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DIEZEIT
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R 15. JUNI 2023 N o 26

Der rechte Höhenflug

Extrem
»Ich bin bereit«
Unterwegs mit dem
Schauspieler Kevin
Spacey kurz vor seinem

normal?
MeToo-Prozess
Magazin, S. 14
Titelfoto (Ausschnitt): Hans Christian Plambeck/laif (Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der AfD Bundestagsfraktion)

Der Reiz des

In der AfD gehören radikale Hustens
Warum es so schwer
Ansichten zum guten Ton, ist, im Konzert einfach
und trotzdem gewinnt sie nur still zu sein
neue Anhänger. Wer sind Feuilleton, S. 43

sie – und wie kann das sein?

POLITIK

Wie Eis
in der Sonne
POPULISTEN KOALITION
Klimawandel gefährdet
Ihre Gesundheit!

Es hilft nichts Ampel im Keller

So schützen Sie sich
und andere
Wissen, S. 27

Die AfD lässt sich nicht eindämmen, indem man sie nachahmt – aber Nun wird das Heizungsgesetz wohl doch noch verabschiedet.
auch nicht, indem man ihre Themen ignoriert  VON GIOVANNI DI LORENZO So regieren kann man auf Dauer trotzdem nicht  VON MARK SCHIERITZ

J M
PROMINENT IGNORIERT
Reportage auf Seite 3 zeigt, gerade betont mode­
e stärker die AfD wird, desto hilfloser an kann nach einer politi­ heizung. Denn es gab nie einen Wärmepumpen­
wirken die Reaktionen. Sie schwanken rat gibt, und ihren neuen, ideologisch nicht ge­ schen Entscheidung darüber zwang – er ist einer der vielen Mythen, die über
zwischen Wegducken, Schuldzuwei­ festigten Anhängern. Diese fühlen sich von Poli­ streiten, wer gewonnen hat dieses Gesetz im Umlauf sind. Das entscheiden­
sungen und rhetorischen Amokläufen. tik und Me­dien majorisiert und übergangen – und wer verloren. Man de Kriterium ist: Eine Heizung muss zu mindes­
Es gibt Spitzenpolitiker, die einem und wenden sich der AfD zuerst aus Protest zu. kann sich aber auch die tens 65 Prozent mit erneuerbarer Energie betrie­
vertraulich sagen: Eine starke Rechte Ihre Themenliste ist lang. Und sie zu erwähnen Frage stellen, was eigentlich ben werden. Welche das ist, spielt keine Rolle.
existiert in vielen Ländern – als sei der Erfolgheißt in keiner Weise, die Anschauung dieser genau entschieden wurde und welche Folgen es Die Wirksamkeit des Gesetzes mit Blick auf den
der AfD, jedenfalls in Umfragen, höhere­ Menschen zu teilen. hat. Das ist im Fall des Gebäudeenergiegesetzes Klimaschutz hängt nach den nun beschlossenen
Gewalt. Es gibt Welt­erklä­rer, die mit dem Fin­ Sie lehnen die Flüchtlingspolitik ab – ob mit (GEG), das nun doch noch im Sommer verab­ Ergänzungen ganz entscheidend davon ab, welche
ger auf die Me­dien zeigen, die der AfD angeb­ der neuen europäischen Einigung zur Abschot­ schiedet werden soll, gar nicht so einfach. Lesart sich durchsetzt. Ob man der Regierung­
lich zu viel Beachtung schenken. Tatsächlich
verkünden einige wenige Blätter ständig neue
tung der EU-Außengrenzen oder ohne sie. Sie
wollen mehr Abschiebungen und härtere Strafen
Was klar ist: Ab 2045 darf in Deutschland
nicht mehr mit Öl oder Gas geheizt werden. Das
abnimmt, dass sie es ernst meint mit dem Hei­
zungstausch. Oder ob man glaubt, dass sie sich
Bettel-Triumph
Höchststände – als handele es sich bei den gegen Kriminelle. Sie sind, in verschiedenen­ fossile Zeitalter hat gewissermaßen ein Ablauf­ schnell ein paar neue Ausnahmeregeln einfallen In Krefeld ist das »aktive Betteln« in
Wahlumfragen um Rekorde bei Sportwett­ Abstufungen, gegen Deutschlands Waffenliefe­ datum bekommen. Was auch klar ist: Wer in­ lässt, wenn es ernst wird. Damit aber werden die der Innenstadt verboten. Francesco
bewerben. Und nicht um ein Alarmzeichen, rungen an die Ukraine. Sie halten das Heizungs­ einem Neubaugebiet ein Haus baut, der darf Sachfragen doch wieder Machtfragen. Denn die Tolli, ein 51-jähriger Obdachloser,
dass die anderen Parteien Millionen Wähler gesetz, allemal so, wie es ursprünglich geplant schon ab dem kommenden Jahr keine neue Gas­ FDP verbreitet gerade die erste Interpretation, die klagte dagegen – und gewann. Karl
offenbar nicht mehr erreichen. Die meisten war, finanziell und technisch für eine Zumu­ heizung mehr einbauen. Für alle anderen Häuser Grünen verbreiten jedoch die zweite. Was damit Marx, so Tolli, habe mit seiner­
Me­dien jedoch haben alles andere getan, als dertung. Sie sehen das Gendern – so wie es auch in und Wohnungen gilt: Es ist kompliziert. Das zu tun hat, dass die FDP (jedenfalls Teile der FDP) These, das Lumpenproletariat tauge
AfD ein großes Forum zu bieten. Kleiner hat der ZEIT (in vorsichtiger Form) praktiziert wird Verbot für den Neueinbau von Gasheizungen das Gesetz am liebsten komplett gekippt hätte. Und nicht zur Revolution, danebengele­
das die Rechte auch nicht gemacht. – als Bevormundung durch eine urban-akademi­ greift erst, wenn klar ist, dass kein Anschluss an die Grünen (jedenfalls Teile der Grünen) es noch gen. Recht hatte Marx aber, möchte
Und es gibt die verbale Aufrüstung, mit der sche Minderheit an. Dazu kommt der fatale Ein­ ein Fernwärmenetz oder klimaneutrales Gasnetz verschärfen wollten. man ergänzen, mit dem Spruch, es
druck, dass die Probleme der »kleinen Leute«
vor allem Unions­poli­ti­ker zeigen wollen, dass sie erfolgen kann. Womit wir beim politischen Kern des Hei­ reiche nicht, die Welt zu beschrei­
auch Angriff können. Am vergangenen Wo­ heute bei der Rechten besser aufgehoben sind als Das ist prinzipiell keine schlechte Idee:­ zungsproblems wären: der Frage nämlich, was ben, man müsse sie verändern.
chenende traten Markus Söder und sein Koa­li­ bei So­zial­demo­kra­ten und anderen linken Par­ Warum sollte jemand in einem Jahr zum Beispiel diese Ampel eigentlich will. Damit das Gesetz Zumin­dest die in Krefeld. PED
tions­part­ner Hubert Aiwanger von den Freien teien, die darauf einst das Monopol hatten. Das eine Wärmepumpe einbauen, wenn das Haus in nun überhaupt im Parlament beraten werden
Wählern im bayerischen Erding auf. Vor Tausen­ ist vielleicht das Gefährlichste von allem. zwei Jahren mit Fernwärme beheizt werden kann, mussten sich einschalten: der Bundes­ Kleine Fotos (v. o.): Benedict Evans; plainpicture;
Science Source/Mauritius
den über das Heizungsgesetz (und den ganzen Ist schon die Erörterung dieser Themen wird? Entscheidend jedenfalls ist: Eine solche kanzler, der Wirtschaftsminister, der Finanz­
Wasser auf die Mühlen der Rechten? Aber was
Erdball) erbosten Bürgern distanzierte sich S­ öder Wärmeplanung sollen die Kommunen bis spä­ minister, der Papst (ach nein, der nicht). Weil
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
klar von der AfD, wetterte aber gegen »Wärme­ soll denn bitte die Alternative sein? So zu tun, testens 2028 vorlegen. Einige haben das bereits sich die Fraktionen der Regierungsparteien in 20079 Hamburg
wende« und Grüne. Nützte ihm jedoch alles als gäbe es keine Fehlentwicklungen? Es geht, getan. Dass das längst nicht überall geschehen wochenlangen Verhandlungen nicht einig wer­ Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
nichts, er wurde ausgebuht und ausgepfiffen. wohlgemerkt, um die Benennung, das Disku­ ist, ist das eigentliche Problem, aber das wäre ein den konnten. Und das, obwohl der Heizungs­ DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
Aiwanger tat sich unter anderem mit diesem Satz tieren, das Beschleunigen der Maßnahmen. anderes Thema. tausch im Grundsatz bereits im Koa­li­tions­ver­ ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
Manchmal auch darum, deutlich zu machen,
hervor: »Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich trag vereinbart und vom Kabinett beschlossen ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
die schweigende große Mehrheit dieses Landes dass es keine schnelle Lösung gibt. Die Chefin Wer auch nur ein bisschen rechnen kann, war. Wenn Gesetze auch künftig so verabschie­
sich die Demokratie wieder zurückholen muss.« des Meinungsforschungsinstituts Allensbach, wird sich keine Gasheizung mehr kaufen det werden, dann werden es in dieser Legislatur­ ABONNENTENSERVICE:
Tel. 040 / 42 23 70 70,
Die Freien Wähler verstehen sich als liberal-­ Renate Köcher, sagt, all das würde dazu beitra­ periode nicht mehr viele sein. Oder anders­ E-Mail: abo@zeit.de
gen, die Menschen von den Rändern wieder in
bürger­liche Kraft. Bei diesem Auftritt war keine Damit lässt die Einigung der Ampelparteien gesagt: So kann man nicht regieren.
Grenze mehr zu rechten Hetzern fest­zu­stellen. die Mitte zu ziehen. Wir können Wut und Trotz zwei Interpretationen zu. Die erste geht so: Das Denn es ist ja unwahrscheinlich, dass die­
auf Dauer nicht ignorieren, es sei denn, wir Heizgesetz wurde um vier Jahre verschoben. Bis Ampel nun ihre Ruhe hat. Es müssen Windräder PREISE IM AUSLAND:
Auf diesen verzerrten Sound wollten die Spaltung zementieren. 2028 werden in Deutschland weiter Gasheizun­ gebaut, Ladestationen montiert, Schienen ver­ DK 69,00/FIN 9,10/E 7,80/
Sehr wohl aber sollten wir auf die Verrohung gen eingebaut, und die Regierung hat ihre eige­ legt werden. Das sichert langfristig den Wohl­ CAN 7,90/F 7,80/NL 7,20/
darf man sich nicht einpegeln A 6,50/CH 8.50/I 7,80/GR 7,80/
des politischen Streits verzichten. Auf die nen Klimaziele faktisch aufgegeben. Die zweite stand, kostet aber kurzfristig Geld. Es wird also B 7,20/P 7,80/L 7,20/H 3690,00
Aber rechts zu blinken bringt keine Wähler von Dämo­nisierung von Menschen und Haltungen. lautet: Jeder Hausbesitzer weiß jetzt, dass Gas­ immer Leute geben, für die der Klimaschutz mit
o
N 26
der AfD zurück. Das Gegenteil ist der Fall: Die Auf persönliche Attacken gegen Politiker, auch heizungen womöglich mit der Aufstellung einer Belastungen einhergeht. Und es wird nicht gelin­
Angesprochenen sehen das als eine Art Rechts-­ in den Me­dien. Das Heizungsgesetz ist sicher­ kommunalen Wärmeplanung, spätestens aber gen, immer alle zu entschädigen. Die Koalition
Washing an – sie glauben den Etablierten kein angreifbar, »Habecks Heiz-Hammer« ist es trotz­ 2045 ausgetauscht werden müssen. Und zwar hat ihre bislang schwerste Krise abgewendet, vor­
Wort. Nein, Politiker dürfen sich nicht auf den dem nicht. Die politische Mitte ist untrennbar dann auf eigene Kosten. Wer auch nur ein biss­ erst. Für die kommenden Krisen aber ist sie nicht
7 8. J A H RG A N G C 7451 C
verzerrten Sound rechter Populisten einpegeln. verbunden mit dem Gebot zum Maßhalten. chen rechnen kann, der wird in einer solchen gerüstet. Wie sollen die Leute Parteien vertrauen,
Sie sollten jedoch einen Unterschied machen Das gilt für die Gestaltung politischer Verände­ Situation nicht ein paar Tausend Euro für eine die sich untereinander so sehr misstrauen?
26
zwischen der Partei AfD, die von dem Extre­ rungen, die von möglichst vielen Menschen Gasheizung ausgeben, die womöglich bald nicht
misten Björn Höcke dominiert wird und sich mitgetragen werden müssen – und erst recht für mehr gesetzeskonform ist. Sondern sich doch Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
zugleich, wie meine Kollegin Anna Mayr in ihrer die Sprache. eine Wärmepumpe anschaffen. Oder eine Pellet­ unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 106405
2 POLITIK
Zeit läuft: Boris Pistorius, SPD, in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi, vor einer Schalte für das deutsche Frühstücksfernsehen (rechts ein Mitarbeiter der Produktionsfirma)
B
Neu-Delhi
oris Pistorius steht an einem
Dienstagmorgen im schönsten
Park der indischen Hauptstadt an
einem grünlich schimmernden
Teich, im Hintergrund ein Turm
aus dem 16. Jahrhundert, Mogul-
Stil. Grauer Anzug vor Weltkul-
turerbe, Schweißperlen auf der Stirn, 32 Grad. Er
hat den ersten Termin schon hinter sich, eine Live-
Schalte. Im moma, dem deutschen Frühstücks-
fernsehen, hat der Verteidigungsminister erklärt,
warum er eine Woche lang durch Süd­ost­asien reist
– begleitet von Vertretern der Rüstungsindustrie.
Der Moderator will wissen, ob Pistorius »im­
Gegen­ zug« für einen U-Boot-Deal von Indien
eine Verurteilung Russlands erwarte. Und ob der
Minister es etwa »völlig okay« finde, dass Indien in
Russland weiter billiges Öl kaufe.
Irritiert nimmt Pistorius sich Mikro und Ohr-
hörer vom Kopf: »Diese Fragen! Wir sind schon
noch alle sehr dem alten Blockdenken verhaftet.«
In seinem Amt, das er seit nicht einmal fünf
Monaten innehat, trifft Pistorius auf eine Weltlage,
in der die Gewissheiten der deutschen Außenpoli-
tik verdampfen. Vermeintliche Partner sind zu
Feinden geworden, manche Freunde von Gegnern
kaum zu unterscheiden. Pistorius versteckt das
nicht, er redet Gefahren nicht klein. Mit oft be­
unru­hi­gen­den Botschaften ist er zum popu-
lärsten Politiker des Landes aufgestiegen.
Das wirft Fragen auf, die über sein Ressort
hinaus relevant sind: Kann es sein, dass die
Deutschen veränderungsoffener sind als ge-
dacht, wenn man ihnen die Wahrheit zu-
mutet? Sind grundstürzende Reformen möglich,
selbst im unregierbarsten aller Ministerien, dem
BMVg, an dessen Beharrungskraft so viele Vor-
gänger von Pistorius gescheitert sind? Und kommt
es bei alldem doch auf die Persönlichkeit an, auf
den Mut zu Entscheidungen?
Die Reise des Verteidigungsministers nach Sin-
gapur, Indonesien und Indien führt in eine Welt,
in der es keine Blöcke gibt. Die Länder des soge-
nannten Globalen Südens wollen sich nicht zwi-
schen weltpolitischen Lagern entscheiden. Man
lässt sich nun von den Amerikanern, aber auch
weiter von Russen und Chinesen umwerben.
Und von Deutschland wollen hier viele gern
Waffen kaufen. Singapur besitzt schon an die 200
Leopard-2-Panzer, Indonesien möchte Transport-
maschinen des Typs A 400M erwerben, Indien
interessiert sich für deutsche U-Boote.
Und so erklärt Pistorius dem moma-Publikum
geduldig aus 6000 Kilometer Entfernung, dass
Deutschland dem neuerdings bevölkerungsreichsten
Land der Erde seine Russlandpolitik nicht diktieren
könne. Das U-Boot-Geschäft habe dennoch eine
politische Pointe: Indien wolle seine militärische Ab-
hängigkeit von russischen Rüstungsgütern (60 Pro-
zent des Bestands) reduzieren, das sei im deutschen
Interesse, und also müsse man dabei helfen.
Am Ende seiner Asientour unterzeichnet Pisto-
rius in Mumbai eine Absichtserklärung. Thyssen-
krupp soll hier dereinst gemeinsam mit den Indern
sechs U-Boote bauen. Ob es dazu kommt, hängt
Der Angstfreie
Mit seinem Normalo-Charisma hat Boris Pistorius einen fulminanten Start als
Verteidigungsminister hingelegt – und eine enorme Fallhöhe erreicht  VON JÖRG LAU
noch von der laufenden Ausschreibung ab. Doch
was Boris Pistorius an diesem Exempel vollzieht,
ist ein klarer Politikwechsel.
Als die Ampel Ende 2021 ihre Arbeit aufnahm,
kündigte das zuständige Wirtschaftsministerium an,
»die restriktive Rüstungsexportkontrolle der Bundes-
regierung« werde »ausdrücklich gesetzlich festge-
schrieben«. Pistorius forciert nun das Gegenteil: Er
will die Exportregeln aufweichen, um Indien west-
lichen Wertepartnern wie Japan und Australien
gleichstellen zu können. Diese Länder bekommen
von Deutschland grundsätzlich alle Waffen, die sie
bestellen, sie werden behandelt wie Nato-Mitglieder.
Indien gleichzustellen, obwohl der Premier Modi
das Land zunehmend autokratisch regiert, wäre eine
Schubumkehr in der deutschen Politik. Pistorius’
Abwägung lautet: Indien mag Demokratie-Defizite
aufweisen, das Land stützt aber jene »regelbasierte
Weltordnung«, die durch Russland und China ange-
griffen wird. Darum müssen wir es stärken.
Die Systemkonkurrenz mit China und Russ-
land toppt frühere Bedenken. Pistorius forciert die
Debatte darüber, ob Deutschland sich auch mit
Waffenlieferungen am Kampf um die künftige
Weltordnung beteiligen soll: deutsche Rüstungs-
exporte als Instrument der Geopolitik. Wird die
Partei das mittragen? Pistorius ist sich nicht sicher.
Einstweilen ist er als populärster Sozi vor Angrif-
fen geschützt. Er hat bemerkenswert viel bewegt.
Der Minister trifft auf eine Weltlage, in der Gewissheiten verdampfen
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Osna-
brücker auf unkartiertes Gelände begibt. Man
muss einen Schritt zurücktreten, um das Muster
zu erkennen – einen dezisionistischen Stil, der
immer wieder auch für noch strittige Positionen
Zuspruch findet. Wieso kommt er damit durch?
Er beginnt seine Amtszeit damit, dass er gelassen
das Wort ausspricht, das Olaf Scholz bis heute ver-
meidet: die Ukraine müsse »gewinnen«. Pistorius
belässt es nicht bei Semantik. Monatelang war erbit-
tert über die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern
an die Ukraine gestritten worden, als er im Januar
die Nachfolge von Christine Lambrecht antrat.
Kaum im Amt, ordnete er eine Prüfung der Bestände­
an, innerhalb von Wochen waren die versprochenen
18 Leopard-Panzer in der Ukraine. Als Polen im
April von Deutschland die Genehmigung zur Aus-
fuhr von MiG-29-Kampfjets an die Ukraine bean-
tragte, erwirkte der Minister binnen Stunden einen
positiven Bescheid.
Im Mai kündigten Dänemark und die Nieder-
lande die Lieferung westlicher F-16-Kampfflugzeuge
an. Deutschland besitzt selbst keine, ist also nicht
direkt gefordert. Als sich die Befürchtung breit­
machte,­diese Waffen könnten eine russische Eska-
lation bewirken, erklärte Pistorius, er sehe »keine
Es­ka­la­tions­ge­fahr«. Man prüfe, heißt es jetzt, wie
Deutschland die Jet-Koalition unterstützen könne.
Auf der Asienreise erklärt Pistorius dem amerika-
nischen Sender CNBC, wie er zu den ukrainischen
Schlägen auf russischem Territorium stehe: Das
Völkerrecht erlaube der Ukraine, sich auch durch
Angriffe auf militärische Einrichtungen auf russi-
schem Gebiet zu verteidigen. Er vertraue darauf,
mahnt er, dass dies nicht »exzessiv« geschehe.
Am Donnerstag in Mumbai, von der ZEIT
zum Bruch des Kachowka-Staudamms befragt,
sagt der Minister ohne Zögern, es handele sich
seiner Meinung nach um ein »glasklares Kriegsver-
brechen, eine unglaubliche Zerstörung, eine Will-
kürlichkeit und Menschenverachtung, die man
selbst Putin nicht zugetraut hätte«.
Es ist nicht ohne Risiko, sich so festzulegen.
Denn eindeutige Beweise für russische Täterschaft
liegen zu diesem Zeitpunkt nicht vor, wenn auch
viele Indizien dafürsprechen. Und wer weiß schon
definitiv, ob es nicht doch irgendeinen Trigger für
eine weitere russische Eskalation gibt?
Pistorius aber wird seine Festlegungsfreude
nicht übel genommen. Warum? Ein Grund ist
vielleicht, dass Pistorius trotz mehrerer Jahrzehnte
als Berufspolitiker unverstellt und zugänglich
wirkt. Er ist kaum aus der Fassung zu bringen,
weicht harten Fragen nicht aus, gibt keine schnip-
pischen Antworten. Wenn er mit Delegationsmit-
gliedern beim Bier über Fußball redet (VfL Osna-
brück), scheint echtes Interesse durch und nicht
nur der Wunsch, sich nahbar zu zeigen.
In Indonesien wirkt sein Normalo-Charisma, als
er vor einem Publikum aus Offizieren an der Na-
tionalen Sicherheitsakademie ins Plaudern kommt:
Seine Eltern hätten sich als Flüchtlinge aus der DDR
in einem Lager kennengelernt, er sei ein »cold war
kid«, aufgewachsen im Umfeld von Soldaten in­
Osnabrück, habe dort gelernt, wie Feinde zu Freun-
den wurden. Minutenlang erklärt der Gast aus
Deutschland den erstaunten Soldaten, wie er als
Flüchtlingskind für die Entspannungspolitik Brandts
und Schmidts entflammt sei, die allerdings immer
mit hohen Rüstungsausgaben und Abschreckung
einhergegangen sei. Erstaunter Applaus der Uniform-
träger: Pistorius kann seine Haltung als persönliche
Geschichte erzählen, das kommt an.
Entscheidend ist aber etwas anderes. Es gibt
eine emotionale Seite der Sicherheitspolitik, die
sich nicht in Tabellen über Truppenstärken und
einsatzfähiges Material erfassen lässt. Die Bundes-
wehr (und mit ihr das ganze Land) muss sich auf
den größten externen Schock seit ihrem Bestehen
einstellen. Angstfreiheit, wie sie Pistorius bei seiner
Aufgabe an den Tag legt, wirkt da beruhigend.
Sein Stil unterscheidet ihn deutlich von Olaf
Scholz – was natürlich auch damit zu tun hat, dass
er keine Koalition zusammenhalten muss. Aber
dass der Minister mit seinem offensiveren Füh-
rungsstil den Chef in den Umfragen überflügelt,
zeigt auch, dass es eine Alternative gibt zu der von
seltenen Wutausbrüchen durchbrochenen Zu-
rückhaltung des Kanzlers.
Auf der Asienreise zeigt Pistorius das am Umgang
mit dem mächtigen Militärchef Chinas. In einem
Singapurer Luxushotel findet die wichtigste asiatische
Sicherheitskonferenz statt, der Shangri-La-Dialog.
Hier trifft Pistorius den chinesischen Verteidigungs-
minister General Li Shangfu. Dieser ist ebenfalls neu
im Amt, und Dutzende Minister aus aller Welt sind
da, um Maß zu nehmen: Ist der mürrisch drein-
schauende Herr Li ein weiterer Hardliner oder einer,
mit dem man reden kann? Li hält eine Philippika
gegen die USA und ihre Verbündeten. Sie gipfelt in
der chinesischen Volksweisheit, Freunde bewirte man
mit gutem Wein, doch »Schakale empfangen wir mit
Schrotflinten«. Li attackiert die Idee der »regelbasier-
ten Weltordnung«. Deren Regeln ­seien von den USA
diktiert worden und dienten nur der Zementierung
westlicher Vormacht.
Pistorius ergänzt daraufhin seine vorbereitete
Rede: Der russische Krieg, sagt er abweichend vom
Manuskript, sei ein Angriff auf das Völkerrecht
und die internationale Sicherheitsarchitektur. Die-
se sei, »anders als heute Morgen behauptet, nicht
von den wenigen Mächtigen geschaffen worden,
sondern multilateral und inklusiv, besonders um
die vielen weniger mächtigen Länder in der Welt
zu schützen«. Gewinne Russland, könnten andere
»revisionistische Mächte« schlussfolgern, dass­
Aggres­sion sich lohne, auch hier im Indopazifik.
Bei den Vertretern der asiatischen Länder, die sich
von China bedroht sehen, kommt diese leiden-
schaftliche Entgegnung gut an.
Über Pistorius’ Erfolg wird allerdings nicht in
Redeschlachten mit General Li entschieden, son-
dern im Ringen mit den Generalen (und Beamten)
zu Hause um die Reform der Bundeswehr. Der
entscheidende Kampf ist zweifellos der mit dem
eigenen Apparat. Und da ist der Ausgang offen.
Zu Beginn seiner Amtszeit, erzählt ein Insider,
habe Pistorius sich das Wimmelbild des BMVg-
Organigramms zeigen lassen und gefolgert, dass man
»diesen Laden so nicht führen kann«. Aus zehn Jahren
als niedersächsischer Innenminister bringt er einen
klaren Blick für bürokratische Formationen mit.
Seine Analyse geht von einer schlichten, aber um-
stürzlerischen Erkenntnis aus: Im Ministerium und
in der Bundeswehr arbeiten »viele großartige Leute«,
fast 3000 Mitarbeiter im Berliner Bendlerblock und
180.000 Soldaten in der Truppe draußen. Wenn
kompetente Mitarbeiter ein derart schlechtes Ergeb-
nis produzieren – nicht verteidigungsfähige Streit-
kräfte –, dann muss man an die Strukturen rangehen.
Darum hat Pistorius einen Umbau der Führungs-
ebene begonnen: Der oberste Soldat wurde ausge-
tauscht, Carsten Breuer ist neuer Generalinspekteur.
Er hatte sich im Kanzleramt als Leiter des Corona-
Krisenstabes bewährt. Die bisherige Vizepräsidentin
des Koblenzer Beschaffungsamts, Annette Lehnigk-
Emden, wurde befördert und soll nun dafür sorgen,
dass Waffen, Munition und Material schneller zur
Truppe kommen. Der Generalstab und die Staats-
sekretäre verlieren viele Stellen, die einem neuen
Planungsstab zugeschlagen werden. Diesen leitet Ge-
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
Foto: Britta Pedersen/dpa
neral Christian Freuding, der als Leiter des Sonder-
stabs Ukraine mit seinen You­Tube-­Videos eine Art
Kultfigur wurde. Freudings Stab soll als Membran
zwischen Führung, Verwaltung und Truppe funk-
tionieren: Anregung und Kritik nach oben filtern,
Aufträge der Leitung nach unten schneller umsetzen.
Die eigentliche Herausforderung, so sieht es der
Militärexperte Carlo Masala, liege nicht so sehr auf
struktureller, sondern auf der »kulturellen Ebene«.
Hört man Masala und anderen Kennern der deut-
schen Verteidigungspolitik zu, entsteht der Eindruck,
das BMVg sei eigentlich ein Ministerium der Angst.
Das zentrale Problem sei »Verantwortungsdiffusion«.
Aus Furcht vor karriereschädigenden Fehlern würden
Entscheidungen in der Hierarchie hochdelegiert.
Das zu verändern ist eine vertrackte Aufgabe. Die
Regeln für die Beschaffung hat Pistorius ändern
lassen. Keine Sonderprojekte »mit Goldrand« mehr,
wenn es das Boot oder den Rucksack schon am Markt
zu kaufen gibt. Grundsätzlich soll auf den unteren
Ebenen entschieden werden, was immer geht.
Das setzt, so Carlo Masala, einen Kulturwan-
del voraus: »Der deutsche Stabsoffizier macht
nämlich keine Fehler, und wenn doch, kommt
seine Karriere jäh zum Stillstand. Das wirkt läh-
mend.« Die Bundeswehr brauche Fehlertoleranz.
Die müsse vom Minister durchgesetzt werden,
top-down: »So paradox es klingt, er muss den Sol-
daten sagen: Ich verordne euch hiermit mehr
Selbstständigkeit.«
Bis zum Ende des Jahres will Pistorius
zwei Drittel des 100-Milliarden-Euro-Son-
dervermögens »vertraglich gebunden« ha-
ben, bis zum Ende kommenden Jahres die
gesamte Summe. Mit etwas kreativem Rech-
nen kann Deutschland dann Militärausgaben in
Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts
ausweisen, wie in der Nato verabredet und vom
Kanzler in der Zeitenwende-Rede versprochen.
Die Bundeswehr wird im Haushaltsplan geschont,
bekommt sogar zwei Mil­liar­den mehr, aber die
werden von den Tarifsteigerungen im öffentlichen
Dienst fast vollständig aufgezehrt. Wie es danach
weitergeht, weiß niemand.
Pistorius’ Erfolg wird sich daran bemessen, sagt
Carlo Masala, »ob in absehbarer Zeit, vor dem Bun-
destagswahlkampf, neues Gerät in signifikanter
Größe auf dem Hof steht, Panzer zum Beispiel«.
Die Wette dieses Ministers lautet: Kann sich
eine riesige Bürokratie mit bürokratischen Mitteln
– Erlassen, Weisungen, Verfahrensregeln – selbst
entbürokratisieren? Nicht nur sein politisches
Schicksal hängt davon ab, ob diese Wette aufgeht.
Noch führt Boris Pistorius die Beliebtheitsran-
kings an, satte zehn Prozent vor dem Kanzler. Mit
einem Begriff aus der Dramentheorie könnte man
sagen, der Mann hat eine enorme Fallhöhe erreicht.
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Am Ende der Woche sprechen wir über Politik – was
sie antreibt, was sie anrichtet, was sie erreichen
kann. Jeden Freitag in Das Politikteil.
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 DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
E
in Regionalexpress Richtung Chem-
nitz vergangenen Donnerstag: so ein
alter Zug ohne Klimaanlage. Im
Gang ist noch ein Stehplatz frei. Ein
junger Mann erklärt zwei Seniorin-
nen, die er gar nicht kennt, dass man
dort, wo er herkommt, nahe der
tschechischen Grenze, nachts nicht vor die Tür gehen
könne wegen Messerstechereien, »Nazis stechen
Flüchtlinge ab und andersherum«. Dass die Parteien
es nicht hinbekommen mit der Klimakrise und dass
eine Atombombe, die die Menschheit auslöscht, das
beste für den Planeten wäre. Er nennt für alles, was er
sagt, ein Video als Beleg, das er im Internet gesehen
hat. Die Art, wie er spricht, leicht verächtlich, alt-
klug, erinnert an den heute-show-Satire-Moderator
Oliver Welke.
Und würde er AfD wählen, wenn am Sonntag Bun-
destagswahl wäre? »Nein, die Biertrinkerpartei.« Was?
»Deren einziges Versprechen ist, dass das Bier billig
bleibt. Mein Vater hat die gewählt, meine Mutter, mei-
ne Großmutter auch.«
Gut, dann sind wir bei ihm falsch, auf der Suche nach
denjenigen, die derzeit überlegen, ihre Stimme der AfD
zu geben. Sie sind allerdings viele: In aktuellen Umfragen
sagen 18 Prozent der Deutschen, sie würden die AfD
wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre.
Viele Leute haben Thesen dazu, warum das so ist.
Der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz schrieb, mit
jeder gegenderten Nachrichtensendung gingen »ein paar
Hundert Stimmen zur AfD«. Schleswig-Holsteins Mi-
nisterpräsident Daniel Günther (CDU) sagte, seine
Partei mache den Leuten »nicht genug Angebote«. SPD-
Influencerin Lilly Blaudszun sagt, dass »unsere Leute«,
womit sie wohl die SPD-Regierenden meint, »nicht ehr-
lich kommunizieren«.
Der ARD-Deutschlandtrend zeigt, dass 67 Prozent
der potenziellen Wähler die Partei aus Frust wählen
wollen, nicht aus Überzeugung. Aber was heißt das:
Frust? Und warum sind in diesem Sommer sieben bis acht
Prozent mehr Wahlberechtigte frustriert als vor einem
Jahr? Da stand die Partei bei elf Prozent, trotz drohender
Gasversorgungskrise. Man dachte, sie hätte sich ausmobi-
lisiert, es gäbe für sie keine weiteren Wähler zu gewinnen.
Aber das vergangene Jahr war politisch gesehen ewig lang,
es gab Krisen und Identitätskrisen, und etwas Unerwar-
tetes ist passiert: Eine Normalisierung der AfD hat statt-
gefunden. Die Partei ist plötzlich für Menschen wählbar,
die sich vorher dafür geschämt hätten. Die Funktions-
träger treten disziplinierter auf. Keine Vogelschiss-Kom-
mentare, keine neuen Forderungen nach Erschießungs-
kommandos an der Grenze.
Man kann sich anhören, was Patrick Roetzel dazu zu
sagen hat, Rechtsanwalt in Berlin. An der AfD, sagt er,
gefalle ihm das »plebiszitäre Element«, die Partei sei die
einzige Partei, die sich für Volksabstimmungen aus-
spreche. Er habe alle schon gewählt, von PDS bis FDP.
Er kenne aber viele Unternehmer und Selbstständige,
die nun das Gefühl hätten, der Staat funktioniere nicht:
»Es wird über die Viertagewoche gesprochen, obwohl
Hoteliers und Bäckereien keine Angestellten finden.«
Viele überlegten nun, wie er, AfD zu wählen – nur damit
die anderen Parteien daraus lernen.
Man kann auch mit Andreas Witt sprechen, 61, der
auf Rügen lebt, 1,5 Kilometer von einem geplanten
LNG-Terminal entfernt. Er arbeitet als Hausmeister in
einer Pflegeeinrichtung, vermietet außerdem eine Woh-
nung an Touristen. Nun befürchtet er, dass die weg-
bleiben. »Es wurde alles über unsere Köpfe weg ent-
schieden«, sagt er. Sonst gehe er fast nie wählen, jetzt
könne er sich vorstellen, AfD zu wählen.
Man kann überdies nach Chemnitz fahren, zu einem
Bürgerdialog der AfD Sachsen. »Treffen Sie die AfD-
Bundestagsfraktion hautnah!« So stand es in der Ankün-
digung. Der Bus hält vor einem heruntergekommenen
Haus. Der Saal, in dem die Veranstaltung stattfindet,
sieht dann fast festlich aus, man kann darin Hochzeiten
feiern. Vielleicht trifft man ja, getarnt als interessierte
Bürgerin, interessierte Bürger, die verraten, was sie frus-
triert. Die AfD ist nicht gut auf Reporter zu sprechen,
fühlt sich oft ungerecht behandelt. Deshalb die Tarnung.
Zwar heißt das Format »Bürgerdialog«, aber es sind
die Funktionsträger, die anfangen zu reden. Auf dem
Podium sitzen: die Bundestagsabgeordneten Steffen
Janich (Polizist, suspendiert, weil er eine unangemel-
dete Corona-Demonstration mitorganisiert hatte) und
Mike Moncsek (Kfz-Mechaniker, nach eigenen Angaben
2015 wegen der Flüchtlinge in die AfD eingetreten).
Außerdem der sächsische Landtagsabgeordnete Carsten
Hütter. Im Publikum fast nur Männer, im Schnitt 50,
60 Jahre alt. Man holt sich abwechselnd Bier.
Die Mikrofone sind falsch eingestellt, zu viel Hall,
sodass man die Männer schlecht versteht. Sie erzählen,
was sie in den Parlamenten machen. Hütter, der Land-
Fotos: Daniel Delang für DIE ZEIT; Thomas Victor für DIE ZEIT (M.)
tagsabgeordnete, sagt, man sei in Sachsen »schon weiter«
als auf Bundesebene, denn hier arbeiten die AfD-Poli-
tiker ganz normal in Ausschüssen mit, übernehmen
Ämter, bringen Anträge ein. Im Bundestag dagegen
würden AfD-Politiker von den anderen systematisch
ausgeschlossen. So hat der Innenausschuss keinen Vor-
sitz, er hätte einem AfDler zugestanden, der aber einfach
nicht gewählt wurde. Wo sich die Frage stelle, sagt Stef-
fen Janich, wer hier in Wahrheit undemokratisch sei.
Je länger die Veranstaltung geht, desto stärker der
Eindruck, auf einer internen Sitzung zur Parteistrategie
gelandet zu sein: Wenn man nächstes Jahr in Sachsen
mit der CDU regiere, sagt Hütter, könnten die anderen
auf Bundesebene die AfD nicht mehr ausschließen.
Moncsek erzählt, wie neulich auf einem Volksfest andere
Die AfD vertritt radikale Positionen, dennoch übt sie auf manche Wähler der Mitte eine große Anziehungskraft aus.
Auf der Suche nach den neuen Fans der Partei  VON ANNA MAYR
Politiker ein Komplott geschmiedet hätten, um zu ver-
hindern, dass er den Fass-Anstich übernimmt. Dabei
hätten ihn die Bürger freundlich begrüßt. Mit dem
Bürgermeister, der da war, habe er am Vortag noch einen
Termin gehabt. Lachen, Kopfschütteln im Publikum.
Die Männer, die vorn sitzen, hetzen eher wenig
auf – sie haben damit zu tun, die Leute runterzukühlen.
Steffen Janich sagt: »Ich weiß, dass es dazu hier im Raum
unterschiedliche Ansichten geben mag, aber ich stehe zu
unserem Grundgesetz.« Als eine Frau sagt, dass sie 2024
in Sachsen AfD wählen werde, aber dass man vorher
etwas tun müsse gegen Flüchtlinge, die so viele Men-
schen ermordeten, sagt Moncsek als Erstes: »Man muss
feststellen, dass nicht alle Flüchtlinge kriminell sind.«
Ein Mann im Publikum schaut auf sein Handy, in
einer WhatsApp steht, gut lesbar vom Platz neben ihm,
welche Straftaten jüngst von Asylbewerbern begangen
worden sein sollen. »Unsere neuen Fachkräfte«, steht
darüber, ironisch. Der Mann öffnet Twitter, klickt auf
die Themen, die die App für ihn ausgewählt hat, weil sie
ihn interessieren könnten: »#Syrer« steht ganz oben.
Die von der EU finanzierte Organisation EUvsDis-
info identifiziert Kreml-freundliche Falschmeldungen.
Schon 2019 fasste EUvsDisinfo fünf Narrative zusam-
men, die Russland in den sozialen Medien streut: Eliten
gegen das Volk. Bedrohte gemeinsame Werte. Bedrohte
nationale Identität. Anstehender Kollaps des Systems.
Und: Hahaganda, also wie Propaganda, nur zum Lachen.
Haha, die Politiker bekommen nichts hin, sie machen
uns lächerlich. Das ist die Botschaft. Experten befürch-
ten, dass diese Narrative sich in deutschsprachigen so-
zialen Medien weiter verbreiten. Russische Propagan-
disten streuen Falschmeldungen, die schon dadurch
glaubwürdiger werden, dass Rechtsextreme ähnliche
Narrative verbreiten. Laut einer Erhebung des deutschen
Thinktanks CeMAS meinen 18 Prozent der Deutschen,
Putin gehe gegen eine globale Elite vor, die im Hinter-
grund die Fäden zieht.
Dass Putin Deutschland mit Fake-News befeuert,
könnte natürlich ein Grund sein, warum die AfD erstarkt
ist. Die Zustimmung zur AfD im Digitalen ist groß, in
Chemnitz trifft man eher den harten Kern der Partei.
Eine Frau mit buntem Schal fragt die drei Abgeordneten,
ob es im Fall einer Regierungsbeteiligung der AfD genug
Beamte und Experten gebe, die man in den Ministerien
einsetzen könne. Nur so könne man etwas verändern.
Sie antworten selbstbewusst, man sei vorbereitet.
Nach der Veranstaltung kann man die Frau anspre-
chen. »Es ist ein großes Problem«, sagt sie, »wir haben
im Ortsverband Chemnitz 120 Mitglieder, bei 240.000
Einwohnern. Wir bekommen nicht mal eine Ratsfrak-
tion zusammen.« Ach, hm, ja, Mensch. Schwierig.
Ȇberlegen Sie doch mal, ob Sie sich nicht vielleicht
engagieren wollen!«
Eher nicht, danke, lieber raus und einen Mann an-
quatschen, der da gerade raucht. Er sagt, dass er auch
Parteimitglied ist. Frage an ihn: Verwunderlich war, dass
die geredet haben wie ganz normale Politiker, oder? Er
hebt die Schultern, fast entschuldigend, und antwortet,
dass die das so machen müssten, wegen des Parlaments.
Er kenne Moncsek aber privat, habe mit ihm schon Bier
getrunken, da würde auch ein deutliches Wort geredet.
S
eine Antwort führt zu anderen Fragen, die
man sich stellt. Tun die nur so, als wären
sie Demokraten? Oder tun sie andershe-
rum in ihren Wahlkreisen so, als wären sie
stramme Rechte? Redet nicht jeder Politi-
ker jeder Partei am Stammtisch anders als bei einer
Bundestagsrede? Kann man eine Partei ignorieren,
der Reichsbürger angehören und Björn Höcke, die
jedoch 18 Prozent der Deutschen für wählbar halten,
solange sie sich öffentlich im Ton diszipliniert?
Der CDU-Politiker Michael Brychcy, seit 34 Jahren
Bürgermeister im Thüringer Ort Waltershausen, sagte
vergangene Woche dem MDR, dass nicht alle AfD-­
Politiker Faschisten seien und man eine Zusammenarbeit
erwägen solle. Er spricht aus, was in vielen Kommunen
längst Alltag ist: Die AfDler sind auf den Volksfesten,
sie halten Reden und bringen Anträge ein, und manch-
mal ist man sich mit ihnen einig. Zahlreiche AfD-­
Positionen werden gar nicht mehr als extrem wahrge-
nommen. In Chemnitz betonen alle an diesem Abend
immer wieder, dass das, was die Union zu Geflüchteten
sage, schon vor Jahren so im AfD-Programm stand. Das
soll wohl heißen: AfD zu wählen wirkt.
Nächster Bürgerdialog, Freitagabend, Werder an der
Havel. Ein Restaurant am Ufer. Frauen in Blumenklei-
dern, Männer in Polohemden. Draußen vor dem Res-
taurant pfeifen Demonstranten alle aus, die reingehen.
Da man an dem Abend in Chemnitz gelernt hat, wie
grundgesetzig die AfD ist, stellen wir uns als Presse vor:
Hallo, guten Abend. Ja, sagen die drei Politiker, schön,
dass Sie da sind. Die lokale Zeitung, sagen sie, druckt die
Ankündigung zur Gegendemonstration ab, aber nicht
die Ankündigung zum Bürgerdialog. »Dabei könnten
die Leute von draußen reinkommen und diskutieren«,
wird einer der AfDler später sagen, »aber das trauen die
sich nicht. Wir haben unsere Argumente sehr geschärft.«
Corona ist aus Medien und Politik weitgehend ver-
schwunden. Die AfD ist bei dem Thema geblieben. Im
Brandenburger Landtag hat die Partei zwei Untersu-
chungsausschüsse zur Pandemie initiiert. Die Sitzungen
sind nicht öffentlich, aber Lars Hünich, Obmann des
Ausschusses, erzählt den Anwesenden nun ein paar
Anekdoten daraus. Sogar der Vorsitzende des Bundes-
lehrerverbands, sagt der AfD-Landtagsabgeordnete
Dennis Hohloch, habe im Morgenmagazin »Dinge ge-
fordert, die wir schon lange vorher im Brandenburger
POLITIK 3
Titelthema: Extrem normal?
Recht nett
Landtag eingebracht haben«. Nämlich, dass wegen der
Pandemie der Englischunterricht vor der fünften
Klasse abgeschafft werden solle, um die zwei Wochen-
stunden für die Kernfächer zu nutzen. Das stimmt:
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands hat im
Morgenmagazin die Abschaffung des Englischunter-
richts gefordert. Aber es gibt zwei weitere Lehrerver-
bände mit mehr Mitgliedern. Die fordern das nicht.
Man kann sich mit den AfDlern im ewigen Klein-
Klein verlieren, über Trageweisen von FFP-2-Masken
und Aerosole diskutieren. Dass die Partei in Branden-
burg vor Kurzem eine Migrantenquote in Schulklassen
gefordert hat (maximal zehn Prozent), kommt nur
kurz zur Sprache.
Im Saal geht es jetzt um verschiedene Interpretatio-
Eine Protest-
nen von Übersterblichkeit, ein guter Moment, um auf
kundgebung
dem Balkon des Restaurants eine Zigarette zu rauchen.
der AfD
Die Gegendemonstranten sind weg, und da steht der
gegen
Ortsvorsitzende der AfD Werder an der Havel. Hat er
»Genderpro-
eine Antwort darauf, warum gerade so viel mehr Leute
paganda« in
seine Partei wählen wollen? »Ich mache es so«, sagt er,
München am
»ich mache jeden Monat einen Stammtisch, wo ich
13. 6. 2023
Experten einlade. Die sprechen zu ihren Themen. Die
Leute kommen und nehmen was mit. Irgendwann
bringen sie auch Bekannte und Nachbarn mit. Manche
Sachen muss man sich erklären lassen. Auf einer Zei-
tungsseite ist das immer so kurz, dass es aus dem Zu-
sammenhang gerissen wird. Wenn die Leute oft kom-
men, sage ich ihnen: Dann könnt ihr auch Mitglied
werden. Oder Förderbeiträge zahlen.«
Die Leute kommen zur AfD, weil sie etwas lernen
wollen?
»Ja. Weil die das interessant finden.«
Im Saal fallen zwei Männer im Publikum auf,
weil sie nicht bei allem klatschen, was gesagt wird.
Nach der Veranstaltung stellt sich einer von ihnen
als Günther Hennig vor, 74 Jahre alt. Er sagt: »Ich
habe in der Corona-Zeit vieles anders gesehen,
denn ich habe Biologie studiert. Aber ich galt damit
immer direkt als Schwurbler. Auch jetzt, mit dem
Krieg in der Ukraine – wenn ich sage, dass die Pro-
blematik auch durch Strategien der Nato zu be-
gründen ist, dann gelte ich direkt als Verschwörer.
Wissen Sie: Ich habe bisher meist SPD gewählt. Ich
war oft in Moskau, habe dort unterrichtet, habe
dort Freunde. Zu wissen, dass meine Vorfahren
Hunderttausende Russen auf dem Gewissen haben,
und gleichzeitig meinen Kanzler vor einem Panzer
posieren zu sehen, das fand ich schlimm. Deshalb
bin ich heute hier: Weil ich mir einmal anhören
wollte, was diese Partei zu sagen hat. Und die Leute,
Günther die ich hier heute Abend getroffen habe, sind ja
Hennig, 74, ganz normale Bürger. Was das Wählen betrifft, bin
hört sich in ich mir völlig unsicher. Die AfD negiert die Klima-
Werder an der katastrophe. Ich habe schon in den Achtzigerjahren
Havel an, was gewusst, dass sie kommt. Aber eine Partei, bei der
die Partei zu alles stimmt, findet man ja sowieso nicht.«
D
sagen hat
er andere, Marcus, um die dreißig,
sagt: »Ich selbst würde mich als
linkskonservativ bezeichnen. Bei der
letzten Wahl habe ich die Tier-
schutzpartei gewählt. Hier hatte ich
das Gefühl: Die reden das, was ich mit meinem
Menschenverstand denke. Ich weiß aber, dass ich
immer zu wenig weiß. Wenn ich einen Abend von
den Grünen besuchen würde, würde ich danach
wahrscheinlich auch grün wählen wollen.«
Samstagvormittag. Vom S-Bahnhof Erding bei
München strömen Hunderte Richtung Volksfest­
gelände. Die Kabarettistin Monika Gruber hat zur
Demo gegen die »Heizideologie« aufgerufen. Es spre-
chen Markus Söder (CSU), bayerischer Ministerprä-
sident, und Hubert Aiwanger, sein Koalitionspartner
von den Freien Wählern. Die AfD wollten die Ver-
anstalter nicht auftreten lassen, so hat die Partei einige
Schritte weiter ihr eigenes Event organisiert: Pavillon,
Plakat, ein Podest für die Redner. Einige tragen Björn-
Höcke-T-Shirts. Viele scheinen sich zu kennen.
Ganz allein steht da erst mal Andrea, Mitte vierzig,
aus Regensburg. Ach, sagt sie, früher hat sie Kleinst-
parteien gewählt. Jetzt AfD. »Das ist schon krass, das
Gefühl hier, oder? Als wäre man mal wieder unter
normalen Menschen.« Sie trägt ein schwarzes T-Shirt,
Trekkingschuhe. »Eigentlich wollte ich dieses Jahr nach
Korsika fahren«, sagt sie, »aber es ist einfach viel zu
Gut zwei teuer. Seit über dreißig Jahren war ich das erste Mal
Drittel der nicht im Urlaub.«
potenziellen Was stärkt die AfD? Unsicherheit, kann man sagen.
AfD-Wähler Beharrungskräfte. Und: Intransparenz bei politischen
sind Entscheidungen. Vielleicht auch ein Journalismus, der
frustriert. glaubt, manche Dinge nicht erklären zu müssen.
Aber was Falschmeldungen. Eventuell: Dass alles, was die AfD
sagt, für andere Parteien unsagbar wird. Könnte die
heißt das,
frustriert? CDU Volksabstimmungen gut finden, ohne sich dem
Vorwurf auszusetzen, der AfD nach dem Mund zu
reden? Könnte die SPD in Brandenburg Englisch für
Erstklässler abschaffen, ohne als reaktionär zu gelten?
Der rechtskonservative Platz ist jetzt besetzt.
Vom Schatten aus hört Andrea den Rednern der
AfD in Erding zu. Themen sind Zuwanderung, dop-
pelte Staatsbürgerschaft, Geschlechterbezeichnungen.
Applaus gibt es, als es um Atomkraftwerke geht. Und
darum, dass man jetzt kein Fleisch mehr essen dürfe.
»Geil, dass man sich halt mal wehrt!«, sagt Andrea.
Mitarbeit: Mona Berner und Marita Wehlus
www.zeit.de/vorgelesen
4 POLITIK 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Titelthema: Extrem normal?

18% 18%
21.9.2018 1.6.2023

16%
23.9.2016

Umfragehoch 15 %

AfD-Ergebnisse bei der

5%
25.10.2013 »Sonntagsfrage«
10 %

9%
17.4.2020

8%
19.5.2017

5%

6.2.2013: ZEIT- GRAFIK/Quelle: Infratest Dimap; Befragung unter

mindestens 1000 Bundesbürgern: »Welche Partei würden Sie
Af D-Gründung wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?«

2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022

Rauf runter rauf

Die Erforschung von Wählern und Erfolgen der AfD ist inzwischen eine eigene Wissenschaft – mit erstaunlich eindeutigen
Ergebnissen. Die Frage ist, ob die anderen Parteien ihre Lehren daraus ziehen  VON SIMON LANGEMANN UND ROBERT PAUSCH

D
ie Erklärungen für den Aufstieg
der AfD sind oft selbst schon
Politik, jedenfalls wenn sie von
Politikern kommen. Aber was
lässt sich empirisch über den
Erfolg der radikalen Rechten
sagen? Und vor allem: Wie lassen sich AfD-Wähler
wieder zurückgewinnen?
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Was Menschen dazu bringt, radikal rechte Parteien
zu wählen, ist mittlerweile ziemlich gut erforscht.
Unbestritten ist, dass es sich in der Regel um eine
Mischung aus kulturellen und ökonomischen Fak-
toren handelt. Dass AfD-Wähler keine oder sehr viel
weniger Migranten und Flüchtlinge aufnehmen wol-
len, ist bekannt. Hinzu kommt oft ein Gefühl indivi-
dueller Verunsicherung: Wer Angst um seinen Job hat,
Beide. Denn beide kommen viel rum – mit ihrem
womöglich in der Vergangenheit schon einmal seine
Arbeit verloren hat und nun mit Flüchtlingen um eine
Sozialwohnung konkurriert, neigt häufiger dazu,
seine Stimme der AfD zu geben, als ein Lehrer mit
Eigentumswohnung.
»Ein treibender Faktor hinter dem Aufstieg rechter
Parteien ist die ökonomische Unsicherheit«, sagt Tarik
Abou-Chadi, der an der Oxford-Universität zu Rechts-
populismus in Europa forscht. Er konnte jüngst mit
einem Team nachweisen, dass Menschen mit nied-
rigem Einkommen bei steigenden Mieten mit
größerer Wahrscheinlichkeit für die AfD stimmen.
Dies erklärt, warum nicht nur in deindustrialisier-
ten Städten, sondern auch in Boom-Regionen der
Anteil derer steigt, die radikal rechts wählen.
Es seien allerdings weniger die Ärmsten, die die
AfD wählen, argumentiert der Mannheimer Poli-
tologe Denis Cohen in einem Aufsatz, sondern
vielmehr Angehörige der Mittelschichten, die die
Angst vor sozialem Abstieg und Statusverlust um-
treibe. Dazu passt, dass der jüngste Aufstieg der
AfD schon im vergangenen Sommer begann, als
noch niemand vom Heizungsgesetz wusste, die
Inflations­rate allerdings bereits in die Höhe schoss
und die finanzielle Belastung für viele Menschen
CDU und CSU müssten aufpassen, dass sie
diesen Fehler nicht wiederholen, warnt der­
Politologe Marcel Lewandowsky, aktuell etwa
bei gesellschaftspolitischen Themen: Gendern,
Wokeness, LGBTIQ-Rechte. Denn die Union
fordere ja nicht einfach, man solle ein konser-
vatives Familien- und Geschlechterbild bei­
behalten, wie es ihre legitime Aufgabe wäre.
»Sondern sie stimmt in den Krisengesang ein,
wonach die Demokratie und die Gesellschaft
bedroht sei, durch eine politische Elite, die die
Menschen umerziehen wolle«, sagt Lewandowsky,­
der zu der Frage forscht, ob und wie man
Wähler der AfD zurückgewinnen kann. »Man
kann jetzt schon sehen, dass das nicht der
Union­zum Vorteil gereicht, sondern diejeni-
gen legitimiert, die das schon seit Jahren be-

Wer von
Handwerk. Thomas Müller ist Metallbauer und gibt sein
Wissen als Trainer und Dozent in internationaler Ent-
wicklungszusammenarbeit unter anderem in Afrika und
immer deutlicher zu spüren war. Von elf Prozent haupten. Das ist eben die AfD.«
im Mai stieg die AfD auf 15 Prozent im Oktober. Der Anfang der Corona-Pandemie im Frühjahr
Die Erkenntnisse der Politikwissenschaftler de- 2020 markierte den zweiten Einbruch der AfD.
cken sich mit aktuellen Meinungsumfragen. Zum Damals wuchs die Zufriedenheit mit der Regierung

beiden
Indien weiter. Als beste Sattlerin ihres Abschlussjahres
bereiste Lucy Schmidl schon viele europäische Länder,
um Erfahrungen auch in anderen Handwerksbetrieben
allerersten Mal gäben in den Erhebungen weniger und ihrem Umgang mit der Krise, das Vertrauen in
als zwei Drittel der Befragten an, dass ihre eigene demokratische Institutionen stieg an – und die AfD
wirtschaftliche Lage gut sei, sagt Roland Abold, Ge- begab sich in den Sinkflug.
schäftsführer des Instituts Infratest dimap, das den Es habe eine Konzentration auf das Handeln

sieht zu sammeln, und will jetzt nach Übersee.

Unsere duale Berufsausbildung ist hoch angesehen.

ARD-DeutschlandTrend erstellt. Natürlich helfe es
der AfD, so Abold, dass ihr Kernthema Migration
wieder die Debatten bestimme. Aber auch die Ent-
der Exekutive gegeben, sagt der Oxforder
Politik­wissenschaftler Tarik Abou-Chadi, dazu
eine geeinte Regierung. Es sei zwar eine Binsen-

die Welt?
Auf der ganzen Welt. Und die ganze Welt braucht
Handwerk. Jetzt entdecken, wie international das
Handwerk ist: www.handwerk.de/neudenken
täuschung über die eigene ökonomische Situation
spiele eine nachweisbare Rolle. »Unter den AfD-
Wählern sagt sogar fast jeder Zweite, dass seine wirt-
schaftliche Lage weniger gut oder sogar schlecht ist.«
Wie aber lassen sich diese Menschen zurück-
gewinnen? Kaum Aussicht auf Erfolg bietet der
Versuch, der AfD die »Themen wegzunehmen«,
wie es in der Politik oft heißt. Wenn konservative
Parteien am rechten Rand fischen, schadet dies
mehreren Studien zufolge den Konservativen. Und
es nützt der radikalen Rechten. Bei Sozialdemokra-
ten hat eine solche Politik den gleichen Effekt.
Die AfD hat seit ihrer Gründung 2013 schon
mehrere Höhenflüge und Abstürze hinter sich.
Blickt man auf ihre Umfragewerte in den letzten
Jahren, lassen sich zwei große Einbrüche erkennen.
Der erste folgte auf den letzten großen Höhenflug
im Herbst 2018, als die Partei erstmals bei 18 Pro-
zent stand. Damals hatten CDU und CSU die
Regierung im sogenannten Asylstreit beinahe an
den Rand des Scheiterns getrieben. Vor der Land-
tagswahl in Bayern übernahm die CSU die Rheto-
rik der AfD, sprach vom »Asyl-Tourismus« und der
»Anti-Abschiebe-Industrie«. Der Niedergang der
radikalen Rechten in den Umfragen setzte ein, als
die Union begann, sich scharf abzugrenzen. Hinzu
kam, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die
AfD Anfang 2019 als Prüffall einstufte.
Die Situation von damals, sagt der Meinungs-
forscher Abold, sei mit der heutigen gut vergleich-
bar. Da war einerseits eine geringe Zufriedenheit
mit der Bundesregierung – und da war ein Streit,
der das Thema Migration stark in den Vordergrund
rückte. »Davon profitiert vor allem die AfD, die mit
dem Thema Zuwanderung nun mal am stärksten
verknüpft ist«, sagt Abold. »Erst nach der Landtags-
wahl in Bayern, als sich die Union zusammenge-
rauft hatte und andere Themen aufkamen, gingen
die Werte der AfD wieder deutlich zurück.«
weisheit, aber sie stimme: »Wenn die Regierung
zerstritten ist, wenn die Leute denken, die Re-
gierung macht keinen guten Job, dann hilft das
der Opposition.« Das gelte natürlich auch um-
gekehrt. Zudem sei die frühe Phase der Pande-
mie eine Art »weißes Rauschen« gewesen, sagt
Abou-Chadi. Corona habe alle anderen Themen
aus dem Diskurs ­verdrängt. »Es ging kaum noch
um Migration, Kriminalität und eine angebliche
Gender-Ideologie.«
Kurzfristig, so lassen sich die empirischen Er-
kenntnisse zusammenfassen, hilft es also gegen
die AfD, wenn die Regierung, erstens, nicht bei
jedem Gesetzentwurf den Eindruck vollkom-
mener Zerstrittenheit vermittelt und die Union,
zweitens, sich davor hütet, die Sprache und In-
halte der radikalen Rechten zu übernehmen.
Langfristig geht es vor allem darum, wie die
Politik mit Fragen der Gerechtigkeit umgeht. »Der
momentane Hype um sogenannte neue Themen
wie Kulturkämpfe und Migration übersieht, wie
signifikant ökonomische Interessen für viele Wäh-
ler sind«, schreiben die britischen Populismusfor-
scher Daphne Halikiopoulou und Tim Vlandas in
einer international vergleichenden Analyse. Wähler
von radikal rechten Parteien, das belegen unter-
schiedliche Studien, sind nicht per se Rassisten,
sondern empören sich vor allem über die Konkur-
renzsituation, die sie durch Migration erwarten oder
real erleben. Politiker, so schreiben Halikiopoulou
und Vlandas, könnten exakt in dieser Frage auf
Unsicherheiten eingehen. »Dies reduziert die Wahr-
scheinlichkeit für eine Unterstützung rechtspopu-
listischer Parteien bei jenen, die sich ökonomisch
unsicher fühlen.«
Dies ist womöglich die unangenehmste Lehre
aus der mittlerweile zehnjährigen Erfahrung mit
der AfD: Für eine wirklich wirksame Gegenstrate-
gie braucht es einen langen Atem.

Wer wählt wann in Deutschland?

Umfragen bilden Stimmungen ab. Für wen
die Menschen ihre Stimme abgeben, ist eine
andere Frage. Noch in diesem Jahr stehen zwei
wichtige Landtagswahlen an, beide am 8. Ok-
tober: In Bayern und Hessen sehen Umfragen
die AfD bei bis zu zwölf Prozent. Weit größer
ist ihr Potenzial in den drei ostdeutschen Bun-
desländern, in denen im Herbst 2024 gewählt
wird: In Brandenburg, Sachsen und Thürin-
gen hat sie Chancen, stärkste Kraft zu werden,
teils mit über 25 Prozent. Bei Landratswahlen
schafft es die AfD im Osten immer wieder in
die Stichwahl. Im Thüringer Kreis Sonneberg
erreichte ihr Kandidat 46,7 Prozent. Die Ent-
scheidung fällt am 25. Juni. In Schwerin hat es
ein AfDler bei den Bürgermeisterwahlen in
die zweite Runde am kommenden Wochen-
ende geschafft. Wenn auch als Underdog.
 DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
Susanne Johna ist
»Wir stehen am
Vorabend eines
Vorsitzende
des Ärzteverbands
Marburger
Bund
Krankenhaussterbens«
Zu wenig Geld, zu wenig Personal, zu viele Betten: Ein Streitgespräch über die geplante Klinikreform
DIE ZEIT: Frau Johna, Sie kritisieren Karl Lauter-
bachs geplante Krankenhausreform. Macht der
Minister die Kliniken kaputt?
Susanne Johna: Wir sind sehr froh, dass es eine
Krankenhausreform gibt, denn die ist seit vielen
Jahren überfällig. Nicht gut finden wir aber, dass
dabei das System der Fallpauschalen erhalten blei-
ben soll.
ZEIT: Fallpauschalen sind, vereinfacht gesagt, fixe
Summen, die für bestimmte Krankheitsbilder pro
Patient abgerechnet werden. Frau Johna, Sie­
arbeiten als Internistin in einem Krankenhaus.
Können Sie einmal sagen, was das konkret für­
einen Patienten und einen Arzt bedeutet?
Johna: Für den Patienten bedeutet es erst mal gar
nichts. Für den Arzt bedeutet es, dass er unend-
lich viel Zeit damit verbringt, komplizierte For-
mulare auszufüllen. Die Idee hinter den diagnose-
bezogenen Fallpauschalen ist, dass zum Beispiel
eine Blinddarm-Entfernung im Krankenhaus A
genauso bezahlt wird wie im Krankenhaus B. Karl
Lauterbach will diese Pauschalen zwar finanziell
weniger gewichten. Das System als solches mit
seinen 1300 Pauschalen bleibt aber erhalten, und
das kostet viel Geld und Zeit.
Karl Lauterbach: Die Leidtragenden der Fallpau-
schalen sind die Patienten und nicht die Ärzte.
Denn die Fallpauschale ist wie ein Preisschild, mit
dem der Patient in die Klinik kommt. Hat er­
einen komplizierten Meniskusschaden mit einem
Kreuzbandriss, kommen zum Beispiel 4000 Euro
zur Tür herein. Ein Klinikarzt, der vonseiten sei-
ner Geschäftsführung unter ökonomischem
Druck steht, wird zusehen, dass er diesen Patien-
ten nicht verliert. Er wird dem Patienten daher
erklären, dass die Klinik den Eingriff gut be-
herrscht – auch wenn das möglicherweise nicht
ganz stimmt.
ZEIT: Und trotzdem wollen Sie das Preisschild
beibehalten?
Lauterbach: Nein, das will ich nicht. Künftig sol-
len Kliniken mehr Geld dafür bekommen, dass sie
das nötige Personal, den Operationssaal und die
Fotos: Lucas Bäuml/laif (gr.); MB Hessen (l.); imago (r.)
Technik für den Eingriff bereithalten, nicht nur
für den Eingriff selbst.
ZEIT: Wäre ein Patient ganz ohne Preisschild
nicht humaner?
Lauterbach: Nein, denn dann bekäme eine Klinik
den vollen Betrag auch dann gezahlt, wenn sie gar
nicht mehr operiert. Dann könnten selbst sinn-
volle Operationen ausbleiben, weil das für die
Klinik günstiger ist.
Johna: Das Wort Preisschild würde ich so nicht
akzeptieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass
die allermeisten Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
Reform der Kliniken
Anders als bislang soll künftig nicht
mehr jedes Krankenhaus jede Leistung
anbieten dürfen. Komplexe Eingriffe
sollen Kliniken vorbehalten sein,
die darauf spezialisiert sind. Das soll
die Qualität der Versorgung verbessern
POLITIK 5
Betten für eine Behelfsklinik in der Messehalle von Hannover
Karl Lauterbach ist
Sozialdemokrat
und
Bundesgesund-
heitsminister
ter in den Kliniken nach wie vor eine ganz starke Lauterbach: Das bringt zunächst einmal Transpa- nen sich Pflegekräfte und Ärzte viel besser um Lauterbach: Ich sehe in der Reform eine Win-win-
innere Motivation haben, ihre Patienten so gut renz. Es zeigt selbst Laien: Welche Klinik darf die verbleibenden Patienten kümmern. In eine Situation. Die Patienten bekommen eine bessere
wie möglich zu behandeln. Sie betrachten sie welche Behandlungen anbieten – und erfüllt sie andere Klinik wechseln müssten sie nur, wenn Qualität, weil die Eingriffe dort gemacht werden,
nicht als Cash­cows. dafür die Qualitätsvoraussetzungen? Eingriffe am ihr Krankenhaus in die Pleite geht – und das wo sie am besten erbracht werden können. Über-
Lauterbach: Wir wollen unnötige stationäre Auf- Herzen beispielsweise, mit denen Rhythmusstö- würde ohne Reform in vielen Fällen der Fall flüssige Eingriffe werden vermieden. Wir geben
enthalte verhindern. Deutschland ist derzeit Welt- rungen bekämpft werden, sind kompliziert. Das sein. für die Krankenhausversorgung 3,4 Prozent unse-
meister darin, Patienten für Behandlungen ins dürfen derzeit viel zu viele Kliniken machen. Johna: Wenn man mehr ambulant behandelt, res Bruttoinlandsproduktes aus – das ist europäi-
Krankenhaus aufzunehmen, die im Ausland Demnächst sollen den Eingriff nur noch diejeni- braucht man auch Personal. Die niedergelassenen sche Spitze.
schon lange ambulant erbracht werden. Der gen vornehmen dürfen, die die Voraussetzungen Kollegen sagen doch momentan nicht: Wir haben Johna: Das liegt aber auch daran, dass wir uns
Grund: Nur bei der stationären Behandlung be- dafür erfüllen, die bestimmte Geräte besitzen und schrecklich wenig zu tun und könnten locker mehr leisten als andere Länder. In Großbritannien
kommt die Klinik die volle Bezahlung. Das müs- Fachkräfte, die rund um die Uhr da sind. Genau 30 Prozent mehr Fälle aus den Kliniken überneh- zum Beispiel gibt es für viele Eingriffe faktisch
sen wir ändern. Mehr ambulante Versorgung ist dafür bekommen die Kliniken dann Geld. Ob sie men. Auch die besagten Herzklappen-Eingriffe Altersgrenzen. Auch in nordischen Ländern gibt
auch im Sinne der Patienten. Bei älteren Men- die für diese Leistungen notwendigen Qualitäts- ohne Operation erfordern jetzt schon hohe perso- es Priorisierungen. Ich bin kein Freund solcher
schen zum Beispiel steigt das Demenzrisiko mit anforderungen erreichen, ist eine unfassbar wert- nelle und strukturelle Voraussetzungen. Das macht Begrenzungen, aber wir müssen offen darüber dis-
jedem Tag im Krankenhaus. volle Information. doch gar keine kleine Klinik! Ich kann auch nicht kutieren: Wie stellen wir uns die Gesundheitsver-
Johna: Das ist mir zu einseitig. Wir machen mehr Johna: Das klingt aus Sicht des Patienten erst zu einem spezialisierten Operateur sagen: Du bist sorgung der Zukunft vor? Selbst wenn wir heute
stationäre Eingriffe als die meisten anderen Länder, mal gut. Aber wir müssen auch schauen: Wie doch mal Allgemeinchirurg gewesen, dann arbeite die Zahl der Medizinstudienplätze erhöhen wür-
das stimmt. Das liegt aber nicht nur an der Vergü- verändert das die Krankenhauslandschaft, bei- wieder in diesem Bereich, auch wenn du das schon den, haben wir frühestens in zwölf, eher in 15
tung. Wir werden gerne mit Dänemark verglichen. spielsweise die Versorgung in der Fläche? Und seit 20 Jahren nicht mehr gemacht hast. Jahren zusätzliche Fachärzte. Der Mangel wird
Dabei ist unsere Bevölkerung viel älter. Dadurch wie reagieren die Mitarbeiter? Wir haben, sagen ZEIT: Ist Karl Lauterbach als Minister zu weit ent- uns weiter begleiten.
haben Patienten hierzulande oft mehrere Erkran- Sie, in Deutschland mehr Betten als jedes ande- fernt von der Praxis? Lauterbach: Da stimme ich Ihnen zu, Frau Johna.
kungen gleichzeitig. In Dänemark kann ich außer- re Land. Das stimmt zahlenmäßig. In Wirklich- Johna: Wir würden uns wünschen, dass in der Das Krankenhaussterben kommt, mit der Reform
dem als Ärztin verordnen, dass ein Pflegedienst den keit können mehr als 20 Prozent davon nicht Umsetzung jetzt auch wir Ärztinnen und Ärzte und ohne Reform. Aber im Vergleich zu anderen
Patienten sechsmal am Tag zu Hause besucht. In belegt werden, weil das Personal fehlt. Und ich mit an den Tisch kommen, die tatsächlich in dem europäischen Ländern stehen wir trotzdem gut
Deutschland fehlt uns dafür das Personal. sage voraus: Es wird noch mehr fehlen. Für viele System arbeiten. da. Denn wir haben viele Krankenhäuser, eine
Patienten mag ein längerer Anfahrtsweg zur Kli- Lauterbach: Praktiker sind an der Reform beteiligt höhere Ärztedichte und auch eine höhere Pflege-
Während Johna spricht, hat Karl Lauterbach nik kein Problem sein, jedenfalls wenn sie nicht – keine Frage. In unserer Kommission sind Prak- dichte. Von einer Debatte über Altersgrenzen für
angefangen, ein Dreieck auf ein DIN-A4-Blatt akut krank sind. Bei den Mitarbeitern sieht das tiker, oft aus der Klinik zugeschaltet in unseren Eingriffe sind wir Lichtjahre entfernt. Momentan
zu malen. Oben steht: Ent-Ökonomisierung. anders aus, gerade für Teilzeitkräfte mit einem Besprechungen. Dass sich jeder Verband in dieser schadet eher die Überversorgung den Patienten.
An den beiden unteren Ecken: Bürokratieabbau langen Weg zur Arbeit. Bevor die ins nächste Phase der Planung wiederfindet, ist weniger wich- Johna: Einzelfälle wird es irgendwo immer geben.
und Qualitätsverbesserung. Krankenhaus wechseln, wenn ihre Klinik um- tig. Sie werden ausgedehnt im parlamentarischen Um noch einmal auf Ihr Beispiel mit den Schlag-
strukturiert oder gar geschlossen werden muss- Verfahren beteiligt. Die Reform so schnell wie anfällen nach Herzklappen-Eingriffen zu kom-
Lauterbach: Das ist meine Reform in einer Nuss- te, werden viele lieber eine neue Tätigkeit in möglich ohne Lobbydruck durchzubringen hat men: Das sind oft Patienten, die ohne den Ein-
schale. Ich will den Patienten wieder als Menschen ihrer Region suchen. hohe Priorität. Wir stehen wirklich am Vor­abend griff schwerstkrank sind oder gar kurzfristig ster-
sehen, der hoffentlich bald wieder arbeiten geht ZEIT: Karl Lauterbachs Reform wird den Pflege- eines Krankenhaussterbens. Das kann ich nicht ben. So ein Patient sagt Ihnen oft: Mir ist egal, wie
oder Sport machen kann. Dafür ist die Qualität kräftemangel im Krankenhaus noch verschärfen? mehr aufhalten. Das marode System habe ich von hoch mein Risiko für den Eingriff ist, solange ich
wichtig. Die lässt sich gut nachprüfen. Johna: Das fürchte ich. Viele Pflegefachkräfte, meinen Vorgängern übernommen. Es ist zu lange nie wieder das Gefühl habe, ich ertrinke in meiner
Johna: Da muss ich leider widersprechen. Natür- aber auch Ärzte, vor allem ältere, werden sagen: nichts passiert. Wir können die Kliniken auch eigenen Lunge. Solche Patienten gehen hohe Risi-
lich können Sie erfassen, wie häufig ein bestimm- Das tue ich mir nicht mehr an, ich höre auf. nicht noch einmal per Gießkanne retten, denn ken ein, in der Hoffnung, dass sie überhaupt eine­
ter Eingriff in einer Klinik gemacht wird. Aber Lauterbach: Nein, die Reform wird den Fach- dafür hat der Bundesfinanzminister kein Geld. Es Chance haben.
wie gut er gemacht wird, ist schwer zu sagen. kräftemangel keineswegs verschärfen. Wenn werden leider auch Kliniken sterben, die gar nicht Lauterbach: Die Wahrheit ist auch, dass beispiels-
Nehmen wir einen Extremfall: Nach einer Tumor­ künftig mehr ambulant gemacht wird, wird es mal schlecht sind. weise ältere Menschen, obwohl ihr Tod absehbar
operation stirbt ein Patient. Das ist messbar – aber weniger unnötige Krankenhausaufenthalte und Johna: Wir müssten aber doch wenigstens die Kli- ist, zu oft noch auf die Intensivstation gebracht
es heißt nicht, dass die Behandlung schlecht war. Eingriffe geben. Zum Beispiel werden in niken retten, die in die Notfallversorgung einge- werden, weil das abgerechnet werden kann. Das ist
In einer Uni-Klinik zum Beispiel werden oft Deutschland so viele Herzklappen über einen bunden sind. Die Notaufnahmen stoßen schon inhuman – eine tödliche Spirale: Die Häuser brau-
beson­ders schwere Fälle behandelt. Allein deshalb Katheter eingesetzt wie sonst nirgends auf der jetzt an ihre Grenzen. Sie, Herr Lauterbach, be­ chen das Geld, denn ohne Budget können sie das
werden dort häufiger Menschen sterben als­ Welt. Viele dieser Eingriffe sind medizinisch tonen gerne, dass wir eine Überversorgung haben. Personal nicht bezahlen. Und dann leidet die
anderswo. Das heißt aber nicht, dass die Uni-Kli- nicht zwingend notwendig, aber sehr lukrativ. Gleichzeitig aber haben wir in manchen Berei- Qualität noch mehr. Verstehen Sie das bitte nicht
nik schlechter ist. Medizin ist nicht schwarz-weiß, Da werden Kardiologen unter Druck gesetzt chen auch eine klare Unterversorgung. Nehmen als Vorwurf ans Krankenhauspersonal. Ich kenne
da ist auch ganz viel grau. von Klinikleitungen, die sagen: Kannst du das Sie zum Beispiel die Behandlung von chronisch sehr, sehr viele Ärzte, ich kenne das System in- und
ZEIT: Was bringt es dann, die Kliniken in drei nicht auch machen? Die erste Generation sol- Kranken, etwa Patienten mit Rheuma. Wenn auswendig. Ich kritisiere nicht die Menschen, die
Stufen einzuteilen, Herr Lauterbach? Sie wollen cher Patienten hat für den wirt­ schaft­lichen Strukturen knapp werden, weil Krankenhäuser im System arbeiten. Ich will das System ändern.
sie sortieren von Grundversorgern über Schwer- Druck einen hohen Preis bezahlt. Sie wissen so aufgeben müssen, werden wir Wartelisten bekom-
punktkliniken bis zu Großkrankenhäusern wie gut wie ich, wie viele Schlaganfälle dabei ent- men. Deswegen frage ich mich: Können Sie Ihr Die Fragen stellten Tina Hildebrandt und
Uni-Kliniken. standen sind. Wenn dieser Druck wegfällt, kön- Leistungsversprechen wirklich halten? Carla Neuhaus
Kliniken sollen bundesweit eingruppiert
werden ...
... und nur diejenigen der bis zu 128 Leistungs-
gruppen behandeln, für die sie zertifiziert sind.
Geld gibt es nicht mehr nur für behandelte Fälle,
sondern auch für bereitgehaltene Kapazitäten.
Fallpauschale
Vorhalte- 40
Level 1 Level 2 Level 3
pauschale
60
%
(inkl.
Grund- Regel- und Maximal- Pflegebudget)
versorgung Schwerpunkt- versorgung
versorgung ZEIT- GRAFIK/Quelle: Bundesgesundheitsministerium/Regierungskommission
6 POLITIK 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

NACHRUF

Er konnte die Welt kaufen

Silvio Berlusconi gab sich als großbürgerlicher Revolutionär, der das Wesen der Italiener nach seinem Ebenbild zu
formen suchte. Doch an eines hat er nicht gedacht: Einen Nachfolger für sein Lebenswerk zu finden  VON EZIO MAURO

A
ls Silvio Berlusconi am 16. Januar mals, das sei ein Witz, den man getrost vergessen
1994 ankündigte, er wolle sich nun könne – es war jedoch eine Prophezeiung. Ein
selbst »hinunter aufs Spielfeld« be­ Projekt, das dem der Democrazia Cristiana entge­
geben und für die nächsten Wahlen gengesetzt war, die bisher die Interessen der Rech­
kandidieren, da war es, als bräche ten des Landes in sich aufgesogen und in die poli­
eine fremde Welt herein, die das Schicksal Ita­ tische Mitte geleitet hatte – während der »Cavalie­
liens umkrempeln sollte. Berlusconi saß vor sei­ re« die moderaten Gewohnheiten der italienischen
ner Privatkamera, über die man des wärmeren Mitte abfing, sie nach rechts umleitete und radi­
Farbtons wegen einen Damenstrumpf gezogen kalisierte. Berlusconi scherte sich nicht um Ge­
hatte, um ihn herum Fotos seiner Familie, und schichte, kannte keine Skrupel gegenüber der Tra­
er gab lächelnd ein Geständnis ab, das man bis dition, und als es ihm zupasskam, die Stimmen
dahin von einem Politiker in Italien noch nicht der postfaschistischen Fini-Partei einzukassieren,
gehört hatte: »Ich liebe mein Land.« tat er das, ohne je eine ideologische Umkehr und
Dies war der Anfang einer dreißig Jahre wäh­ den Bruch mit der neofaschistischen Vergangen­
renden Ära, die sich tief in die italienische Poli­ heit der Partei zu fordern. Als der »neue Mann«
tik, in die Institutionen und vor allem in das Le­ kümmerte sich Berlusconi nicht um die politi­
ben der Bürger einprägen sollte. Ganz Italien lag schen und institutionellen Gepflogenheiten. Er
damals in Trümmern, wohin man auch sah. Der nahm sich einfach, was er brauchte, mit der Non­
Prozess der Mani pulite, der »sauberen Hände«, chalance eines Akrobaten und mit jener Art von
der die Schmiergeldzahlungen der Industrie an Skrupellosigkeit gegenüber dem System, die ver­
die Politiker aufarbeitete, hatte das schützende letzend und innovativ zugleich ist; er schaffte es,
Dach vom traditionellen Gebäude der Politik von beidem zu profitieren. Als es notwendig wur­
gerissen, hundertjährige Parteien wie die PSI de, den Nationalismus von Finis Alleanza Nazio­
(Partito Socialista Italiano) von ihren Anführern nale mit den Separationsbestrebungen der Lega
enthauptet und Machtgebilde wie die DC (De­ Nord zu vereinen, gelang ihm das. Als er, zur Un­
mocrazia Cristiana), die das Land seit Jahrzehn­ zeit, sich daranmachte, eine wiederaufgelegte
ten regiert hatten, zertrümmert. In diese Bresche, Form des Antikommunismus zu predigen, nahm
die der Staatsanwalt Antonio Di Pietro unter das Land erstaunt zur Kenntnis, dass man damit
dem Beifall des Volkes geschlagen hatte, schlüpfte immer noch Gläubige um sich scharen konnte,
nun dieser Silvio Berlusconi, der wie gesagt aus obwohl der Eiserne Vorhang längst gefallen war.
einer anderen Welt zu kommen schien: der Welt Als er versuchte, nach seiner politischen Nieder­
des Business, des Unternehmertums, des Sports, lage und dem Ausschluss aus dem Parlament wie­
des Fernsehens. Er schien entschlos­ deraufzuerstehen, glaubten nicht ein­
sen, die Macht an sich zu reißen und mal seine treusten Anhänger daran,
die moderaten Parteien zu ersetzen, dass er das schaffen würde. Aber wie
die sich sofort in nichts auflösten. Berlusconi selbst es ausdrückte: »Bei
Vor allem aber wollte er das Wesen der Überprüfung der Tatsachen fan­
der Italiener verändern und es nach den sie, dass das Grab leer war.«
seinem Ebenbild formen. Dieser Mann, der sich vom privi­
Dafür musste er sich selbst als einen legierten Anhänger einer moderaten
Self­made­man darstellen, als einen Politik zum König der radikalen
Mann der Praxis, ganz der Welt des Rechten mauserte, hatte zwei Schwä­
Business entsprungen: während er in chen. Als er beschloss, die Macht zu
Wahrheit längst ein Günstling des Silvio Berlusconi erobern, waren es in Wahrheit die
Systems war, mit eigenen Fernseh­ mit drei Jahren Schulden seiner Unternehmen, die
sendern, von Bettino Craxi, dem ihn antrieben; und dieser Interessen­
Partei­vorsitzenden der Sozialisten, abgesegnet, konflikt hat seine ganze lange und mühselige Re­

Foto: Ferdinando Scianna/Magnum Photos/Agentur Focus; kl. Fotos: ddp (l. o.); imago (l. u.); Reuters (r. u.)
protegiert und legalisiert. Viel eher als der »neue gierungszeit hindurch auf ihm gelastet und machte
Mann« war er der Kronprinz der dahinsiechenden ihn zum Sklaven seiner selbst. Und vor allem:
Prima Repubblica, der italienischen Ersten Repu­ Obwohl Berlusconi ein hervorragender Wahl­
blik, und ihrer moderaten Kräfte. In seinen vielen kämpfer war (außer im Kampf gegen Prodi, dem
Leben hat Berlusconi durchaus etwas Originelles er zweimal unterlag), entpuppte er sich als ein mi­
und sehr Persönliches in die Politik einzubringen serabler Regierungschef. All die theatralischen
gewusst: den Instinkt eines Außenseiters, der Wendungen, die überraschenden Fernsehauftritte
ebenso mit dem politischen Dienstpersonal wie wenige Stunden vor der Abstimmung, die hem­
mit dessen Schattenmännern umzugehen wusste, mungslose Propaganda mittels seiner Privatsender
die sein Leben begleiteten – so wie der »Stall­ konnten die Wahrheit nicht verbergen: nämlich
knecht« Vittorio Mangano, der von Berlusconi in dass seine liberale Revolution ins Leere gelaufen
dessen Villa in Arcore angestellt worden war, Ver­ war, dass sie eine gewiss neue, aber ebenso gewiss
bindungen zur Mafia hatte, von Marcello dell’Utri mittelmäßige regierende Klasse hervorgebracht
rekrutiert worden war und seit 1978 als Mitglied hatte, die eher für einen Hofstaat geeignet schien
Nr. 625 der extrem rechten Freimaurerloge P2 an­ denn als Regierung einer Demokratie.
gehörte, die die Machtverhältnisse in Italien be­ Es war ein Experiment der modernen west­
stimmen wollte. Doch die Tatsache, dass Berlus­ lichen Gesellschaften mit dem Ergebnis, dass eine
coni nicht zum traditionellen Establishment ge­ populistische Regierung etabliert wurde. Dieses
hörte, erlaubte es ihm, die Rolle eines großbürger­ Experiment funktionierte mittels eines stillschwei­
lichen Revolutionärs zu spielen, der unter die Po­ genden Pakts zwischen dem erzitalienischen An­
litiker geht, um deren Rituale zu zerstören, und führer und seinem Volk: Der Staat gibt euch
sich damit beim Volk beliebt macht. größtmögliche Freiheit, euren Dingen nachzu­
In dieser Hinsicht kann man sagen, dass Ber­ gehen, und bekommt dafür eine nicht nachlassende
lusconi die weltweite Welle des Populismus losge­ Begeisterung für den Führer bei einem periodisch
treten hat. Er hat das Bild des neuen charismati­ wiederkehrenden, gleichbleibenden Votum, das
Silvio Berlusconi,
schen rechten Politikers modelliert, das wie auf ihm die Kontinuität seiner Macht garantiert. Und
1936–2023, Mitte
Trump zugeschnitten war: in der strikten Ableh­ all das besiegelt mit dem Spruch von der »Salbung All das zerstob und verflog mit dem Dieses Werk endete im Leeren, da es
der 1980er-Jahre in
nung der Eliten, der Respektlosigkeit gegenüber durch den Herrn«, der den Fürsten und sein Volk Verlust der Macht und offenbarte so sehr mit dieser einen Person ver­
Arcore, dem Labor
den kulturellen Umgangsformen, dem ständigen zu einem Bund zusammenschweißte, der jeder schließlich die letzte traurige Wahrheit: wachsen war, dass es von niemand
des künftigen
Verstoß gegen die Regeln, dem Zerschlagen der Kontrolle und jeder Regel enthoben war, skrupel­ Der Berlusconismus ist eine Praxis, anderem fortgeführt werden kann. Es
Berlusconismus
politischen Korrektheit. Das sind die wesentlichen los und zuweilen grausam in der medialen Ver­ aber er ist keine Kultur, die fähig wäre, ist, als sei der »Cavaliere« an seiner­
Elemente des Trumpismus. Alles das gab es bereits nichtung der Widersacher – und zu allem fähig. zu überleben und sich fortzupflanzen. eigenen Vorzüglichkeit gescheitert: Er
in Arcore, in Berlusconis Villa, wo er private Par­ »Denn er«, flüsterte ein Mitglied der Berlusconi- Dieses Abenteuer hat jedoch dreißig hat alles und alle nach seinem Eben­
tys und politische Anlässe feierte: Dort, in diesem Familie mir damals zu, »kann sich die Welt kau­ Jahre lang das Land erschüttert, indem bild geformt, hat aber nicht an seinen
ruhelosen Labor des Berlusconismus, wurde all fen.« Dies ist vielleicht das zugleich materielle und es die politischen Gegensätze aufhob; Nachfolger gedacht. Denn jedes Mal,
das schon im Voraus erprobt. Man benutzte die metaphysische Geheimnis seiner Macht. denn diese Kultur schuf ja nicht nur wenn ein Bewerber auftauchte, ver­
Giorgia Meloni mit
Methoden des Fernsehens, bot mit jeder »Sen­ Angesichts der Schwierigkeiten gab man sich
dung« etwas Neues und Ungewöhnliches. Man der Maßlosigkeit hin, dem ostentativen Exzess; als Berlusconi hat ein »rechtes Lager«, wie man das zu
nennen pflegt, sondern auch eine Ge­
Berlusconi
kannte Berlusconi ihn. Auf diese­
Weise blieb die Zukunft im präsidia­
bekräftigte mit jedem Auftritt das Sensationelle, könne der »Cavaliere« sich nicht mit seiner legiti­ gen-Welt, in der sich, den europäisch- len Zweireiher stecken, der ganz und
das Unnormale des »Cavaliere«, der seinen Geg­ men Macht begnügen, sondern brauche zusätzlich
nern wie ein permanenter Skandal erschien und ein gewisses Quantum an gesetzeswidriger und
das Bild des westlichen Wertekanon hinter sich lassend, alle An­ gar auf das Maß seiner Figur zurechtgeschnitten
tagonisten im Zeichen einer ungenierten und regel­ war. So sehr, dass dem Empfinden des »Cavaliere«
seinen Anhängern wie ein Garant für Unverwech­ deshalb außergewöhnlicher Befehlsgewalt. Auch
selbarkeit. die Missachtung der Grenzen zwischen dem Priva­
charismatischen losen politischen Praxis versammelt haben. Eine nach die einzig authentische Nachfolge in der un­
Abnormität von solchem Ausmaß, dass der »Cava­ möglichen Wahl seiner Tochter Marina bestanden
Wie kann man diesen Instinkt beschreiben? In ten und dem Öffentlichen hat ihn in eine Unfähig­
der Welt des Business äußerte er sich in einer au­ keit zum Maßhalten gestürzt, die schließlich damit rechten Politikers liere«, während er die Gesetze ad personam vor­ hätte. Eine dynastische Hypothese, durch die der
bereitete, dem Land zu sagen schien: Du wirst Interessenkonflikt vollständig dem Schicksal und
ßerordentlichen Wendigkeit, einer Art Raublust, endete, dass seine Frau Veronica Lario ihn in der nicht entkommen, die Sache ist unlösbar, also ver­ der familiären DNA überlassen worden wäre und
umgeben von dem niemals gelüfteten Geheimnis, Repubblica bezichtigte, politische Ämter an junge
aus welchen Quellen sich so viel Erfolg wohl­ Frauen zu vergeben, um deren Gunst zu erwerben.
modelliert, das leibe sie dir ein. Du wirst zwar entstellt, aber auch die Anomalie sich wie die Erbsünde in Ewigkeit
befriedet daraus her­vor­gehen, und alles wird am fortsetzen würde.
speisen könnte. In der Welt der Politik zeigte er Durch diese Anklage der Ehefrau kam es zu den
einen natürlichen Hang nach rechts, »Zehn Fragen an Silvio Berlusconi«, wie auf Trump Ende zu einer neuen, unförmigen Schlüssigkeit zu­
sammenfinden.
Es liegt etwas Faustisches und Heidnisches in
dieser abergläubischen Suche nach Unsterblichkeit,
war paternalistisch, jedoch grausam;
herrschsüchtig, aber hinter einer Mas­
die die Repubblica regelmäßig veröf­
fentlichte und deretwegen Berlusconi zugeschnitten war Dieses Ende konnte vermieden werden, auch die am 12. Juni nach einem letzten Kampf zum Er­
wenn Berlusconis Forza Italia mit diesem selbst­ liegen kam.
ke des Lächelns. Im Jahr 1992 fragte die Zeitung schließlich verklagte, mit mörderischen Vorgehen ihre Zukunft verspielt
ich Berlusconi, ob es wahr sei, dass er dem Ergebnis, dass er den Prozess ver­ hat. Aber es war die Gegenwart, die er exorzistisch Aus dem Italienischen von
für das Bürgermeisteramt von Mai­ lor: Die Fragen bezüglich der Grenz­ mit der Ewigkeit vertauschte, in welcher der »Ca­ Sabina Kienlechner
land kandidieren wolle. Er antworte­ überschreitungen seiner Macht waren valiere« für immer leben wollte, und in der er im­
te, das sei Unsinn. »Wenn ich mich legitim. Es folgte eine Kaskade von mer wieder zu dem einen Punkt zurückkehrte, an Siehe auch Feuilleton, S. 42: Ein Interview mit
für die Politik entscheiden würde«, Prozessen und ein rabiater Kampf mit dem alles begonnen hatte: zu sich selbst. So haben der Schriftstellerin Francesca Melandri
sagte er, »würde ich eine reaganisti­ der Justiz, bei dem die Exekutive die wir es heute mit einem un­voll­ende­ten Werk zu über die vielen Erfolgsgeheimnisse Berlusconis
sche Partei gründen, von der Mehr­ legislative Macht benutzte, um der tun, einer beispiellosen Anhäufung von Macht
heit gewählt werden und die Regie­ Sich nahe: Putin judikativen die Zügel anzulegen, mit verschiedenster Art – der Wirtschaft, der Finan­ Ezio Mauro war von 1996 bis 2016 Chefredakteur
rung übernehmen.« Ich meinte da­ und Berlusconi besten Grüßen von Montesquieu. zen, der Me­dien und zuletzt vor allem der Politik. der italienischen Tageszeitung »La Repubblica«
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 POLITIK 7

Torten
der Wahrheit
VON KATJA BERLIN

Präventionsarbeit
Wer sexualisierte Wem man Verhal-
Gewalt ausübt tenstipps zur Vermeidung
sexualisierter Gewalt gibt

Frauen Männer Frauen Männern

Fotos: Polaris/ddp (l.); Greg Lovett/imago (r.)

Wer bei strukturellem Miss-
brauch vorher hätte wissen
müssen, was da passiert

Geheimakten aus dem Trump-Fans vor dem

Weißen Haus in Trumps Gerichtsgebäude in
Club Mar-a-Lago Miami 20-jährige Musikfans
Angehende Schauspielerinnen
Junge Influencerinnen
Erwachsene Männer im Umfeld der Täter

»Wenn ihr Trump Der EU-Asylkompromiss

kriegen wollt«
Asyl
In Miami hat ein weiterer Prozess gegen den Ex-Präsidenten begonnen –
Kompromiss
mit unabsehbaren Folgen für den US-Wahlkampf  VON PAUL MIDDELHOFF

D
Berichtigung
Miami einer »Hexenjagd«, des »furchtbarsten Macht- der republikanischen Trump-Anhängerin Kari Lake Nach seinem Auftritt bei Gericht rollt die Trump-
ieses Mal ist die Straße missbrauchs in der amerikanischen Geschich- – »Wenn ihr Präsident Trump kriegen wollt, müsst Kolonne durch die Straßen Miamis, vorbei an seinen
vor dem Gericht von te«. Und irgendwann könnte der Vorwurf ihr erst an mir und 75 Millionen weiteren Amerika- Unterstützern. Man sieht den Ex-Präsidenten durch
Palmen gesäumt. Wie- auch bei den Amerikanern hängen bleiben, die nern vorbei. Und viele sind Mitglied bei der NRA«, die dunkel getönten Scheiben winken, dann hält er
der rollt Donald Trump ihn zwar niemals wählen würden, aber mitt- also bewaffnet –, was, wenn aus diesen Worten zwei Daumen in die Höhe. »Fuck the media«, ruft Vergangene Woche ist uns bei einer Torte
in einer Auto-Kolonne lerweile durchaus Zweifel bekommen, ob es im einmal Wirklichkeit wird und Trumps Anhänger ein Mann mit dunkler Sonnenbrille, »Trump ist der Wahrheit ein Farbfehler unterlaufen.
heran. Zum zweiten Gericht und bei Wahlen wirklich mit rechten auf eine Verurteilung mit Gewalt reagieren? Es gibt frei.« Eine Frau, die ein T-Shirt trägt, auf dem Die Originalfassung sagte aus: Frauen, die
Mal innerhalb von drei Dingen zugeht. Den zuständigen Sonder­ den Fahrplan für einen weiteren Wahlsieg Bidens »infowars.com« steht, wirft Trump hinter dem dicken halbtags arbeiten, arbeiten ganztags, aber
Monaten muss er Fingerabdrücke abgeben, ermittler Jack Smith hatte Trump wenige Stun- noch. Aber die politische Lage ist deutlich unsiche- Panzerglas Küsse zu. Den USA steht ein düsteres werden nur für den halben Tag bezahlt.
wieder plädiert er vor einem Richter auf den vor dem Hearing einen »Irren« und einen rer geworden. Wahljahr bevor. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
nicht schuldig, zuerst vor einem Bezirksge- »Verbrecher« genannt.
richt in New York, nun vor einem Bundes- Schwer vorstellbar, dass sich die amerika- ANZEIGE
gericht in Florida. nische Öffentlichkeit im Wahljahr 2024 be-
47 Minuten dauert die Anhörung, Trump sonders für Joe Bidens Klima-Pläne und sein
selbst sagt kein Wort, einer seiner Anwälte­ Bemühen um niedrigere Arzneimittelkosten
erklärt: »Wir plädieren selbstverständlich auf interessieren wird, wenn Trump alle paar­
nicht schuldig.« Während seines Auftritts im Wochen vor einem Richter aussagen muss und
Gerichtssaal verschickt Trumps Team per Mail verbal um sich schlägt. Wenn er eine Wahl-
einen Spendenaufruf: »Sie können mich­ kampf-Rallye in Ohio abhält und dort seinen
anklagen, sie können mich verhaften, aber ich Anhängern erklärt, dass es die Regierung­
weiß ... dass ich ein unschuldiger Mann bin.« eigentlich auf jeden einzelnen von ihnen abge-
Dass ein ehemaliger Präsident vor einem sehen habe, er, Trump, sich aber bis zum bitte-
Bundesgericht angeklagt wird, gab es noch nie. ren Ende schützend vor sie stellen werde. Um
Trotzdem setzt bereits eine Art Gewöhnungs­ dann wieder in ein Flugzeug zu steigen, weil in
effekt ein, die Szene wirkt fast schon vertraut: die Manhattan im Fall der Schweigegeldzahlun-
Trump-Anhänger, die Gegendemonstranten, die gen an die Pornodarstellerin Stormy Daniels
Polizei und unzählige Kameras. Tatsächlich das Geschworenengericht auf ihn wartet.
könnte das, was jetzt in Miami verhandelt wird, Wie kein Präsident vor ihm hat Donald
enorme Folgen haben. Nicht nur für Trump Trump die Institutionen der amerikanischen
selbst und seine Kandidatur, sondern für die Demokratie beschädigt, sehr wahrscheinlich
Demokratie in Amerika. In Miami könnte sich hat er sich dabei auch strafbar gemacht. Aber
entscheiden, ob mitten im Wahljahr 2024 einer auch wenn die einzelnen Verfahren gegen ihn
der beiden Präsidentschaftskandidaten zu einer juristisch berechtigt sein mögen, vielleicht­
möglicherweise jahrzehntelangen Haftstrafe ver- sogar zwingend sind, entwickelt die Summe
urteilt wird. der Anklagen einen korrosiven Effekt, der das
Trump wird vorgeworfen, dass er nach sei- Vertrauen in den Staat noch weiter anfrisst.
ner Zeit im Weißen Haus streng geheime­ Auch wenn es – anders als von Trump und

Auf der Fahrt in den Sommerurlaub immer

Regierungsdokumente in seinen Club Mar-a- seinen Anhängern behauptet – keine Hinweise
Lago in Florida bringen ließ, sie dort teils auf darauf gibt, dass die Prozesse gegen ihn wirklich
dem Gäste-WC lagerte, sich vor Unterstützern politisch motiviert sind, so geraten sie durch die
mit den Geheiminformationen brüstete und Umstände doch zu hochpolitischen Verfahren.
dann das Justizministerium über den Verbleib Wenn in einem Zwei-Parteien-System einer der
der Dokumente belog. Während der Richter beiden Kandidaten kurz vor der Wahl zu einer
informiert mit der digitalen Reisebegleitung.
im Gerichtssaal die Anklage erläutert, warten oder sogar mehreren Haftstrafen verurteilt wird,
Trumps Unterstützer draußen vor dem­ ist das zwar möglicherweise rechtens, aber doch
Gericht in der feuchten Hitze. Den Tag über fatal. In einem hochpolarisierten System gibt es
haben sie, von TV-Journalisten aus aller Welt keine neutralen Zonen, und auch das Recht wird
befragt, in Mikrofone gebrüllt, haben ihre fast notwendig politisch. Die DB wird in den nächsten Jahren in großem Umfang Und das ganz aktuell mit Echtzeit-Informationen. Ist die
Follower im Netz per Livestream auf dem In Miami trägt ein Mann ein Schild herum, das Schienennetz sanieren. Um die Auswirkungen von Funktion „Benachrichtigungen zur Reise“ aktiviert,
Laufenden gehalten, Gegendemonstranten auf dem die Sterne der amerikanischen Fahne Baumaßnahmen für unsere Kund:innen so gering wie mög- erhalten Fahrgäste eine Push-Nachricht oder E-Mail zu
niedergeschrien. Sie tragen Fuck-Biden-Schil- durch eine Banane ausgetauscht sind. Bananen- lich zu halten, haben wir in den letzten Jahren massiv in Abweichungen vor oder während der Zugfahrt.
der und Sonnenhüte, ein Mann schwitzt republik Amerika – dieser Eindruck könnte sich den Ausbau unserer digitalen Fahrgastinformationen
durch sein Uncle-Sam-Kostüm, eine Frau in weit über das Trump-Lager hinaus in den Köp- investiert. Unsere Fahrgäste werden damit zu jedem Aktuell stellt die DB ihre digitalen Kanäle auf eine neue
Hotpants und »First Ladies«-Bikinioberteil fen der Wähler festsetzen. Sie müssen dazu Zeitpunkt ihrer Reise frühzeitig, konsistent und verlässlich und noch leistungsfähigere technologische Plattform um.
filmt alles mit. Es sind einige Hundert, viel- Trump nicht einmal wählen. Es ist der ohnehin informiert und begleitet. Zudem wird die Reisebegleitung noch viel einfacher und
leicht tausend Menschen – deutlich weniger schwindende Glaube an die Fairness der
intuitiver.
als von der Polizei erwartet. Trump lässt sich Gesetze,­die Unabhängigkeit der Gerichte und
Bereits heute bietet daher unsere Mobilitäts-App
an Freunden und Gegnern vorbei durch die die Integrität der Parlamente, der noch weiter
Tiefgarage ins Gericht fahren. zu erodieren droht. DB Navigator vor und während der Reise Funktionen Unser Tipp: Die Reisebegleitung der Zukunft inkl. der
Es wird nicht sein letzter Auftritt vor Ge- Bis vor wenigen Monaten schien der Fahrplan einer digitalen Reisebegleitung. Fahrgäste werden über innovativen Reisevorschau und der Benachrichtigungen
richt sein. Gut möglich, dass in vier oder sechs bis zur nächsten Wahl relativ klar: Joe Biden, Änderungen zu ihrem Reiseverlauf informiert und erhal- zur Reise schon heute in der zum Ausprobieren bereit-
Wochen die Fernsehkameras vor einem Straf- obwohl unbeliebt und alt, gewinnt am Ende ten auf Wunsch Erinnerungen zu Ein- und Umstiegen. gestellten App Next DB Navigator testen!
gericht in Atlanta oder in Washington, D. C., doch die Wahl gegen den immer wilder um sich
aufgebaut werden, dort laufen weitere Ermitt- schlagenden Trump. Schließlich hat Biden es
lungsverfahren gegen Trump, eines wegen schon einmal geschafft und Trump seitdem
Mehr Informationen unter: bahn.de/benachrichtigungen
möglicher Wahlfälschung, das andere wegen keine Sympathien hinzugewonnen. Was aber
seiner Rolle beim Sturm auf das Kapitol. Jedes passiert, sollte Trump vorher mehrfach verurteilt
Mal wird er wieder behaupten, er sei Opfer­ werden? Was geschieht, wenn aus den Worten
8 POLITIK 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Fotos: Issio Ehrich für DIE ZEIT

Eine Frau trägt Hilfsgüter auf dem Kopf und ihr Kind auf dem Rücken durch ein Flüchtlingslager im Tschad nahe der sudanesischen Grenze

Als die Teufel auf Pferden kamen

Der Krieg zwischen zwei Generalen im Sudan entflammt einen alten, ethnisch aufgeladenen Konflikt in der Region Darfur  VON ISSIO EHRICH

S
Koufroun
eit Saddam Mohammed Ahmed
denken kann, arbeitete seine große
Schwester in ihrem Garten. Sie
liebte das Stückchen Erde in Ten-
delti, ihrem Heimatort im Westen
des Sudan. Frühmorgens, wenn
die Sonne noch nicht so hoch
stand, drückte sie Samen und Keimlinge in den
rotbraunen Sand. Einige Monate später erntete sie
Tomaten, Okraschoten und Zwiebeln.
Am Morgen des 17. Mai ritten Männer durch
Tendelti. Sie hatten Maschinengewehre, Raketenwer-
fer, Granaten. »Es waren die Dschandschawid«, sagt
Ahmed, »die Teufel auf Pferden«. Die Männer, die
von Augenzeugen übereinstimmend als »Weiße« be-
schrieben werden, schossen auf die schwarzafrikani-
schen Bewohner, brannten ihre Häuser nieder. Der
Angriff dauerte stundenlang. Eine Kugel traf Ahmeds
Schwester, mitten ins Herz. »Sie wurde in ihrem
Garten ermordet«, sagt Ahmed.
Im Westen des Sudan, in der Region Darfur,
entflammt ein alter, ethnisch aufgeladener Kon-
flikt, der einst die Weltöffentlichkeit umtrieb.
Er begann vor 20 Jahren, als sich Rebellengrup-
pen gegen das Militärregime in der Hauptstadt
Khartum erhoben. Und die Staatsmacht mit aller
aus dreckigen Planen, Stroh- und löchrigen Reet-
Hütten. Ahmed blickt auf eine vertrocknete Ebene
hinaus. Da wachsen rote Büsche mit weißen Dornen,
ein paar Gummibäume, deren giftiges Sekret Men-
schen das Augenlicht rauben könne, wie die Be-
wohner Koufrouns behaupten. Zu seinen Füßen
wölbt sich ein Erdhaufen. Das Grab seiner Schwester.
»Ich habe sie oft in ihrem Garten besucht«, sagt Ah-
med. »Jetzt besuche ich sie oft hier.«
Hinter Zeynap Mohammed Ahmeds letzter­
Ruhestätte liegt ein weiteres frisches Grab. Und noch
mehr in der näheren Umgebung. In den vergangenen
Tagen haben Vertriebene aus Tendelti mehrere Tote
über die Grenze nach Koufroun getragen. Sie wollten
die Leichen ihrer Verwandten nicht zurücklassen, sie
sagen, die Dschandschawid ließen die getöteten
Schwarzen auf den Straßen verrotten.
In Darfur wuchs die Bevölkerung schnell,
das nutzbare Land allerdings schrumpfte
Ahmed ist groß, drahtig, trägt ein verwaschenes
T-Shirt mit Pizza-Hut-Aufdruck. Mit einem Ku-
gelschreiber hat er sich vier Buchstaben auf die
Hand gekritzelt: FALL. Er lernt Englisch. Weil er
seit seiner Flucht nicht mehr mit Stift und Papier
am Schreibtisch sitzen kann, schreibt er sich die
nieder, vernichteten die Lebensgrundlagen der Be-
wohner. Sie enthaupteten ihre Opfer, warfen Leichen-
teile in Brunnen und blockierten so den Zugang
zum raren Wasser. Einer ihrer Führer damals war
Hemedti. Vor 20 Jahren waren er und Burhan Ver-
bündete im Darfur-Krieg. Jetzt sind sie Todfeinde.
Schon 2003 kamen die Dschandschawid auch
nach Tendelti. Ahmed und seine Familie versteckten
sich damals in ihren Häusern. Ein Onkel wurde er-
wischt und ermordet.
»Seit meiner Kindheit gab es in Darfur viel-
leicht zwei oder drei Jahre lang Frieden«, sagt Ah-
med. Er sitzt jetzt in seiner eilig zusammengezim-
merten Reet-Hütte in Koufroun. Sein neues Zu-
hause, in dem es außer ein paar Teppichen und
einer hölzernen Bank nicht viel gibt. Ahmed
krempelt den Ärmel seines T-Shirts hoch. Über
seine rechte Schulter verläuft eine zehn Zentimeter
lange Narbe, Zeugnis eines Überfalls von »Wei-
ßen«, wie Ahmed die Dschandschawid nennt.
Ahmed und andere Geflüchtete in Koufroun diffe-
renzieren kaum zwischen arabischen Milizen, die
damals trotz Präsenz einer UN-Blauhelm-Mission
weiter plünderten, und arabisch dominierten
rika
Af
Gangs, die Raubzüge zum politischen Akt erklä-
ren. Letztlich sind die Grenzen auch fließend.
2014 hatten »die Weißen« Ahmeds kleinen Elek-
troladen in Tendelti angegriffen. Als er sich wei-
gerte, seine Ware herzugeben, stach einer von ih-
nen zu. »Damals wollte ich nicht fliehen«, sagt er.
Fünf Jahre später begannen Massenproteste
gegen die Diktatur Omar al-Baschirs. In Khartum,
in Port Sudan, in Darfur und anderen Teilen des
Landes gingen Hunderttausende auf die Straße.
Als Al-Baschir offensichtlich nicht mehr zu halten
war, stürzten ihn seine beiden wichtigsten Genera-
le: Burhan und Hemedti, dessen Dschandschawid
von Al-Baschir einige Jahre zuvor zu einer mächti-
gen paramilitärischen Einheit befördert worden
waren: den Rapid Support Forces.
Beide sabotierten den Übergang zu einer zivi-
len, demokratischen Regierung – bis am 15. April
ihre lang schwelende Konkurrenz um wirtschaftli-
che, politische und militärische Vormacht in einen
offenen Krieg eskalierte.
»Wenn Hemedti gewinnt«, sagt Ahmed, »wird
es in Darfur so schlimm wie 2003.« Viele Flücht-
linge in Koufroun halten Hemedti für einen ras-
sistischen Ideologen, sie glauben, er wolle Afrika in Neben seiner Hütte hat er einen kleinen türkisfar-
einen Kontinent unter arabischer Kontrolle ver-
wandeln. Betrachtet man seinen Aufstieg, wirkt er
Vertriebene aus Darfur haben sich hier niedergelas-
sen. Das Land ist arm, politisch fragil und fraktio-
niert. Hemedtis Netzwerke wie die seiner Gegner
reichen bis in die Hauptstadt N’Djamena.
Ali Hamchi, der Polizeichef, hat gerade andere
Sorgen: Als vor ein paar Tagen noch in Tendelti
gekämpft wurde, peitschten die Kugeln bis nach
Koufroun. Sogar das Geschoss eines Raketen­
werfers schlug in dem Ort ein. »Wenn wir nicht
hier wären, würden die Dschandschawid auch
Koufroun überfallen«, sagt er. »Schon früher ha-
ben sie das oft getan.«
Seit dem Beginn des Krieges zwischen Hemedti
und Burhan haben die tschadischen Sicherheits-
kräfte ihre Präsenz an der Grenze massiv verstärkt –
auch, weil man fürchtet, Hemedti könnte Kämpfer
für einen Coup gegen den tschadischen Macht­
haber Mahmat Idriss Deby mobilisieren. Im
Schatten der Mangobäume am Ufer liegen Poli­
zisten und Soldaten – teils mit schweren Waffen.
Immer wieder fahren Pick-ups mit aufgebockten
Maschinengewehren durch Koufroun.
Er fühle sich halbwegs sicher, sagt Saddam Mo-
hammed Ahmed, der Geflüchtete aus Tendelti.
benen Stand aufgebaut. Sein neuer Laden. Er konnte
von tschadischen Geschäftsleuten ein paar Handys

Härte zurückschlug. Mehrere Hunderttausend
Menschen wurden getötet. Mehrere Millionen
mussten fliehen. Der Internationale Strafgerichts-
hof in Den Haag erhob Anklage gegen den dama-
ligen Präsidenten Omar al-Baschir – unter anderem
wegen Völkermords. George Clooney, Angelina
Jolie und Brad Pitt engagierten sich für Darfur,
Kommentatoren der New York Times forderten
eine militärische Intervention, um das Morden zu
stoppen. Schließlich dämmten Sanktionen, Ver-
handlungen und eine UN-Friedensmission den
Krieg ein. Die Gewalt hörte nie auf, doch sie nahm
ab und mit ihr das internationale Interesse.
Doch dann eskalierte Mitte April ein Macht-
kampf zwischen zwei Generalen, dem Chef der
Streitkräfte, Abdel Fattah Burhan, und dem Führer
der paramilitärischen »Rapid Support Forces«, Mo-
hamed Dagalo, genannt Hemedti. Und damit keimte­
auch die Gewalt in Darfur wieder auf. Während aus
dem umkämpften Khartum Videos in die sozialen
Medien und an Nachrichtensender gelangen, gibt es
aus dem Westen des Sudan so gut wie keine Bilder.
Für Journalisten ist die Region momentan nicht
zu erreichen. Wer etwas erfahren will, muss zu den
Flüchtlingslagern im Nachbarland Tschad. Mehr als
100.000 Menschen haben sich laut dem Flüchtlings-
hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in den
vergangenen Wochen schon dorthin über die Grenze­
gerettet. Jeden Tag werden es mehr.
Es ist Ende Mai, noch früh am Morgen. Seit dem
Mord an Ahmeds Schwester sind nur ein paar Tage
vergangen. Ahmed, 30 Jahre alt, steht am Rande von
Koufroun, dem Nachbarort Tendeltis auf tschadi-
scher Seite. Koufroun hatte mal 2500 Bewohner.
Nun haben sich allein hier mehr als 8000 Geflüch-
tete niedergelassen. Eine Kleinstadt ist entstanden –
Verben auf die Haut. Am Grab seiner Schwester
wirkt er tatsächlich so, als würde er den Halt ver-
lieren, er sinkt in sich zusammen, hockt auf dem
Boden, fingert im Sand herum. Dabei ist eigent-
lich schon sein ganzes Leben ein freier Fall.
Saddam Mohammed Ahmed kam 1993 zur Welt.
In seiner Heimat Darfur wuchs die Bevölkerung
schnell, das nutzbare Land allerdings schrumpfte –
aufgrund von Überweidung, Dürren und versiegen-
den Wasserquellen. Immer wieder gab es Streit zwi-
schen Hirten und Ackerbauern, immer wieder kam
es auch zu Gewalt. Die Viehhalter identifizieren sich
meist als Araber, die Landwirte bezeichnen sich oft
als schwarz. Die ethnischen Grenzen waren jedoch
nie eindeutig, schon wegen der Mischehen, die in
friedlicheren Zeiten geschlossen wurden. Wer als
»schwarz« oder als »Araber«, als »weiß« gilt, ist oft
eher eine Zuschreibung als ein ethnisches Merkmal.
Ahmed träumte davon, Fußballprofi zu wer-
den. Dann begann 2003 der Aufstand. Da war er
zehn Jahre alt.
Darfur ist reich an Rohstoffen wie Gold und Erd-
öl. Die Gewinne aus deren Ausbeutung flossen nach
Khartum in die Kassen einer arabisch dominierten
Elite, während die Region verelendete. Gruppen wie
die Masalit, die Fur und Zaghawa beschuldigten die
Zentralregierung, sich bei Landkonflikten auf die
Seite der arabischen Stämme zu stellen. Als der Auf-
stand schwarzafrikanischer Rebellen begann, ließ
Omar al-Baschir, selbst ein Mitglied eines arabischen
Stammes, Stellungen der Rebellen durch seine Luft-
waffe bombardieren. Einer der befehlshabenden
Offiziere war damals Abdel Fattah Burhan, der heu-
tige Chef der Streitkräfte. Diktator Al-Baschir rüs-
tete außerdem arabische Reiter-Milizen als Boden-
truppen auf. Die Dschandschawid brannten Dörfer
eher wie ein geschäftstüchtiger Opportunist, frei und Ladekabel auf Kommission kaufen. Ahmed ver-
von Ideologie und frei von Skrupeln. Es geht ihm sucht sich, so gut es geht, in Koufroun einzurichten.
vor allem um die Kontrolle über Land, vor allem Doch das ist das nächste Problem. Der UNHCR will
über Darfurs Goldminen, es geht ihm um sein in- die Flüchtlinge von der Grenze möglichst schnell in
zwischen beträchtliches Firmenimperium und sein das Landesinnere verlegen. Sonst könnten sie bald
Darfur
Geschäft mit Söldnern. Und es geht ihm um die von der humanitären Hilfe abgeschnitten sein.
TSCH A D Macht in Khartum. Schon jetzt kommt kaum etwas an. Der Tschad
S U DA N
zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Große
KOUFROUN Rund 400.000 Vertriebene aus Darfur Teile der Bevölkerung haben kaum genug zu essen.
TENDELTI haben sich im Tschad niedergelassen Mitunter gibt es bereits Spannungen zwischen
den alteingesessenen Bewohnern und den Neu­
Westdarfur Flüchtlinge wie Saddam Mohammed Ahmed ankömmlingen. Das Welternährungsprogramm
müssen seinen Sieg in diesem Machtkampf wo- der Vereinten Nationen (WFP) hatte schon vor
möglich genauso fürchten wie seine Niederlage. der Eskalation im April aus Geldmangel seine Ra-
Denn sollten Hemedti und seine Paramilitärs aus tionen für Geflüchtete kürzen müssen.
200 km Khartum vertrieben werden, würden sie sich wo- Nun steht die Regenzeit unmittelbar bevor. Die
ZEIT-GRAFIK
möglich wieder nach Darfur zurückziehen und Wege, die von größeren Städten an Grenzorte wie
dort ihre Macht mit aller Brutalität zementieren. Koufroun führen, sind bald womöglich nicht mehr
Die Frage ist, wie gefährdet dann auch die Flücht- passierbar, Lebensmittel ließen sich nur noch aus
linge auf der anderen Seite der Grenze sind. Flugzeugen abwerfen. Die Evakuierungen haben
Der Mann, der für die Sicherheit Ahmeds und begonnen, es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
der anderen Geflüchteten im Tschad mitverantwort- Auf einem Hügel aus Sandstein am Rande des
lich ist, heißt Ali Hamchi, trägt Sandalen und Tarn- Ortes sind die Silhouetten von Menschen zu se-
anzug und ist Chef des Polizeipostens von Koufroun. hen, die ihre Handys gen Himmel recken. Sie
Auf seinem Motorrad nimmt er den Reporter mit an hoffen auf ein Signal. Ein frustrierendes Unter-
die Grenze. Hamchi rast mit seiner Maschine durch fangen. In Koufroun gibt es kaum Netzempfang.
den Sand, fängt sie jedes Mal ab, wenn sie wegzurut- Und selbst wenn er funktioniert, erreichen sie
schen droht, und kommt mit blockierenden Reifen nicht die Menschen, um die sie sich die größten
am Ufer des ausgetrockneten Grenzflusses zum Ste- Sorgen machen: die Verwandten und Freunde, die
hen. Mit dem Finger zeigt er auf Männer, die sich ein sie in Darfur zurücklassen mussten. Dort ist das
paar Hundert Meter entfernt auf der anderen Seite Mobilfunknetz fast völlig zusammengebrochen.
bewegen. »Siehst du den Posten dort? Das sind Und so läuft Ahmeds neuer Laden schlecht. »Im-
Dschandschawid«, sagt er. »Die kennen keine­ mer mehr Leute wollen ihre Handys verkaufen«,
Menschenrechte.« sagt er. Geld für etwas zu essen ist in Koufroun
Saddam Mohammed Ahmed floh Der Tschad ist seit 20 Jahren Zufluchtsgebiet für derzeit mehr wert als ein Mobiltelefon, mit dem
vor der Gewalt in Darfur Fliehende aus dem Westen des Sudan. Rund 400.000 man ohnehin niemanden erreichen kann.
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 POLITIK Kiew
ZEIT- GRAFIK
300 km 9
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Der eine Schlag zu viel

Cherson
Von Russland
erobert
Von Russland vor
dem Krieg
annektiert/besetzt

Cherson wurde besetzt und befreit und erneut beschossen – viele blieben. Überlebt die Stadt auch den Bruch des Kachowka-Damms?  VON ANDREA JESKA

I
Cherson
m Hafenviertel trägt das Wasser noch
vorbei, was verloren ist: Hausdächer,
Fernseher, Kinderwagen, Kleidung, Spiel-
zeug, Bäume, tote Tiere. Im eiligen Strom
fließen die Dinge durch die überspülten
Straßen, bis sie sich verfangen oder­
hineintänzeln in den Fluss, aus dem das
Wasser kam, dem Delta entgegentreiben und
schließlich im Meer verschwinden.
In einer Loggia hoch über dem Wasser, das durch
die noch vor wenigen Tagen von Bäumen und Bän-
ken gesäumte Michailiwska-Straße fließt, behütet vor
dem strömenden Regen, der das traurige Restleben
in Cherson zum Erliegen bringt, sitzen Tatiana Wo-
robkalo, Nina Biletska und Zinaida Korowin und
betrachten mit nicht nachlassendem Interesse das
Vorbeitrudeln der Dinge. Seit fünf Tagen schicken
die älteren Frauen jeden zum Teufel, der ihnen an-
trägt, sie zu evakuieren, harren ohne Strom aus und
haben ihren Freundinnen, als ihre Handys noch Akku
hatten, erzählt, sie wohnten nun in Klein-Venedig.
Auch uns, die sie auf ihren Balkon eingeladen haben,
als wir vorbeigepaddelt kamen, erzählen sie munter,
sie hätten alles, was sie brauchten: eine spannende
Aussicht, viel Essen, das ihnen Helfer gebracht haben,
und noch immer jede Menge Galgenhumor. Es
fehlten ihnen einzig ein paar Männer, um zu tanzen.
Wir müssten das verstehen, sagen sie, als sie unser
Erstaunen wahrnehmen, ihr Humor entspringe
keinesfalls der Gleichgültigkeit, sondern der Verzweif-
lung. »Denn wenn man nicht mehr weinen kann,
dann muss man eben lachen«, sagt Nina.
Es ist der sechste Tag der Flut, die Städte und
Dörfer überspülte, nachdem der Kachowka-Stau-
damm zusammenbrach und das Wasser des dahin-
terliegenden 230 Kilometer langen Stausees in den
Dnipro und seine Nebenflüsse strömte. Inzwischen
ist der Wasserpegel des Flusses wieder um mehr als
die Hälfte gesunken und lag am Montag bei 3,3
dort, wo alles trocken ist, sitzen in den Tagen des
ablaufenden Wassers Journalisten und freiwillige
Helfer im Restaurant Black ­Goose, einem der we-
nigen, die überhaupt geöffnet sind, und durch-
forsten die offiziellen Nachrichten. In den ersten,
chaotischen Tagen stürmten Helfer und Me­dien
die Stadt, sodass die russischen Soldaten anhand
der Akkumulation von Handydaten lohnende­
Ziele identifizieren konnten. Bilder von Rettungs-
aktionen zu Wasser wurden in den sozialen Me­dien
veröffentlicht und lieferten der russischen Seite
weitere Informationen über Punkte, die sie unter
Beschuss nehmen konnten. Daraufhin wurde der
dem frühen Nachmittag zu ersterben. Von den fast
300.000 Bewohnern, die die Hafenstadt einst hatte,
ist nur ein Zehntel geblieben. Jetzt, nach der Flut,
sind wahrscheinlich noch einmal etliche Tausend
gegangen. Dem Jubel vom November, als die russi-
schen Besatzer sich auf die östliche Seite des Dnipro
zurückzogen und die ukrainischen Soldaten die Stadt
befreiten, folgte der Kater, denn Cherson blieb Front-
stadt, stand und steht Tag und Nacht unter Beschuss.
Lediglich drei Kilometer trennen das Stadtzentrum
von der anderen Flussseite. Im Black G ­ oose kann
man die Gleichzeitigkeit aller Plagen, die über Cher-
son kamen, in diesen Tagen sehen. An einem Tisch
bewässert wurden, ist zu zwei Dritteln entleert, nach
der Flut droht die Dürre. Vor allem aber sind auf der
anderen, russisch besetzten Flussseite noch immer
Menschen in Not, denn dort sinkt der Wasserstand
wesentlich langsamer, weil das Land tiefer liegt. Dort
haben Me­dien keinen Zugang, die Dramen, die sich
dort abspielen, dringen nach Cherson als Gerüchte
und Augenzeugenberichte. Erzählt wird von ver-
zweifelten Menschen, die auf Häuserdächern aus-
harren. Die Russen evakuierten nur solche, die einen
russischen Pass hätten, heißt es, sie schössen auf all
jene, die versuchten, in Booten zu entkommen, auch
auf die ukrainischen Helfer, die übersetzten, um
Wie jede Katastrophe bringt auch diese Helden
und Verräter, Menschlichkeit und Abscheulichkeit
hervor. Noch ist die Zeit der Aufarbeitung nicht ge-
kommen, doch der Flut werden viele Fragen folgen.
Man habe sie nicht gewarnt, sagen Bewohner, mit
denen man auf der Straße spricht. Es sei doch lange
bekannt gewesen, dass der Damm brechen oder von
den Russen gesprengt werden könne. Die Regierung
habe zwar Hilfe für die Opfer versprochen, sie wüss-
ten allerdings nicht, wie diese zu beantragen sei. Und
überhaupt, wer gelte denn als Opfer?
Doch auf jeden, der schimpft, kommt auch einer,
der den Widerstandsgeist der Ukrainer hervorhebt.
»Wir sind nicht zu brechen«, sagt Roman. Er
will nur mit seinem Vornamen zitiert werden. Wir
treffen ihn, als er in Wathosen durch das mit Öl
und Schlamm vermischte Wasser in seinem Garten
stapft und sein zerstörtes Haus begutachtet. Zwei
Jahre lang hat er mit seinen Söhnen daran gebaut,
am Ende des Sommers wollten sie einziehen. Nun
steht das Wasser in allen Räumen, Beschuss hat die
Fenster aus den Rahmen gerissen, die Mauern ge-
knickt. »Was nützt es mir, zu klagen?«, sagt Ro-
man. »Solange wir gesunde Hände haben, können
wir es wieder aufbauen.«
In einem Hinterhaus im trockenen Stadtteil
Schuminski hat die Organisation Sprawzch ihr Quar-
tier. Gegründet zu Beginn des Krieges, um Menschen
aus den besetzten Gebieten zu evakuieren, haben in
den vergangenen Tagen rund 30 Freiwillige Lebens-
mittel und Generatoren verteilt. Anton Konchak,
einer der Helfer, sagt, ohne die Freiwilligen hätte es
schlimm ausgesehen. Das Ministerium für Katastro-
phenfälle, das für die Ko­or­di­na­tion verantwortlich
ist, habe Leute ohne Erfahrung geschickt und Boote,
die zu groß gewesen s­ eien, um zwischen den Häusern
zu manövrieren. »Die hatten einfach keinen Plan.
Die Ehrenamtlichen sind jene, die Leben gerettet
haben.« Oleg Degusarow, einer der Gründer der
Organisation, glaubt, dass noch rund 1000 Men-

Foto: Sasha Maslov für DIE ZEIT

Metern, Tendenz fallend. Noch einige Tage, und
fast alle Straßen der Stadt werden wieder begehbar
und befahrbar sein. 2700 Menschen sind nach Aus-
kunft des ukrainischen Innenministeriums evakuiert
worden, dazu ungezählte Haustiere. Nach und nach
packen die Tausenden von Freiwilligen, die aus
vielen Teilen der Ukraine und aus dem Ausland
angereist sind, ihre Sachen. Sechs Tage lang haben
sie Menschen und Tiere evakuiert, Lebensmittel und
Medikamente verteilt, Unterkünfte zugewiesen, nun
ist das Schlimmste vorbei, und die Zeit des großen
Aufräumens beginnt.
In der Michailiwska-Straße haben die drei F ­ rauen
am Morgen in Tatianas Ein-Zimmer-Apartment, das
im Erdgeschoss liegt und überschwemmt wurde, alles
Verdorbene in Tüten gepackt, den Schlamm mit ei-
nem Besen hinausgekehrt. Viel ist Tatiana nicht ge-
blieben. Die Möbel sind aufgeschwemmt, die Wände
durchnässt, die Wohnung ist unbewohnbar. Vor dem
Krieg hat Tatiana im Kunstmuseum von Cherson ge-
arbeitet, dann kamen die Russen und plünderten das
Museum. Seither ist sie arbeits-, nun auch obdachlos.
Auf die Frage, wohin von hier, zuckt sie mit den
Schultern. Erst mal bleibe sie bei Nina und stärke sich
an deren Humor. Danach hoffe sie auf Wunder.
Überschwemmt wurden nur die tief liegenden
Stadtteile von Cherson. Im oberen Teil der Stadt,
Juri, ein Einwohner von Cherson, auf einem selbst gebauten
Floß aus Schaumstoff und Zweigen
Bewegungsradius der Journalisten und Helfer mas- sitzen Frontsoldaten, die einen freien Tag haben, an
siv eingeschränkt. Den Helfern ist es nun verboten, einem anderen nasse Helfer und an einem dritten
Journalisten mit an Bord zu nehmen, an den Kon- Polizisten und Militärs, die zu den Spezialeinheiten
trollpunkten innerhalb der Stadt zum Wasser hin gehören, die für die Rettungsaktionen zuständig sind.
und entlang der Straßen in die überfluteten Dörfer Denn auch wenn das Wasser zurückgeht, ein Ende
lässt man Medienvertreter nicht mehr passieren. des Schreckens bedeutet das keineswegs. Rund 80
So mancher Bewohner der Stadt beschimpft sie, Siedlungen sind nach Angaben des ukrainischen In-
dafür verantwortlich zu sein, dass die Russen Cher- nenministeriums überflutet, 66 am rechten, 14 am
son selbst in den Tagen der höchsten Not angegrif- linken, russisch besetzten Ufer des Dnipro. Zeugnis-
fen haben und weiterhin angreifen. se der Katastrophe, neben Gegenständen auch Tier-
Verdenken kann man es den wütenden Bewoh- kadaver und Leichen, haben inzwischen die Hafen-
nern nicht, denn Cherson war schon vor der Flut eine stadt Odessa erreicht, dem Vernehmen nach wurden
Stadt am Abgrund. Besetzt, umkämpft, wieder be- bei Wasserproben Cholera-Bakterien gefunden. Zer-
freit, weiter umkämpft, verrammelt und vernagelt, stört sind Häuser und Höfe, verschlammt die Felder,
Parks und Spielplätze verwaist. Nur in den Morgen- ertrunken der Weizen. Der Stausee, mit dessen Was-
stunden flackert das Leben einmal kurz auf, um ab ser die Felder zwischen Saporischschja und Cherson
Menschen zu retten. An jenem Tag, an dem Tatiana
Worobkalo beginnt, den Schlamm aus ihrer Wohnung
zu fegen, werden drei ukrainische Männer von russi-
schen Soldaten erschossen, als sie sich dem östlichen
Ufer als Retter nähern. Ein Augenzeuge, den die ZEIT
über einen Messenger-Dienst sprechen konnte, be-
stätigt diese Erzählungen. Viktor Mironow, 36 Jahre
alt, wollte mit Mitarbeitern einer Hilfsorganisation
Menschen vom östlichen Ufer aus der Stadt Oleschky
evakuieren. Sie wurden beschossen und kehrten wie-
der um, ohne jemanden mitzunehmen. Auf dem
Rückweg ­seien sie auf Personen gestoßen, die in einem
Boot auf russischer Seite patrouillierten und Schutz-
gelder für Evakuierte verlangt hätten, »umgerechnet
2000 US-Dollar pro Person«, vermutlich ukrainische
Kollaborateure, sagt Mironow.
schen in den überfluteten Teilen von Cherson woh-
nen, viele davon im Stadtteil Korabel. Dort hätten
viele die Evakuierung verweigert, bei den Helfern
Bier und Zigaretten bestellt, als sei das alles eine Kino-
vorstellung. Nun wolle die Regierung Helfer in Be-
gleitung von Psychologen schicken. Denn die meis-
ten, die sich weigerten, hätten mentale oder gesund-
heitliche Probleme. »Wer nun noch bleibt, ist entwe-
der verrückt oder hat keine Wahl«, sagt Degusarow.
Am letzten Tag in Cherson sehen wir am Stra-
ßenrand einen Mann, der aus einer Kopfwunde
blutet, daneben eine Frau im Zustand der Hysterie.
Was geschehen ist, lässt sich ihrem Geschrei nicht
entnehmen. Während wir den Verwundeten ver-
binden, der sich noch liegend, blutverschmiert,
eine Zigarette ansteckt, kommen Soldaten. Die
Frau beschimpft sie. Stumm erdulden sie das Ge-
schrei, fahren schließlich einfach wieder davon.
Krieg, Tod, Besatzung – und jetzt die Flut. Mag
das Wasser auch auf dem Rückzug sein, es scheint,
als sei die Grenze dessen, was die Menschen in
Cherson ertragen können, nun überschritten.
Mitarbeit: Simone Brunner
und Johanna Maria Fritz
Siehe hierzu auch die Infografik im Wissen, S. 40

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 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

10 STREIT
An der Grenze des Machbaren?
Die EU-Staaten haben sich auf eine Reform des Asylsystems geeinigt und planen unter anderem Aufnahmelager für bestimmte Migranten.
Für Rasmus Andresen, Chef der deutschen Grünen im EU-Parlament, ist das skandalös – dem CDU-Politiker Jens Spahn geht es nicht weit genug

DIE ZEIT: Herr Andresen, Sie sind Chef der deut- Länder zu bleiben? Wie können wir mit diesen si-
schen Grünen im Europäischen Parlament – und cheren Drittstaaten Abkommen schließen, um sie
haben den EU-Asylkompromiss der vergangenen als Partner zu unterstützen? Ich will aber immer
Woche scharf kritisiert. Sie sagten: »Es ist beschä- noch wissen: Gibt es aus der Sicht der Grünen eine
mend, dass auch die deutsche Innenministerin Grenze dessen, was geht? Oder lautet Ihr Ansatz,
Nancy Faeser mit Zustimmung der Ampelkoalition dass die Zahl der Ankommenden unlimitiert ist?
diesem Vorschlag zugestimmt hat.« Was ist so Andresen: Das ist doch gar nicht die Debatte!
schlimm an diesem Kompromiss, dass Sie Ihre ei- Spahn: Doch! Das ist sogar die Schlüsselfrage.
gene Bundesregierung derartig attackieren? Gibt es ein gemeinsames Verständnis der demo-
Rasmus Andresen: Der Beschluss schafft weder Hu- kratischen Mitte in diesem Land, dass es eine zah-
manität noch Ordnung. Er wird viel Leid mit sich lenmäßige Grenze dessen gibt, was wir in den
bringen – weil sogar Familien mit Kindern künftig Städten und Gemeinden, was wir als Gesellschaft
an den Außengrenzen der EU inhaftiert werden. leisten können, oder nicht?
Die Außengrenzstaaten, die ohnehin schwer belas- Andresen: Jeder, der bei uns einen Asylantrag stellt,
tet sind, werden noch mehr schultern müssen. Die hat das Recht, dass dieser geprüft wird. Auf diesen
illegale Migration wird aufgrund drohender Inhaf- Anspruch haben wir uns aus guten Gründen nach
tierung nicht zurückgehen, sondern ansteigen. Ich dem Zweiten Weltkrieg verständigt, daran wollen
bin schockiert – und stehe zu meiner Kritik daran, wir nicht die Axt legen. Debatten über Obergren-
dass die Ampelkoalition das gutheißt. zen, wie sie jetzt auch der sächsische Ministerpräsi-
ZEIT: Der Beschluss besagt im Wesentlichen, dass dent aufmacht, bringen niemandem etwas. Denn
es Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen ge- was passiert, wenn diese Obergrenze erreicht ist?
ben soll, in denen im Schnellverfahren Asylanträge Schickt man die Leute in den Krieg zurück? Die
geprüft werden – allerdings nur die von Asyl­ Union betreibt diese Debatte, weil sie aus Angst vor
bewerbern aus als sicher eingestuften Herkunfts- Rechtspopulisten AfD-Positionen übernimmt.
ländern. Die allermeisten Schutzsuchenden, etwa Spahn: Wenn man das, was Sie sagen, Herr And-
aus Syrien oder Afghanistan, betrifft der Beschluss resen, zu Ende denkt, was hieße das dann konkret?
nicht. Was halten Sie davon, Herr Spahn? Allein Afghanistan hat 40 Millionen Einwohner.
Jens Spahn: Ich finde erst mal gut, dass es über- Nach Ihrer Logik müssten hier viele Millionen
haupt eine Einigung auf europäischer Ebene gege- Menschen einen Bleibeantrag stellen können. Und
ben hat. Das ist seit 2015 nicht gelungen. Endlich da die Anerkennungsquote für sie bei über 90 Pro-
gibt es bei einer großen Mehrheit der europäischen zent liegt, müssten dann alle hierbleiben können.
Staaten die Einsicht: Es kann nicht bleiben, wie es Andresen: Erstens habe ich das nicht gesagt, und
ist. Die Zahl derer, die zu uns kommen, ist zu zweitens ist das völlig unrealistisch.
hoch. Vielerorts sind die Kommunen am Limit. Spahn: Es ist die logische Folge dessen, was Sie sa-
Selbst die Bundesregierung scheint das verstanden gen. Die Grenze des Machbaren ist auch eine politi-
zu haben – wenngleich die grünen Minister Feuer sche. Es lässt sich auf Dauer keine Politik gegen die
von ihren eigenen Leuten kriegen, Herr Andresen breite Mitte der Gesellschaft machen.
zeigt es ja mustergültig. Im nächsten Schritt muss ZEIT: Welche Lösung schlagen Sie vor, Herr Spahn?
das EU-Parlament beteiligt werden. Ich bin ge- Spahn: Ich schlage vor, dass wir miteinander jähr-
spannt, ob das wenige, das erreicht wurde, gleich lich Kontingentgrößen vereinbaren. Je nach den
wieder verwässert wird. Möglichkeiten in Schulen und Kitas, bei Sprach-
Andresen: Eine Asylpolitik, die die Menschen- angeboten, auf dem Wohnungsmarkt, der wirt-
rechtslage an den Außengrenzen verschlechtert, in- schaftlichen Lage. Das können mal 50.000 und
Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Agentur Focus; kl. Fotos (v. l.): imago images; Getty Images

dem Familien mit Kindern inhaftiert werden kön- mal 200.000 sein. Diese Menschen sollten direkt in
nen – das ist für mich keine Lösung, sondern schafft den Krisenregionen ausgewählt werden vom
mehr Probleme! Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Das würde sicher-
Spahn: Ich warne davor, Begriffe wie »Inhaftierung« stellen, dass diejenigen unsere Hilfe bekommen,
zu verwenden. Ich habe den Eindruck, AfD und die sie am dringendsten brauchen. Gleichzeitig
Grüne sind – auf diametral verschiedenen Seiten – sollten wir sagen: Wer versucht, irregulär über die
damit beschäftigt, Begriffe emotional so aufzuladen, Außengrenzen einzureisen, wird abgelehnt und in
dass es immer schwieriger wird, vernünftige Kom- sichere Drittstaaten zurückgebracht. Das aktuell
promisse zu finden. Wer in einem Lager an der EU- geltende Recht der Stärkeren zu beenden wäre eine
Außengrenze landet, hat jederzeit die Option zu- klare Botschaft. Dann kämen nicht vor allem junge
rückzugehen und ist nicht eingesperrt. Männer, sondern viel mehr Frauen und Kinder.
Andresen: Jetzt kommen wir schon zu Vergleichen Das wäre mal konkrete feministische Außenpolitik.
zwischen demokratischen und nationalistischen, ZEIT: Einige Migrationsforscher sagen, dass das
faschistischen Parteien? Sehr unangemessen. aktuelle Asylsystem unmoralisch sei: Europa nehme
Spahn: Ich schlage einfach vor, diesen falschen Be- jene auf, die fit und wohlhabend genug sind, um
griff der »Inhaftierung« wegzulassen, um die De- es hierher zu schaffen, während andere kaum eine
batten nicht weiter aufzuheizen. Chance hätten – Menschen aus dem Jemen etwa.
Andresen: Wie nennen Sie es, wenn Menschen an Überzeugt Sie das, Herr Andresen?
den Außengrenzen festgesetzt werden über mehrere Andresen: Kontingent-Aufnahmen sind grundsätz-
Wochen bis Monate – wenn nicht Inhaftierung? lich sinnvoll, aber nicht, um damit das Asylsystem
Spahn: Eine Gegenfrage, Herr Andresen: Haben zu untergraben. Es wird auch nicht funktionieren.
wir ein gemeinsames Verständnis, dass die Zahlen Wenn wir Asylrechte einschränken, führt das zu
irregulärer Migration die Schulen, Kitas und den Wird es davon bald mehr geben? Zaunanlage an der ungarischen EU-Außengrenze zu Serbien mehr illegaler Migration und zu mehr Leid. Im Üb-
Wohnungsmarkt überfordern? Und dass wir nicht rigen bin ich nicht überzeugt, dass das, was jetzt an
länger dieses Signal in die Welt senden können: restriktiven Vorschlägen aus der Union kommt, die
»Wer nach Deutschland oder Europa kommt, Andresen: Annalena Baerbock hat es gesagt: Sie Kommunen so aufstellen, dass sie den Aufgaben Spahn: Das ist aber schlichtweg die Realität. Da demokratische Mitte in Deutschland repräsentiert.
wird am Ende irgendwie auch bleiben können«? hätte sich selbst eine andere Lösung gewünscht, gewachsen sind. genügt ein Blick auf die Zahlen und Fakten, da Diese Mitte hat sich eher mit Angela Merkel gezeigt.
Wenn wir das beide so sehen: Was sind dann Ihre mehr als dieser Kompromiss war aus Sicht der grü- Spahn: Deutschland ist seit Jahren Zielland Num- braucht es keine Studien. Das Problem ist, dass Politiker wie Jens Spahn oder
Vorschläge, um den Zustrom zu begrenzen? nen Minister nicht drin. Ich bleibe skeptisch und mer eins auch für Menschen, die nicht aus der Andresen: ... was es hingegen gibt, sind Studien, Markus Söder sich nicht mehr so stark an dieser
Andresen: Ja, ich würde auch sagen, dass sich viel zu finde, dass eine Grenze überschritten wurde. Aber Ukraine kommen. Wenn ich in Griechenland, in laut derer sich eine große Mehrheit der Asylbewer- Mitte orientieren. Das macht mir Angst, weil wir
viele Menschen auf der Flucht befinden. Wir müs- noch mal: Wir erleben einen ganz normalen Vor- Spanien oder Italien mit Kollegen spreche, sagen ber dafür schämt, auf Leistungen angewiesen zu auch in anderen europäischen Staaten sehen, dass
sen deshalb über Fluchtursachen spre- gang. Das gibt es auch in der Union, alle im Kern dasselbe: Das Flüchtlingsproblem ist sein. Wir sollten sehr vorsichtig sein mit dort, wo man den Populisten hinterher-
chen – aber wir können die nicht kurz- Herr Spahn: Wir als Europafraktion se- euer deutsches Problem, alle wollen zu euch. Wa- Behauptungen, die sind Wasser auf die läuft, die Populisten gestärkt werden.
fristig verändern. Was keine Lösung sein hen einige Punkte anders als der Teil der rum ist aber Deutschland als Zielland so attraktiv? Mühlen von Rechtspopulisten. Was die Spahn: Sie behaupten ernsthaft, ich ver-
kann, sind Massenlager, wie wir sie grünen Bundespartei, der es richtig fin- Das hat offenkundig mit unserem attraktiven Überforderung der Kommunen angeht: lasse die demokratische Mitte, weil ich
schon von den griechischen Inseln ken- det, dem Kompromiss zuzustimmen. Es Rechts- und Sozialsystem zu tun. Wir sind es, die Ja, die vielen Menschen, gerade die aus Positionen einnehme, denen die aktuelle
nen, in denen Zehntausende unter ist nicht ungewöhnlich, das da auszutra- dringend eine Lösung brauchen. Mein Eindruck der Ukraine, sind eine enorme Heraus- Bundesregierung zugestimmt hat?
menschenrechtswidrigen Zuständen le- gen, wo es hingehört – zwischen Parla- ist, dass die AfD auch deswegen so stark ist, weil forderung. Aber sie brauchen unsere Andresen: Nein, und ich sehe große
ben müssen. Was wir als Grüne wollen, ment und Rat. die Ampel bei zentralen Themen ihre eigene Op- Solidarität. Unterschiede zwischen unserer Außen-
ist eine Registrierung an den Außen- Spahn: Ich habe Sorge, dass Sie die his- position bildet, es keine politische Führung gibt. Spahn: Bei den ukrainischen Flücht- ministerin und Ihnen. Ich nehme die
grenzen. Für die Asylverfahren selbst torische Chance vergeben, endlich eine ZEIT: Andererseits, Herr Spahn, hat es nun diesen lingen passiert das, was in der Genfer Sorgen, die es in der Bevölkerung in
muss es eine Umverteilung geben. Des- europäische Lösung zur Begrenzung der Fortschritt auf EU-Ebene gegeben – und der alte Flüchtlingskonvention vorgesehen ist: Zeiten großer sozialer und ökonomi-
wegen werden wir versuchen, den Be- Rasmus Migration zu finden. Ich fände es eine Vorschlag von Horst Seehofer, Asylprüfungen an Die Nachbarländer helfen, und zu de- Jens Spahn, 43, scher Verunsicherung gibt, ja auch sehr
schluss in diesem Sinne zu verändern. Andresen, 37, ist Ironie der Geschichte, wenn diese Eini- den Außengrenzen zu ermöglichen, wird umge- nen gehört im regionalen Sinne auch früherer ernst. Aber gerade deshalb finde ich,
Spahn: Das heißt, Sie werden in Op- Sprecher der gung an der Regierung jenes Landes setzt. Ist die SPD-Bundesinnenministerin Nancy Deutschland. Das gleiche Prinzip sollte Bundesgesund- dass wir als Politiker eine besondere
position gehen zu Ihren eigenen Bun- deutschen Gruppe scheitert, das die Lösung am dringends- Faeser in Wahrheit die bessere CSU-Politikerin? gelten bei den Konflikten in Syrien, Af- heitsminister, Verantwortung haben. Und leider finde
desministern? der Grünen im ten braucht. Denn die allermeisten Spahn: In Wahrheit sind ja weite Teile der Eini- ghanistan oder im Sudan. Deswegen ist ist Vizechef der ich, dass auch Sie, vielleicht nicht be-
Andresen: Nein, wir werden als Parla- EU-Parlament. Flüchtlinge wollen nach Deutschland. gung, die nun auf europäischer Ebene gelungen es richtig, dass die EU der Türkei und Unionsfraktion im wusst, rhetorisch das Geschäft der
ment unsere Position verhandeln. Das Er war zuvor Andresen: Ich kann vor dieser Begren- ist, eher trotz Frau Faeser entstanden. Am Ende Jordanien Milliardenhilfen zahlt. Ein Bundestag und Rechtspopulisten besorgen, etwa da-
ist beim Emissionshandel oder in der Vizepräsident des zungs-Rhetorik nur warnen. Sie wis- hat sie zugestimmt. Das erkenne ich an. Dass nun Fehler, der 2015 gemacht wurde, war, CDU-Präsidiums- mit, dass man eine »klare Botschaft« an
Finanzpolitik genauso. Wir haben in Landtags Schles- sen genau, dass die allermeisten eine Einigung erzielt werden konnte, liegt auch an in der Krisenregion nicht genug zu mitglied Migranten senden müsse.
Brüssel zwei gesetzgebende Institutio- wig-Holstein Flüchtlinge des letzten Jahres, die in den Mehrheitsverhältnissen innerhalb des Rates helfen. Es ist nicht die Logik der Spahn: Wir sollten es schaffen, in der
nen, die einen Kompromiss finden Deutschland gelandet sind, aus der und vor allem daran, dass man stärker darauf hört, Flüchtlingskonvention, dass man sich Sache zu diskutieren, ohne in diesen Re-
müssen: Rat und Parlament. So funktioniert euro- Ukraine stammen. Ja, die Belastungen, die He- was etwa Italien, Griechenland und Spanien sagen. das Zielland aussuchen kann. Wenn wir auf die flex zu verfallen: Wer es anders sieht als die Grünen,
päische Demokratie. rausforderungen für die Kommunen sind da- Andresen: Ich finde die Anspielungen, die Sie ge- Zahlen schauen, dann kommt 2023 die Hälfte der hilft Rechtspopulisten. Diese Art, Debatten zu füh-
ZEIT: Die Grünen sind seit dem Kompromiss in durch groß – aber sollen wir sagen, es darf des- rade zum Sozialsystem gemacht haben, geradezu Migranten nicht aus der Ukraine. ren beziehungsweise sie eben nicht zu führen, ist mit
Brüssel in Streit versunken, Annalena Baerbock halb keiner mehr kommen? Wir alle wollen gefährlich. Sie behaupten, es gebe einen Zusam- ZEIT: Bis Anfang Juni etwa 135.000 Menschen. ein Grund, warum die AfD so einen Zulauf erfährt.
hat versucht, mit einem Brief an die Bundestags- Fluchtursachen bekämpfen, aber die Antwort ist menhang der Frage, warum so viele Menschen Spahn: Deswegen sollten wir fragen: Wie viele si-
fraktion die Gemüter zu beruhigen. Sie tun ihr nicht, zu verhindern, dass Menschen zu uns kom- nach Deutschland kommen, mit den Sozial­ chere Drittstaaten gibt es auf dem Weg nach Moderation: Jochen Bittner
nicht gerade einen Gefallen, oder? men. Sondern darüber zu sprechen, wie wir die leistungen. Es gibt keine Studie, die das belegt ... Deutschland? Ist es nicht möglich, in einem dieser und Martin Machowecz
 »Eine Demokratie, in der
nicht gestritten wird, ist keine.«
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 HELMUT SCHMIDT 11

Das wird mir

langsam zu Dorf
Die moralische Überheblichkeit ist heute nicht mehr nur in der
Stadt zu Hause – sondern auch in der Provinz. Land-Bewohner
sollten aufhören, Berlinern oder Münchnern ständig
vorschreiben zu wollen, wie man richtig lebt  VON MARK SCHIERITZ

Ich war neulich auf einem Fest. Nordbayern,
Söder-Land. Es gab ein Bierzelt, Bratwürste
und Blasmusik. Und Autos. Sehr viele Au-
tos. Auf dem Dorfplatz, auf den Zufahrts-
straßen, am Waldrand. Opel, VW, Audi,
Mercedes, sogar ein Tesla war dabei. Es geht
auch eigentlich nicht anders. Der Bus in die
nächste Stadt fährt zweimal am Tag, und der
nächste Bäcker ist fast sechs Kilometer­
entfernt. Ich weiß das so genau, weil ich oft
auf diesen Bus gewartet habe. Ich bin hier
aufgewachsen.
Autos gehören zum Landleben wie der
Geruch von frisch gemähtem Gras an einem
Sommerabend oder der Kuhmist auf den
Feldern. Und der Führerschein bringt die
Freiheit. Damit könnte dieser Text enden.
Niemand fordert ernsthaft autofreie Dörfer.
Nicht einmal Robert Habeck. Er will nur,
Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; kl. Fotos: Phil Dera für DZ; Urban Zintel für DZ (u.)
liche Förderung von Lastenrädern eine
»Provokation«. Was damit gemeint ist: So
etwas sei Ausdruck der moralischen Über-
heblichkeit der Stadtbevölkerung, die in
Berlin-Mitte in ihrem Latte macchiato rührt
und sich in Tokio mehr zu Hause fühle als
in Teltow-Fläming.
Einmal abgesehen davon, dass in Mitte
schon seit mindestens zehn Jahren niemand
mehr Latte macchiato trinkt: Die moralische
Überheblichkeit ist dem Beispiel vieler Fa-
milien gefolgt. Sie hat die Stadt verlassen
und ist aufs Land gezogen. Die Provinz wird
immer mehr zum Referenzpunkt des poli-
tischen Diskurses, an dem sich die Metro-
pole messen lassen muss. Im Dorf, da wird
noch hart gearbeitet und früh aufgestanden.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die De-
monstration gegen die »Heizungsideologie«
Doch ist das eigentlich ein Problem? In
Deutschland gilt das Prinzip der Freizügig-
keit. Man kann sich mehr oder weniger aus-
suchen, wo man wohnen will. So wie man
sich aussuchen kann, was man anzieht. Oder
welche Partei man wählt. Ich zum Beispiel
bin irgendwann nach Berlin gezogen. Weil
da der Bus öfter fährt, metaphorisch gespro-
chen. Dafür ist es eng und schmutzig. Wenn
ich mehr Platz hätte, dann würde ich mir
vielleicht ein Pferd anschaffen. Oder einen
Hund. Und einen Walnussbaum pflanzen.
Aber das geht eben nicht. Entscheidungen
haben Konsequenzen. In meinem Fall: die
Entscheidung, in der Stadt zu leben.
Es gibt natürlich Leute, die sich ein Le-
ben dort nicht leisten können. Aber wie
viele sind das? Die Gesellschaft für Konsum-
forschung (GfK) hat die Kaufkraft in allen
knapp ist, ist teuer. Eigentlich. Denn die
öffentlichen Parkflächen gehören dem Staat.
Man könnte sie aber als Bauland ausweisen
und die Verwertung dem Markt überlassen.
Dann wäre das Abstellen eines Autos in jeder
deutschen Großstadt vermutlich unbezahl-
bar. Weil es viel rentabler wäre, auf den Park-
plätzen Wohnungen zu bauen. Mit dem
Auto pendeln heißt also: die Stadt nutzen,
ohne dafür bezahlen zu wollen. Das ist na-
türlich für die Pendler sehr angenehm. Fair
ist es nicht. Die Bernauer fänden es wahr-
scheinlich auch nicht besonders lustig, wür-
den jeden Tag Hunderttausende Berliner bei
ihnen einfallen.
Der neue Geltungsanspruch der Pro-
vinz führt dazu, dass eine Politik für den
urbanen Raum in Deutschland immer ir-
gendwie als linksgrün gilt. Auch wenn es
portfahrzeuge vereinbaren. Das wäre die
einfachste Sache der Welt.
Metropolen wie London, Paris oder
Kopenhagen jedenfalls sind bereits ganz oder
teilweise für den Individualverkehr gesperrt.
Obwohl in Großbritannien die Konservati-
ven regieren, in Frankreich die Liberalen und
in Dänemark die Sozialdemokraten. Und
nicht die Grünen. Der Times Square in New
York ist schon seit ein paar Jahren autofrei.
Dafür gibt es in Kassel Streit, weil ein paar Mark Schieritz,
Parkplätze einem Neubau weichen sollen. 48, ist
Durch die derzeit gesperrte Berliner Fried- stellvertretender
richstraße dagegen dürfen bald wieder Autos Leiter des
fahren. Das hat die neue Verkehrssenatorin Politik-Ressorts
beschlossen. Weil Berlin schließlich nicht der ZEIT
Bullerbü ist. Interessanterweise gibt es in Bul-
lerbü Autos (genauer gesagt in dem Kinder-
buch von Astrid Lindgren, in dem dieser Ort

dass die Autos irgendwann mit Strom statt
mit Benzin betrieben werden. Aber das ist
ein anderes Thema.
Was dagegen (von einigen) gefordert
wird, sind autofreie Innenstädte. Dabei gilt:
Das eine schließt das andere nicht aus. Man
kann gegen autofreie Dörfer und für auto-
freie Innenstädte sein. Weil der Bus in der
Stadt nicht nur zweimal am Tag kommt,
sondern alle zehn Minuten, mancherorts
noch öfter. Und der nächste Bäcker nicht
sechs Kilometer entfernt ist, sondern sechs-
hundert Meter.
Aber so wird diese Debatte nicht geführt.
Sondern so: Das Auto sei für »Millionen von
Bürgern« die Voraussetzung für Lebens-
qualität und Erwerbstätigkeit, »gerade im
ländlichen Raum«, heißt es in einer Wahl-
kampfbroschüre der CSU. Deshalb dürfe es
»keine Fahrverbote für Innenstädte« geben.
Für die Schriftstellerin Juli Zeh ist eine staat-
der Ampelregierung in Erding stattfand,
einer eher kleinen Stadt. Und nicht in Mün-
chen oder Hamburg.
Es gibt zum Phänomen der moralischen
Überheblichkeit des Dorfs sogar eine wis-
senschaftliche Theorie. Der an der London
School of Economics lehrende Wirtschafts-
geograf Andrés Rodríguez-Pose hat sie aus-
formuliert. »The revenge of the places that
don’t matter« heißt ein von ihm veröffent-
lichter Aufsatz dazu. Die Rache der Orte,
die keine Rolle spielen. Die Landbevölke-
rung fühlt sich demnach von den urbanen
Eliten vernachlässigt und wählt deshalb
Donald Trump oder stimmt für den Brexit.
So weit ist es in Deutschland noch nicht,
aber es vergeht kaum ein Talkshowabend,
an dem nicht jemand sagt, was vielleicht in
Berlin oder Köln funktioniere, funktioniere
noch lange nicht in Südbrandenburg oder
eben Nordbayern.
Landkreisen und kreisfreien Städten unter-
sucht. Ergebnis: An der Spitze liegt der
Landkreis Starnberg, unter den Top Ten
weiterhin: Main-Taunus-Kreis, Fürstenfeld-
bruck, Dachau, Erlangen-Höchststadt,
Miesbach, Ebersberg. Nie gehört? Eben. Am
Ende der Tabelle: Duisburg, Bremerhaven,
Gelsenkirchen. Interessant jedenfalls: Die
Großstädte liegen, was die Kaufkraft betrifft,
mit Ausnahme von München und Düssel-
dorf oft unter dem Bundesschnitt. Was die
Frage aufwirft, wer hier eigentlich wen ver-
nachlässigt. Wenn man schon über Vernach-
lässigung reden will. Und ob es ein unein-
geschränktes Recht gibt, mit dem eigenen
Auto zum Beispiel von Dachau nach Mün-
chen zu pendeln. Denn in Dachau steht das
Auto wahrscheinlich in einer privaten Ga-
rage oder Hofeinfahrt. In München blockiert
es Raum. Und der ist in der Stadt ein knap-
pes Gut. Anders als auf dem Land. Und was
dafür keine sachlichen Gründe gibt. Ein
Lastenrad ist für die meisten Städter kein
kulturelles Statement, sondern ein prak­
tisches Fortbewegungsmittel. Natürlich
nicht um damit von Hamburg nach­
München zu fahren, aber vielleicht von
Prenzlauer Berg nach Berlin-Mitte. Und
wenn – anderes Beispiel – der Neubau von
Einfamilienhäusern eingeschränkt werden
soll, wie vor ein paar Monaten in Hamburg
vorgeschlagen, dann geschieht das nicht,
um die bürgerliche Kleinfamilie in eine
sozialistische Lebensgemeinschaft umzu-
wandeln. Sondern einfach um mehr Platz
zu schaffen.
Eine autofreie Innenstadt ist deshalb
weder links noch grün, sondern ein Instru-
ment der Raumplanung. Im Stau ist Frei-
heit schließlich ein eher abstraktes Konzept.
Und natürlich könnte man Ausnahmen für
Menschen mit Behinderung oder Trans-
eine Hauptrolle spielt). Wahrscheinlich, weil
da der Bus auch nur zweimal am Tag
kommt. So wie bei mir früher.
Vielleicht ist das Problem, dass sich in
Deutschland immer alle über alles einig sein
wollen. Erst sollte sich das Land der Stadt
anpassen, jetzt gilt auf einmal das Gegenteil.
Weil sich ansonsten angeblich die Spaltung
der Gesellschaft vertiefe. Und gespaltene
Gesellschaften nicht mehr regierbar seien.
Aber manche Unterschiede muss eine
Gesellschaft womöglich einfach aushalten.
Es fordert ja auch niemand, dass alle in
Deutschland gleich viel verdienen. Oder
denselben Haarschnitt haben. Jedenfalls
niemand von denjenigen, die normalerweise
gegen autofreie Innenstädte sind. Deshalb,
liebe Leute auf dem Land: Wir schreiben
euch nicht vor, was ihr in euren Dörfern
macht. Und ihr schreibt uns nicht vor, was
wir in unseren Städten machen. Deal?

47 %
der Deutschen würden kein Konzert einer Band besuchen, wenn gegen
Mitglieder – wie im Fall Till Lindemann – Missbrauchsvorwürfe erhoben
werden. Unser Kolumnist meint: Rammstein sind nicht jedermanns Rex Gildo
Aktuelle Civey-Umfrage für die ZEIT

Ist es moralisch vertretbar, Emil Nolde
weiterhin als großartigen Maler zu bewun-
dern, seitdem er als Hitler-Verehrer und
Antisemit geoutet wurde? Muss man Tanz
der Vampire und Der Pianist aus seiner
Filmsammlung verbannen, weil es Roman
Polański war – der Star-Regisseur, gegen
den mehrere Vorwürfe der Vergewaltigung
erhoben werden, inklusive Auslieferungs-
antrag in die USA –, der sie schuf? Und
kann man, wie Leipzig das gerade so unbe-
schwert zelebriert, den 300. Jahrestag des
Amtsantritts von Johann Sebastian Bach
als Thomaskantor mit einem internationa-
len Großfestival feiern, obwohl der große
Komponist womöglich auch ein großer
Frauenfeind und übler Sexist war, wie der
Film Tar jüngst insinuiert hat?
Die Frage, die hinter diesen Fragen
steht, lautet: Gehört die Kunst sich selbst –
oder darf man sie nur in Verbindung mit
der Persönlichkeit des Künstlers betrach-
ten und bewerten?
Im Fall der Band Rammstein und ihres
Sängers Till Lindemann sind die Deutschen
laut unserer Umfrage gespalten: Eine rela-
tive Mehrheit von 47 Prozent besucht
prinzipiell keine Konzerte einer Band, wenn
Missbrauchsvorwürfe gegen Mitglieder er-
hoben werden – wie nun im Fall Linde-
mann. Eine starke Minderheit von 39 Pro-
zent würde trotzdem hingehen, der Rest ist
unentschieden.
Allerdings erscheint es fraglich, ob es
allein die Berichte über mögliche organi-
sierte Zufuhr junger Fan-Frauen zur se-
xuellen Verfügbarkeit des Frontmanns sind,
die knapp die Hälfte der Deutschen vom
Besuch eines Rammstein-Konzerts künftig
abhalten. Vielleicht liegt es doch eher an
Musik und Auftritt der Band selbst. Büh-
nenshow-Requisiten wie Mund-Flammen-
werfer, eine Schaumkanone in Penisform
und eimerweise Kunstblut sind nun mal
nicht jedermanns Rex Gildo. Genauso
wenig wie Liedtexte, in denen ein Mensch
geschlachtet und gegessen oder ein Mäd-
chen von einem Vergewaltiger im Keller
festgehalten wird.
Und da der gelernte Pyrotechniker
Lindemann all das gern im flammenden
martialisch-brachialen Ton der Rechten
sprechsingt (und ihnen diesen Ton dadurch Peter Dausend
streitig macht), liegt die heile Schlagerwelt ist politischer
der deutschen Mehrheits-Heinos schneller Korrespondent im
in Trümmern, als Roland Kaiser Warum Hauptstadtbüro
hast du nicht Nein gesagt singen kann. der ZEIT
Mir gefallen Rammstein. Aber werde ich
auch weiterhin zu Konzerten gehen – trotz
der Vorwürfe? Nun, ich möchte mit einer
Textpassage aus Deutschland antworten:
»Mein Herz in Flammen / Will dich lieben
und verdammen / Deine Liebe ist Fluch
und Segen / Meine Liebe kann ich dir nicht
geben.« Aber mein Geld schon.

Online mitdiskutieren: Mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit

 12 INHALT 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Titelthema: AfD – extrem normal?

POLITIK WIRTSCHAFT Berlusconi  Ein Gespräch mit der

Verteidigung  Boris Pistorius ist zum
beliebtesten Minister aufgestiegen – aber
die eigentliche Bewährungsprobe steht
ihm noch bevor  VON JÖRG L AU  • 2
Titelthema: Extrem normal? In
Umfragen liegt die AfD mit der Kanzler-
partei gleichauf. Wer sind ihre neuen
•3
Anhänger?  VON ANNA MAYR 
Wie sich Wähler rechtspopulistischer
Parteien zurückgewinnen lassen  Womit keiner rechnet  Mehrere
VON SIMON L ANGEMANN UND
ROBERT PAUSCH 
Foto (Ausschnitt): Benedict Evans
Wie Wohlstand verbrennt  Schon
wieder breiten sich Waldbrände an vielen
Orten der Welt aus. Sie zerstören weit
mehr als nur Bäume
VON HEIKE BUCHTER , HENRIK R AMPE
UND MARCUS ROHWET TER  19
Wildtierhandel  Chinesische Händler
schmuggeln Körperteile illegal getöteter
Jaguare aus dem Amazonaswald 
• 20
VON SANTIAGO WILLS 
Bundesländer wollen den USA kein
4 Geld mehr leihen  VON PETER NEUMANN 
Autorin Francesca Melandri über
die Abgründe des italienischen
Ex-Präsidenten  42
Bühne  Warum nur müssen wir im
Theater oder im Konzert ständig husten?
VON PETER KÜMMEL, CHRISTINE LEMKE-
MAT WEY, JENS JES SEN , ANTONIA BAUM
UND MORITZ VON USL AR  43
Kolumne  Grand Slam 
VON ANDREA PETKOVIĆ  44
Philosophie  Impressionen einer
Woche, in der sich Geist und Macht
sehr nahe kamen 
44

VON JENS TÖNNESMANN  21

Krankenhäuser  Schadet die geplante Technologie  Woher unsere Angst vor

• 45
Reform den Patienten? Streitgespräch Kommentar  Der Boom der E-Autos KI rührt 
zwischen Gesundheitsminister Karl VON HANNO R AUTERBERG 
bringt Ärger und Kosten mit sich, auch
Lauterbach und Susanne Johna vom für die Käufer  VON MA X HÄGLER  21 Serie: Die Zukunft des Westens (2) 
Marburger Bund 5 Über eine politische Himmelsrichtung,
Russland  Hugo Boss exportiert
in die viele aufbrechen wollen 
Silvio Berlusconi­  Ein Nachruf auf weiterhin im großen Stil Luxuskleidung VON OX ANA TIMOFEEVA  46
nach Russland 
• 22
den Mann, der die weltweite Welle des
ZEITNAH Rechtspopulismus losgetreten hat  VON INGO MALCHER  Geschlechterkampf  In der Serie »The
VON EZIO MAURO  6 Idol« geht es um toxische Männlichkeit
Unterwegs mit dem Angeklagten S. Donald Trump  Wie seine Anhänger
Rüstung  Warum manche Finanzfirmen
den deutschen Hersteller Rheinmetall
und den weiblichen Wunsch nach
Anerkennung 
aus ihren Fonds ausschließen  VON ANTONIA BAUM  47
auf die neuesten Anklagen gegen ihren
Khuê Pham
. hatte nicht damit gerechnet, das erste ausführliche Gespräch mit Kevin Spacey Präsidenten reagieren 
VON HAUKE FRIEDERICHS UND
Wie Clubbetreiber durch den Einsatz
führen zu können, nachdem dessen Karriere wegen Missbrauchsvorwürfen vor mehr als fünf VON PAUL MIDDELHOFF  7
JONAS SCHULZE PALS  22
von Spezialteams versuchen, Übergriffe
Jahren zerbrochen war. Doch nach zahllosen Vorgesprächen mit dessen Manager begleitete die Facebook  Die Whistleblowerin Frances zu verhindern 
Redakteurin des ZEITmagazins den Hollywoodstar einen Tag lang in Baltimore und befragte Tschad  Der Bürgerkrieg im Sudan Haugen spricht über ihr Leben und VON PAULINA UNFRIED  47
greift auf das Nachbarland über.
ihn unter anderem zu dem Prozess gegen ihn in London, der demnächst beginnt  MAGAZIN, S. 14 Ein Besuch in einem Flüchtlingslager in
darüber, wie sie künstliche Intelligenz
Oper  Die Stuttgarter Staatsoper verlegt
sicherer machen würde  23 Messiaens »Saint François d’Assise« in
der Grenzregion Darfur, die schon vor
die Natur und vergisst den Klimawandel 
zwanzig Jahren umkämpft war  Lokführer  Die Gewerkschaft GDL will
VON HANNAH SCHMIDT  48
VON IS SIO EHRICH  8 ihre Mitglieder über eine Genossen-
schaft an die Deutsche Bahn verleihen  Kino  Die US-amerikanische Herrschaft
Ukraine  Unter Wasser und unter VON JONAS SCHULZE PALS  24 über die globalen Bilderwelten bröselt 
Beschuss. Eine Reportage aus der Stadt VON SABINE HORST  49
Wirtschaft in einem Satz   25
Cherson nach der Zerstörung des
Literatur  Niemand kann so glänzend
Kachowka-Staudamms  Die Coachin  Ich finde meinen Kollegen nachdenken und gleichzeitig erzählen
VON ANDREA JESK A  9 sehr attraktiv. Was nun?  25 wie J. M. Coetzee 
VON GREGOR DOTZ AUER  50
STREIT WISSEN
GLAUBEN & ZWEIFELN
Foto: Carl de Souza/AFP/Getty Images

Asylpolitik  Ist der jüngste EU-­ Gesundheit  Endlich wird in

Foto: Lena Giovanazzi für DIE ZEIT

Flüchtlingsbeschluss ein Schritt in die Deutschland die Gefahr sommerlicher Lebensgefühl  Eine aktuelle Studie
Unmenschlichkeit – oder in die richtige Hitzewellen ernst genommen  besagt, dass die glücklichsten Deutschen
Richtung? Der grüne Europaabgeordnete VON K ATJA TRIPPEL, STEFAN SCHMIT T, in Hamburg leben und die unglück­
Foto: Tanja Kernweiss

UND JAN SCHWEITZER  27 lichsten in Leipzig. Kann das sein? 

Rasmus Andresen streitet mit dem
CDU-Politiker Jens Spahn
Bewegungsfreiheit Dorfbewohner
sollten aufhören, Stadtbewohnern zu
erklären, wie sie zu leben haben – denn
Ein König In ihrer Küche das erwarten sie ja umgekehrt auch! 
VON MARK SCHIERITZ  
wird gejagt herrscht Stille Volljährig Dausend Prozent 
VON PETER DAUSEND 
VON EVELYN FINGER UND
10 MARTIN MACHOWECZ  52
Zwei Studien stellen menschliche
Gesundheit in einen planetaren Kontext 
• 28
VON CHRISTIANE GREFE 
ENTDECKEN
Aufklärung  In Indien ist Okkultismus Coaching  Selbst ernannte Life-Coaches
11
weitverbreitet – und Mittel zur
Ausbeutung. Die Aktivisten einer
versprechen Rat in Lebenskrisen. Nutzen
sie gezielt verletzliche Menschen aus? 
11
Stiftung kämpfen dagegen an 
VON SONIA PHALNIK AR  • 29
VON CAROLINE DREES , JOSUA GERNER
UND CÉLINE SCHUSTER  53

Der Jaguar ist das prächtigste aller Douce Steiner ist Deutschlands Friedrich, der Sohn unseres Foto- Lebensfragen  Ein Gespräch mit dem Entdeckt Alleinsitzende 
Literaturwissenschaftler Matías Martínez VON DAVID HUGENDICK  55
Raubtiere im Amazonaswald. einzige Zwei-Sterne-Köchin. grafen Florian Jaenicke, ist DOSSIER
Doch inzwischen ist er selbst zur Dabei geht es in ihrem Restaurant schwerst­behindert. Jetzt ist er über die Frage, warum Bücher uns
Gastronomie  Die einzige deutsche
Beute geworden. Eine Reportage ganz anders zu als in der männer- 18 Jahre alt geworden, das berühren 31
Verkehrspolitik  Im Norden Deutsch- Köchin mit zwei Sternen, Douce Steiner,
aus Suriname, wo chinesische dominierten Spitzengastronomie. Sorgerecht der Eltern endet. Aber lands wird die Autobahn 20 ausgebaut. im Interview über Männer am Herd und
Geschichte  Das Medizinhistorische
Händler und Mafiosi mit Körper- Ein Gespräch über Kerle am Herd was, wenn sich ein Kind nicht Vielen gilt sie als Garant für mehr Wirt- die Frage, ob sie in ihrer Küche gendert 
Museum der Charité öffnet nach langem
teilen des Tiers Geschäfte machen und Kochen ohne Gewalt selbst versorgen kann? VON AMONTE SCHRÖDER-JÜRS S  56
schaftswachstum, andere fürchten Natur­ Umbau wieder 
  WIRTSCHAFT, SEITE 20   ENTDECKEN, SEITE 56   MAGAZIN, SEITE 30 zerstörung und hohen CO₂-Ausstoß. VON URS WILLMANN  32 Tschechien  Eine Tour zu den schönsten
Braucht das Land die Riesenpiste Bahnhofskneipen eines Landes, in dem
wirklich?  VON RUBEN REHAGE  13 Infografik  Der zerstörte Kachowka- Bahnfahren und Biertrinken noch sehr
Staudamm 40
• 58
viel angenehmer sind als in Deutschland 
VON NICL AS SEYDACK 
IN DEN REGIONALAUSGABEN ANZEIGEN IN
GESCHICHTE
DIESER AUSGABE LEO – DIE SEITE Über Nacht in ... Woldzegarten 
ZEIT im Osten  Leif-Erik ZEIT Schweiz  Einst kämpfte der Frauen wenig zu ändern  Bildungsangebote und Technik  Vor 75 Jahren kam die erste FÜR KINDER VON ALICE BOTA  59
Holm ist Vize-Fraktionschef der das Tessin regelmäßig gegen VON CHRISTINA PAUSACKL  16 Stellenmarkt Vinyl-Langspielplatte auf den Markt.
AfD im Bundestag. Jetzt will er Hochwasser, nun wird es tro- Ausgestorbene Berufe  Vom Pipi- Wie es wirklich ist ... 
(ab Seite 34); Das neue Medium revolutionierte heimlich verheiratet zu sein  62
Oberbürgermeister in Schwerin cken. Und seine Bauern müssen Vor einem Jahr erarbeiteten Sammler bis zum Furzkünstler: Zehn
Agenda Kultur: Musik und Jugendkultur 
werden. Seine Wahl ist unwahr- umdenken  VON SAR AH JÄGGI  16 Bürgerinnen und Bürger verrückte Berufe, die früher stinknormal
Handlungsempfehlungen gegen Museen, Kunstmarkt, VON JENS BALZER  17
scheinlich – und dennoch hat waren 
Kelly Tissot wuchs fernab der die Klimakrise. Politisch wurde Bühnen (Seite 50) RUBRIKEN
das Ganze Methode  VON MARKUS ROT TMANN  39
Kunstwelt auf. Nun stellt sie wenig umgesetzt. Was bleibt Leserbriefe  16
VON AUGUST MODERSOHN  17 erstmals in der »Art«-Woche in vom Klimarat?  FRÜHER VERBRECHEN
Vor siebzig Jahren erhob sich der
Basel aus  VON TIMO POS SELT 18 VON JOHANNES GRES S  18 INFORMIERT!
Meine Urteile (XXVII)  Ein Mann aus FEUILLETON Stimmt’s? • 30
Volksaufstand gegen das DDR- ZEIT Österreich  Seit einem Unterhaltung  Von der Die aktuellen Themen
der ZEIT schon am
dem Tschad landet seit zehn Jahren Literatur  Der Roman »Der Anfang Die Position 34
Regime. Nun haben Historiker Jahr wird in der österreichischen Olympia­siegerin zum Neuling:
ein vergessenes Dokument Mittwoch im ZEIT-Brief, immer wieder vor Gericht, kann aber vom Ende« von Mark Aldanow ist 3½ Fragen 35
Filmbranche nicht mehr über Anna Kiesenhofer versucht sich
entdeckt – den Augenzeugen­ Missbrauch geschwiegen. noch einmal als Radprofi – und dem kostenlosen nicht abgeschoben werden. Was soll mit das Buch der Stunde über
ihm geschehen?  Impressum 62
ein gewalttätiges Imperium 
• 41
bericht einer West-Spionin vom Doch trotz vieler Bemühungen hat mit ihren 32 Jahren noch Newsletter
17. Juni 1953   18 scheint sich an der Lage viel zu lernen  26 www.zeit.de/brief VON THOMAS MELZER  18 VON ADAM SOBOCZ YNSKI  Was mein Leben reicher macht 62

Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper. Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« unter www.zeit.de/vorgelesen

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Foto: Heinrich Holtgreve für DIE ZEIT
Der Ausbau der A 20 entlang der Nordseeküste ist ein Jahrhundertprojekt. Er wird den Wohlstand steigern, aber auch den CO₂-Ausstoß.
D
er Biologe Rüdiger von
Lemm steht auf einer safti­
gen Wiese im Niemands­
land zwischen Oldenburg
und Bremerhaven, nicht
weit entfert von seinem
Wohnort, in einer Gegend,
in der es nicht viel gibt außer Wiesen, Wassergrä­
ben und alten Bauernhäusern. Er blickt über die
weite Landschaft, grün bis zum einen Horizont,
grün bis zum anderen, zwischendrin ein paar­
Bäume und weit entfernt ein Windrad.
Von Lemm sagt: »Genau hier, wo wir stehen,
wird einmal das Monster leben.«
Das, was er Monster nennt, wird Hunderte
Kilometer lang sein und mehr als 30 Meter breit,
ein Betonstreifen mit vier Fahrspuren, der das
Land durchschneiden wird, Naturschutzgebiete,
Wälder, Moore. Abertausende von Autos, jeden
Tag.
DOSSIER
200 Kilometer Strecke, 30.000 Autos pro Tag: Über dieses Feld am Rande von Bad Segeberg soll die Verlängerung der A 20 führen
Mitten durch
Braucht Deutschland diese Autobahn?  VON RUBEN REHAGE
Die Autobahn 20.
»Hören Sie die Vögel?«, fragt von Lemm. »Die
werden Sie nicht mehr hören, wenn das Monster
gebaut wurde.«
200 Kilometer weiter östlich steht der Bürger­
meister Toni Köppen an der Bundesstraße, die
durch seine kleine Stadt führt, und schaut auf all
das, was da vorbeirollt, vorbei an Schulen, Ein­
familienhäusern, der Fußgängerzone: Lastwagen,
Lieferwagen und Wohnmobile, Sportwagen,
Kompaktwagen und Geländewagen, kleine Autos,
große Autos. Kennzeichen aus Polen bewegen sich
in die eine, Kennzeichen aus den Niederlanden in
die andere Richtung, Kennzeichen aus Deutsch­
land in beide Richtungen.
30.000 Fahrzeuge. Jeden Tag.
Die vielen Autos fahren durch Bad Segeberg,
weil der Teil der A 20, der schon gebaut ist, ein
paar Hundert Meter vor dem Stadtschild schlag­
artig endet. Von Osten kommend, sollte die Auto­
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
bahn eigentlich an der Stadt vorbeiführen. Statt­
dessen rollt der gesamte Verkehr jetzt über die
Bundesstraße und durch die Stadt.
Toni Köppen sagt, nein, er brüllt eher, weil es
so laut ist: »Dieser Verkehr ist wie ein Krebs­
geschwür, das unsere Stadt zersetzt. Wir brauchen
den Weiterbau der A 20, damit Bad Segeberg ge­
sund werden kann.«
Ein Biologe und ein Bürgermeister, die sich nicht
kennen, die weit von­ein­an­der entfernt wohnen und
aus komplett gegensätzlicher Perspektive auf
Deutschlands größtes Autobahn-Neubauprojekt seit
mehr als 80 Jahren blicken. Der eine, der Biologe,
sagt, die A 20 sei ein »ökologisches Verbrechen von
historischem Ausmaß«. Der andere, der Bürger­
meister, sagt, am Bau der A 20 hänge »die wirtschaft­
liche Entwicklung ganz Norddeutschlands«.
Von der polnischen Grenze bei Stettin vorbei
an Rostock und Lübeck, über die Elbe, an Bremer­
haven vorbei, über die Weser bis nach Westerstede
nahe der niederländischen Grenze, 550 Kilometer
lang, so soll die A 20 durch den Norden Deutsch­
lands führen. Der erste Teil der Autobahn, quer
durch Mecklenburg-Vorpommern, wurde in den
Neunzigerjahren gebaut, als eines von 17 soge­
nannten »Verkehrsprojekten Deutsche Einheit«.
Dieser schon existierende Teil der A 20 wurde
damals in Rekordzeit umgesetzt, kaum zwei Jahre
dauerte es vom Beginn der Planung bis zum ersten
Spatenstich, fünf Jahre später waren die ersten
Teilstücke fertig, 2009 wurde der vorerst letzte Ab­
schnitt für den Verkehr freigegeben. Keine 20 Jah­
re Planung und Bau, über 300 Kilometer fertige
Autobahn, das ist sehr viel in sehr kurzer Zeit, vor
allem wenn man bedenkt, was seitdem geschah.
Nichts.
Seit bald 15 Jahren stagniert der Weiterbau.
Seit bald 15 Jahren wird gestritten, heute vielleicht
so erbittert wie nie zuvor. Bundesverkehrsminister
Volker Wissing von der FDP ist ausdrücklich für
13
die Autobahn. Die Ministerpräsidenten der betei­
ligten Bundesländer Schleswig-Holstein (Daniel
Gün­ ther, CDU) und Niedersachsen (Stephan
Weil, SPD) ebenso, genau wie praktisch alle nord­
deutschen Bürgermeister.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von
den Grünen ist dagegen, genau wie praktisch alle
Umweltverbände.
Die einen erhoffen sich von der Autobahn 20
die ökonomische Erweckung des hohen Nordens,
eine bessere Anbindung der Seehäfen an das Hin­
terland, neue Gewerbegebiete und Arbeitsplätze.
Für die anderen ist die A 20 Ausdruck einer ver­
fehlten Verkehrspolitik, die sich für Wirtschafts­
wachstum, aber nicht für Natur- und Klimaschutz
interessiert.
Verkehrspolitiker gegen Klimaschützer, Um­
weltverbände gegen Wirtschaftsverbände, Bürger
Fortsetzung auf S. 14
 14 DOSSIER 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten: Dass immer neue Autobahnen
immer mehr Autos anlocken, ist in der Forschung unbestritten

Mitten durch  Fortsetzung von S. 13
gegen Bürger – und mittendrin die große Frage:
Kann man, soll man diese neue Autobahn bauen?
Toni Köppen sagt: »Man muss.«
Seit zwei Jahren ist Köppen parteiloser Bürger-
meister von Bad Segeberg, ein gemütlicher Kerl
von Anfang 40 mit einem rötlichen Dreitagebart.
Köppen sagt, die Bad Segeberger hätten zwei ver-
bindende Themen, parteiübergreifend: die Karl-
May-Festspiele und die »unbedingt zu bauen­de
A 20«, wie er das nennt.
Seit Jahren warten sie in Bad Segeberg ziemlich
verzweifelt darauf, dass der Bau weitergeht. Vor
der Stadt, wo die Autobahn derzeit endet, stehen
immer noch die Baustellenabsperrungen herum,
als könnten jeden Augenblick die Bagger anrollen
und wieder anfangen zu graben.
Köppen steht an der sogenannten Kaufland-
Kreuzung, die so heißt, weil dort ein gleichnami-
ger Supermarkt steht. Es ist Freitagmittag. Auf der
einen Seite der Straße ist der Bahnhof, an dessen
Schranke Autoverkehr und Bahnverkehr und Rad-
fahrer und Fußgänger auf­ein­an­der­tref­fen. Auf der
anderen Seite ist der Zentrale Omnibusbahnhof,
Schüler rennen herum bei dem Versuch, den Bus
in ihr Heimatdorf zu erwischen, Busfahrer brül-
len aus ihrem Fenster, hupen und schimpfen. Aus
der Innenstadt kommt der Berufsverkehr, aus den
Wohngebieten kommen die Wochenendeinkäu-
fer. Und mitten durch diese ohnehin schon volle
Kleinstadt schiebt sich der Autobahnverkehr,
ohne Autobahn.
Spricht man mit Menschen aus Bad Segeberg,
schaut man in die Lokalpresse, redet man mit
Toni Köppen, dann hört man immer wieder ein
Argument, das ungefähr so geht: Klimakrise schön
und gut, verstehen wir – aber müssen wir deswe-
gen bis in alle Ewigkeit mit diesem unerträglichen
Verkehr leben?
Es gibt ein Gutachten, wonach die A 20 zwei
Drittel der Fahrzeuge aus Bad Segeberg he­raus­
holen und den Verkehr auf ein Maß herunter-
dampfen würde, das für ein 18.000-Einwohner-
Städtchen erträglich wäre. Toni Köppen aber kann
die Autobahn nicht bauen lassen, denn eine
Bundes­auto­bahn ist Bundessache, genau wie eine
Bundesstraße.
Und deshalb setzt Köppen seine Hoffnung da-
rauf, dass Bernd Rothe einen guten Job macht und
der Bau der A 20 bald beginnen kann.
Bernd Rothe gehört zu den Leuten, die die A 20
planen, er sitzt an einem verregneten Aprilvormittag
in seinem Büro in Berlin, schicker Anzug, schicke
Möbel, jede Nische vollgepackt mit Akten und Ord-
nern. Auf deren Rücken steht »Immissionsschutz-
konzept BAB A 7 Ordner 2« oder »Straßenbrücken-
gerät SB 30«. Rothe ist Prokurist und Bereichsleiter
für Norddeutschland bei der Deges, der »Deutsche
Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH«.
Rothe hat in sein Büro geladen, um über den Pla-
nungsstand der einzelnen Abschnitte der A 20 in
Schleswig-Holstein, seinem Zuständigkeitsbereich,
zu sprechen.
Er sagt: »Es ist nun einmal so, dass wir jede
Haselmaus und jeden Zwergschwan berücksichti-
gen müssen, und das macht die Planung, vorsich-
tig formuliert, anspruchsvoll.«
Rothe beginnt mit seiner Erzählung ganz am
Anfang, und am Anfang jeder Autobahn steht der
Bundesverkehrswegeplan. Er bestimmt die Ver-
kehrsprojekte der Bundesrepublik Deutschland.
Im aktuellen Plan finden sich mehr als 1000 Bau-
vorhaben mit einem Finanzvolumen von insge-
samt 270 Mil­liar­den Euro. Neue Bahnschienen,
Autobahnen, Brückenersatzbauten. Die A 20 fällt
unter eine besondere Kategorie, den »vordringli-
chen Bedarf«.
Daraus erwächst Bernd Rothes Auftrag, den
genauen Verlauf der Autobahn zu planen.
Der erste Schritt, so beschreibt es Rothe, be-
steht darin, »konfliktarme Korridore« zu suchen,
also solche, in denen die Autobahn möglichst we-
nige Umweltschäden anrichtet, möglichst wenige
Umsiedlungen zur Folge hat, möglichst weit weg
ist von Wohngebieten. Innerhalb dieser Korridore
werden verschiedene Varianten festgelegt, die dann
Fotos: Heinrich Holtgreve für DIE ZEIT
Am Ende dieses Prozesses steht der sogenannte
Planfeststellungsbeschluss, der publik gemacht
wird, damit sich die Öffentlichkeit damit aus­ein­
an­der­set­zen und Fehler suchen kann.
Drei der sechs Abschnitte in Rothes Zuständig-
keitsbereich sind planfestgestellt, das heißt, aus
Sicht der Deges könnte der Bau beginnen. Gegen
alle drei Abschnitte wurde jedoch Klage erhoben,
in zwei Fällen schlug sich das Bundesverwaltungs-
gericht auf die Seite der Kläger und erklärte die
Pläne für »rechtswidrig und nicht vollziehbar«.
Bei einem der Abschnitte hatten Naturschützer
in der Gerichtsverhandlung die Interessen der
Schleier­eule präsentiert, die nicht ausreichend be-
rücksichtigt worden ­seien. Bei dem Abschnitt bei
Bad Segeberg bemängelte das Gericht unter ande-
rem, dass die festgelegte Trasse besonders gefähr-
dete Naturschutzgebiete berühre.
Die von Rothe und seinen Leuten festgelegte
Trasse läuft südlich um Bad Segeberg herum,
durch das Travetal, ein »Fauna-Flora-Habitat-­
Gebiet mit prioritären Lebens­ raum­ typen«, das
naturschutzrechtlich besonders geschützt ist. Im
Westen Bad Segebergs befindet sich außerdem die
Kalkberghöhle, Nordeuropas größtes Fledermaus-
quartier, ebenfalls unter besonderem Schutz.
20.000 Tiere überwintern hier jedes Jahr, sie­
müssten die Autobahn überqueren und wären
»kollisionsgefährdet«, wie Rothe sagt.
Wollen die Planer die A 20 an Bad Segeberg
vorbeiführen, müssen sie minutiös nachweisen,
dass sich die Autobahn nicht negativ auf die Natur
auswirkt. Oder dass sie die Schäden ausgleichen.
Das konnten sie nicht, und deshalb versuchen
sie nun, das Konzept so zu verändern, dass es­
einem erneuten Gerichtstermin standhält.
Pläne. Einwendungen gegen die Pläne. Klagen.
Sogenannte Heilungsverfahren. Neue Klagen. So
geht das seit Jahren.
Man muss sich an dieser Stelle noch einmal
mit dem Bundesverkehrswegeplan beschäftigen,
dem Verkehrskonzept, das der A 20 »vordringli-
chen Bedarf« zuweist. Den Plan formuliert das
Bundesverkehrsministerium, die Bundesregierung
beschließt ihn, und die sich daraus ergebenden
Gesetze verabschiedet der von den Bürgerinnen
und Bürgern gewählte Bundestag. Man kann also
sagen, der Weiterbau der A 20 ist demokratisch
legitimiert, etwas pathetisch formuliert: Er ent-
spricht dem Willen der Bevölkerung, zumindest
theoretisch.
Dennoch dürfen die Behörden die Autobahn
nicht einfach bauen lassen. Das Gesetz sieht statt-
dessen vor, dass die Öffentlichkeit bei der Planung
großer Infrastrukturprojekte zu beteiligen ist. Al-
lerdings darf es dabei nicht mehr um die Frage
gehen, ob die A 20 wirklich nötig ist. Diese Ent-
Autobahntunnel, der unter Bad Segeberg verlau-
fen würde. »Damit würden wir so gut wie alle Be-
einträchtigungen der Natur wegkriegen«, sagt
Rothe. Der Tunnel würde aber auch 100 Millio-
nen Euro mehr kosten als die Trasse, die um die
Stadt herumführt. Deshalb ist die Deges schließ-
lich weitgehend bei der ursprünglichen Strecke
geblieben, hat ein Teilstück der Autobahn aber um
etwa 50 Meter verschoben, ein Stückchen weiter
weg von den sensiblen Gebieten, dafür näher he-
ran an eine Schule.
Um den Lärm zu mindern, will Rothe kilome-
terlange Schutzwände bauen, teilweise zehn Meter
hoch, er will die zulässige Höchstgeschwindigkeit
an einigen Stellen auf 80, manchmal sogar auf 60
Kilometer pro Stunde begrenzen, und er will 13
»ökologische Bauwerke« anlegen, Unterführungen
und sogenannte Faunabrücken, über die Tiere die
Autobahn queren können.
Autos statt Kühe: Geplanter Streckenabschnitt nahe dem Ort Jade
»Meine ganze Existenz hängt an der Frage, ob­
diese Autobahn gebaut wird oder nicht.«
Kirsten Erwentraut ist eine kleine, drahtige
Frau in ihren Fünfzigern, sie betreibt einen Pferde-
hof. Ähnlich wie für die Bewohner von Bad Sege-
berg ist die Autobahn für sie eine fast persönliche
Angelegenheit.
Im Jahr 2009 hat sie den Pferdehof gekauft,
er liegt einige Hundert Meter von ihrem Wohn-
haus entfernt. Ein Jahr später legten sich die
Autobahnplaner auf ihre Trasse fest, sie führt
genau über die Wiesen zwischen Wohnhaus und
Pferdehof. Da hatte Erwentraut schon ihr ganzes
Geld, ihre Altersvorsorge und ihre Hoffnung auf
eine gute Zukunft in Haus und Hof gesteckt. Sie A-20-Gegnerin Kirsten Erwentraut
sagt: »Die Pferdebesitzer, die ihre Tiere bei mir
abstellen, tun das, weil der Hof so ruhig liegt.«
Wenn die Autobahn käme, wäre es mit der Ruhe
vorbei. zeuge zum Beispiel könne man sehr stark gewich-
ten – oder sehr schwach. Davon hänge dann ab, ob
der Bau der A 20 sinnvoll erscheine oder nicht.
Nach einer Analyse des Bundes für Umwelt
und Naturschutz Deutschland (BUND) achtet
das Verkehrsministerium bei seiner Beurteilung
der Projekte aus dem Bundesverkehrswegeplan in
erster Linie auf eines: die sogenannten Reise­zeit­
gewin­ne. Es geht also vor allem darum, wie schnell
man sich auf der Autobahn bewegen kann, im
Vergleich zu den derzeit existierenden Alternati-
ven. Die Reisezeitgewinne versprechen eine bessere
Anbindung der Nordseehäfen, eine stärkere Ver-
netzung der Industriestandorte, einen Schub für
den Tourismus, kurz: mehr Wirtschaftswachstum
und neue Arbeitsplätze.
Die CO₂-Emissionen spielen dagegen laut
BUND so gut wie keine Rolle.
Auch Urs Meier sagt: »Das Bundes­verkehrs­
minis­te­rium kennt vor allem ein Kriterium: Zeit.«
Nun muss man darauf hinweisen, dass sich der
BUND als Umweltschutzorganisation selten für
eine Autobahn ausspricht, ganz egal, für wie not-
wendig sie manche halten. Und auch Urs Meier ist
kein neutraler Beobachter. Sein Arbeitgeber, Agora
Verkehrswende, gehört zum Kosmos der Grünen,
die Organisation verfolgt das Ziel, »die Treibhaus-
gas-Emissionen im Verkehrssektor auf null zu
senken«, so steht es auf ihrer Home­page.
Man würde deshalb an dieser Stelle gerne­
Bundesverkehrsminister Volker Wissing zu Wort
kommen lassen und ihn fragen, was er auf das, was
der BUND und der Experte Urs Meier da behaup-
ten, erwidert. Das Ministerium hat jedoch über
Wochen alle Anfragen der ZEIT abgeblockt. Der
Minister habe leider keine Zeit, um über die A 20
und den Bundesverkehrswegeplan zu sprechen –
und auch sonst niemand aus dem Ministerium,
kein einziger der weit über 1000 Mitarbeiter.
Erwentraut hat Germanistik studiert und da- Das mag vielleicht daran liegen, dass sich Wis-
nach als Lektorin gearbeitet. In ihrem Regal stehen sing in einer nicht ganz einfachen Situation befin-
die großen Klassiker, Dostojewski, Kafka, Grass. det. Um die Klimaziele zu erreichen, müsste der
Als sie den Hof kaufte, dachte sie, künftig werde Verkehrssektor seine Treibhausgas-Emissionen in
sie in Vollzeit als Pferdewirtin arbeiten, aber das ist den kommenden sieben Jahren fast halbieren. Im
jetzt nur ihr Nebenjob. Ihr Hauptberuf, sagt sie, vergangenen Jahr sind sie jedoch sogar leicht ge-
sei das Verhindern der A 20. Sie hat sich mit ande- stiegen. Und Wissing hat bisher keine Pläne vor-
ren Autobahngegnern vernetzt, hält Vorträge, um gelegt, wie er die Emissionen reduzieren will.
weitere Mitstreiter zu finden. Bei jeder neuen Stattdessen will er mehr Straßen bauen, und das
Trassen­planung arbeitet sie sich aufs Neue in die möglichst schnell.
Details ein. Flora, Fauna, Lärm, Luftverschmut- Traditionell gibt es bei der Planung von Stra-
zung, der Wasserhaushalt. Kirsten Erwentraut ßen zwei Denkschulen. Die erste sieht den Ver-
sucht die Schwachstellen in den Konzepten der kehrsminister in der Rolle eines Dienstleisters.
Behörden. Wenn sich der Bau der A 20 weiter ver- Nach den gängigen Pro­gno­sen wird sowohl der
zögert, dann wird das auch an ihr liegen. Am Ende Güter- als auch der Individualverkehr weiter zu-
aber wird sie den vom Bundestag beschlossenen nehmen? Dann braucht man mehr Straßen, ob
Bau eben nur verzögern, nicht verhindern. man das nun gut findet oder nicht.
Es wäre auch schwierig, wenn jeder alles blo- Die zweite Denkschule dagegen begreift die
ckieren könnte. Hätten einzelne Bürger die Mög- Politik als Gestalter. Der Autoverkehr verursacht
lichkeit, immer wieder gegen die Windenergie an zu viele Emissionen? Dann muss man weniger
sich, gegen den Wohnungsbau oder den Auto- Straßen bauen und stattdessen zum Beispiel die
bahnbau vor Gericht zu ziehen, würde sich in Schiene stärken. Unternehmen und Privatperso-
Deutschland wenig bewegen. Das Land wäre wie nen werden sich dann danach richten.
eingefroren. Genau das ist, im Kern, die politische Konflikt-
Was den Bau der A 20 angeht, ist die Sache al- linie. Der Bundesverkehrsminister, die FDP und
lerdings ein wenig kompliziert. Es gibt da nämlich die Wirtschaftsverbände folgen der ersten Denk-
ein Problem. Auch dieses Problem hat mit dem schule. Der Bundeswirtschaftsminister, die Grü-
Bundesverkehrswegeplan zu tun. Worin es besteht, nen und die Umweltverbände folgen der zweiten.
versucht in Berlin ein Mann namens Urs Meier in Es ist ein Streit, der in Zeiten der Klimakrise
einem über zwei Seiten verglasten Besprechungs- besonders brisant, in Wahrheit aber sehr alt ist.

detaillierter bewertet werden. Am Ende legen sich
die Planer auf eine Trasse fest, die dann »parzellen-
scharf geplant« wird, wie Rothe das nennt.
Rothe klickt durch seine Folien, er zeigt Zeit-
leisten, Tabellen, Karten, viel Technisches, er sagt,
im Prinzip müsse man als Planer eine ganz ein­
fache Frage beantworten: Welcher Trassenverlauf
richtet am wenigsten Schaden an und bringt am
meisten Nutzen?
Bürgermeister Toni Köppen
raum mit Blick auf die Spree zu erklären. Schon 1972 sagte der damalige Bundesbauminister
Meier arbeitet für den Thinktank Agora Ver- Hans-Jochen Vogel (SPD): »Wer Straßen sät, wird
kehrswende. Er hat zum Treffen mit der ZEIT Verkehr ernten.« Gemeint war die These, dass es so
nichts mitgebracht außer einen Stift, mit dem er etwas gibt wie induzierten Verkehr: Je mehr Auto-
Schon gebaut: Die Autobahn 20 zwischen Lübeck und Bad Segeberg seine Gedanken in der Luft sortiert, wie ein Lehrer bahnen und andere Fernstraßen es gibt, desto öfter
mit einem Zeigestab. Meier sagt: »Der Bundes- steigen die Leute in ihre Autos, und desto weiter
verkehrswegeplan ist völlig aus der Zeit gefallen.« fahren sie. Der Verkehr nimmt zu, es kommt zu
Dazu muss man wissen: Die Arbeit an der ak- Staus, was den Eindruck vermittelt, es brauche
tuellen Fassung des Plans begann im Jahr 2011, noch mehr Straßen, um die Staus auf­zu­lösen.
scheidung ist mit den Beschlüssen der Bundes­ In den nächsten zwei Jahren will Rothe die abgeschlossen wurde sie 2016. Die Einschätzung, Man könnte nun verschiedene Experten auf-
regierung und des Bundestages gefallen. Es geht nur Planungen abschließen, bald danach könnte der dass es wichtig und sinnvoll ist, die A 20 zu ver- treten lassen, die diese These entweder verteidigen
noch darum, ob das Projekt im Detail rechtmäßig Bau beginnen – wenn nicht wieder geklagt wird. längern, ist also schon etwas älter. oder ihr widersprechen, aber das ist gar nicht nö-
geplant wurde. Wer also die Politik der Bundesre- Bernd Rothe lacht, als er das sagt. Er glaubt Danach ist einiges passiert: Das Bundesverfas- tig. Denn das Phänomen des induzierten Verkehrs
gierung im Großen stoppen oder zumindest brem- selbst nicht daran. Erfahrungsgemäß, sagt er, finde sungsgericht hat geurteilt, dass die Bundesregie- ist in der Forschung inzwischen unbestritten. Stra-
sen will, der muss auf die kleinen Dinge achten. sich immer irgendwer, der vor Gericht ziehe. rung nicht genügend unternehme, um die Klima- ßen locken Autos an, das ist eine Tatsache. Erst
Das ist der Grund, weshalb Windkraftgegner Zum Beispiel Kirsten Erwentraut. ziele von Paris zu erreichen. Die große Koalition kürzlich hat der Wissenschaftliche Dienst des
mit der Gefährdung geschützter Vogelarten argu- Sie steht in der Diele ihres alten, liebevoll reno- unter Kanzlerin Angela Merkel hat das Klima- Bundestages die entsprechenden Stu­ dien noch
mentieren, wenn sie ein Windrad verhindern wol- vierten Bauernhauses, blickt aus dem Fenster und schutzgesetz beschlossen, das dafür sorgen soll, einmal zusammengefasst.
len. Oft geht es ihnen dabei nicht um den Rot­ nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Kirs- dass diese Ziele doch noch erreicht werden. Die Frage ist nun, was aus alldem politisch
milan, sondern um die Windkraft selbst. Und das ten Erwentraut sagt, sie halte den Blick aus dem Als das Bundesverkehrsministerium damals der folgt. Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel­
ist auch der Grund, warum sich Autobahngegner Fenster kaum noch aus, ohne zu rauchen, er stresse A 20 »vordringlichen Bedarf« zuwies, basierte das regie­rung darauf geeinigt, einen neuen Bundes-
mit dem Lebensraum von Fledermäusen und sie zu sehr. auf einer Analyse, wonach der Nutzen dieser Au- verkehrswegeplan zu erarbeiten und dafür »einen
Schleier­eulen beschäftigen, obwohl sie sich nicht Draußen streicht der Wind über das flache tobahn im Vergleich zu den Kosten besonders neuen Infrastrukturkonsens bei den Ver­ kehrs­
so sehr um die Tiere sorgen, sondern um den Land und durch die Bäume. Friedlich sieht es aus. hoch ist. So eine Kosten-Nutzen-Rechnung sei al- wegen« anzustreben. Allerdings ist unklar, worin
Klima­schutz, oder auch nur um ihre Nachtruhe. Eines Tages jedoch soll die A 20 genau durch die lerdings relativ, sagt Urs Meier in dem Bespre- dieser Konsens bestehen soll. Braucht man nun
Für den Abschnitt bei Bad Segeberg hat Bernd Landschaft vor dem Fenster verlaufen, Abschnitt 2, chungszimmer in Berlin. Man könne die einzelnen mehr Autobahnen? Oder weniger? Es ist ein un-
Rothe nun andere Trassen komplett neu prüfen von der Ortschaft Jaderberg zur Ortschaft Schwei Kriterien sehr unterschiedlich bewerten. Die CO₂- gelöster Konflikt, wann und ob er jemals beigelegt
lassen, unter anderem einen 1000 Meter langen im nördlichen Niedersachsen. Erwentraut sagt: Emissionen der auf der Autobahn fahrenden Fahr- wird, ist unklar.
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
Solange all dies nicht geklärt ist, geht die
Konzeption der A 20 weiter. Man kann sich die
Planung einer Autobahn wie eine große Ma­
schine vorstellen, die im Bun­des­ver­kehrs­minis­
te­rium in Gang gesetzt wird. Einmal in Bewe­
gung, läuft sie weiter, und jede Umdrehung ist
gesetzlich definiert, völlig unabhängig von der
politischen Diskussion. Während die Ampel­
koalition also darüber debattiert, ob neue Auto­
bahnen nötig sind, wird bei der Deges einfach
weitergeplant.
Im niedersächsischen Niemandsland zwischen
Oldenburg und Bremerhaven hat der Biologe
Rüdiger von Lemm, der die A 20 ein »Monster«
nennt, einen Pürckhauer in die Hand genom­
men, einen zwei Meter langen, innen hohlen
Metallstab, mit dem sich Bodenproben nehmen
lassen.
Von Lemm setzt den Stab mit der Spitze ins
Gras und sagt: »Jetzt passen Sie auf.« Er drückt
sanft von oben, der Pürckhauer gleitet in die Erde.
Von Lemm blickt erwartungsvoll, dann fragt er:
»Verstehen Sie die Pointe? Der Untergrund ist so
weich, der Pürckhauer gleitet ganz von selbst in
die Tiefe.«
Anders als die Bewohner von Bad Segeberg,
anders als die Pferdehofbesitzerin Kirsten Erwen­
traut ist der Biologe von Lemm vom Bau der A 20
nicht persönlich betroffen. Er arbeitet als Gutach­
ter für Infrastrukturprojekte, erstellt Kartierungen.
An der A 20 hat er nicht mitgearbeitet.
Von Lemm zieht den Pürckhauer wieder hoch
und holt damit die Struktur des Untergrunds an
die Oberfläche. Die ersten 60 Zentimeter, von
oben betrachtet, sind schwarz und krümelig. »Das
war mal Moor«, sagt von Lemm.
Die Wiese, auf der von Lemm steht, liegt in der
Wesermarsch, einer Landschaft, in der es einst
viele Moore gab, die später trockengelegt wurden,
um Tiere grasen zu lassen oder den Torf aus dem
Untergrund zu holen.
Moore entstehen, stark vereinfacht, wenn auf
nassen Flächen Torfmoose wachsen. Wie alle
Pflanzen nehmen die Moose CO₂ aus der Luft auf
und speichern den darin enthaltenen Kohlenstoff
in Wurzeln und Blättern. Anders als bei anderen
Pflanzen aber werden ihre alten Blätter und Wur­
zeln nicht zersetzt, da sie in dem feuchten, sauren
Untergrund vom Sauerstoff abgeschnitten sind.
So kommt es, dass die Moore dieser Welt deutlich
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Wahrheit
Wie konnten die Deutschen die gemeinsame
Geschichte mit der Ukraine verdrängen?
Warum verbreitete sich der Mythos, das Land
sei nur der unmündige Verwandte Russlands?
Unser Heft entdeckt die 1000 Jahre alten
Beziehungen zwischen Deutschland, Russland
und der Ukraine neu – vom Mittelalter bis heute.
113024_ANZ_371x250_X4_ONP26 1
Nordsee
Bremerhaven
A28
Groningen
Bremen
bessere Kohlenstoff-Speicher sind als etwa die Re­
genwälder, obwohl über die Zerstörung der Re­
genwälder viel mehr berichtet wird als über die
Zerstörung der Moore.
Nach Berechnung des BUND verlaufen
80 Prozent der Neubaustrecke der A 20 über »sen­
sible Moor- und Marschböden«. Allein für die 120
Kilometer in Niedersachsen müssten 1,8 Millio­
nen Kubikmeter Torf abgestochen werden. Da­
durch würden innerhalb kürzester Zeit etwa
450.000 Tonnen CO₂ freigesetzt.
Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher Bun­
desbürger verursacht pro Jahr durch Konsum,
Urlaubsreisen, Stromverbrauch und das Heizen
seiner Wohnung Emissionen von etwa 10 Ton­
nen CO₂.
Zwar sind die Autobahnplaner verpflichtet, die
»beeinträchtigten Funktionen des Naturhaushalts
in gleichartiger Weise« wiederherzustellen, etwa
durch Landstreifen, die der Natur überlassen wer­
den, Wald- und Wiesenflächen oder Seen. So will
es das Bundesnaturschutzgesetz. Dabei geht es al­
lerdings in erster Linie um Lebensräume für Tier-
und Pflan­zen­arten, nicht um das Speichern von
Kohlenstoff, also um den Klimaschutz.
Die A 20 aber schädigt die Natur und das
Klima. Dafür stärkt sie die Wirtschaft und
macht die Kleinstadt Bad Segeberg wieder le­
benswert. Die Frage ist, was wichtiger ist. Wo­
bei die Antwort dadurch erschwert wird, dass
der Klimaschutz als Ziel so riesengroß ist.
Durch den Verzicht auf eine Autobahn in
Schleswig-Holstein und Niedersachsen allein
lässt es sich nicht erreichen. Die Beruhigung
Bad Segebergs und die Belebung der nord­
deutschen Wirtschaft dagegen sind als Ziele so
klein, dass der Bau einer Autobahn alles ändern
kann. Man muss sich also entscheiden zwischen
der kleinen Wirkung auf das große Ziel und der
großen Wirkung auf das kleine Ziel. In der Ver­
gangenheit hat sich die deutsche Politik fast
immer für die zweite Variante entschieden, was
einer der Gründe dafür ist, dass Deutschland
die Klimaziele verfehlt.
Auf der Wiese in Niedersachsen sagt Rüdiger
von Lemm nun, es gebe da noch eine weitere Sa­
che. Der moorige Untergrund speichere nicht nur
viel CO₂, er sei auch ziemlich ungeeignet, um eine
Autobahn zu tragen. Denn Moore wachsen in die
Höhe, Millimeter für Millimeter, etwa zehn Zenti­
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DOSSIER
Ostsee
Bad Segeberg
Lübeck
Schwerin
Hamburg
bereits gebaut
in Planung
meter in 100 Jahren. Legt man ein Moor trocken,
schrumpft es pro Jahr um zwei, drei Zentimeter
zusammen; kommt von oben Druck hinzu, etwa
durch schwere Lastwagen, schrumpft es noch ein
wenig schneller.
Schaut man sich die Bodenprobe, die von
Lemm mit dem Pürckhauer nach oben geholt hat,
genauer an, erkennt man, dass die Erde im unters­
ten Teil grau und matschig ist. »Meeresablagerun­
gen von vor 2000 Jahren«, sagt von Lemm, soge­
nannter Klei. Wenn man auf Klei eine Straße
baue, sei das so, als würde man auf Wackelpudding
bauen, sagt von Lemm. Das Gewicht des Asphalts
drückt den Pudding zur Seite weg, die Straße senkt
sich, bekommt Risse und Furchen. Das sei der
Grund, weshalb die Landstraßen in der Weser­
marsch in einem so schlechten Zustand ­seien, je­
denfalls überall dort, wo sie ehemalige Moor­
flächen durchkreuzen.
Natürlich haben auch die Autobahnplaner den
Untergrund untersucht. Entlang der gesamten
Strecke wurden alle paar Hundert Meter Boden­
proben entnommen, geologische Gutachten wur­
den erstellt. In ihnen steht, dass die moorige Erde
nicht besonders gut geeignet sei, um einer Auto­
bahn Halt zu geben. In Bernd Rothes Dokumen­
ten steht, der Untergrund sei teilweise »wenig
tragfähig«.
Die Planer sind trotzdem der Überzeugung,
dass der Bau möglich sei. Bernd Rothe zeigt im Ge­
spräch eigens eine Folie, Titel: »Baugrundkonsoli­
dierung im Überschüttverfahren«. Ein mehrere
Meter hoher »Vorbelastungsdamm« aus Sand soll
den Untergrund zusammendrücken, Gräben links
und rechts der Trasse sollen das aus dem Torf ge­
presste Wasser aufnehmen. Mindestens ein Jahr soll
der Damm stehen bleiben, in der Hoffnung, dass
der Boden irgendwann nicht mehr absinkt und
man die Straße bauen kann.
Auch der schon fertige Teil der A 20 in
Mecklenburg-Vorpommern wurde teilweise in
Moorgebieten gebaut. Damals wandte man ein
Verfahren an, bei dem, vereinfacht gesagt, Be­
tonkeile in die Erde getrieben werden, auf de­
nen dann die Autobahn gebaut wird, wie auf
Stelzen. Vor sechs Jahren dann sackte die A 20
auf einem etwa 100 Meter langen Teilstück
plötzlich ab. Die Fahrbahn zerbrach, metertiefe
Spalten taten sich auf, es sah aus, als habe die
Erde gebebt, nur gut zehn Jahre nachdem die
Gratis
sichern
Rostock
A20
Stettin
Prenzlau A11
damalige Kanzlerin Angela Merkel das Teilstück
feier­lich freigegeben hatte. Die Kon­struk­tion,
so stellte es das Bundesverkehrsministerium in
einem Gutachten fest, war ungeeignet, um eine
Autobahn zu tragen. Nun wird der Abschnitt
neu gebaut, es wurden bereits dickere Funda­
mente in den Untergrund getrieben.
Am westlichen Rand Deutschlands, nahe der
niederländischen Grenze, stapft eine junge Frau
barfuß durch den Matsch. Um sie herum stehen
ein paar alte Bauwagen im Kreis. Es regnet, die jun­
ge Frau sagt, sie und ihre Mitstreiter sprächen bei
dieser Art von Regen immer von »Nie­der­sach­sen­
regen«: Man spürt die Tropfen kaum vom Himmel
fallen, aber tritt man vor die Tür, ist man sofort
klatschnass.
Die Frau bittet in einen Bauwagen, in dem es
genauso kalt ist wie draußen. Sie will nicht, dass
ihr echter Name in der Zeitung steht. Deshalb soll
sie hier einfach Lara heißen.
Lara sagt: »Sollen die doch kommen mit ihrer
Autobahn, wir gehen hier nicht weg.«
Die Wohnwagen sind ein Protestcamp, und
Lara gehört zu einer Gruppe von Aktivisten, die
hier leben, hier, wo die A 20 einmal enden soll. An
der Wand des Bauwagens, in dem sie sitzt, klebt
ein Aufkleber, darauf steht: »Es bleibt gesund, wer
gut vermummt.«
Seit zwei Jahren sind sie schon hier in der
Gegend. Anfangs schliefen sie in Baumhäusern
im Wald, aber das hat der Waldbesitzer irgend­
wann nicht mehr geduldet, das Camp wurde
geräumt. Die Aktivisten zogen um, ein paar
Hundert Meter weiter auf die Wiese eines Bau­
ern, der sie in ihrem Protest unterstützt. Sie
stellten ein Plumpsklo auf, richteten eine Ge­
meinschaftsküche ein. Der ­Bauer lässt sie bei
sich duschen, hin und wieder bringt er ihnen
etwas zu essen. Die Autobahn würde sein Land
zerschneiden.
Lara sagt, sie habe sich für das Leben im Pro­
testcamp entschieden, weil sie nicht länger mit
ansehen wolle, wie die Menschheit ihre eigenen
Lebensgrundlagen zerstört. Sie zieht große Bögen,
von der Massentierhaltung über die Atomkraft –
bis zur A 20. Sie sagt, nachdenken und reden
schütze die Moore nicht und nicht das Klima, nur
handeln könne einen Wandel bewirken, und des­
halb sei sie hier. Auch wenn ihr Handeln im Mo­
ment daraus besteht, zu warten.
15
Sie wartet darauf, dass irgendwann all die Klagen
von Naturschützern und Umweltverbänden abge­
wiesen sind und der Bauherr, also die Bundesrepublik
Deutschland, das Baurecht bekommt. Sie wartet
darauf, dass die Bagger anrücken, die den Boden auf­
reißen, und die Planierraupen, die ihn wieder zu­
sammendrücken. Sie wartet darauf, dass dann Ak­
tivistinnen und Aktivisten aus ganz Deutschland hier
in der Wagenburg nahe der deutsch-niederländischen
Grenze zusammenkommen.
Darauf, dass dann die Hundertschaften der
Polizei vor dem Camp stehen, um es zu räumen,
dass Fernsehkameras auftauchen, dass Bürger
Mahnwachen halten, dass gebrüllt und gesungen
und gebetet wird, dass womöglich Stöcke und
Steine fliegen, bis die Polizisten die Aktivisten aus
dem Camp tragen, um Platz zu schaffen für die
Bauarbeiter.
Sie wartet darauf, dass es so kommt, wie es im
Protestcamp im Fechenheimer Wald kam, wo Ak­
tivisten gegen den Ausbau der A 66 demonstrierten,
oder im Dannenröder Forst, wo sich Aktivisten ge­
gen den Ausbau der A 49 stellten. Sie wartet darauf,
dass es so kommt, wie es immer kam.
AUSGEZEICHNET
Das Dossier »Das Wandergericht« (ZEIT Nr.
23/22) hat den Dis­tin­guished Reporting Award
des European Press ­Prize gewonnen, den Preis für
die beste Reportage des Jahres. Der Autor
Johannes Böhme beschreibt darin, wie ein
finnisches Gericht in Liberia Kriegsverbrechen
aufklären sollte. Der Preis wurde von sieben
europäischen Medien-Stiftungen ausgerufen,
um Qualitäts­journalismus in ganz Europa
zu würdigen.
BERICHTIGUNG
Vor zwei Wochen ist uns im Dossier »Tik, tok,
toxisch« bedauerlicherweise ein Fehler
unterlaufen. Wir schrieben, die Zahl der
Suizide unter Jugendlichen sei angestiegen.
Das ist nicht korrekt. Es sind die Suizidversuche,
die 2021 zugenommen haben. Wir bitten,
den Fehler zu entschuldigen.
12.06.23 14:44
16 LESERBRIEFE 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Zur Ausgabe Nr. 23 Weitere Leserbriefe finden Sie unter

blog.zeit.de/leserbriefe

Lesen lernen
mit Gesang
Interview: »Mit Verschulung hat
Sie machen doch nur ihren Job Opposition
in der Koalition
Mariam Lau: »Worauf zielt
das nichts zu tun«  ZEIT NR. 23 Heinrich Wefing und Anna Mayr über den Umgang mit der »Letzten Generation«  ZEIT NR. 23 die FDP?«  ZEIT NR. 23

Es ist fast schon zur Gewohnheit geworden,
dass deutsche Schüler in internationalen Ver­
gleichen schlecht abschneiden. Nun hat auch
noch die Iglu-Studie ergeben, dass die Grund­
schüler nicht richtig lesen, schreiben und
rechnen können. Die interviewte Expertin
möchte aber keineswegs das Niveau der
Grundschule heben, sondern stattdessen mit
der frühkindlichen Bildung bereits im Kinder­
garten beginnen. In den zurückliegenden
Jahrzehnten reichten vier Jahre Grundschule
aber durchaus aus, um den Schülern diese
Fertigkeiten beizubringen. Möglicherweise
liegt das Problem also woanders. Ich erinnere
mich noch sehr gut an den völlig missglückten
Versuch, Grundschüler nach Gehör schreiben
zu lassen. Expertin Yvonne Anders möchte im
Kindergarten »Programme zur Förderung der
phonologischen Bewusstheit« implementie­
ren. Dass solche Programme von vielen Prak­
tikern als unwirksam abgelehnt werden, spielt
für sie keine Rolle. Wir nehmen den Kindern
unbeschwerte Spielzeit, nur weil irgendeine
Expertin unbedingt recht behalten will. 
VOLKER V. MOERS , RECHTSANWALT, PER E-MAIL
»Mit Reimen und Liedern lernen die Kinder
dabei, Silben und Buchstaben zu erkennen –
eine Fähigkeit, die hilft, in der Schule lesen zu
lernen.« Das lese ich in der ZEIT und reibe
mir verwundert die Augen. Gehören Reime
und Lieder denn nicht mehr zum Standard­
programm jedes Kindergartens? Wird nur
noch gesungen, geklatscht, wenn bei Kindern
die Defizite bereits unübersehbar sind?
Aber wenn dies so förderlich ist, warum tut
man es dann nicht einfach mit allen Kindern
– so wie früher?  ANJA OPELT, PER E-MAIL
Ich bin entsetzt über das Vorgehen gegenüber der
»Letzten Generation«. Wenngleich ich die Me­
thoden der Aktivisten nicht gutheißen kann,
habe ich Verständnis für ihre Forderungen, we­
nigstens die nach dem Tempolimit. Ich werde
diese Vereinigung ab sofort mit meinen Mitteln
unterstützen. In Sachen Klimaschutz tut sich
sonst doch nichts. Wirtschaftliche Interessen
scheinen bis zum Untergang der Menschheit im
Vordergrund zu stehen. Wem ist die »Letzte­
Generation« so zu nahe gekommen, dass ein­
freiheitlicher, demokratischer Rechtsstaat derart
gegen sie vorgeht? So weit, dass die Vereinten
Nationen dazu aufrufen, die »Letzte Generation«
zu schützen?  MICHAEL BERRIER , SPEYER
Ich kann die Entrüstung über die abfällig »Klima­
kleber« genannten Leute nicht verstehen, denn
sie machen den Job, den eigentlich unsere Regie­
rung machen müsste. Der Stau, den diese Leute
verursachen, indem sie mit ihren Blockaden den
klimaschädlichen Verkehr behindern, ist ein pas­
sendes Bild für den Stau, den unsere Regierung
bei den Veränderungen verursacht, die nötig­
wären, um den Klimaschaden zu begrenzen.
Ich habe bei der jüngsten Wahl den Unionskan­
didaten, Armin Laschet, nicht gewählt, und zwar
nicht weil ihm an falscher Stelle ein Lacher ent­
schlüpfte, sondern weil mich sein Programm zur
Bewältigung der Klimakrise nicht überzeugte. Da
die jetzige Regierung vor ihrer Wahl eine ange­
messene Klimapolitik versprochen hat, möchte
ich dem Kanzler zurufen: Macht endlich euren
Job, statt die Warner für »bekloppt« zu erklären!
Denn wenn die Menschheit nicht bald so radikal
handelt, wie es nötig wäre, werden wir in bere­
chenbarer Zeit keine Autos, keine Polizisten, kei­
ne Rettungswagen und auch keine Regierung
mehr brauchen, denn dann wird das Leben auf
diesem Planeten zu Ende sein. 
URSEL HEINZ, HERTEN
Verkehrsbehinderungen sind in der Regel kein
schwerwiegender Straftatbestand und sollten einen
Rechtsstaat nicht zu Überreaktionen verleiten.
Was wirkliche »kriminelle Vereinigungen« sind,
haben wir in der jüngeren bundesdeutschen­
Geschichte leidvoll erfahren müssen, und orga­
nisiertes Verbrechen findet auf ganz anderen
Ebenen statt.
Also, bitte mehr Ausgewogenheit. Im Rechtsstaat
gilt das Gebot der Verhältnismäßigkeit.
WILFRIED MOMMERT, BERLIN
Ich lehne die Aktionen der »Letzen Generation«
strikt ab. Die Aktivisten wollen politischen Druck
ausüben, tun das aber auf dem Rücken von Men­
schen, die in der Regel überhaupt keinen Einfluss
nehmen können – so etwas nennt man Erpres­
sung. Warum kleben sie sich denn nicht an die
Limousinen der politisch Verantwortlichen?
So haben die Aktivisten bisher nicht viel bewegen
können, im Gegenteil, sie bringen selbst die ver­
ständnisvollsten Menschen gegen sich auf und
schaden der Klimadebatte.
Trotzdem finde ich es zu diesem Zeitpunkt un­
verhältnismäßig, sie unter den Verdacht zu stel­
len, eine kriminelle Vereinigung zu bilden. Raz­
zien damit zu begründen, dass die »Letzte Gene­
ration« große Mengen an Spenden sammle,
kommt mir fadenscheinig vor. Das tut auch jeder
Verein. So werden Märtyrer geschaffen.
Strafen nützen auch nichts, die Aktivisten akzep­
tieren sie nicht und machen weiter. Das ist natür­
lich eine Provokation für den Rechtsstaat. Hein­
rich Wefing hat recht, dieser Konflikt kann juris­
tisch nicht entschieden werden, er muss politisch
gelöst werden.  REGINA STOCK , KIEL
Die Klimaaktivisten möchten mit zivilem Unge­
horsam beim trägen Staat (Deutschlandtempo?)
Handlungsdruck erzeugen und bei den Bürgern
Solidarisierungseffekte auslösen. Der Staat rea­
giert auf der Ordnungsebene aber mit Gegen­
druck und lässt sich auf der Sachebene gerade
nicht ins Handeln treiben. Ungewollt stärken die
Aktivisten dabei die Position des Staates: Die
Bürger erleben den Staat als Ordnungsmacht, die
sich um ihre Nöte kümmert (etwa den Wunsch,
mit dem Verbrenner pünktlich ans Ziel zu kom­
men). Solange die Klimaschützer aus der Position
des Paulus agieren, blockieren sie beim Staat den
Wechsel von der Saulus- in die Paulusrolle.
Der Einzige, der den Staat tatsächlich erfolgreich
ins Handeln treiben kann, scheint der Klima­
wandel selbst zu sein. So wird wohl erst die ent­
fesselte Klimakatastrophe den Staat von der Ord­
nungsmacht zum Retter unserer Lebensgrundla­
gen werden lassen. Die Rettung wird dann aller­
dings zu spät kommen. 
REINHARD KOINE, BAD HONNEF
Mich erinnert der Protest an die Wende 1989.
Damals reichte es den Protestierern; sie glaubten
nicht mehr an das sozialistische Versprechen,
nach dem alles (nach und nach) besser werden
würde.
Für die Ostdeutschen war damals der Westen mit
Demokratie & Kapitalismus noch eine gesell­
schaftspolitische Alternative. Doch wer schreibt
heute eine neue, bessere Weltwirtschaftsordnung
und eint die Menschheit mit einem gesellschafts­
politischen Weltbewusstsein? 
MAT THIAS LOSERT, WAIBLINGEN
Wollen Sie uns wirklich weismachen, Chris­
tian Lindner, Bundesfinanzminister und
Bundes­vorsitzender der FDP, sei das Opfer
einer Figur aus der zweiten Reihe namens
Frank Schäffler? Das Prinzip »verhindern
statt gestalten« hat die FDP doch schon in
den Koalitionsvertrag eingebracht: keine
Steuer­erhöhungen, kein Tempolimit! Dann:
kein Abbau umweltschädlicher Subventionen
bei gleichzeitigem Beharren auf der Schulden­
bremse. Logische Konsequenz: kein Geld
für dringend benötigte Maßnahmen wie die
Kinder­grundsicherung.
Auch das populistische Werben um Wähler­
stimmen im rechten Spektrum hat schon
früher begonnen. Habeck-Bashing und stän­
diger Krawall in der Ampel zahlen sich aus,
die Umfragewerte rauschen ja nur bei den
anderen in den Keller. 
WOLFR AM BIEBER , RIMPAR
Vor einigen Wochen hat sich Mariam Lau
mit ihrer Vorhersage gründlich geirrt, dass die
FDP bei den Bremer Wahlen aus der Bürger­
schaft fliegen werde. Nun wieder Spekulatio­
nen und Unterstellungen gegen Mitglieder
der Partei. Die Kritik bietet wenig Inhalt­
liches, dafür wird der Abgeordnete Frank
Schäffler in die rechte Ecke (»seine neuen
Freunde von rechts«) geschoben.
Dass es innerhalb einer FDP unterschiedliche
Strömungen gibt, ist klar und grunddemo­
kratisch. Herr Schäffler stellte Anträge zu den
Themen Kernenergie und Heizgesetz. Da­
durch droht nun Christian Lindner die Kon­
trolle zu verlieren? Sehr weit hergeholt.
Zurück zur Sache: Robert Habeck spricht
jetzt beim Heizgesetz selbst von Korrekturen.
Er hat wohl erkannt, dass Machbarkeit doch
eine Rolle spielt. Vielen Dank an die FDP!

Welch schönes Leben haben wir gehabt

JÜRGEN BERGMANN , PER E-MAIL

Fußball – verrückt
Cathrin Gilbert:
»Wie ein Emir«  ZEIT NR. 23
Die ZEIT widmet dem FC Bayern München
einen Leitartikel auf ihrer ersten Seite. Ob­
wohl ich seit 77 Jahren Fußballverrückter bin
– so lange, wie es die ZEIT gibt –, habe ich
dafür wenig bis gar kein Verständnis. Da es in
der Ersten Liga fast ausschließlich um Macht
und Geld geht, wäre allenfalls ein Platz im
Wirtschaftsteil angemessen gewesen.
SVEN HERFURTH , BARGTEHEIDE
Nicht genug damit, dass Uli Hoeneß die
Skrupellosigkeit besaß, die Allgemeinheit
um Millionen zu betrügen. Nein, im Fußball
treibt der vorbestrafte Steuerhinterzieher
weiter sein Unwesen und wird dafür auch
noch hofiert. Der ZEIT mit ihrem kritischen
Anspruch hätte es gut angestanden, die
jüngsten Ereignisse zum Anlass zu nehmen,
die Obszönitäten des kommerzialisierten
Fußballs zu analysieren und seine deformier­
ten Protagonisten zu entlarven.
WILLI GOLDSTEIN , SOEST
BEILAGENHINWEIS
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikation
in einer Gesamtauflage: Markt1 Verlagsgesell­
schaft mbH, 45128 Essen; sowie in einer Teilauf­
lage: WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH,
28195 Bremen.
Zur Jubiläumsausgabe »77 Jahre ZEIT«  ZEIT NR. 24
Mit den 77 ausgewählten Texten aus der ZEIT
seit ihrer Gründung 1946 werden Erinnerungen
geweckt, Erkenntnisse gewonnen und Kuriositä­
ten dargestellt. Die Leuchttürme des kollektiven
Gedächtnisses. Das gehört erinnert. Vielen Dank.
FELIX BICKER , ES SEN
Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum! Auch
ich bin gerade 77 Jahre alt geworden und nehme
Ihre Sonderausgabe als Spiegel meines Lebens.
JÖRG PUT TFARKEN , BREMEN
Zum ersten Mal habe ich wirklich jede Zeile einer
Ausgabe gelesen. Schade, dass sie nicht dicker
war. BEATE NOLL, PER E-MAIL
Über die Jubiläumsausgabe kann man einfach nur
jubeln! LOTHAR UND MONIK A HOLTFRERICH , MOERS
Stehe ich allein mit der Frage, warum im Rück­
blick kein Platz für eine Karikatur von Luis Mur­
schetz war? Wie viele Jahre prägte sein gekonnter
Strich die Titelseite der ZEIT?
Laut Wikipedia von 1971 bis 2010, also mehr als
die Hälfte der vergangenen 77 Jahre!
Luis Murschetz’ Karikaturen brachten die Woche
in Schwarz-Weiß treffender auf den Punkt als all
die bunten Fotos seither. Den Mann können Sie
doch nicht einfach so totschweigen!
TIM COLLET, BREMEN
Ein unglaublicher Fundus in Sachen Nachkriegs­
geschichte, man kann sich nicht sattlesen. Spitzen­
autoren und Spitzenzeitzeugen der jeweiligen
Jahrzehnte schreiben ganz nah am zeitlichen Ge­
schehen und nicht im Abseits einer heutigen
Nachbetrachtung durch sogenannte Experten in
Interviews und Talkrunden. Es bleibt der Leser­
schaft überlassen, eine Bewertung aus heutiger
Sicht zu vollziehen und dabei nicht zu vergessen,
dass der Blick aus dem bequemen Sessel grund­
sätzlich ein anderer als der von Zeitzeugen ist.
Und man wird auch überrascht feststellen, wie oft
die Sicht der Persönlichkeiten heute noch – oder
schon wieder – Bestand hat. 
PETER D. SCHMIDT, HAMBURG
Ihre Jubiläumsausgabe sollte als Geschichtsbuch
in den Schulen eingesetzt werden! Eine authenti­
sche Zeitreise, wobei die Auswahl der Texte wahr­
scheinlich die schwierigste Aufgabe war.
RUTH SCHÜTZ-MIT TERHUSEN , PÖCKING
Sehr gewundert habe ich mich, dass in Ihrem
Rückblick kein Artikel zum Mauerbau am
13. August 1961 zu finden ist. Dieser Tag hat das
Leben vieler Menschen bestimmt, besonders der
Ostdeutschen. Ich etwa bin noch in der Nacht
mit kleinem Koffer von Potsdam über die Grenze
nach Berlin-Wannsee geflüchtet.
Ein Arzt namens Eberhard Wendt nahm mich in
Nikolassee auf, sodass ich mein Diplom an der
TU Berlin abschließen konnte, wo ich vorher
schon als Grenzgänger studiert hatte. Von mei­
nem Unterstützer erhielt ich auch mein erstes
ZEIT-Abo – und bin bis heute Leser. Dass aber
ein solch einschneidendes historisches Ereignis in
der Jubiläumsausgabe fehlt, ist mir völlig unver­
ständlich. DR . WOLFGANG PICHT, PER E-MAIL
Ich wurde ZEIT-Leser, als ich 1959 nach stürmi­
scher Fahrt über den Atlantik mit 200 Fulbright-
Studenten aus Deutschland von der New Yorker
Freiheitsstatue begrüßte wurde. Für die Dauer
unseres Studiums dort bekamen wir die Airmail-
Ausgabe der ZEIT (ohne Werbung!) – und er­
fuhren darin mehr über die Welt als aus der
Presse­vor Ort. Als ich später, zurück in Deutsch­
land, eine Familie gründete, hat meine Frau uns
ein Abo der ZEIT geschenkt. Heute freue ich
mich über den Gedankenaustausch mit der­
Enkelgeneration zu vergangenen und aktuellen­
Themen.  DIETMAR FLOCK , CUXHAVEN
Ein Danke ist viel zu wenig, denn diese Sonder­
ausgabe ist einfach toll!
Das eigene Leben zog an mir (Jahrgang 1954)
vorüber mit der Erkenntnis: Welch schönes Le­
ben haben wir bislang gehabt. Kein Krieg, kein
Hunger, immer Arbeit. Nächtelang zusammen­
sitzend, die Welt verbessernd, ohne auf Bildschirme­
fixiert zu sein.
Die Arbeit für diese Sonderausgabe muss gewaltig
gewesen sein.  JULIANE RÖT TGER , PER E-MAIL
Ein Leben ohne die ZEIT ist zwar möglich, aber
irgendwie substanzlos. Danke für eine lebenslange
intellektuelle Begleitung. 
DR . GÜNTER KIRCHHAIN , LEVERKUSEN
Ganz gleich, wer bei der FDP die Marsch­
richtung vorgibt, die koalitionsinterne Oppo­
sition macht sich bezahlt. Allerdings muss die
Partei langfristig entscheiden, ob eine Kon­
stellation wie die Ampel überhaupt die richtige
ist. Denn ständiger Zoff und ein stoisch­
wirkender Bundeskanzler machen das Regie­
rungsgeschäft zu einer Dauerbaustelle. Am
meisten Federn lassen freilich die Grünen. Sie
werfen vermutlich als Erste das Handtuch.
CHRISTOPH SCHÖNBERGER , A ACHEN
Staatsskepsis, Marktmacht und die Frage
nach der jeweils richtigen Dosis werden als
»Identitätsthemen« der FDP bezeichnet.
Warum wäre so etwas bei linken Parteien
»Ideologie« (natürlich negativ) und bei ande­
ren »Identität« (natürlich positiv)?
Merke: Alle Parteien folgen einer Ideologie,
auch die »identitätsthematische« FDP.
WOLFGANG MICHEL, WALDEMS
IHRE POST
erreicht uns am schnellsten unter der
E-Mail-­Adresse leserbriefe@zeit.de. Mit der
Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Brief in der ZEIT, deren digitalen Aus­
gaben und im Leser-Blog auf www.zeit.de
unter Nennung Ihres Namens und des
Wohnortes zu veröffentlichen. Für den
Inhalt sind Sie als Einsender verantwortlich;
die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung
und redaktionelle Bearbeitung vor. Zudem
können Sie die Texte der ZEIT auf Twitter
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DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 GESCHICHTE 17

Vor 75 Jahren kam die erste Vinyl-Langspielplatte auf den Markt.

Das neue Medium revolutionierte die Musik und die Jugendkultur  VON JENS BALZER

Diese Scheibe ist ein Hit

G
roßer Medienauftrieb im Waldorf-
Astoria-Hotel in New York am
21. Juni 1948. Edward Wallerstein,
Chef der Firma Columbia Records,
spielt den versammelten Journalisten
der Stadt eine Schallplatte vor. Sie
hören Felix Mendelssohn Bartholdys
Violinkonzert in e-Moll, Opus 64, Bruno Walter dirigiert die
New Yorker Philharmoniker – »eine Weltsensation«, so hat
es Wallerstein angekündigt. Nun gibt es Musik auf Schall-
platten zu diesem Zeitpunkt schon seit rund 60 Jahren.
Aber diesmal kommt es den Journalisten tatsächlich so vor,
als ob das Orchester direkt vor ihnen spielt. So kräftig und
klar hat Musik aus einer Konserve noch nie geklungen, und
etwas Zweites erscheint ihnen ebenso sensationell: Das
Konzert ist in ganzer Länge von einer einzigen Platte zu
hören, unterbrochen nur von einer kurzen Pause nach dem
Ende des ersten Satzes, als die Seite gewechselt werden muss.
Long-playing micro­groove record, kurz LP, nennt Edward
Wallerstein diese Erfindung: Es ist die erste Schallplatte, die
aus Polyvinylchlorid hergestellt wird, einem Kunststoff auf
Erdölbasis, der bis dahin vor allem für Folien und Rohre ge-
nutzt worden war. Presst man PVC zu flachen Scheiben – das
haben Wallersteins Ingenieure herausgefunden –, kann man
extrem dünne Rillen hineinritzen. Diese micro­grooves werden
dann bei 33⅓ Umdrehungen pro Minute von einer Diamant-
nadel abgetastet. So können die Tonträger aus dem neuen
Material Vinyl so viele Informationen speichern wie noch nie
in der Geschichte der aufgenommenen Musik.
Bis dahin hatte man mit verschiedenen Materialien expe-
rimentiert. Die ersten serienweise produzierten Schallplatten
waren aus Hartgummi, der deutschamerikanische Ingenieur
Emil Berliner hatte sie Ende der 1880er-Jahre für das ebenfalls
Composing: DZ (verwendete Fotos: Shutterstock); kl. Fotos: The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc., 2020/Licensed by DACS, London Photo/Christie’s Images/Bridgeman Images; epd-West; Screenshot Internet (2)
Bei den record hops tanzen Schülerinnen und Schüler in den
Aulen ihrer Colleges zur Musik eines Disc­jockeys; oft werden
diese Partys auch sock hops genannt, weil die braven Teenager
ihre Schuhe ausziehen und in Socken tanzen, um die emp-
findlichen Böden beim Herumhüpfen nicht zu zerkratzen.
In Deutschland erscheint die erste Vinylplatte 1952 bei der
Deutschen Grammophon. Wiederum ist es ein Werk von
Mendelssohn Bartholdy: diesmal Ein Sommernachtstraum,
Ferenc Fricsay dirigiert die Berliner Philharmoniker. Die erste
7-Zoll-Vinyl-Single erscheint im folgenden Jahr, auf ihr hört
man La Paloma und Auf der Reeperbahn nachts um halb eins
von Hans Albers. Bis Vinyl sich in Deutschland als Standard
durchsetzt, dauert es aber. Die großen Schlagersänger der
Nachkriegszeit beginnen ihre Karrieren noch mit Schellack.
Einer von ihnen profitiert sogar von der Sprödigkeit des Ma-
terials: 1956 zerbricht ein Moderator des Bayerischen Rund-
funks in seiner Sendung vor offenem Mikrofon eine Platte mit
der »schlimmsten Schnulze« des Jahres, Heimweh von dem
Nachwuchssänger Freddy Quinn. Nach diesem Skandal wächst
Die erste LP der Welt bringt Klassik, 1948
ihnen dauert länger als vier Minuten. Langspielplatten dienen
zunächst nur dazu, die populären Songs zu versammeln, er-
gänzt um ein paar fillers, Füllstücke. In den Sechzigerjahren
beginnen dann einige Musiker, das Album als Kunstform zu
entdecken: Sie wollen mehr erschaffen als kurze Lieder, die
nach ein paar Monaten wieder vergessen sind – sie wollen
große, dauerhaft beständige Kunstwerke komponieren,
Liederzyklen mit innerem Zusammenhang. So schwebt es
etwa den Beatles vor, als sie ihr erstes »Konzeptalbum« auf-
nehmen, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Es handelt
vom Auftritt einer fiktiven Band, in deren Rolle die Beatles
schlüpfen; die Lieder gehen in­ein­an­der über oder werden
durch schwer identifizierbare Geräusche mit­ein­an­der ver-
bunden. Auf dem Cover des Albums sieht man eine Collage
von Künstlern und anderen Persönlichkeiten, denen die
Beatles ihre Reverenz erweisen: Bob ­Dylan, Marlene Dietrich,
Karlheinz Stockhausen ... So wird die Langspielplatte zu­
einem Gesamtkunstwerk erhoben, das die Augen ebenso
ansprechen soll wie die Ohren.
Die Beatles erfinden das Konzeptalbum, 1967
Material einer neuartigen künstlerischen Produktion werden.
In New York beginnt die Disco-Kultur zu erblühen, und in ihr
etabliert sich der Discjockey, der DJ, als eigene Künstler­
persönlichkeit. Er legt nicht mehr nur einfach Tanzmusik auf,
sondern mixt die Stücke so in­ein­an­der, dass daraus ein end-
loser Fluss von Musik entsteht: für eine Party, die niemals
endet. 1973 beginnt der junge DJ ­Clive Campbell alias Kool
Herc damit, mit zwei Plattenspielern zwei Exemplare ein und
derselben Single (Funky Drummer von ­James Brown) so in­ein­
an­der­zu­mixen, dass nur eine endlose Schleife aus dem Rhyth-
muswechsel (break) des Schlagzeugs übrig bleibt. Damit erfin-
det Kool Herc den Break­beat, der zur Grundlage des Hip-Hop
wird – weswegen in den USA in diesem Jahr auch allenthalben
der 50. Geburtstag des Genres gefeiert wird.
In der Disco-Kultur und im Hip-Hop wird der Platten-
spieler zum Instrument und das Vinyl zum Material. Bald
mixen die DJs nicht mehr nur Singles in­ein­an­der, sondern
nutzen auch die Eigengeräusche, die etwa entstehen, wenn
man mit der Plattennadel quer über die Rille kratzt (scratching)
oder den Plattenteller mit der Hand anhält und schnell zurück-
zieht (backspin). In den ersten beiden Jahrzehnten seiner Ge-
schichte, bis Anfang der Neunzigerjahre, ist Hip-Hop das
klanglich experimentierfreudigste Genre in der Popmusik;
danach wird die Musik zu weiten Teilen vorhersehbar und
konventionell. Und dies in der gleichen Zeit, in der auch Vinyl-
Langspielplatten und -Singles ihre bis dahin monopolhafte
Bedeutung verlieren. 1982 präsentiert die Firma Polygram in
Hannover die erste Compact Disc (CD). Sie ist das erste digi-
tale Speichermedium für Klänge, und sie kann noch viel mehr
Informationen speichern als die Vinylplatte, rund 70 Minuten
Musik, ohne Umdrehen. Und der Klang ist noch reicher, de-
taillierter und plastischer als von Vinyl – finden jedenfalls
viele Hörer. Andere hingegen meinen, dass CDs zu kalt und

von ihm erfundene Grammofon entwickelt. Doch erwies sich
noch das härteste Gummi als zu weich für seine Zwecke. Ab
1896 nutzte er darum eine Mischung aus Bariumsulfat, Schie-
fermehl, Ruß, Baumwollflock und Schellack – einer harzigen
Substanz, die aus den Ausscheidungen der weiblichen Lack-
schildlaus gewonnen wird. In Deutschland firmieren diese
Tonträger deshalb als Schellackplatten, sie bleiben bis in die
1950er-Jahre der Standard, ebenso wie die Abspielgeschwindig-
keit von 78 Umdrehungen pro Minute. In das harte Material
lassen sich nur dicke Rillen mit vergleichsweise großen Zwi-
schenräumen pressen, so passen auf eine Schellackplatten-
seite gerade einmal fünf Minuten Musik (oder Sprache).
Hier schafft das Vinyl endlich Abhilfe. Auf den 12 Zoll
breiten Platten können etwa 45 Minuten Klang untergebracht
werden: »Mehr Musik für das gleiche Geld«, verspricht der
erste Werbeprospekt von Columbia Records für Vinyl-LPs
1949, »weniger Lagerraum für die Sammlung erforderlich«,
aber auch: »Realismus und grandiose Klangtreue«. Im ersten
Programm findet sich vor allem klassische Musik, man will
das US-amerikanische Publikum mit den Meisterwerken der
europäischen Tradition versorgen und ihm auf diese Weise
zu mehr musikalischer Bildung verhelfen. Darum werden
– für die korrekte Nachfrage im Schallplattenladen – im
Katalog auch Aussprachehilfen geliefert: »Chopin: Show’-pan«,
»Freischutz: Fry’-shoo(i)tz«, »Zauberflote: Tsow’-ber-floy-teh«.
Columbia Records kommt die Rolle des Pioniers zu. Aber
die Konkurrenz ist nicht untätig, 1949 bringt die Radio Cor-
poration of America (RCA) ihre ersten eigenen Vinyl-Schall-
platten heraus. Diese haben einen Durchmesser von lediglich
7 Zoll und werden mit 45 Umdrehungen pro Minute abge-
spielt. So passen wieder nur fünf Minuten Musik auf eine
Seite – wie vorher bei den Schellackplatten. Doch gibt es an-
dere Vorteile: Die sogenannten Singles sind kleiner und hand-
licher, sie sind enorm biegsam und auf diese Weise fast unzer-
brechlich, man kann sie auf tragbaren Plattenspielern abspie-
len und also auch mit zum Picknick im Grünen nehmen oder
eine Party mit ihnen beschallen. Das RCA-Programm besteht
denn auch vor allem aus den »leichten Genres« der Popular
Music, des Blues and Rhythm und der International Music, wie
es im ersten Katalog heißt. Es ist Musik für jene jungen Men-
schen, die sich Anfang der Fünfziger plötzlich als Teenager
bezeichnen. Mit ihren speziellen Vorlieben wollen sie gegen
eine Elterngeneration rebellieren, die in der prosperierenden
Nachkriegsgesellschaft wiederum genug Geld dafür übrig hat,
ihren Kindern den Kauf rebellischer Musik zu ermöglichen.
Ein perfect match. Darum werden 7-Zoll-Vinyl-Singles zu
Verkaufsschlagern: Für die Jugendkultur, die in den Fünfziger-
jahren entsteht, sind sie das wichtigste Medium; der Rock ’n’
Roll von Elvis Presley und Jerry Lee L­ ewis geht auf ihnen um
die Welt. Singles werden nun auch auf Tanzveranstaltungen
gespielt, bei denen die Musik erstmals nicht mehr von einer
live musizierenden Band kommt, sondern vom Plattenteller:
Cover–Kunst von Velvet Underground, 1967
das Interesse an dem Lied schlagartig, Heimweh wird zur meist-
verkauften Platte des Jahres und Freddy Quinn zu einem Star.
Danach setzen sich auch in Deutschland die unzerbrech-
lichen Vinyl-Schallplatten durch, 1958 wird die Schellack-
Produktion eingestellt. Und die deutsche Jugend entdeckt den
Rock ’n’ Roll: eine Musik, die man im Radio damals nur im
Einzugsbereich eines britischen oder amerikanischen Soldaten-
senders hören kann. Darum werden Rock-’n’-Roll-Singles wie
Schätze gesucht. Wie den amerikanischen Altersgenossen
dienen sie auch den deutschen Teenagern zum musikalischen
Ausdruck des Protests gegen die Elterngeneration. Weil dieser
Protest sich aber nun mal auf Englisch artikuliert, brauchen
sie – wie die amerikanischen Bildungsbürger – Aussprache-
hilfen zur Einfühlung in die fremde Kultur. In einem Katalog
der Deutschen Grammophon aus dem Jahr 1961 heißt es zum
Beispiel: »In dieser Woche erscheinen die folgenden Titel:
Brenda Lee (brenda li) I’m sorry (aim sorri); Connie Francis
(konni frahnziss) Jealous of you (dschälles off ju)«.
Für den Rock ’n’ Roll und die Beatmusik der Fünfziger- und
frühen Sechzigerjahre ist die Single das wichtigste Medium – so
wie Songs das wichtigste musikalische Format sind, keiner von
zu wenig lebendig klingen. Das ändert nichts an ihrem Erfolg:
In den Neunzigern lösen CDs die Platten als meistverbreitete
Tonträger ab. In den USA erreichte der Absatz von Vinyl-LPs
seinen Höhepunkt im Jahr 1978 mit 341 Millionen Stück; im
Jahr 2006 sind davon gerade einmal 900.000 übrig geblieben.
Seither geht es allerdings mit Vinyl wieder bergauf. 2022
wurden in den USA beachtliche 43 Millionen Langspiel-
platten verkauft, in Deutschland 4,3 Millionen. In der Ära
der Streaming-Dienste sind sie zu Liebhaber- und Luxusobjek-
ten geworden. Wesentliche Teile der Produktion entfallen auf
teure Boxen, in denen Klassiker der Rock- und Popgeschichte
neu aufgelegt werden, mit Bonusplatten, auf denen sich Live-
Aufnahmen, bislang unveröffentlichte Demo- und Studio-
versionen finden und allerlei andere Extras, die manchmal
interessant sind, meistens aber auch nicht. Für die Boomer-
Generation, die noch mit Vinylplatten aufgewachsen ist, sind
diese zu Nostalgie erzeugenden Fetischobjekten geworden,
und die Musikindustrie schlägt daraus gerne Profit. Was auf
die Kosten all jener jüngeren Künstlerinnen und Künstler
geht, die neue Musik auf Vinyl veröffentlichen wollen, DJs,
aber auch Indierock-Bands: Presswerke sind selten geworden,
die Kapazitäten werden oft von den großen Konzernen für
ihre Nostalgie-Boxen weggekauft und für wenige Superstars
wie etwa A ­ dele und Taylor Swift. Für ein kleines Schallplatten­
label gleicht eine Vinyl-­Pro­duk­tion heute einer Schnitzeljagd:
Man muss lange im Voraus planen und wissen, bei welchem
Presswerk sich wenigstens in mittlerer Zukunft eventuell noch
ein freier Slot finden lässt.
Erste deutsche Vinyl-Single: Hans Albers, 1953 Vinyl-Fans betonen die Wärme des Klangs und die Kon-
zentration, die es mit sich bringt, wenn man sich zum Hören
einer Platte vor den Plattenspieler setzt. Das ist zweifellos
Sgt. Pepper’s erscheint 1967, im selben Jahr wie das Debüt etwas anderes, als wenn man sich bei Alltagsverrichtungen
von Pink Floyd: The ­Piper at the G ­ ates of Dawn. Dort fällt auch nebenher von einem Streaming-Dienst volldudeln lässt. Aber
die bis dahin verbindliche Zeitbegrenzung. Das Herzstück der steckt in dieser Nostalgie nicht auch eine Boomer-typische
Platte, Interstellar Over­drive, dauert bis dahin unfassbare neun Verkennung der ökologischen Konsequenzen? Das behauptet
Minuten und einundvierzig Sekunden. Beide Alben zusammen der Musikwissenschaftler ­Kyle De­vine. In seinem Buch
begründen, was man später psychedelische Musik und­ Decom­posed. The Political Ecology of ­Music aus dem Jahr 2019
Progressive Rock nennen wird. Es beginnt die Zeit der schier kritisiert er die Renaissance des Vinyls als letzte Zuckung des
endlos dauernden Stücke, nicht selten über die gesamte Dauer­ Petrokapitalismus in der Musik; schließlich basiert das Ma-
einer Schallplattenseite hinweg – und die Zeit der farbigen, terial auf Erdöl, und die Pellets, aus denen die Platten her-
surrealen Plattencover, in die man sich beim Hören der Musik gestellt werden, müssen heute zum überwiegenden Teil aus
kontemplativ versenken kann. Besonders ambitionierte Mu- Niedriglohnländern des Globalen Südens in die Industrie-
siker wagen sich gleich an ein Doppelalbum, dessen Cover man nationen des Nordens importiert werden.
aufklappen kann. Das erste ist B ­ londe on B­ londe von Bob D
­ ylan, Devine schlägt vor, LPs aus Recyclingmaterial herzustellen.
1966. Im Jahr darauf erscheint das erste Album mit solch einem In den Niederlanden arbeitet das »Green Vinyl Records«-
»Gate­fold«, in dem nur eine einzelne Platte steckt: The Velvet Projekt schon seit einigen Jahren an einer erdölfreien Mate-
Underground and Nico. Das Cover hat der Entdecker der Band, rialvariante, die den gleichen Musikgenuss bei geringeren öko-
Andy Warhol, entworfen: Es zeigt eine gelbe Banane, deren logischen Kosten verschafft. Bis das grüne Vinyl auf den Markt
Schale man tatsächlich abpellen kann – zieht man sie von der kommt, können sich die Liebhaber des schwarzen Vinyls
Plattenhülle, erscheint darunter ein rosafarbener Penis. immerhin damit trösten, dass der CO₂-Fußabdruck der Strea-
In den Siebzigern steigen Langspielplatten zu auratischen ming-Dienste weit schlimmer ist als alles, was sie mit ihrem
Kunstwerken auf – während Vinyl-Singles wiederum zum nostalgischen Hobby verschulden.
18
Er hat nichts mehr zu verlieren
S
chändlich hallt aus meiner DDR
noch immer nach, wie Volkes
Stimme die ins Land geholten
Viet­na­me­sen »Fi­dschis« nannte.
Peinlich bereits, weil die Herkunft
der sozialistischen Gastarbeiter mit
jenem Inselstaat im Südpazifik na­
türlich nichts zu tun hatte. Im ostdeutschen Insel­
staat waren derlei geografische Feinheiten bedeu­
tungslos; bei der phonetischen Verballhornung
ging es um den herabsetzenden Sound, mit dem
sich Fi­dschi aussprechen ließ.
Umso beeindruckender erscheint heute der
Image­wan­del jener Volksgruppe. Die Nachwende­
zeiten, in denen arbeitslos gewordene In­dus­trie­
arbei­ter ihre gastronomischen Start-ups mit chine­
sischen Lampions tarnten, sind vorbei. Ein Café in
meinem Viertel wirbt jetzt mit »MEYER’s Viet­na­
mese Coffee Specialties«, der beste Schüler in der
Klasse unseres Sohnes hieß Tuan. So sieht selbst­
bewusste Fusion aus, was sehr viel mehr ist als
kleinlaute Assimilation. Hinzu kommt: Für Kri­
minalität sind die Viet­ na­me­sen nicht bekannt.
Unweit meines Gerichts stiert tagein, tagaus ein
junger Viet­na­me­se Löcher in die Luft. Für die
Raucher der Stadt ist er der Samariter mit den
unverzollten Zigaretten. Während in der Straße
kein Falschparker auch nur zehn Minuten ohne
Knöllchen bleibt, harrt der viet­na­me­si­sche Nah­
versorger ungeschoren schon seit Jahren an seinem
Platz. Irgendwie scheint er ein Sicherungsposten
des sozialen Friedens geworden zu sein, Kompo­
nente der Bürgergeld-Kalkulation.
Jüngst gab es ein Strafverfahren gegen einen
jungen Mann aus einem Problemviertel, Herkunft
und Name urdeutsch. Beim Abhängen in der­
Clique hatte er an einem pubertierenden Mädchen
gegrapscht, über das zwar leider nicht die Mutter,
aber gerade noch der Staatsanwalt seine schützen­
den Hände hielt. Die junge Zeugin erzählte vor
Gericht, der Angeklagte habe sie zum Knutschen
an seinen schüchternen viet­na­me­si­schen Freund
vermitteln wollen. Sexuell ist das natürlich kata­
strophales Mittelalter, unter Migrationsgesichts­
punkten aber ein Meilenstein.
Auf dem Weg zum Gericht versorge ich mich
mit jenem Quantum Vitamin C, das eine gesunde
Rechtsprechung braucht. Ein gurrendes »Tschüssi!«
zum Abschied verrät, dass der Laden von einer sehr
freundlichen Viet­na­me­sin betrieben wird. Eines
Tages kauft neben mir eine junge, Russisch spre­
chende Mutter zwei Bananen. Zur Ablenkung:
Ihr Sohn klaut derweil Birnen, die teuren Abate,
zu 5,49 Euro das Kilo. Wie ein Derwisch fegt die
energische Händlerin dem flüchtenden Paar hin­
terher und kehrt triumphierend mit dem Obst
zurück. »Ich hasse Ausländer!«, stößt sie voll Em­
pörung hervor, in meinen Augen nach Bestäti­
gung suchend.
W
as ich bestätigen kann: Auslän­
derhass und Fremdenfeindlich­
keit haben ihre Wurzeln nicht
selten in erlebter, befürchteter,
imaginierter oder propagierter
Ausländerkriminalität. Kriminalität und die Angst
vor ihr schlägt immer auf die Lebensqualität, egal,
woher der Täter kommt. Und die mediale Bericht­
erstattung über Kriminalität lässt die Bedrohung
stets größer und für den Einzelnen konkreter er­
scheinen, als sie statistisch ist. Das Wort Xenopho­
bie stammt aus dem Griechischen, »Furcht vor
dem Fremden«. Insofern könnte ja möglicherweise
die Polizeiliche Kriminalstatistik beantworten, wa­
rum sich der Ostdeutsche vor dem Viet­na­me­sen
nicht fürchtet, sehr wohl aber etwa vor dem Syrer,
Marokkaner oder Tsche­tsche­nen.
Realer Grund zur Sorge sind beispielsweise
Hauseinbrüche, deren Zahl zuletzt drastisch zu­
nahm. Die Gefahr besteht für jeden, der eine Ter­
rassentür hat. Die Täter sprechen selten Deutsch;
in unserem Bezirk kamen sie zuletzt vor allem aus
Georgien und Moldau. Die Polizei berichtet von
exklusiv aus Chile eingeflogenen Diebesbanden.
Soweit bekannt – die regionale Aufklärungsquote
betrug zuletzt entsetzliche 11,4 Prozent –, sind in
fremden Wohnungen nicht in Erscheinung ge­
treten: die klassischen Asylbewerber aus Afrika
und dem arabischen Raum. Was nicht heißt, dass
wir sie vor Gericht nicht erlebten.
Unser Schöffengericht verhandelte wegen ge­
fährlicher Körperverletzung in zwei Fällen gegen
den damals 47-jährigen Mahamat Omar*, einen
rechtskräftig abgelehnten Asylbewerber aus der
Republik Tschad. Seine Straftat nahm ihren An­
fang, als er im Flüchtlingsheim unserer Stadt eine
alte AfD-Parole umsetzen wollte: Unser Land, un­
sere Regeln. Omar verteidigte im Gemeinschafts­
raum gegen eine Überzahl die Hausordnung, kon­
kret das Rauchverbot. Das trug ihm Beleidigungen
und Besenhiebe auf den Rücken ein. Bis aufs Blut
gereizt, rannte Omar in sein Zimmer, holte ein
Küchenmesser und stach zu. Ein Mitbewohner
musste mit einem Pneumothorax ins Krankenhaus
gebracht werden. Nur Glück bewahrte ihn vor
Lebensgefahr, nach fünf Tagen konnte er entlassen
VERBRECHEN
Meine Urteile (XXVII): Ein Mann aus dem Tschad landet immer wieder
vor Gericht – w
­ as soll mit ihm geschehen?  VON THOMAS MELZER
Illustration: Thomke Meyer für DIE ZEIT
Er sagt, er kenne keine Menschen, die Deutsch sprechen: Warum solle er dann Deutsch lernen?
werden. Als Zeuge vor Gericht beklagte er sich vor
allem darüber, dass die Demokratie in Deutsch­
land nichts wert sei. Wie sonst sei es zu erklären,
dass sie einer rauchenden Mehrheit quasi im eige­
nen Wohnzimmer den Tabak verbiete? Und Omar,
»Bruder Mahamat«, unterstützt das auch noch.
Bruder Mahamat hatte im Heim schon einmal
versucht, mit dem Messer auf einen Landsmann ein­
zustechen. Dem war ein Konflikt vorausgegangen,
von dem die Zeugen sagten, er gründe auf »Stammes­
angelegenheiten«. Omar war im Streit als »schwul«
bezeichnet worden, was nach allgemeiner Auffassung
in der tschadischen Gesellschaft eine schlimme Ehr­
verletzung darstelle. Er habe vor Anspannung gezit­
tert, aber noch die Kontrolle über sich behalten. Als
der 23 Jahre jüngere Provokateur Omar jedoch rück­
lings auf der Treppe schubste, holte der sein Messer
raus, Klingenlänge 15 Zentimeter. Dem anderen
gelang gerade noch die Flucht in die Kanzel des
Wachdienstes; der messerführende Arm wurde von
der zuschlagenden Zimmertür eingeklemmt.
Das war im Jahr 2017. Wie es ihm in der Haft
ergehe, fragte ich Omar damals in der Haupt­
verhandlung (so wie jeden Gefangenen). Besser als
im Flüchtlingsheim, sagte er, es sei dort nicht so
stressig. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich schon
seit fünf Jahren in Deutschland. Auf seiner Flucht
aus einem der ärmsten Länder der Welt hatte er
zuvor den Kapitalismus in Italien kennengelernt.
Dort war er illegal in einer Recyclingfabrik be­
schäftigt worden. Bis er bei einem Arbeitsunfall
einen Finger verlor und rausflog.
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In Deutschland wurde sein Asylantrag rechts­
kräftig abgelehnt. Die Interviewer beim Bundes­
amt für Migration und Flüchtlinge hatten keine
Zweifel an seiner Herkunft, sehr wohl aber an ir­
gendeiner Verfolgung. Omar hatte im Tschad
beim Zoll gearbeitet, später viele Jahre in Libyen.
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07.06.23 12:44
Mit seiner Ehefrau und einer anderen Frau hatte er
Kinder, zu allen aber schon lange keinen Kontakt
mehr. Da er mangels Papieren nicht abgeschoben
werden konnte, wurde er fortan geduldet.
In der Verhandlung war er kleinlaut und bestritt
nichts. Nur als der Staatsanwalt in seinem Plädoyer
die geringen Deutschkenntnisse des Angeklagten
zum Beleg für dessen fehlenden Integrationswillen
machte, brauste er auf: Wie soll ich denn Deutsch
lernen, wenn um mich herum nicht Deutsch ge­
sprochen wird? Wenn ich nicht arbeiten darf? Wo­
her soll die Motivation kommen, wenn ich immer
nur für drei Monate geduldet werde und befürch­
ten muss, dann abgeschoben zu werden?
Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt wollte
ich wissen, was aus Omar geworden ist. Besuch im
Ausländeramt der Kreisstadt: Omar ist immer noch
in Deutschland. Und spricht noch immer kein
Deutsch. Nach seiner Haftentlassung wurde er in
einer anderen Gemeinschaftsunterkunft unterge­
bracht, einem abgelegenen ehemaligen Hotel mit
60 Plätzen, alle belegt von jungen Männern aus
dem Globalen Süden. Als Emissionsquelle für Kri­
minalität ist das Quartier nicht bekannt, jegliche
Energie richtet sich hier nach innen. Man tausche
gedanklich die Insassen gegen 60 junge Söhne des
Nordens, und die anliegende Spannung wäre nicht
geringer. Ich selbst erhielt den ersten Faustschlag
meines Lebens in einem Kasernenzimmer, 60 deut­
sche Rekruten auf einer Etage. Junge Männer sind
stets kriminell auffälliger als alle anderen Menschen.
Das erklärt auch, warum aus Syrien, Afghanistan
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
und dem Irak im Verhältnis zur Zahl der Asyl­
bewerber aus diesen Ländern weniger Tatverdächtige­
stammen als aus Algerien, Marokko und Tunesien.
Aus den Kriegsländern kamen auch viele Familien,
die hier überwiegend in Wohnungen untergebracht
wurden und inzwischen leidlich integriert sind. Aus
Nordafrika kamen überwiegend junge Männer,
mehrheitlich schlecht gebildet und in den Heimat­
ländern oft schon kriminalitätsbelastet.
Das Ausländeramt versucht noch immer, für
Omar einen Reisepass zu besorgen. Doch er ko­
operiert nicht und die Botschaft seines Landes in
Berlin noch viel weniger. Die Militärjunta im
Tschad hat gerade erst den deutschen Botschafter
aus dem Land geworfen, Deutschland retournierte
daraufhin die tschadische Botschafterin. Ihren
Landsmann Omar wird die Bundesrepublik ab­
sehbar nicht so einfach los. Weiterhin wird er im
Vierteljahrestakt seinen Duldungsstempel erhal­
ten. Auf dem Dokument steht: »Aussetzung der
Abschiebung. Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber
ist ausreisepflichtig!« Was soll man als humanis­
tischer Staat machen, wenn kein anderes Land den
Flüchtling haben will und das mutmaßlich eigene
sagt: Beweist uns, dass er zu uns gehört, dann neh­
men wir ihn zurück. In Deutschland laufen die
Behörden seit zehn Jahren der Fiktion hinterher,
dieser Beweis könne gelingen. Eine Kapitulation
kommt nicht in Betracht, weil sie faktisch den
Asylbewerber für seine verweigerte Kooperation
belohnen und auf dem Umweg an sein Ziel brin­
gen würde. So wird Omar weiterhin ohne Förde­
rung bleiben und alle drei Monate im Ausländer­
amt vorstellig werden müssen. Er wird weiter ein
Leben ohne Arbeit, Familie, Privatsphäre führen.
Aber gleichwohl ein offenbar immer noch besseres
als das alternativ mögliche Leben im Tschad.
So kollabiert in der freiheitlich-migrantischen
Regelordnung Janis Joplins Relativitätstheorie:
Freedom is just another word for nothing left to l­ose.
Meine viet­na­me­si­sche Obstverkäuferin hat längst
mehr zu verlieren als ein paar Birnen. Gewiss ist sie
freier als Omar, der nichts zu verlieren hat. Wäre es
anders, hätte er es vielleicht nicht darauf ankom­
men lassen, demnächst zum Freiheitsentzug wie­
der in eine Justizvollzugsanstalt einziehen zu müs­
sen. Ende 2022 hat ihn ein benachbartes Amts­
gericht wegen Hausfriedensbruchs, Bedrohung,
Beleidigung, Nötigung und Widerstands gegen
Vollstreckungsbeamte verurteilt. Nach zehn Jahren
Duldung ohne gesellschaftliche Teilhabe scheint er
nun endgültig zum Outlaw geworden zu sein.
Man fragt sich besorgt: Womit soll die Strafjustiz
ihn künftig noch beeindrucken?
D
ie Politik hat das Dilemma erkannt.
Doch das ebenfalls Ende 2022 in
Kraft getretene Chancen-Aufent­
haltsgesetz wird Omar keine­
Chance geben. Dabei sieht es auf
den ersten Blick so aus, als sei es ihm nach zehn
Duldungsjahren auf den Leib geschrieben. Abge­
lehnte Asylbewerber mit mindestens fünfjähriger
Duldung können nunmehr dieses »Chancen-Auf­
enthaltsrecht« beantragen, um dann innerhalb von
18 Monaten die Voraussetzungen für eine dauer­
hafte Aufenthaltserlaubnis zu erfüllen. Damit sol­
len Kettenduldungen verhindert und die Zahl der
Langzeitgeduldeten soll reduziert werden. Bei In­
krafttreten des Gesetzes hielten sich in Deutsch­
land knapp 250.000 geduldete Ausländer auf, da­
von etwa 137.000 seit mehr als fünf Jahren. Ihre
Chance besteht nun zuallererst in der Erlaubnis zur
Erwerbstätigkeit und dem – nicht zuletzt für die
Kriminalitätsprävention – ungemein wichtigen
Gefühl, etwas zu verlieren zu haben. Wer hilfs­
bedürftig bleibt, kann Bürgergeld erhalten statt
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Omar wird das Gesetz nichts nützen. Es wird
für ihn keine Rolle spielen, ob er die gesetzliche
Voraussetzung erfüllt, sich zur freiheitlich-demo­
kratischen Grundordnung der Bundesrepublik
Deutschland zu bekennen (und wie man das über­
haupt feststellen will). Auch bleibt unerheblich, ob
er vorsätzlich falsche Angaben über seine Identität
oder Staatsangehörigkeit gemacht hat. Omar wird
final an seinem Strafregister scheitern.
Nicht dass er gemeingefährlich wäre. Seine
letzte Straftat war das Resultat der Eskalation an
einer Behördentür. Während der Corona-Pande­
mie wollte Omar unangemeldet im Ausländeramt
vorsprechen. Dass ihm das verwehrt wurde, hat er
nicht akzeptiert. Seine Frustrationstoleranz scheint
nach zehn Heimjahren an einem Tiefpunkt ange­
langt. Zur Gerichtsverhandlung vor dem Straf­
richter ist er unentschuldigt nicht erschienen.
Vielleicht hat es ja auch etwas damit zu tun, dass
die Repräsentanten eines Staates, der seine Regeln
nicht durchzusetzen vermag, früher oder später
ihre Autorität verlieren.
*Alle Namen geändert
Thomas Melzer ist Amtsrichter in Brandenburg und ­
Autor der ZEIT. In der Serie »Meine Urteile« erzählt er
die Geschichten hinter seinen Fällen
 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

WIRTSCHAFT 19

Wie Wohlstand verbrennt

Fotos (Ausschnitte): Ingmar Björn Nolting/laif; Douglas Healey/Polaris/ddp; Max Whittaker/NYT/Redux/laif (v. l.)

Jüterbog in Brandenburg New York City Kalifornien

Pappeln sind verkohlt bis zur Baumkrone. Kiefern fallen wie Mikadostäbe über­
einander. Die Rinde von Birken ist zu ­einer spröden Haut aus Asche geworden.
Über dem, was einmal ein Wald war, steht der Rauch. Seit Ende Mai brennt in ­
Jüterbog, 50 Kilometer südlich von Berlin, der Wald. Auf einer Fläche, die mehr als
doppelt so groß ist wie das Tempelhofer Feld in Berlin (ein ehemaliger Flughafen),
facht der Wind immer wieder das Feuer an. Weil das Waldgebiet früher ein
Truppenübungsplatz war, liegt im Boden noch immer Munition. Die Feuerwehr
kann sich den Flammen daher nur auf gesicherten Wegen nähern. Der Löschhub­
schrauber der Bundespolizei ist ständig im Einsatz, denn wenige Kilometer weiter
brennt ebenfalls ein Waldstück. Mehr als 120 Waldbrände gab es allein in diesem
Jahr ­bereits in Brandenburg. HENRIK R AMPE
Wie in der Pandemie fühlten sich die ­Bewohner New Yorks Ende der vergangenen
Woche. Erneut sollten sie, wenn möglich, daheim bleiben – oder draußen eine ­
Maske tragen. Der orangegraue Nebel, Rauchschwaden der Waldbrände im ­fernen
Kanada, schuf eine unheimliche Atmosphäre: Die Skyline war kaum zu erkennen,
die Sonne glühte als rote Scheibe durch den smogverhangenen Himmel. Es roch
nach Holzfeuer, die Luft brannte beim Atmen in der Kehle. Flughäfen wurden wegen
der schlechten Sichtverhältnisse geschlossen, Bibliotheken machten früher zu als
sonst. Erstmals in der Geschichte der Stadt hob die Schulbehörde wegen der Luft­
verschmutzung die Anwesenheitspflicht der Schüler auf. Die Umweltbehörde EPA
gab Tipps, wie man sich mit der Filtermatte einer Dunstabzugshaube, einem Venti­
lator und etwas Klebeband einen einfachen Luftfilter basteln kann. HEIKE BUCHTER
Auch wenn es derzeit an der US-Westküste nicht brennt, bleibt Kalifornien bis heute
ein vom Feuer gezeichneter Bundesstaat. Die 15 größten Brände in seiner ­Geschichte
haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten ereignet. Das verheerendste war
das Camp Fire 2018, das fast die komplette Stadt Paradise vernichtete und
85 Menschen das Leben kostete. Viele der damals 26.000 Bewohner von Paradise
hatten sich an den von Pinien ­bestandenen Hängen der Sierra Nevada
niedergelassen, weil es dort im Vergleich zu den Küstenmetropolen wie San Francisco
noch bezahlbaren Wohnraum gab. Rund 20 Prozent aller Haushalte lebten in
Wohnwagen und Mobile Homes. Jetzt wird es auch in Paradise teurer: Selbst
einfache Fertighäuser kosten mittlerweile bis zu 300.000 Dollar. Ein Teil der ­
Preissteigerungen liegt an den strengeren Auflagen zum Brandschutz. HEIKE BUCHTER

»Hier geht viel mehr in Flammen auf«

Schon wieder breiten sich Waldbrände an vielen Orten der Welt aus. Sie zerstören nicht nur Bäume. Die wahren Kosten
seien deutlich höher, sagt der Umweltökonom Jesko Hirschfeld vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin

DIE ZEIT: Es ist heiß auf der Nordhalbkugel.
Wo brennt es gerade?
Jesko Hirschfeld: Zurzeit gibt es riesige Wald­
brände in Nordamerika, vor allem in Kanada. In
Russland brennen Wälder in Sibirien. Das kann be­
sonders gefährlich werden, wenn die Böden viel
Torf enthalten und die Glut sich unter der Ober­
fläche ausbreiten kann. Torfbrände sind sehr
schwer zu löschen. Viele kleinere Waldbrände gibt
es aber auch in Deutschland, etwa in Brandenburg.
ZEIT: Ist das ungewöhnlich für die Jahreszeit?
Hirschfeld: Das lässt sich im Großen und Ganzen
schon auf den Klimawandel zurückführen. Weni­
ger Regen im Sommer und zugleich höhere Tem­
peraturen sind eine gefährliche Mischung. Wald­
brände werden dadurch zur neuen Normalität.
Auch in Deutschland.
ZEIT: Was bedeuten Waldbrände ökonomisch?
Hirschfeld: Wirtschaftlich betrachtet geht es zu­
nächst einmal um einen wertvollen Holzvorrat.
Den Schaden haben die Waldbesitzer, weil sich
ihr Holz in Luft auflöst – beziehungsweise in
CO₂. Aber dieser Schaden ist hierzulande noch
recht überschaubar.
ZEIT: Überschaubar?
Hirschfeld: Wenn man nur das zerstörte Holz­
betrachtet, ja. In Deutschland verbrannte in den
vergangenen Jahren jeweils Holz im Wert zwischen
600.000 und 2,7 Millionen Euro. In der gesamten
Europäischen ­Union ging es schon um drei Mil­
liar­den Euro, in den USA sogar um 12 bis 15 ­­Mil­
liar­den Dollar pro Jahr. Die volkswirtschaftlichen
Schäden von Waldbränden sind jedoch deutlich
größer. Hier geht viel mehr in Flammen auf.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Hirschfeld: Feuer unterbricht Bahnlinien, behin­
dert den Autoverkehr und zerstört Stromleitun­
gen, von denen weitere Wirtschaftszweige abhän­
gen. Waldbrände beeinträchtigen also ganze In­
frastrukturen. Außerdem macht der Rauch krank.
ZEIT: Mit dem Wald verbrennt also der Wohl­
stand?
Hirschfeld: Das kann man so sagen. Wobei die
enorme Trockenheit im Sommer viel höhere Schä­
den anrichtet als das Feuer an sich. In den trocke­
nen Jahren 2018 und 2019 hat allein die Forst­
wirtschaft weitaus mehr Bäume an die Dürre ver­
loren als jetzt an Feuer – da lagen die Schäden bei
zehn Mil­ liar­
den Euro pro Jahr. Und auch die
Landwirtschaft hatte massive Ernteverluste. Das­
Feuer sorgt nur für die spektakuläreren Bilder.
Waldbrände sind ein Si­gnal­feuer für das, was der
Klimawandel bereits heute anrichtet.
ZEIT: Ein internationales Forscherteam aus Öko­
nomen und Naturwissenschaftlern hat einmal ver­
sucht, sämtliche direkten und mittelbaren Schä­
den der großen Waldbrände in Kalifornien 2018
in Geld umzurechnen. Die Wissenschaftler kamen
auf 149 Mil­liar­den Dollar.
Hirschfeld: Im Detail ist so etwas schwierig zu be­
rechnen. Aber fest steht, dass das wahre Ausmaß
der Schäden von Waldbränden und Dürre von
Politik und Öffentlichkeit dramatisch unterschätzt
wird. Die Dimensionen sind erschreckend.
ZEIT: Wovon reden wir denn, alles in allem?
Hirschfeld: Betrachten wir mal allein die Liefer­
ketten: An der Holzwirtschaft hängen zum Bei­
spiel die Möbelindustrie, die Papierproduzenten
und die Hersteller von Pellets. Wenn Brände den
Bahn- und Straßenverkehr unterbrechen, werden
Gütertransporte ausgebremst. Schauen wir auf
den Tourismus und die Gastronomie: Wer will
sich im Urlaub in einer Gegend erholen, in der es
gerade gebrannt hat? Gar nicht zu reden von den
gesundheitlichen Folgen.
ZEIT: Sie meinen durch Rauch?
Hirschfeld: Rauch kann sehr weite Strecken zu­
rücklegen. Als es 2018 in Jüterbog im südlichen
Brandenburg schon einmal gebrannt hat, habe ich
das in Berlin gerochen. Auch Moskau litt vor eini­
gen Jahren unter Rauchschwaden aus weit ent­
fernten Waldbränden. Aktuell zieht der Rauch aus
Kanada bis nach New York und verdunkelt dort
den Himmel. Die Behörden haben die Bevölke­
rung aufgefordert, zu Hause zu bleiben.
ZEIT: Verschmutzte Luft macht krank. Wer krank
ist, kann nicht arbeiten – und wird schlimmsten­
falls nicht bezahlt. Drei Ökonomen haben mal
überschlagen, dass Rauch aus Waldbränden das
Arbeitseinkommen in den USA jedes Jahr um zwei
Prozent reduziert. Halten Sie das für realistisch?
Hirschfeld: Wer draußen tätig ist, leidet unmittel­
bar unter schlechter Atemluft. Denken Sie nur an
Bauarbeiter, Straßenarbeiter, Landarbeiter. Trotz­
dem ist die Lage in den USA nicht mit der in
Deutschland vergleichbar. Schon allein, weil Wald­
brände hier noch keine so große Rolle spielen. Bei
uns ist eher die Luftverschmutzung durch Fein­
staub und Stickoxide in den Städten ein Problem.
ZEIT: Welche Schäden richtet das Feuer noch an?
Hirschfeld: Noch schwieriger in Geld zu fassen ist
zum Beispiel persönliches Leid. Der Tod von An­
gehörigen oder der Verlust des eigenen Zuhauses
belastet Menschen langfristig und schwerwiegend.
Aber auch Veränderungen der Landschaftsbilder.
ZEIT: Könnte eine Versicherung das auffangen?
Hirschfeld: Nicht wirklich. Versicherungsgesell­
schaften zielen ja vor allem darauf, direkte mate­
rielle Schäden zu ersetzen wie das abgebrannte
Haus. Die Versicherungsprämien sind abhängig
von der Eintrittswahrscheinlichkeit und von der
Höhe des möglichen Schadens.
ZEIT: Wie lange werden Waldbrandrisiken ange­
sichts des Klimawandels noch versicherbar sein?
Hirschfeld: In den USA bekommen Hauseigentü­
mer in bestimmten Regionen schon jetzt keine
Feuerversicherung mehr. Hierzulande kennt man
so etwas bislang eher von Häusern an Fluss­ufern,
die so stark durch Hochwasser gefährdet sind, dass
Versicherer keine Policen mehr ausgeben ...
ZEIT: ... im Ahrtal zum Beispiel.
Hirschfeld: Trotzdem werden in einigen Regionen
bis heute noch neue Wohn- und Gewerbegebiete
in überschwemmungsgefährdeten Gebieten aus­
gewiesen. Das ist unverantwortlich.
ZEIT: Beim Feuer ist das auch so! Die neue Tesla-
Fabrik in Grünheide steht mitten im Brandenbur­
ger Kiefernwald, einem Waldbrand-Hotspot.
Hirschfeld: Vielleicht erhöhen die Versicherer ja
künftig auch die Preise für Feuerschutzpolicen in
waldreichen Regionen. Aus ökonomischer Sicht
wäre das durchaus sinnvoll.
ZEIT: Warum?
Hirschfeld: Höhere Preise signalisieren Unterneh­
men und Häuslebauern, dass sie sich gerade in­
einer gefährlichen Gegend niederlassen wollen.
Vielleicht überlegen es sich einige dann anders.
ZEIT: Was lässt sich außerdem tun, um das öko­
nomische Risiko durch Brände zu mindern?
Hirschfeld: Klimaschutz ist Waldbrandschutz.
Dazu gehört in Deutschland der Umbau des Wal­
des. Eine Mischung von Laubbäumen kann Feuer
besser widerstehen als die Monokulturen aus Kie­
fern und Fichten, die hierzulande vor langer Zeit
angelegt wurden.
ZEIT: Brennt nicht jedes Holz gleich?
Hirschfeld: Laubwälder bilden mehr Humus, der
hält Feuchtigkeit im Boden. Nadelbäume verduns­
ten mehr Wasser und brennen schneller. Schon das
macht einen Unterschied. Wir müssen den Wasser­
haushalt in der Landschaft stabilisieren. Nach wie
vor entwässern wir Flächen, um sie landwirtschaft­
lich zu nutzen. Wir machen Flüsse zu Schifffahrts­
kanälen, sodass es keine feuchten Auenlandschaf­
ten mehr gibt. Damit müssen wir aufhören.
Das Gespräch führte Marcus Rohwetter
Siehe auch Wissen, Seite 27 und 28:
Die gesundheitlichen Risiken von großer Hitze
 20 WIRTSCHAFT 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

A Jagd auf den König

n einem Nachmittag im Februar
liegt in der Banketthalle Num-
mer drei des Royal-Torarica-
Hotels ein Haufen Skelettteile
auf dem Tisch. Die bleichen
Röhrenknochen, Schädel und
Gebisse stammen von Jaguaren,
Pumas und Nabelschweinen, und nun sind sie in
diesem Luxushotel in Suriname vor Polizeibeamten,
Zollfahndern und Militärvertretern ausgebreitet.
Dahinter steht ein bärtiger, ernst dreinblickender
Amerikaner Ende sechzig. Pepper Trail, ein Mann
mit einem ungewöhnlichen Namen und einem un-
gewöhnlichen Job. Der gelernte Biologe arbeitet als
ein sogenannter forensischer Tierexperte.
Eigentlich ist er beim U. S. Fish and Wild­life­
Crime Lab im US-amerikanischen Oregon angestellt,
wo er geholfen hat, Tausende Fälle von Wildtier-
schmuggel aufzuklären. Aber heute ist er in den süd-
amerikanischen Kleinstaat an der Karibikküste ge-
reist. Trail kennt sich nämlich im Dschungel von
Suriname bestens aus. Als junger Mann hatte er die
erste Hälfte der Achtzigerjahre in den Regenwäldern
dort verbracht, um eine seltene Vogelart für seine
Doktorarbeit zu erforschen. Vier Jahrzehnte später
hat ihn die Regierung von Suriname gebeten, die
örtlichen Fahnder zu schulen. Sie sollen lernen, wie
man Kadaver­teile von Jaguaren erkennt.
Die Beamten im Hotel gehen bedächtig um den
Tisch, betasten die Knochen, wiegen die Schädel in
ihren Händen. Den Jaguarschädel, erläutert Trail,
könne man an der großen Aussparung für die Kie-
fermuskeln erkennen. Die sind bei dem Tier be-
sonders kräftig ausgeprägt. Ein Jaguar kann mühelos
einen Schildkrötenpanzer oder den Schädel seiner
Beute durchbeißen. Er kann 1,85 Meter lang und an
die 160 Kilo schwer werden.
Doch nun ist der Jaguar, der König aller Raubtiere
im Amazonaswald, in Suriname selbst zur Beute ge-
worden. Von Jahr zu Jahr häufen sich die Hinweise
darauf, dass die Reißzähne, Knochen und Klauen der
vom Aussterben bedrohten Großkatzen in China und
in anderen ostasiatischen Ländern wie Viet­nam und
Thailand auftauchen. Sie gelten dort als Luxusproduk-
te oder als Medizin. Kürzlich hat die britische Natur-
schutzorganisation World Animal Protection ermittelt,
dass einige Schmuggler neuerdings ganze Jaguarkada-
ver tagelang in großen Kesseln auskochen und eine
graue, klebrige Paste gegen Rheuma und für die Man-
neskraft daraus herstellen. Endverbraucherpreis in
China: 785 bis 3000 Dollar für ein kleines Fläschchen.
Der Schmuggel mit Wildtieren und ihren Körper­
teilen ist auf der ganzen Welt ein hochprofitables
Geschäft für das internationale Bandenverbrechen
geworden – für Mafias, die häufig auch Drogen-
handel, Goldschmuggel, Produktfälschung oder
Menschenhandel betreiben. Geschmuggelt werden
Jaguare, asiatische Tiger, afrikanische Löwen, Rhino-
zeroshörner und Elfenbein. Interpol schätzt, dass auf
diese Weise jedes Jahr weltweit 20 Mil­liar­den Dollar
umgesetzt werden.
Bei der Schulung im Royal-Torarica-Hotel schaut
man bei den Gesetzeshütern trotzdem noch in einige
überraschte Gesichter. Die meisten hier hatten vor dem
Vortrag keine rechte Vorstellung vom Ausmaß des
Problems. Ja, Einzelfälle habe es gegeben. Roy Ho Tsoi,
ein ehemaliger Soldat, der heute einen hohen Posten
bei der Forstbehörde innehat, erinnert sich an ein paar
Ereignisse in den Neunzigerjahren. Da sei mal bei einer
Razzia in einer chinesischen Apotheke nahe dem
Flughafen ein Jaguarkadaver beschlagnahmt worden.
Auch sei der Besitzer eines chinesischen Supermarkts
mal dadurch aufgefallen, dass er in der Hauptstadt
nach Kaufgelegenheiten für Ja­guar­klauen fragte. Und
der Flughafenzoll erwischte 2018 eine Chinesin mit
mehreren Jaguar-Fangzähnen, die sie in Milchpulver-
dosen versteckt hatte. Der Sache sei aber aber nicht
weiter nachgegangen worden, weil die Frau eine falsche
Adresse angegeben hatte und untergetaucht sei.
Ein paar Tage später bricht Vanessa Kadosoe auf,
um nach den Jaguaren im Land zu schauen, und sie
steht dafür besonders früh auf. Die 39-jährige Pro-
fessorin für Umweltwissenschaften ist die Art von
Naturfreundin, die mit einem riesenhaften SUV
durch die Gegend fährt: ein Toyota-Allradfahrzeug
mit Spezialfederung und einem höhergelegten An-
saugrüssel, der das Durchqueren großer Wasserlöcher
und kleiner Bäche ermöglicht. Diese Ausstattung ist
durch den Dschungel bauen chinesische Unter-
nehmen selbst. In der Hauptstadt Paramaribo
sieht man zahllose Ladenschilder mit chinesischen
Schriftzeichen: ­Juweliere, Casinos, Fischexport­
läden, Restaurants, Banken, Baufirmen und fast
sämtliche Supermärkte.
Vor einigen Jahrzehnten waren es mal die Westler
aus den USA und aus Europa, die für die Jaguare im
Der illegale Handel mit bedrohten Tierarten ist eines der lukrativsten Verbrechen. Amazonaswald zur Bedrohung wurden: In den
Sechzigerjahren noch wurden tonnenweise Jaguar-
Chinesische Händler schmuggeln im großen Stil Tatzen, Fangzähne und Organe felle aus mehreren Amazonasstaaten ausgeführt, weil
von Jaguaren aus dem Amazonaswald  VON SANTIAGO WILLS das damals einer Mode entsprach. Doch 1975 lan-
deten die Raubkatzen auf der Liste bedrohter Tier-
arten, und der legale Handel wurde eingestellt. Ille-
gale Ausfuhren von Jaguarpelzen und weiteren Ja-
guarprodukten in andere Länder als China gibt es
allerdings auch heute noch, und es ist nicht ganz
leicht zu ermitteln, wo die wahren Schuldigen sitzen:
Nach einer Untersuchung der ecuadorianischen
Zoologin Melissa Arias werden immer noch 19-mal
so viele dieser Produkte bei der illegalen Einfuhr in
die USA entdeckt wie nach China. Aber es ist natür-
lich völlig unklar, ob das an größeren Handels­
mengen oder aufmerksameren Zollbeamten liegt.
Klar ist hingegen, dass die Nachfrage aus China
und sonstigen ostasiatischen Ländern rasant wächst
und damit im China-dominierten Suriname auch
zunehmend das Geschäft bestimmt. Eine kürzlich
in der Zeitschrift Conservation Biology erschienene
Studie stellte einen engen Zusammenhang zwi-
schen lokaler Armut, Beamtenkorruption sowie
großem chinesischem Einfluss und dem interna-
tionalen Jaguarschmuggel her – F ­ aktoren, die in
Suriname alle zusammenkommen, ein für die
Raubkatzen fatales Gemisch.
Im Prinzip wissen auch die Gesetzeshüter in
Suriname genau, wo die üblichen Schmuggelrouten
aus ihrem Land nach China verlaufen, und sie er-
zählen unter der Hand freimütig davon: entweder
per Flugzeug aus Paramaribo nach Fort Wellington
im Nachbarstaat Guyana und von dort aus nach
Europa und weiter nach ­Asien. Oder im Direktflug
von Suriname über den Flughafen Schiphol in
Amsterdam nach ­ Asien. Ein dritter Exportweg
führt mit dem Auto in die nordbrasilianische Stadt
Boa Vista und von dort aus außer Landes. Die
Möglichkeiten für Razzias und Aufklärung ­seien
aber begrenzt, behauptet der Forstbeamte Ho Tsoi:
Er habe gar keine Kollegen, die die chinesischen
Sprachen Hakka, Mandarin oder Kantonesisch
sprächen. Daher könne man vernünftige Verhöre
oder gar Undercover-Operationen vergessen.
So kommt es, dass den Kampf gegen den Jaguar-
handel in Suriname vor allem Nichtregierungsorga-
nisationen (NGOs) betreiben – und die wissen über
das Ausmaß dieses Geschäfts ganz hervorragend­
Bescheid. Els van Lavieren, eine niederländische
Primaten­spezialistin bei der Organisation Conser-
vation International, kann auf ihrem Computerbild-
schirm eine wachsende Datenbasis vorführen: 70
Fälle aus dem vergangenen halben Jahrzehnt. Zähne,
die in einem Massagesalon verkauft wurden, ein Ja-
guarkopf als Dekoration in einem Juweliergeschäft,
Aufnahmen und Kurzvideos in Surinames sozialen
Medien. Es gab Zwischenfälle mit wenige Wochen
alten Jaguarbabys in Privatwohnungen. Kürzlich sei
eins davon ausgebüxt, über einen Zaun gesprungen
und in einen Kindergeburtstag der Nachbarn geplatzt.
Es wurde dann in den Zoo von Paramaribo gebracht.
Aber weil die Behörden diese Verbrechen – die
auch in Suriname strafbar sind – nicht härter ver-
folgen, bleiben den NGOs nur beschränkte Hand-
lungsmöglichkeiten. Ein Weg sind Kampagnen:
Kürzlich wurde eine namens »Go Wild for Wild­life«
gestartet, in der unter anderem ein bekannter chine-
sischer Koch und ein Kickboxing-Champion auf-
treten und die Bedeutung des Jaguarschutzes betonen.
Außerdem haben NGOs schon eigene Ermitt-
lungen angestellt. Das ist aber äußerst gefährlich. Im
Frühjahr etwa schlossen die Earth ­League Inter­
national (ELI) und die International ­Union for­
Ein Jaguar kann 1,85 Meter lang und an die 160 Kilo schwer werden
Conservation of N ­ ature (IUCN) eine Undercover-
Untersuchung in Suriname ab, die von der nieder­
län­dischen Staatslotterie mitfinanziert worden war.­
Detektive hatten sich unter die Käufer und Verkäufer
in der Jaguarszene gemischt.
a
Das Ergebnis: Von 20 als »besonders wichtig«
ik identifizierten Teilnehmern an diesem Geschäft ­seien
Fort
er

durchaus notwendig, um die abenteuerlichen 16 Chinesen gewesen, und es gebe zwei kriminelle
m

Wellington
da

V E N E
Schlammstraßen im Herzen Surinames zu passieren. Banden, die wiederum Verbindungen zur Mafia in
Sü

Der Staat hat zwar nur gut 600.000 Einwohner, aber
eine Fläche, die fast halb so groß wie die Deutsch-
lands ist. 90 Prozent davon sind mit dichtem tropi-
schem Regenwald bedeckt, in dem riesigen Natur-
schutzgebiet Brownsberg zum Beispiel, wo Kadosoe
seit 2012 die Jaguarpopulation überwacht.
Von der Hauptstadt bis zum Rand des Parks fährt
man drei Stunden lang durch eine Schneise im Re-
genwald. An einer Stelle steigt Kadosoe aus und wan-
dert, ein GPS-Gerät in der Hand, ins Unterholz hi-
nein bis zu einer ihrer Überwachungskameras: Spei-
cherkarte herausnehmen, neue Karte einsetzen, zu-
rück zum SUV. Blaue Schmetterlinge schwirren um
ihren Kopf, Sittiche kreischen aus dem Blätterdach,
ein Klammeraffe stößt Warnschreie aus. Die Bäume
Foto: Carl de Souza/AFP/Getty Images; kleine Fotos: World Animal Protection (u.)
Ein von Goldsuchern im
Wald geschossener Jaguar
Kadosoe ist in einem Dorf nahe dem Brownsberg-
ZUELA SURINAME
der südöstlichen chinesischen Provinz Fujian unter-
GUYANA Paramaribo halten. Das ist dieselbe Mafia, die nach Erkenntnissen
der NGOs auch in so unterschiedliche Geschäfte wie
Boa Vista FR ANZÖSISCH den Wildtierschmuggel aus Bolivien, den Import von
GUYANA Elfenbein aus Afrika und die Lieferung von Tigern
nach Laos und Thailand involviert sein soll. Nach
BR ASILIEN
diesen Erkenntnissen treibt sogar eine kriminelle
Manaus Organisation mit Beziehungen zu örtlichen Politikern
ihr Unwesen, die Angehörige indigener Völker für
500 km den Jaguarhandel anwerben.
ZEIT- GRAFIK
Jaguarzähne, bereit für Bei der staatlichen Forstbehörde bekam die ZEIT
den Export dazu die Auskunft, dass man von diesen Unter­
suchungen wisse und dass die örtlichen Strafverfol-
gungsbehörden ebenfalls Ermittlungen angestellt
lang auch von Holzfällern genutzt werden. Alle zahlen, 2000 bis 4000 Dollar. In Suriname ist das hätten. Dabei sei aber bisher nichts herausgekom-

stehen hier sehr dicht und wachsen zwischen 25 und
40 Meter in die Höhe.
Die Professorin hat mithilfe dieser Kameras über
die Jahre hinweg 29 Jaguare zu unterscheiden gelernt:
einige Raubkatzen, die regelmäßig dieses Gebiet
durchstreifen, und neun eher sesshafte Charaktere,
die ihr ganzes Leben am gleichen Ort verbringen.
»Königinnen und Könige« hat sie diese genannt und
entsprechende Namen verteilt: ­Charles, ­Philip, ­Kate,
­Meghan und so weiter.
Der Forscherin fällt es auf, wenn Tiere fehlen. Die
Königin Amalia zum Beispiel ist seit 2020 auf keiner
der Kameras mehr erschienen. Hin und wieder
kommt so etwas aus natürlichen Gründen vor – Ja-
guare werden üblicherweise zwischen 12 und 16
Jahre alt –, aber Amalia hatte auf den letzten Auf-
nahmen noch jung und gesund ausgesehen. Kadosoe
ist sich ziemlich sicher, dass sie Jägern zum Opfer
gefallen ist. »Vermutlich Goldgräber«, sagt sie.
Naturschutzgebiet aufgewachsen. Sie erinnert sich,
wie sie als Kind in dem roten Schlamm neben der
Kirche spielte und dass sie darin manchmal glitzernde
Goldkörnchen sah, wenn es regnete. Gold ist heute
sehr wichtig in Suriname, es macht nach Angaben
der Weltbank fast 80 Prozent der Exporte aus, und
der größte Teil dieses Goldes wird von oft illegal und
wenig rücksichtsvoll arbeitenden Kleinstunterneh-
mern aus dem Boden gewaschen.
Zehntausende sogenannter garimpeiros, Glücks-
sucher aus dem benachbarten Brasilien, sind in diesen
Wäldern unterwegs. Sie vergiften die Flüsse mit
Quecksilber, treiben die Abholzung voran und ver-
schieben die Grenze der menschlich besiedelten Ge-
biete immer weiter hinein in die unberührte Natur.
Bei der Fahrt entlang der Dschungelstraße sind alle
paar Kilometer frisch von Bulldozern gezogene
Schlammabzweige zu sehen, die zu den neuesten
Arbeitsstätten der Schürfer führen und über kurz oder
paar Minuten kommen einem Sattelschlepper mit
frisch geschlagenen Tropenholzstämmen entgegen,
die unterwegs zum Seehafen sind.
Für die Jaguare geht das Aufeinandertreffen von
Mensch und Wildnis in aller Regel schlecht aus. Von
Parkwächtern in den Nationalparks kann man sich
viele Geschichten über Jaguartötungen erzählen
lassen, die nach ihren Beschreibungen meist Gelegen-
heitstaten sind: Da begegnen Männer, entweder
örtliche Siedler oder Goldgräber, im Wald oder in
ihrer Siedlung einer Raubkatze, und dann schießen
sie sie halb aus Angst und halb aus Sportsgeist tot.
»Jeder hat Angst vor dem Jaguar«, sagt die For-
scherin Kadosoe, obwohl das irrational sei: In der
ganzen Landesgeschichte kenne man bloß zwei be-
stätigte Berichte, wonach ein Jaguar unprovoziert
einen Menschen angegriffen habe. Allerdings hätten
diese Zufallsjäger inzwischen längst von den Händ-
lern gehört, die gutes Geld für einen Jaguarkadaver
ein kleines Vermögen, das durchschnittliche Jahres­
einkommen liegt bei gerade mal 4869 Dollar.
Eine erdrückende Beweislast spricht dafür, dass
diese hohen Preise mit Abnehmern aus China zu tun
haben. Suriname war früher mal eine britische und
später eine niederländische Kolonie, seit 1975 ist das
Land unabhängig, aber niemand bestimmt die Ge-
schicke hier so stark wie die chinesischen Einwan-
derer. Sie machen zwar nur schätzungsweise zehn
Prozent der Bevölkerung aus, dominieren aber die
Geschäfte und häufig sogar die Politik.
Der Staat hat sich in Peking mehr als eine Mil­
liar­de US-Dollar in Form von Krediten geliehen,
deren Rückzahlung fast aussichtslos erscheint, was
für die Chinesen offenbar eine gute Verhandlungs-
basis darstellt. Chinesischen Unternehmen wurde
inzwischen einer Recherche der Deutschen Welle
zufolge die Hälfte aller Holzfäller-Konzessionen
zugesprochen, sogar Straßen für den Abtransport
men. Gegen erwischte Schmuggler s­ eien einige Buß-
gelder erhoben worden, in der Regel habe man es aber
bei Ermahnungen belassen. Immerhin schickte der
Forstbeamte Roy Ho Tsoi dann ein Video, das ge-
rade in den örtlichen sozialen Me­dien von Suriname
die Runde machte. Es zeigt einen Jaguar, der in der
Nähe der Küste getötet wurde, ein besonders großes
und schönes Exemplar. Den Kopf hatten die unbe-
kannten Jäger schon abgetrennt.
Mitarbeit und Übersetzung: Thomas Fischermann
Die Recherchen für diese Reportage wurden vom
Rainforest Journalism Fund (RJF) unterstützt.
Informationen zum Umgang der ZEIT
mit Recherche-Stipendien finden Sie hier:
zeit.de/recherchestipendien
 www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 WIRTSCHAFT 21

Womit keiner rechnet

Mehrere Bundesländer haben amerikanische

Staatsanleihen auf eine schwarze Liste gesetzt.
Was steckt dahinter?
Amerikanische Staatsanleihen sind so was wie die dem Klima und der Menschheit nützen oder zu- Fairerweise sei gesagt, dass Baden-Württemberg Es gibt aber noch einen Grund, der gegen ame-

Illustration: Kim-Melina Bertram/ZEIT-Grafik

Burger-Pommes-Cola-Menüs vom Drive-in an
der Autobahn: Man kann sie unkompliziert und
rund um die Uhr an vielen Stellen kaufen, sie
sind ganz ergiebig, und ein Totalreinfall ist damit
nicht zu erwarten. Die Papiere bekommen von
den großen Rating-Agenturen so zuverlässig
Bestnoten, wie Fast Food in Kalorien-Rankings
vorn liegt. Rein ökonomisch betrachtet, kann
man also wenig falsch machen, wenn man sein
Geld dem amerikanischen Staat leiht.
Trotzdem hat das Land Baden-Württemberg
amerikanische Staatsanleihen nun auf eine schwarze
Liste gesetzt, wie die Nachrichtenagentur Bloom-
berg vergangene Woche berichtete. Ausgerechnet
Baden-Württemberg! Jenes Bundesland, in dem die
Menschen gängigen Vorurteilen zufolge doch so
aufs Geld bedacht sein sollen. Es ist wohl Zeit, das
Klischee zu erweitern: »The Länd« (so nennt sich
das Bundesland seit Kurzem selbst) kommt es nicht
nur darauf an, das Geld zusammenzuhalten und zu
vermehren – sondern auch darauf, dabei verant-
wortungsvoll zu handeln.
Der Grund für den Verzicht auf US-Staatsanlei-
hen ist nämlich, dass das Bundesland seine Versor-
gungsrücklage für Beamte und andere Gelder nur
noch in Aktien von Firmen oder Anleihen von
Staaten anlegen dürfen, die, grob zusammengefasst,
mindest nicht schaden. Das sieht das Gesetz für
nachhaltige Finanzanlagen vor, das der Landtag von
Baden-Württemberg im März beschlossen hat. So
hole man vielleicht nicht »die größtmögliche Ren-
dite, aber zumindest eine, die unseren Werten und
Ansprüchen entspricht«, verkündete Danyal Bayaz,
der grüne Finanzminister des Landes.
Das Gesetz betrifft Anlagen im Wert von
rund 17 Milliarden Euro und legt zum Beispiel
fest, dass das Land keine Wertpapiere mehr von
Kohleproduzenten oder Tabakkonzernen kaufen
darf. Deswegen hat es zum Beispiel Aktien von
British American Tobacco abgestoßen, obwohl
die in der Vergangenheit ordentliche Dividenden
und Renditen brachten. Aber mit gesundheits-
schädlichen Produkten reicher werden, das geht
eben nicht mehr, nicht mal indirekt.
Außerdem ist dem Land nun der Kauf von An-
leihen von Staaten verboten, die etwa Angriffs-
kriege anzetteln, als besonders korrupt gelten oder
bestimmten internationalen Abkommen nicht
beigetreten sind – etwa dem Pariser Klimaschutz-
abkommen. Die USA haben gleich mehrere solcher
Verträge nicht ratifiziert, zum Beispiel die UN-
Frauenrechtskonvention von 1979 und die Bio-
diversitätskonvention von 1992; also sind ihre
Anleihen ebenso tabu wie die von Diktaturen.
ohnehin keine amerikanischen Staatsanleihen ge-
halten hat, wie ein Anruf beim zuständigen Refe-
ratsleiter des Finanzministeriums ergibt. Es legt
nämlich nur in Wertpapieren an, die auf Euro
lauten. Tatsächlich rausgeflogen aus dem Portfolio
sind dagegen finnische Staatsanleihen im Wert von
9,3 Millionen Euro, obwohl die als fast so sicher
gelten wie amerikanische. Der Grund: Finnland
hat die internationale Streubomben-Konvention
nicht unterzeichnet. Das verdient Ächtung, meint
»The Länd«, Bonität hin oder her.
Baden-Württemberg ist weder allein noch ein
Pionier: Insgesamt acht der 16 deutschen Bundes-
länder berücksichtigen auf verschiedene Weise
Nachhaltigkeitskriterien, wenn sie beispielsweise
Geld für Pensionszahlungen anlegen. Das zeigt eine
Umfrage der ZEIT. Schon 2021 hat der Landtag
von Schleswig-Holstein ein ähnliches Gesetz ver-
abschiedet, wonach bei allen Finanzanlagen des
Landes im Wert von mehr als einer Million Euro
Nachhaltigkeitskriterien angelegt werden. Man
wolle »Vorbild für die ökologische und soziale Fi-
nanzwende sein«, erklärt die grüne Finanzminis-
terin Monika Heinold auf Anfrage, »verantwor-
tungsbewusstes staatliches Handeln schließt auch
und gerade den Finanzsektor mit ein«. US-Staats-
anleihen sind damit auch hier ausgeschlossen.
rikanische Staatsanleihen spricht: Das Wechsel-
kursrisiko. Viele Bundesländer vertrauen grund-
sätzlich lieber auf Anleihen, die auf Euro lauten;
acht der 16 Bundesländer legen ihr Geld gar
nicht außerhalb Deutschlands an. Nur ein ein­
ziges hält überhaupt amerikanische Staats­
anleihen: Sachsen-Anhalt, im Wert von 43 Mil-
lionen Euro. Zwar berücksichtigt das Land zu-
mindest bei Anlagen in Schwellenländern bis zu
85 Nachhaltigkeitskriterien, wie der zuständige
Referatsleiter des Finanzministeriums erklärt.
Nicht ratifizierte Abkommen spielen für die An-
lagestrategen bisher aber keine Rolle; außerdem
seien die USA ja ein verbündeter Staat.
Und wie denkt man in Washington darüber,
dass die eigenen Anleihen nun auf schwarzen
Listen stehen? Steigt dadurch der Anreiz, bestimm-
te internationale Abkommen nach Jahren des
Zögerns doch noch zu ratifizieren? Wüchse der
Druck, wenn Sachsen-Anhalt seine Anleihen öf-
fentlichkeitswirksam verkaufen würde? Und über-
sehen die Schleswig-Holsteiner und Baden-Würt-
temberger Nachhaltigkeitsaspekte, die trotz allem
für amerikanische Staatsanleihen sprechen?
Eine entsprechende Anfrage ließ das ame­
rikanische Finanzministerium in Washington­
unbeantwortet. JENS TÖNNESMANN

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ANALYSE

E wie echt nicht einfach

Entdecker-
Auch Ford setzt jetzt auf Elektroautos,
gebaut in Deutschland. Am Ende könnten
trotzdem die Chinesen gewinnen Momente
Jetzt buchen und
Was für ein starkes Signal für grüne Technolo- das Unternehmen aber einige Tausend Jobs in
gien: Beinahe zwei Milliarden Euro investiert Europa. Und nun ist dieses Unternehmen auch PREISVORTEILE SICHERN
Ford in seine Kölner Autofabrik. Schon bald noch auf die Hilfe der Konkurrenz angewiesen:
werden hier keine Verbrennerwagen mehr pro- Ausgerechnet Volkswagen liefert Batterien und
duziert, sondern E-Autos. Das sei »ein unmiss- Motoren für die neuen Wagen.
verständliches Bekenntnis zum Standort, zur Explorer wird das erste E-Modell aus Köln
Autoproduktion in Deutschland, zur E-Mobili- heißen, ein mittelgroßes SUV, Stückpreis etwa Inklusive

tät, zum Aufbruch«, sagte am Montag ein gut
gelaunter Bundeskanzler Olaf Scholz im Schein-
werferlicht des Ford-Werks. Das stimmt schon
alles. Trotzdem ist das Bild nicht so ungetrübt,
wie es dieser Beinahe-Staatsakt glauben macht,
zu dem sogar Bill Ford angereist war, der Urenkel
des Firmengründers.
Das Werk in Köln ist nur eine von zahlrei-
chen Fabriken, die mittlerweile auf E gedreht
worden sind: Volkswagen baut in Zwickau aus-
schließlich Elektroautos, in Dingolfing bei
BMW läuft vom Sommer an der elektrische 5er
vom Band, Mercedes baut in Sindelfingen die
elektrische S-Klasse. Es entstehen gewaltige Bat-
teriewerke, in Thüringen etwa und in Nieder-
sachsen. Und jetzt elektrifiziert sich sogar Ford,
die bislang kaum in E machten. Kurzum: Die
sogenannte Antriebswende wird kommen, ganz
sicher. Die Politik in Brüssel hat die Gesetze vor-
gelegt, und in Köln manifestiert sich das.
Aber dieser Umbruch in der Autoindustrie ist
nicht nur Aufbruch, das zeigt das Beispiel des
US-Konzerns ebenfalls sehr deutlich. Der Tech-
nologiewandel ist für manche kaum schaffbar
und bringt einiges an Unbill und Kosten mit
500 €
45.000 Euro. Nicht mehr gefertigt wird in Köln
indes der Fiesta, der beliebte Kleinwagen, der
bislang zum halben Preis zu haben war. Klein­
Bordguthaben*
wagen bringen weniger Gewinn als große Autos,
und weil das Geldverdienen mit E-Autos ohne-
hin schwierig ist, wird das Angebot nach unten
hin ausgedünnt. Bei Ford wie auch bei so ziem-
lich allen anderen europäischen Autobauern.
Ob das Geschäftsmodell aufgeht, ist aller-
dings fraglich, denn viele Kunden zögern schon
jetzt beim Autokauf: Die Verkaufszahlen von
2019, dem Jahr vor der Corona-Seuche, sind
noch lange nicht wieder erreicht, auch und vor
allem weil Autos immer teurer werden. Viele
behalten ihre alten Autos. So wächst das
Durchschnittsalter der bestehenden Fahrzeug-
flotte (auf mittlerweile zehn Jahre).
Und noch etwas anderes ist zu beobachten: ANTARKTIS | ALASKA | GRÖNLAND | SPITZBERGEN EXPEDITIONS-SEEREISEN 2024/25
ISLAND | NORWEGEN IHRE VORTEILE:
In die entstehende Marktlücke dringen neue An-
bieter. MG etwa, eine Tochterfirma des chinesi- z.B. 15 Tage Antarktis inkl. Flug • Flug ab/bis Deutschland***
schen SAIC-Konzerns, hat in Europa zuletzt mehr • 500 € Bordguthaben*
Frühbucher-Preis ab 8.718 € p.P.** in der Außenkabine
E-Autos verkauft als Renault oder Fiat. Der ver- • Deutschsprachiges Expeditionsteam
gleichsweise niedrige Preis ist attraktiv für Kunden. • Täglicher Landausflug
Jetzt bei den Experten buchen
Und womöglich hilft Ford beim Aufbau dieser • Vollpension mit Getränken
unter Telefon (040) 874 087 11, im Reisebüro
Konkurrenz: Der US-Konzern will seine Depen-
©Oscar Farrera

sich, auch für Kunden und Beschäftigte. Ford ist
einer der traditionsreichsten Autobauer der Welt,
mit der Einführung des Fließbandes machte
Henry Ford das Automobil zu einem vergleichs-
weise erschwinglichen Produkt. Zuletzt strich
dance in Saarlouis verkaufen, weil der Umbau zur oder unter hurtigruten.de/preisvorteil
Elektroautofabrik nicht lohnt. Berichten zufolge
*Pro Kabine bei Doppelbelegung und Buchung bis 30.11.2023. **Limitiertes Kontingent. ***Ausgenommen Reisen ab/bis Hamburg oder Amsterdam.
sind zwei der drei vielversprechenden Interessen-
Hurtigruten GmbH • Große Bleichen 23 • 20354 Hamburg | Veranstalter der Reisen ist die Hurtigruten Global Sales AS • Langkaia 1 • 0150 Oslo • Norwegen
ten chinesische E-Autobauer. Auch das wäre ein
starkes Signal.  MA X HÄGLER
22 WIRTSCHAFT 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

D Schlechter Stil
as Einkaufszentrum Bosco
Vesna an der Straße Novy
Aarbat in Moskau liegt nicht
weit vom Kreml entfernt. Zu
Fuß sind es vielleicht 20 Mi-
nuten bis in Wladimir Pu-
tins Machtzentrum. Bosco
Vesna ist ein Tempel des edlen Konsums und lässt
kaum Wünsche offen. Es gibt dort exklusive Arm-
banduhren, Schmuck, Kosmetik, Parfum. Und
selbstverständlich Mode von erlesenen Marken.
Etwa von dem deutschen Hersteller Hugo Boss.
Der Hugo-Boss-Store ist auf der Website des
Unternehmens gelistet, er liegt im ersten Stock des
Einkaufszentrums, und wenn man ihn aufsucht,
erlebt man eine Überraschung. Denn obwohl Hugo
Boss mitteilt, man habe »infolge des Krieges das­
eigene Retail- und Onlinegeschäft in Russland­
Anfang März 2022 vorübergehend eingestellt«, ist
der Laden geöffnet. Am Eingang prangt groß der
Schriftzug. Im Innenraum sieht das Geschäft aus wie
die meisten Marken-Stores des Unternehmens. In
der Auslage dominieren Hellorange, Hellblau und
Schwarz als Boss-Farben für den Mann in Moskau.
Wer gedacht hätte, man könnte in Russland
keine Hugo-Boss-Ware mehr kaufen, weil das
Unternehmen sogar im jüngsten Jahresbericht
verkündet hat, die eigenen Geschäfte in dem
Land vorübergehend zu schließen, der hat sich­
getäuscht. Der Laden im Bosco-Vesna-Zentrum
werde von einem Partner betrieben, teilt Hugo
Boss mit, deshalb sei er noch offen. Aber auch
sonst ist das Unternehmen nach wie vor in Russ-
land gut im Geschäft.
Der ZEIT vorliegende Daten des russischen
Zolls zeigen nun, dass die Boss-Lieferungen nach
Russland in den zwölf Monaten nach Putins Über-
fall auf die Ukraine sogar im Wert gestiegen sind.
Im vergangenen Jahr wurden mehr als 15.000
Lieferungen beim russischen Zoll angemeldet, sie
alle gingen an die russische Tochtergesellschaft
Hugo Boss Rus LLC, bei der nach Unternehmens-
angaben 157 Menschen arbeiten.
Der Wert der von Boss gelieferten Waren
stieg von 66 auf 71 Millionen Dollar
Besonders deutlich wird das Russland-Engage-
ment des Unternehmens durch einen Vergleich:
Von März 2021 bis Ende Februar 2022, also in
den zwölf Monaten bevor Putins Truppen in der
Ukraine einfielen, lieferte Hugo Boss von der
Schweiz und Deutschland aus Waren im Wert von
66 Millionen Dollar an die russische Tochterge-
sellschaft. Am 24. Februar 2022 griff Russland die
Ukraine an. Und in den zwölf Monaten danach
lieferte Hugo Boss dann sogar Waren im Wert von
71 Millionen Dollar nach Russland. Anders ge-
sagt: Nach Kriegsausbruch verschickte man mehr
Produkte als zuvor.
Geliefert wurde dabei alles, was in den Kleider-
schrank passt. Am 15. Mai 2022 waren das laut
Zollerklärung »Jacken maschinengestrickt aus
Baumwollgarn« (Artikel-Nummer: 50474389),
Größe XS. Einen Tag später »Textilshorts aus
Baumwollgarn für Herren« (Artikel-Nummer:
50467843), in den Größen 46, 48, 50, 52, 54, 56.
Fehlen durften auch keine Anzüge, in diesem Fall
»aus Wollgarn, für Herren« (Artikel-Nummer
Was besonders auffällt, wenn man die Zoll-
daten durcharbeitet: Während bei Hugo Boss
der Wert der Lieferungen nach der Invasion
stieg, ist es bei anderen Premium-Herstellern ge-
nau umgekehrt. Christian Dior etwa lieferte vor
dem Überfall auf die Ukraine von März 2021 bis
Februar 2022 den Zolldaten zufolge Waren im
Wert von 72 Millionen Dollar. In den zwölf
Mona­ten danach waren es dann nur noch Waren
Man habe alle eigenen Läden in Russland geschlossen, beteuert der im Wert von 19 Millionen Dollar. Bei Prada fie-
Modehersteller Hugo Boss. Trotzdem ist der Wert der dorthin len die Werte der Lieferungen ebenfalls massiv,
von 30 Millionen Dollar auf eine Million Dollar.
gelieferten Ware seit Kriegsbeginn höher als im Jahr zuvor  VON INGO MALCHER Und bei Chanel von 119 Millionen Dollar auf
14 Millionen Dollar.
Das blieb nicht ohne Folgen. Während sich
der Russland-Umsatz von Christian Dior, Prada
und Chanel von 2021 auf 2022 jeweils mehr als
halbiert habe, sei er bei Boss weniger stark gesun-
ken, von 7,61 Milliarden auf 6,27 Milliarden­
Rubel. Das berichtete zumindest das russische
Nachrichtenportal rbc.ru. »Damit war Boss im
vergangenen Jahr die Top-Premium-Marke im
Land«, schreibt das Portal.
Wie viel Steuern zahlt Hugo Boss in
Russland? Das Unternehmen schweigt
Selten war geschäftlicher Erfolg derart schlecht für
den Ruf. Viele Konzerne aus dem Westen haben
sich nach dem Überfall auf die Ukraine deshalb
entschieden, keine Geschäfte mehr mit Russland
zu machen. Forscher aus den USA haben mehr als
1000 solcher Fälle gezählt. Die Unternehmen
wollen demonstrieren, dass sie den Angriff ableh-
nen – und dass sie Putins Kriegskasse nicht durch
ihre Steuerzahlungen auffüllen wollen. Bei Hugo
Boss hat man sich anders entschieden.
Eine Unternehmens-Sprecherin teilt zum
Russlandgeschäft mit, Hugo Boss erfülle im
Großhandel weiterhin seine »vertraglichen Ver-
pflichtungen«. Dadurch, dass der Modehersteller
seine eigenen Geschäfte geschlossen habe, sei »die
Nachfrage im Wholesale-Bereich« gestiegen. Auf
welche Summe sich die in Russland entrichteten
Steuern beliefen, ließ die Sprecherin offen.­
Gegen­wärtig prüfe das Unternehmen allerdings,
wie es »langfristig« mit dem Engagement in Russ-
land weitergehen soll. Und »selbstverständlich«
liefere man Waren nur unter »Einhaltung aller
bestehenden Sanktionen«.
Durch die Strafmaßnahmen der Europäi-
schen Union und der USA ist der Handel mit
Russland stark eingeschränkt. Inzwischen ist
auch die Ausfuhr von Luxusartikeln streng regle-
mentiert. In der entsprechenden EU-Verord-
nung ist genau geregelt, was ein Luxusgut ist.
Ein Auto beispielsweise muss teurer als 50.000
Euro sein, um als Luxuswagen zu gelten. Und
ein Anzug? Ein Hemd? Ein Panamahut? Ab
wann ist das Luxus? Das wird wiederum im An-
hang der Verordnung geklärt. Dort aufgeführte
Waren dürfen nicht nach Russland geliefert wer-
den, wenn ihr Stückpreis mehr als 300 Euro be-
trägt. Das gilt auch für Anzüge.
Bei den Boss-Lieferungen ist der teuerste An-
zug laut Zolldaten mit 243,05 Dollar deklariert –
seine Lieferung also völlig legal, weil ein Klei-
dungsstück zu diesem Preis eben noch kein Luxus
ist. Und so manche Ware, die da von dem Edel-
Collage: ZEIT-Grafik, Foto: Hugo Boss

50473606-8) in denselben Konfektionsgrößen wie schneider geliefert wird, ist noch nicht einmal
die Shorts. Für Damen waren »Oberteile aus kom- Premium. Etwa jene die am 19. Mai 2022 beim
plex geschnittenem Maschinenstrick« (Artikel- russischen Zoll ankam. Sie wurde deklariert als
Nummer: 50469631) dabei. Außerdem Panama- Textilhemden für Herren. Zusammensetzung: 92
hüte, Reisetaschen, Pyjamas, Slips, Schals, Geld- Prozent Polyamid, 8 Prozent Elastan. Also eher
börsen, Morgenmäntel, Stricksocken ... was man preiswertes Plastik als Luxustuch.
halt so braucht. Gefertigt wurden die Produkte in
Bangladesch, China, Sri Lanka, der Türkei.  www.zeit.de/vorgelesen
Dior, Prada oder Chanel haben
ihr Russlandgeschäft drastisch reduziert –
bei Hugo Boss ist das anders

Tochterfirma mit Sprengkraft

Der deutsche Börsenstar Rheinmetall wird von manchen Fondsanbietern nicht berücksichtigt.
Das hängt mit umstrittener Uran-Munition zusammen  VON JONAS SCHULZE PALS UND HAUKE FRIEDERICHS

S
eit dem russischen Einmarsch in die Brandwaffen, Kernwaffen außerhalb des Nichtver- hervor: So beliefert die Nitrochemie Wimmis AG mit die Nieren schädigen. Das Umweltprogramm der jetzt und in Zukunft an Aktivitäten im Zusammen-
Ukraine und der deutschen »Zeiten- breitungsvertrags, abgereichertem Uran und weißem Sitz in der Schweiz den US-Rüstungskonzern Nor- Vereinten Nationen stuft abgereichertes Uran als hang mit Anti-Personen-Minen, biologischen, che-
wende« sind Rüstungsfirmen plötzlich Phosphor beteiligt sind«. Es geht um Waffen, die man throp Grumman Corporation seit Ende 2021 mit giftiges und radioaktives Schwermetall ein. mischen oder nuklearen Waffen, Streumunition oder
wieder spannend für Menschen, die mit in der Finanzsprache »kontrovers« nennt. Treibladungspulver. Das braucht Northrop Grum- Die Studienlage ist diffus. Zwar gibt es wissen- Munition mit abgereichertem Uran »not involved«, also
ihnen Geld verdienen wollen. So hat Rheinmetall hat diesen Test nicht bestanden, man, weil das Unternehmen im Auftrag des US-Ver- schaftliche Untersuchungen, etwa von britischen »nicht beteiligt« sei. Jetzt ist die Rede davon, dass weder
der Fondsanbieter Vaneck kürzlich einen Verteidi- sagt der Fonds-Anbieter. Das ist überraschend. Der teidigungsministeriums sogenannte M829A4-Patro­ Forschern, die eine erhöhte Zahl von Krebskranken der Konzern noch seine Tochtergesellschaften solche
gungs-ETF aufgelegt, einen Aktienfonds, der die Düsseldorfer Konzern schließt nämlich, so steht es nen, 120 mm, produziert. Sie enthalten abgereicher- in Regionen identifizierten, in denen Uran-Muniti- Waffen »entwickeln, produzieren oder vertreiben«. Ein
Wertentwicklung von internationalen Rüstungs- auf der Website, für all seine Unternehmensteile tes Uran und sind dadurch besonders durchschlags- on verschossen wurde. Zum Beispiel im Irak. Die kleiner, aber entscheidender Unterschied.
unternehmen abbildet. Doch ausgerechnet der explizit aus, solche kontroversen Waffen zu entwi- kräftig. Die Projektile können die Wände von Pan- WHO behauptet allerdings, es gebe keine Studie, die Aktivisten wie Thomas Küchenmeister sehen in
größte deutsche Vertreter der Branche fehlt im ckeln, zu produzieren oder zu vertreiben. Wörtlich zern und Kampfjets durchbrechen. Das Treibladungs- eine Verbindung zwischen Uran-Munition und Krebs der Situation eine Gefahr für Rheinmetall. Seine
Portfolio: die Rheinmetall AG, Co-Hersteller des ist dort zu lesen, dass dies auch für »Munition mit pulver von Nitrochemie wird benötigt, um die nachweisen konnte. Organisation Facing Finance setzt sich unter anderem
Schützenpanzers Puma. Auch der finnische­ abgereichertem Uran« gilt. Munition abzufeuern, zum Beispiel aus amerikani- Rheinmetall reagierte auf eine Liste mit 25 Fra- gegen die Finanzierung völkerrechts­widriger Waffen
Finanzkonzern Nordea schließt Rheinmetall-­ Warum erfüllt das Unternehmen diese Kriterien schen Abrams-Panzern heraus. Die USA planen, gen zu dem Thema schmallippig. Ein Unterneh- ein. An der Herstellung kontroverser Waffen beteiligt
Aktien aus seinen Fonds aus. Dabei wurde das Un- aus Sicht der Fondsanbieter dann nicht? diese Panzer im Herbst auch an die Ukraine zu lie- menssprecher wiederholte die auf der Internetseite zu sein könne dem Image des Unternehmens schaden
ternehmen aus Düsseldorf im März in den deut- Henning Weber arbeitet als Leiter für Waffenre- fern. Und die Ukrainer haben bereits mitgeteilt, dass veröffentlichte Stellungnahme zu kontroversen und dazu führen, dass Investoren die Aktien abstoßen
schen Leitindex Dax aufgenommen, der Aktien- cherche bei der Nachhaltigkeitsagentur ISS ESG. Der sie auch gern die durchschlagsstarken Uran-Geschos- Waffen, wonach Rheinmetall diese weder entwickle­ oder das Unternehmen weniger üppig finanzieren.
kurs stieg seit Kriegsbeginn um 130 Prozent. Fondsanbieter Vaneck nutzt deren Daten, um Un- se dazu bekommen würden. noch produziere oder vertreibe. Zu Aktivitäten der Tatsächlich kann man aber nicht sagen, dass sie
Warum versuchen die Fonds nicht, davon zu ternehmen für den eigenen Fonds auszuwählen. Er Im Gegensatz zu den anderen kontroversen Waf- Unternehmenstochter Nitrochemie wollte er keine bei Rheinmetall in Düsseldorf gerade Geldsorgen
profitieren? könne bestätigen, sagt Weber, dass seine Agentur fentypen ist Uran-Munition nicht international ge- Angaben machen. Nitrochemie selbst wollte sich haben. Der gestiegene Aktienkurs ist eher ein Zeichen
Die Manager von Aktienfonds definieren für ge- Rheinmetall derzeit als Firma einstuft, die nach- ächtet, es gibt kein Abkommen, das ihre Produktion nicht äußern. Rheinmetall hält die Mehrheit an der dafür, dass viele Investoren sich für die Geschäfte des
wöhnlich Kriterien, die Unternehmen erfüllen müs- weislich über das Tochterunternehmen Nitrochemie oder Nutzung verbietet. Dass die Fondsanbieter Schweizer Firma. Ein weiterer Anteilseigner ist der Tochterunternehmens nicht besonders interessieren.
sen, damit sie deren Aktien in ihr Portfolio aufneh- an der Produktion von Komponenten für Munition dennoch nicht in sie investieren wollen, liegt daran, Sicherheitstechnikkonzern Ruag, der dem Schwei-
men. So ist das auch im Fall des Verteidigungs-ETFs. mit abgereichertem Uran beteiligt sei. dass sie besonders umstritten sind: Beim Aufschlag zer Staat gehört.
Das Auswahlverfahren, so schreibt der Anbieter Van- Tatsächlich ist Rheinmetall nach ZEIT-Recher- von Urangeschossen bildet sich eine Aerosolwolke Offenbar hat man sich bei Rheinmetall aber mit Hören Sie den Podcast
eck auf seiner Website, schließe Unternehmen aus, chen über das Tochterunternehmen zumindest indi- aus feinsten Uran- und Uranoxid-Partikeln. Kritiker der Kommunikation rund um das Thema beschäftigt. Geld, Macht, Gerechtigkeit: Im Podcast
die »nachweislich an der Herstellung von Anti-­ rekt als Zulieferer an der Herstellung von Uran-­ wie die ärztliche Friedensorganisation IPPNW war- Anders ist nicht zu erklären, dass sich Formulierungen Ist das eine Blase? sprechen wir über Phänomene,
Personenminen (Ottawa-Vertrag), Streuwaffen (Os- Geschossen beteiligt. Das geht aus einer offiziellen nen davor, dass sie von Soldaten oder Zivilisten ein- dazu auf der Rheinmetall-Internetseite geändert haben: die unsere Wirtschaft bewegen.
loer Übereinkommen), biologischen, chemischen und Datenbank über die Ausgaben der US-Regierung geatmet werden könnten und dann die Leber und Bis mindestens September 2019 stand dort, dass man Jetzt anhören unter www.zeit.de/podcasts
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
»Ich bin mit Ende 20 fast gestorben«
Frances Haugen wurde mit
Facebook-Enthüllungen weltbekannt.
Hier spricht sie über ihr Leben,
ihre Krankheit – und darüber, wie sie künstliche
Intelligenz sicherer machen würde
DIE ZEIT: Frau Haugen, viele Whistleblower
verlieren ihre Freunde, ihren Job und ihre wirt-
schaftliche Existenz, nachdem sie an die Öffent-
lichkeit gegangen sind. Wie ist es Ihnen ergangen?
Frances Haugen: Ganz gut. Ich denke einfach,
ich bin widerstandsfähig, unter anderem, weil ich
nie allein war. Als ich im Jahr 2020 sah, wie falsch
und unethisch hochrangige Facebook-Manager
handelten, lebte ich für einige Monate bei mei-
nen Eltern – wegen der Pandemie. Ich habe also
nicht allein gelitten, als mir klar wurde, dass ich
von Geheimnissen weiß, die das Leben anderer
Menschen gefährden. Dass Facebook zu einem
Auslöser für politische Gewalt geworden war. Ich
konnte meinen Eltern am Küchentisch erzählen,
was ich sah, was geschah.
ZEIT: Woher nahmen Sie schließlich die Cou­
rage,­an die Öffentlichkeit zu gehen?
Haugen: Zum Whistleblower zu werden war
nicht der härteste Moment in meinem Leben. Ich
bin mit Ende 20 fast gestorben, weil ich urplötz-
lich eine tief sitzende Venenthrombose hatte. Es
gab Komplikationen, ich saß sogar eine Weile im
Rollstuhl. Danach musste ich meine Beinmus-
keln wieder aufbauen und eine Schädigung an
meinen Nerven in den Griff bekommen. Das war
viel härter, als zum Whistleblower zu werden.
ZEIT: Sie haben die Zeit auch genutzt, um Ihre
Autobiografie (Die Wahrheit über Face­ book,
Econ) zu schreiben. Darin beschreiben Sie sehr
detailliert Ihre Erkrankung und auch Bezie-
hungsprobleme. Kritisch gefragt: Versuchen Sie
nicht genau den Voyeurismus zu bedienen, den
Plattformen wie Face­book verstärken?
Haugen: Ich glaube, dass man Menschen mehr
vertraut, wenn sie ihre Verletzlichkeit zeigen und
nicht so tun, als wären sie Superhelden. Ich war
in den Jahren, bevor ich bei Face­book anfing,
nicht nur krank, auch mein Mann hat mich ver-
lassen, ich hatte meinen Traumjob bei Google
verloren, ich hatte kein Geld mehr. Aber ich
habe es geschafft, mich davon zu erholen. Ich
will den Menschen mit meinem Buch zeigen,
welche Kraft jeder und jede von uns in sich trägt.
Dass Dinge schiefgehen und sie wieder aufstehen
und trotzdem die Welt verändern können.
ZEIT: Neben Ihrer persönlichen Geschichte geht
es in dem Buch ausführlich um Algorithmen: wie
man sie konkret verändern und verbessern kann.
Genau das war Ihre Arbeit bei Google und ande-
ren Firmen aus dem Silicon Valley – und schließ-
lich auch bei Face­book. Warum sollten Menschen
so viel über diese technischen Dinge lesen wollen?
Haugen: Nur wenige Menschen können in das
Gestrüpp der Algorithmen hineinsehen, obwohl
das wichtig ist, weil diese Algorithmen zum Bei-
spiel Wahlen einseitig beeinflussen können. Ich
habe es getan. Dieses Wissen möchte ich teilen.
ZEIT: Was sind Ihre nächsten Pläne?
Haugen: Ich habe Ende 2022 eine Organisation
gegründet, sie heißt Beyond the Screen. Wir wol-
len den Menschen helfen, zu erkennen, was hin-
ter den Bildschirmen ihrer Telefone geschieht.
Wie die großen Tech-Plattformen funktionieren.
Wir wollen helfen, ein Ökosystem aufzubauen,
das die Konzerne zur Verantwortung zieht.
ZEIT: Wie soll das praktisch gelingen? Sie ver-
gleichen Ihre Arbeit mit der Einführung des ­Si­
cher­heitsgurts im Auto. Aber damals gab es Bilder
von Unfällen und eindeutige Statistiken, wie viele
Leben ein Sicherheitsgurt rettet. Die Algorithmen
von Face­book, Google und Co. sind unsichtbar.
Haugen: Es ist schwieriger, das gebe ich zu. Ein
Weg könnte sein, dass wir in Schulen ein soziales
Netzwerk simulieren, mit dem Schülerinnen
und Schüler experimentieren können. So wie sie
im Chemieunterricht ein paar Dinge in Flam-
men aufgehen lassen.
ZEIT: Was erhoffen Sie sich davon?
Haugen: Ich habe eine Gegenfrage. Warum gibt
es immer noch Schülerzeitungen? Es gibt sie, da-
mit Schülerinnen und Schüler erkennen, wie­
essenziell journalistische Arbeit für die Demo-
kratie ist. Aber wir haben für Schüler keine Mög-
lichkeit geschaffen, zu experimentieren, wie ein­
Algorithmus funktioniert. Wie ein soziales Netz-
werk gestaltet sein sollte. Welche Entscheidun-
gen sie treffen können, um für Aufmerksamkeit
zu sorgen – und wie ihre Recherchen dort ein
Publikum finden. Es gibt heute nur wenige
Menschen auf der Welt, die wirklich verstehen,
wie solche Algorithmen funktionieren.
ZEIT: Bitte, versuchen Sie, es uns zu erklären.
Haugen: Nehmen wir Facebook und Instagram.
Beide gehören zum Meta-Konzern. Auf diesen
Plattformen sind jeden Tag viele Hundert Millio-
nen Menschen online, und einer von tausend
wird etwas posten. Ein soziales Netzwerk muss
nun entscheiden, wie es diese Beiträge priorisiert
und sortiert, denn als Nutzer bekomme ich viel-
leicht 20 davon zu sehen. Das Netzwerk kann
nun verschiedene Strategien verfolgen: Will es die
Nutzer besonders glücklich machen? Will es das
WIRTSCHAFT 23
Mit­ein­an­der fördern? Will es den Geschäftserfolg
an erste Stelle setzen? Das ist ein Prozess über
viele Schichten, und in jeder Schicht werden Ent-
scheidungen getroffen, und dabei fließen Vorlie-
ben, Vorurteile, Neigungen und Ideologien ein.
Und das gilt für alle großen Softwareplattformen.
Seien es soziale Netzwerke, KI-Programme wie
ChatGPT oder auch Computerspiele. Alle haben
eine Ideologie. Alle sind auf ihre Weise parteiisch
und einseitig, sie sind nicht neutral.
ZEIT: Welche Folgen hat das für unsere politi-
schen Debatten und für Wahlen?
Haugen: Ein Teil unserer politischen Debatten
wird von Plattformen mitgesteuert, die weit von
dem Ort entfernt sind, an dem wir leben. Ihre
Algorithmen entscheiden, was verbreitet wird
und was nicht. Was man sagen darf und was
nicht. Wer viel Sichtbarkeit bekommt – und wer
rausgeworfen wird. In den USA haben wir als
Bürger kein Recht, zu erfahren, was im Innern
der Algorithmen vor sich geht. Da ist Europa ein
Stück weiter. Der Digital Services Act (DSA)­
erlaubt es Europa, den Vorhang ein wenig bei-
seitezuziehen und einen ersten kontrollierenden
Foto: Stephen Voss/Redux/laif
Blick auf die Algorithmen zu werfen.
ZEIT: Wir wissen nicht, wie Facebook heute mit
diesen Fragen intern umgeht. Warum sind seit
Ihren Enthüllungen keine weiteren Whistle­
blower an die Öffentlichkeit gegangen?
Haugen: Dazu möchte ich nur sagen: Haben Sie
Geduld. Ich hoffe, dass mein Buch hier eine
Wirkung zeigt. Denn wir treten in eine neue
ökonomische Ära ein, in der immer mehr Syste-
me Face­book ähneln. Sie lassen sich nicht aus­ Die Whistleblowerin
ein­an­der­neh­men und inspizieren, wie einst mein
Vater seinen VW-Bus auseinandergenommen
hat. Deswegen werden Whistleblower noch Die Enthüllungen bekämpfen sollte, wurde kurz nach der Die Organisation
wichtiger. Sie sind die erste Verteidigungslinie Nach Stationen bei Google und anderen US-Wahl 2020 aufgelöst. Haugen kopierte Im Jahr 2022 gründete Frances Haugen
der Gesellschaft. Digitalfirmen arbeitete die Informatikerin ­22.000 Dokumete, verließ Facebook­im »Beyond the Screen«. Die gemeinnützige
ZEIT: Wir würden entgegnen, dass der Schutz und Elektrotechnikerin Frances Haugen Mai 2021 und wandte sich kurz danach an Organisation erhält Mittel unter
der Gesellschaft vor intransparenten Algorith- von 2019 an bei Facebook in der Abteilung die Öffentlichkeit. Ihr Ziel: offenlegen, wie anderem von dem US-Unternehmer und
men in erster Linie eine Aufgabe der Politik ist. »Civic Misinformation«. Die Abteilung, die Algorithmen der Plattform Falschnach- Philanthropen Frank H. McCourt
Was sollte die tun, um die Macht der Algorith- die Verleumdungen, Desinformation richten und Hassbotschaften verstärken. sowie von dem vielfachen Gründer
men und Plattformen zu begrenzen? und die Beeinflussung von Wahlen ­ Heute lebt die 38-Jährige in Puerto Rico. und Investor Chris Larsen.
Haugen: Es gibt Lektionen, die wir aus dem Um-
gang mit sozialen Medien gelernt haben und die
wir auch auf künstlich intelligente Sprachmodelle­ ANZEIGE
anwenden können. Zum einen muss es möglich
sein, dass Algorithmen von Experten eingesehen
und inspiziert werden. Und wir müssen die Risi-
ken der Algorithmen für die Öffentlichkeit
bewer­ten können. Wir sind 30 Jahre im Rück-
stand, aber es gibt Fortschritte: Der europäische vr.de/mitglied
DSA ermöglicht es, in Zukunft schneller voran-
zukommen. Da bin ich sehr optimistisch.
ZEIT: Und was geschieht in den USA, wo die
Tech-Konzerne ihren Sitz haben?
Haugen: Gerade hat der Chef der obersten­
Gesundheitsbehörde der USA eine offizielle
Stellungnahme herausgegeben, wonach soziale
Medien ein Risiko für die psychische Gesund-
heit und das Wohlbefinden von Kindern und
Jugendlichen darstellen können, und er hat die
Politik aufgefordert, das Problem in Angriff zu
nehmen. So etwas geschieht nur alle paar Jahre
und führte in der Vergangenheit immer zu ein-
schneidenden Maßnahmen. Das ist also ein
wichtiges Si­gnal und ein Wendepunkt.
ZEIT: Die EU-Institutionen arbeiten auch an ei-
nem Gesetzesvorhaben, um künstliche Intelligenz
zu regulieren. Was braucht man aus Ihrer Sicht?
Haugen: Prohibition – also ein Verbot von künst-
lich intelligenten Systemen – kann keine Lösung
t ,
sein. Sie würde Unternehmen nur in Länder ver-
drängen, wo sie nicht reguliert werden und außer
ftli c h h e iß
a
Kontrolle geraten. Stattdessen müssen wir von
den Unternehmen Transparenz einfordern und
n os s e n s c h i n .
Ge e
sie dazu verpflichten, die Gefahren und Risiken
zu minimieren. Wenn etwa die 500 größten
r P a r t n e r s
e
amerikanischen Firmen nur Systeme kaufen, die
geprüft sind, und verantwortungsvoll handeln,
ve r l ä s s i g
zu
dann wird das zwar nicht das iranische Militär
davon abhalten, selbst KI-Systeme zu entwickeln.
Aber es wird bewirken, dass sich zumindest unse-
re Start-ups in eine sichere Richtung bewegen.
ZEIT: In Ihrem Buch betonen Sie, wie sehr der
Aktienkurs von Face­book nach Ihren Enthül-
lungen eingebrochen ist, weil Werbekunden ab-
sprangen. Braucht es mehr Druck vonseiten der Wir sind die Banken mit der genossenschaftlichen Idee.
Werbekunden oder vielleicht sogar einen Boy-
kott, um Face­book, Twitter und TikTok zum Als Wertegemeinschaft handeln wir partnerschaftlich,
Besseren zu verändern? transparent und verantwortungsvoll. Bei uns kann man nicht
Haugen: Ich habe mit einem großen Fonds ge- nur Firmenkundin und -kunde, sondern auch Mitglied sein.
sprochen, der gern sein Geld von Face­book ab- Und den Unternehmenszielen unserer Mitglieder sind wir
ziehen würde. Aber dieser Fonds muss das vor besonders verpflichtet. Wie, erfahren Sie hier: vr.de/mitglied
seinen Investoren rechtfertigen. Er braucht harte
Kriterien, die gute und schlechte Praktiken sol- Infos, Tipps &
cher Plattformen klar definieren. Mit meiner Hintergründe:
Organisation will ich deswegen Standards für Folgen Sie uns
Plattformen entwickeln. auf LinkedIn.
Das Gespräch führten Götz Hamann
und Jens Tönnesmann
24
Heißer
Dampf
D
Die Gewerkschaft Deutscher
Lokführer will ihre Mitglieder Dass Unternehmer genervt
über eine Genossenschaft an von Claus Weselsky sind, ist
die Bahn verleihen. Dieser Plan erst mal keine Überraschung.
Der Chef der Gewerkschaft
könnte nach hinten losgehen  Deutscher Lokomotivführer
VON JONAS SCHULZE PALS (GDL) ist ein gewiefter Verhand-
ler, der im Zweifel auch zu einem
127-Stunden-Streik aufruft, um
seine Forderungen durchzusetzen.
»Herr Weselsky ist extrem erfahren
und mit allen Wassern gewa-
schen«, sagt Marc Giesen, Chef der
MEV Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft aus
Mannheim. Seine aktuelle Wut auf den Gewerk-
schaftschef liegt aber nicht in Weselskys über­
triebenen Lohnforderungen begründet. Vielmehr
fürchtet der 52-Jährige, dessen Firma unter anderem
Lokführer an andere Bahnunternehmen verleiht, dass
die GDL ihm bald nicht nur als Gegner in den Tarif-
verhandlungen gegenübersitzt, sondern auch als di-
rekter Wettbewerber seines Unternehmens auftritt.
Rückblende, Montag vor einer Woche. Claus
Weselsky tut das, was er vermutlich am liebsten
tut: Forderungen für die nächsten
Tarifverhandlungen
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Für das Recht des
stärkeren Arguments.
Die Versuchung, aus allem Schlagzeilen zu machen, ist immer groß. Diesem Impuls zu widerstehen
gehört zum Selbstverständnis der Frankfurter Allgemeinen. Sie wirft stets einen rationalen Blick
auf das Weltgeschehen und bietet realistische Einschätzungen. Damit unterstützt sie auf der Basis von
Fakten die selbstbestimmte Meinungsbildung ihrer Leser. – Freiheit beginnt im Kopf.
Jetzt mehr erfahren –
freiheitimkopf.de
WIRTSCHAFT
verkünden. Während
sich die konkurrierende
Eisenbahn- und Verkehrsge-
werkschaft (EVG) bereits seit
Monaten mit der Bahn über
Lohnerhöhungen streitet (Streiks
inklusive), läuft der Tarifvertrag der GDL erst im
Herbst aus. Für die kommende Tarifrunde fordert
Weselsky eine allgemeine Entgelt­erhöhung von 555
Euro und die Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit
im Schichtbetrieb von 38 auf 35 Stunden. Gewohnt
ambitioniert also. Doch Weselsky hat noch mehr zu
berichten: Gemeinsam mit anderen GDL-Mitgliedern
habe er die Genossenschaft Fair Train gegründet. Ge-
schäftszweck dieser Genossenschaft sei es, Lokführer
anzustellen und sie per Arbeitnehmerüberlassungs­
vertrag an Bahnunternehmen zu verleihen. Eine Zeit-
arbeitsfirma für Lokführer. Schon Ende des Jahres
könne es losgehen.
Marc Giesen sagt: »Das ist ein bisschen so, als würde
die IG Metall ankündigen, Autos zu produzieren.«
Die Motivation für diesen Schritt versucht Weselsky
gar nicht zu verbergen: »Die Genossenschaft ist eine
Kampfansage an den Vorstand der Deutschen Bahn.
Dort haben wir die Situation, dass Tausenden unserer
Mitglieder das Recht auf ihren Tarifvertrag entzogen
wurde.« Deshalb habe man sich im vergangenen Som-
mer zusammengesetzt und nach Lösungen gesucht.
Die Deutsche Bahn macht sich seit Anfang 2021
das sogenannte Tarifeinheitsgesetz zunutze. Demnach
kann der Arbeitgeber in einem Betrieb den Tarifvertrag
derjenigen Gewerkschaft anwenden, die dort die meis-
ten Mitglieder hat. Er gilt dann auch für Mitglieder
anderer Gewerkschaften. Da die EVG etwa viermal so
groß ist wie die GDL, spielt der von Weselsky verhan-
delte Tarifvertrag nur noch in wenigen Unternehmens-
bereichen des Bahn-Konzerns eine Rolle.
Mit der Zeitarbeitsfirma will Weselsky
seine Gewerkschaft wieder
attraktiver machen. Kann das
funktionieren? Und ist das über-
haupt legal?
Wie in vielen Branchen herrscht auch bei den Lok-
führern akuter Fachkräftemangel. Würde es Weselsky
gelingen, viele seiner Mitglieder davon zu überzeugen,
bei der Bahn zu kündigen und stattdessen für die Ge-
nossenschaft zu arbeiten, würde das die DB empfind-
lich treffen. Um den Betrieb aufrechterhalten zu kön-
nen, müsste sie ihre ehemaligen Lokführer bei der Fair
Train ausleihen. Den GDL-Mitgliedern will man den
Arbeitgeberwechsel durch einen attraktiveren Tarif­
vertrag bei der Genossenschaft schmackhaft machen.
Außerdem würden sie von möglichen Gewinnen der
Genossenschaft profitieren.
Doch der Vorstoß ist juristisch umstritten. Alexan-
der Bissels, Partner für Arbeitsrecht bei der internatio-
nalen Wirtschaftskanzlei CMS, sagt: »Das Genossen-
schaftsmodell ist mit nicht unerheblichen rechtlichen
Risiken und Nebenwirkungen verbunden.« Sie könn-
ten auch die GDL selbst treffen.
Für eine Gewerkschaft gelte der Grundsatz der so-
genannten Gegnerunabhängigkeit: Wer Tarifverträge
für Beschäftigte verhandelt, dürfe nicht zugleich mit der
Arbeitgeberseite unter einer Decke stecken. Die Mit-
glieder und damit zugleich Eigentümer der Fair-Train-
Genossenschaft müssen aber laut Satzung auch Mit-
glieder der GDL sein. Bei den Verhandlungen für den
Tarifvertrag der Genossenschaft säßen also auf beiden
Seiten des Tisches GDL-Leute – und würden praktisch
mit sich selbst verhandeln. »Die Gewerkschaft riskiert
ihren Status als tariffähige Vereinigung, mit der Folge,
dass sie keine gültigen Tarifverträge mehr abschließen
könnte«, sagt der Arbeitsrechtler Bissels.
Das heißt: Selbst wenn es Weselsky gelänge, mit der
Genossenschaft als Drohgebärde einen lukrativen Tarif-
vertrag mit der Deutschen Bahn abzuschließen, könnte
es sein, dass dieser später für unwirksam erklärt wird.
Weselsky hält diese Befürchtungen für unbegründet.
Er habe das alles rechtlich prüfen lassen, sagt er. Die
Genossenschaft agiere unabhängig von der Gewerk-
schaft. Deshalb s­ eien die Vorstände mit unter-
schiedlichen Leuten besetzt. »Die Fair Train
kann auch nicht irgendeinen Tarifvertrag
nach Schla­raf­fen­land­bedin­gun­gen
verhandeln«, betont
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
Weselsky,
»die muss ja auch
ein positives Ge-
schäftsergebnis erzielen.«
Außerdem sei es ganz normal,
dass die Genossenschaft ein ge-
schlossener Bereich ist. »Nehmen Sie
eine Einkaufs- und Liefergenossenschaft
des Elektrohandwerks. Da können Sie auch
kein Mitglied werden, wenn Sie Bäcker sind.«
Für die Mitgliedschaft bei der Fair Train reicht
es allerdings nicht, Lokführer zu sein. Man muss
schon GDL-Mitglied sein.
Ob wirklich Lokführer in großer Zahl in die
Genossenschaft wechseln? Das ist noch völlig offen.
Sie müssten sich darauf einstellen, häufiger für ver-
schiedene Unternehmen zu fahren. Das Arbeitsrecht
schreibt eine Maximaldauer der Überlassung von
Leiharbeitern an eine Firma von 18 Monaten vor. Da-
nach müsste der Angestellte der Genossenschaft min-
destens drei Monate und einen Tag an ein anderes Un-
ternehmen verliehen werden, bevor er wieder an den
angestammten Platz zurückkehren könnte. Besonders
attraktiv klingt das nicht.
Die Deutsche Bahn will sich derzeit nicht zu den
Plänen äußern. Man habe die Forderungen und An-
kündigungen der GDL zur Kenntnis genommen und
werde diese prüfen. Von den rund 19.000 Lokführern
des Konzerns seien aktuell etwa 100 als Zeitarbeit-
nehmer beschäftigt. Die konkurrierende EVG be-
wertet Forderungen der GDL »grundsätzlich nicht«.
Marc Giesen, der Unternehmer aus Mann-
heim, findet es richtig, den Beruf des Lokfüh-
rers wieder attraktiver zu machen. Die Ge-
nossenschaft hält er aber für den falschen
Weg. Sollte Weselsky das Projekt tatsäch-
lich umsetzen, müssten sich GDL-tari-
fierte Arbeitgeber genau überlegen,
ob sie nicht in Zukunft Tarifver-
träge mit Wettbewerbern ver-
handeln. Das dürfte wohl
kaum in Weselskys
Interesse
sein.
Illustration: ZEIT-Grafik
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 WIRTSCHAFT 25

Wirtschaft in einem Satz DIE COACHIN

Warum lang, wenn es auch kurz geht?

Was diese Woche sonst noch los war Ich finde meinen Kollegen
Die UBS hat die Übernahme der
GESCHAFFT: sehr attraktiv. Was nun?
Credit Suisse abgeschlossen und ist damit
nun der zweitgrößte Vermögensverwalter der DIE FR AGE  Liebe Frau Timmann,
ich bin seit Jahren im
Welt für besonders Reiche GEHACKT: Im letzten oberen Management eines Energiekonzerns
tätig. Nun wurde vor einigen Monaten ein
neuer Mitarbeiter in meine Abteilung ver-
Jahr ist bereits jedes zehnte Unternehmen setzt. Es ist mir fast etwas unangenehm zu
schreiben, aber seitdem verbringen wir sehr
viel Zeit mit­ein­an­der. Und ich muss sagen:
Opfer eines Hackerangriffs geworden Er gefällt mir sehr gut, nicht nur auf beruf-
licher Ebene. Was würden Sie mir raten?
Friederike L., 46, Management
GEFÖRDERT: Starinvestor George Soros (92)
DIE LAGE  Ich glaube, fast jeder von
will die Geschäfte seinem Sohn Alexander Illustration: Kim-Melina Bertram/ZEIT-Grafik
uns war mal in der Situa-
tion, dass uns ein Kollege gut gefallen
das Gehalt erhöhen. Sie sind in einer
Führungsposition, Sie haben Macht über
Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
und auch eine Fürsorgepflicht für sie.
Das macht Ihre Situation um einiges bri-
santer. Ich möchte Ihnen keine Angst
einflößen, aber vor einigen Jahren saß
einmal ein verzweifelter Coachee vor mir,
der eine kurze Affäre mit einer Mitarbei-
terin hatte. Als er sie beendete, ging sie
mit den WhatsApp-Nachrichten zur
Gleichstellungsbeauftragten der Firma. Sie
warf ihm vor, dass er sie zu der Bezie-
hung gedrängt habe. Ich konnte meinem
Coachee damals nicht helfen, er musste
das Unternehmen kurze Zeit später ver-
DER WEG  Rational gesehen würde ich
also raten: Finger weg. Aber
vermutlich hilft Ihnen das gerade auch
nicht weiter. Worüber Sie nachdenken
sollten, ist: Wie ernst ist es mit Ihren Ge-
fühlen? S­ uchen Sie nur eine Affäre oder
sind nur ein bisschen verliebt, dann lassen
Sie es. Oder suchen Sie sich jemand außer-
halb Ihres Unternehmens. Vielleicht sehen
Sie aber so viel Potenzial, dass dieser
Mensch mit Ihnen eine feste Beziehung ein-
gehen könnte. Auch das habe ich als­
Coachin ­erlebt. In diesem Fall hat sich das
Paar im Unternehmen geoutet und sich
beruflich getrennt. Ihr Mitarbeiter sollte
dann das Team verlassen. Zu welchem Zeit-

(37) übertragen GEWACHSEN: Die Nachfrage hat. Ich auch. Dieser Kollege ist heute
mein Mann. Aber er und ich waren da-
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Hierarchiestufe steht, gleicht oft einem
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scheiden. Am Ende hängt es auch davon ab,
wie risikobereit Sie sind. Denn die Gefahr,
dass so eine Beziehung auffliegt, ist groß.

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Gesundheit ․ Aufklärung ․ Lebensfragen ․ Geschichte․ Infografik: Kachowka-Flut
Foto: Hans Reniers
Der Klimawandel gefährdet unsere Gesundheit. Doch das hat in Deutschland viel zu lange kaum jemanden
interessiert. In diesem Sommer tut sich endlich etwas  VON KATJA TRIPPEL, STEFAN SCHMITT UND JAN SCHWEITZER
D
ie gute Nachricht dieser­
Woche klingt beruhigend
nach exotischer Ferne: Es
gibt bald einen Impfstoff ­
gegen die Tropenkrankheit
Chikungunya. Für Forscher
ist das ein Durchbruch. Inte-
ressant vielleicht noch für Afrika-, Südamerika- oder
Asien-Reisende, für alle anderen Bundesbürger aber
scheint die Meldung wenig Relevanz zu haben. Irr-
tum! Chikungunya wird wohl schon 2023 Men-
schen krank machen, die Deutschland gar nicht
verlassen haben. Das liegt am Klimawandel, der die
Überträger-Mücke nach Norden wandern lässt.
Chikungunya ist nicht der einzige Anlass für die
Aktivität gleich zweier Bundesminister in dieser
Woche: Gesundheitsminister Karl Lauterbach und
Umweltministerin Steffi Lemke. Beide warnen vor
den Folgen steigender Temperaturen für die Gesund-
heit der Deutschen. Befeuert wird das durch zwei
große Gutachten, die zahlreiche Gefahren für Leib
und Leben benennen (siehe Seite 28). Und – seltene
Ausnahme – die Hauptstadt Berlin macht sich in
dieser Woche vorbildlich für Programme stark, die
gefährdete Menschen vor der Hitze schützen sollen.
Tenor: Die Auswirkungen des Klimawandels auf die
Gesundheit werden immens sein, deswegen muss
jetzt etwas passieren.
Das ist neu. Lange interessierten sich wichtige
Institutionen nicht für das Thema. Bund, Länder
und Kommunen unternahmen wenig bis nichts, um
sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Das
ändert sich gerade. Endlich. Zentrale Akteure er-
kennen die Relevanz des Themas, knüpfen Bünd-
nisse, stellen Hitzeaktionspläne auf. Am Dienstag
versprach Karl Lauterbach sogar, noch diesen Som-
mer einen nationalen Hitzeschutzplan zu formulieren
und zum Auftakt gleich nächste Woche alle relevan-
ten Partner zu einem Treffen einzuladen. All dies
kommt 20 Jahre zu spät.
Im Sommer 2003 erlebte Süddeutschland seinen
ersten Hitzeschock, so wie halb Mittel- und Süd-
europa. Das Hoch Michaela fachte Waldbrände an,
Bäume, Sträucher und Grünflächen kühlen Städte an Hitzetagen effektiv. Im Vergleich zu unbepflanzten Flächen
kann die Vegetation zwischen zwei Gebäudezeilen die Lufttemperatur senken – um bis zu 8 Grad Celsius.
WISSEN
Nicht nur alte Menschen sind gefährdet. Auch für Kinder sind hohe Temperaturen ein Gesundheitsrisiko
Vor dem Hitzschlag
ließ in vielen Mittelmeerländern Felder verdorren
und heizte die Städte auf. Menschen von Paris über
Frankfurt bis Athen brüteten bei Temperaturen über
40 Grad Celsius. Nachts blieb es tropisch warm,
viele konnten keine Abkühlung finden. 9500 Men-
schen starben allein in Deutschland. Es war eine
erste Warnung, doch sie verhallte. Im Jahr 2006
starben 7500 Menschen, 2015 gab es 6000 Tote,
2018 dann 8700, vergangenes Jahr 4500.
Und die Hitzespitzen häufen sich. »Hitzewelle«,
das sagen die Meteorologen, wenn es an mindestens
drei aufeinanderfolgenden Tagen (»Hitzetagen«)
heißer als 30 Grad geworden ist. Solche Hitzetage
schlagen sich in der Statistik nieder, seit den 1980ern
zählt der Deutsche Wetterdienst (DWD) einen ste-
tigen Anstieg. Das Bundesland mit den meisten
Hitzetagen ist Berlin mit rund 16 Hitzetagen im Jahr,
dreimal so viel wie in den 1950er-Jahren. Schaut man
auf einzelne Städte und Landkreise, so sticht der Süd-
westen hervor: Speyer hatte im Mittel des vergange-
nen Jahrzehnts die meisten Hitzetage (23), gefolgt
von Ludwigshafen und Mannheim (je 22).
»Es ist praktisch sicher, dass extreme Hitze und
Hitzewellen seit den 1950er-Jahren häufiger und
intensiver geworden sind«, schreibt der Weltklimarat
in seinem aktuellen Sachstandsbericht. »In den mitt-
leren Breiten können Hitzeextreme sich mit doppel-
ter Rate wie die globale Erwärmung entwickeln.« Die
Fachleute rechnen vor: Eine Hitzewelle, wie sie zu
Beginn der Industrialisierung einmal in 50 Jahren
auftrat, werde heute fast einmal pro Jahrzehnt ge-
messen. In einer Welt mit zwei Grad Erwärmung
erwarte man sie dreimal häufiger als heute. Generell
gelten Forschern Hitzewellen als jene Sorte von
Wetterextrem, die sich am klarsten auf die Emissio-
nen aus fossilen Brennstoffen zurückführen lässt.
Gefährdet sind besonders diejenigen Menschen,
die ihre Körpertemperatur bei Hitze noch nicht oder
nicht mehr so gut bei optimalen 37 Grad halten
können: Kinder und Ältere. Bei alten Menschen
kommt hinzu, dass ihre Nieren häufig nicht mehr in
der Lage sind, Harn in genügender Weise zu konzen-
trieren – sie scheiden Flüssigkeit aus, die der Körper
Mehr Wissen
Links zu den Quellen der Themen dieser WISSEN-­Ausgabe finden Sie unter www.zeit.de/wq/2023-26
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
dringend zur Kühlung braucht. Problematisch ist,
dass Ältere oft wenig Durst empfinden und zu wenig
trinken. Ihre Körper brauchen aber Wasser, um sich
zu kühlen, Nährstoffe zu verarbeiten und giftige
Stoffwechselprodukte auszuschwemmen. Fehlt das
Wasser, verdickt das Blut. Die Menschen werden ver-
wirrt, stürzen leichter. Schlaganfälle und Herzinfark-
te nehmen zu. Um fast ein Drittel steigt die Zahl der
Krankenhauseinweisungen wegen Dehydrierung
während Hitzewellen – das sind hochgerechnet
633.000 mehr Menschen, die in die Notaufnahmen
kommen. Gefährlich ist Hitze aber auch für andere:
Schwangere, Menschen mit akuten Erkrankungen
wie Durchfall, Erbrechen und Fieber oder mit chro-
nischen Leiden wie Diabetes; dazu Übergewichtige,
im Freien körperlich schwer Arbeitende oder Sport-
ler, Obdachlose und auch Menschen, die bestimmte
Medikamente einnehmen (siehe Seite 28).
Viele von ihnen wissen nicht einmal von ihrem
erhöhten Risiko. Das geht aus einer Erhebung des
Planetary Health Action Survey (Pace) hervor, eines
Gemeinschaftsprojekts, an dem die Universität Erfurt
beteiligt ist, das Bernhard-Nocht-Institut für Tropen-
medizin, das Robert Koch-Institut und die Bundes-
zentrale für gesundheitliche Aufklärung. Danach
lagen bei zwei Dritteln der Befragten Risikofaktoren
vor, häufig sogar mehrere. Nur ein Drittel aber nahm
sich so wahr. »Wer seinen Risikostatus nicht kennt,
zeigt weniger Hitzeschutzverhalten«, mahnen die
Forscherinnen und Forscher.
Hitzeschutzverhalten, allein das Wort! »Viel zu
lange haben wir Hitzetage klinisch nur mit Wespen-
stichen oder alkoholisierten Jugendlichen in Zu-
sammenhang gebracht«, klagt Peter Bobbert, Präsi-
dent der Ärztekammer Berlin. Dass Menschen an
Hitze sterben, sei noch nicht im Bewusstsein ange-
kommen – und auch nicht hinnehmbar. »Hitzetote
sind vermeidbare Tote«, so der Internist.
Seine Stadt macht nun vor, wie Hitzeschutz funk-
tionieren könnte. Im Frühjahr 2022 gründete sich
ein »Aktionsbündnis Hitzeschutz Berlin«, initiiert
von Bobberts Ärztekammer, der Deutschen Allianz
Klimawandel und Gesundheit (Klug) sowie der zu-
ständigen Senatsverwaltung. Das Bündnis hat Anfang
dieser Woche einen Plan vorgestellt, der Vorbild sein
könnte: So werden öffentlich zugängliche kühle
Räume eingerichtet. Schon im vergangenen Jahr
wurde eine Alarmkette etabliert, die bei starker Hit-
zebelastung die Gesundheitseinrichtungen der Stadt
warnt und zu Schutzmaßnahmen auffordert, und es
wurden Teams in den Rettungswagen geschult, wie
sie mit Hitzeerkrankten umgehen – und sich an
Hitzetagen selbst schützen. Dazu kommen Materia-
lien mit Informationen und Tipps für Hitzetage, die
unter anderem über Apotheken, Essensausgabestellen
und die Obdachlosenhilfe verteilt werden. Banner in
U-Bahnen gibt es auch. »Berlin ist am allerbesten
aufgestellt, daran können und sollen sich viele S­ tädte
und Länder etwas abschauen«, sagt Martin Herr-
mann, Vorstandsvorsitzender der Klug.
Seine Allianz arbeitet schon seit einiger Zeit daran,
die Verbindung von Klimawandel und Gesundheit
ins Bewusstsein der Entscheidungsträger zu rücken.
Für den Hitzeaktionstag in dieser Woche hat sie sich
mit der Bundesärztekammer und dem Deutschen
Pflegerat verbündet. Dadurch erhöht sich nun der
Druck auf die Politik in Bund, Ländern und Kom-
munen, endlich zu handeln: Deutschland sei auf die
Herausforderungen »strukturell nicht ausreichend
vorbereitet« – »nicht ausreichend« wäre in der Schule
eine Fünf. Bisher hätten »nur wenige Kommunen
Hitzeaktionspläne erstellt, meist ohne maßgebliche
Einbeziehung des Gesundheitssektors«, beklagt das
Dreierbündnis. Und nur jeder fünfte Landkreis hat
ein Konzept entwickelt, um besonders gefährdete
Menschen vor den tödlichen Folgen zunehmender
Hitze zu schützen. Das legte im vergangenen Sommer
eine Recherche der ZEIT offen. Die meisten Land-
ratsämter wussten nicht einmal, wie viele Menschen
in ihren Kreisen überhaupt gefährdet waren.
»Wir müssen endlich ins Handeln kommen«, sagt
Jana Luntz, Präsidiumsmitglied des Deutschen Pflege­
rates. Und Bundesärztekammer-Präsident Klaus
Reinhardt fordert, der gesundheitliche Hitzeschutz
müsse »als Pflichtaufgabe gesetzlich verankert werden,
mit klaren Zuständigkeiten und Kompetenzen«.
27
Welche Pläne Lauterbach dazu hat, ließ er am Diens-
tag offen. Doch folgt er, wie angekündigt, dem Vor-
bild Frankreichs, müssen Warnungs- und Befehls-
ketten einen klaren gesetzlichen Rahmen bekommen.
»Das wäre tatsächlich ein großer Schritt«, lobt der
Klug-Vorsitzende Herrmann. Zumal, wenn auch
Kommunen, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen,
Kitas, Schulen und Unternehmen mit eingebunden
werden und, wie Reinhard forderte, noch in diesem
Sommer erste pragmatische Schutzkonzepte umset-
zen, um Hitzerisiken zu reduzieren.
Ideen und Konzepte existieren durchaus. »In Apo-
theken sind wir ganz nah dran an gefährdeten Kun-
dinnen und Kunden und versuchen daher, sie auch
über die Hitzegefahr aufzuklären«, heißt es beim
Apothekenverband. Krankenkassen planen, Online-
Schulungen für pflegende Angehörige zum Thema
Hitzeschutz anzubieten. Praxen sowie ambulante
Pflegedienste erstellen Listen mit Risikopatientinnen
und -patienten, die sie vor oder an Hitzetagen an-
rufen und sich vergewissern, dass es ihnen gut geht.
Am Uniklinikum Augsburg hat eine Studie begon-
nen, Patientendaten mit Wetterdaten zu verknüpfen,
um ein Frühwarnsystem zu etablieren. »Unser Ziel
ist, dass sich Krankenhäuser und Praxen je nach
Wetterlage vorbereiten können«, erklärt die Umwelt-
medizinerin Claudia Traidl-Hoffmann. »Welche
Krankheitsbilder haben wir zu erwarten? Und wie
bereiten wir uns darauf vor, sprich: Was für Personal
brauchen wir, und was braucht unser Personal, um
trotz Hitze einsatzfähig zu bleiben?«
In Nürnberg wurden öffentliche Trinkwasser-
brunnen aufgestellt, Erfurt pflanzt Bäume als natür-
liche Klimaanlagen, in München lassen sich Woh-
nungsunternehmen beraten, wie sie durch Dach­
gärten, Fassaden- und Hofbepflanzungen die Außen-
temperaturen um ein paar entscheidende Grad ver-
ringern können.
Auch der Blick über die Grenze lohnt sich. Länder
wie Italien oder Frankreich sind beim Hitzeschutz
schon viel weiter. Der französische Wetterdienst
Fortsetzung auf S. 28
28 WISSEN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Gesundheit • Ökologie

Sicher durch den Sommer ANALYSE

Einfacher, aber wirksamer Schutz an Hitzetagen

Nicht weniger als
eine gesündere Welt
Wer ist besonders gefährdet?
Zwei Studien stellen Gesundheit
in den planetaren Kontext

»Gesund leben auf einer gesunden Erde« –

hoffnungsvoll, fast kindlich klingt der Titel
dieses Gutachtens. Doch der schönen Vision
gehen bittere Warnungen voraus. Formuliert
hat sie ein Gremium mit dem etwas sperrigen
Namen Wissenschaftlicher Beirat der Bundes-
regierung Globale Umweltfragen (WBGU).
Senioren Schwangere Babys und Handwerker Intensivsportler Übergewichtige Chronisch Kranke; auf
Die Botschaft der Fachleute lautet im Kern:
Kleinkinder im Freien Medikamente Angewiesene
So wie heute produziert, konsumiert, gebaut, ge-
arbeitet, umhergereist wird, zerstören und ver-
giften die Menschen nicht nur die Natur, sondern
ihre eigene Gesundheit gleich mit. Schadstoffe
und Emissionen, Lebensmittel­systeme, die Über-
oder Unterernährung befördern, auch autogerech-
te Städte, die nicht alltäglich zur Bewegung ein-
laden: All das führe weltweit zu Krebs, Herz-
Kreislauf- und Atemwegserkrankungen, Fettsucht
!

und Diabetes. Zur menschengemachten Krank-

Sich informieren
Im Netz, im Radio oder per App:
Der Deutsche Wetterdienst gibt
eine Warnung heraus, wenn eine
starke Wärmebelastung droht.
Richtig lüften
Abends und morgens lüften, solange
es draußen kühler ist als drinnen.
Tagsüber, bei großer Hitze, die
Fenster geschlossen halten.
Vor dem Hitzschlag  Fortsetzung von S. 27
warnt Krankenhäuser, Schulen und Sozialdienste
vor Hitzewellen, damit diese Maßnahmen ergreifen:
Räume verschatten und kühlen, für Flüssigkeits-
nachschub sorgen, Medikamentengaben anpassen,
Sportveranstaltungen absagen.
In Deutschland erfährt das Thema erst seit Kur-
zem die nötige Aufmerksamkeit. Das Robert Koch-
Institut (RKI), wichtigste Instanz beim Thema öf-
fentliche Gesundheit, hat gerade den ersten Teil
seines Sachstandsberichts Klimawandel und Gesund-
heit 2023 veröffentlicht. Was so bürokratisch klingt,
ist ein Thriller in drei Kapiteln. Im ersten Kapitel
kann man lesen, welche Krankheiten durch »blut-
saugende Arthropoden« übertragen werden, darun-
ter die oben erwähnte tropische Viruskrankheit
Das Richtige anziehen
Kleidung schützt vor der Sonne,
sie sollte aber hell (reflektierend), weit
und atmungsaktiv sein, damit die Luft
am Körper zirkulieren kann.
Mit Eis arbeiten
Ein Eimer mit Eiswürfeln vor dem
Ventilator kühlt ähnlich wie eine
Klimaanlage. Und ein T-Shirt aus
dem Eisfach hilft beim Einschlafen.
Chikungunya. Schon diesen Sommer rechnet das
RKI hierzulande mit ersten Ansteckungen. Oder
das West-Nil-Virus, 1937 erstmals in Uganda nach-
gewiesen: 2019 wurden erste Übertragungen durch
Stechmücken in Deutschland belegt. Der Report
warnt vor Lebensmittelinfektionen durch Salmo-
nellen, die mit der Temperatur zunehmen, zwischen
fünf bis zehn Prozent je Grad Celsius. Und es gibt
Hinweise auf zunehmende Infektionen durch Pilze.
Im September wird der zweite Teil erscheinen,
in dem es um die Auswirkungen der Hitze gehen
soll. Für Dezember schließlich wird der letzte Teil
erwartet – der dann auch Handlungsoptionen
benennt. Vorher starten die Robert-Koch-For-
scher noch ein Hitzemonitoring, um regelmäßig
die »Hitzetodesfälle« zu veröffentlichen. Auch der
Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öf-
Viel trinken
Drei Liter am Tag sind gut, aber
keine gesüßten Getränke, sie
entziehen dem Körper Flüssigkeit.
Besonders problematisch: Alkohol.
Teppiche wegräumen
Weil sie Wärme speichern und auch
wieder abgeben, sollte man Teppiche
im Sommer aufrollen und erst zum
Herbst wieder herausholen.
fentlichen Gesundheitsdienstes hat das Thema
»Klimawandel und Gesundheit« entdeckt. Sein
Vorsitzender Johannes Nießen, Leiter des Ge-
sundheitsamts Köln, betont die besondere Kom-
petenz der Ämter: »Sie kennen die regionalen Be-
sonderheiten und das soziale Gefüge vor Ort.«
Gesundheitsämter seien daher für Hitzeaktions-
pläne »wichtige Partner der Politik«.
Die Gefahr scheint nun also endlich erkannt,
aber ist sie auch gebannt? Deutschland läuft der
Entwicklung noch immer hinterher, trotz aller
Aktionen dieser Woche. »In jedem Gebäude, für
jede Veranstaltung gibt es unzählige Brandschutz-
verordnungen – genau so sollte man sich um den
Schutz vor Hitze kümmern, denn das ist eine viel
realere und tödlichere Gefahr«, sagt Martin Herr-
mann von Klug.
Effektiv verdunkeln
Reflektierende, lichtundurchlässige
Vorhänge sperren die Sonne aus.
Ein weißes, außen vor dem Fenster
aufgehängtes Tuch hilft auch schon.
Sprühflasche mitnehmen
ZEIT-Grafik: Anne Gerdes
Mit Wasser aus einer Mehrweg-
Sprühflasche lassen sich jederzeit
und überall Arme, Gesicht oder
Dekolleté effektiv erfrischen.
Ein Blick nach Israel zeigt, was möglich wäre –
mit elektronischen Patientenakten (EPA). Anders
als hierzulande, wo das Thema seit Jahren ver-
schleppt wird, sind sie dort Alltag und ermöglichen
es, Gesundheitsdaten mit künstlicher Intelligenz zu
verknüpfen. Hitzesensible Menschen können auto-
matisiert über ihre Ärzte oder direkt per SMS und
E-Mail gewarnt werden. Etwa so: »Achtung: Für die
nächsten Tage werden 35 Grad angesagt, halten Sie
sich in kühlen Räumen auf, messen Sie regelmäßig
Ihren Blutdruck, und reduzieren Sie die Einnahme
Ihres Medikaments X um Y Milligramm.«
Von solcher Vorsorge ist Deutschland weit ent-
fernt, vielen Menschen stehen Monate in Unsicher-
heit bevor. Denn sicher ist die Prognose der Me-
teorologen: Auch der Sommer 2023 wird überdurch-
schnittlich heiß werden.
heitslast hinzu kommen die Folgen von Arten-
sterben und Klimakrise: D ­ ürren, Brände, Fluten,
die ihrerseits das Leben besonders der Ärmsten
bedrohen. Zusammen erodierten so die Errun-
genschaften vergangener Jahrzehnte: verbesserte
Gesundheitsversorgung, steigende Lebenserwar-
tung und die Zunahme gesunder Lebensjahre.
Die Autorinnen und Autoren denken also
Probleme zusammen, die bislang als getrennt
galten: der Zustand der Wirtschaft, des Plane-
ten und ebender von Körper und Seele. Erkran-
ken Ökosysteme, erkrankt der Mensch, diese
Auffassung wird in der Fachwelt unter dem Be-
griff planetary health gefasst. Er müsse auch
Basis eines neuen Gesundheitsverständnisses
werden (und einer neuen Gesundheitspolitik).
In der Vergangenheit hat der WBGU­
wiederholt wichtige Grundsatzdebatten angesto-
ßen, etwa mit »Große Transformation« (2011),
»Unsere gemeinsame digitale Zukunft« (2019)
und »Landwende« (2020). Das neue Gutachten
erscheint nun konzertiert mit einem zweiten, dem
auf Deutschland fokussierten Gesundheitsgut-
achten des Sachverständigenrats für Umweltfra-
gen (SRU). Das schafft ­politischen Nachdruck.
Die gute Nachricht: In beiden Papieren­
stecken zahlreiche Umweltschutzmaßnahmen,
deren Nebenwirkung mehr Gesundheit wäre.
Grüne Städte voller Bäume filtern die Luft und
kühlen den Körper. Pendeln per Rad statt Auto-
fahren vermeidet Emissionen und macht fit.
Fruchtfolgen aus vielfältigen Getreiden und
Hülsenfrüchten helfen Landwirten, Pestizide
einzusparen, und liefern wertvolle Nahrung.
Oder: Naturschutzzonen in den Tropen schaf-
fen wieder mehr Abstand zu menschlichen
Siedlungen, sodass Zoonosen weniger leicht
überspringen und die nächste Pandemie­
womöglich ausbleibt. All das mag einleuchtend
klingen, erfordert aber enorme ökonomische
Umwälzungen. Dringlich und gleichzeitig und
global. Dafür solle sich die Regierung einsetzen,
egal ob im Rahmen von G8, G20 oder WHO.
Die Autoren trauen dem Gesundheitsthema
zu, Menschen für den Kampf gegen Erd­
erhitzung und Artensterben zu motivieren. Zu-
mindest schreiben sie, es könne »eine enorme
transformative Kraft entfalten und Mut zum
Umsteuern machen«. Vielleicht ist uns ja tat-
sächlich nicht nur das Hemd näher als der
Rock, sondern auch der eigene Körper näher
als das Überleben der Kolbenwasserkäfer und
der CO₂-Gehalt der Luft. CHRISTIANE GREFE
www.zeit.de/vorgelesen

Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst Du dem Wind!
J. W. v. Goethe
Petra Kipphoff von Huene
1937 – 2023

Dr. Petra von Huene, geb. Kipphoff Du bist uns eine liebe Freundin, eine kluge und kenntnisreiche Gesprächspartnerin gewesen.
* 5. Januar 1937 Hamburg † 1. Juni 2023 Hamburg Du hast die Kunst und die Musik in vielen Formen geliebt und mit scharfem Verstand für sie gestritten.
Du warst eine Persönlichkeit von großem Format. Als solche wirst Du in unseren Herzen bleiben.
Mögest Du Stephan wiedergefunden haben.
Karen Kipphoff und Dan Mihaltianu
Peter Kipphoff und Corinna Teichner
John Kipphoff und Katrin Braun
Es vermissen Dich
Marian Kipphoff Mihaltianu
Noah Handa-Kipphoff
Eva Downs und Familie Iris von Arnim, Marvin Altner, Gabriele Braun und Ernst Nolte, Horst Bredekamp, Eleonore Büning, Barbara Catoir
Roland und Juanita von Huene und Familie Elke Dröscher, Hugbert Flitner, Evelyn Finger und Matthias Seeberg, Thomas und Barbara Gaehtgens
Peter und Gretel von Huene und Familie Hubertus Gaßner und Christa Süß-Gaßner, Ulrich Greiner und Irmgard Leinen-Greiner, Monika Grzymala
Melanie von Huene und Familie Yannis Hadjinicolaou, Anne Hamilton und Rolf Johannes, Samuel Herzog, Jens Jessen
Josef Joffe und Christine Brinck, David Juda, Renate Kammer, Werner Lorke, Jutta und Rainer Manthey
Die Trauerfeier findet statt am Donnerstag, den 29. Juni um 12 Uhr in der Kirche Stella Michaelis, Karen Michels, Jesús Muñoz Morcillo, Achatz und Christine von Müller, Matthias Naß
St. Johannis zu Hamburg-Eppendorf, Ludolfstrasse 66, 20249 Hamburg
Michael Naumann und Marie Warburg, Claus von der Osten, Petra Oelschlägel, Peter Raue, Alexander Sairally
Yasuhiro Sakamoto, Marina und Uwe Schneede, Erika Schmied, Nina und Jim Scott, Peter Klaus Schuster
Peter Kipphoff, D-22587 Hamburg, Dormienstraße 11
Thomas und Sara Sello, Hinrich Sieveking, Franziska von Ungern-Sternberg
kkipphoff@yahoo.de
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
In Indien ist Okkultismus weitverbreitet – und Mittel zur Ausbeutung. Unterwegs mit einer Gruppe, die dagegen kämpft  VON SONIA PHALNIKAR
S
unita Kadam schläft seit Jahren
schlecht. Der Grund dafür
hängt der 48-Jährigen über
dem Sari den Rücken hinunter:
eine dicke, steife Matte aus
dunklem, verfilztem Haar, mehr
als eineinhalb Meter lang. Seit
Kadam die erste verfilzte Stelle entdeckt hat,
eine sogenannte Jata, hat sie es nicht mehr­
geschnitten, zehn Jahre ist das her. Denn nach
einem im westindischen Bundesstaat Maha-
rashtra weitverbreiteten Glauben ist verfilztes
Haar ein Segen der Hindu-Göttin Yellamma.
Kadam will die Göttin nicht verärgern und
kein Unglück über ihre Familie bringen – des-
halb bleiben die Haare dran.
»Eine heilige Frau sagte mir, dass mein Mann
stirbt und meine Söhne zu Schaden kommen,
wenn ich mein Haar kämme oder abschneide.
Ich war völlig verängstigt«, sagt Kadam, eine
ehemalige Bäuerin, die jetzt als Kindermädchen
arbeitet. Sie besuchte Schreine, spendete Geld an
religiöse Gurus und führte Rituale durch, um die
vermeintliche Gefahr zu bannen.
Aber die Situation ist unhaltbar geworden.
Mit jedem Jahr wurden die Knoten in ihrem
Haar dicker, inzwischen wiegt es fast zwei Kilo-
gramm. Kadam leidet unter Nacken-, Rücken-
und Kopfschmerzen, Hautausschlägen und
Läusebefall. »Ich kann wegen der Läuse in mei-
nem Haar nicht mehr schlafen. Es ist unerträg-
lich geworden«, sagt Kadam, sie kratzt sich
ständig am Kopf, ihre Augen sind blutunter-
laufen. Deshalb zieht sie das Undenkbare in
Erwägung: ihre Haare abzuschneiden – und
somit mit ihrem Glauben zu brechen.
In ihrem sonnigen Wohnzimmer im zwei-
ten Stock in Shivane, ehemals ein Dorf von
Zuckerrohr- und Milchbauern, das heute ein
Vorort der sich ausbreitenden Stadt Pune ist,
sind heute Aktivisten des Maharashtra Blind
Faith Eradication Committee (MANS; die­
Abkürzung bezieht sich auf den Namen in­
Marathi) zu Besuch. Kadam hat sie gerufen,
um ihren Albtraum zu be­enden. Die Aktivis-
ten, die als »Rationalisten« bekannt sind, weil
sie sich für rationales Denken und Vertrauen in
die Wissenschaft einsetzen, bekämpfen Aber-
glauben. Sie drängen Kadam seit Jahren, ihre
Dread­locks trotz der Drohungen einiger Fa­
milienmitglieder abschneiden zu lassen. Doch
die Angst vor diesem Schritt sitzt bei Kadam
und ihrer Familie immer noch tief, einer ihrer
Söhne­hat versucht, sie davon abzuhalten.
»Kadam ist leider ein klassischer Fall. Viele
sogenannte heilige Männer nutzen vor allem
Frauen aus«, sagt Milind Desh­mukh, der Chef-
sekretär von MANS, ein schlanker Mann mit
einem dichten schwarzen Schnurrbart, wäh-
rend er es sich auf einem Sofa mit Blumen-
muster in Kadams Wohnzimmer bequem
macht: »Sie geben den Frauen mit Dread­locks
das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Sie­
behaupten, die Göttin habe von ihnen Besitz
ergriffen, und nutzen dann ihre Schwachstelle
aus: ihren Mann und ihre Kinder. Sie jagen­
ihnen Gottesfurcht ein, um Geld zu erpressen
und Kontrolle über sie auszuüben.«
Deshmukh ist einmal 104 Kilometer mit einer
Milchflasche auf dem Kopf gelaufen, um zu
beweisen, dass sportliche Höchstleistungen keine
»Wunder« sind. Für ihn ist der Kampf gegen den
Glauben an das Übernatürliche eine Lebensauf-
gabe. Seine Kollegin Nandini Jadhav trägt eine
modische Kurzhaarfrisur, sie ist die treibende
Kraft hinter der Entfernung von Dread­locks;
267 ­Frauen habe sie bereits geschoren, sagt sie.
»Der Aberglaube um verfilztes Haar zielt darauf
ab, Frauen auf körperlicher, emotionaler, sozialer
und ­finanzieller Ebene auszubeuten.«
Die Rationalisten haben einen schweren
Stand in einem Land, in dem die Neigung zum
Aberglauben quer durch die Gesellschaft geht.
Reiche und Arme, Politiker und Bollywood-Stars
strömen gleichermaßen zu heiligen Männern,
Astrologen, Handlesern und Mystikern, die für
jedes Problem eine Lösung anbieten: Krankheiten
heilen, Jobs oder Ehepartner finden, die Alkohol-
sucht des Ehemannes besiegen, den Wunsch nach
einem Sohn erfüllen, eine Wahl gewinnen. Selbst
umstrittene Gurus, die in den vergangenen Jah-
ren wegen Ver­gewaltigung oder Mordes verurteilt
wurden, haben Millionen von Anhängern. Jadhav
sagt, es sei zwar befriedigend, einen zwielichtigen
Scharlatan aus dem Geschäft zu drängen, aber
das Ausmaß der Aufgabe sei entmutigend.
»Manchmal hat man das Gefühl, dass unser
Kampf kaum zu gewinnen ist«, sagt sie. »Wenn
ich im Aschram eines Scharlatans bin, den wir
gerade als Betrüger entlarvt haben, stehen drau-
ßen Tausende von Anhängern. Wie soll man die
Mentalität all dieser Menschen ändern? Wir sind
nur eine Handvoll Aktivisten.«
Etwa 15 Kilometer von Sunita Kadams
Wohnzimmer entfernt, im Norden der Stadt:
In einer Baumgruppe, die an einen Schrein
BLINDER
Spuckt sie Feuer, oder ist es nur ein Trick? Nandini Jadhav will Kindern kritisches Denken beibringen
GLAUBE
grenzt, stecken Dutzende von Nägeln und­
Stachelschweinstacheln, wurden schwarze Pup-
pen und Zitronen befestigt, unter ihnen hän-
gen Fotos von Menschen mit deren Namen.
Einige der Fotos sind mit Stecknadeln versehen,
die durch die Augen und die Nase getrieben
wurden. Eine offene, mit Asche gefüllte Grube
zeigt die Spuren eines Brandes.
»Dieser Ort ist zu einem Zentrum der
schwarzen Magie geworden. Die Leute k­ ommen
nachts zu den heiligen Männern im Schrein,
um Rituale durchzuführen und Menschen, die
sie verletzen wollen, mit einem Zauber zu bele-
gen«, erklärt Jadhav. »Die Kosten für das Ein-
schlagen eines Nagels in die Rinde betragen
etwa 6000 Rupien (67 Euro).« Sehr viel Geld in
einem Land, in dem das Durchschnittsein­
kommen knapp 170 Euro im Monat beträgt.
Die Rationalisten sagen, dass zu den Ritualen
auch das Opfern von Hühnern und Ziegen ge-
höre; regelmäßig alarmieren sie die Polizei, ent-
fernen die Utensilien und verbrennen sie. Aber
innerhalb weniger Wochen s­eien die Bäume
von Neuem beschlagen.
Desh­mukhs und Jadhavs Arbeit erfordert
Ausdauer. Die Kämpfer gegen schwarze Magie
WISSEN 29
Aufklärung
mission für internationale religiöse Freiheit der
Vereinigten Staaten unterstreicht, die zum vier-
ten Mal in Folge empfahl, die indische Regie-
rung auf eine schwarze Liste der Religionsfrei-
heit zu setzen.
Milind Deshmukh, der im Lokalfernsehen
über die Gefahren des blinden Glaubens spricht,
sagt, er erhalte regelmäßig Drohbotschaften
und -anrufe. Doch er will seine Arbeit nicht ein-
stellen. »Uns wird immer vorgeworfen, dass wir
gegen Hindus s­ eien, obwohl wir Aberglauben in
allen Religionen bekämpfen, wenn die Rituale
Menschen schaden, sie dadurch getäuscht und
ausgebeutet werden.«
Im Jahr 2013, nach dem Mord am MANS-
Gründer Dabholkar, verabschiedete der Bundes-
staat Ma­ha­rash­tra ein Gesetz, das Praktiken im
Zusammenhang mit schwarzer Magie und Men-
schenopfern unter Strafe stellt. Den Aktivisten
zufolge hat es der Polizei die Befugnis gegeben,
präventiv gegen Scharlatane vorzugehen. Bisher
wurden mehr als 1000 Fälle registriert. Die Ra-
tionalisten sagen jedoch, dass es schwierig sei,
Polizeibeamte zu sensibilisieren und extreme Fälle
von Aberglauben, die M ­ orde, Menschenopfer und
körperliche Folter be­inhalten, zu verhindern.
»Selbst die gebildeten städtischen Massen in
Indien sind sehr abergläubisch«, sagt der Sozial-
wissenschaftler Govind Dhaske, der Bücher über
das Phänomen der verfilzten Haare in Maharash­
tra geschrieben hat. »Viele urbane Gemeinschaf-
ten fühlen sich von ihrer Kultur entfremdet und
suchen etwas, das sie verbindet. Da sind Aber-
glaube und verschiedene religiös begründete
Praktiken der rote Faden«, sagt er. »Sie sind so tief
verwurzelt, dass sie nicht verschwinden werden.«
Aber die Rationalisten geben nicht auf. In­
einer Schule im Zentrum von Pune sitzen etwa
40 Schulkinder auf einer Matte auf dem Boden.
Sie kommen aus den Arbeitersiedlungen der
Stadt. Fotos prominenter Sozialreformer, die­
gegen das Kastensystem und für die Bildung von
Frauen gekämpft haben, zieren die Wände. Jadhav
und Desh­mukh wirken wie Zauberer, als sie ihre
Requisiten auf einem Tisch ausbreiten – einen
Dreizack, eine Kokosnuss, eine Messingschale mit
Reis, Baumwolle und Streichhölzer.
Sie wollen die Kinder nicht unterhalten,
sondern entlarven, mit welchen Tricks sich
Scharlatane als Besitzer übernatürlicher Kräfte
darstellen. »Benutzt euren eigenen Verstand«,
sagt Jadhav den Kindern. »Lasst euch nicht von
einem heiligen Mann täuschen, der erklärt,
dass eure Mutter besessen ist, dass ihr ein Amu-
lett braucht, wenn ihr krank seid, oder dass ihr
Geld spenden müsst, um den bösen Blick ab-
zuwehren. Fragt nach, und stellt ihre sogenann-
Foto: Sudharak Olwe für DIE ZEIT; ZEIT-Grafik
ten Wunder infrage.«
Die Kinder schauen gespannt zu und schnap-
pen nach Luft, als Jadhav scheinbar eine Lampe
mit Wasser anzündet, Zinnober in schwarze
Paste verwandelt und einen brennenden Feuer-
ball in ihren Mund steckt. Dann zeigt sie ihnen,
dass es sich um Kampfer handelt, den man mit
etwas Übung einige Sekunden auf der Zunge
behalten kann, ohne sich zu verbrennen, dass
die Lampe einen falschen ­Boden hat und dass
der Zinnober mit Waschmittel vermischt wird,
um ihn schwarz zu färben.
Bhavana Kamble, 13, hebt die Hand und
fragt nach einem Guru, der in ihrer Siedlung
lebt. »Er sagt mithilfe einer Kokosnuss voraus,
ob du ein Mädchen oder einen Jungen be-
kommst«, erzählt sie. »Wenn es ein Junge wird,
richtet sich die Kokosnuss in seiner Hand auf.
Wie ist das möglich?« Prompt steht Milind
Desh­mukh auf, geht mit einer Kokosnuss in
der Hand durch die Klasse und entlockt den
Kindern ein Raunen, als sie sich erhebt. Er
zeigt ihnen, wie der Effekt durch eine Hand-
sind nicht nur in Pune aktiv, ihre Gruppe hat bewegung zustande kommt.
Büros und Freiwillige im ganzen Bundesstaat »Diese Vorführungen bleiben den Kindern
Maharashtra. Das Duo fährt mit seinen Motor- im Gedächtnis und tragen wesentlich dazu bei,
rädern über die Dörfer, agiert manchmal ver- kritisches Denken zu entwickeln«, sagt Desh­
deckt als Gläubige mit versteckter Kamera und mukh. »Man muss nur den Samen in die Köpfe
arbeitet mit der Polizei zusammen, um religiöse der Kinder pflanzen. Sie sind diejenigen, die
Scharlatane und die »Wunder«, die sie vor­ ihre Eltern dazu bringen, das Licht der Ver-
geben zu vollbringen, zu entlarven und sie ver- nunft zu sehen.«
haften zu lassen. Zurück im Haus von Sunita Kadam, legt
Ihre Arbeit ist ein Dienst an der Aufklärung – Jadhav ihr ein weißes Bettlaken über die Schul-
Neu-Delhi und lebensgefährlich. tern, zieht sich Handschuhe an und schneidet mit
INDIEN Im Jahr 2013 wurde der Gründer von einer Spezialschere die verfilzten Locken. Unzäh-
Pune MANS, Narendra Dabholkar, bei seinem lige Läuse plumpsen auf das Laken, als die Dread­
Morgen­spaziergang in Pune erschossen. Drei locks vorsichtig abgeschnitten werden, die schließ-
Maha-
weitere Rationalisten wurden in den folgenden lich freiliegende Kopfhaut ist voller Wunden.
rashtra Jahren ebenfalls ermordet. Die Polizei verhaftete Nach dem Haarschnitt sieht Kadam wie
Mitglieder einer radikalen Hindu-Organisation, verwandelt aus und bewegt ihren Kopf ver-
der Sanatan Sans­tha. Zehn Jahre später ist der wundert von einer Seite zur anderen. »Ich fühle
Fall immer noch nicht abschließend geklärt. mich so frei und leicht, ich kann es nicht er-
Seit der Wahl von Premierminister Narendra klären«, sagt sie und fährt sich mit den Fingern
Modi und seiner hindunationalistischen BJP- über die geschorene Haut. Es gibt nur eine­
Partei im Jahr 2014 sind radikale Hindu­ Sache auf der Welt, nach der sie sich jetzt
gruppen gestärkt. Viele denken, die Rationa- sehnt – eine Nacht durchschlafen, zum ersten
listen hätten es auf ihren Glauben abgesehen. Mal seit fast zehn Jahren.
Auch die religiöse Intoleranz ist auf dem Vor-
marsch, wie ein a­ktueller Bericht der Kom-  www.zeit.de/vorgelesen
30 WISSEN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Technosphäre (2/6) Frisch erforscht

Überempfindlich Ein kleiner Klick für mich, ein
in der Unterwelt großer Klick für die Menschheit
Wie ließe sich die flächenbrandartige Eine solche Erweiterung der mög­
Verbreitung von Fehlinformationen in lichen Re­ ak­
tionen auf Social-Media-­
den sozialen Me­dien verhindern? Lange Inhalte, so die Autorinnen, bediene sich
haben Face­book oder Twitter unwahre des gleichen Musters menschlichen Ver-
und nicht selten demokratieschädigende haltens, das social networks im Internet
Inhalte – Fake-­ News, Verschwörungs- heute ausnutzen: des Strebens nach Be-
theorien und so weiter – ignoriert. Ihr lohnung – in Form von möglichst vielen
Geschäft fußt darauf, dass auf ihren ­ Likes oder Re­ tweets. Geht es darum,
Plattformen möglichst viel gepostet und möglich viele »Trusts« für seine Postings
geteilt wird, Wahrheitsgehalt egal. Dann, zu bekommen statt bloß »­Likes«, so
angesichts von Propaganda-Bots und scheinen Nutzer stärker darauf zu ach-
entgrenztem digitalem Hass, heuerte ten, Wahres zu teilen. Und offenbar ge-
man Factchecker an und begann, Frag- lingt es ihnen anhand der Vertrauens-
würdiges als solches zu kennzeichnen Reaktionen anderer Nutzer auch besser,
und Menschenverachtendes zügiger zu wahre von falschen Informationen zu
löschen. Doch das brachte neue Probleme unterscheiden – im Vergleich etwa mit
mit sich. Zensur lautete ein Vorwurf, Labels, die momentan durch die Unter-
poli­tische Parteinahme ein anderer. nehmen selbst vergeben werden.
In einer neuen Studie hat jetzt ein Wenn weniger Fake-­News im Um-
Team aus Neurowissenschaftlerinnen lauf sind, hat dies gleich einen doppelten
und Psychologinnen der beiden Top- ­ positiven Effekt. Erstens bekommen
Universitäten Massachusetts In­sti­tute of Menschen weniger Fehlinformationen in
Technology und University College ihre Time­line gespült. Und zweitens gibt
London eine Idee untersucht, die beste- es eine Art Nutzen zweiter Ordnung, der
chend einfach klingt: Sie haben für ihre mit einem Phänomen zu tun hat, das
Experimente ein soziales Netzwerk­ illu­sory truth effect genannt wird. Es be-
gebaut, bei dem die Nutzer nicht nur sagt, dass Menschen Informationen vor
Gefällt-mir-Daumen, Sternchen oder allem dann glauben, wenn sie ihnen zum
Herzchen verteilen können, sondern bei wiederholten Male begegnen – das gilt
jedem Post auch mit »Trust« oder »Dis- auch für Fehlinformationen.
Foto: Takumi Harada/AP/dpa

Wartung des Neutrino-Detektors Super-Kamiokande der Universität Tokio, Japan
Beim Blick in diesen Hohlraum denkt man an
Höhe, dabei liegt er in der Tiefe. 41 Meter sind
es vom Menschen am Boden bis zur Luke an
der Decke. Alles hier – der Arbeiter, der Hohl-
raum und die 11.129 goldschimmernden Foto-
detektoren – befindet sich in 1000 Meter Tiefe,
im Fels unter der japanischen Stadt Hida. Dort
liegt der Detektor Super-Kamiokande, der
größte seiner Art. Nur bei Wartungsarbeiten
kann man ihn betreten – dieses Bild entstand
In unserer Foto-Kolumne zeigen wir beeindruckende Orte der Technik und erklären, welchem Zweck sie dienen
im September 2018. Im Forschungsbetrieb ist
der Hohlraum mit hochreinem Wasser gefüllt:
32 Millionen Liter. So können Wissenschaftler
ab und zu jene seltene Begegnung herbeiführen,
der sie hier nachspüren: eine Interaktion ge-
wöhnlicher Materie mit geisterhaften Teilchen.
Kosmische Neutrinos, die nahezu masselos
sind, fliegen in jedem Moment in großer Zahl
durch die Erde hindurch. Zumeist folgenlos.
Treffen sie aber genau richtig auf ein Wasser-
molekül, so blitzt ein schwaches Blau auf, die
Tscherenkow-Strahlung. Diese Strahlung ent-
decken die Detektoren. Damit die nicht gestört
werden, umgibt den Hohlraum übrigens noch
ein zweiter, äußerer Hohlkörper. In ihm schir-
men weitere 18 Millionen Liter Wasser die
natürliche Radioaktivität des Gesteins ab. Alles
superlativ? Nur zeitweilig. Ende Mai begann
der Bau für den noch weit größeren Hyper-
Kamiokande. ST X
trust« markieren können, ob sie einer Diesen Effekt nutzt, wer das Internet
Information vertrauen oder nicht. mit Falschaussagen flutet, um politische
In einer Reihe von Experimenten­ Gegner zu beschädigen oder das Ver-
ließen die Forscherinnen einige Hundert trauen in demokratische Institutionen
Probanden das Netzwerk nutzen und kon- zu schwächen. Wenn einem ständig eine
frontierten sie mit einer großen Auswahl Aussage begegnet – muss dann nicht­
an wahren und unwahren Beiträgen, auf etwas dran sein? Es ist die Neuinterpre-
die sie je nach Experiment ganz klassisch tation einer alten Strategie: »Teile und
per ­Like oder auch Dis­like (»gefällt mir herrsche!«
nicht«) reagieren konnten oder zusätzlich Eine große Schwäche hat die Studie
mittels eines Vertrauens- oder Misstrauens- der beiden Unis allerdings: Sie entstand
klicks; ob sie die Beiträge über ihr Profil unter Laborbedingungen. Echte soziale
teilen wollten, war ihnen freigestellt. Me­dien haben viel komplexere Struktu-
Die Ergebnisse waren eindeutig: ren, allein schon, weil Menschen dort
Die Probanden nutzten die Vertrauens- auch mit ihnen bekannten, teils nahe-
klicks – anders als ­Likes – vor allem, um stehenden Personen interagieren, denen
wahre Beiträge zu markieren. Und vor sie im Zweifel vertrauen, was ihr Verhal-
allem teilten sie deutlich seltener Fake-­ ten beeinflusst. Trotzdem: »Trusts« statt­
News, unabhängig davon, ob es sich da- Likes zu verteilen, um die Demokratie
bei nun um Beiträge zu Politik, Wissen- zu stärken, das wäre auch ein Realexperi-
schaft oder Gesundheit handelte. ment wert. ANANT AGARWAL A

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Stimmt’s?
Ein Pfund Spinnenfaden
reicht einmal um die Erde
Die Seidenfäden, die Spinnen spinnen,
sind ein Wundermaterial. Dabei gibt es
nicht die Spinnenseide. Abgesehen davon,
dass jede Spinnenart ihr eigenes Rezept hat,
produzieren einzelne Spinnen bis zu sieben
unterschiedliche Sorten von Seide, je nach
Zweck: Die Speichen des Spinnennetzes
sind stärker als die Verbindungen zwischen
ihnen (für beides zusammen sind rund acht
Meter Faden nötig). Fäden, um Opfer ein-
zuspinnen, sind anders als jene für die aus
Seide gewebten Kokons, in denen die
Weibchen ihre Eier ablegen. Spinnen be-
nutzen Seidenfäden, um sich wie an Lianen
durch die Luft zu schwingen, und manch-
mal fressen sie das Material sogar.
Die stärksten Spinnenfäden sind tat-
sächlich reißfester als Stahl. Das wird ver-
glichen, indem man die Kraft durch den
Querschnitt der Faser teilt – ein Stahlfaden,
so dünn wie der Spinnenfaden, würde eher
reißen. Seide ist dehnbarer und kann daher
mehr Energie aufnehmen, bevor sie reißt,
das nennen Materialforscher Zähigkeit.
Erst in den letzten Jahren ist es For-
schenden gelungen, per Röntgen-Mikro-
skopie die Ursachen der erstaunlichen
Reißfestigkeit zu ergründen und die Nano-
Proteinfasern zu charakterisieren, aus de-
nen die Fäden bestehen.
Es gibt diverse Gedankenspiele, um die
physikalischen Eigenschaften der Spinnen-
seide zu illustrieren. Etwa wie dick ein Seil
aus diesem Material sein müsste, um einen
Kleinwagen tragen zu können. Die Ant-
wort: ungefähr so dick wie ein entsprechen-
des Stahlseil – aber es würde sich unter der
Last wie ein Gummiband um etwa ein
Drittel verlängern.
Für die Frage dieser Woche ist wich-
tig, wie dünn der Faden ist. Der hat
nämlich nur ein Zwanzigstel des Durch-
messers eines menschlichen Haars, etwa
3,5 Mikrometer (also Tausendstelmilli-
meter). Für die Dichte der Spinnenseide
habe ich einen Wert von 1,3 Gramm pro
Kubikzentimeter gefunden, unter die-
ser Annahme erstreckt sich ein pfund­
schwerer Spinnenfaden auf eine Länge
von 35.000 Kilometern.
Der Umfang der Erde beträgt am Äqua-
tor 40.000 Kilometer – das ist zwar ein
wenig mehr als 35.000, aber hier geht es ja
nicht um exakte Werte, sondern um einen
Überschlag. Und so lautet die Antwort: Ja,
tatsächlich reicht ein Pfund Spinnenfaden
einmal um die ganze Welt. Und man­
könnte aus ihm eine ganze Menge einzelner
Spinnennetze fertigen, nämlich ungefähr
vier Millionen! CHRISTOPH DRÖS SER

www.zeit.de/vorgelesen

Diese Woche fragt Undine Zeibig aus Berlin.

Und worauf suchen Sie eine Antwort? Schreiben Sie an: DIE ZEIT, Wissen-Ressort,
20079 Hamburg, oder stimmts@zeit.de. Das Archiv: www.zeit.de/stimmts

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»Auch das noch?« Diesmal geht es um Gerechtigkeit in der Krise, mit
Norbert Walter-Borjans. Jetzt hören unter www.zeit.de/krisenpodcast
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
Ein Buch
kann uns zum
Weinen
bringen. Aber
wieso? Seit
vielen Jahren
denkt der
Erzählforscher
Matías
Martínez
darüber nach,
wie uns
Geschichten
verändern
Warum berührt uns Literatur,
Herr Martínez?
Matías Martínez: Weil sie uns in eine aus­
gedachte Welt führt, die dennoch reale­
Gefühle in uns auslöst.
DIE ZEIT: Ein merkwürdiger Vorgang!
Martínez: Deshalb bezeichnet man ihn als
»Fiktionsparadox«. Wir haben Mitleid mit
Anna Karenina, obwohl wir wissen, dass sie
gar nicht existiert. Oder denken Sie an porno­
Matías grafisches Erzählen: Wir lesen vom Begehren
Martínez, von Figuren – und der Körper reagiert mit
62, ist Professor für Lust. Es gibt inzwischen neuro­wis­sen­schaft­
Neuere deutsche liche Stu­dien dazu. Demnach verarbeitet das
Literaturgeschichte an Gehirn Darstellungen realer Ereignisse in
der Universität Wupper­ denselben Arealen und auf ähnliche Art wie
tal. Seine »Einführung fiktive Geschichten. Ich bin aber skeptisch, ob
in die Erzähltheorie« man Ihrer Frage damit wirklich näherkommt.
(mit Michael Scheffel) ZEIT: Wieso?
erschien 2020 Martínez: Weil wir Literatur immer in einem
in der 11. Auflage ästhetischen Rahmen wahrnehmen. Der
Text ruft Gefühle in uns hervor, und gleich­
zeitig beobachten wir uns dabei, wie wir
diese Gefühle haben. Wir wissen während
des Lesens, dass wir lesen – dieses oft nur
unterschwellige Bewusstsein ist entschei­
dend, aus ihm speist sich der ästhetische
Genuss: das, was Sie eben als »Berührtwer­
den« durch die Literatur bezeichnet haben.
ZEIT: Dann ist Literaturwissenschaftler ja
ein sehr genussvoller Beruf.
Martínez: Dass ich unter anderem dafür be­
zahlt werde, Romane zu lesen, ist wunderbar.
Zur Lust am Lesen kommt allerdings auch
das Lesen mit dem Bleistift. Ich überlege
dann: Was ist eine interessante Fragestellung
für diesen Roman, wie muss ich ihn histo­
risch einordnen, wie kann ich seine Machart
und Struktur beschreiben? Es gibt diese
schöne Formulierung des Germanisten Emil
Staiger: Die Aufgabe der Literaturwissen­
schaft sei es, zu begreifen, was uns ergreift.
ZEIT: Sie haben an der Universität Wupper­
tal ein Zentrum für Erzählforschung mitge­
gründet. Welchen Fragen gehen Sie nach?
Martínez: Erzählen ist eine grundlegende
kognitive Fähigkeit, um Wirklichkeit zu er­
fassen und zu vermitteln – wir analysieren
deshalb nicht nur Literatur, sondern auch
Reportagen, Instagram, Bußgeldbescheide.
ZEIT: Bußgeldbescheide?
Martínez: Die kriegen wir ja alle mal! So ein
Bescheid schildert nüchtern einen be­hörd­
lichen Vorgang – hinter dem sich aber eine
hochemotionale Geschichte verbergen kann.
ZEIT: Und die Literatur ist sozusagen nur
In dieser die meisterhafte Form des Erzählens?
Gesprächsreihe Martínez: Meine Perspektive ist: Wir sind
beantworten permanent in viele Geschichten zugleich ver­
Forscherinnen strickt – auch dann, wenn wir keine Literatur
und Forscher in loser lesen. Wir erleben Geschichten mit dem Part­
Folge Fragen, die ner, Eltern, Kindern, im Beruf, die selten klare
Menschen bewegen Anfänge, Verläufe und Abschlüsse haben.
WISSEN 31
Lebensfragen
Foto: Sebastian Wolf für DIE ZEIT
ZEIT: Was ist dann besonders an Literatur? ZEIT: Sie sprachen vom »Fiktionsparadox«: ich einer der wenigen Männer im Raum und gen: Was wir uns von der Literatur erhoffen,
Martínez: Die Literatur ist gereinigt von den Wir lesen etwas Ausgedachtes, und gleich­ fragte: Helfen Sie mir mal, wieso treibt sie das wandelt sich. In den letzten Jahren beobachte
Zufällen und Zwängen der Realität. Wir zeitig verändert sich unsere reale Gefühls­ bis in den Suizid? Einige Studentinnen haben ich bei Studierenden, aber auch bei Kollegin­
können bestimmte Gedanken und Gefühle welt. Beruht darauf der berühmte Wer­ dann erklärt, dass sie die extreme Reaktion nen und Kollegen eine starke Zähmung und
zulassen, die wir sonst verdrängen oder uns ther-Effekt aus Goethes Leiden des jungen der Protagonistin verstehen könnten. Pädagogisierung der Literatur. Es wird dann
untersagen. Dass ein Bösewicht in Grimms Werther? ZEIT: Der Roman hatte Sie offenbar gar erwartet, dass sie affirmativ ist – also unsere
Märchen grausam bestraft wird, nehmen wir Martínez: Wir bekommen die ganze Ge­ nicht erreicht. je eigene Perspektive und Weltsicht abbildet
durchaus mit Lust zur Kenntnis. Auch Kin­ schichte fast nur aus der Perspektive von Martínez: Er hat mich jedenfalls anders be­ oder unterstützt. Ich unterrichte überwie­
der erkennen schon früh, wenn sie es mit fik­ Werther geschildert, sind nah dran an seiner rührt als einige Studierende. Ob ich diesen gend Lehramtsstudierende. Auf deren Curri­
tionalen Texten zu tun haben. Mit vier, fünf Gefühlswelt, seinem Liebesschmerz. Durch Text lese oder eine junge Frau, die vielleicht cula für die Schule stehen viele lebenswelt­
Jahren spätestens. Sie spüren: Die Welt von die Briefform entsteht der Eindruck der Un­ selbst Cybermobbing erfahren hat, macht lich interpretierbare Texte: Nathan der Weise,
Rotkäppchen ist nicht die, in der sie leben. mittelbarkeit, fast wie beim Live-Reporter, einen Riesenunterschied. Daran sieht man, Effi Briest, Faserland. Schülerinnen und
ZEIT: Wie erspüren wir diesen Übertritt? der ein laufendes Spiel auf dem Fußballplatz wieso man Ihre Ausgangsfrage – warum­ Schüler können sich hier mit den Haupt­
Martínez: An der Kommunikationssituation. schildert. Literatur uns berührt – in Wahrheit nicht figuren identifizieren und sich durchs L­ ernen
Geschichten begegnen uns nie nackt, sie sind ZEIT: Werther nimmt sich das Leben ... beantworten kann: Jeder Text ermöglicht am Modell moralisch ertüchtigen.
eingebettet in kulturelle Praktiken. Die Mut­ Martínez: Das Buch war ein großer Bestseller unendlich viele Formen der Rezeption und ZEIT: Das macht es schwer für einen Ro­
ter, die abends im Bett vorliest. Oder: der­ seiner Zeit, aber höchst umstritten – weil der emotionalen Reaktion. man, der von einem Scheusal handelt ...
Erzieher, der alle Kinder auffordert, es sich Goethe einen Selbstmord präsentiert, ohne ZEIT: Hat Sie das einfühlsamer gemacht für Martínez: Die Weltliteratur ist ja voller
gemütlich zu machen, bevor er das Vorlesen ihn theologisch oder moralisch zu verurtei­ die Perspektive jüngerer Frauen? Schrecklichkeiten! Mord, Vergewaltigung,
beginnt. Oder denken Sie an die Gattungs­ len. Vor allem befürchtete man, dass Werther Martínez: Ja, schon. Es gibt ein paar Stu­dien Tod. Die Tendenz, die wir an den US-ameri­
bezeichnungen vorne auf dem Cover: Roman, als schlechtes Beispiel dient und Leser ihm dazu: Man hat die Empathiefähigkeit von kanischen Universitäten, aber mehr und mehr
Thriller, Fantasy. Wir lernen schon früh,­ nachfolgen in den Suizid. Doch es gibt nur Probanden gemessen, nachdem sie einerseits auch bei uns beobachten, ist: Der akademi­
solche Si­gna­le als Anweisungen zu verstehen: einen einzigen belegten Fall unter den Zeit­ Sachtexte, andererseits literarisch-fiktionale sche Unterricht soll ein ­safe ­space sein, ein­
Achtung, hier beginnt die Fiktion! Hier gelten genossen: Eine junge Frau hatte sich getötet – Texte gelesen hatten. Nach der Lektüre von sicherer Ort. Entsprechend lautet die Erwar­
andere Regeln! Wer das nicht tut, ignoriert und in ihrer Tasche fand man das Buch. Da­ Literatur stieg sie tatsächlich stärker an. Aber tung, vor dem Seminarbesuch vor möglicher­
den ästhetischen Sinn des Textes. raus wurde später der Werther-Effekt. mir erscheinen diese Experimente metho­ weise anstößigen Inhalten zu warnen.
ZEIT: Wie ruft ein Text ein Gefühl hervor? ZEIT: Das ist also ein Mythos? disch sehr wackelig. ZEIT: Passiert Ihnen das auch hier, an der
Martínez: Das geschieht durch verschiedene Martínez: Ja. Der Begriff kam erst in den ZEIT: Wieso? Universität Wuppertal?
Erzähltechniken: Der Autor erzählt abstrakt 1970er-Jahren auf. Ein Soziologe hatte damals Martínez: Es waren jeweils sehr kleine Grup­ Martínez: Nein, bislang nicht. Aber ich gehe
oder detailliert, in der Vergangenheitsform statistisch untersucht, ob der Suizid me­dial pen homogener Probanden, die nur kurze inzwischen auch anders mit den Texten um,
oder im Präsens, er schildert Dialoge in­ bekannter Persönlichkeiten dazu führt, dass in Textausschnitte gelesen hatten. Es ist auch kontextualisiere etwa den Sexismus oder
direkter oder indirekter Rede. Je intensiver der Bevölkerung mehr Selbstmorde passieren. nicht klar, wie lange der Effekt andauert. Und Rassismus von Autoren und Figuren.
ein Autor manche Techniken einsetzt, desto Es gab eine gewisse Häufung, aber der Effekt wir wissen nicht, ob es sich um eine Kor­re­la­ ZEIT: Aus Angst vor den Studierenden?
mehr wird der Leser in die fiktive Welt ein­ bleibt bis heute umstritten. Insbesondere na­ tion oder Kausalität handelt: Bin ich beson­ Martínez: Nein, sondern weil ich selbst Teil
gesogen. Dann spricht man von Immersion. türlich, was den Einfluss von Literatur und ders empathiefähig, weil ich lese? Oder inte­ dieser Entwicklung bin. Mir fällt der Chau­
ZEIT: Bei welchem Buch hatten Sie selbst Film angeht. In dem Bestseller Tote Mädchen ressiere ich mich für Literatur, weil ich eine vinismus von Faust heute mehr ins Auge als
mal einen starken Immersionseffekt? lügen nicht von Jay ­Asher etwa – Thirteen­ besonders empathiefähige Persönlichkeit bin? noch vor zwanzig Jahren.
Martínez: Da fällt mir sofort der Roman Die Reasons Why ist der englische Originaltitel von ZEIT: Dann wissen wir also nicht, ob die­ ZEIT: Berührt uns Literatur heute zu sehr?
Wohlgesinnten des französischen Autors­ 2007, es gibt auch eine Netflix-Verfilmung – Literatur uns verändern kann? Martínez: Ich glaube tatsächlich, wir leben in
Jonathan Littell ein, 2007 erschienen. Das tötet sich ein junges Mädchen. In der deut­ Martínez: Tja, das ist eine alte Frage. Aristote­ einem neuen, sensibilisierteren Zeitalter.
Buch verursachte damals einen riesigen Skan­ schen Ausgabe sind am Ende Hilfsangebote les meinte, die Empfindungen von »Jammer Und wünschen uns von der Literatur, dass
dal. Es geht um einen SS-Offizier – einen in­ mit Notrufnummern für Suizidgefährdete und Schauder«, die Tragödien in uns auslösen, sie uns moralisch festigt.
famen, faszinierend vielschichtigen Zyniker. beigefügt. Auch hier wird vom Verlag eine führten zu einer letztlich lustvollen Reinigung ZEIT: Ihnen scheint das nicht zu behagen.
ZEIT: Was hat Sie daran so bewegt? übermäßige Identifikation befürchtet. von übermäßigen Affekten. Im 18. Jahrhun­ Martínez: Meine Sympathie gilt einem ande­
Martínez: Der Roman wird von der Haupt­ ZEIT: Zu Unrecht? dert erhofften sich die Autoren, dass Literatur ren Literaturverständnis. Der spanische Phi­
figur selbst erzählt. Das bringt den Leser in Martínez: Zumindest verwischt ein solcher das Mitleid in uns fördert – da sind wir dann losoph José Ortega y Gasset hat 1925 einen
die schreckliche Situation, quasi aktiv an all Hinweis die ästhetische Rahmung des Textes, bei Lessing, der in seiner Dramentheorie Essay geschrieben mit dem Titel Die Ent­
den grausamen Planungen und Morden des der ja durchaus als Fiktion vermarktet wird. schrieb: »Wenn wir mit Königen mitfühlen, huma­ni­sie­rung der Kunst. Ortega sagt, dass
Holocausts teilzuhaben. Ich fühlte mit dem Ich lernte das Buch durch meine Studieren­ dann fühlen wir mit ihnen als Menschen und der künstlerischen Ausstellung des Leidens
SS-Offizier mit, war fasziniert von seinem den kennen, in einem Seminar über populäre nicht als Könige.« Das war eine große Idee der fiktiver Figuren etwas Inhumanes inne­
Intellekt und spürte zugleich: Diese Identifi­ Literatur, dort wurde es von ihnen zur Lektü­ Aufklärung: dass Literatur uns zu besseren wohnt. Sie sind zur Beobachtung frei­ ge­
kation ist moralisch prekär. re vorgeschlagen. Der Roman berichtet von Menschen und Bürgern macht. Dass wir durch geben – das hat etwas Voyeuristisches, sogar
ZEIT: Die Ich-Perspektive zwingt uns, in 13 Gründen, weshalb die Hauptfigur, eine sie lernen, kognitive Dissonanzen auszuhalten, etwas Sadistisches. Literatur löst auf diese
den Kopf des Täters zu kriechen? Highschool-Schülerin, sich schließlich tötet. uns hineinzuversetzen in fremde Erfahrungen Weise Schocks aus, sie stellt moralische Ge­
Martínez: Es gibt sogar empirische Untersu­ Einer davon: Sie wurde von einem Mitschü­ und Standpunkte. Dass uns dies eine toleran­ wissheiten infrage und überschreitet unsere
chungen dazu. Sie bestätigen: Wenn das Ge­ ler unwissentlich nackt fotografiert. Natür­ tere, sozialere Gesellschaft ermöglicht. inneren Grenzen. Darin liegt für mich eine
schehen über weite Strecken aus der Ich-Per­ lich ist das eine völlig inakzeptable Verletzung ZEIT: Trägt diese Idee heute noch? große Leistung von Literatur. Wir sollten sie
spektive einer Figur erzählt wird, erleben wir der Intimsphäre. Ich konnte trotzdem die Martínez: Wenn es so wäre, müssten Auto­ nicht in den Giftschrank verbannen.
das Eintauchen in die erzählte Welt beson­ Tragweite, die dem Vorfall im Roman zuge­ rinnen, Germanistikstudierende und Litera­
ders stark. Insbesondere, wenn das Gesche­ wiesen wird, nicht ganz nachvollziehen. Wie turprofessoren die besten Menschen sein, Das Gespräch führten
hen in der Gegenwartsform geschildert wird. meistens in germanistischen Seminaren war oder? Keine sehr plausible These. Im Übri­ Yannick Ramsel und Anna-Lena Scholz
 32 WISSEN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Geschichte

S
ie sind noch da, die Feuchtpräparate. Der­ Monaten gestorben war. Nach ihrem Tod in der Charité
Mediziner Rudolf Virchow hatte 1899 das wurde Helene seziert. Am 8. Juni 1912 bekamen
Pathologische Museum auf dem Gelände der Medizin­studenten die Lunge zu sehen. Am 11. Juni ge­
Berliner Charité gegründet. Es wurde be­ langte der konservierte Lungenflügel in die Sammlung
rühmt, weil dort der Mensch in Stücken ge­ des Instituts. Der pathologische Befund ist auf dem Eti­
zeigt wird, vor allem sein Inneres. Als Forscher hatte Vir­ kett noch heute ausführlich vermerkt: »Bronchiolitis und
chow lange vor der Museumsgründung präparierte Orga­ Bronchopneumonie nach Masern«.
ne gesammelt und neue in Alkohol konservieren lassen. Das machte Forscherinnen und Forscher des Robert
Mit den Exponaten in Glasbehältern etablierte das Haus Koch-Instituts neugierig. Im Jahr 2019 entnahmen sie
eine maximal anschauliche Form der Aufklärung, nicht Proben aus Helenes Lunge und bestätigten einerseits die
nur für den medizinischen Nachwuchs, sondern auch für Todesursache. Andererseits galt ihr Interesse der aus­
die breite Öffentlichkeit: ein zottiger, gallertiger Tumor lösenden Krankheit Masern. Es gelang ihnen, Erbmate­
der Herzinnenhaut, die von Kohlestaub geschwärzte rial des Virus zu extrahieren und das bislang älteste, nahe­
Lunge eines Schneiders oder ein von Schweine­ zu vollständige Masernvirus-Genom zu rekonstruieren.
bandwumlarven befallenes Gehirn. Schließlich konnten sie anhand der Daten und mit­
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren von 35.000 Ob­ hilfe digitaler Modelle errechnen, dass die Masern viel
jekten nur noch 1800 übrig. Erst im Jahr 1998 wurde länger als bislang angenommen ihr Unwesen treiben.
das Haus als Berliner Medizinhistorisches Museum der Nicht erst im 9. Jahrhundert kam die Seuche über den
Charité wieder eröffnet. Heute zählt es knapp 20.000 Menschen. Sie musste schon viel früher, im 6. Jahrhun­
Objekte. Manche tun beim Betrachten besonders weh: dert vor Christus, vom Tier auf den Menschen über­
etwa ein verstopfter, extrem ausgeweiteter Darm, Maxi­ gesprungen sein. Diese aktuellen Forschungsergebnisse
malumfang 60 Zentimeter. Er gehörte einem 32-jähri­ wurden 2020 publiziert. Mehr als ein Jahrhundert nach
gen Morbus-Hirschsprung-Patienten, der im Jahr 1962 ihrem Tod kam Helene mit ihrer Krankheit auf die Titel­
Abb.: Birgit Dieker, »Hirnschnitt«/Clemens Meyer Galerie Laden für Nichts/VG Bild-Kunst, Bonn 2023 (Foto: Jürgen Baumann)

unter höllischen Schmerzen gestorben sein muss.
Jetzt – nach drei Jahren Umbau – ist vieles neu.
14 Millionen Euro ermöglichten eine »substanzielle­
Modernisierung«, wie der Direktor Thomas Schnalke
sagt. Aus dem engen Eingang an der Seite ist ein großes
Entree an der Vorderfront geworden. Riesige Fenster ver­
passen dem Haus einen Vitrinenlook, sie erinnern an
Virchows historische Präparategläser. Und als wichtige
Errungenschaft kam eine Klimaanlage hinzu. Die war
seite des Wissenschaftsmagazins Science.
Der originellste Spagat zwischen neuer Rücksicht­
nahme und altem Gruselkabinett zeigt sich ganz am An­
fang der neuen Ausstellung. Dort steht der Besucher vor
einer Vitrine mit 2500 Gallensteinen. Die sind zwar
Neues Exponat: Hirn als Kunstobjekt (und bislang frei von Bandwurmlarven) ebenso aus dem Inneren des Körpers herausoperiert wie
eine rußige Lunge, sehen aber so harmlos aus wie ver­
schmutzte Bernsteinklümpchen. Weniger gewöhnungs­
bedürftige Teile in der Dauerausstellung eröffnen die

Alter Grusel,
nötig. Denn oftmals wurde es in dem alten Gebäude im Macher mit dem Umweg über eine betont lockere Kunst­
Sommer so heiß, dass Jugendliche einfach umgekippt form: Mit einer großen Zeichnung zweier Füße von un­
sind. »Die hatten zu wenig getrunken«, sagt Schnalke. ten, am großen Zeh ein Zettel – in der Post-Virchow-Ära
Die nun eröffnete Sonderausstellung Das Gehirn in kommt die Leiche als Comic ins Museum. Und irgend­
Wissenschaft und Kunst zeigt den Wandel im Exponaten­ wann, wenn man das Berliner Medizinhistorische­
bestand besonders deutlich: Hier ein Hirnschnitt, ge­ Museum bis in den letzten Winkel erkundet, kommt

fertigt aus Papier, Pappe, Stecknadeln, Leder, Haaren und
getragener Kleidung. Gleich daneben der Originalschnitt
eines kranken Hirns (Morbus Pick) – die Tradition des
Hauses soll trotz moderner Kunstanteile weiterleben. Er­
gänzend gibt es Einblicke in die aktuelle Hirnforschung
und -dia­gnos­tik. Wie wirken Drogen in unserem Kopf?
Wie lässt sich das Geschehen in den neuronalen Netz­
werken messen und in Bilder umsetzen? Wie gehen wir
gegen Tumoren vor?
Welchen Wert die manchmal gruselig anmutenden
Originalpräparate noch immer für die Forschung haben,
erzählt Thomas Schnalke am Beispiel von Helenes ­Lunge.
Das Präparat aus dem Jahr 1912 gehörte einst zu e­ inem
Mädchen, das mit gerade mal zwei Jahren und drei­
neu präpariert
man am Ende doch zu den Dingen, die man zeit seines
Lebens nie wieder vergessen wird. Zum Beispiel zum
zweiköpfigen Fötus – Parapagus dicephalus. Es ist gut,
dass auch dieses Exponat sichtbar geblieben ist.
Damit aber trotzdem niemand komplett unvorberei­
tet dahin gelangt, gibt es im Eingangsbereich bei der
Kasse den Hinweis, dass Fehlbildungen gezeigt werden.
Außerdem lautet die explizite Empfehlung für den Be­
Ein Besuch im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité, such des Museums: »Erst ab 16 Jahren«. Wenn Eltern
das nach Umbau in dieser Woche wieder öffnet  VON URS WILLMANN ihren Kindern diese Form der Aufklärung schon mit
zehn geben wollen, dürfen sie das tun. Nur sind dann
am Ende die Besucherinnen und Besucher selbst dafür
verantwortlich, wenn trotz neuer Klimaanlage jemand
aus den Schuhen kippt.

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MOST WANTED EMPLOYER 2023

Der Arbeitgebermarkt hat sich
zum Arbeitnehmermarkt ge­
wandelt, und insbesondere jün­
gere Menschen stellen veränder­
te Ansprüche an ihre Chefinnen
oder Chefs. Unternehmen müs­
sen herkömmliche Arbeits­
formen deshalb neu denken.
Die Gesellschaft verändert sich –
und mit ihr die Arbeitswelt. Nicht
nur Diskussionen zu f lexiblen
Arbeitszeiten und Homeoffice be-
gleiten diesen Wandel. Auch der
Wunsch, mit dem eigenen Job et-
was Sinnvolles zum großen Gan-
zen beizutragen, und die Frage
nach einer ausgewogenen Work-
Life-Balance werden immer wich-
tiger. Diese Entwicklung ist kein
Zufall. Sie spiegelt die von vielen
als positiv erlebten Erfahrungen
vieler Menschen während der
Corona-Zeit mit Homeoffice, vir-
tuellen Teams und Videokonfe-
renzen. Genauso kommen in ihr
die unterschiedlichen Arbeits -
ein stellungen der Generationen
zum Tragen.
Illoyalste Jobber aller Zeiten
Aktuell beherrschen vor allem die
Generationen der zwischen 1965
und 2012 Geborenen den Arbeits-
markt, die Generationen X, Y, Z.
Sie folgen auf die Baby-Boomer,
die langsam in Rente gehen. Un-
ter den 45 Millionen Erwerbstäti-
gen in Deutschland sind es vor al-
lem die jüngeren Menschen um
die 30, die Führungskräfte mit
neuen Anforderungen konfrontie-
ren. Die sogenannte Generation Z
(1995 bis 2010) ist nicht gekom-
men, um lange bei einem Arbeit-
geber zu bleiben, sagt Julian Stahl
mit der Arbeitgeber-
von der XING Muttergesellschaft
New Work SE. »In Fachkreisen
gelten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer dieser Generation
daher bereits jetzt als die illoyals-
ten Jobber aller Zeiten«, so der
Head of Intelligence. Er bezieht
sich mit seiner Aussage auf eine
aktuelle Analyse des Umfrageins-
tituts Forsa im Auftrag von XING.
Für sie wurden Tausende junge
We r k t ä t i g e r z u m ö g l i c h e n
Wechselab sichten und ihrer
Freude am Job befragt. Das
Ergebnis: Die Hälfe derjeni-
gen, die bereit sind, ihren Ar-
beitgeber zu verlassen, ist 18
bis 29 Jahre alt. 14 Prozent von
ihnen suchen trotz Festanstel-
lung sogar aktiv nach Stellen.
Angst vor Arbeitslosigkeit haben
sie nicht – dem Fachkräfte-
mangel sei Dank.
Führungskräfte müssen sich
anpassen
Auch Mitglieder der nachfolgen-
den Generation Alpha (ab 2010)
legen Schätzungen zufolge großen
Die ZEIT Verlags- Wert auf flexible und inspirieren-
gruppe hat in de Umgebung mit flachen Hierar-
chien. Und die Älteren ziehen
Zusammenarbeit
nach. Laut einer Ende Mai veröf-
fentlichten XING-Studie in Zu-
Bewertungsplatt- sammenarbeit mit Forsa ist jeder
form kununu das fünfte Arbeitnehmer der Genera-
Arbeitgebersiegel tion 50+ in Deutschland offen für
»Most Wanted einen neuen Job, in erster Linie
aufgrund von Unzufriedenheit mit
Employer«
dem Gehalt oder zu viel Stress.
entwickelt. Homeoffice, Sabbatical, Vier-
Tage-Woche bei vollem Lohnaus-
gleich oder Workation, also eine
Kombination aus Arbeit und
Urlaub: Die Ansprüche der Arbeit-
nehmenden haben sich geän-
dert – und damit die Auffassung
da rüber, was eine attraktive
Unternehmensk ultur aus-
zeichnet. Auch wenn es fest-
stehende Größen gibt. So
g i lt d ie
Höhe des Honorars unverändert
als einer der wichtigsten Zufrie-
denheitsindikatoren im Job. Nur
die Arbeitszeiten haben einer Stu-
die zufolge einen noch größeren
Einfluss.
Mit stabil gebliebenen oder
geänderten Erwartungshaltungen
unterziehen Jobsuchende künftige
Arbeitgeber einem gründlichen
Check. Sie prüfen Benefits wie
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10 IT IT
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Personalwesen &
Score lag bei 3,49. Nachforschungen anstellen und ei- mit der Führungskraft auf und kon-
-beschaffung 24
equal personal nen internen Aufarbeitungsprozess frontieren sie damit. Dass es Wider-
Versicherung
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Studierenden nicht um Klima-
innovatives nenten heraus, die ganz persönlich
steigerinnen oder Berufseinstei- diesem Zusammenhang wurden ZEIT Verlagsgruppe darstellt.  den Most Wanted Employers um, die flexibel auf die Lern- und neutralität
und effektives bemüht?
Lernerlebnis, das wichtig sind.
2023! Mit über 100.000 Studie- Lebensbedürfnisse unserer Stu- die Art und Weise verändert, wie

Die IT-Karriere individuell gestalten – bei Capgemini The digital ones: Interone macht Behörden digitaler
f- Bei Capgemini duelle Entwicklung seiner Mit- Interaktion mit dem Kunden Executive Crea­ On li nezuga ngsgeset z (OZG) Standorten und aus dem Mobile
voneinander tive Director Max
n lernen und arbeitenden. »Als Architekt*in viel mehr liegt als die klassische Straßer bringt Bund und Länder verpf lichtet Office an digitalen Lösungen.
st gemeinsam im der eigenen Karriere kann hier Softwareentwicklung. Heute bin den Purpose der sind, ihre Verwaltungsleistungen Lebenslanges Lernen ist bei
 Team wachsen. jede und jeder die berufliche ich dank der vielen Gestaltungs- Interone bei der
elektronisch anzubieten. Bisher Interone ein zentraler Wert. Dies
oneconference auf
Laufbahn aktiv selbst gestal- möglichkeiten genau da, wo es den Punkt. ist nur ein Drittel der behördli- wird nicht zuletzt durch die jähr-
h ten«, so Stephanie Philipp, Head mir Spaß macht.« Individuelle chen Dienstleistungen digitali- liche oneconference bewiesen,
r of Learning & Development Stärken zeigen sich oft erst in der siert. Der Erfolg des Digitalisie- die dieses Jahr in Düsseldorf
o- bei Capgemini. Innovative IT- beruflichen Praxis. Capgemini rungsprogramms des Bundes stattfand. Dabei kommen alle
m Projekte bieten viel Raum für bietet die nötige Sicherheit und wird vor allem daran gemessen, Mitarbeitenden zusammen, um
r »learning on the job« sowie die Flexibilität, um die IT-Karriere ob Bürgerinnen und Bürger die sich auszutauschen, voneinander
r Chance, im Team voneinander selbstbestimmt zu lenken.  Services akzeptieren und nutzen. zu lernen und anschließend ge-
n zu lernen und dabei gemein- Eine hervorragende User Expe- meinsam zu feiern. 
sam zu wachsen. Agile Lern- KONTAKT rience sowie stabile technische
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career.de@capgemini.com BRANCHE: MARKETING/WERBUNG/PR
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ten, die eigene Karriere immer zudem Leadership-Programme. scheinen. Wieso, fragt man sich, Behörden auch den Digitaletat Claudia.mika@interone.de
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Business und Technology Part- zeigt Lutz Böhnstedt. Der Di- der Behördengänge bequem von Coding« betreut, setzt dabei auf
ner für Unternehmen treibt plom-Informatiker startete 2007 zu Hause aus erledigt werden. interdisziplinäre Zusammenar-
Capgemini nicht nur die digitale als Software Engineer und ist Wer in Berlin oder Köln lebt und Interone, eine Digitalagentur der beit. Mit einem starken Bewusst-
Transformation seiner Kunden heute Managing Business Ana- sich in den letzten Jahren ummel- ersten Stunde, arbeitet mit Hoch- sein für Trends, Technologien
mit innovativen Lösungen vo- lyst: »Ich habe schon im ersten den wollte, kennt es wahrschein- druck an dieser Herausforde- und Umsetzbarkeit arbeiten die
ran, sondern auch die indivi- Projekt gemerkt, dass mir die lich: Der nächste Termin zum rung: Nicht zuletzt, da mit dem 230 Mitarbeitenden an v ier
 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26 34

STELLENMARKT
Wer sich von der KI helfen lässt, muss sie auch überprüfen können – das gilt besonders im BWL-Studium  VON JUTTA GELDERMANN
Die künstliche Intelligenz wird in Zukunft­
viele Tätigkeiten übernehmen können, die bis­
her akademisch ausgebildetes Personal erledigt
hat. Deshalb stehen auch traditionelle Lehr­
inhalte der Hochschulen infrage, etwa in der
Betriebswirtschaft. Edda Pulst von der West­
fälischen Hochschule plädierte vor drei Wochen
an dieser Stelle dafür, betriebswirtschaftliche
Routine­aufgaben in Zukunft die KI überneh­
men zu lassen, zum Beispiel die Recherche und
Datenaufbereitung, die Buchhaltung oder das
Berichtswesen. Die frei werdende Zeit sollte
kreativ für andere Studieninhalte genutzt wer­
den, schrieb sie. Solche Forderungen hört man
auch aus anderen Fächern, und tatsächlich ist
die Leistungsfähigkeit von KI-getriebenen
Schreibassistenten (DeepL Write) oder Kosten­
verwaltungen (SAP Concur) beeindruckend.
Doch so einfach ist das aus meiner Sicht
nicht – in der Betriebswirtschaft erst recht
nicht. Denn was passiert, wenn KI sogenannte
Routineaufgaben übernimmt und in ein paar
Die Position:
Grundlagen bleiben wichtig!
Jahren kein Betriebswirtschaftler mehr weiß,
wie eine Steuererklärung, ein Logistikprozess
oder eine effiziente Lieferkette zustande
kommt? KI ist nicht fehlerfrei, sie stellt­
Zusammenhänge her, wo keine sind, erzeugt
Datenhalluzinationen. Kann man sie ohne die
notwendige Wissensbasis kontrollieren?
Ohne Frage, das BWL-Studium muss sich
verändern: Wir brauchen mehr Lehre über
die KI, aber auch mit der KI. Dazu müssen
wir im Studium Kompetenzen wie strategi­
sches Datenmanagement und Daten­kontrolle,
genannt Data-Literacy, vermitteln. Ebenso je­
doch brauchen unsere Studierenden Reflexions­
fähigkeit und Kreativität. Und um eine KI
bedienen und deren Ergebnisse gegebenen­
falls korrigieren zu können, ist Grundlagen­
wissen nötig: Die Buchhaltung, erstellt mit­
tels KI, kann nur verstehen, wer selbst darin
ausgebildet wurde.
Mit ihrem ganzheitlichen Bildungsziel
wollen Universitäten nicht nur die Anwen­
dung, sondern auch das Verstehen fördern. messung von Sozialunternehmen. Für alle diese
Edda Pulst legt nahe, durch automatisierte speziellen Anwendungen braucht es ökonomi­
Prozesse und KI schneller zu kreativen Lösun­ sches und organisationstheoretisches Wissen:
gen zu kommen – etwa in der Wüste Proto­ wie man ein Unternehmen wirtschaftlich führt,
typen für eine intelligente Bewässerung zu welche Entwicklungsstufen es durchmacht, wie
bauen. Ein guter Ansatz. Aber es braucht auch man mit Diversität umgehen sollte. Ohne diese
ein Verständnis für die Grundlagen und Zu­ Breite und Tiefe würde das Studium verarmen,
sammenhänge: Mathematik, das Schreiben und unsere Studierenden würden eindimensio­
eines Businessplans und die Grundprinzipien nal ausgebildet. Vor allem würden Studierende
des Personalmanagements sind wichtig, damit in den unterschiedlichen Bereichen nicht­
technische Lösungen nicht nur kurzfristig wissen, was sie von der KI erwarten können
Foto: privat
funktionieren, sondern profitabel in Serie und wo sie bei computergenerierten Lösungen
produziert werden können. Ohne solide genauer hinschauen sollten.
Kenntnis der betriebswirtschaftlichen Grund­ Wir Professorinnen und Professoren sind
Jutta Geldermann von der lagen können wir solche komplexen Phäno­ Treiber des Wandels in der BWL. Wandel kann
Universität Duisburg-Essen mene kaum verstehen und auch keine­ aber nicht bedeuten, dass wir die Grundlagen­
sitzt dem Verband der Lösungsvorschläge erarbeiten. ausbildung aufgeben, weil die KI inzwischen so
Hochschul­l ehrerinnen und Die BWL ist ein sehr breites Studien- und leistungsfähig ist. Selbst ChatGPT antwortet
Hochschullehrer für Forschungsfeld: Studierende lernen etwas über auf meine Nachfrage während der Erstellung
Betriebswirtschaft vor Kreislaufwirtschaft und über I­deen für ein­ dieses Beitrags, »dass KI-Systeme keine voll­
faireres Steuersystem, über die Optimierung ständige menschliche Überprüfung ersetzen,
von Produktionsprozessen oder die Erfolgs­ sondern diese unterstützen sollen«.

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DIE STADT IST MEHR ALS EIN JOB!

Jede Bewegung braucht Menschen, die überzeugt vorangehen. Darum suchen wir Sie als Direktor:in (w/m/d) des Instituts für Stadtgeschichte für
unser Stadt-Up Frankfurt!

Bereit für eine Aufgabe für Herz und Verstand? Bewerben Sie sich jetzt und führen Sie das Team Frankfurt in die Zukunft! ZEIT REISEN ist der Reiseveranstalter der ZEIT und gehört mit seinem umfangreichen
Programm exklusiv konzipierter Reisen und seinen 16 Mitarbeitenden am Standort
Das Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main im Karmeliterkloster ist eines der bedeutendsten Kommunalarchive Deutschlands und eine der
ältesten Kultureinrichtungen der Stadt. Es hat die Aufgabe, das historische Erbe der Stadt zu bewahren und zugänglich zu machen. Es ist gesetzlich Hamburg zu den »Neuen Geschäftsfeldern« des ZEIT Verlags. ZEIT REISEN sind wie die
verpflichtet, historische und rechtlich bedeutsame Unterlagen der städtischen Ämter zu übernehmen, zu bewerten und zu bewahren, um die wesent-
lichen Entwicklungen und Themen aus allen Bereichen des städtischen Lebens – aus Wirtschaft, Kultur, Politik und Sozialem – abzubilden. Zusätzlich
ZEIT selbst: besonders und einzigartig, tiefsinnig und hintergründig, abwechslungsreich
soll auch gezeigt werden, wie die Verwaltung in der Vergangenheit ausgesehen hat und wie bestimmte Aufgaben wahrgenommen wurden. und abenteuerlich, genussreich und voller Leben. Entdecken, worauf es ankommt –
Auch Nachlässe, Karten, Pläne und Zeitungsausschnitte zur Stadtgeschichte sowie Zeugnisse Frankfurter Vereine und Firmen befinden sich in der so lautet das Motto, seit die erste Reise im Jahr 2000 begann: Besondere Destinationen,
Sammlung. Die Fotosammlung umfasst mehr als zwei Millionen Frankfurter Bilder vom 19. Jahrhundert bis heute. Die Archivalien, Sammlungen und exklusive Inhalte, spezielle Begegnungen und außergewöhnliche
Bilder werden der Öffentlichkeit im Lesesaal für verschiedenste Forschungsinteressen zur Verfügung gestellt. In wechselnden Ausstellungen sowie
durch ein vielfältiges Veranstaltungsangebot wird die Geschichte der Stadt vermittelt. Reisebegleiter garantieren ein unvergleichliches Reiseerlebnis.
So prägt das Institut die historische Identität der Stadt mit und erfüllt eine wichtige Informationsfunktion innerhalb einer demokratischen Gesellschaft.

Für die Leitung dieses besonderen Archives suchen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine:n Bereichern Sie unser Team als

DIREKTOR:IN (w/m/d) DES INSTITUTS FÜR Director

STADTGESCHICHTE Vollzeit, Teilzeit, EGr. SV TVöD
ZU IHREN AUFGABEN GEHÖREN:
Leitung des Hauses mit rund 56 Mitarbeitenden, Weiterentwicklung
der wissenschaftlichen und didaktischen Konzeption
Führungsverantwortung in fachlicher, personeller, organisatorischer
und finanzieller Hinsicht
Konzeption der digitalen Weiterentwicklung des Archivwesens und
in der Vermittlung
Positionierung des Hauses in der Stadtgesellschaft sowie im
nationalen und internationalen Kontext
Fördern der Partizipation durch zielgruppenorientierte Ausstellungs-
und Veranstaltungskonzepte
Herausgabe von Publikationen
SIE BRINGEN MIT:
Befähigung für den höheren allgemeinen Verwaltungsdienst (Lauf-
bahnzweig Archivdienst) bzw. abgeschlossenes wissenschaftliches
Hochschulstudium (Diplom (Univ.)/Magister/Master) der Archiv-
wissenschaften und/oder Geisteswissenschaften sowie Promotion
hohe fachwissenschaftliche Qualifikationen
nachgewiesene, qualifizierte Berufserfahrung im Bereich des Archiv-
wesens
Führungspersönlichkeit mit hoher Führungskompetenz und nach-
gewiesener langjähriger, ausgeprägter sowie erfolgreicher Führungs-
erfahrung und -verantwortung
ausgeprägte Kenntnisse und Erfahrungen in der Akquise von
Fördermitteln
fundierte Kenntnisse und Erfahrungen in der Steuerung größerer
Verwaltungseinheiten sowie in der Entwicklung von Prozessen und
Strukturen
Befähigung und Interesse zur Weiterentwicklung der digitalen
Transformation städtischer Dienstleistungen
ausgeprägtes Interesse an Themen der Wirtschaft, Kultur, Politik
und Sozialem
gute Vernetzung im nationalen/internationalen Archivwesen
ausgeprägtes und gewinnendes Kommunikationsverhalten
Konflikt- und Kritikfähigkeit
kooperatives und teamorientiertes Denken und Handeln
interkulturelle Kompetenz und Genderkompetenz
herausragende Serviceorientierung und ausgeprägtes Qualitäts-
bewusstsein
sicheres und verbindliches Auftreten
überdurchschnittliche Einsatzbereitschaft
ZEIT REISEN (m/w/d)
WIR BIETEN IHNEN:
eine interessante und besonders verantwortungsvolle Aufgabe
mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten bei einer sicheren und
sozialen Arbeitgeberin
umfangreiches Fortbildungsangebot zu den unterschiedlichsten
Themenbereichen
betriebliche Altersvorsorge und ein Job-Ticket Premium ohne
Eigenbeteiligung gültig für alle Tarifgebiete des Rhein-Main-
Verkehrsverbundes mit Mitfahrregelung
WEITERE INFOS:
Bei Erfüllen der persönlichen Voraussetzungen ist eine Beschäftigung
im Beamtenverhältnis (BesGr. A 16 BesO – Ltd. Museumsdirektor:in)
möglich. Nach § 4 HBG wird die Stelle der Direktion zunächst im Beam-
tenverhältnis auf Probe übertragen. Die regelmäßige Probezeit beträgt 2
Jahre. Eine Verkürzung ist möglich; die Mindestprobezeit beträgt 1 Jahr.
Für Bewerber:innen, die sich in einem Beschäftigungsverhältnis befin-
den, ist eine Beschäftigung im Arbeitsverhältnis möglich. Bitte teilen Sie
uns im Rahmen Ihrer Bewerbung Ihre Gehaltsvorstellungen mit.
Unsere Mitarbeiter:innen sind uns wichtig. Darum haben wir ein
stadtweites Führungsverständnis entwickelt, das die Grundlage für Ihr
Führungshandeln darstellt.
Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit zur Teilzeitbeschäftigung. Bei
gleicher Eignung erhalten schwerbehinderte Menschen den Vorzug
vor anderen Bewerber:innen. Bewerbungen von Menschen aller
Nationalitäten sind ausdrücklich erwünscht.
Für weitere Auskünfte wenden Sie sich gerne an Frau Dr. Hartwig, Tel.:
(069) 212-33108.
Unter www.StadtFrankfurtJobs.de/faq finden Sie Antworten auf
häufig gestellte Fragen (z. B. zur Bezahlung).
Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftige
Bewerbung über unser Jobportal
(https://stadtfrankfurtjobs.de/d
irektorin-wmd-des-instituts-fuer-
stadtgeschichte-de-f5770.html).
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Als Director ZEIT REISEN (m/w/d) verantworten Sie das Profitcenter innerhalb
der ZEIT Verlagsgruppe mit den Bereichen Produktmanagement, Marketing und
Kundenservice, sind für den wirtschaftlichen Erfolg verantwortlich und berichten
direkt an die Geschäftsleitung/CPO Magazine & New Business. Sie setzen auf
Wachstum, optimieren dabei das erfolgreiche Kerngeschäft mit Premiumreisen und
Kooperationen und steuern gleichermaßen die strategische Weiterentwicklung
sowie alle Maßnahmen zur Umsetzung.
Ihre Aufgaben Bei Rückfragen:
· Business Development & Leadership: Sie optimieren die erfolgreichen Geschäfts- Christin Spitzner,
modelle und addieren neue im Sinne der Wachstumsstrategie hinzu. Sie fördern die
Head of Talent Acquisition
unterschiedlichen Kompetenzen im Team und teilen Ihre Vision für ZEIT REISEN. 040/32 80-266
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Denkweise und eine klare Analyse der kommerziellen Möglichkeiten, die Wahl GmbH & Co. KG,
richtiger Partnerunternehmen und die Schaffung passender, exklusiver Angebote. Buceriusstraße, Eingang
Speersort 1, 20095 Hamburg
· Networking: Durch intensive Vernetzung mit Reisepartnern und Destinationen
extern sowie intern mit ZEIT-Kolleg:innen entstehen weitere wertvolle Inhalte und Direkt online bewerben:
Themen, aus denen Sie besondere Produkte schaffen. www.zeit-verlagsgruppe.de/
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Analysen durch und verantworten Budget und Ergebnis.
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Transformationsprozess hin zu einem möglichst nachhaltigen Reiseangebot.
Interessiert?
Dann finden Sie unsere vollständige Stellenausschreibung
auf unserer Karriereseite www.zeit-verlagsgruppe.de/karriere.
Wir freuen uns auf Sie!

Die TU Dresden baut ihre Aktivitäten und Angebote in der Personalentwicklung systematisch und strategiegeleitet weiter
aus. Ziel ist es, die Personalentwicklung strukturell zu verankern, konzeptionell weiterzuentwickeln und operativ erlebbar
zu machen. Hierfür ist im Dezernat Personal zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine Stelle als •Künstlerisches Betriebsbüro
Leiter:in Personalentwicklung (m/w/d) •Technische Leitung
(bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen E 13 TV-L)
stadt-up-frankfurt.de zu besetzen. Insb. zur Leitung des Sachgebietes, Entwicklung u. Umsetzung der Personalentwicklungsstrategie so-
wie Leitung des Exzellenz-Programms „Personalentwicklung“ der TU Dresden, einschl. der Beratung des Erweiterten
•Dramaturgie
Rektorats und weiterer Führungsebenen werden Bewerber:innen mit abgeschl. wiss. Hochschulstudium in Wirt-
schaftswissenschaften, Rechtswissenschaften, Psychologie, Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt im Fachgebiet Zur Spielzeit 23/24 in Tübingen. Kennenlernen ab sofort.
Personal bzw. Arbeits- und Organisationspsychologie o. in einer ähnlich geeigneten Fachrichtung mit mehrjährigen
berufspraktischen Erfahrungen in der Personalentwicklung sowie im Personalmanagement i. V. m. konzeptioneller Arbeit www.itz-tübingen.de/jobs
sowie in der Leitung von Projekten einschl. Veränderungsmanagement gesucht. Den vollständigen Ausschreibungstext
finden Sie unter: https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/10478
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 STELLENMARKT 35

Die Zahl 3½ Fragen an: Garvin Brod

20 %
1. 2. 3. 3½.
Was brauchen Sie heute im Beruf, Was hat Sie während eines akademischen Lektüre muss sein. Welche? Und sonst so?
was Sie im Studium nicht gelernt haben? Auslandsaufenthaltes besonders beeindruckt? Ein guter Mix aus wissensorientierter In the end, it’s all about
Im Psychologiestudium lernt man von Bei einem Aufenthalt an der Universität und schöner Literatur. Aktuell attention – and curiosity.
vielen Dingen ein bisschen. Berkeley hat mich beeindruckt, wie gut ein Echtzeitalter von Tonio Schachinger und (Habe ich vor vielen
weniger Gasthörer als vor der Im Musikstudium hingegen gibt es eine entspannter, zuvorkommender Umgang mit The Most Human Human: What Artificial Jahren einmal auf einem
sehr große Spezialisierung (bei mir auf einem produktiven Arbeitsklima einhergeht Intelligence Teaches Us About Being Alive T-Shirt gelesen. Stimmt.)
Pandemie haben im Wintersemester Jazzposaune). In beiden habe ich viel gelernt und dieses sogar fördert. So wurden von Brian Christian. Ich finde Bücher
2022/23 eine Hochschul- – auch über mich selbst –, aber wenig beispielsweise kontroverse Diskussionen in besonders beeindruckend, wenn es ihnen Garvin Brod, 35, ist
über Projektmanagement und Führung den Kolloquien oft mit Humor aufgelockert. gelingt, Brücken zu schlagen. Psychologieprofessor an der
Lehrveranstaltung besucht anderer. Nach einer Einarbeitungszeit Diese Atmosphäre habe ich sehr genossen Ein Paradebeispiel dafür ist in meinen Universität Frankfurt und
machen mir diese Aspekte meines Berufs und bin daher noch einmal für einen zweiten Augen Das Rätsel Ödipus von Norbert arbeitet am Leibniz-Institut
Quelle: Statistisches Bundesamt nun sogar Spaß. Aufenthalt zurückgekehrt. Bischof, das zu Unrecht fast vergessen ist. für Bildungsforschung

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Die Arbeitnehmerkammer Bremen sucht zum nächstmöglichen Termin

einen Referenten (m/w/d) für Finanz- und Wirtschaftspolitik
Ihre wesentlichen Aufgaben sind:
• die Analyse, Aufbereitung und arbeitnehmerorientierte Bewertung wirtschaftspolitischer Daten
insbesondere zur Entwicklung des BIP, der Beschäftigung und der Löhne
• die Analyse und arbeitnehmerorientierte Bewertung der Finanz- und Investitionspolitik des
Landes Bremen und des Bundes
• die Planung und Durchführung öffentlicher Veranstaltungen, Fachtagungen und Workshops
Ihr Profil:
• ein erfolgreich abgeschlossenes und einschlägiges Studium zum Beispiel im Bereich Wirtschafts-,
Finanz- oder Politikwissenschaft
• sehr gute Kenntnisse der Institutionen und Instrumente der Finanz- und Wirtschaftspolitik auf
Bundes- Landes- und kommunaler Ebene
Wir bieten Ihnen:
• eine unbefristete Vollzeitstelle (39,2 Std./Wo.), die auch jeweils in Form von Teilzeitstellen besetzt
werden kann
• die Anwendung des Tarifvertrages der Länder (TV-L) und eine Vergütung – abhängig von den
individuellen Voraussetzungen - bis zur der Entgeltgruppe 13 des TV-L
• attraktive betriebliche Altersversorgung (VBL)
• flexible und lebensphasenbezogene Gestaltung der Arbeitszeit (z.B. Gleitzeit, Langzeitkonto,
Sabbatical)
Die vollständige Stellenanzeige finden Sie auf unserer Homepage unter www.arbeitnehmerkammer.de.
Wir wertschätzen Vielfalt und begrüßen daher alle Bewerbungen - unabhängig von Geschlecht,
Alter, Nationalität, ethnischer und sozialer Herkunft, Religion/Weltanschauung oder Behinderung.
Schwerbehinderte Menschen werden bei im Wesentlichen gleicher fachlicher und persönlicher Eignung
bevorzugt eingestellt.
Bitte richten Sie Ihre aussagekräftige Bewerbung inkl. Anschreiben, Lebenslauf, Arbeitszeugnisse
und Abschlusszeugnisse (nur Kopien) bis zum 09.07.2023 an die Arbeitnehmerkammer Bremen,
Personalabteilung, Frau Emmerich, Bürgerstraße 1, 28195 Bremen oder per E-Mail als PDF-Anhang an
personal@arbeitnehmerkammer.de
Ort: Freiburg
Verwaltungsleiter*in
Die Fraunhofer-Gesellschaft (www.fraunhofer.de) betreibt in Deutschland derzeit 76 Institute und
Forschungseinrichtungen und ist die weltweit führende Organisation für anwendungsorientierte Forschung.
Rund 30 000 Mitarbeitende erarbeiten das jährliche Forschungsvolumen von 2,9 Milliarden Euro.
Das Fraunhofer-Institut für Angewandte Festkörperphysik IAF zählt zu den führenden Forschungseinrichtungen
weltweit auf den Gebieten der III-V-Halbleiter und des synthetischen Diamanten. Wir erforschen und entwickeln
gemeinsam mit unseren Partnern aus Industrie und Wissenschaft elektronische, optoelektronische sowie
quantentechnologische Bauelemente und Systeme. Dabei stehen Forschung und Entwicklung für Anwendungen
in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit, Energie, Information und Kommunikation im Vordergrund.
Als Verwaltungsleiter*in tragen Sie die Verantwortung für die Bereiche Personal und Organisation, Finanzen und
Projektadministration. Als Mitglied des Institutsleitungsausschusses beraten Sie die Leitungsebene und tragen
zur Entscheidungsfindung bei wirtschaftlich-strategischen Fragestellungen bei. Dabei arbeiten Sie eng mit den
administrativen Fachabteilungen der Fraunhofer-Zentrale zusammen und werden innerhalb der Verwaltung
durch die Teamleitungen unterstützt.
Was Sie bei uns tun
• Ihre Tätigkeit umfasst die Optimierung des Dienstleistungsangebots und der Prozesse sowie der fachlichen
Kompetenzen der Verwaltung.
• Sie koordinieren die Vertragsgestaltung mit unseren Projektpartner*innen im In- und Ausland sowie den
Ausbau der juristischen Fachkompetenzen am Institut in Zusammenarbeit mit der Fraunhofer-Zentrale.
• Sie tragen Verantwortung für die Planung und Steuerung der Haushalte (Betrieb, Investitionen, Bauten).
• Sie steuern die Prozesse Personalbetreuung und -entwicklung, Einkauf und Gerätewirtschaft sowie
Reisemanagement, Projektverwaltung und -controlling.
• Die Implementierung und Weiterentwicklung der betriebswirtschaftlichen Steuerungsinstrumente ist
ebenfalls Teil Ihres Aufgabengebiets.
Was Sie mitbringen
• Sie verfügen über ein abgeschlossenes Studium an einer Hochschule oder einer Universität
(Master/Diplom), vorzugsweise im Bereich Wirtschaftswissenschaften oder Betriebswirtschaft.
• Sie bringen langjährige Berufserfahrung in einer vergleichbaren Führungsposition mit und haben fundierte
betriebswirtschaftliche Kenntnisse in den Bereichen Kostenrechnung, Rechnungswesen, Operatives
Controlling, Planungs- und Managementmethoden sowie Personalgewinnung und -betreuung.
• Sie besitzen technisches Verständnis und IT-Kenntnisse in Standard-Office-Software und ERP-Systemen
sowie vorzugsweise in SAP.
• Sehr gute Englischkenntnisse in Wort und Schrift, organisatorisches Denken und Handeln, Kreativität sowie
Ziel- und Ergebnisorientierung gehören zudem zu Ihren Stärken.
• Sie sind entscheidungs- und durchsetzungsfähig, bringen ein sicheres Auftreten, Präsentations- und
Kommunikationskompetenz sowie Verhandlungsgeschick mit und zeichnen sich durch Ihre hohe
Einsatzbereitschaft und Flexibilität aus.
Was Sie erwarten können
• Eine offene und teamorientierte Unternehmenskultur
• Ein modern ausgestattetes und international geprägtes Arbeitsumfeld
• Eine verantwortungsvolle Aufgabe mit Gestaltungsräumen
• Fachliche und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten durch vielfältige Weiterbildungsangebote
• Umfangreiche Zusatzleistungen wie eine Betriebliche Altersvorsorge (VBL), ein vergünstigtes Jobticket für den
ÖPNV sowie unterschiedliche Sportangebote (z.B. Pilates) zum Ausgleich und zur Fitness
• Einen familienfreundlichen Arbeitsplatz mit Angeboten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf (u. a. mobiles
Arbeiten, Mit-Kind-Büro, Beratungsleistungen im Bereich Home- und Eldercare)
Wir wertschätzen und fördern die Vielfalt der Kompetenzen unserer Mitarbeitenden und begrüßen daher alle
Bewerbungen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, ethnischer und sozialer Herkunft, Religion,
Weltanschauung, Behinderung sowie sexueller Orientierung und Identität. Schwerbehinderte Menschen werden
bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt.
Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt 39 Stunden. Die Stelle kann auch in Teilzeit besetzt werden. Anstellung,
Vergütung und Sozialleistungen basieren auf dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Zusätzlich
Referent/in Personalentwicklung (w/m/d)
Das Bischöfliche Generalvikariat in Hildesheim sucht für die
Abteilung Personalentwicklung zum nächstmöglichen Zeitpunkt
eine Referentin/einen Referenten für Personalentwicklung.
Die Wochenarbeitszeit beträgt 39,8 Stunden (Vollzeit). Der
Dienstsitz ist Hildesheim.
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung über unser Karriereportal bis
zum 03.07.2023.
Eine Stellenbeschreibung mit Anforderungen, Erwartungen und Tätigkeits-
feldern finden Sie auf unserer Website
www.stellenangebote.bistum-hildesheim.de
Bei der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen (DRV)
soll auf Grund des altersbedingten Ausscheidens zum 01.01.2024
die Position des
Geschäftsführers (m/w/d)
besetzt werden.
Der Dienstposten ist nach Besoldungsgruppe B3 NBesO ausge-
wiesen. Die Voraussetzungen für die Befähigung zum höheren
Dienst müssen deshalb erfüllt sein.
Die DRV Oldenburg-Bremen ist eine selbstverwaltete Körperschaft
öffentlichen Rechts mit einem Haushaltsvolumen von rund 4 Mrd. €
und über 1.000 Beschäftigten.
Als Geschäftsführer/in arbeiten Sie in enger Kooperation und
Absprache mit dem/der stellvertretenden Geschäftsführer/in der
DRV Oldenburg-Bremen. Sie repräsentieren die Organisation nach
außen und innen: Sie übernehmen umfassende Geschäftsführungs-
verantwortung für die Hauptverwaltung und die Geschäftsstelle in
Bremen sowie für die Reha-Kliniken an den Standorten Bad Schwal-
bach, Bad Kissingen und Bad Wildungen. Dies bedeutet die Führung
sehr unterschiedlicher Mitarbeitender auch auf räumliche Distanz.
Wir suchen eine engagierte und erfahrene Führungspersönlichkeit
mit herausragenden strategisch-konzeptionellen Fähigkeiten und
der Motivation, sich mit den zukünftigen Herausforderungen eines
modernen Sozialversicherungs- und Dienstleistungsunternehmens
vorausschauend auseinander zu setzen, um die DRV Oldenburg-
Bremen vor dem Hintergrund sich ändernder Rahmenbedingungen
auch zukünftig wirksam zu positionieren. Relevante Veränderungs-
prozesse sollen nicht nur gemeinsam mit dem/der stellvertreten-
den Geschäftsführer/in angestoßen, sondern Beteiligte frühzeitig
gewonnen und souverän auf die unterschiedlichen Interessen einer
selbstverwalteten Organisation eingegangen werden.
Erwartet wird neben langjähriger Führungstätigkeit und mehr-
jähriger Berufserfahrung innerhalb der Sozialversicherung ein
fundiertes Verständnis für betriebswirtschaftliche und rechtliche
Zusammenhänge auf Basis eines wirtschaftswissenschaftlichen,

Lehrkräfte gesucht? kann Fraunhofer leistungs- und erfolgsabhängige variable Vergütungsbestandteile gewähren.

Mit ihrer Fokussierung auf zukunftsrelevante Schlüsseltechnologien sowie auf die Verwertung der Ergebnisse
juristischen, wirtschaftsjuristischen oder vergleichbaren wissen-
schaftlichen Hochschulabschlusses sowie Erfahrungen mit
Entscheidungsprozessen der Selbstverwaltung.
in Wirtschaft und Industrie spielt die Fraunhofer-Gesellschaft eine zentrale Rolle im Innovationsprozess. Als
DIE ZEIT erreicht jede Woche Wegweiser und Impulsgeber für innovative Entwicklungen und wissenschaftliche Exzellenz wirkt sie mit an der
Gestaltung unserer Gesellschaft und unserer Zukunft.
Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen sind
erwünscht.
375.000 Lehrer:innen. AWA 2022 Haben wir Ihr Interesse geweckt? Dann bewerben Sie sich jetzt online mit Ihren aussagekräftigen
Für Fragen steht Ihnen der Leiter des Büros der
Selbstverwaltung, Herr Rathmann (telefonisch unter
6

Bewerbungsunterlagen. Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen! 0441/9272431, thomas.rathmann@drv-oldenburg-

bremen.de) zur Verfügung. Bitte richten Sie Ihre
Fraunhofer IAF aussagefähige Bewerbung bis zum 27. Juni 2023
Unser Recruiting Personalabteilung über unser Online-Portal an den Vorstand der DRV
Portfolio entdecken Tullastraße 72, 79108 Freiburg
Oldenburg-Bremen:
oder direkt an recruiting@iaf.fraunhofer.de
stellenmarkt@zeit.de
Fragen zu dieser Position beantwortet Ihnen gerne:
Herr Dr. Martin Walther, Telefon: +49 761 5159-434

Fraunhofer-Institut für Angewandte Festkörperphysik IAF

www.iaf.fraunhofer.de

Das Land Baden-Württemberg plant zum 1. August 2026 in Kennziffer: 64336

Bad Saulgau die Einrichtung eines MINT-Exzellenzgymnasiums
mit Internat (Klassenstufen 10 bis 12).
Für diese Schule ist

eine Schulleiterstelle (w/m/d) Leitung der Diözesanstelle Ehe-,

Besoldungsgruppe A 16 LBesO BW
Familien- und Lebensberatung (w/m/d)
bzw. Entgeltgruppe E15 Ü TV-L
In der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz Das Bischöfliche Generalvikariat sucht zum nächstmög-
zum 1. September 2024 zu besetzen.
(GDKE) ist die Stelle lichen Zeitpunkt eine Leitung der Diözesanstelle Ehe-,
Nähere Informationen zum MINT-Exzellenz- Die Technische Universität Braunschweig sucht für die Stabsstelle Presse der Leitung der Direktion Landesdenkmalpflege Familien- und Lebensberatung. Die Wochenarbeitszeit
gymnasium, zum Aufgabenbereich, zum und Kommunikation zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine*n (Landeskonservatorin/Landeskonservator, m/w/d) beträgt 39,8 Stunden (Vollzeit).
Anforderungsprofil und zum Bewerbungs-
Referent*in (m/w/d) für Social Media zu besetzen. Die Stelle ist nach Besoldungsgruppe A 16 des
verfahren finden Sie auf unserer Homepage (Teilzeit 50 %, befristet als Elternzeitvertretung) Landesbesoldungsgesetzes (LBesG) bewertet. Dienstort ist Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung über unser Karriereportal bis
(https://lobw.kultus-bw.de/lobw/Stellen/Suche/Sls). Mainz. zum 23.06.2023.
Einzelheiten zu den Aufgaben und den Einstellungsvoraussetzungen finden Sie
unter www.tu-braunschweig.de/stellenmarkt Eine Stellenbeschreibung mit Anforderungen, Erwartungen und
Den vollständigen Ausschreibungstext (Kennziffer 22/2023) Tätigkeitsfeldern finden Sie auf unserer Website
sowie weitere Informationen erhalten Sie unter
www.gdke.rlp.de www.stellenangebote.bistum-hildesheim.de

unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung, Berufsverband und
Gewerkschaft der 12.800 Mitglieder der Berufsorchester, Rundfunk-
klangkörper, Freischaffender, Musik-Lehrbeauftragter und -Studierender,
sucht im Rahmen einer ruhestandsbedingten Nachfolgeplanung zum
nächstmöglichen Zeitpunkt
eine:n Geschäftsführer:in (mIwId)
DAS DUALE HOCHSCHULSTUDIUM
MIT ZUKUNFT.
Wir sind eine von der Bundesrepublik Deutschland errichtete gemeinnützige Stiftung privaten Rechts und fördern aus
Mitteln der Bundesregierung den internationalen Austausch von Wissenschaftler*innen. Dem Netzwerk der Stiftung
gehören inzwischen über 30.000 Wissenschaftler*innen aus 140 Ländern an, von denen bereits 59 mit dem Nobelpreis
ausgezeichnet wurden. Bleibender Sitz der Hauptgeschäftsstelle ist Bonn. Die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) ist mit Baden-Württembergs und bietet Bachelor- und Masterstudien-
rund 33.000 Studierenden an 9 Studienakademien und 3 Campus gänge in den Studienbereichen Wirtschaft, Technik, Gesund-
Für das Referat Physik, Ingenieurwissenschaften, Mathematik der Auswahlabteilung suchen wir zum 1. Oktober 2023
unbefristet einen sowie dem Center for Advanced Studies die größte Hochschule heit und Sozialwesen an.

In dieser Funktion, die mit bundesweitem Einsatz verbunden ist, verant-
worten Sie in Kooperation mit dem Vorstand die Weiterentwicklung und
Profilschärfung von unisono als die Interessenvertretung professioneller
Musiker:innen. Sie steuern die finanziellen, personellen und organisato-
rischen Abläufe des Verbands und führen ein 15-köpfiges Team in Berlin.
Sie koordinieren die bundesweit ehrenamtlich Engagierten und vertreten
den Verband gegenüber Politik, Medien und Tarifpartnern.
Gesucht wird eine kreative Persönlichkeit (vorzugsweise Volljurist:in) mit
ausgeprägtem, persönlichem Bezug zum Kultur- und Musikbereich sowie
mit mehrjährigen Erfahrungen in der Verhandlungs- und Verbandsge-
schäftsführung. Die Vergütung orientiert sich an der Bundesbesoldungs-
ordnung mit weiteren Nebenleistungen und enthält eine zusätzliche
Altersversorgung. Nach einer gründlichen Einarbeitung ist eine vollständige
Amtsübergabe zum 1. Juni 2025 vorgesehen.
Motivierte Bewerber:innen senden ihre Unterlagen bis zum 31. Juli 2023
an: unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung, z.H. Herrn
Gerald Mertens, Littenstraße 10, 10179 Berlin.
uni-sono.org
Referenten (m/w/d)
AM STANDORT VILLINGEN-SCHWENNINGEN IST ZUM 1. APRIL 2024 TURNUSGEMÄSS FOLGENDE POSITION EINER
PROFESSORIN/EINES PROFESSORS ALS
– in Teilzeit mit 29,25 Wochenstunden (75%) –
Aufgabengebiet:
Die Auswahlabteilung der Humboldt-Stiftung erhält ca. 2.300 Förderanträge pro Jahr von exzellenten Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern aus dem Ausland. Die Auswahl der Preise und Stipendien treffen unabhängige, interdiszi-
Rektor*in (m/w/d)
plinäre Ausschüsse in enger Zusammenarbeit mit der Auswahlabteilung. Sie sind Ansprechpartner in der Abteilung für
alle Belange im Fachgebiet Physik. Dies beinhaltet:
Besoldungsgruppe W3
• Die fachliche Verantwortung und Begleitung aller in diesem Fachbereich eingehenden Anträge, insbesondere die
Festlegung von geeigneten externen Fachgutachtenden, bis zur Entscheidung in der Auswahlsitzung - Kennziffer 1739 - Bei Rückfragen steht Ihnen die Vorsitzende der Findungs-
• Als programmübergreifende Kontaktperson für alle Ausschussmitglieder aus dem Fachbereich Physik zur kommission und Präsidentin der DHBW, Frau Prof. Dr. Klärle
Verfügung zu stehen zu besetzen.
(0711/320660-13), gerne zur Verfügung. Fragen zum Verfahren
• Das Erstellen von zusammenfassenden Einschätzungen zu den Anträgen in Vorbereitung für die Auswahlsitzungen
Weitere Einzelheiten zur Stellenausschreibung ent- beantwortet Ihnen das Personalreferat, Frau Claudia Sauer
• Das Programmmanagement für die Wolfgang Paul-Vorlesung in Kooperation mit der Universität Bonn (0711/320660-9702).
nehmen Sie bitte der Webseite der DHBW unter
Weitere Informationen zu den Arbeitsbedingungen und zum Bewerbungsverfahren können Sie unserer Internetseite www.dhbw.de/die-dhbw/stellenangebote.html.
entnehmen. Die Stelle ist unbefristet in Bonn zu besetzen.
Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftige Bewerbung bis zum
Wir fördern die Gleichstellung und begrüßen daher alle Bewerbungen, unabhängig von ethnischer, kultureller
oder sozialer Herkunft, Alter, Religion, Weltanschauung, Behinderung oder sexueller Identität. 05.07.2023. Bitten nutzen Sie ausschließlich unser Online-
Fühlen Sie sich angesprochen? Dann bewerben Sie sich bitte mit den üblichen Unterlagen (Bewerbungs- Bewerbungsportal.
anschreiben, Darstellung des schulischen und beruflichen Werdegangs, Schulabschlusszeugnisse, Arbeits-
zeugnisse, Nachweise beruflicher Qualifikationen) bis zum 9. Juli 2023 über unser Online-System:
https://www.humboldt-foundation.de/karriere
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Alexander von Humboldt-Stiftung, Personalreferat, Über 1.000
Claudia Büsgen, Telefon 0228 833-522.
anspruchsvolle Stellen
auch online!
www.humboldt-foundation.de

Ganz nah dran.

Die Weltkulturerbe Erzbergwerk Rammelsberg Goslar GmbH sucht
zum 01. November 2023 oder später in Personalunion eine:

Geschäftsführung/Museumsleitung für das Weltkulturerbe

Rammelsberg – Museum & Besucherbergwerk und
Direktorin/Direktor für die Stiftung Welterbe im Harz (m/w/d) Die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) mit den Abteilungen in
Aachen, Köln, Münster und Paderborn ist bundesweit die größte staatlich aner-
kannte Hochschule in kirchlicher Trägerschaft. Sie bereitet auf der Grundlage des
Es handelt sich um eine auf vorerst 5 Jahre befristete Vollzeitstelle christlichen Menschen- und Weltbilds durch praxisbezogene wissenschaftliche
mit der Option der Verlängerung. Lehre auf Berufe des Sozialwesens, des Gesundheitswesens und des kirchlichen
Dienstes vor. In diesem Zusammenhang nimmt sie auch Forschungs- und Entwick-
lungsaufgaben wahr.
Die Veröffentlichung des vollständigen
An der Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen, ist eine Professur
Ausschreibungstextes erfolgt unter (m/w/d) für das Lehrgebiet „Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit“
www.rammelsberg.de/aktuell/Stellenangebote (Bes.Gr. W2) zu besetzen.
Das Lehrgebiet umfasst grundlegende wie ausgewählte Theoriediskurse, Kon-
zepte, Methoden und Verfahren sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen
Bei der Senatorin für Wissenschaft und Denkens und Handelns sowie Planens und Organisierens.
Häfen ist in der Abteilung 2 „Hochschu-
len und Forschung“ Referat 22 „Wis- Zum Anforderungsprofil gehören:
senschaftsplanung und Forschungs-
förderung“ zum nächstmöglichen • ausgewiesene Expertise in der Theoriedebatte Sozialer Arbeit und des Diskur-
Zeitpunkt eine Stelle als ses um Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit,
• einschlägige Praxis- und Forschungserfahrungen in der Sozialen Arbeit sowie
Referatsleiter:in (w/m/d) Erfahrungen in der Akquise und Durchführung von Drittmittelprojekten,
• wünschenswert sind vertiefte Kenntnisse in mindestens einem einschlägigen
Entgeltgruppe 15 TVÜ-Länder außertariflich / Handlungsfeld wie zum Beispiel Migrationssozialarbeit, Diversity und Inklusion,
Besoldungsgruppe A 16 Schulsozialarbeit, Verwaltung und Institutionalisierung in der Sozialen Arbeit.
unbefristet zu besetzen.
Gesucht wird eine Persönlichkeit, die
Sie verfügen über die Befähigung für die Laufbahngruppe 2, 2. Einstiegsamt • die Lehre im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit, im Bachelorstudiengang
der Fachrichtung Allgemeine Dienste bzw. ein abgeschlossenes wissen-
schaftliches Hochschulstudium? Sie haben Führungserfahrung und mehrjäh- Kindheitspädagogik und im Masterstudiengang Soziale Arbeit mit mindestens
rige Erfahrung im Wissenschaftsmanagement? Dann freuen wir uns auf Ihre einem ausgewiesenen didaktisch-methodischen Schwerpunkt gestaltet,
Bewerbung an: bewerbermanagement@performanord.bremen.de (Kennziffer
• einschlägige Forschungs- und Praxiserfahrungen einbringt,
22/2023).
• die Bereitschaft zur internationalen Ausrichtung von Forschung und Lehre
Unsere ausführliche Stellenausschreibung mit einer genauen Aufgabenbe-
schreibung sowie allen geforderten Voraussetzungen finden Sie auf: zeigt,
www.karriere.bremen.de und www.wissenschaft-haefen.bremen.de. • sich an Transferaktivitäten und an Fort- und Weiterbildungsangeboten der
Die Bewerbungsfrist endet am 06.07.2023 Hochschule beteiligt,
Performa Nord - Bewerbungsmanagement, Schillerstraße 1, 28195 • sich in Forschung, Lehre und Weiterbildung interdisziplinär engagiert,
Bremen • Bereitschaft zum Engagement in der akademischen Selbstverwaltung
mitbringt.
Wir bieten:
• Eigenständige Repräsentanz des Lehrgebietes in aufgeschlossener, kollegialer
Atmosphäre
An der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät ist ab sofort eine • Unterstützung von Forschungs- und Weiterbildungsaktivitäten
Professur für Mathematikdidaktik • Unterstützung bei der Gestaltung und Umsetzung innovativer Lehr-Lern-
Konzepte
Die Universität Hamburg ist als Exzellenzuniversität eine der
forschungsstärksten Universitäten Deutschlands. Mit ihrem Kon-
zept der „Flagship University“ in der Metropolregion Hamburg
pflegt sie innovative und kooperative Verbindungen zu wissen-
schaftlichen und außerwissenschaftlichen Partnern. Sie produziert
für den Standort – aber auch national und international – die
zukunftsgerichteten gesellschaftlichen Güter Bildung, Erkenntnis
und Austausch von Wissen unter dem Leitziel der Nachhaltigkeit.
In der Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaf-
ten sind schnellstmöglich folgende Professuren zu besetzen:
W2 Universitätsprofessur für Mathematik,
insb. Numerische Analysis
Kennziffer: 2400/W2
Die ausführliche Stellenausschreibung finden Sie auf unserer
Homepage unter: uni-hamburg.de/stelle-2400
W1 Juniorprofessur mit Tenure Track W2
(Tenure-Track-Professur) für Mathematik,
Bodenständig, friesisch, authentisch – und in einer Spitzenposition,
wenn es um zukunftsweisende Innovationen geht: Die Hochschule
Emden/Leer ist Impulsgeberin für die Region. An vier Fachbereichen
engagieren wir uns mit ca. 430 Beschäftigten und 4.700 Studieren-
den in praxisnahen Projekten für neue, nachhaltige Entwicklungen
in der Wirtschaft und Gesellschaft. Bei uns sind Sie „ganz nah dran“
– an Praxis und Perspektiven, Vielfalt und Verbindungen. Entscheiden
auch Sie sich für eine Arbeitgeberin, bei der Sie wirklich etwas be-
wegen und Ihre Ideen von einer modernen Hochschule einbringen
können.
An der Hochschule Emden/Leer, die sich als innovative, richtungs-
weisende Zukunftshochschule versteht, ist im Fachbereich Soziale
Arbeit und Gesundheit am Campus Emden zum nächstmöglichen
Zeitpunkt folgende Professur der BesGr. W2 zu besetzen:
Professur für Kindheitspädagogik
Kennziffer SAG 42
Der*die künftige Stelleninhaber*in soll das interdisziplinär angelegte
Fachgebiet der Kindheitspädagogik in Lehre und Forschung vertre-
ten. Die Professur ist schwerpunktmäßig im Bachelorstudiengang
„Kindheitspädagogik“ angesiedelt. Gesucht wird eine überdurch-
schnittlich qualifizierte Persönlichkeit, die sich bei uns in Lehre und
Forschung fachübergreifend einbringt. Motivierte Studierende,
spannende Projekte und engagierte Kolleg*innen warten auf Sie.
Erwartet werden:
• Hochschulabschluss im Bereich der Erziehungswissenschaften,
(Kindheits- oder Sozial-)Pädagogik oder ein sozialwissenschaft-
licher Hochschulabschluss
• Befähigung zu vertiefter selbstständiger wissenschaftlicher
Arbeit, i. d. R. nachgewiesen durch eine überdurchschnittliche
Promotion, wobei eine thematische Schwerpunktsetzung der
Promotion gemäß der Denomination von Vorteil ist
• Verantwortungsvolle berufliche Tätigkeit über mindestens fünf
Jahre, davon mindestens drei Jahre außerhalb des Hochschul-
bereichs (berufliche Erfahrungen in kindheitspädagogischen
Handlungsfeldern sind von Vorteil)
• Durch einschlägige Lehrerfahrung nachgewiesene pädagogisch-
didaktische Eignung
• Ausgewiesene Kenntnisse im Bereich der didaktisch-methodischen
Grundlagen der Kindheitspädagogik und der entsprechenden
Bezüge aus den zentralen Bezugsdisziplinen
• Berufsfeldrelevantes Wissen, insbesondere über Konfigurationen
und Praxis von Institutionen und Organisationen im kindheits-
pädagogischen Feld

(W2) (w/m/d)
zu besetzen.
Die Universität zu Köln ist eine der größten und forschungsstärksten Hochschulen Deutsch-
lands mit einem vielfältigen Fächerangebot. Sie bietet mit ihren sechs Fakultäten und ihren
interfakultären Zentren ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen und international
herausragender Profilbereiche. Die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät (MNF)
umfasst sechs Departments mit rund 180 Professuren und 9.000 Studierenden und zählt zu
den größten Fakultäten des Landes.
IHRE AUFGABEN:
Der*Die künftige Stelleninhaber*in ist dem Institut für Mathematikdidaktik der Mathematisch-
Naturwissenschaftlichen Fakultät zugeordnet und vertritt das Fachgebiet Mathematikdidaktik in
Forschung und Lehre. Die Lehre betrifft die fachliche und fachdidaktische Ausbildung von Stu-
dierenden des Unterrichtsfachs Mathematik der Lehrämter an Grundschulen, an Haupt-, Real-,
Sekundar- und Gesamtschulen und für sonderpädagogische Förderung, sowie die fachdidaktische
Ausbildung von Studierenden des Lehramts an Gymnasien / Gesamtschulen und Berufskollegs.
Über die eigenständige Forschung hinaus wird eine aktive Beteiligung an den Forschungsaktivi-
täten des Instituts, des Departments Didaktiken der Mathematik und der Naturwissenschaften
und der Fakultät erwartet, einschließlich der Durchführung drittmittelgeförderter Forschungs-
projekte.
IHR PROFIL:
Gesucht wird eine in der Mathematikdidaktik wissenschaftlich herausragend ausgewiesene
Persönlichkeit mit dem Potenzial, kraft ihrer eigenen mathematikdidaktischen Interessens-
schwerpunkte zur weiteren Profilierung der Mathematikdidaktik in Forschung und Lehre an
der Universität zu Köln beizutragen. Einstellungsvoraussetzungen sind neben pädagogischer
Eignung und Erfahrungen in der selbstständigen Lehre an der Hochschule, ein abgeschlossenes
(Lehramts-)Studium in Mathematik, eine überdurchschnittliche Promotion in der Mathematik-
didaktik, Mathematik oder einem affinen Fach, Habilitation oder habilitationsäquivalente wis-
senschaftliche Leistungen. Fundierte mathematische Kenntnisse werden ebenso vorausgesetzt
wie Erfahrungen in der Schulpraxis bzw. einschlägige schulbezogene Erfahrungen.
WIR BIETEN IHNEN:
Die Universität zu Köln bietet Ihnen ein exzellentes wissenschaftliches Umfeld, vielfältige Angebote
zur professionellen Personalentwicklung sowie Unterstützung für Dual Career-Paare und bei der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Die Professur ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen. Es gelten die Einstellungs-
voraussetzungen des § 36 Hochschulgesetz NRW. Das Lehrdeputat umfasst in der Regel neun
Semesterwochenstunden.
Die Universität zu Köln fördert Chancengerechtigkeit und Vielfalt. Wissenschaftlerinnen sind
besonders zur Bewerbung eingeladen und werden nach Maßgabe des LGG NRW bevorzugt
berücksichtigt. Bewerbungen von Wissenschaftler*innen mit Schwerbehinderung und ihnen
Gleichgestellten sind ebenfalls ausdrücklich erwünscht.
Bitte bewerben Sie sich mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf, Schriften- und Lehrveranstaltungs-
verzeichnis, Lehrevaluationsergebnisse, Urkunden über akademische Prüfungen und Ernennungen)
ohne Bewerbungsfoto ausschließlich über das Berufungsportal der Universität zu Köln
(https://berufungen.unikoeln.de) bis zum 13.07.2023 an den Dekan der Mathematisch-Natur-
wissenschaftlichen Fakultät.
Universität
www.uni-koeln.de zu Köln
Die MSH ist eine private, staatlich anerkannte Hochschule mit Schwerpunkt
Gesundheit und Medizin. Folgende Professur ist zum Wintersemester
2023/24 zu besetzen:
An den fachhochschulischen Fakultäten (W2):
Professur für Professur Performing Arts Medicine - Schwerpunkt Tanz
Die ausführlichen Ausschreibungen finden Sie auf der Internetseite
www.medicalschool-hamburg.de
MSH Medical School Hamburg
University of Applied Sciences and
Medical University
• Möglichkeiten des Aufbaus und der Pflege internationaler Kontakte
• Unterstützung bei der eigenen Fort- und Weiterbildung
Einstellungsvoraussetzungen sind:
Die Bewerber_innen müssen die Voraussetzungen des § 36 Hochschulgesetz
des Landes Nordrhein-Westfalen (HG) erfüllen (abgeschlossenes einschlägiges
Hochschulstudium, qualifizierte Promotion, pädagogische Eignung, mindestens
5-jährige berufspraktische hauptberufliche Tätigkeit nach Studienabschluss, da-
von mindestens 3 Jahre außerhalb des Hochschulbereiches).
Wir erwarten, dass Sie sich mit den Zielen und Werten der Katholischen Hoch-
schule NRW identifizieren.
Die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen strebt eine Erhöhung des Anteils
der Frauen als Hochschullehrerinnen an und fordert daher qualifizierte Wissen-
schaftlerinnen nachdrücklich zur Bewerbung auf.
Schwerbehinderte erhalten bei gleicher Eignung den Vorrang.
Bitte schicken Sie Ihre Bewerbung (tabellarischem Lebenslauf, lückenloser Nach-
weis der Hochschulausbildung, Nachweis der bisherigen beruflichen und neben-
beruflichen Tätigkeit und Schriftennachweis) bis zum 02.07.2023 ausschließlich
über unser Onlinebewerbungsportal.
Auskunft erteilt Sarah Oetken (Tel.: 0221 7757 609, Mail: s.oetken@katho-nrw.de).
An der Fakultät für Geowissenschaften, Geotechnik und
Bergbau der Technischen Universität Bergakademie Freiberg
sind zwei W3-Professuren zu besetzen:
„Bohrtechnik und Bohr-
komplettierung“ – 102/2023
„Angewandte Geophysik/
Elektromagnetik und
Potentialverfahren“ – 104/2023
Die vollständigen Ausschreibungstexte finden Sie unter:
tubaf.org/department/jobs oder direkt über die QR-Codes.
Bewerbungen richten Sie bitte bis zum 31.07.2023 an die
TU Bergakademie Freiberg, Dezernat für Personalangelegenheiten,
09596 Freiberg bzw. per E-Mail an bewerbungen@tu-freiberg.de
Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftige Bewerbung!
insb. Optimierung unter Unsicherheiten
• Bereitschaft, Lehrveranstaltungen auch online durchzuführen,
Erfahrungen in der Online-Lehre sind wünschenswert
• Fähigkeit und Bereitschaft, Lehrveranstaltungen in allen
Studiengängen des Fachbereichs zu vertreten
• Eigenschaften wie Teamfähigkeit, Kommunikationskompetenz
Kennziffer: JP 356
und Freude an der Zusammenarbeit mit Partner*innen innerhalb
und außerhalb der Hochschule
Die ausführliche Stellenausschreibung finden Sie auf unserer • Aktive Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung und an
Homepage unter: uni-hamburg.de/stelle-jp356 der Weiterentwicklung der Studiengänge des Fachbereichs
Die Einstellungsvoraussetzungen ergeben sich aus § 25 des
Niedersächsischen Hochschulgesetzes (NHG). Ein Merkblatt kann
im Internet unter http://www.hs-emden-leer.de/merkblatt-nhg
eingesehen werden.
Die Universität Hamburg ist zertifiziert. Die Hochschule Emden/Leer tritt für Geschlechtergerechtigkeit und
audit familiengerechte hochschule personelle Vielfalt ein. Wir haben uns das strategische Ziel gesetzt,
den Anteil von Frauen in Forschung und Lehre zu erhöhen. Daher
freuen wir uns über Bewerbungen qualifizierter Frauen. Die Hoch-
schule ermöglicht Teilzeitbeschäftigung im Rahmen der gesetz-
lichen Bestimmungen. Schwerbehinderte Bewerber*innen werden
bei gleicher Eignung und Qualifikation bevorzugt berücksichtigt.
HfM Detmold
HOCHSCHULE FÜR MUSIK Wir unterstützen Sie durch vielfältige Angebote bei der Vereinbar-
keit von Beruf und Familie (z. B. Notfallkinderbetreuung, Ferienbe-
treuung für Schulkinder etc.). Außerdem zeichnen wir uns durch
Das KreativInstitut.OWL besetzt je eine halbe Stelle als
gesundheitsfördernde Maßnahmen und unseren Hochschulsport
aus. An unserer Campushochschule wird die persönliche Arbeits-
atmosphäre großgeschrieben.
künstlerische*r bzw. wissenschaftliche*r Haben wir Ihr Interesse geweckt?
Dann richten Sie Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen unter
Mitarbeiter*in (m/w/d) Angabe der Kennziffer bis zum 27.07.2023 an den
Präsidenten der Hochschule Emden/Leer
Eine ausführliche Beschreibung der Tätigkeiten und gewünschten
Qualifikationen finden Sie unter: www.hfm-detmold.de/freie-stellen z.H. des Dekans des Fachbereichs Soziale Arbeit und Gesundheit
Herrn Prof. Dr. Sören Schmidt
Constantiaplatz 4, 26723 Emden
E-Mail-Adresse: berufungen@hs-emden-leer.de
https://karriere.hs-emden-leer.de/
The University of Klagenfurt is looking to appoint a
FULL PROFESSOR
of
STATISTICS An der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, Lehrstuhl
für Öffentliches Recht und Recht der Digitalisierung (Prof. Dr. David Roth-Isigkeit),
ist ab sofort eine Stelle als
Application deadline 17 September 2023.
Further details available online. wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (m/w/d)
im Themenfeld Regulierung künstlicher
Intelligenz und öffentliches Datenrecht
The University of Klagenfurt is a campus university in in Teilzeitbeschäftigung (75 %), Entgeltgruppe 13 TV-L, für zunächst drei Jahre
southern Austria, located at the intersection of three mit der Möglichkeit zur Promotion bzw. Habilitation zu besetzen.
cultures. Our distinguishing features include a high Weitere Informationen zur Stellenausschreibung finden Sie unter:
https://www.uni-speyer.de/stellenangebote
quality of living, excellent conditions for
Die Bewerbungsfrist (Kennz.2523) endet am 09.07.2023.
teaching and research, internationality,
and modern infrastructure. Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftige Bewerbung.

Am Kaiserkai 1 in 20457 Hamburg

jobs.aau.at Die Universität im Internet: www.uni-speyer.de
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 STELLENMARKT 37

Max-Planck-Institut
für Chemische Physik fester Stoffe

Die Fachhochschule Erfurt ist eine moderne und praxisorientierte Campus-
Hochschule und zählt zu den leistungsstarken Lehr- und Forschungseinrich-
tungen in Thüringen. In der Fakultät Gebäudetechnik und Informatik, mit den
Fachrichtungen Gebäude- und Energietechnik und Angewandte Informatik, ist
ab dem Sommersemester 2024 die
Professur für Lüftungs- und Klimasystemtechnik
1 Stelle, Besoldungsgruppe W 2, Kennziffer GI7
zu besetzen. Die Stelle steht unbefristet zur Verfügung. Bei der ersten Berufung
zur Professorin oder zum Professor erfolgt die Beschäftigung in der Regel
zunächst befristet auf drei Jahre. Ausnahmen hiervon und das Verfahren zur
Umwandlung des Beamt:innenverhältnisses auf Zeit in ein Beamt:innenver-
hältnis auf Lebenszeit entnehmen Sie bitte § 86 Abs. 2 Thüringer Hochschul-
gesetz (ThürHG).
Ihre Bewerbung mit aussagefähigen Unterlagen (Lebenslauf, akademische
Urkunden, Nachweise der bisherigen beruflichen Tätigkeit, Veröffentlichungs-
liste, Lehrevaluationsergebnisse) richten Sie bitte unter Angabe der Kennziffer
GI7 bis zum 06.07.2023 schriftlich oder per E-Mail an:
Fachhochschule Erfurt
Dezernat Personal und Recht
Postfach 45 01 55
99051 Erfurt
E-Mail: bewerbung@fh-erfurt.de
Vorstellungskosten können nicht erstattet werden. Schriftliche Bewerbungs-
unterlagen reichen Sie bitte in Kopie ein, da nach Abschluss des Verfahrens
die Unterlagen nicht berücksichtigter Bewerber:innen vernichtet werden. Bei
gewünschter Rücksendung bitten wir um Beilage eines ausreichend frankierten
Rückumschlages.
Bitte beachten Sie die Hinweise zum Datenschutz:
https://www.fh-erfurt.de/ausschreibungen/datenschutzhinweise-
stellenausschreibungen
Weitere Details zu den Stelleninhalten und -anforderungen entnehmen Sie
bitte unserer Webseite unter: https://www.fh-erfurt.de/ausschreibungen
Das Studienangebot und Portfolio der Hochschule der
Medien Stuttgart (HdM) ist europaweit einzigartig und öffnet
den derzeit 5.500 Studierenden in 30 Bachelor- und Master-
studiengängen dieTüren in die Medienbranche sowie in Unter-
nehmen, Organisationen und Institutionen des öffentlichen
Sektors. Die HdM bietet darüber hinaus abwechslungsreiche
und zukunftssichere Tätigkeitsfelder in einem innovativen
STUDIEREN. WISSEN. MACHEN.
Das Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe
in Dresden sucht für die Abteilung Topologische Quantenchemie
ab sofort eine
Wissenschaftliche Assistenz (m/w/d)
IHRE AUFGABEN
- Koordination der wissenschaftlichen Aktivitäten im Zusammenspiel
mit der Max-Planck-Generalverwaltung, bundesstaatlichen und
staatlichen Behörden und anderen Forschungseinrichtungen
- Unterstützung bei administrativen Aufgaben in Zusammenarbeit mit der
Max-Planck-Generalverwaltung
- Koordination und Vorbereitung wissenschaftlicher Tagungen, Vorträge
und Begutachtungen
- Vorbereitung von Konzepten und Gutachten
IHRE QUALIFIKATION
- Abgeschlossenes Hochschulstudium im Fach Physik oder Chemie,
idealerweise mit Erfahrungen im Bereich Wissenschaftsmanagement
- Berufserfahrung in einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut oder
einer Universität, Koordination eines Sonderforschungsbereichs oder
Ähnlichem
- Eigenständige und strukturierte Arbeitsweise sowie ein hohes Maß an
Verantwortungsbewusstsein
- Sehr gute kommunikative Fähigkeiten sowie Erfahrung in der Gesprächs-
und Verhandlungsführung
- Verhandlungssicheres Deutsch und Englisch in Wort und Schrift
UNSER ANGEBOT
- Auf vorerst 2 Jahre befristetes Arbeitsverhältnis
- Interessante und abwechslungsreiche Tätigkeiten mit Selbstverantwortung
- Flexible und familienfreundliche Arbeitszeiten (Home-Office möglich)
- Möglichkeit zur Weiterbildung
- Tarifgerechte Eingruppierung sowie sämtliche Sozialleistungen
entsprechend den Regelungen des öffentlichen Dienstes (TVöD-Bund)
inklusive Jobticket
ÜBER UNS
Wir sind eines von 86 Instituten und Forschungsstellen der Max-Planck-
Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V. Unser Schwerpunkt
liegt in der Grundlagenforschung. Gegenwärtig sind unsere rund 250
Mitarbeiter*innen in mehreren Abteilungen und Max-Planck-Forschungs-
gruppen aufgeteilt.
Die Max-Planck-Gesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt, mehr schwer-
behinderte Menschen zu beschäftigen. Bewerbungen schwerbehinderter
Menschen sind ausdrücklich erwünscht.
Die Max-Planck-Gesellschaft strebt nach Geschlechtergerechtigkeit und
Vielfalt. Wir begrüßen Bewerbungen jedes Hintergrunds. Ferner will die
Max-Planck-Gesellschaft den Anteil an Frauen in den Bereichen erhöhen,
in denen sie unterrepräsentiert sind. Frauen werden deshalb ausdrücklich
aufgefordert, sich zu bewerben.
HABEN WIR IHR INTERESSE GEWECKT?
Dann freuen wir uns auf Ihre vollständige und aussagekräftige Online-
Bewerbung bis 15.07.2023 per E-Mail (bitte alle Dokumente in einer
PDF-Datei zusammenfassen) an:
personal@cpfs.mpg.de
Weitere Informationen über das Max-Planck-Institut für Chemische
Physik fester Stoffe finden Sie unter: https://www.cpfs.mpg.de
Wir unterstützen aktiv die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) mit den Abteilungen in
Aachen, Köln, Münster und Paderborn ist bundesweit die größte staatlich aner-
kannte Hochschule in kirchlicher Trägerschaft. Sie bereitet auf der Grundlage des
christlichen Menschen- und Weltbilds durch praxisbezogene wissenschaftliche
Lehre auf Berufe des Sozialwesens, des Gesundheitswesens und des kirchlichen
Dienstes vor. In diesem Zusammenhang nimmt sie auch Forschungs- und Entwick-
lungsaufgaben wahr.
An der Abteilung Köln, Fachbereich Sozialwesen, ist eine Professur (m/w/d)
für das Lehrgebiet „Recht“ (Bes.-Gr. W2) zu besetzen:
Bewerber_innen sollen in Lehre und Forschung die zivil- und öffentlich-recht-
lichen Grundlagen der Sozialen Arbeit vertreten. Erwartet wird insbesondere
die Lehre in Bereichen des Sozialrechts mit den Schwerpunkten Absicherung
des Lebensunterhalts (SGB II/SGB XII/AsylbLG) - jeweils unter Berücksich-
tigung europäischer Bezüge, des Ausländer- und Asylrechts, des Medien-
und des Bildungsrechts. In integrierten Lehrkontexten wird davon ausgegangen,
dass die Bewerber_innen bereit sind, sich in alle für die Soziale Arbeit relevanten
rechtlichen Fragestellungen einzuarbeiten.
Gesucht wird eine Persönlichkeit, die
• das erste und zweite juristische Staatsexamen erfolgreich absolviert hat,
• Lehrveranstaltungen – auch in digitaler Form - in den Studiengängen der
Sozialen Arbeit (Bachelor und Master) und Kindheitspädagogik (Bachelor)
gestaltet,
• auch zur Ausarbeitung englischsprachiger Lehrveranstaltungen bereit ist,
• einschlägige Forschungs- und Praxiserfahrungen einbringt,
• Praxistransfer und Praxiskooperationen aktiv unterstützt,
• sich in Forschung, Lehre und Weiterbildung interdisziplinär engagiert,
• Bereitschaft zum Engagement in der akademischen Selbstverwaltung
mitbringt,
• sozial kompetent ist und gerne im Team und in Projekten zusammenarbeitet.
Wir bieten:
• Eigenständige Repräsentanz des Lehrgebietes in aufgeschlossener, kollegialer
Atmosphäre
• Unterstützung von Forschungs- und Weiterbildungsaktivitäten
• Unterstützung bei der Gestaltung und Umsetzung innovativer Lehr-Lern-
Konzepte
• Möglichkeiten des Aufbaus und der Pflege internationaler Kontakte
• Unterstützung bei der eigenen Fort- und Weiterbildung
Einstellungsvoraussetzungen sind:
Die Bewerber_innen müssen die Voraussetzungen des § 36 Hochschulgesetz
des Landes Nordrhein-Westfalen (HG) erfüllen (abgeschlossenes einschlägiges
Hochschulstudium, qualifizierte Promotion, pädagogische Eignung, mindestens
5-jährige berufspraktische hauptberufliche Tätigkeit nach Studienabschluss,
davon mindestens 3 Jahre außerhalb des Hochschulbereiches).
Wir erwarten, dass Sie sich mit den Zielen und Werten der Katholischen Hoch-
schule NRW identifizieren.
Die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen strebt eine Erhöhung des Anteils
der Frauen als Hochschullehrerinnen an und fordert daher qualifizierte Wissen-
schaftlerinnen nachdrücklich zur Bewerbung auf.
Schwerbehinderte erhalten bei gleicher Eignung den Vorrang.
Bitte schicken Sie Ihre Bewerbung (tabellarischem Lebenslauf, lückenloser Nach-
weis der Hochschulausbildung, Nachweis der bisherigen beruflichen und neben-
beruflichen Tätigkeit und Schriftennachweis) bis zum 02.07.2023 ausschließlich
über unser Onlinebewerbungsportal (https://katho-nrw.de/stellenangebote).
Auskunft erteilt Sarah Oetken (Tel.: 0221 7757 609, Mail: s.oetken@katho-nrw.de).
Im Fachbereich Chemie der Technischen Universität Darmstadt ist im
Fachgebiet Anorganische Chemie des Eduard-Zintl-Instituts eine
Universitätsprofessur (W3) für
„Anorganische Festkörper- und
Materialchemie” (Kenn-Nr. 330)
zu besetzen.
Gesucht wird eine national und international sehr gut ausgewiesene
und sichtbare Persönlichkeit, die die anorganische Festkörperchemie
vollumfänglich vertritt. Die thematische Schwerpunktsetzung sollte in
folgenden Bereichen liegen:
• Entwicklung und Anwendung etablierter sowie innovativer, neu-
artiger Synthesemethoden der Festkörperchemie, vorzugsweise im
Sinne der Nachhaltigkeit und/oder Ressourcenschonung.
• Anwendung klassischer festkörperanalytischer Methoden, welche
auch die in-situ Charakterisierung mit Beugungsmethoden und/oder
einer möglichen Schwerpunktsetzung im Bereich der Synchrotronme-
thoden oder Neutronenbeugung an Festkörpern beinhalten können.
Mit Blick auf den SFB 1487 „Eisen, neu gedacht!“
(www.chemie.tu-darmstadt.de/iron-upgraded) soll die Forschungsaus-
richtung einen direkten Bezug zu den bearbeiteten Fragestellungen,
sowie zur Forschungsstrategie des Fachbereichs
(https://tinyurl.com/2p8w3bpr) insbesondere im Bereich Sustainable
Catalysis aufweisen und eine Anknüpfung in die Forschungsbereiche
Energiespeicher, Energiekonversion oder Heterogene Katalyse ermög-
lichen. Im Rahmen der Exzellenzinitiative ist eine Mitarbeit an Clean-
Circles (www.tu-darmstadt.de/clean-circles/about_cc/index.de.jsp)
erwünscht, Kooperationsmöglichkeit mit Forschenden anderer Fach-
bereiche sollten dargestellt werden.
Gegebenenfalls können neben der Synthese und Strukturanalytik auch
anwendungsrelevante Funktionseigenschaften mit erforscht werden.
Eine Passung der Professur zum Forschungsprofil der Universität und
des Fachbereichs wird erwartet. Darüber hinaus ist insbesondere die
Zusammenarbeit mit den strategischen Partneruniversitäten innerhalb
des RMU-Verbunds, sowie im europäischen UNITE!-Verbund in For-
schung und Lehre erwünscht.
Die Professur ist von zentraler Bedeutung für die festkörperchemische
Ausbildung von Chemiker_innen im Bachelor, Master sowie den Lehr-
amtsstudiengängen. Darüber hinaus soll die Professur in der Lehre die
Anorganische Chemie in voller Breite vertreten können (z.B. Anorgani-
sche Stoffchemie, Festkörpersynthese und Strukturanalytik). Im inter-
disziplinären Masterstudiengang Energy Science and Engineering soll
die Professur maßgeblich zur grundständigen Chemie-Lehre beitragen.
Im Sinne der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Lehre ist die
Bereitschaft zur Entwicklung internationaler Studiengänge sowohl in
deutsch- als auch in englischsprachiger Lehre gewünscht.
Die TU Darmstadt und ihr Umfeld sind als Teil der Metropolregion
Frankfurt-Rhein-Main gekennzeichnet durch gelebte Internationalität.
Kernelement davon ist ein weltoffenes Klima mit funktionaler Mehr-
sprachigkeit an unserer Universität. Daher werden sehr gute englische
und – spätestens nach drei Jahren – gute deutsche Sprachenkenntnisse
erwartet.
Die Einstellung erfolgt im Beamtenverhältnis oder in einem außertarif-

Forschungs-, Lehr- und Arbeitsumfeld. In der Fakultät
Information und Kommunikation ist im Studiengang
Online-Medien-Management folgende Professur zu
besetzen:
An der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit
(HöMS) ist im Fachbereich Verwaltung zum nächstmöglichen Termin am Campus
Wiesbaden eine
Professur (m, w, d) für Ökonomie
lichen Angestelltenverhältnis mit einer qualifikationsabhängigen Vergü-
Die Universität Graz besetzt am IDea_Lab eine
tung entsprechend der W-Besoldung. Diese wird zwischen Bewerber_in
und Hochschulleitung verhandelt. Es gelten ferner die Einstellungsvor-
Professur für Data Analysis
(40 Stunden/Woche; Verfahren gem. § 98 Universitätsgesetz;
aussetzungen der §§ 67 und 68 des Hessischen Hochschulgesetzes.

Professur für Online-Medien- W 2 HBesG unbefristetes Arbeitsverhältnis nach dem Angestelltengesetz;

Management, insb. Multimedia
Redaktion und Social Media
ab Sommersemester 2023
Besoldungsgruppe W2, Kennziffer SoSe2302P
Wir suchen eine Persönlichkeit mit ausgeprägten didaktischen
Fähigkeiten, die einschlägige Publikationen und Forschungs-
projekte vorweisen kann und die folgende Lehrgebiete in
Forschung und Lehre vertritt:
• Multimedia-Redaktion
• Social-Media-Management
• Medienkonzeption und Medienproduktion
Die Befähigung zur wissenschaftlichen Arbeit kann durch
Promotion oder promotionsadäquate künstlerische Leistungen
nachgewiesen werden. Für Fragen zu dieser Professur
steht Ihnen Prof. Dr. Stephan Wilczek per E-Mail unter
wilczek@hdm-stuttgart.de gerne zur Verfügung.
Für die Professur gelten die gesetzlichen Einstellungsvoraus-
setzungen gemäß § 47 des Landeshochschulgesetzes (LHG).
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung! Diese sollte ausschließlich
über unser Bewerberportal unter
http://www.hdm-stuttgart.de/
karriere/stellenangebote er-
folgen und bis zum 30.06.2023
bei uns sein.
zu besetzen.
Die vollständige Ausschreibung mit Informationen zur Hochschule, zu den
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen finden Sie auf unserer Homepage
unter www.hoems.hessen.de.
Die Bewerbungsfrist endet am 14.07.2023.
Für Rückfragen stehen Ihnen Herr Rosar und Frau Speicher als
Ansprechpersonen zur Verfügung (Tel.: (06 11) 3256 – 8310 bzw.
8313, E-Mail: stellenausschreibungen@hoems.hessen.de).
voraussichtlich zu besetzen ab 01. März 2024)
Die Professur soll dezidiert die Methodenkompetenz des IDea_
Lab stärken und interdisziplinäre Forschung im Bereich Data
Analysis innerhalb der gesamten Universität Graz fördern und
in der Lehre vertreten. Die Professur beschäftigt sich mit den
Grundlagen von Analysemethoden und -modellen in den Da-
tenwissenschaften, insbesondere im Hinblick auf Big Data im
interdisziplinären Kontext einer allgemeinen Universität. Geeig-
nete Kandidat:innen behandeln beispielsweise Themenberei-
che wie die Identifikation zugrundeliegender Parameter (fea-
ture engineering) aus großen Datenmengen, die Entdeckung
von kausalen Zusammenhängen sowie die Analyse und Quan-
tifizierung von Unsicherheiten bei datenbasierten Vorhersagen
und Entscheidungen. Die/der zu berufende Professor:in hat ein
intrinsisches Interesse, das Fach ausgehend vom überfakultä-
ren IDea_Lab innerhalb der Universität Graz kommunikations-
stark zu vernetzen. Zudem erwarten wir Kompetenz im Bereich
des Gender Mainstreaming.
Bewerbungen sind unter Angabe der Kennzahl BV/7/98 ex
2022/23 bis 21. Juni 2023 einzureichen. Informationen zu
den Bewerbungsmodalitäten und weitere Voraussetzungen
finden Sie unter https://jobs.uni-graz.at. Voraussichtlicher
Termin für das Hearing („Berufungsvorträge“): 07.11.2023 bis
09.11.2023
Die Technische Universität Darmstadt strebt eine Erhöhung des Anteils
der Frauen am Personal an und fordert deshalb besonders Frauen auf,
sich zu bewerben. Bewerber_innen mit einem Grad der Behinderung
von mindestens 50 oder diesen Gleichgestellte werden bei gleicher
Eignung bevorzugt. Die Technische Universität Darmstadt ist als famili-
engerechte Hochschule zertifiziert und verfügt über ein Dual Career
Programm.
Für Rückfragen im Vorfeld steht Ihnen Frau Prof. Kramm
(ulrike.kramm@tu-darmstadt.de) zur Verfügung. Bewerbungen sind in
deutscher oder englischer Sprache mit den üblichen Unterlagen und
drei ausgewählten Publikationen (mit kurzer Begründung) unter Angabe
der Kenn-Nummer per Email (dekan@chemie.tu-darmstadt.de) in
Form eines einzelnen PDF-Files an den Dekan des Fachbereichs Chemie
der TU Darmstadt, Peter-Grünberg-Str. 4, 64287 Darmstadt, zu senden.
Mit dem Absenden Ihrer Bewerbung willigen Sie ein, dass Ihre Daten
zum Zwecke des Stellenbesetzungsverfahrens gespeichert und ver-
arbeitet werden. Sie finden unsere Datenschutzerklärung auf unserer
Homepage.
Bewerbungsfrist: 21. Juli 2023

An der Fakultät für Geowissenschaften, Geotechnik und Bergbau

der Technischen Universität Bergakademie Freiberg ist zum frühst-
In einer der schönsten und wirtschaftsstärksten Regionen Europas ist möglichen Zeitpunkt eine W3-Professur „Mineralische Lager-
zum Sommersemester 2024 folgende Stelle zu besetzen: stätten und Petrologie“ – 103/2023 zu besetzen.

W1 Juniorprofessur Professur Den vollständigen Ausschreibungstext finden

Soziale Entwicklungs- Sie unter: tubaf.org/department/jobs
neurowissenschaften KLINISCHE SOZIALARBEIT An der Hochschule Neubrandenburg – University of Applied Sciences –
ist im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung eine
oder direkt über den QR-Code.

Medizinische Fakultät/Uniklinik RWTH Aachen UND PSYCHOSOZIALE W2-Professur Bewerbungen richten Sie bitte bis zum 31.08.2023 an die TU Berg-

BERATUNG
für das Fachgebiet akademie Freiberg, Dezernat für Personalangelegenheiten, 09596
Die RWTH Aachen ist eine der Exzellenzuniversitäten Deutschlands „Sozialpädagogik und ihre Didaktik“ Freiberg bzw. per E-Mail an bewerbungen@tu-freiberg.de
und genießt weltweit ein hohes Ansehen in Forschung und Lehre. (all genders welcome)
Bes. Gr. W2 (Stellen-Nr. 241)
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt wird an der Medizinischen Fakultät/ Kennziffer: 940122001/2023
der Uniklinik RWTH Aachen eine W1-Juniorprofessur besetzt, die zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen.
Wir freuen uns über Ihre Bewerbung bis zum 14. Juli 2023, bevorzugt
das Fach Soziale Entwicklungsneurowissenschaften in Forschung Informationen über die Hochschule Neubrandenburg sowie diese Stellen-
über unser Stellenportal.
und Lehre vertritt. ausschreibung finden Sie im Internet unter:
Den ausführlichen Ausschreibungstext finden Sie unter: https://www.hs-nb.de/hochschule/aktuelles/karriere/
Die zu besetzende Professur bewegt sich im Spannungsfeld der www.rwu.de/stellen Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!
Translation von Grundlagenforschung in die klinische Anwendung,
unter Anwendung von multimodaler Bildgebung, insbesondere Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftige Bewerbung!
Hyperscanning, und mittels der neurobiologischen und experimen-
tellen Erforschung von Umwelt- und insbesondere
sozialen Erfahrungen in ihrer Bedeutung für die
Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Die Hochschule Anhalt ist eine der forschungsstärksten Hochschulen des Landes.
Weitere Informationen erhalten Sie unter: Im Herzen Mitteldeutschlands bieten wir als innovative Hochschule Forschung und
www.rwth-aachen.de oder www.ukaachen.de Lehre auf internationalem Niveau sowie beste Studien- und Lebensqualität.
Bewerbungsfrist ist der 27.07.2023. Am Fachbereich Wirtschaft der Hochschule Anhalt, Standort Bernburg, sind die

Professur Immobilienbetriebslehre An der Fakultät Elektrotechnik ist zum 01.03.2024 folgende

(Bes.-Gruppe W 2) Stelle (m/w/d) unbefristet zu besetzen:
An der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit
und die
(HöMS) ist im Fachbereich Verwaltung zum nächstmöglichen Termin am Campus Professur Konstruktion in der
Professur Betriebswirtschaft, Kassel eine Elektrotechnik
insbesondere Rechnungswesen, Professur (m, w, d) für die Studienfächer W2 Vollzeit, Kenn-Nr. Zw ET 63

Unternehmensbewertung, Verfassungs- und Verwaltungsrecht Sind Sie an dieser Stelle interessiert?

Im Fachbereich Maschinenbau ist im Institut für Mechanik
zum 01.10.2023 folgende Stelle zu besetzen:
W2-Professur (m/w/d)
für Künstliche Intelligenz in der Mechanik
Kennziffer Weitere Informationen zum Aufgaben- und
36254
Anforderungsprofil finden Sie im Internet
unter: https://stellen.uni-kassel.de/mfn2o
Bewerbungsfrist: 27.07.2023
Risikomanagement
(Bes.-Gruppe W 2)
zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen werden innerhalb von drei Wochen
nach Erscheinen dieser Anzeige an den Präsidenten der Hochschule Anhalt
erbeten. Bitte schicken Sie uns dazu eine Mail mit dem Betreff „Immobilien-
betriebslehre“ oder „Betriebswirtschaft, insbesondere Rechnungswesen,
Unternehmensbewertung, Risikomanagement“ an bewerbung@hs-anhalt.de.
Sie erhalten von uns einen persönlichen Upload Link für Ihre digitalen Bewer-
bungsunterlagen.
Ausführliche Informationen zu den Professuren finden Sie unter:
https://www.hs-anhalt.de/stellenangebote
mit dem Schwerpunkt E-Government Dann informieren Sie sich gern ausführlich auf unserer
Homepage https://www.fh-zwickau.de/hochschule/ueber-
W 2 HBesG uns/die-hochschule-als-arbeitgeber/karriere/.
zu besetzen.
Bitte richten Sie Ihre Bewerbung unter Angabe der Kenn-Nr.
Die vollständige Ausschreibung mit Informationen zur Hochschule, zu den bis zum 15.08.2023 an bewerbung.professur@fh-zwickau.de
bzw. postalisch an
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen finden Sie auf unserer Homepage
unter www.hoems.hessen.de. Westsächsische Hochschule Zwickau
Die Bewerbungsfrist endet am 14.07.2023. Rektorbüro
Kornmarkt 1, D-08056 Zwickau
Für Rückfragen stehen Ihnen Herr Rosar und Frau Speicher als
Ansprechpersonen zur Verfügung (Tel.: (06 11) 3256 – 8310 bzw. Wir beantworten gern Ihre Fragen unter der Telefonnummer
8313, E-Mail: stellenausschreibungen@hoems.hessen.de). 0375 / 536 1454. Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung.

The Höffmann Academic Award
for Intercultural Competence 2023
is being conferred at the University of Vechta.
The University of Vechta annually confers the Höffmann Academic
Award for Intercultural Competence, sponsored by the Vechta-based
travel company Höffmann Reisen GmbH. The award comes with
a cash prize of EUR 10,000.
The aim of the Höffmann Academic Award is to
support the endeavours of an outstanding academic by
awarding a prize for groundbreaking work on topics of
intercultural competence. Such work may focus on the topic from the
perspective of a single discipline or it may be interdisciplinary in
nature.
The management of a university or research institution (not
faculty, department or institute) can nominate candidates in the form
of proposals. Candidates are not permitted to nominate themselves.
Nominations (in English or German) should contain the following:
· detailed reasons for the proposal
· two expert opinions
· each by qualified university lecturers
· a curriculum vitae, and a list of previous publications
The guidelines on the conferment of the award and other
information are published on the website of the University of
Vechta (www.uni-vechta.de).
A panel of judges decides on the conferment of the award. Its
decision is final.
The academic award will be presented at a public award ceremony
at the University of Vechta.
Nominations are to be sent to the academic director of the
programme, Prof. Dr. Prof. h.c. Egon Spiegel, via email
(egon.spiegel@uni-vechta.de) by 31 August 2023.
Eine qualitativ hochwertige Lehre, intensive Forschungstätigkeit, eine
starke internationale Ausrichtung und das eigenständige Promotions-
recht zeichnen uns aus. Auf unserem für seine Architektur preisge-
krönten Campus finden ca. 9.000 Studierende, mehr als 160 Professor*
innen sowie ca. 850 Beschäftigte attraktive Lern-, Lehr- und Arbeits-
bedingungen vor.
An der Hochschule Fulda besetzen wir im Rahmen des Bund-Länder-Programms
„FH-Personal“ zum nächstmöglichen Zeitpunkt im Fachbereich Angewandte
Informatik folgende Stelle:
Professur (W2)
für das Lehrgebiet
Interaktive Datenvisualisierung
attraktive Forschungsmöglichkeiten bei reduzierter Lehrverpflichtung
Vollzeit, Beamtenverhältnis
Bewerbungsende: 12.07.2023
Detaillierte Informationen zu Aufgabengebiet, Anforderungs-
profil sowie Bewerbungsmodalitäten finden Sie unter:
hs-fulda.de/stellenangebote
An der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicher-
heit (HöMS) ist im Fachbereich Verwaltung zum nächstmöglichen Termin am
Campus Mühlheim eine
Professur (m, w, d) für
Sozialrecht (DRV) sowie Soziale Sicherung
W 2 HBesG
zu besetzen.
Die vollständige Ausschreibung mit Informationen zur Hochschule, zu den
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen finden Sie auf unserer Homepage
unter www.hoems.hessen.de.
Die Bewerbungsfrist endet am 14.07.2023.
Für Rückfragen stehen Ihnen Herr Rosar, Herr Börner und
Frau Speicher als Ansprechpersonen zur Verfügung
(Tel.: (0611) 3256 – 8310 / 8312 bzw. 8313, E-Mail:
stellenausschreibungen@hoems.hessen.de).
Die Hochschule RheinMain als Hochschule für angewandte Wissen-
schaften mit ihren Standorten Wiesbaden und Rüsselsheim versteht
sich als weltoffene, vielfältige Hochschule. Sie ist anerkannt für ihre
wissenschaftlich fundierte und berufsqualifizierende Lehre sowie
für ihre anwendungsbezogene Forschung, die eng mit der Lehre ver-
zahnt ist. Insgesamt studieren an der Hochschule RheinMain rund
13.000 Studierende. Sie beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter:innen,
davon ca. 250 Professor:innen.
Im Fachbereich Design Informatik Medien ist zum nächstmöglichen
Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
Professur „Medieninformatik
mit Schwerpunkt Human
Computer Interaction“
(Bes. Gr. W2 HBesG)
Kennziffer: DCSM-P-19/23
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung über unser
Online-Bewerbungsportal bis zum 02.07.2023.
Detaillierte Informationen erhalten Sie unter:
https://stellenangebote.hs-rm.de/65qha
Unser Leitbild ist die ressourcenschonende, gesellschaftlich akzeptierte
Erzeugung hochwertiger Lebensmittel.
An der Fakultät für Agrarwissenschaften sind folgende Stellen
offen:
2 Doktorand*innen (w/m/d) Stellen-ID 74090
Zucht von Mehlwürmern als klimafreundliche Proteinquelle
1 Doktorand*in (w/m/d) Stellen-ID 74093
Strategien für mehr Hülsenfrüchte in der (Human-)Ernährung
1 Doktorand*in (w/m/d) Stellen-ID 74081
Einheimische Kräuter in der Wiederkäuerernährung
Post-Doktorand*in (w/m/d) Stellen-ID 72920
Schwerpunkt Qualität, Sensorik und Analytik tierischer Erzeugnisse
Die ausführlichen Stellenbeschreibungen sind,
unter Angabe der Stellen-ID, einsehbar unter:
www.uni-goettingen.de/de/644546.html
An der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ist an der
Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät
zum 01.01.2024 eine
 W1-Juniorprofessur für
Phototrophe Mikrobiologie
mit Tenure Track nach W2
sowie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät
eine Stelle nach EG 13 TV-L zum 01.10.2023 als
 Academic Teacher
für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
(Lehrkraft (m/w/d) für besondere Aufgaben)
zu besetzen.
Weitere Informationen unter www.hhu.de/stellen
hhu.de
Wissensvermittlung mit starkem Praxisbezug – dafür steht die Fachhoch-
schule Kiel seit mehr als 50 Jahren. Dabei arbeiten wir interdisziplinär und
können als größte Hochschule für angewandte Wissenschaften im Land auf
regionale wie internationale Netzwerke zurückgreifen. In den Studiengängen
an unseren sechs Fachbereichen widmen wir uns mit rund 8000 Studieren-
den den aktuellen Herausforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft. Am
Institut für Bauwesen des Fachbereichs Medien ist zum nächstmöglichen
Zeitpunkt eine Vollzeitstelle als
Lehrkraft für besondere Aufgaben
für Architekturdarstellung (CAD)
mit einer Lehrverpflichtung von 20 Semesterwochenstunden unbefristet zu
besetzen.
Der Fachbereich Medien bietet ein breites Portfolio von Studiengängen, das ab
Wintersemester 2023/24 durch den am Institut für Bauwesen angesiedelten
achtsemestrigen Studiengang „Architektur“ (Bachelor of Arts) ergänzt wird,
sowie den bereits erfolgreich etablierten Studiengang Bauingenieurwesen als
Bachelor of Engineering. Ein wesentlicher Bestandteil der Grundlehre ist das
Gebiet der Darstellung und Visualisierung von Architektur, insbesondere mit
digitalen Methoden. Hier gilt es, das konzeptionelle Verständnis sowie die
praktische Erzeugung von technischen Zeichnungen, Modellen, Bildern und
Animationen als Kommunikationsmedium im Entwurfs-, Planungs- und
Bauprozess zu vermitteln. Wir suchen daher zur Ergänzung der Fachlehre eine
Person mit Expertise auf dem Gebiet der Architekturdarstellung, die Freude
daran hat, entsprechende Lehrveranstaltungen in einem fach-
übergreifenden Verständnis aufzubauen und durchzuführen.
Weitere Informationen und Details zu dieser Position finden Sie auf der Home-
page der Fachhochschule Kiel unter: https://www.fh-kiel.de/karriere/
Bei Fragen zum Aufgabengebiet wenden Sie sich bitte
an Prof. Dr.-Ing. Lars Appel unter der E-Mail
lars.appel@fh-kiel.de.
Wir freuen uns über Ihre Online-Bewerbung bis zum
31.07.2023 mit vollständigen Unterlagen über unser Be-
werbungsportal an die Personalabteilung, Frau Gabriele
Küchmeister, Fachhochschule Kiel, Sokratesplatz 1,
24149 Kiel.
Die Technische Universität Braunschweig besetzt im Department Architektur
der Fakultät Architektur, Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaften
zum 01.10.2024 eine
W3-Professur für „Gestaltung und Darstellung“
Die zu besetzende Professur soll die Vermittlung von Grundlagen der Gestaltung
und Darstellung durch den Einsatz analoger Medien abdecken, und sich zudem
mit den Auswirkungen digitaler Methoden auf die gestalterische und architek-
tonische Praxis befassen.
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
https://www.tu-braunschweig.de/abu/berufungen
Bewerbungen richten Sie bitte bis zum 31.08.2023 an den Dekan der Fakultät
Architektur, Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaften, Herrn Prof.
Dr. Klaus Thiele, Mühlenpfordtstr. 23, 38106 Braunschweig. Bitte beachten
Sie, dass lediglich Bewerbungen, die über das Online-Formular der TU Braun-
schweig eingehen, berücksichtigt werden können. Das Online-Formular finden
Sie unter folgendem Link: https://www.tu-braunschweig.de/stellenmarkt
Die HMU Health and Medical University ist eine private staatlich anerkannte Universität
in Erfurt. Sie wurde 2021 von der Geschäftsführerin Ilona Renken-Olthoff gegründet und
hat zum Sommersemester 2023 ihren Studienbetrieb an zwei Fakultäten aufgenommen.
Neben dem Staatsexamensstudiengang Humanmedizin (Fakultät Medizin) bietet die HMU
an der Fakultät Gesundheit weitere Bachelor- und Masterstudiengänge mit universitärem
und fachhochschulischem Abschluss an.
Der Staatsexamensstudiengang Humanmedizin ist staatlich anerkannt und durch den
Wissenschaftsrat konzeptakkreditiert.
Folgende Professuren sind ab dem Wintersemester 2023/24 ff. zu besetzen:
An der Fakultät Medizin im vorklinischen Studienabschnitt: Professur für Anatomie
(W2) und Professur für Anatomie (W3), sowie eine Professur für Neuroanatomie (W3).
An der Fakultät Gesundheit: Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie
mit Schwerpunkt Tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie
Die ausführliche Ausschreibung finden Sie auf der Internetseite
https://www.health-and-medical-university.de/campus-erfurt/ausschreibungen/
Health and Medical University Erfurt
Am Anger
Kaufmännerstraße 3
99084 Erfurt
www.health-and-medical-university.de
An der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicher-
heit (HöMS) ist im Fachbereich Verwaltung zum nächstmöglichen Termin am
Campus Mühlheim eine
Professur (m, w, d) für die Studienfächer
Betriebswirtschaftslehre/Volkswirtschaftslehre
nach E 13 TV-H mit 50 v. H. VZÄ
zu besetzen.
Die vollständige Ausschreibung mit Informationen zur Hochschule, zu den
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen finden Sie auf unserer Homepage
unter www.hoems.hessen.de.
Die Bewerbungsfrist endet am 14.07.2023.
Für Rückfragen stehen Ihnen Herr Rosar und Frau Speicher als
Ansprechpersonen zur Verfügung (Tel.: (0611) 3256 - 8310 bzw.
8313, E-Mail: stellenausschreibungen@hoems.hessen.de).
Willkommen an der Hochschule für Künste Bremen.
Wir bieten ein vielfältiges Studienangebot in den Bereichen
Musik, Kunst und Design, das einen produktiven und
integrativen Dialog zwischen den Studiengängen ermöglicht.
Im Fachbereich Musik der Hochschule für Künste Bremen ist zum 01.10.2023 die Die Hochschule Koblenz (www.hs-koblenz.de) mit ihren Standorten in Koblenz, Remagen und
Stelle einer Höhr-Grenzhausen bietet Lehre, Weiterbildung und angewandte Forschung mit einem umfangrei-
chen Präsenz- und Fernstudienangebot an.
Lehrkraft (w/m/d) für besondere Aufgaben (LfbA)
Im Fachbereich Mathematik und Technik ist am Standort Remagen zum nächstmöglichen Zeit-
für Korrepetition Gesang punkt eine Stelle für 18 Monate projektbedingt befristet zu besetzen für eine
Entgeltgruppe 13 TV-L
Kennziffer WP 23/07
wissenschaftliche Mitarbeit im Projekt
unbefristet zu besetzen. Es handelt sich um eine Stelle mit einer Lehrverpflichtung
von derzeit 24 SWS. KI2-WIM als Berater und Supportmitarbeiter
Gesucht wird eine renommierte künstlerische Persönlichkeit (w/m/d) mit zum Aufbau eines Rechenclusters für
langjähriger Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Sänger:innen im Theaterbereich,
Opernensemble und Oratorienbereich. Künstliche Intelligenz (KI) (m/w/d)
bis Entgeltgruppe 13 TV-L (je nach Qualifikation) / Vollzeit (39 Stunden)
Das Lehrgebiet umfasst die Ausbildung von Studierenden in den künstlerischen und Eine Besetzung mit zwei Teilzeitkräften ist grundsätzlich möglich
pädagogischen Studiengängen (Bachelor und Master) mit dem Hauptfach Gesang in
den Fächern Partienstudium, Korrepetition und Ensemble Oper/Oratorium. In dem Projekt KI2-WIM wird ein leistungsfähiger KI-Rechencluster mit Mitteln des BMBF und
des Landes Rheinland-Pfalz aufgebaut. Dazu gehört die Erarbeitung und Implementierung eines
Nutzungskonzepts für den einfachen und fairen Zugriff für Forschung, Lehre und Transfer an der
Hochschule.
Wir erwarten von der:dem Bewerber:in (w/m/d): Ihre Aufgaben:
• Den Nachweis künstlerischer Tätigkeit als Korrepetitor:in (w/m/d) und/oder l Beratung und Support der Anwender des KI-Clusters
Kapellmeister:in (w/m/d), vorwiegend im Bereich Musiktheater l Erstellung und Modifikation von Containern
• Ein abgeschlossenes Studium an einer künstlerischen Hochschule im Fach Klavier l Erstellung von Beispielen für die Nutzung des Clusters
oder Dirigieren l Erstellung von Schulungsmaterialien (Video, Web und Text)
• Eine breitgefächerte Repertoirekenntnis im Bereich Oper, Oratorium und Lied l Durchführung von Präsenz- und Onlineschulungen
sowie Kompetenz in Besetzungsfragen l Code Review und -Optimierung
• Den Nachweis einer mindestens einjährigen pädagogischen Tätigkeit an einer l Unterstützung im Aufbau, Betrieb und Fehlerbehebung
Musikhochschule oder vergleichbaren Institutionen l Unterstützung in der Beschaffung und Ausschreibung
• Die Bereitschaft zur Mitarbeit in den Gremien der Hochschule
Ihre Qualifikation / Sie bringen mit:
Die Hochschule für Künste strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen im • abgeschlossener Master- oder Bachelorabschluss in einem MINT-Fach oder vergleichbarer
künstlerisch-wissenschaftlichen Bereich an und fordert deshalb Frauen ausdrück- Abschluss
lich auf, sich zu bewerben. Schwerbehinderten Bewerberinnen und Bewerbern wird • gute Kenntnisse in Linux einschließlich Systemadministration
• gute Englisch- und Deutschkenntnisse in Wort und Schrift
bei im Wesentlichen gleicher fachlicher und persönlicher Eignung der Vorrang gege-
ben. Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund werden begrüßt.
Folgende Kompetenzen sind von Vorteil
• Kenntnisse im Umgang mit Containertechnologien
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen (inklusive eines tabellarischen
Lebenslaufes als ein zusammenhängendes PDF / Maximalgröße der E-Mail: 20 MB) • Kenntnisse in Slurm
• Vertrautheit mit der Administration von Softwareumgebungen im Bereich KI und High
richten Sie bitte bis zum 06.07.2023 in digitaler Form an folgende E-Mail-Adresse:
bewerbungen@hfk-bremen.de Performance Computing (Python, Julia, Pytorch, Jax, Tensorflow, OpenMPI)
Hochschule für Künste Bremen, Am Speicher XI 8, 28217 Bremen.
Wir bieten:
• Arbeit in einer modernen und vielfältigen Hochschule
• diverse Angebote der Personalentwicklung zur beruflichen Qualifizierung
• Erwerb umfassender Kenntnisse im Bereich High-Performance Computing mit Schwerpunkt KI
• mobiles Arbeiten im Rahmen einer Dienstvereinbarung und der dienstlichen Erfordernisse
Naturräume und Naturerleben können günstig auf die Die Hochschule Koblenz tritt für Diversität, Chancengleichheit und Vereinbarkeit von Beruf und
menschliche Gesundheit wirken – sowohl im Sinne Familie ein. Wir freuen uns besonders über Bewerbungen von Frauen. Menschen mit Schwerbe-
der Prävention als auch der Therapie. Mit ihrem För- hinderung werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt.
derprogramm will die Carstens-Stiftung Forschung Senden Sie bitte Ihre aussagefähigen Bewerbungsunterlagen ausschließlich per Mail in
anregen, die das Potenzial naturnaher Interventionen einem PDF-Dokument bis zum 02.07.2023 an die Projektleitung Herrn Prof. Dr. Maik Kschischo,
bei chronischen Erkrankungen untersucht; z.B. bei bewerbung-mut@rheinahrcampus.de mit dem Betreff „Berater-KI-Cluster“.
Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Depression, Herzkreis-
lauferkrankungen, immunvermittelten Erkrankungen Die Hochschule Koblenz verfügt über eine hochschulnahe
sowie Stress- und Erschöpfungssyndromen. Kindertagesstätte. Darüber hinaus bieten wir Ferienfreizeit-
angebote für Kinder von Hochschulangehörigen.
Nature-based Therapies
Blue and Green Spaces
Förderprogramm der Carstens-Stiftung
Fördersumme: 800.000 Euro
zweistufiges Antragsverfahren
W2-Universitätsprofessur
Antragsberechtigt sind Wissenschaftler*innen, die an universitären
(Tenure Track W2)
oder außeruniversitären gemeinnützigen Forschungsinstituten in Magnetische Nanotechnologie in
Deutschland tätig sind. Interesse an komplementärmedizinischen der Medizin
und integrativen Verfahren wird vorausgesetzt und sollte sich im
beantragten Projekt widerspiegeln. Medizinische Fakultät/Uniklinik RWTH Aachen
Antragsbedingungen und Informationen unter:
Die RWTH Aachen ist eine der Exzellenzuniversitäten Deutschlands
www.carstens-stiftung.de
und genießt weltweit ein hohes Ansehen in Forschung und Lehre.
Bewerbungsschluss Stufe I: 20.09.2023 Zum nächstmöglichen Zeitpunkt wird an der Medizinischen Fakultät/
der Uniklinik RWTH Aachen eine W2-Universitätsprofessur besetzt,
Karl und Veronica Carstens-Stiftung I Am Deimelsberg 36 I 45276 Essen
die das Fach Magnetische Nanotechnologie in der Medizin in For-
Tel.: 0201/56305-50 I E-Mail: foerderung@carstens-stiftung.de schung und Lehre vertritt.
Forschungsschwerpunkte sind Herstellung, Charakterisierung, Mo-
dellbildung und Vorbereitung der klinischen Translation von neuarti-
gen nanomodifizierten magnetischen Hybridmaterialien/-implantaten
zur magnetbasierten Bildgebung und magnetisch
gesteuerten Tumor- und kardiovaskulären Therapie
mit gezielter Wirkstofffreisetzung und/oder
Hyperthermie.
An der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit Weitere Informationen erhalten Sie unter:
(HöMS) ist im Fachbereich Verwaltung zum nächstmöglichen Termin am Campus
Mühlheim eine
www.rwth-aachen.de oder www.ukaachen.de
Professur (m, w, d) für die Studienfächer
Bewerbungsfrist ist der 27.07.2023.
Verwaltungsrecht, Staat und Verfassung
W 2 HBesG Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Prof. Dr. Manuel Trenz
zu besetzen.
Die vollständige Ausschreibung mit Informationen zur Hochschule, zu den
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen finden Sie auf unserer Homepage Die Professur für Interorganisationale Informationssysteme
unter www.hoems.hessen.de. (Prof. Dr. Manuel Trenz) der Wirtschaftswissenschaftlichen
Die Bewerbungsfrist endet am 14.07.2023. Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen sucht:
Für Rückfragen stehen Ihnen Herr Rosar und Frau Speicher als
Ansprechpersonen zur Verfügung (Tel.: (06 11) 3256 – 8310 bzw. Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (w/m/d)
8313, E-Mail: stellenausschreibungen@hoems.hessen.de). – Interaktionen mit intelligenten Algorithmen –
Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (w/m/d)
– Digital Health: Digitale Innovationen für die Versorgung
im Gesundheitswesen nutzbar machen –
UNIVERSITÄT GREIFSWALD Weitere Informationen auf unseren Webseiten.
Wissen lockt. Seit 1456
An der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald ist im Institut für
Geographie und Geologie zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine
W2-Professur für Allgemeine Geologie
zu besetzen. Wir suchen eine aufstrebende Persönlichkeit mit einschlägiger Forschungs- und Lehr-
erfahrung auf dem Gebiet der Allgemeinen Geologie, die über Expertise zu den Wechselwirkungen von
endogenen und exogenen Prozessen verfügt. Sie besitzen Forschungserfahrung in einem oder mehreren
Der Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften beabsichtigt zum Winter-
der folgenden Bereiche: i) Prozesse der Erdkrustendynamik und Auswirkung auf Erdoberflächen-
prozesse, ii) Beckenanalyse, iii) Rekonstruktion von Paläoumweltbedingungen, iv) geologische Unter- semester 2024/25 die
grunderkundung (z. B. für Geothermie oder Untergrundspeicherung).
Das Institut für Geographie und Geologie bietet eine dynamische Forschungsumgebung, in der Sie Ihre
Arbeit in einem agilen und eng zusammenarbeitenden Team aus Geolog*innen und Geograph*innen
Professur für psychoanalytische Arbeit mit
umsetzen können. Im Kontext unseres Geo²-Konzepts gestalten Sie durch Ihre wissenschaftlichen Bei-
träge die aktuellen Forschungsschwerpunkte des Instituts mit, insbesondere Umweltveränderungen in
Kindern, Jugendlichen und Familien (W 2)
Kennziffer 06/2023
Geosystemen, Georisiken und ihr Management sowie nachhaltige Nutzung von Geo- und Naturressourcen
(https://geo.uni-greifswald.de/forschung/geo2/). Wünschenswert ist eine im regionalen Kontext
des Ostseeraums anschlussfähige Ausrichtung der Forschung. in Vollzeit mit einem Umfang von achtzehn Semesterwochenstunden Lehre zu besetzen.
In der Lehre vertreten Sie die Allgemeine Geologie (insbesondere endogene und exogene Dynamik, Den ausführlichen Ausschreibungstext finden Sie auf unserer Homepage unter:
geologische Kartierung und Gesteinsbestimmung, regionale Geologie, Strukturgeologie) in der Bachelor- www.fh-potsdam.de/hochschule-karriere/karriere/stellenangebote-fh-potsdam
und Masterausbildung sowie im Lehramt Geographie. Außerdem bringen Sie sich in die Weiterentwicklung
der Studiengänge des Instituts ein. Erwartet werden international begutachtete Publikationen und
erfolgreiche Drittmitteleinwerbungen. Die Bereitschaft zur Mitarbeit in Gremien der akademischen
Selbstverwaltung wird vorausgesetzt. Auslandserfahrung ist wünschenswert und die Bereitschaft zur
englischsprachigen Lehre ist Voraussetzung für eine Berufung.
Die Stellenausschreibung mit weiteren Hinweisen, insbesondere zu den Einstellungs-
voraussetzungen, den einzureichenden Bewerbungsunterlagen sowie zum Datenschutz, finden Sie
unter www.uni-greifswald.de/stellen/professuren. Die Bewerbungsfrist endet am 31.07.2023.
An der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hof ist an
der Fakultät Ingenieurwissenschaften zum nächstmöglichen
Zeitpunkt eine Professur der Besoldungsgruppe W2 zu
besetzen:
Sustainable Textile Materials Engineering
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
www.hof-university.de/karriere
Campus Hof | Alfons-Goppel-Platz 1 | 95028 Hof
Die JKU besetzt zum ehestmöglichen Zeitpunkt folgende Stelle:
Tenure-Track-Stelle für Statistical
Modelling and Inference for Transformative
Change mit Doktorat/Ph.D. im vollen
Beschäftigungsausmaß (befristet auf 6
Jahre) am Institut für Angewandte Statistik
der SOWI Fakultät der Johannes Kepler
Die Fakultät Kraftfahrzeugtechnik sucht einen
Universität Linz
Bewerbungsfristende: 05.07.2023 Professor (m/w/d)
für Dezentrale Energie- und Gebäudetechnik W2
Nähere Informationen finden Sie unter www.jku.at/professuren
Kenn-Nr.: Zw K 44
JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Detailliertere Informationen unter:
Altenberger Straße 69, 4040 Linz, Österreich https://www.fh-zwickau.de/hochschule/ueber-uns/die-
hochschule-als-arbeitgeber/karriere/

H I E R AU S R E I S S E N!
1. Pipi-Sammler
Ausgestorben: vor etwa 1500 Jahren
Im antiken Rom gab es Menschen, die aus den
öffent­lichen Toiletten der Stadt den Urin sammel-
ten, um damit Geld zu verdienen. Man nannte sie
Fullonen. Die Fullonen stellten aus dem Urin ein
Waschmittel her, das sie in große Behälter gaben.
Dann legten sie die weißen Gewänder der feinen
Römerinnen und Römer in die Bottiche und stapf-
ten auf ihnen herum, bis sie wieder sauber waren. Da
Urin den ätzenden Stoff Ammoniak enthält, hatten
die Urinwäscher oft entzündete Beine. Die ersten
Fullonen waren vor 2300 Jahren unterwegs. Der
Beruf verschwand, als das Römische Reich im Jahr
476 unterging.
10. Pups-Kanonen
Ausgestorben: noch gar nicht, aber
seit etwa 100 Jahren selten geworden
Es gab tatsächlich Menschen, die ihr Geld mit
Pupsen verdienten. Kunstfurzer, auch Flatulisten
genannt, konnten mit ihrem Po die Luft einsaugen
und als Melodie wieder herauslassen. Sehr beliebt
waren sie im Mittelalter bei Hofe. Roland der Furzer
trat vor gut 900 Jahren immer an Weihnachten am
Hof des englischen Königs Heinrich II. auf. Der
wohl erfolgreichste Flatulist nannte sich 1890
»Farto­maniac«. Seine Auftritte im Pariser Theater
Moulin ­Rouge waren legendär. Mit seinen Fürzen
konnte er Blasinstrumente spielen, Kerzen ausblasen
und den Lärm eines Erdbebens nachmachen. Kunst-
furzer gibt es auch heute noch, am beliebtesten
waren sie aber von 1400 bis 1900.
9. Abkühler
Ausgestorben: vor etwa 60 Jahren
Als es noch keine Kühlschränke gab, mussten die
Illustrationen: Michael Meister/HELVETIQ Verlag; Andrés Muñoz Claros (u.)
Menschen Speisen und Getränke mit dem Eis aus
gefrorenen Seen kühlen. Eis-Säger schnitten es in
großen Blöcken heraus. Das nannte man auch »Eis
ernten«. Obwohl die Eis-Säger dicke Kleidung­
trugen, erlitten sie immer mal wieder Erfrierungen.
Einem Eis-Säger soll sogar in seinem steif gefrorenen
Handschuh ein Finger abgebrochen sein. Für das
Natureis gab es damals spezielle Eisschränke. Sie
hatten oben ein Fach, in das ein Eisblock kam. Nach
einer Woche brauchte man neues Eis, da der Block
weggetaut war. Eis-Säger war von 1800 bis 1960 ein
verbreiteter Beruf.
Noch mehr verrückte Berufe findest du in Markus Rottmanns Buch. Es heißt »Lichtputzer und Pulveraffen: 89 ausgestorbene Berufe und ihre unglaubliche Geschichte« und ist im Verlag Helvetiq erschienen
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die Lösungszahl »29« geknackt: Unter ihnen haben wir zehn Buchpakete verlost. Das sind die Gewinner: Agnes aus Bad Liebenzell, Lia aus Gelnhausen,
­Lutz aus Berlin, Mathilda aus Pfullendorf, Philipp aus Wien, Raphael aus Bretten. Außerdem: Caspar, Malea, Eliana und Jonas. Herzlichen Glückwunsch!­
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
A B E N T E U E R F Ü R
2. Lichtbringer
Ausgestorben: vor etwa 300 Jahren
Fackeljungen verdienten ihr Geld in den dunklen
Gassen der Städte, als es noch keine Straßenlaternen
gab. Für ein paar Münzen leuchteten sie den Men-
schen nachts den Weg nach Hause. Manche Fackel-
jungen waren kriminell. In der englischen Haupt-
stadt London sollen sie mit Straßenräubern zusam-
mengearbeitet haben. Sie führten ihre Kunden in
Sackgassen, löschten die Fackeln und rannten davon.
Dann sprangen die Ganoven aus ihrem Versteck und
raubten ihre Opfer aus. Die Beute teilten sich die
Kriminellen und die Fackeljungen später. Fackeljun-
gen gab es etwa hundert Jahre lang, von 1600 bis
1700. Als in den Straßen Laternen aufgestellt wur-
den, brauchte man sie nicht mehr.
Stinknormale
Berufe
Computer und andere Maschinen haben in den
­vergangenen Jahren viele Arbeiten überflüssig
­gemacht. Das ist nicht ungewöhnlich: Seit es Berufe
gibt, verschwinden immer mal wieder welche. ­
MARKUS ROTTMANN stellt zehn ausgestorbene Jobs vor
8. Kopfrechnerinnen
Ausgestorben: vor etwa 60 Jahren
Dass sich die Menschen heute vor künstlicher­
Intelligenz fürchten, darüber hätten die ersten­
Computer wohl nur gelacht. Sie waren nämlich keine
­Maschinen, sondern Menschen, die komplizierteste­
Rechnungen im Kopf ausführten. Ihren Beruf nann-
te man früher Computer. Selbst die »Raketenfrauen«,
die in den 1950er-Jahren für die US-Raumfahrtbe-
hörde Nasa arbeiteten, berechneten die ­Flugbahn der
ersten Raumschiffe noch mit Stift und Papier. Dann
wurden Rechenmaschinen erfunden und schließlich
der Desktop-Computer für zu Hause. Die mensch­
lichen Computer wurden zu Programmiererinnen
oder Raketenwissenschaftlerinnen.
DAS ZEIT LEO–BÜCHERQUIZ
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K I N D E R
3. Sündenböcke
Ausgestorben: vor etwa 200 Jahren
Früher haben Erwachsene Kinder regelmäßig ge-
schlagen, um sie zu erziehen. Auch die Söhne von
Königen und Königinnen machten manchmal
Quatsch, aber den Prinzen durfte niemand einfach so
den Popo versohlen. Deswegen gab es Prügelknaben.
Sie durften mit den Königskindern im Schloss leben
und spielen – und mussten die Schläge einstecken,
wenn sich diese danebenbenahmen. Man hoffte, dass
sich die Prinzen mit den Prügelknaben anfreundeten
und Mitleid mit ihnen hatten, wenn sie geschlagen
wurden. Dann, so dachte man, würden sie sich beim
nächsten Mal besser benehmen. Prügelknaben waren
ungefähr von 1300 bis 1800 üblich.
7. Drama-Sprecher
Ausgestorben: vor etwa 100 Jahren
Sie standen vor der Kinoleinwand und erklärten den
Zuschauern den Film, den sie gerade sahen. Denn in
den ersten Kinos liefen nur Stummfilme. Man hörte
keine Geräusche, keine Musik und auch nicht, was
im Film gesagt wurde. Die Kino-Erklärer beschrieben
mit Worten die Handlung zu den gezeigten Bildern,
damit das Publikum auch wirklich verstand, worum
es ging. Sie mussten sehr dramatisch erzählen ­können.
Oft übernahmen diese Aufgabe Schauspieler, die­
keine Arbeit in ihrem eigentlichen Job fanden. Man
brauchte sie von 1880 bis 1920. Als der Tonfilm kam,
wurden sie überflüssig.
39
4. Menschliche Taxis
Ausgestorben: vor etwa 200 Jahren
Bereits in der Antike, zur Zeit der Pharaonen und
römischen Kaiser, ließen sich Adelige gerne in Sänf-
ten tragen. Vor etwa 400 Jahren kamen in den euro-
päischen Städten die Sesselträger in Mode. Sie waren
so etwas wie menschliche Taxis und beförderten
Menschen in einem kastenförmigen Sitz mit zwei
Stangen durch die Gegend. Man fand sie an festge-
legten Halteplätzen und ließ sich von ihnen ans ge-
wünschte Ziel tragen. Die Sesselträger hatten oft­
einen roten Mantel an, und an Sonn- und Feier­tagen
musste ihre Kleidung frisch gewaschen sein. Nachts
und im Winter war das Ge­schleppt­werden teurer.
5. Wandelnde WCs
Ausgestorben: vor etwa 100 Jahren
Anders als im antiken Rom gab es im Mittelalter
nirgends öffentliche Toiletten: Die Menschen mach-
ten in Nachttöpfe und kippten den Kot und Urin aus
dem Fenster. Wer unterwegs mal musste, machte­
einfach irgendwohin. In den Straßen stank es fürch-
terlich. Ab 1750 wurde es verboten, die Stadt als Klo
zu benutzen. Aber wohin, wenn man dringend mal
musste? Die Rettung waren die Abtritt-Anbieterinnen.
Sie hatten Eimer, Laub zum Popo-Abwischen und­
einen weiten Mantel dabei. Wer musste, hockte
sich unter ihrem Mantel auf den Eimer. Abtritt-­
Anbieterinnen waren ungefähr von 1750 bis 1900­
unterwegs. Sie wurden nicht mehr gebraucht, als es
Kanalisationen und Toiletten gab.
6. Zweibeinige Wecker
Ausgestorben: vor etwa 100 Jahren
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden in ­England
die ersten Fabriken. Da Menschen die Maschinen
bedienen mussten, wurde es wichtig, dass morgens
alle zur gleichen Zeit mit der Arbeit begannen. U­m
nicht zu verschlafen, beauftragte man Aufweckerin-
nen, die mit einem Bambusrohr ans Fenster klopften.
Manche Aufweckerinnen benutzten das Stöckchen
auch als Blasrohr, um Erbsen an die Scheiben zu
schießen. Aufweckerinnen waren von 1760 bis 1920
unterwegs. Erst als mechanische Wecker mit Zeigern,
Ziffernblatt und Glocke für alle Menschen verfügbar
waren, verzichtete man auf ihre Dienste.
40 WISSEN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Infografik: Zerstörter Staudamm

Kachowka-Flut
o
N
In den überschwemmten Gebieten der Ukraine sinkt der Pegel wieder.
Die Folgen aber bleiben bestehen, auf viele Jahre hinaus  729
VON CYPRIAN LOTHRINGER (INFOGRAFIK) UND URS WILLMANN (RECHERCHE)

Der Staudamm
1956 wurde die Sperre fertiggestellt. Im Mai 2023 erreichte der See einen historischen
Pegel-Höchststand von 17,54 Metern – da fasste er 18.200 Milliarden Liter Wasser.
Am 6. Juni 2023 wurde der Damm um 2.54 Uhr zerstört, höchstwahrscheinlich gesprengt, Keine Gefahr – im Moment
wohl von Russen. Sie sollen auch für Schäden vom November 2022 verantwortlich sein. Vorerst könne das AKW Saporischschja noch
ausreichend mit Wasser gekühlt werden, sagt
6. Juni 2023 Kachowka-Stausee die Internationale Atomenergie-Behörde.
50 m
Vermutlich durch Explosionen
zerstörte Bereiche

26 0 Kachowka-
m Stausee
Wasserspeicher Stausee
11. November 2022 45 m Das 2155 Quadratkilometer große Reservoir
Zerstörter Bereich ermöglichte in der Steppe der Südostukraine
den Anbau von Gemüse, Melonen, Getreide
2. Juni 2023 und Ölsaaten (Sonnenblumen) – über ein * Der aktuelle
1600 Kilometer langes Versorgungsnetz. Frontverlauf
Zerstörter Straßen-
kann im Detail
abschnitt Der See lieferte auch Trinkwasser für 700.000
von der hier rot
Menschen. Und Kühlwasser für Kraftwerke. gestrichelten
Dnipro Weitere zerstörte Bereiche Linie abweichen

** Das Überein­
kommen des
Die Überschwemmung Schiffsverkehr
Fast drei Viertel des Wassers sind weg,
Europarats zur
Erhaltung der
Experten gehen davon aus, dass rund 620 Quadratkilometer überspült worden sind. gut 500 Quadratkilometer liegen trocken. europäischen
Das wird den Verkehr lange einschränken. wildlebenden
Normaler Überschwemmung Überschwemmung Nach dem Absinken Pflanzen und
Flussverlauf 7. Juni 2023 12. Juni 2023 des Wassers trocken- Tiere und ihrer
liegender Bereich natürlichen
Lebensräume
(1979)

Die Opfer
Rund 40.000 Menschen sind betroffen, 20.000 wurden evakuiert. Am von der Ukraine
Kachowka-Staudamm
kontrollierten Westufer gelten 29 Menschen als vermisst; zehn Tote wurden gemeldet.
Ukrainisch Nowa
kontrollierte Die Vögel am See
Kachowka
Gebiete Seltene Rallen- und Seidenreiher, Löffler und
Austernfischer nisten hier, teils in isolierten
Bereichen, von Fressfeinden und Menschen
unbehelligt. Dieser Schutz fehlt nun.
Quellen
Frontverlauf* Emergency
Gifte und gefährliche Minen Response
Russisch besetzte
Pestizide und bis zu 500 Tonnen Coordination
Gebiete Centre (ERCC);
Öl könnten ins Wasser gelangt sein.
ip ro United Nations
Außerdem trug die Flut Minen in Die Fische im See
Dn Satellite Centre
die Flächen hinaus. Von 43 Arten werden 20 industriell gefangen:
(Unosat);
2600 Tonnen pro Jahr. Bis die Bestände sich Ukrainische
Antoniwkabrücke erholt haben, dürften 7 bis 10 Jahre vergehen. Akademie der
Wissenschaften
Im November 2022 beim
Oleschki-Sands- (NAS); Ukrai-
Rückzug der russischen nian Nature
Kulturgüter Nationalpark
Truppen gesprengt Conservation
Die Tjahynka-Festung aus dem Group (UNCG);
14./15. Jahrhundert, kosakische Die Wirbellosen
Verteidigungs-
Grabhügel und rund zwanzig Viele der im Uferschlamm lebenden
ministerium des
weitere Museen und Kulturstätten Organismen (Mücken, Muscheln) Vereinigten
sind akut bedroht – Cherson haben wohl nicht überlebt. Sie ernähren Königreichs;
oder bereits zerstört. Vögel, Fische und Amphibien. Oleksandra
Shumilova,
Leibniz-Institut
für Gewässer-
ökologie und
Überschwemmte Biosphäre Binnenfischerei;
Salzmangel im Meer Wirbeltiere und Insekten Daniel Bach-
38 Gebiete mit geschützten Lebensräumen
Die riesigen Mengen an Die Region ist wichtiges Brut- und Rast­ mann, Hoch-
(nach Berner Konvention**) sind betroffen, schule Magde-
Flusswasser senken in gebiet für Vögel aus dem Norden auf
darunter drei Nationalparks. burg-Stendal;
Gebieten des Schwarzen Meers ihrem Weg nach Afrika und zurück.
den Salzgehalt Gefährdet sind Pelikane, Reiher, Enten, Stiftung
stark – und gefährden so Blesshühner. Reptilien wie die Kaspische Wissenschaft
vorübergehend die Peitschenschlange und die Steppenotter und Politik:
»Wasser als
Populationen einiger Arten. dürften im Überschwemmungsgebiet
Waffe«; ­
kaum überleben. Mindestens die Hälfte Zeitschrift
Kiew
der weltweiten Bestände seltener »Osteuropa«
Kleinsäuger (Nordmann-Birkenmaus, t
UKR AINE li er
Sandblindmaus oder die Springmausart t r ol Mitarbeit:
Stylodipus telum falzfeini) lebt dort, kon Dirk Asendorpf,
i n i sch zt
wie auch viele Fischotter und der vom Uk r a ese
t Arnfrid Schenk
Aussterben bedrohte Europäische Nerz. b und Matthias
10 km 200 km si sch
Fast die gesamten Bestände sehr Rus Schütte

Schwarzes Meer
N seltener Ameisenarten liegen im
Überschwemmungsgebiet, darunter Krim Links zu diesen
die Spezies Rotrückige Drüsenameise.
und weiteren
Quellen finden
Sie unter
www.zeit.de/
wq/2023-26

Wasser als Waffe Belgien (1914)

Im Ersten Weltkrieg ließ
In Kriegen und Konflikten wird das Element Belgien bei Nieuwpoort die
oft als Waffe eingesetzt. Die häufigsten Yser-Ebene fluten. Schleusen
Methoden: Wasser wird umgeleitet oder ein an Kanälen, Flüssen und
Damm zerstört, um eine Gegend zu fluten. (bei Flut) solche zum Meer
Oder es wird verknappt, um flussabwärts hin wurden geöffnet, um
für Energie- und Wassermangel zu sorgen. die vorrückenden deutschen
Oder es wird verschmutzt und vergiftet. Truppen zurückzudrängen.
Gelber Fluss (1938)
Um die japanische Armee
aufzuhalten, ließ Chinas
Führung in der Provinz
Henan einen Damm des
Gelben Flusses durchstechen.
Viele Soldaten entkamen,
die Flutwelle forderte aber
bis zu 800.000 zivile Opfer.
Zweiter Weltkrieg
Im Jahr 1943 bombardierten
die Alliierten die Talsperren
der Möhne (Sauerland) und
der Eder (Nordhessen).
Die deutsche Wehrmacht
flutete 1944 niederländische
Gebiete, um den Vormarsch
der Alliierten zu bremsen.
Irak (1991)
Der irakische Diktator
Saddam Hussein ließ Anfang
der 1990er-Jahre das
Marschland im Süden
des Landes trockenlegen.
Damit wollte er den
aufständischen Schiiten ihr
Rückzugsgebiet nehmen.
Tigris (2014)
Als der »Islamische Staat«
den Mossul-Damm eroberte,
befürchteten viele, er werde Die Kinderseite
gesprengt. Die Flutwelle der ZEIT
hätte die Stadt Mossul finden Sie auf
ausgelöscht. Doch der IS der vorigen Seite
konnte den Damm nur
wenige Tage halten.

FEUILLETON
E Ein Meisterwerk
s gibt Romane, die einfach nicht al-
tern. Die sind Jahrzehnte alt, aber das
Lebensgefühl, das sie beschreiben, ist
unser Lebensgefühl. Die Protagonis-
ten scheinen den Bewohnern des
Nachbarhauses abgeschaut, und die
aus dem Nichts
Diskussionen, die geführt werden,
sind uns erschreckend vertraut. Zu diesen Werken zählt
Mark Aldanows Der Anfang vom Ende, das in der zwei-
ten Hälfte der Dreißigerjahre geschrieben wurde. Man
kann glücklich darüber sein, dass dieser monumentale,
fast 700 Seiten starke Roman jetzt im Rowohlt Verlag
erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurde. Er ist wie
aus dem Nichts aufgetaucht und liest sich sogleich wie
ein vertrauter, einen immer wieder aufs Neue bannen-
der Klassiker. Man sollte sparsam mit Superlativen sein,
aber Der Anfang vom Ende ist ein großes und unerwar-
tetes Meisterwerk, in dem man sich über Tage festliest.
Der Roman handelt vom Terrorregime in Russland,
ohne in Russland zu spielen, von Diplomaten, Revolu-
tionären und Militärs, die kurz vor dem Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs Außenposten in Paris bekleiden und
die so tun, als s­ eien sie Anhänger Stalins. Aber in Wahr-
heit ahnen sie natürlich, dass der Westen unendlich über-
legen ist, dass er das menschlichere System hat und, hier
nicht ganz unwichtig, ein Rotwein aus dem Médoc zu
Bœuf Bourguignon dem sozialistischen Wodka zu Pel-
meni vorzuziehen ist. Die Angst, beschattet, vergiftet oder
jederzeit von Auftragsmördern aus dem Fenster geschmis-
sen werden zu können, treibt sie in die Fettsucht, sie
leiden unter Angina pectoris und an Depressionen – das
wird erzählerisch mit Witz ausgekostet. Sie ahnen, dass
das Imperium, dem sie sich andienen, dem Tode geweiht
ist, und sei es nur in moralischer Hinsicht: weil der Idea-
lismus von einst in Massenverbrechen aufgegangen ist.
Sie verlieben sich, aber nur, um sich von ihrer Todesfurcht
abzulenken. Es sind alte Männer, die schmetterlingshaft
um junge Frauen schwirren, bloß um irgendetwas zu
fühlen. Sie sind unendlich sentimental, weil sie unendlich
zynisch sind. Sie sind Unterlegene, die auftrumpfen.
Halbstarke, die quälen und die gequält werden. Allesamt
Schauspieler, aber nicht aus Spielfreude, sondern weil sie
überall Verrat und Niedertracht wittern. Wer Aldanow
liest, bekommt eine Ahnung von der Langzeitwirkung
der psychosozialen Prägung Russlands, der Gewalt, die
der Scheingröße entspringt, dem Grauen, das heute
wieder zu besichtigen ist.
Mark Aldanow? Das war einst kein Unbekannter. Er
entstammte einer jüdischen, großbürgerlichen Familie,
die in Russland mit Zuckerfabriken zu großem Reichtum
gelangt war. Die Oktoberrevolution trieb den 30-Jährigen
über Berlin ins Pariser Exil, wo er als Schriftsteller mit
historischen Romanen, in denen Katharina die Große,
Balzac und Gandhi auftreten, sowie mit Essays erste
Erfolge feierte. Walter Benjamin nannte ihn einen »ech-
ten skeptischen Betrachter«, der in der Geschichte »je
und je das gleiche« erblicke. Dabei hat Aldanows kon-
servative, fortschrittsskeptische Melancholie die Eigen-
heiten des Gewaltregimes seines Heimatlandes gleichwohl
sehr genau erfasst. Ende der Dreißigerjahre zählt er neben
Iwan Bunin und Nabokov zu den bekanntesten Exil-
schriftstellern Russlands. Er gilt als eine alteuropäische
Gesellschaftsfigur, der »letzte Gentleman der russischen
Emigration« (Bunin) und war überaus anerkannt: Gleich
dreizehn Mal wurde er für den Nobelpreis nominiert.
1940 flieht Aldanow vor den Nazis über Nizza in
die USA. Drei Jahre später erscheint dort Der Anfang
vom Ende und wird ein riesiger Erfolg. Der Roman
verkauft sich über 300.000-mal, erntet aber aufgrund
der radikal antisowjetischen Haltung teils heftige Kri-
tik in linken Milieus. Der Roman benennt den Holo-
domor, die große Hungersnot, die die Sow­jet­union in
der Ukraine auslöste, die Schauprozesse, die Lager,
den alltäglichen Terror, das Spitzelwesen. Und, be-
sonders arg: Aldanow vergleicht die diktatorisch­
regierte Sow­jet­union unverhohlen mit dem National­
sozialismus. Auf den letzten Seiten heißt es über die
Über 80 Jahre alt, aber der Roman der Stunde über ein gewalttätiges
Kommunisten: »Hitler ist nur ihr Schüler!« Die rigo-
rose Entschiedenheit, mit der Aldanow seine Heimat
Imperium: »Der Anfang vom Ende« des Exilrussen Mark Aldanow
verdammte, erschwerte nachhaltig seine Rezep­tion.
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15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
41
­­ sollte Jahrzehnte dauern, bis sich das westliche
Es
Kultur­milieu, unter anderem durch die Literatur von
Alexander Solschenizyn, eher widerwillig das volle
Ausmaß der sowjetischen Verbrechen eingestehen
konnte. Dabei hätte man viel früher einfach Aldanow
lesen können. Es ist das große Verdienst des Überset-
zers Andreas Weihe, sich beharrlich auf die Suche
nach einem deutschen Verlag für Aldanow begeben zu
haben – und schließlich fündig geworden zu sein.
Der Anfang vom Ende kreist um das Schicksal von
fünf Protagonisten. Der sowjetische Botschafter Kan-
garow, der Offizier Tamarin, der Be­rufs­revo­lu­tio­när
Wislicenus werden von Moskau aus in geheimen Mis-
sionen nach Paris geschickt. Die schon etwas älteren
Herren sind angetan von der Stenografin Nadeschda
Iwanowna, die sie begleitet, aber nur der Botschafter
bringt sich mit seiner romankitschhaften Liebe regel-
recht um den Verstand. Der Auftrag der Delegation
bleibt aufreizend unklar, man wartet auf irgendwelche
Nachrichten aus Moskau. Eine grandiose Parallel-
handlung entfaltet sich um den alten französischen
Schriftsteller Vermandois, der Zeuge eines an Dosto-
jewski angelehnten Mordes wird, Vermandois, der
hochdekoriert und berühmt ist, aber kaum noch gele-
sen wird, der mit seinen Bonmots die Karikatur eines
französischen Intellektuellen darstellt, der Geldsorgen
hat und der mit dem Sozialismus flirtet, aber nur, weil
es irgendwie angesagt ist.
Auf Empfängen berührt sich die literarische Welt
Frankreichs mit dem Agentenmilieu aus Moskau.
Man diskutiert über den historischen Abgrund, vor
dem die Welt steht, und wie es Aldanow gelingt, dabei
regelrechte Psychogramme seiner Protagonisten zu
entfalten, ist einfach nur bewundernswert und ein­zig­
artig: Innere Monologe stehen hier im scharfen Kon-
trast zu dem, was tatsächlich gesagt wird. Die Protago-
nisten lügen notorisch – die Franzosen aus Eitelkeit
und mit salonhafter Raffinesse, die Russen mit ihren
toten Seelen aus nackter Angst. Die Verstellungskunst
alteuropäischer Höflichkeit wird der verzweifelten
Abgefeimtheit des Homo sovieticus gegenübergestellt,
und bei allem Ernst der Konversationen und der teils
dramatischen Handlung vermag es Aldanow wie sein
literarisches Vorbild Tolstoi, humoristisch zu unterhal-
ten, Mitgefühl für seine Protagonisten zu entfachen,
sie psychologisch zu verstehen. Wie nebenher aber
vollführt er literarische Grenzüberschreitungen, samt
Ausflügen in ein nicht lokalisierbares Königreich, die
ihn als zutiefst modernen, insgeheim avantgardisti-
schen Autor entlarven. »Wir sind alle«, heißt es iro-
nisch, »von der Literatur übersättigt und vergiftet.«
Der Roman führt uns auf verzweigten Wegen in
den Spanischen Bürgerkrieg, in die Welt russischer­
Attentate und hässlicher Morde. Alle Figuren handeln,
als hätten sie sich ihr Schicksal bereits angelesen: der
Mörder, dem Kriminalromane als Vorbild dienen, der
Schriftsteller, der seine Plots missvergnügt in alten
Werken erblickt, der Revolutionär, der sein Todesurteil
Foto (Ausschnitt): Igor Ivanko/laif; kl. Foto: Alamy
im Todesurteil anderer bereits in der Zeitung vorherge-
sagt findet. Man könnte während der Lektüre durchaus
meinen, dass sich Aldanow zu sehr der Spiel- und Un-
terhaltungsfreude, der burlesken Komik und dem Slap-
stick hingibt – und auch einer postmodern anmuten-
den Beliebigkeit des moralischen Urteils. Bis es im
Roman ganz ernst wird, bis das Spiel aufhört und sich
die Figuren entscheiden müssen, ob sie den abgezweck-
ten Freiheiten des Westens oder dem neuen Totalitaris-
mus anheimfallen wollen. In einem furiosen Finale
wird dem müden, dem traurigen, angeblich so gestrigen
Liberalismus ein Denkmal gesetzt – und der so ­frischen,
Auch diese Passantin auf dem Roten Platz in Moskau so modernen Gewalt abgeschworen. Ich kenne keinen
wird ihn vermutlich nicht kennen: alten Roman, der so gegenwärtig ist.
Der russische Schriftsteller Mark Aldanow (1886–1957)
 www.zeit.de/vorgelesen
Mark Aldanow:
Der Anfang vom Ende. R ­ oman;
aus dem Russischen von A­ ndreas Weihe;
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42
»Er wollte immer geliebt werden«
Warum konnte ausgerechnet jemand wie Silvio Berlusconi über viele Jahrzehnte Italien so sehr prägen?
Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Francesca Melandri zum Tod des italienischen Politikers
DIE ZEIT: Francesca Melandri, aus deutscher Sicht
war Silvio Berlusconi etwas Unvorstellbares: der Mil­
liar­där mit Fußballclub, der in die Politik geht, der
das Trash-Fernsehen und eine Partei erfindet, noto­
risch in Skandale und Prozesse verwickelt ist, trotz
mehrfacher Verurteilung immer wieder an die Macht
kommt, mit Jachten, Gesangseinlagen, Frauen, Sex­
partys, diversen Schönheits-OPs und Verjüngungs­
kuren – und all das in einem G7-Industriestaat. Ist
Berlusconi für eine Schriftstellerin eine Romanfigur?
Francesca Melandri: Als echte literarische Figur hat
er mich nie interessiert, nur als Ausdruck einer po­
litisch-kulturellen Stimmung. Aber das öffentliche
Bild von ihm ist vielleicht der größte Erfolg des­
Politikers Silvio Berlusconi: Er überzeugte alle, ihn
als unterhaltsame Theaterfigur zu sehen, ein Mann
eigentlich aus dem Barock, mit sehr viel Komik,
wie im Zirkus, zum Ergötzen des Publikums. Aber
in Wahrheit war er keine groteske Witznummer,
sondern ein sehr konkret denkender, enorm er­
folgreicher Mann, den man unbedingt ernst neh­
men musste. Er griff die demokratischen Institu­
tionen auf vielfältige Weise an, weil er kein Inte­
resse daran hatte, die italienische Gesellschaft zu
verbessern, sondern nur an seiner Situation: Geld
zu verdienen und dem Gesetz zu entkommen. Er
nutzte die Politik für seine Zwecke, und Italien hat
dafür einen enormen Preis bezahlt. Seine Freund­
schaft zu Putin beispielsweise, den er noch vor
wenigen Monaten verteidigt hat: Das ist kein
Witz, sondern verdammt ernst. Berlusconi ist eine
dunkle Figur in der italienischen Geschichte. Es
gibt leider nicht viel zu lachen.
ZEIT: Er war der erste in einer langen Reihe erfolg­
reicher Populisten in westlichen Demokratien, bis
hin zu Trump. Woher kam seine Faszinationskraft?
Melandri: Das Wort Populismus empfinde ich oft als
eine zu einfache, denkfaule Antwort. Die entschei­
dende Frage für die Demokratie ist doch: Warum
sind die Populisten da, warum werden solche Leute
gewählt, warum können klassische politische Kräfte
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FEUILLETON 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
Fotos: Gamma-Rapho/Getty Images (Ausschnitt); Francesca Mantovani/opale/laif (u.)
Auf der Bühne genoss er schon früh den Triumph:
Der junge Silvio Berlusconi als Sänger auf einem Kreuzfahrtschiff
die Wähler nicht mehr erreichen? Meist ist es das eine pädagogische Agenda, bis heute, die oft arro­ ZEIT: Sie haben Berlusconi eine dunkle Figur ge­ geschämt – lange hatte dort keine Frau die ­Chance,
Gefühl von Hilflosigkeit und fehlender Re­prä­sen­ta­ gant wirkt, in der enorm viel Klassismus der liberalen nannt – was ist das Dunkelste an ihm? nach oben zu kommen.
tion, das Erfolg für Populisten verursacht. gebildeten Eliten gegenüber den Leuten steckt: Sie Melandri: Er hat das Gift der Unterhaltung in die ZEIT: Wünschen sich die Italiener starke Führungsfi­
ZEIT: Viele populistische Führer gehen aber nach sprechen zu ihnen herab, statt ihnen zuzuhören. italienischen Medien mal geträufelt, mal gepumpt guren – Berlusconi, Salvini, jetzt vielleicht Meloni –,
dem Triumph rasch wieder unter – Berlusconi hat Berlusconi hatte auch kein Interesse am Zuhören – – ich nenne das einen Putsch mit langwierigen die man gegebenenfalls aber schnell wieder stürzt?
Italien 30 Jahre lang geprägt. Hat die Opposition aber er wusste genau, wie er so tun konnte, als ob er Folgen. Das ist einer der Gründe, weshalb die ita­ Melandri: Ich denke oft, dass auch diese Idee des
Berlusconi also falsch bekämpft? zuhören würde. lienische Demokratie heute so zerbrechlich ist: starken Führers nur Teil des italienischen Thea­
Melandri: Das ewige Mantra lautete »Ich bin Anti- ZEIT: Aber die Linke in Italien war seit 1945 beson­ weil die Bevölkerung so schlecht informiert ist. Sie ters ist. Nehmen wir die Leidenschaft, den Wahn,
Berlusconi!« – und darauf haben sich die Linken, hat ders stark, die mächtigste kommunistische Partei können sich als ausländischer Journalist kaum vor­ die Besessenheit, mit der die Deutschen Adolf
sich die Mitte ausgeruht. Die Opposition meinte, Westeuropas, die weltweit ausstrahlende Kulturland­ stellen, wie desaströs die italienischen Me­ dien Hitler verehrt und geliebt haben – das war etwas
dieses Glaubensbekenntnis reiche aus – und durch schaft war links, ich erinnere nur an den Regisseur sind, ein beispielloser Niveauverlust auch im öf­ sehr Mystisches. So etwas Seltsames ist den Italie­
das ewige Wiederholen, durch den ständigen negati­ und Autor Pier Paolo Pasolini. Woher die Schwäche fentlich-rechtlichen Rundfunk, in dem die totale nern zutiefst fremd, auch bei Mussolini war das
ven Bezug auf Berlusconi hat man ihn zu einer riesi­ gegenüber Berlusconi? Show herrscht – was eine verheerend schlecht in­ nicht so. Sie lieben den Sieger, den Star – aber
gen Figur überhöht, je länger er oben blieb. Was man Melandri: Italien beruhte nach 1945 eigentlich auf formierte Bevölkerung zur Folge hat. Das Wissen daran ist nichts Mystisches. Männer spiegeln sich
nicht begriffen hat: Die Opposition hätte lieber ihre einem großen Kompromiss. Die Kommunistische um die Ursachen des Krieges in der Ukraine zum oft gerne fröhlich neidisch in diesen Führern: So
Alternativen den Menschen überzeugend erklären Partei mit ihren 30 Prozent Wählern, was ja eine Beispiel ist bis heute in Italien erschreckend gering, viel Geld, Macht und Sex hätten sie auch gerne.
müssen. Was ist ihr Bild von der italienischen Gesell­ enorme Zahl ist, blieb immer ausgeschlossen von der nach bald anderthalb Jahren. Die russische Propa­ In Berlusconi spiegelte sich das hochgepumpte
schaft? Wenn ein politisches Subjekt seine Identität Macht, bei all den zahllosen Regierungswechseln. ganda hat mit solch schwachen Abwehrmechanis­ Ego der Männer.
nur darin findet, zu sagen, was es nicht ist, wird es Das Angebot der mächtigen Christdemokraten lau­ men in Italien leichtes Spiel. ZEIT: Begeistert gewählt wurde er von mindestens
niemals eine Kraft für echte Veränderungen sein. tete für diese in zwei Lager gespaltene Gesellschaft: ZEIT: War Berlusconi ein Rechter, ein Quasi-Vor­ ebenso vielen Frauen ...
ZEIT: Lernt man daraus etwas für den Umgang mit Wir nehmen die Regierung, ihr kriegt die Kultur, gänger Melonis? Melandri: ... die genau dieses Ego mochten und sich
Giorgia Meloni? den Zeitgeist. So entstand der Eindruck von der Melandri: Er war zuallererst ein Opportunist. Er wünschten. Und für das Ego der Menschen hatte
Melandri: Momentan leider nichts, ich sehe die alten mächtigen italienischen Linken, die zudem immer hatte nun wirklich keine einzige ideologische Zelle Berlusconi ein großes, warmes Verständnis.
Muster, die alten Fehler. Jetzt lautet das Anti-Meloni-­ bequem kompromisslos sein konnte. Die linke Kul­ in seinem Körper, also hatte er auch kein Bild von ZEIT: Könnte es sein, dass die italienische Linke
Mantra: »Ich bin antifaschistisch!« Ja, das bin ich tur blühte in berühmten Filmen und Romanen, in Gesellschaft – vielleicht der wichtigste Unterschied Berlusconi als übergroßes Feindbild so sehr be­
auch – und weiter? Wenn es keine eigenen überzeu­ Verlagshäusern und in der Musik. Das war die Situa­ zu Giorgia Meloni. Ihn trieben nur seine per­sön­ kämpft hat, dass dieser Kampf Teil der Identität­
genden ­ Ideen gibt, sondern nur diese negative tion, die Berlusconi vorfand und radikal veränderte. lichen Interessen und die pure Lust an der Macht, geworden ist und sie daher Silvio Berlusconi noch
Abgren­zung, dann wird sie uns lange erhalten blei­ ZEIT: Ist Italien konservativer als andere Länder? keine Ideologie. Und er wollte immer geliebt wer­ vermissen wird?
ben, fürchte ich. Melandri: Was genau heißt denn konservativ? Ich den. In diesem Geliebtwerdenwollen war er am ehr­ Melandri: Ich werde ihn nicht vermissen, ich bin
ZEIT: Berlusconi war trotz allem eine sehr italieni­ finde die linke Partito Democratico bestürzend kon­ lichsten. nicht traurig, auch wenn es jetzt diese Staatstrauer
sche Figur – da wird es noch mehr Gründe für seinen servativ in vielem – und Frankreich und Österreich ZEIT: Es gab das abstoßende Kapitel »Berlusconi gibt. Durch ihn hat das Land über Jahrzehnte hin­
Erfolg geben als die Zerstrittenheit seiner Gegner. oft rechter als Italien, von Le Pen bis zur FPÖ. Und und die Frauen«, Stichwort Bunga-Bunga-Partys. weg unglaublich viel an moderner Entwicklung ver­
Melandri: Er hat die Italiener von allen Politikern käme die AfD in Deutschland an die Macht, hätte Melandri: Der Sexismus war sicherlich neben der passt, die Schäden, die er verursacht hat, sind enorm.
vielleicht am besten verstanden: Sie sind eigentlich ich wirklich Angst. Die Sache ist also kompliziert. Zerstörung der Me­ dien die sichtbarste Wirkung Italien ist heute eine Gesellschaft, aus der die Jugend
keine Extremisten, sondern wollen in Frieden gelas­ dieses Mannes – und das in einem Land, das in den fliehen möchte. Aber Berlusconi ist nicht mein
sen werden. Sie denken an ihre Familie und ihre­ Die italienische Autorin 1970er-Jahren eine der stärksten feministischen Be­ Feindbild – verzweifelt bin ich über die Strukturen
eigene private und berufliche Welt, nicht so sehr an Francesca Melandri wegungen Europas hatte! Berlusconi war ein Sexist, und Mechanismen, in die er das Land gesteuert hat.
das Gemeinwohl. Sein Angebot dafür an die Italie­ lebt in Berlin und Rom. aber nie misogyn: Er hat viele Frauen politisch geför­ Berlusconi ist wie Meloni ein Symptom, nicht die
ner war: Ich lasse euch in Frieden und nehme euch, Ihr Bestseller »Alle, dert, zum Beispiel Giorgia Meloni. Für die Misogy­ Ursache für die Stagnation Italiens.
wie ihr seid, ich höre auf eure Wünsche. Die Parteien außer mir« erschien nie der linken Partito Democratico, für die Unter­
der Linken und der Mitte haben stattdessen immer 2018 bei Wagenbach drückung der Frauen dort habe ich mich immer­ Das Gespräch führte Alexander Cammann
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
Das große
Husten
Räuspern, Bellen, Prusten: Nirgends fällt uns das
Schweigen schwerer als im Theater oder im Konzert.
Warum bloß?  VON PETER KÜMMEL
D
ie Bühnenkunst ist, rein soziologisch ge­
sehen, eine von vielen Gelegenheiten, bei
denen Menschen sich in gegnerische
Gruppen aufteilen. Theater, Oper, Kon-
zert – diese Kunstformen leben von der
strikten Trennung zwischen denen, die auf
der Bühne stehen, und denen, die unten
im Saal zusehen beziehungsweise zuhören.
Fast zwangsläufig ergibt sich daraus, dass die Geschichte der
Bühnen- und Konzertkunst eine Geschichte der Störung ist.
Das Publikum ist nicht still, es applaudiert an falschen Stellen,
und vor allem: es hustet. Künstler, empfindlich gestört, reagie-
ren je nach Temperament mit Wut, stiller Fassungslosigkeit, Er-
starrung. Kürzlich haben sich wieder einmal zwei prominente
Musiker, der Dirigent John ­Eliot Gardiner und der Pianist Gri-
gori Sokolow, darüber beschwert, von hustenden Zuschauern
entscheidend gestört worden zu sein.
Doch an dieser Stelle soll eine Lanze für das Husten gebrochen
werden. Wir behaupten: Es ist ein Laut der äußersten Verfeinerung,
ja eine Kulturleistung. Eine dunkle, konspirative Art der Kom-
munikation. Der Mensch im Theater lässt sich darauf ein, dass für
die kommenden zwei oder sechs Stunden (Letzteres in Inszenie-
rungen Frank Castorfs) andere sprechen und er schweigen wird.
Aber halt, eine Ausdrucksform bleibt ihm: er hat noch seinen
Husten. Er ähnelt darin einem Autofahrer im stockenden Abend-
verkehr, der stumm in seinem Wagen sitzt und auf seine Hupe
angewiesen ist, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Husten
ist gewissermaßen die Hupe des Theater- und Konzertgängers.
Und wie ausdrucksstark und variantenreich ist dieses Si­gnal! Da
gibt es beispielsweise das feuchte Vorwurfs-Husten, auch Märtyrer-
Husten genannt. Es lässt sich so übersetzen: Nun habe ich mich in
meinem angegriffenen Zustand hierhergeschleppt, in dieses schä-
bige Gebäude, und muss feststellen, es ist lauter Unfug, der hier
verzapft wird. Jetzt hört, wie schlecht es mir geht!
Dann kennen Verhaltensforscher das Ich-habe-das-letzte-Wort-
Husten, welches im Theater oft am Ende eines Bühnenmonologes
erklingt – von den besseren Plätzen trocken zur Bühne hinaufge-
knurrt, lässt es sich als akustischer »Erledigt«-Haken deuten und wird
bevorzugt von Autoritätspersonen (Juristen, Ärzten, Lehrern) ein-
gesetzt. Es ist ein herbes akustisches »­ Like«- oder »Dis­like«-­Zeichen.
Ideal für Frösche
Auf dieser Seite, liebes Publikum, lernen Sie ja wahnsinnig viel
über den Kulturhusten, seine Typologie, seine Soziologie, seine
Phänomenologie, und damit Sie das Gelernte auch verlässlich
anwenden können, hier ein paar kleine Repertoiretipps, die
Ihnen das Abhusten an den schönsten, leisesten, intimsten Stel-
len der Musikgeschichte erleichtern sollen.
Für Fortgeschrittene eignen sich insbesondere leise Anfänge.
Der Frosch im Hals, den loszuwerden weder an der Garderobe
noch auf dem Weg zum Platz gelingen wollte, er rührt sich am
liebsten in dem Moment, da vorne die Musik zu spielen beginnt.
Zu hören ist oft noch nichts, piano, pianissimo – ideal für Frö-
sche! Wagners Lohengrin fängt so an, hohe Flöten in höchster
Lage, viergeteilte Violinen, Sphärenklänge. Auch das Tristan-
Vorspiel bietet reichlich Gelegenheit, jedenfalls vor dem berühm-
ten »Tristan-Akkord«. Wer zur Kehlen- und Bronchienreinigung
mehr Anlauf benötigt, sei auf Satz-, Akt- oder Stückschlüsse
verwiesen. Anzuführen wären hier etwa das Finale aus Mahlers
Neunter (zwanzig Minuten Ersterben), der weltabschiedszarte
Schluss von Beethovens letzter Klaviersonate op. 111 (Triller
im Diskant) oder so manches von Schubert (alle Lieder) und
Chopin (fast alle Nocturnes). Blas- und Schlaginstrumente sind
meist lauter als Streicher, menschliche Stimmen, also Gesang,
oft am fragilsten. Und wer sich kulturell mal so richtig aus-
husten möchte, der besuche eine Aufführung von John Cages
4‹33« (es erklingt: nichts). Eine viereinhalbminütige Hymne
an die Stille und alle ihre Nebengeräusche. Am besten mit
großem Orchester.  CHRISTINE LEMKE-MAT WEY
FEUILLETON
Außerdem nachgewiesen ist das Echo-Husten, das sich an
den Laut eines Ersthusters hängt und aus purer Freundlichkeit
erfolgt: Der Echo-Huster möchte dem Ersthuster die Pein-
lichkeit des Allein­gangs ersparen. Weiter bekannt ist das Ich-
bin-auch-hier-Husten des Abonnenten. Als dessen Steige-
rung gilt das Wir-sind-schon-da-seid-ihr-auch-schon-da?-
Husten, mit dem im dunklen Saal befreundete Ehepaare
sich von Balkon zu Balkon grüßen.
Sehr gebräuchlich ist das Vertuschungs-Husten, mit
dem etwas anderes überdeckt wird, zum Beispiel das Aus-
wickeln eines Bonbons, das in elektrisch knisterndes Papier
verpackt ist. Berühmtes Vorbild aus dem Kino: Jack Nichol-
son, der als Detektiv in Roman Polanskis Chinatown eine ent-
scheidende Seite aus einem Grundbuch reißt, ohne dass der in
kurzer Entfernung lauernde Beamte es merkt. Im Moment, da
Nicholson zum Riss ansetzt – hustet er.
Und schließlich gibt es das Method-Husten. Hier muss ein
wenig ausgeholt werden: Amerikanische Schauspieler, die nach
der Method-Lehre des legendären New Yorker Schauspiellehrers
Lee Strasberg unterrichtet wurden – Marlon Brando, Dennis
Hopper, Robert De Niro und viele andere –, haben gelernt,
dass es die Wahrhaftigkeit der eigenen Darstellung steigert,
kleine Si­gna­le des Unbehagens und der Nervosität, etwa ein
»äh« oder ein Husten, ins Spiel einzubauen. Genau dieses
Method-Husten, so scheint es uns, ist jener Publikumslaut, den
man im Theater heute am häufigsten hört: Decktext, unter
dem das Unsagbare lauert.
Das Theaterhusten sollte also nicht zu den Krankheitssymp-
tomen, sondern zu den kulturell hoch entwickelten Reflexen
gezählt werden – verwandt eher dem feinen Räuspern eines
nicht zu Wort gekommenen Gesprächsteilnehmers als dem
Raucherbellen früherer Tage. Ein ähnlicher Laut ist heutzutage
im englischen Unterhaus üblich, dort kommt er von den Hin-
terbänklern. Sie zeigen ihr Unbehagen an der eigenen Rolle. Seit
Stunden haben sie sich vollgesogen mit Meinung und Aus-
druckswillen, aber sie werden nicht gefragt. Also rufen sie »Hear,
hear!«. Oder sie husten. Der in Oxford geschulte Parlaments-
Huster – nur denkbar in holzgetäfeltem Raum – verrät all das
Ungesagte, nur Gedachte, was im Raum schwebt. Seine Körper-
geräusche sind Zeichen der Diskretion, des Taktes, ja von An-
Nicht-Husten
Husten ist nicht alles. Auch Nicht-Husten ist eine Kunst. Tradi-
tionell gibt es zwei Techniken, dem Reiz des Ungehörigen zu
widerstehen: Die eine besteht in der Kraft meditativer Selbstver-
senkung, der ganze Mensch konzentriert sich auf den Willen zur
Kehlkopfkontrolle, die Welt um ihn herum versinkt, auch das
Bühnengeschehen, es ist nichts mehr da, nur das Ich und sein
Nicht-Husten. Der andere, gegenteilige Weg ist die Ablenkung.
Dazu gehört die Beschäftigung mit dem Bonbonpapier, mit der
Handtasche – knips auf, knips zu, wie in dem berühmten Sketch
von Loriot – oder mit den Seltsamkeiten des Publikums.
Als wir noch Kinder waren, wurden meine Schwester und ich
einmal mit einer der öden selbst komponierten Sinfonien Furt-
wänglers traktiert. Wir fanden einen Weg aus der Ödnis und der
Versuchung, gegen sie anzuhusten, indem wir eine neue kreative
Beziehung zwischen Eukalyptus-Bonbon-Papieren und Publikum
herstellten. In der Pause sammelten wir die Papierchen, rollten
sie zu Kügelchen und stellten uns der Herausforderung, sie ganz
vorsichtig in das lichte Haupthaar der vor uns sitzenden alten
Damen zu werfen. Man muss sich dieses Haar als eine Art locke-
ren Herbstwald vorstellen, mit viel Platz auf dem Hautboden
unter den ergrauten Haarwipfeln. Dort platzierten wir also die
Kügelchen und erfreuten uns an ihrem satten Grün und unserer
ruchlosen Tat, die zugleich eine Probe auf die ehrliche Musik-
begeisterung der alten Damen war. Sie bestanden den Test­
mühelos und merkten nichts, denn sie liebten Furtwängler und
Karajan (er dirigierte), und wir hatten uns ebenfalls ein Konzert-
erlebnis verschafft, das lange nachwirkte.  JENS JES SEN
teilnah-
me. Um
aufs Konzertpu-
blikum zurückzukom-
men: So manchem Hustkünstler
ist seine hohe musikalische Begabung anzu-
merken. Diese Menschen beherrschen das sogenannte Lich-
tungshusten, sie nutzen gezielt Momente der Stille, um ihre
Ergriffenheit zu artikulieren. Sie schaffen es fast immer, tragen-
de sinfonische Bögen an ihren Scheitelpunkten zu treffen.
Solches Husten hat natürlich einen aggressiven Kern. Denn,
wir sagten es schon, jedes Theater, jedes Konzerthaus ist auch ein
Ort der Spaltung, vielleicht sogar der subtilen Demütigung: Die
Außergewöhnlichen auf der Bühne zeigen sich den Durchschnitt-
lichen im Saal. Und ab und zu schlägt der Saal zurück.
Das Theaterhusten ist Schattenkunst; sie nistet in der ech-
ten, anerkannten Kunst. Möglich, dass sich hustende Menschen
im Theater und im Konzert über die Geräusche der Bühne
hinweg verständigen wie Vögel, die in einem rauschenden Wald
sitzen, auf dessen Blattwerk ein Regen fällt: aus purer Behag-
lichkeit. Wahrscheinlich, dass jeder Konzert- oder Theatersaal
sein unverwechselbar eigenes Husten provoziert: das bußfertige
Kathedralenhusten, das verschwörerische Kellertheaterhusten
und so weiter.
Zu viel Speed
Und dann gibt es natürlich noch das aggressive Stress-Husten:
Unsere Theaterbesucherin arbeitet den ganzen Tag, sie hat
abends Karten fürs Theater, um endlich mal auf andere Ge-
danken zu kommen (und nebenbei das Thema Kultur zu erle-
digen), die Zeit ist also knapp, extrem knapp, aber jetzt musste
eben kurz vor Feier­abend noch einmal wegen irgendeines IT-
Quatschs telefoniert werden. Danach kann unsere Theater­
besucherin endlich von der Arbeit nach Hause zu ihren
Theaterkarten rennen, sie ist verschwitzt, füttert schnell den
Hund und streitet sich mit ihrem Freund, der schon wieder
vergessen hat, rechtzeitig Netflix zu kündigen. Sie zieht sich
streitend schicke Sachen an, sie rennt neben ihrem Freund
in ihrem schicken Kleid ins Theater, wo sie sich in die lau­
warmen Velourssessel fallen lässt und weiterschwitzt.
Und dann geht auch gleich die Vorstellung los. Problem:
Der Theaterbesucherinnen-Kopf ist noch gar nicht bereit für
einen Theaterbesuch, er hat viel zu viel Speed drauf, rennt
Excel-Tabellen hoch und runter, ist mit dem Net­ flix-­
Account, dem dusseligen Freund beschäftigt und im Grunde
komplett überfordert, weil es gerade nichts, gar nichts zu er-
ledigen gibt, außer da sein. Ohne zu verstehen, was hier ge-
rade passiert, wird unsere Theaterbesucherin nun ziemlich
aggressiv, denn die anderen gucken alle so entspannt, und sie
muss irgendwo ja hin mit ihrem Tempo, ihrer Wut. Also be-
ginnt sie zu husten, sie hustet die Leute an. Sie verändert den
Raum, die Situation, sie holt sich ein bisschen Kontrolle­
zurück.  ANTONIA BAUM
43
Illustration: Benedikt Luft und ZEIT-Grafik
Und
möglich, dass man-
cher hustet, um einem Theater-
moment eine eigene Lebensäußerung ein-
zuprägen. Diesem Verdacht gibt ein Text des großen
argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar Nahrung, der den
Titel Das Husten einer deutschen Dame trägt.
Auf einer Aufnahme des Beethoven-Violinkonzertes op. 61, ge-
spielt am 30. September 1947 in Berlin von Yehudi Menuhin,
begleitet von den Berliner Philharmonikern unter Wilhelm Furt-
wängler, erlauscht Cortázar 30 Jahre später ein trockenes helles
Frauenhusten. Dieses einsame, unsterbliche Geräusch erst bringt
ihm das Wunder der Aufnahme zu Bewusstsein – das Wunder
nämlich, dass ein jüdischer Solist und ein unter Hitler wohlgelit-
tener Dirigent gemeinsam mit einem deutschen Orchester fast
unmittelbar nach Krieg und Holocaust in Deutschland ein Konzert
geben. Ein Konzert, das offenbar durch nichts anderes als das
Husten einer Dame im Innersten zusammengehalten wurde.
Quälgeist am Flügel
Auf Konzertabende wurde sich in meiner Kindheit vorbereitet –
großer Wert wurde dabei auf das möglichst unterhaltsame und
anekdotenreiche Schwärmen für den Komponisten oder die
Interpretin gelegt. Ein Musiker ganz nach dem Geschmack
meines Vaters war der italienische Pianist Arturo Benedetti
Michelangeli – unter den Großen seiner Zeit (Horowitz, Ar-
rau, Richter) galt er als Meister der eiskalten Perfektion, irre
Mimose, König aller Pianisten-Exzentriker. Als Kind bewun-
derte ich seine aristokratischen Allüren (schmaler Schnurr-
bart) und den selbstquälerisch-herablassenden Gesichtsaus-
druck auf den Plattenhüllen der Deutschen Grammophon.
ABM reiste stets mit seinem eigenen Konzertflügel, Kleinig-
keiten konnten das Kippen und den Abbruch des Abends zur
Folge haben. Ein Rascheln, eine knarzende Stuhllehne: aus!
Es war noch tief im 20. Jahrhundert – der späte Michelan-
geli sollte in der Hamburger Musikhalle mit Mozart-Klavier-
konzerten auftreten. Mein Vater warnte und genoss, wie es seine
Art war, die Ungeheuerlichkeit seiner Drohung: »Ein Huster,
und er schlägt den Klavierdeckel zu und verlässt den Saal.«
Unter Hochspannung nahmen wir im Parkett Platz. Beun-
ruhigend zügig war der Quälgeist im schwarzen Rollkragen-
pullover über die Bühne geeilt. Als die Hände des Pianisten noch
in seinem Schoß lagen und der Dirigent den Taktstock hob,
löste sich weit oben in den Höhen der Balkone krachend ein
Huster und landete unten bei uns in den Stuhlreihen. Für zwei
Sekunden nur Stille. Ich habe bei diesem Konzert verstanden,
was Zuhören bedeutet. MORITZ VON USL AR
44
GRAND SLAM
Stevie Nicks,
die Betrogene
Manchmal dauert es, bis ein Kunstwerk seine Zeit hat.
Dann folgt die Rache  VON ANDREA PETKOVIĆ
Kann ein einziger Song eine Band zerstören?
Grundsätzlich würde man sagen: eher nein. Bei
Fleetwood Mac war das allerdings möglich. Es
wird Zeit, dass wir über Fleetwood Mac spre-
chen, über den besten Song der Band, Silver
Springs. Es ist nicht der bekannteste Song der
Band, aber es ist der beste. Der Song, der die
Band mehrere Male zerstörte, bevor sie sich
mühsam und mithilfe von Gevatter Zeit, den
Stachel jeder Erinnerung stumpf machend, wie-
deraufbaute. Stevie Nicks hatte das Lied in den
Siebzigerjahren geschrieben, nachdem ihre Be-
ziehung zu Lindsey Buckingham in die Brüche
gegangen war, dem Gitarristen der Band. Der
Song beginnt zart, fast lieblich, bescheiden, am
Ende wird er wütend und rachsüchtig. Lindsey
Buckingham wahrscheinlich auch. Über der
Entscheidung, das Lied nur auf die B-Seite des
berühmten Rumors-Albums zu packen, zerbrach
die Band einmal. Über der Verweigerung der
Rechte an ihm für Stevie Nicks’ Soloalbum ein
zweites Mal.
Es ist beängstigend, wenn ein Kunstwerk zur
Prophezeiung wird. Wenn ein Stück Musik recht
behält. »Ich werde dich verfolgen, bis der Klang
meiner Stimme dich heimsucht / Du wirst nie-
mals dem Klang der Stimme der Frau, die dich
liebt, entkommen«, schrieb Stevie Nicks 1976.
Es wird einundzwanzig Jahre dauern, bis sich
ihre wütend gesungenen Worte bewahrheiten,
aber letztlich bewahrheiten sie sich: 1997 dreht
sich Stevie Nicks bei einem Auftritt genau bei
diesen Zeilen zu Lindsey Buckingham hin, bei-
der Blicke treffen sich, frieren ein, niemand blin-
zelt. Voller Groll bellt sie ihm die Worte entge-
gen, die sie schrieb, als sie beide jung waren, am
Anfang ihres Weges, als sie eine der größten
Bands der Welt wurden.
Sie scheint ihn in diesem Augenblick verhext
zu haben, eine außerirdische Macht über ihn
auszuüben. Er muss ihre Harmonien singen, er
kann nicht weggucken, ist wie versteinert, per-
plex angesichts des heftigen Gefühls, das ihm
nach zwei Jahrzehnten immer noch entgegen-
schlägt. Es ist die Wut in ihren Blicken, Wut
über die Unmöglichkeit der Liebe zwischen zwei
Menschen, aber auch Wut über das Fehlen ihres
Songs auf dem berühmtesten Album der Band.
»Ich habe es dir damals gesagt«, wollen ihre Bli-
cke sagen, »dieses Lied gehörte immer auf die
Platte.« Im Jahr darauf wird Silver Springs, der
Song, der es nicht aufs Album schaffte, für einen
Grammy nominiert.
An dieser Stelle erscheinen
im Wechsel vier Kolumnen. Lesen Sie nächstes Mal
»Von unterwegs gesendet« von Christine Lemke-Matwey
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© Vera Tammen
»Damit ein bedeutendes Geistesprodukt auf
der Stelle eine breite und tiefe Wirkung zu üben
vermöge, muss eine geheime Verwandtschaft, ja
Übereinstimmung zwischen dem persönlichen
Schicksal seines Urhebers und dem allgemeinen
des mitlebenden Geschlechts bestehen«, schrieb
Thomas Mann in Der Tod in Venedig. Um Reso-
nanz beim Publikum hervorzurufen, muss der
Zeitgeist den Künstler oder die Künstlerin
manchmal erst einholen. Es gibt sie ja, die Bei-
spiele, in denen Künstler und Künstlerinnen ih-
rer Zeit voraus sind. Es gibt auch Kunstwerke,
die erst zu dem heranwachsen, was sie sein kön-
nen, wenn die Gesellschaft mitmacht. Und die
Gesellschaft kann auch dein Ex-Freund sein, der
zufällig auch dein Arbeitskollege ist und den du
jahrelang zwingen wirst, die Worte, die du über
ihn verfasst hast, als Harmonie und zweite Stimme
mit dir zu singen. Es ist der ultimative Racheakt,
verpackt in sanfteste Melodie. In den Siebziger-
jahren, als es galt, die Freiheit der Liebe zu zele-
brieren, war die Fixierung auf eine Person drol-
lig, eigentlich unsinnig: Ihr seid eine verdammte
Rockband! In den Neunzigerjahren wird es aber
wieder die Regel sein.
Manchmal muss man auch einfach über­
dauern. Wie der eine Sportler, der immer genervt
hat, aber seiner Hartnäckigkeit wegen noch un-
seren Respekt genießt. Wie die Schriftstellerin,
deren Werke wir nicht mögen, aber dann schreibt
sie das eine Buch, das uns doch überzeugt.
Es ist nicht einfach, kommerziellen Erfolg
mit künstlerischem Anspruch, mit künstlerischer
Exzellenz zu vereinen. Fleetwood Mac haben es
geschafft. Die Beatles, O ­ asis – sie haben sich
auch un­ ter­
ein­
an­
der bis aufs Blut bekämpft.
Spannung schafft Kunst, schafft Resonanz. Im
Ideal­fall. Weil wir alle die Streitigkeiten mit un-
seren Partnerinnen, unseren Arbeitskollegen,
unseren Geschwistern kennen. Die Wut, die
Traurigkeit, welche Emotion auch immer es sein
mag, die dann in das Kunstwerk hineintröpfelt,
hallt in uns wider. Wenn das Handwerk zum
Echten hinzukommt, entstehen Dinge, die Jahr-
zehnte überdauern. Ein Meisterwerk jedoch ent-
steht nur, wenn die Emotion stimmt, der Zeit-
geist passt, das Handwerk gelernt ist – und Mond
und Sterne und die Sonne auf­ein­an­der ausge-
richtet sind. Eine Verbindung des Schaffenden
zu etwas Überirdischem. Es gibt sie nicht oft. Bei
Silver Springs hat es gepasst. Hören Sie es sich an.
PS: Es ist ein Lied aus den Siebzigern. Der
Kern des Songs beginnt erst in Minute 3:18.
Sehnsuchtsort
und große Liebe
Das Meer – für Thomas Mann immer ein
Ort der Freiheit und des wahren Ich.
Volker Weidermann spürt dieser großen
Liebe nach und erzählt das Leben des
Nobelpreisträgers auf ganz neue Weise.
FEUILLETON
Robert Habeck vergangene Woche auf der Phil.Cologne in Köln
Glotzt nicht so romantisch!
Wie der Philosoph Robert Habeck
einmal deutlich Nein sagte
Impressionen einer Woche, in der sich Geist und Macht sehr nahe kamen  VON PETER NEUMANN
Wenn es wärmepolitisch in Berlin eng wird, tut
manchmal auch ein kühler Kopf gut. Und so
kamen auf der Phil.Cologne in Köln, dem großen
Philosophiefest, neben Robert Habeck und Peter
Sloterdijk auch Olaf Scholz und Axel Honneth
zusammen. Als wäre das der intellektuellen
Gipfelbegegnungen nicht genug, erhielt Habeck
am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den
Ludwig-Börne-Preis für sein politisches Schreiben
und Sprechen. Dass der Impresario des deutschen
Geistes, Jürgen Habermas, im Konzerthaus am
Berliner Gendarmenmarkt am selben Tag in den
hochexklusiven Orden Pour le Mérite aufgenom-
men wurde, geriet da fast zur Nebensache. Selten
gab es eine Woche, in der Geist und Macht so
intensiv im Gespräch waren. Und natürlich waren
nach den Querelen der letzten Wochen alle Au-
gen auf Habeck gerichtet.
Habeck, der frisch vom Evangelischen Kirchen-
tag in Nürnberg nach Köln gekommen war, hatte
es als studierter Philosoph und früherer Schrift-
steller naturgemäß am leichtesten, sich auf den
Höhenkämmen des Geistes zu bewegen. Dabei war
er ja immer ein Pragmatiker geblieben, der nicht nur
die Widersprüche in seiner Partei ausbalancieren
konnte. In seinen Fernsehauftritten zum Energie-
sparen, in denen man einen oft aufgeriebenen, ver-
schwitzten, nach Worten suchenden, aber stets
kämpferischen Habeck sah, zeigte sich ein beinahe
schon intimes Verhältnis zu seinem Amt. Beides,
das Romantische und das Pragmatische, kamen bei
Habeck zusammen.
Er schlüpfte in die Rolle des Ingenieurs, wie sich
der romantische Dichter Novalis einst in die Berg-
werke begeben hatte, um die sächsische Braunkohle
zu heben. Auch das war Energie. Nur hieß das
jetzt: LNG-Terminals, Deutschlandtempo, Wärme­
Wir sprechen über Phänomene, die unsere Zeit ausmachen: im Feuilleton-Podcast Die sogenannte Gegenwart.
Jetzt anhören unter www.zeit.de/die-sogenannte-gegenwart
pumpen. Es schien nichts zu geben, was nicht vom
romantischen Geist poetisiert werden konnte.
Umso überraschender war es jetzt, dass Ha-
beck erst auf dem Kirchentag der »Letzten
Generation« entgegenhielt, dass deren Klebe-
aktionen niemandem helfen würden. Und dann
in Köln erklärte, dass ­Ideen, die so radikal sind,
dass sie politisch nichts nützen, eigentlich auch
nichts taugten. Selbst der Philosoph Hans Jonas,
der mit seinem Buch Das Prinzip Verantwortung
einen Kassenschlager der frühen grünen Bewe-
gung geschrieben hatte, bekam vom Klima­
minister jetzt den Vorwurf eingetragen, bloße
»Romantik«, aber nicht »Aufklärung« zu sein.
Und auf einmal war in all der Offenheit eine
ungewohnte Abgrenzung zu spüren. Ein Nein,
statt eines Vielleicht und Könnte-womöglich-
auch-anders-sein.
Die Grenzziehung diente nicht nur nach au-
ßen dazu, klarzumachen, dass man im aktuellen
Heizungsstreit niemanden zurücklassen wolle, sie
diente auch als Warnung nach innen. Denn mit
dem Traktat von Jonas war eben nicht nur jene
ökologische Bibel gemeint, zu deren Neuauflage
Habeck erst kürzlich selbst das Nachwort bei­
gesteuert hatte. Es war auch jenes Buch, das Luisa
Neubauer erst vor ein paar Wochen in die Ka-
meras der Fotografen gehalten hatte, als sie bei
den Protesten in Lützerath von Polizisten weg­
getra­gen wurde. Neubauer versuchte im Matsch
von Lützerath nicht nur einen Buchtipp für Un-
eingeweihte zu geben. Es sollte auch ein Bild für
Habeck und die Parteispitze sein, eine Erinne-
rung daran, dass sie mit dem RWE-Deal nicht
nur den jungen Aktivisten in den Rücken gefallen
­seien, sondern auch ihre eigenen Prinzipien, ja
ihre eigene Geschichte verraten hätten.
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15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
Foto: Robert Schmiegelt/picture alliance; Illustration: Joni Majer für DIE ZEIT
Für Habeck scheint diese Geschichte inzwischen
Geschichte zu sein. Und so diente auch die Preis-
verleihung in der Paulskirche vor allem dazu, nicht
den unabhängigen Freigeist zu mimen, sondern den
Staatsmann herauszustellen, der sich für sein Han-
deln vor der ganzen Republik zu rechtfertigen hat.
Man sieht: Habeck will die deutsche Romantik davor
bewahren, ein zweites Mal die Aufklärung zu hinter-
gehen. Ein zweites Mal so zu tun, als wisse man es
besser. Schon in seinem Nachwort zum Prinzip Ver-
antwortung hatte er gewarnt, der neue Ökologie-
Dogmatismus öffne in seinem Absolutheitsanspruch
dem »totalitären Denken« Tür und Tor. Und so
bemühte sich Habeck auch jetzt wieder, jeden An-
schein von moralischem Rigorismus zu zerstreuen,
während draußen vor der Kirche Querfront-An-
hänger gegen die Preisvergabe protestierten und am
Tag zuvor im bayerischen Erding mehrere Tausend
Menschen gegen das geplante Heizungsgesetz de-
monstriert hatten. Habeck wollte eine positive Ge-
schichte vom Gelingen erzählen, statt sich die Laune
von grünen Untergangsszenarios verderben zu lassen.
Und Scholz? Scholz, der auf dem Weg nach
Paris zu Emmanuel Macron war, hatte auf dem
Kirchentag zu Protokoll gegeben, dass er zu den
wenigen Deutschen gehöre, die Altes und Neues
Testament gelesen hätten. Nun, in Köln, hatte er
auch das neue Buch von Honneth über die Arbeit
gelesen, das ihm offenbar so gut gefiel, dass er immer
nur zustimmen konnte. Selbst die Umkremplung
des Arbeitsmarktes durch künstliche Intelligenz
konnte weder den Kanzler noch den Philosophen
erschüttern. Hier hatte man, nach den Gipfelbestei-
gungen der letzten Tage, das Gefühl, dass sich Geist
und Macht doch eigentlich blendend verstehen,
solange auch in einem heißen Heizungssommer die
Zeichen noch auf Fortschritt stehen.
Gebunden.
€ (D) 23,-–
 KI
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 FEUILLETON 45

Nein, künstliche Intelligenz wird uns nicht auslöschen, wie viele Forscher warnen.
Das kriegen wir schon ganz allein hin  VON HANNO RAUTERBERG

DI E A NGST VOR
Selbst die wichtigsten KI-Forscher, sonst doch stramme Berufsopti- Abhängigkeiten. Nur dass sich nicht klar sagen lässt, wem man daran
misten, sind gerade schwer beunruhigt. Immerzu erscheinen neue die Schuld geben soll. Am Ende womöglich sich selbst?
Warn- und Weckrufe: Die Lage sei ernst, schreiben sie, ernst wie Je weiter der Mensch sein Leben ins Netz verlagert, mit mindestens
eine Pandemie, wie ein Atomkrieg. Es drohe »Auslöschung«, das einem Auge stets auf dem Display, desto mehr wird er Teil des Unvor-
Ende von allem. hersehbaren. Er gleitet hinüber in jene opake Blackbox-Sphäre, in der
Das hört sich übertrieben an, zumal viele der Tech-Pioniere, Computer ihn ungefragt mustern, sortieren, seine persönlichen Daten
nun zu KI-Alarmisten konvertiert, nicht wirklich darlegen können, auswerten und daraus Kapital schlagen. Viele Künstlerinnen und
wie das mit der Auslöschung eigentlich vonstattengehen soll. Worin Künstler haben das in jüngster Zeit erlebt, als ihre Ästhetik plötzlich
besteht die konkrete Bedrohung? Was begründet ihre Furcht? Na- wie digitaler Rohstoff verwendet wurde, vom Bildprogramm Dall-E
türlich lässt sich die neue Technik missbrauchen: um ein Atom- ausgebeutet, beliebig verwurstet, ohne irgendjemanden um Erlaubnis
kraftwerk oder die New Yorker Börse zu hacken. Um Vor­urtei­le zu zu bitten. Im Netz verwandelt sich alles in einen Datensatz, jede Le-
verstärken. Oder um Menschen bei Wahlen zu manipulieren. Doch bensäußerung wird zur Verfügungsmasse.
all das ist längst bekannt und erklärt nicht die Nervosität. Es gibt de Auch das schürt die Furcht: dass es womöglich nicht der Mensch
facto keine akute Gefahr. Es gibt nur akute Furcht. ist, der die Technik beherrscht. Dass es vielmehr umgekehrt sein
Der Philosoph Günther Anders hätte die KI-Forscher als »in- könnte: Die Technik treibt den Menschen vor sich her, verändert
vertierte Utopisten« bezeichnet. Denn im Unterschied zu klassi- seine Art, zu sehen und zu denken. Er hat »nicht die geringste Ah-
schen Utopisten, die sich etwas vorstellen, das sie nicht herstellen nung«. Sie hingegen erscheint gottgleich und allwissend.
können, verhält es sich bei den KI-Entwicklern umgekehrt: Sie Die neuen KI-Maschinen arbeiten ja nicht einfach nur ab, was
stellen etwas her, das sie nicht erklären können. Sie kennen sich man ihnen aufträgt. Bittet man ein Programm wie ChatGPT um
bestens aus, doch im Kern bleibt es selbst für sie unbegreiflich, was einen kleinen Essay über die Französische Revolution, wird man
in den Supercomputern eigentlich los ist, wie und auf welchen gewiss bestens bedient. Bittet man sie um einen Aufsatz über die
Wegen die neuronalen, hyperkomplexen Netzwerke der KI zu ih- Avant­garde­foto­gra­fin Franzi Faberland, räumt das Programm kei-
ren Ergebnissen gelangen. »Wir haben nicht die geringste Ah- neswegs sein Unwissen ein oder teilt uns mit, eine solche Fotografin
nung«, so beschreibt Stuart Russell, ein führender KI-Experte, die habe es nie gegeben (was der Wahrheit entspricht!). Vielmehr dich-
Lage. Die Technik, eine Blackbox. tet der Algorithmus munter drauflos, erzählt uns von Faberlands
Und eben weil die Forscher in diese Dunkelheit schwerlich hinein- großer Begabung, ihren Künstlereltern, ihrem Einfluss auf die Um-
leuchten können, waren viele überrascht, verblüfft, erschreckt von den weltbewegung. Die KI-Entwickler kennen solche Erfindungen zur
plötzlichen Entwicklungssprüngen, die ihre Programme in jüngster Genüge. Sie nennen sie Halluzination.
Zeit gemacht haben. Entwicklungssprünge, wie sie sich – wer will das Auch Fotos, die keine Fotos sind, werden auf diese Weise her-
ausschließen? – schon übermorgen erneut ereignen könnten, unerwar- beihalluziniert. Historische Aufnahmen aus jener Zeit, bevor die
tet, ungeplant, in ihren Folgen unabsehbar. Fotografie erfunden war. Porträts von Menschen, die niemals ge-
Vor allem das, die neue Unvorhersehbarkeit, ist eine Quelle der lebt haben. Und je mehr diese Technik an Einfluss gewinnt, je
Furcht. Eben noch glaubte man in der Digitalwelt fest daran, dass häufiger sie genutzt wird – schon jetzt gehört sie bei manchen
sich so gut wie alles im Leben quantifizieren und vorhersagen lasse – Micro­soft-­Pro­gram­men zum Standard –, desto weiter zieht sie uns
die Zukunft, bloß eine Rechenaufgabe. Nun aber leben viele Ent- hinein in ihre Phantasmagorien. Bis wir sie als solche nicht mehr
wickler in dem Gefühl, dass auf das Prinzip Zuversicht kein Verlass erkennen. Und es uns irgendwann vorkommt, als wären wir selbst
mehr ist. Ihre Weckrufe klingen, als drohe ein nie da gewesener nur eine Halluzination.
Kontrollverlust: Jederzeit könnte ein Kipppunkt erreicht sein (man Wo sich Bilder kinderleicht erfinden lassen, gedeiht eine Kul-
kennt solche Kipppunkte aus der Klimadebatte). Und von diesem tur des Verdachts und zersetzt jede Glaubwürdigkeit. Es geht da-
Punkt an verselbstständige sich das System, uneinholbar. Dem bei nicht nur vordergründig um ­Fake- und Lügenkampagnen, die
Menschen bleibt dann nur, das Allerschlimmste abzuwenden. politische Gegner desavouieren oder allgemein Verwirrung stif-
Diese Furcht vor drohender Hilflosigkeit ist schon deshalb be- ten. Es geht viel grundsätzlicher darum, dass sich das Leben im-
merkenswert, weil sich damit der Geist des Silicon Valley gegen sich mer weiter ins Netz verlagert und dort von der Technik konfek-
selbst wendet. Das zentrale Versprechen der Computerpioniere war tioniert wird. So ist beispielsweise das Smart­phone kein Foto­
Souveränität. Die Digitalisierung sollte das Leben ­freier machen, appa­rat im alten Sinne, sondern ein Computer, der die Farben,
maximal selbstbestimmt. Jetzt, im Angesicht der jüngsten KI-­ das Licht, die Linienführung automatisch den programmierten
Wunder, zeigt sich, dass es mit der Selbstbestimmung nicht weit her Ideal­vor­stel­lun­gen anpasst. Damit werden die Bilder vom Einzel-
ist, im Gegenteil. Zwar öffnet die digitale Technik weite Möglich- nen in etwas Kollektives transponiert. Was nach Individualismus
keitsräume, und doch macht sie uns abhängig, auf freie Weise unfrei. aussieht, erweist sich als Simulation.
Das fängt schon bei der Wahlfreiheit an: Über alles Mögliche Solche Befürchtungen, das Subjekt könnte sich in selbst erzeugten
dürfen, sollen, müssen wir im Netz entscheiden. Immerzu werden Scheinwelten verlieren, sind nicht unbedingt neu. Neu sind jedoch
wir um Zustimmung gebeten. Doch wenn es um die Technik die Rasanz und Perfektion, mit der in den KI-­Maschi­nen große Teile
selbst geht, ist damit Schluss. Niemand, der nicht hoffnungslos des Weltwissens zusammenschießen, vermengt und aufbereitet werden.
isoliert leben will, kann sich gegen E-Mail und Mobilfunk ent- Neu ist ebenso die Selbstverständlichkeit, mit der KI die Fiktionalisie-
scheiden. Und so will auch kein Staat, damit er ein- und angebun- rung der Welt vorantreibt, um sie zugleich als unhinterfragbare Ob-
den bleibt, die technische Entwicklung verpassen. Doch wirklich jektivität darzubieten. Anders als bei Wikipedia, wo möglichst alle
freie Entscheidungen sind das nicht. Niemand hat je darüber abge- Fakten belegt sein wollen, kommen die Textgeneratoren ohne Quellen
stimmt, ob es hochgezüchtete KI überhaupt geben soll. Niemand aus. Sie wissen alles, auch das, was sie nicht wissen. Sie treten auf wie
durfte darüber entscheiden, ob ein amerikanisches Unternehmen die Wahrheit selbst. Und erstaunlich viele Menschen sind bereit, die-
die halbe Welt mit Programmen wie ChatGPT beglücken darf. ser Wahrheit zu glauben, wie zahlreiche Stu­dien zeigen. Der Name des
Die Technik revolutioniert das Lernen und Lehren, doch nie wird Phänomens: Overtrust.
die Gesellschaft gefragt, ob diese Revolution des Geisteslebens Auch das also motiviert die Warnrufe der KI-Forscher: Sie
– und es ist eine Revolution! – von ihr gewollt ist. beobachten, wie leicht dem Menschen der Sinn fürs Wirkliche
Der Fortschritt, so zeigt sich, ist ein Zwang. Technische Innova- abhandenkommt. Und damit auch der Sinn für mögliche Risi-
tion ist ein Zwang. Und es kann nicht ganz falsch sein, dass sich ken, die eine hochgezüchtete Technik mit sich bringt. Während
nun auch KI-Apologeten, bislang getragen von der Idee, ihre In- die Maschine sich als Wahrheitshüter geriert, sogar als Subjekt
novationen ­seien alternativlos und naturgegeben, von dieser Idee der Geschichte, erfreut sich der moderne Mensch an den schö-
ihrerseits recht eingezwängt fühlen. Die Technik kann man klein- nen Seiten der Unmündigkeit, lässt die Computer für sich
regulieren, wenn der Gesetzgeber aufpasst. Doch abwählen lässt sie schreiben, malen, denken – und den eigenen Geist verkümmern.
sich nicht. KI, unser Schicksal. So verrät er seine Freiheit, ohne es wirklich zu merken. Von Aus-
Jedenfalls ist das ein Gefühl, das gerade viele umtreibt: Es gibt da löschung zu sprechen ist ganz gewiss übertrieben. Nennen wir es
erstens etwas erstaunlich Unbestimmtes (die Blackbox), zweitens etwas Selbstentmächtigung.
ganz Unausweichliches (den Innovationszwang), und gemeinsam ver-
stärken sie den unguten Eindruck, wir lebten in einer Zeit größter www.zeit.de/vorgelesen

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»Weit mehr als der Roman

einer Amour fou ist ›Feuer‹
ein Generationenroman
über die Fallstricke
© Richard Dumas

weiblichen Begehrens.«
Meike Feßmann, Deutschlandfunk
 46
Foto [M]: Antonio Foncubierta/Getty Images; ZEIT-Grafik: Kim-Melina Bertram
I
m Oktober 2022 landete ein kleines Fi-
scherboot in dem Dorf Gambell auf der
Sankt-Lorenz-Insel vor der Küste des US-
Bundesstaats Alaska. Es war mit zwei Män-
nern besetzt. Nachdem sie aus dem Boot
gestiegen waren, schrieben die beiden mit-
hilfe einer Übersetzungs-App auf ihrem
Smart­ phone eine Nachricht, die sie den Dorf­
bewohnern zeigten. Sie sollte ihnen die Angst vor
den Fremden nehmen: »Wir wollen den Krieg nicht.
Wir wollen politisches Asyl.«
Die Männer kamen aus der Stadt Egwekinot auf
der Tschuktschen-Halbinsel im Nordosten Russ-
lands. Die fünftägige Fahrt auf dem Fischerboot war
schwer gewesen und hätte sie das Leben kosten kön-
nen. Dennoch gingen die beiden das Risiko ein,
weil die russischen Behörden Ende September eine
Teilmobilmachung verkündet hatten. Für den Krieg
gegen die Ukraine wurden gezielt Bewohner aus den
Randgebieten Russlands zur Armee eingezogen, ins-
besondere auch Angehörige indigener Gruppen aus
dem äußersten Osten des Landes.
Wie die New York Times berichtet, wurden die
Flüchtlinge aus Tschukotka von den Anwohnern in
Gambell, überwiegend Indigene aus Alaska, willkom-
men geheißen. Sie erzählten von den schon seit vielen
Generationen bestehenden Verbindungen zwischen
den indigenen Gemeinschaften, die verstreut über
das Beringmeer leben und zu denen auch die Tschuk­
tschen gehören. Einer von ihnen sagte, es sei eine
»Schande«, dass man überhaupt eine Grenze gezogen
habe; bevor es diese gab, s­eien die Menschen einfach
über das Meer hin- und hergefahren. Am nächsten
Tag wurden die beiden russischen Staatsbürger von
Beamten der US-Einwanderungsbehörde jedoch in
Gewahrsam genommen. Sie verbrachten drei Monate
in einem Internierungslager für Asylsuchende, aus
dem sie erst im Februar entlassen wurden.
Ich zoome mich in die Landkarte hinein, als
würde ich mit einem Globus spielen. Alaska liegt im
äußersten Westen, Tschukotka im äußersten Osten,
die Sankt-Lorenz-Insel dazwischen. Geografisch ge-
hört sie immer noch zum Osten, politisch aber be-
reits zum Westen. Man kann sozusagen aus dem
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Serie: Die Zukunft des Westens
Jenseits von Gut und Böse
Der Westen – was ist das eigentlich? Er ist kein Territorium.
Er ist eine politische Himmelsrichtung, in die viele aufbrechen wollen  VON OXANA TIMOFEEVA
Wo ist oben und unten, wo liegen Ost und West? Eine Verkehrung der Perspektiven: Meerlandschaft, auf den Kopf gestellt
Osten in den Osten fliehen, um im Westen politi-
sches Asyl zu beantragen.
Es gibt das Idealbild des Westens als eines Gebiets,
in dem ein Individuum, ein menschliches Wesen, Zu-
flucht vor einer blutigen Diktatur finden kann. Seit die
russische Regierung begonnen hat, die Schrauben an-
zuziehen, versuchen viele Russen, in den Westen zu
fliehen. Der Westen ist aber nicht nur Deutschland,
Frankreich, England oder die USA. Er ist etwas Sym-
bolisches – ein System von Werten, von I­deen wie
Freiheit und Menschenrechten. »Der Westen« ist kein
Territorium. Er ist kein Teil der Welt, nichts Greifbares.
Der Westen ist eine politische Himmelsrichtung. Und
in manchen Fällen, wie dem der beiden Männer aus
Tschukotka, muss man in den äußersten Osten reisen,
um in den Westen zu gelangen.
Osten und Westen sind absolut nur für diejenigen,
die die Erde für eine Scheibe halten. Ich hingegen habe
eine Vorliebe für Tischgloben: Sie veranschaulichen,
dass wir, wenn wir immer weiter gen Osten aufbrechen,
schließlich im Westen ankommen würden. Und umge-
kehrt: So wie der Osten des Ostens der Westen ist, ist
der Westen des Westens wiederum der Osten.
Wir können freilich nicht einfach aufbrechen.
Und zwar nicht nur, weil uns der Mut dazu fehlt, in
einem kleinen Fischerboot fast 500 Kilometer über
die offene See zu schippern, sondern einfach des-
halb, weil es Grenzen gibt. Nichts hindert uns so
sehr daran, die Dialektik der Geografie anzuerken-
nen, in der die Gegensätze in­ein­an­der übergehen,
wie nationale Grenzen. Man sagt »äußerster Osten«,
als bildete er den Rand der Welt, als gäbe es nichts
mehr jenseits dieser Grenze. Tatsächlich beginnt
genau dort der Westen, wo der Osten endet, eine
gezackte Linie im Globusblau, die für die einheimi-
schen Fischer im Meereswasser unsichtbar ist.
Was für die schwimmende Grenze zwischen zwei
Ländern gilt, gilt erst recht für die kulturelle und
politische Grenze zwischen Osten und Westen.
Nichts an dieser Grenze ist absolut. Schon gar nicht
die Vorstellung, dass auf der einen Seite Menschen-
rechte, individuelle Freiheiten, Demokratie, Fort-
schritt und Eman­zi­pa­tion beheimatet sind, während
es auf der anderen Seite nur traditionelle Werte gibt.
Ich war ein Junkie.
Und BILD
meine Droge.
FEUILLETON
Die Zukunft
des Westens
Ein neuer Kompass
In unserer Serie über die
Zukunft des Westens fragen
wir Denkerinnen und Denker
aus aller Welt, ob die
westlichen Werte und Ideen
noch zu retten sind. Zum
Auftakt waren in der ZEIT
Nr. 25 der Sozialphilosoph
Axel Honneth und die
Philosophin Rosi Braidotti
zu lesen
Die Autorin
Die Russin Oxana Timofeeva,
45, lehrt als Philosophin in
St. Petersburg. Sie gehört der
Künstlergruppe Chto Delat
an, die seit 2014 gegen Putin
protestiert. Zuletzt erschien von
Timofeeva das Buch »Heimat«
(Verlag Matthes & Seitz 2022)
Skandale, Shitstorms, Staatsaffären:
Kai Diekmann war immer mittendrin, oft Akteur,
manchmal Auslöser. Jetzt erzählt er erstmals
seine Seite der Geschichte.
Traditionell? Ich wollte eigentlich »sogenannte
›traditionelle Werte‹« schreiben und hinzufügen, was
ich damit meine: Gewalt, eine heteropatriarchale Ord-
nung, eine starke Machtvertikale und völlige Unter-
ordnung. Ich habe es aber unterlassen, um uns daran
zu erinnern, dass die Dinge auf jener anderen Seite der
Grenze oft nur anders genannt werden.
Der russische Krieg in der Ukraine ist der Fall
einer Eskalation, die Raum für beide konkurrie-
renden ideologischen Narrative lässt, in denen nicht
nur die Rhetorik des Kalten Krieges zu neuem ­Leben
erweckt wird, sondern auch einige neue Argumenta-
tionslinien aufkommen.
Dazu gehört etwa der Diskurs der Dekolonisation,
auf den sich beide Seiten des Konflikts berufen. Be-
merkenswerterweise haben diese beiden Narrative ihre
Verfechter. Sowohl in Russland, das sich angesichts des
von Neuem entstehenden Eisernen Vorhangs nun nach
Osten orien­tiert – als auch in westlichen Ländern, die
angesichts der russischen Aggression ihre Interessen im
Hinblick auf den geopolitischen Status quo neu sor-
tieren. In beiden Narrativen sind Ost und West
schlichtweg Gegensätze. Und das hat Folgen.
Was die etablierten Medien im Westen als Entschei-
dungskampf zwischen Demokratie und Totalitarismus
oder zwischen Humanismus und Barbarei darstellen,
malt die russische Propaganda als Verteidigung gegen
einen »kollektiven Westen« aus. Einen Westen, unter
dem sie die von der Nato betriebene Ausdehnung eines
aggressiven Militärapparats sowie einen Ort der Deka-
denz und der fadenscheinigen Doppelmoral versteht.
Wer dieser Propaganda ausgesetzt ist, kann allen
Ernstes glauben, dass die Ukraine den USA nur als
Stellvertreter für einen geplanten Angriff auf Russland
dient. Und er muss auch davon ausgehen, dass der
kollektive Westen ganz offen von einer globalen
LGBT+-Verschwörung beherrscht wird, die es auf die
Zerstörung traditioneller Familienwerte, der herkömm-
lichen Form der Fortpflanzung und letztlich der
Menschheit abgesehen hat.
In diesem Koordinatensystem bin ich eine West-
lerin: Ich unterstütze die Ideale, die mit dem kulturel-
len Westen verbunden sind. Ich glaube an die univer-
selle Botschaft des Westens, wenngleich ich in keiner
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
Weise seine koloniale Vergangenheit entschuldigen
kann. Ich glaube, dass Putins Terrorstaat keine Zukunft
hat, weil nicht nur das Regime jeden Sinn für Mensch-
lichkeit verloren hat, sondern auch, weil seine Bürger
inzwischen in die Verbrechen verstrickt sind.
Doch hat dieser Gegensatz nichts mit dem wirk­
lichen, real existierenden Osten und Westen zu tun.
Schon an dem Gedanken eines Ost-West-Gegensatzes
stimmt etwas nicht, wenn er in den aktuellen politi-
schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen herangezogen wird. Ideo-
logisch funktionieren diese Grenzen oft wie ein Spiegel,
in dem wir nur sehen wollen, wie gut wir sind. Wir
neigen dazu, den Gegensatz zwischen West und Ost
als Gegensatz zwischen Gut und Böse zu verstehen, je
nachdem, auf welcher Seite wir uns befinden. Und
unsere ist immer die gute.
Aus meiner Sicht ist die heutige Wiederbelebung
des Ost-West-Gegensatzes Symptom eines allgemeinen
Rechtsrucks, der öffentliche Politik durch Moral er-
setzt. Jede Seite des Konflikts ruft nach ihrem eigenen
Armageddon, da es schließlich das Böse ist, das besiegt
werden, und das Gute ist, das gewinnen muss. Die
Moralisierung der Politik macht die Konfliktparteien
zu unversöhnlichen Feinden und ist mit einer Natura-
lisierung des Bösen verbunden, dessen Auslöschung
zum Ziel einer militaristischen Politik wird.
Putins Propaganda hat das erfolgreich betrieben:
Schon lange Zeit vor der Invasion in die Ukraine hat
sie das phantasmatische Bild eines kollektiven kanniba-
lischen Westens gezeichnet, der Kinder missbraucht,
und damit die Grundlage zur Rechtfertigung der
breiten Unterstützung des Krieges durch die Bevölke-
rung geschaffen. Selbst die gewalttätigsten Aggressoren
verfügen über ihre eigene Logik, ihre eigene Vorstellung
von der Wahrheit und der höheren Moral.
Ich möchte damit keinesfalls eine Form von Rela-
tivismus verteidigen. Es gibt Gut und Böse wirklich,
nur haben sie nichts mit der Geografie zu tun. Die
Zukunft des Westens wird von konkreten Personen
und Gruppen gemacht, und es gibt überprüfbare
Kriterien, die bei der Entscheidung helfen können, was
gute und schlechte Politik ist – überall auf dem Globus.
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Bestseller
544 Seiten, mit 150 s/w-Fotos + Farbbildteil, 34,- €
Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich.
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 FEUILLETON 47

Von der Gefahr, eine Frau zu sein

In der Kultur wird der Ruf nach Schutzräumen und Beratungsstellen immer lauter.
Über einen aktuellen Trend, der viel über ein altes Thema verrät

H
allo, kommt ihr noch mal zu- opfer sein mögen: Was sich im Kleinen in
rück, bitte?«, ruft Adil immer, Clubs vollzieht, kündigt sich im Großen im
wenn sich Unwillige an ihm ganzen Kulturbetrieb an.
vorbeidrücken. Viele Gäste Und, Überraschung: Die allermeisten Gäste
sind erst mal irritiert, schließ- sind tatsächlich begeistert von dem Seminar an
lich kommen sie in den Club, um zu ­feiern, der Tür. Wirklich. Ein großer, langhaariger Typ
und nicht, um belehrt zu werden – und erst mit einer aufgeblasenen roten E-Gitarre ist ganz
recht nicht, um darüber zu reden, dass nur Ja außer sich, er gibt Adil ein High-­Five. »Wirklich
Abb.: © Home Box Office, Inc. All rights reserved HBO® and related channels and service marks are the property of Home Box Office, Inc.

wirklich Ja heißt. Genau diese Gespräche zu unnormal wichtig, das Ganze«, sagt er. Ein paar
führen ist aber der Job von Adil: Er ist Teil Pöbler gibt es aber natürlich auch. Gegen zwei
des sogenannten Aware­ness-­Teams in dieser Uhr kommt eine Gruppe von Leuten mit riesi-
Nacht in einem Essener Club. Die Berufs­ gen Pupillen rein. Sprechvermögen deutlich ein-
beschreibung: Übergriffigkeiten verhindern, geschränkt. »Seid ihr die bösen Aufpasser?«, fragt
Streits schlichten und aufpassen, dass sich je- einer, während er seine kichernde Freundin be-
der wohlfühlt. fummelt. Adil kann damit umgehen. Er erklärt
Wo also für die meisten das Verantwor- ruhig, dass eine respektvolle Begegnung aller
tungsbewusstsein an der Clubtür aufhört, be- Beteiligten auf dieser Veranstaltung die absolute
ginnt es für Adil gerade dort. »Wir sind sozu­ Grundvoraussetzung für jeden Spaß ist. Dabei
sagen die Sozialarbeiter lächelt er freundlich und
hier«, erklärt er und setzt sagt immer wieder das Glei-
eine Art Smiley-Miene auf. che, bis es selbst bei der
Er und seine Kollegin letzten vergrößerten Pupille
Nana tragen schwarze Sogenannte ankommt. Die Egalisierung
Westen mit einem silbern der Ekstase, um die es ihm
schimmernden A auf dem Awareness-Teams geht, ist manchmal zähe
Rücken. Gegen Mitter-
nacht stellen sie sich am
sollen in Clubs Überzeugungsarbeit.
Im Club legt ein DJ
Einlass des Clubs auf und Übergriffe namens Simply Wet auf.
erläutern jedem einzelnen Mittlerweile kümmert sich
eintreffenden Gast, dass verhindern. Nana auf der Toilette um
hier aufmerksam mit den eine junge Frau, die nach
individuellen Grenzen und Sie sind Garanten zu viel Ecstasy aussieht –
Bedürfnissen jeder Person
umgegangen werden soll.
der Freiheit  auch das gehört zur Aware­
ness-­Ar­beit. Zur gleichen
Es soll ein Ort entstehen, VON PAULINA UNFRIED Zeit kommen mehrere jun-
an dem sich die Menschen ge Clubgängerinnen auf
ihrer unterschiedlichen Adil zu. Ein deutlich älterer
Positionen und Privilegien Mann habe sie wiederholt
bewusst werden und sich beim Tanzen angefasst.
niemand verletzt fühlt. »Wir tolerieren keine Von all den verschiedenen Arten von Aware­
Abel The Weeknd Tesfaye und Lily-Rose Depp in »The Idol« Form von Diskriminierung«, sagt das A-Team ness-­Fäl­len ist dieser wohl der erwartbarste und

D
immer wieder. Dieses neue Ethos ist allgegen- häufigste. Früher galt in solchen Situationen:
ie neue HBO-Serie The Idol ist woraus folgt, dass man Misogynie weiterhin gut diese Weise Selfies machen, ich habe früher auch wärtig: Den ­»Code of Conduct«, also die wich- Aussage gegen Aussage, was im Zweifelsfall
bemerkenswert schlecht, aber da- verkaufen kann, wenn man sie nur problemati- mal so geschaut, es ist wie ein Tanzschritt, eine tigsten Grundregeln des gemeinsamen ­Feierns, bedeutete, dass die Täter ungestört weiterma-
für sehr interessant, und zwar vor siert – und natürlich kann man diesen Twist als Sprache, die man eigentlich automatisch draufhat. kann man auf den Partys des Veranstaltungs- chen konnten. Ein Aware­ness-­Team verschiebt
allem als unfreiwilliger Kommen- Antwort verstehen, als Backlash nach »zu viel Fe- Auch Kayla Shyx, die YouTuberin, die das muti- kollektivs Ivory sogar beim Pinkeln nachlesen. die De­f i­ni­tions­macht zugunsten der Opfer: Sie
tar zum Rammstein-Sänger Till minismus«, ja, es wirkt stellenweise wirklich, als ge Video zu ihren Erlebnissen mit Rammstein ver- Diese beinahe kindergartenpädagogische dürfen jetzt entscheiden, was in Belästigungs-
Lindemann und seinem mutmaßlichen Umgang breche sich hier irgendetwas Angestautes Bahn. öffentlicht hat, schaut auf einigen ihrer Instagram- Wiederholung der Verhaltensregeln mag ein fällen passiert. So bekommt Adil das Okay der
mit jungen Frauen. Dazu gehört, dass die zentrale sexuelle Fantasie Fotos so. Dieser Blick ist das Ergebnis einer sozio- bisschen lächerlich wirken. Schließlich soll- Betroffenen, auf Konfrontationskurs zu gehen.
Zunächst zum Inhalt der Serie – von der, das mit Gewalt und Vergewaltigung zu tun hat: Joss kulturellen Prägung, einer Erwartung, für die es Likes ten derartige Prinzipien doch eigentlich Er fragt den Mann, ob er denn wahrgenommen
muss man fairerweise sagen, zu diesem Zeitpunkt sagt, ihr gefalle Tedros, weil er so rapey wirke (grob gibt und deren Maßstab männliches Begehren ist, Common S­ense sein. Doch die meisten habe, eine entscheidende Grenze zu übertreten.
erst zwei Folgen zu sehen sind: Die schöne, strau- übersetzt: weil von ihm der Vibe einer Vergewalti- also eine für viele Frauen noch immer zentrale Wäh- Party­gänger haben eine Aware­ness-­Schu­lung Offenbar nicht. Nachdem er keine Gesprächs-
chelnde Popsängerin Joss (Lily-Rose Depp) muss gung ausgehe). Die erwähnte Label-Frau stellt fest, rung ihres gesellschaftlichen Erfolgs, bei der es, bitter nötig, das weiß jeder, der schon einmal bereitschaft zeigt, gibt Adil den Türstehern zu
unbedingt ein großer Star werden, und das will dass Joss’ Labilität für die Verkaufszahlen nur von wichtig, überhaupt nicht um Sex geht. Das ist ein beim Feiern ständig irgendwelche Hände am verstehen, dass sie ihn rausschmeißen sollen.
nicht nur sie, sondern alle um sie herum wollen es Vorteil sei, weil man mit unzurechnungsfähigen altes, sehr großes Missverständnis: Es geht nicht um Po hatte. Oft sind Clubs noch immer Orte Man kann sich leicht vorstellen, wie manche
auch (Manager, Plattenfirma et cetera). Joss wirkt Menschen leichter Sex habe könne (den Anschul- Sex, es geht um Aufmerksamkeit und Anerkennung. längst überwunden geglaubter Übergriffig- Kulturapokalyptiker jetzt schreien, dass hier eine
beschädigt, sie hat meistens so gut wie nichts an, digungen nach auch Lindemanns Kalkül), Tedros Natürlich würden wir hier gern alle etwas an- keiten – die neue Aware­ness erobert sie jetzt neue Anti-Spaß-Instanz installiert werde. »Wenn
und in diesem Zustand begegnet sie gleich in wiederum findet die Vorstellung erregend, dass Joss deres behaupten, aber wozu sind die ganzen als Freiraum zurück. Es ist eine kleine Re- Personen das Gefühl haben, hier patrouilliert auf
der ersten Folge dem Nachtclub-Besitzer Tedros an seinem Penis erstickt (erinnert natürlich sofort Cremes, die Operationen für große Münder, die volution, welche die deutsche Clubszene er- einmal eine Polizei, dann sind es wahrscheinlich
(Abel Tesfaye, besser bekannt als der Popsuperstar an den Lindemann-Porno) – ja, im Grunde wirkt Schminke, das Botox da? Nur dazu, dass man fasst. Und nicht nur dort stehen die Zeichen die, die Aware­ness am meisten brauchen«, ent-
The Weeknd). Tedros wird als schmierlappenhaf- der Beginn der Serie wie eine einzige Vergewaltigung angeguckt und auserwählt wird (vielleicht sogar auf Be­wusst­seins­erwei­te­rung: Sowohl Kultur­ gegnet Helen Gröning, die Chefin von Adil und
ter Alphamann eingeführt, der genau weiß, was der Protagonistin. für die »Row Zero«)? Einige feministisch denken- ministerin Claudia Roth als auch Familien- Nana, wenn man sie später auf solche Vorwürfe
er will, und sich also Joss nimmt, die sich von All das hinterlässt zum jetzigen Zeitpunkt natür- de Frauen sagen, sie machten das alles nur für ministerin Lisa Paus plädierten erst kürzlich anspricht. Das Nachtleben ist geprägt von Frei-
ihm gleichermaßen angezogen fühlt. Die beiden lich einen speziell ekligen Eindruck und ist zugleich sich, aber kann man das trennen, sich und den für mehr Aware­ ness im Kulturbereich,­ heit und Hedonismus, es geht um das Unver-
haben Sex, der als gefährlich und edgy inszeniert sogenannten männlichen Blick auf sich selbst? nachdem Missbrauchsvorwürfe gegen Til fügbare, das nicht Prognostizierbare, das Auf-
wird (ein Messer spielt eine Rolle und Würgen bis Nein, man bekommt das nie mehr auseinander. Schweiger und Till Lindemann laut gewor- regende. Aber all das auf Kosten anderer zu erle-
zur Besinnungslosigkeit). Es ist klar, wer der Boss Und an dieser Stelle wird mein Text nicht nur den waren. Ob es nun Schutzräume oder ben ist kein zu rechtfertigender Preis. Ekstase
ist und dass Joss genau das anziehend findet. etwas uferlos, sondern auch gefährlich, wenn man Beratungsstellen für weibliche Missbrauchs- gehört allen.
Wir sehen den Beginn einer bekannten Kon- die falschen Schlüsse daraus zieht. Zunächst: Eine
stellation, nämlich eine Beziehung, die man klas- kulturell geprägte, zigfach wiederholte sexuelle Fan-
sischerweise sexy und toxisch finden soll und in tasie ist etwas vollkommen anderes als ihre kon-
deren weiterem Verlauf sich Tedros als der An- In der Serie »The Idol« krete Umsetzung. Und natürlich ist ein Blick, der
führer irgendeines abseitigen Kults entpuppen bescheuerte berühmte kurze Rock, die Entscheidung
wird, der Joss in den Bann zieht (was man beim geht es um toxische auf eine Aftershow-Party von Rammstein zu gehen
Schauen genauso wenig begreift wie Lindemanns
angebliche Fähigkeit eben dazu).
Männlichkeit und den keine Sex-Bereitschaftserklärung.
Nachdem Rammstein-Verteidiger dagegen mal
Die beiden Macher von The Idol sind der be- Wunsch von Frauen wieder die »Selbst schuld«-These mobilisiert hat-
reits erwähnte Abel The Weeknd Tesfaye und ten, war dem in sozialen Medien und Artikeln viel
Samuel Levinson, Autor der gefeierten Serie Eu- nach Anerkennung   wider­sprochen worden. Ich hätte auch widerspro-
phoria, der von The Weeknd eingeladen worden chen, natürlich. Doch als ich The Idol schaute und
sein soll, nachdem dieser angeblich zu dem Er- VON ANTONIA BAUM Joss dabei zusah, wie sie ständig herabwürdigend
gebnis kam, dass Levinsons Vorgängerin, die Re- behandelt, wie über sie verfügt wurde und sie Ge-
gisseurin Amy Seimetz, zu stark zu einer »weibli- walt erfuhr (aber alles freiwillig, juhu), da stand
chen Perspektive« tendiere. Dennoch war den immer wieder dieser Satz in meinem Kopf, laut und
beiden, tja, Machern vermutlich absolut klar, dass ungeduldig: Entschuldigung, kannst du dir bitte
eine so nackte, so gequälte, so schöne Protago- endlich was anziehen? Ich meinte das nicht böse,
nistin irgendwie motiviert werden muss. Und das – sehr wichtige Unterscheidung – als Fantasie (!) Teil eher pragmatisch, denn ich weiß, dass man weni-
haben sie schlau gemacht, nämlich indem sie As- einer sehr alten, stabilen kulturellen Praxis, die man ger ernst genommen wird, wenn man wenig anhat.
pekte des feministischen Diskurses einmal durchs sich in unzähligen Pornos ansehen oder in Romanen Mir war dieser Satz peinlich, ich wollte eigentlich
Bild laufen lassen. und Gedichten (Brecht zum Beispiel: Über die Ver- nichts mit ihm zu tun haben, auch, wenn ich ge-
Es gibt eine Art Awarenessbeauftragten, der für führung von Engeln) nachlesen kann. Eine kulturelle nau weiß, wo er herkommt, er ist Teil dieser hier an
Joss’ Sicherheit zuständig ist, aber die will diese Si- Praxis, mit der HBO gerade Geld verdienen möch- verschiedenen Stellen beschriebenen ur­alten miso-
cherheit überhaupt nicht haben. Als in den sozialen te (so abseitig können diese Fantasien also nicht sein) gynen Geschichte, in der das unschuldige, aber im
Netzwerken ein Foto auftaucht, das Joss mit Sperma und deren zentraler Bestandteil einerseits der Mann- Grunde willige Mädchen dem animalischen Mann-
im Gesicht zeigt, aufgenommen sehr wahrscheinlich Mann ist, das »Tier von einem Mann« (so wurde die Mann etwas schuldig ist (du hast es doch auch ge-
aus der Perspektive desjenigen, aus dem das Sperma Anziehungskraft Lindemanns von einigen Ramm- wollt, du hast mich scharf gemacht et cetera). Doch
Foto: Ramon Haindl/Connected Archives

herauskam, lässt die Frau von der Plattenfirma sich stein-Konzertbesucherinnen in München in der ganz anders als von denen beabsichtigt, die den
nicht nervös machen und hofft stattdessen, am vergangenen Woche beschrieben), das sich durch Zieh-dir-was-an-Satz als Schuldzuweisung vorbrin-
nächsten Tag von 150 Google Alerts geweckt zu nichts aufhalten lässt. Der andere Bestandteil ist das gen, ist dieser Gedanke (und mit ihm diese Serie)
werden, die sagen, dass Joss »eine feministische verletzte Reh. tatsächlich der beste, eindeutigste Beweis dafür, dass
Heldin« sei. In der Anfangsszene der Serie wird Joss während es gefährlich ist, eine Frau zu sein, nachts, allein, in
Die Serie zeigt Frauen also weiter auf jene be- eines Fotoshootings aufgefordert, genau so zu gu- bestimmten Gegenden, im Taxi, in der Tiefgarage,
kannte, entwertende Weise, die dem entspricht, cken: die großen Augen sind aufgerissen, der Blick auf Aftershow-Partys, auf irgend­welchen Partys,
was allgemein als Männerfantasie gilt, will aber geht von unten nach oben, die roten Lippen sind nach Partys und natürlich zu Hause.
dabei nicht so daherkommen. Nein, sie möchte leicht geöffnet und so weiter. Auf Instagram sieht
im Gegenteil als progressiv verstanden werden, man von morgens bis abends junge Frauen auf »The Idol« ist ab jetzt bei wow.tv verfügbar Fühlen sich hier alle wohl? Szene auf einem Konzert in Hamburg
48
Um der Gottesanbeterin willen
Die Stuttgarter Staatsoper verlegt Messiaens »Saint François d’Assise« in die Natur – und vergisst den Klimawandel  VON HANNAH SCHMIDT
K
urze Frage: In welcher Welt leben
manche Opernschaffende wohl? Ist es
dieselbe wie unsere, wie meine, dieser
fragile Planet, dessen Ökosystem ge-
rade den Bach runtergeht? Oder ist es
eine andere, ästhetischere, heilere?
Nach der Premiere von Olivier Messiaens Saint
François d’Assise an der Staatsoper in Stuttgart bleibt
vor allem Ratlosigkeit: Als Pilgerreise hat die Regis-
seurin Anna-Sophie Mahler die Aufführung angelegt,
der erste und der dritte Teil fanden im Opernhaus
statt, im zweiten wandelte man durch einen Park und
besuchte eine Freilichtbühne. Etwa acht Stunden und
mehr als drei Kilometer Fußweg bedeutete das für
das Publikum – kein kleiner Einsatz für ein Werk,
das seit seiner Uraufführung 1983, gelinde gesagt, als
eines der undramatischsten der Operngeschichte gilt.
Die Regisseurin aber fasste sich ein Herz und holte
es raus aus dem Schrank, sie verfrachtete das Ge-
schehen mit großem Paukenschlag in die Stadt und
damit in die Welt da draußen.
Ihre Idee passt insofern gut, als dass Olivier
Messiaens Protagonist, Franz von Assisi (grandios:
Michael M ­ ayes), in der Konfrontation mit der Außen-
welt zum Heiligen wird: Er öffnet uns die Augen für
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Ab und zu trifft man im Park ein Insekt: »Saint François d’Assise« am Killesberg
die Wunder der Schöpfung, deren Schönheiten und
deren Gräuel, und lernt beides aufrichtig lieben. Dazu
gehört nicht nur der Aussätzige in seinem überdimen-
sionierten eitrigen Pustelkostüm (Moritz Kallenberg),
sondern vor allem der Gesang der Vögel, den Mes-
siaen verehrte und bei jeder Gelegenheit liebend gern
vertonte. In Saint François d’Assise gipfelt diese Liebe
in einem fast einstündigen Tirili-Vogelstimmen-
konzert in der Mitte der Oper.
Eine Erzählung wie diese ins Jahr 2023 zu holen
geht eigentlich nicht, ohne den derzeitigen Zustand
der Natur zu reflektieren. Sollte man meinen. François
singt die Sonne an – man denkt an New York in
der vergangenen Woche, an die kanadischen Wald-
brände und daran, wie sie die Sonne verdunkeln. Das
Orchester spielt ein »großes Vogelkonzert« – und es
ist völlig klar, dass einige der hier vertonten Stimmen
bald nicht mehr zu hören sein werden, weil die Arten
akut vom Aussterben bedroht sind. Kultur und Natur
wieder stärker zu verbinden, wie die Regisseurin im
Programmheft erklärt, ist eine nette Idee. Dass die
menschliche Kultur selbst seit der Industrialisierung
die größte Bedrohung für die Natur darstellt, gerät
bei diesem Konzept – bis auf einen Absatz hinten im
Programmheft – völlig ins Hintertreffen.
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FEUILLETON
Mitunter nimmt das bei der Premiere groteske
Züge an: Da wandern Hunderte Opernbesucherinnen
und -besucher in der Hitze des Nachmittags durch
den Höhenpark Killesberg und hören über MP3-
Player, wie den Brüdern Bernard, Massée und Élie
der Engel begegnet. An der Freilichtbühne ange-
kommen, setzt erst einmal ein allgemeines Gerangel
nach Wasser und Schatten ein. Die fürs Publikum
aufgestellten Stühle bleiben rar besetzt, selbst um 18
Uhr brennt die Sonne einfach noch zu heiß. Wäh-
rend François im dicken Mönchsgewand 45 Minu-
ten lang Vogelnamen aufzählt, fragt eine Sitz­
nachbarin, wie diese Situation arbeitsschutzrechtlich
wohl zu bewerten sei. Immer wieder übertönen
Motoren- und Hubschraubergeräusche die Stutt-
garter Symphoniker (Leitung: Titus Engel).
Natürlich ist es schön, an einem sonnigen Tag
draußen zu sein und einen Spaziergang zu machen,
begleitet von netten G ­ uides aus der Statisterie und
– eigentlich eine alltägliche Situation – mit Musik
auf den Ohren. Wenn dann zwischendurch hier und
dort der Engel aus dem Gebüsch oder hinter einem
Teich hervorglitzert, freut man sich, ihn entdeckt zu
haben. Doch wo bleibt nur der Kontext, wo bleibt
das Politische in all dem Naturgenuss?
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Foto: Martin Sigmund/Staatsoper Stuttgart
Soll der verstörend echt aussehende tote Hase,
der zu Beginn des ersten Aktes als einziges Requi-
sit auf der Bühne liegt, die sterbende Natur dar-
stellen? Oder tut es die Kargheit des Bühnenbildes
an sich (nur ein großer Spiegel, der das Geschehen
gleichzeitig aus der Vogelperspektive zeigt)? Der
Hase wird rituell beerdigt und vom Opernchor
betrauert, fortan übernehmen Insekten das Regi-
ment der Inszenierung. Zuerst aber zeigen Nah-
aufnahmen auf einer gigantischen Leinwand ihre
Ekligkeit. Auch das Publikum lernt hier das Häss-
liche in der Natur zu lieben: Der Engel ist eine
glitzernde Gottesanbeterin (tolles Kostüm: Pas­
cale Martin), und der gestorbene François ent-
schwebt am Ende als geschlüpfte Libelle in die
Bühnenmaschinerie.
Immer wieder entstehen mit wenigen gezielten
Handgriffen, einer klugen Licht- und Personen-
regie im Opernhaus ästhetisch beeindruckende
Momente: Da schreitet der Chor zum Beispiel von
der Bühne, um sich im Parkett und auf den Rän-
gen zu verteilen – und Titus Engel dreht sich um
und dirigiert in den Raum hinein. Bei den Klang-
schichtungen der Partitur wird das zum geradezu
magischen audiovisuellen Moment.
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15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
Und trotzdem – auch wenn die Inszenierung auf
den ersten Blick eine Öffnung versucht, blendet
sie doch vieles aus: Man geht zwar hinaus in die
Stadt, verlässt aber, so schnell es geht, den schäbigen
Schlossgarten mit seinen Trinkern und Bettlerinnen
und fährt mit der Bahn lieber zum schicken Park im
schicken Norden der Stadt. Und die Einzelnen mit
ihren Kopfhörern und Libretti in der Hand bleiben
vom Außen hübsch abgeschottet. Vor der Freilicht-
bühne werden die Bändchen kontrolliert, das Opern-
publikum bleibt auch hier unter sich. Und während
sich in Bonn gerade Expertinnen und Wissenschaftler
bei der Climate ­Change Conference der UN die
Köpfe über die Zukunft des Planeten zerbrechen, tut
die Württembergische Staatsoper so, als sei unser Ver-
hältnis zur Umwelt vor allem eine Mindset-Sache.
Aber ist das verkehrt? Darf man jetzt nicht ein-
mal mehr kollektiv spazieren gehen oder eine
Parkanlage schön finden? Natürlich darf man das,
um der Gottesanbeterin willen. Allein: Die Natur
ist nicht mehr das, was sie zu Messiaens Zeiten
war, Mitte der 1980er-Jahre – und das liegt in
unserer Verantwortung. Aufgabe von Kunst und
Kultur sollte es sein, auf diese Verantwortung hin-
zuweisen. Immer wieder.
 DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023 FEUILLETON 49

A
uf den ersten Blick sieht es so der ­ Erfolg der animierten Fantasyserie Ar­cane,­
aus, als säße das US-Kino wie- einer amerikanisch-französischen Produktion. Ende
der fest im Sattel – zumal nach 2021, als gerade der Schock über den Welterfolg
den Kassenerfolgen von Top von Squid ­Game abgeklungen war, schob sich ihre
Gun: Maverick und Avatar: erste Staffel in die Netflix-Top-Region. Ar­cane ist
The Way of ­ Water. Aber im der erste Serienableger eines der erfolgreichsten
Untergrund rumort es. Vieles Online-Computerspiele: ­League of L ­ egends mit 70
deutet darauf hin: Die amerikanische Herrschaft Millionen registrierten Spielern. Riot G ­ ames, die
über den globalen Kulturkonsum bröselt. Seit Produktionsfirma der Serie, begann als unabhän-
Langem gibt es nationale Märkte wie Indien und giges US-amerikanisches Studio, ist aber inzwi-
Hongkong, wo sich Eigenproduktionen amorti- schen eine Tochter des chinesischen Internet-
sieren können oder die von jeher in Wellen Fil- Multis Tencent. Eingesprochen wurde Ar­cane von
me, Popmusik und Stars exportierten. Doch seit englischsprachigen Stars wie Hailee Steinfeld und
ein paar Jahren ist der »Very Big Player« Festland- Ella Purnell; die Animation besorgte das franzö­
china hinzugekommen. Überhaupt haben sich sische Studio For­tiche. Die Optik der Serie unter-
die ostasiatischen Länder zu einem stabilen Film- scheidet sich erheblich von dem, was amerikani-
wirtschaftsraum entwickelt, in dem munter Kon- sche Trickfilmstudios wie Pixar oder Dream­works
zepte, ­Formate, Produktionen und Personal aus- liefern – es ist eine malerische, expressive Mischung
getauscht werden. Im Zuge der Globalisierung aus 3-D und 2-D mit Anleihen beim japanischen
und Digitalisierung strebt die Bildproduktion ins ­Anime. Und das Szenario wirkt unangestrengt di-
»Transnationale« – auch so ein Konzept, das die vers, mit starken weiblichen Figuren, People of
Medientheorie und Filmforschung seit rund 20 Color und queeren Zügen. Ar­cane erreichte im
Jahren ­beschäftigt. Netflix-freien China über einen Streamingkanal
Transnational gehört zu jenen unscharfen­ von Tencent innerhalb weniger Stunden 130 Mil-
Begriffen, die sofort anfangen, ein Rhizom zu lionen Zuschauer. Was Beobachter erstaunte,­
bilden, wie die Wurzeln des Gierschs im Garten. waren nicht nur die nackten Zahlen: Die Serie
Darunter gefasst wird ein Kino, das Erfahrungen Sie stammen aus verschiedensten Weltgegenden, aber sie wurde von der Kritik praktisch ignoriert, erhielt
der Migration, der Entwurzelung und Neuveror- blasen alle dieselbe Flamme aus: Szene aus der Serie »Sense 8« aber in sämtlichen Online-Viewer-Rankings­
tung reflektiert, wie das Cinéma Beur in Frank- anhaltend Bestnoten.
reich, das deutschtürkische Kino oder in England Das chinesische Portal Tencent? Pikant. Wenn

Gruppensex
der indisch-pakistanische Film. Geprägt ist es von Inder bei den Oscars in den Nebenkategorien gewin-
Regisseurinnen und Regisseuren, die inhaltlich nen wie in diesem Jahr der tamilische Dokumentar-
und formal über kulturelle Grenzen hinweg- kurzfilm Die Elefantenflüsterer und die Telugu-­
schauen. Aktuell reicht das Spektrum von der­ Rebellensaga RRR (für den besten Song) – fein. Aber
Oscar-Gewinnerin Chloé Zhao, die in Peking bei Big in China hört der Spaß auf. Auf der Main-
mit japanischen Mangas aufwuchs und in Filmen stream-Ebene ist zwischen der Volksrepublik und den

jenseits aller Grenzen

wie Songs My Brothers Taught Me und Nomadland
erzamerikanische Themen bearbeitet, bis zum Ja-
paner Hirokazu Kore-eda, der im Ausland mit
französischen (Cathe­rine De­neuve) oder zuletzt
in Broker mit südkoreanischen Stars (Song Kang
Ho, Bae Doona) dreht. Auch das sogenannte
World ­ Cinema, früher ein Kampfbegriff, mit
dem sich die Kinematografien des Globalen Sü-
dens gegen ­Hollywood in Position brachten, ist im
Transnationalen aufgegangen. Theoretisch könnte
man diese Entwicklung als die fällige Abkehr
von der Fixierung auf die US-Kultur betrachten.
Praktisch geht es darum, dass sich der Arthaus-
Film über eine wachsende Zahl von Festivals und
spezialisierten Verleihen seine eigenen internatio-
nalen Wege geschaffen hat.
Schließlich, und nicht zuletzt, beschreibt der
Begriff »transnational« eine veränderte Ökonomie
im Main­stream: Wer heute Kasse machen will,
muss dafür sorgen, dass seine Produkte an unter-
schiedlichen Enden der Welt anschlussfähig sind –
und trotzdem noch den ­ Charme des Eigenen,
Anderen versprühen. Besonders gut beherrschen
dies die Japaner und Südkoreaner, in deren Pop-
Produkten sich auf unterhaltendste Weise vieles
mischt: Hightech und Konfuzianismus, Konsu-
mismus und Kollektivgeist, Miso- und Burgerduft.
Chinas Medienindustrie profitiert schon länger
vom internationalen Renommee der neueren­
chinesischen Science-Fiction-Literatur und neuer-
dings auch vom Sog der koreanischen Fernseh-
dramen. Filme wie The Wandering Earth nach dem
Foto: Murray Close/Netflix
USA ein regelrechter Kulturkampf ausgebrochen. So
hatte China in den letzten Jahren Südkorea mit einem
Serien-Embargo belegt. Das Disney-Imperium wur-
de mit ideologisch motivierten Blockaden seiner
Superheldenfilme vorübergehend aus China ver-
bannt. Umgekehrt werden in den USA Box-Office-
Erfolge schon mal zu Meilensteinen in der System-
Die US-amerikanische Herrschaft über die globalen Bilderwelten konkurrenz hochgerappt. Als der Blockbuster Spider-
Man: No Way H ­ ome das chinesische Koreakriegs-Epos
bröselt. Was tritt an ihre Stelle?  VON SABINE HORST The Battle at ­Lake Chang­jin in der internationalen
Hitliste ablöste – obwohl der Hollywoodfilm keinen
China-Start hatte –, feierte der Kritiker der konser-
vativen US-amerikanischen National Review eine
Wende im »größeren kulturellen und geopolitischen
Menschen aus allen Weltregionen. Und jeder tang-Truppe gegen die Japaner im Shanghai des mount+ für 2023 eine Ausdehnung seiner globa- Wettkampf zwischen China und den USA. Anders
bringt sein landestypisches Format mit: nordischer Jahres 1837 schildert. Oder auch Demon ­Slayer: len Aktivitäten angekündigt. als die nationalistische und kriegerische Botschaft von
Krimi mit Punk-Protagonistin, kalifornische Queer- ­The Movie: Mugen Train, ein Anime-­Film aus Ja- Ein Teil des neuen Transnationalismus, man The Battle at L ­ ake Chang­jin ist der moralische Beitrag
Aktivisten-Geschichte, Bollywood-Roma­nze, latein­ pan, dessen Erfolg besonders überraschend war, könnte sagen: der popkulturelle, potenziell wirt- dieses Hollywood-Helden universell und erhebend
amerikanische Telenovela, südkoreanisches Erben- weil er auf einer fantastischen Actionserie ­beruht, schaftsmächtige Teil, wird von Jugendkulturen­ (...). Amerika sollte sich von China in jeder denk-
Drama. Irgendwann scheinen die ­Figuren selbst die auf jugendliche Zuschauer zugeschnitten ist. befeuert, von Me­dien­fans und ­Gamern etwa. Japa- baren wirtschaftlichen Dimension lösen (...). Lasst
die Macht über ihre Storys zu e­ rlangen; sie schal- Südkorea schlug die USA gar auf ihrem Home­ nische Anime-­Se­rien haben in der vergangenen China mit seinem chauvinistischen Geschwätz
ten sich – wir sind hier in einem mild futuris­ turf: mit dem Oscar für den besten Film für Bong Wintersaison die Hälfte der US-Importe ausge- schmoren. Wir können den Rest der Welt haben.«
tischen Setting – durch Gedankenkraft in die Ge- Joon Hos Para­site und bei den American M ­ usic macht. Auf You­Tube hatten sich bereits in den Dieser Rest wurde im folgenden Jahr mit Top Gun:
schichten der anderen ein. Ein Traum von kollek- Awards, wo die Boygroup BTS die amerikanische Nullerjahren Pokémons und Hobbits in Mash-ups Mave­rick bedient, der von einer völkerrechtswidrigen
tiver Arbeit und globaler Solidarität, der in eine Pop-Queen Taylor Swift entthronte. Die Netflix- und Animated ­Music Videos verbrüdert; heute amerikanischen Militäraktion in einem atomaren
hinreißende Gruppensexszene mündet. Serien-Hitliste 2021 wurde von dem ­spanischen findet man dort auch tränentreibende Szenen aus Schwellenland handelt.
Als Sense 8 erschien, war die Zeit fürs Trans­ Drama ­Money Heist, der französischen Krimiserie südkoreanischen Liebesserien, unterlegt mit rus­ Dagegen belegte die massive Social-­ Media-­
nationale vielleicht noch nicht ganz reif – obwohl Lupin und der koreanischen Horrorshow Squid sischen Popsongs und thailändischen Dialogen. Unter­ stüt­
zung für das amerikanisch-asiatische
die Serie eine enthusiastische Fangemeinde hatte, ­Game dominiert. Spezialportale wie Crunchy­roll für ­Anime oder Team des Oscar-Rekordgewinners Every­thing
brachte sie es nur auf zwei Staffeln. Die Pandemie Die Entwicklung scheint sich nach dem offi- Rakuten Tivi, das Dramaserien aus Südkorea, Every­where All at ­Once und für den indischen Film
gab dem Trend dann aber Zunder: Im ersten­ ziellen Ende der Pandemie nicht abzuschwächen. China, Japan und Viet­nam anbietet, bedienten die RRR mit seinem hemmungslosen Kolonialmächte-
Corona-Jahr 2020 strömten in China die Massen Zu Beginn dieses Jahres standen den weltweiten Bedürfnisse dieser Communitys. Und zwar lange Bashing, dass große Teile des Publikums auf den

Roman von Cixin Liu und chinesische Historien-
serien landen immer öfter im Westen an, laufen
auf Netflix. Eine Original-Netflix-Serie hatte­
übrigens schon 2015 ein exemplarisches trans­
nationales Konzept vorgestellt: In Lana Wachowskis
­Sense 8 vernetzen sich auf magische Weise acht
ins Kino, während im Westen Streaming das­ Starts von 31 neuen oder fortgesetzten Se­rien bevor Breitband-Streamer wie Amazon und ­Netflix transnationalen Geschmack gekommen sind. Im
Medienerlebnis der Stunde war. Plötzlich standen amerikanischer Autoren 98 internationale Se­rien das Fernost-Angebot bei uns massenwirksam und Lockdown, zu Hause auf der Couch, waren wir
Produktionen aus Fernost mit Einspielergebnissen aus 25 Ländern gegenüber, wie die New York­ feuilletonfähig machten. viel unterwegs und haben die Welt vom anderen
über 400 Millionen Dollar an der Spitze der Welt- Times berichtet. Angesichts der Konkurrenz um Wie sich die Marktstrukturen verändern und Ende her gesehen. Soll doch das amerikanische
Charts, etwa der chinesische Kriegsfilm The 800, die US-amerikanischen Zuschauer hat nicht nur dass so etwas auch für Big Player wie Marvel Blockbustergeschäft in seinem Kerosin vor sich
der den heldenhaften Widerstand einer ­Kuomin­ Netflix, sondern auch der Neuzugang Para- und Disney bedrohlich werden könnte, belegt hin köcheln. Das Kino der Zukunft ist multipolar.

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50
Liebe im Zwischenreich
Niemand kann so glänzend nachdenken, indem er erzählt, und erzählen, indem er nachdenkt:
J. M. Coetzee hat mit »Der Pole« einen hinreißenden Roman geschrieben  VON GREGOR DOTZAUER
D
urch die Fluten von Besprechungen und Abhand­
lungen, die über seinem Werk zusammenschlagen,
treibt seit geraumer Zeit auch der Begriff Spätstil.
Dazu zählt offenbar alles, was J. M. Coetzee nach
Schande geschrieben hat, dem Roman, der ihm
2003, vier Jahre nach dem Booker ­Prize, den Lite­
raturnobelpreis eintrug. Spätstil, Spätwerk, vor­
letzte Worte und Todeshauch: Auf den Mann von
ROMAN Anfang 60, der gerade aus seiner Geburtsstadt, dem
südafrikanischen Kapstadt, ins australische Ade­
laide umgezogen war und mit den Erzählungen
von Elizabeth Costello (2003) noch einmal einen
neuen Ton angeschlagen hatte, scheint nichts weni­
ger zu passen als diese graue, die erste Anwartschaft
aufs Pflegeheim suggerierende Kette von Assozia­
tionen. Es brauchte wohl Edward Saids Essay­
sammlung On ­Late ­Style (2006), um dem Begriff
seinen Beigeschmack von müder Abgeklärtheit,
zahnloser Versöhnlichkeit und weiser Melancholie
zu nehmen und dagegen Altersrenitenz, ästheti­
sches Exil und Lust an Widersprüchen zu setzen.
Alles drei ließe sich Coetzee, der sich damit so
etwas wie eine zweite Jugend erkämpfte, problem­
los nachsagen, wenn er den Klischees nicht Vor­
schub leisten würde, indem er einen verzweifelten
Abwehrzauber gegen die Zumutungen des Alterns
inszeniert. Schande, eine Prosa-Tragödie über das
gewalttätige Erbe der Apartheid, ist auch ein Buch
über die Organisation männlicher Sexualität in
höherem Alter. In der reichlich gezausten Titelhel­
din von Elizabeth Costello, einer dem 1940 gebore­
nen Coetzee um zwölf Jahre vorauseilenden Schrift­
stellerin, entwirft er einen philosophischen Avatar
mit deutlichen Anzeichen des Verfalls. Zeitlupe
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Di-So 11-19, Eintritt frei, Pariser Platz 4, adk.de/macht_raum_gewalt
Berlinische Galerie – Museum für Moderne Kunst
26.05. bis 14.08.2023: Julius von Bismarck When Platitudes Become Form
26.05. bis 14.08.2023: Böhler & Orendt The Sweet Certainty
26.05. bis 18.09.2023: Suddenly Wonderful Zukunftsideen für Westberliner Groß-
bauten der 1970er Jahre
26.05.2023 bis 01.04.2024: Nasan Tur Hunted
26.05. bis 31.07.2023: Pınar Öğrenci Im IBB-Videoraum
www.berlinischegalerie.de, Alte Jakobstr. 124–128, 10969 Berlin, Mo, Mi-So 10-18
C/O Berlin
13.05. bis 07.09.2023: Daido Moriyama . Retrospective
Jochen Lempert . Lingering Sensations
Farah Al Qasimi . Poltergeist
www.co-berlin.org, Tel. 0302844416, info@co-berlin.org, Hardenbergstraße 22-
24, 10623 Berlin, Berlin, tägl. 11-20 Uhr
Humboldt Forum
16.06. bis 17.06.2023: Musical Belongings I Lautten Compagney - Berlin trifft in-
dische Raga Musik, Tickets online
bis 26.11.2023: un_endlich. Leben mit dem Tod Ausstellung, Programm; Tickets
online
Dauerausstellung: Ausstellung des Museums für Asiatische Kunst und des Eth-
nologischen Museums Neupräsentation der Sammlungen, Eintritt frei
Dauerausstellung: Berlin Global Berlin Ausstellung; Tickets online
Dauerausstellung: Nach der Natur Ausstellung im Humboldt Labor, Eintritt frei
Dauerausstellung: Geschichte des Ortes Schlosskeller – Videopanorama – Skulp-
turensaal, Eintritt frei
humboldtforum.org, Schloßplatz, 10178 Berlin, Mo, Mi-So 10:30-18:30 Uhr
PalaisPopulaire
bis 10.07.2023: Isaac Julien: PLAYTIME – Werke aus der Sammlung Wemhöner
bis 03.10.2023: The Struggle of Memory – Sammlung Deutsche Bank
www.db-palaispopulaire.de, palais.populaire@db.com
Tel. 030-202093-0Unter den Linden 5, 10117 Berlin, Mi-Mo 11-18 Uhr, Do 11-21 Uhr
STAATSOPER UNTER DEN LINDEN
STAATSOPER: Sa 19:00 STAATSKAPELLE BERLIN Dirigent Tugan Sokhiev Klavier
Haochen Zhang / So 19:30 SLEEPLESS / Mi 19:30 STRAWINSKY Ballett / BODE-
MUSEUM: So 11:00 MUSEUMSKONZERT / APOLLOSAAL: So 15:00 STAATSOPERN
KINDERCHOR  / PHILHARMONIE : Mo 20:00 STAATSKAPELLE BERLIN Dirigent
Tugan Sokhiev Klavier Haochen Zhang, www.staatsoper-berlin.de, Tel. 030 20 35
45 55, tickets@staatsoper-berlin.de, 10117 Berlin, Unter den Linden 7
BIELEFELD
Kunstforum Hermann Stenner
26.03. bis 13.08.2023: »Alle Wege sind offen«. Fotografinnen auf Reisen
www.kunstforum-hermann-stenner.de, Tel. 0521 800660-0,
info@kunstforum-hermann-stenner.de, Obernstr. 48, Bielefeld, Mi-Fr 14-18, Sa, So,
Feiertag 11-18
BIETIGHEIM-BISSINGEN
Städtische Galerie, http://galerie.bietigheim-bissingen.de
bis 18.06.2023: Patrizia Kränzlein und Dieter Kränzlein: Farbe – Stein – Papier
Hauptstr. 60-64, T. 07142/74483, Di-Fr 14-18, Do-20,Sa/So/Feier 11-18
FEUILLETON
Literatur
buch eines schlimmen Jahres (2007) schenkt ein an
Parkinson erkrankter alter Schriftsteller die küm­
merlichen Reste seiner Leidenschaft der jungen­
Sekretärin, die ihm zur Hand geht.
Hätte dies alles nicht auch seine Komik, wäre so
viel Versehrtheit kaum auszuhalten. Anders als bei­
Philip Roth und seinen unwürdigen Greisen ist es
aber nur das szenische Beiwerk abstrakterer Über­
legungen zu Tierrechten, zum Bösen oder dazu,
was es überhaupt heißt, auf moralischem Terrain
einen festen, allgemeingültigen Standpunkt zu be­
ziehen. Mit jedem dieser Bücher stößt Coetzee­
tiefer in ein metafiktional ausgenüchtertes Zwi­
schenreich von Literatur und Philosophie vor, in
dem erzählend gedacht wird und denkend erzählt,
ohne dass man eins ins andere auflösen könnte.
In durchnummerierten Sätzen und Absätzen im
typischen Coetzee-Präsens bis aufs erzählerische
Skelett entblößt, trägt nun auch Der Pole die In­
signien eines solchen Spätstils – und kann und will
doch nicht leugnen, ein Spätwerk aus den Regio­
nen zu sein, in denen man aufgrund des schwin­
denden Horizonts einen Blick zurückwirft. Coetzee
ist in seinem neuen Roman dem Zusammenhang
von Eros und Sexus am Beispiel eines gut drei Jahr­
zehnte von­ein­an­der entfernten Paares auf der Spur.
Dessen unbestimmtes Verhältnis beendet der Tod
des älteren Mannes, was das Paar paradoxerweise
überhaupt erst zusammenschweißt.
Und weil zu Coetzee immer Überschreibun­
gen gehören, hat man es bei der seltsamen Liebe
zwischen dem polnischen Chopin-Virtuosen Wi­
told, Jahrgang 1943, und der Katalanin Beatriz,
die der Zufall nach einem Gastspiel in Barcelona
zusammenführt, auch mit einer aus weiblicher
Perspektive geschilderten Variation auf Vita­
BOCHUM
Situation Kunst (für Max Imdahl)
bis 02.07.2023: Martin Schepers: Im Lithium Dreieck - Wir verdunsten
situation-kunst.de, Mi-Fr 14-18, Sa, So, Feiertag 12-18
BONN
Bundeskunsthalle, www.bundeskunsthalle.de
bis 30.07.2023: 1920ER! IM KALEIDOSKOP DER MODERNE
bis 24.09.2023: JOSEPHINE BAKER. FREIHEIT – GLEICHHEIT – MENSCHLICH-
KEIT
bis 08.10.2023: WER WIR SIND
KUNSTMUSEUM BONN
ab 08.05.2022: Raum für phantasievolle Aktionen Neupräsentation Sammlung
bis 17.09.2023: Wiebke Siem Das maximale Minimum
www.kunstmuseum-bonn.de, Tel. 0228/776260, H.-K.-Allee 2, Di-So 11-18, Mi-21
LVR-LandesMuseum Bonn
bis 20.08.2023: Archäologie im Rheinland. Im Tod unsterblich
bis 15.10.2023: Das Leben des BODI. Eine Forschungsreise ins frühe Mittelalter
www.landesmuseum-bonn.lvr.de, Colmantstr. 14-16, 53115 Bonn, Di - So 11-18 Uhr
BRÜHL
Max Ernst Museum, www.maxernstmuseum.lvr.de
bis 09.07.2023: IDYLL. Isabell Kamp / Fabian Friese permanent: Max Ernst-Le-
ben und Werk-70 Schaffensjahre, Comesstr. 42/Max-Ernst-Allee 1, Di-So/Fei 11-18
DARMSTADT
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
bis 25.06.2023: Urknall der Kunst. Moderne trifft Vorzeit
www.hlmd.de, Friedensplatz 1, Di, Do, Fr 10-18, Sa, So, Feiert. 10-17, Mi 10-20 Uhr
DORTMUND
Dortmunder U - Zentrum für Kunst und Kreativität
bis 27.08.2023: Nam June Paik: I Expose the Music
bis 02.07.2023: f² fotofestival - Globalität, Eintritt frei
bis 30.07.2023: We grow, grow and grow, we’re gonna be alright and this is
our show, Eintritt frei
16.06. bis 17.09.2023: Konfetti, Eintritt frei
bis 29.12.2024: Kunst —> Leben —> Kunst Das Museum Ostwall gestern, heute,
morgen, Eintritt frei
www.dortmunder-u.de, Tel. +49 (0) 231.50-24723, info@dortmunder-u.de, Leo-
nie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund, Di, Mi 11-18, Do, Fr 11-20, Sa, So, Feiertag
11-18 Uhr
Konzerthaus Dortmund
Do 19:00 Junge Wilde – Vivi Vassileva Die Perkussionistin mit ihrem Esemble
Extasi, www.konzerthaus-dortmund.de, Tel. +49 231 – 22 696 200
DRESDEN
STAATLICHE KUNSTSAMMLUNGEN DRESDEN
Semperbau am Zwinger, Theaterplatz 1, Di-So 10-18 Uhr
bis 12.11.2023: Gemäldegalerie Alte Meister: Aus dem Schatten. Künstlerinnen
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert
bis 24.09.2023: Gemäldegalerie Alte Meister: Rosalba Carriera – Perfektion in
Pastell
Albertinum, Georg-Treu-Platz/Brühlsche Terrasse, Di-So 10 - 18 Uhr
bis 24.09.2023: The Missed Seminar
bis 10.09.2023: Kaleidoskop der Geschichte(n). Ukrainische Kunst 1912–2023
Kunsthalle im Lipsiusbau, Brühlsche Terrasse, Di-So 10 - 18 Uhr
bis 09.07.2023: Alle Macht der Imagination
Tel. 0351-49142000, Besuchen Sie uns auch online: www.skd.museum
DUISBURG
MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst
24.03. bis 06.08.2023: E. W. NAY - RETROSPEKTIVE
bis 27.08.2023: NORBERT KRICKE - BEWEGUNG IM RAUM
www.museum-kueppersmuehle.de, Tel. (0)203 / 301948 -11,
office@museum-kueppersmuehle.de, Philosophenweg 55, 47051 Duisburg, Mi 14-
18, Do-So, Feiertag 11-18, Jeden Sonntag um 15.00 Uhr öffentliche Führung
Nuova zu tun, Dante Alighieris Jugendwerk, in
dem er sein e­ngelsgleiches Ideal­bild einer Frau
namens Bea­trice besingt.
Gemessen an den intellektuellen Schwingen,
auf denen zuletzt Coetzees Jesus-Trilogie daherkam,
ist die Spannweite hier geringer. Die drei enigmati­
schen Romane, in denen es dem Titel zum Trotz
nicht einmal eine Jesusfigur zu geben scheint, sind
sein bisher ehrgeizigstes Unternehmen, der Philo­
sophie ihr Feld streitig zu machen. Mit Cervantes
und Dostojewski im Hintergrund entwirft er eine
weitgehend freudlose, in jedem Fall aber transzen­
denzlose Welt, die an ihrem Rationalismus fast­
erstickt. Was viele als öde Kopfgeburt erlebten, ist
bei genauer Lektüre die abenteuerliche Aufforde­
rung, sich in einem »metaphysical ­exile« einzurich­
ten, wie der amerikanische Philosoph Robert­
Pippin das Ganze in einer liebevollen buchlangen
Studie genannt hat.
Der Pole hat demgegenüber auf den ersten
Blick mehr romanhaftes Fleisch, zumal es um die
Körperlichkeit zwischen Witold und Beatriz geht.
Auf Mallorca kommt es zu drei gemeinsamen
Nächten, die sie, im halbherzigen Bemühen, in
seinen B ­ erührungen die Sensibilität des Pianisten
zu spüren, weniger verschenkt als erduldet. Der
faltige Koloss im Dunkeln bleibt ihr fremd. Ihre
Ansage, dass es keine Wiederholung geben werde,
erlaubt keine Widerrede.
Aber worauf lassen sich zwei Menschen mit
unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und
Vokabularen nicht ein. Er jenseits seiner Musik ver­
einsamt, sie in einer schmerzfrei abgestorbenen Ehe
auf ein friedliches Mit­ ein­
an­
der reduziert. Die
Sehnsucht nach Übereinstimmung wird durch die
beiden bewusste Dissonanz womöglich noch ange­
17. 0 6 . bis 2 3 . 0 6 . 2 02 3
DÜSSELDORF
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Präsentation der ständigen Sammlung
bis 16.07.2023: K20: Etel Adnan
bis 06.08.2023: K21: Jenny Holzer
Tel. 0211.8381-204, K20, Grabbeplatz 5 – K21, Ständehausstr. 1, Düsseldorf, Di-So,
Feiertag 11-18
EMDEN
Kunsthalle Emden
06.05. bis 03.09.2023: HIER BIN ICH! Künstlerinnen-Selbstporträt
06.05. bis 17.09.2023: JAN PLEITNER
www.kunsthalle-emden.de, Tel. 04921975050, Di-Fr 10-17, Sa, So, Feiertag 11-17
Uhr, jeder 1. Di/Monat 10-21 Uhr
ERFURT
Kunsthalle Erfurt
21.05. bis 30.07.2023: ENGELBERG+ Inszenierte Fotografie
www.kunstmuseen.erfurt.de, Fischmarkt 7, 99084 Erfurt, Di-So 11-18, Do 11-22
ERLANGEN
Kunstpalais, Kulturamt der Stadt Erlangen
01.04. bis 02.07.2023: Simon Lehner. I love you like an image
www.kunstpalais.de, Tel. 09131 862735, Marktplatz 1, Erlangen
ESSEN
Ruhr Museum, UNESCO-Welterbe Zollverein
Dauerausstellung: Natur, Kultur und Geschichte des Ruhrgebiets
bis 27.08.2023: Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-25
bis 04.02.2024: Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet
Führungen mit Anmeld.: Schaudepot des Ruhr Museums, Kokerei Zollverei
www.ruhrmuseum.de, Tel. 0201-24681 444, Gelsenkirchener Str. 181, tgl. 10-18
Villa Hügel - “Der Hügel wird Licht“
ab 11.05.2023: Samson Young macht Geschichte hörbar - App-Tour &
LED-Screen di-so, 10-18 Uhr, Eintritt: 5 €, www.krupp-stiftung.de/150jahrehuegel
Museum Folkwang
bis 20. August 2023: RAFAËL ROZENDAAL. Color, Code, Communication
bis 26. Juni 2023: 6 ½ WOCHEN. Katarína Dubovská. Intertwined Conditions / 3
www.museum-folkwang.de, Tel. 0201-8845-444, Museumsplatz 1, 45128 Essen, Di
bis So 10 – 18 Uhr, Do und Fr 10 – 20 Uhr. Eintritt frei in die Sammlung
FLENSBURG
Museumsberg Flensburg
14.05. bis 17.09.2023: Faszination Schmetterling: Tier, Kunstwerk, Symbol
02.04. bis 27.08.2023: Ernst Sauermann. Wegbereiter der Moderne
www.museumsberg.de, tägl. 10-17 Uhr, Mo geschl.
FRANKFURT AM MAIN
11123456787969
Liebieghaus Skulpturensammlung
bis 10.09.2023: Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wur-
de
www.liebieghaus.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 71, Di, Mi 12-18, Do-So
10-18 Uhr
15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26
heizt. Der gemeinsame, nicht gerade breite Ver­
ständigungsgrund ist das Englische, jene Sprache,
die Coetzee in ihrer Hegemonie inzwischen so ver­
achtet, dass er seine Bücher, darunter auch dieses,
zuerst auf Spanisch erscheinen lässt.
Der Rest bleibt im direkten Miteinander unaus­
gesprochen, doch nicht ungeschrieben. Aus ­Witolds
Nachlass rettet Beatriz nach zahllosen, ihrerseits un­
beantworteten Mails flammende polnische ­Liebes­
gedichte. Sie schaltet ein Übersetzungsbüro ein und
merkt schnell: Witold ist kein Dante, er ist sogar
ein miserabler Dichter. Durch seine Worte, in de­
nen sich eine nun doppelt unerfüllbare Hoffnung
ausdrückt, dringt ein Pathos, das noch rückwirkend
Schuldgefühle in ihr auslöst.
Daneben gibt es ein Moment von Unübersetz­
barkeit, das ihr noch mehr zusetzt. Fangen die
Missverständnisse nicht schon bei den alltäglichs­
ten Wörtern an? Ein Schleier verhindert die unge­
hinderte Kommunikation, ein Netz von Bedeu­
tungsverschiebungen, die gering erscheinen, aber
am Ende das Gegenteil erzeugen. Es lässt sich nicht
einmal entscheiden, was Witolds Gedichte nun
sind: Texte der Selbstverständigung, Texte als­
Flaschenpost, Texte als Anrufung einer Gerechtig­ J. M. Coetzee:
keit, die auf Erden nicht zu haben ist? Darauf kann Der Pole.
sie nur mit Mails an den Toten antworten. Roman;
Von der Mühe, die es J. M. Coetzee mittlerweile aus dem Engl.
nach eigenem Eingeständnis kostet, überhaupt von Reinhild
noch zu schreiben, ist in diesem wider Erwarten Böhnke;
auch heiteren Roman nichts zu spüren. Falls er also S. Fischer,
ernsthaft auf Rückzug sinnen sollte, möchte man Frankfurt am
ihm zurufen: Getreu dem alten Spruch, dass einem Main 2023;
manche Schauspieler auch das Telefonbuch vortra­ 144 S., 20,– €,
gen dürften, würde man von ihm noch den letzten als E-Book
Einkaufszettel lesen. 19,99 €
MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST
ab 30.07.2023: MUSEUM MMK: Rosemarie Trockel
bis 15.10.2023: TOWER MMK: Cameron Rowland. Amt 45 i
bis 30.07.2023: ZOLLAMT MMK: The Critics Company. One Can Only Hope and
Wonder
mmk.art
Städel Museum
bis 17.09.2023: Herausragend! Das Relief von Rodin bis Picasso
bis 03.09.2023: Italien vor Augen. Frühe Fotografien ewiger Sehnsuchtsorte
bis 05.11.2023: PHILIPP FÜRHOFER. PHANTOMINSELN
www.staedelmuseum.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 63, Di, Mi, Fr-So
10-18, Do 10-21 Uhr
FRIEDRICHSHAFEN
Zeppelin Museum Friedrichshafen
bis 05.11.2023: Into the deep. Minen der Zukunft
Tel. 07541-38010, Seestr. 22, Öffnungszeiten unter www.zeppelinmuseum.de
GELSENKIRCHEN
Musiktheater im Revier
Großes Haus: Sa 19:30, So 11:00 Noperas!: Fundstadt Audio-Video-Walk durch
die Stadt und andere Welten / So 16:00 Un Giorno di Regno (15.30 Einfüh-
rung) / Mo 19:30 9. Sinfoniekonzert Ausserirdisch / Di 13:00, Mi 19:30 Move!
2023 (Di Premiere) / Do 19:30 Billy Budd (19.00 Einführung) / Fr 14:00 Konzert
junger Gesangstalente / Fr 19:30 Feierabendsingen Foyer / Kleines Haus: Sa
Schultheatertage / Mi 19:30 Der Mensch erscheint im Holozän, Tel.
0209/4097200
GLÜCKSTADT
PAK PALAIS FÜR AKTUELLE KUNST
23.04. bis 16.07.2023: Bernd Wolf_LXX Retrospektive zum 70.
Malerei - Monotypien - Lightpaints
www.pak-glueckstadt.de, Tel. 04124-604776, info@pak-glueckstadt.de, Am Hafen
46, 25348 Glückstadt, Fr-So 13-17 Uhr, und nach telefonischer Vereinbarung
GÖPPINGEN
Kunsthalle Göppingen
07.03. bis 02.07.2023: Christa Näher, Stefan Wewerka, Georg Herold. Werke
der Sammlung Mautsch
04.04. bis 02.07.2023: Play by Rules – A Growing Exhibition – Timo Herbst und
Marcus Nebe Marstallstr. 55, 73033 Göppingen, Tel. 07161-650-4211
www.kunsthalle-goeppingen.de, Di-Fr 13-19 Uhr, Sa, So, Feiertage 11-19 Uhr
HAGEN
Kunstquartier Hagen
bis 30.07.2023: Outside/Inside – Csaba Nemes und Dia Zékány.
Zeitgenössische Malerei aus Ungarn
bis 30.07.2023: Emil Schumacher - Das frühe Werk und die Sammlung Lepke
bis 03.09.2023: Heinz Mack - Das Licht in mir. Gemälde
www.kunstquartier-hagen.de, Museumsplatz 1, 59095 Hagen
HALLE (SAALE)
Franckesche Stiftungen
19.03.2023 bis 04.02.2024: Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18.
Jahrhundert und heute Jahresausstellung
https://www.francke-halle.de, Di-So, Feiertag 10-17 Uhr
HAMBURG
Bucerius Kunst Forum
10.06. bis 24.09.2023: LEE MILLER.
FOTOGRAFIN ZWISCHEN KRIEG UND GLAMOUR
www.buceriuskunstforum.de, Alter Wall 12, Hamburg, tägl. 11-19, Do 11-21 Uhr
Deichtorhallen Hamburg, www.deichtorhallen.de
bis 18.06.2023: Ragnar Axelsson. Where the world is melting.
bis 20.08.2023: Sarah Morris. All Systems Fail.
bis 20.08.2023: Ralph Gibson. Secret of Light.
bis 27.08.2023: In der Sammlung Falckenberg (Harburg): Ernsthaft ?! Albern-
heit und Enthusiasmus in der Kunst. Eintritt frei!
Deichtorstr. 1-2, 20095 Hamburg, Di-So 11-18, jeden 1. Do im Monat 11-21 Uhr
BREMEN Stadthaus Ulm
bis 13.08.2023: Johanna-Maria Fritz: Like a Bird, Eintritt frei

Infos und Reiseangebote:

AUSSTELLUNG bis 13.08.2023: Birte Horn - set_up, Eintritt frei
stadthaus.ulm.de, Mo-Mi, Fr, Sa 10-18, So 11-18, 18.05.2023 geöffnet, 11 - 18
Bremen Tourismus kunsthalle weishaupt
www.bremen-tourismus.de
bis 18.06.2023: Reine Formsache. Konstruktiv-konkrete Kunst aus der Sammlung
Tel 0421-30 800 10

HIGHLIGHT
www.kunsthalle-weishaupt.de, Tel. 0731 161 4360, Di-So 11-17 Uhr
VÖLKLINGEN
WELTKULTURERBE VÖLKLINGER HÜTTE
JULIAN ROSEFELDT. WHEN WE ARE GONE, bis 3.9.23
JENS HARDER. THE STORY OF PLANET A, bis 26.11.23
CHRISTIAN BOLTANSKI – Die Zwangsarbeiter|Erinnerungen – Zwei Dauerin-
stallationen Besucherservice: T. 06898/9100100, www.voelklinger-huette.org
WESERBURG Museum für moderne Kunst Teerhof 20, Tel 0421-59 83 90,
www.weserburg.de, Di–So 11–18 Uhr; WEIMAR
1. 7. – 8. 10. 2023: Hannah Villiger. Ich bin die Skulptur
bis 13. 8. 2023: So wie wir sind 4.0 Haus der Weimarer Republik – Forum für Demokratie
bis 10. 9. 2023: Von De Stijl bis Boekie Woekie. Künstlerpublikationen bis 07.01.2024: Trauma 23: Deutschlands Hyperinflation vor 100 Jahren
aus den Niederlanden www.hdwr.de, Theaterplatz 4, tägl. 09-19

National Archives (558590)

Focke-Museum, Bremer Landesmuseum Schwachhauser Heerstraße 240, WÜRZBURG
Tel 0421-699 600-0, www.focke-museum.de, Museum im Kulturspeicher
Di 10–21 Uhr, Mi–Sa 10–17 Uhr, So 10–18 Uhr;
17.06. bis 10.09.2023: Gottfried Jäger Fotografie der Fotografie. Generative
bis 2. 7. 2023: Olaf Schlote. Memories
Systeme 1960-2020
bis 30. 6. 2023: Verschleppt. Versklavt. Vergessen? Zwangsarbeit in
Bremen 1939 – 1945 Oskar-Laredo-Platz 1, 97080 Würzburg, Tel. 0931/32225-80, Fax-18,
Di 13-18, Mi 11-18, Do 11-19, Fr-So 11-18 Uhr, www.kulturspeicher.de
Übersee-Museum Bremen
ZITTAU
Bahnhofsplatz 13, Tel 0421-160 38-0, www.uebersee-museum.de;
bis 5. 11. 2023: Kabinettausstellung „American Dreams – Bilder aus den USA“ Städtische Museen Zittau, www.museum-zittau.de
bis 01.07.2023: 1000 & Deine Sicht. Vom Ausbruch zum Aufbruch aus der
Overbeck-Museum Altes Packhaus Vegesack, Alte Hafenstr. 30, 28757 Bremen, Pandemie Klosterstr. 3, Tel. 03583/ 554790, Do/Fr 10-17, Sa/So 14-18 Uhr
Tel 0421-663 665, www.overbeck-museum.de, Di–Fr 11–18 Uhr, Sa–So 11–17 Uhr;
bis 16. 7. 2023: Auf Sicht – Die Norddeutschen Realisten malen in Bremen
LIECHTENSTEIN
Universum® Bremen Wiener Straße 1a, www.universum-bremen.de,
Tel 0421-33 46 0; Sommersause im Universum® Bremen: Theater wirbelt
Wissenschaft vom 20. 7. – 20. 8. 2023 VADUZ

Hafenmuseum Bremen Am Speicher XI 1,

Tel 0421-303 82 79, www.hafenmuseum-bremen.de, Di–So 11–18 Uhr;
150 Jahre Hafen- und Stadtentwicklung hautnah!

Wilhelm Wagenfeld Haus Am Wall 209, Tel 0421-33 999 33,

www.wilhelm-wagenfeld-stiftung.de, Di 15–21 Uhr, Mi–So 10–18 Uhr;
bis 25. 4. 2024: Wilhelm Wagenfeld A bis Z
46
343

Valentin Goppel, ohne Titel, aus der Serie between the years, 2021, Fotografie, © Valentin Goppel


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4362632
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Ihre en Sie ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe MANNHEIM
kuns Führun jetzt bis 07.01.2024: Renaissance 3.0.
Kunsthalle Mannheim www.kuma.art ÖSTERREICH
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e- ter ab 29.04.2023: Kunsthalle Karlsruhe @ ZKM
ticke bremen. Dauerausstellung: zkm_gameplay. the next level Ausstellungen Online:
bis 08.10.2023: 1,5 Grad
0421 ts od de/ bis 20.08.2023: Das Insekt
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 52 GLAUBEN & ZWEIFELN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Immer schön unzufrieden

WAS IST GLÜCK?

Die Leipziger sind die unglücklichsten Deutschen,
aber vielleicht ist das ihr großer Vorteil  VON MARTIN MACHOWECZ

E
iner der bedeutendsten Philosophen
des Glücks lebt in Liverpool, Groß-
britannien, und trainiert die dortige
Fußballmannschaft. Jürgen Klopp
hat mal einen Satz gesagt, der mir
nicht mehr aus dem Kopf geht, weil er eine so
beneidenswert klare Einsicht enthält. Klopp sag-
te, ihm sei eine Sache gegeben, die nur wenigen
Menschen gegeben ist: Er sei in der Lage, zu­
erkennen, wenn er gerade Glück hat.
Damit wären wir beim Gegenteil von Jürgen
Klopp, bei den Ostdeutschen, zu denen auch ich
gehöre und deren schlechteste Eigenschaft ganz
gewiss diese ist: Bei allem Glück sehen sie doch
immer zuerst das Pech, bei allem Weg, den sie
geschafft haben, doch immer zuerst die Steine,
über die sie steigen mussten (und erst recht die,
die noch vor ihnen liegen!). Niemals würde ein
Ostdeutscher zum Beispiel auf die Idee kom-
men, einen sogenannten Glücksatlas ins Leben
zu rufen, dafür braucht es ganz klar eine Institu-
tion wie die Süddeutsche Klassenlotterie, kurz:
SKL. Der »SKL Glücksatlas« ist eine dieser Stu-
dien, von denen man nicht wusste, dass man sie
braucht, die dann aber tagelang Schlagzeilen
machen – was vor allem für Glücksgefühle bei
Fotos: Walter Schießwohl/lookphotos (o.); Jörg Glaescher/laif (u.)
nungen, die ihnen selbst gehören? Gar nicht zufäl-
ligerweise leben nur zwölf Prozent der Leipziger
und 14 Prozent der Dresdner in Immobilien, die
ihnen selbst gehören, das ist deutschlandweit der
schlechteste Wert. Von den zehn Städten mit der
niedrigsten Eigentumsquote liegen neun im Osten.
In Hamburg sind die Immobilienkaufpreise zwar
doppelt so hoch wie in Leipzig – trotzdem beträgt
die Eigentumsquote 23 Prozent. Der Unterschied
zwischen 14 (Leipzig) und 23 (Hamburg) Prozent
mag nicht monströs wirken, aber mit dem Gefühl
einer Stadt macht das etwas: Wenn der Ort, an dem
man sich befindet, grundsätzlich anderen gehört
(im Leipzig-Dresdner Gefühl: den Westdeutschen)
– kann dann nicht eine gewisse Entfremdung vom
eigenen Glück eintreten? Wie alle naheliegenden
Erklärungen ist auch diese unbefriedigend. Leipzig
ist schließlich, wirklich und objektiv, wunderschön.
Eigentlich die perfekte Stadt: nicht zu groß und
nicht zu klein, sehr grün, urban. Es hat den besten
Fußballverein (jaja, steile These), wächst, ist frisch
saniert – und der Oberbürgermeister ist so gut ge-
launt, dass Klaus Wowereit blass wird. Es gibt nicht
zu viel Dreck, aber auch nicht zu wenig, es gibt
nicht zu viel Kriminalität, aber es ist auch nicht
sterbenslangweilig, es gibt Messen, Konzerte, einen

denen sorgt, die die Studie in Auftrag gegeben
haben, in diesem Fall also eben bei der Süddeut-
schen Klassenlotterie.
Das Ergebnis des »SKL Glücksatlas« lautet, dass
in Hamburg, Frankfurt/Main und München die
glücklichsten Menschen leben, in Dresden und
Leipzig, meiner Heimatstadt, dagegen die unglück-
lichsten, gefragt wurde nach Zufriedenheit mit der
eigenen Situation auf einer Skala von eins bis zehn,
gefragt wurden übrigens 3001 Menschen »mit­
Online-Zugang« – pro Stadt sind das ungefähr 250
Teilnehmer, aber wir halten uns nicht mit kleinlicher
Methodenkritik auf. Nehmen wir einfach an, die
Umfrage ist valide. Es gibt dann ein paar nahelie-
gende Antworten auf die Frage, warum Leipzigerin-
Mit dem Kanu ins Café fahren: Typischer Sommernachmittag in Hamburg nen und Leipziger, obwohl in einer der schönsten
Städte der Republik zu Hause, obwohl mit immer
noch verhältnismäßig niedrigen Mieten, niedriger
der besten Chöre der Welt, eine pralle Geschichte,
ja Mensch, liebe Ossis, liebe Leipzigerinnen und
Leipziger: SEID DOCH GLÜCKLICH!
Aber Glück ist eben nicht objektivierbar. Glück
kann man nicht kaufen, man kann es sich vielleicht
erarbeiten, aber eine Garantie darauf gibt es nicht.
Ob man glücklich ist oder nicht, das ist eine Frage
von Mentalität und Konstitution. Und es ist ja­
offensichtlich: Ein Mensch kann in bitterer Armut
glücklich sein und in prallstem Reichtum unglück-
lich. Es gibt viele Depressionen in Palästen.
Ich habe einen Hamburger Kollegen gefragt,
warum er glaubt, dass die Hamburger so viel glück-
licher sind mit ihrer Stadt als Leipziger wie ich mit
meiner, und er sagte: Vielleicht seid ihr ja schwerer
zufriedenzustellen. Darin liegt die Koketterie, als
Hamburger sei man genügsam, aber freilich, viel-
leicht ist Glück eine Frage der Fähigkeit, es zu emp-

Bei uns alles super

Arbeitslosigkeit und sehr niedriger Anzahl an­
Regentagen gesegnet, so unglücklich sein könnten.
Eine dieser Antworten: Es liegt eben doch an
den strukturell Unzufriedenheit stiftenden Ost-
West-Benachteiligungen, die vor allem mit Besitz
Die Hamburger sind die glücklichsten Deutschen. und Eigentum zu tun haben und sich leider in 33
Man fragt sich, ob das wirklich sein kann  VON EVELYN FINGER Jahren Einheit eher verschärft als abgeschwächt
haben. Um die Glücksstudie zu erklären, greifen
finden. Vielleicht ist Zufriedenheit eine Sache, die
nicht jedem gegeben ist. Vielleicht stimmt auch das
alte Klischee, dass man im Westen etwas begabter
ist, sich sein Glück einzureden und sein Unglück
wegzuquatschen. Vielleicht haben wir im Osten,
trotz 89er-Revolution, trotz 90er-Aufschwung, trotz
33 Jahren Glücksgeschichte gar keine Lust, zu­
behaupten: So, jetzt sind wir glücklich!

H
amburg ist die schönste Stadt der
Welt, das finden sie jedenfalls in
Hamburg, und so hörte auch ich
es, als ich hierherzog. Ich staunte
über so viel Selbstherrlichkeit,
schließlich gab es ja auch noch New York und
Sankt Petersburg, Taipeh und Sydney, Prag und
Dresden ... Ich fand, die Begeisterung der Ham-
burger für ihre Stadt stand in merkwürdigem
Kontrast zu der berühmten hanseatischen Cool-
ness. Trotzdem, der Enthusiasmus gefiel mir.
Ich glaube, er ist auch der Grund, warum die
Hamburger jetzt zu den glücklichsten Deutschen
gekürt wurden. Dieser Stolz: Wo wir sind, da ist
vorn! Wir haben es nicht nur am schönsten, wir
haben unser Glück auch verdient! – Wie misst man
Glück? Den Glücksforschern zufolge fragt man die
Leute nach ihrer Lebenszufriedenheit, und da be-
legen die Hamburger klar Platz eins. Bei den ande-
ren drei Fragen, die die Forscher aktuell gestellt
haben, nämlich nach der Zufriedenheit mit dem
Einkommen, mit der Verwaltung und mit dem
Zusammengehörigkeitsgefühl, gewann Frankfurt
am Main. Das hat aber kaum einer gemerkt.
In allen Zeitungen war nur die Rede von den
glücklichen Hamburgern und ihrem Pendant, den
unglücklichen Leipzigern und Dresdnern, den
beiden Schlusslichtern. Man kann sagen, das Des-
interesse am guten Abschneiden Frankfurts ist­
logisch, weil eine Bankenstadt keine Schönheit sein
muss und Befindlichkeiten dort nicht so zählen,
weil Einkommenstabellen eben doch langweiliger
sind als Gefühle, und weil selbst die beste Verwal-
tung nicht glücklich macht. Auch mag es für Ham-
burgs Performance eine Rolle gespielt haben, dass
die Hansestadt mit ihren vielen Medienhäusern
und Werbeagenturen ein Talent zur Selbstver-
marktung hat. Nicht zufällig wurde hier das erfolg-
reiche Magazin Happinez erfunden. Und dennoch.
Es bleibt ein Rätsel, warum ausgerechnet die Ham-
burger so happy sind.
Ich habe einen erfahrenen Hamburger Schrift-
steller gebeten, das zu erklären. Uwe Timm, 83,
lebt seit Langem in München, schreibt aber immer
wieder über seine Geburtsstadt. Diesmal war er
jedoch ratlos. Er wisse nicht recht, was er über die
glücklichen Hamburger sagen könne. Wo sei diese
Umfrage überhaupt gemacht worden, in Blanke-
nese oder Billstedt (heißt: im teuren Elbvorort oder
im prekären Arbeiterviertel)? Also nein, bitte nicht.
Schade. Denn das Glück ist, einerseits, ein
Uraltthema, beliebt schon bei den antiken Phi-
losophen; andererseits ist es heute große Mode,
ein Mantra der Wohlstandsgesellschaft, vielleicht
sogar der kategorische Imperativ unserer Zeit:
Sorge dich nicht, lebe!
wir deshalb zur nächsten Auftragsstudie, diesmal Denn es kann ja immer noch ein bisschen
Bei Platon war Glück noch kompliziert, er fand: vom Immobilienportal Immowelt initiiert, das besser werden. Immer schön hungrig bleiben!
Ein Mensch sei nur dann glücklich, wenn alle drei 2020 die Eigentumsquote in den größten Städten Mit sich zufrieden sollen sehr gerne die anderen
Seelenteile – die Vernunft, der Wille und das Be- errechnen ließ: Wie viele Menschen leben in Woh- sein, so sehen das die Leute in Leipzig.
gehren – im Gleichgewicht sind. Auch sei der
Glückliche in seiner Lebensführung der Gerechtig-
keit verpflichtet. Dagegen ist Glück, wie die heu-
tige Lebenshilfeliteratur es verheißt, schlicht und
individuell. Man wird zwar noch immer nicht­
allein, ohne andere Menschen glücklich, doch das
moderne Glück ist kein Zufall, man kann es­
angeblich lernen, ja selber machen. So jedenfalls
lautet das Versprechen, und vielleicht finden sich
die Bewohner der optimistischen Handelsstadt
Hamburg leichter darin wieder als die der senti-
mentalen Kulturstadt Dresden.
Apropos, die beiden beliebten Elbstädte: Dass
nun ausgerechnet die eine glücklich und die ande-
re unglücklich machen soll, das ist die wahre Sen-
sation des Städterankings. Man wundert sich ja
nicht mehr über die notorisch gute Laune der
Wessis und die notorisch schlechte der Ossis. Man
weiß, dass der Osten einen Umbruch erlebt hat und
neben dem großen Freiheitsgewinn einen Absturz
in die soziale Unsicherheit. Aber im lieblichen
Dresden, das entgegen anderslautenden Gerüchten
nicht mehrheitlich aus Pegidisten besteht, so un-
zufrieden zu sein, das muss man erstmal schaffen.
Ich gebe zu, seit ich in Hamburg lebe, hatte ich
immer wieder Dresden-Sehnsucht: nach den blü-
henden Elbwiesen, der freundlichen Frauenkirche,
dem Ambiente um das Taschenbergpalais. Im Ver-
gleich schien mir Hamburg kühl und ungemütlich,
der Elbstrand zu grau und zu rau, die Elbwiesen zu
feucht; und wieso waren die Gärten der Alster-
Villen nie romantisch verwildert, stattdessen dieser
akkurate Rasen und der ewige Rhododendron?
Mittlerweile sehe ich das anders. Vielleicht habe
ich mich als Ossi im Westen assimiliert, vielleicht
liegt es an den wärmeren Sommern auch im Nor-
den. Wenn ich an einem Junitag entlang der Alster
citywärts radle, dann ist die Stadt ein Paradies in
Grün, Blau und Sonnengold. Üppig umrahmen
Bäume das Gewässer, frisch treibt der Wind die
Wellen und Boote vor sich her. In den Gärten Eine Studie erforscht,
blühen Rosen, auf den Bootsstegen sitzt man beim
Kaffee. Und dieses weiche Licht! Noch schöner ist in welcher Großstadt
es nur an den hellen Abenden, wenn man die Au-
ßenalster umrundet: endlos das Panorama mit der
die Bewohner am
Elbphilharmonie und den vielen Kirchtürmen. zufriedensten sind.
Dann denke ich, dass die Hamburger Glücks-
gefühle doch nicht aufgesetzt oder vorgetäuscht Gewinner ist
sind, sondern echt. Kein falscher Optimismus,
kein Schönlügen, kein schrilles »Bei uns alles
Hamburg, Verlierer
super«. Sondern das Gegenstück zur authenti- Leipzig
schen Brummigkeit des Ostens, die ehrliche
Unbeschwertheit des Westens. Vorm Rathaus tanzen: Typischer Sommerabend in Leipzig

Lesen Sie diese Woche in der ZEIT-Beilage »Christ & Welt«: Kanzler Olaf Scholz im Kirchentags-Gespräch mit Tina Hildebrandt. Und: Lily Blaudzun kontert die Kritik von Thomas de Maizière an der jungen Generation. Auf www.zeit.de/christ-und-welt
 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

ENTDECKEN

Illustration: Sandro Rybak für DIE ZEIT

Investier in dich!!!
Sogenannte Life-Coaches sprechen Menschen in Lebenskrisen an. Ein lukratives Geschäftsmodell – und oft ein manipulatives 
VON CAROLINE DREES, JOSUA GERNER UND CÉLINE SCHUSTER
54 ENTDECKEN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Immer wieder fragt Richter: »Bei wem macht es

gerade klick?« Das Publikum schreit: »Klick!«

A
Zwei Wochen nach unserem ersten Treffen In der Corona-Pandemie sei die Coaching- Die ehemalige Coachin beschreibt es so: schickt uns Screen­shots, die zeigen, dass Richter
sprechen S. und ich wieder über Zoom. Er redet Branche stark gewachsen, viele hätten nach­ Menschen, die in finanziellen oder emotionalen negative Bewertungen meldet und anzweifelt.
schnell und viel, spricht von Heilung und­ einem Nebeneinkommen gesucht, sagt Rein- Schwierigkeiten stecken, »geraten in Strukturen, Damian Richter wirbt zudem damit, dass
Energieübertragung. Sein Angebot: ein Gruppen- hold Schranz, der Leiter des Europäischen Ver- in denen sie zunächst Bestätigung finden – jetzt er TÜV-zertifiziert ist. Auf Anfrage stellt der
Coaching, einmal pro Woche über zwölf Monate braucherzentrums Wien. Ihre Kunden gewinnen geht es bergauf«. Auf den Live-­Events entstehe TÜV Nord klar: Die Art der Zertifizierung
für 2497 Euro. Andere Coaches verlangen Rech- Life-­Coaches hauptsächlich über soziale Medien. ein Rausch, in dem man nicht klar entschei- lasse keine »Rückschlüsse auf einzelne Pro-
nungen zufolge für Jahresbegleitungen auch mal Über Hash­tags können sie eine bestimmte Ziel- dungsfähig bleibe. Auf der Bühne würden Er- dukte oder Dienstleistungen« zu.
33.000 Euro. Aber besonders vertrauenerweckend gruppe erreichen, s­ eien es Eltern mit Burn-out, folgsbeispiele gezeigt: »Seht her, diese Menschen Eine andere ehemalige Coachin hoffte, frus-
kommt mir der junge Mann nicht vor. Frauen in der Mid­life-­Crisis oder solche mit haben vor zwei Jahren noch Ravioli aus der Dose triert von ihrer Arbeit, mit Coaching einfach
»Wo hapert’s jetzt noch?« S. lässt nicht locker. Beziehungsproblemen. gefuttert, heute machen sie Millionen-Umsätze.« Geld zu verdienen. Auf die Idee hatte sie eine
Ich könne an seinem Geschäftsmodell mitverdienen: Viele machen laut Schranz »fabelhafte Ver- Die Coachin meint, Damian Richter wisse ge- Verwandte gebracht, die war selbst Coachin.
Ich soll Kunden rekrutieren, die neue Kunden an- sprechungen«. Doch dafür »fordern sie extrem nau, dass die wenigsten ihre Ausgaben wieder Doch nach ihrer Ausbildung nahm sie keinen
werben. Es klingt nach Schneeball­system. Er stellt viel Geld, und das steht überhaupt nicht im Ver- reinbekommen. Cent ein. Die Methoden, die man bei Richter
ein Ultimatum: Sein Angebot gelte für eine Woche. hältnis zu dem, was geboten wird«. Auf Dauer isolierten sich viele, sagt die lerne, befähigten einen nicht dazu, erfolgreich
Ich frage S., bei wem er seine Ausbildung zum Seit Sommer 2021 erreichten Schranz Hun- ehemalige Coachin, verprellten Freunde und ein Business zu führen, sagt die Frau.
Life-­Coach gemacht hat. »Da nenne ich dir einen derte Beschwerden. Er spricht von einem Pyra- Familie, weil sie sich Geld bei ihnen liehen. Im Nachhinein komme sie sich vor wie eine
Am Anfang verspricht der selbst ernannte Life-­ besonders wichtigen Namen: Damian Richter.« midensystem: Ein paar wenige an der Spitze Manche kündigten ihre Jobs. Wenn sich der Vollidiotin. In der Zeit sei sie wie ferngesteuert
Coach noch, mir zu mehr Lebensfreude zu ver- Eigenen Angaben zufolge hat Damian Rich- verdienen, viele darunter begeben sich finanziell versprochene Erfolg nicht einstelle – während gewesen. Erst als ihre Coachin gesagt habe:
helfen. Im Zoom-Call erklärt er mir das »Kon- ter mindestens 300.000 Menschen in Coachings in Abhängigkeit. »Ich will nicht alle Coaches andere im Chat mit ihren Abschlüssen prah- »Du ekelst mich an«, weil sie auf einem Event
zept der Sonne«: Ich müsse sieben Strahlen zum begleitet, seit mehr als zehn Jahren gibt er Work- über einen Kamm scheren«, sicher gebe es auch len –, schäme man sich. »Du stehst in dieser angeblich nicht energetisch genug war, sei sie
Leuchten bringen, etwa durch Selbstheilung und shops. Wie viele andere Coaches erzählt er sein seriöse, sagt Schranz. Doch der Beruf Coaching Familie als ­Loser da.« Auch bei der ehemali- aufgewacht. Die Coachin habe sie nur gegen
Dankbarkeit, um mich zu lieben und glücklich Leben als Aufsteiger-Geschichte. Als Kind wird ist nicht staatlich anerkannt, der Begriff nicht­ gen Coachin blieb der Erfolg aus. eine hohe Stornierungsgebühr gehen lassen
zu werden. Funktioniere fast immer. Noch Fra- er gemobbt, weil er auf dem rechten Auge geschützt. Jeder darf sich so nennen. Richter lässt sich von seinen Kunden einen wollen. Seit sie ausgestiegen ist, hat sie wieder
gen? Fragen habe ich viele, doch bevor ich sie schielt. Als Erwachsener hintergeht ihn sein­ Damian Richter bietet regelmäßig kosten- Ehren- und einen Verhaltenskodex unterschrei- Kontakt zu ihren alten Freundinnen. Von den
stellen kann, will er wissen: »Was könntest du in Geschäftspartner, Richter bleibt auf mehr als lose Live-­Coa­chings via Zoom an. Wir melden ben; diese liegen der ZEIT vor: »Wir sind Ma- 60.000 Euro Schulden erzähle sie ihnen nichts.
dich ­investieren, um deine Ziele zu erreichen?« acht Millionen Euro Schulden sitzen und ver- uns für das »Level up your Life«-­Event an: Rich- cher und keine Meckerer – Sei ein Adler«, heißt Richters Coaching ziehe Menschen an, die
Dass man mit einer Mischung aus großen sucht, sich umzubringen. Aber zum Glück gibt ter springt auf die Bühne eines lila ausgeleuch- es darin etwa. Auf den Online-Events gebe es verloren sind, sagt ein Betroffener. Sein Bru-
Träumen und simplen Ratschlägen viel Geld es ein Happy End: Dank eines Coachings wird teten Studios. Weißes Hemd, enge Jeans und sogenannte Chatter, also Menschen, die die Dis- der habe sich »in einer Art Lebenskrise« be-
verdienen kann, wenn man sie nur energisch er glücklich und reich. Sein Auge versteckt der galaktisch gute Laune. Links und rechts von ihm kussion im Zoom-Call moderieren. Laut der funden, er hatte zwei Stu­dien­gän­ge abgebro-
genug in eine Mehrzweckhalle hineinperformt, 47-Jährige heute hinter Pilotenbrillen und wirbt Feuerwerk und Discolichter. Auf großen Bild- Coachin sind sie dazu angehalten, Menschen chen. Dann fand er zu Damian Richter. Nach
das haben schon in den Neunzigerjahren soge- auf seiner Web­site damit, bekannt aus Magazi- schirmen sind die Teilnehmenden in ihren aus dem Chat zu schmeißen, die »Alarmwörter« eigenen ­Angaben investierte er 600.000 Euro
nannte Erfolgs-Coaches wie Jürgen Höller (»Sei nen wie ­Forbes oder stern und der Süddeutschen Küchen und Wohnzimmern zu sehen: Mütter wie »Pyramidensystem« oder »Sekte« verwen- in Coachings und flog mit einer von Richter
ein Adler!«) bewiesen. Auf die Erfolgs-Coaches, Zeitung zu sein. Sucht man diese Artikel, findet mit Kindern, Teenager, Paare, Familien. Richter den. Prüfen können wir diese Vorwürfe nicht. ausgewählten Gruppe nach Costa Rica.
inspiriert von Motivationstrainern aus den USA, Über ihn fanden auch seine Eltern zum
folgten Finanz-Coaches, und jetzt, da es kaum Coaching. Sie kündigten ihre Jobs. Seine Mutter
noch einen gesellschaftlichen Bereich gibt, der allerdings habe bislang nur eine Kundin, sein
nicht – mal mehr, mal weniger seriös – becoacht Vater noch überhaupt niemanden. Ihr neues
wird, ist eine ganzheitliche Coaching-Variante Umfeld bestehe fast ausschließlich aus Coaches.
die beliebteste: der Life-­Coach. Er bietet Hilfe Ich treffe S. erneut per Zoom. Er hofft immer
in Lebenskrisen an, liefert Beziehungsrat, ver- noch, mich für sein Coaching gewinnen zu­
spricht Heilung von Krankheiten oder die Über- können, und preist Coachings als Alternative
windung eines Traumas nach einer Vergewalti- zur Psychotherapie. Im Gegensatz zu den­
gung. 14 Millionen Beiträge findet man unter Krankenkassen, die mit ihren Patientinnen
#Life­coach ­allein auf Instagram. In Zoom-Calls nur Geld machen wollten, hätten Coaches gute
verkaufen Life-­Coaches wandtattooartige Sprü- Absichten. S. schickt mir einen Vertrag des
­
che für absurde Summen. Dienstleisters Cope­Cart.
Wenn mein Life-Coach mir aus der Zoom- Anbieter wie CopeCart kritisiert der
Kachel heraus in die Seele blickt, dann weiß er Rechtsanwalt Robin Nocon, der den Schwer-
Der Coach der ­
nicht nur, wie ich mich fühle: »Auf der Lebens- Coaches:
punkt Internetrecht hat. Ihn hätten innerhalb
freude-Skala bist du auf zwei.« Er weiß auch, Damian Richter von zehn Monaten 500 Anfragen zum Thema
wo ich hinwill: »auf zehn«. Etwas blass sitzt er, Online-Coaching-Verträge erreicht. Die Ver-
den ich hier nur S. nennen will, in einem kahl träge seien oftmals rechtswidrig, da das Wider­
eingerichteten Zimmer auf einem ergonomischen rufsrecht ausgeschlossen werde und ­unkonkrete
Schreibtischstuhl. Er ist Mitte zwanzig, ich habe Versprechungen gemacht würden. Außerdem
ein kostenloses Erstgespräch bei S. gebucht. Dass suggerierten die Coaches eine Angebots-
ich Journalist bin, weiß er nicht. knappheit und übten darüber Zeitdruck aus.
Später wird mir S. erzählen, dass es ihm Das macht die Coaching-Verträge laut Nocon
auch einmal sehr schlecht gegangen sei, er habe leicht anfechtbar.
Foto: Damian Richter

Depressionen gehabt, sogar Abschiedsbriefe ge- Mehrere ehemalige Coaches und der Ver-
schrieben. Bis er ein Coaching-Seminar besuchte. braucherschützer Schranz berichten, dass
Weil sein Job ihn nicht erfüllte, habe sein Coach Richter viel dafür tue, Gerichtsverfahren zu
ihm immer wieder geraten, er solle doch selbst vermeiden. Wenn Betroffene ihr Geld zu-
Coach werden, also machte er die Ausbildung rückforderten, dann biete er ihnen oft einen
und Weiterbildungen, investierte 120.000 Euro. Teil des Geldes an, unter der Bedingung, dass
»Dann habe ich mich nicht mehr in den Schlaf sie eine Verschwiegenheitserklärung unter-
geweint.« Er verspricht: »Du darfst denselben schreiben.
Weg gehen wie ich.« Der Richter-Coach S. schickt mir irgendwann
Aber wo führt der hin? man Berichte, die als »bezahlte Anzeige« gekenn- spricht von 36.000 Anmeldungen. Seinen­ Viele übten keine Kritik, weil sie Angst hätten, die Telefonnummer eines Finanzberaters, der mir
S. will jetzt eine Zahl von mir. Ich sage, ich zeichnet sind. In der Bild-Zeitung gibt er­ Angaben zufolge sind es zu zwei Dritteln Frauen, ihr neues Zuhause zu verlieren, sagt die Coachin. die Gebühr aus­legen könne, denn Kredite seien
hätte wenig Geld. Notgedrungen schlage ich ihm Erziehungstipps, und auch auf In­sta­gram hält die seine Ausbildungen buchen. In den ver- »Dann bist du komplett raus, dir wird sofort »total geil«. Noch vor der Begrüßung fragt der
irgendwann 100, 200 Euro im Monat vor. Wir er sich nicht mit Lebensweisheiten zurück: gangenen Jahren s­eien es außerdem vermehrt entfolgt auf den sozialen Medien, Menschen Berater: »Wie viel brauchst du?« Man nenne ihn
können uns nicht einigen, S. bietet mir ein zweites »Wenn die Sexualität wirklich als heiliges Ritual junge Menschen, 18, 19 Jahre alt. Die Teilneh- wenden sich ab.« Sie selbst hatte »Schiss, als Ver- den »Kohle­brin­ger«. Seit 23 Jahren mache er Bau-
Gespräch an. Er sehe Potenzial in mir. und nicht nur als wildes Rumgerammel ver- menden halten Plakate mit Richters Motto räter dazustehen«. finanzierung, aber inzwischen arbeite er auch mit
Mit dem Coaching-Boom wächst auch die standen wird, dann verschmelzt ihr für einen »GAIL« (»Ganz angekommen im Leben«) hoch. Was die Coachin erzählt, deckt sich mit Coaches zusammen. Der Berater schwärmt vom
Kritik daran: Die Methoden s­ eien nicht wissen- Moment in den Kräften von Yin und Yang.« In Richter bittet nun alle, negative Glaubens- den Berichten von sieben anderen Betroffe- Coaching, er selbst habe 100.000 Euro in »Coa-
schaftlich fundiert, die Techniken manipulativ, sozialen Me­dien wirbt er für seine Events, indem sätze aufzuschreiben. Es läuft traurige Strei- nen, mit denen wir sprachen. ching-Geschichten« gesteckt. Als ihm klar wird, dass
die Preise viel zu hoch. S. sagt, es gehe ihm nicht er als Comic-Superheld durchs Bild fliegt. chermusik. Er liest vor, was die Menschen in Während des »Level up your ­Life« wird ich nicht kreditwürdig bin, fragt er: Was ist mit
ums Geld, und dennoch spricht er stets von Auf seiner Website hat Richter eine Anlei- den Chat schreiben: »Ich fühle mich leer«, weiter getanzt, gebrüllt und meditiert. Auf Mama oder Papa? Schließlich merkt er, dass bei
Inves­ti­tio­nen, die man in sich selbst und damit tung, dank der »Tausende Erfolgsgeschichten« »Mein Job und meine Familie laugen mich dem Höhepunkt der Euphorie dann der Ver- mir nichts zu holen ist, und versucht nicht länger,
in die Coaching-Branche stecken müsse. entstanden ­seien: »Von Hartz IV zu finanzieller aus«, »Ich habe Schulden«. Manche fangen an kauf von Coachings: »Triff JETZT deine mich zu einem Kredit zu überreden.
Dem Geschäftsgebaren der Erfolgs-Coaches Freiheit, von krebskrank zu vollkommener­ zu weinen, ihre Gesichter werden groß auf Entscheidung, bevor es zu spät ist.« Richters Viele Betroffene, mit denen wir sprachen,
haftete seit je etwas Halbseidenes an. Aber kann Gesundheit« und »vom ewigen Single zur über- den Bildschirmen gezeigt. »Du kannst doch Vorzeige-Coaches springen auf die Bühne. schätzen nach wie vor die positiven Seiten des
es sein, dass die wachsende Branche Menschen glücklich verheirateten Mama!«. 2019 machte niemanden, der pleite ist, fragen, wie man Eine, 23 Jahre alt, erzählt, sie habe in zwei Coachings. Dort würden wichtige Eigen-
heute mit perfiden Systemen finanziell abhängig er laut der Firmenauskunft North Data ge- reich wird. Wahr oder wahr?«, will Richter Jahren zwei Millionen Euro Umsatz gemacht. schaften wie liebevolle Kommunikation und
macht? Mehrere Monate lang sind wir dieser schätzte 6,6 Millionen Euro Umsatz. Sein Un- wissen. Sein Team ruft »wahr«, im Chat­ Eine andere sagt, wer sich die Ausbildung Hilfsbereitschaft propagiert. Gerade während
Frage für die ZEIT nachgegangen. Einer von uns ternehmen hat heute mehr als 50 Angestellte. erscheint: wahr, wahr, wahr, wahr, wahr. nicht leisten könne, der solle arbeiten gehen, der Pandemie habe ihnen die enge Verbin-
traf den Coach S. (kursive Passagen), wir spra- Wer ein von Richter zertifizierter ­Life- und Richter spielt jetzt Musik ein, »die ein biss- »meinetwegen auch Flaschen sammeln«. Sie dung zu den anderen Rückhalt gegeben. Es
chen mit Betroffenen, mit Coaches und Ex- Impuls-Coach werden möchte, der muss sich chen Attacke macht«. Er spricht ein Mantra selbst habe damals auf Anraten von Richter sind die Verkaufsmethoden, die sie als mani-
Coaches, mit Juristen und Verbraucherzentralen. auf seiner Web­site bewerben. Die Plätze ­seien vor, und alle sprechen ihm nach: »Ich werde all ihren Schmuck verkauft. pulativ empfinden. Und manche schämen
Uns liegen Verträge, Rechnungen, private Chat- »stark limitiert«. Die Ausbildung beinhaltet vier erschaffen, nicht mehr zerstören, ich bin eine 45 Vorzeige-Coaches werden auf Richters sich hinterher so sehr, dass sie niemandem
Nachrichten und Anleitungen für Verkaufs­ Module, die hauptsächlich aus Online-Skripten Kraft für das Gute.« Immer wieder fragt er: Web­site gelistet. Diese ­sogenannten Damian- von ihren Geldproblemen erzählen. Einige
gespräche vor. und Videos bestehen, und kostet 15.000 Euro. »Bei wem macht es gerade klick?« Das Publi- Richter-Coaches zahlen je nach Level (Junior, haben sich zusammengeschlossen und helfen
Die Recherche zeigt: Life-Coaches wie S. Richter verspricht ein »Next-Level-Mindset« kum, ­live und im Chat, schreit: »Klick!« Senior und Master) zwischen 997 und 9997 Euro anderen, aus den Verträgen zu kommen.
stehen stark unter Druck – denn es gibt­ und inspirierende Marketing-Techniken. Mit Am Anfang sei sie begeistert von der »gro- Aufnahmegebühr, hinzu kommen monatlich bis In einem letzten Gespräch gebe ich mich S. als
einen Coach an der Spitze, der an ihnen ver- dem Zertifikat gehöre man »nachweislich zu ßen Familie« gewesen, sagt eine ehemalige zu 4997 Euro und eine Abgabe an Richter von Journalist zu erkennen und konfrontiere ihn mit
dienen will. Eine Art Coaching-Guru, der einem der am besten ausgebildeten Coaches im Richter-Coachin, die erzählt, sie habe mehr zehn Prozent der Einnahmen. Wer zwei Be­ unseren Rechercheergebnissen. Er blickt stirnrun-
ein Geschäftsmodell etabliert hat, das viele deutschsprachigen Raum«. als 60.000 Euro für ihre Ausbildung gezahlt. troffenen zufolge über drei Jahre eine halbe zelnd in die Kamera, von seiner betonten Fröh-
Menschen, die es anzieht, früher oder später Die Versprechen etwas zu groß, die Sprüche »Wenn du dann aber merkst, Sachen stimmen Million Euro investiert, darf mit Richter für lichkeit ist nichts mehr zu spüren: »Ich zwinge
in die Schulden treibt. Wer den großen Guru etwas zu laut: Das kennt man von Motivations- so nicht für mich, dann gibt es keinen Raum, weitere Seminare unter anderem nach Costa Rica keinen zu irgendetwas.« Seine Preise finde er ge-
kritisiert, dem droht eine Klage, davon sind trainern seit der ersten Generation. Die gefüllte zu sagen: Ey, das ist irgendwie komisch, oder ­fliegen. Ausgelernt scheint man in Richters rechtfertigt. In einer ­ Abhängigkeit zu Richter
viele, mit denen wir sprachen, überzeugt. Mehrzweckhalle – oder heute: Zehntausende ich fühle mich nicht wohl.« System nie zu sein. sieht er sich nicht: »Ich gehe einfach meinen Weg.«
Deswegen nennen wir ihre Namen in diesem Instagram-Follower – bezeugt den Erfolg. Rich- Darauf angesprochen, betont Richter, sein Richter brüstet sich mit fünf von fünf Ster- Richter hat derweil große Pläne. Er will das
Text nicht und haben auch S. mit einer­ ter steht für die neueste Variante: den Coaches- Netzwerk sei keine Sekte, denn es mache Men- nen auf der Bewertungsplattform Trustpilot. Olympiastadion in Berlin füllen, eine Schule
Abkürzung anonymisiert. Der Verdacht liegt Coach. Die Ausbildernummer. Die letzte Phase schen groß statt klein. Nach dem ersten Gespräch Die ehemalige Coachin wie auch der Verbrau- gründen und eine autarke Community in Cos-
nahe, dass gezielt Menschen in Lebenskrisen der Coaching-Gesellschaft, in der sich irgend- bitten wir um eine Stellungnahme zu weiteren cherschützer Schranz vermuten, dass er negative ta Rica. Er sagt: »Coaching kann Leben retten.«
angesprochen werden, um sie finanziell aus- wann die Frage stellt: Wer ist eigentlich noch Vorwürfen. Darauf teilt sein Anwalt mit, dies sei Bewertungen löschen lässt. Richter dementiert Auch Coach S. gibt sich weiterhin selbst­
zunehmen. kein Coach? innerhalb der gesetzten Frist nicht möglich. diese Vorwürfe im Gespräch. Die Coachin bewusst: Bald sei er Millionär.
 ENTDECKEN 55

RICHTIG GUTE LEUTE

David Hugendick
entdeckt: Alleinsitzende
Tischgesellschaft? Danke, sehr freundlich. Aber unser Kolumnist isst lieber für sich

W
enn Menschen tief gelingt. Beim flüchtigen, gut gemeinten auslöst oder jemand das Sondereinsatz-
gründelnde Gesprä- »Ach, wir können ja mal was essen­ kommando »Geselligkeit« ruft. Ich
che führen wollen, gehen« unter Kollegen oder Menschen, glaube übrigens nicht, dass ich mit Ein-
und das tun sie ja oft, die unbedingt nur Nettes wollen, denke samessen der deutschen Esskultur einen
stellen sie bald sehr ich meistens: Wieso ausgerechnet das? großen Schaden zufüge, ich bin der
persönliche Fragen. Neulich fragte­ Wieso etwas, wo es Essgeräusche gibt deutschen Esskultur glücklicherweise
jemand, den ich bloß entfernt kann- und unterschiedliche Auffassungen von persönlich sehr egal. Die deutsche Ess-
te: »Was darf man zu dir auf keinen Tischmanieren? Wieso nicht Kaffee? kultur leidet außerdem unter erhebliche-
Fall sagen?« Darauf gäbe es etliche Ant- Wieso nicht in den Zoo, Virginia-Uhus ren Dingen, vor allem unter ihrem Voka­
worten, aber am Ende ist es: »Guten angucken oder andere Vögel mit tollen bular: »Bissen«, »Genuss«, »Happen«,
Appetit!« Ja, das ist ein nett gemeinter Frisuren, die sofort ein Gespräch be­­­ le­ »Mahlzeit« und, jetzt wird es nahezu

Foto: Tereza Mundilova für DIE ZEIT

Satz, sogar einer von ritueller Höflich-
keit, die Menschen gelernt haben, als
sie zum ersten Mal an einem deutschen
Tisch saßen. Seit ich klein war, habe ich
es jedoch nie verstanden, warum sich
Menschen das wünschen, wenn vor
ihnen ein Teller steht, als würden sie
sich anfeuern, als würden sie dann
überprüfen wollen, ob der Appetit des
anderen auch wirklich gut ist. Später,
als ich Wörter wie »Kreatürlichkeit«
kannte, fühlte ich mich bei diesem Satz
unangenehm auf die eigene Kreatür-
lichkeit zurückgeworfen, man wünscht
mir also­einen gelungenen biologi-
schen Vorgang. Das finde ich, wie
man ­inzwischen andauernd sagt, über-
griffig oder immerhin so unhöflich, wie
in der Oper die Schuhe auszuziehen.
Nun mag es sein, dass Essen als etwas
Gemeinschaftliches erachtet wird, das
möchte ich niemandem nehmen. Ich
finde es allerdings sehr privat, weshalb
es mir nur mit Freunden ohne Probleme
ben? Vielleicht habe ich eine besonders
seltene Essstörung in Zeiten, in denen
ein So­zial­leben auch Lunch­dates und
gemeinsames Kantinengetiger voraus-
setzt. Ich gehe einfach am liebsten allein.
Als Mann besitze ich sicher noch ge­
wisse­Vorteile. Allein essende Männer
lösen gewöhnlich kein stummfilmhaftes
Entsetzen oder nervöses Tuscheln aus.
Entweder hält man sie für einen dieser
unrettbar verwitterten Typen, zu denen
man eh besser Abstand hält, oder für
den glücklichen Sonderling, der zu
Hause mit seinen Corn­flakes spricht.
Allein essende Frauen haben es dage­
gen oft leider noch schwer, sie werden
häufig mit Mitleidsblicken belästigt und
von Geflüster umhüllt: Oh, arme Maus,
da hat sie wohl jemand sitzen lassen. Der
Grad der Gleichberechtigung einer
Gesellschaft bemisst sich auch daran, ob
Frauen wie Männer allein in einem
Restaurant sitzen können, ohne dass es
am Nachbartisch zudringliche Fürsorge
unmöglich, das überhaupt ohne Wider-
stand hinzuschreiben: lecker, schlem-
men, schnabulieren, »Schmeckt’s?«.
Es gibt diese Kochsendung im ZDF,
dort sollen Leute, die privat fröhlich­
irgendwelche Sellerieschäumchen mon-
tieren, das ge­gen­ein­an­der tun. Jeden Tag
fliegt einer raus, und am Ende gewinnt
jemand, vermutlich eine eigene Koch-
insel, die heimliche Traum­insel aller
Deutschen. Jede Runde endet mit dem
Moment, in dem einer dieser aufdring- In dieser Woche freuen wir uns über: Sylvain Mabe
lich bodenständigen Fernsehsterneköche
das ganze Zeug probieren muss, erst mit Wir haben uns alle nicht ausgesucht, unter welchen Umständen sich aber auch fragt, was man auf dem Weg zur Besserung selbst tun
einem Löffel hektisch in der Soße­ wir geboren wurden – der Ort, sozialer Status, die Familie: alles kann. Mir hat dabei ein Satz geholfen, den mein Vater immer gesagt
herumbuddelt, Textur und Garpunkte Zufall. Irgendetwas ist für jeden schwer, auch ich hatte Schicksals- hat: Ruhe bewahren. Ob es war, nachdem ich von einem Menschen,
begutachtet und schließlich etwas davon schläge. Viele Leute sind wegen der Sachen, mit denen sie dealen den ich geliebt habe, enttäuscht wurde, ob es Beleidigungen von
isst. Und dabei kommt aus dem Studio- müssen, sehr enttäuscht von der Welt. Und ich verstehe das. Mit Nazis waren – Ruhe bewahren und die Perspektive des Gegenübers
publikum immer ein vorauseilendes, der Zeit habe ich aber gelernt, wie wichtig mir Akzeptanz ist. Ich verstehen: Das hilft meistens, den ersten Affekt zu reflektieren und
vielleicht auch Mut machendes, jeden- will weniger leiden – unter deprimierenden Umständen und unter sich damit auch ein Stück von ihm zu distanzieren.
falls entsetzlich lang gezogenes genieße- meinem Frust über sie. In meinem Kopf soll Frieden sein. Ich will hier aber nicht so tun, als sei ich ein Sensei, der nur in
risches Mmmmmmmmmmmmmmh. Auf Arabisch gibt es ein Wort für mein ­Ideal: sabr, das heißt sich ruht. Auch ich kann laut werden, manchmal zu laut. Wir leben
Spätestens da merkt man: Allein essen, Durchhaltevermögen oder auch Geduld. Dabei geht es nicht nur sehr schnell, und wir sind ja auch einfach noch jung und wissen
ganz toll. Wirklich. darum, etwas zu ertragen; gemeint ist, dass man akzeptiert, was ist, nicht immer, was wir eigentlich wollen.

Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Anna Mayr, Yasmine M’Barek, Sylvain Mabe, 23, nennt sich als Rapper Symba und lebt in Berlin. Zuletzt ist sein Debütalbum
Francesco Giammarco und David Hugendick »Symba Supermann« erschienen. Protokoll: Florentin Schumacher

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GEHTS | | Ein
EinSpezial
Spezialdes
desZeitverlags
Zeitverlags 1

Eine Zeitreise für Familien

AUF GEHTS EIN BEITRAG VON
RHEINLAND -PFALZ TOURISMUS
unvergessliche Sicht über die
grüne Landschaft – die Holzleiter
zur Aussichtsplattform wird
ganzen sieben UNESCO Welt-
kulturerbestätten aus dieser Zeit
als perfektes Zeugnis der römi-
In der Pfalz erheben sich mitten
im Wald die meterhohen Über-
reste eines fast zehn Kilometer
einem Streifzug durch die idylli-
sche Natur. Wer weiß, vielleicht
lässt sich sogar eine Fee oder ein
für Kurzentschlossene So spannend sind 2.000 Jahre
Hochkultur!
daher vor allem von den Kleinen
flink hochgeklettert! Ein weite-
schen Weltmacht. Während die
Kulisse der Römerstadt an der
langen Schutzwalles. Auf der
mit 687 Metern höchsten Erhe-
Kobold zwischen den Bäumen
blicken? An diese glaubten die
rer bemerkenswerter Fund ist Mosel schon manchen eine Gän- bung der Pfalz, dem Donners- Kelten fest, ebenso wie an über
Ein Besuch in jeder der zehn Regi- nicht fern, denn auf der Strecke sehaut zaubert, gibt es zudem in berg, schützte das damalige 400 Gottheiten. Mit »Beltane«,
onen von Rheinland-Pfalz gleicht wurde zudem ein kurzes Stück den Museen, Eventräumen und Oppidum mitunter das nahege- der Feierlichkeit zum Sommer-
einer Spurensuche zu unseren der originalen Römerstraße aus auf den Plätzen vor den faszi- legene Keltendorf in Steinbach beginn, ehrten sie zwei davon

Sommerloch? Fehlanzeige! Vorfahren und ihrem Wirken.

NICOLE MAIBAUM
Herrlich! Die Sonne scheint,
der Himmel ist wolkenlos und
die Arbeit ruht dank Wochen-
ende oder Ferienzeit. Optimale
Voraussetzungen, um alleine,
Von Ausstellungen wie »Pippi
Flohmärkte,
Straßenfeste und Langstrumpf, Petterson und
jede Menge Kultur
Mama Muh« in Bad Kreuznach
– der Sommer
lockt mit vielen und coolen Musikacts von Cro,
Events an die Fettes Brot und Deichkind in
frische Luft und
sorgt dort für ab-
Hamburg über Lesungen etwa mit
wechslungsreiche der Schauspielerin Annett Renne-
Unterhaltung. berg (Göttingen) und Festivals der
Kammermusik beispielsweise in
Brandenburg bis hin zu einer
Spurensuche in Schifferstadt zu
dem Phänomen »Harry Potter«
eine Auszeit nehmen, zeigt sie, und jeder Menge Kabarett wie in
was alles in ihr steckt, und präsen- Volkach reicht das Programm.
tiert sich über das gesamte Bun- Damit aber noch lange nicht
desgebiet verteilt – von den deut- genug: Denn ob Wein- und Win-
schen Küsten bis hinunter in den zerfest, Kirmes, Freibad, Freizeit-
Schwarzwald – in Höchstform. park, Fußballplatz, Streichelzoo,
»Kultursommer« lautet demnach Märchenwald oder einfach eine
Kelten und Römer, Dichter und
Denker, sie alle haben das Land
dem 1. Jahrhundert nach Chris-
tus freigelegt. Auch der Limes ist
ein erstaunliches Beispiel für den
nierenden Bauten wie der Porta
Nigra allerlei Erlebnisse für die
ganze Familie. Zur Römerzeit
vor germanischen Angriffen.
Heute verbindet ein spannen-
der Skulpturenweg den Wall mit
und bildeten den Ursprung für
den »Tanz in den Mai« – nur
eine der vielen Festlichkeiten,
geprägt und ihre Einflüsse sind Einflussreichtum der Römer – die war Trier die größte Metropole der rekonstruierten Stadt, die zu denen in allen Regionen jede
noch immer an jeder Ecke spür- zwei innerrömischen Grenzen die Kultur des Volkes, das ins- Menge zu erleben ist.
bar – in den geschichtsträchtigen links und rechts des Rheins, heu- Rheinland-Pfalz: besondere aus den Abenteuern Durch das vielfältige Angebot
Städten und auch inmitten der tige UNESCO Welterbestätten, Voller lebendiger von Asterix und Obelix bekannt an Kultur-Events gibt es frische
malerischen Landschaften. trennten die römischen Provin- Geschichte! ist, authentisch erlebbar werden Eindrücke auch an den richtig
Bei einer Wanderung durch zen vom freien Germanien und lässt. Das besterhaltene keltische heißen Tagen und strahlende
die weiten Wälder des Hunsrücks die Bauten entlang des kilome- nördlich der Alpen und noch Monument ist ebenfalls ein Ring- Augen, selbst wenn es einmal
entlang des Saar-Hunsrück- terlangen Verlaufs sind heute unter dem Namen Aug usta wall, der bei Otzenhausen im regnet – in Rheinland-Pfalz war-
Steigs zieht zum Beispiel ein vielerorts authentisch zum Ent- Treverorum bekannt – benannt Nationalpark Hunsrück-Hoch- ten so viele außergewöhnliche
uraltes Bauwerk alle Blicke auf decken nachempfunden. Alle, nach einem der wichtigsten wald zu finden ist. Mit beein- Kulturerlebnisse auf neugierige
sich. Es ist der Römerturm, die die sich für die Geschichte des keltischen Stämme des Rhein- druckenden Ausmaßen von Entdecker und Entdeckerinnen
Rekonstruktion eines mächtigen einstigen Imperiums interessie- Mosel-Gebiets, den Treverern. 12 Metern Höhe und 40 Metern jeden Alters!
Wachturms innerhalb der frü- ren, wird es früher oder später Lange bevor der erste Römer Breite umschließt er ein bewal-
heren Befestigungsanlage, die nach Trier führen. Die älteste einen Fuß nach Rheinland-Pfalz detes Plateau, auf dem einst Weitere unvergessliche Mo-
das Römische Reich vor barbari- Stadt Deutschlands gilt mit der setzte, bevölkerten es schon die eine weitere Siedlung lag. Der mente für die ganze Familie gibt
schen Stämmen schützen sollte. beeindruckenden Dichte an Kelten und so sind auch ihre dort entstehende Keltenpark ist es unter www.rlp-tourismus.de/
Heute bietet er vor allem eine erhaltenen Denkmälern und Zeugnisse vielerorts zu finden. sicher einer der Höhepunkte bei kulturmomente 
Foto: © Gabriele Ferrandi

Foto: © Nikola Stankovic

Foto: © Carola Schmitt

Foto: © Naheland-Touristik GmbH

Foto: © Th. Zühmer

zu zweit oder mit der ganzen
Familie etwas zu unterneh-
men. Kein Plan, was, wie, wo?
Nicht schlimm! Denn das Gute
liegt manchmal ganz nah …
Sommerpause, geschweige denn
Sommerloch? Derartiges ist der
Kultur absolut fremd. Während
andere sich in dieser Jahreszeit
der übergeordnete Titel, unter
dem viele Gemeinden, Institu-
tionen, Städte und Bundesländer
auch in diesem Jahr wieder ein
abwechslungsreiches Programm
zusammengestellt haben. Dieses
richtet sich nicht etwa nur an Er-
wachsene, nein, im Angebot fin-
den sich etliche Veranstaltungen
für die ganze Familie.
große Wiese zum Picknicken –
der Sommer lockt an die frische
Luft und ist dort randvoll gefüllt
mit Highlights für Jung und Älter.
Und sollte das gute Wetter ein-
mal pausieren: »Mensch ärge-
re Dich nicht« – oder man geht
ins Netz und schaut, zu welcher
(Kul-)Tour man als Nächstes
aufbrechen kann. 

Ritter, Burgfräulein, Gaukler, Musikanten und 17. 06. – 23. 09. 23 |

SOMMERHECKMECK
11. 08. – 13. 08. 23 |
WORMS: JAZZ & JOY
21. 09. – 24. 09. 23 |
KOPFÜBER
GANZJÄHRIG | MUSEUM FÜR
PUPPENTHEATERKULTUR
GANZJÄHRIG | IM REICH
DER SCHATTEN
THEATERTREFFEN
Schankwirte zeigen sich in den kommenden Junger Kulturspaß in Trier
und Umgebung unter dem
Das Internationale Musikfestival
vor der historischen Kulisse Spannende Begegnungen: Hier
Einblicke in die Welt der Augs-
burger Puppenkiste und darü-
Leben und Lieben im römischen
Trier – ein mediales Raumtheater
Wochen auf diversen Burgfesten und Mittel- Motto »Neue Welten! –
Erfinden&Entdecken«!
des Wormser Kaiserdoms
begeistert Musikfans schon
treffen Kinder und Jugendliche
die Menschen hinter abwechs-
ber hinaus: Auf 700 m2 führt
das PuK-Museum in Bad Kreuz-
im Rheinischen Landesmuseum:
Ein kompletter Museumsraum
alterspektakeln von ihrer besten Seite. Eröffnet wird die spannende
Reihe aus Konzerten, Theater-
seit 1991. Auf fünf Plätzen
präsentieren sich Jazz-Größen
lungsreichen Kinder- und
Jugendtheaterproduktionen,
nach Jung und Alt durch die
Welt des Figurentheaters. Hier
mit modernster Technik wird
zur Filmkulisse und bietet
stücken, Produktionen und und Stars anderer Musikrich- kommen ins Gespräch und gibt es die berühmtesten Mario- in spannenden 45 Minuten
Termine und Informationen liefert die Workshops für die ganze tungen aus Deutschland und tauchen in Workshops noch netten, Theatralia aus allen 8 ein einzigartiges, filmisches
Familie durch die Festival- aller Welt. Exklusiv in diesem tiefer ein. Das Festival-Angebot von der UNESCO als Weltkul- 360°-Rundum-Erlebnis.
Seite www.mittelaltermarkt-info.de. eigenproduktion »Die Biene Jahr: Max Giesinger, bekannt behandelt die Themen, die die turerbe anerkannten Puppen- Hautnah zu entdecken immer
Maja und ihre Abenteuer« als durch Chartstürmer wie »Wenn jungen Altersklassen aktuell spieltraditionen, interaktive samstags, sonntags und an
Musical-Uraufführung open- sie tanzt«, auf dem Marktplatz bewegen und lädt zur gemein- Probierstationen und Sonder- Feiertagen um 12 Uhr sowie
IMPRESSUM Verlag: ZEIT Verlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Helmut-Schmidt-Haus, 20095 Hamburg; Geschäftsführung:
Dr. Rainer Esser; Art Direction: Kay Lübke, Dietke Steck; Realisierung: Studio ZX GmbH – Ein Unternehmen der ZEIT Verlagsgruppe, Projektmanagement: air auf dem Petrisberg in Trier. in Worms! samen Reflexion ein. ausstellungen zu entdecken. mittwochs um 14.30 Uhr.
Flemming Holm; Redaktion: Nicole Maibaum; Grafik: Sonja Feldkamp; Lektorat: Egbert Scheunemann; Bulder: iStockphoto.com – Tetiana Garkusha,
georgeclerk; Produktmanagement: Ingo Neumann Chief Sales Officer ZEIT Verlagsgruppe (ad interim): Dr. Hanna Proner Head of Tourism, MEHR DAZU UNTER MEHR DAZU UNTER MEHR DAZU UNTER MEHR DAZU UNTER MEHR DAZU UNTER
Culture & Art: Sandra Lindemeier, Tel.: 040 32 80 359, sandra.lindemeier@zeit.de; Anzeigenpreise: Preisliste 68 vom 1. Januar 2023 www.sommerheckmeck.de www.jazzandjoy.de www.neustadt.eu www.bad-kreuznach.de/puk www.zentrum-der-antike.de
56 ENTDECKEN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

»Kulinarische Emanzipation?
Ach Gott«
Welches Gewürz ist
unerwartet sexy?
S te in e r : S c hwar ze r P fef fe r.
I c h bin P fef fe rlie b h ab e r,
ich mache den auch auf
Desserts. Er weckt auf,
erweckt die Sinne

Wonach schmeckt
Liebeskummer?
Steiner: Als würde
man in eine ganze
Grapefruit hineinbeißen Foto (Ausschnitt): Lena Giovanazzi für DIE ZEIT; Illustrationen: Julia Ossko für DIE ZEIT

Douce Steiner in ihrem Zweisternerestaurant Hirschen im Süden Baden-Württembergs

Liegen Sie nachts wach

und träumen von Rosmarin?
Steiner: Neulich träumte ich von
e i n e m D e s s e r t m i t To p i n a m b u r,
Ananas und Estragon

Douce Steiner ist Deutschlands beste Köchin:

Ein Gespräch über Männer am Herd,
Tränen in der Kühlkammer und die Frage,
ob in ihrer Küche gegendert wird
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
Ein Haus, weiß wie Mascarpone, garniert
mit einem roten Schild des Guide Michelin
und zwei winzigen Sternen: »Hirschen«
verkünden die Buchstaben über der ­
Eingangstür. Sulzburg in Südbaden, knapp
2700 Einwohner, versteckt im Markgräfler-
land. Dort, wo die Weinberge Baden-
Württembergs in den Hochschwarzwald
übergehen, hat die Mutter der Inhaberin,
eine Französin, ihre Tochter ­Douce getauft,
was »süß« heißen kann oder auch »sanft«.
Die Menschen gehen in Sulzburg nicht
einfach zum Hirschen – sie gehen zu ­
Douce Steiner.
Die Familie
DIE ZEIT: In diesen Tagen kommt der
Restaurantführer Gault&Millau heraus.
Zuvor hatte schon der Guide Michelin
seine begehrten Sterne an 334 Gourmet­
restaurants in Deutschland verliehen. Sie
bleiben mit zwei Sternen die höchst­
dekorierte deutsche Köchin.
Douce Steiner: Ob ich die einzige bleibe
oder die zwei überhaupt behalten werde,
das weiß man nie. Wobei ich mich sehr
freue, wenn andere Köchinnen folgen.
ZEIT: Als Sie das Restaurant Ihres Vaters
2008 übernahmen, ging der Guide­
Michelin hart mit Ihnen ins Gericht, nach
einem Jahr war einer der beiden Sterne
erst einmal weg.
Steiner: Bevor ich das Restaurant offiziell
übernommen habe, hatte ich bereits zehn
Jahre bei meinem Vater gearbeitet. Als
wir kurz nach meiner Übernahme den
zweiten Stern verloren, war das sehr
schlimm. Ich bin mitten in der Nacht
aufgewacht, auf dem Dachgarten herum­
gelaufen und habe gegrübelt, was wir
wohl falsch gemacht haben. Irgendwann
habe ich dann gedacht, okay, damit muss
ich jetzt leben.
ZEIT: Wissen Sie, warum man Ihnen den
Stern aberkannt hat?
Steiner: Es hat mir keine Ruhe gelassen.
Ich habe dann beim Guide Michelin­
angerufen und um ein Gespräch gebeten.
Da wurden mein Mann und ich eingela­
den, das war überhaupt kein Problem.
Wir sind mit dem Auto nach Karlsruhe
gefahren. Die deutschsprachige Ausgabe
des ­Guide wurde damals von einer Frau
geleitet. »Dann wollen wir mal gucken,
was die Inspektoren über ihren Besuch
geschrieben haben«, hat sie gemur­ melt
und in den Dokumenten geblät­ tert.­
Zusätzlich gab es Briefe von Gästen. So
richtig verraten konnte sie uns natürlich
nichts, aber sie erwähnte eine doppelte
Melone. Die hatte es damals als Amuse-­
Bouche gegeben, unser Gruß aus der
Küche. Und im Dessert noch einmal,
anders zubereitet zwar, aber eine Produkt­
wiederholung, was nicht gut angesehen
ist. Das konnte ich nachvollziehen.
ZEIT: 2012 erhielten Sie den Stern zu­
rück. Wie erkocht man sich einen zwei­
ten Stern?
Steiner: Das weiß ich nicht. Ich glaube,
man darf sich nicht zu sehr stressen.
ZEIT: Träumen Sie vom dritten Stern?
Steiner: Der ein oder andere Gast ist der
Meinung, dass wir ihn schon lange wert
wären.
ZEIT: Als 1933 zum ersten Mal drei Sterne
vergeben wurden, gingen sie interessanter­
weise auch an zwei Frauen.
Steiner: Ja, an Eugénie Brazier mit dem
La ­ Mère Brazier in Lyon. Marlene­
Dietrich schätzte ihre Langouste ­Belle­
Aurore, eine ganze Languste in Brandy
und Sahne. Die zweite Köchin war Ma­
rie Bourgeois.
ZEIT: Es ist auffällig, dass viele Spitzen­
köchinnen als Vorbilder ihre Väter nen­
nen. Waren unter Ihren Vorbildern auch­
Frauen?
Steiner: Auch ich war immer sehr eng mit
meinem Vater. Ein Papa-Kind. Das Wirt­
schaftliche und den Genuss, das habe ich
von ihm gelernt. Meine Mutter starb ver­
gangenes Jahr. Sie war eine Weinkoryphäe,
die Seele des Hauses, hat die Gäste ­begrüßt,
sich um die Blumensträuße ­gekümmert.
Ich vermisse sie jeden Tag. Ich erinnere
mich an ihre Flachswickele, ein schwä­
bisches Gebäck, die immer in einer wun­
derschönen Jugendstildose, mit Blumen
verziert, auf unserem Wohnzimmertisch
standen. Ihren feinen Haselnusskuchen,
den Löwenzahnsalat mit Senf­ vinaigrette
und wachsweichen Eiern und an ihre­
Hei­del­beer-­Tarte mit knusprigem Boden
aus pâte sablée, einem Sandteig, und wil­
den Heidelbeeren aus den Vogesen. Ihr
verdanke ich wahrscheinlich auch meine
langjährige Aversion gegen Sauerkraut,
weil sie das während der Schwangerschaft
dauernd gegessen hat, mit sehr viel Butter.
ZEIT: Erinnern Sie sich an eine kulinari­
sche Erzählung aus Ihrer Kindheit?
Steiner: Zwerg Nase. Ein Koch, der eine
schöne Suppe zubereitet. Und nur er
kann diese Suppe kochen. Daran muss
ich oft denken. Heute erst ist mir klar:
Wenn drei Köche das gleiche Rezept­
haben, die gleiche Suppe kochen, dann
schmecken alle drei Suppen anders. ­
ZEIT: Ihre Tochter Justine ist 24. Sie wird
in Ihre Fußstapfen treten. Ein Traum von
ENTDECKEN 57
Ihnen? Oder einfach das, was man macht, führen. Ich habe dann abends alles ins hier der Reh-Spieß, da Petersilienwurzel- ZEIT: Wonach schmeckt Liebeskummer? Steiner: Wir beschäftigen zurzeit 18 Mit­
wenn man in einer Familie von Sterne­ Auto gepackt, abgebrochen und bin stampf, darauf das »frische Blattpeterle«. Steiner: Als würde man in eine ganze arbeiter. Davon sind zehn Damen: Rei­
köchen groß wird? heimgefahren, zurück nach Sulzburg. Grape­fruit hineinbeißen. nigungskräfte, eine an der Rezeption, drei
Steiner: Ob sie den Hirschen einmal ZEIT: Sie haben es für sich behalten. ZEIT: Sie zeichnen Tagebuch – was hal­ ZEIT: Welches Gewürz ist unerwartet im Service.
übernimmt, weiß ich nicht. Sie soll etwas Steiner: Ich habe es lange meinen Eltern ten Sie fest? sexy? ZEIT: Wie viele arbeiten in der Küche?
finden, was sie glücklich macht. Nach nicht erzählt. Der Chef hat mich damals Steiner: Ich denke immer über das Essen Steiner: Schwarzer Pfeffer. Ich bin Steiner: Zwei. Ein Lehrling und ich.
ihrer Köchinnen-Lehre bei uns ist sie jetzt persönlich angerufen – ich habe ihm­ nach. Permanent bin ich am Essen in­ Pfeffer­liebhaber, ich mache den auch auf ZEIT: Aber müssten nicht gerade Sie die
in Spanien bei Elena Arzak, einer baski­ gesagt, dass ich nicht mehr zurückkom­ Gedanken. Abends sitze ich am Küchen­ ­Desserts. Er weckt auf, erweckt die Sinne. Frauen in der Küche fördern?
schen Sterne­köchin, die auch das kulina­ men kann, und das auch begründet. Erst tisch, ein Glas Wein, und schreibe. Ich ZEIT: Liegen Sie nachts wach und träu­ Steiner: Bei mir bewerben sich viel mehr
rische Erbe ihres Vaters weiterführt. Den Jahre später musste der Kollege dann­ male Gang für Gang, bis das Menü am men von Rosmarin? Männer als Frauen. Für mich ist das
richtigen Gaumen hat meine Tochter von gehen. Ende steht. Dann drucke ich es aus und Steiner: Neulich träumte ich von einem Menschliche wichtig. Da ist mir dann
klein auf mitgekriegt. Immer wenn ich ZEIT: Haben Sie damals beschlossen, hefte es in einen Ordner. Es sind wilde Dessert mit Topinambur, Ananas und egal, ob Mann oder Frau.
etwas angerichtet habe, habe ich sie mit dass in Ihrer Küche niemand Angst h ­ aben Zeichnungen. Estragon. ZEIT: Was bedeutet kulinarische Eman­zi­
ihrem kleinen Löffel probieren lassen. sollte? ZEIT: Haben Sie ein Beispiel, wie Sie in ZEIT: Ein unvergessliches Gericht? pa­tion für Sie?
Heute kann sie, genau wie ich, in Ge­ ­ etrieb, Gedanken schmecken?
Steiner: Ich habe bislang in jedem B Steiner: Vor ein paar Jahren fuhr ich mit Steiner: Kulinarische Emanzipation? Ach
danken schmecken. Auf unserer letzten in dem ich war, am ersten Tag verschla­ Steiner: Gerade steht bei uns Milchlamm meinem Mann nach Ligurien. In Vari­ Gott.
Karte hatten wir Tiefseegarnelen mit einer fen. Man ist selbst so gestresst, da muss und Artischocken auf der Karte. Das ist gotti, einem Fischerdorf, gab es ein Res­ ZEIT: Können Sie am Teller erkennen, ob
Marinade aus Quitte, Eisenkraut und
­ ich meine Angestellten nicht noch mehr gut, aber es fehlt der Kick. Und dann taurant, in dem man fangfrischen Fisch eine Spitzenköchin ihn angerichtet hat –
Blumen­kohlpüree. Als ich ihr davon er­ stressen. Früher gab es auch Sonntag­ kann es passieren, dass ich laufen gehe auf einem offenen Grill mit etwas liguri­ oder ein Spitzenkoch?
zählt habe, schrieb sie mir Stunden spä­ abende, an denen konnte ich vor­ und zwei Stunden lang über diesen Kick schem Olivenöl, Fleur de Sel, Limonen­ Steiner: Beim Anrichten bin ich irgend­
ter: Ananas würde auch passen. Zwei Erschöpfung nicht mehr sprechen. Man nachdenke. Es verfolgt mich auch, wenn abrieb, einer Messerspitze Ingwer und wie ein bisschen speziell, ich richte zum
Gaumen – ein Gedanke. redet morgens, mittags, abends, mit den ich nachts aufwache. Bis es mir einfällt: frischem Thymian zubereitet. In einem Beispiel immer mit meinen Händen an,
Gästen, mit den Mitarbeitern, macht­ Was gehört zu Lamm? Couscous. Was ist Bastkorb lagen Langusten, ganze Dora­ nicht mit der Pinzette. Männer gucken
Bestellungen, Vorstellungsgespräche. Ich im Couscous drin? Rosinen, Koriander, den, Calamaretti und gekühlte Austern, immer sehr viel mehr, was die anderen
Die Küche saß mit meinem Mann und meiner Toch­ Paprika, Kichererbsen, Lammjus, Zitrone. als würde man von den Wellen davon­ machen, wie der Trend ist. Frauen arbei­
ter beim Essen und musste um Worte Das wäre das Klassische. Ich überlege getragen werden. Solche Erlebnisse soll­ ten mit mehr Gefühl, es muss nicht immer
Glänzendes Arbeitsflächensilber, ein Korb ringen. Wir haben dann umgestellt: Es dann: Anstatt Rosinen nehme ich con­ ten Erinnerungen bleiben. Ohne dass alles gleich sein. Männer bauen lieber
voller Austern, ein Aquarium ohne einen gibt jetzt drei Ruhetage in der Woche fierte Grape­fruit mit Schale. Für Knusp­ man wieder nach ihnen sucht oder zu und nennen es dann Dekorationskunst.
einzigen Hummer, daneben ein einsamer und seit Corona keinen Mittagstisch rigkeit nehme ich knusprige Oliven.­ sehr an sie glaubt. ZEIT: »Frauen machen weniger Chichi«,
Koch. Der Koch sei gerade Vater geworden, mehr. Das entspannt alle. Zitronenabrieb. Statt Koriander Basili­ ZEIT: Was ist das für ein Gefühl, eine der haben Sie einmal gesagt. Was ist aktuell
erklärt Steiner. Deswegen dürfe er früher ZEIT: Gibt es ein Gericht, das Ihnen Alb­ kum und Minze. Und dann erzähle ich besten Frauen auf einem Gebiet zu sein? das Chichi des Koches?
als alle anderen kommen, um abends bei träume bereitet? das meinen Köchen. Die stellen mir für Steiner: Wenn ich ehrlich bin, ist es mir fast Steiner: Seit Jahren verfolgen mich diese
seinem Kind sein zu können. Steiner: In meiner Ausbildungszeit habe den nächsten Tag alle Zutaten bereit, und unangenehm, das gesagt zu bekommen. Pünktchen auf den Tellern, in verschie­
ich im Kochunterricht um die 30 Topfen­ meist schmeckt es auch genau so, wie ich ZEIT: Wird in Ihrer Küche gegendert? denen Farben und Variationen, die kei­
ZEIT: Was passiert, wenn Sie Ihre Schürze soufflés ruiniert. Ich habe sie bewusst ohne es mir vorgestellt habe. Steiner: Ge-was? nen Sinn machen zum Gericht.
anziehen? Mehl gemacht, den Eischnee nicht so rich­ ZEIT: Beschreiben Sie bitte den Kick. ZEIT: In Deutschland gibt es zehn Res­ ZEIT: Ihre Henkersmahlzeit wäre?
Steiner: Wenn ich meine Schürze anziehe, tig steif bekommen – und dann gingen sie Steiner: Zitronenabrieb, Grape­ fruit, taurants mit drei Michelin-Sternen, 50 Steiner: Kaviar und Champagner. Mit
herrscht absolute Stille. halt nicht auf. Nach dieser ­Misere hatte Minze. Es weckt auf. mit zwei Sternen und 274 mit e­inem Pellkartoffeln und Sauerampfer.
ZEIT: Sie reden nicht in der Küche? ich ein paar Jahre lang einen wiederkeh­ ZEIT: Lässt sich guter Geschmack er­ Stern. Nur elf Sternerestaurants haben
Steiner: Wir reden fast nie miteinander. renden Albtraum: Jedes Mal, wenn ich ein lernen? eine Küchenchefin, im vergangenen Jahr Das Gespräch führte
Es herrscht absolute Konzentration. Alle Soufflé zubereitete, wurde es so groß, dass Steiner: Er lässt sich anerziehen. In­ waren es noch 17. Woran liegt das? Amonte Schröder-Jürss
lieben das. Und wenn etwas scheppernd ich es nicht mehr aus dem Ofen bekam, meiner Kindheit fuhren wir an Weih­ Steiner: Das werde ich ziemlich oft­
herunterfällt, dann entschuldigt sich­ weil es die Ofendecke durchbrach. nachten immer zu meiner französischen gefragt. Sobald eine Frau ein Kind hat,
derjenige gleich. Ab und an gibt es kurze­ Großmutter. Dort gab es keine Wienerle um das sie sich irgendwie kümmern
Ansagen, wann etwas rausmuss. Ansons­ und Kartoffelsalat. Bis spät in die Nacht­ muss, ist es schwer, Küchenchefin zu
ten herrscht Ruhe. Eine spezielle Atmo­ Das Essen wurden Austern gereicht, Muscheln, werden. Eine Sache aber ist mir aufgefal­
sphäre, die sogar die Gäste spüren. Ich Schnecken, Krustentiere, Gänseleber­ len: Wenn man sich anguckt, wie viele
werde immer wieder darauf angespro­ »Confierte Bachforelle, Aal aus dem ­ pastete und zum Dessert: la Bûche de Sterneköche einen eigenen Betrieb ha­
chen: »Bei Ihnen ist so eine Ruhe, wenn Bodensee auf einer Jus von Holunderblüte. Noël, ein traditionelles Weihnachts­ ben, dann sind das sehr wenige. Bei den
man in die Küche reinspäht.« Wenn der Blaue Garnele und Sot-l  ’y-laisses in einer gebäck. Geschenke waren unwichtig. Sterneköchinnen sind es fast alle. Ich
letzte Hauptgang raus ist, bedanken wir Essenz mit japanischen Aromen« steht auf Und man sollte Kindern zeigen, wo etwas glaube, dass Frauen die besseren Unter­
uns bei­ein­an­der für den schönen Abend. Steiners Speisekarte. Abends, am Küchen- herkommt. In der Natur wächst so viel: nehmer sind.
Die Patissiers gehen immer als Letzte, so tisch, verfasst sie ihre Kompositionen. ­ Ampfer in den Wiesen, Sauerklee im ZEIT: Wie viele Männer und wie viele
lange warte ich, um mich auch bei ihnen Steiner notiert nicht einfach – sie skizziert: Wald, wilder Schnittlauch in den Reben. Frauen arbeiten bei Ihnen?
zu bedanken.
ZEIT: Das klingt völlig anders als das
gängige Klischee von der Spitzenküche,
in der ein rauer Ton herrscht und die
Sous­chefs die Köche zusammenbrüllen.
Steiner: Wenn man Qualität bieten will,
kann man nicht mit Angst arbeiten.
ZEIT: In der Küche gibt es eine strenge
Hierarchie. Alles muss perfekt sein. Es
gibt Geschichten von fliegenden Pfan­
nen, von Köchen, die Azubis mutwillig
Brandwunden zufügen, wenn die einen
Fehler gemacht haben. Wenn Sie das so ANZEIGE
schildern, klingt es eher meditativ.
Steiner: Kochen ist etwas sehr Ästheti­
sches, etwas Feines. Ich finde, da gehört
überhaupt keine Gewalt dazu. Und auch
kein Stress. Ich habe selbst viel erlebt, was
auch nicht so witzig war.
ZEIT: Schon mal heimlich in der Kühl­
kammer geweint?
Steiner: Ja! Tatsächlich weint man immer
in der Kühlkammer. Ich weiß nicht,­ Journalistenpreis der Digitalpublisher
warum das so ist, aber das würde ich heute
immer noch so machen. Wenn irgendwas und Zeitungsverleger
ist, dann gehe ich ins Kühlhaus. Mit 40
hatte ich eine Zeit, da hatte ich viele
Angstzustände – ein Kind, der Stress, den DIE NOMINIERTEN 2023
Laden übernommen zu haben, und alles
ist gekippt. Da bin ich wirklich oft, viel­ MEINUNG BESTES LOKALES BESTES LOKALES STÜCK
leicht einmal in der Woche, zum Weinen DIGITALPROJEKT
ins Kühlhaus gegangen. Ich glaube, das „Der Garten und der Dschungel“ „Tatort Kita-Küche“
ist typisch Frau. Ich denke nicht, dass ein Dunja Ramadan „Klimazentrale Stuttgart“ Manuela Müller
Mann zum Weinen ins Kühlhaus geht. Süddeutsche Zeitung, München Jan Georg Plavec Freie Presse, Chemnitz
ZEIT: Kein Spitzengastronom wollte Sie „Bloß keine Ausweglosigkeit“
und
„Viele Kühe machen Mühe“
anfangs ausbilden. Wie haben Sie es­ Johannes Schneider Simon Koenigsdorff
Henning Rasche
geschafft, an eine Ausbildung zu kommen? Zeit online, Hamburg Stuttgarter Zeitung und Rheinische Post, Düsseldorf
Steiner: Man muss fairerweise sagen, dass Stuttgarter Nachrichten
es oft auch einfach keinen Platz gab. In „Zwei Jahre Corona – und wir „Endlevel Hass“
der Sternegastronomie haben die meisten haben so wenig verstanden“ „Pflege-Liveblog Julia Ruhnau
damals keine Lehrlinge genommen, son­ Jakob Simmank in der Klinik: Nürnberger Nachrichten
dern nur Ausgelernte. Ich habe also meine Zeit online, Hamburg 16 Stunden am Limit?“
Lehre zu Hause gemacht. Danach, Ende Peter-Pascal Portz
der Achtzigerjahre, habe ich mich in­ REPORTAGE VRM, Mainz THEMA DES JAHRES
vielen Sternerestaurants beworben: im „DER KRIEG IN EUROPA UND
Auberge de L’Ill, im Aubergine in Mün­ „Dem Sturm ausgeliefert“ „Hilfe für die Ukraine“ DIE DEUTSCHE ZEITENWENDE“
chen. Es kamen, oft Jahre später, die­ Moritz Aisslinger Patrick Schwemling
Ablehnungen. Ich habe alle aufbewahrt. Die Zeit, Hamburg Mindener Tageblatt „Schreckliche neue Welt“
Es ist mir nur einmal passiert, dass ich Daniel Brössler
mich beworben habe und direkt die­ „Ihr Leben war ein Fest. Süddeutsche Zeitung, München
Dann hatten sie genug“
Antwort erhalten habe, man stelle keine „Einmal Hölle und zurück“
Eva Schläfer
Frauen ein. Frankfurter Allgemeine Cathrin Kahlweit
ZEIT: 1991 sind Sie schließlich ins Bur­ Sonntagszeitung Süddeutsche Zeitung, München
gund gegangen, zu dem Sternekoch­
Georges Blanc. „Raus aus den Betten!“ „Die Krisenmanagerin“
Steiner: Drei Sterne, eine Top-Adresse. Thorsten Schmitz Valerie Schönian
Jahrelang hatten wir den Geburtstag­ Süddeutsche Zeitung, München Die Zeit, Hamburg
meines Vaters dort gefeiert. Aber es wurde
eine sehr unglückliche Zeit. Am ersten Sie haben journalistische Glanzstücke geliefert – brillant in Sprache, Stil und Form, Zeugnisse einer demokratischen und gesellschaftspolitischen
Tag habe ich vor Aufregung verschlafen, Verantwortung. Sie stehen damit in der Tradition von Theodor Wolff (1868 – 1943), dem einstigen Chefredakteur des legendären »Berliner
ich hatte sofort schlechte Karten. 45 Tageblatts«. Die Preisträger werden am 21. Juni gewählt.
Männer und ich die einzige Frau. Da
hieß es auch oft: Frauen gehören nicht in
die Profiküche. Und dann wurde ein­
Kollege übergriffig. Die Zeitungen in Deutschland
ZEIT: Was ist passiert?
Steiner: Er hat mir das Leben zur Hölle
gemacht, wurde handgreiflich, es eska­ Kuratorium für den Theodor-Wolff-Preis · Markgrafenstraße 15 · 10969 Berlin · Telefon: 030-726298-212 · www.theodor-wolff-preis.de
lierte. Weiter möchte ich das nicht aus­
58
Am Bahnhof von Všetaty
Z UG
Biertrinken und Bahnfahren – beides macht in Tschechien eindeutig mehr Spaß als hierzulande. Eine Bahnhofskneipentour  VON NICLAS SEYDACK
L
ange bevor der erste Kater im Schädel
ankommen wird, zieht erst mal der
Hund an der Leine, er heißt Pavel, ein
süßer, leicht verwachsener Mischling,
der gerade mit Tom, seinem Herr­
chen, aus dem Zug von Dresden nach Děčín
gestiegen ist, dem Grenzort auf der tschechischen
Seite. Gefolgt sind ihnen wir: ein freundliches
Pärchen, ein paar alleinreisende Männer, dazu
Vater, Mutter, Sohn auf Familienurlaub – und
ich. Insgesamt sind wir zu elft. Wir alle haben bei
Tom, 40 Jahre alt, wenig Haar, trockener ­Humor,
eine besondere viertägige Zugreise durch Tsche­
chien gebucht. Tom, der als Kind Mitschülern
ungefragt Fahrplanauskünfte gab, hat eigentlich
einen Schreibtischjob bei der Deutschen Bahn.
Seit eineinhalb Jahren organisiert er nebenbei
aber auch Gruppenreisen im Zug, buchbar
über schienenstrang.com, meist nach Ost­
europa. Unsere führt einmal quer durchs Land,
von Bahnhofskneipe zu Bahnhofskneipe.
Biertrinken und Zugfahren: Ersteres mache ich
privat gerne, zweiteres beruflich viel, aber beides
in Deutschland zunehmend ohne Spaß. Die Bahn
kommt zu spät, das Bier in meinen Stammkneipen
hat die magische Fünf-Euro-Grenze pro halbem
Liter überschritten. Auf dieser Tour will ich Ver­
söhnung mit meinen Leidenschaften suchen und
die schönsten Kulturorte des Landes kennenlernen
– denn was, bitte, sind Bahnhofskneipen sonst?
Die erste Kneipe, die wir auf dieser Tour be­
su­chen, ist gleich die »Bahnhofskneipe des Jahres
2022«, ausgezeichnet von Tom höchstpersönlich.
Im Bahnhof Děčín stößt er die Tür auf, Pavel
beschnuppert die Tische in Eiche rustikal und die
Trinker, die daran sitzen. Der halbe Liter Bier
kostet hier gerade einmal 37 Kronen, gut 1,50
Euro. Auf dem Riesenbildschirm an der Wand
läuft Basketball ohne Ton, darunter hängt eine
Urkunde. Die hatte Tom damals als Auszeichnung
ausgedruckt und gerahmt. Er ist echt stolz, als er
nun sieht, dass der Wirt sie aufgehängt hat.
»Nimmt irgendjemand kein Bier?«, fragt Tom.
Großes Gelächter. Na dann, auf eine schöne Rei­
se, an deren Ende wir 1000 Kilometer abgerissen
und als Gruppe etwa halb so viele Biere getrunken
haben werden. Und sicher, man hört immer wieder
von der hervorragenden Qualität des tschechischen
Bieres, aber ehrlich gesagt kann ich dazu auch nach
dieser Reise nicht viel sagen, denn auf der geht es
dann doch mehr um die Art Trinken, die alle
Unterschiede ziemlich schnell hinwegspült.
Über dem ersten Bier erklärt mir Tom, was
Kneipen wie diese preiswürdig macht. Erstens:
täglich geöffnet, von acht Uhr morgens bis acht
Uhr abends. Zweitens: Drinnen läuft Kiss Radio,
ein Sender, der Eurotrash spielt. Drittens, »schau
mal«, sagt Tom und zeigt auf die große Uhr an der
Wand: »Die geht exakt acht Minuten vor. Damit
alle rechtzeitig austrinken und niemand zu spät
am Zug ist.« Ich nicke – leicht angetrunken über­
zeugt mich Toms Bewertungssystem sofort.
Viertens: Es gibt was zu essen. Wir bestellen
Hermelín. Ein in Öl und Knoblauch eingelegter
Käse, in Brotkrumen paniert und anschließend
frittiert. Dazu Pommes.
»So, austrinken!«, sagt Tom, wir müssen den
nächsten Zug kriegen. Er treibt uns an, weil er
weiß, dass seine Gruppen komfortable Umsteige­
zeiten zuverlässig zu sehr knappen schrumpfen.
An tschechischen Bahnsteigen steht nämlich im­
mer ein besonders schöner oder seltener Zug. Der
löst zwar bei mir wenig aus, aber viel bei der Grup­
pe: Alte Digicams und neue Smart­phones werden
gezückt. Fast jeder Zug hat einen Spitznamen, der
meist auf der Optik ­beruht. Die Scheinwerfer der
»Taucherbrille« etwa sehen aus, als könnte die Lok
­einen Unterwasserbahnhof ansteuern.
Tom lässt derweil Pavel auf einen Grünstreifen
pinkeln. Wie mich interessieren Tom fahrende
Züge mehr als Fotos von stehenden. Vor allem,
wenn sie so unterwegs sind wie in Tschechien. Die
»Brotbüchse« zum Beispiel, Trieb- und Sitzwagen
in einem, hat Ähnlichkeit mit dem, worin man
früher seine Wurststulle in die Schule trug. In
diesem Mini-Zug aus den frühen Siebzigerjahren
packen wir unser Gepäck in echte Netze. Es gibt
Vorhänge aus richtigem Stoff, die Toilette ist ein
Plumpsklo. Ein bisschen Zeitreise, wie roman­
tisch, denke ich. Doch Tom erklärt mir, dass alte,
kleine Züge wie die »Brotbüchsen« viele Neben­
strecken am Leben halten, die sonst eingestellt
würden. Zehntausend Kilometer Schiene werden
in Tschechien befahren. Nur die Schweiz hat
europaweit ein ähnlich dichtes Netz.
Vom »Gelobten Land« spricht Tom d ­ eshalb,
und bald finde ich, dass es stimmt: Während
unserer Tour hat keiner der Züge eine nennens­
werte Verspätung; und jeder einzelne fühlt sich
an wie ein Wohnzimmer auf Zeit. Als mich in
der »Brotbüchse« die Sonne nervt, ziehe ich die
Vorhänge aus Stoff zu. Dieses leichte Schaukeln.
Wie im Mutterleib, oder wenigstens im Kinder­
wagen. Darüber fallen mir die Augen zu.
Vor der Lokobar am Bahnhof Všetaty aschen
wir in alte Erbsendosen. Drinnen wärmt ein Holz­
ofen nicht nur den Raum mit der holzvertäfelten
Decke sowie mittelböhmische Berufstrinker und
deutsche Bahnfreaks, sondern auch Familien mit
Kindern und Spätpubertäre. »Die Bahnhofs­
kneipe«, sagt Tom, »ist oft der zentrale Treffpunkt
des Dorfs.« Überhaupt sind Bahnhöfe hier völlig
anders, als ich sie kenne. Jeder sieht einzigartig
aus. Selten wird die Bahnhofshalle von Ketten­
restaurants zugekleistert. Stattdessen stehen da in
Kiosken liebe Muttis, die einem dick belegte
Schinkenbrote schmieren oder Obst schnibbeln.
Und für längere Pausen gibt es eben eine hand­
fest-bodenständige Kneipe. Nicht ein einziges Mal
fühle ich mich wie ein Kunde, der rasch für die
Weiterreise ­gemästet und verladen werden muss.
Für die Nacht hat Tom eine Unterkunft in
Všetaty gebucht, die aussieht wie ein in die Jahre
gekommenes Grand­hotel: dunkles Holz, viel Gold
REISE
Bier mit Elbblick kurz hinter der Grenze
UM
und geschwungene Couchlandschaften mit grün
gemusterten Polstern. Unter Kronleuchtern essen
wir Ente und süßklebrigen Palatschinken, den wir
mit den letzten Bieren runterspülen. Erstaunlich,
wie Tom all das organisiert, mit diversen Bieren
im Kopf.
Am nächsten Morgen, im Zug Richtung­
Letohrad, wollen wir eigentlich Kaffee trinken.
Der ist aus, entschuldigt sich der Mann, der das
mobile Bordbistro durch die Gänge schiebt. Aber
pivo hat er. Also: die erste Bierdose aufgeknackt,
Fenster im Abteil runter, Kopf raus und Fahrt­
wind spüren. In tschechischen Zügen traut man
den Fahrgästen offenbar noch zu, sich dabei nicht
enthaupten zu lassen. Störche fliegen über blü­
henden Raps und die Sägewerke nahe Opolánky.
Ich muss an einen Film denken, den ich gesehen
habe, Der Rausch. Die Hauptfiguren testen darin
die These eines norwegischen Psychiaters, der zu­
folge der Mensch mit einem leichten, konstanten
Pegel ein besseres Leben führe. Der Mann hat
recht! Und, herrlicher Neben­effekt: Wer ständig
so einen Pegel hat, ist dem Kater immer voraus.
»Awww, Kühe!«, sage ich alkoholinduziert­
reflexhaft, als wir an einer Herde vorbeifahren.
Tom sagt: »Awww, sogar mit Kälbchen.« Freudig
zeigt er dann auf einen Sportwagen, an dem­
gerade jemand im Hinterhof rumschraubt. Da,
ich tippe an die Scheibe: Die alte Oma mit Kopf­
tuch, wie sie Holz hackt – super! Es ist, als träten
wir dank des Bieres am frühen Vormittag in Kon­
takt mit unserem inneren Kind, das sich noch
wahrhaftig über alles freut.
Währenddessen verteilt ein freundlicher Zwei-
Meter-noch-was-Mitreisender Zimtschnecken an
alle: Heiko, Straßenbahnfahrer aus Leipzig und
wie ich Anfang 30. Er kümmere sich halt gern um
andere, sagt er: »Ich bin wie eine Mutter, nur ohne
Brust.« Dafür mit einer Plastiktüte voller Fläsch­
chen, Feigenlikör mit Wodka.
Heiko ist, wie die meisten, Stammgast auf
Toms Touren. Er trägt ein Shirt mit einem Zug
drauf, darüber einen Pullover mit einem Zug drauf
und einen Strohhut der »Wiener Linien«. Er sagt,
sein ganzer Kleiderschrank sehe so aus. »Česká
Třebová«, unterbricht uns eine Durchsage, der
nächste Halt. »Freu dich schon mal«, sagt Heiko,
und Tom ergänzt: »Jetzt kommt die Kathedrale.«
Tatsächlich betreten wir die schönste Kneipe
der Tour: bestimmt sechs Meter hohe Wände in
Mintgrün und Gelb, die in einem Deckenrelief
enden; geschwungene Säulen, zwischen denen
Tischgruppen stehen. Fast werde ich ehrfürchtig,
ich habe nun mal diesen schönen Pegel, mit dem
man leicht zu beeindrucken ist. Ich stoße mit
Heiko an, der mich mittlerweile »mein kleiner
Freund« nennt; ich bin ja tatsächlich mindestens
zwei Köpfe kleiner als er. Später, beim Abendessen
in einem Gasthof, komme ich als Letzter rein. Da
winkt Heiko, er hat mir einen Platz freigehalten.
Offenbar habe ich einen Ferienfreund gefunden.
So wie früher, als man mit den Eltern verreiste und
Dresden
Děčín
Ústí nad Labem
Všetaty
Prag
TSCHECHIEN
Der Autor (ganz rechts) in der Bahnhofskneipe in Děčín
Z UG
sich im Urlaubsresort mit dem einen verstehen
musste, der ungefähr das gleiche Alter hatte.
Am nächsten Tag nehmen wir einen ganz
besonderen Zug ab Třemešná ve Slezsku: Die
letzte Schmalspurbahn im regulären Betrieb
der tschechischen Bahn, Spurweite halb so breit
wie die eines ICE, Höchstgeschwindigkeit
50 Kilometer pro Stunde. Sie bringt uns so weit
in den Osten Tschechiens, dass wir ein kleines
Stück durch Polen fahren. Wie ernst die das
wohl mit dem in Polen herrschenden Alkohol­
verbot im Zug nehmen? Tom winkt ab.
Und ja, es wird wirklich viel und Tag für Tag
ab dem Frühstück durchgehend getrunken. Wahr­
scheinlich bin ich keine einzige Minute stock­
nüchtern. Sind Oberstudienräte und Zahnärzte
ja auch nicht, wenn sie sich auf einem Boot auf
der Mosel ein Weinchen ums andere reinschep­
pern, denke ich bierselig. Die nennen das sogar
Genussreise, und das gilt dann als außerordentlich
kultiviert! Vielleicht ist unsere Reise, Biertrinken
im und am Zug, nicht weniger als eine gelebte
Demokratisierung des Tagesschwipses? Ein Men­
schenrecht ist das, dass jeder in jedem Verkehrs­
mittel trinken darf, was er will, ja, diese Größen­
ordnung scheint mir gerade angemessen.
W
ir sind wieder in Třemešná ve
Slezsku, dem leicht herunter­
gekommenen Start- und End­
bahnhof der Schmalspurbahn.
Heiko trägt heute einen Pullo­
ver mit einer Dampflok. Ein Bahn-Mitarbeiter
entdeckt sie und fragt uns: Wollt ihr so eine
sehen? Sie haben hier eine, top restauriert, für
Spezialfahrten. Natürlich wollen das alle. Eine
U57.001, Baujahr 1932! Ich will diese Lok-­
Begeisterung auch verstehen und suche nach
der Schönheit einer Schlepptenderlokomotive
mit Dampfkessel, Rohren, Laufwerk und vielen
Knöpfen und Hebeln im Führerstand. Aber
nee, ohne Menschen drin und ohne Ausblick
ist sie für mich bloß in Form gebrachter Stahl,
hübsch angepinselt. Außerdem, Leute! Die
Sonne scheint so schön, und, nun ja, das letzte
Bier ist auch schon ein bisschen her.
Ich werde erhört. Der Schmalspurmann
holt seine Kollegen, gemeinsam wuchten sie für
uns einen Tisch in die Sonne, ein paar Stühle,
einen Kasten Bier und eine Kanne Kaffee. Eine
improvisierte Bahnhofskneipe!
Gut zwei Zugstunden davon entfernt, in­
einem Gasthof auf dem Berg über Jeseník, hat
Tom für das letzte Abendessen reserviert. Von
unten sieht der Weg gar nicht so weit aus. Ach,
die paar Höhenmeter auf diesen popeligen­
Hügel! Aber mehr oder weniger kurz darauf
sitze ich auf halber Strecke vollkommen­
erschöpft auf einer Bank. Pavel springt immer
noch an mir hoch, gerade bin ich noch mit ihm
gerannt und war unumstößlich sicher, dass es
nichts Schöneres gibt, als angetrunken mit einem
Nymburk Osoblaha
Letohrad Jeseník
Zábřeh
Česká
Třebová
Fotos: Felix Adler für DIE ZEIT; ZEIT-Grafik
Hund zu spielen. Jetzt merke ich: Eine der besten
und gleichzeitig schlechtesten Auswirkungen von
Alkohol ist die gnadenlose Selbstüberschätzung.
Pavel, ich kann nicht mehr.
Von hinten, aus der Gruppe, höre ich auch
nur: Uff, puh, Alter ey. Wie kommt Tom bitte
auf die Idee, uns zum Abschluss der Tour, die wir
– aus gutem Grund! – fast ausschließlich im Sitzen
verbracht haben, einen Hügel hochzujagen?
Tom sagt später, er wolle das Biertrinken öfter
mit einer Aktivität aufwerten, wie etwa Wandern.
Wahnsinnig gern würde er auch mal einen Sprach­
kurs für Tschechisch-Anfänger geben, natürlich
in einer Bahnhofskneipe, in der jeder mit dem
Wirt üben darf: Jedno pivo, prosím. Ein Bier, bitte.
Schöne Pläne, Tom, aber für die ganze Grup­
pe heißt es jetzt erst mal: Mensch gegen Natur.
Bahnfreaks gegen den Berg. Unsere bierlädierten
Körper gegen die Höhenmeter. Endlich erreichen
wir doch den Gasthof, Tom schaut zufrieden auf
die Uhr: »Ankunft sechs Minuten vor Plan.­
Obwohl wir mit drei Minuten Verspätung los
sind.« Drinnen ist die Aussicht super, das Bier kalt,
und alle sind wieder glücklich.
Beim Frühstück an Tag vier fehlen dann doch
die Ersten. Akute Magenprobleme. Tom kann sich
das nur so erklären, dass das Essen auf dem Berg
schlecht gewesen sein muss.
Ein paar Stunden später eilen wir durch den
seelen- und kneipenlosen Hauptbahnhof in Prag,
der letzten Stadt auf dieser Reise. Weiter geht es
per Straßenbahn, und als wir die an einem Neben­
bahnhof wechseln, bittet uns Tom um eine
Schweigeminute für die Kneipe, die er hier einst
gerne besucht hat. Er zeigt auf den ersten Stock.
Corona habe viele dieser Kneipen dahingerafft.
Man ahnt, dass hier bald ein Subway reinkommt.
Oder ein Starbucks. Wir alle senken die Köpfe.
An einem weiteren Nebenbahnhof, im Prager
Stadtteil Dejvice, wehrt sich ein heruntergerock­
ter Biergarten noch gegen die sogenannte Auf­
wertung des Viertels. Es gibt Kastanien über uns
und einen guten Blick auf die ein- und ausfahren­
den Züge. Die Gruppe löst sich langsam auf.
Heiko muss los – heute noch Nachtschicht. »Mein
kleiner Freund, Niclas«, sagt er und umarmt mich.
Ich werde auf Bauchnabelhöhe in seinen Pullover
gedrückt. Natürlich ist ein Zug drauf, und irgend­
wie passt das inzwischen für mich.
Tom sagt, er brauche »dringend ein paar
LET«, Leberentlastungstage. Bloß scheint die
Sonne so schön, und wir haben noch etwas Zeit.
Also gut, na zdraví, ein Letztes geht noch, bevor
der Kater wirklich kommt.
Mein Zug nach Hause ist überfüllt. Es ist irre
stickig, die Fenster lassen sich nicht öffnen. Ich
greife in meine Jackentasche. Heiko hatte mir
noch eine Dose zugesteckt. Für Notfälle. Hinter
der Grenze bleiben wir stehen, Weiterfahrt ver­
zögert sich. Ganz klar, das ist ein Notfall.
 www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 26 15. Juni 2023
A
m Vorabend schicke ich einer Kollegin
Bilder. Früher fuhren wir selbst noch
in schöne Spas – heute, wenn unsere
kleinen Kinder schlafen, schicken wir
uns Fotos schöner Spas zu. Wie die
vom St. Oberholz Retreat in Woldzegarten nahe
der Müritz: großzügige Zimmer in einem histori-
schen Gutshaus, Zimmer in Grau, Grün, Tauben-
blau und Mint. Tische mit handgemachter Kera-
mik, ein verwunschener See, eine Sauna mit einem
kleinen Pool und ein Ruheraum, der nach Ruhe
aussieht. Ping, eine Nachricht: »Spas anschauen ist
das Wellness gestresster Mütter«, schreibt die Kol-
legin, und wir senden einander Lach-Emojis, weil
es kein Witz ist.
Für zwei Tage fahre ich nun wirklich wieder in
ein Retreat. Allein! Zwei Tage allein aufs Klo gehen,
allein essen, allein ein Buch lesen. In der Zeitrech-
nung einer Mutter kleiner Kinder entspricht das etwa
zwei Wochen. Ich fahre mit dem Auto hin, das S­ t.
Oberholz Retreat liegt in der Gemeinde Leizen in
Mecklenburg-Vorpommern und ist mit dem Zug
nicht zu erreichen. Nach fast zwei Stunden biege ich
auf einen Gutshof ein: gepflegte Sträucher, die der
Wind aufscheucht, Gänseblümchenrasen. Links eine
hohe Wirtschaftsscheune, in der nun Veranstaltun-
gen und Firmentreffen abgehalten werden, rechts
eine Kastanie in rosa Blüte, von der eine schlichte
Schaukel hängt.
Dann das Hauptgebäude. Zweistöckig ist es,
lang und 200 Jahre alt. Fachwerk, mächtige Balken
und blasser Klinker. Das Gebäude hat das Kaiser-
reich überstanden, die Nazis, die DDR. In der­
demokratischen Gegenwart wartet die Rezeptionis-
tin Sandra, die aus der Gegend kommt. Nur dass
Sandra keine Rezeption hat: Sie sitzt mit ihrem
Laptop am Ende eines massiven Holztisches. Es
gibt keine Rechnungen und keine klimpernden
Schlüssel. Alles ist offen: Arbeitsbereich, Lobby,
Lesezimmer mit Coffeetable-Magazinen und der­
Essbereich, der weniger ist als ein Restaurant, aber
mehr als ein Essenssaal.
Der Berliner Ansgar Oberholz hat dem Hotel,
das ein Psychiater nach der Wende saniert und in der
Pandemie verkauft hat, seinen Namen gegeben.
Oberholz übernahm es mit Investoren. Einst machte
er sich einen Namen als Pionier des digitalen Noma-
dentums und schuf 2005 das Café St. Oberholz in
Berlin-Mitte, das erste seiner Art, in dem Menschen
Kaffee trinken und in ihre Laptops starren. Nun
wirbt er mit dem Analogen. Das Retreat solle ein
realer Ort sein, an dem sich Menschen ­begegnen,
sagt Oberholz, der fast jede Woche hier ist und auch
jetzt irgendwann auftaucht. Er wolle die Grenzen
zwischen Arbeit und Entspannung, Fremden und
Freunden aufweichen.
Das ist sein Konzept, aber ich habe mein eigenes:
Ruhe. Nichts tun, bevor es zurückgeht in einen All-
tag, in dem jeder Tag 45 Stunden haben müsste.
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Flures. Wie gut es riecht! Nach Zitrus, Sommerheu
Mehr weniger
und Regen. Das Bett ist in ein Podest eingelassen, das
ein Drittel des Raums einnimmt. Durch die Fenster
fallen Sonnenstrahlen auf den Sessel, der mich förm-
lich anfleht: Setz dich hin und lies! Aber ich öffne die
alten Doppelfenster und versinke im weichen Bett.
Und nun? Ich zwinge mich, nichts zu tun.­
Bestelle keine Kleinkinderhosen, schreibe nicht der
Kita, antworte nicht auf Anrufe der Kollegen. Ver-
Das St. Oberholz Retreat in Mecklenburg-Vorpommern will die Grenzen mutlich müsste ich nun wuchtige Metaphern finden
zwischen Arbeit und Entspannung aufweichen. ALICE BOTA plant was anderes für diesen Ort, aber hier passt kein Pomp und
Schnickschnack hin. Es herrscht schlichte Schönheit:
Die Zahnputzbecher sind aus Keramik. Das Dusch-
gel in Glasflaschen riecht so gut, dass ich es dann
doch gleich für daheim bestelle. Auf dem Tisch:
Blumen aus dem Garten und zwei Postkarten zum
Verschicken, weil doch das Analoge ... ach, hört mir
auf mit Konzepten. Das Rauschen der Linde lullt
mich ein, der Ruf eines Kuckucks hallt.
Das Hotel mit seinen 18 Zimmern und acht
Apartments soll ausgebucht sein, aber als ich später
nach unten komme, ist der Essensbereich ziemlich
leer. Eine Frau isst allein, ihr Buch auf dem Tisch,
wir nicken uns wissend zu. Ein Pärchen k­ uschelt
am Kamin und löffelt den Nachtisch, Eis mit­
Karamellsoße und karamellisierten Erdnüssen. Mein
Essen kommt, an diesem Tag besteht es vor allem aus
Tier (am nächsten Tag ist das Menü vegetarisch). Ich
esse eigentlich so gut wie kein Fleisch, aber hier
kommt alles aus der Region, also was soll’s.
Ich schaue auf die kilometerweiten Felder. Ein
Hase hoppelt vorbei, die Nachtigallen beginnen ihr
Lied. Ich trinke schweren Rotwein, und weil ich eine
Alles-Aufesserin bin, versuche ich, alles aufzuessen.
Aber Rindertatar, Rigatoni mit Bärlauchpesto, Bur-
rata und Salsiccia und Nachtisch ist zu viel. Das
Essen ist wie das Hotel: schnörkellos und erdend. Als
ich ins Zimmer komme, schaffe ich es, fünf Seiten
Foto: Pavel Becker/St. Oberholz Retreat
im Buch zu lesen, dann schlafe ich ein.
Nun ist der Artikel fast zu Ende und gerade mal
der erste Tag beschrieben. Was sonst noch geschah:
Saunieren, allein. In der Sonne liegen, dösen. Lesen.
Beim Frühstück begegne ich schönen Familien, am
zweiten Abend kommen radelnde Rentner hinzu,
die stolz darauf sind, an einem Ort Urlaub zu­
machen, den ihre Kinder hip finden. Das Konzept,
das sich Oberholz überlegt hat, scheint irgendwie zu
Nichts drängt sich hier auf, was vom Wesentlichen ablenkt: Endlich mal Ruhe funktionieren.
Am letzten Morgen laufe ich zum See nebenan.
Davor hat mich Ansgar Oberholz durch das Gehöft
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OSTKÜSTE USASpezial des Zeitverlags
| Ein
DIE OSTKÜSTE DER USA
Auf Kurs zu unvergesslichen Erlebnissen
Boston, Baltimore, New York,
Newport, Portland und on top
zu diesen Metropolen mit ihren
pulsierenden Kulturszenen und
architektonischen Sehenswürdig-
keiten noch das spektakuläre
Naturszenario des Indian Summer
– das ist die Ostküste der USA
im Herbst. Live und vor allem in
intensiven Farben lässt genau
diese sich bei einer Schiffsreise
mit Hapag-Lloyd Cruises
entdecken. Man muss sich nur
entscheiden können. Denn zur
Wahl stehen gleich zwei ganz
besondere Routen.
Vom »Indian Summer zum Big
Apple« und damit von den satt
orange, gelb und rot leuchtenden
Wäldern Kanadas geht es entlang
der Ostküste bis in die Millionen-
metropole New York und sogar
noch weiter ins sonnenverwöhnte
Florida. Starthafen dieser Reise
ist Montreal, von wo aus über den
St. Lorenz-Strom zunächst das
Städtchen Gaspé in der kanadi-
schen Provinz Québec angesteuert
wird. Hier lädt die abwechslungs-
reiche Landschaft des Forillon-Na-
tionalparks zu einer ausgiebigen
Wanderung ein, über Sanddünen,
Süß- und Salzwasserwiesen eben-
so wie durch dichte Tannenwälder,
wobei man mit Glück etwa Elche,
Und es gibt noch i-Tüpfelchen …
Lust auf noch mehr faszinieren-
de Eindrücke? Kein Problem!
Jede Reise kann um weitere Er-
lebnisse intensiviert werden.
Vor- und Nachprogramm
»Von New York nach New York«
Ein Shoppingbummel über die
Fifth Avenue, ein Besuch des
Guggenheim Museums oder des
Museum of Modern Art, ein Show-
abend am Broadway, ein Spazier-
gang entlang des Hudson Rivers,
der atemraubende Ausblick vom
Rockefeller Center, die Besichti-
IMPRESSUM Verlag: Studio ZX – Ein Unternehmen der ZEIT Verlagsgruppe, Helmut Schmidt Haus, Speersort 1, 20095 Hamburg; Geschäftsführung:
Dr. Mark Schiff hauer, Uta Schwaner; Projektmanagement; Projektmanagement: Fritz Lüders; Redaktion: Nicole Maibaum; Lektorat: Egbert
Scheunemann; Grafik: Sonja Feldkamp; Bilder: Hapag-Lloyd Cruises Chief Sales Officer ZEIT Verlagsgruppe: Áki Hardarson Head of Travel &
Tourism: Sandra Lindemeier, Tel. 040/32 80-359, sandra.lindemeier@zeit.de; Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 68 vom 1. Januar 2023 Hergestellt in
Kooperation mit: Hapag-Lloyd Cruises, Heidenkampsweg 58, 20097 Hamburg
Biber, Hirsche, Rotfüchse oder
sogar einen Kanadischen Luchs
sieht, die allesamt im Park ihre
Heimat haben. Weiter geht es auf
der Route und damit weiter zu auf-
regenden Highlights. Wie wäre es
zum Beispiel in Halifax mit einem
Spaziergang auf einer der längs-
ten innerstädtischen Promena-
den weltweit, vorbei an vielen
charmanten Läden und Lokalen?
Ebenso bietet sich in Boston eine
gemütliche Radtour an. Die 1630
gegründete Stadt gehört zu den äl-
testen in den USA, und auch heute
noch zeugen viele historische Ge-
bäude von der Geschichte. Auch
das Schlendern durch das bunte
Künstlerstädtchen Provincetown
verspricht unvergessliche Eindrü-
cke, ebenso natürlich ein Bummel
Auch das sonnen-
verwöhnte Florida auch aufgrund ihrer erfahrenen
liegt auf der Reise- deutschsprachigen Crew.
route »Von Mont-
real nach Miami«
und lädt mit
palmengesäumten
Traumstränden
zum Relaxen ein.
durch die Straßen von Manhattan
im pulsierenden New York, eine
Besichtigung der Hafenstadt Bal-
timore oder ein Abstecher in das
politische Zentrum Washington
D. C. bevor die Reise schließlich im
Hafen von Miami endet.
MS EUROPA = Hoher Komfort
und deutschsprachige Crew
Das Resultat sind 18 Tage, geprägt
von intensiven Eindrücken – aber
auch ausreichend Zeit für wohl-
tuende Erholung. Dafür sorgen
vor allem der hohe Komfort und
Times Square,
Fifth Avenue,
Rockefeller Center
und One World
Trade Center – ein
Aufenthalt in der
pulsierenden Me-
tropole New York
intensiviert die
Reiseeindrücke.
gung der World Trade Center Site,
auch bekannt als Ground Zero,
und danach die Erkundung des
neu aufgebauten Viertels mit der
9/11-Gedenkstätte und dem One
World Trade Center – nur einige
der vielen Highlights, welche diese
Reise abrunden können.
Die Vor- und Nachprogramme
zu dieser wie auch zu allen Schiffs-
reisen von Hapag-Lloyd Cruises
umfassen ein abwechslungsrei-
ches Spektrum an Ausflügen, die
man in der Gesellschaft Gleichge-
sinnter und der Begleitung erfah-
1
Vorbei an schrof-
fen Felsen, alten
Häfen und vielen
Leuchttürmen
warten entlang
der Ostküste der
USA zahlreiche
Sehenswürdig-
keiten darauf, ent-
deckt zu werden.
(Foto ganz li.)
Ob MS EUROPA
oder MS EUROPA 2
– beide Schiffe
stehen für eine
neue Ära der
Luxuskreuzfahrt.
(Foto o.)
Die Freiheitsstatue
in New York gilt
als Symbol der
Freiheit und ist
eines der vielen
möglichen High-
lights der Reise.
(Foto li.)
EUX2327_2
Kultur, Natur, Abenteuer
Schroffe imposante Felsformationen,
der erstklassige Service an Bord mögliche Highlights warten auch Entdecken, erho-
len, entspannen:
weite weiße Sandstrände, faszinieren-
der EUROPA, die sich im ange- hier darauf, erlebt zu werden.
nehm überschaubaren Kreis von
Sowohl die
EUR2321
MS EUROPAHP23 de Metropolen,
maximal 400 Gästen entspannt Exklusives Golfvergnügen wie auch die
MS EUROPA 2
architektonische
genießen lassen. Seien es die fünf auf fünf Spitzenplätzen
erstklassigen Restaurants für un- Fünf exklusive Golf Clubs werden
überzeugen mit
ihrem hohen
Highlights – an Portland
Halifax
zählige Geschmackserlebnisse, auf dieser besonderen USA-Reise Komfort, der sich
in angenehm
Bord von MS Boston
die ebenfalls fünf Bars für ge- zudem ihre Türen öffnen, die unter
mütliche gesellige Momente, der normalen Umständen verschlos-
überschaubarer
Gesellschaft ge-
EUROPA oder New York
Newport
»Ocean Spa« für wohltuende Mas- sen bleiben würden. Konkret: In nießen lässt. MS EUROPA 2 Baltimore
sagen und Beautybehandlungen, Newport, im Newport National Norfolk
der großzügig angelegte Sport- und Country Club, fordert das Green
lässt sich mit
Fitnessbereich inklusive Pools, die des The Orchard Course das Han- heit bereits mehrfach Spielstätte mierten Berlitz-Ranking schlicht der Ostküste der
ansprechend modern eingerich- dicap seiner Bespielerinnen und nationaler Turniere, und im Hunt das »beste Kreuzfahrtschiff der
teten Kabinen und Suiten oder Bespieler heraus. Im Woodlands Valley Country Club in Baltimore Welt« ist. Grund dafür sind neben
USA eine der Gaspé
ST.-LORENZ-STROM
aber das Abendprogramm mit Country Club in Portland arbei- verteilen sich ebenfalls – über sanf- der maximalen Gästezahl von 500 sehenswer-
Montreal Bar Harbor
etwa dem deutschen Soul-Singer, ten sich 18 Championship-Löcher te Hügel und durch malerische Tä- vor allem die kulinarische Vielfalt,
Songwriter und Entertainer Tom durch einen dichten Baumbe- ler ziehend – 18 Championship- die stilvoll und modern gestalteten
testen und Boston
CAPE-COD-KANAL Halifax
Provincetown
Gaebel – es verwundert kaum, stand und versprechen so ein un- Golfbahnen. Begleitet werden die Kabinen und Suiten, die abwechs- vielfäl- New York
CHESAPEAKE UND DELAWARE KANAL
Baltimore
Newport
dass die EUROPA längst und im- vergleichliches Golfabenteuer im frei wählbaren Ausflüge zu diesen lungsreiche Unterhaltung, die erst-
mer wieder ein klares Statement in Hochland von Maine. In Boston, mit schönsten und besten Greens klassigen Fitness- und Wellnessan-
tigsten
puncto Schiffsreise setzt und dies im Granite Links Golf Club, gilt es der Welt vom PGA-Golfprofessio- gebote, die deutschsprachige Crew Land-
drei Mal 9-Loch, unterteilt in Gra-
nite, Milton und Quincy, zu meis-
nal Stefan Quirmbach.
Ein Dutzend Tage sind so ge-
und vieles mehr. Kurzum: zwei
Reisen, zwei Schiffe, zwei Mal Ent-
schaften
tern. Der Kingsmill Resort River füllt mit unvergleichlichen Erleb- decken, Erleben und Genießen auf weltweit Miami
Mit MS EUROPA 2 auf Course in Norfolk war aufgrund nissen, und dies auch dank der höchstem Niveau – man muss sich entdecken.
zu Top-Destinationen seiner exzellenten Beschaffen- EUROPA 2, die laut dem renom- nur entscheiden können! 
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genauer gesagt mit der EUROPA 2,
ebenfalls entlang der Ostküste
der USA. Sei es beispielsweise in
New York ein Helikopterrundflug
über Manhattan mit Blick auf den
Times Square, den Central Park Jetzt
sowie den Broadway, in Boston informieren und
eine Führung über den Campus kostenlos Katalog
der legendären Harvard University, anfordern
die Dutzende Nobelpreisträger
und mehrere US-Präsidenten her-
vorbrachte, oder von Baltimore
aus der Abstecher nach Washing-
ton D. C., wo die Sehenswürdig-
keiten der City wie das Weiße
Haus, das Kapitol und der Natio-
nalfriedhof Arlington mit dem
Grab von John F. Kennedy besich-
WINTER ESCAPE
tigt werden können – zahlreiche
rener Reiseleiterinnen und Reise-
leiter entspannt genießen kann. Kanadas leuchtende Wälder bewundern und die grenzenlosen Möglichkeiten von New York
Zumal sich auch um Transfers, genießen. An Neuenglands Küste idyllische Landschaften entdecken und in die Geschichte
Ausflüge und Übernachtungen der USA eintauchen. Mit den beiden besten Kreuzfahrtschiffen der Welt* erleben Sie die
gekümmert wird.
Sonnenseiten des Winters und die Höhepunkte der US-Ostküste auf unvergessliche Weise.
Vorprogramm
»Von Montreal nach Miami«
Wie wäre es mit einer Bootsfahrt
nahe der tosenden, sich 52 Meter in
die Tiefe stürzenden Wassermas-
sen der Niagara Fälle? Ebenso ge-
hört ein Besuch der kanadischen
Metropole Toronto mit ihren Wol-
kenkratzern im Zentrum, ihren
großzügigen Parks und trendigen VOM INDIAN SUMMER NEUENGLANDSTAATEN:
Stadtvierteln zum Programm. ZUM BIG APPLE HISTORISCHE WIEGE DER USA
Auch eine Stippvisite in Mont- VON MONTREAL NACH MIAMI VON NEW YORK NACH NEW YORK
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romantische und nostalgische At- Preisvorteile für
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Alle Reisen verstehen sich wie folgt: Seereise exklusive An- und Ab- die EUROPA
reisepaket (Doppelbelegung), auf der EUROPA in einer Garantie-Suite
(Kategorie 1, 2 oder 3) mit 27 m² Wohnbereich mit Panoramafenster,
und EUROPA 2
Besuch des Altstadtviertels Vieux-
Montreal spürbar.  auf der EUROPA 2 in einer Garantie-Veranda oder -Ocean Suite
(Kategorie 1 oder 2) mit 28 m² Wohnbereich und 7 m² Veranda. Nur bis zum
* Lt. Berlitz Cruise Guide 2020. 31.08.2023
Hapag-Lloyd Cruises, eine Unternehmung der TUI Cruises GmbH,
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62 ENTDECKEN 15. Juni 2023 DIE ZEIT N o 26

Was mein
Leben reicher
WIE ES WIRKLICH IST
macht
... heimlich verheiratet An der Supermarktkasse. Ein hochbetagter Herr
versucht, Kontakt zwischen seiner Bankkarte und
zu sein dem Kartenlesegerät herzustellen. Vergeblich. Der
Mann an der Kasse hilft, die Karte einzustecken,

M
jetzt wäre der ­Code fällig. Der alte Herr beugt sich
o und ich sind seit sechs Jahren verhei- so nah über das Gerät, dass seine Nasenspitze nur
ratet. Er Iraker, ich Deutscher. Meine knapp die Tastatur verfehlt. Konzentriert gibt er

Das Ara-Weibchen Saphira lebt in Oberbayern und reist von dort aus mit seinem Besitzer zu Fachmessen, wo der über artgerechte Vogelhaltung informiert. Foto: Andrea Zachrau
Schwiegereltern in Bagdad sprechen unterschiedliche Zahlenkombinationen ein. Ohne
in den höchsten Tönen von mir, aber Erfolg. Er probiert weiter. »Hab ich schon die Null
von unserer Ehe wissen sie nichts. Für sie bin ich getippt?«, erkundigt er sich. »Das kann ich Ihnen
Mos ehemaliger Mitbewohner. Letztes Jahr lud leider nicht sagen«, antwortet der Kassierer geduldig
Mo sie zu Besuch ein nach Europa: Berlin, Köln, und fragt – nach einigen weiteren Versuchen –, ob
Paris, Rom, Venedig. Er bezahlte alles. »Seht her, vielleicht eine Barzahlung möglich wäre. »Ja,­
wie gut es Allah mit mir meint!«, wollte er zeigen. freilich!« antwortet der Kunde, als hätte er nur auf
Ich war zweimal mit ihm im Irak. Einmal saßen den Vorschlag gewartet. Diskretes Auf­atmen in der
wir bei Mos Bruder im Wohnzimmer, als die Warteschlange, als der alte Herr bezahlt und seine
13-jährige Nichte auf Englisch fragte, sodass­ Siebensachen einpackt. Nun will er gehen, dreht sich
niemand außer uns es verstehen konnte: »Was ist aber noch einmal um, zeigt auf das Kartenlesegerät
deine Sexualität, Onkel?« Keine Antwort. Wir­ und fragt: »Und wann wird das endlich repariert?«
sagen nichts, und seine Eltern fragen nicht – haram, Ulli Cecerle-Uitz, Wien
Sünde, ist nur das, wovon die Leute wissen. Der
nächste Schritt wäre, ein Kind zu adoptieren und Der süße Duft der Linde in meiner Nachbarschaft.
so zu tun, als wäre es vom Himmel gefallen. Oya Schwab, Bad Homburg
Mo zog 2015 für ein Arbeitsprojekt nach Berlin.
Erst in Deutschland wurde ihm bewusst, dass man Während meines Urlaubs haben sich Buchs-
als Schwuler nicht so leben muss wie im Irak. Nach baumzünsler über meinen liebevoll geformten
drei Monaten stellte er einen Asyl­antrag. Ich hätte zimmerhohen Buchs hergemacht. Alles kahl!
diese entwürdigende Prozedur nie zugelassen und Und die Raupen, nun wohlgenährte weiße
gleich geheiratet, aber wir lernten uns erst später Schmetterlinge, tanzen in meinem Garten ...
kennen, bei einer Partyreihe von Drag-Perfor- Traurig lasse ich die Säge kreisen, um das Werk
mances. Ganz stilecht im Darkroom. der Zerstörung zu voll­enden. Da blinkt etwas
Beim ersten Date erzählte Mo, wie er geholfen Güldenes im Blätterstaub. Mein Ehering!
hatte, Kinder aus den von Isis besetzten Gebieten Der Buchs ist futsch, die Ehe längst zerbrochen, den
zu retten. Er kam daher und sprach trotz schwie- Ring erhalt ich nun zurück – ­warum auch immer.
rigster Umstände von der Leichtigkeit des Seins, so Marcel G. Seyppel, Köln
war er damals und so ist er heute.
Er hätte eigentlich in einer Turnhalle leben Vergangenes Jahr habe ich als Gastwissenschaftler
müssen, wohnte aber stattdessen bei mir. Die an der Stockholmer Universität geforscht, und zum
Sozial­arbei­te­rin tobte, weil er so selten auftauchte. Mitsommernachtsfest nahmen mich Freunde dort

Du siehst aus,
Eines Tages sagte ich zu ihr: »Gute Frau! Sie sehen mit auf eine Schäreninsel in der Ostsee. Seit ich als
selbst, wer hier noch so wohnt. Wenn ich meinen Kind die Bücher von Astrid Lindgren las, ist Schwe-
Freund jetzt vor allen anderen küssen würde, weiß den mein Sehnsuchtsland – und nun saß ich selbst
ich nicht, ob er, ob wir, ob Sie nach so einem Kuss an einer langen Tafel auf einem Bootssteg in der
noch leben würden.« Sie ließ uns in Ruhe.
Ich war sicher, Mos Asylantrag würde abgelehnt.
Wir beschlossen daher, zu heiraten. Doch im Ber-
wie ich mich fühle kaum untergehenden Sonne. Als dann noch jemand
auf einem Boot mit der Trompete das Lied von
Pippi Langstrumpf spielte, war das ein echter
liner Standesamt verdächtigte man uns offenbar, Gänse­haut­mo­ment. Und das Beste ist: Ich bin auch
eine Schein­ehe einzugehen, es wurde eine »Über- diesmal wieder eingeladen – die kürzeste Nacht des
prüfung der ehrlichen Absichten« angekündigt. Ich Jahres verbringe ich mit meinen Freunden auf der
sagte mir, so geht das nicht, und meldete meinen Folge 366 Schäreninsel in Schweden!
Wohnsitz um zu meinen Eltern ins Dorf. Meine Florian Nicolai, Erlangen
Mutter ist dort eine local celebrity, sie hat 40 Jahre
am Gymna­sium unterrichtet. Zur Anmeldung der Meine Mutter ist gestorben, und ich bringe es nicht
Eheschließung kamen Mo und ich in Begleitung über mich, ihre persönlichen Dinge wegzuwerfen.
meiner Eltern aufs Standesamt. Das war total süß. ZEITSPRUNG WORTSCHATZ Da entdecke ich einen Secondhand-­Laden, der
Niemand hätte es gewagt, Fragen zu stellen. Ein mit seinen Einnahmen Entwicklungshilfeprojekte
paar Wochen nach unserer Hochzeit kam der Asyl- ­finanziert. Kurz nachdem ich die ersten Kleidungs-
Ablehnungsbescheid. Da war es schon egal.
Mir war es wichtiger als Mo, dass er den deut-
Mohn ausbaldowern stücke abgegeben habe, begegnet mir eine Frau mit
einer mir wohlbekannten weißen Jeans und dem
schen Pass bekam. Während der ersten Jahre gab es dazu passenden blau geblümten Oberteil.
zwischen uns ein unausgesprochenes Machtgefälle. In der Sendung Aktenzeichen XY ... ­ »Das ist die Bluse meiner Mama«, will ich rufen,
Hätte ich mich getrennt, hätte er seine Aufenthalts- ungelöst berichtete Moderator Rudi aber ich sage nur: »Sieht schön aus zusammen.«
erlaubnis verloren – kam sein Interesse an mir­ Cerne von einer Diebesbande, die Gerlinde Mühle, Hamburg
daher, dass er auf mich angewiesen war? Der Pass neue Beutezüge »ausbaldowert«.
war die beste Möglichkeit, diese Zweifel auszu­ Nachts mit dem Rad durch die stille Stadt nach
räumen. Seit März letzten Jahres ist Mo deutscher
Der ­Begriff, der sinngemäß für »etwas ­ Hause zu brausen.
Staatsbürger. erkunden, ausspionieren, aus­hecken« Judith Rachel, Saarbrücken
llustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

steht, war uns lang nicht mehr begegnet,

Der Erzähler möchte nicht, dass seine Beziehung weshalb wir ihn nachschlugen: Laut
öffentlich bekannt wird. Deshalb tritt er hier Lexikon hat er seinen Ursprung im Machen Sie mit!
anonym auf
Hebräischen, wo ba’aldawár (»Herr des Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
Aufgezeichnet von Marina Klimchuk Wortes«) als Euphemismus für den teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns.
Teufel genutzt wird. Übers Jiddische Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg
Im Laufe eines Tages lockt die Mohnblume so viele Bestäuberinnen an,
kam das Wort wohl im 19. Jahrhundert
dass ihre zarte Blüte einem Gefäß voll Potenzial fürs nächste Jahr weicht: nach Berlin – wo es Eingang in die
Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist«
berichten möchten, ein guter Mo(h)ntag. Gaunersprache fand. Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung
Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Beitrag in der ZEIT, in der ZEIT-App, in sozialen Netzwerken oder
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Jutta Hoffritz
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Wirtschaft: Charlotte Parnack/Roman Pletter (verantwortlich),
Thomas ­Fischermann, ­Hannah Knuth, Dr. Ingo Malcher, Ann-Kathrin
Nezik,­Marcus ­Rohwetter, Dr. Kolja Rudzio, Marc Widmann
Green: Dr. Uwe J. Heuser (verantwortlich), Laura Cwiertnia,
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Unterhaltung: Cathrin Gilbert (verantwortlich)
Wissen: Simon Kerbusk/Andreas Sentker (verantwortlich),
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Anant Agarwala, Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Hanna
Grabbe, Fritz Habekuß, Stefanie Kara, ­Maximilian Probst, Yannick
Ramsel, Arnfrid Schenk, ­Stefan Schmitt (Wissenschaftskorrespon-
dent), Ulrich Schnabel, Dr. Anna-Lena Scholz, Jan Schweitzer, ­
Martin Spiewak, Urs Willmann
Bildungspolitischer Korrespondent: Thomas Kerstan
Junge Leser: Katrin Hörnlein (verantwortlich), Josefa Raschendorfer
Feuilleton: Christine Lemke-Matwey/Volker Weidermann ­
(verantwortlich), Dr. Hanno ­Rauterberg (stellv.),
Alexander Cammann, David Hugendick (Kulturkorrespondent),
Peter ­Kümmel, Ijoma Mangold (Kultur­politischer Korrespondent),
Dr. Peter Neumann, Katja Nico­­­de­mus, Nina Pauer, Iris Radisch,
Dr. Thomas E. Schmidt (Kulturkorrespondent ­Berlin),
Dr. Adam Soboczynski (Literatur; verantwortlich),
Dr. Elisabeth von Thadden (Sinn & Verstand), Lars Weisbrod
Kulturreporter: Moritz von Uslar (Autor)
Glauben & Zweifeln: Evelyn Finger (verantwortlich)
Entdecken: Johannes Gernert/Britta Stuff (verantwortlich), ­
Sebastian Kempkens (stellv.), Michael ­Allmaier, Karin ­Ceballos ­
Betancur, ­Stefanie Flamm, Francesco Giammarco, Elke Michel,
Florentin Schumacher, Merten Worthmann;
Besondere Aufgaben: Jutta Hoffritz
Investigative Recherche/Daten:
Leitung: Holger Stark (Print)/Karsten Polke-­Majewski (Online),­
Stellv. Leitung: Astrid Geisler (O)/Yassin Musharbash (P),
Kai Biermann (O), Anne Kunze (P), ­Christina Schmidt (P),
Tom ­Sundermann (O/Störungsmelder), Sascha Venohr (O),
Fritz Zimmermann (P); Autor: Christian Fuchs
Verbrechen: Stephan Lebert (Reporter), Daniel Müller
ZEITmagazin:
Tillmann Prüfer; Creative Director: Mirko Borsche;
Art Director: Jasmin Müller-­Stoy; Textchefinnen: Christine Meffert,
Annabel Wahba; ­Style ­Director: Claire Beermann;
Redaktion: Amelie Apel, Anita Blasberg, Jörg Burger, ­
Johannes Dudziak, Alard von ­Kittlitz, Friederike ­Milbradt,
­Lena Niethammer, Khuê Pham, Ilka Piepgras, Jürgen von Ruten­berg;
Redaktionelle Koordination: Margit Stoffels;
Gestaltung: Nina Bengtson, Mirko Merkel, Gianna Pfeifer;
Bildredaktion: Milena Carstens (verantwortlich), Nora Hollstein;
Redaktion ZEITmagazin: Schöneberger Straße 21 A, 10963 Berlin,
Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 39; E-Mail: zeitmagazin@­zeit.de
Die ZEIT-App: Götz Hamann (Redaktionsleitung),
Silke Weber (stellv.); Art-Direktion: Sören Dammann, Haika Hinze,
Jasmin Müller-Stoy Betreiber: ZEIT Online GmbH
Verantwortlicher Redakteur Reportage: Henning Sußebach
Reporter: Wolfgang Bauer, Ulrich Stock, Henning Sußebach
Autoren: Antonia Baum, Christoph Dieckmann, Christoph Drösser,
Ronald ­Düker, Heike Faller, Christiane Grefe, Ulrich ­Greiner,
Jana Hensel, Dr. Gunter Hofmann, Jens Jessen, Dr. Josef Joffe,
Rüdiger ­Jungbluth, Dmitrij Kapitelman, Dr. Navid Kermani, Angela ­
Köckritz, Dr. Wolfgang Lechner, Ursula März, Dr. Susanne Mayer,
Anna von Münchhausen, Gero von Randow, ­Roberto ­Saviano,
Chris­tian Schmidt-­­Häuer, Jana Simon, Matthias Stolz, Burkhard ­
Straßmann, ­Tobias Timm, Jens Tönnesmann, ­Dr. Volker Ullrich
Art-Direktion: Haika Hinze/Malin Schulz (verantwortlich),
Jan Kny/Jan Lichte (stellv.); Berater der Art-Direktion: Mirko Borsche
Gestaltung: Julika Altmann, Katrin Baron, Mirko Bosse, ­Martin
Burgdorff, Mechthild Fortmann, Sina Giesecke, Annett ­Osterwold,
Beate Pietrek, Lydia ­Sperber, Jan-Peter Thiemann, Delia Wilms
Infografik: Nora Coenenberg, Anne Gerdes, Matthias Holz,
Jelka Lerche, Matthias Schütte
Bildredaktion: Amélie Schneider (verantwortlich), Lara Huck/
Jutta Schein (stellv.), Melanie Böge, Dorothea Fiedler, Norman ­
Hoppenheit, Anja Martens, Navina Reus, Vera Tammen, Edith Wagner­
Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich), Davina Domanski,
Dorothee Schöndorf, ­Corinna Slotty
Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich), Oliver Voß (stellv.),
Volker Hummel, Christoph Kirchner, Katharina Kowarczyk, Anke
Latza, Irina ­Mamula, Maren Preiß, ­Karen Schmidt, Matthias Sommer
Frankfurter Redaktion: Eschersheimer Landstraße 50,
60322 Frankfurt a. M., E-Mail: buero-frankfurt@zeit.de
Christ & Welt/ZEIT:CREDO GmbH: Georg Löwisch (Chefredak­
teur), Merle Schmalenbach (Stellv. Chefred.), Raoul Löbbert (Chef-
korrespondent), Andreas Öhler, Christina Rietz, Kilian Trotier
(Koordinator ZEIT Sinn – Wofür leben wir?); Schöneberger Str. 21 A,
10963 Berlin; E-Mail: redaktion@christundwelt.de
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Chefredakteur Länderausgaben: Patrik Schwarz
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lich), Viola Diem, Frank Drieschner, ­Christoph Heinemann,
Annika Lasarzik (Newsletter Elbvertiefung), Oskar Piegsa ­
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Martin ­Nejezchleba; Naumburger Straße 48, 04229 Leipzig,
Tel.: 0341/492 76 13-10, E-Mail: anne.haehnig@zeit.de
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leitung), Christina Pausackl (stellv.), Christian Bartlau, Simone Brunner;
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(stellv.), Leonie Baumeister, Norbert Bayer, Sabine ­Bergmann, Kanada
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Felix ­Burchardt, Marina Cordes, Robert Günther, Alexan­der Sunrise News,
Textchefin: Meike Dülffer ZEIT-Abonnenten
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Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Marcus Gatzke/Ileana ­Grabitz € 0,70 pro Ausgabe
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(Leitung), Marlies Uken (stellv.), Frida Thurm (verantw. Gesellschaft), ­
Entwicklungs­r edaktion: ­Holger Wiebe (Leitung), ­Thomas Stroth­ Schriftlicher Bestellservice: Tel.: +1647-219 52 05
Almut Siefert (verantw. Ausland), Fabian Reinbold (verantw. Innenpolitik),
johann (stellv.), Simon Berresheim, Matthias Lücke, Rose Tremlett, DIE ZEIT, 20080 Hamburg
Christian Bangel, ­Dr. Hannah Bethke, Manuel Bogner, Lisa Caspari, ­­ E-Mail: sunriseorders@bell.net
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Nina Monecke, Ferdinand Otto, ­Steffen Richter, Johanna Roth, Parvin ­ Verlag und Redaktion: € 6,40
Sadigh, Dr. Michael Schlieben (Polit. Korrespondent), ­Katharina ­Schuler, ­ Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Helmut-Schmidt-Haus,
Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg
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Telefon: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11, Österreich, Schweiz und
ternehmen) Kultur: ­Dirk Peitz (Leitung), ­Judith Liere (stellv.), Nils Mark- Belgien € 7,50;
E-Mail: DieZeit@zeit.de; ZEIT Online GmbH: www.zeit.de restliches Ausland
wardt (stellv.), ­Maja Beckers, ­Daniel Gerhardt (Film), David ­Hugen­dick DIE ZEIT Leserservice Dänemark DKR 71,00;
(Literatur), ­Julia ­Lorenz, ­Johannes Schneider, C­ arolin Ströbele (TV/Medi- © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg
20080 Hamburg Finnland € 9,40;
en) Wissen: Sven Stock­rahm (Leitung, Hrsg. Gesundheit u. Digital), Linda Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser
Deutschland Frank­reich € 8,10;
Fischer (stellv.), Elena Erdmann (Verantw. For­schungs­­daten), Robert Marketing und Vertrieb: Nils von der Kall Griechenland € 8,10;
Gast, Jens Lubbadeh, Dr. Maria Mast, Dr. Claudia Vallentin; Chefreporterin Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen: Tel.: +49-40/42 23 70 70
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Wissen: Dagny Lüde­mann Digital: Lisa Hege­mann (Leitung), ­Meike Laaff, ­ Silvie Rundel Italien € 8,10;
Jakob von Lindern, Henrik Oerding, Pauline Schinkels, Eva Wolfangel
Herstellung/Schlussgrafik: Torsten Bastian (verantwortlich), Tim Abonnement USA Luxemburg € 7,50;
Gesundheit: Dr. Jakob Simmank/Claudia Wüsten­hagen (Leitung), Ingo Andersson, Patrick Baden, Stefanie Fricke, Bastian Kamp, Jan Menssen,
DIE ZEIT (USPS No. 00014259) Nieder­lande € 7,50;
Arzt, Corinna Schöps, Dr. Florian Schumann Oliver ­Nagel, ­Tim Paulsen, Frank ­Siemienski, Pascal Struckmann;
Ressort Investigative Recherche­/ Daten: siehe Printressorts is published weekly Österreich € 6,70;
Bildbearbeitung: Andrea Drewes, Hanno ­Hammacher, Martin Hinz Portugal € 8,10;
Ressort X: Philip Faigle (Leitung), Johannes Böhme, Philipp Daum, by Zeitverlag;
Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG, K.O.P.: Data Media (A division Schweiz CHF 8,80;
Yasmine ­M’Barek, Annabelle Seubert, Luisa Thomé, Vanessa Vu ­ Kurhessenstr. 4­–6, 64546 Mörfelden-Walldorf
Podcasts: Ole ­Pflüger (Leitung), Mounia Meiborg (stellv.), Jannis ­ of Cover-All Computer Services Slowenien € 8,10;
Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder Spanien € 8,10;
Carmesin, Moses Fendel, Simone Gaul, Constanze Kainz, Elise Land- übernimmt der Verlag keine Haftung.
Corp.), 2221 Kenmore Avenue,
schek, Dr. Rita Lauter, Pia Rauschenberger, Fabian Scheler Suite 106, B
­ uffalo, Kanarische Inseln € 8,20;
Anzeigenleitung: Dr. Hanna Proner (kommissarisch)
ZEITmagazin Online, Wochenmarkt, Entdecken, Familie, Sinn: Carmen NY 14207-1306 Ungarn HUF 3990,00
Böker ­(Leitung), Carla Baum/Alexander Krex (stellv.), Johannes Ehr- Anzeigenstruktur: Peggy Ludwig (verantwortlich), Laura Gilica,
mann, Juliane Frisse, Wenke Husmann, Laura Sophie Jung, Matthias Carolina Guerra; Anzeigen-Preisliste Nr. 68 vom 1. Januar 2023
Magazine und Neue Geschäftsfelder: Sandra Kreft
Kirsch, Wlada Kolosowa, Hannes Leitlein, Celina Plag, Jakob Pontius,
­Lisa Seelig, Sara Tomšić, Fiona Weber-Steinhaus, Cora Wucherer, Milena Projektreisen: Christopher Alexander
Zwerenz Arbeit: Anne-Katrin Schade (Leitung), Jana Baurmann, ­David Börsenpflichtblatt: An allen acht deutschen Wertpapierbörsen ISSN: 0044-2070
 »Ich habe
wirklich
versucht,
kein
Arschloch
zu sein«

15.6.2023 N0 26
 









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»Aber ich
glaube,
in gewissem
Maße war
ich ein
Arschloch«

Unterwegs mit Kevin Spacey

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N 0 26

14 Unter Verdacht
Der Schauspieler Kevin Spacey steht bald
Vergessene
wieder wegen Sexualdelikten vor Gericht
Wahrheit
Wie konnten die Deutschen
die gemeinsame Geschichte
mit der Ukraine verdrängen?
Warum verbreitete sich der
Mythos, das Land sei nur der
26 Blau, weiß – oder rosa unmündige Verwandte Russ-
lands? Unser Heft entdeckt
In unserer Gartenkolumne stellen wir
die 1000 Jahre alten Beziehun-
eine Lieblingssommerblume vor
gen zwischen Deutschland,
Russland und der Ukraine
neu – vom Mittelalter bis heute.

28 »Komm, schmeiß ihn rein!«

Titelfotos BENEDICT EVANS  Fotos diese Seite Benedict Evans; Anne Schwalbe; Christina Kratsch/DAVIDS; Tanja Kernweiss

Wir haben die Besucher des Berliner

Prinzenbads belauscht

30 Friedrich wird volljährig

Florian Jaenicke berichtet wieder von
seinem schwerstbehinderten Sohn Gratis
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36 Bitte kein Smartphone am Tisch

Unser Autor versteht nicht, warum er
Speisekarten über einen QR-Code lesen soll

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COLLECTION MÉTIERS D’ART 2022/23
HEITER BIS GLÜCKLICH »Warst du auch 8
schon mal im Gefängnis?«
»Hahaha ... nein.«
»Wann warst du
denn mal kurz davor?«
»Ich war schon in
emotionalen Gefängnissen,
falls das zählt. Ich war
Für Leute, die alles haben, Für ihre Sound-Installation
mit Schauspielern liiert.«
nur keine Lösung The Forty Part Motet

Richtig sexy wurde das arme
Berlin, als 2007 dort das
Grill Royal eröffnete: ein
Lokal, in dem es nie um
die Steaks, immer um den
Aufstieg ging. Jetzt gibt
es einen Ableger des »Grill«
im bereits sehr aufgestiegenen
Hamburg (Ballindamm 17).
Vielleicht geht es ja
dann da um die Steaks
für das Luxus­problem des
komfortablen Blumen­­
transports, ist diese Tasche
von Gohar World &
Super Yaya vielleicht etwas
(ab 20. 6. über gohar.world)
Fotos  Grill Royal Hamburg / Volker Hobl; Reha Karam; Thomas Köster; Heritage Auctions; bundeskanzler / Instagram; Daughters of Cain Records; Paul McCartney; Home Box Office, Inc.
nahmen Janet Cardiff und
Aus dem Podcast The Anna ­George ­Bures Miller die
Delvey Show, für den Anna Stimmen von 40 Chor­
»Delvey« Sorokin, Betrügerin im sängerinnen und -sängern
Hausarrest, Leute interviewt, einzeln auf, hören kann
»die Regeln brechen« man sie (neben weiteren
Werken) derzeit im
Museum Tinguely in Basel

Das jüngste Idol der Indie-

Musik wohnt in Alabama:
Ethel Cain singt von dort aus
mit ätherischer Schwere
über Hard ­Times und einen
American Teenager
Waren Sie schon mal in
Bad Rappenau? Das dortige
BikiniARTmuseum hat
jüngst Pamela Andersons
original Baywatch-Anzug
­ersteigert und will ihn bald
neben David Hasselhoffs
Badehose ausstellen

Olaf Scholz und Emmanuel Macron

Wie Paul McCartney die
frühe Beatlemania
wahrnahm, zeigen seine Fotos
(oben: Ringo Starr) und
Beobachtungen in 1964:
Augen des Sturms (C. H. Beck)
haben mit einer Französischlehrerin ein
Selfie gemacht. »Ich stelle mich hinter Sie«,
sagte der Präsident und deutete auf das
Knöpfchen, während der Bundeskanzler
das Handy hielt. »Noch eins. Voilà!« Über Selbst lieber kein Idol werden
100.000 Instagram-Likes gab es dafür. will man nach dem Schauen
Am Ende sind selfieschießende Staatsober- der Serie The Idol (auf Sky):
häupter nicht so anders als Oberkellner, Ein schönes Popsternchen
die schon wieder für irgendeinen geburts- (Lily-Rose Depp) gerät da in
tagenden Gast Stevie Wonder auflegen. schlechte Gesellschaft
Bei beidem gilt: Zieht immer! (Abel »The Weeknd« Tesfaye)

Die Entdeckungen der Woche von Claire Beermann

 HARALD MARTENSTEIN
Über den Cancelwahnsinn
Von der Cancel-Culture sagen ja manche
hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Von der
Stadt Bielefeld behaupten Spaßvögel das
Gleiche. In beiden Fällen ist die Beweislage
dünn, dazu laufen einfach zu viele Biele­
felder und zu viele Gecancelte da draußen
herum. Eigentlich könnte ich jede Woche
eine Rubrik »frisch gecancelt« schreiben.
Canceln ist allerdings kein speziell linkes
Pläsier. Auch von rechts werden Bücher,
­ Dieses Zitat bezog sich allerdings darauf, dass
Wörter, Personen oder ­ Ideen ausgemerzt,
wenn es sich machtmäßig machen lässt. Aus
der Schulbibliothek der Vero Beach High
School in Florida wurde ein Buch über Anne
Frank entfernt, das Mädchen, das sich in
Amsterdam vor den Nazis versteckt hielt und
dessen Tagebuch nach ihrer Ermordung welt-
berühmt wurde. Das Buch von Ari Folman
und David Polonsky, Ersterer ein Sohn von
Holocaustüberlebenden, hat das Tagebuch in
Zu hören unter www.zeit.de/audio
einen Comic übersetzt, um es für Jugendliche
zugänglicher zu machen. An einer Stelle sieht
Anne mit ihrer Freundin eine nackte Statue,
die aufgeregten Mädchen zeigen ein­an­der an-
schließend ihre Brüste. Erwachende Sexuali-
tät spielt auch im Original eine Rolle.
Entfernt wurde das Werk auf Wunsch der für
ihre Prüderie berühmten »Moms for Liberty«,
Mütter für Freiheit, hier ein eher unpassen-
der Name. Es »verharmlose« den Holocaust,
wenn die Opfer als sexuelle Wesen dargestellt
werden. In der FAZ stand zum Cancelwahn-
sinn, dass »ständig neue Fälle bekannt« wer-
den, in denen Bücher »mit den verrücktesten
Begründungen aus Bibliotheken entfernt«
oder »an Schulen und Universitäten nicht
mehr behandelt werden sollen«.
Amanda Gormans antirassistisches Gedicht
The Hill We Climb, das sie beim Amtsantritt
von Joe ­Biden vortrug, vom Lehrplan einer
anderen Schule in Florida gestrichen wurde.
Begründung: Das Gedicht enthalte Hass-
botschaften. Zu Recht weist der FAZ-Autor
Jan Wiele darauf hin, dass die Rechte von
der Linken schnell gelernt hat, wie man An-
dersdenkende am besten zum Schweigen
bringt. Vorwürfe wie »Hass«, »Hetze« oder
»Verharmlosung des Holocausts« werden auf
beiden Seiten gern konstruiert, auch wenn sie
bei näherem Hinsehen noch so absurd sind.
In London hat John ­Cleese gerade Probleme
mit dem Versuch, den Monty-­Python-­Film
Das Leben des Brian auf die Bühne zu brin-
gen. Es geht um eine Szene, in der ein Mann
sagt, er wolle eine Frau werden und ein Baby
Illustration Martin Fengel
9
bekommen, ein Thema, das Monty Python
mit dem typischen Monty-Python-Humor
behandelt hat statt mit dem vorgeschriebe-
nen heiligen Ernst.
In Oxford hat der hochberühmte Debattier-
verein die Philosophin Kath­leen Stock zu
einem Streitgespräch geladen. Sie behauptet,
Geschlecht habe etwas mit Biologie zu tun.
Aus Protest dagegen, dass man mit Stock über
diese interessante These auch nur diskutiert,
klebten sich Aktivisten vor dem Redner­
pult fest. Dem Debattierverein scheint jetzt
wegen der Einladung auch Ärger zu drohen,
man nennt dies »Kontaktschuld«.
Das Mittelalter meldet sich auf breiter Front
zurück, könnte man sagen. Aber daran sind
nicht die Fanatiker schuld, deren Zahl ist
überschaubar. Es liegt an der Feigheit all derer,
die nicht den Mut haben, für Demokratie zu
kämpfen. War das nicht auch in der Weimarer
Republik so, zu wenige Demokraten? Für De-
mokratie zu kämpfen heißt allerdings nicht,
für die eigenen Ansichten einzutreten, das tut
eh jeder, sondern für die Freiheit auch derer,
die man nicht so mag. Andernfalls wacht man
nicht 1933 auf, das nicht, sondern vielleicht
in einer Art China oder Russland. Und daran
ist man dann selber schuld.
WOCHENMARKT 10 KÜNSTLERISCH WERTVOLL

Rote-Bete-Carpaccio mit Himbeeren

Zutaten für 2 Personen: 350 g Rote Bete, 1 Schale Himbeeren (125 g), ein paar Zweige frische Minze, 40 g Pistazien
(ungesalzen, geschält), Salz, Pfeffer, 1 EL Essig, 2 EL Olivenöl, ein paar Spritzer Zitronensaft, 70 g Ziegenkäse

Carpaccio ist ein großes Wort für einen
herrlichen, frischen, doch sehr einfachen
Rote-Bete-Salat wie diesen hier, aber es soll
bloß bezeichnen, dass in dem Gericht die
Rote Bete zum einen roh ist und zum an-
deren sehr dünn geschnitten wird. Und das
echte Carpaccio mit Rindfleisch und Par-
mesan heißt ja sowieso nur so, weil es ein-
mal einen Maler gab, Herrn Carpaccio, der
im 16. Jahrhundert prächtige Bilder­zyklen
malte, eine lesende Gottesmutter auch und
Von Elisabeth Raether
den Tod des Hieronymus. Doch wenn man
seine Bilder nicht so genau ansah, sondern
die Augen etwas zusammenkniff, dann
erkannte man viel leuchtendes Rot und
Weiß, ein Carpaccio eben. So dachte sich
das zumindest der Erfinder des Carpaccios
in Harry’s Bar in Venedig in den Fünfziger-
jahren, und es ist etwas dran.
Das aktuelle
ZEITmagazin WOCHENMARKT
ist am Kiosk oder als Abo
unter zeit.de/wm-kochen erhältlich
Die Roten Beten schälen und in hauch-
dünne Scheiben schneiden. Diese ne­ben­
ein­an­der auf einen Servierteller legen. Die
Himbeeren verlesen, halbieren und darauf
verteilen. Die Minzblättchen waschen, fein
hacken, darüberstreuen. Pistazien ohne
Fett in der Pfanne rösten, auf das Carpac-
cio geben. Salzen und pfeffern, mit Essig,
Olivenöl und Zitronensaft beträufeln. Den
Ziegenkäse in Stückchen schneiden und
daraufgeben.
Foto Silvio Knezevic
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TAGEBUCH AUS KIEW 12 RAKETEN

Nachdem es in der Nacht einen der heftigs-
ten Raketenangriffe der letzten Monate gab,
bei dem mehrere Wohnhäuser von Drohnen
getroffen und durch sie zerstört wurden,
folgte heute Morgen gleich der nächste.
Als unsere Luftabwehr begann, die russi-
schen Raketen abzuschießen, rannten die
Leute auf die Straße, um zu filmen, ob-
wohl das strengstens verboten ist. Der rus-
sische Geheimdienst sammelt und analysiert
schließlich Handyaufnahmen und -videos,
aus denen man auf die ukrainische Flug-
abwehr schließen kann, er will die Standorte
der Abwehrsysteme ermitteln.
In dem Moment, als ich die Raketen sah,
zuckte auch meine Hand Richtung Telefon,
allerdings nur für den Bruchteil einer Se-
kunde. Als ich den Mann neben mir fragte,
warum er filme, obwohl es verboten sei, ant-
wortete er: »Was denn? Ich filme doch nur
den Himmel.«

Der Illustrator Sergiy Maidukov, 43, ist in Donezk geboren und aufgewachsen, seit 2006 wohnt er in Kiew.
Für uns zeichnet er, wie er sein Land derzeit sieht und erlebt
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DER ANGEKLAGTE

Kevin Spacey, 63, in Baltimore, wo er seit elf Jahren lebt

 Vor fünf Jahren wurde der Hollywood-Schauspieler
Kevin Spacey sexueller Übergriffe beschuldigt. Ab Ende Juni
steht er deshalb noch einmal vor Gericht. Hier spricht er zum
ersten Mal über sein Leben nach dem Skandal
Von KHUÊ PHAM
I. Der übliche Verdächtige
Wir haben uns früh am Morgen verabredet, um halb neun in
­einem kleinen Park am Hafen von Balti­more, seiner Heimatstadt.
Einen Tag lang will er mir zeigen, wie er hier lebt: die Lokale, in
die er gern geht, das Haus, in dem er wohnt (»ein 6-Millionen-­
Dollar-Schlupfloch in Wasserlage«, wie die Daily Mail raunt). Es
ist der erste Samstag im Mai dieses Jahres, Tretboote in Drachen-
form und weiße Jachten schaukeln im Wasser, dahinter erheben
sich die h ­ ohen Bürotürme von Downtown. Von Weitem sehe ich
einen Mann mit weißem Cardigan, blau-weiß gestreiften Shorts
und bunten S­ ocken hinter einem Hund einen Hügel herunterstap-
fen; erst denke­ich, es ist ein Tourist, dann erkenne ich ihn.
»Oh my, was für ein schöner Tag!«, sagt Kevin Spacey, 63, zur
Begrüßung.
Sein Gesicht ist fülliger und faltiger als früher, müde blinzelt er
in den azurblauen Himmel und setzt sich seine Sonnenbrille auf.
Es ist der Tag von ­Charles’ Krönung in England, und Spacey ist
morgens um fünf Uhr aufgestanden, um sich die Zeremonie im
Fernsehen anzugucken. »Ich habe in meinem Leben zwei Könige
gespielt«, erklärt er, »ich wollte sehen, wie so eine Krönung in echt
abläuft.« Außerdem, fügt er hinzu, kenne er ­Charles seit Langem
und schätze ihn sehr.
Er lässt Boston, eine Anatolische Hirtenhündin mit ockerfarbe-
nem Fell, von der Leine. »Na komm schon!«, feuert er sie an, als sie
lossprintet. »Das kann doch noch nicht alles sein, oder?!« Vor zehn
Jahren, kurz nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon, hat er
die Stadt besucht und die Hündin dort adoptiert. Seitdem nimmt
er sie mit, wann immer er kann. Nach London, wo er noch eine
Wohnung in der Nähe des Old Vic Theatre hat, das er von 2004
bis 2015 geleitet hat. Auch in New York war sie dabei, als er dort
vor einem Dreivierteljahr wegen sexueller Belästigung vor Gericht
stand und freigesprochen wurde.
Fünf, sechs andere Hundebesitzer kommen vorbei und grüßen
die beiden mit der unaufgeregten Vertrautheit von Freunden. Am
Abend zuvor war Spacey mit ihnen auf einen Drink in einer Braue-
rei, in die sie ihre Hunde mitnehmen durften. Die Hundebesitzer
treffen sich auch für Jazzkonzerte, Quizabende und zum Bowlen,
wofür sie eine Gruppe namens »Doggy ­Style« gegründet haben.
Es ist ein besonderer Moment, um Spacey zu besuchen. Er ist der
berühmteste Mann, der im Zuge von MeToo angeklagt wurde,
in sechs Wochen muss er sich deswegen ein letztes Mal vor Ge-
richt verantworten. Der vierwöchige Strafprozess findet in London
statt, es geht um zwölf Anklagepunkte: Vier Männer werfen ihm
sexuelle Nötigung vor; zwei von ihnen sagen, sie hätten mit ihm
nicht einvernehmlichen Sex gehabt. Die Vorfälle sollen sich zwi-
schen 2001 und 2013 ereignet haben. In der Vorverhandlung hat
Spacey alle Vorwürfe zurückgewiesen.
Wird Spacey in London schuldig gesprochen, droht ihm eine
­Gefängnisstrafe. Wird er freigesprochen, ist er offiziell ein unschul-
diger Mann. Es wäre der Befreiungsschlag, auf den er seit mehr
als fünf Jahren wartet. Vielleicht könnte er zurückkommen wie
Johnny Depp, der von seiner Ex-Frau Amber Heard der häuslichen
Gewalt beschuldigt wurde, sie vor Gericht aber erfolgreich wegen
Verleumdung verklagte. Depps neuer Film eröffnete gerade unter
Standing Ovations die Filmfestspiele von ­Cannes.
Fotos BENEDICT EVANS
Spacey behandelt mich an diesem Morgen so zuvorkommend,
als sei ich eine Bekannte, die zu Besuch ist. Wir holen uns einen
Kaffee, dann laufen wir eine Straße hoch, die an einem Museum
vorbeiführt und heute mit Karnevalswagen vollgestellt ist. Wir
schlängeln uns vorbei an einer R ­ oyal Family aus Pappmaschee, ei-
nem nachgebauten Feuerwehrauto, einem gigantischen Bären mit
Glitzersteinen. Alle zwei Meter wird Spacey angesprochen:
»Ich liebe Ihre Filme. Welchen mögen Sie am meisten?«
»Mein Sohn guckt ›House of Cards‹, jeden Tag, den ganzen Tag!«
»Kevin Spacey?! Wow!«
»Ich habe hier gerade meinen Mann am Handy, er ist ein großer Fan
von Ihnen. Können Sie was zu ihm sagen?«
Früher, sagt Spacey, hatte er für Leute, die ein Foto oder Auto-
gramm von ihm wollten, keine Zeit. Heute sagt er: »Diese Begeg-
nungen geben mir die Kraft, weiterzumachen.« Und so lässt er sich
lächelnd fotografieren und stellt ein paar nette Fragen zurück:
»Wie heißen Sie?«
»Wo kommen Sie her?«
»Wie alt ist Ihr Hund?«
Es ist das erste Mal seit fünf Jahren, dass er eine Journalistin in sein
Leben lässt. Die größten Zeitungen und Fernsehsender der USA
hätten ihn um ein Gespräch gebeten, erzählt sein Manager. Bisher
habe Spacey alles abgesagt. Er wolle zwar über seine Sicht der Din-
ge sprechen, doch die Gefahr sei groß, dass er missverstanden oder
falsch dargestellt werde. Seine Anwälte hatten große Bedenken, da
jedes Zitat in dem Prozess in London gegen ihn verwendet werden
könnte. Deshalb einigen wir uns auf eine Regel: Über die kon-
kreten Anschuldigungen darf nicht gesprochen werden.
II. Der Sündenfall
»Die Tage, an denen die Kacke am Dampfen war«, nennt Spacey
jene Tage im Oktober 2017, als er seinen Job verlor, seinen Ruf,
viel Geld und viele Freunde. Fragt man ihn, ob er diese Zeit aus
seiner Sicht schildern könne, wird er plötzlich still. »Ich bin noch
dabei, sie zu verarbeiten«, sagt er schließlich. »Ich kann noch
nicht darüber reden.« Man kann aber mit seinem besten Freund
Evan Lowenstein sprechen, der ihn damals seit nicht mal zwei
Jahren managte, einem jung gebliebenen 49-Jährigen mit locki-
gen Haaren und Wollmütze.
Alles begann am Samstag, dem 28. Oktober 2017. Spacey ist für
ein paar Termine nach Los Angeles geflogen, zusammen mit dem
Regisseur Ridley Scott schaut er sich seinen neuen Film an, All
the ­Money in the World. Spacey spielt darin den Tycoon J. Paul
Getty,­die Trailer laufen schon im Kino. Drei Wochen zuvor ha-
ben New Yorker und New York ­Times enthüllt, dass der Filmpro-
duzent Harvey Weinstein jahrzehntelang Schauspielerinnen sexuell
missbraucht hat. Der Hash­tag #MeToo geht um die Welt, jeden
Tag berichten die Zeitungen von neuen Fällen. Ein Journalist von
BuzzFeed schickt Spaceys Presseagentin eine E-Mail mit Fragen zu
einem sexuellen Übergriff und ruft mehrmals an, doch sie ist im
Urlaub und sieht seine Nachricht erst am nächsten Tag.
Am Sonntag erscheint auf BuzzFeed ein Artikel mit der Über-
schrift »Schauspieler Anthony Rapp: Kevin Spacey hat mich
­sexuell belästigt, als ich 14 Jahre war«. Der 46-jährige Rapp wirft
Spacey darin vor, ihn 1986 auf ein Bett geworfen und sich auf

Er nimmt seine Hündin mit,
wann immer er kann. Nach London,
wo er noch eine Wohnung hat.
Auch in New York war sie dabei,
als er dort wegen sexueller
Belästigung vor Gericht stand und
freigesprochen wurde
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ihn gelegt zu haben. Evan Lowenstein erinnert sich, wie Spacey
ihn weinend anrief. »Er war sehr verwirrt. Er hat sich gefragt: Ist
es möglich, dass ich das gemacht habe, aber mich nicht daran
­erinnern kann, weil ich betrunken war?«
An diesem Tag jagt ein Krisengespräch das nächste, mit den An-
wälten, seiner Presseagentin, dem CEO von Netflix. Die Mei-
nungen gehen aus­ein­an­der, ob sich Spacey äußern sollte oder
nicht. Spacey selbst scheint in diesem Moment nicht klar zu sein,
wie viel Sprengstoff in dem Vorwurf steckt. »Seine größte Sor-
ge schien zu sein, dass seine Homosexualität nun auffliegen wür-
de«, erzählt Lowenstein. Bis dahin hatte Spacey Gerüchte, er sei
schwul, verneint.
Am Montag postet Spacey auf Anraten seiner Presseagentin ein
State­ment auf Twitter: »Ich kann mich ehrlich nicht an diese Be-
gegnung erinnern. Aber sollte ich mich damals verhalten haben,
wie er es beschreibt, dann schulde ich ihm die aufrichtigste Ent-
schuldigung für absolut unangemessenes betrunkenes Verhalten.
[...] Diese Geschichte ermutigt mich dazu, andere Dinge in mei-
nem Leben anzusprechen. Ich habe im Laufe meines Lebens Män-
ner geliebt und hatte mit ihnen romantische Begegnungen und
entscheide mich nun, als schwuler Mann zu leben.«
Im Netz wird er dafür hingerichtet. Der erste Teil wird als Ge-
ständnis verstanden. Der zweite als Versuch kritisiert, von dem
eigentlichen Skandal abzulenken. Empört schreiben Schauspiele-
rinnen und Aktivisten, dass dadurch Homosexualität in den Kon-
text von Kindesmissbrauch gebracht werde. »Der Schaden war
sofort klar«, sagt Lowenstein. »Innerhalb von 48 Stunden hatte
er alles verloren.«
Am Mittwoch verkünden Netflix und die Produktionsfirma MRC,
dass sie die Dreharbeiten von ­House of Cards aussetzen, um die
Vorwürfe zu untersuchen.
Am Donnerstag erscheint ein Artikel auf der Web­site von CNN,
in dem acht Männer berichten, dass Spacey am Set von ­House of
Cards ein »toxisches Klima« geschaffen habe. Ein Produktions-
assistent beschuldigt ihn, sein Geschlecht angefasst zu haben.
Spaceys Presseagentin und seine Agentur CAA erklären, dass sie
ihn fallen lassen.
Lowenstein und Spacey fliegen zusammen nach Arizona, wo sich
Spacey in eine Klinik einweisen lässt, die sich auf Sexualtherapien
spezialisiert hat. Auch Harvey Weinstein lässt sich dort behan-
deln. »So still wie auf diesem Flug habe ich ihn noch nie erlebt«,
erinnert sich Lowenstein.
Am Freitag nimmt Scotland Yard in England Ermittlungen auf, da
ein 32-jähriger Mann Anzeige erstattet hat, wie die Sun berichtet:
2008 habe der Mann mit Spacey Gras geraucht und sei eingeschla-
fen. Als er aufwachte, habe Spacey an ihm Oralsex praktiziert.
Netflix und MRC verkünden nun, dass sie bei H ­ ouse of Cards nicht
weiter mit Spacey zusammenarbeiten werden. (Die letzte Staffel
wird später umgeschrieben, Spaceys Figur Frank Underwood stirbt.
MRC wird ihn deswegen auf 31 Millionen Dollar Schadensersatz
verklagen.) Ein weiterer Spacey-Film, ­Gore, der sich bereits in der
Postproduktion befindet, wird von Netflix ad acta gelegt.
Der Regisseur Ridley Scott entscheidet daraufhin ebenfalls, die
Zusammenarbeit mit Spacey zu be­enden. Dessen Szenen aus All
the ­Money in the World werden mit einem anderen Darsteller

nachgedreht. Spacey, eben noch einer der besten Schauspieler der
Welt, wird ausradiert.
In diesen Tagen und den Wochen danach wenden sich immer mehr
Männer mit neuen Vorwürfen gegen Spacey an die Öffentlichkeit.
Auf Face­book schreibt beispielsweise der mexikanische Schauspie-
ler Roberto Cavazos, der mit Spacey am Old Vic Theatre in Lon-
don gearbeitet hat: »Viele von uns haben eine Kevin-Spacey-Story.
Anscheinend musste man nur ein Mann unter 30 sein, damit Mr.
Spacey sich herausnahm, einen zu berühren.« Ein 19-jähriger bri-
tischer Barkeeper berichtet der Sun, dass sich Spacey vor ihm ent-
blößt und ihm danach eine teure Schweizer Uhr geschenkt habe.
Der Schauspieler Toni Montana schildert USA Today, wie Spacey
ihn 2003 in einer Bar in Los Angeles an den Genitalien gepackt
habe. Der Schauspieler Harry Dreyfuss schreibt auf BuzzFeed,
dass er mit 18 Jahren bei Spacey zu Hause in London gewesen sei,
wo der ihn mehrmals am Oberschenkel und schließlich auch am
Geschlecht berührt habe.
In den USA führen die Vorwürfe zu drei Anklagen: In New York
werden die Anschuldigungen von Anthony Rapp verhandelt und
zugunsten von Spacey entschieden. Die anderen beiden Verfahren
in Los Angeles und Nantucket werden eingestellt: das erste, weil
das Opfer stirbt, das zweite, weil der Hauptbelastungszeuge nicht
mehr aussagen will. Nun steht noch der Prozess in London aus, wo
die Vorwürfe aus Großbritannien verhandelt werden sollen.
III. Ganz oben
In Baltimore verlassen wir den Hundepark und folgen einem Pfad,
der den Federal Hill hinaufführt, einen Hügel mit amerikanischer
Flagge, der dem Militär im Bürgerkrieg als Festung diente. Vor uns
erstreckt sich das Panorama der Stadt. Spacey erzählt, dass er 2012
für die Dreharbeiten von ­House of Cards in die Stadt kam, die zwar
gleich neben Washington, D. C., liegt, wegen der Drogen-Serie The
Wire aber unter dem Ruf litt, ein Hort der Kriminalität zu sein.
Spacey, der in Kalifornien aufgewachsen war, mehr als 25 Jahre in
New York und schließlich in London gelebt hatte, verliebte sich in
Balti­more und kaufte 2016 ein Haus am Hafen.
Schon damals hatte er zwei Oscars gewonnen, für Die üblichen
Verdächtigen und American Beauty. Die Serie ­House of Cards aber
machte ihn endgültig zum Weltstar. Je größer er wurde, desto grö-
ßer wurde das, was er heute »die Blase« nennt. Er hatte einen Assis­
tenten, einen Agenten, eine Presseagentin, einen Manager, einen
persönlichen Fitnesstrainer und einen Body­guard, der ihm sagte,
welchen Ausgang er nehmen sollte und welchen nicht. Als sein
Schauspiellehrer aus der Highschool eine Auszeichnung bekam,
mietete Spacey einen Privatjet, um zwischen den Dreharbeiten für
die Zeremonie einzufliegen.
»Es gibt keine Schule, an der man lernen kann, wie man mit Ruhm
umgeht«, erklärt er. »Ich habe wirklich versucht, kein Arschloch zu
sein. Aber ich glaube, in gewissem Maße war ich ein Arschloch.«
Irgendwann habe er angefangen, andere Menschen nur noch in
Kategorien einzusortieren: Der will ein Selfie, die ein Autogramm.
Er habe sie nicht mehr richtig wahrgenommen.
Man würde gern wissen, welche weiteren Fehler Spacey in seinem
Umgang mit anderen sieht. Ob er denkt: Es gab Momente, da habe
ich Grenzen überschritten. Doch obwohl wir noch ein paarmal auf
In der Nähe des Hafenbeckens von Baltimore hat sich Spacey ein Haus gekauft
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das »Arschloch« zurückkommen, gehen seine Erklärungen nie so
weit. Es bleibt unklar, ob er überhaupt Reue empfindet und wenn
ja, wofür. Oder hält er sich zurück, weil er fürchtet, jedes Wort der
Reue könnte als Eingeständnis von Schuld verstanden werden?
Damals, sagt Spacey, habe er sich in ein Projekt nach dem anderen
gestürzt, um sich selbst aus dem Weg zu gehen. »Ein Teil von mir
war tiefunglücklich«, sagt er. »Aber ich habe nicht an mir gearbei-
tet. Ich habe alles getan, um das zu vermeiden.«
Er erzählt die Geschichte seines Unglücks als Geschichte seiner
Homo­sexualität: Seit er denken kann, hat er sich geschämt, weil
er sich zu Jungen hingezogen fühlte. Sein Vater Thomas Geoffrey
Fowler verdächtigte ihn früh, schwul zu sein, weil sein Sohn Theater
spielte. Arbeitslos und an seinem Traum gescheitert, Schriftsteller
zu werden, war Fowler in rechtsradikale Kreise geraten und terro-
risierte seine Familie mit rassistischen und homophoben Theorien.
­(Spaceys Bruder Randall berichtete der Daily Mail, dass er vom
Vater, der inzwischen verstorben ist, jahrelang vergewaltigt worden
sei.) Theater zu spielen war für Spacey der Weg, um nach dem Un-
terricht länger in der Schule zu bleiben. Und es bot ihm eine Flucht
in eine andere Identität. »Ich bin Schauspieler geworden, weil ich
es geliebt habe, jemanden zu spielen, der nicht ich war«, erklärt er.
»Sobald ich auf einer Bühne stand, fühlte ich mich sicher. »
Er wurde älter, verdrängte seine Homosexualität weiter. »Ich habe
Dinge ausprobiert, aber ich wollte mir nicht eingestehen, wer ich
war. Ich hatte panische Angst, es herauszufinden.« Er spricht von
»Erfahrungen«, sagt aber nicht »Erfahrungen mit Männern«. Auch
das Wort »schwul« kommt ihm bei diesem Gespräch nur einmal
über die Lippen. Dafür spricht er immer wieder von Scham, Angst,
Verwirrung, Geheimnissen.
Als Spacey in den Achtzigerjahren seine ersten Rollen am Broadway
und im Fernsehen bekam, wurde ihm geraten, sich bloß nicht zu
outen, weil das seine Karriere gefährden könnte. »Damals haben mir
Agenten gesagt: Es ist deine Sache, aber verrat es bloß keinem!« Erst
in den Neunzigern, als er Mitte 30 war, konnte er akzeptieren, dass er
schwul war. Vor der Öffentlichkeit hielt er es weiter geheim. Die Me-
dien spekulierten, warum er zu Preisverleihungen immer seine Mut-
ter mitnahm. Als ihn eine Reporterin der Sunday ­Times 1999 fragte,
ob er schwul sei, antwortete er: »Das ist eine Fiktion. Ich bin seit
Langem in einer Beziehung, aber sie möchte nicht genannt werden.«
Im Jahr darauf brachte er die Drehbuchautorin Dianne Dreyer
zu den Oscars mit. Spacey gewann als bester Hauptdarsteller mit
seiner Rolle in American Beauty, ging auf die Bühne und sagte in
seiner Rede: »Danke, Dianne, dass du mir beigebracht hast, was
wichtig ist. Ich liebe dich.«
IV. Flache Gewässer
Vier Monate vor meinem Besuch in Balti­more, unser erstes Treffen:
Kevin Spacey taucht noch einmal in sein altes, glamouröses Leben
ein. Es ist ein bitterkalter Abend in Turin, in einem Fünf-Sterne-
Hotel haben sich dreißig seiner Freunde versammelt, um mit ihm
zur Verleihung des Stella della Mole Award zu fahren, den er für
sein Lebenswerk erhalten soll. Das Filmmuseum von Turin vergibt
den Preis einmal im Jahr, auch Isabella Rossellini, Monica Bellucci
und Malcolm McDowell haben ihn erhalten. Die Frauen hier tra-
gen Cocktailkleider und Schuhe mit hohen Absätzen, die Männer

schwarze Anzüge, manche mit bunten Schals. Viele Gäste sind aus
dem Ausland eingeflogen, darunter ein kroatischer Regisseur, ein
estnisches Model und ein Brite, der eine alternative Web­site für
Nachrichten aus dem Showbusiness betreibt.
Es ist Spaceys erster öffentlicher Auftritt seit seinem großen Skan-
dal. Drei Monate zuvor wurde er in New York freigesprochen, nun
scheint er bereit für eine Rückkehr ins Rampenlicht.
»Da kommt er!«, ruft Evan Lowenstein, sein Manager und bester
Freund. Für einen Moment scheint sich die lärmende Hotelbar in
ein dunkles Theater zu verwandeln, dessen Scheinwerfer sich nun
auf den Mann richten, der von links auf die Bühne tritt: Kevin
Spacey. Schwarzer Tuxedo, rote Fliege, schwarze Brille. Er sieht aus
wie der amerikanische Präsident, den er in H ­ ouse of Cards gespielt
hat. Er breitet seine Arme aus, umarmt Lowenstein, dann eine
Person nach der anderen. Keine Gruppe, die er nicht mit einer
Anekdote zum Lachen bringt. Kein Gespräch, bei dem er seinem
Gegenüber nicht tief in die Augen sieht. Auch mir schüttelt er
die Hand, wobei er sie mit beiden Händen umfasst, seinen Ober-
körper nach vorn beugt und mit tiefer Stimme sagt: »Ich weiß zu
schätzen, dass Sie heute gekommen sind.«
Es wird offenbleiben, warum Spacey nach den Jahren des Schwei-
gens ausgerechnet jetzt mit mir spricht. Wahrscheinlich ist dieses
Porträt Teil seines Versuches, ein Come­back vorzubereiten. Viel-
leicht hofft er, dass ein europäisches Medium wie das ZEITmaga-
zin weniger scharf über ihn berichtet, als es ein amerikanisches
Me­dium tun würde. Oder es ist Zufall, die richtige Mail am rich-
tigen Tag, wer weiß.
Als wir uns an diesem Abend kennenlernen, frage ich mich, von
welcher Seite er sich zeigen wird. Wird mir der Schauspieler eine
Rolle vorspielen?
Als Spacey eine halbe Stunde später durch die gläserne Drehtür
seines Hotels nach draußen tritt, wird er von zwei Dutzend Fans
empfangen, die ihre Handys in die Luft halten, während sie »Kevin,
wir lieben dich!« rufen. Ein paar Minuten lässt er sich fotografie-
ren, bevor ihn Lowenstein in einen der fünf schwarzen Vans bug-
siert, die vor dem Hotel auf seine Entourage warten. Er lässt sich
zwischen Lowensteins Frau Lucie und dessen 17-jährigem Sohn
­Kole in den Sitz fallen und atmet tief aus. Sie sind seit vorgestern
hier, jeden Tag warten mehr Fans auf ihn. »Manche finden sogar
heraus, in welchem Hotel ich übernachte, buchen dort ein Zimmer
und warten den ganzen Tag in der Lobby, um mich zu sehen«, sagt
Spacey zu ­Kole. »Ganz süß, finde ich.«
Der Wagen gleitet durch die blauschwarze Dunkelheit des Abends,
vorbei an den prächtigen Kolonnaden mit ihren römischen Säu-
len und alten Straßenlaternen. Vor anderthalb Jahren war Spacey
schon einmal in Turin, um eine kleine Rolle in einem Film des ita-
lienischen Regisseurs Franco Nero zu spielen, The Man Who Drew
God. Es war seine erste Rolle nach dem Skandal. Bei der Premiere
lernte Spacey einen Mitarbeiter des Filmmuseums kennen, Marco
Fallanca, der ein Bewunderer ist. Der schlug seinen Kollegen vor,
Spacey zu einem Gespräch nach Turin einzuladen und ihm den
Stella della Mole Award zu verleihen. »In Italien haben wir nie
aufgehört, ihn zu unterstützen«, sagt Fallanca. »Wir hatten Cara­
vaggio und Leonardo da Vinci. Wir wissen, dass man das Privat-
leben eines Künstlers von seinem Werk trennen muss.« (Von Cara-
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vaggio heißt es, er habe einen Mord begangen, von Leonardo da
Vinci, er habe erotische Beziehungen zu seinen Schülern gehabt.)
Die 170 Tickets für das Bühnengespräch waren in drei Minuten
ausverkauft. Auch die 500 Tickets für den Film American Beauty,
der anschließend im Kino des Museums gezeigt wird, waren sofort
weg. »Die Me­dien haben mich zu einem Monster gemacht, aber
von den Menschen erfahre ich nichts als Zuneigung«, wird Spacey
später zu mir sagen. Dem Museum dankt er öffentlich, dass es »die
Eier hatte«, ihn auszuzeichnen.
Er ist ein zweifacher Oscar-Preisträger, doch kein Hollywood-
Studio will mit ihm zusammenarbeiten. Er ist ein Angeklagter
der MeToo-Bewegung, doch vor Gericht wurde er bisher nicht
für schuldig befunden. Er ist ein Anti­held voller Talent und Ab-
grund, von den einen verehrt, von den anderen verdammt. Wäre
das hier ein Film, wäre Spacey selbst die beste Besetzung dafür:
als Mann, der sich als unschuldig ansieht, von der Welt aber aufs
Härteste bestraft wird.
Am nächsten Abend sind die meisten seiner Freunde bereits abge-
reist, zu acht betreten wir eine Pizzeria in der Nähe seines Hotels.
Er trägt einen dunkelblauen Pullover zu Jeans, Turnschuhen und
Baseball-Cap, ich nehme neben ihm Platz. Auf seinem Stuhl wendet
er sich mir zu und stellt beide Beine auf, so als wolle er sagen: Meine
gesamte Aufmerksamkeit gehört Ihnen. Als ich einen Witz mache,
wirft er seinen Kopf beim Lachen fast demonstrativ nach hinten.
Das Gespräch am Tisch streift das, was ihm passiert ist, doch es gibt
eine eigene Sprache dafür. Die Vorwürfe werden nur »die falschen
Anschuldigungen« genannt. Es ist von anderen Künstlern und von
Wissenschaftlern die Rede, die »auch gecancelt wurden«. Von dem
Unterschied zwischen den »Gerichten der Justiz«, vor denen sich
Spacey mit Beweisen verteidigen kann, und dem »Gericht der öf-
fentlichen Meinung«, vor dem jede Verteidigung zwecklos ist.
Unverfänglich reden er und ich über H ­ ouse of Cards, die große po-
litische Serie, die er auch mitproduziert hat. Bereitwillig erzählt er,
wie er sie mit dem Regisseur David Fincher für Netflix entwickelte,
damals noch eine Firma, die auf den Verleih von DVDs per Post
spezialisiert war. Um die Figur des machthungrigen Demokraten
Frank Underwood auszuarbeiten, überredete Spacey den damaligen
Geschäftsführer der Republikaner, Mitch McConnell, zu einem
Treffen. Irgendwann landen wir bei Bill Clinton, den Spacey seit
Langem kennt und einen Freund nennt.
Einmal, so Spacey, habe ihn Clinton nach der Telefonnummer sei-
ner Mutter gefragt, weil er in ihrem Heimatort einen Termin hatte
und mit ihr mittagessen gehen wollte. Spacey imitiert die nusche-
lige Stimme des Präsidenten und spielt das Telefongespräch zwi-
schen ihnen nach:
»Clinton rief mich an und sagte: ›Ihre Mutter hat direkt aufgelegt!‹
›Aufgelegt? Mister President, was haben Sie ihr denn gesagt?‹
›Nichts. Ich habe nur gefragt, ob Frau Spacey am Apparat ist.‹
›Sie heißt nicht Spacey, mein Nachname ist Fowler. Sie müssen sie
noch mal anrufen!‹«
»Was hat Ihnen der Abend gestern bedeutet?«, frage ich irgendwann.
Foto Dan Wilton
Er hält inne, sein Blick wandert nach unten.
»Meine Gefühle sind kompliziert.«
»Warum kompliziert?«
Er überlegt.

Der Regisseur Gene Fallaize hat
immer davon geträumt, mit Spacey
zusammen­zuarbeiten. Er schickte
seinem Manager ein Drehbuch, er habe
es »für Kevin« geschrieben. Wenige
Wochen später, nach dem Freispruch
in New York, willigte Spacey ein
21
»Weil ich Angst habe, dass ich nie wieder arbeiten kann. Dass es
immer so bleibt.«
Ich denke daran, wie er gestern im schwarzen Tuxedo auf dem Po-
dium saß und so glücklich wirkte, das Publikum zu unterhalten.
»Als ich Sie gestern Abend auf der Bühne gesehen habe, wirkten Sie
wie ein Fisch im Wasser auf mich. Wie ist es, kein Wasser zu haben?«
Spacey hebt den Blick und richtet sich auf. Seine Stimme ist mit
einem Mal schroff und scharf.
»Ich bin kein Fisch auf dem Trockenen!«, donnert er. »Ich arbeite
jeden Tag kreativ, und es gibt noch viele Dinge, die ich vorhabe.
Das Wasser ist vielleicht flach«, sein Lachen klingt bitter, »aber es
ist immer noch ein Teich!«
Er wendet erst den Kopf ab, dann seinen Körper. Gerade und ab-
weisend sitzt er da. Im Laufe des Abends versuche ich mehrmals,
wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen, doch der ­Charme ist aus,
die Verbindung gekappt.
​​Als wir uns vor dem Hotel verabschieden, sage ich ihm, dass ich
ihn gerne noch einmal für ein Interview treffen würde. Er zuckt mit
den Schultern und sagt ­»Sure«, aber für mich klingt es so wie »Fuck
off«. Dann klemmt er sich den weißen Karton mit den Überbleib-
seln seiner Pizza unter den Arm und verschwindet in der Drehtür.
V. Let me be Frank
In Baltimore vier Monate später öffnet Spacey das Tor einer Sied-
lung im venezianischen Stil und läuft an Häuserreihen mit ro-
ten Backsteinen, weißen Fenstervorsprüngen und Balkonen aus
schwarzen, geschwungenen Gittern vorbei. Sie wurde wie eine
Landzunge in den Patapsco-Fluss gebaut, sein Haus liegt ganz am
Ende. Es ist fast Mittag, er will seine Hündin nach Hause bringen.
Das Wohnzimmer strahlt eine aufgeräumte Gemütlichkeit aus:
Holzboden, beige­far­be­ne Sessel, in einer Ecke ein schwarzes Kla-
vier, in der anderen ein Schaukelstuhl. Auf einem kleinen Gestell
stehen eine vergilbte dreiteilige Sammlung von Shakespeares Wer-
ken, Das Sein und das Nichts von Jean-Paul Sartre und das Kinder-
buch Grumpy Monkey. Die Wände sind mit Schwarz-Weiß-Fotos
von Judy Garland und John F. Kennedy dekoriert, im Flur hängen
alte Filmposter mit dem Schauspieler Jack L ­ emmon, seinem Men-
tor und Ersatzvater. Keines der Bilder zeigt Spacey oder einen Film
von ihm. Auch seine zwei Oscars sind nirgendwo zu sehen. »Ich
habe sie weggepackt«, sagt er. »Ich muss sie nicht anschauen.«
Auf der Kommode im Flur hingegen liegen zwei Schirmmützen
wie hergerichtet für die Reporterin. »Rebel« steht auf der einen,
»Out of office«, also »Nicht im Dienst«, auf der anderen.
Wahrscheinlich gibt es im Leben jedes Gefallenen eine Person, die
ihm dabei hilft, sich wieder aufzurichten. In Spaceys Fall war das
Evan Lowenstein, sein Manager. Der stammt aus einer jüdischen
Familie, gründete mit 20 mit seinem Zwillingsbruder eine Pop-
band und ging mit 37 durch eine tiefe Krise, nach der er sich von
seiner ersten Frau trennte und seine Religion aufgab. Seine Ret-
tung fand er in der ehrenamtlichen Arbeit mit Männern, die aus
dem Gefängnis entlassen worden waren. Mit Spacey war er seit 13
Jahren befreundet, die beiden sprachen offen über ihre Ängste.
Im Januar 2016 begann Lowenstein, Spacey zu managen. Im Ok-
tober 2017 gingen sie zusammen durch die »Tage, an denen die
Kacke am Dampfen war«.

Nachdem Spacey seine Therapie in Arizona im Dezember 2017
beendet hatte, begannen sie das, was sie »die Arbeit« nennen.
Ein-,­zweimal die Woche setzten sie sich zusammen, um eine
»Charakteranalyse« zu machen. Sie taten, als ­seien sie Wissen-
schaftler, die einen anderen Menschen untersuchten: Hatte er
eine Tendenz zur Angeberei? Wollte er im Zentrum der Auf-
merksamkeit stehen? Von allen geliebt werden? »Kevin hatte so
lange­andere Leute gespielt«, sagt Lowenstein, »er musste erst mal
­herausfinden, wer er selbst wirklich ist.«
Jedes Mal redeten sie darüber, ob sie etwas getan hatten, auf das sie
stolz waren. Und was sie hätten besser machen können. Sie spra-
chen über kleine Sachen wie: Ich habe mit jemandem telefoniert
und eine Minute zu früh aufgelegt.
Je länger sich Spacey zurückzog, desto mehr litt er daran, nicht
zu arbeiten. »Er hatte keine Rollenangebote, ist aber fast geplatzt,
weil er wieder spielen wollte«, erzählt Lowenstein. Um Spacey zu
helfen, schlug er ihm etwas vor: Warum drehten sie nicht selbst
ein Video? Er schrieb Spacey ein Skript, in dem er versteckte Bot-
schaften an seine Fans unterbrachte. »Er wollte sich äußern, ohne
dass es vor Gericht gegen ihn verwendet werden könnte«, erklärt
Lowenstein. Sie drehten das Video in Spaceys Küche und posteten
es an Weihnachten 2018 auf YouTube, es heißt Let me be Frank,
wörtlich übersetzt: »Lasst mich offen sein.«
Spacey trägt darin eine Küchenschürze mit Weihnachtsmännern,
spricht aber mit der Stimme von Frank Underwood, dem Prä-
sidenten aus ­House of Cards. »Wir sind noch nicht fertig, egal,
was irgendjemand behauptet«, sagt er. »Ich weiß, was ihr wollt: Ihr
wollt mich zurück!«
In den Medien wurde das Video – so wie die zwei Videos, die er
in den darauffolgenden Jahren veröffentlichte – als »bizarr« und
»verstörend« abgetan. Lowenstein aber berichtet, dass sie danach
mit E-Mails überflutet worden ­seien. Er will diese Mails nicht
­herausgeben, erzählt aber, Spaceys Fans hätten geschrieben, dass
sie das Verhalten von Netflix unfair fanden; dass Spacey stark blei-
ben und kämpfen solle. Bis heute wurde Let me be Frank auf You­
Tube 13 Millionen Mal angesehen.
Im Juli 2019 beschlossen Spacey und Lowenstein, eine Reise um
die Welt zu machen. Morgens überlegten sie, wohin sie an die-
sem Tag fliegen könnten, checkten das Wetter, buchten die Flüge,
vielleicht ein paar Nächte in einem Hotel. Drei Monate waren sie
mit Unterbrechungen unterwegs. Sie sahen Wien, Prag, Lissabon,
Marrakesch. Überall trafen sie Fans. Für den Umgang mit Fremden
stellte Lowenstein eine Regel auf: Ein Lächeln, ein Hand­shake, ein
Foto, mehr nicht. »Wenn Kevin einem Kellner in einem Restaurant
etwas zu lang hinterhergesehen hat, habe ich ihn danach ermahnt
wie eine nörgelnde Ehefrau«, erzählt Lowenstein. (In den Boule-
vardmedien gab es Gerüchte, dass die beiden ein Paar ­seien. Beide
betonen, dass sie immer nur Freunde waren.)
Die Reise endete mit einer Station in Tel Aviv, auch Lowensteins
Frau Lucie begleitete sie dorthin. Als Erinnerung schenkte Lowen-
stein Spacey später einen schmalen silbernen Ring von dort. »Auch
das wird vorübergehen«, steht darauf auf Hebräisch. Spacey trägt
ihn an seinem linken Mittelfinger.
Spacey sagt, er sei jetzt authentischer und freier als vor seinem Skan-
dal. Er breitet die Arme aus, als wolle er sein Schicksal ­umarmen.
Sein Ruf sei ohnehin ruiniert, sagt Spacey. Aber wenn er freigesprochen werde, dann werde er wieder Rollen bekommen
23
»Alles, was passiert, hat seinen Grund. Und auch wenn man ihn
nicht sofort versteht, wird das alles irgendwann Sinn ergeben.«
VI. Die Wette
Anfang Januar besuche ich das Set von einem Spielfilm, in dem
Spacey mitwirkt. Gedreht wird in einem Studio in Südlondon, in
einem Raum von zehn Quadratmetern mit grünen Wänden. In der
Mitte steht ein blauer Tesla, in dem eine Frau in einem schwarz-
weißen Kleid sitzt. Der Großteil der Handlung spielt sich in die-
sem Auto ab, denn die Produktion darf nur 30.000 Pfund (das
entspricht gut 34.000 Euro) kosten, vergleichbar mit dem Budget
von Werbespots oder Kurzfilmen. Um das Auto herum stehen ein
Dutzend Mitglieder der Filmcrew, eingemummt in dicke Mäntel.
Die Heizung ist ausgefallen, und draußen sind es acht Grad.
»Cut!«, ruft der Regisseur, wendet sich vom Monitor der Kamera
ab und lehnt sich in seinen schwarzen Klappstuhl zurück. G ­ ene
Fallaize ist 38 Jahre alt, besitzt aber noch immer die nerdige Aus-
strahlung eines Comicfans: ein weiches, langes Gesicht, eine große
schwarze Brille. Auf seine Weste sind bunte Kinotickets gedruckt,
an seinen Handgelenken hängen geknüpfte Bänder. Um ihn herum
beginnen die Menschen zu reden und zu lachen, eine Stimmung
wie in einer Studenten-WG. Abgesehen von der Praktikantin, die
eine gewisse Irritation zu erkennen gibt (»Wenn Spacey am Set
wäre, würde ich schon schauen, wie er sich so verhält«), fühlen sich
alle ziemlich geehrt, bei einem Projekt mit »Kev« dabei zu sein.
Obwohl Spacey in dem Film nicht zu sehen ist, steht sein Name
als einziger oben auf dem Filmplakat. Er spielt den Mann, der das
Auto per Fernsteuerung entführt hat und die Hauptdarstellerin
am Telefon erpresst, denn sie hat eine Affäre mit dem britischen
Premierminister, einem verheirateten Familienvater. Es ist also eine
Stimmrolle in einem nicht sehr komplexen Film. Hier bei den
Dreharbeiten werden die Passagen von einem Darsteller gespro-
chen, der den Job bekommen hat, weil er mit dem Regisseur zur
Schule gegangen ist. Sonst arbeitet er als Fensterputzer.
Fallaize ist mit Spaceys Filmen aufgewachsen, er hat immer da-
von geträumt, einmal mit ihm zusammenzuarbeiten. Lange schien
dieser Traum so utopisch wie eine Raumfahrt zum Mond, sein
erfolgreichstes Werk bisher war der Fan-Film Superman Requiem,
der zwar nur auf You­Tube lief, dort aber dank der Unterstützung
von Warner Bros. 57 Millionen Views erreicht hat. Dann witterte
Fallaize in Spaceys Krise eine C ­ hance: Vielleicht würde der sich
jetzt, wo er keine großen Filme mehr drehen konnte, auf eine Low-
Budget-Produktion einlassen? Er schickte Spaceys Manager eine
Idee für eine Rolle, doch der lehnte ab. Mehrere Monate später
nahm Fallaize einen neuen Anlauf: Wie wäre es, dachte er sich,
wenn er einen Film schreiben würde, in dem der Hauptdarsteller
gar nicht zu sehen wäre? Im September schickte er Spaceys Mana-
ger das Drehbuch für Control und fügte hinzu: »den Film habe ich
für Kevin geschrieben«. Wenige Wochen später, nach seinem Frei-
spruch in New York, willigte Spacey tatsächlich ein.
Fallaize hofft nun, dass Spacey auch in London freigesprochen
wird. Denn welcher wäre dann der erste Spacey-Film auf dem
Markt? Genau, Control!
Für große Filmstudios, sagt Fallaize, ist es nicht möglich, diese Art
von Wette einzugehen, für sie steht zu viel Geld und Ansehen auf
 dem Spiel. Ein Low-Budget-Filmemacher wie er aber hat nichts
zu verlieren. Die ersten überwältigenden Reaktionen nach der
Bekanntgabe bestätigten ihn. Der Hollywood Reporter und Variety
haben über seinen Film berichtet, mexikanische Zeitungen, das ja-
panische Fernsehen. »Was mich wirklich überrascht hat, war, dass
die Reaktionen aus der Filmbranche fast alle positiv sind«, berichtet
er. »Viele haben nur darauf gewartet, dass jemand diesen Schritt
geht und Kevin eine ­Chance gibt.« (Einen Gesprächspartner konn-
te Fallaize dem ZEITmagazin nicht vermitteln.)
Und was, wenn Spacey schuldig gesprochen wird?
»Die brutale Wahrheit ist, dass sich der Film selbst dann verkaufen
würde«, glaubt Fallaize. »Seine Fangemeinde ist wahnsinnig loyal,
sie werden seine Filme weiter gucken. So wie viele Leute die Musik
von Michael Jackson weiter hören.«
Später erzählt Fallaize, dass er als Junge sexuell missbraucht worden
sei. Er habe den Täter angezeigt, doch der sei aus Mangel an Bewei­
sen freigesprochen worden. Seine eigenen Erfahrungen scheint er
von Spaceys Fall klar zu trennen. »Ich finde es falsch, jemanden
abzu­schießen, nur weil es Vorwürfe gegen ihn gibt«, betont er.
In einer Drehpause läuft Fallaize zu einem zweiten Auto, das hin-
ter der Bühne geparkt ist, verbindet sein Handy mit dem Radio
und drückt einen Knopf. Spaceys Stimme ertönt, scharf und ver-
ächtlich mimt er den Entführer: »Ganz genau! Zurück zum In-
nenminister, den wir jeden Tag im Fernsehen sehen!« Obwohl die
Sätze an sich nicht besonders stark sind, hat man das Gefühl, als
modelliere Spacey mit den Höhen und Tiefen in seinem Ton einen
Charakter daraus. Fallaize lacht triumphierend. »So kommt man
in Stimmung, oder?!« Die Hauptdarstellerin, der Produzent und
zwei Schauspieler bilden einen Kreis um ihn.
»Oh mein Gott, das ist genial!«
»Dieser Akzent! Das würde ich einfach nie so hinkriegen!«
»Er hat so einen gruseligen Spaß an der Rolle, oder?!« Dem Prozess in London sieht er
Viele Schauspieler, sagt Fallaize, kämen bei Stimmrollen einfach
ins Studio und läsen das Skript ab. »Aber Kevin hatte sich meh-
rere Tage darauf vorbereitet und sich viele Gedanken zu der Figur
­gemacht. Wir haben es dreimal aufgenommen, und jedes Mal hat mit der Angriffslust eines Boxers
er es ganz anders gesprochen.«
Spacey selbst gibt zu, dass er ein Drehbuch wie Control früher
wahrscheinlich nicht einmal gelesen hätte. »Jetzt fühle ich mich
oft wie am Anfang meiner Karriere, als mich niemand wollte«, entgegen, der bereit ist für die
sagt er. Neben Control und dem italienischen Film The Man Who
Drew God hat er noch in O ­ nce ­Upon a T­ ime in Croatia mitgespielt,
­einem Dokumentarfilm über den früheren kroatischen Präsidenten
Franjo­Tuđman, der wegen seiner nationalistischen Politik umstrit-
entscheidende Runde. »In dem
ten ist. Ein amerikanischer Thriller, ­Peter ­Five Eight, soll laut Inter-
net ­Movie Data­base im Oktober in Russland anlaufen.
»Nur weil ich für eine Weile auf die Ersatzbank geschickt wurde, Moment, in dem diese Dinge genau
heißt das nicht, dass ich aufhöre zu arbeiten«, sagt Spacey. Schau-
spielerei sei ein Handwerk. »Ich will nicht einrosten. Ich bin bereit.«

VII. Die letzte Runde untersucht werden, fallen sie

Am späten Abend will mir Spacey den besten Jazzclub von Balti­
more zeigen. Das Key­stone Korner wurde ursprünglich vor 50
Jahren in San Francisco eröffnet und ist eine Legende, sogar ­Miles
­Davis ist dort aufgetreten. Wir erreichen ein Backsteingebäude mit in sich zusammen«, behauptet er
 THE WOW

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schwarzen Markisen, vor dem Eingang steht eine lange Schlange.

EVENT
Spacey marschiert direkt an ihr vorbei, stößt die Tür auf und ruft
dem jungen Mann an der Kasse entgegen: »Wo ist Todd?«
Todd Barkan, so stellt sich heraus, ist der 76-jährige Besitzer und ein
alter Freund Spaceys. Zusammen mit der Band sitzt er im Hinter-
zimmer und isst sein Dinner. Großes Hallo, die Jungs von der Band
grinsen geschmeichelt. Spacey, der auch singt, ist hier öfter zu Gast
und stand vor Kurzem mit zwei Sinatra-Liedern auf der Bühne.
An der Bar setzen wir uns auf zwei Hocker aus schwarzem Leder,
kurz darauf beginnt die Band zu spielen. Spacey wippt mit seinem
Körper im Takt, seine Finger trommeln auf dem Tresen. Gut gelaunt
erzählt er von den Büchern, die er zuletzt gelesen hat: eine Biografie
des amerikanischen Dichters Walt Whitman und die Memo­iren von
Will Smith und Andre Agassi, die beide berichten, wie unglücklich
sie in ihrem Leben waren. Auch Spacey hat begonnen zu schreiben:
Theaterstücke, Kurzfilme, Drehbücher.
Seine eigenen Erfahrungen als Beschuldigter will er jedoch auf kei-
nen Fall verarbeiten. »Ich habe kein Interesse, irgendetwas gerade-
zurücken«, sagt er mit dieser schroffen Stimme, die ich inzwischen
von ihm kenne. »Das ist keine Schlacht, für die es sich zu kämp-
fen lohnt.« Im Laufe des Tages ist er schon ein paarmal wütend
geworden, als ich ihm Fragen gestellt habe, die entfernt mit den
Anschuldigungen zu tun hatten.
Dem Prozess in London sieht er mit der Angriffslust eines Boxers
entgegen, der bereit ist für die entscheidende Runde im Ring. »In
dem Moment, in dem diese Dinge genau untersucht werden, fallen
sie in sich zusammen«, behauptet er. »So war es bei dem Anthony-
Rapp-Prozess, und so wird es auch bei diesem Prozess sein!«
Spacey sagt, es gehe ihm nicht darum, seinen Ruf wiederherzu-
stellen. Der, glaubt er, sei eh verloren, zumindest was sein ­Image
in den Me­dien betreffe. Ihm gehe es um die Regisseure und Film-
produzenten, die ihm gesagt hätten: Wir wollen ja mit dir zusam-
menarbeiten, aber wir können nicht. »Wir leben in einer Zeit, in
der viele Menschen fürchten, dass sie gecancelt werden, wenn sie
mich unterstützen.« Er beugt sich vor. »Aber sobald ich in London
freigesprochen werde, werden mir bestimmte Leute wieder Rollen
anbieten. Noch in derselben Minute!«
Okay, sage ich. Mal angenommen, er würde tatsächlich freigespro-
chen werden und neue Rollen bekommen. Wie würde sich der
neue Kevin Spacey vom alten, dem »Arschloch«, unterscheiden?
Sein Körper nimmt wieder Spannung an, seine Augen verengen
sich. Er brüllt mich über die Musik hinweg an: »Ich hoffe ja wohl,
verdammt noch mal, dass ich ein besserer Kevin Spacey sein werde.
Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie! Ich habe den ganzen Tag ver-
sucht, es Ihnen zu erklären, aber Sie hören ja nicht zu!«
Es geht eine Weile hin und her. Er wirkt verärgert, weil ich ihm
Fragen zu seinem Verhalten stelle, die er nicht beantworten kann
oder will. Ich bin unzufrieden, weil immer noch unklar ist, ob sich
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nur sein Leben verändert hat oder auch er.

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zen gestoßen ist. Die Musik verstummt, der Club leert sich.
»In zehn Jahren«, sagt Spacey, »wird all das hier nichts mehr be-
deuten. Man wird sich an meine Arbeit erinnern, nichts anderes.«
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Eine meiner Lieblingssommerblumen ist die
Jungfer im Grünen (Nigella damascena). Sie
sieht gut aus, wenn sie blüht, und nach der
Blüte entwickeln sich sehr schöne Samen-
kapseln mit vielen kleinen schwarzen, ra-
schelnden Samen. Wenn alles ausgereift ist,
öffnen sich die Kapseln, und die Samen säen
sich selbst aus. Jungfer im Grünen blüht in
den Farben Blau, Weiß oder Rosa und kann
ab März und auch noch später – also auch
jetzt noch – gesät werden. Sie ist insekten-
freundlich und wird von Nacktschnecken
nicht gefressen.
Die Jungfer im Grünen auf diesem Foto habe
ich im Garten von Inga Kerber in Leipzig
fotografiert. Inga Kerber ist Künstlerin, sie
malt pflanzliche Ornamente und weibliche
Körper auf Stoffe oder alte Papiere. Außer-
dem baut sie Schnittblumen an und beliefert
als »Bouquet Leipzig« Galerien, Restaurants
und andere besondere Orte. Sie ist Mitglied
der Slowflower-Bewegung, die sich für einen
pestizidfreien Pflanzenanbau einsetzt. Inga
Kerber sagt: »Ein Garten ist für mich wie
ein Lebenspartner und eine Horizonterwei-
terung: Ein Garten ist die Annäherung an
einen paradiesischen Zustand.«

Anne Schwalbe, 48, ist Fotografin. Sie lebt in Berlin und in Werben (Elbe) in der Altmark, wo sie ein Haus mit Garten hat.
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ser bekannt als Prinzenbad. 27 Grad, lange
Schlange an der Kasse, lange Schlange am Kiosk. Weil es in Berliner Bädern hin
und wieder Schlägereien gibt, wachen hier gefühlt mehr Security-Leute über die
Besucher als Bademeister. Aber heute gibt es keine Probleme, die Jungs sind
abgelenkt: Es ist der erste warme Tag im Freibad, seitdem hier das Oben-ohne-
Verbot für Frauen gefallen ist. Nun gilt gleiches Recht für alle. Und tatsächlich
nutzen einige Frauen die neue Freiheit, sogar auf der Sonnenterrasse vorm Kiosk.
Von ANNABEL WAHBA

Wichtigste Baderegel:
erst mal nass machen.

Messer oder

Schau mal, Glasflaschen dabei?

die da drüben. Die Leute stehen hier

Das darf man jetzt!

Stunden an, und wennse
dann vorne sind,
wissense nich, wasse wollen.

Mausi, komm,
Wo s

wir gehen mal in

die Sonne. Welches hat jetzt Am Ohr
in

den schlechten Ruf?

hast du noch
dd

Aufwärmen. Prinzenbad?
Sonnencreme.
en

Oder Sommerbad
hi
n

Neukölln?
er
Die Rutsche die Dusche
n? Ic
ist gesperrt. h ka Hey, Eren, wollen wir
nn
Wettschwimmen machen?
od e n i s t s o h
D er B Nee? Dann mach ich alleine.
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eiß
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Meine Mutter war Ich wa

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Und? Kalt?
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Leistungssportlerin rS n
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in der DDR. ren.
Todeskalt.
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Ich habe Schwimmen

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Foto Christina Kratsch / DAVIDS

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oldschool gelernt.
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Geh mir aus en T
ag hier. andere Becken.
Komm, der Sonne!
schmeiß ihn rein!
Elsa, du hast Jasmina, ich schlag dich!
Youssef, sag deiner eP
om
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bestellt.
He, Sie,
29

Wo sind mein
Eis

jetzt keine
Schwester mal was.

hast ein
ich warte
auch!
Windel an!

Du
Das soll jetzt keine
Entschuldigung sein,
aber ich habe Der ist schon hier
?
e ks
aufgewachsen.
gestern Yoga gemacht.
M Aber so – wie soll
ti-
K
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Do they do ich sagen – Du kannst

ut
Fahrenheit in Brasil? »afroid« erzogen. abheben, was

-M
No, Celsius. du willst –
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Zweimal

u so’n Öko
das Geld ist
immer alle.
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Pommes
Arsch
Sollen wir uns
da anstellen???? Schranke!

td
Wallah.

frisst

ills
Riesenschlange.

W
s!

Ma
Sie h
at Deine Füße Hose.
ma

sind echt
a! Mama
wa

die ekligsten. Erst hatte ich diesen

Ey, die Frau

s vo

Reizhusten.
Aber ich hab das

kommt einfach Gefühl, jetzt

n Pomm

kommt was raus.

n?
ohne Bikini-
!
se

Bruder,
a

Oberteil.
ites
a

bin ich jetzt

ch m

schachmatt?
Schau mal, die da ...
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Ach, jetzt ist sie

rf i
g

Chill, untergetaucht. ili?

da

achst d
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h, i, m u mal ein Ch
Wall a
h

chill,
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Dag
ör

chill,
t ,

chill!
d a n n wa

Das war so eine krasse

Kommt ma rein, Jungs.
Party. Danach lag ich drei
a ll Yallah! Is nich so kalt,
r

Wochen flach.
es vor i. is normal kalt. Ach, ihr
be
Niemand kann sich
gesundfeiern.
seid so feige Menschen!
FRIEDRICH
30

WIRD VOLLJÄHRIG

In unserer Kolumne »Wer bist du?« berichtete der Fotograf Florian Jaenicke
vom Leben mit seinem schwerstbehinderten Sohn Friedrich. Nun ist dieser
18 Jahre alt, das Sorgerecht der Eltern endet. Aber was, wenn sich ein Kind
nicht selbst versorgen kann?
 31

Das Ehepaar Jaenicke mit Friedrich und seinem Bruder im Park, die Familie lebt in Bayern
Von FLORIAN JAENICKE
Der Geburtstag fällt auf einen Werktag. Ein normaler Morgen,
der mit dem Gang zum Briefkasten beginnt. Darin findet sich ein
Brief von Markus Söder. Der Ministerpräsident gratuliert Fried-
rich in einem offiziellen Glückwunschschreiben zu seiner Voll-
jährigkeit. In dem Brief spricht er von Friedrichs Plänen, einer
eigenen Wohnung oder einem Studium, welches er vielleicht in
Erwägung zieht. Vor langer Zeit hofften wir auch, dass unser Sohn
diese Möglichkeiten haben würde. Bayern sei ein großartiges Land,
heißt es weiter, und der Landesvater wolle Friedrich bei seinem
Start ins Leben helfen, damit dieser gut gelinge. Das ist schön,
denn uns fällt einiges ein, was ihm helfen würde. Ein Platz in einer
Förderstätte, wo er tagsüber betreut wird, oder in einem Wohn-
heim zum Beispiel. Die Einrichtungen, die ich kontaktiert hatte,
haben keine Plätze, und so ist es gut möglich, dass wir unseren
Sohn im kommenden Jahr, wenn die Förderschulzeit zu Ende
geht, rund um die Uhr betreuen müssen.
Friedrich bekommt von alldem an seinem Ehrentag nichts mit,
aber ich denke, er ahnt, dass etwas anders ist als sonst: Wir we-
cken ihn mit Happy Birthday von Stevie Wonder, meine Frau hat
ihm seinen Lieblingskuchen gebacken, Luftballons schmücken das
Zimmer, die Kerzen bläst er mithilfe von einer Art Schalter, an den
ein Föhn angeschlossen ist, aus. Wir singen ihm ein Ständchen und
verdrücken heimlich eine Träne, denn er soll an seinem Ehrentag
nicht merken, dass wir auch ein wenig traurig sind.
Friedrich kam im März 2005 zur Welt, zwei Monate zu früh,
mit einem schweren Hirnschaden infolge von Sauerstoffmangel.
Wenige­Monate später entwickelte er epileptische Krämpfe, die zu
einem Stillstand der Entwicklung des Gehirns führten. Er ist geistig
auf dem Stand eines Säuglings, kann weder sprechen noch stehen
oder gehen. »Schwerbehinderten-Grad 100« steht in seinem Aus-
weis, sowie ein »G« für erheblich eingeschränkt in der Bewegungs-
fähigkeit, ein »aG« für außergewöhnlich gehbehindert und ein »H«
für hilflos, was bedeutet, dass er ohne Hilfe nicht überleben würde
und rund um die Uhr beaufsichtigt werden muss.
In diesen wenigen Sätzen ist im Grunde alles gesagt. Sie beschrei-
ben seinen Zustand vor seinem 18. Geburtstag und danach.
Der Staat sieht das anders, denn mit der Vollendung des 18. Le-
bensjahres wird jeder Staatsbürger als eigenverantwortlicher Bür-
ger betrachtet, auch Friedrich. Mit seinem Geburtstag endet das
Sorgerecht der Eltern. Sie dürfen ab dann keine Entscheidungen
mehr für das Kind treffen, keine Informationen bei Ärzten ein-
holen oder Anträge in seinem Namen stellen.
Achtzehn Jahre lang haben wir jeden Tag alles für Friedrich er-
ledigt, ihn gewaschen, angezogen, umgelagert, ihm zu essen ge-
geben, die Windeln gewechselt, die Zähne geputzt und ihn ins
Bett gebracht. Den Gedanken, dass unser Sohn zwar älter, aber
nicht selbstständiger wird, haben wir dabei verdrängt. Und den
Gedanken, dass wir im Lauf dieser Jahre niemals, so wie die meis-
ten Eltern, freier werden. Vielleicht mussten wir das tun, um den
Alltag zu bewältigen. Andererseits war uns schon früh klar, dass
wir ihn irgendwann in fremde Hände geben müssen würden. Eine
Vorstellung, die uns ängstigt.
Schon letztes Jahr haben wir uns erkundigt, was auf uns zukom-
men wird. Daraufhin schickte man uns einen Ordner mit 65 Sei-
ten. Ich schaffte es nur bis Seite 38. Immerhin hatte ich danach
Fotos TANJA KERNWEISS
eine Ahnung davon, was zu tun sei: Es muss eine
Betreuungsvollmacht beantragt werden sowie die
Verschiebung des Übergangs von der Kinder- in
die Erwachsenenmedizin, die Fortzahlung des
Kindergeldes und die Grundsicherung für Fried-
rich. Wir müssen uns Gedanken über die Zeit
nach der Förderschule machen, wo er derzeit sie-
ben Stunden am Tag verbringt, und ein Behin-
dertentestament aufsetzen, das Friedrichs Erbe
nach unserem Tod regelt.
Als Erstes mache ich mich an die Anträge, um
den Wechsel von der Kinder- in die Erwachsenen­
medizin zeitlich zu verschieben. In der Erwach-
senenmedizin sind viele Praxen nicht rollstuhlge-
recht. Der Umgang mit Patienten, die nicht in der
Lage sind zu sprechen, kostet Zeit, die nicht vergü-
tet wird, weshalb man oft abgewimmelt wird, wie
wir von anderen betroffenen Eltern wissen. Fried-
rich ist zudem, wie viele von Geburt an Schwer-
behinderte, viel kleiner als normale ­18-Jährige –
Erwachsenenmedizinern fehlt die Erfahrung im
Wir haben Angst, dass Friedrich
schlecht behandelt wird und
wir ihn nicht beschützen können,
wenn wir ihn weggeben
Umgang mit Menschen mit komplexen Behin-
derungen. Da eine Behandlung zudem noch nicht
abgeschlossen ist, gewährt die Krankenkasse zum
Glück einen Aufschub – er darf noch eine Zeit
lang in der Kindermedizin bleiben.
Am schwierigsten wird es, so scheint es, eine Be-
treuung für die Zeit nach der Förderschule für
ihn zu finden. Wir sind hin- und hergerissen:
zwischen der Angst, dass Friedrich schlecht be-
handelt wird und wir ihn nicht beschützen kön-
nen, wenn wir ihn ganz weggeben – und anderer-
seits der Einsicht, dass unsere Kräfte endlich sind
und wir ihm weniger Aufmerksamkeit und Kraft
geben können, als professionelle Pfleger und Pfle-
gerinnen das hoffentlich tun würden.
Wir rufen Einrichtungen in einem Radius von
etwa 100 Kilometern an, weil wir ein Gefühl da-
für bekommen möchten, wie es sein könnte, wenn
unser Sohn eines Tages nicht mehr bei uns lebt.
Am Telefon erhalte ich überall die gleiche Ant-
wort: keine Plätze, lange Wartelisten und Personal­
mangel. Ein unverbindlicher Besuch ist nicht
möglich. In einer Beratungsstelle sagt man mir,
dass ­Familien aus ganz Deutschland offenbar bereit sind, ihre Kinder
Hunderte Kilometer entfernt unterzubringen oder den Wohnort zu
wechseln. Erst das sechste Haus empfängt uns. Weit weg vom Zen-
trum der kleinen Gemeinde hat man mehrere soziale Einrichtungen
errichtet. Auch hier gibt es keine Plätze, aber immerhin ist ein Er-
weiterungsbau in Planung. Angeschlossen ist eine Förderstätte.
Die Heimleiterin führt uns durch helle Räume, jedes Zimmer hat
eine Terrasse. Hier leben sowohl Menschen mit geistiger Beein-
trächtigung als auch Menschen mit Mehrfachbehinderungen,
so wie Friedrich sie hat. Einige grüßen freundlich, andere neh-
men uns kaum wahr. Manchmal, erzählt die Leiterin, sieht man
im Garten Rehe vom nahe gelegenen Wald hereinkommen. Die
Pflege­stationen sind so angeordnet, dass die Wege für das Personal
kurz sind, die Wände sind farbig gestrichen. Für uns ist die Ar-
chitektur wichtig, hauptsächlich wegen der Betreuer. Fühlen diese
sich in den Räumlichkeiten wohl, kümmern sie sich auch um un-
seren Sohn gut, so hoffen wir.
Die Kantine wird sowohl von den geistig Beeinträchtigten als auch
von den Mehrfachbehinderten genutzt. Aber nicht zur gleichen
Zeit, denn von den geistig Beeinträchtigten wollen manche nichts
mit den Mehrfachbehinderten zu tun haben. Es gab Übergriffe,
erzählt die Heimleiterin, sodass man die Essenszeiten getrennt hat.
Auf dem Weg nach Hause sind wir erleichtert. Auch wenn der Anbau
noch gar nicht steht, so hoffen wir doch, dass es irgendwann einen
Ort geben wird, der gut für Friedrich ist. Vielleicht in vier Jahren.
Unter der Woche wird Friedrich im Moment in einer Förderschul-
gruppe für Kinder und Jugendliche von liebevollen Menschen be-
treut, die mit ihm Logo-, Ergo- und Physiotherapie durchführen,
ihn pflegen, ihm Ansprache bieten, mit ihm Ausflüge machen und
ganz einfach Spaß haben. Jeden Abend erfahren wir davon mithilfe
eines Geräts, auf das die Betreuer sprechen. Er klopft mit seiner
Hand darauf, um es zu aktivieren, und freut sich, wenn er die Be-
treuer in seinem Namen von seinem Tag erzählen hört. sodass das Ergebnis der Besuche von vornherein
Bis zum 18. Geburtstag steht jedem Kind, mit oder ohne Behin- klar ist. Trotzdem müssen die Termine durch-
derung, das Recht auf Bildung zu. Danach endet es. Für Friedrich geführt werden und wir uns dafür jeweils einen
entfällt damit sein Recht auf Förderung. Nach Jahren, in denen Tag freinehmen. Der Psychiater sagt zu Friedrich:
wir uns mühsam eine Struktur aufgebaut haben, fangen wir also »Herr Jaenicke, heben Sie mal die rechte Hand.«
noch einmal von vorn an. Friedrich schaut an die Zimmerdecke und wirkt
Wenn Friedrichs Schulzeit im Sommer nächsten Jahres endet, müs- völlig unbeteiligt. »Und jetzt den linken Arm bit-
sen wir einen Platz in einer Förderstätte für Erwachsene finden. te.« Es hat etwas Tragikomisches. Dem Gutachter
Weil er nicht in der Lage ist, die einfachsten Tätigkeiten zu ver- ist es peinlich, aber er muss sich an die Regeln hal-
richten, sind Werkstätten keine Option. In letzter Zeit wache ich ten. Ein paar Wochen später erreicht uns der Be-
häufiger nachts auf und kann nicht mehr einschlafen. Wo gibt es schluss der Richterin. Darin steht, dass Friedrich
einen Ort, an dem er gefördert und nicht nur am Leben gehalten »bis an sein Lebens­ende auf Hilfe angewiesen sein
wird wie eine Zimmerpflanze? Müssen wir am Ende unsere Berufe wird«. Wir lächeln uns an und freuen uns darü-
aufgeben, um uns rund um die Uhr um ihn zu kümmern? Auch ber. Und finden es im nächsten Moment absurd,
plagt uns die Sorge, uns nicht ausreichend um Friedrichs Bruder, dass wir uns über so einen Satz freuen.
der jetzt 14 ist, zu kümmern. Sich Sorgen zu machen ändert nichts, Einige Zeit später werden wir ins Betreuungs­
also machen wir das, was wir schon immer gemacht haben: auf gericht München bestellt. Ein Gebäude im
Sicht fahren und Formulare ausfüllen. Viele Formulare. Schatten des wuchtigen Baus, in dem der NSU-
Allein für die Betreuungsvollmacht stehen, nach der Antragstellung, Prozess stattfand. Vom ersten Moment an fühlen
vier Termine an: Erst kommt jemand vom So­zial­amt vorbei, dann wir uns wie Verdächtige: Wir müssen uns einer
ein Psychiater, dann eine Richterin, eventuell noch ein Rechts­ Leibesvisitation unterziehen, anschließend nehmen
beistand, und schließlich wird man zum Betreuungsgericht zitiert. wir in einem kahlen Flur Platz, uniformierte Justiz­
Alle Beteiligten wissen vorab über Friedrichs Zustand Bescheid, beamte laufen an uns vorbei, aus einem Büro

Friedrichs Eltern wissen seit Langem, dass ihr Sohn bis an sein Lebensende auf Hilfe angewiesen sein wird
Ein tiefes Gefühl von Liebe – das gibt Florian Jaenicke die Kraft, immer weiterzumachen
 15.6.23  N0 26

dröhnt Musik von Jon Bon Jovi. Schließlich werden wir

ins Zimmer der Rechtspflegerin gebeten. Sie klärt uns über

NIE WIE IMMER

die Pflichten auf, die wir Friedrich gegenüber bis zu seinem
oder unserem Tod haben. Dazu überreicht sie uns einen
Packen kopierter Merkzettel. Demnach ist es unsere Pflicht,
in seinem Sinne zu handeln, seine Rechte einzufordern und
seinen Wünschen zu folgen.
Dass der Staat von uns verlangt, bis ans Ende unserer Tage
für unseren Sohn zu sorgen, es also amtlich ist, dass er
niemals selbstständig sein wird, hat etwas Bedrückendes.
Meiner Frau und mir wird die ehrenamtliche Betreuung
zugewiesen, wir erhalten jeweils etwas mehr als einen Euro
pro Tag als Aufwandsentschädigung.
Ich hatte mir vorgenommen, diesen Essay nicht zu einer
Auflistung von Problemen werden zu lassen. Jetzt weiß
ich nicht, ob mir das gelungen ist. Die meisten Menschen
schalten bei negativen Nachrichten irgendwann ab, schließ-
lich ahnt man, dass es mit einem Pflegefall in der Familie
nicht leicht ist. Mir selbst geht es ebenso: Mein Kontingent
an Empathie ist endlich. Man will auch niemandem auf die
Nerven gehen. Im Vergleich zu anderen Regionen dieser
Welt ist in Deutschland der Umgang mit Menschen mit
Behinderungen gut. Warum also klagen?
Vielleicht, weil ich nicht verstehe, warum Menschen wie
Friedrich aus einem funktionierenden System heraus-
gerissen und in eine ungewisse Zukunft entlassen werden.
Und weil es mich müde macht, all die unklar formulierten
Formulare auszufüllen, vor denen auch Antragsteller mit
hohen Bildungsabschlüssen kapitulieren. Oder Geschich-
ten zu hören von Familien, die sich von Sachbearbeitern in
den Ämtern wie Bittsteller behandeln lassen müssen. Was
das betrifft, haben wir Glück: Alle Beteiligten waren bisher
freundlich zu uns, aber wir hören immer wieder von ande-
ren, bei denen es schlechter läuft.
Eines Nachts, kurz nach seinem Geburtstag, höre ich ein
Wimmern aus Friedrichs Zimmer. Es klingt nicht so, als
ob er Schmerzen hat, aber sicher bin ich mir nicht. Also
stehe ich auf und gehe in sein Zimmer, um nach ihm zu
sehen. Ich streichele im Dunkeln vorsichtig seinen Kopf
und flüstere ihm ins Ohr, dass ich da bin. Im Halbdun-
kel erahne ich den Hauch eines Lächelns. Er dreht den
Kopf zu mir und schläft ein. Es ist, als ob er nur nicht
alleine sein wollte. In diesen Momenten umschließt mich SAISON 2023/24
ein tiefes Gefühl von Liebe. Dieses Gefühl ist es, was uns WWW.ELBPHILHARMONIE.DE
die Kraft gibt, weiterzumachen. Gleichzeitig zeigt es mir
schmerzlich, wie sehr er uns braucht.

ein Jahr lang veröffentlichte der Fotograf Florian

Jaenicke, 54, im ZEITmagazin seine Kolumne
»Wer bist du?« über seinen Sohn Friedrich, der seit
seiner Geburt 2005 mehrfach schwerstbehindert
©️ giraffentoast / breeder design

ist. Seither erzählt Jaenicke in unregelmäßigen

Abständen, wie es mit seinem Sohn weitergeht
 Ärgern Sie sich, dass Sie hier einen QR-Code finden statt 36

eines schön gestalteten Textes? Dann geht es Ihnen wie

unserem Autor, wenn er ein Restaurant besucht – und sich immer
öfter Speisekarten aufs Smartphone laden muss

DAS ENDE
DER
ESSKULTUR
 Von TILLMANN PRÜFER 37

Wenn Sie die Kamera Ihres Smartphones auf diesen QR-Code richten,
gelangen Sie zu dem Artikel
STIL Eng verknüpft: Häkelkleid von Max Mara

Von Tillmann Prüfer Foto Peter Langer

GUTE MASCHE OHNE STROM 39

in der Mode wird gerade ziemlich viel gehäkelt. Mirko

Wir sehen schwarze Kleider bei Max Mara, sil- Borsche,
bergraue bei Ralph Lauren. Isabel Marant hat
Creative
einen gehäkelten Einteiler im Angebot. Auch
der Balmain-Designer Olivier ­Rousteing schickt Director
Häkelware über den Laufsteg. Dabei galt Ge- des ZEIT­-
häkeltes lange Zeit eher als Hobby konservati- magazins,
ver Menschen: Häkeldecken waren bei Groß-
testet
müttern unter jedem Trockenblumengesteck zu
finden. Und ältere Generationen erinnern sich jede Woche
noch daran, wie man in der Schule Topflappen einen neuen
für den Muttertag gehäkelt hat. Häkeln war auch
Alltags­
deshalb Teil des Handarbeitsunterrichts, weil es
die wohl einfachste Art ist, aus einem Wollfaden gegenstand
ein Gewebe zu machen.
Eine frühe Mischform aus Häkeln und Weben FAHRRAD-
wurde bei Ausgrabungen in Ägypten gefunden.
TASCHEN VON
Es wird vermutet, dass Häkeln ursprünglich dazu
diente, Fangnetze für die Jagd herzustellen. Ge- FJÄLLRÄVEN/
häkelt wurde wohl lange auch schon in den ara- SPECIALIZED
bischen Ländern, in Südamerika und in China. Maße: ab
Die ersten ausgewiesenen Häkelmuster jedoch
wurden erst im 18. Jahrhundert in Europa ver- 9 x 23 x 10 cm;
öffentlicht. Hier wurde das Häkeln hauptsächlich Gewicht:
angewandt, um Spitze herzustellen. Es galt als ab 100 g;
Handwerk der einfachen Leute. Das änderte sich
Preis:
um 1840 mit den raffinierten Häkelanleitungen
der Französin Eléonore Riego de la Branchardière. ab 59,95 Euro
Sie trugen dazu bei, dass Häkeln eine Tätigkeit
für alle Bevölkerungsschichten wurde. In Eng-
land machte es Königin Victoria sogar zum Pro- münchen, wie schön du bist! Großstädtisch, zugleich idyllisch
paganda-Instrument. Sie forderte das Volk auf, und grün. Hin und wieder fahre ich gern mit dem Fahrrad am
für die britischen Soldaten im Burenkrieg Schals Flussufer entlang und bewundere das Türkis der Isar.
mit ihrem eigenen Wappen zu häkeln. Diesmal habe ich allerlei Dinge, die ich bei meinem Ausflug ge-
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert brauchen kann, in ein Ensemble kleiner Taschen gepackt, die an
entwickelte sich das Häkeln zum Instrument verschiedenen Teilen meines Rades befestigt sind. Die Taschen sind
der Frauenerziehung. Denn in der bürgerlichen eine Co-Produktion der schwedischen Outdoor-Firma Fjällräven
Gesellschaft gewann die Arbeitsteilung zwischen und der US-Fahrradmarke Specialized. Mit dieser Ausstattung fahre
Frau und Mann an Bedeutung: Im Zeitalter der ich nun also ein paar Kilometer, bis ich dem Lärm der Stadt ent-
Bauern und Handwerker waren die handwerk- komme. Erste Station: Ich bleibe stehen, um ein Selfie zu machen.
lichen Fähigkeiten noch ungefähr gleichmäßig Ich greife in ein Täschchen am Lenker und hole mein Handy he-
auf Männer und Frauen verteilt gewesen. In Fa- raus. Die Sonne knallt auf meine Stirn, also brauche ich vor dem
milienbetrieben mussten eben alle alles machen, Weiterfahren die Sonnencreme, auch die ist sofort griffbereit. Wei-
Männer also auch mit Nadel und Faden umge- ter geht es, ich schwinge mich aufs Rad und fahre durch Matsch.
Aufgezeichnet von CYNTHIA CORNELIUS  Foto Fjällräven

hen können. Je mehr Männer für die Arbeit in Kein Problem: Die Taschen sind wasserdicht oder zumindest wasser­
den Fabriken angeheuert wurden, desto stärker abweisend. Vor dem herumwirbelnden Dreck schützt mich eine be-
wurden Frauen auf das Häusliche reduziert und sondere Konstruktion hinten am Sattel, die zugleich Schutzblech
Handarbeiten als typisch weibliche Beschäftigung und eine Halterung für Wasserflaschen oder eine zusammengerollte
gedeutet. Dass Mädchen fortan Häkeln lernten, Picknickdecke ist. Im Radlerjargon heißt dieses Konstrukt Arsch-
hatte also vor allem damit zu tun, sie auf ihre rakete, weil es nach hinten herausragt wie ein Raketenantrieb.
Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten – nämlich Nächster Stopp: Ich habe einen Platten. Doch mir kann heute
keine bestimmende. Heute spielen Handarbeiten nichts die Stimmung verderben, das nötige Flickzeug habe ich in
bei der weiblichen Sozialisierung keine so große einem schmalen Rahmentäschchen sofort zur Hand. Schnell re-
Rolle mehr. Vielleicht wäre es nun an der Zeit, pariere ich den Schlauch und setze meine Fahrt fort. Bald halte ich
dass Männer das Häkeln neu entdecken. Echten Ausschau nach einem ruhigen Plätzchen, um Brotzeit zu machen.
Machos könnte man erzählen, dass das Häkeln An einer schönen Uferstelle breite ich meine Decke aus und nehme
eine Urzeit-Methode ist, eigenhändig ein Netz den Essenskorb vom Gepäckträger. Ich schaue auf das glitzernde
zum Fangen wilder Tiere zu knüpfen. Wasser. Nächste Station: Nickerchen in der Sonne.
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 LEXIKON DER LIEBE Wenn Sie uns etwas über die
Liebe erzählen wollen, schreiben
»Beide Male dachte ich: Das ist für immer« Sie uns an liebe@zeit.de

Thea, 59*: »Ich habe mich innerhalb von zwölf Jahren zwei-
mal unsterblich verliebt, bin zweimal zusammengezogen,
habe zweimal geheiratet und habe zweimal diese große
Liebe an den Tod verloren. Tragisch, aber wahr.
War es tatsächlich zweimal die große Liebe? Ja, das war es.
Denn diese Liebesgeschichten begannen erst in meiner
zweiten Lebenshälfte, dann, wenn wir klarer sehen, was
*Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt
kam er bei einem Autounfall ums Leben. Damals dachte ich:
Das war’s mit der Liebe. Aus und vorbei. Ich hielt es für aus-
geschlossen, mich noch einmal zu verlieben.
Doch es passierte. Gut 14 Monate später, an einem Som-
mertag am Ufer der Spree. Es war von Beginn an eine große,
eine starke Liebe. Das empfanden wir beide so. Ich hatte es
für unwahrscheinlich gehalten, dass man zweimal so innig

Liebe wirklich bedeutet, wenn wir nicht mehr so beschäftigt
sind mit der Karriere und der Zukunft und wenn wir nicht
mehr mit der Familienplanung hadern. Wenn wir wissen,
was wir wollen. Woran ich diese Liebe erkannte? Es fühlte
sich beide Male an wie ›endlich angekommen‹. Da waren
keine Fragen mehr, keine Zweifel. Da waren nur noch Ver-
trauen, Innigkeit und Glück.
Meinen ersten Ehemann lernte ich 2007 in Berlin kennen, da
war ich 43 Jahre alt. Siebeneinhalb Jahre nach unserem
Kennenlernen, sechseinhalb Jahre nach unserer Hochzeit
lieben kann und so tief zurückgeliebt wird. Es geht.
Beide Male dachte ich: Das ist für immer. Beide Male habe
ich mich geirrt – und auch nicht. Mein zweiter Mann starb fünf
Jahre nach unserem Kennenlernen, das ist dreieinhalb Jahre
her. Auch wenn meine geliebten Männer tot sind, trage ich für
immer ihre Liebe für mich und meine Liebe für sie in mir.
Jetzt bin ich allein, die Einsamkeit ist manchmal groß und
die Trauer übermächtig. Doch ich bin dankbar, dass ich das
erleben durfte. Es ist das größte Geschenk meines Lebens.«
Aufgezeichnet von Heike Faller

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Die schöne Art, 5

Italienisch zu lernen. 4

1
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Drei Übungen im Heft
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verschiedene und online
Sprachniveaus
Das Turnier »Geistesblitz und Taktikwitz« ist sicher kein all-
tägliches, sehr wohl aber inzwischen ein alljährliches Turnier.
Zum 13. Mal bereits spielen bei der Pfennigparade in Mün-
chen am 19. und 20. Juni fast hundert teils schwerbehinder-
te Menschen ge­gen­ein­an­der. Anfänger und Fortgeschrittene,
Jung und Alt, in Rollstühlen, an Beatmungsgeräten oder auch
»nur« mit Krücken. Rochaden auf dem Brett und Rochaden
beim Rundenwechsel an­ein­an­der vorbei zum neuen Gegner.
Eine Teilnehmerin bewegt ihre Figuren mithilfe eines Mund-
stabes, andere benötigen bei der Ausführung ihrer Züge Helfer
Erklärung der Münchener Schachstiftung. Fünf Stunden lang, ein Ma-
wichtiger
rathon bis an die Grenzen der Belastbarkeit auch für körperlich
Begriffe
Gesunde. Wie sagt es Werner Schwarz, einer der Besten und
selbst schwerbehindert im Rollstuhl: »Beim Schach können wir
Das Sprachlern- Nichtbehinderten Paroli bieten!« Ein treffendes Beispiel hierfür
magazin der ZEIT ist der polnische Fide-Meister Lukasz Nowak, dem aufgrund
einer schweren spinalen Muskelatrophie nur eine Lebenserwar-
tung von allenfalls vier Jahren prognostiziert wurde und der seit
Faszinierende Einblicke in seiner Geburt 1997 weder sitzen noch gar stehen kann. Doch
die italienische Kultur mit seinem riesigen Lebenswillen schloss er nicht nur die hö-
here Schule mit hervorragenden Noten ab, sondern spielt auch
Exklusive Reise-Tipps erfolgreich bei starken Turnieren mit. Wie konnte er beim Voi-
und kulinarische Highlights
voda Cup 2022 als Schwarzer am Zug gegen Michal Fiedorek
Spannende Artikel über trotz der ungleichen Läufer kombinatorisch schnell gewinnen?
Lebensart und Gesellschaft

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Sxg2+ 3.Kd2 Lxf3, und nach 4.Sg1 Se1! fühlte sich der Springer im
feindlichen Lager »pudelwohl«. Allerdings war auch sofort 1...Sxg2+ gut

adesso-online.de/
magazin Impressum EDITORIAL DIRECTOR  
Christoph Amend  CHEFREDAKTION
Christine Meffert, Annabel Wahba  
BILDCHEFIN  Milena Carstens  
Sascha ­Chaimowicz, Emilia BERATER (BILD)  Andreas Wellnitz  
+49 89 121 407 10* Smechowski  STELLVERTRETENDE STYLE DIRECTOR  Claire
CHEFREDAKTION  Anna Kemper, Beermann  REDAKTIONELLE
Tillmann Prüfer  CREATIVE DIRECTOR   KOORDINATION  Margit Stoffels  
*Bitte folgende Bestellnummer angeben: 1839587 Print / 1839595 Digital Mirko Borsche  ART DIRECTOR   REDAKTION  Amelie Apel,
Jasmin Müller-Stoy  TEXTCHEFINNEN   Anita Blasberg, Jörg Burger,
LEBENSGESCHICHTE SCRABBLE SPIELE

Ihre Kindheit war grau und karg. Zwei Zimmer, Küche, Kohleofen,
der Vater ein oft abwesender Womanizer, die Mutter müde und über-
fordert von Arbeit, Alltag und einer ständig kränkelnden Tochter.
Mit 14 Jahren, so hat sie erzählt, sei sie ziemlich absturzgefährdet ge-
wesen, rauchte heimlich, trank Alkohol, ließ sich treiben. Aber dann
trennten sich die Eltern, und sie kam zu engagierten Pflegeeltern, die
das Mädchen zum Abitur und bis ins Studium begleiteten. Warm-
herzig sei es in dem Pfarrhaus nie gewesen, dafür großbürgerlich, bil-
dungsbeflissen – und sie war intelligent genug, die Chance für sich zu
nutzen. Zumal sie längst entdeckt hatte, dass es jenseits der Realität
noch andere, spannende und zudem wunderschöne Welten zu ent-
decken gab: Von Kindheit an waren Geschichten und Gedichte ihre
Begleiter gewesen, verschlang sie ein Buch nach dem anderen – das
war, sagt sie im Rückblick, ihre Rettung, Inspiration und Berufung.
Obwohl sie selbst als Buchautorin relativ spät in Erscheinung trat,
war sie lange davor schon sehr bekannt geworden, auch dank einer
eher wenig zartbesaiteten Kunstfigur, der sie Stimme und Charakter
verlieh. Bis heute aber prägen die Literatur und ebenso die Musik ihr
Leben und wird sie nicht müde, dafür in diversen Medien zu werben.
Wobei sie mit Kritik nicht spart: »Wenn ich Intendantin wäre, würde
ich radikal die Kultur nach vorne ziehen und [...] den Trash nach
hinten verbannen. Nach Mitternacht, wenn alle schon besoffen sind,
Doppelter Wortwert
können sie von mir aus das Supermodel suchen.« Wer ist’s? Doppelter Buchstabenwert
Lösung aus Nr. 25: Charly (Carsten Johannes Marcus) Hübner, 1972 geboren in Dreifacher Wortwert
Neustrelitz und dort aufgewachsen, gilt als einer der beliebtesten Schauspieler. Dreifacher Buchstabenwert
Wie seine Frau Lina Beckmann gehört er zum Ensemble am Deutschen Schauspiel-
haus in Hamburg. Er spielte in vielen TV- und Kinofilmen, arbeitet auch als
Regisseur. Berühmt machte ihn seine Rolle als TV-Kommissar Sascha Bukow an
der Seite von Anneke Kim Sarnau im Rostocker »Polizeiruf 110« (2010 bis 2022)
Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 28. Auflage,
verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Die Regeln finden Sie im Internet
unter www.scrabble-info.de

SUDOKU Der deutsche Scrabble-Meister 2023 heißt Alexander Dings. Zwei

souveräne Siege im Endspiel gegen Ben Berger bescherten dem
Saarländer den zweiten Triumph nach 2021. Auf den dritten Platz
6 5 8 3 1 kam Timon Boerner, womit sich die Prognose des vor einer Woche
8 1 7 skizzierten Favoritenkreises erfüllte. In den kommenden Ausgaben
werde ich auf einige reizvolle im Rahmen dieser Veranstaltung zu-
7 4 tage getretene Konstellationen eingehen, was jedoch noch einiger
7 9 1 4 Aufarbeitung bedarf. Daher beginne ich heute mit einer Begegnung
Lösung aus Nr. 23 mit Eigenbeteiligung – einer wahren Sonntagspartie, die ich mit 623
1 4 2
5 7 4 6 8 9 2 3 1
Zählern abschloss. Mir gegenüber saß Günter Krämer, der zu jenem
5 4 3 8 6 8 9 1 2 3 5 7 4 Zeitpunkt Platz 16 belegte, während ich Rang 19 innehatte. Nach
2 1 3 4 7 5 9 8 6
einem katastrophalen Start (51. nach fünf Spielen) lief es für mich
3 9 1 4 5 2 3 8 6 9 7
7 3 8 9 5 6 4 1 2 deutlich besser – so auch in diesem Spiel. Mit den drei Bingos VER-
1 2 5 9 2 6 7
3
1 4
1
8
7
5
6
3
9
TÄUEN, DOCKTEN und DARUNTEN (nicht zulässig, jedoch
8 5 2 4
4 6 1 8 9 7 3 2 5 nicht angezweifelt) hatte ich mir 140 Punkte Vorsprung verschafft –
9 8 7 4 3 3 9 7 5 6 2 1 4 8
und konnte in dieser Situation einen dreistelligen Wert hinzufügen.
In jeder Zeile, jeder Spalte und jedem mit stärkeren Linien gekenn­zeichneten Lösung aus Nr. 25: REGSAME auf D6–D12 brachte dank des sich in Querrichtung
3 × 3-Kasten müssen alle Zah­­len von 1 bis 9 stehen. ergebenden ER insgesamt 76 Punkte. Auf 13H–13O ließ sich die Form
Nächste Woche an dieser Stelle: die Logelei und die Auflösung aus Nr. 25 REGSAMER platzieren, dieser Zug war jedoch um zwei Zähler niedriger dotiert

Johannes Dudziak, Alard von Kittlitz,  BILD­REDAKTION  Nora Hollstein   Frank Siemienski  DRUCK  Mohn Eingang ­Speersort 1, 20095 Hamburg;
Friederike Milbradt, Lena Niethammer, AUTOR(INNEN)  Heike Faller, Dmitrij Media Mohndruck GmbH  REPRO   Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11;
Khuê Pha.m, Ilka Piepgras, Kapitelman, Harald Martenstein, Jana Twentyfour Seven Creative Media E-Mail: DieZeit@zeit.de  ANSCHRIFT
Jürgen von Ruten­berg; Mitarbeit:  Simon, Matthias Stolz  KORREKTORAT   Services GmbH  ANZEIGEN­­ REDAKTION  ZEITmagazin,
Klaus Stock­hausen (Contributing Thomas Worthmann (verantw.)   PREISE  ZEITmagazin-­Preisliste Nr. 17 Schöneberger Str. 21 A, 10963 Berlin;
Fashion Director)  GESTALTUNG   DOKUMEN­TATION  ­Mirjam Zimmer vom 1. 1. 2023  ANSCHRIFT Tel.: 030/59 00 48-0, Fax:
Nina Bengtson, Mirko Merkel, (verantw.)  ­HERSTELLUNG  Torsten VERLAG  Zeitverlag Gerd Bucerius 030/59 00 00 39; E-Mail: zeitmagazin@
Gianna Pfeifer; Mitarbeit: Anna Berge   Bastian (verantw.), Oliver Nagel, GmbH & Co. KG, Bucerius­straße, zeit.de, www.zeitmagazin.de
UM DIE ECKE GEDACHT NR. 2698 SPIELE

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Schach HELMUT PFLEGER Lebensgeschichte FRAUKE DÖHRING Sudoku ZWEISTEIN Scrabble SEBASTIAN HERZOG Kreuzworträtsel ECKSTEIN

40 41 42

43 44

waagerecht 6 Metallwerkzeug in der Tom- ­entstehen 37 Dem ... folgt das Verzagen Anfang und Ende vom Gebrauchtbuchhöker
bolaartikelherstellung? Ein Kraftakt vorm auf dem Fuße (H. Heine) 40 Ihr Klappern 12 Out bei jenen, die auf Slimming-Trip
Adieu-Sagen! 10 Volksmunds Tipp: Wer gehört zum Nadel-und-Faden-Handwerk
­ sind 13 Ein Stück Afrika aus Portugals Fest-
lange will ein ... sein, der lebe knapp und 41 Rundum-Sonnenbräune-Sucher wär gern tagskalender 15 Gesellschaftlich ist kaum
rechne fein 14 Auf Kontinents Süd­ rand­ jegliche los 42 Der übliche Rahmen für Rit- etwas so erfolgreich wie Dummheit mit gu-
eiland erste Nordrandadresse 16 Führt den ters Tafelrunde 43 Sinnfrei herbeipalavert, ten ... (Vol­taire) 17 Gesetz-Geberin, Wun-
schönen Schein allerlei technischen Zwecken zweckfrei zurechtgestümpert 44 Mehr oder der-Täterin, Talent-Bereitstellerin 18 Als
zu 19 Edler als schmuck, seriöser als flott weniger ausgedehnte Wadenkräftespielereien Texas-­Saga einst mit Taylor, Hudson, Dean
20 Geht’s um so was, wird manch Samm- senkrecht 1 Die Belohnung erfolgreichen in Szene gesetzt 22 Von Carmen erfahren
ler zum Jäger 21 Ob, wer beim Plaudern Tuns ist, es ... zu haben (R. W. Emerson) wir’s: dass die Liebe einer sei 23 Denksports-
die Sonnenbrille aufbehält, mir damit sagen 2 Stapelbar? Für die 18 senkrecht sagenhaf- freunde 25 Wasser am Ort feuriger Vergan-
will: Du siehst ... aus! 22 Meist schließt er die ter Zeiten ja! 3 Sprichwörtlich: Das ... soll genheit 28 Nicht selten an Geräuschkulisse
Mahnung ein: ... dich mit allen Beteiligten! vom Morgen nichts borgen 4 Hippokrati- des Deichspaziergangs bäteiligt 31 Auf dass
24 Hat viel Vormühen zumeist, viel Nach- scher Imperativ? Sollen’s bringen! 5 Geht wie den Wind es fängt, wird ihr was angehängt
spiel glücklichenfalls 26 Die 25 senkrecht bestellt die Wände hoch oder macht was für 32 Als Destillat vieler Stoffe Konglomerat
mit gewisser Pablo-Zuneigung 27 In manch den kleinen bis größeren Rahmen 6 Passen- 34 Z. B. fürs 28 senkrecht erster Ort des
einem Schifffensterchen zu erkennen, die de Bewertung von Wisch- und Putztätigkeit? 33 waagerechts 36 Wer sich mit dem ...
Dame 29 Höchste Instanz in vergangenen Eher vom 43 waagerecht 7 Macht noch mal begnügt, den wird der Rose Dorn nicht
Weidwerktagen 30 Auf den Juni kommt so froh als Gegenpol zum leiblichen Wohl stechen (Sprichwort) 37 Der alte Kämpfer
es an, ob die ... soll bestahn (Bauernregel) 8 Im Einsatz für feinste Einblicke oder ferns- im Finanzjongleur 38 Kornfeld-Ausstattung
33 Sehr begehrt, als Wirtschafts-Gut, in te Ausblicke 9 Hatte Ahnung davon, was in womöglich am Sommerabend über blühen-
heißeren Phasen 35 Ein Grüppchen erst, Germanien Los war 10 Hineinschrift ver- dem Land 39 Lässt’s im Gemüt knirschen
dann ein Ruf beim Gehen – so kann so was stand sich nie als Reinschrift 11 Beschwingt: nach zu viel oder zu wenig Courage
Lösung von Nr. 2697: Waagerecht 6 PERGOLA 10 »SCHERBEN bringen Glück«, »vor einem Scherbenhaufen stehen« 14 »kurier(e)!« und ein KURIER 16 ENTHUSIASMUS
19 das GERANGEL und die »Ger-Angel« 20 Block-HAEUSER vs. Häuserblock 21 MINDEL 22 ZEMENT 23 BESUCH 25 LUZIFER 28 »auf PISTE gehen«, Start-, Skipiste 30 ägypt.
Gott SETH in Religion-seth-nologie 31 EIGENHEIME 34 BENE = gut (ital.) 35 DEGEN in Feh-degen-eration 36 TEILS in Vor-teils-annahme 38 la OLA = die Welle (span.) 39 »der
lange LABAN« (1. Mose, 30 ff.) und labern 41 NEGIEREN aus E-n-e-r-g-i-e-n 42 EGALITE = Gleichheit (franz.) 44 UNESCO 45 BERUHIGUNG – Senkrecht 1 VERGNUEGEN
2 MORAL-apostel, Doppelmoral 3 Ostseearm SCHLEI nach Haithabu und Danewerk 4 TRIEBE 5 KESS in Tee-kess-elchen 6 PUPILLEN (»Die Augen sind das Tor zur Seele«)
7 RIED 8 LENZEN in fau-lenzen 9 (Dorf-)ANGER und Oasis, »Don’t Look Back in Anger« 10 STEMPELN 11 Schlager »Ich wollt’, ich wär ein HUHN« 12 BAUE 13 DURCHGANG
durch Tür, als Halbzeit, Planetentransit 15 EREIGNIS 17 SATTEL 18 MEUTE in Meute-rei 24 Gerichts-, legislativer SENAT 26 ZIEGEL vs. Ried/Reet/Rohr als Dachdeckmaterial
27 FETE 29 SMOG 30 glück-, wein-SELIG 32 HIEB 33 ISERE in Alpenre-isere-portage 34 BALI, Indonesien 37 EROS Ramazzotti, »Un’emozione per sempre«, »Più bella cosa«,
»Cose della vita« 40 Carl BENZ 43 AHN
 Juli ist 9 Jahre alt.
Ihr Vater Tillmann
Prüfer schreibt hier im
wöchentlichen
Wechsel über sie und
seine anderen drei
Töchter im Alter von 23,
17 und 16 Jahren
»Davon geht der Stress weg«
Illustration ALINE ZALKO  Zu hören unter www.zeit.de/audio
PRÜFERS TÖCHTER
Wir müssen über Stress reden. In Julis Leben dreht sich viel
um Stress. Zum Beispiel liebt es Juli, Stressbälle zu basteln.
»Davon geht der Stress weg«, sagt sie. Man nimmt dafür
­einen Luftballon und füllt Sand hinein (oder bunte Gelee-
perlen, die sind gerade in Mode). Das Ergebnis ist eine
­Blase, die man sehr gut kneten kann. Juli hat auch noch
allerlei weiteres Stress-Spielzeug. Eine Weile lang war der
Fidget-Spinner bei ihr angesagt. Das ist eine Art Rotor,
den man um ein Kugellager in der Mitte surren lässt und
dann auf der Fingerkuppe balanciert. Juli hat auch einen
Fidget-­Cube, den hat sie für 20 Cent auf dem Flohmarkt
erstanden. Das ist ein Plastikwürfel, an dem man, ich kann
es ­leider nicht besser ausdrücken, irgendwie rumfummelt.
Man kann eine in den Plastikwürfel eingelassene Metall-
kugel drehen und mehrere Zahnrädchen, man kann allerlei­
Tasten drücken. Fidget heißt übersetzt etwa Zappelphilipp.
Juli hat auch eine Fidget-Bean, eine Bohnenschote aus
Kunststoff, aus der man kleine Gummibohnen quetschen
kann. Juli nennt sie Stressbohne. Und dann sind da noch die
Pop-its, Stress-Spielzeuge, bei denen man kleine Gummi­
aus­buch­tun­gen eindrücken kann, was dann ploppt.
Ich frage mich, welchen Stress das Kind eigentlich meint.
Juli hat zwar Hausaufgaben, ja, und manchmal hat sie
auch Termine. Sie hat Turnunterricht und Klavierunter-
richt. Aber Stress? Es gibt bei ihr keine drängenden Ter-
mine, keine dringenden Abgaben, keine Überarbeitung.
Keinen Stress.
Und wenn er da wäre, der Stress, wie sollte er vom Kneten
eines Balls weggehen? Ich denke, wenn man etwas wirklich
dringend erledigen muss, etwa weil der Chef Druck macht,
und man nimmt dann einen Ball und knetet ihn ganz viel,
und dann nimmt man ein Pop-it und lässt es ordentlich
ploppen, anschließend vielleicht auch noch den Fidget-
Spinner spinnen – dann hat man danach doch eigentlich
mehr Stress als vorher, oder? Oder habe ich das Konzept
Stressball nicht ganz verstanden?
Als ich so alt war, wie Juli es heute ist, wusste ich überhaupt
nicht, was Stress sein soll. Ich habe höchstens Lange­weile
gehabt – an Nachmittagen, an denen dröge die Sonne­
durch das Fenster schien, ich die Hörspielkassette zum
­dritten Mal hörte und es noch Stunden dauerte, bis im
Fern­sehen Raumschiff En­ter­prise begann.
Heute habe ich Stress. Ich habe Abgaben, Terminüberlage-
rungen, ich bin überarbeitet. Oft genug sitze ich mit dem
Laptop auf den Knien auf dem Sofa, weil ich irgendetwas
schnell fertig machen muss und eigentlich viel zu viel zu tun
habe. Und dann kommt Juli und möchte irgendwas von mir
wissen, und ich rufe: »Sag es mir später, ich habe Stress!«
Oder Juli fragt mich, ob ich ihr bei den Hausaufgaben hel-
fen kann, und ich antworte: »Gleich, jetzt habe ich Stress!«
Es gab noch etwas, was ich als Kind nicht hatte: einen Va-
ter, der auf dem Sofa in eine komische Kiste hineinhackte
und gestresst war. Vielleicht bin ich selbst der Grund, wa-
rum mein Kind denkt, Stress sei irgendwie relevant. Das
nächste Mal, wenn ich gestresst bin, probiere ich es einfach
aus, dann übe ich zusammen mit Juli Stressballkneten und
lasse den Pop-it ploppen und den Spinner spinnen. Und
dann ­schauen wir mal, was als Nächstes passiert.
Was ich gern früher gewusst hätte 46

Von Donna Leon

Italienische Politik ergibt keinen Sinn.

Lies Bücher von der Bestsellerliste

erst, wenn sie dich fünf Jahre später
immer noch interessieren.

Wenn man Schnürsenkel doppelt

zubindet, hält die Schleife besser.

Sei vorausschauend, und folge dabei

nicht zu sehr dem Geld. Ich bin, weil
ich Geld brauchte, als junge Englisch-
lehrerin nach Saudi-Arabien gegangen,
obwohl Freunde mich warnten, dass
Männer mir dort feindselig begegnen

Illustration ROBERT RADZIEJEWSKI (Foto Regine Mosimann, Diogenes Verlag)

würden. So war es auch.

Es ist heilsam, im Garten zu arbeiten.

Dieser Frieden, etwas zu tun. Etwas
wachsen zu sehen.
Bauen macht Spaß. Ich habe in
meinem Garten ein Haus für Harry den
Igel gebaut, für die Winterzeit.
Wie glücklich ich war, als er einzog!
Es ist gut, eine Uniform zu haben,
in der man sich wohlfühlt:
Schal, weißes Shirt, schwarze Jeans.
Es gibt ein Taschenwerkzeug in Form
einer Kreditkarte mit Schere, Nagelfeile,
Stift, Messer und Schraubenzieher.
Im Zug braucht man den »New Yorker«
und einen Roman von ­Dickens,
Trollope, Austen oder Thackeray.
Am besten ­Dickens.
Fühl dich nicht schuldig, Zeit zu
verschwenden.

Aus Venedig wegzuziehen ist leichter
als gedacht: Die Stadt ist zu voll.
Ein Löffel (aus Metall, nicht Plastik!)
ist auf Reisen praktisch. Irgendwann
Unsichtbare Zutaten wie Essig
und Olivenöl müssen von allerbester
Qualität sein.
Meine Mutter war eine fortschrittliche
Ich kann die Kalorienlisten einfach
wegwerfen.
Richard Wagners Musik ist furchtbar.
Aufgezeichnet von ANNA KEMPER

ist man hungrig, und mit einem Frau, die in den konventionellen Es ist okay, die Oper nach dem ersten
Löffel kann man fast alles essen. Regeln ihrer Zeit gefangen war. Akt zu verlassen.

Hier verraten jede Woche Prominente, was sie erst spät begriffen haben. Donna Leon, 80, stammt aus New Jersey. Als
Lehrerin arbeitete sie in China, im Iran und in Saudi-Arabien. Berühmt wurde die Schriftstellerin durch ihre Krimis
um den ­venezianischen Kommissar Brunetti, gerade erschien »Wie die Saat, so die Ernte«. Sie lebt in der Schweiz.
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