispiel neulich, als er nach kandidatin antritt, während es einen grünen dann müsse man wirklich von Pfusch reden.
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Vizekanzler gibt. Deshalb glauben sie, die Habeck hält inne, dann schlägt er zu.
sagte, die Bürger könnten sich bei Merz be- Sache sei im Grunde schon klar, entschieden. Es gelingt. n
danken, wenn sie künftig exorbitante Strom-
preise bezahlen müssten. Der hatte schließlich
in Karlsruhe geklagt.
Als hätte nicht die Ampel die Sache ver-
bockt. Sondern Merz und die Richter.
Trotzdem wirkt Habeck, verglichen mit
Scholz und Lindner, inzwischen oft wie der
eigentliche Staatsmann. Auch nach diesem
Jahr, nach allen Rückschlägen und Nieder-
lagen, will er etwas verändern und kämpft in
den Verhandlungen zum Haushalt darum,
dass der Spielraum dafür erhalten bleibt. Vor
allem aber ist er in dieser Zeit der vielen Kri-
sen, vom Haushalt bis zum Nahen Osten, im
Grunde der Einzige in der Regierung, der sich
öffentlich erklärt, um Zustimmung wirbt. Der
immer wieder passende Worte findet, sei es
Friedrich Bunger t / SZ Photo

zum Angriff der Hamas oder, mit leichter Ver-


spätung, zum Urteil aus Karlsruhe. Da wirkt
Habeck dann nahbar, jedenfalls mehr als die
anderen, die sich hinter Floskeln verschanzen. Grünenpolitiker Habeck auf der
Wo kann ihn das hinführen? Die Umfrage- Terrasse vor dem Ministerbüro
werte der Grünen geben das zurzeit nicht her,

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DEUTSCHLAND

schen Auslandsgeheimdienstes zurück. Viel-


mehr war es wohl eine zufällige Begegnung
zweier Ex-Soldaten im Frühjahr 2021 im ober-
bayrischen Weilheim, die den BND in die
Bredouille brachte.

Codename »Puffotter« Den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft


zufolge lernen sich Carsten L. und Arthur E.
bei einer Feier in einem Weilheimer Sport-
heim kennen. L., früher Offizier bei der Bun-
SPIONAGE Ein Agent des Bundesnachrichtendienstes und ein möglicher deswehr und zu diesem Zeitpunkt Referats-
leiter beim BND in der Abteilung »Technische
Komplize kommen wegen mutmaßlichen Landesverrats vor Gericht – Aufklärung«, versteht sich offenbar auf An-
es ist das größte Spionageverfahren seit Jahrzehnten. Und der Schaden hieb mit dem Geschäftsmann. Auch E. war
für Deutschland war wohl gravierender als bislang bekannt. früher als Fernmelder bei der Bundeswehr,
weshalb Carsten L. vermutlich schnell Ver-
trauen fasst. Beim Bier soll er E. offen von
er Gemeinen Puffotter begegnet man Details aus dem Verfahren dürften den deut- seiner Arbeit in Pullach bei München erzählt
D in freier Wildbahn besser nicht. Die vor
allem in Afrika lebende Giftschlange
gehört zur Familie der Vipern, ein Biss kann
schen Auslandsnachrichtendienst in Erklä-
rungsnot bringen.
Bekannt war bislang, dass die beiden Män-
haben, wo die technischen Aufklärer des BND
ihren Dienstsitz haben.
Arthur E. wiederum berichtet von seinen
tödlich enden. Ihrem Namen macht die ner mutmaßlich Erkenntnisse des BND aus Reisen als Händler für Edelmetalle und Dia-
Schlange alle Ehre: Wie anatomische Studien einem technischen Überwachungsprogramm manten rund um den Globus. Dabei prahlt er
nahelegen, fühlen Puffottern beim Sex wo- an die Russen verraten haben. Dem BND war offenbar mit seinen Kontakten zu Wirtschaft
möglich so etwas wie Spaß. es demnach gelungen, die russische Söldner- und Politik, besonders in Afrika.
Die Parallelen lagen für die Beamten des truppe Wagner auszuforschen. Fliegt eine Der Abend im Sportheim ist der Beginn
Bundesnachrichtendienstes (BND) im Som- solche Operation auf, ist das schon in Frie- einer Allianz. Carsten L., so die Erkenntnisse
mer vergangenen Jahres offensichtlich auf der denszeiten schlecht. Im Krieg ist es für einen der Fahnder, wirbt E. später als potenziellen
Hand. Ihr neuester Rekrut, der Diamanten- Nachrichtendienst eine Katastrophe. Informanten für den BND an, wo der Ge-
händler Arthur E., sollte auf seinen vielen Doch nach dem ersten Schock wiegelte schäftsmann offenbar schnell neue Freunde
Geschäftsreisen nebenbei für den deutschen BND-Präsident Bruno Kahl öffentlich schnell findet: Eine Besprechung mit BND-Mitarbei-
Auslandsgeheimdienst in Afrika spionieren. ab – alles halb so schlimm, lautete seine Bot- tern in Berlin endet laut Arthur E. im Groß-
Etwas windig schien E. durchaus, vor allem schaft. Was nach Russland abgeflossen war, bordell Artemis.
aber hatte er wohl eine Vorliebe für Bordell- sei sowohl von der Menge wie von der Ver- Eine gefährliche Wendung nehmen die
besuche. Davon hatten sich zwei BND-Mit- wertbarkeit her »sehr überschaubar«, sagte Dinge wohl erst am 12. September vergange-
arbeiter bei einem Treffen in einem Berliner Kahl in einem Interview mit dem »Tagesspie- nen Jahres. Bei einem Treffen mit L. am
Etablissement persönlich überzeugen können. gel« im Juli. Starnberger See bringt E. einen Bekannten
Was lag da auf der Suche nach einem Deck- Aber stimmt das? aus Russland mit. Der schwerreiche Unter-
namen näher als das giftige Kriechtier? Recherchen des SPIEGEL zeigen nun, dass nehmer soll im Moskauer Sicherheitsapparat
Man kann sich die Schenkelklopfer auf den der Schaden für den BND und seine Partner bestens verdrahtet sein. Angeblich sucht er
Fluren der Behörde gut vorstellen: Gestatten, wohl weit gravierender war, als es Behörden- Hilfe, um einen Aufenthaltstitel für Deutsch-
unser neuer Mann für Afrika, Arthur E., chef Kahl darstellt. Demnach erfuhren Wag- land zu bekommen.
Codename Puffotter. Dass der Kontakt mit ner-Kommandeure durch den mutmaßlichen Das Gespräch der drei Männer in einem
dem Neuen für den BND gefährlich werden Verrat, dass ihr interner Messengerdienst vom Beachklub dreht sich um mögliche gemein-
könnte, ahnte zu diesem Zeitpunkt vielleicht Westen gehackt worden war. Auch der BND same Geschäfte, dann startet der reiche
nur einer: Carsten L., der BND-Mitarbeiter, hatte in dem Chat heimlich mitgelesen. Russe offenbar einen Anbahnungsversuch.
der E. seinen Kollegen als möglichen Zuträger Nachdem die Russen über ihre beiden mut- Vielleicht könne man ihren beiden Ländern
ans Herz gelegt hatte. maßlichen Spione aus Deutschland davon er- einmal etwas Gutes tun, soll der Russe zu
Vom kommenden Mittwoch an müssen fuhren, besprachen sich die Kämpfer weit L. sinngemäß gesagt haben, erinnert sich
sich Carsten L. und Arthur E. vor dem 6. Straf- weniger in dem Kanal und verlegten heikle E. später.
senat des Berliner Kammergerichts verant- Kommunikation in einen anderen Chat. Laut Noch am selben Tag soll L. zum ersten Mal
worten. Die Bundesanwaltschaft hat die bei- geheimen Ermittlungsunterlagen, die der in den BND-Systemen Dokumente gesichtet
den Männer wegen des Verdachts des Landes- SPIEGEL einsehen konnte, gingen dem BND haben, die später in Russland auftauchten.
verrats in einem besonders schweren Fall damit wohl Informationen von herausragen- Ende September, so erzählt es Arthur E. in
angeklagt. Es ist das größte Spionageverfah- der Bedeutung verloren. seinen Vernehmungen, habe er das Material
ren in Deutschland seit Jahrzehnten: Die Be- Der Skandal, so viel scheint inzwischen im Auftrag von L. in Moskau zwei FSB-
schuldigten sollen im vergangenen Jahr streng klar, geht nicht auf eine vom Kreml lang ge- Mitarbeitern überlassen. Eine zweite Liefe-
geheime Informationen des BND an den rus- plante Operation zur Infiltrierung des deut- rung geheimer Unterlagen soll E. im Oktober
sischen Inlandsgeheimdienst FSB weiterge- nach Russland gebracht haben.
geben und dafür Hunderttausende Euro Es waren wohl keine großen Mengen, die
Agentenlohn kassiert haben. Carsten L. dem Datenverarbeitungssystem
Carsten L. und Arthur E. sitzen seit fast des BND entnommen haben soll. Ausge-
einem Jahr in Untersuchungshaft. E. hat be- druckt sollen es insgesamt nur 73 DIN-A4-
reits mehrfach ausgesagt und ist für die Er- Seiten gewesen sein. Doch die Ursprungs-
mittler der wichtigste Zeuge, Carsten L.
Durch den Verrat soll eine quelle der zusammengestellten Tabellen,
schweigt dem Vernehmen nach bislang zu den hochsensible Informations- Bilder und Textpassagen war offenbar hoch-
Vorwürfen. sensibel.
Der Fall ist komplex, mit einem Urteil wird
quelle zum Krieg in Nach SPIEGEL -Recherchen handelte es
nicht vor Sommer nächsten Jahres gerechnet. der Ukraine versiegt sein. sich um Inhalte aus der russischen Chat-

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DEUTSCHLAND

plötzlich anwies, einen anderen Ka-


1
nal für die interne Kommunikation
zu nutzen. Auch Anhänge von Chat-
nachrichten in »Kod« sollen für den
BND fortan nicht mehr lesbar gewe-
sen sein.
Kurz zuvor hatte den BND eine
deutliche Warnung eines ausländi-
schen Partners erreicht: Material der
Behörde kursiere beim FSB und in
Kreisen der Wagner-Gruppe, warnten
die Kollegen. Jemand hatte die
»Kod«-Operation des BND offen-
sichtlich an die Russen verraten. Da-
mit war nicht nur der wohl wichtigs-
te Zugang zur Wagner-Gruppe ver-
loren. Der BND musste jetzt auch
einen Maulwurf in den eigenen Rei-
hen finden.
Aufwendige interne Ermittlungen
führten schnell zu Carsten L. Der war
gerade erst auf einen neuen Posten
bestellt worden und sollte nun aus-
gerechnet für die Sicherheitsüberprü-
fungen sämtlicher Kolleginnen und
Kollegen zuständig sein. Kurz vor
Weihnachten ließ die Bundesanwalt-
schaft L. festnehmen. Wochen später

Privat
nahmen Fahnder Arthur E. am
Münchner Flughafen in Empfang, er
war von einer USA-Reise zurückge-
kehrt. Zu einer Informantentätigkeit
E.s für den BND kam es nicht mehr.
Die Rechtsanwälte von Carsten L.
und Arthur E. ließen eine SPIEGEL -
Anfrage zu den Vorwürfen unbe-
antwortet. In einer Presseerklärung
aus dem September teilte der Vertei-
diger von Carsten L. mit, man sehe
keinen Anlass für ein Geständnis.
Unter anderem habe der Mitbeschul-
Wolfgang Kumm / dpa

digte E. in seinen Aussagen mehrfach


gelogen und Aussagen immer wieder
DER SPIEGEL

angepasst.
2 3 Arthur E. hatte in der Vergangen-
heit gegenüber den Ermittlern bestrit-
ten, einen Agentenlohn aus Russland
Applikation »Kod« – eine Art interne Partnerdiensten gelungen, die App 1 | Beschuldigter erhalten zu haben. Er habe immer im
WhatsApp-Anwendung für Wagner- zu hacken. Irgendwann bekam auch Geschäftsmann E. bei guten Glauben gehandelt, Carsten L.
einer Modenschau in
Söldner, mit der neben Text auch der BND Zugang. Moskau 2019
und damit dem BND zu helfen. Der
Dateianhänge verschickt werden Für die Beamten in Pullach und 2 | Angeklagter BND- BND teilte auf Anfrage mit, zu etwai-
konnten. Berlin war es ein wahrer Erkenntnis- Mann L. 3 | Gäste im gen nachrichtendienstlichen Erkennt-
Bis zum Zerwürfnis ihres Chefs schatz: Durch monatlich Hunderte Besucherzentrum des nissen oder Tätigkeiten grundsätzlich
BND in Berlin
Jewgenij Prigoschin mit der russi- mitgelesene Chatnachrichten der nicht öffentlich Stellung zu nehmen.
schen Regierung spielte die private Wagner-Söldner hatte der Westen Damit sei keine Aussage getroffen, ob
Militärfirma Wagner eine bedeutende über Monate mutmaßlich ein detail- Sachverhalte zutreffend sind oder
Rolle im Ukrainekrieg. Bis zu 50.000 liertes Bild über Verluste, Taktiken nicht.
Söldner sollen dort zwischenzeitlich und Ziele der Kämpfer auf russischer In dem Zeitungsinterview vom Juli
im Einsatz gewesen sein, Zehntausen- Seite. gab sich BND-Chef Kahl selbstbe-
de Kämpfer rekrutierte die Truppe in Doch schon bald schien das Glück wusst. Der Leitung seiner Behörde
Gefängnissen. die BND-Agenten zu verlassen. Ab sei es gelungen, nach dem Skandal
Laut den Ermittlungen sollen Mitte Oktober soll den Abhörexper- mögliche Vorbehalte von Partner-
Kommandeure der Wagner-Gruppe ten in Pullach aufgefallen sein, dass diensten zu entkräften. Man sei sehr
während der Schlachten mit der ukra- weniger Brauchbares in die Chats ge- offen mit der eigenen Verwundbar-
inischen Armee häufig über die postet wurde. Und tatsächlich: Am keit umgegangen. Das, so Kahl, habe
»Kod«-App kommuniziert haben. 20. Oktober und erneut am 25. lasen die Vertrauensbasis »eher gestärkt«.
Nach SPIEGEL -Recherchen war es die Beamten demnach mit, als ein Roman Lehberger, Fidelius Schmid,
offenbar zunächst Spezialisten von Wagner-Kommandeur seine Truppen Wolf Wiedmann-Schmidt n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 29


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von Innen und Außen. Das Konzept ei-
ner zentralen Steuerung, die je nach
Abbildung zeigt Sonderausstattung

Wunsch durch Berührung, Gestik oder


Sprache genutzt werden kann, ist ganz
auf die menschlichen Bedürfnisse aus-
gerichtet. Künstliche Intelligenz und
moderne Technologien steigern im
BMW i7 den Fahrspaß, bieten aber auch
ein unvergleichliches Komfort- und Un-
Touchscreens in den Fondtüren ermöglichen die Bedienung des optionalen BMW Theatre Screens terhaltungserlebnis.

Atmosphärisch: Das optionale Panorama-Glasdach


Sky Lounge ist mit LED-Lichtfäden illuminiert

Als Menschen
stehen wir mit all
Die ADAC-Ingenieure haben
unseren Sinnen und dem BMW i7 für Antriebs- und
Fahrkomfort die Note 0,9 gegeben:
„Besser geht es kaum“
Bedürfnissen im (Quelle: ADAC-Testergebnis 10/23)

i7 von BMW stets


im Mittelpunkt
Die Welt aus einer neuen Perspektive So lässt uns eine Fahrt im vollelektri-
Der BMW i7 verkörpert Sicherheit, Stabi- schen BMW i7 mit einem besonderen
der Luxuslimousine verströmt moderne lität sowie Beständigkeit und ist zu- Gefühl der Zufriedenheit zurück. Das
Behaglichkeit, in der Komfort und inno- gleich Sinnbild für Fortschritt. Durch Fahrzeug schmeichelt unseren Sinnen
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DEUTSCHLAND

Im Sumpf

Jerome Bonnet / DER SPIEGEL

Europaabgeordnete Kaili

AFFÄREN Vor einem Jahr erschütterte der Korruptionsskandal »Katargate« die Europäische Union.
SPIEGEL-Recherchen zeigen nun, dass der Einfluss des Emirats
weiter reichte als bisher gedacht. Im Mittelpunkt: der einstige griechische Politstar Eva Kaili.

32 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


DEUTSCHLAND

va Kaili kommt ganz in Schwarz geklei- »Wenn ich das Geld hätte Als sie von der Verhaftung Giorgis erfuhr,
E det, aber Trauerstimmung verbreitet sie
nicht, im Gegenteil. Für eine Frau, die verschwinden lassen wollen,
habe sie versucht, die Polizei anzurufen –
aber niemanden erreicht, behauptet sie.
monatelang in Untersuchungshaft saß, deren
politische Karriere vorerst am Ende ist und
hätte ich es behalten.« Niemanden erreicht? Bei der Polizei?
Kaili gibt dann doch zu, bei der Polizei mit
die erneut im Gefängnis landen könnte, wirkt Eva Kaili jemandem gesprochen zu haben, allerdings
sie erstaunlich gelassen. Kaili strahlt, scherzt, erfolglos. »Ich spreche kein Französisch.«
lächelt, als sie sich am vergangenen Sonntag Außerdem habe sie das Geld nur dem Eigen-
den Fragen des SPIEGEL und seiner europäi- ordnete Pier Antonio Panzeri, der mutmaß- tümer zurückgeben wollen. »Wenn ich es hät-
schen Partnermedien stellt. liche Drahtzieher. te verschwinden lassen wollen, hätte ich es
Die Griechin ist das Gesicht des größten Giorgi war jahrelang Panzeris Assistent im behalten«, sagt sie. Schließlich habe sie Im-
Skandals in der Geschichte des Europaparla- Parlament. Beide haben inzwischen zugege- munität gehabt.
ments. Abgeordnete wurden bestochen, um ben, Geld angenommen zu haben. Im Jahr Allerdings fanden die Ermittler in Kailis
Einfluss im Sinn des Emirats Katar und an- 2019 soll ihnen der heutige Arbeitsminister und Giorgis Wohnung weitere 150.000 Euro.
derer Länder zu nehmen, eine Ausschuss- Katars 4,5 Millionen Euro bis 2024 zugesagt Ihr Partner Giorgi, sagt Kaili, habe jahrelang
sitzung wurde manipuliert, Geld gewaschen, haben. Auch aus Marokko und Mauretanien Teile seines Gehalts an seinen Chef Panzeri
so die Vorwürfe. Vor einem Jahr flog das sollen Panzeri und Giorgi Zehntausende Euro abgetreten. Der habe es bar zurückgezahlt.
Ganze auf und machte unter dem Namen bekommen haben. Dafür sollten sie das an- Aber was soll das für eine Konstruktion
»Katargate« Schlagzeilen. Kaili verlor ihr geschlagene Image Katars aufbessern, im Par- sein? Und wer bewahrt eine solche Menge
Amt als Vizepräsidentin des EU-Parlaments lament Resolutionen gegen Marokko verhin- Bargeld in seiner Wohnung auf, statt sie auf
und wurde aus Partei und Fraktion ausge- dern und Mauretanien beraten. ein Bankkonto einzuzahlen?
schlossen. Der Skandal ist für Eva Kaili ein spekta- Zu dieser Frage sagt Kaili: nichts.
Und nun, an diesem verschneiten Sonntag, kulärer Absturz, bis dahin war sie ein politi-
sitzt Kaili, 45, im Brüsseler Büro des SPIEGEL scher Shootingstar. Die politische Karriere
und erklärt, dass man das alles ganz anders der TV-Journalistin begann 2007, als sie mit II. Katars beste Freundin
sehen müsse. Dass der eigentliche Skandal nur 28 Jahren für die Sozialdemokraten ins Bislang wirkte es, als wäre Eva Kaili in dem
ihre Verhaftung vor einem Jahr gewesen sei. griechische Parlament gewählt wurde. 2014 Skandal eher eine Nebenfigur gewesen, eine
Das Gespräch dauert fast zwei Stunden, in zog sie ins Europaparlament ein, Anfang 2022 Mitläuferin in Panzeris Netzwerk. Eine, die
denen sie keine Spur von Selbstzweifeln oder wurde sie eine von 14 Vizepräsidentinnen und das ganze Ausmaß der Korruption womöglich
Reue zeigt. Außer »erpressten Geständnissen Vizepräsidenten. kannte oder zumindest ahnte, aber nicht zu
oder Lügen« liege nichts gegen sie vor, sagt Als Kaili am Morgen des 9. Dezember den treibenden Kräften gehörte. Die neuen
Kaili. Sie habe nur versucht, »das Beste für 2022 von der Verhaftung ihres Lebensgefähr- Dokumente aber, vor allem die Textnach-
die Bürger« zu erreichen. ten Francesco Giorgi erfährt, versucht sie, richten aus Kailis beschlagnahmtem Handy,
Wirklich? mithilfe ihres Vaters einen Koffer mit 700.000 zeichnen ein anderes Bild. Demnach hat Kai-
Der belgischen Zeitung »Le Soir« liegen Euro Bargeld verschwinden zu lassen – so li in der mutmaßlich kriminellen Organisation
Dokumente vor, die sie mit dem SPIEGEL und steht es in den Ermittlungsakten, die der Panzeris eine wichtige Rolle gespielt.
dem Recherchenetzwerk European Investi- SPIEGEL einsehen konnte. Der Vater wird Am 18. Januar 2022 erreicht Kaili den bis-
gative Collaborations geteilt hat. Sie zeigen, geschnappt, Kaili ist aus Sicht der Strafver- herigen Höhepunkt ihrer Karriere, sie wird
wie sehr sich Kaili für Katar ins Zeug gelegt folger auf frischer Tat ertappt. zur Vizepräsidentin des EU-Parlaments ge-
hat, wie groß ihre Nähe zu dem Golfstaat war. Sie hat damit ihre Immunität als Abgeord- wählt. In den Tagen danach geht es darum,
Zudem gibt es neue Details über die Griechin nete verwirkt. Auch sie landet in Unter- für welche Themen sie in dieser Rolle zustän-
und ihren Lebensgefährten Francesco Giorgi. suchungshaft. dig sein wird, eine Entscheidung, die Parla-
Bisher warfen ihnen belgische Ermittler Geld-
wäsche, Korruption und Mitgliedschaft in 1 | Parlamentsvizepräsidentin Kaili im Hotel Steigenberger in Brüssel 2 | Mit Partner Giorgi und
einer kriminellen Vereinigung vor. Nun wer- gemeinsamer Tochter im Hotel 3 | Bei Kailis Vater im Dezember 2022 sichergestelltes Bargeld
den ein dubioser Immobiliendeal und ver-
dächtige WhatsApp-Nachrichten bekannt.
Zudem wird Kaili verdächtigt, mit Geldern
des Parlaments betrogen zu haben. Sollten
die Vorwürfe stimmen, könnte ihr eine lange
Haftstrafe drohen.
Was die Dokumente auch zeigen: Der
Skandal ist größer, reicht noch tiefer als ge-
dacht. Ein Jahr nachdem er aufgeflogen ist,
weitet er sich aus. Damit stellt sich die Frage,
ob die Kontrollmechanismen des EU-Parla-
ments funktionieren. Und wie weit der Ein-
fluss des Emirats tatsächlich reichte.
[M] Sarah Dillon / DER SPIEGEL; Fotos: EIC (3)

I. Rückblende: »Katargate« bricht los


Am 9. Dezember 2022 durchsuchen Ermittler
in Brüssel die Büros und Wohnungen von
Europaabgeordneten, deren Mitarbeitern und
Lobbyisten, finden Hunderttausende Euro
Bargeld. Mehrere Beschuldigte werden fest-
genommen, darunter Kaili, ihr Partner Gior-
gi und der ehemalige italienische EU-Abge-

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

mentspräsidentin Roberta Metsola neten unter Führung der deutschen Inhalt ist unbekannt. Al-Malki aber
fällen muss. Grünen Hannah Neumann ihren Trip scheint zufrieden, er antwortet:
Wie gewünscht bekommt Kaili die vorbereitet, dann kam die Absage. »Danke, Exzellenz!«
Zuständigkeit für den Nahen Osten Kaili hingegen ist in Katar hoch- Hat Kaili ihm tatsächlich weisge-
– und bedankt sich per WhatsApp willkommen. macht, dass sie Resolutionen und
überschwänglich bei Metsola: »Sie Sie trifft sich mit Vertretern des Mehrheiten im Parlament beeinflus-
haben mir alles gegeben, was ich am katarischen Parlaments, mit dem sen könne?
meisten liebe.« Sie beendet die Nach- Außen-, dem Energie-, dem Premier- »Wir müssen das im Plenum blo-
richt mit einem Herzchen. minister und sogar mit dem Staats- ckieren«, schreibt Kaili drei Tage vor
Kaili bietet Metsola an, im April ge- oberhaupt, Emir Tamim bin Hamad der Abstimmung über die Resolution
meinsam mit der griechischen Präsi- Al Thani. an David McAllister, den Vorsitzen-
dentin das Delphi-Wirtschaftsforum in Neumann ist sauer, sie wusste von den des Auswärtigen Ausschusses.
Griechenland zu eröffnen. Die Ermitt- nichts. Sie stellt Kaili zur Rede. Kaili habe ihn auch persönlich im Par-
ler glauben laut den Akten, dass Kaili »Dann kam die Eva-Show«, erzählt lament angesprochen, erzählt der
dort Metsola mit dem früheren EU- Neumann. Ihr Büro sei schuld, habe CDU-Politiker dem SPIEGEL . »Ich
Migrationskommissar Dimitris Avra- Kaili behauptet. Zweimal habe sie habe ihr gesagt, dass die Fraktionen
mopoulos zusammenbringen wollte. ihre Mitarbeiter angewiesen, Neu- und nicht der Auswärtige Ausschuss
Avramopoulos könnte nach Er- mann über die Reise zu informieren für Resolutionen verantwortlich sind.
kenntnissen der Ermittler »im Auftrag – tja, leider vergebens. Aber man Sie hat das anscheinend nicht verstan-
der kriminellen Organisation von könne sich doch mal auf einen Kaffee den.« Die Resolution wird am Ende
Panzeri und Giorgi zugunsten Ka- treffen, schreibt Kaili und schickt ihr mit großer Mehrheit verabschiedet,
tars« aktiv geworden sein. Nach sei- Lieblings-Emoji, eine kleine Rose. die scharfe Kritik an der Fifa und
nem Ausscheiden aus der Kommis- Ein Büroversehen? Der zuständige Katar bleibt erhalten.
sion saß er im Aufsichtsrat von Pan- Assistent Kailis wird der Polizei spä-
zeris Organisation Fight Impunity ter eine ganz andere Geschichte er- IV. Nächster Versuch
und soll dafür 60.000 Euro erhalten Chatverkehr der zählen. »Kaili hat mich nie gebeten, Sollte Al-Malki enttäuscht gewesen
haben. Diese NGO kämpft nach eige- EU-Präsidiums- Neumann zu informieren«, sagt er sein, lässt er sich nichts anmerken.
nen Angaben gegen Menschenrechts- mitglieder Kaili und laut Protokoll. Stattdessen dankt er »Ihrer Exzel-
Metsola
verletzungen – doch nach Erkennt- Auf Twitter schwärmt Kaili von lenz« für ihre Mühe und erteilt ihr
nissen der Ermittler könnten über sie ihrer erfolgreichen Reise in den Na- gleich den nächsten Auftrag. Kaili
Kaili an Metsola
illegale Zahlungen abgewickelt wor- hen Osten. Kurz danach, am 21. No- möge doch bitte mit dem Ausschuss
den sein. vember, lobt sie die tags zuvor eröff- für bürgerliche Freiheiten, Justiz und
Kaili sei die »direkte Mittlerin« nete Fußball-WM in Katar als »Be- Inneres reden, damit das Parlament
zwischen Avramopoulos und Fight weis dafür, wie Sportdiplomatie zu schon am 30. November über Visum-
Impunity gewesen, heißt es in den Ak- einer historischen Transformation erleichterungen für Katar abstimmt.
ten. Das »bestätigt ihre Rolle in der eines Landes führen kann«. Katar sei »Ich zähle auf Dich, liebe Eva.«
kriminellen Organisation Panzeri/ »führend bei den Arbeitsrechten«. Für Katar hat die Visumfrage hohe
Giorgi/Kaili«, notieren die Ermittler. Die Mehrheit der Abgeordneten Priorität. Gemeinsam mit Kuwait hat
Avramopoulos streitet auf Anfrage sieht das vollkommen anders. In einer sich das Emirat lange um eine Ab-
jegliches Fehlverhalten ab. Als EU- Resolution soll der Weltfußballver- schaffung der Visumspflicht bei Rei-
Kommissar habe er »streng nach den band Fifa dafür kritisiert werden, bei sen in die EU bemüht. Der Rat der
Regeln der Kommission« gehandelt. der Vergabe der WM an Katar die Mitgliedsländer hat im Juni 2022 zu-
Kaili bietet Metsola weitere Ge- dortige Menschenrechts- und Um- gestimmt. Nun fehlt noch die Zustim-
fallen an. Im August 2022 organisiert weltlage sowie den Schutz von mung des Parlaments.
sie für ihre Chefin Teile eines Fami- Arbeitsmigranten missachtet zu ha- Schon Mitte November steht Kai-
lienurlaubs in Griechenland. Karten ben. Zudem sei Katars Bewerbung li in Kontakt mit dem Grünenabge-
für das Akropolis-Museum lägen be- um die WM »von glaubwürdigen Vor- ordneten Erik Marquardt, der für das
reit, ein Dinner in einem »Top-Res- würfen der Bestechung und Korrup- Thema Visumerleichterung von Katar
taurant« sei organisiert. »Sie müssen tion begleitet« gewesen, heißt es im und Kuwait verantwortlich ist. Der
sich um nichts kümmern«, schreibt Entwurf der Entschließung. Anlass: Kuwait hat gerade sieben
Kaili. »Alles war toll. Danke!«, ant- In Doha ist man alarmiert. »Bitte Menschen hingerichtet – während
wortet Metsola am 16. August. Die tue Dein Bestes, das herauszuneh- EU-Vizekommissionspräsident Mar-
Erkenntnisse deuteten auf eine »pri- men«, schreibt Katars EU-Botschafter garitis Schinas das Land besuchte.
vilegierte Beziehung« zwischen Kai- Abdulaziz bin Ahmed Al-Malki an Die Kommission hat scharf reagiert:
li und Metsola hin, so der Eindruck Kaili. »Ich habe einen Anruf aus dem Man werde »Konsequenzen ziehen«,
der Ermittler. Metsola an Kaili Palast bekommen. Sie sind darüber gemeint ist die Visumfreiheit für
sehr aufgebracht.« Er setze darauf, Kuwait.
III. Die Eva-Show dass Kaili mit Metsola über die Sache Dadurch hat auch Katar ein Pro-
Bis zum Herbst 2022 sorgte die Katar- rede. blem – denn die Visumerleichterung
Affinität Kailis, die bis dahin eher als Wenige Stunden vor der Abstim- ist als Paket für beide Länder gedacht.
Fachfrau für Industrie, Energie und Kaili an Metsola mung am 24. November schreibt Al- »Können wir einfach Kuwait aus
Digitales galt, in Brüssel lediglich für Malki erneut. »Eva, meine Liebe – der Abstimmung herausnehmen?«,
Befremden. Doch dann reist Kaili mein Ministerium will den Absatz schreibt Kaili an Marquardt. »Können
kurzfristig nach Katar – direkt nach- über die Fifa und Katar nicht.« Und wir nicht«, antwortet der Deutsche.
dem der Golfstaat die EU-Parla- zwar »unter keinen Umständen«. Kaili insistiert: Katar rechne »noch
mentsdelegation für die arabische Kaili solle »ihr Bestes geben«, die vor der Weltmeisterschaft« – also in
Halbinsel wieder ausgeladen hat. Passage zu tilgen. Kaili schickt zwei den kommenden vier Tagen – mit der
Zwei Jahre lang hatten die Abgeord- Antworten – und löscht sie später, der Erteilung der Visumfreiheit.

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DEUTSCHLAND

Marquardt fordert im Ausschuss stattdes-


sen, die Visumfreiheit für Kuwait und Katar
nun an die Abschaffung der Todesstrafe zu
knüpfen. Das habe Kaili abgelehnt, erzählt
er im Rückblick. »Kaili sagte, dass für die USA
und Japan schließlich auch Visumfreiheit gel-
te, trotz Todesstrafe«, sagt Marquardt. »Dass
die USA und Japan Demokratien sind, Katar
aber nicht, schien sie nicht zu stören.« Im
Gespräch mit dem SPIEGEL bestätigt Kaili
den Vorgang: »Wir können keine unterschied-
lichen Maßstäbe anlegen und müssen unsere
Versprechen halten.«
Fast hätten Kaili, Panzeri und Giorgi sogar
Erfolg gehabt, das Parlament hätte Mitte De-
zember der Visumfreiheit für Kuwait und
Katar wahrscheinlich zugestimmt. Doch un-
mittelbar davor bricht der »Katargate«-Skan-
dal los. Metsola stoppt das Vorhaben, seitdem
liegt es auf Eis.
Was war die Gegenleistung Katars für Kai-
lis Unterstützung? Kaili sagt, sie habe außer
ihrem Gehalt nie Geld für ihre Arbeit bekom-
men. Panzeri jedoch hat Kaili in seinen Ver-
nehmungen belastet: Schon bei einer Reise 1, 3 | Sichergestelltes Bargeld aus gemeinsamer Wohnung des Paares Kaili/Giorgi 2 | Panzeri-
nach Katar im Frühjahr 2019 sei entschieden Vertrauter Giorgi auf Segeltörn im Mittelmeer im August 2021 4 | Kronzeuge Panzeri
worden, dass Kaili von Katar 250.000 Euro
für ihren Europawahlkampf bekommen solle. Kaili persönlich daran beteiligt? »Ich bezah- Schreiben, würde Kaili in Griechenland eine
Nach ihrer Wiederwahl sei sie Mitglied der le alles von meinem Bankkonto«, sagt Kaili Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren
Delegation für die Arabische Halbinsel ge- dazu. Der Frage, ob sie von der Barzahlung und eine Geldstrafe drohen. Die genaue
worden, um die »mit den Katarern eingegan- gewusst habe, weicht sie aus. Giorgi hat auf Schadenssumme wird in dem Schreiben nicht
genen Verpflichtungen zu erfüllen«, sagte eine Bitte um Stellungnahme nicht reagiert. genannt.
Panzeri den Ermittlern. Ungemach droht Kaili noch wegen eines
Kaili sagt dazu im Gespräch, dass sie nicht weiteren Vorgangs: Die Europäische Staats- VI. Haben die Ermittler überzogen?
mit Panzeri in Katar war – was aber auch anwaltschaft (EPPO) in Luxemburg verdäch- Vier Monate lang saß Kaili in Brüssel in
niemand behauptet hat. Auf die Annahme tigt sie des Betrugs zum Nachteil des EU- Untersuchungshaft. Während dieser Zeit hät-
der 250.000 Euro geht sie nicht direkt ein. Haushalts. Schon am 15. Dezember 2022 ten ihre Anwälte »zu keinem Zeitpunkt
Was sie getan habe, sei »zum Besten Europas« stellte die EPPO deshalb beim Rechtsaus- bestritten, dass sie auf frischer Tat ertappt
geschehen. schuss des Parlaments einen Antrag auf die wurde«, heißt es in einem Dokument der bel-
Aufhebung von Kailis Immunität. gischen Staatsanwaltschaft.
V. Ein dubioser Immobiliendeal Laut dem Schreiben, das dem SPIEGEL Erst im Juni 2023 beginnt Kailis Gegen-
Doch die Ermittlungsakten, die dem SPIEGEL vorliegt, wird gegen Kaili und vier ihrer ehe- offensive. Im Rechtsausschuss des Parlaments
und seinen Partnern vorliegen, enthalten wei- maligen Assistenten ermittelt – wegen des fechten ihre Anwälte die Aufhebung von Kai-
tere Vorwürfe. Sie werfen die Frage auf, was »dringenden Tatverdachts fortgesetzter Be- lis Immunität an. Im November aber hat der
in Brüssel eigentlich alles möglich ist. Ein gehung von Betrug und bzw. oder anderen Ausschuss noch immer keine Anhörung mit
Komplex betrifft einen fragwürdigen Immo- schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten« in Kaili angesetzt. Das sei »ein eklatanter Ver-
biliendeal, der den Verdacht der Geldwäsche den Jahren 2014 bis 2020. Es geht um Fragen stoß gegen die Grundprinzipien des EU-
aufwirft. zur Anwesenheit von Assistenten, vorge- Rechts«, schreiben die Anwälte und drohen:
Mitte Oktober 2022, zwei Monate vor dem täuschten Dienstreisen, um falsche Belege Sollte bis Jahresende keine Anhörung statt-
Bekanntwerden des »Katargate«-Skandals, und unzulässige Anträge auf Erstattung von finden, »müssen wir die zuständigen Justiz-
[M] Sarah Dillon / DER SPIEGEL; Fotos: EIC (2); Instagram; Stephanie Lecocq / EPA

kauft Kaili zusammen mit ihrem Lebensge- Dienstreisekosten. behörden einschalten«.


fährten Giorgi eine Wohnung in unmittelba- Außerdem soll Kaili sogenannte Kick-backs Der Ausschuss aber lässt sich davon offen-
rer Nähe des Brüsseler Parlamentskomplexes. erhalten haben: Ihre Assistenten hätten bar nicht beeindrucken. Eine Entscheidung
Der Preis beträgt 650.000 Euro – zumindest Teile ihrer Gehälter und Dienstreisekosten über den Fall Kaili könnte nach Angaben von
offiziell. Die Ermittler aber hegen den Ver- an Kaili zurückgezahlt. Sollte der Schaden Ausschussmitgliedern im Januar fallen. Auch
dacht, dass das Paar mit der Eigentümerin der über 120.000 Euro liegen und eine EU- bei der belgischen Anklagekammer lassen
Wohnung nebenher die Zahlung von rund Institution betroffen sein, heißt es in dem Kailis Anwälte seit Juni untersuchen, ob die
100.000 Euro in bar vereinbart hat. Immunität ihrer Mandantin widerrechtlich
Schon das wäre in Belgien illegal, denn verletzt wurde.
dort ist es verboten, bei Immobilienkäufen Michel Claise, der für den Fall verantwort-
auch nur einen Cent bar zu zahlen. Als Gior- liche Richter, hat sich bereits im Juni wegen
gi das Geschäft einfädelte, wurden seine Tele- »Dass die USA und Japan eines Interessenkonflikts von dem Fall zu-
fone bereits abgehört, wodurch die Ermittler rückgezogen. Es hatte sich herausgestellt, dass
auf den Deal aufmerksam wurden. Sie durch- Demokratien sind, einer seiner Söhne 2018 eine Firma mit
suchten das Haus der Verkäuferin in Gent – Katar aber nicht, schien sie dem Sohn der belgischen Europaabgeordne-
und entdeckten dort 80.160 Euro in bar. ten Maria Arena gegründet hatte. Arena
Sollten mit dem Immobiliendeal Beste- nicht zu stören.« könnte nach Erkenntnissen der Ermittler
chungsgelder gewaschen werden? Und war Erik Marquardt, Grünenabgeordneter ebenfalls in den »Katargate«-Skandal ver-

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

strickt sein. Doch trotz engster Kontakte mit »Ich habe keine Lust mehr, ben sie dazu im ersten halben Jahr nach einer
Panzeri wurde sie bislang nicht einmal verhört. Wahl ohnehin wenig Gelegenheit – in dieser
Kaili nutzt all das, um im Europaparlament mit ihr zu arbeiten.« Phase gibt es kaum neue Gesetzesinitiativen.
an ihrer Rehabilitation zu arbeiten. Seit sie im Hannah Neumann, Grünenabgeordnete Die Strafen für Verstöße gegen den Ver-
Mai aus dem Hausarrest entlassen wurde, ist haltenskodex für Abgeordnete wurden zwar
sie wieder regelmäßig auf den Fluren und in verschärft, sind aber immer noch überschau-
den Cafés der Parlamentssitze in Brüssel und bar. Die härteste finanzielle Sanktion ist der
Straßburg zu sehen. Sie strahlt, winkt Abgeord- Entzug des Tagegelds für 2 bis 60 Tage, was
neten zu, verteilt Umarmungen und Küsschen. von 676 bis 20.280 Euro entspricht.
Der SPIEGEL sprach mit einem halben VII. (Fast) alles bleibt, wie es war Auch regelmäßige Nebenjobs bleiben ge-
Dutzend Abgeordneten, die zum Ziel von »Katargate« spielte zunächst vor allem im nerell erlaubt. An dieser Stelle gibt es sogar
Kailis Charmeoffensive wurden: Sie sei ein Europaparlament – doch der Skandal schadet einen Rückschritt. So mussten Abgeordnete
Opfer der korrupten belgischen Justiz, habe der gesamten EU. »Derartige Korruption zer- bisher jede derartige Tätigkeit veröffent-
Kaili versichert, die Ermittler seien rabiat vor- frisst das Vertrauen der Öffentlichkeit in die lichen. Jetzt müssen sie das nur noch, wenn
gegangen. Sie hätten den Kronzeugen Pan- Institutionen«, sagte EU-Kommissionschefin sie insgesamt mehr als 5000 Euro im Jahr
zeri unter Druck gesetzt und ihn gedrängt, Ursula von der Leyen wenige Tage nach Be- nebenher verdienen.
Namen zu nennen. Um sich und seine inhaf- kanntwerden des Skandals. Kaili hätte demnach gar nichts melden
tierte Frau und Tochter zu retten, habe Pan- Den großen Worten folgten kleine Taten. müssen. Alle ihrer elf Nebenjobs, die sie dem
zeri sie beschuldigt. Von der Leyen etwa kündigte an, mit Parla- EU-Parlament im Juni 2021 anzeigte – da-
Bei manchen scheinen Kailis Argumente mentspräsidentin Metsola über die Einrich- runter Stiftungs-, Beirats- und Aufsichtsrats-
zu verfangen. Das Vorgehen der belgischen tung eines Ethikgremiums für die Kommis- posten –, sollen unbezahlt gewesen sein.
Ermittler sei teils »hochdubios«, sagt ein kon- sion, den Rat der Mitgliedsländer und das Gegenüber der griechischen Steuerbehörde
servativer Abgeordneter, der seinen Namen Parlament zu sprechen. Ein solches Gremium gab Kaili dagegen an, dass sie von 2018 bis
lieber nicht veröffentlicht sehen will. »Inzwi- gibt es bis heute nicht. Auch die tiefgreifenden 2021 insgesamt 318.751 Euro zusätzlich zu
schen ist alles, was die belgische Justiz ge- Reformen, die Metsola angekündigt hat, wur- ihrem Salär als Europaabgeordnete kassiert
macht hat, grundsätzlich infrage zu stellen.« den schnell zerredet. habe. Eine genaue Quelle wird nicht genannt.
Anderen missfällt Kailis Treiben. »Sie ist Im September beschloss das Parlament Woher kam das Geld? Hätte sie es nicht
nicht verurteilt, deswegen läuft sie hier he- immerhin moderate Veränderungen. Parla- dem EU-Parlament melden müssen? »Ich
rum«, sagt die Grünenpolitikerin Neumann. mentarier sollen künftig Treffen mit Vertre- weiß nicht, wovon Sie reden«, antwortet Kai-
»Als Verfechterin des Rechtsstaats muss ich tern von Drittstaaten offenlegen. Auch dürfen li auf diese Fragen. Sie habe kein Einkommen
das aushalten. Aber ich habe keine Lust mehr, Abgeordnete mit ehemaligen Kollegen in den außer ihren Abgeordnetenbezügen. »Alles ist
mit ihr zu arbeiten, und werde mich auch ersten sechs Monaten nach deren Ausschei- öffentlich. Alles ist glasklar.«
nicht mit ihr treffen.« den nicht zusammenarbeiten. Allerdings ha- Markus Becker, Rafael Buschmann, Nicola Naber n

VOGELS KLIMACHECK:
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FREUNDLICHSTEN FUHRPARK
DER BRANCHE?
„Post und DHL – mit Abstand. Mit über 40.000
Elektrotransportern, E-Trikes und E-Bikes ist über die
Hälfte der deutschen Zustellflotte emissionsfrei. Außerdem
versenden die mit GoGreen schon seit 12 Jahren unsere
privaten Pakete und seit letztem Jahr auch alle Briefe in
Deutschland durch Klimaschutzinvestitionen komplett
CO2-neutral. Läuft.“

GELB IST
GRÜN.
Selber checken auf: VogelCheckt.de
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voir an Versorgungsposten für politisches


Personal.
Machtzentrum der Stiftung, die als ein-
getragener Verein mit maximal 55 Mitgliedern
organisiert ist, ist der Vorstand und die Mit-
gliederversammlung. Ein wertvolles Netz-
werk, weshalb die Mitgliedschaft unter Christ-
demokraten extrem begehrt ist. Über die Auf-
nahme in den exklusiven Zirkel entscheidet
der Vorstand nach Gutdünken – die Satzung
enthält keine Auswahlkriterien.
Und so sitzen in der kleinen Runde vor
allem Leute mit großen Verdiensten um die

Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpa


CDU. Auffällig ist allerdings auch, wer fehlt.
Die Ministerpräsidenten Daniel Günther
(Schleswig-Holstein) und Michael Kretschmer
(Sachsen) sind dabei, anders als ihr Kollege
Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen).
Der ehemalige CDU-Generalsekretär Paul
Ziemiak sitzt in der Runde, nicht aber sein
Nachfolger Carsten Linnemann. Dazu kom-
men einige Köpfe der Zivilgesellschaft wie die
Parteifreunde Merkel, Lammert (r.) am Tag der Konrad-Adenauer-Stiftung 2018: Exklusiver Zirkel
Schriftstellerin Herta Müller, der Medienunter-
nehmer Sebastian Turner oder die Politologin
Marianne Kneuer von der TU Dresden.
Die häufigste Buchstabenfolge der Mitglie-

Der Merkxit derliste, abgesehen von Dr., lautet wohl: a. D.:


Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister a. D.,
Julia Klöckner, Agrarministerin a. D., Ralph
Brinkhaus, Unionsfraktionschef a. D., Roland
UNION Seit dem Ende ihrer Amtszeit kappt die Ex-Kanzlerin die Koch, Ministerpräsident a. D.
Viel Fluktuation herrscht in der KAS nicht,
Verbindungen zu ihrer Partei. Jetzt verließ Angela Merkel die CDU-nahe diese Premiummitgliedschaft gibt man ungern
Konrad-Adenauer-Stiftung – und düpiert damit treue Weggefährten. auf, obwohl sie alle drei Jahre verlängert wer-
den muss. Wer, wie Merkel, verzichtet oder
drei Mitgliederversammlungen verpasst, ist
as Treffen fand im Spätsommer statt, Kaum ein Spitzenpolitiker hat seinen Ab- automatisch draußen. Nur für eine Person
D es endete mit einer Enttäuschung. Nor-
bert Lammert, ehemaliger Bundestags-
präsident, besuchte Angela Merkel in ihrem
gang aus dem Amt so selbstbestimmt und zu-
gleich so radikal vollzogen wie Merkel. Zwar
hatte sie mehrmals angekündigt, der Politik
wurde jemals eine Ausnahme von dieser eiser-
nen Regel gemacht: Helmut Kohl.
Zu Merkels Zeiten sei die Mitgliederliste
neuen Büro. Als Vorsitzender der CDU-na- nach dem Ende ihrer Amtszeit den Rücken jünger und weiblicher geworden, heißt es.
hen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) wollte kehren zu wollen. Aber vielen Parteifreunden »Das ist ihr eigener Ehemaligenklub, den sie
er die Altbundeskanzlerin dazu bewegen, wird erst jetzt klar, was das bedeutet. Wie jetzt im Stich lässt«, sagt ein KAS-Mitglied.
nochmals für den Vorstand der KAS zu kan- entschlossen Merkel auf Distanz zu ihrer poli- Indem Merkel Verbündete wie Tanja Gönner,
didieren. tischen Heimat geht. Von einem »Bruch« Hildegard Müller und Hermann Gröhe in die
Doch Merkel lehnte höflich ab, und nicht spricht ein prominenter CDU-Politiker, von KAS holte, habe sie die Dominanz des Old-
nur das. Sie eröffnete Lammert, generell kein einer »Eiszeit« ein anderer. Boys-Network teils noch aus Kohl-Zeiten ge-
Interesse mehr an einer Mitgliedschaft in der Es begann noch während Merkels Zeit im schwächt – und mit diesem Schachzug ver-
KAS zu haben. »Ich bin aus dieser Rolle ein- Kanzleramt: 2018 kündigte sie an, den CDU- hindert, dass sich die Stiftung zum erzkonser-
fach rausgewachsen«, soll Merkel nach An- Vorsitz aufzugeben. Bald darauf fuhr sie vativen Gegenpol ihrer Politik entwickelte.
gaben aus ihrem Umfeld gesagt haben. Noch Wahlkampfauftritte und Parteitermine he- Die Grenzen ihres Einflusses erlebte Mer-
nicht einmal der Status »Freundin der KAS«, runter, sparte sich alle Events, die für eine kel, als sie 2017 vergebens versuchte, ihre Ver-
den Lammert ihr anbot, reizte sie. Nochkanzlerin nicht zwingend nötig waren. traute Annette Schavan zur KAS-Chefin wäh-
Diese Botschaft musste Lammert verkün- Parteimitglied ist sie noch, immerhin das. len zu lassen. Stattdessen setzte sich Lammert
den, als sich die Mitglieder der Stiftung am Doch den CDU-Ehrenvorsitz lehnte sie 2022 durch, auch auf Druck von Bernhard Vogel,
vergangenen Freitag zu ihrer jährlichen Ver- ab – was viele Weggefährten empörte. dem greisen Ehrenvorsitzenden der KAS, der
sammlung in der KAS-Akademie an der Ber- Mit der Konrad-Adenauer-Stiftung ist nun bis heute zu Mitgliederversammlungen reist.
liner Tiergartenstraße trafen. Lammerts In- eine weitere wichtige Verbindung gekappt. Bricht Merkel nun auch wegen dieser Episode
stitution, einer der wichtigsten politischen Und wieder sind Parteikollegen irritiert, auch mit der Stiftung?
Thinktanks der Welt, verliert eine der be- wenn öffentlich alle schweigen. Ihr Umfeld betont, so denke die Altkanzle-
kanntesten politischen Persönlichkeiten der Die Adenauer-Stiftung versteht sich als Ge- rin nicht. Merkel wolle kein Signal gegen die
Welt. Angela Merkel ist raus. hirn der Christdemokratie. Mit mehr als 1600 KAS setzen, sondern nur ihr neues Leben frei
Doch unter den Anwesenden, darunter Leuten unterhält die KAS rund 100 Büros gestalten, ganz ohne politische Zwänge.
viele Vertraute Merkels und frühere Kabi- in aller Welt, betreibt Parteienforschung, för- Mit ihrem Rückzug hielt ausgerechnet Mer-
nettsmitglieder, löste die Nachricht teils nur dert Nachwuchswissenschaftlerinnen und kels einstiger Erzrivale Einzug in die Runde:
noch resigniertes Achselzucken aus. Sie er- -journalisten. Und wie alle politischen Stiftun- CDU-Chef Friedrich Merz, bisher nur im Vor-
warten von der Altbundeskanzlerin nicht gen bietet sie mit einem Budget von mehr als stand kooptiert, ist jetzt ordentliches Mitglied.
mehr viel anderes. 200 Millionen Euro ein beträchtliches Reser- Melanie Amann n

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DEUTSCHLAND

»Das Kämpferische fehlt Olaf«


SOZIALDEMOKRATEN Der Bochumer Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer, 71, erlebt seinen 50. SPD-Parteitag.
Er vermisst Sigmar Gabriel, verteidigt Gerhard Schröder und sieht Lücken bei Olaf Scholz.

SPIEGEL: Herr Schäfer, Sie sind seit ist. Ein Jamaikabündnis scheint der­ lichen Ebene ansprechen. Aber Olaf
1969 in der SPD und machen jetzt zeit undenkbar. Und die FDP wird Scholz ist ein eher schüchterner
in Berlin Ihren 50. Bundesparteitag nicht mit Union und AfD stimmen. Mensch. Er ist halt Hanseat.
mit. Erinnern Sie sich noch an Ihren Wir müssen da jetzt einfach durch. SPIEGEL: Sehen Sie diese Zurückhal­
ersten? SPIEGEL: Obwohl die SPD den Kanz­ tung als Schwäche?
Schäfer: Natürlich, Hamburg 1977. Ich ler stellt, liegt sie in Umfragen nur Schäfer: Ein Kanzler braucht Klug­
war mit 25 Jahren der zweitjüngste noch bei 15 Prozent. Haben Sie eine heit, Kompetenz, Kraft, Kampf und
Delegierte. Es gab einen Antrag zur so schwere Krise Ihrer Partei schon Konkretheit. Was diese fünf K an­
friedlichen Nutzung der Kernenergie. mal erlebt? geht, ist Olaf Scholz der am besten
Ich habe dagegen gestimmt, als einer Schäfer: Nein. Das liegt aber auch aufgestellte Kanzler seit Helmut
von ganz wenigen. Was ich nie ver­ daran, dass wir durch Pandemie, Schmidt.
gessen werde: Ich saß in einem engen Ukrainekrieg und Inflation insgesamt SPIEGEL: Konkret? Olaf Scholz? Mei­
Raum, eingezwängt zwischen zwei die wahrscheinlich schwersten Zeiten nen Sie das ernst?
Oberbürgermeistern aus Dortmund in Deutschland seit 1945 erleben. Schäfer: Gut, daran mangelt es ihm
und Bochum, vorn auf der Bühne SPIEGEL: Die Menschen glauben of­ manchmal. Auch das Kämpferische
eben nicht heutige Parteivorsitzende, fenbar nicht mehr, dass die SPD sie fehlt Olaf. Dabei kann er das eigent­
sondern Willy Brandt, Helmut gut durch diese Zeit führt. Woran liegt lich. Das merkt man, wenn er bei sei­
Schmidt und Herbert Wehner. Män­ das? nen Regierungserklärungen das Ma­
ner, die damals schon in den Ge­ Schäfer: Es gibt immer mehrere Grün­ nuskript weglegt. Dann werden seine
schichtsbüchern standen. Und die de für schlechte Umfragewerte. Der Reden auch mal richtig emotional. Ich
waren alle für Atomkraft. Ich konnte wichtigste Grund aus meiner Sicht ist, habe ihm deshalb schon dazu geraten,
mich nicht hinter einem Handy ver­ dass wir die zentrale Botschaft nicht den Zettel öfter mal wegzulegen.
stecken oder zwischendurch mal raus­ oft genug wiederholen, auch der Bun­ SPIEGEL: Welche Kommunikation
gehen wie heute. Ich musste die Hand deskanzler tut das nicht. Wir stehen wünschen Sie sich vom Kanzler in der
heben gegen einen Antrag, den Willy vor den größten Herausforderungen, Haushaltskrise?
Brandt unterstützt hat. Das war vor denen eine Bundesregierung je Schäfer: Olaf Scholz müsste eine Rede
extrem. gestanden hat, aber wir werden sie an die Nation halten, die den Men­
SPIEGEL: Fünf Jahre später hat die bewältigen. Bisher ist es uns nicht ge­ schen Zuversicht gibt und sie in die­
FDP die Regierung von Helmut lungen, dies den Menschen zu ver­ »Dass sie sen unübersichtlichen Zeiten mit­
Schmidt verlassen. Wie haben Sie das mitteln. Gerd das nimmt. Aber ich will betonen, dass
erlebt? SPIEGEL: Was erwarten Sie von Olaf er auch vieles richtig gemacht hat.
Schäfer: Im Wahlkampf hatte die FDP Scholz? Büro weg­ Das Bild, das von Scholz gezeichnet
noch Plakate für Schmidt als Bundes­ Schäfer: Der Kanzler sollte das öffent­ genommen wird, ist teilweise auch ungerecht.
kanzler aufgehängt. Ich war immer lich tun, was er parteiintern schon SPIEGEL: Inwiefern?
für die sozialliberale Koalition. Mein macht: erklären. Er könnte die Men­ haben, fand Schäfer: Olaf Scholz hat in zwei Jah­
Vater hat FDP gewählt, meine Mutter schen auch stärker auf einer persön­ ich falsch.« ren mehr in Europa geleistet als je ein
SPD. Ich stand noch ein gutes Stück Kanzler vor ihm. Das wird kaum
links von ihr, aber sozialliberal war wahrgenommen. Was die Europäi­
für mich das Bündnis des aufgeklärten sche Union angeht, ist er »the last
Bürgertums mit der organisierten man standing«. Der letzte Regierungs­
Arbeiterschaft. Deshalb habe ich den chef eines großen EU­Landes, das die
Koalitionsbruch der FDP 1982 als europäische Idee mit voller Überzeu­
Verrat empfunden. gung vertritt und Koalitionspartner
SPIEGEL: Was macht Sie zuversicht­ hinter sich hat, die das genauso sehen.
lich, dass die Koalition diesmal hält? SPIEGEL: Und seine innenpolitische
Schäfer: Dafür gibt es drei simple Bilanz?
Gründe. Wir haben einen Koalitions­ Schäfer: Die ist aus meiner Sicht auch
vertrag, Vertrag kommt von Vertra­ besser als ihr Ruf. Es gibt wahrschein­
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

gen. Ich bin 51 Jahre verheiratet, ich lich kaum eine Regierung, die so vie­
weiß, wovon ich rede. Zweiter Punkt: le Gesetze in so kurzer Zeit auf den
Es gibt Gott sei Dank viele inhaltliche Weg gebracht hat wie die Ampel­
Schnittmengen. Und drittens: Die drei koalition. Aber die Schlagzeilen werden
Parteien haben keine Alternative. Die vom Streit bestimmt. Und diese Pro­
SPD könnte in eine große Koalition Schäfers Arbeitsplatz im Bundestag bleme gehen dann mit dem Kanzler
gehen, was für uns wenig verlockend nach Hause.

38 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


DEUTSCHLAND

für mich frauenfeindlichen Witz gemacht hat.


Wirklich unerträglich. Da habe ich emotional
mit ihm abgeschlossen.
SPIEGEL: Aber Schröder ist doch auch ein
Macho.
Schäfer: Das ist genau falsch! Heidi Wieczorek-
Zeul, Herta Däubler-Gmelin, Ulla Schmidt,
Renate Schmidt, Edelgard Bulmahn, Christine
Bergmann, Brigitte Zypries. Das waren star-
ke, nicht ganz einfache Frauen. Heidi war mal
meine Juso-Vorsitzende. Sich mit ihr zu strei-
ten war kein Vergnügen. Gerd hat sich aber
bewusst Leute ins Kabinett geholt, die ihm
widersprachen.
SPIEGEL: Hängen geblieben ist sein Spruch,
Frauenpolitik sei Gedöns.
Schäfer: Das war doch nicht bösartig gemeint!
In einer Stresssituation sprach Gerd vom »Mi-
nisterium für Familie«. Und dann kam er nicht
auf »Frauen und Jugend«, sondern sagte flap-
sig »und Gedöns«.
SPIEGEL: Seit dem Beginn des russischen An-
griffskriegs gegen die Ukraine ist Schröder
für viele in der SPD ein Paria, es gab Versu-
che, ihn aus der Partei auszuschließen. Sie
haben keine Scheu, sich an seiner Seite zu

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


zeigen. Auch bei seinem 60. Parteijubiläum
Ende Oktober waren Sie dabei.
Schäfer: Ich war eingeladen und habe mein
Umfeld gefragt, ob ich hingehen soll. Familie,
Freunde, Parteifreunde, Wähler. Und bis auf
einen haben alle gesagt: Geh hin. Wenn alle
dagegen gewesen wären, wäre ich nicht hin-
gegangen.
SPD-MdB Schäfer: »Ich musste die Hand heben gegen einen Antrag, den Willy Brandt unterstützte«
SPIEGEL: Schröder hat sich auch nach Beginn
SPIEGEL: Neben Scholz sollen auch Saskia SPIEGEL: Vermissen Sie Sigmar Gabriel? des Kriegs nicht von Wladimir Putin losge-
Esken und Lars Klingbeil die SPD als Partei- Schäfer: Ja, Sigmar fehlt. Mir selbst und der sagt. Die SPD-Spitze distanzierte sich deutlich
chefs nach außen vertreten. Sie waren ein Partei. Er war leider oft zu sprunghaft, aber von ihm. Warum halten Sie ihm die Treue?
Gegner der Doppelspitze. Wie nehmen Sie seine öffentlichen Auftritte waren ein Erleb- Schäfer: Für mich gilt mit Blick auf seine
die beiden wahr? nis. Ich erinnere mich, wie er an der Bochu- Tätigkeiten für russische Staatskonzerne: Ich
Schäfer: Ich war kein Anhänger der Doppel- mer Uni den Saal gerockt hat, vor 300 Stu- hätte das nicht gemacht. Aber wenn wir uns
spitze, das stimmt. Denn das bedeutet immer, denten. Oder denken Sie an seine Dresdner sehen, reden wir. Seitdem er nicht mehr mein
dass zwei Menschen sich sehr vertrauen und Parteitagsrede 2009: »Wir müssen raus ins Büronachbar im Bundestag ist, ist das aller-
Erfolge gönnen müssen. Aber die beiden Leben, da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; dings ohnehin seltener geworden. Früher sind
funktionieren gut mit dem Kanzler zusam- da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch wir einmal im Jahr essen gegangen. Und ich
men. Von daher sehe ich das inzwischen als stinkt.« Er hatte außergewöhnliche Fähig- habe mir oft von ihm Krawatten geliehen, er
Gewinn für die SPD. Ein Gewinn für Wahl- keiten. Es war ein schwerer Fehler der SPD, hatte einfach viel mehr davon. Dass sie ihm
umfragen ist es bisher aber leider nicht. Sigmar 2018 nicht wieder zum Außenminister das Büro weggenommen haben, fand ich
SPIEGEL: Trotz schlechter Umfragewerte gibt zu machen. falsch. Ich habe ja gesehen, wer so alles bei
es in der SPD insgesamt wenig Kritik an der SPIEGEL: Sie sind Parteilinker, das kann man ihm auf der Couch saß. Einmal saß ich selbst
Parteispitze. Sollte die SPD-Basis aufmüpfiger von Gabriel wirklich nicht sagen. Auch von dort, da rief die damalige Kanzlerin Angela
werden? Gerhard Schröder nicht, trotzdem waren Sie Merkel an. Er meinte nur: Kannst ruhig sitzen
Schäfer: Die Partei muss vor allem die Unter- 1998 für ihn als Kanzlerkandidaten und nicht bleiben. Und dann sprach er mit ihr über
schiede zur Konkurrenz deutlich machen. Das für Oskar Lafontaine. Warum? seine nächste Reise zu Erdoğan. So muss
ist nicht einfach. Die Menschen haben wider- Schäfer: Dafür gab es zwei Gründe. Lafon- das doch sein zwischen Kanzlern und ihren
sprüchliche Erwartungen an Politik: Sie wol- taine war gegen die Wiedervereinigung. Ich Vorgängern.
len auf der einen Seite Harmonie, auf der war dabei, zwei Tage nach dem Mauerfall saß SPIEGEL: Gerhard Schröder ist nicht zum Par-
anderen Seite eine klare Unterscheidbarkeit ich mit meinem Sohn auf der Mauer. Ich habe teitag eingeladen. Wünschen Sie sich, dass
zwischen politischen Akteuren. geheult, als Walter Momper, damals Regie- sich das Verhältnis der Partei zu ihm wieder
SPIEGEL: Wie kann sich die SPD da abheben? render Bürgermeister, am Potsdamer Platz bessert?
Schäfer: Indem sie eine Erzählung für die die Kräne dirigiert hat und die einzelnen Mau- Schäfer: Das halte ich für angemessen. Gerd
Mitte findet. Die SPD steht für den Konsens, erteile hochgehoben wurden. Das hat Lafon- hat historische Verdienste, auf die er mit
für ein Sowohl-als-auch. Wir können nicht taine bis heute nicht verstanden, diese histo- seiner Haltung zu Russland einen Schatten
grüner als die Grünen und linker als die Lin- rische Dimension. geworfen hat. Aber er ist bis heute der Ein-
ke sein. SPIEGEL: Was war der zweite Grund? zige, der einen kompletten Regierungswech-
SPIEGEL: Damit haben Sie jetzt einen ehe- Schäfer: Lafontaine war mir zu sehr Macho. sel hinbekommen hat – von Schwarz-Gelb
maligen Parteivorsitzenden zitiert. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung An- zu Rot-Grün.
Schäfer: Den Sigmar. fang der Neunzigerjahre, bei der er einen Interview: Sophie Garbe, Christian Teevs n

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DEUTSCHLAND

Gesetz« in die Offensive. Ihr Landeschef


Mario Voigt sagt: »Wir halten es für richtig,
dass man im Land der Dichter und Denker
auch nach den Regeln der deutschen Recht-
schreibung schreibt und spricht.«

Vereint gegen Tonke Diesmal wäre es ein Verbot von Sternchen


und Strichen, wieder könnte die AfD zum
Zünglein an der Waage werden, weil mit ihr

und Ompa die Minderheitsregierung erneut überstimmt


werden kann. Der Fall sorgte bundesweit für
Schlagzeilen und für Grummeln in der Bun-
des-CDU. Das Problem wurde nicht gelöst,
GLEICHBERECHTIGUNG Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nur verschoben.
Die AfD lehnt Gendern seit ihrer Grün-
wettert nun gegen Gendersprache. Immer mehr dung im Jahr 2013 ab. Vor allem die Völki-
Landesregierungen wollen das Thema nicht länger allein der AfD überlassen. schen und Neurechten in der Partei erkannten
es als ein Thema, das ihnen im Kampf um
»metapolitische Erfolge«, wie sie es nennen,
uf eine Art ist es ein typischer Söder. Doch der Druck wächst, auch weil die AfD helfen würde. Der Kampf gegen das Gender-
A Ende Oktober 2022 erklärte der CSU-
Mann auf einem Parteitag in Augsburg
wortgewaltig den Unterschied zwischen
die anderen Parteien vor sich hertreibt.
Die hatte zu Beginn des Jahres in Stralsund
in Mecklenburg-Vorpommern einen Antrag
sternchen reichte ihnen nicht, sie waren gegen
jegliche Gleichstellungspolitik wie Frauen-
quoten oder Forschungsprojekte zu Ge-
der »Liberalitas Bavariae« und der »Berliner gegen das Gendern gestellt und ihn unter schlechterungerechtigkeiten.
Wokeness«. Seine Partei, so der bayerische anderem mit der »Verkomplizierung der Fortan hielt die AfD den Druck auf die
Ministerpräsident, schreibe niemandem vor, Alltagssprache« begründet. Noch vor der anderen Parteien aufrecht, vor allem auf
was er zu essen, wie er was zu reden und was Abstimmung im Stadtparlament verwiesen Union und FDP, sprach von »Gender-Gaga«
er zu sagen habe. Der liberale Ansatz aber CDU und FDP auf eine Dienstanweisung der und »Gender-Wahn«, dem diese, genau wie
hielt nicht lange vor. Stralsunder Verwaltung. Gendern ist darin die linken Parteien, folgen würden. Ihr Kal-
Eine Landtagswahl später, die der AfD in ohnehin nicht vorgesehen, sondern allein die kül: Stellen Union und FDP sich gegen das
Bayern 14,6 Prozent der Stimmen und der männliche und die weibliche Anredeform, Gendern, erscheint die AfD weniger extrem.
CSU das schwächste Ergebnis seit 1950 brach- kein Stern oder Unterstrich. Und macht noch Boden wett, schließlich habe
te, klingt der Parteichef anders. Das Gendern, Zu retten war dennoch nichts mehr, selbst die Partei das zuerst so harsch gefordert.
so Söder Anfang Dezember, werde in Schulen die eigenen Leute von CDU und FDP stimm- Allerdings treibt auch das Wahlvolk die
und Verwaltungen untersagt. Damit niemand, ten für den AfD-Antrag – außer zwei weib- Sache voran, zumindest ein Teil von ihm. Eine
wie der Bayer gern in Bierzelten lästerte, statt lichen Abgeordneten. Die AfD konnte ihr bundesweite Initiative »Stoppt Gendern«, die
Onkel und Tante »Tonke« schreibe oder aus Glück kaum fassen. Ein Abgeordneter sagte ein Vorstandsmitglied der selbst ernannten
Oma und Opa »Ompa« werde. der »Jungen Freiheit«, er habe nicht damit Sprachschützer des Vereins deutsche Sprache
Söder beweist einmal mehr ein Gespür für gerechnet, dass die CDU »den Mut« haben organisiert, unterstützt aktuell Volksinitiati-
Stimmungen. Gendern gehört nicht zu den werde, zuzustimmen. ven in vielen Bundesländern: Bayern, Baden-
Lieblingsbeschäftigungen der Deutschen, die Auf ähnliche Weise wurde die rot-rot-grü- Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Sach-
meisten lehnen es ab. Das Institut Allensbach ne Minderheitsregierung von Ministerpräsi- sen-Anhalt, Hamburg und Schleswig-Holstein.
fand heraus, dass 59 Prozent der Befragten dent Bodo Ramelow (Linke) in Thüringen Sie kann sich zudem auf Experten und
im Westen und 76 Prozent im Osten bezwei- überrumpelt. Ende vergangenen Jahres ging Expertinnen stützen. Der Rat für deutsche
feln, dass eine gendergerechte Sprache »einen mithilfe der AfD im Landtag ein Antrag der Rechtschreibung hat mitten in der Corona-
nennenswerten Beitrag zur Gleichberechti- CDU durch, der die Landtagsverwaltung, die pandemie im März 2021 empfohlen, Gender-
gung von Männern und Frauen leisten kann«. Landesregierung und Landesbehörden auf- stern, Gender-Gap, Doppelpunkt und Co.
Laut Forsa stört es fast drei Viertel der Deut- forderte, keine Gendersprache zu verwenden. nicht in das Amtliche Regelwerk der deut-
schen grundsätzlich, wenn Genderzeichen Dies gelte zudem für nachgeordnete Einrich- schen Rechtschreibung aufzunehmen. Man
verwendet werden. tungen wie Landesverwaltungsamt und Ver- solle Rücksicht nehmen unter anderem auf
Neben dem Heizungsgesetz und der Flücht- fassungsschutz, auch für Schulen. Die Regie- die mehr als zwölf Prozent aller Erwachsenen
lingskrise ist Gendern zu dem Thema geworden, rung hatte noch versucht, eine »Selbstver- mit »geringer Literalität«, die nicht mal ein-
das eine Abgehobenheit der politischen Klasse pflichtung zu einer respektvollen Kommuni- fache Texte lesen könnten. Auch Ausländern
belegen soll. Die Debatte ist vor allem im Osten kation« dagegenzusetzen, und scheiterte solle der »Sprach- und Schrifterwerb« nicht
Treibstoff für die AfD. Gender-Doppelpunkt, damit. erschwert werden.
Gendern mit Unterstrich, Binnen-I und Gender- Der CDU-Antrag war damals nur ein Ap- Im Juli gab es einen neuen Beschluss des
sternchen werden zum Kulturkampf. Auch pell und kein Verbot. Doch der Eklat sollte Rechtschreibrats. Wieder mit dem Hinweis,
wenn das Bonmot im Osten umgeht, Gendern sich wiederholen. Im September ging die Thü- diese Zeichen gehörten »nicht zum Kernbe-
sei doch nur, wenn der Sachse mit dem Boot ringer CDU mit einem »Korrekte-Sprache- stand der deutschen Orthografie« und könn-
umkippt – Sächsisch für Kentern. ten zu grammatischen Folgeproblemen füh-
Politisch herrscht in Sachen Gendern ein ren, die noch nicht geklärt seien.
Flickenteppich. Die Bundesländer Sachsen, Auch Sprach- und Literaturwissenschaftler
Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein ha- stemmen sich gegen den Asterisk, also das
ben die Sonderzeichen über ihre Kultusminis- Gendersternchen. Einen Aufruf gegen die
terien lange vor Söder verboten. Schüler, die »Das Gendern geht an Genderpraxis des öffentlich-rechtlichen
es trotzdem verwenden, werden mit Punkt- der Lebensrealität Rundfunks haben inzwischen 1007 Experten
abzug bestraft. Elf Länder verweisen auf die und Expertinnen unterzeichnet. Die Sender
deutsche Rechtschreibung, die Genderstern- der Menschen vorbei.« sollten, so die Aufforderung, den Wunsch der
chen nicht kennt, bestrafen aber niemanden. Klaus Holetschek, CSU-Fraktionsvorsitzender Mehrheit respektieren und zum generischen

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DEUTSCHLAND

Maskulinum zurückkehren: »Die wahl vom vergangenen Oktober las-


deutsche Grammatik ist weder ›ge- sen sich auch kaum Forderungen stel-
recht‹ noch ›ungerecht‹.« Der Berli- len, wenn man gern mal wieder Teil
ner »Tagesspiegel« hat nach drei Jah- einer Regierung werden will. In einer
ren Sternchen und Doppelpunkt die Koalition setze eben jede Partei ihre
Notbremse gezogen. Nach massiven eigenen Schwerpunkte, sagt Kaweh
Leserbeschwerden haben die Sonder- Mansoori, der Chef des linken SPD-
zeichen jetzt weitgehend ausgedient. Parteibezirks Hessen-Süd: »Gendern
In Hessen kündigte das neue ist kein Schwerpunkt der SPD.«
schwarz-rote Bündnis von CDU-Re- Im größten deutschen Bundesland,
gierungschef Boris Rhein gerade an, Nordrhein-Westfalen, hingegen will
auch den öffentlich-rechtlichen Rund- man von solchen Plänen nichts wis-

Sascha Fromm / Thüringer Allgemeine / IMAGO


funk an die Kette legen zu wollen. In sen. Bei Schwarz-Grün war Gendern
einem Eckpunktepapier heißt es: bislang kaum Thema, weder in den
CDU und SPD möchten »festschrei- Koalitionsverhandlungen voriges Jahr
ben, dass in staatlichen und öffent- noch in den Kabinettssitzungen. CDU
lich-rechtlichen Institutionen wie und Grüne haben sich darauf verstän-
Schulen, Universitäten, Rundfunk auf digt, in Gesetzestexten, amtlichen
das Gendern mit Sonderzeichen ver- Bekanntmachungen und Pressemit-
zichtet wird« und eine Orientierung teilungen geschlechtsneutrale Begrif-
am Rat für deutsche Rechtschreibung fe und Paarformeln zu verwenden.
Thüringens CDU-Vorsitzender Voigt
erfolgt. Die Initiative geht auf den Ansonsten möchte man einen ent-
wiedererstarkten konservativen Flü- spannten Umgang in dieser Sache
gel der Hessen-CDU zurück. pflegen.
Führende CDUler hatten regis- Niemand in der Regierung will das
triert, dass in den Jahren der vorhe- Gendern zum Symbolthema ausrufen,
rigen schwarz-grünen Koalition im- auch Ministerpräsident Hendrik Wüst
mer mehr Wählerinnen und Wähler nicht. Ein Insider in Düsseldorf sagt,
aus dem bürgerlichen Lager begon- es gebe derzeit »gravierendere Pro-
nen hatten, mit der AfD zu sympathi- bleme als so einen Scheiß«. In Reden
sieren – offenbar auch wegen solcher und Interviews spricht der Minister-
Symbolthemen. Als Parteichef Fried- präsident von »Lehrerinnen und Leh-
rich Merz im Juni twitterte, mit jeder rern«, von »Handwerkerinnen und
gegenderten Nachrichtensendung Handwerkern«, das Binnen-I benutzt
gingen ein paar Hundert weitere er nicht. Andere dürften gern übers
Stimmen zur AfD, stimmten Partei- Gendern reden, doch pragmatisch sei
freunde aus Hessen und aus Rheins das nicht, sagte Wüst einst. Es komme
engem Umfeld insgeheim zu. stattdessen darauf an, Politik für
In letzter Zeit ist Merz allerdings Gleichberechtigung zu machen.
ziemlich still geworden bei dem The- Söder sah das diese Woche anders.
ma. Im April 2021 – da war er noch Für seinen Vorstoß wählte er einen
nicht Parteivorsitzender – hatte er sich prominenten Zeitpunkt: seine erste
Uwe Lein / dpa

in einem SPIEGEL -Gespräch über ver- Regierungserklärung seit der Wieder-


meintliche Gender-Sprachpolizisten Bayerns Ministerpräsident Söder wahl als bayerischer Ministerpräsi-
ereifert. Inzwischen haben die Christ- dent, eine Rede also, die Grundzüge
demokraten erkannt, dass der CDU- für Söders zweite Legislatur vorgab.
Chef bei dem Thema nichts gewinnen CSU-Fraktionschef Klaus Holet-
kann, nach dem Motto: Für einen schek unterstützt ihn: »Das Gendern
potenziellen Kanzlerkandidaten der geht an der Lebensrealität der Men-
Union gibt es gewichtigere Themen. schen vorbei. Und sie erwarten auch,
Im Übrigen gilt in der CDU der dass wir hierzu Position beziehen.«
Beschluss vom letzten Bundespartei- Die meisten Bürgerinnen und Bürger
tag in Hannover: dass die Partei in lehnten es ab, wenn in Schulen und
ihren Schriftstücken und Veröffent- Verwaltung gegendert werde. Die
lichungen »keine grammatikalisch Stoßrichtung gehe dahin, »dass wir
falsche Gendersprache verwendet«. das Gendern dort untersagen wollen«.
Gleiches wünscht man sich laut dem Söder hat bei seinem Machtwort
Beschluss von Behörden, Schulen, natürlich auch den politischen Kon-
Universitäten und anderen öffentli- kurrenten im Blick. Bei der Europa-
chen Einrichtungen. Von einem Ver- wahl im kommenden Jahr kämpft
bot ist keine Rede. seine Partei gegen die Freien Wähler
Die CDU in Hessen indes bleibt von Hubert Aiwanger um die konser-
am Thema dran. Rheins designierter vativ-ländliche Wählerschaft. Aiwan-
neuer Regierungspartner, die SPD, gers bevorzugte Zielscheibe: das
Arne Deder t / dpa

hat den Kurswechsel beim Gendern »links-grüne Gender-Gaga«.


zähneknirschend akzeptiert, zumin- Matthias Bartsch, Lukas Eberle,
dest auf Funktionärsebene. Mit nur Hessens Ministerpräsident Rhein Jan Friedmann, Florian Gathmann,
noch 15,1 Prozent bei der Landtags- Steffen Winter, Jean-Pierre Ziegler n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

Türkischer Präsident Erdoğan,


Kanzler Scholz beim
Empfang im Bundeskanzleramt
im November
Michael Kappeler / dpa

Minderheiten ein, etwa für die Einführung


von muttersprachlichem Unterricht für kur-
dische Schülerinnen und Schüler.
Als Belege für die angebliche Mitglied-

Flucht vor Erdoğan schaft von Erdem S. in einer terroristischen


Vereinigung zogen die Richter Gewerkschafts-
aktivitäten heran, außerdem soll er 2006 an
Protestaktionen gegen Polizeigewalt teilge-
MIGRATION Aus kaum einem Land kommen derzeit so viele Asylsuchende nommen haben. In der Urteilsbegründung
nach Deutschland wie aus der Türkei. Was steckt dahinter? heißt es außerdem, die Sicherheitsbehörden
hätten bei einer linksextremistischen Zeitung
eine verschlüsselte CD sichergestellt, auf der
ls sich Erdem S. vor Kurzem im Fern- ner Flüchtlingsunterkunft. Dort gibt es nicht von einem Lehrer Erdem S. aus Ankara die
A sehen einen Zusammenschnitt des Fuß-
ballländerspiels Deutschland – Türkei
anschaute, war er irritiert. Er hörte, wie tür-
genug Privatsphäre, um ungestört ein Inter-
view zu geben.
Im Sommer hatte ihn ein Istanbuler Ge-
Rede sei. Der Gewerkschafter sagt, er habe
zwar in Ankara studiert, dort aber nie als
Lehrkraft unterrichtet.
kische Fans – der Großteil von ihnen wohl richt zu sechs Jahren und drei Monaten Frei- Zehntausende Lehrerinnen und Lehrer
aus Deutschland – die deutsche Nationalelf heitsstrafe verurteilt. Der Vorwurf: Mitglied- verloren in den vergangenen Jahren ihre Jobs,
auspfiffen. Wie sie deren türkischstämmigen schaft in einer terroristischen Vereinigung. viele landeten im Gefängnis. Gegen Erdem
Kapitän İlkay Gündoğan ausbuhten, als wäre Als der Schuldspruch bekannt wurde, war S. und Dutzende andere Gewerkschafter er-
er ein Verräter. Wie sie offenkundig wenig Erdem S. gerade in Deutschland bei seiner mittelte die türkische Staatsanwaltschaft be-
Sympathie hegten für das Land, in dem sie Tante, eingereist mit Touristenvisum. Direkt reits 2013. In ganz Europa protestierten da-
leben. Er finde das schwer nachvollziehbar, danach stellte er einen Asylantrag. »Ich bin mals Gewerkschaftsverbände gegen das Vor-
sagt Erdem S. »Wenn sie Deutschland nicht nicht bereit, jahrelang ins Gefängnis zu ge- gehen der Justiz. »Ich hatte gehofft, dass da
mögen, warum gehen sie nicht einfach in die hen«, sagt der Akademiker, der Berufung ein- nach zehn Jahren nichts Gravierendes mehr
Türkei?«, fragt er. »Es steht ihnen doch frei.« gelegt hat. »Ich bin kein Terrorist, sondern kommt«, sagt er. »Die Regierung will jetzt
Er macht eine kurze Pause. »Anders als mir. Gewerkschaftsmitglied.« aber wohl weiter gegen ihre Gegner durch-
Ich kann nicht zurück. Vielleicht nie wieder.« Erdem S. ist in der türkischen Organisation greifen. Einen Rechtsstaat, der uns schützen
Der 36-jährige Kurde, kurzes schwarzes »Eğitim Sen« aktiv, die rund 115.000 Lehr- könnte, gibt es nicht mehr.«
Haar, beiger Rollkragenpulli, hat sich für den kräfte vertritt. Allein das kann in der Türkei Aus diesem Grund möchte er nicht, dass sein
Videochat eine ruhige Ecke in einem Café in ausreichen, um verdächtig zu sein. Die Ge- vollständiger Nachname veröffentlicht wird.
der Bonner Innenstadt gesucht. In der Türkei werkschaft kritisiert Staatschef Recep Tayyip Erdem S. hat die Sorge, dass die türkischen
war er Hochschullehrer für Psychologie, seit Erdoğan offen, ruft regelmäßig zu Protest- Behörden seine Flucht als Beleg für seine an-
ein paar Monaten lebt Erdem S. in einer Bon- aktionen auf und setzt sich für die Rechte von gebliche Schuld werten könnten. »Ich möchte

42 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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kein Risiko eingehen, dass das in den Akten Landstriche unbewohnbar machte. »Viele spielloses Level erreicht«, heißt es in einem
meiner Mitstreiter landet und ihnen schadet«, Menschen bekommen zudem auch mit, dass Aufsatz vom März im Wissenschaftsmagazin
sagt er. Auch ist seine Frau noch in der Türkei. sich die Asylpolitik innerhalb Europas ver- »Journal of Contemporary European Stu-
Er will sie so schnell wie möglich nachholen. schärft, und glauben möglicherweise, dass dies«, an dem auch ein Forscher der Fried-
Allein von Januar bis November 2023 stell- jetzt ihre letzte Chance ist, noch nach rich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn-
ten mehr als 55.000 Menschen aus der Türkei Deutschland zu kommen«, sagt der Wissen- berg mitgearbeitet hat. Menschen seien
hierzulande einen Asylerstantrag. Im Ver- schaftler. Die Migranten kämen aus allen verschwunden, willkürlich verhaftet oder
gleich zum Vorjahreszeitraum hat sich die Schichten und Teilen des Landes. Etliche hät- sogar gefoltert worden, Inhaftierte seien auf
Zahl damit fast verdreifacht; nur aus Syrien ten nach dem erneuten Wahlsieg Erdoğans verdächtige Weise zu Tode gekommen. Die
kamen in den vergangenen Monaten mehr im Mai die letzte Hoffnung verloren, dass sich AKP habe mehr als 45.000 Polizisten und
Geflüchtete nach Deutschland. In Baden- die Situation noch zum Besseren wendet. Militärs entlassen oder suspendiert, mehr als
Württemberg führen türkische Schutzsuchen- Doch die Chance für türkische Staatsbür- 135.000 Beamte und ein Drittel aller Richter
de die Liste bereits an. ger, eine Anerkennung als Flüchtling zu er- und Staatsanwälte.
In der Asyldebatte spielt das Thema trotz- halten, ist gering, wenn sie nicht nachweisen Rund 90.000 Bürgerinnen und Bürger sei-
dem kaum eine Rolle. Die europäische Politik können, etwa politisch verfolgt zu sein. Der- en verhaftet oder inhaftiert worden, schreiben
sieht in Erdoğan immer noch vor allem einen zeit liegt die sogenannte Schutzquote, also die Forscher. Seit »dem Aufstieg des Autori-
Helfer, um Geflüchtete aus Syrien und Afgha- der Anteil der positiven Asylentscheidungen, tarismus« 2016 in der Türkei seien nicht nur
nistan aufzuhalten – und nicht einen Auto- bei knapp 14 Prozent; bei Syrern beträgt sie Studierende und Akademiker außer Landes
kraten, dessen Politik Zehntausende in die mehr als 80. geflüchtet, sondern auch Unternehmer und
Flucht schlägt. Viele Kurden und Aleviten etwa fühlen Ärzte.
Als Olaf Scholz (SPD) Erdoğan im Novem- sich als ethnische und religiöse Minderheit Die selbstbewussten Mediziner und Me-
ber in Berlin empfing, pochte der deutsche diskriminiert. Das Alevitentum ist vom Islam dizinerinnen sind ein ständiges Ärgernis für
Bundeskanzler zwar darauf, die türkische beeinflusst, die Gläubigen pilgern allerdings den türkischen Präsidenten, weil sie zu den
Regierung müsse abgelehnte Asylsuchende nicht nach Mekka und fasten nicht an Rama- letzten Berufsgruppen gehören, die sich noch
aus der Türkei schneller zurücknehmen. An- dan. Auch Hochschullehrer Erdem S. ist kur- trauen, seine Politik anzuprangern. Die tür-
sonsten hätten sich die Gespräche aber auf discher Alevit. »Diskriminierung gehört für kische Ärztevereinigung kritisiert öffentlich
den Gaza-Israel-Krieg konzentriert, hieß es. uns zum Alltag«, sagt er. Die türkische Regie- die schlechten Arbeitsbedingungen in den
Erdoğan bezeichnet Israel als »Terrorstaat« rung erkennt das Alevitentum nicht als eige- Krankenhäusern oder die Gewalt gegen das
und spricht ihm das Existenzrecht ab, die Ter- ne Glaubensrichtung an. Aleviten gelten of- medizinische Personal – ein Dauerthema in
roristen der Hamas wiederum lobte er. fiziell als Muslime, obwohl viele von ihnen der Türkei. Immer wieder greifen Patientin-
Allerdings regiert Erdoğan sein Land schon diese Kategorisierung ablehnen. nen und Patienten ihre Pfleger oder Ärzte an,
seit mehr als 20 Jahren. In den deutschen Die Situation für all jene, die sich offen weil sie lange warten müssen, mit einer Dia-
Kommunen, wo immer mehr Türken in den gegen Erdoğan und seine AKP positionieren, gnose unzufrieden sind oder ein Angehöriger
Erstaufnahmeeinrichtungen ankommen, stel- ist heikel. Besonders verschärft hat sich die gestorben ist. 84 Prozent der Medizinerinnen
len sich deshalb viele die Frage: Warum stei- Lage seit 2016, nachdem Teile des türkischen und Mediziner sind laut Ärztevereinigung in
gen die Zahlen gerade jetzt so massiv an? Militärs versucht hatten, Erdoğan zu stürzen. ihrer Berufslaufbahn mindestens einmal Op-
Der Integrationsforscher Caner Aver vom Dieser macht seinen ehemaligen Verbünde- fer von Gewalt geworden.
Essener Zentrum für Türkeistudien geht da- ten, den islamisch-konservativen Prediger Im September legten Mitarbeiter in einem
von aus, dass »ein Mix an Gründen« verant- Fethullah Gülen und dessen Anhänger für den Krankenhaus im südlichen Hatay nach einem
wortlich ist: der andauernde politische Druck Putschversuch verantwortlich. Endgültig auf- solchen Vorfall aus Protest die Arbeit nieder
auf Oppositionelle durch die AKP-Regierung, geklärt wurde der Angriff auf Erdoğans demo- und skandierten vor dem Eingang »Wir wol-
die massive Finanz- und Wirtschaftskrise und kratisch gewählte Regierung nie, der türkische len am Leben bleiben« und »Wir schweigen
hohe Inflation sowie die berufliche Perspek- Staatspräsident wittert seither überall Feinde. nicht, wir haben keine Angst«.
tivlosigkeit der Menschen im Südosten, wo Seit dem Putschversuch hätten Menschen- Trotzdem verlassen etliche Ärzte, Heb-
im vergangenen Februar ein Erdbeben ganze rechtsverletzungen in der Türkei »ein bei- ammen und Pfleger das Land, manche mit-

Vom Erdbeben zerstörte Stadt


in der Provinz Hatay im Februar
Sebastian Wolf / DER SPIEGEL
Burak Kara / Getty Images

Asylsuchender Erdem S.

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

Ehepaar Tapan
Roderick Aichinger / DER SPIEGEL

Milena Schilling / DER SPIEGEL


Mediziner im Exil Aktürk

hilfe eines Visums, andere versuchen die il- Besitz eines gültigen Visums gewesen, die an- Studienteilnehmer Hakkı Tapan floh 2018,
legalen Fluchtrouten. Türkischen Quellen dere Hälfte sei geflüchtet – aus politischen heute lebt er in Süddeutschland und arbeitet
zufolge sollen es insgesamt mehrere Hundert Gründen oder weil sie Gewalt fürchteten, so dort als Laborarzt. Er sitzt in einem Café mit
pro Monat sein. Auf Telegram gibt es eine die Forscher. In einem Papier zu der noch un- Blick auf Fachwerkhäuser und erzählt seine
Gruppe mit dem Namen »Almanyada dok- veröffentlichten Studie sind Auszüge aus den Geschichte: Wegen seiner Nähe zur Hizmet-
torluk«, übersetzt »Arztsein in Deutsch- Antworten über die Migrationsgründe der Bewegung, wie die Gülen-Anhänger auch ge-
land«. Türkische Mediziner in Deutschland Interviewpartner abgedruckt: nannt werden, habe er sich monatelang bei
tauschen sich auf der Plattform mit Kollegin- Ärztin, 27: »Ich wurde gemobbt und war Ge- Freunden verstecken müssen. Er habe seinen
nen und Kollegen aus, die gern nachfolgen walt ausgesetzt, ich war so erschöpft, dass ich Job verloren und sich nur noch mit falschem
wollen. Die Gruppe hat mehr als 12.000 Mit- während der Arbeit ohnmächtig wurde.« Pass auf die Straße getraut. »Meine Frau und
glieder. Krankenschwester, 33: »Ich hatte Angst, dass ich haben uns scheiden lassen, damit sie wei-
Ein angesäuerter Erdoğan verkündete bei sie meine Kinder in den Bildungsinstitutionen terarbeiten kann und bei Verhören glaubhaf-
einer Veranstaltung im vergangenen März: so indoktrinieren, dass sie sich gegen ihre ter sagen kann, dass sie nicht weiß, wo ich
»Sollen sie doch gehen!« Seine Verachtung eigenen Eltern wenden.« bin«, erzählt er.
für das aufmüpfige medizinische Personal si- Medizintechniker, 41: »Ich konnte keine gute Mithilfe eines Schleppers sei ihm schließ-
ckert offenbar auch in die Bevölkerung ein. Zukunft mehr für meine Tochter erkennen.« lich die Flucht über den Grenzfluss Evros nach
In einem Interview auf YouTube erklärte eine Arzt, 32: »Der politische Islam dringt in jeden Griechenland gelungen. »Als ich da stand und
AKP-Anhängerin im Mai, dass Menschen wie Bereich des Lebens ein.« über den Fluss schaute, war ich wahnsinnig
sie früher arroganten Medizinern einfach aus- Sachbearbeiter im Gesundheitswesen, 46: erleichtert, dass ich in Freiheit war. Und ich
gesetzt gewesen seien. »Heute schlagen wir »Wir wurden zu Terroristen erklärt.« war unendlich traurig, weil ich alles verloren
die Ärzte, wenn sie uns nicht passen«, sagte hatte.« Tapan nimmt seine Brille ab und
sie. Der Hashtag #Wirkönnensieschlagen er- wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen
langte in den türkischen sozialen Medien trau- Geflüchtete aus der Türkei aus den Augen.
rige Berühmtheit. Er erhielt politisches Asyl; seine Tochter
Zekeriya Aktürk ist wissenschaftlicher Mit- Asylerstanträge in Deutschland von und seine Partnerin leben inzwischen auch in
Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit
arbeiter an der Universität Augsburg. Der Deutschland. Tapan hat seine Frau zum zwei-
Medizinprofessor saß nach dem gescheiterten 55.354 ten Mal geheiratet, sie haben ein weiteres
50.000
Putschversuch 14 Monate als »Terrorverdäch- Kind bekommen. Es gehe ihm mittlerweile
tiger« in einem türkischen Gefängnis, weil er deutlich besser, sagt er.
an einer Gülen-Hochschule lehrte. »Wir ha- 25.000 Zu Türken außerhalb der Hizmet-Be-
ben eine Hexenjagd erlebt«, sagt der Sohn wegung meidet die Familie den Kontakt.
eines Gastarbeiters, der fließend Deutsch Tapan traut ihnen nicht. Er fürchtet die
spricht, weil er einen Teil seiner Kindheit hier 2013 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23* AKP-Regierung noch immer, und er weiß,
verbrachte. Seit drei Jahren lebt er in Deutsch- dass der türkische Geheimdienst in Deutsch-
land im Exil. Gesamtschutzquote** für das Herkunftsland land aktiv ist und Imame als Spitzel einge-
Gemeinsam mit Kollegen hat Aktürk 2022 Türkei, in Prozent setzt wurden.
für eine Studie mehr als 500 türkische Ärzte, 40 Er heißt auch nicht wirklich Hakkı Tapan,
Hebammen, Apothekerinnen und Pfleger es ist der Name, der damals in seinem
interviewt, die in den vergangenen zehn Jah- 20 gefälschten Pass stand. »Wir können nicht
ren ihre Heimat verlassen hatten. Viele von vorsichtig genug sein«, sagt er. Sein Vater sei
0 13,6
ihnen haben einen Gülen-Hintergrund. Drei noch in der Türkei, auch seinem Bruder
Viertel von ihnen leben inzwischen in Deutsch- 2013 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23* sei die Flucht noch nicht gelungen. Die Tapans
land, die anderen in Kanada, den USA oder * 2023: 1. Januar bis 30. November haben eine solche Angst vor Erdoğan und
** Anteil der positiven Asylentscheidungen an den im
in einem anderen europäischen Land. Gut die entsprechenden Zeitraum getroffenen Asylentscheidungen seinen Anhängern, dass sie selbst für den
Hälfte der Befragten sei bei der Einreise im S Quelle: Bamf Fototermin mit dem SPIEGEL , bei dem sie

44 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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nicht erkennbar fotografiert wurden, in eine Zu all dem kommt die Erdbebentragödie »In Deutschland hatten wir ein Dach über
andere Stadt fuhren. vom Februar im Südosten der Türkei. dem Kopf, sobald wir ankamen.«
Tapan findet es »bedrückend«, dass der Zehntausende Menschen kamen ums Leben, »Für uns alle, vor allem für Defne, waren
türkische Staatspräsident nach all dem, was Hunderttausende wurden obdachlos. So wie es unglaublich schwere Tage«, sagt der Fri-
in den vergangenen Jahren passiert ist, auch Semra und Mustafa Taşkesen, beide Mitte seur. Auf Deutschland sei die Wahl gefallen,
in Deutschland so viele Anhängerinnen und dreißig, aus Gaziantep mit ihren beiden Kin- weil das Land einen guten Ruf habe, auch das
Anhänger hat. Hierzulande leben rund drei dern. Sie entschieden sich im vergangenen Gesundheitssystem. »Seitdem wir erleben,
Millionen Türkeistämmige, die Gruppe ist Sommer, die Türkei zu verlassen. Mithilfe was die Ärzte hier für Defne möglich machen,
jedoch sehr heterogen. Ein Drittel davon eines Freundes aus den Niederlanden erhiel- hadern wir nicht mehr damit, dass wir alles
sollen Kurdinnen und Kurden sein, bis zu ten sie ein Schengen-Visum und reisten nach verloren haben«, sagt Mustafa. Seine Tochter
800.000 Menschen haben einen alevitischen einem Besuch in Holland nach Deutschland, bekomme zum ersten Mal die Physiotherapie,
Glauben. Viele von ihnen sind Erdoğan um hier einen Asylantrag zu stellen. Inzwi- die sie brauche, und habe nun regelmäßig
gegenüber kritisch eingestellt, genauso aber schen leben sie in einer Flüchtlingsunterkunft Termine bei verschiedenen Spezialisten.
auch der Hizmet-Bewegung. Sie haben nicht im baden-württembergischen Langenau nahe »Wir merken, dass Defne bereits Fort-
vergessen, dass deren islamisch-konser- Ulm. schritte macht«, sagt ihre Mutter, »und hoffen
vatives Oberhaupt Fethullah Gülen bis Der elfjährige Deniz sitzt in einem grauen so sehr, dass wir bleiben dürfen. «Die Taş-
zum gescheiterten Putschversuch 2016 an Jogginganzug auf einer Matratze auf dem kesens warten noch auf einen Anhörungs-
Erdoğans Seite stand. Boden und ist mit seinem Handy zugange, termin beim Bundesamt für Migration und
Bei der Präsidentschaftswahl im Mai die- seine siebenjährige Schwester Defne hat sich Flüchtlinge. Doch Hoffnungslosigkeit, Armut
ses Jahres gaben 67 Prozent der Wähler hier- an ihn gekuschelt. Sie kam mit einer geistigen oder ein krankes Kind sind keine Gründe für
zulande Erdoğan ihre Stimme. Von den Behinderung zur Welt und kann nicht laufen. Asyl. In der Türkei gibt es keinen Krieg, das
knapp drei Millionen Türkeistämmigen war In der Ecke steht ein grauer Spind, auf dem Land gehört noch immer zu den beliebtesten
die Hälfte wahlberechtigt, davon wiederum Stockbett haben Semra und Mustafa ein paar Reisezielen der Deutschen.
gingen 50 Prozent an die Urnen. Somit haben Kuscheltiere gesetzt. »Für Defne«, sagt die Im vergangenen Jahr schoben die Behör-
500.000 Menschen in Deutschland dafür ge- Mutter. den trotzdem nur 515 Personen in die Türkei
stimmt, dass sich das System Erdoğan hält Bevor die Erde bebte, betrieben die ab. Viele der türkischen Neuankömmlinge
– und viele ihrer Landsleute es in der Türkei Taşkesens gemeinsam in Gaziantep einen Fri- leben als Geduldete in Deutschland, das be-
nicht mehr aushalten. Ein Fakt, der in den seursalon. Das Gebäude, in dem auch ihre deutet, dass ihre Abschiebung ausgesetzt wur-
türkischen Medien, die fast alle unter staat- Wohnung war, müsse abgerissen werden, sagt de, etwa weil ihr Gesundheitszustand es nicht
lichem Einfluss stehen, kaum Erwähnung Semra. Die Familie hatte trotzdem Glück, das zulässt oder ihre Identität ungeklärt ist.
findet. Haus stürzte nicht ein, sie überlebten. Anders Semra Taşkesen öffnet den Spind und holt
Wer sich in Deutschland nur über diese als die Nachbarn von gegenüber, das neun- ihr Deutschbuch heraus. Sie und ihr Mann
Kanäle informiert, bekommt wenig davon stöckige Gebäude begrub alle Bewohner besuchen seit ein paar Monaten einen Sprach-
mit, wie hart das Leben in der Türkei zum unter sich. kurs. »Wir wollen so schnell wie möglich
Teil geworden ist. Seit Jahren durchlebt das 17 Nächte hätten sie bei Minustempe- arbeiten und werden uns wahnsinnig anstren-
Land eine schwere Wirtschaftskrise, die die raturen im Auto verbracht, sagt Mustafa gen«, sagt sie. »Auf gar keinen Fall wollen wir
AKP durch ihre Politik nicht lindert, sondern Taşkesen. Irgendwann hätten sie entschieden, irgendjemandem auf der Tasche liegen.« Falls
verstärkt. mit den Kindern nach Ankara, der Haupt- ihr Asylantrag abgelehnt wird, haben die
Die Inflation lag im Oktober bei mehr als stadt, zu fahren, um eine Bleibe zu finden. Taşkesens immer noch eine Chance auf eine
60 Prozent. In den vergangenen sechs Jahren »Aber auch da mussten wir im Auto schlafen.« Duldung, etwa wenn sie eine Ausbildung bei
ist der Durchschnittspreis für Fleisch um Er schrieb an mehrere Behörden und bat um einem Friseur beginnen. Möglicherweise auch
mehr als 800 Prozent gestiegen, der für Hilfe, schilderte die Situation der Familie mit wegen Defnes Gesundheitszustand. »Unsere
Mieten um 700. Die Anhebung des Mindest- dem behinderten Kind. Taşkesen zeigt eines Kinder sollen eine Zukunft in Deutschland
lohns konnte die Preisentwicklungen nicht der Schreiben auf seinem Handy. »Wir haben haben«, sagt Semra Taşkesen.
abfedern. bis heute keine Antwort bekommen«, sagt er. Katrin Elger n
© Khalil Ashawi / Save the Children

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IBAN: DE96 3702 0500 0003 2929 12
Nach dem Erdbeben, Stichwort: Ohne Wenn und Aber
Nordsyrien 2023 www.savethechildren.de
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leitung hat eine Informationsveranstaltung


zum Thema Antisemitismus organisiert. Vie-
le der Schüler sind Kinder, Enkel, Freunde,
Nachbarn der Palästinenser, die vor Jahrzehn-
ten nach Berlin geflüchtet sind.

Der Schlichter von Neukölln »Herr Bürgermeister«, fragt ein Schüler,


»ist es gerechtfertigt, dass in Gaza Tausende
unschuldige Menschen getötet werden wegen
eines Terroranschlags?« An seiner Oberlippe
HAUPTSTADT Gewalt, Silvesterrandale, israelfeindliche Demos – zeichnet sich zart ein dunkler Flaum ab, er
blickt immer wieder hinab zu einem Block,
ein Berliner Stadtteil beherrscht regelmäßig die Schlagzeilen. auf den er seine Gedanken geschrieben hat.
Was kann Bezirksbürgermeister Martin Hikel dagegen ausrichten? »Ist es Antisemitismus, wenn man Solidarität
mit Palästina zeigt?«, fragt er weiter. Seine
Mitschüler klatschen, manche pfeifen zur
er SPD-Politiker Martin Hikel steht vor »Bunt« nennt Hikel das. Wie kein anderes Unterstützung, andere nicken zustimmend.
D dem Eingang zur U-Bahn-Station Lip-
schitzallee und zeigt auf einen weiß
gefliesten Plattenbau. »Aus der Senioren-
Hauptstadtviertel verkörpere sein Bezirk
Freiheit und Vielfalt. Jeder Zweite, der hier
wohnt, hat einen Migrationshintergrund,
Auf den Gesichtern der umstehenden Lehre-
rinnen und Lehrer zeichnet sich Anspannung
ab. Hikel nimmt das Mikrofon in die Hand.
residenz bekomme ich regelmäßig Briefe«, knapp jeder Fünfte ist nicht in Deutschland Er bedankt sich bei dem Jungen für seine
sagt er und lässt seinen Arm in Richtung des geboren. Im Norden des Bezirks, sagt Hikel, Frage, dann spricht er mit tiefer, ruhiger Stim-
Vorplatzes sinken. »Die Menschen bleiben hätten in manchen Ecken bis zu 90 Prozent me. »Zu deinem letzten Punkt, ob es verboten
mit ihren Rollatoren in den Löchern im Kopf- der Neuköllner eine Migrationsgeschichte. ist, Solidarität mit den Palästinensern zu zei-
steinpflaster stecken.« Und jetzt erwarten die Einen Monat nach dem Massaker, es ist der gen«, setzt Hikel an. »Nein, natürlich nicht.«
Senioren, dass Hikel den Missstand behebt, Jahrestag der Reichspogromnacht, sitzt Hikel Anschließend holt er weit aus, lässt sich knapp
möglichst schnell. im erdfarbenen Anzug vor rund 100 Schülern zehn Minuten Zeit für seine Antwort. Er
Es sind Probleme, um die sich ein Bezirks- des Anne-Frank-Gymnasiums. Die Schul- spricht über die Schoa und die daraus erwach-
bürgermeister kümmern muss. Selbst wenn
es sich um den Bezirksbürgermeister des ver-
mutlich berühmtesten Stadtteils der Republik
handelt. Neukölln, im Süden Berlins gelegen,
ist regelmäßig in den Schlagzeilen. Das war
2006 so, als die Rütli-Gemeinschaftsschule
wegen Gewaltexzessen bundesweit bekannt
wurde. Das war nach der vergangenen Silves-
ternacht so, als pöbelnde Jugendliche Einsatz-
kräfte von Polizei und Feuerwehr angriffen.
Und es ist seit der Terrorattacke der Hamas
auf Israel so.
Propalästinensische Demonstranten zogen
durch den Stadtteil, einige von ihnen riefen
israelfeindliche Parolen und warfen Steine,
Autos und Mülltonnen brannten. Nirgendwo
in Deutschland wurde der Nahostkonflikt so
greifbar wie in Neukölln, der Stadtteil stand
plötzlich für ein großes gesellschaftliches Pro-
blem, für importierten Antisemitismus.
Martin Hikel, ein schlaksiger 37-Jähriger
mit schwarzen Haaren und fahlem Teint, steht
dem Bezirk seit mehr als fünf Jahren politisch
vor, er hat so etwas wie die Aufsicht über Neu-
kölln. Er ist für die 330.000 Menschen da,
die hier leben, so viele wie in Bonn oder Bie-
lefeld, er ist ihr Anwalt, einerseits. Anderer-
seits wird von ihm erwartet, dass er zu den
vielen Problemen, die es in seinem Stadtteil
gibt, eine Idee hat, dass er sie angeht und löst,
auch wenn sie riesig sind. Er hat für sich einen
eher leisen Weg gewählt.
Als in den Achtzigerjahren im Libanon der
Bürgerkrieg eskalierte, flüchteten viele der
Hannes Jung / DER SPIEGEL

dort lebenden Palästinenser nach Berlin –


genauer: nach Neukölln, an die Sonnenallee,
eine fünfeinhalb Kilometer lange Verkehrs-
ader. Sie trägt mittlerweile den Beinamen
»arabische Straße«, ist gesäumt von Auslagen,
in denen sich Baklava türmen, daneben Ber-
ge von Südfrüchten. Bürgermeister Hikel in seinem Büro: »In Neukölln war es noch nie ruhig«

46 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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sene Notwendigkeit eines jüdischen Staats. rigkeiten von Franziska Giffey erbte, die vor
Darüber, dass die Hamas nicht nur die Israelis fast sechs Jahren als Familienministerin in den
terrorisiere, sondern auch ihre eigene Bevöl- Bund aufstieg. Bis dahin hatte Hikel als Leh-
kerung. Und über die große Komplexität des rer für Politik und Mathematik gearbeitet.
Konflikts. »Ich war vor Ort und konnte mir »Für mich war es dann eher der Sprung ins
das angucken – in Ramallah, Tel Aviv, Jeru- kalte Wasser.«
salem, Hebron«, sagt Hikel. »Wir können von Mit 19 Jahren trat er in die SPD ein. Das
Neukölln aus nicht beurteilen, was gerade war 2005, als der legendäre Bezirksbürger-
richtig ist und was falsch. Es obliegt uns nicht.« meister Heinz Buschkowsky noch im Amt
Der Applaus fällt etwas verhaltener aus war. Er galt als Law-and-Order-Politiker und
als nach der Frage des Schülers. Eine Stunde fiel immer wieder mit markigen Sprüchen auf.
lang geht das so weiter, bevor Hikel sich noch Unter anderem, als er Nordneukölln als Bei-
mal bedankt »für die kritischen Fragen«, da- spiel nannte, um »Multikulti« für gescheitert

AdoraPress / ddp
für dass die Schüler ihre verschiedenen Per- zu erklären.
spektiven »transparent gemacht« hätten. »Mich hat das nicht weiter aufgeregt«, sagt
Danach spricht er noch lange mit dem Jun- Hikel und zuckt mit den Schultern. »Heinz
gen, der die erste Frage gestellt hat. Der erzählt Ausschreitungen in Neukölln am 18. Oktober
meinte damals abgeschottete Subkulturen –
von Gaza, von seinen Verwandten und Freun- Parallelgesellschaften, die es ja zum Teil auch
den dort. Er möchte erst verstehen, sagt Hikel Die Demokratieförderprojekte an den Schu- immer noch gibt.« Hikel spricht über die
später, dann erklären. Eine halbe Stunde spä- len müssten überprüft werden. »Ich möchte Großfamilien, die ihre eigene Ordnung haben
ter als geplant verlässt er das Gymnasium. nicht sagen, dass diese Projekte versagt ha- abseits von staatlichen Institutionen – und
Zwei Tage vor der Veranstaltung sitzt der ben. Das wäre zu einfach«, sagt Hikel. »Aber ihre eigenen Geschäfte. Er erzählt von den
SPD-Politiker auf einem der blau gepolsterten wir müssen uns noch mal genau anschauen, Barbershops, die ihre Dienste »für fünf Euro
Sessel in seinem Büro an der Karl-Marx-Stra- inwiefern die sich mit Antisemitismus aus- anbieten« und deren Besitzer dann in teuren
ße. Das meiste hat er darin so gelassen, wie er einandersetzen.« Den beobachte er nicht nur Autos herumführen.
es vorgefunden hat. Nur ein Bild hat er auf- bei arabischsprachigen Menschen, sondern
gehängt, eine Collage mit Motiven aus Neu- in der gesamten Gesellschaft. Hikel wuchs in Hellersdorf auf, bevor seine
kölln, in weißen Buchstaben auf rotem Grund Eines der Projekte, die in den vergangenen Eltern nicht mehr in den Plattenbauten leben
steht darüber: »Es ist nicht wichtig, woher du Wochen auf den Prüfstand gestellt wurden, wollten. Als er zehn war, zog die Familie nach
kommst, sondern wer du sein willst.« ist das Oyoun in Neukölln. Dem Kulturverein Großziehten in Brandenburg. Eine klassische
Hikel sagt, er wolle die aktuelle Debatte wurde wegen Antisemitismusverdacht nun Doppelhaushälfte, sagt Hikel, Tennistraining,
»unaufgeregt und sachlich« betrachten. die Förderung entzogen, im Januar muss es »Kleinstadtidylle«.
Grundsätzlich habe er nichts gegen die pro- schließen. Direkt vor diesem Idyll schießen Türme in
palästinensischen Demonstrationen, nichts Nur hat das nicht Hikel entschieden, son- die Höhe, die Gropiusstadt in Neukölln. Dies
gegen die rot-grün-schwarzen Fahnen der Pa- dern der Senat – die meisten der Projekte sei seine Anlaufstelle gewesen, sagt Hikel, mit
lästinenser. »Aber sie marschieren zusammen werden auf Landesebene gefördert, da hat den brandenburgischen Rapsfeldern konnte
mit Menschen, die antisemitische Parolen ru- der Bezirksbürgermeister lediglich begrenzt er als 15-Jähriger nicht viel anfangen. Anfang
fen«, sagt Hikel. »Das ist es, was nicht geht.« Einfluss. Auf Probleme im Oyoun hatte Hikel der Nullerjahre – da hatte Hikel Aggro Berlin,
Er selbst hat nicht die Befugnis, um Demons- den Senat bereits vor Monaten hingewiesen das berühmte Rap- und HipHop-Label, in den
trationen verbieten zu lassen. Aber er hat die – ein Israeli sei damals aus einer Veranstal- Ohren, trug tief sitzende Picaldi-Jeans und ein
Polizei auf »kritische Veranstaltungen hinge- tung rausgeschmissen worden, erzählt er. übergroßes Basketballshirt – habe er mit sei-
wiesen« – die meisten wurden verboten. Wäre es nach Hikel gegangen, dann wäre das nen »Atzen«, seinen Kumpels, deshalb inmit-
Kulturzentrum längst zu. Er kann auch hart ten der Hochhäuser abgehangen. Er sei auf
Der Nahostkonflikt in seinem eigenen Stadtteil werden, wenn alles Vermitteln und Schlichten Hauspartys zwischen der Großsiedlung und
beschäftigt ihn sehr. »Unfassbar« nennt Hikel, nicht mehr hilft. dem gutbürgerlich anmutenden Neuköllner
dass manche am 7. Oktober in seinem Bezirk Die Frage, wie erfolgreich Bildungs- und Ortsteil Britz gewesen, wo er zur Schule ging.
Baklava verschenkt haben, um den Angriff Integrationsarbeit ist, stellt sich in Neukölln Was lehrt einen Neukölln, wenn man hier
der Hamas als Befreiungsschlag zu feiern. Dass immer wieder. Zuletzt nach der vergangenen zur Schule geht? Hikel überlegt kurz. »Dass
Israel so wenig Solidarität erfährt, kann er Silvesternacht, als Jugendliche und junge Män- man nicht jedes Mal rumdruckst, wenn man
nicht begreifen. Als bei dem Terroranschlag ner unter anderem einen Bus angezündet und ein ç mit einer Cedille drunter sieht«, sagt er
im Pariser Musikklub Bataclan 130 Menschen die anrückenden Einsatzkräfte angegriffen dann. »Interkulturelle Kompetenz würde man
getötet wurden, seien »hier Tausende auf den hatten. Hikel hatte wenige Tage danach »Kon- das heute nennen.« Und Gelassenheit zu be-
Straßen« gewesen, erzählt er. Musliminnen sequenzen« angekündigt. Was ist daraus ge- wahren, falls man doch mal in einen Konflikt
und Muslime hätten gegen islamistischen Ter- worden? gerate.
ror demonstriert. Für die mehr als 1200 ge- »Wir haben am Gipfel gegen Jugendgewalt Zwischen den Türmen möchte Hikel nicht
töteten Menschen in Israel aber gebe es keine mitgearbeitet und bestehende Projekte ge- über die Klischees reden, nicht über Christiane
vergleichbare Bewegung. Also versuchte er stärkt, die gut funktionieren«, sagt Hikel. F. und »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Die
selbst, ein Zeichen zu setzen. Dazu zählten unter anderem Street Work und junge Drogenabhängige wuchs hier auf, ein
Hikel ließ nach dem Massaker die Fahne Jugendberufscoachings – Projekte, bei denen Stempel, der der Siedlung bis heute anhaftet.
Israels vor seinem Rathaus hissen. Er schick- gerade unklar ist, ob sie weitergehen. Der »Sehen Sie doch, wie grün es hier ist«,
te dem Bürgermeister der israelischen Part- Bürgermeister muss sparen. sagt Hikel. Ein Gehweg spaltet die Wiese,
nergemeinde Bat-Yam ein Bild. »Die sehen Zehn Millionen Euro fehlen für die kom- sein Bezirk hat ihn erst kürzlich asphaltiert.
ja auch, was in Neukölln los ist«, sagt er. menden beiden Jahre. Obwohl man das Geld Zudem wurden Sitzgelegenheiten aufge-
Auch für die Juden und Jüdinnen, die ihm in weiterhin brauche, sagt Hikel. »In Neukölln stellt, ein barrierefreier Spielplatz errichtet.
E-Mails ihre Angst vor Übergriffen beschrie- war es noch nie ruhig. In Neukölln wird es nie Und nach knapp 20 Jahren sprudelt der Lip-
ben, sollte es ein Symbol der Solidarität sein. ruhig sein.« schitzbrunnen wieder. Auch das ist Hikels
Nach den Ausschreitungen müsse man Hikel war gerade mal 31 Jahre alt, als er Neukölln.
jetzt die richtigen Schlüsse ziehen, sagt Hikel. das Bürgermeisteramt mitsamt allen Schwie- Sarah Vojta n

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Sie werde geplagt von einem schlechten


Gewissen, sagt Anne Meier heute, weil sie
den Mann belaste, der ihr so viel Last genom-
men habe. Andererseits ist sie wütend. Sie
will nicht, dass andere Frauen solch eine emo-

»Ich war so dankbar« tionale Hölle durchleben müssen, wie sie es


musste: mit Albträumen und Selbstverletzun-
gen, Zusammenbrüchen und dem Gefühl,
völlig ausgeliefert zu sein.
MISSBRAUCH Sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie sind meist schwer Die Nähe zwischen Meier und ihrem Psy-
chotherapeuten baut sich schnell auf. Er bittet
zu beweisen. Eine Patientin sagt, sie sei über Monate missbraucht sie, nicht mehr seine dienstliche, sondern die
worden. Gegen ihren Arzt an einer Tübinger Klinik wurde Anklage erhoben. private E-Mail-Adresse zu verwenden. Er
wolle keine ihrer Nachrichten verpassen. Sie
chatten und mailen regelmäßig.
ie nähert sich der Klinik erst am Abend, zwischen Patientin und Arzt ist von Nähe Am 10. August 2020 schrieb Anne Meier:
S um möglichst niemandem zu begegnen.
Es ist ein herrschaftlicher Bau, der über
Tübingen thront. Fast alle Lichter sind erlo-
geprägt. Besonders intensiv ist die Beziehung
in einer Psychotherapie. Wer sich behandeln
lässt, ist bereit, Intimstes zu offenbaren. So
letzte Nacht: Schlaflos. 2x selbstverletzt.
Handgelenk selbst gestrippt (lasse es sonst un-
versorgt, nur das Risiko, meine Kleidung
schen. Lange sei sie nicht mehr hier gewesen, viele Emotionen können verhängnisvoll sein. durchzubluten, war mir zu hoch)
sagt sie. Sie wollte Abstand schaffen zu jenem Sie war im Sommer 2020 erst ein paar Tage Mein Magen krampft. Höre meinen Herz-
Gebäude, in dem sie Zuwendung erhielt – und zuvor aus der Psychiatrie entlassen worden, schlag laut in den Ohren. Fühle mich nicht
zugleich etwas einen Anfang nahm, das sie als ihr Handy klingelte. Ob sie nicht die in der gut. Sehe Blitze und flatternde Glitzerpunkte
fast zerstört hätte. Klinik begonnene Therapie fortführen wolle, vor meinen Augen (weiß nicht, wie anders
Mehr als drei Jahre ist es her, als sie sich habe der Arzt gefragt. Ihre Mobilnummer beschreiben, tut mir leid).
hier das erste Mal begegneten. Vom ersten habe in den Akten gestanden, sagt sie, sie Am 15. August 2020 antwortete ihr The-
Moment an war es eine ungleiche Beziehung. habe sie ihm nicht gegeben. »Sein Angebot rapeut:
Sie, die Psychiatriepatientin, die schachtel- war wie ein Sechser im Lotto«, erinnert sie Dass Sie diese unglaublich starken Reize
weise Tabletten geschluckt und sie mit Saft sich: jede Menge Therapiestunden. Ein Me- brauchen, um Ihr Leben zu spüren, ist nun
und Prosecco hinuntergespült hatte. Die im diziner, den sie mochte, bei dem es ihr leicht- einmal nicht zu ändern und ich will sie Ihnen
letzten wachen Moment damals den rettenden fiel, über sich zu reden. Nach den Tagen im auch nicht nehmen. Aber nehmen Sie sich bit-
Notruf wählte, so erzählt sie es. Es war nicht Krankenhaus habe er der Mutter von drei te nicht die Chance, die schönen Anteile des
der erste Versuch der damals 32-Jährigen, ihr Kindern angeboten, sie zu begleiten, anrufbar Lebens noch auszutesten und auszukosten. Ich
Leben zu beenden. Sie ist gezeichnet von Nar- zu sein, wenn es ihr schlecht gehen sollte, und glaube, Sie haben noch viel zu entdecken!
ben. Die sichtbaren an den Oberschenkeln das über Monate. »Ich war so dankbar.« Als Meier in die Psychiatrie zurückkehrt,
und Armen hat sie sich selbst zugefügt mit Eine ihrer großen Sorgen sei, dass ihr nicht ist die Pforte im gläsernen Neubau unbesetzt.
Rasierklingen. Die unsichtbaren hatten ihr geglaubt werde. Sie hat den Verlauf ihrer Be- Es war ihre Idee, sich mit dem Tatort zu kon-
andere zugefügt, da war sie noch ein Kind. ziehung aber sorgsam dokumentiert und vieles frontieren, ihn zu zeigen. Sie will sich wapp-
Er, der Arzt, ihr Therapeut, rund doppelt aufgehoben: SMS, Fotos, Nachrichten von ihm, nen für die Verhandlung, sie will keinen Tag
so alt wie sie. Nach vielen Berufsjahren als sogar das Buch, das er ihr geschenkt hat: »Neu- verpassen. Vor Gericht wird sie ihren Thera-
Neurophysiologe hatte er sich für eine Fach- start im Kopf«. Auch den monatelangen Mail- peuten wiedersehen. Meier geht die Glasfront
arztweiterbildung zum Psychiater entschlos- Austausch hat sie archiviert und dem SPIEGEL entlang. Sie wirkt, also wollte sie sich unsicht-
sen. Ein Mann mit Lebenserfahrung, verhei- Einblick gegeben in Unterlagen und Dateien. bar machen. Alles an ihr ist defensiv, beim
ratet, Vater, einer, der sich im Griff hat, sein In den ersten Mails zwischen den beiden ist Reden vergräbt sie ihre Hände in lang gezo-
Handeln reflektiert, möchte man meinen. der Ton akademisch, fast nüchtern. Es geht um genen Ärmeln.
Es war ein warmer Julitag, die Details hat organisatorische Dinge oder Therapiedetails. Das Strafrecht zieht eine rote Linie. Sex
sie nicht vergessen. Anne Meier, die ihren Am 1. August 2020 schrieb ihr Therapeut: »unter Missbrauch des Behandlungsverhält-
richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen Ich stelle keine Bedingungen an meine nisses« wird mit einer Freiheitsstrafe von bis
will, war froh über ihr Einzelzimmer mit Fens- Patienten, sondern hoffe und motiviere sie so zu fünf Jahren geahndet. So steht es in Para-
ter zum Innenhof, so erzählt sie es. Sie hock- gut ich kann. graf 174 c des Strafgesetzbuchs. Auch nach
te im Bett, die Beine eng an sich herangezo- den Ethikrichtlinien der psychotherapeuti-
gen, und saß mit dem Rücken zur Wand, als schen Berufsverbände darf es in der Therapie
die Tür aufging. Ihr neuer Therapeut, ein keine Beziehung unter Ausnutzung des Un-
großer Mann, sportlich, setzte sich an ihr Bett gleichgewichts der Machtverteilung geben.
und hörte zu. Er nahm sich Zeit und machte Selbst wenn auf den ersten Blick alles einver-
ihr Hoffnung auf bessere Tage. nehmlich ist. Den Psychotherapeuten anzu-
Von der Hoffnung ist nichts geblieben. himmeln, sich mehr vorzustellen als nur Ge-
Anne Meier sagt, der Therapeut, dem sie ver- spräche ist nichts Ungewöhnliches im Laufe
traute, der ihre schwierige Geschichte kannte einer Behandlung. Das weiß der Therapeut
wie kaum ein anderer, sei zum Täter gewor- und darf das nicht ausnutzen. Kein Anfassen,
den. Sie hat ihn angezeigt wegen sexuellen kein Kuscheln, kein Sex.
Verena Müller / DER SPIEGEL

Missbrauchs. Der Beschuldigte schweigt, er Dennoch ist es ein Kampf, Übergriffe in


will sich zu den Vorwürfen nicht äußern. der Psychotherapie zu beweisen. Die Betrof-
Lange hat Anne Meier sich gefragt, ob sie fenen scheuen ihn oft, und in der Regel ver-
überhaupt das Recht habe, ihren Therapeuten lieren sie ihn, sagen Experten. Die Rechtspre-
anzuzeigen. Hatte vielleicht sie die Fehler chung scheint einen blinden Fleck zu haben.
begangen? Hätte sie nicht früher merken müs- Selten gibt es bei einer Anzeige strafrechtliche
sen, was sich da anbahnte? Das Verhältnis Meiers Tagebuch Konsequenzen, selten berufsrechtliche, fast

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DEUTSCHLAND

Eine im Auftrag des Bundesfami-


lienministeriums erstellte Studie ging
1995 von 600 Missbrauchsfällen jähr-
lich in Deutschland aus. Damals wur-
den Annahmen auf Grundlage von
10.000 Psychotherapeutinnen und
Psychotherapeuten getroffen. Heute
gibt es fast 62.000. Die Zahl der Miss-
brauchten könnte demzufolge deut-
lich angestiegen sein. Aber aktuelle
Studien gibt es kaum. Ärzte sind
Autoritäten, oft bestens ausgebildete
Akademiker, die wissen, wie sie
Übergriffe verbergen können. Sie
werden geschätzt in den Institutio-
nen, in denen sie arbeiten, womöglich
geschützt. Im Zweifel wird dem Kol-
legen, dem Mitarbeiter geglaubt und
nicht der unter Medikamenten ste-
henden Patientin.
Die ersten Behandlungstermine
nach dem stationären Aufenthalt von
Anne Meier fanden in der Klinik statt.
Zu zweit, im Zimmer des Therapeu-
ten, wie sie sagt. Ihre Diagnose lautet:
komplexe Persönlichkeitsstörung.
Über Umfang und Dauer der Behand-
lung sollte sie sich keine Gedanken
machen, erinnert sich Meier. Für sei-
ne Weiterbildung zum Facharzt be-
nötige er jede Menge Ausbildungs-
stunden, da komme sie gerade recht.
»Ich war so froh, dass er mich dafür
ausgesucht hat.« Die Terminabspra-
che verlief unkompliziert, die Gesprä-
che seien oft mehrstündig und extrem
anstrengend gewesen, sagt Meier. In
der Zeit zwischen den Sitzungen hiel-
ten sie Kontakt. »Ich durfte mich in
Verena Müller / DER SPIEGEL

den Mails ausweinen, einfach alles,


was mir in den Kopf kam, aufschrei-
ben. Das tat so gut.«
Auf seine Initiative hin trafen sie
sich von Anfang September 2020 an
erst in der Klinik und anschließend
zu therapeutischen Gesprächen bei
nie wird die Approbation entzogen. In der überwiegenden Mehrzahl Psychiatriepatientin ausgiebigen Spaziergängen. Er habe
Pro Jahr gebe es im Durchschnitt we- werden Männer übergriffig, aber auch Meier: Mehrstündige, von ihr geträumt, erzählte er. Sie sei
extrem anstrengende
niger als zwei Verurteilungen, kriti- Frauen können Täterinnen sein. An- Gespräche in seine Tübinger Wohnung eingela-
siert Christian Laue, Meiers Anwalt. walt Laue hat mehr als ein Dutzend den worden, eine ruhige Gegend, er
»Es herrscht oftmals Unverständnis Mandanten und Mandantinnen in kochte für beide. Auch er besuchte
der Justiz für die besondere Proble- Missbrauchsfällen vertreten. Laue be- sie in ihrer Wohnung. Sie lebt in einer
matik des Straftatbestands.« Oft wer- richtet etwa von einer Anstaltspsy- kleinen Stadt, im Flur ist Spielzeug
de die Glaubwürdigkeit des Opfers chologin in Bayern, die einen deutlich verstaut, im Wohnbereich stehen ein
angezweifelt: Die Betroffene habe jüngeren Strafgefangenen miss- großes Sofa, ein Fernseher, ein Kat-
notorisch gelogen, alles Falschaussa- braucht hat. Sie versprach ihm eine zenbaum.
gen – bei psychisch labilen Opfern ein positive Stellungnahme zu einer vor- Sie sei zunehmend abhängig von
Argument, das häufig verfängt. Oder: zeitigen Entlassung, wenn er bei ihr »Ich habe das ihm geworden, sagt Meier, »ich woll-
Selbstverständlich sei die Beziehung bleibe und mit ihr ein Kind zeuge. Er alles mit mir te ihn auf keinen Fall vor den Kopf
von beiden gewollt gewesen. Dabei berichtet über eine Patientin, die in machen las­ stoßen«. Ihre Stimme ist leise, sie
darf das laut Gesetz keine Rolle spie- einer familientherapeutischen Privat- setzt die Worte vorsichtig. Eine so-
len. Selbst Richterinnen und Richter klinik mit ihrer Therapeutin eine sen, ich wollte genannte Langzeit-Schematherapie
würden dieses Problem nicht erfas- gleichgeschlechtliche sexuelle Bezie- ihn als The­ habe er vorgeschlagen, ein, zwei in-
sen, sagt Laue: »Es besteht ein so star- hung begann. Für sie eine neue Er- tensive Jahre, sagte er, dann würde er
kes strukturelles Abhängigkeitsver- fahrung. Nach drei Monaten distan-
rapeuten nicht ein positives Gutachten über sie ver-
hältnis, dass jede sexuelle Handlung zierte sich die Therapeutin, die Pa- verlieren.« fassen. Meier, die schon mehrere Kli-
während einer Psychotherapie ein tientin fühlte sich ausgenutzt und Anne Meier, nikaufenthalte hinter sich und bereits
Missbrauch ist.« erlitt einen heftigen Rückfall. Patientin als Jugendliche in einem Elternhaus

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 49


DEUTSCHLAND

voller Gewalt ihre erste Therapie be- Im März 2021 ist Anne Meier nen, Suizidgedanken, Panikattacken
gonnen hatte, stimmte zu. schwanger, sie will das Kind bekom- sein. Eine 1991 veröffentlichte Studie
Am 9. September 2020 schrieb der men. Ihr Therapeut habe sie gedrängt, in den USA, wo schon länger zu die-
Therapeut: es abtreiben zu lassen. Noch ein Kind ser Thematik geforscht wird, kommt
Sie sind nicht schrecklich, sondern ruiniere ihr Leben, das sei das Falsche zu dem Ergebnis, dass 14 Prozent der

Verena Müller / DER SPIEGEL


haben eine verdammt schwierige Si- für sie, hält er ihr vor. Als Meier einer Patientinnen und Patienten, die von
tuation, mit der zurechtzukommen Abtreibung zustimmt, begleitet er sie Therapeuten und Therapeutinnen
gnadenlos hart ist. Natürlich ginge es zum ambulanten Termin, danach missbraucht wurden, anschließend
Ihnen sehr viel besser, wenn es einen fährt er sie heim, lässt sie aber bald versucht haben, sich umzubringen.
verstehenden und liebenden Menschen allein, so erzählt sie es. Ein Prozent ist gestorben.
an Ihrer Seite gäbe, aber das ist noch Es ist ein Wendepunkt in ihrer Be- Kolleginnen und Kollegen, die
nicht so weit. Damit das möglich wird, ziehung, sie sehen sich seltener. Der nichts sehen wollen. Ärzte, die
gibt es noch einige anstrengende Stre- »Es ist ein letzte intime Kontakt fand am 3. Juni einander schützen, Betroffene, die
cken zu nehmen. Aber ich versuche Sie Fehler, dass 2021 gegen 17 Uhr im Zimmer ihres sich nicht trauen, gegen eine fachliche
nach Kräften zu unterstützen. Therapeuten in der Klinik statt. »Wir Autorität vorzugehen. In Heidelberg
Er habe ihr das Du angeboten,
das Wis­ müssen vernünftig sein«, habe er ist genau das geschehen. Dort baute
das sei im Oktober gewesen, sagt senschafts­ mehrfach gesagt, so erinnert sie sich, der damalige Leiter des Instituts für
Meier und spricht ungern über die ministerium »das ist gefährlich, was wir machen.« analytische Kinder- und Jugendli-
Nacht zum 8. Oktober, als geschah, Erst langsam wird in Deutschland chen-Psychotherapie ein System des
was sie nicht wollte. Er habe sie ge- nicht infor­ erkannt, wie wenig über Missbrauch sexuellen Missbrauchs auf und ver-
beten, zu ihm zu kommen, der miert werden in der Psychotherapie diskutiert wird ging sich 18 Jahre lang an Patientin-
Champagner war kalt gestellt. Sie musste.« und wie groß das Dunkelfeld sein nen und Patienten. Die Ergebnisse
nahm auf seinem blauen Sofa Platz, dürfte. Der 2004 gegründete Ethik- der Aufarbeitung der Straftaten hat
und sie redeten, dann habe er an- Dorothea Kliche- verein will das ändern. Er macht Öf- das Institut 2022 vorgestellt, da war
Behnke, Landtags-
gefangen, sie zu küssen und zu be- abgeordnete fentlichkeitsarbeit, berät Betroffene der Täter längst gestorben.
rühren, am Bauch, an den Brüsten. und vermittelt Anwälte. Auch Anne In Günzburg wurde ein Psycho-
Sie sagte ihm, dass sie ihre Periode Meier hat sich dorthin gewandt und therapeut, der zwei Patientinnen se-
habe. Es interessierte ihn nicht, ir- kostenlos Hilfe erhalten. Andrea xuell missbraucht hatte, vom Amts-
gendwann zog er sie in sein Schlaf- Schleu, die Vorsitzende des Vereins, gericht 2023 zu einem Jahr und neun
zimmer, so erzählt sie. kennt die Unterlegenheit der Patien- Monaten auf Bewährung verurteilt.
Die Nacht über blieb sie, sie hätte tinnen, die den Therapeuten ideali- Der damals 60-Jährige war geständig.
jederzeit aufstehen und gehen können. sierten. »Das Machtgefälle hebt oft In Tübingen verurteilte das Land-
Das kam ihr nicht in den Sinn. »Ich die sexuelle Selbstbestimmung auf, gericht 2022 einen 72-jährigen The-
war wie gelähmt. Ich habe das alles das können die Beteiligten aber nicht rapeuten aus dem Kreis Calw zu
mit mir machen lassen, ich wollte ihn sehen.« Ein Verhältnis auf Augen- zwei Jahren auf Bewährung und
als Therapeuten nicht verlieren.« höhe sei nicht möglich. Schmerzensgeld. Der Angeklagte
Über viele Monate sahen sie sich Die Grenzen sind unmissverständ- hatte gestanden, zwischen 2008 und
regelmäßig, sie hätten mehrmals die lich gezogen. Der Patientin sei alles 2013 in 28 Fällen mit seiner damali-
Woche miteinander geschlafen. Sie erlaubt, sagt Schleu – fantasieren, gen Patientin Sex gehabt zu haben,
gingen gemeinsam essen, ein Kollege wilde Wünsche äußern oder erotische zum Teil war sie dabei noch minder-
des Arztes war zufällig dort und Gefühle entwickeln. »Sie darf sich jährig.
sprach sie an. Meier übernachtete in verlieben«, das komme sogar relativ Im Erdgeschoss der Psychiatrie
seiner Wohnung und erfuhr viel Pri- häufig vor, »der Therapeut seinerseits bremst ein Geräusch am Ende des
vates über ihn. Details über seine darf das auf keinen Fall erwidern und Flurs Anne Meier. Sie dreht sich um,
Ehe, seine Urlaube, seine persönli- sich darauf einlassen«. aber nichts regt sich. Meier geht wei-
chen Vorlieben. In Deutschland regeln die Berufs- ter Richtung Altbau, nimmt die Trep-
Sie profitierte von seiner schützen- ordnungen der Landespsychothera- pe nach oben. »Alles fühlt sich so weit
den Hand: Er stellte ihr als behandeln- peutenkammern die sogenannte weg an«, sagt sie, und dass sie froh
der Arzt zusammen mit einem Kolle- Abstinenz, also die Zeit, in der ein sei, wieder Tritt gefasst zu haben in
gen eine Bescheinigung für das Job- sexuelles Verhältnis zwischen Thera- ihrem Leben. Sie hat eine neue The-
Verena Müller / DER SPIEGEL

center aus. Es sei gut für sie, einige peut und Patient verboten ist. Min- rapie begonnen in einer anderen
Stunden pro Tag zu arbeiten, schlug destens ein Jahr Abstand zum Ende Stadt.
er vor. Über eine andere Patientin, die der Therapie wird in Baden-Württem- Der Fall von Anne Meier liege in
er kontaktierte, half er ihr, einen Mini- berg für Psychotherapeutinnen und der Klinik bei der Rechtsabteilung,
job in einem Laden zu finden, erzählt Psychotherapeuten vorgeschrieben. sagt ihr Anwalt Laue. Er gehe davon
Meier. Die Arbeit machte ihr Spaß, »Solange noch eine Abhängigkeits- aus, dass der Beschuldigte seine Wei-
drei Jahre lang blieb sie dort. beziehung gegeben ist«, steht bei- terbildung abgebrochen habe. Als
Sie tauschten Liebesbotschaften »Jede sexuelle spielsweise in der Berufsordnung der Meier den Arzt angezeigt hatte, woll-
aus, Smileys, Herzchen, Sexanspie- Handlung ostdeutschen Kammer – und das te sie nicht schweigend auf die Justiz
lungen im WhatsApp-Chat. Manch- während einer kann lange dauern, mitunter Jahre. vertrauen. Sie wandte sich mit dem
mal Audiodateien: romantische Lie- Besonders anfällig für Übergriffe Erlebten an die örtliche Landtagsab-
der von Johannes Brahms. Im Febru- Psycho­ durch Therapeuten sind Frauen, die geordnete Dorothea Kliche-Behnke.
ar 2021 mailte ihr der Therapeut: therapie ist bereits sexuell missbraucht wurden. Die SPD-Politikerin traf den Ärzt-
Schreib mir, wie ich dich zum Hö- Traumatisiert durch das Erlebte, kön- lichen Direktor der Psychiatrie und
hepunkt bekomme! Gerne wie eine
ein Miss­ nen sie sich nicht abgrenzen, sich erfuhr, dass arbeitsrechtliche Konse-
Kochanleitung mit Bildern und kras- brauch.« nicht wehren, sie geraten wieder in quenzen gezogen worden waren. Der
sen Ansagen Christian Laue, die Verstrickung der Täter-Opfer-Dy- Beschuldigte arbeite mittlerweile in
kuss auf alle Deine Lippen Anwalt namik. Die Folge können Depressio- der Forschung, ohne Kontakt zu Pa-

50 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


DEUTSCHLAND

Irgendwann sei ihr klar geworden, sagt sie,


sie wolle reden, auch vor Gericht: es alle wis-
sen lassen.
Anfang April 2022 hat sie eine akute sui-
zidale Krise und wird im Rettungswagen in
die Klinik gebracht. Dort wird ihr die Behand-
lung verweigert. Nach Rücksprache mit einem
Vorgesetzten habe sie der zuständige Arzt
weggeschickt und eine Verlegung in eine nahe
gelegene Klinik angeboten, sagt Meier. Im
Bericht der Klinik steht: Es gebe aufgrund der
Strafanzeige »im Hause keine therapeutische
Grundlage«. Es sei eine Absprache mit der
Psychiatrie in Reutlingen getroffen worden,
dass man sie dort behandle. Rechtsanwalt
Laue sieht in der Abweisung eine unterlasse-
ne Hilfeleistung, die Krisenintervention sei
verwehrt worden. »Das Vorgehen mag richtig
sein für den Normalfall, aber nicht für einen
Notfall.«
Es dauert bis Oktober 2023, dann erhebt

Verena Müller / DER SPIEGEL


die Staatsanwaltschaft Tübingen Anklage
gegen den Arzt. Der Vorwurf: Vergewaltigung
in einem Fall und sexueller Missbrauch unter
Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs-
oder Betreuungsverhältnisses in insgesamt
52 Fällen.
Bank bei Tübingen, auf der ein Teil der Therapiegespräche stattfand: Ausgiebige Spaziergänge Im Altbau der Psychiatrie bleibt Anne
Meier vor einer weißen Bürotür stehen: »Da-
tienten und Patientinnen. Kliche-Behnke fen. Sie schade der Psychiatrie, womöglich hinter haben wir uns getroffen.« Selbstbe-
stellte einen Antrag an die baden-württem- würden andere Patientinnen in Not sich dann wusst steht sie da, fast erstaunt über ihren
bergische Landesregierung. Sie wollte wissen, dort nicht behandeln lassen. Sie solle es mal eigenen Mut.
welche Schutzkonzepte es an Universitäts- gut sein lassen, seien Worte gewesen, die sie Im Behandlungszimmer mit dem Bespre-
kliniken gibt, um sexuellen Missbrauch zu zu hören bekommen habe, erinnert sich chungstisch, den beiden Stühlen und der grü-
verhindern. Die Antwort war wenig ergiebig. Meier. Von einer Mitarbeiterin erhält sie nen Liege hätten sie sich gegenübergesessen,
Es wurde auf Verhaltenskodizes und Dienst- schriftlich einen sehr persönlichen Rat: Es erzählt sie. Sie hätten erst geredet, »der The-
vereinbarungen verwiesen, auf Hinweisgeber- lohne sich nicht, um den Mann zu trauern. rapieteil« habe immer dazugehört, danach
systeme und klar definierte »Melde- und Be- Auf Nachfrage des SPIEGEL bei der Klinik habe er die äußere der beiden Türen abge-
schwerdewege«. Kliche-Behnke kritisiert: »Es heißt es, dass keine Auskunft zu dem Fall er- schlossen, damit niemand zufällig hinein-
ist ein Fehler, dass das Wissenschaftsministe- teilt werde. platzte. So erinnert sich Meier. Es folgte der
rium nicht informiert werden musste.« Die Anwältin des beschuldigten Arztes Sex, mitten im Klinikbetrieb, tagsüber, viele
Anne Meier sagt, vonseiten der Klinik sei meldete sich im Sommer 2021 bei Meier. Ihr Monate lang, angeblich unbemerkt von allen.
versucht worden, ihr auszureden, dass sie An- wurde Geld geboten, erst 5000 Euro, dann »Ich habe mich oft gefragt, ob das nicht
zeige gegen den Arzt erstatte. Sie sei auf 10.000 bis 15.000 Euro, verbunden mit der jemand hört«, sagt Anne Meier.
einem Rachefeldzug, habe man ihr vorgewor- Zusage, alles auf sich beruhen zu lassen. Christine Keck n

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Potulice in Pommern wurden 1947 rund 6000


deutsche Mädchen und Jungen gezählt. In
Niederschlesien gab es zur selben Zeit 85 Ein­
richtungen mit 2307 deutschen Kindern. Man­
che von ihnen entdeckten erst Jahre später
ihre deutsche Herkunft, wie Alfred Czesla.
»Ich wurde am 23. Februar 1945 in Sens­
burg geboren, das heute Mrągowo heißt, und
kurz nach meiner Geburt evangelisch getauft«,
erzählt er. »Mein Vater Max starb einen Mo­
nat nach meiner Geburt bei einem Luftangriff
in der Nähe von Königsberg, meine Mutter
Bertha ein halbes Jahr später.« Seine Mutter
sei Fabrikarbeiterin gewesen, der Vater Chauf­
feur bei der Wehrmacht. »Ich habe die Augen
meiner Eltern nie gesehen«, sagt Czesla. »Das
war ein Trauma. Verstehen Sie?«
Stadtarchiv Espelkamp

Czesla ist heute 78 Jahre alt, hat graues


schütteres Haar und wache blaue Augen. Er
setzt seine Brille auf und geht vom Wohnzim­
Deutsche Kinder bei Ankunft aus mer in die Küche, wo sein Computer steht.
Polen in Westdeutschland 1948 Alles, was er über sein Leben herausfinden
konnte, befindet sich in digitalen Ordnern auf
seinem Desktop. »Meine Familie war arm«,
erzählt er. »Bis Ende 1945 lebte ich in der Ob­
hut meiner Großmutter. Sie hatte es nicht ein­
fach und starb bald.« Danach habe seine jahre­

Die vergessenen Kinder lange Odyssee durch sechs Waisenhäuser be­


gonnen. »Es war eine schwierige Wanderung.«
Deutsche Kinder lebten in den Heimen
häufig unter katastrophalen Bedingungen.
AUFARBEITUNG Tausende deutsche Waisen wurden 1945 in Nach der Terrorherrschaft Hitlerdeutschlands
waren sie im befreiten Polen nicht gern ge­
Ostpreußen, Pommern oder Schlesien zurückgelassen. Nun widmet sehen. Fast jede polnische Familie hatte un­
sich eine Historikerin ihrem Schicksal. ermessliches Leid erfahren, die Erinnerungen
an die Naziverbrechen waren frisch. Das Land
lag in Trümmern. »Die polnische Regierung
lfred Czesla hatte immer gehofft, seine Andere Kinder verloren ihre Eltern in den hatte in der Nachkriegszeit zusätzlich rund
A deutsche Geburtsurkunde noch zu fin­
den. Er fragte in den Waisenhäusern
nach, in denen er als Kind aufgewachsen
Kriegswirren oder im Treck der Flüchtenden.
In Städten wie Köslin lebten eine Zeit lang
obdachlose Minderjährige auf der Straße. Im
drei Millionen polnische sozial bedürftige Kin­
der zu versorgen, darunter etwa 1,5 Millionen
Halb­ und Vollwaisen«, sagt Willenborg.
war, stellte Suchanträge bei den polnischen nördlichen Ostpreußen irrten elternlose Viele junge Polinnen und Polen hatten
Behörden. Das Dokument wäre für ihn »Wolfskinder« durch die Wälder. In Waisen­ deutsche Besatzungsverbrechen miterleben
die endgültige Bestätigung seiner Abstam­ häusern gingen Bewohnerlisten verschütt. müssen. Hinzu kam auch für polnische Bürger
mung gewesen. Doch am Ende fand er he­ Weil viele der dort lebenden Kleinkinder nach der Heimatverlust infolge des Krieges. Das
raus, dass man es 1951 vernichtet hatte. »Es 1945 polnische Namen bekamen, verlor sich galt auch für Zehntausende polnische Kinder,
tut so weh«, sagt er. »Ich bin zutiefst betrübt jede Spur ihrer deutschen Herkunft. die die deutschen Besatzer zwischen 1939 und
darüber.« Die Geschichte der Waisen aus den ehe­ 1945 ins Reich verschleppt hatten. Viele wa­
Czesla sitzt vor dem Fernseher im Wohn­ maligen Ostgebieten ist bislang weitgehend ren blond und blauäugig und entsprachen
zimmer seiner Wohnung am Rand der erm­ unbekannt. Jetzt hat die Historikerin Teresa somit den rassischen Kriterien der Nazis. Sie
ländisch­masurischen Hauptstadt Olsztyn, Willenborg das Schicksal von Deutschlands sollten in Heimen »germanisiert« werden.
die bis 1945 Allenstein hieß und heute zu vergessenen Kindern umfassend erforscht. In Erst nach dem Krieg konnten manche von
Polen gehört. Er zappt durch die Kanäle: »Ich Rahmen eines von der Gerda­Henkel­Stiftung ihnen in die Heimat zurückkehren. »In der
habe 200 deutsche Sender.« Czesla liest geförderten Projekts sprach sie mit zahlrei­ Nachkriegszeit war das Hauptaugenmerk des
deutschsprachige Zeitungen, trinkt bayeri­ chen Zeitzeugen, wertete Fotomaterial aus polnischen Staates auf polnische Kinder ge­
sches Weizenbier und macht seine Einkäufe und analysierte bisher unveröffentlichte Ak­ richtet«, sagt Willenborg. »Deutsche Kinder,
in Olsztyn bei Lidl oder Kaufland. »Ich habe ten in deutschen und polnischen Archiven*. die sich der Polonisierung widersetzten, gal­
mich immer als Deutscher gefühlt.« »Laut Suchdienst des Deutschen Roten ten als Störfaktoren.«
Alfred Czesla war eines von Tausenden Kreuzes befanden sich noch 1952 etwa 4200 Czesla sagt: »Ich habe immer Glück gehabt.
deutschen Waisenkindern, die bei der Flucht deutsche Vollwaisen in Polen«, sagt Willen­ Ich bin Menschen begegnet, die mir geholfen
und Vertreibung der Deutschen aus Ostpreu­ borg. »Polnischen Unterlagen zufolge waren haben.« Wie seine Tante Ida, die kurz nach
ßen, Pommern und Schlesien zurückgelassen es bis zu 15.000 Elternlose.« Ihre genaue An­ dem Krieg aus Ostpreußen nach Westdeutsch­
wurden wie Bilder an der Wand. Im Chaos zahl lasse sich nicht mehr feststellen. Allein land entkommen war. Sie suchte ihren Neffen
des Aufbruchs kümmerte sich kaum jemand in dem ehemaligen NS­Zwangsarbeitslager fast ein Jahrzehnt lang, konnte ihn aber lange
um ihr Schicksal. Krankenschwestern und nicht finden. »Das war kein Wunder«, sagt
Pädagogen nahmen Reißaus vor der an­ Czesla. »Ich erhielt als Kleinkind eine neue
* Teresa Willenborg: »Kinder im Schatten des Krieges.
rückenden Roten Armee und ließen die Klei­ Heimerziehung in Polen nach 1945«. Wissenschaft- Geburtsurkunde und die polnische Staatsbür­
nen unbeaufsichtigt zurück. licher Verlag Berlin. Erscheint im Januar 2024. gerschaft. Mein Name wurde in Antoni Cieśla

52 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


DEUTSCHLAND

geändert.« Von seiner deutschen Ab­ Im April 1948 informierte ein pol­ Ausgabe 6 | 2023
Vergangenheit kennen, Gegenwart verstehen
gehabt, in die Bundesrepublik zu
stammung erfuhr er erst 1954. nischer Schulleiter in Olsztyn seine übersiedeln. Doch er hing an seiner
Erinnerungen Schicksale Modellstadt

»Als ich neun Jahre alt war, kam Vorgesetzten über das »asoziale Ver­ Warum die Flucht aus
Schlesien noch nachwirkt
Was deutsche Waisen
in Polen erlebten
Wie Vertriebene in
Ostwestfalen neu anfingen
Heimat. Er wurde Mitbegründer
meine Tante ins Waisenhaus, wo ich halten« deutscher Kinder. »Morgens deutscher Minderheitenorganisatio­
mit polnischen und deutschen Kin­ um 8.00 Uhr sagte eine Mädchen­ nen in Masuren und dem angrenzen­
dern lebte. Ich erinnere mich, dass sie gruppe: Heute ist der Geburtstag von den Ermland, reiste häufig in die Bun­
immer schwarz gekleidet war. Sie Hitler. Zunächst dachte ich, das ist ein desrepublik und engagierte sich für
sprach mit mir auf Deutsch, warf al­ Scherz.« Später sei ein Schüler mit den Austausch beider Länder. Sein
Verlorene
lerdings masurische Wörter ein, so­ Hakenkreuzfahne über den Pausen­ Heimat »größter Erfolg« sei die Verleihung
dass ich sie verstand.« Der masuri­ hof gelaufen. »Am selben Tag haben Flucht und Vertreibung:
Hitlers Krieg und die Folgen
Deutschland € 9,90 Österreich € 10,50 Schweiz sfr 16,50 Benelux € 11,40 Dänemark dkr 109,95 Finnland € 14,90 Printed in Germany
des Bundesverdienstkreuzes am Ban­
sche Dialekt, eine mit deutschen wir in der Nähe der Schule zwei Ha­ de im Jahr 2016, sagt Czesla.
Frankreich € 12,40 Griechenland € 12,90 Italien € 12,40 Portugal € 12,40 Spanien € 12,40 Ungarn Ft 4900,–

Lehnwörtern durchsetzte Mundart, kenkreuze bemerkt, die aus Ziegel­ Mehr zu dem Thema Etwas hin­ und hergerissen zwi­
ist heute weitgehend ausgestorben. steinen gemacht wurden.« lesen Sie in der schen beiden Nationen ist Czesla
aktuellen Ausgabe
Tante Ida habe ihm Süßigkeiten Doch solche Vorfälle blieben die von SPIEGEL dann doch. Wahrscheinlich definiert
mitgebracht, so Czesla. Nach ihrem Ausnahme, auch weil die Warschauer GESCHICHTE: er sich deshalb in erster Linie als Ma­
Besuch hätten die polnischen Kinder Regierung bereits 1945 eine Richtlinie Verlorene Heimat – sure. »Meiner Meinung nach ist der
ihn mit seiner deutschen Herkunft erlassen hatte, wonach deutsche Kin­ Flucht und Ver- Masure von heute ein Mensch, der
treibung: Hitlers
aufgezogen. »Das war für mich ein der schnellstmöglich zu »polonisie­ Krieg und die Folgen. zweisprachig ist, die Literatur beider
Signal, dass ich zwar zur Gruppe die­ ren« seien. Zu diesem Zweck wurden Erhältlich im Zeit- Nationen kennt und daraus die Wer­
ser Kinder gehörte, aber nicht aus ihr Heranwachsende wie Alfred Czesla schriftenhandel und te schöpft, die für sein Leben wichtig
stammte.« Czesla begann, sich selbst in den Heimen gemeinsam mit Alters­ unter amazon.de/ sind«, sagt er.
spiegel
Deutsch beizubringen. genossen aus Polen untergebracht Doch der promovierte Soziologe
Seine Tante wollte ihn in die Bun­ und von polnischen Erzieherinnen weiß auch, dass es sein Idealbild
desrepublik holen, doch die polni­ und Erziehern betreut. »Es war ver­ kaum noch gibt. Die deutsche Min­
schen Behörden untersagten es. »Sie boten, im Waisenhaus Deutsch zu derheit in Masuren wird immer
hat um mich gekämpft und im Mai sprechen, und auch in der Schule wur­ kleiner. »Ich habe das Verschwinden
1956 einen Brief an den Staatsrats­ de es nicht unterrichtet«, sagt Czesla. Masurens miterlebt«, sagt Czesla.
vorsitzenden der Volksrepublik Polen Für viele Waisen war die »Poloni­ Nach 1945 seien zwar rund 170.000
gerichtet«, sagt Czesla. Darin schrieb sierung« mit Leid verbunden. Alfred Deutsch­Masuren in ihrer Heimat
seine Tante: »Bitte überdenken Sie Czesla dagegen hat gute Erinnerun­ zurückgeblieben, etwa weil sie als
meine Bitte und erteilen Sie mir die gen an seine Kindheit im Heim. »Ich Handwerker für den polnischen Staat
Erlaubnis, den Sohn meiner verstor­ habe dort wunderbare Erzieher und nützlich waren. Doch bis 1985 hätten
benen Schwester so schnell wie mög­ Lehrer kennengelernt«, sagt er. Sie rund 130.000 von ihnen Ermland­
lich aus dem Waisenhaus abzuholen. halfen ihm, auf eigenen Beinen zu Masuren verlassen, so Czesla: »Das
Meine verstorbene Schwester Bertha stehen. Czesla studierte in Łódź So­ macht mich noch heute sehr traurig.«
flehte mich an, Alfred nicht zu ver­ ziologie und fand 1970 einen Job in Czesla hat Frieden mit seiner
lassen und seine Mutter zu sein. Es ist Olsztyn. Er lernte seine Frau Hanna deutsch­polnischen Identität ge­
schwer für mich, weil mein Herz blu­ kennen. Mit ihr bekam er einen Sohn, schlossen. Doch das Schicksal vieler
tet und ich um Alfred weine.« der heute in Berlin lebt. Czesla pro­ einstiger deutscher Waisen in Polen
»Ich weiß nicht, aus welchen movierte und wurde Assistenzprofes­ ist bis heute nicht aufgeklärt. Noch
Gründen die Behörden der Volksre­ sor an der Pädagogischen Universität immer gibt es Menschen, die von
publik Polen den Antrag schließlich Olsztyn. ihrer Herkunft nichts wissen. Ein ehe­
abgelehnt haben«, sagt Czesla. Nach­ 1974 fuhr Czesla erstmals in die maliges Waisenkind aus einem Heim
dem seine Tante Ida gestorben war, Bundesrepublik. Als er zu seinen Ver­ in Duszniki, auf Deutsch Duschnik,
versuchten in Westdeutschland leben­ wandten kam, wurde er ermahnt, nur hat erst jetzt erfahren, dass es aus
de Familienmitglieder auch in den Deutsch zu sprechen. Die Nachbarn einer deutschen Familie in Breslau
folgenden Jahren, ihm die Ausreise sollten nicht erfahren, dass die Familie stammt. Der Mann im Süden Polens
zu ermöglichen – vergebens. »Ich aus Masuren stammt. wurde nach jahrzehntelanger Suche
blieb in Polen«, sagt Czesla. Als 1989 der Eiserne Vorhang auch von seiner Familie gefunden.
Andere deutsche Waisenkinder hin­ in Polen fiel, hätte Czesla die Chance Felix Bohr n
gegen zogen nach Westen: Tausende
von ihnen wurden in den Nachkriegs­
jahren in die Bundesrepublik und die
DDR überführt. Eine Bedingung war,
dass ihre leiblichen Eltern, wenn sie
überlebt und ihre Kinder ausfindig ge­
macht hatten, deren Rückführung be­
antragten. Bevor die Minderjährigen
ausreisen durften, hatten sie sich einer
Jedrzej Nowicki / SPIEGEL Geschichte

staatlichen »Untersuchung zur Klärung


der Abstammung« zu unterziehen. Sie
mussten beglaubigen, dass sie sich zur
deutschen Nation zugehörig fühlten.
Für die Ausreise waren auch Kin­
der vorgesehen, die infolge jahre­
langer Nazipropaganda »vom Hitler­
Privat

geist durchdrungen waren«, wie es in


einem Dekret hieß. Waise Czesla (l.) mit Freunden in Ostrode 1958, Zeitzeuge Czesla: »Das war ein Trauma, verstehen Sie?«

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 53


DEUTSCHLAND

lig im Elternhaus zusammen. »Es ist


alles sehr emotional«, sagt Lev. Als
er und sein Vater sich verabschiede­
ten, weil er zu seiner Einheit musste,
»heulten wir beide los, als sähen wir
uns zum letzten Mal«.

Morgen geht Lev in den Krieg Zuerst war Ana wütend, dass Lev
nach Israel ging. Aber sie versteht,
dass es um seine Identität geht, um
seine Familie, um sein ewig bedrohtes
ORTSTERMIN Ein Israeli, der gegen die Hamas kämpft, macht Fronturlaub Volk. Aber es erschüttert sie auch.
in Deutschland. Eine Begegnung in Berlin. »Wir hatten bis zum 7. Oktober dieses
ganz normale Leben, arbeiteten beide
viel, gingen oft auf Partys, trafen uns
orgen geht Lev zurück in den regelmäßig mit Freunden. Und plötz­
M Krieg, zurück nach Israel.
Heute waren er und Ana,
seine Freundin, im balinesischen Spa
lich zieht mein Mann in den Krieg.«
Ana ist in Brasilien aufgewachsen, in
einem langen Frieden. Sie sagt, ihre
in Berlin, wo sie leben. Es war der Generation wisse überhaupt nicht,
Abschluss seines Fronturlaubs, mit was Krieg ist. Lev wusste es immer.
Sauna, Whirlpool, Massagen. Der Ein modernes Expatpaar, weltge­
Flug geht früh am nächsten Tag, am wandt, durchemanzipiert, bestens
Nachmittag wird der Infanterie­ gebildet, schwer verliebt – und plötz­
offizier zurück bei seiner Einheit sein, lich in einer archaischen Situation:
das Maschinengewehr vor der Brust. Der Mann geht in den Krieg, die Frau
»Es ist bizarr, ich weiß«, sagt Lev. bleibt zu Hause. Wie geht das? Geht
Die beiden sitzen auf dem Sofa das überhaupt?
ihrer kleinen Wohnung in Berlin­ In die paar Tage Fronturlaub

Milos Djuric / DER SPIEGEL


Mitte, das Wohnzimmer ist auch das quetscht das Paar eine Menge Spaß,
Schlafzimmer, die Küche ist auch das ein Konzentrat ihres üblichen Lebens.
Büro. Wenn er spricht, blickt sie ihn Sie tanzen mit Freunden in einem
an und umgekehrt, sie halten sich an Technoklub, gehen auf ein Konzert,
den Händen. Er: großer, muskulöser ins Restaurant. Sie laden jüdische und
Typ, sehr sanfte Stimme, von fast nicht jüdische Freunde zum Schabbat­
aufdringlicher Höflichkeit. Sie wirkt mahl ein, kochen mehrere Gänge, er
zierlich neben ihm. Zwei schöne Men­ Jeden Tag telefoniert das Paar, per Soldat Lev, backt Brot. »Was wir sonst in einem
schen, er ist Mitte dreißig, sie ein Videocall. Sie reden über Alltägliches. Freundin Ana halben Jahr unternehmen, machten
bisschen älter. Er ist Stadtplaner, sie Die Morde der Hamas, die getöteten wir jetzt in einer einzigen Woche«,
Architektin, und der Krieg in Nahost palästinensischen Kinder in Gaza, die sagt Ana.
hat ihr Leben durcheinandergebracht. verpassten Momente für eine Zwei­ Die Kreise, in denen Lev und Ana
Sowohl Lev wie Ana haben andere staatenlösung – das seien nicht ihre sich in Berlin bewegen, sind linksgrün
Namen, sie können hier aus Sicher­ Themen am Telefon. Eher: wie das orientiert. Es seien Menschen, die kla­
heitsgründen nicht stehen. »Sagt das Wetter ist in Berlin. Dass er gerade in re Positionen zum Klimawandel oder
nicht schon alles?«, fragt Lev. »Dass einer Schule schläft, dass die Schuhe zu den Rechten sexueller Minderhei­
ich hier meinen Namen nicht nennen, anbleiben in der Nacht. ten vertreten, sagt Lev. »Aber wenn
mein Gesicht nicht zeigen kann?« Er Als Ana Geburtstag hat in seiner es um Israel und um Juden geht, wer­
wolle sich in Berlin nicht mehr als Abwesenheit, sagt Lev ihr, wo er das den sie plötzlich sehr unentschlos­
Jude zu erkennen geben. Als jüdischer Geschenk versteckt hat. Ein altes sen.« Sie sagen dann, wie komplex die
Soldat schon gar nicht. Buch, gedruckt 1843, »Der Galant­ Lage sei und dass man die Perspek­
Kurz nach dem Massaker vom homme oder der Gesellschafter, wie tiven beider Seiten sehen müsse. Doch
7. Oktober war Lev, der in Jerusalem er sein soll«, eine Art Knigge, in Frak­ Lev findet, in der jetzigen Situation
aufgewachsen ist, nach Israel gegan­ turschrift. »Es gibt ein ganzes Kapitel neutral zu bleiben heiße, sich auf die
gen. Über seine Motive sprach er über korrektes Flirten darin«, sagt sie. falsche Seite zu stellen.
schon damals mit dem SPIEGEL , in Seine Familie, deutsche Juden aus Er ist enttäuscht von der Reaktion
einem Interview direkt vor dem Ab­ Schlesien, die im Holocaust »fast voll­ der deutschen Gesellschaft: »Viele
flug. Nach einem Monat im Einsatz ständig« ermordet wurde, wie er sagt, junge Deutsche sprechen von ›nie
hat er nun eine gute Woche zu Hause habe das Buch über viele Generatio­ wieder‹, aber wissen offenbar nicht,
verbracht, um seine Freundin zu se­ nen aufbewahrt. Jetzt gehört es ihr. was das bedeutet. Jetzt ist der Zeit­
hen, um eine Pause zu haben vom Seine Eltern, sagt Lev, seien nie Anas punkt, um mit uns Juden solidarisch
Krieg. Er pendelt zwischen Berlin­ glücklich darüber gewesen, dass er zu sein. Und sie tun es nicht.«
Mitte und dem Nahostkonflikt. nach Berlin zog, in das Land der Täter. Generation Es ist spät geworden, Lev muss
Nach wenigen Tagen stand er Umso stolzer seien sie jetzt, dass er weiß nicht, noch packen.
an der Grenze zum Libanon, als zurückgekommen sei, in einem Mo­ Er weiß nicht, wie lang der Krieg
Anführer eines Zugs von 30 Sol­ ment, da das Land ihn brauche. Auch was Krieg dauern wird. Noch zwei Monate,
daten. Bislang ist es an dieser Front sein Bruder kämpfe nun als Soldat, ist. Lev noch sechs, ein Jahr? So weit in die
einigermaßen ruhig. »Wir schießen seine drei Schwestern sind oder wa­ Zukunft denken Ana und Lev im Mo­
ein bisschen, sie schießen ein biss­ ren ebenfalls bei der Armee. Erstmals wusste es ment nicht.
chen«, sagt Lev. seit Langem war die Familie vollzäh­ immer. Guido Mingels n

54 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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REPORTER

Kofferheule, 1966
FAMILIENALBUM Christoph Kuhn, 72, aus Dresden

D as Foto entstand im Mai 1966 in unserem Dresdner Garten.


Mein Bruder hat mich mit der Pouva Start aufgenommen,
einer einfachen, preiswerten Sucherkamera für Bilder im
Format 6 mal 6 Zentimeter, mit zwei Einstellungen für die Belich-
tungszeit und zwei für die Blende, »Sonne« und »trüb«. Im Hinter-
grund steht das Familienauto, der Moskwitsch 403 aus der Sowjet-
union. Ich bin 15 Jahre alt. Meine lässige Pose drückt Stolz aus auf
das Kofferradio in meinem Arm. Nicht nur bin ich stolz, überhaupt
eins zu haben, denn kaum jemand in meiner Klasse besaß ein eige-
nes Radio, sondern ich hatte es auch selbst gebaut. Der heiß er-
sehnte, ziemlich teure Rundfunkbaukasten vom VEB Polytronic lag
am Heiligen Abend auf meinem Gabentisch, unter einem Pullover
versteckt, der sicher nützlich war, aber nicht diese Freude hervor-
rief. Ich hatte nie damit gerechnet, denn ein solcher Bausatz kostete
im Osten 198 Mark, mehr als ein Lehrling im Monat verdiente.
Radios interessierten mich schon früh. Zum neunten Geburtstag be-
kam ich ein ausrangiertes Gerät namens Blaupunkt mit Holzgehäuse.
Es brachte keinen Ton mehr hervor, doch sein »magisches Auge« glüh-
te noch grün. Ich konnte das Radio aufschrauben, und ich bestaunte
sein kompliziertes Inneres mit Röhren und Kondensatoren. Es roch
gut nach Elektrizität und erhitztem Staub. Das nächste alte Radio in
meinem Besitz, ein Volksempfänger VE 301 aus dem Jahr 1938 mit
einem Gehäuse aus Bakelit, damals als »Goebbels-Schnauze« verspot-
tet, säuselte wenigstens den Ortssender. Das Hakenkreuzemblem an

Privat
der Frontseite unter dem Lautsprecher hatte jemand weggeschliffen.
Mit meinem selbst gebauten Radio ist der Empfang genial; ich Hippie und Gammler beschimpfen. Ich bin mit der Kultur des Wes-
bekomme sogar den Deutschlandfunk rein. Ich bin nun unabhängig tens verbunden und ärgere mich, wenn Freunde aus Leipzig oder
vom elterlichen Rundfunkgerät, imponiere den Mädchen, bin be- Rostock Dresden als Tal der Ahnungslosen verspotten – nur weil wir
gehrt bei den Kumpels, die die Kofferheule auch abwechselnd tragen ohne Westfernsehen leben. Ich fühle mich up to date und gut infor-
dürfen, wenn wir durch die Straßen des Viertels ziehen bei Beat-, miert, nicht nur über Musik – dank meines Radios.
Rock- und Popmusik. Als Fan der Rolling Stones, Beatles, Kinks und Aufgezeichnet von Frauke Hunfeld
vieler anderer Bands trage ich echte Levi-Strauss-Jeans, aber noch ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre Geschichte erzählen möchten?
keine langen Haare. Wenig später werden mich manche Lehrer als Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de

IMMOBILIEN und haben goldene Wasser- SPIEGEL: Und wer bekommt sie SPIEGEL: Wovor?
»Wie geht Wohnungs- hähne? dann? Schiller: Menschen versuchen
Schiller: Nein, die Wohnungen Schiller: Wenn alle sie wollen, vieles, um an eine Wohnung
lotto, Herr Schiller?« kosten zwischen 6,50 Euro wird noch mal gelost. Es geht zu kommen. Einen Computer
SPIEGEL: Für eine im November für geförderte Wohnungen und nicht nach Aussehen, nicht nach kann man nicht bestechen.
fertiggestellte Wohnanlage in 11 Euro Einstiegsmiete für die Status, nicht nach Beziehungen SPIEGEL: Was sagen Sie denen,
Berlin-Lichtenberg gab es für anderen. Das ist Berlin-Gold- oder Herkunft. Für uns als lan- die nicht zum Zuge kommen?
169 Mietwohnungen der Howo- staub. Aber die Wasserhähne deseigene Wohnungsgesell- Schiller: Sie sollen es nicht per-
ge mehr als 20.000 Mietan- sind ganz normal. schaft ist das diskriminierungs- sönlich nehmen. Es ist einfach
fragen innerhalb einer halben SPIEGEL: Wie bewältigen Sie den freie Vermieten ein hohes Gut. wirklich wie Lotto. FHU
Stunde. Ist das noch normal? Ansturm? Sie werten nicht wirk- SPIEGEL: Aber manche haben
Schiller: Ja, schon. Das ist die lich 20.000 Bewerbungen aus. vielleicht größere Not? Ulrich Schiller, 47,
Wirklichkeit. Wir hatten diese Schiller: Nein, wir losen mit Schiller: Für uns ist es unmöglich ist Geschäftsführer
Benjamin Pritzkuleit

Bewerberzahlen auch bei ande- einem Zufallsgenerator für jede zu sagen, diese oder jener hat der Howoge
ren Wohnprojekten. Wohnung etwa zehn Bewerber das größere Problem und kriegt Wohnungsbau-
SPIEGEL: Die Wohnungen kos- aus, die einen Besichtigungs- daher die Wohnung. Wir müssen gesellschaft mbH
ten 2 Euro den Quadratmeter termin bekommen. auch unsere Mitarbeiter schützen. in Berlin.

56 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


ten. Tatsächlich gibt es heute Studien
zu den gesundheitlichen Vorzügen
des Capsaicin, aber auch zu negativen

Hot, hot, hot Effekten. Wissenschaftlich erwiesen


ist der Zusammenhang nicht.
Currie aber begann, Briefe in die
ganze Welt zu versenden, in denen er
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Warum ein US-Amerikaner die schärfsten die Empfänger bat, ihm Chilisamen
Chilis der Welt gezüchtet und gegessen hat zu schicken. Schon bald wuchs in sei­
nem Wohnheimzimmer im College
seine erste Pflanze, eine Vogelaugen­
in Tag im Leben von Ed Currie Fluchtmodus geraten.« Die mit der »Meine Frau chili aus Vietnam. Er probierte immer
E beginnt mit ein paar Tropfen
Chiliöl in seinem Kaffee. Er fan­
ge an zu schwitzen, sagt er, die Haut
Fluchtreaktion würden hektisch
Milch runterstürzen, Angst bekom­
men und sich übergeben. Und dann
sagt, ich
sei ein Idiot.«
schärfere Varianten, steigerte sich
rein, kochte erste Chilisoßen. Mit Mit­
te dreißig sei er in eine Entzugsklinik
erröte, Speichel fließe, seine Nase sind da die anderen. Sie erlebten die gegangen und clean geworden. »Ein
werde frei, der ganze Kreislauf kom­ Schärfe wie einen positiven Rausch. Wunder«, sagt er. Aber die Chilis blie­
me in Gang. Später, zum Abendessen, Während Currie spricht, lässt er ben, und es klingt, als wären sie seine
gebe es Tacos mit viel Chilisoße. Zum sich von seinem Mitarbeiter kleine Ersatzdroge geworden.
Nachtisch hole er sich gern einen Löffelchen mit Pepper­X­Soße an­ Das zweite Wunder seines Lebens,
Chili­Schokoriegel aus dem Gefrier­ reichen. Currie probiert. Und ver­ so erzählt er es, sei seine Frau. Im ers­
fach, »brutal scharf«, den rasple er zieht keine Miene. Man könnte ihn ten Monat ihrer Beziehung habe er
mit einer Reibe über die Eiscreme. leicht für einen Spinner halten, aber 1200 Chilipflanzen in ihren Garten
»Meine Frau sagt, ich sei ein es gibt dazu eine Vorgeschichte. gepflanzt. Sie fragte ihn: »Was willst
Idiot«, sagt Ed Currie. Unter Chilifans Er sei ein Süchtiger auf dem Weg du mit all diesen Pflanzen?«
aber ist er so was wie eine Legende. der Genesung, erzählt Ed Currie nun, »Ich will sie schärfer züchten«,
Ed Currie ist 60 Jahre alt, Vater und vielleicht liege darin ein Teil der antwortete er. Sie sei es dann gewe­
zweier Kinder und Schöpfer der Erklärung für seine Besessenheit. sen, die ihn darauf gebracht habe, ein
Pepper X, der mit Abstand schärfsten Schon in seiner Kindheit habe er Geschäft daraus zu machen.
Chili der Welt, so steht es seit ein Alkohol und andere Drogen konsu­ Inzwischen soll Ed Currie Millio­
paar Wochen im Guinnessbuch der miert. Er habe die falschen Freunde när sein, er hat längst eine eigene
Rekorde. Davon erzählt er an diesem getroffen, sich aus dem Haus geschli­ Farm, und das, was er sein Leben lang
Mittwochmorgen per Videocall, er chen. Bereits mit 13, 14 Jahren sei er gemacht hat, ist ein eigenes Genre
sitzt in der Testküche seiner Farm abhängig gewesen, so erzählt er es. geworden. Es gibt unzählige Challen­
in South Carolina, trägt Brille, Holz­ Irgendwann warfen ihn die Eltern ges auf YouTube, TikTok und anders­
fällerhemd und ein Basecap mit einer aus dem Haus, setzten ihn vor dem wo, wo Menschen schwitzend Chilis
roten Schote drauf, dazu der Name College ab und prophezeiten ihm, verspeisen. Es hat etwas Masochisti­
seiner Firma: PuckerButt Pepper dass er, wenn er so weitermache, bald, sches: Capsaicin aktiviert die Schmerz­
Company, was so viel heißt wie »Run­ wie schon viele in seiner Familie, an rezeptoren, kann Magen­ und Darm­
zel­Po­Chili«. einer Herzkrankheit oder an Krebs schleimhäute reizen, zu Durchfall und
Hinter ihm stehen Eimer voller sterben werde. Currie fing an, in der Erbrechen führen. Erst kürzlich lan­
Chilipulver, das in 95 Länder der Welt Bibliothek dagegen an zu recherchie­ deten deutsche Jugendliche, die an
verschickt werde, so erzählt er es. ren. Er sei auf Hinweise gestoßen, die der sogenannten Hot Chip Challenge
Sein Mitarbeiter Tom, der zwischen­ angeblich belegten, dass Menschen, teilgenommen hatten, in der Notauf­
Unternehmer Currie
zeitig durchs Bild läuft, rührt gerade die viel Capsaicin zu sich nähmen – mit Pepper X,
nahme. Die verantwortliche Firma
eine neue Soße zusammen. Die wich­ den Schärfestoff im Chili –, seltener Schlagzeile von hat die Chips inzwischen zurückge­
tigste Zutat: jene Chilifrucht, mit der Krebs und Herzerkrankungen erlit­ theguardian.com rufen. Das verwendete Chilipulver
Currie kürzlich seinen eigenen Welt­ entstammt wohl der Carolina Reaper,
rekord brach, ein etwas schrumpelig einer weiteren Rekordzüchtung von
aussehendes, grünlich gelbes Ge­ Currie.
wächs. Unfassbare 2.693.000 Scoville Er selbst sagt, er halte nichts von
Heat Units soll es haben. In dieser Challenges. Manchmal stellt er sich
Einheit wird der Schärfegrad gemes­ trotzdem vor die Kamera. Neulich
sen. Der Chili, der für eine normale zum Beispiel, als er mit einem Dänen
Tabascosoße verwendet wird, misst namens Chili Klaus in der Show »Hot
gerade mal 50.000 Einheiten. Ones« eine ganze Pepper X aufisst.
Die Chilifrucht der Capsicum­ Die Männer kauen verzweifelt. Chili
Pflanze, eines Nachtschattengewäch­ Klaus windet sich, der Moderator lei­
ses, ist weder Obst noch Gemüse. det, Ed Currie isst unbeeindruckt wei­
Botanisch korrekt handelt es sich um ter. Die Reaktion sei später gekom­
Jeffrey Collins / AP

eine Beere. Das enthaltene Capsaicin men. Nach der Aufzeichnung habe er
löst im Körper eine Reaktion aus, ir­ auf dem Marmorboden vorm Hotel
gendwo zwischen Schmerz und Ge­ gelegen, im Regen. »Ich konnte mich
schmackserleben, die manche lieben nicht mehr bewegen vor Schmerz«,
und viele fürchten. Ed Currie sieht es sagt Currie. Sechs Stunden habe der
so: »Es gibt zwei Sorten von Men­ Spaß gedauert. »Definitiv nicht zum
schen. Die, die Schärfe in den Kampf­ Nachmachen geeignet«, sagt er.
modus versetzt, und die, die in den Dialika Neufeld n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 57


REPORTER

»Ich SPIEGEL-GESPRÄCH Kool Savas ist einer der bekanntesten Rapper

war ein Deutschlands. Mehrere Frauen werfen ihm Sexismus vor.

Arsch- Hier spricht er über Sex mit Groupies und seine Fehler.

loch«
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

58 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


REPORTER

avaş Yurderi, besser bekannt Savaş Yurderi schon lange kennen, klingt: Ich habe jetzt erst so richtig
S unter seinem Künstlernamen
Kool Savas, erscheint zum Tref­
fen mit dem SPIEGEL in einem Kon­
beschreiben ihn als Kontrollfreak.

SPIEGEL: Herr Yurderi, Sie stehen als


verstanden, was ich manchmal mit
meinem Verhalten angerichtet habe.
SPIEGEL: Es gibt mehrere Frauen, die
ferenzraum von Sony Music in Berlin Rapper für viele moralische Sachen davon berichten, dass Sie diese auf
im Kapuzenpullover. Savas wirkt ein: Sie setzen sich gegen Rassismus ihr Äußeres reduziert haben. Zwei
nachdenklich an diesem Tag, be­ ein. Gegen Massentierhaltung. Jetzt Frauen sollen Sie ungefragt zu Schön­
drückt. Der Konferenzraum heißt gibt es Sexismusvorwürfe. Berech­ heitsoperationen geraten haben.
ausgerechnet »Darkroom«. Der Rap­ tigterweise? Savas: Ja. Das stimmt. Teilweise war
per nimmt auf einer überlangen Savas: Ich versuche eigentlich, ein das einfach nur Gelaber von mir. Ich
grauen Couch Platz. Über der Couch moralischer Mensch zu sein. In man­ meine, schauen Sie mich an. Ich bin
hängt ein Foto eines goldenen Tanz­ chen Bereichen ist es mir gelungen. auch kein Model. Ich muss sagen, dass
schuhs, der Schuh gehört der Sänge­ In anderen Bereichen offenbar nicht. ich erst, nachdem ich darauf angespro­
rin von The Kills. Aber auch Menschen mit moralischen chen wurde, verstanden habe, wie oft
Kool Savas hat sich bereit erklärt, Ansprüchen machen Fehler. Mir ist ich jemanden damit verletzt habe.
mit dem SPIEGEL über Sexismus und schon vor längerer Zeit klar gewor­ Und ich verstehe jetzt, dass man sol­
Machtmissbrauch zu reden. Nicht nur den, dass ich mich über viele Jahre che Sachen vielleicht unter Kumpels
im Generellen, sondern auch über sei­ schlecht verhalten habe. sagen kann, aber nicht zu Frauen.
nen eigenen. Mehrere Frauen hatten SPIEGEL: Inwiefern? SPIEGEL: Oder einfach gar nicht?
sich bei seinem Label darüber be­ Savas: Mir schrieb zum Beispiel eine Savas: Ja.
schwert, wie der Rapper mit ihnen um­ Frau auf Instagram eine Nachricht. SPIEGEL: Was bewegt Sie dazu, jetzt
gegangen sei. Auch mit dem SPIEGEL Sie sei vorher ein riesiger Fan von mir öffentlich über Ihre Verfehlungen zu
wollten mehrere Frauen über Yur­ gewesen. Bis zu einem Vorfall. Auf sprechen?
deri reden, aber sie wollten anonym einem meiner Konzerte hat sie mich Savas: Zum einen, weil ich mich schä­
bleiben. angesprochen und gefragt, ob sie und me. Zum anderen wurde mir irgend­
Es geht bei den Vorwürfen gegen ihre Freundin noch mit uns mitkom­ wann klar, dass es heuchlerisch ist,
Savas um sexistisches Verhalten und men können. Ich habe dann offenbar wenn ich mich diesen Dingen nicht
sexistische Kommentare, nicht um gesagt: »Deine Freundin ja. Aber du stelle. Mich hat das Vatersein ver­
körperliche Übergriffe. Die Frauen nicht, du bist zu hässlich.« ändert, auch wenn das wie ein übles
sagen, Yurderi habe ihnen ungefragt SPIEGEL: Warum haben Sie das gesagt? Klischee klingt. Mein Sohn hatte
dazu geraten, abzunehmen oder Savas: Na ja, um anzugeben, um ein Streit mit einem Mädchen, das er
sich die Brüste vergrößern und die bisschen vor meinen Kumpels zu fle­ nicht mag. Und meine Frau und ich
Nase verkleinern zu lassen. Er habe xen. Um zu zeigen: Ich umgebe mich haben überlegt, wie wir ihm das er­
Frauen, auch in seinem näheren nur mit schönen Frauen. Keine Ah­ klären können, was er jetzt tun sollte.
Arbeitsumfeld, zu Sexobjekten de­ nung. Warum erzählt man sonst so Und dann habe ich gemerkt, ich weiß
gradiert. eine Scheiße? gar nicht, ob ich überhaupt in der mo­
Kool Savas hat sich keinen Anwalt SPIEGEL: Das müssen Sie mir sagen! ralischen Position bin, um ihm da jetzt
genommen, und er hat sich bereit er­ Savas: Aus Unsicherheit vermutlich irgendetwas mitgeben zu können. Ich
Juror Savas (r.)
klärt, über seine Verfehlungen zu re­ beim Halbfinale von
auch. Weil man dumm ist. Die Frau habe angefangen, über Männlichkeit
den. Das ist ungewöhnlich in diesen »The Voice of schrieb mir, dass sie dieser Vorfall be­ nachzudenken, darüber, wie ich
Zeiten und in dieser Debatte. Norma­ Germany« 2023: stimmt 10 oder 15 Jahre begleitet hat, Frauen behandelt habe. Und da muss
lerweise stehen sich zwei Fronten un­ »Mir wurde bei­ das war richtig scheiße für ihr Selbst­ ich zu dem Ergebnis kommen: Ich
gebracht, sich
beweglich gegenüber. Seine einzige gerade zu machen,
wertgefühl. Das wollte sie mir mit­ habe Fehler gemacht, und ich habe
Bedingung war es, seine Aussagen wenn man teilen. Ich habe mich dann bei ihr mich absolut unkorrekt verhalten. Ich
autorisieren zu dürfen, was bei Inter­ Scheiße gebaut hat« entschuldigt. Und auch wenn es dumm war ein Arschloch. Und deswegen bin
views üblich ist.
Fragt man ihn, wie es ihm gehe,
sagt er: »Nun ja.« Es ging ihm schon
mal besser. Seine letzte Tour musste
er abbrechen, weil er unter Nieren­
steinen leidet. Es sei sehr viel los ge­
wesen: »The Voice Rap«, wo er in
diesem Jahr in der Jury sitzt, wurde
aufgezeichnet. »Und dann kam auch
noch das alles hier«, sagt Savaş Yur­
deri. »Aber mir wurde beigebracht,
sich gerade zu machen, wenn man
Scheiße gebaut hat. Deshalb lass uns
einfach anfangen.«
Vorher muss er aber noch den No­
tizblock der Reporterin waagerecht
zur Tischkante rücken. Er entschul­
stock / IMAGO / Future Image

digt sich dafür, aber er habe da so


einen Tick. Alle Linien müssen pa­
rallel zueinander sein. Menschen, die

Das Gespräch führte die Redakteurin Nora


Gantenbrink.

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 59


REPORTER

ich jetzt auch bereit, mit Ihnen ins auch damit zu erklären, dass bei uns
Gespräch zu gehen. zu Hause alles sehr politisch korrekt
war. Meinem Vater hat meine Mutter
Savaş Yurderi wurde 1975 in Aachen meine Lieder erst gar nicht vorge-
geboren und ist einer der einfluss- spielt. Der wäre durchgedreht. Mein
reichsten Rapper Deutschlands, der Vater ist Kommunist. Ich wollte schon
selbst ernannte King of Rap. Sein als Kind Markenturnschuhe. Mein
Song »Das Urteil« gilt als berühmtes- Vater fand das alles schlimm.
ter sogenannter Disstrack im deutsch- SPIEGEL: Sie haben eine Leidenschaft
sprachigen Hip-Hop. Ein Disstrack ist für teure Autos. Stimmt es, dass sich
ein Song, in dem man einen Streit mit Ihr Vater geweigert hat, in einen Por-

Yavuz Arslan / ullstein bild


einem anderen Künstler austrägt und sche Cayenne von Ihnen einzusteigen?
ihn verbal bekämpft. Sein kommer- Savas: Ja. Nicht nur da hat er sich ge-
ziell erfolgreichstes Lied ist »Deine weigert. Ich habe ihm mal eine Rolex
Mutter«. Auf Spotify hat er knapp zum Geburtstag schenken wollen, die
2,5 Millionen monatliche Hörer und hat er abgelehnt. Erst als ich ihm gesagt
Hörerinnen. Sechs seiner Alben lande- »Natürlich ging es habe, dass das eine Rolex GMT-Master
ten auf Platz eins in den Musikcharts. ist – dasselbe Modell, was Che Gue-
mir auch um Ego-Pushes.« vara besaß –, hat er sie angenommen.
SPIEGEL: Was, wenn sich nach diesem SPIEGEL: Warum haben Sie Ihren
Gespräch noch sehr viele Frauen Wertekompass verloren?
Rapper Savas in seinem Zimmer in Berlin 1997
melden, die sagen: Savas hat mich Savas: Vermutlich auch, weil man ir-
schlecht behandelt? gendwann nicht mehr so viele Men-
Savas: Dann werde ich mich dafür schen um sich herum hat, die einem
entschuldigen, bei jeder einzelnen. sagen: Dein Verhalten geht nicht.
SPIEGEL: Sind Sie sicher, dass es nicht SPIEGEL: Weil es kein Korrektiv mehr
noch andere Vorfälle gibt? Wir reden gab?
hier nur über verbale Entgleisungen? Savas: Ja. Ich möchte die Schuld nicht
Savas: Ja. Und über egoistisches auf andere schieben, aber irgendwann
Verhalten. machst du einen Haufen Geld. Und
SPIEGEL: Laut eigener Aussagen sind es hat niemand zu mir gesagt: Savas,

B. Erdoedy / Erdoedy Presse & PR


Sie in einem feministischen Eltern- das geht nicht. Wenn halt alle um dich
haus groß geworden. herum dieselbe Mentalität haben,
Savas: Das ist richtig. Bei uns zu Hau- denkst du eben irgendwann, das, was
se regieren die Frauen. Meine Mutter du tust, ist normal.
und meine Schwester. Das sind schon SPIEGEL: Was genau?
Superfeministinnen. Savas: Sexistisches Gerede. Sex mit
Vor seinem Tourbus mit Crew 2006
SPIEGEL: Das Vorwort zu Ihrer Bio- Groupies. Diese Sachen halt.
grafie schreibt sogar Ihre Mutter. SPIEGEL: Mit wie vielen Groupies ha-
Savas: Meine Mutter hat immer ver- ben Sie denn Sex gehabt?
sucht, mir Werte beizubringen. Sie
hatte ein sehr klares Bild davon, was Er überlegt. Erst nennt er eine sehr
richtig ist und was falsch. Meine El- hohe Zahl, dann zieht er sie wieder
tern waren sehr politisch. Meine Mut- zurück.
ter hat immer gesagt, egal was du
machst, alles ist politisch. Savas: Ich weiß es nicht.
SPIEGEL: Wie passt das mit den Texten SPIEGEL: Sie wissen es nicht?
zusammen, die Sie damals gerappt ha- Savas: Es klingt asozial, wenn ich das
ben? Ihr Song »LMS« ist die Abkür- jetzt so sage, aber ich möchte ehrlich
zung für »Lutsch meinen Schwanz«. sein: Für mich waren die Fans, die Sex
In einer der harmlosen Zeilen heißt mit mir wollten, so etwas wie eine
es: »Deine Braut macht auf prüde, gesichtslose, namenlose Masse. Das
doch sie will es, und ich spritz ihr ohne war teilweise wie eine Kerbe im Bett.
Kommentare in die Augen, bis sie Und, ja, irgendwann war halt auch
blind ist. Gott hat mich gemacht, da- alles normal. Das ist so wie beim Dro-
mit ihr seht, was ’n Pimp ist.« gen-Nehmen. Erst schmeißen sich die
Savas: Den Song »Lutsch meinen Leute eine Pille, später zwei, irgend-
Schwanz« spiele ich schon lange nicht wann sind drei normal. Das ist irgend-
mehr. Auch das Wort »schwul« be- wann wie ein ausschweifender, un-
nutze ich nicht mehr als Schimpfwort. moralischer, abgefuckter Rausch. Du
Ich möchte das nicht mehr. Und diese stehst auf der Bühne und denkst: Die
B. Erdoedy / Erdoedy Presse & PR

Texte haben meiner Mutter natürlich sind alle wegen mir da, die wollen alle
nie gefallen. Sie fand das unmöglich, dich. Das macht etwas mit dir.
was ich da gerappt habe. Aber ich SPIEGEL: Sind die Frauen wie Tro-
habe immer gesagt, das ist meine phäen für Sie gewesen?
Kunst. Das bin ich ja nicht, der da re- Savas: Das ist ekelhaft, klar, aber
det, Mama. Und bestimmt war mein In seinem Tourbus 2006 natürlich ging es mir auch um Ego-
Hang zum Extremen, zum Vulgären Pushes.

60 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


REPORTER

SPIEGEL: Begünstigt Berühmtheit ekelhaftes keinen Kontrollverlust mag. Und weil ich in Nicht nur in der Musikindustrie. Was ich
Verhalten? Kreuzberg als Kind zu viele Leute gesehen habe, allerdings falsch finde, ist, dass oft so getan
Savas: Ruhm ist so etwas wie ein emotionaler die an irgendwelchem Zeug krepiert sind. Aber wird, als wäre es im Rap besonders schlimm.
Amoklauf. Und Tour ist noch mal was ande- ein besserer Vergleich fällt mir nicht ein. Das ist Bullshit. Es gibt einfach Machtstruk-
res. Du guckst raus, und da stehen 1000 Leu- SPIEGEL: Haben Sie aufgehört, mit Groupies turen, die in jeder Musikart dominieren, egal
te, und die Hälfte will mit dir rummachen. zu schlafen? ob es Schlager, Rock oder Metal ist. Bist du
SPIEGEL: Hat das etwas Gotthaftes? Savas: Ja, schon lange. Ich habe viel zu spät dort erfolgreich, bist du in gewisser Hinsicht
Savas: Ja. Alles, wofür du dich früher im Le- verstanden, dass man nicht mit Groupies mächtiger als deine Fans. Punkt. Deshalb sage
ben anstrengen musstest, ist auf Tour plötzlich schlafen darf, und finde es heute fahrlässig, ich ja: Es ist ganz generell ein Problem, mit
leicht. Natürlich denkst du irgendwann: Ich überhaupt mit seinen Fans intim zu werden. Fans Sex zu haben.
bin der Krasseste. Auch wenn sie volljährig sind. Ganz einfach SPIEGEL: Der Rapper Bushido hat sich öffent-
SPIEGEL: Haben Sie jemals nicht einvernehm- weil es immer ein Machtgefälle gibt. Früher lich entschuldigt, nachdem vor zweieinhalb
lichen Sex mit Groupies gehabt? war einvernehmlicher Sex für mich einver- Jahren ein Video von ihm aufgetaucht ist, das
Savas: Nein. nehmlicher Sex. Heute würde ich sagen, auch ihn vor etwa 18 Jahren zeigt. Er bedrängt dort
SPIEGEL: Haben alle deutschen Rapper mit was für beide Seiten einvernehmlich ist, kann eine womöglich minderjährige Frau. Er sagte
ihren Fans geschlafen? trotzdem moralisch nicht okay sein. Weil der später in seiner Entschuldigung, dass er nicht
Savas: Das kann ich nicht beurteilen. Ich eine einfach berühmt ist und der andere nicht. wolle, dass seine eigene Tochter einem Typen
möchte auch nicht von mir ablenken. Aber Am Ende ist es eine Illusion zu sagen, dass begegne, wie er einer gewesen sei. Er sagte
ich zumindest kannte keinen Rapper oder Sex zwischen einem Star und einem Groupie auch, dass es zu seinem damaligen »Lifestyle«
Künstler, der keinen Sex mit seinen Fans hatte. gleichberechtigt sein kann. Denn der eine steht gehört hätte, »Mädels abzuschleppen«.
SPIEGEL: Warum? auf der Bühne, der andere himmelt dich an. Savas: Ich habe keine Tochter, sondern einen
Sohn, aber wenn ich mir vorstelle, ich müss-
Savas sieht jetzt aus wie jemand, der darauf Im Sommer 2021 beschuldigte eine Influence- te meine minderjährige Tochter von einem
auch keine gute Antwort weiß. Er deutet ein rin einen Rapper, er habe sie vergewaltigt. Die Konzert abholen, auf dem sie zwei Typen
Schulterzucken an. Anschuldigungen lösten eine Debatte unter backstage vorher einen geblasen hat, be-
dem Hashtag #DeutschrapMeToo aus. Der komme ich Wut. Ich glaube, wir müssten uns
SPIEGEL: Warum behandelt man denn aus- Rapper verlor seinen Labelvertrag, er selbst noch viel mehr damit befassen, das aufzu-
gerechnet die Menschen schlecht, die es gut bestritt die Vorwürfe und wehrte sich dagegen. bereiten.
mit einem meinen? Weil man es kann? Schließlich erwirkte er beim Landgericht Köln SPIEGEL: Wie könnte so etwas konkret aus-
eine Entscheidung, die es der Influencerin ver- sehen?
Auch diese Frage kann Savas nicht beantwor- bietet, ihn der Vergewaltigung zu bezichtigen. Savas: Man müsste sich hinsetzen mit seiner
ten. Oder will es nicht. Er zögert. Zur Begründung schrieb das Gericht: »Bei den Tour-Crowd und den Leuten sagen: Was ist
angegriffenen Äußerungen handelt es sich um damals passiert, und was tun wir dafür, dass
SPIEGEL: Macht es glücklich, mit Groupies zu unwahre Tatsachenbehauptungen bzw. um es nie wieder passiert? Ich glaube, es ändert
schlafen? Meinungsäußerungen mit dem unwahren sich nur was, wenn man darüber spricht und
Savas: Nein. Das ist wie Drogen nehmen. Tatsachenkern, dass der Antragsteller die An- reflektiert und auch bereit ist zu sagen: Sorry,
Macht ja auch nicht langfristig glücklich. Im- tragsgegnerin vergewaltigt habe.« war ein Fehler, das war falsch, und das war
mer nur in dem Moment. Ich glaube, es gibt nicht in Ordnung. Vielen reicht es zu sagen:
da keinen Unterschied: Ob du dir 20 Nasen SPIEGEL: Hatten Sie Angst, als #Deutschrap- Aber wir machen das doch jetzt nicht mehr.
ziehst oder mit 20 Groupies Sex hast. Die MeToo aufkam? So habe ich auch lange gedacht. Aber darum
Dynamik ist dieselbe. Savas: Angst nicht. Aber wie viele andere geht es nicht. Es geht jetzt darum zu sagen,
SPIEGEL: Aber Sie selbst nehmen keine Drogen? wusste ich, was hinter den Kulissen abgeht. was kann ich der nächsten Generation mit-
Savas: Nein. Früher habe ich mal getrunken Ich kannte ja die Backstage-Tourbus-Welt. geben oder den Leuten, die noch nicht sehen,
oder was ausprobiert, aber ich bin schon seit Wir müssen uns nichts vormachen: Wo es dass das falsch war.
Ewigkeiten nüchtern. Ganz einfach weil ich Macht gibt, wird diese auch missbraucht. SPIEGEL: Gibt es diese Leute denn noch?
Savas: Ja klar. Aber ich versuche sie – wenn
möglich – zu umgehen.
SPIEGEL: Mittlerweile gibt es auf vielen Fes-
tivals und Konzerten Awareness-Teams …
Savas: Ja, mittlerweile tut sich viel, und das
ist schön. Zum Beispiel bei Badmómzjay. Das
ist eine ganz andere Liga, das sind junge Leute
mit einem Bewusstsein, das ich damals nicht
besessen habe.

Die Mutter von Savaş Yurderi kommt aus


Aachen, sein Vater aus der Türkei. Seine El-
tern lernten sich im Studium kennen. Sie sind
M.Patzig / snapshot-photography / SZ Photo

Live-Performer politische Aktivisten, ihr Sohn wird 1975 in


Savas auf dem Aachen geboren, sie geben ihm den Namen
Hip-Hop-Festival Savaş, das bedeutet Krieg. Sie entschieden
Splash 2017
sich, zurück in die Türkei zu gehen, um dort
gegen den Militärputsch zu protestieren.
Alles, was seine Eltern damals taten, so er-
innert sich Savaş Yurderi, war immer der
Revolution unterworfen. Yurderis Vater arbei-
tete in einer Druckerei in der Türkei, er wurde
später beim Drucken systemkritischer Flug-

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 61


REPORTER

blätter erwischt und bekam dafür fünf SPIEGEL: Haben Sie sich professionel-
Jahre Gefängnis. le Hilfe gesucht?
Savas: Ich habe das in einer Ge-
SPIEGEL: Ihr Vater wurde wenige Tage sprächstherapie aufgearbeitet. Ich
vor Ihrem sechsten Geburtstag An- glaube, dass wir nie in der Familie
fang 1981 in Istanbul verhaftet. unsere Traumata aufgearbeitet haben.
Savas: Es ist die erste große traumati- Wir haben zwar bestimmte Dinge
sche Erfahrung in meinem Leben. Ich nicht verschwiegen. Aber wir haben
wusste, dass meine Eltern irgendetwas verschwiegen, was das mit uns macht.
Brisantes machen. Auch wenn meine SPIEGEL: Könnten Sie uns ein Beispiel
Mutter versuchte, diesen Teil ihres Le- nennen?
bens vor mir zu verheimlichen. Aber Savas: Mein Vater hat uns erzählt,
Kinder bekommen so was trotzdem wie er gefoltert worden ist. Aber er
mit. Und ich konnte damals ja noch hat nie gesagt, was das emotional mit
Türkisch. Wenn die Anwälte meines ihm gemacht hat. Er hat das immer
Vaters anriefen, habe ich schon ungefähr ganz kühl erzählt, fast technisch. Er
verstanden, dass es nicht gut aussah. hat nie geweint. Bei uns zu Hause
SPIEGEL: Aus Angst, dass sie auch ins wurde zwar viel gesprochen, aber
Gefängnis muss, ist ihre Mutter mit nicht über Emotionen.
Ihnen im Zug zurück nach Deutsch- SPIEGEL: Würden Sie sich heute als
land geflüchtet. Sie hatte Ihnen zuvor »Mein Vater hatte glücklich bezeichnen?
gesagt, dass sie nicht Türkisch im Zug Savas: Glück ist ein großes Wort. Ich
sprechen sollen. Danach haben sie nie Folter erlitten. würde sagen: Ich bin zufriedener.

Peter Rigaud / DER SPIEGEL


wieder Türkisch gesprochen. Und ich weiß heute, welche Sachen
Savas: Ja. Ich spreche auch kein Tür- Ich wollte Nike- mich zufrieden machen. Und das sind
kisch mehr. Nur noch Deutsch. Ich vor allem mein Sohn, meine Frau und
bin, was meine Identität betrifft, im- Turnschuhe.« meine Familie. Ich bin jetzt 48, ich
mer zerrissen gewesen. Für die ande- habe keine unrealistischen Ziele
ren Kinder in Kreuzberg war ich ein mehr. Ich werde auch nicht mehr der
Bastard, der auf die Fresse bekam, Künstler Savas immer größer und mächtiger, als ich nächste Eminem oder irgendetwas.
ausgegrenzt und drangsaliert wurde. bei Fotoshooting es selbst war. Ich gehe auf keine Tour dieser Welt
in Berlin
Denn richtig deutsch war ich auch mehr. Ich mache nur noch Wochen-
nicht. Ich war ein sogenannter Al- Savaş Yurderi alias Kool Savas be- endauftritte. Ich kann nicht mehr
man-Kanake, gehörte nirgends dazu, ginnt in West-Berliner Kellern zu rap- jeden Tag unterwegs sein, mich mies
hatte wenig Freunde. Obwohl, das pen. Er war Teil der Rapformation ernähren. Ich möchte nicht mehr die
stimmt nicht. Ich hatte am Anfang Westberlin Maskulin. Leute, die bei Nächte durchmachen. Die Zeiten sind
eigentlich gar keine Freunde. seinen ersten Auftritten dabei waren, vorbei. Ich möchte einfach allein zu
SPIEGEL: Wie war Ihr Ankommen sagen, Savas habe dort den Eindruck meinen Auftritten fahren, in einem
dann in Deutschland? erweckt, als würde er um sein Leben Hotel pennen, auftreten und danach
Savas: Schrecklich. Wir waren zu- rappen. Kool Savas bedeutet Kalter wieder zurück zu meiner Familie fah-
nächst in Aachen, gerade als ich mich Krieg. Viele seiner Texte handeln da- ren. Und ich möchte, dass mich Frau-
dort eingelebt hatte, sind wir nach von, dass man an sich glauben müsse. en nicht für ein Arschloch halten. Weil
Berlin gezogen. Es war alles seltsam. Dass man es trotz Widerständen bis ich glaube, dass ich eigentlich keins bin.
Mein Vater war nicht da. Meine Mut- nach ganz oben schaffen könne, auch SPIEGEL: Ihr Sohn ist neun Jahre alt.
ter allein. Ich zwischen den Stühlen. wenn man von ganz unten kommt. Auch er hat schon auf der Bühne ge-
SPIEGEL: Sie sind in Berlin mit Ihrer Kool Savas sagt, das, was für seine rappt. Haben Sie Angst, dass sich Ihr
Mutter in einer heruntergekommenen Eltern immer die Politik war, sei für Verhalten bei ihm als Rapper wieder-
Altbauwohnung mit Kohleofen auf- ihn Hip-Hop gewesen. holen könnte?
gewachsen. Savas: Gerade interessiert sich mein
Savas: Die Abwesenheit meines Vaters SPIEGEL: Als Kool Savas machten Sie Sohn eh mehr für Fußball als fürs
war für mich schwer zu ertragen, auch sich in Berlin schnell einen Namen. Rappen. Ich sag mal so: Ich bin nicht
für meine Mutter. Nach seiner Freilas- Machte der Erfolg Sie glücklich? böse drum. Und ich gebe ja dieses
sung war mein Vater zwar wieder da, Savas: Ich war, ehrlich gesagt, in mei- Interview auch für ihn. Für eine neue
aber es wurde nicht einfacher. Mein nem Leben nie richtig happy. Ich war Generation Jungs, die es nicht nötig
Vater hatte Folter erlitten. Ich wollte immer depressiv, verstimmt. Meine hat, so zu sein, wie ich mal war.
Nike-Turnschuhe. Dazu kam, dass ich Mutter und meine Schwester haben oft SPIEGEL: Sie sagten, Sie seien früher
außerhalb des Rappens nichts hinbe- zu mir gesagt, warum siehst du nicht, gemobbt und gedemütigt worden. Am
kam. Ich habe meinen Hauptschulab- was du alles hast? Du siehst nie die Ende haben Sie ja mit vielen Frauen
schluss nicht geschafft, eine Lehre für guten Dinge. Ich habe mal längere Zeit in ihrem Umfeld dasselbe gemacht.
Hauswirtschaft geschmissen. Mit 16 zog bei meinem besten Freund Dirk in Savas: Ja. Und vielleicht würde ich mir
ich aus und wurde von einem Sozial- Heidelberg gewohnt, und dann hing deshalb auch wünschen, dass diejeni-
arbeiter betreut. Ich war sehr verloren. ich bei ihm auf einer Matratze. Dirk gen, die mir damals das Leben schwer
SPIEGEL: Als Sie anfingen zu rappen, hat irgendwann gesagt: Ich gehe jeden gemacht haben, jetzt auch hier vor mir
haben Sie da gemerkt: Hier bin ich gut? Tag von morgens bis abends malochen, sitzen und sich entschuldigen würden.
Savas: Es war sogar ein: Hier bin ich und du hängst nur hier rum, bis du SPIEGEL: Würden Sie ihnen verzeihen?
besser als die anderen. Ich bin zum wieder einen Auftritt hast, aber ehrlich Savas: Vielleicht.
ersten Mal besser. Ich erfand mein gesagt, komme ich mir glücklicher vor SPIEGEL: Herr Yurderi, wir danken
Alter Ego Kool Savas. Diese Figur war als du. Ihnen für dieses Gespräch. n

62 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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REPORTER

nördlich von Gaza. Seine Frau bot uns


holländisches Weihnachtsgebäck an,
er hielt seine Laptopkamera in den
Abendhimmel von Jaffa, wo die Sonne
im Meer versank. Es sah schön aus in
seiner Heimatstadt, aber mein Nach-

Zug nach Nirgendwo bar wirkte unglücklich, am falschen


Platz. Er erkenne seine alten Bekann-
ten nicht mehr wieder, sagte er.
»Jede Unterhaltung beginnt mit
LEITKULTUR Alexander Osang fragt sich, wo er sein möchte, dem Geständnis: ›Du weißt ja: Ich bin
wenn die Welt untergeht. ein Liberaler.‹ Und dann wollen sie
sofort Gaza ausradieren.«
Ich ahnte, wovon er redete. Ich
etzte Woche war ich zum ersten stand neulich gegen halb zwei mit
L Mal in meinem Leben in Min-
den. Es wurde gerade dunkel,
und es war sehr kalt. Meine Frau und
einem Kumpel in einer Bar in der
Prenzlauer Allee, dem »Luxus«.
Auch ein Liberaler, aus Ost-Berlin.
ich kamen aus Amsterdam, wo wir Mein Freund erklärte mir, dass er die
das Van Gogh Museum besucht hat- Palästinenser aus Gaza vertreiben
ten sowie unsere ehemaligen Tel Avi- würde. Sie hätten ihre Chance gehabt
ver Nachbarn, die mit ihrer Tochter und nicht genutzt. Ich war gerade aus
zwischen zwei Coronawellen in die dem trauernden Israel zurückgekom-
Niederlande gezogen waren. men, argumentierte aber wie ein
Wir fuhren mit dem Zug nach Hau- Unterhändler aus Katar. Nachts um
se. Es gibt kaum ein befriedigenderes halb zwei im »Luxus« auf der Prenz-

Alexander Osang / DER SPIEGEL


Gefühl, als an einem Wintermorgen lauer Allee.
pünktlich in einem gut geheizten Ab- Wieso also nicht in Minden die
teil eine Bahnreise anzutreten, finde Welt untergehen sehen, an der Seite
ich. Amsterdam franste aus, struppi- meiner Frau.
ge Landschaften, Kanäle, Schafe, es Peter Hahne ist aus Minden, ein
wirkte, als könnte man den Häusern Evangelikaler, der früher das »heute
dort draußen bei ihrer Deutschwer- journal« moderiert hat. Der Mann
dung zuschauen. für die finale Ansage. Meine Damen
An der Grenze hielten wir für zehn Hannover war 70 Kilometer ent- Winterabend und Herren: Das war’s. Kein Wetter-
Minuten, ich lief zum Speisewagen, fernt, klang inzwischen aber wie ein auf dem Bahnhof bericht mehr für morgen. Amen.
Minden
um mir einen Kaffee zu holen. Ort auf der anderen Seite des Ozeans. Dann aber fuhr überraschender-
»Wir haben keinen Strom«, sagte Dort wurde unser Schicksal entschie- weise ein ICE ein, der uns im Fahr-
die Frau und verließ die Bordküche. den. Wie zu Gerhard Schröders Zei- radtempo nach Hannover brachte.
»Dann nehm ich nur ein Wasser«, ten. Sie hätten »Wind of Change« von Dort rief ein neuer Zugbegleiter
sagte ich. den Scorpions über die Bahnhofs- durch die Anlage, dass er keinen Zug-
Sie trat auf den Bahnsteig, zünde- anlage spielen können, Hannovers führer mehr habe. Er gehe ihn suchen.
te sich eine Zigarette an und rief von Hausband. Wir hatten jetzt sechs Stunden Ver-
da: »Später«. Vor zwei Wochen be- Vor ein paar Jahren strandete spätung. Eigentlich sollte morgen ein
stellte ich an der Hotelbar in Duisburg ich einmal mit Schröders Parteifreund Streik der Bahn beginnen. Ich hätte
nach einem langen Tag ein Bier. Der Sigmar Gabriel in der Nähe von dem Bahngewerkschaftsführer aus
Barkeeper sagte gleichgültig: »Keine Braunschweig, wo es überraschender- Sachsen gern seinen Schnurrbart ab-
Zeit«. Mir wurde nur ein Getränk ver- weise einen Flughafen gab. Wir ka- rasiert, während ich »Es fährt ein Zug
wehrt, aber ich hatte das Gefühl, die men aus Israel und sollten eigentlich nach Nirgendwo« singe.
Apokalypse naht. Ich bin ein bisschen in Berlin landen, aber Gabriel diri- Die Zeit verrinnt, die Stunden
dünnhäutig gerade. gierte die Maschine spontan um, weil gehen / Bald bricht ein neuer Tag
Der Zug kam pünktlich in Deutsch- Braunschweig näher an seiner Hei- heran / Noch ist es nicht für uns
land an, er hielt planmäßig in Minden, matstadt Goslar lag. Er stieg in eine zu spät / Doch wenn die Tür sich
fuhr von dort aber nicht mehr weiter. Limousine, ich blieb mit dem israeli- schließt, was dann?
Es hieß, in Hannover sei ein Strommast schen Botschafter und Gabriels Spre- Der verzweifelte Zugbegleiter mel-
umgefahren worden. Nach anderthalb cher in der Dunkelheit zurück. dete sich zurück: Er hatte einen Zug-
Stunden wurden wir aufgefordert, den Julia Roberts sagt, wenn die Welt führer gefunden. Er entschuldigte sich
Zug zu verlassen, um in einen ICE untergeht, hätte sie gern viel Alkohol, bei uns. Er sagte, sein Name sei Frank
umzusteigen, der allerdings nicht kam. Schokoladenkekse und ihre Familie Novak, er dürfe eigentlich nicht mehr
Es gab verschiedenen Durchsagen, es in der Nähe. Aber das ist »Pretty Wo- arbeiten, weil er schon zu lange im
wurde kälter. Eine Frauenstimme er- man«. Hannover Einsatz sei. Aber er sei 30 Jahre bei
klärte, dass wir uns zum Aufwärmen Am Abend zuvor hatten wir im klang inzwi- der Bahn und bringe uns jetzt nach
in unseren Amsterdamer Zug zurück- Amsterdamer Wohnzimmer meines Hause. Es sei eine Frage der Ehre. Das
ziehen sollten, der immer noch auf dem ehemaligen israelischen Nachbarn schen wie ein war der amerikanische Moment des
Gleis herumstand. Sie nannte ihn nun gesessen, während der selbst aus Tel Ort auf der Abends. I’m gonna fly you home,
den »Hotelzug«. Kein gutes Zeichen. Aviv zugeschaltet war, wo er kurz folks.
Es gebe keine Neuigkeiten aus Hanno- hinreiste, um irgendwelche Wasser- anderen Seite Die Welt war erst mal gerettet. Der
ver, sagte die Frau. schäden zu regeln, 70 Kilometer des Ozeans. Messias heißt Frank Novak. n

64 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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WIRTSCHAFT

Kay Niet feld / dpa


Bundesfinanzministerium in Berlin

Mehr Spielraum für Lindners Nachfolger


HAUSHALT Nach dem Karlsruher Richterspruch macht der Bund 200 Milliarden Euro weniger
neue Schulden als geplant. In den nächsten Legislaturperioden sinken deshalb die Tilgungsraten.

D as Urteil des Bundesverfassungs­


gerichts zum Klima­ und Transfor­
mationsfonds (KTF) verschafft dem
Bundeshaushalt deutlich mehr Finanzie­
Vorgaben der Grundgesetzregel aussetzte.
Diese Mittel parkte er zum Teil in Neben­
haushalten, die nach dem Karlsruher Urteil
gekürzt oder aufgelöst werden müssen.
den Euro weniger als ursprünglich geplant.
Für die Notlagenkredite aus dem Kernhaus­
halt, die im Wesentlichen aus der Pande­
miezeit stammen, beginnt die Rückzahlung
rungsspielraum – allerdings erst in den Dazu zählen 60 Milliarden Euro nicht ge­ 2028 in 31 Jahresraten. Alljährlich werden
nächsten Legislaturperioden. Grund dafür nutzter Coronahilfen, die Finanzminister rund neun Milliarden Euro fällig. Das Bun­
ist, dass der Bund nach dem Richterspruch Christian Lindner (FDP) zunächst in den desfinanzministerium (BMF) hatte für die­
viel weniger Notlagenkredite aufnehmen KTF verschob. Wegfallen werden auch sen Zeitraum ursprünglich Rückzahlungs­
darf, und später entsprechend weniger 183 Milliarden Euro an Notlagenkrediten aus raten von 11,6 Milliarden Euro angesetzt.
tilgen muss. Laut Berechnungen der Bun­ dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) Die Tilgung der Notlagenkredite aus
desbank beliefen sich die Notlagenkredite und dem Fluthilfefonds für das Ahrtal. dem WSF setzt 2031 ein mit einer zusätz­
ursprünglich auf 538 Milliarden Euro, Gegengerechnet werden hingegen lichen Jahresrate von zwei Milliarden Euro.
nun sinken sie auf 340 Milliarden Euro. 45 Milliarden Euro an frischen Notlagen­ Hierfür hatte das BMF zuvor 5,8 Milliarden
In den vergangenen Jahren durfte der krediten für das laufende Jahr, mit denen Euro veranschlagt. Insgesamt beläuft sich
Bund viel mehr neue Kredite aufnehmen als Lindner nach dem Urteil im Nachhinein die die Ersparnis also auf 6,4 Milliarden Euro
von der Schuldenbremse vorgegeben, weil er Entnahmen aus den Nebenhaushalten lega­ im Jahr. Diesen Spielraum können künftige
wegen Coronapandemie und Ukrainekrieg lisierte. So bleiben am Ende 340 Milliarden Finanzminister einsparen oder investieren.
eine Notlage erklärte und damit die engen Euro, die zur Tilgung anstehen, 198 Milliar­ Oder sie könnten die Abgabenlast senken. REI

66 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


Signa Prime bereitet Lücke bei Wohnkostenlücke: Sie betrug
im Durchschnitt 94 Euro pro
Insolvenz vor den Wohnkosten Monat. Die Lücke hat sich
BENKO-IMPERIUM Nach dem BÜRGERGELD Eigentlich sollen im Vergleich zu den Vorjahren
Insolvenzantrag der Signa Hol- Empfänger von Bürgergeld vergrößert. 2021 lag sie bei
ding des österreichischen Im- (früher Hartz IV) die Kosten für 91 Euro, 2020 bei 87 Euro.
mobilienjongleurs René Benko Unterkunft und Heizung voll- »Wegen zu hoher Mieten zah-

Fabian Sommer / dpa


stürzt eine Tochterfirma nach ständig ersetzt bekommen. len Menschen mit Bürgergeld
der nächsten in die Insolvenz. Doch bei 337.518 sogenannten häufig drauf, denn die Erstat-
In Kürze trifft es offenbar auch Bedarfsgemeinschaften bun- tung der Kosten der Unterkunft
die wichtigste Sparte, Signa Luxuskaufhaus in Berlin desweit sind die tatsächlichen reicht nicht aus«, sagt Susanne
Prime, in der Benko seine Im- Wohnkosten höher als die Ferschl, Bundestagsabgeordnete
mobilien-Filetstücke wie das verfahren, heißt es. Ihre Schul- offiziell erstatteten. Dies geht der Linken. Damit bestehe
KaDeWe, den Elbtower und das den wurden beim Insolvenz- aus der Antwort der Bundes- die Gefahr der Unterschreitung
Wiener »Goldene Quartier« ge- antrag mit fünf Milliarden Euro regierung auf eine kleine des Existenzminimums. Im
bündelt hat. Das Management beziffert, nach knapp zwei Mil- Anfrage der mittlerweile auf- Süden Bayerns ist die Wohn-
der Signa Prime bereite eine In- liarden noch Ende 2022. Ein gelösten Linksfraktion hervor. kostenlücke mit rund 130 bis
solvenz in Eigenverwaltung vor, Grund für die Differenz: Die Insgesamt 2,5 Millionen 210 Euro pro Monat besonders
berichten Insider. Derzeit werde Holding hatte für Töchter Haf- Bedarfsgemeinschaften er- hoch, aber auch in Berlin und
unter Hochdruck an einem tungszusagen gegeben, die nun hielten laut Bundesagentur für Potsdam. Häufig übernehmen
Sanierungsplan gearbeitet, mit einkalkuliert werden mussten. Arbeit im Jahr 2022 Geld vom die Behörden sogar die Wohn-
dem das Gericht von dieser In- »Das schlägt voll nach oben Staat für Miete und Heizung. kostenlücke – allerdings oft
solvenzform überzeugt werden durch«, sagt ein Insider. Fragen Bei 13 Prozent der Empfänger erst nach einer Einzelfallprü-
müsse. Durch sie, so die Hoff- wirft auch der Wert des Hol- bestand eine sogenannte fung. HDA
nung, ließen sich Vermögens- ding-Vermögens auf. Ende 2022
werte retten. Unklar sei, ob der mit 6,1 Milliarden Euro kalku-
Plan gelinge. Ein Insolvenzan- liert, legt der Insolvenzantrag Teures Wohnen
trag werde innerhalb der nächs- nur noch 2,8 Milliarden Euro zu Mittlere Differenz aus tatsäch-
lichen Kosten für Unterkunft Hamburg
ten zwei Wochen erwartet. Sig- Ende September offen. Nicht und Heizung und den offiziell 90 Euro
na gab keinen Kommentar. Je nur der Wert der größeren Fir- anerkannten* bei Bürgergeld-
mehr Vermögenswerte erhalten mentöchter sank, auch der von empfängern, in Euro pro Monat Berlin
blieben, umso eher überstehe nicht näher genannten »ver- 149 Euro
auch die Holding ihr Insolvenz- bundenen Unternehmen«. KIG
36 235

Klimaschädlicher nis kommt der Energiekonzern Wuppertal


36 Euro München
E.on in einer neuen Berech-
Paketversand nung. Die Menge entspricht gut
210 Euro

LIEFERVERKEHR Der Aufstieg 0,4 Prozent aller Treibhausgas- Landkreis


des Onlinehandels lässt die emissionen des Verkehrssektors * falls tatsächliche Kosten höher sind Ebersberg
S Quelle: Bundesagentur für Arbeit, 235 Euro
CO2-Emissionen im Verkehrs- in Deutschland. Tatsächlich sind

Kartenmaterial: OSM
sektor steigen – dabei ginge es die Paketdienste mit der Elek-
auch anders: Wenn die Paket- trifizierung ihrer Flotten unter-
dienste in Deutschland sämt- schiedlich weit. DHL zählt von »Politisches ein politisches Geschenk für die
liche Diesellieferwagen durch 60.800 Zustellfahrzeugen hier- Kommunistische Partei«. Der
elektrische Transporter ersetzen zulande mehr als 25.000 mit Geschenk für die KP« Anthropologe Adrian Zenz, der
und diese mit Ökostrom laden E-Antrieb; die meisten davon VOLKSWAGEN Auch nach einer zu Umerziehungslagern in Xin-
würden, könnte die Republik sind Fabrikate der früheren Überprüfung des umstrittenen jiang forscht, kritisierte die von
etwa 632.000 Tonnen CO2 pro Tochterfirma Streetscooter. Für VW-Werks im chinesischen VW beauftragte Überprüfung
Jahr sparen. Zu diesem Ergeb- Hermes sind laut Unterneh- Ürümqi reißt die Kritik daran als »völlig unzureichend«. Die
mensangaben gut 770 Stromer nicht ab. Zwar sei es gut, dass Auditoren hätten in erster Linie
unterwegs, bei insgesamt mehr der Autokonzern unabhängige Arbeitsverträge der dortigen
als 10.000 Zustelltouren täglich. Prüfer in die Fabrik in der Un- Mitarbeiter geprüft. »Staat-
GLS meldet etwa 650 E-Liefer- ruheregion Xinjiang geschickt licher Zwang oder Zwangsarbeit
wagen, was mehr als zehn habe, sagt die EU-Parlamenta- können methodisch gesehen so
Prozent der Flotte entspreche. rierin Viola von Cramon-Tauba- gar nicht erfasst werden.« Seit
UPS spricht von etwa 100 rei- del (Grüne), Stellvertreterin in Jahren steht VW in der Kritik,
nen E-Fahrzeugen unter ins- der Delegation für die Bezie- weil der Autobauer gemeinsam
gesamt 3100 eigenen Trans- hungen zur Volksrepublik Chi- mit dem chinesischen Staats-
Moritz Frankenberg / picture alliance / dpa

portern in Deutschland. Hinzu na. Dennoch wäre VW aus ihrer konzern SAIC ein Werk inmit-
kommen jeweils noch Lasten- Sicht gut beraten, den Standort ten einer Region betreibt, in der
räder. DPD verortet den Anteil »komplett zu schließen«. Das die ethnische Gruppe der Uigu-
der Stromer innerhalb der eige- kleine Werk besitze »keinen ren unterdrückt und in Lagern
nen Flotte »im einstelligen Pro- betriebswirtschaftlichen oder kaserniert wird. VW teilte am
zentbereich«. Passende Wagen strategischen Wert für das Un- Dienstag mit, die Auditierung
Mitarbeiter in zu bekommen sei eine große ternehmen und seine Produk- habe »keine Anzeichen für
Logistikzentrum Herausforderung, heißt es aus tion in China«, es wirke vor al- Zwangsarbeit innerhalb des
der Branche. BEM lem »wie ein Feigenblatt oder Standorts« ergeben. GIE, SH

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

Aufholjagd im Valley
DIGITALKONZERNE Google galt lange als führend bei der künstlichen Intelligenz.
Dann kamen Microsoft und ChatGPT und ließen den Giganten alt aussehen.
Eine neue Super-KI soll ihn jetzt wieder nach ganz vorn bringen. Kommt sie zu spät?

s gibt zwei Möglichkeiten, wenn man


E zeigen will, dass genau jetzt eine neue
Ära beginnen soll: Man doziert, oder
man lässt es krachen. Google lässt es krachen.
Google-Campus in
Mountain View, Kalifornien

Es ist Dienstagmorgen, der 5. Dezember, das


Unternehmen hat ausgewählte Medienver-
treter zu einer Präsentation geladen, die mit
Abstand seine wichtigste des Jahres ist. Es
geht um künstliche Intelligenz (KI), ein The-
ma, bei dem bislang andere die Schlagzeilen
bestimmt haben. Google will das ändern,
muss das ändern. Die neue KI, Gemini ge-
nannt, soll das Unternehmen fürs Erste wie-
der an die Spitze katapultieren.
Auftritt Mark Rober. Der YouTuber – 28 Mil-
lionen Fans – und frühere Nasa-Ingenieur soll
zeigen, was die Software draufhat. Dazu tritt er
in den Dialog mit Googles Chatbot Bard, der
frisch mit Gemini aufgerüstet wurde. Aufgabe:
Lass uns zusammen ein Videoprojekt planen.
Und Bard legt los.
Der Chatbot hält sich nicht mit Kleinkram
auf. Er schlägt vor, gemeinsam den besten
Papierflieger der Welt zu bauen, und liefert
dazu gleich die Anleitung und den Plot für das
Video: Eine übergroße Papier-Concorde solle
durch einen brennenden Reifen fliegen. Musik
und Kunstnebel machen das Ganze dramatisch,
zum Finale gibt’s ein ordentliches Feuerwerk.
Binnen kürzester Zeit ist der potenzielle
Klickrenner für Robers YouTube-Auftritt fer-
tig. Designtipps, Hilfe bei der Fehlersuche,
physikalische Erklärungen zum Flugverhalten
inklusive. Bard hat alles parat und erscheint
als perfekter Kompagnon, dank der mächti-
gen KI mit ihrem umfassenden Wissen im
Hintergrund.
Crash, Boom, Bang. Mission erfüllt?
Eli Collins ist der Mann, der das Gemini-
Projekt bei Googles KI-Schmiede DeepMind
verantwortet. Er ist es auch, der vom »Beginn
einer neuen Ära« spricht. Natürlich weiß er
erst mal nur Gutes zu sagen. Googles Mission
sei es, die Informationen der Welt »nutzbar
und zugänglich« zu machen. Mit Gemini
komme man diesem Ziel einen großen Schritt
näher, sagt Collins: sparsamer bei den Res-
sourcen, schneller bei der Berechnung, in der
Lage, Text, Bilder und Audioinformationen
zu verarbeiten. Man stelle hier die »größte
und fähigste« KI vor, die es je gegeben habe.
Dann jedoch kommt er zu den Ein-
schränkungen: Insbesondere für die mäch-

68 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


WIRTSCHAFT

tigste Gemini-Version stünden noch Si- Google, das war lange der Inbegriff der mer drei hinter Amazon und Microsoft. Selbst
cherheits- und Leistungstests an. Bilder, Silicon-Valley-Avantgarde. Mittlerweile wirkt das Rennen um die KI-Chips der Zukunft wird
Audios und Videos könne das Programm es mitunter, als ob die wichtigste Tochter des jeden Tag enger. Es droht nicht mehr nur an
zwar bereits erkennen, aber noch nicht selbst Alphabet-Konzerns einigen Schlüsseltechno- Nvidia, Intel, AMD zu gehen – sondern in-
erzeugen. Außerdem spreche und verstehe logien der Zukunft hinterherläuft. zwischen ebenfalls an Microsoft.
die KI derzeit nur Englisch gut genug. Alles Vor allem bei der sogenannten generativen Platz drei, das wäre für manchen ein schö-
Weitere dann im kommenden Jahr, »stay KI, die Texte, Bilder und Töne auf Komman- ner Erfolg. Für Alphabet ist es eine Schmach.
tuned«. do erzeugt, stehlen Konkurrent Microsoft, Ein Vierteljahrhundert lang dominierte, ja
Crash? Boom? Bang? aber auch kleine Start-ups dem Weltkonzern beherrschte der Konzern die Entwicklung des
Zurück bleiben vor allem Fragen. Ist Ge- aus Mountain View die Show. Im einträg- Internets. Und wurde sehr reich damit. Die
mini Googles dringend benötigter KI-Gegen- lichen Cloudgeschäft, in dem Speicherplatz Suchmaschine machte das Netz für die breite
schlag, der lange erwartete große Wurf? Oder und Rechenleistung auch für KI-Anwendun- Masse bequem nutzbar, weil es cleverer durch
musste da schnell etwas präsentiert werden, gen in gigantischen Rechenzentren bereit- die Datenmassen pflügte als alle anderen.
das in Wahrheit kaum marktreif ist? gestellt werden, ist Google nur noch die Num- Nebenbei verstanden es die Gründer Sergey
Brin und Larry Page, den Verkauf von An-
zeigen und Nutzerdaten genial zu Geld zu
machen. Schritt für Schritt dehnten sie ihr
Geschäft – und ihre Marktmacht – immer
weiter aus. Google bietet heute Kartendiens-
te, E-Mail, den Browser mit dem weltweit
größten Marktanteil, Sprachassistenten, Bü-
rosoftware, einen Navigationsdienst und eige-
ne Smartphones mit dem hauseigenen An-
droid-Betriebssystem. Und natürlich kommt
in alldem seit Jahren auch KI zum Einsatz.
Es ist gut zwei Dekaden her, dass Google
erstmals derlei Technologie in seine Produkte
einbaute. KI korrigiert seit Anfang des Jahr-
tausends Fehler bei der Eingabe ins Suchfeld
und machte die Ergebnisse so präziser. 2006
kam der Übersetzungsdienst Google Translate
auf den Markt, 2016 bezwang Googles KI-
Reich durch Anzeigen System AlphaGo einen koreanischen Welt-
klassespieler des Strategiespiels. Google wer-
Umsätze von Alphabet, in Milliarden Dollar de eine »AI first Company«, ein Unternehmen,
Werbeeinnahmen sonstige Umsätze in dem künstliche Intelligenz an erster Stelle
282,8 stehe, prophezeite der im Vorjahr neu als Vor-
standsvorsitzender eingesetzte Sundar Pichai.
200 So ging es weiter: 2018 buchte eine Goo-
gle-KI aus dem Projekt Duplex telefonisch
Termine beim Friseur. Die Computerstimme
100
klang beeindruckend echt, für viele Menschen
gruselig echt, zumal sie sich anfangs nicht als
0 Software zu erkennen gab. »Das ist grauen-
2018 2019 2020 2021 2022 voll und so offensichtlich falsch«, prangerte
S Quellen: Refinitiv, Alphabet die Soziologin Zeynep Tufekci das Vorgehen

zu jener Zeit an.


Es folgten Produkte wie Lens und Hum to
Search, bei dem eine KI den Song erraten
kann, den ein Mensch summt. Heute verschö-
nert intelligente Kamerasoftware in Googles
Pixel-Smartphones mittelmäßige Aufnahmen,
schreibt eine Software automatisch Transkrip-
te zu YouTube-Videos. Und vor wenigen Ta-
gen verkündete die Forschungsabteilung Goo-
gle DeepMind, man habe mit KI die hypo-
thetischen Strukturen von mehr als zwei
Millionen neuen Materialien berechnet. Da-
von könnten den Angaben zufolge rund
400.000 Stoffe demnächst in Laboren her-
gestellt werden und dadurch die Entwicklung
neuer Batterien, Solarzellen und Computer-
chips beschleunigen.
Und doch dürften die meisten Menschen
Noah Berger / AFP

beim Begriff künstliche Intelligenz nicht zu-


allererst an Google denken.
Den entscheidenden Moment, um das
Thema zu einem Geschäft für die breite

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 69


WIRTSCHAFT

Wie konnte es so weit kommen?


Fragt man Brian Kihoon Lee, dann
ist ein großes Problem die Mentalität:
Bei Google werde, ganz im Sinne der
Investoren, das Risiko gestreut, man

Jason Andrew / The NewYorkTimes / Redux / laif


setze auf große Hits, lasse dafür
kleinere Produkte sterben, selbst
wenn sie unter Nutzerinnen und Nut-

Winni Wintermeyer / Redux / laif


zern beliebt sind. »Die Geschäftsleu-
te und die Produktmanager haben das
Unternehmen übernommen«, sagt er.
Bis vor einem halben Jahr war Lee
selbst Teil der Truppe, die sich um
Googles Zukunft kümmerte. Dann
wurde er entlassen und heuerte bei
einem KI-Start-up an, gegründet von
zwei anderen Ex-Googlern. Schon
zuvor hatte er mit der Art und Weise
gehadert, wie das Unternehmen sein
KI-Potenzial verschenke. Und das sei
ja riesig: Der Konzern sei ein »Paral-
leluniversum voller Genies«.
Diese finden sich etwa in Gebäude
1900 auf dem eher uncoolen, alten
Teil des Google-Campus. Rote Fassa-
de, schmale Flure, ein deutlicher
Gegensatz zum weltbekannten Goo-
gleplex aus Glas und Stahl. Elizabeth
Reid führt in einen unscheinbaren
Felix Brüg gemann

Konferenzraum, auf dem Tisch Ge-

Peter Prato
tränke in Dosen: Coke, Coke light,
Mineralwasser. An der Wand eine
Präsentation: die Geschichte der
Masse zu entwickeln, hat das Unter- Produktivitätsschub für Wissenschaft Google-Führungs- Google-KI. Ein Foliensatz voller
nehmen verpasst – obwohl es selbst und Wirtschaft. kräfte Pichai, Reid, Weltneuheiten und Durchbrüche.
Petrov, DeSalvo:
der Ausgangspunkt war. 2017 ver- Und Google? Hat zu der Party ein- Die Such-Geld-
Es ist Reids Antwort auf die Frage
öffentlichte ein Google-Forschungs- geladen und sogar für die Drinks ge- Maschine muss nach Googles Zukunft. Und sie lässt
team jene Studie, die den heutigen sorgt. Aber die anderen tanzen ein- weiterlaufen nicht nur lang, sondern auch tief bli-
Boom der generativen KI begründe- fach besser. cken: Wo wollen Sie hin? Wo kom-
te. »Attention is All You Need« lau- An den Voraussetzungen kann es men wir her? Das ist keine Rhetorik.
tete der Titel: Alles, was du brauchst, kaum liegen. Die sind fast nirgendwo Das ist in vielen Gesprächen mit
ist Aufmerksamkeit. Sie beschrieben besser. Allein im abgelaufenen Googlern Programm. Enthusiastisch
darin das sogenannte Transformer- Quartal verdiente Googles Mutter sprechen sie hier vor allem über die
Modell, die Grundlage für die techni- Alphabet 20 Milliarden Dollar. Hin- eigene Vergangenheit.
sche Entwicklung der Large Language zu kommen Datenberge aus allen Reid ist Googles Vice President
Models, kurz LLM. Google stellte Onlinediensten des Unternehmens, Search. Der von ihr geleitete Such-
dieses Wissen damals für jeden zu- der neben Rechenpower wichtigste maschinenbereich spielt eine entschei-
gänglich ins Netz. Rohstoff für die KI-Entwicklung: dende Rolle bei der Transformation
Die Aufmerksamkeit der Welt- 88 Milliarden Besuche pro Monat des Unternehmens. Ohne die Suche
öffentlichkeit bekamen jedoch andere. verzeichnet allein google.com. und die an ihr hängenden Werbeein-
Vor gut einem Jahr stellte die Firma Googles KI-Labor DeepMind in nahmen hätte Google kein Geschäfts-
OpenAI ChatGPT vor – das große T London galt stets als führend, die modell: Kaum fassbare 225 Milliarden
steht für Transformer. Mittlerweile dort entwickelte KI als nobelpreis- Dollar setzte Google im vergangenen
nutzen 100 Millionen Menschen wö- verdächtig. Zumal DeepMinds beste Jahr mit Werbung um. So mancher
chentlich den Dienst. Mit 86 Milliar- Entwickler mitunter siebenstellig EU-Staat hat ein geringeres Brutto-
den Dollar wurde OpenAI zwischen- entlohnt werden. sozialprodukt.
zeitlich bewertet. Eine gigantische Der Suchmaschinenkonzern müss- Für Reid bedeutet das: große
Erfolgsgeschichte, von der vor allem te im KI-Rennen nicht nur in der Spit- Chancen. Aber auch große Verant-
Googles größter Konkurrent Micro- zengruppe mitlaufen, sondern locker wortung. Egal was sie tut, Googles
soft profitiert, der 13 Milliarden Dol- gewinnen. Doch ausgerechnet jetzt, »Das Such-Geld-Maschine muss weiterlau-
lar bei OpenAI investiert hat. wo es darum geht, die generative KI fen. In ihren Augen verbietet es sich
Was da läuft, ist die wohl verrück- vom Spielzeug zum Must-have zu attackiert deshalb, alles, was KI-technisch mög-
teste Wildwestbonanza seit dem gro- machen und in jeder Branche, jeder Googles lich ist, sofort einzuführen. Viel zu
ßen Goldrausch. Milliardenbewer- Industrie, in jedem Wohnzimmer und groß wäre wohl die Gefahr. Was,
tungen entstehen über Nacht, Inves- jedem Smartphone damit Geld zu
Geschäfts­ wenn eine KI die Suchergebnisse
toren, Konzerne und Regierungen verdienen, zeigt Google Nerven. Als modell.« falsch zusammenfasste, Fake News
pumpen riesige Summen in die Tech- wäre man überrascht davon, wie Guido Appenzeller, priorisierte, politische Ereignisse
nologie in der Hoffnung auf einen schnell KI die Welt erobert. Berater falsch einschätzte? Alles schon pas-

70 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


WIRTSCHAFT

siert. Natürlich, sagt Reid also, gehe es bei len. Oder erst einmal im Stillen weiterent- riesig. Die Fortschritte dank KI auch. Man
google.com um eine benutzerfreundliche und wickeln, die »Wissenschaft voranbringen«, könne heute nur mit Augenbewegungen ein
einfache Suche, um gute Antworten. Vor bis man eine Lösung habe, die den eigenen Computerspiel bedienen. Blinden erkläre
allem aber um: Vertrauen. Ansprüchen an Wahrhaftigkeit und Qualität Google Lookout mithilfe der Smartphone-
»Wir haben eine lange Geschichte mit KI. genüge. Er habe damals stark für Letzteres kamera die Welt durch das Vorlesen von Tex-
Aber wir haben auch eine große Verantwor- argumentiert, sagt Petrov. »Wir leben vom ten oder das Beschreiben von Bildern. »Das
tung, wie wir diese Technologie weiterent- Vertrauen der Menschen, wir leben von akku- ist nicht nice to have. Das ist essenziell.«
wickeln. Wir wollen nicht irgendetwas auf raten Suchergebnissen, korrekten Informa- Bei Google Health hoffen sie derweil, mit-
den Markt bringen, nur um etwas auf den tionen, funktionierenden Lösungen. Wir woll- hilfe von künstlicher Intelligenz irgendwann
Markt zu bringen. Wir wollen unseren Nut- ten nichts in unsere Produkte integrieren, das Krebs besser behandeln zu können. Schon
zern einen echten Mehrwert bieten.« nicht reif für die Öffentlichkeit ist.« heute, sagt Leiterin Karen DeSalvo auf dem
Könnte KI gar den Kern der Firma schmel- Waren die anderen also unvorsichtig? Oder Campus in Mountain View, sei es erstaunlich,
zen, die Suchmaschine? Reid will davon nichts mutiger? Petrov schweigt dazu. mit welcher Präzision eine KI Röntgenbilder
wissen. Menschen, argumentiert sie, seien Nach Daten von LinkedIn gehört Google auswerten und Karzinome erkennen könne.
soziale Wesen, wollten gute Angebote und zwar immer noch zu den vier Unternehmen Bald schon werde die Technologie selbstver-
neues Wissen selbst finden, von anderen Men- mit den weltweit meisten KI-Forscherinnen ständlicher Begleiter im medizinischen Alltag
schen und deren Erfahrungen hören – und und -Forschern. Amazon, Microsoft und Meta sein – »und uns allen dabei helfen, gesünder
diese auch weiterhin googeln. aber haben mehr. Laut dem jüngsten »Stan- und länger zu leben«.
Aber was, wenn nicht, fragt Guido Appen- ford AI Index« gehörte Google zumindest bis Und Michael Brenzel, ein Würzburger,
zeller, früher Manager beim Chipkonzern 2021 zur weltweiten Spitzengruppe, was die ausgerüstet mit dem fast schon unverschäm-
Intel und heute Berater der privaten Investo- Zahl der veröffentlichten Forschungsarbeiten ten Titel »Chief Evangelist« für den Bereich
renfirma Andreessen Horowitz. Was, wenn in zentralen KI-Disziplinen angeht, lag aller- Workspace, Googles Chefbotschafter quasi,
jede und jeder von uns bald einen persön- dings hinter Microsoft. Auch bei der Profita- schwärmt von »attend for me«, einem digita-
lichen KI-Berater, -Coach, -Assistenten hat, bilität liegt Redmond derzeit laut den jüngsten len Avatar, den man bald statt seiner selbst in
ausgestattet mit dem Wissen um unsere Vor- Quartalszahlen vor Mountain View. Videokonferenzen schicken könne. Der stel-
lieben und Gewohnheiten. Und unseren Kre- Wie groß die Not inzwischen ist, zeigt sich le dann jene Fragen, die man zuvor auf-
ditkartendaten. Was, wenn dieser Assistent mitunter auf dem Mitarbeiterparkplatz. Seit geschrieben habe, transkribiere anschließend
Flüge buchen könnte, Hotels reservieren, etwa einem halben Jahr stellen die beiden die gesamte Sitzung und fasse sie auf Wunsch
Weihnachtsgeschenke kaufen, nach Informa- Gründer Brin und Page dort wieder ihre Wa- in Stichpunkten zusammen. »Unglaublich
tionen suchen. All die Dinge also, für die Men- gen ab. Eigentlich schon in Rente, sind sie praktisch«, findet Brenzel, weil man so ja in
schen bislang eine Suchmaschine benötigen zurück auf dem Campus, um bei KI endlich zwei oder mehr Konferenzen gleichzeitig »sit-
und so Google Milliarden einbringen? nach vorn zu kommen. Man könnte sagen: um zen« könne und kein Meeting mehr verpasse.
Der Konzern habe sich bei KI so zurück- Google zu retten. Selbst wenn Letzteres nicht unbedingt das
gehalten, weil eine enorme Angst herrsche, Brin und Page, so heißt es, versuchten vor sein sollte, worauf die Büroelite der Welt ge-
das einträgliche Suchmaschinengeschäft zu allem, gute KI-Ingenieure anzuziehen, böten wartet hat – die Fülle der KI-Anwendungen
gefährden, sagt Appenzeller. Man verdiene Spitzengehälter und einen direkten Draht bei Google ist enorm. Fehlt womöglich ein-
daran, dass Menschen viel Zeit auf der Suche nach oben. Viele Topkräfte hatten das Unter- fach nur ebenjener Publikumsliebling, den
nach den richtigen, wichtigen Informationen nehmen in den vergangenen Jahren verlassen, OpenAI mit ChatGPT geschaffen hat?
verbrächten, das generiere hohe Werbe- frustriert darüber, dass sie ihre Forschungs- Google sei lange vorn gewesen beim Thema
einnahmen. Wenn ein Sprachmodell nun auf ergebnisse nicht in der Praxis anwenden KI, sagt Chirag Dekate vom Marktforschungs-
Kommando akkurate, gut aufbereitete und konnten – und eigene KI-Start-ups gegründet. unternehmen Gartner. In gewisser Weise seien
mit Quellen versehene Informationen prä- Dennoch gehört Google bei der Forschung der Konzern und KI gar synonym. Aber das
sentieren würde, spare das Zeit – Nutzer sä- weiterhin zur Spitzenklasse. Nur baut man sage noch nichts darüber aus, ob KI für Google
hen viel weniger Reklame. »Das attackiert hier KI lieber schrittweise und eher vorsichtig auch ein gutes Geschäft werde. »Microsoft ist
Googles Geschäftsmodell«, sagt Appenzeller. in immer mehr Produkte ein, sobald die Tech- viel erfolgreicher darin, KI zu verkaufen.« Mi-
KI sei ein »Systemsprenger«. Die Manager, nologie das hergibt. Christopher Patnoe etwa crosoft-Vertriebler gingen seit Windows-Zeiten
so sein Vorwurf, hätten das früh erkannt und kann inzwischen auf einen ansehnlichen KI- ein und aus bei den Unternehmen – und auf
die Technologie deshalb kleingehalten. Werkzeugkasten verweisen. Der Brite leitet die komme es letztlich an, weil sie das Geld
An einem der letzten schönen Sommer- Googles Accessibility-Sparte, die sicherstellen für KI zahlten. Google tue sich da schwer.
tage empfängt Slav Petrov in der Berliner soll, dass Googles Produkte und Dienste für Andere glauben, ein großer Teil des Pro-
Google-Zentrale, einer ehemaligen Frauen- Menschen mit Behinderungen zugänglich blems liege in Googles Management. Unter
klinik, in der die Räume heute Namen und sind. Rund 16 Prozent der Menschen seien dem Chef Sundar Pichai sei die Kultur »ero-
Themen haben. Irgendwer hat »Union Ber- davon betroffen. Der Markt, sagt Patnoe, sei diert«, schrieb kürzlich ein Ex-Googler in
lin« für das Gespräch ausgesucht. Eine be- einem Blogbeitrag. Entscheidungen würden
sonders fortschrittliche KI kann es kaum ge- nicht mehr zum Vorteil der Nutzer, sondern
wesen sein: die Wände rot-weiß, daran Bilder Zukunftsträchtig zum Vorteil der Manager getroffen. Firmen-
und Fanschals, auf dem Tisch ein Wimpel des meetings seien zu vorhersagbaren Veranstal-
Fußball-Bundesligisten. Petrov aber ist Fan Investitionen und Investitionszusagen in tungen geworden, es fehle die Vision – und
KI-Unternehmen 2023, in Milliarden Dollar
von Konkurrent Hertha BSC. Allerdings ver- Pichai selbst das Interesse für die frühere Te-
rät er das erst nach einer Stunde. Vorher muss chie-Ausprobierkultur. Er wolle nur: Gewinn.
OpenAI 10,0
er sich und Google verteidigen. Gegen die Harte Vorwürfe gegen jenen Mann, der
Idee, man sei aus Gier bei KI-Entwicklung Anthropic* 6,6 einst die KI-Revolution bei Google ausrief.
zurückhaltend gewesen. Inflection AI 1,3 Doch zumindest die Investoren glauben
Genau andersherum sei die Debatte ge- bislang nicht an Googles Aufholjagd. In den
laufen, versichert Petrov, Vizechef von Goo- Databricks 0,7 Stunden nach der Präsentation der angebli-
gle DeepMind. Ja, es habe in den Jahren nach Aleph Alpha 0,5 chen Super-KI Gemini fielen die Aktienkurse
dem Transformer-Paper zwei Wege gegeben: * einschließlich Investitionen von Google vieler Techwerte – auch der von Alphabet.
generative KI so schnell wie möglich ausrol- S Quellen: eigene Recherche, Crunchbase; Stand: Nov. 2023 Patrick Beuth, Simon Book n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 71


WIRTSCHAFT

Strukturforschung (GWS). Sie trugen brennern und der Umstieg auf die
zusammen, wie sich die vereinbarte Bahn die Nachfrage nach Autos
Klimapolitik im Koalitionsvertrag der senken wird. Der Ausbau der Elek-
Ampelkoalition auf die Wirtschaft tromobilität werde den negativen
und den Arbeitsmarkt auswirken Beschäftigungseffekt nicht kompen-
würde. Die Institute leiten seit 2007 sieren können. Ebenso wird die
das sogenannte QuBe-Projekt, mit öffentliche Verwaltung wegen der
dem sich Entwicklungen im Bildungs- zunehmenden Digitalisierung mit
und Erwerbssystem fortschreiben weniger Leuten auskommen.

Stefan War ter / Volkswagen AG


lassen. Alle zwei Jahre wird das Sys- Gute Chancen geben die Forscher
tem mit neuen Daten aktualisiert. auch den energieintensiven Indus-
Mittlerweile reichen die Projektionen trien wie etwa Chemie oder Stahl. Sie
bis zum Jahr 2040. würden durch die steigenden Energie-
Für die kommenden Jahre rechnen kosten zunächst belastet, doch nach
die Forscher mit enormen Verände- der Umstellung auf alternative Ener-
Batterierecycling in Salzgitter: Kraft des Marktes
rungen, auch ohne grüne Transfor- gieträger seien sie langfristig wett-
mation. Ausgehend vom Jahr 2021 bewerbsfähiger als zuvor. »Der not-
haben sie den Arbeitskräftebedarf für wendige Infrastrukturausbau« mache
2030, 2035 und 2040 verglichen. Er- sogar »eine Stärkung des industriel-
gebnis: Bis 2040 würden zwar knapp len Kerns möglich«.
3,29 Millionen neue Jobs entstehen, Zwar werden für viele Arbeitsplät-

Grüne aber gleichzeitig 3,89 Millionen ver-


schwinden, ein Minus von rund
600.000 Arbeitsplätzen. Auch die
ze komplexe Spezialisten- und Ex-
pertentätigkeiten benötigt werden.
Doch absolut entsteht die größte Zahl

Jobmaschine Zahl der Menschen, die dem Arbeits-


markt zur Verfügung stehen, sinkt,
trotz zunehmender Erwerbstätigkeit
für Fachkräftetätigkeiten und die we-
nigsten für Helfertätigkeiten. Die Fra-
ge der Verfügbarkeit von Fachkräften
und Migration, um 1,13 Millionen. spielt deshalb eine zentrale Rolle.
KLIMAWANDEL Nach dem Haushaltsdesaster Die Forscher rechneten in ihren Können die neuen Arbeitsplätze nicht
Projektionen jene Maßnahmen des besetzt werden, verlangsamt sich die
fehlen der Bundesregierung Zigmilliarden Euro Koalitionsvertrags ein, die auf eine Transformation, die Wettbewerbs-
für den Umbau der Wirtschaft. Eine neue Studie schnellere Umsetzung der sozial-öko- fähigkeit der industriellen Kerne sinkt,
hat die Arbeitsmarkteffekte der geplanten logischen Transformation abzielen: Wohlstand wäre in Gefahr.
von der Umstellung auf erneuerbare IAB-Arbeitsmarktexperte und
Transformation untersucht: Es geht um Hundert- Energie über nachhaltige Mobilität Studien-Co-Autor Enzo Weber ist zu-
tausende mögliche Arbeitsplätze. und digitale Verwaltung bis zur Re- versichtlich, dass die Fachkräftelücke
form des Staatsbürgerschaftsrechts. zu schließen ist, mit Jungen und
In diesen Prognosen entstehen mehr Alten, Frauen und Fachkräftezuwan-
islang dreht sich die Debatte Arbeitsplätze als wegfallen – insge- derung. »Durch die jahrzehntelang
B über das Aus für die rund
60 Milliarden Euro aus dem
Klima- und Transformationsfonds vor
samt ein Plus von rund 600.000. Die
positivsten Effekte ergäben »die
Annahmen zum veränderten Mobili-
hohe Arbeitslosigkeit gab es in dieser
Zeit auch keinen intensiven Wett-
bewerb um Arbeitskräfte«, sagt We-
allem um technische Haushaltsfragen. tätsverhalten im Jahr 2030« (plus ber. Über einen stärkeren Wett-
Doch was würde es für den Arbeits- 280.000 Arbeitsplätze), gefolgt von bewerb um Arbeitskräfte, etwa mit
markt – und damit für den persön- jenen »zum verstärkten Ausbau der höheren Löhnen, verbesserter Quali-
lichen Wohlstand vieler Menschen in erneuerbaren Energien (plus 180.000 fizierung oder Integration von Zu-
Deutschland – bedeuten, wenn die Arbeitsplätze)«. In den folgenden gewanderten in den Arbeitsmarkt,
rund 60 Milliarden tatsächlich kom- Jahren schwächen sich die Effekte ab, ließen sich ungenutzte Potenziale
plett wegfielen? Eine neue Studie der Im Plus aber 2040 entstünden durch das heben. »Keine Kraft ist stärker als die
Bertelsmann-Stiftung kommt zu dra- veränderte Mobilitätsverhalten noch des Marktes.«
matischen Ergebnissen: Bis zum Jahr Prognose zu den 170.000 neue Arbeitsplätze und bei Die Studie zeigt aber auch: Selbst
Effekten der grünen
2040 geht es um ein Delta von bis zu Transformation auf den erneuerbaren Energien 60.000. wenn die Bundesregierung es noch
1,2 Millionen Arbeitsplätze im Ver- den deutschen Es gibt Gewinner- und Verlierer- schaffe, 60 Milliarden Euro in den
gleich zu 2021. Arbeitsmarkt, Saldo branchen. Das Baugewerbe gehört zu Umbau der Wirtschaft zu stecken,
Die Forscher rechnen mit 600.000 der Arbeitsplätze, den Nutznießern der grünen Trans- wären damit längst nicht alle Proble-
in Millionen
zusätzlichen Jobs, wenn die sozial- 0,60 formation mit ihren Bauinvestitionen, me gelöst. »Wir sind weit entfernt von
ökologische Transformation wie ge- ebenso wie IT- und Informations- einer Entwarnung, und positive Ef-
plant zügig fortgesetzt wird. Wird sie 0,48 0,46 dienstleister, weil, so die Forscher, fekte sind kein Automatismus.« Des-
hingegen gestoppt, könnten bis zu ohne fortschreitende Digitalisierung halb geben ihre Autoren eine Reihe
600.000 wegfallen. der Umbau nicht gelingen könne. Zu von Handlungsempfehlungen. »Der
Die Studie wurde von renommier- den Gewinnern zählt auch die Bran- größte Fehler wäre, wenn wir nicht
ten Forschern durchgeführt. Die zu- che »Erziehung und Unterricht«, weil weiter in die sozial-ökologische
grunde liegenden Daten stammen durch veränderte Berufsbilder der Transformation investieren und sie
einem Gemeinschaftsprojekt des In- Weiterbildungsbedarf steigen wird. zügig vorantreiben würden«, sagt
stituts für Arbeitsmarkt- und Berufs- Die Automobilindustrie gehört zu IAB-Forscher Weber, denn »dann
forschung (IAB), des Bundesinstituts 2030 2035 2040 den Verlierern, weil bei der Fertigung schießen wir uns nicht nur in ein Knie,
für Berufsausbildung (BIBB) und der S Quellen: Schneemann von E-Autos weniger Bauteile und sondern in beide.«

et al. (2023), Bertelsmann


Gesellschaft für Wirtschaftliche Stiftung Arbeitsschritte anfallen als bei Ver- Markus Dettmer n

72 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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an der Stimmung der globalen Anleger – und
die ist derzeit so gut wie lange nicht mehr.
Nicht nur schwergewichtige Technologie-

Unfallgefahr auf der aktien wie Amazon oder Apple, die den Börsen-
takt vorgeben, heben ab. »Auch der breite
Markt kommt zurück, weil die Investoren auf

letzten Meile Zinssenkungen setzen«, sagt Sievers.


Selbst die gebeutelte Immobilienbranche,
die sich wie kaum eine andere jahrelang mit
billigem Geld vollgesogen und aufgemauert
GELDPOLITIK Die Inflation sinkt und sinkt, doch die Leitzinsen bleiben hatte, erlebt einen Höhenflug – trotz des De-
vorerst hoch. Reagiert die Europäische Zentralbank schon wieder zu spät? sasters um ihren einstigen »Golden Boy«
René Benko und dessen Signa-Gruppe. Als
die Fed für Oktober nur noch 3,2 Prozent
enn Zentralbanker John Maynard verloren. Auch das Gruselszenario einer Stag- Inflation vermeldete, zogen die Kurse der US-
W Keynes zitieren, einen Säulenheiligen
der Wirtschaftswissenschaft, wird es
grundsätzlich. Der Brite ist zwar seit 1946 tot,
flation – hohe Teuerung bei lahmer Wirt-
schaft – wird schemenhafter. Zwar dümpelt
die Konjunktur, aber der Preisdruck ist weg.
Immobiliengesellschaften im Schnitt um
11,5 Prozent an. Die Partystimmung schwapp-
te sogar ins dröge Deutschland herüber: Die
aber seine Aussagen haben Ewigkeitswert. An den Kapitalmärkten wetten die Inves- Vonovia-Aktie kletterte um 8 Prozent; seit
Kürzlich war es wieder so weit. Ob die toren darauf, dass die EZB bereits im Frühjahr ihrem Tiefstand Ende März haben die An-
jüngsten, unerwartet niedrigen Inflations- die Zinsen senken und Geld wieder billiger teile von Deutschlands größtem Wohnungs-
daten ihre Einschätzung der Lage ändern wird. Das versetzt die Anleger in Euphorie. unternehmen mehr als 70 Prozent zugelegt.
würden, die Zinsen also bald sinken könnten, Der Deutsche Aktienindex (Dax) schwebt auf Inflation, war da was?
wurde Isabel Schnabel gefragt. Die Deutsche Rekordniveau, auch an den US-Börsen geht Im EZB-Tower betrachten sie den Jubel
ist Mitglied im Direktorium der Europäischen es aufwärts. Selbst der Kurs der Kryptowäh- der Investoren und deren Vorfreude auf ver-
Zentralbank (EZB) und eine der treibenden rung Bitcoin ist seit Jahresbeginn um mehr meintlich baldige Zinssenkungen mit achsel-
Kräfte hinter jener Salve an Zinserhöhungen, als 150 Prozent gestiegen. zuckender Gleichgültigkeit. Wichtig ist den
mit denen die EZB die Teuerung halbwegs in »Das Schlimmste ist vorbei«, sagt Markus Zahlenakrobaten in erster Linie, dass die
den Griff bekommen hat. Eine geldpolitische Sievers, Geschäftsführer des Fondsanbieters »Preisdynamik« gebrochen ist und der Trend
Hardlinerin, die lange darauf hinwies, dass Apano. Sievers verfolgt eine ideologiefreie bei der Teuerung nach unten zeigt. Um ein
die Zinsen für längere Zeit hoch bleiben müss-
ten, um die Inflation zu besiegen.
Inzwischen hat sich ihre Einschätzung der
Lage offenkundig geändert. Denn, so Schna-
bel mit Verweis auf eine einstige Äußerung,
die Keynes zugeschrieben wird: »Wenn sich
die Fakten ändern, ändere ich meine Mei-
nung. Und was tun Sie, Sir?«
Tatsächlich hat sich die Lage an der Infla-
tionsfront überraschend schnell und heftig
entspannt. Noch im Sommer lag die Teuerung
oberhalb von 5 Prozent, zuletzt hat sie sich
auf 2,4 Prozent beinahe verflüchtigt. In erster
Linie wegen der deutlich gesunkenen Energie-
preise, die sich unmittelbar auf den Waren-
korb auswirken, der für die Kalkulation der
Gesamtinflation entscheidend ist.
Der Zielwert von 2 Prozent, den die
EZB wie auch ihre amerikanische Schwester
Federal Reserve (Fed) anpeilen, ist bereits in
Sichtweite. »Wenn man den Verlauf der ver-
gangenen drei Monate auf das Gesamtjahr
hochrechnet, sind wir sogar schon bei 2 Pro-
zent«, sagt Stefan Schneider, Chefökonom
Deutschland der Deutschen Bank.
Angesichts der kommoden Lage breitet
sich im EZB-Turm im Frankfurter Ostend ad-
ventliche Entspanntheit aus, nicht nur wegen
des Betriebschors, der dieser Tage im Foyer
a capella Weihnachtsklassiker schmettert.
Zwar wird der EZB-Rat auf seiner letzten
Sitzung des Jahres am Donnerstag die Leit-
zinsen bei 4,5 Prozent belassen. Aber der
Thomas Pirot / laif

Inflationsspuk, der seit Herbst 2021 die Euro-


zone heimsuchte, mit dem Höhepunkt im EZB-Präsidentin
Oktober 2022, als die Preise um 10,6 Prozent Lagarde
nach oben schossen, hat seinen Schrecken

74 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


WIRTSCHAFT

kraftvolles »mission accomplished« Stress, wie der Fall Benko zeigt. »Am
zu verkünden, sei es aber eindeutig größten ist die Gefahr, die von den
zu früh. Die »letzte Meile« im Kampf hohen Zinsen ausgeht, bei Gewerbe-
gegen die Inflation ist schließlich die immobilien«, sagt Schneider.
schwerste; noch so ein Sinnspruch, wie Gewerbehypotheken müssen im
ihn Zentralbanker mögen. Rekordumfang refinanziert werden,
»EZB und Fed sind von den Infla- Geld bekommen Schuldner nur zu
tionserfahrungen der Siebziger- und deutlich höheren Zinsen. Wie gefähr-

Markus Scholz / picture alliance / dpa


Achtzigerjahre geprägt«, sagt Deut- lich das werden kann, zeigt ein Blick
sche-Bank-Ökonom Schneider. »Sei- in die US-Bankbilanzen: Dort ver-
nerzeit haben die Zentralbanken zu bergen sich der Columbia Business
schnell Leine gelassen, obwohl noch School zufolge unrealisierte Verluste
Inflationsdruck herrschte. Deswegen aus Krediten und Anleihen von 2200
agieren sie jetzt vorsichtig.« Ange- Milliarden Dollar – mehr als ein Vier-
sichts der schwachen Konjunktur tel davon aus Immobilienkrediten.
rechnet er gleichwohl bereits für Ap- Auch deutsche Betonkonzerne lei-
ril mit einer ersten Zinssenkung der EZB. den unter dem rasanten Zinsanstieg.
Die Fed dürfte im Sommer folgen. Denn mehr noch als auf tages- Benko-Baustelle So zahlt Vonovia bisher durchschnitt-
Immerhin: Wenigstens einer wei- aktuelle Inflationsdaten achten Noten- Elbtower in Hamburg: lich 1,5 Prozent Zinsen auf seine
Gewerbeimmobilien
teren Zinserhöhung redet niemand banker darauf, mit welchen Preisen leiden unter den
Anleihen, über die das Unternehmen
mehr das Wort. Aber die Vorsicht der Unternehmen und Verbraucher für hohen Leitzinsen Fremdkapital für weiteres Wachstum
Notenbanker ist greifbar. Einerseits die Zukunft kalkulieren. Dieses Er- hereingeholt hat. Doch das sind die
geht es der EZB um ihren Ruf. Sie wartungsmanagement der Inflation Konditionen von gestern. Auf neue
hatte die Inflation anfangs als »tran- ist die eigentliche Königsdisziplin der Anleihen musste Vonovia zuletzt im
sitorisch« eingeschätzt – wie eine Geldpolitik, und dort sehen die Din- Schnitt fast fünf Prozent zahlen.
Supernova, die kurz aufscheint und ge weniger rosig aus, zumindest in Der Münchner Immobilienfinan-
von allein wieder verglüht. den USA. Trotz der Erfolge im Kampf zierer Deutsche Pfandbriefbank
Doch die Kombination aus post- gegen die Inflation rechnen die Ame- musste für das dritte Quartal den Ri-
pandemischem Konsumrausch, kos- rikaner damit, dass die Preise 2024 sikopuffer für notleidende Kredite
tentreibenden Lieferkettendefekten wieder deutlich anziehen werden. massiv erhöhen, auch der Wiesbade-
und Russlands Überfall auf die Das Problem: Glauben die Verbrau- ner Rivale Aareal, der stark in den
Ukraine warf alles über den Haufen. cher, dass morgen alles teurer wird, USA engagiert ist, hat für Kreditaus-
Die Preisschocks waren derart heftig, ziehen sie Einkäufe vor und treiben fälle mehr Geld zurückgelegt.
dass die Notenbanker plötzlich wie die Preise damit erst recht nach oben. Die EZB sieht die Situation mit
Getriebene wirkten; seit Sommer 2022 Die Inflationserwartungen werden Sorge. Zwar entfallen nur zehn Pro-
jagte eine Zinserhöhung die nächste. zur selbsterfüllenden Prophezeiung. zent des gesamten Kreditengage-
Die Inflation kletterte trotzdem. Damit es in der Eurozone nicht ments der Banken auf Gewerbe-
Diese Hamsterrad-Erfahrung hat auch so kommt, dokumentiert zumin- immobilien, heißt es im aktuellen
die Währungshüter geprägt. Zwar dest Lagarde ihren Willen, vorerst Niedrig Finanzstabilitätsbericht. Von dem
dringen Politiker aus dem hoch ver- stur zu bleiben. Denn auch die Ge- und niedrig Sektor allein gehe keine systemische
schuldeten Südeuropa darauf, die fahr, dass hohe Lohnabschlüsse die Krise aus. Er könne aber wie ein Ver-
Zinsen zu senken, um die maue Wirt- Inflation wieder anheizen, ist nicht Inflation stärker in Stresssituationen wirken.
schaft nicht weiter abzuwürgen. gebannt. Entscheidend wird das erste Kerninflation* Und dennoch: Verglichen mit der
Aber einerseits verweisen sie im Quartal 2024 sein, wenn in Europa in der Eurozone, zum Situation vor genau einem Jahr, als
Eurotower mit Stolz darauf, mit den Tarifverhandlungen anstehen. Vorjahresmonat, die Euro-Inflation satte 9,2 Prozent
hohen Zinsen die Nachfrage ge- Es gebe zwar keine Anzeichen für in Prozent betrug, ist die momentane Lage für
dämpft, die Inflation unter Kontrolle eine Lohnpreisspirale, die Gehalts- 10 Jahres- die Währungshüter entspannt. Die
prog-
gebracht und so den Beweis erbracht aufschläge kompensierten nur die 8
nosen Inflation scheint im Griff, Lagarde
zu haben, dass ihre Geldpolitik wirkt. inflationsbedingten Wohlfahrtsver- 6 kann mit markigen Ansagen ihre
Andererseits ist unklar, ob die luste, lautet der Tenor in der EZB. 4 geldpolitische Entschlossenheit
Energiepreise nicht rasch wieder an- Aber wer weiß schon, was Ge- 2 demonstrieren und den Ruf der EZB
ziehen, wenn etwa Iran im Zuge des werkschaften noch alles fordern und 0 aufpolieren, zumindest im traditionell
Gazakriegs die Straße von Hormus womöglich erstreiken werden. Und inflationsgrimmigen Deutschland.
schließt. Die Meerenge am Persischen ob die Unternehmen nicht ihre Preis- 2020 2024 Zugleich beflügelt Schnabel mit
Golf ist eine der Lebensadern der macht weiter ausreizen, Produkte Reales BIP-Wachstum ihrer Keynes-Anleihe Fantasien, die
Weltwirtschaft, durch sie fließt ein verteuern und so das Schwungrad der in der Eurozone, Zentralbank könnte früher die Leit-
Großteil der Ölexporte nach Asien, Inflation ankurbeln. Bei Dienstleis- in Prozent zinsen senken, als es bisher den An-
6 Prog-
Westeuropa und in die USA. tern und Großhändlern steigt offen- nosen schein hatte. Schließlich will sich die
»Wenn EZB-Präsidentin Christine bar die Bereitschaft, genau das zu tun. 4 Zentralbank nicht noch einmal vor-
Lagarde jetzt Zinssenkungen andeu- »Die Märkte sind zu optimistisch. 2 werfen lassen, wie zu Beginn der In-
ten würde, würden die Spekulationen Ich bin noch nicht davon überzeugt, 0 flation zu spät zu reagieren, wenn sich
aus dem Ruder laufen und das lang- dass es das mittelfristig schon war mit −2 die Dinge grundlegend ändern.
fristige Ziel stabiler Preise in Gefahr der Inflation«, sagt Schneider. −4 Auch dafür findet sich im Zitaten-
geraten«, sagt Schneider. Vor dem Den EZB-Granden ist bewusst, −6 schatz des Großökonomen Keynes
Hintergrund sei Lagardes Äußerung welche Kollateralschäden der Zins- das passende Bonmot: »Fehler sind
zu verstehen, dass die Leitzinsen anstieg hat, vor allem für die Immo- 2020 2024 nützlich, aber nur, wenn man sie
* Verbraucherpreise ohne
noch einige Quartale auf dem jetzigen bilienwirtschaft. So steht der Gewerbe- Nahrungsmittel und Energie schnell findet.«
Niveau bleiben würden. immobilienmarkt erheblich unter S Quellen: Eurostat, EZB Tim Bartz, Henning Jauernig n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 75


WIRTSCHAFT

»Ich war gegen Frauenquoten,


dann wurde ich 30«
SPIEGEL-GESPRÄCHUnternehmerin Verena Pausder ist Vielgründerin, Mitbesitzerin eines
Fußballvereins und Tochter einer Textildynastie. Hier erklärt sie, warum Frauen
seltener Start-ups gründen und was sie daran reizt, Deutschlands erste Bundespräsidentin zu werden.

Pausder, 44, gehört zu den bekanntes- tionen geflossen, 2023 waren es im weil die Alternative sonst oft ist, dass
ten Gesichtern der deutschen Grün- ersten Halbjahr nur 3. Vor zwei Jah- überhaupt keine Frau gefragt wird.
derszene. Sie entstammt in zehnter ren hat so gut wie jeder Geld bekom- SPIEGEL: Was in dieser Branche ist
Generation der Unternehmerfamilie men, weil das Geld buchstäblich zu stark auf Männer ausgerichtet?
der Textilfirma Delius aus Bielefeld nichts kostete, jetzt ist es deutlich Pausder: Das Kapital. Wenn du als
und gründete unter anderem das schwieriger – und ja, wir sehen auch Frau einem rein männlichen Investo-
Start-up Fox & Sheep in Berlin, einen Insolvenzen. Ich bin aber keine ren-Board gegenüberstehst, fühlst du
Entwickler für Kinder-Apps. Vergan- Schönwetterkapitänin. Wir werden dich im wahrsten Sinne des Wortes
gene Woche wurde sie zur neuen Che- uns ordentlich die Hände schmutzig einsam. Und wenn du in eine IT-Ab-
fin des deutschen Start-up-Verbands machen. teilung kommst, in der 90 Prozent
gewählt. SPIEGEL: Im Moment liegt der Grün- der Leute männlich sind, musst du
derinnenanteil bei rund 21 Prozent, viel Selbstbewusstsein haben, um
SPIEGEL: Frau Pausder, sind Sie ein reine Frauenteams bekommen nur dich zu behaupten.
Workaholic? drei Prozent des verteilten Kapitals. SPIEGEL: Trotzdem sind Sie gegen
Pausder: Da schätzen Sie mich falsch Traurige Zahlen, oder? Frauenquoten?
ein. An normalen Arbeitstagen, zwi- Pausder: Die Zahlen sind in den ver- Pausder: Ich war gegen Quoten. Dann
schen 8.30 und 18 Uhr, bin ich ein gangenen Jahren schon etwas hoch- wurde ich 30, saß in den ersten Bei-
Workaholic, danach bremse ich hart gegangen. Aber klar: Das reicht nicht. räten und Aufsichtsräten und merkte:
ab. Und ich schlafe nie weniger als 50 Prozent der Menschen in diesem Huch, hier ist ja überhaupt keine Frau.
acht Stunden. Land sind Frauen, also sollten auch Also habe ich meine Meinung geän-
SPIEGEL: Sie haben ein halbes Dut- 50 Prozent der Gründer und Grün- dert.
zend Unternehmen gegründet und in derinnen Frauen sein. Warum ist die SPIEGEL: 2018 wurden Sie in einem
mehr als 40 investiert. Im vergange- Realität eine andere? Weil es keinen Interview gefragt, ob Sie Feministin
nen Jahr haben sie mit anderen In- Mutterschutz für Selbstständige gibt, seien. Ihre Antwort: »Nein«. Feminis-
vestorinnen den Fußballverein FC Betreuungskosten kaum absetzbar mus sei für Sie: »Opferrolle«.
Viktoria 1889 Berlin übernommen, sind und die Elternzeit nicht flexibel Pausder: Oh. Ja, ich erinnere mich.
Sie moderieren einen Podcast, leiten genug ist. Außerdem fehlen 430.000 Ich dachte damals, Feminismus hieße,
einen Buchklub, und das manager Kitaplätze in Deutschland. Eine Frau, »gegen Männer« zu sein – ein Irr-
magazin schrieb, Sie organisierten die das liest und ein Unternehmen tum. Ich habe noch während des
»die lässigsten Partys der Berliner führen möchte, denkt sich: »Dann Interviews meine Meinung geändert.
Gründerszene«. Ganz schön viel. gründe ich eben nicht.« Gründer Für die Schlagzeile war es leider zu
Pausder: Sie tun so, als würde ich das SPIEGEL: Sie haben drei Kinder, sind ohne Geld spät.
alles allein machen, ich habe groß- Sie nicht das Beispiel, dass es geht? SPIEGEL: Haben sich nur die Frauen
artige Menschen um mich herum. Pausder: Im Gegenteil, ich weiß, wie Investitionen in Start- verändert oder auch die Männer?
Den Buchklub betreut meine Werk- hart es ist. Ich habe gerade eine kran- ups in Deutschland, Pausder: Beide. Ich liebe meinen Va-
studentin, die 62 Sachbücher pro Jahr ke Tochter zu Hause, daneben mache in Milliarden Euro ter, aber anders als mein Mann hat
liest, und beim FC Viktoria stehe ich ich Videokonferenzen und versuche, 20 der in seinem Leben vermutlich keine
ja nicht selbst auf dem Platz. Ich bin das irgendwie zu jonglieren. Ich habe einzige Windel gewechselt. Er wäre
einfach gut im Delegieren. trotz der Bedingungen gegründet, auch nie losgefahren, wenn mal der
15
SPIEGEL: Jetzt übernehmen Sie auch nicht deswegen. Kindergarten anrief. Aber es hilft
noch die Leitung des Start-up-Ver- SPIEGEL: Ärgert es Sie, dass man im- nichts, diese Männer als alt und weiß
bands – in schwierigen Zeiten für mer Ihre Telefonnummer wählt, 10 zu verdammen, sie waren eben Kin-
Gründerinnen und Gründer. wenn es um deutsche Gründerinnen der ihrer Zeit.
Pausder: Es sind zumindest keine ein- geht? SPIEGEL: Ihr Vater führte das Textil-
5
fachen Zeiten. Wir erleben gerade Pausder: Mich ärgert, wenn die Leu- unternehmen Delius in neunter Ge-
einen massiven Einbruch. 2021 sind te sagen: »Du bist ja wieder überall.« neration. Warum sind Sie dort nicht
knapp 18 Milliarden Euro an Investi- Wenn es nach mir ginge, müsste ich 0 eingestiegen?
keinen einzigen Preis bekommen und 2015 2023* Pausder: Als ich es mir noch vorstel-
Das Gespräch führte der Redakteur Anton kein einziges Interview mehr geben. * Zeitraum: Januar bis Juni len konnte, war die Generation über
Rainer. Aber wenn man mich anruft, rede ich, S Quellen: EY, Heise Medien mir noch zu jung. Später, als es rele-

76 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


WIRTSCHAFT

vant wurde, war ich schon in eine andere namen abgelegt, ich hieß wie unser Unter- relang studiert haben und Studienkredite zu-
Richtung abgebogen. nehmen. Für andere mag so was total unwich- rückzahlen mussten. Das Aufstiegsverspre-
SPIEGEL: War Ihr Vater enttäuscht, dass Sie tig sein, für mich war es ein großer Schritt. chen war in Gefahr.
die Tradition nicht fortführen? SPIEGEL: Im vergangenen Sommer sammelten SPIEGEL: Es hätte gerade mal 60.000 Men-
Pausder: Ich glaube, er hätte es sich sehr ge- Sie mehr als 600.000 Unterschriften gegen schen getroffen, durchweg Leute mit hohem
wünscht. Heute bin ich ihm dankbar, dass er eine geplante Kürzung des Elterngelds für Einkommen.
nie Druck auf mich ausgeübt hat. Ich hätte Gutverdiener. Was sollte das? Pausder: Das stimmt nicht. Nach neueren
wohl nachgegeben. Pausder: Ich hielt es für ungerecht, dass eine Analysen wären es über 300.000 Paare – und
SPIEGEL: Ist Ihre Herkunft eher Privileg oder Leistung komplett auf null gestrichen wird, die sollte man nicht dafür bestrafen, dass sie
Last? mit der Familien und Eltern fest gerechnet Karriere machen. Die Botschaft sollte sein:
Pausder: Zumindest ist es nichts, was man haben. Wenn du Kinder zur Welt gebracht Wenn wir schon keine Kitaplätze haben, dann
sich aussucht. Es gibt so viele Nachfolger, die hast, weißt du, wie verletzlich du in den ers- bekommt ihr wenigstens Elterngeld.
an den Erwartungen zerbrechen und das Ge- ten Monaten nach der Geburt bist. Und ich SPIEGEL: Hat es Sie gestört, dass Sie als Lob-
fühl haben, nie genug zu sein. Man muss sich hielt es für unfair, dass das Narrativ aufge- byistin der Reichen dargestellt wurden?
davon emanzipieren, oder man trägt ein Le- macht wurde, es treffe nur die Reichen. Dabei Pausder: Klar, man fühlt sich total missver-
ben lang ein Korsett. Ich habe meinen Nach- wären Menschen betroffen gewesen, die jah- standen. Es ging mir nie darum, Reiche noch
reicher zu machen. Ich wollte Eltern schützen
Verbandschefin und vor allen Dingen Frauen.
Pausder SPIEGEL: Bei einer höheren Erbschaftsteuer
hätten Sie sich nicht gewehrt?
Pausder: Ich hätte auf keinen Fall eine Petition
gestartet.
SPIEGEL: Sehen Sie sich als Lobbyistin?
Pausder: Nein, wirklich gar nicht, ich mag das
Wort auch nicht. Das klingt, als hätte ich ein
Einzelinteresse, das ich jemandem so lange
einrede, bis er das gut findet.
SPIEGEL: Johannes Rau war Ihr Onkel, Gustav
Heinemann Ihr Urgroßvater. Wollen Sie ir-
gendwann mal Deutschlands erste Bundes-
präsidentin werden?
Pausder: Ich bin familiär auf jeden Fall vor-
belastet, aber momentan liegt meine Priorität
beim Verband.
SPIEGEL: Aber das Amt würde Sie interessie-
ren?
Pausder: Klar, es ist das tollste Amt der Welt.
Man kann die großen Linien jenseits der Tages-
politik vorgeben, den Menschen Orientierung
geben, eine Vision für Deutschland entwickeln.
Dafür habe ich eine besondere Faszination.
SPIEGEL: Als die Koalition startete, fanden
Sie, dass vieles »in die richtige Richtung«
gehe. Sind Sie heute zufrieden?
Pausder: Teils, teils. Dass Start-ups jetzt eine
attraktive Mitarbeiterbeteiligung nutzen
können, ist großartig und ein Verdienst dieser
Regierung. Beim Digitalbudget, das jetzt
wahrscheinlich auf drei Millionen Euro zu-
sammengestrichen wird, sage ich: Dann kön-
nen wir es gleich streichen. Ich gebe der Re-
gierung die Note »Zwei bis Drei« – und hof-
fe, dass sie noch einen Zahn zulegt.
SPIEGEL: Wie sehr belastet Sie das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zum Haushalt?
Pausder: Für den Wirtschaftsstandort ist Un-
sicherheit immer schlecht. Aufgrund der
Haushaltssperre gibt es beim Zuschuss für
Wagniskapital einen Bewilligungsstopp, den
Start-ups fehlt Geld, mit dem sie vor ein paar
Wochen noch rechnen konnten. Unterm
Strich hätte die Gründerszene aber ohnehin
wenig von den 60 Milliarden Euro gehabt, die
jetzt zur Debatte stehen.
SPIEGEL: Sie würden sich mehr Geld für die
Patr ycia Lukas

Szene wünschen?
Pausder: Was ich mir wünsche, ist mehr Ka-
pital. Wenn der Staat private Gelder mobili-

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 77


WIRTSCHAFT

siert, wie er es beim Wachstumsfonds Pausder: Das ist nichts für mich. Ich »Ich wollte Diskussion um eine Schulcloud bei-
schon tut, nützt das mehr, als es kos- bin gut darin, mich tief in Themen spielsweise hat mich massiv frustriert.
tet. Wenn Unternehmen wie Celonis, einzuarbeiten. Und nicht so gut, Olympia­ Föderalismus heißt bei uns viel zu oft:
Isar Aerospace und Deepl bei uns wenn ich beantworten soll, welches siegerin Es kostet 16-mal Geld, und am Ende
bleiben, haben wir alle was davon. Kleid ich gerade trage oder wer mei- werden, die kommt nichts dabei raus.
SPIEGEL: Stattdessen gehen sie irgend- ne Haare gemacht hat. SPIEGEL: Jetzt klingen Sie wie eine
wann an die New Yorker Börse. SPIEGEL: Wird Deutschland bei künst- Sportart war Politikerin.
Pausder: Genau, und damit geht in licher Intelligenz gerade abgehängt? mir egal.« Pausder: Ich will nicht in die Politik,
Deutschland Wertschöpfung verloren. Pausder: Total, der Rückstand zu Chi- ich will in die Umsetzung.
Wir sind bei Investments schwächer na und den USA ist beträchtlich. Das SPIEGEL: Ihr Vorgänger Christian
aufgestellt als vergleichbare Länder Problem ist, dass wir viel zu viel in Miele hatte sich bei Amtsbeginn zwei
wie zum Beispiel Frankreich und Buzzwords denken. »KI in der Bil- politische Projekte vorgenommen:
Großbritannien. dung«, da kriegen Lehrer und Eltern einen staatlichen Zukunftsfonds und
SPIEGEL: Bräuchte Deutschland einen Angst. Sie denken dann an Aufsätze, ein Gesetz zur Mitarbeiterbeteiligung.
Start-up-Minister? die von ChatGPT geschrieben wer- Beides hat er bekommen. Was wird
Pausder: Fände ich super. Der könn- den – nicht an das Matheprogramm, Ihr großes Projekt sein?
te auch Digitalminister sein, sich um das einem Kind genau sagt, an wel- Pausder: Ein großes Thema wird die
die digitale Verwaltung und den cher Stelle im Dreisatz es falsch ab- Frage der Fachkräfte sein. 40 Prozent
Breitbandausbau kümmern. Die gebogen ist. der Berliner Start-up-Szene kommen
Hauptsache ist, dass wir nicht erst SPIEGEL: Wenn die KI-Nachhilfe aus dem Ausland, die Hälfte davon
mal ein neues Ministerium bauen kommt, dann eher aus dem Silicon kommt aus dem nicht europäischen –
und 5000 Beamte einstellen – son- Valley als aus Stuttgart. und wir brauchen noch mehr Zuwan-
dern dass die Zuständigkeiten klar Pausder: Ja, wir stehen uns oft selbst derung. Stattdessen erleben wir jeden
geregelt sind und wir jemanden mit im Weg. Unsere Schulen kaufen jeden Tag, wie schwierig es ist, etwa einen
Budgetkompetenz haben, der ein- Tag Schulbücher ein, ohne Probleme, Pausder-Urgroßvater kenianischen Softwareentwickler
Heinemann 1969,
fach loslegt. aber wenn einmal eine Software aus- Spielerin des
nach Deutschland zu holen. Visaver-
SPIEGEL: Viele Deutsche denken beim gewählt werden soll, heißt es sofort: Fußballklubs fahren dauern ewig, darunter leiden
Thema Start-ups eher an Klamauk, »Die muss aber non-Profit sein«. Die Viktoria (rechts) alle: Es bringt nichts, wenn wir die
wie er in der »Höhle der Löwen« ge- tollsten Ideen haben, aber uns die
zeigt wird, an Bällebäder und reiche Menschen fehlen, die sie umsetzen.
Bubis von der Wirtschaftsuni. Und wir sollten klar aufzeigen, wa-
Pausder: Ist das so? Vielen ist viel- rum die AfD schädlich für den Tech-
leicht gar nicht bewusst, was Start- nologiestandort ist.
ups eigentlich leisten, zum Beispiel SPIEGEL: Die Start-up-Szene muss die
haben sie in Deutschland 415.000 AfD kleinhalten?
Arbeitsplätze geschaffen, ihre Bewer- Pausder: Nicht nur, aber auch. Ich
tung hat sich seit 2018 mehr als ver- sehe uns in der Verantwortung, die
sechsfacht. Wir Deutschen sind nicht Menschen vorzustellen, die hier
gut darin, Aufstiegsgeschichten zu einen tollen Job leisten, anstatt nur
erzählen. In diesem Land debattieren über jene zu reden, die uns vermeint-
wir über Erben, die mit goldenem Löf- lich etwas wegnehmen.
fel im Mund geboren wurden – und SPIEGEL: Wie viele von Ihren Kindern
über Menschen, die es nicht geschafft sollen einmal Gründer werden?
haben. Dazwischen gibt es nichts. Pausder: Die können werden, was sie
SPIEGEL: Was wäre die Geschichte, wollen. Wichtig ist, dass sie für ir-
dpa

die Sie erzählen wollen? gendetwas brennen, egal wofür. Mein


Pausder: Dass Wagniskapital eine Mann und ich sind Doppelgründer,
Demokratisierung von Wohlstand be- wir reden abends oft übers Unterneh-
deutet. Ein Venture-Capital-Geber mertum – da merkt man schon, wel-
fragt nicht, wer deine Eltern sind und ches Kind zuhört und welches nicht.
wie viel du auf dem Bankkonto hast. SPIEGEL: Als Kind träumt man eher
Er schaut sich deine Idee an und sagt: nicht davon, Gründer oder Investor zu
»Okay, die ist gut genug, um groß zu werden. Wovon haben Sie geträumt?
werden.« Pausder: Ich wollte Olympiasiegerin
SPIEGEL: Und manchmal verbrennt werden, so stand es in meinem Poesie-
er Millionen, etwa für Schnellliefer- album. Die Sportart war mir eigent-
dienste wie Gorillas oder E-Scooter lich egal.
auf den Straßen. SPIEGEL: Weil es ums Gewinnen ging?
Pausder: Gut, aber was ist mit Bion- Um Exzellenz?
tech? Was ist mit Start-ups, die in Pausder: Olympiasiegerin werden,
Rekordzeit Solarpaneele bauen oder das klingt total großkotzig, so war es
Tonnen an Plastikmüll verhindern? nicht gemeint. Ich dachte einfach, es
Es gibt genug Unternehmen, die die wäre schön, ein großes Talent zu ha-
Matthias Koch / IMAGO

Probleme unserer Zeit lösen. Ich ben. Dann kickt die Realität rein, und
hoffe, dass die Leute differenzieren du scheidest bei den westdeutschen
können. Meisterschaften im Vorlauf aus.
SPIEGEL: Warum saßen Sie nie in der SPIEGEL: Frau Pausder, wir danken
»Höhle der Löwen«? Ihnen für dieses Gespräch. n

78 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


WIRTSCHAFT

men: Jobrad. Der Dienstleister hat auf das Geschäft zu verzichten. Das
rund 800 Mitarbeiter, setzte 2021 Unternehmen hat viele Personal-
mehr als 719 Millionen Euro um, bei abteilungen überzeugt, dass sie mit
gut 38 Millionen Euro Gewinn. Und Jobrad zusammenarbeiten. Konzerne
mit einigen der mehr als 6000 Händ- von BMW bis Deutsche Bahn setzen
ler, mit denen Jobrad zusammenarbei- auf Jobrad, auch der SPIEGEL bietet
tet, hat er es sich zuletzt verscherzt. es seinen Beschäftigten an. Der Auf-
Die Neuerung klingt zunächst wand für die mehr als 60.000 Arbeit-
positiv. Statt pauschal sieben Prozent geber, die mit Jobrad kooperieren, ist
verlangt Jobrad von den Händlern winzig – wenn nicht Extraleistungen
offiziell nur noch vier, fünf oder sechs wie die Leasingraten oder Versiche-
Prozent Einkaufsrabatt, abhängig rungen übernommen werden.
vom jährlichen Volumen. Die von »Die Arbeitgeber wählen leider
Jobrad erworbenen Räder werden nicht immer die besten Anbieter, son-
dann über die Arbeitgeber verleast. dern häufig den, der am meisten Wer-

Jochen Tack / picture alliance


Doch da die Obergrenze von 200 bekugelschreiber mitschickt und ein
Euro abgeschafft wurde, führt das ge- Rundum-sorglos-Paket verspricht«,
rade bei teuren E-Bikes dazu, dass die klagt Hempelmann. Dabei gebe es Al-
Händler schnell Dutzende oder gar ternativen. Bei »Deutsche Dienstrad«
Hunderte Euro Rabatt gewähren müs- büßen Händler weniger ein. Wie eine
sen. »Da hat sich die Firma Jobrad interne Liste des Handels zeigt, ver-
Radler in Frankfurt: Der Vergleich der Anbieter ist kompliziert
image- und lobbymäßig keinen Ge- langen andere wie Kazenmaier oder
fallen getan«, sagt Fahrradhändler Businessbike keine Rabatte. Sie ver-
Hempelmann. weisen auf niedrigere Verwaltungskos-
Einzelne Geschäfte haben Jobrad ten. Ein Vergleich ist kompliziert, selbst
die Zusammenarbeit gar gekündigt, Fachhändler blicken kaum noch durch.

Abstrampeln viele üben Kritik. Uwe Wöll vom Ver-


bund Service und Fahrrad (VSF),
Sprachrohr für gut 300 Händler, Her-
Hempelmann arbeitet mit 22 Lea-
singanbietern zusammen. Alle haben
unterschiedliche Bedingungen. Eine

für nix? steller und Dienstleister, sagt: »Job-


rad greift je nach Einkaufskonditio-
nen zwischen 17,5 und 31 Prozent der
seiner rund 30 Arbeitskräfte hat er
für den Papierkram abgestellt. Was
ihn ärgert, auch wegen der Kosten.
Händlermarge ab. Das ist zu viel.« »Wir wollen Mechaniker und keine
MOBILITÄT Diensträder erleben einen Auch wenn die Händler dank E-Bike- Schreibkräfte beschäftigen.«
Leasingboom, allein die Firma Jobrad arbeitet Boom zuletzt ordentlich verdienten. Jobrad ist den Händlern nun ent-
»Wir können den Preis für die Rä- gegengekommen und zahlt einen Zu-
mit Zehntausenden Unternehmen und der nicht einfach erhöhen«, sagt Ver- schuss für Lastenräder sowie eine zu-
Organisationen zusammen. Doch nicht alle bandschef Wöll. Händler Hempel- sätzliche Pauschale für die Wartung
Kunden machen dabei ein gutes Geschäft. mann ergänzt: »Wir erfahren oft erst, der Leasingräder, eine hohe Service-
wenn es ans Bezahlen geht, dass das quote vorausgesetzt. Ob das reicht,
Rad geleast werden soll.« Die Preise das angespannte Verhältnis zu beru-
as Ökologie und Fitness an- beim Kunden draufschlagen, sei laut higen? VSF-Chef Wöll: »Was sich die
W geht, war das Fahrrad dem
Auto schon immer über-
legen. Finanziell aber war es Privat-
den Verträgen mit den Leasinganbie-
tern auch »nicht zulässig«.
Das Problem: Am Ende zahlt der
vergangenen zehn, zwölf Jahre gut
angefühlt hat, muss sich in der kom-
menden Saison neu beweisen.«
sache. Erst seit Unternehmen für Kunde häufig trotzdem drauf, über Doch rechnet es sich für Beschäf-
Diensträder Leasingangebote ähnlich Umwege. Sonderangebote, räumt tigte überhaupt, ein Dienstrad zu lea-
wie für Dienstwagen machen, gilt es Hempelmann ein, gebe es wegen der sen? Überraschenderweise oft nicht.
für Arbeitnehmer als ökonomisch »finanziellen Belastung« jetzt weni- Zwar können sie Steuern und So-
clever. Der Trick: Ähnlich wie der ger. Das Schloss oder den Helm, die zialversicherungsbeiträge sparen. Oft
Pkw muss das Dienstrad nur zum Teil es früher mal so dazugab? »Da wird käme das auf lange Sicht aber teuer,
als »geldwerter Vorteil« versteuert jetzt knallhart kalkuliert.« Und: »Ich warnt Ver.di. Andreas Henke von der
werden, als Sachleistung statt Lohn. kenne keinen Händler mehr, der Job- Gewerkschaft sagt: »Das lohnt sich im
Aber rechnet sich das? Und wer rad jetzt noch offensiv bewirbt.« Er öffentlichen Dienst meistens nicht.«
profitiert am stärksten vom Leasing- spricht zwar von Mehrumsätzen und Denn: Wer weniger in die Renten-
boom bei den Diensträdern?
Eigentlich könnte Tobias Hempel-
mann, 50, zufrieden sein. Er ist Händ-
38
Millionen
höheren Durchschnittspreisen durch
Leasing, euphorisch klingt er nicht.
Jobrad teilt mit, die eingeforderten
kasse einzahle, bekomme später we-
niger raus. Es geht zwar meist nur um
ein, zwei Euro im Monat, doch Ver.di
ler in dritter Generation. In seinem Rabatte beteiligten die Händler »in verweist auf die lange Rentenbezugs-
Laden im lippischen Lage bietet er Euro einem angemessenen Verhältnis« am dauer von im Schnitt fast 20 Jahren.
Tausende Räder an. Mehr als die Leasing. Von besonders umsatzstar- Der Vorteil jetzt werde zum Nachteil
Hälfte wird, wie bei vielen Händlern, ken werde mehr verlangt, und immer im Alter. Gewinner seien die Arbeit-
nicht mehr gekauft, sondern geleast.
Gewinn mehr Händler wollten Jobrad-Lea- geber, die sich einen Teil ihrer Sozial-
Von Kundinnen und Kunden, die sich machte der sing anbieten. Für Arbeitgeber und abgaben sparen können.
so auch ein teures E-Bike gönnen kön- Freiburger Beschäftigte werde es nicht teurer. Zumindest kann das Rad am Ende
nen. Aber er wirkt etwas frustriert. Das Vorgehen kann Jobrad sich der Leasingzeit oft günstig gekauft
Das hängt auch mit einem der Dienstleister leisten, die Marktmacht ist groß – und werden.
größten Player der Branche zusam- Jobrad 2021. die meisten Verkäufer scheuen sich, Alexander Preker n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 79


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Weiß-pinke Sneaker, schillernde Cheerleader-Robe: In der ruandischen BK-Arena in Kigali, der größten Bühne Ostafrikas, tanzt die tansanische
Künstlerin Zuchu (Mitte). Keine Sängerin aus Subsahara-Afrika hat mehr YouTube-Abonnenten als die 30-Jährige. Auf dem Musikfestival
»Move Afrika« performt sie neben Stars wie dem US-Rapper Kendrick Lamar. Zuchus Erfolg steht für den weltweiten Durchbruch afrikanischer
Popmusik: In den USA etwa hat das »Billboard«-Magazin 2022 erstmals Afrobeat-Charts eingeführt.

ministerium könnte dann dazu genutzt werden, Ermittlungen


Diktator Trump gegen politische Gegner einzuleiten. Trump hätte auch die Befug-
nis, die Chefs der wichtigsten Sicherheitsbehörden auszuwech-
seln, etwa des FBI oder der CIA. Um mögliche Proteste gegen
ANALYSE Wie sich der Ex-Präsident und seine Fans
seine Amtsführung auszuschalten, könnte Trump auf den soge-
ein Comeback vorstellen nannten Insurrection Act zurückgreifen. Dieses mehr als 150 Jahre
alte Gesetz erlaubt dem Präsidenten, das Militär bei Unruhen
In den USA werden die Warnungen vor einem politischen auch im Innern, also gegen die eigenen Bürger, einzusetzen.
Comeback Donald Trumps und einer möglichen Diktatur immer Gleichzeitig zeigt die neu aufflammende Debatte in den USA
lauter. »Eine zweite Trump-Amtszeit könnte radikaler sein über die Gefährlichkeit Trumps, dass seine politischen Gegner
als die erste«, schreibt etwa die »New York Times«. In der aufgewacht sind. Sie beginnen, das Risiko eines möglichen
»Washington Post« fürchtet ein Kommentator: »Eine Trump- Trump-Comebacks ernster zu nehmen – und schlagen Alarm.
Diktatur erscheint immer unvermeidlicher.« Für US-Präsident Joe Biden und seine Demokraten dürften die
Tatsächlich vergeht derzeit kaum ein Tag, ohne dass detail- Warnungen vor einer möglichen Trump-Diktatur bald zum
lierteste Planungen aus Kreisen von Trump-Anhängern oder aus wichtigsten Wahlkampfthema werden. Damit werden sie die
Trump-nahen Thinktanks für die nächste Regierung bekannt eigenen Anhängerinnen und Anhänger mobilisieren. Auch
werden. Den offiziellen Stempel des Ex-Präsidenten trägt bisher Wechselwähler, die »Independents«, will Biden auf seine Seite
keiner dieser Pläne, doch Trump selbst macht ebenfalls Andeu- ziehen. Der äußerst unbeliebte Präsident setzt darauf, in ihm das
tungen dazu, was er vorhat. geringere Übel sehen – eine Formel, mit der er schon die Wahl
Fest steht, dass er als Präsident die wichtigsten Bundesbehör- 2020 gewinnen konnte: Die Amerikanerinnen und Amerikaner
den nach einem möglichen Wahlsieg mit einer Heerschar sollen für ihn stimmen – weil er der Einzige ist, der Trump ver-
besonders treuer Mitarbeiter besetzen will. Speziell das Justiz- hindern kann. Roland Nelles

82 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


USA wollen Orts­ in einer US­Kaserne in Kaisers­
lautern untergebracht werden,
kräfte über Ramstein das Generalkonsulat in Frank­
ausfliegen furt stellt dann die »Special Im­
migration Visa« für die Weiter­
AFGHANISTAN Die USA haben reise in die USA aus.
Deutschland um Hilfe bei der Am vergangenen Wochen­
Rettung Tausender Afghanen ende gab es einen Testflug mit
gebeten, die bis 2021 für die rund 200 Afghanen. Die USA
US­Armee und andere Institu­ haben Zehntausenden früheren
tionen am Hindukusch tätig wa­ Ortskräften die Ausreise ver­
ren. Das State Department will sprochen, bisher flog man Kan­

Kyodo News / IMAGO


frühere Ortskräfte, die die Ra­ didaten für das Schutzpro­
che der Taliban fürchten müs­ gramm zunächst nach Katar.
sen, mit privaten Charterflügen Die US­Regierung bestätigte,
aus Kabul nach Ramstein brin­ man wolle jetzt Deutschland
gen. In Deutschland sollen die als »zusätzlichen Ort« für das
Chow in Hongkong 2018
bereits überprüften Afghanen Schutzprogramm nutzen. In
Afghanistan sitzen bis heute
auch mehrere Tausend Men­ »Ich habe immer noch
Sra T. Crul / U.S. Marine / ZUMA / picture alliance

schen fest, denen nach der


Machtübernahme der Taliban Panikattacken«
eine Aufnahme in Deutschland
zugesagt worden war. Das
HONGKONG Die Oppositionsaktivistin Agnes Chow
Schutzprogramm der Bundes­
regierung sieht jedoch vor, dass über ihre Flucht ins kanadische Exil
die Afghanen zunächst ins
Nachbarland Pakistan ausrei­ Chow, 27, ist eine der bekanntes- tischen Belastungsstörung.
sen, damit die Deutsche Bot­ ten Stimmen der Hongkonger Wird es jetzt langsam besser?
schaft dort die Visa­Formalitä­ Demokratiebewegung. Für ihr Chow: Ich habe immer noch
ten und eine Sicherheitsüber­ Engagement saß sie 2021 ein Panikattacken. Die Genesung
Evakuierung aus Kabul 2021 prüfung vornehmen kann. MGB halbes Jahr lang in Haft. wird viel Zeit brauchen. In
Toronto kann ich zumindest
SPIEGEL: Frau Chow, Sie halten nicht festgenommen werden,
Ukrainischer politische Ambitionen. »Viele sich seit September in Toronto aber ich bin weiter besorgt
sehen in ihm schon einen auf und haben angekündigt, um meine Sicherheit. Ich habe
Eisenhower ukrainischen Eisenhower«, nicht zurückkehren zu wollen. viele Berichte über Chinas
UKR AINE Armeechef Walerij sagt der Politologe Wolodymyr Wie fühlen Sie sich? »Übersee­Polizei« gelesen.
Saluschny ist so populär wie Fessenko. Der populäre US­ Chow: Es war eine harte Ent­ SPIEGEL: Hongkongs Regie­
sonst nur einer im Land, näm­ General Dwight D. Eisenhower scheidung. Ich durfte erst aus­ rungschef John Lee sagt, man
lich Präsident Wolodymyr Se­ war nach dem Ende des Zwei­ reisen, nachdem ich eine von werde Sie »lebenslang« ver­
lenskyj. Noch im Juli sah man ten Weltkriegs in die Politik Polizisten begleitete Reise nach folgen, und wirft Ihnen vor, mit
die beiden in herzlicher Einig­ gegangen und Präsident gewor­ Festlandchina gemacht und »fremden Mächten« zusam­
keit, als der Präsident dem den. Bisher hat Saluschny nicht einen Reuebrief geschrieben menzuarbeiten.
General eine Pistole mit eingra­ erkennen lassen, dass er in die hatte. Bis zum 28. Dezember Chow: Das ist so lächerlich.
vierter Widmung überreichte. Politik strebt. Fessenko spricht müsse ich mich wieder bei der Die einzige Macht, die je mein
Aber gut vier Monate und eine von einem Patt – einerseits Polizei melden. Ich hatte das Handeln und Denken beein­
erfolglose Gegenoffensive spä­ untersteht Saluschny Selenskyj, Flugticket zurück schon ge­ flussen wollte, war die Hong­
ter ist die Stimmung zwischen der Präsident kann ihn entlas­ bucht, aber zuletzt gab es im­ konger Polizei.
politischer und militärischer sen, wann immer er will. Ande­ mer wieder Festnahmen von SPIEGEL: Wie sieht Ihr Leben in
Führung deutlich getrübt, rerseits weiß Selenskyj: Wenn Rückkehrern, sodass meine Toronto aus?
angeblich erwägt Selenskyj er das tut, drängt er Saluschny Angst überwog, auch ich würde Chow: Wenigstens kann ich zur
Saluschnys Entlassung. Dass dorthin, wo er ihn nicht haben festgesetzt werden. Uni gehen, meine Hausaufgaben
Saluschny im britischen will, nämlich in die Politik. CES SPIEGEL: Wie haben Haft und machen – leben wie eine nor­
»Economist« eine ausführliche Überwachung Sie verändert? male internationale Studentin.
Analyse der Schwierigkeiten Chow: Die Haft war schlimm, SPIEGEL: Sie sind Aktivistin, seit
an der Front veröffentlichte, hat aber noch schlimmer war die Sie 16 sind. Hat das Regime
man ihm im Präsidentenbüro Festnahme. Ich werde die Rufe Ihnen und Mitstreitern wie dem
Ukrainian Presidency / ZUMA Wire / IMAGO

offenbar übel genommen. Nun der Nationalen Sicherheits­ inhaftierten Joshua Wong die
kommt Kritik auch aus der Prä­ polizei vor meiner Tür nie Jugend gestohlen?
sidentenfraktion im Parlament, vergessen: Kommen Sie raus! Chow: Ich bereue nichts. Natür­
von der Abgeordneten Marjana Dann haben sie das Schloss lich hat meine Teilnahme in der
Besuhla. aufgebrochen und die Wohnung Bewegung mein Leben kom­
Die ukrainische Gesellschaft durchsucht. Sie konfiszierten plett verändert, aber ich halte
ist schockiert, Saluschny galt meine Dokumente, Geräte, sie für bedeutsam und richtig.
vielen als unantastbar. Aber meinen Pass. In den letzten drei Jahren habe
gerade seine Beliebtheit ist sein SPIEGEL: Sie leiden unter De­ ich verstanden, was es bedeutet,
Problem: Man unterstellt ihm Selenskyj, Saluschny pression und einer posttrauma­ frei von Angst zu sein. CDI

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 83


AUSLAND
Vanya Russkiy / Kommersant Photo / Polaris / laif

Einmal Hölle und nicht


mehr zurück
hre Hände müssten in Bewegung bleiben, Es sind mutige Worte in Russland, wo man Sie unterschreiben Petitionen, wenden sich
I sagt Marija Andrejewa. Stricken, kleben,
malen. Nur nicht ruhen dürften sie. Sonst
fangen die Gedanken an zu kreisen. Wie geht
inzwischen für vermeintliche Verunglimpfun-
gen und Falschnachrichten über den Krieg
harsch bestraft werden kann.
an Abgeordnete, Gouverneure und Behörden.
Und direkt an den Kreml. Die Wut ist inzwi-
schen so groß, dass die Soldatenfrauen jeden
es ihrem Mann da draußen in der Kälte in der Andrejewa ist nicht die Einzige, die for- Tag unzählige Nachrichten an die Nummern
Ukraine? Wann wird sie ihn wiedersehen? dert, dass ihr eingezogener Mann heimkehrt. von Wladimir Putins TV-Show »Direkter
Wird er die Tochter groß werden sehen? Sie Tausende verzweifelte Ehefrauen, Mütter und Draht« schicken, die für den 14. Dezember
ist doch erst zwei. Schwestern tragen derzeit ihre Wut ins Inter- angekündigt ist. Hier spricht der Präsident in
Ganze Puppenzimmer hat Andrejewa net. Und sie werden immer mehr. Der Tele- der Regel einmal im Jahr mit Bürgern.
schon gebaut, seit ihr Mann in die Ukraine gram-Kanal »Der Weg nach Hause«, in dem Russlands Angriff gegen die Ukraine dau-
geschickt wurde. Sie sitzt in einem Café sie sich austauschen, zählt mittlerweile mehr ert schon mehr als 21 Monate. Putin lässt
in Moskau und erzählt von Minihexen- als 31.000 Mitglieder, zehnmal so viele wie kaum Zweifel daran, dass er den Krieg noch
Hütten mit Ofen und selbst gestrickten Woll- noch vor anderthalb Monaten. Die Frauen länger führen wird: Die geplanten Militäraus-
deckchen. veröffentlichen Videoclips in sozialen Me- gaben für das kommende Jahr sind so hoch
Im Herbst 2022 ordnete Machthaber dien, in denen sie Zettel in die Kamera halten, wie nie seit Sowjetzeiten, die Rüstungsindus-
Wladimir Putin die Mobilmachung an, ließ auf denen steht: »Bringt die Mobilgemachten trie produziert im Akkord Waffen. Der Prä-
mindestens 300.000 Reservisten einziehen. nach Hause!« Oder: »Wir fordern Demobili- sident wirkt zufrieden, Russland habe seine
Einer von ihnen: Andrejewas Mann. Mehr sierung.« »Erlauben wir uns wirklich diese »Souveränität als Weltmacht« zurückerlangt,
als ein Jahr ist er nun schon im Einsatz in der Ungerechtigkeit?«, fragt beispielsweise Darija schwärmte er zuletzt. Er sieht sich gestärkt:
Ukraine, als Sanitäter, irgendwo nahe der aus dem Südural auf Telegram. Sie teilt eine Die ukrainische Gegenoffensive ist größten-
Front. Nachricht, Rekrutierte in Strafkolonien seien teils gescheitert, der Westen ringt um weitere
Andrejewa findet, ihr Mann habe genug nach einem halben Jahr Kampfeinsatz be- Waffenlieferungen und Hilfen für Kiew.
verwundete Soldaten zusammengeflickt, gnadigt worden und kehrten heim – anders Doch nun könnten die aufgebrachten Frau-
Leichname begutachtet. Jetzt seien andere als ihre eingezogenen Männer. en für Putin zu einem Problem werden, das
dran. »Ich will, dass er nach Hause kommt. Warum gelten für Verbrecher andere Re- er nicht ignorieren kann. Am 17. März 2024
Er ist erschöpft. Es reicht.« Die zierliche Frau geln als für Unschuldige, fragen die Frauen. will er Präsidentschaftswahlen abhalten las-
mit den dunklen Haaren ist 34 Jahre alt, Angelika aus dem südrussischen Rostow sen. Und auch wenn seine Bestätigung im Amt
Kinderärztin, arbeitet halbtags als Wissen- am Don schreibt: »Unsere Männer haben ge- als Formsache gilt: Unruhe im Land kann er
schaftlerin für eine Klinik. Die Ukraine, fin- nug Last auf ihren Schultern zu tragen, sie nicht gebrauchen. Bislang hat der Kreml es
det sie, gehöre zu Russland und nicht zum können nicht für alle herhalten.« Die bisher geschafft, den meisten Russinnen und Russen
Westen. Und trotzdem dimmt sie ihre Stim- Rekrutierten machen nur gut ein Prozent der Normalität vorzugaukeln. Die Mehrheit hat
me nicht, als sie sagt: »Putin hat mir meinen mehr als 25 Millionen Reservisten der Armee sich ins Privatleben zurückgezogen, akzep-
Mann gestohlen, meine Familie. Er hat uns aus. Warum nicht mehr an die Front beordert tiert den Krieg mit ungewissem Ausgang. Nur
alle betrogen.« werden, wollen die Frauen wissen. ein Bruchteil der Russen muss ihn ausfechten.

84 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


AUSLAND

Frauen beim Abschied von ihren eingezogenen Männern in Tomsk


im Herbst 2022 (linke Seite), Soldatengräber in Murmansk

Nanna Heitmann / The New York Times / Redux / laif


RUSSLAND Die Mehrheit der Bevölkerung nimmt den bereits seit mehr als 21 Monaten
dauernden Krieg gegen die Ukraine klaglos hin. Doch jetzt begehren Frauen
eingezogener Männer auf. Und werden für Putin zum Problem. Von Christina Hebel

Auch haben die meisten Russen die teils tätern wird für den Fronteinsatz Amnestie in einem Manifest den sofortigen Abzug ein-
chaotisch abgelaufene Mobilmachung im versprochen. gezogener Zivilisten.
Herbst 2022 verdrängt. Die Militärbehörden Jetzt vor den Wahlen sei der Zeitpunkt Andrejewa beantragte eine Kundgebung
zogen damals, oft auf Grundlage veralteter aufzubegehren, sagt Andrejewa auf dem blau- in Moskau, landesweit taten es ihr die Frauen
Daten, ein, wen sie bekamen – selbst Herz- en Sofa des kleinen Cafés in Moskau. Sie stellt gleich. Die Behörden erteilten keine Geneh-
kranke, Diabetiker, Erblindete. Es fehlte an die Kaffeetasse abrupt vor sich auf den Tisch: migungen, als Begründung musste oft die Co-
allem: an Stiefeln, Erste-Hilfe-Sets und war- »Wann endlich werden wir gehört?« ronapandemie herhalten. Andrejewa lacht
mer Kleidung. Damals gelang es dem Kreml Vor ein paar Wochen, zum Jahrestag der auf, es klingt bitter: »Die Kommunisten dür-
und den Sicherheitsbehörden schnell, die auf- Oktoberrevolution, kaperte Andrejewa mit fen demonstrieren, wir nicht?«
kommende Unzufriedenheit einzudämmen: etwa 30 anderen Frauen eine Kommunisten- Dann springt sie plötzlich vom Sofa auf
Einige untaugliche Männer durften wieder kundgebung am Roten Platz. Sie hielt ein und zeigt auf ihren weißen Pullover. »Schoi-
nach Hause; dazu wurde Druck auf eingezo- Schild hoch: »Gerechtigkeit für die Eingezo- gu! Erfülle die vorrangigen Aufgaben«, prangt
gene Männer und ihre Verwandten ausgeübt, genen. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen«, dort in schwarzen Buchstaben. Im Dezember
die sich allzu laut beschwerten. hatte sie darauf geschrieben. Die Bilder ver- 2022 hatte Verteidigungsminister Sergej
Bis jetzt ging das gut. Doch nun rumort es breiteten sich schnell auf Telegram, im Kanal Schoigu im Beisein von Putin »vorrangige
erstmals deutlich. »Der Weg nach Hause« forderten die Frauen Aufgaben« für das Militär in diesem Jahr ver-
Diesmal, sagt Politanalystin Tatjana Sta- kündet. Einer seiner Punkte: die Anzahl der
nowaja, werde es für die Behörden schwie- Vertragssoldaten auf 521.000 Mann zu er-
riger werden, den Protest abzutun. Putin Kein Rückzug höhen und dabei eingezogene Zivilisten zu
dürfe die Frauen nicht zu sehr verärgern. Zu ersetzen. Passiert ist nichts.
viele Soldaten sind bereits gefallen oder ver- »Würden Sie folgende Entscheidungen von Stattdessen zeigte sich Putin im Kreis sorg-
Präsident Putin unterstützen?«,
wundet, Hunderttausende sollen es nach Antworten in Prozent fältig ausgewählter, loyaler Soldatenfrauen unter
Nato-Schätzungen sein, Zehntausende wohl anderem aus der Kremlpartei Einiges Russland.
eher/eindeutig ja eher/eindeutig nein
allein unter den Eingezogenen. Neue, frische Zum Jahrestag der Mobilmachung im Septem-
Soldaten könne der Staatschef kaum rekru- Beschluss, den militärischen Konflikt ... ber schickte der Kreml den Vorsitzenden des
tieren lassen, das würde vor der Wahl noch ... zu beenden Verteidigungsausschusses der Duma, Andrej
mehr Unfrieden schüren. Die Armee muss 70 21 Kartapolow, vor. Der erklärte, für die Eingezo-
Lücken mit Vertragssoldaten und Freiwilli- genen sei »keine Rotation vorgesehen«, »sie
gen füllen. Dazu wird mit anderen Methoden ... zu beenden und die eroberten werden nach Hause zurückkehren, wenn die
weiterrekrutiert: Wehrpflichtige werden ge- ukrainischen Gebiete zurückzugeben Spezialoperation beendet ist«. Mit der Geduld
nötigt, Verträge für den Kriegsdienst zu 34 57 vieler Frauen war es endgültig vorbei.
unterschreiben, Einwanderer, die die russi- »Eine Schweinerei« sei das, »Sklaverei«, fin-
sche Staatsbürgerschaft erhalten wollen, S Quelle: Levada; Umfragen vom 19. bis 25. Oktober 2023 det Andrejewa. »Die Männer müssen endlich

unter insgesamt 1607 Menschen ab 18 Jahren in 50 Regionen


müssen in den Kampf, verurteilten Straf- Russlands; an 100 fehlende Prozent: »schwer zu beantworten« aus der Hölle raus.« Ihr Ehemann, ein gelernter

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 85


AUSLAND

Krankenpfleger und Masseur, sei Mann wolle nicht vorzeitig aus der
24 Stunden am Tag, sieben Tage die Wo- Ukraine zurück. Doch langsam gehe
che im Einsatz. Schlaf bekomme er nur ihr die Kraft aus. Um alles müsse sie
zwei bis drei Stunden in der Nacht. Ope- sich allein kümmern, die zwei Kinder,
riert werde in provisorischen Unterkünf- die Arbeit, die Baustelle, ihr Mann und
ten, in alten Getreidespeichern aus Me- sie hätten kurz vor der Mobilmachung
tall, eingegraben in der Erde. begonnen, ein Haus zu bauen. In den
Anders als Andrejewa will Jewge- ersten Monaten habe sie kaum schla-
nija weder ihren Nachnamen noch fen können, Beruhigungsmittel ge-
ihren genauen Wohnort nennen. Die nommen. »Ich will meinen Mann ein-
33-Jährige lebt in der südrussischen fach nur zurück.« Ihr sei klar, dass das
Region Wolgograd und hat wie die vielleicht egoistisch sei. »Aber es gibt
meisten verzweifelten Frauen Angst, doch noch so viele andere Männer in
ihr Mann könnte wegen ihrer Be- unserem Land.« Statt kurzer Urlaube,
schwerden von seinen Kommandeu- zweimal zwei Wochen im Jahr, müsse
ren zur Bestrafung an die vorderste eine regelmäßige Rotation eingeführt
Front geschickt werden. werden, findet sie.
»Ihr seid keine Menschen, sondern Salina hat die Behörden danach in
Fleisch«, hätten die Vorgesetzten einem Brief gefragt. Bei einer Ver-
ihrem Mann gesagt. Die Eingezoge- sammlung für Angehörige habe einer
nen stünden ganz unten in der Hier- der offiziellen Vertreter ausweichend
archie der Armee. Sie müssten sogar reagiert, erzählt sie: Alles hänge von

Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL


ihr Essen selbst kaufen. »Er ist kör- der militärischen Lage in der Ukraine
perlich und moralisch am Ende, völlig ab. Stattdessen erhält die Familie Frei-
schutzlos und ohne Hoffnung.« Jew- karten für den Zirkus, Extrazahlungen
genija atmet schwer ins Telefon. Sie von umgerechnet rund 100 Euro pro
kämpft mit den Tränen, als sie er- Kind. Die örtliche Behörde verlegte
zählt, dass rekrutierte Männer nun kostenlos Strom und Wasser auf die
froh seien, wenn sie schwer verletzt Baustelle, installierte Zähler.
würden. »Sie liegen im Krankenhaus, Unabhängige russische Medien be-
Füße und Beine weggesprengt, und »Putin hat mir meine Familie richteten, die Präsidialverwaltung
freuen sich, weil sie nicht mehr in den
Krieg zurückmüssen.«
gestohlen. Er hat uns alle betrogen.« habe die Regierungen in den Regionen
angewiesen, Protesten mit Geld ent-
Marija Andrejewa, Kinderärztin
Nach dem Gesetz zur Mobil- gegenzuwirken. Einzeln solle auf die
machung kann ein eingezogener Re- Frauen eingegangen werden. Bei Ma-
servist das Kriegsgebiet einzig ver- rija Andrejewa in Moskau haben sie
lassen, wenn er schwer verwundet, es noch nicht versucht, sie will keine
krank, über 65 Jahre alt ist oder sich Vergünstigungen. »Der Staat soll sich
strafbar gemacht hat. Und nur Putin die in den Hintern schieben«, sagt sie.
kann das Ende der Mobilmachung Staatliche Propagandisten be-
anordnen, die er befehligt hat. schimpfen die Frauen nun als »Fein-
1500 Kilometer südlich von Mos- de« und »Verräter«. Hinter dem Tele-
kau in Tscherkessk, einer 113.000-Ein- gram-Kanal »Der Weg nach Hause«
wohner-Stadt am Rande des Großen stünden ausländische Geheimdienste,
Kaukasus, bittet Salina in ihr Arbeits- behaupten sie. Der übliche Schmutz,
zimmer. Sie legt ihr Handy vor sich sagt Andrejewa. Die Administratoren
hin, blickt ständig aufs Display. Mel- des Kanals formulieren ihre Posts vor-
det sich ihr Mann? Geht es ihm gut? sichtig, halten sich im Hintergrund,
Ihren richtigen Namen will die das macht es für die Sicherheitsbe-
Endzwanzigerin nicht geschrieben hörden schwerer, gegen sie vorzuge-
sehen, wie auch ihren Beruf nicht. Sie hen. In einigen Regionen wurden
hat Angst, Schwierigkeiten mit den nach Medienberichten erste Frauen
Behörden zu bekommen. Dabei von der Polizei einbestellt. Sie hatten
unterstützt sie wie viele der verzwei- auf ihre Autos den Slogan »Gebt mei-
felten Frauen Putin und seinen Krieg. nen Mann zurück – ich bin am Ende«
Ihren Mann, der noch am ersten Tag geklebt.
Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL

der Mobilmachung seinen Einberu- Ihr Verlangen nach Gerechtigkeit


fungsbescheid erhielt, nennt sie einen sei größer als die Angst, sagt Andre-
»Helden, der für sein Heimatland ein- jewa. Ihre Stimme ist nun ruhig. Wäh-
steht und den Kopf hinhält«; Russen, rend des ersten Tschetschenienkriegs,
die sich nach Beginn der Mobil- erzählt sie, seien es Soldatenmütter
machung versteckten und außer Lan- gewesen, die eine Antikriegsbewe-
des flohen, sind für sie »Verräter«. gung organisiert und dazu beigetra-
Auch Salina ist Mitglied in der Te- gen hätten, den Kampf zu beenden.
legram-Gruppe »Der Weg nach Hau- »Warum er – es gibt doch so viele Sie werde erst schweigen, sagt sie,
se« und postet manchmal unter Pseu- wenn ihr Mann wieder neben ihr im
donym ihren Ärger in die Welt. Sie andere Männer in unserem Land?« Bett liege.
sagt, sie stehe hinter Putin, und ihr Salina, Soldatenehefrau Mitarbeit: Alexander Chernyshev n

86 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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AUSLAND

Männlichkeit. Das allein ist nicht


strafbar, wie sein Team gern betont.
Im Juni dieses Jahres allerdings hat
die rumänische Staatsanwaltschaft
Anklage gegen ihn und seinen Bruder

»Du bist mein« Tristan erhoben. Sie wirft den Ge-


schwistern unter anderem Menschen-
handel und die Bildung einer krimi-
nellen Vereinigung vor. Andrew Tate
RUMÄNIEN Viele junge Männer verehren den Influencer Andrew Tate wie einen ist außerdem wegen Vergewaltigung
angeklagt. Mit zwei mutmaßlichen
Guru. Ermittler dagegen sehen in ihm einen Mann, der Frauen bedroht, Komplizinnen sollen die Brüder sie-
Tate ist wegen Menschenhandels und Vergewaltigung angeklagt. Gerichtsakten ben Frauen sexuell ausgebeutet ha-
zeigen nun, was ihn so erfolgreich macht. Von Lina Verschwele ben, darunter auch Lucinda. Weil Tate-
Fans die Anfang-zwanzig-Jährige im
Netz bedrohen, ist ihr Name hier ge-
m Anfang wirkt alles ganz ein- dir trauen?« Er antwortet: »Das ändert, auch andere Beschreibungen
A fach. Im Januar 2022 lernen sie
sich auf Instagram kennen, sie
texten hin und her, wenige Tage spä-
kannst du.«
Mit dieser Frage kennt Tate sich
aus. Jahrelang hat er perfektioniert,
sollen nicht preisgegeben werden.
Lucindas Beziehung zu Tate lässt
sich aus den Gerichtsakten rekonstru-
ter reist er in ihre Stadt. Sie gehen das Vertrauen anderer zu gewinnen. ieren: Als sie im Frühjahr 2022 auf
essen, das Restaurant sucht er aus. Es Auf seiner Website stellte er sich einst seinen Wunsch in Bukarest landet, ist
ist ihr erstes Date, aber er wirkt ent- so vor: Andrew Tate, ehemaliger Andrew Tate offenbar verreist, jeden-
schlossen. Er sagt, er wolle heiraten, Kickboxer, vierfacher Weltmeister, falls holt seine Assistentin sie vom
wenn sie es ernst mit ihm meine. Multimillionär. Was ihn reich machte? Flughafen ab. Sie bringt Lucinda nicht
So beschreibt es Lucinda später »Webcam«, schreibt er offenherzig. in Tates Anwesen, das mit einem Pool
Ermittlern. »Meine Aufgabe war es, ein Mädchen ausgestattet und auf Social Media be-
Der Brite Andrew Tate ist ein er- zu treffen, auf ein paar Dates zu rühmt ist. Lucinda zieht in ein Haus
folgreicher Mann und mehr als zehn gehen, mit ihr zu schlafen, zu testen, mit anderen Frauen, in einem Vorort
Jahre älter als sie. Auf Social Media, ob sie gut ist. Sie dazu zu bringen, nahe der Hauptstadt.
seinem Zuhause, sieht man ihn in Pri- sich in mich zu verlieben, bis sie alles An einem noch warmen Herbsttag,
vatjets und auf Jachten. Seine Videos tut, was ich sage, und sie dann vor die ein paar Wochen vor dem nächsten
haben viele Millionen Aufrufe. Er Kamera zu bekommen, damit wir Gerichtstermin, bellen Hunde hinter
zeigt sich darin gern im Sakko, die gemeinsam reich werden können.« dem hohen Tor, hinter dem die Tates
Ärmel so eng, dass der Bizeps hervor- Reichtum verspricht Tate auch Frauen untergebracht haben sollen.
sticht. Kurz nach dem ersten Date anderen Männern. In Onlinekursen Ein Nachbar grüßt, von seinem Haus
trifft sie ihn wieder, sie verliebt sich. lehrte er, wie sie am Webcam-Ge- aus kann er in den Garten blicken. Ja,
Aber so leicht ist es offenbar doch schäft von Frauen verdienen können, die Frauen nebenan seien ihm auf-
nicht. »Kannst du genug lieben, um also an pornografischen Bildern und gefallen, sie seien ja oft kaum beklei-
eine Ehefrau zu sein?«, fragt er kurz Videos. Das genannte Zitat ist inzwi- det gewesen. Noch dazu hätten die
nach ihrem ersten Kontakt. »An mei- schen gelöscht, Kurse bietet er weiter meisten von ihnen nie allein das Haus
ner Seite zu bleiben, wohin ich auch an. In Videos erklärt er Männern, wie verlassen.
gehe?« Ein Gericht hält diese Whats- sie im Netz viel Geld machen, warum Auch Lucinda wundert sich offen-
App-Nachricht später in Akten fest, sie Männerbünde brauchen, dicke bar. Sie fragt Tate über WhatsApp,
seit Juni ist Tate in Rumänien wegen Autos und harte Disziplin. Tate sagt was die anderen Frauen dort täten.
des Verdachts auf Menschenhandel Männern, wie sie leben sollen. Andrew Tate antwortet schlicht:
und Vergewaltigung angeklagt. Die Für Leute wie ihn gibt es mittler- »OnlyFans«. Die Frauen zögen sich
Chats lassen ein System der Manipu- weile einen eigenen Begriff: Man- für die Erotikplattform vor der Ka-
lation aufscheinen. Dem SPIEGEL lie- fluencer. Allein auf der Plattform X mera aus, manche hätten eine Show
gen die transkribierten Nachrichten in hat er mehr als acht Millionen Follo- auf TikTok. Sie fragt weiter: »Warum
rumänischen Gerichtsdokumenten vor. wer. Viele seiner Fans sind Teenager »In Phase fünf müssen sie dann für G. arbeiten? Das
Sie zeichnen das Bild eines Mannes, und junge Männer. »Er hat eine gan- können sie doch allein tun.« G. ist
der seinen Einfluss für sich zu nutzen ze Generation gerettet«, sagt einer
beginnt die Tates Assistentin, sie wurde im Juni
weiß und verspricht, wonach sich wohl von ihnen dem SPIEGEL . Ausbeutung.« mit Tate angeklagt. Tate antwortet:
jeder sehnt: Nähe und Anerkennung. Die Manager von TikTok, Face- Silvia Tăbuşcă, »Das können sie nicht. Nicht richtig.«
Viele seiner Nachrichten an Lu- book, Instagram und YouTube halten Juristin Erst sein Team mache die Frauen zu
cinda klingen demnach so: »Du bist Andrew Tate dagegen für gefährlich. Profis.
mein«, schreibt er. »Vergiss das nicht. Sie haben seine Profile 2022 wegen Loverboy-Methode, so nennt die
Und verhalte dich danach.« Lucinda Verstößen gegen ihre Richtlinien ge- ermittelnde Sondereinheit der Staats-
soll zu ihm ziehen, von einer Haupt- sperrt. Statt von Frauen redet Tate oft anwaltschaft Tates Taktik: Die Tates
stadt in Westeuropa nach Bukarest von Females, Weibchen. In einem in- hätten Frauen Liebe und Hochzeits-
in Rumänien. Von dort aus führt An- zwischen gelöschten Post schrieb er, pläne vorgetäuscht, um sie so vor die
drew Tate seit Jahren sein Social-Me- dass Frauen »Verantwortung« tragen Webcams zu bringen.
Ilya Bugaev / DER SPIEGEL

dia-Imperium. Lucinda willigt ein. müssen, wenn sie vergewaltigt wer- Andrew Tate und sein Bruder be-
Vielleicht wundert sie, dass eine Frau den, dass sie keine Jobs annehmen streiten die Vorwürfe, die Hauptver-
ihr Flugticket bezahlt, die Tate als sollten, weil sie den ganzen Tag dafür handlung hat noch nicht begonnen.
seine Assistentin bezeichnet. Vor benötigten, eine gute Partnerin zu Eine Interviewanfrage des SPIEGEL
ihrer Abreise fragt sie ihn: »Kann ich sein. Tate ist der König der toxischen an Andrew Tate lässt sein Anwalt of-

88 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


AUSLAND

Beschuldigter Tate nach Entlassung


aus Hausarrest

Alexandru Dobre / dpa


fen, er selbst will nicht zitiert werden. Die unter anderem wegen Vergewaltigung und to mehr habe ich es genossen.‹« In einer Doku
Brüder lassen sich nur am Rande ihrer Ge- körperlicher Angriffe angezeigt. Mittlerweile der BBC sind manche der Sprachnachrichten
richtstermine sprechen. erhebt dort eine vierte Frau Vergewaltigungs- zu hören, die Tate geschickt haben soll.
Das Gericht in Bukarest sitzt in einem mo- vorwürfe, gemeinsam wollen sie Tate in 2016 fliegt Tate in England aus einer Big-
dernen Bau aus hellem Stein und spiegelnden einem Zivilprozess verklagen. Brother-Show, weil ein Video auftaucht, in
Scheiben. Anfang November fährt dort eine Dem SPIEGEL schildert einer ihrer Anwäl- dem er eine Frau mit einem Gürtel schlägt –
schwarze Limousine vor. Ein Dutzend Jour- te, Jack Beeston, die Zeit, in der seine Man- angeblich einvernehmlich. Kurz darauf zieht
nalisten bringt Kameras in Stellung, die Tates dantinnen Andrew Tate kennengelernt haben er nach Rumänien, wo die Webcam-Industrie
steigen aus. Andrew Tate läuft breitbeinig, sollen. Rund zehn Jahre ist das her. Beeston bereits boomt.
als ginge es in den Boxring, nur dass er dabei sagt, auch zwei seiner Mandantinnen hätten Anwalt Jack Beeston sagt: »Es scheint, dass
Sakko und Sonnenbrille trägt. Bodyguards einst für Tate vor Webcams gearbeitet. Als Tate in Rumänien dasselbe Verhalten an den
begleiten die Brüder. Tate vor Jahren ins Geschäft einstieg, lebte Tag legte wie in Großbritannien. Aber in
Vor Gericht geben sich die Tates als Ver- er noch in England. einem größeren, fast industriellen Maßstab.«
folgte: Sie reden von Neidern und eifersüch- Andrew Tate wurde in den USA geboren, Wegen der ihm vorliegenden Beweise glaubt
tigen Frauen, die sie mit Lügen ins Gefängnis nach dem Umzug der Familie wuchs er in Beeston, Tate habe sein früheres Verhalten
bringen wollten. An diesem Tag aber soll es Luton bei London auf. Seine Mutter habe ihn in Rumänien gewissermaßen weiterentwi-
nicht um die Frauen gehen, sondern um et- und seinen Bruder allein und in armen Ver- ckelt: zu jener Loverboy-Methode, die ihm
was, an dem Tate vermutlich mehr hängt: hältnissen großgezogen, schreibt Tate auf sei- die Staatsanwaltschaft dort jetzt vorwirft.
seine Autos. Vor knapp einem Jahr hat die ner Website. 2014 erreichte er den Höhepunkt Die englische Staatsanwaltschaft dagegen
rumänische Polizei Tates Besitz bis auf Wei- seiner Kickbox-Karriere, gewann seinen drit- stellte die Ermittlungen gegen Tate 2019 ein.
teres beschlagnahmt, darunter 15 Luxusautos, ten Weltmeistertitel, das Tattoo einer Kobra Auf Anfrage heißt es, sie sei zu dem Schluss
Tates Ferrari und den blauen Rolls-Royce auf der Brust wurde sein Markenzeichen. gekommen, dass »keine realistische Aussicht
Phantom. Nach seiner Festnahme musste Tate Etwa in dieser Zeit habe Tate seine Man- auf eine Verurteilung besteht«. Jack Beeston
sieben Monate lang in Untersuchungshaft und dantinnen bedroht, geschlagen und gewürgt, erklärt, seine Mandantinnen, die Tate für das
Hausarrest. Danach durfte er Bukarest und manche bis zur Ohnmacht, sagt Beeston. In Webcam-Geschäft rekrutierte, hätten den
den angrenzenden Kreis nicht verlassen. Jetzt einem Video zeigte Tate, wie das ausgesehen Eindruck, die Polizei habe ihnen weniger
soll der Fuhrpark zurück und die Ausreise- haben könnte. Er macht darin nach, wie er geglaubt, weil sie Camgirls waren.
sperre weg. eine Frau schlägt, sie am Hals packt und schüt- Nach der Festnahme der Tates hat deren
Seine Freiheit ist eines von Tates Lieblings- telt, dazu ruft er: »Halt die Fresse, Schlampe!« Sicherheitschef in Rumänien der BBC erzählt,
themen, 2017 erklärte er damit auch seinen Drei von Beestons Mandantinnen soll Tate was er von den Frauen hält, die gegen Tate
Umzug von Großbritannien nach Rumänien. damals vergewaltigt haben. Jack Beeston hält aussagen. Sie seien »jung und dumm«. Manche
»Ich bin kein Vergewaltiger«, sagte er, »aber die Beweise für erdrückend, weil es eine Au- hätten geglaubt, bald Andrews Frau zu werden.
ich mag die Idee, einfach zu tun, was ich will.« genzeugin gebe und Nachrichten von Tate. Wenn Ermittler von der Loverboy-Metho-
Schon damals wurde gegen ihn in Großbri- »Er sagt darin Dinge wie: ›Ich liebe es, dich de sprechen, klingt das fast harmlos. Die ru-
tannien ermittelt. 2015 hatten ihn drei Frauen zu vergewaltigen. Je weniger es dir gefiel, des- mänische Juristin Silvia Tăbuşcă erklärt, was

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 89


AUSLAND

die Methode perfide macht. Neben schreibt er. Und: »Ruinier’s nicht.« tentin erhalten, ohne selbst Zugang
ihrer Arbeit als Dozentin betreut Tă­ Zwei Wochen danach soll er sie zu den Accounts zu haben, auf denen
buşcă Betroffene von Zwangsprostitu­ vergewaltigt haben. Ermittlern sagt ihre Bilder erscheinen. Wenn die
tion und forscht zu Menschenhandel. Lucinda, er habe ihr gedroht, sie zu Frauen vor der Kamera weinen, sich
Im Büro unter dem Dach ihres Bu­ schwängern und einzusperren. Aus die Nase putzen oder zu lange pau­
karester Hauses schildert sie mit leiser Furcht habe sie hinterher nicht die sieren, habe Tates Assistentin Strafen

Rober t Ghement / EPA-EFE


Stimme, wie die Täter ihre Opfer in Polizei gerufen. von rund zehn Prozent verhängt.
die Ausbeutung drängen, sie teilt das In Phase fünf beginnt die Ausbeu­ Eine Frau soll so sogar »Schulden«
Vorgehen in fünf Etappen. Manches tung, erklärt Tăbuşcă. Die meisten gemacht haben. Auf Anfrage schreibt
aus den Akten der Tates liest sich da­ Frauen wüssten da längst, dass an die Pressesprecherin der Tates, die
nach wie Illustrationsmaterial. Laut dieser Beziehung etwas nicht stimmt. Brüder wollten derzeit keinen der
der BBC zeigen auch geleakte Chats »Aber sie sagen sich, wenn ich mich Vorwürfe kommentieren.
aus Tates Kursen ähnliche Methoden, »Ich lasse nur lange genug prostituiere, wenn Am 29. Dezember 2022 stürmt
wie Tăbuşcă sie beschreibt. diese ich genug Geld verdiene, können wir die rumänische Polizei das Haus der
»Der erste Schritt ist, Vertrauen das Leben haben, von dem wir träum­ Tates. Im Haus findet die Polizei
aufzubauen«, sagt Tăbuşcă. Ein Täter Schlampen ten.« Schusswaffen, Messer und Schwerter.
müsse verstehen, wie die Frau denkt, wie Sklaven Etwa eine Woche nachdem Tate Wie so oft sind auch Kameras dabei.
wo ihre Schwachstellen liegen. Teure Lucinda vergewaltigt haben soll, Halb vermummt unter einer schwar­
Geschenke machen, wenn sie Geld
arbeiten.« arbeitet sie offenbar als Camgirl. Er zen Kapuze ruft Tate: »Die Matrix
braucht, sie mit Komplimenten über­ Tristan Tate, lobt: »Du arbeitest hart.« Sie antwor­ hat mich angegriffen.« Es ist seine
mitangeklagter
schütten, wenn sie sich nach Liebe Bruder tet: »Fast acht Stunden ohne Pause.« Lieblingserzählung: Agenten einer
sehnt, eine Ehe versprechen, wenn Den Ermittlern berichten Frauen aus höheren Macht seien hinter ihm her.
sie Sicherheit sucht. Letzteres tut An­ den Häusern der Tates später von Manche Leute halten Tates Videos
drew Tate laut Lucindas Aussage langen Arbeitstagen. Mal stehen sie für Parodien: die Verschwörung
schon beim ersten Date. zwölf Stunden vor der Kamera, mal vom verfolgten Multimillionär, Tates
Phase zwei ist die Verführung, er­ sind sie acht Stunden live. Chats zei­ demonstratives Zigarrepaffen, die
klärt Tăbuşcă. Tiefe Liebe bekennen, gen, wie Andrew Tates Assistentin größenwahnsinnigen Sprüche. Doch
dann plötzlich verschwinden. Nach einer anderen Frau Anweisungen er­ Tates Einfluss ist real.
Lucindas Ankunft in Rumänien ist teilt, in welchen Posen sie sich foto­ Nach den Festnahmen haben zwei
Andrew Tate ständig arbeiten, jeden­ grafieren und filmen soll. Es ist eine Frauen die Tates in Interviews vertei­
falls steht es so in den Chats. lange To­do­Liste. Aus einer von Er­ digt, die die rumänische Staatsanwalt­
In Phase drei folgt die Isolation. mittlern transkribierten Audionach­ schaft unter den sieben Opfern der
Der Täter startet Eifersuchtsdebatten, richt zitiert die BBC Tristan Tate: Tates führt. Die beiden Frauen sehen
die Frau soll Brücken zu Freunden »Ich lasse diese Schlampen wie Skla­ sich aber nicht als Opfer, sondern als
und Verwandten abbrechen. Ermittler ven arbeiten, mindestens zehn oder Teil der Tate­Familie.
halten fest, dass Lucinda kurz zwölf Stunden am Tag.« Als Anfang November im Ge­
nach ihrer Ankunft den botanischen In den Gerichtsdokumenten fin­ richtssaal die Verhandlung um Tates
Garten besuchen will. Sie schreibt den sich mindestens zehn Frauen, die Autos beginnt, schlagen seine Body­
Andrew Tate davon, er antwortet: irgendwann mit oder für die Tates guards und ein Fahrer auf dem Gang
»Du gehst nirgendwohin.« Offenbar gearbeitet haben sollen, viele sahen die Zeit tot. Einer erzählt stolz vom
hält sie sich nicht daran, einen Monat sich offenbar als Partnerin. Der red­ Alltag mit den Chefs, die Brüder zahl­
danach droht er: »Du gehst nicht al­ selige Bodyguard der Tates spricht ten gut, Frauen behandelten sie »wie
lein raus. Nirgends. Das ist die letzte von 100 Frauen, die er in zwei Jahren Königinnen«. Dabei sind auch der
Warnung.« Mehrere Frauen sagen im Haus gesehen habe. Die meisten Neffe eines Mitarbeiters und dessen
später aus, sie hätten das Haus nur in seien jung gewesen. Tristan und An­ Freunde, drei glühende Tate­Fans.
Begleitung der Tates oder ihrer Mit­ drew Tate sind heute 35 und 37. Der Schmächtigste klickt ein Video
arbeiterinnen verlassen dürfen. Es Einige Frauen geben den Brüdern auf seinem Handy an: Andrew Tate
gebe verschlossene Tore, bewaffnete Aussagen zufolge direkt die Hälfte erzählt, wie sehr er Frauen respektie­
Bodyguards, Überwachungskameras. Fan, Manfluencer ihrer Einnahmen. Andere hätten ihr re, er sagt, sie seien so gut darin, sich
Dass die Tates ihr eigenes Haus um­ Tate bei Selfie Geld jeden Monat von Tates Assis­ um Kinder zu kümmern. Später setzt
fassend überwachen lassen, belegen sich Tates Anwalt Eugen Vidineac in
Aufnahmen. die Männerrunde auf dem Gang vor
In Phase vier brechen die Männer dem Gerichtssaal. Er macht einen
die Werte der Frauen, erklärt Tăbuşcă. Witz, alle lachen. Zusammen wirken
Sie drängen sie zu Dingen, die sie sie siegesgewiss, wie eine verschwo­
nicht tun wollen, nutzten dafür zum rene Gemeinschaft.
ersten Mal Gewalt, auch gezielte Ver­ Andrew Tate hat aus diesem Ge­
gewaltigungen. In den Tagen nach fühl Produkte gemacht. Sein wohl be­
ihrer Ankunft redet Andrew in den rühmtester Onlinekurs war der PHD,
Chats immer wieder auf Lucinda ein. Tates »Pimpin’ Hoes Degree«, also
Sie soll mit anderen Frauen schlafen, ein »Zuhälter­Abschluss«. Tate ver­
sich mit ihnen vor die Kamera stellen, sprach darin Tipps, wie man »Frauen
da könne man viel Geld machen. Er ins Bett bekommt«. Mittlerweile hat
Andreea Alexandru / AP

schlägt vor, von den Einnahmen der er eine neue Plattform auf den Markt
anderen Frauen gemeinsam ein Haus gebracht. Statt höriger Frauen ver­
zu kaufen. Er schickt den Link zu spricht er darauf jetzt etwa Business­
einer Annonce auf einem Immobi­ tipps für Kryptowährungen. Reich
lienportal. »Du wirst reich sein«, werden sollen seine Kunden weiter.

90 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


AUSLAND

Tates exklusivstes Programm ist der


»War Room«. Die Mitgliedschaft kostet fast
8000 Dollar. Auf seiner Site bewirbt Tate den
»War Room« als globales Netzwerk, das den
modernen Mann aus seiner »sozialen Kerker-
JAPAN
haft« befreit. Videos zeigen dazu Männer, die ZWISCHEN
sich mal gegenseitig auf die Schulter klopfen,
mal in Boxkämpfen aufeinander einschlagen.
Immer wieder mittendrin: Andrew Tate. Statt
sich durch Onlinekurse zu klicken, können
Mitglieder des »War Room« ihn bei Versamm-
lungen im echten Leben treffen.
TRADITION
Wie kaum jemand sonst hat Andrew Tate UND
die Gegenströmung zum Feminismus ver-
marktet, den Rückschritt der Gesellschaft. Er
verkündet eine Welt, in der der Mann noch
Steak isst und am Steuer sitzt, neben schönen
Frauen, die nicht widersprechen.
An Lucinda schreibt er, dass es in seinen
AUFBRUCH
Kursen mehr um den Anschein gehe. Weil sie
»Loser« seien, würden viele seiner Anhänger
ohnehin nie ins Webcam-Business einsteigen.
»Aber sie mögen die Idee.« Andrew Tate, so
könnte man es sehen, trickst alle aus. Seine
Fans, seine Frauen, seine Gegner. Und sogar
die Plattformen. Seit Tate von Instagram,
Facebook und TikTok verbannt ist, posten
seine Fans dort seine Videos.
Im Netz haben Tates Fans inzwischen eine

416 Seiten mit Abb., gebunden � 26,00 € � Auch als E-Book erhältlich.
Jagd auf Lucinda und andere mutmaßlich Be-
troffene eröffnet, sie teilen Beschimpfungen
und Drohungen. Im Juli haben die Tates
gegen Lucinda, gegen eine zweite Frau und
ihr nahestehende Personen Klage in den USA
eingereicht, die Tates besitzen auch die US-
Staatsbürgerschaft. Sie verlangen fünf Millio-
nen Dollar, unter anderem wegen angeblicher
»Verleumdung«, »Freiheitsberaubung« und
Geschäftsschädigung. An das US-Gericht
schreiben Tates Anwälte, die Brüder seien
»noch nie« wegen eines Verbrechens ange-
klagt worden – obwohl die rumänische An-
klage da seit Wochen Schlagzeilen macht.
Die US-Anwältin Dani Pinter vertritt eine
der Frauen im Tate-Prozess, sie hält die Kla-
ge in den USA für aussichtslos. »Es geht nur
darum, die Frauen einzuschüchtern«, sagt sie
dem SPIEGEL . Neben der Klage hätten die
Tates außerdem Privatdetektive geschickt, zu
den Verwandten ihrer Mandantin, zu Bekann-
ten, zu Männern, die sie früher gedatet hat.
Auch hierzu möchten sich die Tate-Brüder
nicht äußern.
In eidesstattlichen Versicherungen haben Japan – eine Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen
die beiden Frauen erklärt, wie es ihnen heute althergebrachter Tradition und Fortschrittsgläubigkeit.
geht. Sie schreiben von Schlafstörungen,
schweren Depressionen, Morddrohungen im Keine Institution verkörpert diesen Widerspruch so augenfällig
Netz. »Ich schaue jetzt immer über die Schul- wie das Kaiserhaus und sein Oberhaupt, der Tenno.
ter«, berichtet eine. Die andere schreibt, je- Wagners spannender Blick hinter die Kulissen lässt vergangene
mand habe ihren Namen publik gemacht, den
ihrer Eltern, ihres Arbeitgebers. Manche der Epochen lebendig werden und zeichnet das Bild eines Landes,
mutmaßlichen Betroffenen sollen jetzt ver- das zutiefst verunsichert in die Zukunft blickt.
steckt in einem Frauenhaus leben.
Andrew Tate zeigt sich in Bukarest wieder
in Klubs, sagt sein Team. Kürzlich hat er sich
neue Autos liefern lassen. Geleast, heißt es
aus Ermittlerkreisen.
Mitarbeit: Delia Marinescu n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 91 www.dva.de


AUSLAND

Wenn Yo an die Geiselhaft denkt,


dann schweigt sie lange, ehe sie sagt:
»Die Angst ist immer noch in mir. Der
Schmerz ist noch da. Ich möchte ihn
nicht berühren.« Sie hält dabei eine

Im Tunnel der Hamas Hand über ihr Herz, als würde sie es
vor der Erinnerung beschützen wol-
len. Dann redet sie.
Als am 7. Oktober die Sonne auf-
SÜDOSTASIEN 32 Menschen aus Thailand wurden bei dem Überfall am geht, werden Yo und Boonthom von
Männern, die sie nicht genauer be-
7. Oktober zu Geiseln. Drei von ihnen erzählen nach ihrer Freilassung, schreiben wollen, auf dem Weg in den
was sie in Gaza erlebt haben und warum es so schwer ist zu vergessen. Bunker gefangen genommen und in
ein Fahrzeug gezwungen. Niemand
spricht während der Fahrt mit ihnen.
ie haben sich bei der Arbeit Freund Boonthom daneben, er hält Es sitzen weitere Menschen im Auto,
S kennengelernt, in der Kartoffel-
fabrik in Mivtahim, fünf oder
sechs Kilometer vom Gazastreifen
ihre Hand. Am Vormittag hat das
Dorf ein Fest für die Rückkehrer ver-
anstaltet, die Gemeinde stellte Pavil-
alle schweigen angstvoll, so erzählen
sie es. Irgendwann – Boonthom
glaubt, auf der anderen Seite der
entfernt. Boonthom Phankhong, lons in den Vorgarten der Familie, Grenze in Gaza – wechseln sie die
45 Jahre alt, und Natthawaree Yo Lokalpolitiker waren da, ein buddhis- Autos, Männer kommen in das eine,
Mulkan, 35, die wie viele Menschen tischer Zeremonienmeister, um die Frauen in das andere.
in Thailand nur beim Vornamen ge- guten Geister zu beschwören, zurück Yo weiß nicht, wo ihr Freund ist,
nannt werden wollen, waren Gast- in die Körper von Yo und Thom zu ob er noch lebt. Den Ort, an den sie
arbeiter in Israel. Vor ihrer Ankunft kehren und die Schrecken von Gaza gebracht wird, bezeichnet sie als
wussten sie wenig über das Land, aus ihren Köpfen zu vertreiben. »Tunnel«. »Ich konnte wenig sehen,
außer dass es dort auf den Feldern Aus dem Isaan brechen traditionell da war wenig Licht«, sagt sie. Sie ist
genauso heiß sein würde wie zu viele Frauen und Männer Richtung zusammen mit fünf Geiseln aus Israel.
Hause in Südostasien. Israel auf, um als Vertragsarbeiter auf Frauen, wie sie sagt, die aus dem Kib-
Boonthom sagt, er habe Yo beim den Feldern zu helfen. Das Geld, das buz Nir Os im Süden Israels stam-
Abpacken der Ernte zugesehen und sie verdienen, schicken sie ihren Fa- men. Yo verliert das Zeitgefühl.
sich gleich verliebt. Yo sagt, seit dem milien. 30.000 Thais arbeiteten dort »Wenn man die Zeit nicht kennt, dau-
Tag vor vier Jahren, an dem sie zu- bis zum Ausbruch des Kriegs. ert das Warten noch länger.«
sammengekommen sind, hätten sie Yo und Boonthom verdienten in Auch Wichian Temthong, 37, wird
alles gemeinsam gemacht. Arbeiten, der israelischen Fabrik, für die sie früh morgens etwas weiter nördlich
Essen, Radfahren, sie seien un- Kartoffeln ernteten und auslieferten, im Kibbuz Kfar Asa von Sirenen-
Freigelassene Yo auf
zertrennlich gewesen bis zum frühen jeweils gut 1000 Euro im Monat, weit dem Weg nach
alarm geweckt. Erst kurz zuvor ist er
Morgen des 7. Oktober, dem Tag, an mehr als auf den Äckern zu Hause. Hause: »Was haben zum Avocadopflücken und Gurken-
dem Hamas-Terroristen und weitere Yo sagt, sie mochte die Arbeit. wir damit zu tun?« anbau aus Thailand dort angekom-
Extremisten zu ihrer Farm kamen
und das Paar auseinanderrissen.
Yo sagt: »Es war morgens, viel-
leicht sechs Uhr. Wir lagen noch im
Bett. Da kamen die Männer. Wir ver-
suchten, in den Bunker zu flüchten.
Doch sie haben uns mitgenommen.«
Yo und Boonthom sind 2 von 32 thai-
ländischen Staatsbürgern, die vor zwei
Monaten in den Gazastreifen ver-
schleppt worden waren, als Terroristen
in Israel einfielen, etwa 1200 Menschen
ermordeten und mehr als 200 als
Geiseln entführten. 23 Thailänder
sind inzwischen frei. Sie waren unter
den Ersten, die Ende November nach
49 Tagen aus der Geiselhaft frei-
kamen. Am 30. November landeten
sie am Bangkoker Flughafen. Anders
als die israelischen Geiseln, denen
das Militär verboten hat, Details über
ihre Entführung preiszugeben, können
die Thailänder freier erzählen, was
sie in den Tunneln von Gaza erlebt
haben. Noch immer sind dort mehr als
100 Menschen gefangen.
Maya Levin / AP

Im Dorf Kok Samran in der Region


Isaan, im Nordosten Thailands, sitzt
Yo vor dem Haus ihrer Mutter, ihr

92 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


AUSLAND

men. Kollegen nehmen ihn, den Neuling, mit den Raum und das Haus, in dem er sich be-
in den Betonklotz inmitten des Kibbuz: den fand, nicht weiter beschreiben. Er fürchtet,
Bunker. Sie sagen ihm: Mach dir keine Sorgen. die verbliebenen Geiseln zu gefährden.
Sie wissen nicht, dass Kämpfer der Hamas »Wenn wir auf die Toilette mussten, beglei-
und des Islamischen Dschihad bereits in den tete uns einer der Männer. Niemand von uns
Kibbuz eingedrungen sind, um Menschen zu Geiseln fragte etwas, wir hatten große Angst.
töten. Wichian und die anderen Thais wähnen Wenn überhaupt, haben wir geflüstert.«
sich schließlich außer Gefahr, kehren zurück Anders als die Familien der meisten west-
auf ein Zimmer. lichen Geiseln, die von ihren Regierungen in-
Wichian berichtet davon, wenige Tage nach formiert wurden, erfuhren viele Familien in

Verena Hölzl / DER SPIEGEL


seiner Rückkehr vor seinem Haus, das kaum Thailand zunächst auf Social Media davon,
größer ist als eine Garage. Für den Putz hat dass ihre Verwandten frei sind, Fotos kursier-
das Geld nicht mehr gereicht, statt Glasfens- ten etwa auf TikTok. Auch zur Anzahl der
tern müssen hölzerne Fensterläden Hitze und thailändischen Geiseln gab es wochenlang wi-
Monsunregen abhalten. Er spricht schnell, dersprüchliche Angaben. Manche der freige-
macht kaum Pausen. »Die Männer mit den Überlebender Wichian in Thailand
lassenen Thailänder waren den Behörden bis
Waffen stürmten ins Zimmer«, sagt Wichian. dahin gar nicht als entführt bekannt gewesen.
Sie hätten Granaten, Messer und Pistolen da- »Go home Thailand«, habe einer seiner
beigehabt, jung ausgesehen, entschlossen. Aufpasser eines Tages plötzlich gerufen, sagt
Manche hätten ihr Gesicht unter Schals ver- Wichian. So beginnt die Freilassung. Im Kran-
steckt, einer sei mit nackter Brust in den Raum kenhaus, in das man ihn und andere Geiseln
gekommen. Sie seien vollgepumpt mit Adre- bringt, besucht ihn die thailändische Botschaf-
nalin gewesen und hätten Spaß daran gehabt, terin im Anzug, er bekommt einen persön-
den Arbeitern wehzutun, das war sein Ein- lichen Übersetzer, die Krankenschwester ist
druck. »Ich dachte, ich sterbe.« freundlich. Es gibt mehr zu essen, als Wichi-
Die Männer fesseln die thailändischen ans Körper vertragen kann. Sogar thailändi-

Lauren DeCicca / DER SPIEGEL


Arbeiter mit Kabeln, die sie aus den Wänden schen Fleischsalat serviert man ihm.
schneiden, treten sie wie Tiere. So erinnert Boonthom und Yo sehen sich in einem
sich Wichian. Er wird von seinen Kollegen Auto wieder, das sie auf die andere Seite der
getrennt und allein im Pyjama über die Gren- Grenze und in ein großes Krankenhaus bringt.
ze in den Gazastreifen getrieben. Viel später Sie kommen gleichzeitig frei. Jemand im Wa-
erfährt er aus den Nachrichten: Alle anderen gen sagt ihnen, dass sie sicher seien. Yos Fin-
Thais aus der Gruppe sind heute tot. Gerettetes Liebespaar Yo, Boonthom
ger- und Zehennägel sind in den zwei Mona-
Wichian beschreibt, wie er durch einen ten so lang und schmutzig geworden, dass
engen Schacht viele Meter in die Tiefe ge- armen zurück. Wichian befürchtet, er sei der eine israelische Ärztin ihr eine Maniküre be-
bracht wird. Dort, in einem Tunnel, ausge- Nächste, doch er wird verschont. zahlt. Das Paar bekommt Kleidung. Sein Hab
kleidet mit Beton, in dem die Luft feucht ist Im Raum nebenan lebt der »Boss«, so und Gut, alles, was es in Israel besaß, ist im
und Wasser von der Decke tropft, in dem er nennt Wichian den parfümierten Mann im Feuer verbrannt, das die Terroristen auf der
schlecht atmen kann, verbringt er den Groß- Hemd, der ein Festnetztelefon und eine Kartoffelfarm gelegt hatten.
teil seiner Gefangenschaft. Zusammen mit Klimaanlage besitzt und dem die Aufpasser Ein paar Tage später setzt die thailändische
drei weiteren Männern, einer davon, sagt mit Respekt begegnen. Manchmal kann Wi- Botschaft die beiden ins Flugzeug Richtung
er, aus Israel. »Von draußen hörte ich die chian einen Blick auf seinen Fernseher erha- Bangkok, Economy Class, zwischen Touristen
Raketen. Ich hatte Angst, dass der Tunnel schen, der meist Raketeneinschläge und auf dem Weg in den Urlaub. Manche Geiseln,
einstürzt.« Kämpfe zeigt. erinnert sich Yo, hätten sich den ganzen Lang-
Die Männer können sich untereinander Das Liebespaar Yo und Boonthom hat sich streckenflug nicht auf die Toilette getraut, weil
kaum verständigen. Wichian zieht sich in sei- darauf geeinigt, sich so wenig wie möglich die Spülung sie an die Bomben in Gaza er-
ne Gedankenwelt zurück, meditiert. Manch- über seine Zeit als Geiseln auszutauschen. Yo innerte.
mal, wenn es ihm nicht gut geht, reibt ihm erzählt, im Tunnel hätten sich immer diesel- Yo sagt, sie wisse immer noch nicht, »wer
eine der anderen Geiseln den Rücken. Der ben fünf Aufpasser um sie gekümmert. »Die Hamas ist« und warum sie entführt wurde.
junge Mann, sagt Wichian, befinde sich noch Männer haben uns respektvoll behandelt, die »Wir sind aus Thailand, was haben wir damit
immer in Gefangenschaft. israelischen Frauen genauso wie mich. Sie zu tun?«
Weil Wichian nicht duschen kann, juckt haben uns nie berührt, und wenn doch, dann Yo, Boonthom und Wichian sind frei, sie
seine Kopfhaut irgendwann so sehr, dass er nie Haut auf Haut. Es war immer ein Stück haben überlebt. Aber nachts zittern sie vor
sich blutig kratzt. Seine schmutzige Unter- Stoff zwischen unseren Körpern und den Panik beim Gedanken an einen Konflikt am
hose zieht er lieber aus. Weil es nachts kalt Händen der Männer.« anderen Ende der Welt.
ist, geben die Aufpasser ihm lange Hosen. Er Einmal, als sie Schmerzen hat, gibt man Ein thailändischer Arzt, sagt Yo, habe ihr
schläft auf einer Decke auf dem Boden, die ihr eine Schmerztablette. »Wir haben uns mit gerade eine Großpackung eines angstlösen-
Matratzen sind den Aufpassern vorbehalten. ein paar Brocken Hebräisch unterhalten und den Medikaments geschickt, Lorazepam. Yo
Essen gibt es einmal täglich. Brot und Bohnen mit Händen und Füßen.« Später, im israeli- hofft, dass es hilft. Boonthom und sie müssen
oder Thunfisch aus Dosen. Je mehr Zeit ver- schen Krankenhaus, wird man feststellen, dass Kredite für das Haus abbezahlen, das Yo für
geht, erinnert sich Wichian, desto spärlicher Yo ein Fünftel ihres Gewichts verloren hat, ihre Familie hat bauen lassen, umgerechnet
wird die Mahlzeit. sie wiegt bei der Freilassung 35 Kilogramm. 14.000 Euro. Sie spielen jetzt Lotto. Falls sie
Manche Aufpasser, sagt Wichian, schieben Boonthom wird in keinen Tunnel, sondern gewinnen, würden sie das Geld unter allen
ihm Essensreste zu oder spielen mit ihm Kar- in einen Raum ohne Möbel gebracht, erinnert thailändischen Geiseln aufteilen, sagen sie.
ten. Einmal kommt einer der Terroristen mit er sich, gemeinsam mit sieben weiteren Thais. Wahrscheinlicher aber sei, dass sie bald
einem Kabel in ihr Versteck und nimmt zwei Es gibt Fenster, aber er darf nicht rausschau- wieder wegmüssten. Nach Korea, zum Arbei-
Mitgeiseln mit. Wenig später hört er Schreie, en. Auf die Frage, ob ihm Gewalt angetan ten. Oder sogar zurück nach Israel.
die beiden kehren mit Striemen an den Unter- wurde, will er nicht antworten. Er will auch Verena Hölzl, Maria Stöhr n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 93


AUSLAND

»Es gibt da nur eine Sache: Frieden«


SPIEGEL-GESPRÄCH Als israelischer Geheimdienstchef hatte er einst gelernt, seine Emotionen auszuknipsen.
Doch der 7. Oktober veränderte ihn. Yuval Diskin, 67, über eine neue Phase des Kriegs, Joe Bidens
Bedürfnis nach Ruhe – und darüber, warum er eine Kommandozentrale in seinem Zuhause eingerichtet hat.

SPIEGEL: Herr Diskin, was fühlen Sie, wenn


Sie Bilder aus Gaza sehen?
Diskin: Ich habe Mitleid mit den Menschen;
es muss im Moment furchtbar sein, dort zu
leben. Aber dann denke ich an das Massaker
bei uns, an die Bilder und die Videosequenzen
der Gräueltaten und daran, wie sich die Ter-
roristen beim Morden, Vergewaltigen und
Foltern selbst gefilmt haben.
SPIEGEL: Und dann verschwindet das Mitleid
wieder?
Diskin: Sagen wir, die Perspektive verändert
sich. So etwas habe ich noch nie gesehen. Und
ich dachte, ich hätte bereits alles gesehen, was
Menschen anderen Menschen antun können.
Berufsbedingt. Ich war einen beträchtlichen
Teil meines Lebens beim Schin Bet, dem is-
raelischen Inlandsgeheimdienst. Von 2005
bis 2011 habe ich ihn geleitet.
SPIEGEL: Wie beschreiben Sie das, was am
7. Oktober geschehen ist?
Diskin: Zuerst einmal haben wir eine strate-
gische Überraschung erlebt. Es hat drei Tage
gedauert, bis die Armee die Lage wieder im
Griff hatte. So viele Tote, ermordet auf israe-
lischem Staatsgebiet, gab es noch nie. Bisher
haben wir es immer geschafft, Kampf und
Krieg jenseits unserer Grenzen zu führen.
Immer auf feindlichem Terrain, nie bei uns.
SPIEGEL: Während der zweiten Intifada, des
gewaltsamen Palästinenseraufstands in den
frühen Nullerjahren, starben durch Angriffe
und Selbstmordattentate in fünf Jahren etwa
so viele israelische Zivilisten wie jetzt inner-
halb weniger Tage.
Diskin: Den 7. Oktober als Terrorattacke zu
bezeichnen greift zu kurz. Für mich handelt
es sich hier um einen Clash of Civilizations,
Kampf der Kulturen. Ich bin Spezialist für
Terrorismusbekämpfung, und die Hamas ist
mehr als bloß eine Terrororganisation. Viele
im Westen verstehen nicht, wie tief ihre Ideo-
logie reicht, wie stark und wichtig sie ist.
SPIEGEL: Das bedeutet?
Diskin: Die Hamas ist der palästinensische
Ableger der Muslimbrüder. Die Islamisten
erheben Anspruch auf für sie genuin musli-
Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL

misches Land. Ihre Mission heißt islamischer


Staat. Wir Israelis scheinen ihre wahre Natur
entweder vergessen oder verdrängt zu haben.
Unsere Armee, unsere Politiker, alle scheinen

Ex-Geheimdienstler Diskin Das Gespräch führte die Redakteurin Julia Amalia Heyer
in Tel Aviv.

94 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


AUSLAND

geglaubt zu haben, die Ruhe hier hiel- kidnappt? Ich versuchte, die Vermiss-
te ewig. Man kann aber mit Funda- ten zu finden, die schwierigen Fälle.
mentalisten nichts aushandeln. Die SPIEGEL: Wie funktionierte das?
Islamisten haben auch ein anderes Diskin: Den Familien zuhören, Fotos
Verständnis von Zeit, sie denken in sichten, Videos. Ihre Gefühle, ihre Ver-
sehr langen Bögen. Für sie ist es egal, wirrung, das lässt einen nicht kalt. Sie
ob ihr islamischer Staat in fünf oder hatten so viele Fragen, und niemand
in hundert Jahren kommt. war da. Ich wurde in diesen ersten Wo-
SPIEGEL: Auch Israel hat jahrelang mit chen zu einer Art Sozialarbeiter, aber
der Hamas verhandelt. Hat sie sich emotional befangen. Ich fühlte, wie
da nicht als rationaler Akteur gezeigt? sich diese Menschen gefühlt haben: be-

Kobi Wolf / DER SPIEGEL


Diskin: Ja, wir haben verhandelt für trogen von ihrem Staat, von ihrer Ar-
Arrangements im Gazastreifen, für mee. An manchen Orten kam 48 Stun-
Waffenruhen und Gefangenenaus- den lang niemand zu Hilfe. Die Hamas
tausch. Mithilfe von Ägypten und war schon weg, aber die Menschen
Katar. Katar ist der wichtigste Unter- lagen immer noch unter ihren Betten
stützer der Hamas, auch ideologisch. in ihren Schutzräumen. Wir sind in Is-
Ich sage nicht, dass die Hamas nicht Diskin: Ich habe meine Einstellung Provisorische rael, es kann immer etwas passieren.
rational denkt, aber sie hat eine an- trotzdem geändert: Jetzt würde ich alles Leichenhalle Es kann eine halbe Stunde dauern, bis
im israelischen
dere Rationalität. Es gibt unendlich tun, um die Geiseln zurückzuholen. Die Ramla nach Hilfe kommt, vielleicht drei Stunden.
viele Muslime, die nicht so denken, Geiseln sollten unsere Priorität sein. Ihr dem Angriff vom Aber 48 Stunden lang nichts?
die keine Fundamentalisten sind. Leben ist wichtiger als unser Ziel, die 7. Oktober SPIEGEL: Es gibt Leute, die glauben
Aber die Muslimbrüder, die ticken so. Hamas zu zerstören. Nur so können wir wollen, dass das, was da am 7. Okto-
SPIEGEL: Der Krieg geht jetzt, nach als Staat das Vertrauen unserer Bürger ber passiert ist, gewissermaßen aus
der siebentägigen Waffenruhe, in eine zurückerlangen. Der israelische Staat heiterem Himmel kam.
neue Runde. hatte die Pflicht, das Leben der Israelis Diskin: Das ist Unsinn. Wir können
Diskin: Wir verhandeln nun wieder zu schützen. »Nie wieder«, lautete dieses furchtbare Ereignis nicht von
unter Feuer, und das ist auch gut so. unser Gesellschaftsvertrag seit der der Entwicklung trennen, die Israel
Wir müssen den Einsatz nach oben Staatsgründung, seit dem Holocaust: und damit auch die Palästinenser in
treiben, die Hamas darf nicht die Niemand wird uns je wieder schutzlos den vergangenen Jahren durchlebt ha-
Kontrolle über die Situation behalten. massakrieren. Dieses Versprechen wur- ben. Das hängt alles zusammen. Israel
Yahya Sinwar, der Hamas-Führer, der de am 7. Oktober gebrochen. hat sich in Teilen in eine extremistische
den Angriff auf Israel plante, hat uns SPIEGEL: Anders als die israelische Gesellschaft verwandelt, in der mes-
in seine Tunnel hinabgezogen. Regierung wären Sie bereit, alle pa- sianische Bewegungen, Nationalreli-
SPIEGEL: Der Norden des Gazastrei- lästinensischen Gefangenen sofort giöse und Siedler, den Ton angeben.
fens ist schwer zerstört, inzwischen freizulassen? Zugleich hat man der Hamas alle Zeit
bombardiert die israelische Armee Diskin: Meinetwegen können wir alle der Welt gegeben, dieses Massaker
auch im Süden, wohin sich die Zivi- freilassen, aber sie dürfen nicht nach von langer Hand zu planen, unter-
listen auf Geheiß der Armee geflüch- Gaza zurück und auch nicht ins West- stützt durch die Geldkoffer aus Katar.
tet haben. Kann die Armee hier so jordanland. Sie können nach Jorda- SPIEGEL: Die finanzielle Unterstüt-
vorgehen wie im Norden? nien gehen oder nach Ägypten. Sonst zung der Hamas durch die Katarer
Diskin: Ich denke nicht, aber Sinwar gibt es wieder Terror. Freigelassene hat Israel jahrelang gebilligt und be-
darf nicht Herr der Situation bleiben. Ex-Gefangene haben damals auch die fördert. Welchen Anteil an dieser Ent-
Ich kenne ihn, ich habe mit ihm ver- erste Intifada ausgelöst. wicklung trägt Benjamin Netanyahu,
handelt, als er unser Gefangener war SPIEGEL: Also ist der Schwarze Sams- der das Land länger regiert als jeder
und mehr als 20 Jahre lang in israeli- tag ein Wendepunkt. Premier zuvor?
schen Gefängnissen saß. Er hatte meh- Diskin: Für mich persönlich war er Diskin: Netanyahu wird dafür bezah-
rere Aufsässige in den eigenen Reihen das, ja. Ich habe meine professionel- len müssen, was er mit diesem Land
mit den bloßen Händen getötet. Yahya le Distanz verloren. Den größten Teil gemacht hat, was er uns angetan hat.
Sinwar ist intelligent, und er weiß, wie meines Berufslebens habe ich der Si- Er hat uns an den Rand eines Bürger-
wir Israelis ticken. Am Anfang wollte cherheit meiner Landsleute gewid- kriegs gebracht, die Israelis gegen-
er die Geiseln, um seine Gefangenen met – den Sicherheitsmann in mir, einander aufgehetzt, verurteilte Extre-
freizupressen, jetzt geht es ihm wohl den kriege ich nicht mehr raus. Wenn misten zu Ministern ernannt und da-
um sein eigenes Überleben. ich früher einen ausgebombten Bus bei geglaubt, auf diese Weise alles und
SPIEGEL: Was passiert mit den mehr betrat, habe ich meine Emotionen alle kontrollieren zu können.
als 130 Geiseln, die weiterhin im Ga- ausgeknipst und Beweise sicherge- SPIEGEL: Die Israelis haben ihn aber
zastreifen gefangen gehalten werden? stellt. Wie eine Maschine. Ich konnte auch seit Jahrzehnten immer wieder
Diskin: Vor dem 7. Oktober war ich immer gut abschalten. Das klappt gewählt.
gegen solche Geisel-Deals, wir haben nicht mehr. Ich habe noch am 7. Ok- Diskin: Ein Teil von uns. Wenn es etwas
uns damit nur weiter erpressbar ge- tober in meinem Haus eine Art Kom- Gutes gibt an diesem schrecklichen
macht. 2011 habe ich versucht, den mandozentrale aufgebaut, um mitzu- »Die Wahlen 7. Oktober, dann ist es die Tatsache,
Shalit-Deal zu verhindern … helfen, Geiseln und Vermisste zu dass er uns wieder vereint hat. Zu-
SPIEGEL: … als im Gegenzug für die identifizieren. Am Anfang herrschte
in den USA mindest für den Moment des akuten
Freilassung des israelischen Soldaten nacktes Chaos. Die betroffenen Fa- bestimmen Schmerzes. Es war eine Tragödie, aber
Gilad Shalit 1025 palästinensische milien fühlten sich alleingelassen in das Zeit- vielleicht hat sie das Land auch gerettet.
Gefangene freikamen, darunter der ihrem Schock, niemand wusste ir- SPIEGEL: Kann die Hamas militärisch
Kopf des Al-Aksa-Flut-Kommandos gendwas. Wo waren die Toten, wer fenster für besiegt werden, wie es Netanyahu als
vom 7. Oktober, Yahya Sinwar. waren die Toten – und wer war ge- diesen Krieg.« Kriegsziel ausgibt?

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 95


AUSLAND

Diskin: Nein. Es ist nicht Israel und auch nicht »Niemand darf erlauben, Nur hier konnten Waffen wie das Panzer-
Bibi Netanyahu, der hier irgendwas kontrol- abwehrsystem Kornet durchgeschmuggelt
liert. Die Wahlen in den USA bestimmen das von einem anderen Staat werden.
Zeitfenster für diesen Krieg – und der Krieg beschossen zu werden.« SPIEGEL: Die Menschen in Gaza lebten 16 Jah-
hier ist nicht gut für US-Präsident Joe Biden. re lang überwiegend eingesperrt in ihrem
Biden steht zu Israel wie kein US-Präsident Küstenstreifen, unter einer Blockade von Is-
zuvor, und ich bin ihm dafür zutiefst dankbar. rael und Ägypten. Vor zehn Jahren sagten Sie
Aber selbstverständlich möchte er etwas da- Operation abblies. Vorzeitig, aus meiner dem SPIEGEL : Wenn Menschen jede Hoff-
für: mitbestimmen, was wir in Gaza machen. Sicht. Er gönnte dem damaligen Premier Ehud nung auf ein besseres Leben verlieren, radi-
Biden braucht Ruhe. Olmert die Lorbeeren nicht. kalisieren sie sich.
SPIEGEL: Das hieße, Israel hat nur noch wenig SPIEGEL: Bleibt die israelische Armee nach Diskin: Das denke ich immer noch, aber nichts
Zeit für diesen Krieg. dem Krieg im Gazastreifen? kann gut werden unter der Hamas. Sie muss
Diskin: Davon bin ich überzeugt. Vielleicht Diskin: Bis auf Weiteres auf jeden Fall. Je- weg. Israel hat sich 2005 aus dem Gazastrei-
ein oder zwei Monate. Und wir kontrollieren mand muss ihn zumindest verwalten, und bis fen zurückgezogen, und zwar komplett. Die
nicht einmal den gesamten Norden des Gaza- feststeht, wer das sein wird, muss die Armee Hamas hat uns trotzdem weiter beschossen
streifens. Und leider auch nicht die Flücht- bleiben. Wenn wir das nicht tun, fliegen wie- mit Tausenden Raketen, sie haben ihre Tun-
lingslager im Zentrum. Im Süden weiter so der die Raketen. nel gegraben und all das. Wir haben einen
zu bombardieren wie im Norden, sogenann- SPIEGEL: Was erwarten Sie von der interna- riesigen Fehler gemacht: Wir haben das viel
te Carpet-Bombings – flächendeckend Bom- tionalen Gemeinschaft? zu lange toleriert. Niemand darf erlauben,
ben abzuwerfen –, ist schwierig. Da sitzen Diskin: Nichts. von einem anderen Staat oder einer Entität
zwei Millionen Menschen auf engstem Raum. SPIEGEL: Es wird jetzt wieder öfter von einer dauernd beschossen zu werden.
SPIEGEL: Was ist Ihr Szenario? Zweistaatenlösung gesprochen. SPIEGEL: Zugleich sagen Sie, die Hamas wer-
Diskin: Vielleicht werden wir den Norden Diskin: Ich war immer ein Verfechter zweier de bleiben, zumindest im Süden.
kontrollieren, aber im Süden des Gazastrei- Staaten, aber leider haben wir auf der paläs- Diskin: Man kann die Ideen vom Widerstand
fens wird die Hamas wohl überleben. Daran tinensischen Seite keinen Partner. nicht aus den Köpfen bomben, aber man kann
ändert sich auch nichts, wenn wir eine meh- SPIEGEL: Jetzt klingen Sie fast wie Netanyahu. andere Ideen vorbringen, die vielleicht als die
rere Kilometer breite Pufferzone innerhalb Diskin: Aber es stimmt. Ich traue keinem besseren angesehen werden.
des Küstenstreifens hin zur israelischen Gren- Palästinenser mehr, früher habe ich Präsident SPIEGEL: Kann militärische Stärke die Sicher-
ze einrichten. Einen Todesstreifen. Mahmoud Abbas vertraut. Auch hier ist heit Israels gewährleisten?
SPIEGEL: Und die Pufferzone, in der erschos- Netanyahu verantwortlich. Er hat Abbas der- Diskin: Ja. Jedoch nicht auf lange Sicht. Auf
sen wird, wer sich der Grenze nähert, bringt art frustriert, dass dieser erst resigniert hat lange Sicht gibt es da nur eine Sache: Frieden.
Israel Sicherheit? und sich dann hat korrumpieren lassen. We- SPIEGEL: Sollte es einen palästinensischen
Diskin: Die Hamas wird es weiterhin geben, der Abbas noch Netanyahu sind echte Füh- Staat geben?
eine Ideologie kann man nicht wegbomben. rungspersönlichkeiten; sie können keinen Diskin: Ja, aber nicht jetzt. Gerade ist es un-
Man kann nur ihre militärischen Kapazitäten Frieden schaffen. Auf der palästinensischen möglich.
reduzieren und dafür sorgen, dass die Isla- Seite wäre Salam Fayyad, der frühere Pre- SPIEGEL: Wie bewerten Sie die Situation im
misten nicht mehr regieren. Leider haben wir mier der Autonomiebehörde, ein guter Typ, Westjordanland, wo sich immer mehr gewalt-
es in der Vergangenheit verpasst, der Hamas vielleicht bekommt er eine Möglichkeit. Der tätige Siedler nicht an das Gesetz halten?
einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Bei einzige Weg raus aus diesem Konflikt ist ein Diskin: Das ist wirklich schlimm. Die fanati-
der Operation »Gegossenes Blei« im Winter regionales Abkommen, an dem Israel, die schen extremistischen Siedler bedrohen die
2008/09 hätten wir es fast geschafft. Die Ha- Palästinenser, aber auch Jordanien und Ägyp- palästinensischen Bewohner, manchmal töten
mas stand kurz vor dem Kollaps, ihre Mit- ten beteiligt sind. Das ist nicht einfacher ge- sie sogar. Es macht mich traurig zu sehen, dass
glieder fingen bereits an, sich die Bärte abzu- worden, denn auch Ägypten hat die Hamas die Regierung das toleriert. Es zu tolerieren
rasieren. Der damalige Verteidigungsminister gefördert. Ihre Grenze ist etwa 13 Kilometer heißt in dem Fall, dieses Verhalten aktiv zu
Ehud Barak hat das verhindert, indem er die lang, hier befinden sich die meisten Tunnel. befördern.
SPIEGEL: Manchmal werden die Siedler unter-
stützt von israelischen Soldaten.
Diskin: Die Fanatiker sind auch bei uns in den
vergangenen Jahren nicht weniger geworden.
Ich und andere, wir warnen seit Jahren, dass
unser Land, unsere Gesellschaft immer extre-
mistischer wird.
SPIEGEL: Sie haben sechs Kinder – kämpfen
sie in diesem Krieg?
Diskin: Vier meiner Kinder sind Reservisten.
Ich kann Ihnen sagen, das ist nicht einfach.
Kein schönes Gefühl.
SPIEGEL: Gibt es überhaupt gerade so etwas
wie ein schönes Gefühl?
Diskin: Vielleicht ist es der Grad an Zusam-
Ibraheem Abu Mustafa / REUTERS

menhalt, den wir Israelis derzeit zeigen,


von dem ich schon sprach. Als nichts funk-
tionierte, nicht der Staat, nicht die Armee,
haben wir, die Menschen, funktioniert. Wir
haben zusammengehalten. Das macht mir
Hoffnung.
SPIEGEL: Herr Diskin, wir danken Ihnen für
Verletzte Palästinenserin auf dem Weg ins Krankenhaus: »Es muss furchtbar sein, dort zu leben« dieses Gespräch. n

96 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


SPORT

Deutschland trifft
Siegquoten der letzten fünf Saisons*
in den Biathlon-Einzelrennen, in Prozent
Ergebnisse der deutschen Frauen
67 %
der Einzelrennen konnten
die deutschen Biathleten in der
aktuellen Saison gewinnen.
Ergebnisse der deutschen Männer

5 4 15
67
100%
100

50
14 5
14
0
0 5 0
2019/20 2020/21 2021/22 2022/23 2023/24**

* Ergebnisse von Weltmeisterschaften flossen bis 2022 in den Weltcup ein


** Stand 3. Dezember, nach drei von insgesamt 21 Rennen
S Grafik

Siege für Roman Rees und Philipp Nawrath – sehr lange sind die deutschen Biathleten nicht so gut in den Weltcup gestartet wie in dieser Saison.
Und das gilt nicht nur für die Männer: Franziska Preuß hat sich vorerst ins Gelbe Trikot der Weltcup-Führenden gelaufen und geschossen,
Vanessa Voigt trumpfte ebenfalls auf. Wer dachte, dass das Karriereende der langjährigen Leistungsträger Arnd Peiffer und Denise Herrmann-Wick
eine Zäsur bilden würde, scheint sich getäuscht zu haben.

HALL OF FAME dänischer Flagge. Aber im hagen geändert und einen Zwi-
Handball ist es anders, die Män- schenstopp am Spielort Sta-
Ivalu Bjerge, Handballerin ner nahmen ebenfalls schon an
Weltmeisterschaften teil. Bjerge
vanger eingelegt. Dort ging das
Spiel gegen Gastgeber Norwe-
lebt und spielt im Handballland gen mit 11:43 verloren, aber
Grönland: größte Insel der sie es. Beim Qualifikations- Dänemark, wie alle ihre Team- nach einer Viertelstunde stand
Welt, von Eis bedeckt, Heimat turnier zur WM, das Grönland kolleginnen ist sie kein Voll- es nur 6:8, das feierten die
von Eisbären und Walfängern vor heimischem Publikum profi, sie arbeitet als Assistentin Grönländerinnen anschließend
– aber Sport? Das Klischee in der Hauptstadt Nuuk über- in einem Unternehmen. als Erfolg. »Cool, dass wir ge-
will, dass man bei Grönland an raschend für sich entschied, 100 grönländische Fans sind zeigt haben, was wir können«,
Hundeschlittenrennen und wurde Ivalu Bjerge zur besten für die WM angereist, die Flug- sagt Bjerge. Ihr Klub in Däne-
Kajaks denkt, aber kaum an Spielerin gewählt. In den drei gesellschaft hat dafür extra ihre mark ist in der dritten Liga,
eine Handballweltmeisterschaft WM-Gruppenspielen war sie Route Kangerlussuaq–Kopen- kaum eine ihrer Teamgefähr-
oder an Ivalu Bjerge. Der mit zehn Treffern ebenfalls die tinnen spielt höherklassiger.
23-Jährigen geht es selbst aller- Erfolgreichste ihres Teams. Die Niederlagen gegen
dings ähnlich, auch sie wollte Vor 22 Jahren waren die Norwegen, Österreich und Süd-
es »erst glauben, wenn wir tat- Handballerinnen von der Insel korea waren einkalkuliert, das
schon einmal für eine WM
Beate Oma Dahle / AP / picture alliance

sächlich in der Arena stehen«. grönländische Fernsehen kom-


Nun ist Grönland wahrhaf- qualifiziert, damals eine Sen- mentierte die Elf-Tore-Nieder-
tig bei der Handball-WM der sation. Sie verloren alle fünf lage gegen Korea lapidar: »Auf
Frauen, die in Dänemark, Partien, die Frauenmannschaft Grönland leben 56.000 Men-
Schweden und Norwegen noch wurde danach aufgelöst und schen, in Südkorea 52 Millio-
bis zum 17. Dezember läuft, erst 2015 neu gegründet. nen.« Jetzt geht es für Bjerge
und das hat das Land vor allem Es gibt nicht viele Sportar- und ihr Team in die Trostrunde,
Bjerge zu verdanken. ten, in denen Grönland eigen- der Ausgang ist egal. »Es ist so
Stars gibt es im Team nicht, ständig auftritt, meist starten groß, dass wir hier sind«, sagt
aber wenn es einen gäbe, wäre Athletinnen und Athleten unter Bjerge Teamkollegin Ivaana Holm. AHA

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 97


SPORT

Der vierte Mann


KARRIEREN Marius Kunde war ein aussichtsreiches Fußballtalent, er spielte
mit Joshua Kimmich, Serge Gnabry und Timo Werner.
Dominik Asbach / DER SPIEGEL

Und heute? Arbeitet er als Versicherungsberater. Von Josef Saller

Amateurfußballer Kunde

98 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


SPORT

ünf oder sechs Jahre ist es her, dass dieses Am liebsten würde Marius Kunde seine band, Zopf erfordern«), »keine unnatürlichen
F Foto zum ersten Mal auftauchte. Dieses
Foto, von dem niemand genau weiß, wer
es gemacht hat und bei welchem Spiel genau
Fußballschuhe anziehen und auf den Platz
gehen. Zeigen, was er kann. Aber Kunde ist
auch Realist. Er weiß, dass ihn aktuell von
Haarfärbungen«. Im Hotel »tägliche Zimmer-
kontrolle durch Betreuer«. So steht es im
»etwas anderen ABC der Fußballjugend«, das
es entstanden ist. Darauf zu sehen: vier Jungs, den VfB-Profis vier Ligastufen trennen. Und der VfB damals ausgab.
13 oder 14 Jahre alt, in weiß-roten Trikots mit so antwortet er, als ihn ein älterer VfB-Fan Sein Vater sammelte alles in einem grauen
dem Wappen des VfB Stuttgart auf der Brust. fragt, ob er häufiger hier sei: »Früher mal.« Leitz-Ordner: Kaderlisten, Trainingspläne,
Sie bejubeln ein Tor, einen Sieg, irgendwas. Sonst nichts. Entschuldigungen für die Schule, Turnierplä-
Sieht man genauer hin, erkennt man in den Dieses Früher begann 2004 an einem Frei- ne mit eingetragenen Ergebnissen, daneben
Gesichtszügen der Jungs einige jener Männer, tag. Der VfB Stuttgart lud zu einer »Cham- Strichlisten für jedes Tor von Marius. Es gab
die heute den deutschen Fußball prägen. pions-Sichtung« für die Jahrgänge 1995 und eine Menge Striche.
Links, der Größte mit Minipli auf dem Kopf: 1996 ein. Etwa 300 Kinder passten, schossen, Wenn Kunde durch die Zeugnisse seiner
Timo Werner. Ganz rechts mit Kapitänsbinde: dribbelten, kämpften mit ihrer Aufregung. frühen Karriere blättert, spürt man seinen
Joshua Kimmich. Der Zweite von rechts, die Alte Männer gaben Anweisungen, beobach- Stolz. Auch ein wenig Traurigkeit. Dann er-
Haare kurz geschoren: Serge Gnabry. Mehr teten und notierten auf Notizblöcken. Sechs zählt er vom Druck von außen, der immer
als 700 Bundesliga-, 150 Champions-League- Jungs wurden am Ende ausgewählt. Einer größer wurde mit jedem Jahr, bis er nicht
und 180 Länderspiele in einem Bild. Drei Er- davon: Marius Kunde. mehr nur Motivation war, sondern vor allem
folgsgeschichten. In den Wochen danach lernte Kunde eine Last. Druck von Trainern, vom Verein, bei
Und dann gibt es die Geschichte des vier- neue Art von Fußball kennen. Bis dahin hat- manchen Kindern auch von den Eltern. Wie
ten Jungen auf dem Foto. Die Geschichte von te er beim TSV Heimerdingen gespielt, seinem der Mensch, das Kind in den Hintergrund
Marius Kunde, Zweiter von links. Es ist die Heimatverein, in einer Mannschaft mit sei- rückte und es nur noch um Leistung ging.
Geschichte, von der man selten liest, die aber nem Bruder, seinem Vater als Trainer und Nach jeder Saison setzte sich das Trainer-
viel häufiger passiert. Tausendmal häufiger: seiner Mutter an den Spieltagen an der Kiosk- team mit jedem einzelnen Spieler zusammen.
vom Jungen, der Fußballprofi werden will, kasse. Marius war der beste Spieler mit den Kunde sagt: »Wir hatten keine Verträge, keine
der es aber nicht schafft. meisten Toren, der bei den Älteren mitspiel- Gewissheit. Und nach der Saison hieß es: Du
Marius Kunde war auf einem guten Weg. te und trotzdem überragte. Und auf einmal bist übernommen, oder du bist raus.« Einige
Als das Foto entstand, war er einer der Besten hatte er fünfmal die Woche Training, maß sich Spieler kamen mit verheultem Gesicht aus
seines Jahrgangs. Er spielte in der Württem- an den Wochenenden auf Turnieren mit den dem Besprechungsraum. Für sie gab es keinen
berg-Auswahl und war Stammspieler bei Besten seines Jahrgangs und verbrachte viele Platz mehr. Und es kamen neue Spieler dazu.
einem der besten Jugendvereine des Landes. Nächte bei Gasteltern. Timo Werner stieß als Sechsjähriger zum VfB
Er reiste für Turniere durch Deutschland, Manche Teamkollegen zogen nach Stutt- und blieb. Mit zehn kam Serge Gnabry dazu,
durch Europa und einmal nach Katar. Kundes gart ins Internat, Kunde blieb zu Hause woh- mit zwölf Joshua Kimmich. Für Marius Kun-
Leben als Kind war Fußball, Fußball, Fußball. nen. Seine Mutter holte ihn von der Schule de sind sie bis heute: der Timo, der Serge, der
Bis heute fragt er sich: Wieso hat es für mich ab, fuhr ihn die 25 Kilometer zum Stadion Jo. Timo, ein schüchterner, ruhiger Junge, der
nicht geklappt und für die anderen schon? Wie- über die Stadtautobahn, wartete und nahm schneller war als alle anderen. Serge, der tech-
so spiele ich in der fünften Liga und berate ihn nach dem Training wieder mit nach Hau- nisch herausragte, der Flügelflitzer, der jedes
Leute mit deren Versicherungen, und die an- se. Immer häufiger gab Marius in der Schule Ding in den Winkel haute. Jo, der Motivator,
deren drei spielen vor zigtausend Leuten Befreiungen ab. Die Lehrer nannten ihn der Leader, der Spaßvogel, der es wie kein
Champions League in Mailand oder Madrid? manchmal: der, der nie da ist. Die Noten pass- Zweiter hasste zu verlieren.
An einem diesigen Novembertag kehrt ten trotzdem, darauf legte der Verein Wert. Vor allem zu Joshua Kimmich, der ähnlich
Marius Kunde dorthin zurück, wo sein großer Überhaupt gab es für fast alles Regeln: Tri- schmächtig und klein war wie er, entwickelte
Traum begann. Er fährt die Stadtautobahn kots unbedingt in der Hose tragen, kein Kunde eine enge Bindung. Bei Dutzenden Aus-
entlang, über den Neckar, vorbei am Cann- Schmuck (»zur Vermeidung von störenden wärtsfahrten schliefen sie bei denselben Gast-
statter Wasen, Weinberge am Horizont. Einflüssen und der Optik wegen«), kurze Haa- eltern, im selben Zimmer, »schwätzten über
Schon als Kind ist er den Weg fast täglich ge- re (»keine Länge, die Hilfsmittel z. B. Stirn- alles«. Kunde erinnert sich daran, wie Kimmich
fahren, erst auf dem Rücksitz, später als Bei-
fahrer, noch später mit Zug und Bus.
Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Kun-
de das Trainingsgelände des VfB Stuttgart
besucht. Für ihn ist es ein besonderer Ort, das
spürt man. Der Ort, wo ihm früher jeden
Tag die Stars Kevin Kurányi, Mario Gomez,
Cacau, Sami Khedira über den Weg liefen. Er
erzählt, dass er kaum ein Wort herausbekam,
wenn sie vor ihm standen.
Von einem Trainingsplatz hört man Ap-
plaus und Geschrei. Die Profis des VfB Stutt-
gart trainieren, fünf Dutzend Hartnäckige leh-
nen am Spielfeldrand an Absperrungen, be-
staunen ihre Helden, warten auf Autogramme.
Kunde, Jeans, Sneakers, schwarzer Hoodie,
seitlich gescheitelter Undercut, stellt sich etwas
abseits auf eine Erhöhung. Er kneift die Augen
zusammen, lässt seinen Blick über das Spiel-
feld wandern, sagt: »Sind fast alle da!« Kunde Talente Werner, Kunde,
Gnabry, Kimmich bei
ist hier nicht nur Zeitreisender, er ist auch Fan. einem Turnier in Nantes
Schon als Knirps: Bettwäsche, »Bravo Sport«- im April 2009
Poster, die Zimmertür voller Panini-Sticker.

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 99


SPORT

mit 14 so starkes Heimweh hatte, dass ihn der Trotz. Er ging ins Fitnessstu- Tag vor Weihnachten zum Bolzen in
er ein Jahr lang kaum spielte. Dass er dio, trainierte sich am Hometrainer der Halle. Und für ein paar Stunden
nur noch nach Hause wollte und kurz und mit YouTube-Tutorials Muskeln war für Kunde alles wieder wie früher.
davor war, alles hinzuwerfen. an. Er suchte sich einen neuen Verein, Irgendwann trafen sie sich dann
Auch in der Karriere von Marius den SGV Freiberg, gerade in die nicht mehr, sie schrieben sich seltener,
Kunde gab es einen ersten Knick. Auf B-Junioren-Bundesliga aufgestiegen. später nur noch sporadisch zum Ge-
einmal spielte er nicht mehr von Be- Im Pokal bekamen sie den VfB Stutt- burtstag. Der Kontakt schlief ein und
ginn an. Die Trainer beachteten ihn gart zugelost, auswärts. Kunde sagt: mit ihm ihre Freundschaft. Sie lebten
weniger, sprachen seltener mit ihm. »Als ich mich dort umgezogen hab, in zwei Welten, die nicht zusammen-
Die Leichtigkeit des Spiels ging im- kamen noch mal die ganzen Gefühle passten.
mer mehr verloren. »Ich bekam das hoch. Alles zog an mir vorbei.« Frei- Kunde denkt oft darüber nach, wie

Laci Perenyi
erste Mal Angst«, sagt Kunde. Angst berg gewann sensationell mit 2:1, es den anderen dreien von dem Foto
vor diesem Gespräch am Saisonende, Kunde schoss ein Tor, jubelte provo- wohl geht. Ob sie manchmal an ihn
das für ihn bis hierher immer Form- kant in Richtung des VfB-Trainers, denken. Wie Timo Werner sich fühlt,
sache gewesen war. der ihn aussortiert hatte. »Das brach wenn auf Facebook jemand schreibt,
Kunde wartete an jenem Tag vor einfach aus mir heraus: die ganze Ent- er könne nur rennen und sonst nichts.
diesem Besprechungsraum auf dem täuschung, der Frust«, sagt Kunde. Was es mit Serge Gnabry macht,
Trainingsgelände. Ein Kind nach dem Viele seiner früheren VfB-Kolle- wenn alle sich das Maul zerreißen,
anderen wurde hereingerufen. Ir- gen traf er weiterhin bei den Lehr- weil er nach Paris zur Fashion Week
gendwann hieß es: »Marius Kunde.« gängen der Württemberg-Auswahl. fliegt. Oder ob Joshua Kimmich all
Sein Herz pochte. Nach wenigen Einmal fuhren sie gemeinsam zu die Gemeinheiten über sich über-
Worten war ihm klar, wohin das Ge- einem viertägigen Sichtungslehrgang haupt noch liest. Dass er in der Na-
spräch führte. Dieser Ton: entschul- der U18-Nationalmannschaft. Horst tionalmannschaft nichts zu suchen
digend, rechtfertigend, tröstend. An Hrubesch war damals Trainer dort, habe und keine Ecken schießen kön-
den Rest des Gesprächs kann er sich verfolgte die Trainingseinheiten, ne und sowieso die Schuld an allem
Laci Perenyi

nicht mehr erinnern. Irgendwas mit suchte seine Mannschaft zusammen. trage, was im deutschen Fußball
»zu klein« und »zu schmächtig«. Nach dem ersten Tag stand Kunde falsch läuft.
Draußen fiel er seiner Mutter in noch auf der Liste der künftigen Ju- Es gibt Tage, da tut Kimmich ihm
den Arm. Kunde sagt: »Ich hab die gendnationalspieler, nach dem vier- leid. Da verteidigt Kunde ihn, wenn
ganze Heimfahrt über geweint, bin ten Tag nicht mehr. »Wieder war es Freunde oder Kollegen über ihn ät-
auf mein Zimmer gelaufen, hab mei- knapp, wieder hat es nicht gereicht«, zen. Dann überlegt er, ob er ihm kurz
ne Tür zugeworfen und mich ins Bett sagt Kunde. »Ich dachte mir nur: schreiben soll, ein paar nette Worte.
gelegt. Für mich ist eine Welt zusam- Scheiße!« Aber er will ihm nicht auf die Nerven
mengebrochen. Ich hatte alles inves- Kunde verlor etwas die Lust am fallen. Der hat ja schon genug um die
tiert in diesen Traum. Meine Kind- Fußball, sehnte sich nach Entschleu- Ohren, denkt er sich. Andererseits:
heit, meine Jugend. Hatte vieles ge- nigung, wechselte zurück zu seinem Als Kunde das Bild von sich und sei-
opfert. Ich hatte keine Lust mehr auf Heimatverein nach Heimerdingen. nen Teamkameraden vor knapp drei
Fußball, keine Lust mehr auf den VfB. Mit 17 bekam er noch einmal eine An- Jahren auf Instagram teilte, gefiel das
Team 2 / IMAGO

Am nächsten Tag bin ich nicht in die frage vom Karlsruher SC, absolvierte 2033 Leuten. Einer davon: jok_32.
Schule gegangen. Ich war am Ende.« ein Probetraining, man bot ihm einen Joshua Kimmich.
Auf einmal, mit 15 Jahren, war alles Zweijahresvertrag an. Und zum ers- Während Kimmich, Gnabry und
vorbei. Auf einmal gehörte Kunde ten Mal in seinem Leben entschied Werner zu Stars wurden, absolvierte
Nationalspieler
nicht mehr dazu, zu diesem Verein, der Kimmich, Gnabry, sich Marius Kunde gegen den Fußball Kunde eine Ausbildung zum Versi-
für ihn alles war. Bei dem er Einlauf- Werner: Jedes – und für seine Freunde, seine Fami- cherungskaufmann. Keine Entschei-
kind und Balljunge war und vor einem Mal der Gedanke, hier lie, seine Freundin, sein Abitur. dung des Herzens, eine der Vernunft,
Champions-League-Spiel im Mittel- will ich auch hin Die Entscheidung fiel ihm schwer. seine Mutter hatte darauf gedrängt.
kreis das Logo mit den Sternen zum Schließlich war da dieser Traum. Seitdem sitzt Marius Kunde in die-
Beben gebracht hatte. Und jedes Mal Aber Kunde wollte nicht noch einmal sem Großraumbüro mit den weißen
der Gedanke: Hier will ich auch hin! alles aufgeben, er hatte Angst, wieder Trennwänden am Stadtrand von
Vor 50.000 oder 60.000 Menschen enttäuscht, wieder verletzt, wieder Stuttgart und hört sich Klagen und
spielen. Bejubelt werden. Siege feiern. ausgetauscht zu werden. Zu Hause Fragen zu Haftpflicht-, Kfz- und
Pokale in die Luft recken, die man hatte er einen Schutzraum. Hier warf Wohngebäudeversicherungen an.
sonst nur aus dem Fernsehen kennt. ihn keiner raus. Also blieb er. Was das Wichtigste bei seinem Job
Und eines Tages die Champions- Von zu Hause verfolgte Kunde die ist? »Immer geduldig sein, immer
League-Hymne aufsaugen oder die Karrieren seiner früheren Teamkol- höflich«, sagt Kunde. Manchmal ist
Nationalhymne singen. Diese Gedan- legen. Er beobachtete Serge Gnabrys das schwer. Es ist kein Fußball, keine
ken blieben. Aber nun schmerzten sie. Weg bei Arsenal, Timo Werners Re- Leidenschaft. Aber es ist ehrliche
Von seiner Zeit beim VfB Stuttgart kordjagd in Stuttgart. Mit Joshua Arbeit, ein sicherer Job.
sind nur der Leitz-Ordner und ein paar Kimmich, der inzwischen in Leipzig Und wenn er von der Dachterras-
Trophäen geblieben, die versteckt in spielte, blieb er in Kontakt. Er be- se über Stuttgart schaut, sieht er in
seinem Homeoffice herumstehen, weil »Für mich ist suchte ihn bei einem Spiel, übernach- der Ferne das Stadion seines VfB.
seine Frau sie nicht im Wohnzimmer tete in seiner WG, aß in der Loge Im Februar wird Marius Kunde 29.
haben möchte: »Schüco Hallenmas-
eine Welt Häppchen und staunte über das Le- Aber er spürt immer noch dieses Krib-
ters 2009 Torschützenkönig«, »Bester zusammenge- ben, das »der Jo« inzwischen führte. beln. Das nie aufgehört hat. Und das
Spieler SG Siemens KA 18. 02. 2006«, brochen. Ich Er fuhr nach Paris, zu Kimmichs ers- er jedes Mal bekommt, wenn dieses
»MTI-Hallenmasters 2009«. tem Länderspiel in der Startelf. Noch Foto wieder mal in seiner Timeline
Kunde quälte sich einige Wochen war am Ende.« jahrelang traf sich Kunde mit Kim- auftaucht. Das Foto von sich. Und den
mit dem Warum. Irgendwann packte Marius Kunde mich und einigen VfB-Kollegen am dreien, die seinen Traum leben. n

100 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


SPORT

meisterlich. Der Abschied soll mit


4,5 Millionen Euro entschädigt wor-
den sein. Für seine Geldanlagen hat
er zusammen mit seiner Frau einen
eigenen Investmentfonds gegründet.

Flicks Tricks Schon immer stecken Sportstars


ihr Geld in allerlei Geschäfte: Wein-
güter, Dönerläden, Restaurants, Kla-
mottenlabel oder Fußballhallen. Ge-
GELDANLAGE Der ehemalige Nationaltrainer Hansi Flick coacht bald rade gelten offenbar Investments in
österreichische Fußballtalente – wenn auch nur virtuell. die Digitalisierung des Fußballs als
Erfolg versprechend.
»Für Trainer:innen in Österreich
obby-Fußballtrainer, sagt Pa- 2018 hat er das Unternehmen mit startet eine neue Zeitrechnung«, ju-
H trick Patzig, fühlten sich oft
überfordert. Trainingsplanung,
Spielvorbereitung, Analyse und Or-
drei weiteren Männern in Zürich ge-
gründet. Patzig, 36, war selbst begeis-
terter Fußballspieler, er hat sich über
belte der Österreichische Fußball-
Bund, als er Ende August eine Zu-
sammenarbeit mit Coachbetter ver-
ganisation würden immer anspruchs- ein Fußballstipendium sein Studium kündete. Er versprach, dass jeder, der
voller, davon ist der Geschäftsführer in den USA finanziert und eine Trai- eine Trainerausbildung hat, Zugang
des Start-ups Coachbetter überzeugt. nerausbildung absolviert. zu der App bekommen werde. Das
Helfen soll eine digitale Plattform, die Für Radfahrer und Läufer gibt es Tool werde »den gesamten Fußball in
sein Unternehmen entwickelt hat. Da- schon lange zahlreiche Apps, mit Österreich« verbessern.
mit würden »Teammanagement und denen sie ihre Daten analysieren und In Deutschland ist die Euphorie
die Trainerausbildung in der Fußball- untereinander vergleichen können. geringer. Der DFB bestätigt immer-
landschaft revolutioniert«. »Das zeigt, was auch im Fußball alles hin, mit Coachbetter Gespräche zu
Bei der Umsetzung seiner Ge- möglich ist«, sagt Patzig. Allein in führen. Eine Zusammenarbeit ist un-
schäftsidee bekommt Patzig pro- Deutschland spielen 2,2 Millionen wahrscheinlich. Der Verband arbeitet
minente Hilfe. Der ehemalige Coach Spielerinnen und Spieler in 24.000 an einem eigenen Angebot, das in
der deutschen Fußballnational- Amateurmannschaften. einigen Monaten vorgestellt werden
mannschaft, Hansi Flick, und seine Bislang arbeite Coachbetter nicht soll. Im Mittelpunkt wird dann nicht
Frau Silke haben eine sechsstellige profitabel, räumt Patzig ein. Um ein der frühere Cheftrainer Flick, son-
Summe in Coachbetter investiert. lukratives Abomodell aufzubauen, dern Hannes Wolf stehen, der nach
Flick weiß, wie schwierig der Trai- brauche es zunächst Geldgeber wie der Pleite in Katar zum DFB-Direktor
nerjob sein kann: Bei der Fuß- Flick. Der war zwar mit der deutschen für Nachwuchs, Training und Ent-
ballweltmeisterschaft in Katar im ver- Mannschaft sportlich nicht erfolg- wicklung berufen wurde.
gangenen Jahr flog sein Team schon reich. Aber zumindest sein Gehalt als Investor Flick:
Zudem betreibt der DFB das Portal
nach der Vorrunde aus dem Turnier. Nationalcoach von angeblich mehr Werde selbst Fußball.de, ein Informationsportal
Als das deutsche Team im September als sechs Millionen Euro war welt- »Content« beisteuern rund um den Amateurfußball, dem
ein Freundschaftsspiel gegen Japan nun weitere private Konkurrenz droht.
mit 1:4 verlor, war Flick seinen Flick ist nämlich nicht der einzige pro-
Job los. minente Trainer, der sein Geld in die
Obwohl ihm falsche Personalaus- Digitalisierung des Amateursports
wahl und taktische Fehler vorgehal- steckt. Jürgen Klopp, Trainer des FC
ten wurden, hat Flick immer noch Liverpool und immer wieder als
einen ausgezeichneten Ruf, als Chef- Wunsch-Nationaltrainer gehandelt,
trainer bei Bayern München war er hat gerade in das Kölner Start-up Pre-
sehr erfolgreich. Und deshalb soll der match investiert. Auch deren Plattform
58-Jährige nicht nur als Business- bietet Kickern aller Spielklassen Pro-
Angel wirken. Flick werde auch file mit Leistungsdaten und Statistiken
»Content« beisteuern, sagt Patzig. und ermittelt einen Marktwert.
Coachbetter hat eine »All-in-one- Trainer von den neuen Angeboten
App« entwickelt, die Amateurtrainer zu überzeugen ist nicht einfach. Die
von der Kreisklasse bis in höhere jungen hätten zwar durchaus Inte-
Ligen unterstützen soll. So lassen resse, glaubt Patzig. Aber ob die er-
sich damit nicht nur Trai nings- fahrenen, älteren Trainer wie bei
einheiten und Spieltage organisieren. den Profis mit Laptop am Spielfeld-
Sogar zur optimalen Formation und rand sitzen, ist zweifelhaft. »Für die
Taktik einer Mannschaft unterbreitet meisten dürfte eine Terminorganisa-
das System Vorschläge, wenn zuvor tion über WhatsApp reichen«, ver-
die Stärken der einzelnen Spieler mutet Michael Franke, Präsident des
und deren Gegner eingegeben wer- Münchener Klubs FT Gern. »Die
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

den. Zudem finden sich dort Videos Trainingsvideos können die meisten
mit Trainingsübungen und Facharti- Amateure ohnehin nicht umsetzen.«
kel von Experten. Dabei soll auch Wie schwierig es ist, hohe An-
Flick zum Einsatz kommen. Patzig sprüche in der Realität umzusetzen,
möchte den Ex-Nationalcoach als auch dazu könnte Flick ein Video
Übungsleiter mit einer Drohne beisteuern.
filmen. Michael Fröhlingsdorf n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 101


WISSEN

Uli Deck / dpa


Endlich in Freiheit: Die Luchskatze Finja hechtet in den Nordschwarzwald, nachdem ihre Transportbox geöffnet worden ist. Finja soll helfen, im
Bundesland Baden-Württemberg wieder eine Luchspopulation aufzubauen. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Tiere dort ausgestorben,
seit den Achtzigerjahren wandern immer wieder Luchsmännchen ein, vor allem aus der Schweiz. Um die Population in Zukunft zu stabilisieren,
möchte das Land insgesamt bis zu zehn Luchsweibchen auswildern.

Dabei hatte das Statistische Bundesamt gerade erst fest-


Fahruntüchtig, egal wie alt gestellt: Es gibt einen Alterseffekt bei der Gefahr, Unfälle zu
verursachen.
Nimmt der Staat zu viel Rücksicht auf die wachsende Wähler-
ANALYSE Die EU verwirft offenbar Führerschein-
gruppe der Alten am Steuer? Nicht unbedingt. »Wir sind gegen
checks für Senioren. Auch Jüngere können altersbezogene medizinische Checks«, sagt Ellen Townsend,
aus medizinischen Gründen ein Verkehrsrisiko sein. Policy Director beim Europäischen Verkehrssicherheitsrat ETSC.
In dieser Frage sei ihr Verband ausnahmsweise einig mit dem
Es zählt sicher nicht zu den beliebtesten Gesprächsthemen im Mitte-rechts-Lager – und den Regierungen von Deutschland und
Familienkreis: Sind wir alle noch fit zum Fahren? Genau darauf Luxemburg, die gegen das Vorhaben gestimmt haben.
aber verlässt sich die deutsche Verkehrspolitik: dass Menschen, Townsend sieht nicht genug Daten, die eine weniger freie
die im Lauf ihres Lebens weniger fahrtauglich werden, aus freien Mobilität der Alten rechtfertigen würden. Wenn um den
Stücken ihren Führerschein abgeben – vielleicht nach freund- Führerschein gebrachte Senioren häufiger zu Fuß oder per Rad
lichem Hinweis von Angehörigen. unterwegs seien, würden sie selbst leichter zu Unfallopfern.
Verpflichtende medizinische Checks ab 70 sind hierzulande Altersbedingte Erkrankungen wie Demenz sind laut ETSC
politisch tabu, auch die milde Variante einer Selbstauskunft, Faktoren für höheres Unfallrisiko, in erster Linie aber: Alkohol-
die nach dem Willen der EU-Kommission mit einer Reform der missbrauch, psychische Krankheiten, Epilepsie, Diabetes; alles
europäischen Führerscheinrichtlinie kommen sollte. Was von quer durch die Generationen verbreitet. »Sie können auch mit
dem Regelwerk bleibt, ist nach einem Votum des Verkehrsaus- 30 oder 40 einen Vorfall haben, der gegen eine Fahrtauglichkeit
schusses im Europaparlament am Donnerstag völlig offen. spricht«, so Townsend.
Die Idee, Führerscheine von Senioren alle fünf Jahre erneuern Sinnvoll wären demnach regelmäßige Meldungen der Hausärzte
zu lassen, wurde verworfen. an die Führerscheinstellen – aber nicht erst ab 70. Arvid Haitsch

102 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


Gestörte GPS-Signale Seit mehr als 20 Jahren wird das ameri­ Die Europäische Flugsicherheitsbehörde
kanische Global Positioning System (GPS) hat zur Problematik im März 2022 ein
LUF TFAHRT Die Boeing 737 eines Ferien­ etwa in Autos oder Flugzeugen zur Naviga­ »Safety Information Bulletin« veröffentlicht,
fliegers war auf dem Weg vom ägyptischen tion genutzt. Dessen Satellitensignale das zuletzt im November aktualisiert wur­
Hurghada zurück nach Frankfurt, als die können allerdings manipuliert werden. Sie de. Unter anderem werden Fluggesellschaf­
Crew bemerkte, das etwas nicht stimmte. werden durch Störsender unbrauchbar ten aufgefordert, dass ihre Besatzungen die
»Da ist das GPS ausgestiegen«, erinnert gemacht, oder Empfänger erhalten zwar Position des Flugzeugs auch ohne Satelli­
sich Matthias Baier, First Officer an Bord. GPS­Infos, diese stammen jedoch vom tenhilfe dauerhaft im Blick behalten. CHS
Die Positionsanzeige des Satelliten­ Boden und wurden verfälscht. Frontgebiete
navigationssystems im Cockpit gab irri­ im Ukrainekrieg, aber auch große Bereiche Pilot im Cockpit
tierende Daten aus. Die Besatzung über dem Schwarzen Meer und dem
ignorierte die Werte und verließ sich Mittelmeer, Israel, Jordanien oder dem
auf andere Orientierungshilfen. Nordirak sind davon betroffen.
Seit Wochen gibt es immer wieder Pilot Matthias Baier sieht für Zivil­
Berichte über absichtlich gestörte Naviga­ flugzeuge kein akutes Problem: »Es gibt
tionssignale in der Region. Insgesamt mehrere unabhängige Navigationssys­

Alex Walker / Getty Images


gebe es 70 bis 80 derartige Meldungen teme an Bord.« Das Inertial Reference
von Piloten in der Nahost­Region, das System etwa wird am Startflughafen
berichtet die OPS Group, ein internatio­ mit der korrekten Position gefüttert und
naler Zusammenschluss von etwa kann auch ohne Satellitensignal präzise
8000 zivilen Flugzeugführern und Pla­ vermelden, wo die Maschine sich gerade
nern am Boden. befindet.

»Möglichst durch Tusk: Es gibt auch spezielle hält warm, transportiert den SPIEGEL: Verbrennt man
Halstücher oder Masken, dann Schweiß weiter und stinkt nicht. beim Laufen mehr Kalorien,
die Nase atmen« hat man aber wiederum mehr Und es hilft, viele Kleidungs­ wenn es kalt ist?
Wer gern läuft, mechanischen Widerstand beim schichten übereinander anzu­ Tusk: Ja, der Kalorienverbrauch
lässt sich von Eis Atmen. Es hat alles seine Vor­ ziehen, möglichst aus atmungs­ ist wesentlich höher. Allerdings
und Schnee nicht und Nachteile. aktivem Material. Besonders sinkt auch das Leistungsniveau.
aufhalten. Der SPIEGEL: Sollte man im Winter wichtig ist eine gute Bedeckung Zwischen 8 und 15 Grad liegt der
Sportmediziner nicht generell lieber auf das des Kopfs. Dort ist die Durch­ optimale Bereich für Ausdauer­
Privat

Ingo Tusk, 57, Laufband steigen? blutung stärker, was einen sportarten, alles darunter kostet
spricht über die Vorteile des Tusk: Man sollte nicht von heute hohen Verdunstungsquotienten den Körper mehr Energie, um
Trainings bei winterlichen auf morgen voll loslegen, wenn und damit Wärmeverlust be­ warm zu bleiben. Man schafft
Temperaturen und sagt, wo­ die Temperaturen um den Ge­ deutet. dann nicht mehr die gleiche
rauf Sportler achten sollten. frierpunkt liegen und man es ge­ SPIEGEL: Wie kann man sich Distanz in der gleichen Zeit wie
wohnt ist, bei normalen Tempe­ noch vorbereiten? bei optimalen Bedingungen.
SPIEGEL: Herr Tusk, ist Laufen raturen zu trainieren. Es ist Tusk: Warme Getränke trinken SPIEGEL: Stärkt Ausdauersport
bei Kälte gefährlich? besser, sich an die Kälte heranzu­ und die Glykogenspeicher fül­ in der Kälte den Körper?
Tusk: Bei Kälte zu trainieren tasten. Wenn man es sehr ernst len. Der Körper braucht nicht Tusk: Das Immunsystem kann
kann Atemwegsprobleme her­ meint, kann man auch Kaltwas­ nur zum Laufen Energie, son­ dadurch sicherlich aktiviert
vorrufen, weil die trockene, kal­ serbäder oder Ähnliches machen, dern auch, um sich warmzuhal­ werden, und man kann eine ge­
te Luft zu einem schnellen Aus­ um sich an Kälte zu gewöhnen. ten. Es ist wichtig, dass man wisse Immunhärte erlangen.
trocknen der Schleimhäute füh­ SPIEGEL: Was muss ich bei etwas mehr schnell verfügbare Aber wenn das Grippevirus um
ren kann und es dann zu einem Minusgraden noch beachten? Kalorien zu sich nimmt – ob die Ecke kommt, sind Sie da­
reflexartigen Husten kommt. Tusk: Man sollte sich angemes­ das jetzt eine Banane ist oder gegen trotzdem nicht gefeit.
Bei wenigen kommt es zu Herz­ sen kleiden. Merinowolle Nudeln. SPIEGEL: Wie verhält man
Kreislauf­Problemen, in ganz sich am besten direkt nach der
seltenen Fällen wurde auch mal Belastung?
Kammerflimmern beobachtet. Tusk: Möglichst nicht ausküh­
SPIEGEL: Wie vermeidet man len, schnell zurück in die warme
solche Atemwegsprobleme? Wohnung. Im Winter empfehle
Tusk: Indem man so viel wie ich, eher heiß zu duschen. Bei
möglich durch die Nase atmet. der Ernährung gilt wie sonst
Dabei wird die Luft angefeuch­ auch: viel Gemüse, wenig
tet und kommt nicht trocken Fleisch. Und ich würde heiße
und kalt direkt in den Bron­ Getränke bevorzugen.
chien an – dann bekommt man SPIEGEL: Das klingt harmlos.
schlechter Luft. Um das zu ver­ Tusk: Es kann aber wirklich ge­
hindern, sollte man möglichst fährlich werden. Ab minus
vorgewärmte und angefeuchtete 15 Grad sollte man es ganz sein
iStockphoto / Getty Images

Luft einatmen. Das ist aber lassen. Da kann es Erfrierungen


nicht so leicht, wenn man sich an Körperstellen geben, Frost­
belastet. beulen, das bereits angespro­
SPIEGEL: Beim Laufen nur chene Austrocknen der
durch die Nase zu atmen klingt Schleimhaut und eben Herz­
anstrengend. rhythmusstörungen. MRK

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Fluch der Karibik


ENERGIEWENDE Trotz aller Klimagelübde verheizt die Menschheit mehr fossile Brennstoffe denn je. Die Öl- und
Gaskonzerne machen Rekordprofite und investieren Dutzende Milliarden in die Erschließung neuer
Vorkommen. Ein Schwerpunkt liegt im südamerikanischen Guyana. Lässt sich der neue Boom noch stoppen?

ort ist das neue Guyana! Guya- sel auf der Insel, dem Sprit für die fossilen Brennstoffzeitalters einläu-
D na mit Erdöl!«, ruft Nicholas
Deygoo, während das Boot auf
seine künstliche Insel zusteuert.
schweren Maschinen. Straßenwalzen
plätten den Sandboden, Bagger he-
ben Fundamente aus, Kräne hieven
ten sollte, wurden vor Guyanas Küs-
te enorme Vorkommen entdeckt.
Erstklassiges »Light Sweet Crude«
»Ohne Exxon wäre das nicht mög- Bauteile umher. Noch vor Silvester lagert dort im Meeresgrund, schwefel-
lich!« Der Neu-Inselbesitzer, 41, weist muss hier Guyanas erster Tiefwasser- armes, leicht zu raffinierendes Rohöl.
mit beiden Armen auf sein Bauprojekt. hafen eröffnen. So verlangt es der Der beste Stoff, den es gibt. Die Fun-
Es ist 300 Millionen Dollar teuer, aber einzige Kunde, Mieter und Finanzier de wecken sogar beim Nachbarn Ge-
Deygoo selbst hat keinen Cent gezahlt. der Retorteninsel: ExxonMobil. lüste: Venezuelas Präsident Nicolás
18 Hektar Neuland, etwa die Flä- Der weltgrößte private Öl- und Maduro will Teile Guyanas annektie-
che von 24 Fußballplätzen, haben Gasmulti hat dem guyanischen Ge- ren und dort Ölbohrungen starten.
Schwimmbagger binnen wenigen Mo- schäftsmann Deygoo und dessen Laut den Plänen von ExxonMobil
naten erschaffen. So etwas gab es noch Partnern die gesamte Investitions- und Guyanas Regierung soll das Land
nie in Guyana, dem dünn besiedelten summe vorgestreckt. Zinslos, als binnen fünf Jahren mehr Erdöl pro
Staat an Südamerikas Atlantikküste, Mietvorauszahlung für die nächsten Einwohner produzieren als jeder an-
eingezwängt zwischen Venezuela und Jahre. Der Konzern braucht den Tief- dere Staat auf dem Planeten. Obwohl
Surinam. Zehntausende Tonnen Sand wasserhafen dringend als Versor- die Klimakrise Guyana so massiv be-
haben die Baggerschiffe vom Meeres- gungsbasis für seine Erdölförderung droht wie kaum ein anderes Land.
grund geholt und hier wieder aus- 200 Kilometer vor Guyanas Küste. Trotzdem denkt hier kaum jemand
gespuckt, nahe der verschlafenen So schnell wie möglich wollen die US- daran, den Stoff im Untergrund zu
Hauptstadt Georgetown. Ein paar Manager und Guyanas Spitzenpoliti- 1 | Straßenhändler in
lassen. Guyanas Entscheider nicht,
Lanzenottern und Killerbienen vom ker die Ausbeute steigern: ehe der Guyanas Hauptstadt Nicholas Deygoo erst recht nicht – ja
Dschungel gegenüber sind schon auf Klimaschutz dazwischenkommt. Georgetown selbst Umweltschützer sind für die
Deygoos Retorteneiland mit dem Guyana ist das Dorado der Öl- 2 | Tiefseehafen der Ausbeutung, seitdem Ölfirmen lokale
Retorteninsel VEHSI
Namen VEHSI migriert. industrie. 2015, kurz bevor 200 Staa- 3 | ExxonMobil-
Projekte finanzieren. Die Förderung
Aber Guyanas Fauna wird sich hier ten das Pariser Weltklimaabkommen Zentrale in George- aber ist ein Milliardengeschäft. Und
nicht ausbreiten. Es riecht nach Die- vereinbarten, welches das Ende des town ein Triumph für ExxonMobil & Co.

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In den vergangenen Jahren schien es eine sagt Fatih Birol, Chef der Internationalen Und Guyanas Regierung dürstet es nach
Zeit lang, als wollte sich die Menschheit ernst- Energieagentur (IEA). »Der Trend läuft auf den Petromilliarden. Mit ihnen können sie
haft von fossilen Brennstoffen verabschieden. plus 2,4 Grad hinaus.« ihr Land weiterentwickeln. Nagelneue, brei-
Eine junge Bewegung, angeführt von Greta Öl-, Gas- und Kohlekonzerne indes ma- te, asphaltierte Überlandstraßen bauen, die
Thunberg, brachte Millionen Normalbürge- chen prächtige Geschäfte. Und ihre Lobby die alten, schlaglochübersäten Pisten erset-
rinnen und Normalbürger auf die Straßen. arbeitet daran, dass es noch lange so bleibt. zen. Brücken, Krankenhäuser und Schulen
»Keep it in the ground«, lasst es im Boden, Laut der deutschen Umweltschutzorgani- errichten.
skandierten sie über Erdöl, Kohle und Erdgas. sation Urgewald suchen oder erschließen Guyanas Politiker drängen zur Eile. »Es
Eine Regierung nach der nächsten gelobte, 96 Prozent der rund 700 von ihnen analysier- ist ein Wettlauf gegen die Zeit«, sagte Staats-
ihren Staat bis zur Jahrhundertmitte treib- ten Öl- und Gasunternehmen neue Felder. präsident Irfaan Ali kürzlich in einem Inter-
hausgasneutral zu machen. Als wegen des 539 davon arbeiten derzeit daran, Erdgas und view mit Al Jazeera. »Wir müssen das, was
Coronavirus Hunderte Millionen Menschen Erdöl mit insgesamt 230 Milliarden Barrel (je wir haben, in der schnellstmöglichen Zeit
nicht mehr zur Arbeit pendeln oder durch die 159 Liter) Öläquivalent aus bisher unerschlos- nutzen.« Ali und seine Leute fürchten, dass
Welt jetten konnten, brachen Ölpreise und senen Vorkommen zu fördern. Diese Menge strengere Klimaschutzvorschriften und neue
Aktienkurse ein. Das schwarze Gold der Mo- entspricht dem derzeitigen globalen Erdöl- Technologien mittelfristig die globale Erdöl-
derne war kurzzeitig ein Ladenhüter. verbrauch von mehr als sechs Jahren. nachfrage schwächen und ihren Schatz ent-
Und heute? Nie hat die Menschheit derart Das Zentrum dieser weltweiten Ölbonan- werten könnten.
viele fossile Brennstoffe verbraucht wie zu- za ist Guyana, ein von Korruption und Armut Und die Regierung ist auf die Petrodollars
letzt. Dies zeigt eine Datenaufstellung des geprägtes Land. »Als ich ein Kind war, gab angewiesen – auch für den Kampf gegen den
Londoner Energy Institute für den SPIEGEL . es hier oft noch nicht mal Toastbrot«, sagt Klimawandel.
Demnach wurden 2022 Erdöl, Kohle und Erd- Nicholas Deygoo, der Neu-Inselbesitzer. Neun von zehn Guyanerinnen und Guya-
gas mit einem Energiegehalt von insgesamt In der Hauptstadt Georgetown prallen al- nern leben entlang der Atlantikküste hinter
137 Billionen Kilowattstunden verheizt und tes und neues Guyana aufeinander. Ein Pfer- mehr als 400 Kilometer langen Deichen.
verarbeitet, mehr denn je zuvor. »Trotz eines dewagen wird von einem SUV überholt, Kühe Mancherorts schwappt schon heute immer
Rekordwachstums bei den Erneuerbaren hält grasen neben einer McDonald’s-Filiale. In der wieder Salzwasser über die Barrieren und
sich der Anteil der fossilen Brennstoffe am Stadtmitte ragt zwischen teilweise verwitter- verdirbt die Böden. Der Meeresspiegel steigt
weltweiten Energiebedarf hartnäckig bei ten Kolonialstil-Holzhäuschen die Exxon- in dieser Region schneller als anderswo. Und
82 Prozent«, sagt Juliet Davenport, Präsiden- Zentrale in den Tropenhimmel, ein sieben- Georgetown liegt seit Jahrhunderten unter
tin des Energy Institute. »Die Wende geht stöckiger Büroturm aus Glas, Stahl, Beton. dem Meeresspiegel.
nicht schnell genug voran.« Von dort kann der Mann, den viele den Die Hauptstadt wurde einst erbaut auf
Deshalb war der weltweite Treibhausgas- »König von Guyana« nennen, herabblicken Sumpfland, das holländische Kolonialherren
ausstoß 2022 so hoch wie nie. Dieses Jahr auf das Rohstoffministerium im selben Stra- mit Kanälen und Gräben versahen, aus denen
könnte er weiter steigen. Die Temperaturen ßenzug. Der Brite Alistair Routledge, 56, ist Einheimische heute noch ab und an eine Ana-
rund um den Globus schlagen Kapriolen; Exxons Statthalter. »Dies sind die bedeutends- konda ziehen. Georgetown ist eine der am
Überflutungen und Waldbrände werden im- ten konventionellen Öl- und Gasfunde der stärksten von Überflutungen bedrohten Städ-
mer katastrophaler. Und die Fridays-for- vergangenen 20 Jahre«, frohlockt er. Mindes- te der Erde. Die Regierung plant, im Landes-
Future-Bewegung um Thunberg scheint sich tens elf Milliarden Barrel Öläquivalent lagern innern eine neue, höher gelegene Stadt na-
zu zerlegen. laut Exxon vor Guyanas Küste, mehr als vor mens Silica City zu bauen.
»Wir werden mit der gegenwärtigen Ener- Norwegen und Großbritannien zusammen. Guyana zeigt auch, wie der »Loss and Da-
giepolitik nicht nur das 1,5-Grad-Ziel reißen. Der Schatz hat derzeit einen Marktwert von mage«-Ansatz bislang gescheitert ist: die Idee,
Wir werden sogar das 2-Grad-Ziel reißen«, mindestens 750 Milliarden US-Dollar. dass Industrienationen jene Länder finanziell

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WISSEN

unterstützen sollen, die von den Folgen des Der saudi-arabische Staatskonzern Saudi
Klimawandels besonders stark betroffen sind. Energiehunger Aramco machte 161,1 Milliarden Dollar Profit.
Schon 2009 versprachen die Industrienatio- Und der weltgrößte private Kohleförderer
nen den Entwicklungsländern 100 Milliarden Globaler Energieverbrauch, in Millionen Peabody Energy aus den USA, der vor ein
Gigawattstunden
Dollar pro Jahr an Hilfen; diese Summe wird paar Jahren vor dem Bankrott stand, verdien-
bis heute nicht erreicht. Guyana will nicht Öl Gas Kohle andere Energieträger te 2022 mehr Geld denn je.
länger warten: »Wir benötigen das Geld des Schon in den Jahren nach dem Pariser
Öl- und Gassektors, um unser Land klima- 150 Weltklimaabkommen 2015 förderten die Kon-
sicher zu machen und dem Klimawandel an- zerne weltweit weiter Öl, Erdgas und Kohle,
zupassen«, sagt Vizepräsident Bharrat Jagdeo als gäbe es keinen Klimawandel. Laut einer
dem »Wall Street Journal«. Datenrecherche des SPIEGEL starteten nach
Die großen Ölkonzerne klotzen: im eige- 100 2015 mehr als 70 besonders große fossile
nen Interesse. Mindestens 40 Milliarden Dol- Projekte wie das in Guyana oder die Erschlie-
lar investieren Exxon, Hess und CNOOC ßung von Gasfeldern in der westsibirischen
allein in das Guyana-Projekt. Dagegen gab 50 Arktis, die über ihre Lebenszeit gerechnet
die gesamte Branche laut der Internationalen jeweils mindestens eine Milliarde Tonnen CO2
Energieagentur vergangenes Jahr kaum mehr ausstoßen werden.
als 20 Milliarden Dollar für klimaschonende Zusammen mit Wissenschaftlern und mit
Projekte wie Solar- oder Windparks aus. Das 0 Unterstützung der französischen Non-Profit-
waren nur 2,5 Prozent ihrer gesamten Kapi- 2005 2010 2015 2020 Organisation Data for Good und des Kollek-
talausgaben. In fossile Vorhaben steckte die tivs Éclaircies wurden die in Datenbanken,
Branche fast 40-mal so viel Geld. Ihr bewähr- Prognose zum globalen Energieverbrauch mit Studien und Geschäftsberichten zugänglichen
tes Geschäftsmodell funktioniert offenbar den momentanen energiepolitischen Informationen zu Öl-, Gas- und Kohleprojek-
Maßnahmen, in Millionen Gigawattstunden
noch so gut, dass die Multis keinen Anlass ten von fast 900 Unternehmen ausgewertet.
sehen, groß in ein neues zu investieren. Kohle Öl Gas nuklear Weitere 128 solcher Megavorhaben waren
»Die Öl- und Gasindustrie steht vor einem Erneuerbare und Biomasse zuletzt noch in Planung. Würden alle Pläne
Moment der Wahrheit«, sagt IEA-Chef Birol. 60
67,5 der Energiekonzerne komplett umgesetzt,
»Sie muss sich entscheiden: entweder die Kli- wäre selbst vorsichtig geschätzt fast das Dop-
makrise befeuern oder am Wandel hin zu 51,7 pelte des CO₂-Budgets verbraucht, das noch
40
sauberer Energie teilhaben.« 40,0 bleibt, um die Erwärmung auf 1,5 Grad zu
Ein windiger Oktobermorgen in London- begrenzen.
Westminster. Vor dem InterContinental Hotel 20
28,3 »Angesichts der hohen Nachfrage nach Öl
steigt violetter Rauch auf, Sprechchöre hallen und Gas kann es notwendig sein, ältere Felder
über den Hyde Park nebenan. »Oily money 13,3 mit nachlassenden Fördermengen durch neue
out!«, skandieren Greta Thunberg und ihre 0 Vorkommen zu ersetzen«, sagt IEA-Chef
Mitstreiter, weg mit dem Ölgeld. In dichten 2030 2040 2050 Birol. Aber die Investitionen der Industrie
Reihen stehen Klimaaktivisten untergehakt in neue Öl- und Gasfelder seien »viel höher,
aneinander. Sie blockieren die Eingänge des Emissionen pro Kopf 2022, in Tonnen CO2 als notwendig wäre, um die Förderung auf
Luxushotels. Keiner kommt rein, keiner raus gleichbleibendem Niveau zu halten«.
beim Energy Intelligence Forum, einem der 1 5 10 15 Kommt die Welt nicht von Öl, Kohle und
größten Treffen der fossilen Branche. Gas los? »Fossile Brennstoffe sind so be-
Drinnen hat das Treffen der Öl- und Gas- quem«, sagt James Hansen, der langjährige
magnaten längst begonnen, noch nicht einmal Klimaexperte der US-Weltraumbehörde Nasa.
dem Zeitplan konnten die Aktivisten etwas Eine Gallone (3,8 Liter) Benzin enthalte so
anhaben. Die plüschigen Teppiche schlucken viel Energie, wie ein Erwachsener leiste, der
ihre Parolen, die Bosse sprechen ungestört 400 Stunden lang körperlich arbeite. Ein
und behaupten, die Klimakrise und ihre In- Großteil der heutigen Infrastruktur ist auf
teressen widersprächen sich nicht. diese Rohstoffe ausgelegt: Kraftwerke auf
»Es geht darum, die Emissionen von Koh- Kohle, Fahr- und Flugzeuge auf Diesel, Ben-
lenwasserstoffen zu reduzieren, statt deren Veränderung des Energieverbrauchs pro zin und Kerosin, industrielle Prozesse auf
Produktion runterzufahren«, sagt Amin Nas- Kopf gegenüber 1990, nach Land, in Prozent Erdgas. Obendrein werden die Klimakiller
ser, Chef des Ölgiganten Saudi Aramco. Mit Deutschland Frankreich USA hoch subventioniert. Mehr als 1000 Milliar-
Technologien wie CCS, der Abscheidung und weltweit Brasilien Saudi-Arabien den US-Dollar gaben Regierungen weltweit
Speicherung von Kohlendioxid, sowie mehr 2022 hierfür aus, hat die IEA errechnet.
Indien China
Effizienz ließe sich der CO2-Ausstoß von Erd- 458 Auf der Londoner Energiekonferenz
öl und Erdgas senken, so Nasser. Erneuer- 400 schwärmt der Franzose Patrick Pouyanné,
bare Energien allein könnten »die Last der Chef von TotalEnergies, den Zuhörern von
weltweiten Energienachfrage« nicht schultern, 300 340 einer fossilen Wunderwelt vor: von Totals
behauptet er. 36 Milliarden Dollar Nettogewinn, einem er-
Wie Nasser denken viele hier. 2022 war für 200 244 warteten Wachstum im Öl- und Gasgeschäft
zahlreiche Konzerne das erfolgreichste Jahr bis mindestens zum Ende der Dekade, von
ihrer Geschichte. Auch wegen Wladimir Pu- 100 138 neuen Funden und Projekten, etwa in Nami-
tins Überfall auf die Ukraine und der Energie- 76 bia. »Es ist toll, dass wir im 21. Jahrhundert
krise, welche die Preise nach oben trieb. 18 noch ein so ergiebiges Ölfeld entdecken und
0 −12
Die »Big Five«, die fünf westlichen Öl- und ausbeuten können.«
−19
Gasriesen ExxonMobil, Chevron, BP, Shell 1990 2000 2010 2020 Pouyanné stellt sich dabei nicht als Gegen-
und TotalEnergies, erwirtschafteten zusam- spieler der aufgebrachten Menge vor dem
S Quellen: World Energy Outlook 2023, Statistical Review of
men fast 200 Milliarden US-Dollar Gewinn. Hotel dar. »Wir müssen den Leuten da

World Energy 2023, Our World in Data, Global Carbon Budget

106 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


WISSEN

draußen Antworten geben«, sagt er. über Frankreich bis Deutschland ha-
Seine Antwort lautet: die Emissionen ben die Stimmungsmache gegen Kli-
bei der Förderung zu minimieren, maschutz als Thema entdeckt. In
etwa den Ausstoß von Methan. Es ist Brüssel hat der engagierte Klima-
ein noch stärkeres Treibhausgas, das kommissar Frans Timmermans das
bei der Förderung von Öl freigesetzt Amt an seinen niederländischen
und bisher zum Teil einfach in die Landsmann Wopke Hoekstra abge-
Atmosphäre gepustet wird. Wenn es geben. Der arbeitete einst beim Öl-
nach Pouyanné geht, soll das künftig riesen Shell.
vermieden werden. Es würde nicht Guyana setzt fast ausnahmslos auf

Peter Macdiarmid / eyevine / laif


viel kosten. die alte Energie: Ein Gaskraftwerk
Immerhin sagt er auch noch, er entsteht nahe der Hauptstadt, den
wolle die Energiewende anschieben, Brennstoff sollen Exxon & Co. lie-
Wasserstoff produzieren und die fern; bei der Ölförderung fällt eine
Elektrifizierung des Verkehrs fördern, Menge Gas an. Damit wird das Land
das alles müsse geschehen, schon aus auf Jahrzehnte abhängig vom fossilen
wirtschaftlichem Interesse. Und trotz- Rohstoff sein – und erst recht nicht
dem betont er: »Wir werden noch in Verlockung kommen, die Förde-
sehr lange Öl und Gas brauchen.« Demonstranten vor Zwei Metrostationen vom EU-Par- rung zu stoppen. Solar- oder Wind-
Ähnlich wie Pouyanné argumen- dem Branchentreffen lament in Brüssel entfernt arbeiten parks gibt es fast nirgends im Land,
Energy Intelligence
tiert auch der Präsident des laufenden Forum in London im Fossillobbyisten daran, im von der es mangelt an Investoren und Infra-
Weltklimagipfels. Sultan Al Jaber ist Oktober: Die Bosse EU-Kommission ausgerufenen Green struktur. Manager Routledge freut
hauptberuflich CEO der Abu Dhabi bleiben ungestört Deal genügend Raum für Öl und Gas sich: »ExxonMobil beabsichtigt, noch
National Oil Company, des zwölft- zu schaffen. Hier sitzt die Internatio- gut 30 Jahre oder mehr in Guyana
größten Ölkonzerns der Welt. nal Association of Oil & Gas Produ- zu sein.«
»Maximale Energie – minimale cers Europe. Die IOGP repräsentiert Die Ölfirmen haben mit Guyanas
Emissionen«, lautet das Credo, das alle führenden westlichen Öl- und Regierung 2016 einen exzellenten
Al Jaber bei fast jeder Gelegenheit Gaskonzerne, von Shell über BP bis Handel geschlossen. Das Abkommen
verkündet. Wie das genau gehen soll, TotalEnergies. über die Aufteilung der Produktion
erläutert er nicht. Die von der Bran- »Öl und Gas werden während der garantiert ihnen bislang den Löwen-
che gepriesene emissionsreduzieren- Energiewende und darüber hinaus anteil der Ausbeute. Sollte es auf ho-
de Technologie CCS oder das Filtern noch eine wesentliche Rolle spielen«, her See zu einem Ölunfall kommen,
des Kohlendioxids aus der Luft mit antwortet die IOGP auf Anfrage. Wie ist unklar, wer dafür geradesteht;
Saugmaschinen taugen nicht als All- lange? Dazu kommt nur ein schwam- nach derzeitiger Rechtslage müssen
heilmittel. Beides würde derzeit den miges »viele Jahre«. Fossile Rohstoffe die Betreiber nur Reinigungskosten
weltweiten CO₂-Ausstoß nicht einmal könnten mit der bisher unausgereif- bis zu zwei Milliarden Dollar über-
um ein Prozent verringern. Und ten CO2-Speicherung im Untergrund nehmen.
selbst wenn die Technologien künftig zur Not klimaneutral gemacht wer- Trotzdem wissen Exxon & Co.
massentauglich werden sollten, wür- den, behauptet der Lobbyverband. selbst die bekannteste Umweltschüt-
den sie gigantische Mengen Energie »Wir brauchen einen umfassenderen zerin der Nation auf ihrer Seite. An-
verbrauchen, laut der IEA mehr als Ansatz, der nicht zwischen Klima- nette Arjoon, 59, misstraute anfangs
die heutige gesamte Stromproduktion und Industriezielen wählt, sondern den Konzernen. Heute unterstützt
der Welt. versucht, beide zu erreichen.« Dieses ein Öldienstleistungsunternehmen
»Die Industrie wird dieses Jahr Credo setzt sich auch in der Politik ihre Naturschutzorganisation. Mit
etwa vier Milliarden Dollar in CCS durch. dem Geld könne man viel Gutes für
investieren«, sagt Birol. »Um die fos- Bei manchen europäischen Groß- die lokale Umwelt und indigene Men-
silen Emissionen aufzufangen, müss- verbrauchern hat sich die Stimmung schen tun, sagt Arjoon. Und: »Wenn
te sie fortan etwa 1000-mal so viel gedreht – zugunsten der Fossilien. Großbritannien, Norwegen und die
investieren: an die 4000 Milliarden Großbritanniens Premier Rishi Sunak USA mit Ölproduktion reich gewor-
Dollar«, und zwar jedes Jahr. will die nationalen Vorkommen so den sind, warum erwarten Sie dann
Statt in den Wandel ihres Ge- lange wie möglich ausbeuten und von Guyana, dass wir unser Öl im
schäftsmodells investierten einige mehr als hundert neue Lizenzen ver- Untergrund lassen – und unser Land
Multis lieber in eine neue Kommuni- geben, Frankreichs Präsident Emma- arm bleibt?«
kationsstrategie. »US-amerikanische nuel Macron seiner Nation eine Klima- Auch der Herr der Retorteninsel
PR-Firmen, Öl- und Gaskonzerne, regulierungs-»Pause« verordnen. versteht nicht, wieso Guyana seinen
Automobilindustrie und Petrochemie Und in Berlin kämpft die Bundesre- Bodenschatz unberührt lassen sollte.
haben sich zusammengetan, um gierung mit den Nachwirkungen des Die Westler hätten merkwürdige An-
Kampagnen und Programme rund Bundesverfassungsgerichtsurteils, sichten, sagt Nicholas Deygoo. »Sie
um Nachhaltigkeit zu entwickeln: mit das ihre finanziellen Mittel für den behaupten, dass sie grün werden wol-
dem Ziel, der Welt mitzuteilen, dass Kampf gegen die Klimakrise drastisch len – aber sie hören nicht auf, fossile
die fossile Industrie Teil der Lösung einschränken könnte. Brennstoffe zu verbrauchen.«
ist«, sagt Melissa Aronczyk, Profes- »Fossile Der niederländische Wahlgewin- Im ersten Halbjahr wurden fast
sorin für Medienwissenschaft an der Brennstoffe ner und Rechtsaußen Geert Wilders zwei Drittel von Guyanas Erdölpro-
Rutgers University in New Jersey. bekundet, diverse Klimaschutzver- duktion nach Europa verkauft; ein
»Schon seit der Einigung auf ein Uno-
sind so träge und -gesetze »durch den Schred- großer Teil landete in Rotterdam.
Klimarahmenabkommen im Jahr bequem.« der« zu jagen und alle Staatsausgaben Vom dortigen Hafen führen zwei
1992 versuchen sich die fossilen James Hansen, für Klimaschutz einstellen zu wollen. große Pipelines nach Deutschland.
Unternehmen einzumischen.« Klimaforscher Rechtsaußenparteien von Spanien Susanne Götze, Claus Hecking n

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WISSEN

Stefan Höck / LMU


Laserphysiker Krausz

Beherrscher des Ultraflüchtigen


PHYSIKNOBELPREIS Der Garchinger Professor Ferenc Krausz hat es geschafft, das Flirren der Elektronen
sichtbar zu machen. Jetzt erhält er die höchste Auszeichnung der Wissenschaft –
und hat große Pläne: Mit seiner Entdeckung will er die Medizindiagnostik revolutionieren.

s war etwas leichtsinnig, den Tag der Krausz leitet ein Team von rund 120 Mit- Teil hat sich nichts Geringeres vorgenommen,
E offenen Tür im Garchinger Max-Planck-
Institut für Quantenoptik (MPQ) aus-
gerechnet auf den 3. Oktober zu legen, den
arbeiterinnen und Mitarbeitern am MPQ, an
der Münchner Ludwig-Maximilians-Univer-
sität und an dem von ihm mitgegründeten
als die medizinische Diagnostik zu revolutio-
nieren. Die Kollegen am MPQ bewundern
Krausz für die Kraft seiner Visionen, einigen
ersten Dienstag des Monats. Das wurde um Center for Molecular Fingerprinting in Buda- geht er damit sogar zu weit.
elf Uhr morgens klar, als der Anruf aus Stock- pest. Sie alle gehören zu seiner »Attoworld«, Am 10. Dezember, dem 127. Todestag von
holm kam. Rund 100 Besucher liefen durch wie er es nennt. Alfred Nobel, überreicht der schwedische Kö-
die Flure des Instituts, während die MPQ- Atto ist ein in der Physik verwendetes Prä- nig Carl XVI. Gustaf ihm nun die goldene
Sprecherinnen eine Pressekonferenz auf die fix, das für das Milliardstel eines Milliardstels Medaille mit dem Konterfei des Preisstifters.
Beine stellen mussten. Ferenc Krausz, Direk- steht. Um die Bewegung von Elektronen in Ferenc Krausz wird erhoben in den wissen-
tor am MPQ, war für den Physiknobelpreis Molekülen nachzuweisen, musste Krausz schaftlichen Adelsstand.
2023 auserkoren. Seit 20 Jahren hatten er und Lichtblitze erzeugen, die nur wenige Atto- Aufgewachsen ist er in einem 15.000-Ein-
sein Team auf diesen Moment gewartet. sekunden kurz sind, das heißt also wenige wohner-Städtchen gut 60 Kilometer westlich
Krausz, 61, ist klein, zupackend, ehrgeizig. 0,000.000.000.000.000.001 Sekunden. von Budapest. »Eher ein Dorf«, erklärt
Er spricht mit Nachdruck, manchmal fast Man kann auch sagen: unvorstellbar kurz. Krausz. John von Neumann, Leo Szilard,
missionarisch. Es bereitet ihm Freude, seine Mit diesen Attoblitzen will Krausz die Welt Eugene Wigner, Paul Erdős, Edward Teller:
Zuhörer mitzunehmen ins Innerste der Mo- nicht nur erkunden, er will sie auch verän- Ungarn hat viele bedeutende Wissenschaftler
leküle, wo Elektronen nahezu mit Licht- dern. Ein Teil seines Teams arbeitet daran, hervorgebracht. Auch Katalin Karikó, die in
geschwindigkeit umherflitzen. Sein großes eine neue Art von Elektronik zu entwickeln, diesem Jahr den Medizinpreis vom schwedi-
Verdienst ist, dass er dieses Flirren sichtbar die vieltausendfach schneller schalten kann schen König entgegennehmen wird, stammt
gemacht hat. als die modernsten Mikrochips. Ein anderer aus Ungarn. »Selbst in der Zeit des Sozialis-

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WISSEN

mus war der naturwissenschaftliche Als Erstes lernte Krausz in Wien er sich, sind tausendfach leichter als
Schulunterricht hervorragend«, sagt Femto kennen, ein weiteres magi- Moment- Atome, sie bewegen sich deshalb tau-
Krausz. sches Präfix. Das Team, in dem er nun aufnahme sendfach schneller. Um ihre Bewe-
Schon als Schüler habe er seine forschte, arbeitete mit Lasern, deren gungen sichtbar zu machen, würde es
große Leidenschaft entdeckt. »Ich Blitze nur wenige Tausendstel einer Die Belichtungszeit folglich tausendfach kürzerer Blitze
verdanke es meinen Lehrern, dass die Pikosekunde lang aufflackern. Femto- ist die Dauer, über die bedürfen: Attosekundenblitze.
ein Kamerasensor
Physik zu meinem Leben wurde«, sekunden nennt sich das. während einer Bildauf- Also machte sich Krausz daran,
sagt er. Anhand zweier Induktions- Krausz wurde klar: je kürzer ein nahme dem Licht seine eigene Vorsilbe ins Reich der
spulen führten sie im Unterricht vor, Lichtblitz, desto schneller die Bewe- ausgesetzt ist. Je nach Laserphysik einzuführen. Er wusste,
dass elektromagnetische Signale quer gung, die sich damit einfangen lässt. Zeitspanne können dass er dazu die Physik würde über-
unterschiedlich
durch den Raum springen können. Das Prinzip ist jedem Fotografen be- schnelle Motive listen müssen. Denn bis dahin hatten
Krausz probierte es zu Hause genau- kannt: Wer einen Rennwagen foto- registriert werden. die Physiker, um Ultrakurzblitze zu
er aus: »Als Antenne habe ich 15 Me- grafieren will, darf nur Millisekunden erzeugen, infrarotes Laserlicht be-
Belichtungszeit:
ter Draht von unserem Haus bis zur lang belichten. Um Explosionen, den 1 Sekunde nutzt. Diese Strategie jedoch war mit
Garage gespannt«, erzählt er. Im Rau- Einschlag von Geschossen oder aero- den Femtosekundenlasern ausgereizt.
statische
schen seines Selfmade-Radios knis- dynamische Stoßwellen sichtbar zu Nacht-
Noch kürzere Attosekundenblitze
terten Stimmen aus Russland und aus machen, bedarf es noch kürzerer Ver- kulisse konnte es nur im ultravioletten oder
China. »Das hat tiefen Eindruck auf schlusszeiten. im Röntgenbereich geben.
mich gemacht.« Eindrucksvoll demonstriert das Krausz ersann einen Trick: Mit-
10–3 Sekunden
Trotz seiner Begeisterung riet Phänomen eine Aufnahme aus der hilfe eines Femtosekundenlasers
1 Millisekunde
der Lehrer Krausz vom Physikstu- Frühzeit der Fotografie. Vermutlich schleuderte er Elektronen mit hoher
dium ab. Er empfahl Elektrotechnik. im Jahr 1838 richtete Louis Daguerre 100-Meter- Wucht um einen Atomkern und
Das sei handfester, etwas fürs rich- die Kamera auf den Pariser Boulevard Läufer zwang sie so, UV-Blitze abzufeuern.
tige Leben. So wurde Krausz zum du Temple vor seinem Fenster. Weil Im Jahr 2001 wies er seinen ersten
Ingenieur. die verwendete Silberplatte noch we- 10–6 Attosekundenblitz nach. »Es war be-
Er studierte an der TU in Buda. nig empfindlich war, belichtete er 1 Mikrosekunde glückend zu sehen, was noch nie ein
Doch schon bald vermisste er die rund fünf Minuten lang. Die Folge: abgefeuerte Mensch gesehen hatte«, sagt er. Von
schöne Klarheit der Physik. Wann Der Boulevard erscheint menschen- Gewehr- nun an war klar: Der Nobelpreis kam
immer möglich, schlich er sich über leer. Zu erkennen sind einzig ein projektile für Krausz in Reichweite.
die Donau nach Pest. Dort belegte er Schuhputzer und sein Kunde, denn Drei Jahre später wechselte er ans
an der Uni die Kurse der Theoreti- nur sie verharrten unbewegt. Das Das Pendant bei der Garchinger Max-Planck-Institut, das
Bildgebung mithilfe
schen Physik. Das solide Handwerks- rege Treiben der Menschen, Pferde von Lasern ist die wie nur wenige als Nobelpreisschmie-
zeug des Ingenieurs, geschärft durch und Kutschen war zu flüchtig. Erst Dauer eines Laser- de gilt. Fünf Direktoren gibt es am
gute theoretische Kenntnisse – für eine kürzere Belichtungszeit hätte sie pulses: Institut derzeit. Einer von ihnen,
Krausz ein Erfolgsrezept, das ihn bis sichtbar machen können. 10–15 Theodor Hänsch, erhielt den Preis im
zum Nobelpreis führte. Wie der Schuhputzer auf dem Pa- 1 Femtosekunde Jahr 2005. Ferenc Krausz tritt nun als
Dass er sich für die Laserphysik riser Boulevard, so sind Atome im zweiter vor den schwedischen König.
vibrierende
entschied, hatte mit Piko zu tun. In Grundzustand die unbewegten Ob- Atome Zwei weitere, Ignacio Cirac und Im-
Budapest lernte er einen jungen Pro- jekte der Mikrowelt. Sie sind auf elek- manuel Bloch, gelten als Kandidaten.
fessor kennen, nicht viel älter als er tronenmikroskopischen Aufnahmen 10–18 Die Wand seines Büros am MPQ
selbst, der mit Pikosekundenlasern zu erkennen. Ihr Wackeln und Schwir- 1 Attosekunde hat Krausz mit Titelblättern der Fach-
arbeitete. Krausz wusste: Milli be- ren dagegen, ihr Stoßen, Hüpfen und zeitschriften »Science« und »Nature«
deutet ein Tausendstel, Mikro steht Ruckeln blieb lange unsichtbar. Ge- Elektronen tapeziert. Sie zeigen bunte Bilder,
für ein Millionstel, Nano heißt: ein ändert haben dies erst die Ultra- Diagramme und Landschaften –
Milliardstel. »Aber Piko, ein Billions- kurzblitze der Hochleistungslaser. Schnappschüsse aus der Attosekun-
tel, das hatte ich damals noch nie In Wien lernte Krausz, wie sich S Grafik denwelt, die magisch schön sind, doch

gehört«, erzählt Krausz. Laserblitze, mithilfe der Femtosekundenlaser die so abstrakt, dass Krausz Mühe hat zu
die nur Tausendstel von milliardstel allgegenwärtigen Vibrationen und erklären, was eigentlich zu sehen ist.
Sekunden dauern – der Jungforscher Rotationen der Atome nachweisen Ohnehin mag sich der Laserphy-
war fasziniert. »Schneller als die lassen. Elektronen dagegen, so sagte siker nicht länger mit der bloßen
schnellste Elektronik«, dachte er. Am Erkundung der exotischen Welt der
Aufbruch in diese Welt des Ultra- Elektronen begnügen. Es regt sich in
flüchtigen wollte er beteiligt sein. ihm der Bastler, der Ingenieur. Er
1985 konnte Krausz erstmals einen möchte seine Attotechnik in den
Blick hinter den Eisernen Vorhang Dienst der Menschheit stellen.
werfen. Für einige Monate durfte er Die naheliegendste Anwendung
bei dem Laserphysiker Arnold der Ultrakurzblitze liegt in der Mikro-
Schmidt in Wien hospitieren. Drei chip-Entwicklung. Seit Jahrzehnten
Jahre später wechselte er dauerhaft schon gehorcht diese dem Mooreschen
dorthin. Er verließ Ungarn zu einer Gesetz: Durch fortgesetzte Miniatu-
Zeit, als es dort zu brodeln begann. risierung verdoppelt sich alle ein bis
Es herrschte Aufbruchstimmung, das zwei Jahre die Leistungsfähigkeit der
kommunistische Regime geriet ins Chips. Aber damit wird bald Schluss
Thorsten Naeser / LMU

Wanken. Doch für all das interessier- sein – die Elektronik nähert sich ato-
te sich Krausz wenig. Ihn lockte nicht maren Dimensionen, die Miniaturisie-
der kapitalistische Westen, sondern Attosekundenphysiklabor am
rung stößt an ihre natürliche Grenze.
das flirrende Reich der Moleküle, Max-Planck-Institut für Quantenoptik Doch gibt es eine andere Möglich-
Atome und Elektronen. keit, die Rechengeschwindigkeit zu

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 109


WISSEN

REDEN
WIR
ÜBER
ISRAEL

Louis Daguerre / akg-images


Daguerre-Aufnahme, um 1838*: Ein Treiben, zu flüchtig, um sichtbar zu sein

steigern: die Chips nicht kleiner, sondern Die Forschenden in Garching und Buda-
schneller zu machen. Laserblitze, erklärt pest bestrahlen dazu Blutplasma mit intensi-
Krausz, erlauben Schaltvorgänge, deren Ge- vem Infrarotlicht. Dies regt sämtliche in der
schwindigkeit alle bisherige Elektronik bei Probe enthaltenen Biomoleküle zu Schwin-
Weitem übertrifft. gungen an, jedes von ihnen sendet daraufhin
Zwar ist dem Laserphysiker bewusst, dass Signale aus. Blutfette, Enzyme, Stoffwechsel-
es ein weiter Weg ist, bis das theoretisch Mög- produkte, Hormone, Antikörper, Krebsmar-
liche praktisch verwirklicht wird. Doch lockt ker: Sie alle sind im Blut enthalten. Und jedes
ein gewaltiger Schritt nach vorn: »Es geht um dieser Moleküle schwingt auf seine eigene,
einen Faktor 100.000«, sagt Krausz. Mit charakteristische Art.
anderen Worten: Rechnungen, für die ein Im Infrarotspektrum des Blutplasmas sind
herkömmlicher Computer einen Tag lang deshalb Informationen über jede Infektion,
braucht, vollbrächte ein Attorechner in einer jede Stoffwechsel- oder Krebserkrankung ver-
192 Seiten, gebunden � 22,00 € Sekunde. borgen. Theoretisch müsste es auch über Ge-
Auch als E-Book erhältlich. Und diese Revolution der Elektronik ist schlecht und Alter eines Probanden Auskunft
keineswegs Krausz’ kühnste Vision. Weit- geben; ja sogar darüber, ob er zum Zeitpunkt
reichender noch könnte der medizinische der Blutabnahme müde, gestresst oder ver-
Richard C. Schneider, Nutzen der Attotechnik sein. Krausz glaubt, liebt gewesen ist. Die Kunst besteht darin, all
SPIEGEL-Autor und langjähriger mit ihrer Hilfe ein umfassendes Gesundheits- diese Informationen auszulesen.
monitoring möglich machen zu können. Ein Zigman und ihre Mitarbeiterinnen und Mit-
Israel-Korrespondent der ARD,
Tropfen Blut soll dafür reichen. arbeiter tasten zu diesem Zweck die Infrarot-
lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv, Für das Jahr 2015 schrieb Krausz Stellen signale mittels Attosekundentechnik ab. Künst-
kennt Alltag und Geschichte dafür aus. Gesucht seien Expertinnen oder liche Intelligenz soll dann helfen, sie zu deuten.
des Landes und weiß um Experten, die medizinische Anwendungen Die Forschenden haben die Hoffnung, dass der
die gängigen Vorurteile für seinen Attosekundenlaser finden könnten. Computer, wenn er mit den klinischen Daten
Mihaela Zigman meldete sich. Sie ist Biologin, Tausender Probanden gefüttert wird, diese In-
in Deutschland. von Laserphysik verstand sie nichts. Doch formationen mit den Infrarotspektren korre-
Bei den Antworten auf fünf das schreckte sie nicht. »Es wird schon etwas lieren kann. »Je mehr Daten eingespeist sind,
oft gestellte Fragen setzt er an, dabei herauskommen«, dachte sie sich. desto verlässlicher werden die Ergebnisse«,
um einige grundlegende Dinge Krausz imponierte ihre Zuversicht. sagt Zigman. Die ersten Studien an Krebs-
Seither hat sich Krausz’ Garchinger patienten seien ermutigend. Brust-, Lungen-,
über Israel zu erklären – 75 Jahre Arbeitsgruppe verändert. Molekularbiologen Prostata- und Blasenkarzinome ließen sich mit
nach der Staatsgründung und und Mediziner zogen ein, Roboter pipettieren rund 80-prozentiger Sicherheit erkennen.
in einem entscheidenden Moment nun Blut, in Tiefkühltruhen werden Proben bei Noch ist allerdings nicht ausgemacht, ob
für die Demokratie des Landes. minus 165 Grad Celsius verwahrt. Und Krausz die Attophysik je Eingang in die klinische
wirbt auf seiner Website attoworld.de für eine Praxis findet. Möglicherweise wird die Initia-
Zukunft der Gesundheitsvorsorge, »wie sie tive der Garchinger in eine Sackgasse münden.
noch nicht existiert«. In Budapest gründete Doch denkbar ist es auch, dass der Gesund-
er ein Zentrum, in dem Blutproben von heitscheck per Infrarotspektralanalyse der-
15.000 Probanden erfasst und ausgewertet einst zur Routine wird.
werden sollen. Vielleicht erhält Krausz dann ja eines Tages
einen weiteren Anruf aus Stockholm – dies-
mal am ersten Montag des Oktobers. Da wird
* Der Schuhputzer und sein Kunde (links unten) gelten
als die ersten abgelichteten Menschen der Fotografie- der Medizinpreisträger verkündet.
geschichte. Johann Grolle n

110 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


www.dva.de
WISSEN

tionswellen auslöst, liefert das Abwasser als ihre Vorgänger. Hinweise, dass die Varian-
einen wertvollen Warnhinweis, dass Corona te zu schwereren Verläufen führt, gibt es aller-
wieder auf dem Vormarsch ist. Denn Test- dings nicht.
zentren sind vielerorts abgebaut, entsprechend Die Beprobung im Abwasser hat ihre Tü-
unzuverlässig ist mittlerweile die Sieben-Tage- cken. So entscheiden etwa der Wochentag

Krankheits- Inzidenz.
»Über die öffentliche Kanalisation können
wir praktisch die gesamte Bevölkerung er-
und die Uhrzeit mit darüber, wie oft in den
Haushalten und an den Arbeitsplätzen ge-
spült wird. Unter der Woche gehen die Men-

welle im fassen«, erklärt Greiner. Inzwischen melden


mehr als hundert Kläranlagen die Virenlast
im Abwasser. »Mit nur einer Probe erhalten
schen häufiger morgens aufs Klo, am Wochen-
ende verteilt sich die sogenannte humane
Abwasserfracht über den ganzen Tag. Um das

Abwasser wir teilweise Informationen über Millionen


Menschen«, sagt der Experte. »Etwa in Ham-
burg, wo ein Werk das Abwasser der ganzen
auszugleichen, wird an ausgewählten Tagen
jede Stunde Abwasser aus den Kläranlagen
geschöpft und anschließend zusammen-
Stadt klärt.« Das sei nicht nur anonym, son- gekippt. Ein Liter der Mischprobe landet
KLÄRANLAGEN In der Kanalisation dern auch sehr viel kostengünstiger, als Ein- schließlich im Labor.
tummeln sich derzeit so viele zelpersonen zu testen. Dort lässt sich mit einem PCR-Test fest-
Das Coronavirus hinterlässt aktuell nicht stellen, wie viel Virusgenom im Abwasser
Bruchstücke des Coronavirus wie nur im Abwasser seine Spuren. Praxen schwappt. Ansteckend sind die Proben aus
noch nie seit Beginn der Messungen. in Deutschland etwa schicken Proben von den Kläranlagen übrigens nicht. Das Virus
Was Fachleute daraus ableiten. Erkrankten an Labors, die auf Erreger un- verbreitet sich vor allem über winzige Tröpf-
tersucht werden. Zuletzt fand sich in etwa chen, die Infizierte etwa beim Husten und
jedem vierten Abstrich das Coronavirus – Niesen ausschleudern. In der Kanalisation
n der Schule unterrichtet die Vertretungs- ein weiteres Indiz, dass die Infektionswelle landen dagegen nur Bruchstücke des Virus,
I lehrerin, Bürgerämter schließen außer-
planmäßig: Deutschland plagt mal wieder
eine Viruswelle. Momentan schnupft, schnieft,
viel stärker rollt, als die Inzidenz verrät. In
den Kläranlagen hat sich das schon lange
angedeutet, seit Juni steigt dort die Virus-
die ungefährlich sind.
Im Idealfall funktioniert die Untersuchung
von Abwasser wie ein Frühwarnsystem. Denn
hustet hierzulande jeder Zwölfte – etwa last. Infizierte scheiden Viren aus, bevor sie selbst
7,1 Millionen Menschen sind betroffen. Ist Mittlerweile zeigen fast alle Parameter etwas von der Erkrankung bemerken. Eine
das Corona? nach oben: Die Zahl der Arztbesuche nimmt Coronawelle kann sich also schon in der Kloa-
Ein Blick in die Statistik gibt zunächst zu, auch in den Kliniken ist Covid-19 an- ke andeuten, bevor die bekannten Infektions-
Entwarnung. Die Sieben-Tage-Inzidenz für gekommen. Fast jeder Vierte, der wegen einer zahlen nach oben schnellen. Laut Unter-
Infektionen mit dem Virus beträgt momentan schweren Atemwegsinfektion im Kranken- suchungen kann der Zeitvorteil bei bis zu drei
gerade mal 29. Auf dem Höhepunkt der Omi- haus liegt, hat sich mit dem Coronavirus Wochen liegen.
kron-Welle im Frühjahr 2022 lag der Wert infiziert. Das Prinzip lässt sich nicht nur für Corona
noch bei fast 2000. Doch die Zahlen erzählen Und noch immer kursieren besonders nutzen. »Andere Erreger wie Grippeviren
nicht die ganze Wahrheit. ansteckende Varianten aus der Omikron- oder multiresistente Keime können ebenfalls
Das Virus verbreitet sich unter dem Radar. Linie. Zuletzt breitete sich etwa BA.2.86 im Abwasser nachgewiesen werden«, sagt
Der Beweis für diese stille Coronawelle verstärkt in Deutschland aus, ihr Anteil Greiner. Seine Kolleginnen und Kollegen und
schwimmt im Abwasser: Infizierte scheiden liegt derzeit bei über 34 Prozent – Tendenz er erforschen derzeit, wie sich das am besten
über Kot und Urin Bruchstücke des Virus steigend. Die Weltgesundheitsorganisation anwenden lässt – auch um sich gegen die
aus – selbst wenn sie gar nicht wissen, dass WHO zählt BA.2.86 als »Variante von Inte- nächste Pandemie zu wappnen. Neue Erreger
sie den Erreger in sich tragen. Für die Wissen- resse«, weil sie weltweit auf dem Vormarsch könnten ebenfalls frühzeitig im Abwasser
schaft ist das ein Glücksfall; denn so bekom- ist und dem menschlichen Immunsystem entdeckt werden.
men Fachleute einen Eindruck, wie stark das womöglich noch etwas besser entkommt Julia Köppe n
Virus grassiert.
In einem Liter Abwasser schwimmen
derzeit im Schnitt eine Million Genkopien
Stiller Anstieg
des Coronavirus Sars-CoV-2. So viele wie Coronaviruslast im Abwasser
noch nie seit Beginn der Messungen im Juni in Deutschland*, in Millionen 1,2
2022 (siehe Grafik). »Das spricht dafür, dass Genkopien pro Liter
gerade sehr viele Menschen infiziert sind«, * Mittelwert aller
sagt Timo Greiner vom Robert Koch-Institut. meldenden Standorte
1,0
Er arbeitet für das sogenannte Abwasser- S Quelle: Robert

Koch-Institut; Stand:
monitoring für die epidemiologische Lage- 6. Dez. 2023 0,8
bewertung, abgekürzt AMELAG, das in
Deutschland während der Pandemie einge-
führt wurde. 0,6
Ob der Rekord im Abwasser bedeutet, dass
aktuell so viele Menschen mit Corona infiziert 0,4
sind wie noch nie seit Beginn der Messungen,
lässt sich nicht sicher sagen. Menschen schei- Auslaufen der
Coronamaßnahmen
den mal mehr, mal weniger Viren aus, je nach- 0,2
dem, mit welcher Variante sie sich angesteckt
befo / Getty Images

haben oder wie lange die Infektion schon


0
zurückliegt.
Dennoch: Gerade jetzt, wo die Pandemie Juli Januar Juli Januar
2022 2023 2024
vorüber ist, aber das Virus immer neue Infek-

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 111


KULTUR

Lee
Laura Rober ts / Invision / AP / picture alliance

Die neue Adventskönigin


CHARTS Lustige Rockabilly-Runde statt eines schmachtenden Liebeslieds auf Platz eins: Die 78-jährige
Sängerin Brenda Lee hat Mariah Carey vom Thron der Weihnachtsbeschallung vertrieben. Ein Glück!

M an hätte es nicht für möglich ge­


halten, aber das Volk hat in diesem
Winter Mariah Carey abgewählt,
ganz basisdemokratisch, und zwar Stream
von Carey und eignet sich prima als Stim­
mungsaufheller – auch für Menschen, die
keine Weihnachts­Ultras oder frisch verliebt
sind. E­Gitarre, Saxofon, ein wenig Rocka­
sem Jahr Carey mit einem Vorsprung von
2,5 Millionen Streams als Tonangeberin
vertrieben hat, mag daran liegen, dass Lee
im November ein neues Video zu »Rockin’
für Stream. Viermal in Folge stand Carey billy­Feeling und die Stimme eines Mäd­ Around the Christmas Tree« veröffentlichte.
im Dezember mit ihrem glöckchenklingeln­ chens, das mit 13 Jahren schon so klang wie In sozialen Netzwerken ist zu sehen, wie
den Liebeslied »All I Want for Christmas eine 30­jährige Partyliebhaberin, entkit­ die rüstige Dame zum Gesangsplayback
Is You« auf Platz eins der amerikanischen schen angenehm das zu Schwermut neigende ihres jüngeren Ichs tänzelt und mit bekann­
Singlecharts. Das war mitunter schwer Feiertagsgenre. Das zuweilen überfrachtete ten Countrysängerinnen Kekse backt.
zu ertragen. Jetzt hat sich eine Konkurrentin Fest der Liebe wird bei ihr zu einem erträg­ »Ich hätte in meinen kühnsten Träumen
den Thron der Adventsbeschallung er­ lichen »Christmas party hop« degradiert. nicht gedacht, dass ›Rockin’‹ mein Signa­
kämpft: die Sängerin Brenda Lee, 78, die Lee gilt nun als älteste Künstlerin, die ture­Song werden würde«, sagte Lee
als junges Mädchen 1958 den fröhlichen jemals die Top 100 angeführt hat. Das kürzlich in einem Interview mit der »New
Rockabilly­Song »Rockin’ Around the Christ­ Lied ist schon seit einigen Jahren fester Be­ York Times«. Zur Weihnachtsdekoration in
mas Tree« aufgenommen hat. Die Krone ist standteil des Festtagskanons, spätestens Lees Haus in Nashville gehört laut der
auch in der Gegenwart verdient, weil Lees aber seit der Song im Film »Kevin – Allein Zeitung übrigens ein rotes Kissen – bestickt
Song sehr massenkompatibel daherkommt: zu Haus« gespielt wurde. Mehrfach hatte er mit dem Titel des erfolgreichsten Lieds
Ihr Sound ist weniger schmachtend als der es auf Platz zwei geschafft. Dass Lee in die­ ihres Lebens. Carola Padtberg

112 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


Szene aus »Leave the World Behind« Lesen bis zum Wahn Schwarze Meer zurück nach
Mariupol.
LITER ATUR In der Erzählung Die Geschichte »Notturno«,
»Der Fluss und das Meer« eine andere von insgesamt
schließt sich ein grausamer fünf Erzählungen in dem Band,
Kreis. Die preisgekrönte Auto­ beschreibt eine Begegnung, die
rin Natascha Wodin schrieb ebenfalls auf biografischen Er­
den Text im vergangenen Jahr, fahrungen beruht. Die Icherzäh­
nachdem Russland die lerin steht im Briefkontakt mit
Ukraine überfallen hatte, nun einem Mann, der im selben Ort
erscheint er in dem gleich­ aufgewachsen ist wie sie und der
namigen Buch. Wodin erzählt nun, entrechtet und enteignet,

Jojo Whilden / Net flix


darin von der Regnitz, einem in der Psychiatrie sitzt. Die bei­
Fluss in Franken, an dem den teilen die Liebe zur Musik,
sie als Kind lebte. Es ist der gemeinsam ist ihnen auch der
Fluss, in dem sich ihre Mutter Hang zu den dunklen Seiten des
1956 das Leben nahm. Sie Lebens. Die Erzählerin verliert
erzählt außerdem vom Asow­ sich fast in dieser Beziehung.
Digitale Verdunklung Internet und Hightechluxus ab­ schen Meer vor Mariupol, Sie will ihn retten, erkennt, dass
geschnitten. Sie ist Werbefach­ wo ihre Mutter 1920 zur Welt dieser Wunsch auf ihrem eige­
FILME Wenn der große digitale frau, er Professor für Medien­ kam und aufwuchs. Von dort nen Bedürfnis, gerettet zu wer­
Blackout kommt, hilft einem theorie, schlau werden die bei­ wurde sie als Zwangsarbeiterin den, beruht – und kann doch
das Medienstudium auch nicht den aus der elektronischen Ver­ nach Deutschland verschleppt. nicht davon lassen. Beim Lesen
weiter. Die Netflix­Produktion dunklung und dem abgebroche­ Die Geschichte ihrer Mutter gerät man selbst in diesen Wahn,
»Leave the World Behind« er­ nen Datenfluss aber trotzdem hat Wodin 2017 in der preis­ kann es kaum erwarten, dass
zählt so böse wie bildgewaltig nicht. Der rund zweieinhalb­ gekrönten literarischen Bio­ die beiden sich endlich treffen.
über die Apokalypse des Infor­ stündige Thriller von »Mr. Ro­ grafie »Sie kam aus Mariupol« Die Sprache Wodins nimmt
mationszeitalters: Erst können bot«­Schöpfer Sam Esmail ist aufgeschrieben. dem, was sie erzählt, nicht den
die Kids nicht mehr ihre Lieb­ die beste Produktion von Net­ Dreimal wurde die Stadt Schrecken. Im Gegenteil: Sie
lingsserien streamen, dann kra­ flix seit langer Zeit – auch weil zerstört, fasst Wodin in dieser macht ihn spürbar, nachvoll­
chen selbstfahrende Teslas bei er ironisch die Algorithmen­ neuen Erzählung zusammen: ziehbar. Und
einer üblen Massenkarambolage abhängigkeit und den Technik­ durch Revolution und Bürger­ gleichzeitig
auf der Autobahn ineinander, glauben beleuchtet, was der krieg, die deutsche Wehrmacht spendet ihre
und Flugzeuge fallen vom Him­ Konzern selbst mitbefeuert. In und nun »durch die Bomben Kunst den
mel. Mittendrin in der Kata­ einer der schönsten Szenen eines wahnsinnigen russischen so nötigen
strophe: das hippe New Yorker tanzt Roberts mit einer neuen Hegemonen«. Für Wodin Trost. BÖ
Ehepaar Sandford (Julia Ro­ Bekanntschaft im Keller zu ist dies »wie ein dritter Mord­
berts und Ethan Hawke) mit sei­ knisterndem Vinyl mit Neunzi­ versuch an meiner Mutter«. Natascha Wodin:
nen beiden Kindern. Bei einem gerjahre­Soul: Beim digitalen In Wodins Vorstellung wandert »Der Fluss
und das Meer«.
Kurzurlaub auf Long Island Blackout ist der Plattenspieler­ ein Teil ihrer Mutter von der Rowohlt; 192
wird die Familie plötzlich von besitzer König. CBU Regnitz über die Donau und das Seiten; 22 Euro.

Das Chaos umarmt über Jahre wachsenden Mate­ In der Bundeskunsthalle mag der Grund dafür sein, dass
rialsammlungen versuchte sie, Bonn sind nun 19 dieser Instal­ es sich um die erste große Rück­
KUNST Die Hamburgerin Anna »ein Stück Realität zu erken­ lationen für eine, so heißt es, schau auf Oppermanns Werk
Oppermann darf man ruhig nen, zu beurteilen oder auch ein »Retroperspektive« wieder zu­ handelt. Immerhin war die
einen Messie der Kunst nennen, Problem in den Griff (Begriff) sammengepuzzelt worden. Der Künstlerin zu ihrer Zeit sehr an­
sie hätte das begrüßt. Ihre Werke zu bekommen«, wie sie erklärte. enorme kuratorische Aufwand erkannt, geriet aber nach ihrem
umarmen das Chaos. Wenn frühen Krebstod im Alter von
man ihre mehrere Quadratmeter 53 Jahren in Vergessenheit. Das
großen Mindmaps aus Skizzen, Chaos, das sie in ihrer Kunst
Fotos, Notizen und zufällig wir­ erschuf, ist für Betrachter
Cour tesy Nachlass Anna Oppermann und Galerie Barbara Thumm

kenden Fundstücken betrachtet, herausfordernd – da lässt sich


ist es, als schaute man Opper­ nichts schnell erfassen, Erkennt­
mann beim Denken zu. Und nisse sind vorläufig, Perspekti­
fragt sich, ob die 1993 verstor­ ven werden gewechselt. »Kom­
bene Künstlerin überhaupt an plexität muss ja irgendwo in
fertigen Werken als Ergebnis dieser Welt noch einen Stellen­
interessiert war. Denn ihre wert haben«, sagte Oppermann
Arbeiten sind eher Dokumen­ einmal. »Es ist unmöglich, ein
tationen von Prozessen. Problem in Angriff zu nehmen,
Ausgehend von Stichworten ohne zu berücksichtigen, dass je­
wie »Elfenbeinturm« oder des Problem in andere Problem­
»Anders sein«, ließ Oppermann felder eingebunden ist.« Als
Collagen wuchern, überzog Angebot zum Denken sind die
damit Wände, Böden, Zimmer­ Einblicke in Oppermanns
decken und Tische. Mit ihren Oppermann-Installation »Anders sein« Unordnung aber wunderbar. CPA

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 113


KU LT U R

»Da ist ein anderer in mir«


SPIEGEL-GESPRÄCH Der gerade gekürte norwegische Literaturnobelpreisträger Jon Fosse war Journalist,
Marxist und Atheist. Inzwischen ist er Katholik, hat mit dem Trinken aufgehört, gilt als
Weltliterat – und erzählt, wie sein Schüler Karl Ove Knausgård einen guten Tipp von ihm missachtete.

Rune Hammerstad / DER SPIEGEL

Schriftsteller Fosse

114 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


KU LT U R

Fosse, 64, ist mit Theaterstücken wie »Die Nacht gute Literatur. Der predigt. Das ist keine gegen das Christentum. Ich war ein aggressiver
singt ihre Lieder« (1997) und »Traum im Herbst« Kunst, zumindest nicht für mich. Mir geht es Hippie. Es war meine Heavy­Metal­Phase.
(1999) einer der meistgespielten Dramatiker der darum, zuzuhören und so gut und aufrichtig SPIEGEL: Sie sind in einer Familie von Obst­
Gegenwart. Er schreibt in der nicht sehr ver- zu schreiben, wie es mir möglich ist. bauern unweit der Stadt Bergen aufgewach­
breiteten westnorwegischen Sprache Nynorsk. SPIEGEL: Wem hören Sie zu? sen. Stimmt es, dass ein Unfall, den Sie als
Sein aktuelles großes Romanprojekt »Heptalo- Fosse: Da ist ein anderer in mir. Als Schrift­ Siebenjähriger erlitten, Sie zum Schreiben
gie« ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden. steller bin ich derjenige, der ihm zuhört. Jedes inspiriert hat?
Fosse ist in dritter Ehe mit einer aus der Slowa- Werk, jedes Buch ist ein eigenes Universum, Fosse: Ich habe damals viel Blut verloren, und
kei stammenden Germanistin verheiratet und mit seinen spezifischen Regeln und Bedingun­ ich schreibe bis heute aus dieser Erfahrung
hat insgesamt sechs Kinder. Er lebt in Oslo, hat gen. Ich entwerfe diese Universen. Ich schrei­ als Siebenjähriger. Das hat mich sehr geformt
aber auch Wohnsitze in der Nähe von Bergen be nicht, um mich auszudrücken. Ich schreibe, als Schriftsteller.
und im österreichischen Hainburg. um mich loszuwerden, um mich von mir zu SPIEGEL: Ihre ersten Texte schrieben Sie als
entfernen. Zwölfjähriger, worum ging es darin?
SPIEGEL: Herr Fosse, am 10. Dezember be­ SPIEGEL: Sie sind vor ein paar Jahren der Fosse: Ich war ein seltsames Kind. Ich habe
kommen Sie in Stockholm den Literatur­ katholischen Kirche beigetreten. Ist es in Ihrer mich nicht wohlgefühlt in meiner Haut und
nobelpreis verliehen. Freuen Sie sich auf den Vorstellung Gott, dem Sie beim Schreiben mich als anders als alle anderen Menschen
Abend? zuhören? empfunden – wie vermutlich viele Jugend­
Fosse: Eigentlich eher nicht. Ich bin ein Fosse: Ich benutze das Wort Gott nicht. Ich liche in diesem Alter. Ich habe kleine Gedich­
schüchterner, nicht sehr geselliger Mensch hoffe, es ist irgendeine Art von guter Macht. te und Short Stories geschrieben, vor allem
und halte mich von sozialen Events lieber SPIEGEL: Warum nennen Sie Gott nicht beim aber Songtexte, weil ich mich damals sehr für
fern. Immerhin ist die Verleihung in Stock­ Namen und schreiben in »Heptalogie«, Gott Musik interessiert habe. An einen Songtext
holm ein so großes Event mit einem riesigen sei »etwas, das wir nicht denken können«? erinnere ich mich noch, er ist wirklich pein­
Bankett, dass es mich weniger ängstigt als eine Fosse: Für mich gilt: Wir können nichts über lich. Ich habe dann bald in einer Band ge­
kleinere Feier. Angeblich muss ich nur Danke ihn sagen. Er ist hinter den Dingen. Wir kön­ spielt, nur Jungs, wir traten bei Tanzfesten
sagen. Meine Frau wird mitkommen und nen nicht sagen, was war, bevor wir geboren auf, mit damals populären Liedern von Bands
unsere älteste Tochter, sie ist zwölf. wurden. Wir können nicht sagen, wohin wir wie Creedence Clearwater Revival, »Who’ll
SPIEGEL: Sie sind als Schriftsteller berüchtigt gehen. Wir können nur sagen, dass wir früher Stop the Rain« und so was.
für etwas rätselhafte und oft handlungsarme nicht auf der Welt waren und dass wir irgend­ SPIEGEL: Waren Sie gut?
Stücke und Romane. Hat die Nobelpreisjury wann von hier verschwinden werden. Alles Fosse: Nein. Sogar in der Band waren alle
recht, wenn sie den Preis an Sie damit be­ Weitere ist auf der anderen Seite. Und Gott Jungs besser als ich, an der Gitarre fehlte mir
gründete, dass Sie »dem Unsagbaren eine ist auf der anderen Seite. das Talent. Für das Malen hatte ich mehr Be­
Stimme verleihen«? SPIEGEL: Aber Sie sind davon überzeugt, dass gabung. Aber dann fand ich zum Schreiben
Fosse: Im Grunde ist ja genau das die Auf­ es eine andere Seite gibt? und habe mit dem Musikmachen abrupt auf­
gabe der Literatur. Da bin ich ein Romantiker. Fosse: Ja, ich glaube das. Ich bin gläubig. I’m gehört. Was ich daran mochte, habe ich ins
Der Sinn von Literatur ist es, dass sie es a believer. Schreiben übertragen: die Wiederholungen,
schafft, etwas zum Ausdruck zu bringen, das SPIEGEL: Heißt das, dass Sie Ihre Schriftstel­ den Rhythmus.
man auf andere Weise nicht sagen kann. lerarbeit als eine Art Medium betreiben? SPIEGEL: Konnten Sie von diesem Schreiben
SPIEGEL: In Ihrem Riesenroman »Heptalogie« Fosse: Nein. Ich muss schon dafür sorgen, dass leben?
von 2019, der an sieben Tagen vor Weihnach­ es funktioniert. Ich muss es verwandeln. Es Fosse: Vom Bücherschreiben nicht. Ich habe
ten die Lebensbilanzen zweier zwillingshafter kommt, simpel gesagt, von außen. Ich muss bis heute keine große Leserschaft, ich bin
Kunstmaler schildert, sagen Sie es auf mehr als es hereinlassen. Ich höre es, ich benutze es, kein Bestsellerautor. Während des Studiums
1100 Seiten und ohne einen Punkt. Das ganze erst mithilfe meiner Person wird es Literatur. – ich habe Literaturwissenschaften, Sozio­
Buch besteht aus einem einzigen Satz. Warum? Ich spiele eine Art Musik, meine Musik. logie und Psychologie studiert – habe ich als
Fosse: Es ist ein Flow. Ich nenne es langsame SPIEGEL: Ist Ihnen klar, dass 99 Prozent der Journalist gearbeitet. Ich schrieb für eine
Prosa. Ich weiß, dass das erst mal dumm Literatur völlig anders sind als Ihre? kleine Zeitung in Bergen über das, was auf
klingt. Aber wenn man präzise ein Glas Was­ Fosse: Ich würde nicht sagen, dass ich Litera­ dem Land passierte. Mir gefiel die Arbeit am
ser beschreiben möchte, dann kann man das tur in einem breiten Sinne überhaupt lese und Schreibtisch, aber ich mochte es nicht so gern,
in einem Theaterstück schwerlich machen. In wahrnehme. Menschen zu treffen oder mit ihnen zu tele­
der Prosa ist das möglich. Ich habe vier Jahre SPIEGEL: Als dezidiert religiöser Autor sind fonieren. Besonders schlimm war es, wenn
lang an diesem Buch geschrieben, und ich Sie im europäischen Literaturbetrieb des jemand anrief, weil ich einen Fehler gemacht
wollte damit das Gegenteil von der Intensität 21. Jahrhunderts jedenfalls eine Ausnahme. oder jemanden verletzt hatte. Das hat mich
eines Theaterstücks schaffen. Ich wollte die Fosse: Ich bin inzwischen ein religiöser Schrift­ sehr verunsichert.
Langsamkeit. steller. Das war bei meinen ersten Romanen SPIEGEL: Sie haben dann eine Weile als Do­
SPIEGEL: Sind nicht Ihre weltweit erfolgrei­ nicht so. Mein erster wurde vor genau 40 Jah­ zent Literatur unterrichtet, einer ihrer Schü­
chen Theaterstücke, in denen zum Beispiel ren veröffentlicht. Er heißt »Rot, schwarz« ler war Karl Ove Knausgård, der knapp zehn
ein wortkarges junges Elternpaar über den und ist ein finsteres Buch. Der zweite noch Jahre jünger ist als Sie und mit seinem sechs­
Namen seines Kindes meditiert oder eine finsterer. Damals war ich gegen alles, auch teiligen Romanzyklus »Min kamp« zum Best­
Familie zur Beerdigung der Großmutter sellerautor wurde.
zusammenkommt, auch extrem langsam? Fosse: Ich erinnere mich sehr genau daran, dass
Fosse: Klar behaupten das manche Leute. ich ihm sagte: »Karl Ove, du kannst nicht nur
Aber es stimmt nicht wirklich. Es gibt eine einfach aufschreiben, was in deinem Leben
innere Geschwindigkeit in meinen Stücken. passiert. Du musst es transformieren!« Aber er
SPIEGEL: Interessiert es Sie in irgendeiner Wei­ tat das, was alle guten Schüler tun: genau das
se, was Ihre Literatur mit den Leserinnen und
»Vor 40 Jahren war Gegenteil von dem, was ihm sein Lehrer riet.
Lesern und dem Theaterpublikum macht? ich gegen alles. SPIEGEL: Sie lehnen die literarische Gattung
Fosse: Nicht im Geringsten. Ich habe keiner­ der Autofiktion ab, das Schreiben über das
lei Absichten. Wer irgendwas mit seinem
Ich war ein aggressiver eigene Leben, das Knausgård berühmt ge­
Schreiben bewirken will, der schreibt keine Hippie.« macht hat. Warum?

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 115


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Fosse: Weil sie für mich nicht funk- in Richtung Stadt verlässt, weil die
tioniert. In meinem Buch »Kindheits- beiden dort neu anfangen wollen.
szenen« habe ich versucht, so ehrlich Fosse: Ich war mir nicht sicher, ob ich
und so wahr über meine Kindheit zu nach der langen Beschäftigung mit
schreiben, wie es nur möglich ist. Ich dem Theater überhaupt noch als Pro-
bin daran gescheitert. Ich musste es saschriftsteller tauge. »Trilogie« war
erst verwandeln, damit es eine Art mein erster Versuch nach 15 Jahren.
Wahrheit bekam. Insofern arbeite ich Deshalb war es unglaublich wichtig
mehr wie ein Maler. für mich, dass ich dafür den Preis des

Rune Hammerstad / DER SPIEGEL


SPIEGEL: Sind Schreiben und Malen Nordischen Rates bekommen habe.
nicht zwei sehr unterschiedliche Das ist in Skandinavien der wichtigs-
Kunstformen? te Preis nach dem Nobelpreis.
Fosse: Ich finde, jede gute Kunst redet SPIEGEL: Quälen Sie sich beim Schrei-
vom Gleichen. Von dem, was anders ben, wie man als Leserin oder Leser
nicht sagbar ist. Sehen Sie sich die Ihrer oft kargen Texte vielleicht ver-
Bilder von Mark Rothko an. Auch sie muten könnte?
erzählen genau davon, von einem Fosse: Überhaupt nicht. Ich bin ein
inneren Leuchten. extrem schneller Schreiber. Ich bin ein
SPIEGEL: Kann man Literatur Ihrer Maniac. Ich mache nie vorher einen
Meinung nach überhaupt lehren? Plan, wenn ich an einem Buch oder
Fosse: Die technischen Aspekte des einem Stück arbeite. Ich recherchiere
Schreibens schon, den Rest nicht. auch nicht, ich schreibe einfach los,
Aber je mehr jemand liest, desto bes- höre zu und schreibe weiter. Irgend-
ser wird seine Literatur. Auch ich wann habe ich angefangen zu fragen,
habe durch Lesen gelernt und lerne wo das eigentlich alles herkommt.
bis heute. SPIEGEL: Was fanden Sie heraus?
SPIEGEL: Wer waren Ihre Lehrer? Fosse: Die Erkenntnis, zu der ich
Fosse: Georg Trakl, der große öster- kam, hat meinen Marxismus und mei-

Edmond Terakopian / ddp


reichische Gedichteschreiber, und Tar- nen Atheismus zerstört. Ich erkannte,
jei Vesaas, ein großer norwegischer. dass es eine andere Dimension geben
Und durch die Theaterstücke von Sa- muss, mit der ich in Verbindung bin,
muel Beckett habe ich viel gelernt. wenn ich schreibe. Ich konnte das
Mein Stück »Da kommt noch wer« ist nicht auf eine materialistische, athe-
schon im Titel eine Antwort auf »War- istische Weise erklären. Ich wurde ein
ten auf Godot«. Ich wollte zeigen, wollte dahin zurückkommen, wo ich Fosse (M.) mit Suchender. So bin ich bei den Quä-
dass nicht umsonst gewartet wird. herkam, zur Prosa und zum Gedich- SPIEGEL-Team kern gelandet.
Wolfgang Höbel
SPIEGEL: Waren Sie glücklich mit dem teschreiben. SPIEGEL: Einer christlich grundierten
und Anke Dürr in
Erfolg Ihrer Theaterstücke, die bisher SPIEGEL: Ungefähr zu dieser Zeit hat- Oslo, ehemali- Glaubensgemeinschaft, die im 17. Jahr-
in 44 Sprachen übersetzt sind? ten Sie einen Zusammenbruch und ger Fosse-Schüler hundert entstand.
Fosse: Nein. Für einen schüchternen landeten mit einer Alkoholvergiftung Knausgård Fosse: Die Quäker haben keine Pries-
Mann wie mich war es eigentlich der im Krankenhaus. ter, keine Dogmen und keine Liturgie.
falsche Job. Ich bekam immer neue Fosse: Das war kurz nach dem Ent- Und sie sind leise. Wenn man einander
Aufträge, ich wurde in vielen Thea- schluss, mit dem Theater aufzuhören. trifft, dann sitzt man in einem Kreis,
tern gespielt. In Deutschland gab es Aber natürlich hing es damit zusam- so ähnlich wie wir hier. Wenn einer
Jahre, in denen fast in jedem großen men. Also beschloss ich, auch mit das Gefühl hat, er hat eine Inspiration,
Haus Produktionen von mir liefen. dem Trinken aufzuhören. Hinterher dann sagt er etwas. Sonst hält er den
Das war natürlich alles sehr aufregend war ich unsicher, ob ich überhaupt Mund. Die Sitzung ist vorbei, wenn
und hat mein Leben verändert. Ich noch Prosa schreiben kann. einer aufsteht, das ist die einzige
war es gewohnt, beim Schreiben mit SPIEGEL: Weil Ihnen der Alkohol Demonstration von Macht, die es dort
mir allein zu sein. Dann kamen diese fehlte? überhaupt gibt. Die Quäker sind gegen
Einladungen zu den Salzburger Fest- Fosse: Nein. Ich bezweifle gar nicht, jede Art von Autorität und gehen nicht
spielen oder nach Paris, und natürlich dass es zwischen Alkohol und Litera- zum Militär. Ich nahm an den Sitzun-
bin ich hingefahren. Salzburg hat tur eine fruchtbare Verbindung gibt. gen der Quäker in Bergen teil, aber
mich schon wegen Georg Trakl inte- Aber was die angeht, hatte ich meine ich wurde nie ein Teil der Gemein-
ressiert, der dort aufgewachsen ist. Dosis an Alkohol aufgetrunken. Ich schaft. Mir schien es unquäkerhaft, der
Ich wollte diesen Tumult nicht, und bin mir sogar sicher, dass ich sehr viel Gemeinschaft angehören zu müssen.
ich wollte ihn doch, das war sehr besser schreibe, seit ich nicht mehr SPIEGEL: Haben Sie bei Ihrer Suche
widersprüchlich. Bis ich eines Tages trinke. Als ich nach meinem Zusam- nie daran gedacht, es mal mit einer
beschloss, nicht mehr weiter fürs menbruch zum Schreiben zurück- Psychoanalyse zu probieren?
Theater zu schreiben. kehrte, wollte ich weg von jeder »Ich bin mir Fosse: Nein. Ich habe viele Bücher
SPIEGEL: Wieso das? Action und jeder Dramatik. Ich woll- sicher, dass von Sigmund Freud gelesen und dabei
Fosse: Ich hatte das Reisen satt. Ich te in allergrößter Ruhe arbeiten, in viel gelernt, als ich jung war. Natür-
hatte das Trinken satt. Ich hatte das Frieden. Ich habe damals mein Buch
ich sehr lich bin ich neurotisch. Wenn man
Gefühl, dass ich meine Möglichkeiten »Trilogie« geschrieben. viel besser sein ganzes Leben in einer gewissen
als Stückeschreiber ausgereizt hatte. SPIEGEL: Eine traurige, finstere Lie- schreibe, Einsamkeit als Schriftsteller ver-
Rational gesehen war es eine Dumm- besgeschichte, die damit beginnt, dass bringt, dann kann man keine ganz
heit, ich war damals, 2012, auf dem ein junges Paar, sie hochschwanger, seit ich nicht normale Persönlichkeit sein. Da muss
Gipfel meiner Karriere. Aber ich sein Fischerdorf in einem Ruderboot mehr trinke.« schon etwas falsch mit einem sein. Ich

116 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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bin 64 Jahre alt und schreibe jetzt seit mehr


als 50 Jahren. Aber meine Neurosen sind sehr
produktiv für mich. Ich schreibe, um mir zu
entkommen.
SPIEGEL: Eine Art Selbsttherapie? BELLETRISTIK SACHBUCH
Fosse: Es ist keine Therapie, es ist eine Art zu
leben. Vielleicht sogar eine Art zu überleben. Der erste Teil der Fantasy-
Der Modedesigner unter-
SPIEGEL: Vor rund zehn Jahren sind Sie dann nimmt einen Spazier-
reihe löste auf BookTok
gang durch Berlin und trifft
zum Katholizismus konvertiert, der autoritär einen Hype aus. In der lang
dabei auf die Menschen
erwarteten Fortsetzung
und in vielem völlig anders ist als die Quäker. geht es wieder um Drachen
dieser Stadt. Von den
Was fanden Sie ausgerechnet daran noch Persönlichkeiten und ihren
und, klar, um eine heiße
Geschichten handelt
attraktiver? Romanze. Amazon hat
dieses Buch. Ein Plädoyer
sich bereits die Filmrechte
Fosse: Manchmal treffen sich die Extreme, so gesichert. | Platz 1
für mehr Zugewandtheit
sagt man doch. Schon Ende der Achtziger- und Empathie. | Platz 13
jahre war ich in Bergen einmal in einer ka-
tholischen Messe. Die gefiel mir viel besser 1 (–) Rebecca Yarros 1 (1) Florian Illies
Iron Flame – Flammengeküsst dtv; 32 Euro Zauber der Stille S. Fischer; 25 Euro
als die protestantischen Gottesdienste, mit
denen ich aufgewachsen war. Bei den Protes- 2 (1) Sebastian Fitzek 2 (2) Axel Hacke Über die Heiterkeit in schwierigen
tanten musste man sich unerträglich viel Ge- Die Einladung Droemer; 24 Euro Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der
laber von oft dummen Pastoren anhören. Im Ernst des Lebens sein sollte DuMont; 20 Euro
katholischen Gottesdienst wird über die feste 3 (2) Nele Neuhaus
Liturgie hinaus nur wenig geredet. Monster Ullstein; 24,99 Euro 3 (3) Giovanni di Lorenzo Vom Leben und
SPIEGEL: Lässt sich nicht das Gleiche über Ihre anderen Zumutungen Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro
4 (18) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt
Literatur sagen, in der es fast immer eine Die Schuld, die man trägt Wunderlich; 25 Euro 4 (7) Ewald Frie
Liturgie von Schlüsselwörtern gibt, die Ein Hof und elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro
Fischerboote, das Meer, den Sturmwind? 5 (3) Cornelia Funke Tintenwelt 4 –
Fosse: Vielleicht gibt es eine Ähnlichkeit, und Die Farbe der Rache Dressler; 23 Euro 5 (4) Sabine Kuegler Ich schwimme nicht mehr
ich fühlte mich deshalb von der katholischen da, wo die Krokodile sind Westend; 24 Euro
Messe angezogen. In der Liturgie werden die 6 (8) Daniel Kehlmann
Lichtspiel Rowohlt; 26 Euro 6 (6) Britney Spears
Worte ihrer Bedeutung entleert. Man hört die
The Woman in Me Penguin; 25 Euro
Worte so oft, dass sie einen Zauber, einen 7 (5) Ken Follett
Spirit entwickeln. Auch in der Messe geht es Die Waffen des Lichts Lübbe; 36 Euro 7 (11) Herfried Münkler
darum, etwas zu erlangen, was man in Worten Welt in Aufruhr Rowohlt Berlin; 30 Euro
nicht ausdrücken kann. 8 (6) Bonnie Garmus
SPIEGEL: War es Ihrer Meinung nach eine poli- Eine Frage der Chemie Piper; 26 Euro 8 (8) Philip Banse / Ulf Buermeyer
tische Geste, ausgerechnet Sie in diesem Jahr Baustellen der Nation Ullstein; 22,99 Euro
9 (9) Klaus-Peter Wolf
zum Nobelpreisträger zu machen? Der Weihnachtsmannkiller Fischer; 15 Euro 9 (12) Dirk Oschmann Der Osten – eine
Fosse: Das glaube ich nicht. Mit Politik hat westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro
der Preis wenig zu tun. Oder denken Sie, dass 10 (11) Christopher Paolini Murtagh –
Peter Handke 2019 wegen seiner politischen Eine dunkle Bedrohung cbj; 26 Euro 10 (9) Reinhold Beckmann
Ansichten zum Nobelpreisträger gekürt wur- Aenne und ihre Brüder Propyläen; 26 Euro
de? Er wurde wohl eher trotz seiner Ansich- 11 (4) Dirk Rossmann / Ralf Hoppe
ten gewählt. Ich hoffe, dass es auch bei mei- Das dritte Herz des Oktopus Lübbe; 20 Euro 11 (10) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
verändern werden Piper; 22 Euro
nem Preis vor allem um die Literatur geht. 12 (7) Mona Kasten
SPIEGEL: Ist Ihre Literatur Avantgarde oder Fallen Princess Lyx; 20 Euro 12 (5) Daniel Schreiber
altmodisch? Die Zeit der Verluste Hanser Berlin; 22 Euro
Fosse: Diese Kategorien gelten nichts mehr. 13 (10) Tonio Schachinger
SPIEGEL: Handke sagt, er komme von Homer, Echtzeitalter Rowohlt; 24 Euro 13 (15) Guido Maria Kretschmer
dem Urvater der abendländischen Dichtung. 19 521 Schritte Heyne; 20 Euro
14 (–) Marc-Uwe Kling / Luise Kling /
Bob Dylan, der den Nobelpreis 2016 erhalten Johanna Kling 14 (14) Monika Gruber / Andreas Hock
hat, hat sich auch öfter auf Homer bezogen. Der Spurenfinder Ullstein; 19,99 Euro Willkommen im falschen Film Piper; 22 Euro
Fosse: Das gilt für mich vermutlich ebenfalls.
Auch ich komme aus einer europäischen Tra- 15 (13) Robert Seethaler 15 (16) David Goggins
dition. Das Café ohne Namen Claassen; 24 Euro Can’t Hurt Me Riva; 22 Euro
SPIEGEL: Halten Sie sich für einen politischen
Schriftsteller? 16 (–) Douglas Preston / Lincoln Child Death – 16 (18) Gregor Gysi / Hans-Dieter Schütt Auf eine
Fosse: Nicht so, wie sich Bertolt Brecht für
Das Kabinett des Dr. Leng Knaur; 22 Euro Currywurst mit Gregor Gysi Aufbau; 22 Euro

einen hielt. Ich hasse seine langweilige Art, 17 (14) Walter Moers Die Insel der 17 (–) Christopher Clark
die Menschen zu belehren. Aber ich kenne Tausend Leuchttürme Penguin; 42 Euro Frühling der Revolution DVA; 48 Euro
natürlich die Argumentation, dass alles, was
man tut, irgendeine politische Wirkung hat. 18 (12) Eva Eich 18 (–) Natan Sznaider / Navid Kermani
In diesem Sinne bin natürlich auch ich ein Escape Room – Patient 13 ArsEdition; 14 Euro Israel Hanser; 10 Euro

politischer Autor. Ich finde, es gibt einen


19 (16) Caroline Wahl 19 (–) Walter Isaacson
Frieden, ein Leuchten in meinem Schreiben, 22 Bahnen DuMont; 22 Euro Elon Musk C. Bertelsmann; 38 Euro
eine Art von Liebe. Das ist auch eine Bot-
schaft. 20 (15) Rebecca Yarros 20 (–) Joachim Gauck / Helga Hirsch
SPIEGEL: Herr Fosse, wir danken Ihnen für Fourth Wing – Flammengeküsst dtv; 24 Euro Erschütterungen Siedler; 24 Euro
dieses Gespräch. n Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

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bildung zur Fremdsprachensekretärin zu be-


ginnen. Auf einer Tanzveranstaltung lernt sie
den schwarzen Studenten Howard kennen,
der es mit einem Stipendium von Barbados
nach Oxford geschafft hat. Die beiden nähern

Das Schwarz der sich an, obwohl aus Irmina mitunter Reaktio-
näres herausbricht. Ebenso hitzig reagiert sie
allerdings auch, als Howard bei einem Kino-

Erinnerung besuch rassistisch angefeindet wird. Irmina,


so scheint es, hat nie für sich geklärt, wo sie
politisch wirklich steht.
Ohne weiter nachzudenken, kehrt sie denn
GRAPHIC NOVELS Wie verarbeitet jemand ein Leben voller Tod und Verlust? auch 1935, als das Geld knapp wird, zurück
nach Deutschland. »Ich komme wieder, so-
In ihrem berührenden Comicbuch hält die Künstlerin Barbara Yelin bald ich kann«, verspricht sie Howard.
die unglaubliche Lebensgeschichte einer Holocaustüberlebenden fest. Und tatsächlich sehen sie sich wieder. Aber
erst 1983.
Irmina hat im »Dritten Reich« den Nazi
arbara Yelin erwähnt es erst, als wir etwas Frieden, doch noch mit über 80 Jahren Gregor geheiratet und mit ihm einen Sohn
B schon eine Weile in der sonnigen, aber
leicht zugigen Ecke ihres Ateliers in
München-Giesing gesessen und über ihre An-
drangen Ängste und Gefühle an die Ober-
fläche, denen sie sich seit der Zeit im KZ nicht
gestellt hatte.
bekommen, ist inzwischen verwitwet und ver-
dient sich ihr Geld als Schulsekretärin in Stutt-
gart. Howard ist dagegen Generalgouverneur
fänge als Comiczeichnerin gesprochen haben: Kann eine deutsche Autorin wie Yelin, de- von Barbados geworden – und lädt die alte
Am 7. Oktober, dem Tag der Hamas-Massa- ren Großeltern teils begeisterte Nazis waren, Freundin nun zu sich in die Karibik ein. Dort
ker, war Yelin in Israel. Zu Besuch bei der diese Geschichte erzählen? Yelin hat Arbel kann sich Irmina nicht länger einer ehrlichen
Holocaustüberlebenden Emmie Arbel, deren genau diese Frage gestellt. »Ich sei nicht mei- Bilanz ihres Lebens entziehen. »Ich wollte
Leben sie in ihrem neuen berührenden Buch ne Großeltern«, fasst sie im Nachwort deren doch etwas werden. Jemand sein«, bricht es
»Emmie Arbel – Die Farbe der Erinnerung« Reaktion zusammen. »Damit war das Thema als Erklärung für ihren Opportunismus
festgehalten hat. Was Arbel widerfahren ist, für sie erledigt. Auch hier verstand ich: Es war schließlich aus ihr heraus.
in den Lagern, aber auch später, fügt Yelin nicht ihre Frage. Es war meine.« »Irmina« ist ein Triumph, »auf stille Wei-
behutsam zu einer Erzählung zusammen, die Fragen wie diese, nach der Verantwortung, se erbarmungslos und doch frei von Ankla-
man kaum glauben kann. Aber die sich genau die aus der deutschen Geschichte erwächst, ge«, wie die »Zeit« schrieb. Eine Geschichte,
so zugetragen hat. sind es, die Yelin in ihren Arbeiten verhan- »die in jeder Hinsicht höchsten Ansprüchen
Vier Jahre lang hat Yelin an dem Band ge- delt – und die ihre Arbeiten wiederum zu genügt – erzählerisch wie zeichnerisch, künst-
arbeitet und mehr als 100 Gespräche, teils in Ausnahmeerscheinungen in der deutschspra- lerisch wie politisch«, befand die »Berliner
Israel, teils in Deutschland und den Nieder- chigen Comiclandschaft machen. In »Irmina«, Zeitung«. Yelin gewinnt zahlreiche Preise für
landen, mit der mittlerweile 86-jährigen Arbel ihrem Durchbruchsband von 2014, hat sie die das Buch, die englische Ausgabe wird sogar
geführt. Anfang Oktober war das Buch im Lebensgeschichte ihrer Großmutter, einer für den Eisner Award nominiert, den Oscar
Druck, und Yelin flog zum ersten Mal nicht Mitläuferin im Nationalsozialismus, verarbei- der Comicbranche.
wegen der Arbeit nach Israel, sondern um tet. In dem Comicroman zieht die Weiße Ir- Es ist der Durchbruch in einer Branche,
einfach Zeit mit Arbel zu verbringen. mina 1934 nach London, um dort eine Aus- die Yelin nicht direkt anstrebte. Geboren 1977
Dann begannen die Angriffe der Hamas. in München, studierte sie Illustration an der
Yelin erzählt, dass sich die Familie von Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Arbel in deren Haus in Tiv’on in der Nähe in Hamburg. Dort weckte vor allem die Do-
von Haifa versammelte, dass sie den gesamten zentin Anke Feuchtenberger, selbst bekannt
Tag lang hörten, wie israelische Kampfflug- für düstere, oft groteske Sujets, ihr Interesse
zeuge über das Haus donnerten, und dass an Comics. Nach ersten Veröffentlichungen
Yelin fast ununterbrochen am Handy war, um in Frankreich, wo »bandes dessinées« als
an Informationen zu kommen. Ins Detail will Kunstform weitaus etablierter sind, erschien
sie nicht gehen, weil sie nicht für Arbel und 2010 Yelins erste Graphic Novel in Deutsch-
deren Familie sprechen möchte. »Sie hat die land: »Gift«, eine historische True-Crime-
Nacht nicht geschlafen«, sagt Yelin über Arbel. Geschichte über die Giftmörderin Gesche
»Aber ›Trauma‹ oder ›retraumatisierend‹ – Gottfried, die der Szenarist Peer Meter re-
das wären meine Worte, nicht ihre.« cherchiert und geschrieben hat.
Arbel wurde 1937 in Den Haag geboren, Die stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Zeich-
1942 deportierten die Nazis ihre Familie. Ar- nungen aus »Gift« brachten Yelin erste Auf-
bel und ihre zwei Brüder überlebten die Lager merksamkeit in der deutschen Comicszene
Ravensbrück und Bergen-Belsen, ihre Eltern ein. Ihr Stil hat sich seitdem deutlich verän-
und Großeltern wurden ermordet. Pflege- dert. Mittlerweile arbeitet sie hybrid und kom-
eltern adoptierten die Geschwister, sie lebten biniert dynamisch getuschte Farben mit fei-
kurz in den Niederlanden, bevor sie gemein- nen, oftmals digital eingefügten Strichen und
sam mit der neuen Familie 1949 nach Israel Akzenten. Ihre Bilder entwickeln dadurch
Illustrationen: Barbara Yelin

auswanderten. Später gründete Arbel selbst eine eigene Lebendigkeit, sind wild und sanft
eine Familie und versuchte, ein ruhiges Leben zugleich. »Ich möchte, dass meine Zeichnun-
zwischen Kindern und wechselnden Jobs zu gen so offen wie möglich sind«, sagt Yelin,
führen. Doch die Erinnerungen an die Lager »aber auch so lesbar wie möglich.«
plagten sie immer wieder, mit 53 Jahren wur- Die Arbeit an »Gift« stellte auch erzähle-
de sie für arbeitsunfähig erklärt. Das brachte Ausschnitt aus Yelin-Buch »Emmie Arbel« risch einen Wendepunkt dar: Der Band führ-

118 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


KU LT U R

te sie ans dokumentarische Arbeiten heran. Zeichnerin Yelin


Für »Irmina« wertete sie einen Fund an Brie-
fen und Tagebüchern ihrer Großmutter aus
und ergänzte ihn durch historische Recher-
chen. Eigene Interviews begann sie für die
Comicbiografie »Vor allem eins: Dir selbst sei
treu« zu führen, ein Porträt der deutsch-
israelischen Schauspielerin Channa Maron,
das Yelin zusammen mit dem israelischen
Zeichner David Polonsky verfasste und das
2016 erschien. »Der Zeichenprozess ist für
mich der Denkprozess«, sagt Yelin über ihre
Vorgehensweise. »Die entstehende Zeichnung
zeigt mir, was ich noch nicht weiß.«
Für ihr Buch über Emmie Arbel, das kurz
nach Erscheinen bereits in die zweite Auflage
geht, griff sie immer wieder auf die Arolsen
Archives zurück, das internationale Zentrum
für NS-Opfer im hessischen Bad Arolsen.
Wenn Arbel davon erzählte, wie ihr im Lager
die Haare geschoren wurden, konnte Yelin in
den Beständen des Zentrums recherchieren,
welcher Apparat wahrscheinlich dazu genutzt
wurde. Drei Jahre hat sie so mit Interviews
und Recherchen verbracht. Ein Jahr brauch-
te sie dann für die Zeichnungen. So schnell
wie noch nie habe sie gearbeitet. »Länger
hätte es aber auch nicht sein dürfen«, sagt
Yelin. Der Prozess hat sie angestrengt – und
erst recht Emmie Arbel.
Nach wie vor, natürlich, wird sie von den
Erinnerungen an die Lager heimgesucht. Die
Erinnerungen sind immer da gewesen, die
längste Zeit nur nicht in einer Form, in der
Arbel sie mit anderen teilen konnte. »Ich er-
innere mich nicht«, ist der Satz, den sie am
häufigsten im Buch sagt. 1977, mit 40 Jahren,
steht Arbel schließlich kurz vor dem Kollaps.
Sie flieht von zu Hause in die Nacht und dann
zu einer Bekannten, die Psychotherapeutin

Fritz Beck / DER SPIEGEL


ist. Bei ihr fängt sie endlich an zu reden.
Yelin nimmt diese Nacht im Jahr 1977 zum
Ausgangspunkt für ihre Erzählung. Von hier
aus springt sie in den Zeiten hin und her und
entwirft ein Leben, das aus Bruchstücken be-
steht – Fragmente von Glück, das auch, aber
hauptsächlich von großem Leid. In der Wid- tont, wie sich die gemeinsame Arbeit gestal- Zeitzeugen unterkommen, und verfolgte fast
mung, die Yelin Arbel überlassen hat, schreibt tet hat – wie Arbel zum Beispiel mit dem Satz ununterbrochen die Nachrichten.
diese, dass sie das Buch ihrer Mutter widme, »Ich erinnere mich nicht« immer wieder ihre Mittlerweile ist Arbel zurück in Tiv’on.
»die mir die Kraft für mein Leben mitgegeben Grenzen absteckt. In Yelins Zeichnungen Dort, im Norden von Israel, gibt es im Mo-
hat«. Arbel war kaum acht Jahre alt, als sie nimmt dann ein Schwarz überhand. Die Far- ment keine Kämpfe, weshalb sie etwas zur
1945 in Bergen-Belsen Zeugin vom Tod ihrer be der Erinnerung. Ruhe kommen konnte. »In ihrem eigenen Bett
Mutter wurde. Das Lager war schon ein paar Seit rund zehn Jahren spricht Arbel in kann sie jetzt wieder besser schlafen«, sagt
Tage befreit, doch ihre Mutter zu sehr ge- Deutschland als Zeitzeugin über die Schoa, Yelin. Die beiden sind per Zoom und Whats-
schwächt. »Vielleicht hätte sie überlebt«, sagt oft in Ravensbrück. In der Gedenkstätte wur- App in Kontakt. Ob Arbel auf längere Sicht
Arbel im Comic. »Denn ich weiß, dass sie ihr den Arbel und Yelin 2019 einander vorge- in Israel bleiben wird, ist unklar. Das Gefühl,
ganzes Essen mir gab.« stellt – und in Ravensbrück war Arbel bis vor in dem Land in Sicherheit zu sein, habe sie
Yelin hat alle ihre Zeichnungen Arbel vor- Kurzem auch gestrandet. Am Tag nach den seit dem 7. Oktober verlassen, berichtet Yelin.
ab vorgelegt, damit nichts im Buch ist, was Anschlägen, am 8. Oktober, war sie, wie lan- Mehr möchte sie nicht dazu sagen. »Als in
Arbel nicht drinhaben wollte. Manche Dinge, ge geplant, zusammen mit Yelin und ihrer München der Wintereinbruch kam, habe ich
sagt Yelin, habe sie auf Wunsch von Arbel Tochter Michal nach Deutschland geflogen, Emmie ein Foto vom Schnee geschickt«, er-
wieder herausgenommen. »Aber so, wie das um wieder in der Gedenkstätte zu sprechen. zählt Yelin stattdessen. »Sie hat mir eins zu-
Buch erzählt ist, ist es ganz allein mein Werk.« Wegen des Kriegs gegen die Hamas er- rückgeschickt. Darauf sitzt sie in ihrem Gar-
Wie um das klarzumachen, hat sie sich selbst schien die Rückkehr nach Israel zunächst zu ten in Tiv’on. Mit ihrer Familie.«
in das Buch gezeichnet, zu erkennen an dem gefährlich. Sechs Wochen harrte Arbel daher »Ich habe sehr früh gelernt, stark zu sein«,
kurzen Pony und dem feinen Meryl-Streep- in Ravensbrück im »Haus der Lagergemein- sagt Arbel im Comic. »Ich musste leben. Und
Gesicht. Yelins Präsenz lenkt aber nicht von schaft« aus, der alten Unterkunft der Lager- wenn du lebst, lebe, so gut du kannst.«
Arbel und ihrer Geschichte ab, sondern be- aufseherinnen, wo nun die Zeitzeuginnen und Hannah Pilarczyk n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 119


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Konflikt. Aber der Terror der Ha- Die lokale Presse erwähnte beides,
mas und der militärische Gegen- der Bürgermeister sah sich die
schlag Israels haben diesen Konflikt Sache vor Ort an – aber es wurde
zu einer Zerreißprobe gemacht. nicht landesweit Alarm geschlagen.
In Großbritannien äußerten Auf der Insel gilt Antisemitismus
renommierte jüdische Juristen wie eher als zweitrangiges Problem,

Mehr Empathie Lord Neuberger und Philippe Sands


bereits am 17. Oktober tiefe Besorg-
nis, dass Israels berechtigte Selbst-
wenn überhaupt. Um es mit dem
englischen Autor David Baddiel
zu sagen: Jews Don’t Count.

wagen verteidigung den Rahmen des inter-


nationalen Rechts zu überschreiten
drohe. Zehn Tage später kritisierten
In Deutschland dagegen trifft
Antisemitismus ins Herz des Selbst-
verständnisses als geläuterte Na-
mehr als 250 Rechtsexperten, tion. Derartige Vorfälle darf es nicht
ESSAY Was ist die Lehre aus dem Holocaust? nachdem sie erst die Hamas-Morde geben, sie seien beschämend, so die
verurteilt hatten, offen Israels Vor- Reaktionen aus der Politik. »Nie
Nur Solidarität mit Israel? Deutschland gehen als Verstoß gegen das huma- wieder ist jetzt!« leuchtet nicht nur
muss das »Nie wieder!« erweitern auf alle nitäre Völkerrecht und forderten über dem Brandenburger Tor, son-
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. einen Waffenstillstand. dern ist das mahnende Mantra von
Von Frank Trentmann In Deutschland setzt die »Staats- großen Unternehmen bis zu lokalen
räson« einen anderen Rahmen für Buchhandlungen
das, was gesagt werden kann und Aber was haben die vielen Mah-
ie Bundesrepublik steht auf wie. nungen bewegt? Die Zivilgesell-
D dem moralischen Prüfstand.
Nach dem grauenvollen Ter-
rorangriff der Hamas am 7. Oktober
Für Neuberger und Sands heißt
die Lehre aus der Geschichte der
Schoa und deutscher Kriegsverbre-
schaft hat auf die kaltblütigen Mor-
de der Hamas und antisemitische
Vorfälle in Deutschland vorwiegend
Olivier Hess / DER SPIEGEL

haben die Regierung und alle Par- chen, dass es internationale Regeln mit Schweigen reagiert. Gewiss, es
teien eindeutig ihre Solidarität mit gibt, an die Staaten sich zu halten gibt auch engagierte Bürger. In Ulm,
Israel erklärt. Die Zivilgesellschaft haben – selbst im Angesicht des Dresden und anderen Städten gab
jedoch wirkt auf viele auffallend Terrors. Andernfalls begänne der es Mahnwachen. In Berlin stellten
still, ja gleichgültig inmitten einer Rückfall in die Barbarei. sich Bürger schützend vor die Syna-
steigenden Zahl antisemitischer Im Land der Täter ist die Lektion goge am Fraenkelufer. Aber am
Trentmann, 58, Vorfälle. aus der Geschichte anders akzen- 8. Oktober waren es dann doch nur
wuchs in Hamburg
auf und zog 1986 Mangelt es den Deutschen an tuiert. Oberste Priorität haben die etwa 2000 Menschen, die den Weg
nach Großbritannien. Empathie mit Israel und den Juden? Solidarität mit und die Sicherheit zum Brandenburger Tor fanden.
Er ist Professor für Oder befindet sich Deutschland von Israel. In welches Dilemma das Ist dies dasselbe Land, in dem
Geschichte an den auf einem »Sonderweg« angesichts Deutschland führen kann, zeigte 2015 so viele Freiwillige syrische
Universitäten London
und Helsinki. Sein all der Solidaritätserklärungen für sich bereits 2021, als das Auswärtige Geflüchtete willkommen hießen? In
neues Buch »Auf- Palästina, die in anderen Ländern Amt versuchte, dem Internationa- dem all die ukrainischen Fahnen
bruch des Gewis- die Runde machen? Womöglich len Gerichtshof das Recht abzu- wehen seit dem russischen Angriffs-
sens: Eine Geschich- trifft beides zu. sprechen, angebliche Kriegsverbre- krieg? Wo ist das Mitgefühl für die
te der Deutschen
von 1942 bis heute« Als gebürtiger Deutscher, der in chen Israels sowie der Hamas in jüdischen Menschen in Deutschland?
ist im Oktober bei London Geschichte lehrt, bin ich palästinensischen Gebieten auch
S. Fischer erschienen. täglich mit den verschiedenen Sicht- nur zu untersuchen. mpathie entspringt dem Be-
weisen in meinen beiden Heimat-
ländern konfrontiert. Um Missver-
ständnissen vorzubeugen: Es gibt
Für die öffentliche Reaktion in
Großbritannien bildet die Ausei-
nandersetzung mit kolonialer Ge-
E wusstsein, dass das Leid ande-
rer einen selbst treffen kann.
Die Philosophin Martha Nussbaum
nicht die britische oder die deutsche walt den entscheidenden Rahmen. geht einen Schritt weiter: Empathie
Meinung, genauso wenig, wie es Sklavenhandel und Rassismus – ist, wenn das Leid anderer das ei-
einen Nationalcharakter gibt. Beide nicht der Holocaust – stehen im gene Wohlbefinden mindert, selbst
Gesellschaften sind hin- und her- Zentrum des Kampfs gegen Dis- wenn man davon ausgeht, dass
gerissen zwischen Sympathie für kriminierung und Unterdrückung. einem derartiges Leid erspart bleibt.
Israel und für die Zivilbevölkerung Und so nahmen am 11. November Die Deutschen haben interes-
in Palästina. Und klar, Antisemitis- in London mehr als 300.000 Men- santerweise ein Problem mit Empa-
mus ist nicht nur ein deutsches, son- schen am propalästinensischen thie, und das kommt keineswegs
dern ein internationales Problem. Protestmarsch teil. aus dem Nichts: Nach dem Zweiten
Jüdische Bürger in London, Paris Nicht dass es in Großbritannien Weltkrieg und dem Holocaust stand
und New York berichten über man- kaum Antisemitismus gäbe oder die Gesellschaft vor der enormen
gelndes Mitgefühl, und sie haben in Deutschland keinen Rassismus. Herausforderung, Mitgefühl zu
dort aus guten Gründen ebenso Aber sie haben eine andere Ge- entwickeln. Doch jüdische Überle-
Angst wie in Berlin und Frankfurt. wichtung im öffentlichen Diskurs. bende und andere NS-Opfer trafen
Aber der Ton der Debatte ist in Einige Tage nach dem 7. Oktober auf wenig Verständnis. Die meisten
Deutschland ein anderer, der Fokus wurden die Fensterscheiben eines anderen Deutschen taten sich in
auch. koscheren Restaurants in Golders erster Linie selbst leid und kämpf-
Wann genau schlägt Kritik an Green in London eingeschlagen, zu- ten miteinander um Anerkennung
israelischer Regierungspolitik um dem wurde das Banner der Wiener der je eigenen Lasten: die Ausge-
in Antisemitismus? Wann stellt sie Holocaust Library im Herzen Lon- bombten, die Kriegsversehrten, die
gar die Existenz Israels infrage? In dons direkt neben meinem Büro mit Heimkehrer, die vielen Millionen
diesen Fragen liegt seit Langem ein einem »Gaza«-Graffito beschmiert. Vertriebenen.

120 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


KU LT U R

1952 schloss Konrad Adenauer Wir stehen vor drei großen Pro- Was passt zur schen Mitbürgern in der Gesell-
das Wiedergutmachungsabkommen blemen: Das erste ist Deutschlands schaft verwurzelt sind. Reden und
mit Israel und der Jewish Claims internationale Verantwortung. deutschen Rituale produzieren nicht auto-
Conference – ein fraglos historischer Deutschland hat die grausame Er- Staatsräson? matisch Nähe und Mitgefühl. Am
Schritt. Doch die staatliche Um- mordung von mehr als 1200 Men- Abend des 22. November sah ich im
münzung von Schuld in Schulden schen in Israel verurteilt und sich so-
Das ist die Bayerischen Rundfunk die Sendung
bedeutete für die meisten Bürger lidarisch mit Israel und der Verteidi- große Frage, »Krieg in Nahost – Antisemitismus
auch, dass sie sich persönlich nicht gung jüdischen Lebens erklärt. Das vor der das in Deutschland«. Am Ende seines
mehr mit dem Thema zu beschäfti- ist gut und richtig. Deutschland muss Interviews mit Josef Schuster, dem
gen brauchten. Und die DDR? Der sich aber zusätzlich fragen, ob es al- Land steht. Präsidenten des Zentralrats der
andere deutsche Staat stellte sich les tut, was möglich ist, um weiteres Juden in Deutschland, bedankte
auf die Seite Palästinas, es herrschte Leid von unschuldigen Menschen sich der Moderator und wünschte
Antizionismus gemischt mit Anti- abzuwenden, sowohl von den im- ihm Frieden »in Ihrem Heimat-
semitismus. mer noch verschleppten Geiseln in land«. Schuster korrigierte ihn: »Ich
In den Sechziger- und Siebziger- der Gewalt der Hamas wie auch von lebe seit 67 Jahren in Deutschland.«
jahren versuchten Kampagnen für den durch Bomben und Vertreibung Und er könne seinen Stammbaum
die »Dritte Welt«, das Mitgefühl auf gestraften Palästinensern. Mit seiner über 450 Jahre im fränkisch-hessi-
bedürftige Menschen in fernen Län- eng ausgelegten Staatsräson läuft schen Grenzgebiet zurückverfolgen.
dern und Kulturen auszudehnen – Deutschland Gefahr, sich selbst zu Es ist bestürzend, wie weit ver-
globalisierte Empathie. Für die jüdi- marginalisieren – nicht nur in den breitet das Unwissen und die Vor-
schen Mitbürger zu Hause, auch Vereinten Nationen, sondern auch urteile über Juden in Deutschland
für die sogenannten Gastarbeiter in der Europäischen Union: Spanien sind. Wie schon unter Adenauer,
und Randgruppen dagegen gab es und andere Länder haben auf einen der die Wiedergutmachung nur
wenig Mitgefühl. Die Gesellschaft sofortigen Waffenstillstand gedrängt, gegen großen Widerstand durch-
für Christlich-Jüdische Zusammen- und viele EU-Bürger ebenso wie setzte, spiegelt die heutige Regie-
arbeit fand 1964, selbst unter den viele Briten kritisieren sehr offen die rungspolitik bei Weitem nicht die
eigenen Mitgliedern herrschten Art der israelischen Kriegführung. öffentliche Meinung wider.
»Selbstgerechtigkeit, Vorurteile und Eine enorme Herausforderung
Unwissenheit«. as bleibt von Deutschlands stellt drittens die Erinnerungspolitik
Ohne Zweifel ist die deutsche
Gesellschaft seitdem toleranter ge-
worden. Aber dass es heute weniger
W Glaubwürdigkeit als Wäch-
ter der Menschenrechte
übrig, wenn etwaige israelische
dar, die für die Urenkel der Täter
ebenso anschlussfähig gemacht wer-
den muss wie für Migranten und
Antisemitismus und Rassismus gibt, Verletzungen des Völkerrechts nicht Geflüchtete. Es geht darum, alle
heißt nicht, dass beides verschwun- thematisiert werden können? Versuche von rechts wie links abzu-
den wäre. Die Migrationsdebatten Die viel beschworene Erinne- wehren, den Holocaust zu relativie-
zeigen, dass es neben Empathie rungspolitik hat zweitens davon Europa-, Israel- und
ren als lediglich ein Kapitel in der
auch Hartherzigkeit, Angst und abgelenkt, wie tief Antisemitismus Deutschlandflagge Geschichte kolonialer Gewalt. Aber
Hass gibt. und emotionale Distanz zu jüdi- vor dem Reichstag es geht zugleich darum, mehr Em-
pathie zu entwickeln für Menschen,
die selbst Flucht- oder Kriegserfah-
rungen durchlitten haben. Nur so
lassen sich ihnen der Holocaust und
seine Lehren nahebringen. Das
»Nie wieder!« muss verbunden
werden mit einer Ermahnung,
wachsam zu sein bei allen Kriegs-
verbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit.
Aber passt das zur deutschen
Staatsräson? Das ist das Dilemma
und die große Frage, vor der
Deutschland steht.
Die Sorge um die Palästinenser,
insbesondere unter muslimischen
Mitbürgern, speist sich ja nicht nur
aus islamistischer Desinformation.
Es gibt tatsächlich viele zivile Op-
fer. Man kann die Erklärungen der
Vereinten Nationen, der spanischen
Regierung und etlicher Rechts-
experten unterschiedlich bewerten
und sie auch ablehnen. Aber das
heißt nicht, dass die Erklärungen
auf falschen Fakten beruhen. Was
Steinach / IMAGO

sollen deutsche Politiker und Lehrer


jenen antworten, die sagen: »Ihr
sprecht immer von ›Nie wieder!‹.
Warum tut ihr nicht mehr?« n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 121


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KU LT U R

Wonka für kurze Zeit flüchten. In der


Galerie, in der er seinen Laden eröff-
nen möchte, verteilt er seine Konfekt-
kreationen an Passanten.
Das Probepublikum ist sogleich
schokoschockverliebt. Die drei Bon-

Schockverliebt im zen, die das Schokoladenkartell der


Stadt regieren, sind nicht amüsiert.
Und beschließen, den Rivalen Wonka

Schoko-La-La-Land mit Unterstützung der garstigen Mrs.


Scrubbit abzumurksen.
Man sieht in »Wonka« naschsüch-
tige Menschen vom Boden abheben,
FILMKRITIKDer herrliche Vorweihnachtsfilm »Wonka« erzählt die Vorgeschichte mithilfe der Zauberkraft von bunt
des Märchens »Charlie und die Schokoladenfabrik«. bemaltem Konfekt. Man sieht, wie
ein riesiger Schokoladenrührtopf als
Mordinstrument eingesetzt wird. Es
uallererst sieht man den Kerl gibt tadellos choreografierte Tanz-
Z hoch droben auf dem Ausguck
eines Segelschiffs ein zartes Lied
singen. Nach sieben Jahren als Schiffs-
szenen, knallfarbige Kostüme und ein
paar charmante Lieder, von denen die
besten Neil Hannon komponiert hat,
koch auf See blickt der junge Held der mit der Band The Divine Comedy
Willy Wonka, dargestellt von Timo- bekannt geworden ist.
thée Chalamet, aufs nahe Festland Der Schriftsteller Dahl ist berühmt
und singt sich warm für den Aufbruch für seinen grimmigen Humor und ein
in die am Ufer liegende große Stadt. bisschen umstritten unter anderem

Jaap Buittendijk / Warner Bros.


Die Stadt ist leicht verschneit und wegen heutzutage als brutal empfun-
sieht so aus, als wären Paris und Lon- dener Züchtigungsfantasien. Regis-
don vor gut 100 Jahren von einem seur King und sein Drehbuch-Co-
Zuckerbäcker zu einer Weltmetro- Autor Simon Farnaby haben schon in
pole verschmolzen worden. In einer zwei »Paddington«-Filmen Intelli-
prächtigen Einkaufspassage will der genz und heitere Durchtriebenheit
Held einen Laden gründen, und zwar bewiesen. Und doch wird es vermut-
»das tollste Schokoladengeschäft, das lich Menschen geben, denen sie in
die Welt je gesehen hat«. Das hätte auch schiefgehen kön- Darsteller Chalamet »Wonka« zu warmherzig und aufge-
Der Schauspieler Chalamet ist ein nen. Aber der von vielen Dahl-Be- als Wonka kratzt ans Werk gehen.
derzeit von vielen Menschen ange- geisterten mit Skepsis erwartete Film Die Kunst von King und Farnaby
himmelter Wunderknabe des Welt- »Wonka« erweist sich als Wunder- zeigt sich aber gerade dort, wo sie
kinos. Er ist 27 Jahre alt und hat werk an poetischem Zauber, Witz und das dahlsche Mythenuniversum wei-
seine eher zarten Gesichtszüge und Eleganz – und als schönstes Kinomu- terspinnen und auf den Kopf stellen.
sein freches Lächeln in so unter- sical seit »La La Land«. Die großartigste Figur in »Wonka«
schiedlichen Erfolgsfilmen wie »Call In Dahls Original-Schokoladen- ist ein von Hugh Grant wunderbar
Me by Your Name« und »Dune« zur fabrikmärchen geht es um den aus durchgeknallt gespieltes Männlein
Schau gestellt. In »Wonka« verkör- armen Verhältnissen stammenden, mit grünen Haaren und orangefarbe-
pert er nun einen ungestümen Lufti- kindlichen Helden Charlie Bucket, ner Haut, ein sogenannter Umpa-
kus und Tausendsassa. Sein Held der zusammen mit ein paar anderen Lumpa.
singt und tanzt und spaziert voller Kindern Einlass in das Reich des sa- In »Charlie und die Schokoladen-
Unschuld und Zuversicht ins Gewühl genhaft geschmacksbegabten, bizarr fabrik« sind die aus einem fernen
der Großstadt hinein – und gerät daherredenden, leicht gruseligen Land importierten Umpa-Lumpas
erst einmal an Menschen, die ihm Schokoladentycoons Willy Wonka noch die vom Unternehmer Wonka
übel wollen. findet. Kings Film porträtiert nun herumkommandierten Heinzelmänn-
Der Film erzählt von Schurken, Wonka – der in zwei »Charlie und die chen und Arbeitsbienen der Firma,
wie sie im Charles-Dickens-Buch Schokoladenfabrik«-Verfilmungen das proletarische Fußvolk des Süß-
»Oliver Twist« herumlungern, ihr aus den Jahren 1971 und 2005 jeweils warenuniversums. In »Wonka« da-
Wortschatz klingt aber gegenwärtig. grandios von Gene Wilder bezie- gegen ist Grants Umpa-Lumpa ein
Einmal reden sie von einer drohen- hungsweise von Johnny Depp dar- trickreicher, ulkiger, boshafter Star.
den »Schokokalypse«. Das ist nicht gestellt wurde – als junger Mann. Eigentlich ist der superschlaue
bloß ein netter Witz, sondern es Chalamets Held ist zwar mit einem Troll nur in die Weltstadt gereist, weil
drückt vermutlich die schlimmsten Zauberkoffer voller Instrumente und er sich an Willy Wonka wegen einer
Ängste der Macher von »Wonka« aus. Zutaten zur Pralinenzubereitung aus- Schuld aus dessen Schiffskochzeiten
Regisseur Paul King und seine Helfer gerüstet, aber praktisch mittellos. Mit rächen will. Doch dann zeigt sich
haben sich den modernen Märchen- dem Versprechen auf einen Schlaf- Der Film ist ein mehr und mehr, dass der kurz
klassiker »Charlie und die Schokola- platz wird er ins Horrorkabinett der geratene grüne Mann der Einzige ist,
denfabrik« von Roald Dahl vorge- Pensionswirtin Mrs. Scrubbit (Olivia Wunderwerk der dem jungen Helden gegen seine
nommen und eine komplette Film- Colman) gelockt und als Arbeitsskla- an poetischem Feinde wirklich helfen kann. Der
story im Geiste des 1964 erschiene- ve in die Kellerwäscherei gesperrt. Joker im Schoko-La-La-Land sozu-
nen Originalbuchs und des 1990 ge- Mithilfe des smarten Aschenputtel- Zauber, Witz sagen.
storbenen Dichters neu erfunden. mädchens Noodle (Calah Lane) kann und Eleganz. Wolfgang Höbel n

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 123


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124 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Denny Laine, 79 weise liberale Haltung in Ab-
NACHRUFE Er war ein versierter Gitarrist, treibungsfragen brachte ihr
und seine Singstimme klang an- viel Kritik ein. Die Liberalen
genehm. Doch vor allem kannte enttäuschte O’Connor jedoch
man Denny Laine als treuen schwer, als sie nach der Präsi-
Begleiter des Ehepaars Paul und dentschaftswahl 2000 gegen
Linda McCartney: Zehn Jahre eine Neuauszählung der Stim-
lang war Laine bei den Wings – men in Florida entschied – und
der Band, die Paul McCartney damit George W. Bush zum Prä-
nach dem Ende der Beatles 1971 sidenten machte. Sandra Day
gegründet hatte. Er reiste sogar O’Connor starb am 1. Dezem-
mit nach Lagos, um das Album ber in Phoenix, Arizona. BOY
»Band on the Run« aufzuneh-
men – die anderen Nicht-Mc- Marion Cito, 85
Cartneys waren ausgestiegen. »Schönheit wagen« heißt ein
Beim größten Wings-Hit, der Bildband, der sie und ihr Schaf-
pseudoschottischen Hymne fen würdigt. Was für ein passen-
»Mull of Kintyre«, war er Co- der Titel! Marion Schnelle, die
Komponist. Auf Tour durfte sich selbst in Cito umbenannte,
er den Song vortragen, der ihn kam 1938 in Berlin zur Welt, ein
1964 bekannt gemacht hatte: Kriegskind, das 1945 den Vater
Die R & B-Ballade »Go Now!« verlor. Mit zehn Jahren begann
hatte er mit den Moody Blues sie eine Tanzausbildung bei Tat-
IPON / IMAGO

gesungen, die er 1966 verließ. jana Gsovsky, der Erneuerin des


Laine blieb in der Szene, spielte deutschen Nachkriegsballetts.
unter anderem mit Schlagzeu- Cito stieg bis zur Ersten Solistin
Wolfgang Wieland, 75 ger Ginger Baker, bis der Anruf auf, tanzte unter Gsovsky in
Er war einer jener Politiker bei den Grünen, aus dem auch bundes- von McCartney kam. Als der Leipzig, Dresden, Berlin. 1976
weit mehr hätte werden können. Aber Wolfgang Wieland blieb nach dem Mord an John Len- kam sie zu Pina Bausch nach
seiner Heimat Berlin treu verbunden. Schon zu Zeiten West-Berlins Wuppertal, zunächst als Assis-
und erst recht nach der Vereinigung wurde er zu einer markanten tentin der legendären Choreo-
Persönlichkeit der Stadt, schließlich genauso anerkannt über Par- grafin und ihres Ausstatters Rolf
teigrenzen hinweg. Der Jurist, ausgestattet mit einer sonoren Bass- Borzik. Als der 1980 starb, bat

Michael Putland / Getty Images


stimme, lieferte sich in den Neunzigerjahren im Abgeordnetenhaus Bausch sie, die Gestaltung der
als Fraktionschef Rededuelle mit seinen Konterparts in der CDU Kostüme zu übernehmen. Mehr
wie dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. Wieland als drei Jahrzehnte lang prägte
prangerte die Große Koalition für die von ihr mitverursachte Ban- Cito fortan die Tanzmode und
kenkrise ebenso an wie für explodierende Mietpreise und fehlenden mit ihr auch den Tanz selbst.
Umweltschutz. Von der Studentenbewegung geprägt, war er einer Denn Kleider machen nicht nur
der Mitgründer der »Alternativen Liste«, nicht zuletzt auch ein be- Leute, Kleider machen auch
kannter Anwalt. Nach der Jahrtausendwende amtierte er kurz als non nicht mehr touren wollte, Tänzerinnen und Tänzer. Die
Justizsenator unter Klaus Wowereit von der SPD, bis dieser stieg Laine 1981 aus. »Ich kann Männer steckte Cito schon in
eine Koalition mit der PDS einging. Später gehörte Wieland dem nicht leben, ohne live zu spie- Kleider, als das noch sehr un-
Bundestag an, und er blieb auch nach seinem Ausscheiden aktiv. len«, sagte er einmal. Denny gewöhnlich war, die Frauen ließ
Bei aller Lust am Streiten war der Vater zweier Töchter ein prag- Laine starb am 5. Dezember in sie auf High Heels über die
matischer, im Umgang freundlicher Gesprächspartner. Noch in Naples, Florida. FEB Bühne stöckeln – oft in boden-
diesem Sommer bat er die Grünen um eine »realistische Verkehrs- langen Abendkleidern. Ihre
politik«. Wolfgang Wieland starb am 5. Dezember in Berlin. SEV Sandra Day O’Connor, 93 Kostüme, so die Idee, sollten an
Mit ihrer Ernennung zur Richte- den Alltag erinnern und ihn
rin am Supreme Court wurde zugleich überschreiten. Marion
Peter R. Adam, 66 sie 1981 zur mächtigsten Frau in Cito starb am 2. Dezember in
Lange war er einer der wichtigsten Schnittmeister – den Vereinigten Staaten von Wuppertal. TOB
heute Editor genannt – im deutschen Film und über- Amerika – und schrieb Justizge-
dies ein großer Gentleman. Wer das Privileg hatte, schichte: Sandra Day O’Connor
ihm bei der Arbeit über die Schulter zu schauen, spürte war die erste Frau am Obersten
seinen Respekt vor der künstlerischen Leistung Gericht. Die auf einer Ranch in
dpa

der Schauspieler und Regisseure. Mit Ruhe, Beharr- Arizona aufgewachsene O’Con-
lichkeit und Neugier erkundete er das gefilmte Material und ver- nor hatte trotz eines erstklassi-
suchte, es in die bestmögliche Form zu bringen. Regisseure, die ein- gen Abschlusses an der renom-
mal mit ihm gearbeitet hatten, vertrauten ihm immer wieder ihre mierten Stanford Law School in
Ulli Weiss / Pina Bausch Foundation

Filme an, so etwa Detlev Buck, Oskar Roehler oder Leander Hauß- den Fünfzigerjahren zunächst
mann. Adam erhielt mehrfach den Deutschen Filmpreis Lola für nur bescheidene Stellenangebo-
den besten Schnitt, unter anderem 2003 für die melancholische Ko- te bekommen. Als moderate
mödie »Good Bye, Lenin!«. Bei einem seiner letzten Filme, »Der Konservative war O’Connor am
vermessene Mensch«, der vom Genozid an den Herero und Nama Supreme Court dann oft das
in Namibia handelt, half er dem Regisseur Lars Kraume, die Zünglein an der Waage. Sie galt
Gewalt in ihrer Ungeheuerlichkeit zu zeigen, ohne sie unnötig aus- als pragmatisch, unideologisch
zustellen. Peter R. Adam starb am 4. Dezember in Berlin. LOB und unabhängig. Ihre vergleichs-

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 125


PERSONALIEN

Die Reisende
Die amerikanische Sängerin
Lana Del Rey, 38, ist einer der
eigenartigsten Superstars im
Popgeschäft. Mit ihren Songs
bekräftigt sie ihre Nostalgie für
ein untergegangenes Amerika,
mit ihren Platten beschwört sie
eine untergegangene Welt der
Fünfziger- und Sechzigerjahre –
und ist doch immer unmiss-
verständlich in der Gegenwart.
Zuletzt mit ihrem Album »Did
You Know That There’s a Tun-
nel Under Ocean Blvd«. Doch
statt sie für diese große Geste zu
feiern – anders hat Bob Dylan
es am Anfang seiner Karriere
schließlich auch nicht gemacht,
als er den amerikanischen Folk
wiederbelebte –, wirft man ihr
vor, nicht »echt« zu sein. »Ich
muss mich schon so lange
in Acht nehmen. Vor Idioten!«,
sagte sie nun der »Sunday
Times«. Ihre Kritiker forderte
sie auf: »Nehmt die Watte aus
euren Ohren und stopft sie euch
in den Mund. Hört zu, und ihr
könntet hören, dass ich es ernst
meine!« Dieser ganze Stress
habe sie sehr müde gemacht. Sie

Chris Pizzello / Invision / AP / picture alliance / dpa


sei aber noch lange nicht fertig
mit ihrer künstlerischen Reise.
»Deshalb hat Gott mir noch kei-
ne Kinder gegeben«, sagte sie.
»Es gibt so viel auszuprobieren.
Ich kenne eine Menge Leute,
die alles mitgenommen haben.
Sie haben sich verbrannt wie
Ikarus. Ich will das auch. Mal
schauen, was meine Flügel zum
Schmelzen bringt.« RAP

Alle sind so Times«. Fiennes, der mit Schur- lich in Washington, D. C., zu
kenrollen in Filmen wie sehen. Tickets für die billigen
bourgeois »Schindlers Liste« populär ge- Plätze allerdings sind vergriffen.
Der britische Schauspieler worden ist, geht derzeit mit Wer sich das Drama dennoch
Ralph Fiennes, 60, findet das einem Shakespeare-Klassiker anschauen möchte, muss bis zu
Taylor Hill / FilmMagic / Getty Images

Theaterpublikum zu bourgeois: auf Bühnentour. In »Macbeth« 195 Pfund pro Eintrittskarte be-
Der Gedanke, dass man sich spielt er die Hauptrolle. Als zahlen. In Liverpool kann man
gut gekleidet und nach einem Lady Macbeth ist Indira Varma den Pausenchampagner vorbe-
Restaurantbesuch noch ein zu sehen, bekannt aus der Serie stellen: für 70 Pfund die Flasche.
Bühnenstück anschaue, töte »Games of Thrones«. Die mo- Fast schon bourgeois, könnte
das kulturelle Leben, und dern anmutende Produktion ist man sagen. Oder ist es eher das,
es verschrecke junge Menschen. bis Anfang Mai in Liverpool, was die Briten »Champagne
Das sagte er der »Sunday Edinburgh, London und schließ- Socialism« nennen? SHA

126 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


Was Männer Sorglos reich und lud die große Pop-Promi-
nenz von Rihanna bis Beyoncé
aushalten können Dass Pharrell Williams, 50, der ein. Nun ist es der Hawaiiurlaub
Für viele Menschen ist er der neue Kreativdirektor der Män- eines imaginären Hongkonger
Film des Jahres: »Barbie«. nerlinie von Louis Vuitton, gar Geschäftsmanns, den Williams
Greta Gerwig, 40, führte nicht nicht aus der Modewelt stammt, benutzt, um mit breitem Pinsel
nur Regie, sondern war auch sondern einer der begabtesten von sorglosem Reichtum, ent-
mit dem Drehbuch beauftragt. Musikproduzenten der vergan- spanntem Strandleben und neu-
Allerdings nahm sie den Job genen Jahrzehnte ist, dürfte ihm em Dandytum zu erzählen – auf
zunächst ohne das Wissen ihres bei seiner Arbeit für das Pariser der Avenue of Stars im Victoria
Partners Noah Baumbach, 54, Modehaus nicht im Weg stehen. Harbour von Hongkong, vor
an. Nicht so schlimm, könnte Denn das Designen von Kla- der Hochhauskulisse der Stadt,
man meinen – doch Gerwig motten ist bei seinem Job ohne- unter künstlichen Louis-Vuitton-

Nina Wester velt / WWD / Getty Images


wollte, dass er als Co-Autor tä- hin nicht im Mittelpunkt, und Sternen, die am Himmel blin-
tig wird. Das Angebot lehnte er die Koffer und Taschen mit dem ken. Was ist das? Mode, Pop,
zunächst ab, er wollte das Pro- LV-Logo muss auch niemand the greatest show on earth?
jekt sogar wieder loswerden, er- neu erfinden. Was Williams hin- Schon als Musiker war Williams
zählten Baumbach und Gerwig gegen macht: zweimal im Jahr der menschenfreundliche,
nun in einem CBS-Interview. eine Geschichte erzählen, die nerdige Junge neben den bösen
Warum? Weil es in dem Film jeder versteht. Bei seiner ersten Rappern, der Träumer, der
um eine Puppe gehen sollte und großen Show im Sommer ging nur die Welt verschönern wollte.
es keine Geschichte gab. Bar- es um seine eigene Reise von Nun sind ganze Stadtteile
bie ist eben in erster Linie ein Frau entstand, so viel einge- Virginia nach Paris. Er ließ den die Kulisse seiner Fantasien ge-
Produkt. Als er herausgefun- spielt. Außerdem ist »Barbie« Pont Neuf weiträumig absperren worden. RAP
den hatte, dass es bereits einen mit rund 1,44 Milliarden Dollar
Vertrag für das Drehbuch gab, der umsatzstärkste Film in der
habe er versucht, alles rück- Firmengeschichte von Warner
gängig zu machen. Vergebens. Bros. Allerdings sind nicht alle
»Weil Greta hartnäckig war, Zuschauenden gleichermaßen
und weil Greta etwas sah«, sagt begeistert. Von den einen als
Baumbach. Die beiden schrie- ironisch-feministisches Manifest
ben das Drehbuch während der gefeiert, kritisieren andere das
Pandemie in ihrer New Yorker rosa Spektakel als männerfeind-

Lam Yik / Bloomberg / Getty Images


Wohnung. »Wir dachten, der lich und zynisch. Baumbach hat
Film wird vielleicht niemals dafür wenig Verständnis: »Ich
produziert«, sagt Gerwig. Es hatte das Gefühl, dass Männer
kam bekanntlich anders. Mit das aushalten können, ich mei-
ihrer dritten Soloregiearbeit ne, komm schon.« Aber mit der
schrieb sie Filmgeschichte: Nie- Ironie ist es ja ein wenig wie mit
mals zuvor hat ein Film, der Fragen des Geschmacks: Es lässt
unter der Regie einer einzelnen sich schwer darüber streiten. KS

Im Bistum Brooklyn ist tet – nach Veröffentlichung des Videos


die Hölle los. Entweihung, so lautete der
die Hölle los Aufschrei. Bischof Robert Brenna soll
Im Musikvideo zu ihrer Single »Feather« laut Medienberichten »entsetzt« auf den
tanzt Sabrina Carpenter, 24, zunächst Clip reagiert haben. Unter der Verwen-
selbstvergessen auf einer Straße, die gut dung von Weihwasser konnte er die
aussehenden Kerle um sie herum ignoriert Heiligkeit des Ortes mit einem speziellen
sie. Im Laufe des Songs, der von der Ritus wiederherstellen, ein Glück! Den
Befreiung aus einer Beziehung handelt, zuständigen Vikar enthob er allerdings
bleiben allerdings immer mehr Männer des Amtes. Für das »provokante Musik-
recht brutal auf der Strecke. Die Sängerin video« und die »schändliche Darstellung«
steigt in Hotpants und blutverschmiert entschuldigte sich der gefeuerte Geistliche
über ihre Leichen. Schließlich erscheint daraufhin emotional und ausführlich
Carpenter spärlich in schwarzen Tüll via Facebook. Von ihren Anhängern, den
gehüllt auf der Trauerfeier in einer Kirche. »Carpenters«, wurde die Musikerin
Dort räkelt sich Carpenter zwischen für den unorthodoxen Auftritt gefeiert.
pastellfarbenen Särgen mit der Aufschrift Und die US-Popsängerin ist sich sicher,
»RIP Bitch« – Ruhe in Frieden, Schlampe. dass auch Jesus höchstpersönlich Gefallen
Jo Hale / Redferns / Getty Images

So viel Aufruhr gab es wohl seit Madon- an ihrer Performance gefunden hätte.
nas »Like a Prayer« nicht mehr in den Ihre Antwort auf die Aufregung erschien
Reihen der amerikanischen Kirche, denn kürzlich im Magazin »Variety«: »Wir
der Dreh fand vor dem Altar eines echten hatten eine Drehgenehmigung«, stellt sie
katholischen Gotteshauses im New Yorker klar und ergänzt: »Jesus was a carpenter«,
Bezirk Brooklyn statt. Im zuständigen also ein Zimmermann – oder eben Ur-Fan
Bistum war – der Kalauer sei uns gestat- der Sängerin. ABD

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 127


Vielen Dank für diesen hervor-
BRIEFE ragenden Artikel, mit viel Empa-
thie geschrieben von Christian
Esch und Fedir Petrov. »Wir
müssen lernen, auch zu Kriegs-
zeiten glücklich zu sein«, sagt
der Rechtsanwalt Masi Najem.
Noch eine Anmerkung: Das Land
und diese ist weiter unerlässlich, tert, vergewaltigt, vertrieben, Israel lebt schon seit Jahrzehnten
kann sie nicht das letzte Wort traumatisiert werden? Wie sollen mit diesem Satz. Trotzdem finde
des Westens sein. Entweder wird die russischen Allmachtsfantasien ich es verwunderlich, dass auf
Putin irgendwie aus seinem Amt gegenüber der Ukraine begrenzt unseren Straßen Tausende von
entfernt, oder maßgebliche Poli- werden? Etwa mit weiteren (nicht Hamas-Freunden demonstrieren
tiker müssen mit dem Kriegs- ausreichenden) Waffenlieferun- und Politiker fordern, Israel solle
verbrecher in Verhandlungen gen an die Ukraine? Kaum zu er- sich mäßigen und die Zivilbevöl-
eintreten. Im Interesse der Men- warten. Eine Beendigung des kerung schonen. Gegen Russland
schen in der Ukraine sollte dahin- Krieges durch Aufgabe ist offen- demonstriert niemand auf der
gehend nichts unversucht gelas- sichtlich für die ukrainische Straße.
sen werden. Staatsführung keine Option. Das Uwe Seifert, Oststeinbek (Schl.-Holst.)
Andreas Meißner, Tutzing (Bayern) schwer erträgliche Leben unter
einer Diktatur wie in Belarus,
Wer würde der unter der russi- Russland oder China ist für sie Mir tut die Ampel
schen Invasion leidenden ukrai- nicht hinnehmbar. Aber was er-
nischen Bevölkerung nicht einen wartet die Ukrainer und Ukra- leid
schnellen und gerechten Frieden inerinnen, wenn der Aggressor Nr. 48/2023 Hausbesuch bei
wünschen? Aber es herrscht ein seine Ziele doch erreicht? Gna- Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble
Schnellstmöglich Stellungskrieg mit vielen Verletz- denvolles Verhalten? Krieg ist die
ten und Toten und großen Zer- schlechteste aller Lösungen. Eine Lobhudelei für den Mann,
Frieden störungen, obwohl fast 240 Mil- Udo H. Bauer, Wedel (Schl.-Holst.) der mit seinem Schuldenfetisch
Nr. 49/2023 Titel: Der endlose Krieg liarden Euro geflossen sind und einer der Hauptverantwortlichen
zunehmend schwerere Waffen Das Mantra vieler Spitzenpoliti- für den aufgetürmten Investi-
Eine großartige analytische Re- geliefert wurden. Das kann offen- ker mit Varianten des Refrains tionsstau ist. Mit rechtzeitigen
portage über den Zustand der sichtlich nicht die Lösung des »Die Ukraine muss den Krieg ge- Investitionen wären Schulen,
ukrainischen Gesellschaft vor militärischen Konflikts sein. winnen« klingt hohl angesichts Verkehr und Digitalisierung heu-
dem zweiten Kriegswinter. Es ist Wolodymyr Selenskyj wird auf ihrer Praxis des »Zu wenig, zu te auf dem notwendigen Level.
bemerkenswert, dass Christian absehbare Zeit nicht die Rück- spät«. Dass Appeasement-Politik Zu seiner Zeit hatten wir noch
Esch darin die One-Man-Show eroberung aller besetzten Gebie- bei Diktatoren des Typs Putin Geld, keine Zinsen, und die Ba-
von Wolodymyr Selenskyj the- te einschließlich der Krim ver- nicht wirkt, sollte uns die Ge- byboomer-Generation war am
matisiert. Nach Vitali Klitschko künden können. Sogenannte Mi- schichte gelehrt haben. Aber die Arbeitsplatz noch komplett.
widerspricht nun aktuell der litärexperten in unseren Medien geopolitische Bedeutung des Andreas Kündiger, Luckenwalde
oberste Militär, Viersternegeneral kommen nicht umhin, ihre vor- Krieges scheinen viele immer (Brandenb.)
Valery Saluschnyi, dem Schön- schnellen Prognosen vom nahen noch nicht begriffen zu haben.
reden des Präsidenten. Gratula- Sieg des ukrainischen Militärs zu Der »Westen« wird eine drohen- Was hat denn die Politik der
tion zu dieser Titelgeschichte zu korrigieren, und auch in der de Niederlage der Ukraine schwarzen Null letztlich Deutsch-
einem Zeitpunkt, an dem das Lei- Ukraine befürchten nun viele dereinst sich zurechnen lassen land gebracht? Anstatt moderat
den der Zivilbevölkerung im Is- einen endlosen Krieg. Es ist jetzt müssen, weil erst sein unverant- in Infrastruktur, Bildung, Digita-
raelkrieg das der ukrainischen an der Zeit, alle Planspiele schleu- wortliches Zögern Russland er- lisierung usw. zu investieren, wur-
Menschen und den russischen nigst zu beenden, um den Men- möglicht hat, die Front zu befes- de Deutschland ins Abseits ge-
Angriffskrieg in der medialen schen und der Umwelt in der tigen und das gegenwärtige Patt spart. Stolz muss man darauf
Wahrnehmung verdrängt. Ukraine durch einen international herbeizuführen. Jetzt steigen die wahrhaftig nicht sein! Mir tut die
Hartmut Scherzer, Heusenstamm (Hessen) kontrollierten Waffenstillstand Kosten, und die Solidarität sinkt. Ampelregierung aufrichtig leid,
eine schnelle und wirkungsvolle Die Ukraine »langsam verbluten denn sie hat es auszubaden. Die
Anstatt in Ihrer Titelstory »Mut Erleichterung zu verschaffen. zu lassen« (Navid Kermani) anstehenden Aufgaben sind viel
und Verzweiflung« in diesem Brigitte Schellnhuber, Ingolstadt könnte uns später viel teurer zu zu gewaltig, um sich weiter an der
Krieg zu suggerieren, hätten Sie stehen kommen als eine wirk- Schuldenbremse festzuklam-
eher an den »Mut der Verzweif- Was kann diesen schrecklichen same Unterstützung jetzt. mern. Zeitenwende und Doppel-
lung« der beteiligten Kriegsher- Krieg schnellstmöglich beenden? Dr. Dr. Ernest Hess-Lüttich, Berlin Wumms, ja, dann legt endlich mal
ren appellieren sollen, mit dem Die russische Staatsführung mit
sie ihn sofort beenden könnten! ihrer brutalen, menschenverach-
Reinhard Metzger-Haitz, Reutlingen tenden, gnadenlosen, verbreche- Aus der SPIEGEL-Redaktion
(Bad.-Württ.) rischen Kriegsführung will die Wie können wir alte Ängste überwinden? Wie
schaffen wir es, unsere Lebensträume zu verwirkli-
Erreichung ihrer Ziele erzwingen. chen? Und wie werden wir im Alltag resilienter?
Jetzt, nach fast zwei Jahren Krieg, Was haben die tapferen Ukrainer »Ich überwinde meine Angst« enthält drei leicht
ist es an der Zeit, darüber nach- und Ukrainerinnen und ihre west- umzusetzende Coachings, die mit Expert:innen aus
zudenken, wie schnellstmöglich lichen Unterstützer dem tatsäch- Psychologie und Beratung entwickelt wurden. Dazu
Selbsttests, nützliche Techniken und viele prakti-
Frieden herbeigeführt werden lich entgegenzusetzen und mit sche Übungen und Tricks für den Weg in ein selbst-
kann. So wichtig die Unterstüt- welchen Zielen? Wie viele Men- bestimmtes Leben. Das SPIEGEL-Buch erscheint
zung der Ukraine mit Waffen ist, schen sollen noch sterben, gefol- am 13. Dezember, hat 224 Seiten und kostet 12 Euro.

128 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


Eine weitere Unter- Herzlichen Dank für Es war ein Gewinn Für die Leser
stützung der Ukraine diesen gelungenen und eine Freude, den Nr. 48/2023 Tove Ditlevsen wurde erst
nach ihrem Tod international erfolgreich –
ist auch für unsere Artikel, der mich sehr Beitrag über die zwei auf den Spuren der Autorin in Kopenhagen

Sicherheit unabding- berührt und mir Leben der verlorenen Xaver von Cranach kann schrei-
bar. Und etwas mehr wieder Hoffnung gibt, Schriftstellerin Tove ben – nicht eitel fürs eigene Re-
Respekt in Deutsch- dass wir in diesem Ditlevsen zu lesen – nommee, sondern für die Leser.
Land doch noch mal nach all dem Geplau- Das ist Arbeit und Können. Er
land vor deren Durch- strukturiert, stellt beim nicht ein-
haltevermögen und die Kurve kriegen. der und allgemeinen fachen Thema den Zusammen-
mehr Anteilnahme an Bitte mehr davon, Geplätscher im Kul- hang her und informiert auch den,
den Leiden der Bevöl- weil es genau das ist, turteil der letzten der noch nie von Tove Ditlevsen
gehört hat, ganz wunderbar.
kerung würden auch was wir alle dringend Wochen und Monate. Norbert Kotny, Reinbek (Schl.-Holst.)
nicht schaden. brauchen: Hoffnung Vielen Dank, Xaver
Hans Rentz, Waging am See und Zuversicht! von Cranach.
(Bayern) Anja Korb, Frankfurt am Main Lothar Reese, Koblenz Graue und helle
Nr. 48/2023 Tove Ditlevsen Schattierungen
wurde erst nach ihrem Tod
Nr. 48/2023 Der SPD-Abgeord- international erfolgreich – Nr. 49/2023 Henry Kissinger – der
Nr. 49/2023 Titel: Der endlose nete Karamba Diaby auf den Spuren der Autorin in verehrte und gehasste Weltdiplomat
Krieg kämpft in Halle gegen den Hass Kopenhagen
In dem sehr lesenswerten Beitrag
fehlt aber ein historischer Bezug
los, und zwar über das Parteien- fatalen Folgen für die Gesellschaft ist, einmal wieder ins Zentrum zum Vietnamkrieg und die Be-
Hickhack hinweg! hat Alice Miller bereits 1983 in der Betrachtung. Da wäre es bei- endigung durch die diplomati-
Bärbel Wölffer, Bad Tennstedt (Thür.) ihrem Buch »Am Anfang war Er- spielsweise wichtig zu erörtern, sche Meisterleistung von Henry
ziehung« hinreichend belegt. Die inwieweit diese beiden Prinzipien Kissinger. Der Vietnamkrieg und
Die schwarze Null ist nicht das darin erwähnte schwarze Päda- für Männer und Frauen gesell- Berichte über die Pendeldiplo-
Verdienst der ehemaligen Finanz- gogik ist dabei das traurige Ergeb- schaftlich und juristisch gegebe- matie von Kissinger waren für
minister Schäuble oder Scholz, nis der Kollusion von Religion nenfalls unterschiedlich ausgelegt mich als 12-Jährigen die ersten
sondern vielmehr das der inter- und Politik. Trotz etlicher gesetz- werden. Stichworte wären da Erfahrungen mit Politik und
nationalen Notenbanken. Die licher Verbesserungen – kosme- zum Beispiel die hormonellen Ein- Krieg, die ich in einer überregio-
Niedrig- bis Nullzinspolitik der tischen Maßnahmen – zieht sich griffe auf den weiblichen Zyklus nalen deutschen Tageszeitung
letzten 30 – und insbesondere der dieser unheilvolle Einfluss bis zum Ziel der Verhütung, die verfolgt habe.
letzten 15 – Jahre hat die öffent- heute durch, denn das grundsätz- gesellschaftlich geduldete sexuelle Dr. Heinrich Kunze, Kassel
lichen Haushalte durch gesunke- liche Problem wurde nicht an- Ausbeutung von Frauen in
ne Zinszahlungsverpflichtungen gepackt. Was wird dagegen der Prostitution, die fortbestehen- Sie beschreiben diesen außerge-
massiv entlastet. unternommen, damit der perni- de Verfügung über den weiblichen wöhnlichen Menschen in all sei-
Dieter Longerich, Solingen (NRW) ziöse Einfluss der Religion im Körper mithilfe von Paragraf 218 nen grauen und hellen Schattie-
Alltag abgebaut wird? Es sowie – und mitnichten zuletzt – rungen. Henry Kissinger war eine
ist dringend Zeit für eine neue die verschwindend geringe historische Persönlichkeit, ein
Zeit für eine neue Aufklärung, vor allem vor dem Aufklärungsrate sowie der straf- Staatsmann mit Ecken und Kan-
Hintergrund des Nahostkon- mildernd wirkende juristische ten – nicht unumstritten als
Aufklärung flikts, wo die Religion eine zen- Schachzug der vermeintlich Machtpolitiker. Er hat mich im-
Nr. 48/2023 Partnerschaftliche Gewalt – trale Rolle spielt. schuldmindernden Umstände bei mer fasziniert, da er seine fränki-
wie man Frauen besser schützen könnte Gérard Léon Hess, Bad Kohlgrub (Bayern) Vergewaltigungsdelikten. sche Heimat nie vergessen hat
Anna E. Jordan, Bad Honnef (NRW) und trotz seiner Odyssee im
Im Vorspann wecken Sie große Wieder einmal wird in einem Ar- »Dritten Reich« als Fürther Jude
Hoffnungen: »Wie ließe sich tikel zur Gewalt in (Ex-)Partner- Als Leiter einer polizeilichen Ko- Deutschland nach dem Krieg im-
das verhindern?« Leider endet schaften die Gewalterfahrung des ordinierungsstelle gegen häusli- mer wohlgesinnt blieb. Schade,
aber der Beitrag ohne konkrete Täters als Hauptursache für des- che Gewalt kann ich nur unter- dass Sie nicht auf die über 60-jäh-
Lösungswege. Die Hauptursache sen Gewaltexzesse benannt. Als streichen, dass die Liste der not- rige Freundschaft mit Helmut
haben Sie genannt: die hierarchi- ob Frauen keine Gewalterfahrun- wendigen Verbesserungen lang Schmidt eingehen. Beide sind für
sche Geschlechterordnung der gen hätten! Und doch liegt so- ist. Die Unterstützung der Opfer mich das Sinnbild hochgebildeter
christlichen Religion. Sie wurde wohl die Anzahl der Delikte als in der Akutphase, eine leichtere politischer Strategen. Kissinger
vor 2000 Jahren in Stein gra- auch die Art und Brutalität dabei Durchsetzung und klare Konse- hatte das Privileg, eine Trauer-
viert, sie wurde ein Gesetz, das in keinem Verhältnis zu den von quenzen bei Verstößen gegen rede beim Staatsakt des Altkanz-
sich bis heute durchzieht, wie Männern verübten Verbrechen. eine Gewaltschutzanordnung, lers zu halten.
der Soziologe Markus Theunert Ja, es ist ein brisantes Thema, verpflichtende Tätertrainings so- Klaus Wiegers, Marsberg (NRW)
es ausdrückt. Diese Tatsache ist unser Primatenhirn. Es wirft Fra- wie eine deutliche Erhöhung der
aber nicht erst seit gestern be- gen nach dem Maß der Verant- Plätze in den Frauenhäusern sind
kannt. Zum Schluss führen wortung und der Straffähigkeit nur die wichtigsten Schritte. Die
Sie an, dass alle Täter in ihrer auf. Und es rückt Begriffe wie die Istanbul-Konvention ist zwar ra-
Kindheit oder Jugend Gewalt er- der körperlichen Unversehrtheit tifiziert, aber noch lange nicht Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
fahren haben. Die Gewaltanwen- und der Menschenwürde, deren umgesetzt. gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
dung im Kindesalter und ihre Inhalt allenfalls diffus zu nennen Armin Bohnert, Freiburg unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 50 / 9.12.2023 DER SPIEGEL 129


L E TZ T E S E I T E

Gottvater von der Wolke holen HOHLSPIEGEL

Aus den »Westfälischen Nachrichten«:


ZEITREISE Zum 60. Geburtstag widmete der SPIEGEL Bundeskanzer
Willy Brandt im Dezember 1973 einen Titel. Ein nettes Präsent war das
aber nicht. Eher schon ein Abgesang.
Nr. 50/1973 »Das Monument
bröckelt«

Der eben noch »strahlen-


de Wahlsieger« und Meis-
ter der Ostpolitik Willy
Brandt musste erleben,
wie Parteifreunde syste-

Sven Simon / IMAGO


matisch seine Autorität
unterhöhlten. Fraktionschef Herbert Weh-
ner hatte im Oktober 1973 die Jagdsaison Der »Eichstätter Kurier« über eine Fackelwanderung für
SPD-Politiker Brandt, Schmidt junge Sportler:
auf den Bundeskanzler eröffnet: Er hatte
den Nobelpreisträger als »entrückt« und »Im Anschluss an die Wanderung ist mit
»abgeschlafft« beleidigt. Seitdem schossen schichtliche Leistung«, die Aussöhnung mit Glühwein, Punsch und Bratwurstsemmeln
die Genossen ungehemmt gegen ihren dem Osten, schien vollendet. für das weibliche Wohl gesorgt.«
Frontmann. »Im Grunde« sei man doch Schlimmer als die Kritik dürfte ihn der
kaum mehr als »eine etwas bessere CDU- Spott der »Parteifreunde« getroffen haben.
Aus dem »Pfälzischen Merkur«:
Regierung«, lästerte Finanzminister Hel- Brandt habe sich an die Rolle des »Gottva-
mut Schmidt gegenüber dem SPIEGEL . ters auf der Wolke« gewöhnt, so »Altsozia-
Die Parteilinke nahm ihm vor allem übel, list« Harry Ristock. Und er habe »ja vor kur-
dass er in ihren Herzensangelegenheiten – zem noch nicht gewusst, ob hundert oder
Mitbestimmung, Bodenrecht, Vermögens- tausend Millionen ’ne Milliarde machen«,
bildung – der FDP das Feld überlassen mokierte sich Schmidt. Doch noch wagte
hatte. Gemessen an dem »liberal-sozialisti- »Marshall Vorwärts«, so der SPIEGEL über
sches Fantasia« des Wahlkampfs war das Schmidt, den Königssturz nicht, obgleich er
zu wenig. sich für den »besseren Kanzler« hielt.
Brandt meinte offenbar, sich nach vier Der Kanzler selbst schien resigniert: Da Aus den »Nürnberger Nachrichten«:
Jahren Kanzlerschaft erst einmal ausruhen müsse »man sich überlegen, wie lange man »Lemkes Vorschlag sieht vor, dass 21 Tage
zu dürfen, so der SPIEGEL – seine »ge- noch zur Verfügung steht«. Rainer Lübbert lang auf einen Wolf geschossen werden
darf, der sich im Umkreis von 100 Metern
von der Rissstelle befindet.«
in dienstlicher oder privater Eigenschaft öf-
Null Toleranz fentlich für das Gendern ausspricht, wird
aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Auch Aus dem Anzeigenblatt »Wochenspiegel«:
Behördenbesuchende und Schülerschaft
SO GESEHEN Wie Söder den Bayern
müssen sich das Gendern künftig verknei-
das Gendern austreiben möchte fen: »Gegenderte Eingaben und Anträge
bzw. Hausaufgaben und Referate gelten
Nach der Ankündigung des bayerischen als gegenstandslos. Eine Bearbeitung findet
Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), nicht statt, gegenderte Leistungsnachweise
das Gendern in Schulen und Behörden des werden regelmäßig als ›ungenügend‹ be-
Freistaats untersagen zu wollen, stehen nun wertet.«
erste Details zur Umsetzung der neuen Bei der Umsetzung ihres Genderverbots
Sprachregelung fest. setzt die Staatsregierung auf die Mithilfe Forscher im »Deutschen Ärzteblatt« über eine Studie:
Laut Gesetzentwurf drohen Staatsbe- der Bevölkerung. Sie wird aufgerufen, »Schmerzen waren das häufigste unerfüllte
diensteten etwa »bei Verwendung des Glot- »genderrelevante Vorfälle« an Schulen und Bedürfnis in der Kohorte.«
tisschlags, also einer unnatürlichen, den Behörden umgehend zu melden. Zur Klä-
Sprachfluss störenden Unterbrechung der rung von Zweifelsfällen kommen Aufnah-
Wortaussprache zum Zwecke der Inklusion megeräte in allen Amtsstuben und Klassen- Aus dem »Luxemburger Tageblatt«:
mehrerer Geschlechter (sog. Gendern)« zimmern zum Einsatz, deren Aufzeichnun-
empfindliche Strafen. Wer einmal gen im mutmaßlichen Genderfall ausgewer-
gendert, erhält eine Rüge, tet werden. Diese Infrastruktur soll bald
mehrfaches Gendern wird auch die KI-gestützte Gendererkennung in
mit einer Zurückstufung Echtzeit ermöglichen. Die Überwachung
sanktioniert. Wer andere des Genderverbots untersteht dem Innen-
Die »Hannoversche Allgemeine Zeitung« über eine neue
zum Gendern auf- ministerium, erfolgt aber dezentral: Jede Strecke der Stadtbahn:
fordert, das Gen- Kommune bekommt eine »Dienststelle zur
dern in seinem Unterbindung des Genderns in staatlichen »Verwundete Gesichter gab es bereits am
Verantwortungsbe- Institutionen des Freistaats Bayern«, auch Donnerstagvormittag, als ein Spezialwagen
reich zulässt oder sich bekannt als: Sprachpolizei. Stefan Kuzmany bis Hemmingen fuhr.«

130 DER SPIEGEL Nr. 50 / 9.12.2023


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