DIE
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PREIS DEUTSCHLAND 6,20 €
04.10.22 10:12
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
Bücher,
die erhellen
Verstörende Leidenschaft,
schöne Schauergeschichten, ein
opulenter Sisi-Roman und
vieles mehr: Die aufregendsten
Neuheiten des Herbstes
48 SEITEN LITERATURBEILAGE ZUR BUCHMESSE
Titelillustration: Davide Bonazzi
UKRAINE
Gegen die Angst
Putins größte Chance, den Krieg zu gewinnen, ist das Durchhalten.
Der Westen hat gute Aussichten, das zu verhindern VON HEINRICH WEFING
E E
s sind Sätze, die man kaum
schreiben kann: Die Welt schwebt
in der Gefahr eines Atomkriegs.
Das Risiko einer nuklearen Eska-
lation ist so groß wie seit der Kuba-
Krise 1962 nicht mehr. US-Präsi-
dent Joe Biden hat vor einem atomaren »Arma-
geddon« gewarnt, »wenn sich die Situation so
weiterentwickelt wie bisher« – und das war noch
vor der Attacke auf die Krim-Brücke, vor den
russischen Rache-Angriffen auf Kiew.
Die Gefahr einer atomaren Eskalation ist
real, es hilft nicht, sie zu ignorieren oder als Bluff
abzutun. Putin scherze nicht, mahnte Biden,
wenn er über den potenziellen Einsatz taktischer
Atomwaffen spreche. Und doch ist die maximale
Eskalation nicht unausweichlich. Die atomare
Drohung ist nicht das Ende der Politik, sie ist
Politik. Politik mit der Angst. Mit unserer Angst.
Viel spricht dafür, dass für Putin im Moment
die Drohung mit der Bombe wesentlich attrakti-
ver ist als ihr Einsatz. Der russische Präsident
steht unter Druck, keine Frage, daheim und an
der Front, sein Blitzkriegsversuch ist gescheitert,
seine Truppen sind auf dem Rückzug, seine Kri-
tiker werden lauter.
Die atomare Drohung ist nicht das
Ende der Politik, sie ist Politik
Putins beste Chance, diesen Krieg noch zu ge-
winnen, im Amt zu bleiben und am Leben,
scheint Durchhalten und Nachlegen zu sein.
Durchhalten, bis der Winter kommt, an der
Front und überall in Europa. Durchhalten und
nachlegen, bis die Terrorangriffe gegen die
Ukraine wirken. Durchhalten und nachlegen,
bis die Einheit des Westens Risse bekommt, bis
Inflation oder Rezession grassieren. Durchhalten
und nachlegen, bis der Westen die Ukraine
drängt nachzugeben.
Genauso hat Putin schon den ersten Krieg
seiner Karriere »gewonnen«, die grauenhafte
Kampagne in Tschetschenien. Nach jeder Nie-
derlage hat er den Einsatz erhöht, bis Grosny ein
Gräberfeld war.
Er fange gerade erst an, hat Putin selbst er-
klärt. Auch das mag ein Bluff sein, Starksprech,
aber es passt ins Konzept. Putin erhöht den
Druck, systematisch: mit den Raketenangriffen
auf zivile Ziele in der Ukraine. Mit der Anne-
xion besetzter Gebiete. Mit der neuerlichen Ver-
ZEIT
legung von Truppen nach Belarus. Und eben mit
der Drohung, Atomwaffen einzusetzen. Er spe-
kuliert darauf, dass der Westen einknickt.
Und tritt man einmal für einen Moment zu-
rück, muss man sagen: Abseits der ukrainischen
Schlachtfelder läuft es nicht schlecht für Putin.
Viele Mächte haben sich der Anti-Russland-
Koalition des Westens verweigert, Staaten wie In-
dien, China und Saudi-Arabien verfolgen lieber
ihre eigenen Interessen, nicht als Partner Putins,
aber eben auch nicht als Verbündete des Westens.
Auch die Einheit des Westens ist fragiler, als
es den Anschein hat. Biden, der Anführer des
Kampfes für die Ukraine, steht vor potenziell
verheerenden Zwischenwahlen im November,
die konservative Regierung in Großbritannien
nähert sich der Implosion. Die Welle des Popu-
lismus ebbt nicht ab, in Schweden und Italien
sind gerade erst rechtspopulistische Parteien in
die Regierung gewählt worden; die AfD ist wie-
der zweistellig. Und der Winter hat noch nicht
einmal begonnen.
Vor allem aber hat Putin längst schon unse-
re Fantasie gekapert. Noch ist ungeklärt, wer
hinter den Anschlägen auf die beiden Ostsee-
Pipelines steckt und auf wessen Konto die At-
tacke auf das Funknetz der Deutschen Bahn
am Wochenende ging. Aber wer wollte aus-
schließen, dass Russland dahintersteckt? Wer
hätte nicht gedacht: War das Putin? Und die
Angst wächst, dass die Sabotageakte nur Test-
läufe gewesen sein könnten, erste Nadelstiche,
eine Andeutung des Kommenden. Unsere
Angst aber ist Putins stärkste Waffe.
Sicher, man kann sich nicht zwingen, keine
Angst zu haben. Aber man kann die Angst beherr-
schen. Man kann verhindern, dass Putins Erpres-
sung die politische Imagination lähmt. Man kann
sich entscheiden, der Erpressung nicht nachzu-
geben. Und man kann darüber nachdenken, was
möglich wäre, sollte Putin scheitern.
Wenn seine Armeen geschlagen sind, gibt es
auf Jahre keine Bedrohung mehr für Finnland,
Polen, die baltischen Staaten, Moldau, Georgien.
Wenn die Ukraine in Frieden und Freiheit leben
kann, dürfte das ansteckend wirken in den
Nachbarstaaten, in Belarus, vielleicht sogar in
Russland. Und wenn der Westen zusammenhält,
wird er gestärkt in der Auseinandersetzung mit
den anderen Autoritären dieser Welt.
Viele Wenns, zugegeben. Aber Grund genug,
jetzt nicht die Nerven zu verlieren.
AMPEL-KOALITION
Zu gut erkannt
Die Schärfung ihres Profils ist nicht die Lösung der
FDP-Probleme, sondern die Ursache VON ROBERT PAUSCH
ine kleine Geschichte der FDP geht
folgendermaßen: Als sie im März
den Einzug in den saarländischen
Landtag verpasste, erklärten ihre
Führungsleute, die Aufgabe sei es
nun, schleunigst das »liberale Pro-
fil« zu schärfen. Als die FDP im Mai dann in
NRW und Schleswig-Holstein aus der Regierung
flog, erklärten sie, dies sei ein klares Signal, dass
die »liberale Handschrift« in der Koalition erkenn-
barer werden müsse. Als die FDP am vergangenen
Sonntag in Niedersachsen bei 4,7 Prozent landete,
erklärten sie, das Ergebnis zeige, dass die FDP
nun ihre »Positionslichter« anknipsen müsse.
Immer das Gleiche zu tun, aber auf ein ande-
res Ergebnis zu hoffen – so lässt sich die Strategie
der FDP derzeit beschreiben, was wiederum eine
Reihe von Problemen mit sich bringt. Für die
FDP und für die Bundesregierung.
Pragmatismus wird belohnt,
Prinzipienreiterei bestraft
Dabei wäre ja zunächst zu fragen, ob es stimmt, dass
die FDP an einem Erkennbarkeitsmangel leidet. Die
Antwort: Na ja. Die beiden Kernversprechen der
FDP (keine Steuererhöhungen, Schuldenbremse
einhalten) wurden von den Koalitionspartnern zwar
angemault, aber am Ende nicht angetastet. Mehr
noch: Inmitten einer fundamentalen Gerechtigkeits-
krise ordnen sich »zwei linke Parteien« (Christian
Lindner) weitgehend den Gerechtigkeitsvorstellun-
gen des FDP-Finanzministers unter – es gibt keine
neuen Steuern für Reiche, keine Vermögensabgabe,
überhaupt sehr wenig, was irgendwie nach linker
Verteilungspolitik riecht. Der Tankrabatt? Wurde
umgesetzt. Die kalte Progression? Wird abgebaut.
Die Impfpflicht? Kam nicht. Das 9-Euro-Ticket?
Eine Erfindung des FDP-Verkehrsministers. Und
das alles soll keine liberale Handschrift sein? (Siehe
auch die Diskussion im Ressort Streit, Seite 12.)
Es ist ja nicht ganz leicht zu sagen, was über-
haupt die drei, vier liberalen Lieblingsprojekte sind,
die die linke Übermacht verhindert. Ein paar Mo-
nate längere AKW-Laufzeiten, ja gut. Aber ist es
wirklich sinnvoll, sich an dieser Stelle in einen
Machtkampf mit dem Bundeskanzler zu begeben,
wie Lindner in diesen Tagen? Eine Einigung auf-
zuschnüren, die man eben noch beschlossen hat,
weil in Niedersachsen eine Landtagswahl verloren
gegangen ist? Das Manöver wirkt so durchsichtig,
dass es schon beim Zusehen schmerzt.
N o 42 10:12
13. OKTOBER 2022 04.10.22
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Annie Ernaux
unter Verdacht
Iris Radisch verteidigt
die neue Literatur-
Nobelpreisträgerin
gegen ihre Kritiker
Feuilleton, S. 49
»Ich mag keine
Konflikte«
Aber wie kämpft man
dann? Eine Begegnung
mit Greta Thunberg
Entdecken, S. 66
Wenn es
dunkel wird
Wie gefährdet
ist das Stromnetz
in Deutschland
wirklich?
Wirtschaft, S. 21/22
PROMINENT IGNORIERT
Viel ist in der FDP derzeit von »staatspolitischer
Verantwortung« die Rede. Doch wie passt dieser
Anspruch zusammen mit dem ständigen partei-
politischen Krämertum? Der Markenkern der
Staatspartei schlechthin, der Union, besteht zum
Beispiel seit je darin, sich um ihren Markenkern
nie sonderlich viele Gedanken zu machen. Die SPD
wiederum war unter Saskia Esken und Norbert
Walter-Borjans überaus profilbewusst. Erfolgreich
wurde sie indes erst, als mit Olaf Scholz jemand an
der Spitze stand, der sich staatspolitische Verant-
wortung bereits morgens ins Müsli gießt. Bei den
Was tun?
Grünen wiederum begann der Abstieg in den ver- Die Tierärztliche Hochschule Han-
gangenen Wochen exakt in dem Moment, als die nover erinnert uns diese Woche
Partei das Gefühl beschlich, ebenfalls auf ihre Po- daran, dass auch Hunde und Katzen
sitionslichter achten zu müssen: In der Atomfrage dement werden können. Die Tiere
zeigten sich die Grünen plötzlich gar nicht mehr stehen ratlos herum und wissen
so herrlich pragmatisch, wie es eben noch schien, nicht, was sie tun sollen. Nun, an
und prompt fielen sie in Niedersachsen von über Schreckensmeldungen ist zwar kein
20 auf 14 Prozent. Wer sich also ein bisschen um- Mangel, aber diese Nachricht lässt
schaut, könnte auf die Idee kommen, dass nicht sich toppen. Stehen nicht auch
bloß fehlende Erkennbarkeit ein Problem sein viele Bäume nur herum und wissen
kann. Sondern auch Erkennbarkeitseifer. nicht weiter? Wenn man darüber
Gewiss lässt sich jetzt einwenden, die FDP sei nachdenkt: beängstigend! USTO
nun einmal keine Volks-, sondern eine Klientel-
partei, historisch eingemauert im Korridor zwischen Kleine Fotos (v. o.): Heike Steinweg;
Evelyn Dragan für DIE ZEIT; Getty Images
fünf und zehn Prozent. Allein: Das waren die Grü-
nen auch. Überdies ist die Klientel der FDP eine
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
andere als oft vermutet. Wie sich in den Analysen 20079 Hamburg
der vergangenen Wahlen zeigt, ist sie statusbesorg- Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:
ter als etwa die Grünen-Wähler. Abstiegsängste sind DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
hier verbreiteter, jeder Wandel wird skeptisch be- ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
gutachtet. Ist es wirklich das Wichtigste für diese ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Leute, dass die FDP eisern Prinzipien verteidigt?
Oder wünscht man sich eher eine gewisse bürger- ABONNENTENSERVICE:
liche Seriosität für die Regierung und ein bisschen Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
mehr Geld fürs eigene Portemonnaie? E-Mail: abo@zeit.de
In der FDP geht nun die Angst um, in der
Regierung als linke Partei wahrgenommen zu PREISE IM AUSLAND:
werden. Doch die eigentliche Sozialdemokrati- DK 69,00/FIN 9,10/E 7,80/
CAN 7,90/F 7,80/NL 7,20/
sierung der FDP vollzieht sich derzeit im Menta- A 6,50/CH 8.50/I 7,80/GR 7,80/
len: die Sorge, in einer unseligen Regierung das B 7,20/P 7,80/L 7,20/H 3690,00
eigene Programm zu verraten; die Überzeugung,
o
N 42
permanent Punktsiege einheimsen zu müssen,
und wenn die nächste Wahl verloren geht, muss
die Zahl der Siege gesteigert werden – diese
Gefühlslage kennen Sozialdemokraten aus der
77. J A H RG A N G C 7451 C
Groko-Zeit sehr gut. Und sind griesgrämige
Sozis wirklich ein gutes Vorbild für Liberale?
42
Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 106207
2 POLITIK
Wie wummsig ist der Wumms?
Die Gaspreisbremse steht. Die ZEIT hat ausrechnen lassen, wer profitiert
M
an weiß ungefähr, wie viele
Leute mit viel Geld, mit mittel-
viel Geld und mit wenig Geld
es in Deutschland gibt. Was
man nicht so genau weiß: wo
sie wohnen. Womit sie ihr Haus
oder ihre Wohnung heizen.
Und wie ihre Kontoverbindung lautet.
Damit ist das Problem beschrieben, mit dem sich die
Ampel seit dem Beginn des russischen Einmarschs in
der Ukraine herumschlägt: Wie kann denjenigen ge-
holfen werden, die unter den steigenden Energiepreisen
besonders leiden und die deshalb auf staatliche Unter-
stützung angewiesen sind?
Drei Entlastungspakete hat die Koalition bereits ver-
abschiedet, nun ist mit der Gaspreisbremse ein viertes
auf den Weg gebracht worden. Einen »Doppelwumms«
hat Olaf Scholz versprochen, damit Strom und Gas
auch im Winter bezahlbar bleiben. Und natürlich auch
ein wenig, damit die Regierung weiter regieren kann.
Denn auch wenn die große Mehrheit der Wähler laut
Umfragen den Ukraine-Kurs der Ampelparteien stützt:
Das kann sich ändern, wenn sich die wirtschaftliche
Lage weiter verschlechtert und das Gas immer teurer
wird. So zumindest werden in Berlin die Gewinne der
AfD bei der Landtagswahl in Niedersachsen gedeutet.
Also, wie wummsig ist dieser Wumms?
Fest steht: Es soll viel Geld fließen, wieder einmal.
Insgesamt rund 200 Milliarden Euro. Das hat die Koa-
lition beschlossen. Eine Regierungskommission hat
nun ausgearbeitet, wie das Geld unter die Leute ge-
bracht werden soll. Der Staat übernimmt demnach bei
den Privathaushalten im Dezember einmalig die Ab-
schlagszahlung der Gasrechnung. Ab dem kommenden
März werden dann ein Jahr lang 80 Prozent des Vor-
jahresverbrauchs an Gas zu einem vergünstigten Preis
abgerechnet. Früher geht das nicht, weil die Gasversor-
ger die Regelung technisch umsetzen müssen.
Die Gaspreisbremse ist so konstruiert, dass sie das Ein-
sparen von Energie belohnt. Das ist wichtig, weil der Gas-
verbrauch sinken muss. Sonst ist das Gas irgendwann im
Winter womöglich so knapp, dass einzelne Betriebe man-
gels Energie zwangsweise abgeschaltet werden müssen. Das
will die Regierung unbedingt verhindern. Deshalb müssen
die erstatteten Beträge nicht zurückbezahlt werden, auch
wenn der tatsächliche Gasverbrauch am Ende unter den
Schätzungen liegt, die die Grundlage der Erstattung sind.
Ungleiche Entlastung
Durchschnittlicher jährlicher Rabatt durch Gaspreisbremse für Einpersonenhaushalt, nach Einkommensgruppen
Einkommensgruppe Durchschnittseinkommen
ärmste 10 % 10.231 €
14.528 €
18.180 €
21.464 €
24.802 €
28.191 €
32.615 €
37.974 €
46.716 €
reichste 10 % 79.238 €
Annahmen: Marktpreis Gas: 25,4 Cent pro Kilowattstunde; ohne Abschlagszahlung;
Durchschnittseinkommen: verfügbares Jahreseinkommen; nur Haushalte mit Gasheizung ZEIT-GRAFIK/Quelle: IMK;
Villa, 240qm
verbraucht pro Jahr
90.000 kWh und spart
durch die Entlastungen
9648 €
VON MARK SCHIERITZ
Konkret: Wer seinen Verbrauch ab März auf 50 Prozent
des Vorjahreswerts drückt, erhält trotzdem eine an 80
Prozent ausgerichtete volle Subventionsleistung. Und wer
im Dezember einen Abschlag von 60 Euro ausbezahlt be-
kommt, aber nur für 50 Euro Gas verbraucht, darf 10 Euro
selbst behalten. Oder allgemeiner formuliert: Je weniger
Gas verfeuert wird, desto mehr Geld bleibt übrig.
Das Institut für Makroökonomie und Konjunktur-
forschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-
Stiftung hat für die ZEIT berechnet, was das bedeutet.
Ergebnis: Die ärmsten zehn Prozent der Haushalte be-
kommen durch die Gaspreisbremse im Schnitt 893 Euro
im Jahr erstattet. Das ist schon recht wummsig. Ihre Heiz-
rechnung würde sich bei unverändertem Verbrauch fast
halbieren (auch wenn sie noch höher ausfiele als vor dem
Krieg): Sie müssten statt 2116 Euro nur noch 1222 Euro
für Gas ausgeben. Grundlage der Berechnungen sind
statistische Erhebungen, bei denen die Ausgaben für Ener-
gie und der Verdienst abgefragt werden. Die Ergebnisse
beziehen sich auf Einpersonenhaushalte. Wenn mehr
Menschen in einem Haushalt leben, fallen Verbrauch und
Entlastungssumme höher aus. Unterstellt ist, dass der
Gaspreis im kommenden Jahr bei 25 Cent je Kilowatt-
stunde liegt, Neukunden zahlen derzeit etwa 24 Cent.
Die Entlastungswirkung nimmt mit steigendem Ein-
kommen zu, weil Menschen mit mehr Geld oft in größe-
ren Wohnungen mit entsprechend höherem Energiever-
brauch leben. Die Regierung würde also auch denjenigen
helfen, die vielleicht nicht auf Hilfe angewiesen wären.
Und zwar großzügig. Die oberen zehn Prozent der Haus-
halte bekämen laut IMK im Schnitt 1375 Euro erstattet.
Der Besitzer einer Villa mit Pool und einem Verbrauch
von 90.000 Kilowattstunden im Jahr erhält nach Berech-
nungen des IMK eine Erstattung von 9648 Euro im Jahr.
Beim Mieter einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus
mit einem Verbrauch von 11.000 Kilowattstunden jährlich
sind es nur 1179 Euro.
In der Kommission sind deshalb auch alternative
Modelle diskutiert worden. So wäre es theoretisch mög-
lich, die Erstattung nicht an den Verbrauch des Vorjahrs,
sondern an die Zahl der in einem Haushalt lebenden Per-
sonen zu koppeln. Dann würde eine vierköpfige Familie
immer gleich viel Geld bekommen, egal ob sie in einer
Villa oder in einer Wohnung lebt. Das Problem: Die Gas-
unternehmen wissen nicht, wie viele Menschen mit einem
Anschluss versorgt werden. Der Staat weiß es ebenfalls
nicht. Es ist auch nicht ganz einfach, das herauszufinden.
Es gibt schließlich in Deutschland etwa 24 Millionen
Haushalte mit Gasanschluss.
Wie schon bei den im Sommer beschlossenen ersten
drei Entlastungspaketen stellt sich auch bei der Gaspreis-
bremse heraus: Es ist in Deutschland nicht so einfach, nur
denjenigen zu helfen, die die Hilfe nötig haben. Weil
Rabatt
893 €
944 €
1043 €
1149 €
1132 €
1162 €
Illustration: Martin Burgdorff/ZEIT-GRAFIK
Reihenhaus, 140qm
verbraucht pro Jahr
22.000 kWh und spart
durch die Entlastungen
2358,40 €
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Menschen mit viel Geld oft auch viel Gas, Benzin oder Öl
verbrauchen und deshalb besonders profitieren, wenn
diese Dinge subventioniert werden. So wie sie oft auch viel
Steuern bezahlen und deshalb gut wegkommen, wenn die
Steuern gesenkt werden.
Um das zu ändern, müsste die Regierung gewissermaßen
mit dem System brechen und gezielt Geld an einzelne
Haushalte überweisen. Das geht aber nicht, weil die Zah-
lungsinfrastruktur dafür fehlt. Auch verwaltungstechnisch
ist Deutschland offensichtlich auf eine Notlage, wie sie der
Krieg in der Ukraine mit sich bringt, nicht vorbereitet. Das
Finanzministerium arbeitet an einem solchen Auszahlungs-
system für finanzielle Transfers, aber bis es funktionsfähig
ist, werden noch einige Monate vergehen. Immerhin:
Haushalte, die nicht in der Lage sind, ihre Rechnungen zu
bezahlen, können in bestimmten Fällen Grundsicherung
beantragen. Dann übernimmt der Staat die Heizkosten.
Im Fall der Gaspreisbremse kommt hinzu: Die Re-
gierung hat die Dringlichkeit des Themas erst spät erkannt.
Schon im Februar haben Wissenschaftler das Konzept
dafür skizziert, die Ampel hat die Idee lange nicht aufgegrif-
fen, weil zur Finanzierung Schulden aufgenommen werden
müssen und die FDP das nicht wollte. Deshalb blieb jetzt
nicht viel Zeit für ausgefeiltere oder schneller umsetzbare
Lösungen. Die gibt es für die Unternehmen, weil die Zahl
der Unternehmen mit Gasanschluss deutlich kleiner ist als
die der Haushalte. Die im Bericht der Kommission eben-
falls empfohlene Gaspreisbremse für Betriebe kann schon
im Januar starten und nicht erst im März.
Erst einmal muss aus dem Bericht der Kommission
aber ein Gesetz werden. In der Koalition wird bereits da-
rüber nachgedacht, wie sich einige der Vorteile für Gut-
verdiener abmildern lassen. Eine Variante: Die Erstattun-
gen müssen ab einem bestimmten Einkommen versteuert
werden, sodass sich der Staat bei den Reicheren einen Teil
der Zuschüsse über die Steuererklärung wieder zurück-
holen würde. Eine andere: Die Regierung führt eine Ober-
grenze für die Förderung ein. Wenn die etwa bei 20.000
Kilowattstunden läge, würde der Villenbesitzer im obigen
Beispiel statt 9648 Euro nur 2680 Euro bekommen, so
Sebastian Dullien, Forschungsdirektor am IMK. Auch eine
Kombination aus beiden Maßnahmen gilt als möglich.
Der Kanzler scheint mit dem Wumms-Faktor der
Vorschläge zufrieden zu sein. Der Kommissionsbericht
sei eine »sehr gute Grundlage« für die weiteren Ver-
handlungen, sagte Scholz am Dienstag dieser Woche.
Es wird also wohl bald gebremst werden.
1273 €
1276 €
1374 €
1376 €
Wohnung, 60qm
verbraucht pro Jahr
11.000 kWh und spart
durch die Entlastungen
1179,20 €
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
Wie ich eine Wahl gewinne,
die ich verloren habe
Mark Finchem kandidiert als Wahlleiter von Arizona, er hält Donald Trump für den rechtmäßigen Präsidenten
B
rad Raffensperger nimmt den Anruf des
Präsidenten in seiner Küche entgegen. Es
ist drei Uhr nachmittags am 2. Januar
2021, zwei Monate nach der amerikani-
schen Präsidentschaftswahl, in der Do-
nald Trump Joe Biden unterlegen ist.
»Wir würden einfach gern ein paar Zah-
len durchgehen«, sagt Trump, »ich glaube, es ist ziemlich
klar, dass wir gewonnen haben.«
Brad Raffensperger, Republikaner, hat im US-Bundes-
staat Georgia das Amt des Secretary of State inne. Der State
Secretary wird gewählt, er hat in vielen Staaten die Aufsicht
über alle Wahlen und beglaubigt die Ergebnisse. Joe Biden
kam in Georgia auf 11.779 Stimmen mehr als Trump – ein
Ergebnis, das der Ex-Präsident bis heute nicht anerkennt.
Der Anruf bei Raffensperger im Januar 2021 war Teil seines
Versuchs, gegen das Votum der Wähler im Amt zu bleiben.
Man kann ein Transkript des Anrufs in dem Buch nach-
lesen, das Raffensperger 2021 veröffentlicht hat. Trump
behauptet, Tausende Verstorbene hätten gewählt, Stimmen
für Biden seien mehrfach gezählt worden. Raffensperger
und der Staat Georgia waren diesen Anschuldigungen be-
reits nachgegangen. Keine ließ sich beweisen. Die wenigen
Male, die Raffensperger während des Telefonats zu Wort
kommt, sagt er deshalb: »Das ist falsch.« Etwa nach der
Hälfte verliert der Noch-Präsident die Geduld. »Look«,
sagt er. »Was ich tun will, ist Folgendes: Ich will 11.780
Stimmen finden, was eine mehr ist, als wir haben, weil wir
den Staat gewonnen haben.«
Trump fand die Stimmen nicht. Brad Raffensperger
tat, was sein Amt, das des State Secretary, von ihm ver-
langt: Er hat für die Rechtmäßigkeit der Wahl gesorgt. Die
amerikanische Demokratie hat noch mal Glück gehabt.
Wie wird es ihr bei der nächsten Machtübergabe ergehen,
nach den Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren?
Trump hat die Republikaner auf die Idee gebracht, dass
man nicht nur in Diktaturen, sondern auch in den USA eine
Wahl gewinnen kann, die man verloren hat. Seither arbeitet
die extreme Rechte in der Partei daran, die Kontrolle über
die Wahlen 2024 zu gewinnen. Diese Entwicklung verläuft
teils chaotisch, gesteuert eher durch die unsichtbare Hand
des politischen Marktes in den USA als durch ein Master-
mind. Teile werden allerdings auch von Kampagnenprofis
konzertiert, die über Geld verfügen. Die Midterms am
8. November sind ein entscheidender Schritt: Nicht nur
Kongressabgeordnete werden an diesem Tag gewählt, auch
Gouverneure, Landesparlamente – und Secretaries of State
wie Brad Raffensperger. Wenn man eine Gebrauchs-
anweisung schreiben wollte, wie man in den USA ein Wahl-
ergebnis fälscht, die Secretaries wären der erste Schritt.
1.
Bring die richtigen Leute in die richtigen Positionen
Mark Finchem fällt in seine kniesteifen Schritte. Er trägt
ein Bündel, das offenbar sehr schwer ist. Am Rande des
Platzes vor dem Gerichtsgebäude wuchtet er seine Fracht
auf einen Campingtisch: T-Shirts und Schirmmützen mit
seinem Namen darauf.
Es ist ein warmer Nachmittag Mitte September in
Prescott, einer Kleinstadt in Arizona, gelegen inmitten
grasbewachsener Hügel. Die Flurnamen erinnern an die
Wildwestzeit – »blutige Senke«, »Pferdediebtal«. Auch
Finchems Äußeres ist eine historische Referenz: Er trägt
Jeans, ein kariertes Hemd, auf dem Kopf einen weißen
Stetson und in einem Halfter am Gürtel eine Pistole, eine
SIG Sauer P385.
Auf dem Platz halten die Republikaner von Arizona
eine Wahlkampfveranstaltung ab. Etwa 200 Menschen
sind gekommen. Viele haben Campingsessel und Pizza
POLITIK
Die Republikaner arbeiten daran, das Ergebnis der nächsten
Präsidentschaftswahlen nicht anerkennen zu müssen VON ANNA SAUERBREY
mitgebracht. Auf der Bühne sprechen verschiedene Kan-
didaten, hin und wieder ernten sie ein zustimmendes yeah
oder amen aus dem Publikum, das ansonsten eher die
Spätsommersonne zu genießen scheint. Ein Damenchor
singt: »Yankee Doodle went to town, A-riding on a pony;
Stuck a feather in his hat, And called it macaroni.«
Mark Finchem kandidiert in Arizona für den Posten
des Secretary of State. In der Regel spricht er nur mit
ultrarechten Nischenmedien, hin und wieder macht er
eine Ausnahme.
Warum kandidieren Sie als Secretary of State?
»Es sind 2020 viele Dinge passiert, die außerhalb des
Gesetzes waren.«
Die Nachzählungen haben ergeben, dass es auch hier
in Arizona keinen Wahlbetrug gab.
»Die waren wertlos. Wir haben die Beweise! Wir ha-
ben das ganze Material!«
Wenn Sie Beweise haben, warum veröffentlichen Sie
die nicht jetzt? Das würde Ihnen im Wahlkampf doch si-
cher helfen.
»Das macht man nicht. Wir haben die Beweise der
Justiz übergeben, das ist jetzt eine laufende Ermittlung.«
Finchems jüngste Klage wurde zurückgewiesen. Ein
Richter erklärte, »mutmaßende Behauptungen« reichten
nicht. Gegen Finchem ist stattdessen nun ein Verfahren
wegen Prozessbetrugs anhängig.
Wenn 2024 ein Demokrat die Präsidentschaftswahl
gewinnt, würden Sie das akzeptieren?
»Wenn es eine rechtmäßige Wahl ist – absolut! In dem
Moment, in dem ich gewählt bin, nehme ich meinen
politischen Hut ab.«
Finchem lüftet den Cowboyhut. Das graue Haar da-
runter klebt schweißnass an seinem Kopf.
Früher war Mark Finchem Polizist, in seiner Personal-
akte, aus der die New York Times zitierte, heißt es: »schlech-
te Bewertung, würden wir nicht wieder einstellen«. Als Abge-
ordneter im Landesparlament von Arizona fiel er der Presse
zuerst auf, als er 2017 wegen seines Cowboylooks beleidigt
wurde. Dann kam die Präsidentschaftswahl 2020. Seitdem
behauptet Finchem so vehement wie Trump selbst, die Wahl
sei gefälscht worden. Seitdem ist Finchem für Trump-An-
hänger ein Star. Ein Parteifreund sagt, Finchem wirke wie
ein »true believer«. »Es gibt nicht viele von seiner Sorte, aber
ich glaube, er denkt wirklich, die Wahl sei gestohlen worden.«
Tatsächlich lohnt es sich für einen Politiker, das Wahl-
ergebnis nicht anzuerkennen. Während sich für State
Secretaries früher kaum jemand interessierte, geht heute
viel Spendengeld an die Kandidaten. Die Zuwendungen
beliefen sich, Stand August, allein in sechs Rennen auf
16,3 Millionen Dollar, so hat es das Brennan Center for
Justice ausgerechnet. Mehr als doppelt so viel wie 2018.
Mark Finchem hat 1,2 Millionen Dollar eingenommen.
So viele Politiker haben das Ergebnis der jüngsten Prä-
sidentschaftswahl nicht anerkannt, dass sie inzwischen einen
Namen haben: Man nennt sie »election denier«, Wahl-
leugner, wie Corona-Leugner oder Klimawandel-Leugner.
Nach einer Zählung der Washington Post sind unter den
87 republikanischen Kandidaten, die bei den Midterms für
mit Wahlen befasste Ämter antreten, 57 Wahlleugner.
Ihnen wird etwa die Aufgabe zufallen, den landes-
weiten Wahlausgang aus den Teilergebnissen der Gemein-
den zu ermitteln. Sie sind es, die die Wahl für grundsätz-
lich richtig und gültig erklären. Oder sie verweigern diesen
Schritt – und missachten das Votum der Wähler.
2.
Bring die Parlamente unter Kontrolle
Vor dem Kirchengebäude steht ein Engel und rezitiert aus
der Heiligen Schrift. Der Engel ist ein älterer Herr, groß,
gerade. Es ist kurz vor Weihnachten 2020, wenige Wo-
chen nach der Präsidentschaftswahl. In einer Mormonen-
gemeinde am Stadtrand von Phoenix, Arizona, feiern die
Gläubigen die Adventszeit. Man plaudert und singt.
Da rauschen auf der Straße vor der Kirche Pick-up-
Trucks vorbei, Lautsprecher auf die Ladeflächen montiert,
aus den Fenstern wehen Fahnen. »Rusty Bowers ist ein Ver-
räter«, dröhnt es aus den Lautsprechern.
Russel »Rusty« Bowers, das ist der Mann im Engels-
kostüm. »Entschuldigen Sie mich bitte kurz«, sagt er zu
den Zuhörern. »Der Engel ist gleich wieder da.« Bowers
tritt zur Seite und ruft seine Frau an. »Sie sind da«, sagt er,
»ruf die Polizei.«
Als Bowers, im September 2022 in einer Konferenz-
halle in Phoenix sitzend, von dieser Episode erzählt, muss
er lachen. Ein tiefes, raues Lachen, das aus ihm heraus-
rumpelt wie Wackersteine. Rusty Bowers ist Sprecher des
Abgeordnetenhauses von Arizona. Noch. Er gehört zu
den Republikanern, die die Niederlage von 2020 an-
erkennen. Bei den Midterms wollte der 69-Jährige noch
einmal als Abgeordneter antreten – doch er wurde von
den Mitgliedern seiner Partei nicht wieder aufgestellt.
Seine Karriere ist jetzt zu Ende, regelmäßige Besuche von
wütenden Trump-Anhängern sind ihm geblieben.
Bowers hat Trump 2016 gewählt, 2020 noch mal. »Ich
würde alles tun, um Ihnen zu helfen«, habe er Trump ge-
sagt, als der Präsident ihn nach der verlorenen Wahl an-
rief. »Aber ich werde nichts tun, was illegal ist.«
Eine Verfassung, besonders die amerikanische, ist wie die
Bibel: Sie wird gedeutet. Unter Wahlleugnern wird diskutiert,
ob die Verfassung nicht eigentlich den Landesparlamenten
erhebliche Rechte bei der Durchführung und Anerkennung
von Wahlen zuspricht.
Zu diesem Zweck brachten Abgeordnete der Republi-
kaner Anfang 2022 im Parlament von Arizona die »House
Bill 2596« ein. Das Gesetz sollte den Abgeordneten das
Recht geben, ohne jede Vorbedingung selbst zu entschei-
den, ob sie ein Wahlergebnis akzeptieren oder neu wählen
lassen. Die Politiker würden entscheiden, ob die Bürger
die richtige Wahl getroffen haben.
Als Sprecher des Abgeordnetenhauses sollte Rusty
Bowers das Landesgesetz 2596 ein, zwei Ausschüssen zu-
weisen. Er entschied anders. Alle zwölf Ausschüsse sollten
lesen. Das Gesetz konnte damit nicht zur Abstimmung
kommen – Bowers persönlich hat es vorerst verhindert.
Während Rusty Bowers spricht, decken zwei Frauen
auf Zehenspitzen um ihn herum für das Mittagessen ein.
Bowers hat eben vor Führungskräften gemeinnütziger
Verbände gesprochen. Es ging um die Dürre im Wüsten-
staat Arizona und die Folgeprobleme für die Wasserkraft-
werke. Sein Nachfolger, David Farnsworth, sagt Bowers,
habe selbst erklärt, von Wasser verstehe er gar nichts. Aber
in einem Interview sagte Farnsworth, er habe die Bibel
gelesen und schon diese spreche von »Geheimbünden«,
die die Freiheit rauben wollten. So sei es heute auch. Das
gelte es zu verhindern. Deshalb sei er in der Politik.
Gut möglich, dass es ein Gesetz wie die »House Bill
2596« doch noch ins Plenum schafft.
3.
Schaffe eine Armee
Als Donald Trump im Januar 2021 in Georgia bei Brad
Raffensperger anrief und ihn aufforderte, 11.780 Stim-
men zu finden, war eine Frau namens Cleta Mitchell
ebenfalls in der Leitung. Auch Mitchell redete auf Raf-
fensperger ein, forderte ihn auf, Daten von Wählern he-
rauszugeben. Nachdem der Anruf öffentlich geworden
war, legte Mitchell ihren Posten als Partnerin einer An-
waltskanzlei nieder und schloss sich dem Conservative
Nach Klimawandel-Leugnern und Corona-Leugnern gibt es nun: »election deniers«, Wahlleugner
3
Partnership Institute (CPI) an, einer 2017 gegründeten
Nichtregierungsorganisation in Washington, D. C. Im
Vorstand sitzt Trumps ehemaliger Stabschef im Weißen
Haus, Mark Meadows. Die Organisation befasst sich mit
der »Sicherheit von Wahlen«. Was das genau heißt? Auf
Anfragen antworten weder Cleta Mitchell noch das CPI.
Die Adresse Independence Avenue 300 liegt nur ein
paar Hundert Meter vom Kapitol entfernt, ein Jahrhundert-
wendebau, der typische braune Washingtoner Sandstein.
Ein junger Mann im Anzug verlässt gerade das Gebäude,
er trägt eine Hauspostkiste.
Ob hier das Conservative Partnership Institute zu fin-
den sei, und ob er dort arbeite?
»Ja«, sagt der junge Mann.
Ob er ein paar Fragen beantworten würde.
»Ich rede nicht mit der Presse«, sagt er knapp und eilt
weiter, um durch einen Seiteneingang wieder im Gebäude
zu verschwinden.
Eilig nähert sich wenig später ein anderer. Er stellt sich
als Medienberater vor und überreicht eine Visitenkarte.
Er heißt demnach Robert J. Donachie III. und ist Mitar-
beiter der PR-Firma Athos. Seine Agentur vertrete das
CPI, sagt er. Er habe gehört, dass jemand hier vor dem
Haus warte, und wolle seine »Hilfe anbieten«. Er könne
gern ein paar Fragen beantworten, aber leider nicht jetzt,
Termine, Termine. Bitte alle Fragen mailen. Eine Antwort
kommt nicht.
Das diskrete Institut hat die Neugier des Journalisten-
kollektivs documented geweckt, das auf Spendenbasis ar-
beitet und mit US-Zeitungen wie der Washington Post
kooperiert. Brendan Fischer ist Jurist, er arbeitet für docu-
mented. Bei einem Treffen erzählt Fischer: »Rund um die
Geschichte von der gestohlenen Wahl gibt es eine Menge
Energie. Vieles hat zum Ziel, die Leute aufzuwiegeln –
aber nicht alles ist produktiv. Das CPI versucht, diese
Energie in etwas Effektives umzuwandeln, in konzertierte
Aktionen, die den Republikanern wirklich helfen.« Dafür
habe das CPI viel Geld eingesammelt, 2021 seien es fast
20 Millionen Dollar gewesen.
Das CPI bietet Seminare an. Die Teilnehmer lassen
sich als Wahlhelfer und -beobachter ausbilden. Vor allem
in den Swing-States sollen sie eingesetzt werden. Sie ler-
nen, wie sie minutiös Protokoll führen über alles, was sie
in einem Wahlbüro wahrnehmen, sie lernen, die Wähler-
listen zu überprüfen und Informationen über die Beam-
ten und öffentlichen Angestellten zu sammeln, die die
Wahl durchführen.
Es gibt einen Tonmitschnitt von einem der Seminare,
da sagt eine Frau zu den Teilnehmern: »Ich will, dass wir
alle hier im Staat Tausende kleine Lauffeuer entzünden.
Sie können die nicht alle löschen, Leute.« Brendan Fischer
nennt die Methode »flooding the zone with shit«, was
man übersetzen könnte mit: »alles zumüllen«. Kleine,
technische Fehler, sagt Fischer, gebe es bei jeder Wahl,
zum Beispiel, dass jemand seine Sozialversicherungsnum-
mer nicht angegeben habe oder die Unterschrift nicht an
der richtigen Stelle sei. Landeten diese Fälle massenhaft vor
Gericht, wäre Rechtsunsicherheit die Folge. Chaos.
Bei Wahlen in Virginia im vergangenen Jahr hat das
CPI seine Freiwilligen schon zum Einsatz gebracht und
eine Klage eingereicht, die das Gericht allerdings zurück-
wies. Auch über die Midterms dürfte die »Armee«, wie
Cleta Mitchell sie nennt, sich hermachen.
Rusty Bowers war nicht immer Politiker. Er war früher
ein Kunstmaler. Oft hat er das seltsame Leuchten der
Wüste in Arizona am Abend festgehalten, ein Licht, in
dem die Berge plötzlich blau erscheinen und der Himmel
orange, eine surreale, aber ewige Landschaft. Was sollte
wohl diesem großartigen Land schon passieren?
!www.zeit.de/vorgelesen
Fotos: Mark Peterson/Redux/laif
 4 POLITIK
Foto: Jędrzej Nowicki für DIE ZEIT (11.10.2022)
Der ehemalige Geheimdienstoffizier Olexij Arestowytsch, Berater des ukrainischen Präsidenten, über die jüngsten
Raketenangriffe der Russen, das Trauma der Deutschen und seine Gelassenheit im Angesicht von Atomwaffen
DIE ZEIT: Herr Arestowytsch, am Montag
schlugen im Zentrum Kiews und in neun weite-
ren ukrainischen Städten Raketen ein. Es war der
größte Angriff dieser Art seit Beginn des Krieges.
Wo waren Sie an diesem Morgen?
Olexij Arestowytsch: Im Präsidentenpalast, zu-
sammen mit allen wichtigen Leuten der aktuellen
Regierung.
ZEIT: Hatten Sie Angst?
Arestowytsch: Ich bin Soldat. War zweieinhalb
Jahre an der Front. Wurde sieben Monate trai-
niert. Da lasse ich Angst nicht mehr zu. Es wäre
sowieso sinnlos, so etwas zu fühlen, denn es pas-
siert so viel Bedrohliches.
ZEIT: Rechneten Sie nach dem Angriff auf die
Krim-Brücke mit dieser Reaktion Putins?
Arestowytsch: Ja, wir wussten, dass solche An-
griffe drohen. Unser Geheimdienst war infor-
miert. Am frühen Morgen bekamen wir Signale
vom Militär, die Luftabwehr hatte schon früher
Alarm geschlagen. Wir saßen zusammen, schau-
ten die Nachrichten auf Bildschirmen, telefo-
nierten und informierten die Bevölkerung.
ZEIT: Können Sie uns erklären, wie Ihr Geheim-
dienst das mit der Brücke gemacht hat?
Arestowytsch: Das kann ich Ihnen ganz ehrlich
beantworten: Ich glaube wirklich nicht, dass wir
das waren.
ZEIT: Ist das Ihr Ernst?
Arestowytsch: Das ist mein Ernst. Der Angriff
auf die Brücke hilft dem russischen Präsidenten
viel mehr, als er uns nützen könnte. Er gibt Putin
die perfekte Rechtfertigung dafür, den Krieg auf
ein neues Level zu heben. Vielleicht waren es die
Russen selbst, oder es waren Tschetschenen. Ich
weiß es nicht. Jedenfalls brauchten die Russen
dringend eine Wende. Im Gegensatz zu uns.
ZEIT: Der französische Präsident Emmanuel
Macron sagte, der russische Angriff bedeute eine
»beeindruckende Änderung der Art dieses Krie-
ges«, weil Putin gezielt Infrastruktur und Zivilis-
ten ins Visier nehme. Sehen Sie das auch so?
Arestowytsch: Ja. Diesmal haben die Russen
kein einziges militärisches Ziel bombardiert.
Die Taktik dahinter ist also einfach nur Terror.
Ich glaube, es ging ihnen vor allem um die Bil-
der der Zerstörung. Herr Trump, Herr Musk,
Herr Erdoğan, alle sagen, wir sollten mit den
Russen verhandeln. Diese Forderungen kann
man mit Bildern von zerstörten Stadtzentren
unterstützen. Außerdem sind die Aufnahmen
Arestowytsch, 47, in einem
zerstörten Büro des
Instituts für Philologie in Kiew
»Putin will leben«
wichtig für die Reputation Putins in der eige-
nen Bevölkerung.
ZEIT: Welchen Effekt haben sie auf die ukraini-
sche Bevölkerung und die Armee?
Arestowytsch: Wir werden noch wütender, aber
bestimmt nicht eingeschüchtert. Wir bauen das,
was zerstört wurde, in zwei Tagen wieder auf.
Aber die Russen verpulvern Millionen Dollar
mit einem solchen Angriff.
ZEIT: Sie haben einen gewissen Ruf als Prophet.
2019 haben Sie vorhergesagt, Russland werde
die Ukraine im Jahr 2022 angreifen. Damals
klang das absurd. Aber wie kamen Sie eigentlich
darauf?
Arestowytsch: Ich habe bereits 2017 und sogar
schon 2005 davor gewarnt. Dafür musste ich
kein Prophet sein, das basierte auf reiner militä-
rischer Analyse. Aber das wollte leider niemand
glauben. Es wurden viele Witze darüber gemacht.
ZEIT: Würden Sie bitte für uns noch mal eine
Prophezeiung wagen? Wie wird die Gefechtslage
sein am 24. Februar 2023 – ein Jahr nach dem
Beginn dieses Krieges?
Arestowytsch: Das Problem ist: Putin hat alle
militärischen Optionen verloren, diesen Krieg
zu gewinnen. Ich könnte mir vorstellen, dass
die Russen einen Vorstoß auf Kiew wagen, von
der belarussischen Grenze aus, mit vielleicht
20.000 Mann. Damit wollen sie uns zwingen,
unsere Truppen von der Region Cherson weg
gen Norden zu verlagern. So wird Putin ver-
suchen, das von ihm annektierte Gebiet zu ver-
teidigen. Das wird ihm aber nicht gelingen. Erst
gestern haben wir eine neue Offensive gestartet,
in spätestens eineinhalb Monaten werden wir
Cherson zurückerobert haben. Das wird die
Moral der russischen Truppen brechen. Ich
denke, im Februar kommenden Jahres könnte
Putin taktische Atomwaffen einsetzen. Das ist
sein letzter Joker.
ZEIT: Putin lässt zudem gerade 300.000 Männer
einberufen, um sie an die Front zu schicken. Das
sind deutlich mehr, als etwa die gesamte Bundes-
wehr an Soldaten hat. Haben Sie eine ernsthafte
Chance, dieser Masse an Truppen standzuhalten?
Arestowytsch: Die Russen haben doch schon
jetzt beispielsweise nicht genug Medizin für die
ersten 90.000 Soldaten, die sie in die Ukraine ge-
schickt haben. Nicht genug Kleidung, nicht ge-
nug Waffen. Selbst wenn sie zwei Millionen
Männer mobilisieren würden, wäre das kein
Grund zur Sorge, denn sie können die nicht
kampfbereit machen. Wir wissen, dass Russlands
Militärexperten Putin vor diesen Problemen ge-
warnt haben.
ZEIT: Präsident Selenskyj bittet unentwegt um
neue Waffen. Ein Grund für die bislang meist
zögerliche Haltung der Deutschen ist die Angst
vor einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg.
Arestowytsch: Können Sie mir einen Gefallen
tun und den Deutschen ausrichten, dass wir
Ukrainer kein bisschen Angst vor einer atomaren
Bedrohung haben?
ZEIT: Wirklich nicht? Oder dürfen Sie die ein-
fach nicht eingestehen? Ihre Frau und Ihre bei-
den Kinder sind in Kiew.
Arestowytsch: Mein Bruder, meine Schwester
und meine Eltern auch.
ZEIT: Sie haben keine Angst um deren Leben,
wenn der Krieg eskaliert?
Arestowytsch: Absolut nicht. Gehen Sie doch
mal eine Sekunde weg von der Gefühlsebene.
Selbst wenn die Russen zehn bis zwanzig takti-
sche Atomraketen einsetzen würden, dann wür-
de das den Krieg nicht beenden. Sie hätten ja gar
nicht die Leute auf dem Boden, die es für eine
Eroberung bräuchte. Und wir wären nur noch
motivierter als zuvor. Die Amerikaner machen
ziemlich klar, dass es eine heftige Reaktion geben
würde, sollte Putin taktische Atomwaffen ein-
setzen. Also bitte.
ZEIT: Sie kennen Deutschland, haben als Kind
hier gelebt. Wie erklären Sie sich, dass die Deut-
schen besonders viel Angst vor einer Eskalation
haben? Viel mehr als die Polen oder die Balten,
die viel näher dran sind?
Arestowytsch: Das kommt durch die Erfahrung
des Zweiten Weltkrieges. Damit sind immer
noch so viele Gefühle verbunden, Scham, Angst,
Schuld, das alles sitzt anscheinend sehr tief. Das
können die Deutschen auch nicht einfach ver-
drängen. Dagegen kommt man, glaube ich, nur
mit Geduld und Rationalität an.
ZEIT: Zu Ihren stärksten Unterstützern am An-
fang des Krieges gehörte auch der reichste Mann
der Welt, Tesla-Chef Elon Musk. Er sorgte dafür,
dass ukrainische Militärs über sein Satelliten-
System Starlink miteinander kommunizieren
konnten. Jetzt aber schlägt er auf einmal vor, die
Ukraine möge doch Russland bei Friedensver-
handlungen entgegenkommen. Wie kommt es
wohl zu dem Wandel?
Arestowytsch: Wir sind auch sehr überrascht. Ob
es die Russen sind, die ihn beeinflussen, oder
Trump, wir wissen es nicht. Jedenfalls sind wir
gespannt auf seine Reaktion nach den gestrigen
Angriffen auf die Infrastruktur.
ZEIT: Seltsamerweise melden ukrainische Mili-
tärs in jüngster Zeit auch vermehrt Ausfälle der
Starlink-Übertragungen. Es wird spekuliert über
einen geheimen Pakt zwischen Musk und Mos-
kau. Sie sind ja eigentlich Geheimdienstmann.
Wie schätzen Sie die Lage ein?
Arestowytsch: Es gibt Ausfälle, wir sind noch
dabei, zu prüfen, woran es liegt. Es wäre eine sehr
große Sache, wenn es einen Pakt zwischen Mos-
kau und Musk gäbe, deshalb müssen wir uns
ganz sicher sein, bevor wir eine solche Behaup-
tung aufstellen würden.
ZEIT: Im Westen gibt es die Diskussion, ob man
nicht doch Putin eine Art Rampe bauen kann,
über die er gesichtswahrend aus diesem Krieg
aussteigen kann. Wie könnte die aussehen?
Arestowytsch: Eine solche Rampe ist unvorstell-
bar. Und das liegt an Putin. Der Beginn dieses
Krieges war sein Ende als politische Figur. Die
Mobilmachung war das Ende seines Regimes.
Wenn er Atomwaffen einsetzen sollte, dann wür-
de das das Ende der Russischen Föderation be-
deuten. Wir können mit niemandem verhan-
deln, dessen Amtszeit aus westlicher, aus ukrai-
nischer Perspektive vorbei ist.
ZEIT: Nun liegt ja der Verdacht nahe, dass Putin
einen Angriff auf die Ukraine mit einer takti-
schen Atomwaffe riskiert, wenn er keinen Aus-
weg sieht. Würden Sie das in Kauf nehmen?
Arestowytsch: Noch mal: Wenn er wirklich takti-
sche Atomwaffen einsetzen würde, dann müsste er
Hunderte abfeuern. Fünf oder zehn bringen
nichts. Diese Menge würde aber eine Bedrohung
für ganz Europa bedeuten, der Wind würde den
Fallout auch über die Grenzen wehen. Und sollten
Nato-Staaten involviert werden, dann gibt es eine
amerikanische Reaktion. Die nächste Stufe wäre
ein Atomkrieg, das Ende der Zivilisation. Ich glau-
be nicht, dass das Putins Wunsch wäre. Putin will
leben. Seine Familie lebt teilweise in westlichen
Ländern mit sehr viel Geld und Luxus. Und falls
er doch loslegen sollte, dann müssen die Amerika-
ner schneller sein, als er die Order geben kann,
strategische nukleare Raketen loszuschießen.
Die Fragen stellte Cathrin Gilbert
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Stell dir vor ...
... die russischen Raketen
schlügen in Hamburg statt in
Kiew ein. Wie spräche
man dann über diesen Krieg?
VON ALICE BOTA
D
er Krieg teilt Menschen ein in
Täter und Opfer, aber auch in
die Zuschauenden, diese vom
Glück Geküssten: Sie werden
heute Nacht nicht vor Raketen
fliehen müssen. Wir Zuschauenden verfolgen
die Nachrichten, schütteln den Kopf ob der
Grausamkeit und Vergeblichkeit, wie furcht-
bar, dann schalten wir erleichtert den Fernseher
aus, die Pushnachrichten auf dem Handy wer-
den weggedrückt, Pausenbrote müssen ge-
schmiert werden, morgen früh klingelt der
Wecker. Weit weg, das alles. Der Schock vom
Februar, als Russland die Ukraine überfiel, be-
gann zu verblassen. Bis am vergangenen Mon-
tag wieder zahlreiche Städte der Ukraine mit
russischen Raketen beschossen wurden, auch
Kiew. »Alle vorgesehenen Objekte wurden ge-
troffen«, erklärte das russische Verteidigungs-
ministerium später. Man schaut auf die Auf-
nahmen, ich schaue hin und denke: Ich kenne
diese vorgesehenen Objekte.
Die Ferne macht Kriege abstrakt, macht sie
konsumierbar oder eher: erträglich. Vor Kurzem
hatte ich ein freundliches Gespräch mit einem
Unterzeichner eines jener offenen Briefe an die
Politik, die zwar davor warnten, der Ukraine
einen »Diktatfrieden« aufzuzwingen, aber die
Ukrainer verklausuliert zur Aufgabe aufriefen.
Als ich von den Verbrechen der russischen Armee
erzählen wollte, von der Folter, der gezielten Ver-
nichtung von Symbolen und Menschen, die
ukrainische Staatlichkeit repräsentieren, ent-
gegnete mein Gesprächspartner: »So sind alle
Kriege.« Ein Satz wie eine Schublade, in die man
die aktuelle Verstörung packt und wegsperrt.
Vielleicht muss man den Krieg jedes einzelne
Mal übersetzen: die Opfer, die Ziele. Der Be-
schuss des Schewtschenko-Parks in Kiew bedeu-
tet also: Im Herzen der Hauptstadt schlug eine
Rakete ein, dort, wo ich fast immer durchhastete
auf dem Weg zu meinen Terminen. Der Park
befindet sich neben einer rot angestrichenen Uni-
versität, die nach dem Nationaldichter Taras
Schewtschenko benannt ist. An warmen Tagen
treffen sich hier Studierende, plaudern, küssen
sich, ältere Männer spielen Schach. Von hier be-
richtete ich 2016 über die Pride, eine Parade für
schwule, queere und Trans-Menschen. Sie musste
damals von Hunderten Polizisten bewacht wer-
den, aber immerhin: Es gab sie. Ich war gerade
aus Moskau zurückgekehrt, wo es so etwas nicht
gab, und wartete in dem Park, dass es losginge;
in der Sonntagsträgheit standen tratschend Poli-
zisten, und Mütter schaukelten ihre Kinder auf
dem Spielplatz. Den Spielplatz gibt es nicht
mehr, er wurde von der Rakete zerstört. Die
Fensterscheiben der Universität sind geborsten,
auch die vom Institut für russische Sprache.
Das ist, als wäre eine Rakete neben der Ham-
burger Elbphilharmonie eingeschlagen. Als wür-
de so ein Geschoss einen Krater vor der Ludwig-
Maximilians-Universität in München reißen.
Eine der vielen Raketen hat die Wolody-
myrska-Straße getroffen: viele alte Pracht-
bauten, Büros, Verwaltung, der Geheimdienst
SBU. Dahinten ist das überteuerte Lokal mit
den Meeresfrüchten, und in der tartoria gibt es
den süßesten Kuchen, den man besser nicht
teilt. Wo wäre die deutsche Wolodymyrska-
Straße? Vor dem Restaurant Einstein in der
Berliner Kurfürstenstraße?
Oder die Glasbrücke, die der Bürgermeister
Vitali Klitschko für zu viel Geld hat bauen
lassen. Sie beginnt nahe dem Außenministeri-
um im schönen Viertel Podil, führt am Fluss
Dnipro entlang bis zum einstigen sowjetischen
Denkmal der Völkerfreundschaft, die keine
mehr ist. Wenn es solche Explosionen neben
dem Berliner Reichstag gäbe, dort, wo die
Spree sich an den Parlamentsgebäuden vorbei-
schlängelt und Touristen auf Schiffen entlang-
tuckern: Welche Worte fänden wir dafür? An-
schlag? Feige Tat? Oder vielleicht doch das
mächtigste Wort im Arsenal: Terror?
In der Ukraine ist das Realität. Am Dienstag
ging der russische Beschuss weiter, Raketen flo-
gen auf jene Infrastruktur, die Menschen das
Überleben im Winter sichert: Frieren sollen sie,
ohne Heizung und Wasser sein. Wir nennen
Wladimir Putin nicht einen Terroristen, auch
dann nicht, als seine Luftwaffe syrische Kranken-
häuser bombardierte. Dieser Krieg wirft vieles
von dem um, was an Gewissheiten in Deutsch-
land herrschte, aber die Sprache kommt nicht
hinterher. Von der Ukraine-Krise ist in Talk-
shows noch immer die Rede, vom Ukraine-
Krieg in den Redaktionen, dabei ist das falsch:
Russland führt Krieg gegen die Ukraine.
Putin muss Teil der Lösung werden, weil er
Teil des Problems ist, das hat sich ins deutsche
Bewusstsein eingeschrieben. Doch wenn es
nicht Kiew wäre, das getroffen würde, nicht ein
Park irgendwo in der Ukraine, sondern die
Münchner Universität oder die Hamburger
Elbphilharmonie oder die Brücke über die
Spree im Regierungsviertel: Wie würden wir
dann sprechen?
6 POLITIK
Foto: Donat Sorokin/ITAR-TASS/imago (Jekaterinburg, 5. 10. 2022)
I
n Russland, wo normale Bürger für
die Verunglimpfung der Streitkräfte
bis zu 15 Jahre ins Arbeitslager ge-
steckt werden, sagt Kirill Stremous-
sow über die Rückzugsbewegungen
russischer Truppen in der Ukraine
ganz ungeniert: »Ein Verteidigungs-
minister, der das zulässt, sollte sich erschie-
ßen.« Stremoussow, Vizechef der russischen
Okkupationsbehörde von Cherson, be-
kommt dafür keine 15 Jahre, sondern Beifall.
In der Moskauer Duma fragt ein einfluss-
reicher Abgeordneter der Putin-Partei, wo
1,5 Millionen Soldatenausrüstungen geblie-
ben seien: »Der Fisch stinkt vom Kopfe her!«
Und im Fernsehen rufen die Propagandisten
und Lügner vom Fach der Armeeführung
zu: »Hört auf zu lügen!« Niemandem droht
eine Strafe.
Die russische Armee und ihre Führung
stecken in der tiefsten Krise seit dem Überfall
auf die Ukraine. Sie werden verdammt für
die Preisgabe von Tausenden Quadratkilo-
metern Land und schwere Verluste an Pan-
zern und Munition. Hinzu kam am Wochen-
ende die Unfähigkeit, die Krim-Brücke zu
schützen, die bei einem Anschlag teilweise
zerstört wurde. Seit Montag gehen nun russi-
sche Raketen auf ukrainische Städte nieder,
treffen Kinderspielplätze, Umspannwerke und
Häuser. Doch hinter dem Bombardement
steckt weniger eine durchdachte Strategie als
ohnmächtige Wut. Am Boden rennt die
Truppe mancherorts mehr, als sie kämpft, der
Nachschub bleibt stecken, viele Geschosse
treffen nicht. Kurzum: Der Krieg verläuft
blamabel, die Armee scheitert an ihren weit-
gesteckten Zielen. Woran liegt das? Und: Wer
profitiert davon?
Besonders auffällig ist die Kritik von zwei
Günstlingen des russischen Herrschers. Sie
haben als Feldherren in eigener Sache ganze
Privatarmeen aufgebaut. Ramsan Kadyrow,
Herrscher Tschetscheniens und berüchtigter
Milizenführer, nennt die russischen Kom-
mandeure in der Ukraine »unfähig« und
macht den Moskauer Generalstab verant-
wortlich für die »Niederlagen der Streit-
kräfte«. Dabei kämpften Kadyrows Truppen
beim Sturm auf Kiew mit, sehr brutal, aber
nicht erfolgreich.
Kadyrow bekommt Unterstützung von
einem anderen Kriegsprivatier, Jewgenij Pri-
goschin, Gründer und Chef der Wagner-
Milizen. Seine Söldnertruppe kämpft seit
Jahren in Afrika, in Syrien und in der Ukraine
und wird zahlreicher Kriegsverbrechen be-
schuldigt. Prigoschin ließ sich neulich in
einem Straflager filmen, wie er Mörder und
Sexualverbrecher für den Krieg anwarb mit
den Worten: »Wer zurückweicht, sich ergibt,
säuft oder vergewaltigt, wird erschossen. Alles
klar? Dann schreibt euch da ein.« Die russi-
sche Armee kämpft nach Prigoschins Mei-
nung »altmodisch« und »ineffektiv«.
Die geprügelte Armee
Bitter nötige Aufmunterung: Konzert für russische Reservisten in Jekaterinburg Anfang Oktober
Kadyrow und Prigoschin stehen für die
russische Partei des totalen Kriegs. Für sie
sind Bombardements wie in dieser Woche
nur der Anfang. Für den Moment sei er mit
der Operation »hundertprozentig zufrieden«,
sagte Kadyrow auf Telegram. Er fordert
schon länger den Einsatz von Atomwaffen.
An Kadyrows und Prigoschins Kritik fällt
auf, dass sie um denjenigen einen großen
Bogen macht, der den Krieg ohne Not und
Anlass angefangen, den missratenen Marsch
auf Kiew zu verantworten und den Feldzug
per Mikromanagement geleitet hat: Wladi-
mir Putin. Hier scheint ein erstes wichtiges
Motiv der massiven Kritik an Armee und
Generalstab auf: alle Zweifel vom Feldherrn
auf die Generale und den Verteidigungs-
minister umzuleiten. Putin lässt den Kriegs-
privatiers vorerst freien Lauf. Und erlaubt,
dass die das Bild der Armee ruinieren.
Für die russischen Streitkräfte ist der feh-
lende Rückhalt des obersten Befehlshabers
ein tiefer Schock. Hier steht eine Armee am
Pranger, die alljährlich auf dem Roten Platz
ihre Weltmächtigkeit zelebriert, mit Inter-
kontinentalraketen, Kampfbombern, Atom-
waffen und einem röhrenden Vintage-Modell
des T-34-Panzers, mit dem Stalin 1945 Ber-
lin erobert hat. Eine Armee, die in ihrer
ruhmbedeckten Vergangenheit die Truppen
türkischer Sultane, Napoleons und Hitlers
zerschmetterte und den Vereinigten Staaten
vor sechzig Jahren in der Kuba-Krise nuklear
Paroli bot.
Das stolze Selbstbild der russischen
Streitkräfte lässt sich vor den Toren Moskaus
besichtigen, im Park »Patriot«. Dort ragt
eine tarnfarbengrüne Kathedrale hoch in
den Moskauer Herbsthimmel, mit opulen-
ten Freitreppen, gegossen aus dem Stahl Tau-
sender deutscher Panzer aus dem Zweiten
Weltkrieg. Als Reliquie wird hier Hitlers
Schirmmütze gehütet. Um die monumentale
Kampfkirche herum lodern ewige Flammen
vor den Bronzetafeln großer Schlachten, in
denen Millionen sowjetischer Soldaten ihr
Leben für den Sieg opferten. Und nun wer-
den ihre in der postsowjetischen Coffee-to-
go-Zivilität erschlafften Epigonen mit der
Ukraine nicht fertig?
Dafür gibt es viele konkrete Gründe. Ei-
nen davon nannte der Kommandeur der
»Russkij Legion« im Luhansker Gebiet am
7. Oktober: »Wir müssen uns Funkgeräte
und Wärmebildkameras selbst kaufen. Es
kommt keine Artillerieunterstützung. Wir
stehen hier praktisch allein vor einem bevor-
stehenden Angriff des Gegners.« Im Don-
bass klagen russische Wehrpflichtige, dass
sie als »Kanonenfutter« benutzt würden:
»Wir sollen hier mit Schnellfeuergewehren
gegen Artillerie und Granatwerfer kämp-
fen.« Der 20-jährige Danil Butkow sagt in
einem Video, das in ukrainischer Kriegs-
gefangenschaft aufgenommen wurde: »Die
Putins Truppe wird neuerdings auch in Russland
kritisiert – warum sind die Streitkräfte in
so einem maroden Zustand? VON MICHAEL THUMANN
russische Armee hat den Glauben an den
Sieg verloren, die Kommandeure laufen
ängstlich vom Schlachtfeld weg.« Das sind
harte Vorwürfe, von denen viele von Exper-
ten bestätigt werden.
In einem Papier des unabhängigen russi-
schen Investigativportals The Insider werden als
wesentliche Defizite der russischen Armee unter
anderem genannt: katastrophale Planung, un-
professionelle Buchführung über Bestände und
Lagerung, unklare Ziele der militärischen Ope-
rationen, mangelhafte Ausrüstung wie nicht
abhörsichere chinesische Funkgeräte und über-
haupt veraltete Wehrtechnik, grassierende
Korruption, nicht treffsichere Artillerie, un-
zureichendes Niveau der Ausbildung und
Disziplin der Soldaten und infolge all dessen
eine schlechte Kampfmoral der Truppe. Alles
deutet darauf hin, dass die »tiefgreifende
Armeereform«, die Putin seit 2009 durchführen
ließ, den Streitkräften zwar neue Raketen be-
scherte, aber die Truppe
selbst offenbar nur am
Rande erfasst hat.
Sergej Kriwenko von
der aus Russland geflohe-
nen Nichtregierungsorga- Die Generale
nisation »Bürger. Armee.
Recht« bringt auch die
Menschenrechtsverlet-
müssen
zungen der Armee mit
diesen Zuständen von Ver- schuld sein,
damit an Putin
nachlässigung und Ver-
antwortungslosigkeit in
Verbindung. In den Vor-
orten von Kiew, aber auch
im Gebiet von Charkiw
nichts
entdeckten vorrückende
ukrainische Truppen ver- hängen bleibt
grabene Leichen und Spu-
ren von Massakern. Diese
lasten ukrainische und
internationale Ermittler
den russischen Truppen an. Die wiederum be-
streiten ihre Täterschaft. Kriwenko spricht von
einer »Tradition der Straflosigkeit« in der russi-
schen Armee: Erschießungen von Zivilisten und
Plündereien würden oft nicht verfolgt, sagt er,
»in der Truppe übernimmt niemand die Ver-
antwortung«. Oft würden Befehlshabende
solche Fälle dulden oder gar selbst mitmachen.
Gerade das Unteroffizierskorps sei »extrem
schlecht ausgebildet«, komme häufig aus ver-
armten Dörfern der Provinz und sehe die Armee
nur als Ausweg aus der Misere an. »Gerade
einfache Soldaten haben oft keine Vorstellung
von der Angemessenheit oder Würdelosigkeit
des eigenen Tuns«, sagt Kriwenko. Und allen
Soldaten fehle eine klare Vorstellung vom Ziel
des Krieges: Sind die Ukrainer nun Brüder,
Nazis oder Feinde, denen man im nationalen
Volkskrieg gegenübersteht? Alles ungeklärt.
Die Widersprüche, die Putin selbst mit
seinem rhetorischen Schwanken zwischen
»heiligem Krieg« und »militärischer Spezial-
operation« geschaffen hat, nutzen nun die
Kritiker der Streitkräfte aus. Kadyrow verteilt
Noten für den Bombenkrieg und gebärdet
sich wie der Lieblingssohn, den Putin nie
hatte. Der Wagner-Chef Prigoschin rächt
sich dafür, dass das Verteidigungsministerium
einige Kampfaufträge mit ihm nicht ver-
längert hat. Er ruft die Abgeordneten der
Duma auf, »sich ein Schnellfeuergewehr zu
greifen und endlich in den Krieg zu ziehen«.
Die Armee und die Wagner-Söldner kon-
kurrieren in russischen Straflagern um Freiwil-
lige. In Moskau werden Gerüchte gestreut, dass
sich Putin zunehmend für alternative Kampf-
einheiten jenseits der regulären Armee interes-
siere. Das Staatsfernsehen verstärkt diesen
Eindruck. Die Agitprop-Wochenschau Westi
nedeli zeigte am vergangenen Sonntag eine
lange Reportage über eine Truppenparade der
Kadyrow-Milizen in Grosny. Die Kameras
schwenkten in Leni-Riefenstahl-Manier über
die säuberlich aufgereih-
ten Regimenter der Sol-
daten mit langen Bärten.
Der Reporter pries über-
schwänglich Disziplin und
Kampfgeist der Truppe. Er
ließ einen mit Orden be-
hängten Kadyrow in die
Kamera sagen: »Unsere
Jungs wollen den Staat
nicht länger in Gefahr se-
hen. Wir kommen zurück
mit dem Sieg.«
Diese Versprechen sind
direkte Angriffe auf das
russische Verteidigungs-
ministerium am Frunse-
Ufer in Moskau. Hinter
dessen dicken Mauern
versteckt sich Sergej Schoi-
gu, lange Zeit Putins engs-
ter Vertrauter beim Pilze-
sammeln und am Lagerfeuer in der Taiga. Den
Sturz des Verteidigungsministers und seines
Generalstabschefs Walerij Gerassimow erwar-
tet ganz Russland seit Tagen, aber bis zum
Dienstagabend war niemand zurückgetreten.
Man hört nichts von den beiden Militär-
spitzen, aber reden müssen sie auch gar nicht,
nur aushalten. Zu wichtig ist ihre Funktion
als Puffer, in dem alle Kritik an der misslun-
genen Operation stecken bleibt. Solange
Schoigu und Gerassimow in Moskau abge-
hetzt vor sich hin planen, kann Putin sagen,
er sei es nicht gewesen.
Zugleich testen Kadyrow und Prigoschin
die Chancen, ihre Leute in die Führung der
Operation zu schieben. Ihnen werden enge
Beziehungen zu den föderalen Wachbataillo-
nen und ehemaligen Leibwächtern Putins
nachgesagt, die allesamt Rechnungen mit dem
Verteidigungsministerium offenhaben. Kady-
row selbst wurde von Putin vorige Woche zum
Generaloberst der Rosgwardija befördert, der
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Präsidententruppe, die nicht zu den Streit-
kräften gehört. Weitere Konkurrenz lauert in
den Geheimdiensten.
Entlastung bekommt Schoigu vorerst
durch die Ernennung eines neuen Oberkom-
mandierenden der Ukraine-Operation, Ser-
gej Surowikin. Der General gilt als brutal
und hemmungslos. Er hatte sich schon mit
24 Jahren einen Namen gemacht, als er einen
Panzer kommandierte, der 1991 drei De-
monstranten in Moskau einfach überrollte.
Surowikin war an den Kriegen in Tschetsche-
nien und Syrien beteiligt, wo es zu Chemie-
waffeneinsätzen kam und die Millionenstadt
Aleppo zerstört wurde. In der Ukraine war er
bisher für die südliche Front zuständig. Mos-
kauer Medien berichten übereinstimmend
von Surowikins gefürchteten »Mitarbeiter-
gesprächen« im Generalstab. Ein Untergebe-
ner hat sich danach selbst erschossen. Surowi-
kin wird nun seit Anfang der Woche von den
russischen Eliten als der Mann gefeiert, der
die Probleme der Operation lösen wird.
Als Beispiel der Problemlösung gilt das
enthemmte Bombardement ukrainischer Städ-
te mit Marschflugkörpern und Langstrecken-
bombern. Das Propagandafernsehen feiert die
Angriffe wie ein Silvesterfeuerwerk, ein Mode-
rator tanzte auf seinem Balkon, in einem Pyja-
ma mit der Aufschrift »Armee Russlands«. Selbst
der übellaunige Statthalter von Cherson, Kirill
Stremoussow, befindet: »Jetzt fangen wir an, wie
Erwachsene mit denen zu reden, die uns nicht
zuhören wollen.« Für diese Schreckenskom-
munikation setzen die Streitkräfte nun sehr
teure Marschflugkörper, aber auch alte sowjeti-
sche Sprengkörper ein, die oft das Ziel verfehlen.
Die Ungenauigkeit, die an der Front die ukrai-
nischen Soldaten vor präzisem Beschuss be-
wahrt, wird in den Städten zur Katastrophe.
Doch wird dieses Bombardement den
Krieg nicht entscheiden, weil man aus der
Luft kein Land erobern kann. Die nächste
Enttäuschung der Moskauer Kriegseliten ist
abzusehen, wenn trotz oder gerade wegen des
Beschusses ukrainische Truppen entschlossen
weiter vorrücken. Kadyrow und Prigoschin
haben sich für die folgenden Machtkämpfe
bereits in Stellung gebracht. Und Putin blei-
ben am Ende natürlich seine Atomstreitkräfte,
die jedes Jahr ihre Raketen zu Platzmusik auf
dem Roten Platz vorführen. Kadyrow und
viele Hardliner fordern regelmäßig deren
Einsatz. Aber sind die Nuklearstreitkräfte
wirklich in besserem Zustand als der Rest der
Armee? Darüber ist nichts Gesichertes be-
kannt. Der im Exil lebende russische Groß-
kommentator Sergej Parchomenko vermute-
te in einem Interview, Putin wisse es selbst
nicht genau. Wie beim sonstigen Militär
verfüge der Präsident auf dem Papier über
Daten wie die Anzahl der Waffen und ihre
Leistungsfähigkeit. Doch Gewissheit über
die Einsatzbereitschaft und Zielgenauigkeit
habe er nicht.
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
D
ie CDU wird gebraucht«,
hatte Friedrich Merz am
Montag nach der verlorenen
Landtagswahl in Nieder-
sachsen gesagt. So ein Satz
kann schnell mal nach hin-
ten losgehen. Denn erstens
haben alle gerade gesehen, dass es in Hannover
künftig nach Auffassung der Wähler ganz gut
ohne die CDU geht. Und zweitens drängt sich
sofort die Frage auf: Wozu wird die CDU denn
gebraucht? Weiß sie das selbst eigentlich? Was
heißt konservativ heute?
Über diese Fragen gelangt man in den un-
beheizten Innenraum einer tief verunsicherten
Partei. Eine europäische Schwesterpartei nach der
anderen hat den Weg in den Postliberalismus an-
getreten oder sich bis zur Unkenntlichkeit radika-
lisiert: Die britischen Tories haben ihr Land kurz-
zeitig fast in den Staatsbankrott geführt. Die ita-
lienische Forza Italia schließt ein Bündnis mit
den selbsterklärten Erben Mussolinis, Schwedens
Konservative sehen keine andere Wahl als die
Tolerierung durch Rechtsextreme. Und die US-
Republikaner haben ihren Frieden mit einem ver-
suchten Staatsstreich gemacht.
In dieser Ära des Umstürzlertums, der Disrup-
tion von rechts, wird die CDU mit ihrer zuver-
lässigen Mittigkeit und Mäßigung gelegentlich
betrachtet wie ein Weltkulturerbe. So wichtig, dass
es euch gibt! Aber die Tatsache, dass man Schlim-
meres verhindert, entzündet noch kein Lagerfeuer.
Wenn Viktor Orbán dagegen dem »Establishment
der Globalisten« den Krieg erklärt, das angeblich
das Volk gegen Migranten austauschen will und
Familien durch Gendervielfalt ersetzen, hört ganz
Europa gebannt zu, manche mit Gruseln, andere
mit Begeisterung. Orbán hat etwas Neues, etwas
Gefährliches, das aufregt; bei den US-Republika-
nern ist er mit seiner »illiberalen Demokratie« in-
zwischen ein Vorbild, Giorgia Meloni von den
Fratelli d’Italia klingt wie seine Bauchrednerin.
Wenn Friedrich Merz redet, hört man hinge-
gen ein Einerseits-Andererseits. Frauenquote und
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Lagerfeuer gesucht
Überall in Europa radikalisiert sich die bürgerliche Rechte – wie weit will die CDU da mitgehen?
Genderverbot im Öffentlich-Rechtlichen. Unter-
stützung für die Ukraine und Verdacht des
»Sozialtourismus« durch ukrainische Flüchtlinge.
In Niedersachsen hat die CDU fast gleich viele
Stimmen an die Grünen wie an die AfD verloren.
Wie ein Tangotänzer muss Merz die Flügel seiner
Partei zum Äußersten biegen, um den Laden zu-
sammenzuhalten.
Von Bundestagwahl zu Bundestagswahl verliert
die CDU rund eine Million Wähler an den Tod.
Entscheidend für die Stabilität ihrer Brandmauer
nach rechts ist nicht nur die Frage, ob sie selbst et-
was Zündendes findet, sondern ob der Orbánsche
Gedanke »Establishment gegen Volk« bei Christ-
demokraten zündet – oder ob sie sich weiterhin
selbst zu diesem Establishment zählen. Merz selbst
schlägt, wenn es beispielsweise ums Gendern geht,
gelegentlich diesen Ton an.
Friedrich Merz steht bei vielen im Verdacht, die
Grenzen der CDU nach rechts verschieben zu
wollen. Aber es gehört zu den Paradoxien der Ära
Merkel, dass sie selbst wie auch ihre Nachfolgerin
Annegret Kramp-Karrenbauer auf europäischer
Ebene – von wo der Wind der Disruption von
rechts heute weht – stets darauf gedrungen hat,
die Fidesz-Partei von Viktor Orbán in der Parteien-
familie EVP zu halten, bis der dann von selbst
ging. Fragt man an der heutigen EVP-Spitze nach,
warum die deutschen Christdemokraten es bei-
spielsweise mit der Forza Italia halten, obwohl die
zum Bündnis mit den Postfaschisten bereit ist,
lautet die Begründung wie gehabt: »Uns geht es
einfach darum, den Laden zusammenzuhalten –
und damit meine ich nicht die EVP, sondern die
Europäische Union«, sagt Daniel Caspary, Chef
der CDU-CSU-Gruppe in der EVP. »Wären die
Tories unter David Cameron nicht aus der EVP
Foto: Martin Steger
ausgestiegen, ich glaube kaum, dass es dann einen
Brexit gegeben hätte. Viktor Orbán hat die EVP
verlassen. Ist dadurch irgendetwas besser gewor-
den in Ungarn? Nein! Wir deutschen Christ-
demokraten stehen nun nicht mehr in der Kritik
wegen unserer schwierigen Partner, aber man hat
eben alle Gesprächskanäle verloren.« Man hat sich
POLITIK
Führung von oben? So sah mancherorts der
CDU-Wahlkampf in Niedersachsen aus
a
7
VON MARIAM LAU
also, angesichts der stetig schmelzenden Eisscholle
solider konservativer Parteien, auf die Politik des
kleineren Übels verlegt.
Keine Beobachtung der Demoskopen trifft die
Unionsspitze derzeit so sehr wie die, dass ihr die
Menschen ausgerechnet in ihrer Königsdisziplin
nicht mehr über den Weg trauen: der Wirtschafts-
kompetenz. Auf die Frage, wer aus der CDU
einem zwingend für das Amt von Robert Habeck
einfiele, sollte es einen Regierungswechsel geben,
trifft man in Gesprächen mit höchsten Partei-
kreisen auf ratlose Blicke. Eine unausgesprochene
Erleichterung ist zu spüren – gut, dass wir den
Schlamassel nicht am Hals haben.
Diese Ratlosigkeit ist kein Zufall. Ungeklärt ist
die Frage, ob die Ära der Deregulierung spätestens
mit der Finanzkrise tot und begraben ist. Ob der
Staat eher »Bürokratiemonster« oder Retter ist. Ob
das Klima ein »grünes Thema« sei oder das Zentrum.
Ob Schulden und Staatsbeteiligungen unbedingt
immer des Teufels sind – in alldem ist die CDU nicht
wirklich trittsicher. Kaum ein Moment war für
Friedrich Merz’ Oppositionsführerschaft so heikel
wie die Debatte in der Fraktion über den Mindest-
lohn, mit dem er es hält wie mit der Frauenquote:
Passt eigentlich nicht zu uns, muss aber sein.
Die CDU wird kaum Wähler rechts der Mitte
anziehen können, wenn sie in allem klingt wie die
Grünen. Der Historiker Andreas Rödder – von Merz
mit der Ausarbeitung der Grundsatzcharta für das
neue CDU-Programm betraut – sieht die Radikali-
sierung weiter Teile der Rechten als Reaktion auf die
linke Identitätspolitik. »Da gibt es eine Polarisierung
auf beiden Seiten. Der umstürzlerische Rechts-
populismus ist eben die Antwort auf Wokeness.
Der Putschversuch am 6. Januar stellt zwar so
ziemlich alles andere in den Schatten. Aber ich halte
die Cancel-Culture der Linken im Grunde für eben-
so problematisch. Das ist eine wirklich toxische
Mischung. Mich beunruhigt das sehr.« Für Anfang
November hat sein Thinktank denkfabrik R21 zu
einer Veranstaltung »Wokes Deutschland – Identitäts-
politik als Bedrohung unserer Freiheit?« geladen. Es
wird mit reger Anteilnahme aus der CDU gerechnet.
 8 POLITIK
D
ie designierte italienische
Ministerpräsidentin Giorgia
Meloni hat aus ihren Ressen-
timents gegen Deutschland
nie einen Hehl gemacht. Als
die Chefin der Fratelli d’Ita-
lia noch auf den Bänken der
Opposition saß, giftete sie immer wieder Richtung
Berlin. Dort gebe man sich nur als gute Europäer,
in Wahrheit aber verfolge la Germania rücksichts-
los die eigenen Interessen. In Deutschland konnte
man angesichts dieser Kritik bislang gelassen blei-
ben. Wer war schon Giorgia Meloni?
Doch in diesen Tagen sind es nicht nur die üb-
lichen Verdächtigen, die Deutschland Verlogen-
heit und Egoismus vorhalten. Ob in Madrid oder
Paris, in Warschau oder Helsinki – quer durch
Europa werden ähnliche Vorwürfe laut. Die Wut
der anderen hat sich am »Doppelwumms« ent-
zündet, jenen 200 Milliarden Euro, mit denen die
Ampelregierung die wirtschaftlichen Folgen der
Energiekrise abfedern will.
Indem Deutschland seine Unternehmen mit
viel Geld unterstütze, verschaffe es ihnen einen
Vorteil und verzerre so den Wettbewerb innerhalb
der EU, lautet der Vorwurf. Am schärfsten hat
ihn der polnische Ministerpräsident Mateusz Mo-
rawiecki formuliert. »Das reichste und mächtigste
Land der EU versucht, diese Krise zu nutzen, um
seinen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil
auf dem Binnenmarkt zu verschaffen«, sagte Mo-
rawiecki, als sich die Staats- und Regierungschefs
der Union vergangene Woche in Prag trafen. Es
sei an der Zeit, den »deutschen Egoismus« zu be-
enden. Nun steht die polnische Regierung Berlin
ohnehin kritisch gegenüber. Doch das einseitige
Vorgehen des Kanzlers hat auch andere Europäer
aufgebracht.
Ähnlich wie Morawiecki mahnte der lettische
Ministerpräsident Krišjanis Karinš in Prag, Deutsch-
lands Vorgehen »könnte den Binnenmarkt zerstö-
ren«. Der bisherige italienische Regierungschef
Mario Draghi erklärte, Europa dürfe sich nicht
»gemäß den jeweiligen Spielräumen in den natio-
nalen Haushalten aufspalten«. Frankreichs Fi-
nanzminister Bruno Le Maire warnte vor einer
»Fragmentierung der Euro-Zone«. Und ausge-
rechnet Giorgia Meloni, die Nationalistin, mahn-
te, kein Mitgliedsland der EU könne allein »dau-
erhafte Lösungen anbieten, nicht einmal die, die
unter finanziellen Gesichtspunkten weniger ver-
letzlich erscheinen«.
Gewiss, nicht alle Vorwürfe sind frei von eigenen
Interessen. Trotzdem ist auffallend, wie heftig sie auf
Berlin einprasseln – und wie wenige Länder Deutsch-
land zur Seite springen. Offensichtlich entlädt sich
ein Zorn, der sich seit Langem aufgestaut hat.
In Italien, Spanien oder Frankreich erinnert
man sich in diesen Tagen an die schmerzhaften
Auseinandersetzungen der Euro-Krise. Die deut-
Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT
sche Regierung hatte damals hoch verschuldeten
Ländern vorgehalten, diese hätten »über ihre Ver-
hältnisse gelebt«. Nun kehrt die spanische Um-
weltministerin Teresa Ribera den Satz um: »Wir
haben unter Energiegesichtspunkten nicht über
unsere Verhältnisse gelebt!« Anders als Deutsch-
land, soll das heißen.
Schon in der Euro-Krise hatte die damalige
Bundesregierung jede Diskussion darüber ver-
Wie Staaten ihr Image aufbessern
Wie sie es schaffen könnten Wie sie es versuchen
Einhaltung der Menschenrechte
Bekämpfung von Korruption
Gewährung der Meinungs- Kauf von
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Deutschland
landet gern sanft
Warum so viele EU-Länder wegen der Entlastungspakete
der Bundesregierung sauer sind
VON MATTHIAS KRUPA, ULRICH LADURNER UND JÖRG LAU
weigert, welche Folgen die deutsche Exportwirt- länder stützten sie den deutschen, restriktiven
schaft für andere Länder im Europäischen Bin- Kurs. Nun hat sich ihr Blick grundlegend verän-
nenmarkt hat. Nun heißt es in einem Kommentar dert. Deutschland gilt als Mitverursacher der ge-
der französischen Tageszeitung Le Monde, die genwärtigen Krise.
Stärke der deutschen Wirtschaft basiere nicht al- Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs
leine auf richtigen Entscheidungen, die das Land in der Ukraine ist die Entfremdung besonders
getroffen habe, »sie speist sich auch aus einem in- sichtbar. Immer wieder hatten Mittel-, Ost- und
dustriellen Egoismus und Nationalismus, der in Nordeuropäer vor einer zu großen Abhängigkeit
jeder Krise wieder auflebt, egal was er die euro- von Russland gewarnt. Dass Deutschland selbst
päischen Partner kostet«. nach der Annexion der Krim 2014 auf Frieden
Anders als in der Euro-Krise sind es diesmal und Wohlstand durch Geschäfte mit Russland
nicht allein die Südeuropäer, die Deutschland setzte, wurde zwischen Kaunas und Tallinn lange
Rücksichtslosigkeit vorwerfen, sondern auch der Zeit mit stiller Wut hingenommen. Die Anschläge
Norden und Nordosten Europas. Länder wie auf die Nord-Stream-Röhren haben jetzt in Polen,
Schweden und Finnland und auch die drei balti- im Baltikum und in Finnland Entsetzen, aber auch
schen Nationen waren immer verlässliche Partner eine gewisse Genugtuung ausgelöst. Es ist das sym-
für die deutsche Europapolitik, besonders wenn es bolische Ende einer deutschen Politik, die keine
um die Finanzen ging. Gegen die Ideen der Süd- Rücksicht auf Nachbarn und Partner nahm.
Gefährliche Orte für Frauen
Torten Was Menschen in Großstädten suchen
der
Wahrheit
VON KATJA BERLIN
einsame Fußgängerunterführungen
dunkle Parks
Wohnzimmer, Schlafzimmer,
Küche, Bad
Im Norden und Osten Europas ist man dop-
pelt enttäuscht, erklärt Minna Ålander vom Fin-
nischen Institut für Internationale Beziehungen.
Deutschland war wohl nie so selbstlos, wie man
angenommen hatte; nun ist es nicht so führungs-
stark, wie man es sich wünscht.
Schon vor elf Jahren sagte der damalige pol-
nische Außenminister Radek Sikorski etwas, das
seither oft zitiert wird: Er fürchte deutsche Macht
weniger als deutsche Untätigkeit. Damals bezog
sich dies auf die notwendigen Reformen in der
Euro-Krise. Seit dem russischen Angriffskrieg
kann man den Satz auch auf die Verteidigungs-
politik beziehen. Es ist eine dramatische Umkehr
des historischen Arguments: Einst schien militäri-
sche Zurückhaltung in Mittel- und Osteuropa die
natürliche Konsequenz aus dem deutschen Ver-
nichtungskrieg; heute erwartet man von Deutsch-
Wer in Deutschland dafür
verantwortlich gemacht wird, dass eine
rechtsextreme Partei gewählt wird
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13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
land eine Führungsrolle bei Waffenlieferungen an
die Ukraine.
Während man in Polen eine gewisse Lust be-
obachten kann, Deutschland als bedingt abwehr-
bereit bloßzustellen, überwiegt im Baltikum und
im Norden die Beunruhigung. Estland betont,
dass es gemessen an seiner Wirtschaftsleistung der
Ukraine militärisch viel mehr hilft als die großen
Länder in der EU. Obwohl Frankreich weniger
für die Ukraine leistet, wird es weniger kritisiert.
Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian
Lindner – alle drei versuchen nun, die Vorwürfe
zu entkräften. Die 200 Milliarden Euro für
Haushalte und Unternehmen, rechnen sie vor,
verteilen sich auf drei Jahre; gemessen am deut-
schen Wirtschaftsaufkommen sei die Summe gar
nicht so groß; auch andere Länder in der EU
hätten nationale Maßnahmen ergriffen, um der
Energiekrise zu begegnen. Das stimmt. Frank-
reich etwa hat früh einen Deckel für Strom- und
Gaspreise beschlossen und insgesamt rund 70
Milliarden Euro ausgegeben, um Unternehmen
und private Verbraucher zu schützen. Auch Spa-
nien hat für vergleichbare Maßnahmen mehr als
35 Milliarden Euro eingesetzt. Aber kein anderes
Land hat eine so große Summe aufgerufen wie
Deutschland.
Der Druck der Partner scheint daher zu wir-
ken. Offensichtlich freundet sich die Bundes-
regierung mit der Idee an, dass die EU-Staaten
gemeinsam Gas einkaufen; auch über neuerliche
EU-Finanzhilfen für besonders betroffene Staaten
wird in Berlin neuerdings nachgedacht.
Denn die Kritik der Partner schmerzt, auch
wenn man sie in Berlin als ungerecht empfindet.
Schließlich wollten die Ampelkoalitionäre beson-
ders europafreundlich sein. Erst vor wenigen Wo-
chen hatte Olaf Scholz diesen Vorsatz in einer
Rede an der Karls-Universität in Prag bekräftigt.
»Wann, wenn nicht jetzt«, fragte der Kanzler rhe-
torisch, »schaffen wir ein souveränes Europa, das
sich in einer multipolaren Welt behaupten kann?
Wann, wenn nicht jetzt, überwinden wir die Diffe-
renzen, die uns seit Jahren lähmen und spalten?«
Und nun wird ausgerechnet seine eigene Regie-
rung verdächtigt, einen Keil in die EU zu treiben.
Der russische Angriff auf die Ukraine und die
daraus folgende Wirtschaftskrise haben die Wider-
sprüche der deutschen Europapolitik scharf mar-
kiert. Bloß »keinen Alleingang«, betont Scholz
immer wieder, wenn es um mögliche Panzerliefe-
rungen an die Ukraine geht. Nun wird ihm vor-
gehalten, der »Doppelwumms« sei ein wirtschafts-
politischer Alleingang. Die EU dürfe keine neuen
Schulden aufnehmen, erklären der Kanzler und
sein Finanzminister – und gönnen Deutschland
gleich zwei Sondervermögen, die durch Kredite
finanziert werden: 200 Milliarden Euro zur Be-
kämpfung der Energiekrise und 100 Milliarden
Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr.
Noch etwas kommt hinzu. Die Europäische
Union wurde ein Jahrzehnt lang von Deutschland
dominiert. Die deutsche Politik wurde zwar kriti-
siert, aber als Führungsfigur war Angela Merkel
unangefochten. Der Überschwang, mit dem die
Kanzlerin sogar als »Anführerin der freien Welt«
verklärt wurde, hat sich ins Gegenteil verkehrt –
auch das ist ein Grund für die Schärfe, mit der ihr
Nachfolger nun kritisiert wird.
die Linken
Merkel
die Gender-
Ideologie
die Ampel
Geflüchtete
Menschen mit
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DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 POLITIK 9

»Netanjahu ist
kein Rätsel« Comeback? Fans
von Benjamin
Netanjahu feiern
den Ex-Premier

Fotos: Abir Sultan/epa-efe; Jonas Opperkalski/laif (u.)

Ein Gespräch mit dem Publizisten Tom Segev über
die bevorstehende Wahl in Israel – und über
sein schwieriges Verhältnis zu seinem eigenen Land

DIE ZEIT: Herr Segev, Anfang November wird Segev: Wir haben zu Hause Deutsch gespro- Wort würden Sie sie heute beschreiben? Normal, Segev: Antisemitismus, Antizionismus und Segev: Es gibt durchaus ein Problem bei manchen
in Israel gewählt, zum fünften Mal in dreieinhalb chen, das ist meine erste Sprache. Meine Mutter freundlich, entfremdet? Hass auf Israel sind nicht das Gleiche. Anti- Kritikern. Die Boykottbewegung BDS hat kein
Jahren. Ist das ein Zeichen einer Krise – oder hat uns Erich Kästner vorgelesen. Ich bin durch Segev: Es ist auch heute keine normale Beziehung. semitismus gab es lange vor dem Zionismus Problem mit Waren aus China, die unter men-
einer besonders lebendigen Demokratie? meine Mutter in dem Gefühl aufgewachsen, Sie ist ungeheuer gefühlsbeladen. Deutschland ist und der Gründung des Staates Israel. Es ist schenverachtenden Bedingungen produziert wer-
Tom Segev: Es ist ein Zeichen einer Krise. Sie ist dass wir durch die Flucht aus Deutschland etwas das zweitwichtigste Land für Israel, gleich nach den falsch, alle Kritik an Israel als antisemitisch zu den. Die meisten Menschen in der Welt leben in
Teil einer Krise der Demokratie, die auch in an- Besseres verloren haben. Das war unter den USA. In Israel fürchtete man anfangs, dass die Auf- beschreiben. Die Kritik an Israels Unterdrü- viel schlimmeren Umständen als die Palästinenser
deren Ländern zu erkennen ist und die sich in deutschstämmigen Israelis, den Jeckes, sehr ver- nahme diplomatischer Beziehungen mit Deutsch- ckung der Palästinenser ist legitim. Ich werde im Westjordanland. Aber das ist keine Entschuldi-
Israel auf israelische Weise abspielt. Israel ist ein breitet. Oft mit Recht. In Berlin war man Pro- land dazu führen werde, dass der Holocaust ver- oft von Deutschen gefragt, wie weit sie in der gung. Israel betrachtet sich als Teil der westlichen
tief gespaltenes Land. Aber die Schwierigkeit fessor gewesen, in Israel verkauft man Würst- gessen wird. Das Gegenteil ist passiert. Es gibt in Kritik Israels gehen dürfen. Ich sage dann im- Wertegemeinschaft und bekennt sich zu Menschen-
hier liegt auch an der Person von Benjamin chen. Als ich mit drei in den Kindergarten kam Deutschland Antisemitismus, aber der hat wenig mer, sie können Israel nach genau den gleichen und Bürgerrechten. Syrien etwa beansprucht das
Netanjahu. und damit in die hebräische Welt, hatte ich mit Israel zu tun. Werten beurteilen, mit denen sie ihr eigenes gar nicht erst. Kritik von außen ist wichtig für uns.
ZEIT: Der ehemalige Premierminister und heu- große Schwierigkeiten. Ich wollte ankommen, ZEIT: Aber gibt es nicht eine gehässige Fixierung bei Land anschauen.
tige Oppositionsführer steht wegen Korrup- mich aber zugleich nicht von meiner Mutter los- mancher Israelkritik, die man kaum ohne Antisemi- ZEIT: Aber wird Israel nicht kritischer angesehen Die Fragen stellten
tionsverdacht vor Gericht – hat aber seine Likud- sagen. Ich habe in zwei Welten gelebt, die ich tismus erklären kann? als andere Länder in der Region? Jörg Lau und Jan Roß
Partei weiterhin fest im Griff. Was ist das Ge- getrennt hielt. Der Holocaust hat mich früh in-
heimnis von Netanjahus Macht über die israeli- teressiert, als das in Israel noch nicht üblich war.
sche Politik? Ich hatte durch die deutsche Herkunft das Ge- ANZEIGE
Segev: Netanjahu ist kein Rätsel. Es gibt kaum fühl, ich gehöre dazu.
einen Politiker in Israel, der so verständlich, so ZEIT: War Deutschland für Sie zuerst das Land
durchsichtig ist. Er vertritt die politischen An- der Mörder oder das Land, das sich der Vergan-
sichten einer Mehrheit der Israelis. Er ist un- genheit stellte?
geheuer professionell, und er profitiert davon, Segev: Es war das Land der Mörder. Über 50
dass es keine wirkliche Alternative von gleichem Prozent der Bundestagsabgeordneten in den

LIONEN,
Niveau gibt. Nie war die wirtschaftliche Lage in Siebzigerjahren waren noch Kriegsteilnehmer.

LIEBE 80 MIL
Israel so gut wie unter Netanjahu. Er hat es ge- Dauernd begegneten einem Menschen, die an-
schafft, den falschen Eindruck zu erwecken, dass geblich einen Juden gerettet hatten oder jemand
die Situation im Westjordanland im Moment kannten, der Juden gerettet hatte. Wir israelische
keine schmerzhaften Entscheidungen verlangt, Journalisten scherzten darüber, es müsse wohl an
dass alles unter Kontrolle ist. Er ist international die 60 Millionen Juden in Deutschland gegeben
bekannt – wenn er will, ruft er Putin an, wenn er haben. Es hat mich aber später sehr beeindruckt,
will, ruft er Biden an. Aber der Hauptgrund ist, wie Deutschland die Lehren aus der Nazi-Zeit
dass die politische Stimmung in Israel, wie in gezogen hat, überall in der Gesellschaft, im All-
vielen anderen demokratischen Ländern, weit tag ebenso wie im Militär.
nach rechts gerückt ist. ZEIT: Ein Leitmotiv Ihrer jetzt publizierten Er-

FÜR EUCH SICHERN WIR

ZEIT: Gibt es besondere israelische Gründe für innerungen und Ihres Werks als Historiker ist die
diesen Rechtsruck? Zerstörung von Mythen und
Segev: Links zu sein bedeu- Legenden. Sie haben das

DIE ENERGIEVERSORGUNG:
tet in Israel in erster Linie, lange sehr heldenhafte israe-
eine Verständigung mit den lische Geschichtsbild infrage
Palästinensern anzustreben. gestellt. Was treibt Sie an?
Doch immer weniger Israe- Segev: Ich war in meinem
lis glauben, dass der Kon- Leben immer von Mythen
flikt mit den Palästinensern umstellt. Man hat mir zum

AUFFÜLLEN DER GASSPEICHER,

zu lösen ist. So viele Frie- Beispiel von unserem schö-
denspläne sind gescheitert. nen Haus erzählt, das meine
Immer mehr denken, dass Großeltern in Berlin-Niko-
man einfach mit dem Kon-
Tom lassee zurückgelassen hätten.

AUFBAU VON FLÜSSIGGASTERMINALS,

flikt leben kann, leben muss. In Wahrheit hatten wir dort
Es gibt eine Mitte, aber es
gibt eigentlich keine wirk- Segev zur Miete gewohnt. Der Tod
meines Vaters im Unabhän-

.
liche linke politische Kraft gigkeitskrieg 1948 war nicht
mehr in Israel.
ZEIT: Haben Sie selbst denn
noch Hoffnung auf einen
Als Historiker
hat sich Tom Segev nicht
durch gegnerisches Feuer
verschuldet, wie meine Mut-
ter behauptet hatte, sondern AUSB AU D E R E R N E U E R B A R E N
Ausgleich mit den Palästi- nur mit der Geschichte, durch einen tragischen Un-
nensern? sondern auch mit der fall. Ich habe mich gefragt:
Segev: Es gab Zeiten, in Gegenwart seines Landes Warum machen Menschen
denen ich sehr optimistisch kritisch auseinander- so etwas? Die Wahrheit war
war. Wenn wir vor 40 Jah- gesetzt. Zu seinen schon schlimm genug.
ren miteinander gespro- wichtigsten Werken ZEIT: Und von daher
chen hätten, dann hätte ich gehören Bücher über den stammt auch Ihr Furor ge-
Ihnen gesagt, dass wir heu- Sechstagekrieg und die gen die staatlichen Lebens-
te längst Frieden haben Rolle der Holocaust- lügen?
würden mit den Palästi- Erinnerung in der Segev: Anfangs gab es in Is-
nensern, dass die besetzten israelischen Politik. rael eigentlich nur hero-
Gebiete längst zurückgege- ische Legenden, keine echte
ben wären und Jerusalem »Jerusalem Ecke Berlin« Geschichtsschreibung. Erst
längst geteilt sein würde. heißen die Memoiren in den frühen Achtzigern
Heute habe ich manchmal von Segev, die jetzt im wurden die offiziellen Ak-
den Gedanken, der mich Siedler Verlag ten zugänglich, und wir
giewechsel.de
selbst erschreckt, dass viel- erschienen sind. jungen Historiker konnten Jetzt mehr erfahren: ener
leicht Israelis und Palästi- richtige Geschichtsforschung
nenser noch nicht genug betreiben. Schnell wurde
gelitten haben – nicht ge- klar, dass man uns nicht
nug, um einander die nötigen Zugeständnisse die Wahrheit gesagt hatte: Es stimmte nicht,
zu machen. Es handelt sich hier um zwei na- dass alle Kriege Israels unvermeidbar waren, wie
tionale Identitäten, die sich durch das Land de- wir es in der Schule gelernt hatten. Es stimmte
finieren, und zwar durch das ganze Land. Des- nicht, dass wir immer alles getan hatten, um
halb würde jeder Kompromiss bedeuten, dass Frieden mit den Arabern zu schließen. Und
man einen Teil seiner Identität aufgibt. Und die Araber waren im Unabhängigkeitskrieg
offenkundig sind die Menschen auf beiden auch nicht nur geflüchtet, die Hälfte von ih-
Seiten noch nicht bereit dazu. Manchmal habe nen war vertrieben worden – nach unseren
ich das Gefühl, dass wir seit 100 Jahren an der- eigenen Dokumenten. Ich wurde dann als
selben Stelle stehen. Postzionist bezeichnet. Mir ging es aber nur
ZEIT: Sie haben dank Ihrer Familiengeschichte darum, anzuerkennen, dass auch wir einen Teil
eine besondere Perspektive auf Ihr Land: Sie der Verantwortung für die palästinensische Tra-
sind der Sohn deutscher Eltern, die sich am gödie haben.
Weimarer Bauhaus kennengelernt haben und ZEIT: Über 60 Jahre lang haben Sie die israe-
nach Palästina ausgewandert sind. Wie deutsch lisch-deutschen Beziehungen begleitet – als Kor-
war Ihre Kindheit in Israel? respondent und als Historiker. Mit welchem
10
Die Toten des Friedensnobelpreisträgers
in dem Hunderttausende gestorben sind – und der von niemandem zu gewinnen ist VON ANDREA BÖHM
B
eim sechsten Versuch steht die
Verbindung endlich. Selam hat
für eine Stunde Zugang zu Strom
und Internet und damit zum Rest
der Welt. Ihr richtiger Name soll
in der Zeitung nicht auftauchen.
»Nennen Sie mich einfach Selam«,
sagt sie, »so heißen hier viele.« Das bedeutet »Frie-
den« in ihrer Sprache Tigrinja, und vielleicht ist ihr
die Absurdität des Pseudonyms in diesem Moment
nicht bewusst. Der letzte Luftangriff auf Mekelle,
ihre Heimatstadt im Norden Äthiopiens, ist ein
paar Tage her. Nach unserem Gespräch werden
weitere folgen. »Wir haben hier keine Schutzräu-
me«, erzählt sie, »man wartet einfach ab, ob es ei-
nen erwischt.«
Nicht schon wieder ein Artikel über Bomben
und Tote, könnte man jetzt sagen und weiter-
blättern. Was verständlich wäre, aber eben auch
ins Kalkül jener passt, die im Schatten des Ukraine-
Krieges anderswo Zerstörung anrichten – unter
Ausschluss einer internationalen Öffentlichkeit. In
diesem Fall in Tigray.
Es ist derzeit der wahrscheinlich verheerendste
Krieg weltweit, den Äthiopiens Premierminister
Abiy Ahmed mit seinen Verbündeten seit zwei
Jahren gegen die Region unter Führung der Volks-
befreiungsfront Tigray (TPLF) führt. Bis zu
500.000 Menschen sind nach Schätzungen von
Experten bislang gestorben. Soldaten wie Zivilis-
ten, getötet durch Kugeln, Bomben und Drohnen,
aber auch durch Krankheit und Hunger, der zu
den tödlichsten Waffen gehört.
Denn Abiy und seine Verbündeten haben Tigray
fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Strom-
versorgung, Internet und Mobilfunkverbindungen
sind weitgehend gekappt, ebenso der Zugang zum
Bankenwesen. Für Journalisten ist es so gut wie
unmöglich, in die Region zu reisen, wo nach
Schätzungen der UN rund fünf Millionen Men-
schen, drei Viertel der Bevölkerung, dringend auf
humanitäre Hilfe angewiesen sind. Also gibt es
kaum Bilder und Berichte. Nur ab und an kom-
men kurze Botschaften wie eine Flaschenpost in
der Außenwelt an.
Die Organisation, für die Selam arbeitet, muss
ungenannt bleiben. Humanitäre Helfer in Tigray,
auch die der UN, fürchten Repressalien der Re-
gierung in Addis Abeba gegen ihre NGOs, wenn
sie mit der ausländischen Presse sprechen. Es gibt
kaum noch etwas zum Helfen. »Auf dem Land
sterben Menschen, weil sie nichts mehr zu essen
haben«, sagt Selam. »Niemand erhält noch ein
Gehalt. Die Schulen funktionieren nicht mehr,
unsere Krankenhäuser sind Skelette.« Im größten
Hospital in Mekelle, so berichtete vor wenigen
Tagen der leitende Arzt per Satellitentelefon der
BBC, gebe es kein Insulin mehr, keine Impfstoffe,
keine Narkosemittel für Operationen. Die meisten
Dialyse- und Krebspatienten seien mangels Ver-
sorgung tot. »Unsere einzige Chance zu über-
Im Schatten des Ukraine-Konflikts wird in Äthiopien ein Krieg geführt,
leben«, glaubt Selam, »besteht darin, diesen Krieg
zu gewinnen.«
Aber dieser Krieg ist nicht zu gewinnen. Für
keine Seite.
Begonnen hat er Mitte 2020. Auf der einen
Seite standen die Kader der TPLF, die Äthiopien
jahrelang autoritär dominiert hatten. Auf der an-
deren Seite Abiy (der Vorname ist in Äthiopien
auch förmliche Anrede), unterstützt von einem
großen Teil seiner Landsleute, von denen viele
unter der Repression des alten Regimes gelitten
hatten. Diesem Regime gehörte auch Abiy an.
Trotzdem war er, ausgestattet mit reichlich Charis-
ma und Visionen, 2018 nach Massenprotesten ins
Amt des Regierungschefs gekommen. Umjubelt
daheim für politische Reformen, im Ausland für
seine Rolle als Friedensstifter. 2019 erhielt er den
Friedensnobelpreis für seine Aussöhnung mit dem
jahrzehntelangen Erzfeind Eritrea. Gegen das
Nachbarland hatte Äthiopien, damals noch unter
Führung der TPLF, Ende der 1990er-Jahre einen
Grenzkrieg mit Zehntausenden Toten geführt.
Heute gehört Eritreas Präsident Isaias Afewerki,
einer der dienstältesten Diktatoren auf dem Konti-
nent, zu Abiys Verbündeten im Krieg gegen Tigray.
Eritreische Truppen sind im August erneut in die
Region einmarschiert, während Abiys Armee vor
allem Angriffe mit Kampfflugzeugen und Drohnen
fliegt. Vergangene Woche sollen 50 Binnenflücht-
linge in einer Schule bei einem Bombenangriff ge-
tötet worden sein. Unabhängig überprüfen lässt
sich das nicht.
Was sich mit Sicherheit sagen lässt: Es gibt keine
good guys in diesem Krieg. Auch das macht es leichter,
ihn zu ignorieren. In einem aktuellen Bericht be-
schuldigt eine Untersuchungskommission der UN
alle Kampfparteien der Gräueltaten gegen die Zivil-
bevölkerung – darunter »Vergewaltigungen von
Frauen und Mädchen in erschütterndem Ausmaß«.
Zunächst waren Tigrayerinnen und Tigrayer be-
troffen, als Abiy im November 2020 seine Armee auf
Mekelle vorrücken ließ, die die TPLF in die Berge
im Hinterland vertrieb, Krankenhäuser, Erntevor-
räte, landwirtschaftliches Gerät und Saatgut plün-
derte. Im Sommer 2021 wendeten die tigrayischen
Truppen, obwohl waffentechnisch deutlich unter-
legen, das Blatt, eroberten Mekelle zurück, verübten
Racheakte und marschierten Richtung Addis Abeba.
Jetzt sind sie wieder in der Defensive. Die Haupt-
verantwortung für die Verheerung, das macht der
UN-Bericht sehr deutlich, liegt jedoch aufseiten des
Friedensnobelpreisträgers. Die Zentralregierung
mache »sich eines Kriegsverbrechens schuldig, indem
sie Hunger als Methode der Kriegsführung nutzt«.
Weder Vermittlungsversuche der USA, der EU
und der Afrikanischen Union (nicht immer gut
koordiniert) noch US-amerikanische Sanktionen
gegen Äthiopien und Eritrea oder ein Stopp der
Berliner Budgethilfe an Addis Abeba haben die
Kämpfe bislang stoppen können. Eine Waffen-
ruhe, vereinbart im vergangenen März, ist im
POLITIK
August gescheitert. Die tigrayische Seite hatte für
weitere Verhandlungen das sofortige Ende der Be-
lagerung gefordert. Genau das wollten Abiy und
seine Verbündeten nicht gewähren, weil die TPLF
dann auch ihre Waffenbestände wieder aufstocken
könnte. Ein erneuter Anlauf zu Gesprächen, ini-
tiiert durch die Afrikanische Union, wurde am
vergangenen Wochenende auf unbestimmte Zeit
verschoben. Der Krieg geht weiter – und damit
auch das Aushungern der Tigrayer.
Manche mögen das unter »typisch Afrika« ver-
buchen. Jedoch stecken hinter diesem Krieg Exis-
tenzfragen, die weit über Äthiopien und Afrika
hinausgehen: Was hält eine multiethnische Gesell-
schaft in Zeiten globaler Krisen noch zusammen?
Ein System mit zentralistischem Machtanspruch,
wie Abiy es will? Ein echter Föderalismus, wie ihn
viele Volksgruppen wollen? Oder steht am Ende
die Sezession, wie sie inzwischen wohl die meisten
Tigrayer fordern? Und was können internationale
Vermittler noch ausrichten, wenn solche Konflikte
in eine Kette von Gräueltaten münden?
Europäern müsste das bekannt vorkommen.
Ein Staat, aufgeteilt mehr oder weniger entlang
ethnischer Linien, lange zusammengehalten durch
eine autoritäre Zentralmacht, die schließlich durch
Proteste, Wirtschaftskrise und Liberalisierung die
Kontrolle verliert – das erinnert an Jugoslawien
Ende der 1980er-Jahre. Wobei man es in Äthio-
pien mit anderen Dimensionen zu tun hat:
120 Millionen Einwohner, verteilt auf über 80
ethnische Gruppen, leben in einem Land mit
hartnäckiger Armut, immer neuen Modernisie-
rungsschüben und mit einer Gewaltgeschichte,
die nie aufgearbeitet wurde. In den Hauptrollen:
die Gruppe der Amharen, die jahrhundertelang
die Dynastie der Kaiser stellte, die Tigrayer, alte
Konkurrenten im Kampf um die Vormacht, und
A FR IK A
ERITR EA
S U DA N Mekele
D S C H I BU T I
Tigray-Region
S OM A L I A
Addis Abeba
ÄT H IOPI E N
SÜD
S U DA N
KENIA
250 km
ZEIT- GRAFIK
Selam aus Tigray
hat Glück: Ihr Baby
2,5 Kilo und nimmt
weiter zu. Seine
Überlebenschancen
die Oromo, die größte, oft marginalisierte Volks-
gruppe, der Abiy angehört.
Ähnlich wie der Liberalisierungsprozess in
Jugoslawien hatten Abiys anfängliche Reformen,
vor allem die Aufhebung der Zensur, einen gefähr-
lichen Nebeneffekt: Nicht nur Anhänger der De-
mokratie, auch Ethnonationalisten nutzten die
neuen Freiheiten. Sie verbreiteten revanchistische
Propaganda, verzerrte Geschichtsbilder und Auf-
rufe zur »Selbstverteidigung« gegen andere Eth-
nien – vor allem in den sozialen Medien. Abiy,
immer zwischen innenpolitischen Machtbündnis-
sen lavierend, heizte solche Emotionen manchmal
selbst mit an.
Noch bevor der Konflikt zwischen Addis Abeba
und der tigrayischen Regionalregierung eskalierte,
kam es in anderen Teilen des Landes zu Zusammen-
stößen zwischen verschiedenen Volksgruppen,
Lynchmobs verübten Massaker. Meist zeigten sich
Polizei, Armee und Justiz nicht in der Lage, die
Gewalt zu unterbinden oder wenigstens zu ahn-
den. In mehreren Fällen stehen sie unter dem Ver-
dacht, selbst beteiligt zu sein.
D
ie Vergangenheit ist in solchen Kri-
sen oft ein Brandbeschleuniger.
Eine Hauptursache der Konflikte
sieht der Ethnohistoriker Wolbert
Smidt, einer der führenden Exper-
ten in Deutschland, in der Entstehungsgeschichte
des modernen äthiopischen Staates. Der gehe auf
die brutale Eroberungspolitik einer amharisch ge-
prägten Herrscherdynastie im späten 19. Jahrhun-
dert zurück, »die andere Völker in ihr Reich und
Ausbeutungssystem einverleibte«. Zugang zu Res-
sourcen, Bildung, Macht sei bis heute extrem un-
gleich verteilt. Was das Land nun zu zerreißen
drohe, seien unter anderem die Nachwirkungen
des Imperialismus. Nicht eines westlichen, son-
dern eines äthiopischen.
Auch Smidt, der jahrelang an äthiopischen
Universitäten gelehrt hat, sieht deutliche Paralle-
len zu Jugoslawien. Einen Zerfall Äthiopiens hält
er inzwischen für »absolut realistisch«.
Dass Abiy neben seinem eritreischen Waffen-
bruder Isaias vor allem ethnonationalistische Para-
militärs und Milizen der Amharen zu Verbünde-
ten gemacht hat, verschärft die Lage zusätzlich.
Gut möglich, dass sie zusammen mit Eritrea die
jüngste Gesprächsinitiative der Afrikanischen
Union torpediert haben, weil sie das Problem der
TPLF »endgültig« und militärisch lösen wollen.
Wie sehr Äthiopiens Premierminister seine Ver-
bündeten dirigiert oder diese ihn vor sich her-
treiben, ist inzwischen nicht mehr klar zu sagen.
Ein Reporter des New Yorker, der ihn vor Kurzem
in Addis Abeba interviewen durfte, fand einen ge-
spenstisch realitätsfernen Regierungschef vor, der
stolz seine Vision für ein neues vereintes Äthio-
pien ausbreitete, vom letzten Kaiser Haile Selassie
schwärmte, ethnische Massaker auf primitive
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
wiegt jetzt
stehen gut
Foto: Olivier Jobard/MYOP
Dörfler schob und den Krieg im Norden schlicht
ausblendete.
Viele Äthiopier in der Hauptstadt können das
nicht mehr. Dort hatte man Abiy lange zugejubelt
und seinen Feldzug gegen Tigray und die TPLF
unterstützt. Inzwischen bekommt die staatliche
Propaganda Risse. Immer mehr Familien trauern
um gefallene Söhne und Ehemänner, Krieg und
Wirtschaftskrise treiben die Preise in die Höhe.
Und obwohl Abiy wieder zu altbekannter Repres-
sion und Überwachung greift, bringt er nicht alle
Stimmen zum Schweigen. Zum Beispiel die des
Äthiopischen Menschenrechtsrates, dessen Mit-
glieder unter erheblichem persönlichem Risiko
Kriegsverbrechen auf allen Seiten dokumentieren.
Noch einer ist jetzt laut geworden, und zwar auf
der internationalen Bühne: Tedros Ghebreyesus,
Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO),
spätestens seit der Corona-Pandemie in jedem Wohn-
zimmer auf dem Globus bekannt. Tedros, selbst
Äthiopier, konnte man vor wenigen Jahren noch
Arm in Arm mit Abiy sehen. »Proud to be Ethiopian«,
hatte der WHO-Generaldirektor anlässlich des
Friedensnobelpreises für seinen Landsmann ge-
twittert. Inzwischen gilt Tedros für die Regierung
in Addis Abeba als Tigrayer, der seinem Premier-
minister in den Rücken fällt. Auf einer Presse-
konferenz in Genf vor einigen Wochen sprach
Tedros nicht über Pandemie und Impfkampagnen,
sondern über die Zustände in seiner Heimat. »Es ist
in unserem Zeitalter widerwärtig und unvorstellbar,
dass eine Regierung ihrer eigenen Bevölkerung
Nahrung, Medizin und alles andere verweigert, was
sie zum Überleben braucht.« So deutlich ist bislang
kein UN-Funktionär geworden. Allerdings ist auch
keiner so persönlich betroffen. Tedros hat Familien-
angehörige in Tigray. Wegen der Blockade des
Bankenwesens könne er kein Geld schicken. »Ich
weiß nicht mal, wer tot ist oder noch lebt.«
Vielleicht liege es an »der Hautfarbe der Leute«,
dass sich die internationale Gemeinschaft so wenig
für Tigray interessiere, sagte der WHO-Chef
noch, eine Breitseite vor allem gegen die west-
lichen Länder. Auch Selam, die Mitarbeiterin einer
Hilfsorganisation in Mekelle, fühlt sich im Stich
gelassen. Viele ihrer internationalen Kollegen seien
inzwischen abgezogen worden in die Ukraine.
»Tigray interessiert niemanden.«
Die Verbitterung ist verständlich. Aber der
Vorwurf der Gleichgültigkeit gegenüber afrikani-
schen Opfern trifft hier nur halb zu. Der Krieg in
Tigray zeigt vor allem eines: wie leicht ein Staat
selbst im Zeitalter von Twitter und YouTube in
einem Krieg die Zeugenschaft einer internationa-
len Öffentlichkeit verhindern kann. »Krieg ist der
Inbegriff der Hölle für alle Beteiligten«, hatte Abiy
Ahmed im Dezember 2019 bei der Entgegen-
nahme des Friedensnobelpreises gesagt. Jetzt führt
er selbst einen. Es soll nur möglichst keiner sehen.
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 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

12 STREIT
Die FDP will jetzt
klotzen statt kleckern.
Ist das klug?

Nach der Landtagswahl in Niedersachsen glauben viele Liberale, ihre Partei müsse in der Ampelkoalition mehr Konflikte wagen.
Hier streiten die jungen Bundestagsabgeordneten Max Mordhorst (FDP) und Felix Banaszak (Grüne), ob sie damit gut beraten wäre

DIE ZEIT: Herr Mordhorst, Ihre Partei, die Herr Banaszak. Aber das, was Sie machen, ist wir doch 200 Milliarden Euro neue Schulden winne abzuschöpfen und der Allgemeinheit sprüche auch innerhalb der Koalition aus. Der
FDP, ist in Niedersachsen aus dem Landtag keine verlässliche Zusammenarbeit. zur Stabilisierung von Wirtschaft und Gesell- zurückzugeben, ist ja erst von uns vorgebracht grüne Zuspruch erklärt sich daraus, dass wir
geflogen – und viele ihrer Mitglieder sagen, Banaszak: Ich höre von FDP-Leuten seit der schaft aufnehmen werden – zu Recht. worden, nachdem diese Übergewinne über- nicht die Opposition in der Regierung sind,
das liege an der Koalition in Berlin. Die Ampel Niedersachsen-Wahl, dass Ihre Partei in der Mordhorst: Ja, das ist für alle okay. haupt entstanden sind. Die FDP hat auch sondern eine zentrale Säule. Und daraus, dass
sei der Mühlstein am Hals der FDP, twitterte Koalition mehr Profil zeigen müsse. Meine ZEIT: Dass die Atomkraftwerke im Streckbe- viele gute Impulse in diese Regierung einge- Annalena Baerbock und Robert Habeck ehr-
Ihr Bundestagskollege Frank Schäffler. Und These ist, dass viele Wählerinnen und Wähler trieb weiterlaufen, wer hat sich da durchgesetzt? bracht. Die Ampel ist doch nicht nach dem lich die Probleme kommunizieren, die sich aus
Christian Lindner, Ihr Parteichef, ist der Mei- das Profil der FDP sehr gut erkannt haben Mordhorst: Die Grünen! Wir Liberalen for- Motto entstanden: »Hilfe, ich brauche noch manchen der momentan fast gezwungenen
nung: Viele FDP-Anhänger fremdelten mit und auf dieser Basis ihre Wahlentscheidung dern ja eine Laufzeitverlängerung bis 2024. einen dritten Partner«. Sondern es hieß: Da Entscheidungen ergeben.
der Ampel. Ist es so schlimm? getroffen haben. Noch mal: Wir befinden uns Banaszak: Da würde ich tatsächlich mitgehen. kann eine neue Dynamik entstehen! Auch klas- Mordhorst: Zur Wahrheit gehört, dass die
Max Mordhorst: Es ist wahr: Zurzeit ist die seit Russlands Angriff auf die Ukraine in einer ZEIT: 9-Euro-Ticket und Tankrabatt, also die sische FDP-Themen können Gewinnerthemen Ampel momentan insgesamt an Zustimmung
Ampel ein schwerer Mühlstein für uns. Wenn dramatischen Krise. Die Erwartung ist doch, zentralen Säulen des ersten Entlastungspakets? sein: Digitalisierung, Planungsbeschleunigung, verliert – alle Parteien zusammen.
wir wieder bessere Wahlergebnisse wollen, dass die Bundesregierung Probleme löst und Mordhorst: Das 9-Euro-Ticket rechne ich mal Start-up-Strategien! ZEIT: Besonders viele FDP-Wähler sind in
müssen wir etwas tun. Wir müssen verant- Parteien sich in einer solchen Phase nicht nur den Grünen zu. Der Tankrabatt kam von uns, Mordhorst: Das ist alles freundlich von Ihnen. Niedersachsen zur CDU und zur AfD abge-
wortungsvoll regieren, aber auch zeigen: Wir um ihr eigenes Profil kümmern. das hätte man ruhig mehr feiern können. Vergessen Sie nur nicht: Die Ampel ist für die wandert. Kann man daraus nicht lesen, dass
sind keine linke oder grüne Partei. Wir sind Mordhorst: Herr Banaszak! Ich gehe mal da- ZEIT: Und wer dominiert die Entscheidung FDP eine schwierigere Koalition als für SPD denen die Politik der FDP nicht genügend
eine Partei der Eigenverantwortung. Und die- von aus, dass Sie noch nie FDP gewählt haben. über Waffenlieferungen an die Ukraine? und Grüne, die inhaltlich oft nah beieinander freiheitlich und vielleicht auch zu wenig kon-
se müssen wir jetzt auch für uns übernehmen. Immerzu sagen uns Leute, wir müssten noch Mordhorst: FDP und Grüne. sind. Wir müssen bei vielen Themen den wei- servativ erschien, Herr Banaszak? Vielleicht
ZEIT: Und wie? mehr mitziehen, in der Ampel noch mehr Banaszak: Da wäre es sogar schön, wir könn- testen Weg zur Einigung gehen. Unsere Wähler war die FDP doch zu ampelig?
Mordhorst: Wir sollten uns wieder stärker als Positionen räumen. Aber die, die das sagen, ten gemeinsam gegenüber der SPD noch mehr sind im Zweifel besonders irritiert über Kom- Banaszak: Erstens: Das Wahlergebnis der AfD
selbstständige Kraft präsentieren. Der FDP wählen grün oder rot. Die, die uns normaler- erreichen. Für mich ist Politik aber kein Box- promisse, die wir schließen. Wir sind nicht in ist dramatisch und gibt allen demokratischen
wird – gerade von den Grünen – ständig vor- weise wählen – aber jetzt in Niedersachsen ring oder Rechenspiel. Meine Logik wäre der Ampel, weil es unser naheliegendstes Bünd- Parteien zu denken. Zweitens: Ich frage mich,
geworfen, sich auf Kosten anderer zu profilie- vielleicht nicht gewählt haben –, wünschen nicht: Wo haben wir den anderen mal einen nis ist, sondern weil wir staatspolitische Verant- wie viele Menschen sich tatsächlich eine noch
ren. Das Gegenteil ist der Fall. Jede Woche gibt sich, dass die FDP die Regierung und Deutsch- Erfolg gegeben, wann sind wir endlich dran? wortung übernehmen wollten. Die CDU war marktliberalere FDP wünschen. Viele haben
es einen neuen Vorschlag der Grünen, wie die land auf dem Kurs der Mitte hält. Ich frage lieber: Wo haben wir uns gemeinsam nicht regierungsfähig, die SPD hatte die Wahl doch eher Sorge, am Ende des Monats ihre
Koalitionsvereinbarungen zu brechen wären. Banaszak: Ich bin weder FDP-Wähler noch ihr auf etwas Gutes verständigt? gewonnen. Und SPD und Grüne konnten, Energierechnungen nicht mehr bezahlen zu
Mal fordern sie eine Übergewinnsteuer, dann Berater, aber könnte Ihr Absturz bei den jungen Mordhorst: Ich sehe das genauso, aber wehre auch daran sollten Sie denken, zu zweit keine können. Die AfD ist Krisenprofiteur. Deshalb
stellen sie die Schuldenbremse infrage. Sie fah- Wählern in Niedersachsen nicht mit der Ent- mich weiter entschieden gegen die Erzählung, Koalition bilden. In den außenpolitischen Fra- sollten wir in der Bundesregierung bereit sein,
ren mit dieser Methode bei ihren Wählern einen täuschung darüber zu tun haben, dass die die Grünen seien die staatstragende Partei, gen sind Grüne und FDP einander nahe, bei über die drei Entlastungspakete hinaus noch
Erfolg nach dem anderen ein. FDP in der Regierung zu wenig als Macher und und die anderen würden ausscheren. Ich höre anderen Themen vergessen Sie aber oft, dass mehr gegen Abstiegs- und Existenzangst zu tun.
ZEIT: Herr Banaszak, was sagen Sie als grüner zu häufig als Verhinderer und Bremser wahr- auch von den Grünen ständig Vorschläge, die wir keine linke Partei sind. Mordhorst: Ich finde es gut, dass Sie die Wähler
Abgeordneter und Koalitionspartner dazu? genommen wird? Wir Grüne bekommen viel der eigenen Klientel nutzen, aber nicht den Banaszak: Ich verstehe Ihre Interpretation der der AfD nicht beschimpfen, sondern sich fra-
Felix Banaszak: Jetzt sollen wir diejenigen sein, Zustimmung dafür, dass wir in der aktuellen Absprachen entsprechen. Nehmen Sie die For- Lage einfach nicht. gen, wie man sie zurückholen kann. Ich habe
die den Koalitionsvertrag infrage stellen? Der Lage nicht stur an Positionen festhalten, son- derung nach einem Tempolimit. Oder nach Mordhorst: O Wunder! stets gegen diese rechte Partei gekämpft. Aber
Vertrag wurde in einer anderen Zeit geschlos- dern bereit sind, Kompromisse zu machen, ja einem Kündigungsmoratorium für Mieter. Banaszak: Es ist doch Quatsch, so zu tun, als ob ich nehme es sehr ernst, wenn mir viele sagen,
sen. Wenn sich die Welt ändert, müssen wir eine staatstragende Haltung einzunehmen. Moralisch wird das stets aufgeblasen, verabre- Rot und Grün identische Interessen hätten und wir haben euch bei der Bundestagswahl wegen
Antworten finden. ZEIT: Lassen Sie uns ein paar Beispiele be- det ist aber etwas anderes. nur zufällig in zwei Parteien organisiert wären. eurer coronakritischen Politik gewählt, aber
Mordhorst: Ich spreche nicht nur vom Koali- trachten. Wir wüssten gerne, welchem Partner ZEIT: Man könnte das auch umdrehen, Herr In dieser Dreiparteienkoalition gibt es je nach jetzt nicht mehr, wegen eurer Anpassung an die
tionsvertrag, sondern von unseren Vereinba- bestimmte Entscheidungen der Ampelkoali- Mordhorst: Die Schuldenbremse bleibt, die Thema unterschiedliche Allianzen, in Bürger- Ampel. Sie gehen jetzt zu den Nichtwählern
rungen seither. tion am meisten entsprochen haben ... AKWs laufen länger, es gibt kein Tempolimit. rechtsfragen zum Beispiel haben wir ein eher oder zur AfD. Da können wir doch nicht sagen,
Banaszak: In Europa herrscht Krieg. Wenn wir Banaszak: Eigentlich geht es mir nicht darum, Mordhorst: Das stimmt, aber es ist stetige har- grün-gelbes Übereinkommen. Die FDP findet wir müssten nur ein wenig linker werden, dann
»Zeitenwende« sagen, bedeutet das, dass alle wer sehr oft gewonnen und wer verloren hat. te Arbeit, zu solchen Verabredungen zu kom- sich überproportional im Koalitionsvertrag wie- kommen die schon zurück.
Regierungspartner neu nachdenken müssen. Mordhorst: Ich find’s spannend. men. Verabredungen, die von den Grünen der, weil sie als natürlicher Partner der Union in ZEIT: Herr Mordhorst, Christian Lindner
Foto: Jakub Gojda/mauritius; kl. Fotos: Felix Zahn/dpa; Sebastian Gabsch/imago (r.)

Keine der Ampelparteien setzt gerade ihr Wahl- ZEIT: Wir fragen einfach mal. Welche Hand-
programm um. Wir alle müssen schwierige schrift tragen die neuen Corona-Maßnahmen
Kompromisse schließen. Wir Grü- für Herbst und Winter?
nen hatten weder vor, 100 Milliar- Mordhorst: Die der SPD.
den Euro zusätzlich für die Bundes- Banaszak: Zu viel FDP!
wehr bereitzustellen, noch, Flüssig- ZEIT: Was ist mit dem gerade be-
gas-Terminals zu bauen. Geschwei- schlossenen 200-Milliarden-Paket,
ge denn, AKWs im Streckbetrieb zu um die Wirtschaft zu stabilisieren
lassen. Uns vorzuwerfen, wir wür- und Energiepreise zu deckeln – bei
den nicht über unseren eigenen formaler Beibehaltung der Schul-
Schatten springen, ist originell! denbremse?
Mordhorst: Wir haben zuletzt, als Banaszak: Ein pragmatisches Zu-
wir das dritte Entlastungspaket über sammenfinden aller drei Parteien.
65 Milliarden schnürten, schriftlich Felix Banaszak, Wer sich von der Symbolik der
festgehalten, dass wir die Schulden- 32, war bis 2022 Frage nähert, wird sagen, die FDP
bremse einhalten. Kurz danach ha- Chef der Grünen hat sich durchgesetzt, weil formal
ben die Grünen das lauthals infrage in NRW. 2021 die Schuldenbremse auch 2023
gestellt. Ich lerne daraus! Sie können zog er in den eingehalten wird. Wer von der
so Ihre Wählerschaft mobilisieren, Bundestag ein Substanz her kommt, sieht, dass
immer wieder infrage gestellt werden.
ZEIT: Würde es der FDP vielleicht helfen,
wenn sie sich häufiger über gemeinsame Er-
folge freuen würde, statt sich über Grüne und
SPD lauthals zu ärgern?
Mordhorst: Ich freue mich über Erfolge. Ein
paar schlechte Ideen von Grünen und SPD zu
verhindern ist nur ein kleiner Teil des Jobs.
Für uns Liberale ist viel wichtiger, was wir
möglich machen. Nehmen Sie den Weg der
Öffnung in der Corona-Politik im Frühjahr.
Oder die schon angesprochene Laufzeitver-
längerung als Streckbetrieb.
Banaszak: Ich finde spannend, dass Sie die
Laufzeitverlängerung der AKWs fordern, uns
aber den Vorschlag einer Übergewinnsteuer
vorwerfen. Handelt es sich nicht bei beidem
um aktualisierte Antworten auf neu entstan-
dene Probleme? Die Idee, leistungslose Ge-
eine Koalition mit SPD und Grünen gegangen sagt, die FDP habe in Niedersachsen wegen
ist. Die »Lagerwechselprämie« ist aus meiner der Ampel verloren. Könnte es sein, dass sie
Sicht reichlich ausbezahlt worden. auch wegen Lindners Führungsstil
Mordhorst: Klar fühlen Sie sich in in der Ampel verloren hat?
der Ampel wohl, Sie haben ja auch Mordhorst: Wir bräuchten nicht
in den letzten drei Landtagswahlen weniger Christian Lindner, son-
hinzugewonnen. Wenn aber eine dern mehr.
nicht kleine Wählerschaft der An- ZEIT: Wird die Ampel noch ein-
sicht ist, dass liberale Positionen mal glücklich miteinander?
nicht mehr vertreten sind, muss Mordhorst: Die Ampel wird auf
sich unser Auftritt und unser jeden Fall noch drei Jahre durch-
Selbstverständnis ändern. halten. Keine Sorge.
Banaszak: Wir sind uns in einem Banaszak: Das glaube ich auch.
einig: Wir regieren in der ersten la- Max Mordhorst, Und aufs Glücklichsein kommt’s
gerübergreifenden Dreierkonstella- 26, stammt aus in der Politik ja wirklich nicht an.
tion auf Bundesebene. Das ist noch Schleswig-Hol-
mal komplexer als eine große Koa- stein und ist seit Das Gespräch moderierten
lition. Wir tragen die großen gesell- 2021 für die FDP Jana Hensel und
schaftlichen Konflikte und Wider- im Bundestag Martin Machowecz

DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
Was bedeutet feministische Außenpolitik in
einer Zeit, in der im Iran Zehntausende
Frauen für ihre Rechte und Freiheit ihr Leben
riskieren? Feministische Außenpolitik, wie sie
sich Annalena Baerbock auf die Fahne ge-
schrieben hat. In einer Rede, dokumentiert
auf der Seite des Auswärtigen Amtes, sagte sie,
feministische Außenpolitik sei »kein ›Frauen-
thema‹. Denn wir alle profitieren davon! Wenn
die Hälfte der Bevölkerung keine Möglichkeit
zu gleichberechtigter Teilhabe hat, kann keine
Gesellschaft ihr Potenzial voll ausschöpfen.
Und wenn die Hälfte der Weltbevölkerung
ausgeschlossen ist, können wir Frieden und
Sicherheit nicht dauerhaft erreichen.«
Bekannte aus dem Iran schreiben mir seit
drei Wochen, denn so lange dauern die Pro-
teste gegen das Regime an: Wo bleibt sie denn
jetzt, eure deutsche feministische Außen-
politik? Ich frage Nasrin Sotudeh, die bekann-
teste Menschenrechtsanwältin des Iran, was
sie von einer feministischen Außenpolitik
erwartet. Sie entschuldigt sich zunächst.
Schreibt, dass sie im Moment nicht gefahrlos
antworten könne – man habe ihr angedroht,
sie zurück ins Evin-Gefängnis zu bringen.
Sotudeh, Trägerin des Alternativen Nobel-
preises, ist zu 38 Jahren Haft verurteilt. Ihr
wurden »Störung der öffentlichen Ordnung
und sündhaftes Auftreten ohne Kopftuch«
vorgeworfen, dazu Spionage und das »Schü-
ren« von Prostitution. Ihr wurde Hafturlaub
zugestanden, weil sie an einer Herzkrankheit
leidet. Doch der kann jederzeit vorzeitig abge-
brochen werden. So macht man Menschen in
der Islamischen Republik mundtot.
In meiner Zeit als ARD-Korrespondentin
im Iran begleitete ich Nasrin Sotudeh oft zu
Gerichtsverhandlungen. Eine kleine, zarte,
zerbrechlich wirkende Frau. Aber zäh und
mutig. Leise huschte sie durch die Flure des
Familiengerichts. Sobald die Gerichtsverhand-
lung begann, wurde sie zur Löwin, ließ sich
nichts gefallen. Für einen kurzen Moment
vergaß ich jedes Mal, dass ich mich in einem
Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; Fotos: Jens Kalaene/dpa; Urban Zintel für DIE ZEIT (u.)
islamischen Gericht befand. Nasrin Sotudeh
verteidigte Frauen, die gegen das Kopftuch
protestierten, Dissidenten, Angehörige religiö-
ser Minderheiten. Aussichtslose Fälle.
Seit Wochen erheben sich im Iran die
massivsten Proteste seit Gründung der Isla-
mischen Republik 1979. Frauen sind diesmal
am lautesten. Mit wehenden Kopftüchern – in
der Hand, nicht auf dem Kopf. Es geht ihnen
nicht um Reformen, sondern die Beseitigung
dieses menschenverachtenden Regimes. Dabei
hat dieses Regime mit der Bundesrepublik zu
tun, Deutschland ist trotz Sanktionen der
wichtigste EU-Handelspartner der Islami-
schen Republik. Doch von der Bundesregie-
rung hört man tagelang erst mal: nichts. Für
Berlin kommen die Proteste wohl zu einem
unerwünschten Zeitpunkt. Deutschland und
fünf weitere Länder verhandeln aktuell mit
dem Iran über das Atomabkommen, dessen
Ziel sein soll, das Regime von der atomaren
Aufrüstung abzuhalten, die allen voran Israel
64 %
»This is the way the world ends. Not with a bang,
but a whimper.« Ob die Welt, wie in T. S.
Eliots Gedicht The Hollow Men 1925 prophe-
zeit, tatsächlich mit einem Wimmern unter-
geht und nicht mit einem Knall, muss seit
Putins jüngsten Nukleardrohungen zwar
heftig bezweifelt werden. Doch letztlich macht
es nur zeitlich einen Unterschied, ob sich die
Menschheit ihrem kollektiven Ableben auf
dem Hitzeplaneten Erde nun jahrzehntelang
entgegenwinselt – oder die viel gepriesene
Friedensmacht der Atombombe sie in einem
Die Sehnsucht nach einem
normalen Leben
Wenn Annalena Baerbock ihre feministische Außenpolitik ernst meint, muss sie jetzt endlich
die Proteste der iranischen Frauen unterstützen – aber richtig VON NATALIE AMIRI
bedrohen würde. Donald Trump hatte das
Abkommen 2018 aufgekündigt.
Es sieht vor, Zug um Zug für eine Kon-
trolle der iranischen Nuklearanlagen Sank-
tionen zu lockern. Das könnte auch die
traditionell guten Wirtschaftsbeziehungen
mit dem Iran wiederbeleben, für Gas- und
Öllieferungen aus dem Iran sorgen – und für
eine starke wirtschaftliche Erholung des
Landes. Sicher, das käme der seit Jahren
leidenden Bevölkerung zugute, natürlich
auch den Frauen.
Annalena Baerbock steht vor einer Bewäh-
rungsprobe. Darf sie angesichts der moralisch
aufgeladenen Ansprüche an ihre Außenpolitik
Deals mit einem Regime eingehen, das wieder-
holt brutal gegen seine Bevölkerung kämpft
und seit Bestehen Frauenrechte missachtet?
Der Druck auf den Straßen ist auch Folge
der desolaten wirtschaftlichen Lage der Iraner.
Käme es zu einem neuen Atomabkommen,
könnte dieser Druck zurückgehen. Die Bewe-
gung könnte an Kraft, jedenfalls breiter Unter-
stützung verlieren – und die Chance auf
Freiheit, Frauen- und Menschenrechte.
Ja, Annalena Baerbock hat versucht, in den
vergangenen Tagen eine klarere Haltung zu
finden; hat neue Sanktionen gegen den Iran
angekündigt. Und doch gibt es noch immer
keine eindeutige Position des Außenministe-
riums, die den Iran und die feministische
Außenpolitik zusammenbringt. Das kann
viele Ursachen haben. Sind die Ministerin und
ihre Spitzenbeamten unterschiedlicher Mei-
nung? Sorgen sich die Beamten in erster Linie
um das Atomabkommen? Möglich wäre das.
Ich weiß deshalb nicht, was ich den Frau-
en im Iran konkret sagen soll, die mich nach
unserer feministischen Außenpolitik fragen.
Dass sie in ein paar Monaten noch mal nach-
fragen sollen? Vielleicht lesen die Ministerial-
beamten den Text des iranischen Songschrei-
bers Shervin Hajipour, dessen Lied in nur
wenigen Stunden mehr als 40 Millionen Mal
geklickt wurde, woraufhin ihn der iranische
Geheimdienst abholte. Der Song erzählt von
den Bedürfnissen und dem Leid der Men-
schen im Iran und wäre eine konkrete An-
leitung zur feministischen Außenpolitik:
Für das Tanzen auf den Straßen / Für die
Angst, sich zu küssen / Für meine Schwester,
deine Schwester, unsere Schwestern / Für den
Wandel verschimmelter Köpfe / Für die Sehnsucht
nach einem normalen Leben / Für ein im Müll
wühlendes Kind und seine Träume / Für die
korrupte Wirtschaft / Für die verschmutzte Luft
/ Für ein lachendes Gesicht / Für Studierende, für
die Zukunft / Für das aufgezwungene Paradies /
Für die Sonne nach langen Nächten / Für Frau,
Leben, Freiheit / Für Freiheit ...
Die iranische Autorin Azadeh Moaveni
schreibt mir: »Das ist jetzt ein einzigartiger
Moment für feministische Außenpolitik, leider
war diese bisher eine Worthülse.«
»Wie feministisch ist es, wenn Regierungen
die Einbeziehung jemenitischer Frauen in
Friedensgespräche fordern und gleichzeitig
Hölleninferno binnen Sekundenbruchteilen
pulverisiert. Das dicke Ende kommt stets
dann, wenn der Zauber der ersten 300.000
Jahre vorbei ist.
Der Glaube an den baldigen Weltunter-
gang ist der Fluchtpunkt all derer, die am Ende
des Tunnels nie das Licht sehen, sondern im-
mer nur den nächsten Tunnel. In dieser dunk-
len Kunst sind wir Deutschen besonders gut.
Rund zwei Drittel von uns sind der Über-
zeugung, dass alles immer schlimmer wird,
zumindest in Deutschland (nur 27 Prozent
»Eine Demokratie, in der
nicht gestritten wird, ist keine.«
HELMUT SCHMIDT
Waffen an Saudi-Arabien verkaufen?«, fragt
Azadeh Moaveni. Oder wenn die Forderung
erhoben wird, den Tod Mahsa Aminis auf-
zuarbeiten, während man im selben Atemzug
ankündigt, die Atomverhandlungen weiter-
zuführen? Frage ich.
Am 29. September – zwei Wochen nach-
dem Zehntausende auf den Straßen des Iran
zu protestieren begannen, Tausende in Ge-
fängnisse gesperrt wurden und Dutzende
getötet – spricht Annalena Baerbock im
Bundestag: Man folge dem Aufruf der irani-
schen Frauen »mit den politischen Mitteln,
die wir als Politikerinnen und Politiker, als
Abgeordnete unseres Landes und als Bun-
desregierung haben«. Der Tod von Mahsa
Amini gehöre aufgeklärt. Es müssten Sank-
tionen auf den Weg gebracht werden, gerade
jetzt, da wieder über das Atomabkommen
verhandelt werde.
Wie widersprüchlich kann Politik sein? Wie
obsolet wird feministische Außenpolitik, wenn
Utopie Realpolitik weicht? Auf den Straßen
des Iran heißt es: Frau – Leben – Freiheit.
Nicht: Wir wollen ein Atomabkommen.
Die Sanktionsankündigung dürfte Anna-
lena Baerbock eine Menge Kraft gekostet
haben, auch gegen vor allem männliche
Widersacher in ihrem Ministerium. In
Medienberichten hieß es – kurz vor der An-
kündigung der Sanktionen –, dass Spitzen-
beamte des Auswärtigen Amtes vor einem
Machtwechsel warnten. Azadeh Moaveni, die
Dausend Prozent
der Deutschen stimmen der Aussage zu: »Das Leben in Deutschland wird im
Allgemeinen immer schlechter«. Unser Kolumnist sieht das genauso – er vermisst vor
allem den Duft von Freiheit und Abenteuer. Und Hühnerfrikassee
Aktuelle Civey-Umfrage für die ZEIT
sind gegenteiliger Meinung). Und auf den
ersten Blick stimmt das: Atomkriegsdrohung,
Energiepreis-Explosion, Abstiegsangst, Fach-
kräftemangel, Inflation, tote Fische in der
Oder, Plastikmüll in der Ostsee, Dürre, zehn
Meistertitel für Bayern München in Folge.
Seitdem Helene Fischer und Florian Silber-
eisen sich getrennt haben, war die Lage nie
wieder so ernst.
Beim zweiten Blick schauen wir nicht auf
die große Politik oder kleine Stars, sondern auf
den Alltag der Deutschen: Früher haute man
Online mitdiskutieren: Mehr Streit finden Sie unter zeit.de/streit
iranische Autorin, schrieb im Guardian: »Ein
Großteil der westlichen Außenpolitik ist
darauf ausgerichtet, Frieden und Stabilität in
Gebieten zu sichern, die für die Regierungen
von strategischem Interesse sind.« Die Angst
vor dem Zerfall des Staates und einem wo-
möglich folgenden Chaos ist zu groß.
Dass das Weiterbestehen dieses Regimes
Gefahren für Europa bedeutet, scheint im Aus-
wärtigen Amt noch keine Rolle zu spielen. Ein
Beispiel: Die Islamische Republik ist der ver-
längerte Arm Russlands in der Region. Der
Iran schickt Drohnen, kauft Weizen, lehrt
Russland, Sanktionen zu umgehen. Russland
schützt dafür das Regime. Für die Mädchen
und Frauen auf den Straßen des Iran ist die
Haltung der Bundesrepublik verheerend.
Eine zentrale Forderung der Islamischen
Republik für die Fortführung der Atomver-
handlungen lautet, die Revolutionsgarde, also
die militärische Einheit mit ihrer Freiwilligen-
miliz, den Basidschi, von der US-Terrorliste
zu streichen. Das sind diejenigen, die gerade
mit aller Brutalität Menschen auf den Straßen
des Iran niederknüppeln, mit Tränengas be-
schießen, erschießen. Menschenrechtsorga-
nisationen zählen mehr als 185 Tote.
Die iranische Zivilgesellschaft fordert, dass
die EU sich endlich dazu durchringen solle,
die Revolutionsgarden auch hier als Terror-
organisation zu listen. Kanadas Regierungs-
chef Justin Trudeau kündigte an, mehr als
10.000 Offizieren der Revolutionsgarde und
sich in der Kantine Königsberger Klopse,
Hühnerfrikassee oder Rindergulasch rein,
sodass man nach dem – »Mahlzeit!« – Essen-
fassen erst mal im Büro ein Nickerchen
machen durfte. Heute fühlt man sich nach
Sushi, Schawarma oder Shanghai Bowl so
fit, dass man weiterarbeiten muss. Schlimmer
geworden sind auch die Kneipenbesuche.
Der Duft der großen, weiten Welt und des
Marlboro Country sind aus Deutschlands
Kneipen ebenso längst verschwunden wie
der Parka und der Palästinenserschal, seine
13
»hochrangigen Mitgliedern« die Einreise zu
verweigern, und zwar für immer. Außerdem
dürften sie kein Vermögen in dem Land be-
sitzen. Solche Sanktionen treffen das Regime,
die Machtelite. Die Revolutionsgarde und ihre
Familienangehörigen kaufen sich Luxusimmo-
bilien in den teuersten westlichen Metropolen.
Eine Feministin aus Teheran, die nicht
genannt werden möchte, sagt mir: Deutsch-
land muss die Beziehungen zur Islamischen
Republik abbrechen, die Machtelite sanktio-
nieren, ihnen und ihren Kindern die Einreise
verbieten, ihre Gelder in Europa einfrieren.
Alles, was eine Feministin mit den Feinden
von Frauen tun würde. Ist Baerbock bereit,
so weit zu gehen – und wenn ja: Lässt man
ihr diesen Handlungsspielraum?
Seit voriger Woche kursiert ein Clip in den
sozialen Medien, mit Aussagen westlicher
Politikerinnen. Die Erste, die spricht, ist
Annalena Baerbock: »Solange Frauen nicht
sicher sind, ist niemand sicher.« Deswegen
stehe man an der Seite der mutigen Frauen
im Iran. Für ihre Rechte, für ihren Frieden,
für ihre Freiheit. Dazu Klaviermusik.
»Jede Form von Solidarität gibt den Men- Natalie Amiri, 44,
schen im Iran im Moment Kraft, doch von deutsch-iranische
der deutschen Außenministerin, die die Journalistin, war
Mittel in der Hand hat, mehr als Solidarität ARD-Korrespon-
zu zeigen, erwarten wir mehr«, schreibt mir dentin in Teheran.
eine Iranerin. »Dieser Clip wird unsere 2021 erschien ihr
frauenfeindlichen Machthaber der Islami- Buch »Zwischen
schen Republik nicht einschüchtern. Viel- den Welten:
leicht haben sie ihn nicht einmal gesehen. Von Macht und
Oder lachen sich darüber kaputt.« Ohnmacht im Iran«
Eine andere Demonstrantin teilt mir mit:
»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde es
wunderbar, wenn eine Außenpolitik betrieben
wird, die sich für Gleichberechtigung einsetzt,
die Machismo, männliche Egomanie und
Dominanz vertreibt. Diese Politik muss für
mich zwar nicht zwingend das Attribut
›feministisch‹ tragen. ›Menschlich‹ würde mir
auch schon reichen. Doch der Titel ›feminis-
tisch‹ weckt Erwartungen, die zu erfüllen sind.
Und noch etwas: Die iranischen Frauen sind
keine Opfer, sondern Heldinnen. Feministi-
sche Außenpolitik bedeutet für mich, sie nicht
bloß mit Social-Media-Clips zu unterstützen,
sondern mit einer Politik der Konsequenzen.
Im Iran rufen die Menschen: Habt keine
Angst, wir halten alle zusammen. Wir Frauen
wünschen uns, dass feministische Außen-
politik zu ihnen hält und nicht gleichzeitig
ein Atomabkommen mit denjenigen ver-
handelt, die uns auf der Straße erschießen.«
Es braucht eine Kehrtwende der bisherigen
Iranpolitik, hin zu einer klaren, langfristigen,
neuen und konsequenten Strategie. Statt auf
ein Atomabkommen zu setzen, sollte Europa
erst einmal die Zivilgesellschaft in ihrem
Wunsch nach einem regime change unter-
stützen. Das verlangt Mut von der Ministerin
und ihrem Haus, doch nicht so viel Mut, wie
ihn gerade jede einzelne Frau im Iran aufbringt,
die fordert, was jede Feministin unterstützen
sollte: Frau – Leben – Freiheit.
Peter Dausend
olfaktorische Heimstatt – tagelang blieb er ist politischer
darin hängen, der Abenteuerqualm. Heute Korrespondent im
stinkt’s in Kneipen wie Klamotten nach After- Hauptstadtbüro
Workout-Duschgel und Selbstoptimierung. der ZEIT
Früher durfte man auch alte Leute noch
anschreien, weil die schwer hörten. Heute
haben die ein Gerät im Ohr, das alles laut
weitersagt, sodass man seine Aggressionen an
anderen auslassen muss.
Und das Schlimmste: Vielleicht geht die
Welt weder mit einem Knall noch mit einem
Wimmern unter. Sondern gar nicht.
 14
Titelthema: ZEIT-Literaturmagazin zur Frankfurter Buchmesse
Foto: Kasia Zacharko für DIE ZEIT
Foto: Victoria Jung für DIE ZEIT
Dieses Wandern der Lieder
Musik-Spezial: Die Kontrabassistin Athina Kontou
verwandelt Tänze aus ihrer Heimat Griechenland in
mitreißenden Jazz. Der Pianist Krystian Zimerman
entdeckt Folklore, die nach Hause will. Und Promi-
nente erzählen von Tönen, die trösten MUSIK, S. 59–62
IN DEN REGIONALAUSGABEN
ZEIT im Osten Wolfgang
Kohlhaase, der wichtigste
deutsche Drehbuchautor, ist
gestorben. Regisseure und
Produzenten erzählen, was sie
von ihm gelernt haben 18
Oft klingen die Dialoge in
Foto: Chris Maggio
Wolfgang Kohlhaases Filmen
wie Poesie. Eine Auswahl 19
Seit Monaten warnen Politiker
Apokalypse to go –
vor Aufständen. Überschätzen sie
die Proteste? 20
wie der Fotograf
Chris Maggio sich den ZEIT Schweiz Ihre Wahlerfolge
letzten Tag der Erde
lassen nach, und von einem
vorstellt Bundesrat können die Grünen
weiterhin nur träumen. Trotzdem
ist die Schweizer Politik so öko
wie kaum je zuvor
VON MAT THIAS DAUM UND
SALOME MÜLLER 18
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INHALT
POLITIK
Energie Die Gaspreisbremse ist
ZEITNAH beschlossen. Wer profitiert von ihr?
VON MARK SCHIERITZ
Mehr Schwärmerei USA Die Republikaner bereiten sich
jetzt schon darauf vor, das Ergebnis
der nächsten Präsidentschaftswahl
wagen anzuzweifeln
VON ANNA SAUERBREY
Mit der deutschen Romantik Ukraine Keine Angst vor Atomwaffen
– ein Interview mit dem Selenskyj-
konnte Fritz Habekuß bislang Vertrauten Olexij Arestowytsch 4 VON LEON KOS S
wenig anfangen – »alles nur tote Wie wäre es, wenn Raketen nicht in
Köpfe aus der Schulzeit«, sagt Kiew, sondern Hamburg oder Berlin
einschlügen? VON ALICE BOTA
der ZEIT-Redakteur. Bis er
Andrea Wulfs neues Buch las Russland Die Armee wird für den
scheiternden Krieg an den Pranger
über Jena in den 1790er-Jahren. gestellt VON MICHAEL THUMANN
Er traf die Bestsellerautorin CDU Wie rechts darf es denn sein?
zum Gespräch in New York, wo Die Christdemokraten auf Profilsuche
sie auf Lesereise war und ihm VON MARIAM L AU
vom Naturbegriff der Rebellen Europa Warum so viele Partnerländer
sauer auf Deutschland sind
um den Superstar Schiller VON MAT THIAS KRUPA ,
erzählte. Eine Frage blieb offen: ULRICH L ADURNER UND JÖRG L AU
warum so anschaulich Dichter
Israel Das Land vor der Wahl und
und Denker nicht auch im Netanjahu vor dem Comeback –
ein Gespräch mit dem Publizisten und
Unterricht behandelt werden Historiker Tom Segev 9 Encieh Erfani kritisiert das regimetreue
WISSEN, SEITE 38
Äthiopien Unter Ausschluss der Welt-
öffentlichkeit wird ein Krieg geführt, der
• 10
weit über Afrika hinausweist
VON ANDREA BÖHM
STREIT
Ampelkoalition Erneut haben die
Liberalen eine Landtagswahl verloren –
weil sie in Berlin zu wenig Profil zeigen?
Darüber streiten die Bundestags-
abgeordneten Max Mordhorst (FDP)
und Felix Banaszak (Grüne)
Foto: Science History Images/mauritius images
Iran Wo bleibt Deutschlands
feministische Außenpolitik?
VON NATALIE AMIRI
Dausend Prozent
VON PETER DAUSEND
DOSSIER
Serie: Sternstunden der Menschheit
(2) Die Forscherin Rosalind Franklin
kommt der Entdeckung der DNA ganz
nah – wird aber von ihren männlichen
Sie hat’s gefunden Kollegen übervorteilt
VON MORITZ AIS SLINGER 15
»Sternstunden der Menschheit«,
Teil 2: Wie die Biochemikerin GESCHICHTE
Rosalind Franklin dem Kubakrise Vor 60 Jahren stand die
Geheimnis des Lebens auf die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg.
Was lehrt der damalige Konflikt für den
Spur kam DOSSIER, SEITE 15 Umgang mit Putins Drohungen? Ein
Gespräch mit dem ukrainisch-amerika-
nischen Historiker Serhii Plokhy 19
ZUM HÖREN
VERBRECHEN
Maria Hoffmann erzählt, wie sie Die so gekennzeichneten
als Zeugin Jehovas das Artikel finden Sie als Friedensbewegung Im Oktober 1992
NS-Regime überlebt hat Audiodatei im »Premium- wurden Petra Kelly und Gert Bastian tot
VON SIMONE MÜLLER 20 bereich« unter in ihrem Bonner Haus aufgefunden.
www.zeit.de/vorgelesen 30 Jahre später erinnert sich Till Bastian
ZEIT Österreich Mithilfe der an die Widersprüche seines Vaters und
Commerzialbank Mattersburg
ANZEIGEN IN an seine schwierige Beziehung zu ihm
DIESER AUSGABE
wurden Unternehmen gerettet VON EVA SUDHOLT
und der burgenländische Fußball Bildungsangebote und
gefördert – mit Geld, das es gar Stellenmarkt
nicht gab VON C. PAUSACKL 18 (ab Seite 42), WIRTSCHAFT
Agenda Kultur:
Energie Deutschland hat den Ausbau
Vor 50 Jahren wütete der Museen, Kunstmarkt,
des Stromnetzes verschleppt – deshalb
Ortstafelsturm in Kärnten. Was Bühnen (Seite 56)
droht im Winter nun in manchen Orten
ist davon geblieben? Ein
• 21
FRÜHER das Licht auszugehen
Gespräch mit der Schriftstellerin
Maja Haderlap 20 INFORMIERT! VON MARC WIDMANN
Die aktuellen Themen Wenn der Strom ausfällt, hat das
Das Alpenporträt Sepp Holzer der ZEIT schon am
fatale Folgen. Wie sich die Sicherheits-
galt lange Jahre als Spinner unter Mittwoch im ZEIT-Brief,
• 22
behörden darauf vorbereiten
den Landwirten. Heute wird er als dem kostenlosen
VON INGO MALCHER
Pionier der Permakultur gefeiert Newsletter
VON CHRISTINA PAUSACKL 30 www.zeit.de/brief Womit keiner rechnet In den USA
lassen Airlines ausgerechnet ihre Verbin-
dungsleute zum Flugzeug von zu Hause
aus arbeiten VON HEIKE BUCHTER
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Immobilien Viele Bauherren Sinn & Verstand Die Zeit der großen
können sich Preise und Zinsen nicht Utopien ist vorbei. Doch die Zukunft
mehr leisten VON CL A AS TATJE 23 lässt sich auch heute neu entwerfen
VON PETER NEUMANN 51
2 Umwelt Beim Klimaschutz sind nicht
die Taten der Einzelnen entscheidend, Oper Der russische Regisseur Dmitri
sagt der Ökonom Achim Wambach
im Interview 24
Tschernjakow inszeniert, Christian
Thielemann dirigiert Richard
•3
Wagners »Ring« an der Oper
Unter den Linden in Berlin
• 52
Türkei Die Inflationsrate beträgt mehr
als 83 Prozent. Die Menschen sparen VON ALEX ANDER CAMMANN
schon an Lebensmitteln, und
TikTok Zum Glück lässt sich der
der Präsident taktiert
26
Algorithmus der Video-App überlisten
VON TIMO POS SELT 52
Nobelpreis Die Auszeichnung geht an
einen Ökonomen, der in der Finanzkrise
Nachruf Zum Tod von Bruno Latour,
4 dem Vordenker einer politischen
womöglich unseren Wohlstand rettete Ökologie
VON KOLJA RUDZIO 28 VON ELISABETH VON THADDEN 53
6 Geld Was ändert sich jetzt bei den Kolumne Von unterwegs gesendet
Minijobs? VON RÜDIGER JUNGBLUTH 28 VON CHRISTINE LEMKE-MAT WEY 53
Dokumentarfilm Ein Gespräch mit
7 WISSEN John und Gabriel Shipton, Vater und
Bruder von Julian Assange, über ihren
Twitter Wie wichtig ist der Nachrichten- Film »Ithaka« 54
dienst für die Wissenschaft?
Und was geschieht, wenn der Milliardär Theater Karin Henkel inszeniert
8
Elon Musk den Konzern übernimmt? Shakespeares »Macbeth«
VON MA XIMILIAN PROB ST 31 am Schauspielhaus Hamburg
VON PETER KÜMMEL 56
Bildung Die iranische Astrophysikerin
Musik-Spezial Athina Kontou spielt
griechische Tänze und Lieder mit dem
Uni-Personal ihres Heimatlandes 32
Kölner Jazzquartett Mother
Klimawandel Nirgendwo brennt mehr VON ULRICH STOCK 59
Wald als in Brandenburg. Ein Forstwirt
Was hören Sie gerade? Wir haben zehn
will das nicht hinnehmen
• 33
Prominente befragt 60
VON AUGUST MODERSOHN
Carl Seemann ist als legendärer Pianist
Schach Eine Anleitung für den wiederzuentdecken
perfekten Betrug beim Spiel der Könige VON WOLFR AM GOERTZ 62
VON ULRICH STOCK 35
Krystian Zimerman legt uns das Klavier-
Ökologie Forscher entdecken Pilze als werk von Karol Szymanowski ans Herz
Baustoff, Fleischersatz und Müllabfuhr. VON FLORIAN EICHEL 62
12 Können die Organismen dabei helfen,
die Umwelt zu retten?
GLAUBEN & ZWEIFELN
• 36
VON ANNE BAUM UND
13 CHRISTIANE GREFE Proteste Eine Pfarrerin und ein
Pfarrer sprechen über den wachsenden
Geistesgeschichte Wie die
Unmut in Ostdeutschland und die
13 deutschen Romantiker das Ich Lehren aus 1989. Ein Interview mit
entdeckten. Ein Gespräch mit der Christine Lieberknecht, ehemalige
Historikerin Andrea Wulf 38
Ministerpräsidentin von Thüringen,
und Jörg Uhle-Wettler, Domprediger
Infografik Musikindustrie 48
in Magdeburg 58
LEO – DIE SEITE ENTDECKEN
FÜR KINDER
Küss die Wand? Eine Ehrenrettung
Fußball-Traum Paul möchte der Raufasertapete
• 63
Profi werden. Weil er im Rollstuhl sitzt VON SAR A GEISLER
und nicht selbst kicken kann,
Entdeckt Selbstermahnungskosten
übt er sich als Trainer
VON ANNA MAYR 65
47
VON MARIE- CHARLOT TE MA AS
Klimawandel »Manche Menschen
Dinosaurier Die Forscherin Elisabete
müssen ihren Konsum radikal
Malafaia buddelt in Portugal seit fünf
reduzieren«: Die Aktivistin
Jahren das wohl bisher größte in Europa
Greta Thunberg im Interview 66
gefundene Dino-Skelett aus 47
Voll in die Mitte Eine Nacht im neuen
Hotel Chateau Royal in Berlin
FEUILLETON VON AL ARD VON KIT TLITZ 68
Nobelpreis für Literatur Kann man In drei Drinks durch ... Taipeh
das linkspopulistische Engagement von
VON QUENTIN LICHTBL AU 69
Annie Ernaux von ihrem großartigen
Fragen Sie Ella Bin ich flatterhaft und
Werk trennen?
• 49
VON IRIS R ADISCH undankbar? 71
20
Afrikanisches Reisetagebuch (6) Wie es wirklich ist ... sich in den Vater
der Freundin zu verlieben 72
VON NAVID KERMANI 50
Anime Die Serie »Chainsaw Man«
aus Japan ist da VON FLORIAN EICHEL 50
RUBRIKEN
Leserbriefe 18
Serie Die neue Staffel von »Babylon
• 34
Berlin« und die endlosen Zwanzigerjahre Stimmt’s?
VON PETER NEUMANN 50
Die Position 42
Social Media Von Britney Spears
Worum geht’s? 43
lernen, wenn man sich nutzlos fühlt
VON ANTONIA BAUM 50 3½ Fragen 44
Wie man mithilfe einer App den Impressum 54
ehrlichen, nackten Alltag ins Bild setzt
23 VON EVA SAGER 50 Was mein Leben reicher macht 72
Nächste
Woche in
Ihrer ZEIT
www.zeit.de
11.10.22 11:51

Sie war’s
Anfang
der Fünfzigerjahre:
Die Forscherin Rosalind
Franklin kommt dem Geheimnis
des Lebens ganz nahe. Doch drei
Männer betrügen sie um den Lohn
ihrer Arbeit – und erhalten
den Nobelpreis
VO N
M O RIT Z AI S S LI N G ER
Fotos: Bridgeman Images; Jewish Chronic/akg
Rosalind Franklin, oben rechts 1955 im
Labor, stammt aus einer jüdischen
Familie. Von klein auf weiß sie, was sie
werden will: Forscherin
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
DOSSIER
W
enige Stunden nachdem sie
aus den Händen des schwe-
dischen Königs Gustav VI.
Adolf ihre Nobelpreisme-
daillen erhalten haben, sitzen
die Wissenschaftler James
Watson, Francis Crick und
Maurice Wilkins zusammen am Ehrentisch des Gol-
denen Saales im Stockholmer Rathaus. Die Wände
sind verziert mit 18 Millionen goldenen Mosaikstein-
chen, die langen Tische drapiert mit feinstem weiß-
goldenem Leinentuch. 210 weiß behandschuhte
Kellner in azurblauen Fracks mit goldenen Schulter-
klappen bedienen die Gäste.
James Watson soll gleich im Namen der drei die
traditionelle Dankesrede der Preisträger halten. Es
geht ihm nicht gut, er hat Halsschmerzen. Am Mor-
gen hat er noch einen Arzt aufgesucht. Der hat ihm
versichert: alles in Ordnung. Es ist der 10. Dezember
1962, früher Abend, gerade haben alle ihre Nachspeise
gegessen, gedünsteter Pfirsich mit Schuss. James Watson
erhebt sich.
Er ist 34 Jahre alt, lang und dünn und unendlich
nervös. An all das, die Halsschmerzen, den Arzt, die
Nervosität, wird er sich später in Büchern erinnern. In
seinem dunklen Frack, den er sich extra für diesen Tag von
einem Schneider im englischen Cambridge hat anfertigen
lassen, tritt er ans Mikrofon. Vor ihm liegen Seiten aus
Leinenpapier mit dem Emblem des luxuriösen Grand
Hôtel Stockholm, in dem die Preisträger untergebracht
sind. Watson hat seine Rede darauf geschrieben.
Er sagt, dieser Abend sei der zweitschönste Moment
in seinem Leben. »Der schönste war, als wir die Struktur
der DNA entdeckt haben. In dem Augenblick wussten
wir, dass sich eine neue Welt vor uns aufgetan hatte.« Er
dankt seinen Mitpreisträgern: »Die Entdeckung war
nur möglich mit der Hilfe von Francis und Maurice.«
Er dankt anderen Forschern, »großen Männern«, die an
sie geglaubt hätten. Als sich James Watson wieder setzt,
schiebt ihm Francis Crick einen Zettel zu: »Viel besser,
als ich es hätte machen können, – F.«
Was für eine Geschichte: Zwei Freunde, James Watson
und Francis Crick, rätseln an der Universität Cambridge
jahrelang über die Frage, wie, aus biologischer Sicht, das
Leben entsteht. Sie wissen: Die Antwort liegt in der Struk-
tur der DNA. Als es ihnen schließlich gelungen ist, sie zu
entschlüsseln, so wird es Watson später in seinem Best-
seller Die Doppelhelix beschreiben, rennen sie in ihr
Lieblings-Pub und verkünden: »Wir haben das Geheim-
nis des Lebens entdeckt!« Ihr Modell der Doppelhelix
wird zur Ikone, für viele Fachleute ist die Entschlüsselung
der DNA die wichtigste wissenschaftliche Entdeckung
des 20. Jahrhunderts. Maurice Wilkins veredelt die Arbeit,
indem er die Richtigkeit der Struktur nachweist. Die drei
erhalten den Nobelpreis.
Die Geschichte wird weitererzählt, von Jahr zu Jahr,
von Generation zu Generation, Biologielehrer verbreiten
sie in ihren Schulklassen, Professoren tragen sie in ihre
Uni-Seminare, Fernsehdokumentationen bringen sie in
die Wohnzimmer.
Es klingt wie die Erzählung eines Märchens.
Es ist: eine Märchenerzählung.
In seiner Dankesrede beim Nobelbankett in Stockholm
lässt Watson ein Detail unerwähnt. Das Detail ist eine
Frau, auch sie Forscherin, sie heißt Rosalind Franklin. Als
Watson, Crick und Wilkins den Nobelpreis erhalten, ist
sie bereits tot, fünf Jahre zuvor im Alter von 37 Jahren an
Krebs gestorben. Kaum jemand kennt sie oder ihre Arbeit.
Warum sollten sie diese Frau da erwähnen?
Die drei Preisträger wissen, warum. Sie wissen, was
ihre Kollegin für sie getan hat. Sie wissen, was sie ihr
angetan haben. Sie wissen, dass es ohne Rosalind
Franklin all das wahrscheinlich für sie nicht gegeben
hätte: den Empfang beim schwedischen König, das
Bankett, die gedünsteten Pfirsiche mit Schuss. Den
Nobelpreis. Sie wissen, wie es ihnen gelungen ist, die
Struktur der DNA zu entschlüsseln: Sie haben Rosa-
lind Franklin um ihre Forschungsergebnisse betrogen.
Sternstunden
der Menschheit
Teil 2
In Anlehnung an Stefan Zweigs
gleichnamiges berühmtes Buch stellen
wir Schicksalsmomente der Geschichte
aus den vergangenen hundert Jahren vor.
Teil 3 nächste Woche im Wissen:
Das Buch »Silent Spring« begründet
die Umweltbewegung.
Alle bisher erschienenen Folgen der
Serie finden Sie unter
www.zeit.de/sternstunden
15
Sechzig Jahre nach der Nobelpreisverleihung legt
eine alte Frau vorsichtig einen Karton auf ihren Esstisch.
Sie hebt den Deckel ab und fährt mit den Fingern durch
die Papiere, die sich in dem Karton stapeln. Sie sagt:
»Das sind all die Briefe, die Rosalind an meine Eltern
und uns geschrieben hat.«
Ein Haus am Rande der Universitätsstadt Cambridge.
Durch die Terrassentür scheint die Sonne herein, hinter
dem Garten erstreckt sich ein natürlicher Teich. Ein Fasan
pickt im Rasen und fliegt davon. Die Frau schaut dem
Fasan hinterher. »Ein junges Männchen«, sagt sie.
Jenifer Glynn ist 92 Jahre alt, eine zierliche Frau in
beiger Cordhose, beigem Pullover, um den Kopf hat
sie ein geblümtes Tuch gewickelt. Sie lebt seit 1960 in
diesem Haus. Sie hat hier in Cambridge Geschichte
studiert und später gelehrt. Sie ist die jüngste Schwester
von Rosalind Franklin.
»Rosalind war eine sehr gute große Schwester«,
sagt sie.
Rosalind Franklin: geboren am 25. Juli 1920 in Lon-
don. Die Familie jüdisch, der Vater Banker, die Mutter
zu Hause, die Kindheit geborgen. Vier Geschwister. Eine
Nanny. Die Wochenenden im Sommerhaus des
Großvaters, er hat es vom selben Architekten moderni-
sieren lassen, der die Fassade des Buckingham-Palastes
renoviert hat. Rosalinds Eltern leben bescheidener. Der
Vater fährt mit der U-Bahn zur Arbeit, am Abend
unterrichtet er ehrenamtlich am Working Men’s College.
Die Mutter hilft, wo sie helfen kann, sorgt für Alte,
Arme, Alleinerziehende.
Die junge Rosalind ist anders als die anderen. Eine
Jüdin in einem anglikanischen Land. Ein Mädchen, das
Jungssachen mag. Ein Kind, das alles hinterfragt. »Meine
Mutter«, sagt Jenifer Glynn, »erzählte, dass sich Rosalind
als kleines Mädchen weigerte, die Existenz Gottes einfach
so anzuerkennen. Sie habe gefragt: Und überhaupt, woher
weiß man denn, dass Er nicht eine Sie ist?«
Als Rosalind sechs Jahre alt ist, schreibt ihre Tante in
einem Brief an die Mutter: »Rosalind ist erschreckend
schlau – sie verbringt ihre ganze Zeit damit, aus Spaß
arithmetische Aufgaben zu lösen & bekommt aus-
nahmslos die korrekten Ergebnisse heraus.«
Jenifer Glynn, das einzige der fünf Geschwister, das
noch lebt, sagt: »Rosalind war schon immer klar, was sie
werden wollte: Forscherin.«
Also: Mathe, Chemie, Physik als Fokusfächer in der
Schule. Jedes Jahr Urkunden und Preise für heraus-
ragende schulische Leistungen. Abschluss mit Aus-
zeichnung. Dreijähriges Stipendium über 30 Pfund pro
Jahr. Mit 17 Jahren Aufnahmeprüfung in Mathematik
Fortsetzung auf S. 16
 16
Auf Grundlage von Rosalind Franklins Forschungsergebnissen bauen
James Watson (links) und Francis Crick 1953 das Modell der DNA
Fotos: Science History Images/mauritius images; Science Photo Library akg
Der entscheidende Hinweis auf dem Weg zur Entschlüsselung der DNA:
Das »photo 51« von Rosalind Franklin, entstanden am 2. Mai 1952
DOSSIER
Sie war’s Fortsetzung von S. 15
und Physik an der Universität Cambridge. Dort gibt es
damals Regeln: 500 Studienplätze sind für Frauen
reserviert, 5000 für Männer. Studentinnen müssen in
allen Kursen in für sie gekennzeichneten Bereichen
Platz nehmen, in den vorderen Reihen. Sie werden
nicht als »Mitglieder der Universität« akzeptiert.
Rosalind Franklin besteht die Aufnahmeprüfung,
1938 zieht sie nach Cambridge. Die ungleiche Behand-
lung stört sie, der Sexismus. Noch viel mehr aber scheint
sie die politische Gleichgültigkeit ihrer Kommilitonen
zu nerven. 1938 ist ein Jahr größter Krisen. Hitler
schließt Österreich ans Deutsche Reich an, der briti-
sche Premierminister Neville Chamberlain spricht im
Münchner Abkommen gemeinsam mit Frankreich und
Italien Deutschland das Sudetenland zu, über den Kopf
der Tschechen hinweg. Die Reichspogromnacht. Rosa-
lind Franklin schreibt nach Hause: »Ohne Eure Briefe
und die Times hätte ich keine Ahnung davon, dass
irgendwer gegen Deutschlands Umgang mit den Juden
protestiert. Die Leute hier reden nicht über Politik.«
Sie gerät in einen Streit mit einer anderen Studen-
tin, einer Kommunistin, Stalin-Anhängerin. Aus einem
der Briefe im Karton: »Sie versuchte, Russland zu ver-
teidigen. Wir sprachen über die fehlende Freiheit in
Russland, und ich erwähnte die russische Angewohn-
heit, Leuten, die sie nicht mögen, die Köpfe abzuschla-
gen. Sie stand empört auf und sagte: Das machen sie
gar nicht, sie erschießen sie.«
In jener Zeit werden in London bereits Schützen-
gräben ausgehoben und Luftschutzkeller eingerichtet.
Tausende Juden fliehen 1938 aus Deutschland und
Österreich nach England, die Franklins unterstützen
die Ankommenden. »Wir nahmen ein neunjähriges
Mädchen bei uns zu Hause auf«, sagt Jenifer Glynn.
In Cambridge versucht auch Rosalind zu helfen. Die
30 Pfund ihres Stipendiums überlässt sie einer geflüch-
teten Studentin. Sie engagiert sich in einem jüdischen
Flüchtlingszentrum und animiert ihre Kommilitonin-
nen, mitzumachen. Sie befüllt Sandsäcke. Sie spricht mit
ihrer kleinen Schwester: »Sie erklärte mir ganz geduldig,
was da gerade in Deutschland passiert. Was das für ein
Mann ist, der dort herrscht. Sie war sehr fürsorglich.«
Und dann ist Krieg. In Cambridge verschwinden
die jungen Männer, von den 5000 Studenten sind
1940 nur noch gut die Hälfte da. Sie werden ge-
braucht: bei den Geheimdiensten, im Militär, fürs
Knacken der deutschen Verschlüsselungsmaschine
Enigma. Auch Rosalind Franklin wird zu kriegs-
wichtiger Arbeit eingezogen: beim britischen Kohle-
Forschungslabor. Sie findet heraus, wie man Gasmas-
ken optimieren kann. Nachts übernimmt sie Freiwilli-
genschichten als Wachtposten für den Luftalarm. Um
Gas einzusparen, macht sie sich zum Frühstück keinen
Toast mehr.
Als Bomben auf London fallen, drängt ihr Vater sie
dazu, lieber in der Landwirtschaft auszuhelfen, das sei
im Krieg viel nützlicher als dieses Wissenschaftszeug.
Seine Tochter, 20 Jahre alt, antwortet in einem Brief:
»Du schaust auf die Wissenschaft (oder redest zumin-
dest so über sie), als sei sie eine Art demoralisierende
Erfindung der Menschheit, etwas Weltfremdes, das mit
Vorsicht zu genießen ist und abgeschieden von unserem
alltäglichen Leben gehalten werden muss. Doch Wis-
senschaft und Alltag können und sollen nicht vonein-
ander getrennt werden. Meinem Glauben nach gibt uns
Wissenschaft eine partielle Erklärung für das Leben.«
Sie habe, sagt Jenifer Glynn, vieles aus jenen Kriegs-
jahren vergessen, an diesen Moment ganz am Ende aber
erinnere sie sich genau: »Rosalind und ich waren zu
Besuch bei unserer alten Nanny, die auf dem Land
wohnte. Wir hörten Radio, die Nachrichten. Sie mel-
deten, die Amerikaner hätten eine Atombombe auf die
japanische Stadt Hiroshima geworfen. Ich fragte Rosa-
lind, was das bedeute, und sie erklärte es mir: was eine
Atombombe ist, wie sie funktioniert, was sie anrichtet.
Sie sagte, der Krieg sei jetzt vorbei.«
Die Atombombe ist der traurige Schlusspunkt einer
Epoche, in der die Menschheit von der Wissenschaft in
Atem gehalten wurde ob all der spektakulären Entdeckun-
gen: Röntgenstrahlung, Radioaktivität, Relativitätstheorie.
Forscher und Forscherinnen sind zu Stars geworden,
Marie Curie, Albert Einstein, Niels Bohr, Max Planck,
Werner Heisenberg. Es ist ihnen gelungen, in eine un-
sichtbare Welt vorzudringen, in der Elektronen und
Neutronen und Protonen universelle Gesetze bestimmen
und Moleküle Menschen formen. In der Mitte des Jahr-
hunderts steht man vor der nächsten großen, der vielleicht
größten Frage: Was ist das überhaupt – Leben?
Angefangen hatte alles in den Jahren um 1860
herum mit einem kleinen, kurzsichtigen Mönch aus
Schlesien. Gregor Johann Mendel war bei der Züch-
tung seiner Erbsen im Klostergarten etwas aufgefallen:
Wenn er unterschiedliche Erbsensorten miteinander
kreuzte, gab es klare Regeln, wie Merkmale von einer
Generation an die nächste weitergegeben werden.
Mendel folgerte, es müssten also irgendwelche »mate-
riellen Elemente« existieren, über die Eigenschaften
der Eltern an die Nachkommen übertragen werden.
Der Träger dieser Erbinformationen ist das Gen. Der
Begriff tauchte erstmals 1909 auf, abgeleitet vom grie-
chischen génos, Abstammung. Gene liefern die Grund-
anweisungen für den Aufbau und die Entwicklung eines
Individuums. In jenen Jahren Anfang des neuen Jahr-
hunderts entdeckte die amerikanische Biologin Nettie
Stevens, dass die Gene wiederum von den Chromosomen
getragen werden, fadenförmigen Gebilden aus Chromatin,
jeder Mensch besitzt 46 davon, 23 vom Vater, 23 von der
Mutter. Stevens’ Kollege Thomas Hunt Morgan erkannte,
wie die Gene auf den Chromosomen liegen, zu Ketten
aneinandergereiht. Damit war klar: Das Gen ist keine
abstrakte Einheit, sondern etwas Materielles, etwas, das
in einer bestimmten Form in einer Zelle vorkommt.
Erwin Schrödinger, Österreicher, Quantenphysiker,
Nobelpreisträger, Hitler-Gegner, schreibt 1944 genau
darüber ein Buch, What is Life?. Ein Gen, glaubt er,
müsse irgendein außergewöhnliches Molekül sein, so
wahnsinnig groß, dass es all die Informationsmengen in
sich tragen kann, so wahnsinnig klein, dass es in eine
Zelle passt. Es müsse ganz regelmäßig sein, um die In-
formationen kopieren und weitergeben zu können,
und ganz unregelmäßig, um die unfassbare Vielfalt der
Gene widerzuspiegeln.
Als Schrödinger sein Buch schreibt, hat der Bioche-
miker Oswald Avery gerade bewiesen, dass bei der Ver-
erbung eine Substanz namens Desoxyribonukleinsäure,
kurz DNA, eine entscheidende Rolle spielt. Sie ist die
Trägerin der Erbinformation. Es ist die jüngste große Ent-
deckung in der noch jungen Geschichte der Genetik.
Jetzt, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, fragt sich
die Wissenschaft: Wie sieht diese Form, die DNA, aus?
Im Januar 1951 tritt Rosalind Franklin einen neuen
Job an. Die vergangenen vier Jahre hat sie in einem
Labor in Paris gearbeitet, sie hat dort an Kohlekristallen
geforscht, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir
gelesen und die intellektuelle Welt der Boheme kennen-
gelernt. »Sie hat die Zeit in Paris geliebt«, sagt ihre
Schwester Jenifer Glynn.
Rosalind Franklin bekommt eine Stelle in der Abtei-
lung für Biophysik am Londoner King’s College angebo-
ten, sie soll an den biophysikalischen Verfahren der
Kristallografie und der Röntgenbeugung arbeiten: Be-
strahlt man einen Gegenstand mit Licht, wirft dieser
Gegenstand Schatten, selbst wenn er winzig und mit
bloßem Auge nicht zu erkennen ist. Bestrahlt man ihn aus
verschiedenen Perspektiven, kann man aus den einzelnen
Schattenwürfen in mühsamster Kleinstarbeit seine Struk-
tur berechnen. Um die Struktur eines Moleküls zu ent-
schlüsseln, geht man genauso vor. Es ist nur noch kom-
plizierter. Moleküle in flüssiger Form oder im Gaszustand
sind wie Kinder vor einer Fotokamera: Sie halten nicht
still. Anders als Kinder kann man Moleküle aber in Kris-
talle verwandeln. Es ist, als würde man das Molekül ver-
hexen: Mit einem Mal hält es still. Beschickt man es jetzt
statt mit Licht mit den stärkeren Röntgenstrahlen, erzeu-
gen die Kristallgitter regelmäßige Schattenrisse. Aus ihnen
lassen sich die räumlichen Konturen des Moleküls folgern.
Am King’s College versucht zu jener Zeit der stell-
vertretende Leiter der Biophysik, mit genau diesem
Verfahren die Struktur der DNA zu entschlüsseln. Der
Mann heißt Maurice Wilkins, er ist damals Mitte drei-
ßig und wird später zusammen mit Francis Crick und
James Watson den Nobelpreis erhalten (Wilkins und
Crick sind 2004 gestorben. Watson lebt noch, zurück-
gezogen in den USA. Eine Bekannte von ihm richtet
aus, er gebe keine Interviews mehr).
Als Rosalind Franklin am 8. Januar 1951 ihren neuen
Kollegen vorgestellt wird, fehlt Wilkins. Er ist im Urlaub
und deshalb nicht dabei, als der Abteilungsleiter Rosalind
Franklin anbietet, ebenfalls an der DNA zu arbeiten.
Noch schlimmer für Wilkins: Bei seiner Rückkehr ins
Labor erfährt er, dass die Neue gar nicht, wie er gedacht
hat, seine Assistentin werden soll. Sie ist ihm gleichgestellt.
In den Physik-Fakultäten der angelsächsischen Elite-
universitäten sieht es damals so aus: In Harvard dürfen
Frauen nicht als Lehrkräfte eingestellt werden, in Prince-
ton ist ihnen nicht gestattet, das Physik-Gebäude auch
nur zu betreten. Ihre Anwesenheit, glaubt der dortige
Institutsleiter, lenke die männlichen Geistesgrößen von
der Arbeit ab. Auch die Welt, in die die Jüdin Rosalind
Franklin am King’s College eintritt, ist dominiert von
weißen christlichen Männern.
»Rosalind war da von Anfang an eine Außenseiterin«,
sagt Anthony North. Er schiebt an einem sonnigen
Nachmittag einen Teewagen in sein Wohnzimmer.
»Milch? Zucker? Ein paar Kekse?«
Anthony North lebt im Norden Englands, in Leeds,
er ist 91 Jahre alt und wohnt allein in einem großen
Haus am Rande der Stadt. Alles sehr aufgeräumt, grauer
Teppichboden, graues Sofa. »Leider ist meine Frau
letztes Jahr gestorben. Sie könnte Ihnen mehr über
Rosalind erzählen.«
Anthony North und seine verstorbene Frau Marga-
ret arbeiteten mit Franklin im Labor für Biophysik. Er
selbst habe nicht viel mit ihr zu tun gehabt, sagt North,
weder im Labor noch außerhalb. »Margaret und Rosa-
lind aber haben manchmal die Mittagspause zusammen
verbracht.« Es habe ja nach Geschlechtern getrennte
Speiseräume gegeben. »Und im Aufenthaltsraum der
Universität durften sich die Frauen nicht aufhalten. Der
war nur uns Männern vorbehalten.«
North sagt, sein Chef Maurice Wilkins und die
neue Kollegin Rosalind Franklin seien von Beginn an
nicht miteinander klargekommen. »Maurice war Frau-
en gegenüber verschlossen, schüchtern. Rosalind da-
gegen war selbstbewusst und zielstrebig. Das passte
nicht zusammen.«
Eines Morgens, im Mai 1951, versammelt sich das
ganze Laborteam um Wilkins, er arbeitet an DNA-
Proben, kommt aber nicht richtig voran. Franklin
schaut zu, tritt vor und sagt, er mache da etwas falsch.
Sie schlägt vor, wie es besser gehe. Und hat recht. Doch
Wilkins dankt ihr nicht, er ist außer sich. Er fühlt sich
vor aller Augen vorgeführt. In einem späteren Inter-
view wird er sich an den Vorfall erinnern: Ihr Vorschlag
habe nichts Originelles an sich gehabt, nichts Innova-
tives. »Ihre Haltung war immer von oben herab. Sie
hatte einfach Glück, dass ihre Idee funktionierte.«
Also arbeitet Franklin weiter an der Strukturanalyse
der DNA. Die bisherigen Fotoaufnahmen von DNA-
Segmenten sind schlecht, verschwommen und unklar.
Sie will herausfinden, woran das liegt. Sie entdeckt,
dass sich die DNA-Moleküle spannen und entspannen,
je nach Feuchtigkeitsgehalt. Franklin gelingt es, die
Feuchtigkeit der DNA so zu regulieren, dass ihre Fasern
ununterbrochen im Entspannungsmodus verharren.
Es ist eine ihrer großen Leistungen. Jetzt kann sie sie
fotografieren, so klar und gut, wie DNA noch nie foto-
grafiert wurde. Es seien, wird ihr späterer Laborchef
rückblickend sagen, »die schönsten Röntgenaufnahmen
von einer Substanz, die je gemacht wurden«.
Am 21. November 1951 hält Rosalind Franklin am
King’s College eine Vorlesung über ihre Arbeit. Ein
gutes Dutzend Zuhörer sitzen im Hörsaal. Unter ihnen
ist James Watson. Wilkins hat ihn eingeladen. Die
beiden kennen sich von einer Tagung in Neapel.
James Watson stammt aus Chicago, als Teenager
hat er mal bei der beliebten amerikanischen Radio-
show Quiz Kids mitgemacht, bei der einige der klügsten
Kinder Amerikas in Wissensfragen gegeneinander an-
treten. Jetzt ist er Anfang zwanzig und forscht zusam-
men mit dem zwölf Jahre älteren Francis Crick in
Cambridge ebenfalls an der DNA.
Die beiden haben Schrödingers Werk What is Life?
gelesen, seitdem sind sie besessen von der Genetik. Ihr
Ziel ist es, als Erste die Struktur der DNA zu ent-
schlüsseln. Für sie ist es ein Wettlauf. Sie wissen: Den
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Siegern ist der Nobelpreis sicher. »Mir war klar«, wird
Watson später sagen, »dass ich dann auf einer Stufe
mit Darwin wäre.«
Als Franklin ihren Vortrag beginnt, versteht Watson
wenig. Es ist alles sehr technisch, sehr kompliziert, und
Watson hat kaum Ahnung von Kristallografie und
Röntgenbeugung. Er konzentriert sich lieber auf die Frau,
die da vorne spricht, nicht auf die Wissenschaftlerin. In
seinem 1968 erschienenen Buch Die Doppelhelix be-
schreibt er Franklin, wie sie im Hörsaal steht, so: »In ihren
Worten war keine Spur von Wärme oder Frivolität. Und
doch konnte ich Rosy nicht vollständig uninteressant
finden. Einen Augenblick überlegte ich, wie sie wohl aus-
sehen würde, wenn sie ihre Brille abnehmen würde und
irgendetwas Neues mit ihrem Haar versuchte.« Man
könne sich »Rosy gut als das Produkt einer unbefriedigten
Mutter vorstellen, die es für überaus wünschenswert hielt,
dass intelligente Mädchen Berufe erlernten, die sie vor
der Heirat mit langweiligen Männern bewahrten«.
Als Franklin ihren Vortrag beendet hat, stellt Wilkins
ihr Watson vor. »Nach einem kurzen und, wie ich spä-
ter oft beobachten konnte, typischen, nämlich gereiz-
ten Gespräch mit Rosy«, schreibt Watson in der Doppel-
helix, »wanderten Maurice und ich den Strand entlang
und dann hinüber zu Choy’s Restaurant in Soho.« Sie
essen Chopsuey, trinken billigen Rotwein und lästern
über »Rosy«. Rosalind Franklin hasst den Spitznamen.
Wilkins nennt sie so, Watson macht es daraufhin auch.
Für Watson ist klar: »Rosy musste gehen oder an ihren
richtigen Platz verwiesen werden.«
Rosalind Franklin merkt, was hinter ihrem Rücken
vorgeht, das Tuscheln, die Häme, Rosy. Der Jungs-
Club, der sich gegen sie verschworen hat. Sie ist ein-
sam. In diesen Monaten lernt sie einen Mann kennen,
Jude wie sie, allein in einem fremden Land. Er wird ihr
guter Freund.
Simon Altmann hat auf die E-Mail mit der Frage,
ob man ihn besuchen dürfe, gleich geantwortet: »Natür-
lich! Lassen Sie mich nur früh genug wissen, wann Sie
kommen: Ich bin 98!!«
Er läuft in kleinen Trippelschritten durch seine
Wohnung, den Gehstock lässt er unbeachtet im Flur
lehnen, Erdgeschoss, Oxford, England. Ein Nachmit-
tag. Die Wohnung ist voller Kunst, an den Wänden
hängen Gemälde, auf den Kommoden stehen Skulp-
turen. Vor ihm auf dem Tisch liegen zwei seiner selbst
verfassten Bücher, ein dünnes Kinderbüchlein, Mär-
chen, die sich Altmann für seinen Enkel ausgedacht
hat, und ein Gedichtband. Sein Leben lang schon
schreibt Simon Altmann Gedichte.
Altmann ist in Argentinien geboren, Buenos Aires,
seine jüdischen Eltern waren um die Jahrhundertwende
vor den Pogromen aus Russland dorthin geflohen. Als
Student weigerte er sich, der Partei Juan Peróns beizu-
treten, und führte die Proteste gegen den Machthaber
an. Deswegen: nach dem Uni-Abschluss keine Anstel-
lung. 1949 Ausreise nach London. Doktorand am
King’s College in Theoretischer Physik, wo er auf Rosa-
lind Franklin traf. 1953 Wechsel an die Universität
Oxford, dort blieb er bis 1991. Seitdem Rente.
Altmann lässt sich auf einen Stuhl im Esszimmer
fallen, steckt die Daumen hinter die Hosenträger und
sagt: »Die Sache mit Rosalind war eine echte Tragödie.«
Er habe sie über einen gemeinsamen Freund ken-
nengelernt. Sie hätten sich sofort hervorragend ver-
standen und bei gemeinsamen Abenden über James
Joyce’ Ulysses gesprochen, über Sartre und den Existen-
zialismus, übers Theater, Rosalind habe gekocht. »Sie
war eine sehr gute Köchin. Ihr Risotto: Oh mein Gott!
So gut!«
Es seien Abende gewesen, in denen sie für ein paar
Stunden das Labor und Wilkins und Watson habe ver-
gessen können. »Die meiste Zeit ging es ihr wegen
dieser Typen miserabel.«
Die Atmosphäre bei den Biophysikern, Franklins
Abteilung, sei schrecklich gewesen, sagt Altmann, be-
sonders für jemanden wie sie, gebildet, sensibel, intellek-
tuell. »Dort arbeiteten richtige Rowdys. Die hatten
keine Ahnung von Poesie oder Philosophie.«
Nach Franklins Vortrag im November 1951 besucht
James Watson immer wieder das King’s College, er trifft
sich mit Wilkins, er guckt, wie weit Franklin mit ihrer
Forschung an der DNA ist, er spioniert. Simon Alt-
mann sagt: »Jimmy war eine verdammte Plage.«
Einmal, erinnert sich Altmann, sei Franklin zu ihm
ins Labor hineingestürmt. »Kurz vorher war sie von
einer Vorlesung zurück in ihr Büro gegangen. Als sie
die Tür öffnete, sah sie, wie Jimmy sich durch ihre
Unterlagen wühlte.« Sie habe Watson rausgeschmissen,
sei zu ihm, Altmann, gerannt und habe es ihm völlig
aufgelöst und den Tränen nahe erzählt. »Dieses Maß
an Unanständigkeit!«, ruft Altmann durchs Zimmer.
Auf Grundlage von Franklins Forschungsergebnissen
bauen Watson und Crick Ende November 1951 ein
erstes simples Modell der DNA. Es ist aus Pappe, sie
haben die einzelnen Bausteine wie eine Art Lego zusam-
mengesteckt. Ein DNA-Molekül, das weiß man heute,
ist so aufgebaut: Es besteht aus zwei Strängen. Ein einzel-
ner Strang hat ein Rückgrat aus Zuckern und Phosphaten.
Von dort gehen die vier Basen ab, Cytosin, Guanin,
Adenin und Thymin. Die zwei Stränge umlaufen sich
schraubenförmig. Das ist die Doppelhelix.
Watson und Crick wissen damals nicht, ob ein
DNA-Molekül zwei oder drei oder vier Stränge besitzt,
wie die Basen angeordnet sind, wo sie sitzen. Sie glau-
ben: Es ist eine Tripelhelix, also drei Stränge, mit Phos-
phaten an der Innenseite. Als sie ihr Modell fertig
gebaut haben, sind sie begeistert von sich selbst.
»Francis stürzte ans Telefon und rief Maurice an«, er-
innert sich James Watson in der Doppelhelix. Crick
habe Wilkins mitgeteilt, »er und ich wären gerade auf
ein Ding gestoßen, das sehr wohl die Lösung sein kön-
ne, auf die wir alle warteten«.
Am nächsten Morgen sitzen Wilkins, Franklin und
drei Laborkollegen aus dem King’s College im Zug ins
rund eine Stunde entfernte Cambridge. Sie wollen
sich das Modell anschauen. Als Watson und Crick es
in Raum 103 ihres Instituts enthüllen, erkennt Frank-
lin: Das Modell ist falsch. Die DNA könne keine
Tripelhelix sein. Watson schreibt rückblickend: »Be-
dauerlicherweise waren die meisten ihrer Einwände
nicht pure Bosheit: Bei dieser Gelegenheit kam die
äußerst peinliche Tatsache heraus, dass mich meine
Erinnerung an Rosys Angaben über den Wassergehalt
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 DOSSIER 17

ihrer DNA-Moleküle getäuscht haben musste. Die
traurige Wahrheit wurde offenbar: Das korrekte
DNA-Modell musste mindestens zehnmal so viel
Wasser enthalten, wie in unserem Modell zu fin-
den war.«
In Raum 103 sinkt die Laune ins Bodenlose.
Watson: Cricks »Stimmung war inzwischen nicht
mehr die eines selbstsicheren Schulmeisters vor
unglücklichen Kolonialkindern, die zum ersten
Mal mit einem hervorragenden Intellekt in Berüh-
rung kommen. Es stand einwandfrei fest, welche
Gruppe am Ball war.« Franklins Gruppe.
Mit dem Zug um 15.40 Uhr fährt Rosalind
Franklin zurück nach London und wendet sich
wieder ihrer Arbeit zu.
In einem Archiv der Universität Cambridge
lagern noch heute all die wissenschaftlichen Unter-
lagen von Rosalind Franklin, Notizhefte, Aufzeich-
nungen von Vorlesungen, Transkripte. Bevor man
sie dort ausgehändigt bekommt, muss man sich ein
Filmchen über den korrekten Umgang mit den
alten Papieren anschauen, dann erst darf man sie
durchblättern. Man erkennt, wie nah Franklin in
den kommenden Monaten der Lösung zur Ent-
schlüsselung der DNA kommt.
Gemeinsam mit ihrem Doktoranden macht sie
des King’s College, Routineprogramm, Franklin
fasst dafür ihre vorläufigen Resultate in einem
Bericht zusammen. Der Bericht ist nur für die Mit-
glieder der Kommission gedacht, nicht für andere
Forscher, schon gar nicht für Konkurrenten. Doch
ein Kommissionsmitglied aus Cambridge gibt
Franklins Bericht an Watson und Crick weiter. Auf
dem Weg zur Entschlüsselung der DNA wird dies
für sie ein wichtiger Moment. Der entscheidende
findet am 30. Januar 1953 statt.
James Watson wird ihn in der Doppelhelix so
schildern: Es ist Nachmittag, er streunt mal wieder
durch die Flure des King’s College, er will sich mit
Maurice Wilkins treffen. Vor Franklins Labor
stoppt Watson. Ohne zu klopfen, reißt er die Tür
auf. Der Raum ist abgedunkelt, Rosalind Franklin
beugt sich gerade über Röntgenaufnahmen. »Im
ersten Augenblick war sie erschrocken, aber dann
gewann sie rasch ihre Fassung wieder und sah mich
unverwandt an. Ihr Blick gab mir zu verstehen,
dass ungebetene Gäste wenigstens die Höflichkeit
haben sollten, anzuklopfen.«
Watson redet auf sie ein, Tripelhelix, Spiral-
strukturen, Basenfolgen, Moleküle, Franklin ent-
gegnet, widerlegt, und Watson, der merkt, dass sie
einfach ihre Ruhe haben will, entscheidet sich, »eine
photo 51. Ihr Doktorand hat sie nach Franklins
Ankündigung, das King’s College zu verlassen,
seinem künftigen Chef Wilkins gegeben. Franklin
weiß nichts davon. Watson: »In dem Augenblick,
als ich das Bild sah, klappte mir der Unterkiefer
herunter, und mein Puls flatterte.«
Es sollte der wichtigste Augenblick im Forscher-
leben von James Watson werden.
Im Frühjahr 1953 verlässt Rosalind Franklin
das King’s College. In nur zwei Jahren ist es ihr
beinahe gelungen, auf einem Forschungsgebiet,
das ihr bis dahin völlig fremd war, eine der größten
Fragen der Wissenschaft zu beantworten.
Watson und Crick bauen im März auf Grundlage
von Franklins photo 51 und ihren Messdaten ein
neues Modell der DNA. Diesmal ist es korrekt. Am
25. April 1953 veröffentlichen sie in der Fachzeit-
schrift Nature ihren Artikel über die Entschlüsselung
der Erbinformation. Sie geben an, sie hätten bei ihrer
Franklin hält es
nicht mehr am
Die Behandlung, der sie sich unterziehen muss,
eine Kobalttherapie, ist, wie jede Krebsbehandlung
in den Fünfzigerjahren, äußerst schmerzvoll. Gamma-
strahlen sollen den Tumor bekämpfen, bekämpfen
aber auch den Körper. Die Strahlen führen zu
schweren Verbrennungen der Haut, zu Übelkeit,
Durchfall und inneren Blutungen. Der Arzt sagt
Rosalind Franklin, ihr bleibe nicht mehr lang.
65 Jahre später, in ihrem Haus in Cambridge,
erzählt die jüngere Schwester, wie sie mit der älteren
in jener Zeit der Krankheit noch einmal auf Reisen
geht. Zusammen seien sie in einem winzigen Auto
durch Italien gerollt. Verona, Ravenna, Pistoia,
Lucca, Viareggio. Die Sonne, das Meer.
Alles ein letztes Mal, Sommer 1957.
Rosalind, sagt die jüngere Schwester, sei, ob-
wohl es ihr damals schon sehr schlecht ging, noch
immer voller Neugierde gewesen, sie habe alles
sehen, jeden kennenlernen wollen.
Jenifer Glynn schaut hinaus in ihren Garten, sie
schweigt. Tränen füllen ihre Augen. Es fällt ihr bis
heute schwer, über diese letzten Monate zu sprechen.
Am 16. April 1958 stirbt Rosalind Franklin in
einem Krankenhausbett in London. Sie ist 37 Jah-
re alt.
1962 erhalten Watson, Wilkins und Crick ihren
Maurice Wilkins wird 1990 in einem Interview
auf die Frage, wie das denn gewesen sei mit dem
photo 51, sagen: »Oh, wie ich Rosalind Franklins
Foto stahl und es Jim zeigte!«
Francis Crick wird 1979 in einem Aufsatz schrei-
ben: »Rosalind hat sich ihre Schwierigkeiten und ihr
Versagen hauptsächlich selbst zuzuschreiben. Hinter
ihrer forschen Art war sie überempfindlich und,
ironischerweise, zu entschlossen, um wissenschaftlich
fundierte Arbeit zu leisten und Abkürzungen zu ver-
meiden. Sie war zu sehr darauf bedacht, allein erfolg-
reich zu sein, und zu stur, um Ratschläge von anderen
einfach anzunehmen, wenn sie ihren eigenen Vor-
stellungen zuwiderliefen.«
James Watson wird am tiefsten sinken. Einmal
wird er sich in einem Interview dafür aussprechen,
Frauen zu erlauben, ihren Fötus abzutreiben, sollte
sich mittels Genanalyse herausstellen, dass das
ungeborene Kind homosexuell veranlagt sei. Ein
anderes Mal wird er sagen, schwarze Menschen
seien dümmer als weiße. Seine Nobelpreismedaille
wird er wegen Geldproblemen für 3,9 Millionen
Euro an den russischen Oligarchen und Putin-
Freund Alischer Usmanow versteigern. Noch 2018
wird James Watson in einem seiner letzten
Interviews über Franklin sagen: »Ich würde sie als

Aufnahmen der DNA, immer bessere und bessere,
und dann, am 2. Mai 1952: die beste, die alles ver-
ändern wird. Es ist ein Freitagabend, als sie im
Labor DNA-Fasern auf ein winziges Röhrchen
legen. Sie richten die Kamera richtig aus, stellen
die Röntgenstrahlen ein. Und Schuss.
Vier Tage später entwickelt Franklin die Auf-
nahme. In ihrem Notizheft vermerkt sie: »Gut.
Nassfoto«. Neben das Bild schreibt sie: »photo 51«.
Das Foto Nummer 51 ist schärfer und schöner
als jedes Bild zuvor. Jetzt scheint klar zu sein: Die
Struktur der DNA ist eine Doppelhelix.
Franklin legt die Aufnahme beiseite und arbeitet
weiter an der Erforschung der DNA. Den Sommer
über rechnet sie, analysiert, notiert. Und be-
schließt, zu gehen. Sie hält es am King’s College
nicht mehr aus, die ewigen Streitereien, die Ge-
hässigkeiten, die eisige Atmosphäre. In einem Brief
an eine Freundin schreibt sie über die Kollegen:
»Ich habe alles so gelegt, dass ich keinem von ihnen
kaum je über den Weg laufen muss, was die Sache
besser macht, aber auch sehr langweilig.«
Sie erhält eine Stelle am Birkbeck College in
London, sie soll im kommenden Jahr dort anfangen
und an Viren forschen. Ein paar Monate muss sie
noch in ihrem Labor durchhalten.
Sie wertet ihre Röntgenaufnahmen von photo 51
aus, berechnet Parameter, stellt Gleichungen auf.
Ihre Ergebnisse, DNA hat helikale Struktur, Basen
sitzen innen, Zucker-Phosphat-Rückgrat außen,
C2-monokline Raumgruppe, sind sensationell. Im
Winter 1952 begutachtet eine externe Forschungs-
kommission die Arbeit der Biophysik-Abteilung
Explosion zu riskieren. Ohne weiter zu zögern, gab
ich ihr zu verstehen, sie sei unfähig, Röntgenauf-
nahmen zu interpretieren (...). Plötzlich kam Rosy
hinter dem Labortisch, der uns trennte, hervor und
ging auf mich los. Da ich Angst hatte, sie könnte
mich in ihrer Wut schlagen (...), zog ich mich hastig
Richtung offene Tür zurück. Aber Maurice, der auf
der Suche nach mir gerade den Kopf hineinsteckte,
verhinderte meine Flucht. Während sich Rosy und
Maurice über meine gebeugte Gestalt hinweg an-
blickten, teilte ich Maurice kleinlaut mit, mein
Gespräch mit Rosy sei zu Ende.«
Jene Szene, sagt Jenifer Glynn, sei von allen
schlimmen Beschreibungen ihrer Schwester in
Watsons Buch die schlimmste. Das Bild einer gei-
fernden, um sich schlagenden irren Frau im Labor:
ein Lacher für die Leser. Ein Stich in die Trauer der
Familie. »Ich habe nie erlebt, dass Rosalind die
Contenance verloren, schon gar nie jemanden
physisch attackiert hat«, sagt Jenifer Glynn. »Ab-
gesehen davon: Rosalind war, als Watsons Buch
herauskam, tot. Sie konnte sich nicht mehr wehren.
Es war einfach unfair.«
Wilkins bringt Watson nach dem Vorfall im
Labor in einen Nachbarraum. »Dank meiner Aus-
einandersetzung mit Rosy war Maurice so zugäng-
lich wie nie zuvor. Jetzt hatte ich mit eigenen
Augen die seelische Hölle gesehen, in der er zwei
Jahre gelebt hatte.«
Der King’s-College-Mann Wilkins entschließt
sich, dem Cambridge-Mann Watson das Wert-
vollste zu zeigen, was seine Uni gerade besitzt.
Aus einer Schublade holt er Franklins Aufnahme
King’s College
aus – die ewigen
Streitereien, die
Gehässigkeiten,
die Atmosphäre
Entdeckung keinerlei Kenntnis von Franklins zeit-
gleich veröffentlichten Forschungsergebnissen gehabt.
Der Artikel wird die Wissenschaft für immer
verändern.
Jenifer Glynn sagt, ihre Schwester habe nie
erfahren, welchen Anteil sie an der Entdeckung
gehabt habe. Nie habe ihr jemand erzählt, was
Watson, Crick und Wilkins hinter ihrem Rücken
betrieben.
Im Herbst 1956 sucht Rosalind Franklin, die
sich in ihrem Forschungsalltag jahrelang weitgehend
ungeschützt Röntgenstrahlung ausgesetzt hat, einen
Arzt auf. Sie hat unendliche Unterleibsschmerzen.
Der Arzt diagnostiziert Eierstockkrebs.
Es ist, wie ihr Freund Simon Altmann sagte,
tragisch: Die Forscherin, die den Großteil der Arbeit
bei der Entschlüsselung der DNA geleistet und
zeitlebens keine Anerkennung dafür erfahren hat,
zahlt den höchsten Preis.
Nobelpreis. Zunächst verschweigen sie Franklins
Anteil an allem. Dann, wenige Jahre später, schreibt
James Watson das Buch Die Doppelhelix. Die Welt
erfährt darin von Rosalind Franklin, ihrem photo
51, von dem Betrug. James Watson wirkt als Autor
wie ein eitler Dieb, den niemand bei seiner Tat er-
wischt hat, der aber so sehr nach Aufmerksamkeit
giert, dass er den Lesern all seine scheinbar genialen
Tricks und Täuschungen verrät.
Nachdem sie das Manuskript gelesen haben,
versuchen Francis Crick und Maurice Wilkins
noch, die Veröffentlichung zu verhindern. Ver-
gebens. Das Buch erscheint.
Hunderttausende Menschen lesen Watsons Er-
innerungen, sie erfahren, wie drei Spitzenforscher
monatelang ihre Kollegin mobbten, sich gegen sie
verschworen, sie um ihre Forschungsdaten betro-
gen. Aus heutiger Sicht würde man einen Aufschrei
aus der Wissenschaftsgemeinschaft erwarten, ein
Aufbegehren gegen den sich über die Seiten ziehen-
den Sexismus, über die Verachtung der wissenschaft-
lichen Leistung einer Frau.
Damals, Ende der Sechzigerjahre, geschieht
nichts davon. Als sei das Verhalten der drei Wissen-
schaftler das Normalste auf der Welt, stürmt das
Buch die Bestsellerlisten. Die Zeitschrift Nature
jubelt in ihrer Rezension, es sei »fesselnd und von
beachtlichem öffentlichem Nutzen«. Die Doppel-
helix wird für den amerikanischen National Book
Award nominiert.
Alle drei, Watson, Wilkins, Crick, kommen fort-
an nicht mehr los von Rosalind Franklin. Sie werden
immer wieder über sie reden, sich rechtfertigen.
Loser bezeichnen. Ich benutze hier das Wort
Loser nicht im Sinne, dass sie Abschaum war oder
ein schlechter Mensch. Sie hat es verkackt. Sie hat
es verkackt!«
Simon Altmann wird sich 2002 an seinen
Schreibtisch setzen und ein Gedicht über seine
Freundin Rosalind Franklin schreiben:
Sie zog
Den harten, gewissenhaften, steinigen Weg vor.
Doch sie brauchte Zeit, und Zeit
War ihr nicht gegeben:
Andere eilten zum Sieg.
Ohne ihre Arbeit hätte kein Modell
Gebaut werden können:
Das wurde schroff übersehen
Aber schon bald war sie tot
Und konnte keinen Einspruch mehr erheben.
Geschichte ist für die Gewinner –
Erinnerung aber ehrt auch noch jene,
Die nicht da sind, wenn die Medaillen
vergeben werden.
HINTER DER GESCHICHTE
Einige Tage vor Veröffentlichung dieses Dossiers
erreichte uns die Nachricht, dass Simon Altmann
Ende September gestorben ist. Altmann hatte
unserem Autor zuvor geschrieben, er hoffe, ihn
bald noch einmal in Oxford zu begrüßen. Für
den Text traf der Autor auch die Genetikerin und
Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard.

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18 LESERBRIEFE 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Zur Ausgabe Nr. 40 Weitere Leserbriefe finden Sie unter

blog.zeit.de/leserbriefe

Der Druck
im Kessel steigt
Giovanni di Lorenzo:
Betrug an den Müttern Aus Habecks
Maschinenraum
Bernd Ulrich:
»Die neue Flamme« ZEIT NR. 40 Valerie Schönian: »Die Krisenmanagerin« ZEIT NR. 40 »Das Ministerium« ZEIT NR. 40

Italien steht für einen Trend, der ganz Europa
erfasst hat. Deutschland, so urteilt Giovanni di
Lorenzo, sei dabei eine Insel der Seligen. Ge-
wiss, rechte Strömungen haben es schwer we-
gen der historischen Erblast und des medialen
Trommelfeuers der Öffentlichen-Rechtlichen.
Aber halt!
Die Wahlbeteiligung in NRW lag zuletzt bei
tristen 55,5 Prozent. Darin manifestiert sich
Verdruss über abgestandene Politikvisionen
oder Gendermätzchen. Der Druck im Kessel
steigt. Noch fehlt ein alternatives Programm
und eine charismatische Figur, die dem Frust
eine Stimme verleiht. Dann hätten auch wir
italienische Verhältnisse.
CHRISTOPH SCHÖNBERGER , A ACHEN
Giorgia Meloni macht widersprüchliche Aus-
sagen, die Spekulationen nähren. Eine neue
Flamme ist jedoch nicht zu befürchten.
Denn ein philosophischer Bezug zu Benito
Mussolini ist nicht erkennbar. Während Mus-
solini sich ganz als Friedrich Nietzsches Schü-
ler fühlte, sind die heutigen Rechtspopulisten
wie Meloni, Marine Le Pen, Viktor Orbán
und die Politiker der AfD ohne jegliche Philo-
sophie plump unterwegs.
Je nach der wirtschaftlichen Lage eines Lan-
des verfängt diese Plumpheit mehr oder weni-
ger. An den Halbwertszeiten von Matteo Sal-
vinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia
erkennt man aber die italienische Verlässlich-
keit für ein schnelles Ende sinnfreier Politik.
Zu internationaler Hysterie besteht daher
kaum Anlass. JÜRGEN DRES SLER , PER E-MAIL
Scheingefechte
Kolja Rudzio:
»Euphoriebremse« ZEIT NR. 40
Um das Dogma der FDP, die Schuldenbrem-
se, nicht zu verletzen und die Koalitionsräson
zu wahren, werden die 200 Milliarden Euro
für den Gaspreisdeckel wie schon die 100
Milliarden für die Bundeswehr als »Sonder-
vermögen« finanziert. Herrlicher Euphemis-
mus, denn es müsste heißen: Sonderschulden.
Die stehen dann nicht im regulären Bundes-
haushalt, sondern in einem Schattenhaushalt,
was schon der Bundesrechnungshof kritisiert
hat, indem er befand, der Haushalt werde
dem Transparenzgebot nicht gerecht. Für wie
dumm halten Politiker die Bürger eigentlich,
dass sie glauben, die würden den Schwindel
nicht bemerken? STEFAN K AISERS , GIES SEN
Die Diskussion um die Schuldenbremse und
deren Einhaltung (Artikel 109 GG) ist ein un-
würdiges Scheingefecht, da es klar definierte
Ausnahmen gibt: Naturkatastrophen, schwere
Rezessionen und außergewöhnliche Not-
situationen, die sich der Kontrolle des Staates
entziehen. Wenn nicht jetzt, wann dann ist
eine entsprechende Ausnahme gerechtfertigt?
FELIX BICKER , ES SEN
BEILAGENHINWEIS
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikationen
in einer Teilauflage: WWF Deutschland
Umweltstiftung, 10117 Berlin; Möbel Höffner,
12529 Schönefeld; Leipzig Tourismus und
Marketing GmbH, 04109 Leipzig;
Denner AG, CH-8045 Zürich
Ich, alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern,
fühlte mich sofort angesprochen: In meinem Fall
hätte der Vater mehr Unterhalt zahlen können,
tat es aber nicht. Auch ich habe meine Berufs-
tätigkeit im sozialen Beruf reduziert wahrgenom-
men. Ohne die finanzielle Unterstützung meiner
Eltern wären wir in die Armut abgerutscht. Als
die Kinder zur Schule gingen, konnte ich nach
einer gewissen Zeit wieder voll arbeiten.
Das dicke Ende aber kommt bei der Beantragung
der Rente. Hier wird zusammengezählt, was ein-
gezahlt wurde. Details interessieren nicht. Doppel-
belastung auch nicht. Mit inzwischen 70 Jahren
arbeite ich immer noch ein wenig, damit ich klar-
komme. Auch das ist eine Realität, die nicht mich
alleine betrifft und auf die alleinerziehende, be-
rufstätige Mütter vorbereitet werden sollten.
BARBAR A MÜLLER , AHRENSBURG
Was hier beschrieben wird, ist die krasseste Aus-
prägung eines millionenfach betriebenen systema-
tischen Betrugs an den Müttern. Was sie leisten, ist
die unverzichtbare Voraussetzung für die Zukunft
der Gesellschaft. Der Staat ist darauf angewiesen,
wenn er weiter Arbeitskräfte und Beitragszahler für
die Sozialsysteme haben will.
Die Mütter tun es freiwillig und ohne Honorar. Sie
verzichten in großem Umfang auf eigenes Ein-
kommen. Und die unmittelbaren Kosten, die für
jedes Kind anfallen, werden durch das Kindergeld
nur zu knapp einem Drittel ersetzt.
Und am Ende wartet die Altersarmut. Weil sie zu-
gunsten ihrer Kinder auf einen großen Teil des
möglichen eigenen Einkommens verzichten muss-
ten, haben die Mütter halb so viel Rente wie die
anderen, die sich die Mühe mit eigenen Kindern
gespart haben. Und deren Rente von den Kindern
der ausgebeuteten Frauen finanziert wird. Und die
Mütterrente? Die ersetzt nicht mehr als einen Bruch-
teil der Verluste.
DR . JÜRGEN SCHRÖDER , FOCKBEK
Das Unterhaltsgesetz von 2008 muss geändert
werden. Wie soll jemand, der/die ein Einkom-
men erarbeitet, danach noch einen Haushalt mit
Was, wenn er die Bombe zündet?
Streitgespräch: »Sollte Deutschland auch die Rückeroberung der Krim unterstützen?«
Die am häufigsten benutzten Argumente gegen die
Waffenhilfe für die Ukraine gründen auf der Angst,
dass Putin Atombomben einsetzen könnte. Das er-
scheint aber unwahrscheinlich, da der Einsatz von
Nuklearwaffen nicht nur für die Ukrainer furcht-
bare Folgen hätte, sondern auch die umliegenden
Staaten atomarer Strahlung ausliefern würde. Und
somit auch das benachbarte Russland!
Wenn Putin also noch in der Lage sein sollte, Politik
rational zu gestalten, wird er diesen letzten Schritt
nicht wagen. Russland würde damit zum Paria der
Weltgeschichte. Aber auch ein Einlenken oder gar
ein Rückzug erscheinen unwahrscheinlich.
Putin steckt militärisch und politisch in einer
Sackgasse, weshalb ihm nichts Besseres einfällt,
als Angst zu schüren.
Zu wünschen ist dem russischen Volk, dass es sich
von seinen Gewaltherrschern befreit und versucht,
einen demokratisch verfassten Staat zu gründen.
KL AUS REISDORF, SAINT-PAULET-DE- CAIS SON , FR ANK-
REICH
Man hat mit Wladimir Putin einen im wahrsten
Sinne des Wortes unberechenbaren Menschen
vor sich. Trotz alledem wird allen Ernstes ver-
sucht, sein Tun vorherzusagen. Wären da nicht,
Kindern bewältigen (putzen, einkaufen, kochen,
waschen, aufräumen)? Hinzu kommen Hausauf-
gabenbetreuung, Arztbesuche, Begleitungen zu
Sport, Logopädie und so weiter. In welcher kör-
perlichen und psychischen Verfassung dieser El-
ternteil ist, der diese Doppelbelastung aushält,
und was für erschöpfte/gereizte Mütter (Väter)
abends den Kindern am Abendbrottisch gegen-
übersitzen, hat sich anscheinend niemand bei
dieser Gesetzesänderung überlegt.
Dort, wo die Kinder größtenteils leben, kann der
Elternteil für seinen eigenen Lebensunterhalt
höchstens in Teilzeit arbeiten, sodass der andere
Elternteil einen Ausgleich für diese Betreuung
und Haushaltstätigkeit leisten muss.
BINKE WEINHEBER , PER E-MAIL
Muss eine Frau erst ein oder zwei Kinder in die
Welt setzen, um festzustellen, dass ihr Typ nicht
mithilft? Schönster Tag im Leben und dann Hirn
ausschalten?
Natürlich ist das nicht immer die Ausgangs-
situation, aber leider fallen doch viel zu viele zu-
rück ins alte Rollenverhalten.
Und was die finanzielle Drückebergerei angeht:
Unterhalt bestimmen, Prozesskostenbeihilfe be-
antragen – leider noch ’n Formular –, einem An-
walt übergeben, das war’s.
JÜRGEN VÖLKER , PER E-MAIL
Die Ehe ist in erster Linie ein Versorgungsvertrag
und sollte auch als solcher gesehen werden. Wenn
frau meint, diesen mal eben beenden zu müssen,
weil der Vollzeit arbeitende Ehemann sich zu wenig
um die Kinder gekümmert und die Küche nicht
geputzt hat, ist sie offensichtlich keine »Krisen-
managerin«, sondern schlicht naiv.
Da sich die Liebe aus dieser Ehe offensichtlich
bereits verabschiedet hatte, wäre doch Platz für
ein paar pragmatische Gedanken gewesen: Kann
ich mir die Trennung leisten? (Antwort: Nein, ich
bin leider in der Teilzeitmutter-Falle gelandet.)
Hilft mir die Trennung in tatsächlicher Hinsicht?
(Antwort: Ja, eine kurze Genugtuung gegenüber
dem Blödarsch von Ehemann, aber mittel- und
auch wenn es schmerzt, diplomatische Gespräche
ein Muss, auch vonseiten der Ukraine? Wie lange
soll das Leiden weitergehen? Es wird keinen Ge-
winner geben.
Wenn Alexander Graf Lambsdorff, wie er sagt,
»analytisch« zu dem Schluss kommt, Putin drohe
nur und eine nukleare Eskalation sei extrem un-
wahrscheinlich, schaudert mir. Was, wenn die
Russen die erste taktische Bombe zünden? Keine
Doktrin der Welt kann das verhindern.
WALTER SCHROIFF, R AEREN
Merkt denn niemand, dass wir einen Konflikt
zwischen zwei völkerrechtlichen Prinzipien ha-
ben? Das eine ist das Verbot, Grenzen mit Gewalt
zu verschieben. Das andere das Selbstbestim-
mungsrecht der Völker.
Unsere veröffentlichte Meinung hat sich einseitig
auf Ersteres festgelegt. Aber auf der Krim und im
Donbass leben Russen als ethnische Minderheit.
Bis 2014 problemlos. Dann putschte man auf
dem »Euromaidan« den Präsidenten weg, der von
der Mehrheit dieser Russen gewählt war und eine
friedliche Nachbarschaft wollte. Aus russischer
Sicht kommt Putin nun nur seinen entrechteten
Landsleuten zu Hilfe. Solange wir uns weigern,
langfristig nein, denn dann kann ich die Küche
erst recht alleine putzen, und Geldprobleme gibt’s
obendrauf.) Lösung: Beim Mann bleiben und die
Phase aussitzen.
Das mag zwar schrecklich unromantisch sein,
aber schnelle Trennungen und deren Folgen sind
es auch. DIANA WENIGER , KONSTANZ
Es fehlt der wichtige Hinweis auf die Möglichkeit
einer Unterhaltsbeistandschaft des Jugendamtes.
Die Behörde, die das mit ganz anderem Nachdruck
und Sanktionsmöglichkeiten tun kann, fordert
dann anstelle des oder der Alleinerziehenden den
Unterhalt des anderen Elternteils ein, einschließ-
lich einer regelmäßig aktualisierten Berechnung
der Unterhaltshöhe und der Beratung über wei-
tere staatliche Hilfsangebote. Selbst eine gericht-
liche Durchsetzung der Unterhaltsansprüche ist,
sofern erforderlich, bei dieser Beistandschaft Auf-
gabe des Jugendamtes.
ARNO DREISBACH , WILNSDORF
Ich war als Mann fast 20 Jahre Alleinerziehender.
Wo finde ich mich in Ihrem Artikel? Es gibt viele
Männer, die ihre Aufgabe erfüllen.
DR . KL AUS KERN , PER E-MAIL
Der Blick auf die Väter ist nicht automatisch die
Lösung, die gründen oft neue Familien und ha-
ben dann natürlich auch wieder neue Verpflich-
tungen. Auch sind sie, anders als im geschilder-
ten Fall, nicht immer Ingenieure, und dann sind
500 Euro pro Monat mitunter ein dickes Brett.
Der Vater meiner Kinder hat inzwischen zwei
weitere Kinder und ist auch schon wieder getrennt.
Er arbeitet als Erzieher und sucht nun eine bezahl-
bare Wohnung, in der er alle Kinder unterbringen
kann, und muss an vier Kinder Unterhalt zahlen.
Dass das irgendwie nicht geht, ist klar, oder?
Und schnell ist man dabei, zu denken: »Ja was
setzt er denn auch noch weitere Kinder in die
Welt!« Aber er liebt seine Kinder, und in beiden
Fällen waren es wir Frauen, die sich zur Trennung
entschieden. Ich finde, dass Care-Arbeit entlohnt
werden sollte. JUDITH ENGELER , PER E-MAIL
ZEIT NR. 40
diese Seite der Medaille zu sehen, gibt es keine
Chance auf ein Ende des Krieges.
PROF. MARTIN WILMERS , PER E-MAIL
Der Politologe Johannes Varwick scheint das Pro-
blem weniger im Kreml zu sehen – oder wie soll
man seine These verstehen, der Krieg sei ȟber-
morgen zu Ende, wenn wir keine Waffen mehr
liefern«? Der Krieg wäre dann zu Ende, wenn
Putin das Scheitern seiner Pläne zumindest im-
plizit eingestünde und seine Truppen zurückzöge
– aber eben auch nur dann.
Varwick scheint nicht zu verstehen, dass der Revisio-
nismus Putins der nicht zu behandelnde Phantom-
schmerz des in der untergegangenen UdSSR sozia-
lisierten KGBlers ist. Mit dieser Gefahr aber werden
wir zu tun haben, solange Putin im Kreml sitzt.
JÖRG HEGER , BORCHEN
Nein, auch wenn es noch so sehr schmerzt, wir
dürfen jetzt nicht der atomaren Drohung erlie-
gen, sonst ist es vorbei mit der freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung in den Staaten West-
europas. Nach einem Sieg über Putin wird es uns
in Gesamteuropa schlagartig besser gehen; verlie-
ren wir dagegen, dann ... WILLI KREB SER , LÖRR ACH
Noch vor einem Jahr war das BMWi ein
Lobbyministerium für die Wirtschaft, das
geübt darin war, alle Anliegen aus anderen
Politikbereichen abzuwehren oder zu ver-
zögern. Gelingende Obstruktion war erfolg-
reiche Wirtschaftspolitik. Mit der neuen
Bundesregierung hat der Primat der Politik
vor der Wirtschaft in das neue BMWK Ein-
zug gehalten. Eine Revolution.
Bei dem gegebenen Problemstau ist eine Poli-
tik der ruhigen Hand dort derzeit nicht mög-
lich. Wer viel macht, macht viele Fehler. Gut,
dass wir einen Philosophen als Wirtschafts-
minister haben, der die Zusammenhänge zu-
sammendenken und erläutern kann.
REINHARD KOINE, BAD HONNEF
Ja, es werden auch Fehler gemacht (Stichwort:
Gießkannenprinzip). Dennoch wird mit An-
stand und unglaublichem Fleiß versucht, uns
durch die Krise zu bringen. Der Opposition
dagegen geht jeglicher Anstand verloren.
Diese unsäglichen Schimpfereien von Fried-
rich Merz und Jens Spahn zielen doch nur auf
die Wahl in Niedersachsen und eine Positio-
nierung als Kanzlerkandidat ab. Es braucht
dringend einen parteiübergreifenden Konsens
anstatt ruinöser Machtspiele.
ULRICH NIEPENBERG, MARIENHEIDE
Friedrich Merz’ mit dreister Hochnäsigkeit
präsentierte Worte gegenüber dem Bundeswirt-
schaftsminister in Bezug auf dessen vorherigen
Beruf als Autor sind deutlich unterhalb des
Erträglichen (»Kinderbücher und Philosophie
sind wunderbar, aber damit kann man die
Probleme unseres Landes nicht lösen«). Eine
Entschuldigung wäre angesagt.
Merz’ frühere Jobs (zum Beispiel bei Black-
Rock) würden vermutlich eher eine kritische
Analyse rechtfertigen. Wer im Glashaus sitzt,
der sollte nicht mit Steinen werfen.
GUNTER AFFHOLDERBACH , SIEGEN
Super Pulsfühlung! Genial das Gedächtnis-
kondensat mit Abteilungsleiter Maaß! So
wünsche ich mir die ZEIT! Allerdings fehlen
Gespräche mit den Hauptverursachern einiger
Probleme: Peter Altmaier und – vor allem –
Sigmar Gabriel. Und noch ein Problem: die
Personalführung. Die Arbeitslast liegt auf ein
paar Hundert Schultern, während Tausend
andere nur innerhalb der Minimal-Gleitzeit
präsent sind. FR ANZ BERGER , SCHOENBERG
Bernd Ulrich gelingt in seinem Artikel vor
allem eines, und das noch auf angenehm les-
bare Weise: Aufklärung durch Komplexitäts-
reduktion. Er bringt den Streit auf den Punkt,
der sich um etwas sehr Grundsätzliches dreht
– »die Zukunft der Marktwirtschaft in den
von ihr selbst forcierten Krisen«.
BERNWARD BERGMANN , BERLIN
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 DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
14. Oktober 1962: US-Spionageflugzeuge ent-
decken auf Kuba sowjetische Mittelstreckenraketen.
Über Monate hat Kremlchef Nikita Chruschtschow
Nuklearwaffen in den sozialistischen Inselstaat
verschiffen lassen. US-Präsident John F. Kennedy
beruft einen Krisenstab ein, verhängt schließlich
eine Seeblockade. In den Gewässern vor Kuba
stehen sich nun US-Zerstörer und nuklear bestückte
sowjetische U-Boote gegenüber; tagelang bewegt sich
der Konflikt an der Schwelle zum Atomkrieg.
DIE ZEIT: Herr Plokhy, am Ende Ihres Buchs Nuclear
Folly über die Kubakrise schreiben Sie: »Wir dürfen
nicht warten, bis eine weitere Krise solchen Ausmaßes
die Politik wieder zur Vernunft bringt«, denn die
nächste Krise könne noch viel schlimmer werden. Das
war 2021. Ist die nächste Krise nun da?
Serhii Plokhy: Ja, und es ist zweifelsohne die schwerste
seit Ende des Kalten Krieges. Wir leben in einem neuen
Zeitalter der nuklearen Aufrüstung. Dessen Gefahren
werden seit Jahren unterschätzt. Wir müssen unsere
Kuba-Lektion neu lernen.
ZEIT: Zwischen dem Raketenpoker von 1962 und
Putins Atomdrohungen liegen sechs Jahrzehnte und
der Untergang des Sowjetimperiums. Was verbindet
die beiden Ereignisse trotz allem?
Plokhy: 1962 stationierte die Sowjetunion heimlich
Raketen und Atomsprengköpfe auf Kuba, direkt vor
der Küste der USA; heute führt Russland einen Er-
oberungskrieg in seiner eigenen Nachbarschaft – das
sind völlig unterschiedliche Dinge. Aber erneut hat sich
daraus ein globaler Konflikt entwickelt, in dem die
atomare Drohung von Moskau ausgeht. Und erneut
dient diese Drohung dazu, den Westen zu erpressen.
Allein in seiner Rhetorik agiert Putin ein wenig subtiler
als Nikita Chruschtschow, der breitbeinig verkündete:
»Wir produzieren Raketen wie Würstchen.«
ZEIT: Handeln beide, Chruschtschow 1962, Putin
2022, aus einem Unterlegenheitsgefühl heraus?
Plokhy: Die Sowjetunion war damals, ähnlich wie
Russland heute, eine revisionistische Macht. Atomar
konnte sie mit den USA nicht mithalten. Zugleich
entwickelte sie unter Chruschtschow neue, globale
Ambitionen. Stalin hatte sich im Wesentlichen auf die
Sowjetunion und Osteuropa beschränkt. Nun began-
nen, infolge der Entkolonisierung, auch Lateinamerika
und Afrika eine Rolle zu spielen. Heute hat Russland
mit den USA nuklear gleichgezogen, aber das russische
Militär insgesamt und seine Wirtschaft stehen weit
zurück. Russland will trotzdem mehr als eine »Regional-
macht« sein und weltpolitisch mitmischen. Es gibt also
durchaus Parallelen.
ZEIT: 2019 erklärte Putin, er sei »bereit für eine neue
Kubakrise«. Sinnt er auf Rache für 1962?
Plokhy: Die Kubakrise gilt gemeinhin als gefährlichs-
ter Moment der Weltgeschichte. Was Putin offenbar
sagen will, ist: Passt auf, wir können euch wieder in
dieselbe Situation bringen wie 1962.
ZEIT: Denkt er in der Logik des Kalten Krieges?
Plokhy: Für Putin und die heutige Führungsgenera-
tion in Moskau waren die Siebzigerjahre die prägende
Dekade. Für die Vereinigten Staaten und Westeuropa
war dies eine Zeit des Rückzugs – aus Vietnam – und
der Rückschläge, etwa durch die Ölkrisen. Die Sowjet-
union hingegen baute ihren Einfluss in der Dritten
Welt aus, sie war eine Supermacht, die den geschwäch-
ten USA selbstbewusst entgegentrat. So sieht für Putin
eine »normale« und gerechte Welt aus.
ZEIT: Wie viel Chruschtschow steckt in Putin?
Plokhy: Es gibt den Scherz, dass jedem glatzköpfigen
Kremlführer einer mit Haaren folgte und umgekehrt:
Chruschtschow (Glatze) ersetzte Stalin (Haare) und
wurde seinerseits durch Breschnew (Haare) ersetzt.
Putin ist, wie Chruschtschow, kahl. Aber im Ernst: Ja,
es gibt Gemeinsamkeiten. Beide sind bereit, die Welt
herauszufordern und sich über Regeln hinwegzusetzen.
Putin stellte dies zuletzt klar, als er nach Scheinreferen-
den Teile der Ostukraine annektierte: Russland, sagte
er, werde nicht nach Regeln spielen, die von ehe-
maligen Imperial- und Kolonialmächten diktiert wer-
den. Ein wichtiger Unterschied zu Chruschtschow ist,
dass Putin sehr viel freier ist in seinen Entscheidungen.
ZEIT: Inwiefern?
Plokhy: Putin hat kein mächtiges Politbüro um sich.
Während der Kubakrise versuchte etwa Anastas Miko-
jan, ein hochrangiges Politbüro-Mitglied, mäßigend
auf Chruschtschow einzuwirken. Mikojan war da-
gegen, überhaupt Raketen auf Kuba zu stationieren;
später lehnte er es ab, die sowjetischen Schiffskonvois
von nuklear bestückten U-Booten eskortieren zu las-
sen. Ich sehe im Kreml niemanden, der in ähnlicher
Weise gegen Wladimir Putin argumentieren könnte.
ZEIT: Was bewegte Chruschtschow überhaupt dazu,
das Risiko einzugehen, Atomraketen im »Hinterhof«
der USA zu platzieren?
Plokhy: Ihm fehlten Langstreckenraketen, die das
Territorium der Vereinigten Staaten erreichen konn-
ten. Die Mittelstreckenraketen auf Kuba lösten das
Fotos: American Photo Archive/Alamy/Mauritius Images [M]; Christine Tschavoll/picture-alliance/dpa (u.)
Problem und setzten die USA erstmals unmittelbar
der Bedrohung durch einen sowjetischen Nuklear-
schlag aus. Außerdem wollte sich Chruschtschow den
Einfluss auf Kuba sichern: Er hatte den Anspruch,
der Führer der kommunistischen Welt und der anti-
kolonialen Bewegungen zu sein. In dieser Rolle sah er
sich durch Maos China herausgefordert. Er fürchtete
also nicht nur, dass die junge Revolution auf Kuba
zum Opfer einer erneuten Invasion durch die USA
werden könnte, sondern auch, dass sich Fidel Castro
und Che Guevara an das mit Moskau konkurrierende
Peking als Schutzmacht wenden könnten. Mit den
Atomraketen auf Kuba wollte er zwei Fliegen mit
einer Klatsche schlagen.
ZEIT: In Ihrem Buch von 2021 gehen Sie den Fehlern
nach, die beide Seiten gemacht haben. Welcher war
der gravierendste?
Plokhy: Nicht zu begreifen, wie das politische System
des Gegners funktionierte. Chruschtschow glaubte, er
könne den jungen, unerfahrenen Kennedy schikanie-
ren – und nahm dabei offenbar an, das amerikanische
System ähnle dem sowjetischen. Er sah nicht, dass
Kennedy innenpolitisch unter Druck stand, dass es
eine Opposition gab und freie Medien. Kennedy
GESCHICHTE
»Sie
hatten
Angst«
Am nuklearen Abgrund: Was die Kubakrise von 1962 für den
Umgang mit Putins Atomkriegs-Drohungen lehrt. Ein Gespräch
mit dem ukrainisch-amerikanischen Historiker Serhii Plokhy
fürchtete um seine Präsidentschaft. Aus den
Aufzeichnungen von den Sitzungen im Weißen
Haus wissen wir, dass er Angst hatte, angeklagt
zu werden, wenn er bezüglich der Raketen auf
Kuba nicht handelte. Chruschtschow hingegen
erwartete just das: dass Kennedy nichts tun
würde. Er hielt ihn für schwach.
ZEIT: Und Kennedy?
Plokhy: Er blieb, ehe sich die Krise zuspitzte,
auf den Krisenherd Berlin fixiert und unter-
schätzte Chruschtschows geostrategisches Inte-
resse an Kuba. Dazu kam das Versagen der US-
Geheimdienste – das größte während des ge-
samten Kalten Krieges! Erst am 14. Oktober
1962, Monate nachdem die Raketenstationie-
rung auf Kuba begonnen hatte, konnte der US-
Militärgeheimdienst die ersten fotografischen
Nachweise dafür liefern. Da waren die Atom-
raketen schon so gut wie einsatzbereit.
ZEIT: Wie war das möglich?
Plokhy: Unter anderem haben sich die Ameri-
kaner davon täuschen lassen, dass die Sowjets
zunächst Abwehrtechnik lieferten, bevor in
deren Windschatten Raketen und Nuklear-
sprengköpfe verschifft wurden. Zudem bluffte
der Kreml unentwegt: Man brauche keine Ra-
keten außerhalb der Sowjetunion, um die USA
vernichten zu können. Das volle Ausmaß der
Kuba-Aktion wurde erst nach dem Kalten
Krieg bekannt: Erst da erfuhren die USA, dass es
1962 auf Kuba ein Vielfaches an sowjetischem
Personal gegeben hatte – 42.000 Mann und
nicht nur 4000, wie die Amerikaner glaubten.
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Falke oder Taube? US-Präsident
John F. Kennedy während der Kubakrise
Sieger oder Verlierer? Kubas »Maximo Líder«
Fidel Castro mit Kremlchef Nikita Chruschtschow
Es waren übrigens überwiegend Ukrainer. Die
Schiffe nach Kuba legten von den ukrainischen
Schwarzmeerhäfen ab, und auch die Raketen ka-
men aus ukrainischer Produktion. Sie stammten,
wie ich verblüfft festgestellt habe, aus einer Fabrik
in Dnipropetrowsk, die sich in derselben Straße
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12.09.22 11:53
befand, in der ich in den Sechziger- und Sieb-
zigerjahren aufgewachsen bin.
ZEIT: Wie hatten die Amerikaner übersehen
können, dass eine so große Zahl von Soldaten
nach Kuba verlegt wurde?
Plokhy: Sie haben schlicht verkannt, welch ge-
ringen Wert die sowjetische Armeeführung auf
das Wohl der eigenen Leute legte. Die 42.000
nach Kuba transportierten Soldaten wurden
tagelang bei extrem hohen Temperaturen unter
Deck eingepfercht, sodass sie aus der Luft nicht
zu sehen waren. In KGB-Berichten, die ich in
ukrainischen Archiven gefunden haben, schil-
dern Soldaten ausführlich die unmenschlichen
Zustände an Bord.
ZEIT: Wie gefährlich waren die geheimdienst-
lichen Informationslücken?
Plokhy: Brandgefährlich. Wiederholt war man
in Washington kurz davor, Entscheidungen zu
treffen, die wahrscheinlich einen Atomkrieg her-
beigeführt hätten. In der ersten Woche nach der
Entdeckung der Abschussbasen etwa befürwor-
tete Kennedy einen Luftangriff auf die Anlagen
– ohne zu wissen, ob die sowjetischen Atom-
raketen einsatzfähig waren oder nicht. Kennedy
war in diesen Tagen ein Falke, wie sein Bruder
Robert. Die Entscheidung für die Seeblockade
fällte er eine Woche später, als bekannt wurde,
dass die Raketen atomar bestückt und startklar
waren. Hätte sich Kennedy in den Tagen zuvor
über die Bedenken einiger seiner Berater hin-
weggesetzt: Wer weiß, was geschehen wäre ...
ZEIT: Was entschärfte die Situation?
19
Plokhy: Es war mehr Glück im Spiel, als einem ange-
sichts der Tatsache, dass es um die Existenz der Mensch-
heit ging, lieb sein kann. Entscheidend war jedenfalls
weder hier noch dort ein souveränes Krisenmanage-
ment, davon kann nur bedingt die Rede sein, sondern
ein Gefühl, das Kennedy und Chruschtschow teilten:
Sie hatten Angst vor der nuklearen Apokalypse.
ZEIT: Dabei wurden beide Seiten nicht müde, zu be-
kennen, im Zweifelsfall genau dazu bereit zu sein:
einen atomaren Angriff atomar zu vergelten.
Plokhy: Das stimmt, und das war ein äußerst riskantes
Spiel. Die Krise resultierte ja überhaupt erst aus Chru-
schtschows atomarer Provokation. Doch als er erkann-
te, dass Kennedy bereit war, mit einem Angriff auf die
Sowjetunion zu reagieren, begann er zu zögern. Es gibt
in der Geschichte der Kubakrise den berühmten Satz
»The other fellow just blinked«. Chruschtschow war
dieser »other fellow«, der zuerst blinzelte. Am Ende
nahm er Kennedys Vorschlag an, die Raketen abzu-
bauen. Im Gegenzug garantierte Washington, künftig
nicht mehr in Kuba zu intervenieren.
ZEIT: Welche Bedeutung kam dabei Chruschtschows
Forderung zu, die USA mögen außerdem ihre Jupiter-
Atomraketen aus der Türkei abziehen, und die Ge-
heimzusage Kennedys, dies mit einigen Monaten Ab-
stand auch zu tun?
Plokhy: Das war, anders als oft behauptet, nicht ent-
scheidend. Ich bin nicht der Erste, der darauf hinweist:
Chruschtschow lenkte am 27. Oktober ein, bevor
Kennedys Türkei-Angebot im Kreml eintraf. Es war
für seinen Rückzug aus Kuba nicht ausschlaggebend.
ZEIT: Was dann?
Plokhy: Die Angst vor Kontrollverlust. Wenige Stun-
den zuvor hatten sowjetische Kommandeure auf Kuba
eigenmächtig ein US-Aufklärungsflugzeug abgeschos-
sen. Sie hatte die Nerven verloren. Fidel Castro hatte
mit seiner antiamerikanischen Propaganda eine Stim-
mung erzeugt, die auch die Sowjetsoldaten auf Kuba
in eine Art panische Erwartung versetzte, die USA
würden jeden Augenblick gegen Kuba losschlagen.
Auf einmal zeigte sich, dass die Ereignisse eine Eigen-
dynamik entwickelten und die diplomatische Krise
jederzeit in eine kriegerische Auseinandersetzung über-
gehen konnte. Als Chruschtschow erkannte, dass er
seine eigenen Truppen nicht unter Kontrolle hatte –
Truppen, die über Atomwaffen verfügten –, wollte er
die Sache so schnell wie möglich abbiegen.
ZEIT: Kennedy wird oft dafür gewürdigt, die Krise
mit seinem entschlossenen, bedachten Vorgehen ge-
löst zu haben. Müssen wir dieses Bild revidieren?
Plokhy: Ja, denn er hatte die Fäden längst nicht so fest
in der Hand, wie es vor allem sein Bruder Robert
später in seiner bis heute populären Darstellung der
Kubakrise Thirteen Days darlegte.
ZEIT: Der deutsche Historiker Bernd Greiner hat ein-
mal geschrieben, die stillen Helden der Kubakrise
seien jene einfachen Soldaten gewesen, die Nerven-
stärke zeigten und nicht schossen.
Plokhy: Dem kann ich mich nur anschließen. In
einem der gefährlichsten Momente der Seeblockade
lagen sich ein US-Zerstörer und ein zum Auftauchen
gezwungenes sowjetisches U-Boot gegenüber, das mit
einem atomaren Torpedo ausgerüstet war. Um ein
Haar wäre er gezündet worden: Der U-Boot-Kapitän
hielt den Einsatz von Leuchtraketen durch ein US-
Flugzeug, dessen Besatzung in der Dunkelheit Fotos
machte, für ein Bombardement. Hätten nicht beide
Seiten im letzten Moment gezögert und vermittelt,
wäre ein atomares Gefecht entbrannt. Kennedy und
Chruschtschow hatten Situationen wie diese herbeige-
führt, ohne sie danach noch kontrollieren zu können.
ZEIT: Am 28. Oktober 1962 atmete die Welt auf.
Chruschtschow gab bekannt, seine Raketen abzuzie-
hen. Wer hat gewonnen? Wer hat verloren?
Plokhy: Kennedy und Chruschtschow präsentierten
sich beide als Sieger – Kennedy, obwohl er fortan das
kubanische Regime vor seiner Haustür dulden muss-
te; Chruschtschow, obwohl er mit seinem Raketen-
abenteuer gescheitert war.
ZEIT: Wie münzte er das in einen Erfolg um?
Plokhy: Er brüstete sich damit, die kommunistische
Herrschaft in Kuba friedlich gesichert zu haben. Die
Bolschewiki seien nach dem Ersten Weltkrieg an die
Macht gekommen, Osteuropa sei nach dem Zweiten
Weltkrieg kommunistisch geworden, 1962 habe man
den Dritten Weltkrieg vermieden, aber der Kommu-
nismus sei immer noch auf dem Vormarsch.
ZEIT: Und das kaufte man ihm ab?
Plokhy: Die Sache war natürlich komplizierter, wie
Dokumente aus dem KGB-Archiv zeigen. Denn die
Krise war ja Ende Oktober noch nicht ausgestanden.
Die Raketen und Truppen mussten wieder fortgeschafft
werden. Kennedy bestand darauf, dass die USA, die
UN oder unabhängige Beobachter den Abzug kon-
trollieren. Castro aber weigerte sich, Inspektoren ins
Land zu lassen. Auch Chruschtschow konnte ihn nicht
umstimmen. Also befahl er den sowjetischen Kapitä-
nen, den Amerikanern auf See Zugang zu ihren Schif-
fen zu gewähren. Das kam einer Leibesvisitation
gleich. Als der Kremlführer zwei Jahre später abgesetzt
wurde, spielte diese Demütigung eine wichtige Rolle.
ZEIT: Entscheidend für den glimpflichen Ausgang,
sagen Sie, war die Angst. Hat Putin Angst?
Plokhy: Ich weiß nur, dass er sich bisher so verhält wie
Chruschtschow vor dem 28. Oktober 1962: Er droht
unverhohlen mit nuklearen Waffen. Was Chruscht-
schow zur Deeskalation zwang, war die Erkenntnis,
dass die amerikanische Reaktion verheerend sein wür-
de, dass der Preis unvorstellbar hoch wäre. Ich denke,
das gilt es auch heute unmissverständlich klarzustellen.
Das Gespräch führte Christian Staas
Serhii Plokhy ist Direktor
des Ukrainian Research
Institute der Harvard
University. Sein Buch
»Nuclear Folly« über die
Kubakrise ist 2021 bei
W. W. Norton erschienen
20
D
as Haus in Bonn war unver-
ändert, als Till Bastian mit
seiner Schwester Eva den
Tatort betrat. Die Polizei
hatte fast alles so gelassen,
wie sie es Tage zuvor, am
19. Oktober 1992, vorge-
funden hatte. Die elektrische Schreibmaschine war
immer noch an, ein Brief steckte darin. Vom
Schreibtisch des Vaters im winzig kleinen Arbeits-
zimmer waren Gegenstände gefallen. Vor seinem
Regal lagen Bücher auf dem Boden, als wären sie
gerade erst herausgestürzt. Der Kommissar hatte
den Sohn vorher gefragt, ob dieser Besuch ihnen
zuzumuten sei. Er, Till Bastian, sei ja immerhin
Arzt, aber was sei mit seiner Schwester?
Die Leichen waren nicht mehr da. Doch ihr
Geruch, ein Geruch, den er schon im Studium
schwer ausgehalten habe, erfüllte das ganze Haus.
Auf dem Teppich getrocknetes Blut und Insekten.
Zwischen den Schüssen und dem Fund der beiden
Toten hatten zweieinhalb Wochen gelegen.
Das grausame Ende der Pazifistin Petra Kelly und
des grünen Generalmajors Gert Bastian: Theorien
und Gerüchte rund um den Tod der beiden gab es
viele. Hartnäckig hielt sich jenes über angebliche
Stasi-Kontakte Bastians, die ans Licht zu kommen
drohten. Um der Schmach zu entgehen, habe er sich
und Petra Kelly umgebracht. Des Doppelmords ver-
dächtigt wurden außerdem Geheimdienste von CIA
bis Mossad. Nie hat sich irgendwas davon bestätigt.
Für die Ermittler war die Sache klar: »Nach Auf-
fassung der Staatsanwaltschaft Bonn steht fest, dass
die tödlichen Schüsse von Gert Bastian abgegeben
worden sind. Mit seiner Pistole Derringer tötete er
die im Bett liegende Petra Kelly mit einem aufgesetz-
ten Schuss in die Schläfe. Anschließend nahm er
sich selbst mit einem am Scheitel aufgesetzten Kopf-
schuss das Leben.«
Abschiedsbriefe wurden nicht gefunden. Dass
Petra Kelly nicht sterben wollte, darüber waren sich
Freunde, Familie, Kollegen einig. Der Terminkalen-
der war bis weit ins nächste Jahr gefüllt. Und niemals,
das wusste jeder, würde Petra Kelly ihr Leben be-
enden, ohne Abschied zu nehmen von ihrer Groß-
mutter, ihrer geliebten Omi Birle.
Begegnung mit Till Bastian an einem frühen
Sommerabend am Berliner Kurfürstendamm. Irgend-
wo nicht weit von hier, in einem Westberliner Hotel,
haben sich Till Bastian und sein Vater vor 30 Jahren
im Zorn getrennt. Till Bastian, damals 43, war Ge-
schäftsführer des IPPNW, des Vereins der Interna-
tionalen Ärzte gegen den Atomkrieg, der im Februar
1992 im Kongresszentrum tagte. Die Gästeliste war
hochkarätig, Willy Brandt hielt die Eröffnungsrede,
und auch Gert Bastian war mit Petra Kelly angereist.
Beim Frühstück im Hotel kam es zum Streit. Ein
Freund von Kelly und Bastian, der ukrainische Phy-
siker Wladimir Tschernoussenko, war nach seiner
Arbeit in der Sperrzone von Tschernobyl an Krebs
erkrankt. Gert Bastian drängte nun seinen Sohn, der
IPPNW möge doch dessen Behandlung bezahlen.
Till Bastian sagt, er habe vom Vater den Jähzorn ge-
erbt. Was ihm einfalle, den eigenen Sohn mit einer
so heiklen Bitte zu konfrontieren? Was dies denn
anderes sei als der Inbegriff von Vetternwirtschaft?
Der IPPNW, sagt Bastian heute, drehe mehr das
große Rad der Friedensarbeit, anstatt einzelnen Op-
fern zu helfen. Sicher fänden sich andere Wege, habe
er zum Vater gesagt, aber der habe die Skrupel nicht
akzeptiert. Der Vater habe ihn dann noch in einem
letzten Brief attackiert.
DIE ZEIT: Sie haben sich nicht wiedergesehen,
nicht mehr versöhnt?
Till Bastian: Nein. Mein Vater ist in seiner letzten
Lebenszeit immer schwieriger geworden. Mit Petra
lief es nicht mehr gut, sie konnte die einfachsten
Dinge nicht mehr allein erledigen, keinen Ein-
kauf, keinen Friseurbesuch. Mein Vater war stän-
dig in Hektik, immer besorgt. Und dauernd hat
Petra diesen Satz gesagt: »Ohne Gert kann ich gar
nicht mehr leben.«
Der General, der für den Weltfrieden kämpfte,
war zum persönlichen Frieden nicht mehr imstan-
de. Till Bastian ist heute, mit 73, vier Jahre älter als
sein Vater, als der sich vor 30 Jahren das Leben
nahm. Die IPPNW gedenkt bei einem Benefiz-
konzert in der Gedächtniskirche der Opfer des
Atombombenabwurfs auf Hiroshima vor 77 Jah-
ren. Und warnt vor einer erneuten nuklearen Es-
kalation. Till Bastian hält eine Rede. Das politische
Lebensthema der Bastians ist mit dem Ukraine-
Krieg zurück ins kollektive Bewusstsein gerückt.
ZEIT: Denken Sie oft an Ihren Vater?
Bastian: Nein. Ich kann heute fast mit Gleichmut
über seine Taten reden. Aber damals war ich von
einer großen Wut erfüllt. Wut auf einen Men-
schen, der sich bis zum Schluss vor allem für sich
selbst interessiert hat. Der sich nicht darum scher-
te: Was macht diese Tat, dieser Tod mit seinen
Kindern und Enkelkindern, mit seiner Ehefrau,
die immer zu ihm gehalten hatte? Der Verlust der
beiden Menschen hat für mich noch eine andere
Ebene: Ich glaube, mit Petra Kelly wurde damals
auch der Pazifismus der Grünen beerdigt. Deut-
sche Kriegseinsätze auf dem Balkan, in Afghanis-
tan, jetzt der Ukraine-Krieg – die Grünen pflegen,
wie Otto Schily neulich sagte, einen »Bellizismus«,
der mich sprachlos macht.
ZEIT: Wie standen Sie persönlich zu Petra Kelly?
Bastian: Mein Vater hatte immer Affären, das
kannte ich schon als kleiner Junge. Das hat mich
sehr genervt und meine Mutter belastet, nur ver-
lassen wollte sie ihn nie, und er sie im Übrigen
auch nicht. Im Sommer vor seinem Tod war er
noch mit meiner Mutter auf Kreta, für Petra war
das unerträglich, in dieser Dreiecksbeziehung war
sie die Eifersüchtige.
VERBRECHEN
Till Bastian, von Beruf Arzt, schreibt auch Kriminalromane
Foto: Amelie Niederbuchner für DIE ZEIT
Foto:
Der Sohn des Generals
Im Oktober 1992 wurden Petra Kelly und Gert Bastian tot in ihrem
Bonner Haus aufgefunden. 30 Jahre später erinnert sich Till Bastian an die
Widersprüche seines Vaters und ihre schwierige Beziehung VON EVA SUDHOLT
ZEIT: Die Beziehung von Kelly und Bastian galt
als symbiotisch.
Bastian: Das mit Petra war keine Affäre. Es ist kein
Geheimnis, dass ich sie nicht besonders mochte,
vielleicht war ein bisschen Hassliebe mit im Spiel,
denn ich habe ihre Prinzipienfestigkeit immer be-
wundert. Wir hatten beruflich immer mal wieder
miteinander zu tun, aber letztlich habe ich sie ge-
mieden, weil ihre Energie immer zerstörerischer
wurde. Und doch frage ich mich seit ihrem Tod
immer wieder: Gibt es denn niemanden mehr von
dieser Art im Parlament?
Es war ein weiter Weg für Petra Kelly, geboren
1947 als Petra Lehmann, vom schwäbischen
Günzburg bis nach Washington, Brüssel und
Bonn. Der Vater, ein Künstler, als Freigeist ver-
klärt, verlässt die Familie, als Petra ein kleines
Mädchen ist. Die Mutter muss Geld verdienen,
Petra wächst bei ihrer Oma Kunigunde Birle auf.
Eine Kriegswitwe, die sie in dem Credo erzieht:
Wir Frauen schaffen das auch ohne Mann. In Pe-
tras Leben wird sich der Leitsatz ihrer »Seelenver-
wandten«, wie sie Omi Birle nennt, ins Gegenteil
verkehren. Aber noch ist sie unbekümmert, eigen-
ständig, immer die Beste in der Schule. Ihre Mut-
ter, die als Übersetzerin beim US-Militär arbeitet,
findet mit dem Offizier John E. Kelly einen neuen
Mann. Petra bekommt einen neuen Nachnamen
und eine kleine Schwester. Die Familie wandert
aus in die USA. An ihren Schulen macht sie sich
schnell einen Namen, in Washington, wo sie Poli-
tologie studiert, beteiligt sie sich am US-Wahl-
kampf. Doch dann erfährt sie großes Unglück, als
ihre kleine Schwester Grace mit zehn Jahren an
einem Hirntumor stirbt. Petra Kelly macht die
Strahlentherapie mitverantwortlich für ihren Tod.
Mit ihrer Rückkehr nach Europa zieht es sie
nach Brüssel in die Verwaltung der Europäischen
Gemeinschaft und in die Europäische Kommis-
sion, wo sie keine leichten Jahre verbringt in der
männlich dominierten Kollegenschaft. Den Um-
gang erlebt sie als herabwürdigend. Schutz findet
sie bei Sicco Mansholt, damals Chef der Europäi-
schen Gemeinschaft und 40 Jahre älter als Kelly.
Petra Kelly und Gert Bastian waren viele Jahre
Ikonen der deutschen Friedensbewegung
Umweltschutz und Pazifismus bestimmen bald
Petra Kellys Denken. Sie wird zur prominentesten
Vertreterin der Antiatombewegung, und so wird sie
als Mitbegründerin der Grünen 1980 erste Spreche-
rin der Partei. Bei einer Podiumsdiskussion lernt die
33-jährige Kelly den Mitdiskutanten Gert Bastian
kennen, einen 57 Jahre alten Generalmajor, der sich
gerade mit Aplomb von der Bundeswehr verabschie-
det hat und so zum Shootingstar der deutschen
Friedensbewegung geworden ist. Sie werden ein
Liebespaar und im Doppel zu Ikonen des Pazifismus.
Der spät bekehrte General war einmal ein eupho-
rischer Rekrut gewesen, als er sich 1941 mit 18 Jahren
an die Ostfront meldete. Seine Großmutter, sagt Till
Bastian, sei »eine hartherzige, böse Frau« gewesen,
von ihrem Gert hoch verehrt, eine stramme Natio-
nalsozialistin, die auch ihre Söhne Gert und Ruy für
Hitler begeistert hatte.
Mit 21 Jahren heiratet Gert Bastian im Front-
urlaub seine Freundin Charlotte von Stipsicz. Bald
kommt das erste Kind, Eva, auf die Welt. Zusammen
mit Gerts Eltern, die als Bankrotteure aus Brasilien
nach Deutschland zurückimmigriert sind, mit Gerts
Schwester und deren Tochter lebt die Familie nach
dem Krieg zu siebt in ihrer kleinen Münchner
Wohnung. Nach dem Krieg sei er in eine »tiefe
Depression« gefallen, erinnert sich Gert Bastian
später in einem Aufsatz. »Die Schuldgefühle, das
Entsetzen darüber, was alles von uns angerichtet
worden war, wofür man sich als (...) völlig blöder,
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
manipulierter junger Mensch zur Verfügung ge-
stellt hatte.« Es ist wohl vor allem das Geld, das
ihn nach einer Buchbinderlehre und der schlecht
bezahlten Arbeit im Kriegswitwenversorgungsamt
zurück in die Armee lockt. 1956 tritt er in die
frisch gegründete Bundeswehr ein.
ZEIT: Trotz seiner Kriegserfahrungen ist Ihr Vater
zur Armee gegangen und machte Karriere bis zum
Panzergeneral, bis er sich schließlich ganz abwand-
te, weil er die Nachrüstung Deutschlands, den
Nato-Doppelbeschluss, nicht mittragen wollte.
Bastian: Mein Vater hatte immer ein ambivalentes
Verhältnis zur Gewalt. Anders als Petra war er nie
ein richtiger Pazifist. Das friedenspolitische Engage-
ment beruhte bestimmt auf Überzeugung. Aber das
war ein dünner Firnis, der konnte seine innere Ge-
waltbereitschaft nicht dauerhaft überdecken.
ZEIT: Ihr Vater war ein Waffennarr.
Bastian: Früher hatte er eine ganze Sammlung im
Keller, Winchester, Kalaschnikow ... Im Auto hat-
te er immer seine geladene Walther PPK. Ich er-
innere mich, wie wir als Familie in den Urlaub ge-
fahren sind, ich war noch ein Kind, und ich konn-
te an der Tankstelle beobachten, wie der Tankwart
in unser Auto schaute, die Pistole in der Tür ent-
deckte und kurz erschrak. Und ich konnte sehen,
wie meinem Vater das nicht schlecht gefiel. Mir ist
bis heute nicht klar: Was bringt eine überzeugte
Pazifistin wie Petra Kelly dazu, mit einem bewaff-
neten Mann durch die Welt zu reisen?
ZEIT: Sie selbst sind bis heute in der Antiatom-
bewegung aktiv, wer hat sich von wem inspirieren
lassen, der Vater vom Sohn oder andersherum?
Bastian: Ich bin ein Kind der 68er. Ich habe den
Unterricht geschwänzt, um gegen die Notstands-
gesetze zu demonstrieren. Zu Hause las mein Vater
dann die bösen Briefe des Schuldirektors. Bis heu-
te habe ich Hausverbot an meinem alten Gymna-
sium! Aber auch da war mein Vater ein wider-
sprüchlicher Mensch. Nicht der strenge General,
er ging liberal und kameradschaftlich mit mir um.
Er sagte immer: Du bist dein eigener Herr, du
musst wissen, was du tust. Mag sein, dass ich ihn
politisch beeinflusst habe. Gesagt hat er es nie.
Till Bastian studierte Medizin, ließ die Arbeit als
Arzt aber bald wieder ruhen, um Bücher zu schrei-
ben über Ökologie und Gesundheit, über Ärzte-
verbrechen in der NS-Zeit. Jahre nach dem Tod
seines Vaters fing er an, sich fürs Krimischreiben
zu begeistern, als »eine Art Seelenhygiene«. Seinem
Kommissar gab er den Namen Hartmut Otto, zu
Ehren des Ermittlers, der damals die Tat seines Va-
ters untersucht hatte. Erst als sich Bastians Frau
beschwerte, dass er zu wenig zum Familienein-
kommen beitrage, nahm er eine Stelle in einer
psychosomatischen Klinik im Allgäu an, die er bis
zu seinem 70. Geburtstag ausfüllte. Till Bastian er-
innert sich an einen seltenen Besuch seines Vaters,
noch vor ihrem Zerwürfnis. Er habe Petras
schlechten Zustand geschildert und gefragt, was
man da mache. Der Sohn gab ihm Adressen, wo er
Hilfe bekomme. Ob er sie je in Anspruch nahm?
Petra Kellys Tempo, ihr Arbeitspensum sind be-
rüchtigt. Ihr Leiden an der Welt wird uferlos. Sie
überfordert ihr Umfeld und vor allem sich selbst. Jede
Nacht fällt sie erst gegen fünf Uhr morgens ins Bett,
da steht Gert Bastian schon langsam wieder auf.
Trotzdem reist das Paar um die Welt. Gert Bastian,
sagt sein Sohn, habe es lange genossen, als Friedens-
general herumgereicht zu werden. Doch die Partner-
schaft wird für beide zum Gefängnis. Bastian wird zu
Kellys Beschützer. Die Karrieren beginnen zu brö-
ckeln, Weggefährten wenden sich ab, nach Kon-
flikten in der Partei verlassen beide die Grünen. Petra
Kelly fasst den Plan, fürs Europäische Parlament zu
kandidieren. Gert Bastian unterstützt sie in allem.
Noch immer sind beide unterwegs in höchster Mis-
sion, gegen Armut, Krebs und Umweltverschmut-
zung, aber das Paar ist am Ende seiner Kraft. Wie
groß die Einsamkeit und Isolation der beiden gewesen
sein muss, sagte später Kellys Weggefährtin Antje
Vollmer, könne man daran sehen, dass zwei Wochen
lang nicht einmal ihr Tod aufgefallen sei.
Am 1. Oktober 1992 telefoniert Gert Bastian in
der Swinemünder Straße am Vormittag mit einem
Bekannten. Im Hintergrund hört dieser Petra Kelly
sprechen. Es ist das letzte Lebenszeichen der beiden.
Wahrscheinlich legt sich Kelly nach einer wieder mal
kurzen Nacht noch einmal oben im Schlafzimmer
hin, während Bastian Büroarbeit erledigt. Er schreibt
einen Brief an seine Frau, den er mit »Liebstes Weibi-
lein!« beginnt, es folgt alltägliches Geplauder. Ein
weiterer Brief an seinen Anwalt, der Inhalt ist un-
wesentlich, steckt noch in der Maschine. »Wir müs«,
heißt es in Zeile zehn, dann bricht das Schreiben ab.
Till Bastian sagt, er habe den Moment im Selbstver-
such nachgespielt. Selbst wenn jemand an der Tür
klingele oder das Telefon schelle oder die Frau von
oben rufe – den Satz, an dem man sitze, den schreibe
man doch fertig, zumindest aber das Wort.
»Mein Vater war ein kranker Mann«, sagt sein
Sohn. Er habe unter schwerer Arteriosklerose gelitten.
Ärzte bezeichnen das Gefühl bei einem Herzinfarkt
als Vernichtungsschmerz, verbunden mit massiver
Todesangst. Vielleicht sei er in dem Zustand zum
Regal gehastet, um seine geladene Derringer hinter
den Büchern herauszuzerren. Vielleicht habe er sich
dann mit letzter Kraft die Treppe hoch zum Schlaf-
zimmer geschleppt, dabei im Flur noch ein Regal
umgekippt. »Ohne Gert kann ich nicht leben«, das
hatte sie doch immer gesagt.
Till Bastian sagt, er könne sich selbst nur ein un-
scharfes Bild machen. In diesem Bild ist sein Vater
bis zuletzt Soldat geblieben. Ein Soldat, sagt Bastian,
der stets zu wissen glaube, was gut und recht für an-
dere sei, und sich das Schicksal nicht aus der Hand
nehmen lasse. Der Todesschuss auf die Geliebte in
Not, ein Akt »soldatischer, gewalttätiger Fürsorge,
wie sie gut zu meinem Vater gepasst hätte«.
 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

WIRTSCHAFT 21

Das haben wir jetzt davon

Foto: Philotheus Nisch für DIE ZEIT

Deutschland hat den Ausbau der Stromnetze verschleppt. Deshalb droht im Winter mancherorts das Licht auszugehen VON MARC WIDMANN

F
alls es tatsächlich so weit kommen
sollte, dass Jens Langbecker und sei-
ne Leute den Bürgern in Baden-
Württemberg das Licht ausknipsen
müssen, dann sei vor allem eines
wichtig, sagt er: »Dass es wirklich
passiert.« Als Chef der für die Netz-
steuerung zuständigen Hauptwarte des Stromnetz-
betreibers TransnetBW erwartet er von seinen vier
Systemführungsingenieuren an ihren cockpitartigen
Tischen voller Monitore, dass sie dann nicht zögern,
sondern ihre innere Hemmschwelle überwinden.
»Das möchte eigentlich keiner machen«, sagt
Langbecker, »weil jeder weiß, dass dann auch jemand
im Aufzug feststecken kann.« Aber nichts zu tun sei
keine Lösung: »Das würde heißen, dass wir un-
kontrolliert in etwas reingehen.« Im schlimmsten Fall:
in den Kollaps des Stromnetzes, in Dunkelheit bei
Nacht und stillstehende Fabriken bei Tag.
Um in so einer Situation die Kontrolle zu behalten
über die Frage, wer vom Netz muss und wer nicht,
trainieren sie in der Hauptschaltleitung in Wend-
lingen regelmäßig den Ernstfall, indem sie nach-
gelagerte Netzmanager anweisen, eine bestimmte
Menge von Stromkunden gezielt vom Netz zu tren-
nen. Bislang trat dieser Ernstfall noch nie ein. Doch
es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich das ändert.
Die Situation im gesamten deutschen Stromnetz wird
im kommenden Winter nämlich »äußerst an-
gespannt« sein. So steht es in der großen Sonder-
analyse der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber
TransnetBW, Amprion, Tennet und 50Hertz, die sie
im Auftrag der Bundesregierung erstellt haben.
Besonders angespannt wird die Lage demnach im
Süden der Republik sein. In Bayern und Baden-Würt-
temberg leben mehr als 24 Millionen Menschen, dort
ballen sich auch die Fabriken. Falls verschiedene Risi-
ken gleichzeitig wahr werden, könnte es an funktions-
fähigen Kraftwerken mangeln, um sie mit Strom zu
versorgen. Vor allem der in den vergangenen Jahren
immer gravierender gewordene Mangel an Stromlei-
tungen könnte in diesem Winter fatale Folgen haben.
Am Kopfende der Hauptwarte ist ein wand-
füllender gebogener Bildschirm angebracht. Jens
Langbecker kann darauf in einer Tabelle sehen,
woher an diesem Nachmittag Ende September der
Strom für Baden-Württemberg kommt. »Die Sonne
ist gerade mein größtes Kraftwerk«, sagt er, 3791
Megawatt liefert sie. Auf Platz zwei liegt das Kern-
kraftwerk Neckarwestheim mit 1266 Megawatt. Mit
großem Abstand folgt ein Kohlemeiler, der an diesem
sonnigen Tag nur mit gedrosselter Leistung fährt.
Doch das friedliche Bild ist trügerisch, denn die
deutsche Stromversorgung ist unstet. Der Strom aus
den erneuerbaren Energien kommt und geht mit
den Wolken oder dem Wind. Und selbst die frü-
her so zuverlässige Versorgung aus konventionellen
Kraftwerken ist gerade schwer kalkulierbar. In der
Mitte des riesigen Bildschirms sieht Langbecker ein
Geflecht aus bunten Linien und Kreisen, sein Netz.
Links reichen die Leitungen bis nach Frankreich.
Dort fällt seit Monaten etwa die Hälfte der Atom-
kraftwerke wegen Reparaturarbeiten aus, viele werden
noch lange stillstehen. Und ob die deutschen Atom-
meiler im nächsten Jahr laufen werden, ist unklar.
Rechts sieht er die Leitungen nach Bayern. Hier gibt
es nur wenige Reservekraftwerke, und die hängen vor
allem am Gas. Aber wie viel Gas dort im Winter noch
ankommen wird, weiß niemand. Dazu ist auch noch
der Kohletransport zu den Meilern im Süden er-
schwert, weil der Rhein nur wenig Wasser führt.
Wohin Langbecker auch schaut, überall sieht er:
Ungewissheit.
Die kritischsten Momente für das deutsche Strom-
netz, so haben es die Netzbetreiber analysiert, drohen
an kalten Wintertagen, wenn sehr viel Energie benö-
tigt wird, auch weil im Süden Europas die Stromhei-
zungen laufen. An diesen Tagen kann der Wind im
Norden stark pfeifen und jede Menge Strom produ-
zieren. Aber das deutsche Netz wird womöglich nicht
in der Lage sein, ihn in den Süden zu transportieren.
Um das Problem zu verstehen, kann man sich die
deutsche Energieversorgung als einen Organismus
vorstellen. In diesem Organismus sind die Über-
tragungsleitungen von Nord nach Süd die Haupt-
schlagadern. Schon heute verstopfen sie oft. Dann
müssen die Leute in den Leitwarten reagieren.
»Während wir früher vielleicht einmal in der Woche
eingreifen mussten, um das Netz stabil zu halten,
machen wir das heute mehrfach am Tag«, sagt
Hendrik Neumann, technischer Geschäftsführer des
größten deutschen Übertragungsnetzbetreibers
Amprion. Von Brauweiler bei Köln aus überwacht
er die Frequenz des europäischen Stromnetzes, den
»Puls«, sagt er. Fällt oder steigt der Puls zu sehr, schal-
ten sich große Anlagen ab, alles gerät ins Wanken.
Um das zu verhindern, machen sie hier jetzt stän-
dig eine Operation: Sobald mal wieder eine der raren
Nord-Süd-Schlagadern in Deutschland an ihre
Kapazitätsgrenze kommt und die Überlastung droht,
lassen sie oben im Norden die Windräder abregeln.
Die Betreiber bekommen dafür eine Entschädigung.
Allerdings müssen Verbrauch und Erzeugung von
Strom im Netz zu jeder Sekunde ausgeglichen sein,
damit der Puls stabil bleibt. Deshalb müssen dann
auf der anderen Seite der Verstopfung, im Süden,
schnell flexible Kraftwerke hochfahren. Auch deren
Betreiber bekommen dafür reichlich Geld.
Redispatch heißt die Operation. Sie kostet seit
Jahren zunehmend viel Geld, jeder Stromkunde
bezahlt sie über das Netzentgelt im Strompreis mit.
2,3 Milliarden Euro verschlang das »Netzengpass-
management« vergangenes Jahr. Wegen der gestiege-
nen Strompreise wird sich der Betrag dieses Jahr wohl
vervielfachen. Damit die Bürger nicht noch mehr
belastet werden, will die Bundesregierung 13 Milliar-
den Euro zuschießen.
Die teure Operation funktioniert jedoch nur
unter einer Bedingung: dass im Süden ausreichend
Kraftwerke bereitstehen, die sich hochfahren lassen.
Genau das könnte im Winter wegen der verschiede-
nen Risiken nicht mehr der Fall sein, befürchten die
Netzbetreiber. Wenn dann auch die Nachbarländer
nicht mehr aushelfen können, müssen die Männer
von Jens Langbecker in Wendlingen ihre Hemm-
schwelle überwinden und einen Teil der Strom-
kunden vom Netz trennen.
Dann würde in einer schwäbischen oder badi-
schen Region für ein oder zwei Stunden das Licht
ausgehen. Und falls das nicht reicht, wären abwech-
selnd weitere Regionen dran, »rollierender Last-
abwurf« heißt das in der Fachsprache.
Die gute Nachricht ist, dass die Ingenieure in den
Leitwarten das Problem wahrscheinlich kommen
sehen werden, drei Tage vorher sind die Prognosen
für Wetter und Stromverbrauch schon recht verläss-
lich und spätestens einen Tag vorher sehr genau.
Mehr zum Thema
Was genau passiert, wenn der Strom
ausfällt, lesen Sie auf der nächsten Seite
»Bevor wir tatsächlich Kunden abschalten würden,
nutzen wir natürlich alle anderen Möglichkeiten«,
sagt Jens Langbecker. Als letzte Maßnahme würde
man »notfalls auch die geplanten Stromexporte ins
europäische Ausland kürzen«. Dann würde Deutsch-
land den Italienern, Schweizern und Österreichern
ankündigen, weniger Strom zu liefern. Und somit
die Folgen seines Netzengpasses an andere Länder
weiterreichen, die dann vielleicht bei sich die Lichter
abschalten müssen. Europarechtlich wäre das erlaubt,
aber ob es auch politisch erwünscht ist, wird noch
diskutiert. Wie konnte Deutschland nur in so eine
Zwickmühle geraten?
Markus Doll ist bei der Bundesnetzagentur Leiter
Anlagen und Netzbetrieb, ein wohlgemuter Rhein-
länder, der fest entschlossen ist, selbst in diesem
Winter nicht in Trübsal zu verfallen. Er sitzt in Bonn
in einem Hochhaus, in dem früher Bundestags-
abgeordnete arbeiteten, damals, als die deutsche
Energiewelt noch gemütlich und übersichtlich war.
»In der Vergangenheit waren die Kraftwerke typi-
scherweise da, wo der Verbrauch war«, sagt Doll. Im
Ruhrgebiet saß die Schwerindustrie gleich neben den
Kohlemeilern. Und am Neckar gesellten sich Kohle-
oder Atomkraftwerke zu den großen Fabriken. Viele
Leitungen waren dafür gar nicht nötig. Doch seit
20 Jahren kippt diese überschaubare Welt: Die
großen Windparks wachsen vor allem im Norden
Deutschlands, weit entfernt von den Verbrauchs-
zentren im Süden und Westen. Und blöderweise hat
man es nicht geschafft, die Leitungen dazwischen zu
bauen. Beziehungsweise: Man ist noch dabei.
Der Weg zu einer neuen Leitung ist in Deutsch-
land oft ein endloser. »Am Anfang steht der Szenario-
rahmen und der Netzentwicklungsplanprozess«,
erklärt Doll, »dann geht es in die Bundesfachplanung,
da haben Sie eine Antragskonferenz, eine Erörte-
rungskonferenz, allein das dauert schon mehrere
Jahre. Und dann kommt die Planfeststellung.«
In der Praxis protestierten dann oft erboste Bürger
gegen »Monstertrassen« neben ihren Häusern. Auf
die Seite der Widerständler schlugen sich Politiker
wie Horst Seehofer, der frühere CSU-Chef und
bayerische Ministerpräsident, und sein damaliger
Heimatminister Markus Söder.
Der langjährige Staatssekretär im Bundeswirt-
schaftsministerium Rainer Baake erinnert sich mit
Grauen an diese Kämpfe. »Das war ein Riesenstreit-
thema«, sagt er, Seehofer und die CSU hätten partout
keine Leitungen gewollt. »Ich habe ihm erklärt, dass
die EU uns dann zwingen wird, die Strompreiszonen
in Deutschland aufzuteilen, und dass der Strom in
Bayern dann teurer wird.« Schließlich lenkte See-
hofer ein, erzwang aber, dass statt sichtbarer Strom-
masten unsichtbare Erdkabel verlegt werden müssen.
Das kostet ein Vielfaches – und warf die Planungen
um Jahre zurück. Fragt man die CSU heute danach,
kommt keine Antwort.
Die Zwischenbilanz des Dramas: Von 12.256 Ki-
lometern dringend benötigter Leitungen sind gerade
mal 2005 Kilometer fertiggestellt. Und die »Mangel-
verwaltung« im Stromnetz, wie es Jens Langbecker
nennt, muss noch jahrelang weitergehen: Die Trasse
Südostlink wird laut Prognosen erst im Jahr 2027
fertig, Südlink noch ein Jahr später.
Wenn sie über die Verzögerungen sprechen,
werden sonst sachliche Elektrotechnik-Ingenieure
plötzlich emotional. »Es tut mir und meinen Mit-
arbeitern jeden Tag persönlich weh, dass wir Wind-
räder in Norddeutschland runterfahren müssen und
dafür bei uns 50 Jahre alte Kohlekraftwerke an-
fahren«, sagt Jens Langbecker. »Mir geht das genauso«,
sagt Hendrik Neumann von Amprion.
Und noch etwas irritiert die Praktiker: dass die
Bundesregierung nicht alles tut, um die Gefahr im
kommenden Winter einzudämmen.
Hier kommen die drei letzten deutschen Kern-
kraftwerke ins Spiel. Sie seien »ein weiterer Baustein
zur Beherrschung kritischer Situationen«, heißt es in
der Analyse der Netzbetreiber. Je mehr Kraftwerke
im Süden laufen, umso weniger wahrscheinlich wird
eine Notabschaltung von einzelnen Regionen. Robert
Habeck, der grüne Wirtschaftsminister, kündigte
kürzlich an, dass die Meiler Neckarwestheim 2 in
Baden-Württemberg und Isar 2 in Bayern »Stand
heute« wohl über den 31. Dezember hinaus laufen
dürfen. Doch das dritte Kernkraftwerk Emsland in
Niedersachsen erwähnt er mit keinem Wort. Das will
er Ende des Jahres für immer vom Netz gehen lassen.
Aus technischer Sicht ist diese Entscheidung
mindestens fragwürdig. »Das Kernkraftwerk Emsland
steht zwar geografisch im Norden Deutschlands«,
sagt Hendrik Neumann von Amprion, »elektrisch
gesehen aber im Südwesten Deutschlands – es steht
häufig auf der richtigen Seite des Netzengpasses und
würde uns helfen.« Wenn der Atommeiler laufe, er-
zeuge er im Netz eine Art Gegendruck, der dazu
führe, dass sich der Windstrom aus Norddeutschland
besser über das Netz verteile und die Nord-Süd-Achse
entlastet werde.
Sollte das deutsche Stromnetz im Winter tatsäch-
lich an seine Grenze kommen, liegt das also an einer
Koalition der Engpasserzeuger: Die einen verhinder-
ten Leitungen, die das Netz entlasten würden, die
anderen schalten hilfreiche Kraftwerke ab.
Droht deshalb der gefürchtete Blackout? »Nein«,
sagt Jens Langbecker, den Begriff solle man schnell
wieder vergessen. In der Fachsprache ist ein Blackout
der unkontrollierte Kollaps des Netzes. So etwas sei
vielleicht bei einer großen Katastrophe wie einem
gewaltigen Sturm oder einem Anschlag denkbar, aber
nicht in Situationen, die man rechtzeitig erkennen
könne. Es bleibe dann genügend Zeit, um die Bevöl-
kerung über die Medien vorzuwarnen und zum
Energiesparen aufzurufen, ehe ihr kontrolliert für eine
überschaubare Zeit der Strom abgeschaltet werde.
Seit Monaten arbeiten die Energiemanager daran,
dass es so weit nicht kommt. Vor dem Winter sollen
noch einige Dinge passieren, die bisher unmöglich
waren im deutschen bürokratischen System: Strom-
leitungen sollen bei kaltem Wetter stärker ausgelastet,
Reservekraftwerke flexibler eingesetzt werden dürfen.
Abgeschaltete Kohlekraftwerke sollen an den Markt
zurückkehren in der Hoffnung, dass die alters-
schwachen Meiler dann auch anspringen. Mit
großen Industriekunden sollen noch rasch Verträge
geschlossen werden, damit sie sich im Notfall gegen
eine Entschädigung freiwillig abschalten lassen.
Die Bürgerinnen und Bürger können auch selbst
mithelfen. Kurzfristig, indem sie Energie sparen. Und
mittelfristig, indem sie flexibler werden beim Strom-
verbrauch. Im Stromnetz der Zukunft werden Elek-
troautos und Wärmepumpen-Heizungen automati-
siert dann laden oder heizen, wenn gerade aus-
reichend Strom vorhanden ist, sagen Experten.
Bis dahin bleibt die Hoffnung auf einen regen-
reichen Winter. Je schmuddeliger, desto besser, weil
das heißt, dass es nicht richtig kalt wird.
!www.zeit.de/vorgelesen
22 WIRTSCHAFT 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Pläne für Tag X

Wenn der Strom plötzlich ausfällt, hat das fatale Folgen: Ampeln erlöschen, Telefone
verstummen, Aufzüge bleiben stecken – und einige Menschen verlieren alle
Hemmungen. Wie die Sicherheitsbehörden sich darauf vorbereiten VON INGO MALCHER

W
as in Deutschland los Und zwar auch zu Zeiten, in denen alles ruhig
ist, wenn wirklich zu sein scheint – so können Gefahren besser
einmal der Strom vorhergesagt werden. In dem Zentrum sollen
ausfällt, das haben die Informationen aus dem ganzen Land zu-
Wissenschaftler vom sammenlaufen. Konkret: Wo gibt es eine Über-
Büro für Technolo- schwemmung? Wo brennen Wälder? Wo
giefolgenabschätzung stürmt es? Wo gibt es Starkregen?
beim Deutschen Bundestag (TAB) längst unter- Die Idee zu diesem Zentrum hatte Pistorius.
sucht. Die Lektüre des bereits im Jahr 2011 Erst im Juni wurde die Einrichtung auf der In-
erstellten Berichts ist nichts für schwache Ner- nenministerkonferenz beschlossen, inzwischen
ven. Angenommen wurde der Fall eines »lang- hat sie die Arbeit aufgenommen. Einmal in der
andauernden und großflächigen« Stromausfalls. Woche werden kritische Ereignisse aus den
Die Kurzfassung: In den ersten zwei Stun- Bundesländern zusammengestellt. In den als
den passieren ganz viele Dinge auf einmal. Auf vertraulich eingestuften Berichten ging es zu-
den Straßen fallen Ampeln aus, die Straßen- letzt um das Fischsterben in der Oder und
beleuchtung, die Verkehrsleitsysteme. Überall, Waldbrände. In einem dieser Berichte heißt es:
wo Autos fahren, herrscht Chaos. Polizei und »Die Versorgung der Bevölkerung ist weiterhin
Rettungsdienste haben es schwer, durchzukom- in allen KRITIS sichergestellt.« KRITIS sind
men. In Tiefgaragen bleiben die Schranken un- die »Kritischen Infrastrukturen«, dazu zählen
ten. An Tankstellen fallen die Pumpen aus. auch Kraftwerke.
Benzin wird knapp. Straßen- und U-Bahnen Pistorius gehört zu den Landesinnenmi-
bleiben stehen, ebenso Fernzüge. Da die Fahrer nistern, die sich schon länger auf Katastro-
so schnell keine Informationen bekommen, phen vorbereiten. So hat Niedersachsen be-
werden U-, S- und Fernbahnen nicht sofort reits im vergangenen Jahr angefangen, für die
evakuiert. Fahrstühle bleiben stecken, elektro- Sicherheitsbehörden Satellitenfunk einzufüh-
nische Schließanlagen fallen aus, das Licht ren, falls der Mobilfunk ausfällt, im nächsten
ebenso wie die Lüftung. Kassensysteme und Jahr soll das neue System einsatzbereit sein.
Geldautomaten streiken. Das Telefon ist tot, Neue Fahrzeuge ließ Pistorius auch anschaf-
das Mobilfunknetz auch, sobald nach einigen fen, darunter Tankwagen. »Idealerweise
Stunden die Not-Akkus leer sind. Wer Hilfe braucht man das alles nicht, die Notstrom-
braucht, kann keine mehr rufen. aggregate, die Trinkwasseraufbereitung, die
Für die Sicherheitsbehörden ist ein solcher mobilen Treibstofftanks, aber wir müssen uns
Blackout eine der schlimmsten Befürchtun- auf solche Lagen vorbereiten – ohne dabei
gen. Doch welche Szenarios halten sie für rea- Panik zu verbreiten«, sagt er.
listisch – und wie bereitet sich das Land All das kostet Geld, das man auch für Schu-
darauf vor? len, Schwimmbäder und Straßen ausgeben
Geht man auf die Suche nach Antworten auf könnte. Solange nichts passiert, wirken die Aus-
diese Fragen, bekommt man es mit Einrichtun- gaben deshalb schnell wie rausgeschmissenes
gen zu tun, die bislang eher in den Nischen der Geld. Pistorius kennt das Problem. Er sagt, in
öffentlichen Wahrnehmung operierten. Dazu Westeuropa habe man in den vergangenen
gehört das TAB mit seiner 261 Seiten langen 30 Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges,
Studie aus dem Jahr 2011. Und man trifft auf das »Gefahrenbewusstsein verloren«. Die Leute
Menschen, die heute schon an alltagstauglichen seien nicht mehr darin geübt, mit Gefahren
Antworten auf bislang vor allem politisch be- umzugehen – das größte Risiko sei für die meis-
schriebene Gefahren arbeiten, zum Beispiel auf ten gewesen, krank zu werden oder einen Unfall
Andreas Henke. zu erleiden. Aber nun verursache der Klima-
Henke ist Bereichsleiter für vorbeugenden wandel Waldbrände, Starkregen und Über-
Brand- und Gefahrenschutz bei der Feuerwehr schwemmungen. Dazu mache die Vernetzung
Hannover und dort zuständig für den Kata- der Infrastruktur diese verwundbarer, es droh-
strophenschutz. Im Katastrophenschutz, sagt ten Cyberangriffe oder Sabotageakte, wie zu-
Henke, sei ein großflächiger Stromausfall die letzt offenbar bei der Bahn.
schwierigste aller Lagen. Er hat das in Hanno- Doch manchmal reicht schon ein einfacher
ver im Jahr 2011 selbst erlebt, als in der ganzen Bagger, damit in Deutschland die Lichter aus-
Stadt die Lichter ausgingen. Von einem Strom- gehen. An einem Dienstag im Februar 2019
ausfall seien alle Lebensbereiche betroffen, und durchtrennte ein solcher in Berlin-Köpenick
an vielen Orten beginne ein Kampf gegen die um 14.10 Uhr ein Kabel des Mittelspannungs-
Zeit. »Bereits nach zwei Stunden Stromausfall netzes. Exakt zwei Minuten später wurde bei
hat man eine kritische Lage«, sagt Henke. »Es der Berliner Feuerwehr ein Stromausfall in
besteht die Gefahr, dass viele Menschen zu Köpenick gemeldet. Oliver Igel, der Bezirks-
Schaden kommen.« bürgermeister, saß da gerade mit seinen Amts-
Das betrifft vor allem die Krankenhäuser. leitern in einer Besprechung im Rathaus. Erst
Sie müssen zwar Notstromaggregate vorhalten. mal habe er das so hingenommen. »Halt ein
Aber ein normaler Betrieb ist damit nicht Stromausfall, passiert schon mal«, sei zunächst
Fotos: Philotheus Nisch für DIE ZEIT

möglich. Dazu kommen die Pflegeheime. sein Gedanke gewesen, sagt er heute. Aber es
Auch dort sind Menschen an Beatmungsgeräte wurde dann doch dramatisch.
angeschlossen. Fällt der Strom aus, sind die Die Notrufnummern 110 und 112 waren in
Geräte mit einem Akku gesichert, aber der ist Köpenick nicht mehr erreichbar, das Mobil-
nach zwei Stunden meist leer. Der Einsatzplan funknetz fiel zum Teil aus, die Ampeln waren
der Feuerwehr Hannover sähe im Ernstfall vor, schwarz. 60.000 Menschen waren ohne Strom.
dass Henke und seine Kollegen sich bereits in Zunächst hieß es, gegen drei Uhr nachts werde
der Frühphase bei den Pflegeheimen melden der Strom zurückkommen. Es dauerte dann
und fragen, ob diese Unterstützung brauchen. 30 Stunden.
Aber: Allein in Hannover gibt es etwa 150 Das zuständige Igel telefonierte mit Hotels in Berlin, ob sie
solcher Häuser – unmöglich, jedes davon mit Bundesamt empfiehlt, Familien aufnehmen könnten. Er stellte einen
einem Notstromaggregat zu versorgen. Henke Vorräte für den Sicherheitsdienst vor die Bibliothek des Vier-
und seine Leute wären schnell überfordert. Notfall anzulegen tels, weil deren schwere Tür elektrisch gesteuert
Bei lang andauerndem Stromausfall wird zu- war und nicht mehr zuging. Und er schuf zu-
dem bald der Treibstoff knapp. Die Notstrom- sammen mit den Rettungskräften hell erleuch-
aggregate in den Kliniken, bei der Feuerwehr, derungen und Einbrüchen rechnen, vor allem welche Behelfsunterkünfte, Kliniken und Alten- tete Anlaufstellen im Bezirk, wo man erfuhr,
der Polizei, den Rundfunkanstalten und anderen in den Ballungsgebieten.« Es werde sich schnell heime zuerst mit Notstrom versorgt werden was passiert war, und wo es Notunterkünfte
Einrichtungen brauchen aber Diesel. Doch die rumsprechen, dass die Alarmanlagen bei Ge- müssen. Als Nächstes kommen Wasserwerke an gibt. Was damals fehlte, war eine Liste mit Ein-
Pumpen an den Tankstellen fallen aus, da sie schäften und Lagern nicht funktionierten und die Reihe, schließlich Tankstellen und Super- richtungen, die Notstromgeräte hatten. Erst
elektrisch betrieben werden. »Diesel ist das die Polizei nicht zu erreichen sei. Außerdem märkte. Parallel dazu ist die Bevölkerung zu später stellte sich heraus, dass eine Schule im
zentrale Problem«, sagt Henke. »Nach dem würden die Sicherheitskräfte Abstriche bei der informieren. Ein Lautsprecherwagen soll zum Bezirk über ein solches verfügte, es aber nicht
Stromausfall in Hannover im Jahr 2011 haben Strafverfolgung machen müssen. Dass es so weit Einsatz kommen, er soll nicht schneller als anbot, wie Igel berichtet.
wir festgestellt, dass wir da nachbessern müssen.« käme, hält Endreß durchaus für möglich. »Es ist 20 Stundenkilometer fahren und alle 100 Me- Auch in einem der Krankenhäuser lief es
Inzwischen kann die Feuerwehr mehrere der absolut realistisch, dass ein solches Szenario ein- ter für diese Durchsage anhalten: »Achtung! nicht rund. Die Notstromversorgung funktio-
kommunalen Tankstellen mit Notstrom versor- tritt«, sagt er. »Es ist nicht eine Frage des Ob, Achtung! Wir bitten um Ihre Mithilfe! In der nierte nicht richtig, obwohl die Geräte monat-
gen und Sprit abfüllen. Zumindest in Hannover. sondern des Wann.« Gemeinde ist die Stromversorgung ausgefallen.« lich getestet werden. Die Intensivstation musste
Worüber man recht wenig weiß, ist das Ver- Inzwischen ist in vielen Behörden die Ein- Zur Vorbereitung auf Tag X wird ein Amt evakuiert werden. Ansonsten sei man glimpflich
halten der Bevölkerung in einer solchen Lage. sicht gereift, dass es Vorbereitungen für flächen- wieder wichtig, das lange Zeit fast vergessen war: davongekommen. »Der Vorfall war räumlich be-
Christian Endreß hat sich damit beschäftigt. Er deckende Stromausfälle braucht. Das Innen- das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und grenzt«, sagt Igel. »Wenn das ganz Berlin erfasst
ist Geschäftsführer des Verbands »Allianz für ministerium von Nordrhein-Westfalen ver- Katastrophenhilfe (BBK) in Bonn. Es ist Ende hätte, hätte das sicher anders ausgesehen.«
Sicherheit in der Wirtschaft« und vertritt die schickte schon im Sommer an die Bürgermeis- September, als im Hof des Amtes zwei gepanzerte Durch den Stromausfall hat Igel einiges ge-
Interessen von Unternehmen und Konzernen ter und Landräte Szenarios, in denen auf die Limousinen vorfahren, darin Bundesinnen- lernt. Er hat jetzt ein Batterieradio zu Hause,
rund um das Thema. Im April hat er ein Fach- Gefahr eines flächendeckenden Stromausfalls ministerin Nancy Faeser (SPD) und Nieder- um im Krisenfall informiert zu sein. »Und dazu
buch zum Thema Blackout herausgegeben, die hingewiesen wird. sachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). habe ich einen kleinen Vorrat an Speisen, die
erste Auflage ist schon vergriffen, die zweite Rheinland-Pfalz hat einen »Alarm- und Ein- Die beiden Politiker besichtigen das neu geschaf- man auf dem Campingkocher warm machen
wird gerade gedruckt. Das Thema beschäftigt satzplan Stromausfall« für die Kommunen kon- fene Gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölke- kann«, sagt er. Nahrungsmittel und Wasser für
gerade sehr viele. Endreß sagt: »Wir haben kei- zipiert. Es ist ein Dokument, in das wichtige rungsschutz (GeKoB). Ein Besuch, der zeigt, ein bis zwei Wochen halte er vor. »Auch Sachen,
ne Erfahrungen mit einem großflächigen Black- Informationen für den Ernstfall eingetragen welchen Stellenwert der Katastrophenschutz die man zur Not kalt verzehren kann.« Und von
out.« Aber man habe von ähnlichen Ereignissen werden sollen. So sollen die Kommunen eine plötzlich wieder hat. denen er hofft, dass er sie nicht braucht.
einige Anhaltspunkte. Deshalb glaubt er: »Man Liste erstellen, auf der erfasst wird, welche Not- Mithilfe des GeKoB sollen sich die Länder
muss in einem solchen Fall recht früh mit Plün- stromgeräte es in einem Landkreis gibt und enger über bedrohliche Lagen austauschen. !www.zeit.de/vorgelesen
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 WIRTSCHAFT 23

Womit keiner rechnet

Hoffentlich hält das WLAN

In den USA lassen einige Airlines ihre

Verbindungsleute zum Flugzeug von zu Hause
aus arbeiten, trotz Sicherheitsbedenken.
Was steckt dahinter?
Auch in den USA ist es nichts Besonderes mehr, Airways oder SkyWest gängige Praxis geworden. können, kann es beim Homeoffice lange dauern, chen Flugbetreuern gefällt die Möglichkeit, von

Foto: Getty Images

von zu Hause aus zu arbeiten. Rund 28 Millionen
Amerikaner schalten sich laut der US-Zensus-
behörde inzwischen überwiegend aus dem Home-
office in ihre Dienstbesprechungen, das sind drei-
mal so viele wie noch 2019. Es gibt aber Branchen,
wo es dann doch überrascht, dass die Home-
office-Rate auch dort so gestiegen ist: sogenannte
Dispatcher zum Beispiel, die als Verbindungsleute
des Piloten am Boden für die Sicherheit eines
Fluges mitverantwortlich sind und in Deutsch-
land Flugdienstberater heißen.
Wie würden Sie reagieren, wenn der Pilot
kurz vor Abflug verkünden würde: Diese Reise
wird aus dem Homeoffice organisiert! Zu den
Aufgaben von Dispatchern gehört es nämlich,
die Route zu planen, den Treibstoffbedarf zu
sichern, die Wetterlage zu beobachten und den
Flug vom Start bis zur Landung gemeinsam mit
den Piloten im Cockpit zu betreuen.
Schon 2020 hatte die US-Luftfahrtbehörde
FAA den Airlines genehmigt, Flugdienstberater
aus dem Homeoffice arbeiten zu lassen. Der
Grund war die Pandemie. Inzwischen ist daraus
zumindest bei einigen Fluglinien wie Republic
Kleinere Fluggesellschaften zwar, aber immerhin
transportierten sie im vergangenen Jahr etwa 50
Millionen Passagiere. Ein Pressesprecher von Re-
public betonte, Sicherheit habe oberste Priorität
und man habe alles mit der FAA abgestimmt.
Die sogenannten Flight-Dispatcher sitzen nor-
malerweise zusammen mit Kollegen vor verschie-
denen Monitoren im Operationszentrum der
Fluggesellschaft. »Ihre Tätigkeit gehört zu den
Kernfunktionen bei einer Airline«, sagt Gary
Peterson, Direktor bei der Transportgewerkschaft
TWU und zuständig für die Flugbranche.
Peterson und seine Gewerkschaft gehören zu
den lautesten Kritikern der Homeoffice-Regel.
Peterson hat eine ganze Liste von Bedenken. Vor
allem sieht er schwere Sicherheitsmängel. Die
Operationszentren etwa, wo die Dispatcher bis-
her ihren Dienst versehen, seien nur für Befugte
zugänglich. Dort sei auch sichergestellt, dass im
Fall eines technischen Systemausfalls ein Backup-
System übernehme. »Das ist im Homeoffice in
dieser Form nicht darstellbar«, warnt Petersen.
Während im Operationszentrum im Notfall
Kollegen gleich zur Stelle sind und aushelfen
bis Unterstützung kommt. »Und was ist mit Al-
kohol und Drogen? Wer bekommt das denn in
den eigenen vier Wänden mit?«, fragt Peterson.
Im Operationszentrum werde Missbrauch viel
eher erkannt. Zudem sieht er die Gefahr, dass
die Flugbetreuer zu Hause nicht ganz bei der
Sache sind. »Das ist ein Job, der die ganze Kon-
zentration braucht. Zu Hause schreit das Kind,
die Katze springt herum, der Paketbote klingelt
– es gibt so viele Ablenkungen.«
Für die Fluggesellschaften haben die Heim-
arbeitsplätze durchaus Vorteile. Die Luftfahrt-
behörde verlangt, Flugbetreuer in Bereitschaft
vorzuhalten, die jederzeit als Ersatz einspringen
können. Das kostet, wenn sie dafür ein Opera-
tionszentrum einrichten müssen. Dispatcher im
Homeoffice sind billiger und bieten zudem Ein-
sparpotenzial, weil sie nicht zwingend in der
Nähe des Operationszentrums ansässig sein müs-
sen, sondern in günstigeren Regionen wohnen
können und entsprechend schlechter bezahlt
werden. Außerdem erleichtert es die Rekrutie-
rung, weil die Airlines im ganzen Land nach Mit-
arbeitern suchen können. Und, klar, auch man-
zu Hause zu arbeiten, das versteht auch der Ge-
werkschafter Peterson. Aber er warnt, dass sie
allein verantwortlich gemacht werden, wenn etwas
schiefgeht – was für ihn nur eine Frage der Zeit ist.
In einem Brief an die Luftfahrtaufsicht FAA hat
die Gewerkschaft kürzlich mehrere brisante Zwi-
schenfälle geschildert. Zum Beispiel im Mai, als ein
Republic-Pilot bei schlechtem Wetter 30 Minuten
über Albany im Norden des Bundesstaates New
York kreiste, weil er angeblich den Dispatcher
nicht erreichen konnte. In einem anderen Fall
habe ein Flugbetreuer seine vorgeschriebene maxi-
male Arbeitszeit von zehn Stunden überziehen
müssen, weil der Kollege, der ihn ablösen sollte, zu
Hause keine Internetverbindung zustande bekam.
Von der ZEIT nach diesen Vorfällen befragt,
verwies die Luftfahrtaufsicht auf ein Schreiben
an die Gewerkschaft TWU. Darin heißt es, die
Vorfälle seien vor Ort untersucht worden und es
habe keine Beanstandungen gegeben. Es steht
also Aussage gegen Aussage. Der Gewerkschafter
Peterson jedenfalls fürchtet, das Homeoffice-
Beispiel könnte Schule machen: »Wir sind auf
einem gefährlichen Pfad.« HEIKE BUCHTER

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ANALYSE

Stein für Stein in den Ruin

Der Wohnungsbau stockt, denn viele Bauherren können
sich die Preise und Zinsen nicht mehr leisten.
Und manche Städte haben ihre Probleme selbst verstärkt
Das wichtigste
Lange hat sich die Baubranche vor Aufträgen nicht
retten können, nun hat die Wirtschaftskrise auch
sie erreicht. Von einer »Stornierungswelle« sprachen
einer halben Million Euro hat, zahlt in diesem
Herbst – 30-jährige Tilgung unterstellt – 400 Euro
monatlich mehr als noch im Frühjahr. Und weil
Unternehmen
der Welt?
Wirtschaftsforscher des Ifo-Instituts am Dienstag. viele Vorhaben, auch die von größeren Investoren,
Immer mehr Bauherren zögern angesichts explo- ohnehin oft auf Kante genäht sind, bringt der hohe
dierender Bau- und Finanzierungskosten, ihre Zins sie zu Fall.
Bauvorhaben umzusetzen. Bei jedem sechsten Nicht zu vergessen, dass der Notstand in man-
Unternehmen aus der Baubranche wurden zu- cher Kommune selbstverschuldet ist. Bis heute
gesagte Aufträge erst einmal zurückgestellt, er- wirkt nach, was seit Ende der Neunzigerjahre man-

mittelten die Ifo-Forscher.
Das ist ein großes Problem. Denn Neubauten
können dafür sorgen, dass bezahlbarer Wohn-
raum entsteht und die Spaltung der Gesellschaft
nicht weiter vorangetrieben wird. Abgesehen da-
von geben sie Tausenden Bauarbeitern einen Job.
Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung hieß
es kühn, »400.000 neue Wohnungen pro Jahr«
sollten gebaut werden, »davon 100.000 öffentlich
geförderte Wohnungen«. Die Regierung startete ein
»Bündnis bezahlbarer Wohnraum«. Von einer
»neuen Dynamik« und der dauerhaften »Sozial-
bindung bezahlbaren Wohnraums« war die Rede.
Nur: Wer soll das jetzt noch bezahlen? Mit
jedem Monat wird es für Investoren schwieriger,
den Traum der Regierung vom bezahlbaren
Wohnraum zu erfüllen. Denn die eigene Pleite
wird wohl kaum ein Bauherr in Kauf nehmen
für ein paar günstige Wohnungen mehr. Stein
für Stein in den Ruin? Das will keiner.
Die aktuelle Situation hat makroökonomische
wie politische Gründe. Zum einen hat die aus geld-
politischer Sicht notwendige und ohnehin zu späte
Leitzinserhöhung der Europäischen Zentralbank
dramatische Folgen. Sie kam mit einer solchen
Wucht, dass die Finanzierungszinsen für Bauvor-
haben sehr schnell um zwei Prozentpunkte ge-
stiegen sind. Wer einen Finanzierungsbedarf von
Violas Käsekiste!
chen kommunalen Haushalt sanieren sollte – die
Privatisierung von Wohneigentum. Allein die Stadt
Berlin verkaufte 2004 rund 65.000 Wohnungen
an private Investoren, Dresden fast 50.000, Kiel
11.000. Auf diese Wohnungen würde mancher
Baudezernent heute wohl gern zurückgreifen, der
die sozialen Lasten in seiner Stadt gerechter ver-
teilen möchte.
Doch wer sich einmal für die Marktwirtschaft
entschieden hat, kann nicht plötzlich wieder auf
Sozialismus machen, und sei das Ansinnen noch
so ehrbar. Wenn Wohnraum – wie vielfach analy-
siert – knapp ist, dann regelt der Preis, wie er ver-
teilt wird. Wer wenig Geld hat, zieht notgedrungen ING Business Banking ist da – für Violas Käsekiste, aber
an den Stadtrand oder gleich aufs Land. Und ge- auch für Dein wichtiges kleines oder mittleres Unternehmen.
baut wird vor allem dort, wo die Rendite stimmt.
Am ehesten mitten in der Stadt. Jetzt ING Firmenkredit entdecken – die Zinsen des ersten
Man kann das politisch ganz und gar unmöglich
finden und die Gentrifizierung weiterer Stadtteile Monats übernehmen wir. Mehr Infos: ing.de/business
verteufeln. Verhindern wird man sie in der aktuel-
len Lage kaum. Im Gegenteil. Die Zinsen werden
weiter steigen, die öffentlichen Kassen werden sich
weiter leeren, die Rezession ist schon zum Greifen Bis 15.11. erste Zins-Rate sparen
nah. Die Stornierungswelle hat gerade erst begon-
nen. Die Senkung der Grunderwerbsteuer, wie
Sparkassenpräsident Helmut Schleweis sie am
Dienstag im Handelsblatt forderte, wäre ein erster
Schritt, um sie zu mildern. CL A AS TATJE
 24
Ökostrom kaufen? Kurze Flüge vermeiden? Solaranlage aufs Dach? Das alles hilft nicht wirklich, um CO₂ einzusparen,
sagt der Ökonom Achim Wambach. Entscheidender als die Taten jedes Einzelnen sei ein viel wirksameres Instrument
r K l i ma-Deckel
De
DIE ZEIT: Herr
Wambach, bitte be-
antworten Sie unsere
ersten drei Fragen nur mit
einem knappen Ja oder Nein.
Erste Frage: Helfe ich dem Klima,
wenn ich Ökostrom kaufe?
Achim Wambach: Nein.
ZEIT: Sorge ich für mehr CO₂-Emissionen, wenn
ich für ein Wochenende nach Barcelona fliege, als
wenn ich das lasse?
Wambach: Nein.
ZEIT: Unterstütze ich den Klimaschutz, wenn ich
mir eine Solaranlage aufs Dach montiere?
Wambach: Nein.
ZEIT: Sie haben ein Buch zum Klimaschutz ge-
schrieben, in dem solche Beispiele auftauchen. Er-
klären Sie uns bitte noch einmal: Warum ist es für
den CO₂-Ausstoß unerheblich, ob jemand nach
Barcelona fliegt?
Wambach: Das ist ganz einfach: Die EU hat die
Menge an CO₂, die bestimmte Wirtschaftszweige
ausstoßen dürfen, gesetzlich beschränkt. Das gilt
auch für den innereuropäischen Flugverkehr. Da-
mit eine Fluggesellschaft einen Teil dieser erlaub-
ten Gesamtmenge verbrauchen darf, muss sie für
jede Tonne CO₂, die sie ausstößt, ein Zertifikat
kaufen. Die Mitgliedsstaaten geben diese Zertifi-
kate aus, danach können sie frei gehandelt werden.
Wenn nun Sie und einige andere Menschen nicht
fliegen und deshalb ein Flug weniger gebraucht
wird, benötigt die Airline weniger Zertifikate.
Aber die verschwinden damit nicht aus der Welt.
Jemand anderes wird sie kaufen. Die Menge an
CO₂, die in die Umwelt kommt, bleibt deshalb
am Ende gleich.
ZEIT: Wieso sind Sie so sicher, dass jemand anders
die Zertifikate kaufen wird?
Wambach: Fluggesellschaften, Stromerzeuger und
Industriebetriebe brauchen sie. Diese Branchen dür-
fen in der EU nur CO₂ emittieren, wenn sie für jede
Tonne ein Zertifikat erwerben. Im Moment werden
diese Papiere zum Preis von 70 Euro gehandelt.
Wenn eine Fluggesellschaft in Deutschland nun
weniger Zertifikate braucht, wird sie weniger dieser
Papiere kaufen oder Zertifikate, die sie schon hat,
am Markt verkaufen. Beides senkt den Marktpreis
für die Zertifikate. Darüber freut sich dann vielleicht
ein Industriebetrieb in Spanien, für den die Kosten
sinken und der deshalb mehr produzieren und ent-
sprechend mehr CO₂ ausstoßen wird. Man spricht
dabei auch von einem Wasserbett-Effekt.
ZEIT: Was meinen Sie damit?
Wambach: Wenn Sie ein Wasserbett an einer Stelle
eindrücken, beult sich das Bett an einer anderen
Stelle aus. Aber die Wassermenge im Bett bleibt
gleich. Genauso ist das mit der in der EU vorgege-
benen Menge an CO₂-Zertifikaten.
ZEIT: Und das ist sinnvoll?
Wambach: Ja, denn im Lauf der Zeit sinkt die
staatlich vorgegebene Gesamtmenge, und zwar im
Einklang mit den europäischen Klimazielen. Ur-
sprünglich hat die EU die Zahl der ausgegebenen
Zertifikate – also die Menge des erlaubten CO₂-
Illustration: Sandro Rybak für DIE ZEIT; Foto: dpa
Ausstoßes – jedes Jahr um 2,2 Prozent reduziert.
Mit der Verschärfung der Klimaziele soll sie sogar
um 4,2 Prozent pro Jahr sinken. Das ist bis 2030
festgeschrieben. Für die CO₂-Emissionen, die der
Flugverkehr, die Stromerzeuger und die Industrie
verursachen, etwa 40 Prozent der gesamten Emis-
sionen, gibt es also einen Mechanismus, der zuver-
lässig dafür sorgt, dass sie immer weiter sinken.
ZEIT: Und deshalb macht es auch keinen Unter-
schied, wenn ich Ökostrom kaufe oder mir eine
Solaranlage installiere?
Der Preis
Derder
derVerschmutzung
Verschmutzung
So viel kostet eine EU-Emissionsberechtigung
Wambach: Ja, auch hier gilt der
Wasserbett-Effekt. Jedes Zertifikat,
das frei wird, weil zum Beispiel ein
Stromerzeuger auf erneuerbare Ener-
gien umstellt, bleibt auf dem Markt.
Durch den Kauf von Ökostrom ver-
ringere ich die Menge der Zertifikate
nicht. Es kann sich natürlich trotzdem
lohnen, eine Solaranlage zu kaufen.
Aber das ist eine finanzielle Frage, nicht
eine Frage des Gewissens.
ZEIT: In der aktuellen Krise hilft ein Solardach
aber doch gegen die Energieknappheit, oder?
Wambach: Richtig knapp wird Strom bei uns vor
allem dann, wenn die Sonne nicht scheint und
kein Wind weht. Da nützt eine zusätzliche Solar-
anlage nichts. Dafür braucht es zum Beispiel
Kohle- oder Gaskraftwerke. Aber wenn wir die
laufen lassen und CO₂ emittieren, muss das we-
gen des Zertifikatehandels zwangsläufig woanders
eingespart werden, etwa bei den Flügen.
ZEIT: Sie sagen: Entscheidend für den Klima-
schutz ist allein der Emissionshandel. Entheben
Sie damit nicht den Einzelnen von jeder Verant-
wortung?
Wambach: Ich finde es merkwürdig, dass wir in
der Klimapolitik ständig über den ökologischen
Fußabdruck reden, den jeder Einzelne hinterlässt.
Das gibt es nur in diesem Politikfeld. Stellen Sie
sich mal vor, wir würden beim Thema Jugend-
arbeitslosigkeit ständig fragen: Was ist mein per-
sönlicher Beitrag zur Lösung? Sollte ich öfter mit
der Deutschen Bahn fahren, weil die besonders
viele Jugendliche ausbildet? Wäre es besser, einen
Opel statt einen BMW zu kaufen, weil die in
Rüsselsheim ein tolles Trainingsprogramm für
Jugendliche haben? Oder würde Rewe für Produkte
werben, die aus einer Jugendwerkstatt kommen?
ZEIT: Sie meinen, das ist absurd?
Wambach: Ja, und beim Klimaschutz wird genau
so argumentiert. Dazu sollte man wissen, dass die
Idee des individuellen ökologischen Fußabdrucks
durch BP in die Welt kam. Als British Petroleum
sein Image ändern wollte zu »Beyond Petroleum« ...
ZEIT: ... also etwa »jenseits« oder »nach Petro-
leum« ...
Wambach: ... startete der Ölkonzern eine Kam-
pagne und richtete eine Internetseite ein, auf der
man sich seinen persönlichen CO₂-Fußabdruck
ausrechnen lassen konnte. Erst danach ist diese
Idee populär geworden. Damit nehmen wir aber
den Druck von der Politik und von den Unterneh-
men und laden die Verantwortung beim Einzelnen
ab. Wir müssen mehr darüber reden, wieweit die
politischen Instrumente funktionieren, und weni-
ger darüber, ob ich jetzt noch eine zweite oder
dritte Reise gemacht habe.
ZEIT: Aber ist es nicht sinnvoll, auch die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher in die Pflicht zu neh-
men, die Druck auf die Unternehmen ausüben
können?
Wambach: Häufig ist der Einzelne damit völlig
überfordert. Ein Beispiel: Sie wollen eine Tomate
kaufen und fragen sich, ob es aus Klimaschutz-
gründen besser wäre, eine aus Spanien zu nehmen
oder eine aus Ihrer Region. Um das wirklich ent-
Preis
So viel kostet₂,eine
in Euro
Emissionsberechtigung
der EU für eine
Tonne CO₂
Quelle: in Euro
Trading Economics 2018
WIRTSCHAFT
scheiden
zu können,
müssten Sie wissen, aus
was für einem Gewächshaus
die Tomate stammt. Wie ist das
gebaut worden, wie wird es be-
heizt? Mit erneuerbarem Strom?
Wie ist die Tomate transportiert
worden? Wie wurde sie gelagert, wie
verpackt?
ZEIT: Ganz schön viele Fragen.
Wambach: Kein Konsument kann das alles
überblicken. Aber wenn alle Unternehmen in
der Lieferkette für ihren CO₂-Ausstoß Zertifi-
kate kaufen müssen, führt eine schlechte Klima-
bilanz zu einem höheren Preis. Und Verbraucher
greifen dann aufgrund des Preises eher zum klima-
schonenden Produkt. Das ist die Kernidee des
Emissionshandels.
ZEIT: Warum fordern aber viele Umweltschützer
alle möglichen Maßnahmen wie eine Solardach-
pflicht oder das Verbot von Verbrenner-Autos,
und vom Emissionshandel ist kaum die Rede?
Wambach: Zum einen ist er nicht ausreichend be-
kannt, deshalb ist es auch schwer, damit zu argu-
mentieren. Zum anderen gibt es ein Misstrauen,
dass die Politik das wirklich durchhält. Wenn die
Zertifikate knapper und dann auch richtig teuer
werden, könnte die EU sagen: Das war zwar eine
2019 2020 2021
schöne Idee, aber
jetzt schaffen wir es wieder ab.
ZEIT: Die Bundesregierung hat
kürzlich beschlossen, dass der CO₂-
Preis, den Deutschland zusätzlich auf
Diesel und Benzin erhebt, im kommen-
den Jahr nicht steigen soll wie eigentlich
vorgesehen. Das zeigt doch: Wenn es ernst
wird, ist es schnell vorbei mit den Preisen als
Klima-Druckmittel.
Wambach: Ja, diese Gefahr gibt es. Gerade wenn
die Öffentlichkeit nicht hinschaut. Deshalb will
ich ja darauf aufmerksam machen, wie wichtig
diese Instrumente sind. Auch beim europäischen
Emissionshandel gibt es jetzt Forderungen, in die-
ser Krise zusätzliche Zertifikate auszugeben. Das
wäre ein schwerer Fehler! Wir brauchen beim
Klimaschutz Planbarkeit.
ZEIT: Wenn das jederzeit gekippt werden kann,
sind dann nicht doch andere Instrumente wie eine
Solardachpflicht oder ein Verbot von Verbrenner-
Autos besser?
Wambach: Auch die können politisch gekippt
werden. Was hindert die nächste Bundesregierung
daran, sich in der EU dafür einzusetzen, das Ver-
brenner-Aus wieder zurückzunehmen? Es wird bei
solchen Verboten sogar mehr politischen Wider-
stand geben als beim Emissionshandel, weil sie in-
effizienter sind und mehr Kosten verursachen.
ZEIT: Wieso?
Wambach: Nehmen Sie das Verbot von Verbren-
ner-Autos. Ein Verbot ist wie ein unendlich hoher
Preis. Das ist ein sehr viel härterer Eingriff, als
wenn ich Benzin schrittweise verteuere. Hinzu
kommt: Wenn ich Verbrenner verbiete und
E-Autos subventioniere, lege ich mich auch tech-
nologisch fest. Aber wissen wir sicher, dass das die
beste Lösung ist? Und dass 2030 genau das richtige
Datum für das Ende des Verbrenners ist? Vielleicht
wäre 2035 besser? Oder sogar ein früherer Zeit-
punkt, weil die Industrie dann schon viel weiter
ist, als wir heute erwarten?
ZEIT: Was wäre die Alternative?
Wambach: Würde man stattdessen Benzin und
Diesel in den EU-Emissionshandel aufnehmen,
und darüber wird gerade auch verhandelt, würde
der entsprechende CO₂-Ausstoß zwangsläufig
sinken – aber man überließe es den Verbrauchern
und den Herstellern, die für sie beste und kosten-
günstigste Lösung für weniger CO₂ zu finden.
ZEIT: Im Grunde sagen Sie: »In Europa haben wir
die Zauberformel für Klimaneutralität schon gefun-
den. Und die Politiker können sich den ganzen
Stress sparen mit ihren Verboten. Sie müssen nur
schauen, dass das mit den Zertifikaten schön streng
durchgehalten wird, den Rest regelt die Wirtschaft«?
Wambach: So einfach ist es dann doch nicht. Wir
brauchen auch die nötige Infrastruktur, wir müs-
sen Forschung und Entwicklung fördern. Aber der
Knackpunkt ist tatsächlich der Emissionshandel.
Andere Maßnahmen sollten ihn sinnvoll ergänzen.
Das ist heute nicht immer der Fall. Wenn wir zum
Beispiel Solaranlagen auf dem Dach zur Pflicht
machen, wie es ja viele Bundesländer schon tun
100
80
60
40
Achim Wambach
20 leitet das
Leibniz-Zentrum für
0 Europäische
2022 Wirtschaftsforschung
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
oder planen, be-
deutet es, dass die
fossilen Kraftwerke
hierzulande weniger
Zertifikate brauchen. Die
werden dadurch günstiger, in
Polen kann dann ein Kohlekraft-
werk länger laufen. Da frage ich mich
schon, ob die Pflicht gut begründet ist.
ZEIT: Sie argumentieren immer nur mit dem Preis,
aber viele Firmen wollen schon aus Imagegründen
klimaneutral werden, und viele Menschen wollen
zum Klimaschutz beitragen. Sind moralische Vor-
stellungen nicht doch ein wichtiger Faktor?
Wambach: Es ist gut, dass das Bewusstsein für den
Klimawandel bei den Menschen angekommen ist.
Aber wenn wir Klimaschutz vor allem über Moral
und Verzichtsappelle betreiben, kommen wir nicht
weit und werden auch kein Vorbild für andere
Länder sein. Die EU ist ja nur für zehn Prozent der
weltweiten Emissionen verantwortlich. Senken wir
allein unseren CO₂-Ausstoß, nützt das wenig. Ent-
scheidend ist, dass auch Länder wie Indien oder
China mitmachen. Deren Wohlstand ist aber noch
immer so niedrig, dass man von ihnen keine Ver-
zichtspolitik erwarten kann. Wir brauchen statt-
dessen ein Vorbild dafür, dass es gelingt, wirt-
schaftlich effizient Emissionen zu reduzieren. Da-
mit ein Land wie Indien sagt: Das funktioniert, das
machen wir auch. Dieses Muster kann der euro-
päische Emissionshandel sein. Und China hat ja
auch schon Emissionszertifikate eingeführt.
ZEIT: Verstanden, Emissionszertifikate sind wich-
tig. Kann ich als gutwilliger Bürger trotzdem etwas
Sinnvolles für den Klimaschutz tun?
Wambach: Ja, es gibt viele Bereiche, für die der
Emissionshandel noch nicht gilt. Das betrifft zum
Beispiel interkontinentale Flüge. Wer die vermei-
det, kann tatsächlich zur Verringerung des CO₂-
Ausstoßes beitragen. Auch der Autoverkehr und
der Energieverbrauch in Gebäuden fallen noch
nicht unter die Zertifikate-Regelung. Ebenso die
Landwirtschaft. Auch weniger Fleisch essen hilft
also dem Klima.
ZEIT: Was halten Sie von Kompensationszahlun-
gen, die zum Beispiel für Flüge angeboten werden?
Das ist ja etwas anderes als die CO₂-Zertifikate,
die der Staat ausgibt. Bei einer Kompensation
verspricht eine Firma: Wenn du uns Geld gibst,
stecken wir es in ein Klimaschutzprojekt.
Wambach: Ich würde das nicht unbedingt emp-
fehlen. Es ist umstritten, wieweit diese Kompensa-
tionsindustrie wirklich hält, was sie verspricht, also
ob diese Projekte wirklich für zusätzlichen Klima-
schutz sorgen. Es bräuchte dafür bessere Qualitäts-
standards. Aber dieser Markt kann sich vielleicht
noch entwickeln. Bei innereuropäischen Flügen
greift ja zudem der Emissionshandel.
ZEIT: Wäre es nicht die effizienteste Kompensa-
tion, wenn man sich für 70 Euro ein Emissions-
zertifikat der EU für eine Tonne CO₂ kauft und es
dann vernichtet? Dann wird doch definitiv weni-
ger CO₂ verbraucht, richtig?
Wambach: Das stimmt, man kann das machen.
Aber dann übt man ausgerechnet auf die Industrie-
bereiche zusätzlichen Druck aus, die ohnehin
schon durch den Emissionshandel gezwungen
sind, die ambitionierten europäischen Klimaziele
zu erreichen. Sinnvoller wäre es eigentlich, man
würde dort für weniger CO₂-Ausstoß sorgen, wo
der Emissionshandel noch nicht gilt, also etwa
beim Autoverkehr.
Das Gespräch führten
Kolja Rudzio und Marc Widmann
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KREUZFAHRTENNORWEGEN
| Ein Spezial des Zeitverlags 1

Die Hafenstadt
Ålesund fasziniert
mit ihrer Jugend-

EXPEDITION
stil-Architektur und
dem Atlantikpark,
Norwegens erstem
Meeresforschungs-
zentrum (oben).

Auf den Lofoten ist

die Wahrschein-

NORWEGEN
lichkeit besonders
hoch, Nordlichter zu
sichten. Aus diesem
Grund ist die faszi-
nierende Inselwelt
eines der Highlights
der Reiseroute (links
Mitte).

Vom 320 Meter

hohen Berg Fløyen
aus erwartet einen
Nordlicht und Nordkap, Fjorde und Gletscher: Reisen Sie der atemraubende
Blick über die Stadt
mit Hurtigruten Expeditions direkt von Hamburg aus auf Bergen (links unten).

den Spuren der legendären Postschiff route.

Dem Zauber der Polarlichter ganz nah Nachhaltig auf Kurs

Es klingt paradox, sich jetzt im
Sommer schon auf den Winter
zu freuen. Doch gibt es dafür
gute Gründe: das magische
Polarlicht, das legendäre Nord-
kap, die zauberhafte Inselwelt
der Lofoten, atemraubende
Gletscher und malerische Fjorde.
Nur einige der vielen High-
lights, die bei einer Norwegen-
Expeditionsreise im Fahrwasser
der legendären Postschiff route
mit Hurtigruten Expeditions
live erlebt werden können.
Alle an Bord? Dann kann es losge-
hen, und dies bequem von Ham-
burg aus. Das deutschsprachige
Expeditionsteam heißt alle Gäste
auf dem erst Anfang 2020 kom-
plett modernisierten Premium-
Expeditionsschiff »Otto Sverdrup«
herzlich willkommen, und gen
Norden geht es auf eine beein-
druckende Reise. Ganz bewusst
ist die Route dabei so konzipiert,
dass zahlreiche Ziele nördlich
des Polarkreises liegen. Hier
bietet sich die größtmögliche
Chance, das einzigartige Nord-
licht, diese faszinierend in hellem
Grün bis dunkelviolett scheinbar
tanzenden Lichtschwaden, am
dunklen Himmel der Arktis zu
sichten. Ein Hurtigruten Schiff ist Mit seinen zahl- wärts mit dem legendären Post- sphäre kann man die gesam-
dabei übrigens der ideale Stand- reichen bunten
Häusern zählt das
schiff. Dafür steht das »Nordlicht- melten Reiseeindrücke auf sich Benannt nach dem großen nor-
ort. Unterwegs im Fjord, fernab
störender Lichtquellen, ist die
historische Hafen-
viertel Bryggen in
Versprechen« von Hurtigruten. wirken lassen.
Intensiviert wird das Erleb- wegischen Polarhelden und
der Stadt Bergen Deutschsprachiges Expeditions- nis zudem durch das moder-
Nordlichtsichtung von Bord aus
besonders gut.
zum UNESCO-
Weltkulturerbe. team und hoher Komfort an Bord ne Science Center an Bord, in angetrieben mit zertifiziertem
Doch warum den Fokus auf
das Polarlicht beschränken, wenn
Für das unbeschwerte Genießen dem deutschsprachige Experten
ereignisreicher Tage sorgt aber spannende Vorträge passend zu
Bio-Kraftstoff spart das moderne
es auf dieser Tour noch viel mehr
zu entdecken gibt? Bereits in we-
nicht nur die atemraubende Ku- den Reiseetappen halten, eine
lisse der norwegischen Fjordküs- umfangreiche Bibliothek zum
Hybrid-Expeditionsschiff »Otto
nigen Wochen, im September,
kann es losgehen zu einem faszi-
te, sondern auch der hohe Kom- Schmökern einlädt, Mikroskope
fort an Bord von »Otto Sverdrup«. für biologische und geologische
Sverdrup« bis zu 80 Prozent der
nierenden Abenteuer. 2.100 Kilometer vom Nordpol ent-
fernt, steht auf dem Programm,
nis, welches bereits bestens vom
deutschsprachigen Expeditions-
Ob das neue Wellnessareal mit Untersuchungen zur Verfügung
Behandlungsräumen für Massa- stehen und man mit den anderen
Emissionen im Vergleich zu
Nordkap und Polarmuseum, ebenso die Stadt Alta mit ihrer team organisiert ist. Das Resultat gen sowie einem Indoor-Fitness- Bordgästen locker ins Gespräch normalem Schiffsdiesel.
Fischerdörfer und Fjorde modernen Nordlichtkathedrale sind 15 Tage voller unvergesslich bereich, inklusive Fitnessraum, kommen und seine Eindrü-
Wie wäre es zum Beispiel mit ei- und Tromsø, bekannt als »Tor bleibender Eindrücke, die man Panoramasauna und Whirlpools, cke austauschen kann. So wird die Reise mit
nem Besuch der Stadt Bergen, in- zur Arktis«, wo man im Polarmu- unbeschwert genießen kann. gleich drei Restaurants, die das Kurzum: Es gibt mehr
klusive einer Fahrt mit der Stand- seum eintaucht in die Geschichte Bleiben übrigens in dieser Zeit preisgekrönte Norway’s Coastal als nur einen guten Grund, Hurtigruten Expeditions
seilbahn »Fløiban« auf den 320 der großen Entdecker und ihrer die Nordlichter aus, reist man mit Kitchen-Konzept mit regionalen sich bereits jetzt auf den
Meter hohen Fløyen? Hier erwar- Expeditionen. Damit aber noch Hurtigruten gratis erneut auf einer frischen Zutaten zelebrieren, oder Winter zu freuen. Weitere zu einem buchstäblich
tet einen der atemraubende Blick lange nicht genug: Ebenso wartet sechstägigen Reise südwärts oder aber die stilvoll eingerichteten Informationen unter www.
über die Stadt, deren historisches die Stadt Ålesund mit ihrer be- einer siebentägigen Reise nord- Kabinen – in entspannter Atmo- hurtigruten.de/Norwegen  nachhaltigen Erlebnis.
Hafenviertel Bryggen mit seinen eindruckenden Jugendstil-Archi-
bunten Häusern zum UNESCO- tektur auf eine Erkundung, und
Weltkulturerbe zählt. Oder aber beim inkludierten Besuch des
mit einer Besichtigung eines Fi- Atlantikparks, Norwegens erstem
scherdorfes in der faszinierenden Meeresforschungszentrum, kön-
Inselwelt der Lofoten, wo man nen etwa Robben, Otter und
den Einheimischen bei ihrem Tun Pinguine beobachtet werden. Es
über die Schulter schauen kann? geht in den malerischen Hardan-
Auch ein Ausflug zum legendären gerfjord, den drittlängsten Fjord
Nordkap und damit zum nörd- der Welt, und zum südlichsten
lichsten Punkt Europas, rund Gletscher des Landes mit spekta-
Das moderne kulären Wasserfällen.

Norwegen
Hybrid-Expedi-
tionsschiff »Otto
Sverdrup« verbin-
Zehn Erkundungstouren
det nachhaltiges bereits im Preis inbegriffen
Reisen mit einem Eine faszinierende Sehenswür-
hohen Komfort
und einem exzel- digkeit reiht sich an die nächste,
lenten Service. und wer meint, vor einer Qual der
Wahl zu stehen, kann voller Vor-
freude aufatmen. Denn muss man Ab/bis Hamburg
© Montage: Hurtigruten, Claire Netting

sich sonst bei Urlaubsbuchungen

oftmals angesichts kostspieliger
Aufschläge für besondere Tou-
Aufgrund seiner ren und interessante Ausflüge
angenehm über- entscheiden und damit eventuell Inklusive
Nordlicht-
schaubaren Größe
ist das Schiff – mit Blick auf das eigene Bud-
besonders wendig, get – auf das eine oder andere im
und man kann die Grunde gern besuchte Highlight
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Hurtigruten GmbH • Große Bleichen 23 • 20354 Hamburg Cuxhaven ** Nicht an Seetagen und am
Dr. Rainer Esser; Art Direction: Kay Lübke, Dietke Steck; Realisierung: Studio ZX GmbH – Ein Unternehmen der ZEIT Verlagsgruppe, Hamburg
Geschäftsführung: Dr. Mark Schiffhauer, Uta Schwaner; Projektmanagement: Fritz Lüders; Redaktion: Nicole Maibaum; Lektorat: Egbert Veranstalter der Reisen ist die Hurtigruten Global Sales AS Tag der Ein-/Ausschiffung.
Scheunemann; Grafik: Sonja Feldkamp; Bilder: Hurtigruten Interim Chief Sales Officer ZEIT Verlagsgruppe: Aki Hardarson Head of Travel
& Tourism: Sandra Lindemeier, Tel. 040/32 80-359, sandra.lindemeier@zeit.de; Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 16 vom 1. Januar 2022
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26 WIRTSCHAFT 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

83 Prozent
Inflation
In der Türkei steigen die Preise in
gewaltiger Geschwindigkeit.
Die Menschen sparen schon beim Essen,
und der Präsident taktiert VON LEON KOSS

S
Am Bosporus angeln Rentner, um billige Nahrung zu fangen

tumm wie die sterbenden Fische in seinem Eimer
wird Yücel Parlak, wenn man ihn fragt, was die In-
flation für ihn bedeutet. Mit zusammengekniffenen
Augen sitzt der Rentner am Ufer des Bosporus in
Istanbul und fixiert die Spitze seiner Angelrute, die
auf den asiatischen Teil der Stadt zeigt. Beugt sich
die Rutenspitze leicht nach unten, hat ein Fisch an-
gebissen, und diesen Moment will Parlak auf keinen
Fall verpassen. Schließlich sagt er doch etwas: »Die
Krise hat viel kaputt gemacht und mir meinen größ-
ten Spaß genommen.«
Seit er ein kleiner Junge war, angele er hier am
Bosporus-Ufer, und ihm sei es dabei immer um Spaß
gegangen. Jetzt ist das anders. Die Fische, die er fange,
gehörten nun zu seinem festen Speiseplan. Und wenn
nichts anbeißt, isst der 66-Jährige manchmal nur Brot.
Die Rente, 140 Euro im Monat, reichte nie für
viel. Aber die stark gestiegenen Lebensmittelpreise
machten die Lage katastrophal. Ein Kilo Fleisch
kostet fast dreimal so viel wie noch vor einem Jahr.
Ähnlich ist es bei Käse, Joghurt und Eiern. In keinem
anderen OECD-Staat sind die Lebensmittelpreise
im letzten Jahr so stark gestiegen wie in der Türkei.
Die 64 am meisten konsumierten Nahrungsmittel
sind im Schnitt über 150 Prozent teurer geworden.
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Parlak hat als Bauarbeiter in den vergangenen 30
Jahren geholfen, Istanbul zu dem zu machen, was die
Stadt heute ist: eine boomende Metropole. »Jetzt ist
mein Geld fast nichts mehr wert, und ich frage mich
manchmal, was dann meine Arbeit der letzten Jahre
eigentlich wert war.« Das tue weh, sagt er leise.
Wie lebt es sich in einem Land, in dem fast jeden
Monat neue Etiketten an die Waren geklebt werden?
Einem Land, in dem die Brieftaschen immer voller und
die Einkaufskörbe immer leerer werden? Reist man
durch die Türkei und stellt die gleichen Fragen in Tee-
stuben am Schwarzen Meer, an Bushaltestellen in der
Ägäis-Region oder auf anatolischen Märkten, ant-
worten viele Menschen ähnlich, ganz gleich ob im kon-
servativen Osten oder im liberalen Westen des Landes.
Sie alle schütteln mit dem Kopf, wenn sie erzählen.
Ein Mann erklärt in einem Istanbuler Teehaus,
dass er auf sein Frühstück verzichte, um Geld zu
sparen. Eine Frau, die gerade Weintrauben auf einem
Markt in Izmit inspiziert, sagt: »Früher habe ich im-
mer drei volle Tüten mit Obst und Gemüse nach
Hause getragen. Jetzt müssen wir mit nur einer Tüte
auskommen.« Und ein Bäcker in Anatolien berichtet,
wie sich die Mehlpreise innerhalb eines Jahres mehr
als vervierfachten.
Seit 17 Monaten steigt die Inflation in der
Türkei. Es begann während der Pandemie, als sich
die Preise auf dem Weltmarkt nach und nach ver-
teuerten. Für die Türkei, die deutlich mehr im-
portiert als exportiert, bedeutete das, dass fast alle
Preise im Land stiegen. Anders als viele Länder in
ähnlicher Lage entschied sich die türkische Noten-
bank dagegen, die Zinsen zu erhöhen. Im Gegen-
teil: Präsident Recep Tayyip Erdoğan gab weitere
Zinssenkungen bekannt. Statt Geld mit höheren
Leitzinsen aus dem Markt zu nehmen, destabilisiert
Erdoğan die Lira nur weiter und macht sie für
Anleger unattraktiv. Doch das spielt für ihn keine
Rolle: Richtig sei es, so der Präsident, die Inflation
mit niedrigen Zinsen zu bekämpfen, um Investi-
tionen und Exporte anzukurbeln. Nur so könne
die Wirtschaft weiter wachsen. Das ist entgegen
jeder ökonomischen Lehre, aber jeder Zentralbank-
chef, der ihm widersprach, wurde entlassen. Vier-
mal kam das in den letzten fünf Jahren vor.
Zuletzt lag die Inflation laut dem türkischen
Statistikinstitut Türkstat bei 83,45 Prozent. Und
das ist die offizielle Zahl, nicht die Zahl von
Veysel Ulusoy.
Ulusoy, 58, ist einer der prominentesten Kriti-
ker von Erdoğans Wirtschaftspolitik. Der Wirt-
schaftswissenschaftler ist Professor an der Yeditepe-
Universität im Osten Istanbuls und Gründer der
Inflations-Forschungsgruppe Enag. Berichten aus-
ganz anders aussehen, als wenn wir auch Import-
und Instantkaffee einbeziehen.« Es komme darauf
an, welche Artikel man in den Inflationswarenkorb
legt. Dass die Regierung die Inflationszahlen mit
dieser Methode bewusst verfälscht, ist in Ulusoys
Augen klar. Sowohl Turkstat als auch Enag berech-
neten die Inflation auf dieselbe Weise. Dass die
Ergebnisse so anders seien, liege daran, dass unter-
schiedliche Preise die Grundlage für die Berech-
nungen bildeten. Und die Regierung suche sich
eben die günstigeren Preise aus.
Ein Abend in der Istiklal Caddesi, einer der
berühmtesten Einkaufsstraßen Istanbuls. Eine
junge Frau mit Piercings in Nase und Lippen und
bauchfreiem Top manövriert sich durch die Men-
schengruppen. Sie heißt Merve, ist 23 Jahre alt und
auf dem Weg zu ihrem Lieblingsclub. Mit ihren
Eltern, der Vater Handwerker, die Mutter Haus-
frau, wohnt sie im Norden der Stadt in einer klei-
nen Wohnung. »Eigentlich wollte ich in diesem
Jahr ausziehen, endlich allein wohnen«, sagt sie.
»Aber ich finde keine Wohnung, es ist alles zu
teuer.« Mit der Inflation steigen auch die Mieten.
Laut einem Ranking der OECD sind die Mieten
in Istanbul zuletzt weltweit am stärksten gestiegen,
in den vergangenen 18 Monaten um mehr als
66 Prozent. Eine Wohnung in der Metropole kos-
tete vor zwei Jahren im Durchschnitt 145 Euro pro
Monat. Heute sind es 240. Die Regierung führte

DAS HAUS DER WOCHE

Bauhaus-Architektur schafft neue Freiräume
EIN BEITRAG DER
WOLF-HAUS GMBH
Bis heute prägt der mehr als 100 Jahre alte
tektur einen warmen Akzent. Auch der Wohn-
und Kochbereich präsentieren sich hell und
wohnlich. Vor Sonneneinstrahlung und neu-
gierigen Blicke schützen Raffstores. Für
ländische Medien über die Inflation in der Türkei,
werden oft noch die Zahlen von Ulusoys For-
schungsgruppe hinterhergeschoben, denn viele
zweifeln an der Richtigkeit der offiziellen Daten.
Ulusoys Werte werden zeitgleich mit Turkstats
Inflationszahlen veröffentlicht und sind ein
Grund, warum Erdoğan im Juni verboten hat,
Statistiken zu veröffentlichen, wenn sie von den
Regierungsdaten abweichen. Denn Ulusoys Zah-
len sind mehr als doppelt so hoch wie die offiziel-
len Zahlen aus Ankara.
Zuletzt berechnete Enag die Inflation auf
186,27 Prozent.
An einem dieser heißen Tage sitzt Ulusoy in
seinem Lieblingsbistro am Taksim-Platz in Istan-
bul. Neben dem Laden versuchen Schwarzhändler
im Schatten der wenigen Bäume Parfüm an Tou-
risten zu verkaufen, und ein paar Polizisten schlen-
dern über den Platz und rauchen Kette. Erst drei
Tage ist es her, da wurde in einer der größten
Tageszeitungen des Landes gefordert, man solle
ihn wegen seiner Zahlen einsperren. Er rechne
damit, sagt Ulusoy, »jeden Moment verhaftet
werden zu können«. Denn nicht nur die regie-
rungsnahen Medien, sondern auch der Staat
macht immer mehr Druck: »Viermal wurden wir
von der Regierung vor Gericht gezerrt«, sagt Ulu-
soy. Bislang habe er aber jeden Fall gewonnen.
Warum, könne er sich auch nicht erklären.
Wie kann es sein, dass seine Zahlen so stark von
denen des türkischen Statistikinstituts abweichen?
»Schauen Sie«, sagt Ulusoy, als der Kellner ihm
seine Tasse Kaffee bringt. »Es gibt verschiedene
Arten von Kaffee, die sich wegen der Inflation
unterschiedlich im Preis entwickeln. Würden wir
nur den verhältnismäßig günstigen Kaffee aus dem
heimischen Anbau bei unseren Erhebungen be-
rücksichtigen, würden die Kaffee-Inflationswerte
Kontakt
WOLF-HAUS GmbH
Koppenmühle
97705 Burkardroth-Gefäll
deshalb einen Mietendeckel ein, der verhindern
sollte, dass die Preise über 25 Prozent im Jahr an-
gehoben werden. Doch wenn eine Wohnung neu
vermietet wird, greift die Regelung nicht, daher ver-
doppeln oder verdreifachen sich die Preise weiterhin.
Und so ist Merve oft Tag und Nacht unter-
wegs, erzählt sie, um der Enge der Wohnung zu
entkommen, in der sie sich ein Zimmer mit ihren
Geschwistern teilt. Sie zeigt auf ein hell beleuch-
tetes Bekleidungsgeschäft: »Hier arbeite ich vier-
mal pro Woche«, sagt sie und erzählt, wie es ihr
hinter dem Verkaufstresen geht: »Die Touristen
kaufen immer mehr, weil unser Geld so wenig
wert ist. Das finde ich absurd. Die kaufen zehn,
manche sogar 20 T-Shirts auf einmal. Was die
sich bei einem Einkauf leisten, kaufen meine
Eltern nicht mal in einem Jahr.«
Der Lirakurs rutschte zuletzt immer stärker
ab. Für einen Euro bekommt man inzwischen
18 Lira. Damit hat sich der Wert der türkischen
Währung in zwei Jahren mehr als halbiert.
Fremdwährungen sind deshalb nicht nur als
Devisen bei den Banken begehrt. Wenn manche
Kassierer erfahren, dass man auch Euro in der
Geldbörse hat, zücken sie ihr Smartphone, teilen
den türkischen Betrag durch 18 und bieten an,
dass man auch in Euro bezahlen könne.
Die Menschen hier im Land würden kein Geld
mehr für Dinge ausgeben, die schön, aber nicht
überlebenswichtig seien, sagt Merve, während sie
ihren schmalen Körper weiter durch die Men-
schenmassen manövriert. Ihre Familie hätte die
goldenen Armreifen verkauft, die traditionell bei
einer Hochzeit von der Familie des Bräutigams an
eine Braut übergeben werden. Als Kind war Merve
fasziniert von den schweren Goldringen ihrer
Mutter und wollte immer Schmuckdesignerin
werden. Jetzt aber suche sie einen sicheren Job und

Die Gefahr der Inflation

Bauhausstil mit seinen kubischen Formen und
lichtdurchfluteten Räumen die Entwürfe vie-
ler Architekten. Das Holz-Fertighaus Edition
S 239 der WOLF-HAUS GmbH steht in der
Tradition der zeitlos modernen Baukultur,
setzt aber auch eigene Akzente.
Das äußere Erscheinungsbild wird domi-
niert von zwei großen Terrassen, die eine
Erweiterung des Lebensraums in die sie
umgebende Natur ermöglichen. Vor allem
die große Dachterrasse schafft neue Frei-
räume mit Weitblick. Der lichtdurchflutete
Treppenaufgang zur ersten Etage verleiht
der minimalistisch-sachlichen Innenarchi-
das gewisse Extra sorgen eine großzügige
Sonderrohbauhöhe von 2,85  Metern und
circa  239  Quadratmeter Wohnnutzfläche
auf drei Etagen. Eine geräumige Garage ist
direkt in das Gebäude integriert.
Das Edition S 239 wird serienmäßig mit
der Wandkonstruktion »Öko-Line« gebaut.
Die Verwendung des natürlichen und nach-
wachsenden Rohstoffes Holz kommt unserem
Klima zugute. Und die sehr energiesparende
Bauweise bietet Möglichkeiten zu weitge-
hend autarker Eigenversorgung. Einen Film
zur ausführlichen Hausvorstellung Sie unter:
www.wolf-haus.de/edition-s-239
Tel. (09701) 9111-0
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Alle WOLF-Häuser werden ganz
individuell nach den Wünschen
der Bauherren geplant und Es gehört zu einer Marktwirtschaft, dass sich Preise verändern.
ausgestattet. Dazu gehört auch
die gesamte Haustechnik für
Manche Produkte werden teurer, andere billiger. Wenn sich aber
Ressourcenschonung und Komfort. die Gesamtheit der Preise erhöht, spricht man von Inflation.
Die muss nicht dramatisch sein, die Europäische Zentralbank
peilt sogar eine Inflation in Höhe von zwei Prozent an. Erst
darüber sei die Geldwertstabilität gefährdet. Eine Inflationsrate
wie in der Türkei, die je nach Berechnung bei 83 bis gut 180
WOLF-HAUS
EIN LEBEN LANG. Prozent liegt, bedeutet jedoch eine dramatische Geldentwertung.
Sie enteignet Sparer und lässt Menschen verarmen.
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
Diese 70-jährige Istanbulerin stand lange an für günstiges Brot
habe sich vor einer Woche auf einen Ausbildungs-
platz bei der Polizei beworben. Irgendwann ist
Merve vor einem schmalen Haus angekommen. Sie
klopft an eine dunkle Holztür, die sich sofort einen
Spaltbreit öffnet, und flüstert den zwei Jungs da-
hinter etwas zu. Die Tür geht auf, Merve schlüpft
hinein und verschwindet.
Fragt man Menschen wie Merve und den Wirt-
schaftswissenschaftler Ulusoy nicht nur nach der
Inflation, sondern auch nach der Verantwortung
ihrer Regierung, werden viele leiser, aus Angst vor
Ärger. Erdoğan, der seinem Land seit 2002 als
Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident einen
wirtschaftlichen Aufschwung beschert hat, kämpft
mittlerweile um dieses Vermächtnis. Er erklärt sei-
nem Volk nahezu täglich, dass er nichts für die In-
flation könne, dass die ganze Welt mit ihr zu kämp-
fen habe, dass es der Türkei im Grunde nicht anders
gehe als dem Rest Europas. Das stimmt einerseits,
andererseits sind die Zahlen in der Türkei, wenn
man denn der Regierung glaubt, um 73,45 Prozent-
punkte höher als in Deutschland. Wenn man sich
an Veysel Ulusoy hält, sogar 176,27 Prozentpunkte.
Erdoğans politischer Aufstieg war eng an den
wirtschaftlichen Aufschwung seines Landes gekop-
pelt. Millionen Menschen zogen in den vergangenen
20 Jahren aus ländlichen Gebieten in die umliegen-
den Städte und fanden Arbeit in den Fabriken, die
besonders am Marmarameer und in Anatolien ent-
standen. Der Lebensstandard der Menschen ver-
besserte sich. Zudem machten die günstigen Kredite
aus armen Bauern Städter mit Autos, Fernsehern
und Klimaanlagen. Zwischen 2002 und 2013 stieg
die Verschuldung der Privathaushalte in der Türkei
um das Zehnfache an. Und viele, vor allem die Ar-
beiter, die besonders oft Kredite aufgenommen
haben, gehören zur Stammwählerschaft Erdoğans.
Sie leben zum Beispiel in Düzce, etwa 250 Kilo-
meter nordöstlich von Istanbul. Tausende Bauern
zogen in den letzten Jahren in diese von grünen
Hügeln umschlossene Stadt und machten als
Schweißer, Schrauber und Lageristen aus dem klei-
nen Ort ein Wirtschaftszentrum mit 1,5 Millionen
Einwohnern. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen
erreichte Erdoğan hier über 70 Prozent der Stimmen.
Fuat Yildrim ist einer dieser Arbeiter. Er steckt
den Zündschlüssel, an dem eine kleine Türkei-
Fahne hängt, in seinen Fiat Punto und startet den
Wagen. Der 30-Jährige ist auf dem Weg zu einer
kleinen Fabrik etwa 20 Kilometer vom Stadt-
zentrum entfernt, um etwas zu tun, das er früher
für »rebellisch« und »falsch« hielt, aber mittler-
weile für unabdingbar: Fuat Yildrim streikt. Seit
acht Tagen kämpfen er und seine Kollegen, die
für die Firma Masdaf Pumpsysteme zusammen-
bauen, um höhere Löhne und um das Recht,
einer Gewerkschaft beizutreten.
Yildrim und seine Kollegen bekommen nur den
Mindestlohn, umgerechnet etwa 300 Euro im
Monat. Über 40 Prozent der Menschen in der Tür-
kei arbeiten für diesen Lohn, der laut dem Gewerk-
schaftsbund Türk-Is 20 Prozent unter der »Hunger-
grenze« liegt. Nach Berechnungen der Gewerkschaft
brauche man bei der aktuellen Inflation mindestens
6840 Lira zum Leben, also 374 Euro im Monat.
»Ich habe schon in der Monatsmitte kein Geld
mehr«, sagt Yildrim. Er rast über die staubigen
Preisexplosion
Preisexplosion
Preisexplosion
Steigerung zum Vorjahresmonat, in Prozent
Steigerung zum Vorjahresmonat, in Prozent
Türkei
Steigerung zum Vorjahresmonat, in Prozent
Türkei
Deutschland
Türkei
Deutschland
Deutschland
Jan. 2021
ZEIT- GRAFIK/Quelle: OECD
ZEIT- GRAFIK/Quelle: OECD
ZEIT- GRAFIK/Quelle: OECD
Straßen aus der Stadt hinaus. Ein rotes Gebets-
kettchen hängt an seinem Rückspiegel und rasselt
leise, während er über die Schlaglöcher brettert.
Immer wieder schaut er auf die Rückbank. Zwei
große Töpfe wackeln auf den Stoffsitzen hin und
her. »Meine Frau hat den ganzen Morgen für meine
Kollegen Sarma gemacht.« Die mit Reis gefüllten
Weinblätter bringt er jetzt zur Fabrik, wo seine
Kollegen das Gelände seit acht Tagen besetzen.
Er fährt von hinten an das Fabrikgelände, das
von einem hohen Stacheldrahtzaun umschlossen
ist, und schlägt zweimal auf die Hupe. Ein paar
Männer kommen an den Zaun. »Fuat, du Hund,
wo warst du so lange?«, fragt ein Kollege lachend.
Ein anderer nimmt einen der Töpfe entgegen, die
Yildrim über den hohen Zaun reicht. »Sarma!«,
rufen die Arbeiter, als sie den Topf öffnen.
Ihr Wortführer ist Ridvan Ates, 46 Jahre alt,
graue Haare, Adern ziehen sich über seine kräftigen
Unterarme. 64 Streikende seien sie in der Fabrik,
sagt Ates. Anfangs hätten sie noch in Zelten ge-
schlafen, aber die Sicherheitsleute der Fabrik hätten
sie ihnen weggenommen. Auch die Toiletten seien
abgesperrt worden. »Wenn wir das Gelände ver-
lassen, lassen uns die Sicherheitsleute nicht mehr
rein, und wir verlieren unseren Job«, sagt Ates. »Wir
haben nichts mehr zu verlieren. Wenn wir einfach
weiterarbeiten, als wäre nichts, können wir unsere
Familien nicht ernähren.«
Die meisten Männer hinter dem Zaun wählen
die AKP. Ihr Streik habe nichts mit Politik zu tun,
sagen sie. Wie viele Menschen in der Türkei glau-
ben sie Erdoğans Erzählung, er könne nichts für
die Krise im Land. Auch Ates wiederholt, was
Erdoğan immer wieder beschwört: Nur wenn die
Türken jetzt zusammenhalten, werden sie die
Krise überstehen. Fuat Yildrim und die Männer
um ihn herum nicken. Ihnen allen wird fünf
Tage später gekündigt, per SMS.
Nicht alle AKP-Wähler im Land sind ihrem
Präsidenten in der Krise so treu, das zeigen die ak-
tuellen Umfragewerte. Erdoğans Partei liegt knapp
unter 30 Prozent und damit so schlecht wie seit 15
Jahren nicht mehr. Die größte Oppositionspartei,
die CHP, liegt mittlerweile fast gleichauf. Die letz-
ten großen Wirtschaftskrisen in 1999 und 2001
zogen jeweils einen Regierungswechsel nach sich.
Für Erdoğan ist diese Krise im Land deshalb eine
echte Bedrohung: Im nächsten Jahr sind Wahlen.
Für viele Experten ist das die Erklärung, wa-
rum Erdoğan versucht, die Inflation im Land
kleinzureden. Der türkische Präsident befindet
sich in einer Zwickmühle. Würde Erdoğan die
Zinsen jetzt an die hohe Inflation anpassen, würde
das bedeuten, dass sich Kredite enorm verteuerten,
was wiederum die Nachfrage nach Gütern weiter
belasten dürfte. Umsätze würden also schwächer,
Investitionen weniger. Nur die Arbeitslosenzahlen
würden steigen. Auch der Ökonom Veysel Ulusoy
sieht das Risiko einer Rezession: »Für eine Wirt-
schaft, die derart auf billigen Krediten gewachsen
ist wie die türkische, wären mögliche Rezessions-
folgen fatal.« Erdoğans Zwickmühle lautet also:
Inflation oder Rezession.
Für Ulusoy ist die Sache klar: Erdoğan warte
bis zur Wahl. »Bis dahin erzählt er den Menschen
einfach, dass er nichts für die Inflation könne.«
48,7 %
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Jan. 2022
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WIRTSCHAFT 27
Fotos: David Carreno Hansen/plainpicture; Emin Ozmen/Magnum Photos/Agentur Focus; Demirtas/Bloomberg/Getty Images (v. l.)
Cranberrys auf einem Markt – das Kilo kostet 20 Türkische Lira (1,10 Euro)
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Und tatsächlich: Auf den schrillen Werbebild-
schirmen auf Busbahnhöfen, in Einkaufszentren
oder Innenstädten wird viel darüber berichtet, dass
auch in Deutschland oder England die Inflation
steige. Zahlen sieht man hingegen selten. Erdoğan
sei sogar bereit, kritisieren türkische Ökonomen,
das Vertrauen internationaler Investoren zu verlie-
ren, die sehen, dass die staatlichen Inflationswerte
nicht stimmen und sich der Präsident in einer selbst
gebastelten Wirtschaftstheorie verrennt. Erdoğan
riskiere mit diesem zögerlichen Kurs, sagt Ulusoy,
dass die Inflation das Land um Jahre zurückwerfe.
Es gibt aber auch noch Orte in der Türkei, an
denen diese Szenarien keine große Rolle spielen.
In der Ägäis-Region, fast 550 Kilometer südlich
von den Fabriken in Düzce, werden bald die ers-
ten Weintrauben reif. Das milde Mittelmeerklima
und die fruchtbaren Böden haben die Region vor
einer übermäßigen Industrialisierung bewahrt. Es
gibt noch viele kleine Bauern in der Gegend, die
ihr Geld allein mit dem Anbau von Obst, Mais,
Baumwolle und Oliven verdienen. Hektargroße
Olivenfelder wurden hier um die Landstraßen
und kleinen Dörfer angelegt. Die meisten der
Bäume sind älter als der türkische Staat und
Umwelten
stumme Zeugen einer Zeit, in der die Türken fast
ausschließlich von der Landwirtschaft lebten.
Tepecik ist türkisch für Hügel und der Name
eines kleinen Dorfes, das – wenig überraschend –
auf einem Hügel liegt. Etwa 200 Menschen
voraus.
wohnen hier, darunter der 23-jährige Furkan
Turkcan. Er ist der Sohn eines Bauern und mit
seinem älteren Cousin Serdar auf dem Weg zum
Familienfeld. Auf etwa 3000 Hektar bauen die
Turkcans Weintrauben und Mais an.
Während die beiden jungen Männer auf ihrem
Traktor ihre Ernte begutachten und eine Wasser-
pumpe reparieren, erzählen sie von der Freiheit, die
sie hier auf dem Land empfinden, von der wirt- Die Zukunft des CO₂-neutralen Fliegens nimmt Form an. Dafür setzen wir
schaftlichen Unabhängigkeit der Region, von der vielfältige Hebel in Bewegung. Zum Beispiel, indem wir unsere Flotte moderni-
Politik aus Ankara. Für die Cousins scheint es ein sieren, innovative Technologien verwenden und die Entwicklung nachhaltiger
Gesetz zu sein, dass die Krise hier bei ihnen nicht
Treibstoffe fördern. Zudem nutzen wir diverse Möglichkeiten zur Kompensation
ankommt. »Die Inflation ist nicht wirklich schlimm
unvermeidlicher CO₂-Emissionen. Um die Welt in Zukunft nachhaltiger zu
für uns«, sagt Serdar. Nur der Diesel für den Trak-
verbinden, verändern wir die Luftfahrt – let’s #MakeChangeFly.
tor sei etwas teurer geworden. »Alles, was wir sonst
zum Leben brauchen, bauen wir selber an oder
tauschen es mit den anderen Menschen im Dorf. lufthansa.com/makechangefly
Wir können unser Geld also sparen«, sagt er. Die
beiden Bauern hoffen, dass Erdoğan die Wahlen
im nächsten Frühjahr verliert. »Besonders diese
aggressive Außenpolitik bringt doch niemandem
40 %
20 %
60 %
80 %
Sept. 2022
83,5 %
etwas«, sagt Serdar.
In der Tat verschärft sich Erdoğans Ton gegen-
10,0 %
über den Griechen, Kurden und Armeniern seit ein
paar Monaten deutlich. Er setzt auf altbekannte
Mittel: Eine aggressive Außenpolitik soll den Zu-
sammenhalt der Türken stärken.
Doch die in der Vergangenheit so erfolgreiche
Jan. 2022
Gleichung wurde um eine Variable länger. Die
4,9 %
Türken sind wütend und werden immer wütender.
48,7 %
Noch, so scheint es, ist der Zorn vieler Bürger nicht
auf ihren Präsidenten gerichtet. Doch die Umfrage-
werte zeigen: Erdoğan wird schwächer. Derweil
beschwor er Anfang der Woche wieder die Einigkeit
seiner Bürger und verkündete: Die Inflation schade
der Türkei nicht. Jeder, der das anders sehe, mache
aus einem Floh ein Kamel.
15,0 %
1,0 %
Jan. 2021
83,5 %
80 83,5 %
Steigerung zum Vorjahresmonat, in Prozent
%
83,5 % 80 %
GewaltigeInflation
80 %
60 %
60 %
60 %
ZEIT- GRAFIK/Quelle: OECD
40 %
Deutschland
40 %
Türkei
40 %
20 %
20 %
10,0
20%%
Sept. 2022
Sept. 2022
Sept. 2022
28 WIRTSCHAFT 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Was ändert
sich jetzt bei
den Minijobs?
Wirtschaft in einem Satz
Warum lang, wenn es auch kurz geht?
Was diese Woche sonst noch los war

ZEIT für Geld Aufstieg: Das US-Geschäft der

Zum 1. Oktober 2022 erhalten Millionen
Menschen in Deutschland eine Gehalts-
erhöhung. Der Bundestag hat den gesetz-
lichen Mindestlohn auf 12 Euro pro
Stunde angehoben, bisher betrug er 10,45
Euro. Dieser Mindestlohn gilt allerdings
nicht für alle Bürger, die arbeiten gehen.
Auszubildende haben zum Beispiel kei-
nen Anspruch darauf. Praktikanten be-
kommen diesen Mindestlohn nur dann,
wenn sie ein freiwilliges Praktikum ma-
chen, das länger als drei Monate dauert.
Mit dem neuen Mindestlohn kom-
men auch neue Regeln für die weitver-
breiteten Minijobs, die rund sechsein-
halb Millionen Menschen ausüben. Fast
zehn Jahre lang galt die bisherige Höchst-
grenze für den Verdienst der geringfügig
Beschäftigten, nun wird sie angehoben.
Aus den 450-Euro-Jobs werden damit
520-Euro-Jobs.
Es ist absehbar, dass dieser Betrag schon
recht bald weiter erhöht werden wird.
Denn künftig wird sich die Gehaltsober-
grenze für Minijobs am jeweils aktuellen
Mindestlohn orientieren. Der Gesetzgeber
geht davon aus, dass Minijobber maximal
zehn Stunden in der Woche arbeiten. Das
schließt nicht aus, dass ein Minijobber
tatsächlich mehr als den Mindestlohn ver-
dient und mit weniger als zehn Arbeits-
stunden pro Woche auf den monatlichen
Höchstbetrag kommt.
Wer allerdings mehr als die erlaubten
520 Euro im Monat verdient, ist kein
Minijobber mehr. Damit ist er nicht mehr
von der Pflicht befreit, Beiträge zur gesetz-
lichen Krankenversicherung, zur Pflege-
versicherung und zur Arbeitslosenver-
sicherung zu zahlen. Auch entfällt dann
die Möglichkeit, dass der Arbeitgeber die
In unserer Kolumne beantworten wir jede Woche eine Geldfrage. Es schreiben im Wechsel: Die freie Autorin Mona Linke
und der langjährige ZEIT-Autor Rüdiger Jungbluth. Stellen Sie Ihre Fragen unter: www.zeit.de/geldfrage
Lohnsteuer pauschal für den Minijobber
bezahlt, sodass der sich darum nicht mehr
selbst kümmern muss. Es sind diese Vor-
teile, die den Minijob für Millionen Men-
schen attraktiv machen. Beträgt der Ver-
dienst mehr als die Obergrenze, gehen sie
grundsätzlich verloren. So war es auch
bisher geregelt, mit einer Ausnahme: Wenn
unvorhergesehene Mehrarbeit anfiel, durf-
te der Arbeitgeber dem Minijobber mehr
als die vorgesehenen 450 Euro pro Monat
auszahlen, allerdings nicht öfter als in drei
von zwölf Monaten.
Von Oktober an gilt eine neue gesetz-
liche Regelung für solche Fälle. Die neue
Verdienstgrenze von 520 Euro pro Monat
darf künftig nur noch höchstens zweimal
pro Jahr überschritten werden. Zusätzlich
wurde nun auch eine Obergrenze für den
Mehrverdienst festgelegt, nämlich eben-
falls 520 Euro. Anders gesagt: In zwei
Monaten pro Jahr darf der Minijobber
jeweils bis zu 1040 Euro verdienen, wenn
es sich dabei um unvorhersehbare Mehr-
arbeit handelt. Das ist etwa der Fall, wenn
er einen kranken Kollegen vertritt, nicht
aber, wenn er mehr Stunden arbeitet, um
eine Kollegin im Urlaub zu ersetzen. Da-
mit lassen sich nun auch klare Höchst-
grenzen für den Jahresverdienst einer
Minijobberin oder eines Minijobbers be-
stimmen. Im Normalfall ist ein Einkom-
men von 6240 Euro möglich, das nicht
durch Steuern und Beiträge für die Sozial-
versicherung geschmälert wird. Kann un-
geplante Mehrarbeit glaubhaft gemacht
werden, sind es maximal 7280 Euro, die
ein Minijob jährlich einbringen darf.
Manche Rentnerinnen und Rentner,
die einen Minijob haben, müssen aber
aufpassen: Wenn sie eine Rente wegen
deutschen Wirtschaft läuft besser denn je
– die Exporte bis August stiegen
voller Erwerbsminderung beziehen, dür-
fen sie höchstens 6300 Euro im Jahr hin-
auf 100,2 Milliarden Euro Abstieg:
zuverdienen – also etwa so viel, wie ein
Minijob ohne Mehrarbeit einbringt. Die
Regierungskoalition will diese Hinzuver-
Der Lieferdienst Gorillas steht laut
dienstgrenze von 2023 an auf 17.000
Euro erhöhen. Medienberichten kurz vor dem Verkauf
Die Hälfte aller Minijobber macht
diese Arbeit als Nebentätigkeit, wie die
für die Minijob-Zentrale zuständige an seinen türkischen Wettbewerber Getir
Knappschaft Bahn See im Frühjahr er-
mittelt hat. »Sie sind somit ebenfalls in
der Rentenversicherung voll abgesichert«,
Anstieg: BMW hat den Absatz von
E-Autos im Vergleich zum Vorjahr mehr
sagte Geschäftsführer Rainer Wilhelm.
Auch wer nur einen Minijob hat und
ansonsten keiner anderen Beschäftigung
nachgeht, ist im Normalfall in der gesetz-
lichen Rentenversicherung versichert. als verdoppelt und verkaufte bis Ende
Viel für die Alterssicherung bringen die
wenigen Arbeitsstunden zu niedrigen
Löhnen nicht, so viel ist klar. Nach An-
September rund 128.000 E-Fahrzeuge
gaben der Deutschen Rentenversicherung
erhöht sich die Rente später gerade mal
um 4,50 Euro im Monat, wenn man ein
Aufschlag: Wenige Monate nach der
Jahr lang im Minijob mit einem Monats-
verdienst von 450 Euro gearbeitet hat. letzten Erhöhung hat der Energieversorger
Wer nicht aus einer anderen Beschäfti-
gung eine Rente erwarten kann, dem wird
die Minijob-Rente also wenig helfen. EnBW die Gaspreise erneut stark
Viele Minijobber lassen sich darum
von der Rentenversicherungspflicht be-
freien, um den geringen Eigenbetrag von
angehoben – im Schnitt um 38 Prozent
3,6 Prozent ihres Verdienstes zu sparen.
Das ist aber kurzsichtig. Auch ein kleiner
Beitrag in die Rentenkasse sichert einem
Einschlag: Hacker haben Daten von etwa
Minijobber das Recht auf eine sogenannte
Erwerbsminderungsrente, wenn er zum 300.000 Toyota-Kunden erbeutet, wie der
Beispiel nach einem Arbeitsunfall nicht
mehr voll arbeiten kann.
Konzern in einer Mitteilung bekanntgab;
Ihr Rüdiger Jungbluth
unklar ist noch, ob auch deutsche
Kunden betroffen sind

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Triumph der Bankenversteher

Der Wirtschaftsnobelpreis geht an drei US-Ökonomen. Einer von ihnen
NEUE hat in der Finanzkrise womöglich den globalen Wohlstand gerettet
SERIE
Diese Geschichte kann man sich nicht ausdenken: das dein Verständnis so verändert, dass du die
Anfang der 1980er-Jahre beschäftigt sich ein junger Dinge nie wieder siehst wie zuvor.«
Ökonom an der Stanford University mit einer Im Kern geht es bei »D-D«, wie manche das
Wirtschaftskrise, die zu diesem Zeitpunkt schon Forscherduo abkürzen, um die Banken als Ver-
ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Der Assistenz- mittler zwischen widersprüchlichen Interessen: Auf
professor findet heraus: Die Weltwirtschaftskrise, der einen Seite gibt es Sparer oder Investoren, die
die 1929 mit einem Börsenkrach begann, ent- ihr Geld so anlegen wollen, dass sie bei Bedarf

Vom Haustraum
wickelte sich vor allem wegen der in Not geratenen
Banken zu einer lang anhaltenden, verheerenden
Depression. Etwa ein Vierteljahrhundert später
bekleidet jener Ökonom das mächtigste Amt im
kurzfristig darüber verfügen können. Auf der an-
deren Seite wollen Hauskäufer und Unternehmer
langfristige Kreditzusagen. Im Normalfall können
Banken beides miteinander verbinden. Doch wenn

zum
um
mTTraumhaus
Tr
weltweiten Finanzsystem – er leitet die Federal
Reserve, die amerikanische Notenbank. Und es
bahnt sich eine neue globale Wirtschaftskrise an.
Der Forscher, der jetzt Notenbankchef ist, weiß so
gut wie kein anderer, was zu tun ist: Er stabilisiert
die Banken, koste es, was es wolle. Und tatsächlich
gelingt die Rettung. Aus der Finanzkrise des Jahres
2008 wird keine neue Depression.
Der Mann, von dem die Rede ist, heißt Ben
Vom passenden Kredit bis zu Fördermöglichkeiten: Bernanke, er ist seit Anfang dieser Woche Träger
des Wirtschaftsnobelpreises. Und das hochver-
wie Sie jetzt noch an Ihr Traumhaus kommen. Verpassen dient, findet Olivier Blanchard: »Ben Bernanke hat
Sie nicht die große Serie in der WirtschaftsWoche. von allen lebenden Ökonomen den größten Bei-
trag zum weltweiten Bruttoinlandsprodukt ge-
leistet«, twitterte der ehemalige Chefökonom des
Internationalen Währungsfonds. »Ohne seine Ent-
scheidungen in der Finanzkrise wäre das BIP viel
Jetzt digital lesen und 4 Wochen testen: stärker kollabiert.« Deshalb habe Bernanke schon
aus rein finanziellen Gründen die Ehrung verdient.
wiwo.de/immo
Mit Bernanke zusammen wurden zwei weitere
Forscher aus den USA ausgezeichnet: Douglas Dia-
mond und Philip Dybvig. Alle drei hätten mit
ihrer Forschung dazu beigetragen, die Bedeutung
von Banken – und ihre Anfälligkeit für Krisen –
besser zu verstehen, erklärt das Preiskomitee. Dia-
mond und Dybvig entwickelten ebenfalls Anfang
der 1980er-Jahre ein theoretisches Modell, das
erklärt, warum Banken überhaupt existieren und
warum schon Gerüchte reichen, um sie zusammen-
brechen zu lassen. Das Forschungspapier von Dia-
mond und Dybvig sei genau die Art von Analyse,
die er liebe, erklärte ein anderer prominenter
Träger des Preises, der amerikanische Ökonom Paul
Krugman: »Ein vergleichsweise simples Modell,
Zweifel an ihrer finanziellen Solidität aufkommen
und alle Sparer gleichzeitig ihr Geld abheben
wollen, bricht auch die stärkste Bank zusammen.
Aus den Arbeiten von Bernanke, Diamond und
Dybvig lässt sich ableiten, dass der Staat Vor-
kehrungen treffen muss, um Banken vor einer
Pleite zu bewahren und sie im Notfall aufzufangen.
Weil solche Vorkehrungen wiederum einen Anreiz
schaffen, besonders riskant zu wirtschaften –
»Wenn’s schiefgeht, fängt uns der Staat auf« –,
braucht es auch eine Aufsicht, die in das Bank-
geschäft eingreifen kann. Die Preisträger hätten die
Grundlagen für die moderne Bankenregulierung
gelegt, erklärt das Nobelkomitee.
Bei allem Lob für die Preisträger gibt es auch
Kritik. Bernankes Rolle als Retter in der Finanz-
krise ist umstritten, schließlich war er vor ihrem
Ausbruch schon im Amt. Ist er nicht für sie mit-
verantwortlich? Und eine Bank ließ er damals
spektakulär untergehen: Lehman Brothers. Der
deutsche Ökonom Peter Bofinger kritisiert auch
das Bankenmodell von Diamond und Dybvig als
überholt. Banken könnten unabhängig von den
Spareinlagen eine Kreditblase erzeugen.
Und besonders kritische Zeitgenossen weisen
nach jedem Bericht über den Wirtschaftsnobel-
preis darauf hin, dass er gar kein richtiger Nobel-
preis sei. Denn er stammt nicht aus dem Ver-
mächtnis des Dynamit-Erfinders Alfred Nobel,
sondern wurde 1968 als Nobel-Gedächtnispreis
von der Schwedischen Nationalbank gestiftet.
Über die Vergabe entscheidet aber die Königlich
Schwedische Akademie der Wissenschaften – wie
bei allen Nobelpreisträgern. KOLJA RUDZIO
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& ROHSTOFFE| |Ein
EinSpezial
Spezialdes
desZeitverlags
Zeitverlags 2

ENERGIE & ROHSTOFFE

Warum unser Strom zukünftig aus dem Meer kommt

MICHAEL PRELLBERG
Noch ist Deutschland abhängig
von Gas und Öl – und damit von
deren Lieferanten. Ändern lässt
sich das nur, wenn die Energie-
wende forciert vorangetrieben
wird. Dafür geht es raus aufs
Meer: Windparks auf hoher See
gibt es längst, nun erobern auch
Solarparks das Wasser.
Wie nah dürfen Windräder an
Dörfer rücken? 1000 Meter? 800
Meter? Oder nur 300 Meter wie in
Großbritannien? Solche Fragen,
seit Jahren erbittert diskutiert,
verzögern die Energiewende. Da-
mit der Ausbau der regenerativen
Energien nicht vollends erlahmt,
wird zunehmend auf Offshore-
Windparks ausgewichen: Bereits
18 Prozent der in Deutschland
erzeugten Windenergie stammen
von Windparks auf hoher See. Da
sind die nächsten Anwohner weit,
weit entfernt.
Bei Solarenergie gibt es ähnliche
Probleme, seitdem Äcker in Solar-
parks umgewandelt werden. »Es
tut schon weh, wenn Solarfelder
da gebaut werden, wo eigentlich
Kartoffeln, Getreide oder Zucker-
rüben wachsen könnten«, sagt bei-
spielsweise Bernd Weber, Sprecher
des hessischen Landesbauern-
verbands. Erste Projekte werden
bereits gekippt, weil – nicht nur –
Landwirte der Meinung sind, dass
Äcker und Felder andere Aufgaben
haben.
Mit Solarparks aufs Wasser
auszuweichen, heißt also: Streit
vermeiden. Allerdings ist der Um-
zug ins Maritime nicht so leicht
Stromtrassen
umgesetzt wie bei Windrädern:
bringen Ökostrom Die müssen zwar besonders stabil
aus den Offshore- im Meeresboden verankert wer-
Anlagen zur den den, liefern dafür aber verläss-
lich mehr Energie als Windkraft-
Verbrauchern anlagen auf dem Land. Das wäre
auf dem Festland bei schwimmenden Solaranlagen
ähnlich: »Photovoltaik liebt zwar
Sonne, aber keine Wärme«, sagt
Harry Wirth, Experte am Fraun-
hofer Institut für Solare Energie-
systeme (ISE). »Auf dem Wasser
herrschen kühlere Temperaturen,
das steigert den Ertrag.«
Allerdings gibt es auf dem
Wasser ordentlich Wellengang,
und das ist eine Herausforderung
Solaranlagen auf hoher
See überstehen selbst
Winterstürme und zehn
Meter hohe Wellen
für die Solarmodule, die auf luft-
gefüllten Containern fi xiert wer-
den. Folgerichtig sind die ersten
Pilotanlagen nicht auf dem Meer,
sondern auf Seen entstanden.
Diese Idee wird parallel zu den
Offshore-Anlagen weiterverfolgt:
Wo früher Braunkohle oder Kies
abgebaut wurde, lassen sich auch
in Deutschland künstliche Seen
bilden und mit Solarmodulen be-
stücken. An Binnengewässern
mangelt es nicht: Würden alle ge-
nutzt, könnten laut einer Fraun-
hofer-Studie bis zu 44 Gigawatt
erzeugt werden – das ist mehr als
heute insgesamt an Solarenergie
produziert wird.
Gleichwohl gibt es weltweit –
etwa in norwegischen Fjorden
oder der an der Küste Kretas –
erste Projekte, die sich tatsächlich
raus aufs Meer trauen. Und vor der
belgischen Nordseeküste wird die
»Merganser«-Plattform entstehen,
deren Module mehrere Meter über
dem Wasser den Wellen folgen.
Auf diese Weise blieben wichtige,
elektrische Komponenten trocken,
sauber und stabil.
Im Moment geht es um die
Frage: Klappt das technisch? Da-
mit sich Offshore-Solarparks auch
fi nanziell lohnen, müssen sie auf
hoher See in der Nähe der Wind-
parks installiert werden. Der Vor-
teil: Die Infrastruktur vom Strom-
anschluss bis zu den Schiffen für
Liegt die Zukunft
der Solarenergie
auf dem Wasser?
Die ersten Pilot-
anlagen auf dem
Meer liefern
bereits verlässlich
Strom. Idealer-
weise nutzen sie
dafür dieselbe
Infrastruktur wie
Off shore-Wind-
parks.
Wartungsarbeiten ist bereits vor- seit 2019 rund 15 Kilometer vor erste Experten bereits für Deutsch-
handen; die Kosten dafür werden der niederländischen Küste land, Offshore-Solarparks könn-
auf mehr Anlagen verteilt, was schwimmt, hat bereits mehrere ten schon 2030 mehr Ökostrom
den produzierten Strom billiger Winterstürme mit bis zu zehn produzieren als alle Solarmodule
macht. Meter hohen Wellen und Wind- an Land zusammen. Und auf den
Erste Erfahrungen sorgen für geschwindigkeiten von mehr als Äckern wachsen weiter Gerste
Optimismus. Die Pilotanlage des 100 Kilometer pro Stunde über- und Weizen, Zuckerrüben und
Startups Oceans of Energy, die standen. Folgerichtig prophezeien Kartoffel. 

Wie schaffen wir es, dass

Wasserstoff »grün« wird?
MICHAEL PRELLBERG Was bislang eine
Pipeline für Gas
ist, könnte künftig
Wenn sie weg sind, sind sie für Wasserstoff
weg: Es empfiehlt sich ein genutzt werden:
Vieles an der
vorsichtiger Umgang mit benötigten Infra-

Was reimt sich auf Stahl?

Rohstoffen, egal ob es sich um struktur für die re-
Erdöl, Kohle oder Lithium generative Energie
liegt bereits vor.
handelt. Bei Wasserstoff sieht
das anders aus: Er ist das

Dank Wasserstoff:
häufigste Element im Uni-
versum. Daher drängt es sich
geradezu auf, Wasserstoff als bei wird reichlich Kohlendioxid aufgenommen. »Je schneller wir
Energieträger zu nutzen. (CO2) freigesetzt. Wird das Koh- mit dem Wasserstoff sind, desto

Mehr noch: Wasserstoff kann die
Energiewende beschleunigen, in-
dem er Erdgas, Erdöl und Kohle
als Energieträger ablöst. Wasser-
stoff kann überall dort eingesetzt
werden, wo mehr gefragt ist als
Strom aus der Steckdose – vor al-
lem in der Industrie. So setzen die
energie-intensiven Aluminium-
und Stahlwerke auf Wasserstoff.
Aber bitte nicht irgendwelchen
Wasserstoff. Die Politik macht
klare Vorgaben und fordert grü-
nen Wasserstoff, der aufwändig
per Elektrolyse gewonnen wer-
den muss. Denn Wasserstoff gibt
es nicht in Reinform, sondern
vor allem in Wasser gebunden,
chemisch: H2O, also zwei Atome
Wasserstoff auf ein Sauerstoff-
atom. Um Wasser per Elektrolyse
in H2 und O zu spalten, muss viel
Energie eingesetzt werden. Und
die muss aus regenerativen Quel-
len wie Sonne und Wind kommen.
Zumindest, wenn der Wasser-
stoff »grün« sein soll. Es gibt ihn
auch in anderen Farben: »Grauer«
Wasserstoff wird aus Methan und
damit aus Erdgas gewonnen. Da-
lendioxid gebunden, spricht man
von »blauem« Wasserstoff. Hat
dieses gebundene CO2 eine feste
Form, ist der Wasserstoff »türkis«–
also fast schon grün.
Neun Milliarden Euro stellt
die Bundesregierung insgesamt
für Wasserstoff projekte zur Ver-
Wasserstoff heißt:
Abschied nehmen
vom Gas
fügung, bislang gibt es nur Pilot-
und Testanlagen. In Duisburg er-
probt thyssenkrupp die Technik
an einem Hochofen. Und bereits
seit 2015 produziert der Energie-
park Mainz grünen Wasserstoff
mit Strom aus Windenergie. Das
reicht, um wasserstoff-betriebene
Busse durch Mainz zu schicken.
Bescheidene Anfänge, dabei
hat man hierzulande viel vor.
»Deutschland soll bei Wasserstoff-
technologien die Nummer 1 in der
Welt werden«, sagte der damalige
Bundeswirtschaftsminister Peter
Altmaier schon vor drei Jahren.
Jetzt wird dabei so richtig Tempo
klimaneutral.
weniger brauchen wir noch Gas«,
sagte der amtierende Bundeswirt-
schaftsminister Robert Habeck
nach dem russischen Einmarsch
in der Ukraine. In Deutschland
will die Bundesregierung bis 2030
eine Elektrolysekapazität von
mindestens zehn Gigawatt auf-
bauen – bis dahin ist es noch ein
ausgesprochen weiter Weg.
Doch grüner Wasserstoff muss
ja nicht in Deutschland selbst
entstehen. Die Bundesregierung
setzt auf internationale Koopera-
tionen und schließt bereits heute
strategische Partnerschaften ab.
»80 Prozent des Bedarfs an grü-
nem Wasserstoff werden impor-
tiert werden müssen«, schätzt
Klaus Schäfer, Vorstand im In-
teressenverband Dechema. Pa-
rallel dazu entsteht in der Euro-
päischen Union ein »European Klimaneutrale Stahlproduktion – wir machen es möglich. Mit grünem
Hydrogen Backbone« – ein was- Wasserstoff, der emissionsfrei erzeugt, gespeichert und flexibel eingesetzt
serstoff fähiges Pipelinenetz für
werden kann. Mit Vollgas treiben wir diese Zukunftstechnologie schon heute in
ganz Europa. Das Gute daran:
So viele neue Pipelines müssen über 30 Projekten voran – wie etwa GET H2, Eemshydrogen und AquaVentus.
dafür gar nicht gebaut werden. Von der Erneuerbaren Energie über die Produktion bis zu Speicherung und
Wasserstoff bewegt sich auch Transport von grünem Wasserstoff arbeiten
eiten wir daran,
daran saubere Energie
gern in in den bereits existieren-
europaweit verfügbar zu machen.
den Gas-Pipelines. 

IMPRESSUM Verlag: ZEIT Verlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Helmut-Schmidt-Haus, 20095 Hamburg; Geschäftsführung:
Dr. Rainer Esser; Art Direction: Kay Lübke, Dietke Steck; Realisierung: Studio ZX GmbH – Ein Unternehmen der ZEIT Verlagsgruppe; Projekt-
management: Flemming Holm; Redaktion: Michael Prellberg; Grafik: Sonja Feldkamp; Lektorat: Sabine Witt; Bilder: iStockphoto.com – Petmal /
georgeclerk / zhongguo; Produkt-Brandmanagement: Doris Bielstein Chief Sales Officer ZEIT Verlagsgruppe: Rainer Esser Director Sales Consumer
& Corporate Brands: Michael Zehentmeier, Tel.: 040 / 3280-310 michael.zehentmeier@zeit.de; Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 16 vom 1. Januar 2022
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Twitter ․ Bildung ․ Klimawandel ․ Schach ․ Ökologie ․ Geschichtswissenschaft ․ Infografik: Musikindustrie
2 8 0 Z E IC H E
Viele Forscher lieben Twitter. Wie wirkt sich das auf ihre Arbeit aus?
Und was passiert, wenn Elon Musk den Kurznachrichtendienst kauft? VON MAXIMILIAN PROBST
W
enn zwei füreinander bestimmt
scheinen, sich dann aber trennen
oder erst gar nicht zusammen-
finden, ist das ein Trauerspiel.
Umso schöner sind die umge-
kehrten Fälle: die Paare, bei de-
nen niemand erwartet hat, dass
ausgerechnet diese beiden miteinander ... So wie bei
Twitter und der Wissenschaft.
2006 startete Twitter als Kurznachrichtendienst, die
Textlänge der einzelnen Nachrichten, die dort Tweets
heißen, war auf 140 Zeichen begrenzt. Kurz und zackig,
war das Motto. Man tritt der Wissenschaft nicht zu nahe,
wenn man sagt: Sie mag es lieber ausführlich und länger
durchdacht. Doch ihr Interesse wuchs, als der Dienst
zehn Jahre später die erlaubte Länge der Tweets ver-
doppelte und es möglich machte, einzelne Botschaften zu
längeren Einheiten zu verknüpfen. Seither lassen sich dort
auch komplexe Sachverhalte schildern und diskutieren –
und Twitter wurde zu einem Medium, das auch Forscher
und Forscherinnen lieben lernten.
Die Pandemie gab der zarten Verbindung schließlich den
Segen: Wissenschaftler teilten und erörterten auf Twitter
ihre Erkenntnisse fast in Echtzeit. Ein großes Laienpublikum
schaute ihnen dabei höchst interessiert zu oder fühlte sich
berufen, gleich ein Wörtchen mitzureden. Mehr als die
Hälfte aller wissenschaftlichen Paper zu Covid wurden auf
Twitter erwähnt, ergab eine Auswertung von Forschern der
Universitäten Leiden und Sheffield. Insgesamt stieg während
der Pandemie die Zahl der Erwähnungen von Forschungs-
arbeiten auf Twitter um knapp ein Drittel.
Doch was heißt das für die Wissenschaft, wenn Forsche-
rinnen und Forscher über ein so schnelllebiges und persona-
lisiertes Medium kommunizieren? Wie wichtig ist Twitter
für die Wissenschaft auch jenseits von Corona? Und was
bedeutet es für sie, wenn nun nach langem Gezerre der
umstrittene Tech-Unternehmer Elon Musk die Plattform
übernimmt und womöglich radikal umgestaltet?
Illustration: Jan-Peter Thiemann/ZEIT-Grafik
Sebastian Sevignani, der an der Uni Jena zum digitalen
Strukturwandel der Öffentlichkeit forscht, sieht das Zu-
sammenspiel von Twitter und Wissenschaft ambivalent. Das
Medium beschleunige den Betrieb und führe zu einer höhe-
ren Transparenz: »Früher hat man sich einmal im Jahr auf
einer Konferenz gesehen, jetzt gucken sich alle ständig gegen-
seitig über die Schulter«, sagt der Soziologe. Das sei gut,
könnte aber auch dazu führen, »dass vermehrt nach Erkennt-
nissen geforscht wird, die auf Twitter funktionieren, die stark
verkürzt werden können und die dem Zeitgeist nahe sind«.
Mehr Wissen
Wer Fake-News bei Twitter verbreitet, hat Nir Grinberg von der Ben-Gurion-Universität erforscht. Für 80 Prozent aller Falschinformationen waren 0,1 Prozent
der Nutzer verantwortlich, ergab seine 2019 in der Fachzeitschrift »Science« veröffentlichte Studie. Er sagt: Twitter hat ein Superspreader-Problem.
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
WISSEN
N W
Um den Stellenwert von Twitter für die Wissenschafts-
gemeinde besser einzuschätzen: Der Informationswissen-
schaftler Rodrigo Costas von der niederländischen Univer-
sität Leiden errechnete in einer Studie aus dem Jahr 2020,
dass vor der Pandemie weltweit mindestens 2 Prozent der
Wissenschaftler einen Twitter-Account hatten. In den USA
und Europa waren es immerhin 20 Prozent. Durch die
Pandemie dürften diese Zahlen gestiegen sein, sagt Costas.
Die Twitter-Affinität der einzelnen Fachbereiche unter-
scheidet sich extrem. In einer neuen, noch unveröffentlichten
Studie hat Costas mit Kollegen fast 500.000 Accounts von
Wissenschaftlern auf Twitter analysiert. Das Ergebnis: Mehr
als die Hälfte der Wissenschaftler befasst sich unmittelbar
mit dem Leben, also mit der Medizin (28 Prozent), der Bio-
logie (15 Prozent) und der Psychologie (9,5 Prozent). Die
Umweltwissenschaften, Ökonomie und Soziologie liegen mit
je 3,5 Prozent im Mittelfeld, es folgen Kunst, Geschichte,
Philosophie und Mathematik, mit Werten unter 2 Prozent.
Ähnlich ungleich verteilen sich die forschenden Twitterer
auf die Länder: Fast die Hälfte kommen aus den USA und
Großbritannien, nämlich 31 und 16 Prozent. Auf Deutsch-
land entfallen gerade mal 4 Prozent.
Das klingt nach wenig – doch einzelne twitternde Wissen-
schaftler haben eine enorme Reichweite. Und sie erreichen
über das Medium gezielt Menschen, die ihre Botschaft
weitertragen: Journalistinnen und Journalisten.
Hierzulande ist etwa die Virologin Melanie Brinkmann
von der TU Braunschweig als Twitter-Nutzerin bekannt.
Die Plattform dient ihr zur Vernetzung mit Kolleginnen,
Wissenschaftsorganisationen und Vereinen, aber auch mit
Fachzeitschriften und Journalisten. Die Diskussionen unter
Wissenschaftlern empfindet sie oft als »sehr informativ und
hilfreich«. Sie nutzt Twitter aber auch als Senderin: »Ich
fasse dort unsere Studien zusammen und teile andere Studien
und Artikel, die mir wichtig für Wissenschaft und Gesell-
schaft erscheinen.« Derzeit folgen rund 150.000 Nutzer
ihrem Account. Das ist fast das Doppelte der Printauflage
der Welt. Noch viel mehr Menschen folgen dem Virologen
Christian Drosten auf Twitter: rund eine Million. Das ent-
spricht der Auflage der größten deutschen Nachrichten-
magazine Spiegel und stern zusammen.
Und es kommt zu vielfältigen Wechselwirkungen mit
den alten Medien. Im Journalismus ist es üblich gewor-
den, via Twitter die Arbeit von Experten zu verfolgen.
Die Fachleute wiederum richten ihre Kommunikation
teils direkt auf Journalisten aus. Letztere vermitteln die
neuen Erkenntnisse dann dem Publikum ihres jeweiligen
Mediums. Nicht selten wird wörtlich zitiert, wer was auf
Links zu den Quellen der Themen dieser WISSEN-Ausgabe finden Sie unter www.zeit.de/wq/2022-42
NS
SE
I S
Twitter gesagt hat. Sogar in vielen Nachrichtensendungen
werden Tweets eingeblendet.
Dass dieses enge Verhältnis von Wissenschaft, Twitter und
klassischen Medien nicht immer vorteilhaft ist, zeigte sich auf
besonders drastische Weise im ersten Pandemiesommer. In
einem mittlerweile berühmten Tweet hatte Christian Drosten
auf ein Forschungsergebnis seines Labors hingewiesen, wo-
nach Kinder und Erwachsene bei Corona-Infektionen weit-
gehend dieselbe Viruslast aufweisen könnten. Eine Infor-
mation, die die politische Debatte um die Schulschließungen
nachhaltig prägte, weil sie deren Sinn zu bestärken schien.
Nur: Der Hinweis basierte nicht auf einer von Fach-
kollegen überprüften Studie, sondern ging auf Daten zurück,
die Drosten auf den Charité-Server hochgeladen hatte, eine
Vorpublikation, die dem Zeitdruck in der Pandemie ge-
schuldet war. Andere Wissenschaftler kritisierten Drostens
Interpretation der Daten, auch per Twitter. So weit nicht
ungewöhnlich – bis sich Bild einschaltete, einzelne Zitate aus
Tweets an Drosten schickte und ihn aufforderte, innerhalb
einer Stunde Stellung zu nehmen. Der Virologe lehnte ab,
und Bild verriss die Studie auch mithilfe der Twitter-Zitate.
Bis heute sieht sich Drosten mit dem Vorwurf konfrontiert,
vorschnell und unsauber kommuniziert und damit das
Vertrauen in die Wissenschaft beschädigt zu haben.
Und war die Wissenschaftskommunikation auf Twitter
bislang schon herausfordernd, so könnte sie durch dessen
neuen Eigentümer Elon Musk noch schwieriger werden. In
Tweets und Interviews deutete Musk bereits die Richtung
der Veränderung an: Er will Twitter zu einer Super-App
ausbauen, nach dem Vorbild des chinesischen Dienstes
WeChat. Dort kann man nicht nur – kritisch beäugt vom
autoritären Staat – kommunizieren, sondern alles Mög-
liche erledigen: einen Arzttermin machen, ein neues Auto
kaufen, eine Reise buchen. Hinzu kommt, dass Musk ein
großzügiges Verständnis von Meinungsfreiheit hat. Um
die zu befördern, will er etwa den Ex-Präsidenten Donald
Trump, den Twitter ausschloss, nachdem seine Anhänger
das Kapitol gestürmt hatten, wieder auf die Plattform
holen. Nehme man beides zusammen, sagt Sebastian
Sevignani, der Soziologe aus Jena, folge daraus: »Es wird
auf Twitter mehr Kommerzialisierung und mehr populis-
tische Kommunikation und Inhalte geben.«
Laut Sevignani liegt dieser Schritt nahe. Populismus sei
lukrativ: Für Anzeigenkunden, die das Hauptgeschäft von
Social-Media-Diensten ausmachen, sei es wichtig, dass die
Nutzer häufiger auf die Plattform gehen und auf Inhalte
reagieren. »Ständige Hypes, etwa durch skandalöse Tweets,
steigern den Wert des Mediums«, sagt der Soziologe.
31
AFT
CH
Ist ein solches Twitter für Wissenschaftler dann überhaupt
noch das richtige Umfeld?
Melanie Brinkmann sagt dazu: »Man muss jetzt sehr
genau hinschauen, wie sich das Netzwerk unter Musk ent-
wickelt.« Und der Informationswissenschaftler Rodrigo
Costas von der Universität Leiden meint: »Vielleicht ver-
schwindet Twitter eines Tages, aber die digitale Inter-
aktion wird bleiben, und die muss besser werden, egal
wo.« Das Netzwerk, klagen viele, ist durch ein hohes Maß
an Aggressivität gekennzeichnet. Ebenfalls problematisch
für die Wissenschaftskommunikation, die ein sachorien-
tiertes Umfeld braucht: Fake-News verbreiten sich einer
Studie von 2018 zufolge auf Twitter schneller und weiter
als belastbare Informationen aus seriösen Quellen.
Ein zurzeit viel diskutiertes Mittel dagegen lautet: Imp-
fen, und zwar im übertragenen Sinn. Also Menschen in die
Lage versetzen, Fake-News abzuwehren. Ein führender
Experte auf diesem Gebiet ist Jon Roozenbeek vom Cam-
bridge Social Decision-Making Lab. Forschern, die Wissen-
schaftskommunikation betreiben, rät er, vom Debunking,
dem nachträglichen Entlarven falscher Behauptungen, zum
Prebunking überzugehen, mögliche Einwände also vorweg-
zunehmen. Twitter hat das selbst erprobt. 2020 schickte das
Unternehmen die Botschaft an die Nutzer, sie würden im
Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl »unbestätigten Be-
hauptungen begegnen, dass die Briefwahl zu Wahlbetrug
führt«. Roozenbeek hat mit Studien gezeigt, dass eine solche
Informationsimpfung die Resilienz gegen Manipulation
signifikant stärkt.
Die Politökonomin Maja Göpel, die vergangene Woche
auf Deutschlands größter Fachtagung zur Wissenschafts-
kommunikation den Keynote-Vortrag hielt, findet dagegen
den Algorithmus von Twitter entscheidend. Der sei jetzt so
eingestellt, »dass emotionalisierende und agitierende Tweets
nach oben gespült werden«. Auch das sei ein Grund, »weshalb
Leute da so herumholzen«.
Der Soziologe Sebastian Sevignani möchte direkt einen
Schritt weitergehen. Dass eine einzelne Person wie Elon Musk
eine Plattform von der Bedeutung Twitters kaufen kann, sei
bereits grundlegend falsch. Sevignani schwebt ein staatsfernes,
zivilgesellschaftlich verankertes öffentlich-rechtliches Twitter
vor. »Die sozialen Medien sind für die demokratische Öffent-
lichkeit zu wichtig«, sagt er, »um sie ganz dem Markt oder
dem Goodwill von Einzelnen zu überlassen.«
Kurz: Zwischen Twitter und der Wissenschaft läuft es,
und es kriselt zugleich, man schaut sich schon nach Neuem
um und hat doch zusammen mächtig Potenzial. Wie in einer
Ehe halt. Und wer weiß, wie lange die noch hält.
32
»Die meisten schweigen«
Regierungstreue Uni-Präsidenten, spitzelnde Dozenten und untätige Professoren – die iranische Astrophysikerin
Encieh Erfani klagt das Führungspersonal der Universitäten ihres Heimatlandes an
DIE ZEIT: Frau Erfani, wir erreichen Sie bei einem
Forschungsaufenthalt im Ausland. Sie lehrten bis
vor Kurzem an einer Universität im Iran, haben aber
am 23. September öffentlichkeitswirksam gekün-
digt. Warum?
Encieh Erfani: Auslöser waren die Worte der Studie-
renden in den ersten Tagen der Proteste, die ich in
vielen Videos hörte. Die jungen Menschen schrien
wütend, dass wir Professoren immer nur schweigen
würden, obwohl auf den Straßen das Blut fließt. Da
war mir klar, dass ich mich entscheiden muss. Will
ich als Angestellte des Ministeriums für Wissen-
schaft, Forschung und Technologie auf der Seite der
iranischen Regierung stehen? Oder will ich mich mit
den mutigen Studierenden solidarisieren? Ich war
nicht vor Ort, konnte nicht mitdemonstrieren – aber
ich wollte ein deutliches Zeichen setzen.
ZEIT: An wen schickten Sie Ihre Kündigung?
Erfani: An alle Fakultätsmitglieder und Physik-
studentinnen und -studenten, denen ich laut Uni-
Regularien schreiben durfte. Ich schrieb, dass ich
nicht länger unter diesem brutalen Regime leben
und arbeiten könne. Zu dem Zeitpunkt war ich bei
einer Konferenz in Italien. Nach wenigen Stunden
bekam ich besorgte Nachrichten von Freunden aus
aller Welt: Was, du hast gekündigt? Jemand hatte
meine Mail auf Twitter veröffentlicht, dort wurde
sie tausendfach geteilt. Ich rief meinen Bruder im
Iran an, weil ich mir große Sorgen um die Familie
machte. Er hatte bereits einen Anruf von der
Sicherheitspolizei bekommen, die wissen wollte,
wo ich bin.
ZEIT: Ihre Hochschule, eine große technische Uni-
versität, liegt rund 300 Kilometer von Teheran ent-
fernt. Wie hat die reagiert?
Erfani: Gar nicht. Nur mein E-Mail-Account und
der Zugang zum Uni-Server wurden sofort blockiert.
Damit hatte ich gerechnet. Was mich überrascht:
Niemand meiner Kolleginnen und Kollegen hat sich
seitdem bei mir gemeldet. Niemand! Obwohl wir
teilweise gut befreundet und manche durchaus re-
gierungskritisch waren. Im ganzen Land hat nur eine
Handvoll Professoren den gleichen Schritt gewagt
wie ich. Die meisten schweigen aus Angst um ihre
Karrieren und ihre Familien.
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Der Karrieretag
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WISSEN 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Bildung
Schülerinnen
einer Mädchenschule
im Iran protestieren
gegen das Regime, indem
sie ihre Kopftücher
abnehmen und »Tod dem
Diktator!« rufen
Fotos: abaca/picture alliance/dpa; privat (u.)
ZEIT: Aber es gibt doch Lehrende an der Scharif-
Universität in Teheran, die sich der Polizei entgegen- System und tinnen trauen sich, innerhalb der Universitäten
ihren Hidschab runterzureißen, davon kursieren
Kollegen. An der Scharif-Universität haben diese
Wissenschaftler Listen über die Demonstrierenden
stellen. Täuscht der Eindruck, dass die Wissenschaft
sich breit mit den Studierenden solidarisiert? Person viele Videos online. Das gab es bisher noch nie!
ZEIT: Sie tragen ebenfalls kein Kopftuch. Wann
geführt und an die Polizei weitergegeben. Und noch
etwas will ich unbedingt erwähnen: Auch im Aus-
Erfani: Bei den Protesten haben sich die Professoren haben Sie es abgelegt? land arbeiten einige iranische Forscher für das
und Dozenten überhaupt nicht beteiligt. An der Erfani: 2012 habe ich an der Universität Bonn meine Mullah-Regime. Sie durchforsten die Social-Media-
Scharif-Universität haben einzelne versucht, die Stu- Hunderte Universitäten, Promotion beendet und bin in den Iran zurück- Kanäle ihrer Landsleute und bedrohen sie per Mail,
dierenden punktuell zu schützen. Aber keiner der 3,6 Millionen Studierende, davon gekehrt. Seitdem habe ich auf keiner internationa- wenn sie kritische Äußerungen finden. Deutsche
Uni-Angestellten stimmte in die lauten Rufe nach knapp 1,7 Millionen Frauen: Der len Konferenz mehr Kopftuch getragen. Ich wusste Forschungseinrichtungen sollten sich darüber im
Freiheit ein. Immerhin ein kleines Zeichen der poli- Hochschulsektor im Iran ist groß. immer, dass ich damit meinen Job riskiere. Klaren sein – und genau prüfen, wen sie aus dem
tischen Auflehnung gibt es, einen Streik. Lehrende Stark sind vor allem die Natur- und ZEIT: Iranische Universitäten schneiden in interna- Iran zu sich einladen.
verschiedener Hochschulen haben erklärt, dass sie Ingenieurwissenschaften. Einige tionalen Rankings sehr gut ab. Wie passen das hohe ZEIT: Nach Beginn des russischen Angriffskriegs
erst wieder unterrichten werden, wenn ihre Studie- Hochschulen, wie die Scharif-Uni- wissenschaftliche Niveau und ein derart repressives hat Europa alle wissenschaftlichen Kooperationen
renden freigelassen werden. versität für Technologie in Teheran, Bildungssystem zusammen? mit Russland gekappt. Wäre das auch richtig mit
ZEIT: Reicht das aus Ihrer Sicht? schneiden in internationalen Rankings Erfani: Dafür muss man verstehen, dass den Iranern, Blick auf den Iran?
Erfani: Nein! Die Professoren könnten gesammelt in sehr gut ab. Zehntausende iranische vor allem den Iranerinnen, klar ist: Der Weg zu mehr Erfani: Junge, kluge Studentinnen und Studenten
einen unbefristeten Generalstreik treten, bis echte Studierende gehen dennoch jedes Freiheit führt nur über Bildung. Wer keinen Stu- im Iran erheben ihre Stimme, werden weggesperrt
Reformen auf den Weg gebracht werden. Alles an- Jahr für Master oder Promotion ins dienplatz an einer guten Universität ergattert, be- und umgebracht – und im Westen redet man schon
dere ist lächerlich. Ausland, vor allem in die USA, die kommt keinen Job. Daher strengen sich viele in wieder über Sanktionen. Das macht mich so
ZEIT: Unter welchen Bedingungen studieren junge Türkei und nach Deutschland. Schule und Studium enorm an. Die Begabtesten wütend! Wer wird am Ende unter den Sanktionen
Frauen im Iran? können zum Forschen sogar ins Ausland gehen. Und leiden? Wieder nur das iranische Volk. Ich habe
Erfani: Es gibt an den meisten Universitäten eine Encieh Erfani, 40, war Assistenz- ja, das fachliche Niveau der Studiengänge ist hoch. zum Beispiel aufgrund der Sanktionen im Banken-
strenge Kleiderordnung, Frauen müssen einen Hi- professorin am Fachbereich Physik Viele iranische Professoren sind international gut sektor nicht mal eine Kreditkarte. Nun sitze ich im
dschab tragen. Auf der Straße sind bunte Kopf- am Institute for Advanced Studies in vernetzt, haben oft selbst im Ausland promoviert. In Ausland, mit ein paar Dollar in der Tasche, kann
tücher erlaubt, die staatlichen Unis aber dulden oft Basic Sciences in der iranischen Stadt meinem Fach, der theoretischen Physik, gibt es welt- keine Flüge buchen, nichts. Sanktionen im Wissen-
nur schwarze. Frauen und Männer studieren zwar Zanjan, bis sie am 23. September weit anerkannte iranische Spitzenforscher. Wenn schaftsbereich werden zuallererst den Nachwuchs
zusammen, einfach weil wir nicht die Kapazitäten 2022 kündigte. Sie promovierte 2012 man näher hinschaut, sieht man aber die Schwach- treffen. Studierende haben dann keine Chance
für doppelte Lehre haben. Aber Wohnheime und an der Universität Bonn und gehörte stellen: Unsere Labore sind oft ungenügend aus- mehr, das Land zu verlassen. Doktoranden, die
andere Einrichtungen sind streng nach Geschlech- dem Vorstand der Astronomischen gestattet, es fehlen Instrumente. Doch darüber noch außer Landes sind, müssen zurück. Wenn
tern getrennt. Niemand kann auf dem Campus Gesellschaft des Iran an. Seit 2021 schweigen wir. Das islamische Regime hat den Ruf Europa seine wissenschaftliche Zusammenarbeit
ohne Angst offen über Politik sprechen, denn die ist sie Mitglied der Global Young unseres Landes genug zerstört, deshalb wollen wir mit dem Iran überdenken will, habe ich folgenden
Basidsch-Miliz, eine inoffizielle Hilfspolizei, bespit- Academy, einer in Deutschland mit unseren wissenschaftlichen Leistungen glänzen. Vorschlag: Sanktioniert den Wissenschaftsminister
zelt die Studierenden und die Professoren. Unser gegründeten internationalen Gesell- ZEIT: Historisch gesehen stehen Universitäten häu- und alle seine Helfer. Sanktioniert die Uni-Präsiden-
ganzes Bildungssystem ist streng reglementiert, auch schaft für junge Wissenschaftler. fig an der Spitze gesellschaftlicher Emanzipations- ten, die mit der Polizei kooperieren. Sanktioniert
Schülerinnen dürfen nur Schwarz tragen. bewegungen. Sie aber zeichnen das Bild einer poli- das regimetreue Führungspersonal und die Spitzel
ZEIT: Trotzdem trauen sich Schülerinnen und Stu- tisch angepassten wissenschaftlichen Community. im Ausland.
dentinnen gegen all das aufzustehen. Warum? Wie kommt das? ZEIT: Wie geht es jetzt für Sie weiter?
Erfani: Die Generation der 15- bis 25-Jährigen ist Erfani: Die Präsidenten der staatlichen Universitä- Erfani: Ich gehörte bisher zu denen, die geschwiegen
mit sozialen Netzwerken aufgewachsen, sie weiß, ten werden vom Wissenschaftsministerium ernannt. haben. Jetzt nicht mehr. Jetzt stehe ich auf, um für
wie es außerhalb des Iran zugeht und welche grund- Natürlich bekommen sie diese Position aufgrund die Freiheit meines Landes zu kämpfen, gemeinsam
legenden Menschenrechte ihr verwehrt werden. ihrer Regierungstreue. Das zieht sich durchs ge- mit anderen. Ich würde das nicht tun, wenn wir
Viele wollen das nicht mehr akzeptieren. Mittler- samte System, jede Leitungsfunktion repräsentiert nicht glauben würden, dass wir dieses Mal gewinnen
weile haben die Studierenden eine Deklaration die Regierung. Die Universitäten benennen zudem können.
formuliert und wollen erst in den Unterricht zurück- Dozenten, die für studentische Angelegenheiten zu-
kommen, wenn sich Grundlegendes ändert. Studen- ständig sind: Sie kontrollieren Studierende und Das Gespräch führte Astrid Herbold
Sei dabei und stelle deine Fragen, wenn die ZEIT Redaktion auf dem Podium mit
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05.10.22 19:01
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
W Sein Feind, das Feuer
enn das Feuer im Wald erloschen
ist und sein Boden nicht mehr
glüht, wird es still. Kein Vogel,
der zwitschert. Kein Wildschwein,
das wühlt. Kein Gestrüpp, das im
Wind raschelt. Auch Monate spä-
ter noch wirkt diese Welt, in der
es sonst nur so wimmelt von Leben, ganz tot.
Der Wald bei Beelitz im Süden von Berlin stand in diesem
Sommer in Flammen. Es war einer der größten Brände des
Jahres, einige Straßenzüge der Stadt mussten evakuiert wer-
den. Drei Monate später, an einem sonnigen Freitag Ende
September, steht da noch immer das Gerippe einer Forst-
maschine, die dem Feuer zum Opfer fiel. Daneben Bäume,
deren Stämme unten schwarz-silbern glänzen wie Bleistift-
minen. Oben an den Kronen sind sie kahl und braun.
Ein einziges Geräusch ist zu hören, das Knirschen unter
den Füßen von Raimund Engel. Er läuft über verkohltes
Holz, es zerbricht unter seinen Arbeitsschuhen, dann bleibt
er bei einem der Bleistift-Bäume stehen. Er fasst ihn vor-
sichtig an, streichelt ihn fast, die verkohlte Rinde zerbröselt.
»Das tut weh«, sagt Engel. Und man weiß nicht ganz, ob er
die Schmerzen der Bäume meint. Oder seine eigenen.
Dieses Jahr war hart für Raimund Engel. Er ist studierter
Forstwirt, 57 Jahre alt und Brandenburgs Waldbrandschutz-
beauftragter. Zwischen März und September brannten seine
Wälder 502 Mal. An manchen Tagen brachen gleich zehn
Feuer aus. »Der Sommer war extrem«, sagt Engel.
Und wenig spricht dafür, dass es in den kommenden Jah-
ren entspannter wird. Hitze, Trockenheit, Klimakrise – wir
sind im »Pyrozän«, so drückt es Johann Georg Goldammer
aus, einer der international renommiertesten Brandexperten
und Leiter des Zentrums für globale Feuerüberwachung. Das
Zeitalter des Feuers trifft Brandenburg besonders stark. In
keinem Bundesland gibt es so viele Waldbrände wie hier. Und
weil das schon länger so ist und das Problem immer größer
wird, hat die Landesregierung vor fünf Jahren den Posten
geschaffen, den Raimund Engel jetzt innehat. Er soll die
Katastrophen möglichst klein halten. Jeden Tag beschäftigt er
sich deshalb mit Dingen wie Wasserentnahmestellen, Brand-
früherkennung und Löschgeräten. Er koordiniert, informiert
die Landesregierung, er berät Waldbesitzer und übernimmt
im Falle eines Brandes die Kommunikation nach außen.
Nun ist der Sommer vorbei, die Brandsaison vorüber.
Erst jetzt hat Raimund Engel Zeit, sich den grundsätzlichen
Fragen zu stellen: Ist dieses Land wirklich gut genug ge-
schützt? Was muss sich ändern?
Engel beißt in sein Salamibrot. Dann zeigt er auf die
toten Bäume um ihn herum, im Wald bei Beelitz. »Hier, wo
wir stehen, war Vollbrand«, sagt er. »Gute 1000 Grad. Der
Boden hat gekocht. Und die Funken hat’s in die Luft gewir-
belt.« Man bekommt eine Vorstellung, mit welcher Wucht
so ein Feuer wütet. Und man kann hier besichtigen, welche
Probleme es gibt bei der Bekämpfung dieser Gefahr.
Es war um 12.15 Uhr am 19. Juni 2022, als hier erste
Flammen um sich schlugen. Einer der heißesten Tage des
Jahres, 37 Grad, und starker Wind. Was das Feuer ausgelöst
hat, konnte die Polizei bis heute nicht herausfinden. Es habe
sich jedenfalls extrem schnell ausgebreitet, erzählt Engel.
Die Flammen seien über alles hinweggefegt. Über Bahn-
gleise, über Hügel, selbst über eine fast 50 Meter breite
baumfreie Schneise, durch die sich eine Stromtrasse zieht.
Der Wind habe die Funken einfach hinübergeweht.
Bis tief in die Nacht wütete der Brand, er breitete sich in
zwei Richtungen aus. Fast 500 Löschkräfte waren im Einsatz,
Hubschrauber in der Luft, Menschen am Boden. Zwischen-
zeitlich mussten sie sich zurückziehen – zu gefährlich war das
Feuer, zu viel alte Weltkriegsmunition lag dort im Boden,
immer wieder explodierten einzelne Geschosse. Der Brand
geriet außer Kontrolle. Als der Wind dann auch noch drehte
und die Flammen sich auf die Stadt zubewegten, wurden
erste Häuser evakuiert. Auch auf eine Tankstelle rückte das
Feuer vor. »Das sah echt nicht gut aus«, sagt Engel.
Dann aber, in den frühen Morgenstunden, geschah etwas,
wofür Engel bis heute »einfach nur dankbar« ist. Es regnete.
»Wenn das nicht passiert wäre, wäre so manches Haus in Ge-
fahr geraten.« Man solle bloß nicht glauben, dass sich derarti-
ge Katastrophen nur in Kalifornien oder Australien abspielen
könnten. Am Ende sei hier aber noch mal alles gut gegangen.
Es gibt Leute, die warnen ohne Unterlass. Sie nutzen
Bedrohungsszenarios, um auf ihre Themen und ihre Forde-
rungen aufmerksam zu machen. Raimund Engel ist nicht
so. Er sagt zwar manchmal drastische Dinge, aber er tut das
eher nebenbei. Einer der für Engel typischen Sätze lautet:
»Waldbrände sind wie Menschen: Nachts legen sie sich
schlafen.« Was er damit meint: Nachts wird es in der Regel
kälter, und die Winde nehmen ab, der Brand breitet sich
nicht so schnell aus wie tagsüber. Wenn man ihm so zuhört,
stellt sich eine merkwürdige Zuversicht ein. Man denkt: Ja,
der Herr Engel, bei dem sind der Wald und das Feuer schon
in ganz guten Händen.
Aber ist diese Zuversicht angebracht? Macht man in Bran-
denburg einen guten Job? Oder war die harsche Kritik im
Sommer an der Politik der Landesregierung berechtigt? Die
Feuerwehr lösche nicht mit dem richtigen technischen Gerät,
hieß es, die Regierung wisse zu wenig über die Munition
im Boden und verschlafe den Waldumbau. Und dann ant-
wortet Engel auf die Frage nach seinem Fazit dieses Wald-
brandsommers auch noch mit: »Glück gehabt.«
Um zu verstehen, ob es gut oder schlecht läuft in Branden-
burg, muss man erst einmal erklären, wie die Waldbrand-
bekämpfung hier überhaupt funktioniert. Dafür hat Raimund
Fotos: Jonas Ludwig Walter für DIE ZEIT
Engel ein Foto ausgedruckt. Man sieht den Forst in Beelitz
von oben. Dichte Baumkronen, so weit das Auge reicht, da
war der Wald noch intakt. Es ist aufgenommen am Tag des
Brands, und da, am Horizont, sieht man eine winzige Wolke.
Rauch. Er stammt von einem kleinen Feuer, das sich bald zu
dem großen Waldbrand ausbreiten wird.
In Brandenburg sind mehr als hundert Kameras über den
Wäldern installiert. Sie drehen sich um 360 Grad und über-
blicken jeden Quadratmeter. Ihre Software schlägt Alarm, wenn
Mehr Wissen
Europa hat das schlimmste Waldbrandjahr seit Beginn der Aufzeichnungen hinter sich. Mehr als 770.000 Hektar
verbrannten in diesem Sommer. In den 15 Jahren zuvor war die betroffene Fläche im Schnitt nur ein Drittel so groß.
WISSEN
Klimawandel
Nirgendwo brennt mehr Wald als in Brandenburg. Ein Forstwirt
versucht, das Schlimmste zu verhindern VON AUGUST MODERSOHN
Wohin der Waldbrandschutzbeauftragte Raimund Engel auch blickt: Überall sieht er verkohlte Stämme
Links zu den Quellen der Themen dieser WISSEN-Ausgabe finden Sie unter www.zeit.de/wq/2022-42
33
sie eine Rauchwolke vermutet. In den Waldbrandzentralen des
Landesforstbetriebs sitzen Mitarbeiter und überprüfen die
Bilder dann. Manchmal handelt es sich nur um aufgewirbelten
Staub; wenn nicht, wird die Feuerwehr alarmiert. Diese Früh-
erkennung funktioniert ziemlich gut. In diesem Jahr wurden
acht der 502 Waldbrände größer als zehn Hektar. In den
restlichen 494 Fällen konnte man das Feuer zügig löschen.
Doch acht große Waldbrände sind auch nicht wenig.
Hätte man sie nicht verhindern oder zumindest schneller in
den Griff bekommen können?
Waldbrände werden fast immer vom Menschen ausgelöst.
Durch unachtsam weggeschnippte Zigaretten aus dem Auto
etwa, aber auch durch Brandstiftung. Dass die Wälder in
Brandenburg so oft Feuer fangen, liegt aber nicht daran, dass
dort besonders unvorsichtige oder besonders kriminelle
Menschen lebten. Sondern an der Trockenheit. Schaut man
sich den Dürremonitor des Helmholtz-Zentrums für Umwelt-
forschung an, sticht Brandenburg immer tiefrot hervor. Die
Böden sind sandig und speichern kaum Feuchtigkeit. Auch
an diesem Septembertag in Beelitz, nach Tagen des Regens,
muss man nur ein wenig mit dem Fuß im Boden schaben,
schon stößt man vor ins Staubtrockene.
Außerdem bestehen Brandenburgs Wälder zu 70 Prozent
aus nur einer Baumart: Kiefern. In ganz Deutschland liegt
der Kiefer-Anteil bei 23 Prozent. Dass sich in Brandenburg
Monokultur an Monokultur reiht, liegt daran, dass Kiefern
hier gut wachsen und sich ihr Holz gut verkaufen lässt. Sie
gelten als Brotbaum der Forstwirtschaft. Nun ist das Harz
von Nadelbäumen aber leicht entzündlich, Laubbäume hin-
gegen brennen viel schlechter. Und deshalb sagt Raimund
Engel: »Wir brauchen mehr Mischwald. Aber ich will die
Kiefer auch nicht verteufeln. Sie gehört nach Brandenburg.«
Wieder so ein Engel-Satz. Und er passt ganz gut zu dem sich
schleppenden Waldumbau im Land. Jedes Jahr werden in
Brandenburg gerade mal 2000 bis 2500 Hektar umgewandelt
– von insgesamt etwa 700.000 Hektar Kiefernwald.
Hinzu kommt in Brandenburg noch ein sehr spezifisches
Problem. In den Waldböden liegt sehr viel alte Munition.
Phosphorhaltige Leuchtspurgeschosse aus dem Zweiten Welt-
krieg. Sie liegen wenige Zentimeter unter der Oberfläche. »Da
reicht ein starkes Gewitter oder ein buddelndes Tier, um sie
freizulegen«, sagt Raimund Engel. »Und wenn die Munition
dann irgendwann in der Sonne liegen sollte und es warm wird,
dann fängt das Phosphor an zu brennen. Wie Streichhölzer.«
Eigentlich, sagt Engel, müsste man den gesamten Branden-
burger Wald nach Munition absuchen. Aber das sei viel zu
teuer. Wie viel genau das kosten würde, weiß er nicht – und
auch im Landesinnenministerium weiß es niemand, weil es
nie jemand berechnet hat. Wäre es nicht eine gute Idee, zu-
mindest das einmal herauszufinden?
Engel sagt, man sollte wenigstens die siedlungsnahen Wald-
gebiete und die Streifen rechts und links der Waldwege räu-
men. Damit die Feuerwehr sich darauf sicher bewegen könne.
Dabei gibt es ein Gerät, das genau für diese Fälle entwickelt
worden ist, für Brandbekämpfung auf munitionsbelastetem
Gebiet. Man kann diesen Löschpanzer zum Beispiel bei einem
Privatunternehmen anfordern. Nur tut man das in Branden-
burg so gut wie nie. Frage also an Herrn Engel: Hätte ein
Löschpanzer in Beelitz geholfen? Schließlich musste sich die
Feuerwehr auch wegen der Munition zurückziehen.
Engel schüttelt den Kopf. »Diese Panzer löschen mit extrem
viel Wasser, was ja eigentlich gut ist. Aber dadurch müssen sie
andauernd nachgetankt werden, was wiederum andere Tank-
löschfahrzeuge bindet.« Engel meint auch, man solle ein
Feuer nicht von innen löschen, sondern »an den Flanken
bekämpfen und an der Front runterdrücken«. Dafür brauche
man keine Löschpanzer. Der Brandexperte Johann Georg
Goldammer, der einen Löschpanzer mitentwickelt hat, sieht
das ganz anders: »Wenn man einen Brand von außen mit
Feuerlöschfahrzeugen, Wasserwerfern oder Sprinkleranlagen
abriegelt, verbraucht man unverhältnismäßig größere Wasser-
mengen als beim direkten Einsatz durch den Löschpanzer.«
Die Löschpanzer-Debatte kennt Raimund Engel schon aus
dem Sommer. Und sie trifft einen besonders wunden Punkt.
Denn alle acht größeren Brände dieses Jahres breiteten sich
auf munitionsbelastetem Gebiet aus. Raimund Engel hat
seine Meinung aber nicht geändert. Viel wichtiger, sagt er,
seien mehr Wasserentnahmestellen im Wald. Besser befestig-
te Wege, damit die Feuerwehr überall hinkomme. Und mehr
Sensibilität in der Gesellschaft für die Gefährlichkeit von
Feuer in Waldnähe. Dafür kämpfe er.
Er gibt Interviews, organisiert Informationskampagnen,
redet mit den Waldbesitzern und der Regierung. Er ist in
gewisser Weise der Sprecher des trockenen Walds. Aber
wenn er dann mitbekommt, dass Leute, die am Waldrand
wohnen, Unkraut im Garten mit einem Bunsenbrenner be-
seitigen – da falle ihm nicht mehr viel ein.
Im Wald bei Beelitz klopft Raimund Engel jetzt kumpel-
haft mit der Handfläche gegen einen der schwarzen Baum-
stämme. »Der wehrt sich noch«, sagt er. Aus der Rinde quillt
sehr viel gelbliches Harz. »Eine Abwehrreaktion. Aber hier
wird es wohl kein Baum mehr schaffen.« 233 Hektar Wald,
fast komplett tot. Wie es weitergeht mit diesem Forst, ist
noch unklar. Gerade laufen Beratungen mit den Wald-
besitzern. Das ist einerseits die Kommune, aber es sind auch
Privatleute. Engel wäre dafür, die Natur sich größtenteils
selbst zu überlassen. Aber er weiß, dass das unrealistisch ist.
Manche Waldbesitzer haben bereits auf ihren Flächen alles
fällen lassen. Sie seien angewiesen auf Erträge, sagt Engel.
Er hofft, sagt er, auf »eine Mischung«. Ein bisschen Kahl-
schlag hier, ein bisschen In-Ruhe-Lassen da. Ist das Aus-
gewogenheit? Oder Unentschlossenheit?
Und dann zeigt er auf einen kleinen grünen Zweig, der aus
dem Boden ragt. »Eine junge Eiche!«, ruft Engel. Eine Eiche
mitten in der Kiefer-Monokultur? »Da hat ein Eichelhäher
geholfen beim Waldumbau und eine Eichel hier vergraben«,
erklärt er. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Er strahlt.
Ja, sagt Engel, man müsse der Natur schon eine Chance
geben.
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34 WISSEN 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Aufgefallen Auch das noch!

Dinofedern auf Zeitreise Eine Zahnpasta
im Bernstein wie feuchter Sand
Wer sich schon mal an Ausbesserungsarbei-
ten in seiner Wohnung oder seinem Haus
versucht hat, wird Moltofill kennen: eine
gräuliche Spachtelmasse, die man aus der
Tube in Löcher oder Risse in der Wand
drückt und trocknen lässt, bis sie fest wird.
Sogar völlig ahnungslose Laien können
damit kleine Schäden reparieren.
Das führt zu einer anderen Tube, die
eine »Lösung für ein weit verbreitetes
Problem in der Gesellschaft« bieten soll,
wie der Anbieter wirbt. Es handelt sich
um eine neue Zahncreme, sie soll ge-
gen schmerzempfindliche Zähne helfen.
Jeder vierte Deutsche kenne das Pro-
blem, so der Hersteller Dr. Wolff. Inte-
ressant ist also, was diese Zahncreme,
die Bioniq Duo, enthält – und vor allem,
was nicht.
Zwei Inhaltsstoffe sollen laut Dr.
Wolff das Problem der schmerzenden
Zähne beheben: Hydroxylapatit und
Bisabolol. Letzteres ist ein Wirkstoff aus
dem Kamillenöl. Er soll den Zahnnerv
Foto: Ryan McKellar/Royal Saskatchewan Museum
vorgebeugt werde – eine ziemlich gewag-
te Behauptung. Denn ausgerechnet der
Wirkstoff, der nachweislich Karies ver-
hindern oder reduzieren kann, ist in der
Paste nicht enthalten: Fluorid. Er ist der
wichtigste Bestandteil einer Zahncreme,
sagen viele Zahnärzte, alle anderen Stoffe
spielten im Vergleich dazu nur eine un-
tergeordnete Rolle, auch Hydroxylapa-
tit: Die Deutsche Gesellschaft für Prä-
ventivzahnmedizin rät explizit von Pas-
ten ab, »die lediglich Hydroxylapatit
und kein Fluorid zur Kariesprophylaxe
enthalten«.
Warum aber fehlt es dann in der
Bioniq Duo? Darüber kann man nur
spekulieren. Möglicherweise ist ein
Grund, dass manche Menschen Angst
vor Fluorid haben. Der Name lädt zur
Verwechslung mit dem gasförmigen und
giftigen Element Fluor ein – das Fluorid
ist aber nur ein chemischer Abkömmling
davon und hat ganz andere Eigenschaf-
ten. Es ist längst nicht so toxisch: Um

Diese Schwanzfedern stammen wahrscheinlich von einem Coelurosaurier
Die feine Struktur lässt kaum erahnen, wie
alt diese Federn sind und von wem sie stam-
men. 99 Millionen Jahre lang hat Baumharz
sie sicher umschlossen, es härtete zu Bern-
stein aus. Im Original misst dieser Bildaus-
schnitt fünf Millimeter in der Horizontalen.
Einst trug ein Dinosaurier diese Federn
durch die mittlere Kreidezeit. Eine unglück-
liche Vorzeit-Ameise ist auch ins Harz
hineingeraten. So reist man durch die Zeit.
Quellen zu diesem und anderen Artikeln der aktuellen WISSEN-Ausgabe finden Sie unter www.zeit.de/wq/2022-42
In der Gegenwart hängt eine andere Art
von Unglück an Fundstücken wie diesem.
Der honiggelb schimmernde Schatz stammt
aus dem Norden Myanmars, wo eine reiche
Fundstätte prähistorischen Bernsteins die
Paläontologen entzückt. Als Zeitkapseln aus
der Dinowelt wurden in den vergangenen
Jahren viele von ihnen in Fachzeitschriften
beschrieben, diese Federn 2016 in Current
Biology.
Nun hat die Geoforscherin Emma Dunne
von der Universität Erlangen-Nürnberg sys-
tematisch Aufsätze dieser Art aus dem Zeit-
raum 1990 bis 2021 auf die Herkunft des
Bernsteins hin analysiert. Sie kommt zu dem
Schluss: Dessen Export fällt in eine Grau-
zone, seine Förderung begünstigt die Militär-
junta Myanmars und ihre Menschenrechts-
verletzungen. Anders gesagt: Es handelt sich
um Blut-Bernstein. ST X
und das Zahnfleisch beruhigen. Beson-
ders bemerkenswert ist aber das Hydro-
xylapatit, ein Mineral, das Hauptbe-
standteil der natürlichen Schutzschicht
des Zahns ist, des Schmelzes. Es soll laut
Dr. Wolff die Zahnschmelzoberfläche
reparieren und »offen liegende Dentin-
kanälchen« verschließen, die sich unter
dem Schmelz befinden. Klingt nach
dem Moltofill-Prinzip: Man drückt ein
wenig Masse in Löcher und Risse, schon
sind die Schäden behoben.
Leider ist es nicht so einfach. Völlig
unklar ist nämlich, ob das Hydroxylapatit
überhaupt in die sehr kleinen offenen
Kanäle gelangt, und wenn ja, ob die Kris-
talle darin bleiben und aushärten. Und ob
sie sich mit der Oberfläche der Zähne ver-
binden und eine Schutzschicht bilden, wie
Dr. Wolff behauptet. Plausibel ist das
nicht, es fehlt etwa ein Kleber. In die
Löcher in der Wand würde man ja auch
nicht einfach nassen Sand stopfen und
hoffen, dass er schon irgendwie fest wird.
Dr. Wolff schreibt auf seiner Website
zudem, dass mit der Zahnpasta Karies
eine tödliche Dosis aufzunehmen, müss-
te ein 75 Kilogramm schwerer Mensch
den Inhalt von mindestens 15 Tuben
mit je 100 Milliliter Inhalt verschlucken.
Auch von einer chronischen Vergiftung
durch kleine Mengen verschluckter
Zahnpasta ist nichts bekannt: Ȇber
300.000 Untersuchungen belegen, dass
von Fluoriden bei korrekter Anwendung
kein gesundheitliches Risiko ausgeht«,
schreibt die Deutsche Gesellschaft für
Präventivzahnmedizin.
Um es also klar zu sagen: Wenn man
eine fluoridhaltige Zahncreme benutzt,
vergiftet man sich nicht, schützt aber
seine Zähne vor Karies. Und je häufiger
man damit putzt, desto besser ist es –
zweimal täglich aber sollte es schon sein.
Wer nun seine Zähne zusätzlich zum
regelmäßigen Putzen schützen möchte,
kann das völlig fluoridfrei tun: Regel-
mäßiges Kauen von zuckerfreiem Kau-
gummi regt die Produktion von Speichel
an, der wiederum Säuren im Mund ab-
puffert und so vor Karies schützt. Nach-
gewiesenermaßen. JAN SCHWEITZER

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Stimmt’s?
Man rettet die Eisbären, indem
man sie zum Südpol umsiedelt
Der Eisbär, der einsam und traurig auf
seiner Eisscholle sitzt, ist eine Ikone der
Preisträger*innen 2022 Klima-Aktivisten. Die großen Raubtiere
leben bekanntlich nur in der Arktis. Die
Region um den Nordpol herum besteht
praktisch nur aus Eis, und wenn das
schmilzt, wird der Lebensraum der Tiere
Klaus Bachmann immer kleiner. Die Antarktis dagegen hat
eine echte Landmasse, und ihr Eis wird
Redakteur GEO | Kategorie Text
vorerst nicht komplett abschmelzen – da
liegt der Gedanke nicht fern, der Natur
Prof. Dr. Eckart von Hirschhausen ein bisschen nachzuhelfen und den Eis-
Freier Autor, Fernsehproduzent und Moderator | Kategorie Elektronische Medien bären dort eine neue Heimat zu bieten.
Massive Umsiedlungen von Tieren
und Pflanzen als Reaktion auf den Kli-
Verena Mischitz mawandel werden tatsächlich von Bio-
Redakteurin DER STANDARD | Kategorie Nachwuchs loginnen und Biologen diskutiert. Schon
immer haben Ökosysteme auf veränder-
te Verhältnisse reagiert – wenn es wärmer
wird, siedeln Flora und Fauna näher an
den Polen oder höher im Gebirge. Der
Jury jetzige Wandel, sagen die Verfechter von
Dr. Stefan von Holtzbrinck (Vorsitz) Vorsitzender der Geschäftsführung, Holtzbrinck Publishing Group | assisted migration oder assisted colonizati-
Prof. Dr. Dr. Andreas Barner Mitglied des Gesellschafterausschusses, Boehringer Ingelheim | Jacob Beautemps
on, vollzieht sich aber viel zu rasch.
Wissenschaftliche Leitung Edu Media Lab, Universität zu Köln und Sciene-Youtuber, Kanal „Breaking Lab“ |
Baumarten zum Beispiel können gar
Prof. Dr. Katja Becker Präsidentin, Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V. | Ulrich Blumenthal ehem. Redakteur
nicht so schnell wandern, wie die Tem-
peraturen steigen. Deshalb wird seit
„Forschung aktuell“, Deutschlandfunk | Prof. Dr. Antje Boëtius Direktorin, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-
einem wissenschaftlichen Artikel, er-
Zentrum für Polar- und Meeresforschung | Prof. Dr. Alena Buyx, Direktorin, Institut für Geschichte und Ethik
schienen 2007 in der Zeitschrift Conser-
der Medizin, TU München und Vorsitzende, Deutscher Ethikrat | Prof. Dr.-Ing. Matthias Kleiner ehem. Präsident,
vation Biology, immer wieder gefordert:
Leibniz-Gemeinschaft e.V. | Prof. Dr. Carsten Könneker Geschäftsführer, Klaus Tschira Stiftung gGmbH |
Lasst uns bedrohte Arten durch Um-
Joachim Müller-Jung Leiter Ressort Natur und Wissenschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung | siedlung retten!
Andreas Sentker Geschäftsführender Redakteur und Leiter Redaktion Wissen, DIE ZEIT Am Beispiel des Eisbären sieht man
aber auch, wie problematisch solche
Vorschläge sein können. Die Bären wür-
den ja nicht in die Mitte der Antarktis
verpflanzt, sondern an deren Küsten.
Dort leben Pinguine und Robben ein
weitgehend friedliches Leben, sie haben
zumindest an Land keine natürlichen
Feinde. Sie wären im wahrsten Sinne des
Wortes ein gefundenes Fressen für die
Bären. Das hätte auch Folgen für die
Fischbestände – das gesamte Ökosystem
in der eisigen Küstenregion geriete aus
den Fugen. Die Einführung großer
Arten durch den Menschen hat schon
mehrmals für ökologische Katastrophen
gesorgt, etwa in Australien oder Hawaii.
Andersherum wäre es aber auch mög-
lich, dass die Eisbären sich trotz reich-
lichem Futterangebot nicht an die neue
Umgebung gewöhnen würden und
schon nach ein paar Jahren ausstürben.
Es gibt zwar mathematische Modelle, wie
Ökosysteme auf die Einbringung neuer
Arten reagieren, doch die sind nicht per-
fekt. Kein seriöser Biologe empfiehlt
ernsthaft eine Umsiedlung der Eisbären
in den Süden. Im Übrigen verbietet es
der Antarktis-Vertrag, Tiere auf den
sechsten Kontinent zu bringen, nicht
einmal Schlittenhunde sind dort erlaubt.
Letztlich ähnelt die Diskussion um
die »assistierte Umsiedlung« der über
das Geoengineering, also die Klima-
beeinflussung durch technische Maß-
nahmen: Tiefe Eingriffe in komplexe
und fragile natürliche Systeme können
Folgen haben, die auch mit noch so
vielen Simulationen nicht sicher vor-
herzusehen sind. CHRISTOPH DRÖS SER

! www.zeit.de/vorgelesen

Diese Woche fragt Benjamin Gollasch aus Hamburg.

Und worauf suchen Sie eine Antwort? Schreiben Sie an: DIE ZEIT, Wissen-Ressort,
20079 Hamburg, oder stimmts@zeit.de. Das Archiv: www.zeit.de/stimmts
 DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
Du bist matt!
H
ätte ich mir auch nie träu-
men lassen, mal eine Anlei-
tung zu verfassen, wie man
beim Schach betrügen kann.
Aber man wird ja in diesen
Wochen überall danach ge-
fragt, selbst von Leuten, die
einen Springer als Pferd bezeichnen und sonst eher
bei Mühle oder Dame zu Hause sind.
Das Spiel der Könige, das seit 1500 Jahren
höchsten Respekt genießt, wird derzeit gewisser-
maßen von unten aufgerollt, seit der junge Ame-
rikaner Hans Moke Niemann verdächtigt wird, in
einer Partie gegen den Schachweltmeister Magnus
Carlsen betrogen zu haben. »Schummeln«, wie es
jetzt in manchen Medienerzeugnissen possierlich
heißt, scheint offenbar viel leichter zu sein, als
nach allen Regeln der Kunst mattzusetzen.
Eine Freundin stellte sich eine recht grobe
Masche vor: Wir könnten eine lange Partie mit-
einander spielen, schlug sie vor, und wenn ich
dann mal ins Bad verschwände, würde sie einfach
Illustration: Anne Gerdes/ZEIT-Grafik
den Moment nutzen und einen meiner Türme
vom Brett nehmen. Der Vorteil sollte reichen, um
das Spiel zu entscheiden!
Nun, das wird nichts. Das klappt so wenig, wie
einem Tennisspieler, der sich nach einem Ballwechsel
mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn abwischt,
den Schläger wegzunehmen. Jeder bessere Schach-
spieler weiß blind, was auf dem Brett steht und wo.
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Wie betrüge ich erfolgreich beim Schach? Eine Anleitung
Eine Schachpartie ist die Geschichte eines Kampfes,
jeder Zug ein Satz in dieser Erzählung, jeder Bauer
ein Held oder Opfer in der Schlacht. Auch das
klammheimliche Verschieben eines Läufers auf ein
schlechteres Feld würde sofort bemerkt werden.
Wenn es davon eine Ausnahme gibt, dann al-
lenfalls beim Blitzschach. Im Netz findet sich ein
herrliches Video, in dem der amerikanische Groß-
meister Maurice Ashley zu sehen ist, wie er
inkognito in einem New Yorker Park abends im
Schummerlicht gegen einen jener Zocker antritt,
die nur um Geld spielen und alle Tricks beherr-
schen. Zack, zack, zack kommen die Züge, da-
zwischen wird auf die Uhr gedrückt, und plötzlich
ruft Ashley: Halt, halt, das geht so nicht. Sein Ge-
genüber hat mit einem Zug gleich zwei Figuren
geschlagen; in der anschließenden Zeitlupe (!) ist
das zu sehen. Was beim Foul im Fußball die Bein-
arbeit, ist im Schach die Fingerfertigkeit. Aber die
hat hier auch nichts genützt.
Legendär ist die Schachmaschine, die 1769
das Publikum faszinierte. Man spielte gegen eine
männliche, in eine türkische Tracht gehüllte Puppe.
Sie saß hinter einer Kiste, die als Schachtisch diente.
Ein mechanisches Wunderwerk, mit dem kleinen
Schönheitsfehler, dass in der Kiste verborgen ein
Meister saß und an den Hebeln zog – was dann
auch irgendwann entdeckt wurde. Die heute als
respektlos geltende Redewendung »einen Türken
bauen« soll darin ihren historischen Ursprung
WISSEN
Schach
VON ULRICH STOCK
haben. Täuschung im Schach gibt es also seit Lan-
gem, nur führte sie schon damals nicht zum Ziel.
Erfolgreicher wird betrogen, seit es Schachpro-
gramme gibt, die besser spielen als jeder Mensch,
also seit kaum einem Vierteljahrhundert. Hier ist
immer das Problem zu lösen, wie der gute Zug vom
Algorithmus zum Betrüger kommt. Der kann den
Computer ja schlecht mit ans Brett nehmen. Beim
Schach ist kein Hilfsmittel erlaubt. Ein Meister, der
sich zwischen zwei Möglichkeiten nicht entschei-
den könnte und deshalb auf die Idee käme, eine
Münze zu werfen, würde sofort genullt.
Hier kommt nun tatsächlich der Gang zur Toi-
lette ins Spiel: Der Betrüger verdrückt sich wäh-
rend der Partie an den stillen Ort, zieht sein Smart-
phone hervor und lässt sich von einer Schach-App,
die ihn nicht einmal etwas kostet, den besten Zug
anzeigen, den er anschließend macht.
Auf dem Klo sollte er auch nach oben schauen,
damit er nicht von seinem Gegner, der ihm gefolgt
ist, heimlich über die Trennwand hinweg fotogra-
fiert wird. So ein Foto gibt es: der Meister auf der
Schüssel mit dem hilfreichen Telefon in der Hand.
Disqualifiziert und auf ewig blamiert, wie peinlich.
Ein anderer Versuch war der Schmu im Schuh.
Ein Meister, der plötzlich viel besser spielte als je
zuvor, hatte so einen eierigen Gang. Es wurde
vermutet, dass er einen Signalgeber unter der Fuß-
sohle trug. Damit könnte ein Komplize, der die
ins Internet übertragene Partie verfolgte, ihm
35
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jeweils den nächsten Zug per Vibration übermit-
teln. Als sich um ihn herum so viel Verdruss ange-
sammelt hatte, dass er aufgefordert wurde, seine
Schuhe auszuziehen, schlich er davon und wurde FÜR MEHR WIRTSCHAFTSWISSEN:
auf Lebenszeit vom Turnierschach ausgeschlos-
sen. Kann ich also nicht wirklich empfehlen. Ihr Gutschein
Auf diese Geschichte müssen die im Zuge des
im Wert von
29,99 €
Skandals um Magnus Carlsen und Hans Niemann
berühmt gewordenen »Analperlen« zurückgehen, die
ferngesteuert Impulse in den Anus übertragen,
Morsezeichen für den Sieg. Bislang sind sie reine Fan-
tasie. Man sollte beim Spielen aber künftig darauf
achten, ob das Gegenüber in kritischen Momenten Code: W7S-ZT2-X4W
plötzlich zuckt, weil der Signalgeber vielleicht zu stark
eingestellt ist. Auch könnte so ein Vibrator, wenn
man während der Partie dann wirklich mal muss,
unerwartete Probleme bereiten. Einlösbar unter
Mit den Computerzügen ist es nun so, dass sie wiwo.de/code
spätestens nach der Partie entdeckt werden. Denn
wenn jemand so gut spielt wie ein Computer,
dann war es ein Computer.
Damit komme ich nun zum perfekten Betrug
im Schach: Der Computer muss helfen, aber nur ab
und zu, vielleicht nur zwei- oder dreimal in einer
Partie. Diese Momente muss der Komplize abpas-
sen und dem Spieler dann etwas signalisieren. Das
könnte per Funk geschehen; ob in eine Zahnplombe Vor allem müssen die Züge des Spielers so gut sein,
oder eine Kontaktlinse, das wäre noch zu klären. dass die paar Züge des Computers nicht auffallen.
Es darf ja weder im Mund vernehmlich summen Der beste Tipp für einen erfolgreichen Betrug im
noch in den Augen verdächtig blitzen. Schach lautet somit: hervorragend Schach zu spielen.
36 WISSEN 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Ökologie

Lecker?
Beeindruckend!
Denn Shimeji-Pilze
ernähren sich von
Holz. An diesem
Material scheitern
sogar Bakterien

Foto: Philotheus Nisch/Connected Archives; Anne Gerdes/ZEIT-Grafik (r.)

Revolution von ganz unten
Lange waren Pilze nur eine schlabberige Beilage auf dem Teller. Nun wollen Forscher mit ihnen den Planeten retten.
Sie nutzen die Organismen als Baustoff, Fleischersatz und als Müllabfuhr, die noch die giftigsten Stoffe kleinkriegt VON ANNE BAUM UND CHRISTIANE GREFE

W
as Vera Meyer da in
Händen hält, könnte ein
Baustein für die Welt-
rettung sein. Nicht zie-
gelrot, nicht betongrau,
sondern weißlich, mit
braunen Flecken und fe-
derleicht, geformt aus Pilzmaterial. Ginge es nach
der 52-jährigen Biotechnologin, würde man die
Häuser der Zukunft aus einem solchen Baustoff
errichten. Nachhaltig und langlebig. Meyers In-
stitut für Angewandte und Molekulare Mikro-
biologie liegt in einer alten Berliner Klinkerfabrik,
in der einst die AEG residierte. Ähnlich wie dort
früher Elektroenergie die industrielle Revolution
befeuerte, soll jetzt Biotechnologie die grüne Öko-
nomie voranbringen; ein Wirtschaften, das Mate-
rial einspart, Biomasse als Rohstoff abfallfrei ab-
baut und dem Kreislauf des Lebens wieder zuführt.
Und ausgerechnet jene Lebewesen, die viele nur
als Beilage auf ihren Tellern kennen, spielen bei
dieser Vision eine immer wichtigere Rolle: Pilze.
Ihre sichtbaren, essbaren Körper sind die Ober-
fläche einer gigantischen Terra incognita. Unter-
irdisch nämlich wächst ein riesiges Pilzgeflecht, das
Myzel. Fadenförmige Zellen, die Hyphen, tasten sich
vor, verzweigen sich und verschmelzen wieder. Auf
der Suche nach Nährstoffen und Wasser durchziehen
sie ganze Territorien. Wer diesen Vormarsch steuert,
bleibt verborgen. Anders als Tiere besitzen Pilze kein
Gehirn, anders als Pflanzen betreiben sie keine Foto-
synthese. »Pilze bilden ein eigenes Königreich«, sagt
Vera Meyer. Rund sechs Millionen Arten gebe es,
erst 140.000 davon seien beschrieben.
Die Biotechnologin erforscht seit 15 Jahren den
Schimmelpilz Aspergillus niger und ist noch immer
fasziniert, »wie unendlich vielgestaltig und anpas-
sungsfähig Pilze sind«. Je besser Meyer dieses König-
reich kennt, desto überzeugter ist sie: »Eine Pilz-
revolution steht uns bevor.« Das glauben auch andere
Wissenschaftler. »Disruptiv« nennt ein Weißbuch der
Forschergruppe »Eurofung« Pilzinnovationen, mit
denen in aller Welt experimentiert wird. In der Zeit-
schrift Scientific American werden die Organismen als
künftige Rohstofflieferanten für Gebäude, Möbel,
Isoliermaterial, Textilien oder Lederersatz gepriesen.
Die Suche nach den Pilzrevolutionären führt des-
halb nicht nur zum Institut von Vera Meyer, sondern
auch nach Hamburg, wo ein Start-up aus Pilzen den
perfekten Fleischersatz entwickeln will, nach Däne-
mark zu einem Unternehmen, das mit Pilzen biologi-
sche Alternativen zu Chemieprodukten entwickelt.
Und schließlich nach Leipzig, wo Forscher mit ihrer
Hilfe Umweltgifte beseitigen wollen.
Aber jetzt zurück nach Berlin: Vera Meyer hebt
ein Holzstück vom Boden hoch, darauf ist ein weiß-
gelblicher Zunderschwamm gewachsen. »Er ernährt
sich, indem seine Myzelien von innen das Holz zer-
setzen und sich mithilfe seines Kohlenstoffs Energie
erschließen«, sagt Meyer, »das versuchen wir nach-
zumachen.« In einem anderen Labor zeigt Meyer,
wie sie das meint. Hier wird das Fadengewebe des
Zunderschwamms erst zwei Wochen lang mit Hirse
gefüttert. Dann wird das weiße Pilzgeflecht umge-
topft und wächst weiter in eine Kastenform hinein,
bis sich der Baustein ausreichend verdichtet hat.
»Diesen Prozess müssen jetzt Bioingenieure für in-
dustrielle Verfahren optimieren«, sagt Meyer. »Schall,
Druck, hohe Temperaturen: Das Verbundmaterial
hält viel aus, und es kann beliebige andere Formen
annehmen.« An einer Wand des Instituts hängen
auch die Büsten zweier Mitarbeiter – aus Pilzmaterial.
Während es die Professorin auf Myzelien abge-
sehen hat, nutzt man in Dänemark vor allem die
Zersetzungskräfte der Lebewesen. Pilze fressen
auch abgestorbenes Wurzelwerk, vertrocknetes
Laub oder Tierkadaver, und zwar mithilfe von
Enzymen, auch Fermente genannt. Solche Ei-
weißmoleküle können Faserproteine, Zellulose
und Hemizellulose in den Zellwänden der Pflan-
zen aufspalten. »Pac-Man« nennen Forscher sie
oft ihrer Gefräßigkeit wegen, in Anspielung auf
das großmäulige Männchen aus einem Videospiel
der Achtzigerjahre. Die Pilz-Pac-Men sorgen dafür,
dass der Kohlenstoff in den Untergrund kommt
und anderen Mikroorganismen und Kleinlebewesen
zugänglich gemacht wird, die am Humusaufbau
beteiligt sind. Die seltsame Gattung der Pilze hat
damit eine unverzichtbare Rolle als Ökosystem-
ingenieurin.

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DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 WISSEN 37

Ökologie

Im Kopenhagener Vorort Bagsværd arbeitet die Pilz-

forscherin Sara Landvik für Novozymes, einen Pionier
der Enzymindustrie. Landvik schlägt ihren Kollegen
Pilzarten vor, die helfen könnten, passgenaue biologische
Wirkstoffe für die Entwicklung neuer Industrieprodukte
und -herstellungsverfahren zu erzeugen. Dabei geht es
meist um die Frage: Wie lassen sich Energie und Roh-
stoffe einsparen? Solche Innovationen gewinnen ange-
sichts steigender Preise für Gas, Öl und Agrarprodukte
an Wichtigkeit, auch als Instrument für den Klima-
schutz. Auch dank einer enormen Sammlung von Pilz-
mustern ist Novozymes mittlerweile weltweit aktiv.
Um Exemplare mit besonderen Eigenschaften zu
finden, geht Landvik immer wieder auf Entdeckungs-
tour. Manchmal werde sie beim Waldspaziergang mit
dem Hund fündig. Oft aber reise sie auch in die Ferne,
zuletzt nach Japan. Dort gibt es vulkanische Böden,
Geysire, heiße Quellen, hohe Berge und Küsten – und
entsprechend vielfältig angepasste Pilze. »Je extremer die
Bedingungen, desto interessanter«, sagt Landvik. In den
Fertigungsprozessen müssten die Organismen oft wider-
standsfähig gegen Hitze oder Kälte sein: »Wenn Pilze in
der Arktis vorkommen, dann sind ihre Enzyme auch
noch bei sehr niedrigen Temperaturen wirksam.« Diese
Eigenschaft machen sich Landviks Kollegen zum Beispiel
im Auftrag von Wasch- und Putzmittelunternehmen
zunutze. Aus den Enzymen mixen sie Cocktails, die Fett-
oder Rotweinkleckse schon bei Waschtemperaturen von
40 Grad verschwinden lassen statt wie früher bei 90 oder
60 Grad. Das spart CO₂-Emissionen – und Heizkosten.
Eigentlich sei der Einsatz von Enzymen »eine uralte
Kulturpraxis«, betont Landvik. Schon seit Jahrhun-
derten nutzen Menschen Hefepilze, um Brot, Wein
und Bier herzustellen. Doch im Lauf der letzten Jahr-
zehnte erweiterte sich der Radius der Enzymforschung
und -nutzung mehr und mehr. Ein Grund dafür:
Diese Agenten können einen Ersatz für Chemikalien
bieten. Allein in der Lebensmittelindustrie kennt ihr
Einsatz kaum Grenzen: Da verstärken Enzyme Ge-
schmäcker, pressen Speiseöle aus Nusskernen, schälen
Orangen, binden Saucen, bleichen Mehl oder lockern
und konservieren Brot. In der Lederproduktion ma-
chen sie hochgiftige Gerbstoffe überflüssig.
Die rasanten Fortschritte in den Informationstech-
nologien und die wachsende Zahl neuer gentechnischer
Verfahren ermöglichen es auch bei Pilzen, die DNA
schneller und billiger zu analysieren und zu verändern.
Ob sie einfach in der vorhandenen Vielfalt entdeckt oder
gentechnisch zugeschnitten wurden: Die Wissenschaft-
lerin Sara Landvik rechnet vor allem bei neuen Arznei-
mittelwirkstoffen mit einem Boom biologisch erzeugter
oder mikrobiotischer Produkte. Letztere bringen angeb-
lich die Verdauung in Schwung oder sollen, verabreicht
in Cremes, die Abwehrkräfte der Haut aktivieren. In
der Landwirtschaft wollen Forscher Mikrobenmischun-
gen mit Enzymen für den Klimaschutz nutzen. Futter,
das damit angereichert wurde, soll die Verdauung der
Kühe so verändern, dass sie weniger Methan rülpsen.
Mikrobenprodukte könnten auch den Boden verbessern
und energieintensiv erzeugten Dünger einsparen.
Allerdings sind solche Präparate umstritten, wenn sie
gentechnisch verändert sind und in die Umwelt gelangen
könnten. »Ja, manche Bürger fürchten sich vor der
neuen Gentechnik«, räumt Sara Landvik ein. »Weil sie
noch unbekannt ist, reden manche von einer Monster-
Technologie.« In Landviks Augen stimmt das Gegenteil:
»Diese Verfahren sind viel sicherer, weil sie so viel
genauer eingreifen!« Die politische Debatte über gesetz-
liche Regeln in Sachen neue Gentechnik steht in der EU
gerade an. Sie wird auch darüber entscheiden, in welche
Richtung sich die erhoffte Pilzrevolution entwickelt.
Rund 350 Kilometer weiter südlich in Hamburg
wollen sie von Gentechnik nichts wissen. Hier hat das
Start-up Mushlabs Büros und ein Labor angemietet, in
dem Mushlabs-Mitgründer Thibault Godard auf einen
Glaskolben mit Flüssigkeit zeigt. Blasse, erbsenförmige
Kugeln tanzen darin. »Den Speisepilz hier drinnen kennt
jeder vom Markt«, sagt Godard, »doch wir nutzen nur
sein Myzel.« Um welchen Pilz es sich handelt, verrät er
trotzdem nicht, aus Angst vor der Konkurrenz.
Das Unternehmen will Fleischersatz herstellen, und
zwar auf möglichst natürliche Weise. Das Endprodukt
soll noch ein Hauch von Wald umwehen. Die Kunden,
sagt Godard, sollen verstehen, was sich hinter dem
neuen Produkt verbirgt, auch wenn es aus Bioreaktoren
und metallischen Behältern kommt. Das Geschäft mit
Fleischersatz boomt. Laut dem Statistischen Bundesamt
wurden 2021 rund 17 Prozent mehr vegetarische und
vegane Ersatzprodukte erzeugt als im Jahr zuvor. Es
gibt Burger aus Erbsenproteinen, Weizen, Soja, Tofu.
Und inzwischen auch aus Pilzen. Bei Mushlabs sollen
letztere mit nur wenigen Zusatzstoffen zum Fleischersatz
veredelt werden. Denn Pilze seien umami, sagt Godard,
und somit der ideale Stoff für ein proteinhaltiges Nah-
rungsmittel. Umami sagen Japaner, wenn der Gaumen
»köstlich und würzig« wahrnimmt. Vielleicht zeigt sich
genau an diesem Geschmack, dass die Pilze Tieren ähn-
licher sind als Pflanzen: Auch Fleisch ist umami.
In seinem Forschungslabor versucht Godard heraus-
zufinden, was den Pilzen behagt. Sie werden in Bio-
reaktoren fermentiert, ähnlich jenen in Brauereien oder
der Kopenhagener Enzymfabrik. Damit das Pilzmaterial
gedeiht, wird es mit Abfällen gefüttert: Teebeutel und
Kaffeesatz aus der Lebensmittelindustrie oder Holz-
späne aus Sägewerken oder Reststoffe aus der Bier-
produktion. Auf einem Tisch liegen Plastikbehälter
übereinandergestapelt. Drinnen die Masse, die künf-
tig Burgern, Steaks oder Kaviar Konkurrenz machen
soll. Mal erinnert ihr Aussehen an Apfelmus, mal an
Brokkoli. Mit dem Futter für die Myzelien ändern sich
Form und geschmackliche Noten.
»Weltweit fehlt es an natürlichen, nachhaltigen
Nahrungsmitteln, die auch unabhängig von sozio-
ökonomischen Krisen erzeugt werden können«, sagt
Mazen Rizk, der Gründer des Start-ups. Rizk kommt
aus dem Libanon. Eigentlich wollte er mal Arzt werden.
Dann faszinierte ihn das Potenzial der Biotechnologie.
Bioreaktoren könnten im Libanon stehen, in Lagerhallen
und in grünen Feldern. Sie könnten den Anbau von
Sojapflanzen als Futtermittel reduzieren, der sich in
Nord- und Südamerika mit allen ökologischen Folgen
von Monokulturen ausbreitet. Zehn Tonnen Pilzmyzel
brauchen nach Berechnungen von Mushlabs im Fer-
menter rund drei Quadratmeter Platz, ungefähr so viel
wie eine gemütliche Sofaecke. Die gleiche Menge Soja
dagegen würde mit rund 44 Quadratmeter Fläche eine
ganze Singlewohnung benötigen. Außerdem wachsen
Pilze um ein Vielfaches schneller als Soja. Würden sie als
Fleischersatz akzeptiert, wäre das ein globaler ökologi-
scher Fortschritt. Pilze würden dabei auch noch die
Gesundheit fördern. Denn sie seien kalorienarm, sagt
Mazen Rizk, und enthielten Nährstoffe wie Vitamin B12.
Zum Segen für die Menschheit könnten Pilze auch
noch aus einem anderen Grund werden: Sie zerstören
Stoffe, die Menschen oder anderen Organismen scha-
den. Als in Tschernobyl ein Reaktor explodierte, tötete
die Strahlung jegliches Leben. Doch rund fünf Jahre
nach dem Unglück siedelte sich als einer der ersten
Organismen dort ein schwarzer Pilz an. Ausgerechnet
im Inneren des Reaktors, dort, wo die Strahlung am
stärksten ist. Er schien die Strahlung in Energie umzu-
wandeln und für seinen Stoffwechsel zu nutzen.
Die Fähigkeit von Pilzen, sich in jede noch so ver-
seuchte Region zu wagen, hat die Forschung längst er-
kannt. In Amerika etwa ließ man Pilze Zigarettenstum-
mel fressen. An der TU Dresden bringt man Pilzenzyme
dazu, Kläranlagen von Arzneimitteln zu befreien. In
Leipzig treibt man sie zur Zusammenarbeit mit Bakte-
rien. Lukas Wick ist dort Chemiker und Umweltmikro-
biologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
und spezialisiert auf Mikroben, die Schadstoffe abbauen
können. »Pilze machen einen guten Job«, sagt er, »aber
zusammen mit Bakterien machen sie einen besseren.«
Unter den Schadstoffabbauern sind Pilze tatsächlich
Alleskönner, lösen sogar feste Mineralien und Holz auf.
Trotzdem sind Bakterien bei der Reinigung verschmutz-
ter Böden meist gefragter: Denn sie wachsen schnell,
sind effizient und unter optimalen Bedingungen an- Was aus
spruchslos. Doch Bakterien sind im Boden meist wenig
mobil, für ihr Fortkommen brauchen sie Wasserfilme Pilzen wird
und erreichen deshalb Schadstoffe nur schwer, wenn
die im Untergrund ungleichmäßig verteilt sind, wie etwa
Erdöl. Die raumfüllenden Myzelien der Pilze dagegen
durchziehen den gesamten Boden. Stößt eine Hyphe
auf Nährstoffe, werden diese aufgenommen und zu
schlechter versorgten Hyphen transportiert. An dieser
Stelle springen die Bakterien auf: Wie auf einer Auto-
bahn reisen sie über die Hyphen und gelangen so zu den
Schadstoffen. Baumaterial
Doch was in der Theorie nach einer Traumpart- Aus dem unterirdischen
nerschaft zwischen Bakterium und Pilz klingt, wird Pilzgeflecht lassen sich
draußen im Feld auf eine harte Probe gestellt und ist leichte Backsteine herstellen.
dort manchmal eher eine zufällige Affäre. Zwar kann
man Pflanzen, Bakterien, Viren, Pilze, Insekten und
Würmer einzeln genau untersuchen. Aber in der Erde
bilden sie hochkomplexe Gemeinschaften aus, die
über Reize und Botenstoffe miteinander kommuni-
zieren und sich ständig verwandeln. »Was im Labor
klappt, ist nicht das echte Leben«, sagt auch der Che-
miker Wick. Es gelte, Bedingungen zu schaffen, die
der Wirklichkeit draußen möglichst nahe kommen. Methanbremse
Das aber setze mehr Wissen über das Miteinander der Pilzenzyme im Futter von
Organismen voraus. Kühen reduzieren deren
Es ist nur eine von vielen Herausforderungen dieser Ausstoß von Treibhausgas.
bioindustriellen Revolution. Eine andere ist, dass Pilze
als Lebewesen sich störrisch manchen industriellen
Prozessen verweigern. In Berlin weiß Vera Meyer so gut
wie ihre Kollegen in Kopenhagen: Was im Kleinen
klappt, ist nicht unbedingt auf die Massenproduktion
übertragbar oder fordert zumindest immer neu ange-
passte Verfahren. Hinzu kommt, dass Pilze gefüttert
werden müssen. Zwar begnügen sie sich mit allerlei Waschmittel
Abfallstoffen, doch auch die sind begehrt und müssen Enzyme aus Pilzen können
erst mal rangeschafft werden. Und nicht zuletzt geht es Flecken auch bei geringen
um Bürokratie. So sind etwa die Produkte von Mushlabs Temperaturen entfernen.
zwar längst entwickelt, und auch gigantische Bio-
reaktoren zur Massenproduktion sind organisiert. Doch
wann die erhofften EU-Zulassungen erteilt werden, ist
unklar. Und ob der neue Fleischersatz am Ende auch
gekauft wird, kann ohnehin niemand vorhersehen.
Kurzum: Die Erkenntnisse der Pilzforschung wer-
den die menschlichen Klima- und Umweltsünden so
schnell nicht ausbügeln können. Noch stößt die große Natürlicher Mülleimer
Revolution an viele Grenzen. Immerhin die größte ist Pilze können sich von Abfall
überschritten – die des Planeten Erde: Astronauten ernähren, womöglich sogar
auf der Raumstation ISS kämpfen dort mit Schimmel. von radioaktiver Strahlung.
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„Es ist so viel mehr als ein Stück Wald.

Ein intakter Regenwald bietet Zukunft!“
– Raoul Roßmann

Eine zweite groß angelegte Pflanzaktion
in einem Jahr. Erst ein ROSSMANN-Wald
in Bückeburg, jetzt ein Regenwald in Nica-
ragua. Warum wieder Bäume?
Raoul Roßmann: Fasziniert haben mich
Bäume schon immer. Ich bin als Kind auf
dem Land großgeworden. Wir waren viel
draußen unterwegs, der Wald war unser
Spielplatz, unser Ort für Abenteuer. Heute
sind es die Suche nach Ruhe, nach Kontem-
plation, die mich dazu bewegt, in den Wald
zu gehen. Bäume stehen für pures Leben.
Wie meinen Sie das?
R. R.: Einerseits erfüllt ein Wald einen
offensichtlichen Zweck – er ist Lebens-
raum für Tiere, Pflanzen, Pilze. Weniger
sichtbar ist die enorme Leistungsfähigkeit
jedes einzelnen Baumes: Im Durchschnitt
produziert ein gesunder Baum, der schon
ein gewisses Alter und eine entsprechende
Größe erreicht hat, täglich Sauerstoff für
zehn Menschen.
Im Gespräch ist derzeit aber vor allem
die CO₂-Speicherfähigkeit von Bäumen …
R. R.: Ja, aber das ist nicht ganz korrekt,
sondern etwas verkürzt dargestellt.
Genauer gesagt, speichern die Bäume
nicht das CO₂, das Kohlenstoffdioxid.
Bei der Photosynthese entnehmen die
Pflanzen aus der Atmosphäre zwar CO₂,
wandeln dieses jedoch in Kohlenstoff C
und Sauerstoff O₂ um. Der Kohlenstoff wird
letztlich im Holz gespeichert. Den Sauer-
stoff jedoch geben die Bäume wieder ab.
Wie viel Kohlenstoff bindet ein einzelner
Baum im Schnitt?
R. R.: Auch hier kann man nur eine grobe
Schätzung angeben. Pro Jahr nimmt eine
Buche in etwa 12,5 kg CO₂ auf – das kommt
aber auf ihr Alter und ihre Größe an. Auch
ist die Aufnahmefähigkeit der Baumarten
sehr unterschiedlich und abhängig von der
jeweiligen Holzdichte. Bäume in unseren
Breitengraden wachsen zudem deutlich
langsamer als etwa in den Tropen.
Der Regenwald im Amazonas wird als die
„Grüne Lunge“ bezeichnet. Was empfin-
den Sie, wenn Sie die Bilder der brennen-
den Regenwälder sehen?
R. R.: Eine Mischung aus Scham und gro-
ßer Sorge. Wie konnten wir Menschen es
so weit kommen lassen und was bedeutet
jeder weitere Brand für die Zukunft unserer
Erde? Heute ist uns klar, welche Auswir-
kung weitreichende Rodungen haben und
wie schwer es ist, diese Fehler rückgängig
zu machen.
Renaturiert sich ein Regenwald nicht
wieder nach einem solchen Brand?
R. R.: Im besten Fall ja, wenn ihm dazu die
Chance und vor allem Zeit gegeben wird.
Aber dann dauert es natürlich, trotz guten
Wachstums, bis das komplexe Ökosystem
des Regenwaldes wieder intakt ist. Gero-
dete Flächen werden außerdem vielfach als
Weideland genutzt. Ohne den schützenden
Wald zehrt der Boden innerhalb weniger
Jahre aus. Der Untergrund verfestigt sich
und das starke Regenwasser sorgt zusätz-
lich für das Ausspülen von Nährstoffen.
In Nicaragua gehen Sie mit Ihrem neuen
Projekt jetzt genau diese Problematik an.
R. R.: Wir haben insgesamt eine Fläche von
1000 Hektar erworben, um diese innerhalb
der kommenden fünf Jahre Stück für Stück
naturnah aufzuforsten. Beginnen werden
wir jetzt mit den ersten 250 Hektar. Ein
solch großes Projekt könnten wir allein
vor Ort aber gar nicht umsetzen, daher
haben wir uns erfahrene Hilfe geholt:
Ritter Sport Nicaragua. Gemeinsam kom-
men wir somit auf 3500 Hektar zusam-
menhängende naturnahe und ökologisch
bewirtschaftete Gesamtfläche.
Wie kann man sich diese Zusammenarbeit
vorstellen?
R. R.: Ritter Sport bringt die personelle
Unterstützung vor Ort mit, das Wissen über
Vegetation und Bodenbeschaffenheit und
verfügt zudem über die Infrastruktur, die
für ein so großes Projekt absolut notwen-
dig ist. Unsere erworbene Fläche liegt in
unmittelbarer Nähe zu der Kakaoplantage
„El Cacao“ von Ritter Sport mit einer eige-
nen Baumschule sowie Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, die die Jungbäume auf-
ziehen, pflanzen und versorgen.
Wie kann man sich den Prozess vorstellen?
R. R.: Am Anfang stand die Analyse des
Bodens, die Planung, welche Pflanzen mit-
einander harmonieren, welche besonders
schützenswert sind und wie sie letztlich
wieder zu einem Regenwald heranwachsen
können, der Pflanzen und Tieren Lebens-
raum und Zuflucht bietet. Sowie klar war,
welche Bäume gepflanzt werden können,
wurden Samen gesammelt und in der
Baumschule gesät, um Setzlinge heran-
zuziehen.
Fläche eingebracht zu werden. Hier muss-
ten wir jedoch zunächst die stärkste Phase
der Regenzeit abwarten, damit sie wurzeln
können und nicht weggespült werden. Aber
wie auch bei der Pflanzung in Deutschland
wissen wir, dass nicht jeder Setzling zu
einem Baum heranwachsen wird. Das ist
ganz natürlich, genauso entwickelt sich
auch ein Wald ohne menschliches Zutun.
Das klingt nach einer beachtlichen Zahl
an Jungbäumen.
R. R.: Das ist richtig. Um allein die Fläche
von 250 Hektar greifbarer zu machen:
Wir reden hier von mehr als 350 Fußball-
feldern. Ziel der Forstbaumschule für die-
ses Jahr ist es, über 156.000 Setzlinge für
die Bepflanzung hochzuziehen, um dann
an die 625 Jungbäume pro Hektar einzu-
bringen. Auf den 750 Hektar sprechen wir
für die kommenden Jahre dann insgesamt
eine Mischung aus langsam wachsenden
Harthölzern und schneller wachsenden
Weichhölzern haben. Regenwälder haben
diesen besonderen Aufbau: Die unter-
schiedlich schnell wachsenden Bäume
bilden regelrechte Stockwerke und jedes
hat seine Bewohner mit einem ganz eigenen
Lebensraum.
Ihr Ziel sind also nicht nur die Bäume …
R. R.: Nein, natürlich nicht. Wir möchten
diesen außergewöhnlichen Lebensraum
Regenwald schützen und seinen Bewoh-
nern wieder eine Zuflucht bieten. Wir ach-
ten darauf, ausreichend Bäume anzupflan-
zen, die Samen und Früchte ausbilden, die
verschiedenen Tieren als Nahrungsquelle
dienen, wie Guave oder Pera de Agua.
Was vermuten Sie: Welche Tiere
werden sich in Zukunft ansiedeln?
R. R.: Durch die angrenzende Fläche von
Ritter Sport wissen wir von Tieren, die dort
heimisch sind und sicher auch den Weg in
den neu wachsenden Regenwald finden
werden: z. B. Ozelote, Ameisenbären,
Weißrüssel- Nasenbären, Faultiere – aber
natürlich auch zahlreiche Vogelarten, Affen
und hoffentlich viele mehr. Ziel unseres
Projektes ist es, den Regenwald zu renatu-
rieren und Tieren wie Menschen dieses
wertvolle Ökosystem zurückzugeben, das
so viel mehr ist als ein Stück Wald. Ein
intakter Regenwald bietet Zukunft!

Raoul Roßmann Wie lange braucht es, bis daraus Jung-

bäume entstehen, die eine Chance haben
„Im Durchschnitt produziert ein gesunder Baum, der schon
anzuwachsen?
R. R.: Aufgrund des Klimas in Nicaragua
ein gewisses Alter und eine entsprechende Größe erreicht geht das deutlich schneller als bei uns; je
nach Spezies dauert es zwei bis sechs Mo-
hat, täglich Sauerstoff für zehn Menschen.“ nate, bis die Jungbäume über ausreichend
Widerstandskraft verfügen, um auf die
von über 468.000 Setzlingen.
Weitere
Wie viele verschiedene Baumarten Informationen
sind es?
R. R.: Ritter Sport Nicaragua zieht für uns zum Thema:
bis zu 30 verschiedene dort heimische
Baumarten heran, da sie unterschiedliche
Funktionen im Wald erfüllen. Wir werden
38 WISSEN 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Geschichtswissenschaft

»Ziemlich
DIE ZEIT: Frau Wulf, Sie haben ein Buch über Natur, und ich spüre dennoch eine Zugehörig- schwingt da noch mehr mit. Etwa die Angst, die
die 1790er-Jahre in Jena geschrieben, damals keit«-Gefühl. Natur und die Verbindung zu ihr zu verlieren.
kam dort ein Haufen radikaler Denkerinnen ZEIT: Die Romantiker sprachen von der Poesie Ich lebe in London. Vor ein paar Jahren kam
und Denker zusammen. Was fasziniert Sie als vereinende Kraft. Was meint das? hier Blue Planet heraus, eine BBC-Dokureihe.
daran? Wulf: Erst mal nichts anderes als das altgriechi- In einer Szene wird gezeigt, wie eine Albatros-

aufgeblasene
Andrea Wulf: Das war tatsächlich das Who’s who sche poiētikós, also »produktiv« und »schöpfe- mutter ihr Junges mit Plastik füttert. Das hat
der deutschen Denker und Poeten, die waren alle risch«. Das konnte alles sein: ein Gedicht, ein dazu geführt, dass man nun Plastiktüten bezah-
zur selben Zeit am selben Ort. Ich wollte wissen, Roman, Musik, ein Gemälde oder ein wissen- len muss und sie nicht mehr automatisch be-
wie es dazu kam und warum ausgerechnet in schaftliches Experiment. Ihnen ging es um die kommt. Nicht weil Plastik auf einmal gefährlich
Jena. Deutschland war damals ein politischer Fli- Verbindungen zwischen Disziplinen, weil dann ist, das wussten alle schon vorher. Es war die
ckenteppich, wo Zensur schwer durchzusetzen etwas Neues entsteht, so wie wenn zwei Elemen- Kraft dieser Szene! Das versuchen die Romanti-

Egos«
war. Die Uni von Jena wurde aus etwas kompli- te eine neue chemische Verbindung eingehen. ker im Grunde: die Dinge nicht nur durch
zierten Gründen von vier Herrschern kontrol- ZEIT: Meine Assoziation sind schwülstige Lie- Wissenschaft, sondern auch durch Einbildungs-
liert – von denen aber keiner so richtig das Sagen besgedichte. kraft und Gefühl zu erklären.
hatte. Das erlaubte den Professoren dort viel Wulf: Die ursprüngliche Bedeutung könnte ZEIT: Widerspricht das nicht der Idee von
Freiheit. Die wichtigste Literaturzeitung des nicht weiter davon entfernt sein. Für die Freun- Wissenschaft? Muss Forschung nicht Abstand
Landes war hier ansässig, Leipzig mit seiner de in Jena war die romantische Dichtung wider- zu Gefühlen halten?
Buchmesse um die Ecke. Der Superstar Schiller spenstig, dynamisch und veränderte sich stän- Wulf: Genau das glaube ich eben nicht. Die Ro-
lebte hier und lockte nach und nach einen Kreis Seitdem die Romantiker das Ich ins dig. Sie war ein »organisches Wesen«. Sie woll- mantiker waren nicht gegen den Verstand und
von rebellischen Köpfen an. Deren Denken be-
einflusst unsere Gesellschaft bis heute.
Zentrum stellten, kollidiert freier Wille mit Selbstsucht, ten die ganze Welt romantisieren, um den Men-
schen mit der Natur und die Kunst mit der
rationale Beobachtung. Das allein reichte ihnen
aber nicht, obwohl sie zum Teil selbst Wissen-
ZEIT: Worum ging es der Gruppe? sagt die Historikerin Andrea Wulf Wissenschaft zusammenzubringen. schaftler waren: Novalis, Humboldt, Goethe.
Wulf: Um dieselben Fragen, die uns heute be- ZEIT: Sie schreiben am Ende Ihres Buches: »Es Ich glaube, dass dieses Denken eine neue Gene-
schäftigen: Wie kann ich frei sein? Wer bin ich ist unmöglich, sich unser Leben (...) ohne das ration anspricht. Gefühle und die Einbildungs-
als Individuum? Wer als Mitglied einer Gesell- Fundament ihrer bahnbrechenden Ideen vorzu- kraft mit in die Diskussion zu nehmen ist nicht
schaft? Wie kann ich ein erfülltes Leben führen? stellen.« Wo genau sehen Sie diese Kontinuität? unseriös oder New Age, sondern hat eine Tradi-
Wie meinen Träumen folgen – und gleichzeitig Wulf: Einer der wichtigsten Denker der Roman- tion in der deutschen Geistesgeschichte.
ein guter Mensch sein? tik war Fichte. Der stellte sich breitbeinig hin ZEIT: Sie haben das Buch in der Pandemie be-
ZEIT: Darüber wurde in Jena diskutiert? und sagte: Aller Realität Quelle ist das Ich! Das endet. Haben Sie die Ideen der Romantiker an
Wulf: Ja, Schiller, Goethe und Fichte, die Schle- Ich ist der Anfang von allem! Es gibt keine ab- sich selbst beobachten können?
gel-Brüder, Schelling, Caroline Schlegel, die soluten oder gottgegebenen Wahrheiten! Die Wulf: Ich bin während der Pandemie in
Humboldt-Brüder waren dort. Hegel kam nach einzige Sicherheit, die wir haben, ist, dass die Deutschland hängen geblieben und war zwei
Jena, weil er Schellings Freund war. Welt durchs Ich verstanden wird! Damit machte Jahre kaum zu Hause in London. In der Zeit
ZEIT: Was genau passierte dort? er das Ich zum Herrscher der Welt. habe ich begonnen zu gärtnern und einen Ge-
Wulf: In Jena wurde ein Paradigmenwechsel ein- ZEIT: Die heutige ichbezogene Gesellschaft soll müsegarten angelegt. Dieses Gefühl, einen ver-
geleitet, den wir bis heute spüren. Das war ein Fichtes Schuld sein? schrumpelten Spinatsamen in der Erde zu ver-
Haufen Rebellen, die sich auf dem schmalen Wulf: Jedenfalls steht seitdem das Ich im Mittel- graben, die Pflanze wachsen zu sehen und sie
Grat zwischen den aufregenden Möglichkeiten punkt westlicher Gesellschaften – im Guten wie dann zu essen – das kann dir keiner rational
des freien Willens und den Tücken der Selbst- im Schlechten. Nur war seine Idee nicht die erklären. Aber ich bin eben auch ein rationales
sucht bewegten. Hier haben sie ihre grundlegen- einer narzisstischen Huldigung des Ichs. Freiheit Wesen. Mir diese Gefühle aus der Geschichte
den Schriften, Aufsätze und Romane verfasst, ging für Fichte immer mit moralischen Ver- heraus zu erklären hilft mir zu verstehen, wa-
mit denen sie die Romantik als internationale pflichtungen einher. Das ist das, was heute größ- rum wir so sind, wie wir sind. Und ich glaube,
Bewegung einläuteten. tenteils weggefallen ist. dass Einbildungskraft zentral ist, wenn es um
ZEIT: Die verbindet man heute stark mit der ZEIT: Wie hielten die Romantiker ihr Ich durch die Klimakrise geht.
Idealisierung von Natur. Zu der Zeit erfasste ge- Moral im Zaum? ZEIT: Was meinen Sie mit Einbildungskraft?
rade die Industrialisierung Europa. Es scheint Wulf: Sie orientierten sich zunächst an Imma- Wulf: Wie etwa Künstlerinnen die Klimakrise
damals schon dieselben Widersprüche gegeben nuel Kant und seinem kategorischen Imperativ: ausdrücken können, ist oft eindrucksvoller als
zu haben wie heute: Auf der einen Seite feiert Handle so, dass dein Handeln Grundlage eines Wissenschaft. Zumindest für einen Teil der
man die Schönheit des Lebens – damals mit allgemeinen Gesetzes werden könnte. Im Grun- Menschheit. Ólafur Elíasson hat etwa diese
Poesie, heute mit Natur-Dokus –, während die de benutzten sie ihr eigenes Leben als Theater- riesengroßen Blocks von Gletschereis aus Grön-
Umwelt zerstört wird. bühne, um das alles auszuprobieren. Die Grup- land nach London, Paris und Kopenhagen ge-
Wulf: Diese Realität prägte die Romantiker pe junger Frauen und Männer machte das Ich bracht, wo sie dann getaut sind. Das war ein
stark. Sie wandten sich vor allem gegen das rein zum Herrscher der Welt. Es ist nicht so über- unglaublich greifbares Kunstwerk der Klima-
empirische Denken der Aufklärung und glaub- raschend, dass sie alle irgendwann ziemlich auf- krise. Aber das eine muss das andere nicht aus-
ten, dass deren rationaler Ansatz Distanz zur geblasene Egos hatten. Die Verpflichtungen, mit schließen, es braucht beides parallel. Friedrich
Natur schuf. Diese wurde nur noch aus einer denen Freiheit daherkommt, das funktioniert Schlegel hat damals gesagt: »Ich will Euklid sing-
sogenannten objektiven Perspektive untersucht. theoretisch alles sehr gut. Praktisch eher nicht. bar machen«, also Mathematik und Physik in
Dagegen wehrten sie sich. ZEIT: Ist heute nicht anders. Musik verwandeln. Das ist doch wunderbar!
ZEIT: Und was für ein Verhältnis hatten die Wulf: Das Ringen ist intrinsisch in der romanti- ZEIT: Wenn die Romantik in der Schule be-
Foto: Kasia Zacharko für DIE ZEIT (fotografiert am 26. 09. 2022 in Manhattan, New York)

Romantiker zur Natur? schen Philosophie angelegt. Vom freien Willen handelt wird, müssen Kinder Stichpunkte aus-
Wulf: Sie haben das Verhältnis zwischen Mensch ist die Fallhöhe sehr groß, der Weg in die Selbst- wendig lernen.
und Natur neu definiert! Der Philosoph Fried- besessenheit nicht weit. Seitdem Fichte das Ich Wulf: Totaler Schwachsinn! Die Freunde aus
rich Schelling ist da ganz wichtig. Er erklärte, ins Zentrum gesetzt hat, müssen wir uns mit Jena hatten alle eigene Ideen, keine und keiner
dass der Mensch und die Natur eins sind, und seinen Tücken auseinandersetzen. passt in Kategorien. Die Idee war, undefinierbar
lieferte die philosophische Grundlage für ein ZEIT: Wir führen dieses Interview in New York. zu sein. Das bedeutet natürlich nicht, dass alles
Gefühl, das fast alle Menschen kennen: Natur Die USA haben die maximale Ausdehnung des super war, was sie gemacht haben.
beruhigt. Natur heilt. Sie spricht zu etwas in Ichs zum Leitmotiv gemacht, zugleich werden ZEIT: In der Gegenwart zu leben bedeutet für
uns, was nicht der Verstand ist. hier gigantische Ressourcenmengen verbraucht. ganz viele Menschen, nicht ichbezogen leben zu
ZEIT: Das ist heute ein Forschungszweig. In den Zufall? können – nie haben mehr Menschen gehungert
Achtzigerjahren hat man entdeckt, dass Verletzte Wulf: Wie gesagt: Freiheit endet dort, wo die als heute, und 80 Prozent der Erdbevölkerung
schneller genesen, wenn sie vom Krankenhaus- Freiheit des nächsten Menschen beginnt. Aber werden nie ein Flugzeug betreten ...
bett ins Grüne schauen, dass Menschen psy- Theorie und Praxis haben nicht immer viel mit- Wulf: Und andere nehmen sich alles heraus und
chisch gesünder sind, wenn sie in der Nähe von einander zu tun. denken gar nicht darüber nach, wie sie sich ver-
Wäldern oder Parks leben. Die Romantiker ZEIT: Wie haben es die Ideen aus Jena damals in halten. Das ist die Tücke: Wenn das Ich boden-
hatten also das richtige Gefühl, wissen konnten die Welt geschafft? los und die moralische Pflicht ignoriert wird,
sie das aber nicht ... Wulf: Durch die Werke, die von den englischen dann wird anderen die Freiheit genommen.
Wulf: Die Aufklärung behauptete, dass Wissen- Romantikern und den amerikanischen Trans- ZEIT: Was ist dann die richtige Dosis an Ich?
schaft und Gefühl nichts miteinander zu tun zendentalisten verschlungen wurden. Wie wich- Wulf: Das ist die Frage, oder? Die hat die Ro-
haben. Die Romantiker widersprachen: Die tig der Jenaer Kreis für Denker in anderen Län- mantiker damals schon beschäftigt – und wir
Natur und ich, das ist das Gleiche. Diese Philo- dern war, wird in Deutschland oft vergessen. schlagen uns noch heute damit herum.
sophie der Einheit wurde zum Herzschlag der Die deutsch-britische ZEIT: Und dieser Einfluss reicht bis ins Heute?
Romantik. Schauen Sie sich das berühmte Cas- Bestsellerautorin Andrea Wulf, Wulf: Nehmen Sie den Kampf gegen die Klima- Das Gespräch führte Fritz Habekuß
par-David-Friedrich-Bild an, auf dem ein Wan- fotografiert in Manhattan krise. Der wird begründet mit wissenschaft-
derer auf der Klippe steht und übers Wolken- während ihrer lichen, statistischen, technokratische Argumen- Andrea Wulf: Fabelhafte Rebellen.
meer guckt. Das ist dieses »Ich bin allein in der Lesereise durch die USA ten. Wenn ich aber mit Aktivistinnen rede, C. Bertelsmann Verlag

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ARBEITEN IM ÖFFENTLICHEN DIENST
DIE ZUKUNFT
GESTALTEN
Wir leben in herausfordernden Zeiten. Umso wichtiger, durch die
tägliche Arbeit einen sinnstiftenden Beitrag für eine lebenswerte Zukunft
zu leisten. Wir stellen Menschen vor, die eine erfüllende Aufgabe
gefunden haben – im öffentlichen Dienst.
… weil nichts so stark
motiviert wie sinnvolle
Aufgaben
MICHAEL PRELLBERG
Wir stehen vor gewaltigen Herausforderun-
gen. Davor kann man den Kopf in den Sand
stecken – oder die Aufgabe annehmen: Was
können wir tun? Wo können wir ansetzen?
Idealerweise bei einem Arbeitgeber, der
sich dieselben Ziele setzt und Wege in eine
lebenswerte Zukunft gestalten will. Indem
beispielsweise ambitionierte Ziele (um-)
gesetzt werden, um klimaneutraler zu
wirtschaften. Oder indem beim Auseinan-
derdriften der Gesellschaft gegengesteu-
ert wird. Ein Arbeitgeber also mit sinnstif-
tenden Aufgaben.
Der öffentliche Dienst bietet eine Viel-
zahl solcher Aufgaben an – viele jenseits
der klassischen »Amtsstube«. Gefragt sind
IT-Fachkräfte ebenso wie Soldatinnen
und Polizisten, Gerichtsvollzieherinnen
und Lehrer, Ingenieure und Försterinnen
– die Liste ließe sich problemlos verlän-
gern. Mehr als 100 Berufe gibt es im öf-
fentlichen Dienst, und bei denen liegt der
Schwerpunkt häufig nicht auf dem Ver-
walten. Sondern auf dem Gestalten.
Alle teilen denselben
Antrieb: etwas
Sinnvolles zu gestalten.
Eben deshalb sollte der öffentliche
Dienst aufhören, mit dem Zaunpfahl »Hier
gibts sichere Jobs!« zu winken, empfehlen
Kritiker. Zielführender sei es, sich anzu-
schauen, worauf junge Fachkräfte eben-
so wie potenzielle Quereinsteigerinnen
und -steiger heute Wert legen. Stichwort:
Sinn. »Verwaltungen sind krisenfeste Ar-
beitgeber, das muss herausgestellt wer-
den – aber es darf nicht alles sein«, sagt
Carsten Köppl, Geschäftsführer der Bera-
tungsagentur Next:Public. Er fordert die
öffentlichen Arbeitgeber auf, beim Trom-
meln um Fachkräfte die richtigen Akzen-
te zu setzen. Das Motto: »Hier kannst du
etwas verändern und gestalten!« Sinnstif-
tende Aufgaben sind mehr gefragt denn je.
91  Prozent der Frauen und Männer der
Generation Z, also der Jahrgänge so ab
Ob als Lehrerin oder IT-Fachkraft, Krankenschwester oder Polizist: Die Chance, einen
sinnstiftenden Beitrag zu leisten, macht den öffentlichen Dienst so attraktiv.
dem Jahr 2000, geben in einer aktuellen
Whatchado-Umfrage die Aussicht auf
sinnvolle Tätigkeiten als wichtigstes Kri-
terium bei der Auswahl ihres Arbeitgebers
an. Bei den Älteren sieht es kaum anders
aus, wie eine StepStone-Umfrage bestä-
tigt: Dort sagen 89 Prozent der befragten
Führungs- und Fachkräfte, sie wünschen
sich »sinnstiftende Aufgaben«. Kein Wun-
der, sagt der Arbeitspsychologe Theo Weh-
ner: »Wir wissen aus zahlreichen Studi-
en, dass Arbeit, die Menschen als sinnlos
empfinden, krank macht.«
Wenn es also darum geht, mit Freude
an die Arbeit zu gehen und am Feierabend
das Gefühl zu haben, etwas Sinnvolles ge-
leistet zu haben, dann kann der öffentliche
Dienst punkten. Genauer gesagt: könn-
te punkten, wenn er sich denn traute. In
einer McKinsey-Studie bemängeln Füh-
rungskräfte in den Verwaltungen, ihrem
Arbeitgeber fehle ein »Wertversprechen«.
Übersetzt: Wie erfüllend die Aufgaben
sind, werde weder intern noch nach außen
kommuniziert.
Das ändert sich allmählich. Weil sich
herumspricht, dass endlich digitale Pro-
zesse in den öffentlichen Dienst einziehen
und so die Weichen für einen modernen
Staat gestellt werden. Weil Verwaltungen
sowieso offen sind für flexible Arbeitszei-
ten und -orte (Homeoffice!). Und weil es
eben attraktiv ist, einen sicheren Arbeits-
platz und zugleich nette Kolleginnen und
Kollegen zu haben, die dasselbe Ziel an-
treibt: mit ihrer Arbeit etwas zu bewirken.
Diese Aufbruchsstimmung vermit-
telt sich bislang nicht immer nach außen,
ebenso wenig die Transformation hin zu
digitalen Organisationen. Tatsächlich
geht nicht alles so schnell voran, wie es
wünschenswert wäre. Mitunter allerdings
sind Behörden schneller als die Privat-
wirtschaft – etwa beim Papierkram mit
den Rechnungen. Papier gibt es nämlich
nicht mehr. Verwaltungen setzen auf die
XRechnung, die automatisiert maschinell
weiterverarbeitet werden kann. Ganz di-
gital.
Die XRechnung ist natürlich nur ein
Indiz, doch es zeigt: Hier bewegt sich et-
was! Wer wissen will, wie viel sich tatsäch-
lich bewegt, der muss hinter die Kulissen
schauen und tatsächlich einsteigen. Um
festzustellen: Gehalt und Arbeitsbedin-
gungen stimmen im öffentlichen Dienst
– und sinnstiftende Aufgaben gibt es im
Übermaß.
»Die diplomatische Laufbahn ist eine
Lebensentscheidung«
ANKE BRACHT
Die Welt kennenlernen und dafür sogar
bezahlt werden? In Fremdsprachen parlie-
ren und dabei Canapés naschen? Klingt
verlockend. Auch deshalb bewerben sich
Tausende junger Männer und Frauen jedes
Jahr beim Auswärtigen Dienst. Worauf
es wirklich ankommt, um sein Land über-
zeugend hoheitlich zu vertreten, erzählt
Sabine Sparwasser, die deutsche Botschaf-
terin in Ottawa.
Reicht der Wunsch, die Welt kennenlernen
zu wollen, aus für ein Eintrittsbillett in den
Auswärtigen Dienst?
Sabine Sparwasser: Die Welt lernt man
sicher kennen. Es ist aber schon eine Le-
bensentscheidung, in den Auswärtigen
Dienst zu gehen. Wir werden alle drei,
vier Jahre versetzt. Und natürlich auch
in viele Länder, in denen die Lebens-
bedingungen nicht so gut sind wie in
Deutschland. Gerade in den letzten
Jahren sind die Bedingungen in vielen
Teilen der Welt härter geworden – sei es
politisch, in Bezug auf Sicherheit, Klima,
Groß.
Sicher.
Bunt.
Umwelt. Das darf man nicht verkennen.
Andererseits wirken wir im Auswärtigen
Dienst mit an einer großen Aufgabe: die
Werte und Interessen unseres Landes in
der Welt zu vertreten. Das heißt: Arbeit,
oft auch als kleines Rad im großen Ge-
triebe, für Frieden, für Menschenrechte,
für Klimaschutz …
Erst einmal muss ich allerdings aufgenom-
men werden in den Auswärtigen Dienst.
Worauf kommt es dabei an?
Je nach der gewählten Laufbahn muss
der entsprechende Abschluss vorliegen.
Im gehobenen Dienst ist das ein Abi-
tur, im höheren Dienst ein Masterstudi-
um. Wichtig ist auch, dass die Auslands-
orientierung im Lebenslauf sichtbar ist
– sei es durch Praktika oder Studien au-
ßerhalb Deutschlands. Nach der Bewer-
bung folgt ein schriftliches Aufnahme-
verfahren, in dem Sprachkenntnisse,
Grundwissen in Geschichte, Wirtschaft
et cetera abgeprüft werden. Im münd-
lichen geht es dann um die Persönlich-
keit, Motivation und Teamfähigkeit.
Ein Spezial
Eindes
Spezial
Zeitverlags | ÖFFENTLICHER
des Zeitverlags | WEITERBILDUNG
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Haben Männer bessere Chancen
als Frauen, in den Auswärtigen Dienst
aufgenommen zu werden?
und der diplomatische Dienst so bunt
und multikulturell wie das Land.
Nein, das Geschlecht spielt für die
Chancen, ausgewählt zu werden, keine
Rolle. Es ist es aber so, dass sich im
höheren Dienst früher mehr Männer
beworben haben. Im gehobenen Dienst
bewerben sich hingegen deutlich mehr
Frauen.
Der wichtigste Punkt ist: der Aus-
wärtige Dienst hat ein großes Inter-
esse daran, unser Land in all seiner
Diversität auf allen Ebenen und Posten Sabine Sparwasser
möglichst gut abzubilden. Wir profi- ist seit 2017 deutsche Botschafterin
tieren enorm davon, wenn Kollegen in Ottawa. Die Politikwissenschaft-
und Kolleginnen Migrationserfahrung lerin trat 1985 in den Auswärtigen
und weitere Elternsprachen zu uns Dienst ein. Nach Stationen in Bonn,
bringen. Brüssel, London und San José wurde
sie erstmals ins kanadische Ottawa
Mehr Diversität also auf dem diploma- versetzt. 2009 bis 2013 war Sparwas-
tischen Parkett? ser Generalkonsulin in Toronto, im Jahr
Ja – und da können wir aus meinem darauf übernahm sie die Leitung der
Gastland Kanada sehr viel positive Akademie Auswärtiger Dienst.
Erfahrungen mitbringen. Denn hier (© Auswärtiges Amt)
sind auch die öffentliche Verwaltung
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des Zeitverlags
des Zeitverlags 2

»Und ich gucke auch nicht streng«

ANKE BRACHT mehrmals angeschrieben – bis hin zum AT TR AK TIVE ARBEITG EBER
Gerichtsvollzieher? Das sind doch die mit
der schmalen Tasche unterm Arm und dem
Räumungsurteil. »Außerdem sind Fristen
einzuhalten, damit sich der Betreffende
G ESUCHT – UND G EFUNDEN
ebenso schmalen Lächeln? Nicole Glück um etwas Neues kümmern oder die Lage
muss lachen: »Bei uns in Wennigsen ist das
bestimmt nicht so.«
noch abwenden kann.«
»Wenn Schuldner oder Gläubiger un-
Die Zahl der Suchanfragen nach Jobs
In Wennigsen unweit von Hannover le-
zufrieden mit meiner Arbeit sind, kön-
nen sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde
im öffentlichen Dienst hat sich mehr
ben rund 14.000 Menschen, man kennt einreichen.« Dazu sei es aber noch nie als verdoppelt: Ein Plus von 102 Pro-
sich. Das gilt auch für Nicole Glück vom gekommen, sagt Nicole Glück. Schon
Amtsgericht. Als Gerichtsvollzieherin hat weil sie Konfrontationen zu vermeiden zent notiert Stepstone im Vergleich
sie die Aufgabe, nun ja, Gerichtsurteile zu sucht. »Das Auftreten und die Ansprache
vollziehen. Was die Berufsbezeichnung sind das Wichtigste in meinem Beruf«, zum Vorjahr. Die Jobbörse hat die
Interessierten daher gefragt, warum
unterschlägt: Nicole Glück geht immer sagt die Gerichtsvollzieherin. »Ich trage
auch den nächsten Schritt. »Soweit wir keinen förmlichen Anzug und ich gucke

es sie in den öffentlichen Dienst

können, bieten wir Lösungen an.« Die
basieren stets auf gesetzlicher Grundlage
– und auch ganz wichtig: Der Gläubiger
muss mit dem Vorschlag, eine längere Ra-
tenzahlung zum Beispiel, einverstanden
sein.
Der Weg bis zu einem solch konstrukti-
ven Austausch ist mitunter mühsam. Sel-
ten ist die Gerichtsvollzieherin eine will-
kommene Besucherin, oft muss sie sich
barsche Worte anhören. Klar komme es
mal vor, sagt Nicole Glück, dass die Situ-
ation unangenehm werde. Dann versucht
sie alles, um das Gespräch »wieder auf
eine ruhige Ebene« zu bringen. Bislang sei
ihr das in ihrer 15-jährigen Tätigkeit im-
mer gelungen. Weil sie Verständnis für die
persönliche Situation des Schuldners ver-
mittelt. Ihr Besuch kann für Schuldner wie
Wenn der Hammer fällt – ist keineswegs alles vorbei. Nicole Glück sieht ihre Aufgabe
als Gerichtsvollzieherin nicht zuletzt darin, Lösungen anzubieten.
Als 2005 auch Quereinsteiger aus kauf-
männischen Berufen zugelassen werden,
greift sie zu und beginnt eine Weiterbil-
dung zur Gerichtsvollzieherin. Die dauert
bei ihr als Quereinsteigerin zweieinhalb
anstatt zwei Jahre. Der Grund: Vor der
eigentlichen Weiterbildung am Amtsge-
richt werden rechtliche Grundlagen mit
auch nicht streng, ich will den ganzen
Fall auf einer guten zwischenmenschli-
chen Ebene lösen, auf Augenhöhe.« Das
klappt nicht immer beim ersten Besuch. zieht. Zwei von drei antworteten:
Umso mehr freut sie sich, wenn gerade bei
Menschen, mit denen sie regelmäßig zu der Wunsch nach einer »sinnhaften
tun hat – wenn alle paar Jahre die Vermö-
gensauskunft erneuert werden muss oder
Tätigkeit«. 57 Prozent schätzen die
immer wieder Ratenzahlungen zu verein-
baren sind –, sich deren persönliche Situa-
»flexiblen Arbeitszeiten«. Gute Nach-
sein, dass sie ihren Arbeitsalltag selbst or-
tion entspannt hat. »In solchen Momenten
sehe ich immer, was ich in meinem Beruf
richt für diese Interessierten: Parallel
ganisieren müssen.«
Neben dem Eintreiben finanzieller
bewegen kann«, sagt Nicole Glück, »das ist
schön.«
zur Nachfrage hat sich auch das
Forderungen zählt auch das Räumen von Angebot erhöht. Im Vergleich zum
Immobilien und sogar die Herausgabe von
Kindern zu ihren Aufgaben. Wie lässt sich Vorjahr ist die Zahl der Ausschreibun-
gen im öffentlichen Dienst um be-
gerade bei solch emotional sehr aufgelade-
nen Situationen die professionelle Distanz

achtliche 93 Prozent gestiegen.

eine Weichenstellung sein: Kurs halten
oder einen Ausweg suchen? Wer die Wei-
che umlegen will, dem hilft Nicole Glück
gern. »Das darf aber nicht dazu führen,
dass man sich ausnutzen oder hinhalten
lässt«, betont sie. »Der gesunde Respekt
vor mir als Vertreterin des Rechtsgebers
muss gewahrt werden.«
Ihren Traumjob hat Nicole Glück wäh-
rend ihrer Ausbildung zur Justizfachange-
stellten kennengelernt: Die Aufgaben ei-
nes Gerichtsvollziehers kennenzulernen,
war Teil des Lehrplans. »Ich fand diesen
Mix aus Büro- und Außendienst span-
nend«, erinnert sich die 44-Jährige, »und
dass man seine Zeit frei einteilen kann.«
Schwerpunkt auf Bürgerliches Gesetz-
buch und Zivilprozessordnung vermittelt.
»Ist das alles bestanden, erhält man seinen
Beamtenstatus im Mittleren Dienst, die
ersten zwei Jahre allerdings probeweise«,
erklärt Nicole Glück.
Die zierliche blonde Frau ist mittler-
weile Obergerichtsvollzieherin am Amts-
gericht Wennigsen, wo sie auch ihre Bü-
rosprechzeiten abhält. »Wir sind sehr frei
in der Ausgestaltung unserer Arbeit, aber
natürlich haben wir schon ein paar Vorga-
ben zu erfüllen«, sagt sie und ergänzt: »So
spannend und vielseitig dieser Beruf ist, er
erfordert eine Menge an Disziplin. Inter-
essenten müssen sich darüber im Klaren
wahren? Nicole Glück hat dafür ihr eige-
nes Rezept entwickelt: »Ich lasse das nicht
an mich heran. Das mag hart klingen, aber
ich weiß, dass zu jedem Fall auch eine Ge-
genseite gehört. Und die hat berechtigte
Forderungen.« Zumal ihr Erscheinen ja
niemanden überrascht. Jedes einzelne
Gerichtsurteil hat einen monatelangen, Nicole Glück
meist sogar jahrelangen Vorlauf. Das Ge- ist Obergerichtsvollzieherin in
richt hat entschieden – Nicole Glück setzt Wennigsen bei Hannover. Die
das Urteil nur um. Und geht selbst dann Quereinsteigerin war zuvor als Justiz-
vorsichtig vor, damit sich niemand über- fachangestellte tätig. Während ihrer
fallen fühlt, wie sie am Thema »Räumung« Ausbildung hatte sie den Beruf des
illustriert. »Es wird kein Mieter ›kalt‹ er- Gerichtsvollziehers kennengelernt.
wischt«, sagt die Gerichtsvollzieherin. Bis (© privat)
es zur Räumung kommt, werde der Mieter

Zupacken. Die Aufgabe ist klar:

Es gilt, den deutschen
Rund 30 Prozent
Deutschlands sind
von Wald bedeckt.
Technische Berufe beim Land. Jahrzehntelang ist

Wald zu retten der Anteil laut

Zukunft gestalten!
Sie stehen vor Ihrem Abschluss oder suchen eine neue
und spannende berufliche Perspektive? Sie wollen
planen, konstruieren oder bauen? Dann werden Sie Teil
der Landesverwaltung Schleswig-Holstein!
Für Fachkräfte bieten wir viele unterschiedliche Ein-
stiegsmöglichkeiten und Arbeitsfelder. Von der Bau-
verwaltung über Vermessung und Geoinformation bis
hin zum Küsteningenieurwesen – wir sind stets
auf der Suche nach klugen Köpfen mit verschiedenen
Talenten, um gemeinsam das Land zu gestalten!
Wir wollen, dass sich die gesellschaftliche Vielfalt auch
in der Landesverwaltung Schleswig-Holsteins wider-
spiegelt. Wir freuen uns deshalb über Bewerbungen
von allen Menschen, unabhängig von Nationalität,
Herkunft, Geschlecht, sexueller Identität, Alter, Behin-
derung, Religion oder Weltanschauung.
Schleswig-Holstein. Der echte Norden.
MICHAEL PRELLBERG
Mit der Büchse über der Schulter mal
schauen, wie die Fichten in Reih und
Glied wachsen: Von diesem Klischee
verabschieden sich Försterinnen und
Förster. Sie haben eine neue, wichtigere
Aufgabe: Sie müssen den Wald retten.
Wenn das mal so einfach wäre …
Dem deutschen Wald geht es schlecht.
Die trockenen und heißen Sommer set-
zen den Bäumen zu, das freut Schädlin-
Wir sind der größte Arbeitgeber im echten Norden – ge wie den Borkenkäfer. 79 Prozent der
unsere Kolleginnen und Kollegen sind überall zwischen Bäume weisen mehr oder minder große
Schäden auf, besagt die aktuelle Wald-
Nord- und Ostsee tätig. Von Flensburg bis nach
zustandserhebung. Besonders betrof-
Elmshorn und von Husum bis nach Lübeck bieten wir fen: die Fichte. Der häufigste Baum in
Ihnen spannende Aufgaben. deutschen Forsten stirbt, hat an vielen
Standorten keine Zukunft. Neue Kon-
Sie wollen dort arbeiten, wo andere Urlaub machen, zepte für einen widerstandsfähigen,
und sehen Ihre berufliche Zukunft beim Land klimaresilienten Wald sind gefragt.
Und damit Försterinnen und Förster,
Schleswig-Holstein?
die diese Konzepte entwerfen und um-
setzen.
Das bieten wir Ihnen: Wer sich heute mit Forst- und Wald-
• einen sicheren Arbeitsplatz wirtschaft beschäftigt, muss sich von
• flexible Arbeitszeiten den Monokulturen aus Fichten oder
• ein attraktives Gehalt Kiefern verabschieden. Doch was ist
• vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten die Alternative? »Darauf gibt es leider
nicht die eine Antwort, die immer und
• … und vieles mehr!
überall stimmt«, sagt Anne Jantzen,
Försterin der Niedersächsischen Lan-
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung! desforsten. »Jeder Wald ist anders, weil
jeder Standort anders ist. Wenn wir
Mehr Infos unter: über Lösungen nachdenken, müssen
schleswig-holstein.de/karriere die auch zum jeweiligen Standort pas-
moin_karriere sen.« Deshalb könne man nie sagen,
»wir müssen diesen oder jenen Baum
pflanzen, der widersteht dem Klima-
wandel«. Ob Buche oder Douglasie, ob
Eiche oder Schwarznuss, ob Edelkasta-
nie oder Tulpenbaum: Was für den ei-
nen Standort passt, kann schon neben-
an grundverkehrt sein.
»Mit dieser Komplexität umzuge-
hen und zugleich Antworten zu finden,
das ist eine echte Herausforderung«,
sagt Jantzen, die vor allem in der Lü-
neburger Heide unterwegs ist. Welche
Richtung eingeschlagen werden soll,
um den Wald zu retten, zumindest da-
rüber sind sich die Försterinnen und
Förster weitgehend einig: Die besten
Zukunftsaussichten hat ein Mischwald
mit vielen unterschiedlichen Nadel-
und Laubbäumen. Am besten noch als
Wald, in dem Bäume verschiedenen Al-
ters – von ganz jung bis Methusalem –
zusammenleben.
»Früher war der Klimawandel etwas,
vor dem Wissenschaftler gewarnt ha-
ben – etwas Abstraktes«, sagt Försterin
Anne Jantzen. »Jetzt gehe ich durch den
Wald und sehe jeden Tag: Der Klima-
wandel ist real, er ist angekommen.«
Und damit die Notwendigkeit, ihm et-
was entgegenzusetzen, um den Wald zu
retten. Jantzen benennt das Problem:
»Wir Menschen wollen sofort Resultate
sehen, wenn wir etwas anpacken, doch
so schnell geht das im Wald nicht.«
Es dauert nun mal ein paar Jahre,
bis ein Baum wächst und zeigen kann,
dass er besser mit trockenen und hei-
ßen Sommern klarkommt. Und das
wiederum klappt nur, wenn die Rehe
nicht vorher die leckeren grünen Triebe
der jungen Bäume abfressen – es muss
also verstärkt gejagt werden, damit sich
der Wald verjüngen kann. Ein dritter
Aspekt: Der Wald ist zugleich ein Wirt-
Anne Jantzen
hat Forstwirtschaft studiert.
Heute ist die 27-Jährige als Försterin
für Waldökologie und Naturschutz
bei den Niedersächsischen
Landesforsten (NLF) angestellt
und vor allem in der Lüneburger
Heide tätig.
(© Niedersächsische
Landesforsten/T. Gasparini)
Destatis-Angaben
leicht gestiegen –
bald könnte er
wieder sinken.
schaftsgut, Bäume werden geschlagen
und verkauft. Die Nachfrage ist höher
als das Angebot, die Holzpreise sind
in die Höhe geschossen. Das macht es
attraktiv, weitere Bäume zu fällen. Die
Versuchung ist groß, kurzfristig zu den-
ken – und die Motorsäge anzusetzen.
Wer einen möglichst gesunden Wald
erhalten will, muss solchen Impulsen
widerstehen – und der zunehmenden
Trockenheit etwas entgegensetzen.
»Die Bedeutung von Wasser im Öko-
haushalt haben wir lange vernachläs-
sigt«, sagt Anne Jantzen. In ihrer Arbeit
in der Lüneburger Heide sorgt sie dafür,
dass Wasser sich neu bilden kann oder
zumindest im Boden zurückgehalten
wird und nicht abfließt. Dafür werden
Feuchtwiesen oder auch Waldmoore
renaturiert.
»Man ist nie fertig im Wald«, sagt
Anne Jantzen. Umso wichtiger sei es,
überhaupt erst einmal anzufangen.
»Gerade wenn es um Wasser und Was-
serrückhaltung geht, ist offensichtlich,
was zu tun ist. Und wir können – im
Rahmen des finanziell Machbaren –
sofort loslegen.« Wenn sie in diesem
Herbst durch den Wald geht und sieht,
wie viele Eicheln die Traubeneichen in
diesem Jahr abwerfen, denkt sie: »Wow,
woher nimmt der Baum diese Kraft?
Und ich freue mich.«
 3 Ein
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Spezial
Eindes
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»Manchmal komme ich mir ein bisschen Wie werden Städte

vor wie ein Detektiv«
KILIAN KIRCHGESSNER
Katharina Schätz bereitet Regensburg auf
den Klimawandel vor. Sie sorgt dafür, dass
die Stadt auch mit heißen Wochen und
Extremereignissen wie Starkregen klar-
kommt. Bei ihrer Aufgabe baut die Umwelt-
planerin eine Brücke zwischen visionären
Ideen und der gründlichen Detailarbeit
einer Stadtverwaltung.
Ihre offizielle Berufsbezeichnung lautet
Klimaresilienzmanagerin, Frau Schätz. Das ist
ein gutes Thema für Small Talk – oder?
Katharina Schätz: Auf jeden Fall kommen
dabei immer wieder Fragen auf: Die meisten
wollen wissen, was ich eigentlich mache.
Und – was antworten Sie?
Ich erkläre das gern im Zusammenhang
mit dem Klimaschutz: Da steht vor al-
lem die Ursachenbekämpfung im Vorder-
grund, das heißt die CO2-Reduzierung.
Bei der Klimaresilienz oder Klimaanpas-
sung geht es darum, unsere Städte auf die
Folgen des Klimawandels vorzubereiten.
Wir sorgen dafür, dass sie auch an hei-
ßen Tagen gesund und lebenswert bleiben
– indem wir die Innenstädte mit Bäumen
und Brunnen abkühlen, Wasserrückhal-
tebecken schaffen und so weiter. Bei Kli-
maresilienz geht es also um den Erhalt
unserer Lebensqualität in den Städten.
Warum ist gerade Regensburg so engagiert
bei diesem Thema?
Unsere Altstadt ist fast 2.000 Jahre alt.
Hier auf den steinernen Plätzen ist die
städtische Erwärmung im Sommer be-
sonders deutlich zu spüren, da fühlt man
wortwörtlich den Handlungsbedarf. Es
geht darum zu überlegen, wie man künf-
tig planen muss und gleichzeitig auch
Vor allem in der Altstadt
staut sich die Hitze – im
Sommer häufig bis tief in
die Nacht.
dem Denkmalschutz in unserer UNESCO-
Welterbestadt gerecht werden kann. Hin-
zu kommt, dass Regensburg eine sehr en-
gagierte Stadtplanung hat: Die Stadt war
schon vor mehr als zehn Jahren bei zwei
Pilotprojekten dabei, in denen es darum
ging, sich mit dem Thema Hitze in der Alt-
stadt auseinanderzusetzen.
Sie selbst sind seit 2018 dabei. Wie genau ist
Ihre Aufgabenbeschreibung als
Klimaresilienzmanagerin?
Meine Aufgaben sind unheimlich breit ge-
fächert. Ich bin Strategieplanerin und zu-
gleich Vermittlerin, die das Thema nicht
nur verwaltungsintern, sondern auch in
der öffentlichen Diskussion bekannter
macht. Meine Stelle ist deshalb eine soge-
nannte Querschnittsstelle: Ich gehöre also
nicht zu einem Fachamt, sondern agiere
koordinierend auf einer Stabsstelle unter
unserem Umweltbürgermeister.
Wie sieht das konkret aus?
Es geht darum, die Ideen zur Klimaresili-
enz so zu entwickeln, dass sie zum selbst-
verständlichen Teil unseres täglichen
Handelns werden. Konkret bedeutet das,
dass ich mich mit den betroffenen Fach-
ämtern und weiteren Akteuren und Ak-
teurinnen beispielsweise zu den Themen
Hitze oder Starkregen mit möglichen Lö-
sungsansätzen auseinandersetze. In so-
genannten Grundsatzbeschlüssen kön-
nen wir diese dann verankern – bei uns
heißen die abgekürzt GB. 2019 gab es den
GB Klimaanpassungsstrategie, 2020 den
GB Starkregenvorsorge, und jetzt im Jahr
2022 die beiden GB Förderprojekt und
Hitzemanagement. Darin ist jeweils fest-
gelegt, wie wir die Klimaresilienz in Re-
gensburg noch weiter stärken können.
Das klingt nach viel Arbeit hinter den
Kulissen.
Oh ja! An den Prozessen sind alle Regens-
burger Fachämter beteiligt, die davon be-
troffen sind – zum Beispiel das Stadtpla-
nungsamt, das Tiefbauamt, das
Umweltamt, das Amt für Brand- und Kata-
strophenschutz, das Amt für Stadtent-
wicklung, das Gartenamt und noch viele
weitere. Das ist allein schon deshalb
wichtig, damit wir im Prozess keine
Aspekte vergessen: Wenn die Beschlüsse
später in die Umsetzung kommen,
sollen sie die Fachämter bei ihren Aufga-
ben zur Förderung der Klimaresilienz
unterstützen.
Was müssen Sie für die Aufgabe als Klima-
resilienzmanagerin mitbringen?
Auf jeden Fall sind analytische und kom-
munikative Fertigkeiten gefragt, und gut
strukturiert muss man auch arbeiten.
Manchmal komme ich mir ein bisschen
wie eine Detektivin vor: Ich muss erken-
nen, wo Potenziale liegen, und herausfin-
den, wo schon Aktivitäten zum Thema Kli-
maresilienz laufen und welche weiteren es
bräuchte. Es gibt nämlich schon viele An-
sätze aus den unterschiedlichen Fachbe-
reichen, die sich so zu einem großen Gan-
zen zusammenfügen lassen. Meine
Aufgabe ist es, die richtigen Akteure und
Akteurinnen zusammenzubringen und
sie so bei ihrer Arbeit zur Klimaanpassung
zu unterstützen.
Bremst das beschauliche Tempo einer
Verwaltung manchmal Ihren Elan?
Das ist ein Klischee! In der Verwaltung
habe ich sehr viele engagierte und tolle
Kolleginnen und Kollegen, die mit genau-
so viel Herzblut bei der Sache sind wie ich
und die in ihrem Bereich wirklich etwas
bewegen wollen. Ich selbst habe vor mei-
nem Einstieg in den öffentlichen Dienst in
Planungsbüros gearbeitet, deshalb kenne
ich natürlich auch die privatwirtschaftli-
che Seite. Es stimmt: Manches lässt sich
dort schneller abstimmen als in der Ver-
waltung, die nun einmal ihre geregelten
Abläufe und Prozesse hat. Aber nur so
lässt sich die Komplexität der Aufgabe in
einer großen Stadtverwaltung auch
bewerkstelligen.
Mussten sie in Regensburg viel Überzeugungs-
arbeit leisten für das Thema Klimaanpassung?
Am Anfang war das Thema sicherlich noch
nicht bei allen Akteuren und Akteurinnen
der Stadtgesellschaft bekannt. Das hat
sich geändert. Inzwischen gibt es eine gro-
ße Gruppe aus der Bürgerschaft, aus Wirt-
schaft und Politik, Vereinen, Initiativen
klimaresilienter? Zwei
Ansätze: Mehr Grün in
der Stadt wirkt Hitzestaus
entgegen. Und entsiegel-
te Flächen helfen, damit
Starkregen nicht die
Kanalisation überfordert.
und Verbänden, die sich alle für das The-
ma Klimaresilienz einsetzen und die glei-
chen Interessen verfolgen. In der Stadtver-
waltung und auch in der Kommunalpolitik
spricht man sich stark für mehr Klimaresi-
lienz aus, das zeigt sich allein schon beim
neuen Stadtentwicklungsplan: Das Thema
Klimaanpassung hat darin höchste
Priorität.
Was heißt das denn konkret: Wie ändert sich
die Altstadt in Regensburg dadurch?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn ich aus
dem Neuen Rathaus komme, liegt nicht weit
davon entfernt der Schwanenplatz. Früher
bestand er im Wesentlichen aus einer
Durchgangsstraße mit Parkplätzen. Jetzt
entsteht dort eine Grünfläche, es wurden
Bäume gepflanzt und ein Rankgerüst für
Kletterpflanzen aufgestellt. Dazu gibt es
neue Bänke im Schatten der Bäume und ei-
nen Brunnen. Das sorgt gleich für eine hö-
here Aufenthaltsqualität und kühlt die un-
mittelbare Umgebung an heißen Tagen. In
den Regensburger Fußgängerzonen wurden
ebenfalls viele Bäume gepflanzt und ein
Trinkwasserbrunnen aufgestellt – immer in
Rücksprache mit dem Denkmalschutz.
Wenn künftig einer unserer Stadtplätze um-
gebaut wird, sollen dabei Maßnahmen zur
Klimaanpassung berücksichtigt werden.
Regensburg setzt
verstärkt auf Dach- und
Fassadenbegrünung, um
»klimafit« zu werden.
Mehr Grün in die Stadt: Bäume erfreuen nicht nur das Auge, sondern sorgen
für bessere Luft und helfen in den Sommermonaten gegen die Hitze.
Betreffen diese Änderungen nur die Altstadt? In Deutschland war das Thema zu dieser
Nein, aber da ist es im Sommer bei Hitze Zeit noch nicht so verbreitet – auch heute
oft am spürbarsten. Gerade planen wir ist es noch in der Entwicklung. Anders in
zum Beispiel ein neues Wohnquartier auf Dänemark: Dort war ich während meines
dem Gelände der alten Prinz-Leopold-Ka- Studiums für ein halbes Jahr, und in Ko-
serne. Da soll vieles einfließen, was man penhagen wurde schon damals sehr viel
in Sachen Klimaanpassung machen kann: auf die Beine gestellt, indem man für die
Es soll Rückhaltemulden für Regenwasser Stadt eine Klimaanpassungsstrategie er-
geben, Bestandsbäume werden erhalten stellt hat. Das war für mich sehr inspirie-
und ein neuer Grünzug soll entstehen. rend, und ich freue mich, dass ich jetzt
dazu beitragen kann, das Thema Klimare-
Wie sind Sie selbst eigentlich zur silienz auch in Deutschland
Klimaresilienzmanagerin geworden? voranzubringen.
Das fing schon an der Universität an: Ich
habe im Bachelor Landschaftsarchitektur
und Landschaftsplanung studiert, und ei-
nes meiner Projekte war für mich ein
Schlüsselerlebnis. Ich habe für einen Platz
in Bremen, auf dem kein einziger Baum
steht, Fotoaufnahmen ausgewertet und
analysiert, wie sich die Menschen dort
verhalten: Wo halten sie sich auf? Wann
suchen sie die Sonne und wann den
Schatten auf? Wenn es besonders heiß
und dabei auch die Luftfeuchtigkeit sehr
hoch war, haben die Menschen vor allem Katharina Schätz
den Schatten der Gebäude aufgesucht. ist seit 2018 Klimaresilienzmanagerin der
Also habe ich Maßnahmen entwickelt, die Stadt Regensburg. Vor ihrem Wechsel
die Aufenthaltsqualität auf diesem Platz in den öffentlichen Dienst arbeitete die
erhöhen sollen, etwa Baumpflanzungen studierte Umweltplanerin bei der Stadt
oder die Integration von Wasserelementen. München und in Landschaftsplanungs-
büros in München und Freising.
Gab es damals schon Erfahrungen mit Klima- (© Stadt Regensburg/Christian Kaister)
resilienz in Städten?

ZUM AUTOBAUER? NEE , LIEBER

IN DEN ÖFFENTLICHEN DIENS T

»Zu welchem Arbeitgeber würden Sie gern wech-

seln?«, werden Fachkräfte fürs Trendence-Barome-
ter gefragt. Zu Autobauern, hieß es früher. Heute
heißt es: in den öffentlichen Dienst. »Die Attrak-
tivität systemrelevanter Jobs ist angestiegen«, sagt
Robindro Ullah vom Trendence Institut. »Unter-
nehmen aus dem öffentlichen Sektor haben gerade
jetzt gute Chancen, begehrte Talente zu gewinnen.«
In den aktuellen Top 20 des Barometers finden sich
das Auswärtige Amt, die Polizei, der Zoll, die Bun-
desagentur für Arbeit und – erstmals auf Platz 1 –
die Bundeswehr.

Bei welchem Arbeitgeber würden Sie sich gern bewerben?

9,2 % Tim W., Hauptfeldwebel

Bundeswehr

4,1 %
Bundesagentur für
Arbeit
3,3 %
Polizei TECH-GENIUS
3,0 %
Werde Teil der Truppe als Elektroniker/-in (m/w/d)
Auswärtiges Amt
2,8 %
Zoll

Quellen: Trendence Institut

Impressum
Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt: ZEIT Verlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Helmut-Schmidt-Haus, Speersort 1,
20095 Hamburg Geschäftsführung: Dr. Rainer Esser Art Direction: Dietke Steck Produktmanagement: Elisabeth Becker
Realisierung: Studio ZX GmbH – Ein Unternehmen der Zeit Verlagsgruppe Geschäftsführung: Dr. Mark Schiffhauer, Uta Schwaner
Projektmanagement: Stefanie Eggers, Fritz Lüders Redaktion: Michael Prellberg Grafik: Jörg Maaßen Lektorat: Egbert Scheunemann
bundeswehrkarriere.de
Illustrationen: Joni Majer, The Noun Project/Made by Made, The Noun Project/Atif Arshad Fotos: iStockphoto Media Consultants
Public Sector: Christian Eils, Tel.: 040/3280-4767, christian.eils@zeit.de & Donat Tuch, Tel.: 040/3280-1336, donat.tuch@zeit.de,
Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 67 vom 1. Januar 2022
42
STELLENMARKT
Die Position:
Akademische Karrieren brauchen Klarheit!
Die Habilitation spielt in vielen Fächern keine Rolle mehr – zu Recht. Doch die Alternativen überzeugen bisher nicht
Auf die Promotion folgt die Habilitation. Über
Jahrzehnte bildete diese Konstellation das
Modell der wissenschaftlichen Qualifizierung
für eine Professur. Doch heute spielt die Habi-
litation in rund 70 Prozent aller Fächer aus
unterschiedlichen Gründen keine Rolle mehr.
In Disziplinen, die Forschungsleistung nicht
an umfassenden Monografien messen, sondern
an Artikeln, hat sich eine wissenschaftliche Be-
wertung über andere Indikatoren eingebürgert:
die Reputation der Journale, in denen ein Arti-
kel veröffentlicht wird, oder die Wirkung dieses
Artikels. Ein weiterer Grund ist, dass die forma-
le Abhängigkeit der Habilitierenden von Lehr-
stuhl und akademischer Hierarchie ein wün-
schenswertes größeres Maß an Selbstständig-
keit in frühen Karrierephasen verhinderte.
Heute ist die Habilitation nur noch in den
Geisteswissenschaften, in Rechtswissenschaft
und Medizin verbreitet; in den Natur-, Tech-
nik- und Sozialwissenschaften spielt sie kaum
eine Rolle. Doch bei aller berechtigten Kritik
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„Können Sie Museum?“
Spielen Sie es einmal durch: Sie stehen am ersten Arbeitstag als Museumsdirektorin in Ihrem Büro. Was machen
Sie? Mit wem beraten Sie sich? Was ist Ihre Vision, Ihr Museum der Zukunft? Oder stellen Sie sich vor, Sie leiten
ein Museum und möchten in der Routine des laufenden Betriebs noch Raum für Neues schaffen. Wie brechen Sie
vertraute Strukturen auf? Können Sie Ihr Team für den Veränderungsprozess begeistern?
ist ein erprobtes Weiterbildungs- und Netzwerkangebot für diejenigen, die in naher Zukunft eine Führungsrolle
im Museum anstreben oder seit Kurzem eine solche ausüben. Denn eine gute Führungskraft braucht mehr als
Fachkompetenz. In vier Modulen trainieren die Teilnehmenden ihre zukünftige Rolle, erhalten relevantes
Praxiswissen und haben Gelegenheit zu persönlichem Austausch. Profilierte Personen aus Museumswelt,
Wirtschaft, Politik und Kulturförderung geben Impulse und leiten die Workshops. Es werden maximal 20
Teilnahmeplätze ausgeschrieben.
Bewerbungsschluss: 13. November 2022
Programmstart: 09. Mai 2023
Bitte beachten Sie die Informationen zu Terminen, Förderrichtlinien und Programm auf unserer Website:
www.toepfer-stiftung.de/was-wir-tun/museion21
Museion21. ist eine Initiative der der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. in Kooperation mit dem Deutschen
Museumsbund.
Die Stadt Trier sucht
zum 01. Mai 2023 eine/n
Hauptamtliche Beigeordnete /
Hauptamtlichen Beigeordneten
für den Bereich Planen, Bauen und
Gestalten (Baudezernent/in) (m/w/d)
Zum Geschäftsbereich der/des Beigeordneten gehören die Bereiche
Stadt- und Verkehrsplanung, Amt für Bodenmanagement und Geoinfor-
mation, Hochbauamt, StadtRaumTrier sowie die Stabsstellen Klima- und
Umweltschutz und Stadtumbau Trier-West mit ca. 370 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern.
Die Wahl erfolgt für die Dauer von acht Jahren unter Berufung in das
Beamtenverhältnis auf Zeit. Die Besoldung richtet sich nach der Kom-
munal-Besoldungsverordnung des Landes Rheinland-Pfalz.
Danach ist das Amt bei der Einwohnerzahl der Stadt Trier den
Besoldungsgruppen B3/B4 LKomBesVO zugewiesen. Außerdem
wird eine steuerfreie Dienstaufwandsentschädigung gezahlt.
Die Langfassung des Ausschreibungstextes finden Sie unter
www.trier.de/stellenangebote
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen sind bis zum
23. Oktober 2022 (Ausschlussfrist) an den Oberbürgermeister
der Stadt Trier, Herrn Wolfram Leibe, - persönlich - ,
Rathaus, Am Augustinerhof, 54290 Trier, zu richten.
www.trier.de/stellenangebote
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
bedeutet ihr allmähliches Verschwinden aus
dem akademischen System auch einen Verlust.
Denn für all jene, die eine Professur anstrebten,
definierte die Habilitation nach der Promotion
eine unmissverständliche zweite notwendige
Qualifikation. Mit ihr verband sich auch ein
formaler Schritt, nämlich die Erlangung der
Lehrbefähigung, mit der die Lizenz zum selbst-
ständigen Unterrichten einherging.
So nachvollziehbar und sinnvoll heute ein
Zugewinn an Freiheit für Postdocs ist, so klar
sollte sein, dass auch der zweite Zeitraum des
wissenschaftlichen Karrierewegs mit Qualifika-
tionszielen verbunden bleibt. Ihn als Periode der
»Fort- und Weiterbildung« zu definieren, wie es
die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
tut, geht nicht an. Die für eine Berufung nötige
Forschungs- und Lehrerfahrung im breiten Um-
fang ist durch die Promotion keineswegs gegeben.
Sie muss im Rahmen einer nochmals befristeten
Tätigkeit erarbeitet und durch weitere Qualifika-
tionsziele – internationale Vernetzung, Projekt-
An der Hochschule für Musik F!"#! L$%!& Weimar ist im Justiziariat zum
nächstmöglichen Zeitpunkt eine Stelle als
Jurist*in (m/w/d)
als Referent*in Verträge und Rechte
Kennziffer 22/2022
zu besetzen.
Den ausführlichen Ausschreibungstext entnehmen Sie bitte unserer Homepage:
www.hfm-weimar.de/stellen
Ihre Bewerbung können Sie bis zum 31.10.2022 unter Angabe der Kennziffer
22/2022 auf elektronischem oder postalischem Weg einreichen (siehe ausführ-
licher Ausschreibungstext).
Wir suchen für unser Büro in Jerusalem möglichst zum 15. Februar 2023
Landesbeauftragte*r in Israel
Bewerbungsschluss: 06.11.2022
Ausführliche Stellenausschreibung unter: www.asf-ev.de
management, Personalführung, Wissenschafts-
kommunikation – ergänzt werden.
Dieses Verständnis akademischer Qualifika-
tion, das dem Fortbestand des gesamten Systems
dient und daher unverhandelbar ist, lässt sich
durchaus mit den Forderungen nach besserer
Strukturierung der Karrierewege verbinden.
Foto: David Ausserhofer/HRK
Geboten sind Beschäftigungsmodelle, die den
Erwerb umfassender Qualifikationen in einem
limitierten Zeitraum ermöglichen und für den
Fall erfolgreicher Tätigkeit eine Verstetigung
vorsehen. Zwei Varianten kommen dafür infrage:
die auf fünf Jahre zu besetzende Postdoc-Stelle,
die nach Erfüllung der Qualifikationskriterien
Peter-André Alt ist entfristet wird, sei es als Mittelbau-Position mit
Präsident der Aufgaben in Lehre und Forschung oder als
Hochschulrektorenkonferenz Position im Wissenschaftsmanagement; und
die sechs Jahre laufende Juniorprofessur mit
Tenure-Track, die nach erfolgreicher Evaluation
in eine reguläre Dauerprofessur einmündet. Eine
permanente Beschäftigung wird in beiden Fäl-
len an das Erreichen der Qualifikationsziele ge-
Bewe
rbu
ka ngen a
ba-sa nzler@ n
chse
n.de
Verwaltungsleiter_in (m/w/d)
für den Verwaltungsverbund der Staatlichen
Studienakademien Breitenbrunn und Plauen
Entgeltgruppe 13 TV-L, Vollzeit, unbefristet
Kennziffer: BA 04/2022
An der Berufsakademie Sachsen ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt
die genannte Stelle als Verwaltungsleiter_in (m/w/d) zu besetzen.
Alle Informationen zur Stellenausschreibung finden
Sie unter: https://www.ba-breitenbrunn.de/
die-akademie/stellenangebote
Online-Bewerbungen richten Sie bitte an:
kanzler@ba-sachsen.de
Die Bewerbungsfrist endet am 03.11.2022.
ARBEITEN FÜR DIE BESTE STADT DER WELT
Die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klima-
schutz schafft Mobilität für alle Berlinerinnen und Berliner, kümmert
sich um die Infrastruktur, um saubere Luft, lebendige Gewässer und
um ein ausgewogenes städtisches Klima. Werden Sie Teil von uns.
Wir suchen zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine:n
Leiter:in (w/m/d) Gruppe „Ressourcenschonung,
Siedlungsabfallwirtschaft, Stadtsauberkeit“
für die Abteilung I - Referat Kreislaufwirtschaft, Ressourcenschonung,
umweltfreundliche Beschaffung, Stadtsauberkeit
Vollzeit, Teilzeit
BesGr. A 15 / EGr. 15 TV-L
Die vollständige Stellenausschreibung und unsere Benefits finden Sie
auf dem Berliner Karriereportal unter:
https://www.berlin.de/stelle-siedlungsabfallwirtschaft
Die Stiftung Akkreditierungsrat ist eine gemeinsame Einrichtung der
Länder für die Qualitätssicherung in Studium und Lehre an deutschen
Hochschulen. Der Akkreditierungsrat trifft die Entscheidungen bei der
Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen und hochschul-
internen Qualitätssicherungssystemen.
Für ihre Geschäftsstelle in Bonn sucht die Stiftung
mehrere Referent/-innen (m/w/d) bis zu TV-L 14,
sowie ein/e Sachbearbeiter/-in (m/w/d) bis zu TV-L 10.
Weitere Einzelheiten entnehmen Sie bitte der ausführlichen Stellenaus-
schreibung auf unserer Internetseite: www.akkreditierungsrat.de
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen, darunter der frühestmögliche
Eintrittstermin, werden per E-Mail bis zum 28.10.2022 erbeten an:
Stiftung Akkreditierungsrat
Dr. Olaf Bartz, Geschäftsführer
Adenauerallee 73, 53113 Bonn
bartz (at) akkreditierungsrat.de
VON PETER-ANDRÉ ALT
koppelt, wobei zwei Ansprüche gleichermaßen
zur Geltung kommen: das individuelle Interesse
an einem planbaren Karriereweg-Modell und
das – in der aktuellen Debatte gern ignorierte
– systemische Interesse an umfassenden Quali-
fikationsanforderungen.
Generell verlangt das hier beschriebene Mo-
dell eine finanzielle Absicherung für zusätzliche
Postdoc-Stellen und Tenure-Track-Professuren.
Der Bundesgesetzgeber kann die Hochschulen
formal dazu veranlassen, dass sie ihre Posi-
tionen im Postdoc-Bereich mit einer Ent-
fristungsoption versehen. Den Ländern obliegt
es dann freilich, die bisher nicht gegebenen
budgetären Bedingungen dafür zu schaffen.
Bei möglichen Veränderungen des Wissen-
schaftszeitvertragsgesetzes müssen Bund und
Länder daher miteinander über die konkrete
Umsetzung verhandeln. Andernfalls entsteht
ein Papiertiger, aber kein besseres Hochschul-
system mit transparenter akademischer Kar-
riereplanung.
Die Pädagogische Hochschule Freiburg richtet zum WS 2023/24 das Lehramt Sonder-
pädagogik mit den Fachrichtungen
• Lernen
• Sprache
• Emotionale und soziale Entwicklung
• Geistige Entwicklung
und den Handlungsfeldern
• Sonderpädagogischer Dienst / Kooperation / inklusive Bildungsangebote
• Frühförderung sowie frühkindliche Bildung und Erziehung von Kindern mit Be-
hinderungen
• Ausbildung, Erwerbsarbeit und Leben
• Sprache und Kommunikation
ein.
Für diese Aufgaben sind an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Pädago-
gischen Hochschule Freiburg vorbehaltlich der noch ausstehenden Zuweisung der
Stellen durch das Land Baden-Württemberg zum 01.04.2023 (Professuren) bzw.
zum nächstmöglichen Zeitpunkt (Akad. Mitarbeiterin / Akad. Mitarbeiter) die folgenden
Stellen zu besetzen:
W3-Professur für Sonderpädagogik mit dem
Schwerpunkt inklusive Bildungsangebote (m/w/d)
Kennziffer 698
W3-Professur für Pädagogische Psychologie
mit Schwerpunkt Diagnostik, Förderung und
Klinische Psychologie (m/w/d)
Kennziffer 697
Akademische Rätin/Oberrätin /
Akademischer Rat/Oberrat (m/w/d) (bis Bes.Gr. A 14)
oder
Akademische Mitarbeiterin /
Akademischer Mitarbeiter (m/w/d)
(bis E 13 TV-L, soweit tarifl. Voraussetzungen erfüllt)
Pädagogische Psychologie
mit Schwerpunkt Diagnostik und Förderung
Kennziffer 696
2 Stellen
als Akademische Rätin/Oberrätin /
Akademischer Rat/Oberrat (m/w/d) (bis Bes.Gr. A 14)
oder
Akademische Mitarbeiterin /
Akademischer Mitarbeiter (m/w/d)
(bis E 13 TV-L, soweit tarifl. Voraussetzungen erfüllt)
Kennziffer 695
Wir freuen uns auf Ihre Online-Bewerbung bis spätestens 28.10.2022. Nähere
Informationen zu der jeweiligen Stelle und dem zuständigen Ansprechpartner, den
Einstellungsvoraussetzungen sowie unserem Bewerbungsportal für Ihre Online-
Bewerbung finden Sie unter https://stellenangebote.ph-freiburg.de.
An der Hochschule Merseburg ist im Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur
zum 01.04.2023 folgende Professur zu besetzen:
Kulturmanagement (W2)
Die Professur hat den Schwerpunkt Kulturmanagement. Erwartet werden umfassende
Kenntnisse in zentralen Themenfeldern des Kulturmanagements, einschlägige Berufser-
fahrung in Kulturorganisationen sowie Erfahrungen in Theorien und Methoden des Kultur-
managements.
Erwartet werden zudem Kenntnisse im Sozialmanagement.
Des Weiteren werden hochschuldidaktische Kenntnisse sowie Erfahrungen bei der Ge-
staltung von digitaler Lehre erwartet. Wünschenswert wären darüber hinaus Gender- und
Diversitykompetenz.
Voraussetzungen sind ein Hochschulabschluss in einem für das Lehrfach relevanten Studium
oder einer verwandten Fachrichtung, eine einschlägige, qualifizierte Promotion, Lehrerfah-
rungen aus dem Hochschulbereich sowie fachbezogene Berufserfahrungen.
Ausführliche Informationen zu dieser Ausschreibung finden Sie auf der Homepage der
Hochschule Merseburg unter:
www.hs-merseburg.de/hochschule/information/stellenausschreibungen
Ihre Bewerbung senden Sie bitte mit den erforderlichen Nachweisen nach § 35 (2)
HSG LSA (wie tabellarischer Lebenslauf, Darstellung und Nachweis des beruflichen und
wissenschaftlichen Werdegangs, Verzeichnis der selbst eingeworbenen Drittmittel, Pub-
likationsverzeichnis, Verzeichnis der bisherigen Lehrtätigkeiten und wenn vorhanden die
Lehrevaluationsergebnisse der letzten drei Jahre sowie der ausgefüllte Bewerbungsbogen
für Bewerbungen auf eine Professur (www.hs-merseburg.de/hochschule/information/
stellenausschreibungen/) bis zum 31.10.2022 bevorzugt in digitaler Form an dekanat.smk@
hs-merseburg.de oder postalisch an:
Hochschule Merseburg
Dekan des Fachbereiches
Herr Prof. Dr. Erich Menting
Eberhard-Leibnitz-Str. 2
06217 Merseburg
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
Studium generale
BEOBACHTET VON JULIAN FIEBACH
Du bist Nein, du bist
der Beste! der Beste!
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Im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften ist ab dem 1. April 2023 die
W2-Professur für Sozialwissenschaftliche
Nachhaltigkeitsforschung
mit dem Schwerpunkt
Nachhaltige Ernährungssysteme
unter Beachtung des § 67 Abs. 7 Hessisches Hochschulgesetz (HessHG) zu besetzen;
es gelten die Einstellungsvoraussetzungen nach § 68 HessHG.
Aufgaben:
Erwartet werden Forschungsschwerpunkte im Bereich der sozialwissenschaftlichen
Nachhaltigkeitsforschung mit einem inhaltlichen Fokus auf die globalen Ziele für nach-
haltige Entwicklung (SDGs) der Agenda 2030. Besondere Berücksichtigung soll die
Erforschung nachhaltiger Ernährungssysteme an der Schnittstelle von Politik, Gesell-
schaft, Ökonomie und Agrarwirtschaft erhalten.
Sie sollen aufgrund ihrer Forschungsorientierung und entsprechender inter- und trans-
disziplinärer Projekterfahrung zur Vernetzung einzelner Disziplinen im Fachbereich
und fachbereichsübergreifend beitragen und sich an inter- und transdisziplinären For-
schungsprojekten beteiligen.
Erwartet wird die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit am Aufbau eines Zentrums für
Nachhaltige Ernährungssysteme sowie an einzelnen Zentren der Justus-Liebig-Uni-
versität Gießen (JLU), wie dem Zentrum für internationale Entwicklungs- und Um-
weltforschung (ZEU), dem Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI), dem Gießener
Graduiertenzentrum Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften (GGS), dem
International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) oder dem Gießener
Zentrum Östliches Europa (GiZo). Die Professur soll sich aktiv an den einschlägigen
internationalen Kooperationen der JLU beteiligen und sich in der weiteren internatio-
nalen Profilierung des Fachbereichs engagieren.
Die Professur stellt Lehrangebote in den Bachelor-, Master- und Lehramtsstudiengängen
des Fachbereichs bereit und beteiligt sich an fachbereichsübergreifenden internatio-
nalen Studiengängen zu Aspekten der Nachhaltigkeit. Die Berücksichtigung von Gender-
aspekten in Forschung und Lehre ist erwünscht.
Voraussetzungen:
Vorausgesetzt wird ein abgeschlossenes Hochschulstudium, eine herausragende Pro-
motion in einem einschlägigen Themenfeld sowie ein einschlägiges Publikationsprofil
mit international sichtbaren Publikationen in relevanten Fachzeitschriften im Sinne zu-
sätzlicher wissenschaftlicher Leistungen. Vorausgesetzt werden zudem Erfahrungen
in der interdisziplinären Forschungszusammenarbeit.
Nachgewiesene einschlägige didaktische Erfahrungen und Konzepte werden ebenso
vorausgesetzt. Zudem sollen Sie Erfolge in der eigenständigen Einwerbung von Dritt-
mitteln vorweisen. Die Bereitschaft und Fähigkeit, in englischer Sprache zu lehren,
ist erwünscht.
Bei Überschreitung der grundsätzlichen Altersgrenze von 50 Jahren setzt die Begrün-
dung eines Beamtenverhältnisses gem. § 66 Abs. 3 Satz 2 und 3 HessHG i. V. m.
§ 11 Hessische Laufbahnverordnung (HLVO) ein besonderes dienstliches Interesse
voraus.
Die JLU strebt einen höheren Anteil von Frauen im Wissenschaftsbereich an; des-
halb bitten wir qualifizierte Wissenschaftlerinnen nachdrücklich, sich zu bewerben.
Aufgrund des Frauenförderplanes besteht eine Verpflichtung zur Erhöhung des Frauen-
anteils. Die JLU verfolgt auch das Ziel einer verstärkten Gewinnung von Führungskräften
mit Gender- und Familienkompetenz. Die JLU versteht sich als familiengerechte
Hochschule. Bewerberinnen und Bewerber (m/w/d) mit Kindern sind willkommen. Be-
werbungen Schwerbehinderter werden bei gleicher Eignung bevorzugt.
Zu den Einstellungsvoraussetzungen und erforderlichen Bewerbungsunterlagen
bitten wir, die Hinweise in unserem Merkblatt (https://www.uni-giessen.de/karriere/
stellenangebote/ausschreibungen/professuren/infoblatt) zu beachten.
Bitte richten Sie Ihre Bewerbung mit den erforderlichen Unterlagen über das Online-
formular (https://www.uni-giessen.de/karriere/stellenangebote/bewerbung) bis zum
17. November 2022 unter Angabe der Referenznummer 3-14/22 an den Präsidenten
der Justus-Liebig-Universität Gießen.
An der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist zum
nächstmöglichen Zeitpunkt eine
Professur (W3 oder W2 mit Tenure Track auf W3)
Islamwissenschaft
zu besetzen.
Die zu berufende Persönlichkeit (m/w/d) soll das Fach Islamwissenschaft in For-
schung und Lehre in angemessener Breite vertreten und national und international
hervorragend ausgewiesen sein. Der Forschungsschwerpunkt kann sowohl auf
gegenwartsbezogenen als auch historischen Themen der arabisch-islamischen
Welt liegen und soll die Arbeit mit Arabisch als Quellensprache einschließen. In
der Lehre wird ein Schwerpunkt auf dem Gebiet des modernen Islam verlangt.
Erwartet wird die Mitwirkung in der Lehre in den Studiengängen Arabistik (BA)
und Arabistik (MA). Die Unterrichtssprache ist deutsch. Erwartet werden zudem
nachweisbare Erfahrungen in der erfolgreichen Drittmitteleinwerbung, eine sicht-
bare Vernetzung in der nationalen und internationalen Forschergemeinschaft,
Führungskompetenz sowie die Bereitschaft, künftig an der Entwicklung interdis-
ziplinärer Forschungsschwerpunkte innerhalb der Philosophischen Fakultät sowie
an kooperativen orientalistischen Lehr- und Forschungsprojekten im Universitäts-
bund Halle-Jena-Leipzig mitzuwirken.
Voraussetzung sind fachlich einschlägige Promotion und Habilitation oder gleich-
wertige wissenschaftliche Leistungen sowie pädagogische Eignung. Im Fall einer
erstmaligen Berufung in ein Professorenamt soll die Professur zunächst als
W2-Professur befristet für sechs Jahre besetzt werden; spätestens nach sechs
Jahren findet auf Grundlage einer positiven Tenure-Evaluation die Überleitung auf
eine W3-Professur ohne erneute Ausschreibung statt.
Die Friedrich-Schiller-Universität strebt eine Erhöhung des Anteils von Frauen in For-
schung und Lehre an und bittet deshalb qualifizierte Wissenschaftlerinnen nach-
drücklich um ihre Bewerbung. Schwerbehinderte Menschen werden bei gleicher
Eignung bevorzugt berücksichtigt.
Bitte richten Sie Ihre Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen (Lebenslauf, Zeugnis-
und Urkundenkopien, Publikationsverzeichnis, Dokumentation der Lehrtätigkeit und
Evaluationen, Vortrags- und Drittmittelaktivitäten, Forschungsagenda) bis zum
24.11.2022 über das Berufungsportal der Universität Jena unter
www.berufungsportal.uni-jena.de
an:
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Philosophische Fakultät
Dekan
Prof. Dr. Christoph Demmerling
Fürstengraben 27
07743 Jena
Deutschland
philosophischefakultaet@uni-jena.de
Bei Fragen zu Position und Verfahren wenden Sie sich bitte an
Prof. Dr. Christoph Demmerling (E-Mail: philosophischefakultaet@uni-jena.de).
STELLENMARKT 43
Worum geht’s ... in der Anorganischen Festkörperchemie?
VON CHRISTINE PRUSSKY
Das sagt der Professor Das sagt der Student Gut zu wissen
Anorganische Festkörperchemie ist in unserem täglichen Zum Leidwesen meines Vaters ruinierte ich als Kind mit meinem Fach und Studium: Die Anorganische Festkörperchemie ist
Leben allgegenwärtig. Allein im Smartphone stecken rund Experimentierkasten einmal den Rasen. Der vertrug die Hitze fester Bestandteil eines Chemiestudiums. Schon im Bachelor
70 Elemente in meist festen Stoffen. Mein Fach analysiert nicht, die beim Versuch entstand. Dass mein damaliges Experiment kommt das Fach vor, Vertiefungen sind möglich. Chemie ist
und synthetisiert solche Festkörper, um ihre Eigenschaften zur Anorganischen Festkörperchemie gehörte, erfuhr ich erst im mit mehr als 41.000 Studierenden ein Massenfach. Rund 80
durch die kluge Anordnung der Atome zu beeinflussen. Wir Studium. Chemie ist anstrengend, weil zur Theorie phasenweise Unis und Hochschulen bieten es an. Wichtig sind Kenntnisse
sind also Architekten im atomaren Raum. Neue Festkörper die praktische Arbeit im Labor kommt. Da bleibt kaum Zeit, ne- in Physik, Mathematik und ein Interesse für Naturwissen-
benötigen wir für Batterien mit kürzerer Ladezeit oder nach- benher Geld fürs Studium zu verdienen. Weil viele jobben müssen, schaften. Für die Fachliteratur ist gutes Englisch hilfreich.
haltigeren Substanzen, die mit weniger kritischen Elemen- brauchen die meisten länger als sechs Semester für den Bachelor. Beruf und Karriere: Ein Abschluss in Chemie öffnet Türen
ten eine bessere Leistung erzielen. Wer anwendungsnah und Das muss man wissen. Aber trotzdem: Der Wechsel zwischen in der Industrie, bei Verbänden oder im öffentlichen Dienst.
kreativ für die Zukunft tätig sein will, ist bei uns richtig. Theorie und Labor macht Spaß. Ich bleibe bei der Chemie. Die Gehälter variieren nach Branche und Qualifikation, der
Durchschnitt liegt bei 6500 Euro brutto im Monat, eine
Guido Kickelbick ist Professor für Anorganische Festkörper- Christopher Luckas studiert Chemie an der Promotion zahlt sich aus. Erfahrene Führungskräfte können
chemie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken Universität des Saarlandes mit sechsstelligen Brutto-Jahresgehältern rechnen.
DAS DUALE HOCHSCHULSTUDIUM
MIT ZUKUNFT.
Aus- und Weiterbildung für die Gesellschaft – wir sind wirkungsvoll
Dozent*in mit Co-Leitung des MAS
Die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) zählt mit an ihren beiden Standorten Ravensburg und Friedrichshafen
ihren derzeit rund 34.000 Studierenden (an 9 Standorten und ein 3-jähriges duales Studium zum Bachelor of Arts, Bachelor
3 Campus) und 9.000 kooperierenden Unternehmen und sozialen
Coaching-Weiterbildungsprogramms
of Engineering und Bachelor of Science an. Hervorragende Aus-
Einrichtungen zu den größten Hochschulen des Landes. stattung, intensives Lernklima sowie das attraktive Umfeld der
Die Duale Hochschule Baden-Württemberg Ravensburg bietet Bodenseeregion zeichnen unsere Standorte aus.
(70–80 %)
AN DER DHBW RAVENSBURG CAMPUS FRIEDRICHSHAFEN IST ZUM NÄCHSTMÖGLICHEN ZEITPUNKT FOLGENDE STELLE
ZU BESETZEN:
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW,
Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement
Professur für Informatik
Kz. RV 5/AP-28
Unsere attraktiven Anstellungsbedingungen umfassen eine hohe Flexibilität bezüg-
lich Arbeitszeiten und -ort. In der Zusammenarbeit werden an der Hochschule eine Im Rahmen der Professur sind sowohl Grundlagenlehrveran- und dabei eng mit den an der DHBW betriebenen Forschungs-,
Kultur des Dialogs sowie eine transparente Kommunikation gepflegt, die von Wert- staltungen der Informatik als auch vertiefende Lehrveranstal- Innovations- und Transferaktivitäten (z. B. im Zentrum für Digi-
schätzung und Vertrauen geprägt ist. Gestaltungs- und Handlungsspielräume betrach- tungen im Bereich von cloud-basierten Softwarearchitekturen talisierung in Mobilitätssystemen) zusammenarbeitet. Bei Eig-
ten wir als wichtige Ressourcen für Innovationen. Zudem werden die Vielfalt und oder der Künstlichen Intelligenz zu übernehmen. Zusätzlich nung ist mittelfristig die Übernahme einer Studiengangsleitung
oder die wissenschaftliche Leitung des IT-Servicecenters der
Unterschiedlichkeit von Mitarbeitenden und Studierenden als Stärken der Hochschule werden die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit in der Selbstver-
waltung der Hochschule sowie ein Engagement in der koope- DHBW Ravensburg möglich.
gelebt.
rativen Forschung vorausgesetzt. Es wird erwartet, dass der/ Die Stelle wird nach W2 vergütet. Die Bereitschaft, den Wohnsitz
Weitere Informationen finden Sie unter: www.fhnw.ch/offene-stellen. die Stelleninhaber*in das Themengebiet cloud-basierte Soft- in der Region zu nehmen, wird als selbstverständlich voraus-
warearchitekturen bzw. Künstliche Intelligenz weiterentwickelt gesetzt.
Für allfällige Fragen und Auskünfte zum Stellenprofil wenden Sie
sich gern an Stefan Adam, Institutsleiter Beratung, Coaching und Einstellungsvoraussetzungen:
Vorausgesetzt werden gemäß § 47 LHG ein abgeschlossenes schaftlerinnen. Schwerbehinderte und Gleichgestellte werden
Sozialmanagement, T +41 62 957 20 12.
einschlägiges Hochschulstudium der Ingenieurwissenschaften, bei gleicher Eignung vorrangig berücksichtigt. Für weitere Aus-
Informatik oder verwandter Studiengänge, die besondere wis- künfte steht Ihnen Herr Prof. Dr. Judt (judt@dhbw-ravensburg.de,
www.fhnw.ch/soziale-arbeit senschaftliche Befähigung (in der Regel Promotion), pädago- Tel. 07541 2077 411) gerne zur Verfügung.
gische Eignung sowie mindestens fünf Jahre berufspraktische
Bitte richten Sie Ihre Bewerbung ausschließlich in elektronischer
Erfahrung in der Leitung einschlägiger Projekte aus der IT,
Form bis zum 10.11.2022 unter Angabe der o. g. Kennziffer an:
davon mindestens drei Jahre außerhalb des Hochschulbe-
reichs. Idealerweise verfügt der*die Stelleninhaber*in über Duale Hochschule Baden-Württemberg Ravensburg
Rektorat
vertiefte Kenntnisse im Bereich Theoretische Grundlagen der
KONTAKT FÜR ANZEIGENKUNDEN Künstlichen Intelligenz oder cloud-basierte Softwarearchitek- Postfach 11 69
Sie möchten Ihre Anzeige turen. Der Bewerber*Die Bewerberin muss zudem bereit sein, 88181 Ravensburg
an der wissenschaftlichen Entwicklung, insbesondere durch E-Mail: bewerbung-prof@dhbw-ravensburg.de
elektronisch übermitteln und
haben noch Fragen? Forschung und wissenschaftliche Weiterbildung, teilzuhaben. Bewerbungen per E-Mail bitte nur im PDF-Format als eine Datei
Folgende Professuren/Stellen sind zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen: Erwartet wird ein besonderes Maß an Engagement, Koopera-
Dann rufen Sie uns gerne an mit einem Maximalvolumen von 10 MB.
Fakultät Wirtschaftswissenschaften, für zunächst vier Jahre tionsbereitschaft mit den beteiligten Unternehmen und sozialen
Juniorprofessur (W1) für Betriebswirtschaftslehre, oder schreiben uns: Weitere Informationen zur Dualen Hochschule Baden-
Einrichtungen, die Beratung von Studieninteressierten sowie
insbesondere Strategie und Unternehmensethik Württemberg Ravensburg finden Sie im Internet unter
Nach positiver Zwischenevaluation wird das Dienstverhältnis auf insgesamt sechs Jahre verlängert.
Grundlage des Evaluationsverfahrens sind zu Dienstantritt einvernehmlich festgelegte Evaluationskriterien. Wesent-
0931 / 6001758 die Bereitschaft zur Gremienarbeit.
Bei Erfüllung der Voraussetzungen ist die Übernahme in das
www.ravensburg.dhbw.de sowie zu den allgemeinen Bedin-
gungen unter www.lbv.landbw.de.
liche Leistungskriterien sind der wissenschaftliche Erfolg in Form der Ausarbeitung eines eigenständigen Forschungs-
profils innerhalb des Fachgebiets Strategie und Unternehmensethik, dessen Umsetzung in Drittmittelprojekten und
Publikationen, darüber hinaus die maßgebliche Beteiligung an national und international begutachteten Publikationen
1 zeit@anzeigeneingang.de Beamtenverhältnis auf Lebenszeit als Professor*in nach einer
und internationalen Konferenzen, die Initiierung von Kooperationsprojekten innerhalb der Fakultät Wirtschaftswissen- dreijährigen Bewährung im Beamtenverhältnis auf Probe mög-
schaften sowie die Entwicklung innovativer Lehrinhalte für die Bachelor-, Master- und Diplomstudiengänge der Fakul- Informationen zum Daten- lich, falls das Lebensalter bei Einstellung 47 Jahre, in Ausnahme-
tät Wirtschaftswissenschaften mit positiv evaluierten Lehrleistungen, auch in englischer Sprache. versand per Upload finden fällen das 52. Lebensjahr, nicht übersteigt.
Sie (m/w/d) werden das Fachgebiet Strategie und Unternehmensethik in Forschung und Lehre vertreten. Das Lehr-
angebot erbringen Sie in den Bachelor-, Master- und Diplomstudiengängen der Fakultät Wirtschaftswissenschaften, Sie unter:
insbesondere im fortgeschrittenen Bachelor- sowie im Master- und Diplomstudium. Ihre Lehrverpflichtung beträgt zu- Die DHBW Ravensburg strebt eine Erhöhung des Anteils der Pro-
nächst vier SWS. Ihre Bereitschaft zur aktiven Zusammenarbeit innerhalb der Fakultät Wirtschaftswissenschaften und 5 www.anzeigeneingang.de fessorinnen an und begrüßt deshalb die Bewerbung von Wissen-
zur interdisziplinären Kooperation innerhalb der Universität setzen wir voraus. Wir erwarten zudem, dass Sie Drittmittel
einwerben und sich an der akademischen Selbstverwaltung beteiligen.
Sie verfügen über eine exzellente einschlägige Promotion, haben Ihre Forschungsergebnisse auf hochrangigen natio-
nalen und internationalen Tagungen bereits präsentiert, und haben das Potenzial, in entsprechend einschlägigen
Fachzeitschriften zu publizieren. Ihr Forschungsprofil zeichnet sich insbesondere durch Bezug auf mindestens eines DARÜBER HINAUS SIND WIR LAUFEND AUF DER SUCHE NACH QUALIFIZIERTEN
der folgenden Themengebiete aus: Strategie und Grand Challenges, nachhaltiges und ethisches Organisieren, Social/
nebenberuflichen Lehrbeauftragten (m/w/d)
Sustainable Entrepreneurship und/oder Sustainability Strategy. Um gerade auch die vorhandenen sozial- und verhal-
tenswissenschaftlich orientierten Forschungsschwerpunkte im Gebiet Betriebswirtschaftslehre zu stärken und eine
Zusammenarbeit mit den entsprechenden Professuren zu fördern, ist eine empirische (quantitative oder qualitative)
Ausrichtung ausdrücklich erwünscht. Gute didaktische Fähigkeiten und Lehrerfahrungen setzen wir ebenso voraus,
wie Ihre Bereitschaft und Fähigkeit, Veranstaltungen in englischer Sprache anzubieten. Sie sind auch ohne deutsche für die Studiengänge Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik, u. a. ein fachlich verwandter Hochschulabschluss und berufs-
Sprachkenntnisse willkommen. In diesem Fall erwarten wir, dass Sie innerhalb von zwei Jahren nach Berufung hin-
reichende Deutschkenntnisse für die Übernahme von Lehr- und Selbstverwaltungsaufgaben erworben haben. Die Ein- Luft- und Raumfahrttechnik sowie Wirtschaftsingenieurwesen. praktische Erfahrungen im jeweiligen Fachgebiet. Weitere Infor-
stellungsvoraussetzungen richten sich nach § 63 SächsHSFG. Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter:
https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/9820. Lehrbeauftragte der DHBW sind externe, nebenberuflich tätige mationen, insbesondere hinsichtlich der zu vergebenden Lehr-
Fakultät Maschinenwesen, Institut für Strömungsmechanik, Professur für Turbomaschinen und Flug- Dozenten*Dozentinnen, die einzelne Vorlesungen, Übungen oder veranstaltungen, finden Sie auf unserer Homepage unter www.
antriebe, zunächst für 36 Monate (Beschäftigungsdauer gem. WissZeitVG) mit der Gelegenheit zur eigenen wiss.
Weiterqualifikation (i. d. R. Promotion) sonstige Lehrveranstaltungen übernehmen. Anforderungen sind ravensburg.dhbw.de/lehre-forschung/lehrbeauftragte.html
wiss. Mitarbeiter:in (m/w/d)
(bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen E 13 TV-L)
Im Rahmen eines vom BMWK geförderten Forschungsvorhabens soll der Einsatz einer abschließenden radialen
Verdichterstufe in vielstufigen Axialverdichtern untersucht werden. Gesucht werden Bewerber:innen mit überdurch-
schnittl. wiss. Hochschulabschluss der FR Maschinenbau, möglichst mit Schwerpunkt Flugantriebe o. Energietechnik.
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter: https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/9823.
Fakultät Physik, Institut für Festkörper- und Materialphysik, Professur für Physik der Quantenmaterialien,
für sechs Jahre (Beschäftigungsdauer gem. WissZeitVG) mit dem Ziel der eigenen wiss. Weiterqualifikation (i. d. R.
Habilitation)
wiss. Mitarbeiter:in/Postdoc – Physik der Quantenmaterialien (m/w/d)
(bei Vorliegen der persönlichen Voraussetzungen E 13 TV-L)
Zur Unterstützung der Professur in Forschung und Lehre werden Promovierte in experimenteller Festkörperphysik o.
Festkörperchemie mit Erfahrungen in der Röntgenstreuung u. Kristallographie gesucht. Den vollständigen Ausschrei-
bungstext finden Sie unter: https://tu-dresden.de/stellenausschreibung/9825.
An der Hochschule Hannover sind an der Fakultät IV, Wirtschaft und Informatik, zum
nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Professuren zu besetzen:
In der Abteilung Wirtschaftsinformatik Die IU Internationale Hochschule ist Deutschlands größte Hochschule. Als dynamisch
wachsende, staatlich anerkannte, private Hochschule sind wir mit über 85.000 Stu-
W2-Professur dierenden und 3.000 Mitarbeitenden an mehr als 40 Standorten bundesweit vertreten.
Verwaltungswissenschaften
– Kennziffer W2 9/2022 – Für unser Duales Studium suchen wir deutschlandweit
An der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Musik
sowie in der Abteilung Betriebswirtschaft
der Brandenburgischen Technischen Universität
Cottbus–Senftenberg (BTU) ist zum nächstmöglichen W2-Professur PROFESSOREN (M/W/D) in Voll- oder Teilzeit
Zeitpunkt die Quantitative Methoden und in den folgenden Fachbereichen:
Informationsmanagement
PROFESSUR (W2)
– Kennziffer W2 24/2021 – Bauingenieurwesen Mechatronik
Betriebswirtschaftslehre Mediendesign
Pflegewissenschaft W2-Professur
Culinary Management
Digital Engineering
Wirtschaftsinformatik
Wirtschaftsingenieurwesen
mit anwendungsbezogener Ausrichtung zu besetzen.
Wirtschaftsrecht Informatik Maschinenbau
– Kennziffer W2 5/2022 –
Außerdem suchen wir für unser Fernstudium (Online-Lehre mit der
Weitere Einzelheiten zur jeweiligen Professur entnehmen Sie bitte dem Bewer-
Weitere Informationen und Hinweise zum Stellenangebot Möglichkeit an einem unserer Standorte zu arbeiten) in Voll- oder Teilzeit
bungsportal der Hochschule Hannover unter www.karriere-hshannover.de oder über
finden Sie unter › www.b-tu.de/stellenangebote in den folgenden Fachbereichen
den QR-Code.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 10.11.2022 Aviation Management Industrial Robotics
an den Dekan der Fakultät IV, Prof. Dr. Michael Bienert. Die Bewerbung ist bis zum Data Management Mobile Robotics
Die BTU trägt das Gütesiegel des Deutschen Hochschul-
verbandes (DHV). Sie wird damit für ihre fairen und Ablauf dieser Frist online über das Bewerbungsportal möglich.
transparenten Verhandlungen zur Berufung von neuen
Professorinnen und Professoren ausgezeichnet.
Für Fragen können Sie den Dekan der Fakultät IV auch per E-Mail kontaktieren: Wir freuen uns auf Ihre Online-Bewerbung unter
f4-dekan@hs-hannover.de www.iu-careers.com.
44 STELLENMARKT 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Die Zahl 3½ Fragen an: Michael Bruno Klein

50,2 %
1. 2. 3. 3½.
Was brauchen Sie heute im Beruf, Was hat Sie während eines akademischen Lektüre muss sein. Welche? Und sonst so?
was Sie im Studium nicht gelernt haben? Auslandsaufenthaltes besonders beeindruckt? Irene Vallejo: Papyrus. Die Geschichte Staunen Sie, wie
Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit Ich habe an der University of East Anglia der Welt in Büchern. innovativ mittelständische
aller Studierenden im und Strategiefähigkeit.
Außerdem Entscheidungskompetenz.
in Norwich studiert, als die Mauer fiel.
Und den Tag der Wiedervereinigung habe
Niall Ferguson: Doom. Die großen
Katastrophen der Vergangenheit und einige
Firmen forschen.

Wintersemester 21/22 All das, obwohl ich Geschichte, Wirtschafts-

geschichte, Politik- und Kommunikations-
ich in Frankreich im Rahmen meines Studiums
an der Université de Bourgogne in Dijon
Lehren für die Zukunft.
Gerd Gigerenzer: Klick. Wie wir in einer
waren Frauen wissenschaften studiert habe. verbracht. Die Gespräche mit Studenten digitalen Welt die Kontrolle behalten und die
aus allen Ländern dieser Welt dazu haben richtigen Entscheidungen treffen. Michael Bruno Klein, 57,
Damit war zum ersten Mal die Mehrheit mich sehr beeindruckt und geprägt. ist Hauptgeschäftsführer der AiF
der in Deutschland Studierenden weiblich. (Arbeitsgemeinschaft industrieller
Forschungsvereinigungen
Quelle: Centrum für Hochschulentwicklung »Otto von Guericke« e. V.) in Köln

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter ZEIT WISSEN³ unter www.zeit.de/wissendrei

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Im Fachbereich Bauingenieurwesen an der FH Aachen am

Standort Aachen ist folgende Professur zum nächstmög-
lichen Zeitpunkt zu besetzen
Die Universitätsmedizin Tübingen ist Bestandteil der Exzellenzuniversität Tübingen. Sie bietet
medizinische Leistungen auf höchstem Niveau und deckt das gesamte Spektrum moderner Professur „Smart Building
Medizin, Forschung, Lehre und Krankenversorgung ab.

An der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen ist im Institut für Medizinische Mikro- Engineering mit Schwerpunkt
biologie und Hygiene, Department für Diagnostische Labormedizin und im Interfakultären Institut
für Mikrobiologie und Infektionsmedizin eine nachhaltige Gebäudeenergie-
W3-Professur für Medizinische Mikrobiologie (w/m/d) systeme“
zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu besetzen. Die Besetzung erfolgt im Angestelltenverhältnis, (Kennziffer: P-02-667)
sofern die zu berufende Person nicht bereits verbeamtet ist.
Die FH Aachen hat 2018 den Bacherlorstudiengang Smart
Die FHWS bietet durch über 50 grundständige und postgraduale Studiengänge in zehn Fakultäten und acht Forschungsinsti- Mit der Professur ist die Leitung des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene ver-
tuten breite, praxisorientierte und zukunftsorientierte Studienmöglichkeiten. bunden. Klinische Schwerpunkte des Instituts sind die Infektionsdiagnostik, die Genom- und Building Engineering (SBE) erfolgreich gestartet, der ein
Mit mehr als 230 Professorinnen und Professoren und über 9.000 eingeschriebenen Studierenden gehört sie zu den größten Metagenomanalytik von Mikroben sowie die Umwelt- und Krankenhaushygiene mit Infektions- zeitgemäßes, interdisziplinäres Angebot für die Heraus-
Hochschulen für angewandte Wissenschaften in Bayern. epidemiologie und Ausbruchsanalyse. Die Forschungsschwerpunkte des Instituts liegen in der forderungen in der Planung von Gebäuden darstellt. Diese
Die FHWS profiliert sich durch ausgeprägte Internationalisierungsmaßnahmen, unterstützt die Region durch Wissenstransfer, Aufklärung bakterieller Pathogenitätsmechanismen, der Entwicklung neuartiger Antiinfektiva
Professur bietet die Chance, dieses Themenfeld in Lehre
insbesondere bei der Entwicklung der Digitalisierung, und legt großen Wert auf hohe Qualitätsstandards. Werden Sie Teil ei- und der Mikrobiomforschung.
und Forschung unter den Aspekten der Nachhaltigkeit
nes innovativen Teams mit großen Gestaltungsfreiräumen und engen Kontakten zu den Kooperationspartnern der Hochschule. Der Stelleninhaber/Die Stelleninhaberin soll insbesondere auf dem Gebiet der Erforschung
weiterzuentwickeln, neue Wege zu gehen und in einem an-
pathogener bakterieller Infektionserreger und/oder funktioneller Mikrobiomforschung inter-
Aktuell sind folgende Stellen zu besetzen: regenden Umfeld von mehreren beteiligten Fachbereichen
national durch kompetitive, innovative Forschung, entsprechende hochrangige Publikationen
sowie umfangreiche Drittmitteleinwerbungen ausgewiesen sein und das Fach Medizinische und einer engen Kooperation mit Unternehmen zu arbeiten.
Professorin/Professor (m/w/d) Mikrobiologie in Forschung, Lehre und Krankenversorgung wissenschaftlich, klinisch und
wirtschaftlich vertreten. Ihre Aufgaben
(Besoldungsgruppe W 2) • selbstständige, engagierte Vertretung des Lehr- und
Bereitschaft und Engagement zur Mitgestaltung des Schwerpunkts Infektionsmedizin der
Forschungsgebietes im Studiengang Smart Building
Professur für Digitales Planen und Bauen Medizinischen Fakultät sowie eine aktive Beteiligung an laufenden und geplanten Forschungsver-
bünden der Universität Tübingen, insbesondere dem DZIF (Deutsches Zentrum für Infektions- Engineering
Bewerbungskennziffer: 20.1.485 forschung) Standort Tübingen, dem Exzellenzcluster CMFI (Controlling Microbes to Fight • Durchführung und Weiterentwicklung von praxisnahen
Infections) und dem zukünftigen M3-Forschungsinstitut (Malignom, Metabolom und Mikrobiom),
Die Stelle ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt an der Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen zu besetzen. Der Dienstort befindet Lehrveranstaltungen in den Bereichen
werden vorausgesetzt.
sich in Würzburg. ○ nachhaltige Systeme und Komponenten zum Energie-
Des Weiteren soll der Stelleninhaber/die Stelleninhaberin über nachgewiesene mehrjährige management von Gebäuden
Professur für Leistungselektronik für Energiesysteme Leitungs- und Führungserfahrungen verfügen, auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Steuerung
des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene sowie im Department für Diagnostische
○ Grundlagenfächer für den Studiengang SBE
Bewerbungskennziffer: 04.2.406 Labormedizin. ○ digitale Planungstechniken in der TGA
Die Stelle ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt an der Fakultät Elektrotechnik zu besetzen. Der Dienstort befindet sich in Schweinfurt. ○ Betreuung studentischer Projekte
Im Bereich der Lehre werden umfangreiche und herausragend evaluierte Lehrerfahrungen und
Engagement insbesondere im Hinblick auf innovative Curricula der Studiengänge der Medi- • Entwicklung des Labors für Technische Gebäudeaus-

Professur für Hochfrequenz-Schaltungstechnik zinischen Fakultät sowie die aktive Mitgestaltung von Vorlesungen und anderen Lehrformaten
erwartet. Die Lehrverpflichtung beträgt 9 SWS.
rüstung
• Engagement in der Forschung und beim Einwerben von
Bewerbungskennziffer: 04.2.487
Einstellungsvoraussetzungen sind eine Qualifikation als Facharzt/Fachärztin für Mikrobiologie, Forschungsmitteln sowie beim Aufbau des Instituts SBE
Die Stelle ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt an der Fakultät Eletrotechnik zu besetzen. Der Dienstort befindet sich in Schweinfurt.
Virologie und Infektionsepidemiologie oder eine gleichwertige, im Ausland erworbene, Quali- • Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung, exter-

Professur für Recyclingverfahren und Kreislaufwirtschaft

fikation, die Habilitation oder eine gleichwertige Qualifikation sowie nachgewiesene didaktische nen Gremien und Fachausschüssen
Eignung.
Bewerbungskennziffer: 60.1.464 Die Universität Tübingen strebt eine Erhöhung des Anteils der Frauen in Forschung und Lehre Ihr Profil
Die Stelle ist zum 01.10.2023 an der Fakultät Kunststofftechnik und Vermessung zu besetzen. Der Dienstort befindet sich in an und bittet deshalb entsprechend qualifizierte Wissenschaftlerinnen nachdrücklich um eine • einschlägiges Studium mit Vertiefung im Bereich Gebäude-
Würzburg. Bewerbung. Qualifizierte internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind aus- technik, Versorgungstechnik und Energietechnik
drücklich aufgefordert, sich zu bewerben.
• Promotion oder promotionsadäquate Leistungen, bevor-
Professur für Circular Economy an Life Cycle Assessment Schwerbehinderte werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. zugt aus dem Bereich Gebäudetechnik
Bewerbungskennziffer: 72.2.486 Bitte beachten Sie die geltenden Impfregelungen. • Erfahrung in der Gebäudeenergietechnik und der An-
Die Stelle ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen zu besetzen. Der Dienstort befindet sich wendung digitaler Planungswerkzeuge und -methoden,
Bitte reichen Sie Ihre kompletten Bewerbungsunterlagen über das Berufungsportal der
in Schweinfurt. Medizinischen Fakultät unter https://berufungsportal.medizin.uni-tuebingen.de bis zum
z. B. BIM
10.11.2022 ein. • Praxiserfahrung in einem oder mehreren der Bereiche:
Professur für Nachhaltigkeitsmanagement in Unternehmen Rückfragen können an den Dekan gerichtet werden.
Entwicklung von nachhaltigen Energiekonzepten,
Planung und Ausführung von Gebäudetechnik und
und Lieferketten Dekan der Medizinischen Fakultät der
Eberhard Karls Universität Tübingen
gebäudetechnische Simulation
Bewerbungskennziffer: 03.1.409 • Erfahrungen in Forschung und Entwicklung wünschens-
Herrn Professor Dr. rer. nat. Bernd Pichler
Die Stelle ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften zu besetzen. Der Dienstort befindet sich Geissweg 5/1 wert
in Würzburg. 72076 Tübingen • Freude an und idealerweise Erfahrung in der Lehre
• Erfüllung der Voraussetzungen des § 36 Hochschulge-
Professur für Volkswirtschaftslehre und empirische setz NRW

Wirtschaftsforschung Wir bieten Ihnen

• die Möglichkeit, an einer forschungsstarken Fachhoch-
Bewerbungskennziffer: 03.1.465
schule Ihr Lehrgebiet weiter zu entwickeln
Die Stelle ist zum Sommersemester 2024 an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften zu besetzen. Der Dienstort befindet sich in
• die Chance zum Aufbau eines Labors für Technische Ge-
Würzburg.
bäudeausrüstung
Für alle Professuren gilt gleichermaßen: Wissensvermittlung mit starkem Praxisbezug – dafür steht die Fachhoch-
schule Kiel seit mehr als 50 Jahren. Dabei arbeiten wir interdisziplinär und • europäisches Lebensgefühl im Leben und in der Arbeit
In das Beamtenverhältnis kann berufen werden, wer das 52. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ansonsten erfolgt eine können als größte Hochschule für angewandte Wissenschaften im Land auf durch die Lage im Dreiländereck zu Belgien und den
Einstellung im Angestelltenverhältnis. regionale wie internationale Netzwerke zurückgreifen. In den Studiengängen Niederlanden
Die ausführlichen Stellenausschreibungen sowie die allgemeinen Einstellungsvoraussetzungen finden Sie auf unserem an unseren sechs Fachbereichen widmen wir uns mit rund 8000 Studierenden
• hochschuldidaktische Unterstützung beim Einstieg in
Online-Portal. den aktuellen Herausforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft.
die Lehre von Anfang an
Der Freistaat Bayern bietet nicht nur optimale Arbeitsbedingungen und eine hervorragende Lebensqualität, sondern auch Am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit ist zum nächstmöglichen
Zeitpunkt folgende Professur zu besetzen: • vielfältige Angebote, um die Herausforderungen bei der
besondere, landesspezifische Besoldungsregelungen.
Vereinbarkeit von Beruf und Ihrer persönlichen Lebens-
Unsere Hochschule fördert die berufliche Gleichstellung von Frauen und strebt insbesondere im wissenschaftlichen Bereich W2-Professur für Empirische Sozialforschung situation zu meistern
eine Erhöhung des Frauenanteils an. Frauen werden daher ausdrücklich zur Bewerbung aufgefordert.
Die Lehre ist in den BA und MA-Studiengängen Soziale Arbeit und Kindheits- • W2-Professur auf Zeit für die Dauer von 5 Jahren
Schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber werden bei ansonsten im Wesentlichen gleicher Eignung, Befähigung und pädagogik angesiedelt.
fachlicher Leistung bevorzugt eingestellt. (Stiftungsprofessur) mit der Möglichkeit der Einstellung
Zentrale Inhalte der Lehre sind: in ein Beamtenverhältnis beim Vorliegen der recht-
Die Professuren sind dem Grunde nach in Vollzeit zu besetzen. Zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bietet • Einführung in die Empirische Sozialforschung: Qualitative und quantitative
die FHWS die Möglichkeit an, die Stellen zunächst befristet (für einen Zeitraum von ein bis zu zwei Jahren) in Teilzeit zu Methoden, Mixed-Methods lichen Voraussetzungen
besetzen. Nach diesem Zeitraum ist eine weitere Beschäftigung in Teilzeit nach den gesetzlichen Bestimmungen grundsätzlich • Praxisforschung, Forschungswerkstätten
Ansprechpartner: Prof. Dr.-Ing. Bernd Döring,
möglich. • Grundlagen und Techniken wissenschaftlichen Arbeitens und Forschens in
der Sozialen Arbeit Tel. 0241 6009-51213
Wenn Sie sich für eine Stelle an der FHWS berufen fühlen, freuen wir uns auf Ihre aussagekräftige Bewerbung mit den üblichen • Evaluation
Unterlagen (Lebenslauf, Zeugnisse, Nachweis zu den beruflichen Stationen sowie den wissenschaftlichen Arbeiten) über unser Wir haben Ihr Interesse geweckt?
Online-Portal (www.fhws.de/online-portal). Vorausgesetzt werden:
• Ausgewiesene Kenntnisse der empirischen Sozialforschung Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung bis zum
Die Bewerbungsfrist kann den einzelnen Anzeigen entnommen werden. • Ausgewiesene Kenntnisse der Praxisforschung, nachgewiesen durch
17. November 2022 über unser Online-Bewerbungsportal
einschlägige eigenständige Forschungspraxis im Kontext Sozialer Dienst-
leistungen (Soziale Arbeit, Kindheitspädagogik) auf der Internetseite der FH Aachen, unter folgendem Link:
Erwartet werden ein auf das Lehrgebiet bezogener Hochschulabschluss, eine fhac.de/stellen.
besondere Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit, die durch eine gute
Promotion im Themenbereich des zu übernehmenden Lehrgebietes Die Bewerbung geeigneter Schwerbehinderter ist er-
nachzuweisen ist. wünscht. Die FH Aachen beabsichtigt, den Anteil von
Wir freuen uns auf ein Teammitglied, das sich an der Weiterentwicklung der Zertifikat seit 2009
Frauen in Lehre und Forschung zu erhöhen, Bewerbungen
Studiengänge des Fachbereiches sowie an interdisziplinären (Forschungs-) von Frauen sind daher besonders willkommen.
Projekten beteiligt, in den interdisziplinären Wochen der Fachhochschule
Kiel mitwirkt sowie regionale, landesbezogene und -übergreifende Praxis-
und Forschungskontakte (weiter-)entwickelt. Die Bereitschaft zum
Engagement in der Selbstverwaltung der Fachhochschule wird vorausgesetzt.
Die Fachhochschule Kiel bietet didaktische Aus- und Fortbildung während
Der European Campus Rottal-Inn der Technischen An der Hochschule Hannover sind an der Fakultät II, Maschinenbau und Bioverfah- der ersten beiden Beschäftigungsjahre an. Es wird erwartet, dass dieses An der Hochschule für Polizei Baden-
Hochschule Deggendorf bietet folgende Stelle renstechnik, zum nächstmöglichen Zeitpunkt unbefristet folgende Stellen in den Angebot genutzt wird. Württemberg in Villingen-Schwenningen
Abteilungen Maschinenbau und Maschinenbau dual zu besetzen: ist in der kriminalwissenschaftlichen Fa-
der Bes.Gr. W2: Sie müssen neben den allgemeinen beamtenrechtlichen Voraussetzungen die
kultät zum Wintersemester 2023 fol-
Voraussetzungen des § 61 HSG erfüllen. Danach sind mindestens ein zum
gende Stelle zu besetzen:
W2-Professur Zugang für die Laufbahn der Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt,
Professur (d/m/w) Elektrische Antriebssysteme und
berechtigendes, abgeschlossenes Hochschulstudium, pädagogische und
didaktische Eignung und wie oben beschrieben eine besondere Befähigung
für das Lehrgebiet „Health Tourism Management“
zum Sommersemester 2023 oder später
Automatisierungstechnik zu wissenschaftlicher Arbeit, die in der Regel durch die gute Qualität einer
Promotion nachgewiesen wird, erforderlich. Besondere Leistungen bei der Professur auf Zeit für Kriminologie/Soziologie
– Kennziffer W2 9/2021 – Anwendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden (Besoldungsgruppe W2, befristet bis 31.03.2026)
sind in einer mindestens fünfjährigen beruflichen Praxis, von der mindestens
drei Jahre außerhalb des Hochschulbereichs ausgeübt worden sind,
Mehr Infos unter
W2-Professur Voraussetzung.
Von der Bewerberin/dem Bewerber (w/m/d) wird ein erfolgreich abgeschlossenes
www.th-deg.de/arbeiten-an-der-thd Technischer Vertrieb und Die Hochschule setzt sich für die Beschäftigung von Menschen mit Studium der Rechtswissenschaft, Soziologie oder Psychologie mit möglichst
Marketing Behinderung ein. Daher werden schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte
Bewerbende bei entsprechender Eignung bevorzugt berücksichtigt.
jeweils entsprechender Schwerpunktsetzung in Kriminologie und/oder mit einem
Ergänzungsstudium in Kriminologie erwartet. Kenntnisse im Bereich der Polizei-
– Kennziffer W2 12/2020 – Die Hochschule ist bestrebt, den Anteil der Wissenschaftlerinnen zu wissenschaft sind wünschenswert.
erhöhen. Sie fordert deshalb geeignete Frauen auf, sich zu bewerben. Frauen Neben der Erfüllung der allgemeinen hochschulrechtlichen Voraussetzungen
Weitere Einzelheiten zu den Professuren entnehmen Sie bitte dem Bewerbungs- werden bei gleichwertiger Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung gem. § 47 Landeshochschulgesetz BW sollte die Bewerberin/der Bewerber
portal der Hochschule Hannover unter www.karriere-hshannover.de. vorrangig berücksichtigt. Ausdrücklich begrüßen wir es, wenn sich Menschen (w/m/d) insbesondere über fundierte Berufserfahrungen in einem polizeinahen
mit Migrationshintergrund bei uns bewerben. Tätigkeitsfeld verfügen. Die pädagogische Eignung ist auch durch eine Probe-
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 10.11.2022 an vorlesung nachzuweisen.
Auf die Vorlage von Bewerbungsfotos verzichten wir aus-
den Dekan der Fakultät II, Maschinenbau und Bioverfahrenstechnik, Prof. Dr.-Ing. drücklich und bitten daher, hiervon abzusehen. Die
Wolfgang Strache. Die Bewerbung ist bis zum Ablauf dieser Frist online über das Die vollständige Stellenausschreibung finden
Bewerbung mit vollständigen Unterlagen ist schriftlich
bis zum 11.11.2022 zu richten an die Dekanin des Fach- Sie unter: www.hfpol-bw.de
Bewerbungsportal möglich. Für Fragen zur Bewerbung können Sie die Fakultät II auch
per E-Mail kontaktieren, berufungen@hs-hannover.de. bereichs Soziale Arbeit und Gesundheit, Frau Prof. Dr.
Ariane Schorn, Sokratesplatz 2, 24149 Kiel.
An der Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät ist ab sofort eine
Professur für Theoretische Physik
mit Tenure Track (W2) (w/m/d)
zu besetzen.
Die Universität zu Köln ist eine der größten und forschungsstärksten Hochschulen Deutschlands
mit einem vielfältigen Fächerangebot. Sie bietet mit ihren sechs Fakultäten und ihren inter-
fakultären Zentren ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen und international
herausragender Profilbereiche. Die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät (MNF)
umfasst sechs Departments mit rund 180 Professuren und 9.000 Studierenden und zählt zu
den größten Fakultäten des Landes. Forschung für eine Gesellschaft im Wandel: Das ist der
Antrieb im Forschungszentrum Jülich. Als Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft stellt sich das
Forschungszentrum Jülich großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit und er-
forscht Optionen für die digitalisierte Gesellschaft, ein klimaschonendes Energiesystem und
ressourcenschützendes Wirtschaften. Arbeiten Sie gemeinsam mit rund 7.100 Kolleg*innen in
einem der größten Forschungszentren Europas und gestalten Sie den Wandel mit uns!
IHRE AUFGABEN
Die Professur wird auf dem Gebiet der optimalen Steuerung im Bereich des Festkörper-Quantencom-
puting eingerichtet. Der/Die erfolgreiche Kandidat*in wird mit modernen Methoden arbeiten,
darunter analytische Lösungen, numerische Optimierung, maschinelles Lernen und Feedback-
Kontrolle. Die Arbeit wird in unmittelbarer Nähe zu experimentellen Realisierungen von supralei-
tenden Quantentechnologien stattfinden.
Der/Die Kandidat*in wird an bedeutenden europäischen und deutschen Forschungsinitiativen
mitwirken. Die Universität zu Köln und das Forschungszentrum Jülich arbeiten im Rahmen
des Exzellenzclusters „Materie und Licht für Quanteninformation“ (ML4Q) zusammen, eine
Mitarbeit an diesem Projekt ist erwünscht.
Es wird erwartet, dass der/die erfolgreiche Kandidat*in sich an der Lehre im Bereich der
theoretischen Physik beteiligt.
IHR PROFIL
Bewerber*innen sollen Erfahrung in einer Kombination der o. g. Bereiche haben. Darüber
hinaus sollen sie exzellente Erfolge in relevanten theoretischen Techniken vorweisen können,
z. B. mit Anwendungen auf aktuelle Qubits oder der Dynamik offener Systeme.
WIR BIETEN IHNEN
Die Universität zu Köln und das Forschungszentrum Jülich bieten Ihnen ein exzellentes wissen-
schaftliches Umfeld, vielfältige Angebote zur professionellen Personalentwicklung sowie Un-
terstützung für Dual Career-Paare und bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Mit der Stelle verbunden ist die Leitung einer Arbeitsgruppe am Peter Grünberg Institute for
Quantum Control des Forschungszentrums Jülich. Die Berufung wird daher in einem gemein-
samen Verfahren beider Institutionen vollzogen werden. Die Lehrverpflichtung an der Universität
zu Köln beläuft sich auf 2 Semesterwochenstunden und kann durch Vorlesungen, Übungen
sowie durch Betreuung von Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten geleistet werden.
Wir streben an, die Professur zum nächstmöglichen Zeitpunkt, zunächst befristet für die Dauer
von 5 Jahren, zu besetzen. Es gelten die Einstellungsvoraussetzungen des § 36 Hochschulgesetz
NRW.
Spätestens im fünften Jahr nach Dienstbeginn ist eine Endevaluation gemäß der Ordnung zur
Qualitätssicherung in Tenure Track-Verfahren der Universität zu Köln vorgesehen, auf deren
Grundlage über die Verstetigung auf einer W2-Professur entschieden wird.
Die Universität zu Köln und das Forschungszentrum Jülich fördern Chancengerechtigkeit und
Vielfalt. Wissenschaftlerinnen sind besonders zur Bewerbung eingeladen und werden nach
Maßgabe des LGG NRW bevorzugt berücksichtigt. Bewerbungen von Wissenschaftler*innen
mit Schwerbehinderung und ihnen Gleichgestellten sind ebenfalls ausdrücklich erwünscht.
Bitte richten Sie Ihre Bewerbung in elektronischer Form mit den üblichen Unterlagen (Le-
benslauf, Qualifizierungsnachweise, Liste mit Publikationen, einem Konzept zur Lehre, einer
kurzen Zusammenfassung der Forschungsinteressen sowie die Hervorhebung von fünf kommen-
tierten Publikationen) über das Berufungsportal der Universität zu Köln (https://berufungen.
uni-koeln.de) bis zum 15.11.2022 an den Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen
Fakultät.
Universität
zu Köln
An der Universität Klagenfurt gelangt voraussichtlich mit
1. Dezember 2022 folgende Stelle zur Besetzung:
Universitätsassistent*in am Institut für Psychologie –
Kennung 453-1/22
Bewerbungen bis 9. November 2022;
alle Details online.
jobs.aau.at
An der Professional School of Education (PSE) der Universität Stuttgart, der
Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, der Universität Hohenheim, der
Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und der Staatlichen
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart ist zum nächstmög-
lichen Zeitpunkt eine Position als
Geschäftsführer (m/w/d)
unbefristet je nach persönlicher Voraussetzung bis TV-L E14 zu besetzen.
Kennziffer: 22-77
Als Geschäftsführer (m/w/d)
l sind Sie u. a. federführend für den Betrieb und weiteren Ausbau der PSE
zuständig,
l erarbeiten Sie selbstständig Konzepte, koordinieren Maßnahmen und
schieben weitere Projekte an, welche die kontinuierliche, evidenzbasierte
und professionsorientierte Verbesserung der Lehrkräftebildung und die Zu-
sammenarbeit unserer Verbundpartner zum Ziel haben,
l wirken Sie bei der Steuerung und Umsetzung des BMBF-Projektes Lehrer-
bildung PLUS mit und werben gemeinsam mit den Verbundpartnern neue
Drittmittelprojekte für die PSE ein,
l entwickeln die PSE und ihre Governancestrukturen weiter sowie
l arbeiten Sie dem Direktorium sowie Vorstand zu und berichten unmittelbar
an beide Gremien.
Ihr Profil:
l Sie verfügen über ein abgeschlossenes Hochschulstudium in einem für das
Stellenprofil einschlägigen Themengebiet, z. B. ein Lehramt, Erziehungs-
wissenschaften, Sozialwissenschaften oder Psychologie; eine Promotion ist
erwünscht
l Sie haben möglichst mehrjährige Erfahrung mit einer Tätigkeit an einer
Hochschule und verfügen idealerweise über gute Kenntnisse in der Lehr-
kräftebildung
l Einschlägige Erfahrungen in einem Projekt der Qualitätsoffensive Lehrer-
bildung sind von Vorteil
l Idealerweise bringen Sie Erfahrung im Bereich institutionsübergreifende
Geschäftsführung mit sowie mit hochschulweiten bzw. hochschulübergrei-
fenden Organisationsentwicklungsprojekten bzw. in der Steuerung komplexer
Projekte mit mehreren Beteiligten
Als Geschäftsführer (m/w/d) werden Sie mit einer vollen Stelle mit Sitz an der
PSE und Tätigkeiten in Stuttgart und Ludwigsburg mit baldmöglichstem Be-
ginn jeweils zur Hälfte von der Universität Stuttgart und der Pädagogischen
Hochschule Ludwigsburg beschäftigt. Beide Hochschulen bieten familien-
freundliche Arbeitsbedingungen.
Eine vollständige Stellenausschreibung finden Sie unter:
https://www.ph-ludwigsburg.de/hochschule/verwaltung/personalange-
legenheiten/stellenangebote
SIE SIND EINE
MARKE DES
JAHRHUNDERTS?
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auf www.deutsche-standards.de und zeigen Sie
mit unseren Siegeln, dass Sie dem exklusiven
Kreis der „Marken des Jahrhunderts“ angehören.
TALENTE TECHNIK ZUKUNFT
Die Technische Hochschule Mittelhessen gehört mit 18.000 Studie-
renden zu den größten Hochschulen für angewandte Wissen-
schaften in Deutschland.
Zur Verstärkung unseres Kollegiums ist am Campus Gießen im
Fachbereich Wirtschaft zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende
Stelle zu besetzen:
W2-PROFESSUR
mit dem Fachgebiet
WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE UND
SOZIALKOMPETENZ
Bewerbungsende: 24. November 2022
Ref. Nr. B 22-009
Detaillierte Informationen zu der zu besetzenden Professur – ins-
besondere die sich aus den §§ 67 und 68 HHG ergebenden Ein-
stellungsvoraussetzungen des Landes Hessen – entnehmen Sie
bitte unserer Homepage unter: karriere.thm.de
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist uns ein
Anliegen. Im Rahmen des audits „familiengerechte
Hochschule“ arbeiten wir an der Weiterentwicklung
entsprechender Strukturen.
Die Universität Paderborn ist eine leistungsstarke und international orientierte
Campus-Universität mit rund 20.000 Studierenden. In interdisziplinären
Teams gestalten wir zukunftsweisende Forschung, innovative Lehre sowie
den aktiven Wissenstransfer in die Gesellschaft. Als wichtiger Forschungs-
und Kooperationspartner prägt die Universität auch regionale Entwicklungs-
strategien. Unseren über 2.600 Beschäftigten in Forschung, Lehre, Technik
und Verwaltung bieten wir ein lebendiges, familienfreundliches und
chancengerechtes Arbeitsumfeld mit kurzen Entscheidungswegen und viel-
fältigen Möglichkeiten.
Gestalten Sie mit uns die Zukunft!
In der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik wird im
Institut für Informatik der Forschungsschwerpunkt Software-Engineering weiter
ausgebaut mit einer
W1-Juniorprofessur (w/m/d)
für Software-Resilienz
Das Institut für Informatik verfügt mit vier etablierten W3-Professuren im
Bereich Softwaretechnik bereits über einen national einzigartigen und auch
international sehr sichtbaren Schwerpunkt in dieser Thematik. Durch die hier
ausgeschriebene W1-Professur soll einer*einem Wissenschaftler*in in der
frühen Karrierephase die Möglichkeit gegeben werden, diesen Schwerpunkt
mitzugestalten und somit in diesem exzellenten Forschungsumfeld die eigene
Karriere zu befördern.
Erfolgreiche Bewerber*innen sollten eine nachweislich herausragende Leistung
in mindestens einem der folgenden Bereiche vorweisen können: Steigerung
oder Bewertung von Resilienz und Robustheit von Softwaresystemen,
Architekturen und Entwurfsmethoden für resiliente Softwaresysteme,
automatisierte Programmanalyse zur Bewertung von (Angriffs-)Resilienz,
skalierbar performante Software, Laufzeit-Monitoring, Angriffserkennung und
-abwehr, systematischer Funktionsabbau (Graceful Degradation). Überdurch-
schnittliche Kandidat*innen in anderen Bereichen der Softwaretechnik können
nach Ermessen der Berufungskommission ebenfalls berücksichtigt werden.
Die Einstellung erfolgt im Beamtenverhältnis auf Zeit zunächst für drei Jahre,
wobei nach positiver Evaluierung das Dienstverhältnis um weitere drei Jahre
verlängert werden soll. Eine Fortsetzung in einem unbefristeten Arbeitsverhält-
nis („tenure track“) ist nicht vorgesehen.
Wir erwarten die Bereitschaft und das Interesse zur Zusammenarbeit zwischen
den Forschungsgruppen dieses Themenbereichs, mit Forschungsgruppen des
strategischen Schwerpunkts Data Science und Security sowie mit anderen
Gruppen innerhalb und außerhalb des Instituts.
Die Bewerber*innen sollten ihre wissenschaftliche Kompetenz durch Veröffent-
lichungen in international führenden Konferenzen oder Fachzeitschriften der
Softwaretechnik nachweisen. Erfahrung in der Einwerbung und Durchführung
von Drittmittelprojekten ist ein Plus. Wir erwarten außerdem die Bereitschaft
zur Erstellung umfangreicher, interdisziplinärer Forschungsanträge und die Fä-
higkeit zur Kooperation mit bestehenden Forschungseinrichtungen. Die Univer-
sität Paderborn bietet hierfür ein exzellentes Umfeld, z. B. die Möglichkeit der
Zusammenarbeit mit Einrichtungen wie dem SICP – Software lnnovation Cam-
pus Paderborn, dem Paderborner Institut für Data Science und Wissenschaftli-
ches Rechnen (DaSCo) oder dem Paderborn Center for Parallel Computing
(PC2) sowie dem Heinz Nixdorf Institut (HNI) oder dem Fraunhofer Institut für
Entwurfstechnik Mechatronik (IEM).
Wir erwarten ebenfalls die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit,
einschlägige Lehrerfahrung und die Fähigkeit, in englischer und deutscher
Sprache zu unterrichten (mindestens mittelfristig).
Einstellungsvoraussetzungen: § 36 Abs. 1 Ziff. 1 bis 3 HG NRW (abgeschlossenes
Hochschulstudium, pädagogische Eignung, einschlägige Promotion).
Die Universität Paderborn strebt eine Erhöhung des Anteils der Frauen als
Hochschullehrer*innen an und fordert daher qualifizierte Wissenschaftler*innen
nachdrücklich zur Bewerbung auf. Frauen werden gem. LGG bei gleicher
Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt berücksichtigt, sofern
nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen. Ebenso
ist die Bewerbung geeigneter Schwerbehinderter und Gleichgestellter im Sinne
des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) erwünscht.
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Herrn Prof. Dr. Christian Scheideler, Leiter des
Instituts für Informatik an der Universität Paderborn (eim-i-prodekan@upb.de).
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen, inklusive eines Forschungs- und
Lehrkonzepts, werden unter Angabe der Kennziffer 5516 bis zum 24.11.2022
über das Bewerbungsportal der Universität Paderborn erbeten:
https://bewerbung.uni-paderborn.de/stellen/5516
Informationen zur Verarbeitung Ihrer personenbezogenen Daten finden Sie
unter: www.uni-paderborn.de/zv/personaldatenschutz.
Leiter des Instituts für Informatik
Prof. Dr. Christian Scheideler
Universität Paderborn
Warburger Str. 100
33098 Paderborn
www.upb.de
Die Pädagogische Hochschule Karlsruhe ist eine bildungswissen-
schaftliche Hochschule mit rund 3.600 Studierenden und einem
breiten Angebot an lehramts- und nicht-lehramtsbezogenen
Bachelor- und Masterstudiengängen.
Zum 1. Oktober 2023 ist am Institut für Transdisziplinäre Sozial-
wissenschaften der PH Karlsruhe eine
W3 Professur
für Bildungssoziologie
Kennziffer 51/2022
zu besetzen.
Die Professur Bildungssoziologie widmet sich in Forschung und
Lehre den Schwerpunkten der Bildungssoziologie wie zum Bei-
spiel gesellschaftliche Veränderung von Bildungsprozessen,
sozialen Ungleichheiten, sozialen Mobilitäten oder auch den
geschlechtergeprägten Positionen im Bildungsbereich. Erwartet
werden Kompetenzen in der quantitativen und/oder qualita-
tiven Bildungsforschung, Erfahrungen mit der Einwerbung und
Durchführung von Drittmittelprojekten sowie Publikationen in
einschlägigen nationalen und internationalen wissenschaft-
lichen Publikationsorganen.
Die oder der Stelleninhaber:in bietet Lehrveranstaltungen im
Umfang von 9 SWS in den Studiengängen und Weiterbildungs-
angeboten der Hochschule an, wirkt verbindlich bei Modul-
prüfungen mit und betreut Bachelor- und Masterarbeiten, Pro-
motionen und Habilitationen. Das Abhalten von Lehrveran-
staltungen in englischer Sprache ist erwünscht. Zusätzlich
betreut sie bzw. er Studierende in den schulpraktischen Stu-
dien und unterstützt die Erweiterung der Studienangebote
der Hochschule.
Zudem wirkt sie oder er an inter- oder transdisziplinären For-
schungsprojekten mit, wirbt aktiv Drittmittel ein, unterstützt
die Internationalisierung der Lehre und Forschung, beteiligt
sich am Neuaufbau von Kooperationen und setzt sich für den
Transfer innovativer Lehr-Lern-Formate und Forschungser-
gebnisse an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen ein.
Sie oder er arbeitet an der Fort- und Weiterentwicklung der
aktuellen Profilfelder der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe
mit, beteiligt sich an der Fortentwicklung des Instituts für
Transdisziplinäre Sozialwissenschaften, ist bereit, sich an der
Konzeption und Durchführung von wissenschaftlichen Weiter-
bildungsangeboten der Hochschule zu beteiligen und ist zur
Mitwirkung in den Selbstverwaltungsgremien der Hochschule
entsprechend den gesetzlichen Regelungen verpflichtet.
Erwartet werden eine überdurchschnittliche Promotion sowie
eine Habilitation oder habilitationsadäquate Schriften und
Leistungen.
Weiter sind der Hochschule hohe Kommunikations- und Koope-
rationskompetenzen wichtig sowie die Bereitschaft, bei der
Berufung den Lebensmittelpunkt in den Raum Karlsruhe zu
verlegen.
Bewerbungsschluss: 31.10.2022
Wir streben eine Erhöhung des Anteils von Frauen in Forschung
und Lehre an und bitten Wissenschaftlerinnen, sich zu bewer-
ben. Schwerbehinderte werden bei gleicher Eignung vorrangig
eingestellt.
Hinweise zu den Einstellungsvoraussetzungen und erforder-
lichen Unterlagen unter www.ph-karlsruhe.de g Hochschule
g Karriere und Stellenangebote g Hinweise zu Ihrer Bewer-
bung um eine Professur.
Wir freuen uns auf Ihre Online-Bewerbung unter:
https://stellenangebote.ph-karlsruhe.de/t4799
An der Hochschule Hannover sind an der Fakultät III – Medien, Information und
Design, zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Professuren zu besetzen:
In der Abteilung Design und Medien
W2-Professur
Zeichnung
– Kennziffer W2 06/2022 –
W2-Professur
Storytelling und grafisches Erzählen
– Kennziffer W2 28/2021 –
sowie in der Abteilung Information und Kommunikation
W2-Professur
Management und Datenmanagement
klinischer Studien
– Kennziffer W2 27/2021 –
Weitere Einzelheiten zur jeweiligen Professur entnehmen Sie bitte dem Bewer-
bungsportal der Hochschule Hannover unter www.karriere-hshannover.de oder über
den QR-Code.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 10.11.2022
an den Dekan der Fakultät III, Prof. Timo Schnitt. Die Bewerbung ist bis zum Ablauf
dieser Frist online über das Bewerbungsportal möglich.
Für Fragen können Sie die Mitarbeitenden der Fakultät III auch per E-Mail,
f3-bewerbung@hs-hannover.de, kontaktieren.
Evangelische Hochschule Ludwigsburg
– Staatlich anerkannte Hochschule für
Angewandte Wissenschaften der Evangelischen
Landeskirche in Württemberg –
An der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg ist zum 01.03.2023 folgende Professur
(m/w/d) zu besetzen:
W2-Professur (100 %)
„Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Inklusion“
Die Professur hat die Schwerpunkte:
• Theorie, Geschichte und Entwicklung Sozialer Arbeit mit Bezug zu Praxisfeldern
• Inklusions- und Exklusionsdiskurse im Kontext intersektionaler Dimensionen in Theorie
und Praxis der Sozialen Arbeit
Wir suchen Bewerber*innen, die o.g. Aspekte der Sozialarbeitswissenschaft für die Hand-
lungsfelder der Sozialen Arbeit erschließen und in Lehre, Forschung sowie Fort- und Weiter-
bildung vertreten können. Zudem erwarten wir die Bereitschaft und Kompetenz zur Aus-
einandersetzung mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit.
Die Anstellung erfolgt im Angestelltenverhältnis. Die Vergütung richtet sich nach W2 LBesO.
Dienstort ist Ludwigsburg.
Die Professur ist zunächst befristet bis 31.12.2025. Bewerbungsschluss: 10.11.2022
Am Campus Reutlingen ist zum 01.03.2023 folgende Professur (m/w/d) zu besetzen:
W2-Professur (50 %)
„Inklusion, Intersektionalität und
Nachhaltigkeit (in) der Sozialen Arbeit“
Die Professur hat die Schwerpunkte:
Theorie und Praxis der Inklusion im Kontext intersektionaler Dimensionen sowie Weiterent-
wicklung der inter- und transdisziplinären Nachhaltigkeitsperspektive der Sozialen Arbeit.
Wir suchen Bewerber*innen, die diese innovative fachliche Perspektive für den Studiengang
am Standort Reutlingen auch in Kooperation mit Politik, Hochschulen, Bildungs- und sozialen
Einrichtungen sowie kirchlichen Einrichtungen in der Region entwickeln.
Die Anstellung erfolgt im Angestelltenverhältnis. Die Vergütung richtet sich nach W2 LBesO.
Dienstort ist Reutlingen.
Der Stellenumfang beträgt 50 %, eine Erhöhung des Stellenumfangs ist ggf. möglich.
Die Professur ist zunächst befristet bis 31.12.2024. Bewerbungsschluss: 01.12.2022
Für beide Professuren wird vorausgesetzt:
• ein Studium der Sozialen Arbeit, der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, Erzie-
hungswissenschaften oder eines vergleichbaren Studiengangs und eine qualifizierte
fachspezifische Promotion
• Berufserfahrungen in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit
• mehrjährige wissenschaftliche und praktische Erfahrungen in den genannten Schwer-
punkten
Neben der Lehre gehören Forschung, Weiterbildung, Organisation und konzeptionelle Weiter-
entwicklung der Studienangebote, Lehre in Deutsch und Englisch in anderen Bachelor- und
Masterstudiengängen sowie die Bereitschaft zum interdisziplinären Gespräch zwischen
Human- und Sozialwissenschaften und Theologie zum Aufgabenbereich.
Die Mitgliedschaft des*der Bewerber*in in einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche Deutsch-
land wird in der Regel erwartet. Bewerbungen schwerbehinderter Menschen werden begrüßt.
Den vollständigen Ausschreibungstext und die allgemeinen Einstellungsvoraussetzungen für
Professuren nach § 47 LHG Baden-Württemberg entnehmen Sie bitte der Homepage unter
www.eh-ludwigsburg.de
Bitte richten Sie Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen und mit der Angabe von drei
möglichen Themen für eine Probevorlesung per E-Mail an den Rektor der Evangelischen
Hochschule Ludwigsburg, Herrn Prof. Dr. Norbert Collmar, Paulusweg 6, 71638 Ludwigsburg
(rektorat@eh-ludwigsburg.de). Für vertrauliche Rückfragen steht Ihnen das Rektorat, unter der
Telefonnummer 07141/9745 200, zur Verfügung.
Mannheim University of Applied Sciences
Zum Wintersemester 2023/24 ist in der Fakultät für Sozialwesen
folgende Stelle zu besetzen:
Professur „Sozialmanagement und
Organisationssoziologie“
Bes. Gr. W2 (Stellen Nr. 843)
Wir suchen eine engagierte Persönlichkeit für unser
Kollegium, die ihre wissenschaftlichen Kenntnisse und berufs-
praktischen Erfahrungen in Lehre und Forschung an unse-
rer Hochschule einbringen will und sich auf den Umgang mit
Studierenden freut.
Der/die Stelleninhaber*in soll in unseren Bachelorstudien-
gängen sowie im Masterstudiengang das Fach „Sozial-
management und Organisationssoziologie“ in Lehre und
Forschung vertreten.
Zu den Inhalten zählen:
• Das Verstehen von Organisationen im gesellschafts-
politischen Kontext (Organisationssoziologie)
• Das Handeln in Organisationen mit besonderem Blick auf
Managementhandeln
• Das Entwickeln von Angeboten und Gründen von Organisa-
tionen (Social Entrepreneurship)
• Das Leiten von Einrichtungen/Organisationen im Kontext der
Sozialen Arbeit
Erwartet wird Leitungserfahrung in Einrichtungen/Organisa-
tionen der Sozialen Arbeit. Betriebswirtschaftliche Kenntnisse
werden vorausgesetzt, ebenso wie die Bereitschaft,
Lehre auch in Englisch und in Onlineformaten durchzuführen.
Internationale (Berufs-)Erfahrung ist gewünscht.
Forschung
Von der/dem Stelleninhaber*in wird die Bereitschaft
erwartet, in einem der o. g. Fachgebiete anwendungsorientiert
zu forschen. Erfahrung in der Einwerbung von Förder- oder
Drittmitteln ist von Vorteil.
Selbstverwaltung
Die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung und
Funktionen im Rahmen der Selbstverwaltung, auch Studien-
gangleitung, wird vorausgesetzt.
Fachliche Auskünfte erteilt Prof. Dr. Ulla Törnig, u.toernig@
hs-mannheim.de.
Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie auf unserer
Homepage unter https://karriere.hs-mannheim.de/7zr2e
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung bis 03.11.2022 über unser
Online-Bewerbungsportal.
BITTE INFORMIEREN
SIE SICH UNTER:
WWW.DEUTSCHE-STANDARDS.DE
46
Die Universität Paderborn ist eine leistungsstarke und international orientierte
Campus-Universität mit rund 20.000 Studierenden. In interdisziplinären
Teams gestalten wir zukunftsweisende Forschung, innovative Lehre sowie
den aktiven Wissenstransfer in die Gesellschaft. Als wichtiger Forschungs-
und Kooperationspartner prägt die Universität auch regionale Entwicklungs-
strategien. Unseren über 2.600 Beschäftigten in Forschung, Lehre, Technik
und Verwaltung bieten wir ein lebendiges, familienfreundliches und
chancengerechtes Arbeitsumfeld mit kurzen Entscheidungswegen und viel-
fältigen Möglichkeiten.
Gestalten Sie mit uns die Zukunft!
Das KreativInstitut.OWL ist ein wissenschaftlich-künstlerisches Institut im
Verbund der Universität Paderborn, der Technischen Hochschule Ostwest-
falen-Lippe und der Hochschule für Musik Detmold. Für dieses Institut wird
am Kreativ Campus Detmold ein Gebäude mit 1.044 qm errichtet, welches
Medienlabore und kreative Arbeitsplatzkonzepte bereitstellt. Im KreativInstitut.
OWL werden 6,5 Professuren sowie Mitarbeitendenstellen in den Bereichen
Digital Humanities, Digitale Medienproduktion sowie Musik- und Filminformatik
eingerichtet, um die Zukunftsfähigkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft durch
Forschung und Transfer auf dem Gebiet digitaler Medien nachhaltig zu stärken.
Im KreativInstitut.OWL sind zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende bis zum
31.12.2026 befristete, in der Fakultät für Kulturwissenschaften (ZenMEM) ange-
siedelte Forschungsprofessuren zu besetzen:
W2-Universitätsprofessur (w/m/d)
für Digitale Methoden der Musik- und Medienedition – Kennziffer 5493
Gesucht wird eine Persönlichkeit, die durch transferorientierte digitale
Forschung im Bereich Musik/Medien/Edition neue Musik- und Medienpraxen
wirksam unterstützt. Die Forschungsprofessur erschließt musikkulturelle und
musikwissenschaftliche Gegenstände in innovativer Weise für die Kultur-/
Kreativwirtschaft, für wissenschaftliche und pädagogische Kontexte sowie für
Nutzungen in GLAM-Institutionen. Ihr weiter Gegenstandsbereich reicht z. B. von
der Pop- und elektronischen Musik über Film, Performance und Netzkultur bis
hin zur Produktionspraxis etwa in Musiktheater, Orchester- und Kammermusik.
Im Fokus steht die Entwicklung neuer Geschäftsbereiche und Distributionsmodi.
Mit anwendungsorientierter Ausrichtung soll sie den Wissenstransfer im Bereich
digitaler Musik und Medien vorantreiben und innovative Medienintegration in
musikbezogenen Produktions- und Editionsprozessen weiterentwickeln. Wir er-
warten Ihre eigene Interpretation zu dem hier genannten Profil.
Vorausgesetzt werden Kompetenzen in der Angewandten Informatik (z. B. Soft-
waretechnik; Webtechnologien; Mensch-Maschine-Interaktion; Musikinformatik),
Kenntnisse im Bereich der digitalen Musik- und Medienedition, Erfahrungen im
Umfeld der Kreativwirtschaft und des Wissenstransfers. Erwartet werden
kreative Ansätze zur Initiierung und Entwicklung nachhaltiger Methoden und
Werkzeuge für digitale Musik- und Medieneditionen, ein hohes Maß an
Kooperationsbereitschaft, aktives Engagement bei der Einwerbung von Dritt-
mitteln und bei der Betreuung von Bachelor-/Masterarbeiten und Promotionen.
W2-Universitätsprofessur (w/m/d)
für Modellierung vernetzter virtueller Datenräume (im Bereich Musik und
Medien) – Kennziffer 5494
Gesucht wird eine Persönlichkeit, die Geisteswissenschaften und Informatik
verbindet und den Wissens- und Methodentransfer in Bezug auf Modelle,
Codierungsstandards und Formate für Archivierung, Prozessierung und Aus-
tausch musik- und medienbezogener Daten (wie MEI, TEI, CIDOC CRM) voran-
treibt. Im Fokus steht dabei die Vernetzung von Datenräumen (Linked-Data-
Modelle und -Technologien) auch für heterogene, komplexe Daten. Der Gegen-
standsbereich umfasst die materielle und nicht-materielle Kultur, wie z. B.
Musik/Audio/Sound, Film, Performance, Virtual Reality/Augmented Reality). Zu
den zentralen Aufgaben der Professur gehören im Sinne der Entwicklung nach-
haltiger, innovativer, interoperabler Ansätze ebenso der Austausch und die
Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Medienpraxis/Kreativwirtschaft und
Gedächtnisinstitutionen und die Einbindung in die NFDI-Strukturen. Die
Forschungsprofessur ist anwendungsorientiert ausgerichtet, um den Wissen-
stransfer im Bereich kulturbezogener Daten und ihrer Vernetzung voranzutrei-
ben. Wir erwarten Ihre eigene Interpretation zu dem hier genannten Profil.
Vorausgesetzt werden Kompetenzen im Bereich der Digital Humanities bzw. der
Informationswissenschaft, etwa in Bezug auf Linked Data, musik- und medien-
bezogene Datenmodellierung, Ontologien und Datenstrukturen, Kenntnisse der
internationalen Codierungsstandards und Formatspezifikationen sowie
Erfahrungen mit der Arbeit in den entsprechenden internationalen Communities.
Erwartet werden kreative Ansätze zur Initiierung und Entwicklung nachhaltiger
Methoden und Werkzeuge, ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft, aktives
Engagement bei der Einwerbung von Drittmitteln und bei der Betreuung von
Bachelor-/Masterarbeiten und Promotionen.
Insbesondere sollen beide Professuren interdisziplinär mit den weiteren neu
eingerichteten Professuren im KreativInstitut.OWL zusammenwirken sowie
darüber hinaus die Profilbereiche der Hochschulen und die Kultur- und Kreativ-
wirtschaft stärken. Sie beteiligen sich aktiv bei der Einwerbung von Drittmitteln
mit regionalen und überregionalen Partner*innen sowie bei der Erstellung von
Forschungsanträgen. Die Professur ist als Teil der Kollegialleitung des Kreativ-
Instituts.OWL mitverantwortlich für dessen Betrieb und strategische Weiter-
entwicklung. Sie arbeiten in interdisziplinären Projekten mit und stehen mit
Ihrer Expertise insbesondere dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Uni-
versität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold zur Verfügung. Den
Professuren ist jeweils eine Wissenschaftliche-Mitarbeiter*innen-Stelle zugeordnet.
Einstellungsvoraussetzungen: § 36 Abs. 1 Ziff. 1 bis 4 HG NW (abgeschlossenes
Hochschulstudium, pädagogische Eignung, Promotion und zusätzliche wissen-
schaftliche Leistungen)
Bewerbungen von Frauen sind ausdrücklich erwünscht und werden gem. LGG
bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt berück-
sichtigt, sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe über-
wiegen. Die Bewerbung geeigneter Schwerbehinderter und Gleichgestellter im
Sinne des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) ist erwünscht.
Auskünfte erteilt Daniel Röwenstrunk (roewenstrunk@uni-paderborn.de).
Ihre Bewerbung wird bis zum 10.11.2022 über das Bewerbungsportal der
Universität Paderborn erbeten:
Kennziffer 5493: https://bewerbung.uni-paderborn.de/stellen/5493
Kennziffer 5494: https://bewerbung.uni-paderborn.de/stellen/5494
Informationen zur Verarbeitung Ihrer personenbezogenen Daten finden Sie
unter: https://www.uni-paderborn.de/zv/personaldatenschutz.
Dekan der Fakultät für Kulturwissenschaften
Universität Paderborn
Warburger Str. 100
33098 Paderborn
www.upb.de
Wir verändern Gesellschaft
Wir sind stark in der Gestaltung des Sozialen – und das seit über
100 Jahren. Unsere Evangelische Hochschule ist eine von 24
Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Baden-
Württemberg. Seit 1971 ist sie staatlich anerkannt. Sie werden Teil
einer Hochschule, die für anspruchsvolle Lehre, herausragende
interdisziplinäre Forschung und eine internationale Ausrichtung
steht. Als Hochschule mit rund 1.000 Bachelor- und Master-Stu-
dierenden können wir Lehren und Lernen in kleinen Gruppen mit
intensiver Betreuung anbieten.
Zum 01.03.2023 ist folgende Stelle zu besetzen:
Wissenschaftliche*r
Mitarbeiter*in am Friedensinstitut
Freiburg (d/m/w)
50 %, befristet für 3 Jahre
Der Arbeitsschwerpunkt dieser Bereich der Friedensbildung
Tätigkeit liegt in der selbststän- und Friedensarbeit.
digen Entwicklung und Umset- Hinzukommen Lehre und
zung von Transferformaten im Forschung am Friedensinstitut.
Ausschreibung: Bewerbungsfrist:
www.eh-freiburg.de/stellen 06.11.2022
STELLENMARKT
Über 7.000 junge Menschen studieren und forschen in attraktiven Studiengän-
gen an der Hochschule Trier. Wir sind die forschungs- und drittmittelstärkste
Hochschule für angewandte Wissenschaften in Rheinland-Pfalz. Damit bieten
wir sehr gute Bedingungen für die Durchführung von Projekten mit der regionalen
und überregionalen Wirtschaft.
Zum 01.07.2023 ist im Fachbereich Bauen + Leben am Hauptcampus in Trier in
der Fachrichtung Lebensmitteltechnik folgende Stelle zu besetzen:
W2-Professur
für das Lehrgebiet
Lebensmittelchemie, Lebensmittelanalytik
und Lebensmittelsicherheit
Zu den Aufgaben der Professur gehört die Übernahme von Lehraufgaben in der
Chemie, der Lebensmittelchemie, der Biochemie der Ernährung und der Toxiko-
logie. Dabei leiten Sie Studierende zum analytischen und selbstständigen Denken
an, motivieren durch einen starken Anwendungsbezug.
Für diese Stelle wird eine durch praktische Erfahrungen bestätigte pädago-
gisch-didaktische Eignung verlangt. Zudem wird ein hohes Engagement in der
anwendungsnahen Lehre und Forschung im Bereich der nationalen und inter-
nationalen Lebensmittelwirtschaft erwartet. Die Fähigkeit und Bereitschaft zur
Übernahme von Lehrveranstaltungen in deutscher und englischer Sprache wer-
den vorausgesetzt. Ferner erwartet werden die Mitarbeit in den Gremien der
Selbstverwaltung und die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit
insbesondere mit allen Studienrichtungen des Fachbereichs Bauen + Leben.
Gesucht wird eine Persönlichkeit, die in der praktischen Anwendung in den oben
genannten Lehrgebieten ausgewiesen und in hohem Maße teamfähig ist. Dabei
werden einschlägige Führungserfahrungen in Lebensmittelwirtschaft, in ent-
sprechenden Laboratorien oder Behörden erwartet.
Weiterhin ist eine deutliche Ausrichtung auf gesundheitliche Aspekte der Lebens-
mittel aufzuweisen.
Erfahrungen in nationalen und internationalen Gremien sind von Vorteil.
Das Land Rheinland-Pfalz und die Hochschule Trier vertreten ein Betreuungs-
konzept, bei dem eine hohe Präsenz der Lehrenden am Hochschulort erwartet
wird.
Weitere allgemeine Informationen sind im Internet abrufbar unter:
http://www.hochschule-trier.de/go/Stellenausschreibung
Qualifizierte Frauen werden ausdrücklich zur Bewerbung aufgefordert.
Schwerbehinderte sowie Schwerbehinderten gleichgestellte Menschen nach § 2
Abs. 3 SGB IX werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt.
Für Rückfragen steht Ihnen gerne Prof. Dr.-Ing. Marc Regier per E-Mail unter
regier@hochschule-trier.de zur Verfügung.
Ihre Bewerbung mit aufschlussreichen Portfolio, tabellarischen Lebenslauf, Zeug-
nissen, Nachweisen zur Berufstätigkeit und einer kurzen, aber aussagefähigen
Skizze zum Lehr und Forschungsprofil im ausgeschriebenen Bereich ist schriftlich
in elektronischer Form (als eine zusammengefasste PDF-Datei, mit dem Vor-
namen und den Nachnamen benannt, z. B. thomas-meier.pdf) bis zum 27.11.2022
zu richten an die Präsidentin der Hochschule Trier.
Die Datei ist abzulegen auf der gesicherten Plattform Seafile der Hochschulen
des Landes Rheinland-Pfalz:
https://seafile.rlp.net/u/d/f55b26239b954c29ac82/
Präsidentin der Hochschule Trier, Postfach 1826, D-54208 Trier
Die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) gehört zu den großen
Universitäten in Deutschland. In der Wissenschaftsregion Rhein-Main entfaltet sie
ihre Leistungsstärke, Innovationskraft und Dynamik. Als Volluniversität ermöglicht
die JGU ein Fachgrenzen überschreitendes Lehren und Lernen und eröffnet
großes Potenzial für international renommierte, interdisziplinäre Forschung. Fast
all ihre Einrichtungen vereint die JGU auf einem innenstadtnahen Campus – ein
Ort lebendiger akademischer Kultur für Forschende, Lehrende und Studierende
aus allen Kontinenten.
Im Fachbereich Chemie, Pharmazie, Geographie und Geowissenschaften ist am
Institut für Pharmazeutische und Biomedizinische Wissenschaften (IPBW) zum
nächstmöglichen Zeitpunkt eine
Universitätsprofessur für Klinische
Pharmazie
Bes. Gr. W 2 LBesG | Beamtenverhältnis auf Lebenszeit
zu besetzen.
Gesucht wird ein/e international ausgewiesene/r Apotheker/in (m/w/d) mit
herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Klinischen Pharmazie mit
dem Forschungsschwerpunkt patientenorientierte analytisch-experimentelle
Arzneimittel- oder Therapieforschung.
Ihr Wirkungsfeld und Ihre Aufgaben:
Die Professur ist im Institut für Pharmazeutische und Biomedizinische
Wissenschaften (IPBW) angesiedelt. Dabei sollen die bestehenden Arbeits-
richtungen des Instituts thematisch und methodisch sinnvoll ergänzt werden.
Erfahrung in der Entwicklung und Anwendung bioanalytischer und/oder
pharmakometrischer Methoden, z.B. Therapeutisches Drug Monitoring, wird
vorausgesetzt, Berufserfahrungen in der Planung und Durchführung klinischer
Studien sind von Vorteil. Eine Mitwirkung in lokalen Forschungsverbünden,
z.B. TRR 319, RNA Modification and Processing (RMaP), ist erwünscht. Eine
thematische Verknüpfung zur Universitätsmedizin der JGU ist erstrebenswert.
Es werden interdisziplinäre Kooperationen innerhalb des IPBW und des
Departments Chemie, z.B. der Biochemie, mit Forschergruppen aus der Biologie,
der Universitätsmedizin und mit der Pharmazeutischen Industrie erwartet, sowie
die aktive Beteiligung an der Ausgestaltung neuer Forschungsverbünde. Die
erfolgreiche Einwerbung kompetitiver Drittmittel wird vorausgesetzt, ebenso wie
eine Beteiligung an den Aufgaben der akademischen Selbstverwaltung.
Die Professur ist in vollem Umfang in den Studiengang Pharmazie eingebunden.
Der/die Stelleninhaber/in vertritt das Fach Klinische Pharmazie in seiner ganzen
Breite in der Lehre in deutscher und englischer Sprache. Einschlägige
Erfahrungen in der Lehre dieses Faches werden vorausgesetzt. Die Bereitschaft
und Befähigung, Lehrveranstaltungen problem- bzw. projektorientiert zu
konzipieren, wird vorausgesetzt. Die aktive Beteiligung an der inhaltlichen und
konzeptionellen Weiterentwicklung des Studiengangs wird erwartet.
Die gesamte Ausschreibung mit allen weiteren Informationen finden Sie auf
unserer Homepage unter: https://karriere.uni-mainz.de/professuren/
W3-Universitätsprofessur
Geologie und Sedimentäre
Systeme
Fakultät für Georessourcen und
Materialtechnik
Die RWTH Aachen ist eine der Exzellenzuniversitäten Deutschlands
und genießt weltweit ein hohes Ansehen in Forschung und Lehre.
Zum 01.10.2023 wird an der Fakultät für Georessourcen und Materi-
altechnik eine W3-Universitätsprofessur besetzt, die das Fach Geolo-
gie und Sedimentäre Systeme in Forschung und Lehre vertritt.
Forschungsfelder sind Klastische Sedimentologie, Karbonatsedimen-
tologie, Angewandte Sedimentologie sowie Dynamik sedimentärer
Becken. Es werden geländeorientierte Arbeiten in Verbindung mit
Geochemie, Experimenten, Untergrunderkundung oder numerischer
Modellierung erwartet.
Weitere Informationen erhalten Sie unter:
www.rwth-aachen.de/jobs/professuren
Bewerbungsfrist ist der 30.11.2022.
Die MSB Medical School Berlin ist eine private, staatlich anerkannte Hochschule für
Gesundheit und Medizin. An der Fakultät Medizin sind für den klinischen Studienab-
schnitt des Staatsexamensstudiengang Humanmedizin die folgenden Professuren (W3)
zu besetzen:
Allgemeinmedizin, Anästhesiologie, Innere Medizin, Pathologie, Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, Bildgebende Verfahren
und Strahlenbehandlung/ -schutz, Chirurgie mit Schwerpunkt Gefäßchirurgie, Orthopädie
und Unfallchirurgie, Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin, Pharmakologie und
Toxikologie, Infektiologie und Immunologie, Dermatologie und Venerologie, Hals-Nasen-
Ohren-Heilkunde, Interdisziplinäre Notfallmedizin, Frauenheilkunde und Geburtshilfe,
Neurologie, Urologie sowie Kinderheilkunde
Die ausführlichen Ausschreibungen finden Sie auf www.medicalschool-berlin.de
MSB Medical School Berlin
M SB Hochschule für Gesundheit und Medizin
Medical School Berlin
Hochschule für
Gesundheit und Medizin Rüdesheimer Str. 50, 14197 Berlin
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
TALENTE TECHNIK ZUKUNFT
Eine qualitativ hochwertige Lehre, intensive Forschungstätigkeit, eine
starke internationale Ausrichtung und das eigenständige Promotions-
Die Technische Hochschule Mittelhessen gehört mit über 18.000
recht zeichnen uns aus. Auf unserem für seine Architektur preis- Studierenden zu den größten Hochschulen für angewandte Wissen-
gekrönten Campus finden knapp 10.000 Studierende, mehr als 160 schaften in Deutschland.
Professor*innen sowie ca. 750 Beschäftigte attraktive Lern-, Lehr- und
Zur Verstärkung unseres Kollegiums ist am Campus Gießen im
Arbeitsbedingungen vor.
Fachbereich Life Science Engineering zum nächstmöglichen Zeit-
punkt folgende Stelle zu besetzen:
An der Hochschule Fulda besetzen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt im
W2-PROFESSUR
Fachbereich Angewandte Informatik eine
mit dem Fachgebiet
Professur (BesGr. W2)
ELEKTRONIK UND SMARTE SENSORSYSTEME IN DER
für das Lehrgebiet BIOMEDIZINISCHEN TECHNIK
Bewerbungsende: 13. November 2022
Ref. Nr. B 22-012
Visual Computing
Detaillierte Informationen zu der zu besetzenden Professur – insbe-
sondere die sich aus den §§ 67 und 68 HHG ergebenden Einstellungs-
Vollzeit, Beamtenverhältnis voraussetzungen des Landes Hessen – entnehmen Sie bitte unserer
Bewerbungsende: 10.11.2022 Homepage unter: karriere.thm.de
Detaillierte Informationen zu Aufgabengebiet, Anforderungs- Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist uns ein
profil sowie Bewerbungsmodalitäten finden Sie unter: Anliegen. Im Rahmen des audits „familiengerechte
hs-fulda.de/stellenangebote Hochschule“ arbeiten wir an der Weiterentwicklung
entsprechender Strukturen.
An der Hochschule für Polizei Baden-
Württemberg sind in der Fakultät III
(Rechtswissenschaften) baldmöglichst
Die Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg (OTH Regensburg) folgende Stellen zu besetzen:
ist mit mehr als 10.000 Studierenden, 230 Professor*innen sowie über 700
Mitarbeiter*innen eine der größten Hochschulen für angewandte Wissen-
schaften in Bayern.
In der Fakultät Bauingenieurwesen ist zum 01.03.2023 oder später eine Professur auf Zeit für Straf- und
Strafverfahrensrecht
Professur
(Besoldungsgruppe W2, befristet bis 31.03.2026)
der Bes.-Gr. W 2 für folgendes Lehrgebiet zu besetzen:
Verkehrstechnik und nachhaltige
Verkehrsplanung Professur auf Zeit für Öffentliches Recht
Die OTH Regensburg ist mit dem TOTAL E-QUALITY-Prädikat für vorbild-
(Besoldungsgruppe W2, befristet bis 31.03.2026
lich an Chancengleichheit und Diversity orientierter Personal- und Hoch-
schulpolitik ausgezeichnet, Bewebungen von Frauen sind demzufolge
ausdrücklich erwünscht. Schwerbehinderte Bewerberinnen und Wir erwarten von den Stelleninhaberinnen/den Stelleninhabern (w/m/d) die
Bewerber werden bei ansonsten im Wesentlichen gleicher Eignung, Vertretung des Straf- und Strafverfahrensrechts bzw. des Öffentlichen Rechts,
Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt eingestellt. insbesondere des Verfassungs-, des Polizei- und des Öffentlichen Dienst-
rechts, in Lehre und angewandter Forschung. Ferner setzen wir die Bereit-
Die ausführliche Stellenausschreibung mit den Einstellungs- schaft voraus, Aufgaben in der Selbstverwaltung der Hochschule zu über-
voraussetzungen finden Sie unter www.oth-regensburg.de/ nehmen.
hochschule/jobs-karriere oder direkt über den QR-Code.
Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftigen Bewerbungsunter-
Die vollständigen Stellenausschreibungen
lagen (Anschreiben, Lebenslauf, Zeugnisse, Nachweise über
den beruflichen Werdegang und die wissenschaftlichen
Arbeiten) über unser Online-Portal bis zum 11.12.2022.
finden Sie unter: www.hfpol-bw.de
Die Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (htw saar) ist eine der forschungs-
stärksten anwendungsorientierten Hochschulen in Deutschland. Aktuell studieren über 6.000
Studierende an der Hochschule in den Fakultäten für Architektur- und Bauingenieurwesen,
Ingenieur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die htw saar ist international ausgerichtet
(erfolgreicher Abschluss des Reaudit Internationalisierung, Konsortialführer des DHIK); sie ist
Mitglied der European University Association und verfügt über ein Netzwerk von über 50 inter-
nationalen Hochschulpartnerschaften. Zwölf internationale Studiengänge werden mit der Université
de Lorraine im Rahmen des Deutsch-Französischen Hochschulinstituts (DFHI) angeboten.
In der Fakultät für Sozialwissenschaften sind zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Stellen
zu besetzen::
An der Hochschule Hannover ist an der Fakultät V – Diakonie, Gesundheit und
W2-Professur für Theorie, Praxis und Soziales, Abteilung Soziale Arbeit, zum nächstmöglichen Zeitpunkt unbefristet eine
Empirie der Sozialen Arbeit
(Kennziffer 101)
W2-Professur
W2-Professur für Soziale Arbeit und Inklusion Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit
(Kennziffer 60)
Nähere Informationen zum Anforderungsprofil, zu den Einstellungsvoraussetzungen und den
Bewerbungsmodalitäten finden Sie im Volltext auf unserer Homepage www.htwsaar.de/
mit dem Schwerpunkt Sozialpsychiatrie
stellenausschreibungen.
Für Ihre Bewerbung erstellen Sie bitte eine Datei im pdf-F
Format, die eine Größe von 8 MB nicht
und Suchthilfe
überschreitet und senden Sie diese unter Angabe der Kennziffer bis zum 13.11.2022 ausschließ- – Kennziffer W2 7/2022 –
lich in elektronischer Form an berufungsverfahren@htwsaar.de.
Der Schutz Ihrer personenbezogenen Daten ist uns ein wichtiges Anliegen. Informationen zu besetzen.
gem. Art. 13 DS-GVO für Bewerbungen auf Stellenausschreibungen finden Sie unter:
https://www.htwsaar.de/datenschutz. Weitere Einzelheiten zur Professur entnehmen Sie bitte dem Bewerbungsportal der
Die Informationen im Internet unter https://www.htwsaar.de/stellenausschreibungen sind Hochschule Hannover unter www.karriere-hshannover.de oder über den QR-Code.
Bestandteil dieser Stellenausschreibung.
Bewerbungen mit den üblichen Unterlagen richten Sie bitte bis zum 24.11.2022
an die Dekanin der Fakultät V, Frau Prof.in Dr. Ulrike Ernst.
Die Bewerbung ist bis zum Ablauf dieser Frist online über das
Bewerbungsportal möglich.
Für Fragen zur Bewerbung können Sie die Mitarbei-
tenden der Fakultät V auch per E-Mail kontaktieren:
berufungen@hs-hannover.de
An der Katholischen Hochschule Mainz, Hochschule für Soziale Arbeit und
Sozialwissenschaften, Praktische Theologie sowie Gesundheit und Pflege, ist
zum 1. Januar 2023 folgende Stelle befristet (Elternzeitvertretung) zu besetzen: TALENTE TECHNIK ZUKUNFT
Mitarbeiter (m/w/d) im Management
des Instituts für angewandte Forschung und
internationale Beziehungen (ifb)
(39 Std./Wo, eine Aufteilung der vollen Stelle in zwei halbe Stellen ist möglich) Die Technische Hochschule Mittelhessen gehört mit über 18.000
Nähere Informationen entnehmen Sie bitte unserer Website unter: Studierenden zu den größten Hochschulen für angewandte Wissen-
https://www.kh-mz.de/stellenangebote schaften in Deutschland.
Ihre Bewerbung mit aussagekräftigen Unterlagen richten Sie bitte bis zum Zur Verstärkung unseres Kollegiums ist am Campus Friedberg im
06.11.2022 (gerne per E-Mail) an den Leiter des Instituts für angewandte Fachbereich Informationstechnik-Elektrotechnik-Mechatronik (IEM)
Forschung und internationale Beziehungen, Prof. Dr. Thomas Hermsen zum nächstmöglichen Zeitpunkt folgende Stelle zu besetzen:
(thomas.hermsen@kh-mz.de).
Anschrift: W2-PROFESSUR
Prof. Dr. Thomas Hermsen mit dem Fachgebiet
Katholische Hochschule Mainz SOFTWARETECHNIK UND INFORMATIONSSICHERHEIT
Saarstr. 3, 55122 Mainz Bewerbungsende: 18. November 2022
Ref. Nr. B21-019
Detaillierte Informationen zu der zu besetzenden Professur – insbe-
sondere die sich aus den §§ 67 und 68 HHG ergebenden Einstellungs-
voraussetzungen des Landes Hessen – entnehmen Sie bitte unserer
Homepage unter: karriere.thm.de
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist uns ein
Anliegen. Im Rahmen des audits „familiengerechte
Wissensvermittlung mit starkem Praxisbezug – dafür steht die Fachhoch-
Hochschule“ arbeiten wir an der Weiterentwicklung
entsprechender Strukturen.
schule Kiel seit mehr als 50 Jahren. An sechs Fachbereichen werden rund
8000 Studierende interdisziplinär auf aktuelle Herausforderungen von Wirt-
schaft und Gesellschaft vorbereitet. Das Personal der zweitgrößten Hoch-
schule des Landes leistet einen wichtigen Beitrag dazu.
Der Fachbereich Maschinenwesen sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt
unbefristet in Vollzeit (20 SWS) eine
Lehrkraft für besondere Aufgaben BITTE BEACHTEN:
mit dem Schwerpunkt Werkstofftechnik
Das Aufgabengebiet umfasst die Durchführung von Lehrveranstaltungen im Vorgezogener Termin für Anzeigen-
Bereich Werkstofftechnik (anorganische und polymere Werkstoffe) und deren
Organisation, Ausgestaltung, Prüfung sowie inhaltliche und didaktische
Weiterentwicklung und die Anleitung und Durchführung von Experimenten
und Druckunterlagenschluss:
und Laborveranstaltungen im chemischen Labor sowie in der Werkstoff-
prüfung und Mitwirkung bei der Betreuung von Studierenden während DIE ZEIT vom 03.11.2022: Freitag, 28.10.2022 – 12 Uhr
Projekt- und Abschlussarbeiten in aktuellen Forschungsthemen wie z. B. dem
metallischen 3D-Druck.
Weitere Informationen und Details zu dieser Position fin-
den Sie auf der Homepage der Fachhochschule Kiel unter:
http://www.fh-kiel.de/stellenangebote
Bewerbungen sind bis zum 04.11.2022 mit den üblichen
Unterlagen an die Personalabteilung der Fachhochschule
Kiel, Sokratesplatz 1, 24149 Kiel zu richten.
 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
H I E R AU S R E I S S E N!

47

A B E N T E U E R F Ü R K I N D E R
Fotos: Paula de Abrantes für DIE ZEIT; Abb.: Mark Garlick/Science Photo Library/akg-images; kl. Foto: plainpicture

Mit der Mannschaft über den Platz rennen kann Paul nicht, aber als Hilfstrainer ist er immer mittendrin bei seinem Verein, der SG 06 Betzdorf

Der gute Geist im Team

Paul ist 12 Jahre alt und träumt wie viele Jungs von einer Karriere im Profi-Fußball. Weil er im Rollstuhl sitzt und
nicht selbst kicken kann, übt er sich als Trainer. Später will er den BVB coachen VON MARIE-CHARLOTTE MAAS

P
aul rollt los: quer über das Feld Paul ist 12 Jahre alt und seit eineinhalb Jahren Damals vermisste er seine Familie und seine BVB-Bettwäsche, neben seinem Bett steht eine An den Trainerjob kam Paul, weil seine
und vorbei an den Spielern, an Co-Trainer beim Fußballverein SG 06 Betzdorf, in Freunde – und oft war ihm einfach langweilig. BVB-Nachttischlampe, und natürlich hat das Mutter vor eineinhalb Jahren im Verein fragte,
Louis und Marlon, Arian und einem kleinen Ort im Westerwald. Zweimal die Bis er anfing, gemeinsam mit anderen Patienten Götze-Trikot einen Ehrenplatz – gerahmt an der ob ihr Sohn nicht helfen könnte. Von den Jun-
Elias, direkt zum Tor. Dort Woche, immer montags und mittwochs, unter- die Weltmeisterschaft im Fernsehen zu schauen. Wand. Wie großartig wäre es, wenn er später mal gen aus der Mannschaft ist keiner auf Pauls
bremst Paul ab und platziert sei- stützt er die beiden erwachsenen Trainer der Seitdem hat Paul das Fußballfieber gepackt. Ihn solche Stars trainieren könnte! Schule, er sieht sie nur beim Training. Da aber
nen Rollstuhl hinter dem Netz. C-Jugend. Die Jungs sind etwa im gleichen Alter faszinierte schon damals, wie die einzelnen Damit sein Traum in Erfüllung geht, rollt hören sie auf ihn. »Paul hat echt Ahnung«, sagt
Denn Lukas, der im Tor steht, wie Paul, ihnen stellt er kleine Aufgaben, etwa den Spieler nur zusammen Erfolg haben können. Paul nicht nur regelmäßig bei der C-Jugend über Arian. »Wenn Paul einen Vorschlag macht, set-
braucht seinen Rat. Die Mannschaft übt Tor- Ball einen Parcours entlang zu dribbeln oder mit Heute ist er selbst Teil einer Mannschaft. Denn den Platz. Er versucht sich auch Tricks bei den zen wir das meistens auch um«, meint Louis.
schüsse, der 13-Jährige soll die abwehren. Das dem schwächeren der beiden Füße zu schießen. Paul weiß: Auch die Trainer, Sportärzte und Profis abzugucken. Die Sportschau am Wochen- Und Paul selbst? Der wartet sehnsüchtig darauf,
klappt noch nicht so gut, Lukas lässt einige Bälle Während des Trainings ist er oft als Schiedsrichter Masseure sind wichtig für ein Team. Und eines ende ist für Paul ein Pflichttermin. Immer sitzt er mit 16 Jahren seinen Trainerschein machen zu
durch. Paul beobachtet ihn eine Weile, und als auf dem Platz, weil er die Spieler dabei gut beob- Tages, so hofft Paul, wird er nicht mehr im mit wachem Trainerblick vor dem Fernseher. können. Dann wäre er seinem Borussia-Traum
ein Ball schon auf dem Weg in Richtung Tor ist, achten kann. Was er sieht, hilft ihm, wenn er vor kleinen Betzdorf Spielern Tipps geben, sondern »Ich überlege mir oft, was einzelne unserer Spie- wieder einen Schritt näher.
ruft er: »Jetzt, Lukas, jetzt geh raus!« Lukas Wettkämpfen gemeinsam mit den Trainern die Trainer bei einem Profiverein sein. Nein, nicht ler machen können, aber vor allem, wie sie als Noch aber muss sich Paul auf dem Platz in Betz-
reagiert sofort, macht einen Schritt nach vorne, Mannschaft zusammenstellt. bei einem Verein, für Paul kommt nur sein Gruppe noch besser zusammenspielen«, sagt er. dorf anstrengen. Dort ist es langsam dunkel gewor-
und tatsächlich: Diesmal hält er. All das tut Paul von seinem Rollstuhl aus, er Lieblingsverein infrage – Borussia Dortmund. Um auf neue Ideen für seine Mannschaft zu den, die eineinhalb Stunden Training sind mal
Paul wirkt zufrieden und erklärt Lukas, was kann nie mit den anderen Jungen über den Mehrere Male war Paul schon im Stadion bei kommen, schaut er sich außerdem im Internet wieder schnell vergangen. Die Trainer versammeln
durch die Bewegung nach vorne passiert ist: »Wenn Rasen rennen oder gegen einen Ball treten. Denn einem BVB-Spiel dabei, einmal wurde er sogar Analysen alter Spiele an, liest Fußballzeitungen die Mannschaft um sich. »Wir müssen an eurer
du aus dem Tor rausläufst und dich breit machst, Paul hat eine angeborene Krankheit, seit seinem gemeinsam mit zehn anderen Kindern unter und Fachbücher. Seine Vorschläge diskutiert er Kondition arbeiten«, sagt David und klingt ein biss-
wird dadurch der Winkel kleiner, und der Gegner siebten Lebensjahr ist er vom Hals abwärts ge- vielen Hundert Bewerbern ausgewählt und durfte dann mit den erwachsenen Trainern der Mann- chen streng. Die Jungs schauen schuldbewusst zu
hat weniger Fläche, auf die er schießen kann.« lähmt. Vorher war er sehr sportlich, er fuhr gern beim Einlauf der Mannschaft an der Seite von schaft. »Paul hat definitiv Talent«, sagt David Boden. Dann hört man Pauls Stimme: »Ich finde,
Klingt wie im Matheunterricht, aber Lukas nickt. Rad und kletterte auf Bäume. Für Fußball inter- Mario Götze auf den Platz rollen. Der hat ihm Giermann, einer der beiden. Er nennt Paul gern das war heute ein ziemlich gutes Training.« Und
Er hat verstanden, was Paul meint. Und während essierte er sich als kleiner Junge noch nicht so danach auch noch sein Trikot geschenkt, das sein drittes Auge: »Er hat alle und alles im Blick, schon grinsen alle. Wenn Paul in den vier Jahren,
der Torwart sich auf den nächsten Ball konzentriert, sehr. Das begann erst, als er im Sommer 2018 Paul wie einen Schatz hütet. bei Spielen schaut er ganz genau auf die gegne- die er im Rollstuhl sitzt, eines gelernt hat, dann ist
dreht Paul eine Runde über den Platz. Mal sehen, nach einer großen Operation sechs Monate im Überhaupt ist seine Borussia-Begeisterung in rischen Spieler und den Torwart und gibt alle es, das Gute zu sehen. Und das kann er auch als
welchem Spieler er nun einen Tipp geben kann. Krankenhaus verbringen musste. seinem Zimmer nicht zu übersehen: BVB-Poster, Beobachtungen an mich weiter.« Trainer gut gebrauchen.

Ein Dino namens Fino

Seit fünf Jahren gräbt die Forscherin Elisabete Malafaia in Portugal Urzeit-Knochen aus. Sie hofft, dass sie bald den größten Brachiosaurier Europas freigelegt hat

DIE ZEIT: Frau Malafaia, Sie graben bereits seit Hund des Hausbesitzers, auf dessen Grund- findet man von den Urzeit-Tieren nämlich nur bis wir eine neue Fundstelle entdecken – die
fünf Jahren ein Dino-Skelett aus. Warum dauert stück die Knochen entdeckt wurden. einzelne Knochen. Wir haben in den fünf Jahren Knochen liegen circa zwei Meter unter der Erde.
das so lange? ZEIT: Hat der die Knochen entdeckt? aber immer noch weitere Skelettteile entdeckt. Sobald wir welche entdeckt haben, machen wir
Elisabete Malafaia: Weil es sehr groß ist! Wir sind Malafaia: Ob Fino dabei war, weiß ich nicht. Erst vor wenigen Wochen haben wir zum Bei- mit Schaufeln und anderen kleinen Werkzeugen
auf die Knochen eines Brachiosaurus gestoßen. Uns hat sein Besitzer angerufen. Er wollte auf spiel Beckenknochen gefunden. Und je mehr weiter. Wenn wir sie aus der Erde befreit haben,
Das ist eins der größten Tiere, die jemals auf seinem Grundstück bauen und stieß im Boden Knochen wir haben, desto mehr Dinge können müssen wir sie sofort behandeln und haltbar
unserer Erde gelebt haben. Brachiosaurier wur- auf etwas Merkwürdiges. Ob das wohl Dinosau- sie uns über diesen Dino verraten – und auch machen, damit sie geschützt sind.
den vom Kopf bis zur Schwanzspitze gern mal rierknochen sind, fragte er sich – und meldete über andere Arten. ZEIT: Und was passiert dann?
23 Meter lang und 13 Meter hoch. Das ist höher sich zum Glück sofort bei uns. Als meine Kolle- ZEIT: Was denn zum Beispiel? Malafaia: Wir bringen alle Teile in unser Labor,
als zwei übereinandergestapelte Giraffen. gen und ich bei ihm ankamen, konnten wir seine Malafaia: Wir können mit besonderen Unter- und dort geht die Arbeit erst richtig los. Wir ma-
ZEIT: Und wie groß ist der Brachiosaurus, an Vermutung bestätigen. suchungen der Knochen zum Beispiel sehen, chen zig Untersuchungen mit Finos Überresten.
dem Sie gerade rumbuddeln? ZEIT: Gehört der Dino jetzt ihm? welche Beziehungen verschiedene Dinosaurier- So wollen wir zum Beispiel herausfinden, wie er
Der Brachiosaurier war eins der größten
Malafaia: Ganz genau wissen wir es noch nicht. Malafaia: Es ist nicht ganz klar, wem das Skelett Arten untereinander hatten und wie sie mitein- gestorben ist. Es kann aber mehrere Jahre dauern,
Tiere, die je auf der Erde gelebt haben
Bis jetzt haben wir zum Beispiel einige Rippen- gehört. Hier in Portugal gibt es kein Gesetz dazu. ander verwandt waren. bis wir das beantworten können. Und natürlich
knochen und Wirbel gefunden. Der längste Für uns Wissenschaftler ist dieser Fund jedenfalls ZEIT: Was müssen Sie beachten, wenn Sie so ur- möchten wir Fino irgendwann in einem Museum
Rippenknochen ist drei Meter lang. Wenn wir sehr wichtig. Deshalb sind wir froh, dass wir müssten. Doch selbst wenn nicht, würden wir ja alte Knochen aus der Erde holen? ausstellen. Wenn wir Glück haben und tatsäch-
von diesem Knochen ausgehend die Körper- unsere Ausgrabungsarbeiten auf dem Grund- nicht einfach sein Haus abreißen. Malafaia: Wir müssen vor allem sehr vorsichtig lich das gesamte Skelett finden, wird Fino sozu-
größe des gesamten Tieres schätzen, war unser stück machen dürfen. ZEIT: Der Brachiosaurus ist eine bereits bekann- sein. Die Knochen lagen 150 Millionen Jahre im sagen in voller Pracht auferstehen. Dann könnten
Exemplar vermutlich 20 Meter lang und 12 ZEIT: Was ist, wenn weitere Dino-Knochen un- te Dinosaurier-Art. Warum ist dieses Skelett Boden, das ist eine unfassbar lange Zeit. Es wäre die Menschen mit eigenen Augen den größten
Meter hoch. Das wäre der größte Brachiosau- ter dem Haus liegen? Müssen Sie das abreißen? trotzdem so wichtig? schrecklich, wenn wir sie beschädigen, weil wir bisher entdeckten Dinosaurier Europas sehen.
rus, den wir je in Europa ausgegraben haben. Malafaia: Das Skelett liegt so, dass weitere Kno- Malafaia: Wir hoffen auf ein vollständiges Ske- zu schnell oder schlampig arbeiten. Zunächst
Wir nennen ihn übrigens Fino, nach dem chen eher unter einem nahe gelegenen Wald sein lett, und das wäre etwas ganz Besonderes. Oft graben wir mit großen Geräten den Boden um, Die Fragen stellte Pia Saunders

DER GANZE KOSMOS

UPS, DA STIMMTE WAS NICHT DAS ZEIT LEO-WITZETELEFON

ZEIT LEO – DAS MAGAZIN
Vor zwei Wochen haben auf dieser Seite zwei Warum kann man Mathe besser auf dem Mond lernen? –
Forscherinnen im Interview von ihrer Studie zu erscheint alle sechs Wochen – Weil dort alles leichter ist.
Tiervideos im Internet erzählt. Dazu haben wir das in der neuen Ausgabe wird’s gruselig! Diesen Witz hat Alexandra, 9 Jahre, aus Hamburg auf unsere
Bild von diesem Mops mit Kappe gedruckt. Leider Hier kannst du sie mit Mailbox gesprochen. Kennst du auch einen Witz?
ist es aber gar kein Mops, sondern eine Bulldogge. deinen Eltern kostenlos testen: Dann ruf uns an: 0151-41 89 30 41. Mehr Infos zum Witzetelefon
Wir entschuldigen uns für diesen Fehler. www.zeit.de/leogratis und zum Datenschutz unter www.zeitleo.de/witze
48 WISSEN 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Infografik: Musikindustrie

o
N
Lohnende Noten Spotify und Co. bringen Musikerinnen und Musikern
694
mit ihren Streams kein Geld ein, heißt es. Das stimmt nicht ganz
VON CHRISTOPH DRÖSSER (RECHERCHE) UND TOBIAS BECK (INFOGRAFIK)

Wer wie viel verdient

So werden die zehn Euro für ein
Streaming-Monatsabonnement verteilt (gerundet)

Top-Hits Top-Alben
Charts 2021 Charts 2021
1. Nathan Evans 1. Abba
Wellerman Voyage
2. Ed Sheeran 2. Helene Fischer
Bad Habits Rausch
3. Tiësto 3. AC/DC
The Business Power Up

Mehrwertsteuer Service-Provider Musikverlag Komponisten/ Interpreten Kosten für das Label Gewinn für das Label
1,59 € (Spotify, Apple …) 0,31 € Texter 1,33 € 2,49 € 0,51 €
2,77 € 0,94 €

Quellen
Der Großteil
der Daten

Reich durch Spotify? Streaming boomt stammt vom

Bundesverband
Musikindustrie
Der Streamingdienst (Marktanteil: Im vergangenen Jahr hat jede/r Deutsche 164,9
31 Prozent) verteilte im Jahr 2021 im Durchschnitt 2000 Songs gestreamt. Spotify-Daten:
international mehr als 7 Milliarden Dollar (Zahl der Streams, bezahlt oder werbe- 139 Spotify
an Künstler und ihre Labels. Die Grafik finanziert, in Deutschland in Milliarden)
zeigt, wie viele Künstler mit ihren Songs 10-Euro-Note:
wie viel Geld eingespielt haben mehr als 10.000 US-$: 52.600 107,4 British Phono-
graphic Industry
79,5 (BPI), eigene
Berechnung
mehr als 50.000 $: 16.500 56,4
Links zu diesen
mehr als 100.000 $: 9500 und weiteren
36,4
mehr als 500.000 $: 2170 Quellen finden
21,2 Sie unter
mehr als 1 Mio. $: 1040 11,5 www.zeit.de/
5,9
mehr als 2 Mio. $: 450 wq/2022-42
mehr als 5 Mio. $: 130 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021

Steigender Umsatz Pop, Rock und Schlager

Die Verkäufe der Musikindustrie erreichen nach Das antworten die Deutschen auf die Frage,
einer langen Talfahrt fast wieder die Marke von zwei Milliarden Euro welche Musikrichtung sie am liebsten hören

2 Mrd. € 2,8 %: Sonstige 33 %: Pop/Pop-Rock

4,1 %: Rap/Hip-Hop
1,5
Illustration: Tobias Beck (verwendetes Foto: Adobe Stock)

4,6 %: Klassik
Download Streaming
1 8,5 %: Rock-Oldies
Sonstiges (online)
8,6 %: Dance/Electro
CD 0,5 9,4 %: Pop-Oldies
Sonstiges (Kassetten etc.)
Vinyl Die Kinderseite
13,9 %: Rock/Hardrock/ der ZEIT
Heavy Metal 15 %: Schlager finden Sie auf
2012 2021 der vorigen Seite
 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

FEUILLETON 49

Auf der Seite

der Unterdrückten
Kann man das linkspopulistische Engagement der Die Literatur-
Nobelpreisträgerin
neuen Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux von in ihrem Haus
in Cergy, in der Nähe
ihrem großartigen Werk trennen? VON IRIS RADISCH von Paris

M
it größter und berechtigter
Begeisterung wurde die
diesjährige Literatur-Nobel-
preisträgerin gefeiert. End-
lich wieder eine Autorin,
die anders als in den ver-
gangenen Jahren einer welt-
weiten Leser- und vor allem Leserinnenschaft bereits
gut bekannt ist – das großartige autofiktionale Werk
von Annie Ernaux ist in 39 Sprachen übersetzt und
erreicht in vielen Ländern die Bestseller-Ränge.
Die Pressekonferenz in den Räumen des Pariser Ver-
lages Gallimard, auf der die 82-jährige Preisträgerin
mittels eines schlecht ausgesteuerten Handmikros
erklärte, dass sie bei der Nachricht sofort an ihre
Eltern aus dem normannischen Arbeitermilieu denken
musste und mit ihrer Literatur dazu angetreten sei, »ihre
Dabei wäre es ein Leichtes, die Peinlichkeit dieses den bekannten Folgen für den bürgerlichen Roman, in
einäugigen propalästinensischen Engagements der dem Proletarier bisher allenfalls von schriftstellernden
linken Autorin mit derselben Strategie abzuwehren, Großbürgersöhnen karikiert wurden und die Existenz
die im Fall von Peter Handke im Literaturnobelpreis- weiblicher Körpererfahrungen und weiblichen Innen-
Jahr 2019 bereits zur Anwendung kam – indem man lebens auf der männlichen Langstrecke zwischen Marcel
erneut behauptete, wahrhaft bedeutende Literatur Proust und Michel Houellebecq nicht die geringsten
spiele in einer von den politischen Ameisenkämpfen Spuren, ja nicht einmal ein winziges Elementarteilchen
unerreichbaren Sphäre, die von den politischen Über- hinterlassen hat. Annie Ernaux, die als Lehrerin fern von
zeugungen ihrer Hervorbringer und deren Lebens- Paris lebte, hat versucht, die gewaltigen weißen Flecke
umständen nicht verunreinigt werde, solange diese im des Weiblichen und des Proletarischen auf der Land-
Werk nicht unmissverständlich thematisiert werden. karte der französischen Literatur auszufüllen. »Wenn ich
Nach dieser dem deutschen Idealismus entliehenen Proust oder Mauriac lese«, hat sie der Besucherin vor ein
Operation hatten Handkes subtile Nachrichten aus der paar Jahren in ihrem Haus in Cergy gesagt, »glaube ich
nach Pilzen duftenden Niemandsbucht seines Schrei- nicht, dass sie von derselben Zeit schreiben, in der mein
bens und selbst seine orakelhaften serbischen Reise- Vater Kind war. Sein Lebensrahmen war das Mittelalter.«
märchen mit seinen hässlichen serbischen Orden sowie Deswegen ist ihr wichtigstes Werk wahrscheinlich
mit seinen seltsamen Reden am Grab serbischer Kriegs- das Vater-Buch Der Platz, im Original erschienen 1983,

Rasse zu rächen«, war lange vorüber, alle langweiligen
Fragen des internationalen Kulturjournalismus (»Wo
befanden Sie sich, als Sie von dem Preis hörten?« Ant-
wort: »In der Küche«) waren gestellt, als eine Bombe
platzte. Die Jerusalem Post hatte herausgefunden, dass
die politischen Meinungsäußerungen der linken
Autorin, die sich durch ihre Unterstützung der Gelb-
westen-Bewegung und des Linkspopulisten Jean-Luc
Mélenchon bemerkbar gemacht hatte, dazu geeignet
seien, einen deutlichen Schatten auf diese hoch-
Foto: Ed Alcock/M.Y.O.P./laif
verbrecher – Simsalabim – rein gar nichts mehr zu tun. auf Deutsch 2019. Sie habe, erzählte sie, Hunderte von
Eine vergleichbare Verteidigungsanstrengung ist im Seiten über ihren Vater geschrieben, der selbst nie ein
vorliegenden Fall jedoch nicht ratsam. Zum einen ist Buch gelesen hat. Doch das Weltwunder der französi-
der Ruf nach erhabener Autonomieästhetik in der schen Literatursprache versagte vor diesem einfachen
petitionsfreudigen, streitlustigen und gesellschaftspoli- Mann. Schließlich verdichtete sie das Buch auf wenige
tisch stark ausgeprägten französischen Gegenwartslite- Seiten und beschrieb ihren Vater in einem schnörkellosen
ratur lange nicht mehr so beliebt wie im L’art pour l’art Stil von kunstvoller Kunstlosigkeit, in dem Respekt, aber
des 19. Jahrhunderts. Er wäre im Fall der dezidiert poli- auch die schmerzliche Distanz zu ihrer Herkunft spürbar
tischen Autorin Annie Ernaux aber auch irreführend.
Die 1940 in eine Arbeiterfamilie geborene Autorin –
und des stark erregbaren sozialen Kompasses befreit.
Er ist der Motor ihres Schreibens und der Grund, aus Annie ist. Jedes Bemühen um Stil, schreibt sie in Der Platz,
hätten ihre Eltern so empfunden, »als wollte ich sie auf

verdiente Preisvergabe zu werfen.
Das israelische Blatt erinnerte an Unterschriften,
die die Nobelpreisträgerin gemeinsam mit achtzig
beziehungsweise hundert weiteren Unterzeichnern
(unter ihnen A. L. Kennedy, Deborah Levy und Eliot
Weinberger) unter drei israelkritische Petitionen setzte,
die teils von BDS initiiert waren – jener fragwürdigen
antiisraelischen Boykottbewegung, die vom Deutschen
Bundestag als antisemitisch eingestuft wird. In einer
Petition aus dem Jahr 2018 wird dazu aufgerufen, eine
französisch-israelische »Kultursaison« abzusagen, um
dem »Apartheid-Staat« Israel keine Bühne zu bieten,
eine weitere aus dem Jahr 2019 fordert, den Eurovision
Song Contest nicht in Tel Aviv abzuhalten. In einer
dritten Petition aus dem Jahr 2021 wird Israel vorge-
worfen, Palästina zu kolonisieren, ohne die von Paläs-
tinensern verübten Verbrechen zu erwähnen. Außer-
dem habe die Nobelpreisträgerin sich gemeinsam mit
Angela Davis, Noam Chomsky und verschiedenen
Mitgliedern des Europaparlaments für die Freilassung
des seit 37 Jahren wegen Mordes an einem US-Militär-
attaché und einem israelischen Diplomaten in Frank-
reich inhaftierten Georges Abdallah ausgesprochen.
In Frankreich interessiert das Thema interessanter-
weise niemanden. In Deutschland bläst die Bild-Zeitung
zum Angriff auf die Autorin (»Ernaux hat den Nobel-
preis und antisemitische Ressentiments«). Die deutschen
Gratulanten zeigen sich einfühlsam zerknirscht (»Linke
Politik ist heute eine schwierige Sache«, SZ). Vom Suhr-
kamp Verlag, der seit 2017 das Werk von Annie Ernaux
in den wunderbar lakonischen Übersetzungen von
Sonja Finck herausbringt, ist nichts zu hören.
beide Eltern waren seit ihrem zwölften Lebensjahr Fa-
brikarbeiter, später Inhaber eines kleinen Krämerladens
in der nordfranzösischen Provinz – beruft sich auf Pierre
Bourdieu, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir,
wenn sie in ihren aktuellen Interviews verkündet: La
littérature n’est pas neutre. »Die Literatur ist nicht neutral«
– wer das Gegenteil behauptet und auf ihrer Autonomie
besteht, verschleiert lediglich ihren eingewebten Klassen-
standpunkt, wie es Proust in Sartres Augen tat, indem
er in der Suche nach der verlorenen Zeit die Liebe eines
reichen Bürgers zu einer ausgehaltenen Frau zum Proto-
typ der Liebe erklärte, ohne die sozialen Herstellungs-
bedingungen derartiger Gefühle auch nur zu streifen.
Annie Ernaux stellt sich mit Büchern wie Die Jahre,
Das Ereignis, Eine Frau oder Erinnerung eines Mädchens
in der Tradition der engagierten Literatur auf die Seite
der »Unterdrückten«, der »dominés«, wie sie es auf ihrer
Pressekonferenz gerade gesagt hat. Die Fehler, die aus
solcher Parteinahme entstehen – auch Sartre ist in ih-
rem Namen die fragwürdigsten Allianzen eingegan-
gen –, muss man nicht verkleinern. Sie kreisen um ein
zwar modisches, aber ermüdend starres Set aus Anti-
bürgerlichkeit, Macron-Hass, Gelbwesten-Verehrung,
Imperialismus- und Israelkritik. Ihre punktuelle Unter-
stützung von BDS-Aktionen ist da mehr als grenz-
wertig. Und mit ihrer einseitigen Parteinahme für die
Palästinenser hat sie sich den Vorwurf eingehandelt, an
antisemitischen Aktionen beteiligt zu sein. Doch wären
Ernaux’ Bücher nicht so mitreißend und schon gar
nicht so mind-blowing, wie sie vor allem von einer ganz
jungen Frauengeneration zurzeit empfunden werden,
wären sie vom grundsätzlichen Furor des Engagements
dem Leben, Engagement und Werk dieser Autorin,
right or wrong, zusammengehören. Das damit ver-
bundene Risiko lässt sich nicht wegkommentieren (wie
die FAZ es noch einmal ehrenhaft versucht hat). Die
politische Verirrung, die man der Autorin wegen ihrer
Unterschriften unter die antiisraelischen Petitionen
vorhalten muss, hängt nicht zuletzt damit zusammen,
dass sie sich nach dem Beispiel Sartres blind auf die
Seite der Unterlegenen stellt und dabei die Gefolgschaft
politisch fragwürdiger Organisationen nicht scheut.
Annie Ernaux’ schmale, in einem vibrierend mini-
malistischen Ton verfasste Bücher waren zur Hauptzeit
ihrer Entstehung in den Siebziger- bis Neunzigerjahren
für die Pariser Literaturszene eine Weltsensation, deren
Druckwelle Deutschland erst mit Verspätung erreicht
hat: Arbeiter- und Kleinbürgerliteratur von allerhöchster
literarischer Dichte und Güte, geschrieben von einer
Bildungsaufsteigerin aus der tiefsten Provinz.
Anders als in der deutschen Nachkriegsliteratur, in
der die schreibenden Wirtshaus-, Lebensmittelhändler-
oder Schreinersöhne Walser, Grass und Böll den pro-
vinziellen Normalfall abgaben, war eine schreibende
Krämertochter aus Yvetot damals in Paris noch lange
nicht vorgesehen – und ist es vielleicht noch immer
nicht. Einzig Ernaux’ Vorbild, der spätere Literatur-
Nobelpreisträger Albert Camus, Sohn einer analphabe-
tischen Putzfrau aus Algier, hatte in den Wirren der
Kriegs- und Nachkriegszeit den Abwehrschirm der
Pariser Kulturelite schon einmal spektakulär durch-
brochen. Ansonsten pflegte die ihren Nachwuchs nach
Möglichkeit aus dem Großbürgertum und unter den
Absolventen der Pariser Eliteschulen zu rekrutieren. Mit
Ernaux
Distanz halten«. Das Paradox, über ihre proletarische
Jugend dennoch mit Worten zu schreiben, die sie einzig
ihrem Aufstieg aus dieser Klasse verdankt, reflektiert sie
in jedem Buch, ohne es jemals lösen zu können.
Sie wurde 1940 Was ihr fehlt, ist zugleich ihre Stärke. Man findet in
im nordfranzösischen ihren Texten keine Metaphern, keine Umschreibungen,
Lillebonne kaum Adjektive, keine Urteile. Ihre Worte, bekennt sie
geboren, studierte in Die Scham, haben keine Transzendenz, keine Träume,
Literaturwissenschaften, es seien einfache Gebrauchsworte, die ihr einen retro-
bekam zwei spektiven Zugriff auf die Welt gestatten, der sie ent-
Söhne und arbeitete kommen ist, um nirgendwo anzukommen. Und um von
jahrzehntelang dem Tag zu erzählen, an dem ihr Vater ihre Mutter bei-
als Lehrerin. Zu ihren nahe mit dem Beil erschlagen habe: »An einem Juni-
eindrücklichsten sonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater
Werken zählen »Der meine Mutter umbringen. Ich war wie immer zur Messe
Platz«, »Die Jahre« um Viertel vor zwölf gegangen.« So beginnt Die Scham,
und »Die Scham«. In eines ihrer besten Bücher, in dem sie in die Welt ihrer
Frankreich erschien Kindheit zurückkehrt wie eine Ethnologin, die von
in diesem Jahr das rund einem fernen Volk berichtet, zu dem sie gehörte und das
40 Seiten schmale mit der »legitimen Kultur« um sie herum nicht das
Buch »Der junge Geringste gemeinsam hat.
Mann«, in dem sie von In dieser Woche erscheint auf Deutsch ihr Buch
einer Liebesbeziehung Das andere Mädchen aus dem Jahr 2011, ein Brief an
zu einem bedeutend die schon vor ihrer Geburt verstorbene Schwester,
jüngeren die in Yvetot an der Seite der Eltern begraben ist. Sie
Studenten erzählt. selbst, heißt es darin, wird nicht neben dieser Familie
begraben werden, der sie ihr gesamtes Werk gewid-
met hat. Sie ist diejenige, die weggegangen ist, um
die Armut, die Weiblichkeit und die soziale Scham
nobelpreiswürdig zu machen.
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FACHWISSEN SEIT 1974
50
Die andere
Richtung
Afrikanisches Tagebuch VI.
Eine Begegnung in der
Hauptstadt von Madagaskar
VON NAVID KERMANI
A
uf dem Bürgersteig eine Bettlerin mit
Kleinkind, angelehnt an eine Mauer,
beider Kleidung, Haare, Haut ver-
dreckt. So viele bettelnde Kinder auf
den Straßen von Antananarivo, da bist
du schon froh, wenn du einer Mutter
begegnest, der du etwas zustecken
kannst, denn den Kindern selbst sollst
du nichts geben. Aber das ist ja auch
Quatsch, weil sie überhaupt keine
Chance hätten, zur Schule zu gehen,
statt zu betteln, statt zu schuften, statt
auf der Straße zu übernachten. Oft
haben sie nicht einmal Eltern, wie wir
erfahren haben, als wir sie ansprachen,
geschweige denn ein Zuhause oder
einen Clan, der sie zum Betteln schickt.
Obwohl sie auf sich allein gestellt sind,
gebe ich den Kindern nichts, höchstens
mal was zu essen, und spüre beinah
physisch, wie sich deswegen mein Herz
von Tag zu Tag mehr verschließt. Also
der Mutter ein Scheinchen. Merci, sagt
sie, und rasch gehe ich weiter.
Einige Minuten darauf komme ich
ein zweites Mal an ihr vorbei, weil ich
in die falsche Richtung gegangen war,
und sehe das Kind, vielleicht ein Jahr
alt, wie es den Schein sorgfältig rollt
und in die Blechdose steckt, wieder
herausholt, aufrollt, einrollt und ab-
legt, eine ganze Weile. Es ist vollkom-
men vertieft, und ich bin vertieft in das
Kind, aber nicht nur ich, auch die
Mutter, wie ich aus dem Augenwinkel
entdecke, sie schaut ebenfalls lächelnd
auf ihr Kind, das mit dem Scheinchen
spielt, und schon trifft sich unser Blick.
Wir lachen uns an, wirklich hörbar,
wenn auch keine halbe Sekunde lang.
Wir lachen, weil wir das Gleiche sehen,
uns über das Gleiche freuen, für eine
Viertelsekunde entsteht eine Bezie-
hung, obwohl wir auf zwei verschiede-
nen Planeten leben, und ihrer könnte
unwirtlicher nicht sein. Vielleicht den-
ken wir sogar das Gleiche, nicht mal
eine halbe Sekunde lang, denken bang,
was für eine Zukunft dieses Kind wohl
haben mag, wenn nicht zu betteln, zu
schuften, früh zu sterben wie all die
anderen Kinder auf den Straßen – und
sind froh, dass es sich im Spiel vergisst.
Rasch gehe ich weiter, in die andere
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UNSERE WOCHE
Sehr sympathisch, der Horrorheld in »Chainsaw Man«
Jetzt wird mal
zerhackt
Dieser Anime bricht alle Rekorde. Was ist nur dran am
neuen Kettensägenmann? VON FLORIAN EICHEL
Das sind so die Filme, die entweder einfältig oder
pornografisch sind, zu sehen in Kinos mit speckigen
Sitzen oder auf DVDs, die in klebrigen Hüllen
stecken: ein Horror. Horror also ist ein Genre, das
nicht unbedingt vorteilhafte Assoziationen hervor-
ruft, die Nische scheint sein Stammplatz zu sein.
Dieses Ressentiment wurde gerade klein gehackt
und zerfetzt, und zwar von einem Kettensägen-
mann. Chainsaw Man, so der Titel der jüngst
gestarteten Horrorserie, ist der am meisten erwar-
tete Anime aller Zeiten. Allein der Ankündigungs-
trailer wurde auf YouTube über 15 Millionen Mal
angesehen, ein Branchenrekord. Nur zum Vergleich:
Der erste Trailer der horroraffinen Netflix-Serie
Stranger Things kommt nicht einmal auf zehn Mil-
lionen Aufrufe. Was ist das für ein Werk, das in
Zeiten fasziniert, die genügend eigenen Stoff zum
Fürchten mit sich bringen?
Die Antwort darauf liegt in der kathartischen
Funktion, die jede gelungene Horrorgeschichte er-
füllt: unsere Ängste überdeutlich zu allegorisieren
und greifbar zu machen. Chainsaw Man gelingt das
mit Bravour.
Schauplatz der Serie ist die gleiche angstzerfressene
Gegenwart, die man mehr oder weniger selbst kennt
– nur dass in Chainsaw Man kollektiv gehegte
Ängste als Teufel zum Leben erwachen. Tagtäglich
suchen so etwa die Personifikationen der Furcht vor
Fledermäusen, vor Nadeln oder vor Bomben die
Menschheit heim, die sich dagegen nur leidlich zu
wehren vermag. Allein der verarmte Teenager Denji
schafft es, sich mit einem der Wesen, dem Ketten-
sägenteufel Pochita, anzufreunden. Als Denji bei-
FEUILLETON 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
SERIE
Babylon
Bielefeld
Warum die Zwanzigerjahre
einfach nicht aufhören
Da dachte man, man habe über die
Goldenen Zwanziger schon alles erfah-
ren. Und nun muss man auch noch
Volker Bruch als Kommissar Gereon
Rath in der neuen Staffel Babylon Berlin
(jetzt angelaufen bei Sky) als Under-
cover-Nazi durch das Berlin der frühen
Dreißigerjahre folgen. Aber ob Goldene
Zwanziger oder düstere Dreißiger: Am
Abb.: Tatsuki Fujimoto/Shueisha/Mappa
Ende stehen die Zeichen auf Sturm.
Die Zwanzigerjahre sind noch immer
das Jahrzehnt, in dem sich die Deutschen
am liebsten bespiegeln. Ein Großteil der
Faszination verdankt sich dabei auch
jener gängigen Erzählung, wonach da-
mals die Mitte der Gesellschaft immer
radikaler und immer gespaltener wurde,
bis die Republik plötzlich weg war. Da
liegen die Parallelen zum Heute auf der
Hand, wo doch der Ton immer rauer,
die Gemengelage immer unübersicht-
licher wird. Meint man jedenfalls.
Nur sagen viele Soziologen inzwi-
schen etwas anderes: Die oft kolportierte
These von der Spaltung der heutigen
Gesellschaft stimme gar nicht. Zumin-
dest nicht im deutschen Fall. So war
auch kürzlich auf dem deutschen Sozio-
logenkongress in Bielefeld wieder zu ver-
nehmen, dass es zwar durchaus zu einer
Radikalisierung der Ränder gekommen
sei, aber keineswegs zu einer der Mitte.
Die Polarisierungsformel diene daher
allenfalls als eine Metapher, empirisch
belegen könne man sie nicht.
nahe selbst von einem Teufel getötet wird, schließt Also doch keine Straßenschlachten.
Pochita einen Pakt mit ihm. Fortan baumelt eine Keine neuen Zwanzigerjahre, weder
Reißschnur von Denjis Brust. Mit einem Ruck kann goldene noch blecherne. Weder in Berlin
er sich in den titelgebenden Chainsaw Man ver- noch in Bielefeld, auch nicht im heißen
wandeln und gegen die Dämonen zurückschlagen.
Eigentlich hatte der Horrorklassiker The Texas
Herbst 2022. So die Diagnose der So-
ziologie. Wie die Geschichte weitergeht,
Chainsaw Massacre der Kettensäge samt ihren Trägern
einen unverrückbar archetypischen Platz im pop-
will man dann aber schon wissen. Auch
die Geschichte vom verdeckten Ermitt-
kulturellen Bewusstsein zugewiesen: den des Bösen. ler Gereon Rath. PETER NEUMANN
Der neue Chainsaw Man bedient sich dieser Phobie
– und dreht sie um. Denn der Kettensägenmann
ängstigt nicht als Antagonist die Zuschauer; statt-
dessen zieht er als Held ihre Sympathien auf sich. INSTA
Diese Dialektik von Furcht und Bewunderung hatte
zuletzt den Erfolg von Serien wie Invincible und
The Boys bedingt, in denen Superhelden als instabile Bitte liebe
Massenvernichtungswaffen dekonstruiert werden,
die sich jederzeit gegen das Wohl der restlichen
Menschheit entscheiden könnten.
mich
Chainsaw Man hingegen dekonstruiert nicht
unsere Hoffnungen, sondern unsere Ängste. Der-
Mit Britney Spears gegen
Autor Tatsuki Fujimoto nutzt die ästhetischen Topoi die Tristesse
des Horrorgenres, um den Zuschauer zu ermächtigen,
anstatt ihn das Fürchten zu lehren. Anfangs ist man Die Welt stellt sich gerade täglich auf
noch irritiert, wenn das Blut in Fontänen spritzt und den Kopf, es gibt viel zu viel, was ver-
Körperteile in lapidarer Regelmäßigkeit abgehackt standen oder gar getan werden müsste,
werden, dann stellt sich eine tranceartige Faszination und man will sich also am liebsten ein-
ein. Mit jedem scheinbar unüberwindbaren Teufel, fach unters Bett legen. Da würde man
den Denji in Stücke haut, hat man selbst das Gefühl, dann aber ein schlechtes Gewissen be-
einen Teil der eigenen Ängste zersägt zu haben. Kein kommen, man würde denken: Ent-
Wunder also, dass Chainsaw Man solch einen Anklang schuldigung, aber du hast keine ernsten
findet. Noch nie war Horror so wohltuend, eine Sorgen, sei proaktiv, geh spenden,
Kettensäge so therapeutisch. twittere einen klugen Satz zur Ukraine,
Echte Kriminalfälle
Warum wird ein Mensch zum Mörder? Steckt
in jedem von uns kriminelle Energie? Wie geht
das Leben nach einem traumatischen Erlebnis
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du dir die Haare abschneidest! Darauf
würde man sich entgegnen: Äh, aber ich
will keine Likes dafür, dass ich mich mit
Menschen solidarisiere, die wirklich in
Not sind. Und nach diesem inneren
Schweine-Dialog würde man sich selbst
dann für so redlich halten, dass es einem
gelungen wäre, aus dem schlechten Ge-
wissen wieder ein gutes zu machen, und
das ist auch der ganze Sinn der Übung:
Ein schlechtes Gewissen legt man sich zu,
um sich die eigene Integrität zu beweisen,
was in Schritt zwei bedeutet, dass man
dieses schlechte Gewissen entweder
schon los ist oder es eigentlich ganz gerne
hat (in etwa das Gleiche).
Deswegen: Sparen Sie Zeit, legen Sie
sich nicht unters Bett, wenn Sie sich
überfordert und nutzlos fühlen! Statt-
dessen empfehle ich Ihnen ein Aufbau-
Programm, nämlich den Instagram-
Account von Britney Spears, ja, genau,
der Pop-Königin aus den Nullerjahren,
die vor den Augen der Weltöffentlichkeit
fulminant abstürzte, dann von ihrem
Vater quasi entmündigt wurde und die
nun, 20 Jahre später und wieder im Besitz
ihrer Autonomie, für viele Menschen die
Ikone der Entrechteten ist. Dabei ist sie
vor allem die einzige Person auf dieser
Welt, die soziale Medien verstanden hat:
In schlecht aufgenommenen, schlecht
beleuchteten, insgesamt überhaupt nicht
bearbeitet wirkenden Bildern zeigt sie sich
am Strand, etwas zu stark tanzend, mit
Sonnenbrand, also absolut unperfekt,
aber das eigentlich Entscheidende dabei
ist: Alles, was ihre Augen sagen – ohne
Scham und den Versuch einer ironischen
Brechung –, ist: Bitte liebe mich. Um
nichts anderes geht es, wenn man mit
schlechtem Gewissen unter dem Bett liegt
(und sonst auch). ANTONIA BAUM
DAS ECHTE LEBEN
Diesmal ohne
Bali
Warum der beste Filter
kein Filter ist
Mit Social-Media-Phänomenen ist das
so eine Sache. Musste man bis vor Kur-
zem noch digital sein Gesicht konturie-
ren, um online mitspielen zu können,
lautet das aktuelle Credo: be real.
BeReal ist eine der derzeit meistgelade-
nen Apps im App Store und fordert
Nutzer jeden Tag zu unterschiedlichs-
ten Zeiten, gänzlich ohne Vorwarnung,
dazu auf, ein Foto von sich und der je-
weiligen Umgebung zu machen und zu
teilen. Die Idee: Das Inszenierte soll
dem Authentischen weichen, im Mittel-
punkt steht der ehrliche, nackte Alltag.
Keine Flucht zu den Fotos der letzten
Bali-Reise, keine Filter, die die Zähne
aufhellen. Berühmt mag man damit
vielleicht nicht werden, dafür tröstet
einen das Wissen, dass das eigene Le-
ben auch nicht viel langweiliger ist als
das der anderen. EVA SAGER
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
A Und was ist
lles sollte anders werden.
Zumindest in Berlin hatte
man sich für den Jahrhun-
dertwechsel 1899/1900 in
Form gebracht. Tausende
der ständigen oder zeitwei-
ligen Bewohner der Haupt-
stadt strömten abends nach elf Uhr aus den
Theatern, Varietés und Kaffeehäusern auf die
Straße. Ob aus Charlottenburg, Schöneberg
oder Rixdorf, aus allen Nachbarstädten waren
die Menschen nach Mitte gekommen, um an
den Silvesterfeierlichkeiten zwischen Branden-
burger Tor und Rotem Rathaus teilzunehmen.
Das Jahrhundert von Napoleon, Goethe und
Bismarck war vorbei. Wer oder was kam nun?
Als das 20. Jahrhundert in den Startlöchern
stand, hatte einer bereits mit ihm gründlich
Schluss gemacht. Schon 1883 spottete Friedrich
Nietzsche über seine Zeitgenossen, denen er
den Titel der »letzten Menschen« gab, sie hätten
ihr »Lüstchen für den Tag« und ihr »Lüstchen
für die Nacht« und seien auch sonst leider recht
bequem in ihren Ansichten. Zu bequem. Nietz-
sche fühlte sich erdrückt und wollte Platz schaf-
fen für etwas radikal Neues. Und auch wenn er
kein gutes Haar an seinen Mitmenschen ließ,
so war sein Denken doch von einer großen uto-
pischen Kraft durchdrungen. Alles sollte anders
werden. Die Gesellschaft, und am besten auch
gleich der Mensch.
Heute hingegen, ein langes Jahrhundert an
Ernüchterung und Illusionslosigkeit später,
sucht man nach Utopien vergebens. Und man
darf sich dabei wundern: Wäre es nicht gerade
jetzt, wo das Alte vergangen und das Neue
bereits jenseits der Schwelle in Sichtweite sein
soll, genau dafür an der Zeit? Für einen großen
Wurf, einen überraschenden Zug, einen präzi-
sen Pass aus der Tiefe des Raums? Zeitenwende!
Doch gehorcht die krisengeschüttelte Ge-
genwart von heute einem anderen Manöver.
Die Zukunft hält nicht mehr, was sie verspricht,
die Gegenwart ist diffus und unübersichtlich
geworden, und die Vergangenheit gibt keine
Ruhe und kehrt in längst überholten Vorstel-
lungen zurück. Utopien, kühne Zukunfts-
träume, wirken da sperrig. Und überhaupt
scheint es einen allgemeinen Verdacht zu ge-
ben: Kommen Utopien nicht aus dem Grusel-
kabinett von vorgestern? Haben große Visio-
nen nicht schon immer für die allergrößten
Schäden gesorgt?
Bereits Mitte der Achtzigerjahre stellte
Jürgen Habermas eine »Erschöpfung der uto-
pischen Energien« fest. So wie am Ende des
18. Jahrhunderts mit den Idealen der Franzö-
sischen Revolution die Paradieshoffnungen ins
Diesseits eingewandert seien, komme es heute,
zweihundert Jahre danach, so Habermas, zu
einer Entladung ebendieser Spannung. Kein
goldenes Zeitalter also, kein »ewiger Frieden«,
wie ihn der Aufklärer Immanuel Kant der
Weltgemeinschaft vormals in Aussicht gestellt
hatte. Und in der Tat konnte ein Blick in die
unübersichtliche Welt schon damals Sorgen
und einiges Kopfzerbrechen bereiten.
Die Spirale des Wettrüstens, die strukturelle
Verarmung der Entwicklungsländer, Arbeits-
losigkeit, wachsende soziale Ungleichheit, Um-
weltbelastungen, dazu die sensiblen Großtech-
nologien, die jederzeit außer Kontrolle geraten
konnten. Nur ein Jahr nach Habermas’ Erschöp-
fungsdiagnose meldete sich auch der Soziologe
Ulrich Beck mit seinem Buch Risikogesellschaft
zu Wort, in dem er in geradezu unheimlicher
Parallelität zur Reaktorkatastrophe in Tscherno-
byl ein atomares Gefahrenzeitalter von bisher
nie da gewesenem Ausmaß erkannte.
Nach dem Ende des Booms moderner Er-
lösungsverheißung fing die Zukunft an, negativ
besetzt zu werden. Bisher hatten die Wegweiser
klar in eine andere Richtung gezeigt: Immer
weiter sollte es gehen. Sowohl technisch als
auch moralisch. So lautete zumindest das Fort-
schrittscredo des 20. Jahrhunderts. Und für die
dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, die »Trente Glorieuses« (1945–1975),
schien das Versprechen von wirtschaftlichem
Aufschwung und gesellschaftlichen Liberali-
sierungen auch mehr oder minder in Erfüllung
gegangen zu sein.
Aber auf einmal war die Luft raus. Selbst als
wenige Jahre später die Mauer in Berlin fiel
und ein Beamter des US-Außenministeriums,
ein bis dahin vollkommen unbekannter Politik-
wissenschaftler namens Francis Fukuyama, das
Ende der Geschichte ausrief, führte das allenfalls
für einen kurzen historischen Augenblick zu
einer Regeneration der ideologischen Reserven.
Denn für einen Dienst nach Vorschrift wollte
sich die Geschichte auch nach dem Zusam-
menbruch des Ostblocks und dem vermeint-
lichen Siegeszug der liberalen Demokratien des
Westens partout nicht einspannen lassen.
Vielmehr bestätigte sich bald der Verdacht,
dass die Erschöpfung der utopischen Energien
nicht nur eine vorübergehende kulturpessimis-
tische Stimmungslage war, sondern tiefer reichte
und an die Substanz ging. Nicht nur das sozia-
listische Experiment im Osten war gescheitert,
auch der Westen stand vor einem gewaltigen
Transformationsprozess, dem mit unverbrüch-
licher Siegesgewissheit nicht mehr beizukom-
men war. Die dringend benötigte Reform des
sozialen Wohlfahrtsstaates war nur eines von
vielen Sanierungsprojekten, die den Druck im
Inneren des Kessels ansteigen ließen. So, wie es
war, konnte es jedenfalls nicht bleiben.
SINN & VERSTAND
Die philosophische Seite
mit morgen?
Die Welt wartet auf rettende Ideen. Doch die Zeit der großen Utopien ist vorbei.
Wer sich in der Geschichte umsieht, kann aber spüren:
Die Zukunft lässt sich auch heute neu entwerfen VON PETER NEUMANN
Auch in einer Seifenblase kann es wirbeln, ohne dass sie platzt
Aber spätestens mit den Anschlägen auf
die Zwillingstürme in New York 2001, der
Finanzkrise von 2008 und der Wahl Donald
Trumps zum amerikanischen Präsidenten
2016 sollten die Fanfarenklänge des liberalen
Universalismus endgültig stiller werden. Und
nun hat die russische Invasion in der Ukraine
auch noch die letzten Töne des Triumph-
gesangs von einst zum Verstummen gebracht.
Weit davon entfernt, noch einmal die Sachen
zu packen und sich auf große Expansionsreise
in die Zukunft zu begeben, geht es längst um
das Vertrauen der westlichen Kultur und ihrer
Eliten in sich selbst.
Was die Erschöpfung der utopischen Ener-
gien bedeutet, wird eigentlich erst heute, in der
Nachspielzeit des 20. Jahrhunderts, deutlich,
wenn die Verdichtung verschiedenster Krisen
zwar tatsächlich eine Zeitenwende erfordern
würde, aber entweder der politische Wille, die
soziale Kraft oder der intellektuelle Kompass
dafür offenbar fehlen. Wenn die utopischen
HINTER DER GESCHICHTE
In seinem letzten Buch »Jena 1800«
hat Peter Neumann von der romantischen
Republik der freien Geister erzählt und
den Freundeskreis um Novalis und die
Brüder Schlegel porträtiert. Seit einem Jahr
ist der 35-jährige Philosoph und Lyriker
Redakteur im Feuilleton der ZEIT.
In seinem neuen Buch, das Ende Oktober
erscheinen wird, denkt er über die
Geschichte der Zukunftsentwürfe nach,
es heißt: »Feuerland. Eine Reise ins lange
Jahrhundert der Utopien 1883–2020«
(Siedler). Den Essay über die Frage, was
morgen wird, hat er für diese Seite verfasst.
Die nächste Seite Sinn & Verstand
erscheint am 10. November
Foto: plainpicture/Callum Ollason
Energien mit der Französischen Revolution in
die Geschichte einwanderten, dann sind sie
heute aus ihr ausgewandert. Nur, niemand
weiß, wohin.
In Momenten wie diesen kann es von Vorteil
sein, für einen Moment die Augen zu schließen,
sie wieder zu öffnen und den Blick in eine ande-
re Richtung schweifen zu lassen. Weg von den
großen ideologischen Höhenflügen des vergan-
genen Jahrhunderts, hin zu den Ahnungen, Ab-
schweifungen und Zukunftsträumen, die sich
unterhalb jener verharschten und vergletscherten
Gipfelregionen befinden. Diesseits der Schnee-
grenze, in den vegetativen Zonen, lassen sich
Personen und ihre Lebensgeschichten entdecken,
die auch für morgen noch Mut und Kraft zu
geben versprechen. Weil die Philosophinnen,
Dichter, Malerinnen, Musiker und Lebens-
künstler, um die es dabei geht, vor den Krisen
ihrer Zeit nicht kapitulierten, sondern sich ihnen
mit aller Macht und manchmal auch mit der
nötigen Portion Glück entgegenstellten.
51
Aber wo ist vorn? Da ist zum Beispiel die
Dichterin, Malerin und Bohemienne Franziska
Gräfin zu Reventlow, die zur selben Zeit, als
Thomas Mann mit der zweiten Auflage seiner
Familiensaga Buddenbrooks endlich der literari-
sche Durchbruch gelingt, in der Schwabinger
Boheme mit ihrem heute fast schon vergessenen
Debüt Ellen Olestjerne für Furore sorgt. Un-
gezügelt soll das Leben sein, frei und selbst-
bestimmt. Die Gräfin, die es aus dem hohen
Norden in den Süden verschlagen hat, treibt sich
auch im Kreis der »Kosmiker« um den Meister
Stefan George herum. Als es dort aber zu anti-
semitischen Angriffen auf ihren Freund Karl
Wolfskehl kommt, wird es der Gräfin zu viel. Sie
ist auf der Suche nach etwas anderem, viel Hand-
festerem als dem Geraune dieses geheimnis-
umwitterten Kreises: Franziska zu Reventlow ist
eigentlich nur hungrig nach Leben.
Da ist der irische Dramatiker Samuel
Beckett, der auf seiner Reise durch Deutschland
im Winter 1936/37 nicht nur mit ansieht, wie
mehr und mehr Kunstgegenstände, expressio-
nistische Werke von Emil Nolde, Ernst Ludwig
Kirchner oder Karl Schmidt-Rottluff, in den
unterirdischen Magazinen der Museen ver-
schwinden, zerstört oder für harte Devisen ins
Ausland verkauft werden. Am 30. Januar 1937,
auf den Tag genau vier Jahre nach der Macht-
ergreifung der Nazis, reist Beckett nach Dresden
und steht in der Alten Akademie plötzlich vor
einem Bild, das ihm die Augen öffnet. Caspar
David Friedrichs Zwei Männer in Betrachtung
des Mondes, eines der deutschesten aller deut-
schen Gemälde, wird später zur Inspiration für
seinen Welterfolg Warten auf Godot.
Da ist aber auch die Philosophin Hannah
Arendt, die 1949 im Auftrag einer jüdischen
Restitutionsorganisation nach 16 Jahren Exil in
ein völlig zerstörtes Deutschland zurückkehrt
und trotz der Ausflüchte der Menschen, die ihr
auf den Marktplätzen und Straßen und in den
Büros der Ministerien begegnen, das Vertrauen
in ihre Zeitgenossen nicht aufgeben will. Denn
ohne jedwedes Vertrauen auf das bereitwillige
Entgegenkommen eines anderen Menschen, so
Arendt, wären nicht nur das gemeinsame
Gespräch, sondern ausnahmslos alle zwischen-
menschlichen Beziehungen am Ende. Es ergäbe
dann schlicht keinen Sinn mehr, von Person
und Moral, von Freiheit und Verantwortung
zu sprechen. Wenn überall nur der Verdacht
regierte, wäre alle Hoffnung verloren.
Und da ist schließlich auch die Essayistin
und public intellectual Susan Sontag, die 1993
in die belagerte Stadt Sarajevo aufbricht, um
sich nicht nur ein Bild vom Krieg in Jugosla-
wien zu machen, sondern auch Becketts Warten
auf Godot auf die Bühne zu bringen. »Warten
auf Godot«, das hieß für die Menschen in
Sarajevo damals so viel wie »Warten auf
Clinton«. Warten auf die Unterstützung der
internationalen Gemeinschaft. 1395 Tage. So
lange dauerte die Belagerung der bosnischen
Stadt. Für Susan Sontag, die auf dem Theater
die Stellung hielt, hieß die Zeit, die sie zwischen
den Trümmern zubrachte, oft auch nur »Warten
auf die Requisiten«.
Wer sich mit offenen Augen auf eine Reise
durch das »Jahrhundert der Extreme« begibt –
so hat es der Historiker Eric Hobsbawm ge-
nannt –, wird noch viele weitere solcher utopi-
schen Momentaufnahmen finden und weitere
mutige Denkerinnen und Denker, die sich vom
Philosophieren, Forschen, Schreiben, Malen,
Komponieren nicht abbringen ließen. Sie
bilden untereinander ein loses, aber resonantes
Netzwerk von Freunden, Vertrauten, nahen
und fernen Bekannten, in dem über die Zeiten
hinweg bestimmte Begriffe, Stile, Erfahrungen
und Ideen immer wieder neu belebt werden.
Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie Utopien
nicht als Bauanleitung für die Geschichte,
sondern stattdessen als eine Art des In-der-
Welt-Seins begriffen. Nicht wie die Welt
beschaffen sein soll, verlangten sie von der
Zukunft zu wissen, sondern wie sie auch
beschaffen sein könnte.
Vieles an den Geschichten von damals mag
heute vielleicht nicht mehr aktuell erscheinen.
So wie jede unglückliche Familie auf ihre
Weise unglücklich ist, so ist auch jede besorgte
Zeit auf ihre Weise alarmiert. Aber Krisen-
stimmung und Zukunftsängste hat es auch
schon zuvor gegeben. Und sie wurden schließ-
lich bezwungen: Aus Krieg und Gewalt ging
1919 in Weimar eine junge Demokratie her-
vor. Aus der moralischen Katastrophe von
Auschwitz heraus, dem absoluten Tiefpunkt,
erblickte die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte das Licht der Welt. Die Lehre, die
sich heute aus Nietzsches Spott über den
»letzten Menschen« ziehen lässt, ist so nüch-
tern wie folgenreich: So hoffnungslos der Fall
auch immer sein mag, es gibt nur diesen einen
Menschen. Wenn der letzte Mensch ver-
schwindet, kommt lange Zeit nichts.
Die Geschichte wurde oft als eine zyklische
Kreisbewegung beschrieben, dann wieder als
eine aufsteigende Linie, im vergangenen Jahr-
hundert endete sie mehr als einmal in der
Katastrophe. Eines der ersten überlieferten
Geschichtsbilder stammt von dem Vorsokrati-
ker Anaxagoras aus dem 5. Jahrhundert vor
Christus, der sie sich als fortlaufende Welle von
»Wirbeln« vorstellte, in denen nichts verloren
ging. Nicht das Böse. Aber eben auch nicht das
Gute. Nicht die mitschwingende Resignation.
Aber eben auch nicht die utopischen Fantasien.
52
Wotan (Michael Volle) lehnt schon müde an der Weltesche: Szene aus Wagners »Rheingold« an der Berliner Staatsoper
DER HERR DES RINGS
An der Berliner Staatsoper durchleuchtet der Dirigent Christian Thielemann für den erkrankten Daniel Barenboim
die »Nibelungen«-Tetralogie: Selten war Wagner so bezwingend und ergreifend zu erleben VON ALEXANDER CAMMANN
S
o klingt also der Stoff, aus dem musikali-
sche Legenden entstehen: Ein krankheits-
bedingter Ausfall, jemand springt ein, nutzt
seine Chance und bringt das Publikum mit
seiner Kunst zum Toben. Diesmal aller-
dings handelt es sich beim Einspringer
nicht um einen Neuling, sondern um den
Dirigenten Christian Thielemann. Er übernahm vor weni-
gen Wochen die Neuproduktion von Richard Wagners
Ring des Nibelungen, die jetzt an der Berliner Staatsoper
Premiere hatte. Der schon seit Längerem erkrankte Daniel
Barenboim hatte absagen müssen und Thielemann per-
sönlich gebeten. In nächster Zeit wird der bald 80-jährige
Hausherr wohl nicht dirigieren können, wie er mitteilte –
ob und wann er’s wieder tut, bleibt offen.
Nun weiß man, dass Thielemann einer der besten
Wagner-Interpreten überhaupt ist. Was er aber an diesen
vier Ring-Abenden mit der ihm bislang nicht sonderlich
vertrauten Berliner Staatskapelle kreiert, ist atemberaubend.
Schon zu Beginn des Rheingolds klingt das Orchester trans-
parent bis in jede einzelne Instrumentengruppe hinein,
hier quillt und fließt es, kein breiter, breiiger Strom, in dem
die Rheintöchter versinken, sondern fein reflektierende,
nuancierte Gewässer, die allmählich sprudeln und sich
entfalten. Das setzt sich in den kommenden 16 Stunden
Weltendrama genauso fort: immer wieder berückender
Klangzauber, präzise austarierte Dynamik und kluge Tempi.
Streckenweise forciert Thielemann eine betonte Langsam-
keit, die aber anders als bei Langsamkeitsfetischisten nichts
zerfallen lässt, sondern für enorme Binnenspannung sorgt,
bis in schier endlos stille Generalpausen hinein. Das psy-
Einmal nicht aufgepasst, schickt einen der Algorithmus der TikTok-App in eine rechte Verschwörerwelt. Zum Glück lässt sich der Spieß auch umdrehen
Als mir kürzlich auf TikTok ein Video von Alice Weidel
vorgeschlagen wurde, blieb ich hängen. Eine halbe,
maximal eine ganze Sekunde schaute ich der AfD-
Vorsitzenden dabei zu, wie sie gegen »die da oben«
wetterte, und fragte mich noch, was sich der Algorith-
mus bloß dabei gedacht hatte, mir dieses Video über-
haupt vorzuschlagen. Da war es schon zu spät. Ich
wischte noch weiter, in der Hoffnung, doch noch ein
lustiges Video von Pinguinen zu finden, die über eine
Wäscheleine stolpern, aber es war aussichtslos. Ich
war in einen Kaninchenbau aus Impfgegner-Videos,
Veganismus-Witzen und Hassreden gegen »reiche«
ukrainische Geflüchtete geraten. Sosehr ich mir die
Finger wund daddelte, um mich aus den schlecht
gelaunten TikToks wieder rauszuwischen, mein Algorith-
mus kannte kein Erbarmen: Wer einmal Weidel schaut,
bekommt für immer Weidel-Content. Da kommt man
nicht wieder raus. Oder doch?
FEUILLETON
chologische Ringen von Musik und Figuren wird dadurch
hochplausibel: Hört her, das ist alles kein Scherz, hier geht
es wirklich um etwas!
Auch wirkt das Ganze musikalisch denkbar undeutsch:
Die Feinnervigkeit dieses Rings ist verblüffend; all jene,
die Wagner immer noch mit dem Klischee vom dröhnen-
den Pathos assoziieren, können sich endgültig bekehren
lassen. Und so wird bei Thielemann auch hörbar, dass
Rheingold, Walküre und Siegfried einer anderen, früheren
kompositorischen Epoche ihres Schöpfers angehören als
die Götterdämmerung, der Abschluss der 1876 in Bayreuth
uraufgeführten Tetralogie: Erst hier schallt wagnerianisch
laut und überwältigend die Katastrophenmusik. An den
Abenden zuvor hört man leidenschaftliches Sehnen, Men-
delssohns Streicher und Berlioz’ Holzbläser; Thielemann
bändigt das Blech da noch, um so die allmähliche Steigerung
des Dramas ins Ausweglose zu inszenieren.
Die Buh-Kaskaden im Beifall kassiert am Ende das Team
um den russischen Regisseur Dmitri Tschernjakow – und
das zu Unrecht. Tschernjakow hat mit Barenboim an der
Lindenoper bereits Wagners Tristan und Isolde und Parsifal
in Szene gesetzt und dabei ein virtuoses Faible für psycho-
analytische Interpretationen gezeigt. Jetzt muss er hinauf
auf den schwierigsten Felsen der Operninszenierung – mit
dem Zwang zu einer Deutung, die über vier Abende trägt.
Er versteigt sich dabei nicht.
Wagners dramatisch-mythologischen Stoff um das ge-
klaute Gold, den geschmiedeten und verfluchten, Allmacht
verschaffenden Ring, Göttervater Wotans verzweifelten
Kampf gegen den Machtverlust, seine Suche nach dem freien
Helden, der die Dinge regelt, überhaupt die endlose Kette
Mit Kochvideos gegen das Böse
VON TIMO POSSELT
Weltweit tummeln sich laut dem Marktfor-
schungsinstitut Data.ai fast 1,6 Milliarden Menschen
regelmäßig auf der chinesischen Video-App TikTok.
Vor allem junge Menschen sollen dort durchschnitt-
lich eine Stunde pro Tag zubringen. Manchmal fühlt
sich der Bilderstrom auf TikTok an wie der große
Kontrollverlust: Man zappt rasend schnell durch die
Unendlichkeit ungeordneter Kanäle und sieht schöne
Menschen, die ihre Lippen synchron zu fremden In-
terviews bewegen. Bekannte, die einem aus einem
Renaissance-Gemälde zuzwinkern. Oder Alltags-
situationen, die unerwartet eskalieren. TikTok-Videos
sind schnell, reizvoll und meist schon ein Zitat eines
Zitates. Wie keine andere App hat diese die Post-
moderne adoptiert. Hier ist es fast irrelevant, wie viele
Follower man hat, anders als bei Twitter, Facebook
und Instagram. Angeblich kann hier jeder einen Hit
landen. Sekundenschnell reagiert der Algorithmus
schuldhafter Verstrickungen verlegt Tschernjakow in ein ange-
jahrtes, postsowjetisch anmutendes Forschungszentrum.
Geleitet vom Institutsdirektor Wotan, soll hier nichts anderes
als der neue Mensch erschaffen werden. Was im Rheingold
noch als frivole Farce mit allzu leichtsinnigen Göttern daher-
kommt, verwandelt sich an den folgenden Abenden in aus-
weglose, wilde Tragik: Der wie sein Gegenspieler Alberich
zum Greis gewordene Wotan begreift allmählich die Vergeb-
lichkeit seiner Ideen. Aber auch die smarte Wagniskapital-
Truppe namens Gibichungen, die in der Götterdämmerung
mit neuen Möbeln übernimmt, scheitert am Fluch, der auf
den renovierten Hallen liegt. Ein üppiges Szenenbild mit
diversen Späßen präsentiert die einzelnen Stationen der
Tetralogie, es werden schon mal Dutzende echte Versuchs-
kaninchen in Käfigen herauf- und heruntergefahren.
Getragen wird das Drama von den bis in die Neben-
rollen stark besetzten Sängerinnen und Sängern, die
Tschernjakow brillant spielen lässt: Wagners endlose Pro-
blemgespräche und monologisierende Erklärungen stehen
hier unter Dauerspannung. Auch fulminanten Wagner-
Routiniers wie Michael Volle als Wotan und Anja Kampe
als Brünnhilde gelingen Intensitätssteigerungen: So rollen
bei beiden die Tränen im Schlussapplaus nach der Walküre,
nach ihrem herzzerreißenden Vater-Tochter-Gesang im ab-
schließenden Feuerzauber. Die nackte Brutalität von Hun-
ding in der Walküre und von Hagen in der Götterdämme-
rung verkörpert Mika Kares; seine gewaltigen Heerrufe
bringen die Saaldecke förmlich zum Beben. Andreas Scha-
gers Siegfried ist schon im jugendlichen blauen Trainings-
anzug kein tumber Tor, sondern wie später erst recht ein
gewissenlos tänzelnder, alles zerkloppender Egozentriker.
aufs eigene Wischverhalten und merkt sich meine
Präferenzen. Bleibt man also, warum auch immer,
eine halbe Sekunde zu lang auf einem Video, das ei-
nen nicht wirklich interessiert, wird man nur noch
mit vergleichbaren Inhalten zugemüllt. Wie bei einer
Zellteilung fragmentiert TikTok die Zielgruppen ins
Unendliche, bis der eigene Feed ganz individuell auf
einen zugeschnitten ist. Nur leider ist der Algorith-
mus, hat er sich einmal entschieden, was einen zu in-
teressieren hat, ziemlich beratungsresistent. Ein Glück,
dass sich nun Widerstand dagegen regt.
Als ich also tief im rechtsradikalen Internetsumpf
zu versacken drohte, kam mir meine 23-jährige Mit-
bewohnerin zu Hilfe. Sie kannte das Problem, weil
auch bei ihr der Algorithmus schon falsch abgebogen
war. Damals deinstallierte sie die App und lud sie
neu runter. Viermal nacheinander! Endlich konnte
sie den Algorithmus nach ihren Wünschen einrich-
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Foto: Monika Rittershaus
Sein berückendes Liebesduett mit Brünnhilde – hinter
Glas im »Stresslabor« des Instituts – ist von beider ironi-
schem Gelächter durchzogen: Gefühlen traut man besser
nicht. Folglich braucht dieser amoralische Antiheld später
auch nicht den von Wagner vorgesehenen Zaubertrank,
um seiner Brünnhilde untreu zu werden: Seine Gier nach
Gutrune (Mandy Fredrich) reicht völlig.
Überhaupt die Männer: allesamt schwache oder ge-
walttätige Krisenkerle. Selbst Siegmund, Siegfrieds dies-
mal recht furchtsamer Vater, braucht eine starke Sieglinde
(so mitreißend wie ergreifend: Vida Miknevičiūtė), die
ihn dazu treibt, sie gefälligst aus ihrer toxischen Beziehung
zu Hunding zu entführen. Hier erweist sich Thielemann
wieder einmal als ausgesprochener Sängerdirigent: Dem
schwächelnden Robert Watson als Siegmund ermöglicht
er einen ängstlich-innigen statt wie üblich liebestollen
Zwiegesang.
Starke Frauen also überall: selbstbewusste Rheintöchter,
eine markige Fricka, ein flirtender Waldvogel, zeternde alte
Nornen, coole Power-Walküren – und schließlich Brünn-
hilde. Ihr Schlussmonolog ist kein weiser Abgesang, sondern
der trauernd-wissende Triumph einer Überlebenden, nach-
dem das männliche Projekt »Weltrettung durch Held«
gescheitert ist. Sie macht sich mit Reisetasche auf den Weg
– eine Hoffnung? Frenetischer Jubel nach gut 16 Stunden,
besonders laut für Christian Thielemann. Und angesichts
der sich neigenden, dreißigjährigen Ära Barenboim hatte
sich plötzlich eine bezwingende Zukunftsoption für das
Berliner Opernhaus aufgetan.
!www.zeit.de/vorgelesen
ten. Inzwischen zeigt er ihr nur noch Content, den
sie auch wirklich mag. Eigentlich hat sich die App
das ja andersherum gedacht: Der Algorithmus trai-
niert sich an unserem Nutzerverhalten. Also nicht
wir ihn. Doch meine Mitbewohnerin ist schlau
genug, um das System zu überlisten. Ist ihr nach
Kochvideos, bleibt sie dort länger als nötig hängen.
Sie zähmt ihn, den Algorithmus, diesen kleinen
rhizomartigen Schlawiner.
»Wir formen unsere Werkzeuge, und dann for-
men unsere Werkzeuge uns«, schrieb der amerikani-
sche Medienwissenschaftler John M. Culkin in den
1960er-Jahren, und natürlich hatte er recht. Nur
haben wir inzwischen die dumpfe Logik der Algorith-
men so verinnerlicht, dass wir sie mit ihren eigenen
Waffen schlagen. Endlich wird zurücktrainiert! Aller-
dings mit dem Resultat, dass wir noch länger auf
diesen Plattformen rumhängen.
 DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 FEUILLETON 53

NACHRUF
Foto: Basso Cannarsa/opale/laif; Illustration: Rachel Levit für DIE ZEIT (r.)

VON UNTERWEGS GESENDET

Was uns die schwarzen

Eichhörnchen erzählen
Bruno Latour
Im Theater gewesen, einen Tennisschläger gegen das Schienbein
* 22. Juni 1947 † 9. Oktober 2022 gekriegt – und interessante Leute getroffen VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY

Der Geerdete
Zum Tod von Bruno Latour, dem Vordenker einer
politischen Ökologie VON ELISABETH VON THADDEN
Wenn ein Theoretiker für die unendliche Ver-
ästelung seiner avantgardistischen Ideen bekannt
ist, dann kann es helfen, ihm zum Abschied
noch einmal ins Gesicht zu sehen: Auf YouTube
zeigen Videos den französischen Intellektuellen
Bruno Latour, der von der tödlichen Krankheit
schon gezeichnet ist, in Gesprächen oder vor
Publikum, und immer ist in den Augen Latours
etwas Heiteres zu erkennen, was für die Zunft
schwerwiegender Philosophen sonst nicht eben
üblich ist.
Selbst in den sterilen Kachel-Bildern der
Corona-Lockdown-Zeit erkennt man diesen
Blick. Das hat etwas Tröstliches: Der gelernte
Philosoph und spätere Soziologe, Anthropologe
und Künstler Bruno Latour hat die Welt, deren
selbstzerstörerischer Irrwitz ihn in seinem Werk
und in seinem Handeln umtrieb, immer mit
einem unerwarteten Anflug von Ironie und Güte
gesehen. Und selbstironisch.
Diese Beziehung zur Welt mag mit dem früh
geschulten Katholizismus des Sohns aus einer
reichen Winzerfamilie zu tun gehabt haben, die
ihr Weingut seit über 200 Jahren betreibt und
ihm einen bleibenden Abstand zum Pariser
Snobismus vererbte. Bruno Latour blieb geerdet,
und als jüngstem von acht Kindern eignete ihm
eine Gabe der Geschwisterlichkeit. Gewiss aber
war sein Weltverhältnis dadurch geprägt, dass er
als einer der ersten Intellektuellen ökologisch
hellsichtig war und daher menschliche Wichtig-
tuerei für unanständig hielt: Der moderne
Mensch hatte einfach zu viel vermasselt. Latours
eigensinniger Habitus zeigte diese Haltung auch
äußerlich an: Mal kam er mit einer Wasserflasche
in der Jacketttasche des Wegs, mal trat er mit
gestecktem Halstuch auf oder mit Hut, mal
barfuß in Latschen. Immer leicht zerknittert,
immer hell, vor Ideen sprühend.
Sobald er zu reden begann, war er glasklar in
den Pointen, aber wenn er sein eigenmächtiges
Denken dann ausformuliert von der Leine ließ,
im kalifornischen Labor des Biochemikers und
späteren Nobelpreisträgers Roger Guillemin
zeigte. Das Buch, das daraus entstand, Laboratory
Life von 1979, begründete Latours Weltruf und
machte ihn zugleich zum Protagonisten des Streits
mit dem Physiker Alan Sokal, der ihm postmo-
dernen Relativismus vorwarf. Zu Unrecht: Denn
die Validität wissenschaftlicher Fakten hat Latour
nie bestritten. Er hat sie aber vergesellschaftet.
Wer es in seiner Geschichte mal mit Goethe
und der Naturphilosophie zu tun hatte, sagte
Bruno Latour in einem Gespräch mit der ZEIT
im Jahr 2000, sei gut gewappnet: weil man in
dieser Tradition den menschlichen Geist nicht
verabsolutiere. Darin fühlte er sich so unter-
schiedlichen deutschen Kollegen wie Ulrich
Beck, Hartmut Rosa oder Peter Sloterdijk ver-
bunden und besonders seinen Freunden, dem
indischen Historiker Dipesh Chakrabarty und
der US-amerikanischen Feministin und gelernten
Zoologin Donna Haraway.
Kurios, ausgerechnet das benachbarte klassi-
sche Pariser Milieu der Linksintellektuellen glänzt
in diesem Bild gemeinsamen Denkens durch
Abwesenheit. Latour hat einmal gesagt, die so-
ziale Frage, die dieses Milieu umtreibt, gehöre
dem 19. Jahrhundert an. Das 20. Jahrhundert
hielt er für ein verlorenes. Er selbst wolle für das
21. arbeiten, und so hielt er nicht die soziale,
sondern die geosoziale Frage für bestimmend: Die
Erde möge bewohnbar sein, dauerhaft, schrieb
er 2017 in seinem Terrestrischen Manifest. Er
meinte: bewohnbar für alle, nicht nur für die-
jenigen mit den Klimaanlagen und die mit dem
Geld zum Errichten unüberwindlicher Mauern.
Die Migration auf einer überbevölkerten, ver-
wüsteten Erde stellte in seinen Augen die eigent-
liche Frage nach Gerechtigkeit, Gleichheit und
Freiheit aller. Latour wollte Spielräume des Han-
delns öffnen, um unbedingt Krieg zu vermeiden.
Zu den Paradoxien seines Denkens, die er
selbst am klarsten sah, gehörte es, dass er das
Es herbstelte. Frau Holz und Fräulein Schlüter,
die beiden Seelen in meiner Brust, lehnten im
offenen Fenster, die Ellbogen verschränkt, die
Nasenspitzen in der Sonne. Ab und zu wirbelte
Laub durch die Luft, Eichhörnchen turnten um-
her, auf der Suche nach Samen und Nüssen.
»Schau mal, wie süß«, sagte Fräulein Schlüter
und puffte ihre Schwester in die Seite, »ein rot-
braunes mit einem weißen Lätzchen.« Frau Holz
puffte zurück, »alle Eichhörnchen haben weiße
Lätzchen, die schwarzen auch«. Frau Holz war
guter Dinge, sie mochte den Herbst, sie mochte
es, wenn die Dinge zu Ende gingen. Und sie
mochte schwarze Eichhörnchen, durch deren
Adern, das hatte sie irgendwo gelesen, eine Extra-
portion Testosteron floss. Das machte die Eich-
hörnchen stärker und unternehmungslustiger
und offensichtlich schwarz.
Als die Sonne sich neigte, fröstelten die
Schwestern ein wenig und schlossen das Fenster.
»Sollen wir Rilke lesen oder ins Theater gehen?«,
fragte Fräulein Schlüter. »Theater«, grunzte Frau
Holz. Rilke mochte sie nicht, den hatte ihr der
Deutschunterricht vergällt, mit Häusern, die
keiner mehr baut, und Briefen, die keiner liest.
Im Vergleich dazu bot ein Theaterbesuch nur
kleine Unverträglichkeiten. Die größte unter
diesen war die Frage, wo im Zuschauerraum sie
jeweils zu sitzen kommen würden, vor allem:
hinter wem? Fräulein Schlüter war der Überzeu-
gung, eine böse Vorsehung sorge dafür, dass sich
vor ihr stets die breitschultrigsten, langhalsigsten
und haarigsten Zeitgenossinnen und Zeit-
genossen niederließen. Und so sollte es auch an
diesem Abend sein, in der an Provinzen und
An dieser Stelle erscheinen im Wechsel vier Kolumnen.
Lesen Sie nächstes Mal »Über den Linden« von Maxim Biller
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Zehn Jahre nach
Theatern so reichen deutschen Theaterprovinz.
Eine Klassikerinszenierung wurde gegeben, die
Schauspielerinnen (alle Rollen waren weiblich
besetzt) extemporierten, dabei waren sie oft
nackt. Bald rieselten aus dem Bühnenhimmel
schwarze Styroporkügelchen, und eine heisere
Männerstimme sang vom Band Schneeflöckchen,
Weißröckchen. Das hörte sich witzig an, und Frau
Holz musste daran denken, wie lange es doch
manchmal dauerte, bis gewisse Trends auch länd-
lichere Regionen erreichten.
Von der Szene bekam Fräulein Schlüter wenig
mit, da vor ihr in letzter Sekunde eine Person
Platz nahm, deren wild toupiertes Haar von
einem riesigen, bühnenreifen Kragen zusammen-
gehalten wurde. Dieser Kragen reichte von der
rechten Schulter ihres linken Nachbarn bis zur
linken Schulter ihres rechten Nachbarn und
raubte Fräulein Schlüter, ihrerseits eine Sitz-
zwergin, das letzte bisschen Sicht. Doch damit
nicht genug. Die Person frönte offensichtlich der
neumodischen Unsitte, die Garderobe im Foyer
Garderobe sein zu lassen und alles, was sie mit
sich führte, unter den Sitz zu stopfen. Im angel-
sächsischen Raum hat das Tradition, die Diskre-
tion freilich, mit der Britinnen und Briten ihre
Barbour-Jacken und Burberry-Mäntel auf links
drehen und verschwinden lassen, ist für konti-
nentale Gemüter unerreichbar. Außerdem hatte
die Person nicht nur Klamotten dabei, sondern
auch einen Tennisschläger, den sie mit einem
solchen Wumms verstaute, dass der Griff hart
gegen Fräulein Schlüters Schienbein schlug.
»Autsch!«, rief die Getroffene, aber das ging be-
reits im Vorstellungsbeginngerumpel unter.
Weil sie die Bühne nicht sah und Schneeflöck-
chen, Weißröckchen erst später kam, begann Fräu-
lein Schlüter sich etwas zu langweilen und studier-
te die diversen anderen Gerätschaften unter den
Sitzen in der Reihe vor ihr. Zu ihrer Verwunderung
lagen da: ein Frauen-Fußball (weiß-hellblau-rosa-
lila), ein Paar historische Skistiefel, ein Häuflein
Leichtathletik-Sand aus der Weitsprunggrube
sowie eine Schwimmbrille.
Fräulein Schlüter stupste ihre Schwester an,
doch Frau Holz wehrte ab. Als Sitzriesin, die sie
war, hatte sie just eine der Nackten ausgemacht,
die hinten an der Brandmauer in ein schwarzes
Eichhörnchen-Kostüm stieg. Was für ein interes-
santes Regiedetail! Grüßte hier etwa der Schlin-
gensiefsche Hase? Oder Hans Neuenfels’ Biene
Maja? Frau Holz fühlte sich bestätigt: Moderne
Inszenierungen waren gar nicht so unreflektiert,
wie sie oft wirkten. Der Applaus hielt sich trotz-
dem in Grenzen. Am Schluss hatten sich die
Hörnchen derart ineinander verbissen und ver-
keilt, dass sie sich nur im Pulk verbeugen konn-
ten, was die Darstellerinnen mehr erheiterte als
das Publikum. »Kannst du mir erklären, was
Andrea Petković, Alexandra Popp, Rosi Mitter-
maier, Malaika Mihambo und Franziska van
Almsick ins Theater treibt?«, fragte Fräulein
Schlüter im Rausgehen. »Liebchen«, seufzte Frau
Holz, »ich fürchte, du hast die Aufführung nicht
verstanden. Die Schwarzhörnchen, das sind die
anderen. Wir alle sind die anderen. Das kannst
du in der Kunst viel besser üben als im Sport.«
Fräulein Schlüter blieb stehen, ihr Schienbein
schmerzte. Was ihre Schwester sagte, klang plau-
sibel. Sie würde darüber nachdenken.

Parallelgeschichten liegt nun

diffundierte es. Aus gutem Grund: Latour wollte
in dem, was er schrieb und sagte, fort von den
Denkroutinen, die er einer zerstörerischen,
erschöpften Moderne zuschrieb, und dehnte
seine Wortwahl also ins unerprobt Offene, ohne
Handeln beschwor, ohne je zu sagen, wer denn
nun wo was zu tun habe. Einmal, bei einem
Gespräch in seiner Wohnung im legendären
6. Arrondissement von Paris, Saint Germain,
hat der ausgefuchste theoretische Denker Latour

ein neuer gewaltiger Roman

Angst vor den Risiken. Wenn er etwa davon
sprach, dass Boden Bindung schaffe und den Erd-
verbundenen die Zukunft gehöre, war es kaum
möglich, ihm zu entlocken, was das denn heißen
solle. Er hat aber die Antwort wirklich gesucht,
gesagt: Wenn nun alle Mikrodetails des falsch
eingeübten Alltags auf ressourcenschonende
Weise neu zu erlernen seien, dann seien Sach-
verständige vonnöten. Architekten, Stadtplaner,
Landwirte. »Man braucht kluge Praktiker wie im

des großen europäischen

und das spürten die Studierenden, die zu ihm
strömten. Die Kunst bestand für ihn darin, als
europäischer Demokrat nach Antwort zu suchen
und dabei nicht als Reaktionär bei Blut und
Boden zu landen. So verschob er die Grenzen
16. Jahrhundert Michel de Montaigne oder wie
zur Zeit der humboldtschen Naturphilosophie
um 1800 erfahrene Vulkanologen, Meteorolo-
gen, Ingenieure.« Der Philosoph diagnostizierte:
Fachkräftemangel.

nicht nur von Disziplinen und Begriffen, sondern
auch von Milieus.
Sein Werk ist labyrinthisch und experimentell,
aber die Kernthemen sind doch scharf konturiert.
Erst vor Kurzem hat er im Gespräch mit dem
Fernsehsender Arte die eigene Arbeit von Jahr-
zehnten in einer einfachen Frage zusammen-
gefasst: »Wie kommt es, dass eine Zivilisation
nicht auf die existenzielle Bedrohung reagiert, vor
der sie sehenden Auges steht?« Einfach war auch
seine Antwort: »Wir sind durch die Moderne
zivilisiert worden, aber sie hat uns in eine Sack-
gasse geführt. Die Ökologie kann uns nun erneut
zivilisieren.« Das philosophische Denken nannte
er die eigentliche Form der Liebe zur Welt.
Die Moderne war seit Descartes mit der schar-
fen Trennung von Natur und Kultur gewisser-
maßen falsch abgebogen, schrieb Latour in seinem
bekanntesten Werk Wir sind nie modern gewesen
(dt. 1995). Moderne Menschen hatten seither
alles Widrige zu beherrschen, zu kontrollieren
versucht, zumal die Natur, und dabei verkannt,
dass Menschen nicht autonom, sondern in Netz-
werken zusammen mit anderen Lebewesen, mit
Dingen, mit der Technik tätig sind und deshalb
von denen auch abhängen. Und ebenso verkann-
te diese Moderne, dass ihre Wissenschaft nie nur
objektiv in ihren Ergebnissen ist, sondern zu-
gleich durch Labore, Apparate, Forschungsgelder,
Werte geprägt ist, wie Latours frühe Feldstudie
Schriftstellers vor.
Diese Leute hat er mit unvorstellbarer Energie
quer durch die Disziplinen und Berufe zusam-
mengebracht, ob in Ausstellungen, die er kura-
tierte, wie etwa in Karlsruhe Reset Modernity,
2016, ob im Médialab in Paris, das er leitete, ob
auf Gastprofessuren rund um den Globus, ob in
neuartigen Buchprojekten wie seinem Werk
Existenzweisen, das sich im Internet zum Gespräch
mit den Praktikern öffnen wollte, ob in einem
imaginierten Gremium der Weltweisen oder
konkret im Schmieden von Akteurs-Allianzen,
beim Wein, zu Hause. Latour war sogar als Solo-
Superstar immer ein Netzwerk.
Die Frage, wie sich die Erde als Heimat den-
ken ließe, stand zuletzt im Zentrum allen
Denkens von Bruno Latour. »Die Erde ist kitz-
lig«, so hatte er es bei dem Gespräch in seiner
Pariser Wohnung ausgedrückt, »sie reagiert, und
sie ist zusammen mit uns Menschen als Akteur
tätig«, in Extremwettern etwa. Weil der Mensch
ohne Wasser, Luft und Boden aber nicht leben
kann, ist er als Gaias Mitarbeiter fast lachhaft
klein. Den Winzling Mensch wollte Latour nicht
aufgeben, ihm galt seine Sorge: »Werden wir vor
Gleichgültigkeit kalt, wenn die Erfahrung der
Ohnmacht überhandnimmt? Wenn uns das
Gefühl der Verantwortung erdrückt? Sind wir
in der Lage, eine Antwort zu geben?« In der
Nacht auf den 9. Oktober ist Bruno Latour mit
75 Jahren in Paris gestorben.
54
Fotos: [M] Mike Bowers/eyevine/laif; Simon Dawson/Reuters (r.)
Gründungsverleger:
Gerd Bucerius (1906–1995)
Herausgeberrat:
Prof. Jutta Allmendinger, Dr. Nicola Leibinger- Kammüller, Otto/Johanna Schoener (stellv.), Anant Agarwala, Dr. Harro
Zanny Minton Beddoes, Florian Illies,
Dr. Josef Joffe
Ehemalige Herausgeber:
Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002)
Helmut Schmidt (1918–2015)
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Andreas Sentker
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Leitender Redakteur: Hanns-Bruno Kammertöns
Redaktionsleiter Digitale Ausgaben: Götz Hamann
Parlamentarischer Korrespondent: Matthias Geis
Politik Hamburg/Berlin: Tina Hildebrandt/Dr. Heinrich Wefing Jasmin Müller-Stoy; Textchefinnen: Christine Meffert, Annabel Wahba;
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Hauptstadtredaktion: Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin,
Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 40
Streit: Dr. Jochen Bittner/Martin Machowecz (verantwortlich), Redaktion ZEITmagazin: Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin,
Stefan Schirmer (Korrespondent)
Dossier: Malte Henk/Wolfgang Uchatius (verantwortlich),
Nadine Ahr, Moritz Aisslinger, Bastian Berbner, Kerstin
Kohlenberg, Caterina Lobenstein, Tanja Stelzer (Autorin)
Leserbriefe: Dr. Christof Siemes (verantwortlich),
Jutta Hoffritz
Geschichte: Christian Staas (verantwortlich)
»Der Prozess
zerstört ihn«
Der Film »Ithaka« dokumentiert den Kampf von John und Gabriel Shipton,
dem Vater und dem Bruder von Julian Assange, gegen dessen Auslieferung an
die USA. Ein Gespräch über Assanges Gesundheit, sein schillerndes Verhältnis
zu Donald Trump und die Frage, ob es unabhängigen Journalismus gibt
Julian Assanges Vater und Bruder im August 2022 in Canberra, Australien
Wirtschaft: Charlotte Parnack/Roman Pletter (verantwortlich),
Simon Kerbusk (stellv.), Thomas Fischermann, Sebastian Kempkens,
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Unterhaltung: Cathrin Gilbert (verantwortlich)
Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich), Rudi Novotny/Jeannette
Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Fritz Habekuß, Stefanie Kara,
Maximilian Probst, Yannick Ramsel, Arnfrid Schenk, Stefan Schmitt
(Wissenschaftskorrespondent), Ulrich Schnabel, Dr. Anna-Lena
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Bildungspolitischer Korrespondent: Thomas Kerstan
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Korrespondent), Dr. Peter Neumann, Katja Nicodemus, Nina Pauer,
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Dr. Adam Soboczynski (Literatur; verantwortlich),
Dr. Elisabeth von Thadden (Sinn & Verstand), Lars Weisbrod
Glauben & Zweifeln: Evelyn Finger (verantwortlich)
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Stefanie Flamm, Francesco Giammarco, Elke Michel,
Merten Worthmann; Besondere Aufgaben: Jutta Hoffritz
Investigative Recherche/Daten:
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Tom Sundermann (O/Störungsmelder), Sascha Venohr (O),
Fritz Zimmermann (P);
Autor: Christian Fuchs
Verbrechen: Stephan Lebert (Reporter), Daniel Müller
ZEITmagazin:
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Chaimowicz; Stellv. Chefredaktion: Anna Kemper, Tillmann Prüfer,
Emilia Smechowski; Creative Director: Mirko Borsche; Art Director:
Style Director: Claire Beermann;
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13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Die US-Regierung hat Julian Assange wegen der
Entgegennahme und Veröffentlichung von
Staatsgeheimnissen angeklagt und verlangt von
Großbritannien seine Auslieferung. Dem hat die britische
Regierung zugestimmt. Eine Richterin des Magistrates’
Court hatte zunächst die Auslieferung mit Verweis auf
einen möglichen Suizid untersagt. Dagegen wiederum
haben die USA Berufung eingelegt. John Shipton, 78,
Julian Assanges Vater, setzt sich seit Jahren für die Freiheit
seines Sohnes ein. Der Film »Ithaka« dokumentiert diesen
Kampf. Produziert worden ist der Film von Assanges
Halbbruder Gabriel Shipton, 39. Diese Woche eröffnet
»Ithaka« das Human Rights Film Festival in Berlin.
DIE ZEIT: John und Gabriel Shipton, wie geht es Julian As-
sange derzeit?
Gabriel Shipton: Als ich Julian im Juli das letzte Mal gesehen
habe, war er verhältnismäßig guter Dinge, aber er ist generell
körperlich und mental am Boden. Im Oktober letzten Jahres
hatte er einen kleinen Schlaganfall. Er sitzt jetzt im vierten
Jahr in dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, außerhalb
Londons. Nils Melzer, der frühere UN-Sonderbeauftragte,
und andere Experten kamen zu dem Schluss, dass Julian psy-
chischer Folter ausgesetzt war. Faktisch hat sich seine Situation
seitdem nicht geändert. Der Prozess zerstört ihn.
ZEIT: Eine Richterin am Magistrates’ Court begründete ihre
Entscheidung gegen eine Auslieferung mit der Sorge, Assange
könne sich umbringen. Teilen Sie diese Sorge für den Fall,
falls der High Court entscheidet, dass Assange doch ausgelie-
fert werden darf?
Gabriel Shipton: Das ist zumindest die Sorge der Experten.
Wie es aussieht, rücken wir dem Stück für Stück näher.
ZEIT: Lassen Sie uns über Julian Assange als Person reden.
John, stimmt es, dass Sie und Christine Assange, seine Mut-
ter, sich bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg
kennengelernt haben?
John Shipton: Ja, das stimmt. Ein Freund von mir hatte ei-
nen Laden mit Antikmöbeln, da sind wir uns das erste Mal
begegnet und dann auf die Demo gegangen.
ZEIT: Sie und Christine haben sich früh getrennt. Einen
Teil seiner Kindheit hat Julian Assange auf einer Insel na-
mens Magnetic Island im Südpazifik verbracht. Er hat sich
damals mit Tom Sawyer verglichen. Erinnern Sie sich an
diese Zeit?
John Shipton: An den Vergleich mit Tom Sawyer erinnere
ich mich, aber auf der Insel war er allein mit seiner Mutter.
Wir hatten erst zwei Jahre später, Mitte der Siebzigerjahre,
wieder Kontakt.
ZEIT: Ist Assange ein Kind der 68er-Generation?
John Shipton: Ich erlebe Julian als rücksichtsvoll und zwi-
schenmenschlich zuvorkommend, als intellektuell tiefsinnig.
Wissen Sie, er ist eher konservativ.
ZEIT: Assange hat früh mit dem Programmieren und Hacken
begonnen, im Internet nannte er sich »Mad Professor«. Sei-
nen ersten Computer bekam er zu seinem 16. Geburtstag,
was 1987 noch eine kleine Sensation war.
John Shipton: Davon habe ich damals nichts mitbekommen.
Aber für mich war Julian schon immer außergewöhnlich, so
wie Gabriel und meine anderen Kinder auch.
ZEIT: Ein Intelligenztest ergab bei Julian Assange einen IQ
von 146. Angeblich sind auch Sie hochbegabt. Stimmt das?
John Shipton: Mein Ergebnis lag etwa bei dem von Julian, ja.
ZEIT: Gabriel, Sie haben Julian erst später kennengelernt, als
er schon studierte.
Gabriel Shipton: Julian ist elf Jahre älter als ich. Wir sind
uns erst begegnet, als ich 18 war. Ich habe damals in Sydney
gelebt und Julian in Melbourne, wo er studierte. Er kam
nach Sydney, um Vorlesungen zu besuchen, und hat bei
John oder bei mir gewohnt. Damals hatte ich gerade das
Buch Underground gelesen, in dem es um Julians Zeit als
Hacker und Programmierer geht. Ich habe ihn bewundert.
John Shipton: Julian ist Mathematiker und Physiker. Er kann
sehr charmant sein und war schon immer ein guter Lehrer,
der einem nie das Gefühl gegeben hat, man selbst wisse gar
nichts. Er hat mir beigebracht, wie man die relative Ge-
schwindigkeit zwischen zwei sich bewegenden Objekten in
einer bestimmten Entfernung zueinander messen kann. Ich
selbst mag ja eher Poesie.
ZEIT: WikiLeaks wurde damals unter Ihrem Namen regis-
triert. Lange wurde gerätselt, wer wohl dieser »John Shipton«
sein könnte. Wussten Sie, was Ihr Sohn da tat?
John Shipton: Ich hatte eine Ahnung. Damals tastete Julian
sich vor, er wusste noch nicht genau, in welche Richtung er
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Wertpapierbörsen ISSN: 0044-2070
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
sich entwickeln würde. Ich habe ihm schließlich meinen
Reisepass für die Registrierung von WikiLeaks gegeben.
ZEIT: Die Idee, Whistleblowern eine anonyme Plattform zur
Verfügung zu stellen, auf der sie vertrauliche Dokumente
hochladen können, hat den Umgang der Öffentlichkeit mit
Geheimnissen revolutioniert. Für jedermann sichtbar wurde
das 2010, als Assange vertrauliche Dokumente der US-
Regierung veröffentlichte, die die Soldatin Chelsea Manning
an WikiLeaks geschickt hatte.
John Shipton: Ich habe schon immer bewundert, wie früh
Julian das Potenzial des Internets erkannt hat. Die Möglich-
keit, Informationen frei für jedermann zur Verfügung zu
stellen, sie zu vergleichen und zu diskutieren, ist großartig.
Julian hat diese Möglichkeit genutzt, um der Welt die von
Manning geleakten Dokumente zur Verfügung zu stellen,
die ein Urteil über die US-amerikanische Außenpolitik
erlaubten. Was für ein Geschenk! Wir haben dadurch einen
unverstellten Blick auf die Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit und wissen, wer sie begangen hat und welche Kriegs-
verbrechen verübt wurden. Die Kriminalität ohne jede straf-
rechtliche Konsequenz für die Verantwortlichen springt ei-
nen an. WikiLeaks’ Veröffentlichungen haben das sichtbar
gemacht. Und genau dafür wird Julian angeklagt.
ZEIT: Assange ist häufig Antiamerikanismus vorgeworfen
worden. Lange Zeit war er ein Superstar der Linken, die ihn
für seine schonungslose Kritik an den USA geliebt hat.
John Shipton: Diese Kategorien von rechts und links führen
zu nicht viel. Julian in eine Schublade zu stecken wird ihm
nicht gerecht. Und er ist kein bisschen antiamerikanisch, er
hat bis heute viele Freunde in den USA. Er ist anti-Washing-
ton, also gegen das Establishment. Aber vom Ansatz her ist
das eher pro und nicht negativ: Es geht darum, Wissen zur
Verfügung zu stellen und für die Freiheit zu streiten. Das ist
im besten Sinne humanistisch.
ZEIT: Im US-Wahlkampf 2016 hat sich Assange plötzlich
mit Donald Trump gemein gemacht. Wieso dieser Schwenk?
John Shipton: Seine Beweggründe kenne ich nicht, aber
WikiLeaks funktioniert ja nicht wie eine Bank, in die man
Geheimnisse einzahlt, um sie wieder abzuheben, wenn man
sie braucht. WikiLeaks’ wichtigstes Versprechen ist der
Quellenschutz und der bestmögliche Umgang mit dem
Material, das die Quelle zur Verfügung gestellt hat. Genau das
hat Julian 2016 mit der Veröffentlichung des Leaks der
Demokratischen Partei getan. Das Leak hat gezeigt, wozu die
Demokraten bereit waren, um Bernie Sanders als Präsident-
schaftskandidaten zu verhindern. Das sind Fakten.
ZEIT: Assange hat damals heimlich mit Donald Trump
Junior Botschaften ausgetauscht. Und er hat in der ecuado-
rianischen Botschaft in London einen Kongressabgeordneten
der Republikaner empfangen, Dana Rohrabacher. Als das
bekannt wurde, waren viele Liberale zutiefst enttäuscht.
John Shipton: Ich empfand das nicht als besonders über-
raschend. Trump war Präsident und hatte die Macht, Julian
aus seiner Situation zu befreien. Ich nehme an, dass es darum
ging. Und Julian wollte Trump davon überzeugen, dass er
dessen Steuererklärung veröffentlichen könne. Julian war
nicht auf Trumps Seite, er wollte einfach Informationen ver-
öffentlichen.
Gabriel Shipton: Der Abgeordnete Rohrabacher, der Julian
in der Botschaft besuchte, soll ihm damals das Angebot über-
bracht haben, die Quelle zu verraten, die die Informationen
der Demokratischen Partei geleakt hatte. Im Gegenzug sollte
er dafür Immunität erhalten. Julian hat das abgelehnt. Er hat
sich entschieden, seine Quellen zu schützen.
John Shipton: Diese Geschichten sprießen aus dem Boden
wie Pilze nach einem Regenguss. Wir verlieren dabei monu-
mentale Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsver-
brechen und die Zerstörung ganzer Länder aus dem Blick.
Sechs Länder sind mittlerweile politisch zerstört worden:
Syrien, Libyen, der Irak, Afghanistan, der Jemen und der
Sudan, verdammt noch mal! Dazu kommen die kriminellen
Machenschaften innerhalb der Demokratischen Partei. Und
wir reden hier seit einer Viertelstunde über den Trump-
Unsinn und haben noch nicht eine Minute über die 15.000
Zivilisten gesprochen, die im Irakkrieg getötet wurden.
Deren Schicksal wurde erst im Zuge der Veröffentlichung
der US-Kriegstagebücher durch WikiLeaks bekannt. Um
diese Verbrechen geht es und um die bösartigen, hinter-
hältigen Lügen, die über Julian verbreitet werden. Wir er-
leben in seinem Verfahren den Zusammenbruch des Rechts-
staates. Die Welt steht kurz vor einem neuen Weltkrieg, und
Julian ist in gewisser Weise der Kanarienvogel in der Kohle-
grube, der aufzeigt, was passiert, wenn man sich nicht an die
FEUILLETON 55
Spielregeln hält. Wenn Großbritannien und die USA sich an dass die 400 größten Zeitungen und internationalen Medien New York Times. Aber um Julian freizubekommen, müsste
ihre eigenen Gesetze halten würden, dann würde Julian jetzt auf die eine oder andere Weise unter dem Kommando der das auf den Titelseiten stehen – und das tut es nicht. Ich
dieses Interview geben, nicht wir. CIA stehen? Ich habe den Namen leider gerade vergessen, frage mich: warum nicht?
ZEIT: Die Anklage beschreibt, wie Assange im April 2010 aber mir geht es um die Struktur. Zeitungen brauchen eine ZEIT: Sind Sie enttäuscht über fehlende Unterstützung?
erst das Video Collateral Murder, dann mit fünf internatio- Zulassung von der Regierung ... Gabriel Shipton: Deutschland ist sicher ein besonderer Fall.
nalen Medien die Tagebücher aus dem Afghanistankrieg und ZEIT: ... Entschuldigung, aber zumindest für die allermeisten In Deutschland ist die Unterstützung für Julian sehr, sehr
dem Irakkrieg sowie im November 2010 die diplomatischen europäischen Länder ist das nicht wahr. stark, das war von Anfang an so. Wir waren im Auswärtigen
Depeschen veröffentlichte. Gab es im Rückblick einen Mo- John Shipton: Eine Lizenz zumindest in dem Sinn, dass die Amt, im Bundestag setzt sich eine Gruppe von Parlamenta-
ment, in dem klar wurde, wie gnadenlos die Reaktion der Mitarbeiter den jeweiligen Gesetzen unterliegen. Und Gesetze riern für seine Freilassung ein. Aber wenn alle Zeitungen auf
USA ausfallen würde? können dazu genutzt werden, jemanden zu etwas zu bewe- der Titelseite Freiheit für Julian Assange fordern würden,
Gabriel Shipton: Schon in den Mails des Informationsdiens- gen, ihm zu drohen oder nahezulegen, was er tun soll. Wenn könnte das nicht ignoriert werden. Die Lage würde sich
tes Stratfor, die WikiLeaks zwei Jahre danach veröffentlicht der Spiegel zum Beispiel etwas wirklich Scharfes gegen die schnell ändern.
hat, wird beschrieben, wie man mit Julian verfahren wollte: Regierung veröffentlicht, kann die Regierung über die Ak- ZEIT: Edward Snowden, der als Whistleblower 2013 die
Man solle ihn von Land zu Land jagen, mit wechselnden tionäre Druck ausüben. Aktionäre werden schnell nervös, vor NSA-Affäre auslöste, ist nach Russland geflohen. Würden
Vorwürfen. Und genau das sehen wir seit zwölf Jahren. allem institutionelle Aktionäre. Sie sagen, dass es ihm damit besser als Assange ergangen ist?
ZEIT: Ich erinnere mich an eine Nacht im Dezember 2010, ZEIT: Aber der Spiegel gehört doch mehrheitlich seinen John Shipton: Ja.
als ich mit Assange chattete und er mir einen Cartoon eigenen Mitarbeitern! Gabriel Shipton: Ed selbst sieht das so. Er hat immerhin
schickte. Die Zeichnung zeigt einen Mauspfeil, der in die John Shipton: Ja, aber die Mitarbeiter wollen doch ihr In- seine Frau und seine beiden kleinen Kinder bei sich.
Türme des World Trade Center fliegt – eine Anspielung auf vestment nicht gefährden. Nehmen Sie Ihre Minister Lauter- ZEIT: Wie geht es mit Julian Assange jetzt weiter?
den damaligen italienischen Außenminister, der die Veröffent- bach, Baerbock oder Habeck: Deren Ideen führen in den Gabriel Shipton: Nachdem die britische Innenministerin
lichung der Depeschen das »9/11 der Diplomatie« nannte. Ruin, aber die Medien sagen das nicht. In alternativen dem Auslieferungsersuchen stattgegeben hat, hat sich Julian
John Shipton: Ich mag den Cartoon, den Julian Ihnen da- Medien kann man das nachlesen, aber nicht in den traditio- an den High Court gewandt und dagegen sowie gegen meh-
mals geschickt hat. Eine kleine Computermaus, die Dinge nellen Medien. rere Punkte der Entscheidung des Magistrate Courts Wider-
verändert, sehr schön. Etwa zu der Zeit hat seine Verfolgung ZEIT: Wenn Sie einen Blick in unsere Zeitung werfen, wer- spruch eingelegt. Darauf kann die US-Regierung erwidern,
begonnen. den Sie viel Kritik an der Regierung finden, insbesondere an dann wird es eine Anhörung vor dem High Court geben.
Gabriel Shipton: Einer Recherche von Yahoo News zufolge Lauterbach und Habeck. ZEIT: Hoffen Sie auf den Europäischen Gerichtshof für
wollte der damalige CIA-Präsident Mike Pompeo Julian John Shipton: Ja und nein. Es gibt sicherlich auch Kommen- Menschenrechte, falls der High Court die Auslieferung zu-
später sogar aus der ecuadorianischen Botschaft kidnappen tare, die Julian unterstützen. Aber über viele Jahre standen lässt?
lassen. Damals gab es angeblich noch keine Anklage, sodass die schlimmsten Dinge über meinen Sohn auf den Titel- Gabriel Shipton: Julian würde den Menschenrechtsgerichts-
die USA ihn nicht vor Gericht hätten stellen können. Erst seiten, Dinge, die einfach nicht wahr waren. Die Medien hof sicherlich anrufen. Aber die britische Regierung will
danach wurde eine Anklage unter dem Espionage Act ver- unterteilen sich heute in drei Kategorien: traditionelle Me- Entscheidungen des europäischen Gerichts grundsätzlich
fasst, einem Gesetz, das noch nie gegen einen Publizisten dien, soziale Medien und alternative Medien. Die alternati- nicht mehr akzeptieren. Ob sie ein Urteil in Julians Fall über-
angewandt worden ist. Die Vorwürfe ven Medien sind voller Leben. Bei haupt anerkennen würde, ist unklar.
lauten auf Besitz und Publikation den sozialen Medien erleben wir ge- ZEIT: Mit welcher Entscheidung rechnen Sie?
von geheimen Informationen. Aber rade, wie damit begonnen wird, sie Gabriel Shipton: Es gab in den vergangenen zwölf Jahren
das ist der Kern dessen, was Journa- zu zensieren und zu unterdrücken, eine einzige Entscheidung zu Julians Gunsten. Sie haben
listen tun. etwa durch Google und Facebook. wirklich alles versucht, um ihn unter strengsten Haftbedin-
ZEIT: Haben Sie jemals in der Familie Vor zwölf Jahren haben die traditio- gungen festzuhalten und ein Exempel zu statuieren. Die Bot-
darüber gesprochen, welche Konse- nellen Medien noch mit großer Be- schaft lautet: Wenn du Informationen über Kriegsverbrechen
quenzen ihm drohen könnten? geisterung die Enthüllungen von und Korruption veröffentlichst, verlierst du alle deine Rechte.
John Shipton: Ich habe ihm am Tele- WikiLeaks und Manning publiziert. Ich bin sehr, sehr pessimistisch.
fon gesagt: Irgendwann werden sie Heute haben sich die Regierungen ZEIT: Der Film Ithaka, den Sie produziert haben, Gabriel,
dich vermutlich von einer Brücke auf diese Art von Herausforderung dreht sich auch um zwei von Assanges Kindern und seine
stoßen. Aber ich habe mich nicht wei- eingestellt und Julian zum Sünden- Frau Stella. Assange selbst hatte lange Zeit argumentiert, sein
ter eingemischt. Meine Kinder brau- bock gemacht. Privatleben gehe die Öffentlichkeit nichts an. Warum haben
chen keinen alten Mann, der ihnen ZEIT: Könnte das schwierige Verhält- Sie sich dafür entschieden, ihn nun als Familienvater zu zei-
sagt, was sie tun und lassen sollen. nis zwischen Assange und den Me- gen und nicht als globale politische Figur?
Gabriel Shipton: Wie einflussreich dien damit zu tun haben, dass er die Gabriel Shipton: Julian wurde über viele Jahre von den Me-
WikiLeaks sein kann, haben wir das traditionellen Medien zerstört sehen dien entmenschlicht, und ihm wurde die Möglichkeit ver-
erste Mal 2007 in Kenia erlebt. Wiki- möchte? wehrt, seine Stimme zu erheben. Die Entmenschlichung ist
Leaks hatte einen Report über Kor- John Shipton: Wahrscheinlich, ja. eine Technik, um der Öffentlichkeit seine Verfolgung leich-
ruption in der Regierung veröffent- Aber es ist doch so: Man kann in den ter verkaufen zu können. Mit Ithaka versuchen wir gewisser-
licht. Nach der Veröffentlichung wur- Medien nicht über Russophobie maßen, die Strategie umzudrehen und seine persönliche
den Freunde von Julian in Kenia er- Julian Assange, der Gründer sprechen oder von den Lügen der Seite zu zeigen.
mordet. Man konnte dabei zusehen, der Enthüllungsplattform Kriege im Irak oder in Libyen. Na- ZEIT: Ist das zugleich ein Eingeständnis, dass diese Ausein-
wie die Mächtigen anfingen, Wiki- WikiLeaks, im Januar 2020 in türlich gibt es eher linke Medien und andersetzung mit politischen und rechtlichen Argumenten
Leaks zu fürchten. So sehr, dass sie London. Damals war er 49 Jahre eher rechte, aber sie sind letztlich nur allein nicht zu gewinnen ist?
selbst vor Mord nicht zurückschreck- alt und hatte fast sieben Jahre dazu da, eine bestimmte Klientel zu Gabriel Shipton: Wir müssen die Diskussion von den
ten. Für mich war es das erste Mal, in der Londoner Botschaft von bedienen. Die Leser des Daily Tele- Straftaten wegholen. Julian ist kein Krimineller, er hat im
dass ich seinen Einfluss verstanden Ecuador verbracht – und mehr graph lesen lieber autoritäre rechte Gegenteil Kriminalität offengelegt. Politische Unterstüt-
habe – und die potenzielle Gefahr, die als ein Jahr im Gefängnis Artikel, die Leser des Guardian eher zung kommt immer von unten, von den Menschen, nicht
er mit sich brachte. solche über die Umwelt. Aber letzt- von oben. Deshalb ist es so wichtig, die Massen zu
ZEIT: Assanges Verhältnis zu den Me- lich sind sie jeweils dazu da, den so- mobilisieren.
dien schwankt seit je zwischen Euphorie und Verachtung. In zialen Zusammenhalt zu stärken und die Politik der Regie- ZEIT: Mit seinem Kampf für die Freiheit von Informationen
unseren Diskussionen hat er behauptet, die traditionellen rung zu vermitteln. spielte Assange die Hauptrolle in diversen Dokumentar-
Medien seien unreformierbar und müssten zerstört werden. ZEIT: Bei allem Respekt, das stimmt nicht. Der Irakkrieg, filmen. In Ithaka stehen nun Sie im Mittelpunkt mit Ihrem
John Shipton: Wir müssen uns doch nur anschauen, was in um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, ist leidenschaftlich kriti- Kampf für die Freiheit Ihres Sohnes, John. Und Gabriel hat
Großbritannien passiert ist. Die traditionellen Medien haben siert worden, von Guantánamo, der Folter in US-Geheim- den Film produziert. Ist WikiLeaks zu Ihrem Familien-
sich komplett der Regierung verschrieben und tun, was man gefängnissen oder der NSA-Affäre ganz zu schweigen. schicksal geworden?
ihnen sagt. Man trifft sich einmal im Monat im Verteidigungs- John Shipton: Aber die Kritik richtete sich ja nicht gegen John Shipton: Mir geht es ausschließlich um Julian. Und
ministerium bei irgendeinem Komitee oder so, dessen ge- Ihre eigene Regierung in Deutschland! solange Julian keine Stimme hat, sprechen wir für ihn.
nauen Namen ich vergessen habe. Jedenfalls sind die Medien ZEIT: Sie meinen, Medien trauen sich Kritik nur dann,
unter totaler Kontrolle. Fernsehsender brauchen zum Bei- wenn sie sich gegen die Regierung eines anderen Landes Das Gespräch führte Holger Stark
spiel eine Lizenz und Kredite. Wer sich Geld borgt, macht richtet? Es gibt unzählige Beispiele, in denen Enthüllungen
sich anfällig für Anweisungen. Dadurch hat die Regierung in den Medien zu nationalen Untersuchungsausschüssen
eine gewisse Macht, um sicherzustellen, dass nur das publi- geführt haben. Und es war immerhin die New York Times,
HINTER DER GESCHICHTE
ziert wird, was die Regierung auch publiziert sehen will. die 2010 zusammen mit Assange über die Geheimdokumen-
ZEIT: Wollen Sie wirklich behaupten, dass Medien wie der te ihrer eigenen Regierung berichtet hat. 2010 koordinierte Holger Stark die Berichterstattung des
Guardian oder in Deutschland die ZEIT oder der Spiegel John Shipton: Vielleicht liege ich auch falsch. Belassen wir es »Spiegels« zu den Kriegstagebüchern der US-Armee aus
unter der Kontrolle der Regierung stehen und nur publizie- dabei. Afghanistan und dem Irak sowie zu den diplomatischen
ren, was den Mächtigen gefällt? Gabriel Shipton: Wir erleben derzeit, dass immer mehr tra- Depeschen. Gemeinsam mit Marcel Rosenbach veröffentlichte
John Shipton: Ja, genau so meine ich es. Wie hieß noch mal ditionelle Medien argumentieren, Julian dürfe nicht aus- er 2011 das Buch »Staatsfeind WikiLeaks«. Er hat Assange
der deutsche Publizist, der in einem Buch aufgezeigt hat, geliefert werden, etwa der Guardian, der Telegraph und die diverse Male in London und Berlin getroffen.
Was bleibt? Begrab` dein eigen Leben
in anderer Herz hinein;
Mein Erbe. Wir trauern um So wirst du, und bist du ein Toter,
ein ewig Lebender sein.
Für unsere Carl Siebel
Natur. Prof. Dr. Jürgen Zwernemann
5.6.1929 – 2.10.2022
Christa Klein
* 4. Mai 1954 † 1. Oktober 2022
Langjähriger und verdienstvoller Direktor
des Hamburgischen Museums für Völkerkunde
– jetzt Museum am Rothenbaum, Stiftung ö. R. – In Liebe
Liegt Ihnen auch die Vielfalt der Natur von 1971 bis 1991
Wolfgang Pöstges
besonders am Herzen?
Angehörige,
Die Bienen helfen uns. Helfen Sie mit, bedrohte Tierarten Freundinnen und Freunde
und Lebensräume unserer Heimat zu schützen und den Stiftungsvorstand
Verlust der Artenvielfalt zu stoppen. Geben Sie eigene
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Werte weiter: mit einem Testament zu Gunsten der
gemeinnützigen Heinz Sielmann Stiftung. Marc von Itter, Kaufmännischer Geschäftsführer
Trauerhaus Klein, c/o Bestattungshaus Hebenstreit & Kentrup,
Wir fördern Natur- und Umweltschutz sowie das Natur- Die Mitarbeiter:innen August-Bier-Str. 33, 53129 Bonn
erleben – ganz besonders für Kinder. Ein kostenfreier des Museums am Rothenbaum
Die Trauerfeier ist am Samstag, den 15. Oktober 2022, um 12.00 Uhr,
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Die Mitglieder des Freundeskreises in der Friedhofskapelle auf dem Alten Friedhof in Bonn, Bornheimer
für Sie bereit. Straße. Anschließend erfolgt die Urnenbeisetzung.
des Museums am Rothenbaum
Wir freuen uns auf Ihren Anruf unter 05527 914 419. Wer es wünscht, kann anstelle von Blumen eine Spende geben an die
Bürgerstiftung Bonn, IBAN: DE 32 3705 0198 0000 0631 80;
Kennwort: Stiftung Zukunft durch Bildung / Christa Klein
www.sielmann-stiftung.de/testament
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Shakespeare und die ungelöste Frage:
Sind wir alle Mörder?
Die Klassiker-Inszenierungen, die die Regisseu-
rin Karin Henkel in den letzten Jahren heraus-
brachte, haben einen Zug ins Volkstümliche.
Fast wie im Kindertheater geht die Spielenergie
stets ungefiltert und scheinbar naiv in den
Zuschauerraum. Die Bösewichte, die hier die
wesentlichen Rollen spielen, wenden sich direkt
ans Publikum – um mit ihm zu paktieren und
ihm nachzuweisen, dass es so grausam ist wie die
Protagonisten selbst.
Gerade wenn die Stücke finster sind, appelliert
Henkel an unsere frühen und wärmsten Theater-
erfahrungen. So wie im Kasperletheater die Figu-
ren auf der Bühne darauf angewiesen sind, dass
die Kinder im Saal sie warnen, wenn im Bühnen-
hintergrund das Krokodil auftaucht, stiftet auch
Henkel Vertraulichkeit zwischen Spielern und
Zuschauern. Wobei es dem Publikum in ihren
Inszenierungen schwerfällt, den Kasper vor dem
Krokodil zu warnen. Denn ihre Protagonisten
sind stets Kasper und Krokodil in einer Person:
Figuren des Schreckens und unserer Anteilnahme.
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Dauerausstellung: Kunst in Berlin 1880–1980
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FEUILLETON 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Foto: Lalo Jodlbauer
Er wetzt das Messer: Kristof Van Boven als Macbeth im Deutschen Schauspielhaus Hamburg
VON PETER KÜMMEL
Henkels Medea nach Euripides, im Jahr 2020 im Und nun kam, am Hamburger Schauspielhaus, flissenes geht von dem Mann aus. Eigentlich fordert irrt er wie durch einen Escape-Room, aus dem es
Münchner Residenztheater, war eine Kindsmörderin, Henkels Version von Shakespeares Macbeth heraus. Macbeth immerzu uns, seine Zeugen und heim- keine Flucht gibt. Der Bühnenraum soll wohl nichts
die gewissermaßen anschaulich und zu unserer Auf- Dem Drama des Mannes, der sich an die Spitze des lichen Mittäter, dazu auf, dass wir ihn begleiten und anderes darstellen als sein Schädelinneres, und die
klärung tötete. Wie ein Coach, eine Entertainerin Staates mordet, um festzustellen, dass dort oben ihn nach vollzogenem Verbrechen loben: Hat er das Gestalten, die er für Untertanen und Feinde hält,
führte sie uns (gespielt von der Darstellerin Carolin nichts ist außer sound and fury, Schall und Wahn nicht fein gemacht? sind Vorspiegelungen seines Geistes.
Conrad) durch den blutbunten Abend ihres Lebens eines zähneknirschenden Clowns. Auch Henkels Denn jede böse Tat ist zunächst mal ja nur eine So hat Karin Henkel, die Regisseurin, die seit
und machte klar: Es muss sein! »Ich schaudere, doch Macbeth, in Hamburg gespielt von Kristof Van Idee. Also eine Erfrischung des Geistes, eine Belebung Jahren seltsame Mischwesen aus Kasper und
ich freu mich auch darauf«, sagte sie in Erwartung Boven, ist immerzu auf der Suche nach Kontakt mit der Welt. Und Van Bovens Macbeth hat den Charme Krokodil, nämlich anschmiegsame, warmblütige
der freien und mächtigen Frau, in die sie sich durch dem Publikum: »Seid ihr tot oder lebendig?«, fragt und die gefährliche Einsamkeit eines Mannes, der Reptilien auf die Bühnen stellt, hier etwas Neues
ihr Verbrechen verwandeln wird. Und man hatte er in den riesigen Saal, und das ist wohl eine Frage, glaubt, dass selbst ein Mord zurückzuverwandeln ist geschaffen: König Macbeth, den Laufburschen
den Eindruck, ihr größtes Vergnügen sei es, beim die über das Stück hinaus den Theatervorgang selbst in den Affekt, den Gedanken, aus dem er entsprang. seines Wahns und unserer Sensationsgier.
Mordentschluss begleitet zu werden. meint. Weil die unten im Saal sich ja tatsächlich tot Bei Shakespeare wird Macbeth von den drei Darauf will sie wohl hinaus: dass ihr Macbeth,
Vergangenes Jahr, bei den Salzburger Fest- stellen und nicht antworten, wenn man sie an- »Weird Sisters« (Schicksalsschwestern, vulgo: Hexen) dieser elastische, flatternd um mildernde Umstände
spielen, gab die Schauspielerin Lina Beckmann, spricht. Und weil sie im Grunde wollen, dass und seiner Ehefrau zum Mord getrieben. In der bittende Nervenmann, unser Geschöpf ist, unser
ebenfalls in Henkels Regie, den Shakespeareschen Macbeth bis zum Äußersten geht. Hamburger Inszenierung bleibt hingegen unklar, Spielball. Wie ihre vorigen Klassiker-Inszenierun-
Unhold und Mörder Richard III. als eine geltungs- Van Boven spielt den Mörder wie einen Come- ob Macbeth überhaupt Gesellschaft hat oder ob gen hat auch diese etwas von einer Kommunion:
süchtige, des Zuspruchs bedürftige Horrorgestalt: dian, der seine Mordpläne triumphal als Pointen nicht alles, was auf der schwarzen Bühne stattfindet, Ein Mörder teilt sein Böses mit uns, bis er jeden
ins Publikum schauend bei den schlimmsten herauskräht. Er will, dass ihm beigestanden wird. seine Halluzination ist. Zwei Hexen (Angelika unmoderierten Seelenrest verloren hat. Damit be-
Taten, sozusagen beiseite mordend. Immerzu nach Taten, die er gerade erst ausheckt, sollen ihm schon Richter und Kate Strong) und ein 21-köpfiger trügt sie das Drama aber ums Entscheidende, um
ihrer Mama rufend, aber uns gefallen wollend. vorab verziehen werden. Für Strafen, die noch gar Trupp von Mädchen, offenbar Lehrlingshexen, das Geheimnis und sogar die Würde des Protago-
Wofür Beckmann zur »Schauspielerin des Jahres« nicht verhängt wurden, bittet er um Haftverscho- treiben den armen Kerl vor sich her und schneiden nisten. Um das Interesse an der Frage: Warum tut
gewählt wurde. nung. Etwas Unerwachsenes, Schüchternes, Be- ihm den Weg von der Bühne ab. Durch seinen Palast er das alles?
1 5 .1 0. bis 2 1 .1 0. 202 2
Bröhan-Museum BIBERACH KUNSTMUSEUM BONN
bis 31.10.2022: Otl Aicher. Olympia 72 ab 08.05.2022: Raum für phantasievolle Aktionen Neupräsentation Sammlung
Museum Biberach
bis 15.01.2023: Jewellery & Garment bis 16.10.2022: Deutscher Kaviar. Die fotografische Sammlung
21.05. bis 16.10.2022: „Ankommen 1945 – 1960“ 13.10.2022 bis 22.01.2023: Max Ernst und die Natur als Erfindung
bis 22.01.2023: Lucia Moholy – Das Bild der Moderne
www.museum-biberach.de, Di, Mi, Fr-So 10-18, Do 10-20 Uhr www.kunstmuseum-bonn.de, Tel. 0228/776260, H.-K.-Allee 2, Di-So 11-18, Mi-21
www.broehan-museum.de, Tel. 030-32690600, Schloßstr. 1a, Di-So 10-18 Uhr
C/O Berlin BIELEFELD BOTTROP
17.09.2022 bis 18.01.2023: Queerness in Photography
Kunstforum Hermann Stenner Josef Albers Museum Quadrat Bottrop
www.co-berlin.org, Tel. 0302844416, info@co-berlin.org, Hardenbergstraße 22-
24, 10623 Berlin, Berlin, tägl. 11-20 Uhr 02.10.2022 bis 26.02.2023: Alexander Camaro: Die Welt des Scheins 19.10.2022 bis 26.02.2023: Josef Albers. Huldigung an das Quadrat 1950 – 1976
Deutsches Historisches Museum www.kunstforum-hermann-stenner.de, Tel. 0521 800660-0, quadrat.bottrop.de, Tel. 02041/372030, Anni-Albers-Platz 1, 46236 Bottrop, Di-Sa
info@kunstforum-hermann-stenner.de, Obernstr. 48, Bielefeld, Mi-Fr 14-18, Sa, So, 11-17, So 10-17 Uhr
bis 15.01.2023: Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789
www.dhm.de, Hinter dem Gießhaus 3, 10117 Berlin, Mo-Mi, Fr-So 10-18, Do 10-20 Feiertag 11-18
BREMEN
Humboldt Forum
Camille Bombois, Derrière le rideau (Detail), 1928.
Gerhard-Marcks-Haus
Sammlung Zander © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
CALDER
bis 30.10.2022: Songlines: Sieben Schwestern erschaffen Australien Ausstel-
lung, Tickets online bis 23.10.2022: Dietrich Heller. Ungebremst
Dauerausstellung: Ausstellung des Museums für Asiatische Kunst und des Eth- www.marcks.de, Tel. 0421/989752-0, Am Wall 208, Di-So 10-18, Do-21 Uhr
Kunsthalle Bremen
&
nologischen Museums Neupräsentation der Sammlungen, Eintritt frei
MIRO
Liberation bis 30.10.2022: Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen 2022
Dauerausstellung: Berlin Global Berlin Ausstellung, Tickets online
Dauerausstellung: Nach der Natur Ausstellung im Humboldt Labor, Eintritt frei
from bis 06.11.2022: Manns-Bilder. Der männliche Akt auf Papier
Dauerausstellung: Geschichte des Ortes Schlosskeller – Videopanorama – Skulp- Earth bis 13.11.2022: Remix. Einblicke in die Sammlung zeitgenössischer Kunst
turensaal, Eintritt frei ERÖFFNUNG Katalog DARMSTADT
humboldtforum.org, Schloßplatz, 10178 Berlin, Mo, Mi, Do, So 10-20, Fr, Sa 10-22 16. OKTOBER Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Jüdisches Museum Berlin 11 UHR bis 08.01.2023: Walter Schels. Fotografien
Dauerausstellung: Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland www.hlmd.de, Friedensplatz 1, Di, Do, Fr 10-18, Sa, So, Feiert. 10-17, Mi 10-20 Uhr
jmberlin.de, Lindenstr. 9-14, 10969 Berlin-Kreuzberg, tägl. 10-19 Uhr SAMUELIS BAUMGARTE GALERIE
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Kunsthalle Emden
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bis 31.10.2022: SARAH VAN SONSBEECK The State of Things
www.kunsthalle-emden.de, Tel. +49 (0)4921 97 50 50, Emden, Di-Fr, Sa, So, Feier-
tag, jeder 1. Di/Monat 10-21 Uhr langer Kunstabend
ERLANGEN
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30.07. bis 23.10.2022: Brandon Lipchik. Moonbeams of Allegory
www.kunstpalais.de, Tel. 09131 862735, Marktplatz 1, 91054 Erlangen
ESSEN
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bis 08.01.2023: EXPRESSIONISTEN AM FOLKWANG. Entdeckt – Verfemt – Ge-
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www.museum-folkwang.de, Tel. 0201-8845-444, Museumsplatz 1, 45128 Essen, Di,
Mi, Sa, So, feiertags 10-18, Do, Fr, 10-20 Uhr. Eintritt frei in die Sammlung
Ruhr Museum, UNESCO-Welterbe Zollverein
Dauerausstellung: Natur, Kultur und Geschichte des Ruhrgebiets
bis 30.10.2022: Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph
Führungen mit Anmeld.: Schaudepot des Ruhr Museums, Kokerei Zollverei
www.ruhrmuseum.de, Tel. 0201-24681 444, Gelsenkirchener Str. 181, tgl. 10-18
Ruhr Museum, UNESCO-Welterbe Zollverein
Dauerausstellung: Natur, Kultur und Geschichte des Ruhrgebiets
bis 16.04.2023: Die Emscher. Bildgeschichte eines Flusses KONSTANZ
bis 30.10.2022: Mustafas Traum. Fotografien von Henning Christoph
Führungen mit Anmeld.: Schaudepot des Ruhr Museums, Kokerei Zollverei
www.ruhrmuseum.de, Tel. 0201-24681 444, Gelsenkirchener Str. 181, tgl. 10-18
FLENSBURG
Museumsberg Flensburg
26.06. bis 23.10.2022: PHOTO no SHOOTING! Ukraine. Russland. Exil. KREFELD
17.07. bis 13.11.2022: gagel Fotografie und Installation
www.museumsberg.de, tägl. 10-17, Mo geschl.
FRANKFURT AM MAIN
Archäologisches Museum Frankfurt
bis 30.10.2022: Kelten in Hessen?
archaeologisches-museum-frankfurt.de, Tel. +496921235896, Karmelitergasse 1,
60311 Frankfurt am Main, Mi 10-20, Do-So 10-18, Mo, Di geschl.
DEUTSCHES ARCHITEKTURMUSEUM
Schön hier. Architektur auf dem Land bis 27. November 2022, das DAM
zu Gast im Freilichtmuseum Hessenpark, Neu-Anspach (www.hessenpark.de)
Liebieghaus Skulpturensammlung
bis 08.01.2023: SPLENDID WHITE. Die Elfenbein-Sammlung Reiner Winkler im KRONACH
Liebieghaus
www.liebieghaus.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 71, Di, Mi 12-18, Do-So
10-18 Uhr
MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST
bis 30.10.2022: TOWER MMK: Stéphane Mandelbaum
mmk.art
SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT
13.10.2022 bis 08.01.2023: GAURI GILL. ACTS OF RESISTANCE AND REPAIR
www.schirn.de, Tel. 069/2998820, Römerberg, Di-So 10-19, Mi, Do-22
Städel Museum
bis 16.10.2022: FREI. SCHAFFEND. Die Malerin Ottilie W. Roederstein
bis 22.01.2023: VOR DÜRER. Kupferstich wird Kunst
14.10.2022 bis 19.02.2023: Michael Müller: Der geschenkte Tag. Kastor & Poly-
deukes
www.staedelmuseum.de, Tel. 069-605098-200, Schaumainkai 63, Di, Mi, Fr-So
10-18, Do 10-21 Uhr
FREIBURG IM BREISGAU
Städtische Museen Freiburg | www.freiburg.de/museen
Archäologisches Museum Colombischlössle, Rotteckring 5, KÜNZELSAU
ab 6.10.22 Untergang und Aufbruch - Frühmittelalter am südlichen Oberrhein
Augustinermuseum, Augustinerplatz,
bis 11.6.23 Freiburg und Kolonialismus: Gestern? Heute!
Haus der Graphischen Sammlung im Augustinermuseum, Salzstr. 32,
bis 16.10.22 Typisch!? Freiburg und die Region in Fotos von Willy Pragher
Museum Natur und Mensch, Gerberau 32,
bis 22.1.23 Handle with care - Sensible Objekte der Ethnologischen Sammlung
FRIEDRICHSHAFEN
Zeppelin Museum Friedrichshafen
bis 06.11.2022: Beziehungsstatus: Offen. Kunst und Literatur am Bodensee LEIPZIG
Tel. 07541-38010, Seestr. 22, Öffnungszeiten unter www.zeppelinmuseum.de
GELSENKIRCHEN
Musiktheater im Revier
Großes Haus: Sa 19:30, So 16:00 Drei Männer im Schnee!/!Kleines Haus: So 18:00
Leonce und Lena, Tel. 0209/4097200
GÖRLITZ
Museum der Fotografie Görlitz
Industriekultur Tagebau in der Lausitz - Wandlungen. Ein Fotoprojekt über
30Jahre von André Baschlakow. Eröffnung 19.8. 18:00; Fr - So 12-18 Uhr
www.fotomuseum-goerlitz.de, Tel. 03581 878761, Löbauer Str. 7, 02826 Görlitz MANNHEIM
HAGEN
Kunstquartier Hagen
bis 15.01.2023: Edward Bekkerman - Labyrinths of love. Malerei
bis 29.01.2023: Vasily Klyukin - Mind Space. Skulpturen, Installation.
23.10.2022 bis 12.03.2023: Hanns Friedrichs „Ich mache keine Mode, ich ziehe
Frauen an“
www.kunstquartier-hagen.de, Museumsplatz 1, 59095 Hagen
HALLE (SAALE)
MÖNCHENGLADBACH
Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
bis 08.01.2023: STOFFE, TEXTUREN, OBERFLÄCHEN. Fotografien von Hans
Finsler, Heinrich Koch und Gerda Leo Kabinettausstellung. Friedemann-Bach-
Platz 5, 06108 Halle (Saale), www.kunstmuseum-moritzburg.de
HAMBURG
MÜNCHEN
Bucerius Kunst Forum
08.10.2022 bis 15.01.2023: DIE NEUEN BILDER DES AUGUSTUS
MÜNCHEN
Macht und Medien im antiken Rom
www.buceriuskunstforum.de, Tel. 040 / 360996-0, info@buceriuskunstforum.de,
Alter Wall 12, Hamburg, tägl. 11-19, Do 11-21 Uhr, 24.12.2022 geschl.
Deichtorhallen Hamburg
bis 06.11.2022: The New Abnormal. Odesa Photo Days Festival
bis 06.11.2022: In der Sammlung Falckenberg (Harburg): Arbeitsstipendium für
bildende Kunst
www.deichtorhallen.de, Deichtorstr. 1-2, 20095 Hamburg, Di-So 11-18 Uhr, jeden 1.
Do im Monat 11-21 Uhr
HAMBURGER KUNSTHALLE
bis 15.01.2023: Atmen
bis 18.02.2024: Something new, something old, something desired
bis 31.12.2023: Making History. Hans Makart und die Salonmalerei des 19. Jh.
bis 31.12.2023: Impressionismus. Deutsch-französische Begegnungen
bis 31.10.2022: Viermalvier/Fourtimesfour
www.hamburger-kunsthalle.de, Tel. 040/428131200, Glockengießerwall 5, 20095
Hamburg, Di-So 10-18/Do 10-21 Uhr
Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt
Benin. Geraubte Geschichte bis voraussichtlich 31.12.22
Blitzsymbol & Schlangentanz. Aby Warburg und die Pueblo-Kunst bis 8.1.23
Archiv der Erfahrungen bis 16.10.22
UnBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett bis 26.02.2023
www.markk-hamburg.de
Rothenbaumchaussee 64, Di-So 10-18, (Do-21 Eintritt frei)
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
bis 20.08.2023: Made in China! Porzellan
bis 12.03.2023: Who‘s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt
bis 31.10.2022: Die Sprache der Mode
bis 31.10.2022: Mining Photography. Der ökol. Fußabdruck der Bildproduktion
bis 23.10.2022: Ask Me if I Believe in the Future
bis 16.10.2022: audio-grafisch. 16 Entwürfe und ihre Entstehung
www.mkg-hamburg.de, Steintorplatz, 20099 Hamburg, Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr
Stiftung Historische Museen Hamburg - www.shmh.de
bis 20.11.2022: Museum f. Hamburg. Geschichte: Inspiration Geschichte
bis 15.07.2023: Altonaer Museum: Von hier nach dort
bis 30.10.2022: Deutsches Hafenmuseum: Die PEKING
bis 13.02.2023: Jenisch Haus: Chiffren einer Stadt
HANNOVER
Landesmuseum Hannover
bis 31.10.2022: „die erfindung der götter. steinzeit im norden“
www.landesmuseum-hannover.de, Tel. 0511 – 9807 686
KARLSRUHE Museum Villa Stuck WAIBLINGEN
Sonderausstellungen: bis 15.1.23: A Big Announcement. Bernd Kuchenbeiser
ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
bis 30.10.2022: John Sanborn. Between Order and Entropy zeigt Bücher und Schallplatten Galerie Stihl Waiblingen
bis 06.11.2022: Katharina John. Talking Heads 20.10.22 bis 19.3.2023: Dayanita Singh. Dancing with my Camera
bis 05.02.2023: Soun-Gui Kim: Lazy Clouds Dauerausstellung: Künstlervilla und Historische Räume von Franz von Stuck 02.07. bis 16.10.2022: Cover Art Höhepunkte der Schallplattencover-Gestaltung
bis 16.04.2023: Walter Giers. Eletronic Art www.villastuck.de, Die-So 11-18 Uhr, 1. Freitag im Monat 11-22 Uhr
Münchner Stadtmuseum von 1940 bis heute. Vertreten sind Record Cover Artists wie Alex Steinweiss (Co-
Dauerausstellung: zkm_gameplay. the next level Ausstellungen Online:
bis 30.08.2023: Spatial Affairs Worlding – A tér világlása bis 08.01.2023: Nachts. Clubkultur in München
bis 31.12.2022: München 72. Olympische Spurensuche lumbia Records), Emil Schult (Kraftwerk) und Peter Saville (New Wave).
bis 30.08.2023: Drifting, Browsing. Cruising
bis 30.09.2023: Jazmina Figueroa. Call Signs bis 08.01.2023: München 72. Mode, Menschen und Musik www.galerie-stihl-waiblingen.de, galerie@waiblingen.de, Weingärtner Vorstadt
www.zkm.de, Tel. 0721/81000, Lorenzstr. 19, Mi-Fr 10-18, Do, Sa/So 11-18 Uhr bis 05.03.2023: Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg
www.muenchner-stadtmuseum.de, St.-Jakobs-Pl., T. 089/23322370, Di-So 10-18 12, 71332 Waiblingen, Di, Mi, Fr-So 11-18, Do 11-20 Uhr
NS-Dokumentationszentrum München
Museumslandschaft Hessen Kassel - Parks, Schlösser, Museen Dauerausstellung: München und der Nationalsozialismus Wechselausstellung
WUPPERTAL
Dauerausstellung: Wiedereröffnung: LÖWENBURG, Schloss Wilhelmshöhe - TO BE SEEN. queer lives 1900-1950 Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München,
Gemäldegalerie Alte Meister, Neue Galerie - about: documenta Tel. 089-2336700, Di-So 10-19 Uhr, Di-So 10-19 Uhr, www.nsdoku.de
www.museum-kassel.de, Di-So, Feiertag 10-17 Uhr Skulpturenpark Waldfrieden / Cragg Foundation
Kunsthalle zu Kiel
to be seen. 07.10.22
21.05.23
bis 01.01.2023: Anish Kapoor, Skulpturen
bis 06.11.2022: Bettina Pousttchi, Fluidity House
08.10.2022 bis 05.03.2023: 1+1=3 Die Kunstwelten der Mary Bauermeister
bis 23.10.2022: ÜberLeben – Die Dreigroschenoper und die Kunst ihrer Zeit
QUEER LIVES S
bis 01.01.2023: Andreas Schmitten, Skulpturen
Dauerausstellung: Wildes, Wüstes, Wunderschönes. Natur im Fokus der
Sammlung
19OO–– 195O skulpturenpark-waldfrieden.de, Hirschstraße 12, 42285 Wuppertal
www.kunsthalle-kiel.de, Tel. 0431/8805756, info@kunsthalle-kiel.de, Düstern-
brooker Weg 1, 24105 Kiel, Di, Do-So 10-18, Mi 10-20 Uhr
WÜRZBURG
Käthe Kollwitz Museum Köln Museum im Kulturspeicher
bis 13.11.2022: Der neue SIMPLICISSIMUS - Satire für die Bonner Republik
www.kollwitz.de, Di-So, Feiertag 11-18 Uhr, Erster Do im Monat: 11-20 Uhr bis 15.01.2023: KONKRET GLOBAL!
Kölnisches Stadtmuseum
Ausstellungsort: Maritim Hotel Köln, Heumarkt 20, 50667 Köln www.kulturspeicher.de, Tel. 0931/32225-0, Fax -18,
bis 12.02.2023: 50 JAHRE HÖHNER
museum.kulturspeicher@stadt.wuerzburg.de, Oskar-Laredo-Platz 1, 97080 Würz-
Museen der Stadt Köln:
Infos zu Ausstellungen und Veranstaltungen unter: MÜNSTER burg, Di 13-18, Mi 11-18, Do 11-19 Uhr, Fr-So 11-18 Uhr
www.museen.koeln
Museum Ludwig Köln LWL-Museum für Kunst und Kultur
bis 30.11.2024: Schultze Projects #3 - Minerva Cuevas bis 04.12.2022: Wolfgang Heimbach. Ein deutscher Barockmaler an europäi-
bis 06.11.2022: Raghubir Singh. Kolkata schen Höfen ÖSTERREICH
bis 22.01.2023: Grüne Moderne. Die neue Sicht auf Pflanzen www.lwl-museum-kunst-kultur.de, Tel. Tel. 0251/5907-201, Domplatz 10, Di-So 10-
bis 05.02.2023: HIER & JETZT im Museum Ludwig. Antikoloniale Eingriffe 18 Uhr, 2. Freitag im Monat 10-22 Uhr
Heinrich-Böll-Platz, 50667 Köln, Di-So 10-18 Uhr, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
MÜNSTER/HAVIXBECK WIEN
Museum für Ostasiatische Kunst
bis 31.03.2023: Handelsgut Global. Exportporzellan aus China und Japan Burg Hülshoff – Center for Literature
Universitätsstr. 100, 50674 Köln, Di-So 11-17 Uhr, 1. Do im Monat 11-22 Uhr bis 30.09.2023: Droste Digital. Handschriften – Räume – Installationen zeigt
Rautenstrauch-Joest-Museum erstmals die digitalisierten Handschriften von Annette von Droste-Hülshoff.
bis 08.01.2023: I MISS YOU! Über das Vermissen, Zurückgeben und Erinnern www.burg-huelshoff.de, Schonebeck 6, 48329 Havixbeck, Mi-So 11-18:30 Uhr
Cäcilienstr. 29-33, 50667 Köln, Di-So 10-18, Do 10-20, 1. Do im Monat 10-22 Uhr
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud NEUHARDENBERG
bis 16.04.2023: Die Karlsruher Passion. Ganz • Schön • Heftig Stiftung Schloss Neuhardenberg
bis 23.04.2023: Sensation des Sehens. Die Sammlung Nekes: Vol. 1 Barock bis 04.12.2022: Hardenberg Aristokrat – Staatsmann – Reformer. Porträts eines
bis 15.01.2023: Bann und Befreiung – Vom Lesen und Schreiben. Kuratiert von Lebens
Hanns Zischler schlossneuhardenberg.de, Schinkelplatz (Ausstellungshalle), 15320 Neuharden-
Obenmarspforten, 50667 Köln, Di-So 10-18, 1. + 3. Do im Monat 10-22 Uhr berg, Di-So, Feiertag 11-18 Uhr
NÜRNBERG
Rosgartenmuseum
GERMANISCHES NATIONALMUSEUM
25.06.2022 bis 08.01.2023: Konstanz im Nationalsozialismus. 1933 bis 1945.
bis 01.10.2023: Das Mittelalter Die Kunst des 15. Jahrhunderts. Preview
Die neue Dauerausstellung
Tel. 0911-13310, Fax-200, Kartäusergasse 1, Di-So 10-18, Mi-20.30 Uhr, Mo geschl.
www.rosgartenmuseum.de, Tel. 07531/90022245, Rosgartenstraße 3-5, Konstanz,
Di, Fr 10-18, Sa, So, Feiertag 10-17 Kunstvilla
bis 06.11.2022: Grauzonen. Nürnberger Künstler:innen im Nationalsozialismus
Di, Do-So 11-18, Mi 11-20 Uhr
NEUES MUSEUM NÜRNBERG
Kunstmuseum Krefeld
ab 20.05.2022: Double Up! Kunst und Design mit neuen Perspektiven
Kaiser Wilhelm Museum, Joseph-Beuys-Platz 1, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
ab 25.11.2022: On Air. Der Klang des Materials in der Kunst der 1950er bis www.nmn.de, info@nmn.de, Klarissenplatz, T. 0911/2402069, Di-So 10-18/Do-20
1970er Jahre OBERHAUSEN
bis 05.02.2023: Shannon Bool trifft Otto Eckmann, Sammlungssatellit #8
LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen
ab 02.04.2022: Robert Stadler, K+ Café im KWM, Sammlungssatellit #7
bis 15.01.2023: Otfried Preußler - Figurenschöpfer und Geschichtenerzähler
Haus Lange, Wilhelmshofallee 91–97, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18
ab 23.10.2022: Maison Sonia. Sonia Delaunay und das Atelier Simultané www.ludwiggalerie.de, Tel. 0208 41249 28, Konrad-Adenauer-Allee 46, 46049
Haus Esters, Wilhelmshofallee 91–97, Di–Do, So 11–17, Fr–Sa 11–18 Oberhausen, Di-So, Feiertag 11-18
ab 23.10.2022: Andrea Zittel. Personal Patterns
OFFENBURG
Tel. 02151 975580, Besuchen Sie uns auch online: www.kunstmuseenkrefeld.de
Städtische Galerie Offenburg
bis 23.10.2022: Tomi Ungerer. Die Freiheit der Ideen Über 100 Werke des elsäs-
sischen Künstlers -In Kooperation mit dem MuséeTomi Ungerer in Straßburg.
OSNABRÜCK
Kunsthalle Osnabrück
bis 16.10.2022: ROMANTIK mit Einzelausstellungen von Forum DCCA, Anna Hai- Daniel Richter, Sprung von den Türmen, 2009,
fisch, Gabriella Hirst, Irène Mélix, Hannah Quinlan & Rosie Hastings Öl auf Leinwand, 60 x 50 cm, € 40.000 – 60.000, Auktion 30. November
MIK Museum Industriekultur Osnabrück
24.04. bis 13.11.2022: Future Food. Essen für die Welt von morgen
www.mik-osnabrueck.de, info@mik-osnabrueck.de, Mi-So 10-18 Uhr Auktionswoche Wien
REGENSBURG 29. November – 2. Dezember +43-1-515 60-570
Hamburg
Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg
bis 08.01.2023: Wachsen und Vergehen. Sieglinde Bottesch - Bernard Schultze Zeitgenössische Kunst +49-40-879 63 14 70
www.kunstforum.net, Tel. 0941297140, Di-So 10-17, Do 10-20 Uhr Düsseldorf
ROSENHEIM
Moderne +49-211-210 77-47
Ausstellungszentrum Lokschuppen Rosenheim Juwelen, Uhren München
18.03. bis 11.12.2022: EISZEIT – Mensch. Natur. Klima. +49-89-244 434 730
www.lokschuppen.de, tägl. geöffnet, Eine Ausstellung, die keinen kalt lässt! www.dorotheum.com
SAARBRÜCKEN
HIRSCHWIRTSCHEUER, Museum für die Künstlerfamilie Sommer
bis 19.02.2023: Die neue Heimat im Heiligen Land Saarlandmuseum - Alte Sammlung
Mi - So 11 - 17 Uhr, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com Leopold Museum
bis 29.01.2023: Zu Tisch! Die Kunst des guten Geschmacks.
MUSEUM WÜRTH www.altesammlung.de, Schlossplatz 16, T.0681.9964-234, Di-So 10-18, Mi-20
bis 13.11.2022: Edita Kadirić. Cocoon Dauerausstellung: WIEN 1900. Aufbruch in die Moderne
Saarlandmuseum - Moderne Galerie
täglich 11-18 Uhr, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com bis 23.02.2023: Fabienne Verdier – Im Auge des Kosmos bis 06.02.2023: HAGENBUND. Von der gemäßigten zur radikalen Moderne
MUSEUM WÜRTH 2 bis 19.03.2023: Face à Face – Mudam Luxembourg/Moderne Galerie. Zwei
bis Frühjahr 2023: Weitblick – Reinhold Würth und seine Kunst Sammlungen im Dialog 14.10.2022 bis 27.02.2023: TILLA DURIEUX. Eine Jahrhundertzeugin und ihre
täglich 11-18, Eintritt frei, www.kunst.wuerth.com
www.modernegalerie.org, Bismarckstr. 11-15, T.0681.9964-234, Di-So 10-18, Mi-20
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19:30 Die Dollarprinzessin (Sa Premiere)!/!So 12:00 Hausführung Musikalische
Komödie!/!Fr 19:30 Buddy in Concert!/!Venussaal: Fr 09:30 u. 11:00 Babykon-
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30.09.2022 bis 30.07.2023: Die Welt am Oberrhein | Fotos von Robert Häusser
rem-mannheim.de | rem.buchungen@mannheim.de, Di-So, Feiertag KUNSTHALLE WÜRTH
bis 26.02.2023: Sport, Spaß & Spiel in der Sammlung Würth
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26.06. bis 16.10.2022: Studiolo: Antoni Tàpies. Zweigeteilt Wie gefällt Ihnen die WELTKUNST?
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Haus der Kunst | Westflügel | Prinzregentenstr. 1 | 80538 München
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Kunsthalle München
25.09.2022 bis 26.03.2023: Künstlerpaare der Moderne. Hans Purrmann und teilnehmen!
Mathilde Vollmoeller-Purrmann im Diskurs Do-So + Feiertag 11-18 Uhr
26.08.2022 bis 15.01.2023: JR: Chronicles tägl. 10–20 Uhr, 21.9., 19.10. und 16.11.
bis 22 Uhr, 089/22 44 12, www.kunsthalle-muc.de, Theatinerstr. 8, München STUTTGART
Literaturhaus München
tri-bühne
19.05. bis 30.10.2022: NIKOLAUS HEIDELBACH: ORIGINALE
literaturhaus-muenchen.de, Tel. 089-291934-0, info@literaturhaus-muenchen.de, Sa, Do 19:00 Snowden 3.3!/!Mi, Fr 19:00 Romeo und Julia, Tel. 0711/2364610
Salvatorplatz 1, tägl. 11-18 Uhr ULM
Museum Ulm
bis 20.11.2022: Zum Glück! & Jost Münster - One Place At a Time
bis 15.01.2023: Franco Clivio - Manifolds
bis 08.01.2023: Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate (im HfG-Archiv)
www.museumulm.de, Tel. +49(0)731-161 4330, info.museum@ulm.de, Marktplatz
9, 89071 Ulm, Di-Fr 11-17, Sa, So, Feiertag 11-18 Uhr
Stadthaus Ulm
bis 15.01.2023: Peter Bialobrzeski: URBANE RÄUME, Eintritt frei
https://stadthaus.ulm.de, Mo-Mi, Fr, Sa 10-18, Do 10-20, So, Feiertag 11-18 Uhr
VÖLKLINGEN
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WELTKULTURERBE VÖLKLINGER HÜTTE
REsidEnz MünchEn CHRISTIAN BOLTANSKI – Die Zwangsarbeiter | Erinnerungen - Zwei Dauerin-
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bis 16.10.2022: THE WORLD OF MUSIC VIDEO
munichhighlights.com
#munichhighlights bis 06.11.2022: UrbanArt Biennale
www.voelklinger-huette.org, Besucherservice/Buchungen: T. 06898/9100100
 58
Fotos: Etienne Lehnen für DIE ZEIT
Christine Lieberknecht, 64, am Dienstag in Ramsla bei Weimar
»Das muss man aushalten«
Christine Lieberknecht war Ministerpräsidentin in Thüringen und ist
Pastorin im Ruhestand. Sie warnt davor, Demonstranten abzuwerten
DIE ZEIT: Frau Lieberknecht, wann waren Sie zuletzt
auf einer Demonstration?
Christine Lieberknecht: Oh, da muss ich überlegen.
Für mich waren Demos immer Normalität, und ich
stand schon auf beiden Seiten: vor dem Mauerfall, als
junge Pastorin, bei den Demonstranten; nach dem
Mauerfall, als junge Ministerin, bei den Adressaten.
ZEIT: Sie waren nicht nur Adressatin, sondern Ziel-
scheibe von Protesten. Damals begehrten die Thürin-
ger auf gegen die Politik der CDU.
Lieberknecht: Stimmt, aber ich würde das Wort »Ziel-
scheibe« nicht benutzen. Demonstrationen können für
Politiker unangenehm sein – trotzdem sind sie ein legi-
times Mittel der Demokratie. Das ist mir wichtig. Ich
lebe jetzt auf dem Dorf, in Ramsla im Weimarer Land,
beobachte die aktuellen Demos in den Städten also nur
von ferne. Zwar gefallen mir manche Parolen nicht,
und ich empfinde eine Loyalität gegenüber den kriti-
sierten Politikerkollegen. Aber Kritik am Regierungs-
handeln ist eine Möglichkeit, sich an der Demokratie
zu beteiligen. Das muss man als Politiker aushalten.
ZEIT: Auch Rufe wie »Wir sind die Wende, das System
ist am Ende«?
Lieberknecht: Die DDR-Diktatur mit dem heutigen
Rechtsstaat gleichzusetzen ist grundfalsch. Jeder De-
monstrant muss selber darauf achten, mit wem er sich
gemein macht. Aber Demokratie ist eben auch keine
gemütliche Reise im Schlafwagen.
ZEIT: Wie kam es zu den Demos gegen Sie?
Lieberknecht: Im Januar 1990 wurde ich stellvertre-
tende CDU-Landesvorsitzende in Thüringen ...
ZEIT: ... das war noch in der DDR. Sie gehörten zum
Reformflügel der Ost-CDU.
Lieberknecht: Ja, im September 1989 hatte ich mit drei
Parteifreunden den »Brief aus Weimar« geschrieben
und gefordert, dass die CDU sich von der SED lossagt.
Zu Protesten gegen mich kam es aber erst nach der
Wiedervereinigung. Im Oktober 1990, nach der ersten
freien Landtagswahl in Thüringen und dem Sieg der
CDU, wurde ich Kultusministerin. Ich war übrigens
die einzige Frau in der Landesregierung, und zu meinen
Aufgaben gehörte die Erneuerung des Schulsystems,
die heftigen Protest auslösten.
ZEIT: Da waren Sie Anfang dreißig. Hatten Sie den
Mut, sich den Leuten zu stellen?
Lieberknecht: Natürlich! Ich wusste ja, wie es ist, selber
zu demonstrieren, es gibt noch ein Foto von mir mit
Megafon aus dem Jahr 1988. Natürlich war es später
als Ministerin nicht leicht, 10.000 wütenden Men-
schen gegenüberzutreten. Doch ich glaube, ich habe
mich auf Demos immer ganz gut geschlagen, auch als
Rednerin. Meine Wahl zur Ministerpräsidentin wäre
ohne diese Präsenz nicht möglich gewesen.
ZEIT: Das war 2009, die SPD koalierte mit der Be-
gründung, man schätze Ihre »ausgleichende Art«. Wie
passt das zum Demonstrieren, und wann haben Sie
selber nun zuletzt demonstriert?
Lieberknecht: Demo heißt nicht nur Dagegensein.
Zum Tag der Einheit habe ich geholfen, eine Danke-
GLAUBEN & ZWEIFELN
Sind die Demos legitim?
Demo zu organisieren. Absolut zwingend war für
mich, dass wir nach der Aufdeckung der NSU-Morde
gegen Rechtsextremismus demonstrierten.
ZEIT: Dagegen mussten Sie als Ministerpräsidentin
doch von Amts wegen vorgehen. Wieso eine Demo?
Lieberknecht: Gegen Rechtsextreme reicht staatliches
Handeln nicht, es braucht auch den Konsens mit der
Zivilgesellschaft. Und ich wollte als Staatsbürgerin Ge-
sicht zeigen.
ZEIT: Viele aktuelle Demos werden von Rechten orga-
nisiert, der AfD, den Freien Sachsen. Ist das legitim?
Lieberknecht: Leider versuchen Rechte im Osten schon
lange, berechtigte Ängste auszunutzen. Allerdings müs-
sen Sie zwischen Rechten und Rechtsextremen unter-
scheiden. Rechte Parteien haben ein Demonstrations-
recht, egal wie ich ihre Positionen finde. Schon deshalb
sollten Politiker nicht die gegen sie gerichteten Demos
für illegitim erklären. Viele Ostdeutsche wissen noch,
wie es war, als ihr Unmut und ihr Partizipations-
bedürfnis brutal unterdrückt wurden. Ich selber erin-
nere mich, wie 1989 in Weimar unsere Kirche wäh-
rend der Friedensgebete von Bereitschaftspolizei mit
Schäferhunden umstellt wurde. Gespenstisch!
ZEIT: Fürchten Sie sich nicht vor einer Eskalation der
aktuellen Proteste? Die AfD hat in Berlin gerade
10.000 Menschen hinter sich versammelt.
Lieberknecht: Nein. Der Thüringen-Monitor von
2021 besagt, dass 19 Prozent der Bevölkerung schon
einmal auf einer genehmigten Demo waren und 40
Prozent sich das vorstellen könnten; aber nur ein Pro-
zent hat auf einer Demo schon Gewalt angewendet,
und 96 Prozent lehnen Gewalt ab. Ich denke: Der
Deutsche an sich neigt nicht zur Revolution. 1989 war
eine Ausnahme. Ich warne aber vor einer Entfremdung
von Regierung und Volk. Wenn der Staat sich abschot-
tet, vertieft sich der Riss. Ich finde es falsch, alle De-
monstranten zu verdächtigen.
ZEIT: Sie haben von berechtigten Ängsten gesprochen.
Welche meinen Sie?
Lieberknecht: Angst vor Energiekrise, Teuerung, Fir-
menpleiten. Dem thüringischen Traditionsunterneh-
men Kahla ist gerade der Gaslieferant abhanden-
gekommen. Dennoch finde ich den Demo-Ruf, Nord
Stream in Betrieb zu nehmen, falsch. Auch hier muss
die Regierung ihr Handeln besser erklären.
ZEIT: Was hilft alles Erklären gegen Firmenpleiten?
Lieberknecht: Politiker müssen Lösungen aufzeigen,
aber auch zugeben, welche Härten sie nicht abwenden
können. Und sie sollten bedenken: 80 Prozent der Ost-
deutschen mussten sich nach der Wiedervereinigung
beruflich umorientieren, etliche fanden nie wieder Ar-
beit. Entsprechend groß ist jetzt die Angst.
ZEIT: Wie haben Sie ihnen das damals erklärt?
Lieberknecht: Ich habe unendlich viele Bürgersprech-
stunden gemacht und besonders Wütende zu mir ein-
geladen. Dadurch habe ich erst verstanden, welche
Nöte sich hinter der Fassade des Protestes auftürmten.
Ich kann der Politik nur raten, sich den Demos zu stellen
und sie nicht zu delegitimieren.
Jörg Uhle-Wettler, 57, am Dienstag im Magdeburger Dom
»Kein Vergleich mit 1989«
Jörg Uhle-Wettler ist Domprediger in Magdeburg. Er hat die zornigen
Ostdeutschen oft verteidigt, doch von dem Gebrüll ist er entsetzt
Eine DIE ZEIT: Herr Uhle-Wettler, erinnern die Demos in
Ostdeutschland Sie an die Friedliche Revolution? Es
Pfarrerin erschallt ja jetzt wieder der Ruf »Wir sind das Volk!«.
Jörg Uhle-Wettler: Um Himmels willen, nein! Ich war
und ein gestern auf dem Magdeburger Domplatz, also direkt
vor meiner Haustür, wo montags 18 Uhr die AfD de-
Pfarrer monstriert. Die rufen »Die Regierung muss weg!« –
erklären aber das kann man mit 1989 nicht vergleichen. Damals
ging es um Frieden und Freiheit, jetzt geht es um An-
die Proteste klage und Hass. Schon der Sound der Reden ist Angst-
mache. Also, es war unterirdisch.
im Osten ZEIT: Sie sind als Domprediger eigentlich nicht dafür
bekannt, Demonstrationen zu kritisieren. In der Corona-
DIE FRAGEN Zeit haben Sie sogar die Querdenker mit ihren Ängsten
STELLTE vor der Impfung verteidigt.
Uhle-Wettler: Ich sage immer: Die Straße gehört zur
EVELYN FINGER Demokratie! Aber was die AfD gestern geboten hat,
das ruiniert jede Protestkultur.
ZEIT: Die AfD hat in Sachsen-Anhalt bei der letzten
Wahl gut 20 Prozent der Stimmen geholt. Man könnte
sagen, sie vertritt halt ihre Wähler.
Uhle-Wettler: Aber nicht so! Ihr Auftreten ist einfach
manipulativ: Hetze, Geschrei, Drohungen. Die Redner
rufen zum Umsturz auf, nicht zum Diskurs. Es stimmt,
dass die AfD eine gewählte Partei ist. Deshalb haben
wir im Dom auch aufgehört, laut die Glocken zu läu-
ten, wenn sie sich auf dem Domplatz versammeln.
ZEIT: Nach dem, was Sie beschreiben, war es vielleicht
doch richtig.
Uhle-Wettler: Nein. Die Kirche darf Gespräche nicht
verhindern, sondern muss sie ermöglichen. Sonst ma-
chen wir uns gegenseitig nur noch nieder, weil wir un-
terschiedlicher Meinung sind. Das scheint mir seit der
Pandemie und erst recht seit Kriegsbeginn das größte
politische Problem. Alle die, deren Fragen allein schon
Gegen die als »rechts« abgestempelt werden, laufen in die Arme
Politik der AfD. Ich selber wurde auch schon als Putin-
der Regierung Versteher beschimpft.
mobilisierte die ZEIT: Wieso das, haben Sie den Krieg verharmlost?
AfD am letzten Uhle-Wettler: Natürlich nicht. Aber ich habe gesagt,
Wochenende in dass so ein Krieg eine Vorgeschichte hat, deshalb
Berlin 10.000 schrieb der MDR, ich sei von Putins Geist geleitet,
Demonstranten. nicht vom Heiligen Geist. Das hat mich geärgert, denn
Doch die meisten ich habe mich in der DDR ganz bewusst für ein Theo-
Proteste finden in logiestudium entschieden. Meinen Aufnäher »Schwer-
mittleren und ter zu Pflugscharen« besitze ich immer noch. Und
kleinen Städten 1989 als Gemeindepraktikant in Frankfurt an der
Ostdeutschlands Oder war ich auch bei den Friedensgebeten. Damals
statt. Dort gehen begeisterte uns Rolf Henrichs Buch Der vormund-
pro Woche mehrere schaftliche Staat, das vom Versagen des real existieren-
Zehntausend den Sozialismus handelte. Heute haben anscheinend
Menschen auf die auch im Westen immer mehr Leute einen Hang zum
Straße. Auch Bevormunden Andersdenkender. Darauf reagieren
Linkspartei und jetzt Demonstranten, indem sie skandieren »Frieden,
Gewerkschaften Freiheit, keine Diktatur!«.
rufen dazu auf. ZEIT: Die Bundesrepublik eine Diktatur zu nennen ist
Lesen Sie mehr ziemlich daneben. Einige Ostler haben offenbar ver-
zum Thema auf gessen, dass man früher für abweichende Meinungen
www.zeit.de/osten verhaftet werden konnte.
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Uhle-Wettler: Eben, und an einem der letzten Montage
wurde auch noch eine Reichskriegsflagge geschwenkt.
So etwas unterminiert den Sinn der Proteste. Wir ha-
ben noch eine zweite regelmäßige Demo, die am Alten
Markt startet und am Ende mit der AfD-Demo zu-
sammentrifft. Da kann ich als Pfarrer nicht mitgehen,
auch wenn ich manche Angst verstehe.
ZEIT: Welche denn zum Beispiel?
Uhle-Wettler: Vor allem Existenzangst. Der Osten hat
geringe Rücklagen, viele Händler leben von Monat zu
Monat, Handwerker bangen um Aufträge. Es vergeht
kein Tag, an dem ich das nicht höre. Das Vertrauen in
die Regierung ist weg. Die Leute klingeln an meiner
Tür, sprechen mich nach dem Gottesdienst an. Im
Dom haben wir seit dem Überfall Russlands auf die
Ukraine schon das siebte Gästebuch, darin stehen
lauter Bitten um Frieden, in allen Sprachen.
ZEIT: Finden Sie es nicht sehr unsolidarisch von den
Ostlern, dass sie die Ukraine alleinlassen wollen?
Uhle-Wettler: Mein Eindruck ist ein anderer. Ich höre
ständig: Die armen Ukrainer tun uns leid. – Aber viele
hier sehen die Ukraine als Spielball eines Konflikts
zwischen Russen und Amerikanern. Ich selbst bin ge-
gen Waffenlieferungen und darin mit unserem Landes-
bischof Friedrich Kramer, der auch Friedensbeauftrag-
ter der EKD ist, einig.
ZEIT: Und was sagen Sie den verzweifelten Ukrainern,
die um Waffen flehen?
Uhle-Wettler: Dass ich an keinen schnellen Sieg glau-
be, ranghohe Bundeswehroffiziere, die in den Dom
kommen, übrigens auch nicht. Es gibt noch andere
Mittel gegen den Krieg als den Krieg. Und man kann
immer verhandeln. Ich bin in neunter Generation
Pfarrer, komme aus einer Familie von Theologen und
Militärs. Einer meiner Onkel war Nato-General, er
sagte schon 1990, Konflikte würden künftig nicht
mehr mit konventionellen Waffen gelöst. Leider
scheint John F. Kennedys Warnung heute vergessen:
Eine Atommacht darf man nicht in die Ecke drängen!
Ich vermisse große Verhandler wie Egon Bahr. Und ich
finde, wer Waffen schickt, muss auch seine Söhne
schicken. In Magdeburg singt in dieser Woche Rein-
hard Mey, ich hoffe, er bringt das berühmte Lied: Nein,
meine Söhne geb ich nicht.
ZEIT: Sie beklagen, dass viele Leute jetzt so sehr auf
ihrer Meinung beharren. Beim Thema Ukraine schei-
nen Sie selbst aber auch sehr entschieden.
Uhle-Wettler: Ja, ich habe meine Meinung, trotzdem
will ich andere hören. Wir planen im Dom eine Ge-
sprächsreihe »Offenes Mikro«. Und ich gehe auch wie-
der auf den Domplatz, um die Demonstranten zu hö-
ren. Sie einfach nur als Pack zu beschimpfen ist falsch.
ZEIT: Und was predigen Sie in der Kirche?
Uhle-Wettler: Es gibt ja politische Akteure, die wün-
schen sich jetzt Chaos, Untergang, Katastrophe. Sie
sind gewaltbereit und brüllen die Hoffnung nieder.
Deshalb halte ich mich in meinen Predigten an Diet-
rich Bonhoeffer, der uns gelehrt hat: Optimismus
heißt, auch Rückschläge auszuhalten.
 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
MUSIK
Kontrabass an Oktopus
Athina Kontou spielt griechische Tänze und Lieder – mit ihrem Kölner Jazzquartett Mother. Mitreißend!
A
thina Kontou aus Köln, vormals Leipzig,
Weimar, Mainz, Hofheim, Dortmund,
Frankfurt am Main und immer wieder
Athen, hat jetzt dieses fantastische Album
namens Tzivaeri gemacht, auf der sie mit
Mother, ihrem deutschen Jazzquartett,
griechische Musik spielt. Melancholische
Lieder, jubelnde Tänze – ein süffiges Werk zwischen kultu-
reller Aneignung und musikalischer Migration.
Um darüber zu reden, hatte ich die Kontrabassistin für
den vergangenen Sonntag zum Essen eingeladen, und
zwar, so naheliegend wie bekloppt, »beim Griechen«, denn
was wäre typisch deutscher als eines jener griechischen
Restaurants, die es seit Jahrzehnten selbst in der kleinsten
Kleinstadt gibt?
Am frühen Nachmittag setzen wir uns also in Köln-
Klettenberg ins durchgehend geöffnete Sophias, in dem sie
noch nie war, weil sie in Deutschland nie griechisch essen
geht, und können schon bei der Lektüre der Speisekarte
feststellen, dass dieser Grieche, wie sie mit einem feinen
Lächeln sagt, »nicht so poseidontellermäßig« ist.
Berge von Fleisch, ein paar Ouzos hinterher, das ist es ja
sonst oft, und dazu läuft unter Fischernetzen vor Akropolis-
Tapeten die immergleiche Musik, Gyros und Sirtaki. Die
Wahrnehmung Griechenlands im deutschen Alltag: hinten
die Antike, vorne satt, und dazwischen irgendwie die
Eurokrise.
Athina Kontou, geboren 1978, wurde von ihren
griechischen Eltern – der Vater Psychoanalytiker, die Mutter
Soziologin – immer wieder umgezogen. Sie sagt, sie sei
wirklich zwischen Deutschland und Griechenland auf-
gewachsen. Ihrer Kindheit und Jugend verdankt sie die
Zweisprachigkeit und Beweglichkeit, dazu das hin und
wieder beklemmende Gefühl, keine klare Heimat zu haben.
»Beim Studium in Leipzig haben sie mich immer gefragt:
Na, fährst du im Sommer auch nach Hause?«
Nach Hause wohin?
Wir bestellen Chtapodi Sharas, »gegrillten Oktopus«, und
vorweg bitte Taramas, »Fischrogencreme vom Stockfisch mit
Zitrone, Olivenöl und pürierten Kartoffeln«, sowie Pantzaria,
»Rote-Beete-Salat mit Feta und Walnüssen«, deren Preise im
gedruckten Menü handschriftlich erhöht worden sind.
»So ist es jetzt überall«, seufzt Kontou, »nur bei unserer
Gage nicht.«
Das erste Stück auf Tzivaeri geht gleich richtig los, Fissa
psichi mou, zu Deutsch etwa »Atme, meine Seele«. Eine
euphorische Mittelmeerhymne, perlend, gleißend – so also
klingt Griechenland 2022, mitreißend!
»Ja, hm«, wendet sie ein, »das kenne ich von einer
griechischen Sängerin, ist aber von einem armenischen
Amerikaner komponiert«, sei also nur bedingt griechisch
und ursprünglich für eine Oud geschrieben. Die Oud ist
die Laute des Ostens, weshalb Lucas Leidinger, der Pianist
ihres Quartetts, sein Klavier präpariert hat, um den Ton
unreiner zu machen. Man hört es, klingt fast wie ein Cem-
balo. Mittendrin, bevor er sein Solo beginnt, zieht er die
Präparation wieder heraus, auch das ist zu hören.
So zeigt sich bereits nach wenigen Minuten, dass es
zwischen der schwungvoll-heiteren Oberfläche der Musik
und ihrer untergründigen Traurigkeit einiges zu hören gibt
an feinsinniger, dekontextualisierter Klangerzeugung. Mal
greift der Pianist zur Melodika, dem im jamaikanischen
Dub zu Ehren gekommenen Kinderzimmerinstrument;
mal lässt Luise Volkmann ihr Saxofon schreien, raspeln,
vibrieren, als wäre Pergament vor den Trichter gespannt.
Dominik Mahnig reibt seine Trommeln gelegentlich oder
versetzt die Becken in ein perkussives, dräuendes Schwe-
ben, wie in dem Liebeskummerlied Anixe giati den antecho,
zu Deutsch »Mach auf, weil ich es nicht ertragen kann«.
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59
VON ULRICH STOCK
Das Taramas zeigt sich roséfarben unter einem Krön-
chen aus Dill, ist leicht, nahezu fruchtig, schmeckt gut,
»richtig gut«, bekräftigt Kontou. Gleiches gilt für den
Rote-Beete-Salat. Dabei tue sich, sagt sie, die griechische
Küche in den nördlichen Breiten eher schwer, weil sie von
der archaischen Zubereitung guter Zutaten lebe. Woher
hier nehmen, die besonnten Tomaten?
Und wie hier sie spielen, »diese Musik, die mir so viel
bedeutet und die sogleich so entfernt von mir ist?« Acht
Jahre hat sie diese Frage beschäftigt, die Antwort auch oft
vor sich hergeschoben, eine Herzensangelegenheit, die
zum Knoten wurde. War sie denn überhaupt Griechin
genug? Und dann mit Deutschen?
Schließlich hat sie sich intuitiv von ihren Fesseln befreit
und die Musik gleich mit. Denn bei aller Ursprünglichkeit
und Intensität haftet der Folklore ja auch immer etwas
Starres an. Das Bodenständige kommt, wie es der Name
sagt, nicht vom Fleck. Da hilft der Jazz.
Zudem lässt sich die vermeintlich »griechische« Musik
als eine Verschmelzung vieler westwärts gewanderter Musi-
ken verstehen. Das Titelstück des Albums, Tzivaeri, geht
auf ein Klagelied von der Inselgruppe Dodekanes zurück,
in dem eine Mutter die durch Not erzwungene Migration
ihres Sohnes besingt. »Mein Schatz, die Fremde erfreut
sich jetzt an dir … Demütig und leise sind meine Schritte
auf der Erde.«
Das Wort Tzivaeri, zu Deutsch »Mein Juwel«, kennten
alle Griechen, sagt Kontou, aber nur aus diesem Lied. Der
Wortstamm gehe aufs Türkische zurück, vom Türkischen
aufs Arabische, vom Arabischen aufs Persische. »Dieses
Wandern der Lieder und Worte« habe sie fasziniert, und sie
setzt es nun fort.
Zugleich gibt es nach wie vor Ängste. Sie wuchern auf
der Rückseite der Vielfalt, genährt von Egoismen und Be-
sitzansprüchen, etwa wenn das Quartett Baiduska spielt,
einen thrakischen Volkstanz. »Thrakien zieht sich heute
über drei Staaten«, sagt Kontou. »Was sagen die Griechen,
die Bulgaren, die Türken dazu?«
Bis in die Instrumente hinein reicht der grenzüber-
greifende Zwist. Wenn Koray Berat Sari als Gast auf zwei
Stücken die Lavta spielt, ist dieses Instrument dann (und
für wen?) »die griechische Laute aus Istanbul« oder »die
türkische Laute«?
»Das ist dünnes Eis, wessen Laute«, sagt Athina Kontou.
Um ein internationales Publikum nicht zu brüskieren, hat
sie ihrem Album kein erklärendes Booklet mitgegeben. Je-
des Wort hätte ja falsch sein können.
Koray Berat Sari übrigens ist ein Kurde aus Düssel-
dorf, hat in Köln klassische Gitarre studiert und lebt in
Monheim am Rhein, noch ein Wanderer zwischen den
Welten, wie auch der zweite Gast auf dem Album, der in
Köln lebende Oud-Spieler Epaminondas Ladas, der bei
Harmandali, einem türkischen Volkstanz, das virtuose
Intro improvisiert.
Athina Kontou hat erst im Alter von 20 Jahren zu ihrem
Instrument gefunden und erst nach dem Studium der
Musikwissenschaft, Juristerei und Kulturanthropologie ihr
Foto: Victoria Jung für DIE ZEIT
Musikstudium begonnen, da war sie 28.
»Ich bin langsam«, sagt sie. So spielt sie auch gern. Auf
Stin archi ton tragoudion, dem zweiten Stück ihres erstaun-
lichen Debütalbums, stellt sie sich mit einem seelenvollen
Präludium vor. »Ich mag, wie der Kontrabass klingt. Man
sollte ihn nicht zu schnell spielen. Die Töne müssen Zeit
haben zu schwingen.«
Und da kommt der gegrillte Oktopus, bei dem sie sich
Athina Kontou, fotografiert nicht sicher war, ob ich den wohl mögen würde, »das Bein
vergangenen Samstag mit den Saugnäpfen dran«. Mmh, sehr gut.
vor einem Auftritt beim
Peng-Festival in Essen Athina Kontou: »Tzivaeri« (nwogrecords.bandcamp.com)
60
Fotos: Peter Rigaud/laif; Lena Giovanazzi/laif; Christoph Hardt/imago (v. l.); Illustration: Lucy Jones für DIE ZEIT
Lieder zum Durchleben, Durchstürmen,
Durchschweben
Wer süchtig ist nach Musik der Roman-
tik, der hat es gut erwischt. Keine Epoche
hat sich in der Geschichte der »klassi-
schen« Musik (die in Wahrheit wohl eher
eine Geschichte der romantischen Musik
ist) länger gehalten. Keine ist produktiver
gewesen – tatsächlich hat erst der Zweite
Weltkrieg dem musikalischen Seelen-
rausch, der um 1800 begann, endgültig
den Garaus gemacht. Die Süchtige hat
also reiche Auswahl. Dennoch muss sie
eines trüben Tages feststellen: Alles be-
kannt, alles ausprobiert, mit allem hun-
dertmal der Welt abhandengekommen,
keine neue bewusstseinserweiternde Dro-
ge mehr in Hörweite. Doch dann, in die-
sem Frühjahr, die Sensation: Es gibt etwas
zu entdecken! Lieder von Sergei Rachma-
ninow, nicht nur hierzulande sträflich
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HERBSTFESTSPIELE BADEN-BADEN
HENGELBROCK
UND CURRENTZIS
BADEN-BADEN
Großer Bahnhof für die italienische Oper
bei den Baden-Badener Herbstfestspielen:
Thomas Hengelbrock und seine Balthasar-
Neumann-Ensembles wenden sich der
»Cavalleria Rusticana« von Pietro Mascagni
zu und bringen damit nicht nur einen Opern-,
sondern auch einen Kinoklassiker mit. Das
berühmte Intermezzo diente einst Francis
Ford Coppola als Soundtrack für das dramati-
sche Ende zu »Der Pate III«. Thomas Hengel-
brock wird die Oper zweimal (11. und 13.11.) im
Konzert leiten, die Rolle der Santuzza über-
nimmt die Sopranistin Carolina López Moreno,
Giorgio Beruggi ist Turriddu. Fortgesetzt
werden die Festspiele nach einer Aufführung
der »Symphonie fantastique« (12.11./Dirigent:
Antonello Manacorda) von Hector Berlioz mit
Teodor Currentzis und seinem Ensemble
musicAeterna. Neben einem Überraschungs-
konzert steht Giuseppe Verdis »Messa da
Requiem« am 17. und 20. November.
Was hören Sie gerade?
unbekannt. Und nun das Glück, dass aus-
gerechnet die expressivste und innigkeits-
fähigste Sängerin unserer Zeit, die
Litauerin Asmik Grigorian, mit dem
ebenso fantastischen Pianisten Lukas Ge-
niušas eine (noch dazu klug komponier-
te!) Auswahl dieser Lieder eingespielt hat.
Ach was: Die beiden haben die
Rachmaninow-Lieder nicht »eingespielt«.
Sie durchleben, durchleiden, durchstür-
men, durchschweben sie. So zart, so un-
bändig, so verzweifelt, so tröstlich, dass
man in dankbarer Verzückung nur noch
eins möchte: versinken, ertrinken in die-
ser Musik.
Thea Dorn, 52, arbeitet als
Publizistin, Literaturkritikerin und
Fernsehmoderatorin in Berlin
KULTURHIGHLIGHTS
DUISBURG
Teodor Currentzis, Foto: ©Gyunai Musaeva
Thomas Hengelbrock,
Balthasar-Neumann-Ensembles,
Teodor Curre nt zis, Antone llo Manacorda u.v.a.
HERBSTFESTSPIELE BADEN-BADEN
www.festspielhaus.de
MUSIK 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
Electro aus
der weiten
Welt
Ich hänge immer Nichts für
noch an Spotify
Stromaes letztem
Gerade höre ich abends oft das Album
Album
Toast, das Neil Young aus seinem Archiv
hervorgeholt hat. Es ist unglaublich, wel-
»Multitude«, Im Scherzo che Wunderwerke dort lagern, weil er
nicht in der Stimmung war, sie zu veröf-
komme wieder einfach Jazz fentlichen, oder keine Zeit hatte oder was
weiß ich. 2001 aufgenommen, gegen Ende
der vorläufig vorletzten Hochphase seines
und wieder Das kam einer Offenbarung nahe, als die
Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko
Schaffens und seiner Zusammenarbeit mit
der Band Crazy Horse, findet Toast noch
darauf zurück. im Sommer Erwin Schulhoff spielten: Avant-
garde, die fast im Dunkel der Geschichte ver-
einmal eine andere Farbe der Traurigkeit:
nicht depressiv, nicht wütend, sondern
Es ist so loren gegangen wäre. 1894 in die große Auf-
bruchszeit geboren, griff Schulhoff alles auf,
lässig, mehr melancholisch, fast ergeben.
Und die Platte hat, obwohl oder weil die
was neu und hot war: Hot Music heißt ein meisten Stücke relativ ruhig sind, diesen
farbenfroh, Klavierstück, Schulhoff wurde Kommunist,
Dadaist, Jazzer, Radiomusiker. In der Sinfonie
einzigartigen, mächtigen, bis in den Bauch
wimmernden Crazy-Horse-Sound. Der
menschlich, Nr. 2 lässt er noch einmal eine helle Welt auf-
leben, Mozart-like, lichtes C-Dur, radiokom-
natürlich, das ist ja wohl klar, gute Boxen
voraussetzt und idealerweise Vinyl. Also
voller Humor, patibel, neoklassisch und im Scherzo einfach
Jazz. Eine souveräne Ironie. 1942 wurde der
nichts für Spotify, wo Neil Young ohnehin
nicht mehr zu finden ist. Die letzte Hoch-
mit der richtigen wegweisende deutsch-jüdisch-böhmische Kom-
ponist von den Nazis ermordet.
phase war übrigens 2012 mit Psychedelic
Pill und den nachfolgenden Tourneen. Al-
Dosis Hedwig Richter, 49, ist Historikerin und lehrt
bum für Album warten wir seitdem.
Frustration, an der Universität der Bundeswehr München Navid Kermani, 54, ist
Schriftsteller und Orientalist
die er so
verpackt, dass sie
Umsatzsteuer und
Spaß macht.
Bengalenfeuer
Und musikalisch
einfach Seit der Veröffentlichung im April höre ich
beinahe täglich die Single Alle Männer vom
umwerfend.
Hamburger Trio The Kings of Dubrock.
Obwohl es mehrere (bekannte) deutsche
Popstücke darüber gibt, habe ich bis dahin
Ein großer Wurf. keines gekannt, das das Konzept Männlich-
keit auf so harmonische, fast zärtliche Weise
auseinandernimmt, ohne es reflexartig und
Nina Hoss, 47, ist Schauspielerin. unkreativ als »toxisch« abzuheften: »In jeder
In »Tár« von Todd Field (Kinostart: Umsatzsteuer brennt ein Bengalenfeuer.«
Februar 2023) hat sie gerade eine Das Musikvideo zur Single ist mindestens
Geigerin gespielt genauso gut wie die Lyrics.
Carla Kaspari, 31, ist Schriftstellerin. Im
Sommer erschien ihr Debütroman »Freizeit«
bei Kiepenheuer & Witsch
DIE DUISBURGER PHILHARMONIKER IM KLASSIK FÜR HAMBURG
LIEBESZAUBER MEISTERPIANISTEN IN DER
LAEISZHALLE
HAMBURG
Generalmusikdirektor Axel Kober leitet im
Eine ganze Welt auf 88 Tasten: Die besten
3. Philharmonischen Konzert ein Programm, das
Pianistinnen und Pianisten finden sich im
furios zwischen Konzertsaal und Tanzboden
Großen Saal der Laeiszhalle ein, um das
changiert und dabei ganz unterschiedliche
gesamte Spektrum der Klaviermusik
Spielarten der klassischen Moderne vorstellt.
zu erkunden. Erleben Sie Igor Levit am
Solist im Posaunenkonzert des Franzosen Henri
7.12.und Víkingur Ólafsson am 8.12. oder
Tomasi ist Rocco Rescigno, Solo-Posaunist der
machen Sie Weihnachtswünsche wahr mit
Duisburger Philharmoniker. Von der dunkel
Konzertbesuchen bei Daniil Trifonov und
glühenden Leidenschaft des andalusischen
Hélène Grimaud.
Cante jondo war der Komponist Manuel de Falla
zeitlebens fasziniert. In seinem Ballett »Der
Liebeszauber« sind mehrere dieser Gesänge
in eine Orchesterpartitur eingewoben. Für die
Flamenco-Sängerin Marina Heredia, Artist in
Residence der Duisburger Philharmoniker,
bietet das Stück die Gelegenheit, die folklo-
ristische Basis der Musik freizulegen: »Das
klingt total anders, wenn es statt von einer
klassischen Sängerin von einer Flamenco- © Pablo Zamora | marinaheredia.com
Sängerin gesungen wird.« Beglückende © Felix Broede Sony Classical
09. November und 10. November 2022
Momente also für Künstler:innen und Publi- PHILHARMONIE MERCATORHALLE DUISBURG Saison 2022/23
jeweils um 19:30 Uhr Ticket s , Termine und Infos
kum garantiert!
K a r te n 1 0,0 0 -39,0 0 Eu ro, e r m . 5,5 0 -20,0 0 Eu ro zu allen Konzerten auf
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DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 MUSIK 61

Diese Frage haben wir Menschen gestellt, von denen wir

annehmen, dass Musik für sie so etwas wie ein Lebensmittel ist:
Nahrung, Trost, Genuss. Hier sind ihre Antworten

Gehechelt wie ein Abba – aber

4000-Meter-Lauf nicht wegen
Wir alle haben ein Album, auf das wir zurück-
Abba
greifen, wenn wir nicht wissen, worauf wir ge-
rade Lust haben. Meines sind die First Impressions
of Earth der Strokes von 2005. Auf die Rock-
’n’-Roll-Szene kamen die Strokes 2001 mit Is This Ich bin keine
It geschossen. Ich war damals 13, und ich bitte
um Privatsphäre in dieser Zeit meiner Musik- große
geschmacksentwicklung. 2005 war ich 18 und
wusste, was ich mag. Jeden Song auf First Im-
pressions of Earth zum Beispiel. Keine andere
Musikhörerin,
eher der
Fotos: Urban Zintel/laif; Henning Kretschmer/Agentur Focus; Daniel Hofer/laif (v. l.); Illustration Lucy Jones für DIE ZEIT

Band hat in den 2000ern junge Leute so geprägt,

die sich als Gegenentwurf zum Boyband-Pop
inszenierten: schwarze Lederjacken, leerer Ge-
sichtsausdruck, glasige Augen. Die Musik ist
Podcast-Typ, aber
hektisch, gehechelt, ein 4000-Meter-Lauf. Des
Sängers Songschreiber-Talent schwebt über je- ich habe mir Mit den Hosen
dem Lied. Überall angedeutete Melodien, die
gleich wieder zerschreddert werden. Texte über das neue aufstehen
das Verlorensein, Alleinsein in einer Menge
Gleichgesinnter. In einer Zeit, in der dem Rock Abba-Album
’n’ Roll zum 100. Mal der Tod erklärt wird, sind Mein aktueller Lieblingssong ist Eine gute
die Strokes die letzte verbliebene Rockband. besorgt. Weniger Nachricht von Danger Dan. Und mein
schönstes Live-Erlebnis der letzten Zeit war
Andrea Petković, 35, war Tennisprofi. Nun ist
sie Buchautorin und Kolumnistin
wegen Abba, das Konzert zum 40-jährigen Band-Jubiläum
der Toten Hosen in Berlin. Der Abend be-
sondern als gann mit der großartigen ukrainischen Band
Stoned Jesus, die unter denkbar schweren
Möglichkeit, mich Bedingungen angereist war. Beim fantasti-
schen Auftritt der Toten Hosen war mein

Musik, die man wieder mit persönlicher Höhepunkt der Song Steh auf,
wenn du am Boden bist. Dieses Lied gemein-

meinem jüngeren
sam mit 60.000 anderen Menschen zu er-
sehen muss leben – das war ein wundervolles Gefühl in
dieser Zeit sich überlagernder Krisen.

Zum ersten Mal nach mehr als zwei Jahren

Selbst zu Übrigens: Das gesamte Konzert war vorbild-
lich nachhaltig organisiert. Alles in allem ein
wieder ein Konzert und dann gleich eines,
das die Ohren flattern ließ: Rebecca Saun-
verbinden. perfekter Abend, von dem ich noch lange
zehren werde.
ders’ Wound, 40 Minuten für Soloensemble
und Orchester; Dieter Ammanns Boost und Lea Ypi, 43, ist Professorin für Claudia Roth, 67, ist Politikerin
Glut für Orchester und Pierre Boulez’ Messa-
gesquisse für Violoncello solo und sechs Vio-
Beethoven-Aufnahmen vergleichen – und politische Philosophie an der London
School of Economics
(Bündnis 90/Die Grünen) und seit 2021
Kulturstaatsministerin
loncelli: dirigiert von dem schlangenhaft-ge-
nialischen Jonathan Nott mit dem Orchestre
nach Helmut Lachenmann suchen
de la Suisse Romande und dem fabelhaften
Ensemble intercontemporain, ein Stifter- Ich höre Andreas Staier, den wunderbaren Vergleich zu den inzwischen historischen
konzert von der Siemens-Musikstiftung und Cembalisten und Fortepianisten, mit Beet- Aufnahmen des Alban Berg Quartetts.
musica viva. Belastet mit Krieg, Krisen und hoven-Einspielungen – sein »neuer Weg« als Immer entsteht etwas Neues aus dem Alten.
Krankheit hab ich das Prinzregententheater Beitrag zum Beethoven-Jahr. Darunter für Meine Neugier auf das ganz Neue, auf das,
in München betreten – glücklich und mit mich besonders eindrucksvoll: die Hammer- was Zeitgenossen komponieren, wird in
freiem Kopf habe ich es verlassen. Und mehr klaviersonate und – soeben wiederum bei Kürze wieder in Donaueschingen befriedigt
als glücklich war ich, als Herr Nott beim Ap- harmonia mundi erschienen – die Aufnah- werden. Aber es gab in diesem Jahr schon
plaus für Saunders auch den Akkordeonspie- me der beiden Cello-Sonaten op. 102, ge- großartiges Neues: die Uraufführung des
ler hervorhob, den ich die ganze Zeit über meinsam mit dem Cellisten Roel Dieltiens. neuen Streichtrios von Helmut Lachenmann
beobachtet hatte, wie er links hinterm Kla- Mir erschließt sich beim Hören dieser im Rahmen der Wittener Tage für neue
vier bemüht war, auch sein Instrument hör- Einspielungen ein neuer Zugang zu schon Kammermusik. Ein faszinierendes Alters-
bar werden zu lassen. Ich habe ihn deutlich Bekanntem. Neue Interpretationen, das werk des von mir hoch verehrten Kom-
gehört! Eines war mir auch klar: Diese Musik Vergleichen mit früheren Sichtweisen, ponisten. Leider nach vier Wochen aus
muss man sehen – dreimal im Jahr, dann ver- Spielweisen, das hat für mich einen beson- dem WDR-Konzertplayer verschwunden.
liert die Welt einen Teil ihres Schreckens. deren Reiz. So zum Beispiel Carlos Kleiber Warum, wohin?
mit Beethovens 4. Sinfonie im Vergleich
Michael Krüger, 78, ist Schriftsteller und zu neueren Aufnahmen. Oder Beethovens Gerhart Baum, 89, ist Politiker (FDP)
Verleger. Er hat fast dreißig Jahre lang Streichquartette mit dem jungen erfolg- und Jurist und war von 1978 bis 1982
den Hanser Verlag geleitet reichen französischen Quatuor Ébène im Bundesinnenminister

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62 MUSIK 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Er war kein Kissenaufschüttler

Carl Seemann – nie gehört? Auf 26 CDs, von Bach bis zur Moderne, lässt sich der legendäre Pianist jetzt wiederentdecken VON WOLFRAM GOERTZ

E
s ist ein Moment, da wird dem stieg, bekam das Publikum Lektionen in Genauigkeit Seemann verfuhr bisweilen ähnlich pointiert. Doch den Schlusssatz formt er großartig zum leisen

Illustration: Lucy Jones für DIE ZEIT; Foto: Ruth Wilhelmi

Hörer unerwartet ein Schlüssel zu
seiner Kindheit überreicht. Augen-
blicklich findet er sich im Jahr
1972 wieder. Damals knapp auf
dem Gymnasium, bekam er von
seiner Klavierlehrerin Stücke von
Béla Bartók verordnet, bezaubernde Winzlinge mit
eckigen Rhythmen und behutsam handgeschnitzten
Melodien. Gyermekeknek (»Für Kinder«) hieß der
Band im Original, das Kind liebte ihn, auch weil
Bartók mitunter ein knalliges Fortissimo verlangt.
Legaler Lärm im Reihenhaus – herrlich.
Es ist die zweite CD einer wundervollen Edition
der Deutschen Grammophon, die das Gedächtnis
unerwartet emotional anschubst. Sie bietet lauter
Stücke von Bartók, und was kommt am Schluss?
Der Zyklus Gyermekeknek. 50 Jahre nicht mehr
gehört, nicht mehr gespielt, greift er dem Hörer ans
Herz. Das Kind in ihm tastet in seiner Erinnerung
wieder Bartóks geheimnisvolle Folklore ab und hat
die tadelnde Stimme der Klavierlehrerin im Ohr:
»Nicht eilen, Wolfram!«
Der auf der Platte spielt, war selbst ein exzellenter
Pädagoge: Carl Seemann (1910–1983), der langjährige
Direktor der Freiburger Musikhochschule, dem die
DG nun eine Box mit 26 CDs widmet, fast ausschließ-
lich Aufnahmen aus den Fünfzigerjahren. In zahllosen
Meisterklassen hatte Seemann den Nachwuchs in der
Kunst der subtilen Durchdringung von Klavier-
literatur unterwiesen, und wenn er selbst aufs Podium
und Stilgefühl. Nie war er sich zu schade für die
Kunst der kleinen Dinge, wie die Box demonstriert:
für die besagten Bartók-Mikrokosmen, für die viel-
versprechenden Kleinen Präludien von Bach oder
für die zärtlich-fragilen Zwölf Variationen Mozarts.
In Beethovens Bagatellen entdeckte er das Hinter-
gründige. Debussys Children’s Corner interpretierte
er wie sein Zeitgenosse und Kollege Walter Gieseking
aus dem Geist lateinischer Klarheit. Viele empfanden
Carl Seemann damals, in den Fünfzigerjahren, als ihre
höchstpersönliche Referenzgröße, als pianistischen
Begleiter auf Augenhöhe – eine Berufsbeschreibung,
die der Künstler selbst vermutlich für zulässig ge-
halten hätte. Am liebsten widmete er sich den deut-
schen Klassikern; dem Nervenkitzel à la Liszt oder
Rachmaninow sollten sich andere aussetzen.
Gleichwohl war Seemann alles andere als ein
Leisetreter. Bei aller akademischen Sorgfalt, die er
der Musik angedeihen ließ, bei aller Liebe zu ge-
deckten Farben und einem eher defensiven Gestus
deutete er beispielsweise Brahms als Meister des
Abgründigen und Versponnenen. Brahms’ Fantasien
sind bei Seemann Nachtstücke im Sinne Schumanns,
die sich vehement gegen jede notarielle Beglaubi-
gung wehren. Wer ihn mit diesen Werken hört, wird
in eine herbstliche Welt der langen Schatten und
des diffusen Lichts entführt. In Seemanns Brahms
wird es früh dunkel. Man ist gezwungen, noch
schärfer zu hören. Das Kunststück liegt in der un-
spektakulären Art, in der Seemann hier einen Spät-
Der Kirchenmusiker, Pianist und
Pädagoge Carl Seemann (1910 – 1983)
romantiker und Klassizisten der gefährdeten Schön-
heit inszenierte. Auf diesem poetischen Niveau
haben das damals allenfalls Claudio Arrau und
Wilhelm Kempff gespielt.
Seemanns Bach wirkt dagegen erstaunlich hell-
hörig und erzählfreudig, ja raffiniert – und das
teilweise vor dem Jahr 1955, in dem der Kanadier
Glenn Gould dieser Musik in seiner Aufnahme der
Goldberg-Variationen angeblich als erster Groß-
pianist den polyphonen Erlebniskitzel entlockte.
Zwar war er gelernter Kirchenmusiker mit pro-
minenten Lehrern wie Karl Straube, Günther
Ramin oder Kurt Thomas; sie hüteten die
Leipziger Bach-DNA, der Seemann freilich
zuweilen Spurenelemente des Spekulativen bei-
mischte, etwa in der Chromatischen Fantasie und
Fuge d-Moll oder in einigen Episoden des
Notenbüchleins für Anna Magdalena Bach.
Mit Gould verbanden Seemann auch die Vor-
lieben im Repertoire. Einerseits fesselte er seine
Hörer mit einem schier expressiven, kaum je tiefen-
entspannten Haydn. Andererseits ging es über
Brahms direkt zu Hindemith, dem Seemann sich
wie Gould innig verbunden fühlte. Und dann hielt
er schützend die Hand über die Klaviermusik der
Moderne: die spektakulären Mouvements für Klavier
und Orchester von Wolfgang Fortner (eine
Entdeckung!), die rhetorisch gefeilten Römischen
Elegien von Giselher Klebe (mit Bernhard Minetti
als Sprecher) oder Karl Amadeus Hartmanns
düster-weltendliches Lamento auf Gedichte von
Andreas Gryphius.
Mit Goulds sarkastisch dekonstruiertem Mozart
aber hätte sich Seemann nie angefreundet. Mozart
verehrte er als unantastbaren Genius der Inspi-
ration, in dem sich das Licht aus Rokoko und
Hochklassik bündelte. In der a-Moll-Sonate KV 310
geht Seemann vielleicht etwas zu spät in die
Offensive, seine wesenhafte Unruhe treibt er dem
Kopfsatz aus, indem er ihn allzu bedächtig spielt.
Albtraum, gänzlich ohne Pedal, die Ausweichungen
nach A-Dur wirken wie trügerische Stimmungs-
aufheller, bis die Moll-Nervosität sich durchsetzt.
Seemann hasste die Bevormundung durch das
Starwesen, nie beanspruchte er Deutungshoheit.
Das zeigt sich besonders schön in den Platten, die
er mit dem Geiger Wolfgang Schneiderhan ein-
gespielt hat. Die beiden verstanden einander blind,
über viele Jahre waren sie ein herzlich funktio-
nierendes, integrales Team, in dem nicht einer den
Ornat trug und der andere die Kissen aufschüttelte.
Dass in Mozarts und Beethovens Sonaten das
Klavier und die Violine gleichberechtigt sind,
machen die beiden Künstler vorbildlich klar.
Dieses strukturelle Verständnis spürt man
gleich am Anfang von Beethovens Frühlings-
Sonate: Schneiderhan zieht sich in Takt 11, wenn
das Klavier das Thema übernimmt, auf diskretes
Dreiklangsgedudel zurück und lässt Seemann
den Vortritt. Der aber posaunt seine Melodie ge-
rade eben nicht heraus, sondern bleibt auf selbst-
bewusste Weise feinsinnig. Euphorie und Conte-
nance in Harmonie. So spielt einer, der nicht
Assistent oder Dackel ist, sondern der ideale Be-
gleiter – für die Komponisten, den Geigerkollegen
und uns, seine Hörer.
»The Complete Carl Seemann Edition
on Deutsche Grammophon«
(26 CDs, Deutsche Grammophon)

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Mazurkendämmerung
Volksmusik, die nach Hause will:
Krystian Zimerman legt uns das
Klavierwerk von Karol Szymanowski
Sie sind innovativer ans Herz VON FLORIAN EICHEL

als diese Headline?

Prima la musica , poi le parole? Seit Antonio Salieris
gleichnamigem Divertimento gibt es den ewigen
Widerstreit zwischen Wort und Ton. Dabei er-
innert sich die Welt an das geschriebene Wort in
der Regel leichter als an den geschriebenen Ton.
Der Deutsche Innovationspreis zeichnet zukunftsweisende Innovationskraft deutscher Unternehmen aus – Wird ein Komponist nicht mehr gespielt, stehen
und das bereits seit vierzehn Jahren. Sie haben mit Ihrem Unternehmen den Markt verändert? seine Chancen auf Wiederentdeckung ungleich
schlechter als die eines ungelesenen Autors. Gegen
Dann bewerben Sie sich jetzt für eine der folgenden Kategorien:
diese widrigen Umstände hat von jeher auch die
Musik Karol Szymanowskis zu kämpfen. Seine
• Großunternehmen • Mittelständische Unternehmen • Start-ups orchestralen Kompositionen finden in den
internationalen Repertoires nur wenig Beachtung,
Die Preisverleihung findet am das Klavierwerk des 1937 verstorbenen Polen wird
quasi ignoriert. Umso mehr überrascht das gerade
21.04.2023 im Kesselhaus in München statt.
erschienene Szymanowski-Album von Krystian
Zimerman: Mit seiner Einspielung votiert der
Ausnahmepianist ganz entschieden gegen das
Vergessen seines Landsmannes.
Fünf Jahre liegt es zurück, dass der jüngst mit
Jetzt dem japanischen Praemium Imperiale ausge-
bewerben zeichnete Zimerman ein Solo-Album eingespielt
hat. Der 65-Jährige, der 1975 als Gewinner des
Chopin-Wettbewerbs berühmt wurde, ist für
seine Kompromisslosigkeit geradezu berüchtigt.
Kaum fünfzig Konzerte gibt er jährlich; wird
der-deutsche-innovationspreis.de eines dieser seltenen Rezitale unerlaubt mit-
geschnitten, und er erfährt davon, bricht er es
vorzeitig ab. Der Lohn dieser Strenge: Wenn
Zimerman spielt, hört wirklich jeder hin. Ein
Glücksfall also für Szymanowski – und auch für
das Publikum. Denn der Querschnitt durch das
Piano-Œuvre dieses Spätimpressionisten restau-
riert eindrucksvoll eine nahezu vergessene
Unter der Schirmherrschaft des
Eine Initiative von melancholische Perspektive auf die Klaviermusik
nach 1900.
In alle dargebotenen Klangfarben mischt sich
auf diese Weise ein Abendrot. Szymanowskis
frühe Préludes kommen spätromantisch verzagt
daher, wie lange aus der Zeit gefallen, die
Mazurken aus seinem Alterswerk husten ihren
synkopierten Dreivierteltakt unter der Last eines
moribunden Impressionismus. Die klassische
Tonalität verwischt in dieser dämmernden
Musik: Anders als bei Zeitgenossen wie Skrjabin,
Strawinsky oder Bartók kehren die von
Szymanowski oft zitierten Volksmelodien nach
harmonischen Streifzügen stets wieder in ihre
Tonika-Heimat zurück. Eine ganz eigene Aus-
deutung der Moderne bekommt man hier zu
hören, und so wird man Szymanowski mit
Vergleichen kaum gerecht.
Am eindrucksvollsten zeigt sich diese Selbst-
ständigkeit im Herzstück des Albums, den
Variationen über ein polnisches Volksthema. Schon
die Exposition verhüllt das Thema mit einem
chromatischen Schleier und löst die Grenze
zwischen Melodie und Ornament auf. Üblicher-
weise reizt die Variationsform mit der wieder-
holten Verfremdung des Bekannten; bei Szyma-
nowski aber hört sich selbst das folkloristische
Leitthema wehmütig entrückt an. Kristallin tritt
das Thema erst in der achten Variation hervor,
wenn es als Trauermarsch zu Grabe getragen wird.
Zimerman – der das ganze Album über technisch
brilliert und musikalisch hochsensibel zu Werke
geht – besticht gerade in solchen Fortissimo-
Passagen mit seiner Anschlagskultur: Wohl kein
anderer Pianist der Gegenwart kann einen so
selbstbewussten, kompakten Ton formen, ohne
dabei ins Donnern zu verfallen.
So bleibt als einzige Gefahr für diese Wieder-
entdeckung Szymanowskis die hohe Messlatte,
welche Zimerman mit seiner Einspielung legt:
Nur wenige Interpreten werden sich wahrschein-
lich trauen, auf seinen genialen ersten Streich
einen zweiten folgen zu lassen.
Krystian Zimerman:
»Karol Szymanowski. Piano Works«
(Deutsche Grammophon)
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

ENTDECKEN

Küss die Wand?

Foto: Polly Verity für DIE ZEIT

Raufasertapete gilt als spießig, eine Erinnerung an den Mief der Vergangenheit. Der Versuch einer Ehrenrettung VON SARA GEISLER
64
Zu Hause strich ich andächtig über die Raufaser.
In welchem Wald die Fichte wohl mal gestanden hat?
N
Neben meinem Bett klafft eine Lücke. Sie ist so
breit wie ein Buch und so lang wie Günther
Jauch, 1,93 Meter. Wo jetzt nur noch nackte
Wand ist, war bis vor zwei Jahren Raufaser. Es
war der Tag meines Einzugs, und mich überkam
das dringende Verlangen, etwas gegen diesen
Wandbelag zu unternehmen.
»Hab gerade die Schlüssel bekommen und
weiß nicht, ob ich einfach über die Tapete drü-
berstreichen soll?«, whatsappte ich meiner Freun-
din Lilli. Dazu drei Fotos der Raufaser. Nach
fünf Minuten leuchtete das Display: »tapete ab«.
Seit ich zu Hause ausgezogen bin, habe ich
in etwa einem Dutzend Wohnungen gelebt,
allein oder mit anderen, in Berlin, in Wien, in
Winterthur. Wohin ich auch zog, ursprünglich
war fast immer Raufasertapete an der Wand:
weiß, strukturiert und, nun ja, rau. Meist hatte
schon jemand versucht, sie zu entfernen. Sogar
in der apathischsten WG kratzte sie früher oder
später einer ab: schwitzend, fluchend, manchmal
dauerte es drei Tage und Nächte.
Neu verputzen und streichen? Ehrensache,
zumindest in meinem Freundeskreis, Ende 20,
Anfang 30. Beim letzten Umzug aber, das erste
Mal allein mit dem Spachtel, überkamen mich
Zweifel: Warum noch mal fand ich die Raufaser
so furchtbar?
Ich holte eine Zweitmeinung ein, diesmal
von Lucas, einem Inneneinrichter. Keine Minu-
te verging, da vibrierte das Telefon: »Ich würde
Raufasertapete immer entfernen, weil die einfach
scheiße aussieht.« Nach ein paar Fetzen schmerz-
ten meine Arme. Ich beschloss, den Rest erst mal
kleben zu lassen.
Die Raufaser ist, gemessen an den Verkaufs-
zahlen, der beliebteste Wandbelag in Deutsch-
land. So stand es bis 2011 auf Wikipedia. Dann
strich ein anonymer Nutzer das Wort »belieb-
teste« und ersetzte es durch »am meisten ver-
breitete«. Erfunden hat die Raufasertapete, so
erfährt man in dem Artikel, 1864 ein Apotheker
namens Hugo Erfurt. Jemand mit einer IP-
Adresse in Halle ergänzte eines Nachts: »der
Huansohn«. Aus Wuppertal, wo Raufaser bis
heute produziert wird, machte jemand »Wup-
peranal«, aus dem Apotheker einen Sadomaso-
chisten. Der Vandalismus wurde behoben, die
Ressentiments aber sind geblieben.
Es sind vor allem die Jungen, die Alternativen
wollen: Mehr als tausend Heimwerker hat das
Marktforschungsinstitut Delphi jüngst gefragt,
ob es für sie infrage komme, bei künftigen Reno-
vierungen Raufaser zu tapezieren. In der Alters-
gruppe 46 bis 60 sagten 39 Prozent »Auf jeden
Fall«. Bei den 18- bis 29-Jährigen nicht mal die
Hälfte davon. Meine Generation fährt mit spit-
zen Fingern über die Raufaser. Nur warum?
Ich lief zum nächstgelegenen Baumarkt, Berlin
Hermannplatz, um am Raufaser-Regal zu recher-
chieren. Rund sechs Meter Regalware standen zur
Auswahl. Darunter auch die Erfurt Classico, die
an meinen Wänden klebt: 7,25 Euro pro Rolle.
Damit könnte ich das Loch neben dem Bett 10-
mal flicken, rechnete ich aus. Deutlich teurer da-
gegen die Fototapete, über die sich gerade eine
Mutter und eine Tochter beugten: 89 Euro.
»Vielleicht einen Dschungel für meine
Küche?«, sagte die Tochter, die einen Tiger-
schal trug. Die Mutter sagte nichts, sondern
lutschte ein Lutschbonbon.
»Nehmen Sie doch eine Raufaser«, warf ich
ein.
Die beiden schauten mich interessiert an.
»Boah neee«, sagte die Tochter.
»Ich find die ja klasse«, sagte die Mutter.
»Nicht so kalt.«
Tatsächlich fühlt sich jede Wand ein Stück
wärmer an, wenn auf ihr Raufaser klebt. Glatte
Flächen wie Putz oder Stein geben die Außen-
temperatur – in unseren Breitengraden meistens
kalt – schneller weiter. Ein Grund, warum in
Norddeutschland die Raufaser sehr viel populä-
rer ist als etwa in Italien.
Abgesehen von der Dämmwirkung ist Rau-
faser aber nicht gleich Raufaser. Es gibt sie in
unterschiedlichsten Rauigkeitsgraden, von Korn-
größe 10 (sandfein) bis Korngröße 80 (grob).
Beim Korn handelt es sich eigentlich um Späne:
Fichte, hauptsächlich aus Niedersachsen, die bei
der sogenannten Durchforstung gefällt wird. Für
die Möbelindustrie kommen schwächliche
Bäume nicht infrage. Für eine Raufasertapete
reicht’s. Kantig und unterschiedlich groß wird
das Holz für das Modell Classico gehäckselt, mal
zarte Nadeln, mal ein halber Ast. Stets kompakt
sind die Späne bei der Raufaser Rustic; zart wie
Grieß bei der Sprint und kubisch-quadratisch
bei der Avantgarde. Alle diese Modelle sind aus
Recyclingpapier und frei von PVC und Weich-
machern. Und vom selben Fabrikanten sind sie
auch: Das Unternehmen Erfurt (nicht die Stadt!)
dominiert den Raufasermarkt in Deutschland
und auch, so munkelt man, weltweit.
Warum die Raufaser in meiner Generation
so unbeliebt ist, verstand ich noch immer nicht
ganz. Ein Regal weiter wartete eine Theorie.
Bei den Effekttapeten telefonierte ein Mann
in Hoodie und Jogginghose, auf beiden stand
»Thug Life«.
»Daniel, what you think of this?«, fragte er
in sein Smartphone hinein. Die Kamera hielt
er auf die Tapete »Goldregen«.
Daniel war offenbar ein paar Momente ratlos,
also bot ich meine Hilfe an. Warum lieber diese
schwarz-goldene Tapete als eine wohngesun-
de Raufaser?
Der Hoodie-Mann nahm seine Kopf-
hörer nicht ab, sondern schob sie wie Scheu-
klappen in die Stirn. »Deine Tapete da«,
sagte er tiefenentspannt und zeigte rüber zur
Classico, »sie ist Standardausstattung. That’s
why people don’t want it no more.«
Der Hoodie-Mann, der eigentlich Be-
lieve heißt, wie er sagte, entpuppte sich als
Experte, der schon sehr viel mehr Woh-
nungen gesehen hatte als ich. »Weißt du,
ich arbeite auf der Baustelle.« Believe
zeigte ein Foto von sich, Helm auf dem
Kopf, Gasbrenner in der Hand.
»Wenn Leute in eine Wohnung ziehen,
ist die Raufaser schon da«, sagte er. »Wollen
sie irgendwann was Eigenes, ersetzen sie die
natürlich mit was anderem.«
Viele Vermieter, erfuhr ich später vom
Mieterverein, schrieben früher sogar in
ihre Verträge: zu übergeben in Raufaser,
weiß gestrichen. Ein übrigens unwirksa-
mer Teil der Schönheitsreparaturklausel.
Er sollte sicherstellen, dass neue Mieter
möglichst neutrale Wände vorfinden.
Warum es unbedingt Raufaser sein muss-
te, wusste der Mieterverein nicht gesichert
zu berichten: »Vermutlich wegen der
Möglichkeit des Mehrfachstreichens.«
Zurück zu Hause, strich ich andächtig
über die Raufaser. In welchem Wald die
Fichte wohl mal gestanden, wie viele Mieter
sie schon gewärmt hatte? Wohin meine
Hand auch wanderte, nie wiederholte sich
das Muster. Hier und da kumulierten die
Erhebungen zu Dörfern, zwei, drei Zenti-
meter breit, so oft waren sie überstrichen
worden. Einen kurzen Moment dachte ich
an Magnum-Eis, weiße Schoko, Mandel-
splitter. Dann wieder an Erbrochenes.
Bis in die Zwanzigerjahre des vergan-
genen Jahrhunderts prangten Muster und
Farben in den Häusern. Über die Tapete
seines Pariser Hotelzimmers sagte Oscar
Wilde: »Wir kämpfen ein Todesduell.
Entweder sie muss gehen oder ich.« Es
war das Jahr 1900. Er verstarb noch am
selben Tag. Bald darauf kam die soge-
nannte Neue Sachlichkeit und befreite die
Wände von Rauten und Ranken. Ihre
Vertreter, in Frankreich vor allem Le Corbu-
sier, in Deutschland das Bauhaus, läuteten die
»weiße Moderne« ein: Farbe war plötzlich
spießig und Raufaser schick. Mies van der
Rohe ließ die Neue Nationalgalerie in Berlin
damit tapezieren, eine Ikone der Moderne. Sie
wurde jüngst in alle Teile zerlegt und für 140
Millionen Euro wieder zusammengesetzt. Das
Motto der Sanierung: »So viel Mies wie mög-
lich«. Nur eines haben die Architekten nicht
wieder instand gesetzt.
»Herr Schwarz, was finden Sie hieran denn
so schlimm?«, fragte ich und schob Muster-
blätter in Körnung 10, 52 und 80 über den Kon-
ferenztisch.
Alexander Schwarz ist Partner und Design
Director bei Chipperfield in Berlin-Mitte, jenem
Architekturbüro, das mit der Sanierung der
Neuen Nationalgalerie beauftragt wurde.
»Nichts. In meiner Wohnung in Charlot-
tenburg habe ich auch Raufaser.«
»Bitte was?«
»Rein ästhetisch ist an der Raufaser nichts
auszusetzen«, sagte Schwarz. »Sie entspricht dem
Bauhaus-Gedanken: schlicht und integer. Man
kriegt eine ruhige Oberfläche hin und kann sie
überstreichen. Deshalb wäre es erst mal richtig
gewesen, sie zu behalten.«
»Und warum hängt die Kunst dann jetzt
auf Putz?«, fragte ich.
»Weil sich Udo Kittelmann um den Flair
sorgte, was ja auch nicht ganz von der Hand
zu weisen ist.«
ENTDECKEN
Udo Kittelmann hat bis 2020 die Neue Na-
tionalgalerie geleitet. Teppich und Tapete, kriti-
sierte der damalige Direktor, gäben jedem Kunst-
werk einen Sechzigerjahre-Beigeschmack.
»Beim Teppichboden konnten wir uns
durchsetzen, der war dezidiert Mies’ Wille.
Bei der Raufaser haben wir dann eingelenkt«,
sagte Schwarz. »Aber nicht ganz.«
Tags darauf lief ich in den Bauch der
Neuen Nationalgalerie, tiefer und tiefer, bis
ich im Empfangsraum der Direktion stand,
einem prächtigen Vorzimmer, und staunte.
Dort, verborgen, fand ich nicht die feine Sor-
te, nein, die Sorte Rindenmulch.
Schwarz hatte gemutmaßt, seine Generation
verbinde mit der Tapete spießige Zeiten und in
der Jugend gesammelte Defizite. Der Mief der
Vergangenheit, wird er vielleicht vererbt?
Vielleicht musste ich mal dahin, wo die Rau-
faser herkommt.
Die Altpapierstapel draußen waren hoch
wie Bungalows, die Kessel drinnen tief wie
Pools. Und das Wasser fließt nicht aus dem
Die Raufaser. Ihr größter Fan: Bernd das Brot
Hahn, sondern direkt aus der Wupper. »Halt
wie Pappmaschee machen, nur in groß«, sagte
Janosch Muschick.
Muschick ist Innovationsmanager bei Erfurt
in Wuppertal – dem größten und inzwischen
auch einzigen Raufaserhersteller Deutschlands.
Gerade optimierte Muschick das Abrollgerät für
die sogenannte Giga-Rolle. Mit ihr tapeziert es
sich nahtlos: nicht vertikal, sondern horizontal.
Außerdem neu: die Produktfamilie Juicywalls
– individueller Digitaldruck auf Tapete. Theo-
retisch ließe sich jede Malerei an die Wand
kleben. Die Kunden aber würden fast alle nur
Postkartenmotive bestellen, sagte Muschick.
Komplette Enttäuschung.
Ich fragte nach der Papiermaschine – schon
warf er mir eine Warnweste zu. Ab ins Werk.
Brei strömte auf monströse Siebe. Ein Krake
verstreute Späne. Riesige Walzen pressten drei
Schichten Papier und buken sie zu einer. Die
Rolle am Ende glich einem Tunnelbohrer: 13
Kilometer Erfurt Classico 52. Allmächtiger!
Auf dem Weg zur Geschäftsleitung pas-
sierten wir sehr, sehr viele Türen. Hinter jeder
Tür eine andere Struktur: Risottokörnung,
Wattwurmlook, Eisengitter, Korbgeflecht.
»Ihre Topografien werfen Schatten und
eine Art Grauschleier auf alle Farben«, erklär-
te Muschick.
»Schön«, sagte ich.
»Jetzt schau mal«, sagte Muschick.
Tatsächlich kamen die Bilder, die auf den
Tapeten hingen, exzellent zur Geltung. Für
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
manche Fragen muss man Anlauf nehmen. Sie klagten über die DIN-Norm, laut der die
Da war der lange Gang zur Chefin ideal. Raufaser gar keine Tapete ist, sondern ein
»Frau Erfurt, Ihr Produkt ist nachhaltig, Halbprodukt: Sie muss noch überstrichen
schlicht und funktional. Warum hassen es die werden, sonst vergilbt sie. Sie schimpften ein
Leute so?« bisschen über den Verband der Deutschen
Felicitas Erfurt-Gordon ist die Ururenke- Tapetenindustrie, mit dem Erfurt im Clinch
lin von Hugo, dem »Huansohn«, Erfurt. Zu- sei, und zwar aus diesem Grund: Ist die Rau-
sammen mit ihrem Vater und dessen Vetter faser erst mal an der Wand, kaufen Kunden
leitet sie die Erfurt & Sohn KG. lange keine andere Tapete mehr. Wird ihnen
»Wenn man sich die Präsenz im Baumarkt langweilig, streichen sie einfach farbig drüber.
ansieht, dann kann es so schlimm nicht sein«, Nach einigem Ärger in der Vergangenheit, so
sagte sie. wurde es mir geschildert, ist Erfurt aus dem
Ich hob die Brauen. Verband ausgetreten.
»Ja gut, wir können es jedenfalls nicht Jetzt oder nie, dachte ich und drehte mich
nachvollziehen. Die Raufaser ist immer noch zu Henrik Erfurt.
unser Produkt Nummer eins.« »Die Raufaser ist nachhaltig und funktio-
Wir saßen in einem halb getäfelten, halb nal«, sagte ich. »Einige Leute aber, die, die
tapezierten Raum, gleich alt, gleich blond, nur haben eine Art ...«
dass sie 400 Mitarbeiter unter sich hat und sie- »Aversion«, sagte er.
ben Generationen im Rücken. Wir gingen die »Genau!«, sagte ich etwas zu euphorisch.
Ahnengalerie durch. »Um an dieser Wand zu Herr Erfurt hatte eine Idee, warum. Nach
hängen, muss man schon tot sein«, erklärte sie dem Krieg, erzählte er, da waren die Wände
die Tatsache, dass es kein Gemälde von ihr gab. krumm und die Baustoffe knapp. Fast um-
sonst dagegen waren Arbeitskraft und
Raufaser. Mit ihrer amorphen Struktur sei
die Tapete ein Allheilmittel gewesen,
kaschierend, egalisierend. Und jeder Hand-
werker kriegte sie »wuppwuppwupp« an
die Wand. Genau daher komme vielleicht
auch die Abneigung: »Die Raufaser ver-
zeiht alles und kostet wenig.«
Zurück in meiner Einzimmerwoh-
nung, lief ich mal hierhin, mal dorthin.
Über dem Waschbecken schlug das Halb-
produkt Blasen. Seine Nähte traten teils
narbig hervor, teils öffneten sie vertikale
Taschen. Und da, wo der Fahrradlenker
entlanggeschrammt war, standen die Späne
wie Splitter von der Wand. Mag sein, dass
die Raufaser einst Unebenheiten homo-
genisiert hat. In zweiter oder dritter Ge-
neration aber bröckelt sie wie billiges
Make-up von unreiner Haut. Ist die Rau-
faser die Manifestation der Genügsam-
keit? Eine magere Theorie.
Die Kopfstandtechnik geht so: Statt an
einer Frage zu verzweifeln, sagen wir, dem
Quell einer Abneigung, dreht man den
Spieß um und überlegt: Was ist an einer
Sache besonders toll?
Den größten Raufaserfan zu finden
war einfach. Er spricht ständig im Fern-
sehen von ihr. Er posiert mit Tapete. Ein-
mal hat er eine ganze Sendung über sie
gemacht. Ich schrieb also dem Kinder-
sender Kika, Sitz in, hoppla, Erfurt, und
ließ mir seinen Kontakt geben.
»Herr Brot, Sie gelten als größter Rau-
faserfan Deutschlands. Was lieben Sie so
an ihr?«
Bernd das Brot: »Sie ist angenehm
langweilig und größtenteils ereignislos.«
Bernd das Brot, sollte es irgendwer
Foto: Philotheus Nisch für DIE ZEIT
nicht wissen, ist ein sprechendes Kasten-
brot mit extrem kurzen Armen, eine Fi-
gur wie aus der Muppet Show, erfunden
von Tommy Krappweis. Die Hände
wachsen ihm direkt aus dem Laib. In vie-
lerlei Hinsicht verkörpert er Deutschsein:
Er ist mürrisch und fatalistisch, 2004 hat
er den Grimme-Preis gewonnen und sich
selbst darüber empört. Erst waren wir
zum Zoomen verabredet. Aber dann sagte
er kurzfristig ab, kein Bock, und bestand
In Öl sieht der Erfinder der Raufaser, ich darauf, zu chatten.
erfinde nichts, wie Bill Murray aus. Eigentlich »Eine grob verputzte und gestrichene
wollte er französisches Velourspapier imitieren, Wand ist auch langweilig. Wäre das keine
erzählte Erfurt-Gordon: angenehm samtig, aber Alternative?«
schmerzhaft teuer. Herausgekommen ist die Bernd das Brot: »Nicht, wenn man sie erst
Raufaser. Anfangs tapezierte man mit ihr aller- grob verputzen und dann streichen muss. Ich
dings nicht Wohnungen, sondern dekorierte fand die Raufaser beim Einzug vor und habe
Schaufenster. Plötzlich schwang die Tür auf, und mich schnell daran gewöhnt. Die Gewöh-
Felicitas Erfurt-Gordon atmete tief ein. nung wich irgendwann einer gewissen Be-
Ein Herr mittleren Alters, Wollcardigan, geisterung für die vielen Details, die es zu
braune Segelschuhe, reichte seine Visitenkarte. entdecken gibt – bei gleichzeitig nach wie vor
»Henrik Erfurt«, las ich vor. »Ist die aus hohem Langweiligkeitsgrad. Das kann nur
Raufaser?« die Raufaser.«
»Selbstverständlich«, sagte Henrik Erfurt. »Ihre Raufaser anzustarren und die Popel
Er hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. zu zählen gehört zu Ihren größten Hobbys.
Normalerweise spricht Felicitas’ Vater Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?«
Martin mit den Medien, aber der war krank. Bernd das Brot: »Popel? Das ist degoutant!
Henrik ist ihr Onkel. Vielleicht auch Groß- Und ich zähle das Muster nicht, ich lerne es aus-
cousin? wendig. Dabei geht mir ansonsten nichts durch
»Vom Prinzip her waren diese beiden hier den Kopf, und genau das schätze ich so daran.«
Brüder ...«, brummte Herr Erfurt und zeigte Ich schloss den Laptop und fixierte die
auf zwei Porträts. Wand.
»... und das ist der Vater von ihm ...«, grü- Das Brot hatte mich weitergebracht. Ich
belte Felicitas. dachte: Wenn Raufaser Wandbelag gewordene
»... und dann kam ... dein Ur... nee, warte Langeweile ist, sollte man sie dann bekämp-
mal.« fen? War es nicht Walter Benjamin, der die
Jedenfalls werde die Firma bald 200, sagte Langeweile einen »Traumvogel« genannt
Herr Erfurt. hatte, »der das Ei der Erfahrung ausbrütet«?
Die beiden erzählten vom ersten Raufaser- Nicht weniger sei sie als die Schwelle zu
boom in den Zwanzigern (aufkommendes großen Taten. Man muss sie nur aushalten
Bauhaus), dem zweiten nach dem Krieg, dem können.
dritten in den Sechzigern (aufkommende
Baumärkte) und dem vierten nach der Wende. ! www.zeit.de/vorgelesen
 ENTDECKEN 65

RICHTIG GUTE LEUTE

Anna Mayr entdeckt:

Selbstermahnungskosten
Natürlich wäre es gut, wenn man seine Rechnungen pünktlich
bezahlen würde. Aber was, wenn das eigene Gehirn das verhindert?

V
or zwei Monaten habe ich dieser Gruppe gehöre ich. Ich bekomme 29,98-Euro-Karte längst wieder weg-
ein Buch bestellt, auf der mein Gehirn einfach nicht dazu, meine gedreht.
Website eines Verlags. Das Hände dahingehend zu kontrollieren, Mit der Zeit lernt man, besser auf
Buch kam bei mir zu Hau- dass sie die Banking-App öffnen und sich selbst aufzupassen. Ich bestelle nur
se an, ich habe es gelesen, Rechnungen bezahlen. Oder Abos kün- in Ausnahmen auf Rechnung und ver-
ein paar Post-its reingeklebt, Sätze mit digen. Oder Reisekostenabrechnungen suche, so wenig Papierkram wie möglich
Textmarker angestrichen. Das Buch machen. Oder meine Versicherungs- in mein Leben zu lassen. Es gibt sogar
ist eindeutig meins. unterlagen abheften. Mein Gehirn in- Momente, in denen mir diese Dinge auf
Vor zwei Wochen habe ich eine teressiert sich stattdessen für Unsinn. Es eine Art Spaß machen. Aber die sind rar.
Mahnung per Mail bekommen. Darin will Wikipedia-Artikel lesen oder Kon- Und es ist nicht kontrollierbar, wann sie
stand, dass dies bereits die zweite Mah- flikte mit Leuten noch einmal durch- auftreten. Meine Vergesslichkeit ist nicht
nung sei und dass ich dem Verlag in- arbeiten, zu denen ich längst keinen emotional begründet, sie ist eher kör-

Foto: Marina Hoppmann für DIE ZEIT

zwischen 29,98 Euro schulden würde, Kontakt mehr habe. perlich; zwischen dem, was ich tun
worin fünf Euro Mahngebühr enthalten Natürlich weiß ich, dass es mir besser wollen würde, und dem, woran ich
seien. Das Buch gehört mir also offenbar ginge, wenn ich Rechnungen pünktlich denke, ist eine Verbindung gekappt oder
gar nicht. Das war mir entfallen. Ich bezahlen würde. Denn es ist ja viel an- nie hergestellt worden.
habe die Mahnungs-Mail in meinem genehmer, eine Handlung abzuschlie- Die jungen Leute, denken Sie jetzt.
Postfach oben angepinnt, sie begrüßt ßen, anstatt wochenlang immer wieder Wenn wir damals unsere Rechnungen
mich jeden Morgen, ZAHLUNGS- daran zu denken, dass man diese Hand- nicht gezahlt hätten, dann hätte es aber
ERINNERUNG steht da, und ab und lung abschließen müssen wird. Die was gesetzt. Diese Mayr, denken Sie,
zu denke ich an sie: Ach, Mensch, das Liste der unerledigten Dinge ist wie ein müsste sich nur mal selbst so richtig auf
musst du erledigen. Aber dann bezahle Rolodex, der sich in meinem Kopf per- die Finger hauen.
ich sie nicht. Es ist mir nicht möglich. manent dreht und immer für ein paar Darüber hatte ich auch schon nach-
Nach allem, was ich weiß, gibt es
zwei Typen von Menschen auf der Welt:
Minuten etwas anderes anzeigt. Jetzt
gerade fällt mir zum Beispiel ein, dass
gedacht. Eine Freundin erzählte mir von
einem System, bei dem man sich selbst
In dieser Woche freuen wir uns über: Maryam Keyhani
erstens die, die ihr Gehirn unter Kon- ich noch ein Kautionskonto bei der Strafzahlungen verordnet. Man nimmt
trolle haben. Diese Menschen tun im- Sparda-Bank habe, auf das ich seit drei sich zum Beispiel vor, seine Steuer zu Kürzlich stand ich mit meinem Mann, unseren Kindern und mit mussten. Wenn ich die Bilder der jungen Menschen, der jungen
mer genau die Dinge, die sie wollen. Sie Jahren nicht zugreifen kann, weil mir machen. Wenn man das nicht schafft, Freunden auf dem Markt in der Berliner Kollwitzstraße. Es war Frauen sehe, die dort für ihre Rechte und Freiheiten kämpfen,
nehmen sich vor, eine Rechnung zu ein Zettel fehlt, um den ich mich küm- verpflichtet man sich, einen hohen Be- ein ganz strahlender Tag, und ich schaute mich um und hatte erfüllt mich das mit Bewunderung und einem Gefühl der Hilf-
bezahlen – und bezahlen sie. Sie schrei- mern müsste. Tja. trag an eine Organisation zu überweisen, einen dieser seltenen Momente, in denen mir bewusst wird, wie losigkeit. Ich würde so gern unterstützen und weiß doch nicht,
ben sich in den Kalender, dass sie jeman- Jedes Mal, wenn ich mir vorgenom- die man schrecklich findet. Das ist ge- unglaublich das alles ist, was für ein wundervolles, friedliches, wie, außer indem ich im Netz meine Solidarität bekunde. Und ich
den anrufen wollen – und rufen den- men hatte, die 29,98 Euro zu bezahlen, nial, denn natürlich lernt man aus unerhört glückliches Leben wir in dieser Stadt leben dürfen, weiß nicht, ob ich selbst, als Mutter zweier Kinder, so mutig wäre
jenigen an. Sie wollen eine wichtige Mail kam etwas anderes dazwischen. Mir fiel Schmerzen am besten. Nur würde es in während es an so vielen Orten auf der Welt gerade so ungleich wie diese Leute und auf der Straße mein Leben riskieren würde.
verschicken – und verschicken sie. zum Beispiel ein, dass ich sehr durstig meinem Fall nichts bringen. Denn ich unruhiger läuft. Manchmal finde ich das alles zu viel. Familie, Beruf, Sozial-
Zweitens gibt es die Menschen, de- bin. Dann trank ich Wasser. Wenn ich würde mit Sicherheit vergessen, den Ich bin im Iran geboren und habe die ersten Jahre meiner leben, Weltgeschehen – es kann überwältigend sein. Dann frage
ren Gehirn sie unter Kontrolle hat. Zu damit fertig war, hatte der Rolodex die Strafbetrag zu überweisen. Kindheit noch dort verbracht, bevor wir das Land verlassen ich mich: Ist mein Leben so voll? Oder ist die Zeit so verrückt?

Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz und Anna Mayr Maryam Keyhani, 41, ist Künstlerin und lebt in Berlin. Protokoll: Alard von Kittlitz

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Den Videomitschnitt zur Veranstaltung finden Sie unter: https://www.zeit.de/video/videos-zeit-veranstaltungen

DOCTOR Sprechstunde
junge Menschen sich aufgeben«. Das steigenden Inflation führe beson- Drei Fragen an PD Dr. med.
Fotos: © Phil Dera für DIE ZEIT

Foto: © Laurence Chaperon

Problem: Die Wartezeit auf einen
Psychotherapieplatz hat sich in-
zwischen verdoppelt. »Im ländlichen
Gebiet muss man heute mit zwei Jah-
ren rechnen«, sagt Schmitz, der sich
für die Einrichtung eines nationalen
Expert:innenrats ausspricht und für
einen Perspektivwechsel plädiert:
»Wir sollten das Narrativ aus Pan-
demiezeiten, man müsse nur die
Schulen offenhalten, und dann wird
alles wieder gut, hinter uns las-
Politik trifft auf Praxis: Sarah Lahrkamp (SPD) (l.) diskutierte mit dem Kinder- und Jugendpsychologen
sen.« Zudem sei zu berücksich-
Julian Schmitz (m.) sowie dem ehemaligen bayerischen Landesschülersprecher Haram Dar (r.). tigen, so Schmitz, dass Kinder und
Jugendliche aus sozial schwachen
ders in prekären Verhältnissen zu
massiven Zukunftsängsten. Um die
ökonomische Situation von Familien
zu verbessern, nannte die Politike-
rin die Kindergrundsicherung ein
effektives Präventionsinstrument:
ein Projekt der Ampelkoalition, das
einen Basis- und einen einkommens-
abhängigen Zusatzbetrag für jedes
Kind vorsieht.
Und wie können Eltern und Schu-
len für mehr Resilienz der Kinder
sorgen? Vor allem, indem sie sich als
wichtige Ressource begreifen und
stets miteinander im Gespräch blei-
Ralf Suhr, Vorstands-
vorsitzender der Stiftung
Gesundheitswissen
Auf welchen Feldern besteht
noch Aufklärungsbedarf,
wenn es um psychische
Erkrankungen – nicht zuletzt
junger Menschen – geht?
Es ist wichtig, die Gesundheits- dabei hilft, relevantes Wissen für
kompetenz aller Menschen zu stär- die eigene Gesundheit einzusetzen.
ken. Auch in Hinblick auf psychische Aktuell arbeiten wir an einem um-
Erkrankungen hat Deutschland Auf- fangreichen Präventionsangebot
holbedarf. Wenn wir der Zunahme für Schulen zum Thema psychische

»Haben Sie immer ein

Familien drei- bis viermal häufiger ben, meinte Julian Schmitz. Auch der von diagnostizierten psychischen Gesundheit.
psychisch erkranken als der Akade- Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erkrankungen entgegenwirken wol-

offenes Ohr für Ihre Kinder!«

mikernachwuchs. Gesundheitswissen Dr. Ralf Suhr len, brauchen wir mehr Wissensver- Welche Hilfestellungen können
Über die fatale Wechselwirkung hatte in seinem Einstiegsstatement mittlung und Aufklärung, denn bis Sie Menschen bieten, die auf
von Kinderarmut und mentaler die besondere Rolle der Schulen heute werden solche Erkrankungen der Suche nach einem Therapie-
Fast ein Drittel aller Heranwachsenden in Deutschland leidet unter Gesundheit sprach auch Sarah Lahr- hervorgehoben. »Lehrerinnen und stigmatisiert und es gibt viele Vor- platz sind?
psychischen Erkrankungen. Pandemiebedingt hat sich diese Zahl von kamp. »Teilhabe in der Gesellschaft Lehrer sind oft die Ersten, die er- urteile aufgrund großer Wissens- Es ist wichtig, dass Betroffene sich
15 auf 30 Prozent verdoppelt. Unter dem Titel »Und wer hilft uns?« hat leider noch immer mit finanziel- kennen, dass eine Schülerin oder ein lücken. Gute und umfassende nicht allein gelassen fühlen, son-
luden DIE ZEIT und die Stiftung Gesundheitswissen Mitte September len Mitteln zu tun«, mahnte die Vor- Schüler seelische Probleme hat«, so Gesundheitsinformationen können dern um Anlaufstellen wissen, an
drei Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Praxis sitzende der Kinderkommission der Suhr. Allerdings fehle ihnen häufig dazu beitragen, dass Menschen ihre die sie sich wenden können. Auf
zum Gespräch. SPD. So sei mit dem Verzicht auf das Wissen über psychische Erkran- Einstellungen zu Fragen psychi- unserem Gesundheitsportal geben
einen Kinobesuch oder die Mitglied- kungen, betonte er. Haram Darfand scher Gesundheit ändern – und wir wir Hinweise und Tipps, was man
Zu Gast bei der »ZEIT DOCTOR seien keine Seltenheit. Obwohl das schaft im Sportverein meist auch für seinen Rat an die Eltern eine präg- alle stärker für das Thema sensibili- tun kann, wenn man Symptome
Sprechstunde« waren Julian Schmitz, Bedürfnis, sich über psychische soziale Ausgrenzung verbunden; nante Formel: »Haben Sie immer siert werden. bemerkt, wie man am besten vor-
Professor für klinische Kinder- Belastungen auszutauschen, so groß und die grassierende Furcht vor der ein offenes Ohr für Ihre Kinder!« geht, um einen Therapieplatz zu
und Jugendpsychologie an der Uni sei wie nie zuvor, werde mentale Mit welchen Ansätzen begegnet bekommen, und wo man konkrete
Leipzig, Sarah Lahrkamp, Vorsit- Gesundheit an Schulen kaum thema- die Stiftung Gesundheitswissen Hilfestellungen erhält. Viele Men-
zende der Kinderkommission der tisiert, bedauert Dar. »Viele Kinder Herausforderungen rund um schen wissen zum Beispiel nicht,
SPD, und der ehemalige bayerische und Jugendliche leiden, aber die »Mental Health«, mit denen dass man auch die Terminservice-
Landesschülersprecher Haram Dar. Gesellschaft tut nichts für sie. Worauf Heranwachsende zurzeit stellen der Kassenärztlichen Ver-
Angesichts überlappender Krisen, warten wir noch?« vermehrt zu kämpfen haben? einigung kontaktieren kann. Diese
die von Pandemie und Klimawan- Dieser Eindruck einer »gefühlten Förderung und Vermittlung von und weitere Informationen stellen
del bis zum Ukrainekrieg und deren Dauerkrise« deckt sich auch mit den Gesundheitswissen sollte so früh wir gebündelt zur Verfügung.
Folgen reichten, werde der jünge- Erfahrungen von Julian Schmitz. Als wie möglich beginnen. Aus diesem
ren Generation viel zu viel zugemu- Kinder- und Jugendpsychologe höre Grund haben wir die Schulinitiative Eine Veranstaltung von: In Zusammenarbeit mit:
tet, sagte der 17-Jährige: »Viele er vielfach von Schlafproblemen, Perspektivwechsel gefragt: Julian Schmitz, Profes- Appell an die Gesellschaft: Als ehemaliger baye- »Pausenlos gesund« ins Leben ge-
sor für klinische Kinder- und Jugendpsychologie rischer Landesschülersprecher berichtete Haram
kommen zu mir und sagen: ‚Ich kann Kopf- und Bauchschmerzen und er- an der Uni Leipzig, plädierte dafür, die seelischen Dar aus erster Hand vom steigenden psychischen
rufen. Sie stärkt die Gesundheits-
nicht mehr!‘« Auch Suizidgedanken lebe es als sehr belastend, »wenn Nöte Heranwachsender ernst zu nehmen. Druck und forderte mehr Unterstützung ein. kompetenz von Kindern, indem sie
66 ENTDECKEN 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Der Termin für das Interview musste in

Greta Thunbergs Interrail-Reise passen.
Somit fällt es in den August, als noch niemand
so richtig an Gasrechnungen denkt. Es ist
einer der heißesten Tage des Sommers 2022.
Nachts kühlt es auf 28 Grad ab. Eigentlich
sollte das Interview frühmorgens stattfinden,
aber am Vortag saß Thunberg im Zug
fest, kam erst spät in Hessen an, deshalb ist es
jetzt Nachmittag, ein Ventilator brummt
auf dem Boden des abgedunkelten Zimmers
im Haus des S. Fischer Verlags in Frankfurt.
Sie legt ihre Tasche auf den Boden. Kein
Small Talk. Das Interview findet auf Englisch
statt, deshalb wäre bei der Übersetzung auch
die Du-Form möglich gewesen.

DIE ZEIT: Ich werde ein paar persönliche

Fragen stellen. Wenn Sie sich damit nicht
wohlfühlen, sagen Sie es bitte.
Greta Thunberg: Das ist okay.
ZEIT: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie morgens
aufwachen?

Sie kichert. Legt die Arme auf den Tisch, legt

ihr Gesicht auf die Arme, kichert weiter.

ZEIT: Was ist los?

Thunberg: Das ist wirklich eine gute Frage.
Weil ich seit einer Woche das Lied Never
Gonna Give You Up als Weckton auf meinem
Handy eingestellt habe. Sodass ich jeden Mor-
gen gerickrolled werde. Also ist das Erste, was
ich morgens denke: Nein! Mach es aus!

Wie erklärt man »Rickrolling« oder die Formu-

lierung »gerickrolled werden«? Nun ja, seit mehr
als zehn Jahren schicken sich junge Leute Links
zum Song »Never Gonna Give You Up« von
Rick Astley, tun dabei aber so, als handle es sich
um Links zu etwas ganz anderem. Wer darauf
hereinfällt, wurde gerickrolled. Und hat für den
Rest des Tages einen schrecklichen Ohrwurm.

ZEIT: Warum musste es denn ausgerechnet

dieser Weckton sein?
Thunberg: Er macht einen direkt wach. Man
will ihn unbedingt abschalten.
ZEIT: Sie schlafen also sehr tief?
Thunberg: Ja.
ZEIT: Das ist doch gut. Viele Leute, die Poli-
tik machen, haben Schlafprobleme.
Thunberg: Ja. Weil sie so viele schlechte Dinge
tun. Sie können nicht schlafen, weil sie an all
das Schlechte denken, das sie tun.
ZEIT: Mögen Sie die Menschen an sich?
Thunberg: Ja, auf jeden Fall. Ich liebe die
Menschheit. Wir können so viele gute Sachen
schaffen. Nur, unter den falschen Umständen
können wir auch sehr schlecht werden. Aber
ich glaube daran, dass wir unter den richtigen
Umständen zusammenkommen könnten und
alles besser machen.
ZEIT: Glauben Sie an ein Leben nach dem
Tod?
Thunberg: Ich weiß nicht. Manche Leute den-
ken, dass es egal ist, was wir auf der Erde tun,
weil etwas danach kommt. Das ist der falsche
Ansatz. Selbst wenn es danach etwas geben
sollte, müssen wir uns so verhalten, als wäre
das, was wir hier haben, alles.
ZEIT: In Ihrem Buch, das Ende Oktober er-
scheint, schreiben viele Wissenschaftler über
die Gründe und Auswirkungen der Klimakrise.
Foto: Evelyn Dragan für DIE ZEIT

Sie ergänzen diese Essays um kurze, appellative

Einschübe. Was ist Ihre wichtigste Botschaft?
Thunberg: Der Zweck des Buches ist, alle In-
formationen zu sammeln, die wir haben. Um
ein realistisches Bild auf die Klimakatastrophe
zu vermitteln und sie mit anderen Katastro-
phen zu verbinden. Wenn wir die Punkte
Greta Thunberg, 19, fotografiert am 20. Juli dieses Jahres in Frankfurt am Main nicht verbinden, kommen wir nicht aus die-
ser Situation raus. Viele Leute fragen mich:
»Wo kann ich mehr Informationen finden?
Ich will mich mehr einbringen.« Jetzt habe

»Die Welt muss

ich die Informationen gesammelt. Ich kann
einfach sagen: Lies das.
ZEIT: Ich hätte nach dem Lesen gesagt, die
wichtigste Botschaft ist: Wir sind am Arsch.
Thunberg: So kann man es auch formulieren.
(Lacht) Klar.
ZEIT: Was ich inhaltlich am überraschendsten
fand, war, dass die reichsten zehn Prozent der
Menschheit für 50 Prozent der Emissionen ver-
antwortlich sind. Und dass 80 Prozent der

nicht brennen«
Menschheit innerhalb der eigenen planetaren
Grenzen leben. Das heißt: Die Lösung der Kli-
makrise wäre die Abschaffung von Wohlstand.
Thunberg: Ich denke, das kann jeder für sich
interpretieren. Aber ja, es gibt das Missver-
ständnis, die gesamte Menschheit habe die
Klimakrise ausgelöst. Die meisten von uns
sind aber unschuldig. Es gibt wenige Men-
schen, die viel Macht haben und diese Krise
ausgelöst haben. Sie sind dafür verantwort-
lich, dass es so eskaliert ist.
ZEIT: Sie sagen, dass jeder für sich interpretie-
ren kann. Aber was Sie schreiben, ist sehr klar.
Greta Thunberg hat zusammen mit Wissenschaftlern ein Buch Thunberg: Eine der wichtigsten Ideen des
Buchs ist, dass ich keine Schlussfolgerungen
geschrieben, das viele Fakten zum Klimawandel sammelt. Was folgt aus diesem Wissen? ziehe, für niemanden. Nachdem man alles
Von welcher Zukunft soll man träumen? Ein Gespräch gelesen hat, kann man eigene Schlüsse ziehen.
ZEIT: Wenn diese Menschen weder Macht
noch Wohlstand abgeben: Was passiert?
Thunberg: Dann haben wir ein großes Pro-
blem. (Sie kichert, zuckt mit einer Schulter) Ja.
ZEIT: Man sollte nie Hass schüren, schreiben
Sie, vor allem nicht gegen einzelne Personen.
Thunberg: Mir geht es da vor allem um die-
jenigen, die nicht Staatsoberhäupter oder
CEOs sind. Wir sollten nicht gemein gegen-
über Individuen sein. Aber wenn jemand in
einer Position mit sehr viel Macht ist, dann
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022
liegt es in unserer Verantwortung als Bür-
ger, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.
ZEIT: Was ist eigentlich aus dem Slogan
»Reiche essen« geworden? Warum essen
wir nicht die Reichen?
Thunberg: (Lacht laut) Ich vermute, Sie
meinen es metaphorisch.
ZEIT: Ja.
Thunberg: Ich denke, dass die Menschen
heutzutage, nicht alle, aber sehr viele, in
Wohlstand leben oder in Wohlstand ge-
lebt haben. Sie leben gut genug, um die
großen Ungleichheiten in der Welt nicht
zu sehen. Ich glaube daran, dass der
Klimawandel ein Vehikel sein kann, um
auf einer globalen Ebene zu zeigen, wie
extrem die Ungleichheit ist. Dass es eine
Verbindung geben wird zwischen Men-
schen, die Gerechtigkeit fordern.
ZEIT: Sie meinen: Die Leute haben eine
Wohnung und genug zu essen, deshalb ist
es für sie okay, wenn jemand anders
3000-mal so viel hat wie sie. Aber sobald
die Welt brennt, radikalisieren sie sich?
Thunberg: Das könnte der Fall sein.
ZEIT: Ist das Ihre Hoffnung?
Thunberg: Die Welt muss nicht brennen.
Ich hoffe, dass es reicht, wenn wir Men-
schen darüber informieren, was passiert
und was die Konsequenzen sind.
ZEIT: Eine große Mehrheit glaubt be-
reits, dass der Klimawandel real ist.
Thunberg: Aber es kommt mir nicht vor,
als würden wir die Bedeutung dessen
wirklich verstehen. Ich weiß, dass viele
Menschen wissen, dass der Planet wärmer
wird und es extremere Wetterlagen geben
wird. Da hört es dann auf. Wenn diese
Menschen realisieren, was die Implikatio-
nen sind, verfallen sie oft in einen Schock.
Weil sie angelogen wurden. Ihr Recht als
Bürger, über Gefahren informiert zu wer-
den, wurde ihnen geraubt. Manche sind
aber auch geschockt und denken, dass das
alles nicht wahr sein kann – denn sonst
verhielten sich ja alle um sie herum, als
würde ihr Haus brennen.
ZEIT: Haben Sie eine alternative Idee für
das, was ein schönes Leben ausmacht?
Eine Alternative zu Wohlstand?
Thunberg: Ich meine, ich habe meine ei-
genen Ideen. Jeder hat eigene Ideen dazu.
ZEIT: Aber was könnten neue Standards
sein? Jeder will ja nach etwas streben. Die
meisten wollen ein Haus, einen Hund,
eine Gartenparty.
Thunberg: Ich hoffe wirklich, dass wir in
der Zukunft nach etwas anderem als ma-
teriellen Dingen streben.
ZEIT: Bildung? Oder ...?
Thunberg: Zum Beispiel. Es gibt so viele
Dinge, die so viel wichtiger sind als die,
nach denen wir heute streben sollen.
ZEIT: Was noch?
Thunberg: Na ja, im Grunde alles. Alles
außer Shopping, ein großes Haus, ein
großes Auto. Alles. Liebe. Freundschaft.
Bildung. Solidarität und Gemeinschaft.
Alles, was uns wirklich wichtig ist, wird
immer da sein. In der Pandemie haben
wir doch auch nicht die Wochenendtrips
nach Thailand vermisst, sondern die
Menschen, die wir lieben.
ZEIT: Warum fliegen dann gerade wieder
so viele Leute nach Thailand?
Thunberg: Weil uns erzählt wird, dass das
etwas ist, was wir erreichen müssen.
ZEIT: Können wir denn den Kapitalis-
mus behalten?
Thunberg: Ähm. (Sie schweigt lange) Ich
meine, wenn man von außen draufschaut,
dann sind alle gegenwärtigen Ideologien
gescheitert, inklusive Kapitalismus. Es
funktioniert nicht, die planetaren Gren-
zen einzuhalten, wenn man gleichzeitig
das Wirtschaftswachstum erhalten will,
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immer mehr und mehr und mehr. Aber
wir haben gerade auch kein anderes poli-
tisches System, das das Beste für Men-
schen auf diesem Planeten täte.
ZEIT: Wie viel Geld sollte eine Person
maximal haben dürfen? Was ist »genug«?
Thunberg: Ich habe keine Ahnung. Das
ist unmöglich zu beantworten.
ZEIT: Und ein Mindeststandard? In einer
Welt, in der uns dieser Planet ausreicht,
wie viel würde eine Person besitzen, wie
würde sie leben, was würde sie genießen?
Thunberg: Ich habe keine Ahnung.
ZEIT: Und was, denken Sie, wäre gerecht?
Thunberg: Ich weiß es nicht. Alles, was
ich dazu sagen kann, ist, dass manche
Menschen ihren Konsum radikal reduzie-
ren müssen. Aber manche müssen ihn
auch radikal erhöhen, um nachhaltig zu
leben. Denn Nachhaltigkeit bedeutet ja
auch, dass man sich selbst und seine
Familie ernähren kann. Ich habe
also keine Antwort.
ZEIT: Gibt es ein Produkt, das Sie
in den letzten Jahren gekauft ha-
ben, das Sie glücklich macht?
Thunberg: (Überlegt wieder lange)
Tatsächlich ja, ich habe es dabei.
(Sie kramt in ihrem Beutel, der auf
dem Boden liegt, und zieht einen
grünen Fischerhut heraus, auf den
oben zwei Augen aufgenäht sind,
vorne ein Mund) Diesen Frosch-
Hut. Den habe ich mit Freunden
gekauft.
ZEIT: Wo?
Thunberg: In Prag.
ZEIT: In einem Souvenirshop?
Thunberg: Ja. Es ist ein Witz zwi-
schen uns. Einer meiner Freunde
hatte einen Frosch-Hut, dann hat
er ihn verloren ... aber wir sollten
uns nicht darauf fokussieren, was
Individuen kaufen.
ZEIT: Aber muss man Menschen
nicht ein Ziel geben, eine Welt, an
die sie glauben können, damit sich
etwas ändert?
Thunberg: Definitiv. Viele sagen
uns, dass unsere Forderungen nicht
realistisch sind. Aber es ist viel rea-
listischer, zu glauben, dass Verän-
derung funktionieren kann, als
daran zu glauben, dass unsere
Zivilisation in einer drei Grad wärmeren
Welt überleben kann. Wir wären keine
Aktivisten, wenn wir uns nicht vorstellen
könnten, dass es eine bessere Welt gibt.
Selbst wenn wir nicht wissen, wie die aus-
sieht. Daran muss man einfach glauben.
ZEIT: Ein Wissenschaftler schreibt in Ih-
rem Buch, dass bei den letzten fünf
großen Artensterben ungefähr ein Viertel
aller Spezies überlebt haben. Wenn das
nächste große Artensterben wegen der
Klimakrise passiert, werden es dann die
reichen Menschen sein, die überleben?
Thunberg: So wie es jetzt aussieht, ist das
leider ein wahrscheinlicher Fall. In jeder
Katastrophe leiden die am meisten, die
am verletzlichsten sind. Und so, wie es
heute ist, können Milliardäre sich einfach
abschließen von der Welt. Selbst wenn sie
es waren, die die Krise erzeugt haben.
ZEIT: Aber wenn es Milliardäre sind, die
die Krise erzeugen, und Milliardäre, die
überleben ...
Thunberg: ... dann müssen wir das än-
dern. Deshalb ist Gerechtigkeit das Zen-
trum der Klimakatastrophe.
ZEIT: Sind Sie Sozialistin?
Thunberg: Nein.
ZEIT: Warum nicht?
Thunberg: Alle gegenwärtigen politi-
schen Systeme haben versagt und können
die Klimakrise nicht bewältigen.
Lesespaß
für Kinder!
ENTDECKEN
ZEIT: Kennen Sie jemanden, der an ei-
nem besseren System arbeitet?
Thunberg: Ich weiß nicht. Ich weiß nur,
dass man in einer Gefahrensituation kei-
ne Zeit hat, sich die perfekte Welt auszu-
denken, bevor man sie ändert. Wenn das
Haus brennt, dann setzt man sich nicht
in die Küche und plant den Neubau.
Man rennt nach draußen und versucht,
so viele wie möglich zu retten. Man ruft
die Feuerwehr. Die Systeme der Zukunft
werden in der Zukunft entstehen, je
nachdem, was gebraucht wird.
ZEIT: Sie schreiben, dass das menschliche
Gehirn unfähig ist, auf die Klimakata-
strophe zu reagieren. Mit komplexen zu-
künftigen Gefahren werden wir nicht
fertig. Was kann uns Hoffnung geben?
Thunberg: Hoffnung ist, mit dem zu ar-
beiten, was man hat. Hoffnung muss
»Wenn ich über die
Zukunft nachdenken würde,
dann wäre ich depressiv.
Ich versuche, mir die
Situation in der Gegenwart
anzuschauen. Was können
wir damit anfangen?«
man selbst herstellen, sie wird einem
nicht gegeben.
ZEIT: Also ist Hoffnung ...
Thunberg: ... Handeln.
ZEIT: Glauben Sie an Revolutionen?
Thunberg: Ich weiß nicht. Sie fragen viel
über die Zukunft. Ich denke nicht so viel
über die Zukunft nach als Aktivistin.
Wenn ich über die Zukunft nachdenken
würde, dann wäre ich depressiv. Weil ich
mir dann katastrophale Szenarios vor-
stellen müsste. Das ist nicht gut, denke
ich, denn damit lebt man schon in einer
Realität, die noch gar nicht da ist. Ich ver-
suche, mir die Situation in der Gegen-
wart anzusehen und mich zu fragen: Was
können wir damit anfangen?
ZEIT: Sie wollen also keine Utopie kre-
ieren. Keinen Traum.
Thunberg: Wir wissen es nicht. Anstatt
zu träumen, müssen wir alles verändern.
Natürlich braucht es eine Vorstellung von
einer Zukunft. Aber in Maßen.
ZEIT: Man sollte sich also keine welt-
weite Klima-Revolution vorstellen, weil
es nichts bringt?
Thunberg: Nein, so meinte ich das nicht.
Ich weiß es nicht.
ZEIT: Visionen lohnen sich nicht, weil
man sie verfehlen kann?
Thunberg: Wir müssen fähig sein zu träu-
men. Wenn das etwas ist, das uns stärker
Das Kindermagazin der ZEIT nimmt Mädchen und Jungs zwischen
7 und 13 Jahren mit auf Abenteuerreise – unterhält, taucht in ihre
Lebenswelt ein und ermuntert sie zum Lesen.
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macht. Wenn nicht, dann bringt es
nichts. So ist das für mich persönlich.
ZEIT: Hat sich in den Jahren seit Beginn
Ihres Klimastreiks etwas in der EU ver-
ändert, worüber Sie erleichtert sind?
Thunberg: Erleichtert nicht. 2019 hat das
Europäische Parlament den Klimanot-
stand erklärt. Das war nett, weil wir sie
jetzt zur Rechenschaft ziehen können.
Natürlich passieren kleine Dinge. Aber
im Großen und Ganzen entwickelt sich
immer noch alles sehr schnell in die
falsche Richtung.
ZEIT: Wenn Sie mit Politikern sprechen,
mit mächtigen Menschen, sind Sie nett?
Thunberg: Es kommt drauf an, wie mei-
ne Laune ist. Meistens ja. Ich mag keine
Konflikte, aber ich habe auch keine
Angst, zu widersprechen. Natürlich ver-
stehe ich, dass niemand individuell
Schuld hat. Aber viele dieser Menschen
hatten sehr lange sehr viel Macht, man
darf das nicht kleinreden. Manchmal ver-
suche ich es diplomatisch, dann sage ich:
»Sie haben eine einzigartige Möglichkeit,
etwas zu ändern, und es wird allen helfen,
auch Ihnen!« Das funktioniert nicht.
Manchmal versuche ich, ihnen die Fak-
ten darzulegen, damit sie sich dazu ver-
halten und Verantwortung übernehmen.
Das funktioniert auch nicht. Sie sagen:
»Du hast recht.« Das ist alles.
ZEIT: Sie fühlen sich wie Kassandra.
Thunberg: Kassandra?
ZEIT: Aus der griechischen Mythologie.
Thunberg: Ah, ja. Ich habe viele Taktiken
versucht, es führt zu nichts.
ZEIT: Wütend, diplomatisch ...
Thunberg: ... nichts hat funktioniert! (Sie
kichert)
ZEIT: Was versuchen Sie als Nächstes?
Thunberg: Tanzen vielleicht. Im Winter,
auf unseren wöchentlichen Streiks, haben
wir immer getanzt, wenn ein wichtiger
Politiker vorbeilief.
ZEIT: Einen Tanz über Klimawandel?
Thunberg: Nein. Es ist einfach ein Tanz.
Uns ist langweilig, wenn wir da stehen.
(Lacht wieder) Wir sind nur Teenager.
ZEIT: Klingt, als wäre alles ziemlich
schrecklich ...
Thunberg: ... oh, nein, nein ...
www.zeit.de/leo-schnell#040/42 23 70 70*
ZEIT: ... aber Sie wirken ganz glücklich.
Thunberg: Was komisch wirken könnte,
weil ich in diesem Umfeld bin, wo es
immer um diese Krise geht, an die ich
denke. Aber was mich bei Laune hält,
sind die Menschen, die ich getroffen
habe, die Freunde, die ich gefunden habe.
Leute, mit denen ich über das alles reden
kann. Manchmal kann es sich anfühlen,
als wäre man einsam und als würde man
verrückt, weil man all diese Dinge weiß,
aber nichts passiert, niemand tut etwas.
Man braucht Menschen, die die gleichen
Werte teilen.
ZEIT: Das Haus brennt, aber Sie stehen
davor und haben eine Hand, die Sie hal-
ten können.
Thunberg: Genau. Das ist eine gute Me-
tapher.
ZEIT: Gibt es auch Konflikte?
Thunberg: Das passiert. Es gibt
immer Leute, die streiten. Aber
dann muss man sich daran erin-
nern, dass man die gleichen Ziele
hat. Darin war Fridays for Future
immer gut. Und es ist ja so: Viele
Familien oder Gruppen zerreißen
an der Klimafrage. Wenn dein
Partner oder deine Eltern kein In-
teresse daran haben, aber du selbst
weißt, dass die Zivilisation auf
dem Spiel steht, kann es schwer
sein, mit ihnen verbunden zu blei-
ben. Andersherum ändern viele
Menschen, viele Politiker, erst ihre
Meinung zum Klima, wenn ihre
Kinder und Freude anfangen, ih-
nen Fragen zu stellen. Wenn man
nicht allein ist, ist alles einfacher.
ZEIT: Also ist die Klimakrise eher
eine soziale Frage als eine politi-
sche?
Thunberg: Beides. Kommt drauf
an, welcher Aspekt gemeint ist.
ZEIT: Dass eine globale Gesell-
schaft feststellen muss, dass sie
scheitert.
Thunberg: Dann ist es beides.
ZEIT: Ich hätte gedacht, Sie seien
wütender.
Thunberg: Es ist lustig. Viele Leute
denken, dass ich wütend bin. Aber
ich war erst ein paar Mal im Leben
wütend, einmal in der UN-Voll-
versammlung.
ZEIT: Die Leute vom Verlag haben er-
zählt, Sie seien gestern mit dem Zug ge-
kommen. Ohne Bodyguards, ohne je-
manden, der mit Ihnen reist ...
Thunberg: ... es ist jemand bei mir. Eine
Person reist mit mir.
ZEIT: Aber niemand, der Sie gegen An-
griffe verteidigen würde.
Thunberg: Manche denken, dass ich Si-
cherheitsleute habe. Aber ich interraile
jetzt seit zwei Monaten, mal allein, mal
mit Freunden, und schlafe bei unter-
schiedlichen Leuten auf der Couch.
Manchmal auf Matratzen.
ZEIT: Was ist mit Hotels?
Thunberg: Es fühlt sich echter an, wenn
Leute da sind, die ich kenne. Oder die
Freunde von mir kennen.
ZEIT: Sind Sie nicht gern allein?
Thunberg: Ich mag beides. Wenn ich zu
lange unter Menschen bin, mache ich ir-
gendwann einen langen Spaziergang.
ZEIT: Brauchen Sie Ruhe zum Schreiben?
Thunberg: Ich habe einen Platz, zu Hause
auf der Couch, der mir gehört. Es ist
mein Platz; wenn dort jemand anderes
sitzt, mag ich es nicht. Da habe ich viele
der Texte im Buch geschrieben. Manch-
mal bin ich auch länger in der Schule ge-
blieben. Meistens musste ich abends
schreiben, weil ich tagsüber Schule habe.
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Was nicht gut ist, weil ich kein Abend-
mensch bin. Aber es hat funktioniert.
ZEIT: Warum gehen Sie überhaupt noch
zur Schule?
Thunberg: Ich mag es. Wenn ich nicht
dort bin, vermisse ich es.
ZEIT: Was mögen Sie an der Schule?
Thunberg: Lernen. Und einen klaren
Plan haben. Eine Routine.
ZEIT: Würden Sie gern das sechste globale
Artensterben überleben?
Thunberg: Ich weiß nicht. Es ist mir egal.
ZEIT: Wirklich?
Thunberg: Es ist schwierig. Ich versuche,
nicht zu viel darüber nachzudenken. Mir
geht es gut. Es ist nicht wichtig, was mit
mir passiert.
ZEIT: Sind Sie also auch jemand, der
Dinge wegschiebt, um nicht darüber
nachdenken zu müssen?
Thunberg: Ich denke viel nach. Ich denke
mir Szenarios aus. Aber ich denke darü-
ber nach, was hier und jetzt ist. Wenn es
mehr als sechs Monate in der Zukunft ist,
denke ich nicht darüber nach. Weil
dann ... das ist einfach eine Tiefe, bei der
ich nicht denke, dass es mir guttun wür-
de, so weit in die Zukunft zu denken.
ZEIT: Haben Sie keine Termine, die
mehrere Monate im Voraus geplant sind?
Thunberg: Nein. (Überlegt noch mal)
Nein! (Lacht) Wenn Leute mich fragen,
was ich in zwei Wochen mache, dann
sage ich, dass ich es nicht weiß. Wahr-
scheinlich werde ich in der Schule sein.
Alles kann sich von einem Tag auf den
anderen ändern.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Thunberg: Mein Fall ist extrem. Von ei-
nem Tag auf den anderen wurde ich als
ein schüchternes Mädchen, das selektiven
Autismus hat und nicht rausgehen konn-
te, berühmt. Dinge verändern sich. Ich
weiß nicht, wie die Welt aussehen wird,
wie mein Leben aussehen wird. Ich versu-
che, das Chaos zu genießen. Beim Inter-
railen muss man das sowieso.
ZEIT: Worüber reden Sie eigentlich,
wenn Sie nicht übers Klima reden?
Thunberg: Ich weiß nicht. Ich versuche,
so kindisch wie möglich zu sein. Wir re-
den über die verrücktesten Dinge. Die
Leute denken, wir Klima-Aktivisten seien
so ernst. Nein.
ZEIT: Machen Sie sich Sorgen, dass ande-
re Aktivisten nur Zeit mit Ihnen verbrin-
gen wollen, weil Sie berühmt sind?
Thunberg: Früher ja. Aber es ist so: Ich
weiß, ob Leute echt sind oder nicht.
Manche machen direkt Fotos und posten
sie. Wenn man eine Weile in dieser Situa-
tion ist, hat man irgendwann ein Gefühl
dafür, wer echt ist und wer nicht.
ZEIT: Gibt es Fragen, die Ihnen in den
Interviews über das Buch immer wieder
gestellt werden?
Thunberg: Darüber, wie es ist, berühmt
zu sein. Ja.
ZEIT: Eine typische Frage ist ja auch, wie
man auf den Buchtitel gekommen ist.
Thunberg: Nein! Niemand hat das bisher
gefragt! Ich würde es gerne beantworten.
Ich hasse den Titel. Es war ein Arbeitstitel,
»Das Klima-Buch«. Aber dann wurde es
mit diesem Titel verkauft, und ich konnte
es nicht mehr ändern. Im Buch geht es
aber um viel mehr als Klima. Und es steht
sicher nicht alles drin, was man über das
Klima schreiben könnte.
Das Gespräch führte Anna Mayr
Greta Thunberg et al.: Das Klima-Buch.
Aus dem Englischen von Michael
und Ulrike Bischoff; S. Fischer Verlag,
Frankfurt/M. 2022; 519 S., 36,– €
68
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igenartigerweise ist Kunst ja oft
ein Problem in schicken Hotels.
Man eröffnet ein neues Haus,
da ist dann – so stelle ich mir
das jedenfalls vor – eine große
Wand, an die man ein Sofa
gestellt hat, und jetzt muss da
aber, so diktieren es Gewohnheit und Feng-
Shui, ein Bild drüber hängen. Bloß besitzt man
keines. Also geht man mit einem Restbudget
auf die Suche nach gerahmter Dekoration, die
man im Gebäude verteilen kann. Und am
Ende hängen in den Lobbys und Zimmern der
teuersten Häuser dieser Welt nicht selten
irgendwelche belanglosen Sachen an der Wand,
aufgeblasene Bilder von menschenleeren Land-
schaften oder eigenartige Porträtfotografie
oder so ein bisschen gleichgültig geratene
Gegenstandslosigkeit. Und einer der ganz
seltsamen Effekte ist, dass man sich als Gast in
solchen Räumen dann nicht wohler, sondern
eher noch eins weiter in der Fremde, in der
Anonymität fühlt, dass man den Eindruck
bekommt, alles um einen herum sei problem-
los ersetzbar, wertlos – lieblos.
Sehr anders aber im gerade neu eröffneten
Berliner Hotel Chateau Royal, über dessen Kunst
man nach der Nennung dieses Namens allerdings
erst mal gar nicht weiter schreiben kann, weil
dieser Name natürlich erstens ein Witz ist – ha-
haha, königliches Schloss! –, noch nicht mal ein
dummer übrigens, weil man das Gebäude des-
wegen gleich heiterer, offener, neugieriger betritt.
Und zweitens ist der Name natürlich eine Anleh-
nung an das ebenfalls lustig getaufte Berliner
Restaurant Grill Royal, was kein Zufall ist, inso-
fern als in Stephan Landwehr und Moritz Ester-
mann zwei der Grill-Impresarios auch hinter dem
Chateau stehen. Das weckt gewisse Erwartungen.
Das Grill Royal ist ja längst bundesweit be-
kannt, aus Zeitungsartikeln und Hauptstadt-
Romanen, es ist eine kleine Welt für sich, eine in
stetem Halbschatten liegende, tiefe Polsterhöhle
über der Spree, in der sich schon seit Jahren alle
treffen, die sich gern mal getroffen haben wür-
den, und in der man ungeniert und fröhlich sein
Geld unter die Leute bringen kann. Kaum
irgendwo sonst in der Stadt gibt es ein lustigeres
Publikum: Steuerberater aus Bad Homburg,
durchreisende Hollywoodstars, osteuropäische
Halbwelt, Großgaleristen, Künstler, Intelligen-
zija – für alle findet sich im sogenannten Grill ein
Platz, und wenn man gerade nicht mit dem
Wagyu-Steak, dem Schampus, den Austern oder
den Pommes beschäftigt ist, mit den ganzen
Fotos: Felix Brüggemann
gelungenen Standards der grande bouffe, die das
Restaurant selbstverständlich auf der Karte
bereithält, dann gehört zu den angenehmsten
Eigenschaften des Restaurants der Ausblick in
das Publikum – wer ist das noch, wer könnte das
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sein, dass
wohl sein – und, Achtung, durchaus auch auf die
Kunst, die dort hängt, so vaginale Lampen oder
Neonschriftzüge oder Jonathan-Meese-Gemälde.
Wie viele Leute wohl in das Chateau kommen
werden in der Hoffnung, dort George Clooney
an der Bar zu begegnen oder wenigstens Gerhard
Schröder? Das Hotel macht gerade ein soft ope-
ning, es sind noch nicht alle Zimmer in allen
Stockwerken fertig, die Beleuchtung in der
Lobby sitzt noch nicht ganz, Frühstück wird auch
erst demnächst serviert werden können – aber
die Gäste drängen schon herein und sprechen
Deutsch, Französisch, Russisch, Amerikanisch.
Vielleicht, der Gedanke drängt sich auf, hoffen
sie, hier gleich hineinspringen zu können in das
höchste Maß an Glamour, das Deutschland
bieten kann.
Das Hotel liegt an der Ecke Mittelstraße/
Neustädtische Kirchstraße, absolutes Niemands-
land und zugleich Mitte-Mitte, nebenan ist
das Einstein Unter den Linden, übrigens auch
unter den Fittichen von Landwehr und Kolle-
gen. Und wenn man schon da steht, ist rechts
gleich ze Brandenburg Gate, links der Fernseh-
turm. Man befindet sich als Tourist ganz
offensichtlich in Berlin, und als Kenner der
Stadt weiß man, dass es von hier aus nirgend-
wohin allzu weit ist (zum Grill sind es zum
Beispiel nur acht Minuten zu Fuß). Die Chefs
des neuen Hotels hoffen allerdings auch, dass
sie es im Hotel so gut hinkriegen werden, dass
man gar nicht hinausmuss, um die Stadt zu
erleben. Estermann, auf einem der bequemen
Sofas in der Lobby sitzend, findet zum Bei-
spiel, dass genau das hier der Stadt bislang
gefehlt hat: eine angenehme Lobby, in der
man sich auch mal treffen kann, wenn man
gar kein Besucher der Stadt ist, sondern Be-
wohner; ebenso eine gute Hotelbar, die man
zu später Stunde auch als Berliner gern an-
steuern würde.
Für die Gäste des Hauses wäre das natür-
lich ein Riesengewinn: in einem Hotel zu
wohnen, das Teil der Stadt ist statt so eine Art
Quarantänestation für Neuankömmlinge, einem
Hotel, das einem sofort das Gefühl vermittelt,
ein Checker zu sein statt so eine Landpome-
ranze oder halt jemand, der einen Stadtplan
braucht und immer an der Oberfläche bleiben
muss. Ob das Chateau diese Hoffnungen er-
füllen können wird, weiß natürlich kein
Mensch, aber der Andrang der ersten Tage
lässt auf weitere gute Zeiten hoffen, und am
Aufwand, der Erfahrung und den guten Bezie-
hungen der Gastgeber wird die Sache nicht
scheitern. Das Hotel platzt vor, Achtung,
schwerste Kombo, lässiger Largesse.
Wir kommen also rein, stellen uns an die
Rezeption, hinter uns die Lobby, die Bar, das
Restaurant, das gucken wir uns alles aber erst
IN DE R NÄCHSTE N AUSGA BE:
Ein Reise-Sonderheft über weitere Hotels, in denen die Kunst eine Hauptrolle spielt
REISE
se
das Hotel Chateau Royal
später an. Es kommt jetzt als Erstes die Frage, in
welchem Zimmer man landen wird. Jedes der 93
Zimmer des Hotels hat nämlich eine andere
Künstlerin, ein anderer Künstler gestaltet. Alle
Arbeiten auf den Zimmern wurden eigens für
das Chateau gemacht, kuratiert wurde die Aus-
wahl von Kirsten Landwehr, Frau von Stephan,
und Krist Gruijthuijsen, dem Leiter des KW
Institute for Contemporary Art in der August-
straße (das ist auch so ein Mitte-Mitte-Ort).
Wenn man sich mal anschaut, wer alles
mitgemacht hat, kriegt man das Gefühl, es
nicht nur in ein interessantes Hotel, sondern
auch in eine ziemlich schwergewichtige
Sammlung zeitgenössischer Kunst geschafft zu
haben: Julius von Bismarck, John Bock, Simon
Denny, Cyprien Gaillard, Anne Imhof, Judith
Hopf, Rosemarie Trockel, Cosima von Bonin
Die Hotelgründer Stephan Landwehr
(li.) und Moritz Estermann mit Victoria
Eliasdottir, die das Restaurant leitet
etc. etc. Welche Zahl man zieht, ist am Ende
übrigens auch gar nicht so entscheidend: Es
mag zwar Zimmer geben, die auf den ersten
Blick besonders einladend erscheinen, das
Zimmer mit der blauen Thomas-Demand-
Fototapete etwa oder das Zimmer mit den
superschönen Seepferdchen von Marianna
Simnett; aber es ist dann – es spricht der Re-
porter – auch gar nicht so schlecht, im Zim-
mer von Thomas Scheibitz zu landen, denn so
viel Zeit verbringt man in der Regel ja nicht
mit der Arbeit eines Künstlers, den man nicht
besonders mag, und am Ende kann man ja
vielleicht sogar feststellen, dass der nicht so
schlecht ist, wie man immer dachte.
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Das Hotel besteht aus zwei Gebäuden, eins
von 1850, eins von 1910, erweitert und aufge-
stockt durch einen Neubau von David Chipper-
field. Die Zimmer sind zwischen 19 und 76
Quadratmeter groß, es gibt 24 verschiedene
Schnitte, das alles zusammen weckt in dem
Besucher das Gefühl, dass jeder Raum, jeder Flur
anders ausschaut, zumal auf jedem Flur auch
immer ein bisschen Kunst hängt. Gemein ist
allen Zimmern das dunkle, schwere Holz von
Einbauelementen, die an die Schrankwände der
sogenannten Berliner Zimmer erinnern sollen,
jener schwer zu nutzenden Durchgangsräume
zwischen Vorder- und Seitenhaus, die offenbar
typisch für die Hauptstadt sind. Berlinerisch sind
auch die Bäder, mit Craquelé-Fliesen, wie sie
nicht bloß in den Bädern, sondern auch in den
U-Bahnhöfen des Westens der Stadt früher ver-
baut wurden (überhaupt lehnt sich das Design
in Farben und Formen stark an die berühmten
Zwanzigerjahre an, von den Messingklinken über
die Bakelitlichtschalter bis zu den Bauhaus-
mäßigen Waschtischen). All dem fehlt derzeit
natürlich noch jede Patina, man hat aber den
Eindruck, dass die verbauten Materialien ein biss-
chen Nutzung gut werden vertragen können, dass
das Hotel von seinem Belebtwerden ästhetisch
eher profitieren wird, dass es auf jeden Fall
spannend wird, den Ort nach einem, nach ein
paar Jahren wieder zu besuchen.
In jedem Zimmer übrigens schöne orienta-
lische Teppiche, schöne handgefertigte Nacht-
tischleuchten aus Keramik (aus der Werkstatt
von Kirsten Landwehr), schöne papierene
Deckenlampen, Vintage-Möbel, die Innenar-
chitektin Irina Kromayer hat nicht gefaulenzt,
es wirkt alles unheimlich durchdacht und auf-
merksam gestaltet.
Es macht, muss man sagen, Spaß, sich durch
diese Räume zu bewegen, und wenn man, nach-
dem man sein Geraffel im Zimmer abgelegt hat,
dann wieder runtergeht in die Lobby, freut man
sich weiter an den Interieurs. Im Lounge-Bereich
hängt eine große Arbeit des britischen Künstlers
Simon Fujiwara, so eine Art Manga-Bärin, die
ein bisschen besoffen und verloren wirkt, man
weiß nicht so recht, was die sein soll oder sagen
will, und man muss wahrscheinlich gerade des-
wegen immer wieder hingucken. Etwas weiter im
Hotelinneren folgt die Bar, deren langer Schwung
der Straßenecke folgt. Die Oberfläche ist aus
Zinn, wieder ein Material des untergegangenen
wilhelminischen bzw. Weimarer Berlins, es wirkt
kühl und weich zugleich, man will sofort eine
Molle darauf abstellen oder meinetwegen auch
einen der Cocktails, die dort gemischt werden,
und die Flaschen der Bar reihen sich vor Wänden
aus buntem, tiefem Dallglas, das bestimmt noch
tiefer und bunter wirkt, wenn man den zweiten
und den dritten Cocktail getrunken hat.
13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42
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Noch weiter hinten – das ist schon sehr ver-
gnüglich, dieses Immer-weiter-Reingehen, an
immer mehr Kunst, an immer mehr Parfum-
fahnen, an immer weiteren Sprachen vorbei –
folgt das Hotelrestaurant, das neue dóttir,
unter der Leitung von Victoria Eliasdottir,
Schwester des Großkünstlers Ólafur Elíasson
(und ja, stimmt absolut: Diese Namen, dieser
Style, diese Referenzen, das ist die volle Dröh-
nung Berliner Nabelschau und Hofberichter-
stattung). Das alte dóttir befand sich vor eini-
gen Jahren an genau derselben Stelle, bevor es
dichtmachen musste, weil die Baustelle des
Chateau Royal einzog (Betreiber, surprise: Ste-
phan Landwehr). In dem neuen Restaurant
wird es bald auch ein richtiges Menü geben,
das Essen à la carte soll, so Victoria Eliasdottir,
etwas anderes bieten als die ewigen Burger,
Club Sandwiches und Caesar’s Salads, die man
aus der internationalen Hotelgastronomie
kennt, und doch einen ähnlichen Effekt ha-
ben, etwas Freundliches, Angenehmes, nicht zu
Anstrengendes bieten; außerdem kaum Fleisch,
kaum Fisch, möglichst viel Saisonales, Lokales,
Pflanzliches, aus offensichtlichen Gründen.
Für die, die beim Essen nicht so viel ans Klima
denken wollen, gibt es zwar auch Austern,
Tatar und solche Sachen: die gegrillte Rote
Bete mit Shiso und Grünkohl oder das Sand-
wich mit Austernpilzen sollten aber eigentlich
reichen, um auch Weitgereiste glücklich und
zufrieden zu machen (und die vielen guten
Weine werden auch nicht schaden). Man sitzt
in kleinen gepolsterten Separees, hinter den
roten Vorhängen sieht man die Menschen
über das Hauptstadt-Trottoir gehen, es ist ge-
mütlich, geborgen, ein seltsam altmodischer,
vielleicht aber auch einfach zeitlose Stimmung
auf einmal.
Natürlich kann man jetzt auch noch ein biss-
chen weiter auf Erkundung gehen, es gibt noch
ein Kaminzimmer, eine Weinbar, einen Innen-
hof, es gibt noch jede Menge Kunst, und es be-
steht stets die berechtigte Hoffnung, dass gleich
irgendwer Wichtiges oder Berühmtes zur Tür
hereingeschneit kommt. Man kann aber auch
nach oben gehen und sich in das bunte Thomas-
Scheibitz-Zimmer legen. Durch die zugezogenen
Gardinen dringt ein wenig Licht der Straßen-
laternen, in der Ferne hört man bisweilen Sire-
nen, so leise wie ein Handy, das am anderen Bett-
ende brummt, lässt bisweilen ein Zug vom nahe
gelegenen Bahnhof Friedrichstraße ein Vibrieren
durch das Zimmer gehen. Man ist mitten, mitten
in Berlin, wie schön, aufregend und beglückend
das sein muss für Menschen, die genau für dieses
Gefühl in diese Stadt gekommen sind.
Chateau Royal, Mittelstraße 41–44,
10117 Berlin, Zimmer ab 195 Euro
DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 REISE 69

W
as den ungeübten Rei- IN DREI DRINKS DURCH Anweisung – und bin absurd angetan. Der
senden überrascht: wie Whisky schmeckt überraschend unrau-
heiß es in Taipeh noch chig, ich fühle mich eher an Tee erinnert,

im Herbst ist, sobald
man die heruntergekühl-
ten Räume verlässt. Und wie politisch sich
die Öffentlichkeit seit diesem Jahr gibt.
An dem von riesigen Reklametafeln be-
leuchteten Eingang zur U-Bahn-Halte-
stelle Ximen laufe ich schwitzend über
einen Zebrastreifen in Regenbogenfarben,
an jedem zweiten Poller stecken ukraini-
sche Flaggen. Auf dem Weg zu einer Bar
namens Yesterday Is Not Today sitzt
mir in der U-Bahn ein junger Mann mit
einem gelb-blauen Peace-Zeichen auf
dem T-Shirt gegenüber. Die Bar ist eine
Empfehlung einer Bekannten. Der In-
haber soll Schallplatten mögen, ich mag
Schallplatten, das sollte passen.
Yesterday Is Not Today liegt im Viertel
Xinyj, unweit des Taipei 101, des 508 Me-
ter hohen Wahrzeichens des modernen
Taiwan. Man muss wissen, wo man hin-
will, wenn man an der breiten Keelung
Road durch ein kleines Café hindurch
hinab in den Keller steigt. An den Beton-
wänden, beleuchtet von gelben Neon-
röhren, hängen Schallplattenregale. Be-
kannte Jazz-Größen wie Oliver Jones,
Taipeh
die Süße des Honigs dominiert. Uri trinkt
einen Okinawa, die Bestandteile übersetzt
er mit »gemischtes starkes Zeug«.
Wir unterhalten uns über seine Kind-
heit in Taiwan, das fürchterliche Studium
in den USA, das ihn dazu brachte, Künst-
ler zu werden. Und das Fremdheitsgefühl,
das er empfindet, seit er zurück in Taiwan
Barkeeper weisen den Weg durch die Nacht: QUENTIN LICHTBLAU sucht Anschluss in ist. Macht er sich Sorgen, dass sich China
seine Heimat in der Zukunft einverleiben
der überdimensional beleuchteten Stadt – und findet einen trinkfesten Übersetzer könnte? »Klar sollte mich das interessieren.
Aber ich mache mir schon genug Sorgen
um mich selbst.« Er müsse sich auf seine
Kunst konzentrieren, seine Geschwister
seien erfolgreicher – das setze ihn mehr
unter Druck als das autoritäre Nachbar-
land. Außerdem sei hier alles so polarisiert
und inszeniert. Er erzählt von einer Parla-
mentsabgeordneten, die Wähler im Man-
ga-Comic-Kostüm für sich überzeugen
will. »Verrückt!«, sage ich und denke an
den als Shrek verkleideten Markus Söder.
Es ist schon nach ein Uhr, viele Bars
schließen um zwei, wir müssen weiter! Die
nächste Bar, die uns das 7th-Japanese-
Personal empfiehlt, hat leider keine Plätze
frei. So landen wir ein paar Meter weiter in

Fotos: An Rong Xu für DIE ZEIT

aber auch japanische City-Pop-Schönhei-
ten und Herbert von Karajan blicken von
den Covern. Ich setze mich an den Tresen
und suche das Gespräch mit den Barkee-
pern. Sam und Simon kommen aus Hong-
kong. Dort, erzählt Simon, sei es ihm nach
der Einführung des rigiden chinesischen
Sicherheitsgesetzes zu ungemütlich gewor-
den. Taiwan sei seine neue, freiere Heimat,
aber er vermisse Hongkong.
»Dafür ist hier die Barkultur besser«,
sagt Sam. Das liege auch am japanischen
Einfluss, zwischen 1895 und 1945 war
Taiwan eine Kolonie des damaligen Kaiser-
reichs. Er empfiehlt zum Einstieg in die
Nacht einen Earl Grey Marteani. Der
Hauptbestandteil ist eine Infusion aus
Earl-Grey-Tee und Bombay Gin. Ein
paar Tage muss das Gemisch ziehen,
dann kommt es zusammen mit etwas
Zitronensaft und Eiweiß für den Schaum
in den Shaker. Sam schüttelt das Ganze
nun mit großem theatralischem Ernst.
Wenig später nehme ich einen ersten vor-
sichtigen Schluck. Zu Beginn schmeckt
der Marteani salzig, dann bitter und er-
7th Japanese Bar
No. 47, Lane 119, Linsen N Rd,
Zhongshan District, Taipeh, 10491
Mo–So 20–3 Uhr
frischend sauer – ziemlich perfekt für die
Temperaturen, die auch nachts selten
unter 25 Grad fallen. Und dann?
Sam empfiehlt, den nächsten Drink in
der 7th Japanese Bar einzunehmen. Sein
eigener Cocktail-Meister sei dort Stamm-
gast, sagt er, während er einem anderen
Bargast ein Päckchen über den Tresen
reicht. Der bemerkt meinen Notizblock, wir
kommen ins Gespräch. Eigentlich ist Uri,
der eine schwarze Kappe und eine schwere
Yesterday Is Not Today
No. 182, Section 1, Keelung Rd,
Xinyi District, Taipeh, 110
Do–Fr 19–23 Uhr, Sa 19–2 Uhr
silberne Halskette trägt, nur hier, um das
Geburtstagsgeschenk zu holen, das er ver-
gangene Woche liegen lassen hat. Nun hat
er Lust, mich zu begleiten.
Das Taxi hält in einer engen Straße im
Viertel Zhongshan. Uri erklärt, dass hier
früher US-Soldaten stationiert waren, um
deren Kasernen herum sich eine noch im-
mer lebendige Rotlicht- und Barkultur
entwickelt hat. Auch in diesem Vergnü-
gungsdickicht müssen wir suchen, bis wir
No. 19 Bar
No. 19, Lane 133, Linsen N Rd,
Zhongshan District, Taipeh, 10491
Mo–So 20–3 Uhr
den Eingang zur 7th Japanese Bar finden:
Erster Stock, im Erdgeschoss ist eine an-
dere Bar, links und rechts von ihr auch.
Der Raum ist dunkel, die einzelnen Tische
sind mit Vorhängen abgetrennt, die Stim-
mung hat etwas Sakrales. Der Barkeeper
kommt an unseren Tisch, um die Geträn-
ke zu erklären – und ich bin dankbar, Uri
als Übersetzer dabeizuhaben: Ich ent-
scheide mich für einen Nara, benannt
nach einer Stadt auf der japanischen
der winzigen No. 19 Bar. Der Abstand
zwischen Tresen und Wand beträgt keine
Ausgestreckter-Arm-Länge. Hinter der
Bar steht eine Frau mit Hosenanzug und
Krawatte, auch das Interieur hat was von
einer geschrumpften Hotelbar: Holzver-
kleidung, weißes Licht – aus den Boxen
klingt leise ein Song von Radiohead. Als
unser Sitznachbar an der Bar hört, dass ich
aus Deutschland komme, sagt er fast
akzentfrei: »Guten Abend!« Ich bemühe
mein Chinesisch, antworte versehentlich
mit »Zăoshang hăo!«, »Guten Morgen!« –
und schon hat die ganze Bar was zu lachen.
Ich bekomme einen Penicillin, in sehr
Hauptinsel Honshu, laut Barkeeper ein reduzierter Variante: Das Glas ist nur zu
»simpler, aber raffiniert harter« Whisky etwa einem Viertel gefüllt, darin eine
mit einer Art Honigwein. Mischung aus schwedischem Whisky, Zi-
Der Drink kommt mit einem rund ge- trone und etwas Ingwerartigem – die
schliffenen Eiswürfel und einem aufge- Rezeptur will die Barkeeperin nicht verra-
spießten Stück getrockneter Kaki. Der ten. Uri nimmt einen klassischen Negroni.
Barkeeper hält einen weiteren Vortrag, wie Ihm fällt sein Geburtstagsgeschenk wieder
ich das Ganze am besten genießen soll. Als ein, das er noch nicht ausgepackt hat. Es
er nach etwa zwei Minuten fertig ist, fasst ist ein Buch, der Titel »Warum ist Kunst
Uri pragmatisch zusammen: Erst in die so traurig?«. Es folgt ein Seufzer, dann
Kaki beißen, dann trinken. Ich folge der heißt es »Wăn’ān«, »Gute Nacht«.

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HYGGE
Hygge bedeutet Gemütlichkeit.
Schön geknüpft ist halb gewonnen
CAROLA HOFFMEISTER

Makramee ist eine aus dem

Orient stammende Knüpf-
Im Zusammenhang mit diesem
Hygge-Trend spielen Naturma-
terialien eine wichtige Rolle.
Und klar: Ein Wandbehang aus
eingebunden, manchmal auch in

und sorgt für noch mehr Natür-

lich- und Gemütlichkeit. Genau-
Farben Beige, Creme, Terracotta
kräftiger Farbe. Das ist nachhaltig
und Apricot einrichtet oder viel-
leicht entsprechend eine Wand
streicht, kann die gefühlte Tem-
Anders als in der Welt der Mode
wechseln Trends im Bereich In-
terieur nicht so schnell. Aber ich
habe den Eindruck, dass es nach
Pinnwand
Delikatessen

So sind in vielen Wohnzimmern technik, die über Spanien Baumwolle wirkt gemütlicher so fi ndet man Trockenblumen in peratur schon um ein bis zwei Ausflügen in den Dschungel auf
nach Europa kam und als als ein Foto unter cleanem Glas. aktuellen Boho-Arrangements, Grad ansteigen. Am besten um- Tapeten oder Kissenbezügen
die Wände in Naturtönen sanft Wandschmuck oder Blumen- Wenn der Wandschmuck dann für die ein wilder Mix von Ein- gibt man sich auch mit warmen jetzt verstärkt in den heimischen

gekalkt. Und auf weichen ampel in den 1970er Jahren die auch noch selbst hergestellt ist
Wohnzimmer eroberte. Nun ist wie bei der Makramee-Knoten-
richtungsgegenständen aus un-
terschiedlichen Kulturen typisch
Materialien wie Holz, schwerer
Keramik für den Tee und samti-
Garten und Wald gehen wird.
Und was gibt es Gemütlicheres
Mühlenfrische Ölvielfalt
in Bio-Qualität
Sofas laden grobma- Makramee zurück, sagt Trend- technik, kommt eine emotionale ist. Makramee mit seinen vielen gen Cordkissen. Die Makramee- als einen Waldspaziergang aus der kleinen Manufaktur für große
expertin Gabriela Kaiser. Note hinzu. Für viele ist Makra- Fransen und Knoten gehört dazu. Kordeln, mit denen die Ornamen- im Herbst, wenn sich das kulinarische Ansprüche mit einer Viel-
schige Strickdecken zum mee ein meditatives Hobby, mit te und Wandbehänge gefertigt Laub so schön bunt falt an kaltgepressten Ölspezialitäten.
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Warum gefällt Makramee so dem man es sich zu Hause ge- Sorgen Hygge und Makramee werden, sind inzwischen auch verfärbt. hat. Genau
Einkuscheln ein. vielen Menschen? mütlicher machen kann. für mehr Wärme in den Woh- nicht mehr so ruppig wie in den dieses Waldfeeling
Im Bereich Interieur geht es nungen? 70er-Jahren, sondern weich und kann man sich mit
seit einigen Jahren stark um Gibt es beim Makramee auch Es gibt ja durchaus einen Unter- angenehm zu verarbeiten. selbst gesammel- Kunst & Antiquitäten
das Thema Gemütlichkeit: Die neue Entwicklungen? schied zwischen der gefühlten ten Kastanien oder
Menschen möchten ihr eige- Trockenblumen! Heutzutage wer- und der tatsächlichen Tempe- Bleibt uns der Hygge- und Ta n n e n z a p f e n
nes Zuhause so gestalten, dass den verstärkt getrocknete Blumen ratur. Und wenn man sich mit Makramee-Trend in den kom- gut nach Hause
sie sich maximal wohlfühlen. und Gräser in die Knotentechnik Accessoires in den angesagten menden Jahren erhalten? holen. 

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Illustrationen aus »Karneval der Tiere«: Maya Akiki

111952_EDI_371x528_X4_ONP26 1 29.09.22 15:41

 ENTDECKEN 71

Hallo, Ella,
ich langweile mich, ständig. Wenn ich
etwas Neues anfange (und ich fange
ständig etwas Neues an), langweile ich
mich nach kurzer Zeit. Will wieder
was Neues ... Bin aber auch unzu-
frieden mit dem Neuen, weil ich mich
nie perfekt in diesem Metier auskenne,
weil ich mich ja immer schnell lang-
weile. Gehe immer angestrengt in die
Tiefe, aber nie genug. Habe ständig
neue Frisuren, Ehrenämter, Jobs,
Hobbys ... Bin immer unzufrieden mit
der momentanen Situation. Will im-
mer wieder was Neues, immer wieder
eine Änderung.
Bin ich flatterhaft, notorisch un-
zufrieden, nicht genügsam, immer un-
glücklich mit dem Erreichten, un-
total gut so. Von mir zum Beispiel gibt
es Kinderbilder mit Rollerskates, im
Ballettkleid, mit Reiterhelm, im Judo-
Outfit, bis ich irgendwann festgestellt
habe, dass ich mich insgesamt eher
ungern bewege (außer beim Speerwer-
fen, mutmaßlich).
Nachdem Du allerdings nicht nur
Frisuren und Hobbys, sondern auch
Jobs und Ehrenämter erwähnst, mit
denen Du es bereits versucht hast, gehe
ich davon aus, dass Du vielleicht doch
nicht mehr ganz so jung bist. Und
dann mache ich mir ehrlich gesagt ein
bisschen Sorgen.
Es ist ja toll, dass Du nicht nur
unzufrieden bist, sondern offenbar
auch über jede Menge Energie ver-
fügst, die Du bereit bist, für eine Sache
Vielleicht hast Du auch gar nicht
so viel Energie, sondern hoffst im
Gegenteil, sie würde Dich schlagartig
überkommen, wenn Du nur die
richtige Beschäftigung gefunden hast.
Und vielleicht ist das einfach
Quatsch. Vielleicht wäre es besser,
wenn Du Dir selbst gegenüber ein
bisschen großzügiger wärst. Schlapp
sein ist okay. Manchmal von sich
genervt sein auch.
Versuch doch mal, das Ganze vom
anderen Ende her anzugehen. Such Dir
was, wofür es sich Deines Erachtens zu
arbeiten, zu denken, zu kämpfen lohnt,
am besten zusammen mit anderen, nicht
abgekapselt und allein. Dann zählt die
Sache, und es reicht völlig, wenn Dein
Beitrag daran genügend gut ist.

Illustration: Sergio Membrillas für DIE ZEIT

dankbar? Wie ändere ich das? Ich
möchte auch für etwas »brennen« und
dann perfekt und zufrieden sein!!!!!
Gibt es Auswege? Bleibe ich die ewig
Unvollkommene? Ich möchte Ruhe
und Zufriedenheit in meinem Dasein.
Liebe Grüße
Eine immer Unzufriedene
Liebe immer Unzufriedene,
ich hoffe, Du bist 15. Oder jedenfalls
noch keine 20. Dann würde ich Dir
jetzt gerne mütterlich den Arm um die
aufzubringen, im besten Fall sogar für
eine gute. Aber irgendwie scheint
Deine große Motivation wenig mit
den jeweiligen Inhalten zu tun zu
haben. Du willst perfekt sein, egal in
was. Warum überhaupt?
Du schreibst, dass Du Dir Ruhe
und Zufriedenheit wünschst. Ein ers-
ter Schritt auf dem Weg zu diesem
Zustand wäre, dass Du Dir nicht selbst
ständig abverlangst, aus dem Stand
heraus in irgendwas zu brillieren und
daran nicht nur Freude zu empfinden,
Du fragst mich, ob Du ewig unvoll-
kommen bleiben wirst? Das sind wir
doch alle. Und wenn Du keine 15
mehr bist, besteht die Herausforde-
rung darin, zu versuchen, Deinen Frie-
den mit der eigenen Begrenztheit zu
machen. Ich wünsche Dir sehr, dass es
Dir gelingt, immer wieder mit beiden
Füßen in die Pfützen der Begeisterung
zu springen, statt Dich auf der Suche
nach dem weiten Meer der Leiden-
schaft zu verrennen.
Deine Ella

Bin ich flatterhaft, unzufrieden, Schulter legen und Dich fragen, ob Du

es schon mal mit Speerwurf versucht
hast. Das hab ich nämlich neulich im
sondern gleich dafür zu »brennen«.
Wer brennt, hat keine Ruhe und Zu-
friedenheit. Und es brennt doch im
Schreiben Sie uns!
Sie haben Mist gebaut? Sie wären gern

nicht genügsam, undankbar? Fernsehen gesehen und lebe seitdem in

der festen, irgendwie auch ein bisschen
deprimierenden Überzeugung, dass ich
eine ganz hervorragende Speerwerferin
Sie haben ein Problem und würden gern darüber sprechen – aber es hat mal geworden wäre, wenn mir da mal frü-
her wer zugeraten hätte.
wieder keiner Zeit? Dann fragen Sie ELLA ! Gerade junge Menschen probieren
ja generell viel Kram aus, weil sie oft
noch nicht genau wissen, was sie
glücklich macht. Das ist normal und
Moment sowieso viel zu viel überall.
Wenn man sich ein neues Feld
erschließen will, kostet das erst mal
einiges an Energie. Niemand nimmt
eine Gitarre in die Hand und spielt am
nächsten Morgen einen Roddy-Frame-
Song. Vorher tun wochenlang die Fin-
gerkuppen weh und werden dick, und
dann klingt es immer noch scheiße.
C’est la vie.
anders, aber wissen nicht, wie? Ella lässt
sich was für Sie einfallen. Ella ist eine
ZEIT-Redakteurin mit abgebrochenem
Psychologiestudium und vielen Stunden
Tresentherapie-Erfahrung.
Schreiben Sie ihr offen und angstfrei
unter einem Pseudonym Ihrer Wahl per
Mail an:
fragmichmal@zeit.de
oder über Instagram unter @zeit_ella

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Am Fuß des
Fichtelbergs
In der höchsten Stadt Deutsch-
lands lässt es sich logischerweise
auch wunderbar im Winter Ski-
fahren. Nur liegt der Kurort
Oberwiesenthal nicht wie wo-
möglich zunächst vermutet in
den Alpen, sondern im Erzge-
birge an der tschechischen
Grenze. Hier an den Hängen
des Fichtelbergs findet man das
größte Skigebiet Sachsens. Und
natürlich ist die ganze Region,
welche als sehr schneesicher
gilt, beliebt bei den einheimi-
schen Wintersportlern und Er-
holungssuchenden.
Das Skigebiet verfügt über
zehn klassifizierte Pisten und
bietet ein insgesamt 75 Kilo-
meter großes Loipen- und Ski-
wandernetz. Daher ist die
Destination vor allem auch für
Langläufer interessant.
Ein weiteres empfehlens-
wertes Vergnügen ist die Ro-
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delabfahrt am Fichtelberg.
Hier kann sich die ganze Fami-
lie austoben. Und auch Win-
terwanderer können sich auf
insgesamt circa 26 Kilometer
landschaftlich reizvolle Wan-
derwege freuen.
Die Seilbahn ist im Übrigen
auch ein Highlight der Desti-
nation. Denn diese steht dort
schon seit 1924 und ist somit
die älteste Deutschlands.
Wer also nach einem Ski-
gebiet abseits der Alpen sucht,
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Warum nicht mal Winterurlaub im
schneesicheren Baltikum? Estland hat
zwar weder hohe Gipfel noch verspricht
es spektakuläre Abfahrten, aber von
Januar bis Mitte März liegt das Land
unter einer geschlossenen Schneedecke:
eine weite, tief verschneite Winterland-
schaft mit Wäldern und sanften Hügeln,
unzähligen Seen und klirrend kaltem,
bei jedem Schritt knirschendem Schnee.
Winterurlaub in Estland bedeutet Sport
in urwüchsiger Natur und Erholung für
Körper und Seele. Legendäre Loipen,
die häufig für Spitzensport genutzt wer-
den, umgeben zum Beispiel das tradi-
tionsreiche Städtchen Otepää, das auf
eine tausendjährige Geschichte zurück-
blicken kann. Skisport in winterlicher
Idylle bieten auch die Loipen im Erho-
lungspark Tähtvere und in Lähte. Kein
Wunder, dass Skilanglauf in Estland
zum Volkssport geworden ist. In den
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laufen auf den zugefrorenen Seen über
Snowtubing oder einen rasanten Ritt
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und die »Wintersporthauptstadt« in Tallinn und Tartu, dem einstigen
FRANCIS BACON
Otepää. Zurück geht es dann über
Tartu nach Tallinn. Dorpat, die zweitgrößte Stadt und kul- Touristikanzeigen
Wenn ein Reisender heimkehrt,
turelle Hauptstadt Estlands, wird der soll er die Länder,
Christiane.Topel@zeit.de!
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baltikum/winter-in-estland/ Winterurlaub zum erlebnisreichen Mix die er besucht hat, nicht ganz 040 / 32 80 291
aus Sport und Erholung, Geschichte hinter sich lassen. 040 / 32 80 471
und Kultur.
 ENTDECKEN 13. Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

Was mein
Du siehst aus, Leben reicher
WIE ES WIRKLICH IST
wie ich mich fühle macht

Das Hängeohr-Kaninchen-Baby Mel lebt mit seiner Mutter bei einer Familie in London, die sehr gespannt darauf ist, wie sich die Kleine künftig mit ihrem Hund vertragen wird. Fotografiert von Gerrard Gethings
... sich in den Vater Einmal im Jahr, meistens im Herbst, zieht es mich
nach Venedig. In meinem Quartier auf der Insel
einer Schulkameradin Giudecca angekommen, laufe ich morgens als Erstes
am Kanal entlang – vorbei an Venezianern mit ihren

zu verlieben Angelruten und den beiden Kirchen des großartigen

Architekten Andrea Palladio –, bis sich gegenüber

D
mit dem Dogenpalast nebst Markusturm die wohl
as erste Mal habe ich ihn getroffen, als schönste Silhouette der Welt eröffnet.
ich ungefähr zwölf Jahre alt war. Ich Nach knapp vier Kilometern Laufstrecke kehre ich
war die Babysitterin seiner Tochter. bei Majer ein und kaufe frische Panini und Cornetti
Wenn Jörg und seine damalige Part- zum Frühstück. So gestärkt, kann mein Tag in der
nerin ins Kino oder Restaurant gingen, passte ich Lagunenstadt beginnen.
auf das Mädchen auf. Sie war vier, fünf Jahre Sylke Claus, Leipzig
jünger als ich, ging auf dieselbe Schule, wir kann-
ten uns gut und mochten uns sehr. Ich bekam also Herbstlich ist es im Garten geworden, und der
Geld dafür, abends mit einer jüngeren Freundin alte Pflaumenbaum hat uns reich mit Früchten
zusammen zu sein. Nach einiger Zeit trennten beschenkt. Mit ihrem berauschenden Duft er-
sich die Eltern, Jörg fragte mich, ob ich weiterhin füllen sie das ganze Haus!
ab und zu babysitten würde. Wurde es spät, fuhr Ute Bauer-Schröter, Murnau a. Staffelsee, Bayern
er mich nach Hause, quatschte dort mit meinen
Eltern, trank mal ein Bier mit meinem Vater. Freitagmorgen. Nach dem Frühstück in den
Ich muss ungefähr 15 gewesen sein und saß Rollstuhl geschwungen, Punkt zehn Uhr bin ich
mal wieder mit Jörg im Auto, als ich das erste damit am barrierefreien Zugang unserer Stadt-
Mal dachte, dass er ein echt toller Typ ist. Er bibliothek (die im wiederaufgebauten Schloss
war immer so nett zu mir, hörte mir – anders als untergebracht ist), mit dem Fahrstuhl hoch in
andere Erwachsene – wirklich zu. Außerdem den ersten Stock, zum Zeitschriftenturm, dort
war er lustig und hatte wunderschöne rehbraune finde ich in einer Klappe auf der Rückseite: die
Augen. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm durch neue ZEIT. Es folgen die zwei schönsten Stunden
die Augen direkt ins Herz schauen kann. der Alleineseinzeit der ganzen Woche!
Irgendwann brauchte seine Tochter keine Hartmut H. Rübenkamp, Braunschweig
Aufpasserin mehr, aber Jörg und ich blieben in
Kontakt. Manchmal gingen wir spazieren, manch- Wir haben ein altes Haus gekauft, das wir mit viel
mal Kaffee trinken. Ich war 22, als Jörg mir erzählte, Liebe sanierten. Der Nestbau war schon ziemlich
dass er gerne wieder eine stabile Partnerschaft fortgeschritten – nur der Nachwuchs wollte sich
hätte und sich nach »Ankommen« sehnte. Ich nicht einstellen. Mein Liebster tröstete mich da-
erwiderte, dass ich die gleichen Wünsche hätte – mit, dass das Baby wohl nach der Mutter komme
auch wenn ich um einiges jünger sei. und sich sicher erst auf den Weg machen wolle,
An diesem Abend gingen wir ins Kino, in Ein wenn alles perfekt sei. Und was soll ich sagen:
ganzes halbes Jahr, eine Romanze. Mein Herz Wir sind Ende Juli eingezogen, und nun haben
schlug im Dunkeln des Kinosaales wie verrückt. wir das erste Ultraschallbild in der Hand!
Ich spürte, dass da was zwischen uns ist. Nach dem Cennet Kabakci,
Film nahm Jörg meine Hand, es war total auf- Nordkirchen, Nordrhein-Westfalen
regend und gleichzeitig surreal. Vor meiner Haus-
tür küssten wir uns das erste Mal und waren beide Festspiele in Salzburg, wunderbare Tage im Juli.
ziemlich überfordert von unseren Gefühlen. Nur mit Karten für den Reigen hat es nicht ge-
Ein paar Tage haben wir so getan, als wäre nichts klappt. Aber das Programmheft wollte ich haben.
passiert, aber wir konnten einfach nicht mehr ohne- Ich schrieb die Buchhandlung in der Salzburger Alt-
einander. Nach sechs Monaten heimlicher Liebe stadt an (die älteste in ganz Österreich). Man werde
haben wir es dann offiziell gemacht. Meine Eltern Folge 331 sich bemühen, erklärte mir eine freundliche Dame,
hatten von Anfang an nichts dagegen, weil sie ge- aber es könne dauern. Vor ein paar Tagen war dann
sehen haben, wie glücklich ich mit ihm bin. Jörgs das Programmheft in der Post. Mit ein paar hand-
Ex-Frau aber warf uns vor, dass die Sache zwischen geschriebenen Zeilen: »Betrachten Sie das Heft als
uns schon jahrelang laufen würde und ich die herzlichen Gruß aus Salzburg, und bringen Sie
Beziehung der beiden zerstört hätte, absoluter ZEITSPRUNG WORTSCHATZ nächstes Jahr Macarons aus der Schweiz mit.«
Quatsch. Leider hat Jörg schon seit Jahren keinen Wird gemacht! Ehrensache!
Kontakt mehr zu seiner Tochter, daher wissen wir Thomas M. Exl, Zug, Schweiz
nicht, wie sie über unsere Beziehung denkt. Auch
ich habe sie lange nicht mehr gesehen.
Überraschungsgast Sekerheitsnadelmarie Ein Brot von einer Bäckerei zu probieren, von der
Natürlich gibt es kritische Blicke und Ge- man vorher noch nie etwas gegessen hat.
rede, nach dem Motto: »Könnte ja fast ihr Vater An einer Straßenbahnhaltestelle sah Lars Janzen, Wistedt, Niedersachsen
sein.« Er und ich spüren die 16 Jahre zwischen ich eine junge Frau mit einer schicken
uns nie, wir ticken sehr ähnlich, haben fast Umhängetasche, deren lederne Der alte Herr mit Rollator, der auf dem Kassenband
immer dieselbe Einstellung. Wir sind sehr Klappe mit etwa 25 bis 30 Sicherheits- im Drogeriemarkt in einem Haufen aus Vitaminen,
glücklich miteinander. Im Februar 2023, am Hefetabletten und Doppelherz-Mittelchen zwei
sechsten Jahrestag unseres ersten Kusses, wird
nadeln dekoriert war. Packungen XXL-Kondome versteckt.
nun auch endlich geheiratet. Spontan erinnerte ich mich an einen Leonie Liederwald, Berlin
Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

Begriff, den ich vor langer Zeit

Monique (30) und Jörg (46) leben mit ihrem von meiner Großmutter gehört hatte:
zweijährigen Sohn in der Nähe von Paderborn. Sekerheitsnadelmarie. Die junge Machen Sie mit!
Jörg arbeitet als Handwerker, Monique als Lehrerin
Frau an der Haltestelle hätte Oma Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
Aufgezeichnet von Katharina Nachtsheim damit allerdings eher nicht gemeint. teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns.
Sie bezeichnete damit Frauen, die Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserseite«, 20079 Hamburg
ihre Kleidung, statt sie mit Nadel und
In Erwartung der Meisen blickte ich zum Fenster hinaus, Faden zu reparieren, notdürftig mit
Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist«
berichten möchten,
um dann eine Überraschung zu erleben ... Sicherheitsnadeln zusammenhielten. Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung
Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
Ihren Beitrag in der ZEIT, in der ZEIT-App, in sozialen Netzwerken oder
melden Sie sich bei uns: wirklich@zeit.de Katrin Spanier, Storkow (Mark), Brandenburg Ernst Günther Weber, Bremen in einem ZEIT-der-Leser-Sammelwerk zu veröffentlichen

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