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07.10.21 09:05
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R 14. OKTOBER
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2021 07.10.21

Bücher für
stürmische
»Pack deinen
Stern ein«
Wurde der Musiker
Gil Ofarim mit diesem

Zeiten
Satz diskriminiert?
Politik, S. 9

Daniel Kehlmann über Kafkas


Zeichnungen. Edgar Selges Schneller
fulminantes literarisches Debüt. als gedacht?
Und viele andere spannende Wie hoch die Zahl der
Bücher dieses Herbstes Geimpften wirklich ist
– und was daraus folgt
48 SEITEN LITERATURMAGAZIN
Wissen, S. 33
Titelillustration: Lina Müller für DIE ZEIT

Seht die Signale


ENERGIEPREISE DER FALL SARAH-LEE HEINRICH
Lebendiger als in der

Raus aus der Falle! Milde walten lassen


Politik: Ein Tag an
einer Ampel in Berlin
Entdecken, S. 67

Deutschlands Versorgung droht in Gefahr zu geraten. Schuld daran Nicht das Internet ist gnadenlos, die Gesellschaft ist es.
ist unsere Fixierung auf Gas aus Russland  VON MICHAEL THUMANN Warum wir vorsichtiger urteilen sollten  VON VOLKER WEIDERMANN

W E
er fragt, warum zu Hause der Fukushima-Katastrophe 2011 war Merkel der ine unheimliche Begegnung muss machen, denn es gehe ja um deren Zukunft. Zu PROMINENT IGNORIERT
das Heizen, der Strom und Wahlkampf in Baden-Württemberg wichtiger als das sein, eines Tages all die frühe­ viel gefühlte Verantwortung auf der einen, zu
das warme Wasser so teuer ein wohlgeplanter Ausstieg. Fix musste es gehen. ren Ichs zu treffen, die wir einmal wenig heilsames Vergessen auf der anderen Seite,
werden, der wird mit bil­ Ohne die vielen Formfehler hätte die Regierung gewesen sind. All die Sätze wieder diesem Widerspruch sind insbesondere junge
ligen Erklärungen abge­ – statt 2,43 Mil­liar­den Euro Kompensation an die zu lesen, wieder zu hören, die wir Menschen ausgesetzt.
speist. Das Erdgas sei so Energiekonzerne zu zahlen – die Erneuerbaren gesagt und geschrieben haben. Ein Wir alle sind in bisher nie gekannter Weise mit
teuer, weil die Weltwirtschaft nach der Pandemie wirksam fördern können. Falsche Eile, falsche peinliches Treffen. Hoffentlich kann es vermie­ unseren früheren Ichs, unseren frühen Meinungen
hochfahre. Weil A ­ sien und vor allem China Reihenfolge, falsche Investition. den werden. Max Frisch meinte: »Jeder Mensch und Fehleinschätzungen konfrontiert. Das ist­
mehr Gas bräuchten. Weil der letzte Winter kalt Doch sind es nicht nur die Mächtigen, die erfindet sich früher oder später eine Geschichte, erstens oftmals peinlich, zweitens ist es aber auch
und lang gewesen sei, weil der nächste bestimmt uns in der Gas-Falle halten. Der Ausbau der­ die er für sein Leben hält.« Es kommt darauf an, ein gutes Korrektiv für unsere eigene moralische
auch kalt werde. Und weil Gazprom und andere
Energiekonzerne die Preise hochtrieben.
Erneuerbaren stockt, weil Deutsche gegen Wind­
kraftanlagen protestieren und gegen die dringend
sich eine gute Geschichte zu erfinden. Und dass
sie einem keiner kaputt macht.
oder politische Eindeutigkeit und Überheblichkeit.
Die Tatsache, dass wir früher jemand ganz anderes
Kein Witz
An allem ist was dran, aber aus deutscher Sicht benötigten Stromtrassen mobilmachen. Ein weit­ Sarah-Lee Heinrich ist 20 Jahre alt. Am Wo­ waren, könnte uns zum Beispiel zu einer etwas Karl Lauterbach (SPD) wird in
sind das Entlastungsargumente. Deutschland hat reichendes Mitspracherecht gibt Einzelnen die chenende wurde sie zur Co-Vorsitzenden der weniger ausgeprägten moralischen Selbstgewissheit einer Comedyshow von Amazon
die höchsten Energiepreise in Europa. Schuld daran Möglichkeit, die Zukunft von vielen zu verbauen. Grünen Jugend gewählt. Jetzt heißt es, sie habe führen. Und in der Folge zu mehr Toleranz unse­ als prominenter Laie auftreten.
sind in erster Linie wir selbst. Unser Land ist einer Ergebnis: Wenn die letzten AKWs im nächsten ernst zu nehmende Morddrohungen erhalten. Im rem frühen Ich, aber auch all den Nicht-Ichs da Eine seiner Bekannten, die Kaba­
der größten Gasimporteure der Welt. Wir ver­ Jahr vom Netz gehen, stehen die geplanten­ Moment ihrer Wahl wurden alte Tweets von ihr draußen gegenüber. rettistin Hazel Brugger, habe ihn
brennen Gas, um Strom zu erzeugen, um Indus­ Trassen in die Industriezentren im Süden noch bekannt, mal schrieb sie »Heil« unter ein Haken­ Auch in diesem Punkt war die Pandemie und die dazu überredet und wolle ihn trai­
trien anzutreiben, um es warm zu haben. Über die lange nicht. kreuz, mal bezeichnete sie jemanden als »Tunte«, daraus folgende Selbstisolation von uns allen fatal. nieren, denn es fehle ihm an Witz.
Hälfte aller Haushalte in Deutschland heizt mit Die deutsche Antwort darauf heißt mehr Gas, ein Tweet enthielt Gewaltfantasien. Als sie das Die Neigung, nur noch mit uns selbst zu reden und Keine Sorge, lieber Herr Lauter­
Erdgas, Tendenz steigend. Die Deutschen haben mehr CO₂ in die Luft, mehr Geld für Gazprom. schrieb, war sie 14, 15 Jahre alt. den Leuten, die in unserer Videokonferenz vorbei­ bach, die größten Komiker waren
sich abhängig gemacht von diesem fossilen Brenn­ Heute kommen laut BP Statistical Review of World Manches war vielleicht ein Witz, manches­ schauen, ist grauenvoll und macht uns immer noch keineswegs witzig, Sie könnten
stoff. Die Preiskrise führt uns nun die selbst ver­ Energy 55 Prozent der gesamten deutschen Gas­ ironisch, manches dämlich, manches vielleicht intoleranter. Es ist ja auch so eine Trägheit, eine der Buster Keaton des deutschen
ursachte Verwundbarkeit vor. einfuhr aus Russland. Als die deutschen Behörden gefährlich. Für manches hat sie sich entschuldigt, Müdigkeit entstanden. Warum die Gegner anhören, Gesundheitswesens werden!  GRN .
2017 aufhörten, darüber Statistiken zu veröffent­ manches erklärt. Es ist vor allem eines: lange her. wenn man sie verbal abschießen kann?
Kleine Bilder (v. o.): Ina Bohnsack; Francesco
Eine Kette folgenreicher lichen, waren es nur 40 Prozent. Wir sitzen alle in der Falle unseres Selbst. Und Ciccolella für DIE ZEIT; Shutterstock [M];
Fehlentscheidungen Das alles freut Putin. Jetzt empfiehlt er den Schon sehr früh im Leben schreiben sind darauf angewiesen, dass die Zeit uns verzeiht, Kay Nietfeld/picture alliance/dpa
Deutschen, möglichst schnell die fertig gebaute wir in ein öffentliches Archiv setzen auf das milde Vergessen. Manches jedoch
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
Die deutsche Gasomanie ist die Folge vieler Fehl­ Nord-­Stream-­2-­Pipe­line zu zertifizieren – obwohl kann, ja darf nicht vergessen werden. Aber was? 20079 Hamburg
entscheidungen mehrerer Bundesregierungen. Das diese mit der Verschmelzung von Lieferant und Aber es ist eben heute so: Wir alle schreiben von Wir sind auch das Land des großen, wil­lent­ Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
ging los mit Gerhard Schröder ab 1998. Die rot- Betreiber gegen EU-Recht verstoßen könnte, der einem frühen Zeitpunkt unseres Lebens an in ein lichen Vergessens. Die letzten Vertreter der Gene­ DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de
grüne Koa­li­tion wollte unbedingt weg von der Rechtsstreit läuft. Doch für die Entschärfung der öffentliches Archiv. Ein Live-­Archiv ungeheurer ration Günter Grass treten in diesen Jahren ab. Wie ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
Atomkraft. Ihre Energierevolution war aber weniger Preiskrise braucht niemand Nord ­Stream 2. Gaz­ Möglichkeiten: Jeder Mensch kann früh sein eige­ bedrückend, wie beschämend war ihr jahrzente­ ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
der Durchbruch zu den Erneuerbaren als die große prom könnte einfach mehr Gas durch die Ukraine nes Massenmedium sein, potenzielle Leserschaft langes Schweigen und Verdrängen. Natürlich
Wende zum Erdgas. Der CO₂ emittierende Roh­ nach Europa liefern. Wollen die Oligarchen nicht, ist die ganze Welt. Das kann schon zu Größenwahn reagieren wir auch deswegen und zu Recht so aller­ ABONNENTENSERVICE:
stoff sollte das noch dreckigere Öl ersetzen. Viele oder können sie nicht? Ob nun so oder so: Erdgas führen und zu verantwortungslosen Knall-Tweets. gisch auf das Löschen des eigenen, frühen Lebens. Tel. 040 / 42 23 70 70,
Fax 040 / 42 23 70 90,
SPD-Politiker machten sich für Gaskraftwerke ist kein krisensicherer Rohstoff. Jung sein heißt aber auch: ein Recht auf Unsinn Aber gehören blöde oder schlimme Bemerkungen E-Mail: abo@zeit.de
stark, Schröder baute mit dem russischen Präsiden­ Die richtige Antwort darauf wäre eine lang­ zu haben. Unsinn reden, Unsinn schreiben, Unsinn einer 15-Jährigen wirklich in diese Kategorie?­
ten Wladimir Putin die Ost­see­pipe­line Nord S­ tream fristige Strategie des Gaseinsparens. Strom muss machen, denn wer weiß, manchmal entsteht ein Sicher nicht. PREISE IM AUSLAND:
1, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel stielte im billiger werden, da bietet sich als Erstes die Strei­ neuer Sinn daraus. Das ist die Freiheit, die not­ Sarah-Lee Heinrich hat die Moral ihrer Ge­ DK 64,95/FIN 8,70/E 7,30/
CAN 7,80/F 7,30/NL 6,90/
Jahr 2015 Nord ­Stream 2 ein. Angela Merkel chung der EEG-Umlage an. Für den Schutz des wendig ist. Ein freier Raum verantwortungslosen schichte inzwischen selbst geschrieben: »Ihr dürft A 6,20/CH 8.50/I 7,50/GR 7,80/
(CDU) und Olaf Scholz (SPD) voll­ende­ten das Klimas sollte lieber ein Kohlekraftwerk früher und Denkens. meine Story gern in Zukunft am Küchentisch und B 6,90/P 7,60/L 6,90/H 3190,00
Putin-Projekt, während Schröder und andere SPD- ein Atomkraftwerk notfalls ein, zwei Jahre später Doch das Leben vieler junger Menschen ist in der Schule als Abschreck-Beispiel verwenden,
o
N 42
Politiker ihr Geld längst in der Energiewirtschaft vom Netz gehen. Vor allem aber muss die nächste heute von einem frühen Zeitpunkt an extrem­ damit junge Menschen lernen, verantwortungs­
verdienten. Unter Wirtschaftsminister Gabriel Bundesregierung massiv in erneuerbare Energien, politisiert. Aus guten Gründen. Viele haben einfach bewusst mit dem Internet umzugehen.« Denn auch
wurden obendrein noch Deutschlands größte Gas­ in Wind- sowie Solarkraftwerke, und in Strom­ Angst – vor der Zukunft. Auch Nichthandeln ist sie hat gelernt, wie gefährlich Worte und Phrasen
speicher an Gazprom verkauft. Ausgerechnet. trassen investieren. Und jeder Deutsche, der sich ein politischer Akt. Oftmals fühlt man sich unter sind. Sarah-Lee Heinrich hat wirklich jedes Recht
7 6. J A H RG A N G C 7451 C
Dazu kam das Berliner Abschaltchaos. Anstatt jetzt noch eine Gasheizung einbauen lassen will, Dauerverantwortung für die Zukunft, die ganze auf mildernde Umstände. Und nebenbei die­
die schlimmsten CO₂-Schleudern, die Kohlekraft­ sollte sich gut überlegen, ob er nicht etwas mehr Welt. Das ist natürlich eine Überforderung. Eben­ Chance, auch selbst künftig milder zu urteilen.
werke, als Erstes auslaufen zu lassen, leisteten sich Geld in eine nachhaltige Lösung investiert. Damit so wenn Großeltern mit bestem Gewissen ihren 42
erst Schröder, dann Merkel einen kostspieligen er nicht hinterher für Putins saftige Gasrechnung zehnjährigen Enkeln ihre Wahlscheine geben, mit Beide Leitartikel finden Sie zum Hören
Wettlauf um das Ende der Atomkraftwerke. Nach zahlen muss. der Bitte, das Kreuz an der richtigen Stelle zu­ unter www.zeit.de/vorgelesen 4 190745 105903
2 POLITIK 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Partei in
Auflösung?
Die Revolution in der CDU wurde vertagt, denn es gibt ja keine Führung mehr, gegen die man aufbegehren könnte.
Die versprochene Erneuerung erschöpft sich vorerst in Coaching-Floskeln – aber das wird nicht mehr lange gut gehen  VON MARIAM LAU

N
och stehen auf der Straße Zwischen Merz, Inzwischen liegt nicht statt immer nur Begründungen für das Regie-
vor dem Berliner Konrad- Spahn und Linne- nur der Vorwurf auf rungshandeln zu liefern. Aber neben der Forde-
Adenauer-Haus am Montag- mann scheint angeb- dem Tisch, Kurz habe rung nach Mitgliederbeteiligung findet sich keine
vormittag die gepanzerten lich eine Verständigung sich auf Staatskosten einzige Idee, wohin es jetzt gehen soll. Wer in der
Limousinen und die Kameras möglich: Einer über- wohlwollende Bericht­ Partei herumfragt, was Deutschland fehlen würde,
dicht an dicht. Im Vor­ bei­ nimmt die Fraktion, ei- erstattung erkauft. In den wenn es die CDU nicht mehr gäbe, hört eine nie-
gehen murmelt ein Mitglied ner den Bundesvorsitz, Chats, die öffentlich wur- derschmetternd anspruchslose Antwort mit un-
des CDU-Bundesvorstands: »Klar, noch fährt man und Linnemann wird den, tritt dem Publikum schönem Symbolcharakter: die schwarze Null.
mit dem Dienstwagen durch die Stadt, noch ist Generalsekretär – diese auch ein Mann entgegen, Allerdings kämpft die CDU – die in einer ak-
man wichtig. Frage mich, wie vielen bei uns klar Idee kursiert. Aber noch ist der nicht wie jedermanns tuellen Insa-Umfrage nur noch bei 19,5 Prozent
ist, dass es damit bald vorbei sein könnte. Dass es alles in der Schwebe, noch Lieblingsschwiegersohn da- liegt – mit einer Frage, die viel größer ist als sie
mal einfach nicht mehr so drauf ankommt, was los ist sich jeder selbst der herredet, sondern wie ein selbst: Wie viel repräsentative Demokratie ist ge-
ist bei der CDU.« Nächste. ruchloser, vulgärer Intrigant. wünscht, wie viel davon ist lebensnotwendig für
Sich gegen die Erosion der Macht stemmen Manche derer, die eine Mit dem Fall von Kurz, so der das Gelingen des Ganzen? »Das alte bundesrepu-
und gleichzeitig einen zauberhaften Neuanfang ins Partei mit 440.000 Mit- Historiker Andreas Rödder, sei blikanische Prinzip: Legitimation durch Verfah-
Werk setzen: Diese politische Paradoxie müssen sie gliedern in den kommenden nun »eine weitere A ­ lternative ren, ist erodiert«, meint der Ex-Generalsekretär
nun irgendwie zusammen hinbekommen. Schon vier Jahren durch die Wüste zur Merkel-Politik zerschlagen«. Ruprecht Polenz. »Welche Gefahr darin steckt,
jetzt ist klar: Das gesamte Establishment der CDU zurück ins Gelobte Land Mit einem hässlichen Ge- kann man an den US-Republikanern studieren.«
wird auf dem nächsten Parteitag zum Jahreswech- führen wollen, können zum räusch landet eine Frage auf dem Wer in der CDU »Mitglieder« sagt, meint in
sel zurücktreten – ob mit mehr oder weniger Be- Teil nicht einmal mehr direkt Tisch der strauchelnden CDU- diesen Tagen meist »Friedrich Merz«. Die dahin-
teiligung von Mitgliedern, das entscheiden die 330 mit­ein­an­der reden. Da wird Bewunderer: Gibt es eine Ver- terliegende Einschätzung lautet, das »Establish-
Kreisvorsitzenden am 30. Oktober. Genauso klar Coach Laschet eine Menge bindung zwischen dieser Art von ment« habe nun dreimal den wahren Kandidaten
ist aber auch: Ein Großteil von ihnen wird noch Blockaden zu lösen haben. Rechtspopulismus und einem der Herzen verhindert. »Die Anhänger vom
am selben Tag erneut zur Wahl antreten. Moderie- Ralph Brinkhaus ist wild ent- Beuteverhältnis zum Staat, wie man Linkskurs unter Merkel, AKK, Günther etc. sind
ren will den Prozess ausgerechnet der Mann, dem schlossen, an seinem Posten als es in Deutschland auch in der Mas- zu allem bereit. Um die Mitglieder geht es ihnen
so ziemlich alle in der U
­ nion, zumal die in Bayern, Fraktionschef festzuhalten, und kenaffäre beobachten konnte? Heißt nicht«, twitterte ein Kreistagsabgeordneter. JU-
die Schuld am historischen Schlamassel vom will schon deshalb auch Partei- »konservativ« womöglich als Erstes Chef Kuban hat in der Sitzung am Montag die
26. September geben: der Noch-Bundesvorsitzen- vorsitzender werden, weil bislang mal, sich schlicht anständig und­ Parteispitze davor gewarnt, sich jetzt durch­
de und Noch-Ministerpräsident Armin Laschet. als unumstößlich galt, dass in der korrekt zu verhalten, sogar wenn­ Verschleppung um eine echte Mitgliederbefra-
Die CDU droht nun in einer Wiederholungs- Opposition beides in einer Hand keiner guckt? gung herumzumogeln. Dann knallt es, lautete
schleife stecken zu bleiben, aus der es seit 2018 liegen müsse. Diese Frage stellte sich plötzlich die Ansage.
kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Damals Die Partei wiederum habe genug auch Markus Söder, einem potenziel- Die Wut richtet sich konkret auch gegen den
gab Angela Merkel den Parteivorsitz auf. Seither von den »Ichlingen«, die doch schon len Gesicht des Aufstands gegen das amtierenden Bundestagspräsidenten Wolfgang
heißt es: »Erneuerung!« – »Friedrich Merz!« – mal verloren hätten und es aber CDU-Establishment. Am Wochenen- Schäuble. Der habe in jener Nachtsitzung im April
»Oder lieber doch nicht!« trotzdem immer und immer wieder de trat bei der Landesversammlung der mit Armin Laschet und Markus Söder den erfolg-
Die angesagte Revolution von rechts – Tilman versuchten, erzählt ein Landesvorsit- CSU-Jugend in Deggendorf glasklar­ losen Kandidaten durchgedrückt, nur um das An-
Kuban, der Chef der Jungen ­Union (JU), hatte ge- zender am Rande der Sitzung. Das zutage, dass diese ein großes Maß an cien Régime der Partei zu retten. Schäuble weist
fordert, es dürfe nun »kein Stein mehr auf dem solle Erneuerung sein, mit den immer Verantwortung für das Desaster vom den Vorwurf zurück. Es gebe »kein besseres Or-
anderen bleiben« – bleibt einstweilen aus. Statt- gleichen Kombattanten? Gewinnen 26. September bei Söder sieht. Wie von gan, um die Basis zu berücksichtigen, als den Par-
dessen wird man sich in beflissener Betriebsamkeit werde jetzt der, der auch mal zurückste- einem politischen Tourettesyndrom be- teitag«. Schäuble wundert sich, dass nie jemand
erneut dem Prozedere widmen und die Frage ver- cke. Der Schritt der beiden CDU-Bun- fallen kann der Chef der Christsozialen die Frage stelle, warum Markus Söder auf seine
gessen, die eigentlich allen quer über die Stirn ge- desminister Annegret Kramp-Karren- einfach keine Gelegenheit auslassen, Ar- Intervention hin überhaupt eingelenkt habe.
schrieben steht: Wofür braucht Deutschland im bauer (siehe Interview nächste Seite) und min Laschet zu attackieren und anschlie- Über alldem ist völlig ungeklärt, wie sich die­
Jahr 2021 noch die CDU? Peter Altmaier, auf ihre Mandate zugunsten jünge- Tage in der Luft ge­legen hatte, den Schwung. Zum ßend zu dementieren, dass da irgendeine Bösartig- Union künftig positionieren wird: neben der AfD
Dass Laschet einmal mehr Prokura bekommt und rer Abgeordneter zu verzichten, hat da erheblichen Zeitlupen-Rücktritt von Armin Laschet kam die­ keit vorgefallen sei. Auch die U ­ nion brauche im Bundestag und in Opposition zu einer Regie-
an diesem Montag nicht davongejagt wurde, ist nur moralischen Druck erzeugt. Implosion des österreichischen Bundeskanzlers­ »Teamarbeit«, so der JU-Delegierte Stefan Meitin- rung, in der mit der FDP eben auch eine bürger-
möglich, weil er zuvor seinen Rückzug angekündigt Armin Laschet hat allen 37 Vorstandsmitgliedern Sebastian Kurz – des Mannes also, der als der Anti- ger, und keine »One-Man-Show«. Das Ergebnis, liche Partei sitzt. Julia Klöckner verfügt da über
hat, auf seine eigene verschlungene Art. Zwei Wo- für die kommenden zwei Wochen eine Interview- Merkel aus der Flüchtlingskrise jahrelang unter dem begleitet von wütenden Rufen aus dem Saal: Der einige Erfahrung aus Rheinland-Pfalz, wo die
chen gibt sich der Noch-Ministerpräsident von Nord- sperre erteilt. Er wolle die volle Aufmerksamkeit der Applaus der Bild-Zeitung eine Art Posterboy der Passus vom »Zugpferd Markus Söder« verschwand Ampel bereits regiert. Noch ist sie Landwirt-
rhein-Westfalen nun, um die fünf potenziellen Nach- Medien auf die Stolpersteine in der Ampel-Sondie- Parteirechten war, von der CSU über Mit­tel­stands­ aus der ­Erklärung zur Wahlniederlage. schaftsministerin, noch fährt sie mit dem Dienst-
Illustration: Luca D’Urbino für DIE ZEIT

folger und NRW-Landsleute – Friedrich Merz, Jens rung zwischen Grünen, FDP und SPD lenken, weg union bis zur Jungen ­Union. Sie bewunderten, dass Aber neben Laschet-Rücktritt, Kurz-Sturz und wagen durch die Stadt. »Finanzpolitischer Realis-
Spahn, Norbert Röttgen, Ralph Brinkhaus und von der U ­ nion. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts ein junger, schneidiger Kerl wie ein heißes Messer Söder-Erosion scheitert ein Aufstand der Konser- mus« – das könne die ­Union immer gegenüber
Carsten Linnemann – zu einer »Teamlösung« zu zu sehen! Aus der Sitzung, in der Laschet »aufgeräumt durch die fette Butter der alten Volkspartei ÖVP­ vativen vor allem an der ungelösten Kernfrage: der FDP in Anschlag bringen. Außerdem das
bewegen. Aber in der Opposition, wo keine Minister- und gelöst« und völlig im Reinen mit einer Zukunft gefahren war und sich alles untertan gemacht hatte. Was zum Teufel ist heute »konservativ«, und wie Eintreten für Frauenrechte, auch unter Musli-
ämter und andere Trostpflaster mehr angeboten als Hinterbänkler im Bundestag gewirkt haben soll, »So einen brauchen wir hier auch!«, hieß es. Noch bis kriegen wir es blitzblank geputzt und leuchtend? men. Und dass der Markt nicht alles regelt, auch
werden können – also nur noch das Amt des Bundes- drang währenddessen kein Wort nach draußen. Das knapp vor Kurz’ Rücktritt erklärte einer seiner jungen Die Partei sei »eingeschlafen und demoralisiert«, beim Klima nicht. Auf ein Thema freuen sie sich
vorsitzenden und der Fraktionsvorsitz bleiben –, kann ist schon Jahre nicht mehr vorgekommen. CDU-Fans: »Nun, staatsanwaltliche Untersuchungen schreiben JU-Chef Tilman Kuban und andere in bei der ­Union, da könne man so richtig »CDU
das eigentlich nur eins heißen: Mindestens drei Ist die »konservative Revolution« also abgesagt? haben wir hier ja auch, gegen Olaf Scholz! Das heißt einem Gastbeitrag für die Welt am Sonntag. Jetzt pur« bieten: wenn die Ampel drangehe, Cannabis
müssen verzichten. Mehrere Dinge nahmen dem Aufstand, der ein paar erst mal noch nicht viel.« sei die Zeit für »CDU pur«, für »eigene ­Ideen«, zu legalisieren.

Ampelphasen
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen? Und läuft wirklich alles so harmonisch?  VON PETER DAUSEND

W
o genau – so fragt man sich in Nun, das vorsichtige Erkunden wird kaum aus- bei der Klimapolitik für die Grünen und bei Dass Scholz am Dienstag zu einer zweitägigen Ampelkoalition anpacken soll. Die heftigsten Aus­
einer Woche, in der die mögli- reichen, wenn man, wie der Grünen-Co-Vorsit- 12 Euro Mindestlohn für die SPD. Reise zum Herbsttreffen des IWF nach Washing- ein­an­der­set­zun­gen werden beim Thema Finanzen
chen Partner einer immer wahr- zende jüngst in einem Deutschlandfunk-Interview In den ersten beiden Wochen der Gespräche ton reiste, irritierte wiederum FDP und Grüne. erwartet: Die FDP will Unternehmen entlasten,
scheinlicheren Ampelkoalition erklärte, zum Wochenende hin etwas Verbindli- wurden die Partner nicht müde, das konstruktive, Sucht da einer etwa vor der Zeit die glamouröse sperrt sich strikt gegen höhere Steuern, möchte aber
zu zehnstündigen Treffen zu- ches vorlegen möchte. Ein Papier mit konkreteren vertrauliche, zu­kunfts­orien­tier­te Gesprächsklima zu Nähe des US-Präsidenten? Das sei wenig hilfreich, ein Modernisierungsprogramm für Staat, Wirtschaft
sammenfinden – verläuft die Grenze zwischen Ergebnissen wird man nur zustande bringen, wenn loben. Ein atmosphärisches Bullerbü sind diese Tref- wurde im Innovationszentrum misstrauisch ge- und Gesellschaft auflegen. Die SPD verspricht sta-
dem, was sie gerade tun, und dem, was sie von das eine oder andere schon mal etwas eingehender fen aber nicht immer. Olaf Scholz, Kanzler in spe, raunt. Der amtierende Finanzminister hätte sich bile Renten sowie Entlastungen für kleine Einkom-
nächster Woche an wohl tun werden? Was also ist erörtert wurde. Wer eine so komplizierte Kon­stel­ hat zwar, taktisch geschickt, die »professionelle Vor- zu dem Treffen, das als Hybridveranstaltung men und will die Spitzenverdiener stärker belasten.
eigentlich der Unterschied zwischen »sondieren« la­tion wie ein Dreierbündnis aus zwei Wunsch- bereitung« von Grünen und FDP gelobt. Doch durchgeführt wird, auch per Video zuschalten Und die Grünen wollen im Kampf gegen den Klima-
und »verhandeln«? Und lässt sich das eine von dem partnern und einem Widersacher sondiert, kommt mancher Sozialdemokrat ist pikiert darüber, dass sich können. Dass er es vorzog, persönlich anzureisen, wandel in den kommenden Jahren bis zu zwei Billio-
anderen sortenrein trennen? um erste Verhandlungen gar nicht rum. Schließ- die kleineren Partner zunächst allein trafen, sich flugs darf man getrost als kleine Botschaft an die Part- nen Euro investieren. Einen Kompromiss zu finden
Sondieren bedeutet laut dem allwissenden Du- lich wird sich die FDP kaum mit der vagen Zusage zum Innovationszentrum einer möglichen Regierung ner im Werden verstehen: Ich habe auf euch ge- ist so schwer, weil bei jeder Lösung einer etwas zu-
den »etwas (vorsichtig) erkunden, um sein eigenes von SPD und Grünen zufriedengeben, man werde erklärten – und in vielen Me­dien zu lesen war, Grüne wartet, jetzt dürft ihr mal auf mich warten. rücknehmen muss, was er angekündigt hat. Am Ende
Verhalten der Situation anpassen zu können«. Wer in der Steuer- und Finanzpolitik, dem Kernanlie- und FDP suchten sich aus, wer unter ihnen Kanzler Sollten kommende Woche die Verhandlungen der Regierungsbildung wird also etwas anderes wich-
verhandelt, möchte hingegen »etwas eingehend er- gen der Liberalen, sein Verhalten anpassen. Eine werden solle. Den Stolz der ohnehin leicht zu krän- beginnen, schlägt die Stunde der Fachpolitiker. Von tig sein: die Bereitschaft zum Verzicht.
örtern, besprechen, um zu einer Klärung, Eini- Einigung muss zumindest in Umrissen erkennbar kenden Sozialdemokratie hat das verletzt. Nur war der Verkehrspolitik bis zur Entwicklungszusammen-
gung zu kommen«. sein, bevor die FDP weitermacht. Ähnliches gilt sie dis­zi­pli­niert genug, es nicht zu zeigen. arbeit wird unter ihnen ausverhandelt, was eine  www.zeit.de/vorgelese
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 POLITIK 3

DIE ZEIT: Frau Kramp-Karrenbauer, haben Sie mentieren. Was ich aber immer gesagt habe: Ich
Mitleid mit Armin Laschet? bin äußerst skeptisch, wenn man aus einer Partei,
Annegret Kramp-Karrenbauer: Nein. Mitleid ist die immer eine breite programmatische Heimat
ein Gefühl von oben herab. Ich fühle mit ihm, bieten muss, eine Sammlungsbewegung macht, die
kann mich in ihn hineinversetzen und ahne, wie es zentriert ist auf eine Person. Denn was bleibt,
ihm im Moment geht. wenn diese Person scheitert?
ZEIT: Er ist jetzt fast in derselben Situation, wie Sie ZEIT: Wie kann die Politik einer CDU in der Op­
es im Februar 2020 waren. Sie nahmen sich als position aussehen – gegen die bürgerliche Partei
Kanzlerkandidatin aus dem Spiel, als Sie partei­ FDP in der Regierung, während man gleichzeitig
intern infrage gestellt wurden. Er hat jetzt seinen neben der AfD auf den Oppositionsbänken sitzt?
Rückzug als CDU-Chef in Aussicht gestellt und Und dann kommt, sagen wir mal, die erste Euro-
will, wie Sie damals, als eine Art ehrlicher Makler Krise ...
den Übergang moderieren. Bei Ihnen hat es nicht Kramp-Karrenbauer: Es wird die große Heraus­
geklappt. Kann das bei ihm gut gehen? forderung sein, nicht der Versuchung zu erliegen,
Kramp-Karrenbauer: Die CDU ist eine Partei, die in einer Opposition mit zwei extremen Kräften
in einem Punkt immer ganz klar war: Wer als Vor­ diese beiden Parteien übertönen zu wollen. Rech­
sitzender die Verantwortung trägt und den ge­ nerisch ist Jamaika nach wie vor möglich. Die
wünschten Erfolg nicht liefern kann, ist in der CDU muss sich programmatisch so aufstellen, dass
CDU schnell Vergangenheit. Das ist sehr hart, aber sie immer deutlich macht: Eine bessere Regierung
es hat auch immer zu den nötigen Erneuerungen als eine Ampel ist möglich. Das heißt aber, dass wir
geführt. Wenn man eine Wiederholung dessen­ unsere eigenen Vorstellungen einbringen müssen.
verhindern will, was sich nach meinem Rückzug Das ist harte Arbeit. Ich habe mein politisches Le­
abgespielt hat, muss man sich als Erstes klar da­ ben auf der Landesebene begonnen – in fünfzehn
rüber werden, dass es nichts nützt, nur einen Kopf Jahren Opposition zu Oskar La­ fon­
taine – und
auszuwechseln. weiß, was harte Oppositionsarbeit bedeutet.
ZEIT: Die CDU hat am Montag beschlossen, dass ZEIT: Heißt das, die CDU ist die nächsten vier
der gesamte Vorstand ausgewechselt wird. Jahre eine Regierungspartei im Wartestand, die
Kramp-Karrenbauer: Das ist gut so. Denn jeder, sich anbietet, eine Ampel jederzeit enden zu l­assen?
der als neuer Vorsitzender antritt, muss deutlich Kramp-Karrenbauer: Jetzt muss man erst mal ab­
machen, mit welchem Team, etwa als Stellvertreter, warten, was für ein Koa­ li­
tions­
ver­
trag zustande
er oder sie antritt, um die Breite der Partei abzubil­ kommt. Wir sind jedenfalls nicht nur da, um Grü­
den. Zweitens müssen wir unsere Basis in den Län­ nen und FDP dazu zu dienen, ihren Preis gegen­
dern verteidigen. In einem halben Jahr sind drei über der SPD hochzutreiben. Dann müssen wir
wichtige Landtagswahlen im Saarland, in Schles­ definieren, wie eine andere, bessere Politik aus­
wig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – alles sehen könnte. Dazu ist eine Opposition da. An­
keine Selbstläufer. Und drittens muss die CDU die sonsten bräuchte man sie nicht.
Oppositionsrolle annehmen, und das heißt: Sie ZEIT: Haben Sie ein Thema im Auge, wo Sie sa­
muss die bestmögliche Opposition sein. gen: Dazu braucht man die CDU?
ZEIT: Sie sagen: Wer die Macht nicht liefert, wird Kramp-Karrenbauer: Es geht um Haltung. Und
abgesägt in der CDU. Ganz schön brutal für eine dabei sicherlich um das Thema Solidität. Dafür
Partei, die das C immer so hochhält. haben wir immer gestanden, in den Finanzen, aber
Kramp-Karrenbauer: Politik ist so und nicht nur auch wenn es darum geht, Europa zukunftsfähig
die. Und das ist in den anderen Parteien nicht zu machen, ohne den Weg frei zu machen für eine
anders. Ich habe die CDU immer ein bisschen mit Vergemeinschaftung von Schulden. Es wird da­
dem FC Bayern München verglichen: Die CDU rum gehen, wie wir den Klimawandel konsequent
erwartet Erfolg. Und man erwartet von ihr Er­ so eindämmen, dass die Bürgerinnen und Bürger
folg. Dazu wird man gewählt, das ist die Aufgabe. in Deutschland auch in Zukunft vernünftig leben
Das weiß jeder, der kandidiert. Trotzdem kann können. Wir haben dazu einiges an Vor­ arbeit­
und sollte man menschlich anständig mit­ein­an­der geleistet.
­um­gehen. ZEIT: Bloß hat man davon wenig gemerkt.
ZEIT: Als Armin Laschet angetreten ist, war völlig Kramp-Karrenbauer: Wir konnten nicht deutlich
offen, welche Koa­li­tion regieren würde, nur eins machen, wofür die CDU steht. Da ist unser Wahl­
schien völlig klar: dass die CDU den Kanzler stellt. kampf Stückwerk geblieben.
Wann ist das gekippt? ZEIT: Die eine Antwort, die alle auf die Frage nach
Kramp-Karrenbauer: Das war eher ein Spalt- als dem Lebensthema der CDU geben können, ist: die
ein Kipppunkt. Armin Laschet war zwar der Kan­ schwarze Null. Ist das nicht ein bisschen traurig?
didat der ­Union, gleichzeitig haben viele – in der Kramp-Karrenbauer: Wir hätten den Sinn dahin­
CDU genauso wie in der CSU – immer wieder ein ter deutlicher machen müssen: Die schwarze Null
Fragezeichen gesetzt: Ist er der richtige Kandidat, ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck nachhalti­
wäre Markus Söder nicht der bessere gewesen? ger und generationenbewusster Finanzpolitik. Wir
Wir haben es im gesamten Wahlkampf nie ge­ verbraten nicht einfach das Geld der nächsten Ge­
schafft, ein wirklich klares Si­gnal zu setzen: Armin neration. Wenn man selber in einem Haushalts­
Laschet ist unser Kandidat, und den tragen wir notlageland wie dem Saarland Politik gemacht hat,
auch. Da muss sich jeder selbst Gedanken machen, weiß man, wie bitter es ist, wenn man keine Lehrer
was er dazu beigetragen hat. Und dann, das hat einstellen kann, keine Polizisten, weil man das
Armin Laschet selbst eingeräumt, sind ihm auch Geld nicht hat. Aber wir haben es nicht geschafft,
Foto: Thomas Pirot für DIE ZEIT

Fehler passiert. In unserer heutigen schnelllebigen den Begriff der schwarzen Null positiv zu besetzen.
Zeit sind solche Fehler kaum noch gutzumachen, ZEIT: Wir haben über die Konservativen gespro­
wenn sich erst mal ein öffentliches Zerrbild fest­ chen. Wer führt jetzt eigentlich das liberale Lager
gesetzt hat. Zudem gab es bei der Organisation in der CDU?
des Wahlkampfs nicht das eine Machtzentrum, Kramp-Karrenbauer: Ich tue mich ein bisschen
sondern zwei, eins in Berlin und eins in Düssel­ schwer mit dieser Unterteilung. Für mich sind die
dorf. Solche Reibungsverluste verhindern eine Guten in der CDU immer die gewesen, die das
bestmögliche Per­ for­mance. Die wäre aber not­ Annegret Kramp-Karrenbauer führte die CDU von Ende 2018 bis Anfang 2021. Sie ist Bundesverteidigungsministerin Konservative, das Liberale und das Christliche mit­
wendig gewesen, um in dieser schwierigen Situa­ ein­an­der verbunden haben. Und das ist jetzt die
tion die Wahl zu gewinnen. Riege der jungen Ministerpräsidenten wie Daniel
ZEIT: Von einigen in Ihrer Partei wird das anders Gün­ther, Tobias Hans, Michael Kretschmer – si­
gedeutet, nämlich so: Das Establishment habe ent­ cherlich mit unterschiedlichen Akzentuierungen.

»Mitleid ist ein


schieden. Hätte man mehr auf die Basis gehört, Es gibt auch viele jüngere Frauen wie Na­ dine
wäre es anders gelaufen. Kann für die CDU das Schön, ­Yvonne Magwas und Silvia Breher, die da­
Heil darin liegen, dass man die Macht an die­ für stehen.
Mitglieder abgibt? ZEIT: Sie haben zusammen mit Peter Altmaier für
Kramp-Karrenbauer: Ich bin wirklich aus tiefster Ihre saarländischen Parteifreunde Na­dine Schön
Seele eine Verfechterin eines repräsentativen Sys­ und Markus Uhl auf Ihr Mandat verzichtet, um

Gefühl
tems, das gilt fürs Parlament, das gilt aber auch für den Weg frei zu machen für Jüngere. Damit haben
die Partei. Das schließt nicht aus, dass wir auch Sie auch den Druck auf andere in Präsidium und
Formen größerer Beteiligung finden. Ich selbst Vorstand erhöht, oder?
habe etwa die Zuhör-Tour organisiert, wir haben Kramp-Karrenbauer: Wir haben in unserer Ver­
das Grundsatzprogramm gemeinsam mit unseren gangenheit immer gezeigt, dass wir Wechsel orga­

von oben herab«


Mitgliedern entwickelt. Wenn man sich allerdings nisieren können – und zwar wirklich in gutem Ein­
die Erfahrung der Partei mit Urwahlen anschaut, vernehmen. Das Beispiel haben wir jetzt wieder
kann ich nur sagen: Die allein sind keine Garantie gesetzt, und ich würde mich sehr freuen, wenn es
dafür, dass es danach unbedingt besser wird.­ über die Grenzen der CDU Saar reicht.
Repräsentative Demokratie erfordert auch Füh­ ZEIT: Und was werden Sie selbst in Zukunft ma­
rung – über den Blick auf die Basis hinaus. chen? Bedeutet Ihr Verzicht auf Ihr Mandat auch
ZEIT: Sie sprechen von Baden-Württemberg, wo einen Abschied von der Politik?
sich der einstmals starke Landesverband zerlegt
hat?
Sie war die Vorsitzende der CDU und scheiterte – auch Kramp-Karrenbauer: Zuerst mal werde ich mein
Amt und auch die Verantwortung als Inhaberin
Kramp-Karrenbauer: Die Baden-Württemberger an Armin Laschet. Wie blickt Annegret Kramp-Karrenbauer der Befehls- und Kommandogewalt professionell
in der CDU sagen selbst, dass die wiederholten und mit Leidenschaft so lange weiter ausüben, bis
Mitgliederbefragungen manche Spaltung eher ver­ auf ihren unglücklichen Nachfolger? ich diese Verantwortung in die Hand des Nach­
tieft haben, als dass sie zusammengeführt haben. folgers oder der Nachfolgerin übergebe. Und dann
ZEIT: Wer Mitgliederbefragung sagt, meint oft werde ich ganz sicherlich politisch engagiert blei­
Friedrich Merz. Hätte er das gewonnen? ben, aber eben deutlich freier als bisher. Meine
Kramp-Karrenbauer: Wir haben ein höchstes Gre­ Kinder haben am Wochenende zu mir gesagt, sie
mium, das ist der Parteitag. Wer auch immer Vor­ könnten sich eigentlich nur an Zeiten erinnern, in
sitzender werden will, benötigt die Mehrheit der denen ich Staatsämter – Ministerin oder Minister­
gewählten Delegierten. Wem das nicht gelingt, hat Kramp-Karrenbauer: Aus meiner Sicht war er der das muss auch die Aufgabe sein für die Zukunft. präsidentin – innehatte. Insofern wird das für uns
die Abstimmung verloren. Das ist eine einfache richtige Kandidat, vor allen Dingen, wenn man Wir werden mit der möglichen roten Ampel jetzt alle eine ganz neue Erfahrung sein: das eigene­
Realität, alle anderen Erklärungsversuche führen einen Kandidaten nicht nur danach bewertet, ob er neue Mehrheiten links der Mitte haben. Zu glau­ Private wiederzuentdecken.
letztlich zu einer Delegitimierung von repräsen­ die Wahl gewinnen kann, sondern auch danach, ob ben, das Heil der CDU liege in einer Rechts­ ZEIT: Ist das mit Freude oder auch mit ein biss­
tativen Organen. Ich finde, da muss man sehr­ er nachher ein guter Kanzler wäre. Er wäre ein gu­ verschiebung, lässt außer Acht, dass wir bei dieser chen Bammel verbunden?
aufpassen.
ZEIT: Manche wollen nun einen Treuhänder, eine
ter Kanzler geworden, denn er ist bereits ein starker
Ministerpräsident.
»Er wäre ein Bundestagswahl nicht an die AfD verloren haben. Kramp-Karrenbauer: Das hängt vermutlich davon
Und es ignoriert die Beispiele, die man sich in ab, wen Sie in meiner Familie fragen. Ich habe
Treuhänderin benennen. Ist das eine gute Idee?
Kramp-Karrenbauer: Wenn man in eine starke
ZEIT: Die Ära Merkel wurde begleitet von der
wachsenden Unzufriedenheit der Konservativen. guter Kanzler Frankreich und Italien anschauen kann, wo der gerade heute an eine Szene aus dem Loriot-Film
Verlust von Macht genau zu dieser fatalen Rechts­ Pappa ante portas gedacht, wo der Vater nach
Opposition gehen will, muss man auch stark orga­ Trotzdem endete jeder Aufstand in der CDU da­ verschiebung geführt hat und dazu, dass sich­ dem Eintritt in die Rente mitten am Tag in der
nisiert sein. Ob eine nur treuhänderische Führung
das richtige Si­gnal ist, dass man die Opposition
mit, dass einer oder eine kam, die mindestens so
liberal war wie Merkel. Fast alle, die nun als Nach­
geworden« ehemals große konservative Parteien marginali­ Küche steht und seine Frau sich erschrocken um­
siert haben. dreht und fragt: Was machst du denn hier? Und
wirklich annimmt – da mache ich mal ein Frage­ folger im Gespräch sind – mit Ausnahme von Nor­ Annegret Kramp-Karrenbauer ZEIT: Über Sebastian Kurz, den soeben zurückge­ er sagt: Ich wohne hier! Und sie darauf: Aber
zeichen dran. bert Röttgen –, werden eher als Konservative ge­ tretenen österreichischen Kanzler, hieß es bei eini­ doch nicht jetzt!
ZEIT: Würden Sie im Nachhinein sagen, dass es handelt. Kommt jetzt der Backlash? gen in Ihrer Partei: So einen bräuchten wir auch.
ein Fehler war, Armin Laschet zum Kanzlerkandi­ Kramp-Karrenbauer: Die CDU war in der Mit­ Kramp-Karrenbauer: Ich werde nicht von Deutsch­ Die Fragen stellten
daten zu machen? gliedschaft immer fest in der Mitte verankert, und land aus laufende Vorgänge in Österreich kom­ Tina Hildebrandt und Mariam Lau
4 POLITIK 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Zurück ins Schneckenhaus


Zwischen Selbstzufriedenheit und Weltuntergang: Eine Zukunftsstudie zeigt, wie das Land tickt  VON MANUEL SCHMIDGALL

Wie optimistisch sind Sie, Welche der folgenden »Ich stelle mir vor, dass der Verkehr Wie empfinden Sie die Was möchten Sie in Ihrem
dass sich ... Formulierungen beschreibt durch künstliche Intelligenz so clever gegenwärtige gesellschaftliche Leben zukünftig noch machen
am ehesten Ihren Alltag?* wird, dass Unfälle gar nicht mehr Stimmung in Deutschland? bzw. erreichen?**
möglich sind. Es ist unglaublich, was
... Ihr eigenes Leben in den 43 Ich konzentriere mich auf für Optimierung und Hoffnung in Die deutsche Gesellschaft ist Mich zurücklehnen und das
nächsten Jahren positiv mein privates Umfeld gespalten, das bereitet mir Sorge Leben genießen
entwickeln wird?
der Technik steckt.«
83 % 17 34 %
männlich, 29

gar nicht/ 37 Ich habe mich etwas Viele Bürger*innen leben in Eine Familie gründen und sich
eher nicht 37 % zurückgezogen ihrer eigenen Blase und schauen um sie kümmern
optimistisch 64 %
eher auf sich selbst 32 %
sehr/eher
Ich unternehme nicht
»Du hast dauernd das Gefühl, mit
optimistisch 87 % 13
31 ständig etwas Neues der Welt geht es bergab. Wir Die Welt entdecken, viel erleben
und entspanne lieber zerstören unsere Zukunft.« Aggressivität und Respektlosigkeit und Kontakte knüpfen
13 männlich, 23 nehmen in Deutschland zu 19 %
... das gesellschaftliche Leben in Ich gehen gerne aus, treffe 91 % 9
Deutschland in den nächsten wieder viele Menschen Mich für sinnvolle und soziale
Jahren positiv entwickeln wird? Ziele einsetzen
Es gibt zu viele verschiedene
9 »Ich sehe in diesem Jahrhundert die Interessen, in Deutschland zieht 19 %
sehr/eher Ich bin gesellschaftlich Menschen vor riesigen Problemen. man nicht an einem Strang
optimistisch 41 % aktiv **Ranking: Mit dieser Häufigkeit wurden
59 % gar nicht/ Dürre, Hunger, Ressourcen-Krieg, 84 % 16 diese Themen auf Platz 1 gesetzt
eher nicht Migrationsbewegungen in der ZEIT- GRAFIK: Nora Coenenberg
optimistisch *In Prozent. Mehrfachnennungen möglich Quelle: Rheingold-Institut Köln
ganzen Welt.«
weiblich, 28

I
m 20. Monat der Corona-Pandemie ihr eigenes Leben in den nächsten Jahren­ fundamental erschüttert.« Das führt dazu, Eine weitere Grundspannung, die durch Große Veränderungen müssen auf Landes­
ist ein Zustand eingetreten, der lange positiv oder sehr positiv entwickeln wird. dass sich die meisten Bürgerinnen und Bür- die Studie deutlich wird: Die Menschen spü- ebene stattfinden oder bei einer
Zeit als unvorstellbar galt: Die Deut- Doch diesem privaten Optimismus steht ger ins Private zurückziehen, dorthin also, ren die Notwendigkeit von Veränderungen, Weltregierung. Es ist zu viel vom einzelnen
schen haben gelernt, mit dem Virus ein Pessimismus entgegen, wenn es um die­ wo während des pandemischen Ausnahme- aber sie haben auch starke Angst davor. Bürger verlangt, die Welt zu retten.
zu leben. Die »neue Normalität«, von Allgemeinheit, den Staat und die Gesell- zustands viele Sicherheit und Selbstwirksam- 88 Prozent gaben an, dass der Gesellschaft (männlich, 29, München)
der so oft die Rede war, ist da, auch schaft geht. keit verspürten. durch Krisen wie Corona oder den Klimawandel
wenn sie heute niemand mehr so 59 Prozent der Menschen glauben, dass Die neue pandemische Häuslichkeit sei »drastische Veränderungen« bevorstünden. 76 Persönlicher Optimismus und gesellschaftlicher
nennt. ­­Auf welche Weise aber hat die Krisen- sich das gesellschaftliche Leben nicht positiv zu Beginn der Krise von vielen noch skep- Prozent waren der Ansicht, dass »die jüngere­ Pessimismus. Veränderungsdruck und Verände-
erfahrung das Bewusstsein der Menschen ver- entwickeln wird. Nur 26 Prozent stimmt das tisch betrachtet worden, heißt es in der Stu- Generation es nicht mehr so gut haben wird wie rungsangst. Selbstwirksamkeit im Kleinen und
ändert? Wie justiert sich der Blick der Gesell- Wirken von Politikern und Parteien optimis- die. Mittlerweile aber hätten sich viele in der wir«. Doch die Aufgaben – von der Bewältigung Ohnmachtsgefühle im Großen – das ist der para­
schaft auf sich selbst? tisch, was die Bewältigung von Zukunftsauf- neuen ­ Situation eingerichtet. Der Partner, der Corona-Pandemie bis hin zur Klima­krise – doxe Gefühlszustand der Deutschen anderthalb
Diesen Fragen ist das Rheingold-Institut gaben angeht. 61 Prozent sagen, dass Deutsch- die Freunde und Bekannten sind der größte wirken so groß, dass sich der Blick noch stärker auf Jahre nach dem Ausbruch der C ­ orona-Pandemie.
im Auftrag der Identity Foundation nachge- land vor einem Niedergang stehe. Ein 29-jäh- Quell für persönlichen Optimismus. Lebens­ den kleinen, handhabbaren Nahbereich richtet. Ein Hoffnungsschimmer allerdings lässt sich
gangen, mit einem Mix aus quantitativen riger männlicher Studienteilnehmer formu- ziele, wie zum Beispiel eine eigene Familie Dieser Eindruck jedenfalls ergibt sich aus in der Studie finden: Viele Menschen haben
Befragungen und psychologischen Tiefen­ liert seine Krisenerfahrung so: »Die Pandemie zu gründen oder sich zurücklehnen und das vielen Interviews, die die Rheingold-Forsche- während der Pandemie auch ein neues Selbst-
interviews. Das Ergebnis ist eine paradoxe hat gezeigt, dass unser Staat uns nicht vor al- Leben zu ­genießen, sind für viele Deutsche rinnen geführt haben. bewusstsein dadurch erworben, dass sie ihren
Stimmungslage im Land, ein Panorama der lem schützen kann. Wir sind wieder mehr auf während der Pandemie wichtiger geworden, schwierigen Alltag mit neuen Strategien, einem
Ungleichzeitigkeit. uns selbst angewiesen.« als beispielsweise die Welt kennenzulernen. »Ich sehe mich in 40 Jahren noch in dieser intakten sozialen Netzwerk und Gemeinsinn
Einerseits sind die Menschen mit ihrer pri- Stephan Grünewald, Chef des Rhein- Nur fünf Prozent geben an, sich politisch Wohnung sitzen, und wenn es jetzt immer bewältigten. Viele Studienteilnehmer berichte-
vaten Situation überaus zufrieden. 67 Prozent gold-Instituts, erkennt hierin eine allgemei- zu engagieren. Er beobachte, sagt Rheingold-­ heißer wird durch den Klimawandel, ten, dass sie, ausgehend von diesen Erfahrungen,
sagen, Deutschland biete nach wie vor gute ne Tendenz. »Durch die Allgegenwart schwe- Chef Grünewald, eine gesellschaftliche dann bleibe ich halt im Sommer mit der eine Chance für mehr Aktivismus auf kleiner,
Voraussetzungen für die eigene Lebensgestal- rer Krisen ist die Bevölkerung verunsichert, »Tendenz zum Rückzug ins eigene Schne- Klimaanlage zu Hause.« persönlicher Ebene sehen – im Sinne einer Ver-
tung. 64 Prozent sind der Meinung, dass sich das Vertrauen in eine bessere Zukunft ist ckenhaus«. (weibliche Studienteilnehmerin, 39) änderung, die von unten kommt.

Illustration: Nora Coenenberg, Asuka Grün

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#ZEITfürKlima

Klima auf der Kippe — wie gestalten wir die grüne Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft?
Unter dieser Leitfrage veranstaltet die ZEIT Verlagsgruppe kurz vor der Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow, vom
26. bis 28. Oktober 2021, die digitalen Thementage ZEIT für Klima. Wir widmen uns unter anderem der Frage, ob das
Fotos: Boeri ©Gianluca di Loia; Hirschhausen ©Dominik Butzmann;

1,5-Gradd-Ziel noch eine Chance hat, wie die Idee der Nachhaltigkeit in Politik, Ökonomie und Gesellschaft wirklich effektiv
umgese etzt werden kann und welche Rolle »Impact Investing« und neue Formen von »Social Entrepreneurship« spielen. J E TZ
Ideen, Ansätze und Lösungen diskutieren wir gemeinsam mit führenden Klimaschützer:innen, Wissenschaftler:innen, KOSTE T
N
Wirtschhaftsvertreter:innen, Politiker:innen und unserer Klima-Community. ANME FREI
LDEN
Weitere e Informationen zum Programm und zur Anmeldung unter www.zeitfuerklima.de !
Sprecher:inn
nen (Auszug):
Müller ©Janine Schmitz/ photothek.net

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ZEIT VERLAGSGRUPPE
MIT THEMENTAGEN VOM Stefano Boeri Saskia Bruysten
Dr. Eckart
von Hirschhausen Dr. Gerd Müller Myriam Rapior
26. – 28. OKTOBER 2021 Founder, Stefano Boeri
Architetti
Co-Founder and CEO, Yunus
Social Business
Arzt, Autor Bundesminister für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Mitglied im Bundesvorstand,
Jugend im Bund für Umwelt
und Naturschutz Deutschland
e.V. (BUNDjugend)

In Zusammenarbeit mit: Prem


miumpartner: Partner: Förderer: Veranstalter: Ein Unternehmen der:

zeitfuerklima.de
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 POLITIK 5

Fotos: Piotr Lapinski/NurPhoto/Getty Images; Donat Brykczynski/imago (u.)


Warschau am
10. Oktober.
Vergangenes
Wochenende
kamen in vielen
Städten Polens
Menschen zu
Protesten
zusammen

»Was soll daran falsch sein?«


Witold Waszczykowski gilt als ein scharfer Kritiker der EU. Im Interview verteidigt er
das jüngste, umstrittene Urteil des polnischen Verfassungsgerichts

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Das polnische Verfassungstribunal hat Bezug zurückgewiesen und den polnischen Waszczykowski: Nein, sie ist nicht tot. Die EU ist
in der vergangenen Woche geurteilt, dass Richtern einen »plakativen Missbrauch« der eine Vereinigung souveräner Staaten, die vor­
wesentliche Teile des EU-Rechts nicht mit der Karlsruher Rechtsprechung vorgeworfen. Auch allem wirtschaftlich zusammenarbeiten.
polnischen Verfassung in Einklang die Gerichte in den anderen EU-Ländern sind ZEIT: Die Union ist auch und vor allem eine
stünden. Daraufhin haben am Sonntag bis zu niemals so weit gegangen wie jetzt das Tribunal Rechtsgemeinschaft. Oder wollen Sie sagen, die
200.000 Menschen im ganzen Land in Warschau. EU brauche gar kein gemeinsames Recht?
gegen diese Entscheidung demonstriert. Waszczykowski: Warum soll in Polen nicht er- Waszczykowski: Sie braucht es nur in den Berei-
Das Gericht selbst ist umstritten, Kritikern laubt sein, was in anderen Ländern erlaubt ist? chen, in denen die Verträge das vorsehen.
gilt es als verlängerter Arm der Regierung. Das ist ein typischer Fall von doppelten Stan- ZEIT: Jetzt drehen wir uns im Kreis. Auf genau
dards in der EU. Wir können nicht akzeptieren, diese Verträge beruft sich der EuGH in seiner
DIE ZEIT: Herr Waszczykowski, viele Ihrer dass in Deutschland Politiker Richter ernennen, Rechtsprechung.
Landsleute fürchten, das Urteil des Verfassungs- und in Polen soll das verboten sein. Der Präsi- Waszczykowski: Der EuGH geht weit über das
tribunals könnte in einen Austritt Polens aus der dent Ihres Verfassungsgerichts ist ein CDU-­ hinaus, was in den Verträgen steht. Aber es ist
Europäischen Union münden. Ist diese Furcht Politiker! nicht die Aufgabe der europäischen Richter,­
begründet? ZEIT: Sie sprechen von der Besetzung des Ver- eigene Gesetze zu schaffen.
Witold Waszczykowski: Nein, wir werden die EU fassungsgerichts. Dabei gibt es einen wichtigen ZEIT: Es ist ihre Aufgabe, die vorhandenen­
nicht verlassen. Die Vorstellung eines »Polexit« ist Unterschied: In Deutschland muss über die Be- Gesetze auszulegen.
Fake-News, sie wird von der Opposition in Polen rufung eines Richters mit Zweidrittelmehrheit Waszczykowski: Der EuGH verstößt mit seiner
verbreitet, um den Menschen Angst zu machen entschieden werden. Die Regierung kann niemals Rechtsprechung selbst gegen europäisches
und sie gegen die Regierung aufzuwiegeln. allein bestimmen. Alle 15 Richterinnen und Recht. Einige seiner Urteile basieren nicht auf
ZEIT: Warum wollen Sie denn in der EU bleiben, Richter des polnischen Verfassungstribunals wur- juristischen, sondern auf politischen Vorgaben.
trotz aller Auseinandersetzungen zwischen Brüs- den von der PiS ernannt. ZEIT: Der EuGH ist eine gemeinsame Institu­
sel und Warschau in jüngster Zeit? Waszczykowski: Was soll daran falsch sein? Wo tion der EU, jedes Mitgliedsland stellt eine Rich-
Waszczykowski: Polen gehört seit elf Jahrhunder- steht, dass das verboten ist? terin oder einen Richter, auch Polen.
ten zu Europa; seit sich der damalige Herrscher ZEIT: Es ist nicht verboten, aber anders als Sie Waszczykowski: Aber diese Richter sind nicht
Mieszko taufen ließ, sind wir ein Teil der­ behaupten, geschieht in Deutschland nicht das- unabhängig, sie werden von den Regierungen
römisch-christlichen Kultur. Heute gibt es viele selbe wie in Polen. Das polnische Verfassungs­ nominiert. Der polnische Vertreter wurde
Gründe dafür, in der EU zu bleiben. Dazu gehö- noch von der vorhergehenden Regierung­
ren die Geopolitik und der Europäische Binnen- ernannt. Jetzt nutzt er das Gericht, um gegen
markt, auch die Strukturfonds sind wichtig, aber die aktuelle polnische Regierung Politik zu
sie sind nicht das Wichtigste. Seit unserem Bei- machen.
tritt zur EU 2004 haben wir pro Jahr durch- ZEIT: In der EU läuft bereits ein sogenanntes
schnittlich acht Milliarden Euro aus Brüssel be- Rechtsstaatsverfahren gegen Polen. Nun hat die
kommen, das entspricht etwas mehr als einem Kommission angekündigt, die Auswirkungen,
Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Ich will die das Urteil des polnischen Verfassungstribu-
nicht sagen, das sei bedeutungslos. Aber der Vor- nals hat, zu überprüfen ...
wurf, Polen würde die EU nur als Geldautomat Waszczykowski: Warum? Wer gibt ihr das Recht
nutzen, ist falsch. dazu?
ZEIT: Seit Ihre Partei, die PiS, regiert, ist das Ver- ZEIT: Die Kommission ist die »Hüterin der Ver-
hältnis zwischen Polen und der EU immer träge«, das haben Sie vorhin selbst gesagt.
Witold Waszczykowski, 64, ist
schlechter geworden. Wie kommt das? Waszczykowski: Sie ist die Hüterin der Verträge,
Mitglied der Regierungspartei
Waszczykowski: Es kommt daher, dass die Euro- nicht der nationalen Verfassungen. Und wo in
Recht und Gerechtigkeit (PiS) und
päische Kommission seit einigen Jahren immer den Verträgen steht, dass die Kommission das
Europaabgeordneter. Bis 2018 war
politischer agiert, statt sich auf ihre Rolle als Recht hat, die Entscheidung unseres Verfassungs-
er polnischer Außenminister
»Hüterin der Verträge« zu beschränken. Sie reißt tribunals zu überprüfen?
immer mehr Vorrechte an sich, die weit über das ZEIT: Polen würde normalerweise 36 Milliarden
hinausgehen, was die Europäischen Verträge vor- Euro aus dem neu geschaffenen Wiederaufbau-
sehen. Nehmen Sie die Diskussion über die tribunal ist weniger unabhängig von der Regie- fonds der EU bekommen. Bislang hält die Kom-
Rechtsstaatlichkeit. Die wird zwar in den Verträ- rung als das deutsche Verfassungsgericht. mission dieses Geld zurück, weil die Auszahlung
gen erwähnt, aber nirgends definiert. Nun ver- Waszczykowski: Na und? Jedes Land in der EU an die Einhaltung der gemeinsamen Regeln­
sucht die Kommission, uns ihre Definition von ist unterschiedlich, und jedes hat sein eigenes gebunden ist. Was geschieht, wenn Ihr Land das
Rechtsstaatlichkeit aufzuzwingen. Es hat den Rechtssystem. Die polnische Gesellschaft hat Geld nicht bekommt?
Anschein, dass sie die Verträge als Vorwand be- eine Regierung und einen Präsidenten gewählt, Waszczykowski: Ich schlage vor, dass wir dann die
nutzt, sobald sie mit einer konservativen Regie- die demokratisch dazu legitimiert sind zu tun, gleiche Summe von unseren jährlichen EU-Bei-
rung konfrontiert ist, die die Ansichten der euro- was sie tun. Es gibt kein einheitliches europäi- trägen abziehen. Es gibt keine rechtliche Grund-
päischen Linken nicht teilt. sches Modell. lage dafür, dass die Kommission das Geld aus
ZEIT: Im Mittelpunkt des jüngsten Konflikts ZEIT: Aber es gibt ein einheitliches europäisches dem Fonds zurückhält.
steht aber gar nicht die Kommission, sondern Recht. Der Streit dreht sich um die Frage, ob ZEIT: Doch, die EU hat sich gerade erst auf e­ inen
der Europäische Gerichtshof (EuGH). Dieser Polen dieses Recht akzeptiert oder nicht. »Rechtsstaatsmechanismus« verständigt. Der
hatte geurteilt, dass Teile einer Justizreform in Waszczykowski: Wir sprechen hier nicht über sieht vor, dass Gelder in Fällen von Verstößen
Polen gegen das europäische Recht verstoßen. eine juristische, sondern über eine ideologische zurückgehalten werden können.
Ihre Regierung erkennt dieses Urteil nicht an, und politische Frage. Nirgendwo in den Euro- Waszczykowski: Dieser Mechanismus soll­
und nun hat das polnische Verfassungstribunal päischen Verträgen steht, wie ein Land seine sicherstellen, dass die Gelder in den Mitglieds-
entschieden, dass das EU-Recht, das der Richter auszuwählen hat. Gemäß Artikel 5 des ländern ordentlich ausgegeben werden. Es ist
EuGH anwendet, gegen die polnische Verfas- EU-Vertrags verbleiben die Zuständigkeiten, die kein Instrument, damit die Kommission die
sung verstoße. der Union nicht in den Verträgen übertragen nationalen Regierungen evaluiert. Sie sollte nur
Waszczykowski: Selbstverständlich werden wir wurden, bei den Mitgliedsstaaten. Dinge bewerten, die mit Transparenz, Korrup-
weiterhin die Urteile des EuGH befolgen, solan- ZEIT: Als Polen der EU beitrat, hat es damit die tion und Zweckmäßigkeit zu tun haben.
ge diese auf den Europäischen Verträgen basie- Regeln und Gesetze der EU akzeptiert ... ZEIT: Herr Waszczykowski, zum Schluss noch
ren. Aber viele Urteile des EuGH gehen weit über Waszczykowski: Welche Gesetze? eine andere Frage. In Deutschland wird gerade
das EU-Recht hinaus, und in diesen Fällen – so ZEIT: Die Gesetze, die in den Europäischen Ver- eine neue Regierung gebildet. Was erwarten Sie
die Entscheidung unseres Verfassungstribunals – trägen festgehalten sind. von dieser Regierung?
hat die polnische Verfassung Vorrang. Ähnliche Waszczykowski: Und ich frage Sie noch einmal: Waszczykowski: Ich hoffe, dass die neue Regie-
Urteile hat es schon in anderen EU-Ländern ge- Wo ist in diesen Verträgen definiert, was Rechts- rung in Berlin mehr Rücksicht auf ihre euro-
geben, etwa in Deutschland, Italien oder Däne- staatlichkeit ist? Wo steht, dass das deutsche päischen Nachbarn nimmt. Die bisherige­
mark. Auch das Bundesverfassungsgericht hat vor Rechtssystem den Verträgen entspricht, aber Regierung hat ausschließlich ihre eigenen Inte-
einer Weile so entschieden (gemeint ist das Urteil nicht das polnische? Mit dem Beitritt zur EU ressen verfolgt und wenig Solidarität gezeigt,
zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentral- haben wir ja nicht akzeptiert, dass die Kommis- das beste Beispiel hierfür ist die Gaspipeline
bank, Anm. d. Red). sion oder der EuGH uns in jedem Fall ihr Recht Nord Stream 2. Ich hoffe, die künftige Regie-
ZEIT: Das polnische Verfassungstribunal bezieht auferlegen können. rung wird sich weniger egoistisch und solidari-
sich ausdrücklich auf die Karlsruher Entschei- ZEIT: Wenn sich künftig jedes der 27 Mitglieds- scher verhalten.
dung. Der frühere Präsident des Bundesverfas- länder aussucht, welcher Teil des europäischen
sungsgerichts, Andreas Vosskuhle, hat diesen Rechts ihm passt und welcher nicht, ist die EU tot. Die Fragen stellte  Matthias Krupa
6 POLITIK 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Thomas Schmid an Sebastian Kurz: Sebastian Kurz an Thomas Schmid:


»Diese alten Deppen sind so unerträglich! Keiner musste sich jemals einer Bundeswahl stellen und den »Danke Thomas Super war dass
TEXTNACHRICHTEN ZWISCHEN Schwachsinn der Vorgänger erklären! Du hast das alles erfolgreich geschafft und wir durften Spindi heute ausgerückt ist.
SEBASTIAN KURZ UND THOMAS SCHMID* Dabei mitarbeiten Mitterlehner ist ein Linksdilettant und ein riesen oasch!! Ich hasse ihn Bussi Thomas« Das stört den Arsch sicher am meisten...«

Der
Schmierölprinz
Sebastian Kurz hat aus einer gemächlichen Volkspartei
eine populäre konservative Bewegung gemacht. Was wird
aus ihr – und ihm – nach dem Fall?  VON FLORIAN GASSER

K
ann sich eine Partei vom Popu- Lässt sich die ÖVP von Sebastian Kurz weiter in »Sie sind ein junger Kerl, was gut ist.« Friedrich Merz, sein soll. Aus der mächtigen Position eines Frak- tiker. Als er 2011 Staatssekretär und zwei Jahre
lismus befreien? In Wien wird Geiselhaft nehmen, oder emanzipiert sie sich von Jens Spahn und die Junge Union feierten das politische tionschefs und Parteiobmanns will er weiter die später Außenminister wurde, hatte er die JVP zu
das dieser Tage verhandelt. Die­ ihm? Und kann sie dann überhaupt wieder werden, Supertalent aus Wien als Mann der klaren Kante, als Fäden ziehen. einer schlagkräftigen und ihm treu ergebenen
österreichische ÖVP steht vor was sie früher einmal war, eine konservative Volks- lebenden Beweis für die Möglichkeit einer erfolgrei- Wie hat es ein heute erst 35-jähriger Studien- Organisation gemacht. Wer Kurz kritisierte, der
der Frage, was von ihr bleiben partei, die für mehr stand als ein junges Gesicht? chen Positionierung rechts der Mitte. abbrecher überhaupt geschafft, eine ganze Volks- bekam es mit der JVP zu tun. Wer zu Kurz stand,
würde, wenn sie sich von ihrem Am Samstag letzter Woche musste Kurz das Amt Und in der Tat: Kurz gewann Wahlen, er machte partei von sich abhängig zu machen? Die politi- durfte von seiner Strahlkraft profitieren, konnte
Wunderkind-Anführer Sebastian des Bundeskanzlers abgeben und dem Druck aus allen die in zahlreichen großen Koalitionen verschlissene sche Biografie von Sebastian Kurz ist durchzogen mithilfe der JVP Karriere machen. »Irgendwann
Kurz löst. Der soeben Zurückgetretene hat die Par- Richtungen Tribut zollen. Da waren die Razzien der ÖVP zum Sieger und eroberte nach elf Jahren für die von einer ungewöhnlichen Kombination: Talent ruft dann aber jemand an, der im Gegenzug­
tei in nur vier Jahren zu einer populistischen Ich- Korruptionsstaatsanwaltschaft bei der Mediengruppe Partei das Kanzleramt zurück. und Akribie, aber auch Skrupellosigkeit und­ etwas braucht, Informationen etwa, die man auf
Bewegung umgeformt. Österreich, in der ÖVP-Parteizentrale und im Kanz- Der Preis dafür war, dass die ÖVP ganz und gar auf Tabubrüche. Seine Koalition mit der rechts­ offiziellem Weg nicht bekommt«, sagte einer aus
Kurz ist die Partei – egal, ob er dabei im Kanz- leramt. Da waren die Vorwürfe, Kurz und sein Umfeld Kurz zugeschnitten wurde. Er bekam umfangreiche populistischen FPÖ des Heinz-Christian Strache, dem inneren Kreis im Jahr 2017 zur ZEIT.
leramt oder als Fraktionschef im Parlament sitzt. hätten manipulierte Umfragen in Medien platziert, Vollmachten. Kurz allein kann über Koalitionspartner, die mit den Ibiza-Enthüllungen im Skandal­ Die Mitglieder aus Kurz’ parteiinternem
Das war der Preis, den die ÖVP für den Erfolg zahl- die gegen Inserate wohlwollend darüber berichteten. Personal und Kandidatenlisten entscheiden. endete, war eine Grenzüberschreitung. Die Netzwerk nennen sich selbst ohne jede Ironie
te. Freiwillig wird Kurz das Kommando nicht a­b­ Und dann noch die unzähligen, teils rabiaten und Für die einen machte das seine Faszination aus, darauf­folgende Regierung mit den Grünen konn- seine »Prätorianer«, analog zur Leibgarde römi-
geben, und überall sitzen seine treuen Gefolgsleute. vulgären Chatnachrichten, die einen tiefen Blick in für andere war es ein abschreckendes Beispiel des te man als Versuch sehen, sich zu rehabilitieren. scher Kaiser: Sie sind jung, zum größten Teil
Auch der neue Bundeskanzler Alexander Schallen- die dunkle Welt der politischen Intrigen erlauben. Am populistischen Umbaus einer Volkspartei. Als Mar- Stets stand ihm ein Heer loyaler Mitstreiter männlich und machtbewusst, verbunden durch
berg, der frühere Spitzendiplomat und Außenminis- Dienstag dieser Woche hätte Kurz mit Sicherheit die kus Söder sich anschickte, Spitzenkandidat der zur Seite, deren eigene Karrieren mit seiner ver- die bedingungslose Loyalität zum Parteichef.
ter, sieht sich als Diener seines Vorgängers. Keine Mehrheit im Parlament verloren. Er wäre zum zweiten Union zu werden, soll Wolfgang Schäuble nach den bunden sind. Sein Faustpfand waren von Beginn Immer dann, wenn in einer Landesregierung,
Stunde nach seiner Vereidigung, auf Österreichisch Mal abgewählt worden, wie bereits nach dem Ibiza- Recherchen des Journalisten Robin Alexander ge- an die Jungen in der Partei. 2009 hatte Kurz die in einem Ministerium, in einer Partei­orga­ni­sa­
Angelobung, sagte der neue Regierungschef, er wer- Skandal vor zwei Jahren. Dem ist er zuvorgekommen. warnt haben: Der CSU-Chef wolle die Union zu Leitung der Jungen Volkspartei (JVP) übernom- tion Personal gesucht wurde, wusste man, dass
de mit Kurz weiter eng zusammenarbeiten. Und: Sebastian Kurz galt unter Konservativen weit über einer deutschen Variante der Bewegung Kurz ma- men. Aus der bedeutungslosen Nachwuchsorga- ein Anruf im Büro von Kurz genügte, um sofort
Die strafrechtlichen Vorwürfe gegen Kurz halte er Österreich hinaus als Lichtgestalt. »So einen brauchen chen und sie unter seine Herrschaft bringen. nisation baute der neue Chef sein Personalreser- einen geeigneten Namen zu bekommen. Inner-
für falsch. Ein bemerkenswerter Vorgriff auf die wir auch«, titelte Bild einmal, und Donald Trump pries Kurz’ Rückzug war in seinem eigenen Kalkül voir. Er kümmerte sich um Strukturen in ländli- halb kürzester Zeit saßen an wichtigen Schalt-
laufende Untersuchung der Staatsanwaltschaft. ihn bei einem Washington-Besuch mit den Worten: wohl eher ein Schritt zur Seite, der zeitlich begrenzt chen Regionen und förderte motivierte Jungpoli- stellen Getreue des jungen Außenministers. Sie

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Das neue Sie sind gar

Gen u ss m a g a z i n nicht so
Rechtspopulisten, Korruption und immer ­
wieder Skandale – warum ich dennoch
gerne in Wien lebe  VON HASNAIN KAZIM
zin
Erleben Sie im neuen ZEITmaga
le Mo mente –
WOCHENMARKT genussvol
besonderen

B
mit den einfachen, aber immer
abeth Raether,
Rezepten von Kolumnistin Elis isweilen werde ich gefragt, warum kauft, Umfragen frisieren lässt und hoch dotierte
nnenden
vielfältigen Reise-Tipps und spa
um alles in der Welt ich nach Öster- Posten für treue Freunderln schafft und ver­
men Kochen reich gezogen bin. Ich habe als Kor- diente, aber unbotmäßige Parteigranden abstraft!
Geschichten rund um die The respondent in Islamabad und in­ Und doch schätze ich Wien (und Österreich).
und Genießen. Istanbul gelebt, Pakistan und die Sehr sogar! Ich lebe seit mehr als einem halben
Türkei sind spannende, aber auch anstrengende Jahrzehnt hier, und ich mag nicht mehr weg.
Länder. Als ich 2016 die Türkei verlassen musste, Ist Österreich denn nicht furchtbar rechts
weil die Regierung Erdoğan mir die Akkreditie- und feindselig gegenüber allem Fremden? Ein
rung verweigerte (wegen »Präsidentenbeleidi- Land, in dem Rechtspopulisten meinen, nach
Jetzt gung«, »Terrorpropaganda« et cetera), entschie-
den meine Frau und ich uns für Wien.
Gutsherrenart regieren zu dürfen? Gewiss.­
Österreich war das erste Land in Europa, in dem
bestellen In Österreich regierte seinerzeit eine große
Koalition unter dem Sozialdemokraten Werner
es ein Rechtspopulist, nämlich Jörg Haider, mit
seiner FPÖ in die Regierung geschafft hat. Und
und 25 % Faymann – viel langweiliger ging nicht. Und so
stieß unser Wunsch bei manchem auf Unver-
wo bis vor Kurzem erneut diese in Teilen rechts-
extreme Partei regiert hat, bis ihr Parteichef über
sparen! ständnis. Was will der denn in Wien? Wir kann-
ten Österreich kaum. Nun hatten wir aber tur-
die Ibiza-Affäre stürzte. Aufgeflogen war er nur,
weil ein heimlich aufgenommenes Video davon
bulente Jahre hinter uns und sehnten uns nach geleakt wurde.
einem sicheren Ort, gerne deutschsprachig. Der grüne Bundespräsident Alexander Van
Und wir hatten immer wieder gelesen, dass der Bellen bemühte sich, den Ruf der Österrei-
Ab sofort Wien zu den lebenswertesten Städten der Welt
zählt. Österreich spielt auch politisch keine un-
cher zu retten. »So sind wir nicht, so ist Öster-
reich einfach nicht«, sagte er in einer Rede an die
im Handel bedeutende Rolle, im Herzen Europas, als Tor zu Nation. Nun ja, was soll man sagen? Doch, so ist
Osteuropa. Das Operettenhafte, Gruselige, Österreich, zumindest ein nicht kleiner, einfluss-
Skandalöse, das dieses Land in einer gewissen reicher Teil. Die neuerliche Affäre, der Rücktritt
Regelmäßigkeit hervorbringt, war journalistisch von Kurz als Kanzler, spricht dafür.
interessant. Also auf nach Wien! Indem dieser der Justiz vorwirft, »politisch«
Die Einwände ließen nicht auf sich warten. zu agieren, anstatt die Ermittlungen abzuwarten,
e Zeit:
Nur für kurz
Die Rechtsextremisten! Die nicht aufgearbeitete zerstört er Vertrauen in Demokratie, Rechts-
Nazivergangenheit! Hitler! Waldheim! Haider! staatlichkeit und Gewaltenteilung. So etwas
e/wk25
www.zeit.d
Der Aufstieg des Rechtspopulismus zur Volks- kennt man eigentlich nur aus autokratischen
 70 706)
partei! Die Korruption! Die Medien, die sich­ Systemen. Genauso wie das staatliche Schmieren
040/42 23 nsnr.: 2039 04
(Aktio
offensichtlich von der Regierung des feschen­
Sebastian Kurz schmieren lassen, von einer­
von Medien durch Inserate, die mit Hofbericht-
erstattung vergolten werden. Warum also lebe
Regierung, die sich gewogene Berichterstattung ich dennoch gerne in solch einem Land?

110528_ANZ_220x20_X4_ONP26 1 07.10.21 15:41


DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 POLITIK 7

Sebastian Kurz an Thomas Schmid: Thomas Schmid an Sebastian Kurz: Sebastian Kurz an Thomas Schmid: Thomas Schmid an Sebastian Kurz:
»Gar nicht gut!!! »Ich terrorisiere gerade Mahrer »Bitte. »Das sollten wir – wir schicken
Wie kannst du das und Kaszanits und Kann ich ein Bundesland deinen Leuten dann
aufhalten?« mache denen das klar.« aufhetzen?« heute auch noch die Infos.«

* Thomas Schmid
ist ein Vertrauter
von Sebastian Kurz.
Bei ihm wurde die
Festplatte mit
den Chats
sichergestellt.
Mitterlehner war
Kurz’ Vorgänger als
ÖVP-Chef. Mahrer
war Staatssekretär,
Kaszanits die
rechte Hand
Mitterlehners
Fotos: Stefan Wermuth/Bloomberg/Getty Images; StockFood (u.)

Links: Sebastian
Kurz 2019 im
»Springer-Schlössl«
in Wien.
Unten: Ein
Puschkrapfen, wie
ihn unser Wiener
Autor Hasnain
Kazim liebt

alle kennen einander seit Jugendtagen, haben zu­ Positionen der FPÖ und verknüpfte alle politi­ Buch darüber geschrieben (Haltung). Die Bewe­ Falschaussage in einem parlamentarischen Untersu­ wie lange sie noch bestehen kann. Die Grünen, die nach
sammen gearbeitet, gefeiert, gelacht, und sie ver­ schen Themen mit Migration und dem Islam. gung Kurz beschreibt er als »Systembruch«: »Popu­ chungsausschuss und nun wegen des Verdachts auf den Razzien den Rücktritt von S­ ebastian Kurz forder­
band die Ablehnung, ja der offene Hass gegen­ Der Wahlerfolg schien ihm recht zu geben. lismus als Ideologie verlangt immer nach Gegnern, Untreue und Bestechlichkeit. Dazu kommen wei­ ten, zittern vor der Rache der ÖVP.
über den Altvorderen in der eigenen Partei. Wo seine eigenen Überzeugungen liegen, ist nach Reibungsflächen, sonst fehlt die Iden­ti­fi­ka­ tere Ermittlungen, zum Beispiel wegen des Ver­ Dann gibt es, drittens, in der eigenen Partei erste
Kurz’ großer Moment kam in der Flücht­ schwer auszumachen. Moderner Konservatismus tions­mög­lich­keit für die eigenen Anhänger.« dachts auf Postenschacher und Korruption gegen Absetzbewegungen. Hermann Schützenhöfer, Lan­
lingskrise von 2015. Der österreichische Außen­ à la Kurz orientiert sich nicht an Grundwerten, Wie das im System Kurz funktioniert, zeigt ein Kurz’ enge Vertraute. deshauptmann der Steiermark, erklärte eine Rück­
minister wurde zum Wortführer derer, die den sondern an Umfragen und dem Meinungsbild Beispiel, das die derzeitigen Enthüllungen ans Licht Ohne die Kleinheit des Landes ist das Phäno­ kehr von Sebastian Kurz für »unrealistisch«. Für
Flüchtlingsstrom begrenzen wollten. Dass er ein im Boulevard. Die EU wird zur Reibungsfläche, gebracht haben. Im Jahr 2017 verhandelte der men Kurz nicht zu verstehen. Jeder kennt in­ seinen Vorarlberger Amtskollegen Markus Wallner
paar Jahre zuvor noch das bunte Zu­sam­men­ ihr attestiert Kurz, »mehrmals falsch abgebogen« SPÖ-Kanzler Christian Kern mit der ÖVP darüber, Österreich jeden. Medien und Politik sind in einer ist sogar ein Parteiausschluss kein Tabu, sollte es zu
leben in Wien gepriesen hatte, schien vergessen, zu sein, und wehrt sich gegen an­geb­liche ­Ideen wie man mit 1,2 Milliarden Euro Ganztagsschulen Stadt geballt. Dass sich Boulevardblätter für Insera­ einer strafrechtlichen Verurteilung kommen.­
jetzt lautete die Botschaft: Die Flüchtlinge wür­ für eine Schul­den­union. Er wettert gegen die­ und Nachmittagsbetreuung für Kinder ausbauen te mit wohlwollender Berichterstattung bedanken, Sebastian Kurz im Gefängnis? Selbst das ist denkbar.
den das Land zum Schlechten verändern. Arbeit der Justiz, die gegen ihn ermittelt, verteilt könnte. Das Programm sei »echt geil«, schrieb Tho­ ist hier eine eingeführte Praxis, die sich auch Sozial­ Er selbst hofft derweil darauf, dass ihm die Prä­
Unterdessen bereitete Kurz seine Machtüber­ Steuergeschenke für die obere Mittelschicht und mas Schmid an Sebastian Kurz. Schmid war damals demokraten zunutze gemacht haben. torianer treu ergeben bleiben. Das hängt allerdings
nahme vor. Im später enthüllten, geheimen »Pro­ spielt die Stadt gegen das Land aus. Die Haupt­ Generalsekretär im Finanzministerium, er ist in Kurz hat diese Form der Anzeigenkorruption daran, dass er ihnen etwas zu bieten hat und seine
jekt Ballhausplatz« (nach dem Wiener Regie­ stadt Wien, das ist der Moloch, der Rest, das sind mehreren Ermittlungen der Kor­rup­tions­staats­ nicht erfunden. Doch sein Versprechen war, es­ Strahlkraft hell genug bleibt. Nur wenn dieses
rungssitz benannt) wurde penibel dargelegt, wie die blühenden Landschaften. In der erst vor Kur­ anwalt­schaft eine zentrale Figur. anders zu machen. Er wollte mit den Methoden der Bündnis die derzeitige Krise übersteht, wäre eine
die seinerzeit regierende große Koalition sturm­ zem vorgestellten »ökosozialen Steuerreform« Ein Erfolg für Kern und die große Koalition? »Gar Vergangenheit aufräumen und wurde nicht müde Rückkehr möglich. Setzt sich hingegen das von
reif geschossen werden kann. Als Kurz 2017 geht das so weit, dass der sogenannte Klima­ nicht gut!!!«, antwortete Kurz, der zu der Zeit gerade zu betonen, er werde niemanden anschwärzen, son­ Kurz verdrängte Establishment durch, droht eine
ÖVP-Obmann wurde, setzte er den Plan konse­ bonus in der Hauptstadt niedriger ausfällt. 100 den eigenen Parteichef loswerden wollte. »Wie kannst dern mit Inhalten punkten. schmerzliche Trennung mit ungewissem Ausgang.
quent um und stellte die Partei auf den Kopf. Er Euro bekommen die Wiener jährlich pro Person, du das aufhalten?«, fragte er und hatte auch gleich Ob ein abermaliges Comeback funktionieren kann, Eine Rückkehr zur alten ÖVP will eigentlich nie­
änderte den Namen und die Parteifarbe, aus bis zu 200 Euro gibt es außerhalb. selbst einen Vorschlag: »Kann ich ein Bundesland auf­ liegt nicht nur an ihm. Da sind erstens die Ermittlungen mand, sie war erfolglos und ausgeblutet.
Schwarz wurde Türkis. Veranstaltungen seiner Reinhold Mitterlehner war der Vorgänger hetzen?« Schmids Antwort: »Das sollten wir«. der Korruptionsstaatsanwaltschaft, die ihn selbst und Eine konservative Volkspartei nach Kurz und
»neuen Volkspartei« wurden zu Ich-Shows. Kurz von Kurz als Parteichef, er war es, der 2017 aus Gegen Sebastian Kurz und seine Mitstreiter wird einige Vertraute als Beschuldigte führt. Da ist zweitens ohne Populismus, das käme beinahe einer Neu­
rückte die ÖVP weit nach rechts, kaperte viele dem Amt gedrängt wurde. Mitterlehner hat ein mittlerweile in mehreren Verfahren ermittelt. W­ egen die Koalitionsregierung mit den Grünen. Keiner weiß, gründung gleich.

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Weil es so viele Künstler hat, die provozieren, Vielleicht liegt meine Milde daran, dass ich in
schockieren, die Dinge beim Namen nennen. Ländern gelebt habe, in denen solche Kritiker längst
Man denke nur an Thomas Bernhard. Gnaden­ in Gefängnissen verschwunden wären. Um ein
los sezierte der 1989 verstorbene Schriftsteller Land, das solche Kritiker hervorbringt und aushält,
das postnazistische Österreich, böse, bissig, sie sogar manchmal feiert, ist mir nicht bange.
scharf – und doch immer mit Empathie. Sein In Österreich ist Korruption stärker verbreitet
Drama Heldenplatz sorgte wegen der Erinnerung als im EU-Durchschnitt. Freunderlwirtschaft ist
an den »Anschluss« Österreichs ans »Dritte üblich, Kontakte sind wichtig, wenn es um die
Reich« für aufgeregte Debatten. Über die von Besetzung öffentlicher Posten geht. Aber immer
mir geschätzten rosafarbenen Punschkrapfen, ein häufiger fliegen die Machenschaften auf und
Gebäck, das ein wenig nach Nagellackentferner haben Konsequenzen. Gut so.
riecht, soll Bernhard gesagt haben: »Die Menta­ Und ja, in Österreich haben Burschenschaf­
lität der Österreicher ist wie ein Punschkrapfen: ten überproportional viel Macht, seitdem die in
außen rot, innen braun und immer ein bisschen Teilen rechtsextreme FPÖ ihnen in ihrer Regie­
betrunken.« Böse. Aber köstlich. rungszeit Tür und Tor geöffnet hat. Die völkisch
Der 2016 verstorbene Karikaturist Manfred orientierte »Identitäre Bewegung« hat in Öster­
Deix erkundete die Untiefen der österreichischen reich eine Hochburg. Sie sieht die europäische
Seele, kritisierte Rassismus und Fremdenhass. Kultur und deren Identität durch Islamisierung
Politiker entkamen seinen genauen Beobachtun­ bedroht und schwadroniert und von einem­
gen genauso wenig wie die eitle Bussi-Gesell­ »Bevölkerungsaustausch«. Doch auch deren
schaft oder die katholische Kirche. Umtriebe fliegen immer häufiger auf und haben
Auch heute bringt Österreich Intellektuelle personelle Konsequenzen. Ebenfalls: gut so.
hervor, die mit scharfem Verstand die Zustände Zur Wahrheit gehört aber auch: Anders als in
freilegen. Schriftsteller wie Doron Rabinovici Deutschland brannten in Österreich keine
und Raphaela Edelbauer, Journalisten wie Armin Flüchtlingsheime, gab es keine Jagden auf Men­
Wolf und Florian Klenk setzen sich charmant schen, keine mordenden rechtsextremistischen
und robust zugleich mit ihrem Land auseinan­ Terrornetzwerke, wird man als fremd wahrge­
der. Der Schriftsteller Franzobel schreibt in der nommener Mensch auf offener Straße viel selte­
Neuen Zürcher Zeitung, eigentlich wundere ihn ner beschimpft, bespuckt, bedroht, beleidigt. Ich THE CASSINA PERSPECTIVE
gar nichts mehr: »Und doch ist Österreich spe­ kenne im ganzen Land keine No-go-Areas für cassina.com
ziell, es fehlt den Leuten jegliches Unrechts­ Menschen mit dunklerer Hautfarbe.
bewusstsein.« Man lebe nach dem Motto: »Wer Solange das freie Wort hier seine Kraft entfal­
gut schmiert, der fährt gut. Und das hat einen ten kann, solange Kritik Folgen zeitigt wie den Milan Paris New York London Los Angeles Madrid Dubai Tokyo
eigenen Menschenschlag hervorgebracht, den Rücktritt einer Regierung, gebe ich Österreich
Homo corruptus.« nicht auf.
8 POLITIK 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Krise? E
twas verschämt, aber auch ein bisschen bracht hat.« Die Frechheiten des Regierungschefs wür- Wie stark treffen sie die Preissteigerungen? »Mein
stolz lässt Jo Gideon ihren Assistenten den den Konservativen eher nützen als schaden. Als Haus ist glühend heiß, es muss wie in Afrika sein«,
das Video heraussuchen und auf dem Bauern jüngst wegen der drohenden Massentötung lacht Tina. An der Heizung könne sie nicht sparen.
Mobiltelefon vorführen. Wir sitzen von Schweinen Alarm schlugen (die Schlachthöfe lei- Bleiben Lebensmittel und anderer Alltagsbedarf. F ­ rüher
auf der offenen Veranda des Spode den unter Arbeitskräftemangel), riet der Premier zur hätten sie den ganzen Einkauf im Tesco-Supermarkt
Works Café, am Rande des riesigen Gelassenheit: Es sei nicht ungewöhnlich, dass die Tiere erledigt, für 60 Pfund. »Jetzt gehen wir zu verschiede-

Welche Krise?
Geländes einer 2008 geschlossenen eines Tages ihr Leben lassen müssten; sie würden nen Läden, schauen nach Sonderangeboten.« Es klingt
Porzellanfabrik. Hinter uns, in den verschlossenen Hal- schließlich normalerweise als Schinkensandwich enden. nicht dramatisch und schon gar nicht zornig. Übrigens
len mit ihren verstaubten Fenstern, stapeln sich noch »Das kommt«, so Gideon, »in Orten wie Stoke-on- sind die beiden Brexit-Anhänger. »Länder brauchen
die alten Gussformen, an den Außenseiten haben sich Trent ziemlich gut an. Politische Inkorrektheit macht Grenzen«, sagt Jerry, das habe die EU vergessen. Und
ein paar kunstgewerbliche Läden und das Café angesie- ihn hier beliebt.« gar nicht so schlecht, wenn es jetzt, nach dem Weg-
delt: kleine Gentrifizierungsblümchen in den Mauer- Jo Gideon hat den Wahlkreis Stoke-on-Trent Mitte gang vieler Osteuropäer aus Großbritannien, an Last-
rissen einer gigantischen Industrieruine. 2019 zum ersten Mal seit Menschengedenken für die wagenfahrern fehle. Dann merkten die Einheimischen
Auf dem Video, das Jos Assistent abspielt, sieht Torys, die konservative Partei, gewonnen. Der Brexit vielleicht einmal, wie sehr sie auf Migranten ange­
Wie eine konservative Abgeordnete man die drei Unterhausabgeordneten der mittelengli- und Boris Johnson erwiesen sich als hochgradig popu- wiesen seien.
schen Stadt Stoke-on-Trent, Gideon in der Mitte, lär in der alten Porzellan- und Keramikstadt, die mit Für Jo Gideon ist die Gelassenheit von Leuten wie
in Mittelengland dem Brexit-Chaos beim ausgelassenen Karaoke-Singen auf einer Party dem Abstieg der britischen Industrie in den 1970er- Tina und Jerry ein Grund zur Hoffnung. Für die Geg-
und den Inflationssorgen trotzt  am Rande des Parteitags der britischen Konservativen
in Manchester. Tina Turner, Simply the Best. Zum
und 1980er-Jahren heruntergekommen war. Das post-
industrielle Ödland als fruchtbares Feld für eine neue,
ner der Konservativen ist diese Gelassenheit ein Skan-
dal, beinahe ein Makel auf dem englischen National-
VON JAN ROSS Glück, bemerkt Gideon, sei sie die meiste Zeit über volkstümliche Spielart des Konservativismus: »rechts« charakter. So etwa dieser Tage ein Gast in der Kneipe
von ihren beiden männlichen Kollegen verdeckt. im Patriotismus, im Glauben an Recht und Ordnung Bottlecraft im »Kulturquartier« von Stoke: 200 Sorten
Aber in den Momenten, da ihr Gesicht erkennbar und strenge Kontrollen bei der Einwanderung, »links« Bier und ein eher linkes Publikum. Der Mann, Münz-
wird, ist der 68-Jährigen der Spaß an der Sache deut- in der Liebe zu staatlichen Sozial- und Investitionspro- händler, Mitte fünfzig, war kürzlich nach Großbritan-
lich anzumerken. grammen. Stoke wurde ein Musterbeispiel für den nien zurückgekehrt, nach einigen Jahren in den USA.
In Portland, Oregon, wie er stolz bemerkte, einer
Hochburg des Widerstands gegen Donald Trump. Die
Engländer dagegen hätten die fatale, jede revolutionäre
Energie im Keim erstickende Lebenslosung: »Nur
nicht klagen.« Stoisches Durchhalten statt politischen
Protests. Vielleicht ist das die tiefste Angst der John-
son-Kritiker: dass das Volk einen irregeleiteten Ehrgeiz
dareinsetzen könnte, die drohenden Entbehrungen der
kommenden Monate gleichmütig durchzustehen –
und damit einer eigentlich diskreditierten Elite die
Haut zu retten.
Wie die akuten Krisen gemanagt werden – das ist
der eine Faktor, der über Jo Gideons politisches Schick-
sal entscheiden dürfte. Der andere ist das Versprechen
der Konservativen, die zurückgebliebenen Regionen
»emporzunivellieren«, sie dem Wohlstandslevel des rei-
chen Südengland anzunähern. Wird das wirklich pas-
sieren – oder ist es nur ein Slogan? Über 600 Millionen
Pfund, sagt Jo Gideon, seien Stoke-on-Trent an Regie-
rungsmitteln bewilligt worden. Das Innenministerium
werde eine ganze Abteilung mit 500 Arbeitsplätzen
hier ansiedeln, »genau in der Mitte der Stadt, dies wird
der Zweitwohnsitz des Innenministeriums«. Ihr Zu-
kunftstraum für die Regeneration der Stadt ist ein
»Nationales Keramikinstitut« auf dem Gelände der
verlassenen Spode-Fabrik: keine schlichte Wiederbele-
bung der industriellen Produktion, das wäre eine Illu-
sion, sondern eine Verbindung von Handwerkstraditi-
on, Erbepflege und Forschung.
Aber das sind Langfristprojekte. Bis zur nächsten
Unterhauswahl, die vor dem Sommer 2024 stattfinden
muss, wird es gewiss kein Nationales Keramikinstitut
geben. Lässt sich noch etwas tun, auf die Schnelle, um
die konservative Macht im alten Labour-Land zu be-
festigen? Es gibt in manchen Tory-Kreisen eine Theo-
rie dazu, was man den frischgewonnen Wählern aus
dem Arbeitermilieu bieten müsse: kulturelle Polarisie-
rung, ideologische Aufheizung. Jo Gideon hat einen
Kollegen, den Abgeordneten des benachbarten Wahl-
Fotos: Tom Jamieson für DIE ZEIT

kreises Stoke-on-Trent Nord, der genau diesem Muster


folgt. Gerade hat er gefordert, dass Anti-Rassismus-­
Aktivisten, die vom »Privileg des Weißseins« reden, als
Terrorverdächtige gemeldet und registriert werden
sollten. Es ist eine brachiale Strategie, aber keine unlo-
gische: Ein neuer Volkskonservativismus kann auch
das Schüren von Ressentiments bedeuten.
Jo Gideons Strategie ist es nicht. Am Tag nach der
Vorführung des Karaoke-Videos und der Eröffnung
Vorstoß von Johnsons Torys ins Arbeitermilieu, für des »Gedenkgartens« hat sie einen Termin mit Daniel
Wichtiges zur Stadt ihre Eroberung einer Anhängerschaft jenseits der wohl- Flynn, dem Chef des regionalen YMCA, des Christli-
Stoke-on-Trent habenden Stammwähler im Süden Englands. chen Vereins Junger Menschen, der in Stoke-on-Trent
Allerdings war es ein atemberaubend knapper Sieg: in der Sozialarbeit eine wichtige Rolle spielt. In Daniels
Wahlergebnis 2019 670 Stimmen Vorsprung hatte Gideon vor dem Labour-­ Büro hängt ein hölzernes Kreuz, er spricht davon, dass
in Stoke-on-Trent-Mitte: Kandidaten, bei gut 55.000 abgegebenen Voten. Sie er sich um die christliche Nächstenliebe immerhin be-
Konservative: 14.557 muss sich enorm anstrengen, wenn sie den Sitz bei der mühe, und man glaubt es seinem sympathischen grau-
Labour: 13.887 nächsten Wahl verteidigen will. Sie kämpft für die Räu- bärtigen Gesicht sofort – aber, es lässt sich kaum an-
Brexit-Partei: 1691 mung einer illegalen Deponie mit explosionsgefährde- ders sagen, Daniel Flynn hasst die Torys. Mit 16 von
Liberaldemokraten: 1116 tem Plastikmüll, sie hat eine parlamentarische Initiative der Schule abgegangen, war ihm mit 18 schon zweimal
Grüne: 819 gegen die Gefahr durch flache Knopfbatterien gestar- als Mechaniker gekündigt worden. Margaret Thatchers
Wahlbeteiligung: 57,9 % tet, nachdem ein Kleinkind in Stoke-on-Trent eine ver- Kampf gegen die Gewerkschaften hat er persönlich­
schluckt hatte und daran gestorben war. Sie hat ihr Amt erlebt und durchlitten. Die austerity, die strenge Spar­
Geschichte als Staatssekretärin aufgegeben: mehr Zeit für den politik, die von den britischen Konservativen in den
Stoke-on-Trent ist eines der Wahlkreis. Sie hofft, dass sie und ihre Partei den Ge- 2010er-Jahren betrieben wurde, hält er für ein bis heu-
historischen Zentren der genwind der akuten Krisen überstehen können, und te nachwirkendes Desaster, sie habe »von der Armut
Keramik- und tröstet sich mit dem Vergleich mit der letzten Treib- zur Verelendung« geführt. Die jetzt von der Regierung
Porzellanherstellung in England. stoffkrise im September 2000: »Damals sind die Um- durchgezogene Kürzung der Sozialhilfe nennt Flynn
Die Stadt ist keine urbane fragewerte für die Regierung im Laufe von Tagen ein- »für junge Leute hart, für Familien eine Katastrophe«.
Einheit, sondern besteht aus gebrochen. Das ist diesmal nicht passiert.« Doch sie Über Boris Johnson: »Der Kerl ist ein Idiot.« Und das
fünf einzelnen Siedlungen: fürchtet auch, dass sich die Bürgerinnen und Bürger in alles, während die konservative Abgeordnete gut ge-
Hanley, Burslem, Tunstall, den vergangenen Monaten an einen übermächtigen launt auf dem Besuchersofa in seinem Zimmer sitzt.
Longton und Fenton Staat gewöhnt hätten und ihm jetzt seine Ohnmacht Denn für Jo Gideon macht Daniel Flynn eine ent-
nicht verzeihen würden: Die Kritiker »unterstellen, schiedene Ausnahme von seiner Tory-Phobie: »Jo ist
dass die Regierung für alles verantwortlich sei. Und das menschlich, sie ist echt; als sie nach Stoke gekommen
Gute Laune bei Politikern ist im Augenblick im Ver- ist eine ziemlich plausible Unterstellung, denn während ist, hat sie erst einmal zugehört.« Unideologisch, keine
einigten Königreich eine heikle Sache. Tankstellen der Pandemie hat die Regierung in der Tat die Verant- Stammeskriegerin – die Komplimente hören gar nicht
ohne Benzin, Angst um den Weihnachtsbraten, stei- wortung für alles übernommen.« wieder auf. Es kommt zu einem kleinen Duett der bei-
gende Gaspreise, eine Kürzung der Sozialhilfe, höhere Wenige Stunden vor der kleinen Videovorführung den über das Motiv der kindness als überparteilicher
Steuern für das unterfinanzierte Gesundheitswesen: im Spode Works Café hat Jo Gideon eine typische Par- Tugend – über jenen unübersetzbaren englischen Be-
Alles knirscht, wackelt und bröckelt. Die Kontinental- lamentarierpflicht zu erfüllen: eine Eröffnungszeremo- griff, der so viel mehr meint als »Freundlichkeit« im
europäer blicken auf die Insel und sehen ein vom Brexit nie für einen »Gedenkgarten«, den eine Nachbar- Deutschen; im Grunde geht es um Humanität. Und
mitgenommenes Land, Enttäuschung und Bedauern schaftsinitiative zur Erinnerung an ihre Verstorbenen für den Sonntag ist Jo Gideon bei Daniel Flynn und
Stoke-on-Trent seiner Frau zum Mittagessen eingeladen.
sind der offenen Schadenfreude gewichen. Die Briten eingerichtet hat. Der Pfarrer der anglikanischen Ge-
selbst erwarten einen »Winter der Unzufriedenheit«: meinde spricht ein Gebet, vom Band wird Amazing In Deutschland wäre diese Geschichte einer Sympathie
eine Anspielung auf den Jahreswechsel 1978/79, der Grace gespielt, Jo Gideon redet kurz und schneidet ein über die Parteigrenzen hinweg kaum der Rede wert. Wir
London mit galoppierender Inflation und wilden Streiks bis Bändchen durch. Ein paar Meter entfernt, unter einem haben eine Mitte-orientierte politische Kultur, unsere­
heute als Inbegriff des nationalen Niedergangs in den Zeltdach, kann man sich etwas zu essen holen und Parteien sind es gewohnt, miteinander Koalitionen zu
Siebzigerjahren gilt. Ist das eine Lage, in der ein Par- Nescafé aufgießen lassen. Die konservative Abgeord- bilden, unsere Politiker sehen ihre Kollegen im anderen
teitag feiern oder ein Politiker Witze reißen darf? Wie nete setzt sich mit einem ehemaligen Labour-Stadtrat Lager nicht als Feinde. In Großbritannien ist das etwas
der Premierminister Boris Johnson, der in Manchester an einen Tisch und plaudert unbefangen los. anders. Der Gegensatz von Labour und Konservativen ist
eine provozierend muntere Rede hielt, in der er den Mit dabei sitzen Tina Kayelah und Jerry Kottoh. so unabänderlich, so naturgesetzlich wie das Gegenüber
Oppositionsführer als »schwer verwirrten Busschaff- Sie stammen aus Afrika – sie aus Malawi, er aus Gha- von Schwarz und Weiß auf dem Schachbrett, und das
ner« verhöhnte, aber die Sorgen der verunsicherten na. Ihre erste Station in England war Birmingham, hasserfüllte Erbe des Klassenkampfes, der Feindschaft
Nation nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. eine multikulturelle Großstadt, vor Stoke-on-Trent zwischen Arm und Reich, ist aus der Politik nie komplett
Jo Gideon hält die empörten Mahnungen zu größe- hatte man sie gewarnt: Da würden sie es mit Rassismus verschwunden. Seit dem Brexit mit seiner kulturkämpfe-
rer Ernsthaftigkeit für Unsinn, sie glaubt, dass Boris zu tun bekommen. Es sei dann nicht so schlimm ge- rischen Aufladung ist noch eine weitere Dimension von
Johnson mit seiner angeblichen Frivolität genau rich- worden; die beiden haben einen Verständigungsverein Aggressivität dazugekommen.
Gas geben ist offenbar noch möglich in tigliegt, gerade in harten Zeiten. »Humor hat gefehlt in gegründet, das »Kulturzebra« (schwarz und weiß), und Keine ganz schlechte Leistung, dass es in Stoke-on-
Stoke-on-Trent (oben). Die konservative der Politik«, sagt sie, »und die Leute lieben Humor. gerade mit afrikanischen Speisen hätten sie schon etwas Trent-Mitte ein bisschen anders zugeht. Und womög-
Abgeordnete Jo Gideon (Mitte). Mir hat Boris’ Rede gefallen, mich hat nicht gestört, Verständnis schaffen können. Am Buffet unter dem lich ist kindness sogar ein recht gutes Rezept, um durch
Straßenszene (unten) dass er nicht 27 Beispiele für politische Projekte ge- Zeltdach gibt es auch welche. einen Winter der Unzufriedenheit zu kommen.
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 POLITIK 9

In einem
Instagram-Video
schildert Gil Ofarim,
Screenshots: Gil Ofarim/instagram/ddp socialmediaservice

was ihm in einem


Leipziger Hotel
passiert sein soll

»Pack deinen Stern ein«


Der Musiker Gil Ofarim wirft einem Hotelmitarbeiter Antisemitismus vor. Der widerspricht. Was geschah wirklich?  VON ANNE HÄHNIG UND MARTIN MACHOWECZ

W
er im Westin-Hotel Leip- Namen des Managers am Counter werde ich jetzt W. am Dienstag dieser Woche, sieben Tage nach Verlauf der Hotelmitarbeiter sich beleidigt gefühlt laut verhalten, irgendwelche Drohungen ausgestoßen
zig in den Fahrstuhl nicht nennen, es war ein Herr W. ...« Seine Stimme seinem Video. Das Hotel wiederum beauftragte habe. Angeblich, so heißt es, habe er Ofarim­ habe? Das habe nicht stattgefunden, sagt er. Später
steigt, in den 27. Stock bricht mehrfach. Er ist aufgewühlt. Beim Check-in eine Großkanzlei mit Ermittlungen; es will sich daraufhin Hausverbot erteilt. In diesen Schilderun- und draußen, vor dem Hotel, habe er sich erst kurz
fährt, der hat plötzlich habe es eine »Riesenschlange« gegeben, »weil deren nach deren Abschluss zu Wort melden – bis zum gen taucht keine Auseinandersetzung über Ofarims gesammelt und das Video aufgenommen: »Weil ich
einen Ausblick, wie es Computer down ist«, sagt Ofarim. »Ich stehe hier Redaktionsschluss dieser Ausgabe lagen die Ergeb- Kette auf. Auch Zeugen, die den Satz mit dem in dem Moment wusste, ich muss irgendwas tun.«
ihn in dieser Stadt kein mit meiner Kette, steht mir zu, mache ich schon nisse nicht vor. Doch die ZEIT konnte mit mehre- Stern gehört haben, fanden sich bis zum Anfang Fakt ist: Egal, wie Gil Ofarim sich vor der Kon-
zweites Mal gibt: ein mein Leben lang. Und eine Person nach der ande- ren Menschen sprechen, die in den Fall und seine der Woche offenbar nicht. Die Polizei teilt auf ­ frontation mit dem Hotelmitarbeiter verhalten hat
Hauch von New York, mitten in Sachsen. Genau ren wird vorgezogen.« 15 Minuten später sei er Aufklärung involviert sind. Anfrage dazu nur mit: Die Ermittlungen liefen, es – antisemitische Sprüche wären durch nichts zu ent-
so war das schon 1981 gedacht, zur Eröffnung. drangekommen und habe gefragt: »Was ist los? Einige Fakten kann man bereits als unumstritten sei zu früh für jedwede Rückschlüsse. schuldigen. Fakt ist zugleich: Es gibt, in der erregten
Die SED wollte mit dem Interhotel Merkur ein Warum werden alle vorgezogen?« Da habe jemand werten: Gil Ofarim kam am Abend des 4. Oktober Social-Media-Kultur, kaum eine Zeit des Abwartens,
Zeichen setzen. Seht her: Zu uns kann man kom- aus der Ecke gerufen: »Pack deinen Stern ein.« im Westin an. Dort herrschte Chaos: Die Systeme Jetzt selbst zur Zielscheibe zu werden Empörung greift sofort um sich. Das Westin-Hotel
men. Wir sind offen. Damals war das eindeutig Auch der Rezeptionist habe entgegnet: »Packen Sie zur Codierung der Zimmerkarten waren wohl aus- sei kein gutes Gefühl, sagt Ofarim hat mit seiner schlechten Krisenkommunikation zur
eine Illusion. Und heute, 40 Jahre später? Steht Ihren Stern ein.« Nur dann, so gibt Ofarim ihn gefallen, Dutzende Menschen warteten auf ihren Eskalation beigetragen. Erst reagierte man stunden-
wieder zur Debatte, ob die Offenheit dieses Hau- wieder, dürfe er einchecken. Check-in, die Mitarbeiter der Rezeption waren im Gil Ofarim hat schon mehrere Interviews gegeben. lang gar nicht. Dann hieß es, als Haus habe man das
ses, dieser Stadt eine Illusion ist. Denn das Westin-­ Stress. Dienst hatte der von Gil Ofarim im Video Mit der ZEIT spricht er am Montag dieser Woche, Ziel, »alle unsere Gäste und Mitarbeiter zu integrie-
Ho­tel muss sich der Frage stellen, ob es Menschen Hunderte Menschen trafen sich zu einer benannte »Herr W.« – eine junge, aber schon erfah- telefonisch. Wie geht es ihm? »Mir geht’s, weiß ich ren«. Das ist natürlich absurd, wieso sollte der
wegen ihrer Religion ausschließt. Ob einem Gast spontanen Demonstration vor dem Hotel rene Führungskraft mit Berufsstationen in großen nicht, so lala«, sagt er. Er habe die Sache publik, sich deutsche Staatsbürger Gil Ofarim irgendwo inte-
der Zugang verwehrt wurde, weil er jüdischen Städten ebenso wie im Ausland. Fragt man Menschen damit aber auch in der Öffentlichkeit zur Zielscheibe griert werden?
Glaubens ist. Bitte, was? Ein Mensch, der einen Davidstern trägt, in der Branche, die ihn kennen, geraten sie ins gemacht. »Das, glauben Sie mir, ist kein gutes Gefühl.« Es sind Vertreter jüdischer Gemeinden und Ver-
Der Ablauf der Ereignisse, um die es hier geht, ist wird an der Rezeption eines Hotels dazu aufgefordert, Schwärmen über ihn, seine Freundlichkeit, Profes- Ofarim weiß, dass der Mitarbeiter der Rezeption eine in Leipzig, die zurückhaltend blieben mit ihrer
umstritten, es gibt mehrere, teils konträre Perspekti- diesen Stern wegzupacken? Das wäre so unfassbar, so sionalität. Es gibt ein Video der Szenen, die sich im Anzeige wegen Verleumdung gestellt hat. »Es ist mir Bewertung. Die Israelitische Religionsgemeinde zu
ven. Wenn die Dinge sich so zugetragen haben soll- beschämend, dass sich Gil Ofarims Video rasend Hotelfoyer abgespielt haben. Weil es von den Über- schon klar, dass er das in gewisser Weise sogar machen Leipzig war im Westin schon zu Gast, hat hier Pessach
ten, wie sie Gil Ofarim schildert, ein bekannter schnell im Internet verbreitet, millionenfach geklickt wachungskameras stammt, hat es keinen Ton. Die muss. Denn es wird mit Sicherheit keinen geben, der gefeiert, es wurde koscher gekocht. Ihr Vorsitzender,
Musiker, dann wäre dies ein Fall von schockierend wird. Medien aus aller Welt greifen es auf, ein Shit- ZEIT konnte es nicht einsehen, aber es soll neben bei so einer Institution arbeitet und zu seinem Anti- Küf Kaufmann, lehnte es ab, sich an der Demo vor
offenem Antisemitismus. Dann hätte das Westin- storm entlädt sich über dem Hotel, Hunderte Men- dem Trubel erregte Auseinandersetzungen zwischen semitismus steht.« Es gehe ihm nicht um sich selbst, dem Hotel zu beteiligen. Er will zunächst das Ge-
Hotel in Leipzig ein Problem. Zugleich wäre, einmal schen treffen sich spontan zur Demonstration gegen Ofarim und dem Hotelmitarbeiter W. zeigen. sagt Ofarim. »Ich will, dass sich etwas ändert.« spräch mit dem Hotel suchen. Kaufmann bekam,
mehr, bewiesen, dass Deutschland dieses Problem in Antisemitismus vor dem Westin. Die Zentrale des Was konkret geschah, wissen nach jetzigem Seine Schilderungen gehen so: Als er am Montag- genauso wie Gisela Kallenbach, Vorsitzende des För-
besonders schwerem Maße hat. Doch zuerst muss Marriott-Konzerns, zu dem Westin gehört, verschickt Stand nur Gil Ofarim und der Hotelmitarbeiter W. abend die Lobby betreten habe, sei er entspannt und dervereins des jüdischen Begegnungszentrums in
man sich den Fall genauer ansehen. eine Mitteilung, man sei »schockiert und betrübt«. Dessen Schilderungen (er selbst war für die ZEIT »gut drauf« gewesen. Hinter ihm lag ein »toller Tag Leipzig, gleich am folgenden Tag einen Termin beim
Alles beginnt mit einem Video, das Gil Ofarim Zugleich warnen jene, die mit den Ermittlun- nicht erreichbar) gehen offenbar in diese Richtung: bei einer Fernsehshow«. Für den MDR durfte er die Management des Hotels. »Meinem Eindruck nach
auf Instagram eingestellt hat, am Morgen des gen befasst sind, vor zu schnellen Schlüssen: Es sei Ofarim sei ungeduldig gewesen, habe seinen Un- »Playlist of my life« präsentieren. In der Lobby selbst ist das Haus interessiert daran, eine sachgemäße Auf-
5. Oktober 2021. Ofarim, 39, hockt auf dem längst nicht alles so klar, wie es bislang scheine. mut energisch deutlich gemacht. W. habe tatsäch- sei der Hotelmitarbeiter, Herr W., mehrfach an der arbeitung hinzubekommen«, sagt Kallenbach.
Bordstein vor dem Westin-Hotel und filmt sich Das öffentliche Urteil sei gesprochen gewesen, ehe lich zwei Stammgäste vorgelassen, aber in dieser Schlange der Wartenden vorbeigelaufen und habe Der Klarname des Hotelmitarbeiters W. wurde
selbst, die Szene ist offenbar am Abend zuvor auf- der erste Polizist mit den Befragungen von Zeugen Version aus plausiblem Grund: Es handle sich um einzelne Personen vorgezogen. »Irgendwann habe ich schnell in sozialen Medien verbreitet. Es ist zu ver-
genommen, es ist dunkel. Er trägt eine Lederjacke, beginnen konnte. Niemand außer Gil Ofarim­ Leute, die als Geschäftsreisende 200-mal im Jahr ihn gefragt: ›Entschuldigen Sie bitte, warum ziehen nehmen, dass er unzählige Morddrohungen erhält
außerdem eine Kette mit einem Davidstern als An- redet derzeit öffentlich, weder der Hotelkonzern im Westin übernachten. Ihren Check-in bereite Sie andere Menschen vor?‹ Und da sagte er: ›Um die – wie auch Gil Ofarim, der zwischenzeitlich unter
hänger. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich noch dessen Mitarbeiter in Leipzig, auch die­ immer schon die Nachmittagsschicht vor, auch die Schlange zu entzerren.‹« Irgendjemand in der Lobby, Polizeischutz stand. Ermittler fürchten, dass es
wurde in der Vergangenheit oft gefragt zum Thema Ermittlungsbehörden nicht. Die wurden in dem Zimmerkarten seien bereits codiert gewesen, wes- den Ofarim nicht sehen konnte, habe als Erster gesagt: immer schwieriger wird, Zeugen unbefangen zu
Antisemitismus in Deutschland«, spricht Ofarim Fall zunächst aktiv, weil der Hotelmitarbeiter, halb man dadurch die Schlange habe entzerren »Pack deinen Stern weg.« Kurz darauf habe der Mit- vernehmen und den Fall aufzuklären. Die Stim-
in sein Smartphone. »Ich bin jetzt gerade hier in »Herr W.«, Ofarim wegen Verleumdung angezeigt können. Darüber habe Ofarim sich laut aufgeregt. arbeiter gesagt: »Packen Sie Ihren Stern weg. Dann mung sei so aufgeheizt, dass man sich um alle­
Leipzig, in einem Hotel namens Westin. Den­ hatte. Ofarim erstattete seine eigene Anzeige gegen Es sei zu einem Wortwechsel gekommen, in dessen dürfen Sie einchecken.« Dass er selbst, Ofarim, sich Beteiligten nur noch Sorgen mache.

Eine Sonderveröffentlichung von Engagement Global und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Agenda 2030

Mehr Wissen

811 Mio.

Ein Teufelskreis, der sich durchbrechen lässt


Menschen leiden Hunger.

Dramatischer könnte die Lage in Afgha- » Armut zurück, mehr als die Bevölkerung » » 15.000
nistan kaum sein: Wenige Wochen vor Die Regionen, die ohnehin schon Deutschlands, Österreichs und der Es ist möglich, innerhalb der Für eine effektivere Landwirt- Kinder sterben täglich an
Wintereinbruch sind 18 Millionen Men- unter Hunger, Trinkwasser- Schweiz zusammen – ein großes Leid, das nächsten zehn Jahre eine Welt schaft müssen wir den Kleinbauern Hunger und Armut.
schen auf Nahrung, Trinkwasser, medi- Konflikten und Verteilungskämpfen den
knappheit und Armut leiden, ohne Hunger zu schaffen. Wir technisches Know-how vermitteln.
zinische Versorgung angewiesen. Die Boden bereitet.
werden in Zukunft noch mehr haben die Technologie und das Wichtig ist zudem ein kultursen-
1 Mrd.
Hälfte der Kinder wird in den kommen- Wenn Menschen nichts zu essen ha-
den zwölf Monaten akut unterernährt davon betroffen sein – auch weil ben, ergreifen sie die Flucht oder kämpfen Wissen, und der Planet Erde hat sibles Empowerment der Frauen.
sein. Geht es so weiter, wird die infolge der Gletscherschmelzen vor Ort um ihr Überleben. Hunger und Ar- das Potenzial, alle Menschen Dafür brauchen wir aber einen Menschen haben sich seit 1990
Armutsrate auf bis zu 97 Prozent stei- mut zu bekämpfen, ist deshalb nicht nur
die großen Flüsse in Pakistan satt zu machen. Was uns fehlt, langen Atem. aus extremer Armut befreit.
gen, lautet die Prognose der UN. Der eine humanitäre Verpflichtung, sondern
Kampf gegen Hunger (SDG 2) ist und Indien nicht mehr so ge- auch vorausschauende Friedenspolitik.
ist eine internationale Ent- «
schließlich immer auch ein Kampf ge- speist werden wie heute, sodass Denn wo es Flucht, Vertreibung und Kon- schlossenheit in Politik, Wirt- Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe
gen Armut (SDG 1). es zu Kriegen wegen des Trink- flikte gibt, gibt es Hunger. Und wo Men- schaft und Wissenschaft. Dieses
schen hungern, gibt es Konflikte. Ein Teu- Ziel muss Nr. 1 auf der Prioritä- viel Geld, aber kein unrealistisches Ziel. Was Hunger- und Armutsbekämp-
wassers kommen kann.
Dabei war die Weltgemeinschaft auf ei- felskreis. Und der Klimawandel verschärft Zum Vergleich: 2.000 Milliarden Dollar fung mit dem Konsumverhalten in
nem guten Weg: Seit 1990 ist die Zahl der « die Situation noch: Millionen Menschen ha-
tenliste der Weltpolitik werden.
werden jährlich für Rüstung und Vertei- Deutschland zu tun hat, thematisiert
extrem Armen um fast zwei Drittel gefal- Mojib Latif, Klimaforscher und
Präsident Dt. Gesellschaft Club of Rome
ben bereits die Lebensgrundlagen in ihrer « digung ausgegeben. Vor allem braucht es der aktuelle ZEIT-Video-Cast. Mit da-
len, obwohl gleichzeitig die Weltbevölke- Heimat verloren. Wie lässt sich dieser Teu- Gerd Müller, ein klimafreundliches, inklusives Wirt- bei: Bundesentwicklungsminister
rung auf über zwei Milliarden Menschen felskreis durchbrechen, damit bis 2030 Bundesentwicklungsminister schaftswachstum, bei dem auch Klein- Gerd Müller, Marlehn Thieme, Präsi-
gewachsen ist. Im gleichen Zeitraum wurden unterbrochen, die Arbeitslosigkeit kein Mensch mehr in Hunger und extremer bäuerinnen Zugang zu Krediten und si- dentin der Welthungerhilfe, Mojib La-
nahm die Zahl der Hungernden um 200 stieg weltweit rapide an. Besonders betrof- Armut – also von weniger als 1,90 US-Dol- nachhaltige Ernährungs- und Landwirt- cheren Landrechten erhalten. Ebenso tif, Präsident Dt. Gesellschaft Club of
Millionen ab. Die Corona-Pandemie und fen sind davon Menschen in Entwicklungs- lar pro Tag – leben muss? schaft könnten Industrie- und Entwick- zentral ist Wissensvermittlung, etwa für Rome, und Dagmar Pruin, Präsidentin
ihre Folgen haben diese positive Entwick- ländern, insbesondere Tagelöhner. 130 Mil- Prävention ist entscheidend: Mit 40 lungsländer sowie die Privatwirtschaft klimaresilientes Saatgut. Und nicht zu- Brot für die Welt und Diakonie Katas-
lung jäh gestoppt: Versorgungsketten lionen Menschen fallen in Hunger und Milliarden Euro zusätzlich im Jahr für eine den Hunger bis 2030 besiegen. Das ist letzt der politische Wille. trophenhilfe.

ONLINE TALK
Das neue Video-Cast von »Zeitfragen des Jahrhunnderts« mit Gerd Müller (Bundes-
entwicklungsminister), Marlehn Thieme (Welthungeerhilfe), Mojib Latif (Dt. Gesell-
s ch af t Cl ub of Rom e) u nd Dagmar Pruin ( Brot f ür d ie Wel t, D ia kon ie Kata stro -
phenhilfe) ist abrufbar unter: www.zeit.de/zeitfrageen
10 POLITIK 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Analyse

DIE GUTE NACHRICHT

Rotieren statt
durchdrehen
  VON DAVID HUGENDICK
Weil wir alle in – wie man immer sagt ­– die-
sen Zeiten ein wenig unschuldige Rührung
nötig haben, kommt die gute Nachricht aus
Bosnien: In der kleinen Stadt Srbac, ansons-
ten bekannt für Gelbbauchunken, üppige
Sumpflandschaften und vornehme Laubwäl-

Der Parteichef kündigt seinen Rückzug an


der, hat ein 72-jähriger Mann seiner Frau ein
rotierendes Haus gebaut, damit sie sowohl
den Sonnenaufgang als auch den Sonnen-
untergang aus demselben Zimmer bewun-

Was wird ohne Jörg Meuthen aus der AfD?


dern kann. Mit der Aussicht zuvor war sie ein
wenig unzufrieden, sie habe sich interessan-
tere Perspektiven gewünscht, was ja jedem
Hausbesitzer irgendwann passiert: immer der
Anblick von Uwes ungemähtem Rasen gegen-
über, immer demolieren die Kinder da vorn Vielleicht muss man es als Jörg Meuthens größten vergangenen Jahr in internen Kommissionen dadurch auch noch die letzten bürgerlichen Wähler Joana Cotar. Durch die Assoziation mit Meuthen
das Garagentor mit ihrem Fußball, und im- Erfolg werten, dass er nach Ankündigung seines über den sozialpolitischen Kurs stritt, forderte zu verscheuchen. Kurz vor der Wahl e­ rklärte er sogar, wäre sie allerdings schon geschwächt, bevor sie das
mer treffen sich Habicht und Lurch dort an Abgangs als der letzte verbliebene Mode­rate in Meuthen eine Abschaffung des bisherigen er könne die Wahl einiger der ­Direktkandidaten Amt überhaupt anträte. Im dritten Szenario würde
der Buche auf einen Früchtetee. Irgendwann der AfD gezeichnet wird. Überall ist nun zu lesen, Renten­systems und eine Umstellung auf eine rein seiner Partei selbst nicht empfehlen. Meuthen durch einen weiteren Sympathisanten des
dreht man durch, es sei denn, das Haus dreht dass bloß noch die Rechtsextremen übrig bleiben, private Altersvorsorge. Und er scheiterte. Denn Nur sind es seit Jahren ebenjene schwefeligen Ost-Kurses ersetzt; es wäre die absolute Machtde-
sich von selbst. Dieser Luxus war bisher nur jetzt, wo er nicht mehr für den Parteivorsitz an- die ostdeutschen Landesverbände verfolgen seit je Figuren, die für die AfD Wahlen gewinnen. Höckes monstration der Rechtsradikalen in der Partei.
avantgardistischen Architekturprojekten vor- tritt. Seit fast zwei Jahren bastelt Meuthen an­ einen anderen Kurs: Sie wollen keine nationale Landesverband wurde bei der Bundestagswahl Es fällt leicht, jede neue Entwicklung in der AfD
behalten – wie der Suite Vollard in Brasilien, genau dieser Mahner-und-Bremser-Erzählung. FDP sein, sondern eher eine Art völkische SPD, stärkste Kraft in Thüringen; in Sachsen holte die pauschal als weiteren Schritt der Radikalisierung zu
wo die Etagen in unterschiedliche Richtun- Aber man sollte sie ihm nicht glauben. keine Steuersenker-, sondern eine Kümmerer- Partei 16 Direktmandate. In Ostdeutschland ist die werten. Aber was bedeutet das schon noch bei einer
gen kreisen, oder dem Dynamic Tower in der Ganz grundsätzlich gilt, dass kein Gemäßig- Partei, die sich allerdings nur um Deutsche küm- AfD tatsächlich Volkspartei, hier wird sie von bis durchweg radikalen Partei? Viel eher deutet sich
Glas- und Stahlfronten-Stadt Dubai, wo noch ter sein kann, wer im Jahr 2021 noch ein AfD- mern will, und zwar um jene Deutschen, die zu einem Viertel der Menschen gewählt. Meuthen mit dem Abgang von Meuthen ein konkreter Kurs-
die kindischsten Träume von sehr reichen Parteibuch besitzt. Zwar hat Meuthen immer schon deutsche Großeltern hatten. und die westdeutschen Verbündeten verloren in wechsel in der AfD an: Die neuen Mächtigen in der
Leuten wahr werden, wenn sie sich nur lang wieder betont, dass ihm erst spät aufgegangen Meuthen verlor im innerparteilichen Macht- den vergangenen Monaten hingegen eine Wahl Partei werden versuchen, die AfD zu einer rechten
genug mit ihren 23 Autos gelangweilt haben sei, wie radikal die Radikalen in seiner Partei kampf immer weiter an Boden. Und begann zur nach der anderen. Nun geht er, weil er weiß: Es gibt Sozialpartei umzubauen. Dazu braucht es keine
und auch das Seafood-Dinner auf der Jacht wirklich seien. Seine Erzählung der eigenen­ selben Zeit damit, seine ostdeutschen Gegner für ihn und seinen Kurs der strategischen Mäßigung bürgerliche Fassade mehr und auch keinen Profes-
nicht mehr genug thrill hat, selbst wenn die Katharsis beginnt im Herbst 2019; da habe er mit dem Vorwurf anzugreifen, sie stünden zu in der AfD keine Zukunft mehr. Beim Bundes­ sorentitel, den Meuthen stets als Beleg seiner Serio-
Kellner mit Fallschirmen vom Himmel se- endlich verstanden, dass die Partei mit Rechts- weit rechts. Vorher war das nie ein Problem für parteitag im Dezember wäre er wohl ohnehin abge- sität führte. Statt seiner werden künftig Leute be-
geln. In Srbac indes kreiselt nun dieses Häus- extremen durchsetzt sei und dass er etwas ge- ihn gewesen. Erst als sein libertäres Projekt zu sägt worden. Dem kommt er nun zuvor. nötigt, die Arbeitskampf und Rentenpolitik von
chen bescheiden und leuchtend hellgrün in gen sie tun müsse. Aber das kann so nicht stim- kippen begann, setzte sein Umdenken ein. Die Leerstelle, die er lässt, wird auf dem Par- rechts verkaufen können. Die AfD ist auf dem Weg,
der Hügellandschaft, zwischen Maisfeld, men. Björn Höckes »Denkmal der Schande« Etwa zeitgleich hatte Meuthen erkannt, dass die teitag im Dezember gefüllt werden. Es gibt drei das Begriffspaar national und sozial für sich in An-
Foto: DZ, verwendetes Foto: AfD

Wald und Ackerland. Sechs Jahre hat der war da schon längst in der Welt, Alexander Extremisten die AfD auf Dauer in die politische Szenarios, was dann passieren kann. Entweder führt spruch zu nehmen. Nur dass es innerhalb der AfD
Mann daran gebaut. Wenn es sich langsam Gaulands »Vogelschiss« ebenfalls, und AfD-­ Bedeutungslosigkeit pöbeln würden. So beförderte Meuthens bisheriger Co-Chef, der sächsische­ unter der Chiffre »solidarischer Patriotismus«­
dreht, braucht es 24 Stunden für eine volle Politiker waren gemeinsam mit Neonazis durch er den Ex-Neonazi Andreas Kalbitz aus der Partei Malermeister Tino Chrupalla, die Partei alleine geführt wird.
Umdrehung, wenn es schneller gehen soll, Chemnitz marschiert. und mit ihm eine ganze Reihe anderer Rechtsextre- weiter. Es wäre eine massive Machtverlagerung gen Dabei gibt es in Deutschland längst schon
nur 22 Sekunden, das klingt doch beides Möglicherweise ist es eher so: Meuthen ist mer. Besonders schwefelige Figuren wie Höcke rief Osten. Oder, zweite Option, Chrupalla wird ein eine politische Kraft, die als »die soziale Heimat-
recht verlockend. Und bei so viel Romantik zwar ganz sicher kein Moderater. Aber ein Ultra- er öffentlich auf, sich zu mäßigen, um dem Verfas- Protagonist aus dem Meuthen-Lager zur Seite­ partei« auftritt: Es ist die NPD. Nur saß die nie
am Bau wollen wir gar nicht weiter stören. Wirtschaftsliberaler ist er schon. Als die Partei im sungsschutz nicht noch mehr Material zu liefern und gestellt, etwa die hessische Bundestagsabgeordnete im Bundestag.  PAUL MIDDELHOFF

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29. September 2021 | Kiel www.convent.de/sh

Mittelstandstag Schleswig-Holstein
der Schwerpunkt der Arbeit auf
Fotos: © Andreas Henn

Beratung und Finanzierung. »Wir


vergeben Kredite vom 3.000-Euro-
Mikrokredit bis hin zu großen
Finanzierungen«, erklärte Thomas
Ott, Leiter Firmenkunden, seine
Tätigkeit.
Digitalisierung war auf vielen
Foren das bestimmende Thema.
Im Auftrag des Bundeswirtschafts-
ministeriums (BMWI) gab Nadja Zwei Fragen an Wirtschafts-
Mesheva vom Deutschen For- minister Dr. Bernd Buchholz (FDP)
schungszentrum für Künstliche
Intelligenz einen Überblick über die In Berlin wird um die Regierungsbil-
Fördermöglichkeiten für digitale dung gerungen. Was sind Ihre Er-
Innovationen im Mittelstand. Das wartungen für ein Mittelstandsland
Wirtschaftsminister Bernd Buchholz begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Mittel- Jung – mutig – modern: Laura Röseberg, Co-Founder, IdeaChamp Innovation GmbH (re), und BMWI betreut Projekte, die Digitali- wie Schleswig-Holstein? Dauerthe-
standstags Schleswig-Holstein in Kiel. Jannes Köhler, Gründer und Geschäftsführer der Univelop GmbH (li), stellten im Rahmen der
Veranstaltung ihre erfolgreichen Geschäftsmodelle made in Schleswig-Holstein vor. sierungsgutscheine ausgeben, be- men sind die wachsende Steuerbela-
treibt aber ebenso regionale Kom- stung unserer 123.000 kleinen und

Auf digitale und nachhaltige Lösungen setzen petenzzentren wie das in Kiel.
Dass die Wirtschaft auch Verant-
wortung für die Zukunft trägt und
mittleren Unternehmen und die
hohen Energiepreise. Es ist ja para-
dox, dass ausgerechnet unser Wind-
Es war ein Aufbruch in Foren und Break-Outs referierten grat der Wirtschaft bilden, denn sie bleme gesunken sind. »Das deute Nachhaltigkeit unternehmerische energieland infolge des Energie-
zweifacher Hinsicht, der sich auf und diskutierten die Teilnehmen- stellen 98 Prozent aller Unterneh- ich als gutes Zeichen, dass es viele Chancen bieten kann, zeigten die Einspeisegesetzes die höchsten
dem schleswig-holsteinischen den, wie sich die Wirtschaft im men. Gerade für sie setze er sich Unternehmen geschafft haben, Beteiligten einer Session ganz Strompreise hat. Mehr Unterstüt-
Mittelstandstag präsentierte: nördlichsten Bundesland fit für die ein, damit sie profitabel wirtschaf- durch die Krise zu kommen, auch deutlich: Für eine Pension an der zung der künftigen Regierung
Die Wirtschaft setzt künftig Zeit nach Corona machen kann. ten können. Für dieses Ziel baut er wenn sie ihren Gürtel enger schnal- Geltinger Bucht gilt das Prinzip: erwarte ich auch hinsichtlich For-
verstärkt auf Technologie und Der Tag fand in Zusammenarbeit Bürokratie ab, digitalisiert und len mussten«, sagte Kay. Jetzt gelte alles selbst machen. Damit haben schung und Entwicklung für den
Nachhaltigkeit und die zahl- mit dem Wirtschaftsministerium kümmert sich um die Unterneh- es, aus dem Krisenmodus heraus sie es geschafft, nicht nur kein CO2 Mittelstand. Denn kaum einer
reichen Sprecher:innen Schleswig-Holstein, den Förder- mensnachfolge. »Konkret haben hin zu einer zukunftsorientierten mehr auszustoßen, sie produzieren unserer Betriebe hier im Norden ver-
und das Publikum konnten instituten des Landes und einer wir einen ›Digi-Bonus‹ eingeführt, Wirtschaftspolitik zu kommen. sogar 83 Prozent weniger Müll als fügt über eine Forschungsabteilung
sich endlich wieder live und Reihe weiterer regionaler und über- der Investitionen in digitale andere Klimahotels. Eine ebenso wie etwa Großunternehmen in
vor Ort treffen. Lebhaft wurde regionaler Partner statt. Projekte fördern soll«, so der Unterstützung vor Ort spannende Geschichte erzählte ein Bayern oder Baden-Württemberg.
darüber diskutiert, welche Den Auftakt übernahm Dr. Bernd Minister. Wie sie den Mittelstand konkret Gründer, der sich dem Kampf ge- Und welche Weichen stellt Ihre Lan-
Rolle die Wirtschaftspolitik Buchholz, Wirtschafts- und Touris- Den Blick zurück und eine erste unterstützen können, das stellten gen Lebensmittelverschwendung desregierung? Wir haben eine Men-
für die Entwicklung im musminister des Bundeslandes. Bestandsaufnahme, wie Unterneh- verschiedene Beratungsstellen und verschrieben hat. Mithilfe von ge Bürokratie abgebaut, indem wir
Mittelstand spielen kann. Anschaulich beschrieb er die men durch die Corona-Pandemie Förderinstitute des Landes vor. Künstlicher Intelligenz optimiert er etwa unser Vergabegesetz entrüm-
Anstrengungen seiner Wirtschafts- gekommen sind, unternahm »Wir unterstützen von der Idee bis Lieferketten und reduziert Verluste. pelt haben. Zudem bieten wir einen
Eine freudige Aufgeregtheit lag in politik. Der Tenor seiner Rede war Dr. Rosemarie Kay vom Institut für zum Markterfolg«, erklärte Felix In diesem Sinne lautete das ab- Digitalisierungsbonus, um Innovati-
der Wunderino-Arena in Kiel in der eindeutig: »Schleswig-Holstein ist Mittelstandsforschung (IfM). Ihre Gebauer, Innovationsberater bei schließende Credo der Veranstal- onen im Mittelstand voranzubringen
Luft. Endlich konnte der Mittel- das mittelstandsfreundlichste Bun- Ergebnisse zeigten vor allem, dass der Wirtschaftsförderung und tung: »Jeder Unternehmer kann und leisten auch umfangreiche Hilfen
standstag Schleswig-Holstein in desland«, sagte er. Und betonte, die staatlichen Hilfen sehr gut Technologietransfer (WT.SH). Bei Wege finden, nachhaltiger zu wirt- bei den Themen Unternehmens-
Präsenz stattfinden. In diversen dass kleinere Betriebe das Rück- gewirkt haben und Liquiditätspro- der Investitionsbank hingegen liegt schaften.« nachfolge und Fachkräftebindung.

Veranstalter: Ein Unternehmen der: In Kooperation mit: Partner: Aussteller:


DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 POLITIK 11

Analyse

Torten der Wahrheit


VON KATJA BERLIN

Wann von einer »politischen


Entscheidung« gesprochen wird

wenn Hunderte weiße Männer


eine Ehrung erhalten

Grundsicherung steigt wenn ein schwarzer Mann


eine Ehrung erhält

Warum kostet Armut so viel Geld? Wann wir mit der deutschen
Politik zufrieden sind

Es ist eigentlich egal, wie man die Inflation findet: gleich aller 38 OECD-Länder auf Platz 15, hinter Wenn ihre Waschmaschine kaputtgeht oder der Armut erzeugt also im schlimmsten Fall Erwerbs-
Beunruhigend oder logisch, katastrophal oder not- Dänemark und Italien. Kleiderschrank auseinanderfällt, dann haben sie unfähigkeit. Und damit noch mehr Armut. Hinzu
wendig. Sie existiert eben, mit Preissteigerungen um Die Kosten der Arbeitslosigkeit allein lagen 2019 diese Dinge nicht mehr. Ein Drittel aller Grund- kommt ein Verwaltungsapparat, der mit immer
die vier Prozent. Die Dinge werden teurer, manche bei 51,3 Milliarden Euro, was nur 1,5 Prozent des sicherungsempfänger war in den vergangenen mehr Formularen und Kontrollvorgängen seine­
allein schon wegen des CO₂-Preises. Gleichzeitig Bruttoinlandsprodukts sind. In diesem Betrag ist fünf Jahren durchgehend darauf angewiesen. eigene Existenzberechtigung aufrechterhält.
wird die Grundsicherung erhöht, auch bekannt als allerdings nicht nur das enthalten, was tatsächlich Natürlich könnte man jetzt moralisch weiter­ Durch die Not von Familien verliert die Volks- wenn wir in die Zukunft blicken
Hartz IV. Ab Januar 2022 steigt sie um drei Euro bei den Menschen ankommt: Kosten für Wohnung, argumentieren. Kein Mensch sollte arm sein in­ wirtschaft Humankapital, das eigentlich dringend
wenn wir nach Österreich blicken
beziehungsweise 0,76 Prozent. Alleinstehende­ Versorgung, Versicherungen. Fast die Hälfte dieser einem reichen Land, alle Kinder die gleichen Chan- gebraucht würde. Armut sorgt dafür, dass Erwach-
Erwachsene bekommen dann 449 statt 446 Euro, 51,3 Milliarden sind sogenannte »Mindereinnah- cen… Aber die Höhe der Grundsicherung ist keine sene aus der Welt fallen, krank werden und dass wenn wir in die Vergangenheit blicken
Kinder statt 309 ganze 311 Euro monatlich. Auch men« – also theoretisches Geld, das der Staat als moralische Frage mehr, sondern eine Frage von Kinder im Bildungssystem trotz Förderung erfolglos
mit miesen Kopfrechenfähigkeiten kann man sich Steuern hätte einnehmen können. Diese Minder- Kosten und Nutzen. Die Grundannahme bei der bleiben. Kleine Anpassungen wie die Senkung der
herleiten, dass diese Erhöhung der Inflationsrate einnahmen werden anhand eines durchschnittlichen Einführung von Hartz IV war, dass finanzielle Not Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse können
»Man weiß ja gar nicht mehr,
nicht gerecht wird – die wird allein in diesem Jahr Einkommens errechnet, das die Arbeitslosen hätten als Druckmittel genutzt werden kann, damit Men- helfen. Aber zuerst müsste es darum gehen, dass
ob man heutzutage noch flirten darf!«
bei voraussichtlich fünf Prozent liegen. Das ist ent-
larvend, denn es zeigt, dass Hartz IV mit Absiche-
erarbeiten können, hätten sie einen Job gehabt. Das schen arbeiten gehen. Deshalb sind die Zahlungen
Geld ist also nicht weg, es war nur nie da. vergleichsweise gering im Verhältnis zum verfüg-
Menschen genug Geld haben, um sinnvolle, eigen-
verantwortliche Lebensentscheidungen zu treffen. Ausgezeichnet
rung in der realen Welt wenig zu tun hat. Eine Erhebung der OECD kommt zu dem baren Medianeinkommen in Deutschland (also dem Das ist, was viele Betroffene beschreiben: Die Über-
Aber die Grundsicherung ist doch bereits­ Schluss, dass 2017 nur 0,86 Prozent des deut- Geld, das Arbeitenden bleibt, wenn sie Steuern und wachung, die Gängelung des Hartz-IV-Systems sei ZEIT-Autor Wolfgang Bauer
höher als woanders!, könnte man jetzt einwen- schen Bruttoinlandsprodukts tatsächlich für­ Versicherungen bezahlt haben), und deshalb gibt es genauso schlimm wie die finanzielle Not. hat für seine Berichterstattung über die
den. Ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts fließt Arbeitslose ausgegeben wurden. Zum Vergleich: Sanktionen; die Leistungen können gekürzt werden, In den Koalitionsverhandlungen könnte es vor radikalislamischen Taliban in Afghanistan
in Sozialausgaben. Es ist jedoch komplizierter. Zu In Österreich war es etwa ein Prozent, in Frank- wenn jemand nicht zu Terminen erscheint. allem ein liberales Projekt sein, die Grundsicherung, den Bayeux-Preis für Kriegsreporter
Foto: Norman Hoppenheit für DZ

diesem Drittel zählen auch Steuererleichterungen reich 1,5. Da die Grundsicherung in Deutschland Es kostet allerdings auch eine Menge Geld, wenn so wie sie ist, infrage zu stellen: Auch wegen all der gewonnen. In seiner Reportage »Unter
für Familien, das Kindergeld und Zuschüsse zu nicht nur an Arbeitslose ausgezahlt wird, sondern Menschen in finanzieller Not leben. Armut erzeugt teuren Bürokratie, die das System beinhaltet. Da Deutsche,(ZEITmagazin
Taliban« die früher geflirtet
Nr.haben
45/20)
sämtlichen Versicherungen, etwa zur Rentenver- auch an Rentnerinnen und Kranke, die kaum Stress, und Stress macht krank, auf allen Ebenen. werden schon mal drei, vier Briefe geschrieben, um beschrieb der Autor
Deutsche, aus nächster
die heutzutage flirten Nähe den
sicherung. Schaut man sich an, wie viel Geld ein noch erwerbsfähig sind, gibt es viele Menschen, Der Staat bezahlt früher oder später Sozialarbeiter, von einem Hartz-IV-Empfänger drei Euro zurück- Vormarsch der Gotteskrieger.
alleinstehender Grundsicherungsempfänger im die über lange Zeit und alternativlos nichts als die Förderunterricht für die Kinder von Arbeitslosen, zufordern. Apropos: Auch das Briefporto wird 2022 Bauer erhält den Preis bereits zum zweiten
Verhältnis zum mittleren Einkommen des jewei- Grundsicherung beziehen. Das heißt: Sie können Krankenkassen bezahlen Therapeuten, Ärzte,­ teurer, ein Standardbrief kostet dann 85 statt 80 Mal; 2016 bekam er ihn für eine Reportage
ligen Landes erhält, liegt Deutschland im Ver- nichts zurücklegen, weil sie jeden Euro ausgeben. Medikamente gegen Depressionen und ADHS. Euro. Eine Erhöhung um 6 Prozent.  ANNA MAYR aus Nigeria zugesprochen.

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12 POLITIK 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Mahamat Baye,
traditioneller
Führer
der Gemeinde
Melea im
Tschad
Fotos: Issio Ehrich für DIE ZEIT

Der Hungerkünstler
Wie eine Gemeinde und ihr Vorsteher im Tschad gegen die Folgen der Klimakrise kämpfen  VON ISSIO EHRICH

A
Melea 20. Jahrhundert. Kaum waren die Grenzen gezo­ überliegenden Seite des Seeausläufers. Männer und koffer, ein Kreißsaal, verlässliche Stromversorgung, jedoch auch Verbitterung. Nach der Attacke war er
n vorderster Front im Kampf gen, hatten die Eroberer mehr als die Hälfte seiner Frauen bildeten Schlangen und reichten sich Sand­ Medikamente, ein Warteraum. Patienten sitzen, selbst für mehrere Tage verhaftet worden. Die A
­ rmee
des Menschen gegen den Kli­ Fläche abgeschrieben. Die frühere Kolonialmacht säcke. 135 Tage schufteten sie, um den Polder von egal wie ansteckend, draußen auf der Erde unter hielt ihn für einen Komplizen der Terroristen.
mawandel liegt ein Acker. Er ist Frankreich teilte das Land in den Tchad ­utile und Melea zu schaffen. So nennt man die in Deiche ge­ einem Schilfdach. Der Wochenmarkt ist nebenan. Boko Haram hat tschadischen Militärs zufolge
500 Hektar groß – ein Mosaik den Tchad in­utile, in den nützlichen Süden und Das Krankenhaus wurde gebaut, noch bevor
betteten Felder, die sich kontrolliert bewässern lassen. viel von seiner Schlagkraft verloren. Doch der Preis
aus Pfützen, Grasflächen und den nutzlosen Norden. Schon die erste Ernte brachte 150 Tonnen Mais ein. 1990 der Rebellenführer Idriss Déby an die Macht für diese angeblichen Erfolge ist hoch.­
brauner Erde. Bauern sind bei Baye, 1965 geboren, wuchs im »nützlichen« Das Projekt wurde vom UN-Welternährungs­ kam – und sich über 30 Jahre erfolgreich und mit Sicherheitsexperten, die sich nicht namentlich­
der Aussaat. Bei jedem Schritt Teil auf. Die Region des Tschadsees galt als Speise­ programm initiiert, für die Kosten von 500.000 Gewalt an sie klammerte. Seither hat die Regierung zitieren lassen wollen, verweisen auf getötete Zivi­
versinken ihre nackten Füße im Matsch, dann kammer des Landes, der See war mit 25.000 Qua­ Euro kamen die EU und die deutsche Regierung so gut wie nichts mehr in den Ort investiert. Die listen und mehrere Hunderttausend Binnenver­
drücken sie mit ihren Fingerspitzen einen Keim­ dratkilometern die sechstgrößte Süßwasserquelle auf. Die UN fordern deutlich mehr Geld für Maß­ Herrschenden in der Hauptstadt N’Djamena ver­ triebene. Zudem hat die Brutalität der Armee jun­
ling Mais in die Erde. Ein Schritt, ein Keimling, der Welt, voller fruchtbarer Inseln. Baye erinnert nahmen wie diese. Selbst die Nothilfe, um Men­ lassen sich darauf, dass Geld für die Grundbedürf­ ge Männer in die Arme der Islamisten getrieben.
immer gebückt. Moskitos schwirren um ihre­ sich an Fischereiflotten mit vollen Netzen, an Kuri- schen vor akutem Hunger zu bewahren, ist kaum nisse der Bevölkerung aus dem Ausland kommt. Für Mahamat Baye ist Boko Haram ein Pro­
Waden, Giftschlangen verstecken sich im Gras. Rinder, Tiere mit gewaltigen Hörnern, die am Ufer Diese Hilfe hat Menschen das Leben gerettet, sie blem, das mit Militär allein nicht zu bekämpfen
Aber die Männer sind froh, aufs Feld zu können. grasten. »Wir hatten Fisch und Milch im Über­ hat Kindern Bildung und Gemeinden wie Melea ist. Die Gruppe hat auch in Melea junge Männer
Noch vor wenigen Jahren gab es auf diesem Fle­ fluss.« Der Handel florierte. Auch Niger, Nigeria AFRIK A
Ackerbau ermöglicht. Aber sie stützt auch ein Sys­ anwerben können. Nicht weil sie religiöse Funda­
cken Erde am Ufer des Tschadsees nichts mehr zu und Kamerun liegen am See. tem, das diese Hilfe erst nötig macht. mentalisten wären, sagt Baye. »Die meisten, die zu
holen. Die Natur bot zu wenig oder zu viel Wasser, Baye war noch ein Kind, als der See zu schrump­ N IG E R Déby investierte einen großen Teil der Staats­ Boko Haram gehen, sind arm«, sagt er. »Sie hof­
Dürre oder Überflutung. In den verbliebenen See­ fen begann. Der Wasserspiegel war stets Schwan­ einnahmen in seine Streitkräfte. Die Armee ist fen, dort etwas zu finden.« Und sei es nur die
ausläufern gab es kaum noch Fisch. »Jetzt können kungen unterworfen, doch Anfang der 1970er- heute die schlagkräftigste im Sahel, sie hat erfolg­ Macht, sich mit der Waffe in der Hand nehmen zu
wir zweimal im Jahr ernten«, sagt Mahamat Baye Jahre zog er sich während einer Dürre so weit zu­ reich Aufstände unterdrückt und hatte sich zuletzt können, was sie wollen.
und blinzelt durch die Strahlen der Mittagssonne rück, dass man von einigen der ehemals nahe gele­ TSCHAD an internationalen Militäroperationen wie dem Rund 4000 Binnenflüchtlinge des »Kriegs­
vom Rand des Ackers auf die Bauern herab. Er genen Dörfer Tagesmärsche zurücklegen musste, Kampf gegen Dschihadisten in Mali beteiligt. gegen den Terror« haben sich am Ortsrand von
misst fast zwei Meter und wirkt noch imposanter um das Ufer zu erreichen. Die Krise weitete sich zu TSCH A DSEE Deswegen gilt der Tschad bei westlichen Regie­ Melea niedergelassen. Baye fühlt sich auch für sie
durch sein weites Gewand und seinen gemusterten einer Jahrhundertdürre aus. Als Ursache gilt ein Melea rungen als Stabilitätsfaktor. Es ist eine fragwürdige verantwortlich. Der Polder bietet nicht genug
zylindrischen Hut. Baye ist ein traditioneller Füh­ komplexes Gemisch aus natürlichen und men­ Fläche 1963 Definition von Stabilität. Im Haushalt des Landes Land für alle, doch er hilft, ihre Not zu lindern.
rer. Das Amt stammt aus vorkolonialen Zeiten, hat schengemachten Faktoren. Fläche heute ist für das Verteidigungsministerium regelmäßig Die Flüchtlinge können Parzellen von den Einhei­
aber seine Bedeutung behalten. Er ist der wich­ In den 1990er-Jahren umfasste die Oberfläche mehr vorgesehen als für Gesundheit und Bildung. mischen mieten und mit einem Teil der Ernte be­
tigste Entscheidungsträger in Melea, der Gemeinde des Tschadsees kaum noch 2000 Quadratkilome­ N’Djamena Mehr als für die Budgets der Wirtschafts-, Fische­ zahlen. Integration in Zeiten des Klimawandels.
mit 20.000 Einwohnern, der dieser Acker gehört. ter. Die Fischer griffen zu immer feineren Netzen. N IG E R I A rei- und Landwirtschaftsministerien zusammen. In den vergangenen Jahren hat die Wassermenge
»Wir haben nichts mehr zu essen gefunden«, Weil Jungfische nicht mehr durch die Maschen Déby wurde Anfang des Jahres getötet, als er sich des Sees wieder etwas zugenommen. Als Ursache
erinnert sich Baye, »jetzt ist es besser ... etwas bes­ passten, starben Dutzende Spezies aus. Kuri-­Rinder K A M E RU N bei Gefechten gegen Aufständische an der Front auf­ machen Experten, darunter Wissenschaftler des
ser.« Melea hat ein Wunder vollbracht, hat mit ei­ verendeten, weil sie an den Ufern kein frisches Gras 100 km hielt. Die Armee setzte seinen Adoptivsohn Mahamat deutschen Forschungsinstituts adelphi, die starken
ZEIT- GRAFIK
nem System aus Deichen einen nutzlosen Seeaus­ mehr fanden. Rund 50 Millionen Menschen in der Idriss Déby Itno als Nachfolger ein, einen Elite­ Regenfälle in der Region aus. Allerdings bleibt das
läufer in fruchtbares Land verwandelt. Durch Sahelzone waren von der großen Dürre betroffen. soldaten. Er soll einen demokratischen Übergangs­ Wasser seicht, und weil aus Angst vor Boko Haram
Ventile lässt es sich dosiert bewässern. Es ist ein Schätzungen zufolge starben eine Million. prozess einleiten. Wenige glauben daran. Die beiden kaum mehr Boote unterwegs sind, ist ein beträcht­
kleiner Triumph in einem ungerechten und un­ Im Kampf gegen den Hunger wurden seither einflussreichsten ausländischen Staaten, Frankreich licher Teil dieser Fläche mit schwimmendem Gras
gleichen Kampf. große Fortschritte gemacht. Der Klimawandel und die USA, machen ihm kaum Druck. Ihre Prio­ bedeckt. Es verhindert den Fischfang.
Das Hochwasser in Deutschland und die Wald­ droht diese nun zu vernichten. Besonders im Sahel. rität bleibt der »Krieg gegen den Terror« im Sahel. Die Experten von adelphi haben zudem zwei
brände am Mittelmeer haben Europa aufge­ Dort erwärmt sich die Erde eineinhalbmal so Nur einen kurzen Fußmarsch vom Kranken­ Süßwasserspeicher analysiert, die unter den Erd­
schreckt. Von den schlimmeren Auswirkungen der schnell wie im Rest der Welt. Seit der schweren haus entfernt liegt ein Platz, auf dem die Bewoh­ schichten des Sees entdeckt worden waren. Den
Klimakrise war der Kontinent bis zu diesem Som­ Dürreperiode ist der ohnehin empfindliche Wech­ ner Meleas oft Karten spielen. In Bayes Gedächt­ oberen haben Bewohner bereits durch Brunnen
mer verschont geblieben – obwohl er sie maßgeb­ sel von Regen- und Trockenzeit, der den Menschen nis ist er mit schrecklichen Erinnerungen verwo­ und Pumpen angezapft. Das geht nur vorsichtig,
lich angeheizt hat. Viel härter betroffen sind schon ein Leben in einer unwirtlichen Region ermöglich­ ben. Deshalb will er ihn zeigen. das Wasser wird schnell verunreinigt. Das tiefere,
seit Jahren arme Länder, die in ihrer wirt­schaft­ te, gestört. Die richtige Zeit für Fischfang, Saat und Eines Nachts vor zwei Jahren weckten ihn wesentlich reinere Reservoir, noch unberührt und
lichen Entwicklung um Jahrzehnte zurückliegen. Ernte zu finden ist immer schwieriger geworden. Schüsse. Kämpfer von Boko Haram hatten den kaum erforscht, könnte eine neue Lebensquelle
Und die zur Erderwärmung kaum beigetragen ha­ Auf dem Welthungerindex rangiert der Tschad seit Inseln im Platz, zu diesem Zeitpunkt noch voller Leute, werden. Um es zu nutzen, wären gewaltige Investi­
ben. Gerade dort wirkt diese wie ein Katalysator, Jahren auf den letzten Plätzen. Nach UN-Angaben Tschadsee überfallen. »Hier wurde mein Nachbar getroffen«, tionen nötig. Sie könnten sich auch für die Herr­
der all ihre anderen Probleme verstärkt: Wasser­ sind 5,5 Millionen der 16 Millionen Bewohner sagt er und deutet auf die Stelle. Bauchschuss. Der schenden in N’Djamena lohnen. Angesichts des
knappheit, Bevölkerungswachstum, Unterernäh­ von humanitärer Hilfe abhängig. Nachbar und drei weitere Menschen starben. Klimawandels gilt Wasser als »blaues Gold«. Doch
rung, Staatsversagen, Landkonflikte. Baye stapft über die neuen Deiche von Melea, finanziert. Die UN veranschlagen den Bedarf für Boko Haram, eine radikalislamische Gruppe, dafür müsste Déby junior wider Erwarten Refor­
Der Tschad leidet besonders schwer. Extreme sein Gewand flattert im Wind. Links und rechts 2021 auf über 600 Millionen Euro. Von den Mit­ hatte 2014 mit der Entführung von fast 300 Schü­ men einleiten, die groß angelegte ausländische­
Effekte des Klimawandels lassen sich hier schon wachsen Akazien. Die Wurzeln der Bäume stabili­ gliedsstaaten haben sie bisher nur 22 Prozent­ lerinnen in Nigeria Schlagzeilen gemacht. In den Investitionen in seinen Staat vertretbar machten.
lange nicht mehr verhindern. Die Menschen müs­ sieren den Wall aus Erde. Die Stämme und Blätter bekommen. Die Frage ist allerdings: Nützt oder folgenden Jahren breitete sie sich im Tschadsee­ Am Polder von Melea lockern die Bauern mit
sen sich anpassen. Einfache Lösungen gibt es nicht. sorgen in der Trockenzeit dafür, dass der Wind schadet diese Hilfe langfristig? becken aus. Das tschadische Grenzgebiet zu Niger Spaten die Erde für neue Parzellen. Im Kampf ge­
Auch Hilfe von außen ist oft eher gut gemeint als keinen Sand auf den Acker weht und die Wüste Baye will nach dem Polder auch seinen Hei­ und Nigeria wird deshalb vom Militär immer wie­ gen die Folgen der Klimakrise verlässt sich nie­
effektiv. Doch aussichtslos, und davon erzählt die sich nicht weiter ausbreitet. Jedenfalls nicht so matort zeigen. Melea ist eine Ansammlung von der zum Sperrgebiet erklärt. Ausgerechnet dort mand auf die Regierung. Baye weiß, die neuen
Geschichte Mahamat Bayes und seiner Gemeinde, schnell. Hütten aus Schilf, zwischen denen sich Sand aus­ gibt es noch am meisten Fisch. Auch viele der Deiche allein sichern keine Zukunft in Melea.
ist die Lage nicht. Vor drei Jahren, erzählt er, spielten hier die besten breitet. Das Krankenhaus ist eines der wenigen noch fruchtbaren Inseln sind verbotene »rote­ Und doch sagt er: »Der Polder gibt uns Hoff­
Der Tschad liegt in der Sahelzone zwischen der Musiker Meleas für 1500 Menschen. Kein Konzert, gemauerten Gebäude. Zweieinhalb Räume, in­ Zonen«. Verlorene Rückzugsräume, die bei der nung.« Mit jedem Spatenhieb gewinnen er und
Sahara und den Feuchtsavannen und Regenwäl­ sondern Ansporn zur Arbeit. »Ohne Tanz keine denen der Putz von den Wänden bröckelt. Baye Anpassung an die Klimakrise helfen könnten. seine Gemeinde zumindest ein bisschen Zeit.
dern Zentralafrikas. Der Staat ist ein Konstrukt, Motivation«, sagt Baye. Die eine Hälfte der Men­ begrüßt einen der beiden Ärzte. Der zählt auf, was Natürlich unterstütze er den Kampf gegen die
geschaffen von Europäern im 19. und frühen schen stand auf der einen, die andere auf der gegen­ alles fehlt: ein Beatmungsgerät, ein Reanimations­ Terroristen, sagt Baye. In seiner Stimme klingt­  www.zeit.de/vorgelese
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CO2-freie Mobilität: Der neue BMW iX3 fährt mit aufgeladener Batterie eine Strecke von bis zu 461 Kilometern (WLTP).

BMW Charging

Einfacher kann der Strom nicht


ins Auto kommen
Ob zu Hause oder in der Tiefgarage beim Chef: Überall dort, wo es Strom
gibt, können Elektroautos kinderleicht aufgeladen werden. Und mit der richtigen
Ausstattung sinkt die Ladezeit auf ein Minimum.

Es ist ganz einfach: Stecker rein, und trikerin/einen Elektriker an Stellplätzen Current, abgekürzt AC) benötigt im während einer längeren Kaffeepause wie nie der Tank vollständig leer. Zu- Angebote für das Laden zu Hause und
der Ladevorgang startet. Im Prinzip für die private Nutzung – etwa in der Schnitt mehr Zeit als mit Gleichstrom für Hunderte Kilometer aufgeladen dem ist die Ladegeschwindigkeit so- unterwegs zur Verfügung: etwa ein La-
funktioniert das Laden eines Elektro- eigenen Garage auf dem gemieteten (Direct Current, abgekürzt DC). So werden können. An Wechselstromsta- wohl am Anfang, also bei null Prozent, dekabel für öffentliches Laden
autos kinderleicht. Beim BMW iX3 Stellplatz – wird hierzulande von der kann ein BMW iX3 mit High Power tionen können Elektroautofahrer:innen als auch am Ende, also oberhalb von (Mode 3) oder die BMW Charging
wird dann beispielsweise auf dem Dis- KfW mit 900 Euro bezuschusst. Zur Charging und 150 kW DC-Ladeleistung in Europa das mitgelieferte eigene La- 80 Prozent, geringer. Card, die modellabhängig wie zum
play im Cockpit oder via My BMW App Beratung und fachgerechten Montage bereits in circa 34 Minuten auf 80 dekabel nutzen. Die leistungsstärkeren Beispiel beim neuen BMW iX3 im
angezeigt, wie das Laden verläuft. Ist der Wallbox steht der BMW Installati- Prozent geladen werden. High-Power- Gleichstromanlagen sind überall mit Navi und App weisen Lieferumfang enthalten ist. Damit ha-
die Batterie wieder voll aufgefüllt, wird onsservice bereit. Charging-Stationen arbeiten mit einem befestigten Ladekabel versehen. den Weg zur nächsten ben Autofahrer:innen Zugriff auf ein
der Ladevorgang selbstständig been- Gleichstrom und sind auf Ladeleistun- Da ein Ladevorgang praktisch nie bei Netzwerk mit europaweit mehr als
det. Fast genauso einfach ist das La- 80 Prozent Ladeleistung gen vom Fünf- bis zum 15-Fachen der vollständig entleerter Batterie statt-
freien E-Station 173.000 Ladepunkten in Innenstädten,
den an öffentlichen Ladestationen, de- in circa 34 Minuten Wechselstrom-Ladestationen ausge- findet, wird ein Ladestand von 10 bis Damit das Stromtanken rundum sorg- auf Parkplätzen und entlang wichtiger
ren Zahl stetig zunimmt: Mithilfe einer legt. Sie sorgen dafür, dass die Batte- 80 Prozent angegeben – das ist praxis- los klappt, gibt es die BMW Charging- Verkehrsachsen inklusive High-Power-
BMW Charging Card oder der My Grundsätzlich gilt: Das Aufladen mit rien mit hoher Kapazität etwa während näher. Wie bei einem Auto mit Verbren- Lösung. Hier stehen Elektroautomobi- Charging-Stationen für ultraschnelles
BMW App an der Säule authentifizie- Wechselstrom (englisch: Alternating des Besuchs einer Raststätte oder nungsmotor ist im Normalfall so gut list:innen zahlreiche maßgeschneiderte Laden. Mit dem neuen BMW iX3 gibt
ren, Stecker mit der Ladebuchse am es zudem ein Jahr lang die grund-
Auto verbinden und den Ladevorgang gebührenfreie Nutzung des IONITY
per Knopfdruck starten. Plus-Pakets für ultraschnelles Laden
Entspanntes Aufladen: Die BMW Wallbox an IONITY High-Power-Charging-
Dena-Studie: 2030 werden ist die eigene Stromtankstelle für zu Hause. Stationen. Alle Ladepunkte sind so-
85 Prozent aller Elektro- wohl im Navigationssystem als auch in
der My BMW App hinterlegt, mit der
autos zu Hause oder am sich jederzeit auch Infos zum Lade-
Arbeitsplatz aufgeladen status und zur aktuellen Reichweite
abrufen lassen.
Am einfachsten und bequemsten wer- Übrigens: Ganz im Sinne der von
den Elektroautos natürlich zu Hause der BMW Group gestellten Weichen
mit neuer Energie versorgt. Laut ver- in Richtung Nachhaltigkeit werden bei
schiedenen Umfragen unter E-Auto- der Batterieproduktion keine soge-
Nutzer:innen ist das schon heute die nannten Seltenen Erden seit Genera-
häufigste Ladeform. Prognosen wie die tion 5 des BMW eDrive verbaut. Auch
von der Deutschen Energie Agentur die Direktbeschaffung von Kobalt und
(dena) für das Jahr 2030 gehen davon Lithium, die Schlüssel-Rohstoffe für die
aus, dass dann rund 85 Prozent aller Unkomplizierte Mobilität: Das Display im Cockpit informiert über die Position von mehr als 48.000 Batteriezelle darstellen, erfolgt nach
Fahrer:innen von Elektrofahrzeugen in öffentlichen Ladepunkten in Deutschland und rund 173.000 öffentlichen Ladepunkten in Europa; die My sozialen und ökologischen Standards.
Deutschland ihr Auto zu Hause oder BMW App zeigt den aktuellen Stand beim Ladevorgang und gibt Auskunft über Ladestatus und Reichweite. Damit unterstreicht die BMW Group ihr
während der Arbeit nachladen. ganzheitliches Konzept für Nachhaltig-
Ein E-Auto kann an jeder haushalts- keit entlang der gesamten Wertschöp-
üblichen Steckdose aufgeladen wer- fungskette.
den. Oder aber an einer Wallbox: Für Während Sie den iX3 bereits heute
eine Reichweite von 100 Kilometern bei praktisch jedem BMW Partner
dauert der Ladevorgang eines BMW kennenlernen und Probe fahren kön-
iX3 an der Wallbox etwa eine Stunde nen, stehen die nächsten Highlights
und 40 Minuten; an der High-Power- bereits vor der Tür: Ab November
Ladestation geht es da schon schneller kommt mit dem ersten BMW iX ein
– rund sieben Minuten für 100 Kilome- weiterer technologischer Meilenstein
ter Reichweite. Die Anschaffung einer in der BMW Geschichte in den Handel
Wallbox (etwa der BMW Wallbox mit und schon bald darauf folgt mit dem
22 kW Ladeleistung) und deren fach- BMW i4 das erste vollelektrische Gran
gerechte Installation durch eine Elek- Coupé.

BMW iX3: Stromverbrauch kombiniert in kWh/100 km: --- (NEFZ) / 18,9 –18,5 (WLTP); Elektrische Reichweite (WLTP) in km: 453 – 461. Offizielle Angaben zu Stromverbrauch und elektrischer Reichweite wurden nach dem vorgeschriebenen Messverfahren er-
mittelt und entsprechen der VO (EU) 715/2007 in der jeweils geltenden Fassung. WLTP-Angaben berücksichtigen bei Spannbreiten jegliche Sonderausstattung. Für seit 01.01.2021 neu typgeprüfte Fahrzeuge existieren die offiziellen Angaben nicht mehr nach bmw.de | #bornelectric
NEFZ, sondern nur noch nach WLTP.
14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

14 STREIT
Du oder Sie?
Das Kumpelhafte macht sich breit – sogar im Bundestag. Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP findet das furchtbar.
Ihr SPD-Kollege Sören Bartol hat’s nicht gerne förmlich. Ein Streitgespräch übers richtige Anreden, gerade in Sondierungszeiten

in dem man nicht geduzt wird. Die Kom- ZEIT: Dieses Duzen ist natürlich auch gefähr- Bartol: Das wird dem Du immer unterstellt.
munikation hat sich nun mal mit dem Auf- lich, es gibt ja Fälle, da artet es in Kumpanei Ich finde nicht, dass es sofort unprofessionell
kommen des Smartphones und der sozialen aus, zum Beispiel wenn im Haushaltsaus- ist. Die Bewertungsgrundlage hat sich eben
Medien radikal verändert. Das Du ist auf schuss am Schluss die berüchtigte Bereini- verschoben.
dem Vormarsch. gungssitzung ansteht ... Strack-Zimmermann: Sprache verändert sich.
Strack-Zimmermann: Mich nervt das total. Bartol: Ja. Sie sitzen da tagelang, stundenlang Das ist auch völlig in Ordnung; wenn man
Cool ist anders. auf engstem Raum, Sie haben die sogenannte bedenkt, dass es Zeiten gab, in denen Vater
ZEIT: Es gibt einen Index, der das Glücklich- Papierkneipe, einen Büroraum nebenan, wo und Mutter von den Kindern gesiezt wurden.
sein einzelner Nationen abbildet. Demnach Sie sich zurückziehen, was essen, ein kleines Das will wirklich keiner mehr.
sind die Dänen die glücklichsten Menschen Bier trinken, wo Sie auch wieder zusammen- ZEIT: Wo war denn der Wendepunkt?
auf der Erde – und unter den ersten fünf fin- sitzen. Wie eingesperrt. Bei den Bereinigungs- Bartol: Ich würde sagen, dass die 68er-Bewe-
det man noch die Norweger und die Schwe- sitzungen geht es um viel, da wird hart gerun- gung ihren Anteil daran hatte. Und natür-
den. Völker, in denen jeder jeden duzt und gen, aber am Ende ist es drei, vier Uhr nachts. lich der Einfluss aus dem englischsprachigen
selbst der Regierungschef nur mit Vornamen ZEIT: Das heißt, ein förmliches Sie benutzt Raum. Das ist eine Generationenfrage,­
angesprochen wird. Gibt Ihnen das nicht zu man vor allem, wenn es ein Protokoll gibt. denke ich: Das Sie wird weiter rauswachsen,
denken, Frau Strack-Zimmermann? Oder wenn Kameras laufen. das Du wird zunehmen.
Strack-Zimmermann: Überhaupt nicht. Die Bartol: Bei bestimmten Institutionen ist das Strack-Zimmermann: Aber die Qualität der
These, das allgegenwärtige Du fördere den Sie erst einmal die richtige Sprachform, um Beziehungen hat damit nichts zu tun.
gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit klarzumachen, dass der Hintergrund ernst ist. ZEIT: Haben Sie eigentlich schon mal zu­
das Glücksgefühl der Menschen, halte ich für Um zu zeigen: Das ist hier nicht die Papier- jemandem »Sie Arschloch« gesagt?
Kokolores. Die Skandinavier sind gesellschaft- kneipe. Aber ich glaube, man muss diesen Strack-Zimmermann: Ja, aber ich sage Ihnen
lich, also in ihrer Lebensweise, ausgesprochen Zahn ziehen, den Leuten vorzumachen, wir jetzt nicht, zu wem.
liberal – das fördert das Glücksgefühl. Wenn würden uns alle siezen und eine riesige Distanz ZEIT: War es politisch?
der Magnus den Sven mit Herr Olson an- haben. Die fragen sich doch auch, was wir den Strack-Zimmermann: Mehr oder weniger.
spricht, wird Sven nicht depressiv werden. ganzen Tag in Berlin machen, wenn wir hier Bartol: Hoffentlich war das nicht der gute
ZEIT: Haben Sie mal ein Du zurückge­ 24 Stunden am Tag zusammen rumhängen. Kollege, den Sie immer noch siezen. Aber
nommen? Strack-Zimmermann: 24 Stunden? Ich gehe wenn man an die Geschichten aus der Bonner
Bartol: Nein. Würde ich aber im Fall einer abends nach Hause und schlafe meine sieben Republik denkt – da muss es ja noch deutlich
tiefen persönlichen Verletzung machen. Stunden, damit ich morgens erholt aussehe unprofessioneller zugegangen sein als heutzu-
Strack-Zimmermann: Vor Jahren hat mir bei und schlagkräftig meiner Arbeit nachgehen tage. Wenn ich von älteren Kollegen höre, wie
einer Feier mal ein Ratsherr, der mir offen ge- kann. dort das Verhältnis war zwischen Politikern
standen schon länger auf den Keks ging, das ZEIT: Bemüht man sich als Frau eher, so eine und Journalisten, immer die gleichen, die
Du angeboten. Ich habe nicht direkt wider- Distanz zu wahren? Enge, jeden Abend ...
sprochen – und danach sehr schlecht geschla- Strack-Zimmermann: Das hat nichts mit Strack-Zimmermann: Viele Verhältnisse da
fen. Am nächsten Morgen habe ich ihn gebe- Mann und Frau zu tun. Menschen nutzen in- und dort ...
ten, doch wieder zum Sie zurückzukehren. tuitiv die Sprache, die ihnen gefällt. Das ist Bartol: Wir haben in Berlin ein ganz anderes
Bartol: Das war wohl die klassische Weih- eben individuell unterschiedlich. Ich kenne Klima, allein schon durch die größere Anzahl
Die Düsseldorfer
nachtsfeier? auch Männer, die wurden ins Du gezwungen. der Abgeordneten. Das Zusammenhängen
Abgeordnete Marie-Agnes
Strack-Zimmermann: Es war beim Schützen- Mir hat mal der Leiter eines Kulturamtes­ war früher viel größer, weil Bonn viel kleiner
Strack-Zimmermann, 63,
fest und damit der rheinischen Fröhlichkeit erzählt, dass er den Oberbürgermeister gar war. Hier gibt es Ablenkung.
schätzt das Siezen
geschuldet, die zuweilen zur späteren Reue nicht duzen wolle. Er fand das unangenehm. Strack-Zimmermann: Denkt man. Und dann
Anlass gibt. Der Oberbürgermeister wollte das aber unbe- fährt man raus nach Brandenburg und trifft
ZEIT: Duzen Sie Journalisten? dingt. Ich käme hingegen überhaupt nicht auf prompt einen Kollegen ...

»Mich nervt das Du total.


Bartol: Für mich ist es kein Tabu. Manche die Idee, in einem Ministerium anzurufen und ZEIT: Und duzen Sie den dann?
Journalisten kennt man sehr lange, fühlt sich zu sagen: Ich bin Marie-Agnes, hallo, Doris. Strack-Zimmermann: Nur, wenn er in meiner
von ihnen fair behandelt, baut ein Vertrau- Bartol: Ich glaube, ich duze mehr männliche Fraktion ist!
ensverhältnis auf und spricht auch mal ver- Politiker als Politikerinnen.

Cool ist anders«


traulich mit ihnen, ohne dass dies am nächs- ZEIT: Ist das Du im Politikbetrieb dann so Moderation:
ten Tag in der Zeitung steht. Da kommt es was wie die kleine Affäre? Peter Dausend und Anna Mayr
vor, dass man sich irgendwann duzt. Das
finde ich nicht schlimm. Ich bin aber auch
schon von Journalisten hart kritisiert worden,
DIE ZEIT: Frau Strack-Zimmermann, dürfen ZEIT: Hat das Du nicht auch schon längst die die ich duze.

Fotos: Gene Glover für DIE ZEIT


wir Marie-Agnes sagen? FDP infiltriert? Strack-Zimmermann: Das Verhältnis zwischen
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Das wür- Strack-Zimmermann: Bei uns in der Bundes- Journalisten und Politikern sollte professionell
de mich ein wenig irritieren. Im Rahmen tagsfraktion duzen sich so gut wie alle. Ich­ sein. Das Du baut eine zu große Nähe auf.
eines ZEIT-Streitgesprächs scheint mir »Frau bestreite aber, dass im Du tatsächlich mehr Natürlich kenne ich manche Journalisten und
Strack-Zimmermann« doch passender. Wertschätzung steckt als im Sie. Ich habe­ Journalistinnen schon lange, wir haben auch
ZEIT: Und Sören, müssen wir »Herr Bartol« einen Kollegen, mit dem ich seit über zwanzig schon viel gemeinsam erlebt, andere Politiker
sagen? Jahren zusammenarbeite. Wir sind inzwi- kommen und gehen sehen. Ich finde es trotz-
Sören Bartol: Als Kind habe ich natürlich­ schen eng befreundet. Trotzdem haben wir dem richtig, die allzu persönliche Note des
gelernt, dass man Fremde siezt. Aber in den uns entschlossen, beim Sie zu bleiben, denn Dus wegzulassen und die Distanz zu wahren.
vergangenen Jahren hat sich sehr viel verän- ein Du hätte an unserer gegenseitigen Wert- ZEIT: Aber wenn Politiker und Journalisten
dert, in manchen gesellschaftlichen Räumen schätzung nichts verändert. Man kann übri- sich sowieso duzen, warum sollen sie das
wird nur noch geduzt. Mich stört das nicht. gens auch ­jemanden duzen, den man zum dann nicht auch öffentlich machen? Das wäre
Sie könnten also Du sagen. Kotzen findet. Und was die Distanz betrifft, ja nur ehrlich.
ZEIT: Bei den Sozialdemokraten ist das Du ja man sagt deutlich schneller »Du Arschloch« Strack-Zimmermann: Das hat mit ehrlich
auch Prinzip. als »Sie Arschloch«. nichts zu tun. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen
Bartol: Das Du in der SPD baut Barrieren ab. ZEIT: Ihr Parteichef Christian Lindner duzt bei Anne Will und sagen: Hör mal, Anne.
Ein Bundeskanzler ist dann immer noch den Grünen-Chef Robert Habeck ziemlich Oder beim Sommerinterview ...
Bundeskanzler, aber er thront nicht auf ­einem offensiv. Bartol: Da muss es eine Professionalität geben,
Sockel. Wobei: Als ganz junger Politiker Strack-Zimmermann: Wenn sich politische stimmt. Auch im Bundestag duzen wir uns ja
­
stand ich mal auf einem Parteitag plötzlich Kontrahenten, und das sind wir ja trotz Son- eigentlich nicht. Wobei das manchmal in­
Gerhard Schröder gegenüber. Da hätte ich dierungen immer noch, bei der Arbeit duzen, Reden schon passiert, wenn es emotional
mich nicht getraut, den einfach Gerd zu nen- warum nicht. Aber vor der Kamera würde ich wird ...
nen. Ich habe dann, glaube ich, »Genosse mich nicht duzen, befeuert es doch das Kli- Strack-Zimmermann: Ich leide förmlich da-
Schröder« gesagt. schee, in der Politik sei alles nur Show, und in runter! Der politische Schlagabtausch wird
ZEIT: Frau Strack-Zimmermann hingegen Wirklichkeit steckten alle unter einer Decke. öffentlich ausgetragen im Gegensatz zu einem
führt einen Kampf für die Sie-Form. In sozia- Bartol: Das sehe ich anders. Wenn man sich normalen Arbeitsplatz. Wer ein Bundestags-
len Medien, auch im Wahlkampf – Sie blei- mit jemandem aus einer anderen Partei seit mandat hat, der vertritt seinen Wahlkreis.
ben fast immer beim Sie. langer Zeit duzt, dann ist das Sie vor der­ Wenn wir untereinander Distanz wahren, ist
Strack-Zimmermann: Als ich Oberstufen- Kamera doch reine Inszenierung. Man sitzt das deshalb kein Theaterstück, sondern es
schülerin war, wollte unser Englischlehrer oft stundenlang in Verhandlungsrunden zu- zeigt, dass wir Profis sind und unsere Verant-
Herr Fuhrmann, ein klassischer 68er, dass wir sammen – und dann gibt es Kollegen anderer wortung ernst nehmen.
17-Jährigen ihn duzen – er hieß übrigens auch Parteien, die man fachlich sehr schätzen lernt Bartol: Es ist aber doch ein Markenzeichen
Gerd. Ich empfand das als total distanzlos, ja und auch menschlich. Als ich 2002 in den der Demokratie, dass man inhaltlich ringen
übergriffig, und war die Einzige, die sich wei- Bundestag kam, waren viele Abgeordnete kann und trotzdem am Ende persönlich eine
gerte, ihn so anzusprechen. Bei Gerd kam das noch keine 30 Jahre alt. Da wurde parteiüber- Linie findet. Ich finde es wichtig, Kollegen
gar nicht gut an. greifend das ein oder andere Bier getrunken. von anderen Parteien kennenzulernen, weil Sören Bartol, 47, Vize-
ZEIT: Nun geht’s ja darum, ob SPD und FDP Mit einer ganzen Reihe von diesen Abgeord- man dann auch versteht, wie ihre Argumen­ Fraktionschef der SPD im
miteinander regieren könnten. Wie koalitions- neten duze ich mich seit Langem. tation mit ihrer Persönlichkeit zusammen- Bundestag, findet es
verhandelt es sich besser, per Du oder per Sie? Strack-Zimmermann: Das Wunderbare an der hängt. Es ist ja nicht alles Ideologie. Im Ver- professionell, sich zu duzen
Bartol: Normalerweise verhandelt man mit deutschen Sprache ist doch, dass sie diesen kehrsausschuss war es eine Zeit lang so, dass
Fachpolitikern, die man schon viele Jahre Unterschied macht. Wenn jeder Du sagt – was sich dort fast alle geduzt haben.
kennt. Spätestens nach einem solchen Ver- markiert dann noch den Unterschied zwi- Strack-Zimmermann: So ist dann auch die

»Das Sie vor der Kamera ist


handlungsmarathon wie den Koalitionsver- schen dem Kollegen und dem Freund? Unter Verkehrspolitik in Deutschland. Jetzt wird
handlungen lernt man sich so gut kennen, meinen Mitarbeitern war anfangs einer, der mir manches klar ...
dass man sich am Ende duzt. Für eine ver- mich geduzt hat, das war offensichtlich ganz ZEIT: Ist die AfD dann in so einem Ausschuss
trauensvolle Zusammenarbeit ist das sicher normal für ihn. Ich habe ihn gefragt, ob er die einzige Partei, die gesiezt wird?

doch reine Inszenierung«


auch eine gute Grundlage. noch alle Tassen im Schrank hat. Bartol: Es gibt ja kein Zwangsduzen. Es gibt
Strack-Zimmermann: Das kann jeder halten Bartol: Mich regt das nicht weiter auf. In einfach viele Kollegen, die lange zusammen-
wie ein Dachdecker. Ich bleibe beim Sie. Berlin findet man ja kaum noch einen Laden, gearbeitet haben.
»Eine Demokratie, in der
nicht gestritten wird, ist keine.«
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 HELMUT SCHMIDT 15

Wir brauchen
mehr unbequeme
Haltungen!
Unsere Debattenkultur ist schwer beschädigt. Um das
zu ändern, benötigen wir weniger Empörung.
Und mehr von dem, was die Zuschauer wollen:
Meinungsvielfalt und kontroverse Diskussionen,
auch bei den Öffentlich-Rechtlichen  VON TOM BUHROW

Fahren Sie ein Auto? Wo haben Sie Urlaub nung wird zum Gegner, Diskussionen wer- manipulieren oder Wahrheit umdeuten. Ein denen wir gerecht werden müssen: Mehr Maßstab ist. So hat die Forderung nach
gemacht? Essen Sie noch Fleisch? Wo kau- den im Keim erstickt. Dass diese Entwick- »falscher« Halbsatz reicht aus, um einen Shit- denn je komme es in diesen schwierigen Benzinpreiserhöhungen für Menschen, die
fen Sie Ihre Kleidung? Einst harmlose lung für eine Demokratie das pure Gift ist, storm in Gang zu setzen. Zeiten darauf an, durch authentische, sorg- in der Hamburger oder Kölner Innenstadt
Small-Talk-Fragen sind brisant geworden. muss ich nicht weiter ausführen. Was ist passiert, dass die Meinung des fältig recherchierte Informationen die Fak- wohnen, eine ganz andere Bedeutung als
Sie können einem netten Gespräch schnell Einer Studie des Allensbach-Instituts zu- anderen so häufig als persönlicher Angriff ten und Meinungen auseinanderzuhalten, für Pendler auf dem Land. Das kleine Bei-
ein frostiges Ende bereiten. Denn mehr folge nehmen 70 Prozent der Menschen verstanden wird? Wir kennen das Erklär­ die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen spiel zeigt, dass wir Diversität in den Pro-
und mehr Themenbereiche werden mora- mehr Verunsicherung, Ungeduld und Ag- modell der Echokammern. Immer mehr und das Sensationelle nicht in den Vorder- grammen zum Beispiel auch hinsichtlich
lisch aufgeladen. Antworten, die von den gressivität im gesellschaftlichen Umgang Menschen zimmern sich einen eigenen In- grund zu rücken. Die Vielfalt der bestehen- sozialer Schichten oder der Wohnsituation
eigenen Wertmaßstäben abweichen, wer- wahr. Gereiztheit ist das Grundgefühl einer formations- und Meinungsraum zusammen. den Meinungen soll in unseren Program- von Menschen denken müssen.
den nicht mehr interessiert oder wenigs- gespaltenen Gesellschaft. Die Spaltung hat Sie sind müde vom Sturm der Realitäten. men in größtmöglicher Breite und Voll- Und ja: Die ARD ist auch als Plattform
tens schulterzuckend aufgenommen – sie viele Gründe, etwa die vielen Umbrüche Die vielfältigen Nachrichten werden so ein- ständigkeit Ausdruck finden. Nicht zufällig für eine gute Streitkultur gefordert. Debat-
sind Anlass für Zurechtweisungen. Unsere durch die Digitalisierung oder die großen gedampft, dass sie in ein homogenes Welt- wurden diese Sätze in dieser Zeit gewählt. ten zu allen Themen sollten in allen Pro-
Gesellschaft ist gereizt. Krisen dieser Welt. Alte Gewissheiten wan- bild passen. Befeuert durch Algorithmen der Dieser Auftrag, der natürlich für alle ­Medien grammen und Angeboten fair und respekt-
Klar, Deutschland galt immer als Land ken. Die noch nicht überwundene Corona- sozialen Netzwerke, die Polemik belohnen, gelten sollte, ist die beste Medizin gegen das voll geführt werden können. Die Gesell-
der Besserwisser. Aber inzwischen ist unser Pandemie kommt gewissermaßen als Kata- wird so etwas ganz schnell zu einem existen- Kränkeln des Diskurses im Land. schaft braucht mehr kontroverse, unbe-
Umgang miteinander hochempfindlich. lysator hinzu. ziellen Problem. Es sind diese hochgesteckten Anforde- queme Meinungen und robuste und freie
Viele Themen polarisieren Menschen so Und besonders zu spüren bekommen das Einige Medien flankieren diese gesell- rungen, die es rechtfertigen, dass wir das Kommunikationsräume. Gerade die ARD
stark, dass eine kontroverse, aber respekt- nun die Medien – die öffentlich-rechtlichen, schaftliche Polarisierung publizistisch. Das große Privileg der Beitragsfinanzierung und der öffentlich-rechtliche Rundfunk ins-
volle Diskussion nicht mehr möglich er- aber nicht nur diese. Sie werden zum Aus- mag aus ökonomischen Gründen kurzfristig haben – und dass wir nicht von einzelnen gesamt können diese Räume anbieten.
scheint. Zu den aktuellen Reizthemen zählen tragungsort vieler Kämpfe. Massive­ Sinn machen, weil es viele Klicks bringt, aber Landtagsfraktionen finanziell beschnitten Wir grenzen dabei niemanden aus, der
Diversität, Patriotismus, Klimaschutz oder Anfeindungen in sozialen Netzwerken, ge- es ist ein Spiel mit dem Feuer. Es untergräbt werden dürfen, denen das Programm gera- an einem echten und respektvollen Aus- Tom Buhrow, 63,
ist seit 2013
Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT; Fotos (v.o.): Picture-Alliance, Urban Zintel für DIE ZEIT

Genderfragen. Über viele Jahre war – und rade im Zusammenhang mit Berichten zur das Vertrauen in alle Medien und schlimms- de nicht gefällt. Sie sind aber vor allem Ver- tausch interessiert ist. Und wir wollen dabei
wird es wohl wieder – auch das Thema Zu- Pandemie, sind für viele meiner Kolleginnen tenfalls auch in die Institutionen der freiheit- pflichtung und ein wichtiger Anlass, uns nicht die überempfindlichen und oft auch Intendant des
wanderung ein Beispiel. Die unterschiedli- und Kollegen an der Tagesordnung. Der lichen Gesellschaft. Die Diskussion um die selbstkritisch auf den Prüfstand zu stellen. sehr elitären Sensoren übernehmen, die in WDR. Bis zum
chen Lager scannen Talkshows, Interviews Unmut entlädt sich auch physisch. In Groß- Anpassung des Rundfunkbeitrags vor eini- Zurzeit läuft ein großer Austausch mit den Echokammern gehegt und gepflegt Jahresende ist
oder Berichte nach jedem noch so kleinen britannien stürmten Impfgegner ein Studio gen Wochen zeigte das exemplarisch. Der unseren Nutzerinnen und Nutzern, der werden. Diese verengen den Diskurs und er zugleich
Hinweis darauf, ob eine Person einer be- der BBC. In den Niederlanden fahren die Präsident des Bundesverfassungsgerichts ARD-Zukunftsdialog. Dort wird klar: Unser steigern die Gereiztheit im Land. Vorsitzender
stimmten Seite zuzuordnen ist. Reporter der öffentlich-rechtlichen Rund- wurde zur Zielscheibe von billiger Polemik. Publikum wünscht sich mehr Meinungs- Für unsere digitalen Plattformen wie der ARD
Natürlich beschäftigt das auch uns beim funkanstalt NOS nur noch mit Fahrzeugen Wenn ich mir wünsche, dass wir sol- vielfalt, mehr kontroverse Debatten. Das ARD Mediathek und Audiothek soll in
öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch wir ohne Senderkennung raus. Nach Über- cher Polemik Einhalt gebieten und dass müssen wir als ARD sehr ernst nehmen. Wir Zukunft gelten: Sie empfehlen nicht nur
erleben die Polarisierung: kaum ein Beitrag, griffen haben sie die Logos von ihren Autos Debatten fairer, ausgewogener, breiter ge- dürfen uns den beschränkten Echokam- »more of the same«, sondern machen auch
der nicht erregt diskutiert wird. Kaum eine entfernt. Auch hierzulande zählte »Reporter führt werden – dann heißt das nicht, dass mern, den Meinungsmilieus im Land, rech- Vorschläge, den eigenen Horizont zu­
Sendung über Urlaub, Fleischkonsum oder ohne Grenzen« im vergangenen Jahr fünf- ich uns bei der ARD von der Kritik aus- ten oder linken, niemals anschließen. Wir erweitern und vielleicht sogar eine andere
Zuwanderung, die sich nicht der härtesten mal mehr gewalttätige Übergriffe auf Jour- nehmen will. Auch wir machen Fehler, wollen mit unseren Recherchen Menschen Perspektive einzunehmen. Wie es uns das
Prüfung aller politischen Lager stellen muss: nalistinnen und Journalisten als im Jahr haben in der Vergangenheit Fehler ge- befähigen, nicht belehren. Dafür müssen wir Bundesverfassungsgericht ins Stammbuch
Ist sie wirklich differenziert genug? Ausgewo- zuvor – vor allem am Rande der Proteste macht. Und glauben Sie mir, sie tun weh. uns bei allen Themen immer wieder hinter- geschrieben hat, können wir so helfen, von
gen? Zu rot, zu schwarz, zu grün? gegen Corona-Einschränkungen. Selbst kleinere, die aber eine größere Wir- fragen, unvoreingenommen sein. der Beschimpfungsunkultur wieder zu
Nicht, dass wir in der ARD keine Fehler Dass Medien auch für die Themen, über kung entfalten. Wichtig ist, dass wir uns Auch müssen wir in wirklich alle Rich- mehr Diskussionskultur zu kommen.
machen würden. Und nicht, dass es nicht die sie berichten, am Pranger stehen, ist nicht mit ihnen auseinandersetzen. tungen divers sein. Uns muss immer­ Mal ganz ehrlich: Wann haben Sie das
okay wäre, uns nach harten Maßstäben zu neu. Was aber bedenklich ist, ist die in vielen In dem angesprochenen Beitragsver- bewusst sein, dass die Lebenswirklichkeit letzte Mal Ihre Meinung geändert, weil je-
prüfen – das müssen wir aushalten. Doch westlichen Ländern zu beobachtende Ten- fahren hat das Bundesverfassungsgericht in von vielen studierten Redakteurinnen und­ mand auf Sie eingeredet hat? Meine­
uns, auch mich, beschäftigt die Härte der denz, dass eine große Gruppe der Gesell- seinem Urteil hohe Ansprüche an den­ Redakteuren, die dazu noch häufig in Erfahrung ist: Je lauter es wird, desto weni-
Debatte: Der Mensch mit der anderen Mei- schaft den Medien vorwirft, sie würden öffentlich-rechtlichen Rundfunk formuliert, Großstädten leben, nicht der alleinige ger sind wir bereit, aufeinander zuzugehen.

Dausend Prozent

35 %
der Deutschen sind dafür, dass es bald einen »Freedom Day« geben sollte,
an dem sämtliche Corona-Beschränkungen entfallen (im Osten sind es 41 %).
Unser Kolumnist findet, dass Freiheit ohnehin Auslegungssache ist
Aktuelle Civey-Umfrage für die ZEIT

Peter Dausend ist


Die zutreffendste Definition von Freiheit dass »die Welt nie eine gute Definition für nah, noch näher ans Ergebnis robben wir uns verwirrte, die der Meinung sind, die Freiheit hier und jetzt. Sie haben jüngst ihren Free- politischer
stammt von der großartigen ­Janis Joplin, die das Wort Freiheit gefunden hat«. Aber auch aber mit G­ eorge Orwell: »Freiheit ist das eines Landes bemesse sich daran, wie viele dom-Day gefeiert, ohne dass die Infektions- Korrespondent im
1969 in der Vagabunden-Hymne Me and schon damals lag er damit falsch. Schließlich Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören Zentimeter seine Autofahrer das Gaspedal zahlen gestiegen wären. Einen Mitstreiter an Hauptstadtbüro
Bobby McGee so erkenntnisgewinnend – und war Rous­seaus Erkenntnis »Die Freiheit des wollen.« 35 Prozent der Deutschen nehmen durchdrücken dürfen. Auf die Pandemie ihrer Seite hätten alle Freedom-Day-Fans in der ZEIT
wahrscheinlich reichlich zugekifft – sang: Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, sich das Recht, zu sagen, was die Bundes­ bezogen denken die meisten Deutschen Benjamin Franklin, einem der Gründungs-
Freedom’s just another word for nothing left to was er will, sondern dass er nicht tun muss, regierung, das RKI und die Mehrheit ihrer nach dem Muster eines abgewandelten väter der USA: »Wer die Freiheit aufgibt, um
­lose. Welche Wahrheit doch in bewusstseins- was er nicht will« da bereits rund 100 Jahre Landsleute nicht hören wollen: dass sie die Rosa-Luxemburg-Zitats: Die Freiheit des Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende
erweiternden Drogen stecken kann! in der Welt, allerdings in der alten. Schnauze voll haben von der Maske davor, Einzelnen, auf die Corona-Regeln zu ver- beides verlieren.«
Hätte Abraham Lincoln gewusst, dass Unserem Umfragethema – der Sehnsucht vom Abstandhalten, Testenlassen und Karl­ zichten, endet, wo die Infektion des Nächs- Letztlich ist die Freiheit aber doch eine
Freiheit nichts anderes bedeutet, als nichts nach dem Freedom Day, jenem Tag, an dem lauter­bach­auf­allen­kanälen­sehen. ten beginnt. Was aber, wenn immer mehr sehr persönliche Sache. Ich zum Beispiel
mehr zu verlieren zu haben, so hätte er sich alle Corona-Maßnahmen enden – kommen Nun ist das mit der Freiheit eine ambi- Nächste geimpft sind? Wo und wann be- habe nächste Woche Urlaub – die Kolumne
Mitte des 19. Jahrhunderts kaum beschwert, wir mit Jean-­Jacques Rous­seau schon recht valente Sache. Schließlich gibt es ja Freiheits- ginnt dann Freiheit? Die Dänen meinen: schreibe ich aber trotzdem. Ich bin so frei.

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16 INHALT 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Titelthema: 48 Seiten ZEIT Literaturmagazin

POLITIK Atomkraft  In Greifswald wird ein Literatur  Die Schriftstellerin Sally


Kernkraftwerk zurückgebaut – seit Rooney boykottiert ihren israelischen
CDU  Nach der verlorenen Wahl ist die 30 Jahren. Und immer noch ist kein Verlag  VON IRIS R ADISCH  52
Partei zu erschöpft, um sich zu erneuern  Ende in Sicht 
VON MARIAM L AU  2 VON MARTIN NEJEZCHLEBA  24 Literatur-Nobelpreis Die
Entscheidung für den Romancier
Ampel  Was ist der Unterschied zwischen Nobelpreis  In diesem Jahr geht die Abdulrazak Gurnah ist eine glückliche
sondieren und verhandeln?  Auszeichnung an drei Ökonomen, die Wahl  VON ADAM SOBOCZ YNSKI  •52
VON PETER DAUSEND  •2 für akribische Forschung statt für
große Thesen stehen  Sinn & Verstand  Unsere alten
CDU  Die frühere Partei­chefin über liberalen Ideen zerbersten an der ­
VON THOMAS FISCHERMANN  25
ihren glücklosen Nachfolger – Wirklichkeit des Klimawandels.
ein Interview mit Annegret Kramp- Corona-Schnelltests  Warum es falsch Was wird jetzt aus der Freiheit? 
Karrenbauer  3 ist, dass die Tests nun kostenpflichtig VON EVA VON REDECKER  53
Zukunftsstudie  Wie hat die Pandemie werden 
VON MARTIN MACHOWECZ  25 Kolumne  Mein Leben als Frau 
die Stimmungslage der Deutschen ­ VON ANTONIA BAUM  54
verändert?  VON MANUEL SCHMIDGALL  4
Deutsche Bahn  Im September waren
nur sieben von zehn Schnellzügen Kunst  Mit digitalen Bildern lassen sich
EU  Ein Interview mit dem PiS-Politiker
pünktlich – dennoch glaubt der Konzern, Millionen Dollar verdienen.
Witold Waszczykowski zum umstrittenen
seine Fahrgastzahlen verdoppeln zu Das Kollektiv Peng will das nutzen 
Urteil des polnischen Verfassungs­
können  VON MARTIN EIMERMACHER  54
gerichts  5
Foto: Katharina Hemmler

VON CL A AS TATJE  26
Österreich  Nach seinem Rücktritt will Interview  Für den Künstler Gregor
der ÖVP-Vorsitzende Sebastian Kurz Die Bahn stellt jährlich 20.000 neue Schneider ist das Leben eine Baustelle.
das Land aus dem Hintergrund weiter Mitarbeiter ein, darunter Drohnenpiloten Ein Gespräch über Obsessionen und
führen. Kann sich seine Partei von und Bienen-Experten. Wofür braucht sie Ängste  55
seinem Einfluss befreien?  diese Leute?  Kino  »Nowhere Special«
VON FLORIAN GAS SER  6 VON CL A AS TATJE  •27 von Uberto Pasolini 
ZEITNAH Rechtspopulismus, Korruption, VON DANIEL NEHM  55
Gorillas  Bei dem Lieferdienst spitzt
Freunderlwirtschaft – warum ich ­ sich nach monatelangen Streiks von
Auf der Spur der Sandmafia Österreich trotz aller Skandale liebe  Miniaturen  Das Leben ist voller
Fahrern der Konflikt zu – mit Folgen für Kürzestgeschichten. Ein Auszug aus
VON HASNAIN K A ZIM  6 die gesamte Branche  dem Buch »Da Vinci erfindet einen
VON K ATHARINA KOERTH  28
Das Diebesgut liegt praktisch unter den Füßen des ZEIT-Reporters Fritz Habekuß. Großbritannien  Nach dem Brexit: Kieselstein«  VON PETER KÜMMEL  56
Eine konservative Abgeordnete kämpft Finanzpolitik  Die beiden Ökonomen
In Kweikrom, einem Dorf in Ghana, recherchierte er, wie gut organisierte Banden um ihre politische Zukunft  Kino  »The Last Duel« von Ridley Scott 
L ARS FELD und MARCEL FR ATZSCHER-
VON JENS JES SEN  •58
einen der begehrtesten Rohstoffe der Welt rauben und weiterverkaufen: Sand. Der VON JAN ROS S  8 entwerfen ein Konzept, das
einheimische Soziologe Kofi Asare (mit Tasche) übersetzte die Schilderungen der Antisemitismus  Was geschah, als der Investitionen trotz Schuldenbremse Musik-Spezial  Die Liedermacherin
Musiker Gil Ofarim in einem Leipziger ermöglicht  29 Sarah Lesch im Gespräch  60
bestohlenen Bauernfamilien, die den Dieben hilflos ausgeliefert sind  WISSEN, S. 36/37 Hotel einchecken wollte? 
VON ANNE HÄHNIG
Energiewende  Die Westenergie- Sechs neue CDs von Klassik bis zu
UND MARTIN MACHOWECZ  9 Managerin Katherina Reiche fürchtet spiritueller Improvisationsmusik  61
einen früheren Kohleausstieg – und hat
AfD  Die Zukunft der Partei nach Jörg zugleich Ideen, wie die Wende gelingen
Meuthens Abgang  kann  30 GLAUBEN & ZWEIFELN
VON PAUL MIDDELHOFF  10
Windkraft  Die Deutsche Umwelthilfe Vatikan  Der Abschiedsbesuch der
Hartz IV  Warum Armut so viel Geld will einen Verzicht auf ein gefährliches deutschen Kanzlerin in Rom war für den
kostet  VON ANNA MAYR  11 Isoliergas erzwingen, das ausgerechnet krisengebeutelten Papst eine will­
beim Ausbau erneuerbarer Energien kommene Abwechslung. Auch Italiens
Sahelzone  Eine Gemeinde am Tschad- massenhaft eingesetzt wird  Staatschef Draghi machte Angela Merkel
see und ihr Kampf gegen die Folgen der VON DIRK ASENDORPF  30 eine Liebeserklärung 
Klimakrise  VON IS SIO EHRICH  •12 VON EVELYN FINGER 62
Foto: Andy Spyra für DIE ZEIT

WISSEN
STREIT ENTDECKEN
Foto: Peter Runkewitz

Corona  Wie hoch ist die Impfquote


Du oder Sie?  Marie-Agnes Strack- Mal versucht, neu zu starten? 
wirklich? Und was bedeutet das für
Zimmermann, FDP, und Sören Bartol, Die Kollegen aus dem IT-Support
die kommenden Monate? 
SPD, streiten über die richtige Anrede erzählen endlich, was sie mit uns so
VON ULRICH BAHNSEN , ANNA-LENA
in der Politik 14 erleben  63
SCHOLZ UND JAN SCHWEITZER  33
Meinungsvielfalt  Der öffentlich-recht- Entdeckt  Die Schönheit der Rotation 
Der Kampf um die Köpfe Rebellionssängerin liche Rundfunk braucht mehr Pluralität. Junge Frauen, Migranten, Ostdeutsche –
auf wen es jetzt beim Impfen besonders VON ANNA MAYR  65
Ein Plädoyer des ARD-Vorsitzenden
TOM BUHROW  15 ankommt. Vier Praktiker erzählen  34
Wie wir reden  Gesprächsnotizen aus
Die Universität von Kabul ist das geistige Zentrum Sarah Lesch schreibt emotionale dem Alltag eines 69-Jährigen 
Dausend Prozent  Semesterstart  Nach anderthalb Jahren
und Ursprung fast aller politischen Umwälzungen in Songs über die Lust an gemein- VON PETER DAUSEND  15 holt die Präsidentin der TU Darmstadt VON HANS- ULRICH TREICHEL  66
Afghanistan. Einen Monat lang haben ZEIT-Reporter samer Veränderung. Denn wer die Studierenden zurück auf den Campus 
•35
Ein Tag im Leben ...  einer Ampel 
•67
VON ASTRID HERBOLD 
beobachtet, wie dort die Taliban versuchen, ihr Bild sich berühren lässt, bewegt auch DOSSIER VON ARTUR WEIGANDT 

von Gott und der Welt zu etablieren  DOSSIER, S. 17 etwas  MUSIK-SPEZIAL, SEITE 60 Afghanistan  Nach dem Einmarsch der
Umwelt  Unterwegs mit kriminellen
Dorfschönheit  Kennen Sie nicht?
Banden in Ghana, deren Geschäft ein
Taliban in Kabul wird um die Zukunft Sollten Sie aber: Sulzfeld am Main 
besonders wertvoller Rohstoff ist: Sand 
•36
der wichtigsten Hochschule des Landes VON ANNABELLE SEUBERT  68
VON FRITZ HABEKUS S 
gerungen  VON WOLFGANG BAUER  17
IN DEN REGIONALAUSGABEN ZUM HÖREN Reise  Der Hamburger Stadtteil
Laufen  Ein Buch über die Kunst
Neuwerk liegt in der Nordsee 
der Fortbewegung 
ZEIT im Osten  Sören Pellmann Aktivisten wollen die Stadt Genf Die so gekennzeichneten GESCHICHTE VON URS WILLMANN  38
VON THERESA TRÖNDLE  69
hat mit seinem Direktmandat die von Werbung befreien  Artikel finden Sie als
Linke in den Bundestag gerettet. 22 Audiodatei im »Premium- Kolonialismus  Lothar von Trotha Frag doch Ella  Mein Ex hat mich
VON ANN-DORIT BOY  Hochschule  Sascha Spoun, Präsident
Aber er fremdelt ausgerechnet mit bereich« unter befahl 1904 die Vernichtung der geschlagen. Soll ich ihm der Kinder
der Leuphana Universität Lüneburg,
jenem Milieu in Leipzig, das ihn Das Alpen-Porträt  Die öster­ www.zeit.de/vorgelesen OvaHerero in Deutsch-Südwestafrika. wegen verzeihen?  71
ist umstritten – und erfolgreich 40
gewählt hat  reichische Kette XXXLutz mischt Jetzt ist der Forschung erstmals sein
den Schweizer Möbelhandel auf.
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Foto: DOCKS Collective

VON AUGUST MODERSOHN  20 DIESER AUSGABE Infografik Klebstoff 50


Aber ihr Eigentümer Andreas VON MAT THIAS HÄUS SLER noch mal umzuziehen 
Seifert ist ein Phantom  UND ANDREAS ECKL  21 VON AKELEI ROLOFF  72
Ein CDU-Kandidat aus Halle Bildungsangebote und
löst ein Wahlversprechen ein. Er VON CHRISTIAN BARTL AU  32 Stellenmarkt LEO – DIE SEITE
baut einem Studenten die Küche (ab Seite 41), FÜR KINDER
ZEIT Österreich  Die Grünen Agenda Kultur: VERBRECHEN RUBRIKEN
auf  VON NIKL AS LIEBETR AU  21
haben Sebastian Kurz aus dem Museen, Kunstmarkt, Schule  Kinder in Deutschland sollen
Die Katastrophe – und Drogenkrieg  Ein Prozess in Amsterdam Leserbriefe  20
ZEIT Schweiz  Der Basler Kanzleramt gedrängt. War es am Bühnen (Seite 58) mehr über den Klimawandel lernen.
wie das Leben weiterging. bringt zutage, dass die niederländische
Grafiker Celestino Piatti gestaltete Ende ein Pyrrhussieg?  Trotzdem kommt das Thema im Unter- Der Zweifel 33
Das Foto-Kollektiv Docks FRÜHER Unterwelt in Berlin einen Mordanschlag
hat die Flut im Ahrtal und Briefmarken, Werbeplakate und VON JOSEF VOTZI UND richt oft nicht vor. Warum das so ist,
•38
INFORMIERT! plante 
in den angrenzenden über 6000 Bücher. Seine Tochter SIMONE BRUNNER  20 weiß SAR AH SCHASCHEK  49 Stimmt’s?
VON MARKUS SEHL  22
Regionen dokumentiert macht sein umfangreiches Werk Die aktuellen Themen
nun öffentlich zugänglich  Seit 20 Jahren ist eine Schnell- der ZEIT schon am Die Position 41
straße durch das Marchfeld FEUILLETON
VON BARBAR A ACHERMANN  20
geplant. Warum gibt es die Straße
Mittwoch im ZEIT-Brief, WIRTSCHAFT Worum geht’s? 42
dem kostenlosen
Vor 60 Jahren gab es den ersten noch immer nicht?  Newsletter Facebook  Der Druck auf den Konzern Donaumonarchie  Zwei Schriftsteller
Mauertoten  VON FELIX HECK  22 3½ Fragen 43
VON JONAS VOGT  21 www.zeit.de/brief steigt: Muss er bald seine Algorithmen erkunden die Volksseelen Tschechiens
ändern, um Hetze einzudämmen? und Österreichs  Impressum 56
VON HEIKE BUCHTER , GÖTZ HAMANN VON JAROSL AV RUDIŠ UND
Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper. UND JENS TÖNNESMANN  •23 DAVID SCHALKO  51 Was mein Leben reicher macht 72

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4. JAHRESTAGUNG FORUM FÜR DATENSICHERHEIT, ko s t e t
Fotos: Andreas Könen ©Bundesinnenministerium; Katharina Nocun ©Gordon Welters;
Dr. Haya Shulman ©Harald T. Schreiber; Dr. Konstantin von Notz ©Stephan Pramme

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Der Schutz vor Cyber-Attacken steht im benennen und Lösungen aufzeigen. Diskutieren
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Zuge einer immer weiter fortschreitenden Sie zusammen mit namhaften IT- und Daten-
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Wissenschaft skizzieren, Risiko-Szenarien aufstellen können. Die Teilnahme ist kostenlos.
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Craig Jones Andreas Könen Heiko Löhr Michael Niemeier Katharina Nocun Arne Schönbohm Dr. Haya Shulman Dr. Konstantin von Notz
Veranstalter: Ein Unternehmen der: Premium-Partner:
Interpol Bundesministerium Bundeskriminalamt Bundesamt für den Bloggerin & Publizistin Bundesamt für Sicherheit Fraunhofer-Institut Bündnis 90/Die Grünen
des Innern Verfassungsschutz in der Informationstechnik für Sichere Informations-
technologie
Informationen und Anmeldung unter www.convent.de/cybersecurity
14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

DOSSIER 17

Bei einer Kundgebung an


der Kabul University ­
haben sich die meisten
Teilnehmerinnen komplett
verhüllt. Nur bei wenigen
sind die Augen zu sehen.
In ihren Händen:
Die Flagge der Taliban

DIE ÜBERNAHME
Frauen, die im Hörsaal für die neuen Herrscher demonstrieren. Eine Literaturstudentin, die sich zuhause versteckt. Ein junger Talib, der plötzlich an der Spitze
der wichtigsten Hochschule Afghanistans steht. Wie in Kabul um die Zukunft der Universität gerungen wird  VON WOLFGANG BAUER; FOTOS: ANDY SPYRA

D
er Kanzler, sehr dünn gewor­ Leere lange Wege führen über den Campus zum Regierung eingezogen. Mohammed Aschraf Ghai­ herrscht eine unwirkliche Ruhe. Taliban kontrol­ die Welt ist heute ein globales Dorf.« Ghairat
den, sitzt in seinem Büro. Büro des Kanzlers. Alleen mit Kiefern, durch die sanft rat ist erst Anfang 30, ein Mann mit zauseligem lieren auf den Straßen. Die befürchtete große spricht davon, die Universität zu einem »Zentrum
Mit krummem Rücken war­ der Wind weht. In manchen Bäumen s­ tecken noch Bart, tief liegenden ernsten Augen und der Ge­ Rache­welle ist bisher ausgeblieben. Die Führer der der Innovation« zu machen. Er weiß, welchen
tet er in seinem Sessel, über­ die Kugeln früherer Bürgerkriege. 22 Fakultäten auf betskappe des frommen Gläubigen. Ein Mullah. Taliban beschwichtigen. Doch niemand traut die­ Wohlklang solche Wörter im Westen haben.
nächtigt und unrasiert. Nur neun Hektar Parkanlage. Die Gebäude stehen in Bisher war er im Untergrund Mitglied eines Bil­ ser Ruhe. Zehntausende Menschen verstecken sich Über sich selbst gibt Ghairat wenig Auskunft. Er
noch selten verlässt er tags­ großen Abständen zu­ein­an­der. Jedes hat einen ande­ dungskomitees der Taliban. »Diese Universität ist in ihren Häusern. In kleinen Gruppen fliehen sie scheint im Geiste immer noch der Untergrundaktivist
über diesen Raum, und nur ren Stil, meist ist es der Stil des Geldgebers. Zwei­ zu einem Hort der Sünde verkommen«, verkündet über die Grenzen nach Pakistan und in den Iran. zu sein, der er bis vor wenigen Wochen war. Der Sieg
noch wenige besuchen ihn hier. Bis vor Kurzem stöckige Lehrkasernen, wie sie die Sow­jet­union in er in diesen Tagen wiederholt der Öffentlichkeit. Nach der Machtergreifung der Taliban war Mo­ der Taliban, das merkt man jeder seiner Gesten an,
galt es als Ehre, zu ihm vorgelassen zu werden. den Fünfzigerjahren baute. Bungalows, wie sie in den »Ich hoffe«, sagt Babury, der alte Kanzler, ein­ hammed Aschraf Ghairat vor dem Tor der Univer­ war auch sein Sieg. »Keine Angst«, wiederholt er
Jetzt haben die meisten Angst, mit ihm, dem Sechzigerjahren in den USA in Mode waren. Chrom­ gelernter Pharmakologe, »dass es gelingt, die Fort­ sität erschienen, in der Hand eine abgenutzte braune immer wieder. Er sei vom neuen Bildungsminister
Kanzler, gesehen zu werden. Als wir eintreten, glitzernde Glaswürfel nach dem Geschmack des schritte zu retten, die wir beim Aufbau dieser Uni­ Aktentasche. Er stellte sich als Sonderbeauftragter entsandt, um zu untersuchen, wie die Universität im
wartet er, bis die Tür zum Vorzimmer ins Schloss modernen Chinas. Eine Stadt in der Stadt, die Stadt versität gemacht haben. Ich werbe bei den Dozenten der Taliban vor und zog in das Büro von Baburys Sinne des Islams reformiert werden könne. Er habe
gefallen ist. Stockend beginnt er zu reden. Er der Akademiker. Die Seminare sind seit dem Ein­ um Geduld und bei den Taliban um Verständnis. Assistent. Kaum jemand auf dem Campus kannte in diesen ersten Tagen zwei Prioritäten. Das Plündern
spricht von »unglücklichen Entwicklungen«, sucht marsch der Taliban ausgesetzt. Von den 25.000 Wir dürfen die Universität nicht verlieren.« bis dahin seinen Namen, nur wenige konnten sich zu verhindern. Das sei gelungen. Und die Unzucht
nach den richtigen Worten. Oft gibt er es auf. Er Studierenden, davon 43 Prozent Frauen, ist niemand an ihn erinnern, doch war es für Ghairat eine Wieder­ zu unterbinden. Das Campusleben müsse so umorga­
bricht dann Sätze ab, verstummt und lächelt ein zu sehen. Ab und an fährt ein Talib mit Sturmgewehr Knapp einen Monat lang begleiten wir nach der kehr. Als junger Mann hat er bis 2008 auf der Kabul nisiert werden, dass sich Frauen und Männer nicht
papierdünnes Lächeln. Professor Dr. Mohammed auf einem alten Fahrrad gelangweilt Schleifen. Machtübernahme der Taliban das Ringen um die University Journalismus studiert, dann schloss er sich länger begegneten. Dafür werde er demnächst neue
Osman Babury, 59 Jahre alt, ist Kanzler der wich­ Er wisse nicht, was jetzt passiert, mit dem Land, Universität von Kabul. Sie ist nicht einfach nur den Taliban an und ging in den Untergrund, aus dem Verhaltensregeln verkünden.
tigsten Universität Afghanistans, und in diesen mit ihm, sagt der Kanzler in seinem Büro. Niemand eine Lehranstalt. Sie ist viel mehr als das: das geis­ er jetzt, nach 13 Jahren, zurückgekehrt ist. Er öffnet seine Aktentasche und zieht ein Bündel
Wochen ist er ihr Gefangener. habe mit alldem gerechnet. Noch vor wenigen Jahren tige Zentrum Afghanistans, die Mutter von fast »Es braucht keiner Angst vor mir zu haben«, Papiere heraus. Die Fahrpläne von elf neuen Bus­
Er hat seinen Büroleiter ans Tor geschickt, den residierte in diesem Büro Aschraf Ghani, der das Amt allem. Fast alle gesellschaftlichen Bewegungen der sagt Ghairat im Büro des Assistenten, der ins Aus­ linien, mit denen Studentinnen aus allen Teilen
einzigen Mitarbeiter, der ihm noch geblieben ist, des Kanzlers innehatte, dann afghanischer Präsident jüngeren Geschichte des Landes hatten hier ihren land geflohen ist. Er spricht leise und sanft, wie es Kabuls zu ihren Vorlesungen transportiert werden
damit er die Wachen überredet, die Reporter der wurde und jetzt mit seiner überstürzten Flucht ins Ursprung. Nahezu alle politischen Umwälzungen sich für einen Mullah geziemt. Ein Leibwächter sollen. Allerdings wisse er noch nicht, woher das Geld
ZEIT einzulassen. Es ist Anfang September. Vor drei Ausland den Kollaps des gesamten Staatsapparates gingen von hier aus. Eine Universität, geschaffen, mit Pistolenhalfter sitzt neben ihm auf dem Tep­ für die Busse nehmen. »Ich habe die Fahrpläne durch­
Wochen haben in Kabul die Taliban die Macht über­ auslöste. Babury dreht immer wieder seinen Kopf um aus den vielen Völkern Afghanistans eine­ pichboden. Er sei nicht hierhergekommen, um gerechnet«, sagt Ghairat und fährt die Tabellen mit
nommen. Die alten Sicherheitskräfte sind geflohen, zur Tür, um zu überprüfen, ob sie sich nicht einen Nation zu formen, Alma Mater, übergroß. etwas zu zerstören, sagt der junge Sonderbeauf­ dem Finger ab, Distrikt 4, Distrikt 7, man merkt ihm
neue Wachen sind vor den Eingängen zur Universität Spalt weit geöffnet hat. Friede ist eingekehrt in Afghanistan. Der Krieg, tragte. Er wolle aufbauen, die Fortschritte erhal­ den Stolz an. Er wirkt wie ein ausgezehrter Muster­
erschienen. Junge bärtige Männer in wallenden Nur ein Vorzimmer von ihm entfernt, auf der der noch einmal so fürchterlich geworden war, so ten, die die Universität in den vergangenen Jahren schüler, ehrlich bemüht und mit aller Kraft auf das
Gewändern, bewaffnet mit Schnellfeuergewehren, gegenüberliegenden Flurseite, ist vor wenigen­ rasend, gespeist von 40 Jahren Gewalt, ist Mitte gemacht habe. »Wir wollen alle internationalen
die Augen mit Lidstrichen umrandet. Tagen der neue Sondergesandte der Taliban-­ August 2021 mit einem Mal erloschen. In Kabul Kooperationen weiterführen«, sagt er. »Natürlich, Fortsetzung auf S. 18

HINTER DER GESCHICHTE


Für diesen Artikel recherchierten die beiden ZEIT-Reporter dreieinhalb Wochen lang in Afghanistan, trafen neben dem alten und dem neuen Kanzler
der Kabul University zahlreiche Dozenten, Studenten und Studentinnen – wegen der Angst der Gesprächspartner meist nicht
auf dem Campus, sondern in privaten Wohnungen und Cafés. Als wichtige Quelle zur Geschichte der Hochschule diente die noch unveröffentlichte
Doktorarbeit der deutschen Historikerin Kyara Klausmann: »Political Activism at Kabul University during the Cold War, 1964–1992«
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Gebetsraums; bis dahin hat es auf dem Campus fliehen. Was bleibt hier für mich? Ich werde in
noch keinen gegeben. Zu den Gründungsmitglie­ den Seminaren keine Burka anziehen. Das bin
dern gehört ein Student, der sich kurz zuvor in die nicht ich. Das ist entmenschlichend. Ich werde
Fakultät für Ingenieurwissenschaften eingeschrie­ das nicht tun.«
ben hat. Gulbuddin Hekmatjar. 20 Jahre später
wird er sich den Beinamen »Schlächter von Kabul« Wenn Mohammed Aschraf Ghairat in diesen
erwerben. 30 Jahre später wird er Osama bin Laden Tagen in seinem Assistentenbüro Besucher emp­
und Al-Kaida nach Afghanistan einladen. fängt, wenn er mit Dozenten redet oder mit dem
Bald konkurrieren die beiden Bewegungen auf Gärtner, der mit ihm Bewässerungsprobleme be­
dem Campus um Einfluss. Mit Knüppeln und sprechen will, mit Unternehmern, die den Cam­
Messern gehen Kommunisten und Islamisten auf­ pus beliefert haben und jetzt wissen wollen, ob die
ein­an­der los. Sie sind wie schreckliche Zwillinge. Universität ihren Zahlungsverpflichtungen nach­
Sie wachsen an der Angst vor dem jeweils anderen. kommen kann – dann fragt er immer wieder:
Auf dem Gelände der Universität von Kabul wird »Was denken Sie über die Fakultät der Künste?
schon der Bürgerkrieg geprobt. Wie ist Ihre Meinung dazu? Brauchen wir sie?«
Ein großes Vorhängeschloss versperrt das Tor der
Das neue Regelwerk, das vom Sonderbeauftrag­ Fakultät. Im Unterschied zu anderen Fakultäten,
ten Mohammed Aschraf Ghairat angekündigt in die nach einem Aufruf von Ghairat wenigstens
wurde, hängt in der dritten Woche nach seiner einige Dozenten in ihre Büros zurückgekehrt sind,
Ankunft in den Fakultäten aus. ist diese völlig verlassen. Der neue Paria auf dem
Campus. Die meisten Menschen, die hier lehrten
»1. Alle Frauen auf dem Universitätsgelände sind und lernten, 1230 Studenten und 56 Dozenten, ver­
angehalten, den Hi­dschab zu tragen. Tragen sie stecken sich seit dem Einmarsch der Taliban. In ei­
ihn nicht, haben sie nicht die Erlaubnis, das Uni­ nem Restaurant, weit weg von der Universität, treffen
versitätsgelände zu betreten. wir einen der Abteilungsleiter der Fakultät.
2. Fakultäten, in denen der Frauenanteil weniger Er hat versucht, sich zu verkleiden, ein Tuch
als 20 Prozent beträgt, sollten die Frauen in eine um seinen Kopf gespannt, eine Sonnenbrille auf­
verwandte Fakultät überstellen – falls möglich. gesetzt. Seine Hände zittern. Er muss sie in­ein­an­
3. Ist das Zahlenverhältnis von Männern und Frauen der verschränken, um das Zittern zu beherrschen.
Fotos: Andy Spyra für DIE ZEIT

ungefähr gleich, müssen in den Unterrichtsräumen Sein Telefon blendet ständig auf, seine Frau ver­
Trennwände zwischen den Geschlechtern aufgestellt sucht ihn unentwegt zu erreichen. Sie hat ihn vor
werden. Im rückwärtigen Bereich haben die Frauen diesem Treffen gewarnt.
Platz zu nehmen, im vorderen Bereich die Männer.
Die Frauen sollten zehn Minuten vor den Männern »Sie nennen uns ›Haus der Tänzerinnen‹.
in den Raum geführt werden. Am Unterrichtsende Nicht nur die Taliban. Ganz normale Leute in
verlassen die Männer den Raum zuerst. Kabul. Die Vorurteile sitzen tief. Mit Tanzen
4. In Fakultäten, in denen der Frauenanteil mehr meinen sie die Schauspielerei. Die ist für sie wie
als 20 Prozent beträgt, aber weniger als 50 Prozent, Prostitution. Auch früher gab es schon Span­
sollte in unterschiedlichen Räumen nach Ge­ nungen zwischen unseren Studenten und denen
Mohammed Aschraf Ghairat, zunächst Sonderbeauftragter der Taliban, nun Kanzler der Universität schlechtern getrennt unterrichtet werden. anderer Fakultäten. Die haben sich oft mit den
5. In Fakultäten, in denen der Frauenanteil mehr unseren geprügelt.
als 50 Prozent beträgt, aber weniger als 70 Prozent, Am Tag, als die Taliban nach Kabul kamen,
sollten die Trennwände auf der Längsachse des saß ich in meinem Büro, mit einem ehemaligen
Raumes aufgestellt werden. Minister. Wir wollten ein großes Festival vor­
Fortsetzung von S. 17 junge Frau am Mikrofon. »Wir huldigen dem Isla­ der Cafeteria. Sie töteten 17 meiner Kommili­ 6. In Fakultäten, in denen der Frauenanteil mehr besprechen, aber dann klingelte das Telefon des
mischen Emirat!« tonen. Es heißt, unter den Angreifern waren als 70 Prozent beträgt, kann nach den bisherigen früheren Ministers. ›Die Taliban greifen die
Ziel konzentriert. Nur, fragen sich Tausende Studie­ Kurz danach ruft eine andere: »Warum gehen auch zwei ehemalige Studenten der Scharia-­ Regeln unterrichtet werden. Stadt an‹, sagte er mir entsetzt. Der war auch
rende und Hunderte Dozenten, was ist das Ziel? nur so wenige Frauen auf die Universität? Warum Fakultät. Es heißt, dass sie sich dem ›Islamischen 7. Auf dem gesamten Gelände müssen Frauen und völlig überrascht. Ich habe dann alle Seminare
Die Revolution verliert ihren Schrecken, sie fragt keiner nach den Gründen?« Staat‹ angeschlossen hatten. Als der Professor Männer so viel Distanz wie möglich zu­ein­an­der informiert und alle nach Hause geschickt. Mit
tarnt sich als bürokratischer Akt. Er sei nur Bera­ Westliche Kleidung und fehlende Geschlechter­ später bei einer Trauerfeier die Namen aller halten. Sollte beobachtet werden, dass eine illegale zwei Wächtern habe ich den ganzen Tag lang
ter, betont Ghairat. Er entscheide nicht, Kanzler trennung hätten in den letzten Jahren zu vielen Über­ Ermordeten vortrug und dann auch den ­ Beziehung zwischen Personen vorliegt, sind die versucht, unsere Kunst zu retten. Wir haben
Babury bleibe das Oberhaupt. Mit ihm sitze er oft griffen und Missbrauchsfällen an der Kabul Univer­ Namen dieser Studentin vorgelesen hat, habe Sicherheitskräfte verpflichtet, diese den Justiz­ alle Werke abgehängt, die Gesichter zeigen.
zusammen und diskutiere die Zukunft der Univer­ sity geführt, klagen sie an. Deswegen weigerten sich ich ihn beobachtet. Er sah sehr mitgenommen behörden zu überstellen.« 200 Gemälde und Zeichnungen! Wir haben
sität. Ghairat weiß, dass zwar Kabul gewonnen ist, viele Familien, ihre Töchter studieren zu lassen. Aber aus. Ich glaube, er hat seine Tat bedauert.« alle Skulpturen in Decken eingerollt. Wir ­
aber noch nicht diese Hochschule. es gebe eine Lösung, die all dem vorbeuge: die kom­ Nach der Niederschlagung von Aktivistinnen-­ haben alles auf sieben Verstecke aufgeteilt.
plette Verschleierung. Frauen, die sich unverschleiert Die Universität, so das Kalkül des Königs in den Protesten auf den Straßen Kabuls wagen immer Wenn die Taliban jetzt eines davon finden,
Die Universität, die die älteste Afghanistans ist, ist zeigten, entfernten sich selbst aus der Gemeinschaft Sechzigerjahren, soll sein Land davor bewahren, weniger Frauen, sich außerhalb der Familie zu be­ sind die anderen sechs immer noch geschützt.
noch sehr jung. Nur zaghaft waren die Könige an die der Gläubigen. »Wir werden uns niemals der Skla­ zwischen den Nachbarstaaten zerrieben zu werden. wegen, Fremde zu treffen, gar Journalisten. Die Vor ein paar Tagen hat ein Kollege versucht,
Gründung einer Hochschule gegangen. Jahrhunderte­ verei der westlichen Kultur unterwerfen!« Doch das Kalkül geht nicht auf. Tatsächlich beschleu­ Taliban-Regierung hat das Frauenministerium eine Büste vom Campus zu schaffen. Er hat den
lang hatte sich in den abgelegenen Gebirgstälern Die meisten Frauen auf der Kundgebung tra­ nigt der neue Campus die Spaltung Afghanistans. aufgelöst, stattdessen ein Sittenministerium einge­ Taliban-Wächtern am Tor gesagt, dass die Büste
kaum ein Staatsapparat herausgebildet. Es gab nur gen keine Burka, sie tragen etwas Radikaleres. Während das Leben in den Dörfern unberührt führt. Fast alle Studentinnen sind eingeschüchtert. seinen Kopf darstellt und dass seine Studenten
wenige Beamte. Die Herrscher kontrollierten zwar Eine Verschleierungstechnik, die es bis zu diesem weitergeht, im gleichbleibenden Takt jahrhunderte­ Marjam Amarkhel, 24 Jahre alt und eingeschrie­ sie ihm als Geschenk gegeben haben. Ein Talib
die Städte, doch viele Dörfer und Provinzen blieben Tag in Afghanistan noch nicht gegeben hat. Ein alter Traditionen, wird die Kabul University zu­ ben an der Fakultät für Literatur, wohnt mit ihrer hat ihm geantwortet: ›Erst hältst du deine ­
sich selbst überlassen. Nur vier höhere Schulen waren schwarzes Kopftuch, das weit über die Stirn he­ einem Druckkessel der Moderne. Die kommunis­ Familie in einem großen Apartmentblock ohne Studenten an, eine Sünde zu begehen und diese
im Land bis Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, rabfällt, darunter ein weiteres schwarzes Tuch. tische Bewegung erhält unter den Studentinnen und Namensschilder. Hierhin ziehen Menschen, die in Figur zu schaffen – und jetzt willst du eine
sie wurden von den Afghanen misstrauisch aufge­ Die Gesichter sind nahezu komplett verkapselt, Studenten immer mehr Zulauf. Soziale Gerechtig­ Kabul anonym bleiben wollen. zweite Sünde begehen und sie mit nach Hause
nommen. Welche Fragen darf der Mensch stellen, die Frauen können nur etwas sehen, wenn sie den keit fordern sie, und endlich die versprochene­ nehmen?‹ Sie sagten ihm, er dürfe die Büste erst
ohne vom Glauben abzukommen? Ist Wissen, das Blick zu Boden senken. Während durch das Ge­ demokratische Verfassung. Es gibt ein Parlament, »Ich werde hier noch verrückt. Ich sehe diese mit nach draußen nehmen, wenn sie sie in ­
nicht im Koran steht, nicht automatisch Blasphemie? sichtsgitter der Burka immerhin die Augen ahn­ doch das Parlament ist machtlos. Die Zeit der Wände den ganzen Tag. Es gibt einfach nichts tausend Stücke geschlagen hätten.
Erst 1932 eröffnet in Kabul eine medizinische bar schimmern, verschwindet in der neuen Ver­ Unruhen bricht an, immer wieder schließt die­ zu tun. Trotzdem bin ich gestresst. Ich schaue Ich habe im August mit meiner Familie vier
Fakultät. 1938 kommt die Fakultät für Rechts­ hüllung der Mensch so absolut wie noch nie. Regierung den Campus für Wochen. Fast alle Prä­ ständig auf mein Smart­phone. Ich kann mich Tage und vier Nächte lang versucht, die Eva­
wissenschaft dazu. In den Sechzigerjahren dann In Kabul ist nach dem Einzug der Taliban nicht sidenten der späteren kommunistischen Regime nicht mehr aufs Lesen konzentrieren. Allen kuierungsflüge am Flughafen zu erreichen.
werden die quer über die Stadt verteilten Seminare nur die Uni verwaist, die angrenzenden Straßenzüge haben an der Kabul University studiert. meinen Freundinnen geht es so. Ich habe in Stundenlang standen wir im Wassergraben,
zur Kabul University zusammengefasst. sind es auch. Die meisten Clubs und Restaurants, Der Aufstieg der Kommunisten bringt eine meinem Leben noch nie so viel gechattet wie dann wurde meine kleinste Tochter krank, und
Die Universität wird zunächst streng westlich die rund um den Campus in den letzten Jahren auf­ ebenso radikale Gegenbewegung hervor. Acht Stu­ jetzt. Essen, chatten, schlafen. Dazwischen ­ wir sind nach Hause gegangen. Die ist erst sechs.
geformt. Bärte sind verboten, traditionelle Tracht ist gemacht hatten, sind geschlossen. Einer der wenigen denten gründen im April 1969 die »Muslimische Netflix. Das ist mein Leben. Sie hat uns alle gerettet. Denn am nächsten Tag
als rückständig verpönt. Die Seminarzeiten nehmen letzten Treffpunkte ist das Greenfood Cafe. Es Jugend«, inspiriert durch einen Professor, der in Ich verlasse die Wohnung so gut wie nie. Sogar ist dort, wo wir gewartet hatten, die Bombe ­
keine Rücksicht auf Ramadan und Gebetszeiten. Die könnte auch in Berkeley stehen oder in ­Yale. Viel Ägypten studiert und dort die Muslimbrüder ken­ auf den Hausflur gehe ich ganz selten. Es gibt explodiert.
neue Hochschule soll binnen weniger Jahre das leis­ Glas, viel Holz, das Gefühl von Geborgenheit. Ein nengelernt hat. Die stemmen sich gegen die Do­ Familienmitglieder von uns, die sind bei den Meine Frau ist psychisch stark angeschlagen. Jedes
ten, was so lange versäumt worden ist. Die Schaffung Kokon für Studenten, bisher auch für Studentinnen. minanz des Westens und predigen, dass der Islam Taliban. Jeden Tag schicken sie Drohungen. Mal, wenn es an unserer Tür klopft, zucken wir
eines Beamtenstandes, einer gebildeten Mittelschicht, Bisher auch für Ahmed, 24 Jahre alt, einen angehen­ mehr sei als eine Privatsache. Beseelt von diesen Ich bin die einzige Frau bei uns, die studiert zusammen, dann denken wir, es sind sie, sie ­
frei gemacht von der Enge der Traditionen. den Politologen. Eindrücken, lehrt der Professor nun an der neuen hat. Mein Vater war erst sehr dagegen. Er sorgte holen mich ab. Sie suchen nach mir, ich weiß es
Der König verspricht in diesen Sechzigerjahren Scharia-Fakultät, dem Institut für islamisches sich um die Familienehre. Der Ruf der Uni­ von Bekannten. Wir haben in der Fakultät auch
Reformen, vor allem: eine demokratische Verfassung. »Ich bin in meinem eigenen Land zum Emi­ Recht. Der ägyptische Staat hat die Patenschaft für versität ist nicht gut. Man muss dort aufpassen Filme gedreht, die die afghanische Armee unter­
Aus dem Ausland strömt massiv Entwicklungshilfe granten geworden. Das ist nicht mehr mein den Aufbau der Fakultät übernommen: ein zwei­ als Frau. Aber ich habe so viel gelernt. Ich habe stützen. Glaubst du, die werden mich am Leben
ins Land. Die Sow­jet­union und der Westen beginnen Land. Ich will weg. Ich werde nicht wieder an stöckiges Gebäude mit lichten Fensterreihen ganz so viel entdeckt. Ich liebe unseren Dichter ­ lassen? Sie werden sich an uns rächen.«
um Einfluss zu ringen, noch nicht mit Waffen, son­ die Universität gehen. Ich muss nur noch ein am Rand des Campus. Es ist der Ort, über den der Khuschal Khan Khattak. Ich bin so hungrig
dern mit Geld und Erziehungsplänen. Die USA und Jahr studieren. Aber unsere besten Dozenten politische Islam nach Afghanistan gelangt. auf Bücher. Am 20. September, einem Montag, betritt der alte
Westdeutschland machen es sich zur Aufgabe, die sind geflohen. Wer wird uns unterrichten, An der Kabul University bilden die Aktivisten Wenn uns jetzt Familienangehörige besuchen, Kanzler zum letzten Mal sein Büro. Der Sonderbeauf­
Kabul University aufzubauen. Der Baukonzern wenn ich da wieder hingehe? Was kann ich mit der Muslimischen Jugend zunächst eine Art die wir nicht so gut kennen, gehe ich in ein an­ tragte Ghairat verkündet es über die sozialen Medien.
Hochtief errichtet große Teile des Campus. 1968 einem Zeugnis anfangen, das den Stempel des Schutzgemeinschaft. Sie wollen der Leugnung deres Zimmer. Meine Eltern sagen ihnen, ich Professor Babury ziehe sich zurück, heißt es in der
kommen von 714 Dozenten knapp 200 aus dem Islamischen Emirats trägt? Welche Universität Gottes durch die Kommunisten etwas entgegen­ sei ins Ausland geflohen. Ich glaube, dass mir Meldung. Das Bildungsministerium ernenne statt­
Ausland. Nirgendwo in Afghanistan ist die interna­ im Ausland wird unser Examen anerkennen? stellen. Ihre erste Tat ist die Einrichtung eines­ nichts anderes übrig bleibt, als wirklich zu ­ dessen einen neuen Kanzler: ihn, Mohammed
tionale Hilfe so sichtbar wie hier. Ich will nicht sagen, dass alles gut war an unse­ Aschraf Ghairat. Die Presse ist nicht anwesend, sie
Zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans rer Universität. Die Qualität unserer Dozenten wurde nicht vorab informiert. Das offizielle Foto von
ist damit ein Ort geschaffen, an dem junge Männer, war fachlich oft mangelhaft. Es gab Miss­ der Amtsübergabe, das die Taliban anschließend in
bald auch junge Frauen, aus den Provinzen des Lan­ brauchsfälle. Da haben die Taliban recht. Aber Umlauf bringen, zeigt Ghairat bereits hinter dem
des mit ihren unterschiedlichen Kulturen zusammen­ mir ist kein Fall bekannt, bei dem es zu Über­ Schreibtisch des Kanzlers, wie er Babury strahlend
kommen. Paschtunen und Ta­ dschi­ken, Hasara, griffen durch Studenten gekommen wäre. Jungs die Hand reicht. Er sitzt. Babury steht und muss sich
Usbeken und Turkmenen. Sunniten und Schiiten. und Mädchen, wir sind wie eine Familie. Aber zu ihm hinunterbeugen. Ein ehrloser Abschied. Ein
Fast nur Söhne und Töchter der Elite, der Groß­ die Dozenten haben ihre Macht ausgenutzt. letzter Akt der Unterwerfung.
grundbesitzer. Doch auch sie haben bisher kaum Das war ein Problem, auch in meiner Fakultät. Doch damit beginnen für Ghairat die Proble­
mehr als ihre Dörfer gekannt. Der neue Campus ist Da ist zum Beispiel einer unserer Abteilungs­ me. So heiter wie auf diesem Bild wird man ihn
für sie beides: Befreiung aus der Gedankenwelt ihrer leiter. Ich habe gehört, dass er sich immer ­ lange nicht mehr sehen.
Vorväter. Und Bedrohung all dessen, was für sie die wieder an Mädchen vergangen hat. Er hat sie Hohn ergießt sich aus unzähligen Twit­ ter-­
Welt bisher zusammengehalten hat. unter Druck gesetzt. Er hat ihnen gedroht, dass Kanä­len über den neuen Kanzler. »Lieber arbeite
es sich auf ihre Noten auswirken wird, wenn sie ich unter einem Esel als unter ihm!«, textet ein
Am Morgen nach unserer ersten Begegnung steht nicht zu ihm in sein Büro kommen. Mehrere Dozent. Professoren drohen mit ihrem Rücktritt,
der Sonderbeauftragte Ghairat mit einer großen Studentinnen unserer Universität haben sich sollte das Bildungsministerium die Ernennung
aufgeschlagenen Kladde am Rande einer Kundge­ deswegen umgebracht. nicht binnen einer Woche widerrufen. Die Taliban
bung von Frauen. Frauen ohne Gesichter. Frauen, Einmal hat mir eine Freundin die WhatsApp- haben die Institution gedemütigt, indem sie einen
die für die Taliban demonstrieren. Nachrichten ihres Professors gezeigt. Er wies sie Mann mit einfachem Bachelorabschluss zum
300 von ihnen, schwarz vermummt, haben in an, ihn nach Seminarschluss in seinem Büro zu Kanzler machten. Noch ist die Universität nicht
den Sitzreihen eines Vorlesungssaals Platz genom­ besuchen. Sie ging hin, er wurde zudringlich. gleichgeschaltet, noch gibt es Widerstand.
men, angeblich Studentinnen. Die Taliban haben Als sie hinausrannte, drohte er ihr, sie aus der »Ich habe mich über viele Jahre auf diesen Posten
die Presse eingeladen, allerdings erreichen sie viele Fakultät zu werfen. Sie drohte, die WhatsApp- vorbereitet!«, sagt Ghairat bei unserem zweiten Ge­
Journalisten nicht, weil ihnen noch die Kontakte Nachrichten mit anderen zu teilen. Sie hat sie spräch. Er ist angespannter als beim ersten Treffen.
fehlen. Ghairat hat den Ablaufplan der Kund­ mir gezeigt. Ich habe andere Professoren darauf Er muss Sorge haben, dass der Protest von außen bei
gebung in der Hand. Ihn begleiten die Spitzen des angesprochen, aber die Dozenten haben bei ­ den Taliban Eindruck macht und seine Position ge­
Bildungskomitees der Taliban, Mullahs, die ihr solchen Vorfällen immer zusammengehalten. fährdet. »Ich sage unseren Kritikern: Lasst uns erst
halbes Leben in Koranschulen in Pakistan ver­ Letztes Jahr ist das Mädchen ums Leben gekom­ mal arbeiten.« Er wolle die Lehre praxisnäher ge­
Blick auf Kabul, wo im August die Taliban einmarschierten
brachten. Sie versprechen sich viel von dieser De­ men. Im November haben drei Islamisten den stalten. Viele Studiengänge seien früher zu theorie­
monstration. Die Bilder werden um die Welt ge­ Campus angegriffen und unser Gebäude ­ lastig gewesen. »Wir müssen jetzt schauen, was wird
hen. »Wir folgen Gottes Gesetz«, deklariert eine gestürmt. Ich hatte Glück, ich war da gerade in zum Aufbau des Landes gebraucht?«
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Alle Fakultäten wolle er nach diesem Prinzip Erde von hier, ihre ganz besondere Zusammen­ schwer, sieht zu Boden, knetet die Hände. »Die
durchforsten. Die angehenden Ingenieure etwa, setzung. Die gibt es nur in Afghanistan. Menschen überschütten mich mit Vorwürfen und
die bisher fast nur hinter dem Computer geses- Ich habe vier Töchter, die mir jetzt schlimme Lügen.« Ehemalige Studienkollegen, die im Ausland
sen hätten, sollten einen Teil ihrer Ausbildung Vorwürfe machen. Sie sagen: ›Papa, wegen leben, bezichtigen ihn, ein durchschnittlicher Student
auf den Baustellen absolvieren. Der Umbau der deiner Forschung können wir nicht mehr zur und übergriffig gegenüber Frauen gewesen zu sein.
Hochschule zur Berufsschule. Das hatten die Schule. Wegen dir können wir nicht mehr »Das sind keine Patrioten«, sagt er. »Das sind Feinde
Taliban schon während ihrer ersten Regierungs- studieren.‹ Jeden Tag habe ich diese Diskussi- unseres Landes und dieser Universität.« Der Krieg
zeit in den Neunzigern propagiert. on zu Hause. Meine Frau wirft mir vor, unser der Hacker tobe, und er könne nichts dagegen tun.
»Ihr müsst jetzt gehen«, sagt Ghairat. »Ihr Erspartes für mein Experiment auszugeben. Auf Twitter tragen mehrere Konten seinen Namen.
haltet mich auf. Ihr habt zu viel meiner Zeit ver- Ich mache mir schwere Vorwürfe. Ich muss so Sie seien fast alle ge­fakt, sagt Ghairat.
braucht. Sogar fünf Minuten davon sind kostbar.« viele Entscheidungen treffen. So viele! Wie Warum er nicht eine Pressekonferenz abhalte,
Anschließend, da haben wir bereits sein Büro kann ich mich unter so einem Druck dazu nicht direkt zur Öffentlichkeit spreche, fragen wir
verlassen, erteilt er uns per Whats­App Campus- entscheiden, mein Land zu verlassen?« ihn. »Die glauben mir ja nicht. Die glauben mir erst,
verbot. Bis auf Weiteres. Er untersagt uns auch den wenn sie sehen, wie ich arbeite.« Er öffnet die abge-
Besuch der mit deutschen Entwicklungsgeldern Mit der Freiheit, die ihr die Kommunisten neh- tragene Aktentasche, die er stets bei sich trägt, fingert
geförderten Bibliothek. So ergeht es allen Journa- men, verliert die Universität in den Achtziger- Dokumente heraus, einige flattern auf den Boden.
listen. Die Kabul University wird Sperrgebiet. jahren ihre Bedeutung. Die intellektuellen Dis- Pläne für die Zukunft der Universität, die angeblich
kurse Afghanistans finden jetzt im Exil statt, im schon sein Vorgänger entwickelt hat und die er,
Im Jahr 1973 – an der Universität werden gerade Iran, in Pakistan, in Europa. Der Anteil der Stu- Ghairat, jetzt umsetzen wolle. Er möchte nicht mehr
die Halbjahres-Prüfungen abgehalten – stürzt der dentinnen steigt auf 40 Prozent, weil große Teile fotografiert werden, aus Angst davor, dass man das
König. Eine tiefe Zäsur nach Jahrhunderten. Der der männlichen Jahrgänge für das Militär zwangs- Foto im Internet manipuliert.
eigene Cousin hat gegen ihn geputscht und zwingt rekrutiert werden. Am Ende des kommunisti- Immer noch finden keine Seminare statt, immer
ihn ins Exil. Er verbietet alle Oppositionsparteien schen Re­gimes, das Land in Trümmern, die Mehr- noch ist der Campus draußen vor Ghairats Büro
und Demonstrationen, lässt aber die Parchamis, zahl der Bevölkerung auf der Flucht, versucht nahezu leer. Die Verhandlungen mit dem Finanz-
den gemäßigten Flügel der Kommunisten, gewäh- Präsident Mohammed Nadschi­bul­lah einen ver- ministerium der Taliban verlaufen schleppend, klagt
ren. Der Pakt mit ihnen hält nicht lange. söhnlicheren Kurs. Er nimmt den Dialog mit den er. Immer noch seien die Gehälter der Dozenten nicht
Die Hardliner unter den Kommunisten put- Gegnern auf, lässt auch auf dem Campus Kritik freigegeben, auch nicht die Aufwendungen für die
schen sich 1978 an die Macht, die Khalqis, die zu. Doch da ist es zu spät. Mit großer Wucht Verpflegung der Studenten. Die Gelder seien da,
aus allen Afghanen im Schockverfahren Atheisten kommt Anfang der Neunzigerjahre der Krieg über hingen aber in der Taliban-Bürokratie fest. »Ich
machen wollen. Im Land der Koranschulen ver- Kabul und über die Universität. hoffe sehr, dass wir sie bald bekommen«, sagt Ghairat
bieten sie die Religion per Gesetz. Viele auf der Der Campus wird zum Schlachtfeld, buch- und wirkt dabei wenig zuversichtlich. Der Sieger von
Universität begrüßen zunächst den Umsturz, stäblich. Die Front verläuft quer durch die­ heute sieht aus wie der Besiegte von morgen.
vorbei die Zeit der Sta­gna­tion. Doch die neuen Kabul University. Zwischen den Gebäuden Wenige Tage später werden die New York T ­ imes
Machthaber, selbst Verschwörer, wittern überall werden Schützengräben und Tunnel ausgeho- und CNN auf eines der falschen Twitter-Profile
Verschwörungen. ben. Es werden Sperrgürtel aus Minen gegra- hereinfallen und verbreiten, Kanzler Ghairat lasse
Der Campus wird zum Ort der Angst. In den ben. Die Uni-Bibliothek mit ihren damals künftig keine Frauen mehr an der Universität zu.
Seminaren finden Säuberungen statt. Oft werden 175.000 Büchern wird gebrandschatzt. Kurz darauf wird sich herausstellen, dass sich ein
Studenten und Dozenten aus dem Unterricht 20-Jähriger aus dem Ausland als Mohammed Aschraf
heraus verhaftet. Die, die später freigelassen wer- Der Propaganda-Krieg in den sozialen Medien Ghairat ausgegeben hat.
den, berichten von Folterungen und Vergewalti- droht den neu ernannten Kanzler zu verschlingen.
gungen. Ein harmloser Witz, das Hören von west- Die Welle der Aufregung scheint ihn zu überra- Als 1996 die Taliban das erste Mal Kabul einneh-
lichen Radiosendern, das Lesen religiöser Schriften schen. Auf einem alten Face­book-­Pro­fil soll er ein men, ist von der Universität nicht viel mehr als ein
reichen, um ins Gefängnis zu kommen. Zehn- Jahr zuvor zur Ermordung von Journalisten auf- Ruinenfeld geblieben. Wenige Hundert Studenten
tausende Afghanen verschwinden in der Zeit, in gerufen haben. Ghairat dementiert das. Er eröffnet kehren hierher zurück. Frauen wird das Studium
der die Hard­liner an der Macht sind. Der erste seinen eigenen Twitter-Account, wehrt sich. »Be- untersagt. Forschung und Lehre sind extrem limitiert.
kommunistische Präsident: im Gefängnis mit ei- ruhigt euch!«, schreibt er dort. Er habe zwar nur Aus dem Lehrbüchern der medizinischen Fakultät
nem Kissen erstickt. Der zweite Präsident: ver- einen Bachelor, dafür aber Erfahrung in den­ werden die Darstellungen menschlicher Körper­
giftet. Provoziert durch den radikalen Kurs, erhe- Untergrund-Ausschüssen der Taliban. Seine Kom- gerissen, weil sie angeblich dem Koran widerspre-
ben sich Teile der Landbevölkerung. Die konser- petenz sei real erworben, im Unterschied zu den chen. Die Mullahs führen Koranunterricht für jeden
vativen Dorfbewohner, die jetzt zu den Waffen vielen, die sich unter dem alten Re­gime akademi- Studenten ein. Der umfasst anfänglich ein, zwei
greifen, nennen sich Mudschahedin. sche Würden nur erkauft hätten. Stunden und in den letzten Jahren ihrer Herrschaft
Im Dezember 1979 werden auch die kom- Dann macht Mohammed Aschraf Ghairat oft den ganzen Vorlesungstag.
munistischen Hardliner gestürzt. Die Truppen der einen Fehler. Er empfängt Dr. Anwarulhak Doch das war nicht das Ende. Noch einmal sollte
Sow­jet­union marschieren ein, um dem Chaos ein Dschabarchail. Ghairat versucht, neue Dozenten sich die Universität erheben, unzulänglich, mit vielen
Ende zu bereiten und Afghanistan unter ihre Kon- anzuwerben, die ihm bei der Islamisierung der Fehlern. Noch einmal wurde sie ab 2001 aufgebaut,
trolle zu bringen. Sie setzen einen Gemäßigten ein, Universität helfen. Es ist unklar, ob er weiß, wen mit viel Euphorie, geplagt von Korruption, durchsetzt
Babrak Karmal. Er lässt, so wird vermutet, den er sich da in sein Büro eingeladen hat. Dschabar- von Machtmissbrauch und doch noch einmal ein
Kanzler der Universität vergiften, weil der dem chail leitet eine NGO, die angeblich versucht, Ort der Hoffnung in einem Land, das in seiner
Hardliner-Flügel angehörte. Er schließt die Scharia-­ ein gesundheitsbewusstes Leben nach den Lehren Die Scharia-Fakultät – der Ort, über den der politische Islam nach Afghanistan gelangte Geschichte so wenig davon besaß: Hoffnung.
Fakultät, an der sich die Islamisten organisiert des Korans zu fördern. Er gibt vor, ein Islamist Zum Abschied sagt ein erschöpfter Moham-
hatten, und die Ingenieurwissenschaften, weil die zu sein, der die Taliban unterstützt, ist aber, med Aschraf Ghairat: »Betet für mich.«
von den USA aufgebaut worden waren. selbst für afghanische Verhältnisse, schlicht
Die Zahl der Verhaftungen an der Universität wahnsinnig.
geht zurück. Sie wird sowjetisch umgebaut. Die Am Tag nach ihrer Zusammenkunft tref-
Dozenten aus dem Westen werden durch Profes- fen wir Dschabarchail in einem Bürogebäude,
soren aus dem Ostblock ersetzt. Marxismus wird das er bislang an eine andere NGO vermietet
zum Pflichtfach. Der Campus wird zum ersten hatte und das jetzt nach der Flucht der Mit-
Mal mit Stacheldraht umzäunt. arbeiter leer steht. ANZEIGE

Nur wenige Meter von der Umfassungsmauer der »Wir haben Fragen des Curriculums disku-
Universität entfernt wohnt Sikrullah Safi, Profes- tiert. Ich werde den neuen Kanzler bei der
sor für Bodenkunde, 53 Jahre alt. Ein vierstöckiger Erstellung der Lehrpläne beraten. Er ist ein

Das Besondere
Plattenbau, noch von den Russen errichtet. Dut- sehr netter Mann. Wir müssen dort vieles
zende Dozenten der Universität leben hier mit umbauen. Warum beziehen sich bei der ­
ihren Familien, zu vergünstigten Mieten. Zugege- Eingangsprüfung von 150 Fragen allein 40
ben, sagt Safi, im Winter sei es etwas frisch, da die auf die Mathematik? Künftig sollten 100
Heizung nicht mehr richtig funktioniere. Er wohnt Fragen zum Islam gestellt werden und

in mir
seit 27 Jahren hier. So lange schon unterrichtet er 50 Fragen zu anderen Themen. Das habe ich
an der Fakultät für Landwirtschaft. Nach der dem neuen Kanzler gesagt.
Machtübernahme durch die Taliban lässt auch er Ich habe viel in meinem Leben nachgedacht.
sich jetzt einen Bart wachsen. Das sei besser so, Sehr viel. So viel, dass ich sagen kann, dass
sagt er. Doch sein Haupthaar trägt er lang, zu­ die Welt nur einen einzigen wahren Philoso-
einem Zöpfchen gebunden. Er ist der führende phen hat, und der bin ich. Die Welt hat auch
afghanische Wissenschaftler auf seinem Gebiet. nur einen einzigen wahren Muslim, und der
bin ich. Der Koran wird häufig missverstan- In jedem Menschen schlum-
»Ich versuche seit zwei Wochen, den Taliban den. Etwa, dass ein Muslim nur vier Frauen mern unentdeckte Talente.
zu erklären, was ein Experiment ist. Morgen heiraten darf. Falsch! In besonderen Fällen
Aber wie kann man diesen
früh habe ich im Bildungsministerium wieder kann er auch mehr heiraten. Ich habe vier
Schatz heben? Machen Sie
einen Termin. Da amtiert seit ein paar ­ Frauen, und meine beste ist die, die ich ­
sich mit ZEIT WISSEN auf
Wochen ein alter Talib als Direktor der heiratete, als sie 13 Jahre alt war. Sie hat
Kontroll­abteilung. Der hat mir beim letzten mich geliebt, ich habe sie geliebt. In Europa die Reise, und entfalten Sie
Mal g­ esagt, er verstehe nicht, was das ist, ein ­ gibt es Gesetze, die es unter Strafe stellen, Ihre verborgenen Potenziale.
Quizbox
Experiment. Er hat zu mir gesagt: ›Bitte erklär Zwölfjährige zu heiraten. Das ist Irrsinn! »Allgemeinwissen«
es mir.‹ Aber wie erklärt man das? Ich denke Der neue Kanzler hat mich auch gefragt, Sichern Sie sich jetzt
Tag und Nacht darüber nach! was er mit der Fakultät der Künste tun soll. die aktuelle Ausgabe
Ich habe vor zwei Jahren eine internationale Ich habe gesagt, schließ sie nicht! Schöne »Verborgene Talente«
Ausschreibung für eine Versuchsanordnung Kunst tut der Gesundheit gut. Aber wenn die und zwei Folgeausgaben
zur Reduzierung von Stickstoff-Emissionen Kunst hässlich ist, dann verbiete sie. Dann für nur 15,– €! Sie sparen
beim Pflanzenanbau gewonnen. Ich habe macht sie die Menschen krank. Er sollte auf 30 % und erhalten als
damals eine Viertelmillion Pfund zugespro- mich hören. Dass die Taliban gesiegt haben, Dankeschön ein hoch-
chen bekommen, das Geld kommt aus Groß- ist mein Verdienst. Allah hat mir 3000 ­ wertiges Geschenk
10 € Thalia-
britannien. Die haben weltweit sieben Teams Engel an die Seite gestellt. Kein Mensch hat Ihrer Wahl. Gutschein
beauftragt, jedes Team in einer anderen Klima­ die Macht, die ich habe.«
zone. Da geht es darum, zu untersuchen, wie
man Düngemittel effizienter einsetzen kann. Auf Facebook und Twitter ist die Empörung

30 %
Die Briten haben das Geld schon vor zwei darüber groß, dass Ghairat diesen Mann emp-
Jahren auf das Konto der Universität über- fangen hat. Es mehren sich Gerüchte, dass die
wiesen, aber ich konnte noch keinen Cent Taliban-Führung Ghairat ablösen will, es kur-
davon abheben. Die alte Verwaltungsspitze
unserer Universität gab mir zu verstehen,
sieren diverse Namen für seine Nachfolge. Noch
einmal treffen wir ihn, bevor wir Kabul verlas-
Ersparnis
dass ich einen Teil der Summe für sie privat sen. Er gestattet uns ein letztes Gespräch. Um- + Geschenk
verwenden solle. Als ich mich weigerte, haben geben von den Insignien akademischer Macht, zur Wahl
sie mich der Bürokratie zum Fraß vorgeworfen. empfängt er uns diesmal im Büro des alten
Und die hat bis zum Sturz der alten Regie- Kanzlers, der mittlerweile nach Deutschland­ Puzzle »Wasserfall Kirkjufell Island«
von Ravensburger
rung die Gelder nicht freigegeben. U ­ nsere geflohen ist. Er hat die dunkle Kleidung abge-
alte Verwaltung war so korrupt. legt, die er bei unseren ersten beiden Begegnun-
Ich habe mit eigenen Mitteln meinen Versuch gen trug, und trägt nur noch Weiß, die Farbe
begonnen, auf einem Feld in einem Vorort der Würde. Doch machtvoller wirkt er keines-
von Kabul. Der neue Kanzler hat mir seine wegs. Da ist kein Triumph mehr in seinen Augen, Jetzt selbst lesen oder verschenken:
Hilfe versprochen, aber jetzt beantwortet er
meine Anrufe nicht mehr. Ich habe abgelehnt,
kein Sendungsbewusstsein. Er ist kein Jäger
mehr, er ist ein Gejagter.
www.zeit.de/zw-talente  040/42 23 70 70*
*Bitte die folgende Bestellnummer angeben: 2044726 FA / 2044727 GA
ins Ausland evakuiert zu werden – wegen Ghairat gibt zu, dass er Dschabarchail getroffen
dieses Projekts. Ich kann diese F­ orschung hat, der in Kabul als Kinderschänder gemieden
nicht im Ausland betreiben. Ich brauche die wird, geht aber nicht weiter darauf ein. Er atmet

110493_ANZ_220x220_X4_ONP26 1 08.10.21 14:45


20 LESERBRIEFE 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Zur Ausgabe Nr. 40 Weitere Leserbriefe finden Sie unter


blog.zeit.de/leserbriefe

Wichtiges Thema, Keiner wollte


falscher Platz
Gespräch über die Krankheit
Sündenbock Baerbock »Papi« Armin
Mariam Lau: »Und was
Endometriose  ZEIT NR. 40 Elisabeth Raether: »Kunstfigur einer Kandidatin«  ZEIT NR. 40 wird aus mir?«  ZEIT NR. 40

Ich empfinde es als eine Unverschämtheit, dass Sie haben die Problematik von Frau Baerbocks Kan- doch jeder und jedem klar gewesen sein, dass, wer Eindruck, Frau Baerbock sei unangebrachter, Das Verhalten von Armin Laschet und vielen
Sie den sehr wichtigen Artikel über Endometrio- didatur auf den Punkt gebracht. Wie unzulänglich die Grünen wählt, Annalena Baerbock und Ro- härtester Kritik ausgesetzt, während Herr Laschet CDU/CSU-Politikern gegenüber dem Wahl-
se in der Rubrik »Unterhaltung« veröffentlich- waren oft die beiden Männer, dennoch lagen sie in bert Habeck bekommt. Wo war also das Problem? sich um seine Fehler nicht scheren müsse. Beides ergebnis ist ein fürchterliches Signal an die
ten. Für Frauen, die unter dieser Ge­bär­mutter­ Umfragen immer vorne. Die Kinkerlitzchen, die Leider gehen auch Sie am Ende des Artikels in die scheint mir vollkommen unzutreffend zu sein. Bürger dieses Landes, welches der Lüge und
erkran­kung leiden, ist das ein Schlag ins Gesicht! Frau Baerbock unterliefen, stehen in keinem Ver- gleiche Falle wie viele vor Ihnen. Schauen Sie sich Herrn Laschets Tage dürften gezählt sein, Frau einem unsittlichen Verhalten Auftrieb gibt.
BARBAR A GÜNTHER , MALCHOW hältnis zum Versagen der CDU/CSU in der Corona- bitte das letzte Wort Ihres Artikels noch mal an Baerbock wird vielleicht bald sogar die erste deut- Meiner Meinung nach verstößt dieses Geba-
Krise und zur Cum-Ex- und Wirecard-Problematik – ich finde: Wenn hier jemand »gescheitert« ist, sche Außenministerin.  MICHAEL WEYAND, MAINZ ren auch gegen die Rechtsordnung unseres
Wie kann es denn sein, dass ein derart wichtiger von Herrn Scholz. Armes Deutschland! Wir werden dann diejenigen, die sich haben verunsichern Landes: Es verdreht eindeutig die Wahrheit
Artikel auf einer Seite namens »Unterhaltung« weiter in die Klimakrise schlittern, weiter den Still- lassen. Annalena Baerbock verdient Applaus von Sie haben mir vielfach aus dem Herzen gespro- und lässt der Lüge freies Spiel. Trump lässt
erscheint? Gelten Frauenkrankheiten in der stand verwalten mit der geballten Kompetenz der allen, die es ernst meinen mit den Klimaschutz- chen: Die Grünen und ihre Wähler sollten nicht grüßen ... PETER L AVES , GELSENKIRCHEN
ZEIT nur als Gedöns? Männer – man muss die »Argumente« nur mit so- zielen und dem Handlungsbedarf. aus »Baerbock« ein »Sündenbock« machen. Das
HELGA SCHNEIDER-LUDORFF, OBERURSEL norer Stimme vortragen. G ABRIELE KRAUS, FALKENSEE ANTJE BOECK , PER E-MAIL wäre nicht nur sehr ungerecht, sondern auch sehr Wer in der Branche der erneuerbaren Ener-
unklug. Es gibt ja eine Reihe großer Figuren der gien durch das Wirken der CDU/CSU seinen
So wichtig ich es finde, dass das Thema Endo- Abstrus ist Elisabeth Raethers Versuch, den un­con­ In dem Artikel wird unter anderem behauptet, dass Geschichte, die erst nach Tiefpunkten und Nie- Arbeitsplatz verloren hat, denkt dabei sicher-
metriose einen Platz in Ihrer Berichterstattung scious bias als die zentrale Erklärung für das relative viele Wählerinnen und Wähler es Annalena Baer- derlagen zur Größe aufgestiegen sind, weil erst lich auch an Herrn Laschet, denn der war in
findet, so misslungen finde ich die Aufmachung. Scheitern Baer­bocks heranzuziehen. Unzweifelhaft bock nicht zugetraut haben, die nächste Bundes- dann die Zeit für sie reif war. Die Tragik ist nur, NRW voll dabei! Empörend ist, dass sich in
Es ist unmöglich, wie unterschiedlich der Raum gibt es das Phänomen. Aber die Autorin unterstellt, regierung anzuführen, weil sie eine Frau sei. Die dass das Klima uns keine vier Jahre mehr Zeit der CDU/CSU niemand klarmacht, dass die
ist, den Sie in der Printausgabe den Fotos der dass alle Nicht-Grünen-Wähler damit geschlagen naheliegende Möglichkeit, dass Annalena Baerbock lässt. Wir können also nur hoffen, dass auch die Partei hier über Jahre ihre eigene Klientel
Frauen geben. Auf zeit.de stehen beide Fotos sind. Sie unterteilt die Menschen in eine Gruppe von vielen nicht gewählt wurde, weil sie im Gegen- grüne Regierungsbeteiligung und das Gewissen (Mittelstand und kleine Unternehmer in Bür-
gleich groß ne­ben­ein­an­der, entsprechend dem der Aufgeklärten und in eine, deren Wahlentschei- satz zu Robert Habeck bisher über keinerlei Regie- der anderen Parteien ausreichen, um zumindest ger-Energieprojekten) ge- und enttäuscht hat.
Raum, den beide Frauen im Interview einneh- dung von nicht erkannten sozialen Vorurteilen be- rungserfahrung verfügt, wird hingegen mit keinem so viel zu tun, dass der Rest in vier Jahren über-  DR . DIRK BADE, MÜNCHEN
men. In der Printausgabe erscheint das Bild der stimmt ist. Könnte es nicht aber sein, dass viele Wort erwähnt. Für einen ZEIT-Beitrag finde ich haupt noch zu schaffen ist.
Patientin (weil Model und Influencerin) mehr Wählerinnen und Wähler Baer­bock zwar verstehen eine derart einseitige Argumentation sehr enttäu- DR . PETER SELMKE, PER E-MAIL Ich bin mir nicht sicher, ob das Wort »unterphi-
als zehnmal so groß wie das der Ärztin und und selbst auch klimabesorgt sind, aber Baer­bocks schend. INGO SCHOLZ, PER E-MAIL losophiert« von Herrn Röttgen stammt oder
Expertin. Der Artikel ist lesenswert, aber bitte Schlussfolgerungen nicht teilen? Weil sie zu dem Ihr Artikel hat mir einiges aufgezeigt, was ich so ihm von Frau Lau in den Mund gelegt wurde.
achten Sie in Zukunft auf eine ausgewogenere Ergebnis gelangen, dass Baer­bocks grüner »lösungs- Sie klagen darüber, dass eine Kandidatin angeblich nicht gesehen hatte: dass Frauen keinen Vertrau- Jedenfalls war für jeden offensichtlich, dass, im
Darstellung. EVA MAS SARO, FREIBURG orientierter Ansatz« Entscheidungen mit sich brin- unter der »unbewussten Voreingenommenheit« ensvorschuss bekommen wie männliche Politi- Gegensatz zu Röttgen, weder Herr Laschet noch
gen würde, die den eigenen Interessen entgegen- gegenüber ihrem Geschlecht leide. Das halte ich ker. Aber ich fand Baerbocks Auftreten peinlich Herr Söder über ein kohärentes Konzept zur
stehen? Ich habe die Grünen nicht gewählt – wegen angesichts der Geschehnisse am Wahltag für eine narzisstisch, und immer wieder mal »sorry, sorry« Bewältigung der anstehenden Herausforderun-
dem, was sie »machen, machen, machen« (Raether) recht abenteuerliche Wahrnehmung der Realitäten: zu nuscheln macht es nicht besser. Dieser sehr gen verfügten. Herr Merz mag eine Art Konzept
Besser bauen wollen, nicht, wegen ihres moralischen Überlegen-
heitsgestus nicht. Dass Annalena Baerbock eine Frau
In Berlin gewannen zwei Frauen (Frau Giffey und
Frau Jarasch) die Wahl, in Mecklenburg-Vorpom-
pragmatische Politikstil war nicht das, was ich
von der grünen Kanzlerkandidatin erwartete. Ich
gehabt haben, welches aber eher an einen Faust-
keil erinnerte und daher berechtigte Zweifel an
C. Parnack/M. Rohwetter: »Wer ist/angeblich zu einer Kunstfigur stilisiert worden mern siegte Frau Schwesig haushoch, und durch die wollte etwas Übergeordnetes hören, wie die Welt seiner Eignung für das Amt des Bundeskanzlers
ist/nicht perfekt ist – all das hat mich nicht interes- Wahl zum Bundestag wird eine Kanzlerin abgelöst, und wir uns verändern werden müssen. Wie wir erweckte. Grotesk und beunruhigend sind auch
will da noch bauen?«  ZEIT NR. 40 siert. KL AUS KES SLER , BIELEFELD die nach 16-jähriger Regierungszeit weltweit höchs- das schaffen. Was schön daran sein kann. Und die Mechanismen, welche innerhalb der ver-
tes Ansehen genießt. spannend. meintlich letzten Volkspartei zwei ideenlose
»Wer will da noch bauen?«, fragen Sie angesichts Ich habe auch das Klagen über die angeblich fal- Dennoch erkennen Sie nur Diskriminierung und Das macht dann eher Robert Habeck. Personen ins Finale um die Kanzlerkandidatur
des Berliner Votums für die Enteignung profit- sche Kandidatin nie verstanden, denn es muss Benachteiligung von Frauen und erwecken den KRISTIN FALK , PER E-MAIL befördert haben und von diesen den eindeutig
orientierter Immobiliengiganten. Antwort: aussichtsloseren »gewinnen« ließen. Die CDU
Bauen werden die landeseigenen Unternehmen! sollte also nicht nur über Inhalte nachdenken,

High sein, frei sein? Lieber nicht!


Bereits in den letzten Jahren investierten sie ei- sondern auch den Prozess der Kandidatenkür
nen ungleich höheren Anteil ihrer Mietein- reflektieren. DR . CHRISTIAN VOLL, PAS SAU
nahmen in Neubau als die Enteignungskandida-
ten. Den sozialen Wohnungsbau dominieren Laschet versuchte, den Obermerkel zu spielen.
die landeseigenen Unternehmen mit einem Aber die Mehrheit hatte genug von »Mutti« und
Anteil von fast 90 Prozent. Wer bezahlbaren Alard von Kittlitz: »Was rauchen unsere Kinder da für Zeug?«  ZEIT NR. 40 wollte nicht den »Papi« als Ersatz. Die hellen
Wohnraum will, muss den öffentlichen Sektor Kerzen auf der Torte, Carsten Linnemann, der
stärken.  K ARL KELSCHEBACH , BERLIN Görlitzer Michael Kretschmer und der sachsen-
Ich finde es enttäuschend, dass im Artikel zwar lang rung vernünftiger Liberalisierungsbefürworter be- Drittens weiß man beim besten Willen nicht mehr, anhaltische Reiner Haseloff, müssen nun ver-
Anstelle der Übernahme von Wohnungen für und breit die Probleme analysiert werden, aber der gründet. Keine Legalisierungsverfechterin möch­te welchen synthetischen Scheiß man sich da ins Hirn suchen, den alten Tross zur Be­deutungslosigkeit
sehr viel Geld wäre es doch sinnvoller, wenn die Elefant im Raum nicht angesprochen wird: die Jugendliche auf der Straße sehen, die von Dealer*in- ballert. Der Artikel sollte Grundlage einer umfas- zu verdammen. Denn sonst geht das ganze Spiel
Städte mit ihren Wohnungsbaugesellschaften Legalisierung von Cannabis. Damit hat der Beitrag nen verkaufte synthetische Cannabinoide konsumie- senden Kampagne sein, um die Präventionsdebatte immer weiter. Wenn ich nur die Pferde wechse-
selbst neuen Wohnraum schaffen würden. Die nicht mehr Schlagkraft als die Drogenpolitik der­ ren. Gerade deswegen wird ja eine kontrollierte und etwa in Schulen zu führen. le, aber das Gespann und den alten Wagen
Städte haben einen besseren Zugang zu den zur Union: »Cannabis ist kein Brokkoli.« Dass ein Ver- somit transparente Abgabe an Konsument*innen Ich bin allen Göttern dankbar, dass unser Sohn die weiter verwende, ändert sich nichts.
Verfügung stehenden Flächen; Ressourcenver- bot die dargelegten Probleme nicht zu lösen vermag, ab 21 Jahren gefordert. durch Cannabis vielleicht nicht hervorgerufene, DR . DETLEF RILLING, SCHARBEUTZ
brauch und Ökologie müssen optimiert werden. haben die letzten Jahre gezeigt. Nur ein staatlich Falls Sie eigentlich ebenfalls zu den Befürworter*in- sicher aber verstärkte Depression überwunden hat.
Überbaute Flächen müssen auch mehrfach ge- kontrollierter Verkauf schafft es, den Konsum sicher nen gehören, ist Ihnen mit diesem Artikel eine Es wäre wünschenswert, wenn die Debatte sehr viel Im Tierreich wird der Verlierer häufig ausge-
nutzt werden können (Wohnen, Verkehr, Han- zu machen und dem Jugendschutz gerecht zu­ tolle journalistische Finte gelungen – Chapeau!  weiter in die Gesellschaft hineingetragen würde. setzt oder gar getötet – christlich ist das nicht.
del, Produktion, Erholung). Auch müsste der werden. ELIAS ZELTNER , PER E-MAIL DR . DANIEL HAMMER , MANNHEIM DIETER SCHÖNEBORN , PER E-MAIL Armin Laschet hat gekämpft, so gut er konn-
Bund die Anweisung erteilen, dass die Bundes- te. All diejenigen, die nun finden, sie hätten
behörden etwa die Überbauung von Bahntras- Ich danke Herrn von Kittlitz von ganzem Herzen Endlich mal ein Artikel, der den Cannabisgebrauch Ende der Sechziger- bis Anfang der Siebzigerjahre es besser gemacht, hatte man nicht gewollt:
sen und Straßen konstruktiv ermöglichen. für seinen erhellenden Beitrag, der den verharmlos- nicht verharmlost, sondern auch wissenschaftlich habe ich THC-haltige Substanzen zu mir genom- Sie sollten sich fragen, warum.
Solche Über­legungen waren schon vor 50 Jah- ten Cannabiskonsum hoffentlich endlich von sei- belegbare Auswirkungen des Konsums aufzeigt. men. Immerhin habe ich erst mit Mitte zwanzig DR . URSUL A AUGENER , PER EMAIL
ren Gegenstand des Stadtplanungsstudiums. nem supercoolen Podest holen wird. Gras kann eben Man beachte die Aussage zu verstärkt auftretenden damit angefangen. Schäden davon sind mir nicht
Man wundert sich, warum derzeit über grund- doch abhängig, krank und dumm machen. Der Text Psychosen, die das Leben des Betreffenden und geblieben, aber ganz unproblematisch war das da-
sätzliche Gestaltungsansätze gar nicht mehr dis- sollte für Mittelstufenklassen zur Pflichtlektüre seines oder ihres sozialen Umfeldes schwer belasten. mals auch nicht immer. Qualität und Maß waren
kutiert wird. K ARLHEINZ MARTIN , ELT VILLE werden, ehe sie sich daranmachen, ihre Hirnrinde Es wäre wünschenswert, die Suchtberatungsstellen und sind da wohl ausschlaggebend. Und dem heu-
auszudünnen.  ANJA GERSTBERGER , PER E-MAIL würden neben der Aufklärung über den sicheren te in Umlauf gebrachten Zeug sollte man nicht vor- IHRE POST
Umgang mit Drogen den Aspekt der fatalen nega- behaltlos vertrauen.
Mit Bedauern habe ich Ihren leicht tendenziösen tiven Auswirkungen be­tonen.  Mehr als 20 Jahre nach diesen Erfahrungen wollte erreicht uns am schnellsten unter der
Artikel zur Kenntnis genommen. Sie weisen zwar SUSANNE KNÖTSCHKE, PER E-MAIL ich noch mal wissen, wie ich wohl auf THC reagie- E-Mail-­Adresse leserbriefe@zeit.de. Mit der
BEILAGENHINWEIS explizit darauf hin, dass Ihr Beitrag nicht im Bezug re. Ich weiß nicht mehr, wie ich das Stückchen Ha- Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis,
zur politischen Liberalisierungsdebatte steht. Jedoch Dieser sehr einleuchtende Artikel greift ein Thema schisch konsumierte, jedenfalls ging ich zum Ein- Ihren Brief in der ZEIT, deren digitalen Aus-
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikationen legen die Auswahl der von Ihnen vorgebrachten Stu­ auf, das gerne unter den Tisch gekehrt wird. Can- kaufen, als die mir bekannte Wirkung einsetzte. gaben und im Leser-Blog auf www.zeit.de
in einer Teilauflage: Leipzig Tourismus und Mar- dien, die von Ihnen genannten Expert*innenstim- nabis ist bei Weitem nicht die harmlose Hippiedro- Orien­tie­rungs­pro­ble­me hatte ich nicht, aber blitz- unter Nennung Ihres Namens und des
keting GmbH, 04109 Leipzig; Denner AG, Wein- men und insbesondere der bewusst angstmachende ge – high sein, frei sein, ein bisschen Haschisch muss artig kam mir in den Sinn, dass die eingetretenen Wohnortes zu veröffentlichen. Für den
führer, CH 8045 Zürich; Biber Umweltprodukte Fokus auf Kinder als gefährdete Konsument*innen dabei sein –, die wir Älteren gerne auch nostalgisch Fantasien und Gedanken gar nicht auf meinem Inhalt sind Sie als Einsender verantwortlich;
Versand GmbH, AT 6850 Dornbirn; Madeleine nahe, dass Sie eine konservative (Verbots-)Stimme verklären. Erstens werden die Konsumenten immer eigenen Vermögen, sondern auf der Wirkung dieses die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung
Mode GmbH, 90513 Zirndorf; Mey & Edlich in die Debatte einbringen möchten. jünger, und so greift die Droge tiefer in das sich ver- Zeugs beruhten. Und das hat mich in der Einstel- und redaktionelle Bearbeitung vor. Zudem
GmbH, 04227 Leipzig; Möbel Höffner, 12529 Dabei scheinen Sie nicht zu bemerken, dass Ihre ändernde Gehirn der Pubertierenden ein. Zweitens lung bestätigt, endgültig die Finger davon zu lassen. können Sie die Texte der ZEIT auf Twitter
Schönefeld. breit ausgerollte Argumentation die zentrale Forde- wird sie immer stärker und macht schlicht dumpfer.  CHRISTOPH MÜLLER-LUCK WALD, BINGEN diskutieren und uns auf Face­book folgen.

Wenige Tage nach seinem 97sten Geburtstag, den wir in trauter


Runde feierten, starb plötzlich und unerwartet am 1. Oktober 2021 unser
hochverehrter Lehrer, grenzenloser Förderer und väterlicher Freund
Was bleibt?
Mein Erbe. Für
Professor Dr. med. Werner Janssen unsere Natur.
Ehemaliger Direktor am Institut für Rechtsmedizin Hamburg
Mitglied der Leopoldina
Liegt Ihnen auch die Vielfalt der Natur besonders am Herzen?
Deine Schüler werden Dich in dankbarer Erinnerung halten.
Die Bienen helfen uns. Helfen Sie mit, be­ der gemeinnützigen Heinz Sielmann Stiftung.
drohte Tierarten und Lebensräume unserer Wir fördern Natur­ und Umweltschutz sowie
Heimat auch für nachfolgende Generationen das Naturerleben – ganz besonders für Kinder.
Prof. Dr. med. Bernd Brinkmann zu schützen und den Verlust der Artenvielfalt Ein kostenfreier Ratgeber zum Thema Testa­
Prof. Dr. med. Manfred Kleiber zu stoppen. Mit einem Testament zu Gunsten ment und Engagement liegt für Sie bereit.
Prof. Dr. med Klaus Püschel
Rufen Sie uns gerne an: Telefon 05527 914 419 | www.sielmann-stiftung.de/testament
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 GESCHICHTE 21

A
m frühen Morgen des 3. Okto- bleiben müssen und somit die Herero nicht zwingen
ber 1904 herrscht reger Betrieb konnte, die Kolonie zu verlassen, wie er an Reichs-
in Osombo-Windimbe, einer kanzler Bernhard von Bülow schrieb.
kleinen Wasserstelle im Osten Bülow war alarmiert. Er fürchtete negative Reso-
Namibias, die nicht einmal in nanz in der internationalen Presse, zumal der Aufruf
der deutschen Kriegskarte ver- in allzu krassem »Widerspruch mit den Prinzipien
zeichnet ist. Die »Kaiserliche des Christentums und der Menschlichkeit« stand.
Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika« bricht Als der Kaiser überzeugt und mit Schlieffen der ge-
die Zelte ab, um nach Monaten im Feld gegen die naue Wortlaut ausgehandelt war, ging am 8. Dezem-
OvaHerero in die Hauptstadt der Kolonie,­ ber ein Telegramm ab, das Trotha befahl, »den sich
Windhoek, zurückzukehren. Gegen 6.15 Uhr lässt freiwillig stellenden Hereros gegenüber Gnade [zu]
der Kommandeur, Generalleutnant Lothar von üben«, also den eingeschlagenen Kurs zu ändern.
Trotha, die Truppen antreten. Sie sollen Zeugen Ironischerweise unterschätzte Schlieffen Trothas
der Erhängung von zwei gefangenen OvaHerero Macht über die OvaHerero. Denn in der Zwischen-
werden – eines Spektakels, das den Soldaten nichts zeit hatte sich gezeigt, dass viele OvaHerero weder
bietet, was sie in diesem Krieg, der seit fast acht englisches Gebiet erreichen würden noch in der Lage
Monaten wütet, nicht schon gesehen hätten. Ver- waren, in der Omaheke zu überleben. Die Schwelle
mutlich hält der Offizier Franz Epp das Ereignis zum Völkermord war endgültig überschritten, als
nur deshalb in seinem Tagebuch fest, weil es den Trotha im Wissen um die Folgen auf der Durch-
Auftakt zu einem weiteren, durchaus un­ge­wöhn­ Lothar von Trotha
führung seiner Befehle beharrte. Er wollte die Ova-
lichen Vorgang bildet. Ein »Aufruf an das Volk der (1848–1920),
Herero verschwinden machen, um die Scharte seines
Herero« wird an »30 gefangene alte Männer, Wei- Kommandeur
militärischen Versagens auszuwetzen.
ber u[nd] Kinder« verteilt, die sodann »in alle Win- der »Kaiserlichen
Dass es in Berlin brodelte, ahnte Trotha schon
de« entsandt werden, um die übrigen OvaHerero Schutztruppe«
länger. In einem persönlichen Brief an Dietrich von
wissen zu lassen, dass sie »nicht mehr deutsche in der Kolonie
Hülsen-Haeseler, den Chef des Militärkabinetts Wil-
Untertanen« seien und das Land verlassen müssten Deutsch-Südwest-
helms II., hatte er sich bereits am 7. Dezember bit-
und dass innerhalb der Grenzen fortan »jeder Here- afrika 1904/05
terlich beschwert, dass seine Anfragen unbeantwortet
ro mit und ohne Gewehr [...] erschossen« würde. blieben und sich der Reichskanzler in militärische
Unterzeichnet hat Trotha den Aufruf als »Der gro- Angelegenheiten einmische. Wie dieser Brief aus dem
ße General des mächtigen deutschen Kaisers«. Nachlass zeigt, fürchtete Trotha, die Gunst des Kai-
Heute ist das Dokument unter dem miss­ sers verspielt zu haben. Als sich diese Befürchtung
verständlichen Titel »Vernichtungsbefehl« geläufig, mit dem Telegramm vom 8. Dezember zu bestätigen
obwohl er in Otjiherero verfasst und an die »aufstän- schien, sank ihm der Mut: »Wenn ich doch einen
Foto: M. Bätz/bpk; kl. Foto: Otto Ziegler/Arthur Koppel Aktiengesellschaft (u.)

dischen« OvaHerero gerichtet war, denen Trotha Grund wüsste, die ganze Sache hinzuwerfen«, schrieb
nichts zu befehlen hatte. Gleichwohl wird daran er unter dem Datum des 13. Dezember. Das Tele-
deutlich, wie wenig der deutsche Feldzug als »nor- gramm hatte ihm auf die Gesundheit geschlagen,
maler Kolonialkrieg« gelten kann – was immer das und allerlei Leiden sollten ihn bis zu seiner Heimkehr
heißen mag. Hier wurde ein ganzes Volk expatriiert, plagen – doch er vertraute sie nur seinem Tagebuch
seine Mitglieder wurden für vogelfrei erklärt. Und an. Sich krankzumelden war unter seiner Würde.
selbst wenn dies zunächst auf Vertreibung zielte, war
es zur physischen Vernichtung nur ein kurzer Schritt. Immerfort versuchte der General,
Zu Recht gilt Trotha, der von Mai 1904 bis Novem- sich der Gunst des Kaisers zu versichern
ber 1905 an der Spitze der Kolonialtruppen in
Deutsch-Südwestafrika stand, als Hauptverantwort- Mit den Rückschlägen kamen die Konflikte. Nach
licher des ersten Völkermords des 20. Jahrhunderts. dem Misserfolg am Waterberg überwarf er sich mit
seinem wichtigsten Untergebenen, Stabschef Beau-
Trotha war überfordert – und kabelte lieu; die Auseinandersetzung mit Gouverneur Leut-
Siegesmeldungen nach Hause wein füllte eine eigene Akte in Berlin, und der zwi-
schenzeitliche Kommandeur im Süden der Kolonie,
Trothas Taten sind dokumentiert. Aber wer war der Berthold Deimling, warf Anfang 1905 entnervt hin.
Mann, der sie beging? Abgesehen von vereinzelten Je deutlicher sich zeigte, wie überfordert Trotha war,
Bemerkungen von Zeitgenossen, ist wenig über ihn desto größer wurde sein Unmut über die besser aus-
bekannt, und die meisten seiner persönlichen Auf- gebildeten Generalstäbler. Gegen Schlieffen hegte er
zeichnungen waren bisher kaum zugänglich. Hundert einen besonderen Groll: »Als Generalstäbler macht

Ein grausamer
Jahre nach seinem Tod im März 1920 hat der­ er mich lachen. Kaisermanöver mag er anlegen kön-
Familienverband von Trotha nun den vollständigen nen, und die große Cavallerie Attacke deichseln«,
Nachlass, der Tausende Seiten und zahlreiche Foto- aber vom eigentlichen Krieg verstehe er nichts. »Hier
grafien umfasst, zur Auswertung und Edition freige- helfen nur brutale Mittel«, besann sich der Tagebuch-
geben, wobei die Tagebücher, die Trotha während schreiber auf seine Kernkompetenz. Als Reichs-
seiner Einsätze in Deutsch-Ostafrika (1894–97), kanzler Bülow am 5. Dezember im Reichstag er-
China (1900–1901) und Deutsch-Südwestafrika klärte, man sei weder so grausam noch so töricht, die

Höfling
(1904–1905) geführt hat, von besonderem Interesse OvaHerero erbarmungslos niederzumachen, fühlte
sind. Das Editionsprojekt – geleitet von den Ver- sich Trotha sofort angesprochen. Bülows Worte seien
fassern dieses Beitrags – wird von der Deutschen For- eine »persönliche Beleidigung«, schrieb er Hülsen-
schungsgemeinschaft gefördert und ist am Bochumer Haeseler am 15. Januar 1905. Nur der Einspruch des
Institut für Diaspora- und Genozid­forschung an­ Kaisers verhinderte ein Duell.
gesiedelt. Vermag der Nachlass Licht auf die Person Zugleich vernachlässigte Trotha nie die Soft
Lothar von Trotha zu werfen? Skills des Höflings. Immer wieder wandte er sich
1848 als Spross einer Adelsfamilie und Sohn Hilfe suchend an Vertraute aus der kaiserlichen­
eines Berufsoffiziers geboren, war Trotha die Militär- Lothar von Trotha ließ 1904 die OvaHerero in den Tod treiben. Nun ist Entourage, an den Generaladjutanten Hans von
laufbahn vorgezeichnet. Die zu Beginn des 19. Jahr- Plessen und vor allem Hülsen-Haeseler – oft wegen
hunderts geschaffene Preu­ßische Kriegsakademie, sein Nachlass erstmals vollständig zugänglich. Was verrät er über den Mann, Nichtigkeiten, aber immer in bewegten Worten.
die einen handverlesenen Kreis junger Offiziere auf »Das ist zu viel. Ich gebe hier die letzten 5 Jahre
höhere Stellungen vorbereitete, und der später ge- der zum Völkermörder wurde?  VON MATTHIAS HÄUSSLER UND ANDREAS ECKL meines Lebens hin, ohne Murren und ohne mit der
gründete Große Generalstab trieben die Professio- Wimper zu zucken«, klagte er Hülsen-Haeseler sein
nalisierung des Offiziersberufs unaufhaltsam voran. Leid und monierte den fehlenden Rückhalt des
Anders als viele seiner Unter­gebenen jedoch durch- Kaisers sowie höherer Stellen.
lief Trotha keine dieser Institutionen. Er war ein Granden stützte, galt durch den im Januar 1904 ent- lometer verfolgt und konnten nicht mehr. Ha!« Sein Blick blieb stets auf die Metropole gerichtet,
Haudegen, der sich seine Sporen in den Einigungs- brannten »Aufstand« der OvaHerero als gescheitert. Schwäche einzugestehen kam ihm nicht in den Sinn; auf den Kaiser und die öffentliche Meinung. Noch
kriegen von 1866 und 1870/71 und später in den Militärisch war Leutwein indes keinesfalls erfolglos. nur seinem Tagebuch vertraute er am 13. August an: in den schwierigsten Lagen und entlegensten Win-
Kolonien verdiente. In einer Reihe von Gefechten erzielte er im April »Es sieht so aus, als ob es mir zu viel wird.« In die keln fand Trotha die Muße, Zeitungen und Illus-
Die neu zugänglichen Dokumente zeigen einen 1904 ein strategisch günstiges Patt: Die Zeit arbei- Heimat drahtete er dagegen Siegesmeldungen. trierte zu studieren und auf Spitzen gegen seine Per-
Mann, den das Kriegshandwerk allein nicht aus- tete gegen die OvaHerero, die ihre Verluste nicht so Auch Trothas weitere Direktiven waren »mehr son zu prüfen. Das Tagebuch zeigt, dass ihn die öf-
gefüllt zu haben scheint. Selbst in den schwierigsten rasch wettmachen konnten. Mit diplomatischen oder minder nur für Berlin berechnet«, gab sein Stabs- fentliche Meinung im Reich oft mehr interessierte
Lagen in Südwestafrika fand er Zeit für seine­ Mitteln hätte sich nun ein günstiger Friedensschluss chef Martin Chales de Beaulieu später zu. Die Ova- als die kriegerische Lage am Ort.
Hobbys: Er war ein Jäger und Sammler, ein pas- erzielen lassen können. Doch Berlin war an Verhand- Herero waren nicht mehr einzuholen und immer Der Guerilla-Krieg der Nama im Süden der Ko-
sionierter Reiter, Fotograf und ein dilettierender lungen nicht gelegen; man erwartete einen Totalsieg, einen Schritt voraus. So auch am 28. September, als lonie zeigte ihm vollends seine Grenzen auf. Dieser
Geologe, Zoologe und Botaniker. Im Anschluss an und den war Leutwein schuldig geblieben. Diese Trotha einmal mehr auf eine Entscheidungsschlacht Krieg war nicht mehr sein Krieg. Er resignierte, seine
seine Einsätze in Ostafrika und China, wo er an der Aufgabe fiel im Mai 1904 Lothar von Trotha zu. Überlebende OvaHerero. Zehntausende gehofft hatte, um am Abend resigniert festzustellen: Tagebucheinträge fielen immer kürzer und nichts-
brutalen Niederschlagung des Boxer-Aufstands Über die Situation in der Kolonie klärten ihn fielen dem Genozid zum Opfer »Landschaftlich war das Gefecht sehr schön, militä- sagender aus. Nach seiner Heimkehr wurde er mit
beteiligt war, nahm er mehrmonatige Auszeiten, um Leutweins »Schilderungen über die Entstehung des risch 0.« Der Feldzug verlief sich buchstäblich im Auszeichnungen überhäuft, aber von den höchsten
Zentral­afrika und Japan zu bereisen. Ein Vokabel- Krieges« auf. Kritisch merkte der Gouverneur darin Sand der Omaheke. Ende September waren die Nach- Kreisen gemieden. Verbittert nahm er seinen Ab-
heft aus der Zeit in Ostafrika belegt, dass er außer- an, dass Mord und Totschlag »an der Tagesordnung schubwege derart überdehnt, dass die Truppen keinen schied und redete sich bei öffentlichen Anlässen um
dem intensiv Englisch lernte. und ein Sonntagsnachmittagsvergnügen der [deut- Schritt mehr weiterkonnten. Erst dann vollzog Trotha Kopf und Kragen, indem er den angeblichen Undank
So breit seine Interessen gefächert waren, so schen] Ansiedler« gewesen seien. Trotha fand Leut- einen Strategiewechsel. »Verfolgen tue ich nicht der Heimat geißelte. Keines der nach seiner Heimkehr
wenig gingen sie in die Tiefe. »Armer Mann trotz weins Ausführungen durchaus »plausibel«, wie er am mehr«, heißt es im Eintrag vom 29. September, der entstandenen Fotos zeigt ihn mehr in Uniform.
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Deiner 150.000 Mark Gehalt«, urteilte der Offizier 22. Juni notierte. Letztlich aber interessierte er sich mit den Worten endet: »I’m so tired.« Eine kriegerische Was für ein Bild Trothas zeichnet der Nachlass?
Victor Franke. Ein anderer Offizier, der ebenfalls in nicht für die Ursachen des Konflikts. Er wollte­ Entscheidung war nicht mehr zu erzwingen. Trotha Das Bild eines so eitlen wie unsicheren Mannes, der
Südwest unter ihm diente, Ludwig von Estorff, be- zurückschlagen, und das mit aller Härte: »Jede an- ließ deshalb die bekannten Wasserstellen am Westrand sich immerfort der Gunst des Kaisers und des Beifalls
schrieb ihn als einen »Mensch[en] der Oberflächlich-
keit und des Scheins«. Weltläufig, breit interessiert
dere Idee, hier Ruhe zu stiften, anders, als mit Strö-
men von Blut, ist falsch«, führte er in seinem Tage-
Jetzt am Kiosk! der Omaheke besetzen, um ein Zurückströmen der
OvaHerero zu verhindern.
der Öffentlichkeit zu versichern suchte; der sich zu
Höherem berufen fühlte, ohne seinen Aufgaben recht
und von geschliffenen Umgangsformen, war Trotha buch weiter aus. So großmäulig und allmächtig sich der »große gewachsen zu sein; der eher ein ganzes Volk der Ver-
gewiss eine Bereicherung für jeden geselligen Anlass Da sich die OvaHerero-Gruppen am Waterberg General« gab, so sehr war der nun entstehende »Ver- nichtung preisgab, als militärische Fehler einzuge-
der ­»besseren Gesellschaft«. Er besaß die Attribute zusammengezogen hatten, schien es möglich, den nichtungsbefehl« aus der Not geboren. Anders als stehen; der vor keiner Grausamkeit zurückschreckte,
des Höflings, wie ihn der Soziologe Andreas Reck- Krieg auf einen Schlag und in relativ konventionel- Teile der historischen Forschung annehmen, han- aber sich auch nicht zu schade war, sich bei anderen
witz jüngst charakterisiert hat, und das umso mehr, ler Weise zu beenden – durch Brechen des Wider- delte Trotha eher situativ, als einem vorgefassten Höflingen auszuweinen, wann immer er sich in ei-
als sich hinter der glänzenden Fassade wenig Sub- standes, Entwaffnung und Gefangennahme der genozidalen Plan zu folgen. Die Dokumente aus nem der zahllosen Konflikte aufzureiben drohte, die
stanz und hinter der Zugewandtheit ein kaltes Herz Krieger. Das preußische Standardrezept, die Ein- dem Nachlass stützen diesen Befund eindrücklich. er in seinem Hochmut vom Zaun gebrochen hatte.
verbarg, wie abermals Estorff bemerkte. kesselung und Vernichtung der gegnerischen Streit- Trotha wollte den unbefriedigenden Status quo, der Historische Deutungen, die Trothas Handeln als
Vermutlich war es gerade diese Kombination aus macht, scheiterte jedoch am 11. August 1904 am durch die Flucht der OvaHerero eingetreten war, durch und durch intentional beschreiben, laufen Ge-
Hemdsärmeligkeit und geschmeidigem Untertanen- ungewohnten Terrain und am ausgebliebenen Zu- kurzerhand umdeuten: Er tat so, als sei er von ihm fahr, seiner Selbstinszenierung noch im Negativen zu
geist, die Wilhelm II. ansprach und bewog, Trotha sammenwirken der Abteilungen, von denen eine befohlen und durchgesetzt worden. Zu diesem folgen. Lothar von Trotha aber war alles andere als
im Frühjahr 1904 gegen den Widerstand all seiner von Westen her zu ungestüm vorpreschte und eine Zweck drohte er den OvaHerero mit massiver Ge- »der große General des mächtigen deutschen Kaisers«,
Ratgeber mit dem Kommando in Südwest zu be- andere sich im Osten verirrte, sodass den Ova­Herero walt, auch gegen Frauen und Kinder. zu dem er sich stilisierte. Genau diese Diskrepanz
trauen. Dessen Vorgänger als Kommandeur der dort der Ausbruch gelang. Doch der Chef des Großen Generalstabes, Alfred zwischen realer Schwäche und grandiosem Selbstbild
»Schutztruppe«, der badische Pastorensohn Oberst Trotha ordnete zwar sofort die Verfolgung an, von Schlieffen, durchschaute den Kommandeur. machte ihn wohl auch so gefährlich.
Theodor Leutwein, hatte allzu verkopft, sperrig und musste diese aber nach wenigen Stunden abbrechen, Irgendwann im November erreichte ihn Trothas Be-
zögerlich gewirkt. weil die Truppen »kein Korn Hafer und nichts an richt vom 4. Oktober, der auch den Aufruf an die Matthias Häussler und Andreas Eckl
Seit 1884 war Südwest in deutscher Hand, seit Verpflegung« hatten. »Nun können oder müssen wir Oder gratis lesen: OvaHerero enthielt. Schlieffen störte sich nicht an sind Historiker. Sie lehren und forschen am
1895 regierte Leutwein die Kolonie als Gouverneur. von vorn anfangen resp. es ist vorbei«, heißt es in www.zeit.de/zg-heft Trothas Absichten, sondern an der Tatsache, dass Institut für Diaspora- und Genozidforschung
Dessen Ansatz, sich mit einer Oberherrschaft zu seinen Aufzeichnungen. Besonders ärgerte ihn die dieser »nicht die Macht [besaß], sie durchzuführen«, der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Edition der
begnügen, die sich auch auf die Macht indigener Vorstellung, »zu Hause zu melden, wir haben 30 Ki- weil er am Westrand der Omaheke hatte stehen Trotha-Schriften soll 2023 erscheinen

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22 VERBRECHEN 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Drei Wochen
beobachteten die
Killer das Café am
Kurfürstendamm:
Wenn ihr Opfer
Platz genommen
hätte, hätten sie
wahrscheinlich ein
schreckliches
Blutbad
angerichtet

Illustration: Isabel Seliger/Sepia für DIE ZEIT


»Heutzutage killt jeder jeden«
Ein Prozess in Amsterdam bringt zutage, dass die niederländische Unterwelt in Berlin einen Mordanschlag geplant hat  VON MARKUS SEHL

I
n Amsterdam ging Mitte September ein men worden, zumindest einer von ihnen wird dem Euro ausgesetzt sind. Omar L. schiebt den Rache- Chats. Den Männern ist das Risiko bewusst, auch Wohnung in der Helmholtzstraße warten muss, umso
Prozess zu Ende, der es in sich hatte. Vor Umfeld ­­Ta­ghis zugeordnet. plan an. Er soll die zwei bereits geladenen AK-47s Unbeteiligte zu treffen. Sie sprechen darüber, dass es nachlässiger werden sie. Mal hat einer gerade Döner
dem Strafgericht saßen einige Männer Zurück zu dem Berliner Attentat, zurück zu und vier Glock-Pistolen an einer Tankstelle im nachmittags in der Straße sehr belebt ist. Die nieder- geholt, als der Auftraggeber sie wieder in Alarmbereit-
auf der Anklagebank, die aus dem bruta- »Noffels« Feind, der »Schlange« Salim B. Der Süden Amsterdams Mitte August an einen Kurier ländische Staatsanwaltschaft schätzt das so ein: »Die schaft versetzen will. Ein anderes Mal fragt einer der
len Milieu stammen, das auch für die­ schickt am späten Abend des 21. August 2015 über­geben: an einen älteren Mann, der mit seiner Chats offenbaren das Bild einer Gruppe von Men- Männer, ob er mal schnell zwischendurch ins Solari-
Ermordung des Journalisten Peter R. de seinen Vertrauten eine ganze Suada verschlüsselter Frau und seinem Kind in einem Caravan nach schen, die keinen Respekt vor menschlichem Leben um könne. Am Abend kommt Whiskey Cola auf den
Vries verantwortlich sein soll. Der Inves- Textnachrichten. B. steigert sich in den Mordplan Berlin fährt. zeigen und auch vor der Anwendung roher Gewalt Tisch, bis sich Tony D. übergeben muss. Irgendwann
tigativjournalist war am 15. Juli 2021 in Amster- regelrecht hinein, nachdem »Noffel« vor dem Café Das Killerkommando mit dem 32 jährigen Tony nicht zurückschrecken.« ist das Klo verstopft, Bettzeug und Handtücher sind
dam auf offener Straße erschossen worden. Der wieder gesichtet wurde: »Hij moet dood dood dood«, D. und dem dazugekommenen, damals 38-jährigen Für die Attentäter soll es ein lohnender Job wer- aufgebraucht: Das Killerkommando muss sich lang-
Mord an de Vries war aber nicht Thema des­ schreibt B. Was auf Deutsch heißt: Er muss tot tot Cedric R. nimmt am 20. August 2015 den Zug in den, ihnen werden Häuser in Suriname, China oder sam daran gewöhnen, einen Haushalt zu führen –
aktuellen Verfahrens: Es ging in erster Linie um tot. Und weiter: »Nicht denken, dass er tot ist, Richtung deutsche Hauptstadt. Nach der Ankunft den USA versprochen. Und ein Bonus für jeden von und wird dabei zunehmend unruhig. Sie fragen bei
einen minutiös geplanten Mordanschlag, der­ echt durch sein Kopf schießen, wenn er auf dem am Hauptbahnhof geht es mit dem Taxi zu einem »Noffels« Leuten, den sie bei dem Attentat mit er- B. nach, wie lange sie noch bleiben müssen. »Was
mitten in Berlin stattfinden sollte. Boden liegt.« Die Männer warten in der Wohnung Hotel in der Otto-Suhr-Allee, dort holt sie ein »Mr. schießen. »Heutzutage killt jeder jeden«, schreiben heißt ein paar Tage noch maximal?« B. versucht sie
Der Plan sah so aus: Djurgen W. und Tony D. in der Helmholtzstraße nur noch auf das Si­gnal, X« ab, es ist der Spotter Mimoun B. Er bringt sie in sie. Später wird aus den Chats deutlich, dass zum um jeden Preis in Berlin zu halten. Beteuert, wie
sollten mit dem Motorrad vor einem schicken Eck- dass »Noffel« erneut auf der Terrasse vor dem Café die Helmholtzstraße. Die Wohnung liegt in einem Beispiel Cedric R. gar nicht wusste, wen er da eigent- wichtig der Auftrag ist und dass »Noffel« jeden Tag
Café am Berliner Kurfürstendamm auftauchen und aufgetaucht ist. Es liegt an der Ecke Knesebeck- unauffälligen Altbau, es gibt Schlafplätze, Kühl- lich in Berlin umbringen wollte. Es war ihm offen- auftauchen müsste.
mit ihren AK-47-Sturmgewehren und Pistolen das straße: teure Restaurants, ein Edelfriseur, feines schrank, Fernseher. Von hier sind es über den Ernst- sichtlich egal. Er ist nur ein Auftragskiller im Krieg Doch »Noffel« taucht nicht auf. Hat er eine
Feuer eröffnen. Getroffen werden sollte die Ams- Westberlin. Hier ruhen sich die Touristen und Reuter-Platz, vorbei am Savignyplatz in die Knese- mächtiger Drogenbanden. Warnung bekommen? Jedenfalls sieht das Berliner
terdamer Unterweltgröße Naoufal F., genannt »Nof- Einheimische nach einem Shopping-Bummel aus. beckstraße mit dem Motorrad nur fünf Minuten. Ermittlern gilt ein 2012 fehlgeschlagener Team am 9. September endgültig ein, dass ihr Op-
fel«. Die niederländischen Ermittler gehen davon aus, Die ganze Fassade des Cafés entlang stehen in­ Sie halten sich bereit und stehen über ihre­ Schmuggel von 200 Kilogramm Kokain in den fer erst mal verschwunden ist. Die Killer packen
dass die Täter in Kauf genommen hätten, dass auf einer Doppelreihe Tische und Stühle eng bei­ein­ Spe­zial-­­Smart­phones in ständigem Kontakt zu ih- Hafen der belgischen Stadt Antwerpen als der Aus- zusammen. Zurück in die Niederlande soll es mit
der Außenterrasse des Cafés in dem Kugelhagel noch an­der. In einem der Chats heißt es: Anvisierte Zeit rem Auftraggeber. Einige Tage später stößt noch löser für einen brutalen Drogenkrieg. Seitdem es dem Zug gehen, die Waffen sollen in der Woh-
weitere Menschen gestorben wären, unschuldige für das Attentat: 16 Uhr. Kaffeezeit am Ku’damm. Djurgen W. aus den Niederlanden dazu. Denn B., in dem Transitland Niederlande nicht mehr vor- nung unter dem Gasherd versteckt werden. Als der
Lokalbesucher. Mögliche Kollateralschäden nannten »die Schlange«, will ganz sichergehen, dass zwei rangig um den Schmuggel von Haschisch und Spotter Mimoun B. dem gemieteten Audi A3 mit
das die Täter. »Noffel« ist in Berlin untergetaucht. Auf ihn der Männer mit ihren Waffen feuern können. Marihuana geht, sondern um millionenschwere Handschuhen noch schnell eine Grundreinigung
Das geplante Attentat liegt einige Jahre zurück. wurde eine Million Kopfgeld ausgesetzt Dann braucht es aber auch noch einen dritten Transporte von Kokain aus Südamerika nach­ verpasst, zieht das die Aufmerksamkeit einer zufäl-
Ende August 2015 wartete ein ganzes Killer-Team Mann, der ein Fluchtauto steuern kann, in das die Europa, hat auch die Gewalt im Kampf um die lig vorbeikommenden Polizeistreife auf sich. Die
aus den Niederlanden knapp drei Wochen lang in Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten im Schützen kurz nach der Tat umsteigen können. Vorherrschaft auf dem Markt zugenommen. Die Beamten nehmen sich den Mann vor, untersuchen
einer konspirativen Berliner Wohnung auf seinen Sommer 2015 keinerlei Ahnung von den Berliner W., genannt »Ziegenbärtchen«, soll das Motorrad Schießereien haben längst die Fußgängerzonen ihn ausgiebig und finden in der Unterhose 5500
Einsatz, fünf Minuten Fahrt von dem Eck-Café ent- Attentatsplänen. Auch die Ermittler in den Nieder- steuern und schießen, hintendrauf soll der Schütze und Wohnviertel erreicht, immer wieder finden Euro. Doch das ist ja nicht strafbar. B. zeigt den
fernt. Für die Waffen war gesorgt, ein gemieteter Audi landen kamen ihnen erst Jahre später eher zufällig auf Tony D. mitfahren, den Fluchtwagen soll Cedric sich Unbeteiligte im Kreuz­feuer, passieren tödliche Ausweis seines Zwillingsbruders. Dann darf er
A3 stand als Flucht­auto bereit. Der Auftrag stammte die Spur, als sie die verschlüsselten Chats verschiede- R. übernehmen. Und falls nötig, soll er selbst vor Verwechslungen. Die niederländische Polizei muss weiter. »Fiese Hunde, zum Glück hattet ihr nix
von einem Erzfeind »Noffels« aus der Amsterdamer ner Krimineller geknackt hatten. Die Chats liegen dem Café noch mitschießen. lange Zeit beinahe hilflos zuschauen, wie dieses dabei«, schreibt Cedric R. ihm, als er von dem
Unterwelt, Salim B., genannt »die Schlange«. der ZEIT vor. Sie zeigen, dass die Pläne für Gewalt- »Es ist besser, wenn er absteigt und schießt. Und Milieu immer weiter aufrüstet, mit schweren­ Zwischenfall erfährt. Am Abend schreibt R.: »Yo
»Noffel« war in Berlin untergetaucht. In Ams- exzesse der organisierten Kriminalität aus den Nieder- dein Kumpel muss auch absteigen, nicht sitzen blei- Waffen bis hin zu Panzerfäusten. Bro sitzen im Zug«.
terdam gilt er als einflussreicher Vermittler von landen bereits bis nach Deutschland reichten – und ben, er muss es durch seinen Kopf bekommen. Er Das Amsterdamer Strafgericht verurteilt Mitte
Auftragsmördern. Die Drahtzieher hinter dem zwar schon vor Jahren. muss echt sterben«, schreibt Salim B. in einem der In der Killer-WG ist das Klo verstopft, September 2021 das Trio und den »Spotter« we-
Mordplan schreiben über ihn: »Er ist eine Art Gott Auch der Berliner Mordplan ist aufwendig vor- ANZEIGE
und es wird zu viel getrunken gen Vorbereitung zum Mord. Die Richter sind
für diese Motherfucker.« »Noffel« hat nicht nur bereitet. Die Auftraggeber setzen auf einen ganzen von der Ernsthaftigkeit der Pläne überzeugt. Die
diesen Spitznamen, sondern auch einen Bei­namen: Kommandotrupp, jeder hat seine eigene Rolle: Doch 2016 gelingt den Ermittlern ein emp­find­ Argumentation der Verteidigung, dass die Männer
»De Slager«, der Schlachter. Ein psychiatrisches Kuriere, Auskundschafter, Fluchtwagenfahrer, licher erster Schlag gegen die Szene, sie beschlag- lediglich für einen Drogendeal in Berlin gewesen
Gutachten in einem anderen Prozess attestierte Schützen. Als die Killer im August 2015 aus den nahmen Millionen von Nachrichten eines Anbie- seien, halten sie für unglaubwürdig. Der Spotter
ihm eine Persönlichkeitsstörung. Wichtiger als ir- Niederlanden eintreffen, haben sie bereits einen ters für Smart­phones mit Verschlüsselungstechnik. B. und Tony D. werden zu je sieben Jahren Ge-
gendwelche Namen ist die Rolle, die er in dem »Spotter« in der Stadt, eine Art Auskundschafter. Wer diese Telefone benutzte, glaubte, ohne Sorge fängnis verurteilt, Cedric R. bekommt vier Jahre
Schreckensmilieu spielt. »Noffel« gehört zum La- Er hat »Noffel« entdeckt, fotografiert heimlich vor Überwachung Nachrichten verschicken zu Haft, und Djurgen W. wird schuldig gesprochen,
ger des Mannes, der in Verbindung mit dem Mord seine parkende Mercedes-S-Klasse und wie »Nof- können. Plötzlich haben die Ermittler nachträg- erhält jedoch keine Gefängnisstrafe. Der Grund:
an dem Journalisten de Vries gebracht wird: Ri- fel« auf der Terrasse Bekannte trifft. lich komplette Mitschnitte aus der Kommunikati- R. und W. sind bereits zu 26 beziehungsweise 30
douan Ta­ghi. Der gilt seit Langem als Staatsfeind Es gibt genügend Leute, die mit »Noffel« eine on der Kriminellen vor sich. Und genau bei dieser Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie bei einem
Nummer eins der Niederlande, denn er soll eine Rechnung offen haben. So soll er an einem bruta- Auswertung stoßen sie auch auf den Berliner missglückten Auftragsmord 2016 statt eines Dea-
regelrechte Tötungsmaschinerie betrieben haben. len Mordüberfall 2012 im Amsterdamer Stadtteil Mordplan. Er setzt sich zusammen aus Hunderten lers einen unbeteiligten Amsterdamer DJ erschos-
»Noffel« soll zeitweise sein wichtigster Partner ge- Staatsliedenbuurt beteiligt gewesen sein. Wenige Messenger-Nachrichten. Die Nachrichten bleiben sen haben. Er saß mit seiner Familie zufällig in­
wesen sein. Tage vor Silvester jagen Männer mit Maschinen- interpretationsbedürftig, aber die Chats der Män- einem ähnlichen roten Mini Cooper, wie der
Ridouan Taghi steht seit März 2021 vor Ge- pistolen und AK-47s die Mitglieder einer verfein- ner im August 2015 haben ihre Spuren in der Dealer ihn fuhr. 30 Jahre Gefängnis ist die Ober-
richt. Von einem »Jahrhundertprozess« sprechen deten Bande durch ein Wohngebiet nahe der Wirklichkeit hinterlassen. grenze für eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe in
die Ermittler und die Me­dien, von der großen­ Grachten-Innenstadt. Im Kugelhagel stirbt auch Als der »Spotter« Mimoun B. am Abend des den Niederlanden.
Chance, die längst außer Kontrolle geratene der Bruder von Omar L., der gemeinsame Sache DER KRIMINALPODCAST 29. August an der Wohnung in der Helmholtzstraße Naoufal »Noffel« F. wird im Frühjahr 2016 in
nieder­ländische Unterwelt in die Schranken zu mit Salim B. macht. Omar L. will Rache und vorbeifährt, sieht er Polizeiwagen vor der Tür stehen. Dublin verhaftet und 2019 in den Niederlanden
weisen. Ein Kronzeuge, ein ehemaliges Mitglied schreibt an B.: »Bruder, ich muss Dir nicht erzäh- Ein Podcast über Verbrechen – Er schreibt dem Trio in der Wohnung um 20.25 Uhr: für das Organisieren eines weiteren Mordes zu
von Ta­ghis Gang, spielt dabei eine zentrale Rolle. len, wie sehr ich ihn haben will. Bin so motiviert, und was sie über die Menschheit »Die Polizei steht mit drei Autos vor der Tür« und lebenslanger Haft verurteilt. Salim B., »die
Der Kriminalreporter de Vries fungierte in dem dass ich mich selbst ruhig halten muss.« Und spä- erzählen. Jetzt anhören: »Versteck die Waffen gut«. Einer aus der Wohnung Schlange«, ist auf der Flucht. Der Geschäftsfüh-
Verfahren als Berater des Kronzeugen und wurde ter: »Der Mann hat meinen Bruder ermordet.« schreibt: »Sie fahren weg, mit Sirene an«. Doch bei rerin des Cafés sagt, sie sei von der Polizei nie
vermutlich auch deshalb getötet. Zwei seiner mut- In den Chats sprechen die beiden darüber, dass www.zeit.de/verbrechen dem Einsatz ging es um etwas anderes, die Killer kontaktiert worden. Das Café und die Berliner
maßlichen Mörder sind inzwischen festgenom- auf »Noffels« Kopf in der Unterwelt eine Million blieben letztlich unbehelligt. Je länger das Trio in der haben Glück gehabt.

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14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

WIRTSCHAFT 23

Die Macht bröckelt


In den USA und in Europa steigt der Druck auf Facebook. Es gibt Hoffnung, dass eine Aufsicht über den Algorithmus
Hass und Hetze stärker eindämmt  VON HEIKE BUCHTER, GÖTZ HAMANN UND JENS TÖNNESMANN

J
osephine Ballon kann Beispiele für alle Arten spürt sofort, wie der eigene Alltag betroffen ist, wenn die wirken, Hassrede verstärken und Menschen abhängig Paul Nemitz von der EU-Kommission hofft, dass die
von Hass liefern, die auf Facebook wuchern, Server ausfallen – so wie bei Facebook vergangene Woche. machen können.« Regeln zügig verabschiedet werden und ohne lange Über-
obwohl sie dem Netzwerk längst gemeldet Der Konzern kann zwar mit vielen Zahlen belegen, Facebook ist stets ein Spiegel für Konflikte gewesen, gangsfristen in Kraft treten. »In Zeiten der technologischen
wurden. Einen Kommentar, in dem eine­ wie er gegen Hass, Hetze und Desinformation vorgeht, die auf der Welt toben – und ein Werkzeug, das Men- Dominanz muss die Demokratie zeigen, dass sie hand-
Politikerin als »Missgeburt« bezeichnet wird: seit das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ihn dazu verpflich- schen für ihre Zwecke nutzen. Früh warben Rechtsextre- lungsfähig ist und die Politik Regeln schnell gestalten
»Das Aas gehört weggesperrt«. Einen Beitrag, tet, es trat 2017 in Kraft. Im ersten Halbjahr 2021 hat misten auf der Plattform für sich. Der »Islamische Staat« kann«, sagt er. In Brüssel weiß man schließlich genau, wie
in dem Angehörige einer bestimmten Natio- Facebook in Deutschland 2842 Posts mit volksverhetzen- verbreitete dort Propaganda, die AfD fand neue Anhän- kraftvoll die Lobbyisten gegenhalten können. Umso mehr
nalität »Untermenschen« genannt werden. Beleidigun- den Inhalten gesperrt oder gelöscht. 968 Drohungen ließ ger. Und Donald Trump und russische Akteure nutzten hofft der SPD-Mann Nemitz, dass Deutschland eine
gen, Rassismus, Volksverhetzung: Ballon beschäftigt der Konzern verschwinden und 1519 Beiträge, die zu das Netzwerk, um politische Mehrheiten zu verändern. treibende Kraft in Europa sein könnte, das zu verhindern.
sich beruflich damit. Sie leitet die Rechtsabteilung der Straftaten aufriefen. Allein um rechtlich fragwürdige Auf all diese Entwicklungen hat Facebook reagiert, mal Aber wie denkt man in den drei Parteien, die das
Berliner Organisation Hate­ Aid, die nach eigenen­ Inhalte kümmern sich hierzulande 129 speziell geschulte schneller, mal langsamer, mal effizient, mal hilflos – und künftig beeinflussen könnten?
Angaben schon mehr als 1400 Opfer digitaler Gewalt Beschäftigte. So steht es im Transparenzbericht des Kon- stets angetrieben von öffentlichem Druck. Der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz findet
beraten hat; während der Pandemie sei man »geradezu zerns: Man wolle eine Plattform sein, »der die Menschen Im Jahr 2020 etwa hat der Konzern das Oversight klare Worte: »Wir wollen wissen, wie die Algorithmen
überrannt« worden. Ballon sagt: »Facebook geht immer vertrauen und auf der sie sich frei äußern können«. Board geschaffen, ein Gremium aus 20 unabhängigen von Plattformen funktionieren und welche Beiträge sie
noch sehr willkürlich mit Hassbotschaften um.« Doch zukünftig dürfte noch heftiger gestritten wer- Experten aus aller Welt. Es entscheidet, ob bestimmte verstärken.« Dafür brauche es »vielleicht nicht immer
Hass und Hetze im Internet: Alle drei Parteien, die in den, wie Facebook eine Balance zwischen dem Schutz der Inhalte gelöscht werden müssen. Die Experten haben das volle Transparenz, aber wirksame Kontrollmöglichkeiten«,
Berlin gerade Sondierungsgespräche führen, haben in Meinungsfreiheit und dem Schutz vor Hass und Hetze letzte Wort – aber auch sie urteilen nur über das, was die also eine »verbindliche und wirkmächtige« Digital­
ihren Wahlprogrammen angekündigt, dagegen vorzu- findet. Denn im Kräftemessen mit den Digitalkonzernen Maschine ausspuckt, und nicht darüber, wie sie arbeitet. aufsicht. »Je europäischer die Lösung ist, umso besser
gehen. SPD, Grüne und FDP wollen Digitalkonzerne tut sich seit den Veröffentlichungen von Frances Haugen Suzanne Nossel sitzt in dem Gremium, aber es ist ihr wirkt sie«, sagt von Notz. »Und Deutschland ist da sicher
stärker kontrollieren und Wege finden, deren Macht zu ein weiterer Schauplatz auf. wichtig, als Chefin des US-Schriftstellerverbands PEN zu ein entscheidender Player.«
begrenzen. Die SPD schreibt sogar davon, die »über- Die Informatikerin hat bis Mai bei Facebook gearbei- sprechen. »In den USA wird es keine Form von staatlicher
mächtigen Plattformen« zu »zähmen«. tet, lange in einer Abteilung zur Eindämmung von Hass- Moderation von Inhalten geben«, ist Nossel überzeugt. »Es geht jetzt um unser Recht, dass sich
Das klingt utopisch? Jahrelang hätte man das wohl so rede und Lügen. Was dabei aus ihrer Sicht schiefläuft, hat Andererseits glaubt sie, dass Social-Media-Plattformen die Konzerne rechtfertigen müssen«
gesehen. Aktuell aber bewegt sich etwas, und zwar gleich sie dem Wall Street Journal berichtet und im US-Senat künftig gezwungen werden könnten, Einblicke in ihre
an mehreren Orten auf der Welt. beschrieben: Facebook habe ein System geschaffen, »das Funktionsweise zu gewähren: »Es geht nicht mehr allein Auch die SPD fordert in ihrem Wahlprogramm trans-
In Europa etwa arbeitet man bereits an entsprechen- Spaltung, Extremismus und Polarisierung verstärkt und um Inhalte, sondern auch darum, wie diese von den­ parentere Algorithmen und eine »stringente Regulie-
den Regeln, die das Unternehmen empfindlich treffen Gesellschaften auf der ganzen Welt untergräbt«. Algorithmen verbreitet und verstärkt werden.« rung und Aufsicht«. Carsten Brosda, der die Hambur-
würden. In den USA zeigen sich Demokraten und­ In Europa wird daran gerade gearbeitet. »Die Unter- ger Behörde für Kultur und Medien leitet und als Ver-
Republikaner bei diesem Thema ungewohnt einig. Und »Die Einschläge für nehmen werden zukünftig nicht mehr völlig freie Hand trauter des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz gilt,
womöglich wird die neue deutsche Regierung die Digi- Facebook kommen näher« haben, wie sie ihre Algorithmen gestalten«, sagt Paul­ weiß um die harten Konflikte, die es dabei geben wird.
talkonzerne auf die Agenda des G7-Forums im nächs- Nemitz, justizpolitischer Chefberater bei der Europäi- Weil Facebook und Google in Hamburg ihre deut-
ten Jahr setzen, bei dem sich sieben führende Industrie­ Sicher: Kein Algorithmus könnte alle Hassbotschaften schen Kommission. Dabei spielen zwei Verordnungen schen Niederlassungen haben, bestimmt der Senator
nationen treffen und Deutschland die Präsidentschaft zweifelsfrei von Kritik unterscheiden, und keiner könnte eine wichtige Rolle, die die Kommission 2020 vorgestellt in medienpolitischen Fragen die Regeln für Internet-
übernimmt. Es formiert sich eine politische Front in alle Meinungen von Beleidigungen trennen – noch dazu hat und über die der Rat der EU und das Europäische konzerne mit. »Es geht dabei auch um das Recht der
Berlin, Brüssel und Washington, wie es sie bisher so in einem Strom aus Nachrichten, die Milliarden Menschen Parlament verhandeln. Werden sie von beiden erlassen, Nutzer, dass sich die Konzerne ihnen gegenüber recht-
noch nicht gegeben hat. rund um die Uhr in verschiedenen Sprachen erzeugen. gelten sie in den Mitgliedsstaaten unmittelbar und ohne fertigen müssen«, sagt Brosda, dieser Anspruch sei die
Und dann hat vergangene Woche auch noch die Haugens Enthüllungen zeigen aber, dass die Facebook- Abstriche, das macht die Initiativen so bedeutsam. Grundlage für eine Debatte über künftige Regeln.
Whistleblowerin Frances Haugen öffentlich gemacht, Chefs sich offenbar bewusst gegen Algorithmen entschei- Die eine heißt »Digital Markets Act« (DMA) und soll Nicola Beer, die stellvertretende Bundesvorsitzende
wie Facebook Falschinformationen und Hassbotschaf- den, die große Emotionen und damit auch Hass und die Marktmacht sogenannter Gatekeeper begrenzen – also der FDP, findet zwar, dass Algorithmen zum Bereich der
ten offenbar bewusst in Kauf nimmt, um Geld zu ver- Hetze weniger verstärken – denn dadurch würden Nutzer jener Online-Plattformen, die wirtschaftlich stark sind geschützten Geschäftsgeheimnisse gehören. Aber die
dienen – spätestens seitdem steht der Konzern im weniger Zeit auf der Plattform verbringen. Facebook und eine breite Nutzerbasis haben. Die andere nennt sich Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments sagt auch:
Mittelpunkt der Debatte. stelle also »seine immensen Gewinne über die Menschen«, »Digital Services Act« (DSA) und soll Grundrechte der »Wenn Facebook Kenntnis davon hat, dass seine Algo-
Das Unternehmen hat im zweiten Quartal 2021 einen findet Haugen. Und es halte seine Erkenntnisse geheim, Nutzer besser schützen und die Plattformen zu mehr rithmen strafrechtlich relevante Inhalte befeuern, etwa
Rekordumsatz von 29 Milliarden Dollar erzielt und 10 wie die Tabakindustrie, die auch lange die Gefahren des Transparenz zwingen. Von dem Paket erhoffen sich die im Fall von Hass und Hetze, muss Facebook diese­
Milliarden Euro Gewinn gemacht. Milliarden Menschen Rauchens verschwiegen habe. Europäer mehr Frieden in der digitalen Öffentlichkeit Algorithmen umprogrammieren.«
nutzen seine Angebote: das soziale Netzwerk Facebook, Jetzt geht es also nicht mehr nur darum, was die­ und fairen Wettbewerb. Es ist der weitreichendste Versuch Facebook-Chef Mark Zuckerberg tut – speziell nach
die Bilderplattform Instagram, den Messenger-Dienst Datenmaschine sperrt, sondern auch darum, was sie wie einer Regulierung bisher. den Enthüllungen seiner ehemaligen Mitarbeiterin­
Illustration: Doreen Borsutzki für DIE ZEIT

WhatsApp. Es genügt, nach der Einschulung der Tochter verstärkt. Der Druck richtet sich auf die Algorithmen, Was man nicht erwarten kann: dass Plattformen un- Haugen – so, als könne das alles nicht sein: Dem Konzern
von anderen Eltern einer WhatsApp-Gruppe hinzugefügt die über all das entscheiden – und die das Unternehmen erwünschte gesellschaftliche Entwicklungen heilen oder sei Profit nicht wichtiger als das Wohl seiner Nutzer. Des-
zu werden – schon ist man Teil der Maschine, die für bisher geheim hält. Kontroversen befrieden, indem sie diese unterdrücken. wegen beschäftige der Konzern ja Experten, die das Netz-
Nutzerinnen und Nutzer kostenlos ist, sie aber dafür mit »Die Einschläge für Facebook kommen näher«, sagt Aber der DSA könnte bewirken, dass sich die Algorithmen werk wissenschaftlich erforschen, und Tausende Men-
zielgenauer Werbung bespielt. »Netzwerkeffekt« nennen Malte Spitz von der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Der von Facebook, YouTube und Co. durch öffentliche Kon- schen, die den Hass filtern. Sagt Zuckerberg – ohne sich
es Ökonomen, wenn alle sich dort sammeln, wo viele Aktivist, der auch im Parteirat der Grünen auf Bundes- trolle rascher ändern als bisher, wenn Grundrechte verletzt zu Haugens konkreten Vorwürfen zu erklären.
andere schon sind – und »Lock-in-Effekt«, wenn man sich ebene sitzt, fordert: »Aufsichtsbehörden, Zivilgesellschaft, werden, Strafbares auf den Plattformen auftaucht, die So richtig glauben können ihm das nur noch wenige.
aus so einem Netz nicht mehr befreien kann, weil man Journalistinnen und Forscher müssen Zugriff auf die Konzerne ihre Marktmacht missbrauchen – oder extreme
abhängig ist von den Verbindungen dort. Man bleibt. Und Erkenntnisse des Konzerns haben, wie seine Algorithmen Positionen über die Maßen verstärkt werden. www.zeit.de/vorgelese
24 WIRTSCHAFT 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Der ewige Meiler


Ende 2022 sollen Deutschlands Atomkraftwerke abgeschaltet werden, dann folgt der Rückbau.
In Greifswald begann er schon vor 30 Jahren – und es ist kein Ende in Sicht  VON MARTIN NEJEZCHLEBA

M
anchmal steht Ralf tief in den Beton ein, die Strahlung dort ist bis
Borchardt in seinem heute messbar. Und was verstrahlt ist, kann nicht
Büro, ganz oben, im einfach abgerissen werden.
siebten Stock von­ Marlies Philipp blieb auch nach der Still­
Verwaltungsgebäude I, legung, überstand Umstrukturierungen und Ent-
und stellt sich das lassungswellen. Sie beschreibt das als großes
Ende vor. Er blickt Glück. Ihr Wissen über die Anlage war auch bei
dann durch die Fenster auf das Kraftwerk vor deren Rückbau von Wert. Auch wenn sich das
ihm und sieht, in Gedanken, wie ein Reaktor- zunächst seltsam angefühlt habe: »Da hatte man
block nach dem anderen birst, wie Abrissbagger sich über Jahre um eine Pumpe gekümmert, und
an der Anlage nagen. Wenn alles vorbei wäre, von einem Tag auf den anderen war sie Schrott.
sagt Ralf Borchardt, »dann hätte ich einen Die ganze Anlage war Schrott.«
schönen Blick aufs Meer«. Später wurde Philipp Pressesprecherin von
Aber noch steht da ein Betonkoloss von den EWN – und musste fortan vor allem eines er-
Ausmaßen eines Flughafens zwischen ihm und der klären: die ständigen Verzögerungen. Sie sagt
Ostsee: das Kernkraftwerk Greifswald. In der nahe dazu: »Es gab keine Blaupause. Das war Neuland
gelegenen Ortschaft Lubmin wurde zu DDR- für uns alle.« Ehrlich wäre: Wir haben das unter-
Zeiten in fünf Reaktorblöcken Atomenergie schätzt, schon immer.
produziert, in einem der größten Kernkraftwerke
Europas. Weil es Probleme mit der Sicherheit gab, Wann sie fertig werden, weiß hier
beschloss die Landesregierung 1995, es »zurück- niemand. Vielleicht 2060 oder 2070?
zubauen«, also abreißen zu lassen. Und Borchardt
bekam die Aufgabe, das zu koordinieren. Er ist der Betrachtet man das Kernkraftwerk in Zahlen,
Projektleiter. Damals habe er gedacht, das werde dann steht unter dem Strich ein Desaster. 17
ein spannender Job, vielleicht für zehn, 15 Jahre. Jahre Laufzeit, seit 26 Jahren im Rückbau. Bis in
Schließlich war Lubmin auch nur 17 Jahre am die zweite Hälfte der 2030er-Jahre soll dekontami-
Netz. »Als Lebensaufgabe«, sagt Borchardt heute, niert werden. Erst danach beginnt der eigentliche
»habe ich es nicht gesehen.« Mittlerweile ist er 57 Abriss. Und dann ist da noch die Kostenrechnung:
Jahre alt, hat schütteres, blondes Haar und weiß, Ging man am Anfang von 3,2 Milliarden Euro
dass er damals ziemlich naiv gewesen ist. für den Rückbau aus, lautet die jüngste Hoch-
Noch heute arbeiten etwa 900 Menschen beim rechnung: 6,6 Milliarden. Marlies Philipp sagt:
bundeseigenen Unternehmen Entsorgungswerk »Wir werden mehr brauchen.«
Nord (EWN) am Rückbau. Erst über die Jahre In Lubmin steht nur eine Anlage. Und all die
wurde klar, wie teuer, wie komplex und wie lang- anderen? Wird der Atomausstieg 2022 zu einem
wierig das wirklich ist: ein Atomkraftwerk abzu­ endlosen und unbezahlbaren Abenteuer?
reißen. Wenn dieses Vorhaben zu Ende ist, wird Experten rechnen nicht damit. »Das Kraftwerk
Ralf Borchardt längst in Rente sein. ist in keiner Weise repräsentativ für das, was wir
In Lubmin gewinnt man einen Eindruck­ in Deutschland an weiteren Rückbauprojekten
davon, was der Atomausstieg bedeutet, den Bun- erwarten«, sagt Florence-Nathalie Sentuc, die bei
deskanzlerin Angela Merkel vor zehn Jahren ver- der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicher-
kündet hat. Wer die schier endlosen Abrissarbeiten heit zur Stilllegung von Kernkraftwerken forscht
begleitet, wer Kosten und Nutzen gegenrechnet, – unter anderem im Auftrag des Bundesumwelt-
die Laufzeit des Kraftwerks mit den Halbwerts- ministeriums. Das hier sei größer und wegen der
zeiten seiner radioaktiven Überreste, der kommt Kontaminierung ungleich komplexer im Abbau.
an dieser Frage nicht vorbei: Ist das alles überhaupt Und: Die Ost-Kraftwerke gingen, im Zuge der
zu bewältigen, wenn Ende nächsten Jahres in ganz Wiedervereinigung, ungeplant vom Betrieb in den
Deutschland die letzten Reaktorblöcke vom Netz Rückbau. Will heißen: Die anderen Betreiber
gehen und abgerissen werden müssen? können sich über Jahre vorbereiten und sich schon
Die Arbeit im Strahlenschutzbereich beginnt im Voraus um Genehmigungen bemühen.
damit, dass man sich nackt auszieht. Das jedenfalls Und sie profitieren von den Erfahrungen aus
tut Hannes Becker an einem sommerlichen Frei- Lubmin, von Fehlern, aus denen man dort erst
tag. Becker ist ein junger Mann, 28, der nicht lernen musste, von Techniken, die entwickelt
gerade verschwenderisch mit seinen Worten wurden. So hat EWN auch schon Reaktoren in
umgeht. Er leitet ein 30-köpfiges Team von Ab- Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zerlegt,
rissarbeitern. Gerade machen sie sich an einem hatte Aufträge aus Li­tauen, Bulgarien oder der
Bereich zu schaffen, den Becker die »Seele der Slowakei. Über die Jahre hat man sich hier eine
Anlage« nennt: die Reaktorblöcke drei und vier. Expertise erarbeitet, die sich nun, mit dem Atom-
ausstieg, auszahlen könnte.
Jeder Handgriff in einem stillgelegten Das Kraftwerk an der Ostsee eingerechnet,
Kernkraftwerk muss genehmigt werden gibt es in Deutschland im Moment 27 abge-
schaltete Reaktoren – mit dem Atomausstieg Ende
Aber zunächst geht es durch die Schleuse. Die 2022 kommen sechs weitere hinzu.
Fotos: Martin Pauer für DIE ZEIT

stellt man sich am besten wie die Umkleide­ Man rechne, so sagt es die Forscherin Sentuc,
eines Hallenbads vor – nur ohne Chlorgeruch. mit rund 20 Jahren Rückbau-Zeit je Kraftwerk.
Und in doppelter Ausführung. In der ersten Aber wird es genügend Firmen und Fachkräfte
Kabine sperrt Becker seine Straßenkleidung dafür geben, wird man alles auf einmal abreißen
samt Unterwäsche in einen Spind, zieht Bade- können? Und: Wann wird man damit fertig sein?
latschen und einen weißen Kittel an. Dann die »Ein genaue Jahreszahl«, sagt Sentuc, »wird Ihnen
zweite Umkleide. Wenn Becker da rauskommt, im Moment keiner geben können.«
sieht er schon eher nach Abrissarbeiter aus: Wenn die eigene Lebenszeit nicht ausreicht,
klobige Baustiefel, blauer Bauhelm, orangener um die Folgen eines Kraftwerks auch nur halbwegs
Bauoverall. In der Brusttasche ein graues Käst- in den Griff zu bekommen, wird man dann nicht
chen: das Dosimeter, ein Strahlenmesser. Schrottsammlung vor den Blöcken 7 und 8 Greifswald Ralf Borchardt, 57, leitet das Rückbau- zwangsläufig zum Atomkraftgegner? Fragt man
Auch fast drei Jahrzehnte nach der Stilllegung des Kernkraftwerks Greifswald Projekt beim Entsorgungswerk Nord (EWN) das die Mitarbeiter in Lubmin, werden sie nach-
gelten hier die gleichen Regeln wie in einem­ denklich und sagen Sätze wie diesen: »Ich bin da
aktiven Atomkraftwerk: Nichts und niemand darf zwiegespalten«, so Ralf Borchardt. Man sei heute
ohne mehrfache Strahlenmessung aus den­ auf einem technischen Level, auf dem man einen
Blöcken. Mehr als 20 Millisievert an Strahlung Verbindungskorridor in Block 6, der nie in Die Steuerwarte im Block 5: Alt, aber sicheren Betrieb gewährleisten könne. »Aber«, sagt
darf kein Mitarbeiter pro Jahr abbekommen. Betrieb gegangen ist äußerlich noch intakt Borchardt, »die Gefahr, dass der Mensch diese
Becker sagt, das Dosimeter melde fast jedes Mal Technik unterschätzt, die bleibt.«
null. Das war nicht immer so. Und wenn Ralf Borchardt, der Projektleiter,
Ein Kernkraftwerk baut man von innen nach erzählt, was er wirklich noch schaffen kann in
außen zurück. Zunächst wird der hochverstrahl- erst schaffen, sogenannte Entsorgungsluken für den Genehmigungen fürs Zwischenlagern, auch sie mehr- Denn so kolossal die Maschinen sind, die die­ zehn Jahren bis zur Rente, dann sagt er, unter
te Bereich geleert. Reaktordruckbehälter und Abtransport bauen. fach änderungsgenehmigt. Jung klopft auf den Stapel: Demonteure hier aus Schächten schneiden, so klein ist anderem, Folgendes: »Der Abschluss der Neubau-
Dampferzeuger, haushohe Konstruktionen sind Kernkraftwerke, erst recht die älteren Modelle, »Das ist die Grundlage.« Davon leiten sich ab: Betriebs- das Tor in die Außenwelt: ein Messgerät, vom Format ten.« Das sagt er wirklich: Neubauten.
das, werden mit Kränen angehoben und in einen wurden für die Zukunft konzipiert. Mit Rückbau hat vorschriften, Betriebshandbücher et cetera. Acht dicke eines Sperrgepäck-Scanners am Flughafen. Alles muss Vom Büro aus zeigt Borchardt auf ein paar
Strahlenschutzmantel verpackt. kein Konstrukteur damals gerechnet. Und schon gar Leitz-Ordner voller Regeln. irgendwann da durch. Anlagen von der Größe eines gelbe Kräne. Es ist die Baustelle für eine Zer­
Aber bevor man sich an diese kontaminierten nicht mit Steffen Jung, dem Leiter der Abteilung P1TG. Jeder Handgriff in einem stillgelegten Kernkraft- Lkw werden so lange mit Bandsägen und Plasma­ legehalle, in der bald die Reaktorbehälter zerstü-
Maschinen wagen konnte, musste man jeden Das sind die Genehmiger. werk muss anhand eines ausgefeilten Konvoluts an schneidern zerkleinert, in Säurebädern oder Sandstrahl-­ ckelt werden sollen. Wegen der Strahlung kann
Handgriff am Modell erproben und berechnen, Es mag schon sein, sagt Jung, dass viele im Betrieb Strahlenschutzvorgaben bewertet und freigegeben Kabinen gereinigt, bis sie, in eine standardisierte­ das nur unter Wasser geschehen, mit ferngesteu-
wo und wie lange Arbeiterinnen und Arbeiter ein- denken, er mache alles komplizierter. Aber aus der Per- werden. Ständig müssen sich Sachverständige über Gitterbox verpackt, durch das Messgerät nach draußen erten Roboterarmen. Eine Aufbereitungsanlage
gesetzt werden können, ohne dass die erlaubte spektive des Genehmigers ist das Gegenteil der Fall: Sachen verständigen, müssen Gutachter begutachten, ruckeln. Zurück im Schutzbereich bleibt zäher, radio- für den kontaminierten Beton soll entstehen.
Strahlendosis überschritten wird. Allein dieser »Ich schieße hier die Tätigkeiten frei.« Schließlich ar- müssen die Atomaufsichtsbehörden beaufsichtigen. aktiver Schlamm. Und jene Bauteile, die zu kontami- Auch ein neues Zwischenlager ist in Vorbereitung.
Test dauerte drei Jahre. Angedacht war ein halbes. beite man, so nennt es Jung, im engen Korridor des Jungs Job ist es, diese Maschinerie am Laufen zu halten. niert sind, um die Strahlung abzuwaschen. Darin sollen die Castorbehälter bis zum Abtrans-
2009 war der letzte Druckbehälter ausgebaut. Atomrechts. Jung ist 45, ein Wirtschaftsingenieur mit Was man nicht will und gar nicht kann: das ganze 5000 Kraftwerker, wie die Angestellten sich nann- port in ein Endlager stehen – nur gibt es das be-
Hannes Becker läuft jetzt durch verwaiste Igelfrisur. Eigentlich erschafft er lieber Neues, statt nukleare Puzzle einfach wegsperren. Wohin auch? Was ten, arbeiteten einst im VE Kombinat Kernkraftwerke kanntlich noch nicht. Wann der Abtransport
U-Boot-hafte Gänge, vorbei an schweren Schleu- Altes zu zerstören. Zuvor hat er im Max-Planck-Institut geht, soll wiederverwertet, also verkauft werden. Wenn »Bruno Leuschner«. Weitere 10.000 bauten an neuen beginnt, wann das Projekt Rückbau also end­gültig
sentüren, Röhren mit Druckmessuhren, Schalt- für Plasmaphysik in Greifswald den Aufbau einer ex- alles in seine Einzelteile zerlegt ist, dann werden vom Blöcken. Ganze Neubausiedlungen wurden für die abgeschlossen sein wird, vermag hier keiner zu
konsolen. Kein Ton, kein Tageslicht. Becker­ perimentellen Anlage für Kernfusion geleitet, die größ- Kraftwerk 1,8 Millionen Tonnen Material bleiben: Belegschaft in Greifswald errichtet. beziffern. Vielleicht 2060, vielleicht 2070. Ralf
arbeitet hier seit 2014. Er sagt: »Am Anfang habe te ihrer Art. Ein Puzzle-Bild dieses Röhren-Monsters Edelstahl. Kupfer. Plastik. Gummiabrieb. Dämmmate- Marlies Philipp, eine studierte Kristallografin, Borchardt wird es wohl nicht mehr erleben.
ich nicht verstanden, warum das so lange dauert.« hängt in seinem Büro in Verwaltungsgebäude I. rial. Zink. Beton. Nur rund ein Prozent soll am Ende, damals 23, arbeitete in der Abteilung Werkstoffprü- Ein Gebäude aber gibt es hier, von dem er sich
Er habe gedacht: Ich arbeite für ein Unternehmen, In gewisser Weise arbeitet er in Lubmin auch an wegen der Radioaktivität, in ein Endlager. So viel wie fung und ging vor allem einer Frage nach: Hält das wünscht, dass es niemals verschwindet. Es ist der
das sich selbst abreißt. Vielleicht will man gar einem Puzzle. Nur rückwärts. Es besteht aus unendlich möglich soll recycelt werden. Kraftwerk der Belastung stand? Für die DDR war Kraftwerksblock Nummer 6. Als die Anlage still-
nicht schnell fertig werden? vielen Einzelteilen. Und es ist ungleich schwieriger, es Hier kommt Alex Dufke ins Spiel. Auch er schlurft das manchmal überlebenswichtig. Der Katastro- gelegt wurde, war der Reaktor betriebsfertig, er
Irgendwann sei ihm die Komplexität des Vor- auseinanderzunehmen, als es zusammenzubauen. mit Badelatschen durch eine Schleuse und kommt phenwinter 1978/79 etwa war so hart, dass die wurde jedoch nie mit radioaktiven Brennstoffen
habens bewusst geworden. Hier, in den verwin- Vor ihm auf dem Konferenztisch hat er Bücher zu behelmt in einem Bereich wieder heraus, den sie hier Braunkohle festfror, bevor sie verfeuert werden bestückt, also nie kontaminiert. Man könne ein
kelten Gängen etwa: All die Geräte müssen einen einem Stapel aufgeschichtet, aus den Seiten wuchern ZAW nennen: Zentrale Aktive Werkstatt. Eine Halle, konnte. Das Kernkraftwerk musste den Energie­ Museum daraus machen, findet Borchardt, das
bestimmten Weg nehmen, um innerhalb des neonbunte Klebemarker. Da ist die Stilllegungsgeneh- in der Arbeiter früher Reaktorteile repariert haben. bedarf des Landes nahezu im Alleingang decken. sei eine einmalige Chance. Denn eines könne man
Schutzbereichs von der radioaktiven Strahlung migung von 1995, die Aufbewahrungsgenehmigung Dufkes Vater war einer von ihnen. Der Sohn, 35, Arme Aber es gab Probleme, immer wieder öffneten sich doch wirklich nicht wollen: dass die Atomkraft
gereinigt zu werden. Aber mitunter gibt es diese für radioaktive Stoffe mit ihren sieben Änderungsgeneh- und Beine tätowiert, beschreibt seine Arbeit so: »Wir kleine Haarrisse in den Druckbehältern, es trat radio- vollends aus dem Gedächtnis der Menschen ver-
Wege gar nicht. Becker und sein Team müssen sie migungen, Genehmigungen zur Konditionierung, zerlegen alles, so klein, wie es geht.« aktive Flüssigkeit aus. Verseuchte Feuchtigkeit drang schwinde.
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 WIRTSCHAFT 25

Meinung

N belpreis
WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN

Der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis geht an drei Ökonomen, die


für akribische Forschung stehen. Genau die richtige Entscheidung
in einer Zeit polarisierter Debatten  VON THOMAS FISCHERMANN

E
s gibt zwei weitverbreitete Vor­ Eigentlich müsste das ja auch stimmen. Wirt­ junktur? Beschäftigungsalternativen in einer neu­ »Differenz der Differenz« zwischen den beiden Lan­ besonders darum verdient gemacht haben, über­

Fotos (v. l.): Lovisa Engblom/The Nobel Foundation/dpa; Pat Greenhouse/Getty Images; Noah Berger/dpa; Andrew Brodhead/Stanford University/dpa
urteile über Wirtschaftswissen­ schaftswissenschaftler gehen zu Recht davon aus, eröffneten Fabrik? Ein staatliches Fortbildungspro­ desteilen ­jedoch, das nahmen die Wirtschaftsfor­ prüfbare Ergebnisse in Situationen zu liefern, in de­
schaftler. Das eine lautet, dass dass an den Märkten das Angebot, die Nachfrage gramm für Niedriglöhner? Eine Epidemie? scher an, wäre der Mindestlohn-Effekt. nen keine aktiven Experimente möglich sind.
sie die Welt mit allzu schlichten und die Preise eng zusammenhängen, also auch Weil inszenierte Experimente fast unmöglich Überraschendes und bis heute viel zitiertes Ergeb­ Der Co-Preisträger Joshua Angrist zum Beispiel
mathematischen Modellen be­ am Arbeitsmarkt. Wenn dann Mindestlöhne er­ sind, wandten sich Card und Krueger 1994 soge­ nis: Die Erhöhung des Mindestlohns beeinflusste die legte Methoden fest, um aus den natürlichen­
schreiben und dass sie damit der höht werden, steigt der Preis für niedrig qualifi­ nannten natürlichen Experimenten zu. Das heißt: Beschäftigung so gut wie gar nicht. Experimenten auch tatsächlich Kausalketten ablei­
komplizierten Wirklichkeit nie­ zierte Arbeit, also für einfache Tätigkeiten in der Sie durchforsteten wie Datendetektive die Statisti­ Einem einzelnen Beispiel sollte man nicht unbe­ ten zu können. Das ist wichtig, um Fehlschlüsse zu
mals gerecht werden können. Straßenreinigung, bei Wachdiensten oder in den ken, um dort Fälle aus der realen Wirtschaft zu dingt vertrauen, aber ähnliche Resultate erzielten vermeiden. Wenn Leute mit einer höheren Schul­
Das andere Vorurteil lautet, dass die gleichen Küchen von Restaurants. Einige Card und andere Ökonomen später bildung später im Leben ein besseres Einkommen
Ökonomen dann in politischen Fragen zu reflex­ Unternehmen können sich diese mit vergleichbaren Methoden in wei­ erzielen – ist das dann eine Folge dieser Schulbil­
artigen Aussagen neigen. Vordergründig stützten Arbeitskräfte dann nicht mehr leis­ teren untersuchten Fällen. Die Debat­ dung? Oder ist es eine Folge allgemein guter Start­
sie sich dabei auf ihre Modelle, in Wirklichkeit ten, also entlassen sie ein paar Leu­ te bekam dadurch einen neuen I­ mpuls. bedingungen, die sowohl eine gute Schullaufbahn
argumentierten sie aber häufig ideologisch.­ te. Die Arbeitslosigkeit steigt. Auch wenn man fairerweise sagen als auch einen guten Jobstart ermöglichen?
Gegenüber den meisten Wirtschaftsforschern ist Diese Erzählung war aber lange muss: Kein vernünftiger Ökonom hat Der israelisch-US-amerikanische Ökonom
das unfair, aber jeder hat schon mal solche­ schwer zu überprüfen. Wie sollte je behauptet, dass ein höherer Min­ zeigte, wie man solche Kausalketten mit einer raf­
Expertenauftritte in Talkshows erlebt: Ökono­ man das auch machen? Man könn­ destlohn in jeder Situation für Jobver­ finierten Auswahl der statistischen Daten herstel­
mieprofessoren, bei denen jeder vorher weiß, was te kaum einen Mindestlohn bloß luste sorgt. len kann. Und in dem konkreten Fall, den er da­
sie sagen werden. zu Testzwecken landesweit oder Nichtsdestoweniger reiben Wissen­ mals untersuchte, kam heraus: Mehr Bildung sorg­
Es ist also eine gute Idee, Ökonomen auszu­ regional einführen, und das auch schaftler aus anderen Fachbereichen te im Schnitt für ein höheres Einkommen.
zeichnen, die für das Gegenteil stehen: für einen noch über eine ausreichend lange sich vermutlich die Augen. Der Ein­ Der dritte Preisträger, der in den Niederlanden
radikal empirischen Blick auf die Welt; für For­ Zeit, um die Folgen zu beobach­ Joshua Angrist David Card ist an Guido Imbens satz von Kontrollgruppen ist in vielen geborene Guido Imbens, brachte noch mehr Sys­
schung, die ihre Erkenntnisse fortlaufend aus der ten. Und selbst wenn man es könn­ lehrt am Massa- der University of unterrichtet an Disziplinen längst Standard, und zwar tem in die Sache. Er schuf Grundlagen dafür,­
Wirklichkeit bezieht – und zwar gerade auch te, wären die Ergebnisse noch mit chusetts Institute California in der Stanford von der empirischen Sozialforschung natürliche Experimente in mehreren Stufen auszu­
dann, wenn diese Wirklichkeit den Erwartungen Vorsicht zu genießen. Laborexperi­ of Technology Berkeley tätig University bis zum Pharmatest. In der Wirt­ werten: einschließlich Vorab-Experimenten, die
aus den Modellen widerspricht. Der Alfred-­ mente unter kontrollierten Bedin­ schaftswissenschaft aber war das Card- sicherstellen, dass das verwendete Datenmaterial
Nobel-­Ge­dächt­nis­preis für Wirtschaftswissen­ gungen wie in den Naturwissen­ Krueger-Experiment damals etwas für die weitere Auswertung geeignet ist, und die die
schaften geht dieses Jahr an drei Forscher, die fürs schaften sind in den Sozialwissen­ Neues. Darauf waren noch nicht viele Gefahr falscher Kausalitäten weiter senken.
genaue Hingucken stehen. Eine gute Nachricht. schaften nur selten möglich. finden, wo sich Wechselwirkungen zwischen Min­ Kollegen gekommen. Wohl auch, weil sie zu viel Res­ Das Nobelpreiskomitee lenkt damit den Blick auf
Die Arbeit des Preisträgers David Card zeigt ein­ Ökonomiestudenten wird gleich im ersten­ destlöhnen und Beschäftigungslage ergeben hatten. pekt vor der Komplexität der Wirtschaftswelt hatten. einen wichtigen Beitrag aus den Wirtschaftswissen­
drücklich, wie dieses genaue Hingucken gelingen Semester die »ceteris paribus«-Annahme erklärt. Am Ende entdeckten sie zwei an­ein­an­der­gren­­­ »Die Preisträger haben gezeigt, dass viele der gro­ schaften, der in dieser Zeit der polarisierten Debatten
kann. Der gebürtige Kanadier hat zusammen mit Sie besagt: Ökonomische Wirkungsmechanismen zen­de Bezirke an der amerikanischen Ostküste – ßen Fragen der Gesellschaft beantwortet werden und der Talkshow-Ideologen fast untergehen könn­
seinem inzwischen verstorbenen Kollegen Alan B. lassen sich sauber aufzeigen, solange der Rest der einen in New Jersey und den anderen in Pennsyl­ können«, lobte das Nobelpreiskomitee am vergange­ te: Mit empirischen Methoden, wie die drei Preis­
Krueger im Jahr 1994 eine typische Reflex-Antwort Welt sich nicht verändert, solange also alles andere vania. In denen lief wirtschaftlich fast alles gleich, nen Montag, was vielleicht ein bisschen dick aufge­ träger sie entwickelt haben, können Ökonomen
der Ökonomen widerlegt. Damals ging es um gleich bleibt. Doch der Rest der Welt verändert aber in der einen Region wurde der Mindestlohn tragen ist. Auch der Begriff der »Glaubwürdigkeits­ heute besser denn je komplizierte Fragen rund um
Lohnpolitik, und die dazu oft gehörte ökonomische sich eben ständig. Wer weiß schon, welche Fakto­ erhöht und in der anderen nicht. In beiden verän­ revolution«, der für solche Forschung inzwischen Arbeitsmärkte, Bildung und soziale Fragen durch­
Wahrheit lautete: Wenn der Mindestlohn steigt, ren außer einem Mindestlohn sonst noch für Ent­ derte sich über den Beobachtungszeitrum hinweg verwendet wird, greift wohl ein bisschen hoch. Es dringen – und nützliche Aussagen treffen. Das wird
dann steigt auch die Arbeitslosigkeit. lassungen oder Einstellungen sorgen? Die Kon­ die Beschäftigungslage in Billigrestaurants. Die stimmt aber, dass die drei Nobelpreisträger sich ganz dann manchmal kompliziert. Dafür ist es wahr.

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CORONA

Ethisch grenzwertig
Das Ende der kostenlosen Corona-Tests soll vor allem den
Impf-Druck erhöhen. Das wird nichts bringen  VON MARTIN MACHOWECZ
Wer schon mal einen Haushalt geführt hat, weiß: kommen: Soll ich jetzt wirklich 20 Euro für den
Manchmal im Leben ist sparen die teuerste Ent­ Test ausgeben? Gehe ich dann nicht doch lieber
scheidung, die man treffen kann (und das gilt zum Hausarzt, wo es die Spritze gratis gibt?
nicht nur beim Kauf einer billigen, aber eben Doch diese Methode ist ethisch grenzwertig.
anfälligen Waschmaschine). Und noch dazu wenig erfolgversprechend.
Trotzdem haben diejenigen, die den Bundes­ Ethisch grenzwertig ist sie, weil der Impf-Druck
haushalt führen, sich jetzt zum Sparen in einer sehr nahe an eine Impf-Pflicht herankommt: Was,
Frage entschlossen, die das Land womöglich bald wenn sich ein Mensch keine Tests leisten kann? Um
besonders teuer zu stehen kommt: Seit Anfang sich dann noch ein Mindestmaß an gesellschaftli­
dieser Woche sind Corona-Schnelltests nicht mehr cher Teilhabe zu erhalten, ist er faktisch zum Imp­
kostenfrei. Wenn man bedenkt, dass der Staat bis fen gezwungen – oder dazu, sein gesellschaftliches
Mitte September mehr als fünf Milliarden Euro für Leben stark einzuschränken. Dieses Argument galt
Corona-Bürgertests ausgegeben hat, leuchtet sofort auch schon bei Einführung von 2G für bestimmte
ein, dass diese Entscheidung dem Finanzminister Bereiche – wenn also grundsätzlich nur noch Ge­
kurzfristig Erleichterung verschaffen wird. Und doch impfte oder Genesene eingelassen werden.
könnte sie sich, mit Blick auf die Entwicklung der Selbstverständlich kann man Menschen, die sich
Pandemie, als teurer Fehler herausstellen. nicht impfen lassen, für unsolidarisch halten. Und
Denn was passiert, wenn Tests für die Bürger­ selbstverständlich kann man argumentieren, dass
innen und Bürger nicht mehr kostenfrei sind? sie dafür nicht auch noch belohnt werden sollten,
Es bedeutet, dass einige derjenigen, die sich bis­ indem die Gemeinschaft ihnen das Testen bezahlt.
lang mehr oder weniger freiwillig in die Testzentren Sich impfen zu lassen oder nicht, das sollte doch
geschleppt haben, künftig darauf verzichten könn­ aber in einer freiheitlichen Gesellschaft so lange wie
ten. Weil das inzwischen zugleich eher diejenigen möglich eine persönliche Abwägung bleiben. Dass
sind, die auch impfskeptisch sind, verlieren wir etwa eine gesunde 18-Jährige mit der Impfung zö­
womöglich den Überblick über das Infektions­ gert – angesichts ihres geringen individuellen Risi­
geschehen ausgerechnet in der Gruppe, die uns am kos, schwer an Covid-19 zu erkranken: Das muss
meisten interessieren sollte: jener der Ungeimpften. man nicht gut finden, weil auch die 18-Jährige sich
Das wird, über kurz oder lang, Geld kosten: weil so einer pandemischen Solidarität entzieht. Ak­
sich das Coronavirus in bestimmten Teilen der zeptieren sollte die Gesellschaft solche Entscheidun­
Bevölkerung unbemerkt ausbreiten kann, weil da­ gen aber. Diese 18-Jährige bezahlt nun künftig einen
durch womöglich mehr Patientinnen und Patienten hohen Preis: 20 Euro an jedem Tag, an dem sie in
in Kliniken, auf Intensivstationen landen. Weil einen Club gehen will oder ins Café.
mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer krank Bei alldem kann man nicht einmal anneh­
ausfallen. Weil die Pandemie verlängert wird. men, dass kostenpflichtige Tests nun die Impf­
Es ging der Politik bei ihrer Entscheidung, die quote in die Höhe schnellen lassen. Umfragen
Schnelltests nicht mehr zu finanzieren, selbstver­ legen sogar das Gegenteil nahe. Schon jetzt ge­ Sicher, klimafreundlich und entspan
nnt.
ständlich nicht nur ums Geld, es ging ihr auch um ben diejenigen, die noch immer ungeimpft sind,
ein anderes Ziel: den Druck auf Ungeimpfte zu dafür in aller Regel zwei Gründe an: Erstens, dass Geschäftsreisen macht man mit der Bahn.
verstärken. Die Politik will denen, die sich bisher sie skeptisch gegenüber den Impfstoffen sind.
nicht haben immunisieren lassen, das Leben mög­ Zweitens, dass der gesellschaftliche Druck sie bahn.de/businessreisen
lichst unangenehm machen. Das wird zwar nicht noch skeptischer macht. Sie reagieren trotzig.
Mehr zum Klimaschutz bei der DB, z. B. durch den Einsatz von Ökostrom im Fernverkehr, unter bahn.de/gruen.
ausgesprochen, ist aber so. Wer ins Stadion will, Das Ende kostenloser Tests wird diesen Trotz
aber nicht geimpft ist, soll künftig ins Grübeln ganz sicher nicht mindern.
26 WIRTSCHAFT 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Biologin
Fachkraft im Gastgewerbe

Die neue
Reinigungskraft Drohnenpilot

Hauptsache, wachsen
Im September waren nur sieben von zehn Schnellzügen pünktlich – wieso die Bahn trotzdem glaubt, ihre Fahrgastzahlen verdoppeln zu können VON CLAAS TATJE

W
as Bahn-Chef Richard Alles wird besser, die digitalisierte Zukunft wird es der Fahrgäste im Fernverkehr gegenüber 2015 bis Drehgleis), dann klemmt die Tür, oder die Sig- mals mehr Geld in die Schiene als in die Straße
Lutz am Montag dieser schon richten. 2030 verdoppeln – auf 260 Millionen Mitreisende nale sind gestört. Eine Erklärung jedoch war dem fließen«. Aber reicht das? Mindestens 40 Milliar-
Woche auf der Mobili- Es stimmt ja: Ein Wunder hätte der Betrieb in im Jahr. »Das kann nur gelingen, wenn die Bahn Konzern im September so wichtig, dass er sie bei den Euro werde es laut Scheuer allein kosten, den
tätsmesse in Hamburg diesen Tagen nötig. Im September waren nur sieben zuverlässig und pünktlich ist«, sagt Detlef Müller, Bekanntgabe der offiziellen Verspätungsstatistik Deutschlandtakt zu etablieren.
verkündete, klingt erst von zehn Fernzügen pünktlich, den Konzern plagen Verkehrsexperte der SPD-Bundestagsfraktion und gleich mitveröffentlichte: »Insbesondere in der Die Milliarden für den Ausbau sollen vom
einmal großartig. »Die 30 Milliarden Euro Schulden, und die Fahrgäste früherer Lokführer der Reichsbahn. Auch der schei- ersten Septemberhälfte war der Schienenverkehr Bund kommen, aber der ist womöglich schon an
Eisenbahn ist in der digi- steigen aus Angst vor Corona noch längst nicht wie- dende CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer sieht infolge der dritten und längsten Streikwelle mas- anderer Stelle gefragt. Die Bahn ist mit mehr als
talen Zukunft angekommen«, sagte Lutz am Ran- der so zahlreich in die Züge wie vor der Pandemie. das so. Die Pandemie habe die große Verkehrswende siv beeinträchtigt.« 30 Milliarden Euro verschuldet, 2021 wird das
de einer Premierenfahrt in einer voll automatisier- Früher wäre all das nicht viel mehr wert gewesen ausgebremst: »Vor Corona waren wir bei der Bahn Konfrontiert man den Streikverantwortlichen Defizit wohl noch größer werden. Der Bund
ten S-Bahn. Von außen sah sie gewöhnlich aus, als ein Achselzucken, die Bahn halt, kennt man ja. auf einem sehr guten Weg. Jedes Jahr hatten wir Claus Weselsky von der Gewerkschaft Deutscher könnte diese Schulden – wie schon einmal vor
aber innen war sie vollgestopft mit Technik. Dann Im Herbst 2021 jedoch kommt es auf den Konzern neue Fahrgastrekorde.« Nun aber müssten die Rei- Lokomotivführer mit diesem Vorwurf, lacht er der Privatisierung – übernehmen. Danach könn-
fuhr der Triebwagen los – die Lokführerin war nur mehr an denn je, das ist auch den Parteien bewusst, senden neu »fürs Bahnfahren begeistert werden«. schallend. Weselsky findet, dass »die Leute hier von te das Unternehmen wieder mehr Investitionen
noch zur Sicherheit an Bord. die gerade in Berlin über eine künftige Regierung Möglich sei das nur mit sauberen, perfekt getakteten der Bahn für dumm verkauft werden«. Der Streik aus eigener Kraft stemmen. Christian Böttger, der
So, hofft Lutz, könnte es bald öfter laufen: die verhandeln. Deutschland soll klimaneutral werden, Zügen – und bei, na ja: Pünktlichkeit. habe zwar zu massenhaften Zugausfällen geführt, Bahn-Experte, hält davon jedoch wenig: »Wenn
Bahn auf Autopilot. Der Chef sieht darin eine ge- und ohne eine stärkere Bahn wird das kaum klap- Mit der Pünktlichkeit allerdings ist das gerade aber ausgefallene Züge könnten sich nicht verspäten der Eigentümer der Bahn zusätzlichen finanziel-
waltige Chance: »Mit dem automatischen Bahn- pen. Nicht umsonst stellt das Unternehmen gerade wieder so eine Sache. Die Erklärungen für die Ver- und würden daher in der Statistik nicht aufgeführt. len Spielraum verschafft, sollte er sicherstellen,
betrieb können wir unseren Fahrgästen ein deutlich Tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein – spätungen sind so zahlreich wie die spontanen Gleis- »Der Vorwurf ist insofern eine Unverschämtheit«, dass diese Mittel zielgerichtet zur Verbesserung
größeres, zuverlässigeres und damit besseres Angebot pro Jahr (siehe Artikel rechts). wechsel an einem gewöhnlichen Montagmorgen. sagt Weselsky. Ein Bahnsprecher widerspricht des Verkehrs eingesetzt werden.« Sonst könnten
machen – ohne einen Kilometer Gleis neu bauen zu Die Ziele nämlich, die sie sich bei der Bahn ge- Mal ist der Scheibenwischer kaputt, und der Zug vehement. Die Streiks hätten den Bahnbetrieb sich die Manager wie »allein gelassene Kinder in
müssen.« Klingt fast, als setze Lutz auf ein Wunder: setzt haben, sind ehrgeizig. So soll sich etwa die Zahl muss wenden (ein mühsames Unterfangen ohne völlig aus dem Takt gebracht. Die aber sind ja nun einem Bonbonladen« unkontrolliert bedienen.
erst mal Geschichte. Woran liegt es noch, dass die Schon heute sei die Bahn an zu vielen Unter-
ANZEIGE Bahn gerade mal wieder neben der Spur ist? nehmen beteiligt und kaufe mit ihrer Tochter
Ein Grund ist, dass sich das Unternehmen in Deutsche Bahn Digital Ventures munter weitere
den vergangenen Jahrzehnten schlicht zu wenig Start-ups. »Diesen Luxus sollte man sich eigent-
um sich selbst gekümmert hat. Strecken wurden lich nur gönnen, wenn man auch das Geld dafür
stillgelegt, an Zügen und Personal wurde gespart hat«, sagt Böttger.

Wir machen Private


– auch weil die Bahn unter dem SPD-Kanzler Schaut man in die Wahlprogramme der Par-
Gerhard Schröder fit für die Börse gemacht wer- teien, die gerade in Berlin verhandeln, könnte
den sollte. Davon rückte Angela Merkel bald ab. Böttger zufolge Besserung in Sicht sein. Die FDP
Aber die Wende kam viel zu spät, denn die äußert sich nicht, die designierten Regierungspar-
Herausforderungen waren stetig gewachsen. teien Grüne und SPD jedoch scheinen sich einig:

Equity weniger private.


2001 fuhren die Züge auf deutschen Glei- Sie halten wenig vom Expansionsdrang der Ver-
sen 977 Millionen Kilometer. 2019, im letzten gangenheit. Die Bahn solle sich aufs »Kern-
Jahr vor der großen Krise, waren es noch ein- geschäft« ausrichten, fordern fast wortgleich Grü-
mal 50 Millionen Kilometer mehr. Allein dafür ne und SPD in ihren Wahlprogrammen.
brauchte man mehr Personal und mehr Züge. Und wie Bahn-Chef Richard Lutz sehen
Hinzu kommt eine weitere Herausforderung, auch die Parteien großes Potenzial in einer stär-
die erst einmal seltsam klingt: All das geschieht ker digitalisierten Bahn. Bei optimaler Steue-
auf deutlich geringerem Platz, denn das Schie- rung, so die Idee, könnten nicht nur Züge in
Smartes Geld setzt auf Private Equity. nennetz ist kleiner geworden. Von 2001 bis geringerem Abstand zueinander fahren. Die
Ab 200.000 Euro profitieren Sie von bisher unzugänglichen Renditechancen und 2019 schrumpfte es um über 2000 Kilometer unterschiedlichen Geschwindigkeiten könnten
auf 33.700 Kilometer. auch besser aufeinander abgestimmt werden,
beteiligen sich an Unternehmen mit unerschlossenem Potenzial – ganz unabhängig Die Folge: Die Belastungen an den viel sodass ein langsamer Güterzug den ICE nicht
befahrenen Punkten werden immer größer, denn mehr ausbremst, sondern zur perfekten Zeit
von Entwicklungen an der Börse. Möglich wird dies durch unsere Zusammenarbeit natürlich verteilt sich der zusätzliche Verkehr auf ein Ausweichgleis rumpelt.
mit den weltbesten Fonds, verbunden mit innovativer, digitaler Technologie. nicht gleichmäßig von Flensburg nach Oberst- Zudem, so wollen es die Grünen, sollen bis
dorf. »Der Großteil des Verkehrswachstums kon- 2035 rund 100 Milliarden Euro zusätzlich in
zentrierte sich da, wo es sowieso schon gebrummt Schienennetz und Bahnhöfe investiert werden.
hat«, sagt Christian Böttger, Bahnexperte der Finanziert werden soll das laut Wahlprogramm
Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. auch, indem bei Spediteuren abkassiert wird –
Wenn dann, wie vergangenen Donnerstag bei über die Lkw-Maut.
Göttingen, eine Fliegerbombe entschärft wird, Würde es so weit kommen, wäre das ein echter
Willkommen im Club der Top Fonds. Auszug unserer Partner sind die Auswirkungen bis nach Hamburg, Mün- Richtungswechsel, denn bislang hofierte noch
chen und Stuttgart zu spüren – mit rekordver- jede Regierung die Autofahrer, wo es nur ging.
dächtigen Verspätungen von bis zu 300 Minuten. Mit acht Milliarden Euro im Jahr werden bis
Analysiert man solche Probleme, klingen die heute Dieselfahrer subventioniert, weil der Treib-
Versprechen der Bahn fast größenwahnsinnig. stoff günstiger besteuert wird. Pendler können
Ab Dezember solle es, so verkündete die Bahn Autokilometer unbegrenzt in der Steuererklärung
vergangene Woche, auf acht der zehn stärksten geltend machen, während die steuerlich relevan-
innerdeutschen Flugstrecken »eine schnelle und ten Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel auf
umweltfreundliche Alternative zum Flugzeug« 4500 Euro limitiert sind.
Finden Sie heraus, wie Sie von diesem renditestarken geben. Dreimal täglich soll es dann von Berlin Gibt es also Hoffnung, dass sich bald etwas
Depotbaustein profitieren können: LIQID.de/pe ohne Zwischenhalt in unter vier Stunden nach ändert? Könnte Bahn-Chef Lutz recht behalten mit
Köln gehen, bis zu 30 Minuten schneller als heu- seinem Versprechen einer glorreichen Zukunft?
te. Auch von Düsseldorf über Köln nach Mün- Kaum, wenn man ausgerechnet einen alten Weg-
chen soll es eine halbe Stunde schneller gehen. gefährten von Lutz fragt: Volker Kefer. Der war
Und ein Abendsprinter soll die Fahrgäste von viele Jahre Infrastrukturvorstand bei der Bahn.
Berlin in weniger als vier Stunden nach Mün- Herr Kefer, kann es tatsächlich gelingen, die
chen befördern. Fahrgastzahlen im Fernverkehr zu verdoppeln?
All diese Verbindungen sind Vorboten für den Kefer sagt: »Wenn Sie fragen, wer ist für den
Jetzt informieren:
Deutschlandtakt, der ebenfalls im Dezember seinen Ausbau der Deutschen Bahn? Dann schreien alle:
.de Anfang nimmt. Auf der Strecke Hamburg–Berlin
pendeln die ICEs dann im Halbstundentakt.
Hurra.« Aber wenn es an die Details gehe, an die
Frage, wo das zweite Gleis gebaut werde, dann
030 3080 7083 Fragt sich nur: Wer soll das bezahlen? Zwar rege sich schnell massiver Widerstand. Kefer
wurden die Investitionen in den vergangenen fürchtet: »Die Verdopplung der Fahrgastzahlen
Nur für semi-professionelle und professionelle Anleger. Nicht für Privatanleger im Sinne des KAGB geeignet. Jahren, so sagt es Andreas Scheuer der ZEIT, »ste- wird unter diesen Umständen in den nächsten
tig gesteigert«. Im kommenden Jahr, sagt Scheuer, acht Jahren nicht gelingen.« Da nützt dann auch
»würde nach unserer Finanzplanung sogar erst- der schönste Autopilot nichts.
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 WIRTSCHAFT 27

Expertin für digitale Prozesse

Schrankenwärter
Projektingenieurin/Spezialistin
Leit- und Sicherungstechnik

Lokführerin

Bahn

ZEIT-GRAFIK: Jelka Lerche; Quelle: Unternehmensangaben


Deutsche Bahn Reisende im Fernverkehr Investitionen Nettoschulden Jahresergebnis

in Zahlen
29,3 0,68
über 13,1 14,4 24,1 Mrd. €
150,7 Mio. Mrd. €
180 Mio. Mrd. € Mrd. € Mrd. €
81,3 Mio.
2019 2020 2024 2019 2020 2019 2020 2019 2020

– 5,7

20.000 Kollegen gesucht


Mrd. €

Die Bahn stellt jährlich eine Kleinstadt neuer Mitarbeiter ein, vom Lokführer bis zum Drohnenpiloten. Und wofür braucht sie Bienen-Experten? VON CLAAS TATJE

S
o freundlich werden Fahrgäste der Drohnen steuern können. Mit diesen überfliegt fahren, »die in Echtzeit intelligent und automatisiert liche Intelligenz: »Eine solche Vielfalt gibt es in kommen rund 60 weitere hinzu. Zugbegleiter,
Bahn weder am Gleis noch im Ab- die Bahn das Gleisnetz und kontrolliert Baufort- gesteuert werden, die ihre Umwelt und ihre Position kaum einem Großkonzern«, sagt die Leiterin der Reinigungskräfte, Lokführerinnen – und natür-
teil begrüßt: »Willkommen, Du schritte, überwacht die Oberleitung und den durch Sensorik erkennen«. So zumindest versprechen Personalgewinnung, Kerstin Wagner. Sie führt un- lich das Personal im Bordbistro:
passt zu uns.« Erst eine Reise ins Grünschnitt. In den vergangenen Jahren hat die es die Projektantreiber um Infrastrukturvorstand ter dem Personalvorstand Seiler ein Team von 800
Internet garantiert diese nette An- Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Ronald Pofalla. Noch läuft da allerdings so viel schief, Mitarbeitern – die im vergangenen Jahr kurzzeitig Zum 1. September 2022 suchen wir Dich für die
sprache: Der Stellenmarkt auf Bauprojekte um 50 Prozent zugelegt – auf heute dass auch dieser Beruf aus dem 19. Jahrhundert unbe- vor einer riesigen Herausforderung standen. »Mit 2-jährige Ausbildung zur Fachkraft im
www.karriere.deutschebahn.com ist über 12.000. dingt besetzt werden muss: der Pandemie fielen urplötzlich über 600 Veranstal- Gastgewerbe bei der DB Fernverkehr AG (...)
ohne Beispiel in deutschen Großkonzernen. Der Mann, der die richtigen Leute einstel- tungen, darunter viele Jobmessen, aus«, sagt Wag- Während Deiner Ausbildung wirst Du zum
25.000 Stellen hat die Bahn im vergangenen Jahr len muss, heißt Martin Seiler. Vor der Bahn hat Schrankenwärter (w/m/d), Direkteinstieg, ner. Die sind enorm wichtig für den Konzern, um Profi im Service, sowohl im Bordrestaurant als
allein in Deutschland besetzt – eine Kleinstadt an er bei der Telekom gearbeitet, auch ein Riesen- Fachkraft. neue Leute zu finden. »Wir haben dann blitzschnell auch im Bordbistro in unseren Zügen.
neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und das laden, aber solch einen Jobboom hatte der Per- virtuelle Interviews und Veranstaltungen etabliert.«
mitten in der Pandemie. 2021 wird sie trotz Rekord- sonalvorstand noch nie verantwortet. »Wir Am Standort Ofenerdiek im niedersächsischen Olden- Umständliche Motivationsschreiben sind schon seit Gegessen wird auf der Reise eben immer. Es sei
schulden erneut 20.000 neue Leute einstellen, aus- stellen allein in diesem Jahr 5000 Auszubilden- burg erwartet Bewerberinnen und Bewerber bei der 2018 Geschichte, Interessenten können sich direkt und denn, der Ofen ist kaputt. Oder die Kasse abge-
gewählt aus mehr als 410.000 Bewerbungen, die den de ein. All das tun wir, um das Unternehmen DB Zeitarbeit GmbH Folgendes: »Im Rahmen der ca. minutenschnell online bewerben. »Wenn ich im Inter- schlossen. Oder die Spülmaschine klemmt. Oder
Konzern jährlich erreichen. Mit diesen Rekorden soll zu stärken und den Klimawandel zu stoppen.« zwei- bis vierwöchigen Funktionsausbildung wirst net ein Buch bestelle, ist es am nächsten Tag da. Eine der Biernachschub fehlt. Oder die Pappbecher
dann der nächste geknackt werden. Bis 2030 will die Das Jobwunder bei der Bahn soll den Kli- Du zum Schrankenwärter weitergebildet.« Der be- Bewerbung darf da nicht komplizierter sein«, sagt wurden am Bahnhof vergessen. Wer hier lernt,
Bahn ihre Fahrgastzahlen verdoppeln. Und zwar mawandel aufhalten? Das klingt super – und fristete Arbeitsvertrag solle niemanden von einer Be- Wagner, die ihre Karriere einst bei Siemens begann. wird nebenbei auch zum Improvisationstalent.
gegenüber dem Jahr 2015. viel besser als die schlichte Tatsache, dass die werbung abhalten: »Im Jahr 2020 wurden 49 Prozent Blickt man allein auf Deutschland, so sind in Willkommen bei der Deutschen Bahn.
Ein Blick in ihren Stellenmarkt zeigt, wie komplex einstige Behörde Deutsche Bundesbahn über- unserer Mitarbeitenden in den Konzern übernommen.« den vergangenen beiden Jahren 13.000 zusätzli-
die Strategie zu diesem Ziel ist: Wer offene Stellen altert ist. Von den heute 219.000 Beschäftigten Vom Schrankenwärter bis zum Experten für künst- che Stellen geschaffen worden. Mit jedem ICE !www.zeit.de/vorgelesen
betrachtet, erfährt, welche Fähigkeiten gebraucht stehen Zehntausende vor der Rente, in den
werden, wo die Bahn digital und innovativ sein will nächsten zehn bis zwölf Jahren werden rund ANZEIGE
– und wo sie mit Problemen kämpft. Mehr als 500 100.000 Mitarbeitende das Unternehmen
Berufe sind im Angebot. altersbedingt verlassen. Der Konzern will diese
Stellen neu besetzen und zugleich zusätzliche
Zum nächstmöglichen Zeitpunkt suchen wir Jobs schaffen.
Dich als Projektingenieur Umweltschutz für die Der Vorteil des Konzerns dabei: Seit die
DB Netz AG am Standort Frankfurt am Main. Bundesregierung die Bahn als »Deutschlands
schnellsten Klimaschützer« entdeckt hat, ist sie 2022/23 Saison-Premiere!

Der Moment
Umweltwissenschaftler sorgen beispielsweise dafür, von Sparrunden des Finanzministeriums aus-
dass die Bahn Genehmigungsauflagen zum Natur- genommen. »Die hohen Investitionen wurden
und Artenschutz einhält. Wenn zwischen Müllheim auch in der Pandemie fortgesetzt. Alle Anstren-
und Auggen in Südbaden Wildtiertunnel gebaut oder gungen sind darauf ausgerichtet, den Deutsch-

ist jetzt
wenn in München S-Bahn-Brücken versetzt werden, landtakt umzusetzen«, sagt Seiler.
kontrollieren sie die Folgen für die Natur, kartieren Mit dem Deutschlandtakt soll die Bahn end-
Vorkommen von Reptilien, Wildbienen oder lich zuverlässiger werden – und das schon beim
Schmetterlingen und organisieren Umsiedlungen. Fahrplanwechsel im Dezember. Auf der Strecke
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Berlin–Hamburg sind künftig 60 Fahrten pro Tag
geplant. So soll es in der ganzen Republik weiter-
gehen.

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AKTUELLEN AUSGABE: Sicherungstechnik im Knoten Hbf (w/m/d)
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In Frankfurt zum Beispiel ist geplant, den chro-

Deutsche
nisch überlasteten Hauptbahnhof mit täglich Flex-
Option
450.000 Reisenden komplett umzubauen, mit
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Tunneln, neuen Gleisen und Anbindungen. In
Unternehmen
© Erika Tiren

der Stellenbeschreibung heißt es: »Der Knoten


in der China-Falle Frankfurt ist das zentrale Herzstück des deut-
schen Schienennetzes. Als Team ist es unsere
Aufgabe, den Knoten Frankfurt fit für die Zu-
kunft und den Deutschlandtakt zu machen.«
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Dieser Experte soll laut Ausschreibung den Auf-


Bauüberwacher, die die Bahn in Ostdeutschland bau eines »der zukunftsweisendsten Bereiche in
sucht, arbeiten mit den Umweltwissenschaftlern der Geschichte des Schienenverkehrs« voran-
Hand in Hand. Sie koordinieren die Auftragnehmer bringen. Tatsächlich könnten am Ende vollauto-
und Baubeteiligten und sollen, das ist wichtig, auch matisierte Züge in kürzeren Abständen als heute
28 WIRTSCHAFT 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Warum entlässt Gorillas Fahrradkuriere?


Nach monatelangen Streiks spitzt sich der Konflikt beim Berliner Lieferdienst zu – mit Folgen für die ganze Branche. Fünf Fragen zur Lage  VON KATHARINA KOERTH

Was ist los Was sagt der Wie ist Gorillas Wie geht es
bei Gorillas? Lieferdienst Gorillas? Position im Markt? jetzt weiter?

Seit acht Monaten streiken Fahrradkuriere des Im Sommer hatte sich Kağan Sümer, der Grün- Das Geschäftsmodell von Gorillas ist weder neu Bisher haben die Proteste und Berichte über die Ar-

Foto: Bartosz Ludwinski


Lieferdienstes Gorillas in Berlin immer wieder, der von Gorillas, noch bei einem Streik zu den noch kompliziert. In vielen deutschen Städten beitsbedingungen bei Gorillas Investoren nicht abge-
blockieren Lagerhäuser und fordern bessere Ridern gestellt und von seiner Leidenschaft fürs sind im vergangenen Jahr Express-Lieferdienste schreckt, wie die offenbar abgeschlossene neue Fi-
Arbeits­bedingungen. Sie klagen über dürftige Fahrradfahren erzählt. Er versprach damals, nie- entstanden. Gorillas war im Juni 2020 das erste nanzierungsrunde zeigt. Aber sie scheinen auf die
Arbeitskleidung, Unfälle und Rückenschmerzen, mandem wegen des Streiks zu kündigen. Nun dieser Unternehmen in Deutschland, seither lie- Kundschaft zu wirken: Das Institut Civey befragte
fehlende Pausen und mangelnden Brandschutz nennt Gorillas als Grund für die Kündigungen fert es in 55 Städten in neun Ländern. Streiks gibt Menschen im Juli nach ihrer Meinung zu Gorillas.
in Lagerhallen. Die Gewerkschaft ver.di berich- »illegale Streiks«. es offenbar aber nur in Deutschland. Hier konkur- Von jenen, die das Unternehmen kannten, gaben 62
tet zudem von fehlenden Gehaltszahlungen. Man habe die Arbeitsverhältnisse derjenigen riert Gorillas mit Flink und mit Start-ups wie Prozent an, dass sich ihre Meinung zur Firma durch
Mit den Streiks und Blockaden gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beendet, die Grovy oder Bring. Aber auch große Marken wie die Arbeitskämpfe verschlechtert habe. Nun heben
Gorillas-­Angestellten einen in der Branche der Lie- sich daran beteiligt hätten, teilte das Unterneh- Amazon liefern Einkäufe. Gleichzeitig treten An- die fristlosen Kündigungen und die Proteste den
ferdienste unüblichen Weg. Bei keinem Konkur- men mit: »Solche unangekündigten und nicht­ bieter aus dem Ausland in den Markt ein, wie Streit auf ein neues Level.
renten gab es bisher solche drastischen und wieder- gewerkschaftlich getragenen Streiks sind rechtlich Getir aus der Türkei oder Wuplo aus Russland. Das dürfte auch jenen nicht entgangen sein, die
holten Arbeitsniederlegungen – auch wenn die oft unzulässig. Nach intensiven Abwägungen sehen Eine Gorillas-Fahrerin liefert Einkäufe Alle Firmen versuchen sich durch möglichst Gorillas gern anstellen würde. Beim Werben um Ar-
niedrig qualifizierten Beschäftigten in vielen Unter- wir uns gezwungen, diesen rechtlichen Rahmen schnelles Wachstum durchzusetzen. Profitabel ist beitskräfte steht das Start-up in Konkurrenz zu Logis-
nehmen derzeit anfangen, sich zu emanzipieren nun durchzusetzen.« wohl noch keine, aber an Risikokapital zu kom- tikfirmen wie Amazon und der Gastronomie. Oft
und zu organisieren. Die Streiks bei Gorillas sind Die Teilnahme an einem »wilden Streik« könn- men ist nicht schwer – die Nachfrage nach schnell nehmen Studierende, Minijobber und Menschen mit
insofern weit über die Firma hinaus von Interesse. te vor Gericht als Kündigungsgrund durchgehen, Wie ist die Lage bei gelieferten Lebensmitteln steigt. Im März gaben Migrationshintergrund Jobs in diesen Branchen an,
Das Versprechen von Gorillas ist einfach: Das denn in Deutschland können nach bisheriger anderen Lieferdiensten? Investoren 245 Millionen Euro an Gorillas, das weil kaum Sprach- oder Vorkenntnisse nötig sind.
Unternehmen will Einkäufe innerhalb von zehn Rechtsprechung nur Gewerkschaften zu legalen Unternehmen wurde damit zum Einhorn. So wer- Nach den Kündigungen in Berlin twitterte das ­Gorillas
Minuten zu Supermarktpreisen liefern. Bestellt Streiks aufrufen. Ver.di nutzt Streiks als letztes Die Aktionen der Gorillas-Beschäftigten stechen den Start-ups genannt, die mit mehr als einer Mil- Workers Collective, dass im Kreuzberger Bergmann-
wird per App, dann suchen sogenannte Picker in Mittel bei Tarifverhandlungen, aber die gibt es bei heraus, Proteste gibt es aber auch bei anderen Liefer- liarde Euro bewertet werden. kiez eine Agentur tageweise einsetzbare Fahrerinnen
einem Lagerhaus in der Nachbarschaft die Artikel Gorillas bisher nicht. Die Gewerkschaft unter- diensten. Im vergangenen Winter etwa demons- Der Anbieter Flink ist erst dieses Jahr gestartet und Fahrer vermittelt habe – Gorillas muss nun­
zusammen, Getränke, Fleisch, frisches Obst.­ stützt die Streiks deshalb nicht. trierten Rider von Lieferando und Wolt für bessere und hat schon nachgezogen. Im Juni sammelte das offenbar auf die Art von Arbeit zurückgreifen, von der
Kuriere, sogenannte Rider, liefern die Einkäufe in Allerdings ist umstritten, ob die fristlosen Kündi- Arbeitsbedingungen. Sie forderten die Kundschaft Start-up 200 Millionen Euro ein – und verkün­ man sich anfänglich noch distanziert hatte.
großen Rucksäcken per E-Bike aus. gungen rechtmäßig sind. Es könnte sein, erklärt die auf, bei Kälte und Eis kein Essen online zu bestellen. dete, seine Produkte künftig von Rewe zu bezie- Einige der gekündigten Fahrerinnen und Fahrer
Wegen der andauernden Proteste traf sich Bun- Berliner Rechtsanwältin Tanja Ruperti, dass die Rider Eine Entwicklung aber ist bei vielen Lieferdiens- hen. Gerade erst sollen beide Unternehmen eine wollen sich wehren: Sie rufen dazu auf, die Kündi-
desarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schon im zuvor hätten abgemahnt werden müssen. Ein Gericht ten zu beobachten: Die Belegschaften der Unterneh- weitere Finanzierungsrunde mit noch höheren gungen vor Gericht zu bringen. Beim Arbeitsgericht
Juli mit Beschäftigten. Die Firma setzte kleinere wird sich nun womöglich um diese Frage kümmern. men wollen Betriebsräte gründen. Lieferando hat Summen abgeschlossen haben. Bei Gorillas will Berlin sind bereits 23 Kündigungsschutzklagen ein-
Rucksäcke und ein neues Schichtplanungstool ein Gorillas warb von Beginn an mit dem Verspre- bereits in mehreren Städten lokale Betriebsräte. Bei offenbar der Dax-Konzern Delivery Hero einstei- gegangen. Einige Kündigungen seien bereits wieder
– doch die Streiks hielten an und erreichten am ver- chen, bessere Arbeitsbedingungen zu bieten als­ Gorillas bereitet ein Wahlvorstand seit Juni mit­ gen, und der US-Lieferdienst Doordash soll nun zurückgenommen worden, sagte der Anwalt Martin
gangenen Mittwoch einen neuen Höhepunkt:­ andere Lieferdienste. Noch im September sagte der Unterstützung von ver.di eine Betriebsratswahl vor. Flink finanziell unterstützen. Bechert dem RBB.
Gorillas hatte zahlreiche außerordentliche Kündigun- Firmengründer Sümer in der Frankfurter Allgemeinen Doch in beiden Unternehmen werfen Angestellte Experten erwarten, dass sich langfristig nur Das Unternehmen schweigt zu alldem weit­
gen an Beschäftigte in Berlin und Leipzig ausgespro- Sonntagszeitung, Gorillas würde die Beschäftigten den Führungskräften vor, die Wahl von Betriebsräten wenige Unternehmen durchsetzen werden, viel- gehend. Auch auf Anfragen der ZEIT reagierte es
chen, die im Verdacht standen, gestreikt zu haben. »bestimmt nicht« ausbeuten. »Bei uns sind alle Fah- behindern zu wollen oder zu verlangsamen. Lieferan- leicht auch nur eines. Das hat sich bereits bei den nicht. Mit der Eskalation dürften die netten Worte
Ver.di spricht von 350 Betroffenen, das Gorillas rer angestellt.« do verlor dazu nach Berichten der Tagesschau jüngst Essens-Bringdiensten gezeigt: Jahrelang bekämpf- und Zugeständnisse an die Streikenden vorerst vorbei
Workers Collective, ein Zusammenschluss von­ Man sei kein Teil der Gig Economy, also des Teils zwei Prozesse in Köln und Frankfurt und musste vom ten sich Delivery Hero und die Firma Just Eat sein. Gleichzeitig muss Gorillas den richtigen Ton
Angestellten, von »Massenkündigungen« fast aller des Arbeitsmarkts, in dem Aufträge über Plattformen Wahlvorstand angefragte Mitarbeiterlisten raus­ Take­away, zu der Lieferando gehört. Nach und treffen, um dringend benötigte neue Fahrerinnen und
Beschäftigten in drei Berliner Vierteln. Vor der Fir- kurzfristig an Selbstständige vergeben werden. Die rücken. Das Gorillas Workers Collective schrieb auf nach übernahm der Lieferando-Mutterkonzern Fahrer anzuwerben und Investoren und Öffentlich-
menzentrale in Berlin kam es zu Protesten. »We fire Fahrerinnen und Fahrer bekämen einen Lohn von Twitter, einem Mitglied des Wahlvorstands sei­ mehrere Konkurrenten, am Ende verkaufte auch keit weiter von sich zu überzeugen.
in 10 minutes«, hieß es auf einem Transparent, »Wir 10,50 Euro die Stunde plus Trinkgeld. So viel zahlen gekündigt worden. Das Unternehmen bestätigte dies Delivery Hero sein Deutschlandgeschäft an den Sonst gewinnt ein anderer Lieferdienst den
feuern in zehn Minuten«. die Konkurrenten wie Lieferando auch. gegenüber der ZEIT nicht. Wettbewerber. Wettbewerb.

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Herbert Niederfriniger Dr. Deborah Zani


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Foto: Arne Piepke


Statt alter Energieversorgung neue Technologien fördern: Das Foto zeigt einen Grubenwehr-Helfer bei einer Übung

Wie wir die Zukunft finanzieren können


Die Ökonomen LARS FELD und MARCEL FRATZSCHER entwerfen die Idee einer neuen Finanzpolitik, die Investitionen trotz Schuldenbremse ermöglicht

Sie sind zwei Wissenschaftler, die oft gegen- etwa durch die Abschaffung von Ausnahmen Klimaschutz und Digitalisierung. Beide Elemente zu- bereit, sie zu tätigen, wenn sie eine verlässliche Per- zu schaffen, damit der Bundestag seiner Kontroll-
sätzliche Positionen vertreten. Auf der einen bei der Mehrwertsteuer und bei der Subventio- sammen geben der neuen Bundesregierung die Mög- spektive haben. Der Fonds geht hier mit einer ver- funktion erfolgreich nachkommen kann.
Seite Lars Feld, der in Freiburg Wirtschafts- nierung von Dieselkraftstoff – und für die Län- lichkeit, die zusätzlichen Investitionen und steuerlichen bindlichen Bereitstellung der notwendigen Gelder in Die neue Bundesregierung muss wichtige Wei-
politik lehrt und als eher konservativer der durch eine Erbschaftsteuer mit weniger Entlastungen für Klimaschutz, Digitalisierung und Vorleistung und erhöht so die Verlässlichkeit. Zudem chenstellungen für die Transformation der deutschen
Ökonom gilt, der zum Beispiel lautstark die großzügigen Ausnahmen. Innovation bei voller Einhaltung der Schuldenbremse sind Rechenschaftspflichten und ein Verbot der Wirtschaft vornehmen. Sie braucht eine Transforma-
Schuldenbremse verteidigt. Auf der anderen Ein Teil der Finanzierung könnte auch eine ab 2023 zu meistern. Zweckentfremdung der Investitionsmittel wichtige tionspolitik, die einerseits zusätzliche öffentliche­
Seite Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Steuerreform sein, die Unternehmen zielgenau Die Stärke einer solchen Transformationspolitik Elemente. Um die Gefahr zu minimieren, dass für Investitionen bereitstellt und private Investitionen
Instituts für Wirtschaftsforschung, der eher steuerlich entlastet und grüne sowie digitale­ ist ihre Zuverlässigkeit und Planbarkeit. Die ökologi- Klimaschutz oder Digitalisierung vorgesehene­ mobilisiert und die andererseits finanzpolitisch solide
sozialdemokratische Positionen vertritt, etwa Investitionen anstößt, idealerweise über die Mög- sche und digitale Transformation erfordert hohe pri- Investitionen in konsumtive staatliche Zwecke flie- und vereinbar mit der Schuldenbremse ist. Dieser
seit Jahren hohe Investitionen fordert. Nun lichkeit von Sofortabschreibungen für Unterneh- vate Investitionen. Die Unternehmen sind aber nur ßen, ist es essenziell, Mechanismen und Kontrollen Spagat ist schwierig, aber möglich.
haben die beiden gemeinsam überlegt: Woran men bei Investitionen zum Erreichen der Klima-
sollte sich die künftige Regierung finanzpoli- neutralität. Die steuerliche Entlastung von kleinen
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D
tisch orientieren? und mittleren Einkommen, um die Progression
und hohe Grenzsteuersätze abzumildern, kann die
ie Wirtschafts- und Finanz- Beschäftigung erhöhen. Erforderlich ist eine Ver-
politik Deutschlands hat einfachung des Steuersystems, die Hand in Hand
eine entscheidende Weg­ mit dem Abbau von Steuersubventionen geht.
gabelung erreicht. Selten in Die zweite Komponente der Transformations-
den vergangenen 70 Jahren politik muss die Vereinbarkeit von Zukunftsinves-
standen Wirtschaft und titionen und Schuldenbremse sein. Die Schulden-
Gesellschaft vor so grund- bremse mag in ihrer Ausgestaltung verbesserungs-
legenden Herausforderungen – beim Klima- würdig sein, aber die öffentliche Verschuldung an
schutz, bei der digitalen Transformation und bei Regeln zu binden ist grundsätzlich richtig und
Bildung und Innovation. Die neue Bundesregie- eine Neuverhandlung der gegenwärtigen Schul-
rung muss jetzt die Weichen nicht nur für die denbremse politisch nicht realistisch. Die neue
kommenden vier Jahre, sondern für künftige Bundesregierung muss einen Weg finden, die­
Generationen stellen. Die Zeit drängt, wenn die erforderlichen Zukunftsinvestitionen zu tätigen,
Klimaschutzziele erreicht und die Wettbewerbs- ohne den Sinn der Schuldenbremse zu entstellen.
fähigkeit der deutschen Wirtschaft gesichert wer- Wir sehen zwei Elemente der Finanzierung,
den soll. Die Regierung darf nicht zaudern oder mit denen dies gelingen kann. Das erste Element
sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner eini- ist die Bildung eines Transformationsfonds, in den
gen. Stattdessen braucht sie eine überzeugende die neue Bundesregierung einmalig im Haushalt
Transformationsagenda für Zukunftsinvestitio- des kommenden Jahres 200 Milliarden Euro für
nen mit einer soliden Finanzierung, die im Koali- die nächsten vier Jahre einstellt, mit spezifischen
tionsvertrag festgeschrieben werden muss. Auflagen für deren Verwendung. Es handelt sich
Unter Wissenschaftlerinnen und Wissen- dabei um eine Art Rücklage wie die im Jahr 2016
schaftlern besteht weitgehender Konsens über die gebildete Asylrücklage von ursprünglich 48 Milli-
künftige Ausrichtung der Finanzpolitik. Die neue arden Euro, die über ein paar Jahre die Kosten der
Bundesregierung muss als Katalysator für private Integration und Unterbringung der Flüchtlinge
Investitionen agieren: bei Innovation, Klima- finanzieren sollte. Anders als die damalige Rück-
schutz und digitaler Transformation. Im Zuge lage soll die neue aber nicht aus Haushaltsüber-

Wie Sie Umwelt und


dessen muss der Staat selbst erhebliche zusätzliche schüssen gebildet werden, sondern aus Verschul-
Investitionen tätigen. dung oder Kreditermächtigungen. Das müssen
Gleichwohl bestehen Zweifel, ob dies in der nicht ausschließlich neue Kredite sein. Ein Teil
aktuellen Lage der öffentlichen Haushalte mit der dieser Summe kann aus bestehenden, aber noch

Umsatz gerecht werden?


Schuldenbremse vereinbar ist. Schon jetzt klafft nicht abgerufenen Corona-Programmen finan-
ein Defizit im Bundeshaushalt für die kommen- ziert werden. Sie waren schließlich nicht zuletzt
den Jahre. Hoffnungen, steuerliche Entlastungen für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisie-
allein würden genug wirtschaftliche Dynamik rung gedacht. Diese würden im Sinne einer Rück-

Mit uns.
entfalten, um sich mittelfristig finanziell zu rech- lage genutzt, aber im Einklang mit haushaltsrecht-
nen, sind überzogen. Zukunftsinvestitionen und lichen Prinzipien wie der Haushaltswahrheit und
Schuldenbremse scheinen in der derzeitigen­ -klarheit stehen.
Finanzpolitik nur schwierig miteinander vereinbar Der Vorteil eines solchen Fonds besteht darin,
zu sein. dass 2022 die Schuldenbremse noch einmal aus-
Eine kluge Transformationspolitik der Bun- gesetzt werden müsste. Ab 2023 aber wäre sie
desregierung sollte zwei Komponenten enthalten: wieder uneingeschränkt gültig. Sie würde zudem
eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung nicht durch ein rechtlich selbstständiges Investi­
einerseits und die Vereinbarkeit dieser Ausgaben tionsvehikel umgangen, wie es andere Ökonomen
mit der Schuldenbremse andererseits. vorschlagen. Das schafft Klarheit und Verlässlich-
Die erste Komponente beinhaltet nicht nur keit. Gleichzeitig müsste aber geklärt werden, ob
Ausgabenerhöhungen für Investitionen, sondern und wie ein solcher Fonds verfassungskonform
auch Ausgabenkürzungen an anderer Stelle. Wis- gestaltet werden kann. Über die Auffüllung exis-
senschaftliche Analysen zeigen, dass 500 Milliar- tierender Sondervermögen sollte dies jedoch mög-
Weil’s um mehr
den Euro an zusätzlichen öffentlichen Investitio- lich sein. Er könnte entweder direkt durch die
nen für Klimaschutz, Digitalisierung, Innovation Ausgabe von Anleihen gefüllt werden oder Kredit-
und Bildung in den kommenden zehn Jahren not- ermächtigungen enthalten. Da die Umsetzung der
als Geld geht.
wendig sein werden – oder durchschnittlich 50 Investitionsprojekte Zeit in Anspruch nehmen Große Schritte gehen Sie am besten gemeinsam mit uns.
Milliarden Euro pro Jahr und 200 Milliarden wird, ist ein Vorteil eines solchen Fonds, dass die Ob in eine grüne Zukunft, auf globalen Märkten oder in
Euro für die nächste Legislaturperiode. Dies ist Gelder flexibel und gestaffelt über die Jahre abge- digitalen Welten – als starker Partner an Ihrer Seite unter-
schon zum Teil in der mittelfristigen Finanz­ rufen werden können. stützen wir Sie bei allen Themen, die Ihnen wichtig sind.
planung vorgesehen, aber angesichts finanzpoliti- Das zweite Element der Finanzierung im Ein- Mehr Infos auf sparkasse.de/unternehmen
scher Risiken unsicher. klang mit der Schuldenbremse ist die Nutzung be-
Ein Teil des Pakets sollte daher aus signifikan- stehender Mittel aus dem europäischen Programm
ten Kürzungen bei Finanzhilfen und Steuersub- Next Generation EU (NGEU) und aus bestehenden
ventionen bestehen. Mehr als zehn Milliarden nationalen Quellen, wie den bereits im Bundes-
Euro jährlich können so zusammenkommen, haushalt eingestellten zusätzlichen Investitionen für
30 WIRTSCHAFT 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Energiewende

»Das ist für uns praktisch übermorgen«


Die Energiemanagerin Katherina Reiche fürchtet einen früheren Kohleausstieg – und hat doch Ideen, wie die Wende gelingen kann

Katherina Reiche, 48, saß bis 2015 für die bekannten Schwankungen innerhalb eines Tages Reiche: 2045 soll die gesamte Volkswirtschaft

Foto: Victoria Jung für DIE ZEIT


CDU im Bundestag, zuletzt als Parlamentari- sprechen, sondern auch über jährliche Veränderun- klima­neutral sein. Das bedeutet dann beispielswei-
sche Staatssekretärin im Verkehrsministerium. gen. Und wir müssen die unterschiedlichen Bedar- se, dass auch Europas größtes Stahlwerk von Thys-
Nun sucht sie Antworten auf die Frage, wie fe im Sommer und Winter berücksichtigen. Dafür senkrupp in Duisburg, das ich von meinem Essener
schnell die Energiebranche klimaneutral wer- brauchen wir dringend mehr Stromspeicher. Büro aus sehen kann, in knapp 20 Jahren CO₂-
den kann – und welche Kompromisse dafür ­ ZEIT: Warum sind die knapp? neutral betrieben werden soll. Allein Thyssenkrupp
nötig sind. Reiche: Derzeit können sie kaum wirtschaftlich ist nach eigenen Angaben für 25 Prozent des ge-
betrieben werden. Sie wurden teilweise sogar bei samten CO₂-Ausstoßes im Ruhrgebiet verantwort-
DIE ZEIT: Frau Reiche, Deutschland hat im ers- der Aufnahme von Strom und bei der späteren lich. Hier sind riesige Hebel zur Erreichung der
ten Halbjahr mehr Kohlestrom als Ökostrom ins Verteilung doppelt mit Abgaben belastet. Klimaziele. Solche Prozesse wie die Stahlerzeugung
Netz gespeist. Warum ist der Grünstrom so knapp? ZEIT: Was heißt das konkret? lassen sich nicht auf grünen Strom umstellen. Um
Katherina Reiche: Der Ausbau der erneuerbaren Reiche: Das Energierecht kannte Speicher bislang klimaneutral zu werden, sind solche Großverbrau-
Energien ist in den vergangenen Jahren nicht so kaum. Sie wurden einfach wie zwei getrennte Anla- cher, aber auch viele Mittelständler, auf Energie-
schnell vorangekommen, wie es politisch gewollt gen behandelt: eine, die Strom verbraucht, und träger wie Wasserstoff angewiesen. Überall dort,
und von vielen Unternehmen geplant war. Das eine, die ihn produziert. Abgaben und Umlagen, wo eine direkte Elektrifizierung entweder technisch
liegt auch daran, dass es beim Ausbau immer wie- die den größten Teil des Strompreises ausmachen, nicht möglich oder ökonomisch nicht sinnvoll ist,
der Konflikte mit dem Natur- und Umweltschutz fielen dadurch doppelt an. Zum Ende der vergange- kommt Wasserstoff ins Spiel. Das ist die Antwort
gibt. Die Genehmigungsprozesse sind mittlerweile nen Legislaturperiode gab es erste Anpassungen, die auf die Frage, wie eine Industrienation wie
so lang und kompliziert, dass selbst der Bau kleiner eine doppelte EEG-Umlage vermeiden. Die neue Deutschland bei Erhalt von Wertschöpfungsketten
Windparks mehr als sieben Jahre dauert. Hier Bundesregierung muss aber weitere Schritte unter- und Arbeitsplätzen die Transformation zu Klima-
muss die nächste Regierung die Rahmenbedin- nehmen. Künftig sollte es so sein: Wer Strom ein- neutralität erreichen kann.
gungen so setzen, dass ein vernünftiger Ausgleich speichert, stützt und stabilisiert das Ener­gie­system ZEIT: Wasserstoff zu produzieren kostet auch
zwischen den Interessen möglich wird. und braucht dafür auch einen finanziellen Anreiz. Energie. Der Grünstrom dafür fehlt woanders.
ZEIT: 2020 verbrauchten wir in Deutschland ins- ZEIT: Sie klingen etwas pessimistisch. Reiche: Deshalb sollte in den nächsten Jahren Was-
gesamt 545 Terawattstunden Strom, 2030 sollen Reiche: Nein, absolut nicht. Für die künftige Bun- serstoff nicht nur aus Solarstrom und Windkraft
es mindestens 645 Terawattstunden sein. Dafür desregierung macht es einen riesigen Unterschied, erzeugt werden. Wir werden für den Übergang
bräuchten wir 30.000 zusätzliche Windräder. Wo ob unser Land, wie ursprünglich verabredet, 2050 auch Wasserstoff aus Erdgas brauchen. Andere
sollen die denn stehen? zu 80 bis 95 Prozent klimaneutral sein soll oder, Länder in Europa haben angekündigt, pinken Was-
Reiche: Es müssen mehr Flächen im Land für wie nun beschlossen, schon 2045 und sogar zu serstoff aus Atomstrom zu produzieren. Wir wer-
Windkraft vorgehalten werden. Die künftige Bun- hundert Prozent. Nach den Zielen geht es nun an den orangen Wasserstoff aus der Müllverbrennung
desregierung muss eine kluge Güterabwägung für die konkrete Ausgestaltung. erzeugen. Bevor grüner Wasserstoff in industriel-
die Erreichung der Klimaschutzziele treffen. ZEIT: Erklären Sie es bitte. lem Maßstab hergestellt werden kann, wird Was-
ZEIT: Naturschutz gegen Klimaschutz. Sehen Sie Reiche: Wir haben in Deutschland derzeit 220 serstoff aus anderen Quellen benötigt. Der Weg
mit der Anti-Windkraft-Bewegung ähnliche Pro- Gigawatt an Erzeugungsleistung im Netz, die aus zum grünen Wasserstoff ist bunt. Und wenn wir
teste aufs Land zukommen wie bei der Anti-Atom- Kraftwerken, Solarenergie und Windparks kom- jetzt bei den Farben offen starten, kann Wasserstoff
kraft-Bewegung? men, davon 93 Gigawatt aus Kohle, Öl und Gas. bis 2050 auch vollständig grün sein.
Reiche: Ich sehe bei vielen Projekten eine intensive Von Letzteren gehen spätestens 2038 rund 50­ ZEIT: Was macht Sie so zuversichtlich?
Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger. Da Gigawatt durch den Kohleausstieg aus dem Netz. Reiche: Weltweit sind Projekte in Höhe von 245
hat die Wirtschaft dazugelernt. Und beim Ziel der Ich rechne aber damit, dass der Kohleausstieg im Milliarden Dollar angekündigt, davon 83 Milliar-
Klimaneutralität haben wir ja auch einen großen Rahmen von Koalitionsverhandlungen im Bund den für fest zugesagte Wasserstoffprojekte. Wir er-
gesellschaftlichen Konsens. Aber es kommt über vorgezogen werden könnte. In dem Fall müssten leben hier also einen globalen Trend. Ein Beispiel:
die verschiedenen Klagewege immer noch zu end- wir die dann fehlenden 50 Gigawatt an anderer Ein staatlicher Energieversorger in China investiert
losen Verfahren. Das kann so nicht weitergehen. Stelle ersetzen. Das ist für die Energiewirtschaft gerade 3,3 Milliarden Dollar in eine Anlage mit
ZEIT: Wie sollte das konkret beschleunigt werden? praktisch übermorgen. Wenn es weiterhin sieben einer Leistung von 5,5 Gigawatt. Das ist mehr als
Reiche: Für jedes neue Vorhaben müssen stapel- Jahre dauert, einen Windpark zu bauen, geht der die gesamte für 2030 in Deutschland vorgesehene
weise Antragsunterlagen vorgelegt werden. Aber frühestens 2028 ans Netz. Uns bleiben nur noch Kapazität. Chinas Ziel dabei ist, Wasserstoff in
auch wenn wir das dann alles gewissenhaft erledigt zwei Jahre, falls bis 2030 die Kohleverstromung großem Maßstab und zu konkurrenzfähigen Prei-
haben, gibt es noch keine Gewähr dafür, dass der nicht mehr möglich sein sollte. Das ist eine­ sen auf den Markt zu bringen.
Antrag vor Behörden und Gerichten Bestand hat. Herausforderung vollkommen neuer Dimension. ZEIT: Das beantwortet die Frage nicht, woher all
Wir brauchen hier Standardisierungen mit bun- ZEIT: Wenn ich mein E-Auto mit Kohlestrom der grüne Strom für den Wasserstoff kommen soll.
desweit einheitlichen, verbindlichen Vorgaben. lade, ist das schmutziger, als einen Diesel zu fah- Reiche: Die vorhandenen Kapazitäten sowie die
Klare, praktikable Richtlinien. Und wenn das ren. Was rollt da energiepolitisch auf uns zu? Ausbaupfade der erneuerbaren Energien reichen
dann alles eingehalten wird, sollte es auch Rechts- Reiche: Wir sollten mit der Elektromobilität nicht jedenfalls bei Weitem nicht aus. Neben einem star-
sicherheit für die Investoren geben. Helfen würde warten, bis auch die letzte Kilowattstunde grün ist. ken Heimatmarkt werden wir einen Großteil unse-
es darüber hinaus, Planungs- und Genehmigungs- Zwar stimmt die Klimabilanz nicht, wenn Kohle- res Wasserstoffbedarfs importieren. Das ist für
prozesse konsequent zu digitalisieren. strom im derzeitigen Strommix geladen wird. Deutschland an sich nichts Neues: Wir führen be-
ZEIT: Ein Solardach ist meist schneller fertig als Trotzdem muss jetzt in Elektroautos, Ladesäulen reits heute rund 70 Prozent unserer Energie aus
eine Windkraftanlage. und Batterien investiert werden. Bei über 40 Mil- dem Ausland ein. Zukünftig werden das nicht
Reiche: Auch da mangelt es an politischer Am­bi­ lionen Fahrzeugen auf Deutschlands Straßen kann mehr Kohle, Öl und Erdgas, sondern Wasserstoff
tion. Fotovoltaik auf öffentlichen Dachflächen ist niemand auf Knopfdruck Verbrenner aus dem Ver- und seine Syntheseprodukte sein. Dafür brauchen
eher eine Seltenheit. Dabei wäre die Installation kehr ziehen und E-Autos auf die Straße stellen. Im wir Deutschen neue Energiepartnerschaften für
deutlich weniger konfliktträchtig als die Errich- Stromnetz von Westenergie haben wir über 1400 klimaschonend hergestellten Wasserstoff. Durch
tung eines Windparks. Hier könnten Anreize für Ladepunkte. Im Juli sind 260.000 Kilowattstun- diese Kooperationen können wir auch zu neuer
Investitionen helfen. den durch sie geflossen, im August waren es bereits geopolitischer Stabilität beitragen – und machen
ZEIT: Und warum steckt so viel Kohle im Strom? 290.000 Kilowattstunden. Das Wachstum ist die Transformation des Energiesystems in bislang
Reiche: Wir erleben ein extrem windarmes Jahr. enorm. Wir müssen in demselben Maße Wind- Erdöl und Erdgas produzierenden Staaten attraktiv.

Im ersten Halbjahr lag die Stromerzeugung etwa kraft und Fotovoltaik ausbauen, damit die E-Autos
ein Drittel unter dem Vorjahr. Um diese Lücke zu auch mit grünem Strom geladen werden können. Das Gespräch führte Claas Tatje
schließen, springen konventionelle Kraftwerke ein. ZEIT: Sie selbst sind Vorsitzende des Nationalen
Wenn wir komplett auf erneuerbare Energien um- Katherina Reiche leitet seit 2020 Wasserstoffrats, der die Regierung berät. Warum Wissen, Seite 33: Führende Wissenschaftler haben
steuern wollen, müssen wir nicht nur über die­ die E.on-Tochter Westenergie mit sechs Millionen Kunden glauben Sie an Wasserstoff als Energieträger? elf Forderungen zur Energiewende

Gift aus der Windkraftanlage


Die Deutsche Umwelthilfe will einen Verzicht auf ein gefährliches Isoliermittel erzwingen, das ausgerechnet beim Ausbau erneuerbarer Energien massenhaft eingesetzt wird  VON DIRK ASENDORPF

W
enn die Deutsche Umwelthilfe Was tun? Kann man den Stoff nicht einfach ver- Anwendungen Alternativen gäbe. Fürs Isolieren Das Isoliergas SF₆ in Zahlen aufgefordert, ab sofort keine SF₆-haltigen Schalt­
eine Initiative ankündigt, kann bieten? reicht zum Beispiel hochreine Luft oder ein Vakuum, anlagen mehr zu kaufen. Vorbild für diesen Schritt

0,5
es passieren, dass in der Indus- Tatsächlich sind viele Verwendungsarten von Gase braucht es nicht. ist niemand Geringeres als die Bundesregierung. Die
trie Unruhe ausbricht. Vor eini- SF₆ schon verboten. In der EU ist es seit 2007 Trotzdem verlangten im April Branchenvertreter, hat all ihren Behörden den Einkauf SF₆-haltiger
gen Jahren hatte die Organisa- untersagt, in Schallschutzfenstern die Zwischen- mit einem Verbot noch zu warten – und zwar viele Schaltanlagen bereits ab 2022 verboten.
tion den folgenreichen Skandal um die Diesel- räume des Isolierglases mit dem Gas zu befüllen. Jahre. In einer gemeinsamen Erklärung forderten die Was also spricht dagegen, dass die Wirtschaft
Abgasnormen bei deutschen Autobauern maß- In neuen Fenstern wird es also nicht mehr ver- Unternehmen eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2032. nachzieht? Bei Schaltanlagen in niedrigeren Hoch-
geblich vorangetrieben. Nun kämpfen die Um- baut, aus alten aber entweicht es, wenn sie kaputt- »Die Anwender müssen ausreichend Gelegenheit spannungsbereichen bieten viele Hersteller bereits
weltschützer gegen den Einsatz eines Stoffs, von gehen – das ist derzeit noch der größte Quell für haben, diese neuen Technologien für den Einsatz in Prozent luftisolierte Anlagen an. Die müssen wegen der
dem wohl die wenigsten je gehört haben werden: SF₆-Emissionen. ihrer kritischen Infrastruktur auf Zuverlässigkeit und So hoch ist der Anteil der Treibhausgase, schlechteren Isolationswirkung zwar etwas größer als
Schwefelhexafluorid, kurz SF₆ – das stärkste aller Der mit Abstand häufigste Einsatz von neuem Verfügbarkeit im realen Netzbetrieb zu erproben«, für den SF₆ verantwortlich ist SF₆-haltige Anlagen sein, passen aber trotzdem noch
Treibhausgase. Laut Weltklimarat trägt ein Kilo- SF₆-Gas jedoch findet in der Elektroindustrie statt. hieß es darin. »Eine Verordnung darf diesen Prozess in den Turm eines Windrads oder das Technik­

100
gramm SF₆ zur Erderwärmung so viel bei wie Rund 80 Prozent landen dort – gut 600 Tonnen im zur Sicherstellung eines zuverlässigen Netzbetriebs gebäude eines Solarparks. Der Kaufpreis ist höher,
25.200 Kilogramm CO₂. Es handelt sich also Jahr. In großen Schaltanlagen und Transformatoren nicht gefährden.« die laufende Wartung dafür günstiger.
um eine hochgefährliche Verbindung, die zum des Mittel- und Hochspannungsnetzes soll SF₆ Die Branche sorgt sich, dass die EU-Verordnung Für den Hoch- und Höchstspannungsbereich,
Beispiel in der Halbleitertechnik eingesetzt wird, Funken­übersprünge verhindern, dafür wird es unter zu fluorierten Treibhausgasen zu streng formuliert an den etwa Offshore-Windparks angeschlossen
bei der Herstellung von Glasfaserkabeln und in Druck in die Anlagen eingefüllt. Die sind zwar ver- werden könnte. Schon 2015 war die Verordnung ver- sind, gibt es luftisolierte Schaltanlagen zwar eben-
der Elektroindustrie. siegelt, aus technischen Gründen entweicht aber schärft worden, Anfang 2022 will die EU-Kommis- falls bereits, bisher allerdings nur von wenigen
Für Deutschland schätzt das Umweltbundesamt dennoch jedes Jahr ein kleiner Teil. Ein weiterer Teil sion nun noch mal eine Neufassung vorlegen, in der Prozent Herstellern. Die Hoffnung ist nun, dass sich das
die SF₆-Emissionen auf 175 Tonnen im Jahr, was wird bei Produktion, Verteilung und Entsorgung auch auf SF₆ geschaut werden soll. So stark stieg die SF₆-Konzentration in der bei einem SF₆-Verbot schnell ändern wird. »Wir
einem Anteil von 0,5 Prozent an allen deutschen freigesetzt. Insgesamt summieren sich diese Verluste Eine Übergangsfrist bis 2032 jedenfalls, wie Atmosphäre in den letzten 20 Jahren haben weltweit schon 200 Anlagen in Betrieb,
Treibhausgas-Emissionen entspricht. Fachleute wis- auf elf Tonnen im Jahr, etwa 0,04 Prozent der deut- von der Industrie gefordert – das geht der Deut- 2000 weitere sind bestellt«, sagt Mark Kuschel von

600
sen schon lange, dass SF₆ problematisch ist, und so schen Treibhausgas-Emissionen. schen Umwelthilfe nicht schnell genug. »So lange Siemens Energy.
geht die Menge seit Jahren zurück. Das klingt nach wenig, allerdings bleibt das dürfen wir nicht warten«, sagt Florian Koch, Pro- Überraschend knapp reagiert aber der Bundes-
Neuerdings jedoch zeichnet sich eine paradoxe Gas danach 3000 Jahre lang in der Atmosphäre jektmanager für Luftreinhaltung bei der Organisa- verband Windenergie auf die Frage nach einem
Gefahr ab: Ausgerechnet wegen der Anstrengungen und reichert sich immer weiter an. Messungen tion. Koch ist der Ansicht, dass der SF₆-Verzicht SF₆-Verzicht. »Alternativen zu dieser Technologie
um den Klimaschutz könnte die Menge des eingesetz- zeigen, dass die Konzentration weltweit steigt – noch viel früher kommen kann und kommen müssen sich erst am Markt bewähren und bewei-
ten SF₆ wieder steigen. Der Grund: Beim Ausbau des in den vergangenen 20 Jahren hat sie sich in muss – nämlich sofort. sen, dass ihr Einsatz sicher ist«, sagt dessen Spre-
Stromnetzes und beim Neubau vieler Solar- und etwa verdoppelt. Diese Woche hat die Umwelthilfe die zuständigen Tonnen cher Frank Grün­eisen. Beispiele für Windpark­
Windparks werden Schaltanlagen verbaut. In diesen Es gibt also gute Gründe, SF₆ auch in der Elek- Verbände, alle Stromnetzbetreiber und die großen So viel SF₆ wird jedes Jahr in der betreiber, die bereits bewusst auf SF₆ verzichten,
Anlagen kommt bislang SF₆ zum Einsatz. troindustrie zu verbieten, zumal es für die meisten Wind- und Solarparkbetreiber angeschrieben und sie Elektroindustrie in Deutschland eingesetzt kennt er nicht.
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¹Der Stromverbrauch wurde auf der Grundlage der VO 692/2008/EG ermittelt. Der Stromverbrauch ist abhängig von der Fahrzeugkonfiguration.
*Die Reichweite wurde auf der Grundlage der VO 2017/1151/EU ermittelt. Die Reichweite ist abhängig von der Fahrzeugkonfiguration.
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BUNDESTAGSWAHLABEND
DES TAGESSPIEGELS
UND DER ZEIT
Spekulieren über eine politische Zeitenwende
Die plötzliche Wärme am 26. September dass die Meinungsforschungsinstitute in ihren brey, stellvertretende Chefredakteurin des weichend. Im Gegensatz zu Wilhelm, der al- bei offen, ob er diesen Umstand persönlich
fühlte sich an wie ein kurzes Aufbäumen vor Prognosen richtiggelegen hatten: Erstmals Tagesspiegels, auf einem gemeinsamen Pa- lein über die zeitliche Arbeitsbelastung vom bedauert oder nicht.
dem nahenden Herbstbeginn. Kurz vor 17 Uhr sollte die CDU auf unter 30 Prozent fallen. nel mit ZEIT-Streit-Ressortleiter Martin Ma- »Maximum dessen, was ich im Leben leisten Den Hang zum Expliziten bewies dagegen
passierten die letzten Nachzügler des Und erstmals in Deutschland erschien ein chowecz. Dessen Prognose: »Innerparteilich konnte«, sprach, antwortete Seibert eher re- FDP-Politiker Wolfgang Kubicki. Am Ende des
Berlin-Marathons das Restaurant Borchardt, Dreierbündnis als Regierungskonstellation sind die Reihen geschlossen, der Druck auf die lativierend: Es sei ein ebenso fordernder wie Wahlabends formulierte der 69-Jährige
um schwankend und erschöpft die finale sehr wahrscheinlich, wobei ein Rot-Rot- Spitzenkandidatin wird eher von außen kom- wunderbarer Beruf, meinte er und verwies auf mehrfach offen seinen Wunsch, in der näch-
Kurve vor der Ziellinie hinter sich zu bringen. Grünes-Bündnis bereits als chancenlos galt men!« Baerbock selbst hatte bereits am frü-
Obwohl der Kontrast zu den geladenen und die AfD zu den Wahlverlierern zählte. Nur hen Abend in einer TV-Sendung resümiert:
Gästen, die in hochgekrempelter Abendgar- der Absturz der Linkspartei fiel drastischer »Deutschland braucht eine Klimaregierung!«
derobe auf Einlass warteten, größer nicht aus als zuvor prognostiziert.
hätte sein können: Angesichts der historisch schlechten Wahl- Forderung junger Grüner: Klimaschutz
ergebnisse der CDU war bei vielen Gästen, die mit sozialem Zuschnitt
Was die Menschen diesseits und jenseits der nicht mit einem so knappen Vorsprung der Vulputate dignissim suspendisse in est
Absperrgitter an der Französischen Straße SPD vor der Union gerechnet hatten, die Dass nur ein Schwarz-gelb-grünes Bündnis ante in ut lectus arcu bibendum
miteinander verband, war das Gefühl, Teil Überraschung groß. Das führte zu regen Dis- für die Herausforderungen der Zukunft gerü-
eines Vorher-Nachher-Geschehens zu sein, kussionen, auch am Tisch von Günther Hörbst: stet sei, behauptete die CDU-Jungpolitikerin
dessen Ausgang ungewiss ist; und die ge- »Die wenigsten hatten damit gerechnet, dass Diana Kinnert. »Transformation muss man
spannte Erwartung auf eine Art Umschlag- die Demoskopie derart ins Schwarze treffen können, und das kann eine bürgerliche Ja-
punkt, der sich im Laufe des Sonntagabends sollte«, berichtete der Kommunikationschef maika-Koalition besser als andere.« Die
auch in den Räumen des traditionsreichen des Raumfahrtunternehmens OHB SE. Aber 30-Jährige, die als Publizistin eine Nachrich-
Szene-Restaurants vermitteln sollte. alle hätten es genossen, nach langer pande- tenplattform für grüne Technologien betreibt, Tischgespräch unter Fachleuten: Über mögliche Koalitionen diskutierten ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo (Mi), Moderatorin Anja Kohl von
Eingeladen hatten DER TAGESSPIEGEL und miebedingter Isolation endlich wieder unter teilte sich ein Podium mit Sarah-Lee Heinrich, der Börsenredaktion des Hessischen Rundfunks (Mi. re.) und TV-Journalist Markus Lanz (re).

DIE ZEIT, die aus Anlass der Bundestagswahl Menschen sein und sich im geselligen Rahmen 20 Jahre alt. Sie ist Mitglied des Bundesvor-
2021 nahe dem Gendarmenmarkt 200 Gäste austauschen zu können, bekräftigte er. Das stands Grüne Jugend und sprach sich für ei-
aus Wirtschaft und Gesellschaft empfingen: analoge Zusammensein wurde durch die Er- nen sozial gerechten Klimaschutz im Rahmen
Die illustre Schar reichte von Siemens-Mana- leichterungen der Corona-Verordnungen der einer Ampel-Koalition aus – »für ein großes
ger Joe Kaeser über den Hamburger Medien- letzten Wochen überhaupt erst wieder mög- Bündnis von Menschen, die davon profitieren
rechtler Matthias Prinz bis zum britischen Un- lich. Die vor Ort geltenen Regeln haben viele würden, wenn es sozialer zuginge«. Einigkeit
ternehmer Sir Martin Stuart Sorrell, Gründer spontane Begegnungen mit Kommunikatoren zeigten beide lediglich in der Ablehnung einer
der weltweiten Werbe-Holding WPP und S4 aus Wirtschaft und Politik ermöglicht, so großen Koalition.
Capital. Zu Gast waren zudem Grünen-Sena- Hörbst; in seinem Fall auch Gespräche darü- Auch wenn bei der Ankunft von Franziska
torin Ramona Pop und CDU-Politiker Günther ber, dass Raumfahrttechnologie made in Ger- Giffey im Borchardt noch nicht absehbar war,
Oettinger. Auch TV-Journalist Markus Lanz, many vielfach unterschätzt werde. dass sich die Spitzenkandidatin der Berliner
SPD schließlich gegen ihre Kontrahentin Betti-
na Jarasch von den Grünen durchsetzen und
als Siegerin hervorgehen sollte, wurde sie mit
Ehemaliger SPD-Kanzlerkandidat und Finanz- Kreativ-Duo: Christoph Niemann, Illustrator, Autor Polit-Prominenz: Ramona Pop, Berliner Staats-
einem warmen Applaus empfangen. Begeis- minister: Peer Steinbrück und Ehefrau Gertrud. und Lisa Zeitz, Chefredakteurin der Weltkunst. sekretärin für Wirtschaft mit Christian Rickerts.
tertes Klatschen erhielt die Bürgermeisterin in
spe, als sie sich im Gespräch mit Tagesspie- die deutlich härteren Arbeitsbedingungen sten Regierung Vizepräsident des Deutschen
gel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff eines Unfallchirurgen. »Ganz so eine Helden- Bundestages bleiben zu wollen.
zwar für bezahlbaren Wohnraum in der story ist das, was wir tun, nicht.« Die Frage, Im Podiumsgespräch ging es schließlich
Hauptstadt aussprach, aber zugleich prokla- ob er es als Zumutung empfunden habe, auch um Personalspekulationen und Ste-
mierte: »Enteignung ist dafür nicht das geeig- ständig erreichbar sein zu müssen, wies der phan-Andreas Casdorff entwarf ein hypothe-
nete Instrument!« tisches Szenario: »Für den Fall, dass ein Mann
Ein Höhepunkt des Abends war, als ZEIT- Steffen Seibert über die Berufsgeheim- Kanzler wird, könnte die FDP ja die Forde-
Chefredakteur Giovanni di Lorenzo den am- nisse eines Regierungssprechers rung aufstellen, dass dafür als Nächstes eine
tierenden und in wenigen Wochen schei- Frau Bundespräsidentin werden muss.« Ein
denden Regierungssprecher Steffen Seibert 60-Jährige ebenso routiniert von sich wie die Vorschlag, der auf die Person Baerbocks ab-
Welche Partei kann Transformation besser? Über diese Frage stritten Diana Kinnert, Mitglied der CDU (li.), Unternehmerin und Publizistin, mit und dessen Vorgänger Ulrich Wilhelm nach gewollt indiskrete Frage, ob er am Wahla- zielte und den Kubicki mit den Worten pa-
Sarah-Lee Heinrich, Mitglied des Bundesvorstands Grüne Jugend (re.) und Yasmine M’Barek (Mi.), Redakteurin Ressort X der ZEIT.
deren Erfahrungen in der Ära Merkel befragte. bend bereits mit der Kanzlerin telefoniert rierte: »Warum sollten wir ein weiteres Fass
Verleger Stefan von Holtzbrinck sowie Tages- Als um 20.15 Uhr FDP-Chef Christian Lindner Bevor Seibert vor elf Jahren Wilhelm abgelöst habe und wie diese angesichts der histo- aufmachen, nachdem die Bundeskanzler-
spiegel-Geschäftsführerin Ulrike Teschke nebst in einer live ausgestrahlten ZDF-Sendung die hat und die Stelle des Regierungssprechers rischen Niederlage der CDU gelaunt sei. »Wir Kandidatin der Grünen gescheitert ist? Ich
ZEIT-Geschäftsführer Rainer Esser trafen sich Empfehlung ausgab, dass seine Partei trotz und Chefs des Bundespresseamtes antrat, hatten Kontakt«, antwortete Seibert lapidar glaube, wir sollten dazu übergehen, nicht
bei Burrata, Wiener Schnitzel und Riesling an größerer Übereinstimmungen mit der CDU zu- hatte er bereits über 20 Jahre als TV-Journa- und erntete dank der diplomatischen Tonlage nach Geschlecht oder Aussehen zu fragen,
festlich gedeckten Tischen, an denen man nächst mit den Grünen politische Gemein- list für das ZDF gearbeitet und zu den promi- Gelächter im Saal. sondern nach Qualität und Kompetenz.« Ein
sich auch im Normalbetrieb zum Austausch in samkeiten ausloten sollte, war auch diese nentesten Gesichtern des Senders gezählt. Zum Thema Berufsgeheimnisse erinnerte Statement, das mit Nachdruck vorgetragen
Salon-Atmosphäre verabredet. Nachricht bis spät in die Nacht an vielen Ti- Die außergewöhnliche Herausforderung, die er sich schließlich an den Rat eines renom- wurde, aber keine hörbare Resonanz hatte.
Während auf dem roten Teppich noch über schen Thema; ein unmissverständliches Si- mit dem Amt der Bundeskanzlerin verbunden mierten, deutlich älteren Vorgängers, den Und das lag vermutlich nicht nur am spät-
das Wahl-Chaos in Berlin, die Parallelität des gnal, das schon am Wahlabend die zentrale sei, erklärte Seibert vor allem mit der Dauer- dieser ihm anfangs mit auf den Weg gegeben abendlich anschwellenden Stimmengewirr
Stadt-Marathons sowie die Wahlen zum Ab- Rolle der FDP als Königsmacher vorwegge- belastung: »Diesem Druck über so viele Jahre habe: »Er sagte: ›Herr Seibert, Sie müssen die rund ums Podium. Schließlich eilt dem
geordnetenhaus und zu den Bezirksparla- nommen hat. psychisch wie physisch standzuhalten, gut Medien im Griff behalten – im Griff behalten!‹« Borchardt nicht grundlos der Ruf als Stamm-
menten diskutiert wurde, waren ab 18 Uhr die Ob es am fehlenden Charisma von Annale- durchzuhalten, dabei intakt zu bleiben und Aber weil zu dessen aktiven Zeiten das Inter- tisch der Republik voraus: Hier gehört der
Hochrechnungen Tischgespräch Nr. 1. Auch na Baerbock lag oder am Mangel politischer sich die Freude an der Aufgabe zu bewahren net noch nicht erfunden und die Medienland- Spaß an der Spekulation und am Gedanken-
wenn noch niemand die finale Stimmenaus- Energie und Begeisterungsfähigkeit im – das gelingt nur sehr wenigen.« Als di Loren- schaft deutlich überschaubarer gewesen sei, experiment seit jeher zum Tagesgeschäft –
zählung vorwegnehmen konnte: Schon zu Ganzen, die den Grünen so schlechte Zahlen zo sich nach den Strapazen seines eigenen habe er selbst diesen Anspruch zu keinem genauso wie das weltberühmte Wiener
diesem frühen Zeitpunkt wurde offenbar, einbrachte, darüber spekulierte Anna Sauer- Berufsalltags erkundigte, reagierte er aus- Zeitpunkt erfüllt. Gekonnt ließ Seibert es da- Schnitzel.

Passionierter Gastgeber: Rainer Esser, Illustre Runde: Mit Joe Keser (Mi.), dem ehemaligen CEO von Siemens, saßen Interview mit einer Wahlsiegerin: Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Baden-Württembergisches Urgestein, zu Gast beim Bundestags-Wahlabend »Aus der politischen Mitte heraus muss Deutschland reformiert werden«:
Geschäftsführer des ZEIT Verlags, im Gespräch unter anderem der Verleger Stefan von Holtzbrinck (li.) und Sir Martin Sorrell Casdorff fragte Franziska Giffey, Spitzenkandidatin der Berliner SPD und in der Hauptstadt: CDU-Politiker Günther Oettinger, ehemaliger Minister- Dass es dazu der FDP und der Grünen bedarf, proklamierte Wolfgang Kubicki,
über den Bundestagswahlabend. (re.), Gründer der weltberühmten Werbeholding WPP, zusammen. Regierende Bürgermeisterin in spe, auch nach ihrer Vision für die Hauptstadt. präsident von Baden-Württemberg und EU-Kommissar. FDP-Politiker und Vizepräsident des Deutschen Bundestags auf dem Podium.

Eine Veranstaltung von: Silberpartner:

Bronzepartner:
14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

WISSEN
Corona ․ Semesterstart ․ Umwelt ․ Sport ․ Hochschule ․ Infografik: Klebstoff
33

Der Zweifel
Energiewende –
echt jetzt?

Es geht voran
Wie hoch die Impfquote wirklich ist und was das für den Herbst bedeutet
T
Trotz tödlicher Fluten im Sommer, trotz
düsterer Vorhersagen im neuen Bericht des
Weltklimarats – die großen Parteien schaff-
ten es mit beeindruckender Konsequenz,
die grausame Wirklichkeit der Klimakrise
aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Nicht
  VON ULRICH BAHNSEN, ANNA-LENA SCHOLZ UND JAN SCHWEITZER nur, dass keine ein Programm vorlegte, mit
dem Deutschland seinen Beitrag zum

E
1,5-Grad-Ziel leisten könnte. Alle mit­­ein­
an­der taten so, als lasse sich die Energie-
s war endlich mal eine gute weitere Geimpfte hinzugekommen. Das RKI selbst »Wieler wackelt«, meinte die Bild. Die Tages- noch gar nicht geimpft, aber aufgrund ihres Alters wende mit Kosmetik (Subventionen für
Nachricht, die das Robert Koch- leitet aus diesen Zahlen keine Impfquote ab, son- schau sprach von »Zweifeln an der eigenen Impf- besonders gefährdet. Dazu kommen 13 Millionen Lastenfahrräder) oder ein paar richtig tollen
Institut (RKI) vergangene Wo- dern hält sie mit gutem Grund für überzeichnet – quote«. Gesundheitsminister forderten vom RKI ungeimpfte Erwachsene unter 60 Jahren, von Innovationen (»Der Markt wird’s richten!«)
che verkündete: Die Impfquote denn Impfskeptiker beteiligen sich seltener an Klarheit in den Zahlen. Politiker der Grünen und denen viele ein erhöhtes Risiko haben, etwa weil erreichen. Oder als könne man die Physik
sei höher als gedacht. Statt solchen telefonischen Erhebungen. Die bereits der FDP kritisierten Lothar Wieler und bemän- sie übergewichtig sind. Das Virus wird also­ des Klimas einfach ignorieren (Armin­
knapp 70 Prozent seien in Wahr- geimpften Menschen sind also überrepräsentiert. gelten die Abhängigkeit des RKI von der Bundes- weiterhin Opfer finden. Laschet: »Nur weil jetzt ein solcher Tag ist,
heit bereits bis zu 80 Prozent der Die tatsächlichen Impfungen erfasst das­ regierung. Sie stellten damit auch eine grund- Die Diskussion in dieser Woche war nervös, ändert man nicht die Politik«).
erwachsenen Bevölkerung vollständig geimpft. Digitale Impfquoten-Monitoring (DIM). Dort sätzliche Frage: Sollte das RKI in Zukunft unab- die Aussicht auf den Winter bleibt trüb. Dahinter Das ist der Hintergrund, vor dem sich
So steht es in einem Papier des RKI. gehen alle Impfungen ein, die an die Kassenärzt- hängig sein, statt wie jetzt dem Bundesgesund- steht letztlich eine drängende Frage, nach deren nun die deutsche Wissenschaft mit Forde-
Doch auf die erste Freude folgten Verwirrung liche Vereinigung gemeldet werden: von Haus- heitsministerium zu unterstehen? Beantwortung sich alle sehnen: Welche Impf- rungen an die nächste Regierung wendet.
und Ärger. Welche Zahl stimmt denn nun? Wie und Betriebsärzten, mobilen Impfteams, aus Das RKI weist jede Kritik zurück und möch- quote ist nötig, um Covid-19 zu kontrollieren Die Energiewende habe sich im Klein-
kann es sein, dass die wichtigste deutsche Gesund- Krankenhäusern und Impfzentren. Laut DIM lag te die Diskussion nicht kommentieren – man und die Beschränkungen aufheben zu können? Klein verzettelt, sie brauche einen Neustart,
heitsbehörde nach anderthalb Jahren immer noch die Impfquote bei den Erwachsenen zur selben habe alle Zahlen sachlich korrekt kommuni- Die eine Antwort gibt es nicht, wieder einmal. Es und zwar einen mutigen – so die Dia­gno­se
keine zuverlässigen Zahlen abliefert? Ist die gute Zeit, also Mitte August, bei 69 Prozent. Doch auch ziert. Sachlich korrekt heißt aber nicht, dass sie sei schwer zu sagen, ob eine Impfquote von der Akademien Leopoldina und Acatech
Nachricht also eigentlich das Eingeständnis eines diese Zahl ist nur eine Annäherung. auch von allen Seiten richtig verstanden werden. 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung aus- sowie der ­Union der deutschen Akademien
Versäumnisses? Die Arztpraxen sind verpflichtet, alle täglich Denn bei so unterschiedlichen Zahlen, Zustän- reicht, um den Verlauf der Pandemie im Winter der Wissenschaften. Das Energiesystem
Die Aufregung um die Impfquoten zeigt­ verabreichten Impfdosen bis 23.59 Uhr digital digkeiten, Meldewegen und Nachrichten steigt deutlich zu ver­bessern, sagt der Immunologe Leif müsse grundlegend umgebaut werden, die
erneut, dass Wissenschaft, Öffentlichkeit und an die kassenärztliche Vereinigung ihres jeweili- kaum jemand mehr durch. Erik Sander von der Berliner Charité, »zumal man Folgen würden die Bürgerinnen und Bür-
Politik sich auch nach 20 Monaten Pandemie gen Bundeslandes zu melden. Diese leitet sie Die Corona-Krise ist bis heute eine Kom- von einer geografisch und vermutlich auch sozio- ger deutlich zu spüren bekommen.­
immer wieder an denselben Punkten missverste- dann ans RKI weiter. Doch Nachlässigkeiten munikationskrise. Das gilt für das RKI, für kulturell ungleichen Verteilung der Impfquote Betrachte man die Treibhausgas-Emissio-
hen. Das Muster ist stets dasselbe: Die eine Seite sind dabei nicht auszuschließen. Denn abrech- viele andere wissenschaftliche Institutionen ausgeht und es daher trotz einer hohen nationalen nen der Industrie, von Gebäuden und aus
beharrt auf wissenschaftlicher Komplexität. Die nen können die Ärzte ihre Impfleistung, auch und auch für die Politik. Längst verfolgt nicht Impfquote regional weiter zu größeren Ausbrü- dem Verkehr wie bisher getrennt, dann
andere Seite fremdelt genau damit und verlangt ohne sie zu melden. Außerdem gab es anfangs mehr nur eine kleine, gut informierte Fachge- chen kommen könnte«. ergebe das nicht nur ökonomisch wenig
nach eindeutigen Antworten. Denn diese werden wohl Probleme mit den elektronischen Zugän- meinschaft die Publikationen von Forschungs- Und doch ist da Hoffnung: Nach Modellierun- Sinn, es bringe auch dem Klima wenig. Vor
für politische Entscheidungen g­ ebraucht: Wann gen zum Meldesystem. Das bestätigen auch die einrichtungen und Behörden, sondern auch die gen des RKI müssten 85 Prozent der 12- bis allem fordern die Autorinnen und Autoren,
fallen die letzten Beschränkungen? Und wie Werks- und Betriebsärzte: »Wir wurden vom breite Öffentlichkeit. 59-Jährigen und 90 Prozent der Menschen ab dass der Ausbau erneuerbarer Energien
schlimm wird die Welle in diesem Winter? DIM anfangs gar nicht mitbedacht«, sagt ­Anette Während der Pandemie schaffte es keine­ 60 Jahren vollständig geimpft sein – dann sei eine hochgefahren werden müsse: um das Vier-
Tatsächlich kursieren unterschiedliche Impf- Wahl-Wachendorf vom Verband Deutscher­ Seite, sich wirklich auf diese neue Situation ein- ausgeprägte vierte Welle im Herbst und Winter bis Sechsfache, und zwar schnell.
quoten, und zwar schon seit Wochen. Doch die Betriebs- und Werksärzte. zustellen, immer noch kommt es zu Miss­ unwahrscheinlich. Liest man ihr Papier »Neustart Ener-
Verwirrung ist aufzulösen, wenn man sich­ Die RKI-Umfrage suggeriert also eine höhere verständnissen. Immerhin: Die Diskussion um Wenn es also stimmt, dass 80 Prozent der­ giewende«, dann zweifelt man nicht­
ansieht, wie die verschiedenen Zahlen zustande Impfquote, während das DIM nie die vollständi- die Zukunft der Gesundheits- und Behörden- Erwachsenen vollständig geimpft sind, dann wäre daran, dass Deutschlands Wirtschaft ab
kommen. Die neuesten Daten stammen aus der ge Zahl der Impfungen erfasst. So erklärt sich die systeme läuft. Dass die Informationen in der man dem Ziel viel näher als lange Zeit gedacht. 2045 klimaneutral sein kann – die Lösun-
Covimo-Erhebung des RKI. Diese Umfrage Lücke von gut zehn Prozentpunkten. Zusätzlich nächsten Krise schneller, digitaler und einfacher Zumal man noch diejenigen hinzurechnen muss, gen dafür sind bekannt. Man zweifelt
dient in erster Linie dazu, die Haltung der Be- zu bedenken ist, dass das RKI nur die Erwachsenen fließen, wünschen sich alle. Der Politikwissen- die schon infiziert waren, nun genesen und damit vielmehr daran, dass die Politiker und
völkerung abzuschätzen: Wie hoch ist die Impf- befragt, während beim DIM auch geimpfte Kinder schaftler Karl-Rudolf Korte etwa empfiehlt in (zumindest teilweise) immun sind. Wie viele das Politikerinnen die Entscheidungen treffen
bereitschaft, warum sind manche skeptisch, gibt und Jugendliche in die Statistik eingehen. einem Bericht der Bundesregierung, die­ wiederum genau sind, ist nicht bekannt, weil nicht werden, die dafür nötig sind. Die wahr-
Illustration: Francesco Ciccolella für DIE ZEIT

es ein Defizit an Informationen, das gezielt­ Wo also liegt denn nun die Wahrheit? Anhand »Krisenkommunikationskompetenz sowie die alle Infektionen gemeldet werden und dazu nur scheinliche neue Regierungskoalition ver-
behoben werden könnte? der ausgelieferten Impfstoffdosen lässt sich eine internen Mobilisierungszeiten im Krisenfall« zu wenige Studien existieren. spricht einen Neustart – bei der Energie-
Die Befragung unter 1005 Personen ergab: einigermaßen zuverlässige Korrektur ableiten. »evaluieren« – also: zu verbessern. Was aber bekannt ist: Es gibt in der Bevölke- wende kann sie zeigen, wie ernst sie es
Zwischen Ende Juli und Mitte August gaben Demnach werden etwa fünf Prozent der verab- Vorher aber kommt die kalte Jahreszeit. Und rung noch immer viele, die von einer Impfung meint.  FRIT Z HAB EKU S S
87,5 Prozent der B ­ efragten an, mindestens eine reichten Impfungen nicht ordnungsgemäß erfasst. damit die Frage, was die – höhere – Impfquote für bislang nicht überzeugt werden konnten, die Vor-
Impfdosis erhalten zu haben, fast 81 Prozent gaben So gelangte das RKI zu dem Schluss, dass aktuell die nächsten Monate bedeutet. Fest steht: Der behalte haben oder Ängste. Komplizierter noch
an, vollständig geschützt zu sein. Unter den Men- bis zu 84 Prozent der Erwachsenen einmal und bis Infektionsdruck wird bei kühlerer Witterung als die Zahlen selbst sind die Menschen dahinter. Lesen Sie dazu auch ein Interview mit
schen ab 60 Jahren aufwärts sagten sogar fast zu 80 Prozent vollständig geimpft seien. wieder zunehmen. Die Zahl der Ansteckungen drei Autoren des Papiers auf zeit.de/green
90 Prozent, sie seien zweimal geimpft. Seit Mitte So kompliziert diese Rechnung ist – rechtfertigt wird steigen und die Kliniken stärker belasten. Welche Bevölkerungsgruppen jetzt noch und ein Gespräch mit der Westenergie-Chefin
August sind zwei Monate vergangen, also sind sie die Aufregung der vergangenen Tage? Mindestens 3,2 Millionen Menschen über 60 sind erreicht werden müssen: S. 34 Katherina Reiche in der Wirtschaft (S. 30)

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34 WISSEN 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Corona

Auf sie kommt es jetzt an


Manche Bevölkerungsgruppen tun sich schwerer mit der Entscheidung fürs Impfen als andere.
Vier Akteure erzählen, wie man sie dennoch erreichen kann  AUFGEZEICHNET VON JAN SCHWEITZER

Foto: Niklas Grapatin für DIE ZEIT

Foto: Niklas Grapatin für DIE ZEIT


Foto: Iona Dutz für DIE ZEIT

Foto: Stefanie Herbst/B.Z.


»Viele Ostdeutsche »Ich würde jungen »Im Islam ist »Den Menschen in
wollen sich vom Frauen die Impfung es Pflicht, sich Neukölln von oben
Staat nichts in Nachtclubs und andere zu herab zu begegnen
vorschreiben lassen« anbieten« schützen« bringt gar nichts«
Thomas Grünewald, Elke Wischmann, Mounib Doukali, Nicolai Savaskan,
Vorsitzender der Sächsischen Leiterin des Beratungszentrums Imam der El-Iman-Moschee in Leiter des Gesundheitsamts
Impfkommission von pro familia Hamburg Hamburg-Harburg Berlin-Neukölln

Sich nicht impfen zu lassen, sehen viele­ Viele junge Frauen sorgen sich um ihre Wir Imame in Hamburg haben uns impfen »Bill Gates will mit der Impfung die Kon-
Menschen in Ostdeutschland als ihr ganz Fruchtbarkeit, das verbindet sie. Wenn also lassen und in den Freitagspredigten darüber trolle über die Menschheit übernehmen.« –
persönliches Recht auf Widerstand. Einige herumerzählt wird, man könne nach einer gesprochen. Was jetzt nämlich gebraucht wird, »Die Impfung gibt es nur, weil Pharmafirmen
vergleichen es sogar mit den Montags­ Impfung keine Kinder mehr bekommen, sind Vorbilder, die nah an den Menschen dran ein Geschäft machen wollen!« Das sind Aus-
demonstrationen. Das macht es schwer, an kann dieses Gerücht eine enorme Wirkung sind, denen sie vertrauen und nacheifern. Ah, sagen aus den sozialen Netzwerken, die bei uns
die Leute ranzukommen. Sie wollen sich vom entfalten – obwohl da nichts dran ist. Um- heißt es dann, der Imam ist geimpft, er ist­ hier in Neukölln die Menschen beeinflussen.
Staat nichts vorschreiben lassen, auch keine gekehrt funktioniert es allerdings genauso: davon überzeugt, dass die Spritze das Richtige Viele von ihnen sind bildungsfern – sie tun
Impfungen, in der DDR mussten sie das­ Wenn ich eine Frau sachlich aufkläre und ist, und er hat erzählt, dass die Leute seiner sich schwer, Fakten von Fake-­News zu unter-
lange genug erdulden. Es ist ja kein Zufall, sie sich dann selbst eine fundierte Meinung Gemeinde sich ebenfalls impfen lassen haben scheiden und aus ihren sozialen Blasen heraus-
dass die ostdeutschen Bundesländer früher bilden kann, gibt sie das ebenfalls an ihre – dann mache ich das jetzt auch. zutreten. Diesen Menschen von oben herab zu
vorbildlich bei den Impfquoten waren. Das Freundinnen und Bekannten weiter. Die Ich erlebe, dass Menschen mit Migrations- begegnen bringt gar nichts. Andere Bewohner
hat sich allerdings in den letzten zehn, zwan- Frage ist also: Wo erreiche ich sie am besten? hintergrund den Impfstoff von BioNTech be- des Viertels können ihnen viel besser die Vor-
zig Jahren gewandelt, schon vor Corona. Was junge Frauen auch verbindet, ist, vorzugen: Er wurde in Deutschland hergestellt urteile gegen die Impfung nehmen. Menschen,
Ich fahre des Öfteren zu Infoveranstaltun- dass sie gern feiern gehen, egal, in welchem und die Entwickler haben türkische Wurzeln. die ihre Sprache sprechen, die ihre Probleme
gen und diskutiere mit den Menschen. Das ist Kontext sie leben oder wie sie groß gewor- Das sind also quasi ihre Leute. Das wirkt gegen kennen, die ihre Lebenswelt teilen.
manchmal eine schwierige Situation. Ich bin den sind. Im Nachtleben sind sie alle unter- Verschwörungstheorien aus den sozialen Netz- Im Moment setzen wir ein spezielles Auf-
zwar Arzt, werde aber als Vertreter des Staates wegs. Darum kann ich mir vorstellen, dass werken, zum Beispiel: »Die wollen die Welt- klärungsteam im Stadtteil ein. Gegründet
wahrgenommen. Und als medizinischer Ex- man in die Clubs geht und Mini-Events bei bevölkerung reduzieren, indem sie uns zur haben wir es vor einem Jahr, nachdem es im
perte gelte ich als Vertreter der Mainstream- den Toilettenräumen macht. ­Ideal wäre es, Impfung drängen.« Wir haben außerdem Auf- Sommer 2020 zu einem großen Corona-
Wissenschaft. Das ist nämlich eine weitere wenn dort junge Ärztinnen stehen würden, klärungsvideos verbreitet, in denen wir klar­ Ausbruch kam. Das Team besteht aus sieben
Sache, die mit reinspielt: eine Wissenschafts- die über die Impfung informieren. Ein ein- gemacht haben, dass es im Islam eine Pflicht Sozialarbeitern, die 13 Sprachen sprechen,
verdrossenheit. Die Menschen sind skeptisch facher erster Schritt wäre, gut gemachte­ ist, sich und andere zu schützen. die meisten von ihnen kommen aus dem
bei dem, was ihnen Wissenschaftler erzählen. Informationsbroschüren auszulegen. Ich Die Verschwörungstheorien zu entkräf- Viertel. Doch eigentlich bräuchten wir viel
Sie vertrauen aber oft ihren Hausärzten. Seit würde sogar so weit gehen, die Impfung­ ten kann allerdings nur der erste Schritt sein. mehr Mitarbeiter, die rausgehen und über
die Impfungen vor allem in den Praxen ge- direkt in den Clubs anzubieten. Denn Danach muss sofort ein praktisches Angebot die Impfung informieren – in Neukölln­
macht werden, läuft es deshalb etwas besser. wenn die Gelegenheit dazu da ist, wird sie her. Bei der Schura, dem Rat der islamischen leben über 327.000 Menschen. Am liebsten
Allerdings entsteht dadurch ein zusätzliches auch genutzt, da bin ich mir recht sicher. Gemeinschaften in Hamburg, haben wir in wäre es mir, wenn wir zusammen mit den
Problem: Unter den Ärzten und Ärztinnen gibt Ein etwas konventionellerer Weg wäre, mehr als 20 Gemeinden Impfungen angebo- Sozialarbeitsstrukturen genug Personal hät-
es natürlich auch Impfgegner und Verschwö- Gynäkologinnen stärker einzubeziehen. ten, etwa 3700 Bürger und Bürgerinnen ten, um hier an jeder Ecke den Gemüse-
rungstheoretiker. Und die haben dann ent- Viele bieten ohnehin Mädchen-Sprechstun- wurden geimpft. Es kamen nicht nur­ händler ansprechen zu können, den Döner-
sprechend Einfluss auf ihre Patienten. den an. Da könnten sie über die Impfung Gemeindemitglieder, sondern auch nicht- laden-Besitzer, Vereine, Ehrenämtler, all die
Wir versuchen nun, besonders auf diese aufklären und die Horrorgeschichten ent- muslimische Passanten, die aufmerksam Multiplikatoren. Weil wir dafür nicht aus-
Mediziner zuzugehen. Zusammen mit der kräften, die kursieren. Denkbar wären auch wurden, weil so viele Menschen vor der Tür gestattet sind, richten wir uns gezielt an
Ärztekammer bieten wir alle 14 Tage ein­ informative Podcast- oder Chatformate mit standen. Wir haben ihnen gesagt: Ihr müsst Menschen, die viel Vertrauen im Viertel ge-
Online-Seminar an, in dem wir über Aktuelles Gynäkologinnen. euch nicht anmelden, kommt einfach rein. nießen. An Menschen, die in den Vereinen
rund um die Impfung sprechen. Häufig schal- Eine Telefon-Hotline dagegen funktio- Das war ganz leicht. aktiv sind, an Imame, Lehrer, Apotheker.
ten 500, 600 Ärzte ein. Wir sind offen für alle niert nicht so gut. Die jungen Frauen nutzen Doch wie erreicht man jetzt die letzten Wichtig ist jetzt aber auch, noch mal­
heiklen Fragen. Die kommen auch: »Reduziert heute eher die digitalen Medien. Extra­ ungeimpften Leute mit Migrationshinter- jedem Menschen klarzumachen, was er ganz
die Impfung die Lebenserwartung? Warum gibt irgendwo anrufen, das tun sie nicht. grund? Aktuell versuchen wir, Mitglieder persönlich davon hat, wenn er sich impfen
es so viele Impfdurchbrüche?« Wir versuchen, der Gemeinden zu Corona-Testhelfern zu lässt. Dass er nicht ins Krankenhaus muss.
diese Sorgen ernst zu nehmen und ihnen Fak- qualifizieren. Sie sollen die Menschen, die Dass er wieder ohne große Einschränkungen
ten entgegenzuhalten. Zum Beispiel nennen sich testen lassen wollen, auch über die­ in Cafés oder Restaurants darf.
wir die echten Zahlen: Nur bei 0,1 Prozent der Impfung informieren, am besten in der­ Es gibt noch eine Sache, die aus meiner
Geimpften in Sachsen ist es aktuell zu Impf- jeweiligen Muttersprache – dann gibt es Sicht die Menschen stark motivieren würde,
durchbrüchen gekommen. Um eine einzige gleich eine Vertrauensbasis. sich impfen zu lassen. Das wäre, wenn wir
symptomatische Infektion zu vermeiden, muss eine konkrete Zahl nennen könnten, zum
man 14 Menschen impfen, um einen Todesfall Beispiel: Ab einer Impfquote von soundso
zu vermeiden, sind es knapp 400. Auch mit viel Prozent haben wir den Freedom-Day, da
solchen ermutigenden Zahlen können wir­ geht das normale Leben wieder los!
sicher nicht alle Kolleginnen und Kollegen
überzeugen. Aber zumindest hören die Ärzte
unsere Sachargumente. Und wir hoffen, dass
sie diese an ihre Patienten weitergeben.

Mehr Wissen:
Seit März 2020 erhebt die Cosmo-Studie, wie die Menschen zu den Corona-Maßnahmen stehen. Auf Basis der aktuellen Ergebnisse empfehlen die Wissenschaftler,
sich mit Impfangeboten an bestimmte Gruppen zu richten: etwa an junge Frauen, Ostdeutsche und Menschen mit niedriger Bildung oder mit Migrationshintergrund.
Links zu den Quellen der Themen dieser WISSEN-Ausgabe finden Sie unter www.zeit.de/wq/2021-42
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 WISSEN 35

Semesterstart

Frau Brühl macht auf


Nach anderthalb Jahren digitaler Lehre bereitet die TU Darmstadt den Präsenzbetrieb vor.
Doch werden die Studierenden überhaupt zurückkehren? VON ASTRID HERBOLD

M
enschenleer ist es im Karo 5. Kein Spitze der Universität steht, großen Anteil. Seit Woche eins Wenn riesige Hörsaal-Arenen das Symbol für die
Stimmengewirr, kein Kaffeeduft, des ersten Lockdowns fährt sie einen vorsichtigen Kurs – universitäre Vergangenheit sind, dann könnten of­
keine aufgeklappten Laptops. Ein und will auch jetzt nicht zu viel riskieren. Maximal 50 Pro­ fen zugängliche, flexibel nutzbare Gruppenräume
Dutzend grellgrüner Sitzbänke: zent Raumauslastung peile die TU mit 3G an, hat Brühl das Symbol der Zukunft werden. Die Universität
verwaist. Präsidentin Tanja Brühl gerade den Dekanen erklärt. Ist das zu wagemutig – oder zu wird agil.
blickt sich wehmütig im gläsernen zurückhaltend? Es gibt Unis, die wollen auf 100 Prozent Das Wintersemester unter anhaltenden Pande­
Eingangsfoyer am Karolinenplatz Auslastung gehen und das Homeoffice für die Beschäftig­ miebedingungen könnte dafür ein Test sein. Denn
um: »Hier ist es normalerweise total wuselig.« Normal – ten sofort beenden. Die Landesverordnungen lassen dafür noch ist völlig unklar, wie die Studierenden das neue
war es an der Technischen Universität schon lange nicht ausreichend Spielraum, jede Institution darf eigene Lösun­ Gemisch aus analog und digital annehmen werden.
mehr. Denn was sich in der Darmstädter Innenstadt, ge­ gen finden. Die unterschiedlichen Auslegungen erhöhen Zwar haben sie in vielen Umfragen mehrheitlich­
genüber von Schloss und Kongresshalle, an diesem stillen
Morgen besichtigen lässt, ist der anhaltende Ausnahmezu­
stand an Deutschlands Universitäten.
Knapp drei Millionen Studierende sind an den

Fotos: Katrin Binner für DIE ZEIT


400 Hochschulen der Republik eingeschrieben; über
700.000 Beschäftigte arbeiten dort. Seit März 2020 haben
sie alle – Lernende, Lehrende, Verwaltungsmitarbeiter –
ihre Hochschulen kaum von innen gesehen, auch nicht, als
im Frühsommer 2021 die ersten Lockerungen kamen. Das
digitale Sommersemester war da schon wieder in vollem
Gange, also blieb man beim Fernstudium. Seminare fan­
den bis Juli vor allem online statt; es ging logistisch schlicht
nicht anders. Beispiel TU Darmstadt: 25.000 Studierende,
5000 Beschäftigte, 167 Gebäude, eine Stadt in der Stadt.
Hier dauert es, unter ganz normalen Umständen, sechs
Monate, das jeweils nächste Semester mit seinen Tausen­
den Veranstaltungen und Prüfungen vorzubereiten. Wie
steuert man einen solchen Tanker aus dem Pandemie­
modus heraus?
»Ich weiß, dass Sie alle auf dem Zahnfleisch gehen!«,
ruft Tanja Brühl an einem Donnerstagnachmittag Ende Die Zentralbibliothek in der Sonne.
September Dutzenden Bildschirmkacheln entgegen. Normalerweise ist es hier »total wuselig«
»Trotzdem bitte ich Sie, noch einmal umzudenken!« Es ist
Brühls fünfte Zoom-Runde an diesem Tag; auf Corona-
Krisenstab folgte Präsidium, jetzt sind die Studiendekane Folge, nur eine kleine digitale Ersatzveranstaltung wird es
dran. Die Präsidentin hat Neuigkeiten. Zuerst die guten: geben. »Das ist enttäuschend, wir haben so viel Arbeit rein­
Ab Mitte Oktober soll es nun doch mehr Präsenzveranstal­ gesteckt«, sagt Kaufmann. Ihr Projekt werden die Studierenden
tungen mit mehr Teilnehmern geben. Die Politik drängt trotzdem wie geplant beenden. »Aber ich bin wirklich froh,
auf Öffnung. Die schlechte Nachricht: Das Hygienekon­ dass es ab Herbst wieder mehr in Richtung Präsenz geht.« Für
zept hat sich schon wieder verändert, jetzt gilt 3G. Die die Biologie-Studentin Sophia Hein kommt das zu spät. Nach
hessische Landesregierung hat, wie viele andere Bundes­ drei Semestern, die sie zu Hause im Taunus vor dem Bild­
länder, im September eine neue Verordnung erlassen, die schirm verbrachte, bleiben ihr jetzt nur noch ein paar Monate
auch die Hochschulen betrifft. Zutritt hat nur, wer nach­ im Labor, dann schließt sie ihr Masterstudium ab. Mit schalem
weislich geimpft, genesen oder getestet ist. Abstandhalten Gefühl: »Das hatte ich mir alles anders vorgestellt«, sagt Hein.
und Kontaktnachverfolgung rücken damit in den Hinter­ Sie sei nur froh, dass sie alle Prüfungen beenden und ihren
grund. Ein politischer Paradigmenwechsel, der vor allem Zeitplan einhalten könne. Ein Extra-Semester wäre finanziell
schwierig geworden.
Die Krise werde sehr unterschiedlich erlebt, es gebe Ge­
winner und Verlierer, sagt der Soziologe Tobias Blank, der an
der TU die Hochschuldidaktische Arbeitsstelle leitet. Die
Universitäten befänden sich seit Monaten in einem Dilemma:
Fast jede Entscheidung stoße bei den einen auf Zustimmung
und sorge bei den anderen für Enttäuschung. Und die Zeit
der Umbrüche und Zumutungen dauert an. »Wir werden
weiterhin Wünsche übergehen müssen, und das ist ziemlich
bitter.« Gerade hat das Präsidium jenen eine Absage erteilt,
die täglich wieder in ihre Büros zurückkehren wollen. »Es gibt
etliche, die zu Hause in der Entgrenzungsfalle stecken«, sagt
Blank, bei denen sich Arbeit und Privates immer mehr ver­
mischten. Manche müssen sich gedulden – denn jetzt gehen
die Studierenden vor. Die neue Balance zwischen An- und
Abwesenheit, zwischen Campus und Bildschirm, zwischen
real und virtuell, sie ist noch nicht gefunden.
Seit 2020 hat es an der TU Darmstadt einen massiven
Ausbau der psychosozialen Hilfsangebote gegeben, viele
(natürlich digital durchgeführte) Mental-Health-Workshops.
Die ganz große Zerrüttung ist wohl auch deswegen ausgeblie­
ben. Die TU habe einen besonderen Spirit, sagen viele; nicht
nur Tanja Brühl schwärmt in ihrer kurzen Mittagspause auf
dem sonnigen Schlossplatz davon. Die große Universität, mit
Mehr Krisenmanagerin als Präsidentin der TU Darmstadt: der Stadt über Jahrzehnte eng verwachsen, ist von jeher stolz
Tanja Brühl trat kurz vor Beginn der Pandemie ihr neues Amt an auf ihren Zusammenhalt. Corona hat auch hier, wie überall
in der Gesellschaft, zur Lagerbildung geführt. »Harte und
kontroverse Diskussionen«, ja, die seien an der Tagesordnung,
sagt Brühl. Am Ende überwiege meist die Problemlöser-
allerdings den Rechtfertigungsdruck. Was die Kon­ geäußert, dass ihnen der Präsenzbetrieb schmerzlich fehlt. Mentalität. Vielleicht liegt das auch an den Ingenieurwissen­
kurrenz macht, wird genau beobachtet, auch von Aber werden sie tatsächlich zurückkehren? Trotz Woh­ schaften, die hier rund die Hälfte aller Studierenden stellen
den Studierenden. Neulich, erzählt ein Dekan, habe nungsnot und schwankender Inzidenzen? Viele schätzen und die zum Pragmatismus neigen.
der Vater eines Studenten bei ihm angerufen und inzwischen die Vorzüge des mobilen Arbeitens, die Zeit- Im engen Eckbüro von Annelore Schmidt im zweiten
Endlich dürfen die Studierenden sich beklagt: Warum immer noch so viel digitale und Ortsunabhängigkeit. Stock vom Karo 5 kann man diesen Pragmatismus in persona
wieder zusammen ins Labor Lehre, wo doch in Frankfurt ...? »Jede Hochschule Einer von ihnen ist Jannis Rösner, der im 50 Kilometer kennen­ lernen. Vor überquellenden Regalen stapeln sich
macht das, was sie für sicher und richtig hält«, sagt entfernten Eppstein wohnt. Gerade organisiert der 22-Jäh­ Kisten mit Flatterband, auf der Fensterbank thronen Vogel­
Brühl diplomatisch. 154 Corona-Fälle zählte die TU rige mit der Fachschaft Informatik die Orientierungswoche figuren und Topfpflanzen. Die Informatikerin hat in den
den Kulturveranstaltungen vollere Hallen ermöglichen soll. seit Beginn der Pandemie; aktuell sind es vier, davon drei für die knapp tausend Erstsemester. Sie findet, bis auf zwei 1980er-Jahren das damals neue Fach an der TU studiert und
Die Hochschulen wurden nicht gefragt, ob und wie sie 3G Impfdurchbrüche. Über die Impfquote bei den Studieren­ Nachmittage, komplett im Netz statt. »Alles andere wäre ist heute zuständig für die digitale Prüfungs- und Raumver­
kurzfristig umsetzen können. Dass sich die TU seit Mona­ den weiß man wenig, die Beschäftigen dürfen gar nicht erst uns viel zu unsicher gewesen«, sagt Rösner bei einem­ waltung. In den letzten Monaten war sie ständig mit ihrem
ten intensiv auf ein anderes komplexes Verfahren – einen gefragt werden. Keine einfache Ausgangssituation für die Videoanruf. Dass der Kontaktnachverfolgung kurzfristig Zollstock unterwegs. Abstände ausmessen, Stühle markieren,
Smartphone-Check-in per QR-Code-Aushang in jedem Rückkehr in geschlossene Seminarräume pünktlich zur die gesetzliche Grundlage entzogen wurde, findet er »ab­ Räume für die Rückkehr der Studierenden vorbereiten. Grüner
einzelnen der über 500 Veranstaltungsräume – vorbereitet Virensaison. Aber: Ist die Präsenz-Uni überhaupt das, was solut hirnrissig«, nahezu rücksichtslos. Informatik ist in Klebepunkt heißt: Platz nehmen ist erlaubt. Eine Software
hat? Tja, Pech gehabt. die Mehrheit will? Darmstadt ein beliebtes Massenfach, Gedränge und über­ für die Kontaktnachverfolgung hat ihr Team entwickelt – mal
3G muss übrigens, das ist die nächste Kröte, zwingend Fast über Nacht ist es vor 19 Monaten verschwunden – füllte Veranstaltungen inklusive. Bei steigenden Infektions­ eben nebenbei. Die könnten sie nun wieder einstampfen, sie
kontrolliert werden. An manchen Unis denkt man hektisch das alte Uni-System, das aus einem »Geflecht produktiver zahlen im Herbst würden viele der Uni wieder fernbleiben, ist inzwischen hinfällig. »Machen wir aber nicht«, sagt die
über Konzert-Armbändchen, Aufkleber auf Studentenaus­ Nahbeziehungen« bestand, wie es der Germanist Roland glaubt Rösner. Außerdem sei es doch ganz gut gelaufen mit Referatsleiterin entschlossen. Die App werde »ein bisschen
weisen oder Security an allen Eingängen nach. In Darm­ Borgards kürzlich in der ZEIT formulierte. Mit erstaunli­ den Digitalsemestern. »Im Fachbereich Informatik drängt umgestrickt«. Bald sollen die Studierenden damit in Echtzeit
stadt sollen die Lehrenden die Kontrollen der Test- und cher Innovationskraft stellten die sonst so behäbigen­ kaum jemand zurück in die Präsenz.« Fürs Zusammenge­ sehen, wo auf dem Campus freie Räume oder Arbeitsplätze
Impfnachweise übernehmen, stichprobenartig, während Institutionen binnen Wochen auf den Digitalbetrieb um, hörigkeitsgefühl haben sich die Studierenden längst andere zur Verfügung stehen. »Wir sind ein alter Laden«, sagt
der laufenden Veranstaltungen. »Passt das Prozedere, oder forschten, lehrten, kommunizierten. Das alles geschah bei­ Treffpunkte gesucht: Tools und Plattformen. Schmidt. »Aber die Modernisierung kann uns gelingen.«
gibt es ein Veto?«, fragt Brühl in die Runde. Ihr Ton ist nahe geräuschlos, klaglos. Die Öffentlichkeit nahm kaum Gegenschnitt: Ein Labor auf dem Campus Botanischer Für die Hochschulen in Deutschland ist das alles ein
freundlich, fast flehend. Die Präsidentin weiß, dass an Kenntnis davon. Eine Debatte, wie es sie über geschlossene Garten, etwas außerhalb des Darmstädter Zentrums. Draußen Kraftakt. Hygienekonzepte, Identitätsvergewisserung, In­
manchem Homeoffice-Schreibtisch gerade mit den Zäh­ Schulen, überforderte Familien und psychisch belastete leuchten die Bäume in Herbstfarben, drinnen streift sich novation, alles muss zugleich stattfinden. Im Juni dieses
nen geknirscht wird. Schon wieder alles anders als ge­ Kinder und Jugendliche gab, blieb in Bezug auf die Studie­ Marwan Kaufmann seinen weißen Kittel über. Gerade ist das Jahres sagte die Noch-Bildungsministerin Anja Karliczek in
dacht – echt jetzt? Gereiztheiten in den Führungsebenen, renden und Professoren aus. In diesem Herbst nun soll es vierte und letzte Semester seines Masterstudiums Molekula­ einer Bundestagsrede, an den Hochschulen finde »im Mo­
zerstrittene Präsidien, frustrierte Teams, das hört man der­ irgendwie hybrid weitergehen. Aber welche Strategien ver­ re Biotechnologie angebrochen. Drei ­Semester vor allem ment gar nichts« statt. Zu diesem Zeitpunkt war das dritte
zeit von vielen Hochschulen. In Darmstadt bleibt man folgen die Hochschulen dabei, was soll sich dauerhaft ver­ Theorie, erst seit Kurzem darf er wieder mit einigen Kom­ Digitalsemester in vollem Gange und das erste Hybrid­
auch nach eineinhalb Jahren Ausnahmezustand erstaunlich ändern, was gestärkt, was aufgegeben werden? militoninnen ins Labor. Die studentische Gruppe forscht auf semester fieberhaft in Vorbereitung. Dieser kleine Neben­
ruhig und sachlich. Brühl will den Campus architektonisch verändern. Ihn eigene Faust an technisch einsetzbaren Biofilmen und wollte satz, sagt Präsidentin Tanja Brühl, »der hat echt wehgetan«.
Daran hat die Superkommunikatorin Brühl, die mit zu einem anpassungsfähigen, atmenden Treffpunkt um­ das Ergebnis Anfang November auf einem internationalen
einem neu besetzten Präsidium erst seit Ende 2019 an der bauen, mit »viel Licht, Platz und schnellem WLAN«. Kongress präsentieren. Der fällt nun aus, zum zweiten Mal in  www.zeit.de/vorgelese
36 WISSEN 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Umwelt

Sand für
die Welt

MALAYSIA

SINGAPUR

Niemand verbraucht so viel Sand


wie die Bürger von Singapur.
5,4 Tonnen sind es pro Kopf im
Jahr. Der meiste davon kommt aus
Kambodscha, Thailand, Malaysia,
Indonesien und Vie­tnam. Der Stadt­
staat Singapur hat so in 40 Jahren
ein Fünftel Fläche dazugewonnen.
D elta

VIETNAM
VIET
ng-
ko

e
M

In Vietnam verschwinden
ganze Flussbetten. In seinem
großflächigen Delta hat der Mekong
über Jahrtausende große
Lager­stätten von sehr hochwertigem
Sand entstehen lassen. Der wird
nun so massiv abgebaut, dass das
Meer jedes Jahr weiter
landeinwärts drängt.

NDA
GA
U

KE
NIA

Viktoriasee
IA

N
TA N S A

Im Viktoriasee, der zu Uganda,


Kenia und Tansania gehört,
fördern Unternehmen (vor allem
aus China) mit riesigen
Saug­pumpen Sand. Das wirbelt

Fotos: Fritz Habekuß; Illustration: Anne Gerdes/ZEIT-Grafik


Sedimente auf, die das Wasser
trüben und Fauna und Flora
das Leben erschweren. In der Folge
bleiben die Netze vieler Fischer leer.

KAP
VERDE

Santiago
Plötzlich war der Acker weg – Atsiken Kwaku (oben) steht vor dem, was von seinem Feld übrig blieb. Philip Adom (links) nennt sich »Sandunternehmer«; das Geschäft bringt viel mehr
Geld ein als sein Job im Restaurant. Die kostbare Ware wird mit Lkw abtransportiert (Mitte). Abigail Abokyi konnte im letzten Moment verhindern, dass ihr Vorgarten geplündert wurde

Extrem verheerend wirkt sich der


Sandabbau auf Santiago aus,
der größten Insel der Kapverden.

Die Sandmafia
In 25 Jahren verschwanden hier zwei
Drittel aller Strände. Oft wissen
die Plünderer, welche Zerstörung
sie anrichten. Doch sie haben keine
Wahl, weil sie so arm sind.

Überall auf der Welt wachsen die Städte und verschlingen Beton, längst wird der Rohstoff dafür knapp.
Ein Besuch in Ghana, wo kriminelle Banden gut am Bodenraub verdienen  VON FRITZ HABEKUSS

A
INDIEN tsiken Kwaku ist Bauer, aber Jugendmannschaften gegeneinander Fußball spie­ war sein Feld zerstört. Meins auch. Und die­ knapp wird. In mehr als 70 Ländern ist der­
es fragt sich, wie lange noch. len. Er kommt gerade aus Accra, Ghanas Haupt­ Männer waren weg.« illegale Abbau ein Problem (siehe Randspalte): In
Der Pachtvertrag für die zwei stadt, zwei Stunden sind es von dort hierher. Sein Was hätten Sie dagegen tun können? Mali baggert die Sandmafia Flussbetten leer, in
Hek­ tar Land, auf denen er Heimat­dorf Hobor liegt gleich nebenan. Auf dem »Nichts.« Kambodscha verschwinden über Nacht kom­
In Indien ist die Sandmafia Ananas, Okraschoten und Fußballplatz spielen zwei seiner Söhne, aber­ Atsiken Kwaku ist zum Opfer einer Mafia ge­ plette Strände auf den Ladeflächen von Trucks,
besonders brutal, hier sterben Mais anbaut, läuft noch zwei Kwaku schaut kaum hin, sein Blick geht nach­ worden, die es auf einen der wichtigsten Roh­ und in Ghana kann Atsiken Kwaku nur zusehen,
regelmäßig Journalistinnen und Jahre. Doch das wird ihn innen, als er davon erzählt, was passiert ist. stoffe der Welt abgesehen hat, den nach Wasser wenn ihm der Acker gestohlen wird. Auch wenn
Aktivisten, die gegen sie kämpfen. nicht davor schützen, bald ein Bauer ohne Land Die Sandgräber rückten mit Schubraupen, am meisten gehandelten: Sand. Man braucht ihn, andere Ressourcen wie Seltene Erden beim­
Eine Technik des Abbaus hier: zu sein. Baggern und Lkw an, spät am Nachmittag. Beim um Beton anzurühren und damit Bausteine her­ gegenwärtigen Verbrauch schneller zur Neige­
Männer tauchen täglich mehr 2019 waren die Sandräuber zum ersten Mal letzten Mal im März hat er sie vorher noch ge­ zustellen, Wände, Einfamilienhäuser und 50-­ gehen werden als Sand: Wenn sogar jener Roh­
als hundertmal auf den da, 2020 wieder, zuletzt kamen sie im März dieses sehen, sogar mit ihnen gesprochen. stöckige Bürotürme hochzuziehen, um Einfahr­ stoff knapp wird, der sprichwörtlich für unend­
Grund der Seen und des Meers. Jahres. Und jedes Mal nahmen sie ein Stück­ Worüber haben Sie miteinander geredet? ten zu gießen, Brunnenschächte und Fußgänger­ liche Verfügbarkeit steht, dann ist im Anthropo­
Dort füllen sie Eimer mit Sand Leben mit. Denn der Acker bedeutet für Atsiken »Sie haben mich gefragt, wem das Nachbar­ tunnel zu bauen. Keine Straße, keine Stadt, kein zän kein Stoff mehr vor Ausbeutung sicher. Die
und bringen ihn an die Oberfläche. Kwaku Einkommen, Versicherung, Essen, Schul­ feld gehört.« Flughafen, kein Treppenabsatz, kein Gehweg, Geschichte vom Sand erzählt viel über den­
Dann wird er zu den Baustellen der geld für seine sechs Kinder. Der Acker ist Gegen­ Und, haben Sie es ihnen gesagt? kein Denkmalsockel ohne den Rohstoff. Sand extraktiven Kapitalismus: eine Wirtschaftsform,
Großstädte transportiert. wart, und er ist Zukunft. »Ja. Damit sie ihm wenigstens eine Entschädi­ steckt außerdem in Glas, in Gesichtspeeling, in die Ressourcen plündert und so auch ihre eige­
»Sie sind in der Nacht gekommen, und als ich gung zahlen können, wenn sie schon sein Feld Zahncreme und in Computerchips. Unsere­ nen Lebensgrundlagen zerstört.
morgens auf mein Feld kam, da gab es mein Feld kaputtmachen.« moderne Gegenwart besteht zu einem großen Beton etwa, wofür der allergrößte Teil des
nicht mehr«, sagt der Bauer. Und dann? Teil aus Sand. Sands verbraucht wird, hat nur eine Lebenszeit
Es ist ein heißer Nachmittag im Süden Gha­ »Bin ich los, ihm Bescheid sagen. Aber es war Doch obwohl Sand überall ist, bleibt er meist von einigen Jahrzehnten. »In hochentwickelten
nas. Kwaku, 43, wartet an der Straße, wo zwei schon spät am Abend. Und am nächsten Morgen unsichtbar. Vielleicht ist das der Grund, wieso er Ländern versucht man, Sand durch Altbeton aus
DIE ZEIT N o 42 14. Oktober 2021 WISSEN 37

Umwelt

Abrissen zu ersetzen. Diese Praxis steckt noch in Eigentümer und unterbreitet ihm sein Angebot: In Ghana muss man nicht lange nach den
den Kinderschuhen, man wird künftig aber nicht mehrere Hundert Euro für die Ausbeutung eines Orten der Zerstörung suchen, man stolpert über
Das heißt, es gibt keinen?
»Das kommt auf den Fall an.«
Beton von
daran vorbeikommen. Weltweit gibt es einfach Viertel Hektars. Es kommt selten vor, dass­ sie. Nicht weit von Hobor entfernt wird Sand
nicht mehr genügend hochwertigen Sand«, sagt jemand Nein sagt. direkt neben der Straße abgebaut. Die Schaufel
Adoms Kollege, den wir an der Abbaustelle mit
der einzelnen Palme befragt haben, versicherte, dass
morgen
Johann Plank, Professor für Bauchemie an der Eigentlich müssen die Sandgräber einen offi- des Baggers knallt auf den Rand einer Ladefläche, er selbstverständlich die Wälle mit dem Mutter­
TU München und einer der weltweit führenden ziellen Antrag bei der Mineralien-Kommission Motoren brummen, Männer rufen Anweisun- boden wieder verteilen lassen werde. Ein paar­
Beton-Experten. stellen. Die würde Pächtern wie Atsiken Kwaku gen. Auf einer Fläche von zwei Hektar ist die Wochen später kommen Katharina Hemmler und
Wie groß das globale Problem genau ist, kann Widerspruchsfristen einräumen. So ein Verfah- Erde komplett umgebrochen, Wurzeln und Äste Kofi Asare zurück an die Stelle, um die Aussagen zu
man nur schätzen. Weder die Welthandelsorga- ren dauert rund ein Jahr. »Niemand macht das«, ragen aus den Wällen, zu denen der Mutterboden überprüfen. Hemmler schickt ein Foto: keine Spur
nisation noch das Umweltprogramm der Ver- sagt Katharina Hemmler. Stattdessen einigen zusammengeschoben wurde. Eine einzelne Palme vom Versuch, das Land wiederherzustellen. Es sieht
einten Nationen oder irgendeine andere interna- sich Männer wie Adom direkt mit den Land­ haben die Arbeiter stehen lassen. Es sieht aus, als immer noch so aus wie am Tag des Abbaus, nur dass
tionale Organisation hat ein Monitoringpro- besitzern – oder sie stehlen den Sand einfach. wüchse sie auf einer zwei Meter hohen Insel, in- jetzt Regenwasser in den Furchen und Löchern
gramm, mit dem sich der Handel sowie der lega- Manchmal behaupten mehrere Familien, Besit- mitten eines Meeres der Zerstörung. So tief ha- steht. »Ich habe während meiner Feldforschung
le und der ­illegale Abbau nachverfolgen lassen. zer des Landes zu sein. Adom bezahlt dann ent- ben sie ringsherum den Sand abgebaut. nicht einen einzigen Acker gefunden, der wieder-
Um welche Mengen es geht, ist unklar, genau weder mehrfach (und macht trotzdem noch­ Philip Adom trägt eine schmale Goldkette, in hergestellt wurde«, erzählt sie.
wie die Frage, wer wie viel wohin exportiert. »Für Gewinn). Oder er bedient sich einer anderen der Hand hält er sein Mobiltelefon und ein Buch, Eine der Standardfragen, die Katharina
die Bauindustrie ist der hochwertigste Sand Technik: »Wir fangen um 23 Uhr an zu arbeiten in dem er sich Notizen zu seinen Geschäften Hemmler ihren Gesprächspartnern für ihre For- Weniger verbrauchen
Flusssand. Er ist natürlich gewaschen und damit und hören um sechs Uhr auf. Dann kriegen wir macht. Er wirkt nicht wie ein Krimineller, mit schung stellt, lautet: »Welche negativen Einflüsse Viel Beton wird unnötig verbaut.
praktisch frei von Verunreinigungen«, sagt Plank. am wenigsten Probleme.« Bevor die Bagger den großer Offenheit erzählt er von seinem Gewerbe. hat der Sandabbau Ihrer Meinung nach?« Intelligente Raumplanung hilft,
»Doch diese ­natürlichen Vorkommen sind welt- Sand abgraben können, müssen sie den Mutter- Zu Adoms Ausgaben gehören Bestechungs­ Philip Adoms Antwort: »Wir machen das Land weniger von dem Baustoff zu
weit aufgebraucht.« boden beiseiteschieben, egal, ob auf ihm die Jah- gelder, »chop money«, wie er es nennt. Er spricht kaputt und auch die Flüsse. Nahrung ist schon verwenden. Außerdem lässt sich
Vor allem die Urbanisierung treibt den Ver- resernte einer Familie wächst, Futter für die Zie- darüber wie andere über den Preis für Bananen auf sehr viel teurer geworden.« Tatsächlich e­rzählen Beton teilweise ersetzen, durch
brauch in die Höhe – und ein Ende ist nicht in gen oder nur Gebüsch. dem Markt. »Ich sehe die Polizisten als Teil von die Frauen, die auf dem Markt von ­Hobor Koch- Holz oder Hightech-Materialien.
Sicht. Seit 2007 lebt mehr als die Hälfte der Später, auf dem Rückweg nach Accra, als es uns. Sie bekommen Geld, wir eine gute Bezie- bananen und Maniok, Eier und T ­ omaten verkau- Letztere können die Langlebigkeit
weiter steigenden Weltbevölkerung in Städten. längst stockdunkel ist, halten wir am Straßen- hung. Wenn es dann mal ein Problem gibt und fen, dass die Produkte früher noch von den Fel- von Gebäuden er­höhen und deren
Immer mehr Menschen ziehen vom Land dort- rand. Ein Baggerfahrer sitzt neben seiner schwe- wir verhaftet werden sollen, rufen sie vorher an. dern ringsum gekommen seien. Jetzt müssten sie Effizienz steigern.
hin. Sie kommen in der Hoffnung auf ein­ ren Maschine, er wartet auf den nächsten Auf- Und wenn ich doch mit auf die Wache muss, las- einen großen Teil vom Markt holen, der zwei
besseres Leben, wollen mehr Komfort, fliehen trag. Wir fragen ihn, wie er sich in so einem sen sie mich sofort wieder gehen.« Andere Sand- Stunden entfernt liege. Adom sagt: »In fünf Jah-
vor Armut oder vor Terroristen und kriminellen Moment fühle, wenn er den Ackerboden weg- unternehmer erzählen ähnliche Geschichten. ren kann man hier bestimmt noch gut leben. Aber
Banden, die ihre Dörfer plündern, wie in Teilen schaufle. Man kann sein Entlang der Strecke in zehn wird es schlecht aussehen. Das Land ist
Westafrikas. Immer häufiger ist die Klimakrise Gesicht nicht erkennen, es von Accra nach Hobor schon jetzt knapp, und auf den Flächen, die wir
ein Grund. Viele Regionen entlang des Äqua- gibt hier keine Straßen­ ist ein Kontrollpunkt ausgebeutet haben, wird gebaut.«
tors werden schlicht zu heiß und zu trocken, als beleuchtung. »Ja, das tut AFRIKA aufgebaut, an einer klei- Am Ende wirkt der Sandabbau in Ghana, bei
ZEIT- GRAFIK
dass Menschen dort noch leben könnten. Fel- tief im Herzen weh«, sagt nen Schlaglochpiste, ab- dem einige reich werden und der große Rest der
100 km
der ­ vertrocknen, Herden verdursten, die­ er. Aber: So sei nun mal der seits der Hauptstraße. Bevölkerung verliert, wie eine ins Groteske über-
Bewohner geben ihr Land auf und ziehen in die Job. Dann erzählt er noch, BU R K I N A FA S O Das Einzige, was hier zeichnete Parabel auf das, was überall auf der
Stadt. Ein Ende dieser Migration ist nicht ab- dass er schon angegriffen eine Kontrolle rechtfer- Welt passiert. An anderen Orten leben Täter und
BENIN

zusehen. Bis 2050, prognostizieren die Verein- wurde und deshalb eben- tigt: die vielen voll bela- Opfer Kontinente voneinander entfernt – in­ Sand ersetzen
ten Nationen, werden zwei Drittel aller Men- falls eine Waffe bei sich denen Sandtrucks. Als Hobor sind sie Nachbarn. Mischt man dem Beton Schlacke
schen in Städten leben. trage. Wir fahren weiter. wir langsam vorbeifah- Wir besuchen Abigail Abokyi, 62, in ihrem oder Kokosnussfasern bei oder
GHANA
ELFENBEINKÜSTE

Weil Dörfer zu Städten und Städte zu Mega- Um die Fahrer zur ren, unterhält sich ein Haus. Zwei ihrer Felder hat sie schon verloren. nutzt neue Materialien wie Schaum-
citys werden, wird Sand knapp, auch in Ghana. nächsten Abbaustelle zu Polizist gerade mit einen Eines Nachmittags, als sie gerade unterwegs war, beton, wird weniger Sand gebraucht.
Im Großraum Accra lebten 1960 weniger als lotsen, haben die Sand­ Lkw-Fahrer. Genauer: Er rollte ein Bagger in ihren Vorgarten, wo sie ein In Deutschland werden zudem
TOGO

500.000 Menschen. Heute sind es zehnmal so unternehmer ein Erken- feilscht mit ihm. 50 Cedi bisschen Gemüse anbaut. »Wenn die Kinder 87 Prozent des bei Bauarbeiten übrig
viele. Weil all diese Menschen irgendwo wohnen nungssystem entwickelt: verlangt der Polizist für nicht zu Hause gewesen wären und die Männer gebliebenen Sands anderweitig
müssen, weil sie Straßen brauchen und Einkaufs- Jeder von ihnen hat eine Hobor die Passage, umgerech- mit viel Geschrei vertrieben hätten, wäre das auch verwendet – in anderen Ländern
zentren und Büros wollen, glaubt Atsiken Kwaku bestimmte Flagge, die an net sieben Euro. noch weg gewesen.« Sie erzählt das wie jemand, geschieht dies kaum.
nicht daran, dass ihm sein Acker noch lange­ Abzweigungen in die Erde Accra An Stationen ent- der das Kämpfen aufgegeben hat.
bleiben wird. gesteckt wird und den Fah- lang der Straße warten In Hobor gehört das Land, das Sandunterneh-
Während der Recherche in Ghana bin ich rer zu seinem Auftrag lotst. Golf von Guinea Truckfahrer auf ihren mer wie Adom ausbeuten, einer Gruppe von Chiefs.

§
mit Fachleuten unterwegs, die den Sandabbau Weiß man das, bekommt Einsatz. Sie werden spä- Das sind kleine Könige mit großer Macht. Ihr Titel
dort erforschen: der Agrarwissenschaftlerin­ man bei der Fahrt durchs ter erzählen, dass die wird vererbt. Ihre Aufgabe wäre es, das Land für die
Katharina Hemmler von der Universität Kassel ländliche Ghana plötzlich Kontrol­len Routine sei- Gemeinschaft zu verwalten. Dieses System hat jahr-
und dem Sozialwissenschaftler Kofi Asare von eine Vorstellung davon, wie massiv das Problem en – wenngleich sie auf die Fragen missmutig hundertelang funktioniert. Jetzt bringt die Aussicht
der University of Cape Coast im Süden des­ ist. Allein an einer Kreuzung hinter Hobor ste- reagieren. ­Für sie ist die Polizei ein Gegner, der auf schnelles Geld es zum Einsturz.
Landes. Sie stellen mir die Menschen vor, die mit hen vier verschiedene Flaggen. ihren Gewinn schmälert. Das ist der eigentlich Kern des Problems. Darü-
dem Sand Geld verdienen. Pächter werden für den Boden, den sie­ Je länger der Weg des Sands von der Abbau- ber will keiner der Betroffenen sprechen – zu groß
Philip Adom etwa, er ist einer von denen, die bebauen, nur selten entschädigt. Und wenn, stelle, desto mehr Kontrollpunkte, desto mehr ist die Angst vor einer direkten Konfrontation mit
den Rohstoff von den Feldern holen und­ dann deckt das Geld nur einen Bruchteil des chop money, desto teurer wird die Fuhre für den den Chiefs. Ein letzter Rundgang um Hobor, bevor Den Abbau regeln
verkaufen, »Sandunternehmer« nennt er sich. Er tatsächlichen Werts. Das Land ist hinterher Endabnehmer. Wer eine Ladung zu einer Bau- wir zurück nach Accra fahren. Bauern machen sich Lässt sich der Verbrauch nicht weiter
ist bewaffnet. »Aber nur zur Verteidigung, ich ruiniert, vielleicht auf Jahre, eher auf Jahrzehn- stelle auf halbem Weg von Hobor nach Accra be- mit Macheten in der Hand auf den Weg zu ihren reduzieren, sollte der Abbau regu-
wurde zu oft überfallen.« Fast ein Dutzend­ te. Atsiken Kwaku hat noch nie eine Entschädi- stellt, zahlt 600 Cedi, rund 85 Euro, wer in der Feldern – oder dem, was davon noch übrig ist. Die liert werden: Sand dort entnehmen,
Männer wie Adom gibt es in Hobor, dem Dorf gung bekommen. Innenstadt baut, fast das Doppelte. Landschaft ist vom Raubbau der Sandmafia ge- wo wenig Schaden entsteht – und
von Atsiken Kwaku. Dabei leben dort nur ein Hier wird ein typisches Muster sichtbar, in Philip Adom erzählt, dass auch Mitarbeiter der zeichnet. Außer ein paar tapferen Büschen wächst ihn möglichst lokal verbrauchen.
paar Hundert Menschen. Adom sitzt auf einem dem zwei Dinge unmittelbar miteinander ver- Mineralien-Kommission an der Abbaustelle vorbei- nichts auf den Wällen ringsherum – dabei war die Experten fordern ein internationales
Plastikstuhl vor seinem Haus, nicht weit von der knüpft sind: Die Verheerung der Umwelt ver- kommen – nicht um wirklich zu kontrollieren, Sandmafia hier schon vor ein paar Jahren. Die Monitoring für den Sandhandel.
Straße, auf der die schwer beladenen Trucks in stärkt die bestehende soziale Ungleichheit. Wer sondern um Geld einzustecken. Gemeinsam mit Felder sind karg. Ein paar Cashewbäume stehen
Richtung Accra fahren. Es ist schwül, ein­ Geld hat, kann sich wehren oder profitiert sogar, dem Umweltamt seien sie eigentlich dafür zustän- hier, der tropische Vogelgesang vermischt sich mit
Mangobaum spendet Schatten, eine junge Katze indem er selbst in das lukrative Geschäft einsteigt dig, sicherzustellen, dass die Sandunternehmer die dem entfernten Rauschen der Atlantikwellen, die
tapst zwischen den Stuhlbeinen umher. oder Männern wie Adom das Recht verkauft, gröbsten Schäden wieder beseitigen, etwa die­ ein paar Kilometer weiter ans Ufer branden. Hier HINTER DER GESCHICHTE
Adom ist 22, seit ein paar Jahren ist er im Sand abzubauen. Wer arm oder ohnehin benach- Abbaufläche einebnen und die zu Wällen aufgewor- liegt auch das Feld von Atsiken Kwaku. Er hofft,
Sandgeschäft. Davor arbeitete er in einem­ teiligt ist, wird übervorteilt. fene Erde wieder verteilen. Dazu sind die Sand- dass er noch einmal ernten kann, bevor die Sand- Auf das Thema des illegalen Sand-
Restaurant, für umgerechnet 70 Euro Monats- Dieses Muster taucht immer wieder auf: Auch gräber gesetzlich verpflichtet. »Ja, das müssen wir gräber wiederkommen. abbaus stieß der ZEIT-Reporter in
lohn. Jetzt sei es ein Vielfaches davon, sagt er. die Folgen der Klimakrise oder von Naturkata- eigentlich machen«, sagt Adom, »und wir tun das Der Bauer Clement Okyere hat sein Land­ Gesprächen mit Andreas Bürkert,
Wie viel genau? Das schwanke von Monat zu strophen verstärken meist bestehende Ungleich- auch, jedenfalls bei der Hälfte aller Flächen.« Für bereits verloren. Immerhin, nachdem die Sand- Professor für Ökologischen
Monat. Jedenfalls genug, um zu investieren: in heiten, global wie lokal. Im Fall des Sandabbaus ihn sind diese Aufräumarbeiten ein Verlustgeschäft: räuber ihm sein altes Feld genommen hatten, hat Pflanzenbau und Agrarökosystem-
ein Taxi, einen Minibus, ein Geschäft für Wand- sind die Profiteure – die Sandunternehmer, die Er muss die Baggerfahrer dafür bezahlen, und das er ein neues zugewiesen bekommen. Der Boden forschung in den Tropen und Sub-
farben und in zwei kleine Straßenstände, die­ Baggerfahrer, die Trucker, die Landbesitzer – zum geht direkt von seinem Gewinn ab. Aber da er alle hier ist schlechter – »aber was soll ich machen?« tropen an der Universität Kassel. In
Telefonguthaben verkaufen. allergrößten Teil Männer. Und die Opfer sind Beamten besticht, die ihn bestrafen könnten, hat Er zeigt, wo er und seine Frau Erdnüsse ange- Ghana halfen ihm die Doktoranden
Adoms Job ist es, Sand zu finden. Dafür jene, die Jahr für Jahr Felder bestellen, aber das er kaum etwas zu befürchten, wenn er zerwühltes pflanzt haben. Zögerlich strecken die Pflänzchen Katharina Hemmler aus Kassel und
schnappt er sich einen Spaten, steigt auf sein­ Land nicht selbst besitzen. Unter ihnen sind Land zurücklässt. ihre Triebe in die Luft. Für das ungeübte Auge Kofi Asare von der dortigen Univer-
Motorrad und fährt umher, bis ihm ein Stück überproportional viele Frauen. Hier zeigt sich ein Worin liegt der Unterschied zwischen illegalen sehen sie kümmerlich aus. Für Clement Okyere sity of ­Cape Coast mit Hinter-
Land vielversprechend erscheint. Er fängt dann oft ignorierter Zusammenhang: Ein Verbrechen Sandunternehmen und legalen? sind sie die Hoffnung. grundwissen und Kontakten, die sie
an zu graben, durch die Schicht des Mutter­ gegen die Natur bedeutet fast immer auch ­Gewalt »Manchmal machen wir es legal, manchmal während der Recherchen für ihre
bodens hindurch. Stößt er auf Sand, sucht er den gegen Menschen. illegal«, sagt Adom.  www.zeit.de/vorgelese Promotionen geknüpft hatten.

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38 WISSEN 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Biologie Sport

Hier steht’s!
»Die weitere
Aufreinigung dieses
Wenn Sie nur ein Buch über
Gemischs kann mit
[...] der selektiven
das Laufen lesen könnten ...
Ausfällung, der
Lösungsmittel­ ... dann lesen Sie Laufen von Bernd Heinrich. »Ausdauerräuber« konnte er nun jede Beute
extraktion oder der Denn manchmal schreiben Dilettanten die hetzen, bis sie zusammenbrach.
besten Bücher – vorausgesetzt, sie nehmen Nicht der Drang nach Perfektion spricht aus
Festphasenextraktion die Leserin und den Leser mit auf den Weg dem Buch, sondern die Lust, die Heinrich seit
geschehen.« der Erkenntnis. seiner Jugend auf die Laufstrecke treibt. Und
Bei Heinrich ist das der Fall. Als der US-Bio­ die Freude am Ausprobieren. »Manchmal
Bing Deng, Chemiker, loge sich 1981 auf seinen ersten 100-Kilometer- mache ich die Augen zu«, verrät er. Wie Vögel
Foto: University of Georgia; kl. Fotos: Rice University, Houston; Ulrich Baumgarten/Vario Images (u.); ZEIT-Grafik

darüber, wie man in Schrott Lauf vorbereitete, da hatte er zwar zusammen­ und Delfine auf Reisen. Um den Energie­
enthaltene Komponenten gerechnet schon viermal zu Fuß die Erde um­ verbrauch des Gehirns zu senken, hat er schon
zur Gewinnung von rundet, wusste mangels Ratgeberbüchern aber beim Laufen geschlafen – mit einem geöffneten
Rohstoffen trennt immer noch nicht, wie er sich für eine solche Auge, wie die Enten. Dieser Trick, stellte er fest,
Tortur rüsten sollte. Der Professor vertraute auf bringt nicht so viel. Im Grunde gar nichts.
die Expertise derer, die er von seinen Forschun­ Genauso empfehlen sich andere tierische Tak­
gen kannte: tierische Ausdauerkünstler. tiken nur bedingt: Bienen würgen, wenn ihnen
Von männlichen Laubfröschen ließ er sich warm wird, den Mageninhalt aus, verteilen ihn
dazu inspirieren, nicht immer gleich schnell zu über den Körper und lassen das Wasser ver­
laufen. Diese Amphibien vollbringen beim dunsten. Truthahngeier erzeugen einen solchen
nächtelangen Balzen körperliche Höchst­ Kühleffekt, indem sie flüssigen Kot an den
leistungen – sie lehrten Heinrich die Kunst des Beinen hinunterlaufen lassen.
subtilen Tempowechsels. Zugvögel nahm er sich Heinrich hat viele Rekorde aufgestellt (zum
zum Vorbild für die Phase unmittelbar vor dem Beispiel: schnellster 60-jähriger Amerikaner
Rennen. Bevor diese sich zu Flügen über Tau­ über 50 Meilen). Dennoch hielt sein Ehrgeiz
sende Kilometer aufmachen, verdoppeln sie ihr ihn nie davon ab, hanebüchene Experimente zu
Gewicht. Entsprechend präparierte Heinrich veranstalten. Die Frage eines Reporters nach
seinen Körper mit Mengen von Pasta, »Carbo- einem knapp nicht gewonnenen Ultramarathon
»Jetzt müssen wir Loading« sagt der Experte. Er nahm zwei Kilo­ in Kanada, warum er sich nur von Sirup ernährt
gramm zu, während des Laufs 3,5 ab und ge­ habe, beantwortete der massiv dehydrierte
aber erst mal wann die 100 Kilometer von Chicago in der Sportler mit der bewusst lokalgeografischen
gucken, dass wir damaligen Weltrekordzeit von 6:38:12 Stunden. Ausrichtung seines Experiments: »Was Ananas
All dies beschreibt Heinrich in seinem für Piña colada, ist der Ahornsirup für Kanada.«
jetzt wirklich die 2001 erschienenen Buch Laufen – Geschichte­ Zahlreich sind die Geschichten vom Schei­
Punkte einzeln einer Leidenschaft. Der englische Titel ver­ tern. Den Versuch, mit einem Liter Honig im
abklopfen, und mittelt eindringlicher, was drinsteht: Racing Bauch zu glänzen, vereitelte sein Gedärm. Ein
the Antelope – What Animals Can Teach Us Preiselbeersaft-Experiment musste er abbre­
dann sehen About Running and L ­ ife. Wer das Buch in die chen, weil er den Hinweis übersehen hatte,
wir mal zu.« Hand nimmt, erahnt kaum, wie reich er auf dass es sich um ein künstlich gesüßtes Produkt

Durchschaut: Der Leucht-Nager Norbert Walter-Borjans,


SPD-Vorsitzender,
den kommenden 350 Seiten mit Wissen über
die zum Teil sagenhaften Ausdauerleistungen
von Insekten, Vögeln, Amphibien oder
handelte. Es fehlten die Kalorien. Misslungen
ist auch die Pioniertat, 100 Kilometer einzig
mit dem Kohlenhydratspender Bier zu schaf­
US-Forscher haben Taschenratten (hier von unten fotografiert) entdeckt, darüber, wie man in Wahl­ Säuge­tieren versorgt wird. Und darüber, wie fen. Nach 18 Dreimeilenrunden und drei Six­
programmen enthaltene der Homo sapiens im evolutionären Wett­ packs gab er auf. »Ich fühlte mich plötzlich
deren Fell fluoresziert – also leuchtet, wenn es mit Licht bestrahlt wurde. Komponenten zur Bildung rüsten zwischen Raub- und Beutetieren zum sehr müde.« Aber am nächsten Tag schnürte
Das Schimmern dient wohl der Kommunikation oder dem Schutz vor Räubern einer Regierung verbindet größten Dauerläufer des Planeten wurde: Als er erneut seine Schuhe. URS WILLMANN

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Physiologie
DAS HAUS DES MONATS

Stimmt’s?
Graue Haare können ihre
Farbe zurückbekommen
Graue Haare haben in dieser Kolumne schon hatten einen so starken Farbkontrast wie das
öfter eine Rolle gespielt: Können Haare die meiner Schwägerin, aber unter dem Mikroskop
Farbe über Nacht verlieren? (Nein.) Kann Stress ließen sich auch kleinste Farbunterschiede fest­
die Haare ergrauen lassen? (Ja.) Wachsen sieben stellen. Und das auf einer sehr feinen Zeitskala:
neue graue Haare nach, wenn man eines aus­ Ein Haar wächst etwa einen halben Millimeter
reißt? (Quatsch.) Aber eines schien immer klar pro Tag – die unterschiedlichen Farbtöne ließen
zu sein: Wenn ein Haarfollikel die Fähigkeit ver­ sich sogar im Stundentakt messen.
loren hat, Melanin, also den Farbstoff fürs Haar, Zudem führten die Probandinnen und Pro­
zu produzieren, dann wächst an dieser Stelle nie banden rückblickend eine Art Stress-Tagebuch.
wieder ein pigmentiertes Haar nach, sondern Das erstaunliche Ergebnis: Die Perioden mit
nur farblose (die eher weiß als grau sind). starkem Stress fielen zusammen mit Phasen, in
Vor ein paar Jahren schickte mir meine denen das Haar weniger pigmentiert war. Wenn
Schwägerin ein Haar als Beweis dafür, dass das der Stress nachließ, kam auch die Farbe zurück.
Ergrauen umkehrbar ist. Die eine Hälfte war Die Wissenschaftler erstellten mit ihren
Auf Platz 1: Das eigene Haus. weiß, aber die andere von der Wurzel an dunkel Daten ein mathematisches Modell des Ergrau­
gefärbt. Eine wissenschaftliche Studie, die im ens. Demnach gibt es eine individuelle Alters­
EIN BEITRAG VON weise spezialisiert. Holz als primärer Bau- Kontakt Juni in der Zeitschrift ­eLife veröffentlicht wurde, schwelle, ab der Haar ergraut, und Stress kann
RENSCH-HAUS GMBH stoff ist purer Klimaschutz und bietet ab RENSCH-HAUS GMBH
Mottener Straße 13 bestätigt nun, dass ergrautes Haar tatsächlich diese Schwelle geringfügig vorverlegen. Das heißt
dem ersten Bezugstag ein gesundes
Die eigene Immobilie zu bewohnen, ist Wohngefühl. 36148 Kalbach-Uttrichshausen wieder Farbe annehmen kann. Sie wirft nicht aber auch: Kein fünfjähriges Kind wird durch
Tel. (09742) 91-0 nur ein neues Licht auf den Prozess des Er­ Stress graue Haare bekommen, und bei einem
nach wie vor einer der größten Herzens- Technisch und architektonisch gelten E-Mail: info@rensch-haus.com
wünsche der Deutschen. Ob Bungalow, Fertighäuser von RENSCH-HAUS als Inno- www.rensch-haus.com grauens, sondern auch auf das Altern allgemein 70-jährigen Menschen wird der weiße Schopf
Stadtvilla oder das gemeinsame Leben vationsträger, viele Auszeichnungen aus – es muss nicht immer eine Einbahnstraße sein. seine Farbe nicht zurückerhalten, auch wenn er
mit Freunden oder mit mehreren Genera- der Fachbranche und durch Kundenbe- Mehr Informationen zu
RENSCH-HAUS, den bundes- Die Forschenden von der Columbia-Uni­ oder sie noch so entspannt lebt. Das Wechselspiel
tionen im Doppelhaus – das eigene Haus in- fragungen belegen diesen Anspruch Jahr
mitten eines Gartens ist die große Freiheit. für Jahr. Das aktuelle Haus des Monats
weiten Musterhäusern und versität in New York rupften 14 Testpersonen zwischen farbig und grau findet nur bei Men­
Verkaufsbüros sowie viele weitere
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40-serienmäßig) Ein- und Zweifamilien- große und kleine Träumer von der eigenen Diese Woche fragt Sarah Cross aus Hillsborough (USA).
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KREATIVE KÖPFE MIT EINEM HERZ FÜRS DIGITALE


In „Tell your story“ lesen Sie die Geschichten von Unternehmerinnen und Unternehmern, die die Chancen zur
Digitalisierung genutzt haben, um ihre Träume, Ideen und Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Wir von Lexware
werden sie weiterhin begleiten und unterstützen – auch um Sie zu ermutigen und zu inspirieren.

BEYOND TELLERRAND

DIE DIGITALE
WELT ZURÜCK
IN DIE ECHTE
BRINGEN
MENSCHEN VER- einem realen Ort zusam- Sache zu beschränken.“ Das trifft ein
BINDEN, DIE SICH menzubringen und echte Bedürfnis: Über 500 Menschen kommen
GEGENSEITIG Gespräche anzustoßen.“ zu den Events – jedenfalls vor Corona.
Der Name „beyond Anderthalb Jahre lang ruhte der Kongress.
INSPIRIEREN UND
tellerrand“ steht für Doch über die Durststrecke halfen
MOTIVIEREN Austausch, Inspiration, digitale Tools, Marc schuf ein Onlinefor-
Grenzen überschreiten mat, „um in Kontakt zu bleiben“ – ein
Über den Tellerrand hinaus und gegenseitige Motiva- Café-Talk mit Vortragsgästen und
blicken. Seit 2011 macht tion. „Dieser Spirit treibt Diskussion. Fast wie in echt, aber eben
Marc Thiele das als Full- mich an, seit ich als Jugend- im Web. „War gut – aber ich bin froh,
time-Job: „beyond tellerrand“ licher auf C64-Demo-Partys dass wir jetzt in die richtige Welt zurück-
heißt der Kongress, den der war,“ sagt Marc. Heute schafft kehren.“ Die nächste „beyond tellerrand“
Designer drei Mal pro Jahr er Verbindungen zwischen findet vom 8. bis 9. November 2021
auf die Beine stellt: „Es geht den Disziplinen Typographie, in Düsseldorf statt.
darum, aus der digitalen Grafikdesign, Film,
Sphäre heraus Brücken zu Webentwicklung:
schlagen, um Kreative aus „Wäre doch schade, Mehr unter:
verschiedenen Bereichen an sich nur auf eine beyondtellerrand.com

Bildnachweis: Stefan Nitzsche

BOT FRIENDS TRICKSTUFF WILD BABOON

MASCHINEN DIE WIRKLICH ALLER- AUF DER GRÜNEN


SPRECHEN LASSEN BESTE BIKE-BREMSE ALOA-WELLE

CHATBOTS ANTWORTEN RUND bel managen können,“ erklärt Michelle SOFORTIGER STILLSTAND die Verkaufszahlen verzehnfachten sich, ALLER START-UP IST SCHWER: Produkte zwar nicht unbekannt, Nicole
UM DIE UHR. UND SCHAFFEN Skodowski: „Und zwar innerhalb nur einer ALS ERFOLGSMODELL? der Mini-Betrieb wuchs auf zwanzig ONLINESHOP BETREUEN, verfolgt einen besonderen Ansatz:
DEN MENSCHEN DAMIT RAUM Plattform und ohne Programmierkennt- DAS MUSS MAN ERST MAL Mitarbeiter. „Die Digitalisierung hat alle BUCHHALTUNG MACHEN UND „Höchste Qualität, nachhaltig produziert
FÜR WIRKLICH WICHTIGES. nisse.“ Mit drei Studienkollegen gründete HINBEKOMMEN Prozesse beschleunigt“, sagt Marketing- SICH UM‘S PRODUKTDESIGN und bio-zertifiziert.“ Die Gründerin macht
sie BOTfriends im Jahr 2017. Inzwischen chef Dag Freudenhammer. Klar: Produkt- KÜMMERN alles alleine: „Onlineshop, Verkaufsplatt-
Ein Ansprechpartner, der stets ein offenes beschäftigen sie 18 Mitarbeiter. Kunden Mit dieser Bremse ist keine Abfahrt zu design, Verkauf, Vertrieb und Marketing, formen, Buchhaltung, ebenso Design und
Ohr hat, meist eine Antwort weiß, Kolle- sind mittelständische Unternehmen und steil. 2015 brachte die Freiburger Fahrrad- alles läuft digital. „Wir sprechen eine spe- Während des Studiums in Mexiko hatte Werbekampagnen. Digitale Tools unter-
gen entlastet und nie müde wird? Konzerne. Das Einsatzspektrum reicht von teileschmiede Trickstuff die Direttissima- zielle Zielgruppe an, ohne digitale Kom- Nicole Borek aus Köln die Aloe Vera- stützen mich. Ich arbeite von überall aus.“
Eindeutig ein Fall für künstliche Intelli- Kundenbetreuung bis Recruiting: „Und Bremse auf den Markt. Clevere Lösungen, munikationstechnik und Medien könnten Pflanze kennengelernt. „Viele Menschen Sinnvoll – schließlich reist sie immer wie-
genz, finden die Gründer von BOTfriends Mitarbeiter können sich auf individuelle geboren aus Fahrradbegeisterung und wir sie kaum erreichen.“ dort haben eine enge Verbindung zur Na- der nach Mexiko, um die Bio-Plantagen zu
aus Würzburg: „Wir haben eine Software Fragen konzentrieren.“ kreativer Tüftelei – so geht Erfolg: Moun- tur und kennen die Kraft der Aloe Vera.“ besuchen und Verbindungen zu stärken.
entwickelt, mit der Unternehmen ihre tainbike-Blätter kürten die Stopper zum Anfang 2020 gründete sie ihre Firma
Chat- und Voicebot-Lösungen komforta- Mehr unter: botfriends.de absoluten Maß in Sachen Bremskraft, Mehr unter: trickstuff.de Wild Baboon. Hierzulande sind Aloe Vera- Mehr unter: wildbaboon.de

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40 WISSEN 14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42

Hochschule

Vermessen
oder
visionär?
Er sei ein akademischer Unternehmer,
sagt Sascha Spoun über sich selbst.
Der Präsident der Leuphana Universität

Foto: Jan Richard Heinicke für DIE ZEIT


Lüneburg ist umstritten – und erfolgreich
  VON HANNA GRABBE

Sascha Spoun im spektakulären Neubau seiner Uni. Gerade wurde der 52-Jährige zum Hochschulmanager des Jahres gekürt

S
ascha Spoun hat nichts vorbereitet, wältigendes. Nicht immer gelingt das so leicht wie bei Weil sich dieser Erfolg auch mit Zahlen, Daten Als Spoun 2006 in Lüneburg beginnt, ist er mit bekämpfung und die Staatsanwaltschaft. Die Er-
keine Rede, keinen Zettel, nur diese einem Willkommensgruß. Im Falle seiner eigenen und Fakten belegen lässt, ist Spoun nun Hochschul- 37 Jahren der jüngste Uni-Präsident Deutschlands. mittlungen wurden eingestellt, niemandem konnte
eine Frage hat er sich vorher gestellt: Institution dauerte es viele mühsame Jahre, bis aus manager des Jahres 2021 – eine Auszeichnung, die In der Mensa wird er gefragt, ob er Student sei. ein Fehlverhalten nachgewiesen werden. Heute sagt
Was brauchen die? In schnellen dem Trümmerhaufen einer missglückten Hochschul- das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) Damals hatte die Niedersächsische Landesregierung Spoun: »Das Gebäude erfüllt alle hohen Erwartun-
Schritten federt er zum Rednerpult in fusion das wurde, was sich heute Leuphana Univer- und die ZEIT jährlich vergeben. »Sascha Spoun hat gerade die Universität Lüneburg mit der Fachhoch- gen hinsichtlich Funktionalität und Ausstrahlung.«
Hörsaal zwei der Uni Lüneburg, brei- sität nennt. Manche sagen: Harvard des Nordens. Die in Lüneburg ein Modell für eine Universität geschaf- schule Nordostniedersachsen fusioniert. Es ging Es klingt wie eine Rechtfertigung.
tet die Arme aus: »A very warm­ einen anerkennend, die anderen abfällig. fen, das es in Deutschland so bislang nicht gab«, sagt dabei ums Sparen, nicht um Inhalte. Mittlerweile gibt es 11.000 Bewerbungen für die
welcome!« Vor ihm rund 20 ausländische Gast­ Lüneburg ist eine Uni, die anders sein will. Und Frank Ziegele, Geschäftsführer des CHE und Jury- Dann kam Spoun und brachte eine Vision mit: jährlich 1400 Startplätze des Bachelorstudiums.
studierende. Sie sollen, sagt Spoun ihnen, hier das die geleitet wird von einem, der lange schon anders ist mitglied. In der deutschen Hochschullandschaft sei Renommee, großzügige Fördergelder, internatio­nale Auch bekannte Persönlichkeiten wie die Ökonomin
Leben entdecken, neue Schritte wagen: »Ihre Rolle oder jedenfalls in der Hochschulszene als anders gilt: immer viel von Forschungsexzellenz die Rede – Kooperationen. Und ein Studienmodell, das die Maja Göpel oder der Wirtschaftspsychologe M ­ ichael
in der Gesellschaft ist uns wichtig.« Er strahlt. erfolgreicher, umstrittener. »aber wir brauchen auch andere Uni-Profile«, sagt damalige Bologna-Reform nicht als Zwang, sondern Frese lehren in Lüneburg. Der Hochschulsenat
Das Ganze dauert nur fünf Minuten, danach sind Seit seinem Amtsantritt vor 15 Jahren hat Spoun Ziegele, und dafür sei die Leuphana »ein Vorbild«. als Chance begreift. Heute absolvieren in Lüneburg wählte Spoun nicht nur ein zweites Mal zum Prä-
alle irgendwas zwischen euphorisch und überwältigt. in Lüneburg einen der umfassendsten Verände- Spoun, der Mann mit dem anderen Profil. Er hat alle Bachelorstudierenden zuerst eine Art Studium sidenten, sondern sogar für eine dritte Amtszeit.
Ein typischer Spoun-Auftritt. Er frage sich immer, rungsprozesse in der deutschen Wissenschaftsland- Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Deutsch- generale, um »den Wissenschaftsraum zu erobern«, Mindestens bis 2028 könnte Spoun bleiben. Er passt
erzählt Spoun später, welchen neuen Gedanken er schaft verantwortet. Er hat mit Ausdauer und­ land, Frankreich, der Schweiz und den USA studiert. wie Spoun es formuliert. Den Bachelor macht man perfekt nach Lüneburg. So perfekt, dass er andern-
beitragen könne. Er möchte den Menschen geben, was Chuzpe aus einer mittelmäßigen Uni in der nord- Anders als unter Hochschulpräsidenten traditionell in Lüneburg am »College«, Master oder Promotion orts womöglich nicht mehr passt.
sie nirgends sonst bekommen. Im Fall der verunsicher- deutschen Provinz eine unverwechselbare Marke üblich, hatte er nie einen eigenen Lehrstuhl, und ein an der »Graduate School«, für die Weiterbildung Im Jahr 2019 brauchte die Uni Göttingen einen
ten neuen Austauschstudierenden war die Sache klar: gemacht, die heute für die bedeutenden Themen renommierter Wissenschaftler ist er auch nicht. Er kreierte Spoun eine »Professional School«. Er sagt: neuen Präsidenten. Die dortige Exzellenzstrategie
Ermutigung, die gibt es nicht in Infoblättern. dieser Zeit steht: Nachhaltigkeit, Digitales, interdis- sei ein akademischer Unternehmer, sagt Spoun über »Dass wir das alles hier auch wirklich gemeinsam war gescheitert, die Präsidentin hatte ihren Rückzug
Sascha Spoun, Präsident der Universität Lüneburg, ziplinäres Arbeiten, lebenslanges Lernen. Dinge, die sich selbst. »Eine wesentliche Aufgabe sehe ich darin, umsetzen können, hat kaum einer geglaubt.« Viel- verkündet. Die Uni suchte Veränderung – und fand:
will stets etwas Einzigartiges schaffen, etwas Über- an deutschen Unis lange kaum jemand wichtig fand. Dinge zu ermöglichen.« Spoun, der Dienstleister. leicht hat er den Job damals genau deswegen be- Spoun. Eine Kombi wie Bayern München und
ANZEIGE kommen. An diesem Ort gab es nichts zu verlieren. FC St. Pauli. Hier die Georg-August-Universität,
Spoun hat nicht alles neu erfunden, vieles aber Jahrgang 1734: altehrwürdig, standesbewusst,
konsequent durchgesetzt. Zuvor hatte er an der Wiege zahlreicher Nobelpreisträger, eine von
Schweizer Universität St. Gallen die Umstellung Deutschlands forschungsstärksten Universitäten.
des Studiums auf Bachelor und Master mitverant- Da Spoun: der Manager, der nie einen Lehrstuhl
wortet, an einem Ort, der vielen als marktliberale innehatte, aber dennoch genau weiß, wie eine mo-
Managerfabrik gilt. Nun ging Spoun in Lüneburg derne Uni funktionieren soll. Es kam zur Revolte.
ans Werk, stellte zahlreiche Studiengänge ein; statt Spoun sei kein renommierter Wissenschaftler, das
der einst 11.000 Studierenden waren es einige Wahlverfahren undurchsichtig, man wolle nicht
Jahre später nur noch 6700. Bald war von der Öko- zum Empfänger von Managementvorgaben werden.
nomisierung der Bildung die Rede. Der Neue will Organisiert hatte den Aufstand eine Handvoll­
die Uni zu einem Unternehmen umbauen; der spart Professoren, deren Unterstützer eine Minderheit
uns kaputt, fürchteten viele. Und erst der neue blieben. Trotzdem zog Spoun sich zurück.
Name: Leuphana! Klingt nach Pharmakonzern, Dieser Mann weiß, was er kann. Wusste er
steht aber für eine antike Siedlung, ungefähr dort, nicht, was er nicht kann? Spoun sagt, er habe­
wo heute Lüneburg liegt. Spoun aber ging es weni- vorab unzählige Gespräche geführt, um heraus-
ger um die Vergangenheit als um die Zukunft, die zufinden, ob er in Göttingen wirklich gewollt sei.
»gemeinsame Identität«. Und um Praktisches: »Ich »Es war ja klar, dass ich jemand bin, der bereit ist,
wollte eine kurze Webadresse, so wie bei Harvard.« unangenehme Fragen zu stellen.« Andere sagen:
PREISTRÄGER*INNEN 2021 Spoun weiß, dass ihn manche für größenwahn- Spoun wollte zu viel und das Falsche. Einer, der
sinnig halten. Wie zum Trotz hat er ein schlichtes glamouröse Prestigeprojekte vorantreibe, sei in
Büro bezogen, in Baracke 10 der alten Wehrmacht- Göttingen nicht zu gebrauchen, wo die Universi-
kaserne, deren Gelände heute als Campus dient. tät selbst der Star sein soll, nicht ihr Chef.
Dr. Tim Kalvelage Unter seinem Schreibtisch steht ein kleiner Radiator, Die Sache mit Göttingen hätte seine Karriere
Freier Wissenschaftsjournalist weil nach 18 Uhr und am Wochenende auf dem als Uni-Präsident beenden können. Spoun aber
gesamten Campus die Heizung abgeschaltet wird. kehrte wieder heim an die Leuphana, in sein Ter-
Kategorie Text Zeiten, in denen Spoun hier trotzdem sitzt. Er hat rain. Dort sind die Aufgaben mittlerweile weniger
an jenem Tag kaum gegessen, seine Assistentin trägt glamourös: An jenem Nachmittag kümmert sich
Anna Behrend ihm eine Tupperdose mit Reis und Gemüse hin-
terher. Spoun ist das, was heute »hard working«
Spoun um die Digitalisierung der niedersächsi-
schen Hochschulen, auf der Tagesordnung stehen
Freie Wissenschafts- und Datenjournalistin heißt. Und irgendwie ist er selbst ein Radiator, ein Lizenzen, Datenschutz, Anträge und Qualitäts­
Kategorie Elektronische Medien hochtouriges Energiebündel, das andere ins Schwit- sicherung. Mühsame Kleinarbeit.
Jury zen bringt. Trotzdem ist es schwer, sich ihm zu ent- Doch vielleicht wird am Ende wieder irgend-
ziehen. Sein Gegenüber argumentiert Spoun auf die was Großes draus, es wäre nicht das erste Mal, dass
Manuel Stark Dr. Stefan von Holtzbrinck (Vorsitz) Vorsitzender der Geschäfts-
führung, Holtzbrinck Publishing Group | Prof. Dr. Dr. Andreas
liebenswürdigste Weise in die völlige Ermattung. ihm das gelingt. Inzwischen sagen selbst Spouns
Bleibt dabei aber kontrolliert, nie würde er sagen, er größte Kritiker, dass der Libeskind-Bau zum »ge-
Freier Autor und Redakteur ZEIT Online Barner Mitglied des Gesellschafterausschusses, Boehringer
sei »stolz« auf seine Uni, stattdessen formuliert er nialen Markenzeichen« der Universität geworden
Kategorie Nachwuchs Ingelheim | Prof. Dr. Katja Becker Präsidentin, Deutsche Forschungs-
pastoral: »Ich blicke dankbar und zufrieden zurück.« sei – und ihrer Stadt. Die zackige Silhouette ziert
gemeinschaft e.V. | Ulrich Blumenthal ehem. Redakteur „Forschung
Jetzt aber raus auf den Campus. Spoun steuert heute viele Lüneburger Souvenirs, und als Spoun
aktuell“, Deutschlandfunk | Prof. Dr. Antje Boëtius Direktorin,
Marleen Halbach Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeres-
auf einen kantigen Koloss aus Stahl und Beton zu,
das Zentralgebäude der Uni. Entworfen hat es der
zurück in sein Büro eilt, trottet eine Gruppe­
Touristen an dem Bauwerk vorbei. Die Stadtfüh-
forschung | Prof. Dr. Martina Brockmeier Universität Hohenheim
Redaktionsleiterin Science Media Center berühmte New Yorker Architekt Daniel Libeskind, rerin sagt: »Das ist hier wie mit der Elbphilharmo-
und ehem. Vorsitzende, Wissenschaftsrat | Prof. Dr.-Ing. Matthias einst nebenberuflich Professor an der Uni. »Ein Zen- nie: Erst meckernse alle, und jetzt freunse sich.«
Kategorie Nachwuchs – Sonderpreis Kleiner Präsident, Leibniz-Gemeinschaft e.V. | Prof. Dr. Carsten trum des Austauschs«, sagt Spoun feierlich. Er zeigt
Könneker Geschäftsführer, Klaus Tschira Stiftung gGmbH | Joachim auf übereinandergestapelte Stühle und Tische in den
Müller-Jung Leiter des Ressorts Natur und Wissenschaft, Frankfurter Ecken des Foyers, verschiebbare Wände. Jeder Raum HINTER DER GESCHICHTE
Allgemeine Zeitung | Andreas Sentker Geschäftsführender Redak- lasse sich beliebig umbauen: Vorlesungen, Kultur,
teur und Leiter Redaktion Wissen, DIE ZEIT | Ranga Yogeshwar Tagungen, Workshops. Alles könne und solle hier Die Auszeichnung
Publizist und Moderator stattfinden. Der Anspruch: die Wissenschaft ent- »Hochschulmanager/-in des Jahres«
hierarchisieren. Dieser Raum gehört allen. verleihen das Centrum für
Es ist eines jener Vorhaben, an denen Spoun bei- Hochschulentwicklung und die ZEIT
nahe gescheitert wäre. Knapp 60 Millionen Euro auf der Grundlage von Daten, die
Torstraße 42, 10119 Berlin | Tel. +49/30/27 87 18 20 sollte das neue Aushängeschild der Uni ursprünglich die Entwicklung der Hochschulen
gvhpreis@holtzbrinck-berlin.com | holtzbrinck-wisspreis.de kosten, am Ende wurden daraus fast 110 Millionen. abbilden, sowie von Befragungen,
2017 war der Bau endlich fertig, Jahre später als etwa der Hochschulräte und Rektorate
geplant. Der Landesrechnungshof hatte sich ein- der Unis. Am Ende entscheidet
geschaltet, das Europäische Amt für Betrugs­ eine zehnköpfige Jury.
14. Oktober 2021 DIE ZEIT N o 42
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STELLENMARKT Die Position

Die digitale Tagung muss bleiben!


Konferenzen im Netz schützen das Klima, sparen Geld – und sind inklusiver  VON TIMO BOLLEN UND HEIKO BRENDEL

Ist die Zeit der digitalen Tagung schon wieder vor- und Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern, oft können global, national und auch innerhalb einer Aufzeichnung – eine nach wie vor viel zu ­wenig­
bei? Auf dem Höhepunkt der Pandemie w ­ urden gar Kontinenten zusammen – und reisen dazu mit Universität dazu beitragen, jene Unterschiede zu­ genutzte ­Möglichkeit.
zahlreiche Argumente für die wissenschaftliche dem Flugzeug. Auf absehbare Zeit gehört aber die mindern, die weniger mit wissenschaftlicher Ex- Außerdem drängt sich bei Präsenztagungen oft
Videokonferenz angeführt, auch in der ZEIT (Nr. fossil motorisierte Fortbewegung und insbesondere zellenz zu tun haben als mit strukturellen Unter-