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Dänemark dkr 74,95 Frankreich € 7,70 Italien € 8,20 Norwegen NOK 125,– Portugal (cont) € 7,50 Slowakei € 7,70 Spanien € 7,70 Tschechien Kč 229,– Printed in Germany

PLEITEWELLE

nicht fertig wird


Wenn das Eigenheim
Auto?
JUGEND

Ja, bitte!
NIKKI HALEY

AfD verbieten?
schlagen will
Die Frau, die Trump

Wie sich die Demokratie gegen Verfassungsfeinde wehren kann


Nr. 46 | 11.11.2023
DEUTSCHLAND € 6,40
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HAUSMITTEILUNG

Titel  | Seite 8

Seit 2013 existiert die »Alternative für Deutschland«

Stefan Boness / Ipon / DER SPIEGEL


(AfD), über die Jahre wurde sie immer radikaler – und
beliebter. Heute sind die extrem Rechten laut Um­fragen
stärkste Kraft in fast allen ostdeutschen Bundes­ländern.
Bundesweit will jeder Fünfte seine Stimme der AfD ge-
ben. Wie kann, wie muss die wehrhafte Demokratie mit
einer Partei umgehen, deren Politiker die Demokratie
angreifen? Wie lässt sich die Gefahr eindämmen? Ein
neunköpfiges SPIEGEL -Team ging dieser Frage nach.
Maria Fiedler (M.) diskutierte mit Wissenschaftlern, was eine Regierungsbeteiligung der AfD bedeu-
ten würde. Titelautor Martin Knobbe besuchte ein Treffen von AfD-Politikern und rechts­extremen
Aktivisten der »Identitären Bewegung«. Ann-Katrin Müller, die seit Jahren die AfD b ­ eobachtet,
­berichtet von Demos mit Björn Höcke, dem rechtsextremen Fraktionsvorsitzenden in Thüringen.
»Höcke gibt in der Partei den Takt vor, und er steht für eine faschistische AfD«, sagt Müller.

Palästinenser  | Seite 78

Der aktuelle Krieg im Nahen Osten sei »beispiellos in


120 Jahren des Konflikts zwischen Juden und Palästinen-
sern«, sagt der Politikwissenschaftler Khalil Shikali, der
selbst Palästinenser ist. Die Opferzahl übersteige schon
jetzt die aller direkten Auseinander­setzungen zuvor.
SPIEGEL -Autor Bernhard Zand, früher Nahostkorres-
DER SPIEGEL

pondent, erzählt den Konflikt aus palästinensischer


Sicht. In Jordanien und im Westjordanland sprach er mit
alten, jungen, frommen und säkularen Menschen. Er
­hörte »Verbitterung darüber, dass ihrer Wahrnehmung nach für viele Europäer das Leid der­
einen Seite schwerer wiegt als das der anderen« – und sie wenig über die Folgen europäischer
­Ko­lonialgeschichte für die Palästinenser wüssten. »An diesen Vorwürfen ist etwas dran«,
so Zand.

Augstein 100
Der Jubilar konnte an dieser Geburtstagsfeier leider
nicht mehr teilnehmen. Am 5. November wäre Rudolf
Isabela Pacini / DER SPIEGEL

Augstein 100 Jahre alt geworden. Rund 350 Gäste aus


Politik und Medien folgten der Einladung der SPIEGEL -
Chefredaktion und der Rudolf Augstein Stiftung vergan-
gene Woche ins Atrium des SPIEGEL -Verlags an der
Hamburger Ericusspitze. »Wir sind stolz, dass wir diesen
Gründer haben«, sagte SPIEGEL -Chefredakteur Dirk
Kurbjuweit. 40 Abonnentinnen und Abonnenten ließen
sich, begrüßt von den Vize-Chefredakteuren Melanie Amann und Thorsten Dörting, die Arbeits-
prozesse in der Redaktion von Digital-Chefin vom Dienst P­ atricia Dreyer und Mirjam Schlossarek
aus der SPIEGEL -Dokumentation erklären. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte
Augsteins Verdienste um die Pressefreiheit und mahnte die Redaktion, ihrer Verantwortung auch
unter dem Zeitdruck des täglichen Nachrichtenstroms nachzukommen. Der »Traum von einer de-
liberativen Demokratie«, in der Argumente betrachtet, diskutiert und Entscheidungen voraus-
schauend getroffen werden, dürfe nicht scheitern.

»Dein SPIEGEL«
Der Krieg in Gaza ist schwer begreifbar, für Kinder und auch für Eltern. Das Kinder-
Nachrichten-Magazin »Dein SPIEGEL « bietet in der aktuellen Ausgabe einen
Schwerpunkt zum Thema – die wichtigsten Fragen und Antworten zum Konflikt
im Nahen Osten. Außerdem: Geschenke für die Liebsten – Schönes rund um
Weihnachten zum Selbermachen. Und: Wie Superstar Taylor Swift Städte reich
macht, wenn sie dort ein Konzert gibt. »Dein SPIEGEL « erscheint am Dienstag.

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

8 | Parteien Was spricht für ein


AfD-Verbot, was dagegen?
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 46 | 11.11.2023
14 | Narrative AfD und NPD
sind sich in Sprache und
Strategie verblüffend ähnlich

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Der Fall Benko


zeigt die Gefahr von staatlichen
Subventionen

20 | Prorussische Hacker
greifen Website der Deutschen
Bahn an / BND-Mann
darf trotz Entgleisungen im
Dienst bleiben / Zu
wenig Ganz­tagesplätze für

Rafael Heygster & Volker Crone / DER SPIEGEL


­Grund­schul­kinder /
Die Gegendarstellung

24 | Ukrainekrieg Die mili­


tärische Unterstützung droht zu
verkümmern

28 | Diplomatie Der heikle


Deutschlandbesuch
des türkischen Präsidenten

30 | Gesundheitspolitik

Ganz rechts außen Minister Karl Lauterbach


über den Kampf gegen
Krebs mithilfe künstlicher
­Intelligenz
TITEL Die AfD wird unter ihren Chefs Alice Weidel und Tino Chrupalla populärer.
Zugleich warnt der Verfassungsschutz: Der Anteil der Extremisten in der 32 | FDP Die Basis sammelt
Unterschriften gegen die Ampel
Partei nimmt zu. Nach den Landtagswahlen im Osten nächstes Jahr könnte die
Partei dort die Parlamente lahmlegen. Hilft jetzt nur noch ein Verbot? | 8, 14 34 | Bildung Wie viel arbeiten
Lehrer wirklich?

38 | Familie Rekonstruktion
eines eskalierten Sorge­
rechtsstreits – der Entführer vom
Hamburger Flughafen

40 | Mobilität Die Lust junger


Menschen aufs Auto

42 | Psychologie Wie sich


­gefährliche Mythen über
rituelle Gewalt in Fachkreisen
Francis Chung / POLITICO / AP

Mafalda Rakoš / DER SPIEGEL

Andrea Ar tz / DER SPIEGEL

verbreiten konnten

46 | Gedächtnis Demenz­
kranken kann mit Musik geholfen
werden

Nikki Haley Erika Freeman Meron Mendel DEBAT TE


Die Republikanerin will Donald Die Psychoanalytikerin über ihr Der Wissenschaftler fragt,
Trumps Comeback verhindern Lebensrezept: »Sorgen machen wo die Empathie der Deutschen 48 | Israel Deutschland,
und Präsidentin werden. | 86 dumm.« | 110 für Israel bleibt. | 48 wo bleibt dein Mitgefühl?

4 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
REPORTER SPORT

52 | Familienalbum / Warum 91 | Champions-League-


können wir keinen Winterschlaf? Vereine / Hall of Fame: Laura
Siegemund, Tennisspielerin
53 | Eine Meldung und ihre
­Geschichte Wie ein Seenot­ 92 | Bergsteigen Warum
retter zum Meerjungmann wurde ­Alpinisten die Gipfel von
­Achttausendern nicht finden
54 | Revolution Die turbulente
Geschichte des Berliner 94 | Zeitgeschichte Das Deut­

Mohammed Abed / AFP


Freiheits- und Einheitsdenkmals, sche Turnfest 1923 in München
das in einer ostwest­fälischen
­Montagehalle lagert
WISSEN
60 | Kolumne Alles Gutsch
96 | Ein grüner Affe / Das Trauma der Palästinenser
Analyse: Saubere Schiffsdiesel
Sie leben über zahlreiche Länder verteilt und haben nach 75 Jahren
WIRTSCHAF T haben auch Nachteile
immer noch keinen eigenen Staat. Warum die ­Palästinenser sich als
Opfer des Nahostkonflikts sehen. | 78
62 | Wo Wasserstoff gute Chan­ 98 | Naturschutz Können
cen hat / Teure Studienkredite Waldbrände mit Feuer verhindert
werden?
64 | Immobilien Gefährliche
Pleiten am Bau 101 | Arthrose Ein neues Ver­
fahren gegen Knieleiden
68 | Globalisierung Die
­Lithium-Glücksritter 102 | Technologie Gigantische
Wärmepumpen sollen Deutsch­
70 | Karrieren Mohn-Enkel land heizen
Carsten Coesfeld
steigt bei Bertelsmann auf 104 | Umwelt Gefährliche
­Verschmutzungen
72 | Baulöwen Richard durch Anti­biotikaproduktion

Uwe Anspach / dpa


­»Mörtel« Lugner im SPIEGEL -­
Gespräch über Promistatus 106 | Energie Medizinerin
und Familienprobleme Saundra Dalton-Smith erklärt die
sieben Ebenen der Erholung
75 | Spielzeug Frauen kaufen
Sextoys, Männer eher nicht Heizungswärme aus dem Fluss
KULTUR
Großwärmepumpen können Tausende Haushalte mit
klimaneutraler Heizenergie versorgen. Wie Forscher die Geräte
AUSLAND 108 | Die Serie »Deutsches
zur Marktreife bringen möchten. | 102
Haus« / Neue Musik von Culk
76 | Polens National­
konservative verzögern den 110 | Karrieren Erika Freeman,
­Machtwechsel / Wie die Psychoanalytikerin vieler
Queen die Dudelsackschule der ­Hollywoodstars, lebt jetzt in
British Army gerettet hat einem Nobelhotel in Wien

78 | Nahost Die leidvolle 114 | Humor Wir haben mit dem


­Geschichte der Palästinenser Comedian Aurel Mertz den
­Loriot-Film »Ödipussi« geschaut
84 | Analyse Optionen für
die Zeit nach dem Krieg gegen 118 | Kunst Der ­britische Video­
Jackson Groves / journeyera.com

die Hamas künstler John Akomfrah

86 | USA Der Aufstieg der 120 | Geschichte SPIEGEL -


­Republikanerin Nikki Haley im Gespräch mit dem
Vorwahlkampf Historiker ­Raphael Gross über
Formen der Gewalt
88 | Essay Warum eine
­ PIEGEL -Reporterin ihren
S 123 | Buchkritik Paul Austers
­russischen Nachnamen ablegt Roman »Baumgartner« Schon oben?
SPIEGEL-TV-Programm | 100 Bestseller | 116 Nicht alles, was nach Gipfel aussieht, ist auch einer: Hunderte
Impressum, Leserservice | 124
90 | Ortstermin Besuch in der Nachrufe | 125 Personalien | 126
­Besteiger von Achttausendern waren gar nicht am höchsten Punkt.
Mussolini-Villa Briefe | 128 Letzte Seite | 130 Nun tobt eine Debatte unter Alpinisten. | 92

Titel-Illustration: DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 5


Von unserem Geld
LEITARTIKEL Viel zu lange hat der Staat den umstrittenen Unternehmer René Benko unterstützt.
Der Fall ist ein abschreckendes Beispiel für den Umgang mit Subventionen.

der Kaufhäuser. Darunter jede Menge Bekleidung, Sai-


sonware also, die schnell kaum verkäuflich ist. Altmaiers
Sicherheiten waren in Wahrheit Grabbelware.
Seine wertvollen Immobilien dagegen schützte Benko
vor dem Zugriff des Staats. Er verstaute sie in einer sepa-
raten Sparte seines Firmenimperiums. Die Politik nahm
das hin. Den normalen Investoren in sein Immobilienreich
überwies Benko viele Millionen Euro Dividenden. Von der
Regierung hingegen ließ er sich Geld zuschießen, um die
Warenhäuser am Leben zu erhalten. Profite für Privat­leute
und Unternehmen, Verluste für die Allgemeinheit.
Die intransparente Struktur von Benkos Konglomerat
hat sich das Wirtschaftsministerium offenbar nie genauer
angesehen. Es prüfte nur das Warenhausgeschäft, dem
Gläubiger schon zuvor Kredite erlassen hatten.
Warum vergab die Regierung Steuergelder an einen
Unternehmer, der kaum Transparenz zuließ?
Daniel Biskup / laif

Es wäre möglich gewesen, Benkos wolkige Verspre-


chungen zu durchschauen. Seine Behauptung, allein die
Coronapandemie habe den Handelskonzern in Schwierig-
keiten gebracht, war erkennbar falsch. Die Kaufhaus­kette

D
Aufkleber er Logistikmilliardär Klaus-Michael Kühne, Auto- Karstadt schrieb schon vor Corona Verluste, trotz jahre-
gegen Signa-Gründer unternehmer Robert Peugeot und die Bundes­ langer Sanierungsversuche. Die Hilfe für Galeria war eine
Benko regierung haben eins gemein: Sie haben in den politische Entscheidung, die sich nun rächt.
Immobilien-und-Kaufhaus-Konzern Signa des österrei- Der Druck kam vor allem aus den betroffenen Städten.
chischen Unternehmers René Benko investiert, offenbar Bürgermeister beknieten die Regierung, ihre angeblichen
ohne sich dessen Geschäfte genau genug anzusehen. Jetzt »Publikumsmagneten« zu retten. Warenhäuser, hieß es im
droht ihnen der Verlust von Hunderten Millionen Euro. Wirtschaftsministerium, seien für viele Innenstädte die
Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied. Die Ver- letzte Rettung. Zur gleichen Zeit gingen andere Händler,
mögenden haben ihr eigenes Geld aufs Spiel gesetzt. Ren- die auch unter der Pandemie litten, leer aus und rutschten
dite gegen Risiko, das ist ihr gutes Recht. Die aktuelle in die Pleite, ohne dass es die Politik gekümmert hätte.
Bundesregierung und ihre Vorgängerin jedoch haben das Es kann sinnvoll sein, dass der Staat notleidenden
Geld von Millionen Steuerzahlern ausgegeben. Unser Unternehmen Geld gibt. Wenn sie für die Wirtschafts-
Geld. Wir stehen jetzt dumm da. strategie zentral sind. Wäre der Gaskonzern Uniper, dem
Der Fall des Konzerns Signa und seines umstrittenen der Staat half, in die Knie gegangen, hätte es auch Stadt-
Gründers ist ein Beispiel dafür, wie allzu leichtfertig der werke hart getroffen. Mittlerweile schreibt die Firma sat-
Staat Subventionen zahlt, wenn der politische Druck groß te Gewinne, der Staat profitiert.
ist. Dass Benkos Geschäftsmodell im Handel riskant war, Aber Warenhäuser? Die deutsche Wirtschaft steht und
hätte man in Berlin ahnen können – wenn man denn fällt nicht mit ihnen. Die meisten ähneln eher einem Fos-
genau hingeschaut hätte. sil. Galerias Marktanteil im deutschen Handel lag zuletzt
Fast 700 Millionen Euro an Steuergeldern hat der Kon- bei gerade 0,5 Prozent. Es ist nicht zu erkennen, welchen
zern während zweier Insolvenzen innerhalb von zwei- strategischen Nutzen solche Subventionen für Deutsch-
einhalb Jahren erhalten. Die Staatshilfe ist vermutlich land haben sollten. Zumal, wie sich nun zeigt, auch das
verloren, wie man im Wirtschaftsministerium von Robert Staatsgeld keine große Überlebensperspektive garantiert.
Habeck (Grüne) eingesteht. Kaum jemand rechnet damit, Stattdessen wurde vor allem der Wert von Benkos Im-
dass der drastisch geschrumpfte Galeria-Konzern sie je mobilien gestützt.
zurückzahlen wird. Es bräuchte Milliardeninvestitionen Damit sich so etwas nicht wiederholt, muss die Regie-
von Signa, um das Unternehmen flottzubekommen. Doch rung aus der Signa-Krise Lehren ziehen. Es ist unsinnig,
Es wäre möglich dort ist offensichtlich nichts mehr zu holen. Steuergeld in veraltete Geschäftsmodelle zu stecken. Falls
Als Habecks Amtsvorgänger Peter Altmaier (CDU) in der Staat Firmen hilft, müssen sie strategisch bedeutsam
gewesen, die der vergangenen Legislaturperiode Staatshilfe an Signas sein. Und braucht es für Hilfen klare Kriterien. Die auch
wolkigen Ver- Galeria vergab, berief man sich auf »umfangreiche Sicher- eingehalten werden. All das ist bei Signa nicht geschehen.
heiten«. Dabei hatte sich das Ministerium bloß den Zugriff Sollte es künftig anders laufen, hätte der Fall Benko etwas
sprechungen zu auf rund 180 Millionen Euro gesichert, etwa die von Gutes: als Musterbeispiel, wie man es nicht machen darf.
durch­schauen. ­Galeria gehaltenen Markenrechte und den Warenbestand Kristina Gnirke n

6 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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TITEL

DAS SCHÄRFSTE
SCHWERT
PARTEIEN Die AfD wird radikaler und erfolgreicher, im Osten ist sie in Umfragen stärkste Kraft.
Um zu verhindern, dass Rechtsextremisten künftig mitregieren,
werden Rufe nach einem Verbot laut. Hätte es Aussicht auf Erfolg?

Thüringen würde von einem Mann regiert, Ratio« sein, das schärfste Schwert der Demo-
dessen Auftreten an die dunkelsten Zeiten der kratie dürfe nur im Notfall zum Einsatz kom-

E
deutschen Geschichte erinnert. men. Zumal die Hürden hoch sind, die poli-
Es ist nur ein Szenario, aber kein Fantas- tischen Risiken groß.
ma. In einer Umfrage von Infratest dimap im »Ich bin kein Freund von einem Verbot
Auftrag des MDR vom Juli 2023 landete die der AfD«, sagte auch Bundeskanzler Olaf
AfD in Thüringen bei 34 Prozent Zustim- Scholz in einem Gespräch mit dem SPIEGEL ,
mung. Wäre heute Bundestagswahl, bekäme »ich bin überzeugt, die Bürgerinnen und Bür-
die Partei in dem Bundesland nach einer Pro- ger werden dafür Sorge tragen, dass die Be-
gnose von election.de sogar 37 Prozent der deutung dieser Partei wieder abnimmt.«
Es ist nur ein Szenario. Ein Blick in die Zu- Stimmen. Das düstere Szenario – es liegt nicht Doch für Menschen wie Wanderwitz ist ein
kunft, wie es in Deutschland einmal aussehen mehr weit von der Realität entfernt. Verbot der AfD der einzige noch mögliche
könnte. Der gesellschaftliche Kampf gegen die AfD Weg, um zu verhindern, dass acht Jahrzehnte
Im September 2024 wird ein neuer Landtag in den vergangenen Jahren ist misslungen, nach der Herrschaft der Nationalsozialisten
in Thüringen gewählt. Für die Grünen und die das muss man konstatieren. Obwohl die Par- eine in großen Teilen rechtsextreme und völ-
FDP sehen die Umfragen nicht gut aus. Es tei immer extremer und ungehemmter in kische Partei in Deutschland wieder mächtig
könnte sein, dass sie knapp an der Fünfpro- ihren Aussagen und ihrer Programmatik wur- wird. So mächtig womöglich, dass sie an Re-
zenthürde scheitern, sie wären dann nicht im de, erfreute sie sich zugleich wachsender Zu- gierungen in den Bundesländern beteiligt wer-
Parlament vertreten. Davon würde vor allem stimmung. In fast allen östlichen Bundeslän- den muss, vielleicht auch irgendwann im Bund.
eine Partei profitieren – die AfD. Angenom- dern ist sie in den Umfragen die stärkste Kraft, In der AfD jedenfalls träumt man schon davon.
men, die sonstigen Parteien erreichten einen auch im Westen wird sie mächtiger: Bei der Ein Veranstaltungssaal in Magdeburg, das
Stimmenanteil von 10 Prozent, dann brauch- Landtagswahl in Bayern legte sie um 4,4 Pro- rechtsextreme »Compact«-Magazin hat zu
te die AfD nur 40 Prozent der Stimmen, um zentpunkte auf 14,6 Prozent zu, trotz starker einer »Friedenskonferenz« eingeladen. Unter
die absolute Mehrheit zu erringen. Sie könn- rechtskonservativer Parteien wie der CSU einer Discokugel sitzen rund 300 Zuhörerin-
te dann in Thüringen allein regieren. So hat und der Freien Wähler. In Hessen steigerte nen und Zuhörer, an der Wand ein Bild mit
es der Informatiker Matthias Moehl für den sie sich um 5,3 Punkte auf 18,4 Prozent, bun- Johann Wolfgang von Goethes Spruch »Hier
SPIEGEL errechnet. Er betreibt in Hamburg desweit liegt sie in fast allen Umfragen bei bin ich Mensch, hier darf ich’ sein«. Am
die unabhängige Plattform election.de, die mehr als 20 Prozent. Bücher­stand wird man von einem älteren
auch auf Wahlprognosen spezialisiert ist. Gleichzeitig radikalisieren sich die AfD Herrn gefragt, wann man mit einem neuer-
Der AfD-Landesvorsitzende aus Thürin- und ihre Funktionäre weiter. Am Dienstag lichen Marsch auf die Münchner Feldherrn-
gen, Björn Höcke, wäre in diesem Szenario teilte die Verfassungsschutzbehörde in Mag- halle rechne – den Ort des gescheiterten Hit-
wohl der neue Ministerpräsident. Jener Mann deburg mit, dass sie die AfD in Sachsen-­ lerputschs.
also, den der Verfassungsschutz als rechts- Anhalt als »gesichert rechtsextremistisch« Mehrere Vorträge stehen in Magdeburg auf
extrem einstuft, der eine »erinnerungspoliti- einstufe. Es ist nach Thüringen der zweite dem Programm. Wladimir Sergijenko darf
sche Wende um 180 Grad« fordert, von einer Landesverband. sprechen, ein russischer Schriftsteller und Mit-
künftigen Politik der »wohltemperierten arbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten.
Grausamkeit« spricht und die »Altparteien« Hilft gegen diese Partei nur noch ein Verbot? Nach SPIEGEL -Recherchen pflegt er intensive
als »entartet« bezeichnet, im reinsten Jargon Die Debatte wird angesichts der zunehmen- Kontakte zu russischen ultranationalen Pro-
der Nationalsozialisten. den Radikalität und Beliebtheit der AfD mit pagandisten und Putins Machtapparat. Martin
Er könnte in seiner neuen Rolle eigenmäch- neuer Wucht geführt. Der CDU-Bundestags- Sellner aus Österreich ist da, die Leitfigur der
tig den Staatsvertrag mit MDR und ZDF kün- abgeordnete und ehemalige Ostbeauftragte »Identitären Bewegung«, einer Gruppe junger,
digen und sich eine eigene Rundfunkanstalt der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, aktivistischer Rechtsextremisten.
aufbauen. Er könnte vollziehen, was in seinem sucht derzeit Mitstreiter im Parlament für Sellner beherrscht die Klaviatur der rechten
Buch »Nie zweimal in denselben Fluss« steht: einen parteiübergreifenden Verbotsantrag. Verschwörungserzählungen, spricht von einer
»Die Schutthalden der Moderne beseitigen«, Mindestens 37 Abgeordnete braucht er, um nötigen »Remigration«, womit Massenabschie-
wie er es nennt. »Auch wenn wir leider ein ihn in den Bundestag einzubringen. bungen gemeint sind, von einer »Diktatur«, die
paar Volksteile verlieren werden, die zu Leicht wird es nicht. Viele in der Berliner hierzulande herrsche und nur durch eine »meta-
schwach oder nicht willens sind, sich der fort- Politik glauben, die Demokratie müsse solch politische Wende« beseitigt werden könne.
schreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung eine Partei aushalten und sie politisch be- Die »Identitäre Bewegung« steht auf der
und Islamisierung zu widersetzen.« kämpfen. Ein Parteiverbot müsse die »Ultima Unvereinbarkeitsliste der AfD, mit der sie sich

8 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


TITEL

Rafael Heygster / DER SPIEGEL(4)

A F D - P O L I T I K E R K R A H , H Ö C K E , W E I D E L , C H R U PA L L A : Machtverhältnisse klar verteilt

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 9


TITEL

einst von Rechtsextremisten abgren- Als Höcke am Montag auf dem


zen wollte. Das Papier ist längst Ma- Im Umfragenhoch Dresdner Schlossplatz die Bühne be-
kulatur. Auch Redner von der AfD tritt, hat sein Publikum schon zwei
sind zur »Friedenskonferenz« gekom- »Wen würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Stunden Protest hinter sich. Erst re-
Bundestagswahl wäre?«, Antwort »AfD«, in Prozent
men. Olga Petersen etwa, eine AfD- deten drei Pegida-Organisatoren,
Politikerin aus der Hamburger Bür- Bundestagswahlergebnisse dann folgte eine Demonstration
gerschaft. Und Oliver Kirchner, Frak- März 2020 Februar 2021 April 2023 durch die Innenstadt. Fahnen der AfD
tionschef der AfD im Landtag von Der Landesverfas- Der Bundesverfas- Die AfD-Nach- wehten neben denen der NPD, die
sungsschutz stuft sungsschutz stuft wuchsorgani-
Sachsen-Anhalt, der in seinen Bei- den Thüringer AfD- die gesamte AfD sation Junge sich heute »Heimat« nennt. »Wi-der-
trägen gern gegen Migranten hetzt. Landesverband als als Verdachtsfall Alternative für 2. Nov. stand« oder »Ab-schie-ben« tönte es
gesichert rechts- ein, die Partei Deutschland 2023
Er beklagt die hohen Energiekosten, extremistisch ein. geht dagegen (JA) wird 22
in den Straßen, Gegendemonstranten
hat aber eine Idee, wie man schnell rechtlich vor. vorübergehend wurden bespuckt, Menschen angepö-
als gesichert
»Unmengen von Wohnenergie für rechtsextre- belt, bei denen ein Migrationshinter-
Heizen und Kochen« freisetzen kön- 20 mistisch ein- grund vermutet wurde.
ne: »Mit jeder Abschiebung schaffen gestuft. Die JA Er habe »nicht lange gezögert«, als
klagt dagegen.
wir ein Stück Versorgungssicherheit.« die Einladung von Pegida kam, ruft
Als »künftiger Ministerpräsident« ­Höcke anschließend ins Mikrofon.
Sachsen-Anhalts wird Kirchner an- »Ihr wart unsere Vorbilder, ihr habt
schließend mit viel Applaus gefeiert, 15 Geschichte geschrieben.« Man werde
am Ende setzt er sich mit dem Rechts- »den Kampf um dieses Land nur sieg-
extremisten aus Österreich gemein- reich beenden, wenn wir zusammen-
sam zum Diskutieren auf die Bühne. halten«, sagt Höcke, bevor er sich
Die letzten Hemmungen fallen. November seinem Lieblingsthema zuwendet.
10 2023
Es ist keine zehn Jahre her, da führ- »Was ist das deutsche Volk über-
Der AfD-
ten in der damals frisch gegründeten Landes- haupt?«, fragt er in die Menge. »Was
»Alternative für Deutschland« noch verband ist vom deutschen Volke überhaupt
Sachsen-
Professoren und Eurokritiker das Anhalt noch übrig?«
Wort. Tatsächlich aber wirkten auch 5
wird vom Der völkische Flügel der Partei ist
damals schon Rechtsextremisten im Landesver- geprägt von der Überzeugung, das
fassungs-
Hintergrund, sie hatten das Potenzial schutz als deutsche Volk befinde sich in einem
der AfD früh erkannt. gesichert Überlebenskampf. In dieser Gedan-
22. Sep. 24. Sep. 26. Sep. rechts-
Schon kurz nach Gründung der 2013 2017 2021 extremistisch kenwelt sehen manche in der AfD
Partei schrieb Götz Kubitschek, einer 0
4,7 12,6 10,3 eingestuft. ­keinen anderen Weg als den des ge-
der Ideengeber der Neurechten und walttätigen Staatsstreichs. Wie an-
2014 2016 2018 2020 2022 2024
Gründer des »Instituts für Staatspoli- scheinend die Juristin Birgit Malsack-
tik« in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) Zustimmung zu rechtsextremen Einstellungen Winkemann. Bis Herbst 2021 saß sie
in seinem Blog, mit dem Euro sei ein nach Parteipräferenz, in Prozent für die AfD im Bundestag, danach
»Türöffner-Thema« angepackt wor- »rechtsextremes Weltbild« arbeitete sie wieder in ihrem alten Job
den. »Unsere Themen (Identität, Wi- als Zivilrichterin am Landgericht Ber-
24
derstand, Gender-, Parteien- und lin, Kammer 19a für Bausachen. Bis
Ideologiekritik) kommen hinterdrein- sie im Dezember 2022 von Spezial-
gepoltert, wenn wir nur rasch und 16 kräften der Polizei verhaftet wurde.
konsequent genug den Fuß in die Tür Malsack-Winkemann wird sich wohl
stellen«, schrieb der rechtsextreme 8 7 bald vor Gericht wegen Terrorvorwür-
6 5
Verleger. 4 fen und der Vorbereitung zum Hoch-
Politiker der AfD, die so denken verrat verantworten müssen. Sie ge-
wie Kubitschek, folgten seiner Auf- AfD FDP SPD CDU/ Linke Grüne Nicht- hörte zur »Reichsbürger«-Gruppe um
forderung und setzten sich nach und CSU wähler Heinrich XIII. Prinz Reuß, die einen
nach in parteiinternen Machtkämpfen »Befürwortung Diktatur« Putsch geplant haben soll. Die Richte-
durch: Tino Chrupalla und Alice Wei- 18
rin war im neuen Reich von Prinz Reuß
del drängten den gemäßigteren Par- als Justizministerin vorgesehen.
teichef Jörg Meuthen aus dem Amt, 12 Die Ermittler zählen Malsack-Win-
der wiederum Frauke Petry vertrie- 7
kemann zum inneren Zirkel der rech-
ben hatte, die ihrerseits den Platz des 6 ten Revolutionäre. Sie führte Ex-Mi-
3 2 3
Parteigründers und ersten Parteivor- litärs, die zu den Verschwörern zählen
sitzenden Bernd Lucke eingenommen AfD FDP SPD CDU/ Linke Grüne Nicht-
sollen, durch den Bundestag. Einer der
hatte. Mitgründer Alexander Gau- CSU wähler Männer filmte die unterirdischen Tun-
land dagegen, der sich stets bei den nel zwischen den Parlamentsgebäuden
»Verharmlosung des Nationalsozialismus«
völkisch Denkenden am wohlsten zu mit seinem Handy, auch vom Plenar­
fühlen schien, ist heute Ehrenvorsit- 15 saal machte er Aufnahmen.
zender der AfD. 10 Die Truppe soll laut den Ermitt-
Inzwischen sind die Machtverhält- 5
lungen Pläne geschmiedet haben, mit
nisse in der Partei klar verteilt, Ku- 3 3 bis zu 16 bewaffneten Angreifern in
1 1
bitscheks Plan ist aufgegangen. Aus das Parlament zu gelangen und Poli-
dem gemäßigteren Lager ist kaum AfD FDP SPD CDU/ Linke Grüne Nicht- tiker abzuführen. Die »Führungs-
jemand mehr übrig. Der offiziell auf- CSU wähler crew«, erläuterte die AfD-Politikerin
gelöste völkische »Flügel« rund um S Quellen: Infratest dimap-Umfragen in Deutschland, jeweils zwischen 934 und Malsack-Winkemann einem ihrer


2012 Befragte; Mitte-Studie 2022/23 der Friedrich-Ebert-Stiftung, repräsentative


Björn Höcke hat sein Ziel erreicht. Erhebung vom 2. Januar bis 28. Februar 2023, mehr als 2000 Befragte Mitstreiter per Chat, sitze auf der Re-

10 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


TITEL

Rafael Heygster / DER SPIEGEL


gierungsbank links neben dem Red- antragtes Verbotsverfahren gegen D E L E G I E R T E AU F ten lassen wollte, stieß er auf Wider-
nerpult. Bald sei es vorbei, schrieb ihr die Nationaldemokratische Partei A F D - PA R T E I TA G stände – beim damaligen Innen­
IN MAGDEBURG
einer der »Reichsbürger«. Sie antwor- Deutschlands (NPD) dagegen scheiter- IM JULI: minister Horst Seehofer (CSU). Ein
tete: »Hoffentlich. Nicht nur ich war- te 2003 vor dem Bundesverfassungs- Immer extremer, erstes, mehr als 800 Seiten dickes
te sehnsüchtig.« Gegenüber den Er- gericht. Die Partei war durchsetzt von ungehemmter und Gutachten des Verfassungsschutzes
mittlern hat sie die Umsturzpläne V-Leuten des Verfassungsschutzes, das zugleich beliebter überzeugte dessen Ministerium nicht.
bestritten. Verfassungsgericht sah damit die An- Seehofer beteuert heute: Zu keinem
forderungen an ein rechtsstaatliches Zeitpunkt sei es darum gegangen,
Der Fall zeigt, wie weit sich einige Poli- Verfahren als nicht gegeben an. eine Beobachtung zu verhindern,
tiker der AfD in den vergangenen Auch ein zweites Verbotsverfahren sondern nur darum, das Gutachten
Jahren radikalisiert haben. Während blieb erfolglos. Im Januar 2017 ent- »stabil und rechtssicher« zu gestalten.
der Coronapandemie hatte Malsack- schieden die Verfassungsrichter in Womöglich hatte das Ganze aber
Winkemann Falschnachrichten über Karlsruhe zwar, dass die NPD ver- auch politische Gründe.
einen angeblichen Maskentod ver- fassungsfeindliche Ziele vertrete, die Nach SPI EGEL -Informationen
breitet. Auf Telegram postete sie Slo- auf die Beseitigung der bestehenden suchte Seehofer zu dem Thema das
gans des QAnon-Kults, eines der här- freiheitlichen demokratischen Grund- Gespräch mit der damaligen Kanzle-
testen Verschwörungsmärchen der ordnung gerichtet seien. Allerdings rin. Angela Merkel soll sich aber ge-
heutigen Zeit. In ihrem Bundestags- fehlten dem Gericht konkrete An- weigert haben, sich mit dem Thema
büro arbeitete eine Wahrsagerin. In haltspunkte dafür, dass die verfas- politisch zu befassen. Es handle sich
der Partei störte das nur wenige, bis sungsfeindlichen Bestrebungen auch um eine rein fachliche Frage für den
zu ihrer Verhaftung saß die promo- – aus Sicht der NPD – zu einem Er- Verfassungsschutz und die Fachauf-
vierte Juristin im Bundesschieds­ folg führen könnten. Die Partei war sicht des Bundesinnenministeriums,
gericht der AfD. Sollte eine Partei bereits zu unbedeutend. in die sich die Politik nicht ein­
weiter existieren, deren Ideologie Das zweimalige Scheitern, eine völ- mischen solle. Als das 1001 Seiten
mutmaßliche Terroristen erschafft? kische Partei aus der deutschen Ge- lange überarbeitete Gutachten aus
In der Geschichte der Bundes­ sellschaft zu verbannen, wirkt bis heu- dem Bundesamt für Verfassungs-
republik Deutschland wurden bislang te nach. Die Angst, erneut erfolglos zu schutz schließlich vorlag, stimmte
zwei Parteien verboten. 1952 die So- bleiben, ist groß. Wie schwierig es ist, Seehofer zu. Der Weg für die Beob-
zialistische Reichspartei, die sich in einer Partei gerichtsfest Extremismus achtung war frei.
der Tradition der NSDAP sah. Vier nachzuweisen, weiß auch Thomas Seit 2021 behandelt das Bundes-
Jahre später die Kommunistische Par- Haldenwang, der Präsident des Bun- amt für Verfassungsschutz die AfD
tei Deutschlands. desamts für Verfassungsschutz. nun als rechtsextremen »Verdachts-
Ein von der Bundesregierung, dem Schon als er vor fast drei Jahren fall«. Das Gerichtsverfahren zur Klä-
Bundestag und dem Bundesrat be­ die AfD als »Verdachtsfall« beobach- rung, ob das Amt dies überhaupt darf,

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 11


TITEL

zieht sich bereits seit zweieinhalb Entscheidungen als »Willkür«, wenn FÜR EIN die AfD »inhaltlich stellen«, sie scha-
Jahren hin. Aktuell liegt der Fall beim sie nicht so ausfallen, wie sie es gern de Deutschland. Ähnlich sieht es
Oberverwaltungsgericht Münster, gut hätten. Sie behaupten, dass nur sie
VERBOT FDP-Generalsekretär Bijan Djir-­
10.000 Seiten Akten lagern dort. für »das Volk« sprächen und Deutsch- Sarai: Ein Parteienverbot sei zu Recht
Dazu kommen Hunderte Ordner mit land vor einem vermeintlichen Unter- an hohe verfassungsrechtliche Hür-
weiterem Material, sie füllen einen gang retten würden. Rechtsextremer den gebunden. In der Vergangenheit
ganzen Raum im Gericht. Eine Ent- geht es kaum. hat sich die grüne Parteichefin Ricar-
scheidung wird für Ende Februar Doch für ein Verbot würde diese da Lang grundsätzlich offen für ein
2024 erwartet. Bewertung allein nicht ausreichen. mögliches Verbot gezeigt, ähnlich wie

Markus Hintzen / DER SPIEGEL


Verfassungsschutzpräsident Hal- Man müsste der Partei nachweisen, die SPD-Vorsitzende Saskia Esken.
denwang hat in den vergangenen dass sie »planvoll« auf die Beseitigung Die AfD müsse auf ihre Verfassungs-
­Monaten mehrfach deutlich gemacht, der demokratischen Grundordnung feindlichkeit hin beobachtet werden,
dass die AfD sich seit Beginn der Be- hinarbeite. So hat es das Bundesver- sagte Esken im August. »Und wenn
obachtung immer weiter nach rechts fassungsgericht in seiner Entscheidung sich der Verdacht bestätigt, dann
außen bewege. Der Europaparteitag zur NPD formuliert. Für die gesamte muss diese Partei verboten werden.«
in Magdeburg im Sommer habe ge- AfD ist diese Hürde nach Einschät- SPD-Generalsekretär Kevin Küh-
zeigt, »dass innerhalb der Partei star- zung vieler Juristen noch zu hoch. nert formuliert es unverbindlicher.
ke verfassungsfeindliche Strömungen Haldenwang äußerte sich daher
»Die Würde des »Der demokratiefeindliche Charakter
bestehen, deren Einfluss weiter zu- zurückhaltend, als er am Montag bei Menschen wird der AfD« sei »offenkundig«, sagt er,
nimmt«, sagte Haldenwang. Auf dem einem Demokratiekongress in Berlin unverhohlen ein Verbot sei jedoch »unter vielen
Parteitag seien»rechtsextremistische gefragt wurde, was er von einem Ver- Optionen nur eine, und sie ist zu
Verschwörungstheorien« verbreitet bot der AfD halte. Darüber entschei- infrage gestellt.« Recht versehen mit hohen Hürden
worden. de nicht sein Amt, es sei lediglich »Zu- Marco Wanderwitz, rechtlicher Natur«.
Gemeint war etwa die Erzählung träger«, sollten Bundesregierung, der CDU Innenministerin Nancy Faeser
vom »großen Austausch«, wonach die Bundestag oder der Bundesrat ein (SPD) hatte sich kürzlich gegen ein
einheimische Bevölkerung gezielt solches Verfahren anstrengen. Verbot ausgesprochen. Die grund­
durch Migranten ersetzt werden solle. Es sei aber auch immer eine Frage gesetzlichen Hürden für ein Parteien-
Versuchte die Partei einst, mithilfe der Opportunität, sagte Haldenwang. verbot seien zu Recht sehr hoch, sag-
einer eigens eingesetzten Arbeitsgrup- »Durch ein Parteiverbot verschwin- te sie dem »Stern«: »Natürlich kann
pe einer Beobachtung durch den Ver- den die Anhänger rechter Ideologien das niemand als letztes Mittel aus-
fassungsschutz zu entgehen, halten ja nicht.« Es gebe in Deutschland schließen, wenn sich die AfD überall
ihre Funktionäre mit ihren Einstellun- einen bestimmten Prozentsatz an zu einer Art Höcke-Partei entwickelt.
gen jetzt nicht mehr hinterm Berg. Menschen, »die grundsätzlich eine Aber ich setze auf die politische Aus-
Im Innenausschuss des Bundestags sehr völkisch-nationalistische Einstel- einandersetzung.«
sagte Haldenwang in Anwesenheit lung haben«. Die aktuelle Mitte-Stu- Der Mann, der die Hoffnung längst
FlashPic / ddp
von AfD-Abgeordneten: »Da finden die der Friedrich-Ebert-Stiftung geht aufgegeben hat, die AfD mit politi-
Hass und Hetze gegen Minderheiten davon aus, dass 8 Prozent der Men- schen Argumenten besiegen zu kön-
aller Art statt, wir sehen Muslimfeind- schen in Deutschland ein klar rechts- nen, sitzt im sechsten Stock des Jakob-
lichkeit, wir sehen Fremdenfeindlich- extremes Weltbild teilen. In der letz- Kaiser-Hauses des Deutschen Bundes-
keit, wir sehen herabwürdigende Be- ten Erhebung vor zwei Jahren waren »Wir wollen tages. Er führt derzeit viele Gespräche
handlung von Menschen mit anderer es nur 1,7 Prozent. nicht laienhaft mit Kolleginnen und Kollegen aus fast
sexueller Orientierung, wir sehen
unterschwelligen Antisemitismus.« In den Parteien herrscht in der Frage
irgendetwas allen Parteien, manchmal fünf an
einem Tag. Es sei anstrengend, sagt
Immer wieder gebe es auch AfD-Ab- eines AfD-Verbots überwiegend Zu- verbieten.« Marco Wanderwitz, auch weil nicht
geordnete, »die öffentlich russische rückhaltung. Die Beschäftigung mit Ruth Moschner, alle in der Partei seine Meinung teilen.
Narrative verbreiten und Sympathie der Frage und die Debatte mit Rechts- Schauspielerin »Parteiverbote haben noch nie dazu
für Putin äußern«. experten findet, wenn überhaupt, geführt, dass man ein politisches Pro-
Sollte das Oberverwaltungsgericht hinter den Kulissen statt. Und so hat blem löst«, hatte CDU-Chef Friedrich
Münster im kommenden Jahr die Kla- auf SPIEGEL -Anfrage bislang nur der Merz im ZDF-»Sommerinterview«
ge der AfD abweisen, deutet einiges Linkenvorsitzende eine klare Haltung gesagt. Wanderwitz aber sieht keine
darauf hin, dass der Verfassungs- zu der Frage: »Die AfD würde ziem- Alternative zu einem Verbot.
schutz die gesamte AfD in einem lich sicher die Voraussetzungen für Der 48-Jährige sitzt seit gut
nächsten Schritt bundesweit als »ge- ein Verbot erfüllen, die das Bundes- 20 Jahren für die CDU im Bundestag,
sichert ex­tre­mistisch« einstufen könn- verfassungsgericht in einer Entschei- stets als Direktkandidat, bis er 2021
te. Sie gälte dann als durchgehend dung im zweiten NPD-Verbotsver- dem Kandidaten der AfD unterlag.
Konstanze Habermann

rechtsextremistische Partei, die gän- fahren niedergelegt hat«, sagt Partei- Über die Parteiliste gelangte er für
gigen Merkmale erfüllt sie schon jetzt. chef Martin Schirdewan. Schließlich den Wahlkreis Chemnitzer Umland
Ihre Spitzenfunktionäre reden von ziele die Partei auf die Entrechtung – Erzgebirgskreis II dennoch wieder
»Passdeutschen« oder »Kulturfrem- und Erniedrigung ganzer Bevölke- ins Parlament. Er war Parlamentari-
den«, sie raunen von »globalistischen rungsgruppen und sei in ihrer Hetze scher Staatssekretär und Beauftragter
Eliten« und diffamieren Menschen »inzwischen oft nur noch eine Arm- der Bundesregierung für die neuen
mit Migrationshintergrund. Sie be- länge von der NSDAP entfernt«. »Die Prüfung Bundesländer unter Kanzlerin Mer-
haupten, die Bundesrepublik sei Die CDU zeigt sich skeptisch, ein eines Verbots kel und eckte mit seiner Kritik an Ost-
»kein souveränes Land«, und wollen Scheitern eines Verbotsverfahrens deutschen des Öfteren an. Etwa als
die »Frage nach der Schuld« für den »wäre fatal«. »Das könnte die AfD
ist mehr als er 2021 in einem Podcast sagte: »Wir
Zweiten Weltkrieg durch »die Frage weiter stärken«, sagt ein Sprecher. relevant.« haben es mit Menschen zu tun, die
nach den Errungenschaften« erset- Die Geschäftsführerin der Grünen, Bela B, teilweise in einer Form diktatursozia-
zen. Sie kritisieren rechtsstaatliche Emily Büning, teilt mit, man müsse Musiker lisiert sind, dass sie auch nach 30 Jah-

12 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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ren nicht in der Demokratie ange­ GEGEN EIN Wanderwitz sagt, er wolle nicht pa­ die Umfragezahlen für die AfD stei­
kommen sind.« thetisch werden, dann wird er es doch. gen. Mitte August startete der Blog
Wanderwitz hat die Radikalisie­
VERBOT Womöglich werde man in 20, 30 Jah­ Volksverpetzer eine Onlinepetition:
rung der AfD im persönlichen Umfeld ren fragen, »ob wir denn alles versucht »Prüft ein AfD-Verbot«. Darin wird
erfahren. Maximilian Krah, den Spit­ haben, das Schlimmste zu verhindern, der Bundesrat aufgefordert, sich mit
zenkandidaten der AfD für die Euro­ als es noch ging«, sagt er. Es gebe einem entsprechenden Antrag ans
pawahl, kennt er aus der Jungen Landstriche, da seien kaum noch an­ Bundesverfassungsgericht zu wenden:
Union und der CDU. Auf Parteitagen dere Meinungen zu hören, da liege die Kann sie komplett oder können man­

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL


haben sie gemeinsam Anträge ge­ Deutungshoheit bei der AfD. che ihrer Landesverbände verboten
schrieben und viel diskutiert. Dann werden, oder kann man ihr zumindest
sei Krah für die Bundestagswahl 2013 Wer auf den rasanten Erfolg der AfD die Parteienfinanzierung entziehen?
nicht aufgestellt worden und aus der blickt, ist gedanklich schnell in der Knapp 380.000 Menschen haben
Partei ausgetreten. Jahre später deutschen Vergangenheit. Anfang der die Petition auf der Plattform innn.it
schreibt der ehemalige Christdemo­ Dreißigerjahre des vergangenen Jahr­ bislang unterstützt. Unter den Erst­
krat Krah Sätze wie: »Kollektiver hunderts standen die Parteien der unterzeichnern sind Prominente wie
­sexueller Missbrauch europäischer Weimarer Republik unter einem ähn­ die Schauspielerinnen Nora Tschirner
Mädchen ist die typische Begleit­ lichen Druck. Die Lage von damals und Ruth Moschner – oder Dirk Fel­
erscheinung der orientalischen Land­
»Ich setze auf ist nicht vergleichbar mit der von heu­ senheimer alias Bela B von den Ärzten.
nahme.« die politische te, die demokratischen Verhältnisse Die Prüfung eines Verbots sei für
Biografien wie die von Krah sind Auseinander- sind deutlich stabiler, die AfD ist nicht ihn »mehr als relevant«, sagt Bela B.
einer der Gründe dafür, warum Wan­ die NSDAP. Und doch ist 1933 eine »Andere Meinungen muss man in
derwitz für seinen Gruppenantrag so setzung.« Warnung dafür, bedenkliche Entwick­ einer Demokratie aushalten; die Ver­
sehr kämpft. In seinem Entwurf for­ Nancy Faeser, lungen rechtzeitig zu erkennen. harmlosung oder die Glorifizierung
dert er den Bundestag auf, beim Ver­ SPD Der Schriftsteller Lukas Rietzschel von NS-Verbrechen, Rassismus, Anti­
fassungsgericht zu beantragen, die hat in seinem Debütroman »Mit der semitismus bis hin zu Gewaltfanta­
AfD als verfassungswidrig zu erklä­ Faust in die Welt schlagen« vor fünf sien über den politischen Gegner oder
ren, die Partei aufzulösen und ihr Ver­ Jahren über Radikalisierung im Osten Personengruppen, die nicht in ihr
mögen zugunsten von gemeinnützi­ geschrieben, seit einigen Jahren ist er Weltbild passen, auf keinen Fall.«
gen Zwecken einzuziehen. »Die AfD im SPD-Ortsverein in Görlitz aktiv. Ruth Moschner sagte t-online: »Wir
ist eine rassistische, antisemitische Er hat in seiner kommunalpolitischen wollen nicht laienhaft irgendetwas
und rechtsextreme Partei«, heißt es in Arbeit selbst erfahren, wie destruktiv verbieten. Es geht uns darum, dass
dem Papier. »Die Würde des Men­ rechte Politik wirken kann. eine neutrale Instanz, wie das Bun­
schen sowie das Diskriminierungsver­ Vor dem letzten Altstadtfest in desverfassungsgericht, eine Prüfung
Ronny Har tmann / dpa

bot werden durch die AfD, ihre füh­ Görlitz war ein Papier mit offiziellem durchführt.«
renden Funktionäre sowie zahlreiche Briefkopf der Bundespolizei zirku­ Die Initiatoren der Petition stützen
Mandatsträger und Mitglieder mittler­ liert, auf dem behauptet wurde, die sich dabei auch auf ein 72-seitiges
weile unverhohlen infrage gestellt.« Sicherheit auf dem Fest könne wegen Rechtsgutachten des Deutschen Ins­
Es sei für ihn evident, dass die AfD hoher Zuwanderung und eines hohen tituts für Menschenrechte in Berlin,
die Demokratie »in ein anderes Sys­ Ausländeranteils nicht gewährleistet das im Juni veröffentlicht wurde. Da­
tem überführen« wolle, sagt Wander­ »Parteiverbote werden. Das Papier war gefälscht, rin hält das Institut, das vom Deut­
witz. Daher müsse das Instrument lösen kein doch seine Wirkung nicht mehr zu schen Bundestag finanziert wird, fest,
genutzt werden, das im Grundgesetz
für genau solche Fälle vorgesehen sei.
politisches stoppen. Am Ende habe sich der
Stadtrat auf Antrag der AfD zu einer
dass die »materiell-rechtlichen Vo­
raussetzungen für ein Verbot der
Die Dichte an Kriegen und Krisen Problem.« Sondersitzung treffen müssen, erzählt AfD« vorlägen. Etwa weil die AfD
setze die Demokratie derzeit schwer Friedrich Merz, Rietzschel, um über die Sicherheits­ konsequent Grundrechte missachte.
unter Druck, für Populisten aber­ CDU lage zu reden. Der Bürgermeister Sie gehe dabei »planvoll« vor, »um
seien sie wie »ein Sauerstoffzelt«, habe eine Ansprache auf Video ge­ ihr Ziel der Beseitigung der freiheit­
sagt Wanderwitz. Der Schlag eines halten. Die Falschnachricht hatte, wie lich demokratischen Grundordnung
Verbots verschaffe der Demokratie es offenbar geplant war, die Demo­ zu erreichen«.
in dieser Lage die »Atempause«, die kratie im Kleinen gestört. Die Direktorin des Instituts, Beate
sie dringend brauche. Das sei symptomatisch, findet Rudolf, schreibt dazu: »Gerade die
Wanderwitz macht sich keine Illu­ Rietzschel, die AfD beherrsche in vie­ deutsche Geschichte hat gezeigt, dass
sionen. Er glaube nicht, »dass wir len Bereichen den Diskursraum, »und die freiheitliche demokratische
damit den Menschen, die Rechts­ wir schauen zu und sind zuversicht­ Grundordnung eines Staates zerstört
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

extremisten hinterherrennen, eine lich, weil wir glauben, die Fakten und werden kann, wenn menschenverach­
Gehirnwäsche verschaffen könnten, Wahrheit auf unserer Seite zu ha­ tende Positionen nicht rechtzeitig auf
damit sie am nächsten Tag wieder ben«. Doch damit gewinne man energischen Widerspruch stoßen und
demokratisch wählen«, sagt Wander­ schon längst nicht mehr. sich so verbreiten und durchsetzen
witz. »Aber die Gelegenheit, den Eine Demokratie, die sich nicht können.«
Strom von Propaganda und massen­ gegen diejenigen wehre, die ihre Ab­ Unter Juristen ist die Frage, ob die
hafter Fake News durch Hunderte schaffung planten, sei »naiv«, sagt der Voraussetzungen für ein Verbot er­
von hauptamtlichen AfD-Mitarbei­ »Ich bin kein 29-jährige Autor. Erst recht, wenn die füllt sind, allerdings umstritten. Die
tern zu unterbrechen, müssten wir Freund von Gegner eine Mehrheit bildeten, wie Meinungsverschiedenheiten gehen
dann nutzen, um das nachzuholen, es in vielen Regionen im Osten der tief in die Details. So hält die Düssel­
was wir jahrelang offenbar nicht ge­
einem Verbot Fall sei. Er sei daher für ein Verbot, dorfer Parteienrechtlerin Sophie
lingend geschafft haben – in prakti­ der AfD.« auch wenn die Hürden immens seien. Schönberger das Gutachten des Ins­
scher Politik, in der richtigen Anspra­ Olaf Scholz, Die Stimmen, die ähnlich klingen, tituts für Menschenrechte für »nicht
che, in der Bildung.« SPD werden vernehmbarer, je deutlicher in allen Punkten verfassungsrechtlich

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 13


TITEL

NARRATIVE
diale Klasse« wurde hier geschimpft, vom

V E R B LÜ F F E N D Ä H N L I C H
»Gesinnungsterror« war die Rede, von
»Passdeutschen«, die keine echten Deut-
schen seien. Auch Schlüsselwörter für
Die AfD weist von sich, rechtsextrem zu sein. Doch interne rechtsextreme Narrative wie »Umvolkung«
oder »Volkstod« nutzen beide Parteien.
Behördendokumente zeigen, dass sie der NPD Manchmal finden sich auch leichte
sprachlich, ideologisch und strategisch kaum nachsteht. ­Variationen: So nannte NPD-Mann Udo
Pastörs den Landtag in Mecklenburg-­
Eine Kundgebung in Erfurt, die AfD hat mal zeigen. Das ist bemerkenswert, hat doch Vorpommern, dem er zehn Jahre lang an-
wieder geladen, es ist der letzte Samstag die AfD die NPD auf ihre Unvereinbarkeits- gehörte, einen »Ort des Theaters«. AfD-­
im Oktober. Alle Chefs der ostdeutschen liste gesetzt. Ihre Mitglieder dürfen nicht Chefin Alice Weidel beschimpft die Re­
Landesverbände sind gekommen, Martin in die AfD eintreten. Damit wollen die Spit- gierenden gern als »Laientheatergruppe«.
Reichardt aus Sachsen-Anhalt spricht zu- zenpolitiker der AfD signalisieren, sie hät- Während NPD-Mitglieder von »politischen
erst. Vor ihm stehen ein paar Hundert Leu- ten mit Rechtsextremismus nichts zu tun. Soldaten« redeten, spricht man in der
te, sie tragen Fahnen und Plakate. »Politi- Die inhaltliche Nähe der beiden Partei- AfD von »Parteisoldaten«.
kerhaftung umsetzen« steht auf einem. Es en offenbart vor allem die Analyse eines Bei Themen wie Rassismus und Islam-
ist ein Plakat von »Die Heimat«, wie sich vertraulichen Behördendokuments. Im feindlichkeit gibt es ebenfalls viele Über-
die NPD seit Kurzem nennt. Jahr 2012 hatten das Bundesamt und die schneidungen. Nur der Antisemitismus
Reichardt hält seine Rede nicht frei, er Landesämter für Verfassungsschutz im ist sprachlich bei der AfD meist eleganter
blickt immer wieder auf seinen Sprechzet- Auftrag der Innenministerkonferenz exakt versteckt. Das Wort Jude liest und hört
tel. Er sagt, immer mehr Menschen würden 1000 Seiten Material zur NPD gesammelt. man selten. Eher wird etwas vernebelt über
erkennen, dass eine »Kehrtwende« für das Das Dokument sollte als Grundlage für das eine vermeintliche »globalistische ­Elite«
Land »nur mit der AfD machbar ist«. Mit zweite Verbotsverfahren gegen die NPD gesprochen, womit eine antisemitische Ver-
der Alternative für Deutschland sei in den dienen und liegt dem SPIEGEL vor. Das Er- schwörungsideologie gemeint ist.
vergangenen Jahren »eine patriotische und gebnis: Die AfD kann in fast allen Feldern Selbst im Unterkapitel Revisionismus
soziale Kraft« gewachsen, die die Deut- mit der NPD von damals mithalten, auch gibt es Äußerungen der NPD, die heute
schen »retten« wolle. wenn sie sich auf dem Papier, etwa in ihren ähnlich von AfD-Politikern verbreitet wer-
2009 hielt ein anderer Politiker eine Programmen, moderater zeigt. den. Das Wort »Schuldkult« ist bereits seit
Rede, die dieser sehr ähnlich war. Seine Erstes inhaltliches Kapitel in dem Doku- Jahrzehnten im Umlauf. Die AfD hat es
Partei werde als »die Alternative wahrge- ment: »Bestrebungen gegen die freiheit­ übernommen, bisweilen wandelt sie es ab:
nommen«, sagte der Politiker damals. »Wir liche demokratische Grundordnung«. Die- Parteichef Tino Chrupalla forderte zuletzt
wollen eine Partei sein, welche die System- se können sich nicht nur in Äußerungen etwa, man solle die »Frage nach der Schuld
frage stellt, welche eine soziale und natio- zum Staat ausdrücken, sondern auch durch durch die Frage nach den Errungenschaften
nale Alternative bietet« – um das Land in Antisemitismus, Rassismus, Islam- und jeder Zivilisation« ersetzen.
eine bessere Zukunft zu führen. Menschenfeindlichkeit, übersteigertem Na- Die NPD-Materialsammlung beschäftigt
Der Redner war NPD-Chef Udo Voigt. tionalismus oder Revisionismus, wie aus sich zudem mit der »Nähe zum histori-
Reiner Zufall? Wohl kaum. AfD und dem Papier hervorgeht. schen Nationalsozialismus«, also mit der
NPD sind sich sehr nahe. Nicht nur, was ihr Begriffe, die von AfD-Politikern heute Relativierung der NS-Zeit oder der Ver-
Publikum angeht oder so manche Perso­ in unzähligen Reden verwendet werden, wendung von NS-Begriffen. Auch dazu
nalie. Sie haben große ideologische Über- gehören schon seit Jahren zum Sprach­ ­finden sich zahlreiche Äußerungen aus der
schneidungen, wie SPIEGEL-Recherchen gebrauch der NPD. Auf die »politisch-me- AfD, etwa jener »Vogelschiss« der Ge-
schichte, mit dem der Ehrenvorsitzende
Alexander Gauland den Nationalsozialis-
mus beschrieben hat. Das Reden über
»raumfremde Mächte«, »kulturfremde«
Menschen, »Volkskörper« und »Volksver-
räter« zählt ebenfalls zu dieser Kategorie.
In beiden Parteien wird gelegentlich der
Wehrmacht gehuldigt oder ihre Soldaten
gelobt. Weidel gab Interviews in einer Zeit-
schrift, die auch Kalender der Waffen-SS
bewirbt. Es gibt Autos mit AfD-Logo und
Kennzeichen, die auf NS-Verehrung hin-
deuten, etwa »AH« und »18« als Codes für
Adolf Hitler. Und es gibt Funktionäre, die
vor der Wolfsschanze posieren, dem dama-
ligen Führerhauptquartier.
Besonders häufig fällt Björn Höcke auf,
der thüringische Landeschef, der die AfD
ideologisch maßgeblich beeinflusst. Er for-
dert nicht nur »eine erinnerungspolitische
Wende um 180 Grad« oder findet es
ZENIT / laif

­pro­blematisch, wenn Adolf Hitler als das


­»absolut Böse« dargestellt werde, er nutzt
N P D - D E M O N S T R AT I O N I N L E I P Z I G 1 9 9 8 : Kampf um die Straße immer wieder Sprachbilder aus der NS-

14 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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wasserfest«. Die Anforderungen, die Karls- erfolge der AfD, der Öffentlichkeit »gut erklärt
Zeit, die auch bei der NPD beliebt sind. ruhe an ein Parteienverbot stelle, würden werden, damit er nicht als komplett undemo-
Bei der Veranstaltung in Erfurt sagt er unterschätzt. kratischer Akt wahrgenommen wird«. Ähnlich
etwa, die AfD sei »eine Alternative zur Um verboten werden zu können, muss sieht es Andreas Voßkuhle, der ehemalige Prä-
Kartellparteienherrschaft«. Vor zwölf eine Partei nicht nur erwiesenermaßen ver- sident des Bundesverfassungsgerichts. Unter
Jahren verwendete der damalige NPD- fassungsfeindlich sein, sie muss auch aktiv seinem Vorsitz hatte das Gericht den zweiten
Funktionär Holger Apfel ein ähnliches und planvoll auf »die Beeinträchtigung oder NPD-Verbotsantrag abgelehnt.
Sprachbild. Die Zeit sei reif »für eine Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Zwar sei klar, sagt Voßkuhle, »wenn die
­Alternative«, die NPD stehe »außerhalb Grundordnung« hinwirken. In seiner früheren Voraussetzungen des Parteiverbots vorliegen,
des politischen Kartells dieser etablierten Rechtsprechung hielt das Bundesverfassungs- dann muss das Verbot bei einem entsprechen-
Blockparteien«. gericht dabei eine »aktiv kämpferische, ag- den Antrag ausgesprochen werden, auch wenn
Im letzten Kapitel der NPD-Material- gressive Haltung« für erforderlich. Straftaten das angesichts der Mehrheitsverhältnisse viel-
sammlung geht es um die »aktiv-kämpfe- würden dazugehören, Gewalt, eine Atmo- leicht nicht einfach ist«. Bei der politischen
rische, aggressive Grundhaltung«, die sphäre der Angst, um die Meinungsfreiheit Frage, ob man einen Verbotsantrag überhaupt
sich etwa durch die Vernetzung zu ande- anderer zu beeinträchtigen. stellt, sei aber zu bedenken: Bis zu 10 Prozent
ren Rechtsextremen auszeichnet. Davon Manche Verfassungsjuristen meinen, dass der Gesellschaft hätten ein gefestigtes rechts-
gibt es zahlreiche bei der AfD. Selbst diese Hürde zuletzt gesenkt worden sei. extremes Weltbild, 60 Prozent würden das
vorbestrafte Gewalttäter aus diesem Mi- »Wenn ich es richtig sehe, spielt das Aggres- derzeitige System tragen, bis zu 30 Prozent
lieu stellt die Partei ein. siv-Kämpferische keine Rolle mehr«, sagt der zählten zu einer Gruppe dazwischen, zu den
Und es geht um die Strategie. Da Berliner Universitätsprofessor Christoph Möl- Enttäuschten, Wütenden, Skeptischen. Einige
scheint sich die AfD einiges bei der NPD lers, einst Bevollmächtigter des Bundesrats von ihnen wählten AfD, hätten die Demo-
abgeschaut zu haben. Sie will nicht nur im zweiten NPD-Verbotsverfahren. Stattdes- kratie aber noch nicht abgeschrieben. »Wenn
um Sitze in den Parlamenten »kämpfen«, sen gehe es darum, »dass es einen politischen man diese Menschen, die eigentlich noch un-
sondern auch um die Straße und die Plan gibt, wie die verfassungsfeindliche Ge- entschieden sind, aus dem politischen Diskurs
Köpfe. Um sich zu etablieren, sucht sie sinnung durchzusetzen ist«. Die Partei müsse ausschließt, indem man die AfD verbietet,
den Weg über die Kommunen, inszeniert also handeln, »das tut sie in aller Regel aber, dann entfremdet man sie womöglich noch
sich als »Kümmererpartei«. Sie ver­ weil sie sonst keine Partei wäre«. mehr vom demokratischen System.«
anstaltet Kinder- und Bürgerfeste und Der Bonner Staatsrechtler Udo Di Fabio, Es wirkt kurios: Je erfolgreicher die AfD
ruft zum Bewerben als Schöffe auf. Richter im ersten NPD-Verbotsverfahren, wi- wird, desto mehr bewahrt sie sich selbst vor
Die AfD setzt auch die eigene Nach- derspricht: Eine Partei brauche zwar »keine einem Verbot. Je normaler sie auf Menschen
wuchsorganisation »Junge Alternative« 500.000 Mann SA auf der Straße«, damit wirkt, desto geringer wird der gesellschaft­
(JA) ein, um sich enger mit dem rechts­ man sie verbieten könne. Ganz ohne den liche Druck, gegen sie hart vorzugehen. Die
extremen Vorfeld zu vernetzen, den Nachweis einer aggressiv-kämpferischen Hal- derzeitige gesellschaftliche Stimmung kommt
­Vereinen und Verlagen außerhalb der tung gehe es aber nach wie vor nicht. Aller- ihr entgegen, man kann es aus bestimmten
­Parteienstruktur. Es gehe ihr um die dings sieht Di Fabio bei der AfD dafür Zahlen lesen.
­»Kulturrevolution von rechts«, schrieben ­Ansatzpunkte. Schließlich sei auch Hass ein
die Jungen Nationalisten der NPD mal Indiz für eine aggressiv-kämpferische Hal- In den vergangenen Jahren ist der Anteil derer
bei Facebook. Das will auch die JA. tung. Und gehasst wird reichlich in der AfD. gesunken, die der Meinung sind, dass es zu
Ein wichtiger Unterpunkt: Ähnlich Parteienrechtlerin Schönberger wäre den- viele Rechtsextreme in der AfD gebe. Im
wie die Spitzenfunktionäre der AfD wie- noch pessimistisch. »Von dem, was ich an öf- Herbst 2017 fanden das noch 85 Prozent der
sen auch NPDler von sich, Gewalt für fentlich zugänglichem Material sehe, weiß ich Befragten, im Sommer 2023 waren es ledig-
ein probates Mittel zu halten. Und doch nicht, ob das reicht, um die Partei bundesweit lich 69 Prozent. Ebenso ist die Zahl an Men-
­wurde sie aus ihren Reihen immer wieder zu verbieten.« Selbst wenn der Antrag in schen gesunken, die angeben, die Partei
verharmlost. Ähnlich wie es die NPD bei Deutschland erfolgreich sei, könnte sich die ­niemals wählen zu wollen. Waren es vor zwei
der Terrorgruppe NSU machte, reagierte AfD an den Europäischen Gerichtshof für Jahren knapp 70 Prozent, sind es nun 56 Pro-
die AfD bei dem Mord an dem CDU-­ Menschenrechte in Straßburg wenden. Sie sei zent. Deutschland hat sich an seine AfD
Politiker Walter Lübcke – formal distan- »sehr, sehr skeptisch«, dass ein AfD-Verbot ­offenbar gewöhnt, ein Verbot würde viele
zierte sie sich, gleichzeitig fielen Mitglie- »vor den europäischen Richterinnen und Rich- irritieren.
der mit Verharmlosung und Häme gegen- tern Bestand haben würde«, sagt Schönberger. Die Kleinstadt Heidenau mit ihren 16.500
über dem Opfer auf. Die Umsturzpläne Der Berliner Rechtswissenschaftler Chris- Einwohnern liegt vor den Toren Dresdens.
der Reichsbürgertruppe um Prinz Reuß, tian Waldhoff, ebenfalls Bevollmächtigter des Im August 2015 erlangte sie traurige Berühmt-
an denen eine AfD-Funktionärin betei- Bundesrats im zweiten NPD-Verbotsverfah- heit. Tausende Demonstranten stürmten zu
ligt sein soll, verniedlichte Parteichefin ren, erinnert an die Unterschiede zwischen einem ehemaligen Praktiker-Baumarkt, der
Weidel gar als »Rollator-Putsch«. AfD und NPD. Bei der AfD stehe im Gegen- in eine Notunterkunft für 600 Flüchtlinge
Das Bundesverfassungsgericht ent- satz zur NPD fast nichts im Parteiprogramm, ­umgewandelt worden war. Es flogen Steine,
schied sich letztlich gegen ein Verbot der was für ein Verbot relevant wäre. Zudem sei- Flaschen, Feuerwerkskörper.
NPD. Sie ziele zwar darauf ab, die frei- en bei der NPD 40 Prozent der Funktionäre Damals führte noch die NPD die Proteste
heitlich demokratische Grundordnung zu straffällig gewesen, was aus seiner Sicht ein an, doch schon bald übernahm die AfD. Bei
beseitigen. Es fehle aber an »konkreten starkes Argument gewesen sei. »Da kommt den letzten Kommunalwahlen 2019 wurden
Anhaltspunkten von Gewicht, die es zu- man bei der AfD nicht ran«, sagt Waldhoff. die Rechtsaußen stärkste Kraft im Stadtrat,
mindest möglich erscheinen lassen, dass Die Juristen sehen vor allem ein Dilemma mit 29,5 Prozent. Die stets führende CDU ver-
dieses Handeln zum Erfolg führt«. Kurz- darin, den richtigen Zeitpunkt für ein mög­ lor satte 20 Prozentpunkte. Ein Erdrutschsieg
um: Die NPD war 2017 nicht wirkmäch- liches Verbot zu finden. »Entweder ist die Par- der AfD, der den Stadtrat auf den Kopf stellte.
tig genug. tei zu klein, um rechtlich belangt zu werden, Die Grünen gibt es nicht mehr im Stadtparla-
Das kann man über die AfD aktuell oder zu groß für die politische Entscheidung, ment, die SPD hat einen einzigen Sitz, CDU,
nicht sagen. gegen sie ein Verfahren anzustrengen«, sagt Linke und FDP sind noch vertreten.
Maik Baumgärtner, Ann-Katrin Müller n Rechtswissenschaftler Möllers. Zudem müsste Würde ein solches Parlament von einem
ein solcher Schritt, gerade angesichts der Wahl- Verbot der AfD profitieren? Wenn wieder

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 15


TITEL

Sacharbeit ohne Brandmauern mög­ Grundlage dafür ist Artikel 18 des


lich wäre? Oder würde dann erneut Grundgesetzes. Wer die Freiheit der
der Mob losbrechen in der Ge­ Meinungsäußerung »zum Kampfe
meinde? gegen die freiheitliche demokratische
Reno König sitzt für die Christde­ Grundordnung missbraucht«, heißt
mokraten im Heidenauer Stadtrat. Er es da, der »verwirkt« danach die da­
sagt, es sei ein kleines Parlament, da mit verbundenen Grundrechte – etwa
brauche man gar keine Brandmauern die Pressefreiheit, die Versammlungs­
setzen. »Bei 90 Prozent der Abstim­ freiheit und auch die Lehrfreiheit.
mungen herrscht hier Einigkeit, auch Diesen Antrag müssten Bundestag,
die AfD stimmt zu.« Anders sei etwa Bundesregierung oder eine Landes­
der Haushalt gar nicht zu verabschie­ regierung stellen, entscheiden würde
den. Wenn ein Kindergarten ge­ auch darüber das Bundesverfassungs­
braucht werde, dann werde der ge­ gericht. Auch wenn Lübbe-Wolff den
braucht, egal ob es die AfD war, die Namen Höcke nicht erwähnt, ist klar,
ihn zuerst gefordert hat. dass sie vor allem ihn im Blick hat,
wenn sie davon spricht, die Grund­
Man kenne die Leute von der AfD. Eine rechte »nur derjenigen Akteure erheb­
Stadträtin sei Kindergärtnerin, man­ lich zu beschneiden, denen tatsächlich
cher im Rat sei »durch ihre Hände ein relevanter Missbrauch vorgewor­
gegangen«. König selbst betreibt ein fen werden kann«.
Taxiunternehmen, die Leute von der Klingt nach einer praktikablen Lö­
AfD fahren auch bei ihm mit. Mit sung, allerdings kam der Verfassungs­
einem Verbot kann der CDU-Mann artikel in der Geschichte der Bundes­
nichts anfangen, »das wäre rechts­ republik erst viermal zur Anwendung
widrig«. Die Partei habe ihre Berech­ – kein einziges Mal mit Erfolg.
tigung, wenn sie von beinahe 30 Pro­ In Berlin werden daher weitere Va­

Rafael Heygster / DER SPIEGEL


zent der Wähler favorisiert werde. rianten diskutiert. Lediglich die Junge
Der Linken-Stadtrat Steffen Wolf Alternative (JA) zu verbieten wäre
müsste eigentlich der geborene Feind leichter durchzusetzen, da es sich bei
der Höcke-Partei sein. Doch auch er der Nachwuchsorganisation um keine
sagt, es gebe »keine inhaltlichen Dis­ Partei, sondern einen Verein handelt.
krepanzen« im Rat. »Wenn wir Gel­ Als »gesichert rechts­extremistisch«
der verteilen, herrscht weitgehend hatte das Bundesamt für Verfassungs­
Einigkeit.« Und natürlich spreche WERBE­ auf, die Macht der Rechtsextremen schutz die JA bereits im April bezeich­
man auch mit den Stadträten der AfD. M AT E R I A L AU F einzudämmen. Der Bundestag änder­ net. Bis zur Klärung dieser Frage vor
PA R T E I TA G :
Ein Verbot der rechten Truppe? »Das Die AfD besetzt in te dafür das Grundgesetz, jetzt kann dem Verwaltungsgericht Köln musste
bringt uns hier nichts. Eine Demo­ vielen Bereichen den einer verfassungsfeindlichen Partei das Amt diese Einstufung jedoch vor­
kratie muss das aushalten.« Diskursraum zunächst die staatliche Finanzierung erst auf Eis legen, auch hier fällt erst
Ist es also zu spät für ein Verbot, entzogen werden. Derzeit läuft ein im nächsten Jahr eine Entscheidung.
weil die AfD im demokratischen Sys­ entsprechendes Verfahren gegen die Sicherheitsexperten und Juristen hal­
tem längst ihren Platz gefunden hat? NPD beim Bundesverfassungsge­ ten es dennoch für denkbar, dass die
Der Soziologe Matthias Quent richt, ein Urteil wird in Kürze erwar­ Behörden gegen die Jugendorganisa­
warnt davor, die AfD als normale Par­ tet. Es könnte eine Blaupause für den tion mit rund 2000 Mitgliedern vor­
tei zu akzeptieren. Vergleiche man sie Umgang mit der AfD werden. gehen könnten.
mit anderen politisch extrem Rechten Sophie Schönberger, die Parteien­ Genauso wäre es denkbar, einzel­
in Europa, sei sie mit ihrer harten völ­ rechtlerin aus Düsseldorf, kann der ne Landesverbände der AfD zu ver­
kischen Ideologie wesentlich extre­ Idee etwas Grundsätzliches abgewin­ bieten, vor allem, wenn sie sich so
mer, sagt Quent. nen. Die Staatsfinanzierung zu ent­ eindeutig rechtsextrem präsentieren
Außerdem sei es auffällig, bei wie ziehen hätte den Vorteil, »den ganz wie etwa Höckes Truppe in Thürin­
vielen Gewalttaten in Deutschland großen Einschnitt für die Wählerin­ gen. Der Landesverband sei »eine
eine Spur zur AfD führe, sei es beim nen und Wähler zu vermeiden, also erwiesen rechtsextremistische Bestre­
Attentat auf den Kasseler Regierungs­ wenigstens deren Stimme nicht aus bung gegen die freiheitliche demo­
präsidenten Walter Lübcke, dessen dem System zu eliminieren«. Ande­ kratische Grundordnung«, heißt es in
Mörder Wahlplakate für die AfD rerseits würde es Unruhe auslösen, einem Vermerk des Thüringer Innen­
klebte, sei es bei den Umsturzplänen da man »die Axt an die demokrati­ ministeriums.
der »Reichsbürger«-Truppe um Prinz sche Gleichheit« lege. Für eine Partei Thüringen könnte also das Muster­
Reuß. Dieses Phänomen finde man wie die AfD, da ist sich Verfassungs­ land für ein AfD-Verbot sein, bean­
ebenfalls bei keiner anderen rechten experte Di Fabio sicher, wäre der tragen könnte es die Landesregie­
Partei dieser Größe in Europa, sagt Wegfall der staatlichen Finanzierung rung, ein Bündnis aus Linken, SPD
der Professor. Das erfordere einen be­ »so gut wie ein Todesstoß«. und Grünen, angeführt vom linken
sonderen Umgang mit der AfD – auch Die Staatsrechtlerin und frühere Ministerpräsidenten Bodo Ramelow,
wenn es am Ende nicht gleich ein Ver­ Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe- einem erklärten Antifaschisten. Doch
bot sein müsse. Wolff hat kürzlich noch eine andere ausgerechnet Ramelow sagt, er sei in
Das Bundesverfassungsgericht ließ Idee eingebracht. Sie schlägt vor, ge­ dieser Frage »ambivalent«. Ein Ver­
vor fünf Jahren den Verbotsantrag für wissen Protagonisten aus dem rechts­ botsantrag könne die Legenden der
die NPD zwar platzen, zeigte dem extremen Spektrum der AfD eine Art AfD beflügeln. Etwa jene, dass die
Gesetzgeber aber eine Alternative Betätigungsverbot aufzuerlegen. etablierten Parteien sich nur einen

16 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 17


TITEL

gingen viele Richterinnen und Richter in Thü-


ringen in Pension. »Die AfD hat damit ein
effektives Erpressungsinstrument in der
Hand«, sagt Steinbeis.
Mit einer Sperrminorität könnte die AfD
auch die Besetzung der Parlamentarischen
Kontrollkommission blockieren, die für die
Überwachung des Thüringer Verfassungs-
schutzes zuständig ist. Bislang ist die AfD nicht
Teil dieses Gremiums. Sie könnte aber ver-
suchen, sich einen Platz zu erpressen. Sollte
sie erfolgreich sein, hätte das gravierende Fol-
gen. »Rechtsextreme überwachen diejenigen,
die Rechtsextremisten überwachen – das kann
man dann auch lassen«, sagt Steinbeis.
Als stärkste Fraktion hätte die AfD zudem
das Vorschlagsrecht für das Amt der Land-
tagspräsidentin. Würde der AfD-Kandidat
eine Mehrheit erzielen, hätte die AfD noch

DER SPIEGEL
mehr Machtmittel. »Die Besetzung von
Schlüsselpositionen in der Landtagsverwal-
J U N G E A LT E R N AT I V E AU F D E M O I N E R F U R T : Klaviatur der Verschwörungserzählungen tung und auch dessen Außenvertretung wären
in den Händen der AfD«, sagt Steinbeis. Ein
politischen Vorteil mit dem Ausschalten der sungsordnung so umbauen könnte, dass es AfD-Politiker, der das Thüringer Parlament
Konkurrenz verschaffen wollten. »Es gibt die ihr nutzt. Aus Beispielen in Polen, Ungarn in aller Welt repräsentiert: Für viele Abge-
Befürchtung, dass ein Verbotsantrag vor allem und den USA könne man viel lernen, sagt ordnete der anderen Parteien wäre das ein
auf die AfD einzahlt«, so Ramelow. Steinbeis. Albtraum.
Die Zurückhaltung der Thüringer hat auch Die Gefahr beginne aber schon weit vor Könnte es der AfD also gelingen, die De-
einen weiteren Grund. Die Politik ist sich nicht der Regierungsbeteiligung, etwa wenn die mokratie zu schädigen, ohne selbst an der
mehr sicher, ob die gesammelten Erkenntnis- AfD mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag Macht zu sein?
se des Thüringer Verfassungsschutzes tatsäch- bekommt. Sie kann dann Entscheidungen Der Thüringer CDU-Chef Mario Voigt will
lich ausreichen können, die Partei zu verbie- blockieren, für die es eine Zweidrittelmehr- den Einfluss der erstarkten AfD eindämmen,
ten. Hintergrund ist der vorerst missglückte heit braucht. Björn Höcke hat das zu seinem indem er ihr eine starke Koalition entgegen-
Versuch, einem AfD-Mann unter Hinweis auf Ziel bei der Landtagswahl erklärt. setzt. Er favorisiert eine Deutschland-Koali-
die extremistische Ausrichtung des Landes- Mit einer Sperrminorität der AfD könne tion aus CDU, SPD und FDP, unter seiner
verbands seine Waffen zu entziehen. Der Fall etwa der Richterwahlausschuss nicht mehr Führung, versteht sich. Doch auch diese
ging im Sommer vor das Verwaltungsgericht ohne Zustimmung der Partei besetzt werden, ­Koalition hätte derzeit zusammen nur 35 Pro-
Gera, und die Richter nahmen die Argumen- sagt Steinbeis. Das mit Zweidrittelmehrheit zent – wobei der Verbleib der FDP im Thü-
te des Geheimdienstes auseinander. im Landtag zu wählende Organ sei dafür zu- ringer Landtag keineswegs sicher ist.
Der Dienst hatte zwar Aussagen »eines ständig, Richter auf Lebenszeit zu ernennen. Und so stellt sich die Frage, ob die CDU
Landessprechers« der AfD dargelegt, doch Das Problem: In den nächsten vier Jahren nicht am Ende doch mit der AfD kooperieren
die Richter konnten nicht erkennen, was dies würde, zumindest indirekt. CDU-Chef Voigt
für die gesamte Partei bedeute. Nur drei pro- sagt zwar, man arbeite nicht »mit Extremisten
grammatische Aussagen aus dem Wahlpro- Gesinnungsgenossen von der rechten Seite zusammen«. Insbeson-
gramm von 2019 seien aufgetaucht, sechs dere nicht »mit Zukunftsfeinden wie dem
»Aus welchen Gründen würden Sie die AfD
einzelne Aussagen von Funktionären. Dies, wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl
Thüringer AfD-Chef Björn Höcke«. Doch die
so das Gericht, reiche nicht aus, »eine fest- wäre?«, Antworten 18- bis 29-jähriger AfD- Praxis im Landtag ist mitunter weniger klar.
stehende Verfassungsfeindlichkeit des gesam- Wählerinnen und -Wähler, in Prozent Erst im September setzten CDU, AfD und
ten Landesverbandes« zu belegen. Auch habe FDP eine Steuersenkung im Parlament durch.
der Geheimdienst Aussagen in einer Art inter- Haltung beim Thema Migration Damit hatte die Höcke-Truppe erstmals Ein-
pretiert, dass es konstruiert wirke. Es war wie 78 fluss auf den Haushalt des Landes, die rot-
eine Generalprobe für ein Verbotsverfahren, Schwäche der Ampelregierung rot-grüne Minderheitsregierung war mit ihrer
eine, die gründlich danebenging. 44 Hilfe überstimmt. Voigt sagte lapidar, man
Derartige Niederlagen spielen der AfD in wegen aktueller Krisen (z. B. Inflation) könne wichtige Entscheidungen nicht »davon
die Hände. Für sie ist Thüringen ebenfalls ein 44 abhängig machen, dass die Falschen zustim-
Testfall, aber aus einem anderen Grund. Denn Mangel an wählbaren Alternativen
men könnten«.
hier könnte sie das erste Mal in eine Landes- 33
Womöglich zeigte sich an diesem Tag ein
regierung eintreten, Höcke träumt bereits von Modell für die Zukunft. Eine Koalition mit der
der absoluten Mehrheit. aus genereller Frustration/Unzufriedenheit AfD ist kaum vorstellbar. CDU-Chef Friedrich
Der Jurist Maximilian Steinbeis macht sich 19 Merz hat dem eine Absage erteilt, nur ein Jahr
seit Monaten Gedanken darüber, welche Ge- aus anderen Gründen nach der Wahl in Thüringen wird im Bund
fahr für die Demokratie von der AfD nach 19 gewählt, da folgt die Quittung für jeden Fehler.
den Landtagswahlen im September nächsten Perspektivlosigkeit Indirekt mit der AfD zu kungeln scheint hin-
Jahres ausgehen könnte. Steinbeis betreibt 13 gegen nicht ausgeschlossen. Denn eines hat
den Verfassungsblog. Er und seine Mitstreiter Mario Voigt auch klargemacht: Linke Gesell-
haben das »Thüringen-Projekt« gestartet. Sie Mehrfachnennungen möglich schaftsbilder und ein linkes Staatsverständ-
untersuchen, wie eine autoritäre Regierung S Quelle: Civey-Onlineumfrage für den SPIEGEL vom nis lehne er ab. Dann bleibt nicht mehr viel
ƒ

10. Oktober bis 5. November 2023; 1000 Befragte; die


im schlimmsten Fall die Thüringer Verfas- statistische Ungenauigkeit beträgt bis zu 3,6 Prozentpunkte ­Auswahl.

18 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


TITEL

In Sachsen ist die Lage kaum besser. Hier


regiert die CDU von Ministerpräsident Mi-
chael Kretschmer mit der SPD und den Grü-
nen. Es ist eine Notgemeinschaft, weil die AfD
schon 2019 so stark war und anders keine
Mehrheit mehr zu holen war. Aktuell liegt die
AfD bei 35 Prozent und ist damit mit mehr
Schenken Sie Lesefreude
als einem Drittel der Stimmen stärkste Kraft
im Land. Wichtige Entscheidungen könnten
Jetzt Ihren Wunschtitel verschenken
auch hier ohne die Rechtsaußen gar nicht mehr
getroffen werden. Die Linke hat die Situation
und Gutschein sichern.
erkannt und geht auf die sächsische Union zu,
bis vor Kurzem wäre das noch undenkbar ge-
wesen. Fraktionschef Rico Gebhard sagte,
man sei bereit, nach der Landtagswahl mit der
CDU zusammenzuarbeiten, um eine Beteili-
gung der AfD zu verhindern.

Für die stolze CDU, die in ihren besten Zeiten DER SPIEGEL für ½ Jahr –
58,1 Prozent der Stimmen holte, eine absolute 26 Ausgaben für nur € 5,90
Zumutung. Doch was ist der Ausweg? Kretsch-
pro Ausgabe.
mer selbst schließt eine Zusammenarbeit mit
der AfD seit seiner Wahl 2017 aus. Stattdessen
fährt er unermüdlich übers Land, stellt sich den
Diskussionen, spricht mit den Menschen. Er
besetzt Positionen, die sonst die AfD für sich
reklamiert. Etwa beim Thema Asyl, aber auch
in der Russlandfrage. Das beschert ihm zumin-
dest laut einer Umfrage aus dem August
29 Prozent der Stimmen. Bislang ist das zu
wenig. Hilft am Ende doch nur das Verbot?
Nach außen hin bleibt man in der AfD ge- »Dein SPIEGEL« für 1 Jahr –
lassen. »Marco Wanderwitz ist unser Mitarbei- 12 Ausgaben für nur
ter des Jahres, er ist für uns Gold wert, unser
bester Wahlkampfhelfer«, witzelt Parteichef € 4,90 pro Ausgabe.
Tino Chrupalla. Doch ganz so leichtfertig, wie
er sich gibt, nimmt er den Vorgang nicht.
»Wir nehmen das nicht auf die leichte
Schulter«, sagt er. »Ich würde gern mal kon-
kret wissen, worauf sich ein Verbotsverfahren
stützen sollte – welche Teile der Programma-
tik«. Einzelne Meinungsäußerungen von
AfD-Politikern seien ja schließlich nicht der
gesamten Partei zuzuordnen.
Die Drohung mit einem Verbot sieht der
AfD-Chef vor allem als einen Akt der Hilf- SPIEGEL GESCHICHTE für 1 Jahr –
losigkeit der anderen. »Ein Mittel, uns als 6 Ausgaben für nur € 8,50
Opposition kleinzuhalten«, wie er es formu- pro Ausgabe.
liert. Oder ganz auszuschalten, was nicht
­gelingen werde. Die AfD sei im Parteien­
spektrum fest verankert.
Während der AfD-Chef noch über den
Rechtsstreit nachdenkt, hält sich sein Partei-
freund Höcke damit schon längst nicht mehr
auf. Bei der Pegida-Kundgebung in Dresden
erklärt er, Deutschland sei bereits im Stadium Ihr Geschenk:
»des Vorbürgerkriegs«. Er fordert die De­ ein Amazon-Gutschein
monstranten auf: »Schaut euch ins Gesicht«.
in Höhe von € 20,–.
Wenn es »hart auf hart kommt, dann werden
wir uns erkennen«, sagt Höcke. »Dann sind
wir das, was wir immer waren: treu und
deutsch und eine Gemeinschaft, die die Zu-
kunft erkämpfen wird.« Einfach jetzt anfordern:
Es klingt wie eine Drohung.
abo.spiegel.de/geschenk
Melanie Amann, Maik Baumgärtner, oder telefonisch unter 040 3007-2700
Maria Fiedler, Dietmar Hipp, Martin Knobbe,
Ann-Katrin Müller, Severin Weiland,
Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 19


DEUTSCHLAND

Ben Kriemann / PIC ONE / picture alliance


Herr von Habeck auf Habeck im Havelland / Ein Körbchen randvoll mit Äpfeln fand / Und kam die goldene Herbsteszeit / Und die Früchte leuchteten
weit und breit / Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl / Der von Habeck sich beide Taschen voll.
(Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, Grüne, nimmt mit mehreren anderen Kabinettsmitgliedern bei einem Fototermin im Bundes-
kanzleramt Körbe mit Äpfeln entgegen, die dort von amtierenden Apfelköniginnen und Jungbauern verteilt werden.)

Website der Deutschen Bahn attackiert


SABOTAGE Die Angiffe richten sich gegen Behörden und Firmen in Ländern, die die Ukraine unterstützen.

E ine prorussische Hackergruppe hat dazu aufgerufen, Web-


sites deutscher Behörden und Unternehmen anzugreifen:
»Lasst uns deutsche Internetportale zerstören!«, hieß es am
1. November in einem reichweitenstarken Telegram-Kanal mit
geführt waren, die entsprechenden Stellen seien gewarnt worden.
Die Konzern-Website der Deutschen Bahn sei »mehrfach für kurze
Zeit nicht erreichbar« gewesen. Die IT-Sicherheitsfirma Sekoia
hat festgestellt, dass im Mai und Juni die persönliche Website von
mehr als 57.000 Followern. Bei den Angreifern handelt es sich um Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zu den meist-
eine Gruppierung namens »NoName057(16)«, die sich auf Über- angegriffenen Zielen zählte. Grundsätzlich attackiere »NoName
lastangriffe (DDoS) spezialisiert hat. Die Gruppe tauchte kurz nach 057(16)« Websites vor allem in der Ukraine und in deren Unter-
Kriegsbeginn im März 2022 erstmals auf Telegram auf. Sie ist auch stützerländern. Im aktuellen Aufruf, der sich auch gegen Polizeibe-
unter dem Namen ihres Angriffswerkzeugs »DDoSia« bekannt hörden und Banken richtet, nehmen die Angreifer Bezug auf deut-
und fiel wiederholt durch Angriffe auf europäische und US-ameri- sche Leopard-2-Lieferungen. Beim Bundesamt für Sicherheit in der
kanische Ziele auf. Laut einem vertraulichen Bericht des Bundes­ Informationstechnik heißt es, man habe am 1. November »einen
innenministeriums habe das Nationale IT-Lagezentrum festgestellt, kurzzeitigen Ausfall einer einzelnen Webpräsenz beobachtet«. Die
dass auch Websites im Bereich des Verteidigungsministeriums auf- Deutsche Bahn wollte sich auf Anfrage nicht äußern. GT, ROL, ROM

20 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023

b-4837521
Türkische Vereine riums auf eine Schriftliche Frage
DIE GEGENDARSTELLUNG
der Bundestagsabgeordneten
im Fokus
Wozu noch arbeiten?
Sevim Dağdelen. Stark wahr­
EXTREMISMUS Das Bundes­ nehmbar seien Aktivisten aus
innenministerium zeigt sich der eher lose organisierten, na­
alarmiert über zunehmend of­ tionalistischen »Ülkücü«-Be­
fen geäußerten Antisemitismus wegung. Dieser Teil der Szene Von Alexander Neubacher Luft auf. Die Experten der
unter türkischen Rechtsextre­ beteilige sich auch an propaläs­ Bundesregierung nennen das:
men in Deutschland. So poste­
ten und teilten Vertreter tür­
kisch-rechtsextremistischer
Dachverbände in den sozialen
tinen­sischen Demonstrationen.
Die Frage nach einem Verbot
von Vereinen der »Ülkücü«-
Bewegung lässt das Ministerium
S tellen Sie sich vor, Sie
lebten mit Ihrer Familie
in München. Ihr Partner
schmeißt den Haushalt, Ihre
»Transferentzugsrate von z.T.
über 100 Prozent«.
Mehr arbeiten für weniger
Geld: Wer ist so blöd und tut
Medien Beiträge, »in denen die offen. Oppositionspolitikerin beiden Kinder, 7 und 13 Jahre sich das an?
Angriffe der Hamas auf Israel Dağdelen wirft der Ampelregie­ alt, gehen zur Schule. Sie ver­ Arbeitsminister Hubertus
unterstützt werden, die israe­ rung vor, zu zögerlich zu sein. dienen 4000 Euro brutto im Heil von der SPD hat vor Kur­
lischen Gegenangriffe verurteilt »Wer es ernst meint mit dem Monat, es reicht zum Leben. zem im Bundestag behauptet:
und die Politik der Bundesre­ Kampf gegen Antisemitismus, Immerhin haben Sie neben »Arbeit macht den Unter­
gierung kritisiert wird, zum darf die faschistischen und isla­ Kindergeld und Kinderzu­ schied, und Arbeit lohnt sich.«
Beispiel als Komplizenschaft mistischen Organisationen des schlag noch Anspruch auf Das ist falsch. Für Zigtausende
›am größten Völkermord des türkischen Präsidenten Erdoğan Wohngeld, damit Sie sich Ihre Menschen mit teils gar nicht
21. Jahrhunderts‹«, heißt es in in Deutschland nicht länger ge­ Miete leisten können. so geringen Einkommen lohnt
einer Antwort des Ministe­ währen lassen.« KOR Da kommt Ihr Chef und sich Mehrarbeit kaum oder
will Sie befördern: mehr gar nicht. Sie stecken in der
Arbeit, mehr Lohn. Statt Twilight Zone des Sozialsys­
Sorge um Mitarbeiter tionsbeschäftigten gegeben ha­ 4000 Euro brutto können Sie tems, irgendwo zwischen För­
ben. Laut geltenden Regelungen künftig 5000 Euro verdienen. dern und Fordern, wo die eine
der Linksfraktion sind Mitarbeiter von Fraktionen Beim Abendbrot freut sich die
ARBEITSAGENTUR Die Bun­ üblicherweise bis zum Ende der ganze Familie. Tolles Ange­ Von tausend Euro
desagentur für Arbeit (BA) be­ jeweiligen Legislatur befristet bot, Schatz! Glückwunsch,
fasst sich auf Wunsch von Abge­ beschäftigt, mit unsicherer An­ lieber Papa, liebe Mama!
mehr Lohn bleiben
ordneten mit der Spaltung der schlussperspektive. Den Fall, Was schätzen Sie: Wie viel null Euro übrig –
Linksfraktion im Bundestag. dass eine Fraktion innerhalb der von den 1000 Euro wird auf wer ist so blöd und
Das erfuhr der SPIEGEL aus
Kreisen der Fraktion und der
Legislatur aufgelöst wird, hat es
im Bundestag jedoch noch nicht
Ihrem Konto ankommen?
Das Beispiel stammt aus
tut sich das an?
Behörde. Konkret geht es um gegeben. Sahra Wagenknecht einer neuen Studie des Wis­ Hand des Staates nicht weiß,
die rund 100 Mitarbeiterinnen und neun weitere Abgeordnete senschaftlichen Beirats beim was die andere tut.
und Mitarbeiter, die durch die wollen eine neue Partei grün­ Bundesfinanzministerium. Es ist ein irrsinniges Sys­
anstehende Auflösung der Frak­ den, womit die Linksfraktion Die Fachleute haben ausge­ tem, und die Ampelregierung
tion absehbar ihren Arbeits­ nicht mehr ausreichend Mitglie­ rechnet, wie sich das deutsche hat mit ihren sogenannten Re­
platz verlieren. Die BA bietet der für den Fraktionsstatus ha­ System aus Steuern, Abgaben formen beim Bürger- und
an, die Betroffenen zu beraten ben wird. Die Auflösung der und Sozialleistungen auf typi­ beim Wohngeld kräftig dazu
und sie bei der Suche nach neu­ Fraktion soll in der kommenden sche Haushalte auswirkt, so­ beigetragen, das System noch
en Jobs zu unterstützen. Schon Woche beschlossen werden. bald diese ihr Einkommen irrsinniger zu machen. Um im
vor einigen Wochen soll es eine Wegen Kündigungsfristen wer­ verändern. Betrachtet werden Beispiel zu bleiben: Für Ihre
Informationsveranstaltung von den die Mitarbeiter nicht sofort Singles, Alleinerziehende mit vierköpfige Familie in Mün­
Mitarbeitern der BA mit Frak­ arbeitslos. TIL einem Kind im Vorschulalter chen reicht die Twilight Zone
und vierköpfige Durch­ von 3320 Euro brutto bis
schnittsfamilien, in München 5050 Euro.
und in Leipzig. Sie können Wie also sollten Sie auf das
Nachgezählt sich die Berechnungen auf der Angebot Ihres Chefs reagie­
Website des Finanzministe­ ren? Womöglich mit einem
Durchschnittliche Dauer der gerichtlichen Asylklageverfahren* in den
Bundesländern in Monaten
riums herunterladen. Gegenangebot: Anstatt mehr
Rund Und hier die Auflösung der zu arbeiten, arbeiten Sie künf­
zum Stichtag 30. Juni 2023**
17
Monate betrug die Verfahrens-
dauer im Bundesdurchschnitt. Schätzfrage: Von den 1000
Euro wird gar nichts auf
tig lieber ein Viertel weniger.
Ihr Bruttolohn sinkt von 4000
Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Berlin Bremen
Sachsen-Anhalt Thüringen Hamburg Hessen Ihrem Konto landen. Kein Euro auf 3000 Euro. Aber das
Cent. Ihre vierköpfige Familie ist nicht schlimm, denn auf
in München wird jeden Monat ihrem Konto haben Sie da­
40
sogar ein paar Euro weniger durch gerade mal 21 Euro we­
30
haben, kein Witz. Die gesam­ niger. Und Sie können aus­
20
te Lohnerhöhung wird an an­ schlafen.
10 dere Stelle, beim Wohngeld So weit die Berechnungen
und beim Kinderzuschlag, an­ der Bundesregierung. Mit
Saarland Mecklenburg- Bayern Nordrhein-Westfalen gerechnet und löst sich so in Grüßen an Hubertus Heil.
Baden- Vorpommern Sachsen Niedersachsen Brandenburg
Württemberg
* in erster Instanz
** Bayern, Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein: Stichtag 30. September 2023 An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
S Quellen: Umfrage der »Deutschen Richterzeitung« bei allen deutschen Verwaltungsgerichten Alexander Neubacher im Wechsel.


und Auskünfte des Bamf

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 21


CHAPPATTES WELT Ungenügende Daten
BESTAT TUNGEN Die Bundes-
anstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin (BAuA) sieht
sich außerstande, mögliche Risi-
ken der umstrittenen Kompos-
tierung von Leichen (SPIEGEL
39/2023) abschließend zu be-
werten. Als Grund nennt die
Leiterin der BAuA-Gruppe
»Biostoffe im Arbeitsschutz« in
einer »Einschätzung bzgl. et-
waiger Gesundheitsgefahren«
mangelnde Transparenz »sei-
tens des Anbieters«, der Circu-
lum Vitae GmbH (Meine Erde).
Das Unternehmen stelle not-
wendige Informationen »nicht
zur Verfügung«. Überdies gebe
es zu der vom Anbieter »Reer-
digung« genannten Methode
»bisher weder öffentlich publi-
zierte unabhängige wissen-
schaftliche Untersuchungen«,
noch seien »die Prozesse in die-
sem Verfahren im Detail öffent-
lich bekannt«. Aktuellen Arbei-
ten des Ausschusses für Biologi-
sche Arbeitsstoffe zufolge kön-
Übergriffiger sie das auserwählte Volk sind, Bruno Kahl habe den Fall ge­ ne jedoch davon ausgegangen
wenn sie in Auschwitz immer genüber Führungskräften und werden, dass »Personen, die
BND-Mann die Selektionstreppe nehmen bei zwei Personalversammlun- aufgrund einer hochinfektiösen
GEHEIMDIENSTE Ein Mitarbei- mussten«, soll der Beamte über gen als »krass und beschä- Erkrankung gestorben sind, nur
ter des Bundesnachrichten- Juden gesagt haben. »Sie müs- mend« bezeichnet. Die Aussa- für eine Feuerbestattung freige-
dienstes (BND) darf trotz anti- sen bei der Kollegin, die immer gen seien »menschenverachten- geben werden«. In einem von
semitischer und sexistischer so griesgrämig guckt, mal Pus- der Müll«, sie machten ihn Circulum Vitae in Auftrag gege-
Entgleisungen im Dienst blei- syslapping machen«, sagte er ­»fassungslos«. Der BND hatte benen Gutachten, das dem Pi-
ben. Das geht aus einem Urteil demnach ebenso. »Da hauen Disziplinarklage erhoben. Das lotprojekt zugrunde liegt, hatte
des Bundesverwaltungsgerichts Sie ihr von hinten mal zwischen Bundesverwaltungsgericht der Autor ohne jeden Beleg be-
hervor, das im März veröffent- die Beine, und wenn Sie Glück sprach eine Zurückstufung so- hauptet, die bei der beschleu-
licht wurde. Kolleginnen und haben, dann grüßt Ihr Handbal- wie ein zweijähriges Beförde- nigten Verwesung entstehende
Kollegen hatten über zahlreiche len ihre Schamlippen.« Die rungsverbot gegen den Beam- »natürliche Wärme« zerstöre
solcher Äußerungen des Man- ­Kollegin freue sich dann »end- ten aus. Eine Entfernung des »schädliche Krankheitserreger
nes berichtet. »Na da muss ich lich mal richtig«. Ein Sprecher Beamten aus dem Dienst hatte und sogar Medikamentenreste
dann auch mal fragen, warum des BND teilte mit, BND-Chef der BND nicht beantragt. FIS, ROL in der Leiche«. GLA

Lücke im Ganztag 73 Prozent der Eltern eine Be- Wein in den Gully land wurde 2020 und 2021 kein
treuung ihrer Kinder am Nach- Wein mit EU-Geldern entsorgt,
SCHULEN Der Ausbau der mittag wünschen. Diesen Be- EU-SUBVENTIONEN Die EU 2023 wird mit sechseinhalb Mil-
Ganztagsbetreuung für Grund- darf hatte das Bundesfamilien- hat seit 2014 fast eine Milliarde lionen Euro gerechnet. 522 Mil-
schulkinder wird den wachsen- ministerium für das Jahr 2022 Euro für die Vernichtung von lionen Euro hat die EU seit
den Bedarf voraussichtlich ermittelt. Allerdings, schreibt Lebensmitteln ausgegeben, fast 2014 aufgewendet, um andere
nicht decken können. Bis zum der Forscher, sei die Lage in den die Hälfte davon für Wein. Das Lebensmittel zu vernichten.
Schuljahr 2029/2030 fehlen in Bundesländern sehr unterschied- geht aus einer Antwort der EU- ­Agrarkommissar Janusz Wojcie-
Deutschland noch 700.000 lich. Während in Hamburg 99 Kommission auf eine Anfrage chowski verweist auf »Maßnah-
Plätze. Das geht aus einem bis- Prozent der Eltern ihre Kinder des FDP-Europaabgeordneten men zur Stabilisierung der
her unver­öffentlichten Kurzbe- in eine Ganztagsbetreuung schi- Moritz Körner hervor. Dem- Agrar­märkte«. Teilweise würden
richt des Instituts der deutschen cken möchten, liege der Anteil nach wurden allein 2020 und Lebensmittel vorübergehend
Wirtschaft (IW) in Köln hervor. im angrenzenden Schleswig- 2021 mehr als 290 Millionen vom Markt genommen und spä-
Der Rechtsanspruch auf eine Holstein nur bei 57 Prozent. Euro aufgewendet, um Wein zu ter verkauft. Warum das nicht
Nachmittagsbetreuung in der Ursache dafür, glaubt Geis-­ entsorgen. In diesem Jahr rech- mit dem Wein geschah, ließ er
Grundschule gilt für alle Kinder, Thöne, seien die ­regional unter- net die Kommission mit weite- offen. Die EU müsse die Wett-
die ab Sommer 2026 einge- schiedlichen Qualität der Ange- ren gut 175 Millionen. Von den bewerbsfähigkeit stärken, for-
schult werden. Der Ökonom bote – und die Kosten. Hamburg insgesamt 468 Millionen Euro dert FDP-Mann Körner, »nicht
Wido Geis-Thöne nahm für sei- erhebt für seine Ganztagsplätze entfielen rund 252 Millionen auf die Subventionierung von Wett-
ne Berechnungen an, dass bislang keine Gebühren. OLB französischen Wein. In Deutsch- bewerbsunfähigkeit«. MBE

22 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


»Demokratie ist tretern von jüdischen Gemein-
den spreche. Demokratie ist
kompliziert« nicht einfach. Aber es lohnt
Nordrhein-Westfalens Justiz­ sich, für unseren demokrati-
minister Benjamin Limbach, 54 schen liberalen Staat einzuste-
(Grüne), erklärt, wie er gegen hen. Besser im Detail an stren-
antisemitischen Hass auf pro­ gen Auflagen arbeiten als unser
palästinensischen Demonstra­ Grundrecht der Versammlungs-
tionen vorgehen will. freiheit aufgeben wie in einem
totalitären Staat. Bei den ersten
SPIEGEL: Herr Limbach, im Demonstrationen etwa wurde
­ ergangenen Freitag haben
v die Parole »From the river to

Jost Schowe / DER SPIEGEL


rund 3000 Menschen in Essen the sea« gerufen. Das werden
demonstriert und dabei unter wir nicht mehr zulassen, da da-
anderem die Scharia und ein mit das Existenzrecht Israels an-
Kalifat propagiert. Warum gegriffen wird. Wir müssen mit
­dürfen Islamisten in Nordrhein- jeder Demonstration schlauer
Westfalen so auftreten? werden. Und wir müssen die

»Wenig zimperlich bei


Limbach: Das Versammlungs- Spielräume ausreizen, die uns
recht ist ein sehr hohes Rechtsgut. das Versammlungsrecht bietet.

der Kopulation«
Wichtig ist, jede einzelne De­ SPIEGEL: Was ist mit weiteren
monstration gut zu beobachten: Verboten von bestimmten
Wer meldet an? Was genau wird Gruppierungen?
gesagt? Was steht auf den Trans- Limbach: Ich finde es richtig,
DER AUGENZEUGE Viktor Hartung, 43, Zoologe vom
parenten? Die propalästinensi- dass das Bundesinnenministe-
schen Demonstrationen in NRW rium weitere Verbote prüft. Es LWL-Museum für Naturkunde in Münster, hat die
verliefen bisher nicht gewalttätig, kann uns als Demokraten nicht Bevölkerung aufgerufen, ihm Bettwanzen zu schicken.
ich halte das für einen Erfolg. kalt lassen, wenn jüdische Kin-
Jetzt muss der Rechtsstaat deut­ der an Schulen bewacht werden »Die Bettwanze hat einen Wir bitten die Bürgerinnen
liche Antworten auf Straftaten müssen. Jetzt gilt: Klare Kante ­miserablen Ruf. Dabei wissen und Bürger gern um Hilfe bei
finden – und das wird er auch. zeigen gegen die Gruppierun- die meisten Menschen nicht unseren Forschungsprojekten.
SPIEGEL: Derzeit läuft nach der gen, die uns einschüchtern und mal, wie die Tiere aussehen. Citizen Science, so der Fach­
Essener Demonstration nur ein die Freiheit nehmen wollen, Und diejenigen, die tatsäch- begriff, hat aber noch einen
Ermittlungsverfahren. Warum? eine Freiheit, die jedem Men- lich schon einmal Bekannt- Vorteil: Die Menschen lernen
Limbach: Wegen aller strafbaren schen in Deutschland zusteht. schaft mit Bettwanzen ge- selbst allerhand dabei. Wer
Handlungen aus Demonstratio- SPIEGEL: Inzwischen gibt es macht haben, sprechen oft tatsächlich Bettwanzen im
nen heraus wird ermittelt. Un­ weitergehende Forderungen: nicht darüber. Vermutlich Haus findet, muss nicht in Pa-
sere liberale Gesellschaftsord- Strafverschärfung bei antisemi- aus Scham. Man möchte ja nik verfallen. Die Tiere sind
nung wird gefährdet, wenn nach tischen Delikten, Entziehung nicht, dass die Leute denken, unangenehm, aber nicht ge-
einem Kalifat gerufen wird oder der Staatsbürgerschaft bei Dop- man würde zu selten putzen. fährlich – zumindest solange
die völkerrechtswidrigen Ver- pelstaatlern. Können Sie da als Dabei hat Bettwanzenbefall ein Mensch nicht allergisch re-
brechen der Hamas verherrlicht Grüner mitgehen? nichts mit Hygiene zu tun, agiert. Schädlingsbekämpfer
werden – darauf wird es klare Limbach: Zuallererst müssen das ist ein Mythos. können die ungebetenen Mit-
Reaktionen geben. wir das geltende Recht anwen- Seit einigen Jahren ist die bewohner in den meisten Fäl-
SPIEGEL: Auch wenn juristisch den. Wir verschließen uns nicht Bettwanze hierzulande auf len beseitigen.
wenig übrig bleibt? Überlegungen zur Ausschärfung dem Vormarsch. Wir möchten Mich faszinieren Wanzen
Limbach: Wir haben es mit oder Ausweitung des Volksver- herausfinden, wie weit sich die seit Langem, es gibt weltweit
Menschen zu tun, die sehr ge- hetzungsparagrafen. Aktuell Tiere verbreitet haben. Nach ungefähr 45.000 Arten. Blut-
schickt vorgehen. Zugleich ha- sind repressive Maßnahmen unserem Aufruf über unsere sauger wie die Bettwanze sind
ben die Behörden gute Erfah- notwendig, aber wir brauchen Website und die sozialen Me- eher die Ausnahme. Die Bett-
rungen damit gemacht, bei Ver- auch Prävention und politische dien haben wir Päckchen aus wanzen, wie wir sie hier ken-
sammlungen immer klarere Bildung. Jedem Menschen, der verschiedenen Teilen des Lan- nen, haben ein außergewöhn-
Auflagen zu machen, zum Bei- in diesem Land lebt, ganz be- des bekommen. Nur bei etwa liches Liebesleben. Das Ge-
spiel bei Demonstrationen von sonders denen, die zu uns kom- einem Fünftel der Einsendun- schlechtsteil des Männchens
Rechtsextremisten. Diese Er­ men und Deutsche werden gen handelte es sich tatsäch- ähnelt einem Dolch. Den boh-
fahrungen nutzen wir, um zu ­wollen, muss bewusst sein: Die lich um Bettwanzen. Häufiger ren sie dem Weibchen einfach
lernen: Welche Auflagen Sicherheit des Staates Israel schickten die Leute Marmo- durch die Körperwand. Insek-
­werden wir bei der nächsten ist kein Lippenbekenntnis, sie rierte Baumwanzen, auch eine ten sind grundsätzlich wenig
Ver­anstaltung machen? ist unsere Staatsräson. TGK Assel war dabei. Die Tiere zimperlich bei der Kopulation
SPIEGEL: Sind Auflagenver- sollten bereits tot sein, wenn – aber warum Bettwanzen seit
schärfungen ein geeignetes Mit- Limbach sie auf den Postweg gebracht Millionen Jahren so brutal
tel gegen offenen Hass? werden. Wir empfehlen, sie miteinander umgehen und sich
Limbach: Ich kann verstehen, für eine Nacht in den Gefrier- diese Form der Fortpflanzung
dass Menschen durch solche schrank zu legen. Denn wir in der Evolution durchgesetzt
David Young / dpa

Versammlungen beunruhigt wollen die Verbreitung der hat, kann die Forschung bisher
sind, das bin ich auch. Ich neh- Wanzen ja erforschen – und nicht hinreichend erklären.«
me diese Ängste und Sorgen nicht dazu beitragen. Aufgezeichnet von Miriam Olbrisch
auch wahr, wenn ich mit Ver­

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

Sachelle Babbar / ZUMA Press / ddp

Ukrainische Demonstrantin in München: Die Einigkeit der EU bröckelt

Einsam in Kiew
UKRAINEKRIEG Düstere Aussichten für die Ukraine – es mangelt an Waffen, die USA beginnen sich
­abzuwenden, und ein Beitritt zur EU liegt in weiter Ferne. Lässt der Westen das Land im Stich?

24 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


DEUTSCHLAND

W »Die Erschöpfung
olodymyr Selenskyj gab sich große Bundes­tags. »Mehr finanzielle Hilfe für die
Mühe, seine Freude über den hohen Ukraine wäre für die EU leichter zu leisten
Besuch aus Brüssel zu zeigen. Der über den Krieg rollt wie als mehr militärische Hilfe.«
ukrai­nische Präsident eilte eigens zum Bahnhof,
um EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
eine Welle heran.« Politiker und Militärs sehen auch Deutsch-
land nicht in der Lage, seine militärische H
­ ilfe
der Leyen zu begrüßen. Ausgebreitete Arme, Wolodymyr Selenskyj für die Ukraine auszuweiten. Die spärlichen
Küsschen links, Küsschen rechts. Von der Bundeswehrbestände gäben nichts mehr her,
­Leyen, am Revers eine gelb-blaue Schleife, hielt heißt es. Die Industrie müsse schneller pro-
eine kurze Ansprache. »Dieser Zug ist eine duzieren.
Legende«, sagte sie über das Gefährt, mit dem Für die Ukraine käme ein Ende der US-Hil- Aus Berliner Regierungskreisen ist zu hören,
sie seit dem Beginn von Russlands Angriffs- fe einer Katastrophe gleich. Nach rund 600 Ta- die deutsche Hilfe für die Ukraine werde trotz
krieg schon sechsmal nach Kiew gekommen gen Krieg ist der Mangel in der ukrainischen der neuen Entwicklungen weitergehen. »Wir
ist – öfter als Kanzler Olaf Scholz und Außen- Armee groß. Ganz oben auf der Prioritäten- brauchen eine grundsätzliche Strategie, mit
ministerin Annalena Baerbock zusammen. liste Kiews sind Waffen für die Luftverteidigung welchen weiteren militärischen Mitteln und
Der Besuch am vergangenen Wochenende – von tragbarem Gerät wie Stingerraketen bis Systemen wir und unsere europäischen Partner
war für die Ukraine wichtig, das Land ist in hin zu hochmodernen Raketenabwehrsyste- die Ukraine noch effektiver unterstützen kön-
einer zunehmend schwierigen Lage. An der men wie Iris-T. Dringend benötigt werden in nen«, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann,
Front geht es kaum voran, nur eine massive diesem Abnutzungskrieg auch Artillerie und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im
Steigerung der westlichen Militärhilfe könn- Mittel der elektronischen Kampfführung zur Bundestag. Das gelte »losgelöst von der poli-
te helfen. Doch danach sieht es nicht aus: Der Abwehr russischer Drohnen. tischen Lage in den Vereinigten Staaten«. Auch
neue Nahostkrieg kostet die Ukraine große In der Bundesregierung ist man stolz da­ der FDP-Verteidigungsexperte Marcus Faber
Teile der Aufmerksamkeit des Westens. Die rauf, nach den USA der größte Geber militä- findet, Deutschland als g­ rößte Volkswirtschaft
USA werden ihre Unterstützung womöglich rischer Hilfe für Kiew zu sein. Allein: Die Hil- in Europa solle mehr helfen – »um die Inva-
zurückfahren, die EU wird dies auch nur an- fe reicht nicht aus, dass die Ukraine den Krieg sionstruppen zur Heimreise zu motivieren«.
satzweise kaum auffangen können. gewinnt. Sie reicht womöglich nicht einmal, Das aber ist leichter gesagt als getan. So
Russlands Angriff hatte erst wenige Stun- dass die Ukraine den Krieg nicht verliert, wie hat das Bundesverteidigungsministerium wei-
den zuvor begonnen, als die Staats- und Re- es Kanzler Scholz immer wieder formuliert. tere Anschaffungen für Kiew versprochen.
gierungschefs der EU im Februar 2022 den Zwar hat die EU der Ukraine mit Abstand Im Geldtopf für die Ukrainehilfe 2024 fehlten
ersten Krisengipfel abhielten. Selenskyj war die größten Geldsummen zugesagt, bis Ende dafür bislang rund 5,2 Milliarden Euro – etwa
zugeschaltet – und sei »ernsthaft und würde- Juli waren es rund 77 Milliarden Euro. Doch für Luftverteidigung, Panzer, Reparaturen.
voll« aufgetreten, wie EU-Ratspräsident bei der rein militärischen Hilfe geht nichts Nach SPIEGEL -Informationen wird es der
Charles Michel damals lobte. ohne die USA. Sie haben der Ukraine bislang Bundesregierung nur mit Tricks gelingen, das
Seitdem hat Selenskyj es meisterhaft ver- Rüstungsgüter im Wert von gut 42 Milliarden Loch jetzt zu stopfen.
standen, Politik über die Medien zu machen. Euro geliefert, mehr als alle EU-Staaten Der Etat, aus dem sich die Ukrainehilfe
Immer wieder setzte er die westlichen Regie- ­zusammen. Von diesen kamen bisher rund speist, soll um sechs Milliarden Euro aufge-
rungen unter moralischen Druck, ihm Waffen, 25 Milliarden Euro an Militärhilfe, der Groß- stockt werden: Vier Milliarden stammen aus
Munition und Geld für den Abwehrkampf teil davon aus Deutschland. der nicht ausgeschöpften sogenannten Flücht-
gegen Russland zu geben. Schockierende Bil- Sollte die US-Waffenhilfe für die Ukraine lingsrücklage und dem konjunkturbedingt
der zerstörter Städte und getöteter Zivilisten wegbrechen, könnten die Europäer das un- größeren Spielraum für Neuverschuldung;
halfen ihm, seiner Botschaft Nachdruck zu möglich kompensieren, darin sind sich alle zwei Milliarden werden als Verpflichtungs-
verleihen. Experten einig. »Das zeigt einmal mehr, wie ermächtigung ausgegeben und schlagen damit
So gelang es Selenskyj nach und nach, sehr wir militärisch von den USA abhängen«, erst im nächsten Haushaltsjahr zu Buche. Da-
schwere Artillerie, moderne Flugabwehrsys- sagt der Grünenpolitiker Anton Hofreiter, mit hätte die Bundesregierung Luft für wei-
teme, Leopard-2-Panzer und sogar F-16-­ Vorsitzender des Europaausschusses des tere Waffenlieferungen, jedenfalls fürs Erste.
Kampfflugzeuge zu bekommen – alles Waf- Von der neuen slowakischen Regierung hat
fensysteme, deren Lieferung an die Ukraine sich die Bundesregierung nach SPIEGEL -­
vormals undenkbar schien. Informationen zudem die Zusicherung einge­
Seit dem 7. Oktober aber ist es mit der holt, das dort eingerichtete Reparatur­zentrum
­großen Aufmerksamkeit vorbei. Terroristen für militärisches Großgerät weiterbetreiben
der Hamas massakrierten mehr als 1400 Isra­ zu können – obwohl Regierungschef Robert
elis, der Westen blickt auf den Nahen Osten, Fico »keinen Schuss Munition« mehr an die
wo ­Israels Gegenangriff auf den Gazastreifen Ukraine liefern will.
einen Flächenbrand auszulösen droht. Was aber, wenn sich die Haushaltslage ver-
Insbesondere in den USA beschleunigt schärft – oder in den USA womöglich Donald
dies eine Abwendung von der Ukraine. Zwar Trump wieder Präsident wird? Fragen, über
hat Präsident Joe Biden weitere 106 Mil­ die man in Berlin lieber nicht laut nachdenkt.
Ukrainian Presidential Press Ser vice / REUTERS

liarden Dollar für Israel, die Ukraine und Auf EU-Ebene ist keine signifikante Steige-
Pazifik­anrainer beim Kongress beantragt. rung der Ausgaben für die Ukraine in Sicht.
Die Republikaner aber stellen sich quer. Kürzlich hat die Kommission vorgeschlagen,
Ihr neuer Chef im Repräsentantenhaus, 50 Milliarden Euro für die Jahre 2024 bis 2027
Mike Johnson, will 14 Milliarden Dollar für in den EU-Haushalt einzuplanen, um die Hil-
Israel, aber keinen Cent für die Ukraine fe für Kiew zu verstetigen. Die Summe ist nicht
durchwinken. Und im Senat wollen die umstritten, im Detail aber gibt es Dissens.
­Republikaner das Geld für Kiew nur dann So sollen nach Vorstellungen der Kommis-
freigeben, wenn die US-Regierung die Asyl- sion rund zwei Drittel der 50 Milliarden aus
regeln verschärft. Krediten an die Ukraine bestehen, der Rest
Staatschef Selenskyj, EU-Kommissions­ würde geschenkt. Die meisten EU-Staaten
* In Kiew am 4. November. präsidentin von der Leyen* sind allerdings selbst klamm, einige wollen

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

den Geschenkeanteil lieber verkleinern, was ter Ferne, wie sich diese Woche in Brüssel in Richtung Autokratie abgedriftet sind und
sich innenpolitisch leichter verkaufen ließe. zeigte – falls er überhaupt jemals stattfindet. die EU nahezu ohnmächtig dabei zusehen
»In 20 Jahren ist von den heutigen Entschei- In Kiew versuchte von der Leyen am Wo- musste. »Die Kriterien, die für eine formale
dungsträgern niemand mehr im Amt, der den chenende noch, gute Stimmung zu verbreiten. Mitgliedschaft erforderlich sind, müssen ein-
Menschen dann erklären müsste, dass die Die Ukraine habe auf dem Weg in die EU gehalten werden«, sagt Katarina Barley, Vize-
Kredite nicht zurückgezahlt werden«, lästert »große Fortschritte« gemacht, sagte sie den präsidentin des EU-Parlaments und ehe­
ein Insider. Abgeordneten im ukrainischen Parlament. malige Bundesjustizministerin. »Hier darf
Zudem macht sich in der EU Kriegsmüdig- »Viel größere, als man sie von einem Land, kein Auge zugedrückt werden.«
keit breit. Selenskyj hat das kürzlich in einem das sich im Krieg befindet, erwarten kann.« Um EU-Mitglied zu werden, muss ein Land
Interview beklagt. »Das Erschreckendste ist, Am Mittwoch aber zeigte sich der Unter- über stabile Institutionen verfügen, die De-
dass sich ein Teil der Welt an den Krieg in der schied zwischen warmen Worten und der mokratie und Rechtsstaat absichern. Es muss
Ukraine gewöhnt hat«, sagte der ukrainische kalten Realität des EU-Beitrittsprozesses. über eine funktionsfähige Wirtschaft verfü-
Präsident dem »Time«-Magazin. »Die Er- Die Kommission empfahl den EU-Staaten, gen, auch um dem Wettbewerbsdruck im EU-
schöpfung über den Krieg rollt wie eine Wel- dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Binnenmarkt standhalten zu können.
le heran. Man sieht das in den Vereinigten der Ukraine zuzustimmen. In Brüssel gilt es Vor allem muss die Ukraine vor einem Bei-
Staaten, in Europa.« als wahrscheinlich, dass die Staats- und Regie- tritt den gesamten sogenannten Acquis der
Skepsis herrscht vor allem in Deutschland, rungschefs dem beim nächsten Gipfel Mitte EU übernehmen: Sie müsste nicht nur in der
wie eine aktuelle Umfrage des German Mar- Dezember folgen werden. Doch viel mehr als Lage sein, alle Rechtsvorschriften der EU zu
shall Fund in den USA, Kanada und zwölf ein Symbol ist das nicht. Von der Leyen sagte erfüllen, sondern auch deren völkerrecht­
europäischen Ländern ergab. Nirgendwo fie- auch, dass man mit der ersten Gesprächsrunde lichen Verträge und Abkommen mit anderen
len die Antworten zur Ukraine negativer aus warten solle, bis die Ukraine alle Bedingungen Staaten und Organisationen. Allein das nimmt
als in Deutschland. erfüllt habe, etwa bessere Korruptions­ üblicherweise Jahre oder Jahrzehnte in An-
Finanzielle Hilfe befürworteten im Schnitt bekämpfung und mehr Minderheitenschutz. spruch. Erschwerend kommt hinzu, dass der
69 Prozent aller Befragten, in Deutschland Das legte das Dilemma der EU offen. Die Beitrittsprozess anfällig ist für Querschüsse
waren es 57 Prozent. Der Nato-Beitritt der Aufnahme der Ukraine sei »eine geopolitische und Erpressungsversuche. Denn jeder Schritt
Ukraine fand in allen Ländern teils deutliche Notwendigkeit«, sagte Außenministerin Baer­ – vom Start der Verhandlungen über die Er-
Mehrheiten – in Deutschland waren nur bock vergangene Woche. »Wir können uns in öffnung einzelner Kapitel bis hin zur finalen
45 Prozent dafür. Für die EU-Mitgliedschaft Europa keine Grauzonen mehr leisten.« Aufnahmeentscheidung – muss einstimmig
der Ukraine waren im Durchschnitt aller Län- Das ist die eine Seite. von allen EU-Ländern beschlossen werden.
der 63 Prozent, in Deutschland 49 Prozent. Auf der anderen Seite muss die EU auf die Schon jetzt befürchten Diplomaten, dass
Dabei müssen sich die deutschen Ukraine- Einhaltung der Beitrittskriterien achten – das Ungarn die Eröffnung der Beitrittsverhand-
skeptiker über einen EU-Beitritt der Ukraine gilt unter den EU-Staaten als Konsens, spä- lungen beim Gipfel im Dezember torpedieren
vorerst keine Sorgen machen. Er liegt in wei- testens seitdem Staaten wie Ungarn und Polen könnte. Budapest hat seine Bedenken bisher

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offiziell mit dem mangelnden Schutz der nach der Erweiterung von 2004«. Zudem
ungarischen Minderheit in der Ukraine be- Europa verspricht am meisten könnten Millionen Ukraineflüchtlinge, die
gründet. Kritiker argwöhnen, dass Ungarns wohl in der EU bleiben würden, den »massi-
Regierungschef Viktor Orbán in Wahrheit die Höchste zugesagte staatliche Unterstützung* ven Arbeitskräftemangel lindern«.
für die Ukraine, nach Art der Hilfe, in Mrd. Euro
wegen Rechtsstaatsverstößen blockierten EU- Bevor es so kommt, müsste aber zunächst
Fördermilliarden freipressen will. militärisch humanitär finanziell** das größte Hindernis für einen Beitritt der
Der Streit ums Geld könnte auch zu einem Ukraine aus dem Weg geräumt werden: der
EU-Institutionen
späteren Zeitpunkt als Bremse wirken – etwa Krieg mit Russland. In welchem Fall er als
77,1 84,8
wenn anderen Mitgliedsländern dämmert, beendet gelten würde, ist unklar. Wenn die
was der Beitritt der Ukraine für den EU-Haus- USA Russen vollständig vom Gebiet der Ukraine
halt und ihre Zuschüsse bedeuten würde. Die 42,1 23,9 69,5 vertrieben sind? Wenn es einen Friedensver-
Kohäsionsmittel, die Unterschiede zwischen Deutschland trag gibt? Oder genügt es, wenn die Waffen
ärmeren und reicheren Mitgliedern ausglei- 17,1 20,9 lange genug geschwiegen haben?
chen sollen, und die Agrarbeihilfen machen Vereinigtes Königreich Für die EU sind diese Fragen auch deshalb
zusammen rund zwei Drittel des EU-Haus- 13,8 brisant, weil sie eine ähnliche Beistandsklau-
halts aus. Sie wären von einem Beitritt der sel wie die Nato hat: Bei einem bewaffneten
Norwegen
stark von Landwirtschaft geprägten Ukraine Angriff auf ein Mitglied »schulden die ande-
7,4
massiv betroffen. ren Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht
* umfasst bilaterale Zusagen, ohne private Spenden
Nach jüngsten Berechnungen des Centre ** ohne explizite Zusagen für Militärhilfe stehende Hilfe und Unterstützung«, heißt es
for European Policy Studies würde die S Quelle: IfW Kiel; Zusagen vom 24. Jan. 2022 bis 31. Juli 2023 in Artikel 42 des EU-Vertrags. Anders als
‚

­Ukraine, wäre sie heute Mitglied der EU, beim Verteidigungsbündnis Nato aber ist das
­netto 18 bis 19 Milliarden Euro pro Jahr aus kürzlich durchgesickerte interne Berechnung Beistandsversprechen der EU leer, da es nicht
dem EU-Haushalt erhalten. Zum Vergleich: der EU kam sogar auf 96,5 Milliarden. Die von militärischer Macht gedeckt ist.
Polen, in absoluten Zahlen mit Abstand größ- Landwirtschaftsförderung richtet sich vor al- »Die Aufnahme der Ukraine in die Nato
ter Netto­empfänger, erhielt 2022 netto knapp lem nach der bewirtschafteten Fläche, und sollte parallel zum EU-Beitritt verlaufen«,
12 Milliarden Euro. die Ukraine würde über rund ein Fünftel der fordert deshalb Grünenpolitiker Hofreiter.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt nach gesamten EU-Agrarfläche verfügen. Doch für einen Beitritt zur Nato gilt noch
SPIEGEL -Informationen der einflussreiche Zwar betont Bruegel-Ökonom Zsolt Dar- mehr als für den zur EU, dass er erst nach dem
Thinktank Bruegel in einer noch unveröffent- vas, dass der Beitritt der Ukraine für die EU Ende des Kriegs mit Russland vorstellbar ist.
lichten Studie. Demnach würden der Ukraine ein großer wirtschaftlicher Gewinn wäre. Er Was dann von der Ukraine übrig sein wird,
nach heutigem Stand allein an Agrargeldern würde »einen enormen Schub für den Binnen- weiß niemand.
rund 85 Milliarden Euro aus dem Sieben-Jah- markt mit massiven Geschäftsmöglichkeiten Markus Becker, Marina Kormbaki,
res-Finanzrahmen der EU zustehen – eine für EU-Unternehmen bedeuten, ähnlich wie Severin Weiland n
DEUTSCHLAND

Identifikation mit den Palästinensern ist dort


groß – der Krieg in Nahost eint die ansonsten
gespaltene Bevölkerung in der Türkei. Im
kommenden März finden Kommunalwahlen
statt, die für Erdoğan wichtig sind. Besonders
die Stadt Istanbul, wo er einst selbst Ober-
bürgermeister war, will Erdoğan für seine
AK-Partei zurückgewinnen.
Scholz hat kein Interesse an einem Zer-
würfnis mit Erdoğan, nachdem Berlin und
Ankara zuletzt aufeinander zugegangen sind.
Noch bis vor wenigen Jahren galt Erdoğan in
Berlin als Paria, weil er auf den Putschversuch
2016 in seinem Land mit massiver Repression
reagiert hatte. Oppositionelle, Bürgerrechtler

Michael Kappeler / picture alliance / dpa


Zitat groß und Journalisten wurden verfolgt und ein-
gesperrt, nicht wenige flüchteten nach
Marginalie Deutschland. Erdoğan ist seinem autoritären
hier wären Kurs treu geblieben, doch die Kritik an ihm
fünf Zeilen ist leiser geworden. Stattdessen ist im politi-
schen Berlin immer häufiger die Einschätzung
sehr schön zu hören, man brauche Erdoğan.
Zitat Autor Der türkische Staatschef ist zum einfluss-
Staatsmänner Scholz, Erdoğan 2022: »Nicht mehr als eine trockene Anstandsformel« reichen geopolitischen Akteur aufgestiegen.
Im Ukrainekrieg gilt er als möglicher Mittler
zwischen Moskau und Kiew. Auf Erdoğans
Betreiben kam das Abkommen zustande, das

Partner wider Willen


den Export ukrainischen Getreides über das
Schwarze Meer sicherstellte, bis es im Som-
mer von Russland aufgekündigt wurde.
Und auch wenn sich Erdoğan gegen Israel
und für die Hamas aussprach, hält man es in
DIPLOMATIE Kanzler Olaf Scholz wird den türkischen Berlin für nicht ausgeschlossen, dass der tür-
kische Präsident eine gewichtige Rolle spielen
Präsidenten trotz dessen antiisraelischer Hetze in Berlin empfangen. kann bei der Suche nach einer Friedenslösung
Aus deutscher Sicht gibt es wichtigere Interessen – in Nahost. Auch darüber werden Scholz und
vor allem ein neues Migrationsabkommen mit Ankara. er sprechen, wenn der Kanzler den Präsiden-
ten am kommenden Freitagabend zum Drei-
Gänge-Menü im Kanzleramt empfängt.

F
orderungen lassen sich besonders gut »ob wir den türkischen Staatspräsidenten vor Selbst Außenministerin Annalena Baer-
erheben, wenn man wenig Verantwor- diesem Hintergrund in Deutschland empfan- bock, die bei ihrem Antrittsbesuch in der Tür-
tung trägt. Dieses Prinzip hat sich nicht gen sollten«. kei im Sommer 2022 mit ihrem damaligen
nur die CDU in der Opposition, sondern auch Auch im sozialdemokratisch geführten Amtskollegen auf offener Bühne stritt, gibt
die Regierungspartei FDP zu eigen gemacht. Kanzleramt und im grünen Außenministerium sich zuvorkommend. Kürzlich hatte ihr Haus
Die Liberalen haben sich zwar beim Eintritt sieht man die Aussagen des türkischen Präsi- zu einer Europakonferenz nach Berlin mit
in die Ampelkoalition gegen das Auswärtige denten als skandalös an. Allerdings hält man Vertretern aller EU-Beitrittskandidaten ein-
Amt oder ein anderes außenpolitisches Mi- dort die Idee, Erdoğan auszuladen, für falsch. geladen. Obwohl in der Bundesregierung
nisterium entschieden. Doch es tönt aus der Dann könne man auch den Emir Katars, den kaum einer mehr an einen EU-Beitritt der
Partei von Finanzminister Christian Lindner König Jordaniens oder den Präsidenten Ägyp- Türkei glaubt, war es Baerbocks ausdrück­
oft besonders laut, wenn es darum geht, wie tens nicht mehr empfangen. Auch die hätten licher Wunsch, dass auch ihr neuer türkischer
man sich Regierungen gegenüber verhalten den Terror der Hamas verharmlost oder zu- Amtskollege Hakan Fidan zur Konferenz
soll, die nicht die westlichen Werte teilen. mindest nicht beim Namen genannt. kommt. Berlin scheint ein neues Kapitel in
Aktuelles Beispiel: der für kommende In deutschen Diplomatenkreisen hat man den deutsch-türkischen Beziehungen auf-
­Woche geplante Besuch von Recep Tayyip für plakative Forderungen wie die der FDP schlagen zu wollen.
Erdoğan in Berlin. »Eine Reise des türkischen einen Ausdruck parat: »Micky-Maus-Politik«. Aus Baerbocks Partei aber kommen mah-
Präsidenten nach Deutschland wäre zum jet- Soll heißen, die Realität sei komplizierter als nende Stimmen, Erdoğan nicht mit Samt-
zigen Zeitpunkt höchst problematisch«, sag- eine Welt wie bei Disney. handschuhen anzufassen. »Der rote Teppich
te der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsit- Nur steht eben hinter den unterschied­ kann für Präsident Erdoğan ausgerollt wer-
zende Konstantin Kuhle. Erdoğan sei ein lichen Meinungen ein reales Problem. Der lan- den, aber es ist dann auch nicht mehr als eine
»rhetorischer Brandstifter«. ge geplante Besuch Erdoğans ist durch dessen trockene Anstandsformel«, sagt der grüne
Gemeint waren die unsäglichen Attacken jüngste Äußerungen zu einer diplomatischen Bundestagsabgeordnete Max Lucks, Vorsit-
des Präsidenten gegen Israel nach dem Terror- Gratwanderung für die Deutschen geworden. zender der Deutsch-Türkischen Parlamenta-
angriff der Hamas vom 7. Oktober. Erdoğan Für Kanzler Olaf Scholz stand es nicht zur riergruppe. »Die Tatsache, dass Präsident
hatte den israelischen Minister­präsidenten Debatte, Erdoğan nach seinem Lob für die Erdoğan und die Türkei sich entschieden ha-
Benjamin Netanjahu als »Terroristen« be- Hamas abzusagen. Im Kanzleramt deutet man ben, auf der Seite der islamistischen Terror-
zeichnet und die Hamas als »Freiheitskämp- die klare Parteinahme des türkischen Präsi- organisation Hamas zu stehen, muss politisch
fer«. Es sei »mehr als fraglich«, sagte darauf- denten als Zugeständnis an die breite propa- genauso wie auf dem Feld der militärischen
hin FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, lästinensische Stimmung in seinem Land. Die und wirtschaftlichen Zusammenarbeit Kon-

28 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


DEUTSCHLAND

sequenzen haben.« Lucks fordert, als er Ende Oktober in die Türkei reis- Wie reagiert dann der Kanzler?
Scholz müsse den türkischen Präsi- te. Der Vizekanzler bekam Hinweise, Erdoğans Darüber machen sich Scholz’ Leute
denten auf die fatalen Auswirkungen dass die Türken sich bewegen könn- Israelpolitik jetzt viele Gedanken. Öffentliche
seiner Tiraden gegen Israel und damit ten, etwa in der Migrationsfrage. Das Auftritte plant Erdoğan nicht. Ein Be-
Februar 2007
implizit auch gegen Jüdinnen und Ju- Land ist in seiner aktuellen Lage auf Israels Premier
such des Fußballspiels Deutschlands
den weltweit hinweisen. Es sei nicht Geld und gute Wirtschaftsbeziehun- Ehud Olmert bittet gegen die Türkei am 18. November
die Zeit für neue Versprechungen gen angewiesen. Präsident Recep im Berliner Olympiastadion habe ent-
gegenüber der Türkei. Wirtschaftlich könnten Deutsch- Tayyip Erdoğan um gegen anderslautenden Berichten nie
Vermittlung im
Im Kanzleramt sieht man das et- land und die Türkei nicht enger ver- Konflikt mit Syrien.
zur Debatte gestanden, heißt es in
was anders. Als eines der wichtigsten bunden sein. Fast 8000 Unterneh- Berlin. Auch einen Abstecher nach
Themen des Besuchs gilt dort die men mit deutscher Beteiligung gibt Dezember 2008 Köln für einen Auftritt vor türkisch-
Wiederbelebung des von Scholz’ es dort. Die Handelsbilanz beträgt Erdoğan protes- stämmigen Deutschen wie 2018 plant
tiert gegen die
Vorgängerin Angela Merkel (CDU) 52 Milliarden Euro, Tendenz steigend. israelische Militär-
der Präsident diesmal nicht.
ausgehandelten EU-Türkei-Abkom- Doch trotz der positiven Signale operation im Neben dem Treffen mit Scholz
mens zur Begrenzung des Flücht­ sagte der Vizekanzler nach seinen Gazastreifen. steht nur ein Besuch beim Bundesprä-
lings­zuzugs, das im Frühjahr 2016 Terminen, er fahre »mit einem sidenten auf dem Programm. Auch
Mai 2010 Israel
in Kraft getreten ist. Der Deal sah schlechteren Gefühl« weg, als er ge- stürmt das Schiff
Frank-Walter Steinmeier ist überzeugt,
vor, dass Ankara irregulär auf grie- kommen sei. Habeck hatte sich mit »Mavi Marmara« dass man trotz allem die Bande zu
chische Inseln eingereiste Migranten Erdoğans Stellvertreter Cevdet Yil- von Aktivisten aus einem wie Erdoğan pflegen müsse. Es
zurücknimmt. Im Gegenzug sollten maz getroffen und von ihm ähnlich der Türkei, das die ist nicht ausgeschlossen, dass der Bun-
Blockade Gazas
syrische Schutzsuchende direkt aus verstörende Sätze zu Israel gehört durchbrechen will.
despräsident und der Kanzler sich vor
der Türkei in EU-Staaten verteilt wie von Erdoğan. Es soll laut zwi- dem Besuch eng abstimmen, damit
werden. Die Türkei verpflichtete sich, schen den beiden Politikern gewor- März 2013 Israels Steinmeier zum Beispiel Scholz’
Fluchtrouten in die EU abzuriegeln. den sein, hieß es später. Selbst vor Premier Benjamin ­Verhandlungen über ein erneuertes
Netanyahu ent­
Dafür erhielt sie Milliardenhilfen den Kameras zeigte sich Habeck ent- schuldigt sich für
Mi­grationsabkommen unterstützen
für die Versorgung Geflüchteter. täuscht von der Führung in Ankara. die Erstürmung der kann.
Das Geld floss direkt in konkrete Pro- Man habe »fundamental unterschied- »Mavi Marmara«. Steinmeier weiß jedenfalls, was
jekte. liche Sichtweisen«, sagte er und klag- mit Erdoğans Besuch auf ihn zu-
2018 Erdoğan wirft
Eine Weile gingen die Flüchtlings- te, die andere Seite habe ihn nicht Israel Völkermord
kommt, sein türkischer Amtskollege
zahlen spürbar zurück, das Abkom- richtig verstanden. vor und verweist den ist ihm von zahlreichen Treffen gut
men funktionierte. Doch 2020 ermun- Was Habeck besonders schockier- Botschafter des bekannt. Wenn Steinmeier in seiner
terte Erdoğan die Flüchtlinge in sei- te: Auch westlich gesinnte Vertreter Landes. langjährigen Zeit als Außenminister
nem Land zum Grenzübertritt nach der Zivilgesellschaft kritisierten Israel 2022 Israels
die Türkei besuchte, sprach er in der
Griechenland. Griechische Sicher- und wollten sich kaum von dem Ter- Premier Yair Lapid ­Regel auch mit Erdoğan. Auch als
heitskräfte postierten sich an der ror der Hamas distanzieren. Dissens und Erdoğan Staatsoberhaupt ist er mit dem türki-
Grenze zur Türkei. Der Streit wäre gab es zwischen den türkischen Re- normalisieren die schen Präsidenten schon zweimal zu-
diplomatischen
wohl eskaliert, hätten Corona und die gierungsvertretern und ihm auch bei Beziehungen.
sammengetroffen.
pandemiebedingten Reisebeschrän- den Menschenrechten. Da sei das Einmal kam es dabei sogar zum
kungen dem Flüchtlingszuzug kein Aufeinanderzugehen nicht gelungen, Oktober 2023 Eklat: Während des Staatsbanketts
jähes Ende gesetzt. In diesem Jahr hat konstatierte er. Erdoğan nennt den für Erdoğan bei dessen Deutschland-
Terroranschlag der
die Zahl Schutzsuchender auf den Vor dem Besuch von Erdoğan in Hamas »Freiheits-
besuch im September 2018 reagierte
griechischen Inseln wieder extrem zu- Berlin geht bei den Organisatoren kampf«. Israel zieht der Gast auf kritische Bemerkungen
genommen. nun die Sorge um, dass der türkische seine Botschafterin Steinmeiers mit einer hitzigen Replik.
Scholz will eine Neuauflage des Staatspräsident doch noch über die aus der Türkei ab. Sein Vorwurf: Türkische Dissidenten
EU-Türkei-Abkommens, so hat er es Stränge schlagen könnte. Dass er sei- wie der Journalist Can Dündar, der
auch gerade mit der Ministerpräsiden- nem populistischen Instinkt nach­ seit Jahren in Deutschland lebt, seien
tenkonferenz beschlossen. Im Ge- geben und Dinge äußern könnte, die in Wahrheit »Terroristen«, die man
spräch sind neue Milliardenhilfen für untragbar sind. Zum Krieg in Gaza hier hofiere.
die Türkei zur Versorgung von Flücht- etwa, zur Hamas oder auch zur Rolle Die einzige öffentliche Gelegen-
lingen. Bei der Dezember-Sitzung des der Muslime in Deutschland. heit zur Eskalation könnte diesmal
Europäischen Rates soll besprochen eine Pressekonferenz im Kanzleramt
werden, ob Ankara weiteres Geld er- sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass
hält. Auch Visa-Erleichterungen für Erdoğan erneut gegen Israel hetzt und
türkische Staatsbürger könnten eine palästinensische Terroristen verharm-
Gegenleistung dafür sein, dass die lost. Scholz ist darauf vorbereitet und
Türkei Migranten von der irregulären will das nicht so stehen lassen – an-
Weiterreise in die EU abhält. ders als beim Skandalauftritt von
In Berlin wähnt man sich in einer ­Palästinenserpräsident Mahmoud
guten Verhandlungsposition. Die tür- Abbas im August 2022.
kische Seite verhalte sich seit gerau- Aber vielleicht erspart auch das
mer Zeit auffallend konziliant, heißt türkische Protokoll dem Kanzler eine
es. Beispielsweise blockiere Erdoğan solch schwierige Situation: Noch ist
den Nato-Beitritt Schwedens nicht offen, ob sich Scholz und Erdoğan
Dilara Senkaya / REUTERS

mehr. Der Grund für das türkische überhaupt den Fragen von Journa­
Entgegenkommen ist wohl die schwe- listinnen und Journalisten stellen
re Wirtschaftskrise in der Türkei. Propalästinensische werden.
Diesen Eindruck nahm auch Wirt- Demonstration in Istanbul Florian Gathmann, Marina Kormbaki,
schaftsminister Robert Habeck mit, Christoph Schult, Gerald Traufetter n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

Deutschland flächendeckend einführen und


die Daten auch im großen Stil für die For­
schung zugänglich machen.
Lauterbach: In diesem Fall ist es ein Vorteil,

»Ich bekomme Fananrufe


spät dran zu sein. Als Vorreiter wie Estland,
Lettland, Dänemark ihre Patientendaten di­
gitalisierten, haben sie sich dafür entschieden,

von Unikliniken«
sie dezentral zu speichern. Das macht eine
Zusammenführung und zentrale Auswertung
der Daten, wie wir sie planen, nicht gut mög­
lich. Wir werden sie dagegen so lagern, dass
wir sie an einer Stelle pseudonymisiert zu­
GESUNDHEITSPOLITIK Minister Karl Lauterbach, 60, will mit künstlicher sammenziehen und analysieren können.
Unser System ist modern, weil hybrid. Die
Intelligenz Patientendaten auswerten. Das soll im Daten lagern dezentral in den Praxen und
Kampf gegen Krebs helfen und gegen den Fachkräftemangel. zentral in der ePA.
SPIEGEL: Für viele klingt eine riesige Daten­
bank mit Patienteninformationen bedrohlich.
SPIEGEL: Herr Lauterbach, wie viele Schritte SPIEGEL: Mehr als ein Drittel der Deutschen Sie schwärmen aber davon, dass Deutschland
haben Sie heute schon gemacht? nutzt bereits digitale Gesundheitstracker. so zu einem weltweiten Zentrum etwa der
Lauterbach: Das verfolge ich nicht. Ich nutze Manche überwachen damit sogar ihren Puls Krebsforschung werden kann. Wie kommen
die Treppen im Ministerium und spiele, wenn oder den Blutsauerstoff. Ist es nur eine Frage Sie zu der Einschätzung?
es die Zeit erlaubt, hier im Haus am Abend der Zeit, bis Krankenkassen an diese Daten Lauterbach: Es wird keine »riesige Datenbank
Tischtennis. Übrigens immer gegen bessere ranwollen – um etwa die Höhe der Beiträge mit Patienteninformationen« geben. Wir wol­
Spieler. Das fordert. Da muss ich auf die für Patienten individuell zu berechnen? len aber in einem geschützten digitalen Raum
Schritte nicht achten. Lauterbach: Nein. Auf die Daten haben die die für ein gemeinwohlorientiertes For­
SPIEGEL: Sie tragen auch keine Uhr, die das Krankenkassen ohne Zustimmung der Ver­ schungsprojekt notwendigen Daten pseudo­
misst. sicherten keinen Zugriff. Daten zur Risiko­ nymisiert zusammenbringen. Dazu zählen
Lauterbach: Um Gottes willen. Ich überwache selektion hat jede Kasse allerdings über die Krebsregisterdaten, Genomdaten, Daten aus
mich doch nicht selber. In meinem Telefon Abrechnung. Die Kassen wissen, wer wie be­ der elektronischen Patientenakte und Stu­
gibt es zwar Funktionen, die messen die handelt wurde. Das gibt ihnen Aufschlüsse diendaten. Wir wollen sie verfügbar machen
Schrittlänge und ob der Gang symmetrisch über die Krankheiten der Versicherten. Die­ für Datenanalysen oder das Training von An­
oder asymmetrisch ist. So etwas könnte ses Wissen dürfen sie aber nicht nutzen, um wendungen, die auf künstlicher Intelligenz
Hinweise auf eine beginnende Parkinson­ etwa die Höhe der Beiträge zu berechnen. basieren. Damit heben wir einen Datenschatz,
erkrankung geben, andere neurologische Er­ Das würde auch sehr empfindlich bestraft. den es bisher nirgendwo sonst gibt – das ist
krankungen erkennen oder einen Leistungs­ SPIEGEL: Sie haben dennoch große Pläne mit ein echter Gamechanger für die Forschung.
abfall si­gnalisieren. Aber das schaue ich mir den Patientendaten. Ab Anfang 2025 wollen Daran sind selbst amerikanische Spitzenins­
nicht an. Sie die elektronische Patientenakte (ePA) in titutionen wie Harvard und MIT interessiert.
Denn die amerikanischen Gesundheitsdaten
lagern wegen unterschiedlicher Abrechnungs­
systeme in unterschiedlichen Töpfen und kön­
nen nicht so leicht genutzt werden.
SPIEGEL: Die USA sind bei der Entwicklung
künstlicher Intelligenz so weit, solche Daten
auswerten zu können. Wir auch?
Lauterbach: Es gibt deutsche Universitäten,
Kliniken und Unternehmen, die das können.
Aber der Wettbewerb ist natürlich hart. Ich
würde mir wünschen, dass wir nicht nur auf
amerikanische KI-Lösungen angewiesen sein
werden. Das wäre nicht nur für die Forschung,
sondern auch für die Behandlung wichtig. Die
KI-Anwendungen müssen passgenau sein für
deutsche Patientinnen und Patienten.
SPIEGEL: Wie wird KI den Praxisalltag und
die Behandlung von Patienten verändern?
Lauterbach: In den USA entsteht gerade ein
System, das etwa so funktioniert: Wenn ich
als Arzt mit einem Patienten spreche, habe
ich bereits seine alten Befunde im Computer­
Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

system. Ich frage: Wie fühlen Sie sich? Was


tut Ihnen weh? Die gesamte Zeit hört eine
Spracherkennungssoftware zu und überträgt
die Stichpunkte, die wichtig sind, aus dem
Gespräch in die elektronische Patientenakte.
Der Small Talk wird automatisch rausgefiltert.
Dann schreibt, während wir noch reden, die
Minister Lauterbach: »Das ist wie ein Krebs-Tinder« künstliche Intelligenz die notwendige Über­

30 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


DEUTSCHLAND

weisung an die Orthopädin. Wenn auch die Mediziner – zumal die guten.
wir fertig sind, ist eine Überweisung Die meisten Ärzte erkennen die Mög-
schon vorbereitet und elektronisch lichkeiten von KI als eine wünschens-
bereitgestellt. Sollte ich diese verges- werte Unterstützung ihrer Arbeit an.
sen, dann erinnert mich die KI: Mo- Auch für Wissenschaftler ist das ein-
ment, Herr Lauterbach, Sie sollten fach fantastisch. Heute können sie nur
vielleicht eine Überweisung machen. einen Bruchteil der Studien lesen, die
Das ist eine unglaubliche Entbüro- jährlich herauskommen. Künftig führt
kratisierung. Hier entsteht etwas, das die KI die Ergebnisse aller Studien

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL


wird die Medizin drastisch verändern. weltweit zusammen und zieht Schlüs-
Es wird Ärzte und Pflegekräfte ent- se daraus. Ich bekomme am Wochen-
lasten und damit den Fachkräfteman- ende gelegentlich Fananrufe von Uni-
gel bekämpfen. Und es wird auch die kliniken nach dem Motto: Was können
Patienten mündiger machen. wir tun, damit das vorankommt?
SPIEGEL: Inwiefern? SPIEGEL: Dennoch gibt es Bedenken.
Lauterbach: Zum Beispiel kann ich mit Wer der Nutzung der elektronischen
der KI über meine eigene elektroni- Patientenakte nicht explizit wider-
sche Patientenakte sprechen. Sie kann mit dem Fall einer Patientin beschäf- Lauterbachs Skizzen spricht, bekommt sie. Dann kann
zur Datenstruktur:
mir Empfehlungen geben, und ich tigt, bei der durch die Entfernung »KI hat nie das letzte
man auch der Nutzung der Daten zu
kann sie fragen, ob bei meiner Be- eines Tumors wahrscheinlich Tumor- Wort« Forschungszwecken nicht widerspre-
handlung vielleicht Fehler gemacht zellen verstreut wurden, deshalb ist chen. Ist so ein Datentopf nicht ein
worden sind. der Krebs zurückgekommen. Einfallstor für Hacker, gerade wenn
SPIEGEL: Klingt nach einer Menge SPIEGEL: Die KI hätte das verhindert? Forschungseinrichtungen oder Medi-
Internetselbstdiagnosen, von denen Lauterbach: Nicht unbedingt. Aber zin-Start-ups darauf Zugriff haben?
heute schon mancher Arzt genervt ist. jetzt ist es passiert. Eine KI könnte Lauterbach: Das ist nicht ganz richtig.
Lauterbach: Moment. Dass Patienten auf Basis der elektronischen Patien- Auch in Zukunft kann jeder Versicher-
Diagnosen mit KI überprüfen, pas- tenakte sagen: So würde das in der te eine ePA für seine eigene Versor-
siert schon heute und würde sich auch berühmten Krebsklinik Mount Sinai gung nutzen, aber der Ausleitung der
fortsetzen, selbst wenn wir die ePA in New York behandelt oder in der Daten zu Forschungszwecken wider-
nicht verbessern würden. Dann doch Charité in Berlin. Das ist für den Pa- sprechen. Hinzu kommt: Die an das
lieber richtig. Ich sehe ohnehin dabei tienten in einer Klinik auf dem Land Forschungsdatenzentrum (FDZ) aus-
vor allem die Vorteile. Viele Patien- keine irrelevante Frage. geleiteten Daten darf nicht jeder aus-
ten, etwa mit Krebs, sind verzweifelt. SPIEGEL: Die Klinik auf dem Land hat werten. Es wird zunächst vom FDZ
Künftig kann die KI nicht nur An- aber womöglich nicht die finanziellen die Forschungsfrage bewertet. Wenn
haltspunkte für die Behandlung ge- Mittel, den Patienten so zu behandeln diese wertvoll ist, können Institute
ben. Sie kann dem Patienten auch wie die Mount-Sinai-Klinik. Kann das oder Unternehmen die pseudonymi-
eine Medikamentenstudie vorschla- deutsche Gesundheitssystem das sierten Daten nutzen. Das ist ein Sys-
gen, die für ihn hilfreich sein könnte. überhaupt leisten? tem des sogenannten Confidential
Heute erfahren Patienten oft gar nicht Lauterbach: Wir haben das teuerste Stimmungstief Computing. Das heißt, die Daten be-
von passenden Studien. Künftig kön- Gesundheitssystem in Europa. Aber finden sich in einem geschützten di-
»Wie zufrieden sind
nen Studie und Patient zusammen- wir sind bei der Lebenserwartung nur Sie mit der Arbeit des gitalen Raum, der gegen einen Ein-
gebracht werden. Das ist wie ein Mittelmaß. In 16 westeuropäischen Bundesgesundheits- bruch von außen sicher ist.
Krebs-Tinder, wenn man so will. Da- Ländern liegen wir dort laut Bundes- ministers Karl Lauter- SPIEGEL: Auch wenn die Daten
durch werden wir auch die Zahl der institut für Bevölkerungsforschung bach?«, Angaben in anony­misiert abgespeichert werden,
Prozent
Studien deutlich erhöhen. Wir ma- bei Frauen sogar nur auf Rang 14 und können aus der Kombination von
chen in Deutschland zu wenige. bei Männern auf Rang 15. Unsere Be- zufrieden Postleitzahl, Geschlecht und Alter
SPIEGEL: Bei der Erkennung von handlung ist teuer, aber nicht die bes- unzufrieden Rückschlüsse auf eine bestimmte Per-
Hautkrebs ist die KI schon recht gut. te. Das liegt neben großen Defiziten unentschieden son gezogen werden. Müssen Bürger
Aber besteht nicht die Gefahr, dass in der Prävention auch daran, dass 60
Sorge haben, dass ihre gesamte
Ärzte sich zu sehr darauf verlassen? sie nicht besonders effektiv ist. Krankheitsgeschichte einsehbar wird?
Bei der Frage, welche Krebspatienten SPIEGEL: Was meinen Sie? 50
Lauterbach: Nein. Der Datensatz
nur eine palliative Behandlung be- Lauterbach: Wir nutzen sehr, sehr teu- selbst bleibt unzugänglich, verschlüs-
kommen und welche noch Therapie, re Behandlungen oft bei Patienten, die 40 selt und verlässt nie die sichere Um-
ist KI bislang überfordert. Sie kann davon realistischerweise keinen Ge- gebung. Das heißt, die Forschungs-
Parameter wie den Schmerz der Pa- winn haben. Da wird noch mal eine 30 institute können die Daten auswerten,
tienten nicht richtig einkalkulieren. teure Antikörpertherapie gemacht bei aber sie kriegen nie den Datensatz
Lauterbach: Die Systeme werden im- einem Patienten, der davon nicht pro- 20 selbst.
mer besser werden. Mit KI bringe ich fitieren wird. Dagegen wird eine sinn- SPIEGEL: Gibt es für Sie eine rote
künftig jeden Onkologen in einem volle Therapie an anderer Stelle aus- 10 ­Linie, die bei der Digitalisierung des
kleinen Krankenhaus näher an das gelassen. KI kann uns helfen, viel ge- Gesundheitswesens nicht überschrit-
Wissensniveau eines Spezialisten. nauer zu diagnostizieren und dann viel 0 ten werden darf?
Heute kommt ein Patient mit viel zielgenauer zu therapieren. Das hilft 2022 2023 Lauterbach: Für mich ist klar: Die KI
Glück zu einem Spezialisten, der eine den Patienten und stellt unser Gesund- S Quelle: Civey für den berät, auf Basis aller verfügbaren
€

SPIEGEL; Befragungszeit-
gute Versorgung macht. Wenn er heitssystem finanziell nachhaltig auf. räume: je 14 Tage; jüngster
Daten. Aber sie hat nie das letzte
Pech hat, landet er bei einem Arzt, SPIEGEL: Wird der Arzt dann irgend- Befragungszeitraum vom Wort. Das haben der Arzt und der
26. Oktober bis 9. November
der diese Krebsart – fast jeder Krebs wann überflüssig? 2023; Stichprobengröße: Patient.
ist anders – noch nie behandelt hat. Lauterbach: KI wird Ärzten helfen, 5001 bis 5074 Befragte;
statistische Ungenauigkeit Interview: Maria Fiedler,
Gerade habe ich mich zum Beispiel aber sie nicht ersetzen. Das wissen bis zu 2,5 Prozentpunkte Milena Hassenkamp  n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

Wenn der 44-Jährige eines fürchtet, ist es


das Abgleiten in frühere Zeiten, als die Partei
sich zerstritt und zerlegte, in aller Öffentlich-
keit. In der schwarz-gelben Koalition wech-
selten die Liberalen sogar ihren Vorsitzenden
Guido Westerwelle aus, doch am Ende konn-
ten sie auch mit dem neuen Vizekanzler
­Philipp Rösler den Niedergang nicht stoppen.
2013 kam das bittere Ende. Die FDP flog erst-
mals in ihrer Geschichte aus dem Bundestag.
Kurz darauf wurde Lindner Parteichef.
Seitdem hat man sich bemüht, Streitigkei-
ten möglichst nicht nach außen dringen zu
lassen. In der FDP-Führung befürchten sie
jetzt vor allem eines: dass die Partei sich
monate­lang mit sich selbst beschäftigt.

fo l gt! Schon einmal machte der FDP eine Basis-

ILD
aktion schwer zu schaffen. Mitten in der

ES B schwarz-gelben Regierungszeit initiierte 2011

NEU
der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank
Schäffler einen Mitgliederentscheid gegen
den Euro-Rettungsmechanismus ESM. Mo-
natelang stritten Befürworter und Gegner auf
Veranstaltungen. Schäffler und seine Unter-
stützer verloren das Votum, doch der erbit-
terte Kampf hatte Kräfte verschlissen und die
Spaltung öffentlich dokumentiert.
So mancher in der FDP fragt sich, ob nun

»Weckruf«
ein Rückfall in alte Zeiten droht.

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL


Eine Mitgliederbefragung zur Ampel wäre
für Parteivorstand und Bundestagsfraktion

gegen Lindner
nicht bindend, aber ein Ja für ein Ende der
derzeitigen Koalition wäre ein gehöriger
Imageschaden. Und könnte die Autorität
Lindners infrage stellen.
Der FDP-Chef äußerte sich bisher nur ein-
mal öffentlich zu den Initiativen. Auf einer
FDPAn der liberalen Basis rebellieren gleich zwei Gruppen Veranstaltung der »Rheinischen Post« mach-
te er klar: Die FDP bleibt in der Ampel. Le-
gegen die Parteispitze. Sie fordern dazu auf, die Ampel zu verlassen. diglich rhetorisch ging er auf die Kritiker ein.
Eine Gefahr für den Vorsitzenden? Käme die Koalition an einen Punkt, an dem
man keine vertretbaren Kompromisse mehr
finden könne, gelte: Es sei besser, nicht zu

D
er Aufstand begann mit einem leisen Es ist nicht die einzige Initiative an der regieren, als falsch zu regieren.
Rumoren. Im Sommer, erzählt ­Matthias Basis der FDP, die auf ein Ende der Ampel- Da war er wieder, der Satz vom Herbst
Nölke, hätten Mitglieder in seinem beteiligung drängt. Rund 300 Kilometer Luft- 2017, mit dem Lindner die Gespräche über
Kreisverband verlangt, die FDP solle endlich linie weiter nördlich, im schleswig-holsteini- eine mögliche Jamaikakoalition mit Union
die Ampelkoalition im Bund verlassen. Der schen Bad Segeberg, lebt Alexander-Georg und Grünen beendet hatte.
FDP-Kreisvorsitzende von Kassel-Stadt er- Rackow. Der 39-jährige Jurist ist Vizechef der Ein Mitglied im FDP-Vorstand tröstet sich
innert sich, dass der Ruf nach einer Mitglie- FDP-Fraktion im dortigen Kreistag. damit, dass es im Gegensatz zum einstigen
derbefragung zurückgestellt werden konnte. Er gehört zu 26 Unterzeichnern eines Euroentscheid »diesmal für die Ampelgegner
»Wegen der anstehenden Landtagswahl«, »Weckrufs Freiheit!«, der die FDP-Spitze und keine Unterstützung aus der Bundestags­
erzählt er. die Bundestagsfraktion vor Kurzem auffor- fraktion gibt«. Damals, sagt er, war das Epi­
Doch knapp drei Monate später war es derte, sie solle sich andere Koalitionspartner zen­trum in Berlin. Was so viel heißt wie: So-
mit der Parteidisziplin vorbei. Am 8. Okto- suchen. Sonst werde die FDP im Niedergang lange es hier keinen Aufstand gibt, ist nichts
ber schaffte die FDP in Hessen nur knapp dieser Regierung »zerstört«. In jüngsten Um- zu befürchten.
den Wiedereinzug ins Landesparlament. An fragen im Bund, warnt Rackow, liege die Par- Doch die Initiatoren hoffen darauf, dass
der Basis war der Ärger groß über »die da tei bereits in »der Todeszone« zwischen vier auch in Berlin der Druck zunimmt. Weckruf-
in Berlin«. und fünf Prozent. Mitinitiator Rackow sagt, es gebe eine Reihe
Schließlich fasste der Kreisvorstand einen Nölke und Rackow: zwei Parteifreunde, von FDP-Bundestagsabgeordneten, die un-
einstimmigen Beschluss: Der Aufruf »Ampel die FDP-Chef Christian Lindner herausfor- zufrieden mit der Ampel seien. Er setze da­
beenden« wurde ins Internet gestellt. Seitdem dern. Man könnte das als Zwergenaufstand rauf, dass sie den Mut fänden, »ihren Ärger
sammeln der 43-jährige Nölke und seine Mit- belächeln. Doch in der FDP-Spitze finden sie auch öffentlich« zu machen. Und Nölke, der
streiter Unterschriften von FDP-Mitgliedern. das nicht lustig. Eine solche Basisaktion hat bis 2021 für die FDP im Bundestag saß, er-
Mindestens 500 brauchen sie, um den Bun- es schon lange nicht mehr gegeben – seitdem klärt: Ob sich Parteiprominenz hervorwage,
desvorstand zu zwingen, eine bundesweite Lindner vor zehn Jahren die Führung der Par- »hängt davon ab, ob wir Erfolg haben – Erfolg
Mitgliederbefragung zu starten. Mitte dieser tei übernommen hat. Für den Vorsitzenden macht bekanntlich sexy«. Beide Initiatoren
Woche hatten sie mehr als 150 zusammen. muss es ein Alarmzeichen sein. wussten lange nichts vom Basisvorhaben des

32 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


DEUTSCHLAND

jeweils anderen, nun halten sie Kontakt. Die stein stammen. Kubicki teilte wiederholt
Weckruf-Organisatoren haben dieser Tage in Liberale Enttäuschung scharf gegen die Grünen aus. Er wirkt mit-
einer Mailaktion mehrere Kreisvorstände mit unter wie eine Ein-Mann-Opposition in der
der Bitte angeschrieben, die Unterschriften- »Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Ampel. Aber die Koalition verlassen? Das
Bundestagswahl wäre?«, Antwort »FDP«,
sammlung in Kassel zu unterstützen. Angaben in Prozent kommt ihm nicht in den Sinn. Via »Frank-
FDP-Chef Lindner war es von Anfang an furter Allgemeiner Zeitung« ließ er die
klar, dass die Ampelkoalition eine Heraus- 15 26 Unterzeichner des Weckrufs wissen, er
forderung für seine Partei und weite Teile der verstehe zwar deren »Frustration«. Sie hätten
Mitgliederschaft werden würde. Er kämpfte »einen emotionalen Antrieb, einen nachvoll-
darum, dass die Liberalen in der Ampel sicht- ziehbaren Wunsch«, der aber »nicht zu Ende
10
bar bleiben. Wiederholt suchten FDP-Koali- gedacht ist«.
tionäre den Streit mit den Grünen. Sie dräng- Die Aufgabe, mit dem heiklen Problem
ten darauf, dass das Heizungsgesetz von Wirt- umzugehen, fällt vor allem FDP-General­
Bei der Bundestagswahl 2021 6
schaftsminister Robert Habeck abgeschwächt 5 sekretär Bijan Djir-Sarai zu. Am Montag gab
am 26. September erreichte
werde. Zuletzt verschärfte Lindner die Ton- die FDP 11,5 %
FDP 11,5 %
er sich nach der Präsidiumssitzung wortkarg.
lage im Streit um Migration und Asylrecht. die Es gehe um einen »internen Prozess«. Er
Doch der Kurs zahlt sich nicht aus. Seit 0 ­nehme »jede Stimme in der FDP ernst« und
dem Eintritt in die Ampel setzte es bei den 2022 2023 werde »die Diskussion sehr fair und offen
Landtagswahlen eine Schlappe nach der an- S Quelle: Civey für den SPIEGEL; Befragungszeiträume: je miteinander führen«.
‚

deren. Zuletzt flog die Partei im Oktober aus sieben Tage, jüngster Befragungszeitraum vom 2. bis 9.
November 2023; Stichprobengröße: 9973 bis 10.137 Befragte;
Die Weckruf-Initiatoren verfolgten die
dem Landtag in Bayern. statistische Ungenauigkeit bis zu 2,5 Prozentpunkte Pressekonferenz im Internet mit großem Inte-
Für Nölke ist der Abschwung keine Über- resse. Noch am selben Tag, um 17.15 Uhr,
raschung. Er habe bereits vor zwei Jahren auf Weckruf-Initiator Rackow telefonierte schickten sie der Partei- und Fraktionsführung
dem Bundesparteitag, als der Koalitionsver- jüngst mit dem thüringischen FDP-Parteichef sowie den vier FDP-Ministern eine E-Mail und
trag gebilligt wurde, gegen die Koalition mit Thomas Kemmerich, einem Ampelkritiker. boten an, die Vorschläge »gerne in einem per-
SPD und Grünen gestimmt. »Die Hoffnung Kemmerich ist einer der bekanntesten Libe- sönlichen Gespräch« vorzustellen. Um dem
mancher in der Partei, mit der Ampel über ralen, aber auch besonders umstritten, seit- »Gefühl der Ohnmacht Ausdruck zu verlei-
unsere Stammwählerschaft hinaus neue, links- dem er sich im Februar 2020 mit Stimmen hen«, hätten sie sich an die Öffentlichkeit ge-
liberale Wählergruppen erschließen zu kön- von CDU und AfD kurzzeitig zum thüringi- wandt, wünschten sich »einen modernen und
nen, ist definitiv gescheitert«, sagt er. schen Ministerpräsidenten wählen ließ. Der konstruktiven Umgang mit den Bedenken«.
Nölke favorisiert Neuwahlen. Die brauche 58-Jährige gilt in der FDP als eine Art Outlaw. Und sie entwarfen ein Schreckgespenst:
seine Partei nicht zu scheuen: »Ein klarer Im kommenden Landtagswahlkampf wird Es könnte sich, wie in der CDU mit der rechts-
schwarz-gelber Lagerwahlkampf käme bei er keine Mittel der Bundespartei erhalten. konservativen »Werteunion«, eine ähnliche
unserer Anhängerschaft an.« Rackow wiede- Doch der Versuch, Kemmerich für die Basis- Gruppierung in der FDP bilden. Das aber,
rum träumt davon, dass die FDP im Bundestag bewegung zu gewinnen, scheiterte. Er habe so beteuerten sie, wollten sie verhindern:
zunächst in die Opposition geht. Bis zur nächs- zwar »Sympathien« für die Initiativen, sagt »Wir brauchen keine liberale ›Werteunion‹,
ten Bundestagswahl 2025 könne SPD-Kanzler er, unterstütze auch »ausdrücklich« deren denn mit einer Zersplitterung der Partei ist
Olaf Scholz gemeinsam mit der Union des »kritische Haltung gegenüber der Ampel«. niemandem gedient.« Ihr Appell: »Wir müs-
CDU-Chefs Friedrich Merz regieren. Aber die beiden Aufrufe seien ihm zu »un- sen reden.«
Über solche Planspiele können sie in B­ erlin differenziert«. Die Mail fruchtete. An zwei Vertreter des
nur den Kopf schütteln. Die Befürchtung: An- Am liebsten würden führende FDP-Politi- Weckrufs gingen daraufhin Gesprächsange-
ders als 1982, als die FDP die sozialliberale ker die Initiativen totschweigen. Eine Aus- bote des Generalsekretärs Djir-Sarai ein,
Koalition verließ, um an der Seite der Union nahme ist Vizeparteichef Wolfgang Kubicki – schon bald soll mit ihnen telefoniert werden.
weiterzuregieren, würde ein Ausstieg aus der wohl auch, weil Unterzeichner des Weckrufs Während die einen Unterschriften sam-
Koalition womöglich bei der nächsten Wahl aus seinem Landesverband Schleswig-Hol- meln, überlegen die Ampelbefürworter in der
mit dem Rauswurf aus dem Bundestag enden. FDP, was sie dagegensetzen können. Für den
Der FDP-Verteidigungsexperte Marcus Faber, Fall, dass das Quorum für eine Mitglieder-
Bundestagsabgeordneter aus Sachsen-Anhalt, »Schwarz-gelber Lager- befragung tatsächlich erreicht wird, erwägen
ist einer der wenigen, die sich öffentlich zu
den Überlegungen der Initiatoren äußern.
wahlkampf käme bei sie, einen Gegenappell zu veröffentlichen. Ein
beteiligter FDP-Funktionsträger, der nicht
»Die Ampel in Krieg und Krise zu beenden ­unserer Anhängerschaft an.« ­genannt werden will, sagt: »Als P ­ artei des
hilft weder dem Land noch der Partei«, sagt Matthias Nölke, Kasseler Kreisvorsitzender Fortschritts können wir nicht hinschmeißen,
er dem SPIEGEL . wenn es anstrengend wird.« Dafür hätten die
Die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Menschen in diesen Zeiten »auch kein Ver-
Franziska Brandmann, hofft, dass die Partei ständnis«.
sich in den nächsten Monaten intensiv damit Ampelgegner Nölke gibt sich zuversicht-
beschäftigen wird, »wie wir die Probleme lich, die Unterschriften zusammenzubekom-
der Bürger dieses Landes lösen können, statt men. Ihn treibt aber eine andere Sorge um:
sich mit sich selbst zu beschäftigen«. Die Lage Er halte es für möglich, dass der Bundesvor-
der FDP, vor allem aber die des Landes sei stand die »finale Durchführung« einer Mit-
»sehr ernst«. gliederbefragung »so weit ins nächste Jahr
Was den Basisinitiativen fehlt, sind bislang hinauszögert, bis die ersten Kandidatinnen
prominente Unterstützer. Unter dem Weckruf und Kandidaten zur Bundestagswahl aufge-
findet sich eine FDP-Landtagsabgeordnete stellt werden«. Irgendwann, so vermutet
aus Mecklenburg-Vorpommern, ansonsten der Kasseler Stadtkämmerer und Wirtschafts-
sind es unbekannte Gesichter. Auch die Kas- dezernent, könnte es dann heißen: »Ist die
Jakob Rose

seler Initiative weist keinen Unterzeichner Befragung wirklich noch nötig?«


mit großen Namen auf. Severin Weiland n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

Kay Michalak / DER SPIEGEL


Grundschullehrerin Thomas: »Ich hatte das Gefühl, nie Feierabend zu haben«

Stechuhr im Klassenzimmer
BILDUNG Ist der Beruf des Lehrers doch anstrengender, als viele denken? Eine genaue Arbeitszeiterfassung
könnte Aufschluss geben. Doch ausgerechnet die Kultusministerien sind dagegen – warum?

S
ie wolle nur kurz Bescheid geben, sei ja im Grunde ein Halbtagsjob. Die Sprüche Quote lag im Schuljahr 2021/22 bei rund
schrieb die Mutter, dass ihre Tochter kämen nicht oft, meist mit einem scherzhaften 40 Prozent. In der übrigen Arbeitswelt waren
morgen nicht zur Nachmittagsbetreu- Unterton, und von Menschen, die eher dem es 30 Prozent. Bei dem eklatanten Personal-
ung komme. Es war tief in der Nacht, irgend- erweiterten Bekanntenkreis zuzuordnen seien: mangel, der an Schulen herrscht, ist das ein
wann zwischen drei und vier Uhr, Mareike Menschen, die nicht tagtäglich mitbekommen, Problem.
Thomas wollte nur kurz ins Bad. Sie hätte die was Thomas und ihre Kolleginnen leisten. Das Als Grundschullehrerin in Niedersachsen
Mail auf dem Handydisplay ignorieren kön- Vorurteil, Lehrer hätten »vormittags recht und mit einer Vollzeitstelle unterrichtet Mareike
nen, vielleicht sogar müssen. Zu spät. Die nachmittags frei« hält sich hartnäckig. Thomas pro Woche 28 Stunden, zwei Stunden
To-do-Liste im Kopf der Lehrerin, so erzählt Lehrkräfte hingegen klagen über die stetig erteilt sie im Rahmen des Ganztagsangebots
sie es, war wieder um einen Punkt angewach- wachsende Belastung, über schier endlose am Nachmittag, um 15.30 Uhr endet dort die
sen: die Nachricht am nächsten Morgen »nur Arbeitstage, über Korrekturen, Unterrichtspla- Betreuungszeit. An den anderen Tagen hat
kurz« an die Ganztagsbetreuung und an die nung und Elternmails bis in den späten Abend Mareike Thomas um 13 Uhr Schulschluss.
Essensausgabe weitergeben. hinein. In einer Umfrage von Forsa im Auftrag »Ich weiß, das klingt komfortabel«, sagt Tho-
Thomas ist Klassenlehrerin der 2b an der der Robert Bosch Stiftung aus dem Sommer mas. Doch wenn sie nach der Schule nach
Grundschule Lechtingen in Wallenhorst, einem 2022 gaben neun von zehn Lehrkräften an, sie Hause komme, brauche sie erst einmal eine
Vorort von Osnabrück. Seit sie die Schulmails erlebten ihr Kollegium als »stark« oder sogar Pause. Die Augen brennen, in den Ohren hän-
von ihrem Handy verbannt habe, schlafe sie »sehr stark« belastet. 84 Prozent sagten dies gen die immerwährenden Rufe nach »Frau
wieder besser, sagt die 39-Jährige. »Ich hatte auch über sich selbst. Mehr als 60 Prozent klag- Thomaaaaaaas«.
das Gefühl, nie Feierabend zu haben.« ten über körperliche Erschöpfung. Spätestens um 16 Uhr, sagt Thomas, sitze
Gleichzeitig sei sie immer wieder mit die- Zugleich ist der Anteil der Teilzeitkräfte sie wieder am Schreibtisch, korrigiere Arbei-
sem Vorurteil konfrontiert: Grundschule, das unter Lehrerinnen und Lehrern hoch: Die ten, bereite Unterricht vor, mindestens in

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DEUTSCHLAND

zwei, oft sogar in drei verschiedenen anspruch von sechs Wochen im In Hamburg Das Heil-Ministerium entgegnete
Schwierigkeitsgraden, für starke, Jahr, leisteten sie im Schnitt drei kühl, die Messung diene dem Arbeits­
mittlere und schwächere Schüler. Überstunden pro Schulwoche. Hoch­ wird der schutz. »Höchstarbeitszeiten und
Zweimal pro Woche arbeite sie gerechnet entspreche das rund Arbeitsauf- Mindestruhezeiten« gebe es in Schu­
außerdem abends, am Wochenende
sei ebenfalls mindestens ein halber
24.500 Vollzeitstellen im Jahr, sagt
der SPD-Mann.
wand pro len und Hochschulen auch heute
schon, da würde sich durch die
Tag für die Schule reserviert. Alle Schuld daran sei unter anderem Fach in die Arbeitszeiterfassung nichts verän­
zwei Wochen treffe sie sich mit der das sogenannte Deputatsmodell – Berechnung dern. Nachteile seien deshalb »nicht
Lehrerin der Parallelklasse, um ge­ entwickelt im Jahr 1873, in der Kai­ ersichtlich«.
meinsam die Unterrichtseinheiten serzeit. Demnach sind Lehrkräfte fast
einbezogen. Die Arbeitszeit von Lehrkräften
und Lernziele für das Fach Deutsch überall in Deutschland verpflichtet, zu messen wurde in der Vergan­
durchzusprechen und Arbeitsblätter eine bestimmte Anzahl an Stunden genheit immer mal wieder versucht.
auszusuchen. Hinzu kommen die pro Woche zu unterrichten; je nach 1997 ließ die damalige nordrhein-
Konferenzen, die in der Regel zwei Bundesland und Schulform schwankt westfä­lische Schulministerin Ga­
Stunden lang dauern: zwei Fach­ diese Zahl heutzutage zwischen briele Behler (SPD) rund 7000 Leh­
konferenzen pro Jahr, zwei Gesamt­ 23 und 28 Schulstunden à 45 Minu­ rerinnen und Lehrer mit einem klei­
konferenzen, zwei pädagogische ten. Alles, was Lehrer darüber hinaus nen elektronischen Gerät ausstat­
Konferenzen und alle drei Wochen leisten, kommt obendrauf, wird aber ten, das unter anderem vom SPIEGEL
eine Dienstbesprechung. Mindestens nicht extra bemessen. als »Lehrer-Tamagotchi« bespöttelt
zwei Elternabende, die Weihnachts­ Doch damit könnte bald Schluss wurde. Die Teilnehmerinnen und
feier, das Maifest. sein. Im September 2022 sprach das Teilnehmer sollten einen Knopf drü­
Thomas ist eine begeisterte Leh­ Bundesarbeitsgericht ein wegweisen­ cken, wenn sie etwas Dienstliches
rerin. Sieben Jahre lang arbeitete sie des Urteil: Demnach müssen alle erledigten.
als Erzieherin, dann ging sie noch ein­ Arbeitgeber künftig ein System an­ Grundschullehrer kamen damals
mal an die Uni, um Grundschullehr­ bieten, mit dem Arbeitnehmerinnen auf eine durchschnittliche Jahres­
amt zu studieren. Gerade hat sie eine und Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit arbeitszeit von 1750 Stunden, an
Weiterbildung in Mathematik abge­ dokumentieren. Das Gericht folgt da­ Gymnasien waren es 1900 Stunden,
schlossen, das an ihrer Schule zuvor mit einer Entscheidung des Europäi­ an Gesamtschulen kamen sogar 1976
ein Mangelfach war. Sie mag ihre schen Gerichtshofs aus dem Mai Arbeitsstunden zusammen. Zum Ver­
Arbeit, das ist ihr wichtig. »Ich möch­ 2019. Seit dem Frühjahr gibt es einen gleich: Die damals geltende Arbeits­
te mich nicht beschweren«, diesen entsprechenden Entwurf zur Ände­ zeitverordnung sah für Vollzeitbeam­
Satz sagt sie häufig. rung des Arbeitsgesetzes. te in NRW 1770 Stunden im Jahr vor.
Doch es sei eben auch ganz schön Die Kultusministerkonferenz Mehr als Konsequenzen hatte das Experiment
viel. Vor allem der Organisationsauf­ (KMK) ist davon allerdings wenig be­ Unterrichten dennoch keine.
wand, der gar nicht direkt mit dem geistert. In einem Schriftwechsel zwi­ Als die niedersächsische Landes­
Unterricht zusammenhängt: Gesprä­ schen KMK-Präsidentin Katharina Wie sich die Arbeits- regierung 2014 die Arbeitszeit der
che mit dem Jugendamt, weil sie sich Günther-Wünsch (CDU) und Bundes­ zeit von Lehrkräften Lehrkräfte an Gymnasien um eine
verteilt, Anteil je
Sorgen um eine Schülerin macht. Das arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Durchschnittswoche Stunde erhöhte, protestierten die Be­
Ausfüllen von Anträgen für ein In­ der dem SPIEGEL vorliegt, plädiert in Prozent troffenen vehement – und das zustän­
klusionskind. Die Organisation einer die Bildungspolitikerin dafür, Lehr­ dige Oberverwaltungsgericht kassier­
Unterricht inkl.
Klassenfahrt. kräfte von der Arbeitszeiterfassung Aufsicht te die Erhöhung ein Jahr später wie­
Neulich, erzählt Thomas, wollte auszunehmen. Günther-Wünsch der, unter anderem weil unklar sei,
unterrichtsnahe
sie für einen Schüler eine außerschu­ fürchtet, die »Attraktivität des Leh­ Arbeit, z. B. Korrek- wie viel Lehrkräfte tatsächlich arbei­
lische Lernförderung beantragen, rerberufs« könnte darunter leiden. turen, Vor- und teten. Eine Studie mit minutengenau­
eine Art staatlich geförderte Nach­ Diese hänge nämlich »maßgeblich« Nachbereitung er Erfassung der Lehrertätigkeiten
hilfe. Zwei Seiten Formular ausfüllen, an der »großen Flexibilität der zeit­ sonstige außer- sollte Abhilfe schaffen.
Unterschrift der Eltern einholen, For­ lichen Arbeitseinteilung«. unterrichtliche Das Ergebnis damals: »Etwa
mular abschicken. Zwei Wochen spä­ Die Arbeitszeit von Lehrern, Tätigkeiten 17 Prozent der Lehrkräfte überschrei­
ter hinterhertelefonieren und erfah­ schreibt Günther-Wünsch weiter, sei ten während der Schulzeit die gesetz­
ren, dass die Nachhilfe bewilligt, aber »nur hinsichtlich der zu erteilenden liche Höchstarbeitszeit von 48 Stun­
keine geeignete Person zu finden sei, Unterrichtsstunden messbar«. Die 37 den pro Woche.« Ein weiteres Drittel
41
die diese Nachhilfe erteile. Also vielen anderen Tätigkeiten könnten Grund- riss damals in 10 bis 15 Wochen des
klemmte sich Thomas selbst ans Tele­ »nicht arbeitgeberseitig überprüft schule Jahres den Grenzwert für die gesetz­
fon, telefonierte ehemalige Prakti­ werden«. Es gehöre »zum Berufsbild liche Höchstarbeitszeit. Eine aktuel­
kantinnen ab. Am Ende klappte es. der Lehrkraft, dass diese ihre Aufga­ 22 le Studie für Sachsen kommt bei
Aber: »Das summiert sich.« ben eigenverantwortlich und selbst­ Gymnasiallehrkräften im Freistaat
Durchschnittlich kommt eine Voll­ ständig ausübt«. auf mehr als vier Überstunden pro
zeitlehrkraft in Deutschland auf Im Klartext: Würden Lehrern und Schulwoche.
eine Wochenarbeitszeit von rund Lehrerinnen tatsächlich und ehrlich 36 32 Das Deputatsmodell passt, so
50 Stunden, heißt es in einer Ana­ dokumentieren, wie viel sie arbeiten, Gymna- scheint es, mehr als 150 Jahre nach
lyse der Telekom-Stiftung aus die­ könnte das ohnehin angekratzte sium seiner Einführung nicht mehr. Denn
sem Frühjahr, erstellt vom Strategie­ Image des Berufs weiteren Schaden der Lehrerberuf hat sich verändert.
berater und ehemaligen Berliner nehmen. Gleichzeitig stellt sich die 32 »Der prozentuale Anteil des Unter­
­Bildungsstaatssekretär Mark ­Rackles. Frage nach den Folgen: Was passiert, richtens ist über die Jahrzehnte im­
Kalkuliere man ein, dass Lehrer wenn he­rauskommt, dass Lehrkräfte S Quelle: Studie der Uni- mer geringer geworden«, sagt der


versität Göttingen, Befragung


durch die Schulferien etwa doppelt regel­mäßig Überstunden schieben? vom 10. Feb. bis 8. März Göttinger Arbeitswissenschaftler
so viele unterrichtsfreie Tage be­ Die Schulen müssten Personal auf­ 2020 unter 369 Grundschul- Frank Mußmann. Grundschullehr­
und 483 Gymnasiallehrern in
kommen wie der übliche Urlaubs­ stocken – aber wie? Frankfurt am Main kräfte unterrichteten nur noch in

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DEUTSCHLAND

Beratungslehrer-Ausbildung und
die Personalratstätigkeit bekommt
Fenske acht Wochenstunden gutge-
schrieben. Fenske hat eine 85-Pro-
zent-Stelle, das entspricht nach dem
Hamburger Modell einer Wochen-
arbeitszeit von 39,58 Stunden. Doch
nur knapp 13 davon steht er tatsäch-
lich vor einer Klasse: Sein Stunden-
plan umfasst 17 Unterrichtsstunden
à 45 Minuten. »Ich empfinde es als
richtig, dass außerunterrichtliches
Engagement gesehen und vergütet
wird«, sagt der 44-Jährige.
Es komme trotzdem immer wie-
der vor, dass er deutlich über die ver-
anschlagte Arbeitszeit hinausgehe,
sagt Fenske, »etwa wenn mehrere
Klassenarbeiten anstehen«. Sein
Oberstufenkurs in PGW etwa werde
mit dem Faktor 1,9 verrechnet. Das
heißt: Auf 45 Minuten Unterrichts-

Niklas Grapatin / DER SPIEGEL


zeit kommen rund 41 Minuten für
Korrekturen, Vor- oder Nachberei-
tung des Unterrichts. Seine Sport-
kurse hingegen findet er mit dem
Faktor 1,25 etwas knapp bemessen.
Er müsse hier zwar keine Klassen-
arbeiten korrigieren, dafür seien
40 Prozent ihrer Arbeitszeit, an Gym- legt. Klassenleitungen bekommen Pädagoge Fenske: 45 Minuten in der Sporthalle häufig
nasien seien es nur noch 30 Prozent. weitere Anrechnungen, ebenso Leh- Zusatzaufgaben fordernder als 45 Minuten im Klas-
»Dafür sind jede Menge sogenannte rer und Lehrerinnen, die sich im Per- werden angerechnet senraum. »Ich muss einen großen
außerunterrichtliche Aufgaben dazu- sonalrat engagieren. Raum beschallen, meine Augen über-
gekommen.« »Es ist eine Frage von Gerechtig- all haben.« Besonders in der Mit­
Wie es anders gehen kann, zeigt keit«, sagt Personalreferent Petersen, telstufe seien die Klassen oft recht
Hamburg. Die Hansestadt hat sich der selbst viele Jahre als Schulleiter groß, die Jugendlichen in der Pu­
schon 2003 vom Deputatsmodell ver- an einem Hamburger Gymnasium ge- bertät manchmal impulsiv. »Das
abschiedet. Alle Vollzeitlehrkräfte arbeitet hat. »Wir sehen ja, dass Lehr- strengt an.«
sollen seitdem eine wöchentliche kräfte mit bestimmten Fächern weni- Was Fenske außerdem stört: Seit
Arbeitszeit von 46,57 Stunden ab- ger häuslichen Arbeitsaufwand haben der Einführung im Jahr 2003 sei
leisten – rechnet man die Ferienzeiten als andere.« das Hamburger Modell nicht ange-
mit ein, kommt man so im Jahres- Der Hamburger Weg gilt als passt worden. »Schule hat sich ver-
durchschnitt auf eine 40-Stunden- vorbildhaft, erst kürzlich forderte ändert, genauso die Schülerschaft«,
Woche. In den Schulferien und an die SPD in Nordrhein-Westfalen die sagt der Pädagoge. Es gelte etwa,
Feiertagen, so die Annahme des Mo- Abkehr vom Deputatsmodell und Kinder mit Fluchtgeschichte in die
dells, haben Lehrerinnen und Lehrer verwies auf die Hansestadt. Trotz- Klassen zu integrieren und die stei-
frei. »Wie Lehrkräfte die Arbeit tat- dem hat das Modell bis heute keine gende Anzahl psychisch belasteter
sächlich aufteilen, bleibt am Ende Nachahmer gefunden. Wieso? Helge Kinder durch die aktuellen viel­
aber jedem selbst überlassen«, sagt Petersen von der Hamburger Schul- fachen Krisen zu begleiten. All das
Helge Petersen, Personalreferent bei behörde vermutet, es liege daran, sei im Hamburger Arbeitszeitmodell
der Behörde für Schule und Berufs- dass das Modell im Vergleich zum nur unzureichend abgebildet. Und
bildung in Hamburg. Deputatsmodell »kompliziert und dann wäre da noch die Sache mit der
Der Clou am Hamburger Modell: personalintensiv« sei und vor Ort Digitalisierung: Eigentlich sollte die
Der durchschnittliche geschätzte insbesondere bei der Einführung Technik die Arbeit vereinfachen.
Arbeitsaufwand pro Fach wird in die zu intensiven Diskussionen führen Doch das, sagt Fenske, sei längst
Berechnung einbezogen. Wer etwa könne. nicht immer so. Er meint damit zum
eine Stunde Deutsch an einem Gym- Felix Fenske unterrichtet Sport, Beispiel die rund 20 E-Mails, die er
nasium in der siebten Klasse unter- Philosophie, Berufsorientierung, Ge- täglich aus dem Kollegium und von
richtet, bekommt dafür 1,7 Stunden sellschaft und das Fach »Politik / Ge- Eltern bekommt, die er lesen und be-
gutgeschrieben. Für eine Stunde sellschaft / Wirtschaft« (PGW) an der
»So wird die antworten muss. »Das gab es früher
Sport in derselben Klasse gibt es hin- Heinrich-Hertz-Schule, einer tradi- Korrektur so nicht.«
gegen nur 1,25 Stunden – »so wird tionsreichen Stadtteilschule direkt von Klassen­ Fenske sagt, er habe lernen müs-
etwa die Korrektur von Klassenarbei- am Hamburger Stadtpark. sen, sich klare zeitliche Grenzen zu
ten eingepreist, die in Deutsch natur- Fenske ist Klassenlehrer und Per- arbeiten setzen. Manchmal bleibe dabei aber
gemäß eher umfangreich sind«, sagt sonalrat, außerdem bildet er sich zum eingepreist.« ein ungutes Gefühl zurück: »Das Ge-
Petersen. Beratungslehrer weiter. All diese Zu- Helge Petersen,
fühl, nicht fertig geworden zu sein.«
In der Grundschule wird für alle satzaufgaben werden auf seine Wo- Personalreferent Silke Fokken, Armin Himmelrath,
Fächer der Faktor 1,35 zugrunde ge- chenarbeitszeit angerechnet, für die in Hamburg Miriam Olbrisch n

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DEUTSCHLAND

einen Antrag nach dem Haager Kin-


desentführungsübereinkommen.
Seit dem Jahr 1980 regelt das
Übereinkommen, dass ein Kind zu-

Nicht ohne seine Tochter


rückgebracht werden muss, wenn ein
Elternteil es widerrechtlich mit ins
Ausland genommen hat oder dort
festhält. Die Anträge können aller-
dings nicht weltweit gestellt werden,
FAMILIEN 18 Stunden hielt Salman E. sein Kind im Auto fest, sondern nur in den mehr als 100 Staa-
ten, die dem Übereinkommen bei-
legte den Hamburger Flughafen lahm. Jetzt zeigt sich: Die Tat war offenbar getreten sind.
geplant. Rekonstruktion eines erbitterten Sorgerechtsstreits. Eine offizielle Statistik, wie viele
Kinder in Deutschland jedes Jahr ent-
zogen werden, gibt es nicht. Doch

E Die Eskalation
inen Tag, bevor sich Salman E. Man könnte auch sagen: Was da selten sind Kindesentziehungen nicht.
aufmacht, um seine Tochter zu geschah, war die Eskalation eines So wurden beim Bundesamt für Jus-
entführen, ruft ihn seine Mutter hatte sich in Konflikts zwischen der Mutter und tiz im vergangenen Jahr 187 Anträge
Devlet E. an, die Großmutter des Kin- den vergange- dem Vater eines Kindes. Wie konnte auf Rückführung aus dem Ausland
des. Sie lebt Tausende Kilometer ent-
fernt, in Mersin, einer Hafenstadt an
nen Monaten es dazu kommen?
Ein Elternteil entführt die eigene
gestellt, im Jahr zuvor waren es 220.
Dazu kommen mehrere Hundert Fäl-
der türkischen Mittelmeerküste. Es angedeutet. Tochter. Es klingt widersprüchlich, le innerhalb Deutschlands.
war ein Videotelefonat, erzählt sie falsch. Fachleute sprechen meist auch Die meisten Fälle beginnen dabei
später, sie wollte wissen, wie es ihm eher von »Kindesentziehung«. Die fast harmlos, sagt die Familienrecht-
gehe. Er habe verzweifelt gewirkt. Er Berliner Fachanwältin für Familien- lerin Monika Clausius. Sie ist stellver-
habe ihr erzählt, dass er seine Tochter recht Karin Susanne Delerue hält das tretende Vorsitzende des Deutschen
seit mehr als einem Jahr nicht mehr für den passenderen Begriff – schließ- Familiengerichtstags. »Der Klassiker
gesehen habe. »Er sagte, er halte das lich werde ein Kind dem anderen ist, dass ein Elternteil nicht aus dem
nicht mehr aus«, erzählt Devlet E. ­Elternteil entzogen. Delerue hat sich Urlaub zurückkehrt.« Die Hamburger
»Er werde sie am nächsten Tag ab- auf internationales Familienrecht spe- Geiselnahme sei ein extremer Fall.
holen und in die Türkei bringen.« zialisiert. Immer wieder kommt es Das Tragische daran ist: Die Eska-
Sie habe bei ihrem Sohn nachge- vor, dass Eltern zu ihr kommen und lation hatte sich in den vergangenen
fragt, wie er das machen wolle, berich- ihr berichten, der andere Elternteil Monaten schon angedeutet.
tet sie in einem Telefonat mit dem sei mit dem gemeinsamen Kind ver- Salman E. und seine drei Jahre äl-
SPIEGEL. Er sei ihren Fragen ausgewi- schwunden. »Viele von ihnen sind tere Frau, eine Deutschtürkin, sollen
chen. Irgendwann habe sie aufgelegt. ratlos, verzweifelt«, sagt sie. sich Ende der Zehnerjahre in Istanbul
Sie habe nicht geahnt, was Salman Sobald klar ist, dass ein Elternteil kennengelernt haben. So erzählen es
E. am nächsten Tag tun würde: mit sich mit dem Kind ins Ausland ab- die Mutter und der Bruder des Beschul-
einer scharfen Pistole in die Wohnung gesetzt hat, rät Delerue ihren Man- digten dem SPIEGEL am Telefon. »Sie
seiner Ex-Partnerin eindringen, die daten, sich direkt an einen Fachan- war Flugbegleiterin bei einer Airline,
vierjährige Tochter mitnehmen. Sie walt in dem jeweiligen Land zu wen- er jobbte in Hotels und Restaurants«,
wusste nicht, sagt sie, dass er mit den oder ans Bundesamt für Justiz. sagt sein Bruder. Bald die Hochzeit am
einem Auto aufs Vorfeld des Hambur- Diese Behörde unterstützt Angehö- Bosporus, ohne große Feier.
ger Flughafens fahren, zwei Brand- Entführer E., Tochter: rige bei der Rückführung des Kindes. Im Sommer 2019 reiste Salman E.
sätze werfen und in die Luft schießen Keine Tickets gekauft Dafür stellt das Amt in vielen Fällen erstmals zu seiner Frau nach Deutsch-
würde. Um dann direkt neben einer land. Sie war inzwischen schwanger,
Turkish-Airlines-Maschine zu parken, bald kam ihre gemeinsame Tochter
bereit zum Abflug, auf Abstellposition zur Welt. Sie lebten in einem drei-
02A am Terminal 1. Eine Tat, die Hun- stöckigen Mehrfamilienhaus in Stade.
derte Polizisten alarmieren und die Es habe viel Streit zwischen den Ehe-
Republik in Atem halten sollte. leuten gegeben, sagen Nachbarn.
Doch Salman E., so vermutet heu- Auch der Bruder berichtet über
te die Polizei, hatte es so geplant. eine schwere Zeit während der Coro-
Mehr als 18 Stunden lang hielt Sal- nakrise. Salman habe es zudem nie
man E., 35, am vergangenen Wochen- geschafft, in Deutschland richtig an-
ende seine vierjährige Tochter im zukommen. Er sprach kein Deutsch.
Auto fest. Da unklar war, was E. vor- Sie hätten ums Geld gestritten, um
hatte, wurden beide Terminals evaku- den Wohnort. Salman wäre lieber in
iert, mehr als 200 Flüge fielen aus, der die Türkei zurückgekehrt. Seine Frau
S-Bahn-Verkehr in Richtung Hambur- habe jedoch in Deutschland bleiben
ger Flughafen wurde stundenlang ein- wollen. Im März vergangenen Jahres
gestellt. In den Nachrichten war von habe sich die Frau bei Salmans Mutter
einer »Geiselnahme« zu lesen. In den gemeldet. Salman sei verschwunden
Meldungen fiel aber meist noch ein – und mit ihm die gemeinsame Tochter.
anderes Wort. Es klingt bürokrati- Später erfuhr sie: Ihr Ex-Partner war
scher, nüchterner, dabei birgt es die mit dem Kind von Stade aus in die Tür-
Facebook

ganze Tragik dieses Falles: Von einem kei gefahren. Bis nach Mersin, zu sei-
Sorgerechtsstreit war die Rede. ner Familie. Im Auto.

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DEUTSCHLAND

Die verzweifelte Mutter stellte damals


schon einen Strafantrag wegen »Entziehung
einer Minderjährigen«. Das Jugendamt schal-
tete sich ein. Die Ermittlungen stockten je-
doch, da die Mutter keine Aussage bei der
Polizei machen wollte. Warum, bleibt unklar.
Die Staatsanwaltschaft teilt heute mit, die
Mutter habe damals lieber auf eigene Faust
versucht, ihre Tochter aus der Türkei zurück-
zuholen. Vergebens.
Im Juli 2022 bekam die Mutter auf Antrag
das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Ihre
Tochter lebte da schon seit mehr als drei Mo-
naten in der Türkei. Im September stellte die

Jonas Walzberg / picture alliance / dpa


Mutter schließlich erneut einen Strafantrag
– und reiste kurz danach wieder nach Mersin.
Ende September kehrte sie zurück, dieses Mal
mit ihrer Tochter.
Das Amtsgericht verurteilte Salman E.
­wegen der Kindesentziehung zu einer Strafe
von 40 Tagessätzen in Höhe von 90 Euro.
Der heute 35-jährige Türke war seiner Frau
wieder nach Deutschland gefolgt. Er akzep- Einsatzkräfte am Flughafen Hamburg am 4. November: Das Schlimmste befürchtet
tierte das Urteil. Doch gelöst war der Fami-
lienstreit nicht. Aus Angst, ihr Mann könnte so ein Erlebnis für ein Kind bedeute. »Viele gesucht werde jemand, der Türkisch spricht.
erneut mit der Tochter verschwinden, ver- Eltern sind sich der Tragweite ihrer Tat nicht Eine Angestellte, die das Präsidium bewacht,
weigerte die Mutter ihm rigoros, das Mädchen klar«, sagt sie. So zeigten Studien, dass Men- meldet sich. Sie übernimmt das nächste Tele-
zu treffen. Und so ging der Streit um das klei- schen, die als Kinder von Vater oder Mutter fonat. Salman E. will mit seiner Tochter in die
ne Mädchen weiter. Der Vater wollte seine verschleppt wurden, bis in ihr Erwachsenen- Türkei ausgeflogen werden.
Tochter sehen, er ging vor das Familien­ alter unter den Folgen leiden. Im Präsidium nimmt der Führungsstab die
gericht. In einem Clearing-Verfahren sollte Salman E. wartet den Ausgang des Clea- Arbeit auf. Eine Verhandlungsgruppe des
erörtert werden, wie der Kontakt aussehen ring-Verfahrens nicht ab. Im März 2023 steht Landeskriminalamts kommt hinzu. Sie soll
könnte. Allein mit der Mutter? Begleitet von der Vater unerlaubt in der Wohnung seiner den Kontakt zum Geiselnehmer halten. Und
einer Mitarbeiterin des Jugendamts? Frau. Er will seine Tochter sehen. Die Ehefrau die Kollegin aus dem Objektschutz, die als
Blickt man zurück und fragt sich, an wel- stellt Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs. Einzige Türkisch spricht, haargenau instru­
cher Stelle das Drama des Salman E. noch eine Die Staatsanwaltschaft lehnte ein Ermittlungs- ieren. Sie wird bis zum Ende diejenige sein,
gute Wendung hätte nehmen können, es wäre verfahren »mangels öffentlichen Interesses« die mit Salman E. redet.
wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt gewesen. jedoch ab und verwies auf den Privatklageweg. Die Beamten befürchten das Schlimmste.
Fachleute verweisen darauf, dass ein El- Salman E. gibt nicht auf, versucht immer Salman E. sagt, er habe Sprengstoff am
ternteil, der sein Kind entführt hatte, in vielen wieder, mit seiner Tochter in Kontakt zu kom- ­Körper. Erst später stellt sich heraus, dass es
Fällen trotzdem wieder Kontakt zu ihm auf- men. »Nicht einmal über eine Videoschalte sich um ein Buch handelt, umwickelt mit
bauen darf. In Deutschland verfolgen Fami- konnte er das Mädchen sehen«, sagt sein Bru- ­Alufolie.
liengerichte den Ansatz, möglichst beide El- der. In Telefonaten erlebten seine Mutter und Später hört man, Salman E. habe am Tele-
ternteile dem Kind zu erhalten. Dafür müssen er einen Mann, der immer verzweifelter klang. fon gejammert. Er sei nicht einverstanden,
jedoch mitunter Aggressionen abgebaut wer- Der Bruder sagt, sie hätten Verständnis für wie sein Streit ums Sorgerecht verlaufe. Sein
den. Und es muss eine gewisse Sicherheit her- seine Gefühle. Aber nicht für das, was am ver- Leben liege in Scherben. Es sei nichts mehr
gestellt werden. So wird häufig eine Grenz- gangenen Samstag folgte. »Das war bekloppt.« wert, wenn er seine Tochter nicht mehr sehen
sperre gegen Elternteile verhängt, wenn droht, An jenem Tag steht Salman E. gegen 19 könne. Er habe sich in eine Sackgasse manö-
dass sie ihr Kind ins Ausland verschleppen. Uhr vor der Tür seiner Ex-Partnerin. Eine vriert, könne so nicht mehr weiterleben.
Zudem können die Gerichte anordnen, dass Nachbarin sagt, sie habe die Schreie der Mut- Mehrfach, so berichten Beteiligte, steht Sal-
sie ihr Kind nicht mehr allein treffen dürfen. ter im Treppenhaus gehört. »Hilfe, er hat man E. kurz davor, aufzugeben. Er wolle das
Bei dem sogenannten begleiteten Umgang ist meine Tochter«, »Hilfe, er hat eine Waffe«. alles gar nicht. Doch erst am Sonntag um
dann zum Beispiel ein Sozialarbeiter dabei. Draußen auf der Straße vor dem Haus schießt 14.25 Uhr ist es vorbei.
Vor allem aber müsse das Wohl des Kindes Salman E. zweimal in die Luft. In einem Salman E. nimmt seine Tochter auf den Arm
in den Blick genommen werden. schwarzen Audi des Carsharing-Anbieters und übergibt das Kind den Beamten. Dann
Ursula Rölke, Leiterin des Internationalen Miles rast er davon. lässt er sich widerstandslos festnehmen. Am
Sozialdienstes beim Deutschen Verein in Ber- Um 20.03 Uhr durchbricht Salman E. drei nächsten Tag erlässt ein Richter Haftbefehl.
lin, berät seit etwa 30 Jahren Eltern, deren Schranken an der Kontrollstelle Nordtor des Bei der Polizei stellen die Ermittler später
Kinder von einem von ihnen ins Ausland ent- Hamburger Flughafens. Die Sicherheitsleute die These auf, Salman E. habe der Welt mit-
führt wurden. »Meist geht der Blick auf das können nur hinterherschauen. Salman E. wirft teilen wollen, wie ungerecht er behandelt
Kind in diesen Fällen als Erstes verloren«, sagt zwei Brandsätze und schießt dreimal in die werde. Deshalb habe er keine Tickets gekauft,
sie. »Wir sprechen mit den Eltern immer da- Luft. Dann bleibt er neben der abflugbereiten deshalb habe er sich eine Schusswaffe besorgt,
rüber, ob das, was sie planen, wirklich das Maschine von Turkish Airlines stehen. Um deshalb die Sprengstoffattrappe. Die Tat sei
Beste für das Kind ist. Vielen wird dann klar, 20.07 Uhr wählt er den Notruf. Der Polizist nicht spontan gewesen.
wie ihr Kind sich fühlen könnte, und sind offen am anderen Ende der Leitung versteht ihn Seine Tochter sei allem Anschein nach un-
für andere Möglichkeiten der Konfliktlösung.« nicht – Salman E. spricht Türkisch. versehrt, sagt die Polizei. Körperlich.
Rölke redet konsequent von »Entführun- Nach dem Notruf schickt man in der Ein- Hubert Gude, Roman Lehberger, Christopher Piltz,
gen«. Das mache den Einschnitt deutlich, den satzzentrale einen Funkspruch los. Dringend Ansgar Siemens, Louisa Uzuner n

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DEUTSCHLAND

All diese Daten ergaben lange Zeit


folgendes Bild: Immer mehr junge
Menschen studierten, zogen in die
großen Städte, gründeten erst später

Die Mär von der


eine Familie, lebten in kleineren
Haushalten. Dadurch hatten sie auch
seltener ein Auto zur Verfügung. »Die

Anti-Auto-Jugend
Interpretation, dass diese jungen Leu-
te sich alle nicht mehr fürs Auto inte-
ressieren, die fand ich damals schon
übersteigert«, sagt Kuhnimhof.
Rückblickend sind die Nullerjahre,
MOBILITÄT Die junge Generation klebt sich auf die Straße, statt auf was den langfristigen Trend angeht,
eine Ausnahme. Die Führerschein-
ihr zu fahren? Nicht wirklich – die Mehrheit sitzt gern quote ist in der Altersgruppe von
hinter dem Steuer. Verkehrsexperten müssen umdenken. 18 bis 24 Jahren ebenfalls nach wie
vor hoch – bei den Männern scheint
sie zwar stärker zu sinken, doch liegt

L
eander Diedrich ist gerade an junge Generation anscheinend auf- das womöglich daran, dass in den
der Hochschule, fürs Telefonat hörte, das Auto zu lieben, begannen vergangenen Jahren viele junge Män-
mit dem SPIEGEL setzt er sich Verkehrswissenschaftler, sich das ner zuwanderten. Nicht alle können
also an einen ruhigen Ort – ins Auto. Phänomen genauer anzuschauen. sich mit der Fahrlizenz direkt ein
Darum soll’s ja auch gehen. Einer von ihnen ist Tobias Kuhnimhof eigenes Auto leisten – aber auch wer
Der 23-Jährige ist Autofan, er stu- von der RWTH Aachen. noch keins hat, wünscht sich dennoch
diert Autos sogar, im Bachelor Elek- Wenn man mit ihm redet, wird klar, sehr oft eins, zeigen Kuhnimhofs Be-
tromobilität an der Hochschule Trier. dass der Motorisierungsgrad allenfalls fragungen. »Bei der Führerschein-
Und er fährt viel: wenn er am Wo- einen Teil der Geschichte erzählt. quote hat sich bis jetzt nichts
chenende zu seinen Eltern pendelt, Der Wert gibt an, wie viele Autos auf Nennens­wertes verändert«, sagt der
etwa 350 Kilometer von Trier ins 1000 junge Menschen beim Kraft- Wissenschaftler.
Münsterland. Oder von seiner Woh- fahrt-Bundesamt registriert sind – al- Hat sich also gar nichts getan, bei
nung zur Hochschule. Der Bus ist ihm lerdings muss das nicht heißen, dass allen Debatten über Klima und CO₂-
auf dieser Strecke zu umständlich: nur diese Menschen überhaupt Auto Emissionen?
»Da bin ich dann einfach zu bequem, fahren. Viele fahren erst mal das Auto Immerhin ändert sich, was junge
mehrmals umzusteigen und noch län- der Eltern, bis sie sich ein ei­genes zu- Menschen über das Auto denken. Das
ger zu laufen. Wenn das Auto schon legen. Es kommt also auch darauf an, beobachteten Tobias Kuhnimhof und
Fahrerin in Privat­
vor der Tür steht, nehme ich das nicht wagen: Das Auto
wie viele Autos in einem Haushalt seine Kollegen, als sie junge Men-
unbedingt auf mich.« ist oft »nach wie vor verfügbar sind oder wie junge Men- schen nach ihren Einstellungen zum
Auf den ersten Blick scheint Lean- unschlagbar« schen zum Auto stehen. Auto befragten. Der Aussage etwa,
der Diedrich so gar nicht dem Bild »ohne ein Auto ist mein Leben un-
der heutigen Generation zu entspre- vorstellbar«, stimmten 2018 lediglich
chen. Kleben sich diese jungen Leute knapp 40 Prozent zu, während es
nicht sonst fürs Tempolimit auf die 2003 noch 60 Prozent waren.
Straße? Ist diese so klimabewusste Doch weshalb stieg der Motorisie-
und links-grüne Jugend nicht eigent- rungsgrad im vergangenen Jahr-
lich eine Anti-Auto-Generation? zehnt? »Meine Interpretation: Wenn
Weit gefehlt. Zwar sank die Zahl sich Einstellungen ändern, dann
der zugelassenen Autos pro Einwoh- ­ändert sich nicht immer auch Verhal-
ner von 18 bis 34 Jahren zuletzt et- ten«, sagt Kuhnimhof. »Junge Men-
was – auf 382 Pkw pro 1000 Männer schen fahren heute pragmatischer
und 295 pro 1000 Frauen. Ältere be- Auto als früher. Ein junger Mann in
sitzen zudem deutlich mehr Pkw. den Neunzigerjahren ist viel eher
Doch das Bild ändert sich, wenn man Auto gefahren um des Autos willen,
diesen sogenannten Motorisierungs- einfach, weil ihm Autos wichtig wa-
grad einige Jahre in die Vergangenheit ren.« Das sei in der jungen Genera-
zurückverfolgt: Seit etwa 2010 steigen tion heute weniger der Fall – trotz-
die Werte mehr oder weniger konti- dem sei das Auto einfach nach wie
nuierlich an. Auch die Generation vor so ein gutes Verkehrsmittel, dass
Greta sitzt also hinter dem Steuer. es oft alles andere aussteche.
Astrakan Images / Image Source / Getty Images

Also Fridays for Hubraum statt for Praktikabilität schlägt Gewissen,


Future? Dass sich die Probleme, die das bequeme Auto den umständli-
mit den vielen Autos einhergehen – chen ÖPNV. »Wenn junge Menschen
zugeparkte Städte, Staus, hohe Emis- davon abhängig sind, dass alle zwei
sionen – einfach durch einen Gene- Stunden ein Bus kommt, dann sind
rationswechsel lösen, daran glauben sie auch nicht so sehr bereit, auf ein
Experten jedenfalls nicht mehr. Auto zu verzichten. Weil das bedeu-
Noch in den Nullerjahren fiel der ten würde, dass sie bestimmte Dinge
Motorisierungsgrad bei den jungen nicht mehr tun können«, sagt Jugend-
Autobesitzern stark. Damals, als die forscher Simon Schnetzer.

40 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


DEUTSCHLAND

Er und sein Kollege Klaus Hurrelmann


untersuchten für ihre fortlaufende Studie »Ju-
gend in Deutschland« vor zwei Jahren auch
deren Umweltbewusstsein. Fazit: Ein »men-
taler Durchbruch zu nachhaltigem Umwelt-
schutz« sei nicht zu erkennen, nur wenige
junge Menschen seien zum jetzigen Zeitpunkt
bereit, einen aktiven Beitrag zu leisten.
Verzichten fürs Klima? Vielleicht auf Ein-

Ganz in Ruhe
wegplastik. Aber dauerhaft auf ein Auto, das
geht mehr als der Hälfte doch zu weit – ledig-
lich für 18 Prozent ist das eine klare Option,
damit ist nur noch eine vegane Lebensweise
unbeliebter als die Autolosigkeit. Alte Ge-
wohnheiten und ein traditionelles Wohl-
standsverständnis scheinen auch bei den Jün-
geren festzusitzen, schreiben die Autoren. Sind Sie auch ständig im Stress? Erfahren Sie
Leander Diedrich, der Student aus Trier, in der neuen Ausgabe von SPIEGEL WISSEN,
will ebenfalls nicht komplett auf ein Auto ver-
zichten. Er glaubt eher an E-Autos, die seien wie Sie Belastungen reduzieren und fürsorglicher
jetzt schon viel besser als ihr Ruf. mit sich selbst umgehen.
Seine Idee: Mit einem E-Auto sei er weiter-
hin individuell mobil, aber eben nachhaltiger.
Und das versprechen die Stromer auch: Der
Privat-Pkw ist gerettet, mit Elektroantrieb.
Manche stellen auch das infrage. Schließlich
lösen Elektroautos höchstens das Emissions-
problem. Das Problem aber, dass bald 50 Mil-
lionen Pkw in Deutschland auch irgendwo
stehen müssen, lösen sie nicht.
Tobias Kuhnimhof, der Aachener Ver-
kehrsforscher, ist inzwischen desillusioniert.
Oder wie er es formuliert: »Aus verkehrs­
planerischer Sicht blutet mir oft das Herz.«
In den Nullerjahren hätten viele Experten
gedacht: Dieses Problem mit den vielen
Autos, das verschwindet von selbst. Das Jetzt
del
im Han
wächst sich raus. Weil da eine neue Genera-
tion nachkommt. »Das war falsch. Weil zu-
mindest Teile der Politik damals gesagt haben:
Okay, wenn sich das Problem von allein löst,
dann müssen wir nichts mehr machen. Das
ist natürlich viel bequemer, als aktiv selbst an
einer Mobilitätswende zu arbeiten.«
Kürzlich postete das Bundesverkehrsmi-
nisterium eine eigene Grafik zum Motorisie-
rungsgrad, dazu schrieb Volker Wissings
Haus: »Jung & unabhängig – Rekordzahl an
Autobesitzern unter 24 Jahren«. Der Post war
in vielerlei Hinsicht Murks, nicht nur, weil er
die falschen Zahlen zeigte und sich das Mi-
nisterium mehrmals korrigieren musste.
Mancher Kommentator sah weniger einen
»Rekord« als vielmehr ein »Totalversagen«
in der Verkehrspolitik. Schließlich kann man
bei dieser Analyse ja zu verschiedenen Schlüs-
sen kommen: etwa, dass es nun gilt, radikal
umzusteuern, also Alternativen zum Auto
bequemer und bezahlbarer zu machen.
Das Bundesverkehrsministerium beließ
den Grundtenor des Posts auch in der korri-
gierten Fassung. Es ging wohl gar nicht um
richtige Zahlen – sondern um die Botschaft:
Junge Leute wollen Auto fahren, also wollen
sie auch eine Autopolitik. »Unabhängig« sei-
en nur Autofahrer. Ziemliche viele junge Men-
schen sehen es offenbar ähnlich.
Lukas Kissel n Online bestellen
Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 41
DEUTSCHLAND

vor allem einen Mann dafür verant­


wortlich. Von ihm distanziere sie sich
heute »vollumfänglich«. Mehrfach
nennt sie seinen Namen: Jan Gysi.

»Faszinierend dämlich«
In der Schweiz ist Jan Gysi ein
­bekannter Experte. Er arbeitete zeit­
weise als Oberarzt an psychiatrischen
Kliniken, betreibt in Bern eine eigene
Praxis. Zudem lehrt er an Universi­
PSYCHOLOGIE Unter Psychotherapeuten kursieren Mythen über ferngesteuerte täten und gibt Fortbildungen für Psy­
chotherapeuten, auch in Deutschland.
Menschen und Missbrauch durch Anhänger geheimer Kulte. Experten halten Gysi hat sich nach eigenen Angaben
sie für Unsinn – und gefährlich. Trotzdem werden sie in der Fachwelt verbreitet. vor allem auf ein Thema spezialisiert:
Traumafolgestörungen.
Erleben Menschen ein trauma­

A
n einem Mittwoch im Juni un­ scher Zirkel. Diese sollen Kinder und tisches Ereignis, etwa eine Explosion
ternimmt eine Psychotherapeu­ Jugendliche angeblich auf grausams­ oder eine Vergewaltigung, kann es
tin den Versuch, ihren Ruf zu te Art foltern und missbrauchen. Da­ vorkommen, dass ihr Gehirn das
retten. Sie hat einen Brief aufgesetzt, bei sollen die Täter ihre Opfer so sehr Furchtbare nicht mehr verarbeiten
14 Seiten, eng beschrieben. Da steht: in Todesangst versetzen, dass diese kann. Übersteigen Schmerz und Angst
»Aufgrund der fachlichen und media­ mental gebrochen werden. Im An­ ein Maß, das Gehirn und Körper ver­
len Entwicklung in den letzten Mona­ schluss, so die Erzählung, würden kraften können, kann es passieren,
ten ist es mir ein grosses Anliegen, … die Täter in der Lage sein, ihre Opfer dass die Persönlichkeit eines Men­
klärend Stellung zu nehmen.« geistig zu kontrollieren und sie so ein schen verschiedene Anteile entwi­
Sie schreibt, sie sei »zu unkritisch« Leben lang steuern zu können. Diese ckelt. Dissoziative Identitätsstörung
gewesen gegenüber Theorien, die sie vermeintliche Technik wird in der heißt dieses Störungsbild, kurz DIS.
nun als »unwissenschaftliche Speku­ Szene »Programmieren« genannt Die Thesen zu Mind-Control ge­
lationen« bezeichnet. Sie wolle »nicht oder auch »Mind-Control«. hen jedoch weit darüber hinaus. So
wegen dieses Fehlers als unseriös oder Dabei gibt es keine Beweise, etwa sei es möglich, durch extreme Folter
gar als ›Verschwörungstheoretikerin‹ aus Strafverfahren, dass Verbrechen eine dissoziative Identitätsstörung ge­
verurteilt und aus der professionellen solcher geheimer Täterkreise existie­ zielt auszulösen – eine Annahme, die
Fachwelt ausgeschlossen« werden. ren. Auch fehlen jegliche wissen­ wissenschaftlichen Erkenntnissen
Die Psychotherapeutin verschickt schaftliche Erkenntnisse für die The­ über Traumafolgestörungen wider­
das Schreiben an psychiatrische Kli­ sen. Sie widersprechen vielmehr dem spricht. So hängt es von vielen Fak­
niken und Behörden in Deutschland Wissen über die Psyche. toren ab, etwa den Genen, ob Opfer
und der Schweiz, an psychologische Und doch verbreiten sich solche eines traumatischen Ereignisses
Fachgesellschaften und Ärzte, insge­ Thesen seit Jahren. In der Schweiz ­später eine Störung entwickeln – und
samt an mehr als hundert Personen. sollen einer Online-Umfrage der Uni welche. Niemand kann das exakt
Einige Zeit zuvor hatte sie als Ober­ Bern zufolge 70 Therapeutinnen und steuern.
ärztin auf einer Station gearbeitet, die Therapeuten angegeben haben, dass Ideen zu Mind-Control blenden
im Zentrum eines mutmaßlichen Be­ etwa 600 Patientinnen auf dieser das aus. Sie besagen außerdem,
handlungsskandals stand. »Haarsträu­ Grundlage behandelt worden seien. dass die verschiedenen sogenannten
bende Zustände an einer der grössten Für Deutschland fehlen konkrete ­Innenpersönlichkeiten Erkrankter
psychiatrischen Kliniken des Landes«, Daten, doch auch hierzulande werden durch spezielle Techniken so trainiert
titelte etwa im November 2022 die solche kruden Ansichten in Praxen werden könnten, dass diese Per­
»Neue Zürcher Zeitung«. Hintergrund verbreitet. Im März berichtete der sönlichkeitsanteile angeblich wider­
war ein Untersuchungsbericht, den SPIEGEL (11/2023) bereits, welchen standslos Sex oder Gewalt über sich
die Gesundheitsdirektion im Kanton Schaden sie in einer Therapie verur­ ergehen ließen. Das Opfer erinnere
Bern zuvor veröffentlicht hatte. sachen können. sich am Ende nicht einmal daran.
Der Bericht kam zu dem Schluss, Wie können sich solche Mythen in Auch Jan Gysi verbreitete solche
dass im Psychiatriezentrum Münsin­ der Fachwelt verbreiten? Ideen. Er war als Supervisor an der
gen Patientinnen und Patienten un­ Antworten finden sich quer durch betroffenen Klinik in Münsingen tä­
nötig häufig zwangsfixiert oder isoliert die Republik, in Bremen, München tig. In dem Schweizer Untersuchungs­
wurden. Und er zeigt, dass dort Pa­ oder Hamburg. Und zwar in Einrich­ bericht wurde er »ein wichtiger ›Spin
tienten auf Basis einer Überzeugung tungen, die Psychotherapeutinnen und »Er suchte doctor‹« genannt, der »eine Art Schu­
behandelt wurden, die »unverkennbar -therapeuten fortbilden. Aber auch in immer das le« gegründet hat, um Thesen etwa
Elemente einer Verschwörungstheo­ Fachartikeln und Fortbildungsunter­ zu Mind-Control zu verbreiten. Gysi
rie« hat. Therapeuten sahen in ihren lagen. Unhaltbare Thesen über Ge­ Schlimmste. bestreitet, solch eine Rolle innegehabt
Klienten Opfer allmächtiger Täterkrei­ dankenkontrolle haben Einzug gefun­ Er sagte mir, zu haben. Die Stelle in dem Bericht
se. Eine Überzeugung, die meist unter
dem Begriff rituelle Gewalt bekannt
den in die psychiatrische Literatur.
Auch in dem Schreiben der Psycho­
Anteile in mir wurde mittlerweile geschwärzt.
Zu lesen sind Gysis Thesen etwa
ist. Und die nicht hilft, sondern Patien­ therapeutin finden sich Erklärungen. würden ver- in seinem Buch »Diagnostik von
tinnen und Patienten eher in Angst Sie selbst lehnt es ab, mit Journa­ hindern, dass Traumafolgestörungen«. Da ist von
treiben kann.
Wenn von ritueller Gewalt die
listen über die Vorwürfe zu sprechen.
In ihrem Brief hingegen schreibt sie,
ich das erzäh- einer »gezielten Herstellung disso­
ziativer Anteile« die Rede, die »dem
Rede ist, sind meist Taten angeblich sie habe den »gelehrten ›Theorie‹-An­ len würde.« methodischen Vertuschen von Straf­
mächtiger Geheimgruppen gemeint, satz des ›Mind-Control‹« nicht hinter­ Ehemalige Patientin taten« diene und der »umfassenderen
zum Beispiel verborgener satanisti­ fragt. Die Psychotherapeutin macht von Jan Gysi Kontrolle über die Opfer«. Das Buch

42 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


DEUTSCHLAND

sorgt sich vielmehr um labile Patientinnen


und Patienten, die sich beeinflussen lassen
könnten. Auch Fachgesellschaften fürchten,
dass solche Mythen zu Fehlbehandlungen
führen könnten.
Es gibt noch jemanden, der sich heute kri-
tisch äußert: Jan Gysi selbst. Auf eine Anfra-
ge des SPIEGEL antwortet er, es gebe »keine
wissenschaftliche oder kriminologische Evi-
denz für absichtliche Spaltungen«. Er distan-
ziere sich »von allen Arten von Verschwö-
rungs-Narrativen«. Er schreibt: »Leider habe
ich unterschätzt, dass meine Aussagen für
Hypothesen zu Satanismus und ›Fernsteue-
rungen‹ missbraucht werden können.«
Alles also nur ein Missverständnis?
An einem Vormittag im Oktober wider-
spricht dem eine Frau vehement. Sie lebt in
der Schweiz und war jahrelang bei Gysi in
Therapie. Sie will ihren Namen nicht veröf-
fentlicht wissen, auch nicht bestimmte Details
zu ihrem Leben, die sie identifizieren könn-
ten. Aber sie möchte reden. Sie sagt: »Gysis
Therapie wurde zu meinem Problem«.
Die Frau erzählt, wie sie in ihrer Kindheit
und Jugend missbraucht worden sei. Etliche
Therapien und Klinikaufenthalte habe sie hin-
ter sich gehabt. Als sie auf der Suche nach
einem Experten für Dissoziationen war, fand
sie Jan Gysi. Was sie über ihn las, machte auf
sie einen seriösen Eindruck. Bei ihrer ersten
Sitzung habe er kompetent gewirkt.
Simon Prades / DER SPIEGEL

Doch bald habe sie sich nicht mehr wohl-


gefühlt. Die Frau erzählt, wie Jan Gysi immer
stärker auf der Suche nach Anteilen in ihr
gewesen sei. Wenn sie ihm berichtet habe,
was sie als Jugendliche erleiden musste, habe
er immer schlimmere Details wissen wollen.
»Er suchte immer das Schlimmste. Er sagte
Mythen über ferngesteuerte Menschen werden in Fortbildungen verbreitet mir, Anteile in mir würden verhindern, dass
ich das erzählen würde.«
erschien 2022 in der zweiten Auflage im Ver- Klingt unwissenschaftlich. Ein naiver Irrglau- Bald habe er auch von Persönlichkeitsan-
lag Hogrefe, einem renommierten Fachverlag be. Einer sagt: »Das klingt faszinierend däm- teilen gesprochen, die vielleicht noch Kontakt
für psychologische Bücher. lich.« Dem Psychiater Christian Schmahl fal- zu Tätern hätten. Sie würden durch Codes
Das Vorwort hat ein deutscher Psychologie- len vor allem zwei Worte ein: unplausibel und aktiviert werden, Zahlen oder Buchstaben.
professor der Universität Zürich verfasst, An- unwahrscheinlich. Diese Codes müssten sie herausfinden, um
dreas Maercker. Ein anerkannter Fachmann, Schmahl leitet in Mannheim als ärztlicher mit diesen Anteilen zu arbeiten.
er leitete jahrelang eine Arbeitsgruppe zu Direktor die Klinik für Psychosomatik und Psy- Die Frau hat dafür Belege, die der SPIEGEL
Traumafolgestörungen bei der Weltgesund- chotherapeutische Medizin am Zentralinstitut einsehen konnte. Sie zeichnen das Bild eines
heitsorganisation WHO. Das Buch sei »voller für Seelische Gesundheit. Seit Jahren forscht Therapeuten, der überzeugt zu sein scheint,
nützlicher klinischer Details«, schrieb er. er zu den Folgen von Traumatisierungen und dass Opfer durch ihre Täter kontrolliert und
Heute klingt Maercker weniger begeistert. gibt Fortbildungen bei der Deutschsprachigen gesteuert werden können, alles ausgelöst
Aus seiner Sicht sollte das Buch heute nicht Gesellschaft für Psychotraumatologie. durch einfache Codes.
mehr verkauft werden, teilt er auf Anfrage Schmahl antwortet mit der Korrektheit Die Frau sagt, diese Vorstellung habe ihr
mit. Er habe sich inzwischen kritischer mit eines Wissenschaftlers. Ist es aus seiner Sicht Angst gemacht. »Ich habe Panikattacken be-
Theorien zu Mind-Control beschäftigt – und möglich, die Persönlichkeit eines Menschen kommen. Ich dachte, ich hätte mich von dem
hält sie für wissenschaftlich nicht belegbar garantiert gezielt aufzuspalten? »Es ist nicht Täter gelöst. Aber plötzlich stand im Raum,
und »theoretisch sehr schwer vorzustellen«. vorhersagbar, dass eine bestimmte Trauma- Teile von mir würden noch mit ihm kommu-
Der Verlag teilt auf Anfrage mit, das »Buch folgestörung auftritt. Ich halte es deshalb für nizieren.« Nach den Therapiesitzungen sei es
entlang der aktuellen wissenschaftlichen unplausibel.« Einen Menschen so zu program- ihr meist sehr schlecht gegangen. Manchmal
­Studienlage aktualisiert und überarbeitet« zu mieren, dass er willenlos Befehle ausführt? sei sie orientierungslos durch die Straßen ge-
haben, »auch die fraglichen Passagen«. Im »Eher unwahrscheinlich.« Jemanden allein irrt, bevor sie wieder bei Sinnen gewesen sei.
kommenden Jahr soll eine korrigierte Neu- durch einen Ton oder eine Bewegung fernzu- Jan Gysi weist die Vorwürfe zurück. Er
auflage erscheinen. steuern? »Unwahrscheinlich.« nennt sie »Falschbehauptungen« und schreibt:
Fragt man andere renommierte Trauma- In Deutschland praktizieren rund 30.000 »Ich distanziere mich von Theorien mit
forscher zu Mind-Control und Programmie- Psychotherapeutinnen und Psychotherapeu- ­sogenannten Codes und habe nie damit
rung, ähneln sich ihre Antworten. Da hört ten. Nur die wenigsten werden anfällig sein ­gear­beitet.« Auch die Suche nach Anteilen
man: Ist mir in Studien noch nie begegnet. für solche Thesen. Das sagt auch Schmahl. Er oder Erinnerungen entspräche nicht den

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

nicht mehr als »grober Unfug«, »völlig un-


realistisch«. Und dann: »Dies ist im Rahmen
einer Fortbildungsveranstaltung für Thera-
peuten unverantwortlich.«
Doch auch in Deutschland bekamen Psy-
chotherapeuten allem Anschein nach diese
Märchen zu hören.
So gab Claudia Fliß im Jahr 2020 einen
Workshop zum Thema rituelle Gewalt auf der
Jahrestagung der Deutschsprachigen Gesell-
schaft für Psychotraumatologie, kurz DeGPT,
einem anerkannten Fachverband. Sie leitete
dort auch ein Symposium zum Thema.
Über Jahre bildete Claudia Fliß zudem Psy-
chotherapeuten fort. Sie lehrte unter anderem
am Norddeutschen Institut für Verhaltens-
Simon Prades / DER SPIEGEL

therapie (NIVT) in Bremen. Seit 30 Jahren


werden hier Psychotherapeutinnen und -the-
rapeuten ausgebildet, praktizierende Psycho-
logen besuchen Fortbildungen. Das Institut
ist anerkannt von der Kassenärztlichen Bun-
desvereinigung und dem Land Bremen.
Im Jahr 2015 bot Fliß erstmals ein mehr-
Codes würden Persönlichkeitsanteile aktivieren, hörte die Patientin in der Therapie tägiges Seminar zu »organisierter Ritueller
Gewalt« in Bremen an. In einer Ankündigung
Leitli­nien. Er orientiere sich an »wissenschaft- zeugen«. Sie würden »die nahezu totale Kon- heißt es, Inhalt des Seminars seien auch »Kon-
lichen Erkenntnissen«. trolle über ihre Opfer« erhalten. ditionierungen und Programmierungen«.
Doch weitere Dokumente, die dem SPIEGEL Gysi teilt mit, er distanziere sich heute Jahr für Jahr setzte das Institut das Semi-
vorliegen, zeigen, wie klar Gysi Thesen zur Ge- von dieser Veröffentlichung. Die Seminar­ nar fort, es dauerte bis zu sechs Tage. Auch
dankenkontrolle verbreitete. So gründete er im ausschreibung sei veraltet gewesen, er »gebe für dieses Jahr war ein Seminar angekündigt.
Jahr 2020 den »Verein für Opferschutz«. Über den Text schon lange nicht mehr weiter«. Doch es fand nicht wie geplant beim NIVT
diesen wollte Gysi Fußfesseln an vermeintliche Im Dezember 2022 erschien in der Schweiz statt. Auf eine Anfrage des SPIEGEL teilt die
Opfer vermieten, die von Tätern absichtsvoll ein weiterer Untersuchungsbericht, wieder Institutsleiterin mit, man habe »die Zusam-
aufgespalten worden sein sollen und unter mit einer Verbindung nach Deutschland. Auch menarbeit mit Frau Fliß insgesamt beendet«
deren Kontrolle stehen würden. Durch das dort beschrieben Experten, wie problemati- und distanziere sich »vollumfänglich von den
Tracking könnten Opfer »aktiv gesucht und sche Thesen über Mind-Control Eingang fan- Inhalten des Workshops«. Sie seien »nicht
geschützt werden«. So steht es in einem Kon- den in die Behandlung von Traumapatienten wis­senschaftlich fundiert« gewesen. Fliß
zept des Vereins. Das Projekt wurde nie um- einer großen psychiatrischen Klinik, der Clie- selbst reagierte nicht auf mehrere Anfragen
gesetzt, der Verein Anfang 2023 aufgelöst. nia Littenheid. Eine Rolle spielte dabei eine zu den Vorwürfen.
Heute teilt Gysi mit, er habe lediglich »wi- deutsche Psychotherapeutin: Claudia Fliß. Ihre Überzeugungen haben jedoch wei­tere
dersprüchliche Aussagen von Menschen mit Seit mehr als 30 Jahren behandelt Fliß Kreise gezogen. Sie finden sich etwa in dem
dissoziativer Identitätsstörung zu anhaltender nach eigenen Angaben Patientinnen und Pa- Buch »Komplexe Traumafolgestörungen«
Gewalt« prüfen wollen. tienten, zuletzt in ihrer Praxis in Bremen. Fast wieder. Veröffentlicht wurde auch dieses
Doch das Thema »Programmierungen« genauso lange treibt sie ein Thema um: die Werk von einem renommierten Fachverlag,
scheint Gysi weiterhin zu beschäftigen. So Opfer ritueller Gewalt. dem Schattauer Verlag. Fliß schrieb zwei Ka-
hält er in diesem und im kommenden Jahr Fliß veröffentlichte etliche Artikel dazu, pitel in dem Buch, zusammen 15 Seiten. Auf
mehrtägige Seminare, auch in Deutschland. etwa in dem Buch »Satanismus, die unter- ihnen finden sich allein 27-mal Begriffe wie
Etwa im Zentrum für Psychotraumatologie schätzte Gefahr«, erschienen im Jahr 2000. »Programmieren« oder »Programmierung«.
Hamburg oder am Traumahilfezentrum Mün- Sie ist Co-Autorin eines »Handbuchs Rituel- Wie finden diese umstrittenen Begriffe Ein-
chen. Das Traumahilfezentrum veranstaltet le Gewalt«. zug in ein Werk, das inzwischen in der zwei-
seit Jahren Fortbildungen und Vorträge zu Ihre Texte gleichen einem Trommelfeuer ten Auflage erschienen ist? Eine Sprecherin
ritueller Gewalt. des Schreckens. Dort werden alte Menschen des Verlags teilt lediglich mit, dass »unter-
In einem der aktuellen Seminare Gysis, so zu Tode gequält, manche »in einem Todes- schiedliche Standpunkte und Sichtweisen« in
ist es in einer Ankündigung zu lesen, soll es ritual nahezu völlig zerstört«. Kulte sollen der Fachliteratur »sichtbar gemacht und dis-
auch um das Thema »Programmierung« bei Schulen und Kindergärten kontrollieren. Und kutiert« werden.
Traumaopfern gehen. Gysi antwortet auf An- Lager in Osteuropa unterhalten, in denen sie Einer der Herausgeber des Buchs ist Mar-
frage, er wolle lediglich ȟber die Problema- ihre Opfer mental brechen. tin Sack, stellvertretender Direktor der Klinik
tik des Begriffs sprechen«. In einem österreichischen Fernsehsender für Psychosomatische Medizin und Psycho-
Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sprach Fliß über »Auslösereize« und »viele therapie des Klinikums rechts der Isar in
empfahl Gysi laut Ankündigung jedoch als Anteile«, die von Tätern erzeugt würden. München. Im Mai 2023 veröffentlichte er
Lektüre unter anderem einen 103-seitigen 2018 berichtete sie in einem Artikel, als The- einen Artikel in einer Fachzeitschrift, es geht
Bericht, den er verfasst hat, der Titel: »Orga- rapeutin versuche sie, »die vorgenommenen um die Debatte über rituelle Gewalt. Sack
nisierte sexualisierte Ausbeutung«. An meh- Programmierungen wieder aufzuheben«. schreibt da, der Begriff »Deprogrammierung«
reren Stellen streut er dort Thesen über eine In Fortbildungen verbreitete Fliß offen- sei »aus heutiger Sicht« unstimmig, da es sich
gezielt hergestellte DIS und hoch spezialisier- sichtlich ähnliche Schauergeschichten. Das um einen Begriff aus der Informationstechno-
te Täterkreise. So heißt es etwa, Täter mit zeigt der Schweizer Untersuchungsbericht. logie handle und »Menschen natürlich nicht
einem angeblichen Spezialwissen hätten ver- In dem urteilt ein Experte: »Eine mystische programmiert werden können«.
schiedene Vorteile, »wenn sie eine DIS er- Grusel-Märchenwelt mit Phantasiefiguren«, Christopher Piltz  n

44 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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wie die Teilnehmenden genannt werden, sit- dass sie von dieser Form des gemeinsamen
zen mit ihren Begleiterinnen und Begleitern Zusammenseins und der Musik profitie-
in einem großen Stuhlkreis. Insgesamt sind es ren«, sagt der Altersmediziner. Aus wis­
an diesem Abend etwa 30 Personen. Außer- senschaftlicher Sicht interessiere ihn, wie

Melodien
halb des Kreises steht ein schwarzer Konzert- wirksam das gemeinsame Musizieren im
flügel. Ein junger Pianist stimmt die Melodie Vergleich zu anderen Therapieformen sei.
von »Heute hier, morgen dort« an, Hannes Die Erkenntnisse sollen dabei helfen, musik-

für das Ich


Waders Hymne auf die Vergänglichkeit. therapeutische Ansätze bei Demenzerkran-
»Unser Motto ist: Wir machen es uns kungen in ganz Deutschland populär zu ma-
schön!«, sagt Ostrop. »Niemand erwartet, chen, »sodass am Ende vielleicht sogar die
dass hier irgendetwas behandelt wird.« In Kasse zahlt«.
erster Linie gehe es nicht um Therapie, son- Die Demenzforschung interessiert sich
GEDÄCHTNIS In Berlin treffen sich dern um Entspannung, Freude und Gemein- schon seit einigen Jahren für die Frage, wie
Menschen, die an Demenz erkrankt schaft. Dinge, die nicht mehr selbstverständ- unser Gehirn auf Musik reagiert. 2015 ver-
lich sind für viele Demenzkranke und ihre öffentlichten unter anderem Forscherinnen
sind, um gemeinsam zu singen und Angehörigen. Denn die Erkrankung kann und Forscher des Max-Planck-Instituts für
zu tanzen. Die Charité untersucht, doppelt einsam machen: Während Betroffene Kognition und Neurowissenschaften in Leip-
wie heilsam das für Betroffene ist. sich zunehmend in sich selbst zurückziehen, zig eine Studie, die zeigte, welche Hirnareale
bleiben bei pflegenden Angehörigen wegen für die Langzeitmusikerinnerung des Men-
der zeitlichen und emotionalen Belastungen schen wichtig sein können.

A
n einem Dienstagabend im Sommer glei- soziale Aktivitäten oft auf der Strecke. Und Genau diese Bereiche verlieren, so die Er-
tet Christine Merkel wie schwerelos so werden die Geschichten der Lieder, die hier gebnisse der Studie, im Laufe einer Alzhei-
durch einen Saal in der Komischen Oper gesungen werden, vor allem zu Geschichten mererkrankung deutlich weniger Nervenzel-
zu Berlin und singt »Don’t Worry, Be Happy«. über die Menschen, die sie singen. len als das restliche Gehirn. »Das legt nahe,
Die zierliche Dame mit dem herzlichen Lächeln »Wir haben ›Danke für diesen guten Mor- dass diesem Gehirnbereich spezielle, kom-
spricht nicht gern und traut sich nicht immer, gen‹ zur Liedermappe beigetragen. Das kann pensatorische Funktionen bei fortschreitender
auf Fragen zu antworten, weil sie befürchtet, jeder singen, und es erinnert einen daran, dass Krankheit zukommen«, sagt Jörn-Henrik
dass man sie schlecht verstehen kann. Doch nichts selbstverständlich ist auf dieser Welt«, Jacobsen, einer der Studienautoren.
wenn die Musik läuft, fühlt sie sich wohl. »Hier erzählt eine muntere ältere Dame. Sie be- Die musikalische Erinnerung kann also
weiß man, dass man geborgen ist und dass es gleitet ihren an Demenz erkrankten Mann, selbst dann noch bleiben, wenn vieles andere
nicht schlimm ist, wenn man nicht alles sofort einen ehemaligen Kirchenmusiker. Mehrere verblasst. Für viele von uns wird Musik das
weiß – das tut mir wirklich gut«, sagt sie. Angehörige sagen, dass sie nicht mit der Er- Letzte sein, das wir vergessen. Wer an De-
Christine Merkel ist 86 Jahre alt und gehört wartung herkommen, dass es ihren Liebsten menz leidet und sich zunehmend selbst zu
zu einer Gruppe, die sich jeden Dienstag trifft, besser geht. Ihre Gesichter verraten, dass es verlieren scheint, der kann im gemeinsamen
um gemeinsam zu musizieren. Was sie verbin- trotzdem überraschend oft geschieht. Musizieren vielleicht eine Erinnerung an das
det, ist nicht nur die Liebe zu Gesang und Tanz, Unter anderem deshalb interessieren sich eigene Ich wiederfinden. Vielleicht kann es
sondern auch die Diagnose: Sie leiden an De- Oliver Peters und sein Team so sehr für das sogar Leid lindern.
menz. Wenn sie singen, erinnern sie sich manch- Projekt. Peters ist Professor für Gerontopsy- Die Nachfrage ist groß, das Projekt an der
mal ein wenig mehr an das, was einmal war. chiatrie und leitet an der Charité unter ande- Komischen Oper wächst dank der Unterstüt-
Die »Resonare«-Abende gibt es seit Beginn rem die sogenannte Gedächtnissprechstunde. zung einer privaten Stiftung. Mittlerweile
der Spielzeit 2021/22. »Resonare« ist latei- Mithilfe der »Resonare«-Abende erforscht er finden dreimal pro Woche »Resonare«-Aben-
nisch und bedeutet »widerhallen« oder »wie- die Vorzüge von Musiktherapie bei Menschen de statt. Das Abschlusslied ist bei jedem Tref-
der ertönen«. Christine Merkel ist zusammen mit Demenz. fen dasselbe: »Die Gedanken sind frei«. Denn
mit ihrer Tochter von Anfang an dabei. Na- »Wenn man sich die Teilnehmenden an- es ist wichtig, sich daran zu erinnern.
türlich sei das Leben mit der Erkrankung schaut, gewinnt man schnell den Eindruck, Jamin Schneider n
manchmal beschwerlich, berichtet die Toch-
ter. Aber während der Musikabende, so be-
schreibt sie es, erlebe man sich einfach anders.
»Man kann loslassen, man singt miteinander,
und es trennt uns nichts.«
Wenn vieles bereits verloren scheint, bleibt
noch immer die Musik. Kaum eine Kunstform
kann so mühelos Erinnerungen und Emotio-
nen verknüpfen. Selbst wenn die Namen der
eigenen Kinder fremd geworden sind, kom-
men Strophen und Melodien unverhofft wie-
der zum Vorschein.
Warum erinnern wir uns so gut und gern
an Lieder der Vergangenheit? Diese Frage
stellen sich auch Forscherinnen und Forscher
der Berliner Charité, die die »Resonare«-
Jan Windszus Photography

Abende wissenschaftlich begleiten. Kann das


gemeinsame Musizieren sogar heilsam sein?
Freundlich lächelnd überreicht Anne-Ka-
thrin Ostrop jedem Gast eine Liedermappe:
»Wer hier ist, singt auch mit!« Ostrop arbeitet
als Musiktheaterpädagogin und hat das Pro-
jekt 2021 ins Leben gerufen. Die »Resonaris«, Teilnehmer an »Resonare«-Abend: »Wir machen es uns schön«

46 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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D E B AT T E I S R A E L

Deutschland, wo bleibt das Mitgefühl? Die Terroranschläge


der Hamas lösten in der Gesellschaft deutlich weniger
­Solidarität aus als jene von 9/11 und auf »Charlie Hebdo«.
Von Meron Mendel

L
aut Duden ist ein Reflex eine daktion zielte auf uns alle. Auch den ministerin Annalena Baerbock reis­
»Reaktion des Organismus auf Kritikern der Zeitschrift war das so­ ten nach Israel, Vizekanzler Robert
einen das Nervensystem tref­ fort klar. Nach dem Anschlag auf das Habeck positionierte sich klar in
fenden Reiz«. Wenn man so will, Bataclan haben Klubs in Deutsch­ einer aufsehenerregenden Video­
sind auch Gesellschaften soziale Or­ land aus Solidarität die Musik aus­ botschaft. Wichtige Aktionen, aber
ganismen, die Reflexe haben. Sozia­ geschaltet, in Fußballstadien, Schulen zu spät. Denn als sie kamen, waren
le Reflexe sind nicht angeboren und und U-Bahnen wurden Schweige­ sie eben nicht mehr Reflex, sondern
biologisch bedingt, sie entwickeln minuten abgehalten. Trauer und bereits Ausdruck von Reflexion.
sich über die Zeit, im Laufe der Ge­ Entsetzen schienen allgegenwärtig. Hätte man vom Erinnerungs­
schichte. Man kann sie nicht vorab Am Montag, zwei Tage nach weltmeister Deutschland nicht
beim Arzt testen lassen. Erst im dem Terroranschlag der Hamas, ka­ mehr Mitgefühl erwarten können,
Ernstfall werden wir feststellen, ob men meine Kinder aus der Schule angesichts des größten Massen­
ein Reflex existiert – oder nicht. nach Hause. Niemand hatte dort mords an Juden seit dem Holo­
Zu den sozialen Reflexen gehö­ mit ihnen über die Ereignisse ge­ caust? Wie erklären sich die völlig
ren Reaktionen wie kollektives Ent­ sprochen, keiner an die Opfer er­ unterschiedlichen Reaktionen in
setzen, Solidarität, Mitgefühl. Spä­ innert. Statt einer Schweigeminute Deutschland auf die Terroranschläge
testens am 8. Oktober 2023, als das fanden in der Aula Proben für die in Paris 2015 und in Israel 2023?
Ausmaß des Massakers mit 1400 Halloween-Party statt. Kein Einzel­

E
Opfern, mehr als 3000 Verletzten fall. Seitdem berichteten mir viele in Rückblick auf die Geschich­
und 240 Geiseln bekannt wurde, Schüler und Lehrer von ähnlichen te der (west-)deutschen Bezie­
habe ich auf diesen Reflex gewartet. Erfahrungen. Auch hier schien der hung zu Israel und zu Frank­
Vergebens. Seither frage ich mich, Reflex außer Kraft gewesen zu sein. reich kann hier aufschlussreich sein.
warum er nicht ausgelöst wurde. Ein Teil der Gesellschaft hat aber Beide Versöhnungsprojekte der
Hat es damit zu tun, dass die Er­ durchaus reflexhaft Solidarität ge­ Nachkriegszeit entstanden mit dem
mordeten Israelis waren? zeigt. Allerdings nicht mit den Op­ klaren Ziel der festen Anbindung an
In den letzten Jahren hat die fern, sondern mit den Tätern. Die­ »den Westen«. Es fällt jedoch ein
deutsche Gesellschaft durchaus ge­ jenigen, die auf die Straßen gingen, entscheidender Unterschied auf:
zeigt, dass insbesondere grausame um zu tanzen, zu singen und Süßig­ Während sich die Versöhnung mit
islamistische Anschläge die gesamte keiten zu verteilen – aus Freude Israel vor allem in der politischen
deutsche Gesellschaft erschüttern über das Massaker: das Foltern von Sphäre vollzog, war die Versöhnung
können: der Terror der al-Qaida Kindern, die Gruppenvergewal­ mit Frankreich von Beginn an als
gegen die USA am 11. September tigungen von Frauen und die gesamtgesellschaftliches Projekt ge­
Andrea Ar tz / DER SPIEGEL

2001, die Massaker in der Redak­ ­Verschleppung alter Menschen. dacht. »Aussöhnung, Freundschaft,
tion der Satirezeitung »Charlie Heb­ Oder jene Demonstranten, die am Solidarität zwischen Frankreich und
do« und im Konzertsaal Bataclan in 18. Oktober vor dem Auswärtigen Deutschland sind ein Anliegen nicht
Paris 2015. Spontan, ja reflexhaft, Amt lautstark skandierten, Palästi­ nur der führenden Politiker beider
solidarisierten sich Millionen von na müsse »von deutscher Schuld be­ Völker; es bekennen sich dazu viel­
Deutschen mit den USA und mit freit« werden. Hier waren zweifels­ mehr die Völker selbst, insbesonde­
Mendel, Jahrgang
Frankreich. Mehr als 200.000 Men­ 1976, wuchs in Israel
ohne starke Reflexe am Werk. re auch die Jugend«, erklärte Bun­
schen nahmen im September 2001 auf und lebt seit Langsam formierten sich auch deskanzler Konrad Adenauer 1962.
an einer Kundgebung vor dem 2001 in Deutschland. Solidaritätskundgebungen mit Is­ Drei Jahre nach der Gründung
Brandenburger Tor teil. Im Oktober Er ist Professor rael, wurde die Trauer über die Op­ der Bundesrepublik setzte Ade­
für transnationale
2023 waren es gerade mal 10.000. Soziale Arbeit und
fer der Hamas öffentlich zum Aus­ nauer das »Wiedergutmachungsab­
Der Slogan »Je suis Charlie«, Direktor der Bil- druck gebracht. Borussia Dortmund kommen« mit dem Staat Israel und
vom Journalisten Joachim Roncin dungsstätte Anne unterstützt einen Spendenaufruf dem jüdischen Volk durch. Die his­
unmittelbar – reflexhaft – nach Be­ Frank in Frankfurt ihres israelischen Fanklubs, in meh­ torische Bedeutung dieses Ereignis­
am Main. Sein
kanntwerden der Mordtaten gegen neues Buch Ȇber
reren Städten klebten Aktivisten ses kann kaum überschätzt werden:
die Satirezeitschrift via Twitter in die Israel reden. Eine Plakate, um an die 240 aus Israel Nur sieben Jahre nach dem Ende
Welt gesetzt, verbreitete sich in ra­ deutsche Debatte« verschleppten Geiseln zu erinnern, des Zweiten Weltkriegs einigten sich
sender Geschwindigkeit. Er brachte (Kiepenheuer und auf öffentlichen Plätzen deck­ der Nachfolgestaat des NS-Regimes
& Witsch) wurde
offenbar für Hunderttausende Men­ für den Deutschen
ten sie leere Schabbat-Tafeln, um an und der Staat der Holocaust-Über­
schen weltweit auf den Punkt, wo­ Sachbuchpreis die Entführten zu erinnern. Bundes­ lebenden über eine Entschädigung
rum es ging: Der Angriff auf die Re­ nominiert. kanzler Olaf Scholz und Außen­ für das geschehene Unrecht.

48 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


­ amas ein Thema. Sie sprach ihre
H
Solidarität mit den Menschen in
­Israel aus, die »in Angst und Schre-
cken vor Raketenangriffen und Ter-
ror der Hamas« leben müssen.

A
ngesichts der Gefahren durch
die Hamas und Iran ver-
sprach Merkel vor den Knes-
set-Abgeordneten, dass die Sicher-
heit Israels für die Bundesregierung
niemals verhandelbar sei. Sie be­
endete ihre Rede mit einem starken
Bekenntnis zu den deutsch-israeli-
schen Beziehungen: »Ja, es sind
­besondere, einzigartige Beziehun-
gen – mit immerwährender Verant-
wortung für die Vergangenheit, mit
gemeinsamen Werten, mit gegensei-
tigem Vertrauen, mit großer Solida-
rität füreinander und mit vereinter
Zuversicht.« Große Worte, die am
7. Oktober 2023 von der deutschen
Gesellschaft nicht eingelöst wurden.
Wie Merkel bekunden seitdem

penofoto / IMAGO
deutsche Politiker regelmäßig ihren
Stolz auf die besondere Beziehung
zwischen den beiden Staaten. Dafür
gibt es gute Gründe, dennoch müssen
Doch der politische und gesell- gierungschefs als auch unterschied- Israelische Flagge wir, spätestens seit dem 7. Oktober,
schaftliche Gegenwind in Deutsch- liche Ebenen der deutschen und der vor Ministerium auch zur Kenntnis nehmen, was das
in Kiel
land war stark: Für die Mehrheit französischen Verwaltung regel­ deutsch-israelische Versöhnungs­pro­
im Bundestag war der Bundeskanz- mäßig treffen sollten. Es war kein jekt nicht geschafft hat. Mehr als 70
ler auf die Stimmen der SPD-­Oppo­ Zufall, dass kurz nach Unterzeich- Jahre nach dem Wiedergutmachungs-
sition angewiesen, da ihm die Rücken­ nung des Élysée-Vertrags noch im abkommen ist festzustellen, dass der
deckung in der eigenen Unions­ selben Jahr das Deutsch-Französi- parteiübergreifende Konsens über die
fraktion fehlte. In der Bevölkerung sche Jugendwerk gegründet wurde. Verbundenheit mit Israel wenig Rück-
befürworteten laut einer Umfrage Über ein Deutsch-Israelisches halt in der Gesellschaft hat.
nur elf Prozent die Wieder­ ­Jugendwerk hingegen wurde erst Die Mehrheit der Deutschen
gutmachungsleistungen im Wert Jahrzehnte später diskutiert, seine ­verbindet das Land nicht mit realen
von drei Milliarden Mark in Form Gründung steht bis heute aus. Menschen und Orten, vielmehr wird
von Warenlieferungen an Israel. ­Folglich nehmen durchschnittlich Israel zum Symbolbild: Für einen Teil
Adenauer war aber klar: Wenn ­jedes Jahr 190.000 Jugendliche an der Bevölkerung wurde die Unterstüt-
das Land erst die Anerkennung von deutsch-französischen Austausch- zung Israels zum Symbol der erfolg-
jüdischer Seite – und an erster Stel- projekten teil – am Austausch mit reichen Vergangenheitsbewältigung
le von Israel – hätte, wäre der Weg Israel beteiligen sich bloß 7000 Ju- und Verantwortungsübernahme für
frei für eine stärkere Selbstbestim- gendliche. Während fast jeder zwei- die Naziverbrechen. Für einen ande-
mung und Souveränität der Bundes- te Israeli schon einmal in Deutsch- ren Teil stiftet die Feindschaft gegen-
republik, die noch unter Aufsicht land war, haben 93 Prozent der über Israel ein Zugehörigkeitsgefühl
der alliierten Besatzungsmächte Deutschen Israel noch nie besucht. zum Kollektiv des »Globalen Südens«
stand. Der Kanzler wollte eine ra- Es ist erst 58 Jahre her, dass Is- oder zur »antikolonialen« Bewegung.
sche Normalisierung und weg vom rael und Deutschland diplomatische Und dann gibt es noch den Teil, der
Paria-Status unter den Nationen. Beziehungen aufgenommen haben. die Unterstützung Israels als falsche
»Westdeutschland brauchte Israel Ein politisches Projekt, das nicht Lehre aus der deutschen Schuld kriti-
als Beweis für seine unerschütter­ von allen Bundeskanzlern im siert, die in der Konsequenz nun die
liche Bindung an das demokratische ­gleichen Maß mitgetragen wurde. Palästinenser ausbaden müssten. Für
Lager«, konstatierte 2003 der His- Es war ausgerechnet eine deutsche alle diese Gruppen dient Israel als
toriker Dominique Trimbur. Regierungschefin, die in der israel- eine Projektionsfläche, die kollektive
Auch das Versöhnungsprojekt feindlichen DDR sozialisiert wurde, Identität stiftet.
mit Frankreich stand oben auf Ade- die die Beziehungen deutlich auf- Statt einer Mit einem Satz machte Baerbock
nauers Agenda. Der Politikwissen- wertete. In ihrer berühmten Rede Schweige­ deutlich, wie weit Gesellschaft und
schaftler Hans-Peter Schwarz
spricht von der »Exklusivität des
2008 vor der Knesset, die Angela
Merkel anlässlich des 60. Jahrestags
minute fanden Politik voneinander entfernt sind. »In
diesen Tagen sind wir alle Israelis«,
deutsch-französischen Sonderver- der Staatsgründung Israels hielt, Proben für verkündete sie beim Besuch in Israel
hältnisses«. Ein wichtiger Meilen- versprach die Kanzlerin: Die Si- eine Hallo­ am 13. Oktober. Die wenigsten Deut-
stein war der Élysée-Vertrag vom cherheit Israels sei Teil der deut- schen werden wirklich gespürt haben,
22. Januar 1963. Er legte unter an- schen Staatsräson. Auch zu der Zeit ween-Party was ihre Außenministerin in ihrem
derem fest, dass sich sowohl die Re- war die Bedrohung durch die statt. Namen zum Ausdruck brachte. n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 49


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REPORTER

Annäherung, 1973
FAMILIENALBUM Ken Jones, 67, aus Indiana, USA

M it 17 Jahren verließ ich


mein Zuhause im US-Bun­
desstaat Indiana, um
als Austauschschüler bei meiner Gast­
Dort sahen wir eine Gruppe uni­
formierter russischer Soldaten, aus­
gerechnet. Uns war ja eingebläut
worden, uns von Militärischem fern­
familie in Krefeld zu leben. Ich zuhalten. Wir waren mitten im Kal­
kam aus einer Kleinstadt, und vieles ten Krieg, die meisten Amerikaner
war plötzlich anders: Das Mittag­ hatten keinen Kontakt zu Russen.
essen als wichtigste Mahlzeit, Gym­ Wir wussten nur, dass die Sowjet­
nasium statt Highschool, und union ein zu fürchtender Feind war.
wir durften schon mit 17 Alkohol trin­ Wir waren nervös, als die Soldaten
ken, für mich damals unvorstellbar. plötzlich in unsere Richtung liefen.
Im Oktober hatte ich die Gelegen­ Doch als sie näherkamen, sahen
heit, mit anderen Jugendlichen wir, dass sie lächelten. Die jungen
einer Kirchengruppe nach West-Ber­ Männer hatten offenbar einen freien
lin zu reisen. Auch ein Tag in Ost- Tag und waren ebenfalls als Tou­
Berlin war eingeplant. Nachdem uns risten unterwegs. Obwohl uns eine
gezeigt worden ist, wie man die Sprachbarriere trennte, wurde schnell
Grenze überquert, wurden wir da­ klar: Sie wollten unsere Jeans sehen.
rauf hin­gewiesen, niemals Geld auf Wir waren sehr westlich gekleidet,
der Straße zu tauschen und auf kei­ trugen Schlaghosen. Neugierig be­
nen Fall ­militärische Einrichtungen fühlten sie den Stoff.
zu fotografieren. Zu fünft machten Unsere Gruppe stellte sich vor
wir uns mit der S-Bahn auf den Weg. dem Dom auf, und einer der
Beim Verlassen des Bahnhofs Fried- ­Soldaten machte dieses Foto. Ich
richstraße betraten wir eine Stadt, bin der Zweite von links. In diesem
die überhaupt nicht wie das West- Augenblick der Begegnung wurde
Berlin aussah, das wir gerade verlas­ uns klar, dass das keine Feinde,
sen hatten, wo alles bunt war, voller ­sondern normale junge Leute waren
Reklame und Autos. Hier war wie wir. Und dass die Welt wohl
Privat

­plötzlich alles grau. Wir spa­zierten doch interessanter und komplexer


entlang der Spree und landeten ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre Geschichte erzählen möchten? ist, als wir geglaubt hatten.
auf dem Platz vor dem Berliner Dom. Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de Aufgezeichnet von Dialika Neufeld

AUSZEIT zer sind und die Nächte länger, tigen zwischen sieben und neun ja nicht nur Anfang des Som­
»Warum können wir was Einfluss auf unsere innere
biologische Uhr hat.
Stunden Schlaf pro Nacht. Es
gibt zwar ein sogenanntes
mers geboren, damit sie später
bereit für den Winterschlaf sind.
keinen Winter- SPIEGEL: Was ist bei uns Men­ Dornröschen-Syndrom, bei dem SPIEGEL: Gibt es eine Strategie
schlaf, Frau Blume?« schen anders als beim Igel,
der sich im Herbst gleich für ein
die Betroffenen die meiste
Zeit des Tages verschlafen, aber
gegen die Wintermüdigkeit?
Blume: Nutzen Sie das Tages­
SPIEGEL: Schlechtes Wetter, paar Monate schlafen legt? das ist dann eine Erkrankung. licht. Selbst an trüben Tagen
miese Weltlage – man möchte Blume: Beim Igel sinkt im Win­ SPIEGEL: Der Urmensch Homo ist das Licht draußen intensiver
sich am liebsten gleich wieder terschlaf die Körpertemperatur, heidelbergensis soll Winter­ als das in geschlossenen Räu­
hinlegen und erst im Frühjahr und das Herz schlägt langsamer. schlaf gehalten haben. men. Wenn Sie nicht rausgehen
aufwachen. Warum können wir Aus einer evolutionären Per­ Blume: Das scheint sich nicht können, sollten Sie zumindest an
Menschen keinen Winterschlaf? spek­tive würde ich sagen, der bewährt zu haben. Schon wenn einem großen Fenster sitzen. DIA
Blume: Wir haben keinen Win­ Winterschlaf war für den Men­ ich an die Kinder denke: Men­
terschlaf, der so ausgeprägt schen wohl nicht von Vorteil. schenkinder sind im Vergleich Christine Blume,
Annette Mueck / NaWik

ist wie bei Tieren. Aber es gibt SPIEGEL: Wie lange kann ein zum Nachwuchs anderer Spe­ 37, ist Schlaf-
auch beim Menschen die Ten­ Mensch schlafen? zies extrem abhängig von ihren forscherin am
denz, im Winter mehr zu schla­ Blume: Irgendwann ist ein phy­ Eltern. Und anders als viele ­Zen­trum für Chrono-
fen. Das hängt vermutlich damit siologisches Maximum erreicht. ­Tiere haben wir keine saisonale biologie der
zusammen, dass die Tage kür­ Die meisten Menschen benö­ Fortpflanzung. Kinder werden ­Universität Basel.

52 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


bunte Meerjungfrauenkostüme trug,
viel lächelte und mit wilden Haien

Meer wollen
tauchte. Sie heißt Katrin Gray und
betreibt eine Meerjungfrauenschule
in der Nähe von Hannover. Er mel­
dete sich an.
Zunächst übte er mit einer gelie­
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Warum sich ein Seenotretter henen Monoflosse die Schwimm­
eine Flosse anzog und zum Meerjungmann wurde bewegungen einer Meerjungfrau, be­
ziehungsweise eines Meerjungmanns.
Außer Moje waren nur Frauen in dem

D »Ich hatte das


as Leben von Sören Moje war notrettungsschiffen an. Fragt man Workshop, aber das kümmerte ihn
von Anfang an mit dem Wasser Moje zur Politik der Seenotrettung, nicht. Eine der ersten Meerjungfrau­
verbunden. Seine Liebe zum sagt er, das sei relativ simpel: Men­ Bedürfnis, en soll der Legende nach die Göttin
Meer wurde ihm in die Wiege gelegt, schen in Seenot muss man retten, wieder etwas Atargatis gewesen sein. Im Jahr 1837
schon sein Großvater und sein Vater
fuhren zur See. Moje wuchs bei Stade
sonst ertrinken sie.
Später fuhr er auf dem Schiff von
Schönes mit erschien das Märchen »Die kleine
Meerjungfrau« von Hans Christian
auf, nicht weit entfernt von der Elbe, Carola Rackete mit, der Kapitänin, dem Meer zu Andersen, auf dessen Erzählung der
zwischen Hamburg und der Nordsee. die bekannt wurde, weil sie auf der verbinden.« Zeichentrickfilm »Arielle« beruht. In
Am Essenstisch erzählten sie sich Ge­ »Sea-Watch 3« Migranten im Mittel­ der fabelhaften Welt der Meerwesen
schichten vom Meer, die wahren, die meer rettete und nach mehr als zwei gibt es, ähnlich wie in der Meerjung­
fabelhaften und die, von denen er als Wochen Warten auf eine Genehmi­ frauenschule bei Hannover, nicht vie­
Junge nicht genau sagen konnte, ob gung – trotz eines Verbots durch ita­ le Männer. Es gibt den Meeresgott
sie wahr oder fabelhaft waren. Er hör­ lienische Behörden – den Hafen der Neptun oder Poseidon. Es gibt Triton.
te, dass es unter Wasser Frauen gebe, Insel Lampedusa anlief. Und darauf­ Und nun gab es Moje.
mit einem Fischschwanz anstelle von hin von der italienischen Polizei fest­ Er übte sich in den Grundlagen des
Beinen, die mit ihren Gesängen ver­ genommen wurde. Apnoetauchens und lernte, bis zu drei
suchten, Seemänner unter Wasser zu Moje sah während seiner Zeit als Minuten lang die Luft anzuhalten.
ziehen. Seenotretter Bilder, die man ein Le­ Moje sagt, er hatte schon immer ein
Moje wurde älter, seine Liebe für ben lang nicht loswird. Die Festnah­ großes Herz für Verrückte. Er ließ
die Ozeane aber blieb. Sein Bruder me von Rackete vor seinen Augen sei sich von Kat eine blau-pinke Flosse
wurde Kapitän, er selbst machte eine ein Schock gewesen, aber das wirklich anfertigen, 17 Kilogramm schwer.
Ausbildung zum Schiffsmechaniker Schlimme, sagt er, seien die Menschen Er wurde Teil einer internationa­
und arbeitete nach einem Studium als gewesen, die nahe dem Verdursten len Gemeinschaft, der sogenannten
technischer Offizier. Er reparierte Mo­ auf dem Mittelmeer trieben. Und Mermaiding-Szene. Seine neuen
toren und fuhr auf Frachtern hinaus manchmal, das waren die schwärzes­ Freunde und Freundinnen hatten Flos­
in die Welt. Moje erzählt das auf ten Tage, zogen sie Menschen aus sen und bunte Haare und BHs aus
einem kleinen, selbst gebauten Floß, dem Wasser, deren Durst nie wieder Muscheln, sie trafen sich auf sogenann­
der »Schaluppe«, die sein Bruder an gestillt werden konnte. ten Conventions auf der ganzen Welt.
einem sonnigen Tag im Spätherbst in »Ich habe in diesen vier Jahren Es gibt eine Netflix-Doku über die
Hamburg zur Anlegestelle fährt. so viel Leid gesehen«, sagt Moje, internationale Meermenschen-Szene
Moje ist 37 Jahre alt, trägt einen pink ­»irgendwann hatte ich das Bedürfnis, (genannt »Merpeople«), eine millio­
gefärbten Bart und ein T-Shirt mit wieder etwas Schönes mit dem Meer nenschwere Branche. Es gibt Meer­
dem Slogan »Kein Mensch ist mir zu verbinden.« Seefahrer Moje jungfrauen-Urlaube in Mexiko, Meer­
mit Flosse (oben),
egal«. Er sagt, man hätte sich auch in Er suchte nach einem Hobby und Ausriss aus
jungfrauen-Kindergeburtstage und
einem Café treffen können, aber auf stieß im Internet auf »Mermaid Kat«, der »Bild«-Zeitung Meerjungfrauen-Unterwassershootings.
dem Wasser sei es doch schöner. eine deutsche Schönheitskönigin, die (unten) Vieles davon sei ihm zu kommer­
Während Moje als junger Mann ziell, sagt Moje, aber letztlich habe
also auf den großen Schiffen herum­ ihm das Mermaiding wieder etwas
fuhr und sich Asien, Afrika und Ameri­ Leichtigkeit in sein Leben zurückge­
ka ansah, lernte er mehr über die Welt bracht. Bis heute fährt er auf Booten
und ihre Zerstörung. Bedrückt sah er, der zivilen Seenotrettung raus, gera­
wie Frachter und Ölkonzerne mit de auf der »Sea Eye 4«. Aber es gibt
ihren Bohrinseln die Ozeane ver­ jetzt neben all dem Leid auch einen
schmutzten, wie sich Plastikteppiche Koffer mit einer Silikonflosse, und
bildeten und immer mehr Meeres­ wenn er den Koffer öffnet und in die
tiere vom Aussterben bedroht wur­ Flosse steigt, taucht er ab in eine Welt,
den. Die Überfischung bereitete ihm in der die schönen Dinge regieren.
Sorgen und wie gleichgültig viele Bunte Farben, Leichtigkeit, Liebe. In
Menschen auf den Klimawandel den besten Momenten, sagt Moje,
blickten. Das Meer verlor für ihn sei­ fühle es sich an, als verschmölze man
Konstantin Killer

ne Unschuld als Ort der Sehnsucht. mit dem Wasser. Als würde man eins
Als die Flüchtlingskrise im Jahr werden mit dem Ozean. In der Net­
2015 begann, sah Moje verzweifelte flix-Doku über die Meermenschen
Menschen in seeuntauglichen Booten fällt der Satz: »Jeder kann eine Meer­
das Mittelmeer überqueren. Er be­ jungfrau sein, man muss nur daran
schloss, nicht tatenlos zuzusehen, und glauben.« Moje sagt, das stimmt.
heuerte als Maschinist auf zivilen See­ Nora Gantenbrink n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 53


REPORTER

Denkmalsockel in Berlin-Mitte

Eine

WAC K L I G E
Geschichte

REVOLUTION Vor 16 Jahren beschloss der Bundestag, in Berlin ein Denkmal für die Bürgerinnen
und Bürger zu errichten, die mit ihren Protesten in der DDR die Mauer zu Fall brachten.
Aber warum liegt das Freiheits- und Einheitsdenkmal dann noch immer in einer ostwestfälischen
­Montagehalle? Von Alexander Smoltczyk und Maurice Weiss (Fotos)

54 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


REPORTER

W
o der Kaiser Wilhelm stand, steht Dabei gibt es dieses Nationaldenkmal braten? Den Dreh, dass das hier obergeil ist,
Wolfgang Thierse, die Baskenmütze schon, es ist begehbar und großteils fertig. hat er da nicht drin.« Sagt Rohlfing.
gegen den Novemberwind fest ins Ge- Nur steht es nicht in Berlin. Und ist nicht im Über ihm wölbt es sich, grau und mächtig
sicht gezogen, weit über ihm in Gold ­Preußens Besitz der Bundesrepublik Deutschland. wie der Rumpf eines U-Boots der Hollywood-
Adler und die Krone am Nachbau des Berliner Richard Rohlfing, Jahrgang 1964, liebt Kraut- klasse, 50 Meter lang, gewaltig und die ganze
Stadtschlosses. »Wir Deutschen«, sagt Thier- rock und Radtouren mit den Kumpels. Er hat Halle einnehmend. Schlägt man die Faust auf
se, der DDR-Bürgerrechtler, Kulturwissen- Maschinenbau studiert, aber diese »numeri- das kühle Metall, vibriert es wie ein Cello.
schaftler, Bundestagsprä­sident a. D., »wir schen Superformeln« und Klugschnacker, be- Das Weiß und Gelb an der Unterseite, das
Deutschen sind offensichtlich unfähig oder sonders mit schwäbischem Tonfall, sind nicht sei nur eine Probegrundierung, sagt Rohlfing,
unwillig, ein so glückliches Ereignis wie 89 zu so sein Ding. Er ist ein Typ für Sätze wie: »Dat »die in Stuttgart müssen noch nachdenken«.
feiern. Darf es Denkmäler nur geben für Hel- Ding rechne ich dir mit dem Taschenrechner.« Die in Stuttgart, das ist die Arbeitsgruppe
den oder für Leiden und Opfer?« Diese ergebnisorientierte Einstellung zur ARGE Milla & Partner / Sasha Waltz, die
Es ist eine flache Mulde, in der Wolfgang Welt hat die ehemalige Landmaschinenbude ­Urheber und Ausführenden des Denkmals.
Thierse steht, zwischen Blitzableitern und Heinrich Rohlfing GmbH, Sitz Stemwede- Sie haben eine Edelstahlfassade geplant.
Regenpfützen, verlassenen Baucontainern Niedermehnen, zu Erfolg und Ansehen ge- Die Firma Rohlfing dagegen ist auf Brücken-
und zwei umgekippten Schubkarren. Da ist bracht. Stemwede-Niedermehnen liegt östlich und Hallenbau spezialisiert. Sie schweißt aber
eine Rampe. Sie führt hinauf und führt wieder von Osnabrück und westlich von Hannover. auch das zusammen, was unter dem Brücken-
hinab. Man spürt eine gewisse Leere. Rohlfing schaut auf die Reporter und fügt an, kran unter »so Kunstweeerke« firmiert. Für
Irgendetwas fehlt. dass auch seine Frau vom Fach sei: »Sie den britischen Bildhauer Antony Gormley, den
Ein paar Schritte weiter, am U-Bahn-Ein- schreibt freiberuflich über Pferdesport im dänischisländischen Künstler Ólafur Elíasson
gang »Museumsinsel«, ist eine Tafel ange- ›Diepholzer Kreisblatt‹.« und die Hamburger Deichtorhallen etwa.
bracht. Sie wirkt in dem Nieselregen wie eine Um ihn herum Gehämmer, Dudelradio und Stahlbau Rohlfing hat in Deutschland und da-
Erscheinung, die Ahnung von etwas Bes­ das Kreischen von Sägeblättern, es riecht nach rüber hinaus einen guten Ruf, hatte diesen
serem: eine raumschiffhaft glimmende, lang Schmieröl und dem verbrannten Acetylen der lange auch bei der ARGE Milla & Partner /
gestreckte Schale ist zu sehen, Menschen, die Schweißgeräte. Am Spind ein Pin-up, unter Sasha Waltz. Doch Rohlfing sagt: »Die wollen
sich gefällig auf ihr gruppieren. Es ist der der Decke ein 60-Tonnen-Brückenkran. Fun- einen anderen Stahlbauer nehmen. Gut, habe
­planerische Entwurf eines Denkmals, die kenregen, Stahl in jeder Form und auch in den ich denen geschrieben. Die können das Scheiß-
­Simulation einer hellen Zukunft. »Hier ent- kleinsten Teilen so schwer, als würde in Stem- teil gerne raustragen. Aber nur händisch. Ein
steht«, ist da zu lesen – und ein wenig ent- wede-Niedermehnen eine Art Hypergravita- Autokran kommt mir nicht aufs Gelände.«
schuldigend –, ­»aufgrund eines Beschlusses tion wirken. Rohlfing trägt heute Sandalen, Man spürt ein gewisses Problem.
des Deutschen Bundestags« das »Freiheits- weil er sich ungern Dinge sagen lässt. Das Denkmal solle »zur Kommunikation
und Einheitsdenkmal. Bauherr Bundesrepu- Mittendrin, aufgebockt in dieser Welt aus und zu einem gemeinsamen Handeln« ein-
blik Deutschland«. Stahl: »dat Ding«. Die Schale. Das Denkmal laden. So steht es im Konzept. Tatsächlich ist
So beschlossen am 9. November 2007 vom zur Feier der friedlichen Revolution von die Entstehungsgeschichte des Freiheits- und
Bundestag. So im Frühjahr 2016 begraben im 1989/90. Das fehlende Teil zur deutschen Einheitsdenkmals schon für sich ein Monu-
Haushaltsausschuss desselben Parlaments. ­Geschichte, 120 Tonnen schwer und aus nur ment von Zwietracht und gewolltem Missver-
Und umgehend wieder plenar bekräftigt für fünf Millimeter dünnem Schwarzstahlblech stehen, von Mutlosigkeit, Selbstüberschät-
eine anzustrebende Fertigstellung 2019. zusammengeschweißt. zung und Normierungswut. Und insofern
»Eine beeindruckend große Schale, die sich Bezahltes Eigentum der Bundesrepublik. keine spezifisch deutsche Geschichte, sondern
durch die gemeinsame Aktion von Menschen Und doch im faktischen Besitz von Richard ein Lehrstück über die Schwierigkeiten, einer
in Bewegung setzen lässt. Das ist eine ein­ Rohlfing. Und Besitz ist bei 120 Tonnen ein Idee Ausdruck in Stahl zu verschaffen.
fache, vielleicht zu einfache, aber immerhin starkes Argument. Monumente, besonders nationale, werden
doch eine Idee!«, sagt Wolfgang Thierse, zieht »Mein Schweißer fragt: Was bauen wir errichtet, wenn etwas vorbei ist, aber nicht
einen Text von sich aus der Aktentasche und denn da? Ich sag: Freiheits- und Einheitsdenk- vorbei sein soll. Der Vorschlag, der friedlichen
erzählt von der Symbolkraft des Ortes und mal. Sagt der: Schon wieder Steuergelder ver- Revolution von 1989 ein Denkmal zu setzen,
der sehr bundesdeutschen »Mischung von kam von einer Initiative bürger­bewegter Bür-
Ablehnung, Desinteresse, Überdruss und ger und ehemaliger DDR-Dissidenten Ende
Kleinkariertheit«. der Neunzigerjahre, als sich im Land eine
Es wäre, sagt er, »eine politische Katastro- Ernüchterung über Freiheit und Einheit aus-
phe« für das Land, wenn das Denkmal nie gebreitet hatte. Eine konkrete Idee für ein
fertiggestellt werden würde. Denkmal gab es noch nicht.
Wonach es gerade durchaus aussieht, auf Der Bundestag legte als Standort die Schloss-
der Schlossfreiheit. freiheit fest, 2850 Quadratmeter historischer
Am 9. November hat sich der Fall der Mau- Boden zwischen einem Spreekanal und dem
er zum 34. Mal gejährt, es gab Reden, Feiern wiederaufzubauenden Stadtschloss der Hohen-
und eine zentrale Veranstaltung an der Ge- zollern. Den ersten öffentlichen Wettbewerb
denkstätte Berliner Mauer an der Bernauer einer Stiftung gewann die Kunststudentin Ber-
Straße. Und es gab, gibt immer noch, die nadette Boebel aus der Pfalz: zwei halbe Ringe,
Leerstelle in Berlin-Mitte. Eigentlich sollte die sich im Vorübergehen zu einem Ganzen
auf dem Sockel mitten auf der Spreeinsel fügen. Eine klare und leicht zu realisierende
längst ein Denkmal für jene Bürgerinnen und Idee. Sie wurde umgehend verworfen.
Bürger errichtet sein, die bis 1989 gegen das Es sollte schon etwas mehr sein. Größer,
DDR-Regime auf die Straße gingen und zu bedeutender, geschichtsträchtiger. Der dama-
dessen Sturz beitrugen. Die Frage lautet: Ist lige Kulturstaatsminister Bernd Neumann lud
Deutschland in der Lage, einer guten Sache im Dezember 2008 Künstler und Architekten
zu gedenken und dafür die passende Form zu zu einem qualifizierten Verfahren ein, es bes-
finden? Oder können wir nur Katastrophen ser zu machen. Drei Entwürfe kamen in die
und sollten auf das Ding verzichten? Politiker Thierse in Berlin Auswahl, nur: »Die Jury hatte wieder nicht

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 55


REPORTER

den Mumm, einen Sieger zu benennen. und sich sanft neigen, unter dem Ge­ »Das ist emo- Mäkelei geworden sind. Der Deutsche
Sie überließ die Entscheidung der Poli­ wicht der »Bürger in Bewegung«. trägt auch bei geschichtlichen Gele­
tik«, sagt Monika Grütters in ihrem Mit Letzteren bekam es zunächst tional oft genheiten gern Funktionskleidung.
Abgeordneten­büro am Reichstags­ der Stuttgarter Bauingenieur Michael hochanstren- Die Kaisertreuen vom Verein Ber­
gebäude. »Und Bernd Neumann ent­
schied sich für diese ›Bürger in Bewe­
Keefer zu tun. Er sollte die Statik und
– mehr noch – die Dynamik des Objekts
gend.« liner Histo­rische Mitte waren aus Tra­
dition dagegen, einige Linke aus Prin­
gung‹ aus Stuttgart, nicht zuletzt weil berechnen: Wie re­agiert eine beweg­ Sebastian Letz, zip, und beide hätten lieber die alten
Architekt
da ein bekannter Künstlername, die liche Stahlschale vom Ausmaß eines Kolonnaden wieder als »die Wippe«.
Choreografin Sasha Waltz, mit dabei halben Fußballfelds, wenn 50 gut ge­ Sebastian Letz zuckt bei dem W-Wort
war.« launte Bürgerinnen und Bürger sich sichtbar zusammen: »Die Bewegung
Grütters hatte Staatsministeramt kommunikativ und gemeinsam am der Schale hat nichts mit der Bewegung
und Denkmal von Bernd Neumann Denkmalsrand verabreden und – »Jetzt einer Wippe zu tun. Das Design ist auf
geerbt und damit die Aufgabe, den alle! Auf drei!« – in die Höhe springen? die Bewegungsgeschwindigkeit von
Siegerentwurf der Kanzlerin zu erklä­ Auch Flashmob ist Volk. Keefers Büro normal laufenden Menschen ausgelegt.
ren. Aber die hat sich als Physikerin bei der Stuttgarter Ingenieurfirma Wenn Sie sich verständigen und ge­
mehr für die technischen Details inte­ ­Delta-X liegt 500 Meter vom Jahrhun­ meinsam in eine Richtung gehen, er­
ressiert als für die Symbolik. »Und dertprojekt Hauptbahnhof entfernt. zeugen Sie dabei ein lebendiges Bild.
dann begann das auch schon ziemlich Das macht planerische Demut. Die Bewegung ist so sanft, dass keine
schnell mit den Einwänden, den Fra­ »Es war Neuland«, sagt Keefer. Bewegungsenergie spürbar sein wird.«
gen nach Machbarkeit, Praktikabilität »Wir mussten eine 3D-Oberfläche, Wenn es nur der Spott gewesen
et cetera«, sagt Grütters. »Sasha Waltz eine freie Form berechnen, von außen wäre. Aber es wirkten noch andere
ist rasch abgesprungen. Die hatte er­ schlank, aber stabil, nicht zu schwer, Dynamiken. Brems- und Beharrungs­
kannt, dass das nicht ihr Ding ist.« aber schwer genug, um keine kriti­ kräfte, Widerstände in Köpfen und
Die Berliner Choreografin Sasha sche Schwingung zu erzeugen.« behördlichen Strukturen, alle haben
Waltz ist weniger für Stahlbau bekannt Das Büro rechnete netto knapp drei dazu beigetragen, dass Wolfgang
als für leichtfüßige Improvisationen Mannjahre an der Idee herum, zerleg­ Thierse auch im 16. Jahr nach Bau­
und »Raumerforschungen«. Auch Mil­ te sie in Millionen »finiter Elemente«, beschluss allein auf dem Sockel des
la & Partner in Stuttgart hatte wenig prüfte Windströmungskräfte, Tempe­ Denkmals stehen muss.
Erfahrung mit beweglichen Brücken­ ratur- und Ermüdungslasten. Und be­ Das Bundesamt für Bauwesen und
konstruktionen. Die Kreativagentur sonders dynamische Lasten, worunter Raumordnung (BBR) hat, wie bei
war zwar schon an drei Weltausstel­ »volle Belegung und hüpfende Leute« Kunst am Bau nicht unüblich, einen
lungspavillons konzeptionell und er­ zu verstehen sind: Volk in Bewegung. Generalübernehmervertrag mit Mil­
folgreich beteiligt, aber das waren tem­ Wundersames, unberechenbares Volk, la & Partner geschlossen. Damit wa­
poräre Gebäude, nichts für die Ewig­ das die Eigenschaft hat, sich im Zweifel ren die Stuttgarter nicht nur für die
keit. Das hier jedoch, das sei, hieß es einen Dreck um Belastungsgrenzen, Ausarbeitung ihrer Idee zuständig,
damals, als würde man von seinem Glättevektoren, Neigungswinkel zu sondern auch für Realisierung und
Zahnarzt verlangen, eine neue Herz­ scheren, und jede Idee durch synchro­ Auftragsvergaben verantwortlich. Als
klappe einzusetzen. ne Bewegung beenden kann. Generalübernehmer treten üblicher­
ARGE engagierte deshalb mit Pe­ »Gewünscht war ein sehr schlanker weise größere Baufirmen auf. Keine
tar Božić einen erfahrenen Projekt­ Körper«, sagt Keefer. »Doch der ist Kreativbüros. Keine Tanzkompagnie.
leiter. Božić stammt aus Kroatien. schwingungsanfällig. Und bei be­ Schon recht schnell erwies sich die
Dort stehen Denkmäler fest auf So­ stimmten Niedrigfrequenzen wird vie­ angedachte Bausumme von 9,8 Mil­
ckeln und wippen nicht. len Leuten unwohl. Das Kunststück lionen Euro als zu niedrig und war
Der Architekt Sebastian Letz ist bestand darin, die Konstruktion leicht bereits 2016 auf mehr als 12 Millionen
einer der Partner bei Milla & Partner, zu halten, aber genügend schwer, gestiegen.
ein Kreativ­direktor. Die bewegliche um in einen Schwingungsbereich zu Es kam zu Nachverhandlungen,
Schale war seine Idee. Er erinnert ­kommen, bei dem die Leute nicht see­ die von allen Beteiligten als »inten­
sich, wie sie im Juni 2010 alle zusam­ krank werden.« Es müssten zusätzlich siv« erlebt wurden: Die Stuttgarter
mensaßen, Sasha Waltz, Johannes 30 Tonnen Stahl eingeschweißt werden. hätten um ihr Monument gekämpft,
Milla, der Geschäftsführer, und die Verständlich, dass Sasha Waltz an­ »sehenden Auges, was da an Schwie­
Überarbeitung besprachen. Es waren gesichts dieser Dimensionen be­ rigkeiten auf sie zukommen würde«,
gute Tage, gerade war Letz zum zwei­ schlossen hatte, doch lieber beim sagt eine direkt Beteiligte im BBR.
ten Mal Vater geworden: »Unser Spitzentanz zu bleiben. Schließlich bekam die ARGE ihre
Sohn ist inzwischen 1,78 Meter.« Zu diesem Zeitpunkt ist das Denk­ 15 Millionen, als Kostendeckel, und
Es sollte kein »Schlusspunkt- mal bei den »Bürgern« beziehungswei­ würde alle Kosten- und Realisierungs­
Denkmal« werden, sagt Letz, »son­ se einem Teil des in ihrem Namen risiken selbst tragen. Also die Abstim­
dern eine Diskussion über die fried­ schreibenden Feuilletons bereits durch­ mung mit Genehmigungs­behörden,
1 | Entwurf des Frei-
liche Revolution auch weiterhin of­ gefallen. Man rümpfte die Nase über heits- und Einheits-
Artenschützern, Kantholzlieferanten
fenhalten. Eine partizipative Skulptur, die »Metaphernlawine» und Gedenken denkmals am Berliner und ostwestfälischen Stahlbauern. Und
bei der die Menschen und ihre Inter­ als Event (»FAZ«), erkannte »Infantili­ Schlossplatz das Risiko von Pandemien und An­
aktion im Zentrum stehen. Ein Denk­ tät, Geschmacksarmut« (»Welt«) und 2 | Architekt Letz griffskriegen, all das, was ein Donald
3 | Werkhalle der
mal, auf dem Menschen die Erfah­ sah »Demokratie als Kinderspiel« miss­ Heinrich Rohlfing
Rumsfeld als »unknown unknowns«
rung machen können, durch Verstän­ verstanden (»Süddeutsche Zeitung«). GmbH mit Teilen des bezeichnet hatte, bevor ihm der Einsatz
digung und gemeinsames Handeln Die Kühnheit jedes Entwurfs Einheitsdenkmals in am Golf zum Desaster geriet.
etwas Großes bewirken zu können«. kommt leicht unter die Räder, wenn Ostwestfalen Es war im Nachhinein keine wirk­
4 | Stahlbauer
Und es würde als einziges zeitge­ es noch keine Erfahrung mit ihm gibt. Rohlfing
lich gute Idee.
nössisches Element zwischen dem Zumal wenn aus stolzer Identifikation 5 | Gründungsarbeiten Die zur Familie der Glattnasen ge­
historisierenden Fake ringsum stehen längst postheroische Nüchternheit und am alten Fundament hörende Wasserfledermaus wiegt nur

56 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


REPORTER

wenige Gramm und nistet gern in


Baumhöhlen und Hecken. Und not-
falls auch in Nationalmonumenten.
»In dem Denkmalsockel saß eine
Kolonie Wasserfledermäuse, die ein-
zige bekannte in Berlin-Mitte«, sagt
Sebastian Letz. Bauarbeiter hätten das
Problem per Knallfrosch gelöst, doch
das Bundesnaturschutzgesetz steht
dem entgegen. »Für die Bremser des
Projekts kamen diese Fledermäuse
wie gerufen. Zumal es sich um ein
­Wochenstubenquartier handelt.«
Milla & Par tner

Es ist November 2021, und auf der


Schlossfreiheit wird der Baugrund für
1 2
den Sockel vorbereitet, man sieht
Schuttberge, Moniereisen, Schalbret-
ter und immerhin eine vollendete
Gründung. Zwei Wochen zuvor hätte
das Einheitsdenkmal fertiggestellt
sein sollen.
»Zwischenzeitlich wurde vom be-
auftragten Gutachter«, sagt Letz, »so-
gar eine künstliche Insel in der Spree,
im Zentrum Berlins, als Kompensa-
tionsmaßnahme vorgeschlagen.«
Über die Fledermaus verging viel
Zeit und zerstritten sich die Natur-
schützer. »Es dauerte zweieinhalb
Jahre, allein die Fledermausfrage ab-
zuarbeiten», sagt Monika Grütters.
»Vollends absurd wurde es, als ich als
Staatsministerin für Kultur Nistkäs-
ten im Plänterwald aufhängen sollte.«
Eine Gegengutachterin kam zu
dem Schluss, dass Wasserfledermäuse
geschickt und durchaus anpassungs-
fähiger seien als obere Naturschutz-
behörden. »Wir haben also monodi-
rektionale Schleusen entwickelt und
installierten Ultraschallsensoren, um
die Laute der Tiere aufzuzeichnen«,
sagt Sebastian Letz. So beschränkte
sich die Arbeit am Nationaldenkmal
zunächst auf Lauschen und Warten.
Kaum waren die Fledermäuse fort,
kamen die Viren. Als Monika Grüt-
ters am 28. Mai 2020 maskiert den
ersten Spatenstich tat, geschah das,
3
wie sie präzisierte, »unter Wahrung
geltender Abstandsregeln und Infek-
tionsschutzvorschriften«. Die WHO
hatte Europa gerade zum Epizentrum
der Coronapandemie erklärt.
Das Schwere und das Leichte. Eine
Wasserfledermaus mit vielleicht zehn
Gramm Gewicht und 30 Tonnen Stahl,
die zusätzlich eingebaut werden muss-
ten, um die Schwingungsfrequenz aus
der Unwohlfühlzone zu bringen.
30 Tonnen und zehn Gramm, und
an alles muss gedacht werden.
Als Architekt kann Sebastian Letz
damit eigentlich umgehen. Er ist an
diesem Tag im November 2021 nicht
herbstlich gestimmt. Auch wenn ihm
4 5 gerade behördlicherseits mitgeteilt
wurde, dass der Bezirk Fahrradstän-

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REPORTER

der genau vor dem Aufgang zum Denkmal »Schon dieser Akzent: ›Da müsse mer schaue.‹ Die zuständige Behörde, das BBR, erklärt,
bauen möchte. Auch wenn die U-Bahn-Planer Wenn wir uns strikt an die Berechnungen ge- an dem Denkmal wie geplant festzuhalten, sieht
ihre Fahrstuhltürme in die Sichtachse zu den halten hätten, hätte ich meine Leute sich selbst aber allein Milla & Partner als Generalüberneh-
Linden platzieren mussten. Letz erzählt, wie in die Segmente einschweißen lassen müssen. mer in der Pflicht, es wie auch immer fertigzu-
er eine erste Ahnung von den Berliner »un- Wie bei den Pyramiden! Da war mittig gar kein stellen. Die wiederum haben im August einen
knowns« bekam, als der Denkmalschutz ver- Ausstieg vorgesehen.« Die Stuttgarter Firma »Nachfinanzierungsbedarf von 2,314 – 2,586
langte, alte und neue Denkmalsockel statisch Milla & Partner bestreitet das. Mio. €« gemeldet, verschuldet durch »mut­
strikt voneinander zu trennen. »Also mussten Die Nachzahlung für die länger als geplant willige Zeitverzögerungen« vonseiten des
wir sieben Betonpfähle 40 Meter tief in den blockierten Hallen kam. Die Einheit nicht. Es ­Stahlbauers. Für das BBR eine nicht nachvoll-
Baugrund setzen, um die Kräfte von dem alten liegen Welten zwischen der kreischenden Hal- ziehbare Summe. Geld sei durchaus noch vor-
Gewölbe zu entkoppeln.« Das Land Berlin le in Stemwede und den Planungsbüros in Stutt- handen, doch haushaltsrechtlich erst nach
finanzierte die Sicherung und Restaurierung gart und Berlin. Zwischen Denken und Machen, ­Erbringung der festgelegten Leistungen aus-
des alten Denkmalsockels mit Fondsmitteln zwischen einer Idee und ihrer Umsetzung in zahlbar. Rohlfing erklärt zu den Vorwürfen, vor
aus dem Aufbau Ost. Es ging schließlich um Schweißnähte, Pfahlgründung und artenschutz- allem die technischen Nachregelungen von Mil-
den Kaiser und die Fledermäuse. rechtlichen Ausnahmegenehmigungen. la & Partner seien schuld an den Verzögerungen
Im Weg steht plötzlich auch die Frage, ob Sebastian Letz verzweifelt an gerissenen und Zusatzkosten.
diese bewegliche Brückenkonstruktion auf Terminen und Nachforderungen, die er als Am 16. November dieses Jahres werden ab-
einem Sockel aus der Kaiserzeit überhaupt Vertragsbruch wahrnimmt. Johannes Milla, schließende Haushaltsberatungen im Bundes-
ein Bauwerk ist, wie es der Bauherr sah, oder der Geschäftsführer, hat eine Mediation vor- tag beginnen, eine vielleicht letzte Chance, die
nicht eher eine Maschine im Sinne der EU- geschlagen, die aber unter dem 60-Tonnen- rund 2,5 Millionen bewilligt zu bekommen, die
Maschinenrichtlinie 2006/42/EG. Denn die Brückenkran in Stemwede mit Skepsis und es nach Auskunft von Milla & Partner brauchte,
Federn auf beiden Seiten der Schale speichern den Worten Rohlfings aufgenommen wird: um die Hängepartie zu beenden und das Denk-
beim Absinken Energie und geben sie wieder »Wir können uns gern im Wald treffen und mal in vorgesehener Qualität »im Oktober
ab, nach Artikel 2 Absatz a das Merkmal einer um das Buschfeuer tanzen. Bin ich gern mit 2024 fertigzustellen«. Wolfgang Thierse hat
Maschine. Und für eine Maschine gelten an- bei. Aber 5000 Euro Grundgebühr? Und bereits an die einschlägigen Fraktions- und
dere Prüfnormen als für ein Bauwerk. dazu noch die Stunden? Das zahle ich nicht.« Staatsspitzen geschrieben und gedrängt, diese
Lange war auch unklar, wem das Areal Neuland bedeutet eben: keine erprobten Gelegenheit nicht zu verpassen. Es brauchte
gehört, dem Bund oder dem Land Berlin, und Pfade. Jeder Schritt muss umständlich ver- jetzt eine politische Lösung. Grütters-Nach-
ob man nicht besser auf die Fertigstellung des handelt werden. Das kostet Zeit und Nerven folgerin Claudia Roth war ihrerseits nie recht
Schlossnachbaus wartet. Es wurde darauf be- und Geld. Rohlfing scheint zu den Menschen überzeugt von der »Einheitsschale«. Nur kann
standen, das Sockelgewölbe mit Klinkern im zu gehören, die gern Grenzen austesten und sie als Grüne aus­gerechnet ein Monument für
Originalreichsformat zu verblenden – obwohl ein passendes Gegenüber brauchen. Es ist wie Freiheit und Einheit schlecht begraben, zumal
es ein der Öffentlichkeit unzugänglicher bei manchen Schauspieler-Regie-Paarungen sie an den Parlamentsbeschluss gebunden ist.
Raum ist, den, wenn überhaupt, nur Wasser- à la Klaus Kinski und Werner Herzog: Auch So lässt die Kulturstaatsministerin erklären, an
fledermäuse betreten würden. ein Stinkstiefel kann mit dem richtigen Part- der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses und
Wer Letz zuhört, wundert sich, dass in Ber- ner durchaus Großes vollbringen. den »Bürgern in Bewegung« festzuhalten:
lin überhaupt noch gebaut wird. Die Schale liegt jetzt samt Mittelring und Ende August sei sie von Milla & Partner da­rüber
Normen sind im Kern Ausdruck von Be- den 32 Stützsegmenten in Stemwede. Es fehlt informiert worden, dass das Denkmal auch
denken, Vorsicht und Angst, und von allem die Korrosionsbeschichtung und vor allem ein zum 3. Oktober dieses Jahres nicht fertiggestellt
gibt es in Deutschland ein Überangebot. Es ist Bewegungstest für Mechanik, Lager und Dämp- werden könne. Sie habe das BBR gebeten, den
schwer, eine Idee außerhalb des Normierten fung. Arbeiten, deren Fertigstellung Richard Verzögerungen nachzugehen.
durchzusetzen. Der gewagte Entwurf hat Rohlfing für März 2023 zugesichert habe, so Wenn es zu keiner Nachfinanzierung
­wenig Chancen gegen angestammte Rechte, Milla & Partner. Der Stahlbauer selbst scheint kommt, könnte es für die ARGE und damit
Grundbucheinträge, obere Naturschutzbehör- davon unbeeindruckt. Er sei die Strecke bis für Milla & Partner finanziell eng werden, ein
den, Haushaltsausschüsse, Prüfstatikerinnen, Berlin schon abgefahren, 20 Schwertransporte Risiko, das der Bauherr Bundesrepublik ein-
gegen Rechteinhaber und Rechthaber – alle- in Überbreite würden reichen, das Zentralele- zugehen bereit scheint. Auch auf die Gefahr
samt mit meist löblichen Absichten, allesamt ment in der Mitte müsste man allerdings zer- hin, dass dann alles noch teurer wird.
häufig im Recht und in der Gesamtheit doch schneiden. Sorgen macht ihm, wenn überhaupt, Intern wird nun über einen neuen Versuch
ein Block des Beharrens und des Mittelmaßes. die Einweihung: »Nur keine Geigen. E-Gitarren von Supervision nachgedacht, um Stahlbauer,
Irgendwann sagt Sebastian Letz am Tele- müssen da ran, so was wie Karat oder City.« Planer und Behörden zusammenzubringen.
fon: »Diskurs gehört zu einem Denkmal. Die Lage scheint alles andere als lustig. Zu- Eine Art runder Tisch wie zu Zeiten der Bür-
Okay. Aber das ist emotional auch mal hoch- mal es um öffentliche Gelder und ein Denk- gerbewegung 1989. Damals ist die Erfahrung
anstrengend.« Das sind Situationen, in denen mal der Nation geht. gemacht worden, dass Geld allein noch keine
nur der Gedanke an andere Monumente trös- Johannes Milla und Sebastian Letz wollen Einheit schafft. Oder wie Johannes Milla über
tet, die von den Feingeistern ihrer Zeit als ihrem Stahlbauer keine Zusagen mehr ab- die gesamte Konstruktion gesagt hat: »Die
»Schande«, »monströs« und »lächerlich« nie- nehmen. Sie hätten zu viele Mails mit errati- Schale bewegt sich ja nicht ständig. Wenn die
dergemacht wurden und bis heute in den schen Forderungen bekommen, zu lange Ein- Leute sich nicht einigen, tut sich gar nichts.«
Himmel über Paris ragen. stellungen der Arbeiten ertragen und emp- So steht auch an diesem 9. November,
Wiederum einen November später, im Jahr fehlen dem Bauherrn, der Bundesrepublik, 34 Jahre nach dem Sieg der friedlichen Revo-
2022, ist das Denkmal der Einheit auch stahl- dringend einen Wechsel des Stahlbauers. lution, auf der Schlossfreiheit ein leerer Sockel,
bautechnisch endgültig ein Monument des Zer- als Mahnmal seiner selbst. Denkmal für den
würfnisses geworden. In seiner Montagehalle halbherzigen, von Anbeginn an diskreditierten
in Stemwede droht Stahlbauer Richard Rohl- und sabotierten, vielleicht auch überambitio-
fing, »dat Ding« auf den Hof zu stellen und vor nierten Versuch einer ernüchterten Nation,
sich hin rosten zu lassen, wenn ihm die Mehr- »E-Gitarren müssen ran, so sich ein positives Denkmal zu setzen.
kosten für die blockierten Hallen nicht gezahlt Eine stille Baustelle, ein Zaun, ein Schild.
würden. Er habe im Übrigen ziemlich genug was wie Karat oder City.« Alles ruht in Berlin. Nur die Wasserfleder-
von all den gelehrten Köpfen da in Stuttgart. Richard Rohlfing, Maschinenbauer mäuse, die sind schon zurück. n

58 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Ikonen der Zukunft

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Ihr sportlicher Alltagsbegleiter ist die Piaget Polo Date mit ihrem 42 x 9,4 Millimeter Edelstahlgehäuse.
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REPORTER

kasse um Pflegeunterstützung zu
­betteln, Widersprüche einzulegen,
Schreiben zu verfassen. Wobei meine
Eltern, meine Geschwister eigentlich
ständig betteln müssen. Dass der

»Ach, Schissimatucki«
­Notarzt kommt, dass Krankenhaus­
berichte verschickt werden, um einen
Rollstuhl, um einen Arzttermin.
Beim Urologen heißt es: Wir haben
keinen Termin frei, aber ihre Mutter
ALLES GUTSCH Über das Altwerden, die Rückkehr ins Kinderzimmer kann ja um 8 Uhr zur Akut­sprech­
und den Krebs meiner Mutter stunde kommen. Also stellt sich meine
Schwester um 7.30 Uhr in die Warte-
schlange, ich komme um 7.50 Uhr mit

I
ch liege wieder in meinem alten meiner Mutter, und dann stehen wir
Kinderzimmer, in meinem alten alle da, meine Mutter zitternd auf den
Bett, oben unterm Dach und lau- Rollator gestützt, und hoffen, dass je-
sche in die Nacht. War da was? Ein mand die Gnade hat und endlich die
Wimmern? Ein Rufen? Ein Klopfen? Praxistür öffnet, damit meine Mutter
Als ich ein Kind war, klopfte mei- im Sitzen warten darf. Altwerden ist
ne Mutter immer an das Heizungs- nichts für Feiglinge, heißt es. Aber Alt-
rohr im Wohnzimmer, wenn ich zum werden ist in Deutschland auch nichts
Essen runterkommen sollte oder zum für Kassenpatienten.
Klavierüben. Mit ihrem goldenen Ich stelle mich ans Dachfenster,
Ehering an der Hand schlug sie an das weil ich nicht schlafen kann, in der
Heizungsmetall, und bei mir oben, Ferne leuchten die roten Lichter des
Illustration: Mario Wagner / DER SPIEGEL

zwei Stockwerke höher, kam ein ehemaligen Heizkraftwerks Lichten-


Klonk-klonk-klonk an. Andere Eltern berg. Als Kind habe ich diesen Blick
riefen nach ihren Kindern. Oder pfif- geliebt, hinter den roten Lichtern ver-
fen. Meine Mutter klopfte. mutete ich irgendwo West-Berlin, und
Jetzt ist es still. Ich hoffe, sie manchmal stellte ich mir vor, dass
schläft. Ich hoffe, sie hat keine mein Großvater in der Nacht im
Schmerzen. Ich halte Nachtwache Kraftwerk arbeitet, dort an Rohren
hier oben, ich kann nicht viel tun, und schraubt und am Morgen zu uns nach
vielleicht bin ich deshalb hier: um Hause kommt. Zum Frühstück. Mein
überhaupt irgendwas zu tun. Meine Großvater war Ingenieur und starb,
Mutter hat Krebs. Sie ist dünn gewor- wir müssten noch einmal eine stark bevor ich zwei Jahre alt wurde, an
den, es scheint, als würde sie langsam befahrene Straße überqueren. Aber Krebs.
verschwinden. Meine schöne, stolze ich habe keine Lösung. Kein Schissi- Die Liste der Menschen, die ich an
Mutter mit dem Klopfring am Finger. matucki. Ich zerquetsche eine Banane den Krebs verloren habe, ist mit den
Im Kinderzimmer ist alles noch auf einem Teller, so wie sie es früher Jahren immer länger geworden. Was
da – die Schränke, mein Schreibtisch, für mich machte. Ich sage: »Du musst machen eigentlich die ganzen Wissen-
viele Bücher, als wäre ich nur mal ein bisschen was essen.« Sie sagt: »Ich schaftler dort draußen? Die Mensch-
kurz weg gewesen. »Timm Thaler« in kann nicht.« heit erfindet ständig neue Dinge, ir-
der Ausgabe von 1962, das DDR- Vor ein paar Wochen saß auch ein gendwelche Handy-Pixel-Auflösungen,
Buch zu den Olympischen Sommer- Gutachter der Krankenkasse bei ihr betrügerische Hedgefonds, Mond­
spielen 1980, das Jugendlexikon im Wohnzimmer. Wir hatten eine raketen. Manchmal denke ich: Man
­»Jugend zu zweit«, aus dem ich viel Pflegestufe beantragt. Meine Mutter müsste die 100 klügsten Wissen-
Wissenswertes lernte, von »abgeilen« ist 87 Jahre alt, sie kann kaum noch schaftler in einen Bunker einsperren
über »Fingerspiel« bis »Zungenkuss«. gehen, der Krebs frisst sich durch und sagen: »Leute, tut uns leid. Aber
Alles ist hier wie immer. ihren Bauch, die Ärzte reden von Pal- ihr kommt hier erst wieder raus, wenn
Und alles ist anders. Früher kam liativversorgung. Aber der Gutachter ihr den Krebs besiegt habt. Anschlie-
meine Mutter hoch in mein Zimmer, kam zu dem Ergebnis: keine Pflege- ßend könnt ihr euch wieder um spre-
um mir Geschichten vorzulesen, sie stufe. Meine Mutter könne sich ja chende Wasserhähne oder faltbare
kam, wenn ich Bauchschmerzen hat- noch selbstständig versorgen. An- Elektroautos kümmern.« Solche
te oder ein gebrochenes Kinderherz. scheinend ist mit »selbstständig ver- Maßnahmen funktionieren natürlich
Sie hatte immer eine Lösung, und sorgen« mein Vater gemeint. Ein zä- höchstens in Nordkorea. Schade.
hatte sie mal keine, dann sagte sie: her Knochen, der einen Schlaganfall Gegen sechs Uhr höre ich unten
»Ach, Schissimatucki, mein Kleiner.« hinter sich hat und mit gebeugtem ein Rumpeln. Meine Mutter geht auf
Ich weiß bis heute nicht, was das Wort Gang jeden Tag, jede Stunde für mei- die Toilette, dann in die Küche. Sie
bedeutet, aber es klang irgendwie ne Mutter da ist. Er wird 90 Jahre alt. ist ihr Leben lang früh aufgestanden.
tröstend, so als wären selbst ausweg- Ich dachte: Die sinnloseste Versi- Ich hoffe, Pflichterfüllung, Disziplin, sich nicht
lose Lagen nie so richtig ausweglos, cherung, in die man sein Leben lang hängen lassen – das ist ihr wichtig.
sondern eben nur: Schissimatucki. einzahlt, ist vermutlich die Pflegever- sie schläft, Sie klopft nicht mehr ans Heizungs-
Jetzt gehe ich runter ins Wohnzim- sicherung. Man sollte das Geld lieber ich hoffe, rohr. Aber sie gibt mir an diesem Mor-
mer, meine Mutter liegt matt auf der in Aktien anlegen, im Garten vergra- gen, dem Nachtwächter da oben, ein
Couch, manchmal hält sie kurz meine ben oder in der Pfeife rauchen. Alles sie hat keine kleines Zeichen. Ein Lebenszeichen.
Hand, als wäre ich vier Jahre alt und ist würdevoller, als bei der Kranken- Schmerzen. Jochen-Martin Gutsch n

60 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


SMART HEIZEN MIT DEM

Homematic IP Heizkörperthermostat – Evo

homematic-ip.com/testsieger
WIRTSCHAFT

Standortvorteil Wind
In welchen deutschen Metropolregionen es die besten
Standortbedingungen für die Wasserstoffwirtschaft gibt,
Rang 2023*

Rang 2023 ... (Rang 2020)


... besser als 2020
... unverändert
... schlechter als 2020 2 (4)
Hamburg
7 (9)
Berlin-
1 (1) Brandenburg
Ruhrgebiet
3 (5)
Mitteldeutschland
Rhein-Region 5 (8)

9 (7) Frankfurt/
Gebiet zählt zu Rhein-Main
Frankfurt/Rhein-Main
sowie Rhein-Neckar
8 (6) 4 (2)
Rhein-Neckar Stuttgart
6 (3)
München

* ermittelt aus elf Indikatoren, etwa Fördersummen mit Wasserstoffbezug, Anzahl

Stefan Ziese / ddp


der Hochschulen, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen und wasserstoffaffi-
ner Unternehmen
S Quelle: IW Consult; Studie »Wasserstoffranking 2023« für den Regionalverband


Ruhr, Karte: OpenStreetMap

Wasserstoffboom in West und Nord


KLIMA Vom Aufschwung des grünen Energieträgers dürften vor allem das Ruhrgebiet und die Region Hamburg
profitieren, sagen Fachleute voraus. Süddeutsche Ballungsräume fallen hingegen zurück.

D er Norden, Westen und Mittel-


deutschland haben die besten Chan-
cen, vom erwarteten Wachstum der
Wasserstoffwirtschaft zu profitieren. Zu dem
sich auf den dritten Rang. »Derzeit fließen
viel Geld und Manpower in den Erhalt und
die Transformation der Grundstoffindust-
rie, auch mithilfe von Wasserstoff«, sagt
Regionen keinen Zugang zu Wasserstoff
und Wasserstoffnetzen haben, dann kann
dort keine anwendungsnahe Innovation
stattfinden.« Für den Vergleich hat das IW
Ergebnis kommt eine Rangliste von neun Studienautorin Vanessa Hünnemeyer. »Die- elf Kriterien herangezogen, darunter etwa
Metropolregionen, die das Institut der deut- se ist im Ruhrgebiet und in Mitteldeutsch- den Anteil der Firmen mit Wasserstoff­
schen Wirtschaft (IW) zum zweiten Mal seit land traditionell stark vertreten.« Beide Ge- bezug an allen Unternehmen der Region.
2020 erstellt hat. Da der Regionalverband biete verfügen über erste Wasserstoffnetze Für vier Kategorien wurden Mitglieder des
Ruhr die Studie in Auftrag gab, mag kaum für die Industrie, während man in Süd- Nationalen Wasserstoffrats befragt, eines
überraschen, dass das industriell geprägte deutschland noch einige Jahre auf Wasser- Beratungsgremiums der Bundesregierung.
Ruhrgebiet den Spitzenplatz verteidigt – be- stoffpipelines warten dürfte. Der Bund plant einen massiven Ausbau
merkenswert sind indes die Verschiebungen Die Regionen München und Stuttgart der Erzeugung, des Imports und des Trans-
dahinter: So klettert die Region Hamburg büßen im Vergleich zu 2020 ein. Sie seien ports von Wasserstoff. Mit dem Gas, das
dank der vielen Windparks in ihrer Nähe zwar für ihre Innovationskraft bekannt, mit Ökostrom aus Wasser gewonnen wer-
und des Hafens, der zum Import von Was- aber bislang kaum bei Wasserstoff, so Hün- den kann, können beispielsweise Stahl kli-
serstoff dienen könnte, auf Rang zwei. nemeyer. Die Wasserstoffnachfrage sei der- maschonend hergestellt sowie Strom er-
Das Dreiländereck zwischen Sachsen, zeit auch nicht im Fokus der Autoindustrie, zeugt werden, wenn Wind- und Solarparks
Sachsen-Anhalt und Thüringen verbessert die im Süden besonders stark ist. »Wenn nicht ausreichen. BEM

62 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


»Es gibt keine keine überflüssige bürokratische Studienkredite geht aus einer Antwort des
Übung, sondern Kern des Ge- Bundesbildungsministeriums
­doppelte Last« setzes. Sie dokumentieren, was ­verteuern sich massiv auf eine Anfrage des Linken­
Wirtschaftsminister die Unternehmen zur Kontrolle ZINSWENDE Die steigenden abgeordneten Christian Görke
Robert Habeck ihrer Lieferketten unternehmen. Zinsen haben staatliche Kredite hervor. »Wenn die KfW die
(Grüne) will Büro­ So können die Firmen den für Studierende in Deutschland Kredite nicht günstiger anbieten
kratie abbauen, in­ ­Behörden darlegen, dass sie stark verteuert. Die Darlehen kann oder will, muss die Ampel
dem er Vorschriften sorgfältig vorgegangen sind. der Kreditanstalt für Wieder­ eingreifen und die Kredite
des Lieferketten­ SPIEGEL: Ist es nicht unsinnig, aufbau (KfW) orientieren sich ­subventionieren«, fordert er.
gesetzes aufhebt. Seine Partei­ die Firmen erst zur Abgabe am Referenzzinssatz Euribor Schließlich seien die Kredite
freundin Anna Cavazzini, 40, eines deutschen und dann eines und werden zweimal jährlich auch während der Corona­
Vorsitzende des EU-Ausschusses europäischen Berichts zu angepasst. Seit Anfang Oktober pandemie vorübergehend
für Binnenmarkt und Ver­ ­zwingen? zahlen Studierende 9,01 Pro- ­zinsfrei gestellt worden. Zudem
braucherschutz, widerspricht. Cavazzini: Das ist nicht der Fall. zent effektiven Jahreszins – und müsse die Ampel wie verspro-
Wenn das europäische Gesetz damit deutlich höhere Beträge chen eine grundlegende Reform
SPIEGEL: Frau Cavazzini, ­Robert das deutsche in einigen Jahren als noch vor zwei Jahren. Be- des Bafög angehen, so Görke.
Habeck will die Berichtspflich- ablöst, wird sich nicht viel än- trug die durchschnittliche Zins- Nur weil lediglich elf Prozent
ten des deutschen Lieferketten- dern. Es wird keine doppelten zahlung für KfW-Studienkredite der Studierenden Bafög bezie-
gesetzes aussetzen, bis das euro- Berichtspflichten für deutsche im November 2021 noch 33,97 hen, seien überhaupt »Hundert-
päische Gesetz in Kraft tritt. Unternehmen geben. Und auch Euro, so waren es im Oktober tausende auf die KfW-Kredite
Was halten Sie davon? keine doppelte Bürokratielast. 2023 bereits 83,41 Euro. Das angewiesen«. DAB
Cavazzini: Wenig. Das deutsche SPIEGEL: Aber möglicherweise
Gesetz gilt schon seit Anfang Nachteile im weltweiten Wett-
dieses Jahres. Viele Unterneh- bewerb.
men haben längst begonnen, es Cavazzini: Das sehe ich nicht. In
umzusetzen. Wenn die Politik vielen Ländern wie den USA
das zurückdreht, sorgt das nur und Großbritannien gibt es in-
für Verunsicherung. zwischen ähnliche Gesetze. Wir

Christoph Hardt / Panama Pictures / IMAGO


SPIEGEL: Habeck will lediglich wollen uns nicht daran ge­
die Berichtspflichten aussetzen, wöhnen, dass Arbeiterinnen in
nicht das Gesetz. ­Textilfabriken verbrennen, weil
Cavazzini: Das ist Augenwische- die Unternehmer keine Notaus-
rei. Die Berichtspflichten sind gänge eingeplant haben. MSA

Kritik an über den Deal. Es sei nicht


nachvollziehbar, warum eine Studierende an der Uni Köln
Robotik-Verkauf mit Steuermitteln aufgebaute
WET TBEWERB Profitiert China Hightechfirma an einen chine-
von deutschem Steuergeld, das sisch kontrollierten Wettbewer- Zoll wartet auf Geräte Verfügung stehen soll. Um
in das Münchner Robotik-Start- ber abgegeben werde, soll es Daten herunterzuladen, braucht
up Franka Emika investiert sinngemäß in dem Schreiben und Software die FKS zudem Downloadkeys,
wurde? Die Firma ist jüngst an heißen. Die Veräußerung sei VERKEHR Die Finanzkontrolle die per Bundesamt für Logistik
den Rivalen Agile ­Robots ver- nicht mit der Außenwirtschafts- Schwarzarbeit (FKS) des Zolls und Mobilität (BALM) bezogen
kauft worden. Jetzt beklagt sich verordnung vereinbar. Die von kann Fahrzeiten von Lkw-Fah- werden. Unklar ist, wann die
die Elektronikfirma TQ-Group, Bayern mit 15,1 Millionen Euro rern nicht direkt kontrollieren, FKS die fehlende Hardware
Altaktionärin und Produktions- geförderte Franka Emika war weil es an der nötigen Ausstat- ­erhält. Die neue Technik soll
partnerin von Franka Emika, in aus der vorläufigen Insolvenz tung fehlt. Das geht aus einer Abläufe vereinfachen und be-
einem Brief an Bundeswirt- heraus für 33 Millionen Euro Antwort des Bundesfinanz­ schleunigen. Bislang ist die FKS
schaftsminister Robert Habeck verkauft worden. Am Käufer ministeriums (BMF) auf eine auf Hilfe vom BALM oder der
Agile Robots sind Investoren Anfrage des Bundestagsabge- Landespolizei angewiesen – ge-
Franka-Emika-­ aus China beteiligt, fünf von sie- ordneten Pascal Meiser (Linke) meinsame Kontrollen mit dem
Roboter ben Aufsichtsräten sollen ihren hervor. Seit Ende August müs- BALM finden aber nur punk­
Sitz dort haben. Strittig ist, wie sen EU-weit in neu zugelassenen tuell statt (SPIEGEL 22/2023).
groß der chinesisch kontrollierte Lkw intelligente Fahrtenschrei- Oder sie verlässt sich auf Daten,
Anteil ist. Das Ministerium ber der zweiten Generation ein- die die zu kontrollierenden
­widersprach dem Verkauf nicht, gebaut werden, etwa um Grenz- Unternehmen bereitstellen
will ihn aber prüfen. Insolvenz- übertritte zu erfassen. Bislang müssen. Dass die Ausstattung so
verwalter Matthias Hofmann fehlen der FKS jedoch Hard- lange dauert, liegt laut BMF
hatte erklärt, er habe Fragen und Software, um auf die Daten ­daran, dass erst zum Juli die
des Außenwirtschaftsrechts vor zuzugreifen. Zu den Kontroll- »rechtliche Grundlage zur Nut-
dem Verkauf mit dem Ministe- karten, die die Daten auslesen, zung der Kontrollkarten« ge-
rium klären können. Offenbar schreibt das BMF auf ­Anfrage schaffen wurde. Meiser fordert,
interessiert sich auch die ameri- zwar, diese »liegen den Haupt- die Bundesregierung müsse
Swen P för tner / dpa

kanische Behörde zur Kontrolle zollämtern mittlerweile vor«. ­tätig werden gegen »weitere
von Auslandsinvestitionen CFI- Jedoch fehle ein Software­ Ausbeutung, insbesondere aus-
US für den Fall: Franka Emika update, das voraussichtlich bis ländischer Kraftfahrer in unse-
hält US-Patente. MHS Ende kommender Woche zur rem Land«. KKO

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

Die große Baustille


IMMOBILIEN Der Projektentwickler ist pleite, die Handwerker rücken ab: Auf vielen Baustellen werden
gerade die Arbeiten gestoppt – niemand kann einziehen. Was heißt das für die Betroffenen?

Gordon Welters / DER SPIEGEL

Rohbau in der Malmöer


Straße 28 in Berlin

64 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WIRTSCHAFT

N
ichts geht mehr, auf der Bau- auftürmt. »Es wird noch eine Reihe fertiggestellt werden. Doch mancher
stelle ist Stillstand. Selbst von Pleiten geben«, sagt Jens Rauten- Stillstand kann sich auch über Jahre
den Kran haben sie mitge- berg, Geschäftsführer der Analyse- hinziehen, wie etwa beim Düsseldor-
nommen, sagt Valeriy Shev- firma Conversio Wahre Werte. Be- fer Projekt Grand Central.
chenko. An einem Montagmorgen im sonders beunruhigend sei, dass es Auch Fertighausanbieter erwischt
Oktober steht er vor der Malmöer auch Firmen erwische, die bis zuletzt es. Anfang August stellte die rhein-
Straße 28, Berlin-Prenzlauer Berg. einen guten Ruf in der Branche ge- land-pfälzische Firma Davinci Haus
Kopfsteinpflaster, viele Altbauten, nossen hätten. Auch die Project Im- den Betrieb ein. Im September ging
beliebte Gegend. Er zeigt auf den mobilien Gruppe hatte ein gutes die Schäfer-Gruppe aus Unterfranken,
sechsstöckigen Bau vor ihm. Ein Image, bevor die Firma den Zinsan- deren Ursprünge bis in die Dreißiger-
nacktes Betonskelett, ein Absperr- stieg mit Wucht zu spüren bekam. jahre zurückgehen, in die Insolvenz.
gitter davor. »Ich habe Angst vor dem Das prominenteste Beispiel dieser Und die Traumhaus AG, ein Massiv-
Winter«, sagt Shevchenko, »dann Entwicklung – in völlig anderer Di- hausbauer aus Wiesbaden, hat jüngst
droht hier alles zu verkommen.« mension – ist das Immobilienreich des seine Prognose für das laufende Jahr
Shevchenko, IT-Spezialist, bangt Österreichers René Benko. Auch er angepasst: Im schlimmsten Fall droht
um alles, was er sich in den vergan- wurde von Baukostenanstieg und ein Minus von knapp drei Millionen
genen Jahren aufgebaut hat, um sein Zinswende offenbar kalt erwischt. Sei- Euro.
Erspartes, um einen Kredit. Gut ne Geldgeber bangen um ihr Kapital, Den deutschen Wohnungsmarkt
250.000 Euro hat er bereits bezahlt, Milliardenprojekte stehen still. Wo insgesamt destabilisieren diese Tur-
etwas mehr als die Hälfte des ge­ eben noch glanzvolle Architektur ent- bulenzen bislang nicht. Dass nun die
samten Kaufpreises, für sein kleines stehen sollte, drohen nun Bau­ruinen. Preise von Grundstücken und Häu-
Stück Berlin: knapp 80 Quadratme- Berlin ist von der Krise besonders sern auf breiter Front in die Tiefe rau-
ter, Drei-Zimmer-Neubau. Eigentlich betroffen. Ausgerechnet. In kaum schen und im ganzen Land Bauruinen
wollte er mit seiner Frau und dem einer anderen Stadt wird Wohnraum entstehen, ist nicht zu befürchten.
sechsjährigen Sohn zu Weihnachten so dringend benötigt, nirgendwo sonst Genauso wenig, dass Wohnungskon-
einziehen. Für seinen Sohn hatte er steigen die Mieten so schnell wie hier. »Ich war zerne wie Vonovia in die Knie gehen.
sich sogar schon um einen Platz in Allein die Pleite von Project Immobi- Zu groß ist die Nachfrage nach Wohn-
der Grundschule gekümmert. lien betrifft dort 16 laufende Projekte geschockt, ich raum und zu gering das Angebot. Be-
Doch Mitte August kam ein Brief mit mehr als 900 Wohnungen: von dachte, sie standshalter können sich gar über
von der Project Immobilien Gruppe.
Der Projektentwickler informierte
Pankow im Norden bis Tempelhof im
Süden. Der Stillstand verschlimmert
wollen mich steigende Mieteinnahmen freuen,
weil sich verhinderte Eigenheim­
ihn in zwei knappen Sätzen über die die ohnehin desaströse Lage auf dem nur über besitzer weiter auf dem Mietmarkt
Insolvenz der Projektgesellschaft. Wohnungsmarkt noch weiter. Wegen den Baufort- drängeln.
»Ich war geschockt, ich dachte, sie
wollen mich nur über den Baufort-
der hohen Bauzinsen planen fast alle
Wohnkonzerne ohnehin keine neuen
schritt Kann man in diesen Zeiten über-
haupt noch auf Neubauprojekte set-
schritt informieren«, sagt Shevchenko. Bauprojekte mehr. Umso wichtiger informieren.« zen? Und wenn ja: Wie findet man
Käuferinnen und Käufer von wäre es, dass zumindest die schon ge- Valeriy Shevchenko, eine Firma, die die aktuelle Krise
84 Wohnungen in der Malmöer Straße planten und genehmigten Vorhaben Wohnungskäufer übersteht? Das sind die Fragen, die
bangen seitdem um ihr Eigentum, die sich derzeit viele Menschen stellen,
Bauarbeiten stehen seit Monaten still. die vom eigenen Zuhause träumen.
Nachdem die Firmen abgerückt seien, Als Shevchenko im Oktober 2021
wären noch Baumaterialien abhan- das Projekt in der Malmöer Straße
dengekommen, erzählt Shevchenko. besichtigte, war das Interesse groß,
Der 33-Jährige trommelte die be- vor allem bei Familien. Der Ver-
troffenen Käufer in einer WhatsApp- kaufsberater machte Druck. Vier
Gruppe zusammen. Die Aufregung Wochen später unterschrieb der jun-
ist groß. Einer kaufte gleich zwei ge Russe, der vor sieben Jahren nach
Apartments, eines für sich und eines, Deutschland kam, den Kaufvertrag.
das er vermieten wollte. Ein anderer Auch weil er sich vor steigenden
muss nun Lagerkosten für seine neue ­Mieten in Berlin schützen wollte.
Küche bezahlen, die nicht eingebaut Der Immobilienmarkt schien ihm
werden kann. Ein dritter Käufer in- kaum eine Wahl zu lassen: Wer über-
vestierte sein gesamtes Erspartes in haupt eine Chance haben wollte,
drei Wohnungen, als Kapitalanlage. musste nehmen, was er kriegen
Wie in der Malmöer Straße bangen konnte.
Tausende Menschen in Deutschland Käufer Shevchenko hat sich nicht
in diesen Tagen um ihr Geld. Das blind ins Risiko gestürzt. Er schloss
Land hat eine Pleitewelle von Pro- eine Risikolebensversicherung ab, da-
jektentwicklern erfasst: Neben Pro- mit seine Familie auch in seinem To-
ject Immobilien rutschten in den ver- desfall abgesichert ist. Er legte Er-
gangenen Wochen Firmen wie Paulus, spartes zur Seite für den Fall, dass
Euroboden, Gerchgroup oder De- eine erneute Pandemie die Wirtschaft
Gordon Welters / DER SPIEGEL

velopment Partner in die Insolvenz. lahmlegt und er seinen Job verliert.


Sie leiden unter den gestiegenen Bau- »Aber dass ein Projektentwickler in
zinsen und hohen Baukosten, Kalku- Deutschland Insolvenz anmeldet,
lationen gehen nicht mehr auf. habe ich für unmöglich gehalten.« In
Und das ist wohl erst der Beginn seinem Heimatland komme das im-
einer Insolvenzwelle, die sich gerade mer mal wieder vor, einige seiner Be-

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Brachliegendes Bei jedem Schritt müssen sich die


Bauprojekt Grand Central Erwerber abstimmen. Doch oftmals
in Düsseldorf 2022 haben die verschiedenen Parteien
unterschiedliche Interessen: Der eine
kann sich bei der Suche nach einer neu-
en Baufirma womöglich mehr Zeit las-
sen als der andere, der mit seiner Fa-
milie möglichst schnell einziehen will.
Sobald Käufer aus dem Ausland
dabei sind, läuft die Kommunikation
auf Englisch. Das macht die Abstim-

Hans Blossey / euroluftbild.de / picture alliance / dpa


mung noch schwieriger. »Alle Parteien
unter einen Hut zu bringen ist sehr
mühsam und kann viel Zeit und Ner-
ven kosten«, sagt Monz. Es sei sinn-
voll, als Eigentümergemeinschaft
einen Anwalt zu beauftragen, der ihre
Interessen vertritt.
Monz hat einige Dramen miterlebt.
Bei einer Insolvenz, die er während
der Coronapandemie begleitete, zog
sich der Weiterbau über drei Jahre
hin. Plötzlich untersagte dann das
kannten hätten dort in Projekte in- Prozent der noch ausstehenden Kauf- ­zuständige Bauamt die Nutzung –
vestiert, die heute Bauruinen sind. preisraten. »Im Vergleich zu anderen wegen Brandschutzmängeln im Hei-
Aber in Berlin, wo die Wohnungsnot Insolvenzen dieser Größenordnung zungskeller. Zu dem Zeitpunkt hatten
so groß ist? »Das konnte ich mir ein- ist das eine überschaubare Summe«, einige Eigentümer schon ihre Woh-
fach nicht vorstellen.« sagt er. nungen bezogen. Ohne Monz’ recht-
Ist ein Projekt nicht schon so weit lichen Beistand wären die Betroffe-
Käufer müssen wohl Geld fortgeschritten, müssen sich Käufe- nen wohl aufgeschmissen gewesen.
­nachschießen rinnen und Käufer oft selbst um eine Am Ende schlossen die Beteiligten
Die Project Gruppe, die ihren Unter- Lösung kümmern. Das ist kein leich- das Projekt mit Erfolg ab, allerdings
nehmenssitz in Nürnberg hat, finan- tes Unterfangen, wie Wendelin Monz zahlten sie deutlich mehr als geplant.
ziert sich selbst nicht über Bankkre- mehrfach erlebt hat. Der Potsdamer Eine Alternative zur Augen-zu-
dite. Stattdessen sammelte sie das Fachanwalt für Baurecht hat etliche und-durch-Strategie haben Käuferin-
nötige Kapital über Fonds ein. Mit Insolvenzen begleitet, in de­nen Er- »Die Fläche nen und Käufer meistens nicht. Treten
dem Geld der Anleger kaufte die werber zu Bauherren wurden, ob- ist dem sie vom Kaufvertrag zurück, verlie-
Gruppe Grundstücke, entwickelte wohl sie das nie werden wollten. Die ren sie ihre Auflassungsvormerkung
Bauvorhaben und zahlte nach erfolg- Eigentümergemeinschaft musste
Mietmarkt im Grundbuch. Diese sichert nach
reichem Verkauf der Objekte die Ein- einen neuen Architekten oder Gene- völlig sinnlos Abschluss des notariellen Kaufver-
zahlungen plus Rendite zurück. Jahre- ralunternehmer finden, Verträge mit entzogen trags den Anspruch der Kunden auf
lang war das ein einträgliches Geschäft. Handwerkern abschließen, verschie- ihr künftiges Eigentum. Zwar ­haben
Doch als Baukosten und Zinsen in die dene Gewerke koordinieren. Alles worden.« Käufer bei einem Rücktritt eigentlich
Höhe schossen, gingen die Kalkula- Dinge, die zuvor der Projektentwick- Lena Sterzer, Anspruch darauf, ihre bereits geleis-
tionen nicht mehr auf: Die eingenom- ler für sie erledigt hatte. SPD-Politikerin teten Abschlagszahlungen zurückzu-
menen Kaufpreisraten reichten nicht bekommen. In der Praxis können sie
mehr aus, um die Rechnungen der bei einer Insolvenz aber nur auf einen
Baufirmen zu bezahlen. Bruchteil ihres Geldes hoffen. Wenn
Trotz der Insolvenz geht es bei überhaupt.
­einigen Baustellen der Firma inzwi-
schen aber wieder voran, etwa bei Die Politik sieht das Problem,
mehreren Projekten in Nürnberg. Die aber handelt nicht
Käufer zahlen ihre Raten an einen Die Politik unternimmt bislang nichts,
Generalunternehmer, der die Projekte um Wohnungskäufer besser zu schüt-
jetzt – hoffentlich – fertig baut. »Ich zen. Neue Vorschriften sind zwar seit
bin zuversichtlich, dass uns das auch Jahren geplant, geschehen ist nichts.
bei einer ganzen Reihe weiterer Pro- Schon 2019, noch zu Zeiten der
jekte gelingen wird«, sagt Volker ­Großen Koalition, hat eine vom Bun-
Böhm, zuständiger Insolvenzverwal- desjustizministerium eingesetzte Ar­
ter. Gerade bei Projekten, wo ein beits­gruppe zwei neue Schutzvor-
Großteil der Wohnungen schon ver- schriften für Wohnungskäufer emp-
Florian Generotzky / DER SPIEGEL

kauft sei, gebe es Hoffnung. Das gelte fohlen. Entweder sollte der Kaufpreis
auch für das Projekt in der Malmöer erst nach Fertigstellung der Wohnung
Straße 28 in Berlin. fällig werden. Oder der Bauträger
In einigen Fällen müssten Käufer müsse vorsorglich eine Sicherheit
allerdings Geld nachschießen, Insol- stellen, damit bei einer Pleite die
venzverwalter Böhm rechnet mit Wohnungskäufer ihre Anzahlungen
einem Zuschlag in Höhe von zehn zurückbekommen.

66 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WIRTSCHAFT

Das von Marco Buschmann (FDP) geführ- harmonisch die Gemeinschaft miteinander Man könne sich auch einen Eindruck ver-
te Justizministerium brachte nun Anfang Fe- umgeht. Je zerstrittener die Truppe ist, desto schaffen, indem man die Firmenzentrale be-
bruar einen neuen, deutlich abgeschwächten unwahrscheinlicher, dass sich geplante Sanie- suche und mit den dortigen Mitarbeitern
Vorschlag ins Spiel: Demnach sei der Schutz rungsmaßnahmen gut umsetzen lassen. spreche. »Durch den Vor-Ort-Besuch be-
»optional«, Wohnungskäufer sollen selbst Was für die Bestandsimmobilie spricht: kommt man meistens ein Gefühl, ob es sich
entscheiden, ob sie die Anzahlungen mit einer Handwerker und Architekten sind derzeit um ein seriöses Unternehmen handelt.«
Art Versicherung oder Bürgschaft absichern wieder etwas leichter zu finden, wie es vom Außerdem sei es sinnvoll, laufende Baupro-
wollen. Diese müssten sie freilich selbst be- Zentralverband des Deutschen Baugewerbes jekte zu besuchen und die dortigen Käufer
zahlen. heißt. Weil im Wohnungsneubau seit Mona- nach ihren bisherigen Erfahrungen zu fragen.
Der Bauherren-Schutzbund, eine gemein- ten die Aufträge einbrechen, werden Kapazi- Seriöse Bauträger erkenne man auch da­ran,
nützige Verbraucherschutzorganisation, lehnt täten für Sanierungswillige frei. Auch Mate- dass sich der Zahlungsplan an der Makler-
den Vorschlag ab. Er fürchtet, dass sich die rial sei wieder einfacher zu bekommen. und Bauträgerverordnung orientiere. Dort ist
meisten Käufer aus finanziellen Gründen Immobilienexperte Rautenberg von Con- geregelt, welche Beträge zu welchem Zeit-
gegen solch eine Option entscheiden würden. versio Wahre Werte rät weiterhin auch zu punkt fällig werden: 30 Prozent der Bausum-
Er schlägt stattdessen vor, dass Bauträger bei Neubauprojekten trotz der gestiegenen In- me nach Beginn der Erdarbeiten, weitere 28
Banken oder Versicherungen zwingend Bürg- solvenzrisiken. »Die Investition in einen mo- Prozent, wenn der Rohbau steht, und noch
schaften aufnehmen müssten, um Rückzah- dernen, energieeffizienten Neubau ist in den mal 6 Prozent bei Fertigstellung des Dachs.
lungsansprüche zu garantieren. Letztlich wür- meisten Fällen absolut sinnvoll«, sagt er. Insgesamt darf die Kaufsumme auf bis zu sie-
de diese Maßnahme das Bauen allerdings Er rät allerdings, sich vor Vertrags­abschluss ben Raten aufgeteilt werden.
noch teurer machen: Mindestens zu einem gründlich über den Bauträger zu informieren. Niemals sollten sich Käuferinnen und
Teil würden Bauträger diese Kosten wohl auf Zunächst sollte man im Internet nach mög- ­Käufer darauf einlassen, Vorauszahlungen zu
die Käufer umlegen. lichen Berichten über negative Erfahrungen leisten. Die vertraglich vereinbarten Raten
Das Justizministerium teilt auf Anfrage und Rechtsstreitigkeiten Ausschau halten. sollte man nur entrichten, wenn der Bau­
mit, die Überlegungen zum Entwurf seien Und sich im »Bundesanzeiger« die jüngste fortschritt tatsächlich erfolgt sei. »Am besten,
noch nicht abgeschlossen. Einen konkreten Bilanz des Unternehmens besorgen, um zu man fährt auf der Baustelle vorbei und schaut,
Zeitplan oder inhaltliche Einzelheiten könne sehen, wie es zuletzt um die wirtschaftliche ob die Arbeit wirklich umgesetzt wurde.«
man nicht mitteilen. Situation bestellt war. Noch besser sei es, eine Durch die Pleite eines Projektentwicklers
Große Kapitalanleger steckten ihr Geld Bonitätsauskunft über die Kreditauskunftei tun sich möglicherweise aber auch neue Chan-
jetzt lieber in Bestandsobjekte statt in wacke- Creditreform abzufragen. Die steht allerdings cen auf – für Mieterinnen und Mieter. Städte
lige Neubauvorhaben, heißt es aus der Bran- häufig nur Profis zur Verfügung. und Kommunen könnten schiefgegangene
che. Das liegt auch daran, dass die Preise von Projekte übernehmen und dort öffentliche
unsanierten Bestandsimmobilien zuletzt Wohnprojekte realisieren. Darauf hofft Lena
deutlich nachgaben. Ist jetzt womöglich auch Schlechte Aussichten Sterzer, die für die SPD im Münchner Be-
für Privatleute die Gelegenheit da, sich für zirksausschuss Au-Haidhausen sitzt. In ihrer
ein Bestandsobjekt zu entscheiden, das ohne- Fertiggestellte neue Wohnungen Nachbarschaft wird ein geplantes Bauprojekt
in Deutschland*
hin viel günstiger ist? nicht verwirklicht, weil dem Münchner Lu-
Bauministerin Klara Geywitz (SPD) sagt, Zielvorgabe der xusentwickler Euroboden das Geld ausging.
Bestandsobjekte seien für junge Familien oft 400 Tsd.
Bundesregierung: Als Sterzer das aus der Presse erfuhr, stellte
400.000 Wohnungen
attraktiv, vor allem unsanierte Einfamilien- sie umgehend einen Eilantrag. Darin forder-
häuser auf dem Land. Ihre Beamten arbeiten 300 Tsd.
te sie die Stadt auf, in Kaufverhandlungen
derzeit die Förderkonditionen für ein Pro- für das brachliegende Grundstück in der
gramm namens »Jung kauft Alt« aus, das den Franziskaner­straße 15 einzutreten. »Die Stadt
Erwerb und die Sanierung von solchen Häu- 200 Tsd. könnte die Möglichkeit nutzen, dort bezahl-
sern erleichtern soll. »Dass man sich ein be- baren Wohnraum zu schaffen«, sagt sie. In-
stehendes Haus kauft und saniert, ist keine 100 Tsd. zwischen hat die Stadt Gespräche mit der
›Crazy-Klara-Idee‹, das macht die Menschheit insolventen Euroboden aufgenommen.
seit vielen Jahrhunderten«, sagte sie jüngst 0
Sterzer beobachtete das Projekt in der Fran-
dem SPIEGEL . Die Gefahr, dass sich unerfah- 2019 2021 2023 2025 ziskanerstraße lange mit Sorge. Die Fläche sei
rene Kaufinteressenten mit solchen Sanie- dem Mietmarkt »völlig sinnlos entzogen wor-
* ab 2023: Prognosen
rungsprojekten überfordern, sieht die Minis- den«. Euroboden ist in der Stadt umstritten.
terin offenbar nicht. Die Firma ist vor allem mit dem Bau luxuriöser
Entwicklung der Bauzinsen in Deutschland,
Fachleute aus der Branche halten es für Januar 2018 bis November 2023, Angaben Eigentumswohnungen bekannt geworden, meist
unverzichtbar, dass Privatkäufer vor dem Alt- in Prozent kommen Stararchitekten zum Einsatz. So wie
baukauf ein Gutachten in Auftrag geben. etwa beim Umbau eines Hochbunkers, den
10 Jahre Sollzinsbindung
Sonst drohten unangenehme Überraschun- Firmengründer Stefan Höglmaier lange selbst
15 Jahre Sollzinsbindung
gen. Allerdings kommt bei einer gründ­lichen 4,36 bewohnte. Das dreigeschossige Penthouse mit
Prüfung schnell mal ein vierstelliges Honorar 4 380 Quadratmetern und Panoramaterrasse hat
für den Gutachter zusammen. Wer mehrere 4,23 er inzwischen stark rabattiert: Es steht nun für
Objekte genau untersuchen lässt, muss also 3 11 statt 13 Millionen Euro zum Verkauf.
schnell Zehntausende Euro zahlen – ohne Einen Preisabschlag in ähnlicher Größen-
eine einzige Immobilie erworben zu haben. 2
ordnung erhofft sich Sterzer für das Grund-
Wer eine Wohnung in einem älteren Mehr- stück in der Franziskanerstraße. »Die Stadt
familienhaus kaufen will, sollte sich darüber könnte sich zu einem moderaten Preis ein
1
informieren, ob die Wohnungseigentümer- Grundstück sichern und darauf bezahlbare
gemeinschaft bereits einen Sanierungs­fahrplan 0
Wohnungen errichten«, sagt sie. Für Woh-
aufgestellt und dafür Rücklagen gebildet hat. nungssuchende in München wäre das zumin-
Manchmal lohnt auch ein Blick in die Ver- 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 dest ein kleiner Hoffnungsschimmer.
sammlungsprotokolle, um zu prüfen, wie S Quellen: Destatis, Ifo-Institut, interhyp Henning Jauernig n
‘

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

dabei herausspringen könnte: Binnen zwei


Jahren könnten Geldgeber ihren Einsatz ver-
fünf- bis verzehnfachen, glaubt er. Der ge-
bürtige Hamburger wuchs als Sohn einer Ar-

Im Rausch des
gentinierin und eines deutschen Diplomaten
in Buenos Aires, Paris, Lyon und Rom auf.
Noch ist es nur eine Wette, aber Möbius’

weißen Pulvers
Zuversicht speist sich aus ersten Bodenproben
an der Oberfläche, die einen Salzgehalt von bis
zu 950 Milligramm je Kilogramm ergeben hät­
ten, ein enorm hoher Wert. Andere Lithium-
projekte in der Salzpfanne von Salta hätten
GLOBALISIERUNG Lithium ist ein Schlüsselrohstoff der Autoindustrie, bereits bewiesen, dass dort viel zu holen sei.
Zwei Drittel der bekannten globalen Li-
doch deutsche Konzerne müssen sich ihn vor allem beim thiumreserven liegen im Dreiländereck Ar-
Systemgegner China besorgen. Die Unternehmen suchen nach gentinien, Chile und Bolivien. Die Bedingun-
­Alternativen, und einige Glücksritter wittern das große Geschäft. gen sind gut: Die dortigen Salzwüsten, vor
allem die Puna in Argentinien, liegen im
Hochgebirge, wo es kühl, trocken und sauer-

H
ombre Muerto South – »Toter Mann Möbius, der ehemalige Journalist, Manager stoffarm ist. Durch Bohrlöcher wird Sole an
Süd«: Reichlich morbide klingt der Ort, und Unternehmer Dirk Harbeck, 51, oder der die Oberfläche gepumpt und auf Speicher-
an dem Christian Möbius der deut- altgediente Rohstoffhändler Heinz Schimmel- becken verteilt. Verdunstet das Salzwasser,
schen Industrie aus ihrer Rohstoffklemme busch, 79, sich als Mittler zu positionieren, auch durch Beigabe von Stoffen wie Natrium-
helfen will. Sein Unternehmen Southern Cross zwischen den Goldgruben der Mobilitätswen- carbonat, bleibt hochkonzentriertes Lithium
Britannia hat vom argentinischen Staat die de und den Abnehmerindustrien in Europa. übrig. Das Endprodukt ist Lithiumcarbonat,
Bergbaulizenzen für sieben verschiedene Möbius sucht derzeit Geldgeber für sein ein weißes Pulver, das an Batteriehersteller
­Gebiete gekauft, insgesamt 130.000 Hektar. Toter-Mann-Süd-Projekt. Um Kapital aufzu- auf der ganzen Welt verkauft wird.
In der nordwestlichen Provinz Salta liegt sein treiben, pendelt er zwischen München, Lon- Umweltschützer kritisieren den Abbau im
Lithiumprojekt. Eine Fläche eineinhalbmal so don und Argentinien, besucht Bergbaukon- südamerikanischen »Lithium-Dreieck«, die
groß wie Köln und so trocken wie kaum ein ferenzen, spricht mit Autoherstellern, großen Gewinnung verbrauche enorm viel Wasser,
anderer Landstrich Argentiniens. »Die Legen- Beteiligungsfonds und Ölkonzernen. das in der Gegend knapp ist. Indigene sehen
de besagt, dass auf dem Salzsee einst ein Mann Für den Anfang würden schon etwas mehr ihre Lebensweise durch den Abbau beein-
verdurstet ist, daher der Projektname«, sagt als sechs Millionen Euro reichen, damit könn- trächtigt. Möbius verteidigt sich: »Das aus
der 40-jährige Deutschargentinier. ten die ersten Bohrungen bezahlt werden. den Salzseen geförderte Wasser ist Sole«, sagt
Kupfer, Gold und Uran werden in Salta Peanuts angesichts dessen, was laut Möbius er. »Sole ist viel salziger als Meereswasser
vermutet. Vor allem aber, wie Möbius’ Geo- und weder zum Trinken noch zum Bewässern
logen erkundet haben: Lithium. Jenes chemi- geeignet. Wobei es in der Gegend gar keine
sche Element, das für den Kampf gegen den Knappes Gut Felder gibt, weil es viel zu trocken ist. Aus
Klimawandel unentbehrlich ist. Lithium­ diesem Grund war und ist dieser Landstrich
batterien sind essenziell für die Energie- und Länder mit den größten vermuteten Lithium- auch nur äußerst dünn besiedelt.«
reserven 2022, in Millionen Tonnen
Verkehrswende, weil sie mehr und länger Schon einmal hat Möbius etwas gewagt
Energie speichern können als gewöhnliche Chile 9,3 und viel gewonnen: 2017 war er an der Ent-
Batterien und mehr Ladezyklen vertragen. Australien 6,2 deckung des Nordsee-Gasfeldes »N05« an
Vor allem die Automobilbranche lechzt der deutsch-niederländischen Grenze betei-
Argentinien 2,7
nach dem Stoff, um den Straßenverkehr zu ligt, mit 4,5 bis 13 Milliarden Normkubikme-
elektrifizieren. Doch das Schicksal der Schlüs- China 2,0 tern das größte, das seit den Neunzigerjahren
selindustrie hängt ausgerechnet an China: 97 USA 1,0 vor der friesischen Küste gefunden wurde.
Prozent ihres Lithiumbedarfs kaufen Betrie- Möbius ist nicht der einzige Glücksritter,
be aus der EU beim Systemgegner in Fernost Kanada 0,9 der vom Lithiumboom profitieren möchte –
ein. China baut das Alkalimetall selbst ab und und er ist nicht einmal früh dran. Die USA,
kontrolliert über Beteiligungen rund ein Drit- Globale Nachfrage nach Lithium-Ionen- China, die Golfstaaten: Sie alle investieren
Batterien, in Gigawattstunden
tel der weltweiten Produktion. EU-Kommis- (1 Gigawattstunde = 1 Mio. Kilowattstunden) Milliarden, um sich Vorkommen zu sichern,
sionspräsidentin Ursula von der Leyen pro­ und setzen dabei jede Menge Staatsgeld ein.
gnostiziert, dass die Nachfrage »bis 2050 um Elektro-, Hybrid-, Nutzfahrzeuge Allein Saudi-Arabien hat einen mit 15 Mil-
das 17-fache« steigen und Lithium in naher Leichtelektromobile/Zweirad-Fahrzeuge liarden Dollar dotierten Fonds aufgelegt, um
Zukunft wichtiger wird als Öl und Gas. sonstige sich weltweit in Rohstofffirmen einzukaufen.
Nicht nur Möbius, sondern eine ganze Pha- Die EU-Kommission hat eine Rohstoff-
4000 3971
lanx an Investoren, Unternehmern und Händ- strategie lanciert, mit Staatshilfen knausern
lern unterschiedlicher Couleur wittert deshalb 3000 3093 Brüssel und Berlin aber. Die Europäer wollen
ihre Chance, mit neuen Lithiumquellen reich Lithium stärker auf dem eigenen Kontinent
zu werden. Die geopolitischen Spannungen, 2000
2217 fördern und verarbeiten, um unabhängiger
der Versuch, sich unabhängiger von Diktato- von Importen zu werden. Elf Projekte hat die
1385
ren in Russland, China und anderswo zu ma- 1000 Kommission identifiziert, die 2030 rund 38
chen, haben eine Art Lithiumrausch ausge- 657 Prozent der europäischen Nachfrage decken
löst. Weltweit und vor allem im rohstoffarmen 254 könnten. Vulcan Energy etwa will im Ober-
0
Deutschland, das sich gerade mühsam von 2020 22 24* 26 28 30 rheingraben südlich von Mannheim Lithium
Russlands Öl- und Gashähnen abgenabelt hat. * ab 2024: Prognosen fördern, die Firma Zinnwald im Erzgebirge
Deswegen versuchen Leute wie der Geologe S Quelle:
Quellen: USGS, Roland Berger; Avicenne; Fraunhofer; IHS an der tschechischen Grenze.


68 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WIRTSCHAFT

liches Comeback – weg war er aller-


dings nie. Schimmelbusch, genannt
»Schibu«, hatte die Metallgesellschaft
binnen weniger Jahre zu einem globa-
len Mischkonzern aufgemöbelt und
sie 1990 in den Dax geführt. Als bald
darauf die Rohstoffpreise abrutschten,
geriet die MG ins Taumeln und ging
1994 in der Gea-Gruppe auf.
Schimmelbusch lieferte sich eine
jahrelange juristische Schlamm-
schlacht um die Deutungshoheit über
den MG-Untergang, stieg jedoch be-
reits in den Neunzigerjahren wieder
groß ins Rohstoffgeschäft ein – aller-
dings von den USA aus und abseits
der deutschen Öffentlichkeit.

Southern Cross Britannia


Das ist jetzt vorbei. Mit der 2006
von ihm gegründeten Advanced
Metallurgical Group (AMG) hat
­
­Schibu – vom SPIEGEL einst als »gna-
denloser Selbstdarsteller« charakte-
risiert – vor sieben Jahren begonnen,
Dirk Harbecke ist einen Schritt schen Autoindustrie spätestens 2040 Geologe Möbius in Lithi­um­erze in Brasilien abzubauen.
weiter. Ende März steht der Gründer »das Risiko einer unzureichenden der argentinischen Noch wird der Rohstoff in China
Provinz Salta: Sechs
des deutsch-kanadischen Start-ups Rohstoffversorgung« bestehe. Das Millionen Euro für die
weiterverarbeitet, derzeit baut die
Rock Tech Lithium im Trenchcoat auf klingt weit weg – aber um Rohstoff- ersten Bohrungen AMG eine Anlage in Brasilien, um
einer Baustelle im brandenburgischen wege und Lieferketten umzustellen, sich von China unabhängig zu ma-
Guben. Hier soll ab 2026 Spodumen ist das verdammt wenig Zeit. chen und direkt von Südamerika nach
– lithiumhaltiges Gestein – zu Li- Fast alle Hersteller bemühen sich Deutschland liefern zu können.
thiumhydroxid verarbeitet und in gerade, für die wichtigsten Rohstoffe Wie Harbecke will auch Schimmel-
weiteren Schritten verfeinert werden, mehrere Quellen zu sichern und Kon- busch einen möglichst großen Teil der
um schließlich in Autobatterien zum trolle über die Verarbeitung zu bekom- Wertschöpfungskette abdecken. Mit
Einsatz zu kommen. Den Rohstoff men. »Deutschlands Rohstoffabhän- der AMG erwarb er 25 Prozent an der
bezieht er unter anderem aus einer gigkeit hat im Mittelstand Spuren hin- Firma Zinnwald Lithium, um im Erz-
eigenen Mine in Kanada. terlassen und die Vorstandsetagen der gebirge Lithium abzubauen. In Frank-
Geldgeber für die Anlage sind Großkonzerne erreicht. Es wird Zeit, furt, dem einstigen Sitz der Metallge-
unter anderem die Milliardäre Peter dass sich was dreht«, sagt Möbius. sellschaft, betreibt er ein Innovations-
Thiel und Christian Angermayer, BMW hatte lange auf den chine­ labor, um an Batteriematerialien zu
­Investoren also, die schon ein paar- sischen Konzern Ganfeng gesetzt, der forschen, und hat über die Jahre et­
mal das richtige Gespür für das Lithium in Australien abbaut. 2021 liche ehemalige MG-Leute mit Know-
­nächste große Ding hatten. Thiel ist kam das US-Unternehmen Livent als how in der Lithiumverarbeitung
ebenso umtriebig wie umstritten. Der Lieferant hinzu, das den Rohstoff in ­angeheuert. Nicht der Rohstoff sei
Deutschamerikaner gründete einst Argentinien aus dem Boden holt. knapp, sondern die Expertise in der
PayPal und gilt als glühender Anhän- Mittlerweile bezieht BMW Li- Verarbeitung, sagt Schimmelbusch.
ger von Donald Trump. thium von vier verschiedenen Roh- Ende des Jahres geht in Bitterfeld-Wol-
Harbecke war schon Börsenjour- stoffproduzenten und stellt es seinen fen eine Anlage in Betrieb, um das
nalist, Chef einer afrikanischen Ban- Batteriezelllieferanten zur Verfügung, Material aus Brasilien zu Lithium­
kengruppe und Pharmamanager. Seit im nächsten Jahr sollen es fünf Lie­ hydroxit zu veredeln. Und Schimmel-
2015 aber arbeitet er auf das Ziel hin, feranten sein. Langfristig will BMW busch sucht Partner, um in der süd-
eine Lithiumkette von der Grube bis 90 Prozent des Lithiumbedarfs aus amerikanischen Salzseenlandschaft
zur Autobatterie aufzubauen. Als ers- recycelten Batterien gewinnen – doch weitere Ressourcen zu heben.
ter Großkunde sicherte sich Merce- der Weg dahin ist weit. Der Lithiumhype ist indes nicht
des-Benz rund 40 Prozent der erhoff- VW hat angekündigt, sich direkt an frei von Risiken. Der Abbau in
ten Lithiumhydroxid-Produktion aus Minen zu beteiligen, bisher aber keine Deutschland, ob im Oberrheingraben
Guben. Namen genannt. Den Abbau im süd- oder im Erzgebirge, stößt bei Um-
Am Beispiel Lithium ist gut zu se- amerikanischen Lithium-Dreieck sieht weltschützern auf Widerstand; ob
hen, wie mühselig es im Detail wird, der Konzern wegen des hohen Wasser- und wie profitabel sich all die Minen
wenn geopolitische Forderungen verbrauchs skeptisch, VW will den betreiben lassen, ist unsicher. In dem
unternehmerisch umgesetzt werden Batterierohstoff stattdessen etwa im
»In naher Maße, wie das Batterierecycling Fort-
sollen. Da trifft dann etwas Glücks- Oberrheingraben beschaffen. Zukunft wird schritte macht, könnte sich die Nach-
rittertum auf Konzernstrategie. Auch Heinz Schimmelbusch setzt Lithium frage abschwächen, außerdem for-
Vor allem die Autokonzerne laufen auf den hohen Bedarf der deutschen schen Unternehmen an Batterien, die
auf einen gefährlichen Engpass zu, Industrie. Der Mann, der einst als Chef wichtiger als weniger an Lithium benötigen.
wenn die Prognosen des Experten- des untergegangenen Rohstoffhänd- Öl und Gas.« Womöglich ist das Geschäft, wenn
kreises Transformation der Automo- lers Metallgesellschaft (MG) Furore Ursula von der
es endlich aufgebaut ist, schon wieder
bilwirtschaft (ETA) zutreffen. Die machte, feiert im aktuellen Rohstoff- Leyen, EU-Kommis- weg.
Fachleute warnen, dass in der deut- hype als Lithiumhändler ein öffent­ sionspräsidentin Tim Bartz, Martin Hesse n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 69


WIRTSCHAFT

fänden sich in Konkurrenz zueinan-


der. Jeder der beiden war bedacht,
den anderen ausreichend zu Wort
kommen zu lassen, als folgten sie

Gütersloher Blut
einer Choreografie. Im Juni, beim
Bertelsmann-Sommerfest in Berlin,
standen sie wenige Meter voneinan-
der entfernt im Foyer. Begrüßte einer
von ihnen einen ihm wichtigen Be-
KARRIEREN Carsten Coesfeld wird als nächster Bertelsmann-Boss sucher, bat er den anderen hinzu:
Schau mal, Herr Soundso ist auch da!
gehandelt. Er wäre der erste Firmenchef aus der Familie seit Als fleißig galten die Coesfelds
seinem Großvater Reinhard Mohn. Nun rückt er in den Vorstand auf. schon zu Schulzeiten, ihr Abitur be-
standen beide mit 1,0. Sie besuchten
Privatuniversitäten, Thomas war

A
ls ihm in Aussicht gestellt wur- auch eine indirekte Beteiligung am ­Un­ternehmensberater bei McKinsey,
de, dass er es eines Tages bei In festen SPIEGEL gehört. Carsten arbeitete für die Investment-
Bertelsmann zu etwas bringen Händen Coesfeld, 36, kam 2011 zu Bertels- bank Goldman Sachs. Bei Bertels-
würde, war Carsten Coesfeld gerade mann, als Assistent des damaligen mann wussten anfangs viele nichts
mal 14 Jahre alt. Sein Großvater, Fir- Aktionärsstruktur von Vorstandsvorsitzenden Hartmut über die Abstammung der Brüder.
menpatriarch Reinhard Mohn, und Bertelsmann ­Ostrowski. Später arbeitete er für die Selbst Insider, die den rasanten
dessen zweite Frau Liz hätten ihn Dienstleistungstochter Arvato und Aufstieg der Coesfelds kritisch sehen,
und seinen drei Jahre jüngeren Bru- Familie Mohn führte von London aus den konzern- bescheinigen ihnen Kompetenz und
der Thomas damals zur Seite genom- eigenen Buchverlag Dorling Kin­­ Leidenschaft fürs Unternehmen.
men und gefragt, »ob wir uns eine Stiftungen* dersley, 2022 wurde er Chef von Ber- ­Allerdings seien sie recht jung und
Laufbahn im Unternehmen vorstel- telsmann Investments, wo er 370 Be- hätten noch keine Krise managen
len können«. 19,1% Kapital 80,9% teiligungen verantwortet und sich um müssen. Ob sie einen Konzern mit
Coesfeld erzählte diese Anekdote neue Geschäftsfelder kümmert. 83.000 Mitarbeitern und einem Um-
vor zwei Jahren im SPIEGEL und ver- Durch seinen Aufstieg in den Vor- satz von 20 Milliarden Euro steuern
blüffte damit Wegbegleiter und lang- stand enteilt Coesfeld seinem jünge- können?
Vorstand
jährige Manager des Gütersloher ren Bruder auf dem Weg nach oben. Bei Bertelsmann ist vieles ins Rut-
Bertelsmann
­Medienkonzerns. Schließlich gehört Manage-
Thomas Coesfeld leitet seit Juli die schen geraten: CEO Rabe hat den
er dem Familienstamm aus Reinhard ment SE Bertelsmann-Musiksparte BMG. Sein Konzern saniert, erlitt zuletzt aber
Mohns erster Ehe an – und das Ver- Vorgänger Hartwig Masuch schied mehrere Schlappen. Geplante Fusio-
Geschäfts-
hältnis der beiden Zweige galt nie als führung früher als geplant aus dem Amt, er nen scheiterten aus kartellrechtlichen
sonderlich innig. In seinen Memoiren hätte lieber die BMG-Managerin Do- Gründen, darunter die der Bertels-
erwähnt Reinhard seine erste Familie Bertelsmann minique Casimir als seine Nachfolge- mann-Tochter Penguin Random
nur knapp, in der Autobiografie von SE & Co. KGaA rin gesehen, heißt es intern. House mit dem New Yorker Verlag
Liz kommt sie gar nicht vor. Patriarch Auch Thomas Coesfeld werden Simon & Schuster. Die Übernahme
Mohn hatte die beiden Beziehungen, Ambitionen auf das Rabe-Erbe nach- des Zeitschriftenverlags Gruner + Jahr
aus der je drei Kinder hervorgegangen 100% gesagt. Die Frage stelle sich aktuell durch RTL, beides Bertelsmann-Fir-
sind, über viele Jahre parallel geführt. Stimmrechtskontrolle nicht, pflegt er dazu zu sagen. Aber men, entpuppte sich als Zwangsehe,
Doch offenbar ist Gütersloher Blut »dass es Träume geben darf, ist klar«. in der wenig zusammenpasst. Die
Bertelsmann
selbst dann dicker als Wasser, wenn Verwaltungs- Sitzt man den Coesfelds gegen- RTL-Gruppe wies jüngst ein Umsatz-
es nicht das eigene ist, sondern nur gesellschaft (BVG) über, wirken sie nicht wie Manager, minus von rund sieben Prozent aus.
das des 2009 verstorbenen Reinhard. * Bertelsmann Stiftung,
sondern wie zwei Start-up-Gründer. Das Ziel ist klar: Bertelsmann soll
Die Coesfelds machen seit einigen Reinhard Mohn Stiftung, Als der SPIEGEL sie im Mai in Güters- zurück in die Hand der Familie. »Das
BVG-Familienstiftung,
Jahren Karriere im Konzern. Liz BVG-Stiftung loh traf, vermieden sie alles, was den sichert maximale Loyalität«, sagt ein
Mohn, 82, gilt als Förderin, ebenso S Quelle: Unternehmen Eindruck erwecken könnte, sie be- Insider. »Dafür würde man sogar bei


ihr Sohn Christoph Mohn, Familien- der Qualifikation Abstriche machen.«


sprecher und Vorsitzender des Ber- Mohn-Witwe Liz, Auch die Coesfelds halten Anteile am
telsmann-Aufsichtsrats. Manager Carsten Unternehmen. »Es ist ihr eigenes
Nun hat das Gremium Carsten Coesfeld Geld, das hält das Ego im Zaum.«
Coesfeld in den Vorstand berufen. Ein Zerwürfnis wie mit Vorstands-
Zum 1. Januar wird dort für ihn ein chef Thomas Middelhoff, dem man
eigenes Ressort gezimmert: Invest- seinerzeit 25 Millionen Euro Abfin-
ments und Financial Solutions. Da- dung hinterherschmeißen musste,
mit wird zunehmend wahrschein­ möchte in Gütersloh keiner mehr
licher, dass er den Vorstandsvorsit- durchleiden. Ein Coesfeld an der
zenden Thomas Rabe beerben wird, ­Bertelsmann-Spitze hätte zudem
dessen Vertrag Ende 2026 ausläuft. symbolischen Wert, als Zeichen der
Coesfeld wäre der erste Firmenchef Aussöhnung der Familienstämme.
aus der Familie seit Opa Reinhard. Magdalene Mohn, Reinhards erste
Der hatte den 1835 gegründeten Ber- Frau, hat den Ruf ihres Enkels in
telsmann-Verlag nach dem Zweiten den Vorstand nicht mehr mitbekom-
Weltkrieg zu einem internationalen men. Sie verstarb 2021, im Alter von
Ber telsmann

Buch-, Musik-, TV- und Zeitschrif- 98 Jahren.


tenimperium ausgebaut, zu dem Alexander Kühn, Anton Rainer n

70 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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WIRTSCHAFT

Ein Einkaufszentrum im 15. Bezirk ist


das Imperium von Lugner, dem womög-
lich berühmtesten 91-Jährigen Wiens.

»Es gibt Frauen, die mich


Als Bauunternehmer hat er sich über
die Jahrzehnte ein Vermögen aufgebaut,
bekannt wurde er als Opernballguru

unbedingt wollen«
und Star der österreichischen Klatsch-
presse, die er selbst mit immer neuen
Skandalen und ­Geschichten versorgt.
Er empfängt im dritten Stock, hier liegt
sein Büro mit Terrasse, wo er noch im-
SPIEGEL-GESPRÄCH Mit seiner Baufirma setzte sich Richard »Mörtel« Lugner mer täglich hinter dem Schreibtisch sitzt.
ein Denkmal, seine ständige Trashpräsenz beim Wiener Opernball SPIEGEL: Herr Lugner, erleben wir
brachte es zum Einsturz. Hier spricht er über sein Verhältnis zu Frauen gerade einen historischen Moment?
und warum er ihnen seine Karriere verdankt. Lugner: Wieso?
SPIEGEL: Sie sind Single.
Lugner: Ja, leider! Ich finde keine
neue passende Partnerin.
SPIEGEL: Sie sind jetzt 91 Jahre alt,
waren fünfmal verheiratet, so oft wie
Lothar Matthäus, und hatten über die
Jahre unzählige Liebschaften, an
denen die ganze Welt teilhaben muss-
te. Glaubt man da noch an die Liebe?
Lugner: Wenn es passt, natürlich.
Aber bei meinen Frauen ist es immer
irgendwie schiefgelaufen. Mit meiner
ersten war ich 17 Jahre lang verheira-
tet, habe zwei Söhne mit ihr, sie war
meine Jugendliebe. Dann hat sich der
Opec-Generalsekretär in sie verliebt
und ihr jeden Tag Rosen ins Büro ge-
schickt. »Sie ist so gut in Geografie«,
hat er gesagt, er wolle mit ihr eine
Weltreise machen. Kein Problem, hab
ich gesagt, man muss sich halt vorher
scheiden lassen.
SPIEGEL: Und die anderen?
Lugner: Mit der dritten war ich vier
Jahre verheiratet. Das ist deswegen
zu Ende gegangen, weil sie bei einer
Operation gestorben ist.
SPIEGEL: Wie kann man sich Richard
Lugner auf Partnerinnensuche vor-
stellen? Sind Sie jetzt auf Tinder?
Lugner: Auf was?
SPIEGEL: Auf Tinder, der Dating-App.
Lugner: Naa, das mach ich nicht, das
kenn ich nicht einmal. Es gibt Frauen,
die mich unbedingt wollen, denen ist
das Alter wuascht. Wenn die Zeitun-
gen schreiben, dass ich eine Freundin
suche, dann bekomme ich immer Brie-
fe. Ich frage dann die österreichische
Star-Astrologin Gerda Rogers – und
was die sagt, darauf verlasse ich mich.
SPIEGEL: Dann müssten Sie aber lang-
Helena Lea Manhar tsberger / DER SPIEGEL

sam mal Schadensersatz fordern, so


oft wie die Sterne falschlagen. Warum
ist es Ihnen eigentlich so wichtig,
schöne Frauen um sich zu haben?
Lugner: Ich bin Sternzeichen Waage,
und Waagen lieben die schönen Din-
ge des Lebens.

Das Gespräch führten die Redakteurin Nora


Unternehmer Lugner: »Ich habe immer einen Vaterersatz gesucht« Gantenbrink und der Redakteur Anton Rainer.

72 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Im Zweifel entscheiden Sie sich eher


für schön als für klug?
Lugner: Ich entscheide mich für das, was die
Gerda Rogers sagt.
SPIEGEL: Sie haben Ihren Partnerinnen immer
Tiernamen gegeben: Mausi und Hasi, Täub­
chen und Bienchen. Ein großer Feminist wer­
den Sie nicht mehr, oder?
Lugner: Nein. Feminismus ist nicht meins,
aber viele Frauen sind ja auch keine Feminis­
tinnen. Der Mann soll Kavalier sein und Frau­
en nicht unterdrücken. Aber nehmen Sie die

Helena Lea Manhar tsberger / DER SPIEGEL


Ungleichheit in der Bezahlung: Ich habe eine
Mitarbeiterin, deren Tochter nur Verkäuferin
oder Friseurin werden und schön gekleidet in
die Arbeit kommen will. Warum wird sie nicht
Elektrikerin, wo man mehr verdient? Da muss
man in der Arbeitskluft rumrennen und kann
nicht im Minirockerl ins Geschäft, das wollen
die meistens nicht.
SPIEGEL: Ihre Vergangenheit beweist doch das
Gegenteil. Da haben immer die Frauen die Lugner-Karikatur im Besprechungszimmer: »Als Trottel werde ich nie dargestellt«
großen Geschäftsentscheidungen getroffen.
Ihre Mutter schrieb Sie gegen Ihren Willen mir, ich solle um 18 Uhr beim Postamt sein. Auftritte im Trashfernsehen und die Star­gäste
für ein Hochbaustudium ein, eine Mitarbei­ Ich bin hingegangen und bekam einen Anruf beim Opernball. Woran liegt das?
terin überzeugte Sie vom Konzept Einkaufs­ von meinem Vater. Er wollte sich von mir Lugner: Ich weiß es nicht, aber mein Beliebt­
zentrum … verabschieden. heitsgrad ist relativ hoch. Wenn ich bei den
Lugner: … ich hatte davon überhaupt keine SPIEGEL: Was erinnern Sie noch? Mörbischer Seefestspielen oder beim Villa­
Ahnung, wir Männer sind ja nicht so versiert Lugner: Ich weiß nur noch, dass ich nach dem cher Fasching auftrete, bekomme ich immer
mit dem Shoppen. Krieg jeden Tag Radio gehört habe, um zu den meisten Beifall. Da werden der Bundes­
SPIEGEL: Und Ihre erste Frau hat Sie dazu hören, wer nach der Gefangenschaft wieder präsident begrüßt und die Minister, aber wenn
überredet, eine Baufirma zu gründen. zu Hause ankommt. Sein Name war nie dabei. am Schluss der Lugner erwähnt wird, gibt es
Lugner: Der Chef, den ich damals hatte, er­ SPIEGEL: Wann haben Sie von seinem Tod doppelt so viel Applaus.
klärte mir in erster Linie, wie man Briefe erfahren? SPIEGEL: Sie genießen es, wenn Leute Ihret­
schreibt. Bei Kunden schrieb man »Vorzüg­ Lugner: Zwei, drei Frauen standen mit meiner wegen durchdrehen?
liche Hochachtung« und bei Behörden nur Mutter im Kontakt, die haben davon erzählt. Lugner: Anstrengend wird es, wenn sie Selfies
»Hochachtungsvoll«. Den Rest des Tages saß Ich wollte aber nie wissen, wie er zugrunde machen wollen. Beim Oktoberfest in Mün­
er im Kaffeehaus, während ich aktiv in der Bau­ gegangen ist, deswegen bin ich vor diesen chen habe ich in zwei Stunden 400 Fotos ge­
firma war. Meine Frau, die bei einem J­ uwelier Gesprächen geflüchtet. Vor ein paar Jahren macht. Das ist ned lustig, das ist lästig.
angestellt war, sagte dann: »Komm, wir machen habe ich dann Briefe gefunden, die meine SPIEGEL: Arbeiten Sie noch gern?
uns selbstständig.« Sie ist zu den Firmen ge­ Mutter vor ihrem Tod bei mir zu Hause in Lugner: Das Hirn darf nicht rosten, das ist das
gangen, und ich lief als Techniker hinterher. einem Kuvert versteckt hatte. Darin stand, Wichtigste. Ich treffe noch immer alle letzten
SPIEGEL: Sie verdanken Ihre Karriere den dass er in Odessa gefangen genommen wor­ Entscheidungen selbst. Es geht ja nicht an­
Frauen. den war und drei Tage lang ohne Schuhe, ders: Einer meiner Söhne hat meine Baufirma
Lugner: Ja, meine erste Frau war sehr stark in ohne Essen und Trinken bis hinter die Front ruiniert, eine Tochter wohnt in Amerika,
der Firma involviert. Sie war auch die Ein­ marschieren musste. Die letzte Nachricht war, ­beide scheiden also aus. Die anderen werden
zige, an die ich mich je herangearbeitet habe. dass er sich von seinen Kollegen verabschie­ mir nachfolgen. Ich bin halt ein Patriarch.
Ich war verliebt, mich hat keine andere in­ dete, als er ins Spital kam. SPIEGEL: Was heißt das, ein Patriarch sein?
teressiert. SPIEGEL: Wie haben Sie sich gefühlt beim Le­ Lugner: Das heißt: Ich habe das letzte Wort.
SPIEGEL: Haben Sie ihr Rosen geschickt? sen dieser Briefe? SPIEGEL: Das Bauunternehmen war Ihr Le­
Lugner: Nein, dafür hatte ich kein Geld, und Lugner: Ich war als Kind sehr vaterlastig. Mei­ benswerk. Sind Sie Ihrem Sohn noch böse?
ich war immer sehr schüchtern. Sie hat sich ne Mutter und ihre Schwester haben sich gut Lugner: Ja. Ich bin ja erst später draufgekom­
dann irgendwann selbst Theaterkarten ge­ um mich gekümmert, aber als Junge sehnt men, wie schlimm das war, ich hatte das nicht
kauft, und wir sind stattdessen zusammen man sich nach einem Vater. In meinen ersten vermutet. Die Zeitungen schrieben vom dro­
ausgegangen. Manchmal sind wir zum Tanzen Chefs, als ich mit ihnen im Büro saß oder henden Konkurs, das war keine schöne Zeit.
in den Volksgarten und haben uns Gin Fizz durchs Land gefahren bin, habe ich immer SPIEGEL: Reden Sie noch mit ihm?
bestellt. Ein Glas, das dann bis Mitternacht einen Vaterersatz gesucht. Ich wünschte mir Lugner: Wenig. Er hat ein Büro hier, aber wir
halten musste, ein zweites konnte ich mir ein männliches Vorbild. Die Chefs wussten haben ein sehr gespanntes Verhältnis. Mein
nicht leisten. Mein Vater war Rechtsanwalt, natürlich nichts. Sohn hat meine Firma in Grund und Boden
aber nach dem Krieg war unser Geld weg. SPIEGEL: Sie wurden als Bauunternehmer reich. gewirtschaftet.
SPIEGEL: Ihr Vater ist als Soldat im Zweiten Lugner: Von 1000 Baufirmen in Österreich SPIEGEL: Ihre Tochter macht Ihnen mehr
Weltkrieg gefallen. Wie alt waren Sie, als Sie war ich die Nummer 25, wenn man nach der ­Freude?
das letzte Mal mit ihm gesprochen haben? Anzahl der Beschäftigten geht. Wir haben Lugner: Meine Tochter ist die Chefin vom
Lugner: Zehn Jahre. Ich wohnte damals bei wirklich nur tolle Bauten durchgeführt, ich Kino in der Lugner City. Das hat bis heute
meiner Tante im Sudetenland im heutigen habe die erste Wiener Moschee gebaut, das keinen Gewinn gemacht, weil viele Filme gar
Tschechien, wo das Haus von meinem Ur­ war mein großer Sprung. nicht mehr ins Kino kommen. Aber sie kennt
großvater stand, ein Telefon gab es nicht. Also SPIEGEL: Trotzdem spricht die ganze Welt sich in der Branche aus. Die Gäste beim
kam eines Tages der Briefträger und sagte heute fast nur über Ihre Freundinnen, Ihre Opernball sucht jetzt auch sie aus, weil sie die

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 73


WIRTSCHAFT

Hollywoodstars besser kennt. Irgendwann 1 die Frauen drücken oft den Busen an mich –
kann sie den Ballbesuch vielleicht statt meiner damit muss ich leben.
übernehmen. Sie heißt ja auch Lugner. SPIEGEL: Sie sagen ständig, dass Sie angeblich
SPIEGEL: Gibt es einen Trick, wie man Holly- schüchtern seien. Und dann lassen Sie keine
woodstars gewinnt? Gelegenheit für eine große Show aus.
Lugner: Mit Geld. Jane Fonda war bisher die Lugner: Da weiß ich ja, was ich tun muss.
Teuerste, unüblich teuer. ­Nervös werde ich, wenn ich mit Leuten reden
SPIEGEL: Sie ist große Umweltschützerin, die muss. Die Claudia Cardinale zum Beispiel hat
sich kritisch über die Mineralölsponsoren des sich sehr für mich interessiert. Am Tag vor
Opernballs geäußert hat. Das störte Sie nicht? dem Opernball saßen wir in ihrem Hotel und
Lugner: Ich akzeptiere jede Meinung, und haben ungarische Weisen gespielt, das hat ihr
­jeder darf sie bei mir frei äußern. Was mich gefallen. Sie hat mich dann eingeladen, zu ihr
störte, war, dass sie sich in der Loge nicht für zu kommen, sie wollte mich wiedersehen. Ich
die Fotografen umdrehen wollte. habe es nie gemacht.
SPIEGEL: Haben Sie mal überlegt die Klima- SPIEGEL: Wer war Ihr Lieblingsgast?
schützerin Greta Thunberg auf den Opernball Lugner: Sophia Loren. Heute ist sie gesund-
einzuladen? heitlich leider nicht mehr auf der Höhe.
Lugner: Naa, des will i ned. Es kommen doch SPIEGEL: Kümmern Sie sich jetzt schon um

IMAGO
keine 500 Leute, um ein Autogramm von der den nächsten Ball?
Thunberg zu bekommen. Lugner: Im Oktober haben wir mit der Suche
SPIEGEL: Doch, bestimmt. Nur eben eine an- 2 angefangen. Im letzten Jahr hat uns die Agen-
dere Klientel. tur über den Tisch gezogen, deswegen ma-
Lugner: Das ist nicht meins, wir suchen in Hol- chen wir es jetzt allein.
lywood aus. SPIEGEL: Wenn Sie im Fernsehen auftreten,
SPIEGEL: Sie wollen immer die großen Namen, könnte man Sie schnell für einen Trottel hal-
dabei haben die Ihnen nur Probleme gemacht. ten, den man leicht um sein Geld bringen
Fonda wollte nicht mit Ihnen tanzen, und kann. Stört Sie das?
Reality-TV-Größe Kim Kardashian hat sich Lugner: Als Trottel werde ich nie dargestellt.
nach einem Blackfacing-Skandal öffentlich SPIEGEL: Ist es Ihnen völlig egal, was die Leu-
über den Abend beschwert. te von Ihnen denken?
Lugner: Die hat eigentlich wenig für ihr Geld Lugner: Ich schaue mir das Internet nicht an.
gemacht. Ihr Security-Mann hat gesagt, dass Zu mir sind alle freundlich, und das, was über
Andy Knoth / babiradpicture / abp
sie das Programm nur einhält, wenn man ihm mich geschrieben wird, lese ich nicht. Sonst
noch mal 20.000 Euro bezahlt. Am Flughafen müsste ich wahrscheinlich Trübsal blasen.
hieß es, man dürfe sie erst fotografieren und SPIEGEL: Kurz vor Ihrem Geburtstag hatten
filmen, wenn sie ihr Kind weggibt, sie hatte Sie eine Lungenentzündung, vor Ihrem 90.
es dann einfach die ganze Zeit bei sich. Beim waren Sie auch krank. Machen Sie sich Sorgen
Opernball wurde sie von einem schwarz an- um Ihre Gesundheit?
gemalten Moderator beleidigend angeredet, Lugner: Meine Herzspezialistin sagt, ich hät-
und dann war sie weg. te noch etliche Jahre.
SPIEGEL: Dass das rassistisch ist, sehen Sie
aber schon ein? »Ich bin zu allen freundlich, SPIEGEL: Was für einen Tod wünschen Sie sich?
Lugner: Einen, der schnell geht.
Lugner: Ich sehe das ein, weil ich kein Rassist weil alle meine SPIEGEL: Im Büro oder in der Loge?
bin.
SPIEGEL: Viele ältere Männer sagen, sie ver-
Kunden sein ­könnten.« Lugner: Weder noch. Aber wenn es mich nim-
mer gibt, ist meine Partnerin sehr gut finan-
stünden die Welt nicht mehr. Gehören Sie ziell abgesichert. Die Lugner City gehört einer
dazu? 3 Stiftung, mein Privathaus einer anderen, und
Lugner: Na, na, ich verstehe die Welt schon, wer mit mir zusammengelebt hat bis zu mei-
ich bin halt konservativ. In ein paar Jahren nem Tod, der kriegt einiges davon.
werden wir so viele Schwarze haben, weil die SPIEGEL: Soll Ihre Tochter mal alles über­
Frauen in Afrika alle sechs Kinder bekommen nehmen?
und ihnen niemand die Pille gibt. Das ist Lugner: Meine Kinder müssen nicht machen,
schon ein Problem für die Zukunft. was ich mache. Ich habe gute Mitarbeiter in
SPIEGEL: Das ist doch arger Blödsinn, den Sie allen Bereichen, die den Laden schupfen, und
da reden. Eben noch waren Sie stolz auf die meine Tochter überwacht das dann.
erste Moschee, die sie gebaut haben. Als in SPIEGEL: Der SPIEGEL hat Sie einmal zu den
einer Klinik in der Lugner City Abtreibungen bekanntesten Österreichern gezählt, Sie ha-
angeboten wurden, hat der Salzburger Weih- ben widersprochen und den Rennfahrer Niki
Katja Haas / Agency People Image

bischof Sie exkommuniziert. Sie wirkten mal Lauda und Red-Bull-Milliardär Didi Mate-
wie ein sehr liberaler Mensch. schitz aufgezählt. Beide sind heute tot.
Lugner: Das bin ich auch. Ich bin zu allen Lugner: Ja, aber der Sohn vom Mateschitz ist
freundlich, weil alle meine Kunden sein könn- wenigstens tüchtig. Der Alte hat acht Milliar-
ten. In der Lugner City kaufen Serben, Kroa- den Dosen pro Jahr verkauft, sein Sohn ist
ten, Türken ein. Ich schätze sie als meine schon bei elf.
Kunden. SPIEGEL: Sie reden nicht gern über das Sterben.
SPIEGEL: Deswegen auch die Selfies? 1 | Patriarch Lugner beim 20. Jubiläum der Lugner Lugner: Ich befasse mich nicht damit.
Lugner: Ich mag diese Fotos meist nicht, aber City 2010 2 | Mit Star Fonda beim Opern­­ball SPIEGEL: Herr Lugner, wir danken Ihnen für
ich will niemanden beleidigen. Ich lächle, und 3 | Mit Ex-Frau Christina und Tochter Jacqueline dieses Gespräch. n

74 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WIRTSCHAFT

S-Bahn darüber, in Berlin zumindest. Masturbator Voy der Lovehoney-Mar-


Selten, aber es passiert.« ke Arcwave könnte man auf den ers-
Nur: Bisher kommen die Spielzeu- ten Blick für ein Kameraobjektiv hal-
ge vor allem in der weiblichen Ziel- ten, den Verkaufszahlen aber hilft das

Das Männer-
gruppe gut an. Männer dagegen, vor kaum: Lovehoneys Womanizer-Pro-
allem heterosexuelle, sind nicht so dukte verkaufen sich um ein Vielfa-
richtig heiß auf die für sie erdachten ches besser als die Männer-Pendants.

problem der
Produkte. Hört man sich auf der ero­ Fleshlight beziffert seinen Jahres-
Fame um, scheint folgende Tendenz umsatz in Europa auf zuletzt 22 Mil-
realistisch: Auf ein verkauftes Män- lionen Dollar, Autoblow hat angeb-

Sextoy-Branche
ner-Toy kommen ungefähr vier für lich 600.000 Blowjob-Simulatoren
Frauen. Beim Umsatz, der weltweit verkauft, allerdings seit 2008. Satis-
im niedrigen zweistelligen Milliarden- fyer, gegründet 2016, behauptet, al-
bereich liegen dürfte, geht das Ver- lein sein erfolgreichster Vibrator, der
hältnis sogar eher in Richtung eins zu »Pro 2 Generation 2«, habe sich weit
SPIELZEUG Vibratoren für Frauen verkaufen zehn. Was vor allem daran liegt, dass über 25 Millionen Mal verkauft. Zur
es für Männer viele billige Einstiegs- Produktlinie Satisfyer for Men sagt
sich millionenfach. Sextoys für Männer gelten produkte gibt, teils nur für den Ein- die Marke lieber nichts.
noch immer als schmuddelig. Wie die Branche malgebrauch gedacht. Für die geringe Kauflust der Män-
den Sprung in den Mainstream schaffen will. Männer-Toys stecken offensicht- ner gibt es Gründe, beginnend beim
lich in der Nische fest, obwohl sich gesellschaftlichen Stigma. Vibratoren
Dutzende Firmen darauf spezialisiert sind allein durch Auftritte in Serien-

W
er sich wirklich für Sextoys haben. Zu den alteingesessenen zählt hits wie »Sex and the City« und
interessiert, fährt nicht nach Fleshlight aus den USA. Die Marke ­»Grace and Frankie« im Mainstream
Berlin, sondern nach Han- steht seit den Neunzigerjahren für angekommen, Männer-Toys dagegen
nover. Während sich auf der Erotik- Masturbatoren, also Sexprodukte sind eher ein Tabu und in der Pop-
messe Venus in der Hauptstadt Stars zum Einführen des Penis, die in ihrem kultur quasi nicht existent. Drogerien
der Szene nackt auf der Bühne rekeln Fall an klobige Taschenlampen er­ wie dm, Rossmann und Müller ver-
und vom Publikum begafft und ge- innern. Sie enthalten künstliche Va- kaufen Vibratoren, aber keine Mas-
filmt werden, geht es auf der weniger ginas, die dank Lizenzdeals die Intim- turbatoren. Und unter Männern hal-
­bekannten Fachmesse eroFame um bereiche realer Pornodarstellerinnen ten sich Vorurteile wie: Wer Sextoys
Produkte. Hersteller aus aller Welt nachahmen. Beworben werden die benutzt, bekommt keinen echten Sex.
präsentieren ihre Neuheiten – auf transportablen Körperöffnungen als »Man könnte sagen: Sextoys sind
­jugendfreie Art, an boutiqueartigen meistverkauftes Männer-Toy. der erste kulturelle Freiheits-Push,
Ständen. Die weltweit erfolgreiche Ein anderer Branchenpionier heißt bei dem die Frauen vorn liegen und
Marke Satisfyer aus Bielefeld etwa Autoblow. Dessen aktuelle »Blowjob- die Männer etwas nachzuholen ha-
zeigt ihre Stars aus Silikon in schi- Maschine« namens Autoblow AI+ ben«, meint Jan Greuter, Marketing-
cken Glaskästen. Ganz so, als würde wiegt rund 1,5 Kilogramm, benötigt manager bei Lovehoney. »Bei ande-
sie mit Juwelen handeln und nicht beim Benutzen Steckdosenstrom und ren Themen war es ja oft so, dass sich
mit günstigen Druckwellenvibrato- sieht aus wie ein Küchengerät. Ver- zuerst Männer Freiheiten genommen
ren im Look eines Pinguins oder mutlich ist das Teil des Problems. haben, die sich Frauen später erkämp-
einer Rakete. Zu sehen gibt es in Masturba- Noch technischer wird es bei Kii- fen mussten.«
Hannover außerdem Dinge wie Dil- toren, also roo: Die Firma aus Amsterdam setzt Eine mögliche Erklärung ist der
dos, Liebeskugeln und Prostata-Mas-
sagegeräte.
Sexprodukte auf automatisch arbeitende Geräte,
die sich mit Pornofilmen synchroni-
»orgasm gap«, von dem die Branche
spricht. Für manche Frauen lösen
Während der Pandemie boomte zum Einführen sieren lassen. Wem das zu wenig Mit- Sextoys ein Problem. Sie helfen ih-
das Geschäft mit Sextoys. Mehr Zeit des Penis, tendringefühl ist, der kann zusätzlich nen, zu Orgasmen zu kommen, die
zu Hause bedeutete für viele Men- eine Virtual-Reality-Brille aufziehen. sie beim Sex vielleicht nicht haben.
schen: mehr Zeit für sich und ihren sind oft groß Andere Hersteller erschaffen Spiel- Die meisten Männer indes kommen
Körper. Corona habe der Branche vor und sperrig. zeug, das weniger nerdy wirkt. Den auch ohne Hilfsmittel recht verläss-
allem online Wachstumsraten von 30, lich zum Höhepunkt, wie etwa eine
40 Prozent beschert, sagt Christoph US-Studie aus der Fachzeitschrift
Schobert, Produktmanager beim »Archives of Sexual Behavior« zeigt.
­Anbieter Lovehoney Group. Inzwi- Männer-Toys sind zudem oft groß
schen sei Schluss damit: Für 2023 und sperrig. Und dann sind da noch
rechnet er im deutschsprachigen die Preise: Hochwertigere Masturba-
Raum mit einem Umsatzplus von toren kosten schon mal 200 Euro.
höchstens 3 Prozent. Venus O’Hara, die sich selbst als
Schobert ist auf der eroFame im »Orgasmus-Aktivistin« bezeichnet
schwarzen Sakko mit weißem Hemd und auf YouTube Sextoys vorstellt,
und Einstecktuch unterwegs. Mit glaubt, dass sich neue Kunden eher
rund 400 Millionen Euro Jahresum- mit günstigen Produkten ködern las-
Franziska Gilli / DER SPIEGEL

satz und Marken wie Womanizer und sen. Ihr zufolge wächst aber auch das
We-Vibe zählt Lovehoney zu den Interesse an Spielzeugen für Paare.
weltgrößten Playern. Dank des Co- Vielleicht also erleben Männer-Toys
rona-Boosts seien Sextoys kein Ni- Fleshlight-Stand auf
irgendwann doch ihren Durchbruch –
schenphänomen mehr, sagt Schobert: der eroFame mit der Hilfe von Frauen.
»Jetzt sprechen die Leute auch in der Markus Böhm n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 75


AUSLAND
Navesh Chitrakar / REUTERS

Viel mehr als ihr Baby auf dem Rücken ist ihr nicht geblieben: Drei Tage nach dem schlimmsten Erdbeben in Nepal seit 2015 steht eine Frau vor den
Trümmern ihres Hauses im Distrikt Jajarkot, wo sich die Katastrophe ereignete. Wenig ist bisher bekannt über die Zahl der Toten oder das genaue
Ausmaß der Zerstörung, denn oft gelangen Rettungskräfte nur zu Fuß ins Hinterland des Himalaja. Das Beben ereignete sich kurz vor dem hinduis­
tischen Lichterfest Diwali, viele Familien waren unterwegs im Erdbebengebiet. Seismologen fordern nun den nachhaltigen Wiederaufbau der Dörfer.

Vor der neuen Zeit


kommt, um eine Koalition zu bilden. Diese Verschleppungs­
taktik wird allabendlich beim staatlichen Fernsehsender TVP
sichtbar. TVP hat sich in den vergangenen acht Jahren zu einem
Propagandainstrument der PiS entwickelt. Nach wie vor
ANALYSE Trotz Bremsmanövern der abgewählten
wird auf TVP über Tusk nicht wie über einen politischen Gegner
Rechten steht Polen vor einem Regierungswechsel. ­gesprochen, sondern wie über eine Art Inkarnation des Bösen.
Es wirkt, als traue TVP seinem Publikum den politischen Wech­
Nach acht Jahren an der Macht fällt Polens rechtsnationalis­ sel nur in verlangsamter Form zu.
tischer PiS-Partei das Abdanken schwer. Zwar haben die polni­ Allerdings könnte Tusk das aktuelle Theater der PiS sogar
schen Wähler am 15. Oktober mehrheitlich und mit einer nützen. Während die Rechten sich an die Macht klammern,
­Rekordwahlbeteiligung von 74 Prozent klar gegen eine weitere schmiedet er schon an seinem Regierungsbündnis. Noch vor Mit­
Amtszeit der PiS gestimmt. Doch Präsident Andrzej Duda be­ te November wollen sich Tusks Bürgerkoalition, die linke ­
auftragte am Montag den noch regierenden PiS-Mann Mateusz Lewica und das konservative Wahlbündnis Dritter Weg einigen.
Morawiecki, eine neue Regierung zu bilden. Dieses Vorhaben Zu dritt ist ihnen die nötige Mehrheit im Parlament sicher.
dürfte scheitern. Die PiS wurde bei der jüngsten Wahl zwar Und so ließ sich Tusk an dem Tag, als Morawiecki mit der aus­
stärkste Kraft, allerdings fehlen ihr im Parlament sowohl die ab­ sichtslosen Regierungsbildung beauftragt wurde, erneut feiern:
solute Mehrheit als auch ein Koalitionspartner. mit den Menschen, die in der Wahlnacht bis drei Uhr morgens
Dudas Entscheidung für Morawiecki bringt der PiS nur eines: für ihre Stimmabgabe Schlange gestanden hatten, Tusk strahlte.
Zeit. Die Partei um den erzkonservativen Jarosław Kaczyński Später, bei einem Auftritt in einer Breslauer Schule, sagte er:
scheint den Regierungswechsel so weit herauszögern zu wollen »Wenn nicht so viele Polen gewählt hätten, wäre die Demokratie
wie nur möglich. So dürfte es bis Mitte Dezember dauern, bis in Gefahr gewesen.« Die PiS könne nun zwar noch Zeit schin­
die jetzige Opposition um den Liberalen Donald Tusk zum Zuge den, aber, so Tusk, »sie sind weg«. Nadia Pantel

76 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Nukleare rung der Natur wird befürchtet,
Schäden für Landwirtschaft und
Renaissance Fischindustrie. Im Rathaus der
JAPAN Eine vergreisende Be­ Gemeinde Kaminoseki, auf einer
völkerung, sinkende Steuer­ Insel in der Seto-Inlandsee gele­

Laetitia Vancon / The New York Times / Redux / laif


einnahmen – ländliche Gemein­ gen, stehen die Telefone seit der
den müssen sich etwas einfallen Entscheidung für die Prüfung
lassen, um überlebensfähig des Zwischenlagers nicht mehr
zu bleiben. Dazu setzen sie aus­ still. »Aus ganz Japan erhalten
gerechnet auf Kernkraft – das wir Protestanrufe«, so ein Mit­
ist erstaunlich in einem erd­ arbeiter des Bürgermeisters.
bebengefährdeten Land, das bis Tatsächlich trägt also das über­
heute unter dem Eindruck des alterte Japan einen Konflikt aus,
Super-GAUs von Fukushima für den die Regierung in Tokio
steht. Weil ihnen die Regierung verantwortlich ist. 2022 verkün­
in Tokio üppige Subventionen dete Premier Fumio Ki­shida
verspricht und die Atomlobby eine nukleare Renaissance: Vie­ Musikfestivalbesucher in Kiew
mit Geldgeschenken lockt, er­ le der nach Fukushima stillge­

»Sie glauben an einen Sieg«


wägen immer mehr Gemein­ legten Reaktoren sollen wieder
den, auf ihrem Territorium nuk­ in Betrieb genommen und neue
leare Endlager zu errichten. Anlagen gebaut werden. Zu­
­Bislang willigten zwei Bürger­ künftig wird es also mehr Atom­
UKR AINE Der Soziologe Wolodymyr Paniotto über den
meister auf Hokkaido ein, ihre müll geben, nicht weniger. Und
Orte auf eine Eignung als End­ in den Reaktorstandorten wird erstaunlichen Optimismus seiner Landsleute
lagerstandort prüfen zu lassen, befürchtet, auf dem radioakti­
⁣schon vorab kassieren sie dafür ven Abfall sitzen zu bleiben. Paniotto, 76, ist SPIEGEL: Hat der Krieg die
A .-D. Boy / DER SPIEGEL

Hunderttausende Euro. Da­ Die Sorge ist berechtigt, weiter­ Meinungsforscher ­Ukraine geeint?
gegen regt sich nun der Protest hin ist der Bau eines nationalen und Präsident Paniotto: Ja, das Land ist so
der Bevölkerung, die Zerstö­ Endlagers nicht in Sicht. WW des Kiewer Inter- ­einig wie noch nie. Das Vertrau­
nationalen Insti- en in den Staat ist erheblich
tuts für Soziologie. ­gewachsen. Drei Viertel der
Das Dudelsack- geantwortet: »Selbstredend ­Ukrainer sind bereit, so lange
nicht, Eure Majestät«. Tags da­ SPIEGEL: Herr Paniotto, wie durchzuhalten wie nötig.
dekret der Queen rauf habe er seine Hintersassen geht es den Ukrainern nach Aber der Krieg hat auch neue
GROSSBRITANNIEN Von der in der Schatzkanzlei zur Rede 20 Monaten Krieg? Spannungen in der Gesell­
2022 verstorbenen Queen Eliza­ gestellt: »Gibt es eine Dudel­ Paniotto: Objektiv geht es vie­ schaft hervorgebracht.
beth II. heißt es, sie habe sich sackschule? Und sagt mir um len schlechter. 29 Prozent unse­ SPIEGEL: Welche Spannungen?
in den 70 Jahren auf dem bri­ Himmels willen nicht, dass wir rer Befragten gaben an, sie Paniotto: Die Bevölkerung zer­
tischen Thron praktisch nie di­ sie schließen!« Erst da erfuhr hätten ihre Arbeit verloren, fällt in neue Gruppen: Millio­
rekt ins politische Tagesgeschäft Osborne nach eigenen Angaben 68 Prozent, sie hätten Einkom­ nen sind ins Ausland geflohen,
eingemischt. Aber es gab wohl von der 1910 gegründeten Army men eingebüßt. Zwei Drittel weitere Millionen sind Binnen­
Ausnahmen – wenn es Herzens­ School of Bagpipe Music and sprachen von einer Verschlech­ flüchtlinge. Es gibt Vorurteile
angelegenheiten der Königin Highland Drumming. Und ja, terung ihrer psychischen Ge­ gegenüber ukrainischen Män­
­betraf. Über eine davon berich­ man plane ein paar Kürzungen, sundheit, ein Drittel hat Ange­ nern im Ausland. In sozialen
tete soeben George Osborne, sagte ein Untergebener. Os­ hörige oder Freunde verloren. Medien liest man: Die genießen
von 2010 bis 2016 Schatzkanz­ bornes Antwort: »Jetzt nicht SPIEGEL: Und subjektiv? ihr Leben, während wir hier
ler Ihrer Majestät, im Podcast mehr.« Das sei der einzige ihm Paniotto: Das ist das Erstaun­ kämpfen! Denn wir brauchen
»Political Currency«. Während bekannte Fall, in dem sich die liche: Trotz der objektiven Ver­ diese Leute. Demografen sagen
eines Staatsbanketts, so der Queen »direkt in die Politik ein­ schlechterung ihrer Situation düstere Szenarien voraus. Die
Konservative, habe Elizabeth II. gemischt« habe. Elizabeth’ hat sich das Glücksempfinden ukrainische Bevölkerung, vor
ihm einst zugeraunt: »Sie haben ­Vorliebe für schottische Sack­ kaum verändert. 70 Prozent ga­ dem Krieg fast 44 Millionen
nicht etwa vor, die Highland- pfeifenklänge war schon zu ben an, glücklich zu sein. Die Menschen, könnte auf 25 Mil­
Dudelsackschule der britischen ihren Lebzeiten legendär. Wann überwiegende Mehrheit ist viel lionen schrumpfen.
Armee zu schließen, oder?« immer sie in ihrem Highland- optimistischer als vor dem SPIEGEL: Wollen die Geflüchte­
Ohne zu wissen, wovon die Schloss Balmoral residierte, ließ Krieg. Sie glauben an den Sieg ten denn zurückkehren?
Queen sprach, habe er spontan sie sich jeden Morgen von und daran, dass die Ukraine in Paniotto: Auch das ist ein heik­
einem berockten Piper wecken. zehn Jahren ein wohlhabendes les Thema. Am Anfang des
Was für Bagpipe-Verächter Mitgliedsland der EU sein wird. Krieges sagten gut 80 Prozent,
eher nach vertontem Berufsver­ SPIEGEL: Wie erklären Sie die­ sie möchten zurückkehren. In­
kehr klang, war ganz offensicht­ ses Glücksempfinden? zwischen sind es nur noch
lich Musik in den Ohren der Paniotto: Im Angesicht der rea­ 50 Prozent. Sie finden Arbeit,
­Königin. Ihr beherzter Einsatz len Bedrohung, im totalitären ihre Kinder gehen zur Schule
Andrew Milligan / dpa

hat sich offenbar gelohnt: Die Russland zu leben, sind die und haben in Europa eine Per­
Dudelsackschule der Armee Menschen stolz darauf, Ukrai­ spektive. Nach dem Krieg wird
­bildet bis heute Sackpfeifer aus, ner zu sein. Wenn sie selbst es eine weitere Auswanderungs­
die ihren Kameraden in rund am Leben sind und sich in rela­ welle geben, wenn die Männer,
30 Regimentern den Marsch tiver Sicherheit befinden, die jetzt nicht ausreisen dürfen,
Queen Elizabeth II. 2018 blasen. JÖS reicht das schon zum Glück. ihren Familien folgen. BOY

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

Hass für ein Jahrhundert


NAHOST 75 Jahre sind seit der Nakba vergangen, jener teilweise gewaltsamen Vertreibung Hunderttausender
Araber aus Palästina. Die Ereignisse der vergangenen fünf Wochen wecken bei vielen in der Region ein
Trauma. Könnte es bei der Lösung des Konflikts helfen, diese Geschichte anzuerkennen? Von Bernhard Zand

I
n Amman, der Hauptstadt von Jordanien,
ist es fast sieben Uhr, wenn im Gaza­
streifen die Sonne aufgeht. Der Verkehr
schwillt an, es wird laut unten auf der Straße.
Seit mehr als vier Wochen findet Salah Hou­
rani hier vor Tagesanbruch keine Ruhe mehr.
Er liegt die ganze Nacht vor dem Fernseher
und starrt auf Bilder des Grauens aus dem
Gazastreifen: die israelischen Bombarde­
ments, die zivilen Opfer.
»Ich kann nicht schlafen«, sagt er, »solan­
ge Dunkelheit über Gaza liegt.«
Hourani ist im Gazastreifen zur Welt ge­
kommen, 1964, in einem Flüchtlingslager nahe
der Stelle, wo Israels Armee diese Woche eine
Schneise bis zur Küste schlug und den Norden
vom Süden trennte. Hourani hat als Kind den
Sechstagekrieg von 1967 erlebt, den jordani­
schen Bürgerkrieg von 1970 und den Jom-
Kippur-Krieg von 1973, später als junger Mann
die erste Intifada, den Palästinenseraufstand
der späten Achtzigerjahre – stets in Flücht­
lingslagern. Teils wuchs er in der Obhut seiner
Eltern auf, teils bei Freunden und Verwandten.
»Unsere Väter und Mütter gaben in Kriegs­
zeiten immer ein, zwei ihrer Kinder woanders
hin. Genau wie viele Eltern es jetzt in Gaza
tun – damit von jeder Familie jemand weiter­
lebt, falls alle anderen ums Leben kommen.«
Salah Hourani ist heute 59 Jahre alt, ein
eleganter, leicht untersetzter Herr, der ein
Hawaiihemd trägt und einen hellen Hut gegen
die Sonne. Er ist Regisseur, Schauspieler und
Intellektueller, ein gebildeter und empfind­
samer Mann, in dessen Leben sich sechs Jahr­
zehnte der Geschichte seines Volks spiegeln –
die Kriege und die Bürgerkriege, die Ver­
zweiflung, die Ängste und der Zorn der Pa­
lästinenser. Er hat sich entschieden, etwas
gegen diese Verzweiflung zu tun, die von
Generation zu Generation weitergetragene
Verbitterung, die immer noch mehr Ängste
schürt und den Zorn vermehrt.
Die Ereignisse des 7. Oktober und der fünf
Wochen, die auf den Terrorangriff der Hamas
folgten, sind traumatisch, für die Israelis wie
für die Palästinenser. Mehr als 1400 Israelis
wurden grausam ermordet, vor allem Zivilis­
ten, Frauen, Kinder, ein Pogrom, das bei vie­
len Erinnerungen an den Holocaust weckt.
Die Palästinenser dagegen fühlen sich in
diesen Tagen, in denen Hunderttausende in
den Süden des Gazastreifens geflohen sind,

78 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


AUSLAND

erinnert an ihr eigenes Trauma: die Nakba, jordanland leben? Was für die vielen Paläs­ was den Palästinensern nun bevorstehen
die Katastrophe, die im November 1947 be­ tinenser in Israel, in der arabischen, europäi­ könnte.
gann und in deren Folge rund 700.000 Paläs­ schen und amerikanischen Diaspora? Was Hourani hat insgesamt 25 Jahre lang in
tinenser aus ihren Dörfern im heutigen Israel bedeutet das für ihren Staat, den nur 138 Na­ Flüchtlingslagern gelebt, 16 davon im Bakaa-
flohen oder vertrieben wurden. tionen anerkennen? Wird der Nahostkonflikt Camp in Jordanien, das in einer Talmulde
Auf über 10.000 stieg die Zahl der Toten nun für Jahrzehnte unlösbar – oder ist dieser rund 20 Kilometer nördlich von Amman liegt.
in Gaza nach Angaben des von der Hamas Krieg ein Ereignis, das, entgegen aller Intui­ Es wurde 1968 errichtet und nahm vor allem
kontrollierten Gesundheitsministeriums An­ tion, den Zyklus der Gewalt durchbricht und Menschen auf, die nach Israels Einnahme und
fang der Woche. Dessen Zahlen lassen sich einen Weg in die Zukunft öffnet? Besetzung von Gaza, Ostjerusalem und dem
gegenwärtig nicht unabhängig überprüfen, Die Ereignisse der vergangenen fünf Wo­ Westjordanland im Sechstagekrieg über den
wurden aber in vergangenen Kriegen von der chen haben erneut bewiesen, wie wenig sich Jordan geflüchtet waren. »Anfangs gab es nur
Uno großteils bestätigt. in der Geschichte des Nahen Ostens vorher­ Zelte«, erzählt Hourani, »dann wurden Ba­
Was folgt aus dieser Katastrophe für die sagen lässt. Aber vielleicht lässt ein Blick auf racken gebaut, und als man merkte, dass die
Menschen, die im Gazastreifen und im West­ die Vergangenheit Rückschlüsse darauf zu, zu viel Asbest enthielten, Betonhäuser.« Hou­
rani erinnert sich noch an die Zeit vor dem
Aus Gaza-Stadt Flüchtende am 13. Oktober Asphalt und dem Beton, an den Staub in den
Straßen, der sich bei jedem Regen in einen
»Karneval aus Schlamm« verwandelte.
Auch deshalb zieht er nun als Besänftiger
und Mutmacher durch Flüchtlingscamps, Kin­
dergärten, Schulen und Jugendzentren. Er
macht Puppentheater, Rollenspiele, Work­
shops. »Es geht um Ermächtigung«, sagt er,
»um den Aufbau von Selbstbewusstsein, um
die Fähigkeit, seine Impulse zu kontrollieren.«
Es geht um »Deradikalisierung«, den Abbau
der Wut, die in den Lagern wächst.
Hourani betritt die Schule, die er einst
selbst besucht hat und in der er vor einem
knappen Jahr zuletzt aufgetreten ist. Auf dem
Schreibtisch der Direktorin steht eine hölzer­
ne Spendenbox, darauf das Wort »Gaza«.
Der Empfang ist kühl. Schon wieder ein
westlicher Journalist, der über die Hamas-
Attacke vom 7. Oktober sprechen wolle, sagt
die Direktorin. Über die dabei »angeblich«
geköpften Babys wolle man reden? Wer spre­
che über das, was gerade mit den Babys in
Gaza passiert? Wer spreche darüber, was
ihrem Vater passiert sei, der vor 13 Jahren im
Westjordanland bei einer israelischen Opera­
tion gegen einen vermeintlichen Militanten
so schwer verletzt wurde, dass er kurz darauf
starb? Die Direktorin ist keine Ausnahme.
Kaum einer will sich hier zu den bestialischen
Angriffen der Hamas äußern.
Inzwischen leben rund 130.000 Menschen
im Flüchtlingslager Bakaa, es ist so dicht be­
baut, dass es von oben betrachtet wie eine
einzige riesige Betonplatte aussieht. Bakaa
ist eines der größten Palästinenserlager, aber
nur eines von Dutzenden, die nach den
Flüchtlingswellen von 1948 und 1967 entstan­
den – in Gaza, im Westjordanland, in Jorda­
nien, Syrien und im Libanon. Ein Großteil
der Palästinenser ist bis heute staatenlos.
Mit ihren mittlerweile rund 1,5 Millionen
registrierten Flüchtlingen symbolisieren die­
se Lager die Versteinerung eines Konflikts,
dessen Ursprung bereits 50 Jahre zurücklag,
als Salah Hourani Ende der Sechzigerjahre
nach Bakaa kam. Wie so viele Konflikte des
20. und 21. Jahrhunderts hatte er im Ersten
Mohammed Saber / EPA

Weltkrieg begonnen.
Damals kontrollierte das Osmanische
Reich den Nahen Osten, und als sich abzeich­
nete, dass dieses Imperium den Krieg nicht
überstehen würde, überlegten die Kolonial­

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 79


AUSLAND

mächte England und Frankreich, wie sie sei- den »Teilungsplan«, der das Ende des briti-
ne arabischen Provinzen künftig gestalten schen Mandats und die Gründung zweier un-
­wollten. abhängiger Staaten vorsah, eines jüdischen
Im Sommer 1915 nahm der britische Hoch- und eines arabischen. Die jüdischen Vertreter
kommissar in Ägypten Fühlung mit dem Sche- stimmten dem Teilungsplan zu, die Araber
rifen der heiligen Stadt Mekka auf. In vagen lehnten ihn ab.
Worten sagte er ihm die Gründung eines gro- Am Tag danach begannen Gefechte zwi-
ßen arabischen Nationalstaats zu – vom Tau- schen arabischen und jüdischen Bewaffne-
rus bis ans Rote Meer und vom Mittelmeer ten – und es kam zur Nakba, zu Flucht und
bis an die iranische Grenze. Diese Aussicht Vertreibung von rund 700.000 Arabern aus
ermutigte die arabischen Würdenträger, sich ihren Dörfern und Städten in Palästina.
im Krieg an die Seite der Briten zu stellen: Viele Israelis betrachten die Ereignisse zwi-
Sie sahen eine Gelegenheit, das Joch der Os- schen November 1947 und Mai 1948 als eine

ullstein bild
manen abzuschütteln, die sie seit fast 400 Folge teils freiwilliger, teils von den Bürger-
Jahren beherrscht und jede arabische Natio- kriegsgefechten bedingter Abwanderung –
nalbewegung brutal erstickt hatten. eine Verharmlosung der Geschichte, die in-
Fliehende Araber in Akko 1948
Gleichzeitig verhandelten die Briten mit zwischen auch von israelischen Historikern
Frankreich, das ebenfalls Anspruch auf Teile revidiert wurde.
der osmanisch-arabischen Provinzen erhob. Für die Palästinenser ist die Nakba das
In einem Geheimvertrag, den der britische größte Trauma ihres Volks – ein Ereignis, das
Diplomat Mark Sykes und sein französischer für viele von ihnen zum Kern ihrer Identität
Kollege François Georges-Picot aushandelten, gehört. Die Flüchtlingslager, die damals ent-
einigten sich London und Paris darauf, dass standen, heißen bis heute, 75 Jahre später, so;
die Regionen um Beirut, Damaskus und Mos- ihre Bewohner sind registrierte Flüchtlinge
sul nach dem Krieg an Frankreich gehen soll- und werden deshalb vom Uno-Hilfswerk
ten, die osmanischen Provinzen Bagdad, Bas- UNWRA versorgt. Auch wenn aus den Lagern
ra und Palästina an Großbritannien. längst Städte geworden sind.
Ohne Araber und Franzosen zu informie- In vielen Häusern palästinensischer Flücht-
ren, ging London noch eine dritte Verpflich- linge und ihrer Nachfahren hängen heute

AP / ullstein bild
tung ein. Ende des 19. Jahrhunderts war die Schlüssel an der Wand, die an die Häuser auf
Bewegung des Zionismus entstanden, die heutigem israelischen Grund erinnern, aus
unter dem Eindruck zunehmender antijüdi- denen ihre Familien während der Nakba ge-
scher Pogrome in Russland und Osteuropa Israelische Panzer im Westjordanland 1967 flohen sind und in die sie eines Tages zurück-
auf die Gründung eines eigenen jüdisch ge- zukehren gedenken.
prägten Staats drängte: In Palästina, wo es Auch die Araber östlich des Jordan hatten Auch über der Eingangstür von Salah Hou-
seit Jahrtausenden eine kleine jüdische Prä- keinen gemeinsamen Nationalstaat erhalten. ranis Wohnung in Amman hängt so ein
senz gab, sollte das jüdische Volk sicher leben Aber im Irak, in Syrien und Transjordanien Schlüssel. »Ich stamme aus Ramla«, sagt er,
können. London sympathisierte mit dieser wurden drei Monarchien und im Libanon obwohl er selbst noch nie in der Stadt seiner
Bewegung, und im November 1917 sicherte 1926 eine Republik ausgerufen, die zumindest Vorfahren gewesen ist. »Aber dort stand unser
Außenminister Arthur Balfour der Zionisti- die Aussicht auf eine dauerhafte Staatlichkeit Haus. Einer meiner Großväter war Bauer, der
schen Föderation die »Errichtung einer na- versprachen. Über dem Mandat Palästina je- andere Imam der örtlichen Moschee.« Er wür-
tionalen Heimstätte für das jüdische Volk in doch hing die Drohung, dass seine Einwohner de alles für Jordanien tun, sagt er, denn jeder
Palästina« zu. es in Zukunft mit einem anderen Volk würden Palästinenser, der hier im Flüchtlingslager
Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und teilen müssen. aufgewachsen ist, könne heute jordanischer
die Balfour-Erklärung von 1917 sind die Grün- London ermutigte weiterhin die Einwan- Ministerpräsident werden. »Aber das will ich
dungsdokumente des modernen Nahen Os- derung der Zionisten, tat aber nichts, um die nicht. Ich werde meine palästinensische Iden-
tens. Auf sie gehen die fünf Staaten und der Herausbildung eines palästinensischen Staats tität nie aufgeben. Ich will zurück.«
ewige Nicht-Staat dieser Region zurück: Sy- zu fördern. Schon Anfang der Zwanzigerjah- Am 14. Mai 1948 erklärte Israel seine Un-
rien, der Irak, Libanon, Jordanien, Israel – re kam es zu blutigen Zusammenstößen, zu- abhängigkeit. Am Tag darauf setzten Israels
und Palästina. nächst zwischen arabischen und jüdischen arabische Nachbarstaaten ihre Armeen in
Für viele Araber, vor allem für Palästinen- Demonstranten und Milizen, im Lauf der Zeit Marsch, und aus einem Bürgerkrieg wurde
ser wie Salah Hourani, sind diese Papiere bis auch zwischen den beiden Kontrahenten und der erste große Nahostkrieg. Er endete rund
heute Dokumente eines epochalen Verrats. der britischen Mandatsmacht. Ende der Drei- zehn Monate später mit einer überraschenden
London, so stellte sich nach Kriegsende heraus, ßigerjahre waren bereits Tausende von Op- arabischen Niederlage. Israel kontrollierte nun
hatte nie ernsthaft erwogen, die Entstehung fern zu beklagen. das gesamte Territorium, das im Teilungsplan
eines großen arabischen Nationalstaats zuzu- Die Grundstruktur des Nahostkonflikts der Uno für den jüdischen Staat vorgesehen
lassen. Stattdessen wurde die Region nach stand damit fest, schon vor der Gründung war, sowie rund 60 Prozent des Gebiets, das
den Wünschen der Kolonialmächte aufgeteilt: Israels. für den arabischen Staat gedacht war. Der
1920 erklärte der kurz zuvor gegründete Völ- Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ­Gazastreifen fiel unter ägyptische, das West-
kerbund, der Vorläufer der Vereinten Natio- beruhigte sich die Lage in Palästina – während jordanland unter jordanische Kontrolle.
nen, Syrien und den Libanon zu einem fran- sich in Europa der tiefste Einschnitt in der Aus der Nakba der Palästinenser war eine
zösischen Mandat, Palästina und Transjorda- Geschichte dieses Konflikts abzeichnete. Das Katastrophe der arabischen Staaten gewor-
nien zu einem britischen. Hatten sich einzel- Grauen der Schoa, des millionenfachen Mor- den – und eine weitere sollte folgen: Nach
ne arabische Führer unter der Aussicht auf des an den europäischen Juden, verstärkte Jahren ägyptisch-israelischer Spannungen
den versprochenen Nationalstaat noch bereit weltweit die Bereitschaft, dem jüdischen Volk mobilisierte Ägyptens Staatschef Gamal Ab-
erklärt, jüdische Einwanderer im Heiligen eine »nationale Heimstätte« zu garantieren. del Nasser 1967 seine Armee. Israel reagierte
Land »herzlich willkommen« zu heißen, sank Am 29. November 1947 verabschiedete die mit einem massiven Präventivschlag und er-
diese Bereitschaft nach 1920 drastisch. Generalversammlung der Vereinten Nationen oberte binnen sechs Tagen nicht nur Ägyptens

80 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


AUSLAND

75 Jahre Konflikt
Seit Israels Gründung führt die ungeklärte Territorialfrage in der Region zu
Machtkämpfen und Gewalt. Ein Überblick über die Grenzen und Gebiete.

2000 bis
1948 1967 1995
bis 1967
Nach der Staats-
bis 1993
Nach dem Sechstage-
Oslo II
1995 gipfelt die
2023
Im Jahr 2000 scheitert
gründung Israels 1948 krieg Israels gegen Annäherung der Oslo-Friedens-
und dem folgenden Ägypten, Jordanien und zwischen Israel und prozess. Die israelische
arabisch-israelischen Syrien wird das vorher der Palästinenser- Regierung reagiert auf
Krieg steht der geteilte Jerusalem von vertretung PLO in der anhaltende Anschläge Akko Safed Golan
Gazastreifen unter Israel verwaltet und zur Unterzeichnung des von Palästinenser-
ägyptischer Verwaltung. Hauptstadt ausgerufen. Oslo-II-Abkommens, gruppen mit dem See
Das Westjordanland ist In den besetzten das den besetzten Bau von Sperranlagen Haifa Genezareth
Jordanien angegliedert. Gebieten entstehen Gebieten teilweise im Westjordanland
völkerrechtlich illegale Autonomie gewährt. und um den von Israel
israelische Siedlungen. Gazastreifen. annektierte
Gebiete
LIBANON Barriere 10 km
Grenzen des Südlibanon

Jordan
UN-Teilungs- zeitweise von geplante
plans von Israel besetzt Barriere
1947 ¹ Golan israelische Dschenin
SYRIEN
1981 von Israel Siedlungen
annektiert Westjordanland
Nablus
Nablus Tel
Tel Aviv Aviv-
Westjordanland Jaffa Westjordanland Westjordanland
Jaffa Ramallah Tel Aviv-
Gaza- Jerusalem Gaza- Jerusalem Gaza- Jerusalem Jaffa
streifen streifen streifen
Gaza- Hebron Ramallah
Stadt eer Jericho
lm

Beerscheba Aschdod
Jerusalem
tte
Mi

ISRAEL ISRAEL ISRAEL ISRAEL


Audscha al-Hafir Betlehem
Aschkelon
neutrale Zone Totes
JORDANIEN

Gaza- Meer
Stadt Hebron
Sinai Sinai
zwischen 1956 zwischen 1967 Gazastreifen
und 1957 von und 1982 von
Israel besetzt Israel besetzt Chan Junis
ÄGYPTEN Rafah
Eilat 50 km
Beerscheba
Im Gazastreifen
1948/49 von Israel seit 1967 von Israel von Israel kon- wurden 2005
besetzte Gebiete besetzte Gebiete trolliertes Gebiet alle israelischen
»Green Line«: UN-Friedens- palästinensische Siedlungen geräumt. 9 Mio.
Waffenstillstands- missionen Selbstverwaltung
linie von 1949 (Zone A) 8

palästinensische Negev
Zivilverwaltung, 7
israelische Sicherheits-
hoheit (Zone B) 6

Demografische Herausforderung 5
Die genaue Zahl der Menschen, die sich als Palästinenser oder
deren Nachfahren in der Diaspora verstehen, lässt sich kaum erfassen. 4
Bevölkerung in den palästinensische Geflüchtete
palästinensischen bei der Uno registriert 3
Gebieten²
im Libanon
2
in Syrien
0,95 Mio.³ in Jordanien 1
im Gazastreifen und
im Westjordanland Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten 0
1950 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020

¹ mit einem arabischen und einem jüdischen Staat; ² Uno-Schätzung auf Grundlage aktueller Grenzen; ³ einschließlich Geflüchteter
S Quellen: BPB, OCHA, UNHCR, Uno World Population Prospects 2022, Malkit Shoshan: »Altlas of the Conflict«, 2010, OpenStreetMap
±

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 81


AUSLAND

Sinai-Halbinsel und die syrischen Go- Warum drängt ihr nicht darauf, dass die Palästinenser faktisch regiert,
lanhöhen, sondern auch den Gaza- wir endlich wählen können? Weil wir ihren Sitz in Ramallah. Aber die Stadt
streifen und das Westjordanland. Nun einen Erdrutschsieg in dieser Wahl ist auch nach 30 Jahren ein Proviso-
kontrollierte Israel auch die beiden errungen hätten?« rium, von riesigen Baulücken im Zen-
letzten Gebiete, die ursprünglich den Umm Tamer wohnt in einem mo- trum, wo sich der Müll sammelt, über

Debbie Hill / UPI Photo / IMAGO


Palästinensern zugedacht waren. Be- dernen Hochhaus im Stadtteil Bira, das Arafat-Mausoleum bis zur Muka-
reits im Juli 1967 entstanden die ers- nicht weit davon hat die PLO ihren taa, dem Regierungssitz. »Alle unse-
ten israelischen Siedlungen auf den Sitz, die Palästinensische Befreiungs- re souveränen Hauptquartiere sind
Golanhöhen, im September weitere bewegung: Sie wurde 1964 gegründet, nur vorübergehend. Die Zeit wird
nahe Hebron im Westjordanland. jahrzehntelang von Jassir Arafat an- kommen, so Gott will, dass wir sie
Ramallah, die Verwaltungshaupt- geführt – und seit seinem Tod 2004 alle nach Jerusalem verlegen«, sagte
stadt der Palästinensischen Autono- von seinem mittlerweile 87-jährigen Mahmoud Abbas, als er die PLO-
miebehörde, liegt nur gut 70 Kilo- Nachfolger Abbas. Zentrale eröffnete. Das war 2010.
meter Luftlinie vom Grenzübergang Was hält Umm Tamer von dem, Selbst eine Frau, die den Weg der
nach Jordanien an der Scheich-Hus- was die säkulare PLO in fast 60 Jah- alten Führung lange mitgegangen ist,
sein-Brücke am Jordan entfernt. Aber ren für die Palästinenser erreicht hat? schaut heute illusionslos auf das Er-
die Fahrt das Westjordanland hinauf Erneut eine Gegenfrage, diesmal of- reichte zurück: Die Wissenschaftlerin

Bernhard Zand / DER SPIEGEL


dauert zweieinhalb Stunden. An vie- fen sarkastisch: »Ist diese Frage ernst Hanan Ashrawi, 77, war Mitglied des
len Kreuzungen hat Israels Armee gemeint?« Arafat, räumt sie ein, sei PLO-Exekutivrats, Abgeordnete des
Checkpoints errichtet und noch vor populär gewesen, ein Mann des Wider- palästinensischen Parlaments, Bil-
Monaten befahrbare Straßen abge- stands. »Aber was ist aus dieser PLO dungs- und Forschungsministerin. »Es
sperrt, oft fährt man im Zickzack an geworden? Was waren ihre Slogans? sind viele Fehler gemacht worden«,
Anhöhen vorbei, auf denen israeli- Frieden. Das Ende der Besatzung. sagt sie und meint die palästinensi-
sche Siedler oder ihre spielenden Kin- Das Recht auf Rückkehr.« Nichts von Wissenschaftlerin sche Seite. »Der Oslo-Prozess war
der zu sehen sind. dem sei erreicht worden. All die Ver- Ashrawi, Schau­ desaströs. Die jahrelange Verschlep-
Die Häuser von Ramallah scheinen handlungen – vergebens. spieler Hourani: pung der Wahlen, der Wunsch der
bereits zum Greifen nah. Eine Illu- »Wir hatten uns mit der Uno-Re- Von Generation Parteien, an der Macht zu bleiben –
zu Generation
sion: Statt die direkte Straße nehmen solution 242 abgefunden, die uns zu- weitergetragene das einzige Motiv war Selbsterhalt.«
zu können, muss eine weitere Sied- mindest die Grenzen vom 4. Juni Verbitterung Aber das sei nur eine Seite. Die
lung umfahren werden. Etwa 150 jü- 1967 garantieren sollte. Aber was hat- andere sei das, was Israel tue, die fort-
dische Siedlungen, die völkerrechtlich ten wir davon? Mehr Siedlungen, gesetzte Besatzung und die Ent-
illegal sind, gibt es inzwischen im mehr Festnahmen, mehr Landraub. menschlichung der Palästinenser. »Is-
Westjordanland. Rund 500.000 Isra­ Die Geschichte dieses Konflikts hat rael ist nie für die Nakba zur Verant-
elis leben dort, etwa fünf Prozent der nicht am 7. Oktober begonnen. Die wortung gezogen worden. Deshalb
Bevölkerung. Verhandlungen haben zu nichts ge- verheilt diese Wunde nicht, sondern
»Wo wart ihr eigentlich, als all die- führt. Uns bleibt nur Widerstand.« schwärt immer weiter.«
se Siedlungen gebaut wurden?«, fragt Mehr will auch sie nicht sagen über Schließlich erschwere auch der his-
Umm Tamer – Kopftuch, langer blau- die brutalen Terroranschläge der Ha- torisch belastete Blick der Europäer
er Umhang und Sneaker. Sie wartet mas auf israelische Zivilisten. eine Lösung: »Sie vermischen Israel
nicht auf eine Antwort, ihre Fragen Der Aufstieg der islamistischen mit den Opfern des Holocaust, ja sie
sind Anklagen. »Seht ihr nicht, wie Hamas hat viel mit dem Scheitern des decken Israel wegen ihres eigenen
viele unserer Bauern die Siedler allein Friedensprozesses zu tun: Das erste Schuldgefühls. Wir zahlen den Preis
in diesem Jahr erschossen haben? Ist Oslo-Abkommen wurde 1993 unter- dafür. Aber wir hatten mit dem Holo-
unser Blut nicht rot genug?« zeichnet. Es gestand den Palästinen- caust nichts zu tun. Das war eine
Umm Tamer bedeutet: Mutter von sern begrenzte Selbstverwaltung zu – europäische Tragödie.« Der Holo-
Tamer, ihren vollen Namen will die und erschien damals fälschlicherwei- caust sei als Faktum weltweit an-
Frau nicht nennen. Sie ist 36 Jahre alt, se wie der Anfang einer baldigen Flüchtlingslager erkannt; die Regeln der Entschädi-
Bakaa in Jordanien:
Lehrerin, Mutter von sechs Kindern Lösung des Konflikts. Ein Symbol der
gung der Opfer in den Rechtssyste-
und eine verhinderte Politikerin. Eine Seither hat nicht nur die PLO, son- Versteinerung des men mancher Staaten niedergelegt.
Politikerin der Hamas. Die Hamas, dern auch die Autonomiebehörde, die Konflikts »Wir können dagegen mit der Nakba
die mit ihrem militärischen Arm, den bis heute nicht abschließen. Niemand
Kassam-Brigaden, in Gaza 16 Jahre erkennt sie überhaupt an.«
lang ein autoritäres Regime aufgebaut Die Bilder aus Gaza, sagt die Wis-
hat, ist im Westjordanland mit ihrem senschaftlerin Ashrawi, seien für sie
politischen Arm ganz selbstverständ- so unerträglich, dass sie ihr physisch
lich präsent. 2021 wollte Umm Tamer zusetzten. Sie sei nachts aufgewacht
für die islamistische Liste »Al-Quds und habe sich übergeben. »Ich will,
mawedna« kandidieren, was man frei dass dieses Blutbad aufhört.«
Nicolas Maeterlinck / Belga News Agency / ddp

mit »Wir sehen uns in Jerusalem« Es ist schwer, in Ramallah derzeit


übersetzen könnte – sowohl Israelis jemanden zu finden, der im Verlauf
wie Palästinenser erheben Anspruch eines längeren Gesprächs nicht Zei-
auf die Heilige Stadt. chen tiefer Verstörung, ja Traumati-
Aber zu dieser Wahl kam es nicht. sierung zeigt. Über die Vergangenheit
Denn Palästinenserpräsident Mah- zu räsonieren ist mühsam genug; über
moud Abbas, der 2005 das letzte Mal die Gegenwart zu sprechen oft un-
gewählt wurde, hat sie abgesagt. Wie- möglich. Über die Zukunft nachzu-
der hat Umm Tamer eine Frage: »Re- denken wird als Zumutung empfun-
det ihr nicht immer von Demokratie? den. »Wir stehen unter Schock«, sagt

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AUSLAND

Hanan Ashrawi, »mit welchen künftigen Sze-


narien sollen wir uns jetzt beschäftigen?«
Ehab Bessaiso gehört wie die Christin
Ashrawi zur palästinensischen Bildungselite.
Er ist ein moderner Mann, im Nahen Osten so
zu Hause wie im Westen, der ein so geschliffe-
nes Arabisch wie entspanntes Englisch spricht.
Doch als die Rede auf Gaza kommt, greift er
sich einen Notizblock und beginnt, eine Land-
karte zu zeichnen: Seine Erregung drückt sich
schon in der Vehemenz der Striche aus, die sich
mehrere Seiten tief in das Notizbuch graben.
Die Landkarte zeigt den Gazastreifen. Bessai-
so hat unter anderem Architektur studiert, die
Proportionen seiner Karte stimmen genau.

Dan Kitwood / Getty Images


Bessaiso kam 1978 in Gaza-Stadt zur Welt,
nicht als Flüchtlingskind wie Salah Hourani,
sondern als Sohn einer dort alteingesessenen
Familie. Seine Kindheit, sagt er, wurde von
der ersten Intifada geprägt. Er erzählt von
Schießereien, nächtlichen Ausgangssperren,
wochenlangen Schulschließungen. Nach Arafat-Graffito auf Grenzmauer in Ramallah: Die Stadt ist auch nach 30 Jahren ein Provisorium
einem Studium an der palästinensischen Bir-
zeit-Universität bei Ramallah promovierte er »unerreichbar«. Allein der Versuch, ihre In- re Staaten an einer Lösung beteiligen: »Nie-
in Großbritannien. Er wurde Mitglied der sä- frastruktur zu zerstören, werde weitere Tau- mand wird sich bei klarem Verstand darauf
kularen Fatah-Partei, schließlich Regierungs- sende das Leben kosten. Um das zu verhin- einlassen, nach Gaza zu gehen, ohne zu wis-
sprecher und war dann vier Jahre lang Kultur- dern, müsse die Hamas bedingungslos alle sen, was das Endziel ist.«
minister der Autonomiebehörde. zivilen Geiseln freilassen. Das sei, nach den Noch sei Israel nicht bereit, dieses zu be-
»Von den heute 2,3 Millionen Einwohnern ersten befreiten Geiseln in der vorvergange- nennen. »Aber ob es die arabischen Staaten
des Gazastreifens stammen rund 1,5 Millio- nen Woche, »realistisch«. sind, die internationale Gemeinschaft oder die
nen von Familien ab, die 1948 vertrieben Der nächste Schritt sei eine grundsätzliche Palästinensische Autonomiebehörde: Das Ziel
wurden und jahrelang in Zelten lebten«, sagt Neuaufstellung der Autonomiebehörde. In kann letztlich nur das Ende der Besatzung des
Bessaiso und zeigt auf seine Karte. »Hat ir- ihrem heutigen Zustand sei sie kaum in der Westjordanlands und des Gazastreifens sein,
gendwer im Westen einen Begriff von der Lage, den wachsenden Zorn im Westjordan- also ein Abkommen mit Israel, das eine Wie-
Frustration, dem Zorn und der Angst, die sich land unter Kontrolle zu halten, geschweige derbelebung der Zweistaatenlösung erlaubt.«
dort aufgestaut haben?« Nun werde dieser denn Verantwortung in Gaza zu übernehmen. Er selbst, sagt Shikaki, glaube bis auf Wei-
Streifen noch mal halbiert, sagt er und zeich- Ziel müsse deshalb eine »sofortige und be- teres nicht an einen solchen Ausgang. »Das
net mit wütenden Strichen die Schneise ein, dingungslose Erweiterung der PLO« sein, die Einzige, was die Israelis zum Umdenken be-
die die israelische Armee jüngst gezogen hat. »alle großen Fraktionen und politischen Kräf- wegen könnte, ist, dass sie selbst keine Stra-
»Hunderttausende sind geflohen, auf diesen te einschließt, darunter auch die Hamas und tegie für den Tag nach der Wiedereinnahme
kleinen Fleck hier!« Dazu die Bomben, der den Islamischen Dschihad«. von Gaza haben. Wenn sie mit dem fortfah-
Mangel an Wasser, Strom und Lebensmitteln. Israel schließlich müsse verbindlich das ren, was sie jetzt tun, werden sie sich für sehr
»Irgendwann wird auch dieser Krieg en- Recht der Palästinenser auf einen souveränen lange Zeit dort niederlassen müssen. Und
den«, sagt Bessaiso. »Aber er wird Hass für Staat in den Gebieten anerkennen, die es seit niemand wird sie dort ersetzen wollen.«
ein Jahrhundert säen.« 1967 besetzt hält, und beide Seiten müssten Auch für Salah Hourani, den Mutmacher
In sozialen Netzwerken kursiert zurzeit ein »eisernes gegenseitiges Bekenntnis zur aus dem jordanischen Flüchtlingslager, ist klar,
ein Foto von schauderhaftem Heroismus. Es Gewaltlosigkeit« einhalten. Nur so lasse sich dass es für diesen Konflikt sonst nur eine an-
ist so professionell komponiert, dass der Ver- eine mehrjährige Phase des Übergangs ein- dere Aussicht gibt: mehr Hass, mehr Angst
dacht naheliegt, es sei mit künstlicher Intelli- leiten, die mit einer Wahl endet. und noch mehr Gewalt.
genz erstellt. Zu sehen sind vier Kinder, die Der in Ramallah und in den USA lehrende »Wir hatten an unserer Moschee in Bakaa
einen Jungen in die Höhe halten. Er streckt Politikwissenschaftler Khalil Shikaki sagt, der einen Lehrer, der seine Frau schlug«, erzählt
wie im Triumph die Hände und ballt die Fäus- aktuelle Gazakrieg sei »beispiellos in 120 Jah- er, »mich schlug er auch, deshalb ging ich dort
te. Im Hintergrund die Ruinen zerbombter ren des Konflikts«. Noch habe er nicht die nicht mehr hin.« Der Lehrer war, wie Houra-
Häuser im Gazastreifen. Die Botschaft des Flüchtlingszahlen der Nakba erreicht, sagt ni selbst, ein Vertriebener. Sein Name war
tausendfach geteilten Bildes, ob Fake, gestellt Shikaki, »aber auch das ist nicht auszuschlie- Abdullah Azzam, er stammte aus einem Dorf
oder auch nur in Teilen real: Die nächste Ge- ßen. Dieser Krieg dauert ja erst fünf Wochen«. im Westjordanland. Er verbrachte ein paar
neration der Gewalt wächst bereits heran. Wie es nun weitergehen könne? Nur mit Jahre in Jordanien und sollte noch berühmt
Die Sorge, dass in dieser perversen Bot- einem konkreten »Endgame« vor Augen, sagt werden: als einer der geistigen Ziehväter von
schaft ein Kern von Wahrheit liegen könnte, Shikaki, sei daran zu denken, dass sich ande- Osama Bin Laden, dem späteren Gründer der
treibt auch die besonnensten Palästinenser Terrororganisation al-Qaida. Azzam kam
um. Der frühere Ministerpräsident Salam Fay- 1989 bei einem Anschlag in Pakistan ums Le-
yad hat in der US-Zeitschrift »Foreign Af- ben. Geheimdienstexperten gilt er heute als
fairs« einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er
zumindest ein paar Grundideen eines »Plans »Das Ziel kann letztlich »Vater des globalen Dschihad«.
»Hätte Azzam mich nicht geschlagen, hät-
für Frieden in Gaza« skizziert. nur das Ende te ich mich vielleicht nicht von ihm abge-
Der erste Schritt müsse sein, »den Stoß in
den Abgrund zu stoppen«, schreibt er. Israels der Besatzung sein.« wandt. Vielleicht wäre ich ihm nach Afgha-
nistan gefolgt. Mein Zorn und meine Wut
erklärtes Ziel, die Hamas auszulöschen, sei Khalil Shikaki, Politikwissenschaftler hätten gereicht.« n

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AUSLAND

Je mehr Zivilisten sterben, je


furchtbarer die humanitäre Lage in
Gaza ist, desto schwerer dürfte es der
Autonomiebehörde und den arabi-
schen Regierungen fallen, eine Art

»Eine lange Periode des


»Gaza-Koalition« mit Israel zu bilden.
Falls eine Koalition aus arabischen
Staaten und PA nicht zustande
kommt, bliebe theoretisch die Option

völligen Chaos« einer internationalen Truppe. Doch


die Entsendung von Nato-Soldaten
nach Gaza erwägt bisher niemand
ernsthaft. Und mit der Uno befindet
sich Israel im ­ D auerclinch, das
ANALYSE Was geschieht mit dem Gazastreifen, wenn die Hamas besiegt ist? spricht gegen Blauhelm-Truppen.
Eine erneute israelische Besatzung, internationale Truppen ­Sicher wird die Uno aber eine wich-
oder eine weitreichende Friedensinitiative – das sind die Szenarien. tige ­Rolle bei der humanitären Ver-
sorgung spielen.
Bis zum »Tag danach« kann es oh-

I
srael wolle »für unbestimmte nehin noch sehr lange dauern. Das
Zeit« die »Gesamtverantwortung gibt auch Giora Eiland zu, einst Ge-
für die Sicherheit« im Gazastrei- neralmajor der israelischen Armee
fen übernehmen: Das sagte Premier- und nationaler Sicherheitsberater.
minister Benjamin Netanyahu am Er spricht von drei Phasen des

Israel Defense Forces / Xinhua / action press


Montag in einem Interview mit dem Kriegs: Die erste Phase umfasse das
US-Sender ABC. Es war seine erste aktuelle Kriegsgeschehen im nördli-
Äußerung zur Zukunft des Gazastrei- chen Gazastreifen. Die zweite Phase
fens seit dem 7. Oktober. Sie war so betreffe den Kampf gegen die Terro-
vage und ausweichend, dass danach risten im südlichen Teil. »Das kann
vor allem darüber spekuliert wurde, ein paar Wochen oder viel länger dau-
was Netanyahu eigentlich meinte. ern«, sagt Eiland, es werde dabei
Es ist die große, unbeantwortete »viele, viele zivile ­Opfer geben«.
Frage dieses Kriegs: Was kommt nach Die dritte Phase werde »eine lange
der Hamas? Periode des völligen Chaos« sein.
Für Israels Regierung hat »mächti- »Denn es wird keinen vollständigen
ge Rache« (Netanyahu) derzeit Prio- sierte« Palästinensische Autonomie- Israelische Soldaten Waffenstillstand geben«, glaubt
rität – der Sieg über die Hamas, die behörde (PA) solle die Regierung in im Gazastreifen ­Eiland. »Wir werden die Militär­
Zerstörung der Tunnel, Raketen und Gaza übernehmen, später zudem die operation fortsetzen – wir werden
Kommandoposten. Der Fokus auf das Verantwortung für die Sicherheit. Es vielleicht nicht so viele Truppen im
Militärische birgt aber auch die Ge- könne »zeitlich befristete Arrange- Gazastreifen haben, aber wir werden
fahr, dass Netanyahu die Fehler der ments« geben, unterstützt durch ara- weiterhin aus der Luft oder mit ge-
USA nach den Angriffen vom 11. Sep- bische Staaten oder internationale zielten Bodenangriffen operieren.«
tember wiederholt: einen verlustrei- Organisationen. Eine baldige Rückkehr der Ge-
chen Anti-Terror-Krieg zu führen, Dahinter steht offenbar eine Vi- flüchteten sieht der Ex-Militär nicht.
ohne eine konkrete Idee, wie es da- sion für den Nahen Osten, die weit »Die meisten dieser Gebiete sind zer-
nach weitergehen soll. über Gaza hinausgeht: Die US-­ stört. Ich rechne damit, dass die Zivil-
Die möglichen Folgen: eine ver- Regierung will eine Koalition des bevölkerung für sehr, sehr lange Zeit
tiefte Spaltung zwischen dem Westen jüdischen Staats mit Jordanien, nicht in den nördlichen Teil des Gaza-
und den muslimischen Ländern; ein Ägypten, Saudi-Arabien und ande- streifens zurückkehren wird.«
Machtvakuum in Gaza, das erneut ren Ländern der Region schmieden. Irgendwann danach könnte Israel
Extremisten füllen könnten; eine Sie sollen den Wiederaufbau in Gaza eine Pufferzone einrichten, meint
neue weltweite Welle des Terroris- finanzieren. Die USA erhoffen sich, ­Eiland, und immer wieder Militär-
mus.­ dass daraus eine regionale diplo­ operationen gegen die Hamas durch-
Die Unklarheit über Israels Ziele matische Initiative entsteht, die auch führen. Das werde so lange dauern,
in Gaza, jenseits der Zerschlagung die Zweistaatenlösung wiederbe­- »bis jemand innerhalb des Gazastrei-
der Hamas, steht auch im Zentrum lebt. Am Ende, so das US-Kalkül, fens oder von außerhalb bereit oder
des diplomatischen Ringens zwischen könnte damit die iranische Domi- »Dies könnte in der Lage sein wird, die Verantwor-
den USA und Israel. US-Präsident nanz im Nahen Osten eingehegt ein Moment tung zu übernehmen«. Das werde
Joe Biden warnte Israel bereits, eine ­werden. aber wohl erst nach einer »sehr lan-
erneute Besatzung des Gazastreifens »Dies könnte ein Moment des des Wandels gen Übergangszeit« der Fall sein.
wäre ein »großer Fehler«. Biden
fürchtet sich offenkundig vor einem
Wandels werden«, sagt der gut ver-
netzte israelische Politikanalyst und
werden oder »Ich kann nicht leugnen, dass es
eine schreckliche humanitäre Katas-
Krieg, der sich über Monate, gar Jah- Friedensaktivist Gershon Baskin. in einer trophe in Gaza geben wird. Und so-
re ziehen könnte.
Sein Außenminister Antony
»Und genauso gut könnte es in einer
Katastrophe enden.« Alles hänge nun
­Katastrophe lange keine andere Partei in der Welt
bereit ist, etwas zu tun, glaube ich
­Blinken hat am Dienstag bereits klar- davon ab, wie dieser Krieg geführt enden.« nicht, dass Israel viel mehr tun kann,
gemacht, wie eine Lösung aus US- werde, wie lange er dauere, wie viele Gershon Baskin, um sie zu verhindern.«
Sicht aussehen sollte: Eine »revitali- Tote es gebe. Friedensaktivist Juliane von Mittelstaedt, Fritz Schaap n

84 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Die einen
denken nach. Entdecken Sie
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Sie denken
weiterdenken

weiter.
AUSLAND

shire und Trump-Gegner der ersten Stunde.


»In diesem Rennen kann noch viel passieren.«
In ihrer Heimat South Carolina gilt Haley
als Star. 1972 wurde Nimarata Nikki Randha-

Schlagfertig und moderat


wa dort als Tochter indischer Einwanderer
geboren, seit der Heirat mit ihrem Mann Mi-
chael nennt sie sich Nikki Haley. Nach dem
Wirtschaftsstudium und einigen Jobs als Fi-
nanzmanagerin wechselte sie in die Politik.
USA Lange wurde die Republikanerin Nikki Haley im amerikanischen Mit nur 38 Jahren wurde sie überraschend
zur ersten Gouverneurin ihres Heimatstaats
Wahlkampf kaum beachtet. Doch inzwischen gewählt. In dem konservativen Südstaat war
gilt sie als letzte ernsthafte Konkurrentin für Donald Trump. dieser Aufstieg eine kleine Sensation, auch
weil sie die erste Nichtweiße auf dem Gou-
verneursposten war. South Carolina erlebte

D
er Poor Boy’s Diner neben der Inter- sonders umkämpften Bundesstaaten gegen unter ihrer Regentschaft einen wirtschaft­
state 93 im US-Bundesstaat New Biden gewinnen, sondern in sechs – zum Teil lichen Aufschwung.
Hampshire ist ein beschaulicher Ort. sogar mit deutlich größerem Abstand als der Politisch setzte Haley ebenfalls Signale:
Trucker und Rentner essen hier an einem Ex-Präsident. Haley spricht laut Demoskopen Nach dem Amoklauf eines weißen Rassisten
Donnerstagnachmittag Anfang November eine breitere Wählerschaft an als Trump. in einer Kirche in der Küstenstadt Charleston,
ihre Spiegeleier und Pancakes, die Kellnerin Haleys Problem ist, dass sie erst einmal die bei dem neun Schwarze getötet worden waren,
schenkt Kaffee nach. Doch es ist Wahlkampf- Vorwahlen bei den Republikanern gewin- ordnete Haley 2015 die Entfernung der alten
zeit in Amerika, und plötzlich ist in dem klei- nen müsste. Dabei macht sie auch da Boden Konföderiertenflagge vom Turm des wichtigs-
nen Diner alles anders. gut. Mit dem Gouverneur von Florida, Ron ten Regierungsgebäudes in South Carolina an.
Ein Sprecher kündigt die »nächste Präsi- DeSantis, konkurriert sie in den parteiinter- Für eine Politikerin im Süden war dieser Ab-
dentin der USA« an. Nikki Haley betritt das nen Umfragen inzwischen um den zweiten schied vom Symbol der Sklavenzeit ein muti-
Restaurant. Dazu dröhnt der Song »Eye of Platz hinter Trump. So avanciert Haley mehr ger Schritt, der ihr bei konservativen Südstaat-
the Tiger« aus den Lautsprechern. Haley baut und mehr zur letzten Hoffnung der »Never- lern viel Kritik einbrachte. Landesweit bekam
sich in der Mitte des Gastraums auf und hebt Trumper«, also all jener Republikaner, die ein sie dafür aber umso mehr Anerkennung.
zu einer feurigen Rede an. Comeback des Ex-Präsidenten als Kandidat Zugute kommt Haley, dass ihr die aktuel-
Die große Mehrheit der Amerikaner­ der Partei auf jeden Fall verhindern wollen. len Themen liegen: Zwei Jahre diente sie in
wolle keine Wiederauflage des Duells Donald Während DeSantis’ Zustimmungswerte bei der Regierung von Donald Trump als Bot-
Trump gegen Joe Biden bei der nächsten Prä- den Republikanern seit Monaten stetig fallen, schafterin bei den Vereinten Nationen. Sie
sidentenwahl, ruft Haley. Die beiden Senioren steigen die von Nikki Haley an. Gerade auch verfügt über ausreichend außenpolitische
seien gleich unbeliebt. »Es ist Zeit für einen in New Hampshire, einem der Bundesstaaten, Erfahrung, um recht überzeugend über den
Generationswechsel in Washington«, ruft in denen im Frühjahr der traditionelle Vor- Krieg in der Ukraine oder die Krise in Nahost
­Haley in den Saal. Sie wolle und könne Präsi­ wahlreigen der Partei beginnt und wo ihr ein zu sprechen, im Gegensatz zu Ron DeSantis,
dentin werden. »Yeah, wir wollen dich auch!«, guter Start Schwung für den Rest des Rennens der keine außenpolitische Erfahrung hat.
antwortet eine Frau aus der hintersten Ecke. geben könnte. Noch vor wenigen Monaten lag ­Anders als DeSantis steht Haley für die alte
Die Wahlkampftour der 51-Jährigen durch Haley dort bei einer Umfrage unter Anhängern außenpolitische Linie der Partei. Sie will Isra­
die amerikanische Provinz hat ein Ziel: Haley der Republikaner bei nur 3 Prozent. Nun er- el und die Ukraine weiter unterstützen und
möchte im kommenden Jahr erst die Vor- reicht sie bereits 19 Prozent; DeSantis ist ab- lehnt isolationistische Tendenzen ab. Damit
wahlen zur Präsidentschaftskandidatur der gestürzt, er kommt nur noch auf 10 Prozent, kommt sie bei Traditionalisten in der Partei
Republikaner gewinnen und dann nach der Trump führt mit 49 Prozent. In Iowa und South gut an.
Wahl im November Joe Biden im Weißen Carolina, wo ebenfalls früh im Jahr gewählt Außerdem verzichtet sie darauf, beim um-
Haus beerben, als erste Staats- und Regie- wird, steht sie aktuell auch auf Platz zwei. kämpften Thema Abtreibungen eine allzu
rungschefin der USA. Sollte sich DeSantis’ Niedergang fortset- orthodoxe republikanische Linie zu vertreten.
Im parteiinternen Rennen um die Kandi- zen, könnte Haley bald die einzige Bewerbe- Mit ihren gemäßigteren Tönen spricht sie mo-
datur wurde die einzige Frau in dem breiten rin bei den Republikanern sein, die überhaupt derate Wählerinnen und Wähler in den Vor-
Bewerberfeld lange kaum beachtet. Inzwi- noch eine Chance hätte, Trump die Kandida- orten der großen Städte an, etwa indem sie
schen spielt die frühere Uno-Botschafterin tur streitig zu machen. Manche Strategen sind die Pläne einiger republikanischer Bundes-
und Ex-Gouverneurin des Bundesstaats davon überzeugt, dass eine Kandidatin wie staaten ablehnt, Frauen wegen Abtreibungen
South Carolina eine zentrale Rolle im repu- Haley einen Überraschungssieg bei den Vor- ins Gefängnis zu schicken. Sie sei persönlich
blikanischen Vorwahlkampf. Täglich ist Haley wahlen schaffen könnte. eine entschiedene Abtreibungsgegnerin, sagt
im Land unterwegs, schüttelt Hände oder gibt »Glaubt nicht den Umfragen, viele Wäh- Haley bei einer Kundgebung in Nashua, New
Interviews. Das scheint sich auszuzahlen. ler haben sich noch gar nicht entschieden, Hampshire. »Aber ich verurteile niemanden,
Zwar führt im internen Rennen der Repu- wen sie bei unseren Vorwahlen wirklich wäh- der eine andere Meinung vertritt.«
blikaner weiterhin Ex-Präsident Donald len werden«, sagt etwa Chris Sununu, der Bereits mehrfach war Haley als mögliche
Trump die Umfragen mit deutlichem Abstand republikanische Gouverneur von New Hamp- Vizepräsidentschaftskandidatin der Republi-
an. Auch eine neue Erhebung im Auftrag der kaner im Gespräch. Donald Trump machte sie
»New York Times«, die Trump im direkten nach der Wahl 2016 zu seiner Uno-Botschaf-
Vergleich zu Präsident Joe Biden in wichtigen terin in New York. Den Posten gab sie nach
Bundesstaaten in Führung sieht, unterstreicht
seine Favoritenrolle.
Für Joe Biden wäre zwei Jahren ohne klare Begründung wieder
ab. Bis heute hält sich das Gerücht, sie habe
Doch Haley hat sich vorgekämpft. Für Joe Nikki Haley als Gegnerin schlicht Trump nicht mehr ertragen können.
Biden wäre sie eine noch gefährlichere He­raus­
forderin als Trump. Laut der »Times«-Um-
noch gefährlicher Ihr Verhältnis zu Trump als kompliziert zu
beschreiben wäre eine Untertreibung. Bis
frage würde sie nicht wie Trump in fünf be- als Donald Trump. heute vermeidet es Haley die meiste Zeit,

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AUSLAND

vorstellen, nämlich schlagfertig, ent­


schlossen, aber auch kämpferisch. So
wie am vorigen Mittwoch in Miami.
Da hebt ein Konkurrent, der Un­
ter­nehmer Vivek Ramaswamy, zu
einer langen Attacke auf Haley an. Er
wirft ihr vor, keine Ahnung zu haben,
nennt ihre Unterstützung für die
­Ukraine einen großen Fehler. Haley
schaut genervt in seine Richtung und
kontert: »Wladimir Putin und Chinas
Präsident Xi würden sich sehr freuen,
wenn jemand wie Vivek bei uns US-
Präsident wird.« Später attackiert Ra­
maswamy Haleys Tochter, weil die auf
der chinesischen Plattform TikTok
einen Account hat. Haley antwortet
trocken: »Lass meine Tochter da raus.
Du bist das Letzte.«
Dass Haley derzeit einen Lauf hat,
zeigt sich auch bei den Parteispenden,
dem Schmierstoff jeder US-Wahl.
Ihre Wahlkampfkasse füllt sich stetig,
allein im dritten Quartal nahm sie elf
Millionen Dollar ein, sie hat aktuell
mehr Geld zur Verfügung als Ron
­DeSantis. Auch einige traditionelle
Großspender der Partei denken offen­
bar derzeit darüber nach, ihr Geld auf
sie zu setzen.
Die ersten Mitbewerber sind – auch
wegen Geldmangels – bereits aus dem
Rennen ausgestiegen, etwa Mike
Pence, der frühere Vizepräsident, des­
sen Kandidatur von Beginn an nie
wirklich Fahrt aufnehmen konnte.
Josh Morgan / USA TODAY Network / IMAGO
Bei der jüngsten TV-Debatte war er
schon nicht mehr dabei. Der glücklose
Senator Tim Scott oder der frühere
Gouverneur von New Jersey, Chris
Christie, könnten bald folgen.
Damit Haley gegen Trump wirk­
lich eine Chance hat, müssten alle
anderen Anti-Trump-Kandidaten
bald ihre Ambitionen aufgeben. So
könnte sie bei den Vorwahlen die
ihren Ex-Boss öffentlich zu kritisie­ über den Rivalen China, fordert mehr Politikerin Haley: Stimmen der Gegner des Ex-Präsi­
ren. Umgekehrt ließ er sie bislang Haushaltsdisziplin in Washington und »Unterschätzt denten auf sich vereinen. Vor allem
mich ruhig – das
ebenfalls in Ruhe. Seit Haley in den will die irreguläre Migration an der wird ein Spaß!« Ron DeSantis möchte weitermachen.
Umfragen zulegt, schießt sich der Ex- Grenze zu Mexiko bekämpfen. Das Doch der Gouverneur aus Florida,
Präsident jedoch zunehmend auf sie gefällt den Konservativen. der seine Kampagne im Mai als gro­
ein. Er hat sich auch einen Spitzna­ Dieses Pendeln zwischen konser­ ßer Hoffnungsträger gestartet hatte,
men für sie ausgedacht, in seinen So­ vativen und moderaten Positionen ist kämpft gegen den Abwärtssog.
cial-Media-Posts nennt er sie jetzt zu Haleys Markenzeichen geworden. Sollte sich Haley am Ende bei den
»Spatzenhirn«. Haley selbst kontert Man könnte sie eine politische Op­ republikanischen Vorwahlen tatsäch­
die Angriffe von Trump gelassen: portunistin nennen, doch Haley sieht lich überraschend gegen die Männer
»Super, das bedeutet, wir sind auf sich selbst wohl eher als Pragmatike­ durchsetzen, bliebe da aber noch ein
dem zweiten Platz und legen zu. rin. In ihrer Karriere hat sie noch nie anderes Problem: Donald Trumps
Mehr davon!« eine Wahl verloren, ein Umstand, auf Rachsucht. Der Ex-Präsident würde
Sie hat bislang vieles richtig ge­ den sie auch jetzt gern hinweist. In Haley einen möglichen Wahlsieg
macht. Anders als Ron DeSantis wirkt New Hampshire verteilt sie T-Shirts, gegen Joe Biden wohl kaum gönnen
sie nahbar und unverkrampft. Sie auf denen steht: »Unterschätzt mich und im Wahlkampf dann gegen sie
schafft es, moderate Wähler anzu­ ruhig! Das wird ein Spaß.« arbeiten, sagt der demokratische Stra­
sprechen, ohne sich die Trump-An­ Vor allem nutzt Haley die TV-De­ tege Paul Belaga in einem Polittalk
hängerschaft oder andere rechte Re­ batten der Republikaner, um sich voraus. »Trump wird sie und seine
publikaner zum Feind zu machen. In einem breiteren Publikum bekannt zu Partei zerstören, wenn er nicht nomi­
ihren Reden ist für alle Strömungen machen. Dabei tritt sie so auf, wie sich niert wird.«
der Partei etwas dabei. Sie schimpft viele Amerikaner einen Präsidenten Roland Nelles n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 87


AUSLAND

sie sich nicht an Regeln hielten. Trotzdem,


sagte mein Vater, müsse ich genau das tun. Es
bedeute, dass ich im Leben oft den Kürzeren
ziehen würde. Aber es sei richtig.

Nicht in meinem Namen


An diesen Satz muss ich denken, als 2014
grün gekleidete Kämpfer die Krim einneh­
men, aber angeblich – so behauptet Putin –
nicht im Auftrag Russlands handeln. Er fällt
mir ein, als der russische Oppositionelle Ale­
ESSAY Ich wurde in Russland geboren und berichte xej Nawalny in einem Flugzeug zusammen­
bricht, weil man ihn vergiftet hat. Und ich
seit Kriegsbeginn aus der Ukraine. Ich frage mich: Wann ist man denke an den Satz meines Vaters, als ich am
mitschuldig am Verbrechen einer Nation? Und treffe 24. Februar 2022 in Kiew aufwache, weil es
eine folgenschwere Entscheidung. Von Alexandra Rojkov vor dem Hotelfenster knallt.
In den kommenden Stunden wandle ich
durch Kiew wie durch einen Albtraum. Ich
Handynotiz, Ukraine, 6. März 2022 Fremden. Aber auch: die bedingungslose sehe zu, wie Familien in Panik ihr Auto voll­
Es ist mein Heimatland, das angreift, der L ­ oyalität zu Freunden, die Bereitschaft, sich stopfen und dann fliehen, Richtung Westen.
­Aggressor spricht in meiner Muttersprache, für die Familie zu opfern. Ich wachse auf in Ich treffe junge Männer, viele noch Teenager,
mein Vater weint am Telefon. Es ist eine solche dem sowjetischen Bewusstsein, dass das Kol­ die sich freiwillig zum Kampf melden. Sie
Hilflosigkeit und Verzweiflung, dass sie körper- lektiv alles bedeutet und ich nichts. ziehen in Turnschuhen in den Krieg. In den
lich ist, dass es mich von innen schüttelt, dass Viele Jahre steht mir Russland näher als U-Bahn-Schächten suchen Greise und Kinder
ich kurz das Gefühl habe, die einzige Möglich- Deutschland. Meine Klassenkameraden fah­ Schutz.
keit, sie je wieder abzulegen, ist, hier, in der ren in den Urlaub an die Costa Blanca, ich Ich habe aus Berlin eine schusssichere Wes­
Ukra­ine, zu sterben. fahre zum Kajakfahren an den russischen te mitgebracht, die ich an diesem Tag trage.
Polarkreis. Freunde meines Vaters organi­ Sie wiegt zehn Kilo, nach einigen Stunden

A
m 24. Februar überfällt Russland die sieren jedes Jahr eine Reise ans Weiße Meer. kann ich kaum noch stehen. Aber es ist nicht
Ukraine, zehn Tage später tippe ich Die Russen, die ich treffe, sind auf eine nur die Weste, die mich erdrückt.
diese Zeilen in mein Handy. Ich liege Weise herzlich, die ich von Deutschland nicht Es gibt kein Wort für das Gefühl, das dich
in einem Hotelzimmer in Winnyzja, einer kenne. Die Gesellschaft in Russland unter­ befällt, wenn dein Heimatland zum Massen­
Kleinstadt im Südwesten des Landes. Hierher scheidet nur zwischen Freund und Feind, mörder wird. Ich kann beschreiben, wo es im
bin ich geflohen, nachdem die russische Armee dazwischen gibt es nichts. Damals, viele Jah­ Körper sitzt (unter dem Herzen) und wie es
an Kiew herangerückt ist. Ich bin als Reporte­ re vor Putins Überfall auf die Ukraine, sind sich anfühlt (wie ein kalter, strahlender
rin in der Ukraine, und es scheint mir nicht wir, die Besucher aus Deutschland, noch Schmerz). Ich wusste nicht, dass diese Emp­
sicher, in der Hauptstadt zu bleiben. Freunde. findung existiert. Jetzt ist sie mein ständiger
Damals, im März 2022, verfolgt die Welt Begleiter.
im Minutentakt den Kurs der russischen Trup­ Handynotiz, Ukraine, 7. März 2022 Erst denke ich, dass nur ich sie spüre, weil
pen. Deutschland diskutiert über Waffenliefe­ Ich will glauben, dass die Ukraine gewinnen ich in der Ukraine bin. Dann erreichen mich
rungen und die »Zeitenwende«. Und ich liege kann. Aber weil ich Russin bin, weiß ich: Das die Nachrichten meiner Familie. Mein Vater
in meinem Hotelzimmer und weine. Böse gewinnt immer. kann in den ersten Kriegstagen keinen Satz
Ich muss arbeiten, aber mein Körper ge­ beenden, ohne in Tränen auszubrechen. Er
horcht mir nicht. Stundenlang liege ich auf Diesen Satz hat mir mein Vater beigebracht. ist Ende fünfzig, er hat in seinem Leben noch
dem Bett und starre an die Decke. Zwischen­ Als ich klein war, erklärte er mir, dass skrupel­ nie demonstriert – aber am 26. Februar 2022
durch lese ich die Nachrichten: Tote in Kiew, lose Menschen immer im Vorteil seien, weil verbrennt er öffentlich auf dem Marktplatz
Mariupol ohne Wasser und Strom. Leichen
liegen in den Straßen, niemand kann sie ber­ SPIEGEL-Reporterin Rojkov auf Recherche
gen, weil der Beschuss zu stark ist. in Dnipro in der Ukraine
Als Journalistin habe ich mehrere Kriege
erlebt: Ich war im Gazastreifen und in Syrien.
Menschen flohen, Häuser rauchten, aber mich
schützte eine Mauer aus professioneller Dis­
tanz. Doch der Überfall auf die Ukraine trifft
mich in meinem Innersten. Denn es ist mein
Heimatland, das angreift. Ich bin in Russland
geboren – und ich fühle mich mitschuldig für
das, was Präsident Wladimir Putin der Ukra­
ine antut.
Es kommt mir falsch vor, darüber zu schrei­
ben, wie ich als Russin diesen Krieg erlebe.
Was ist schon meine Betroffenheit gegen den
Wojciech Grzedzinski / DER SPIEGEL

Schmerz der Menschen vor Ort? Doch auch


Monate nach meiner Rückkehr nach Deutsch­
land verfolgt es mich, dass mein Heimatland
zum Kriegsverbrecher geworden ist.
Meine Familie zieht 1992, kurz vor mei­
nem vierten Geburtstag, nach Deutschland.
Das Russische nehmen wir mit. Die gnaden­
lose Ehrlichkeit, das Misstrauen gegenüber

88 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


AUSLAND

seinen russischen Pass. Er schickt mir ein 40 Jahre alt, dunkle Haare, Uniform. Er wur­
­ ideo davon, dazu Sprachnachrichten, in
V de von der russischen Armee getötet.
denen er erzählt, wie sehr er sich schämt und Ich würde die Frau gern fragen, ob sie mit
wie richtig er das findet. den »piece of shit Russians«, dem russischen
Stück Scheiße, auch mich meint. Ich mache
Handynotiz, Ukraine, 8. März 2022 ihr keinen Vorwurf, es interessiert mich wirk­
Ich will nach Hause. Aber weil die Ukrainer lich: Wann ist man mitschuldig am Verbre­
kein Zuhause mehr haben, glaube ich, auch chen einer Nation?
kein Recht darauf zu haben. Wenn man dort zur Welt kommt? Dort
aufwächst? Mitmacht? Schweigt?
Ich hatte gedacht, der Schmerz würde ver­ Kann man verantwortlich sein qua Geburt,
schwinden, wenn ich wieder in Deutschland so wie ich? Und wenn nicht – warum fühle
bin. Aber er hat sich eingenistet und ausge­ ich mich dann schuldig?
breitet. Er strahlt in meinen Körper, als ich Ich weiß auf diese Fragen keine Antwort.

Emilio Morenatti / AP / picture alliance


Bilder der Toten von Butscha sehe, Menschen, Ich weiß nur, dass im Haus meines Vaters
die auf der Suche nach Lebensmitteln waren ukrainische Flaggen hängen: Sie verdecken
oder ihre Stadt beschützen wollten: von rus­ teils die Bilder, die seine russischen Freunde –
sischen Soldaten auf der Straße erschossen. darunter viele Künstler – für ihn malten. Ich
Wenn ich Putins Reden höre, wünschte ich, weiß, dass meine Mutter meine Kinderklei­
ich würde sie nicht verstehen. dung an Flüchtlinge aus Mariupol verschenkt
Meinen Eltern geht es ähnlich. Sie tun Aus Kiew Fliehende hat. Ich weiß, dass der Schmerz in meiner
am 24. Februar 2022
Buße, indem sie Ukrainern helfen. Meine Brust gestreut hat: Seit Kurzem höre ich ein
Mutter übersetzt in Flüchtlingsheimen, ein­ Pfeifen im linken Ohr. Es klingt wie der Luft­
mal bleibt sie bis Mitternacht mit einem ukra­ Offenbar wollen sie zum Tag des Sieges über alarm in der Ukraine.
inischen Mädchen im Krankenhaus, um zu Nazideutschland Blumen niederlegen. Mein Ich kann den Krieg nicht beenden, meinen
dolmetschen. Am nächsten Tag schläft sie bei Urgroßvater hat im Zweiten Weltkrieg ein Geburtsort nicht rückgängig machen, meine
der Arbeit ein. Bein verloren, auch in meiner Familie wurde Muttersprache nicht vergessen. Aber ich kann
Mein Vater bricht Freundschaften ab, die der Tag früher gefeiert. Vor einem Jahr hätte symbolisch versuchen, einen Teil meines Rus­
40 Jahre gehalten haben, länger als ich am ich den Männern in der Bahn noch zugenickt, sischseins abzulegen.
Leben bin. Mit den Menschen, die uns zum sie beglückwünscht, wie man es in Russland Im Herbst 2022 stehe ich in einem dunklen
Kajakfahren ans Weiße Meer mitnahmen, macht. Jetzt starre ich auf meine Schuhe und Behördenflur. Ich habe Dokumente dabei:
spricht er kaum mehr ein Wort. Für viele sind hoffe, dass sie nicht merken, dass ich irgend­ meine Geburtsurkunde, den Nachweis meiner
wir nun keine Freunde mehr. wie zu ihnen gehöre. deutschen Staatsangehörigkeit, beglaubigte
Einer Umfrage zufolge glauben 42 Pro­ Übersetzungen russischer Papiere, so alt, dass
Handynotiz, Deutschland, 7. Juli 2022 zent der Russisch sprechenden Menschen in sie fast zerfallen.
Papa weint schon wieder, wie so oft, wenn ich Deutschland, die Ukrainer seien mindestens Es ist in Deutschland leichter, sein Ge­
ihn anrufe. Er weint um die Ukraine, er weint im selben Maß schuld an dem Krieg. Ich ken­ schlecht zu ändern als seinen Nachnamen:
um seine Heimat, er weint um alles, was wir ne niemanden, der so denkt. Meine Familie, Die Behörden erlauben es nur in Ausnahme­
einmal waren. Was sind wir jetzt? meine wenigen russischen Freunde – sie alle fällen. Ich erkläre, dass ich mit dem Angriffs­
wünschen sich Putins Ende. krieg auf die Ukraine nichts zu tun haben
Schon vor dem Krieg werde ich ständig auf Eine Bekannte, die als Künstlerin erfolg­ möchte und deshalb meinen russischen Na­
Russland angesprochen. Mein Nachname ver­ reich ist und wie ich in Sankt Petersburg zur men ablegen will. Der Beamte, der mich
rät mich, die Endung -ov, die im Russischen Welt kam, bestand früher darauf, ihre Her­ ­betreut, wundert sich, ich glaube, er hält
typisch ist. Eine Zeit lang überlege ich, mei­ kunft in jeder Vita zu erwähnen. Nun will sie mich für theatralisch. Aber fast ein Jahr spä­
nen Namen zu ändern: Die dauernde Frage, aus ihrem Wikipedia-Eintrag löschen lassen, ter bekomme ich einen Brief: Antrag statt­
wo ich herkomme, nervt mich, ich möchte dass sie aus Russland stammt. Sie sagt, sie gegeben.
nicht mit Fremden über Putin diskutieren. schäme sich zu sehr. Ich darf meinen neuen Namen nicht frei
Kurz bevor ich den Antrag einreiche, redet Vielleicht fällt es ihr leichter, sich zu dis­ wählen. Die Abmachung mit den Behörden:
mir ein deutschtürkischer Freund ins Gewis­ tanzieren, weil ihre Familie – wie meine – jü­ Er muss in meinem Stammbaum vorkommen.
sen. Er nennt es »Verrat«, dass ich meinen disch ist und wir in Russland nicht als »echte In meiner Familiengeschichte gibt es nur
Migrationshintergrund verstecken will. Er Russen« galten. Trotzdem spüren wir eine einen Namen, der nicht auf Anhieb russisch
überzeugt mich. Die schon ausgefüllten Do­ Trauer, die wir uns, als wir uns einmal mit klingt.
kumente für die Namensänderung verschwin­ Roséwein betrinken, nur zögerlich eingeste­ Ich heiße jetzt nicht mehr Rojkov. Ich heiße
den in der Schublade. hen: die Trauer, unser Heimatland verloren Berlin, es ist der Mädchenname meiner Groß­
Dann kommt der 24. Februar 2022. Wenn zu haben. Ein Teil unserer Herkunft ist für mutter. Und auch wenn er, anders als der Name
ich Rojkov höre, denke ich jetzt an Tod und immer vergiftet. Und obwohl nicht im Ent­ der Stadt, auf der ersten Silbe betont wird, ist
Verwüstung. Und nicht nur ich. Ein deutscher ferntesten vergleichbar mit dem Leid der er ein Hinweis darauf, dass meine Vorfahren
Handwerker fragt beim Blick aufs Klingel­ Ukra­iner, tut es weh. »Der Krieg hat mir einen offenbar einst aus Deutschland stammten.
schild, ob ich Russin sei. Als ich vorsichtig Teil meiner Identität genommen«, sagt meine Ich weiß nicht, was sie nach Russland ver­
bejahe, faselt er von der »Schuld beider Sei­ Freundin. schlug, ich kann meine Großmutter nicht
ten« in diesem Krieg. Ich drehe mich um und mehr fragen. Aber es fühlt sich gut an, die
lasse ihn mit seinem Werkzeug stehen. Öffentlicher Tweet Zeit zurückzudrehen. Der Krieg gegen die
Schon beim Gedanken, dass mich jemand I’m so fucking angry at all of you piece of shit Ukraine soll nicht mehr in meinem Namen
für Putins Verbündete halten könnte, wird Russians. geführt werden, buchstäblich.
mir übel. Also meide ich alles, was mich ver­ Ich spreche immer noch akzentfrei Rus­
ra­ten könnte. Am 9. Mai sitze ich in der S- Das schreibt eine Ukrainerin im Internet, sie sisch, ich verstehe weiterhin Putins Reden.
Bahn zwei Männern gegenüber, sie tragen hat ihren Freund im Krieg verloren. Sie pos­ Manchmal schäme ich mich noch, aber es wird
Nelken in der Hand und flüstern auf Russisch: tet ein Foto von ihm: ein junger Mann, keine besser. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 89


AUSLAND

Exzellenz«, wie Adele Grana ihr Vor-


bild nennt.
Da ist der Speisesaal mit der Glo-
cke am Kopfende der Tafel, die Gra-
na kurz zum Erklingen bringt. »So

»Christus, Cäsar, Mussolini«


hat er die Kinder zum Essen gerufen.«
Da ist das Foto mit Walt Disney. »Er
hat Mussolini bewundert, und Mus-
solini hat seine Filme geliebt.«
Und da ist das Schlafzimmer mit
ORTSTERMIN Es wirkt, als wäre er wieder da: In Italien ist das Zuhause dem Ehebett. Darauf ausgebreitet
von Benito Mussolini eine Touristenattraktion. Die Betreiber liegt eine Uniform. »Die hat Sua
Eccel­lenza an ihrem Todestag getra-
haben nichts ­verändert und versprechen »eine unvergessliche Erfahrung«. gen«, glaubt die ältere Dame. Sie ist
glücklich, dass es ihnen gelungen sei,
das Stück in den USA aufzuspüren.

D
ie Banalität des Bösen taucht »Fragen Sie nicht, wie viel wir dafür
plötzlich auf, wenn man von bezahlen mussten.« Blumen neben
den Stränden der Adria in die der Uniform sollen an »Donna Ra-
Hügellandschaft der Emilia-Romagna chele«, erinnern, die hier, so Grana,
fährt. »Villa Mussolini. Besuchen Sie gestorben sei. »Hier liegen noch ihr
das Museum« steht auf einem Schild Gebetsbuch und ihre Medikamente,
am Straßenrand. wir haben nichts angetastet«, sagt sie.
So harmlos, als wäre das Haus von Die besondere Beziehung, die das
Benito Mussolini, dem Faschismus- Paar mit den Mussolinis verbindet,
Erfinder, Kriegsverbrecher und Mas- habe vor Jahrzehnten begonnen, als
senmörder, eine normale Touristen- ihr Mann, ein passionierter Sammler,
attraktion. wie Grana sagt, »diese großartigen

Nicola Zolin / DER SPIEGEL


An einem sonnigen Nachmittag Bilder« entdeckt habe. Sie stammten
öffnet sich unweit von Predappio, von Romano Mussolini, einem Sohn
dem Geburtsort des »Duce«, das des Diktators, der nach dem Krieg als
schmiedeeiserne Tor zum Park. Do- Jazzpianist Karriere machte und zu-
menico Morosini und seine Frau Ade- dem gern traurige Clowns malte.
le Grana stehen bereit, um durch das »20 Jahre lang waren wir befreun-
Anwesen zu führen. Sie verstehen det«, sagt Grana, »aber niemals hät-
sich als Bewahrer eines großen Erbes. Und im von Mussolini errichteten Mussolinis ten wir gewagt, ihn zu duzen!« So
»Alles ist noch wie früher, wir ha- Strandort Sabaudia wird der »Duce« ­Arbeitszimmer hätten sie auch erfahren, dass die Vil-
bei Predappio
ben nichts verändert«, sagt Morosini, auf Fotos als glamouröser Gast prä- la auf den Markt kam. Der letzte Be-
83, der die Villa vor mehr als zwei sentiert. Die Kulisse des faschisti- wohner, ein anderer von insgesamt
Jahrzehnten gekauft hat. Seine Frau schen Rathausturms, dessen Inschrift fünf Mussolini-Söhnen und -Töch-
schwärmt von den weißen Tauben auf bis heute verspricht, das Land von tern, war gestorben. Kaufinteressen-
dem Gelände. »Sie stammen noch aus einer »tausendjährigen Lethargie« zu ten hätten bereits den Abriss des An-
der Zucht von Donna Rachele«, wie erlösen, hat Rechtspopulist Matteo wesens geplant, sagt Grana. Deshalb
sie die Gattin des Diktators nennt. Salvini schon als Hintergrund für hätten sie die Villa gekauft. »Früher
Vor 101 Jahren, im Herbst 1922, einen Wahlkampfauftritt genutzt. waren wir reich«, sagt sie. Jetzt be-
übernahm Mussolini nach dem Ein Äquivalent zu den Nürnberger gnügten sie sich mit einem 48 Qua­
»Marsch auf Rom« die Macht in Ita- Prozessen gab es in Italien nicht, dratmeter großen Nebengebäude.
lien. Zahlreiche Hinterlassenschaften ebenso wenig wie ein Ächten faschis- Hauptsache, die Villa bleibt erhalten.
sind quer durchs Land zu besichtigen, tischer Symbole. Stattdessen sind Zwischendurch hat sich noch mal
vom Finanzamt in Bozen bis zum Politiker mit faschistischen oder neo- ihr Mann hinzugesellt. Morosini zeigt
Hauptpostamt von Palermo. Auf faschistischen Wurzeln seit Jahrzehn- das Arbeitszimmer mit dem schweren
einem Hang des Monte Giano im ten im Parlament präsent. Zwei Drit- Schreibtisch und dem Tintentrockner
Zentrum Italiens steht gar ein Wald, tel der jungen Menschen in Italien in Panzerform. »Es gibt drei große
dessen Bäume bis heute das Wort betrachten den Faschismus einer Um- Gestalten der Weltgeschichte«, sagt
»Dux« (»Führer«) bilden. frage von 2021 zufolge als Diktatur, er: »Jesus Christus, Julius Cäsar und
Eine kritische Auseinandersetzung die zu verurteilen sei – die aber auch Benito Mussolini.«
mit der Vergangenheit findet in Italien »Vorteile« gebracht habe. Auch für Italien hat er eine Hit-
selten statt. Von großen Taten schwärmen Do- liste parat. Die wichtigsten Regie-
Mussolinis »Palast der italieni-
schen Zivilisation« in Rom zum Bei-
menico Morosini und seine Frau, die
ihren Besuchern »eine unvergessliche
Eine kritische rungschefs seien Mussolini, Silvio
Berlusconi und Bettino Craxi.
spiel, der einst den Faschismus ver- historische Erfahrung« versprechen. Auseinander- Und was ist mit Giorgia Meloni,
herrlichen sollte, wäre kein schlechter Unter dem Dach der Villa hat das be- setzung mit der aktuellen Ministerpräsidentin, die
Ort für ein Museum über die Verbre- tagte Ehepaar ein mit Schlachtszenen ihre Karriere in einer neofaschisti-
chen der Diktatur. Stattdessen hat dekoriertes Studienzentrum einge- der Vergangen- schen Jugendorganisation begonnen
dort die Modemarke Fendi ihr Haupt- richtet, in dem es Schriften des frühe- heit findet und Mussolini einst als »guten Politi-
quartier. Mit dem Palazzo wolle man ren Bewohners für die Forschungs- ker« bezeichnet hatte? »Die macht
»das italienische Kulturerbe feiern«, gemeinde archiviert. Doch ihr größter in Italien sich noch«, sagt Morosini und lächelt.
hat das Luxuslabel erklärt. Stolz sind die Wohnräume »Seiner selten statt. Frank Hornig n

90 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


SPORT

Deutsche Vielfalt 15

15
Länder mit den meisten Klubs in der
Champions League seit der Saison 1992/93

13
11
10

10
7 5

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S Quelle: Uefa 0


Immerhin zum ersten Punktgewinn reichte es am Mittwoch für Union Berlin, den 15. deutschen Teilnehmer in der Geschichte der Uefa Champions
League. Doch das 1:1 beim SSC Neapel war zu wenig, die Köpenicker scheitern in ihrer Premierensaison bereits in der Gruppenphase. Nun läuft
der Verein Gefahr, das nächste deutsche »One-Hit-Wonder« zu werden: Nach Kaiserslautern, Hertha BSC, Hoffenheim und Eintracht Frankfurt ist
Union bereits der fünfte Bundesligavertreter, der sich bislang nur einmal qualifizieren konnte – ein Rekordwert im Ländervergleich.

HALL OF FAME auf Siegemund und ihre Part- Spielerinnen hatte der
nerin: die topgesetzten Ame­ Verband WTA ein provisori-
Laura Siegemund, rikanerinnen Jessica Pegula
und – Coco Gauff. Und wie in
sches ­Stadion ohne Dach
­errichten lassen, mitten in der
Tennisspielerin New York wurde es ein Match
unter widrigen Bedingungen.
­Hurrikansaison.
Die Doppelpartie geriet so
Schuld trug diesmal nicht das phasenweise zum Slapstick:
Es war Ende August, als mund, »und das schmerzt mich Verhalten der (spärlich an­ Den Spielerinnen verwehte es
Laura Siegemund bei den US sehr.« Denn sie sei zwar »nicht wesenden) Zuschauerinnen und beim Schlag den Ball, Regen-
Open in New York in Tränen mehr die Jüngste«, aber Tennis Zuschauer, sondern das Wetter schirme beim Seitenwechsel fie-
­ausbrach. Sie sei »wie eine spielen, das könne sie noch. im mexikanischen Cancún. len dem Wind zum Opfer. Erst
­Be­trügerin« behandelt worden, Es gibt Spielerinnen, die an Für das Turnier der weltbesten nach drei ­Tagen war das Match
sagte die Schwäbin nach ihrer einer solchen Erfahrung zer- zu Ende, Siegemund und Zvo-
Erstrundenniederlage gegen brochen wären. Nicht so Siege- nareva hatten hauchdünn und
die Amerikanerin Coco Gauff. mund: Nur rund zwei Monate trotz Satzrückstand gesiegt,
Dabei sei sie doch einfach nur nach dem Spießrutenlauf von einen Tag später gewannen sie
eins gewesen: langsam. New York feierte sie Anfang auch das Finale gegen das
Susan Mullane / USA TODAY Network / ddp

Siegemund, 35, hatte sich November einen der größten austra­lisch-amerikanische Duo
zwischen den Ballwechseln Triumphe ihrer Karriere. Bei Ellen Perez/Nicole Melichar-
häufig viel Zeit gelassen, womit den WTA Finals der besten Martinez. »Ein großer Sieg«,
sie ihre Kontrahentin, vor allem Einzel- und Doppelspielerin- sagte Siegemund bei der Sieger-
aber einen Teil des Publikums nen des Jahres sicherte sie sich ehrung – und erhielt Beifall. TNE
gegen sich aufbrachte. Sie wur- mit Vera Zvonareva aus Russ-
de ausgebuht, Fehlschläge wur- land den Titel im Doppel, als Verblüffende Leistungen, große Gesten,
den beklatscht, eine Unsitte im erste Deutsche überhaupt. magische Momente: Der Sport
pro­duziert Geschichten von Menschen,
Tennis. »Sie haben mich nicht Auf dem Weg dorthin die Außergewöhnliches vollbringen.
respektiert«, bilanzierte Siege- ­wartete eine besondere Hürde Siegemund in Cancún Jede Woche stellen wir einen vor.

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 91


SPORT

In der Todeszone falsch abgebogen


Forscher haben herausgefunden, dass Hunderte vermeintliche
BERGSTEIGEN
Achttausender-Besteiger den Gipfel gar nicht erreicht haben. Nun tobt eine Debatte über die Leistungen
von Alpin-Idolen und die Frage: Wo ist auf einem Berg eigentlich ganz oben?

Jackson Groves / journeyera.com


Alpinisten am
Manaslu in Nepal

A
uf dem Wohnzimmertisch liegt ein Vor einer Weile fand Jurgalski mit Kollegen Jurgalski, ein kräftiger Mann mit Vollbart,
Brief, den er neulich aus seinem Post- heraus, dass in den vergangenen Jahrzehnten stemmt sich aus dem Sessel und führt in sein
kasten zog. Blütenweißes Papier, DIN Hunderte vermeintliche Achttausender-Be- Büro. An der Wand hängen Karten von Gebirgs-
A4, sauber gefaltet. »Jurgalski!«, steht da in zwinger gar nicht auf dem Gipfel waren. Die zügen, in einem Schrank stehen Dutzende Bü-
geschwungener Schrift, »du bist ein großes Alpinisten hatten den höchsten Punkt nicht cher und Bände über Alpinismus, an manchem
Arschloch! Geh zurück nach Flachlandtirol.« gefunden, oder sie waren wenige Meter davor Standardwerk hat er selbst mitgeschrieben.
Der Bergchronist Eberhard Jurgalski, 71, umgekehrt. Selbst die Bergsteigerlegende Der Forscher zeigt eine Aufnahme der
sitzt in einem tiefen Sessel und blickt nach- Reinhold Messner soll 1985 auf der Anna- ­Gipfelregion des Manaslu, des achthöchsten
denklich aus dem Fenster. Draußen pfeift der purna den Gipfel knapp verpasst haben, was Bergs der Welt. Man sieht einen Alpinisten
Wind, es regnet. Der Forscher aus Lörrach Messner allerdings energisch bestreitet. am Grat seinen Aufstiegstriumph feiern. Er
beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahren mit Jurgalskis Enthüllungen haben wilde De- lacht in die Kamera. »Es ist tragisch«, mur-
Alpinismus und der Geografie von Gebirgen. batten unter Bergsteigern ausgelöst, über die melt Jurgalski.
Es ist seine Passion, Daten und Fakten über Wahrhaftigkeit der Leistungen mancher Er zieht das Bild größer und deutet auf eine
die großen Besteigungen im Himalaja und ­Alpin-Idole, aber auch zu grundsätz­lichen Erhebung, die ein ganzes Stück weit entfernt
Karakorum zu sammeln. Fragen: Wann gilt ein Berg als bestiegen? Und von der Stelle liegt, an der der Bergsteiger
Dass er wegen dieser Arbeit mal solche wo ist auf manchen Bergen eigentlich ganz im Schnee steht. »Da hinten ist der Gipfel«,
Briefe bekommen könnte, hätte er nie gedacht. oben? flüstert Jurgalski.

92 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


SPORT

Auf vielen berühmten Bergen der Lukas Furtenbach arbeitet seit Jah- legen. Auch Messner schaffte es bei
Alpen – dem Matterhorn, dem Groß- ren mit dem Chronisten zusammen. seiner Solobesteigung 1972 auf den
glockner, der Zugspitze – steht ein Der Expeditionsveranstalter aus Inns- höchsten Punkt.
Gipfelkreuz. Die höchsten Punkte der bruck gehört zu den renommiertesten Warum ließen sich so viele Nach-
Riesen im Himalaja und Karakorum Anbietern von Touren auf die Acht- folger täuschen? Bergchronist Jur­

Jeanette Petri / DER SPIEGEL


sind nicht markiert, Bergsteiger müs- tausender, hat selbst mehrere erklom- galski glaubt, die Bergsteiger hätten
sen sie mühsam selbst finden. men. Auf Furtenbachs Unterneh- wohl schlicht nicht erkannt, dass es
Am Mount Everest, der wie ein menswebsite müssen Interessenten da noch ein Stück weitergeht. Furten-
Solitär emporragt, ist das nicht so nur den blauen »Jetzt buchen«-But- bach kann sich vorstellen, dass man-
schwierig. Sein Gipfel ist schon von ton anklicken, schon liegt der K2, der che Expeditionen sich die letzten
Weitem zu sehen, außerdem flattern Broad Peak oder der Shisha Pangma Meter womöglich bewusst gespart
dort Gebetsfahnen im Wind, die von im Warenkorb. Bergexperte hätten: »Man hat es in Kauf genom-
zahlreichen Besteigern hinterlassen Eine »Flash«-Expedition auf den Jurgalski: Kein men. Das letzte Stück mit Haken und
Abenteurer,
wurden. Auf anderen Bergen wie dem Mount Everest – wegen der minima- ein Chronist
Seilen nach europäischen oder ame-
8167 Meter hohen Dhaulagiri hin- len Akklimatisationszeit im Basis­ rikanischen Standards abzusichern
gegen liegt der höchste Punkt ver- lager seit zwei Jahren der Renner ist sehr aufwendig. Viele Kunden ha-
steckt zwischen Vor- und Nebengip- in Furtenbachs Angebot – kostet ben es nicht wahrgenommen, was da
fel. Es soll dort vorgekommen sein, 99.900 Euro. passiert.«
dass Alpinisten stundenlang in der Furtenbach sagt, für seine Sherpas 2021 zeigten Drohnenaufnahmen
dünnen Luft der Todeszone nach dem und Bergführer sei es Teil des Jobs, eindeutig, dass es vom Plateau am
Ziel ihrer Expedition suchten. immer den höchsten Punkt zu su- Grat noch ein ganzes Stück weiter
Auch auf dem lang gezogenen Grat chen, wenn es die Bedingungen her- nach oben geht. Hunderten vermeint-
der 8091 Meter hohen Annapurna geben. Seine Kunden, unter ihnen lichen Besteigern wurde mit einem
ist – vor allem bei schlechter Sicht – erfahrene Alpinisten, gäben sich Schlag bewusst, dass sie den Gipfel
kaum zu erkennen, wo genau die nicht damit zufrieden, den Gipfel nur verpasst hatten. Viele Betroffene kor-
höchste Stelle liegt. Messner habe aus der Nähe zu betrachten, sie woll- rigierten in den folgenden Jahren
nach seinem Aufstieg, sagt Jurgalski, ten ganz oben stehen. ihren Irrtum, stiegen nochmals auf
am westlichen Teil des Grats gestan- »Der Gipfel ist der Endpunkt, das den Berg.
den, an der Ridges Junction. Er hätte Symbol für den persönlichen Erfolg, Vielleicht hatte am Manaslu über
demnach noch über zwei kleine Er- diese Idee steckt tief in uns allen Jahre die Vernunft gesiegt. Der letzte
hebungen auf- und absteigen müssen, drin«, sagt Furtenbach. Anstieg zur Spitze ist sehr steil, für
um auf den Gipfel zu gelangen. Seine Firma bietet auch Touren auf große Gruppen heikel. Wenn die
Eberhard Jurgalski war nie selbst den Manaslu an. Der Berg in Nepal Schneedecke abrutscht, kann es zur
auf einem hohen Berg. Er sei kein ist eine Art Einsteigermodell für Hi- Katastrophe kommen. Expeditions-
Abenteurer, sagt er. Der Chronist er- malaja-Abenteurer, nicht so höllisch anbieter Furtenbach ist sich allerdings
schließt sich die Gipfelregionen der gefährlich wie die Annapurna, nicht sicher, dass künftig alle Kunden auf
Achttausender durch Bilder, Daten- so schwierig zu erklimmen wie der den Aufstieg bestehen werden:
material unter anderem vom Deut- K2 und mit 8163 Metern wesentlich »Wenn man heute den Manaslu ver-
schen Zentrum für Luft- und Raum- niedriger als der Everest. kaufen will, dann geht das nur mit
fahrt und Schilderungen von Berg- Auf dem Manaslu spielte sich der dem richtigen Gipfel. Der Druck ist
steigern. größte kollektive Irrtum der Alpin- jetzt da.«
Auf seiner Website 8000ers.com geschichte ab. Über Jahre hinweg be- Reinhold Messner hat mal gesagt,
finden sich Aufnahmen, auf denen endeten Bergsteiger dort ihren Auf- es sei eigentlich vollkommen nutzlos,
alle relevanten Erhebungen der je­ stieg auf einem Plateau am Gipfelgrat, einen hohen Berg zu besteigen, man
weiligen Gipfelregionen markiert und statt bis auf die markante Spitze des finde dort oben nichts außer vielleicht
mit Höhenangaben versehen sind. Giganten zu klettern, die wie ein den Tod.
Der Forscher kennt sämtliche Vor-, Reißzahn in den Himmel ragt. Dennoch brach er wieder und wie-
Neben- und Hauptgipfel auf dem Es ist kurios. Die Erstbesteiger des der auf, getrieben vom Verlangen,
Lhotse, dem Gasherbrum I und II, Manaslu erreichten 1956 den richti- neue Maßstäbe im Alpinismus zu
dem K2, dem Cho Oyu, dem Kang- gen Gipfel, wie Fotoaufnahmen be- setzen. Messner kämpfte sich einen
chendzönga. Er weiß, dass auf der Achttausender nach dem anderen
Annapurna Bergsteiger sogar an empor, ohne Flaschensauerstoff,
zwei unterschied­lichen Stellen am Auf den Dächern der Welt mit minimalen Hilfsmitteln, über
Grat den Gipfelsieg feiern können, schwierige Routen, manchmal sogar
weil sie fast gleich hoch sind. Gipfelbesteigungen der Achttausender in Nepal, allein.
von 1970 bis 2022
Der Forscher kennt sich auch auf Er war ein Besessener. Wenn der
den unzähligen weitgehend unbe- Abenteurer einen Berg nicht hoch-
Ka
ng

kannten Bergen im Himalaja und gekommen war, weil ein Sturm auf-
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Kara­korum aus, die von der interna- zog oder die Lawinengefahr zu groß
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in Betracht gezogen werden. Wenn ein drittes Mal, bis er endlich auf dem
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Alpinisten dort doch einmal eine Erst- Gipfel stand.


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begehung planen, fragen sie bei Jur- Messner suchte in den Bergen
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galski an, ob der angepeilte Gipfel nicht das Glück oder irgendeine Art
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wirklich noch unberührt ist oder von Selbsterkenntnis, sondern die


­vielleicht doch schon jemand dort Herausforderung. Die Annapurna
oben war. Wenn es Jurgalski nicht bezwang er mit seinem Landsmann
weiß, weiß es niemand. S Quelle: Himalayan Database Hans Kammer­lander, auch er ein
€

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 93


SPORT

Spitzenbergsteiger. Sie kletterten über


eine neue Route durch die Furcht einflö­-
ßende Nordwestwand hinauf. Eine Meister-
leistung.

Flickflack mit Hitler


Lange nach der Expedition beschrieb
Messner einmal in einem Buch, dass sie
vom Gipfel der Annapurna aus ins Basis-
lager hinun­terblicken konnten. Hätte er
­diesen Satz nie verfasst, wer weiß, vielleicht
wäre es nie zum heutigen Gipfelstreit ge­ ZEITGESCHICHTE Vor 100 Jahren versuchten die Nationalsozialisten,
kommen.
Für Jurgalski und seine Helfer ist Mess- das Deutsche Turnfest zu kapern. Eine neue Untersuchung
ners Schilderung nämlich der Beleg da- zeigt, wie nachhaltig das Großevent den »Führer« der Partei prägte.
für, dass der berühmteste Bergsteiger der
Welt auf der Annapurna eben nicht am

E
höchsten Punkt stand. Von dort aus sei das s war eine der größten Massenveran­ anstaltung, desto attraktiver wird sie für poli-
Basislager weit unten unmöglich zu sehen staltungen in der Geschichte Münchens. tische Botschaften. Tauber stuft das Turnfest
gewesen. Auf der Theresienwiese, sonst Schau- deshalb nicht nur als wegweisend für die Nazi­
Messner findet es infam, dass nun behaup- platz des Oktoberfests, traten im Juli 1923 partei ein, sondern hebt seine Bedeutung für
tet wird, sie seien nicht ganz oben gewesen. Tausende Sportler beim Deutschen Turnfest die Geschichte der ersten deutschen Demo-
»Natürlich waren wir auf dem Gipfel«, sagte an. »Für Deutsches Volkstum, Deutsche Ein- kratie insgesamt hervor.
er kürzlich in einem Interview. heit, Ehre und Freiheit« formierten sich Bo- 1923 stand die Weimarer Republik am Ab-
Jurgalski sagt, ihm gehe es nicht darum, denturner zu spektakulären Choreografien, grund. Mehr als vier Jahre nach Ende des
Hochstapler oder Schwindler an den Acht- Martin Gebhardt von Eintracht Frankfurt prä­ Ersten Weltkriegs fehlte es vielerorts an
tausendern zu überführen. Er sei Forscher, sentierte ein neues Element: den Flickflack. Arbeit und Wohnungen. Kommunisten zet-
kein Detektiv. Aber die Fakten, findet er, Deutsche Turner reisten aus allen Landes- telten Aufstände an, Separatisten im Rhein-
müssten doch stimmen. Ordnung muss teilen und dem Ausland an, 250 kamen aus land wollten sich vom Reich abspalten,
sein. den Vereinigten Staaten. Mehrere Hundert- Rechtsextreme ermordeten politische Gegner.
Der Chronist hat jetzt für alle Besteigungen tausend Gäste übernachteten in Hotels, Schu- Seit Jahresbeginn hielten französische und
bis ins Jahr 2017 eine Toleranzzone einge- len und privaten Quartieren, Beobachter mein- belgische Truppen große Teile des Ruhrge-
führt, damit Messner seinen Titel als erster ten, München mit seinen 660.000 Einwohnern biets besetzt. Das Geld verlor rapide an Wert,
Mensch auf den 14 höchsten Bergen der Welt sei »über Nacht zur Millionenstadt« geworden. im Januar kostete ein Bier in München
behalten kann. Jurgalski hält das für ange- Das 13. Deutsche Turnfest versammelte 360 Mark, im Juli 9000, im November
messen angesichts der herausragenden alpi- nicht nur Athleten am Barren oder Reck, son- 260 Milliarden Mark.
nistischen Leistung, die Messner vollbracht dern auch Weitspringer, Läufer und Speer- Am Abend des 8. November sollte Adolf
hat. Für neue Gipfelversuche hingegen gilt, werfer, Fechter, Faust- und Handballer, erst- Hitler im voll besetzten Münchner Bürger-
dass Bergsteiger exakt bis zum höchsten mals durften Frauen teilnehmen. Filmkameras bräukeller auf einen Stuhl steigen, mit seiner
Punkt müssen, sonst wird der Aufstieg nicht hielten das Geschehen fest, abseits der Wett- Pistole in die Decke schießen und die »natio-
anerkannt. kämpfe bestaunten die Zuschauer »amerika- nale Revolution« ausrufen.
Jurgalski wird inzwischen angefeindet we- nische Rollschuhkunst«, gingen ins Hippo- Zum Zeitpunkt des Turnfests führte der
gen seiner Arbeit. Manche Beschimpfungen, drom und in den Tanzpavillon, strömten in 34-jährige Hitler eine dynamisch wachsende
die ihn als E-Mail erreichen, liest er sich schon Kinos und Gaststätten. Partei, 50.000 Mitglieder hatte sie am Jahres-
gar nicht mehr ganz durch. Andererseits hat Heute ist das Turnfest von 1923 fast ver- ende. Seit dem ersten Parteitag im Januar war
er Angebote von Fernsehsendern, die mit ihm gessen, seine Rolle beim Aufstieg Adolf Hit- er in den Bierhallen der Stadt vor Tausenden
im Himalaja drehen wollen. Das Gipfel-­ lers haben Wissenschaftler bislang kaum be- Zuschauern aufgetreten und hatte gegen De-
Thema ist groß. achtet. Dabei war es aus Sicht von Zeitgenos- mokraten, Juden und die Regierung gehetzt.
Von den prominenten Bergsteigern wettert sen ein »Markstein in der Entwicklung der Sport war den Nationalsozialisten wichtig,
Hans Kammerlander, Messners Annapurna- Nationalsozialistischen Partei«. er sollte die durch den Versailler Vertrag ver-
Kamerad, am heftigsten über Jurgalski. Der Der Münchner Historiker Peter Tauber hat botene Wehrpflicht ersetzen. Ihr 25-Punkte-
Südtiroler kanzelt den Forscher als Erbsen- die Bedeutung des Turnfests für Hitler und Programm enthielt eine gesetzliche Sport-
zähler ab. seine Politik in der Frühphase der NSDAP pflicht zur »Hebung der Volksgesundheit«.
Ausgerechnet Kammerlander, brummt Jur- erforscht. In einem neuen Aufsatz analysiert Die SA war als Turn- und Sportabteilung
galski in seinem Büro. Dem habe er auf seiner er es vor dem Hintergrund der schweren Kri- der Partei gegründet worden, bevor sie sich
Internetseite ein eigenes Kapitel gewidmet, sen des Jahres 1923*. Tauber, 49, von 2013 zu ihrem paramilitärischen Arm entwickelte.
Überschrift: »Book of Untruth« – Buch der bis 2018 Generalsekretär der CDU, hat dafür Jugendliche sollten »mindestens vormittags
Unwahrheit. Akten bayerischer Ministerien und der und abends je eine Stunde lang« körperlich
Im Mai 2010 hatte der Extrembergsteiger Münchner Polizei in mehreren Archiven aus- aktiv sein – »und zwar in jeder Art von Sport
im Rahmen seines Rekordprojekts, als Erster gewertet. Er urteilt: »Die Nationalsozialisten und Turnen«, schrieb Hitler später in »Mein
die Seven Second Summits zu besteigen, die erkannten, dass der Sport politisch ist.« Kampf«.
jeweils zweithöchsten Berge jedes Kontinents, Das Turnfest zeigte Hitler und seinen Leu- So etwas empfahlen Sozialdemokraten,
stolz die Besteigung des Mount Logan in ten, dass Sportwettbewerbe mehr sind als eine Liberale und Deutschnationale ebenfalls. Für
­Kanada vermeldet. Leistungsschau. Sie spiegeln gesellschaftliche Hitler aber war klar: Das galt für »Arier«,
Später stellte sich heraus: Kammerlander Trends und Konflikte. Je größer die Sportver- nicht für Juden. Deshalb hatte der »Völkische
hatte den Berg an einer völlig falschen Stelle Beobachter« als Sprachrohr der NSDAP noch
des lang gezogenen Mount-Logan-Massivs im März 1923 gefordert, dass Juden nicht am
erklommen. Sie lag mehr als zwei Kilometer * Peter Tauber: »Das Deutsche Turnfest in München Turnfest teilnehmen dürften: »Das muss unter
und die Politik Hitlers im Krisenjahr 1923«. In: »Stadion
vom Gipfel entfernt. – Internationale Zeitschrift für Geschichte des Sports«, allen Umständen verhindert werden. Und es
Gerhard Pfeil n Band 47, 2/2023. Erscheint im Dezember. wird verhindert werden.«

94 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


SPORT

republik«. Das Turnfest müsse im


Zeichen der nationalsozialistischen
Bewegung stehen. »Hakennase he­
runter und Hakenkreuz voran!«, rief
ein sudetendeutscher Turner der
Menge zu.
Nach der Veranstaltung fuhr Hitler
ab, während aufgestachelte National-
sozialisten mehrere Hakenkreuz-
Standarten aus der Halle trugen, Fah-
nen entrollten und einen Marsch
durch die Stadt starteten. Die Polizei
wollte das Verbot durchsetzen, konn-
te den Zug aber nur mit gezückten
Säbeln und Gummiknüppeln stop-
pen. Berittene Polizisten kamen hin-
zu, sieben Menschen wurden verletzt.
Die Beamten nahmen zwölf Partei-
genossen fest.
Der Aufschrei der Nationalsozia-
listen war groß, sie beklagten ein

John Graudenz / ullstein bild


»Turnermassaker in München«. Die
Polizei, erklärte Hitler, sei offenbar
»zur blutigen Bekämpfung der natio-
nalen Bewegung« bereit und ein
»Schützer des uns verhetzenden Ju-
dentums«.
Nach den Ausschreitungen wurde
In der Deutschen Turnerschaft gab paganda« nutzen. Alle Redner der Turnfestteilnehmer Hitlers zweite Turnfestkundgebung
es Antisemiten und Völkische, bald Partei wurden nach München geru- bei Umzug am verboten. An jenem Tag patrouillier-
Münchner Karlstor
schon würde der Verband mit den fen, der »Führer« sollte bei mehreren im Juli 1923: Ein
te am Zirkus Krone die Polizei. Die
Nationalsozialisten paktieren. Dieses Kundgebungen auftreten. Die Partei Ereignis, wie es die Nationalsozialisten sammelten sich
Mal aber konnten sich nationalkon- plante einen »kostenlosen Fremden- Stadt noch nicht in der Nähe auf dem Marsfeld. Erst
servativ bis liberal eingestellte Funk- dienst«, erfahrene Mitglieder mit erlebt hatte warteten sie auf Hitler, dann mar-
tionäre der Turnerbewegung mit dem Armbinden sollten den Angereisten schierten sie mit der Fahne voran los.
sozialdemokratischen Bürgermeister helfen, sich in der Stadt zurechtzu- Polizisten rückten an, die nächste
Eduard Schmid auf einen kleinsten finden. Bei einem großen Festumzug Straßenschlacht drohte. Doch dann
gemeinsamen Nenner einigen: Das am 15. Juli sollte die SA dort aushel- erschien der »Führer« und löste die
Turnfest sollte frei von Politik blei- fen, »wo der Polizeisperrdienst Lü- Kundgebung auf.
ben. Sie ignorierten die Forderung, cken zeigt«. Aus Sicht des Historikers Tauber
Juden auszuschließen. Der Münchner Polizeichef durch- eine geschickte Taktik: Hitler de­
Hitler musste entscheiden, ob sei- kreuzte diese Pläne, indem er poli­ monstrierte, dass er seine Leute im
ne Partei ihre Gewaltdrohung wahr tische Symbole während der Festtage Griff hatte, und deeskalierte im Kon-
machen sollte. Warum er anders ent- kurzfristig untersagte, auch auf Klei- flikt mit der Polizei. Der »Führer« hat-
schied, kann Historiker Tauber nun dungsstücken. Vor den Nationalsozia­ te für Ordnung gesorgt. Ein großer Teil
erklären. Die Politische Polizei Mün- listen spielte sich ein gesellschaftliches der Beamten sympathisierte bereits
chens hatte Spitzel in den Reihen der Ereignis ab, wie es die Stadt noch mit ihm, das wurde auch von den Zei-
Nationalsozialisten platziert und er- nicht erlebt hatte, und sie waren tungen im Reich registriert. Obwohl
fuhr von einem Treffen der Partei- kaum zu sehen. er »einen Krawall nach dem anderen«
führung am 2. Juli. Empörung über die Ruhrbeset- angezettelt habe, behandelten sie
Wenige Tage vor dem Fest war zung zog sich durch das gesamte Fest. »den kleinen ›Mussolini‹, wie er hier
­offen, ob Nationalsozialisten jüdische Turner aus den laut offiziellem Pro- genannt wird, stets sehr respektvoll«.
Teilnehmer attackieren sollten. Ein gramm »vom Feinde so schmählich Als Hitler im November auf den
Hitler-Vertrauter erklärte, dass dann bedrängten Gebieten« ernteten be- NSDAP-Chef Hitler: Stuhl im Bürgerbräukeller stieg,
mit »Gewaltmaßnahmen« zu rechnen sonders großen Applaus. Die Bühne »Großzügige glaubte er, Polizei und Reichswehr
sei, was bürgerliche Kreise abschre- war bereitet für Hitlers Hasstiraden. ­Werbepropaganda« auf seiner Seite zu haben. Er hat-
cken würde. Auf das Symbolverbot reagierte er te sich verkalkuliert und scheiterte,
Der Polizeispion notierte: Die Posi- nach einem bewährten Schema, er vorerst.
tion, »jüdische und von Juden durch- testete, wie weit die Polizei ihn und Das Turnfest war weitgehend frei
setzte Turnvereine nicht in München seine Leute gehen ließ. von NS-Symbolik geblieben. Nur ver-
Fuß fassen zu lassen«, sei nicht zu hal- Bei seiner ersten Kundgebung einzelt und für kurze Zeit hatten Teil-
ten. »Unser Führer Hitler hat sich zu zwängten sich 5000 Menschen in den nehmer Hakenkreuze gezeigt, beim
der Auffassung bekannt, dass eine Saal des Zirkus Krone. Der Andrang Festumzug und an einer Lokomotive
Störung des Turnfestes in irgendeiner war so groß, dass die Polizei das Ge- im Hauptbahnhof. Gut ein Jahrzehnt
Form durch unsere Partei uns nur zum bäude abriegeln musste. Drinnen be- später wehten Naziflaggen in den Sta-
Schaden gereichen könnte.« schimpfte der »Führer« die Reichs- dien der Olympischen Spiele von Gar-
Upi / dpa

Hitler wollte das Turnfest stattdes- regierung und seine Abgeordneten misch-Partenkirchen und Berlin.
sen »zu einer großzügigen Werbepro- als »Revolutionshuren« einer »Schand- Andreas Meyhoff n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 95


WISSEN

ESA / Euclid Consor tium / NASA / CC BY-SA 3.0 IGO; Bildverarbeitung: J.-C. Cuillandre / G. Anselmi
Fast zum Greifen nah wirken die rund 1000 Galaxien des Perseushaufens, dabei ist er 240 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt.
Im Hintergrund zeigt das vom ESA-Weltraumteleskop »Euclid« gesendete Bild rund 100.000 weitere Galaxien in unvorstellbaren
zehn Milliarden Lichtjahren Entfernung. Die Aufnahme ist eines der ersten Bilder, die »Euclid« aus dem All gesandt hat. Weitere sollen folgen
und vor allem zwei der größten Mysterien im Universum besser zu verstehen helfen: Dunkle Materie und Dunkle Energie.

Verdunklungsgefahr
hindern, dass die Strahlen auf die Erdoberfläche treffen. Der
Klima­effekt, der sich nun aus der verringerten Luftverschmut-
zung ergibt, ist laut den Forschern ungefähr so groß wie der des
weltweiten Treibhausgasausstoßes von zwei Jahren.
ANALYSE Forscher fordern, Chemikalien in der
Forschende um den langjährigen Nasa-Klimaexperten James
Atmosphäre zu versprühen, um die Erderwärmung Hansen fordern eine Giftkur für den Planeten – ein »vorüber­
zu mildern. Das ist eine riskante Idee. gehendes Sonnenstrahlungsmanagement zum Beispiel über die
absichtliche Injektion von atmosphärischen Aerosolen«. Nur so
Schiffsabgase waren bis vor Kurzem der letzte Dreck – ein Che- lasse sich die Erderwärmung rasch genug bremsen. Flugzeuge oder
mikalienmix voller Ruß, Feinstaub, Stickoxiden und vor allem Ballons würden dabei in die Stratosphäre aufsteigen und massen­
toxischen Schwefeloxiden. Seit 2020 dürfen Schiffskraftstoffe haft Aerosole wie etwa Schwefelverbindungen oder Kalzium­
nur noch höchstens 0,5 statt 3,5 Prozent Schwefel enthalten; al- karbonat versprühen. Für viele andere Klimawissenschaftler
ternativ müssen die Betreiber die Abgase durch Nachbehand- ist dieses sogenannte solare Geoengineering ein riskanter Plan:
lung vom Schwefel befreien. Die Vorschriften wirken, die globa- Die Aerosole könnten Wettersysteme verändern, fürchtet Bärbel
len Schwefeldioxidemissionen sind um rund ein Zehntel gefallen. ­Hönisch, Professorin für Erd- und Umweltgeschichte an der New
Doch die reinere Luft hat Nachteile: Die verringerte Luftver- Yorker Columbia-Universität. Was, wenn das Wasser in trocke-
schmutzung durch Schiffsemissionen wird laut Berechnungen nen Weltregionen wie dem Nahen Osten ganz zur Neige ginge?
der Klimawissenschaftler Piers Forster und Zeke Hausfather die Wenn durch weniger Sonnenlicht Ernten schwächer ausfielen?
globalen Temperaturen bis 2050 um rund 0,05 Grad erhöhen. Oder die Monsunregenfälle über Südasien und Westafrika aus-
Denn Schwefelpartikel können die Erderwärmung reduzie- blieben? »Wann immer die Menschheit gedacht hat, sie könnte
ren. Wenn sie in der Atmosphäre schweben, reflektieren sie mit Eingriffen das Erdsystem verbessern«, mahnt die Forscherin,
einen kleinen Teil der Sonneneinstrahlung ins Weltall und ver- »ist es meistens nach hinten losgegangen.« Claus Hecking

96 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Grünes Wunder programmieren. Die Zellen werden in ihren »Aber das Experiment mit den Makaken legt
ursprünglichen Zustand zurückversetzt, in nahe, dass es funktionieren könnte.« Mit
STAMMZELLFORSCHUNG Ein Team um eine Phase der embryonalen Entwicklung, der Stammzelltechnik könnte es eines Tages
Zhen Liu vom Neurowissenschaftlichen Ins- bei der aus ihnen noch alles werden kann: möglich sein, menschliche Ersatzorgane in
titut der Chinesischen Akademie der Wis- Muskeln, Nerven oder Eizellen. Ein lebens- Tieren heranwachsen zu lassen. KOE
senschaften in Shanghai hat – mit mehr als fähiges Mischwesen nach diesem Prinzip ist
200 Anläufen – ein Affenjunges geschaffen, nun erstmals bei Primaten gelungen. Bis-
dessen Erbgut von mehreren Tieren lang waren solche Versuche nur mit Mäusen
stammt, ein Mischwesen mit mehr als zwei und Ratten geglückt – und die zählen allen-
Elternteilen. In den Embryo eines Makaken falls zu den sehr weit entfernten Verwand-
wurden Stammzellen eingeschleust, dann ten des Menschen.
trug ihn eine Leihmutter aus. In manchen Was bei Makaken funktioniere, »sollte
Geweben betrug der Anteil der Stammzel- wahrscheinlich auch bei Menschen möglich
len 90 Prozent. Weil den Zellen das Gen für sein«, vermutet Daniel Besser vom deut-
ein grün fluoreszierendes Eiweiß zugesetzt schen Stammzellnetzwerk. Vergangenes Jahr
wurde, lässt sich dieser Anteil so genau be- konnte ein Forschungsteam zeigen, dass
ziffern – Augen und Haut des Mischwesens menschliche Zellen in einen naiven Zustand
schimmern grünlich. gebracht werden können. »Ob sich aus die-
Möglich machten das Experiment künst- sen Zellen ein kompletter Mensch züchten

Jing Cao / Cell


lich hergestellte naive Stammzellen. Um sie lässt, können wir natürlich im Experiment Makakenjunges mit
zu gewinnen, werden Gene in entwickelte nicht beweisen«, sagt Besser; das sei aus ethi- Fluoreszenz-Gen
Körperzellen eingeschleust, die diese um- schen Gesichtspunkten nicht durchführbar.

»Die politische Stimmung hat


Korman: Über die Saison hinweg SPIEGEL: Was schließen Sie aus
lag die Fehlerzahl ausländi- den Ergebnissen für Arbeit­

Einfluss auf die Zahl der Fehler«


scher Spieler aus Trump-freund- nehmerinnen und Arbeitneh-
lichen Staaten um elf Prozent mer in anderen Berufen?
höher als die der ausländischen Korman: In vielen Jobs stehen
Profis aus Trump-kritischen Menschen unter Beobachtung.
ARBEITSPSYCHOLOGIE Ausländische Basketballprofis
Staaten. Gleichzeitig haben ein- Taxi- oder Busfahrer haben
spielen schlechter, wenn sie für Teams in Donald heimische Spieler, die für Teams Fahrgäste, die beobachten, was
Trumps Hochburgen aktiv sind. Der Psychologe in Trump-Hochburgen gespielt sie tun. Wenn Fahrer mit Migra-
haben, weniger Fehler gemacht. tionshintergrund einheimische
Benjamin Korman von der Uni Konstanz erklärt, was SPIEGEL: Was heißt das? Fahrgäste haben, könnte es
das für die Leistungen in anderen Jobs bedeutet. Korman: Womöglich werden die sein, dass sie aus Angst vor Stig-
Leistungen von Arbeitnehmern matisierung unsicher werden
SPIEGEL: Herr Kor- der Profis und der politischen und Arbeitnehmerinnen von und Fehler machen.
man, Sie haben he- Stimmung am Heimatstandort der politischen Lage in ihrer Re- SPIEGEL: Wie belastbar sind die
rausgefunden, dass ihrer Mannschaft. Die Auswer- gion beeinflusst. Jemand mit Erkenntnisse bezüglich der
ausländische Spie- tung liefert Anzeichen dafür, Migrationshintergrund könnte ­Frage, ob das politische Umfeld
ler in der NBA, der dass ausgeprägte rechte Gesin- deshalb im Beruf weniger leis- tatsächlich die Ursache für die
Basketball-Profi­liga nung Einfluss auf die Zahl der ten als eine einheimische Per- schlechtere Leistung ist?
Privat

in Nordamerika, Fehler haben könnte, die auslän- son. Aber das bedeutet nicht, Korman: Eine Stärke unserer
in Ligaspielen mehr Fehler ma- dische NBA-Spieler machen. dass diese Person weniger fähig Studie ist, dass die Daten objek-
chen, wenn sie für Teams in SPIEGEL: Wie viel mehr Fehler wäre. Vielmehr könnte die poli- tiv sind und nicht auf Fragebo-
politisch stark rechts geprägten sind ausländischen NBA-­ tische Lage in einer Region gen basieren. Wir haben die
Gegenden spielen. Lassen sich Spielern in Trump-Hochburgen ­bestimmte Leute belasten und echte politische Stimmung und
die Basketballer von der politi- unterlaufen? anderen in ihrem Job helfen. echte Fehler der Spieler analy-
schen Stimmung verunsichern? siert. Außerdem haben wir wei-
Korman: Das ist eine Interpre­ tere Variablen überprüft und
tationsmöglichkeit unserer konnten zum Beispiel ausschlie-
­Ergebnisse. Noch handelt es sich ßen, dass das Alter oder die
um eine Hypothese. Falls sie Position der Spieler zu mehr
sich bestätigt, könnte sie für die Fehlern bei ausländischen Spie-
Qualität der Arbeit vieler lern geführt haben.
Arbeitnehmerinnen und Arbeit- SPIEGEL: Selbst der deutsche
nehmer von Bedeutung sein. Basketballspieler Dirk Nowitz-
SPIEGEL: Was genau haben Sie ki war anfangs in der NBA
James Devaney / WireImage / Getty Images

untersucht? mit Vorurteilen konfrontiert.


Korman: Wir haben Daten aus Ausländische Spieler wur-
der NBA-Saison 2020/21 analy- den als zu weich für eine Liga
siert, darunter Spielstatistiken wie die NBA angesehen.
von insgesamt 522 Profis. Davon Spielt das hier ebenfalls eine
waren 118 nicht in den USA Rolle?
­geboren worden. Wir haben ge- Trump bei einem Spiel der
Korman: Diese Stereotype habe
schaut, ob es eine Korrelation New Jersey Nets 2007 ich während meiner Recherche
gibt zwischen den Leistungsdaten auch entdeckt. PTZ

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 97


WISSEN

Heilsame Flammen
NATURSCHUTZ Am Ende einer Rekordsaison von Waldbränden diskutiert Kanada über die Frage, wie sie verhindert
werden können. Fachleute und Indigene wollen die Brände auf eine traditionelle Art bekämpfen – mit Feuer.

Luftaufnahme eines
Joshua Neufeld

kontrollierten
Feuers bei Yunesit’in
in Südwestkanada

98 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WISSEN

M
it Feuer ist es wie mit Wasser: Es hat tes Brandwetter mindestens doppelt so wahr­ Pascal gehört der Lil’wat First Nation an,
eine schöpferische Seite und eine scheinlich gemacht. Wenn die Temperaturen wie Kira Hoffman hat er früher selbst Wald­
zerstörerische, eine, die Leben gibt, steigen, wenn die Böden austrocknen und die brände bekämpft. Inzwischen leitet er eine
und eine, die Leben nimmt. Wer mit Russell Luftfeuchtigkeit niedrig ist, steigt auch das Abteilung für kontrolliertes Feuer bei FNESS,
Myers Ross über die Hügel um Yunesit’in Risiko verheerender Brände. einer gemeinnützigen Organisation in British
fährt, bekommt beide Seiten zu sehen. Immer Droht jetzt also in jedem Jahr ein Inferno Columbia. »Wir wollen die Verfahren wieder­
wieder rumpelt sein alter Geländewagen an oder zumindest in jedem zweiten? Angesichts beleben, die First Nations früher angewendet
verkohlten Baumstämmen vorbei, wie ab­ dieser Bedrohungslage werden die Rufe nach haben und so lange nicht mehr anwenden
gebrannte Streichhölzer ragen sie aus der einer neuen Strategie lauter. Einer, die sich durften«, sagt er.
Erde. Es sind die Überreste eines Waldbrands, nicht erst mit dem Wald beschäftigt, wenn er Grundsätzlich wird in Kanada zwischen
der im Sommer 2017 hier auf dem Chilcotin brennt, sondern lange davor. zwei Arten von kontrolliertem Feuer unter­
Plateau im Südwesten Kanadas wütete. »An »Es reicht nicht mehr, nur zu reagieren, schieden. »Cultural Fire« bezeichnet die Kul­
manchen Stellen war hinterher nur Asche üb­ das hat diese Saison eindrücklich gezeigt«, turpraktik der Indigenen. Sie kann viele
rig«, erzählt Myers Ross, »man konnte keinen sagt Kira Hoffman, die einmal Feuerwehrfrau unterschiedliche Formen annehmen und vie­
Vogel hören, keine einzige Ameise sehen, es war und inzwischen als Feuerökologin an der le unterschiedliche Ziele haben. Feuer wurden
fühlte sich an wie eine Wüste.« University of British Columbia forscht. »Wir und werden nicht nur gelegt, um Waldbrände
Myers Ross war damals Oberhaupt von müssen Wege finden, um das Risiko schwerer zu verhindern, sondern auch, damit Pilze und
Yunesit’in, einer der sechs Gemeinden der Waldbrände zu verringern.« Beeren besser wachsen, Hirsche und Elche
Tsilhqot’in First Nation, einem indigenen Volk Für Hoffman und viele ihrer Kollegen, da­ mehr Futter finden oder das Jagen weniger
in Kanada. Er erinnert sich, wie er in einem runter den Freiburger Feuerökologen Johann mühsam ist. »Prescribed Fire« hingegen – was
Helikopter über den Bränden schwebte und Georg Goldammer, gehört Feuer zu einer vo­ sich am ehesten mit »verordnetes Feuer«
überall Flammen sah, zum Teil nur wenige rausschauenden Strategie. Viele Ökosysteme übersetzen lässt – soll vor allem Brennmate­
Hundert Meter von Wohnhäusern entfernt. seien sogar auf Brände angewiesen, sagt Hoff­ rial vernichten, wird minutiös geplant und in
Die Siedlung konnte gerettet werden. Trotz­ man, etwa im Westen Kanadas. Auf Anord­ aller Regel unter Beteiligung staatlicher Be­
dem hätten ihn hinterher Fragen gequält: »Ich nung der Europäer aber verschwand Feuer hörden durchgeführt.
wollte wissen, wie wir den Wald erneuern Ende des 19. Jahrhunderts fast vollständig aus Welche der beiden Varianten besser zur
können. Und ich wollte sicherstellen, dass so den dortigen Wäldern. Natürliche Brände Waldbrandprävention taugt, ist umstritten.
etwas nicht noch einmal passiert.« wurden aggressiv bekämpft, die Praktiken Befürworter des Prescribed Fire betonen, dass
Seine Antwort zeigt Myers Ross durchs der Indigenen unterdrückt. Damit veränder­ es größere Flächen abdecken könne, Befür­
Autofenster: Orte, an denen er selbst Feuer te sich die Struktur der Wälder: Vielerorts worter des Cultural Fire, dass es ganzheitlich
gelegt hat. Kleine, kontrollierte Brände, die sind sie dichter geworden, auf dem Boden sei und auf einer engeren Beziehung zum
sich im Frühjahr oder Herbst langsam durchs sammeln sich Totholz und Gestrüpp – Zünd­ Land basiere. Wichtig sei jedenfalls, die First
Land fressen, um trockenes Gras zu vernich­ stoff, der jetzt verheerende Brände anheizt. Nations einzubeziehen, ja ihnen sogar die
ten und herabgefallene Äste in nährstoffreiche In anderen Ländern hat man den Zusam­ Führung zu überlassen, sagt Pascal: »Es ist
Erde zu verwandeln. Die dazu führen, dass menhang längst erkannt, in den USA oder Teil ihrer Kultur. Außerdem haben sie lokales
die Büffelbeeren zurückkommen und Schiller­ Australien etwa werden jedes Jahr großflächig Fachwissen.« Wenn eine Gemeinschaft seit
gräser in üppigen Büscheln wachsen. Manch­ Feuer gelegt, um Brennmaterial zu vernich­ Generationen an einem Ort lebe, kenne sie
mal treffen diese guten Flammen auch auf ten. Kanada aber hinkt hinterher. Landschaft und Wetterverhältnisse – und wis­
einen Baum, eine übrig gebliebene Douglasie Fragt man Dave Pascal, woran das liegt, se daher am besten, wo und wann ein Feuer
oder eine junge Amerikanische Espe. Aber sagt er: »Die anderen hatten ihre katastro­ gelegt werden könne.
solange sie nicht zu heiß und nur in Boden­ phalen Verluste schon. Wir machen diese Gestützt wird Pascals Forderung durch
nähe brennen, könnten die Flammen den neue Realität gerade durch.« An einem Don­ neuere Erkenntnisse der Wissenschaft. Sie
Bäumen nichts anhaben und – da ist Myers nerstagvormittag Ende August sitzt er im Be­ fand in den vergangenen Jahren immer wie­
Ross überzeugt – machten sie auf lange Sicht sprechungszimmer seines Büros in Vancouver. der Belege dafür, dass das Feuermanagement
sogar widerstandsfähiger, etwa weil die Bäu­ Draußen malt die Sonne orangefarbene Fle­ der Indigenen gut für den Natur- und Klima­
me eine dickere Rinde ausbildeten. cken auf den Boden, ein Zeichen, dass Rauch schutz ist. Daten aus dem Norden Australiens
Sein Ziel sei es, irgendwann einen Ring um in der Luft hängt, wieder einmal. 368 Wald­ etwa zeigen, dass sich das Ausmaß schwerer
die ganze Gemeinde zu legen, sagt er, einen brände wurden an diesem Tag allein in British Buschfeuer in der sogenannten späten Tro­
Ring aus frischer, gesunder Vegetation, die Columbia gezählt, der Provinz im Westen ckenzeit deutlich reduzieren lässt, wenn frü­
einen Waldbrand stoppen kann, weil sie ihm Kanadas, in der Vancouver liegt. her im Jahr kleinere Feuer entzündet werden.
keine Nahrung bietet. Entsprechende Projekte sind ein wichtiger
Die schöpferische Seite von Feuer nutzen, Teil des australischen Emissionshandels. Eine
um seine zerstörerische zu bekämpfen: Es ist Metastudie von Feuerökologin Hoffman und
ein Verfahren, das indigene Völker schon vor Kollegen kommt derweil zu dem Ergebnis,
Jahrtausenden eingesetzt haben – und das dass die biologische Vielfalt in einem Gebiet
nach einer weiteren Extremsaison neue Auf­ häufig zunimmt, wenn es von Indigenen mit
merksamkeit bekommt. Allein in Kanada sind Feuer gemanagt wird. Die Flammen führen
in diesem Jahr bislang mehr als 18 Millionen dem Boden Nährstoffe zu, sorgen für Platz
Hektar Wald verbrannt, eine Fläche, etwa und Licht und helfen, invasive Arten zu be­
halb so groß wie Deutschland. Es sind die kämpfen. Manche Pflanzen setzen gar nur
schlimmsten Waldbrände seit Beginn der Auf­ dann Samen frei, wenn es brennt, die Küsten­
Rick Collins / DER SPIEGEL

zeichnungen, zeitweise zogen die Rauch­ kiefer zum Beispiel.


wolken bis nach Westeuropa. Doch es gibt auch Hürden, die es Indigenen
Fachleute sind sich einig, dass der Klima­ in Kanada erschweren, ihre Praktiken anzu­
wandel mitverantwortlich ist für diese Ex­ wenden. So ist es oftmals schwer, finanzielle
treme. Eine Analyse der Initiative »World Unterstützung zu bekommen, etwa um Men­
­Weather Attribution« für die Provinz Quebec schen im Umgang mit dem Feuer auszubilden.
ergab: Die Erderwärmung hat dort sogenann­ Indigener Myers Ross im Brandgebiet von 2017 Gerade Jüngere haben ihn oft nicht mehr

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 99


WISSEN

­ elernt. Außerdem gelten unterschiedliche


g
SPIEGEL TV Programm Regeln, je nachdem, wo ein Feuer gelegt wer-
den soll. Russell Myers Ross kann das an-
schaulich erklären: Solange es auf dem Gebiet
seines Reservats brennt, ist er weitestgehend
frei. Sobald eines seiner Feuer aber dessen
Grenze überschreitet, muss er detaillierte Plä-
ne einreichen und eine offizielle Erlaubnis
einholen. Aus einem kleinen Cultural Fire
kann so ein langwieriger, komplizierter Pro-
zess werden. Und eine Quelle für Konflikte:
Oft gehen die traditionellen Territorien, um
die sich Indigene gern kümmern würden, weit
über ihre Reservate hinaus.
Gleichzeitig ist die Vorsicht der Behörden
berechtigt. Denn selbst kontrollierte Feuer
können außer Kontrolle geraten: Im Jahr 2022
entwickelten sich im US-Bundesstaat New
Mexico zwei Brände, die Feuerwehrleute

SPIEGEL TV
­gelegt hatten, zum größten Waldbrand seit
Beginn der dortigen Aufzeichnungen, mehr
Ukrainischer Soldat mit Mörsergranate als 300 Wohnhäuser wurden zerstört. »Es
wird immer ein Risiko geben«, so sieht es
Hoffman. »Aber wir müssen auch bedenken,
SPIEGEL TV TERRA X HISTORY welche Risiken es hat, etwas nicht zu tun.«
MONTAG, 13. 11., 23.25 – 0.00 UHR, RTL SONNTAG, 12. 11., 23.40 – 0.25 UHR, ZDF Myers Ross arbeitet für sein Projekt mit
William Nikolakis zusammen, Assistenzpro-
Der vergessene Krieg Partisanen – Krieg aus dem fessor an der Fakultät für Forstwirtschaft der
Seit 18 Monaten kämpft die Ukraine Hinterhalt University of British Columbia. Gemeinsam
um ihr Überleben. Trotz westlicher Unter­ Sie schlagen ohne Vorwarnung zu. beobachten sie, wie sich die Feuer auf die
stützung gelingt es den ukrainischen Für die einen sind sie Freiheitskämpfer, Vegetation auswirken, welche heimischen
Truppen nicht, Russland zu schlagen. für andere Terroristen: Partisanen ver­ Pflanzen nachwachsen und welche invasiven
Selenskyjs lang angekündigte Offensive üben hinter den feindlichen Linien An­ Arten verschwinden. Es gibt Kameras, die
ist zum Stillstand gekommen. Statt­ schläge oder Sabotageakte – auch heute aufzeichnen, wie viele Rehe und Hirsche das
dessen versuchen Putins Soldaten nun, noch. In der Ukraine kämpfen sie gegen frische Gras fressen. Satellitenbilder sollen
an der Ostfront durchzubrechen. Aus Putins Truppen. Wie schon im Zweiten helfen, den Zustand des Walds langfristig zu
dem Krieg ist ein Stellungskrieg ge­ Weltkrieg, als auf demselben Boden überwachen, Softwaremodelle, die eingespar-
worden, mit blutigen Grabenkämpfen Partisanen aus dem Verborgenen die ten Emissionen zu kalkulieren. »Indigenes
wie im Ersten Weltkrieg. Zwei Wochen deutschen Invasoren angriffen. und westliches Wissen arbeiten bei uns Hand
lang war das Team von SPIEGEL TV an der in Hand«, sagt Nikolakis. »Wir wollen heraus-
Front unterwegs und ist dabei selbst finden, was in welchem Ökosystem am besten
unter Beschuss geraten. DMAX funktioniert.« Es gehe nicht darum, einfach
DONNERSTAG, 16. 11., 22.15 – 23.10 UHR, DMAX überall Brände zu legen – sondern dem Land
Feuer zu geben, das Feuer brauche, und zwar
TERRA X Speed-Cops – Raser und Poser zum richtigen Zeitpunkt.
SONNTAG, 12. 11., 19.30 – 20.15 UHR, ZDF im Visier. Folge 1 Auf der Fahrt über die Hügel um Yunesit’in
Speziell ausgebildete Beamte gehen in deutet Myers Ross immer wieder auf einen
Schätze unter Wasser Deutschland auf die Jagd nach Verkehrs­ Flecken alten Schillergrases, das sich gräulich-
In der Terra-X-Dokumentation »Schätze sündern. Diese Dokureihe blickt exklusiv gelb verfärbt hat und einen Waldbrand an-
unter Wasser« stellt der Unterwasser- hinter die Kulissen: In Hamburg ist ein fachen könnte. Oder auf ein Büschel Luzerne,
Archäologe Florian Huber vier euro­ Chrysler-Fahrer mit der Kontrolle nicht das dort eigentlich nichts zu suchen hat. Noch
päische Wissenschaftsprojekte vor: ein einverstanden, in Offenbach entwickelt hat er nicht entschieden, wo er das nächste
Unterwassermuseum in der Ägäis, sich ein dramatisches Katz-und-Maus- Feuer entzünden will. Aber all das könnten
­steinzeitliche Pfahlbauten auf den Äuße­ Spiel um einen Golf, und in Hannover Stellen sein, die seine Hilfe brauchen. Er er-
ren Hebriden Schottlands, Tiefsee­ stoppen die Beamten einen lärmenden klärt, wie er erst ein kleines Testfeuer legt und
forschung vor Madeira und ein Wrack in Rowdy – sein Motto: »Einfach immer dabei gegen den Wind arbeitet, damit sich die
der schwedischen Ostsee. Sportmodus«. Flammen möglichst langsam bewegen. Wie
er natürliche Brandschneisen mit einplant,
einen Bach etwa. Wie der Boden genau die
richtige Menge an Feuchtigkeit haben muss,
die Sonne genau die richtige Intensität.
Jedes Jahr lerne er dazu, sagt Myers Ross.
Längst will er nicht mehr nur Waldbrände
verhindern: »Es geht darum, dass wir eine
Verbindung zum Land haben, uns darum
SPIEGEL TV

SPIEGEL TV

kümmern. Dass wir darüber nachdenken, wie


ein gesunder Wald aussehen muss.«
Taucher in der griechischen Ägäis Beamter im Einsatz in Offenbach Sophia Schirmer n

100 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WISSEN

zu korrigieren, stellten Ärztinnen und Ärzte


oft fest: Der Osteotomie genannte Eingriff
wirkte nicht nur der Überlastung bestimmter

Weg mit dem


Gelenkflächen entgegen, sondern führte auch
zu einer Erneuerung von Knorpelgewebe.
Die Forschenden in Utrecht setzen einen

Knieschmerz
Fixationsrahmen ein, der mit Schrauben in
Oberschenkelknochen und Schienbein ver-
ankert wird. Dann werden die Knochen mit-
hilfe des Rahmens einige Wochen lang vor-
sichtig um fünf Millimeter auseinanderge­
ARTHROSE Forschende in den Niederlanden haben zogen, damit der Gelenkspalt größer wird.
Die Methode heißt Kniegelenkdistraktion.
ein Verfahren entwickelt, das im Gelenk neuen In einer Studie trugen 20 Frauen und Män-
Knorpel wachsen lässt und auch die Beschwerden lindert. ner mit schwerer Kniegelenkarthrose den Fi-
xationsrahmen zwei Monate lang, dann wur-
de er entfernt. Die Auswirkung des Eingriffs

D
er Knorpel ist der Schmierstoff für ein Es gebe mehr und mehr Hinweise, dass überprüften die Forschenden im MRT. Vor
aktives Leben. Ohne ihn könnte sich nie- man »den Prozess des Gewebezerfalls bei dem Eingriff und dann im Abstand von einem,
mand schmerzfrei bewegen. Er hat eine Arthrose umkehren kann«, schreibt Jansen zwei, fünf, sieben und zehn Jahren. Das Er-
perfekte glatte Oberfläche und ist zudem von gemeinsam mit ihrem Kollegen Simon Mast- gebnis: Die Knorpelschicht wuchs besonders
einer zähen Flüssigkeit umgeben. Im Knie etwa bergen in einem Übersichtsartikel im renom- in den ersten zwei Jahren nach dem Eingriff
sorgt er mit diesen Eigenschaften dafür, dass mierten Fachmagazin »Nature Reviews Rheu- und war auch noch nach zehn Jahren größer.
die Reibung zwischen den Gelenkteilen nur so matology«. Diese »Reparaturaktivität« erklärt Jansen
groß ist wie die von Schlittschuhen auf Eis. Kann das verschlissene Material sich wirk- mit drei möglichen Mechanismen. Erstens
Wehe, wenn Knorpel fehlt. Dann scheuert lich verjüngen? »Ich nehme die Ergebnisse nehme die Distraktion mechanischen Druck
Knochen auf Knochen. Ungefähr ein Drittel sehr ernst«, sagt Henning Madry, Professor vom Knorpel, sodass er von der Synovial­
der Männer und die Hälfte der Frauen über für Experimentelle Orthopädie und Arthrose- flüssigkeit, laienhaft Gelenkschmiere genannt,
60 haben Schmerzen, die durch Knorpel- forschung am Universitätsklinikum des Saar- wieder besser mit Nährstoffen versorgt wird.
schwund, auch Arthrose genannt, verursacht lands. »Durch die Entlastung wird dem Knor- Damit er sich wie ein Schwamm vollsaugen
werden. Mehr als vier Millionen Menschen pel anscheinend die Möglichkeit gegeben, sich und auspressen kann, sollen die Patienten sich
in Deutschland haben sich bereits ein künst- zu regenerieren. Ich bin schon baff, dass das mit dem Rahmen am Bein sogar bewegen.
liches Gelenk einbauen lassen, weil sie sich so gut zu funktionieren scheint.« »Knorpel benötigt g ­ ewisse Druckverände-
nicht anders zu helfen wussten. Der kostbare Stoff besteht zu rund 70 Pro- rungen, um gesund zu bleiben«, so Jansen.
Doch künftig könnte es eine Alternative zent aus Wasser, zu ungefähr 25 Prozent aus »Die Patienten werden des­halb von uns er-
zum Ersatzteil geben. In einer Reihe von Ex- Kollagenfasern sowie anderen Proteinen und muntert, mit dem behandelten Knie zu gehen,
perimenten an Patienten mit Arthrose im nur zu 5 Prozent aus Knorpelzellen. Letztere gegebenenfalls auf Krücken.«
Knie hat das Team der Forscherin Mylène stellen die extrazelluläre Matrix her, also die Zweitens wirkt die Distraktion auch auf
Jansen vom University Medical Center elastische Substanz zwischen den Zellen. Das die umliegenden Knochenzellen und regt sie
­Utrecht gezeigt, dass Arthrose gebremst und Gewebe wird nicht durchblutet; lange hat dazu an, das malträtierte Gewebe mittels Bo-
sogar rückgängig gemacht werden kann. Die man ihm deswegen die Fähigkeit abgespro- tenstoffen wieder instand zu setzen. Und drit-
Wissenschaftler und Ärztinnen entlasten dazu chen, nachwachsen zu können. tens werden Stammzellen aktiviert, die sich
das Knie mit einer speziellen Apparatur. Im Allerdings gab es schon in den Neunziger- in neue Knorpelzellen verwandeln können.
Gelenkspalt entsteht Platz, sodass der Knor- jahren des vergangenen Jahrhunderts Hinwei- Es gibt aber auch Risiken bei der Behand-
pel in vielen Fällen nachwächst und dicker se auf Selbstheilungskräfte. Nach Operationen, lung. So können Entzündungen auf der Haut
wird. Zugleich werden die Beschwerden der bei denen Knochen durchtrennt und umgestellt entstehen, dort, wo der Rahmen angeschraubt
Patienten gelindert. wurden, um etwa X- oder O-Bein-Stellungen wird. Diese Nebenwirkung wollen die Utrech-
ter verringern, indem sie eine antimikrobiel-
le Salbe verwenden. Schon bald wird laut
Unterstützende Dehnung Oberschenkel-
knochen
Jansen in verschiedenen niederländischen
Krankenhäusern eine randomisierte Studie
Das Verfahren der mit insgesamt 1200 Kniepatienten starten.
Kniegelenkdistraktion
Die Studie soll herausfinden, ob die Dis-
A Die Knochen werden einige traktion eine Alternative zum Einbau eines
Wochen auseinanderge-
zogen, dadurch weitet sich
Stamm- künstlichen Gelenks sein kann. Solche Ge-
zellen lenke lindern zwar ebenfalls den Schmerz,
der Spalt im Kniegelenk.
verlieren jedoch mit der Zeit den Halt und
Der Knorpel wird entlastet A
und wieder besser mit Knorpel
müssen mit immer größerem Aufwand er-
Nährstoffen versorgt. neuert werden. Je nach Ausgang der Studie
Umliegende Knochen- Gelenk- A wird die niederländische Regierung entschei-
zellen setzen Stoffe frei, flüssigkeit den, ob sie das noch junge Verfahren mit dem
die zur Reparatur des Fixationsrahmen in die Regelversorgung auf-
Knorpels beitragen können. nimmt. Madry, der Orthopäde am Universi-
Stammzellen werden tätsklinikum, ist gespannt. Er sagt: »Wenn es
aktiviert und können
neue Knorpelzellen
mit der Kniegelenkdistraktion gelänge, das
Knochen Einsetzen einer Endoprothese um fünf Jahre
bilden. Schienbein
S Quelle: Jansen und Mastbergen
zu verschieben, wäre das schon beachtlich.«
(Nature Reviews Rheumatology, 2022) Jörg Blech n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 101


WISSEN

Energie für seine Heizung aus Fern-


wärme, also Rohren, durch die heißes
Wasser oder Dampf geleitet wird.
Bis zum Jahr 2045 soll diese Zahl
nach den Plänen der Bundesregie-
rung deutlich steigen: auf mehr als
jeden dritten Haushalt. Bislang wird
ein Großteil dieser Wärme in Kraft-
werken aus Kohle und Gas erzeugt.
Wenn diese in den kommenden Jah-
ren abgeschaltet werden, könnten so-
genannte Großwärmepumpen wie
jene in Mannheim die Aufgabe über-
nehmen.
Im Gegensatz zu herkömmlichen
Wärmepumpen für Einfamilienhäu-
ser setzen die meisten Großanlagen

Markus Prosswitz / MVV


als Wärmequelle nicht auf Umge-
bungsluft, sondern Wasser aus Seen
und Flüssen. Je nach Größe können
sie mehrere Wohnblocks, ein Stadt-
viertel und sogar größere Industrie-
betriebe beliefern. So schnell wie
möglich wollen Forschende den Rie-
senmaschinen nun zur Marktreife

Reifeprüfung für die


verhelfen.
»Großwärmepumpen werden bis-
lang nur in Kleinserien oder als Ein-

Riesenpumpe
zelanfertigung hergestellt«, sagt Fa-
bian Ahrendts, Leiter der Abteilung
für Hochtemperaturwärmepumpen
an der Fraunhofer-Einrichtung für
Energieinfrastrukturen und Geother-
TECHNOLOGIE Großwärmepumpen können Tausende Haushalte gleichzeitig mit mie IEG in Cottbus. Ahrendts will das
ändern. Mit seiner Arbeitsgruppe hat
Heizenergie versorgen. So sollen sie die Fernwärme klimaneutral machen. er in einem Container eigens einen
­Forschende wollen den Maschinen schnellstmöglich zum Durchbruch verhelfen. Prüfstand für die Riesenpumpen auf-
gebaut – die erste öffentlich zugäng-
liche Teststation dieser Größe in

N
ur wenige Meter trennen in Noch stünden letzte Tests an, sagt Flusswärmepumpe Deutschland.
Mannheim das fossile Zeitalter Baumgärtner, bevor der Regelbetrieb in Mannheim: Zu den Entwicklern von Großwär-
Genug Heizenergie für
von der klimaneutralen Zu- beginne. 3500 Haushalte mepumpen gehören Start-ups, aber
kunft. Auf dem Gelände eines Stein- Ungefähr jeder siebte Haushalt in auch etablierte Unternehmen wie
kohlekraftwerks, zwischen den ge- Deutschland bezieht schon jetzt die Viessmann. Sie können ihre Geräte
waltigen Blöcken sechs und acht, am Prüfstand anschließen und im
steht eine unscheinbare Halle. Inge- Dauereinsatz testen: Wie zuverlässig
nieur Georg Baumgärtner vom Ener- Wärme aus dem Wasser läuft das Gerät? Wie oft muss es ge-
gieversorger MVV führt durch eine reinigt und gewartet werden? Wie
Tür zu einer Maschine mit dicken Funktionsweise einer Großwärmepumpe hoch ist der Stromverbrauch?
Rohren und Ventilen, die ungefähr Wärme Verdichter Ein Kältemittel nimmt Auf Knopfdruck lassen sich in der
aus gespeicherte Wärme
doppelt so groß ist wie er selbst: sein See-/ aus See-/Flusswasser Station verschiedene Temperaturen
ganzer Stolz, seine Vorzeigemaschi- Fluss- Fern- auf und verdampft simulieren, es kann mit verschiede-
wasser wärmenetz dabei.
ne, die erste Flusswärmepumpe nen Kältemitteln experimentiert wer-
Deutschlands. Der Verdichter kompri- den. Ein spezieller Lüfter saugt im
miert das Gas. Es wird
Er deutet auf den Verdichter, das wärmer. Notfall brennbare Substanzen ab,
Entspannungsgefäß, den Verflüssiger Kälte- Das heiße Gas erhitzt ohne dass etwas explodiert. Im Auf-
und erklärt Bauteil für Bauteil deren mittel das Heizwasser des trag eines Herstellers hat Ahrendts
Fernwärmenetzes.
Funktionsweise. Das eigentliche Dabei kühlt das Kälte- bereits eine erste Anlage vermessen,
Wunder allerdings ist für den Besu- mittel wieder ab und weitere sollen bald folgen.
verflüssigt sich.
cher unsichtbar: Wenn die Anlage Wärme wandert physikalisch ge-
läuft, wird durch eines der Rohre 4 Durch ein Ventil kann sehen stets vom wärmeren Stoff zum
sich das Kältemittel
Wasser aus dem Rhein in die Maschi- ausdehnen, dadurch kälteren. Auch drei Grad kaltes Was-
ne gepumpt, jede Sekunde ungefähr kühlt es auf seine ser aus einem Fluss oder einem See
Ursprungstemperatur
so viel, wie in mehr als sechs Bade- Entspannungs- ab und kann erneut kann Energie abgeben, sofern man es
wannen passt. Die Maschine entzieht ventil Wärme aufnehmen. mit einem noch kühleren Kältemittel
dem Wasser Wärme und speist diese in Kontakt bringt; diesen Effekt ma-
in das Mannheimer Fernwärmenetz 4 chen sich Großwärmepumpen zu­
ein – genug für rund 3500 Haushalte. S Grafik nutze. Beim Kontakt verdampft das
‚

102 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WISSEN

Kältemittel. Anschließend wird es verdichtet, Ungeklärt sind zudem die ökologischen


heizt sich dadurch auf und kann diese Wärme Folgen der Riesenpumpen. Wie wirkt es sich
dann an ein Fernwärmenetz abgeben. auf Seen und Flüsse aus, wenn ihr Wasser
Im Kern funktioniert eine Wärmepumpe leicht gekühlt wird? Die Gewässer in Deutsch-
wie ein umgekehrter Kühlschrank. Der ent- land sind wegen des Klimawandels generell
zieht seinem Innenraum Wärme und gibt zu warm, die kühlende Wirkung könnte Pflan-
­diese an die Umgebung ab. Wie ein Kühl- zen, Tieren und Kleinstlebewesen möglicher-
schrank muss eine Wärmepumpe zwar mit weise sogar nutzen.
Strom betrieben werden, aber man erhält Genauere Untersuchungen dazu fehlen
dafür ein Vielfaches an Wärmeleistung. aber noch. Das erschwert Genehmigungsver-
Stammt der Strom aus erneuerbaren Quellen, fahren bei den unteren Wasserbehörden, die
so fällt beim Betrieb der Anlage kein klima- zustimmen müssen, wenn Wasser aus Flüssen
schädliches CO₂ an. und Seen entnommen werden soll. Bei großen
Die Effizienz einer Wärmepumpe hängt Anlagen können diese Verfahren mehrere
entscheidend davon ab, welchen Temperatur- Jahre dauern.
unterschied sie überwinden muss. Grob lässt Das größte Hemmnis der Megawärme-
sich sagen: je größer die Differenz, desto ge- pumpen ist allerdings der Preis. Noch sind
ringer der Wirkungsgrad. Wenn Seen oder der Bau und der Betrieb teurer als die Wärme­
Flüsse als Wärmequellen dienen, deren Was- erzeugung aus Erdgas, Kohle oder Gas. Das
sertemperatur sich im Winter dem Gefrier- liegt auch an Deutschlands hohen Stromprei-
punkt nähert, haben die Kompressoren mehr sen. Eine Analyse ergab kürzlich, dass bis-
zu tun. Der Strombedarf steigt, um auf die herige Großwärmepumpen bei einem stei-
gewünschte Temperatur zu kommen – das ist genden CO₂-Preis wettbewerbsfähig werden
schlecht für die Effizienz. könnten, wenn gleichzeitig die Betriebskosten
Auch besonders hohe Temperaturen for- durch Zuschüsse sänken. »Eine fossilfreie
dern die Apparate. Fernwärmenetze für Wärmeversorgung gibt es nicht zum Null­
Haushalte werden üblicherweise mit Warm- tarif«, sagt der Ingenieur Ahrendts, fügt aber
wasser bei ungefähr 100 Grad betrieben. Die hinzu: »Wenn die Geräte zunehmend stan-
Großpumpen erreichen diese Temperatur dardisiert werden, fallen auch die Kosten.«
schon heute problemlos. Vielen Industrie- In Städten und Gemeinden steigt jedenfalls
betrieben reicht das jedoch nicht. Bei der Her- das Interesse an den Großwärmepumpen.
stellung von Papier und Kunststoff oder bei Auch weil die Kommunen in den kommenden
Großbäckereien wird oftmals Wärme bis Jahren eine detaillierte Wärmeplanung aus- 352 Seiten mit Farbbildteil, gebunden � 24,00 €
200 Grad benötigt – dort geraten die Geräte arbeiten müssen. Regelmäßig führt der Inge-
Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich.
noch an ihre Grenzen. nieur Baumgärtner in Mannheim deren Ab-
Um den Wirkungsgrad zu erhöhen, arbei- gesandte in seine Halle.
ten Forschende daran, weitere Wärmequellen Auch andere Städte wie Stuttgart und Ro-
zu nutzen. Wärmepumpen sind nicht wähle- senheim, Berlin und Riesa planen Anlagen
In einer Nacht im November
risch, sie können zum Beispiel auch Energie oder haben sie bereits errichtet. Noch sind es
aus Abwasser ziehen oder die Abwärme von wie in Mannheim vor allem geförderte Pilot- 2019 dringen Unbekannte ins
Rechenzentren nutzen. Diese Quellen sind projekte. Der Mannheimer Energieversorger
wärmer und schwanken im Laufe des Jahres MVV hat jedoch große Pläne. »Bis zum Jahr
Dresdner Residenzschloss ein
weniger stark. 2030 soll die Fernwärme in Mannheim voll- und stehlen Kunstschätze von
Während bei Kühlschränken die einzelnen ständig aus erneuerbaren Energiequellen
Bauteile über viele Jahrzehnte immer weiter kommen«, sagt der MVV-Ingenieur Georg
unschätzbarem Wert.
optimiert worden sind und die Geräte ständig Baumgärtner – insgesamt beliefert der Ver- Wie konnte das gelingen?
mehr Energie einsparen, stehen Großwärme- sorger rund 120.000 Haushalte und Unter-
pumpen am Anfang der Entwicklung. Poten- nehmen mit Fernwärme. Das neue Buch von Thomas
zial zur Verbesserung sieht Forscher Ahrendts Im gesamten Land könnten Großwärme- Heise und Claas Meyer-Heuer,
vor allem beim Verdichter, dem Kernstück pumpen bis zum Jahr 2045 mehr als zwei
jeder Wärmepumpe. Dort konkurrieren ver- Drittel der benötigten Fernwärme in Deutsch- den beiden Experten für
schiedene Technologien. Zudem müsse man land produzieren, schreibt die Denkfabrik Clan-Kriminalität in Deutschland,
für jeden Verdichter das optimale Kältemittel Agora Energiewende in einer Studie. Dem-
finden, sagt er, wofür der Prüfstand in Cottbus nach könnten in der Industrie die Großanla- erzählt die ganze Geschichte –
gut geeignet sei. »Vor allem im hohen Tem- gen den Gasverbrauch bis zum Jahr 2030 mit sensationellem Insiderwissen
peraturbereich können wir deutlich an Effi- gegenüber 2021 um ein Viertel senken – als
zienz gewinnen«, sagt Ahrendts. Ergänzung zu anderen Maßnahmen wie dem und exklusiven Einblicken
Fachleute rechnen für die Fernwärme mit Einsatz von Wasserstoff. in die Ermittlungen.
einer ähnlichen Entwicklung wie bei der Als alleiniger Wärmelieferant der Zukunft
Stromerzeugung. Die verlagert sich zuneh- taugen sie jedoch nicht, das sieht der Fraun-
mend von Großkraftwerken auf kleinere hofer-Forscher Fabian Ahrendts ebenfalls so.
Solar­module und Windenergieanlagen. Auch Man müsse auch auf Geothermie setzen, auf
die Wärme für Fernwärmenetze wird künftig Abwärme aus Fabriken oder Müllverbren-
wohl dezentraler und in kleineren Anlagen nungsanlagen. »Wir müssen Wärme künftig
produziert. Die Größe der Pumpen wird va- wie einen Rohstoff behandeln«, sagt er.
riieren, und für eine Fluss- oder Seewärme- »Diesen Rohstoff gilt es zu sammeln und zu
pumpe muss natürlich ein entsprechendes nutzen.«
Gewässer vorhanden sein. Martin Schlak n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 103


www.dva.de
WISSEN

heikler Stoff. Gelangen Rückstände


ins Wasser, treibt das die Bildung von
Resistenzen an. Der Wirkstoff droht
wirkungslos zu werden. Als eine we-

Antibiotika im Bach
sentliche Ursache gilt die Einleitung
von Produktionsabwässern in die
Umwelt, außerdem der Einsatz in der
Tiermast. Gefährdet ist nicht nur die
lokale Bevölkerung unweit der Her-
UMWELT Deutsche Tester prüften Abwasser von Arzneifabriken in Indien stellungsstätte. Durch Handel und
Tourismus breiten sich Resistenzen
und Europa, die für den hiesigen Markt produzieren. Sie fanden hohe auf der ganzen Welt aus. 2019 starben
Rückstände, die dazu führen können, dass Medikamente nicht mehr wirken. fast fünf Millionen Menschen welt-
weit im Zusammenhang mit einer
Antibiotikaresistenz.

W
enn Tim aus der Beek irgend- die AOK die Abweichung so: Das Ver- Das deutsche Team hat Standorte
wo auf der Welt Wasserpro- hältnis zwischen dem vorgegebenen untersucht, an denen Antibiotika-
ben nimmt, um sie auf Ver- Schwellenwert und der gemessenen wirkstoffe auf Basis von Arzneimittel-
unreinigungen zu überprüfen, trägt Konzentration entspreche in etwa dem rabattverträgen hergestellt werden.
er einen Schutzhelm. Nicht nur um der Fläche der Stadt Stuttgart zur ge- Die Produktion wurde in vielen Fäl-
sich vor herabfallenden Gegenstän- samten Europäischen Union. len aus Kostengründen nach Asien
den zu schützen, sondern auch um zu Das betrifft nicht nur Indien. Von ausgelagert. Angesichts der alarmie-
verhindern, dass Tropfen auf seinem insgesamt neun europäischen Gewäs- renden Ergebnisse der Abwasser-
Kopf landen. So erklärt es aus der sern, in denen aus der Beek Proben untersuchungen drängt sich nun die
Beek, Bereichsleiter vom Rheinisch- nahm, fanden sich die meisten ver- Frage auf, wie sinnvoll es ist, Arznei-
Westfälischen Institut für Wasserfor- schiedenen Antibiotika in einem mittel möglichst billig herzustellen.
schung (IWW). europäischen Bach, der durch einige Möglicherweise wächst damit das
50 Milliliter fassen die Messröhr- Siedlungen führt. Menschen nutzen ­Risiko, dass sie wirkungslos werden.
chen aus Braunglas, in die er die Proben ihn zur Naherholung, manche fischen 1928 in Form von Penicillin durch

4,95
füllt. Gemeinsam mit der AOK Baden- sogar darin. In welchem europäischen Alexander Fleming entdeckt, gelten
Württemberg und dem Umweltbundes- Land er liegt, wollen die Studien­ Antibiotika als eine der größten Er-
amt untersuchten Forscherinnen und macher nicht öffentlich machen. rungenschaften der Medizingeschich-
Forscher des IWW seit September 2021 Vermutlich ist die Situation ande- te, weil sie bakterielle Infektionen
das Abwasser an zehn Produktions- renorts allerdings noch schlimmer. Millionen wirkungsvoll bekämpfen. Aber wie
stätten für Antibiotikawirkstoffe in »Die Unternehmen haben sich frei- lange können sie uns noch helfen?
Indien und Europa. »Man sucht gezielt willig zum Umweltkriterium ver- Menschen »Viele Mitarbeiter in den Werken
nach Löchern in der Wand, Rohren
oder auch nach Abläufen, die etwa
pflichtet. Die von uns untersuchten
Produktionsstätten dürften daher zu
sind nach wissen gar nicht, dass der Austritt sol-
cher Stoffe ein schwerwiegendes Pro-
Wischwasser enthalten, um Proben zu den fortschrittlichsten zählen, was die Schätzungen blem sein kann«, sagt aus der Beek.
nehmen«, sagt aus der Beek. Belastung des Produktionsabwassers 2019 im So wundere es ihn auch nicht, wenn
Welche Werke sie untersuchten, anbelangt«, sagt Johannes Bauern- ein paar Meter neben einer Antibio-
wollen sie nicht preisgeben. Doch die feind, Vorstandsvorsitzender der
Zusammen­ tikafabrik Wasserbüffel trinken oder
Ergebnisse sind alarmierend. AOK Baden-Württemberg. Er ist auch hang mit einer Reisfelder bewässert werden.
An drei Fabriken maßen sie teils deshalb für die Studie zuständig, weil Antibiotika­ Die AOK fordert als Folge der Pi-
massive Grenzwertüberschreitungen, seine AOK der bundesweite Verhand- lotstudie verbindliche Umweltkrite-
an einer vierten fanden sie erhöhte lungsführer bei Rabattverträgen für resistenz rien für Fabriken, die auch wirksam
Werte in einem Gewässer unweit des Arzneimittel innerhalb der Ortskran- ­weltweit kontrolliert werden, um Antibiotika-
Werks. Die höchste Überschreitung
stellten sie beim Wirkstoff Cipro­
kenkassen ist.
Vor allem Antibiotika gelten bei
gestorben. resistenzen zu reduzieren. Bereits bei
der Zulassung ausgewählter Medika-
floxacin fest, einem weit verbreitetes der Medikamentenherstellung als Quelle: »The Lancet« mente müsse man darauf achten. Das
Antibiotikum, das etwa bei Atem- EU-Arzneimittelrecht solle daher zu-
wegsinfektionen, Harnwegsinfekten künftig Umweltkriterien für die Pro-
oder Infektionen des Magen-Darm- duktion enthalten. Kontrollinstitute
Trakts eingesetzt wird. Der gemesse- sollten unangemeldete Messungen
ne Wert im Abwasser war 110-fach so durchführen dürfen. Auch eine Ver-
hoch wie der Schwellenwert, den die änderung beim EU-Vergaberecht
AOK vertraglich mit den Herstellern bringt die AOK ins Spiel: Wer sauber
festgelegt hat. produziert, soll belohnt werden.
Noch höhere Werte stellte das Wasserforscher aus der Beek hat
Team in einem indischen Gewässer die Erfahrung gemacht, dass manch-
fest. Es fließt durch ein Gebiet, in dem mal auch ein Gespräch schon einiges
IWW Rheinisch-West fälisches Ins

sich Viehweiden befinden. Die gemes- bewirken kann. »Es geht gar nicht um
sene Konzentration für den Wirkstoff riesige Investitionen. Manchmal wis-
Azithromycin, der etwa zur Behand- sen die Betreiber einfach nicht, dass
lung von sexuell übertrag­baren Krank- man einen Wasserfilter auch mal war-
heiten eingesetzt wird, überstieg den ten muss. Erklärt man denen das, ist
Probenentnahme
Grenzwert um das 16 000-Fache. Um in Antibiotikawerk durchaus Einsicht da.«
es plastischer zu machen, beschreibt Martin U. Müller n

104 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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WISSEN

Illustration: Mone Seidel


»Wir brauchen eine Erholungsrevolution«
ENERGIE Wer erschöpft ist, muss sich ausruhen. Aber bitte auf
die passende Art, sagt die Ärztin Saundra Dalton-Smith. Sonst hilft es nicht.

Dalton-Smith, 50, ist Fachärztin für Innere fühle mich gerade voller Energie. Meinen Spa- Dalton-Smith: Erholungsdefizite können auf
Medizin und Autorin des Buchs »Sacred Rest: ziergang mache ich dann später. körperlicher, mentaler, spiritueller, emotiona-
Recover Your Life, Renew Your Energy, Re- SPIEGEL: Das heißt, Ihre Erholung ist keine ler, sozialer, sensorischer und kreativer Ebene
store Your Sanity«. Sie forscht zu Work-Life- feste Routine? auftreten. Wir erschöpfen uns beispielsweise
Balance und berät Unternehmen zur Frage, Dalton-Smith: Ganz genau. Es gibt Tage, an emotional, wenn wir unsere Gefühle nicht au-
wie Erholung in den Arbeitstag eingebaut denen erlebe ich in der Klinik Schreckliches. thentisch ausdrücken können, etwa weil wir
werden kann. Das ist normal, manchmal geht es eben um im Beruf als Ärztin oder Lehrkraft eine Rolle
Leben und Tod. Aber ich muss es verarbeiten. einnehmen, die es nicht immer erlaubt, Ge-
SPIEGEL: Frau Dalton-Smith, Sie kommen Dafür benötige ich mehr emotionale Erholung fühle spontan auszudrücken. Körperlich er-
g­ erade aus dem Dienst – konnten Sie heute als an einem anderen Tag. Das kann ein gutes schöpfen wir uns, wenn wir viele Stunden am
bereits etwas für Ihre Erholung tun? Gespräch sein oder auch ein Moment der Tag angespannt vor dem Computer sitzen oder
Dalton-Smith: Oh ja! Ich fange mit der Er­ Zwiesprache mit Gott. Manchmal sind meine schwer heben. Es kostet uns mentale Energie,
holung direkt morgens an! Ich frage mich: Tage auch körperlich sehr anstrengend, zum wenn wir dem Gehirn permanent Konzentra-
Fühle ich mich heute wirklich ausgeruht? Je Beispiel wenn ich für Vorträge reise. Dann tion abfordern. Die Informationsflut, Licht-
nachdem organisiere ich meinen Tag straffer konzentriere ich mich auf meine körperliche reize oder Lärm überlasten uns sensorisch. In
oder plane zwischendurch mehr Momente Erholung, mache vielleicht Stretching- oder unserem heutigen Alltag erschöpfen wir uns
der Ruhe ein, damit ich auftanken kann. Nor- Atemübungen. über den Tag hinweg fast in jedem Bereich.
malerweise beende ich den Tag mit einem SPIEGEL: In Ihrem Bestseller »Sacred Rest« SPIEGEL: Bedeutet das Ihrer Meinung nach,
kleinen Spaziergang an der frischen Luft. (»Heilige Ruhe«) beschreiben Sie, dass wir dass die meisten Menschen ein Energiedefizit
SPIEGEL: Aber heute nicht? uns auf sieben Ebenen erschöpfen können – haben?
Dalton-Smith: Heute spreche ich nach der und dementsprechend auch erholen sollten. Dalton-Smith: Leider ja. Für viele ist es ein
Arbeit direkt mit Ihnen. Das geht, denn ich Welche sind das? ganz normaler Zustand, sich schon morgens

106 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


WISSEN

müde zu fühlen. Und dann macht ist sie eine große Energiequelle für akku ist erstrebenswert – warum sor­
man eine Mittagspause, vielleicht unsere mentale Erholung. gen wir dann nicht einfach dafür,
fühlt man sich besser, man hat genug SPIEGEL: Gibt es so etwas wie eine dass es uns gut geht? Über die Hälfte
Energie für den Nachmittag, aber am »wichtigste« Ebene der Erholung? der Deutschen bezeichnet sich als
Abend ist man wieder müde. Dalton-Smith: Nein. Wir müssen ler­ ­erschöpft.
SPIEGEL: Und Ihre sieben Arten der nen zu spüren, an welchen Stellen wir Dalton-Smith: Arbeit wird schlicht
Erholung könnten uns helfen? über den Tag hinweg Energie inves­ mehr Wert und Bedeutung beigemes­
Dalton-Smith: Als Ärztin habe ich tieren und deshalb anfälliger für ein sen als der Erholung. Man nimmt an,

Emilie Hendr yx
mich schon immer viel mit Biochemie Erholungsdefizit sind. Dann können dass jemand, der sich erholt, nichts
beschäftigt. Als ich anfing, mich für wir uns fragen, welche Strategie wir tut, nicht produktiv ist. Dabei ist
Erholung zu interessieren, habe ich entwickeln können, um diesen Be­ die Gleichung falsch. Wir brauchen
deshalb als Erstes geschaut, welche reich aufzufüllen, sodass es nicht zu Erholung, um produktiv zu sein.
Forschung es dazu gibt. Und dabei »Wir brauchen einer starken Erschöpfung kommt. Wenn eine Firma ihren Mitarbeiten­
sortierten sich die Studienergebnisse SPIEGEL: Das heißt, eine feste Erho­ den hilft, sich auszuruhen, werden sie
fast wie von selbst in sieben Pakete.
Erholung, lungsroutine bringt gar nicht so viel? auch länger im Job bleiben, glück­
Je mehr Informationen ich zusam­ um produktiv Dalton-Smith: Jeder Tag ist etwas licher sein und ein gesünderes Fami­
mentrug, desto deutlicher wurde zu sein.« unterschiedlich. Starre Routinen rei­ lienleben haben. Wir brauchen einen
auch, dass wir die Erholungsdefizite chen tatsächlich nicht aus. Mentalitätswandel, eine Erho­lungs­
Saundra Dalton-
in den sieben Bereichen mit den rich­ Smith, Medizinerin
SPIEGEL: Das klingt nach viel Arbeit. revo­lution!
tigen Maßnahmen auflösen können. Dalton-Smith: Man muss das schon SPIEGEL: Das klingt, als sei Erholung
SPIEGEL: Wie sieht das konkret aus? wollen. Kennen Sie das Sprichwort: nicht Privatsache, sondern müsste
Dalton-Smith: Als Erstes muss man »Man kann den Elefanten nicht in auch im Arbeitsleben stattfinden?
sich der Art der Erschöpfung bewusst einem Stück essen.«? Es bedeutet, dass Dalton-Smith: Ja! Wenn man den
sein. Erst dann kann man die richti­ man klein anfangen sollte. Stück für Großteil der sieben Arten der Erho­
gen Maßnahmen treffen. Stück. Wenn ich etwa mental erschöpft lung nur in seiner Freizeit macht, ist
SPIEGEL: Zum Beispiel? bin und mir Pausen vom ständigen die Wahrscheinlichkeit groß, dass die
Dalton-Smith: In vielen Berufen Denken und Konzentrieren gönne, Batterie leer ist und man dann nach
arbeiten wir den ganzen Tag nach werde ich sehr schnell merken, dass es Hause geht und alles wieder auffüllen
festen Vorgaben. Das verursacht ein mir besser geht. Wenn ich kreativ er­ muss. Deshalb empfehle ich viele
kreatives Energiedefizit. Also müssen schöpft bin, kann schon ein Bildschirm­ Dinge, die man in den beruflichen All­
wir bewusst für kreative Erholung schoner mit einem Bild von meinem tag einbauen kann.
sorgen. Zum Beispiel indem wir in Lieblingsstrand ein erster Schritt sein. SPIEGEL: Wie kamen Sie überhaupt
eine Ausstellung gehen. Bei uns in Das sind alles einfache Dinge. auf die Idee zu diesem Buch? Leiden
der Klinik habe ich dafür gesorgt, SPIEGEL: Was ist eigentlich mit Schlaf? viele Ihrer Patienten und Patientin­
dass lokale Künstler in den Fluren Ist der nicht die größte Quelle für Er­ nen an Erschöpfung?
ihre Bilder ausstellen. Wer vorbei­ holung und Regeneration? Dalton-Smith: Es gab eine Zeit, da
geht und die Bilder betrachtet, tankt Dalton-Smith: Das ist vielleicht der fühlte ich mich selbst sehr erschöpft.
automatisch kreative Energie. Es ver­ größte Irrtum oder Fehler, den Men­ Ich hatte gelernt, dass Schlaf oder
ändert so viel! schen machen. Schlaf ist eine passive Urlaub uns hilft, wieder Energie zu
SPIEGEL: Ist Erschöpfung denn nicht Erholung. Er ist lebenswichtig. Aber schöpfen. Aber beides wirkte nicht.
gleich Erschöpfung? Ich wüsste zum guter Schlaf ist nur möglich, wenn Ich schlief viel, aber fühlte mich trotz­
Beispiel nicht, wie ich erkenne, ob ich man relativ ausgeglichen ist. Wenn dem bereits morgens völlig kaputt.
nun kreativ, emotional oder mental man zum Beispiel mental sehr er­ Dabei sah mein Leben von außen sehr
erschöpft bin. schöpft ist, kreisen die Gedanken – erfolgreich aus. Damals fing ich an zu
Dalton-Smith: Es gibt große Unter­ und an Schlaf ist nicht zu denken. Ist suchen. Anfangs wollte ich vor allem
schiede. Mentale Erschöpfung führt man körperlich sehr erschöpft, kön­ mir selbst helfen. Und ich wollte ver­
dazu, dass man sich schlechter fokus­ nen einen beispielsweise Schmerzen hindern, dass meine Kinder aufwach­
sieren oder auf eine Sache konzen­ vom Schlafen abhalten. Der Schlaf sen und eines Tages so kraftlos da­
trieren kann. Häufig fühlt man sich wird besser, wenn wir nicht zu er­ stehen wie ich zu diesem Zeitpunkt.
wie benebelt. Emotionale Erschöp­ schöpft sind, nur dann kann er seine Um weiter in meinem Traumberuf als
fung führt dagegen eher dazu, dass regenerative Kraft entfalten. Ärztin arbeiten zu können, musste
man sich niedergeschlagen oder un­ SPIEGEL: Und ist Urlaub die Lösung ich herausfinden, was ich tun muss,
sicher fühlt. Denkt man an seinen All­ für alles? um meinen Verstand und meine Ge­
tag, zieht einen das runter. Dalton-Smith: Mit dem Urlaub ist es sundheit zu bewahren.
SPIEGEL: Sagen wir, ich bin mental ähnlich wie mit dem Schlaf. Ich sehe SPIEGEL: Wie fühlen Sie sich, wenn
erschöpft. Was kann ich konkret tun? es als großen Fehler, dass viele Men­ die Energie wieder voll da ist?
Dalton-Smith: Sorgen Sie dafür, dass schen ihr ganzes Bedürfnis nach Er­ Dalton-Smith: Wenn man ausgeruht
Sie Aufgaben in Blöcken abarbeiten, Mehr zum Thema
holung in den Urlaub packen. Damit ist, hat man die Energie, den Fokus,
beispielsweise alle E-Mails am Stück ­lesen Sie in der beschränkt sich ihre Burn-out-Prä­ die emotionale Intelligenz und auch
beantworten oder Rückrufe erledi­ ak­tuellen Ausgabe von vention auf zwei oder drei Ferien im die körperliche Leistungsfähigkeit,
gen. Danach machen Sie eine Pause. SPIEGEL WISSEN: Jahr. Die Menschen fokussieren sich um die Dinge zu tun, die man gern
Sei gut zu dir! –
Lernen Sie zu meditieren, also Ihre Wie man Stress
auf die großen seltenen Auszeiten, tun möchte. Und man kann die Erfol­
Gedanken zu betrachten, ohne sie zu entkommt und statt auf die kleinen Möglichkeiten ge genießen. Das ist ja vielleicht das
bewerten. Machen Sie Dankbarkeits­ die richtige Balance der Erholung zu schauen, die man größte Problem mit der Erschöpfung:
übungen, oder widmen Sie sich freud­ findet täglich umsetzen kann. Das heizt Wir können auch im erschöpften Zu­
Erhältlich im Zeit-
vollen Dingen. Im Laufe des Erwach­ schriftenhandel und
einen Burn-out eher an. stand viel erreichen, aber uns nicht
senwerdens haben wir vergessen, wie unter amazon.de/ SPIEGEL: Ihre Erholungsübungen sind darüber freuen.
man sich der Freude hingibt. Dabei spiegel. einfach, ein Leben mit vollem Energie­ Interview: Carola Kleinschmidt n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 107


KULTUR
Kristian Buus / In Pictures / Getty Images

Demonstranten bei Aktion in London

Hammerweicher Protest
AKTIVISTEN Die Schläge gegen das Gemälde »Venus vor dem Spiegel« in einem Londoner Museum spielen
auf eine Aktion von 1914 an, sind damit verglichen aber eher zärtlich.

I n London haben Aktivisten der »Just


Stop Oil«-Klimabewegung ein Öl­
gemälde von Diego Velazquez atta-
ckiert. Der symbolische Angriff erfolgte dies-
nicht mehr weit. Pure Gewalt. Aber stimmt
das auch? Zehn Schläge, die wie Einschuss-
löcher wirkten, trafen nicht die Leinwand,
nur das Sicherheitsglas. Jedes Busfenster
rührend – und die ­aktuelle Aktion ver-
gleichsweise zärtlich.
Ein Anschlag auf die Substanz des
Kunstwerks hat weder stattgefunden, noch
mal nicht mit wasserlöslicher Farbe, ordinä- hätte sich unter solchen Schlägen in ein glä- war er beabsichtigt. Bei der Tatwaffe han-
rem Kartoffelbrei oder von Andy Warhol ins sernes Konfetti aus Splittern verwandelt. delte es sich nicht um einen Dampf- oder
Kunsthistorische entrückter Suppe von Das Schutzglas aber tat, was es tun sollte – Vorschlag-, nur um einen Notfallhammer.
Campbell’s, sondern mit Notfallhämmern. und hielt stand. Danach ließen die Demons- Ein Instrument aus dem Fundus des ökolo-
Auf den ersten Blick mindert die Wahl tranten ab, um eine etwas umständliche gisch unbedenklichen ÖPNV, konstruiert
der Waffe den symbolischen Wert des ­Begründung für ihre Tat zu proklamieren. zum Zwecke der Befreiung aus misslicher
­Angriffs in der National Gallery und ver- Darin stellten sie sich in die Tradition Lage. Das Nothämmerchen ist keine Waffe,
schiebt ihn ins Spektrum dessen, was man der militanten Suffragette Mary Richard- eher Werkzeug für den Notfall. Mit ihm
»Vandalismus« nennen könnte. Es wäre son, die im Interesse des Frauenwahlrechts lässt sich nur spitze, nie stumpfe Gewalt
eine weitere Eskalation auf der nach oben Velazquez’ »Venus vor dem Spiegel« bereits ausüben. Und wer würde bezweifeln, dass
offenen Skala der Dringlichkeit, die Um- 1914 mehrere tiefe Schnitte mit dem Flei- die Lage misslich ist? Dass es einen sofor­
weltaktivisten für ihr Anliegen bean­ scherbeil beibrachte; das Gemälde konnte tigen Ausstieg bräuchte? Mehr gelitten als
spruchen. Bis zur Zertrümmerung einer damals restauriert werden. ­Dieser bildungs- die Kunst hat übrigens die Jeans der Akti-
Skulptur von Auguste Rodin scheint es bürgerliche Beziehungsreichtum ist beinahe vistin rechts im Bild. Arno Frank

108 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Gebrochener 1972, die Begierde, Lust Bilder von sich gegen­seitig
Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Reproduktion: Rheinisches

und Lustunter­drückung the­ bestei­genden Eseln.


Männerblick matisieren – etwa in Akt­ Die Idee der Gegen-
AUSSTELLUNGEN Den Blick darstellungen von Ge­liebten überstellung stammt von
des Künstlers auf das weib- des Künstlers, ­Prostituierten ­Museum-Ludwig-Kuratorin
liche Modell prakti­zierte kaum und Tänzerinnen. Viele der Eboa Itondo, die ­offenkun-
ein Berühmter der Kunst- ­Bilder zeigen Frauen mit dig entschlossen ist, den
welt so klar wie Pablo ­Picasso. ­entblößter Brust und bloßen Künstler Picasso nicht mehr
»Für mich gibt es nur zwei Genitalien. Inmitten der unhinterfragt als Genie des
Arten von Frauen: Göttinnen ­Radierfolge sind drei groß­ 20. Jahrhunderts zu feiern.
und Fußabtreter«, soll der formatige Zeichnungen der Der Esel, so erklärt Itondo,
als Macho berüchtigte Maler jungen afghanischen Künst- hat in der mündlichen Tra­
einmal gesagt haben. lerin Kubra Khademi zu dition afgha­nischer Frauen
Das ­Kölner Museum sehen. Roh und anzüglich eine ­symbolische Bedeu-
Ludwig präsentiert nun an- wird da unter ­anderem tung für den Mann. Das Tier
Bildarchiv, Köln

lässlich des 50. Todestags ein erigierter Penis unter stehe für ­Stärke, Potenz –
von ­Picasso Radierungen dem Titel »Huge Hard und, nun ja: Gedankenlosig­
aus den Jahren 1968 bis Picasso-Radierung, 1971 Dick« präsentiert, dazu keit. ABD

Allzu routiniertes es zwischen Gerichtssaal und


Privatleben: Hier werden in der
Gedenken Anklage detailliert Folterme­
SERIEN Nach Auschwitz ein thoden, Erschießungen, Qual
Gedicht zu schreiben, so meinte und massenhafter Tod beschrie­
Theodor W. Adorno im Jahr ben. Dort summt Eva »Verliebt,
1949, sei barbarisch. Später re­ verlobt, verheiratet«, während
vidierte der Philosoph seine sie die elterliche Gaststube
Haltung, blieb aber dabei, eine putzt. Annette Hess will zeigen,
ästhetische Stilisierung reduzie­ wie die Erinnerung an Ausch­
re das Grauen; den Opfern wi­ witz einer mit dem Wirtschafts­
derfahre dadurch Unrecht. Ge­ wunderleben beschäftigten Ge­

Sophie Löw
nau dieses Gefühl kann den Zu­ sellschaft aufgezwungen werden
schauer beim Sehen der Serie musste. Sie will eine Zeit leben­ Culk
»Deutsches Haus« beschlei­ dig machen, der der Begriff »Er­
chen. Die deutsche Serienma­ innerungskultur« fremd war. Neue Ode an die derem mit den Genremitteln
cherin Annette Hess hat ihren Aber das Gefühl bleibt, dass die­ des Postpunk zu vermessen.
eigenen Roman verfilmt. Er­ se Serie es sich mit dem routi­ Freude Schon auf dem von der Kritik
zählt wird die Geschichte einer nierten Erinnern zu leicht macht. POP Als sich der britische gefeierten Konzeptalbum »Zer­
jungen Frau, die bei den Frank­ Sicher sind Formen der Darstel­ ­ ulturkritiker Mark Fisher im
K streuen über Euch« aus dem
furter Auschwitzprozessen ab lung, die auf ein breites Publi­ Januar 2017 schwer depressiv Jahr 2020 hatte sich Songwrite­
1963 als Dolmetscherin arbeitet. kum zielen, berechtigt – schließ­ das ­Leben nahm, blieb eine rin Löw an gesellschaftlichen
Eva (Katharina Stark) interes­ lich trugen weniger die Ausch­ ­seiner wichtigsten Fragen unbe­ Missständen abgearbeitet und
siert sich nicht groß dafür, wor­ witzprozesse als die US-Serie antwortet: Ist Lust und Verlan­ zu einem Manifest gegen pat­
um es bei dem Verfahren geht, »Holocaust« 1979 das Bewusst­ gen heute noch abseits kapitalis­ riarchale Strukturen aufge­
sie hat anderes im Sinn: Der rei­ sein über das Menschheitsver­ tischer Profitzusammenhänge schwungen. Später präsentierte
che Erbe Jürgen (Thomas brechen, das Deutsche begangen spürbar? »Generation Maxi­ sie unter dem Namen Sophia
Prenn) will sie heiraten, die Ver­ hatten, in breite Schichten der mum«, das neue Album der in Blenda ein musikalisch redu­
lobung steht bevor. Ob beim Gesellschaft. Doch durch ihre Fishers Todesjahr gegründeten ziertes Soloalbum mit dem Ti­
ersten Treffen mit den Eltern al­ Konventionalität wirkt »Deut­ Wiener Band Culk, scheint Fish­ tel »Die neue Heiterkeit«. Auf
les glattgeht? Hin und her geht sches Haus« sedierend. KAE ers Überlegungen gleich im ers­ dem neuen Culk-Werk wirkt
ten Song »Willkommen in der ihr eindringlicher Gesang, als
Hedonie« aufzugreifen. »Wir bündle sich darin großer
verhärten und werten unsere Schmerz. Zornig beklagt sie die
Körper und vereinen uns nur im Indifferenz ihrer Millennials-
Überfluss«, singt Frontfrau So­ Generation. Die Musik wirkt
Jaroslaw Sosinski / Gaumont / The Walt Disney Company

phie Löw mit klagender, müder zunächst bleiern und lethar­


Stimme zu einem Sound, der gisch, gerät aber in dynami­
mit schleppenden Gitarren im sches Schwingen, je mehr sich
Zwielicht wabert. Als »depressi­ Löws Erzählerinnen-Ich aus
ve Hedonie« hatte Fisher einst dem »Eisenkleid« der Verein­
die Neigung jüngerer Menschen zelung befreit. Mit der Forde­
bezeichnet, sich durch Hyper­ rung nach einer »neuen Ode an
aktivität und übersteigerten die Freude«, einem »Lied über
Vergnügungskonsum von der unausgesprochene Träume«
eigenen inneren Leere abzulen­ füllen Culk zumindest in der
Szene aus »Deutsches Haus« ken. Culk versuchen, dieses deutschsprachigen Rockmusik
emotionale Vakuum unter an­ eine Leerstelle. BOR

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KU LT U R

Mafalda Rakoš / DER SPIEGEL

Holocaustüberlebende
Freeman

110 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


KU LT U R

Normale Neurotiker liegen ihr nicht


KARRIEREN Erika Freeman gilt als Psychoanalytikerin vieler Hollywoodstars,
sie ist befreundet mit Hillary Clinton. Mittlerweile wohnt die 96-Jährige im
besten Hotel Wiens – auch aus Rache an Adolf Hitler. Von Sebastian Hammelehle

K
ommt eine Psychoanalytikerin Es ist ein Buch, so lässig wie die richtet. Das Negative, so meint sie,
in ein Wiener Luxushotel: Ich Stadt Wien und so lebensklug wie habe sie aus ihrem Leben verbannt:
bin wegen Adolf Hitler hier. Freeman selbst; ein Buch über die »Es zahlt sich nicht aus. Es macht
Nicht erschrecken, das ist ein Freundschaft, die sich zwischen den krank. Es ist ansteckend. Also steck
Scherz. Aber wo, wenn nicht in Wien, beiden entwickelt hat und über ihr lieber mit Gesundheit an und nicht
dem Geburtsort der Psychoanalyse, wöchentliches Treffen. Jeden Mitt­ mit Krankheit.«
dem Ort, an dem Sigmund Freud über woch um halb elf. Frühstück im Hotel Freeman sagt diesen Satz auf
den Witz und das Unbewusste schrieb, Imperial, das, wie es sich in Wien Deutsch. In der Regel spricht sie Eng­
lässt sich der Aufenthalt im besten ­gehört, ein Kaffeehaus im Erdge­ lisch. Und manchmal, wenn sich eine
Hotel der Stadt mit den Sätzen be­ schoss hat. Nachfrage ergibt, ob ein Ereignis nun
gründen: »Meine Rache an Hitler. Die beiden sitzen in einer Ecke auf in diesem oder jenem Jahr stattgefun­
Er war nur einmal im Imperial. Ich einer roten Polsterbank, die Wand den habe, antwortet sie: »I’m not
wohne hier!« Besonders, wenn die hinter ihnen ist mit Marmor verklei­ good with chronology.« Die exakten
Person, die diesen Scherz gemacht det. Zumindest hier hat sich Wien seit Daten lägen ihr nicht. Und doch gibt
hat, selbst Psychoanalytikerin ist; dem 1. Juli 1927 nicht sonderlich ver­ es einen Tag, den sie immer wieder
wenn sie während des Nationalsozia­ ändert. An diesem Tag wurde Erika erwähnt. Auch dafür wechselt sie ins
lismus aus der Stadt fliehen musste, Freeman geboren. Deutsche: »Der 12. März 1945.«
weil sie Jüdin ist. Wenn sie schließlich Mehr als zwei Stunden dauert das Es war der Tag, als Erika Freemans
Jahrzehnte später für eine Aktion Frühstück, in dieser Zeit lässt Erika Mutter starb.
mit Holocaustüberlebenden in die Freemans Konzentration nicht nach. Die Nazis hatten die Mutter, sie
Stadt zurückkehrte, erst nur ein paar Es geht um das Schicksal ihrer Eltern, hieß Rachel Grau Schächter, bereits
­Nächte im Hotel Imperial bleiben das Freeman geprägt hat. Um ihren nach Schlesien deportiert, auf dem
wollte und mittlerweile dauerhaft Ruf, die Therapeutin der Hollywood­ Sammelplatz zum Weitertransport
dort lebt. stars zu sein. Um Lebensweisheit und in ein KZ gelang ihr die Flucht: Sie
Diese Person ist Erika Freeman. um Lebensrezepte. Es geht auch um versteckte sich in einem zufällig vor­
Ursprünglich war das Hotel Impe­ Israel, das Land, zu dem Freeman ein beikommenden Heuwagen. Sie ging
rial ein Palais, es sieht noch immer so besonderes Verhältnis hat, weil Ver­ zurück nach Wien, als sogenanntes
aus. Ein säulengeschmückter Bau am wandte von ihr beim Aufbau dieses U-Boot: eine Jüdin, die sich illegal
Wiener Ring, gleich neben dem Mu­ Landes eine große Rolle gespielt durchschlug und inmitten der Stadt
sikverein. Eine prächtige Halle, Kron­ ­haben. Freemans vor ihren Verfolgern versteckte. Bei
leuchter, Ölgemälde. Die Fahrstuhltür Es ist ein Gespräch mit einer ein­ ­Schreibtisch im einem der letzten großen Luftangrif­
Hotel Imperial:
in der Lobby öffnet sich, und da steht zigartigen Frau, die vom Schrecken Manche Patienten
fe kurz vor Kriegsende wurde das
sie: Erika Freeman. Eine zierliche und vom Wundervollen, das sie er­ trifft sie persönlich Gebäude, in dem sie nachts Unter­
Dame von 96 Jahren. Sie trägt die lebt hat, mit gelassener Heiterkeit be­ im Hotel schlupf gefunden hatte, von Flieger­
Haare blondiert, einen mittelblauen bomben getroffen und zerstört. »She
Blazer, Modell Merkel. got killed«, sagt Erika Freeman und
Freeman schaut sich kurz um, fährt auf Deutsch fort: »Ich verstehe
dann geht sie auf den vollbärtigen den lieben Herrgott nicht.«
Mann zu, der schon an seinem he­ Freeman war damals längst in New
raushängenden Hemd und den ge­ York. Ihre Mutter hatte sie im Febru­
pflegten Sneakern als Mensch aus der ar 1940 mit einem Visum für die USA
Medienbranche zu erkennen ist. Dirk zum Wiener Westbahnhof gebracht.
Stermann, ein Deutscher, der es mit Die zwölfjährige Erika hatte blonde
der Late-Night-Show »Willkommen Zöpfe. Sie fiel einem SS-Mann auf. Er
Österreich« im ORF zum Fernsehstar hob sie lächelnd hoch und sagte an­
gebracht hat und jetzt ein Buch über erkennend: »So sieht ein deutsches
Erika Freeman und ihre unglaubliche Mädel aus.« Dann entdeckte er den
Mafalda Rakoš / DER SPIEGEL

Lebensgeschichte geschrieben hat: Judenstern auf der Brust ihrer Mutter.


»Mir geht’s gut, wenn nicht heute, Die musste in Wien bleiben, sie hatte
dann morgen.«* kein Visum. Ihre Tochter reiste über
Amsterdam allein nach New York, wo
* Dirk Stermann: »Mir geht’s gut, wenn nicht
heute, dann morgen«. Rowohlt; 256 Seiten; entfernte Verwandte sie widerwillig
24 Euro. beherbergten, bis sie schließlich in ein

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 111


KU LT U R

Internat kam. Ihrer Mutter hatte sie nach ihrer Man merkt, als Fernsehmoderator hat er
Flucht in die USA bis zu deren Tod kein ein­ gelernt, einer Gesprächspartnerin die Ant­
ziges Mal geschrieben. wort einfach einzuflüstern. Bei Freeman ver­
Sie würde sich heute am liebsten einen fängt seine Technik nicht. Sie bleibt vage: Die
Tritt verpassen dafür, sagt sie. Sie habe sich Geschichten derjenigen, die zu ihr in die The­
wohl weggeschickt gefühlt und die Tür zur rapie kommen, so formuliert sie es, gehörten
Vergangenheit in ihrem Unbewussten ge­ nicht ihr, sondern ihren Patientinnen und Pa­
schlossen, vermutet sie. Es ist der Blick einer tienten. Es wäre nicht angemessen, sie zu er­
Psychoanalytikerin auf ihr eigenes Leben, die zählen. Aber, gibt sie zu: »Die meisten meiner
sich ihr Verhalten von damals zwar zu erklä­ Patienten sind Kreative. Normale Neurotiker
ren versucht, aber doch nie wird verzeihen liegen mir nicht.«
können. Freemans Hotelzimmer ist eingerichtet
Erika Freemans Mutter muss eine bemer­ mit aristokratisch wirkenden Möbeln, der
kenswerte Frau gewesen sein. Obwohl es jun­ Schreibtisch und die Kommode sind übervoll
gen Jüdinnen damals nicht gestattet war, mit Büchern und Papierstapeln, darauf stehen

Mafalda Rakoš / DER SPIEGEL


­studierte sie als Mädchen heimlich Hebrä­ viele Fotos aus ihrem Leben. Freeman ge­
isch und wurde zu einer der ersten Hebräisch­ meinsam mit Elizabeth Taylor, mit Liv Ull­
lehrerinnen. Es gibt einen Spielfilm, der mann, mit Hillary Clinton. Mit Clinton ist sie
sich an ihre Geschichte anlehnt, »Yentl« mit befreundet. Manchmal telefonieren die bei­
Barbra Streisand. den. Aber auch hier, wer hätte es anders er­
Während Freemans Mutter in den Drei­ wartet: keine Therapie.
ßigerjahren denjenigen Sprachunterricht gab, Psychoanalytikerin Freeman, Autor Stermann
Politik und die Beziehung zu denen, die
die sich in Palästina vor dem europäischen politisch aktiv sind, haben in Freemans Leben
Antisemitismus in Sicherheit bringen wollten, wenn man sie mit ihrem Doktortitel anspricht: immer eine Rolle gespielt. Und fast immer
ging ihr Vater in die Politik. Als Jude und »Frau Freeman, das war meine Schwieger­ stand dieses politische Engagement in Bezug
Minister im sozialdemokratischen Schatten­ mutter.« zu Israel. Als junge Frau hat sie in New York
kabinett wurde er von den Nationalsozialis­ Ob sie heute schon gearbeitet habe, möch­ für die Jewish Agency gearbeitet, die sich um
ten im Konzentrationslager Theresienstadt te Stermann wissen. Ja, antwortet Freeman, die Auswanderer ins damalige britische Man­
interniert. Die Familie glaubte, er sei tot. Er um neun Uhr morgens habe sie einen Tele­ datsgebiet Palästina gekümmert hat. Später
selbst wiederum ging davon aus, dass seine fontermin mit einer Patientin aus New York war sie für die israelische Uno-Delegation
Frau und seine Tochter gestorben waren. gehabt. Die rufe sie jede Woche an. Stermann tätig und für die Vereinten Nationen selbst.
Doch 1946, an Jom Kippur, klopfte es in rechnet nach: An der Ostküste ist es um neun In den Siebzigerjahren war sie Beraterin der
New York an Erika Freemans Tür. Es war ihr Uhr mitteleuropäischer Zeit nachts um drei. damaligen israelischen Ministerpräsidentin
Vater. Ihm war die Flucht aus dem Konzentra­ Freeman scheint das nicht weiter zu kümmern. Golda Meir. Ihre Tante hat den Mossad mit­
tionslager bis nach Schweden gelungen, nun Sie hat etliche Patientinnen und Patienten, begründet, ihr Onkel gehörte zu den Vätern
war er, irgendeiner wichtigen Angelegenheit die sie jede Woche anrufen, manche trifft sie der Kibbuz-Bewegung.
wegen, für einen einzigen Tag in der Stadt. auch persönlich hier im Hotel. Freemans 80-jährige Cousine und deren
An diesem Tag hatte er auf dem Broadway Über die Namen all derjenigen, die sie im Mann leben bis heute in einem Kibbuz im
durch Zufall seinen Bruder getroffen. Und Lauf der Jahrzehnte therapiert hat oder heu­ Norden Israels. Deren Kinder und Enkel haben
sein Bruder erzählte ihm, dass seine Tochter te noch therapiert, schweigt sie sich aus. In sich nach den Terroranschlägen vom 7. Ok­to­
Erika am Leben sei. New York war sie gut mit Lee Strasberg be­ ber nach Haifa und Tel Aviv in Sicherheit
Zwei totgeglaubte Juden sehen sich am kannt, er gilt als Vater des Method-Acting, gebracht. An der Grenze zum Libanon ist es
höchsten jüdischen Feiertag wieder, Tausen­ zahlreiche Berühmtheiten durchliefen seine zu gefährlich. Freeman telefoniert mit ihnen
de Kilometer von zu Hause entfernt – nicht Schule. Dirk Stermann zählt in seinem Buch und nimmt leidenschaftlich Anteil: Es gehe
vielen Überlebenden dürfte eine derartige etliche auf: Marlon Brando, James Dean, Dus­ immer um Leben und Tod in Israel: »Every
Familienzusammenführung nach dem Holo­ tin Hoffman, Robert De Niro. Stermann er­ war could be Vernichtung«, sagt sie in einer
caust vergönnt gewesen sein. Sie habe daraus wähnt auch Marilyn Monroe und Woody Al­ Mischung aus Englisch und Deutsch.
gelernt, das Unmögliche nicht für unmöglich len, die Freeman kannte und getroffen hat. Als die Sprache auf den Militäreinsatz in
zu halten, sagt Erika Freeman beim Frühstück Hat sie die auch therapiert? »Wenn ich einen Gaza kommt, wird ihr Tonfall kämpferisch:
im Café Imperial. Namen nenne, war die Person nicht mein Pa­ Israel werde sowieso kritisiert, egal wie der
Der Kellner hat Erika Freeman ein rand­ tient«, antwortet sie. Staat reagiere. Die Terroristen der Hamas
voll gefülltes Tässchen mit Kaffee gebracht, Und doch ist da ihr Ruf, sie sei die Psycho­ dagegen müssten schon sehr viele Juden um­
eigentlich eine Espressotasse. Sie trinkt ihren analytikerin der Hollywoodstars. Stermann bringen, bevor die Solidarität mit ihnen nach­
Kaffee immer so. Dirk Stermann hat im Buch sagt beim Frühstück mit milder Stimme zu lasse. »Der Judenhass ist eine Krankheit, wie
einen Running Gag daraus gemacht: er in der ihr: Sie habe ihm ein bisschen etwas erzählt, Krebs.«
Rolle des besorgten Tischnachbarn, der bei man könne durchaus sagen, dass das tatsäch­ Schließlich findet sie zu gelassener Heiter­
jedem Treffen aufs Neue befürchtet, sie kön­ lich so sei, auch wenn sie keine Namen nenne. keit zurück: »Sorgen mache ich mir keine. Es
ne den Kaffee verschütten. Doch Freeman macht dich schwach und dumm.«
verschüttet den Kaffee nicht, im Buch nicht Wie viele Juden, ist auch Freemans Vater,
und auch nicht an diesem Morgen. der in Schweden gelebt hat, in Israel bestattet.
Woher nimmt sie diese Konzentration, wo­ Seine zweite Frau wollte es so, eine, wie Eri­
her diese Energie, was ist ihr Geheimnis, um ka Freeman meint, bildschöne schwedische
derart fit zu sein mit 96 Jahren? »Arbeit«, sagt
sie. Sie habe immer gearbeitet, als junge Frau,
Über die Namen derjenigen, Krankenschwester, die ihn nach seiner Flucht
aus dem KZ gepflegt hatte.
als sie allein in New York lebte; nach dem die sie im Lauf der Ihre Mutter liegt bis heute in Wien, wo die
überraschenden Tod ihres Mannes, eines
­Malers. Er starb früh, 1980. Seinen Nachna­
­Jahrzehnte therapiert hat, Trümmer sie unter sich begraben haben. Am
12. März 1945. Vom Hotel Imperial sind es
men hat sie behalten, doch sie bevorzugt es, schweigt sie sich aus. dorthin nur wenige Minuten zu Fuß.  n

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die erste filmische Aufarbeitung des
Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963:
Die junge Dolmetscherin Eva Bruhns wird ge-
beten, kurzfristig bei Gericht zu übersetzen.
Es ist der erste Strafprozess, bei dem ehe-
malige SS-Offiziere für ihre Verbrechen im
Konzentrationslager Auschwitz angeklagt
werden. Während ihrer Übersetzungsarbeit
erfasst Eva das ganze Ausmaß der Vernich-
tungsmaschinerie der Nationalsozialisten –
und erkennt so die verlogene Gemütlichkeit,
die sie umgibt. Unnachgiebig und schonungs-
los stellt sie sich der eigenen Vergangenheit
und den untrennbar mit der grausamen
Wahrheit verbundenen Geheimnissen ihrer
eigenen Familie.

Die mit Spannung erwartete deutsche Aus-


nahmeproduktion glänzt mit Starbesetzung,
unter anderem mit Iris Berben, Heiner
Lauterbach, Anke Engelke, Max von der
Groeben und Newcomerin Katharina Stark.

DIE NEUE SERIE | EXKLUSIV

Ab 15. November streamen


KU LT U R

man heute gar nicht mehr erreichen. Was


muss man denn tun, um ein Denkmal zu
­bekommen? (Mertz hält den Film an und
­googelt.) Hier! Loriot-Stele mit Mops … vor
dem ehemaligen Wohnhaus. Ach nee! Der

»Daraus kannst du gut


hat in Stuttgart gewohnt? Dann haben wir
mehr gemeinsam, als ich dachte. Am Eugens­
platz hab ich immer Eis gegessen als Kind.

ein Meme machen«


Eisdiele ­Pinguin, Vanille-Zimt.

Der Comedian strahlt vergnügte Leichtigkeit


aus. Er lacht viel, spricht viel, gestikuliert viel.
Ein großer Teil seiner Arbeit passiere spontan,
HUMOR Der Deutschen liebster Komiker Loriot wäre in diesen Tagen sagt er. »Ich hau Sachen raus und gucke, wie
sie ankommen.« Er improvisiere auch deshalb
100 Jahre alt geworden. Ist er heute noch lustig? Eine Belastungsprobe viel, weil von ihm viel Output auf verschie-
mit Comedian Aurel Mertz und dem Filmklassiker »Ödipussi«. densten Kanälen erwartet werde. Das könne
man nicht alles vorbereiten. Mertz glaubt des-
halb, als Comedian habe man es früher leich-

E
r habe von »Ödipussi« immer nur Aus- Instagram testet er Laugenbrezeln. Gerade ter gehabt. »Ich will nicht wissen, wie ewig
schnitte gesehen, sagt Aurel Mertz, 34, startete seine Spielshow »Das große Men- viel Zeit und Ruhe Loriot hatte, ›Ödipussi‹
quietschgrüner Strickpullover, orange- schenraten« im SWR. zu schreiben.«
farbene Mütze. Der Comedian öffnet eine Für das Experiment einer Neubewertung In den Achtzigerjahren tickte die Welt
Flasche Club-Mate und lässt sich auf ein hat Mertz eine Altbauwohnung in Berlin- langsamer – und Comedy folgte anderen
schwarzes Ledersofa vor dem Fernseher in Neukölln vorgeschlagen, die ihm als Büro Grundsätzen. Die Deutschen amüsierten sich
seinem Büro fallen. »Aber die Sketche kenne dient. Vom Konferenzraum blickt man in über Streiche und Nonsens. Dieter Hallervor-
ich alle. Die habe ich als Kind mit meiner Oma einen Hinterhofgarten. Auf dem Tisch stehen den blödelte als chaotische Figur Didi durchs
gesehen. Sie hat Loriot geliebt.« Wie zum Einmachgläser, darin Nüsse, Salzbrezeln, Kino. Otto Waalkes drehte seinen dritten Film
Beweis hebt Mertz den Zeigefinger und die Weingummi. »Der Außerfriesische«. Karl Dall mimte einen
Augenbrauen und zitiert Loriot: »Ein Leben »Boah sieht das alles alt aus!«, ruft Mertz, chaotischen Filmvorführer bei »Verstehen Sie
ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.« als »Ödipussi« beginnt. In der ersten Szene Spaß?«, einer beliebten Show, in der man –
Am 12. November wäre Vicco von Bülow stehen Schwarz-Weiß-Fotografien auf einem bis heute – Menschen Streiche spielt und sie
alias Loriot 100 Jahre alt geworden. Er war alten Flügel, man sieht dunkle Möbel, schwe- dabei mit versteckter Kamera filmt. Schaden-
nicht nur der größte Komiker, den Deutsch- re Vorhänge, Kronleuchter und Spitzentisch- froh lachte man aus privilegierten Positionen
land je hervorgebracht hat. Er sei »der größ- decken. Loriot trägt grauen Anzug und Kra- auf andere herab.
te deutsche Künstler der Gegenwart« ge­ watte. »Wenn ich das sehe, kriege ich Angst, Loriot galt neben diesen Ulknudeln der
wesen, befand der SPIEGEL zu seinem Tod dass es bei mir zu Hause immer noch so aus- Vorwendezeit als der Feinfühlige, der
im Jahr 2011. Denn Loriot verstand die Deut- sieht wie jetzt, wenn ich 70 bin«, sagt er. ­Kultivierte. Der, der die Deutschen psycho-
schen und deutete sie. Kurz vor seinem Tod logisch durchschaute und sie subversiv
kannten mehr als 90 Prozent der Deutschen SPIEGEL: Herr Mertz, Sie kommen aus Stutt- dazu brachte, über sich selbst zu lachen. »Ich
seinen Namen. Seine Sprüche sind legendär: gart. Kennen Sie die Loriot-Stele am Eugens­ packe Bosheiten so ein, dass der Betreffende,
»Das Bild hängt schief« – »Die Ente bleibt platz? Die mit dem Mops? der es fressen muss, nicht merkt, was er
draußen« – »Mein Name ist Lohse, ich kaufe Mertz: Natürlich. Schon krass, dass Loriot so runtergeschluckt hat. Er merkt es erst, wenn
hier ein« – »Früher war mehr Lametta« – »Du ein Kulturgut ist. So eine Stellung könnte es im Magen liegt«, beschrieb Loriot seine
dödl di!« Arbeit.
Doch es gibt eine Regel im Geschäft mit Loriot selbst soll keineswegs zynisch,
der Komik: Sie altert meist schlecht. Witze ­sondern ein liebenswürdiger Menschen-
sind Kinder ihrer Zeit. Sie haben ihren Mo- freund gewesen sein. Zeitgenossen beschrie-
ment, danach sind sie entweder oll oder nur ben ihn als stets freundlich und höflich, aber
noch peinlich. Über Blondinen- oder Ost- bestimmt. »Er erinnert mich an einen be-
friesenwitze etwa lachen heute nur noch stimmten Typ Mensch«, sagt Aurel Mertz
­wenige. und erzählt eine Erfahrung aus seiner Kind-
Auch wenn Deutschland in diesen Tagen heit.
die Genialität, den Feinsinn und die Bissigkeit Mertz’ Mutter ist Künstlerin, der Vater
des Vicco von Bülow feiert, muss man sich Grafikdesigner mit ghanaischen Wurzeln, die
deshalb fragen: Ist Loriots Kino-Erstling beiden trafen sich an einer Kunstakademie.
»Ödipussi«, erfolgreichster deutscher Film »Wir waren Außenseiter im konservativen
des Jahres 1988, heute noch lustig, wenn man Stuttgart.« Er habe damals eine Zeit lang mit
die Nostalgie mal abgezogen hat? einem Stipendium eine Privatschule besucht.
Aurel Mertz war damals noch nicht ge­ »Da waren viele reiche kleine Arschlöcher
boren, er gilt als Shootingstar im Humor­ mit Burberry-Schal.« Er sei als Normalokind
segment. Scheinbar mühelos schafft er den für die soziale Quote geholt worden, das die
Isolde Ohlbaum / laif

Spagat zwischen Albernheit und einem Hu- Schulgemeinschaft durchmischen sollte.


mor, der politisch korrekt ist. Seine ge­ Wenn Mertz seine Mitschüler in ihren noblen
sellschaftskritischen Gags kippt er in die Gegenden besuchte, habe er sich beklommen
ZDF-Satireshow »Aurel Original«, ein Stand- gefühlt, erzählt er. »Nur manchmal war unter
up-Bühnenprogramm, einen Podcast. Auf den Eltern ein Anzugträger, der zwar aussah
Twitter legt er sich mit Reitsportfans an, auf Komiker Loriot mit Mops 1993 wie alle anderen, aber überraschend nett zu

114 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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Die meiste Comedy altere schlechter, findet


Mertz. »Harald Schmidt sagte neulich, wenn
er nicht mehr die chinesische Sprache nach-
äffen dürfe, weil das rassistisch sei, dann sei
halt 60 Prozent seines Programms überholt.
Aber das hier ist gutmütig und scharf zugleich.
Vielleicht war Loriot mehr als andere in der
Lage, die Perspektive zu wechseln.«
In »Ödipussi« wechselt die Hauptfigur
Winkelmann die Perspektive, als er im fami-
lieneigenen Möbelgeschäft die Kundin Mar-
garethe Tietze (Evelyn Hamann) kennenlernt.
Die Psychologin hat einen etwas anderen
Blick auf die Dinge, ist in Liebesdingen aber
ähnlich ungeschickt wie Winkelmann. In ihrer
therapeutischen Arbeit interessiert sie sich

Marcus Glahn / DER SPIEGEL


für die Wirkung von Farben auf Psyche und
Paarbeziehungen. Die beiden beschließen
­zusammenzuarbeiten.
Das führt zu absurden Szenen. Tietze (lind-
grüne Bluse) und Winkelmann (grauer Anzug)
besuchen ein Paar zur Therapie zu Hause.
Tietze will die Beziehung mit bunteren Möbel-
bezügen aufpeppen. Die Psychologin schlägt
Apfelgrün vor, »etwas Frisches«. Winkelmann
ignoriert, worauf sie hinauswill. Er möchte
dem Paar eine seiner 28 Graunuancen andre-
hen. Die Frau blickt trostlos aus ihrer grauen
Strickjacke: »Wir hätten gern das Aschgrau.«
»Nice one«, grinst Aurel Mertz. »Kannst
du gut ein Meme draus machen: Winter in
Berlin.«
Kurz darauf gehen Winkelmann und Tiet-
ze spazieren. Winkelmann hat gerade in einer
Kneipe versucht, die Begriffe »Frau« und
»Umwelt« in die Satzung eines Karnevals-
vereins zu integrieren, und nennt dies eine
politische Arbeit. »Ich bewundere an Politi-
kern ganz allgemein ihre geistige und mensch-
liche Überlegenheit«, sagt Loriot zu Hamann.
»Geil. Könnte man genau so twittern«, sagt
Aurel Mertz.
Aurel Mertz postet viel auf X. Die Platt-
form dient ihm als Stimmungsbarometer. »Bei
ddp

Comedian Mertz, Redakteurin Padtberg (o.), Filmpartner Loriot, Hamann*: »Nice one«
mir ist es egal, ob mich jemand mal für dumm
hält. Ich will erst mal unterhalten.« Während
mir war. Diese Begegnungen waren wie ein spieler wollen das nicht gelten lassen. Die er manchmal abends vergessen hat, was er
Aufatmen. Loriot erinnert mich an diese Leu- Besserwisserei wird schnell unerträglich. Das morgens im Netz gewitzelt hat, heißt es von
te. Er hat was Gutmütiges.« Alltägliche steigert sich von banaler Harm- Loriot, er sei penibel und perfektionistisch
Loriot war bereits 64 Jahre alt, als »Ödi- losigkeit ins Absurde, als die Runde vehe- gewesen. Sogar der Slapstick musste sitzen,
pussi« erschien, für den er das Drehbuch ge- ment diskutiert, ob das Wort »Schwanzhund« Szenen wurden ewig wiederholt, berichten
schrieben, Regie geführt und die Hauptrolle existiert und ob jeder Hund einen Schwanz Weggefährten. Loriot spielte gern selbst den
gespielt hatte. Er zeichnet darin die Welt als hat. Das klingt schlüpfrig, ohne direkt Clown: Nudel an der Nase, Küchengarn an
von spießigen Konventionen geprägtes Kor- schlüpfrig zu sein, ein typischer Loriot- der Roulade, Verheddern im Telefonkabel.
sett, in dem Menschen in erster Linie Angst Sprachwitz: Eine sexuelle Ebene könnte da
vor gesellschaftlicher Ächtung haben. sein, darf aber auch übersehen werden. SPIEGEL: Ist dick auftragen heute noch Mittel
Hauptfigur ist der hampelig-neurotische »Diese Klamotten! Diese Spießigkeit! Die- der Wahl?
Inneneinrichter Paul Winkelmann. Mit Mit- ses Neurotische!«, amüsiert sich Mertz und Mertz: Warum nicht. Einen gut erklärten Gag
te fünfzig ist er bei seiner übermächtigen erklärt, wie viel lockerer man heute mit allem schätzen viele Menschen. Wenn es losgeht,
Mutter ausgezogen, sie behandelt den Sohn sei. »Wobei – mir fällt gerade ein, verklemm- ahnst du schon, wie es endet. Das entspannt.
weiterhin wie ein Kind. In einer Szene spielt te Besserwisser in schlecht sitzenden Anzügen SPIEGEL: Aber funktioniert Humor nicht ge-
Winkelmann mit seiner Mutter und zwei gibt es heute ja auch.« rade anders – überraschend?
­weiteren Seniorinnen Scrabble. Die Frauen Mertz: Auf der Bühne, ja. Im Internet, ja. Da
tragen hochgeschlossene weiße Blusen und ist es geil, wenn die Pointe aus dem Nichts
Kostüme, spreizen den kleinen Finger ab, kommt. Das geilste Gefühl der Welt. Aber im
wenn sie am Tee nippen, sprechen auch
­gespreizt. Tante Mechthild legt das Wort
»Geil. Könnte man genau Film sollen die Leute etwas wiedererkennen.

»Hundnase« aufs Spielbrett, doch die Mit- so twittern.« * In »Ödipussi 1988.

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 115


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In »Ödipussi« gesteht Paul Winkelmann jetzt


seiner Mutter die weibliche Bekanntschaft
und dass er plant, die Frau mit auf Geschäfts-
reise nach Italien zu nehmen. Die Seniorin
NEUE BELLETRISTIK SACHBUCH reagiert eifersüchtig und beleidigt. Im Vorder-
grund der Szene steht eine Porzellanfigur
Der Blutgruselspezialist Der bis heute populärste zweier sich küssender Frauen.
unter Deutschlands Politiker und Ehren­
Krimischriftstellern schickt vorsitzende der Partei Die
eine von Horrorvisionen Linke unterhält sich mit Mertz: Schau mal, die »provokante Skulptur«
geplagte Heldin zu einem einem ihm lang vertrauten da. Die ist doch mit Absicht platziert.
Klassentreffen in ein Journalisten über Vor­ SPIEGEL: Was würde das bedeuten?
Berghotel, in dem sie bei lieben, Schwächen und
ihrer Ankunft leider große und kleine Be­ Mertz: Dass Loriot gar nicht so konservativ
der einzige Gast zu sein schwernisse des deut­ und heteronormativ dachte, wie seine Filme
scheint. | Platz 1 schen Alltags. | Platz 17 auf den ersten Blick wirken. Vielleicht ist die
Skulptur ein Wink und die alte Winkelmann
1 (1) Sebastian Fitzek 1 (2) Florian Illies im Film lesbisch.
Die Einladung Droemer; 24 Euro Zauber der Stille S. Fischer; 25 Euro
SPIEGEL: Warum freuen Sie sich darüber?
2 (3) Tonio Schachinger 2 (1) Britney Spears Mertz: Weil Loriot sich um Minderheiten
Echtzeitalter Rowohlt; 24 Euro The Woman in Me Penguin; 25 Euro ­keine Gedanken machen musste. Er musste
nichts darstellen, keine Quote erfüllen. Das
3 (2) Cornelia Funke Tintenwelt 4 – 3 (3) Axel Hacke Über die Heiterkeit in schwierigen war der Luxus des älteren weißen Mannes.
Die Farbe der Rache Dressler; 23 Euro Zeiten und die Frage, wie wichtig uns Trotzdem hat er daran gedacht, das ist
der Ernst des Lebens sein sollte DuMont; 20 Euro toll.
4 (4) Daniel Kehlmann
Lichtspiel Rowohlt; 26 Euro 4 (5) Ewald Frie Ein Hof und
elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro Es gibt Situationen in »Ödipussi«, die gar
5 (6) Klaus-Peter Wolf als Kommentar zu #MeToo und sexueller
Der Weihnachtsmannkiller Fischer; 15 Euro 5 (4) Dirk Oschmann Der Osten – eine ­Belästigung gelesen werden können. Psycho-
westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro login Tietze behandelt etwa eine Frau, die im
6 (8) Ken Follett Büroalltag Übergriffen ausgesetzt ist und
Die Waffen des Lichts 6 (–) Matthew Perry Friends, Lovers, and the
Lübbe; 36 Euro
Big Terrible Thing Lübbe; 22 Euro
nicht weiß, wie sie reagieren soll. Zwar tut
Tietze die Übergriffe als »Ungezogenheit«
7 (5) Dirk Rossmann / Ralf Hoppe
7 (8) Brianna Wiest 101 Essays, die dein ab. Doch als die Situation in der Gruppen-
Das dritte Herz des Oktopus Lübbe; 20 Euro
Leben verändern werden Piper; 22 Euro therapie nachgespielt werden soll, kochen die
8 (–) Sabine Ebert Der Silberbaum – Gefühle aller Beteiligten.
Die siebente Tugend Knaur; 24 Euro
8 (11) Guido Maria Kretschmer Auch die amouröse Handlung offenbart
19 521 Schritte Heyne; 20 Euro
bald menschliche Abgründe. Paarbeziehun-
9 (19) Eva Eich 9 (7) Herfried Münkler gen gehörten zu Loriots Lieblingsthemen. Die
Escape Room – Patient 13 ArsEdition; 14 Euro
Welt in Aufruhr Rowohlt Berlin; 30 Euro Kommunikation hakt fast immer. Männer und
Frauen begegnen sich mit Unverständnis, heu-
10 (12) Rebecca Yarros 10 (12) Philip Banse / Ulf Buermeyer
Fourth Wing – Flammengeküsst dtv; 24 Euro
te würde man sagen: passiv-aggressiv.
Baustellen der Nation Ullstein; 22,99 Euro »Alles extra verklemmt«, sagt Mertz. Für
11 (11) Robert Seethaler ihn hat sich der Witz der Peinlichkeiten jetzt
11 (10) Christopher Clark
Das Café ohne Namen Claassen; 24 Euro Frühling der Revolution DVA; 48 Euro
etwas erschöpft, eine Szene im Restaurant
zieht sich. »Das ist jetzt so der Moment, an
12 9) Ferdinand von Schirach 12 (–) Giovanni di Lorenzo Vom Leben und dem man mal zum Handy greift«, sagt Mertz,
Regen Luchterhand; 20 Euro anderen Zumutungen Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro »wie lange geht der Film noch?«
Die Zeit Ende der Achtzigerjahre sei
13 (7) Robert Galbraith 13 (19) Arnold Schwarzenegger
Das strömende Grab ­bunter, moderner und toleranter gewesen,
Blanvalet; 29,90 Euro Be Useful Lübbe Life; 25 Euro
als Loriot sie darstelle, meint Mertz. »In
14 (14) Caroline Wahl 14 (14) Reinhold Beckmann den USA startete kurz darauf ›Der Prinz
22 Bahnen DuMont; 22 Euro Aenne und ihre Brüder Propyläen; 26 Euro von Bel-Air‹. Die Serie habe ich geliebt.«
In der Sitcom spielt Will Smith einen
15 (13) Walter Moers Die Insel der 15 (15) Sophie Passmann jungen Afroamerikaner, der zu wohlhaben-
Tausend Leuchttürme Penguin; 42 Euro Pick me Girls Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro den Verwandten geschickt wird, damit er
einen guten Schulabschluss macht. Die Serie
16 (–) Ellen Sandberg 16 (–) Richard C. Schneider
Keine Reue Penguin; 22 Euro Die Sache mit Israel DVA; 22 Euro
zeigt, wie der Ghettojunge in der noblen
­Gesellschaft aneckt. Regelmäßig geht es um
17 (10) Bonnie Garmus 17 (20) Gregor Gysi / Hans-Dieter Schütt Auf eine Rassismus, Klassismus und Diskriminierung.
Eine Frage der Chemie Piper; 26 Euro Currywurst mit Gregor Gysi Aufbau; 22 Euro Darin habe er sich wiedergefunden, sagt
Mertz.
18 (17) Stephen King 18 (17) Gabriele von Arnim Aber Deutschland war eben noch »Ödi-
Holly Heyne; 28 Euro Der Trost der Schönheit Rowohlt; 22 Euro
pussi«. Die Gesellschaft im Kern konservativ,
19 (16) Elke Heidenreich 19 (9) Yael Adler überfrachtet mit sozialen Normen. »Wenn
Frau Dr. Moormann & ich Hanser; 22 Euro Genial vital! Droemer; 20 Euro das die Kultur war, auf die sich alle einigen
konnten«, sagt Merz, »dann weiß ich jetzt,
20 (–) Jarka Kubsova 20 (–) Philippa Perry Das Buch, von dem du dir warum ich mich als Kind so gefühlt habe, wie
Marschlande S. Fischer; 24 Euro wünschst, deine Liebsten … Ullstein; 22,99 Euro ich mich gefühlt habe.«
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller Carola Padtberg  n

116 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Die Preisverleihung findet

am 16. November statt,

eine Aufzeichnung strahlt

das WDR Fernsehen

um 23.30 Uhr aus.

Vorschläge für den

Preisträger des

Jahres 2024 können

die Zuschauer schicken an:

hanns-joachim-friedrichs-preis.de

Der Preis wird alljährlich an Moderatoren, Reporter und Redakteure ver-


geben, die durch ihre Arbeit gezeigt haben, dass sie kreative, kritische und
unabhängige Journalisten sind. Die diesjährigen Preisträger sind die WDR-Korre-
spondentin Ina Ruck und der ZDF-Journalist Elmer Theveßen. Den Sonderpreis
erhalten die ukrainischen Journalistinnen Nataliya Gumenyuk, Sevgil Musaieva,
Olga Rudenko.
Die Initiatoren und Juroren: Golineh Atai, Gabi Bauer, Jurek Becker (†), Manfred Bissinger, Nikolaus Bender,
Klaus Bresser, Annette Dittert, Katrin Eigendorf, Jürgen Flimm (†), Eric Friedler, Christoph-Maria Fröhder,
Petra Gerster, Carl Gierstorfer, Johannes Hano, Tina Hassel, Hanna Herbst, Maybrit Illner, Claus Kleber, Theo Koll,
Gerhard Krug (†), Stephan Lamby, Jürgen Leinemann (†), Ilse Madaus-Friedrichs (†), Sandra Maischberger,
Marcel Mettelsiefen, Eva Müller, Susanne Ottersbach-Flimm, Frank Plasberg, Fritz Pleitgen (†), Christina
Pohl, Ariane Reimers, Claus Richter, Thomas Roth, Ulf-Jensen Röller, Dirk Sager (†), Isabel Schayani,
Cordt Schnibben, Hermann Schreiber (†), Birgit Schwarz, Hajo Seppelt, Volker Skierka, Marietta Slomka,
Katharina Trebitsch, Harry Valerien (†), Weil Verlinden, Mathias Werth, Ulrich Wickert, Anne Will, Armin Wolf.
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aufwühlen. Als Mitbegründer des


Black Audio Film Collective gehörte
er Anfang der Achtzigerjahre zu
den Pionieren der britischen »Black

Sich neu in die Welt


Arts«-Bewegung, seit 1998 ist er als
Solokünstler global erfolgreich. 2023
wurde er von König Charles III. zum

einfühlen
Ritter ernannt. Im kommenden Jahr
wird der 66-Jährige den britischen
Pavillon bei der Venedig-Biennale ge­
stalten.
Für die Arbeit, die er dort zeigen
KUNST Mit seinen Filmen verändert der Videokünstler John Akomfrah den Blick will, hat er gerade in Schottland ge­
dreht. Nun ist er zurück in London
auf Identität, Klimawandel und Menschsein. Die Frankfurter und sitzt fürs Videointerview vor
Kunsthalle Schirn widmet dem Briten nun endlich eine große Einzelausstellung. einer Wand voller Post-its. Anlass ist
die Schau »A Space of Empathy« in
der Frankfurter Kunsthalle Schirn, die

E
r versuche, mit seinen Arbeiten Regen sagst. Oder Wind. Es ist vor­ erste große Einzelausstellung mit
alternative Modelle zu finden, gesehen, dass du Martin Luther King ­seinen Filmen in Deutschland. Trotz
nach denen wir unser Verhalten sagst. Aber was ist, wenn du dein seines internationalen Ruhms ist
ausrichten und durch die wir unser ­Leben wie der Wind leben willst? Akomfrah hierzulande kaum be­
Leben verstehen könnten, sagt John Wenn du keine Spuren hinterlassen kannt. Ab dem 9. November sind in
Akomfrah und gibt, weil er es nie nur willst, flexibel und greifbar ­zugleich der Schirn drei Filme zu sehen, die
bei großen Worten belässt, sofort ein sein willst – warum nicht so ver­ exemplarisch die großen Themen in
Beispiel. »Als Mensch wird von dir fahren?« Akomfrahs Werk aufgreifen: Iden­
erwartet, andere Menschen zu be­ Seit bald 40 Jahren macht der Bri­ Filmemacher
tität, Gewalt, Klimawandel. Wobei
wundern. Auf die Frage, wer dein te Akomfrah Filme, die solche Fragen Akomfrah: Akomfrah keine klassischen Filme
Held ist, ist nicht vorgesehen, dass du weniger aufwerfen als direkt in einem »Wie der Wind leben« dreht, sondern seine Erzählungen auf
mehrere Bildschirme gleichzeitig ver­
teilt. Meistens sind es drei Screens,
zuletzt sogar fünf.
Eine der drei in Frankfurt gezeig­
ten Filminstallationen ist »The Un­
finished Conversation« von 2012, ein
Porträt des einflussreichen britischen
Kulturwissenschaftlers und »Public
Intellectual« Stuart Hall und die wohl
beste Einführung in Akomfrahs
Schaffen. Die unvollendete Unter­
haltung aus dem Titel bezieht sich auf
Halls Konzept von Identität. Er ver­
stand sie als etwas, das sich je nach
Kontext verändert und entwickelt.
Hall war 1951 als Rhodes-Stipen­
diat von Jamaika nach Oxford ge­
kommen und entsetzt über den Ras­
sismus an der Eliteuniversität. Weil
seine Haut dunkler war als die seiner
Verwandtschaft, wurde er aber auch
in Jamaika kritisch beäugt. Nach Jahr­
hunderten der Kolonisierung galt
möglichst helle Haut als erstrebens­
wert, denn wer heller war, durfte auf
bessere Stellungen unter den Kolo­
nialherren hoffen.
Über seine widersprüchlichen Er­
lebnisse schrieb und sprach Hall, der
2014 verstarb, immer wieder. Aus­
gehend von seiner Biografie erzählte
er stets von kollektiven Erfahrungen
Adama Jalloh / NYT / Redux / laif

und historischen Umbrüchen. Akom­


frah spiegelt diese Vielschichtigkeit
und Durchlässigkeit in »The Unfi­
nished Conversation«, indem er etwa
Fotos aus Halls Familienalbum neben
historische Fernsehnachrichten über
Antiaufrüstungsdemos in Großbri­

118 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


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Szenen aus Akomfrah-Werk »Vertigo Sea«: Man stürzt durch die Zeiten und taumelt durch die Orte

tannien und aktuelle Aufnahmen vom ehe- rinnen und Denker, die Akomfrah in unser zu produzieren. Gerade die Naturaufnahmen
maligen Familienhaus der Halls auf Jamaika Gespräch einflicht. In der Schirn ist der Aus- aus seinen neueren Arbeiten grenzen in ihrer
laufen lässt. Kein Kanal erzählt dabei nur eine stellung daher ein frei zugänglicher Leseraum Opulenz manchmal an »National Geogra-
Zeitebene oder speist sich aus einer einzelnen vorangestellt, in dem sich Besucherinnen phic«-Gefälligkeit. Derartige Kritik stört
Quelle. Vielmehr gleiten die Bilder hin und und Besucher mit Büchern von Gesellschafts­ Akomfrah aber nicht. Er suche vielmehr das,
her, ergänzen sich, überlagern sich und er- theoretikern wie Paul Gilroy oder eben Stuart wie er es nennt, »Vulgäre«. Kulturelle Ereig-
geben gerade deshalb ein überaus plastisches Hall einstimmen oder das Gesehene nach- nisse wie Igor Strawinskys skandalumwitter-
Porträt von Hall – als Mensch genauso wie bereiten können. tes Ballett »Le sacre du printemps« oder die
als Denker. So ideen- und lektüregesättigt Akomfrahs große Fauvismusausstellung 1905, bei der
Akomfrah kam mit neun Jahren aus Gha- Werk auch ist, verkopft ist es nicht. »Vertigo Maler wie Henri Matisse als wahnwitzig be-
na nach England und hat wie Hall Identität Sea«, ein anderer Film, der in der Schirn ge- schimpft wurden, seien zunächst als »drüber«
stets als brüchig erlebt. Die Fixierung auf Na- zeigt wird, ist schlicht ein überwältigendes erachtet worden, so Akomfrah. Mittlerweile
tionalitäten lehnt er deshalb ab. »Leute nen- Seherlebnis. Bilder von der Jagd auf einen würden sie aber als Schlüsselmomente der
nen mich ohne Unterlass ›britischghanaisch‹. Buckelwal treffen auf die weißen Weiten der Moderne gelten. »Wenn jetzt jemand sagt:
Das bin ich aber nicht, ich bin ein schwarzer Arktis, über die der Wind peitscht. Manchmal ›Das ist drüber‹, heißt es in der Regel, dass
Brite. Um die Legitimität dieses Hybrids begleitet die Kamera einfach nur einen riesi- etwas Neues mit reinkommt.«
musste ich in den Siebziger- und Achtziger- gen Tintenfisch in die Tiefen des Wassers. Die Neues kommt bei Akomfrah vor allem
jahren noch mit vielen Leuten meines Alters Schönheit der Bilder ist buchstäblich gewaltig. durch seine Beschäftigung mit der Natur
streiten.« Schon als Teil des Black Audio Film Man kann sich ihr kaum verweigern – auch ­hinein. In den vergangenen 15 Jahren, sagt
Collective hinterfragte Akomfrah Identitäts- wenn das Gezeigte oft grausam ist. Zwischen er, habe das dazu geführt, dass er sich zuneh-
politik, da das Beharren auf Identität seiner die Naturaufnahmen streut Akomfrah näm- mend von Erzählkonventionen gelöst habe
Meinung nach neue Verengungen mit sich lich nachgestellte Szenen von einem Sklaven- und seine Filme keine klassischen Figuren
brachte. »Von Schwarzen«, sagte er in einem boot, das von Afrika unterwegs nach Ameri- mehr aufweisen würden. »Ich bin einfach
Interview von 1988, »wird in der englischen ka ist. Dann ist das schwarz-weiße Foto einer nicht davon überzeugt«, so Akomfrah, »dass
Kulturszene erwartet, provokant zu sein. Ich namenlosen Frau zu sehen. Im nächsten alle Erzählungen vom Menschen und dem,
finde das genauso ermüdend wie den alten ­Augenblick sind, ebenfalls schwarz-weiß foto- was der Mensch denkt, fühlt, glaubt, ausgehen
›Ihr müsst das Gewissen der Nation sein‹- grafiert, gefesselte Hände zu sehen. Womög- müssen. Schaut man sich an, wo wir plane­
Ansatz.« Beides führe dazu, dass schwarze lich handelt es sich um die Detailaufnahme tarisch, ökologisch oder einfach nur emotio-
Künstlerinnen und Künstler Großbritan­nien einer Leiche. nal stehen, würde ich sagen: Dafür ist es nun
als Feigenblatt dienten: Sie stünden für Auf den ersten Blick wirkt diese Zusam- wirklich zu spät.«
­gesellschaftlichen Fortschritt, obwohl es kei- menstellung willkürlich. Mit »Vertigo Sea«, Geschichte nicht vom Menschen aus zu
nen gebe. sagt Akomfrah, zeige er das Meer als Schau- erzählen klingt zunächst wahlweise esoterisch
Vor diesem Hintergrund entbehrt es nicht platz, auf dem sich Tätigkeiten vollzogen oder eben vulgär. Aber Akomfrah hat ein
einer gewissen Ironie, dass Akomfrah nun ­hätten, die an sich nicht vergleichbar seien. präg­nantes Beispiel parat. Debatten über das
zum Ritter ernannt worden ist und Großbri- »Aber ihre Koinzidenz ist bemerkenswert. Es Erbe von Kolonisatoren wie Hernán Cortés
tannien 2024 in Venedig vertreten wird. Er gibt zum Beispiel keine Verbindung zwischen oder Vasco da Gama – ob sie eher Gutes oder
nimmt den Auftrag pragmatisch als Ehrung den Tausenden versklavten Afrikanern, die Schlechtes mit ihren Eroberungszügen in
an. »Beim Venedig-Pavillon werde ich mich über Bord geworfen wurden und ertranken, der Welt angerichtet hätten – würden rein
weder als schwarzer Künstler noch als briti- weil die Schiffe ihren Hafen nicht erreichen menschenzentriert geführt. »Wenn du in
scher Künstler präsentieren – beides bin ich konnten, und dem chilenischen Oberst, der ­historische Unterlagen schaust, waren die
Smoking Dogs Films / Cour tesy Smoking Dogs Films and Lisson Galler y

so oder so. Ich werde einfach versuchen, das wiederholt politische Gefangene in einen Schlüsselfiguren in Wahrheit Viren. Die Viren,
Beste von mir zu geben.« Was das sein könn- ­Helikopter lud, um sie aus der Luft in den die zuvor importiert wurden, haben Millionen
te, dazu verrät er noch nichts – auch weil ­seine Ozean zu stürzen.« Trotzdem hätten die von Menschen getötet – viel mehr, als es Men-
Filme sich wie offene Recherchen entwickel- ­Opfer das gleiche Schicksal erlitten. »Deshalb schen dort jemals getan haben.«
ten und wandelten. »Es wird aber niemand sind sie es auch wert, gemeinsam exhumiert Welche politischen Schlussfolgerungen sich
den Pavillon betreten und ausrufen: Das ist zu werden.« daraus ziehen lassen? Das ist jedem und jeder
doch nicht von John Akomfrah!«, sagt er und »Vertigo«, Schwindel, beschreibt genau selbst überlassen, konkrete Handreichungen
lacht, wie an vielen weiteren Stellen, ein herz- das, was Akomfrah mit seinen komplexen gibt es in Akomfrahs Werk nicht. Der Per­
liches, sanft selbstironisches Lachen. Bilderschichtungen gelingt: Man stürzt durch spektivwechsel ist das Ziel, weshalb der Titel
Das Lachen scheint Akomfrah wie eine die Zeiten und taumelt durch die Orte. Den- der Frankfurter Ausstellung so passend ist:
Lockerungsübung für sich und sein Publikum noch hat man am Ende das Gefühl, mehr ver- »A Space of Empathy«, ein Raum der Empa-
einzusetzen, denn in seinen Sätzen ver- standen zu haben – denn man begreift die thie – das ist es, was John Akomfrahs Filme
schwendet er kein einziges Wort und for­ Komplexität historischer Prozesse nicht nur erschaffen. Mit ihnen kann man sich in die
muliert ebenso präzise wie anspielungsreich. intellektuell, sondern auch sinnlich. Welt neu eindenken und neu einfühlen. Und
Octavio Paz, Achille Mbembe und M. Weil seine Arbeiten so zugänglich sind, hat dann womöglich neu handeln.
Nourbe­Se Philip sind nur einige der Dichte- man Akomfrah mitunter vorgeworfen, Kitsch Hannah Pilarczyk  n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 119


KU LT U R

»Es gibt eine neue Abwehr gegen die


Erinnerung an den Holocaust«
SPIEGEL-GESPRÄCH Die Deutschen tun sich schwer damit, Gewalt zu verstehen, sagt Raphael Gross,
der Leiter des Deutschen Historischen Museums. Nicht nur in Bezug auf die eigenen Verbrechen, sondern auch
beim Blick auf den Krieg im Nahen Osten.

Der Schweizer Historiker Gross, 56, Übrigens ist es auch wichtig für die Ländern. Was sagt das über die Deut-
wurde 2016 zum Präsidenten der Stif- neue Bedeutung Deutschlands, auch schen aus?
tung Deutsches Historisches Museum als militärische Macht. Gross: Die von Ihnen erwähnte »Stif-
in Berlin berufen. Zuvor leitete er in SPIEGEL: Warum das? tung Flucht, Vertreibung, Versöh-
Frankfurt am Main das Jüdische Gross: Wenn Deutschland eine stär- nung« ist formal eine Unterstiftung
­Museum. kere Rolle in Europa spielen will, von uns. Sie beschäftigt sich mit den
muss es signalisieren: Wir wissen, was Deutschen als Opfer von Vertreibun-
SPIEGEL: Herr Gross, das Deutsche dieses Land zwischen 1939 und 1945 gen infolge des Zweiten Weltkriegs.
Historische Museum soll eine neue angerichtet hat. SPIEGEL: Und bezeichnenderweise
Institution aufbauen: ein Dokumen- SPIEGEL: Das letzte große erinne- Deutscher Soldat
war diese Stiftung, die sich schwer-
tationszentrum zum Zweiten Welt- rungspolitische Projekt der Bundes- bei Bewachung punktmäßig mit den Deutschen be-
krieg. Es soll daran erinnern, mit wel- republik war das Dokumentations- sowje­tischer fasst, zuerst da.
chem Vernichtungswillen die Deut- zentrum zu Flucht, Vertreibung, Ver- Kriegsgefangener Gross: Das stimmt. Natürlich stellt
1942, Kinder aus
schen über Europa hergefallen sind söhnung. Das handelt aber eher von Izieu mit Betreuern
sich die Frage nach der Vorgeschich-
und welche Gewaltexzesse sie zu den Traumata der Deutschen als von 1943: »Historische te der Vertreibung: Die neue Einrich-
verantworten haben. Kommt das denen der Menschen in den besetzten Urteilskraft« tung wird sehr konkret über die Ver-
nicht reichlich spät? brechen informieren, die bis 1945 von
Gross: Zunächst muss man festhalten: Deutschen ausgehend in Europa statt-
Das ist ein Projekt, welches vom Deut- gefunden haben.
schen Bundestag ausgeht. Die Frage, SPIEGEL: Warum ist es so wichtig, auf
ob etwas zu früh, zu spät oder doch konkrete Ereignisse zu sprechen zu
rechtzeitig kommt, kann man der kommen?
­historischen Forschung immer stellen. Gross: Weil diese konkreten Ereignis-
Ich finde vor allem wichtig, dass es se vielfach gar nicht bekannt sind.
kommt, und ich weiß, dass nicht jeder »Nie wieder« kann man nur sagen,
so denkt. Es gab auch ­Widerstände. wenn man Kenntnis davon hat, was
SPIEGEL: Welcher Art? tatsächlich war. Nur die Fokussierung
Gross: Gedenkstätten empfanden das auf das Gewesene gibt uns eine Grund-
Projekt als Konkurrenz. Manch einer lage, im Sinne historischer Urteilskraft
Ar thur Grimm / bpk

meint, die bestehende Gedenkstät- ein Nachdenken ent­wickeln zu kön-


tenlandschaft reiche doch. Als wir an nen. Wer weiß zum Beispiel, dass in
dem Konzept arbeiteten, wurde aber Polen oder dem ukra­inischen Teil der
immer deutlicher, wie wichtig das ist: Sowjetunion Tausende Patienten in
die genaue Aufarbeitung dessen, was psychiatrischen Kliniken ermordet
außerhalb von Deutschland, nämlich wurden? Wer in Deutschland kennt
im ­besetzten Europa, zwischen 1939 die Geschichte des Kinderheims im
und 1945 passiert ist. belarussischen Damatschawa, südlich
SPIEGEL: Sie meinen, gerade heute? von Brest, an der heutigen Grenze zu
Gross: Die Deutschen haben wirklich Polen? Hier ermordeten deutsche Ein-
sehr viele Formen von Verbrechen, heiten am 20. September 1942 im
von Gewalt ausgeübt. In den damals ­jüdischen Ghetto 1000 Menschen;
besetzten Ländern ist das enorm prä- überwiegend Alte, Frauen und Kinder.
sent. Und es wäre wichtig, dass man Wenige Tage später wurden aus dem
dort sieht: Deutschland ignoriert die- Kinderheim von Damatschawa 54 be-
se Geschichte nicht länger. Für einen larussische, polnische und ukrainische
starken Zusammenhalt in Europa, Kinder von Beamten der Sicherheits-
den wir mehr denn je brauchen, ist polizei abgeholt und im nahe liegen-
SIPA / action press

das geradezu eine Voraussetzung. den Wald erschossen. Das Heim war
für volksdeutsche Kinder vorgesehen.
Das Gespräch führten die Redakteurin Ulrike Wer weiß von dem Überfall 1944 auf
Knöfel und der Redakteur Tobias Rapp. ein jüdisches Waisenhaus in der Nähe

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Gross: Zwischen 1939 und 1945 übten Deut­


sche auf viele Weisen Gewalt aus, die Ver­
nichtung durch Arbeit, die Vernichtung in den
Gaskammern, das Erschießen von Juden am
Rande osteuropäischer Städte, Euthanasie,
medizinische Experimente an sogenannten
rassisch Minderwertigen, viele weitere Ver­
brechensformen. Aber Gewalt ist nicht gleich
Gewalt. Die Form der Gewalt hatte jeweils
mit bestimmten ideologischen Einstellungen
der Täter zu tun: Wer wird wie behandelt?
Das wussten die verschiedenen Opfergruppen
sehr genau.
SPIEGEL: Und das heißt für die Situation im
Nahen Osten?
Gross: Das Massaker vom 7. Oktober wurde
etwa mit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973
verglichen. Aber das war ein Krieg der Ar­
meen, er begann als militärischer Über­
raschungscoup der arabischen Nachbarn
­Israels. Im Vergleich dazu waren wir am
7. Oktober 2023 mit einer anderen Dimension
konfrontiert, einer neuen Perversion von Ge­
walt. Manche setzen dieses Massaker auch
mit dem im ukrainischen Butscha gleich, aber
das ist nicht richtig.
SPIEGEL: Warum?
Gross: Russland hat eine Armee losgeschickt,
die Unschuldige massa­kriert und nachher sagt,
wir waren das nicht. Butscha war also die
Schreckenstat eines verbrecherischen Lüg­
ners. Wenn jemand dagegen sogar filmt, wie
er Babys tötet und deren Eltern und Groß­
eltern die Bilder davon über soziale Medien
zuschickt, weltweit verbreitet, und wenn sich
die Anhängerschaft dieser Leute darüber
freut, dann ist das doch noch etwas anderes.
Und auch die mit dieser Form der genozida­
len Gewalt einhergehende Botschaft: Wir, die
Hamas, werden so mit euch verfahren, wenn
wir es können und die Macht dazu haben.
Steffen Jänicke / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Inwiefern hilft diese Unterschei­


dung?
Gross: Vielleicht schauen wir uns an, was ge­
rade passiert: Statt die neue Dimension der
Gewalt gegen Bürgerinnen und Bürger Israels
Historiker Gross
zu begreifen, wird der Fokus verschoben.
Statt etwa zu überlegen, ob in den Kibbutzim
von Lyon? In diesen Ländern spielen genau groß, auch wegen des großen Einflusses und Moshavim ein antisemitischer Genozid
diese konkreten Taten noch heute eine große Deutschlands. Man hat die Maßnahmen der versucht worden ist, wird sofort auf einen
Rolle, und die Menschen erinnern sich an sie. EU beinahe als Fortsetzung der einstigen angeblich einzig relevanten »Kontext« ver­
SPIEGEL: Auch in einer malerischen Stadt wie deutschen Besatzungspolitik verstanden. wiesen: Israel als angeblich kolonialer Apart­
Venedig findet man, wenn man genauer hin­ ­Sogar der Brexit lässt sich nicht ohne die Er­ heidstaat.
schaut, lauter Denkmäler, die an die erschos­ innerung an den Zweiten Weltkrieg erklären. SPIEGEL: Mit welcher Wirkung?
senen Partisanen erinnern, an jene, die zur Mir geht es aber beim Thema Gewalt noch Gross: Es ist offensichtlich, dass hier mit Ge­
Zwangsarbeit weggeschafft wurden. um etwas anderes, was für die Gegenwart fühlen der oft berechtigten Empörung und
Gross: Es gibt ungezählte Beispiele. Da sind gleichfalls von großer Bedeutung ist. Entrüstung über koloniale Verbrechen von
die Verbrechen an Sinti und Roma oder – SPIEGEL: Um was? Ländern wie England, Frankreich, Holland,
auch das sollten wir heute nicht vergessen – Gross: Wir müssen bei Verbrechen grund­ Belgien, Deutschland, Spanien und anderen
die fast drei Millionen sowjetischen Kriegs­ sätzlich genauer hinschauen, müssen ver­ argumentiert und ausgerechnet damit Anti­
gefangenen, die die Wehrmacht vor allem schiedene Formen von Gewalt genau unter­ semitismus weltweit befeuert wird. Man kann
verhungern lassen hat. Mit diesen Erinnerun­ scheiden und unterschiedliche Begriffe dafür auch davon sprechen, dass hier eine antiko­
gen verbunden sind Gefühle, die immer noch finden. Die Sprache verstehen, die ein Ver­ loniale Tradition missbraucht wird, um Anti­
abrufbar sind und Einfluss auf die europäische brechen ausdrückt. Das sage ich auch vor semitismus zu schüren. Das steht in einer
Politik haben. dem Hintergrund des Massakers vom 7. Ok­ Verbindung mit dem Versuch, die NS-Zeit als
SPIEGEL: Inwiefern? to­ber in Israel. Kolonialverbrechen zu verstehen. Eine immer
Gross: Während der griechischen Staatsschul­ SPIEGEL: Können Sie den Zusammenhang stärker verbreitete Theorieentwicklung führt
denkrise ab 2009 war die Wut auf die EU ­erklären? dazu, dass die Unterscheidungen zwischen

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Rassismus und Antisemitismus, zwischen Ge­ semitisch bezeichnen kann. Heute findet man
nozid und Massaker, zwischen Krieg und Ter­ das auch auf linker Seite. Unter den Aufrufen,
ror verwischt werden. in denen die Taten der Hamas keine Erwäh­
SPIEGEL: Geht es vielen Wissenschaftlern nung finden, stehen auch Namen jüdischer
nicht vor allem darum anzuerkennen, wie Intellektueller. Vielleicht wollen sie weiter
ungeheuerlich die Verbrechen des Kolonialis­ dazugehören, nicht aus dem Netzwerk fallen.

Wolfgang Rattay / REUTERS


mus waren? Sie würden mir sicher widersprechen und
Gross: Ich teile die Empörung über den Ko­ erklären, dass sie doch nur gegen Israel und
lonialismus, sie ist angemessen, die Aufar­ selbstverständlich nicht antisemitisch agier­
beitung wichtig. Aber man darf die Kate­ ten. Tatsache ist aber, dass die Hamas Juden
gorien nicht immer weiter abschleifen, bis Protestierende auf der Documenta 2022 weltweit angreift.
keine Unterscheidungen mehr möglich sind SPIEGEL: Auch in Deutschland erstarkt der
und nur noch Allgemeinplätze übrig bleiben. Antisemitismus seit Jahren wieder. Ist das
Am Schluss bringt man dann alles nur noch nicht ein Hinweis darauf, dass die Aufarbei­
auf den Nenner: Ja, das war auch nicht gut. tung nicht funktioniert hat? Wo haben Mu­
Das ist eine Form der Relativierung. Manche seen und Gedenkstätten versagt?
gehen ja noch weiter und sagen, wir brauchen Gross: Haben sie das? Man muss zuallererst
eine Welterinnerung, müssen alles gleich mal anerkennen, was die Gedenkstätten ge­

Lucas Barioulet / DER SPIEGEL


­erinnern. Ich würde sagen, das führt zu einer leistet haben – gegenüber einer Gesellschaft,
Weltvergessenheit. Ich bereite gerade eine die nichts wissen wollte. In der Nähe meiner
Ausstellung zu Nationalsozialismus und Ko­ Wohnung ist eine Schule, auf deren Grund­
lonialismus vor, weil es wichtig ist, sich dem stück früher eine Synagoge stand. Diese
Konkreten auszusetzen und zu ver­gleichen. ­Synagoge wurde in der Pogromnacht 1938 an­
Grenzzaun zum Kibbuz Beeri
Natürlich müssen wir uns mit Kolonialver­ gegriffen und im Krieg von einer Bombe ge­
brechen beschäftigen. Aber man muss ver­ troffen, aber abgerissen wurde sie erst in den
stehen, dass sie nicht identisch sind mit den Gross: Ich finde es paradox, wenn Menschen, Fünfzigerjahren – weil sie ihre »Funktion ver­
Verbrechen des Nationalsozialismus. die gerne viel reden, angeblich keine Worte loren hatte«. Es bricht mir jedes Mal das Herz,
SPIEGEL: Vielen Deutschen erschien die Be­ finden. wenn ich an dem kleinen Denkmal vor der
wältigung der Naziverbrechen erfolgreich ab­ SPIEGEL: Und doch gibt es eben auch die von Schule vorbeikomme. In den Fünfzigerjahren
geschlossen. Bekommt die Historie seit eini­ Israel ausgehende Gegengewalt, die Zahlen war es normal, dass Synagogen abgerissen
ger Zeit wieder eine erschreckende Gegen­ der Opfer im Gazastreifen sind groß. wurden, weil sie niemand mehr brauchte. Heu­
wärtigkeit? Gross: Wer solche Horrortaten begeht wie die te wäre das undenkbar. Es gibt ein anderes
Gross: Es gibt eine neue Abwehr gegen die Hamas in Israel, rechnet nicht damit, am Ende Bewusstsein, zumindest in großen Teilen der
Erinnerung an den Holocaust, die immer stär­ zu einem Frieden zu kommen, sondern er Gesellschaft.
ker wird: Vielleicht die wirksamste antisemi­ rechnet damit, dass jemand in der Sprache der SPIEGEL: Wie ordnen Sie es als Historiker ein,
tische Äußerung auf der Documenta 15 war Gewalt antwortet. Diese Massaker wa­ dass der Antisemitismus jetzt wieder sicht­
das Plakatieren einer Parole, die heute auf ren möglich, weil die Hamas von Iran und der barer wird?
den Berliner Straßen gerufen wird: »Free Pa­ Hisbollah ausgerüstet wird. Iran ist eines der Gross: Der Antisemitismus verändert sich
lestine from German guilt«, also befreit Pa­ reaktionärsten Regime der Gegenwart. Es ist ständig und nimmt verschiedene Formen an,
lästina von der deutschen Schuld. Das ist mir unverständlich, wie Linke das übersehen er ist auch deshalb schwer zu bekämpfen.
vielleicht der perfideste Angriff auf die müh­ und dazu schweigen können. Und es ist er­ Es klingt vielleicht seltsam, aber meiner
sam und gegen viele Widerstände erkämpfte schreckend, wie wenig die kriegerische Ge­ ­Meinung nach halten sich Antisemiten für
Auseinandersetzung Deutschlands mit dem walt, die viele Palästinenser erleiden, dazu die moralisch überlegenen Menschen, so
Holocaust. Sie verbinden sich mit merkwür­ führt, dass auf propalästinensischen De­ war es auch ab 1933: Die Juden bekämpft
digen Konstellationen, wie derjenigen von monstrationen auch die Hamas verurteilt wird. man ja, weil man gut ist und sie nicht gut
Hubert Aiwanger, der ausgerechnet heute vor SPIEGEL: Sie machen klar, dass die Gewalt der sind. Weil sie hinterhältig sind und man das
zugewandertem Antisemitismus warnt. Das Hamas deren Antisemitismus aufzeigt. Ist von sich selbst nicht glaubt. Weil sie – angeb­
sind Versuche, die deutsche Vergangenheit damit automatisch der schweigende Teil der lich – die Welt kontrollieren und man selbst
insgesamt zu entsorgen. Dazu gehört auch, Linken antisemitisch? Und wenn ja, wie kann nur den Frieden will; aber weil sie die Welt
wie wenig über Antisemitismus nachgedacht es dann sein, dass sich da auch jüdische Intel­ kontrollieren, muss man dann doch die Welt
wird und wenn, in welchen Klischees. lektuelle einreihen? erobern. Wenn wir zurückblicken auf die
SPIEGEL: Haben Sie eine Antwort? Gross: Die israelische Historikerin Shulamit Nachkriegszeit, müssen wir aber auch
Gross: Keine umfassende Antwort. Mir fällt Volkov hat einmal den Begriff des »Anti­ ­zwischen West- und Ostdeutschland unter­
auf, dass in vielen Statements zum 7. Oktober semitismus als kultureller Code« geprägt. Um scheiden. In der DDR gab es einen deutlich
der Begriff Antisemitismus nicht auftaucht. Die 1900 wurde es ihr zufolge zu einem Distink­ stärkeren Ausschluss der ehemaligen natio­
Täter sind aber herumgelaufen und haben nach tionsmerkmal eher konservativer Kreise, anti­ nalsozialistischen Eliten. Gleichzeitig waren
Juden geschrien, die sie umbringen wollten, semitisch zu sein. So finden sich etwa selbst die politisch Verfolgten unter den Opfern des
nicht nach Israelis. Dieser Antisemitismus wird bei einem jüdischen Politiker wie Walther Faschismus eine höhere Opferkategorie als
in einem gewissen gesellschaftlichen Spektrum, Rathenau, der 1922 bei einem Attentat er­ jüdische Verfolgte, Antizionismus war quasi
bei vielen Unterstützern der Palästinenser, aus­ mordet wurde, Aussagen, die man als anti­ Staats­doktrin.
geblendet. Das ist auch relevant, weil der SPIEGEL: Und in Westdeutschland?
­blutige Antisemitismus der Hamas in einem Gross: In der Bundesrepublik hat dieselbe
Zusammenhang zum Antisemitismus steht, der Elite, die den NS-Staat mitaufgebaut hat, auch
erst die historische Notwendigkeit der Grün­ die Demokratie mitaufgebaut. Dieselben Leu­
dung des Staates Israel bedingt hat. »Antisemiten halten sich te, zwei Staatsgründungen. Es lagen ja auch
SPIEGEL: Viele Kulturschaffende auf der gan­
zen Welt schwiegen lange zu dem Massaker
für die moralisch nur zwölf Jahre dazwischen.
SPIEGEL: Herr Gross, wir danken Ihnen für
in Israel. ­überlegenen Menschen.« dieses Gespräch.  n

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Erzählung über Paul Auster selbst –


und seine Beziehung zu Siri Hust-
vedt, mit der er in ähnlich intellek-
tueller Symbiose lebt wie Sy mit sei-
ner Anna. Hustvedt (»Die zitternde

Die letzten Dinge


Frau«) hatte die Krebserkrankung
ihres Mannes öffentlich gemacht und
auch, dass er – nach mehr als 30 Bü-
chern, die in über 40 Sprachen über-
setzt wurden – demnächst ein »zärt-
BUCHKRITIK Der neue Roman von Paul Auster, »Baumgartner«, enthält alles, liches, wunderbares, kleines Buch«
was den Autor ausmacht: die Ausfallschritte ins Surreale, veröffentlichen werde.
Dieser kleine Roman von gerade
die biografischen Einfärbungen und die elegante Prosa mit der erfreulichen mal 200 Seiten ist »Baumgartner«.
Scheu vor allzu kurzen Sätzen. Er enthält sozusagen den ganzen
Auster, die Ausfallschritte ins Surrea-
le, die biografischen Einfärbungen,

S
øren Kierkegaard schrieb unter die elegante Prosa mit der erfreuli-
verschiedenen Pseudonymen. chen Scheu vor allzu kurzen Sätzen.
Nicht, um seine Autorenschaft Heinrich von Kleist ist Auster ein
zu verschleiern. Auf diese Weise Vorbild, und das merkt man auch
konstruierte der dänische Denker hier. Es ist die Sprache selbst, die sein
vielmehr abweichende Standpunkte, Schreiben in assoziativen Schleifen
die ihm eine Erörterung philosophi- von Hölzchen auf Stöckchen bringt.
scher Probleme erlaubten, ohne dass Lektüren des Helden wechseln mit
ihm dabei die eigene Person in die Texten der Verstorbenen, luzide

Eva Tedesjö / DN / TT / IMAGO


Quere kam. Es ist dieser Trick mit ­Erinnerungen mit »freudlosen Mas-
der Abstraktion, der das poetologi- turbationsepisoden, bei denen er
sche Fundament des neuen Romans sich vorstellte, wieder mit Anna im
von Paul Auster, 76, bildet. Bett zu sein«, was ihn »zum ersten
Als Popstar der literarischen Post- Mal seit fast vierzig Jahren« dazu
moderne bringt der US-Schriftsteller bringt, »wieder den Frauen nachzu-
denn auch gleich im zweiten Satz von laufen«.
»Baumgartner« einen Hinweis auf der verbrannten Hand kann Baum- Ehepaar Da sind wir auf Seite 57 und mer-
die geborgte Methode unter. Sein gartner nicht nach dem Geländer zur Hustvedt, Auster ken allmählich, dass die kreiselnde
Held, Sy Baumgartner, »befindet sich Kellertreppe greifen, »aber schließ- Ziellosigkeit dieses Erzählens ihr
mitten in einem Satz im dritten Ka- lich lebt er in diesem Haus seit vielen eigentlicher Zweck ist. Die letzten
pitel seiner Monografie über Kierke- Jahren und kennt die Treppe, also Dinge könnten eben auch die vor-
gaards Pseudonyme, als ihm einfällt, wagt er den ersten Schritt in die Tie- letzten sein, man weiß es nicht.
dass das Buch, aus dem er zitieren fe, verfehlt das Brett um einen Zen­ Baumgartner wühlt in der Vergan-
muss, um den Satz zu beenden, noch timeter, verliert im Dunkeln das genheit, und »plötzlich erinnert er
unten im Wohnzimmer ist, wo er es Gleichgewicht und stürzt, stößt sich sich an seine Reise in die Ukraine«,
gestern vor dem Zubettgehen hat lie- einen Ellbogen an, dann den ande- zu den Vorfahren, die dann als Ge-
gen lassen«. ren, und schlägt mit dem rechten schichte in der Geschichte ausgebrei-
Die ersten 30 Seiten lesen sich wie Knie auf dem harten Betonboden tet wird – als »ernst-komische Ab-
eine Mischung aus Slapstick und in- auf«. handlung über das Ich im Verhältnis
nerem Monolog, abgefilmt in Super- Es ist der Betonboden einer Reali- zu anderen Ichs«.
zeitlupe und unterlegt mit klassischer tät, mit der wir nach diesem ersten Zur ohnehin minimalen Handlung
Musik in Moll. Kapitel bereits bestens vertraut sind. tragen solche Exkursionen aus dem
Auf dem Weg ins Wohnzimmer Sy Baumgartner ist ein Professor in Zettelkasten nichts bei. Sie verstär-
fällt Baumgartner auf, dass er seit seinen Siebzigern, dessen »einzig ken aber die elegische Stimmung, in
dem Frühstück den Topf nicht vom wahres Leben« begann, als er Anna die das ganze Projekt getaucht ist wie
Herd genommen hat. Er verbrennt heiratete, seine vor inzwischen zehn in Pfeifenrauch. Am Ende wird es
sich die Hand und erinnert sich, dass Jahren bei einem Badeunfall in Cape wieder die Liebe sein, die den Helden
er eigentlich mal wieder seine Cod verstorbene Frau, eine Dichterin hoffen – und in der Schwebe verhar-
Schwester anrufen wollte. Plötzlich und Übersetzerin, deren Verlust er ren – lässt.
steht die UPS-Botin Molly mit einem als »endgültige Amputation« be- Es ist, als würde »Baumgartner«
weiteren jener Bücher vor der Tür, trachtet. Er ist zurückgeblieben und nach furiosem Start nur noch aus-
die er nur bestellt, weil er ein wenig weiß nicht, wie er den Schmerz über- rollen, 150 Seiten lang und in keine
verliebt ist in diese »stämmige Frau winden, wie er weitermachen soll – erkennbare Richtung. Es ist im Grun-
in den Dreißigern«, die ihn an seine und tut es doch, irgendwie, mehr Die kreiselnde de rätselhaft, warum man ihm dabei
verstorbene Anna erinnert. Es ruft schlecht als recht. Und kündigt sich Ziellosigkeit dennoch so gern folgt. Siri Hustvedt
die Tochter der Haushaltshilfe an und da nicht eine neue Liebe an? Und, aber, die »42 Schreibjahre« mit ihm
erzählt mit »zitterndem Stimmchen«, nebenbei, auch eine beginnende De- dieses Erzäh- verbracht hat, will an ihrem erkrank-
dass ihr Vater sich zwei Finger ab- menz? lens ist ihr ten Mann eine »Anmut unter Druck«
geschnitten hat. So hebt sie an, eine verspiegelte erkannt haben. Sie könnte, wie im-
Dann klingelt ein Mann, der gern und verschlüsselte Erzählung über eigentlicher mer, auch damit recht haben.
den Zähler ablesen würde. Wegen die letzten Dinge. Im Kern ist es eine Zweck. Arno Frank  n

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 123


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124 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Hans Meiser, 77 Audrey Salkeld, 87
NACHRUFE Er zählt zu den Pionieren des Ihre Leidenschaft und Hart­
deutschen Privatfernsehens näckigkeit machten sie zu einer
und veränderte die TV-Land- der bedeutendsten Alpinismus-
schaft. Im Januar 1984 verlas Historikerinnen, und ihr Archiv
Hans Meiser die ersten Nach- mit Bergsteigerliteratur ist
richten bei RTL, 1988 machte ­riesig: Die Autorin, Forscherin,
er von sich reden, weil er bei Drehbuchschreiberin Audrey
der Geiselnahme von Gladbeck Salkeld war eindeutig im Berg-
in der Bankfiliale anrief und fieber. In London als Audrey
ein Interview mit einem der Mary West geboren, arbeitete
Geiselnehmer führte. Für einen sie nach dem Schulabschluss als
Durchbruch in der Fernseh­ Sekretärin und heiratete 1963
geschichte sorgte er ab 1992, als Peter Salkeld. Für einen Frei-
die erste Nachmittagstalkshow zeitklub fürs Bergsteigen produ-
mit »ganz normalen« Menschen zierte sie eine vierteljährliche
bei RTL startete: Nach US-ame- Infoschrift und wurde daraufhin
Maurizio Gambarini / picture alliance / dpa

rikanischem Vorbild wurden in von der Fachzeitschrift »Moun-


die Sendung »Hans Meiser« so- tain Magazine« engagiert. Re-
genannte Durchschnittsbürger gelmäßig interviewte sie nun
und -bürgerinnen eingeladen. Bergsteiger. In einem »Moun-
Er diskutierte dort keine gro- tain«-Artikel wurde spekuliert,
ßen, politischen Themen, son- dass George Mallory, bevor er
dern vor allem persönliche Pro- am Mount Everest umkam, den
bleme von Nachbarschaftsstreit Gipfel erreicht haben könnte.
bis Scientology. Sein Marken- Die britische Mount-Everest-
zeichen war die Empathie, er
Harald Falckenberg, 80 war den Menschen zugewandt
Er hatte Geld und Humor und eine eigenwillige Begeisterung für und nahm ihre Sorgen ernst.
jene deutsche und US-amerikanische Kunst, die in den Jahren zwi- Geboren wurde Meiser 1946 im
schen Anfang der Achtziger und der Gegenwart entstand. »Main- niedersächsischen Bad Rothen-
stream interessiert mich nicht. Mir geht es um die Außenseiter und felde. Nach einem abgebroche-
Freaks unter den Künstlern«, hat der Unternehmer und Jurist nen Germanistikstudium und
­Harald Falckenberg einmal erklärt. In der Kunstsammlung, die Fal- Hörfunkerfahrungen kam er
ckenberg von Mitte der Neunzigerjahre an aufbaute und in einem zu RTL. Man habe dort damals

Cour tesy Ed Salkeld


ehemaligen Fabrikgebäude in Hamburg-Harburg der Öffentlichkeit »keine Ahnung von Fernsehen«
zugänglich machte, finden sich trotzdem oder gerade deshalb viele gehabt, sagte Meiser mal in
Werke prominenter Kunstschaffender wie Katharina Sieverding, ­einem SPIEGEL -Interview. Ne-
Paul McCarthy oder Mike Kelly. Falckenberg war in einer wohl­ ben den Talkshows moderierte
habenden Hamburger Familie aufgewachsen und hatte sein Vermö- er »Notruf« und zusammen mit
gen mit einem Patent auf Tankpistolen gemehrt, bevor er es als streit- Birgit Schrowange eine Pannen- Expedition im Jahr 1924 um-
lustiger Kunstgelehrter und Vertrauter vieler Künstlerinnen und show. Jan Böhmermanns »Neo weht ein Hauch von Geheimnis,
Künstler auch international zu Renommee brachte. Neben der Pflege Magazin Royale« beendete auch wenn die offiziellen Erst-
und Erweiterung seiner Sammlung von mehr als 2000 Werken nach zwei Jahren die Zusam- besteiger seit 1953 Edmund Hil-
mischte er im Verlagsgeschäft mit, schrieb Essays und Bücher und lei- menarbeit mit ihm, weil Meiser lary und Tenzing Norgay hei-
tete diverse Kunstbetriebsinstitutionen. Mit Charme genoss er seine Werbespots für ein Online- ßen. Salkeld begann zu recher-
Rolle als Kunstmarkt-Weltenbummler und war gleichermaßen ein portal eingesprochen hatte, das chieren, und sie entdeckte 56
cleverer Protagonist wie ein strenger Kritiker der Kulturindus­trie. rechtspopulistische Verschwö- vergessene Kisten mit Unterla-
Harald Falckenberg starb am 6. November in Hamburg. HÖB rungstheorien verbreitete. Auch gen zu Everest-Expeditionen im
wegen ­Werbung für angeblich Keller der Royal Geographical
unseriöse Finanzprodukte wur- Society. Ihre Studien führten sie
Rainer Erler, 90 de er kritisiert. Hans Meiser bis nach Nepal, wo sie zu ihrem
»Es gibt keinen Film von mir, wo sich nicht ganz starb am 30. Oktober bei Schar- großen Stolz mit 50 Jahren an
picture-alliance / dpa

bestimmte Interessengruppen ganz vehement vor- beutz. RED der Nordseite des Everest bis
her dagegengestellt oder protestiert hätten«, hat auf eine Höhe von über 6000
Rainer Erler über sein Werk gesagt. Als Regisseur Metern aufstieg, noch mit An-
von über 40 TV- und Kinofilmen sorgte er beson- fang 60 bestieg sie den Kilima-
ders in den Sechziger- und Siebzigerjahren für viel ndscharo. Ihr Porträt über Leni
Gesprächsstoff. In Filmen wie »Fleisch« oder »Die Halde« griff Er- Riefenstahl ist eines der Bücher,
ler, 1933 in München geboren, brisante Themen wie Organhandel für das sie ausgezeichnet wurde.
oder illegale Müllentsorgung auf und verarbeitete sie in rasanten Nebenbei lernte Salkeld auch
Thrillern. Diese erreichten ein Millionenpublikum und machten Er- noch Deutsch, übertrug Werke
ler zu einem gefragten Regisseur. Mit seinem Interesse für Science- von Reinhold Messner ins Eng-
Fiction, etwa in seiner Filmreihe »Das blaue Palais«, öffnete er zu- lische und stellte ihr beeindru-
dem das deutsche Nachkriegskino für das Genre. Die Dreharbeiten ckendes Wissen über den Eve-
für »Das schöne Ende dieser Welt« von 1984 über einen korrupten rest anderen Forschern zur Ver-
Pharmakonzern führten ihn nach Australien, das ihm zur Wahl­ fügung. Audrey Salkeld starb
heimat wurde. Rainer Erler starb am 8. November in Perth. HPI am 11. Oktober. KS
RTL

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 125


PERSONALIEN

Hommage
an Dylan
Die als Cat Power bekannte
­ usikerin Chan Marshall, 51,
M
fühlt sich ein bisschen wie eine
Archäologin. Wenn sie einen
Song von jemand anderem zur
Interpretation auswählt, sei das,
als ob ein Wissenschaftler etwas
ausgrabe: »Es gibt da ein gewis-
ses Maß an Verantwortung für
diese Knochen«, sagte sie der
amerikanischen »Vogue«. »Ob
ich es nach den Maßstäben an-
derer richtig mache, war für
mich nie ein Problem – nicht je-
der wird Knochen aus der Erde
mögen – aber: Manche werden
Gold sehen.« Ihr Selbstbewusst-
sein hat die US-Amerikanerin,
die auch eigene Stücke schreibt,
bei der Gestaltung eines Auf-
tritts in London unter Beweis
gestellt. Als ihr eine Show in der
Royal Albert Hall angeboten
wurde, nahm sie unter einer Be-
dingung an: Sie wollte Bob Dy-
lans legendäres Royal-Albert-
Hall-Konzert von 1966 (das

Helene Pambrun / Paris Match / Contour by Getty Images


zwar so heißt, aber eigentlich
in Manchester stattfand) in die
Gegenwart übersetzen. Seit
ihrem fünften Lebensjahr hegt
Marshall ­Begeisterung für – wie
sie ihn nennt – »God Dylan«.
Es scheint also nur recht, dass
die Königin der Coversongs
eines seiner wichtigsten Live-
konzerte als Hommage neu
­inszenierte. Jetzt erscheint die-
ses Konzert als Album. ABD

In Schummelstiefeln Spezialschuhe trage, um größer na­türlich nicht zur Beruhigung


zu erscheinen. DeSantis streitet in der Schuhaffäre. Die Redak-
Seine Ziele sind gewaltig, seine das ab. Auf die Frage, ob er tion von »Politico« konsultierte
Körpergröße vielleicht nicht denn nun versteckte High Heels mehrere Spezialschuhhersteller,
Gage Skidmore / ZUMA Press / action press

ganz so: Ron DeSantis, 45, Be- trage oder nicht, antwortete er: um deren Einschätzung zu
werber für die US-Präsident- »Dies ist keine Zeit für Fußfeti- ­erfahren. Das Ergebnis: »Aller
schaftskandidatur und Heraus- schisten. In unserem Land ha- Wahrscheinlichkeit nach« trage
forderer von Donald Trump, ben wir ernsthafte Probleme.« der Republikaner Absätze.
sagt, er sei 1,80 Meter groß. Und: »Wenn Donald Trump ­Genutzt hat es ihm nichts. Der
Doch es halten sich Gerüchte – die Eier hat, zu der Debatte ursprünglich als ernstzuneh-
befördert von Populismus­ zu erscheinen, werde ich einen mender Konkurrent geltende
experte Trump – wonach er in Stiefel auf dem Kopf tragen.« Politiker liegt in den Umfragen
Wahrheit 1,72 Meter sei und Diese seltsame Drohung führte weit hinter Trump. KS

126 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Mehr als eine Nacht Einsamer denn je menschliche Körper sei ein Ve-
hikel, das man benutzen könne.
Hollywoodstar Charlize Theron, Die britische Psychotherapeutin Doch die sei falsch, findet die
48, wehrt sich gegen zu einfa- und Bestsellerautorin Philippa Psychologin: »Wir sind unser
che Antworten. Dass sie sich Perry, 66, besonders erfolgreich Körper.« Sorgen bereiteten ihr
gegen Gewalt gegen Frauen ein- mit ihrem Erziehungsratgeber »etwa junge Mädchen, die Pu-
setze, hänge nicht ausschließlich »Das Buch, von dem du dir bertätsblocker einnehmen. Ich
mit ihrer Erfahrung als Kind zu- wünschst, deine Eltern hätten bezweifle die Vorstellung, dass
sammen, erklärte sie in einem es gelesen«, warnt vor den ich psychologische Probleme
Interview mit der ­Zeitschrift ­Auswirkungen sozialer Medien ­lösen kann, indem ich physische
»Town & Country«. Theron auf die seelische Gesundheit. Veränderungen an meinem Kör-

Olivier Borde / Ber trand Rindoff / Bestimage


musste als 15-Jährige miterle- Gewisse Anwendungen seien per vornehme«. Der politische
ben, wie ihre Mutter den alko- so programmiert, dass sie sich Aspekt, die Genderdebatten,
holkranken, gewalttätigen Vater das archaische Bedürfnis des ­interessieren sie nicht. Doch
in Notwehr erschoss. Man kön- Menschen nach anderen Men- Transphobie aber mag sich
ne natürlich sehr einfach einen schen zunutze machten. Auf ­Perry nicht unterstellen lassen.
Zusammenhang herstellen zwi- diese Weise veranlasse das Seit 1992 ist sie mit Sir Grayson
schen ihrer Biografie und ihrem Smartphone gewissermaßen im Perry verheiratet. Als prakti­
Engagement gegen häusliche Sekundentakt die Ausschüttung zierender Crossdresser tritt der
Gewalt. »Aber ich glaube«, sag- von Glückshormonen: »Oh! Künstler in der Öffentlichkeit
te sie dem Magazin, »es ist 100 Likes für mein Insta­gram- regelmäßig als »Claire« in Frau-
­weitaus komplizierter, als eine gewusst: »Ich war so zehn Jahre Bild von einer Blume!« Dieser enkleidern auf. FRA
traumatische Nacht im Leben alt, und um mich herum starben Effekt sei flüchtig und ober-
zu haben.« Auch ohne ­dieses die Menschen und fürchteten flächlich, »aber stark«. Und:
schreckliche Erlebnis sei ge- sich.« Diese Eindrücke sei sie »Die Oberflächlichkeit führt
schlechtsspezifische Gewalt nie wieder losgeworden. Ihre dazu, dass sich die Leute leer
schließlich nicht nur in Süd­ 2007 gegründete Hilfsorgani­ fühlen«, sagte Perry dem SPIE-
afrika allgegenwärtig: »Es ist sation Charlize Theron Africa GEL . Die Folgen seien ­fatal:
schwer, sich dessen nicht be- ­Outreach Project (CTAOP) »Menschen haben die Illusion
wusst zu sein, insbesondere als ­versucht, in mehreren Ländern einer Verbindung, sind aber
Frau.« Unter Apartheid aufzu- ­Afrikas die medizinische Ver- ­einsamer als jemals zuvor.« Sie
wachsen und die Anfänge von sorgung und Bildungsmöglich- beobachte dieses Phänomen
Aids als junger Mensch in den keiten zu verbessern und ge- an sich selbst, es sei auch in ihr

Tom Dymond / Channel 4 / Shutterstock


Achtzigerjahren mitzuerleben, schlechtsspezifische Gewalt zu aktuelles Buch eingeflossen,
habe ihr Leben ebenfalls stark bekämpfen. Das Konzept von einen Beziehungsratgeber
beeinflusst: »Diese Dinge haben CTAOP ist es, mit lokalen Orga- (»Das Buch, von dem du dir
mich wirklich, wirklich ge- nisationen zusammenzuarbei- wünschst, deine Liebsten wür-
prägt – ich möchte fast sagen ten. Inzwischen konnten 33 den es lesen«). Hinzu komme
mehr als diese eine Nacht in Projekte unterstützt werden. ein gestörtes Verhältnis zum
meinem Leben.« Theron war Darunter eines, dessen Haupt- eigenen Körper: »Dieses Tat-
damals ein Kind, und man habe ziel es ist, eine »HIV-freie Ge- too! Größere Brüste! Kleinere
noch nicht sehr viel über HIV neration« zu ermöglichen. KS Brüste!« Es gebe die Idee, der

Nah dran Scham und Schmerz« wachhal-


te: Beim Versuch, Berühmtsein
Er trägt Unterhose, keinen Pan- und mentale Gesundheit in Ein-
zer: Über weite Strecken sieht klang zu bringen, fühle er sich
man Robbie Williams, 49, in wie gefangen »im Schwitzkas-
einer vierteiligen Netflix-Doku- ten«. Die Dokumentation hält
mentation in luftigem Lunger- sich nicht lange auf mit der
Outfit, bestehend aus schwarzem Glanzzeit von Take That in den
Slip und Achselhemd. Ebenso Neunzigerjahren, schnell
vertraulich wie seine Kleidung schwenkt Williams’ Videoschau
sind die gezeigten Inhalte. In auf seinen emotional oft turbu-
der schlicht »Robbie Williams« lenten Weg nach seinem Band-
be­titelten Miniserie sichtet das Exit. »Zu viel, zu früh« habe er
Michael Buholzer / KEYSTONE / picture alliance / dpa

einstige Take-That-Mitglied erreicht, diagnostiziert Williams:


33 Jahre Filmmaterial, das seine Sein Aufstieg als Solostar war, so
Karriere in sehr persön­lichen erzählt es die Doku, oft verbun-
Momentaufnahmen nachzeich- den mit Panikattacken, Depres-
net. Die meiste Zeit liegt der sionen und Versagensangst. Pro-
­Brite dabei im Bett, und er lässt minente seien eben auch Men-
sein Publikum nah an sich heran- schen, sagte er kürzlich dem »In-
kommen. Freimütig erklärt er dependent«. Eine simple, aber
schon in der ersten ­Minute, dass oft vergessene Wahrheit, an die
er nachts schlecht schlafe, weil diese Doku zutraulich und zärt-
ihn ein Gefühlsmix aus »Angst, lich erinnert. ARÜ

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 127


BRIEFE lästinenser und umgekehrt stets
so sehr die Ablehnung im Vorder-
grund stand, weniger aber Bereit-
schaft zur Selbstkritik und der
Versuch, die anderen auch zu ver-
stehen. Vor diesem Hintergrund
und der aktuellen kriegerischen
Zuspitzung bin ich von Ihrem
mich, wie ich mich als junger Pa- Respekt vor Bassam Aramin und Interview mit dem Palästinenser
lästinenser in diesem schmalen Rami Elhanan. Diese beiden Bassam Aramin und dem Israeli
Gazastreifen wohl entwickelt hät- Menschen haben den Friedens- Rami Elhanan sehr beeindruckt.
te, Jahr für Jahr Israels strikte preis verdient. Ihre Einstellung ist Muss weiterhin das Gegeneinan-
Verweigerung einer Zweistaaten- ebenso auf den Ukrainekrieg der so dominieren, mit Hass und
lösung erlebend. Mit ziemlicher übertragbar. schlimmsten Zerstörungen für
Sicherheit wäre ich nicht der Pa- Gisela Neudeck, Wiesbaden beide Seiten, statt der Versuch
zifist geworden, der ich immer von Verständnis?
noch bin. Das Gespräch mit Herrn Aramin Dr. Volker Busse, Bonn
Atze Schmidt, Rütenbrock (Nieders.) und Herrn Elhanan zum Nahost-
konflikt hat mich sehr berührt. Es Was für ein Gespräch mit diesen
Es ist nicht die Zeit für rosarote ist bewundernswert, wie die bei- beiden großartigen Weltbürgern.
Brillen. In Gaza und im Westjor- den sich trotz des erlittenen Ver- Herr Aramin, Herr Elhanan und
danland ist durch die Existenz lustes ihrer Töchter für Frieden die Organisation »Elternkreis«
der Hamas so wenig eine be­ und Versöhnung zwischen Israe- haben den Friedensnobelpreis
friedende Lösung möglich, wie lis und Palästinensern einsetzen verdient. Dies würde auch ein
es mit den ebenso terroristisch und werben. Warum können großes Zeichen setzen in den bei-
agierenden Taliban in Afghanis- nicht Menschen wie Herr Aramin den Ländern. Ein Mahnmal auch
Die Gewalt muss tan der Fall war. Die israelische und Herr Elhanan diese beiden für alle anderen Länder. Europa
Notstandsregierung tut also gut Völker führen, statt einer Hamas und die USA müssen endlich die
ein Ende haben daran, eine Gruppierung kon­ und einer Regierung Netanyahu. Weiterführung des Vertrags von
Nr. 45/2023 Titel: Albtraum Gaza sequent zu zerschlagen, deren Der in dem Interview geäußerte Oslo, welche letztlich die Instal-
Existenz sich allein durch Gewalt Weg zur Versöhnung zwischen lierung von zwei souveränen
Beim Blick auf das Titelbild »Alb- und Unterdrückung nährt. Die Israelis und Palästinensern ohne Staaten garantiert, uneinge-
traum Gaza« und das ganzseitige Verursacher des tief bewegen- Rache ist der einzig mögliche schränkt umsetzen. Dann können
Foto auf Seite 8 mit der richtigen den Schicksals aller Unschuldi- Weg, damit beide Seiten in der alle Menschen in dieser gedemü-
Überschrift »Zeiten des Hasses« gen – Israelis wie Palästinenser Zukunft friedlich zusammenle- tigten Region friedvoll zusam-
war ich schockiert – und brach in – sind bekannt und dürfen ihrer ben können. menleben und einander respek-
Tränen aus. Dabei musste ich als Sühne nicht entgehen. Dass für Manfred Miks, Krefeld tieren. So wie es die beiden Welt-
jetzt 83-jähriger Nachrichten­ die auch dafür nötige lebens­ bürger vorleben.
redakteur für Außenpolitik mehr gefährliche Drecksarbeit, bei Ich bin seit 1966 mehrfach durch Albert Schweikardt, Stuttgart
als 25 Jahre lang insbesondere der der Tod von Zivilisten unver- Israel gereist und auch in Städte
über Kriege schreiben. meidbar ist, Israel zuhauf ge- des Westjordanlands. Mich hat Mit dem Artikel zu Gaza, zur
Olaf Heffe, Berlin scholten wird, finde ich zutiefst dabei die Frage bewegt, wieso bei Verzweiflung der Angehörigen
verlogen, scheinheilig und fehl- Äußerungen von Israelis über Pa- der Hamas-Geiseln und mit dem
Was der palästinensische Schrift- platziert. Gespräch mit Bassam Aramin
steller und Kulturminister Atef Rüdiger Reupke, Isenbüttel (Nieders.) und Rami Elhanan gehört der
Abu Saif im Titelartikel berichtet, KORREKTUREN SPIEGEL in dieser Woche zu den
ist ein Appell an die Weltgemein- Zu Ihrem beeindruckenden Zur Titelgeschichte »Zeiten des besonnensten Stimmen im deut-
schaft, sich für eine Lösung des SPIEGEL -Gespräch in der Titel- Hasses« in Heft 45/2023, Seite 8: schen Blätterwald.
Konflikts im Gazastreifen einzu- geschichte: Von Rami Elhanan Bei den mehr als 1400 Menschen, Helga Kotthoff, Freiburg im Breisgau
setzen. Die Gewalt muss ein Ende könnte die Menschheit so viel die beim Überfall der Hamas auf
haben, und die Zivilbevölkerung lernen – zum Beispiel, welch Israel ihr Leben verloren, handelt
muss geschützt werden. ungemeine Kraft und mensch­ es sich nicht ausschließlich um Hell aufscheinen und
Stefan Pachmayr, Dachau (Bayern) liche Größe in der Vergebung Zivilisten, sondern auch um Sol-
steckt. datinnen und Soldaten. schnell verglühen
Wir erleben einen Krieg, dessen Dr. Volker Brand, Bad Oeynhausen (NRW) Zu »Ungleiche Flüchtlinge« in Nr. 44/2023 Wie Sahra Wagenknecht
Ende in der Tat nicht absehbar Heft 45/2023, Seite 31: Das ab- die politische Landschaft verändert
ist. Die Gefahr der Ausweitung Die ausdifferenzierte Argumen- gedruckte Foto zeigt den CDU-
zu einem Flächenbrand ist groß. tation von Bassam Aramin und Politiker Torsten Frei, der sich mit »Sahra und die Wagenknechte« –
Es sind fraglos Terroristen, denen Rami Elhanan beschreibt die ukrainischen und litauischen Ak- was für ein passendes Wortspiel
das alles vorzuwerfen ist. Doch komplexe Situation im Nahen tivistinnen der Aktion Kranken- mit metaphorischer Beschreibung
es muss die Frage gestellt werden, Osten um Klassen besser als das wagen unterhält; diese leben be- der Verhältnisse und Strukturen
wie eigentlich Tausende von Pa- Holzhammer-Getöse eines gro- reits seit Jahrzehnten in Deutsch- im Bündnis Sahra Wagenknecht.
lästinensern zu Terroristen wer- ßen Teils der Politik und ihrer Ge- land. Wir bedauern, dass durch Reinhard Dobschall, Gütersloh
den konnten. Ich bin Kriegs- folgsleute, auch der Talkshows. die Bildunterschrift der Eindruck
dienstverweigerer, war in den Ein wenig mehr Robert Habeck entsteht, es handle sich um ukra­ Frau Wagenknecht übt sich schon
Fünfzigerjahren einer der ersten oder António Guterres wären inische Flüchtlinge mit Anspruch lange in der Kunst, links zu blin-
in der Bundesrepublik anerkann- nicht schlecht. auf Bürgergeld – das eigentliche ken und rechts abzubiegen: Gas
ten Wehrdienstgegner. Ich frage Christa Klopp, Bad Wimpfen (Bad.-Württ.) Thema des Textes. aus Russland, Aufhebung der

128 DER SPIEGEL Nr. 46 / 11.11.2023


Gesellschaft und ihren Individuen
Ich fand es klasse, Ist es wirklich ein Was für eine tolle einen Spiegel vorzuhalten, ihr
wie Frau Schröder auf Problem, dass Geschichte in unseli- Tun und Handeln fundiert zu
die teilweise provo- Gas­licht gegen ener- gen Zeiten: rührend, analysieren und Denkanstöße zu
geben. Was ich daraus gelernt
zierenden Fragen giesparende LED- humorvoll und zum habe? Wichtiger denn je sind heu-
ruhig, sachlich, sou- Beleuchtung aus­ Nachdenken. Ich te Selbstreflexion und das Hinter-
verän und konse- getauscht wird? habe für einige Minu- fragen des eigenen Egos mit sei-
quent geantwortet Die Farbmischung ten innegehalten! nen Verhaltensweisen und Stand-
punkten in der Gesellschaft – und
hat und auch nicht wird sich auch Georg Jahn, Velbert (NRW) daraus entsprechende Schlüsse
über die Stöckchen mit LEDs erzeugen zu ziehen.
gesprungen ist! lassen. Die guss­ Peter Wachter, Nürnberg

Ulrich Seyffer, Talheim eisernen Laternen Die Schlüsselworte in Eva Menas-


(Bad.-Württ.)
müssen dafür ses wunderbarem Debattenbei-
doch nicht ausge- trag über die Kommunikation in
tauscht werden! der heutigen Social-Media-Ge-
sellschaft und was bei ihr verloren
Werner Feja, Berlin geht, sind: Kreativität, Unabhän-
gigkeit, Geheimnis. Hinzuzu­
fügen wären vielleicht noch: Hu-
Nr. 44/2023 Die Augenzeugin: mor und Ironie.
Nr. 44/2023 Die FDP-Politikerin Carolyn Eickelkamp kämpft in Margot Degand, Freiburg im Breisgau
Ria Schröder sieht Studierende Düsseldorf für die Erhaltung Nr. 44/2023 Erinnerungen an
in der Verantwortung der Gas-Straßenbeleuchtung Harald, eine Kölner Legende

Eine Freude und


Sanktionen, Austritt aus der Bundestagswahl wird sie keinen lich habe man doch alles richtig ein Trost
Nato. Bleibt zu hoffen, dass sie so Erfolg haben, aber Folgendes er- gemacht. Man kann dann wei­ Nr. 44/2023 SPIEGEL-Gespräch mit
der AfD viele Stimmen abnimmt, reichen: Die Linken kommen termachen wie bisher und die Salman Rushdie über die Grenzen der
um anschließend, wie früher die dann auch nicht mehr in den Bun- Realität ausblenden, schöne Freiheit in der Kunst
Schill-Partei, als politische Stern- destag, die AfD wird es wohl Traumschlösser bauen. Man ist
schnuppe hell aufzuscheinen und schaffen, aber sehr viele Sitze ja wieder unter sich, keiner stört Dachte man, anlässlich der Preis-
schnell zu verglühen. Lafontaine verlieren. Insoweit ist ihr Projekt mehr. Es lebe der enge Meinungs- verleihung und durch die Lektüre
hat die SPD verraten, Wagen- insgesamt zu begrüßen. korridor. Wäre das wirklich gut diverser Berichte und Interviews
knecht verrät die Linke. Rolf Böhmer, Wachtberg (NRW) für das Land? in verschiedenen Publikationen
Martin Stemmrich, Essen Peter Parthe, Nauheim (Hessen) alles Wissenswerte über diesen
Sahra Wagenknecht hätte sich großen Schriftsteller erfahren zu
Am Ende ihrer Egotrips können besser das Schicksal der Frauke Treffender als »Rechts? Links? haben, so stellt man bei der Lek-
sich Frau Wagenknecht und Herr Petry etwas näher angesehen. Hauptsache, ich!« kann man Frau türe dieses schönen Interviews
Lafontaine gegenseitig dazu gra- Ähnlich begabt, hat diese sich Wagenknecht nicht beschreiben. fest, dass das eine Fehleinschät-
tulieren, jeweils eine etablierte ins politische Abseits manövriert. Ihr ist es egal, was mit ihren ehe- zung war. Großartig die beinahe
Partei kaputt gemacht zu haben. Das erscheint mir die wahr- maligen Parteikollegen passiert. kongenialen Fragen und Einlas-
Leider waren es die Falschen. scheinlichste Variante auch für Ihr Mandat behält sie, weil sie sungen des Interviewers – wohl-
Harald Lauterbach, Schalkenmehren Wa­genknecht. Wenn es beson- »so viele Bürger dazu aufgefor- tuend entspannt und dennoch
(Rhld.-Pf.) ders schlecht läuft, hebeln sich dert« hätten? Jede Wette, wenn überaus informativ, lehrreich und
die Kräfte, also neue Wagen- es mit der Wagenknecht-Partei von menschlicher Größe zeugend
Frau Wagenknecht wird mit ihrer knecht-Partei, Linke und AfD nicht klappt, kehrt sie zu den Lin- die Antworten dieses außerge-
neuen Partei nicht in den Bundes- gegenseitig aus. Fliegen aus den ken zurück, weil »so viele Bürger wöhnlichen Mannes. Danke für
tag kommen. Sie hat im Osten Parlamenten, weil es für keinen sie dazu aufgefordert haben«. dieses tolle Interview.
viele Anhänger, im bevölkerungs- reicht. Viele alternative Positio- Schlichtweg verlogen und unan- Hans-Dieter Schabram, Berlin
reicheren Westen aber nicht. Um nen würden dann im Parlament ständig.
die Fünfprozenthürde zu schaf- nicht mehr vertreten sein. Es Klaus Schumacher, Reinbek (Schl.-Holst.) Seit Langem habe ich kein so klu-
fen, benötigt sie sehr viele Wäh- wäre der größte Triumph für die- ges, gelassenes, anmutiges und
lerstimmen aus dem Westen. Mit jenigen aus Medien, Politik und politisch weitsichtiges Gespräch
ihrer Kandidatur für die nächste Wirtschaft, die denken, eigent­ Wunderbarer wie dieses mit Salman Rushdie
gelesen. Eine lang anhaltende
Debattenbeitrag Freude und ein Trost in dieser
Aus der SPIEGEL-Redaktion Nr. 44/2023 Schriftstellerin Zeit aggressiver Dummheit. Dan-
Keine Institution hat Japan so entscheidend geprägt Eva Menasse über das eitle Ich und ke dem Autor, aber auch dem Fra-
wie das Kaiserhaus. Allein durch seine Gesten übt die digitale Revolution
der Tenno bisweilen mehr Macht aus als gewählte ger dafür.
Politiker. SPIEGEL-Korrespondent Wieland Wagner Eva Demski, Frankfurt am Main
gewährt einen beeindruckenden Blick hinter die Was im besten Fall Aufgabe und
Kulissen des Hofs und zeigt, warum die Dynastie Anspruch des SPIEGEL ist, ge-
die kulturelle Identität der Nation und zugleich die
Widersprüche der japanischen Gesellschaft lingt der Schriftstellerin Eva Me- Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
verkörpert. Das SPIEGEL-Buch ist am 1. November nasse im Vorabdruck ihres Bu- gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
erschienen, hat 416 Seiten und kostet 26 Euro. ches auf exzellente Weise: der unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 46 / 11.11.2023 DER SPIEGEL 129


L E TZ T E S E I T E

Dschihad der Tankwarte HOHLSPIEGEL

Aus der »Rhein-Neckar-Zeitung«:


ZEITREISE Der Kampf gegen Israel einte arabische Staaten vor 50 Jahren.
Per Ölembargo stürzte eine Allianz aus superreichen
Scheichs und Militärdiktatoren Europas Industrie in die Krise.
Nr. 46/1973 Öl-Scheichs
gegen Europa
Aus dem »Harzkurier«:
Zehn arabische Staaten »12 von 8 Menschen sind von Mathe
hatten sich während des überfordert.«

Bettmann Archive / Getty Images


Jom-Kippur-Kriegs zur
Drosselung der Ölproduk- Hinweis in einem Bioladen in Dortmund:
tion entschlossen, um
den Westen von seiner
Unterstützung Israels abzubringen. Auf
den ersten Blick verband sie kaum mehr als Minister Kissinger, König Feisal
im Dezember 1973
der Koran und der Hass auf Israel. Herr-
schern wie Libyens Muammar al-Gaddafi
mit seinem eklektischen Islamosozialismus setzten Gebieten zurückzuziehen und die
standen »feudalistische Emire« gegen- »legitimen Rechte der Palästinenser« anzu-
über, die »aus dem Mittelalter zu stammen« erkennen. Das seien »reine Lippenbekennt-
schienen, wie der SPIEGEL schrieb. nisse«, erklärte etwa Libyens Premier.
Bis dahin konnte sich der Westen zumin- Schließlich liefere man den Europäern Öl,
dest auf König Feisal von Saudi-Arabien da wolle man auch Waffen.
verlassen. Der Herr über die größten Erdöl- Die Bundesregierung machte sich mit Aus der »Bild«-Zeitung:
reserven und stramme Antikommunist hatte ihrer auch intern umstrittenen »Parteinah-
stets die Förderung erhöht, wenn andere me« an anderer Stelle ausgesprochen unbe- »Ein Lotto-Spieler aus Heilbronn hat
mit Kürzungen drohten. Doch 1973 trat der liebt: Bonns Verhältnis zu Israel drohe sechs Richtige (8, 20, 26, 33, 43, 49) getippt
vermeintliche »Tankwart Amerikas« »vom Funktionieren der Zentralheizungen und ist jetzt um 1,15 Euro reicher.«
dem Energie-Dschihad gegen Israel bei. abhängig zu werden«, kritisierte Israels
Das traf Westeuropa hart. Den neun Botschafter die europäische Ergebenheits- Aus dem »Hellweger Anzeiger«:
EG-Staaten nützte auch ihre »Neutralitäts­ adresse. US-Außenministerkollege Henry
erklärung« nichts. Darin forderten die Kissinger drückte es noch undiplomatischer
Außenminister Israel auf, sich aus den be- aus: »Ich bin angewidert.« Rainer Lübbert
Von kicker.de:

Fab Five
bis zu seinem Lebensende zahlreiche Inter- »Schon zuvor hatte der DFB mitgeteilt,
views gegeben. Mit heutiger Technik sei es dass Rot-Sünder Leroy Kwadwo für zwei
»überhaupt kein Problem«, eine künstlich Spiele gesperrt wurde, nachdem er in
generierte Lennon-Stimme einen aus Origi- Köln die Rote Karte für einen üblichen
SO GESEHEN Yeah! Noch mehr
nalsilben zusammengebauten Songtext sin- Tritt gesehen hatte.«
neue Beatles-Songs unterwegs gen zu lassen. Er, Jackson, habe ja auch
schon aus dem »Hobbit«-Bändchen des Schild an einer Straße in München:
Nach dem Erfolg des jüngsten Beatles- Schriftstellers J.R.R. Tolkien eine gut acht-
Songs »Now and Then« macht der neu­ stündige Filmtrilogie gewrungen, da sei so
seeländische Regisseur Peter Jackson dem ein Lennon-Song »ein Klacks«.
Publikum Hoffnung auf weitere Veröffent­ Auch das unverwechselbare Gitarren-
lichungen der Pilzköpfe aus Liverpool. spiel George Harrisons lasse sich ohne Wei-
»Wir können eine Performance aus ›Get teres auf diese Weise reproduzieren. Ihm
Back‹ nehmen, John und George heraus- schwebe zudem eine »notwendige Moder-
trennen und dann Paul und Ringo einen nisierung« der Beatles mithilfe von CGI-
Aus dem »Tagesspiegel«:
Refrain oder Harmonien hinzufügen las- Technik vor, die entsprechend bearbeitet, in
sen«, sagte Jackson der »Sunday Times«. neuen Videoclips etwa mit Smartphones »Zur Beseitigung von Verstößen gegen
»Es könnte ein ordentlicher Song dabei hantieren oder auf E-Scootern umherfahren das Tierschutzgesetz sei das Veterinäramt
­herauskommen.« könnten, um »die Jugend zu begeistern«. zuständig, in dem der Mann
Doch damit nicht genug: Jack- Seinen unverzichtbaren Beitrag würde seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.«
son, der als neuer »fünfter der kreative Beatles-Kopf dann gern gewür-
Beatle« gilt, seit er mit re- digt wissen, womöglich mit einem soge- Aufschrift einer Kuchenverpackung:
volutionärer KI-Technik nannten Rebranding: »Ich finde, The Jack-
einen jahrelangen son Five wäre ein guter Bandname«, so
Arbeitsstreik der Band Jackson. Mit seinen noch lebenden Kolle-
beenden konnte, gen Ringo Starr, 83, und Paul McCartney,
hat noch weitere 81, habe er über all das noch nicht geredet.
Ideen: John Lennon Das sei wohl auch nicht nötig: »Vielleicht
habe bekanntermaßen warte ich einfach ab.« Stefan Kuzmany

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