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Nr.

 04 / 2020  – Juni / Juli

Magazin

Kollapsologie
Sind wir bereit
für eine
neue
Zeit
?

Impulse zur Coronakrise Susan Sontag


D 7,90 € Ö 8,50 €

Benelux 8,50 €

und der Stil


Mit Hartmut Rosa, Rahel Jaeggi,
CH 14,50  SFr

Reinhard Merkel u. a. Dossier und


Sammelbeilage
0 4

Rutger Bregman im Interview:


4 192451 807904

Warum der Mensch gut ist


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Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €. Italien & Spanien: auf Nachfrage Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €; Italien & Spanien: auf Nachfrage Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €; Italien & Spanien: auf Nachfrage Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €; Italien & Spanien: auf Nachfrage Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90  €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40  €; Italien & Spanien: auf Nachfrage

MAGAZIN magazin MAGAZIN MAGAZIN MAGAZIN


MAGAZIN
Sonder-e
-
Sonder e
-
Sonder e Sonder-e ausgab ER-
SONDABE
-
Sonder e
ausgab Die griechischen ausgab ausgab ausgab „Ich bin dein Vater“ AUSG

Mythen
Die Tragik der
Skywalkers

Was ist die Force? Die

BIBEL
Zwischen Tao und
Newton
Was sie über
HANNAH
Ödipus oder
uns verraten Das Ende der
Verwandtschaft
War Heidegger ein

ARENDT
Sith-Lord?
Weimar 1934: Hitler vor einer
Büste Friedrich Nietzsches
und die
Antigone – Wie versteht man PHILOSOPHEN
Zwischen Recht
einen Wookiee?
STAR WARS – Der Mythos unserer Zeit

und Begehren
die philosophen und der

DER KORAN STAR WARS


Der Narziss
in uns allen

Daidalos –
NatioNalsozialismus DIE FREIHEIT DES DENKENS
Im Bann Die Banalität des Bösen, der Sinn von Arbeit,
der Technik Die geistigen Denker in der Nach Auschwitz: Ursprünge des Totalitarismus, Flüchtlingsrechte,
Quellen der Diktatur: Original- Starb Gott in den der Geist der Freundschaft …
NS-Ideologie texte der Zeit Lagern? Wie ist er entstanden? Wie wird er interpretiert?
Argos und die Was sagt er zu Glauben und Freiheit?
Grenzen der
Überwachung Zur Vernunft, zum Recht, zu Frauen, zum Paradies?
Der Mythos unserer Zeit
4 198673 809900
03

03

Ihre wichtigsten Texte. Mit Beiträgen von Seyla Benhabib,


0 7

HannaH arendt und die Banalität des Bösen • Der Fall HeiDegger • Die zentralen Passagen des ALTEN TESTAMENTS interpretiert von
4 198673 809900 0 2
GEDEUTET VON AVERROËS • AL-GHAZALI • NIKOLAUS VON KUES • HERDER MIT BEITRÄGEN U. A. VON SLAVOJ ŽIŽEK • HARALD LESCH
4 198673 809900

4 198673 809900

Originaltexte vOn THeoDor W. aDorno • giorgio agamben • GOETHE • LESSING • HEGEL • NIETZSCHE • MUHAMMAD IQBAL • EDWARD SAID… 4 198673 809900 0 5 JULIAN BAGGINI • TOMÁŠ SEDLÁČEK • HEINZ WISMANN Daniel Cohn-Bendit, Volker Gerhardt, Antonia Grunenberg, IMMANUEL KANT • HANS BLUMENBERG • HANNAH ARENDT •
DIE KLASSISCHEN TEXTE KOMMENTIERT VON JAN ASSMANN • BARBARA VINKEN • THOMAS MACHO WalTer benjamin • ernsT Cassirer • Karl jaspers • Hans jonas … MIT AKTUELLEN EINSCHÄTZUNGEN VON LAMYA KADDOR • STEFAN WILD Rahel Jaeggi, Susan Neiman, Gesine Schwan, Bettina Stangneth … SPINOZA • UMBERTO ECO • WALTER BENJAMIN • KIERKEGAARD
MICHEL SERRES • JOSEPH VOGL • WINFRIED MENNINGHAUS MIT BEITRÄGEN VON FREUD • ILLOUZ und SASKIA WENDEL • CHRISTOPH MARKSCHIES • SUSAN NEIMAN
Beiträge vOn aleiDa assmann • VolKer gerHarDT • per leo … NAVID KERMANI • HARTMUT BOBZIN • ASMA BARLAS • ANGELIKA NEUWIRTH …
0 4

BLUMENBERG • DERRIDA • HEGEL • CIXOUS • BLANCHOT • NIETZSCHE • BUTLER • DELEUZE ...


PHILOSOPHIE MAGAZIN SONDERAUSGABE 09

MAGAZIN MAGAZIN
Sonder-e Sonder-e Erstmals auf Deutsch:
ausgab ausgab Hannah Arendt
„Französischer
Existenzialismus“
DIE EXISTENZIALISTEN

ALSO SPRACH

NIETZSCHE Die Existenzialisten


Wille zu welcher Macht? Wer hat Gott getötet?
Warum Denken durch den Magen geht Unterwegs zum LEBE DEINE
FREIHEIT
Übermenschen? Jenseits des Postfaktischen …
0 6

0 9
Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €;
Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €;

Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90 €;


Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40 €;

Seine wichtigsten Texte. Mit Beiträgen von Sigmund


Italien & Spanien: auf Nachfrage

Italien & Spanien: auf Nachfrage


4 198673 809900

4 198673 809900

Freud • Theodor W. Adorno • Michel Foucault Mit zahlreichen Originaltexten von Jean-Paul Sartre
und Rüdiger Safranski • Annemarie Pieper • Kerstin Simone de Beauvoir • Albert Camus und Beiträgen von
Decker • Andreas Urs Sommer • Volker Gerhardt u. v. m. Peter Trawny • Alice Schwarzer • Sarah Bakewell u.v.m.

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,


ich nehme mir einmal heraus zu träumen.

Nehmen wir weiter an, es gä- endgültig zu sich selbst und


be eine wissenschaftlich geht den neu beschritte­-
fundierte Bewegung, die den nen Weg mit umso größerer
nächsten, noch wesentlich Konsequenz weiter. Ganz
schwereren Kollaps voraus- ähnlich, wie Martin Heideg-
sagt. Dieser Kollaps wird, ger es in „Sein und Zeit“
so die führenden Köpfe der für das Individuum beschreibt:
Bewegung, das Resultat Im „Vorlaufen zum Tode“
mehrerer, zusammenwirkender „sorgt“ sich der Mensch um
Faktoren sein, von de­­nen sein Dasein. Das kommen­-
der gravierendste der Klima- de Ende erleuchtet die zu er-
wandel ist. Der Name greifenden Möglichkeiten
die­ser Bewegung lautet Kol- im Meer der Optionen, macht
lapsologie. Ihre düstere sie nachgerade alternativlos.
Botschaft ist, dass dieser Kol- Mit einer solchen kompro-
laps, in dem übrigens auch misslosen Radikalität im
Und stelle mir eine Menschheit Pandemien eine Rolle spielen, Umdenken und entsprechen-
vor, die in die Lage versetzt aller statistischen Wahr­ dem Handeln könnten
wird, sich nach einer dramati- schein­lichkeit nach kommen selbst Kollapsologen nicht
schen Erfahrung, die den ge- wird – und zwar in nicht rechnen. Und so wäre die
samten Erdball umspannte, neu allzu weiter Ferne. Was uns Zukunft keineswegs vorher-
erfinden zu können. einzig bleibt, ist, uns auf sehbar. Sondern: offen.
Es handelt sich um eine ihn vorzubereiten. Die beste Nachricht habe
Menschheit, die sich soeben in Das klingt jetzt eher wie ich mir für den Schluss
ihrer ganzen Verletzlichkeit ein Albtraum? Zumal es nicht auf­gespart: Die Kollapsologie
erlebt hat und nun weiß, dass ganz abwegig ist, dass die gibt es wirklich. Und auch
nicht Egoismus, sondern So­ Menschheit, den sicheren Zu- die Menschheit, die ich hier
lidarität den gesellschaftlichen sammenbruch vor Augen, schildere, ist gar kein Traum.
Zusammenbruch zu über­ auf alle Erkenntnisse, die sie Sondern eine Möglichkeit.
winden hilft. Eine Menschheit, soeben gewonnen hat, Höchste Zeit, sie zu ergreifen!
die auch die Grenzen der pfeift. Weil jede Anstren­­-
profitorientierten Turbogloba- gung, das Blatt noch zu wen- Ihre Svenja Flaßpöhler,
lisierung klar erkennen musste. den, ohnehin keinen Sinn Chefredakteurin
Und die an sich selbst beob- mehr ergibt.
achten konnte, wie schnell und Mein Traum aber geht an-
Foto: Johanna Ruebel

effektiv sie in der Lage ist, ders. In ihm findet die


ihr Verhalten fundamental zu Menschheit gerade im An­
ändern, um das Schlimmste gesicht des statistisch errech-
zu verhindern. neten Zusammenbruchs

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 03


Mit Beiträgen von

S. 24 S. 34
Rutger Bregman Jan Kollwitz
„Im Grunde gut“: So lautet In Zen-buddhistischer Traditi-
Rutger Bregmans Diagnose on fertigt Jan Kollwitz
des menschlichen Wesens – Teekeramik in aufwendigster
und auch der Titel seines Best- Handarbeit und brennt sie
sellers (Rowohlt, 2020). Er in einem bis zu 1300 Grad hei-
ist überzeugt: Eine pessimis­ ßen Anagama-Ofen. Svenja
tische Sicht auf den Men­- Flaßpöhler stellt den Künstler
schen dient den Herrschenden. und Urenkel der berühmten
Nur wenn wir diesen Pessi- Grafikerin Käthe Kollwitz vor.
mismus aufgeben, kann sich die Porträt über einen Mann, der
Welt zum Besseren wandeln. seinen eigenen Weg zwischen
Bregman ist Historiker und ei- dem künstlerischen Vermächt-
ner der bekanntesten jungen nis der Großmutter und der
Denker Europas. Autorität seines Vaters sucht.

S. 11
Rahel Jaeggi

„Die Coronakrise ist die


­Krise einer Lebensform“
S. 62 S. 40
Impulse zur Coronakrise: Rahel Jaeggi ist Professorin
Timothy Morton Elisabeth von Thadden für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu
Eine Neubestimmung ökolo- Körperkontakt kann ange- Berlin. In der Arena analysiert sie, wie die Pandemie

Fotos: Marlena Waldthausen; Roman Pawlowski; privat (2); Gene Glover/Agentur Focus
gischen Denkens ist sein nehm, aber auch eine Zumu- die Schwächen des Kapitalismus offenbart – aber auch
zentrales Anliegen. Im Titel- tung sein. Elisabeth von die Möglichkeiten politischer Umgestaltung.
dossier erklärt er, warum Thadden spricht in der Rubrik
Kunstwerke und „Hyperob- Leben über den ambivalen­-
jekte“ wie das Coronavirus ten Charakter menschlicher
uns im Kampf gegen den Kli- Be­rührung und denkt über die
mawandel mehr helfen als Frage nach, was die gegenwär-
Daten und Statistiken. tigen Kontaktbeschränkungen
Morton ist Professor für Eng- für uns bedeuten. Von Thad-
lische Literatur an der Rice-­ den ist Redakteurin bei der Wo­
University in Houston und chenzeitung DIE ZEIT und
hat vielfach zum Thema promovierte Literaturwissen-
publiziert. Sein Buch zum schaftlerin. Ihr Buch „Die
Thema: „Ökologisch sein“ berührungslose Gesellschaft“
(Matthes & Seitz, 2019). erschien bei C. H. Beck (2018).

Die nächste Ausgabe erscheint am 09. Juli 2020

04 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Juni / Juli Dossier:
Nr. 04 / 2020 Kollapsologie
48 Raus aus der Resignation
Von Svenja Flaßpöhler
50 Meine Hoffnung
Drei Menschen erzählen von
Vorbereitung, Flucht und
Intro Gegenwehr
03 Editorial Kommentiert von Florian Werner
04 Beitragende 54 Warten auf den Kollaps?
Reportage von Jana C. Glaese
62 Wie kommen wir vom Wissen
Arena zum Handeln, Herr Morton?
08 Denkanstöße Interview mit Timothy Morton
10 Impulse zur Coronakrise 64 Die neue Normalität
Beiträge von Hartmut Rosa, Rahel Plädoyer von Nils Markwardt
Jaeggi, Stefan Willer, Sabine Hark, S. 46
Barbara Vinken, Anna-Verena Nosthoff & Was kommt nach dem Zusammen-
Felix Maschewski, Reinhard Merkel  bruch? Dossier zu Kollapsologie Klassiker
16 Sinnbild 68 Susan Sontag und der Stil
18 Analyse Essay von Marianna Lieder
Die Macht des vorpolitischen Raums 74 Überblick
Von Nils Markwardt Was ist der Wiener Kreis?
22 Fundstück 76 Zum Mitnehmen
Hannah Arendt: „Wir Flüchtlinge“ John Lockes „Dieselbigkeit“  
24 Perspektive 78 Menschliches, Allzumenschliches
„Es liegt im Interesse der Comic von Catherine Meurisse
Herrschenden, die menschliche
Natur für schlecht zu halten“
Interview mit Rutger Bregman Bücher
28 Dorn denkt 82 Kurz und bündig
Kann das weg? Kolumne von Jutta Person
Kolumne von Thea Dorn 83 Buch des Monats
Lambert Wiesing: „Ich für mich“
S. 40 Rezensiert von Thorsten Jantschek
Leben Gespräch: Elisabeth von Thadden über 84 Thema
32 Weltbeziehungen die Ambivalenz menschlicher Berührung Drei Bücher zum Postheroismus
Lassie darf nicht sterben / Rezensiert von Josef Früchtl
Fotos: Benjakon; Stefanie Moshammer; Illustration: Fanny Michaëlis

Die neue Unsichtbarkeit / 86 Scobel.mag


Finite Pool of Worry Kolumne von Gert Scobel
34 Der Keramiker
Jan Kollwitz im Porträt
Von Svenja Flaßpöhler Finale
38 Lösungswege 90 Ästhetische Erfahrung
Wann bin ich ganz ich? Musik: Robot Koch / Kino:
40 „Unantastbarkeit ist „Antebellum“ / Ausstellung: Das
eine Errungenschaft“ Universum der Dinge
Gespräch mit Elisabeth von Thadden 92 Agenda
44 Unter uns S. 24 95 Spiel
Die Sache mit den Passwörtern Der Mensch, ein böser Wolf? Im 96 Leserpost / Impressum
Kolumne von Wolfram Eilenberger Gegenteil, behauptet Rutger Bregman 98 Phil.Kids

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 05


Arena
Raum für Streit
und Diskurs

08 Denkanstöße
Impulse zur
10

Coronakrise
Von Hartmut Rosa, Rahel Jaeggi,
Reinhard Merkel und anderen

16 Sinnbild
18 Analyse
Die Macht des
vorpolitischen Raums
Von Nils Markwardt

22 Fundstück
Hannah Arendt: „Wir Flüchtlinge“

24 Perspektive
Warum der Mensch gut ist
Interview mit dem Historiker
Rutger Bregman

Dorn denkt
Foto: Andrea Mantovani/The New York Times/Redux/laif

28
Kann das weg?
Kolumne von Thea Dorn

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 07


Arena / Denkanstöße
Nahaufnahme These

Projektionen „Deutschland
braucht eine
für die Zukunft neue Werteelite“
Ein Lichtkünstler bestrahlt das Matterhorn über
Autor:
der Stadt Zermatt mit Botschaften. Ihr Kern: Karl Heinz Bohrer, Professor emeritus
das Prinzip Hoffnung für Neuere deutsche Literaturgeschichte
an der Universität Bielefeld

Buch:
„Kein Wille zur Macht“
(Hanser, 2020)

Argumentation:
Macht drückt sich nicht bloß
in militärischer Stärke, sondern auch in
kultureller und geistiger Vormachtstellung
aus, die durch eine Elite vorgelebt
werden muss.

Beispiel:
Medien und öffentlicher Raum werden
heute von einer „Unterschichten-
mentalität“ des Sich-gehen-Lassens
dominiert, die nur noch privaten Konsum
und keine höheren Ziele mehr anstrebt.

Einwand:

Fotos: picture alliance/KEYSTONE; Lionel Preau/Riva Press/laif; akg-images/Imagno; Shutterstock; Illustration: Jindrich Novotny
Der Ruf nach einer starken Elite
birgt die Gefahr der Entmündigung und

A
m Fuße des Matterhorns strahlen zugs #hope (Hoffnung) wegen, der neben Verdrängung der ausgeschlossenen
die Lichter von Zermatt, als ob der Nationalflagge und der Bitte #stay- Bevölkerung (und ihrer Probleme) aus
alles in Ordnung wäre. Doch es ist home (Bleibt zu Hause) auf dem Massiv der öffentlichen Sichtbarkeit.
eine dunkle Zeit für die knapp 6000 Ein- zu sehen war, lässt sich die Installation
wohner der Urlaubsdestination, deren Ho- ganz im Sinne Ernst Blochs verstehen. In
tels nun leer stehen, sowie für den Rest seinem Werk „Prinzip Hoffnung“ hielt Zahl
des Landes, das im europäischen Vergleich dieser 1959 fest, dass es darauf ankomme,
pro Kopf besonders hohe Infektions- „das Hoffen zu lernen“. Dazu wäre je-

700 Prozent
und Opferzahlen durch Covid-19 zu ver- doch das „stärkste Fernrohr“ des „geschlif-
zeichnen hat. Zermatt, so teilte die Stadt fenen utopischen Bewusstseins“ nötig,
aber mit, „ist überzeugt: So stark wie um in eine bessere Zukunft zu sehen und
das Matterhorn, so stark muss die Gesell- so „das ganz nahe Dunkel des gerade
schaft nun zusammenstehen, verankert gelebten Augenblicks zu durchdringen“. Um diesen Anteil stieg die Nachfrage nach
sein und den Sturm vorbeiziehen lassen.“ Ganz wie die Installation über Zermatt Toilettenpapier von Februar auf März laut
Deshalb wurde der Lichtkünstler Gerry also, die den Blick auf das entfernte Licht Bundesverband des Deutschen Lebens-
Hofstetter beauftragt, mittels eines Spe- am Horizont lenkt, weist Bloch auf die mittelhandels. Dieses kuriose Verhalten
zialbeamers Botschaften auf die mehrere Hoffnung eines lichteren Morgen hin, wo- mutet wie eine direkte Rückkehr in die ana-
Quadratkilometer große Bergwand zu durch man sich im besten Fall von den le Phase an: Hier, so Sigmund Freud, lernen
projizieren. So soll den Erkrankten Hoff- Schrecken der Gegenwart lösen kann. wir zum ersten Mal, unter Stress Kontrolle
nung geschickt und Solidarität mit den Und vielleicht ist es ja genau das, was zu übernehmen. Das Toilettenpapier als
Menschen in systemrelevanten Berufen medizinischem Personal und Erkrankten Symbol gewonnener Autonomie? Corona
bekundet werden. Nicht nur des Schrift- hilft, über den Berg zu kommen. (de) macht uns wieder zu Kleinkindern. (vk)

08 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Lexikon
Ferngespräch

Emmanuel Macron
Präsident Frankreichs,
Ansprache an die Nation

16.03.2020
Alle Bemühungen um
Wir sind im Krieg. Wir die Ästhetisierung
kämpfen weder gegen der Politik gipfeln in
eine Armee noch gegen einem Punkt. Dieser eine
eine andere Nation. Aber Punkt ist der Krieg.
der Feind ist da, unsicht-
bar – und er rückt vor. 1936
Ver trauen ( n);
Terroranschläge, Naturkatas-
trophen und Corona erschüttern
Walter Benjamin das Vertrauen der Gesellschaft

Philosoph und Kulturkritiker, „Das Kunstwerk im Zeitalter Stand Vertrauen in der Philosophie des
seiner technischen Reproduzierbarkeit“ Mittelalters noch vor allem in Verbindung
mit einem „Sich-auf-Gott-Verlassen“,
tritt es bei Kant als Verlassen auf die eige-
nen Kräfte und die eigene „lautere Ge-
Novum
sinnung“ auf. Ob aber gegenüber anderen

Geister-DNA
oder sich selbst, Vertrauen bedeutet
immer ein gewisses Maß an Unsicherheit
und fehlender Kontrolle. Gerade Aus-
nahmesituationen wie Epidemien stellen

E
in kalifornisches Forschungsteam noch lebendig, suchen sie moderne Gesell- deshalb das Vertrauen auf die Probe:
hat im Genom von Westafrikanern schaften heim – und können vielleicht in Der Mensch orientiert sich dann beson-
Hinweise auf eine bisher unent- diesem Fall dazu beitragen, Klarheit in die ders an dem, was er für beständig
deckte urmenschliche Art gefunden, die undurchsichtige menschliche Entste- und gesichert hält. Nicht allen, sondern nur
sich vor etwa 50 000 Jahren mit dem hungsgeschichte zu bringen. (vk) dem Bewährten zu vertrauen, empfahl
Homo sapiens gekreuzt haben muss. Die entsprechend schon Demokrit. Niklas Luh-
Überreste ließen sich keinem anderen mann weist darauf hin, wie lebenswich-
bekannten Vertreter der Homo-Gattung tig Vertrauen ist: Es vereinfache soziale
wie den Neandertalern zuordnen. Anders Komplexität und mache handlungsfähig.
als bei Letzteren sind bei der neu ent- Ohne Vertrauen wagten wir uns morgens
deckten Art bisher keine fossilen Lebens- nicht mehr auf die Straße. Misstrauen
spuren bekannt: Geradezu geisterhaft könne ähnliche Funktionen erfüllen; es ma-
sind sie einzig in den Genen der heute le- che aber umso abhängiger von den
benden Menschen präsent. Bereits wenigen Informationen, die man noch für
Jacques Derrida befasste sich im Rahmen zuverlässig hält, und anfälliger für Ma-
seines „Hauntology“-Konzepts mit der nipulation. Wer bei Epidemien auch Behör-
Beständigkeit von Elementen aus der Ver- den und Experten misstraut, wird so
gangenheit. Als Geister, weder ganz tot abhängig von Gerüchten. (vk)

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 09


Arena / Newsletter

Impulse zur Coronakrise


Seit Beginn der
Kontaktbe­
schränkungen
begleiten wir
unsere Leserinnen
und Leser mit
einem Newsletter
und Impulsen
von namhaften
Denkerinnen und
Denkern. Hier
eine Auswahl
Fotos von Alex Majoli

Notdürftiger Schutz:
Absperrung in einem
Bus in Catania, Sizilien
im März 2020

Routinen Handlungsmacht

„Ein gesellschaftlicher Pfadwechsel ist möglich“


Die Zukunft hängt von unserem Handeln ab. Der Soziologe Hartmut Rosa
deutet die Coronakrise mit Hannah Arendts Begriff der Natalität
Fotos: Alex Majoli/Magnum Photos/Agentur Focus

In der Coronakrise sind die gesellschaft- theoretischen Blick ein, lassen sich ein des Volumens beobachten, und auch der
liche Verwirrung und die Deutungs­ paar Dinge inzwischen aber als harte Kultur- und Bildungsbetrieb ist vieler­­-
spielräume groß. Klammert man das durch Fakten festhalten. orts fast völlig zum Erliegen gekommen.
das Virus versursachte millionenfache Erstens: In der Welt der physischen Entschleunigung ist derzeit also ein
menschliche Leid und die daraus hervor- und materiellen Bewegung, das heißt makrosoziales Faktum, keine rückwärtsge-
gehenden politischen, ökonomischen insbesondere der Produktion und des Ver- wandte Fantasie, wie Kritiker behaupten.
und sozialen Gefahren einmal aus und kehrs, lassen sich massive, globale Re- Zweitens: Diese Entschleunigung ist
nimmt einen nüchternen gesellschafts- duktionen von teilweise über 80 Prozent das Ergebnis politischen Handelns, und

10 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


vielerorts des Handelns demokratisch ge- Drittens: Gesellschaften operieren im kationspunkt“, an dem ein gesellschaft­
wählter Regierungen, kein Wirkmecha­ „Normalbetrieb“ gleichsam pfadab­ licher Pfadwechsel möglich scheint.
nismus der Viren; es handelt sich also um hängig, das heißt, in fast allen Bereichen Wie es jetzt weitergeht, vermag kein
eine Erfahrung politischer Selbstwirk­ herrschen festgelegte Regeln und Rou­ so­ziologisches, ökonomisches oder
samkeit: Die Politik hat innerhalb weni­ger tinen, folgen wir im Handeln eingespielten zu­kunfts­wissenschaftliches Modell vor-
Wochen ungeahnte Handlungsmacht ge- und vorgegebenen Prozess- und Inter­ herzusagen, denn es hängt nicht von
genüber der Eigenlogik der Finanzmär­kte, aktionsketten. Je komplexer eine Gesell- unserem Wissen, sondern von unserem
der großen Konzerne, der Geschäfts­- schaft ist, umso schwieriger, gefährlicher Handeln ab. Dass wir Interaktionsket­-
­inte­­res­­sen et cetera gewon­­nen – allerdings und riskanter wird es, die eingefahrenen ten nicht fort­setzen (oder wieder in Gang
auch gegen die Rechte der Bürger und Gleise zu verlassen. Nun aber sind bringen) müssen, sondern neu anfan-
Bürgerinnen. Diese Er­fahrung kontrastiert sehr viele Prozessketten unterbrochen, gen, kreativ werden können: Dies ist
scharf mit der bisher dominanten Ohn- Routinen angehalten, die Räder still­ nach Hannah Arendt das Spezifikum
machtserfahrung an­gesichts der Klima­ gestellt. Das ist ein historischer Ausnahme­ mensch­licher Handlungsfähigkeit.
krise, aber auch angesichts schreiend punkt, wie er nur selten erreicht wird. Sie nennt es Natalität.
ungleicher Vermögens- und Verteilungs- Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die
verhältnisse. Die Annahme, das nor­- Gesellschaft versuchen wird, nach dem
ma­tiv gebotene Primat der Politik könne Abflauen der Krise so schnell wie möglich Hartmut Rosa
ist Professor für Soziologie an der Friedrich-­Schiller-
gegenüber den Eigenlogiken funktiona­- in die alten Routinen und Gleise zurück-
Universität Jena und Direktor des Max-Weber-­
ler Differenzierung nichts mehr ausrichten, zufinden, die Räder wieder anzuschieben. Kollegs der Universität Erfurt. 2018 erschien von ihm
erweist sich damit schlicht als falsch. Dennoch stehen wir an einem „Bifur­ „Unverfügbarkeit“ (Residenz)

Marktlogik Vergesellschaftung

„Das TINA-Prinzip durchbrechen“


Die kapitalistische Lebensform schien lange alternativlos. Die Pandemie
­offenbart diese Annahme als Irrtum, behauptet Rahel Jaeggi

Die Coronakrise ist die Krise einer Lebens- sich hier um Güter, denen der auf ökono- cen für das Leben nach Corona liegen da-
form. Durch sie offenbart sich, welche mische Effizienz und Steigerung aus­ rin, solche Defizite breiter und radika­-
strukturellen Defizite (aber natürlich auch gerichtete Markt nicht gerecht werden ler zu thematisieren, sie in Zusammenhän-
Potenziale) unsere Gesellschaft hat. kann. Das wäre eine der Lehren, die ge zu stellen und politisch-­emanzipa­
Dass ein neoliberal auf Gewinn ausgerich- wir aus Corona ziehen könnten – etwas, tiven Gestaltungsspielraum einzufordern.
tetes und mit der Umstellung auf Fall­ das uns dazu veranlassen könnte und Dies umso mehr angesichts der ver­
pauschalen und ökonomische Effektivität sollte, eine breite gesellschaftliche Diskus- blüffenden Erfahrung, dass in einer sol-
kaputtgespartes Gesundheitswesen sion über das Verhältnis von Markt, chen Situation eherne Gewissheiten,
selbst in einem privilegierten Land wie Staat und Formen der Vergesellschaftung Praktiken, Regeln und Institutionen zu-
Deutschland einer solchen Krise nicht des Eigentums zu führen.  sammen mit den Gewohnheiten unse­-
in dem Maß gewachsen ist, wie es ange- Es zeigt jedenfalls plastisch, dass die res Alltags kollektiv gekippt werden können.
sichts des Reichtums und des Ent­ Ideologie des sich selbst regulieren­- So paradox es klingen mag: Das TI-
wicklungsstands des Landes zu erwarten den Marktes und der Individualismus des NA-Prinzip (There Is No Alternative) ist
wäre, wird von vielen Experten immer „es gibt keine Gesellschaft, nur Indivi­ es, das wir angesichts des Corona-in­
wieder betont. duen“ eben das ist: eine Ideologie, die es duzierten Ausnahmezustands durchbre-
Hier gibt es aber auch die Chance für jetzt angesichts ihrer dramatisch zu­- chen sollten. 
ein Umdenken und die radikale Themati- tage liegenden Konsequenzen zu hinter-
sierung des Problems: Man sollte, das hat fragen gilt. 
Rahel Jaeggi
selbst Macron angedeutet, die Gesund- Krisen sind der Moment, an dem sich
ist Professorin für praktische Philosophie an der HU
heit nicht dem Markt überlassen. Ebenso eine kritisch gewordene Situation ent- Berlin. Ihr Buch „Kritik von Lebensformen“ erschien
wie Bildung, Kultur, Wohnen handelt es scheidet – ein Umschlagspunkt. Die Chan- 2013 bei Suhrkamp 

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 11


Arena / Newsletter

Leidensschutz Selbsterhebung

„Wir brauchen eine ästhetische Einstellung“


Das Virus bestimmt unser Leben. Höchste Zeit, über den Begriff des
Erhabenen ein Stück Souveränität zurückzugewinnen, meint Stefan Willer

Das Bemerkenswerteste an der Covid-19- Umschlag der Ordnung ins Chaos zu be- rung, als Arbeit an der Selbsterhebung, so
Pandemie ist das Maximale ihres Um- geistern. Folgt man Kant und Schiller, liegt wie sie der Schiller-Leser Sigmund Freud in
fangs. Was derzeit geschieht, betrifft uns das Erhabene ohnehin nicht im Furcht- „Das Unbehagen in der Kultur“ entworfen
als Einzelne, in unserer fragilen Leib­ baren selbst, sondern bezeichnet eine Art, hat. Er empfiehlt vor allem intellektuelle Tä-
lichkeit, es betrifft uns als Menschheit in sich mit ihm auseinanderzusetzen, eine tigkeit und eine „ästhetische Einstellung“,
der Gesamtheit der globalen Verknüp­ distanzierte, distanzierende Position ein- um einen – wie auch immer unvollkomme-
fungen, und es betrifft alle Bereiche des zunehmen, in der das Gefühl von Sicher- nen – „Leidensschutz“ zu bewirken. 
sozialen, kulturellen und wirtschaftli­­- heit entsteht. Und genau das ist es, was Sublimierung heißt, an der „Unbezwing-
chen Lebens. Es ist unbegrenzt bis zur einen bei der „Analytik des Erhabenen“ in lichkeit seines Gemüts durch Gefahr“ (Kant)
Formlosigkeit, schlechthin groß – und Kants „Kritik der Urteilskraft“ oder ihrer zu arbeiten. So gesehen ist die Neuver-
erinnert so an einschlägige Bestimmun- Aneignung in Schillers Schrift „Vom Erha­ handlung von Gefahr, Sicherheit und Ab-
gen des Erhabenen. Kann also der be­nen“ berührt: der durchweg mitlaufen­de stand in der Coronakrise auch eine Übung
Be­griff des Erhabenen zum Verständnis Diskurs von Sicherheit durch Abstand. in ästhetischer Distanzierung.
unserer Lage beitragen?  Erhaben ist eine Weise, sich zur eigenen
Es wäre nicht besonders hilfreich, das Unsicherheit zu ver­halten, ihr Unfassliches
Stefan Willer
Unerhörte und Unvergleichbare selbst fassbar zu machen. Das Erhabene wäre ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der
als erhaben zu deklarieren, sich für den also prozessual zu verstehen: als Sublimie- HU Berlin

Umsicht Abhängigkeit

„Den anderen von der Versehrtheit her denken“


Soziale Fürsorge muss von der Verletzlichkeit des anderen ausgehen,
nicht von der eigenen Immunität, fordert Sabine Hark

Corona erinnert uns daran, dass wir immer office oder als Gemeinschaft voneinander müssen: im eigenen, derzeit kontaktredu-
schon in der Hand der anderen sind und abhängiger Wesen, die in Freud und zierten Alltag genauso wie auf den grie­
genau dies die prekäre Bedingung des Le- Leid verbunden und immer schon auf eine chischen Inseln, vor den Küsten Libyens, in
bens ist. Auch müssen wir lernen, mit unterstützende Umwelt angewiesen sind. den Asylunterkünften Brandenburgs oder
dem Virus zu leben, statt gegen es zu agie- Wir alle sind abhängig von ökonomisch, kul­- in überfüllten Hospitälern. Das ist, was jetzt
ren. Physisch Abstand halten ist genau das: turell, sozial und historisch je spezifi- zu tun ist: Von der Verwundbarkeit der
Im Wissen darum, dass wir mit dem Virus schen Netzwerken und Bindungen sowie anderen ausgehend handeln, im Wissen
koexistieren, kommen wir anderen räumlich von Anerkennungsverhältnissen, die darum, dass es nicht Covid-19 allein ist,
nicht zu nahe. Eine Praxis der Fürsorge, uns im Leben halten. Es ist eine Abhängig- das tötet, sondern die Verweigerung, mit
die von den anderen und ihrer Versehrtheit keit, die wir nicht übergehen, hinter uns anderen Wesen, menschlichen wie nicht-
her denkt und nicht von der eigenen Im­- lassen können. Sie ist nicht verhandelbar, menschlichen, zu denken, sowie der
munität. #PhysicalDistancing ist, was Safer ein nicht verfügbarer Umstand unseres politisch induzierte Mangel an unterstüt-
Sex im Zeitalter des HI-Virus war. Seins als körperliche Wesen. zenden Infrastrukturen und Solidarität.
Wie wir uns heute verhalten, entschei- Die Pandemie führt uns aber auch vor
det, wie wir morgen leben werden: als Augen, dass wir diese Strukturen der
Sabine Hark
kontaktreduzierte, an den Ausnahmezu- Unterstützung sowie die Netzwerke des ist Professor*in für Interdisziplinäre Frauen- und
stand gewöhnte Monaden im Home­- Lebens dort, wo sie fehlen, schaffen Geschlechterforschung an der TU Berlin

12 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Was tun? Krisensitzung der
Abteilung für Infektions­
krankheiten in einem Kranken-
haus in Catania, Sizilien
Ende März

Unbewusstes Zerbrechlichkeit

„Im Angesicht der Ohnmacht“


Die Überwindung von Seuchen stellten Gemeinschaften immer wieder auf ein
neues Fundament, zeigt Barbara Vinken. Ob das auch jetzt gelingen wird?

Wir arbeiteten in der Ruhe eines Berg­ Seuchen, die Cholera, die Pest, die Spa- der Seuche auch in unserem Bergdorf
dorfs, das wie ein Adlernest 700 Meter nische Grippe, haben das kollektive neu gebauten Kirchleins ist Rochus, der
über dem Comer See liegt, als Corona Unbewusste bis heute im Griff. Bis heute Heilige der Pestkranken. 
kam. Ein Freund aus Mailand erzählte er- ­begründet die Erinnerung an das Ende Das Band, das die Gesellschaft zusam-
schrocken von den ersten Todesfällen der Seuche, die Wiederkehr von Gesund- menhält, wird geschlungen durch Be­
in der Stadt. Es war ein verschleiert son- heit und Leben das Gemeinschaftswe- gehen der Erlösung, der Überwindung von
niger Vorfrühlingstag im Februar.  sen. Die Wiener laufen täglich um ihre Krankheit, Tod, Vereinsamung und des
Der Roman der „Promessi sposi“, ein Pestsäule. Auch die auf 2022 verschobe- damit drohenden (und oft eingetretenen)
italienisches Nationalepos, spielt zwi­- nen Oberammergauer Passionsspiele Rückfalls in die Barbarei des Sünden-
schen dem Comer See, Mailand und Ber- ­gehen auf ein Gelübde des Jahres 1633 bocks und des brutalen Selbstinteresses.
gamo. Er erzählt von der großen Pest zurück, das die Stadt von der Pest be­ Dagegen begründet wurde immer neu
des Jahres 1630, die von Söldnern aus dem freien sollte.  ein sich der Ohnmacht und Hilflosigkeit be-
Norden eingeschleppt wurde und, von Am 21. November jeden Jahres feiert wusstes, schützendes Zusammenrücken.
Foto: Alex Majoli/Magnum Photos/Agentur Focus

der spanischen Fremdherrschaft so gut wie Venedig das venezianischste aller Fes­- So hoffen wir, dass wir Salute möglichst
nicht bekämpft, mehr als die Hälfte der te, Salute, mit einer Extrabrücke über den bald wieder in Venedig, in Mailand und in
Bevölkerung dahinraffte. Auch unser Dorf, Canale Grande und Fettgebackenem. Oberammergau feiern werden.
das damals etwas höher am Gebirgsbach Alle Welt pilgert in die Votivkirche, die nach
lag, starb aus. Es wurde etwas tiefer und dem Ende der großen Pest zum Dank
zu unserem Glück mehr in der Sonne von an die Madonna della Salute errichtet wur- Barbara Vinken
ist Professorin für Allgemeine und Französische
einem Orden neu gegründet. Das verfalle- de, in deren Schutz sich die Venezianer
Literaturwissenschaft an der LMU München.
ne Dorf liegt unter Bäumen wie die Pest bis heute in ihrer „Zerbrechlichkeit und Über dem Comer See geht sie oft wochenlang in
im Unbewussten der heutigen Bewohner.  Ohnmacht“ wissen. Der Patron des nach einem Turmhaus in Klausur, um zu schreiben

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 13


Reinigung von Betten ­
in einem Krankenhaus in
der norditalienischen
Provinz Reggio Emilia

Tracking Panoptikum

„Der Ausnahmezustand wirkt schnell wie Normalität“


Die Bekämpfung der Coronapandemie durch digitale Überwachung ­geschieht
nahezu reflexhaft, warnen Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski

Der Begriff der „Krise“ (von gr. krínein, ger über Smartphonedaten zu erfassen, Schocktherapeutische Maßnahmen kon-
auswählen, beurteilen) definiert einen Ent- Kontakte nachzuvollziehen, um „Gesun- turieren dann leicht einen gesundheits­
scheidungspunkt, einen temporären de“ auf „Risikogebiete“, das heißt infizierte politisch erklärlichen, datenpolitisch aber
Schwebezustand „endgültiger Alternati- Personen hinzuweisen. Was fürsorglich bedenklichen Status quo. Gerade weil
ven“ (Reinhart Koselleck): Erfolg oder klingt, kann man, dialektisch gewendet, in der Coronakrise noch kein Ende in Sicht
Scheitern, Recht oder Unrecht, Leben oder auch als panoptische Kontrolle lesen; ist, kann der Ausnahme- allzu schnell
Tod. Auch die Coronakrise macht die­­- als Mechanismus, der jeden Einzelnen ka- als Normalzustand erscheinen. So sollten
sen Umstand schmerzlich deutlich. Sie for- tegorisiert, sein Verhalten mit umfas­ wir uns, trotz aller Dringlichkeit, den
dert Entscheidungen – medizinische, sender Transparenz – blaming und shaming Raum nehmen, um manche technische
öko­nomische wie politische. inklusive – konfrontiert. In den Worten Verheißung zu überdenken. Vielleicht soll-
Kaum verwunderlich ist, dass auf das Rilkes: „da ist keine Stelle, die dich nicht ten wir nicht vergessen, dass krínein
Foto: Alex Majoli/Magnum Photos/Agentur Focus

virologische Krisenstakkato fast re- sieht. Du musst dein Leben ändern.“ nicht nur der Wortursprung von „Krise“,
flexhaft mit digitalen Anwendungen re- Auch das Robert Koch-Institut (RKI) sondern auch von „Kritik“ ist.
agiert wird. Konkret geht es dabei um diskutierte über eine Ausweitung der Tra-
das, was vor Jahren am Massachusetts ckingzone, während die Telekom Poten­
Institute of Technology als „real-time zialität schnell in Aktualität übersetzte: Sie Anna-Verena Nosthoff ist Philosophin und lehrt am
flu tracking“ erforscht und zuletzt in Süd- übersandte dem RKI anonymisierte Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.
Felix Maschewski ist Kultur- und Literaturwissen-
korea oder China, staatlich gesteuert Nutzerdaten. Im epidemischen Ernstfall
schaftler und Dozent an der FU Berlin. Zusammen
und in radikaler Form, praktiziert wurde: scheinen Möglichkeits- und Machbar- veröffentlichten sie „Die Gesellschaft der Wearables“
die Möglichkeit, die Bewegungen der Bür- keitshorizonte enger miteinander verknüpft. (Nicolai, 2019)

14 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Arena / Newsletter

Triage Rechtsprinzipien

„Töten durch Unterlassen ist zu befürchten“


Auch auf Deutschland könnten tragische, juristisch nicht legitimierbare Ent-
scheidungen bei der Priorisierung Kranker zukommen, meint Reinhard Merkel

Die Probleme der sogenannten Triage 30-Jährige nicht lange auf sich warten Blick auf den dritten Falltypus, den ich
kennt man aus der Katastrophen- und lassen wird. Diese Form der Triage wird skizziert habe: den des präventiven Ver-
der Kriegsmedizin. Drei Grundkonstellati- in Italien, Frankreich und wohl auch in meidens einer Ex-post-Triage: Man
onen sollte man unterscheiden. Die erste Spanien schon praktiziert. Uns dürfte sie gewährt alten Menschen einfach keine
haben wir in Empfehlungen des Deutschen bevorstehen. Beatmung mehr, obwohl im Moment
Ethikrats Ex-ante-Triage genannt: Fälle, Die drei Falltypen unterliegen ethisch ein entsprechender Platz frei wäre. 
in denen die Zahl der verfügbaren Beat- wie rechtlich unterschiedlichen Maßga- Juristisch ist das nichts anderes als
mungsplätze kleiner ist als die Zahl der ben. Die Ex-ante-Triage ist juristisch, wie- die Unterlassungsvariante zur Ex-post-
Patienten, die einen solchen Platz akut wohl ganz gewiss nicht emotional, eher Triage: ein rechtswidriges Töten durch Un-
benötigen. Den zweiten Typus kann man unproblematisch. Hier gilt das Prinzip ­ultra terlassen. Denn Ärzte sind sogenannte
Ex-post-Triage nennen: Sämtliche Beat- posse nemo obligatur: Über das Men- Garanten für ihre Patienten, also grund-
mungsplätze einer Station sind belegt. Im schenmögliche hinaus kann niemand ver- sätzlich zu deren Rettung verpflichtet,
bioethischen Modellfall wird dann die pflichtet sein. Da der Staat, also die wenn das klinisch möglich ist. Mit einigem
schwerkranke und beatmungsbedürftige Rechtsordnung, keine Differenzierungen Grauen fürchte ich, dass solche Situatio-
30-jährige Mutter eingeliefert. Zu retten im Wert und im Schutz des Lebens nen auf unsere Intensivmedizin zukommen.
wäre sie nur, wenn man einen der bereits von Personen vornehmen darf, kann er Das Recht wird Wege finden, den ein­
versorgten Patienten, sagen wir einen hier nicht vorgeben, wer zu retten ist und zelnen Arzt, der nach juristischen Regeln
80-Jährigen, mit tödlicher Folge vom Re- wen man sterben lassen darf. vielleicht falsch entschieden hat, vor
spirator abhängen würde.  Anders ist das in Fällen der Ex-post- dem Zugriff des Strafrechts zu bewahren.
Die dritte Konstellation schließlich Triage. Hier bedeutet das Abhängen Ob aber eine Vielzahl solcher Entschei-
liegt phänotypisch zwischen den beiden eines bereits Beatmeten, und wäre es der dungen nicht einen Prozess der Erosion
anderen – eine Art Ex-ante-Strategie 80-Jährige unseres Modellfalls, zuguns­- fundamentaler Rechtsprinzipien in
zur Prävention der sonst drohenden Ex- ten einer anderen Person, und wäre es die Gang setzen könnte, ist eine beklemmend
post-­Triage: Der soeben eingelieferte 30-jährige Mutter, ein vorsätzliches, dringliche Frage.
80-Jäh­rige wird, und zwar mit tödlicher aktives Töten. Das kann die Rechtsord-
Folge, einfach nicht an das durchaus nung nicht hinnehmen.
Reinhard Merkel
verfügbare, unbesetzte Beatmungsgerät Nun müssen wir solche Fälle in
ist Professor für Strafrecht und Rechtsphiloso­-
angeschlossen. Denn man weiß genau, Deutschland vielleicht nicht befürchten. phie an der Universität Hamburg und Mitglied des
dass die nächste beatmungsbedürftige Ganz gewiss müssen wir das aber mit Deutschen Ethikrats 

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Künstliche Intelligenz - Fluch oder Segen?


Künstliche Intelligenz (KI) ist heute schon ein fester Bestandteil unseres Lebens,
auch wenn sie oft im Verborgenen wirkt. Wo wird diese Entwicklung hinführen
und was wird das für uns bedeuten? Jens Kipper erklärt, wie moderne KI
funktioniert, was sie heute schon kann und welche Auswirkungen ihre
J. Kipper Verwendung in Waffensystemen, in der Medizin und Wissenschaft, im
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Arena / Sinnbild

Neapel Italien
12. April 2020

Gottesdienst in Zeiten
des Lockdowns: Von Balkonen
und Fenstern aus können
Anwohner der Ostermontags-
messe beiwohnen, die
auf dem Dach der neapoli-
tanischen Kirche Santa
Maria della Salute abgehal-
ten wird

„Auch aus
verborgenem
Winkel kann
man den
Sprung hinauf
in den
Himmel tun“

Seneca,
„Briefe an Lucilius“
(ca. 65 n. Chr.)

16 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020
Foto: REUTERS/Ciro De Luca TPX IMAGES OF THE DAY

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Arena / Analyse

Meinungsbildung Demokratie

Die Macht des vorpolitischen Raums


Kneipen, Stadions und Clubs sind wegen der Pandemie
geschlossen. Gerade dadurch wird uns klar, wie ­
wichtig sie für eine Gesellschaft sind. Ja, mehr noch:
Sie sind entscheidend für die demokratische Debattenkultur
Von Nils Markwardt / Fotos von Sebastian Wells

Fußballstadien: gesperrt. Kneipen: Rechts­po­pulisten es so gut verstehen, mögen auch völlig apolitisch sein, die
geschlossen. Partys: abgesagt. Die Aus- bestimmte Bevölkerungsgruppen für sich meisten hingegen insofern vorpolitisch,
gangsbeschränkungen, die als notwen­­­­- zu gewinnen. als dass man dort beim Bier ebenso
dige Reaktion auf die Coronapandemie Mit dem Begriff des vorpolitischen über die Folgen des Klimawandels, die
erlassen wurden, legen auch und vor Raums lassen sich zunächst all jene Migrationspolitik oder die Gefahr des
allem jene Bereiche des alltäglichen Le- gesellschaftlichen Bereiche umschreiben, Rechtsterrorismus diskutiert. Auch wenn
bens lahm, in denen eine Gesellschaft in denen es zwar nicht ausschließlich der Begriff des vorpolitischen Raums
normalerweise ins Gespräch mit sich und hauptsächlich um Politik geht, bei- also strukturell schwammig ist, erscheint
selbst kommt. Also Orte, wo Men­- läufig aber dennoch politische Fragen er für das Verständnis demokratischer
schen sich freiwillig begegnen, um en verhandelt oder zumindest politisch re- Diskurse sowie den darin eingebetteten
passant den informellen Diskurs der levante Wertvorstellungen vermittelt Kämpfen um die Vorherrschaft be-
Demokratie zu betreiben: sich austau- werden. Im Gegensatz zum politischen stimmter Ideen und Meinungen unver-
schen, streiten, gemeinsame Wert­ Raum, der etwa Parlamente, Parteien, zichtbar. Das zeigt sich auch ganz
vorstellungen pflegen. Man kann diese Talkshows oder soziale Bewegungen um- konkret: Nur mit ihm lässt sich etwa die
Orte – die Fankurve, den Stammtisch, fasst, offenbart sich der vorpolitische weltweite Renaissance rechtsextremer
die private Feier – unter dem Begriff des Raum also immer dort, wo Menschen zu- Kräfte sowie der parallele Niedergang
vorpolitischen Raums zusammenfassen. nächst aus eher unpolitischen, hobby­ linker Parteien vollständig verstehen.
Und wie wichtig eben dieser für eine plu- mäßigen Motiven zusammenkommen, Beides hängt nämlich mit einer grund-
ralistische Gesellschaft ist, wird nun sich nebenbei aber auch über die Pro­ sätzlichen Verschiebung vorpolitischer
gerade dadurch deutlich, dass er verschlos- bleme im Gesundheitssektor, den Sinn Räume zusammen.
sen bleibt und damit seine buchstäb­- des Mietendeckels oder die Grenzen der Klären wir zunächst noch genauer,
liche Selbstverständlichkeit verliert. Das Meinungsfreiheit austauschen. warum vorpolitische Räume für das Ver-
macht es jedoch umso wichtiger, die­- ständnis von politischer Herrschaft so
sen analytisch oft vernachlässigten Teil Folgenreiche Verschiebung wichtig sind. Und das führt zunächst zu
des demokratischen Diskurses einmal einem Denker, der zu Lebzeiten zwar
genauer in den Blick zu nehmen. Denn Dadurch ist der Begriff des vorpoliti- kein einziges Buch veröffentlichte, heute
Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

auch ganz unabhängig von der Co­ schen Raums natürlich per se unscharf. jedoch als einer der einflussreichsten
ronapandemie gilt: Nur wer die im­ Potenziell lässt er sich nämlich in fast Philosophen des 20. Jahrhunderts gilt.
mense Bedeutung des vorpolitischen jeder privaten oder zivilgesellschaftlichen Die Rede ist von Antonio Gramsci.
Raums erkennt, kann ganz begreifen, Zusammenkunft finden, vom Schützen- Der italienische Intellektuelle, der 1891
wie lang­fristig machtpolitische Mehr­­- verein über die Betriebssportgruppe bis in ärmliche Verhältnisse im bäuerlich ge-
hei­ten errungen werden. Und warum zur Geburtstagsparty. Manche davon prägten Sardinien geboren wurde und

18 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Für den Kampf
konkurrierender Ideen
in einer Demokratie
ist der informelle
Diskurs unverzichtbar

Gramsci bringt damit auf den Punkt,


dass sich die Änderung gesellschaftlicher
Machtverhältnisse keineswegs im histo-
risch vorherbestimmten Hauruckverfahren
vollziehe, sondern einer langen Vorbe­
reitung im Kampf konkurrierender Ideen
bedarf. Denn „eine gesellschaftliche
Gruppe kann und muss sogar führend sein,
bevor sie die Regierungsmacht erobert“.
Historisch zeigte sich das für ihn etwa am
Aufstieg der Bourgeoisie im Zuge der
kapitalistischen Moderne.

Gramscis Vision

So wurde die machtpolitische Verschie-


bung von der Aristokratie zum Bür­
gertum einerseits durch den Prestigege-
winn jener bürgerlichen Kultur vorbe­­rei­tet,
wie sie in Salons, Clubs oder Kaffeehäu-
sern exemplarisch zelebriert wurde. Zum
1924 zum Generalsekretär der Kommu- verlaufe, sodass die kommende Revolution anderen gewann die Herrschaft der bür-
nistischen Partei Italiens aufstieg, nahm als geradezu naturwissenschaftliche gerlich-kapitalistischen Ordnung durch
wie niemand zuvor den vorpolitischen Folge der ökonomischen Zuspitzung von Zeitschriften, Schulen, Kirchen oder das
Raum analytisch ins Visier. Gramsci, der Klassengegensätzen erschien. Im Kont- Vereinswesen aber auch zunehmend die
dank eines Stipendiums Literaturwis­ rast dazu entwickelte er in seinen posthum Zustimmung der Beherrschten, also etwa
senschaften in Turin studierte, sich aber veröffentlichten „Gefängnisheften“, der Bauern, Arbeiter und Angestellten.
auch stets weiter in der Arbeiterbil­- die er zwischen 1929 und 1935 verfasste, Für Gramsci war deshalb klar, dass der
dung engagierte, verabschiedete sich nachdem er von Mussolinis Faschisten Weg seiner kommunistischen Partei an
nämlich von jenem orthodoxen Mar­ interniert wurde, einen theoretischen Be- die Macht – zumindest in Westeuropa –
xismus seiner Zeit, wonach die geschicht- griff, der bis heute aufs Engste mit nur dann gelingen kann, wenn sie
liche Entwicklung deterministisch ihm verbunden ist: kulturelle Hegemonie. zu­vor bereits die hearts and minds auf

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 19


zivilgesellschaftlicher Ebene gewonnen Erfahrungen verknüpft werden und so- dem Konzept der kulturellen Hegemo-
hat. Unter Letzterem, so bemerken Tho- mit besonders lebensnah erscheinen. nie zuvorderst um eine Strategie der
mas Barfuss und Peter Jehle in ihrer Und drittens, weil im vorpolitischen Kommunistischen Partei, wonach diese
Gramsci-Monografie, verstand der ita­lie­ Raum auch Vertrauens- und Vorbild- die ideologische Dominanz von Ka­
nische Denker „ein der formellen Poli­tik funktionen zum Tragen kommen. Wenn tholizismus und Kapitalismus auf zivil-
vorgelagertes Feld des Vergesellschaf- jemand am Stammtisch oder im Lese­ gesellschaftlichem Feld untergraben
tungshandelns, auf dem sich Überzeugun- zirkel eine politische Meinung äußert, sollte, um den Sieg der Arbeiterklasse
gen, Gewohnheiten, Anhängerschaften fällt diese bei den Anwesenden schon vorzubereiten, ist die kulturelle He­
bilden“. Gramsci, der die bäuerliche, stark deshalb auf einen tendenziell größeren gemonie als solche aber freilich nicht an
religiös geprägte Kultur Sardiniens Resonanzboden, weil man dieser Per­-­ spezifische Inhalte gebunden. Aus
sehr gut kannte, war sich dabei aber stets son aufgrund der privaten Verbundenheit heu­tiger Sicht beschreibt sie zunächst
bewusst, dass diese kulturelle Hege­ grundsätzlich vertraut oder sie gar als einmal „nur“ das grundsätzliche Phäno-
monie nicht nur mit abstrakt-theoreti- Autorität begreift. Ging es Gramsci mit men, dass politische Überzeugungen
schen Ansprachen erreicht werden
kann, sondern dass politische Ideen an-
schlussfähig an die alltäglichen Erfah­
rungen von Bürgern sein müssen. Werden politische Inhalte im ­Freizeitrahmen,
Gerade bei jenen Menschen, die sich unter privat Verbundenen kommuniziert, haben
wenig mit Politik beschäftigen, gibt es
laut Gramsci nämlich einen senso comune, sie meist einen größeren Resonanzboden
einen Alltagsverstand, der „eine chao­
tische Ansammlung disparater Auffassun-
gen“ bilde, in der „sich alles finden
[lässt], was man will“. Doch gerade weil
dieser Alltagsverstand so disparat ist,
enthalte er neben religiösen und reaktio-
nären Ideen zumindest implizit auch
schon immer den buon senso, also einen,
so die gängige Übersetzung, „gesun­-
den Menschenverstand“. Mit Letzterem
meint Gramsci jedoch etwas anderes als
jene Populisten, die damit heute an den
Stammtischen hausieren gehen, um eine
vermeintliche Vernunft der „Volksseele“
zu propagieren, die lediglich das rheto­
rische Mäntelchen der eigenen Ressenti-
ments darstellt. Der buon senso ist hin­
gegen noch nichts Fertiges, auf das man
sich populistisch berufen könnte, son-
dern vielmehr eine Art progressiver Po-
tenzialität, beispielsweise ein amorphes
Grundgefühl von Solidarität, das es poli-
tisch zu fördern und stärken gelte.

Nötige Stärkung

Und diese Stärkung, so könnte man in


Anschluss an Gramsci sagen, vermag im
vorpolitischen Raum aus drei Gründen
besonders gut zu gelingen. Zum einen,
weil sie eben en passant passiert, politi-
sche Inhalte also beiläufig, eingebettet in
einen freizeitlichen Rahmen kommuni-
ziert werden. Zweitens, weil diese politi-
schen Inhalte dabei mit persönlichen

20 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Arena / Analyse

buch­stäblich dann gesellschaftsfähig neoliberalen Schwenk in der Schröder- etwa Schützenvereine, vorzudringen,
werden, wenn sie sich im vorpolitischen Blair-Ära. Ebenso wichtig erscheint sondern hat auch die sozialen Me­
Raum verbreiten und dort dann fort­ aber auch das sukzessive Wegbrechen dien sehr früh als eine Art digitaler
laufend reproduziert werden – sodass sie jener vorpolitischen Räume, die für Stammtische verstanden und diese
sich irgendwann auch im Wahlverhal­- die Linke früher ein beinahe „natürliches“ dementsprechend stark bespielt.
ten niederschlagen. Nur kann das aber Reservoir an Wählerstimmen sicherte. Sind es momentan also vor allem
eben in allen politischen Richtungen Das beginnt beim Bedeutungsverlust die Rechtsextremen, die versuchen,
und Größenordnungen stattfinden. der Gewerkschaften, geht über die ihre autoritären Ideen über den vor-
Auflösung vorpolitisch gut organisierter politischen Raum immer weiter
Neue Offenheit Arbeitsmilieus – man denke etwa an die gesellschaftsfähig zu machen, müs-
einst so stark durch Vereine, Chöre und sen sich alle Verteidiger eines
Waren vorpolitische Räume wie Cafés informelle Zusammenschlüsse gepräg­- freiheitlich-pluralistischen Zusam-
und Salons mitentscheidend für die Aus- ten Stahl- und Kohlereviere – bis zur menlebens in Zukunft stärker für
breitung der bürgerlichen Demokratie, sukzessiven Erosion einer dezidiert lin­- eine kulturelle Hegemonie der De-
hat sich wiederum ein größeres ökologi- ken Vergnügungskultur. Letzteres zeigt mokratie engagieren. Und das be-
sches Bewusstsein in den letzten Jah­- sich exemplarisch am zunehmenden deutet konkret mindestens dreierlei.
ren auch dadurch durchgesetzt, dass es im Verschwinden der „Case de Popolo“ in Erstens: Wenn gerade in ländli­-
privaten Rahmen, etwa durch Anwesen- Italien, also jener günstigen, von lin­­­- chen Regionen die soziale Infrastruk-
heit von Vegetariern auf der gemeinsamen ken Parteien bespielten Lokale, die über tur wegbricht, also Jugendclubs
Grillparty, „normalisiert“ wurde. Fan­ Jahrzehnte zentrale Treffpunkte fürs oder Sportheime geschlossen werden,
szenen von Fußballclubs können hingegen Stadt- und Dorfleben waren. gehen damit oft auch vorpolitische
sowohl als Rekrutierungsraum für Zum anderen haben sich mit der Di- Räume der pluralistischen Demokra-
Rechtsextreme dienen, wie etwa lange bei gitalisierung aber auch völlig neue tie verloren, deren Lücken dann
Lazio Rom, als auch eine linke Schlag­ vorpolitische Räume aufgetan. Von sozi- von Rechtsextremen leicht gefüllt
seite haben, wie beispielsweise beim AS alen Medien wie Facebook bis hin zu werden können. Zweitens: Die
Livorno oder hierzulande beim FC Foren wie reddit oder 4chan und 8chan. Kräfte der pluralistischen Demokra-
St. Pauli. Ist das Konzept der kulturellen Und auch wenn die Digitalisierung in- tie müssen noch mehr digitale
Hegemonie also inhaltlich völlig offen,
verwundert es nicht, dass es auch philo-
sophisch von ganz unterschiedlichen
Seiten aufgegriffen wurde. Entdeckten Gerade an sozialen Medien zeigt sich: In der
seit Beginn der 1970er-Jahre zunächst Demokratie zählt tatsächlich jeder, weil
post­­­marxistische Linke wie Chantal
­Mouffe und Ernesto Laclau oder die im vorpolitischen Raum potenziell auch jeder
­britischen Cultural Studies um Stuart ein Mikro-Influencer ist
Hall Gramscis Schriften wieder, ­­wurde
er später auch von Vordenkern der Neu-
en Rechten wie Alain de Benoist oder
Götz Kubitschek aufgegriffen.
Wirklich entscheidend für die gesell-
schaftlichen Machtverschiebungen wa­- haltlich zunächst natürlich neutral ist, Kompetenz entwickeln, um das Netz
ren in den letzten Jahren und Jahrzehnten haben bis dato vor allem rechtsextreme nicht zunehmend Nazis zu über­
in Bezug auf den vorpolitischen Raum Kräfte von ihr profitiert. Ein Beispiel lassen. Und schließlich drittens: Mit
aber weniger solch philo-strategische dafür ist Donald Trump. Dessen Wahl- Blick auf die Bedeutung der vor­
Über­legungen – dafür blieben diese kampf war 2016 auch stark davon ge- politischen Räume bestätigt sich, dass
dann insgesamt doch zu randständig – als prägt, dass seine Anhänger eine aggres­ in der Demokratie tatsächlich
vielmehr strukturelle Verschiebungen sive Meme-Kultur aufgriffen, die jeder zählt, weil im vorpolitischen
durch einen medialen, technologischen zunächst in Foren wie 4chan oder 8chan, Raum eben potenziell auch jeder
und lebensästhetischen Wandel. Das in denen es sonst eher um zynischen eine Art Mikro-Influencer ist. Ras­
Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

lässt sich an zwei Beispielen verdeutlichen. Humor oder Computerspiele geht, kul- sismus und Demokratiefeindlich­-
Zum einen anhand des europaweiten tiviert wurde und sich später dann im keit setzen sich langfristig nämlich
Abstiegs sozialdemokratischer und linker gesamten Netz verbreitete. Ähnliches immer dann durch, wenn nicht
Parteien. Nun hat dieser freilich viele sieht man im Fall der AfD: Diese ver- genug Menschen widersprechen.
Gründe, allen voran die Verprellung eines sucht nicht nur in strukturell eher kon- Ob im Stadion, in der Kneipe oder
Teiles der Kernwählerschaft durch den servative Vorräume des Politischen, im Buchclub. /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 21


Arena / Fundstück

Wir Flüchtlinge
1933 floh die Jüdin Hannah Arendt vor
den Nationalsozialisten aus Deutsch-
land. Ihr Essay „Wir Flüchtlinge“ erhellt
die Situation Tausender Menschen,
die derzeit Schutz in Europa suchen

„Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten


oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zu-
flucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen,
aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten
unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen
politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung
des Begriffs ‚Flüchtling‘ gewandelt. ‚Flüchtlinge‘ sind heutzutage
jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen
Land anzukommen, und auf die Hilfe der Flücht-
Hannah lingskomitees angewiesen waren. (…)
Unsere Zuversicht ist in der Tat bewunderns-

Hannah Arendt: „We Refugees“ (Erstveröffentlichung in: The Menorah Journal 31, 1943) © by the Hannah Arendt Bluecher Literary Trust;
Arendt
wert, auch wenn diese Feststellung von
war eine der bedeu-
tendsten politischen uns selbst kommt. Denn schließlich ist die
Philosophinnen des
20. Jahrhunderts. Ihre
Geschichte unseres Kampfes jetzt bekannt ge-
Analysen totalitärer worden. Wir haben unser Zuhause und
Herrschaft machten sie
weltberühmt. Zur Zeit
damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir
der Veröffentlichung von haben unseren Beruf verloren und damit
„Wir Flüchtlinge“ (1943)
lebte sie als Geflüchtete das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgend-
staatenlos in New York
wie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere
Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktio-
nen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwun- Fotos: Keystone/picture-alliance; picture-alliance/dpa/Gregor Fischer

genen Ausdruck unserer Gefühle. (…) Wenn wir gerettet werden,


fühlen wir uns gedemütigt, und wenn man uns hilft, fühlen
wir uns erniedrigt. (…) Unsere neuen Freunde (…) verstehen
kaum, dass sich hinter allen unseren Schilderungen vergan-
gener Glanzzeiten eine menschliche Wahrheit verbirgt: dass wir
nämlich einst Menschen gewesen sind, um die sich andere
gekümmert haben, dass unsere Freunde uns gern hatten und dass
wir sogar bei den Hausbesitzern dafür bekannt waren, dass wir
unsere Miete pünktlich zahlten.“ 

Hannah Arendt: „Wir Flüchtlinge“ (Reclam, 2016 [1943])

22 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Denkanstöße
zur Coronakrise
Der Newsletter des Philosophie Magazins
mit regelmäßigen Impulsen zu drängenden Fragen

Ist Sicherheit wichtiger als Freiheit?


Was kommt nach dem Ausnahmezustand?
Entdecken wir die Sorge ums Dasein neu?
Illustration: Catherine Meurisse

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Arena / Perspektive

Zivilisationskritik Altruismus

„Es liegt im Interesse der


Herrschenden, die menschliche Natur
für schlecht zu halten“
Die Annahme, dass der Mensch grundsätzlich egoistisch
sei, ist tief im westlichen Denken verwurzelt. Im Interview
erläutert der Historiker Rutger Bregman, warum es sich
hierbei um einen gefährlichen Irrglauben handelt
Das Gespräch führte Dominik Erhard / Aus dem Englischen von Michael Ebmeyer /
Illustrationen von Fanny Michaëlis

Rutger Bregman seinem Buch „Utopien für Philosophie Magazin: Herr Bregman, nicht wundern, wenn sie sich dement-
ist Historiker und einer Realisten“ (2017), das
in Ihrem neuen Buch behaupten Sie, sprechend verhalten. Auf der anderen
der bekanntesten jungen internationale Aufmerk-
Denker Europas. Der samkeit erfuhr, erschien wir hätten ein grundlegend falsches Seite fand ich eine Menge Belege dafür,
Niederländer wurde im März „Im Grunde gut. Bild der menschlichen Natur. An­- dass Menschen in Extremsituationen
bereits zweimal für den Eine neue Geschichte ders als wir uns gemeinhin einreden, ­dazu neigen, das zu tun, was als gut gilt.
renommierten European der Menschheit“ (2020,
Press Prize nominiert, beide bei Rowohlt)
seien wir nicht selbstsüchtig und
schreibt u.a. für die gemein, sondern „im Grunde gut“. Haben Sie dafür ein Beispiel?
Washington Post. Nach Was meinen Sie damit? Nach der Schlacht von Gettysburg im
Rutger Bregman: Ein treffendes Syno- Amerikanischen Bürgerkrieg etwa waren
nym für „im Grunde gut“ wäre „grund- 90 Prozent der Schusswaffen kaum be-
sätzlich wohlwollend“. Natürlich sage ich nutzt und noch geladen, was darauf hin-
nicht, dass wir Menschen Engel seien. deutet, dass viele Soldaten sich außer-
Wir sind zu grauenhaften Taten fähig, stande fanden, auf andere Menschen zu
für die es im Tierreich nichts Vergleich- schießen. Und auch wenn Soldaten heute
bares gibt. Zum Beispiel habe ich nie „viel effektiver“ zum Töten ausgebildet
­davon gehört, dass ein Pinguin eine an- sind und eine größere Distanz zwischen
dere Gruppe von Pinguinen einsperrt sich und ihren Opfern aufbauen können,
und vernichtet. Solche Verhaltensweisen tragen immer noch sehr viele von ihnen
sind ausschließlich menschlich. Was ich posttraumatische Belastungsstörungen
zu sagen versuche, ist: Das, was Sie über von ihren Kriegseinsätzen davon. Das
Autorenfoto: Marlena Waldthausen

andere Menschen vermuten, werden legt ebenfalls nahe, dass wir keine natür-
Sie auch von ihnen bekommen. Unsere liche Neigung haben, Böses zu tun.
Sicht auf die menschliche Natur gleicht
oft e­ iner selbsterfüllenden Prophezeiung. Sie schreiben, es habe keine Kriege
Wenn wir also unsere Institutionen da- gegeben, ehe wir als Spezies sess-
nach ausrichten, dass die meisten Men- haft wurden, da Jäger und Sammler
schen egoistisch seien, sollten wir uns im Streitfall einfach in verschiedene

24 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Richtungen gingen, anstatt einander mensch­­­­lichen Natur und zum menschli- „Das, was Sie über
zu töten. Hat also die Zivilisation uns chen Leben vor der Sesshaftigkeit ansah
verdorben? und danach noch einmal Rous­seaus Essay
Menschen vermuten,
Der französische Philosoph Jean-Jacques zu den Ursprüngen der Ungleichheit las, werden Sie auch von
Rousseau wurde berühmt durch seine stellte ich zu meiner Verblüffung fest, ihnen bekommen.
Überlegungen zum Menschen im präzi- dass er nicht falsch lag. Über Tausende
vilisatorischen Zustand. In diesem Na- von Jahren lebten wir als Jäger und Unsere Sicht auf den
turzustand, schrieb Rousseau, sei der Sammler, und es ging uns dabei ziemlich anderen gleicht oft ­
Mensch grundsätzlich gut. Er wird oft gut. Es gab so gut wie keine Infektions-
als ein naiver Denker abgetan, der kei- krankheiten, wie zum Beispiel Covid-19
einer selbsterfüllenden
nen realistischen Blick auf die menschli- – eine Krankheit, die vermutlich von der Prophezeiung“
che Natur habe. Doch während ich „Im Domestizierung von Tieren herrührt.
Grunde gut“ schrieb, gelangte ich an ei- Doch wir haben nun einmal diesen
nen Punkt, an dem ich das Buch „Rous- schweren Fehler gemacht, den Rousseau
seau hatte recht!“ nennen wollte. bereits benennt: Wir wurden sesshaft.
Das war eine der größten, wenn nicht die
Warum? größte Katastrophe der Menschheitsge-
Als ich mir den Forschungsstand der An- schichte. Sie hatte weniger Gleichberech-
thropologie und Archäologie zur tigung zur Folge, schlechtere Gesundheit,

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 25


Sicht der menschlichen Natur verlegen.
Und diese beginnt mit der Vorstellung,
dass die meisten Leute nicht korrupt
und böse, sondern eigentlich ganz in
Ordnung sind.

Thomas Hobbes ist in gewisser Wei-


se Rousseaus Widerpart, indem er
behauptet, das vorzivilisatorische
Zeitalter sei alles andere als friedvoll
gewesen, nämlich ein „Krieg aller
gegen alle“. Ist da, mit Blick auf die
nach wie vor herrschende Gewalt,
nicht auch etwas dran?
Hobbes ist ein Vertreter der sogenann-
ten „Fassadentheorie“. Ihr zufolge bildet
unsere Zivilisation nur einen dünnen
Firnis von Recht und Ordnung und dar-
unter lauern Gewalt und Chaos. Ein
kleiner Zwischenfall reicht aus, und schon
fällt alles in sich zusammen. Durch die
gesamte westliche Philosophiegeschichte
hindurch taucht diese Idee immer wie-
der auf. Sie findet sich bei den griechi-
schen Geschichtsschreibern, in den
Schriften der Kirchenväter, etwa bei Au-
gustinus, der sich mit dem Konzept der
Erbsünde befasste, dann bei Thomas
Hobbes, aber auch bei Machiavelli und
bei den Gründervätern der USA.
„Unser Grundinstinkt ist, einander zu ­ Warum zogen sie alle die Fassaden-
vertrauen. Was manche naiv nennen, ist auf theorie den Thesen Rousseaus vor?
der ­Makroebene unglaublich klug“ Das hängt mit ihrem Verhältnis zur
Macht zusammen. Es liegt im Interesse

Illustration: Fanny Michaëlis für „La révolution du féminin“, Camille Froidevaux-Metterie, Editions Gallimard
der Herrschenden, die menschliche Na-
tur für schlecht zu halten und diese Sicht
als realistisch darzustellen. Denn so legi-
timiert sich ihre Stellung.
selbst die Lebenserwartung ging zurück, Institutionen anzupassen. Wir stehen
und die Leute wurden buchstäblich klei- jetzt am Ende einer Ära, die man das Die Menschen als schlecht zu be-
ner. Das erkennt man, wenn man die Zeitalter des Neoliberalismus nennen trachten, ist also ein Mittel, um die
Skelette von Nomaden mit denen früher kann. Die Hauptidee des neoliberalen Massen unter Kontrolle zu halten?
Landwirte vergleicht. Zeitalters war und ist immer noch, dass In gewisser Weise ja, denn wenn wir sa-
die Leute vor allem selbstsüchtig seien gen, wir können einander nicht über den
Rousseau sagt allerdings auch, dass und dass man die gesellschaftlichen Ins- Weg trauen, heißt das, wir brauchen ei-
ein „Zurück zur Natur“ und damit titutionen nach diesem Menschenbild nen Chef, Vorstandsvorsitzenden, König
eine Korrektur des „Fehlers“ Zivilisa- ausrichten müsse. Man könnte sogar sa- oder Präsidenten, nicht wahr? Ander­n-
tion nicht möglich sei. gen, dass die Wahl Donald Trumps zum falls hätten wir einen Krieg aller gegen
Das stimmt. Was wir aber sehr wohl tun Präsidenten der USA und auch der Bre- alle, so wie Hobbes es nahelegt. Wenn ich
können, ist aus unserer Geschichte zu xit teilweise durch den Glauben zustan- aber sage, die meisten Menschen sind „im
lernen, unseren Blick auf die Natur des de kamen, wir seien egoistisch und nie- Grunde gut“, und wie gesagt, die Zahlen
Menschen gemäß dem heutigen Kennt- derträchtig. Und ich denke, jetzt ist es legen das sehr nahe, dann werden die
nisstand der Wissenschaften zu aktuali- an der Zeit, in eine andere Ära einzutre- Herrschenden nervös, denn dann stellt
sieren und diesem auch unsere ten, in der wir uns auf eine realistischere sich die Frage, ob wir sie überhaupt noch

26 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Arena / Perspektive

brauchen. Ein zweiter Grund ist auch, Ende der Sklaverei, gleiche Rechte für blutrünstig oder böse ­wären, ­­­
dass schlaue und mächtige Leute bei ih- Männer und Frauen, all das waren ein- ganz im Gegenteil, sie sind zu
rem Blick auf den Rest der Bevölkerung mal utopische Fantasien – bis sie umge- ­empathisch.
eigentlich bloß in den Spiegel sehen und setzt wurden. Wo beginnt dieser Fort-
annehmen, die meisten Menschen seien schritt? Er fängt nie bei freundlichen Wenn wir eine positivere Sicht
so wie sie – ziemlich selbstsüchtig. Menschen an. Oft kommt er durch auf die menschliche Natur also
Menschen in Gang, die erst einmal als nicht auf Empathie gründen kön-
Das halten diese für eine realistische unrealistisch, unvernünftig, unfreundlich nen, worauf dann?
Einschätzung … abgestempelt werden. Durch Einzelne, Die Antwort lautet: Kooperation.
… und dennoch ist es das genau das Ge- die willens sind, gegen Richtlinien zu Wir Menschen können eigentlich
genteil, nämlich zynisch. Denn wenn Sie verstoßen und den Elefanten im Raum nicht vieles gut. Unsere einzige
dauernd Angst haben, weil um Sie her- zu benennen. wahre Superkraft ist, dass wir gut
um jeder ein Betrüger sein könnte, lie- zusammenarbeiten können. Unser
gen Sie zwar sehr wahrscheinlich ir- Die wenig empathisch sind und ihr Grund­instinkt ist, einander zu ver-
gendwann einmal richtig und werden Ziel verfolgen? trauen, was manche naiv nennen,
übers Ohr gehauen. Aber an allen ande- Es gibt ein weitverbreitetes Missver- was aber auf der Makroebene un-
ren Tagen liegen Sie falsch und leben in ständnis im Hinblick auf Empathie. glaublich klug ist. Selbst Sprache ist
purem, grundlosem Stress. Und Ähnli- Psychologen sagen, sie wirke wie ein ein Produkt dieser Freundlichkeit,
ches passiert in der Politik: So viele Re- Schlaglicht. Wenn man von Empathie denn niemand kann alleine eine
geln, Gesetze und Vorschriften sind auf funktionierende Sprache aufbauen.
das eine Prozent oder die 0,1 Prozent Sie ist ein Phänomen des Zusam-
Ausnahmen zugeschnitten. Denken Sie menlebens. Wenn eine Gesellschaft
an die Anti-Korruptions- oder an die „Das Problem im Nahen sich zu formieren beginnt, erfindet
­Anti-Terror-Gesetze. Dabei sollten wir Osten ist nicht, dass sie Wörter. Erst, wenn sie diese
Gesetze für die 99 Prozent machen.
die Parteien blutrünstig Wörter hat, kann sie anfangen zu
denken. Auf diese Weise entsteht
Ich möchte trotzdem noch einmal ­oder böse wären, ­­ganz auch die Philosophie. Auch sie ist
nachhaken. Immerhin horten im Gegenteil, sie sind zu letzten Endes ein Produkt unserer
­Menschen in Zeiten von Covid-19 tief sitzenden Neigung zur Freund-
­Toilettenpapier, kaufen die Apothe- empathisch“ lichkeit und Kooperation.
ken leer. Gut ist das nicht, oder?
Die aktuelle Coronakrise wirft offenkun- Bietet die weltweite Krise durch
dig die Frage auf, ob meine These haltbar die Coronapandemie eine Chan-
ist: Sind wir tief im Inneren moralisch ce, diese ­Fähigkeit zur Kooperati-
gut oder ist die Zivilisation doch nur on zu ­beweisen?
eine zerbrechliche Fassade? Derzeit sind ergriffen wird, fühlt man sehr mit de- Wir sind nun mal eine Tierart, die
die Nachrichten voll von Geschichten, nen, die einem nahestehen, was bedeu- so weit gekommen ist, weil sich ihre
die Zweiteres nahelegen. Doch dieser tet, dass der Rest der Welt zugleich aus Mitglieder nah sind, gute Verbin-
Eindruck trügt ganz gewaltig. Für jeden dem Fokus gerät. Hinzu kommt oft ei- dungen zueinander unterhalten und
asozialen Trottel da draußen, der nur an ne Nebenwirkung: Je mehr Empathie effektiv kooperieren. Deshalb fühlt
sich denkt, arbeiten Tausende Ärztinnen, wir für die Opfer empfinden, desto es sich auch seltsam an, wenn wir
Reinigungskräfte und Krankenpfleger mehr hassen wir die Täter. Nehmen unser Verlangen nach Kontakt der-
rund um die Uhr für uns. Und für jeden wir den israelisch-palästinensischen zeit unterdrücken. Wir Menschen
panischen Hamsterkäufer, der ganze Su- Konflikt als Beispiel. Er bildet einen berühren uns gerne gegenseitig und
permarktregale in seinen Einkaufswagen Kreislauf von Empathie und Vergel- finden Freude daran, uns persönlich
schiebt, geben ebenfalls Tausende Men- tung. Ein Terroranschlag wird verübt. zu sehen – doch jetzt müssen wir
schen ihr Bestes, um eine weitere Aus- Die Israelis empfinden große Empathie physische Distanz halten. Trotzdem
breitung des Virus zu verhindern. für die Opfer. Sie wollen Rache und glaube ich, dass wir uns am Ende
holen ihrerseits zu einem Vergeltungs- näherkommen und uns in dieser
Sie behaupten aber auch, dass sich schlag aus, dem Palästinenser zum Op- Krise finden können. Es ist, wie der
oft die, die schlecht erscheinen, als fer fallen. Die Palästinenser empfinden italienische Premierminister Giu-
Fotos: Lorem epudke st

wahre Helden erweisen .... große Empathie für ihre Toten – und seppe Conte kürzlich sagte: „Lasst
In meinem vorigen Buch, „Utopien für so geht es immer weiter. Ich würde sa- uns heute Abstand zueinander hal-
Realisten“, ging es darum, wie utopische gen, das Problem im Nahen Osten ist ten, damit wir uns morgen wieder
Ideen Wirklichkeit werden können. Das nicht, dass die involvierten Parteien umarmen können.“ /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 27


Arena / Kolumne

Dorn denkt
Kann das weg?
Es gibt Begriffe, bei denen weiß man,
sobald sie am Horizont auftauchen:
Sie bringen Unheil mit sich.
„Systemrelevant“ ist ein solcher
Begriff, meint Thea Dorn
Illustration von Studio Nippoldt

Die jüngst vergangene Zeit hat uns scho- dreimal Urlaub pro Jahr. Da wir in den freiheitliche Verfassung? Müssen wir er-
nungslos vor Augen geführt, welche vergangenen Monaten aber auch un­- kennen, dass all diese Güter für uns
Bereiche unseres Lebens als „systemrele- sere heiligsten Möpse unterschiedslos zur nur den Rang von Schönwettervergnü-
vant“ gelten und welche nicht. Wir ha­- Schlachtung freigegeben haben, soll­- gungen haben – Prädikat: „nicht sys­
ben erlebt, wie Regierungen beschließen, ten wir uns fragen, ob wir damit nicht ein temrelevant“? Welcher Gläubige wird
dass Joggen „systemrelevanter“ ist als erschreckend klares, erschreckend brei- nach Corona den Satz „Der Mensch lebt
Demonstrieren, dass Supermärkte „sys- tes Bekenntnis zum möglichen, aber sinn- nicht vom Brot allein“, welcher Künst­-
temrelevanter“ sind als Opernhäuser, losen Leben abgelegt haben. ler den Satz „Kunst ist ein Lebensmittel“
dass medizinische Einrichtungen „system- Denn müssten in Zeiten von Not und aussprechen können, ohne schamvoll
relevanter“ sind als Gottesdienste. Die Tod nicht gerade diejenigen Bereiche zu erröten? Wer wird noch das Wort „Ver-
Zustimmungswerte zu dieser Politik er- unseres Lebens als besonders „systemre- fassungspatriotismus“ in den Mund
reichten zu dem Zeitpunkt, da diese levant“ gelten, die uns mit Transzen­- nehmen wollen, wenn so viele von uns
Kolumne geschrieben wurde, schwindeler- denz, mit Trost versorgen; diejenigen Be- Woche für Woche bereit sind, es für
regende Höhen. Die überwältigende reiche, die uns helfen, Frieden mit der berechtigt zu halten, dass weite Teile un-
Mehrheit der Bevölkerung scheint mit die- Tatsache unserer Hinfälligkeit und End- serer Freiheits- und Bürgerrechte im
sen Priorisierungen einverstanden zu sein. lichkeit zu machen, also alle Institu­ Namen der „Ausnahmesituation“ außer
Bislang haben wir Bewohner der tionen, die mit Religion oder ihrer abtrün- Kraft gesetzt sind?
freien, reichen Welt in dem Luxus gelebt, nigen Tochter, der Kunst, zu tun ha­- Ich fürchte, die Tragödie, in der
unser „System“ nur sorgfältig zurecht­ ben? Und wäre es nicht gleichzeitig die unser „System“ steckt, geht viel tiefer,
gemacht zu kennen. Nun sehen wir es zum Stunde, in der sich unser Glaube an als wir derzeit wahrhaben wollen. /
ersten Mal nackt. Plötzlich wird uns die Freiheit bewähren müsste?
vor Augen geführt, in welch panischer Ei- Gleichzeitig weiß ich: Auch ich könn-
le auch wir bereit sind, alles abzuwerfen, te keinen Frieden damit machen, soll­-
von dem wir eben noch behauptet haben, te ich oder sollte ein geliebter Mensch in
es sei uns doch das Allerlebensnotwen- nächster Zeit sterben müssen, weil
digste, Verzicht undenkbar. unsere intensivmedizinischen Einrichtun-
Von Loriot stammt die Devise: „Ein gen an ihre Kapazitätsgrenzen ge­langt
Leben ohne Mops ist möglich, aber sind. Deshalb unterwerfe auch ich mich In ihrer Kolumne „Dorn
denkt“ analysiert sie
sinnlos.“ Gern darf jeder Wohlstandsver- dem kategorischen Imperativ, alle
Autorinnenfoto: Maria Sturm

das Zeitgeschehen und


wöhnte die jetzige Situation zum An­- Handlungen zu unterlassen, die ein sol- weist Wege in eine
lass nehmen zu prüfen, auf welche seiner ches Risiko erhöhen. Thea Dorn loh­nende Zukunft. Ihr
ist Philosophin, jüngstes Buch: „deutsch,
lieb gewonnenen Konsummöpse er Doch ich hadere mit dieser Unter-
Schrift­stellerin und nicht dumpf. Ein
auch künftig getrost verzichten kann, werfung. Denn was bedeutet sie für Gastgeberin des Leitfaden für aufgeklärte
Stichwort: 30 Paar Schuhe, Stichwort: die Religion, für die Kunst? Für unsere „Literarischen Quartetts“. Patrioten“ (Knaus, 2018)

28 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


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Leben
Zeit für
existenzielle Fragen

32 Weltbeziehungen
Lassie darf nicht sterben / Die
neue Unsichtbarkeit / Finite Pool
of Worry

34 Porträt
Die Schönheit des Rituals:
Der Keramiker Jan Kollwitz

38 Lösungswege
Wann bin ich ganz ich?

40 Gespräch
Elisabeth von Thadden:
„Unantastbarkeit ist eine
Errungenschaft“

44 Unter uns
Die Sache mit den Passwörtern.
Kolumne von Wolfram Eilenberger
Foto: Sian Davey

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 31


Leben / Weltbeziehungen

Trend

Lassie darf nicht sterben


Das Klonen von Hunden und Katzen wird weltweit
zum lukrativen Geschäft. Aber liegt der Grund hierfür
wirklich in der tiefen Liebe zum Tier?
Beim chinesischen Unternehmen Sino­
gene kostet ein Hund umgerechnet 50 000
Euro, eine Katze ist bereits für 32 000 Eu-
ro zu haben. Der Grund für die horrenden
Preise: Die Tiere sind Klone. Rund 50
Kunden, so berichtete tagesschau.de, habe
die Firma bereits beliefert. Ein populärer
chinesischer Schauspieler bestellte sogar
ein Pferd. Das Wachstums­ potenzial in
diesem Markt sei in jedem Fall: hoch.
Nun ist die genetische Reproduktion von
Tieren an sich nicht neu, nahm diese doch
bereits 1996 mit dem Schaf „Dolly“ ihren
Anfang. Und auch der kommerzielle Ver-
trieb geklonter Tiere setzte schon Mitte
der 2000er-Jahre ein. Doch jetzt nimmt
dieses Geschäft richtig an Fahrt auf. Denn
Sinogene ist nur eine von vielen Firmen,
die einen animalischen Kopierdienst an-
bieten. Auch in Südkorea oder den USA
konzentrieren sich entsprechende Unter-
nehmen auf Privatkunden. Zu Letzteren
gehört auch die bekannte Sängerin Barbra
Streisand, die 2018 verkündete, dass sie
zwei Welpen aus dem Genmaterial ihrer
verstorbenen Hündin habe klonen lassen. pomorphisierung, wird damit paradoxer- verbunden sind, dass sie diese duplizieren
Der teure Spaß passt ganz zum Zeitgeist. weise jedoch das Gegenteil erreicht: wollen, wirft zudem noch ein Schlaglicht
Weltweit nehmen Haustiere eine immer Haustiere werden radikal verdinglicht. auf ein zweites Paradox. Während Haus-
wichtigere Rolle ein, werden buchstäblich Durch die kommerziell verwertbare Ko- tiere zum emotionalen Äquivalent von
zu Familienmitgliedern. Das zeigt sich pierbarkeit degenerieren sie zu genetisch Menschen avancieren, leisten moderne
schon daran, dass die Ausgaben für tieri- handelbaren Gegenständen. Genau aus Gesellschaften sich gleichzeitig ein Sys-
sche Weggefährten stetig steigen. Allein in diesem Grund, also der Verneinung der tem der industriellen Massentierhaltung,
Deutschland wurden 2017 für sie 4,8 Mil- kreatürlichen Einzigartigkeit eines (mit-) das im Sekundentakt Schweine, Rinder
liarden Euro ausgegeben. In Anlehnung fühlenden Lebewesens, ist das Klonen von und Hühner unter bisweilen grausamen
an Thomas Hobbes könnte man sagen: tatsächlichen Menschen weltweit ja auch Umständen schlachtet. Nach dem Motto:
Der Hund ist des Menschen Mensch. nach wie vor verboten. Lassie darf nicht sterben, aber der Rest
Entspringt das Klonen von Hund, Katze Dass nicht wenige Zeitgenossen mittler- soll möglichst effizient vor die Hunde ge-
und Co. also ihrer zunehmenden Anthro- weile so biografisch mit ihren Vierbeinern hen. / Nils Markwardt

32 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Produkt

Die neue Unsichtbarkeit


Wir leben in einer Zeit der Transparenz. Gegenstände,
die wir täglich bei uns tragen – das Handy, die Kredit-
karte, der Ausweis –, produzieren oder enthalten sen-
sible Informationen, die potenziell abgefangen und
ausgelesen werden können. Um sich gegen diese Ge-
fahr zu schützen, haben Designer aus Rotterdam unter
dem Namen Projekt KOVR (Esperanto für „Schutz“,
„Hülle“) einen Mantel entwickelt, der wie ein Faraday-
scher Käfig wirkt: Der metallhaltige Stoff lässt keiner-
lei elektrische Signale herein oder heraus – zieht aller-
dings durch seine futuristische Optik Blicke auf sich.
Seit ihren Anfängen ist die Mode genau in diesen Wi-
derspruch aus Zeigen und Verbergen verstrickt. Dem
britischen Psychologen J. C. Flügel zufolge, vermittelt
die Kleidung zwischen zwei menschlichen Grundbe-
dürfnissen: „Schmuck“ und „Scham“. In der Mode
wird verhandelt, was und wie viel wir von uns zeigen,
welchen Blicken wir uns aussetzen. Da in der digitali-
sierten Welt nun ein neuer Blick hinzugekommen ist,
der unsere Daten ins Visier nimmt, ist KOVR die logi-
sche Konsequenz. Wer dennoch erreichbar sein will,
nutzt einfach die schwarze Außentasche des Mantels.
Man will’s ja nicht übertreiben. / Lea Wintterlin

Begriff
Finite Pool of Worry
So nennen Wissenschaftler am Center samt zu groß, schlägt die Sorge schnell
for Research on Environmental Decisi- um in emotionale Taubheit. „Die Türen
ons (CRED) der Columbia Universität und Fenster des Bewusstseins zeitweilig
die begrenzte Kapazität an Sorgen, mit schließen“, um „die seelische Ordnung“
denen sich ein einzelner Mensch ausein- aufrechtzuhalten: So beschrieb Friedrich
Foto: Suzanne Waijers/KOVR; Illustration: Javier Pérez

andersetzen kann. Je dringlicher die Sor- Nietzsche in seiner „Genealogie der Mo-
ge um eine akute Gefahr (wie aktuell die ral“ die notwendige Psychohygiene für
Corona-Pandemie) wird, desto eher ver- notorisch Besorgte. Um nicht gänzlich
drängt sie weit entfernt stattfindende hu- abzustumpfen und auf lange Sicht auf-
manitäre Katastrophen oder langfristige nahmefähig zu bleiben, wäre es dem
Bedrohungen wie den Klimawandel aus Denker zufolge ratsam, den nie enden-
dem Bewusstsein. Und wird die Belas- den Fluss an Nachrichten – oder auch,
tung angesichts all der Probleme in der wahlweise, die oft vergleichsweise profa-
Welt und der ständigen medialen Be- nen Alltagssorgen – zumindest für kurze
richterstattung irgendwann auch insge- Zeit mal auszuschalten. / Vivian Knopf

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Leben / Porträt

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Der Keramiker
Er ist der Urenkel der Bildhauerin Käthe Kollwitz. Sein
Weg führte ihn nach Japan, wo er die Zen-inspirierte
Kunst der Keramik erlernte – und zu einer ganz eigenen,
befreiten Lebensform fand. Jan Kollwitz im Porträt
Von Svenja Flaßpöhler / Fotos von Roman Pawlowski

Jan Kollwitz bewohnt ein altes Pfarrhaus im kleinen Ort Cismar dieses Haus immerhin vor nunmehr 32  Jahren für ihn gekauft
in Ostholstein unweit der Ostsee. Die Ausstellungsräume: hoch und an seine Idee geglaubt habe. 
und hell. Wenige Stücke hat der gebürtige Berliner für die Prä- Jan Kollwitz stammt aus einer berühmten Familie. Sein Vater,
sentation ausgewählt, sorgsam arrangiert stehen verschiedene Arne Kollwitz, ist der Enkel der Malerin und Bildhauerin Käthe
Gefäße und Teller auf niedrigen, mit Reismatten bedeckten Kollwitz, eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhun-
Schränken, in einigen der Vasen: frische Blumen, blühende Zwei- derts, die in der DDR als Heldin verehrt wurde. 1933 hatte sie
ge. Es ist kühl im Haus, er heize nicht viel, erklärt Jan Kollwitz, gemeinsam mit Heinrich Mann und vielen anderen bekannten
während er sich hinkniet, um den Kamin anzuzünden. Langsam Persönlichkeiten den „Dringenden Appell“ des Internationalen
dringt die Wärme bis zum großen Holztisch vor, auf dem eine Sozialistischen Kampfbundes“ (ISK) unterschrieben, der KPD
Kanne mit grünem Sencha, Gebäck und zwei Tassen aus eigener und SPD zur geschlossenen Front gegen den frisch ernannten
Herstellung stehen. Reichskanzler Adolf Hitler bewegen wollte. Daraufhin wurde
Schlicht ist die Schale, die Oberfläche ein wenig rau. Das liege Käthe Kollwitz zum Austritt aus der Akademie der Künste ge-
an dem Ton, den er verwende. Er besitzt immer noch seine natür- zwungen und 1936 mit einem faktischen Ausstellungsverbot be-
liche Körnung, denn nur so gewinnen die Gefäße beim Brennen legt. Ihre künstlerische Arbeit verfolgte sie dennoch unbeirrt bis
ihre Farben, ihre Lebendigkeit. Deshalb lässt er sich den Ton so zu ihrem Tod weiter.
liefern, wie er aus der Grube kommt, und bereitet ihn in einem
aufwendigen Verfahren von Hand selbst auf. Vier Wochen nimmt Das Erbe der Väter
allein diese Arbeit in Anspruch. Ja, ergänzt er auf Nachfrage, er
mache so gut wie alles allein. Nur das Befeuern des Anaga- „Vordergründig war meine Jugend sehr durch die Väterseite der
ma-Holzbrennofens, der eigens von einem japanischen Ofenbau- Familie dominiert“, erzählt der Urenkel, und wirft ein weiteres
er angefertigt wurde und gleich neben dem Haus steht, könne er Scheit in den Kamin. Wie Arne Kollwitz waren auch dessen Vater
nicht ohne Hilfe bewältigen. Der Brand dauert vier ganze Tage Hans und Großvater Karl angesehene Mediziner, was offensicht-
und Nächte, alle drei Minuten muss mit größter Sorgfalt und lich Druck erzeugt hat. Und die Urgroßmutter? Nun, er, Jan, sei
Sachkenntnis Holz nachgelegt werden. Und ach, fügt der 60-Jäh- ganz selbstverständlich inmitten der Kunst von Käthe aufgewach-
rige fast entschuldigend hinzu, auch bei der Vorbereitung des sen. Im Haus seines Vaters hätten sich mehrere ihrer Skulpturen
Holzes für den Brand holt er sich inzwischen Unterstützung. befunden, auch die berühmte „Mutter mit totem Sohn“, die ihrem
Aber natürlich lege er auch immer noch selbst Hand an. im Ersten Weltkrieg gefallenen Kind Peter gewidmet war und
Jan Kollwitz, das wird schnell klar, mag die körperliche Ar- heute als vergrößerte Kopie in der Berliner Neuen Wache steht.
beit. Mag die verschiedenen Abläufe, die Sorgfalt und das Kön- Die Kunst selbst habe ihn aber zunächst gar nicht so sehr interes-
nen, die sie erfordern. Was er nicht mag, sind Situationen, in de- siert, sondern vielmehr die Tagebücher seiner Urgroßmutter. „Im-
nen Menschen in seiner Nähe „einem das Gefühl geben, dass poniert hat mir ihre Haltung. Die Art, in der sie sich ihrem Schaf-
man alles falsch macht“, erklärt er, und fügt mit einem Lachen, fen gewidmet hat. Ihre Sturheit, auch nach dem Ausstellungsverbot
das Ernsteres vermuten lässt, hinzu: „Manchmal gibt es solche weiterzumachen.“ Ja, es habe Momente in seinem Leben gegeben,
Momente mit meinem Vater.“ Alle paar Jahre käme er vorbei, in denen er darüber nachdachte, selbst als Bildhauer zu arbeiten.
begutachte, beurteile, kritisiere, was der Sohn produziert. Doch, Aber der Weg sei natürlich durch Käthe verstellt gewesen.
fügt dieser in seiner leisen Art hinzu, er sehe es ihm nach, begeg- Wer dem Nachfahr der berühmten Künstlerin länger gegen-
ne seiner besorgten „Härte“ mit „Sanftheit“. Auch, weil der Vater übersitzt, dem kommt leicht ein bekannter Satz von Albert

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 35


Leben / Porträt

Camus in den Sinn: „Ab einem gewissen Alter ist jeder Mensch für scheint es, die urgroßmütterliche Schaffenskraft mit der väterli-
sein Gesicht verantwortlich.“ So sehr gemahnen die großen Augen chen Autorität auf eine Weise verbunden ist, die Jan Kollwitz bis
mit den hohen Brauen von Jan Kollwitz an die Urgroßmutter, dass heute fasziniert. Und die es ihm ermöglichte, wie er selbst formu-
sich die Frage aufdrängt, ob Camus wirklich recht hatte mit seiner liert, seinen „eigenen Zugang zum Leben zu bejahen“.
existenzialistischen Forderung. Wie die eigene Existenz wählen, Japanische Keramik herzustellen, ist eine Kunst, erklärt Jan
wie ihr allein verantwortlicher Urheber sein, wenn ihr Funda- Kollwitz. Aber keine Kunst im westlichen Sinne. Sie hat nichts zu
ment – die Herkunft – sich dem Zugriff doch entzieht? Wäre nicht tun mit einer individuellen Schöpferkraft. Nichts mit Sublimie-
selbst radikale Abgrenzung noch Beweis ihrer Macht? Die Ge- rung im Sinne Sigmund Freuds, dem zufolge Triebe und Affekte
schichte, die Jan Kollwitz in den folgenden Stunden erzählen wird, in veredelter Form im Kunstwerk aufgehoben sind. Im Mittel-
offenbart, wie unverfügbar der eigene Ursprung ist. Wie präsent punkt des westlichen Kunstverständnisses stehe „das kleine Selbst,
das Vergangene im Gegenwärtigen. Allerdings, in seinem Falle, das dieses oder jenes im Kopf hin und her wälzt. Das große Selbst
verwandelt. Verwandelt durch die japanische Keramik, in der, so hingegen, und darum geht es in Japan, ermöglicht schlicht einen
Raum, in dem sich Schöpfung ereignet.“ Deshalb komme es gera-
de darauf an, die eigenen Gefühle strikt außen vor zu lassen.
„Wenn ich mich über die Rechnung des Elektrikers ärgere und
Wie die eigene Existenz die Emotion in den Schaffensprozess hineinrutscht, dann fühle
ich den Ärger hinterher, wenn ich die Schale in die Hand nehme.“
wählen, wenn ihr Der Künstler schöpft nicht, sondern schafft Raum für das Er-
eignis: Seine ganz konkrete Vergegenständlichung findet dieser
Fundament – die Herkunft – Ansatz im Anagama-Ofen, der bis zu 1300  Grad heiß wird und
dessen Bauweise aus dem 16. Jahrhundert stammt. „Ich kann mei-
sich dem Zugriff entzieht? nen Ofen nicht beherrschen, ihm nicht meinen Willen aufzwin-
gen“, so Jan Kollwitz, „ich kann nur seinen Eigenrhythmus erspü-
ren und das Holz genau im rechten Moment einwerfen, für die
richtige Menge an Durchzug sorgen. Das ist das Geheimnis des
Brennens. Wenn man glaubt, dass man der Macher ist, funktio-
niert es nicht.“
Zwei fernöstliche Denkschulen seien für diesen Schaffenspro-
zess und die japanische Teekultur insgesamt wesentlich: zum ei-
nen der Shintoismus, der davon ausgehe, dass Natur und Materie
beseelt seien und einen Eigenwillen besitzen. „Wenn ein Japaner
versucht, eine Schublade zu öffnen und sie klemmt, dann lacht er
und versucht es noch einmal vorsichtiger. Warum? Weil er an-
nimmt, dass der Geist der Schublade aufgrund des fehlenden Re-
spekts ihm gegenüber den Dienst verweigert hat.“ Traditionsge-
mäß hat Jan Kollwitz auf das Dach seines Ofens drei Schälchen
gestellt, um seinen Geist gütlich zu stimmen.

Die Schönheit des Rituals


Die zweite Denkschule: Zen. „Das Teetrinken war in Japan zuerst
in den Zen-Klöstern praktiziert worden“, erzählt Jan Kollwitz. Die
Mönche entdeckten nicht nur, dass Tee hilft, um wach und kon-
zentriert zu bleiben. Sie merkten auch, dass die Teezeremonie eine
hervorragende Möglichkeit ist, „Zurückhaltung und Bescheiden-
heit ganz konkret zu erfahren und so zu verinnerlichen“. Der be-
rühmte Teemeister des 16. Jahrhunderts, Rikyu, war der Ansicht,
dass das eigene Leben verschwendet wird, wenn man es Ausbeu-
tung und Unterdrückung widmet. Und so entwickelte er ein auf-
wendiges Teeritual, das aus über 60 streng definierten Bewegun-
gen besteht und die Schönheit in den Mittelpunkt stellt. Blumen,
Rollbilder und die mannigfachen, richtig zu bedienenden Gerät-

Jan Kollwitz bei der Reinigung seines


Anagama-Holzbrennofens

36 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Kunst als Annäherung an ein Ideal: Allein für die Aufbereitung
des Tons nimmt sich Jan Kollwitz vier Wochen Zeit

schaften bilden eine ästhetische Praxis, die, so Jan Kollwitz, „sensi-


bel auf die Bedürfnisse des Gastes ausgerichtet sind“.
Doch die Zeremonie hat auch eine andere, weitaus weniger
friedvolle Seite. So waren die Gäste, die Rikyus Ritual beiwohn-
ten, Krieger. Samurai, die sich vor der Schlacht noch einmal be-
sannen, um im Kampf hoch konzentriert und, so Jan Kollwitz,
„im Zweifelsfall die entscheidende Zehntelsekunde schneller zu
sein als der Gegner“. Zen-buddhistischer Fokus und kalte Gewalt
liegen mithin nah beieinander; und auch dem mit dieser Medita-
tionstechnik verbundenen, unermüdlichen Üben wohnt eine
Härte inne, die Jan Kollwitz während seiner Ausbildung am eige-
nen Leib erfuhr.
So hatte er sich nach seiner Lehre entschlossen, die Gesellen-
jahre bei einem Meister in Japan zu absolvieren, sein Name: Yuta-
ka Nakamura. „Ich habe bei Nakamura neun Monate lang immer
wieder denselben Becher gedreht, weil ich nicht verstanden habe,
warum der Meister nicht zufrieden ist mit der Art, wie ich es ma-
che.“ Nein, Nakamura habe – im Gegensatz zu seinem eigenen
Vater – nie gesagt, was falsch sei. Denn: In einer japanischen Aus-
bildung gehe es darum, den Fehler selbst zu erkennen. „Was man
selber herausgefunden und oft genug geübt hat, das vergisst man
nie wieder. Und es macht stolz.“ Woche für Woche zerstörte
Nakamura all seine Becher, bis sein Geselle begriffen hatte: Es
ging um das Gewicht. Nakamura wollte, dass der Becher leichter
ist, als man erwartet, um dem Gast einen kurzen Moment der
Freude zu ermöglichen. „Das Leben ist ja schon schwer genug“,
ergänzt Jan Kollwitz und lächelt.
Ob ihm seine Arbeit manchmal langweilig werde? Nein. Im
japanischen Kunstverständnis gehe es nicht um das Neue, son-
dern um die Annäherung an ein Ideal. „Seit 32 Jahren arbeite ich
Der Künstler schöpft
an 45 Formen, aber es ist eine Entwicklung spürbar. Es geht dar-
um, die Arbeit auf den Punkt zu bringen, Überflüssiges wegzulas-
nicht, sondern schafft Raum
sen. Ein Klärungs- und Reinigungsprozess.“ Jan Kollwitz nimmt
einen Schluck Tee. Kneift die Augen zusammen und öffnet sie
für das Ereignis, so die
wieder, wie er es häufiger macht, um sich zu besinnen.
Es gab eine Zeit, sagt er dann, in der er durch seine Arbeit re-
­japanische Lehre
gelrecht gerettet worden sei. Vor 17 Jahren habe seine Frau ihn
verlassen, mit der er in dieses Haus eingezogen sei. Die beiden
gemeinsamen Söhne habe sie mitgenommen. „Ich habe viel gear- auch eine politische Komponente. „Von Käthe Kollwitz stammt
beitet, mein Meditieren war auch nicht sonderlich gemeinschaft- der Satz: ‚Ich will wirken in dieser Zeit.‘ Damit meinte sie keine
lich. Dieses Leben wollte sie irgendwann nicht mehr mittragen.“ abstrakten Ideen, sondern ihr ging es darum, die Lebensbedingun-
Die Zeit nach der Trennung sei schwer gewesen, oft habe er Trost gen der Menschen konkret zu verbessern. Das will ich, im Rahmen
suchend bei seinem Hund gesessen. Eines Tages dann sei er wieder meiner bescheidenen Möglichkeiten, auch.“ Nicht Masse und
in seine Werkstatt gegangen. „Durch das fraglose Tun, die einge- Profit stünden im Vordergrund seiner Arbeit, sondern Harmonie,
übten Abläufe, habe ich wieder in meine Mitte gefunden.“ Man ist Schönheit, Einklang mit den Dingen. Er produziere sehr langsam.
versucht an Friedrich Nietzsche zu denken: Die existenzielle „Er- Und sehr wenig. Wodurch er zeige, dass man unser Wirtschafts-
leichterung“ der „machinalen Thätigkeit“ sah der Denker darin, system durchaus zum Wohl der Menschen verändern kann.
„dass beständig wieder ein Thun und wieder nur ein Thun ins Es ist spät geworden. Jan Kollwitz steht auf. Bedankt sich aus-
Bewusstsein tritt und folglich wenig Platz darin für Leiden bleibt“. führlich für das Gespräch, verbeugt sich auf japanische Art. Manch
Die Routine des Töpferns: ein Mittel gegen Schwermut? einer versucht, sein Selbst der gegebenen Kultur anzupassen.
Für Jan Kollwitz ist die japanische Keramik weit mehr. Sie ist Hier hat ein Mensch umgekehrt die passende Kultur für sein
ein Welt- und Selbstzugang. Und es gebe, ergänzt er, durchaus Selbst gefunden. /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 37


Leben / Lösungswege

Wann bin ich ganz ich?


Man selbst sein – eine große Sehnsucht in einer Welt
der Entfremdung. Doch wann und wie ist das zu schaffen?
Von Julia Werthmann / Fotos von Knut Egil Wang und Juuso Westerlund

„Wenn ich mich


zurückziehe“
Jean-Jacques
Rousseau
(1712–1778)

„Der Wilde lebt in sich selbst;


der gesellschaftliche Mensch
ist immer außerhalb seiner
selbst und weiß nur in der Mei-
nung der anderen zu leben.“
Die Zivilisation ist für den
Denker des 18. Jahrhunderts
eine Geschichte der Ent­
fremdung. Ausgehend von ur-
sprünglicher Freiheit legten
wir Menschen uns in ge­
sellschaftliche Ketten. Wie
kann man sich befreien
und in die natürliche Einheit
mit sich selbst zurückkeh­-
ren? Durch die Abgrenzung
von der Gesellschaft und
den Rückzug in die Natur.
Diese Reise in die Innerlich-
keit bedeutet Rousseau jedoch
nicht Rücksichtslosigkeit
gegenüber den Mit­menschen,
sondern die Widerent­­-
d­eckung einer „angeborenen
Liebe zum Guten“. Ganz bei
mir bin ich moralisch. Fast
zu schön, um wahr zu sein.

38 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


„Wenn ich meine
Freiheit ernst nehme“
Jean-Paul Sartre
(1905–1980)

Die Entschuldigung, man ha-


be keine andere Wahl gehabt,
ist für den französischen
Existenzialisten schlichtweg
eine freche Unaufrichtig­-
keit. Der Mensch besitzt keine
vorgegebene Natur, son­-
dern formt seine Existenz. So-
mit geht die Suche nach
dem Selbst nicht nach innen
oder zurück, sondern zielt
immer nach außen und vorn.
Authentisch ist, in Sartres
Augen, wer seine Freiheit
ernst nimmt. Das heißt,
sich zu entscheiden, wer man
sein möchte, und dafür
volle Verantwortung zu über-
nehmen. Dann nächstes
Mal doch lieber zweimal über-
legen, bevor man handelt.

„Nie, aber in diesem Scheitern


bin ich individuell“
Judith Butler (*1956)

Identität ist für die Philoso- uns mit dieser Erfahrung.


phin und Vorreiterin der Somit befinden wir uns
Gendertheorie das Ergebnis ständig im Prozess des Wer-
unserer alltäglichen „Per­ dens – ohne jedoch über-
formance“. Wir sind, was wir haupt an ein Ziel gelangen
tun – haben darin jedoch zu können. Zeit also, diese
keine unbegrenzte Freiheit, beengende Vorstellung von
sondern orientieren uns Einheit und Identität zu
etwa an gesellschaftlichen Ide- verabschieden und stattdes-
alen von Männlichkeit und sen die Lust an der Über-
Weiblichkeit. An diesen Ide- schreitung althergebrachter
alen scheitern wir jedes Normen zu entdecken.
Mal aufs Neue und verändern Klingt nach Freiheit.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 39


Leben / 
 / Gespräch

„Unantastbarkeit ist eine


Errungenschaft“
Abstand halten ist der Imperativ der Coronakrise.
Was bedeutet Berührung für uns Menschen? Verstärkt
das Virus das moderne Begehren
nach Distanz? Ein Gespräch
mit Elisabeth von Thadden
Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

Elisabeth von Thadden


Die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist lässt sich virtuell nicht ersetzen. Die soziale Natur
verantwortlich für die philosophischen Seiten „Sinn & des Säugetiers Mensch versichert sich der eigenen Exis-
Verstand“ der Wochenzeitung DIE ZEIT. Ihr Buch ­ tenz durch die physische Nähe zu anderen.
„Die berührungslose Gesellschaft“ erschien 2018 bei Das ist das Urmotiv. Dann kommt hinzu, dass Berüh-
C. H. Beck rung wohltuend wirken kann. Die Wohltaten sind
in der Forschung vielfach belegt, und davon berichtet
jeder Ratgeber: Sie senkt den Stresspegel, stärkt das
Immunsystem, wirkt entzündungshemmend, nimmt
die Angst. Sie löst die Anspannung. Man könnte also
Philosophie Magazin: Frau von Thadden, das sagen, die alte Erzählung von der heilenden Kraft
Coronavirus zwingt uns zum Abstandhalten. Wa- der Hände von Jesus von Nazareth wird heute durch
rum fällt es uns eigentlich so schwer, auf körper- diese wissenschaftliche Empirie bestätigt. Und,
lichen Kontakt, körperliche Nähe zu verzichten? drittens, ist sie eine untrügliche Quelle der Erkennt-
Elisabeth von Thadden: Weil nur sie uns zweifelsfrei nis: Die alte blinde Amme des Odysseus hat den
bestätigt, lebendig zu sein. Die anderen Sinne können Heimkehrer erkannt, indem sie seine Narbe berührte.
trügen, so sagt es die Tastsinnforschung, doch Berüh-
rung täuscht nicht: Sie gibt uns die Gewissheit, nicht Nun ist Distanz ja aber etwas, das der moderne,
allein zu sein. Die Biochemie der Berührung von Haut autonome, freiheitsliebende Mensch im Grunde

40 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


nervösen Reserviertheit als einer „latenten Aversion“
gesprochen. Das ist fantastisch gut beobachtet oder
zumindest präzise geahnt: Jede der flüchtigen Berüh-
rungen unter Fremden kann ja auch in Hass und
Gewalt umschlagen. Der moderne Mensch braucht leib-
seelische „Bewegungsfreiheit“, um nicht durch
plötzliche unkontrollierbare Nähe verletzt oder verein-
nahmt zu werden. Er muss sich jederzeit entziehen
können. Das ergibt eine zwiespältige Lage: Der Stress,
der durch das Gefühl der Bedrängtheit entsteht, aus
der man entkommen will, geht mit der Angst vor Ein-
samkeit einher. Es ist eine intellektuell höchst frucht-
bare Klemme, in die das moderne Subjekt gerät.

Sie schreiben auch, dass der einzelne Mensch –


zumindest in westlichen Industrienationen – noch
nie zuvor in der Geschichte so viel Wohnraum
für sich allein hatte. Woher rührt dieses Bestreben,
sich andere Menschen, wie man so schön sagt,
von der Pelle zu halten?
Ungestört zu sein, die Tür zuzumachen, Ruhe zu
erleben: Das sind die großen Sehnsüchte der empfin-
dungsfähigen Moderne. Besonders weiblicherseits
und im Blick auf Kinderrechte heißen die modernen
Utopien, nicht länger in Duldungsstarre eine Zwangs-
gemeinschaft ertragen zu müssen mit Leuten, die
man nicht riechen kann und die einen nicht dauernd
durchaus befürwortet, wie Sie in Ihrem Buch anfassen sollen, schon gar nicht verprügeln. Die
„Die berührungslose Gesellschaft“ zeigen. Geschichte dieser Sehnsucht fängt irgendwann um
Woran machen Sie das fest? 1750 an, als der Körper beginnt, so etwas wie
Literatur, Filmkunst, Philosophie wimmeln geradezu eine separate Würde zu haben, wie es die Historike-
von Belegen, die das Rückzugsbedürfnis des Einzelnen rin Lynn Hunt darstellt. Der Soziologe Norbert
dokumentieren. Virginia Woolfs „Ein Zimmer für sich Elias datiert diese Geschichte zwar früher, aufs späte
allein“ ist der klassische Ausdruck dafür. Erst in der Mittelalter, aber unter dem Strich läuft es auf dasselbe
Distanz zu anderen ist die eigene unverwechselbare hinaus: Mehr und mehr Leute des entstehenden
Individualität spürbar, und sie ist die bis heute gültige Stadtbürgertums haben separate Schlafzimmer.
Foto: Stefanie Moshammer; Autorenfoto: privat

Währung an allen Märkten der Aufmerksamkeit, Der räumliche Abstand zwischen den Körpern geht
des emotionalen Kapitals und der Anerkennung. Ich in einer langen modernen Geschichte der Indivi­
finde immer noch unübertroffen, was der Kultur- dualisierung und des Wohlstands mit einer ebenso
philosoph Georg Simmel in seinem Essay über die modernen Idee des Rechts auf Unversehrtheit einher,
Großstadt und das Geistesleben 1903 auf den Punkt die zusammen dafür sorgen, dass die Wohnfläche pro
gebracht hat: Das Individuum will seine Eigenart Kopf wächst. Raus aus den erzwungenen Bindungen,
gegen die Übermacht der Gesellschaft bewahren, es rein in eine Wohnung, in der einen keiner mehr
muss sich abgrenzen, um sich als widerständig zu unerbeten stört: Dieser Prozess findet jetzt weltweit
spüren. Simmel hat von der modernen Haltung der statt. In China etwa stieg in den Städten, trotz

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 41


Leben / Gespräch

der massiven Zuwanderung von Wander­arbeitern, zusammen, wenn uns jemand in der U-Bahn
die Wohnfläche pro Kopf allein in den Jahren berührt. Zeigt sich hier vielleicht sogar etwas
2002 bis 2012 von 24,5 Quadratmeter auf 32,9 an. Anthropologisches?
Diese Sehnsucht nach Abstand wird nebenbei zu Absolut. Man kann keineswegs nur die Moderne da-
einem ökologischen Problemfaktor erster Güte. für in Haftung nehmen, dass eine verbreitete Angst
vor Berührung herrscht. Eher umgekehrt: Man zuckt
In der Tat ist die menschliche Berührung ja nicht in der U-Bahn aus guten Gründen bei fremder Berüh-
nur angenehm. Sie ist etwas höchst Ambiva­ rung zusammen. Das ist seit Jahrtausenden gelernt.
lentes. Zärtlichkeit und Übergriffigkeit liegen oft Denn der Mensch ist nun mal von Natur aus verlet-
gar nicht so weit auseinander, was Sie mit zungsoffen, um dieses prägnante Wort von Heinrich
Rückgriff auf Aristoteles zeigen … Popitz zu zitieren. Der Mensch hat kein Fell, er geht
Allerdings, es gibt keinen Grund, die Berührung als aufrecht, seine wichtigsten Organe sind leicht zu
bloß wohltuend zu beschwören, wie es heute in den zerstören: Die Macht des Menschen über andere liegt
Ratgebern für die Einsamen üblich ist. Aristoteles hat darin, dass er sie verletzen kann. Davon macht er
das Dilemma benannt: Menschen würden ohne Gebrauch, seit es ihn gibt. Und demgegenüber wird
Tastsinn, ohne die Gabe zu berühren, kläglich einge- in der Moderne die Idee immer stärker, dass es unmo-
hen. Aber durch exzessive Berührung, also durch ralisch ist, anderen Schmerzen zuzufügen, dass das
Gewalt, können sie ebenfalls sterben. In der körper- wirklich für alle gilt und dass es also gesellschaftlich
lichen Nähe wohnt immer auch die Machtfrage. darum geht, solchen Machtmissbrauch zu verhindern.
Man muss dafür nicht mal das Machtgefälle zwischen Ich halte das für einen beachtlichen Schritt ins Freie.
Männern und Frauen zitieren, das sich in den #Me-
Too-Dis-kursen zeigt, es reicht ja, sich die Hand- Im Grundgesetz ist von der „Unantastbarkeit
schlags-Ringkämpfe zwischen den Präsidenten der Menschenwürde“ die Rede. Interessant ist
Macron und Trump vor Augen zu führen, um zu wissen, die Formulierung, denn das Gebot der
dass über Berührung auch geklärt wird, wer der Stär­- leiblichen ­Distanz schwingt mit. Ein Berühungs-
kere ist. Macht ist immer im Spiel: Die Sehnsucht nach verbot nachgerade …
Nähe und die Angst vor unfreiwilliger Nähe und Über- Unantastbar: Das ist nach der unvergleichlichen
griffigkeit bilden ein geradezu unzertrennliches Paar. ­Geschichte staatlicher Gewalt im Nationalsozialismus
ein gut gewählter Ausdruck für den Respekt, den
Liegt ein Grund für das moderne Begehren nach eben nicht nur die öffentliche Person, sondern auch
Distanz darin, dass wir mit dieser Zwiespältigkeit der menschliche Körper verdient. Die Unantastbar-
nicht gut klarkommen? keitsidee ist eine so fragile wie kostbare Errungen-
Interessant, ja, das denke ich tatsächlich. Den Zwie- schaft wie auch der Gedanke, dass die Verletzung
spalt auszutarieren, ist anstrengend, die drohende ­anderer vermeidbar ist. Das bedeutet in der Tat, ­Dis­-
Gewalt, auch der Ekel wirken übermächtig, also tanz halten zu müssen. Aus diesem Gedanken he­r­-
bringt man sich, geradezu simmelsch, lieber präventiv
auf Abstand. Die Erfahrung von Gewalt ist einfach
die bestimmende historische Realität für die Mehrzahl
der Menschen gewesen, und sie ist es vielerorts noch. Die Erfahrung, Nahbarkeit
Dies ist der Hintergrund, vor dem sich der Satz der
Lyrikerin Ingeborg Bachmann erschließt: „Abstand – angstfrei genießen zu
oder ich morde!“ Da spricht der posttotalitäre Not-
wehrmodus. Ich glaube, die Erfahrung, freiwillige ­können, ist historisch noch
Nahbarkeit genießen zu können und also angstlos in
den Zwiespalt zu gehen, von dem Sie sprechen, ist
viel zu jung und viel zu
historisch noch viel zu jung und auch zu selten, um
ihr wirklich zu trauen. Den Zwiespalt zu genießen,
­selten, um ihr zu vertrauen
ist ja erst möglich, wenn man sich vor Machtmiss-
brauch geschützt weiß. Politisch sollte der Weg indes
eben dorthin führen: in die rechtliche und normative aus wird eines spätmodernen Tages die Vergewalti-
Gestaltung von Sphären freiwilliger Nahbarkeit. gung in der Ehe verboten und die Prügelstrafe gesetz-
lich geächtet. Mit diesem Projekt, die Menschen­­-
Elias Canetti beschreibt in seinem Werk „Masse würde auch physisch als unantastbar zu betrachten,
und Macht“ die menschliche „Berührungsfurcht“ sind wir noch auf hoher See unterwegs. Die Wette
gegenüber Fremdem. Tatsächlich zucken wir sieht wieder ziemlich offen aus.

42 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


die wir jetzt durch staatliche Verordnung allein lassen
sollen, weil wir wissen, dass die physische Nähe für sie
wirklich gefährlich sein kann. Die ersehnte Nähe kann
töten. Mich erinnert diese Zerreißprobe ein wenig an
die Situation der Müttersterblichkeit, die in Europa
noch nicht lange überwunden ist: Jede Frau wusste,
dass Schwangerschaft tödlich sein kann, und durch ihr
sexuelles Begehren, durch die körperliche Nähe, die
Zeugung des Kindes brachte sie sich selbst potenziell
in Lebensgefahr. Ich kann mir aber heute – nach
der ersten Phase notwendiger Kontaktarmut – keinen
anderen Weg als den der freiwilligen Nahbarkeit
vorstellen. Ganz konkret: Es ist undenkbar, dass Men-
schen ihren alten Angehörigen beim Sterben nicht
physisch nah sein dürfen, Ansteckung hin oder her.
Der Staat hat kein Recht, diese Nähe zu unterbinden.

Wenn Sie sagen, dass die erzwungene Distanz-


nahme uns wieder spüren lässt, wie wichtig,
ja fundamental Berührung und Nähe sind: Sehen
Sie insofern auch die Chance eines nachhal­-
tigen Erkenntnisgewinns?
Ja. Das befristete Experiment, das wir als Gesellschaft
jetzt am eigenen Leibe vornehmen, wird uns tief
prägen. Es trifft ins Mark unserer modernen Körper-
geschichte, die sich zur Freiwilligkeit hin bewegt hat.
Dieses Experiment bedeutet ja durchaus einen körper-
lichen Zwang, wenngleich nur als kollektiver Selbst-
zwang. Durch Zwang, auf planwirtschaftlichem Wege
und durch ein fortgesetztes Kontrollbegehren wird
lebendige Nahbarkeit eingefroren. Das spürt gegen-
wärtig jeder, der sich mit aller Kraft disziplinieren
muss, auf Nähe zu verzichten, und stattdessen auf
Bildschirmen herumwischt.

Was meinen Sie damit? Da wir einander gerade (von wenigen Ausnahmen
Meine Sorge ist, dass die Menschenrechte vollends abgesehen) nicht berühren dürfen – gibt es
zur zivilreligiösen Folklore verkommen. Schöne ­etwas, das Sie stattdessen empfehlen würden?
­Ideen, aber rechtlich nicht einklagbar, politisch nicht Musik. Sie zu hören, bringt ähnliche Reize hervor
umsetzbar, und in den altmännlich geprägten Auto- wie die körperliche Berührung. Nicht umsonst weiß
kratien und Oligarchien auch wirklich nicht vorn auf die Redensart, dass Musik unter die Haut geht. Und
der Agenda. Die häusliche Gewalt bleibt weltweit Singen hilft: Es setzt, ähnlich wie angenehme Berüh-
ein Skandal ersten Ranges, zumal wenn die Leute auf rungen, das Zauberhormon Oxytocin frei. Aber auch
engem Raum eingesperrt sind. die Wirkung der gesprochenen menschlichen Stimme,
das bestätigt jede erfahrene Telefonseelsorgerin, kann
Gerade erleben wir auf dramatische Weise, dass Angst lösen und den Atem ruhiger gehen lassen.
Berührung nicht nur übergriffig oder entwürdi- Der Klang der Stimme wirkt berührend: Den alten
gend oder einengend, sondern in einem medizini- Großeltern in der Ferne kann man am Telefon fast so
schen Sinne gefährlich sein kann. Werden sich gut vorlesen wie den Kindern beim leibhaftigen Ein-
dadurch moderne Berührungsängste verstärken? schlafen. Sogar Blicke wirken ähnlich: Auch in ihnen
Ich vermute, nicht die Angst allein, sondern das wird eine Wechselbeziehung zwischen Lebewesen
bewusste Dilemma wird sich verstärken: In der gegen- gestiftet, die physisch spürbar ist. Und vielleicht ge-
Foto: Sian Davey

wärtigen Kontaktarmut ist das vitale Bedürfnis nach lingt es, sich innerlich zu öffnen, um mitten im unfrei-
Nähe umso stärker zu spüren, etwa zu besonders willigen Abstand jene vitale Sehnsucht neu zu spüren:
verletzlichen und nähebedürftigen älteren Menschen, einem anderen nah und selbst nahbar zu sein. /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 43


Leben / Kolumne

Unter uns
Alltag neu denken
mit Wolfram Eilenberger
Folge 5: Die Sache mit den Passwörtern
Ständig müssen wir uns symbolisch
selbst verschlüsseln. Doch dafür fehlt
uns buchstäblich die Sprache
Illustrationen von Joni Majer

Vermutlich geht es Ihnen rung all dessen dar, was die Macht des Benennens uns allen ge-
ähnlich. Jedes Mal, wenn das währen und sichern soll. Er ist die ultimative Form semiotischer
sogenannte Internet mich Selbstisolierung. Das jeweils ganz privat ausgestellte Armuts-
dazu auffordert, einen frisch zeugnis des Menschen als „animal symbolicum“.
erworbenen Zugang per Dementsprechend verkümmert nimmt sich die diesbezüg­liche
Passwort zu sichern, stockt Fantasie aus. Nicht einmal bis zum eigenen Geburtsda­tum
der Atem. Einerseits be­- bringt es die deprimierte Bildschirmmehrheit zeitgenössischer
rauscht durch die unendliche Selbstcodierer. Nein, noch immer rangiert laut Erhebungen
Weite des nun Möglichen, stattdessen das totalitär verstümmelte „123456“ als unangefoch-
andererseits beengt durch die tener Spitzenreiter des Genres. Im Bereich des reinen Wor­tes
allzu offenbaren Grenzen des eigenen Erinnerungsver­ nur knapp gefolgt von der Zeichenfolge „hallo“ – als Äußerung
mögens, hält der Geist inne – und gewinnt so einen Moment bekanntlich eine Art Grußembryo –, die zunächst nicht mehr
möglicher Selbsterkenntnis. als die nackte Existenz in Raum und Zeit indiziert.
Wie wählen? Sich benennen? Per Titel des Lieblingsromans Mit allzu menschlicher Gedächtnisschwäche lässt sich solch
samt Publikationsjahr? Der Fußballklub des Herzens – als existenzielle Sorglosigkeit kaum ausreichend erklären. Viel
Anagramm? Die favorisierte Frucht der Liebsten plus Hoch- eher durch die unserem Geiste unauslöschlich eingebrannte
zeitstag? Welche kostbare Zeichenfolge soll mir – und niemandem wahre Funktion des Benennens: der öffnenden Stiftung
sonst! – den Zugang sichern? Verschlüssle dich selbst! Kei­- eines gemeinsam geteilten Zugangs zu allen Dingen dieser Welt.
ne leichte Angelegenheit. Und keine metaphysisch unschuldige. Wie wohl das geheime Passwort zu einer Wirklichkeit lau­-
Wir erinnern uns: In einer Zeit vor aller Zeit war es Gott tete, die keiner geizigen Passwörter mehr bedürfte? Lassen Sie
allein, der den Dingen ihren Namen und damit ihr Wesen gab. Ihrer Fantasie (und Erinnerung) freien Lauf! Nie war die
Und dies nicht mit dem Ziel exklusiver Verschlüsslung des Welt- Bildschirmzeit dafür passender als gerade jetzt. /
zugangs, sondern jenem der generösen Öffnung und Offenba-
rung. Denn Sein, das verstanden und erschlossen werden kann,
ist benanntes Sein. Irgendwann – es war der Beginn aller Kultur – der Zauberer. Das große
Jahrzehnt der Philoso­­-
ermächtigte sich der Mensch selbst zum Nennenden. Was
Autorenfoto: Annette Hauschild/OSTKREUZ

phie 1919–1929“
sich bis heute nirgendwo schöner zeigt als im Ritual der Taufe. (Klett-Cotta) landete
Also einem Akt, der sich darin findet, anderen einen Namen er 2018 einen internatio-
nalen Bestseller.
zu geben, auf dass man sich fortan liebend und sorgend aufein-
Eilenberger moderiert
ander beziehen möge. Wozu sonst sollte Sprache gut und ge- zudem die „Sternstunde
schaffen sein? Etwa zur angstgetriebenen Verbarrikadierung vor Wolfram Eilenberger Philosophie“ im
Der promovierte Schweizer Fernsehen
anderen? Zur ewig geizigen Bewachung des exklusiv Eigenen?
Philosoph und Publizist und war bis 2017
Recht erfasst, stellt der Akt der eigenmächtigen Passwortbe- ist Autor zahlreicher Chefredakteur des
stimmung damit die nur noch teuflisch zu nennende Verkeh- Sachbücher. Mit „Zeit Philosophie Magazins

44 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


edition brand eins 3. Jahrgang Heft 8 April – Juni 2020 Euro 15 CHF 19

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Die neue Ausgabe der edition brand eins ist da:


mit Anregungen zum Neumachen, Andersmachen und Bessermachen.
Dossier

Kollapsologie –
Sind wir bereit für eine
neue Zeit?
48 Intro
Raus aus der Resignation
Von Svenja Flaßpöhler

50 Meine Hoffnung
Drei Menschen erzählen von ihrem
Umgang mit drohenden Katastrophen

54 Reportage
Warten auf den Kollaps?
Porträt einer neuen ­Denkbewegung
Von Jana C. Glaese

62 Interview
Pandemien sind ein Glied

Wie kommen wir vom Wissen zum
Handeln, Herr Morton?
in einer Ereigniskette, die in
Plädoyer
naher Zukunft zum Zusam- 64
Die neue Normalität
menbruch f­ ührt: So behaup- Essay von Nils Markwardt

tet eine neue Bewegung


namens Kollapsologie.
Wie leben, wenn es die Welt,
wie wir sie kennen, nicht
mehr geben wird? Und wie
denken wir das Danach?
Foto: Benjakon

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 47


Dossier Kollapsologie

Von Svenja Flaßpöhler

Es ist
unsichtbar.
Es ist winzig. Es verbreitet sich exponentiell. Binnen mehr 75 Jahren im Großen und Ganzen stabil,
weniger Wochen hat das Coronavirus die ganze erleben wir jetzt hautnah ihre Fragilität und die
Welt lahmgelegt. Das öffentliche Leben: tot. Die Grenzen der eigenen Handlungsmacht. Menschen
Produktion: heruntergefahren auf absolute System- sterben, können aufgrund zu geringer Kapazitäten
relevanz. Die Zukunft: radikal offen. Damit hat uns nicht mehr versorgt werden. Hatten wir den Tod
ein Szenario ereilt, das sich bis vor ein paar Monaten weitgehend erfolgreich aus dem gesellschaftlichen
kaum jemand vorstellen konnte. Oder wollte. Ja, es Leben verdrängt, ist er jetzt zurückgekehrt. Und
ist, als würde sich eine neue Realität über das schie- bisweilen wirken die täglichen „Fallzahlen“ und
ben, was wir lange für die Wirklichkeit hielten. In Statistiken wie eine Art Abwehrzauber gegen etwas,
dieser Wirklichkeit, die es so nie wieder geben wird, das wir immer noch nicht ganz verstehen und das
war nicht alles perfekt, aber sie funktionierte. Ir- sich unserer Verfügungsgewalt entzieht.
gendwie. Zumindest auf Sichtweite. Es wurde gear- Womit sich eine entscheidende Frage mit aller
beitet, das Wachstum angekurbelt, zwischendurch Macht aufdrängt: Ob es nämlich womöglich an der
meldete sich Greta Thunberg zu Wort, mahnend, Zeit ist, ganz anders in die Zukunft zu blicken als
anklagend, dass es so nicht weitergehe. Dann wur- bisher  – nämlich schlichtweg realistischer. So ge-
den neue Klimaziele vereinbart, die den Kapitalis- hen auch Klimaaktivistinnen noch davon aus, dass
mus und den aus ihm resultierenden Wohlstand die Katastrophe abgewendet werden kann, wenn –
nicht ernsthaft gefährden, und es ging wieder weiter. hier und jetzt – ganz schnell gehandelt wird. Aber
Damit ist es jetzt vorbei. Es wird nie wieder ge- wäre es nicht durchaus vorstellbar, dass Klimawan-
nau so weitergehen wie vorher. Zwar mag es sein, del und Coronakrise nur Glieder in einer Kette von
dass die Luft über Peking in einigen Monaten wieder Ereignissen sind, die sich gegenseitig verstärken
ebenso verpestet sein wird wie vor der Coronakrise. und der Welt, so wie wir sie kannten, ein jähes und
Dass die Menschen, wie freigelassene Gefangene, in unwiederbringliches Ende setzen werden?
kürzester Zeit all das nachholen, was sie während der
Krise verpasst haben. Doch die globalisierte, mobile
Welt kennt jetzt ein Ereignis, das aus ihrer eigenen Letzter Weckruf
innersten Logik der Vernetzung heraus resultiert
und die Kraft hat, von jetzt auf gleich den Stecker zu Genau dieser Ansicht sind die Vertreter der soge-
ziehen. Sein Name: Pandemie. Eine flächendecken- nannten Kollapsologie  – eine neue Denkbewegung
de, weltumspannende Infektionskrankheit, die in ih- aus Frankreich, die hierzulande noch kaum bekannt
rer unmittelbaren Wucht alle Krisen der vergange- ist, aber durch die jüngsten Ereignisse eine nähere
nen Jahre und selbst die Klimakatastrophe, die Betrachtung dringend verdient (vgl. die Reportage
zumindest hier noch eher beschworen als wirklich von Jana Glaese, S. 54). „Wie alles zusammenbre-
konkret lebensbedrohlich erlebt wird, übersteigt. chen kann“ lautet übersetzt der Titel des Buches von
Diese Erfahrung ist ein Bruch. Sie verändert die Pablo Servigne und Raphael Stevens, das 2015 in
Wahrnehmung der Welt um uns herum grundle- Frankreich binnen kürzester Zeit zum Bestseller
gend. War diese  – zumindest für die Wohlstands- avancierte und vor dem Hintergrund zahlloser Be-
kinder der westlichen Industrienationen – seit nun- rechnungen den „Zusammenbruch der thermo-­

48 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Wie können wir,
wenn wir früh g ­ enug
­reagieren, den
­Über­gang in seiner
Wucht abfedern?

industriellen Zivilisation“ voraussagt. Pandemien, können, sodass sich am Ende gar der angekündigte
verbunden mit dem Klimawandel und den politi- Kollaps als große Transformation offenbaren könnte
schen Ereignissen, so die Autoren, führen zu einer (vgl. den Essay von Nils Markwardt, S. 64).
spiralförmigen, irreversiblen Zuspitzung, an deren Genau hier, an diesem Punkt, entpuppt sich die
Ende der totale Kollaps steht. Die zutiefst beunruhi- Coronakrise als letzter Weckruf: Zeigt sie uns doch
gende Pointe dieser Vorhersage ist: Wir stecken be- hautnah, dass ein schlichtes Fortsetzen der hochtou-
reits unwiederbringlich drin in dieser Entwicklung. rigen, profitorientierten Globalisierung, die zum
Was uns einzig bleibt, ist, uns auf sie vorzubereiten Beispiel überlebensnotwendige medizinische Aus-
anstatt so zu tun, als wäre es immer noch 5 vor 12 rüstung den Gesetzen des Marktes überlässt und
(vgl. hierzu die Strecke „Meine Hoffnung“, S. 50). outsourct, regelrechter Selbstmord wäre. So fordert
Der kollapsologische Perspektivwechsel ist dra- der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in seiner
matisch. Und, so möchte man meinen, in höchstem Reaktion auf die Krise ein sofortiges „Umdenken“
Maß deprimierend. Bleibt also nur noch Resignati- und vergleicht den Corona-Einschlag ins neolibera-
on? Kann sich die Welt bloß auf das Ende vorberei- le Wirtschaftssystem mit der „Fünf-Punkte-Pres-
ten wie ein vom Krebs befallener Organismus, dem sur-Herzexplosionstechnik“ aus Quentin Tarantinos
keine Therapie mehr zu helfen vermag? Auch wenn Film „Kill Bill“: Wer von einem solchen Schlag ge-
die Kollapsologen selbst diese Konsequenz durch- troffen wird, überlebt, solange er still stehen bleibt.
aus nahelegen, ist sie keineswegs zwingend. Denn Sobald man fünf Schritte geht (übertragen auf unse-
Foto: Olivia Arthur/Magnum Photos/Agentur Focus

kein wie auch immer gearteter Kollaps, dessen ge- re Situation: weitermacht wie bisher), tritt unwie-
naue Gestalt erst noch zu ermitteln wäre, bedeutet derbringlich der Tod ein.
das Ende der Welt. Weder geht der Planet Erde Nein, wir leben nicht mehr in der besten aller
durch eine Verkettung von einzelnen Katastrophen möglichen Welten; sofern wir überhaupt je in ihr
unter noch ist das Aussterben der Menschheit die gelebt haben. Wir leben in einer Welt, deren Funk-
notwendige Folge. Und so stellt sich die Frage, in tionsgesetze zum Teil nicht mehr zukunftstauglich
welche neue Welt der vorhergesagte Zusammen- sind, was wir im Grunde längst wissen. Höchste Zeit
bruch uns entlässt. Beziehungsweise wie wir, wenn also, vom bloßen Wissen endlich auch ins Handeln
wir früh genug reagieren, den Übergang in das Da- zu kommen (vgl. Interview mit Timothy Morton,
nach mitgestalten und in seiner Wucht abfedern S. 62). Es könnte die letzte Chance sein. /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 49


Dossier Kollapsologie

Meine Hoffnung
Im Angesicht drohender Katastrophen reagieren
Menschen fundamental unterschiedlich.
Drei Menschen erzählen von Vorbereitung, Flucht
und Gegenwehr
Kommentar von Florian Werner

Die Furcht, dass es zu einem Kollaps der kosmi- durch Wassermassen, durch eine Pandemie oder einen
schen Ordnung kommen und die menschliche Zivi- Atomkrieg, wäre eine anthropologische Konstante.
lisation zurück ins Chaos kippen könnte, ist alt. Andererseits erscheint der Albtraum vom Welt­
Schon das vor mehr als 3000  Jahren entstandene ende derzeit begründeter denn je − und die Einsicht,
Gilgamesch-Epos berichtet von einer gewaltigen dass andere Menschen ihn auch schon einmal ähnlich
Flut, die einen Großteil der Menschheit und des na- geträumt haben, macht ihn kaum weniger beängsti-
Florian Werner türlichen Lebens vernichtet. Nur ein Mann namens gend. „Der kritische Eifer, der dazu antreibt, überall
ist Schriftsteller und
Utnapischtim erfährt rechtzeitig von den zerstöreri- Vorgänger, Kontinuitäten und Wiederholungen wie-
promovierter Literatur-
wissenschaftler. Seine schen Plänen der Götter, baut sein Haus zu einer derzuerkennen, vermag uns zu selbstmörderischen
Sachbücher wurden Arche um und kann so sich und seine Frau sowie Traumwandlern zu machen, die blind und taub neben
mehrfach ausgezeich- „aller Lebewesen Samen“ bewahren. Der altorienta- dem Unerhörten stehen“, warnt ­ Jacques Derrida.
net. Zuletzt erschien von
ihm „Auf Wanderschaft.
lische Sintflut-Mythos fand Eingang ins Alte Testa- „Man kann genauso sterben, nachdem man sein Le-
Ein Streifzug durch ment und gehört zu den populärsten biblischen Ge- ben damit verbracht hat, als hellsichtiger Historiker
Natur und Sprache“ schichten; selbst Grundschulkinder dürften mit der zu erkennen, in welchem Ausmaß all das nicht neu
(Duden, 2019)
kollapsologischen Urerzählung vertraut sein. Heute, ist.“ Anders gesagt: Nur weil die Menschheit unter
im Zeitalter des Anthropozän, ist er von erschre- chronischer Apokalypsie leidet, bedeutet das keines-
ckender Aktualität: Angesichts stetig steigender wegs, dass die Welt nicht trotzdem untergehen könn-
Temperaturen und Meeresspiegel wirkt die Ge- te. Gut möglich, dass wir aus dem vermeintlichen
schichte geradezu prophetisch. Traum aufschrecken und erkennen: Wir waren die
Nun könnte man die Haltbarkeit solcher Mythen ganze Zeit wach. Dieses Mal ist es viel ernster.
als Indiz dafür werten, dass die darin formulierten Martin Mollay, Dietrich Lasa und Lu Yen Roloff,
Ängste nicht ernst zu nehmen sind – schließlich waren die im Folgenden zu Wort kommen, gehören ver-
sie ja, zumindest bislang, unbegründet. „Wie sollen wir schiedenen Generationen an und kennen entspre-
diejenigen, die das Ende der Welt kommen sehen, da- chend ganz unterschiedliche apokalyptische Ängste.
Foto: Peter Rigaud; Autorenfoto: Carolin Saage

von überzeugen, dass andere (…) es auch schon gese- Sie leben drei Strategien vor, wie man mit einem
hen haben, und das in jeder Generation?“, fragt der drohenden Zusammenbruch der gesellschaftlichen,
Schriftsteller und Philosoph Umberto Eco: „Dass es politischen und ökologischen Ordnung umgehen
sich um eine Art wiederkehrenden Traum handelt, wie kann: Der eine setzt auf Resilienz. Der Zweite auf
zum Beispiel davon, dass uns die Zähne ausfallen oder Flucht. Die Dritte schließlich will den Kollaps ver-
wir nackt auf der Straße stehen? Nein, wird man ant- hindern.
worten, dieses Mal ist es viel ernster.“ Die Menschheit
ist also vielleicht einfach in endzeitliche Narrative ver-
narrt; die Angstlust vor einem Kollaps, sei er verursacht

50 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Kommentar Florian Werner

Ballast
abwerfen
Ein Zusammenbruch der staatlichen
und gesellschaftlichen Ordnung – so ei-
ne verbreitete Einschätzung, die auch
Martin Mollay vertritt – zwingt den
Menschen aus seiner kulturellen Kom-
fortzone und bringt sein wahres
We­sen ans Licht. Nur: Wie mag dieses
Wesen beschaffen sein? Mollay ist
da unentschieden. Der Verweis auf sei-
ne für den Krisenfall vorhandenen
militärischen Fertigkeiten legt nahe, dass
er es eher mit Thomas Hobbes hält
und den Menschen im Naturzustand als
einen individualistischen Wolf sieht.
Die Aussage, dass sich erst in der Wild-
Martin Mollay wappnet sich für das Ende nis der zivilisatorische Ballast abwer­fen
der Zivilisation lasse, erinnert hingegen an Jean-Jacques
Rousseau und dessen Wider­willen ge-
gen kulturelle und pädagogische Über-
„Als Survival-Coach und Prepper bin formung: Der Mensch, der nachdenkt,
so der Philosoph, sei ein „entartetes
ich auf den Kollaps vorbereitet“ Tier“. Das Obststadt-Projekt, das
Mollay abschließend erwähnt, scheint
„Ich beobachte, dass das Wetter immer muss man sich auch verteidigen können. diese beiden Pole – Kultur und Na­-
extremer wird. Die Stürme werden stär- Durch meine Erfahrung beim österrei­ tur, Stadt und Land – versöhnen und
ker. Bäume fallen um, die bisher standge- chischen Bundesheer beherrsche ich die dadurch den ontologischen Nagel­-
halten haben. Zudem ist unser Strom­netz nötigen Kampftechniken. Viele Men­- test überflüssig machen zu wollen. Zu-
fragil, es könnte zu längeren Ausfällen schen sind durch den ständigen Komfort gleich erinnert es an den berühmten
kommen. Im Falle eines Kollapses bin ich geistig und körperlich träge. Ihr Leben kollapsologischen Wahlspruch des Re-
als Survival-Coach und Prepper aber scheint in Ordnung, dennoch sind sie un- formators Martin Luther: „Auch wenn
vorbereitet: Mein Haushalt ist energie- zufrieden. Ein Kollaps könnte somit ich wüsste, dass morgen die Welt zu-
autark, ich habe einen Schutzraum auch positive Folgen haben, denn Extrem- grunde geht, würde ich heute noch einen
und einen Lebensmittelvorrat. Außerdem situationen führen zur Selbsterkenntnis. Apfelbaum pflanzen.“
beherrsche ich überlebenswichtige Fä- In der Wildnis wird man mit seinen elemen-
higkeiten, kann mich etwa draußen orien- tarsten Bedürfnissen konfrontiert, vie­-
tieren und mit einfachsten Mitteln Feuer les andere relativiert sich. Trotzdem wäre
machen. Die Natur stellt uns im Grunde al- es natürlich besser, gemeinsam grö­-
les bereit: Luft, Wärme, Wasser und ßere Katas­trophen zu verhindern. Einen
Nahrung. Überlebenstraining bedeutet für Schritt in die richtige Richtung will ich
mich vor allem, diese Fülle zu erkennen mit der „Obststadt“ machen, einem Ge-
und in Harmonie mit meiner Umwelt zu le- meinschaftsgarten, den ich selbst an­
ben. Wird man allerdings angegriffen, gelegt habe. Jeder kann mitarbeiten oder
auch einfach nur ernten. Ein respekt­-
voller Umgang mit Mitmenschen und
Natur – darum geht es.“

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 51


Dossier Kollapsologie
Kommentar Florian Werner

Lehre der
Gelassenheit
Dietrich Lasas Geschichte zeigt, dass
auch Weltuntergangsängste kon­
junkturellen Schwankungen unterwor-
fen sind: Die Furcht vor einem
Atomkrieg, die vor einer Generation
angesichts des nuklearen Wettrüs­-
tens noch plausibel und ­real erscheinen
musste, ist mittlerweile von akute­-
ren Szenarien wie der Erderwärmung
und der Coronapandemie ver­-
drängt worden. Allerdings gab es für
Lasa während des Kalten Krieges
noch einen Ort der Hoffnung und des
Überlebens, ähnlich der Arche im
Sintflut-­Mythos oder dem Neuen Je-
rusalem in der Johannes-Offenba-
rung. Ein solches Refugium existiert
heute, im Zeitalter des Pyrozän, Dietrich Lasa wanderte aus Angst vor einem
nicht mehr: Von den verheerenden Atomkrieg nach Australien aus
Bränden des vergangenen Jahres
ist, wie wir wissen, besonders Australi-
en betroffen. Dietrich Lasa setzt „Ich habe keine Angst mehr übrig
dieser Situation eine an fernöstliche
Lehren und Lebenspraktiken ge­ für noch einen Weltuntergang“
mahnende Gelassenheit entgegen, ei-
ne Konzentration auf das Da-Sein „Die Bedrohung eines Atomkriegs war ne verfütterte, und unsere Bleibe war eine
im Augenblick. Seine tröstliche Ein- mir Anfang der 1980er-Jahre in Deutsch- Hütte ohne Fenster. Dennoch hat mich
sicht: Auch die Angst vor dem Kol­- land extrem präsent. Irgendwann fühlte diese entbehrungsreiche Zeit die Lektion
laps ist nur eine begrenzte Ressource. ich mich so unsicher, dass ich trotz eines gelehrt, dass der Moment wichtiger ist
Engagements als Geiger beschloss, mit als der Gedanke an das Morgen, denn oh-
meiner Familie über Neukaledonien nach ne Geld kann man keine Pläne machen.
Australien auszuwandern. So verkaufte Deshalb dachte ich viel weniger an die Zu-
ich mein Instrument, um unsere Flüge zu kunft und die dort eventuell eintrete­n-­
finanzieren und los ging es. Als wir je­- den Katastrophen. So verschwand die
doch an unserem Zwischenstopp ankamen, Angst größtenteils. Heute führe ich ei­-
geriet ich vom Regen in die Trau­fe: In nen gut laufenden Geigenladen in der Stadt
Fotos: Rhett Hammerton; Heinrich Holtgreve/Ostkreuz

Neukaledonien brachen im Zuge von Un- Bristol, lebe allerdings immer noch nach
abhängigkeitsbestrebungen gegenüber diesem Motto: ‚Lebe im Jetzt! Das Morgen
Frankreich gewalttätige Unruhen aus und macht dir nur Kummer.‘ Was die Busch-
man sah viele Menschen mit Maschi­ brände in Australien in den vergangenen
nengewehren auf den Straßen. Als wir Monaten angeht: Ich hatte in meinem
durch die Hilfe von Familie und Freun­- Leben schon so viel Angst, dass für ein
den weiter nach Australien reisen konn- weiteres Ende der Welt einfach keine
ten, ging uns langsam das Geld aus mehr übrig ist.“
und wir lebten einige Monate am Existenz-
minimum. Zu essen gab es lediglich
Weizen, den man eigentlich nur an Schwei-
52 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020
Kommentar Florian Werner

Zur Wahrheit
stehen
Angesichts der brandaktuellen ökologi-
schen Katastrophen benutzt Lu Yen
Roloff ein zweieinhalb Jahrtausende al-
tes rhetorisches Register, das der
apokalyptischen Rede. Apokalypse be-
deutet „Enthüllung“, meint also die
Offenbarung einer unbequemen Wahr-
heit – um nichts weniger geht es den
AktivistInnen von Extinction Rebellion.
Ihre Offenbarungen sind, um es mit
einer Formulierung des Kulturtheore-
tikers Hartmut Böhme zu sagen,
„der Arbitrarität und Konventionalität
der Sprache entzogen. Die Sprach­
zeichen sind die Gegenwart des Wesens
der Sache, dessen also, ‚was gesche­-
hen muss‘.“ Es sei denn, die Adressaten
Lu Yen Roloff ist Aktivistin bei ­Extinction dieser Rede ließen sich doch zum
Rebellion Umdenken bewegen. Ein Mittel, um
dies zu erreichen, ist für Roloff der
zivile Ungehorsam: eine Strategie, die
„Wenn wir nicht handeln, kämpfen wir der amerikanische Transzendentalist
Henry David Thoreau in seinem Essay
schon bald um Grundnahrungsmittel“ „On the Duty of Civil Disobedience“
entwarf. Wenn das eigene moralische
„Wir befinden uns mitten im sechsten dem Menschen und Planet mehr zählen Empfinden mit den Gesetzen kolli­
Massenaussterben der Arten und einer als der Profit. Wir werden als ‚radikal‘ be- diere, dann, so der Philosoph, müsse
Klimakatastrophe, die weltweit Men- zeichnet, aber was wir fordern, ist nur man als Bürgerin oder Bürger auf
schenleben kostet – und doch wirtschaf- konsequent: etwa, die CO2-Emissionen sein Gewissen hören. Mit anderen Wor-
ten wir unseren Planeten weiter zu bis 2025 auf netto null zu senken. ten: Wenn man vor dem Kollaps we­-
Tode. Das weiß ich seit meiner Arbeit bei Diese Zahl basiert auf dem Pariser Ab- der davonlaufen noch sich gegen seine
Greenpeace, inzwischen engagiere kommen, das völkerrechtlich verein­- Folgen wappnen kann oder will –
ich mich deswegen bei Extinction Rebel­ bart ist. Wir fordern nur, dass unsere Poli- dann muss man ihn mit allen zur Ver-
lion. Unser Ziel ist es, die Wahrheit in tiker einhalten, was sie zugesagt haben. fügung stehenden Mitteln verhindern.
die Köpfe der Menschen zu bringen: Wenn Unrealistisch? Es ist schlicht notwendig,
wir so weitermachen wie bisher, könn­- wenn wir den Klimakollaps verhindern
te es auch in Europa schon in der Mitte wollen. Um Druck aufzubauen, gehen wir
dieses Jahrhunderts zu Kämpfen um in den zivilen Ungehorsam und fordern
Grundnahrungsmittel kommen und die BürgerInnenversammlungen. Beides sind
Erde sich irreversibel so stark erhi­t- Korrektive für mehr Demokratie – denn
­zen, dass die Menschheit im 22. Jahrhun- unsere jetzigen Regeln reichen nicht
dert vom Aussterben bedroht ist. Deswe- mehr aus, um die Menschheit zu schützen.
gen müssen wir jetzt fundamental um- Wir brauchen neue Regeln. Und die kön-
steuern. Wir müssen uns vom nen wir nur gemeinsam schaffen.“
Wachstumsprimat in der Wirtschaft ver-
abschieden und ein System schaffen, in

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 53


Warten auf den Kollaps?
Dossier Kollapsologie

Eine Bewegung aus­


­Frankreich bereitet sich auf
den Zivilisationszusammen-
bruch vor. Ihre Anhänger
nennen sich Kollapsologen.
Den Kollaps zu berechnen,
um gewappnet zu sein, ist
ihr Anspruch. Wie plausibel
sind die Prognosen? Und
wie hilfreich für die Zukunft?
Von Jana C. Glaese /
Mitarbeit Alexandre Lacroix /
Illustrationen von Tina Berning

„Schwerwiegende und irreversible systematische Schocks


könnten sehr wohl bereits morgen auftreten“, schreiben die
Namensgeber der Bewegung, Pablo Servigne und Raphaël Ste-
vens. Der Zeitpunkt eines Zusammenbruchs im großen Maß-
stab, heißt es weiter, scheine viel näher zu sein, als man sich das
Jana C. Glaese
ist Soziologin. Sie normalerweise vorstelle. Die Coronapandemie kommt für die
studierte in Maastricht Kollapsologen vermutlich kaum überraschend. Sie zeigt, wie
Autorinnenfoto: privat

und Cambridge und anfällig unsere Gesellschaft längst ist.


promoviert derzeit an
der New York University
Servignes und Stevens’ Buch „Wie alles zusammenbrechen
kann“ (auf Französisch 2015 bei Seuil erschienen) wurde ein
Bestseller. Im Gegensatz zu Fridays for Future fordern die

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 55


Dossier Kollapsologie

Autoren nicht dazu auf zu handeln, „­ bevor es zu spät ist“. Das ist
es für sie längst. Prominentester politischer Vertreter der Kol-
lapsologie ist Yves Cochet, ehemaliger Umweltminister und
Mitglied der französischen Grünen, der sich in der Bretagne auf
den Zusammenbruch vorbereitet. „Wir müssen uns eine Welt
ohne Autos, ohne Flugzeuge, wahrscheinlich auch ohne Elektri-
zität und damit ohne Internet vorstellen“, sagte er kürzlich in
einem Interview. „Es werden sehr schlichte Gesellschaften sein.“
Die Angst vor der Zukunft hat uns wieder im Griff wie wahr-
scheinlich seit Zeiten des atomaren Wettrüstens nicht mehr.
Damals drohte ein Knopfdruck Hunderttausende von Leben
auszulöschen. Die derzeitigen ökologischen Bedrohungen mö-
gen vergleichsweise unkonkret sein  – doch sie rücken näher,
werden greifbar. Und führt uns die Coronakrise nicht vor Au-
gen, wie schnell sich unser Leben radikal ändern kann und Sys- zerne und Finanzmärkte hängt. Ihr Ende zeichnet die Kollap-
teme kollabieren? Die Kollapsologie ist insofern, könnte man sologie als eine Spirale von vielen, verschiedenen Krisen – also
meinen, die Bewegung der Stunde. Höchste Zeit also, sie genau- vom Kollaps im Plural. Die Rede ist von einer „Verkettung ka-
er unter die Lupe zu nehmen. Wie genau sieht der Kollaps aus, tastrophaler, punktueller Ereignisse“ wie Pandemien, Dürren
den sie prognostiziert? Handelt es sich um eine realistische Ein- und politischen Schocks, gepaart mit „voranschreitenden, nicht
schätzung oder um gefährliche Spekulation? Und wie ließe sich weniger destabilisierenden Veränderungen“ wie dem Arten-
mit der Aussicht des Kollapses überhaupt leben? sterben und dem Verlust der Jahreszeiten.
Wie nimmt dieses Unheil seinen Lauf? Die unmittelbarste
Eine Zivilisation am Abgrund Bedrohung im Szenario der Kollapsologie ist die Implosion
unseres Energie- und Finanzsystems. Beide stehen, so die Ana-
Wir treffen Pablo Servigne in Die, einer kleinen Gemeinde im lyse, an ihren Grenzen. Bei den fossilen Energien haben wir
südfranzösischen Drômetal. Das Ziel des Buches sei gewesen, ein den Zenit bereits überschritten. Ihre Erschließung wird immer
neues, kohärentes Konzept des Kollapses zu entwickeln, erzählt teurer, der Ertrag immer magerer. Erneuerbare Energien bie-
der Agraringenieur und promovierte Biologe. Dafür hätten er ten keinen Ersatz. Wir steuerten unaufhaltsam auf eine „ther-
und Raphaël Stevens versucht, alle wissenschaftliche Literatur modynamische Mauer“ zu, so Servigne und Stevens.
über „die Katastrophen unserer Epoche“ zusammenzutragen. Die beiden bezweifeln allerdings, dass wir diese Mauer
Am Schluss waren das fast 4000  Artikel und über 600  Bücher. überhaupt erreichen werden. Schon vorher, wenn der Ölpreis
„Unsere Freunde, und sogar unsere Partnerinnen, haben uns für ernsthaft zu steigen beginne, werde der Finanzmarkt, der von
Foto: Manuel Braun

verrückt gehalten.“ einem preiswerten, enormen Energieangebot abhängt, kolla-


Das daraus entstandene Buch diagnostiziert den, wie es et- bieren. Und ohne verfügbare Energie, heißt es weiter, werde
was sperrig heißt, „Zusammenbruch der thermo-industriellen auch unsere Wirtschaft zum Erliegen kommen: keine industri-
Zivilisation“. Also einer Gesellschaft, die am Tropf der Ölkon- elle Landwirtschaft mehr, keine Zulieferketten, kein Internet.

56 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


rische Prozesse in Gang setzen. Dann fängt beispielsweise der
Eisschild an, unaufhaltsam zu schmelzen, weil die dunkleren
Steinschichten, die unter dem bereits verschwundenen Eis frei-
gelegt werden, immer mehr Strahlung absorbieren. „Eine un-
sichtbare Schwelle“, warnen Servigne und Stevens, „hinter der
das Ökosystem auf brutale und unvorhergesehene Weise zu-
sammenbricht. Klick!“
Neu sind diese Überlegungen nicht unbedingt. Eine wichti-
ge Referenz für die Kollapsologie ist beispielsweise der Bericht
„Die Grenzen des Wachstums“, der vor einem halben Jahrhun-
dert vom Club of Rome in Auftrag gegeben wurde. Forschende
des Massachusetts Institute of Technology entwarfen damals
Szenarien, die prognostizieren sollten, wie sich zentrale Para-
meter  – wie Bevölkerungswachstum, Wirtschaftsproduktion,
Verschmutzung, Verfügbarkeit von Ressourcen  – in Zukunft

„Wir erleben das


entwickeln und aufeinander auswirken würden. Erschrecken-
derweise liefen beinahe alle simulierten Szenarios auf einen
Einbruch der Parameter hinaus. Einzelne Veränderungen, wie
letzte Aufbäu- die Entwicklung neuer Technologien oder die Stabilisierung
der Bevölkerung, änderten nichts an dem Verlauf. Die For-

men der indus­triellen schenden kamen zu dem Schluss, dass ein Einbruch sich nur
abwenden ließe, wenn bereits in den 1980er-Jahren eine Band-

 Zivilisation“ breite an radikalen Maßnahmen verabschiedet würde. Wie wir


wissen, ist das nicht geschehen.
Ein weiterer Bezugspunkt ist der 2005 erschienene Bestseller
– Pablo Servigne, Kollapsologe „Kollaps“ (S. Fischer), in dem der US-Geograf Jared Diamond
den Untergang früherer Gesellschaften untersucht. Laut den
Kollapsologen sind die historischen Fälle auch für heute lehr-
reich. So bemerken Servigne und Stevens vorahnungsvoll, dass
„Wir erleben wahrscheinlich das letzte Motorstottern unserer drei der fünf Faktoren, die Diamond für entscheidend bei ver-
industriellen Zivilisation vor ihrem Aussterben.“ gangenen Zusammenbrüchen hielt – Umweltzerstörung, Klima-
Entscheidend im Szenario der Kollapsologie ist dabei aber veränderungen, mangelhafte Reaktion der Gesellschaft auf diese
noch ein weiteres Element: und zwar das der ökologischen Herausforderungen  –, auch heute „alarmierende Anzeichen“
Kipppunkte, auf Englisch tipping points. Der Begriff beschreibt präsentieren. Anders als bei den Fällen, die Diamond untersuch-
kritische Grenzwerte, an denen Systeme sich plötzlich und ra- te, drohe jetzt aber ein Kollaps neuen Ausmaßes. Dieses Mal, so
dikal verändern. Erreicht ein System einmal diesen Punkt, kann Yves Cochet, werde der Zusammenbruch systemisch und global
bereits eine minimale Störung Schäden anrichten und zerstöre- sein. Während Cochet den Zusammenbruch „womöglich

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 57


vor 2025, sicher vor 2030“ erwartet, geben sich Servigne und den. „Die IPPC zieht keine ,planetare Grenze‘ bei 1,5  Grad
Stevens zurückhaltender. Zwar werde der Zusammenbruch im- Celsius, hinter der Klimadrachen liegen“, schrieb er. Klimaschä-
mer greifbarer und realer, sicher bestimmen ließe sich der Zeit- den gäbe es längst und jedes weitere halbe Grad zähle.
punkt aber nicht. Mehr noch: Eigentlich sei es unmöglich, wis- Andere Wissenschaftler hingegen finden, dass es klüger sei,
senschaftlich zu beweisen, dass ein Zusammenbruch stattfinden Risiken zu über- als zu unterschätzen. So erschien vergangenen
werde. Doch an anderer Stelle behaupten sie: Irreversible Sys- November ein Artikel in der Fachzeitschrift Nature, der warnt,
temschocks könnten sehr wohl morgen stattfinden, ein Zusam- dass Kipppunkte schneller erreicht und globale Kettenreaktionen
menbruch großer Reichweite sogar 2050 oder 2100. ausgelöst werden könnten, als bisher vermutet. Womöglich hät-
Wie seriös sind solche Voraussagen? Sollte man eine Bewe- ten wir zukünftige Generationen schon dazu verpflichtet, für Tau-
gung ernst nehmen, die auf der einen Seite zugibt, den Kollaps sende von Jahren mit einem Meeresspiegelanstieg von etwa zehn
nicht sicher prognostizieren zu können und auf der anderen Metern zu leben, schrieben die Autoren und forderten auf, diese
Seite genau diesen als unumstößlichen Erwartungshorizont Szenarien ernsthaft zu untersuchen. „Sich hinsichtlich der Ge-
etabliert? Ist das eine realistische Gefahreneinschätzung oder fahren zu irren, ist keine verantwortbare Option.“ Fraglich bleibt
gefährliche Wahrsagerei? aber, ob diese Größen eine hilfreiche gesellschaftliche Referenz
sind. Glen Peters, Forschungsdirektor am Zentrum für Interna-
Zweischneidige Prognosen tionale Klimaforschung in Oslo, verweist auf die tatsächliche
Dauer vermeintlich plötzlicher, ökologischer Umschwünge. Viele
Die wissenschaftliche Debatte um Klima-Kipppunkte zeigt, wie Klima-Kipppunkte seien eher „Zeitlupenereignisse“, so wie der
kontrovers solche Prognosen sind. Myles Allen, Geowissen- Kollaps des antarktischen Eisschilds, der sich über Hunderte oder
schaftler und einer der Autoren des Sonderberichts zum sogar Tausende von Jahren abspielen werde, schrieb er auf Twit-
1,5-Grad-Ziel des Weltklimarats IPCC, ärgert sich darüber, wie ter. Was also abrupt in ökologischer Zeit erscheint, ist es noch
klimatische Grenzwerte mittlerweile ausgelegt werden. „Hören lange nicht in der menschlichen. Ein Kategorienfehler. „Womög-
Sie bitte auf zu sagen, dass 2030 weltweit Schlimmes passieren lich werden wir nicht in der Lage sein“, so Peters, „einen Kipp-
wird“, appellierte er im Online-Magazin The Conversation, punkt zu unseren Lebenszeiten zu bestätigen.“
nachdem Aktivisten und Medien behauptet hatten, dass nur Auch die Kollapsologen vermögen also nicht zu sagen, ob der
noch zwölf Jahre Zeit seien, eine Klimakatastrophe abzuwen- Zusammenbruch, den sie erwarten, bereits begonnen hat. „Ja, das

58 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Dossier Kollapsologie

Gilt es, auf


Abschreckung zu
setzen oder auf
Hoffnung stiftende
Anreize?

ist ein Paradox“, räumte Servigne bei unserem Treffen ein. Tat- keln, dass Rettung noch möglich sei, sollten wir ehrlichere poli-
sächlich würden wir erst wissen, dass wir einen Zusammenbruch tische und persönliche Prioritäten setzen. Nicht Emissions-
erlebt hätten, wenn es bereits zu spät sei. Für die Kollapsologen grenzen hinterherjagen, sondern uns als Gesellschaft auf
ist das aber kein Grund, an dem nahenden Zusammenbruch zu Dürren, Überschwemmungen und Flüchtlinge vorbereiten.
zweifeln. Nein, vielmehr gelte es, sich ab diesem Punkt auf die Nicht hoffen, den Planeten zu retten, sondern versuchen, im
eigene, so wörtlich, „Intuition“ zu verlassen, die uns, genährt von Kleinen zu bewahren – ein Stückchen Natur oder eine bedroh-
wissenschaftlichen Studien, ein baldiges Ende zuflüstert. te Tierart. Konzentrieren wir uns auf das, appelliert Franzen,
„was konkret, gefährdet und direkt vor uns ist.“
Einsicht oder Eskapismus? Für den Soziologen Harald Welzer ist das eine unerträgli-
che Schwarzmalerei. Ein Diskurs, der einen Zusammenbruch
Auch der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen ver- für wahrscheinlich oder gar für ausgemacht erklärt, habe aus-
lässt sich lieber auf sein Bauchgefühl. In seinem jüngst erschiene- schließlich destruktive Folgen. „Es kommt noch nicht mal zur
nen Buch „Wann hören wir endlich auf, uns etwas vorzumachen?“ Paralyse“, sagt er, „sondern es kommt zu einer Verkaufssteige-
(Rowohlt, 2020) fordert er, das Zwei-Grad-Ziel endlich als illuso- rung von SUVs.“ Man versuche noch mal alles rauszuholen,
risch zu erkennen. „Entweder wir hoffen weiter, dass sich die Ka- bevor der Klimawandel richtig zuschlage. „Die Leute werden
tastrophe verhindern lässt und werden angesichts der Trägheit umso eskapistischer und zerstörerischer, je näher ihnen das En-
der Welt nur immer frustrierter oder wütender“, schreibt er. de vor die Nase gehalten wird.“
„Oder wir akzeptieren, dass das Unheil eintreten wird, und den- Anstatt auf Abschreckung will Welzer lieber auf Anreize set-
ken neu darüber nach, was es heißt, Hoffnung zu haben.“ zen. „Veränderungen kriege ich doch nicht auf Grundlage ne-
Von seinem Fazit will er sich auch nicht von Klimaaktivisten gativer, apokalyptischer Argumentation hin“, sagt er, „sondern
abbringen lassen, die befürchten, dass wir angesichts dieses düs- nur, wenn ich Zukunftsperspektiven entwerfe, die attraktiv
teren Ausblicks zu entmutigt sein werden, den Klimawandel zu sind.“ Sein jüngstes Buch „Alles könnte anders sein“ (S. Fischer,
bekämpfen. Das „erinnert mich an religiöse Oberhäupter“, sti- 2019) liest sich dementsprechend als Aufforderung, an die Zu-
chelt er, „die befürchten, dass die Menschen sich ohne das Ver- kunft und unsere Möglichkeiten der Gestaltung zu glauben.
sprechen des ewigen Seelenheils nicht mehr darum scheren, Für die Kollapsologen ist eine solche Zuversicht nur eine lei-
sich gut zu benehmen.“ Anstatt den Leuten weiter vorzugau- densverlängernde Leugnung. Sie insistieren, dass negative

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 59


Emotionen angesichts der Situation natürlich seien. Anstatt opti- Ausblick des Kollapses kann dazu verleiten, sich nur noch um
mistische Botschaften zu forcieren, gelte es, Ängste zuzulassen. das eigene Schicksal zu kümmern. Dann erheben die Reichen
Im englischsprachigen Raum gibt es für diese Gefühlslage übri- den eigenen Bunker zum Zukunftsentwurf, während andere
gens einen eigenen Begriff: ecological grief, also die Umwelttrauer. das Überleben im Wald trainieren.
Mit dem Kollaps verhält es sich laut Kollapsologen wie mit Für Harald Welzer kommt diese politische Verengung zu
einer unheilbaren Krankheit. In beiden Fällen sei die Nach- einem erstaunlichen Zeitpunkt. Wenn man sich die vergange-
richt zunächst niederschmetternd, zerstört Träume, Pläne, Si- nen 70 Jahre in den liberalen Gesellschaften anschaue, habe es
cherheiten. Und in beiden Fällen ließen sich die negativen immerhin eine Reihe von Modernisierungsprozessen gege-
Empfindungen aber überwinden, erklären Servigne und Ste- ben. Warum solle es nicht weitere Verbesserungen geben?
vens und berufen sich dabei auf die US-amerikanische Psychi­ Dass gerade jemand wie Jonathan Franzen – Erfolgsautor, Be-
aterin Elisabeth Kübler-Ross. wohner eines der reichsten Länder der Erde, mit den größten
Nach Kübler-Ross verläuft Trauer in Phasen: zunächst re- Handlungsmöglichkeiten  ­ – Kapitulation propagiert, ärgert
agierten Betroffene mit Leugnung und Zorn, dann mit Ver-
handlungsversuchen, später mit Depression und schließlich

„Die Chance, dass


mit Akzeptanz. Servigne und Stevens halten die Idee, dass der
Trauerprozess ende, indem man einen „heiteren Horizont“
erreiche, für eine „wahre Befreiung“. Mehr noch: Angst, Wut
und Trauer erscheinen nicht nur als natürliche Gefühle, die
sich verarbeiten lassen, sondern als Teil einer Verwandlung, an
man Dinge bewältigen
deren Ende ein neues Ich steht. Die Umwelttrauer als Meta-
morphose sozusagen. kann, war noch nie so
groß wie heute“
Allerdings ist das Modell von Kübler-Ross nicht nur sehr
beliebt, sondern auch sehr umstritten. Kritisiert wird vor al-
lem die Vorstellung, dass Trauer in Phasen voranschreitet. Das
sei viel zu linear. Neuere Forschung zeichnet den Trauerpro- – Harald Welzer, Philosoph
zess als variabel, verworren, manchmal auch als anhaltend
oder zyklisch. Dass das Modell von Kübler-Ross trotzdem
populär ist, mag damit zu tun haben, dass es negative Emotio-
nen als vorhersehbar und vorübergehend konzipiert, vermu-
ten Kritiker wie die Psychologen Robert Neimeyer und Jason
Holland. Auch die Kollapsologen scheinen uns versichern zu
wollen: So gewiss wie der Kollaps stellt sich auch die heitere ihn deshalb ungemein. Genau genommen sei unser Hand-
Akzeptanz ein. Ob es möglich wäre, dass Menschen in der lungsspielraum doch, trotz aller Machtstrukturen, historisch
Leugnung stecken bleiben und doch lieber SUVs kaufen und beispiellos. „Die Chance, dass man Dinge bewältigen kann,
Kreuzfahrten buchen, sagen sie nicht. war noch nie so groß wie heute.“
Diese gilt es zu nutzen, um am „zivilisatorischen Projekt“,
Die Verengung der Gegenwart wie Welzer es in seinem Buch nennt, weiterzubauen. Im Ge-
gensatz zu den Kollapsologen ist er überzeugt, dass es mög-
Es stellt sich aber eine noch wichtigere Frage: Wie soll die lich ist, unsere Welt durch einen „aufgeklärten Kapitalismus“,
Post-Kollaps-Gesellschaft eigentlich aussehen, die wir so hei- der ökologische und soziale Kosten mit einberechnet, signifi-
ter erwarten? Leider entpuppt sich die Kollapsologie gerade kant zu verbessern und Utopien wahr werden zu lassen. Auto-
in diesem Punkt als visionslos. Niemand könne sagen, welche freie Städte zum Beispiel.
Form das soziale Gefüge nach dem Kollaps annehmen werde, Im Szenario der Kollapsologie wären solche Reformen
schreiben Servigne und Stevens. Die Soziologie und Politik vertane Mühe. Denn, so die Analyse, unsere Zivilisation sei so
seien Sparten einer „noch stammelnden Kollapsologie“, er- wachstums- und fossilgetrieben, die Machtstrukturen so fest-
klären sie fast entschuldigend. Nur ansatzweise lässt sich er- gesetzt, dass sie sich nicht kurieren lasse. Es sei offensichtlich,
ahnen, was für eine Gesellschaft sich die Kollapsologen wün- dass man innerhalb des dominanten Systems keine Lösungen
schen: Da ist die Rede von „kleinen resilienten Systemen“, finden werde, erklären Servigne und Stevens.
von Lowtech, Nähe zur Natur, Solidarität; erwähnt wird im- Und so wird die postkollapsistische Welt letztlich zu einer
mer wieder die Transition-Town-Bewegung, in der sich Ge- verklärt, in der sich der Kummer über unsere Verluste und die
meinden zusammenfinden, die versuchen, autark von großen Freude über das Ende der thermo-industriellen Gesellschaft
Energie- und Nahrungssystemen zu werden. Eine starke poli- abwechseln. Es gebe nichts Unvereinbares daran, heißt es da,
tische Vision bietet die Kollapsologie aber nicht. Das ist nicht eine Apokalypse und einen „happy collapse“ zu erleben. Fragt
nur bedauerlich, sondern womöglich gefährlich, denn der sich nur, für wen. /

60 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Kollapsologie Dossier

Genealogie

Wie lässt sich das Ende denken?


Fünf ­historische Positionen
Von Theresa Schouwink

Lucius Annaeus Seneca (ca. 1–65)


Für den Stoiker ist in alles Seiende schon dessen Ende eingeschrieben: Im menschli-
chen Fötus ist der spätere Tod angelegt und auch die Welt enthält bereits zu Beginn
ihren Untergang. Die Gesetze der Natur sind determiniert. Der Mensch sollte daher
der Endlichkeit gelassen begegnen, sie gehört zum unaufhaltsamen Lauf der Dinge.

Offenbarung des Johannes / Neues Testament (ca. 90–95)


In der wohl einflussreichsten apokalyptischen Erzählung schildert der Verfasser Visio-
nen vom nahen Weltende: Katastrophen ereilen die Menschen, gute und böse Mächte
kämpfen gegeneinander. Am Ende siegt das Gute, das Reich Gottes bricht an. Die
Offenbarung spendete den unter Kaiser Domitian verfolgten Christen Trost.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831)


Hegel versteht die Geschichte als Fortschrittsgeschehen. Freiheit verwirklicht sich
darin über eine absolute Vernunft, den „Weltgeist“: Waren im „orientalischen Zeitalter“
nur Despoten frei, wird Freiheit in der christlich modernen Epoche allgemein. Für
Hegel war damit bereits zu seiner Zeit der perfekte Endzustand der Geschichte erreicht.

Walter Benjamin (1892–1940)


In „Kapitalismus als Religion“ beschreibt Benjamin den Kapitalismus als einzigen
Kultus, der nicht ent- sondern verschuldend wirke. Die Menschen verstricken sich in
eine Dynamik der Zerstörung, die sogar Gott miteinbezieht, um ihn im letzten
Moment „selbst an der Entsühnung zu interessieren“.

Günther Anders (1902–1992)


Mit der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki zeigt sich für Anders deutlich
die Möglichkeit einer selbst herbeigeführten Apokalypse. Die Atombombe steht ihm
zufolge für eine technische Entwicklung, die den Menschen überflüssig macht und ihn
zerstört. Gegenüber dieser gefährlichen Eigendynamik gilt es Widerstand zu leisten.
Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 61
Dossier Kollapsologie
Wie kommen wir vom Wissen zum
Handeln, Herr Morton?
Um Menschen zu einem Umdenken zu bewegen, setzt die Kollapsologie
auf Zahlen und Statistiken. Im Interview erläutert der Philosoph
Timothy Morton, warum das ein falscher Ansatz ist und wie uns
stattdessen Kunst helfen kann,
den Planeten zu retten
Das Gespräch führte Dominik Erhard /
Aus dem Englischen von Felix Kurz

Philosophie Magazin: Herr Morton, die Zukunft zu verändern, ist etwas, was
um andere Menschen davon zu wir nun lange getan haben, ohne dass
überzeugen, dass wir im Angesicht es geholfen hätte. Die Frage lautet also:
des Klimawandels etwas unterneh- Wollen wir, dass die Vergangenheit
men müssen, setzt die Kollapsologie Timothy Morton wie Pac-Man die Zukunft auffrisst, oder
auf Daten. Halten Sie diese Heran­ Der US-amerikanische Philosoph lehrt ­an wollen wir offen sein für die Zukunft,
gehensweise für sinnvoll? der Rice University in Texas. Seine For­- in der wir etwas verändern können?
Timothy Morton: Ich denke nicht, schungsschwerpunkte liegen im Bereich
dass das funktionieren kann, denn das Pro­- der Ökologie sowie der Ontologie. Auf In Ihrem Buch „Ökologisch sein“
blem von Daten besteht darin, dass sie Deutsch erschien von ihm zuletzt „Öko­- schreiben Sie, Kunst könne ein Inst-
unsere Einstellung nicht verändern. Ge­ logisch sein“ (Matthes & Seitz, 2019) rument sein, das Menschen beim
nau­er gesagt: Faktoide tun dies nicht. ­Ergründen ihrer Gefühle hilft. Wür-
Im Moment greifen wir aber auf Faktoi- den Sie das erläutern?
de zurück, um über das Massenausster- Will man jemanden überzeugen, der ei-
ben zu sprechen – was meines Erachtens Aber wenn Statistiken und Zahlen ne ganz andere Meinung hat als man
die treffende Bezeichnung für die Ka­ unsere Einstellungen nicht ändern, selbst, kommt man mit Daten nicht wei-
tastrophe ist, die wir gerade erleben. weil der Rückgriff auf sie nur die ter. Man muss etwas anderes probieren.
„Globale Erwärmung“ oder „Klimawan- ­ohnehin gewaltige „Informationsmüll- Eine Möglichkeit besteht darin, mithilfe
del“ klingt mir zu harmlos. kippe“ weiter anwachsen lässt – von Kunst ein Gefühl zu vermitteln.
was können wir dann tun? Dabei muss es sich gar nicht um ökolo-
Was genau ist ein Faktoid? Man muss umgekehrt vorgehen. Wir soll- gische Kunst handeln, wie ein impo­
Ein Faktoid hat die merkwürdige Eigen- ten nicht versuchen, durch Zahlen die santes Bild eines brennenden Regenwaldes;
schaft, uns anzuschreien: „Seht her, ich Gefühle von Menschen zu erreichen, son- es kann zum Beispiel auch ein Gemälde
bin eine Tatsache! So und so viele Arten dern von diesen Gefühlen ausgehen. von Mark Rothko sein. Es gibt Menschen,
sind bereits ausgestorben! Ihr könnt Deshalb versuche ich Menschen dazu zu die geschildert haben, wie sie dem Sog
mich nicht ignorieren! Euer CO2-Fuß- bewegen, ihre Gefühle zu ergründen. eines Bildes erlegen sind und tatsächlich
abdruck als Deutsche ist soundso Ein Gefühl ist wie ein Gedanke, für den Empathie für eine Farbe, eine Land-
viel Mal größer als der von Menschen man noch nicht die richtigen Worte schaft oder die dargestellten Menschen
im globalen Süden!“ Faktoide sollen gefunden hat. Während Zahlen, also Fak- empfunden haben. Auch wenn es
so aussehen, wie wir uns Fakten vorstel- toide, der Vergangenheit entstammen – merkwürdig klingen mag: Empathie für
len. Doch Leute auf eine riesige In­ wie ein Kassenbon zeugen sie lediglich ein Gemälde zu empfinden, kann der
formationsmüllkippe zu werfen und dann von etwas, das bereits passiert ist –, erste Schritt zu der Erkenntnis sein, dass
zu erwarten, dass sie den Planeten ret- kommen Gefühle aus der Zukunft. Und man mit anderen, nichtmenschlichen
ten, wird nicht funktionieren. auf die Vergangenheit zu bauen, um Dingen verbunden ist.

62 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Inwiefern?
Weil das zeigt, dass man sich heute auf
eigentümliche Weise mit dem Bild an
der Wand identifizieren kann, und mor-
gen vielleicht schon mit einem Igel.
Und das könnte einen wiederum dazu
bewegen, einen kleinen Laubhaufen
im Garten aufzuschieben, ihm so Unter-
schlupf zu gewähren und dadurch sein
Leben zu retten. Kunst kann uns zu
der Einsicht verhelfen, dass wir als Men-
schen nicht für uns existieren und alles
andere anderswo, sondern dass wir mit
Gemälden, Igeln und dem Klima zu­
sammenleben. Tatsächlich hat das Corona­
virus zurzeit denselben Effekt: Wir mer-
ken, dass wir gemeinsam mit den Viren
denselben Planeten bewohnen und mit-
einander verbunden sind.

Apropos Corona: Sehen Sie in der


gegenwärtigen Krise ein Poten­-
zial für die Veränderung von Syste-
men, die uns und dem Planeten
Schaden zugefügt haben? „Kunst verhilft uns zu der Einsicht, dass wir mit
Das Virus hat schon jetzt etwas geschafft,
was Teile der Linken und der Klima-
­anderen Dingen verbunden sind“
schutzbewegung seit Langem versuchen:
einen globalen Streik herbeizuführen. Vergleich zu dem Lebewesen, das dieses bekämpfen wollen, ist dieser Begriff kein
Deshalb: „Danke, Coronavirus, und Etwas wahrnimmt, misst, über es nach- geeignetes Werkzeug, da er selbst Teil
Greta Thunberg: Entspann dich! Lass denkt oder anderweitig mit ihm in Be- des zugrunde liegenden Problems ist.
das Virus die Arbeit erledigen.“ Auch rührung kommt. Menschen sind Teil „Schuld“ bezieht sich immer auf Indi­
wenn wir nicht vergessen dürfen, dass im einer Reihe von miteinander verschränk­- viduen; viel weiter führt der Begriff der
Moment viele Menschen sterben, was ten Hyperobjekten wie etwa der Bio­ Verantwortung, der sich auf ganz un­
ungemein traurig ist. Verstehen Sie das sphäre, dem Klima, dem Kapitalismus terschiedliche Größenordnungen bezie-
also nicht als Zynismus. Aber das Po­ und dem Coronavirus als einem En­ hen kann – auf den Einzelnen, auf
tenzial dieses Virus liegt meines Erachtens semble von materiellen und symbolischen hundert oder eine Million Menschen.
in seiner unfassbaren Größenordnung Interaktionen. Dadurch wird uns zum
und den entsprechend gewaltigen Folgen. Beispiel klar, dass es keine technokratische Was kann man konkret tun, wenn
Tatsächlich handelt es sich um ein per- Lösung wie etwa das Geo-Enginee­- man Verantwortung für eine bessere
fektes Beispiel für das, was ich als Hyper- ring gibt, denn da wir selbst ein Teil des Zukunft übernehmen will?
objekt bezeichne. Hyperobjekts Biosphäre sind, würde Wenn Sie etwas tun wollen, essen Sie
das unvorhersehbare Folgen für uns haben. weniger Fleisch, um Ihren CO2-Fußab-
Diesen Begriff haben Sie in Ihrem druck zu reduzieren, bekämpfen Sie
Buch „Hyperobjects“ von 2013 entwi- Gut, aber ist es nicht viel einfacher Rassismus und Patriarchat, und vor allem:
ckelt. Was verbirgt sich dahinter? und direkter, klar auf unsere Schuld Erzeugen Sie in anderen Menschen
Foto: Katrin Koenning; Autorenfoto: privat

Es ist wunderbar, wenn man Phänome- am von Ihnen so genannten Mas­ keine Schuldgefühle, indem Sie mit Fak-
ne, die man sinnlich kaum oder gar nicht senaussterben hinzuweisen? Und auf toiden um sich werfen, die Sie selbst
zu fassen bekommt, weil sie aus einer die Notwendigkeit ihrer Tilgung? vielleicht verstehen, andere aber vermut-
unendlichen Zahl von Teilen bestehen, Schuld ist ein religiöser Begriff, und lich nicht. Denn so verlieren wir diese
dennoch mit einem einzigen Wort be- Religion ist die Art und Weise, in der eine anderen in diesem Kampf. Letztendlich
nennen kann. „Hyperobjekt“ ist eine agrarisch geprägte Kultur sich einen brauchen wir alle siebeneinhalb Milliar-
Bezeichnung für etwas, das in Zeit und Reim auf sich selbst macht. Wenn wir den Menschen auf unserer Seite, um den
Raum extrem weit verteilt ist im das Massenaussterben wirklich Kollaps abzuwenden. /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 63


Dossier Kollapsologie

Das Coronavirus hat einen gesellschaftlichen Kol-


laps verursacht, wie es ihn historisch noch nie ge-
geben hat und die meisten Menschen ihn vermut-
lich auch nicht für möglich gehalten hätten. Ein
Shutdown von Wirtschaft und Sozialleben glei-
chermaßen. Und zwar weltweit. Doch so einzigar-
tig dieser Zusammenbruch an sich auch sein mag,
wird er, ähnlich wie bei Umweltkatastrophen,
Kriegen oder wirtschaftlichen Depressionen zuvor,
irgendwann vorbei sein. Es wird eine Rückkehr zur
Normalität geben. Das ist keineswegs leichtfertig
oder gar krisenromantisch gesagt. Denn die Pande-
mie zerstört unzählige Existenzen: kostet Menschen
das Leben, Angehörige oder den Job. Deshalb wird
die zukünftige Normalität auch eine neue, eine an-
dere sein. Für viele auf ganz persönliche, in jedem
Fall aber auf gesellschaftliche Art. Denn der Kollaps
von sozialen Systemen ist historisch eben nie das
Ende im eminenten Sinne, sondern vielmehr der
Beginn gesellschaftlicher Transformationen.

Den Pendelschwung nutzen


Genauer gesagt: Verändert der Kollaps bereits selbst
in rasanter Weise die Gesellschaft, weil er die her-
kömmlichen Prozesse still stellt, provoziert er auch
stets die Frage, unter welchen Prämissen die Rück-
kehr zur neuen Normalität erfolgen wird. Wird die
Gesellschaft nach Corona tendenziell demokrati-
scher, ökologischer und solidarischer oder autoritä-
rer, konkurrenz­ orientierter und ökonomisch noch
stärker gespalten sein? Um diese Frage zu beantwor-
ten, braucht es keine Kollapsologie, sondern vielmehr
eine Transitologie: eine Theorie der Transformation.
Die neue Normalität Den Grundstein hierfür findet man in Karl
­Polanyis 1944 erschienenem Klassiker „The Great
Transformation“. Darin hat der österreichisch-unga-
Für moderne Gesellschaften bedeutet rische Soziologe nachgezeichnet, wie der moderne
die Pandemie den Beginn einer „großen Kapitalismus im 19. Jahrhundert alte Feudalstruktu-
ren ablöste und sich in der Folge immer wieder selbst
Transformation“. In welche Richtung diese
wandelte. Polanyis zentrale Beobachtung: Moderne
­verlaufen wird, ist die zentrale politische Gesellschaften befinden sich stets im Spannungsfeld
­Zukunftsfrage der Bedürfnisse des freien Marktes sowie seiner Re-
gulierung aufgrund kollektiver Schutzbedürftigkeit.
Von Nils Markwardt Denn eine ökonomische Liberalisierung mag zwar
Dynamik und Innovation erzeugen, produziert für
viele Menschen aber auch strukturelle Unsicherhei-
ten wie Armut oder medizinische Unterversorgung,

64 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


sodass, werden derlei Unsicherheiten zu groß, eine nutzen auch dieser Tage manche Regierungen den
„Pendelbewegung“ hin zu mehr Regulierung eintritt. pandemischen Ausnahmezustand, um einen neuen
Diese Regulierungstendenz erwächst dabei nicht Autoritarismus zu zementieren. Allen voran etwa Vik-
nur aus der Logik des Marktes selbst, sondern kann tor Orbán, der Ungarn  – zumindest für den Mo-
auch durch externe Schocks verursacht werden. Voll- ment  – durch weitreichende Notstandsgesetze zur
zog sich etwa Franklin D. Roosevelts „New Deal“ (ei- De-facto-Diktatur gemacht hat. Und auch in anderen
ne Reihe von linksgerichteten Sozialreformen in den Ländern wird abzuwarten sein, inwiefern nationale
1930er-Jahren) als Ergebnis der Großen Depression, Abschottung, ein Ausbau digitaler Überwachung so-

Die Logik des Marktes wurde zum Schutz der Bevölkerung


­hintangestellt. Jetzt muss es darum gehen, auch die kommende
­Transformation solidarisch zu steuern

war die Gründung vieler europäischer Wohlfahrtssys- wie die Konzentration exekutiver Befugnisse tatsäch-
teme wiederum eine Reaktion auf die Verheerungen lich nur pandemische Übergangsmaßnahmen sind
des Zweiten Weltkriegs. Diese historischen Gegenbe- oder womöglich den Ausgangspunkt eines fortdau-
wegungen zum Laissez-faire-Kapitalismus offenbar- ernden Schwenks zum Autoritarismus bilden.
ten sich indes nicht, wie in klassisch marxistischer Im Kontrast dazu lassen sich derzeit aber auch ge-
Vorstellung, allein als Werk des Proletariats, sondern genteilige Bewegungen beobachten, die wiederum
vielmehr als Ergebnis klassenübergreifender Allian- eher an die New-Deal-Politik erinnern. Betonte
zen. Denn die Regulierung des Marktes war durchaus hierzulande Finanzminister Olaf Scholz, dass einma-
unterschiedlich motiviert. Wollten manche damit den lige Bonuszahlungen an Pflegekräfte nicht ausreich-
Kapitalismus überwinden, bestrebten andere, ihn ge- ten, sondern diese auch nach der Krise einen höheren
rade dadurch zu retten. Lohn bekommen müssten, wurde in den USA erst-
Blickt man mit Polanyi nun auf die Coronakrise, mals landesweit ein Anspruch auf bezahlte Krank-
wird deutlich, dass Letztere auf geradezu exemplari- heitstage eingeführt. In Spanien bahnt sich wieder-
sche Weise einen solchen Ausschlag des Pendels in um die Einführung eines Grundeinkommens an, in
Richtung Schutz darstellt. Angesichts der tödlichen Portugal wurde Asylsuchenden unbürokratisch Zu-
Bedrohung durch die Pandemie haben Regierungen gang zum Medizin- und Sozialsystem gewährt. Die
weltweit, und zwar parteipolitisch übergreifend, Chefredaktion der Financial Times, gemeinhin eine
durch den Shutdown die Logik des Marktes zum Hüterin des Marktliberalismus, betonte in einem
Schutz der Bevölkerung hintangestellt. Nicht nur kürzlich erschienenen Text sogar, dass nun „radikale
wurde die Wirtschaft aufs Nötigste heruntergefah- Reformen“ nötig seien, die die Liberalisierungspoli-
ren, auch der Staat selbst erlebt durch seine Ret- tik der letzten vier Dekaden beenden müsse. Dem-
tungspakete und verstärkten Regulierungsleistungen nach bedürfe es jetzt öffentlicher Investitionen und
gerade ein ungeahntes Comeback. einer aktiven Rolle des Staates in der Wirtschaft, da-
Es bleibt indes die Frage, wo das hinführt, wenn mit die Arbeitsmärkte „weniger unsicher“ werden.
die Pandemie vorbei ist. Schon Polanyi war sich sehr Selbst Grundeinkommen und Vermögenssteuer soll-
bewusst, dass (Gegen-)Transformationen, die aus kol- ten deshalb bedacht werden.
lektiver Schutzbedürftigkeit entspringen, in zwei sehr So wird deutlich: Polanyis Pendel schwingt dieser
unterschiedliche Richtungen laufen können. Nicht Tage stark in Richtung Schutz. Wo es aber schließlich
Foto: Nikita Teryoshin

nur in die solidarisch-sozialrefomerische, sondern genau stehen bleiben wird, ist offen – weshalb es gera-
eben auch in die autoritär-ausgrenzende. Zeigte sich de jetzt darauf ankommt, die kommende Transforma-
dies historisch bereits in Form des italienischen Fa- tion solidarisch zu steuern. Denn es wird alsbald eine
schismus und des deutschen Nationalsozialismus, so neue Normalität geben. So oder so. /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 65


Klassiker / Dossier

Klassiker
Große Ideen verstehen

Susan Sontag
68

und der Stil


Mit einem Essay von
Marianna Lieder

Was ist der


74

Wiener Kreis?
Ein Überblick

76 Zum Mitnehmen
John Lockes „Versuch über den
menschlichen Verstand“ / Der
Humanist Nikolai F. S. Grundtvig/
Montaigne zum Umgang mit Wut

Menschliches,
78
Allzumenschliches
Comic von Catherine Meurisse
Foto: Eddie Hausner/NYT/Redux/laif

66 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Klassiker / Dossier

Susan Sontag
und der Stil
Stil ist alles, schrieb Susan Sontag in ihren „Anmerkungen zu ‚Camp‘“.
­Darin huldigt sie dem modernen Dandy als radikalem Ästheten
und Zeitge­nossen. Sein Blick auf die Welt und die neue Massenkultur
ist so naiv wie ironisch, demokratisch und versnobt zugleich. 1964
brach der Camp-Essay mit reichlichen Tabus und machte Sontag zum
intellektuellen Star. Wie weit kommt man damit heute?
Von Marianna Lieder

Unter den US-Intellektuellen des 20.  Jahrhunderts ratete sie den Soziologen Philip Rieff, nur wenige Ta-
gilt Susan Sontag als glanzvolle Verkörperung des eu- ge nachdem sie ihn kennengelernt hatte. Mit 19 wur-
ropäischen Geistes. Alles, was in Buch- oder Film- de sie Mutter. Mit 25 akzeptierte sie in Paris ihre
form vom alten Kontinent kam, wurde von ihr umge- Bisexualität. Mit 26 reichte sie die Scheidung ein und
hend okkupiert. Sartre, de Sade, Gide, Simone Weil, zog – mit Kind und ohne Geld – nach New York, dem
Cioran, Barthes, Dostojewski, Tolstoi, Kleist, Thomas Sehnsuchtsort aller aufstiegswilligen Selbsterfinder.
Mann, Canetti, Benjamin, Ingmar Bergmann, Go- Passenderweise war die Metropole um 1960 ebenfalls
dard waren maßgeblich an der Sozialisation ihres dabei, sich eine neue Gestalt zu verleihen. Der Jour-
Denkens beteiligt. Ihr Leben hingegen lässt sich als nalist Daniel Schreiber, Verfasser der ersten umfas-
mustergültige Verwirklichung des amerikanischen senden Sontag-Biografie, hat die eigentümliche Auf-
Traumes erzählen, als intellektuelle Variante der bruchsstimmung im New York jener Zeit plastisch
„Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Saga. Sontag werden lassen. Demnach waren die Voraussetzungen
selbst hat diese Erzählung kultiviert – besonders aus- für ein Boheme-Leben so günstig wie nie zuvor. Die
dauernd in Zeiten, in denen sie wegen ihrer zornigen Wirtschaft befand sich im Aufschwung, die Kunst-
Kritik am Bush-Regime als USA-Hasserin beschimpft und Literaturszene boomte, die Mieten waren nied-
Foto: Ullstein Bild/Roger-Viollet/Jean-Régis Roustan

wurde: Das Amerikanische an mir, verriet sie in einem rig. Aus den Altbauten von Manhattan, in denen sich
ihrer zahlreichen Interviews, ist mein Ehrgeiz, mich Maler, Schriftsteller, Musiker und jene, die sich dafür
immer wieder neu zu entwerfen und zu erfinden. hielten, versammelten, drängte die Subkultur unauf-
Sie fing früh damit an und verfuhr mit maximaler haltsam hinaus in den Mainstream. Der Geist der Re-
Unbeirrbarkeit: Mit 16 befreite sie sich aus der kali- bellion und der Emanzipation trat seinen gesell-
fornischen Mittelschichtsdepression, die sich not- schaftlichen Siegeszug an. Mit der Verabschiedung
dürftig hinter der Fassade der all-american family ver- des Civil Rights Act wurde die Rassentrennung, zu-
barg. Sie stürzte sich ins akademische Campus-Leben mindest auf dem Gesetzespapier, aufgehoben. Andy
und lud sich beim alten Thomas Mann, der im Exil in Warhol machte billige Tomatensuppen-Dosen aus
Los Angeles residierte, selbst zum Tee ein. Mit 17 hei- dem Supermarkt zu einem der bekanntesten

68 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Steckbrief:
Leben
Susan Sontag 1933
Geburt am
16. Januar als Freunde
Hauptberuf Susan Rosenblatt Thomas Mann (1875–1955): Die Begegnung mit
Essayistin, Schriftstellerin, Regisseurin, Ikone der in Manhattan, dem bewunderten Schriftsteller, 1949 in Kalifornien,
Intensität mit beachtlichem Glamour-Faktor. New York fiel für Sontag ernüchternd aus. Doch Manns
Sontag zählte zu den einflussreichsten US-amerika- „Zauberberg“ blieb für sie das „wichtigste Buch
nischen Stimmen ihrer Zeit. Sie schrieb über 1949 meines Lebens“.
Literatur (insbesondere europäische), Popkultur, Die junge Sontag Joseph Brodsky (1940–1996): Dichter und
Religionsphilosophie, Film, Fotografie, Porno- besucht den alten Literaturnobelpreisträger, nach einer kurzen Affäre
grafie, Politik, Krieg, Krankheit, Malerei und Medien. Thomas Mann im mit Sontag wurde er zu einer ihrer wichtigsten
Sie kämpfte für Menschenrechte, inszenierte kalifornischen Exil Bezugspersonen.
in Kriegsgebieten Theaterstücke und übte zornig Roger Straus (1917–2004): Sontags einflussreicher
Kritik an der Bush-Regierung. 1964 New Yorker Verleger trug dazu bei, dass sie in
Veröffentlichung den 1960ern als neuer Stern am Intellektuellenhim-
von „Notes on mel aufging.
Nebentätigkeit ‚Camp‘“. Der Text
Charismatische Kamerapräsenz. Sontag gab unzäh- macht Sontag
lige TV-Interviews, zierte als Covergirl die Titel- berühmt
seiten von Modemagazinen, ließ sich als Werbege-
sicht für „Absolut Vodka“ ablichten und spielte
sich in Filmen von Woody Allen und Andy Warhol
1978
„Krankheit „Die Wahrheit
selbst. 1988 lernte sie die Starfotografin Annie
Leibovitz kennen, deren Lebensgefährtin und bevor-
als Metapher“
erscheint ist etwas, das gesagt
zugtes Model sie wurde. Auch Krankheit und
Tod Sontags wurden von Leibovitz mit der Kamera 1993 werden muss,
dokumentiert und in einem umstrittenen Foto-
band öffentlich gemacht.
Im belagerten
Sarajevo inszeniert nicht etwas,
Sontag Becketts
„Warten auf Godot“ das bekannt ist“
2004 – Der Wohltäter

„Interpretation Tod am

ist die Rache


28. Dezember
in New York
Feinde
des IntelleKts Camille Paglia (*1947): Die Kulturtheoretikerin

unst
an der Kunst“
brachte 1994 ihre Enttäuschung über die einst
von ihr verehrte Intellektuelle zum Ausdruck. „Sontag,
bloody Sontag“ („Sontag, verdammte Sontag“),
so der Titel der bitterbösen Abrechnung.
– Kunst und Antikunst Tom Wolfe (1930–2018): Auch der Erfinder des
New Journalism äußerte sich abfällig. Sontag gehöre
zu jener Sorte von „Schreiberlingen, die keine
Petition auslassen, sich zu jedem Podium schleppen
und schwerfällige Prosa schreiben“.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 69


Klassiker / Dossier

Foto: 1987 The Peter Hujar Archive LLC; Courtesy Pace Gallery, New York and Fraenkel Gallery, San Francisco
Susan Sontag, 1975

Motive der Pop-Art. Martin Luther King erhielt den Unverkennbar modern ist die
Friedensnobelpreis. Und unter ohrenbetäubendem
Teenager-Gekreische stiegen am New Yorker Flug- „Erlebnisweise“, die Susan Sontag
hafen die Beatles aus der Maschine, um die USA in ­umkreist: ironisch, bewusst naiv,
Kollektivhysterie zu versetzen.
Susan Sontag kam, sah und schrieb. In enger
­hedonistisch und kunstverliebt
zeitlicher Taktung publizierte sie in New Yorker In-
telligenzblättern, bald auch in auflagenstarken
Hochglanzmagazinen. 1963 erschien ihr Romande- wusst naiv, hedonistisch und kunstverliebt. „Camp
büt „Der Wohltäter“, das immerhin Hannah Arendt ist die Betrachtung der Welt unter dem Gesichts-
zum Schwärmen brachte. Nebenbei absolvierte punkt des Stils“, eines bestimmten Stils. Es geht um
Sontag ein schier übermenschliches Pensum an Ki- die Lust am Übertriebenen, Übergeschnappten,
no- und Partybesuchen, Kunst-Happenings und se- Skurrilen, Extravaganten und Zu-viel-des-Guten.
xuellen Abenteuern. Mit 31 hatte sie es geschafft. Das Camp-geschulte Auge ist in der Lage, ein höhe-
„Notes on ‚Camp‘“ („Anmerkungen zu ‚Camp‘“), res Vergnügen aus Dingen zu ziehen, die in üblicher
lautete der Titel des Aufsatzes, der im Herbst 1964 Optik als Kitsch und Nippes erscheinen. Dennoch
in der renommierten Partisan Review erschien und sind Kitsch, Camp und schlechte Kunst keineswegs
seine Verfasserin zum intellektuellen Star am Him- identisch. Camp gleicht einem ästhetischen Filter,
mel der US-Avantgarde machte. der Wahrnehmungskonventionen außer Kraft setzt.
In dem knapp 20-seitigen Essay, der heute zu den Auf eine „campy“ Weise werden nicht nur Gegen-
kultisch rezipierten Schriften Sontags zählt, dreht stände, sondern auch Kunst, Literatur, Musik und
sich alles um eine spezielle „Erlebnisweise“. Unver- Menschen betrachtet und rezipiert: Jugendstilmö-
kennbar modern ist dieses Erleben, ironisch, be- bel, „Schwanensee“, Anita Ekberg, die in „La Dolce

70 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Vita“ in den Trevi-Brunnen steigt, die Beatles („das
Gebräu aus Liverpool“) und Pornografie („Herren-
6 Konzepte
filme, ohne Wollust betrachtet“, wie es in der mitt-
lerweile unfreiwillig „campy“ anmutenden deut-
des Stils
schen Übersetzung von 1966 heißt ). Bei manchen
Dingen hingegen muss man es gar nicht erst versu-
chen. So kann die Pop-Art eines Andy Warhol nie-
mals Camp sein (zu markt- und massenkonform, zu
humorlos und „letztlich nihilistisch“). Auch Jazz
(keine nähere Erklärung) scheidet aus.

Cicero George-Louis Leclerc


Kult des Androgynen (106–43 v. Chr.) de Buffon (1707–1788)
Was definitiv Camp ist: „Eine Frau, die in einem In seinem rhetorischen Lehr- 1753 hält der Naturwissen-
Kleid aus drei Millionen Federn herumläuft“. Ein werk „Orator“ arbeitet Cicero schaftler in der Académie
Mann, der dies tut, erst recht. Denn Camp akzep- die Wirkmechanismen einer Française seine berühmte Rede
Fotos: akg-images/Pictures From History; akg-images/Heritage-Images/The Print Collector; akg-images; akg-images/TT News Agency/SVT; akg-images/Marion Kalter; akg-images/Doris Poklekowski

tiert keine tradierten Geschlechterrollen oder sons- Rede heraus. Es geht dabei über den sprachlichen Aus-
tige fest umrissenen Identitäten, es frönt der Traves- insbesondere um verschie- druck. Im Stil zeige sich der ur-
tie und huldigt rückhaltlos dem Androgynen. Wenn dene Arten des Sprachstils: den eigenste Charakter des Autors:
man sich in Sontags verspielt-altmodischer Gelehr- schlichten, den mittleren und „Le style est l’homme même“ –
samkeit ausdrücken möchte, sagt man: „Camp ist den erhabenen („Dreistillehre“). der Stil ist der Mensch selbst.
der Triumph des epizönischen Stils“, was so viel wie
geschlechtslos oder genderneutral bedeutet.
Wo die Ursprünge des Wortes „Camp“ liegen, ist
nicht ganz klar. Das französische se camper („sich in
Pose werfen“, „sich in den Vordergrund stellen“)
klingt an. Jedenfalls hatte sich Camp als Slang-Voka-
bel in den 1960ern in der Schwulenszene anglopho-
ner Metropolen wie New York eingebürgert. Der Oscar Wilde Coco Chanel
Begriff galt als eine Art Erkennungszeichen, als (1854–1900) (1883–1971)
Codewort, mit dem ein Lebensgefühl zum Ausdruck Der Dichter gilt als Inbegriff des Die französische Modedesig-
gebracht wurde, das der Mehrheit fremd war. Und Dandys. Sontag widmete ihm nerin übersetzte ein neues
nun wurde dieses homosexuelle Betriebsgeheimnis den Camp-Aufsatz. Seine Maxime: weibliches Selbstverständnis
öffentlich preisgegeben, schlimmer noch: Camp wur- „In allen unwichtigen Angele- in Textilform. Weg mit den
de von Sontag zum Gebrauch für Nichthomosexuelle genheiten ist Stil, nicht Ernst- Korsetts und der beengenden
regelrecht aufbereitet und angepriesen. Theatralisch haftigkeit, das Wesentliche. Überdekoration, so das Motto,
erhebt sie zu Beginn des Essays den Vorwurf des Ver- In allen wichtigen Angelegenhei- mit dem Chanel die Eleganz
rats gegen sich selbst, nur um sich dann mit einer ten verhält es sich ebenso.“ revolutionierte.
achselzuckenden Anspielung auf Kants Lehre vom
Erhabenen sofort wieder aus der Affäre zu ziehen.
Um noch einen draufzusetzen, sucht sie Zuflucht bei
Oscar Wilde, indem sie ihn feierlich zum Schutzpat-
ron ihres gnadenlos raffinierten, in 58 aphorismen-
hafte Paragrafen unterteilten Essays erklärt.
Der irische Dichter-Dandy, heißt es, sei der erste
moderne Meister der Camp-Attitüde gewesen. Sicher, Roland Barthes Pierre Bourdieu
auch vor Wilde gab es den Camp-Geschmack, zu- (1915–1980) (1930–2002)
mindest etwas Ähnliches. Die Vorliebe für das Über- In „Am Nullpunkt der Literatur“ Lebensstil als Ausdruck der
zogene, Opulente und Frivol-Sinnliche prägte schon (1953) definiert der von Sontag Persönlichkeit? – Von wegen.
das frühe 18. Jahrhundert. Jene Epoche, in der jede bewunderte Semiotiker Stil In „Die feinen Unterschiede“
Porzellantasse, jede Pillendose von Rokokoröschen als „Form ohne Bestimmung“: (1979) belegt der Soziologe die
überwuchert wurde. Doch die Dandys alter Schule Stil gleicht einem biologischen These, dass der vermeintlich
mit ihrer „lateinischen Poesie“ und ihren Samtjacken „Wachstumsschub“ und speist individuelle Geschmack stets
gaben sich lediglich ihrem überzüchteten Empfinden sich aus einer „mythischen das Produkt gesellschaftlicher
hin, kultivierten ihre Langeweile und versteiften Tiefe des Schriftstellers“. Herrschaftsverhältnisse ist.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 71


Klassiker / Dossier

sich in weltverachtender Pose. Erst bei Wilde blitzt 1964 in bester L’art-pour-l’art-Tradition verstanden
Sontag zufolge jener ironisch-abgeklärte, men- wissen wollte. Es ging ihr um eine rein ästhetische
schen- und dingfreundliche Ästhetizismus auf, in Dimension. Politische und moralische Aspekte wur-
dem sich der „demokratische Geist des Camp“ zeigt. den konsequent ausgeklammert. „Es versteht sich
Einen billigen Esszimmerstuhl konnte der Schöpfer von selbst, dass die Erlebnisweise des Camp unenga-
das „Dorian Gray“ ebenso als Kunst empfinden wie giert, entpolitisiert ist.“ Ein verweigerter Schulter-
einen Dürer-Stich. Im Unterschied zum konserva- schluss mit der damaligen homosexuellen Commu-
tiv-versnobten Dandy hat der Camp-Connaisseur nity, eine Verleugnung des genuin politischen
keinerlei Berührungsängste mit dem Vulgären: „Der Moments der schwulen Subkultur, so lautet der ge-
(alte) Dandy hält sich ein Taschentuch unter die genwärtige Vorwurf. Der Einwand ist abwegig.
Nase und neigt zur Ohnmacht. Der Kenner des Denn bei der „Moral“, von der Sontag die Kunst
Camp saugt den Gestank ein und rühmt sich seiner hier freihalten wollte, handelt es sich um die Moral-
starken Nerven.“ vorstellungen des Spießers. Ein Platz für Homose-
xuelle war darin gar nicht erst reserviert. Camp hin-
Kunst ohne Moral gegen eröffnet die Möglichkeit der Umwertung des
repressiven Wertesystems. Die Verweigerungshal-
Für den Durchschnittsamerikaner von einst enthiel- tung ist die klassische Position des selbstbewusst
ten diese Zeilen eine doppelte Provokation. So wur- aufbegehrenden Außenseiters, der sich endlich die
de Homosexualität in Sontags Text offenkundig nicht Rechte erobert, die ihm die Gesellschaft bisher vor-
nur für völlig unbedenklich gehalten, sondern regel- enthalten hat.
recht idealisiert. Nur nebenbei: Im Erscheinungsjahr Der zweite Punkt, der damals für jede Menge
von „Notes on ‚Camp‘“ gingen in New York zehn Empörung sorgte, hing mit Sontags unbekümmer-
Personen auf die Straße, um zum ersten Mal in der tem Umgang mit dem traditionellen Bildungskanon
US-Geschichte gegen die Diskriminierung von zusammen. Die Brandmauer zwischen akademisch
Schwulen zu demonstrieren. Heute werden in die- nobilitierter Hoch- und barrierefreier Massenkultur
sem Zusammenhang ganz andere Vorwürfe laut. So wurde von ihr einfach niedergepustet. In Europa
nimmt man Sontag posthum übel, dass sie Camp traute man sich derartiges erst 15 Jahre später. Und

Krankheit als Metapher


Zu Beginn der Coronakrise terzieht sie sich einer radika- 20. Jahrhundert verschwand, phorik ist, zeigt nicht nur de-
verkündete Emmanuel len Brustamputation, fünf hielt sich der Aberglaube ren Wiederkehr in der
Macron, Frankreich befände weitere Operationen folgen. in Sachen Krebs. In den Corona­krise. Auch Sontag
sich im „Krieg“ gegen das In Paris beginnt sie schließlich 1970er-Jahren deutete man selbst entkam den Deu­
Virus. Auf die Problematik der eine hoch dosierte Chemo- Krebs oftmals als Ausdruck tungsversuchen nie ganz:
Kriegsmetaphorik wies Su­­- therapie. Wider Erwarten ist unterdrückter Sexualität und ­Ihre Heilung erklärte sie sich
san Sontag bereits 1989 in sie 1977 weitgehend geheilt. Aggression. Die Metaphern, mit ihrem heroischen Überle-
Bezug auf das HI-Virus hin. Im Jahr darauf erscheint so Sontag, sollen unzurei- benswillen, ihrer mentalen
In „Aids und seine Metaphern“ „Krankheit als Metapher“. chend verstandenen Krank- Stärke und Leidensbereit-
zeigt sie, wie der militärische Sontag untersucht hier, wie heiten die Unheimlichkeit schaft. 1998 erhält sie
Diskurs zur Stigmatisierung insbesondere Tuberkulose nehmen. Doch letztlich belas- schließlich erneut eine Krebs-
und Ausgrenzung Betroffe­ner und Krebs im Laufe der Ge- ten sie Erkrankte zusätzlich diagnose – ein Uterussar­-
führt. Sontags Beschäftigung schichte metaphorisch ge- mit Schuld- und Schamgefüh- kom, das sie erfolgreich mit
mit Krankheitsdeutungen deutet wurden: Tuberkulose len. Schlimmer noch, sie einer Radioimmuntherapie
ist biografisch motiviert. 1974 galt als Leiden der be­son­- verhindern, dass Patienten behandelt. Wohl infolge der Be­-
erhält sie unerwartet eine ders Sensiblen und Begab- sich schulmedizinische strahlung erkrankt sie jedoch
Brustkrebsdiagnose. Der Tu- ten, Krebs als Krankheit Hilfe suchen. Metaphern, so 2004 an Leukämie. Eine Kno-
mor hat bereits gestreut, ihre melancholischer Persönlich- ihre Zuspitzung, töten. chenmarktransplantation
Überlebenschancen gelten keiten. Während die My­thi­ Wie schwierig jedoch der bleibt wirkungslos, Sontag
als gering. In der Folgezeit un- sierung der Tuberkulose im Verzicht auf Krankheitsmeta- stirbt kurze Zeit später. (ts)

72 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


zur Sicherheit stützte man sich dabei auch noch auf
eine Überfülle von akribisch ausgewertetem Materi-
al. So erklärte Pierre Bourdieu 1979 in seiner Mam-
mutstudie „Die feinen Unterschiede“ Folgendes:
Die Vorstellung eines „reinen“, von allem schnöden
Eigeninteresse unbefleckten Geschmacksurteils ist
vollkommen abwegig. Die Frage, was „wahre“ Kunst
ist und was nicht, wird im Wesentlichen durch Herr-
schaftsstrukturen beantwortet.

Vom Code zur Konvention


Doch auch wenn man mit der Camp-Brille auf der
Nase einer gotischen Madonnenstatue dasselbe in-
teresselose Wohlgefallen entgegenbringt wie einem
Plastikgartenzwerg – von einer vermeintlich frevel-
haften Gleichrangigkeit aller Geschmacksurteile
kann nicht die Rede sein. In gewisser Weise geht es
sogar darum, eine neue Hierarchie zu errichten.
Camp, schreibt Sontag, ist die Antwort auf die Fra-
ge, wie man im Zeitalter der Massenkultur noch
Dandy sein kann. Es geht um den Versuch, „etwas
Außergewöhnliches zu tun“. Distinktionsgewinn
durch Tabubruch und Selbstvergewisserung der ei-
genen Besonderheit sind das Ziel. Diese Funktion
des Camp ist in einer Zeit, in der man in Feuilleton­
artikeln ironisch über die „Teletubbies“ reflektiert
und Promotionen übers „Jungle Camp“ geschrie- Die Brandmauer zwischen
ben werden, natürlich hoffnungslos veraltet. Son- ­akademischer Hoch- und ­barriere­-
tags früher Essay ist mit dem akademischen Kanon
der Gender und Cultural Studies längst verwach- freier Massenkultur wurde von
sen. Der spezifische „campy“ Wahrnehmungsfilter Sontag einfach niedergepustet
ist ohnehin nicht mehr das Privileg der happy few.
Es gibt ihn seit Jahren als App, mit der man sich
Zeichentrick-Hasenohren ins Selfie montieren für seine Verfasserin. Obgleich Sontag ihr Privatle-
kann. Das ganze Ausmaß des Camp-Niedergangs ben rigoros aus ihren zu Lebzeiten publizierten
wurde schließlich 2019 deutlich, als in New York Schriften herausgehalten hat, schrieb sie indirekt im
wieder die Met Gala, die „wichtigste Motto-Party Grunde andauernd über sich selbst. Fraglos steckt
der Welt“ stattfand. Wie jedes Jahr fand sich zum auch in den „Anmerkungen zu ‚Camp‘“ einer ihrer
ersten Maimontag ganz Hollywood samt Anhang unzähligen Selbstentwürfe. Susan Sontag ist Camp.
im Metropolitan Museum ein. Der ausgegebene Diese Behauptung fiel inzwischen häufiger. Man
Dresscode lautete diesmal: „Camp  – Notes on muss dabei nicht unbedingt an Sontags Auftritt in
­Fashion“. Kim Kardashian und Co. entdeckten die Woody Allens „Zelig“ denken. Andererseits wäre es
Foto: Henri Cartier-Bresson/Magnum Photos/Agentur Focus

„Methode Sontag“. Allerspätestens damit wurde auch nicht falsch. Sontag spielt sich in dem Film aus
der Camp-Essay ganz offiziell selbst zu Camp. „Das dem Jahr 1983 selbst und feiert zugleich die eigene
war so schlecht, dass es schon wieder gut war“ – um Person, so ironisch wie selbstherrlich-unverfroren,
den klassischen Schlachtruf von 1964 zu zitieren, als die Kultfigur, als die sie damals über intellektuel-
der heute auf nahezu erschütternde Weise konven- le Kreise hinaus verehrt wurde. Wenn das kein
tionell klingt. Camp ist, dann hat es Camp niemals gegeben.
Sontag hat damals zumindest geahnt, dass es so Stil ist alles, behauptete Sontag vor 56  Jahren.
kommen würde. Sie beschrieb Camp als höchst Ihr Text hat den Beweis nachgeliefert. Denn der In-
zeitempfindliche Angelegenheit. Dinge, die einst halt der Camp-Noten hat merklich Patina angesetzt.
nicht Camp-kompatibel waren, sind es heute – und Der Stil blieb frisch und erhielt die „Anmerkungen
umgekehrt. Für einen performativen Text über zu ‚Camp‘“ als unverwüstliches Manifest des subver-
Camp gilt dies erst recht. Womöglich gilt es sogar siven Denkens. /

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 73


Klassiker / Überblick

Wiener Kreis Klarheit


Der Wiener Kreis geht

Gruppe Intellektueller aus Wissenschaft davon aus, dass es nichts gibt,


was dem Menschen prinzipiell
und Philosophie, die durch logische Analyse unzugänglich ist. Anstatt selbst eigene
der Sprache sinnvolle von sinnlosen Sätzen Thesen aufzustellen, soll die Philoso-
phie dazu beitragen, uneindeutige
zu unterscheiden versucht. Ziel ist die Grundbegriffe der Wissenschaft wie
Verwissenschaftlichung der Philosophie etwa „Kausalität“ durch eine
präzise formale Sprache zu
Von Vivian Knopf klären.

Rudolf Carnap

Wiener Kreis
(1891-1970)
Meta- Bekanntester Vertreter des
Wiener Kreis
physikkritik logischen Positivismus,
Alle Aussagen der Metaphy- lehrte nach seiner Emigra- (1924-1936)
sik, allen voran Behauptungen tion in den USA
über „Gott“ oder „das Nichts“, sind
lediglich bedeutungslose Scheinsätze,
die sich nicht logisch oder empirisch
verifizieren lassen und damit ihren
theoretischen Anspruch verlieren.
Dasselbe gilt für ästhetische
und moralische
Urteile.

Kritiker
Ludwig
Wittgenstein
(1891-1951)
Wittgenstein distanzierte
sich von Carnap und dessen
Ziel einer logisch ideal
konstruierten Sprache.

1930er 1936

Geschichte

Völkisch-nationalis­tische Strö­ Schlick wird von seinem ehemali-


mungen setzen den Wiener Kreis gen Studenten Hans Nelböck
unter Druck. Die ersten Mitglie- ermordet, was zugleich das Ende
der beschließen zu emigrieren. des Wiener Kreises bedeutet.

74
74 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020
02 / 2020
Kritiker
Moritz Schlick

Wiener Kreis
Frankfurter
(1882–1936) Schule
Physiker, Philosoph und Vor allem Max Horkheimer
Vorsitzender des Wiener (1895–1973) kritisierte die
Kreises positivistische Haltung des
Wiener Kreises, die den
Status quo aufrechterhalte.

Einheits-
wissenschaft
Statt der Trennung von Geistes-
und Naturwissenschaften wird deren
Zusammenführung angestrebt. Die
Otto Neurath

Wiener Kreis
Philosophie fungiert nicht mehr als
(1882-1945) „überwissenschaftliche“ Instanz, statt­-
Ökonom und Wissen- dessen sollen alle Disziplinen in einen
schaftstheoretiker, gleichberechtigten Dialog mit
engagierte sich im Austro- einheitlicher Wissenschafts-
marxismus sprache treten.

Logischer
Positivismus
Erkenntnisse können – bis auf

Kritiker
begriffliche Wahrheiten der forma- Karl Popper
len Logik – einzig aus der Erfahrung (1902-1994)
des unmittelbar Gegebenen gewonnen
Popper zweifelt am
werden und müssen verifizierbar sein.
Verifikationsprinzip: Univer-
Umstritten ist, ob dafür subjektives
selle Aussagen ließen
Empfinden oder auch objektive
sich nie endgültig positiv
Tatsachen vorliegen
bestätigen.
müssen.

1951 2020
alliance/dpa; ÖN/Hilscher; Geoff A Howard/Alamy
picture-­alliance/akg-images; akg-images/picture-­
Fotos: DR; akg-images (3); akg-images/Imagno;

Willard Van
Stock Photo; S. Pavan/Wikipedia

Orman Quine
stellt die klare
Unterscheidung
zwischen
empirischen Der Wiener Kreis gilt heute als
und analyti- Wegbereiter der modernen
schen Wahrhei- analytischen Philosophie mit
ten infrage. Vertretern wie Saul Kripke.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 75


Klassiker / Zum Mitnehmen

Mission Impossible

„Dieselbigkeit“ einer Person besteht so weit, wie


ihr Bewusstsein sich erstreckt, behauptet John Locke.
Was das heißen soll? Wir helfen weiter!
Von Theresa Schouwink

Das Zitat
„Da das Selbstbewusstsein
das Denken immer begleitet
und macht, dass Jeder
das ist, was man ,Sein Selbst‘
nennt, und wodurch man
Die Relevanz sich von andern denkenden Die Erklärung
Woran macht man fest, dass
Dingen unterscheidet, so Was uns als Person bestimmt,
man noch dieselbe Person wie besteht die Dieselbigkeit so Locke, ist das Bewusstsein,
gestern oder gar vor 20 Jahren der Person (…) nur hierin, das unser Denken und Handeln
ist? Die körperliche Erschei- begleitet, und uns unsere Er-
nung ändert sich schließlich und soweit dieses Selbstbe- lebnisse als je eigene wahrneh-
über die Zeit hinweg ebenso wusstsein sich rückwärts men lässt. Und nur soweit,
wie der Charakter. Die Philo-
sophen vor Locke wie etwa auf vergangene Handlungen wie sich dieses Bewusstsein in
die Vergangenheit erstreckt,
René Descartes knüpften die oder Gedanken ausdehnen überdauert auch unsere Identi-
personale Identität an eine
immaterielle Seelensubstanz.
kann, so weit reicht die tät: Wir sind insofern diesel-
ben wie früher, als wir uns an
Locke gründet die perso- Dieselbigkeit der Person; frühere Erlebnisse erinnern

Fotos: www.papyrology.ox.ac.uk/POxy/, gemeinfrei, Wikipedia; akg-images (2)


nale Identität auf die Kontinu-
ität der Erinnerung. Dieser
sie ist dieselbe jetzt, wie da- können. Das bedeutet, dass un-
sere früheste Kindheit nicht
Ansatz setzte sich in der Mo- mals; dasselbe Selbst, zu unserer personalen Identität
derne durch und bestimmt
bis heute die philosophische
welches jetzt sich dessen gehört. Und dass jemand,
der schlafwandelnd oder alko-
Debatte. Wie man personale bewusst ist, hat die Hand- holisiert ein Verbrechen be-
Identität bestimmt, hat immen-
se Konsequenzen für die Pra-
lung verrichtet.“ geht und sich anschließend
nicht daran erinnern kann,
xis – etwa für die Frage, wann im Grunde nicht der „Täter“
wir für unsere Taten verant- ist und somit auch nicht für
wortlich sind und ob eine „Über- „Versuch über den menschlichen Verstand“ (1689) die Tat verantwortlich. Das Straf-
tragung“ unserer Identität recht steht hier jedoch vor
durch Gehirntransplantationen dem Problem, dass von außen
oder digitale Bewusst- kein Einblick in das Bewusst-
seins-Uploads denkbar ist. sein einer Person möglich ist.

76 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Sprint Klassiker weltweit

Ein großes Werk in


einem Satz Nikolai F. S. Grundtvig
(1783–1872)

Das Werk Der Autor Humanist, Volksheld


und Philosoph der „Volklichkeit“
Platon
„Der Staat“
(4. Jh. v. Chr.)

Wenn man in einem Staat


leben will, in dem es keine
Despoten gibt, sollte man
jemandem Macht geben, Dänemark
der sie nicht will, der über die
Verlockungen der materiel-
len Welt hinausgewachsen ist
sowie das Wesen von Wahr-
heit geschaut hat – kurz: Man Nikolai Frederik Severin Grundtvig war ein
frage einen Philosophen. Universalgelehrter. Der 1783 in Udby gebo-
rene Sohn eines Pfarrers wirkte als Theolo-
ge, Historiker, Dichter, Politiker und Philo-
soph. Und mehr noch: In Dänemark firmiert
er bis heute als Volksheld. Bei seiner Beerdigung
Q&A am 11. September 1873 säumten Abertausende die
Straßen Kopenhagens  – mehr Menschen hatten im 19.  Jahrhundert
Wie sollte man sich selbst die Königsbegräbnisse nicht gesehen. Obschon Grundtvig lange
ein Außenseiter blieb und erst mit 55 Jahren eine Pfarrstelle antrat, war
verhalten, wenn er seit jeher ein manischer Schreiber, der in seinem Leben über 150 Bü-
cher verfasste. Ein Kernelement von Grundtvigs Schaffen war dabei die
man wütend ist, Volksaufklärung. So vertrat er nicht nur einen äußerst liberalen Protes-
tantismus und predigte dabei die Werte des Humanismus, was sich in
Herr Montaigne? seinem Leitspruch „Menneske først – kristen så“ („Erst Mensch – dann
Christ“) offenbarte, sondern er gilt auch als Begründer der „folkehøjsko-
le“. Die dänische Volkshochschule, die als freiwillige Ergänzung zum
offiziellen Schulsystem fungiert und Menschen auf Basis einer empathi-
„Ich zöge es jedenfalls vor, schen Bildungsidee zur Selbstentfaltung anleitet, ist mit ihren landesweit
meine Leidenschaften über 90 Dependancen bis heute eine wichtige Institution Dänemarks.
offen hervorbrechen als (…) Zudem entwickelte Grundtvig das Konzept der „Volklichkeit“. Gemeint
war damit eine Art skandinavisch-liberaler Patriotismus, der nichts mit
in mir schwelen zu lassen: „völkischem“ Denken zu tun hat. Im Gegenteil: Volklichkeit beschreibt
Sobald sie sich Luft verschaffen keinen aggressiven Nationalismus, sondern eine Art solidarisches Reso-
nanzverhältnis. (nm)
und entladen, sinken
sie kraftlos zusammen.“ Zum Weiterlesen
Inga Meincke: „Vox viva. Die ‚wahre Aufklärung‘ des Dänen
„Essais“ (1572–1592): „Über den Zorn“ Nikolaj Frederik Severin Grundtvig“ (Winter, 2000)

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 77


Klassiker / Menschliches, Allzumenschliches

78 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Comic von Catherine Meurisse

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 79


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Kurz und bündig

Anfänge
analysieren
Lesen steht derzeit noch höher im Kurs
als sonst – natürlich zu Recht. Vielleicht
ist das genau der richtige Moment, um
einen Blick auf die Kulturtechnik selbst
zu werfen oder besser noch: die Anfänge
des Lesens zu untersuchen. Dabei
hilft Peter-André Alts Analyse ­„Jemand
musste Josef K. verleumdet haben“,
eine kluge Meditation über „Erste Sätze
der Weltliteratur und was sie uns
ver­raten“ (C. H. Beck, 26,95 €). Mit Kant
weist Alt darauf hin, dass der erste gotländischen Runensteinen oder kyril-
Satz ähnlich paradox sei wie die Schöp- lischen Alphabeten – und macht nach­
fungsgeschichte: „die Welt selber vollziehbar, wie Zeichen und Sinn zusam-
aber kann keinen Anfang haben“. Wie menkommen. Aber ab wann wollen
jedoch kommt es dann zu ersten Menschen überhaupt etwas aufzeich-
Sätzen? Indem Schriftsteller wie Kafka nen? Und wie wird kommuniziert?
sich über den Anfang betrügen, „glei- Der Anthropologe, Verhaltens- und Pri-
tend in Erzählungen eintreten“ oder in matenforscher Michael Tomasello
einem Zustand der Trance schreiben – wählt andere Wege zum Anfang: Seine
und damit den ersten Satz nicht an der weit ausholende Studie „Mensch
Last der folgenden Geschichte ersti- werden – eine Theorie der Ontoge­
cken lassen. Wer über erste Worte nach- nese“ (Suhrkamp, 34 €) untersucht,
denkt, kann von ersten Buchstaben was Menschen- und Affenkinder können
nicht schweigen: Matthias Heine und was sie unterscheidet. Nur einer
erzählt in „Das ABC der Menschheit“ der vielen Unterschiede: „symbolisch
Jutta Person ist
(Hoffmann & Campe, 18 €) von hiera- werden“. Womit man wieder bei Sprache, Redakteurin des Ressorts
tisch-ägyptischen Schreibschriften, Schrift und ersten Zeichen wäre. Bücher

82 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Buch des Monats

Was folgt, wenn ich immer


schon da bin?
Der Philosoph Lambert Wiesing etwas konfrontiert zu sein. „Ich bin zum
Dasein gezwungen. Und dieser Zwang
ist in „Ich für mich“ dem menschlichen wird von mir phänomenal erlebt.“ Ande-
Selbstbewusstsein auf der Spur – rerseits kann jemand, der sich ärgert, aus-
drücken, wie ihr oder ihm „zumute“ ist.
indem er erkundet, wie uns zumute ist   Mit dieser Erlebnisqualität legt Wiesing
Von Thorsten Jantschek die Grundverfassung menschlichen Da-
seins frei. Weil sich eine solche Erlebnis-
qualität nicht als rein mentales Phänomen,
sondern nur als „immer schon“ inkor-
Lambert Wiesing poriertes Phänomen denken lässt, unter-
Ich für mich. Phänomenologie läuft Wiesing in einem dritten Schritt ele-
des Selbstbewusstseins gant jeden Leib-Seele-Dualismus. Das gibt
Suhrkamp, 256 S., 20 € ihm den Raum, die leiblich-körperliche
Seite menschlichen Lebens zu entfalten.
Während die Phänomenologie hervor-

G
hebt, Leib zu sein (und nicht: einen Körper
ut, dann eben nicht!“ denkt man, denden Zug: „An die Stelle der unbeant- zu haben), betont Wiesing – wiederum sehr
wenn Lambert Wiesing gleich zu wortbaren Frage nach den subjektiven Be- originell –, dass Menschen ontologisch un-
„ Beginn festhält: „Die Wirklich- dingungen der Möglichkeit von Selbst- terschiedlich in der Welt sein können, dass
keit des Selbstbewusstseins lässt sich we- bewusstsein gilt es, die beantwortbare Fra- ihre Lebenswirklichkeit zwischen den Po-
der erklären noch verstehen.“ Und diesem ge nach den Folgen der Wirklichkeit von len Leib und Körper oszilliert. Die Stärke
Rätsel den Stempel „Urphänomen“ auf- Selbstbewusstsein für das Subjekt zu stel- des Buches ist, diese Stile des In-der-Welt-
drückt. Wenn sich nur alle philosophi- len.“ Statt der Vorgeschichte, wie Selbstbe- Seins nicht von vornherein zu bewerten.
schen Probleme so erledigen ließen! Aber wusstsein zustande kommt, erzählt Wie- Erst im vierten Schritt kommt eine Wert-
man hat ja gelernt: Bewusstsein ist immer sing die Nachgeschichte, entwickelt philo- dimension zum Tragen. „Ich erlebe mich
Bewusstsein von etwas, und ein Bewusst- sophisch dicht in vier Schritten, was es be- selbst in den jeweiligen Seinsstilen in einer
sein vom Selbst, das sich in Sätzen wie „Ich deutet, Selbstbewusstsein zu haben oder jeweils anderen Art als wertvoll.“
habe Schmerzen!“ ausdrückt, ist philoso- vielmehr, sich seiner selbst bewusst zu sein. So stellt Wiesing diese unterschiedli-
phisch nicht einfach zu haben, weil sich Denn aus der Wirklichkeit des Selbst- chen Stile dar, rekonstruiert verschiedene
innere Gegenstände nicht so identifizieren bewusstseins folgt zunächst: „Man ist sich Formen der Selbstsorge, des Zusammen-
lassen wie äußere – und deshalb liest man seiner selbst bewusst, weil man selbst im lebens bis hin zu unterschiedlichen Weisen
eben doch weiter. Glücklicherweise! Selbstbewusstsein vorkommt“, erklärt der des Wohnens als besonders handgreifli-
Denn es ist spannend zu sehen, wie die- Philosoph, „und von diesem meinen Vor- chen Folgen des Selbstbewusstseins. Dass
se Einsichten innerhalb der Phänomenolo- kommnis weiß ich aus eigener Kenntnis.“ einem dennoch zuweilen mit diesem wich-
gie entstanden sind. Die konnte sich des So ist es möglich, dieses Phänomen ohne tigen Buch nicht ganz wohl „zumute“ ist,
Foto: Tina Ahrens; Autorinnenfoto: Johanna Ruebel

Themas entledigen, indem sie jede reflexi- Beziehung eines Selbst auf sich zu denken, liegt an der Vollfettstufe seiner phänome-
ve Bezugnahme auf ein Selbst und damit und zwar als Teilhaftigkeit. Man wird der nologischen Terminologie, die einem ge-
auch jede Theorie des Selbstbewusstseins Kenntnis unmittelbar teilhaftig. Dazu frei- waltige Aneignungsmühen zumutet. Aber
prinzipiell zum Scheitern verurteilt hat. lich bedarf es einer präreflexiven Erlebnis- vielleicht stimmt es ja, was Ludwig Witt-
Das Dumme ist nur, dass mit einem philo- qualität. Diese findet Wiesing in einem genstein einmal sagte, dass nämlich der
sophischen Scherbengericht die Frage zweiten Schritt in der komisch klingenden, Wert philosophischer Ergebnisse sich an
nach dem Selbstbewusstsein im Leben aber überraschend produktiven Kategorie den Beulen bemisst, die sich der Verstand
nicht verschwindet. Hier setzt der Phäno- der Zumutung. Damit fängt er einerseits beim Anrennen an die Grenze der Sprache
menologe, der zuletzt einen Band zum den Widerfahrnischarakter menschlicher geholt hat. Der Wert dieser Lektüre dürfte
Luxus veröffentlicht hatte, seinen entschei- Existenz ein, weil Zumutung bedeutet, mit also beträchtlich sein.

für alle für Neugierige mit Vorwissen hoch motiviert

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 83


Bücher / Postheroismus

Thema

Superman wohnt hier


nicht mehr
Sind Helden passé oder müsste man sie nur neu und
anders erfinden? Drei aktuelle Bücher untersuchen
den Postheroismus aus philosophischer, soziologischer
und feministischer Sicht  
Von Josef Früchtl

H
elden sind eine zwiespältige An- heute Zivilgesellschaft nennt. Sie ist der sche Helden“ auch ein Plädoyer für ein
gelegenheit. Mal werden sie ein- Ort für Individuen, die sich für eine Sache Subjekt, „das die Kunst beherrscht, zwi-
gehüllt von Pathos und Power- einsetzen und oft auch neue Wege wagen, schen heroischem Handeln und posthe-
sound, mal von Moral und Humanität Menschen also mit Zivilcourage und Fan- roischem Aushandeln virtuos hin und her
und oft auch noch von Männlichkeitsge- tasie, aus denen mitunter, wie etwa bei zu springen“. Bröcklings Studie ist ge-
habe. Zugleich aber wirken sie ungebro- Edward Snowden und Greta Thunberg, schliffen von den Methoden der Sozial-
chen attraktiv. Und so werden heute Helden und Heldinnen werden können. wissenschaften und atmet zugleich den
nicht nur Widerstandskämpfer und Re- Freilich gibt es hier ein grundsätzliches freien Geist der Essayistik. Sie liest sich
volutionäre, sondern auch Lebensretter, Problem. Man kann nämlich demokrati- wie ein wissenschaftlicher Roman, lehr-
Whistleblower und Klimaaktivistinnen sches und antidemokratisches Heldentum reich und spannend, auf dem Stand der
zu Heldinnen und Helden erklärt, wäh- nicht klar und deutlich voneinander un- Forschung und zugleich mit leichter
rend sich ein Millionenpublikum in Co- terscheiden. Wenn Thomä als Abgren- Hand geschrieben.
mics, Computerspielen und Filmen an zungsmerkmal vorschlägt, dass der demo- Der Ausdruck „postheroisch“ taucht
Superhelden erfreut. kratische Held zugleich „einer von uns“ seit den 1980er-Jahren in verschiedenen
Es ist daher nur konsequent, dass die wie „einer für uns“ ist, einer, der etwas Zusammenhängen auf. In politischen
Zwiespältigkeit der Heldenfigur das wagt, was wir selber nicht wagen, nämlich und militärischen Kontexten ist damit
Nachdenken herausfordert. Gleich drei eine andere Welt zu eröffnen, kann dies gemeint, dass man keine Opferbereit-
Bücher haben gegenwärtig diese Heraus- auch der antidemokratische Held für sich schaft mehr mobilisieren kann. In der
forderung angenommen. Dieter Thomä beanspruchen. Auch Thomä muss daher Psychologie bis hin zur Managementthe-
gibt ihr in „Warum Demokratien Helden zugeben, dass es immer auf eine „Balan- orie steht der Ausdruck dagegen in Ver-
brauchen“ eine nachdrücklich politische ce“ ankommt. bindung mit dem „flexiblen Menschen“,
Wendung. Auch moderne Demokratien Auf diese Sichtweise könnte sich wohl der sich im guten pragmatischen wie im
haben demnach Helden nötig, denn De- auch Ulrich Bröckling einlassen. Seine schlechten opportunistischen Sinn an
Foto: Tina Ahrens

mokratie kann nicht nur von Gesetzen Haltung zum Thema ist zwar grundsätz- wandelnde Umstände anpassen kann.
und Institutionen gesichert werden, son- lich argwöhnischer als diejenige Thomäs. Bröckling macht allerdings sehr klar, dass
dern bedarf auch jener Sphäre, die man Dennoch bietet sein Buch „Postheroi- das Postheroische missverstanden wird,

84 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Dieter Thomä, Warum Demokratien
Helden brauchen. Plädoyer für einen
zeitgemäßen Heroismus
Ullstein, 272 S., 20 €

Ulrich Bröckling, Postheroische


Helden. Ein Zeitbild
Suhrkamp, 277 S., 25 €

Lisz Hirn, Wer braucht Superhelden.


Was wirklich nötig ist, um unsere Welt
zu retten
Molden/Styria, 160 S., 22 €

Von dieser Illusion zeigt sich das Buch


„Wer braucht Superhelden“ nicht wirk-
lich frei. Die Philosophin Lisz Hirn hat
es auf den Superman abgesehen, wie er
einem im Comic und Blockbuster-Film
begegnet. Zur Identifikation lädt dieser
Held zunächst ein, weil er wie der „per-
fekte Untertan“ stets im sozialen Dienst
handelt. Heutzutage aber, in Zeiten
männlicher Verunsicherung durch die
emanzipierte Frau, baut sich an ihm die
bekannte toxische Maskulinität auf. Eine
Verteidigung der Superhelden, wie etwa
wenn man meint, man befinde sich in ei- Mal“ gelingen, denn das wäre „selber ei- bei Thomä, findet man hier nicht. Dabei
ner Zeit, die das Heroische vollkommen ne heroische Größenphantasie“. Die Fi- gäben Filme wie „Black Panther“ oder
hinter sich gelassen habe oder  – noch gur des nicht mehr heldenhaften Helden „Wonder Woman“ dafür doch etwas her.
stärker – es jemals hinter sich lassen kön- klingt zwar nach einem Paradox, aber sie Hirn packt ihr Thema zwar ohne Um-
ne. In dieser Hinsicht drängt sich der meint ein praktisches Könnertum in schweife an, umkreist es aber in kleinen
Vergleich mit der „Postmoderne“ auf, post-postmodernen Zeiten, eben die Fä- Schleifen eher journalistisch, mit Streif-
denn auch diese Bezeichnung war in vie- higkeit, „flexibel zwischen On- und zügen durch aktuelle gesellschaftspoliti-
lerlei Hinsicht unscharf und stets in Ge- Off-Modus hin- und herzuwechseln“, das sche Ereignisse. An dezidierten Urteilen
fahr, mehr zu versprechen als einzulösen. Heldentum mal an- und mal auszuschal- spart das Buch nicht. Am Ende hat man
Die teils nüchterne, teils spielerische ten, ohne der Illusion zu folgen, man den Eindruck, dass es sich seinem Thema
dritte Option des Soziologen lautet, dass könne diese beiden Seiten und noch dazu zu sehr angepasst hat und selber vereinfa-
man das Heroische „kaputtdenken“ soll. wahres und falsches Heldentum gegenei- chend verfährt  – wie die Welterklärun-
Das kann natürlich nicht „ein für alle nander ausspielen. gen der Superheldengeschichten.

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 85


Bücher / Unsere Wahl
scobel.mag mann gesprochen also das System aller
Systeme: die Summe aller Teilsysteme,
Neue Technik
Hilft das gleich ob menschlich oder natürlich, po-
litisch oder wirtschaftlich, wissen-

Himmelsdach? schaftlich oder spirituell. Was bereits ein


Problem andeutet: Wer ist in der Lage, Martina Heßler,
die Komplexität dieses Ganzen zu beob- Kevin Liggieri (Hg.)
Technikanthropologie.
Zhao Tingyang setzt achten und in einer Theorie zu be-
Handbuch für Wissenschaft
schreiben? Hilft da eine Metapher wie
chinesischen „Himmelsdach“?
und Studium
Nomos, 592 S., 58 €
Universalismus gegen „China ist eine Erzählung, Tianxia
westliche Denktraditionen dagegen eine Theorie“ – die Theorie ei-
ner Ordnung, die die gesamte Welt Nicht erst im Kontext digitaler und ver-
„inkludiert“, wie Zhao sagt. Der Anspruch netzter Technologien, so die Herausgeber,
des Buches ist es, diese Weltordnung steht das Verhältnis von Mensch und Tech-
zu entfalten, in der es kein Außen mehr nik zur Disposition. Vielmehr stellten Inno-
gibt und folglich auch keine Unter- vationen wie Automaten, mechanisierte Ar-
scheidung zwischen Außen- und Innen- beitsabläufe oder Elektrizität immer schon
Zhao Tingyang politik, die ohnehin nur partikulare und eine Herausforderung für unser Selbstbild
Alles unter dem Himmel. nationalstaatliche Interessen umsetzt. dar. Dies zeigt sich an der Vielzahl technik-
Vergangenheit und Zukunft
der Weltordnung Weiter: „Die demokratische Erzählung anthropologischer Ansätze und Theorien,
Suhrkamp, 266 S., 22 € gehört zur Logik des modernen Fort- die von der Wahrnehmung über Anthropo-
schrittsglaubens. Aber der Fortschritt techniken bis hin zur technologischen Sin-
kennt ebenso wenig wie die Evolution gularität reichen. Für Studierende und For-
Ein Schuss vor den Bug gefällig? Oder einen Endpunkt“ – den die westliche schende bietet das Handbuch hierzu einen
eine Nachhilfestunde zum Thema „Was Philosophie jedoch mit großer Hartnä- hilfreichen Überblick.—Johanna Seifert
immer schon fehlging in der westlichen ckigkeit erreichen will. Zhao sieht
Philosophie“? Dann sollten Sie Zhao daher Theologie am Werk: ein Denken,
Tingyang lesen, auch auf die Gefahr hin,
dass Sie viele seiner Thesen ablehnen.
das sich Feinde suchen muss, deren
„Heidentum“ es bekämpft. Letztes Zitat:
Rechtsgefühl
Macht nichts. Denn die Frage ist, ob Sie „Die Vereinten Nationen bieten einen
die besseren Argumente anführen kön- gemeinsamen Raum der Konsultation
nen. Es ist dieser starke argumentative und des Feilschens zwischen den
Angriff auf die westliche Aufklärungs- Staaten, die ihr angehören. Es handelt Sandra Schnädelbach 
tradition, der den Reiz und auch die sich um ein System, das versucht, nack- Entscheidende Gefühle.
Wichtigkeit des Buches ausmacht. „Al- te und brutale Gewalt in Tauschge- Rechtsgefühl und juristische
Emotionalität vom Kaiserreich
les unter dem Himmel“ bietet eine ideale schäfte umzuwandeln.“ Starke Thesen, bis in die Weimarer Republik
Diskussionsgrundlage für eine bessere, die zwingen, sich mit der chinesischen Wallstein, 411 S., 34 €
zugleich aber realistischere Weltord- Perspektive auseinanderzusetzen und
nung als die bestehende, die in der Tat die besseren Argumente zu finden.
vom Westen geprägt ist. Der chinesi- Denn eine Metapher wird kaum die letz- Wie hängen Recht und Rationalität zusam-
sche Philosoph legt den Finger in die te Antwort bieten, auch wenn sie aus men? Was wurde um 1900 als Rechtsgefühl
Wunde: Weltbürger werden – Kants China kommt. definiert, und wie passte das Ideal der Lei-
Mahnung aus der Schrift „Zum ewigen denschaftslosigkeit zum richterlichen Füh-
Frieden“, die Zhao häufig zitiert –, len? Sandra Schnädelbach, Historikerin
davon ist Europas Politik weit entfernt. und Schlussredakteurin des Philosophie
Kern des Buches ist „Tianxia“, ein Magazins, zeigt, wie sich Erzählmuster ver-
stark metaphorisches, zugleich anpas- ändern. Neben die philosophisch-aufkläre-
sungsstarkes und vielfältiges Zen- rische Tradition treten die modernen Na-
tralkonzept des chinesischen Denkens. turwissenschaften mit anderen Emotions-
Autorenfoto: Klaus Wedding

Zentral nicht nur, weil es das Denken definitionen. Das Wertempfinden des Rich-
des Zentralkomitees widerspiegelt. Wört- Gert Scobel ist moderiert auf 3sat ters wurde neu verhandelt; und Gefühle
Honorarprofessor für die Sendung „Scobel“.
lich übersetzt bedeutet es „unter dem selbst, das belegt die aufschlussreiche Un-
Philosophie an der Seit 2011 ist er Kolumnist
Himmel“, „Land unter dem Himmel“ oder Hochschule Bonn- des Philosophie tersuchung, erweisen sich als historisch
einfach „die gesamte Welt“. Mit Luh- Rhein-Sieg und Magazins höchst variabel.—Jutta Person

86 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Jenseits der Traumhäuser Slavoj Žižek

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Donatella Di Cesare bestimmt die politische Alenka Zupančič
Position der Philosophie neu: weg vom starken
Subjekt, hin zum „Anderen“ und Schwachen
EK
E ŽIŽ
Von Hans-Peter Kunisch NEU
DER

Donatella Di Cesare 
Von der politischen Berufung
der Philosophie
Übers. v. Daniel Creutz
Matthes & Seitz, 240 S., 22 €

D
onatella Di Cesare zählt zu den gen-Welt des vergessenen Außen schon für
interessantesten DenkerInnen die gesamte Wirklichkeit zu halten, statt
der Gegenwart: Eigentlich ist sich um Alternativen außerhalb von ihr zu
die römische Philosophieprofessorin, die kümmern. Um diesen beschränkten Blick
in Tübingen studiert hat, ja eine der letz-
ten Gadamer-SchülerInnen sowie ehema-
zu vermeiden, tue sie gut daran, sich, mit
Emmanuel Lévinas, nicht auf die Seite des
Zwei Werke im
lige Vizepräsidentin der Heidegger-Ge- starken Subjekts zu stellen, das per Mach- Dialog über Sex,
sellschaft und bringt so nicht unbedingt barkeitswahn die Grundlagen des Lebens
die besten Voraussetzungen für analyti- zerstöre – sondern auf die Seite des „Ande- politische Ökonomie
sche Schärfe mit. Aber schon ihr nach der ren“, das von der Gesellschaft heute beina-
Veröffentlichung der ersten „Schwarzen he nur noch in der Gestalt des „Flücht- und Ontologie.
Hefte“ entstandenes Buch „Heidegger, lings“ oder des „Illegalen“ wahrgenommen
die Juden, die Shoah“ zeigt in seiner Klar- werde, als Störfaktor im Wellnessbereich.
heit zu Heideggers Irrtümern, dass sie of- Auch Di Cesare warnt vor der Klima- Slavoj Žižek: Der Exzess der Leere.
fen ist für Dinge, die manche aus ihrem katastrophe. Und plädiert mit Lévinas für Ökonomisch-philosophische Notizen
Umfeld lieber verdrängen. eine Ethik der Verantwortung. Gerade zu Sexualität und Kapital
Auch in ihrem neuen Essay „Von der zeigt sich, dass Katastrophen auch anders ISBN 978-3-85132-963-6, 431 S., € 39,–
politischen Berufung der Philosophie“ aussehen können: Corona reinigt die Pe- Neuerscheinung 2020
geht es – vor dem Hintergrund der Traditi- kinger Luft und Venedigs Kanäle und
Alenka Zupančič: Was ist Sex?
on von Heraklit bis Giorgio Agamben – um setzt dem touristisch-ökonomischen Hy-
das philosophische Problem mit der Wirk- perkonsum der Ressourcen ein Pausenzei- Psychoanalyse und Ontologie
lichkeit. Di Cesare versucht, die Position chen. Aber das Schlusswort der Philoso- ISBN 978-3-85132-962-9, 293 S., € 26,–
der Philosophie neu zu bestimmen, indem phin bleibt aktuell: „Vor dem Selbst 2019, 2., überarbeitete Auflage 2020
sie von Walter Benjamins „Passagen“ als kommt der Andere. Vor der Freiheit
den „Traumhäusern des Kollektivs“ aus- kommt die Verantwortung. Und diese
geht: Auch die Philosophie ist, als Teil der Letztere ist, da sie ohne Prinzip und Be-
kapitalistisch-demokratischen westlichen fehl bleibt, eine anarchische.“ Sie liegt bei
Gesellschaft, in der Gefahr, diese Passa- jedem Einzelnen. TURIA + KANT
www.turia.at
Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 87
Bücher / Unsere Wahl

Vergeben und Islam und


Vergessen Moderne
als Kind zur Strafe immer in den Keller
gesperrt haben? Widerspricht es nicht den
Prinzipien der Gerechtigkeit, wenn wir
Susanne Boshammer  den anderen so leicht davonkommen las- Lamya Kaddor (Hg.)
Die zweite Chance. Muslimisch und liberal!
sen oder fordert nicht im Gegenteil unse-
Warum wir (nicht alles) Was einen zeitgemäßen
verzeihen sollen re Menschlichkeit, dass jeder eine zweite Islam ausmacht
Rowohlt, 320 S., 25 € Chance verdient hat? So sorgfältig und Piper, 320 S., 22 €
klug Boshammers Argumentation kons-
truiert ist, nimmt sie dem Phänomen des
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch Verzeihens doch viel von seiner Rätselhaf- Seit ihrem Buch „Muslimisch, weiblich,
wir vergeben unseren Schuldigern.“ Nicht tigkeit. Am Ende ist das Buch vor allem deutsch“ ist Lamya Kaddor, Islamwissen-
nur im Christentum gilt die Vergebungs- Anleitung und Appell, nach sorgfältigem schaftlerin und Religionslehrerin, eine auf
bereitschaft als hohe Tugend. Aber was Nachdenken doch dem Verzeihen den vielen Kanälen gesendete Stimme, ob es
passiert eigentlich genau, wenn wir je- Vorzug zu geben. Aber natürlich nicht im- um das Verhältnis von Religion und Staat
mandem verzeihen? Das Buch der Philo- mer.—Lea Wintterlin geht oder um die Selbstbestimmung von
sophieprofessorin Susanne Boshammer Muslimen in Deutschland. Ihre erklärten
will weder ein Ratgeber sein noch einen Gegner: der fundamentalistische Islam so-
philosophiegeschichtlichen Überblick in
Sachen Verzeihen liefern.
Kinderbuch wie die „Wagenburg-Mentalität“ einer
schweigenden muslimischen Mehrheit, die
Stattdessen nähert sich die Autorin, sich jeder modernisierenden Debatte ver-
ganz in sprachanalytischer Tradition, dem schließt. In dem Sammelband „Muslimisch
Phänomen durch eine Beobachtung der und liberal!“, den Kaddor nun herausgege-
Alltagssprache. Mit zahlreichen, leicht Bette Westera, Sylvia Weve ben hat, stellen sich 20  Autorinnen und
Was macht das Licht,
nachvollziehbaren Beispielen grenzt sie Autoren die Frage, was „einen zeitgemä-
wenn es dunkel wird?
scharfsinnig und exakt das Verzeihen von Übers. v. Rolf Erdorf ßen Islam ausmacht“. Ihre Antworten
verwandten Phänomenen ab  – wie das Rieder, 80 S., 19,90 € changieren zwischen Bestandsaufnahme,
Entschuldigen, Vergessen oder Nachse- Plädoyer und To-do-Liste und sind in die
hen. Denn anders als es zum Beispiel das Felder Koranhermeneutik, Gesellschafts-
Sprichwort „vergeben und vergessen“ na- Auf eine philosophische Frage gibt es politik und Gender gegliedert.
helegt, versinkt, wenn wir verzeihen, das mitunter mehr als nur eine Antwort, und Islam und Menschenrechte? Kein Wi-
Geschehene nicht einfach im Ozean der manchmal besteht sie aus Versen und Bil- derspruch. Toleranz gegenüber anderen
Vergangenheit, noch sprechen wir den dern. Bette Westera beantwortet die Fra- Religionen? Im Koran nachweisbar. Mus-
Täter von seiner moralischen Schuld frei. ge „Was macht das Licht, wenn es dunkel limischer Liberalismus? Die beste Waffe
Und dennoch erlauben wir ihm, mit sich wird?“ ganz anders als Physiker oder Ast- gegen islamistischen Extremismus. Dieser
ins Reine zu kommen. Das widerspricht ronomen – und trotzdem sind ihre Mini- Band liefert Argumente für einen Islam,
jeglicher Logik der Ökonomie, in der ei- aturen richtig und vor allem lebensnah. der hierzulande auch an den säkularen
nes immer ganz genau gegen das andere Den astrophysischen Rätseln um Raum Mainstream anschlussfähig sein soll. Er
aufgerechnet wird. Dem geht Boshammer und Zeit begegnet die Niederländerin so wendet sich gegen die religiöse Notwen-
jedoch nur am Rande nach. humorvoll wie weise. Ihre Reime, von digkeit des Kopftuchs, erklärt den Nutzen
Das Interesse der Philosophin liegt vor Rolf Erdorf melodisch und präzise über- veganer Ernährung und versucht sich an
allem in einer moralisch-praktischen Ab- setzt, verlieren nie die Bodenhaftung und einer Handreichung für Schulhöfe, auf de-
wägung der Gründe für und wider das überraschen doch mit ungeahnten Er- nen der Antisemitismus muslimischer Ju-
Verzeihen. Damit tendiert das Buch an kenntnissen. Dazu liefern Sylvia Weves gendlicher den Ton angibt. Auch der
manchen Stellen dann doch ein wenig Illustrationen noch einmal eigene Ant- schwule Diskurs über die Prophetenüber-
Richtung Ratgeber. Hat wirklich jeder das worten im Bild. So entsteht auf jeder lieferung kommt zu Wort.
Geschenk des Verzeihens verdient? Muss Doppelseite großes Kino zu essenziellen Vielfalt, so erklärt Kaddor, solle den Is-
ich meinen Eltern vergeben, dass sie mich Fragen.—Thomas Linden lam vor der Schraubzwinge aller Islamis-

für alle für Neugierige mit Vorwissen hoch motiviert

88 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


[Was bedeutet das alles?]

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musklischees bewahren. Der Band reflek-

95 S. · ISBN 978-3-15-019669-4 · € 6,00


tiere eine Entwicklung, die sich in der
muslimischen Diaspora erst allmählich
vollzogen habe: Das theologische Erbe sei
vom „Schutt der Islamdiskurse“ freigelegt
worden, wodurch die vielgestaltige „musli-
mische Realität zwischen Fundamentalis-
ten und Säkularisten, zwischen Sunniten,
Schiiten, Aleviten, Mystikern“ nach und
nach wieder zum Vorschein gekommen sei.
Zugleich erwecken diese Texte stets den
Eindruck, dass sie von ziemlich genau de-
nen geschrieben wurden, an die sie sich
auch wenden.—Ronald Düker
Lesen gilt als retro: Bücher sollen Rückzugsort und »Wellnessoase
für die Seele« sein. Für den Literaturwissenschaftler Sascha Michel

Visionärin greift das zu kurz. Als Lesende nehmen wir an der Unruhe der Welt
teil und schärfen unser Bewusstsein für Mehrdeutigkeiten aller Art.

AKT 10 Alle Bände der Reihe:


www.reclam.de/wbda Reclam
Ursula K. Le Guin
Am Anfang war
der Beutel
Ursula K. Le Guin
Warum uns Fortschritts-Utopien
an den Rand des Abgrunds führten
und wie Denken in Rundungen
Am Anfang war der Beutel
die Grundlage für gutes
Übers. v. Matthias Fersterer

Jahresabo
Leben schafft

think oya, 95 S., 10 €

Vorstellungskraft braucht es nicht nur,


um Romane zu schreiben, sondern auch,
für SchülerInnen und
um Wege aus realen Krisen zu finden. StudentInnen
Die US-amerikanische Science-Fiction-
Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018)
gibt in ihren kulturkritischen Texten da- Nr. 05/ 2018
August/September

zu erhellende Einsichten: Lineare Fort-


Nr. 03/ 2018
April/Mai

Nr. 05/ 2017


August / September

schrittsutopien von Wissenschaft und MAGAZIN

45%
MAGAZIN
Technik haben unsere Welt an den Ab- Warum machen wirMAGAZIN
nicht mehr aus unserer
grund geführt. Von solch patriarchalen Will ich
zu viel
Mehr Mu
ße! Freiheit?

SPAREN
D D.
Fantasien distanziert sich die Visionärin RICHARHT
oderPRECzu
Einfach leben
wenig?
für das
streitet mmen
inko
Grunde

mit ihrer „Tragetaschentheorie des Er- Warum ist das so


kompliziert?
zählens“, die hier erstmals übersetzt ist; GEFÄHRLICHE VERSAMMELT
DENKER EUCH!
Wir trafen dieAntonio NegriAfD
Köpfe hinter fordert
und Pegida eine neue Revolution
dazu kommen weitere Essays und Reden EMMANUEL
„Empathie war
CARRÈRE
„MEIN WILLE WURDE
meine Rettung“
GEBROCHEN“

sowie ein Gedicht. Lévi-Strauss und DIE GEDULD Bericht aus der Psychiatrie
DES LEOPARDEN
Durch die Wildnis Kirgistans

Laozi im Gepäck, bricht Le Guin mit der


D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

THEA DORN: „WIR BRAUCHEN EINEN


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0 5
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

0 3
0 5

AUFGEKLÄRTEN PATRIOTISMUS“
4 192451 806907
4 192451 806907
4 192451 806907

SILICON SOWJETS: VOM RUSSISCHEN UTOPISMUS ZUM TECH-KAPITALISMUS

eurozentrischen Perspektive und be- EVAThoreau


ILLOUZ Darwin
– und
ÜBER
VERLIERERINNEN
derund
#METOO: die menschliche
amerikanische
„FRAUEN
DER SEXUELLEN REVOLUTION“
von Cord Riechelmann und Dieter Thomä
Traum
SIND DIE Natur

trachtet das westliche Denken anthropo-


logisch-daoistisch – um Visionen für ein Alle 6 Ausgaben
gutes Leben zu finden.—Grit Fröhlich + Set mit Haftnotizzetteln
philomag.de

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 89


Finale / Ästhetische Erfahrung

Musik Kino

Der Weltzeitliche Der Spuk als Spiegel

Wie weit in die die Robot Koch in einem Second-


Hand-Laden in Los Angeles aufstöber-
Zukunft denken? Eine te, und dient ihm nun als Leitmotiv.
Gemeinhin beschränkt sich unser Zu-
Milliarde Jahre, schlägt kunftsdenken auf eine Generation –
Robot Koch vor nicht von ungefähr widmet sich der
Weltklimarat dem Jahr 2050. Mit
dem Philosophen Hans Blumenberg
könnte man sagen: Wir rechnen
Der perfekte Popsong ist dreieinhalb nicht in der Spanne der „Weltzeit“, son-
Minuten lang, besonders Eilige wie die dern in jener der „Lebenszeit“: Der
Gruppe Napalm Death brachten ein Gedanke, dass die Welt auch nach un-
Lied aber auch schon in der Rekordzeit serem Tod weiterexistiert, ist offen-
von einer Sekunde über die Bühne. bar unerträglich. Robot Koch fordert
So gesehen ist das neue Album des deut- nun eine radikale Dehnung der Zeit-
schen Elektronikproduzenten Robot maßstäbe. Musikalisch spiegelt sich dies
Koch „The Next Billion Years“ im in den repetitiven Strukturen der Tracks,
wahrsten Sinne des Wortes aus der Zeit der Produzent entwirft Muster, die ins „Antebellum“ führt
gefallen. Eine Milliarde Jahre: Das Endlose treiben, Soundwellen auf dem
ist nicht nur in popmusikalischen Maß- Ozean. Aber dennoch kann auch er die Allgegenwärtigkeit
stäben ein kaum begreifbarer Zeit-
raum. Der Titel bezieht sich auf ein
den Begrenzungen des Mediums nicht
entkommen: Nach einer knappen
des Rassismus vor
Zitat von Jacques-Yves Cousteau: Stunde sind die „Billion Years“ vorbei!
Die Menschheit müsse lernen, in tie- / Florian Werner
fenzeitlichen Dimensionen zu den- Es gibt Horrorfilme, die einfach großer
ken, um ihr Überleben sicherzustellen, Robot Koch, „The Next Billion Years“ Quatsch sind. Und es gibt solche,
so der Meeresforscher. Das State- (Bmg Rights Management/Warner), die den Finger genau dahin legen, wo es
ment fand sich auf einer Audiokassette, 24.04.2020, 17,99 € wehtut, auf gesellschaftliche Wunden,
kollektive Ängste, unbewältigte Vergan-
genheiten. Nach „Get Out“ (2017)
kommt mit „Antebellum“ nun erneut ein
Film in die Kinos, der das Genre nutzt,
um eine Parabel über den Rassismus in
den USA zu erzählen. „Antebellum“

Fotos: Robot Koch; Antebellum/Metropolitan Film Export; The British Museum


bezeichnet die Zeit vor dem Bürgerkrieg,
dessen Ende die Abschaffung der Skla-
verei einläutete. Der gleichnamige Film
tritt den Beweis an, dass diese Epoche
weit davon entfernt ist, der Vergangenheit
anzugehören. Darin trifft er sich mit
dem Meisterwerk „In The Wake“ (2016)
von Christina Sharpe, einer zentralen
Theoretikerin der Black Studies. Führte
die Rassifizierung tatsächlich nur im
Kino ein geisterhaftes Nachleben, bräuch-
te es keine Bewegung, die uns erinnert:
Black lives matter. / Fabian Bernhardt

„Antebellum“, Regie: Gerard Bush/


Christopher Renz, Kinostart: 07.05.2020

90 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Ausstellung

Das Universum der Dinge

Die virtuelle Sammlung des British Museum verbindet


Objekt- und Menschheitsgeschichte

Mit über 200 Objekten um die Welt: Das British Museum. Bewegt man sich durch schen als handelndem Subjekt und dem
British Museum in London hat in Zusam- diese digitale Sammlung, wird einem Stein als passivem Objekt unterschieden
menarbeit mit Google Arts and Culture bewusst, wie sehr das Netz aus Gegenstän- werden kann. Hand und Faustkeil wirken
Lab einen virtuellen Zeitstrahl konzipiert, den unsere Gesellschaft formt. Denn das zusammen in einer Weise, in der es jeder
auf dem Artefakte aus zwei Millionen Jah- Soziale besteht nicht nur aus Beziehungen für sich nicht könnte. So lassen sich Arte-
ren Menschheitsgeschichte aufgereiht zwischen Menschen allein, auch die Din- fakte als Akteure verstehen, die nicht durch
sind wie Perlen an einer Schnur. Der Be- ge spielen dabei eine aktive Rolle, so die die Gesellschaft erklärt werden, sondern
nutzer kann sich durch Epochen und These des französischen Soziologen umgekehrt an ihrer Erklärung mitwirken.
Kontinente klicken und Zusammenhänge Bruno Latour. Das älteste Objekt des Bri- Der Zeitstrahl des British Museum gibt
herstellen zwischen Keramikscherben tish Museum, ein über 1,8 Millionen diesen „Quasi-Objekten“ (Latour)
aus Tansania und einer Silbermünze der Jahre alter Faustkeil, sieht recht unschein- eine angemessene Bühne. / Lea Wintterlin
Wikinger. Zu jedem abgebildeten Exponat bar aus. Aber schon in diesem Stein ge-
gibt es einen erklärenden Text und ei- hen Mensch und Ding eine Beziehung ein, Museum of the World
nen Audiokommentar der Kuratoren des in der nicht sauber zwischen dem Men- www.britishmuseum.withgoogle.com

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 91


Finale / Rubrik

Veranstaltungen
Frühjahr 2020 Volltextarchiv bis 31. Mai
Project Muse
Aufgrund der Coronapandemie Die englischsprachige Plattform für geis-
sind für die kommenden tes- und sozialwissenschaftliche Verlage
Wochen alle geplanten Veran- gewährt auch externen Benutzern kos-
staltungen abgesagt. Deshalb tenlosen Zugang zu einer Vielzahl von In-
halten und Texten bis mindestens zum
bieten wir Ihnen in dieser
31. Mai 2020.
Ausgabe eine Auswahl kosten-
bit.ly/3b7rBc5
loser Philosophie- und
Kulturangebote im Netz
Videos und
„Sternstunde Philosophie“ mit Charles Taylor

Gesprächsreihe
Bilder Sternstunde Philosophie
Bücher und Auf der Website des Schweizer Rundfunks
lassen sich aktuelle und ältere Sendun-
Texte Ausstellung gen des TV-Formats (nach-)schauen.

Fotos: Van Gogh Museum, Amsterdam; Malte Jäger/laif; 8-bit Philosophy; Monika Rittershaus/Staatsoper Berlin; The school of life; Das Philosophische Radio WDR; picture-alliance
Hannah Arendt und das Gäste sind u. a. die Historikerin Jill Lepore,
20. Jahrhundert der Philosoph Charles Taylor oder unser
Digitale Bibliothek bis Ende Juni Das Deutsche Historische Museum er- Redakteur Dominik Erhard.
Internet Archive möglicht es, die aktuelle Ausstellung bit.ly/2×jRlU1
Die Plattform bietet u. a. gescannte „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“
Bücher und Aufsätze an. Diese können mittels Bildergalerien und Hörcollagen
entweder direkt als PDF herunterge- auch online zu besuchen. Videoessays
laden oder nach einer kostenlosen Regis- www.dhm.de Philosophy Tube
trierung für 14 Tage digital entliehen Auf dem gleichnamigen YouTube-Kanal
werden. Bis Ende Juni ist der Zugriff auf finden sich Videoessays zu aktuellen
alle Titel ohne Wartezeit möglich. Themen. Neben philosophischen Reflexi-
www.archive.org onen zu politischen Fragen sowie Einfüh-
rungen in verschiedene Denkschulen er-
fährt man etwa auch, was „Star Trek“ mit
Digitale Bibliothek für drei Monate der Frage nach der Identität zu tun hat.
Stadtbibliothek & Co. www.youtube.com/user/thephilosophytube
E-Books, Film- und Musikstreamings, Da-
tenbanken und E-Learning-Angebote
der öffentlichen Bibliotheken Berlins kön- YouTube-Kanal
nen derzeit kostenlos genutzt werden. 8-bit Philosophy
Ein Ausweis, der zum Ausleihen der digita- Auf der gleichnamigen Playlist des You-
len Angebote berechtigt, kann auf der Tube-Kanals Wisecrack werden Videos
Website des Verbunds angefordert werden. zu den wichtigsten philosophischen
www.voebb.de Ausstellungen: Van Gogh bei Google Arts & Culture Konzepten und ihren Vertretern in Retro-
Computerspiel-Ästhetik angeboten.
Ausstellungen bit.ly/3a4YJzS
Volltextarchiv Google Arts & Culture
Zeno Die Google-Plattform bietet in Kooperation
Die Website präsentiert u. a. eine umfas- mit über 2500 Museen und Galerien
sende Sammlung von Werken großer Zugriff auf virtuelle Touren und Online-
Philosophen. So stehen etwa fast alle Bü- Ausstellungen. Mit dabei sind u. a.
cher Friedrich Nietzsches online zur das Pergamonmuseum in Berlin, das Van
Verfügung, ebenso zahlreiche Titel von Gogh Museum in Amsterdam sowie
Immanuel Kant oder Arthur Schopenhauer. das Guggenheim in New York.
www.zeno.org artsandculture.google.com YouTube-Kanal: 8-bit Philosophy von Wisecrack

92 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Digitale Opern: „Salome“ an der Staatsoper Berlin Workshops: Online-Angebote bei der School of Life Podcast: „Das philosophische Radio“ auf WDR 5

Musik
Opernaufführungen
Workshops und Online-Events. Auf dem
entsprechenden YouTube-Kanal gibt es
Radio und
Die Berliner Staatsoper zeigt Aufzeich- zudem eine große Auswahl an Videos, die Podcasts
nungen von Opern und Konzerten. Jeden sich besonders zum Einstieg in die Philo-
Tag haben Musikfreunde 24 Stunden sophie eignen.
lang Zugriff auf das Video des Tages. Auch www.theschooloflife.com WDR 5
die Staatsoper Stuttgart zeigt virtuelle Das philosophische Radio
Opernaufführungen. „Das philosophische Radio“ des WDR 5 ist
www.staatsoper-berlin.de Filmklassiker ein wöchentlich erscheinender Podcast,
www.staatsoper-stuttgart.de MUBI in dem Philosophen und Autoren mit den
Für den Streamingdienst MUBI, der eine Hörern von WDR 5 zu Themen wie Ent-
ständig wechselnde Sammlung an schleunigung, Klimaethik oder der Philoso-
Workshops und Online-Events ausgewählten Klassikern und Arthouse- phie der Liebe diskutieren.
School of Life Filmen anbietet, gibt es einen kosten- bit.ly/2RDlrZn
Die Website der School of Life offeriert ein losen Zugang für Studierende.
philosophisches Angebot an Essays, www.mubi.com/de/filmstudent
Deutschlandfunk Kultur
Sein und Streit
„Sein und Streit“, das philosophische Ma-
gazin des Deutschlandfunk Kultur,
wird jeden Sonntag gesendet und wirft
einen philosophischen Blick auf
aktuelles Weltgeschehen und unsere
Lebensverhältnisse.
bit.ly/2VFwVgn

Podcast
Philosophize This!
Der englischsprachige „Philosophize
This!“-Podcast erscheint monatlich
und gibt einen Überblick über philoso-
phische Denker, Schulen und Konzepte.
In den über 140 bereits erschienenen
Folgen finden sich Episoden von Platon
bis Isaiah Berlin.
MUBI: Der Streamingdienst zeigt Filmklassiker wie Federico Fellinis „Achteinhalb“ (1963) www.philosophizethis.org

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 93


taz
K l i m a
taz Verlags- und Vertriebs GmbH, Friedrichstr. 21, 10969 Berlin

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plus taz am
Wochenende
für 10€

.d e / k l i m a - a ktiv
taz de für
ls Spen
1 Euro geht a ops an die
Klimaworksh tiftung.
taz Panter S
Finale / Spiel

Unter falschem Namen


Zum Schutz vor Verfolgung, als Veröffentlichungshilfe
oder aus Jux und Tollerei – die Gründe, w ­ arum
Philosophinnen und Philosophen sich Pseu­donyme
zulegen, sind v­ ielfältig. Erkennen Sie,
um wen es sich handelt?
Von Julia Werthmann /
Illustration von Joni Majer

1. Ihr Fleiß verlieh der Philosophin 3. Ein Pseudoandronym bezeichnet 5. Adorno schrieb zeitweilig nicht
den Spitznamen des Bibers. Nur dass das männliche Pseudonym weiblicher nur unter Hektor Rottweiler.
sie Texte schrieb, anstatt Dämme Autorinnen. Aufgrund der miso­gynen Vielmehr wurde sein Name auch
zu bauen. Anders als ihre Namens- Zeitumstände hatte ihr Wort alleine selbst zum Pseudonym eines
schwestern lebte sie jedoch geringe Chancen auf anerkennende anderen. Wessen?
nicht monogam. Wer ist gesucht? Veröffentlichung. Unter welchem a) einer russischen Journalistin
a) Simone de Beauvoir Namen schrieb Lou Andreas-Salomé b) eines kolumbianischen DJs
b) Harriet Taylor zunächst? c) einer serbischen Performance-
c) Simone Weil a) Andreas Louis Künstlerin
d) Hannah Arendt b) Lucifer Salomon d) eines argentinischen Protestpolitikers
c) Louis Sand
2. Der Name repräsentiert eine d) Henri Lou 6. Der Ideenreichtum mancher ist
Biografie. Als solche klebt er am schier grenzenlos. Zum Glück.
Werk – positiv wie negativ. 4. Doppelt hält besser. 1936 veröffent- Sonst hätte der Aufklärer
Der Wille zum Pseudonym entsteht lichte Walter Benjamin „Deutsche François-Marie Arouet seine
oft aus dem Wunsch, sein Schrei­ben Menschen“ in national-pathetischem Kritiken an Ludwig XIV.
von all diesen Assoziationen zu Design, damit das kritische Werk nicht veröffentlichen können.
lösen. Auf welche Weise drückte nicht direkt verboten würde. Wie viele Pseudonyme besaß der
Günther Stern das in seinem Dazu verwendete er ein Pseudonym. Philosoph, der als Voltaire in die
Pseudonym aus? Welches? Geschichte einging?
a) Günther Andernfalls a) Gerald Stein a) 15
b) Günther Neu b) Detlef Holz b) 30
c) Günther Anders c) Siegfried Kupfer c) 90
d) Günther Sonstig d) Walter Rubin d) 160

Lösungen: 1a), 2c), 3d), 4b), 5b), 6d)

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 95


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Nr. 05/ 2018


August/September
Nr. 03/ 2018 Deutschland 9,90 €; Österreich 9,90  €; Schweiz: 16,50 CHF; Benelux: 10,40  €; Italien & Spanien: auf Nachfrage
April/Mai

Nr. 05/ 2017


August / September

MAGAZIN
MAGAZIN
r-
Sondebe
MAGAZIN
ausga MAGAZIN
Warum machen wirMAGAZIN R-
SONDE
nicht mehr aus unserer AUSGAB
E

Will ich
zu viel
Mehr M
uße!
Freiheit?
– Die Philosophie Magazin

BIBEL
RD D.
RICHA HT
oderPRECzu
Einfach lebenHANNAH
wenig?
Grunde
t für das
streite ommen
ink April/Mai 2020

ARENDT
Warum ist das so und die
kompliziert? PHILOSOPHEN
GEFÄHRLICHE VERSAMMELT
DENKER EUCH!
Wir trafen dieAntonio NegriAfD
Köpfe hinter fordert
und Pegida eine neue Revolution
EMMANUEL CARRÈRE
DIE FREIHEIT DES DENKENS
„MEIN WILLE WURDE
„Empathie war
DIE GEDULD
meine Rettung“
GEBROCHEN“
Bericht aus der Psychiatrie
DES LEOPARDEN
Die Banalität des Bösen, der Sinn von Arbeit,
Ursprünge des Totalitarismus, Flüchtlingsrechte, Zum Einwurf
der Geist der Freundschaft …
Durch die Wildnis Kirgistans
Die Wiederkehr der Physiognomik
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

THEA DORN: „WIR BRAUCHEN EINEN


D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

0 5
D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

0 3
0 5

AUFGEKLÄRTEN PATRIOTISMUS“
Thomas Keller
4 192451 806907
4 192451 806907
4 192451 806907
0 7

Ihre wichtigsten
SILICON SOWJETS: VOM RUSSISCHEN UTOPISMUS ZUM TECH-KAPITALISMUS Die zentralenTexte. Mit des
Passagen Beiträgen von Seyla Benhabib,
ALTEN TESTAMENTS interpretiert von
4 198673 809900

IMMANUEL KANT • HANS BLUMENBERG • HANNAH ARENDT •


EVAThoreau
ILLOUZ Darwin derund Daniel Cohn-Bendit, Volker Gerhardt, Antonia Grunenberg,
– und
ÜBER #METOO: die menschliche
amerikanische
„FRAUEN Traum
SIND DIE Natur SPINOZA • UMBERTO ECO • WALTER BENJAMIN • KIERKEGAARD
Rahel Jaeggi, SusanWENDEL
Neiman, •Gesine Schwan, Bettina Stangneth …NEIMAN
VERLIERERINNEN DER SEXUELLEN REVOLUTION“
von Cord Riechelmann und Dieter Thomä
und SASKIA CHRISTOPH MARKSCHIES • SUSAN

Gefährliche
Alle 6 Ausgaben Denkhaltung
+ 2 Sonderausgaben „Die Physiognomie hat den Versuch
+ Prämie Ihrer Wahl gemacht, zwischen Gesichtsmerk-
malen und dem Charakter, der Seele
+ optimierte App einer Person einen Zusammenhang
herzustellen und damit die Menschen
aufgrund von Gesichtsmerkmalen
charakterlich einzuordnen. Aber darum
geht es doch beim offenen Gesicht
im Gespräch gar nicht. Ich will doch ei-
nen Menschen mit all meinen Sin-
nen erfassen und ihn spüren, seine
Mimik, sein Augenspiel, seine Aus-
drucksweise, das Gesicht, wie er sich
bewegt, wie er spricht.“

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philomag@pressup.de
+49 (0)40 / 38 66 66 309 96 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020
Finale / Leserpost

Impressum
Nr. 04 / 2020, Heftfolge 52

Zur Ausgabe Zum Corona-Newsletter Philomagazin Verlag GmbH


Brunnenstraße 143, 10115 Berlin, Deutschland
Eigentum verpflichtet – aber wozu? Eugen Zuberbühler-Stricker Tel.: +49 (0)30 / 54 90 89 10
E-Mail Redaktion: redaktion@philomag.de
Rainer Kunz (via Facebook) E-Mail Verlag: info@philomag.de

Inspiration Chefredakteurin: Dr. Svenja Flaßpöhler (V.i.S.d.P.)

Monopolygeld
Leitender Redakteur: Nils Markwardt
Verantwortliche Redakteure: Dominik Erhard,
„Ich möchte mich ganz herzlich bedanken Marianna Lieder* (Klassiker-Dossier),
Dr. Jutta Person* (Bücher), Theresa Schouwink
„Die Begrifflichkeit Eigentum wirkt für die Denkanstöße. Sie begleiten Berater: Alexandre Lacroix
Artdirektion / Design-Adaption: Bettina Keim*
überholt, wenn mehr als 90 Prozent des mich jeweils auf meinen ausführlichen Design Consultancy: Meiré und Meiré
Layout: Madlen Holz*
Kapitals Fiatgeld ist. (…) Wir leiden täglichen Wanderungen, Wanderun­gen Bildchefin: Tina Ahrens *
unter einem gewaltigen Verfall von sprach- durch unsere Wohnung und über die Schlussredaktion: Sandra Schnädelbach*
Lektorat: Christiane Braun*
licher Zuordnung. Eigentum, das unter Terrasse, wo ich sinnend verweilen kann Website: Cyril Druesne
Praktikantin: Vivian Knopf
den jetzigen Bedingungen erworben wird, bei den Birken in den Töpfen.“
Mit Beiträgen von: Dr. des. Fabian Bernhardt,
kann wohl kaum als solches bezeichnet Thea Dorn, Dr. Ronald Düker, Dr. Wolfram Eilenberger,
werden. Oder würden Sie die Schloss­ Dr. Grit Fröhlich, Prof. Dr. Josef Früchtl, Jana C. Glaese, ­
Prof. Dr. Sabine Hark, Prof. Dr. Rahel Jaeggi,
straße, die Sie mit Monopolygeld gekauft Thorsten Jantschek, Dr. Hans-Peter Kunisch,
Thomas Linden, Nicolas Mahler, Dr. Felix Maschewski,
haben, als Ihr Eigen bezeichnen?“ Zum Corona-Newsletter Prof. Dr. Reinhard Merkel, Catherine Meurisse,
Anna-Verena Nosthoff, Prof. Dr. Hartmut Rosa,
Eray Gündüz Gert Scobel, Johanna Seifert, Prof. Dr. Barbara Vinken,
Dr. Florian Werner, Julia Werthmann, Prof. Dr. Stefan
Willer, Lea Wintterlin

Zum Interview mit Quarantänischer Übersetzung: Michael Ebmeyer (Arena: „Es liegt im
Interesse der Herrschenden, die menschliche Natur

Imperativ
für schlecht zu halten“), Dominik Erhard (Klassiker:
Thomas Piketty Menschliches, Allzumenschliches), Felix Kurz
„Eigentum muss permanent (Dossier: Wie kommen wir vom Wissen zum Handeln,
Herr Morton?)
umverteilt werden“ „Es ist plump, vielleicht sogar zu plump,
Titel: Bettina Keim
Lars Knopke (via Facebook) aber als Doktorand in Quarantäne
Geschäftsführer: Fabrice Gerschel
kommt man ja auf alle möglichen Ideen: Herausgeberin: Anne-Sophie Moreau

Keine Milliardäre Wäre in einer Rubik Ihres Magazins


vielleicht Platz, um den quarantänischen
Verlagsleiter: Thomas Laschinski
Verlagsleiter ad interim: Michael Kuhrt
Verlagsassistentin: Maria Kapfer
„Das sind jetzt aber mal reichlich viele Imperativ zu drucken? ‚Triff dich nur Vertrieb: IPS Pressevertrieb GmbH,
Worte für einen eigentlich ganz ein­ mit denjenigen Personen, mit denen du Gotenstraße 14–16, 20097 Hamburg
ISSN 2626-7985; Erscheinungsweise zweimonatlich
fachen Vorschlag: Lasst den Spitzensteu- zugleich wollen kannst, nach einem
Litho: tiff.any GmbH, Berlin
ersatz nicht bei X Prozent enden, allgemeinen Gesetze isoliert zu werden.‘“ Druck: NEEF + STUMME GmbH, Wittingen

sondern konfiguriert ihn so, dass es noch Anzeigen: Über den Verlag oder direkte Ansprechpartner
V.i.S.d.P. für Anzeigen: Thomas Laschinski
Multimillionäre gibt, aber keine Milliar­
>>> Kultur (Buch/Film etc.), Bildung/Seminare/
däre mehr. Die wesentliche Leistung da- Coaching:
bei hat der Autor trotz der vielen Zum Corona-Newsletter PremiumContentMedia – Thomas Laschinski
Tel.: +49 (0)30 / 60 98 59 30
Worte aber leider nicht gebracht: Wie Hannes Häupl E-Mail: advertisebooks@laschinski.com

organisiert man das, wenn das Ver­ >>> Allgemeine Anzeigen, D, A, CH:

Auf den Punkt


Über den Verlag
mögen nicht aus Bargeld besteht, son- Tel.: +49 (0)30 / 54 90 89 10
E-Mail Verlag: info@philomag.de
dern aus Unternehmenswert?“
„Die sehr geschätzte Kollegin Svenja Presse- und Öffentlichkeitsarbeit:
Über den Verlag
Flaßpöhler hat mit dem Zitat von Michel Tel.: +49 (0)30 / 54 90 89 150
E-Mail: presse@philomag.de
Foucault: ,Der Kampf gegen die An­
* Freie Mitarbeit
Zur den Kritischen Kommentaren steckung ist die Urszene moderner Diszi-
Haben Sie das bedacht, Herr Piketty? plinierung‘ die ganze Misere auf den Abo- / Leser-Service: Erhältlich im
Bahnhofs-
Siska Simon Punkt gebracht. Die Einheit von Profitma- Tel.: +49 (0)40 / 38 66 66 309
und Flughafen-
Philosophie Magazin Leserservice
ximierung und Repression. Herzlichen PressUp GmbH buchhandel
in Deutschland

Männersache?
Postfach 70 13 11
Dank für den Newsletter – das sind fünf D-22013 Hamburg
Fax: +49 (0)40 / 38 66 66 299
Minuten Wohlstand für alle.“ E-Mail: philomag@pressup.de
„(E)inen wie Prof. Thomas Piketty kann Online-Bestellungen:
man natürlich kritisieren (…). Aber www.philomag.de/abo

muss das sein, dass nur drei Männer Philosophie Magazin am Kiosk:
www.mykiosk.com
dafür zu Wort kommen?“

Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020 97


Finale / Phil.Kids

Phil.Kids
Kleine Menschen wissen
oft mehr als große.
Wir fragen, Kinder antworten
Illustrationen von Nadine Redlich

Warum singen wir gerne?


„Weil immer reden einfach langweilig ist.“
Frederik, 4 Jahre

Was ist hinter den Sternen?


„Ich glaube, dass nach ganz weit oben schauen
genauso ist wie nach ganz weit unten. Wenn
Muss man immer alles richtig man an einer sehr, sehr tiefen Schlucht steht, kann
herum machen? man ja manchmal auch den Boden nicht sehen,
obwohl es ihn gibt. Und so ist es, denke ich mal, auch
„Manchmal weiß man gar nicht, wie herum was mit dem Universum. Nur hat da das Ende noch nie-
richtig herum ist. Wenn man zum Beispiel einen Ball mand gesehen und darum glauben wir, dass es das
nimmt, dann hat der ja gar keine Oberseite. Und nicht gibt. Über so was darf man aber nicht
wenn ich mir vorstelle, dass unser Hund den Tisch zu lange nachdenken, sonst wird einem schwindlig.“
immer von unten sieht, denkt er vielleicht auch, Rasim, 11 Jahre
dass er ihn richtig benutzt, wenn er darunter schläft.
Aber manche Dinge sollten wir schon so machen,
wie sie die meisten machen. Kakao im Handstand
trinken geht nämlich bestimmt nicht so gut.“
Sandra, 9 Jahre

Glaubst du, dass für


dich die Farbe Rot genauso
aussieht wie für mich?
„Farben sind für alle gleich. Aber Gerüche sind für
jeden ganz anders. Ich mag den Geruch von Zimt,
meine beiden Brüder aber überhaupt nicht.
Die halten sich sogar manchmal die Nase zu.“
Esin, 6 Jahre

98 Philosophie Magazin Nr. 04 / 2020


Die einflussreichste
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Exklusives Angebot Nussbaum hat ihren Ruf als
für Leser des eine der größten modernen
Philosophie Magazins:
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Begrüßungsgeschenk sichern!
Martha Nussbaum ist Professorin an der
wbg-wissenverbindet.de/ University of Chicago. Sie wurde u. a. ausge-
philomag zeichnet mit dem Kyoto-Preis, der als Nobel-
preis der Philosophie gilt, und mit dem mit
einer Million Dollar dotierten Berggruen-Preis.
MASTER OF ARTS
PHILOSOPHIE POLITIK WIRTSCHAFT

„Zur Bildung gehört ein weiter Horizont. In diesem Studiengang


werden unterschiedliche Perspektiven – philosophische, politische,
ökonomische – integriert. Das macht ihn so attraktiv.“

Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a.D.


Sprecher des PPW-Studiengangs

Entscheidungsträger aus Unternehmen, Politik und Institu- betrachten, Handlungsmöglichkeiten systematisch zu bewer-
tionen müssen komplexe Fragen wirtschaftlich sinnvoll und ten und Entscheidungen souverän zu vermitteln. Das Studium
ethisch verantwortlich beantworten. Der berufsbegleitende lebt von der Reflexion wissenschaftlicher Erkenntnisse an-
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tungen lernen Sie, Zielkonflikte aus neuen Perspektiven zu Bewerbungsschluss: 15. Juli

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Magazin

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T
Susan Sontag

A
Sammelbeilage Nr. 52

S n
und der Stil
„Anmerkungen zu ,Camp‘“
Auszug
Überblick

Von Marianna Lieder

Die Autorin

Ihre Kindheit empfand Susan Sontag, intellektuellen und erotischen Selbst­


1933 als Susan Rosenblatt in Man­ findung. Ihre Ehe zerbrach, sie zog
hattan geboren, als „Gefängnisaufent­ nach New York, wo sie mit Andy War­
halt“. Der Vater, ein Pelzhändler, hol feierte und mit Hannah Arendt
verstarb früh. Die Mutter, schön und la­ diskutierte. 1963 erschien Sontags Ro­
bil, interessierte sich vorrangig für mandebüt („Der Wohltäter“). Als
die Frage, ob genug Alkohol im Haus 1966 der erste Essayband folgte, war
war. Auch der Stiefvater, Nathan sie für Eingeweihte bereits Legende.
Sontag, der ab 1945 dem kleinbürgerli­ Heute ist sie ein Mythos, zählt zu den
chen Familienknast vorstand, hatte einflussreichsten US-Intellektuellen
wenig Verständnis für den bildungs­ des 20. Jahrhunderts mit beachtlichem
süchtigen Teenager. Unermüdlich Glamourfaktor. Markenzeichen:
erstellte „Sue“ irgendwelche Listen und weiße Strähne in schwarzer Haarlawi­
arbeitete sie ab. Listen von Fremd­ ne. Sontags Ruhm gründet auf ihren
wörtern, die es zu lernen galt, von The­ essayistischen Schriften über Literatur
men, die vertieft werden wollten. (insbesondere der europäischen),
Listen von Büchern, Filmen und Opern. Fotografie, Kino, Krieg und Krankheit.
Mit 16 kam Sontag frei. In Berkeley In ihren späten Jahren wurde sie
begann sie ein Studium der Literatur­ zur moralischen Überinstanz, die har­
wissenschaften und Religions­ sche Kritik an der Bush-Politik übte.
Titelfoto: Ullstein Bild/Roger-Viollet/Jean-Regis Roustan

philosophie. Mit 17 heiratete sie den Sie schrieb über alles, nur über ihr Pri­
Soziologen Philip Rieff. Mit 19 vatleben schwieg sie sich öffentlich
wur­de sie Mutter. David, so der Name aus. Die langjährige Beziehung zur Star­
ihres einzigen Kindes. Zu Sontags fotografin Annie Leibovitz machte
frühen Lehrern gehörten Jacob Tau­ sie zum Beispiel niemals publik. Auch
bes, Leo Strauss und Herbert in Sontags berühmtem Buch über
Marcuse. Beim abgöttisch verehrten Krebs fehlt jeder Verweis auf ihre eigene
Thomas Mann, der im kaliforni­- wiederkehrende Krebserkrankung,
schen Exil residierte, lud sie sich selbst der sie 2004 erlag.
zum Kaffee ein. In den 1950ern wur­-
den Oxford und Paris zu Stationen ihrer

Susan Sontag und der Stil


Das Werk

Unter dem Titel „Against Interpreta­tion“ sei der rachsüchtige Versuch der Ver­
(1966) publizierte Sontag eine Rei­- nunft, die Kunst zu zähmen, also
he von Essays, die sie in den letzten Verrat. „Statt einer Hermeneutik brau­
fünf Jahren für Publikumszeit­- chen wir eine Erotik der Kunst.“
schriften verfasst hatte. Schon längst Die deutsche Übersetzung des Essay­-
bestand kein Zweifel daran, dass bandes von 1968 trägt den Titel
sie mehr war als das unfassbar gut „Kunst und Antikunst“. Die 21 Texte
aussehende „intellektuelle It-Girl“, der amerikanischen Origi­nalausgabe
das zuverlässig auf jeder Party, jeder wurden um drei weitere Stücke er­
Ausstellung, jedem Happening der gänzt. Darunter Sontags inzwischen
New Yorker Szene auftauchte. Mit Er­ kanonischer Aufsatz „Die porno­
scheinen ihres ersten Essaybands graphische Phantasie“.
behauptete sie nun ganz offiziell ihren
Platz an der Spitze der US-ameri­
kanischen Theorie-Avantgarde. Die
Texte, in denen es um Simone Weil,
Sartre, ­Ionesco, Godard, die Beatles,
King Kong und Flash Gordon geht,
waren brillant und – nach damaligen
Maßstäben zumindest – ausge­
sprochen provokant. Schon der titel­
gebende Essay hatte es in sich.
In bester L’art-pour-­l’art-Tradition in­
szenierte Sontag in „Gegen die In­
terpretation“ den antiintellektuellen
Wutausbruch einer Intellektuellen.
Man solle, so ihr Plädoyer, doch end­
lich das Eigenleben eines Kunstwerks
anerkennen, statt zu versuchen, es
auf eine bestimmte „Bedeutung“ fest­
zulegen. Interpretation, schrieb sie,

03
Der Textauszug

„Anmerkungen zu ,Camp‘“, so die heute ganz oben. Allerdings hat der


Überschrift des Essays, in dem Sontag „Camp“-­Essay inzwischen ordent­lich
eine „besondere Erlebnisweise“ be­ Patina angesetzt. Unverkennbar ist
schreibt. Intellektuell, ironisch, verspielt er der New Yorker Subkultur, insbeson­
ist dieses Erleben. Alles dreht sich dere der urbanen Homosexuellen­
darum, „die Welt als ein ästhetisches szene der 1960er-Jahre verhaftet. Fast
Phänomen zu betrachten. Nicht um ist man versucht, das Stück heute
Schönheit geht es dabei, sondern um dem nostalgisch-konsumfreudigen
den Grad der Kunstmäßigkeit, der Hips­­­ter zu empfehlen, der in Pande­
Stilisierung.“ Die Faszination am Über­ miezeiten mangels Konsummöglich­
triebenen, Exaltierten, Überge­ keiten endlich zu seinen nostalgischen
schnappten ist unerlässlich. Ferner ist Hobbys (u. a. Lesen) kommt. Doch täte
„Camp“ eine Eigenschaft von Per­ man dem Text damit unrecht. Son­tag
sonen und Dingen. Von einem vermeint­ war sich der zeitgebundenen Flüchtig­
lich seriösen Standpunkt aus fallen keit des „Camp“ und des „Camp“-­
„campy“ Gegenstände in die Kategorie Konzepts durchaus bewusst. „Notes on
„Kitsch“, „Trivialität“ oder „minder­ ,Camp‘“ ist daher auch keine Trend­
wertige Kunst“. Federboa, Schlager, beratung, sondern eine beispielhafte
Gaudí-Kathedrale, „Schwanen­see“ – Einübung ins subversive Denken.
alles „Camp“. Die Trennung zwischen
Hochkultur und Populärem, zwi­-
schen elitärem Geschmack und Mas­
senästhetik wird von Sontag außer
Kraft gesetzt.
Der Text „Notes on ,Camp‘“, der
1964 in der renommierten linksintel­
lektuellen Partisan Review erschien,
machte seine 31-jährige Autorin sprich­
wörtlich über Nacht berühmt. Auf
der Liste der Begriffe, die man mit Son­
tag verbindet, steht „Camp“ noch

Susan Sontag und der Stil


Susan Sontag
und der Stil
„Anmerkungen zu ,Camp‘“ Auszug
© 1980 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

Susan Sontag, „Kunst und Antikunst. Essays“,


übers. v. Mark W. Rien, Hanser, 1980, 315 S.

05
Vieles auf der Welt hat nie einen Namen erhalten und vieles ist selbst wenn man
ihm einen Namen gegeben hat, nie beschrieben worden. Dazu gehört jene Erleb-
nisweise [sensibility], die unverkennbar modern, eine Variante des Intellektualismus,
doch kaum identisch mit ihm – unter dem Kultnamen „Camp“ bekannt ist.
Eine Erlebnisweise (im Gegensatz zur Idee) gehört zu den Dingen, über die sich
am schwersten reden läßt; aber es hat seine besonderen Gründe, daß gerade der
Begriff „Camp“ nie erörtert worden ist. Camp ist keine natürliche Weise des Erle-
bens. Zum Wesen des Camp gehört vielmehr die Liebe zum Unnatürlichen: zum
Trick und zur Übertreibung. Und Camp ist esoterisch – eine Art Geheimkode, ein
Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen. Abgesehen von einer etwas nachläs-
sigen, zwei Seiten langen Skizze in Christopher Isherwoods Roman „The World in
the Evening“ (1954) ist kaum je etwas darüber im Druck erschienen. Über Camp
reden heißt deshalb es verraten. Wenn der Verrat gerechtfertigt werden kann, dann
wegen der Erbauung, die er verschafft, oder wegen der Erhabenheit des Konflikts,
der damit gelöst wird. Was mich betrifft, so berufe ich mich auf den Zweck der Er-
bauung meiner eigenen Person und auf den heftigen Konflikt, in dem ich mich in
Bezug auf meine eigene Erlebnisweise sehe. Camp zieht mich stark an und stößt
mich fast ebenso stark ab. Aus diesem Grunde will und kann ich über Camp spre-
chen. Denn niemand, der mit ganzem Herzen an einer bestimmten Erlebnisweise
teilhat, kann sie analysieren. Was er auch planen mag, er kann sie immer nur zur
Schau stellen. Eine Erlebnisweise zu benennen, sie zu umreißen und ihre Geschich-
te eingehend darzulegen, erfordert eine tiefe Sympathie, modifiziert durch Abscheu.
Obgleich ich von nichts weiter als von der Erlebnisweise spreche – und dazu
von einer Erlebnisweise, die das Ernste ins Frivole verwandelt –, geht es hier um
gewichtige Angelegenheiten. Für die meisten Menschen gehören Erlebnisweise
und Geschmack dem Bereich rein subjektiver Wahl an, dem Bereich jener ge-
heimnisvollen, vorwiegend sensuellen Reize, die nicht unter die Botmäßigkeit der
Vernunft gestellt sind. Sie lassen es hingehen, daß geschmackliche Erwägungen in
ihrem Verhalten gegenüber anderen Menschen und Kunstwerken eine Rolle spie-
len. Diese Haltung aber ist naiv. Und schlimmer noch. Den Geschmackssinn mit
Herablassung behandeln heißt sich selbst mit Herablassung behandeln. Denn der
Geschmack regiert jede freie menschliche Reaktion – im Gegensatz zur rein me-
chanischen. Nichts hat eine größere Prägekraft. Es gibt einen Geschmack in der
Beurteilung von Menschen, einen visuellen Geschmack, einen Geschmack in
Dingen des Gefühls – und es gibt einen Geschmack, der sich im Handeln bekun-
det, einen Geschmack auf moralischem Gebiet. Ebenso ist Intelligenz im Grunde
eine Art des Geschmacks: Geschmack im Bereich des Denkens.
(Eine der Tatsachen, mit denen es zu rechnen gilt, ist, daß der Geschmack dazu
neigt, sich sehr ungleichmäßig zu entwickeln. Nur selten hat ein und dieselbe

Susan Sontag und der Stil


Person gleichzeitig einen guten visuellen Geschmack und einen guten Geschmack
in der Beurteilung von Menschen und beweist darüber hinaus noch Geschmack
im Denken.)
In der Sphäre des Geschmacks gibt es weder ein System noch Beweise. Aber es
gibt etwas wie eine Logik des Geschmacks: eine gleichbleibende Erlebnisweise,
die einem bestimmten Geschmack zugrunde liegt und ihn erzeugt. Eine Erlebnis-
weise zu beschreiben ist fast – aber nicht ganz – unmöglich. Jede Erlebnisweise,
die in das starre Schema eines Systems gezwängt oder mit dem groben Werkzeug
des Beweises behandelt werden kann, hört auf, eine Erlebnisweise zu sein. Sie ist
zur Idee verhärtet …
Will man eine Erlebnisweise in Worte einfangen, so muß man – zumal wenn
sie lebendig und mächtig ist 1 – tastend und beweglich zu Werke gehen. Die Form
kurzer Anmerkungen scheint angemessener zu sein als die der Abhandlung (mit
ihrer Forderung nach linearer, konsekutiver Argumentation), wenn es darum geht,
etwas von dieser besonderen, flüchtigen Erlebnisweise festzuhalten.
Es wäre peinlich, sich feierlich und in der Form der wissenschaftlichen Abhand-
lung über Camp zu äußern. Diese Anmerkungen sind Oscar Wilde gewidmet.

„Man sollte entweder ein Kunstwerk sein oder ein Kunstwerk tragen.“
„Phrases & Philosophies for the Use of the Young“
[„Lehren und Sprüche für die reifere Jugend“]

1. Um mit einer sehr allgemeinen Feststellung zu beginnen, sei zunächst be-
merkt, daß Camp eine bestimmte Art des Ästhetizismus ist. Camp ist eine Art unter
anderen, die Welt als ein ästhetisches Phänomen zu betrachten. Nicht um Schönheit
geht es dabei, sondern um den Grad der Kunstmäßigkeit, der Stilisierung.
2. Den Stil betonen heißt den Inhalt vernachlässigen oder eine Haltung ein-
führen, die im Hinblick auf den Inhalt neutral ist. Es versteht sich von selbst, daß
die Erlebnisweise des Camp unengagiert, entpolitisiert – oder zumindest unpoli-
tisch – ist.
3. Es gibt nicht nur eine Camp-Sehweise, eine Art, die Dinge zu betrachten,
die Camp ist. Camp ist ebenfalls eine Eigenschaft, die sich in Sachen und im Ver-
halten von Personen entdecken läßt. Es gibt Filme, Kleider, Möbel, Schläger, Ro-
mane und Gebäude, die „campy“ sind … Diese Unterscheidung ist wichtig. Ge-

1 Die Erlebnisweise einer Ära ist nicht nur ihr entscheidender, sondern zugleich ihr vergänglichster
Aspekt. Man kann die Ideen (Geistesgeschichte) und das Verhalten (Sozialgeschichte) einer Epoche
darstellen, ohne je auf die Erlebnisweise oder den Geschmack zu sprechen zu kommen, die diese Ideen,
diese Verhaltensweise beseelt haben. Historische Studien, die uns – wie Huizingas Untersuchungen
zum späten Mittelalter und Febvres Forschungen zum Frankreich des 16. Jahrhunderts – etwas über die
Erlebnisweise einer Zeit mitteilen, sind selten.

07
wiß, das Camp-Auge hat die Macht, Erfahrungen umzuformen. Aber nicht alles
kann als Camp gesehen werden. Nicht alles steht in der Macht des Betrachtenden.
4. Einige wahllos herausgegriffene Beispiele für Dinge, die zum Kanon des
Camp gehören:
Max Beerbohms „Zuleika Dobson or an Oxford Love Story“
die Lampen des Glaskünstlers Louis Comfort Tiffany
das Brown Derby Restaurant auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles
„The Enquirer“, Schlagzeilen und Berichte
Aubrey Beardsley-Zeichnungen
„Schwanensee“
Bellinis Opern
Viscontis Inszenierungen von Wildes „Salome“ und John Fords
„’Tis Pity She’s a Whore“ [„Giovanni und Arabella“]
gewisse Postkarten der Jahrhundertwende
„King Kong“ [„King Kong und die weiße Frau“] von Schoedsack
und Cooper
der kubanische Schlagersänger La Lupe
„Gods’s Man“, Lynn Wards Roman in Holzschnitten
die alten Flash Gordon-Comics
Frauenkleider aus den zwanziger Jahren (Federboas, Kleider mit
Stickperlen)
die Romane von Ronald Firbank und Ivy Compton-Bumett
Filme für Herren, ohne Wollust betrachtet.
5. Camp-Geschmack neigt bestimmten Kunstgattungen mehr zu als anderen.
Kleider, Möbel, alle Elemente des visuellen Dekors zum Beispiel machen einen
großen Teil des Camp aus. Denn Camp-Kunst ist häufig dekorative Kunst, die die
Struktur, die von den Sinnen wahrgenommene Oberfläche, den Stil auf Kosten
des Inhalts betont. Klassische Musik freilich ist, da sie keinen Inhalt hat, nur selten
Camp. Sie bietet keine Möglichkeit, sagen wir, zu einem Kontrast zwischen einfäl-
tigem oder überspanntem Inhalt auf der einen und reicher Form auf der anderen
Seite … Manchmal geschieht es, daß ganze Kunstgattungen mit Camp durchsetzt
werden. Beim Ballett, bei Oper und Film schien das lange Zeit der Fall zu sein. In
den letzten zwei Jahren ist die Schlagermusik (das, was nach Rock ’n’ Roll kam
und von den Franzosen „yé yé“ genannt wird) annektiert worden. Und die Film-
kritik (etwa mit Aufzählungen der „10 besten schlechten Filme, die ich gesehen
habe“) ist gegenwärtig vielleicht der größte Popularisator des Camp-Geschmacks,
weil die meisten Leute immer noch mutig und bescheiden ins Kino gehen.
6. In einem bestimmten Sinne ist es richtig zu sagen: „Es ist zu gut, um Camp
zu sein.“ Oder: „zu wichtig“, nicht genug an der Peripherie der Gesellschaft.

Susan Sontag und der Stil


(Mehr darüber später.) In diesem Sinne sind die Persönlichkeit und viele der Wer-
ke Jean Cocteaus Camp, nicht dagegen die Werke André Gides, die Opera von
Richard Strauss, nicht dagegen, die von Wagner, das Gebräu aus der Tin Pan Alley
und aus Liverpool, nicht dagegen Jazz. Viele Beispiele für Camp sind Dinge, die,
von einem „seriösen“ Standpunkt aus betrachtet, entweder minderwertige Kunst
oder Kitsch sind. Freilich nicht alle. Camp ist nicht unbedingt minderwertige
Kunst; es gibt auch gewisse Kunstwerke, die man als Camp ansehen kann (Bei-
spiel: die großen Filme von Louis Feuillade) und die dennoch ernsthafteste Be-
wunderung und ernsthaftestes Interesse verdienen.

„Je mehr wir uns mit Kunst befassen, desto weniger kümmert uns die Natur.“
„The Decay of Lying“ [„Der Verfall der Lüge“]

7. Allen Gegenständen und Personen, die Camp sind, ist ein starkes Element
des Trickhaften eigen. Nichts in der Natur kann „campy“ sein  … Ländliches
Camp ist immer ein Produkt der Menschen, und die meisten Objekte, die als
„campy“ bezeichnet werden können, sind urban. (Dennoch haben sie oft eine
Heiterkeit – oder eine Naivität –, die der ländlichen Idylle äquivalent ist. Vieles
von dem, was „campy“ ist, läßt an Empsons Begriff der „urbanen Idylle“ denken.)
8. Camp ist eine Betrachtung der Welt unter dem Gesichtspunkt des Stils –
eines besonderen Stils freilich. Es ist die Liebe zum Übertriebenen, zum „Über-
geschnappten“, zum „alles-ist-was-es-nicht-ist“. Das beste Beispiel ist der Jugend-
stil, der typischste und am weitesten entwickelte Camp-Stil. Ein charakteristisches
Merkmal von Werken des Jugendstils ist es, daß in ihnen das eine in das andere
verwandelt wird: die Beleuchtungskörper haben die Form blühender Pflanzen,
das Wohnzimmer ist in Wahrheit eine Grotte. Ein bemerkenswertes Beispiel: die
Portale der Pariser Metro, denen Hector Guimard gegen Ende der 90er Jahre des
vergangenen Jahrhunderts die Form gußeiserner Orchideenstengel gegeben hat.
9. Als Geschmack in der Beurteilung von Personen spricht Camp besonders
auf das ausgeprägte Schlanke und das stark Überzogene an. Der Androgyn ist
ohne Zweifel eines der großen Leitbilder der Camp-Sehweise. Beispiele: die blut-
losen, schmächtigen, schlangenhaft sich windenden Gestalten der Malerei und
Dichtung der Präraffaeliten; die dünnen, fließenden, geschlechtslosen Körper auf
Drucken und Plakaten des Jugendstils, die als Reliefs auf Lampen und Aschenbe-
chern zu sehen sind; die geisterhafte, androgyne Leere hinter der vollkommenen
Schönheit der Garbo. Hier nähert sich der Camp-Geschmack einer meist unein-
gestandenen Wahrheit des Geschmacks: die raffinierteste Form des sexuellen Rei-
zes besteht (ebenso wie die raffinierteste Form des sexuellen Genusses) in einem
Verstoß gegen die Natur des eigenen Geschlechts. Das Schönste am männlichen

09
Mann ist etwas Weibliches, das Schönste an einer weiblichen Frau ist etwas Männ-
liches … Verknüpft mit der Vorliebe des Camp-Geschmacks für das Androgyne ist
etwas, das nur auf den ersten Blick etwas völlig anderes zu sein scheint: eine Vor-
liebe für die Übertreibung sexueller Merkmale und individueller Manierismen.
Aus naheliegenden Gründen sind Filmstars die besten Beispiele, die in diesem
Zusammenhang genannt werden können. Auf der einen Seite die sentimentale,
grelle Weiblichkeit einer Jayne Mansfield oder Gina Lollobrigida, einer Jane Rus-
sell oder Virginia Mayo und die übersteigerte Supermännlichkeit eines Steve
­Reeves oder Victor Mature. Auf der anderen Seite die großen Meisterinnen des
überzogenen, manierierten Stils, wie Bette Davis, Barbara Stanwyck, Tallulah
Bankhead oder Edwige Feuillière.
10. Camp sieht alles in Anführungsstrichen: nicht eine Lampe, sondern eine
„Lampe“; nicht eine Frau, sondern eine „Frau“. Camp in Personen oder Sachen
wahrnehmen heißt die Existenz als das Spielen einer Rolle begreifen. Damit hat
die Metapher des Lebens als Theater in der Erlebnisweise ihre größte Erweite-
rung erfahren.
11. Camp ist der Triumph des epizönischen Stils. (Die Austauschbarkeit von
„Mann“ und „Frau“, „Person“ und „Sache“.) Letztlich jedoch ist jeder Stil, das heißt
alles Kunstmäßige, epizönisch. Das Leben hat nie Stil. Ebensowenig die Natur.
12. Die Frage ist nicht: „Warum Travestie, Schauspielerei, Theater?“ Die Fra-
ge ist vielmehr: „Warum bekommt Travestie, Schauspielerei, Theater das beson-
dere Aroma des Camp?“ Warum ist die Atmosphäre von Shakespeares Komödien
(„As You Like It“ [„Wie es Euch gefällt“] usw.) nicht epizönisch, wohl aber die des
„Rosenkavalier“?
13. Die Trennungslinie scheint durch das 18. Jahrhundert zu laufen. Dort be-
gegnet man den Ursprüngen des Camp-Geschmacks (Schauerromane, Chinoise-
rie, Karikatur, künstliche Ruinen usw.). Aber das Verhältnis zur Natur war in jener
Zeit ganz anders als heute. Im 18.  Jahrhundert behüteten Menschen mit Ge-
schmack die Natur (Strawberry Hill, den Horace Walpole zu „einer kleinen goti-
schen Burg“, einem Musterbeispiel romantisch-gotisierender Architektur, mach-
te), oder sie versuchten, sie in etwas Künstliches umzuwandeln (Versailles). Auch
die Vergangenheit behüteten sie unermüdlich. Der Camp-Geschmack von heute
tilgt die Natur aus oder steht in offenem Widerspruch zu ihr. Und das Verhältnis
des Camp-Geschmacks zur Vergangenheit ist äußerst sentimental.
14. Ein Abriß der Geschichte des Camp könnte natürlich bereits in älterer Zeit
einsetzen – mit den Manieristen wie Pontormo, Rosso und Caravaggio, mit den
außerordentlich theatralischen Bildern von Georges de la Tour oder mit dem Eu-
phuismus (Lyly usw.) in der Literatur. Der eigentliche Ausgangspunkt aber scheint
die Zeit des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu sein, eine Periode, die ge-

Susan Sontag und der Stil


kennzeichnet ist durch ihren ausgeprägten Sinn für das Kunstmäßige, für die
Oberfläche und die Symmetrie, durch ihre Freude am Pittoresken und Erregen-
den, durch ihre eleganten Formen der Darstellung der Gefühle des Augenblicks
und der Totalität des Charakters – das Epigramm und das gereimte Verspaar (im
Wort) und den Schnörkel (in Gebärde und Musik). Das späte 17. und das frühe
18. Jahrhundert sind die große Zeit des Camp: Pope, Congreve, Walpole usw.,
nicht dagegen Swift; les précieux in Frankreich; die Rokoko-Kirchen in München;
Pergolesi. Etwas später dann: viel von Mozarts Musik. Im 19. Jahrhundert aber
wird das, was Gemeingut aller hohen Kultur gewesen war, zum Geschmack der
wenigen mit dem Unterton des Überspitzten, des Esoterischen, des Perversen.
Beschränken wir unser Blickfeld ausschließlich auf England, so sehen wir, wie
Camp in verblaßter Form im Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts (Burne-Jones,
Pater, Ruskin, Tennyson) weiterlebt, ehe es mit der Jugendstil-Bewegung in den
bildenden Künsten zur vollen Blüte gelangt und in „wits“ wie Wilde und Firbanks
seine überzeugten Theoretiker findet.
15. Sagt man, daß all diese Dinge Camp sind, so behauptet man damit natür-
lich nicht, daß sie ausschließlich Camp sind. Eine umfassende Analyse des Jugend-
stils zum Beispiel würde diese Bewegung schwerlich mit Camp gleichsetzen. Eine
solche Analyse kann hingegen nicht jenes Element im Jugendstil übersehen, dem
es zuzuschreiben ist, daß er als Camp erfahren werden kann. Der Jugendstil ist
beladen mit „Inhalten“, selbst mit „Inhalten“ politisch-moralischer Art; er war
eine revolutionäre Bewegung, die von der (irgendwo zwischen William Morris
und der Bauhaus-Gruppe beheimateten) utopischen Vision eines organischen
Systems von Politik und Geschmack vorangetrieben wurde. Daneben aber gibt es
einen Zug in den Werken des Jugendstils, der auf die unengagierte, unernste Be-
trachtungsweise des „Ästheten“ hindeutet. Diese Beobachtung sagt etwas Wichti-
ges über den Jugendstil aus – und auch über die Eigenart der Camp-Optik, die den
Inhalt ausspart.
16. Es zeigt sich, daß die Erlebnisweise des Camp auf den doppelten Sinn an-
spricht, in dem sich einige Dinge begreifen lassen. Dabei geht es nicht um die
bekannte Doppelschichtigkeit von wörtlicher Bedeutung hier und symbolischer
Bedeutung dort. Gemeint ist vielmehr der Unterschied zwischen dem Ding, so-
fern es etwas bedeutet, und dem Ding, sofern es reines Kunstprodukt ist.
17. Das wird deutlich am gewöhnlichen Gebrauch des Wortes „Camp“ als
Verbum: „to camp“. Dieses Verbum bezeichnet eine Tätigkeit – aber nicht nur.
„To camp“ ist eine Verführungsmethode, die grelle Manierismen anwendet, die
eine doppelte Deutung zulassen, doppeldeutige Gesten mit einem geistreichen
Sinn für den Kenner und einem andern, unpersönlichen, für den Außenstehenden.
Die gleiche Doppeldeutigkeit liegt vor, wenn das Wort zum Nomen wird, wenn

11
also eine Person oder Sache „a camp“ ist. Hinter dem „direkten“, allgemein aner-
kannten Sinn, in dem etwas verstanden werden kann, ist ein privates, possenhaftes
Erlebnis verborgen.

„Natürlich sein ist eine Pose, die sich sehr schwer durchhalten läßt.“
„An Ideal Husband“ [„Ein idealer Gatte“]

18. Es gilt zu unterscheiden zwischen naivem und vorsätzlichem Camp. Rei-


nes Camp ist immer naiv. Camp, das weiß, daß es Camp ist, überzeugt in der
Regel weniger.
19. Die reinen Beispiele für Camp entstehen, ohne daß ihre Urheber die Ab-
sicht haben, etwas zu schaffen, das als Camp gedeutet werden könnte. Sie sind
todernst. Der Jugendstilkünstler, der eine Lampe entwirft, um die sich eine
Schlange windet, will damit keinen Scherz machen. Ebensowenig versucht er, zu
bezaubern. Er sagt in vollem Ernst: Voilà! der Glanz des Morgenlandes! Echtes
Camp – wie etwa die Nummern, die Busby Berkeley für die Musicals der Warner
Brothers Anfang der dreißiger Jahre ersonnen hat („42nd Street“; „The Golddig-
gers of 1933“; „The Golddiggers of 1935“; „Domes“; „Footlight Parade“ usw.) –
will nicht komisch sein. Camping dagegen, beispielsweise die Stücke von Noel
Coward, – will es. Es ist fraglich, ob vieles aus dem traditionellen Opernrepertoire
so überzeugend Camp sein könnte, wie es ist, wenn die melodramatischen Absur-
ditäten der meisten Opernhandlungen nicht stets von den Komponisten ernst ge-
nommen worden wären. Man braucht, um das zu wissen, gar nicht die privaten
Absichten des Künstlers zu kennen. Das Werk sagt alles. Man vergleiche eine ty-
pische Oper des 19. Jahrhunderts mit Samuel Barbers „Vanessa“, einem bewußt
als Camp fabrizierten Werk, und der Unterschied ist klar.
20. Wahrscheinlich ist es immer von Nachteil, wenn man es darauf anlegt,
„campy“ zu sein. Die Vollendung von „Trouble in Paradise“ und „The Maltese
Falcon“ [„Die Spur des Falken“], die zu den größten Camp-Filmen gehören, die
je produziert worden sind, beruht auf der mühelos eleganten Art, in der der Stil
durchgehalten wird. Bei so berühmten Pseudo-Camp-Filmen aus den fünfziger
Jahren wie „All About Eve“ [„Alles über Eva“] und „Beat the Devil“ [„Schach dem
Teufel“] ist das nicht der Fall. Diese neueren Filme haben ihre guten Momente,
aber der eine ist zu brillant, der andere zu hysterisch; sie sind beide so sehr darauf
aus, „campy“ zu sein, daß sie ständig aus dem Takt geraten  … Vielleicht aber
kommt es beim Camp gar nicht so sehr auf den Gegensatz zwischen Wirkung und
Absicht an, als vielmehr auf das fein ausgewogene Verhältnis von Parodie und
Selbstparodie. Die Filme von Hitchcock sind ein typisches Beispiel für dieses Pro-
blem. Wenn es der Selbstparodie an Überschwang gebricht und statt dessen eine

Susan Sontag und der Stil


Geringschätzung der eigenen Themen und Stoffe in ihr sichtbar wird – wie im
„To Catch a Thief“ [„Über den Dächern von Nizza“], „Rear Window“ [„Das
Fenster zum Hof“] oder „North by Northwest“ [„Der unsichtbare Dritte“]  –,
wirkt das Ergebnis gezwungen und unbeholfen, kaum jedoch „campy“. Überzeu-
gendes Camp – ein Film wir Carnés „Drôle de drame“ [„Ein sonderbarer Fall“],
die darstellerischen Leistungen von Mae West und Edward Everett Horton oder
Teile der Goon Show – riecht, selbst dann, wenn in ihm Selbstparodie zum Aus-
druck kommt, nach Eigenliebe.
21. Damit wird noch einmal deutlich, daß Camp auf Naivität beruht. Das
heißt, Camp offenbart Naivität, untergräbt sie aber zugleich, wenn die Möglich-
keit dazu besteht. Objekte verändern sich ihrer Natur nach nicht, wenn sie durch
den Camp-Blick aus ihrer Umgebung herausgelöst werden. Personen dagegen
reagieren auf ihr Publikum. Personen verfallen ins „camping“: Mae West, Bea
Lillie, La Lupe, Tallulah Bankhead in „Lifeboat“, Bette Davies in „All About Eve“.
(Personen können dazu veranlaßt werden, sich „campy“ zu verhalten, ohne daß sie
selbst sich dessen bewußt seien. Man denke daran, wie Fellini in „La Dolce Vita“
[„Das süße Leben“] Anita Ekberg dazu gebracht hat, sich selbst zu parodieren.)
22. Ein wenig überspitzt ließe sich sagen: Camp ist entweder völlig naiv oder
durch und durch bewußt (wenn man sich ein Spiel daraus macht, „campy“ zu sein).
Ein Beispiel für das letztere: Wildes Epigramme.

„Es ist absurd, die Menschen in gute und schlechte einzuteilen.


Die Menschen sind entweder nett oder langweilig.“
„Lady Windermere’s Fan“ [„Lady Windermeres Fächer“]

23. Das wesentliche Element im naiven oder reinen Camp ist Ernsthaftigkeit,
eine Ernsthaftigkeit, die ihren Zweck verfehlt. Natürlich kann nicht jede Ernst-
haftigkeit, die ihren Zweck verfehlt, als Camp gerettet werden. Nur das, was die
richtige Mischung von Übertreibung, Phantastik, Leidenschaftlichkeit und Naivi-
tät aufzuweisen hat.
24. Wenn etwas einfach schlecht (statt Camp) ist, so oft deshalb, weil nicht
genug Ehrgeiz in ihm steckt. Der Künstler hat nicht versucht, etwas wirklich Aus-
gefallenes zu tun. („Das ist zuviel“, „Das ist einfach phantastisch“, „Das ist un-
glaublich“; Standardausdrücke der Camp-Begeisterung.)
25. Das Kennzeichen des Camp ist der Geist der Extravaganz. Camp ist eine
Frau, die in einem Kleid aus drei Millionen Federn herumläuft. Camp sind die
Bilder von Carlo Crivelli mit ihren echten Juwelen und ihren Trompe-l’oeil-In-
sekten und -Rissen. Camp ist der unverschämte Ästhetizismus in den sechs ameri-
kanischen Filmen, die Sternberg mit der Dietrich gedreht hat, in allen sechs, be-

13
sonders aber in „The Devil Is a Woman“, dem letzten. Camp zeichnet sich häufig
durch etwas démesuré aus, nicht nur im Stil des Werkes selbst, sondern auch in der
Art des Ehrgeizes, der dahintersteht. Gaudís gespenstische und herrliche Bauwer-
ke in Barcelona sind nicht nur auf Grund ihres Stils Camp, sondern ebenso des-
halb, weil sie  – was vor allem bei der Kathedrale der Sagrada Familia deutlich
wird – den Ehrgeiz eines Mannes dokumentieren, als einzelner zu leisten, was nur
Generationen zu leisten vermögen: eine ganze Kultur zu erschaffen.
26. Camp ist Kunst, die sich ernst gibt, aber durchaus nicht ernst genommen
werden kann, weil sie „zuviel“ ist. Titus Andronicus und O’Neills „Strange Inter-
lude“ [„Das seltsame Zwischenspiel“] sind fast Camp oder könnten zumindest als
Camp gespielt werden. Das Auftreten de Gaulles in der Öffentlichkeit und seine
Rhetorik sind häufig reines Camp.
27. Es kann sein, daß ein Werk beinahe Camp ist, aber durch seine Vollendung
daran gehindert wird, wirklich Camp zu sein. Eisensteins Filme sind selten Camp,
weil sie, trotz aller Übersteigerung, (dramatisch) absolut gelungen sind. Wenn sie
ein wenig „verrückter“ wären, könnten sie großartiges Camp sein) besonders
„Ivan der Schreckliche“ I u. II. Das gleiche trifft für Blakes Zeichnungen und Bil-
der in ihrer Geisterhaftigkeit und Manieriertheit zu. Sie sind nicht Camp, ob-
gleich der von Blake beeinflußte Jugendstil es ist.
Was auf eine unkonsequente oder unleidenschaftliche Weise extravagant ist, ist
nicht Camp. Ebensowenig kann irgend etwas Camp sein, das nicht aus einer unbe-
zähmbaren, unkontrollierbaren Erlebnisweise zu erwachsen scheint. Ohne Leiden-
schaft entsteht Pseudo-Camp – dekorativ, risikolos, mit einem Wort chic. Im öden
Grenzgebiet des Camp gibt es eine Menge hübscher Dinge: die aalglatten Phantasi-
en Dalís, die Haute Couture-Preziosität von Albicoccos „La fille aux yeux d’or“ [„Das
Mädchen mit den goldenen Augen“]. Aber Camp und Preziosität sind zweierlei.
28. Noch einmal: Camp ist der Versuch, etwas Außergewöhnliches zu tun. Da-
bei wird hier unter dem Außergewöhnlichen häufig das Individuelle, das Berü-
ckende verstanden (die Bogenlinie, die extravagante Gebärde). Nicht das Außer-
gewöhnliche im Sinne der außergewöhnlichen Anstrengung ist gemeint. Ripleys
Unglaublichkeiten sind selten „campy“. Seinen Gegenständen – entweder Kurio-
sitäten der Natur (der doppelköpfige Hahn, die Aubergine in der Form des Kreu-
zes) oder aber die Produkte ungeheurer Mühen (der Mann, der auf Händen von
hier bis China lief; die Frau, die das Neue Testament in einen Stecknadelkopf
eingravierte) – fehlt das Berückende, das Theatralische, das gewisse Extravagan-
zen als Camp kennzeichnet.
29. Der Grund dafür, daß ein Film wie „On the Beach“ [„Das letzte Ufer“]
oder Bücher wie „Winesburg, Ohio“ und „For Whom the Bell Tolls“ [„Wem die
Stunde schlägt“] schlecht bis zur Lächerlichkeit sind, nicht aber bis zur Erfreu-

Susan Sontag und der Stil


lichkeit, liegt in ihrer Verbissenheit und Prätentiosität. Es gebricht ihnen an Phan-
tasie. Man begegnet Camp in so schlechten Filmen wie „The Prodigal“ [„Tempel
der Versuchung“] und „Samson and Delilah“ [„Samson und Delilah“], in der itali-
enischen Farbfilmserie mit dem Superhelden Maciste und in zahlreichen japani-
schen S­ cience-fiction-Filmen („Rodan, Chikyu Boeigun“ [„Phantom 7000“]), weil
sie in ihrer verhältnismäßig unprätentiösen und vulgären Art eine extremere und
verantwortungslosere Phantasie zeigen – und deshalb rührender und durchaus ge-
nießbar sind.
30. Natürlich kann der Kanon des Camp sich wandeln. Die Zeit spielt dabei
eine große Rolle. Die Zeit kann wertvoller machen, was uns heute einfach verbis-
sen und phantasielos scheint, weil wir noch nicht genügend Abstand haben, weil es
zu sehr unseren eigenen tagtäglichen Phantasien ähnelt, deren phantastische Na-
tur wir nicht durchschauen. Wir sind eher in der Lage, eine Phantasie als Phanta-
sie zu genießen, wenn es nicht die eigene ist.
31. Aus diesem Grunde sind so viele von den Gegenständen, die der Camp-Ge-
schmack hochschätzt, altmodisch, unmodern, démodé. Das hat nichts mit der Liebe
zum Altertümlichen um seiner selbst willen zu tun. Es verhält sich vielmehr ein-
fach so, daß der Prozeß des Alterns und des Verfalls die notwendige Objektivität
gibt – oder die notwendige Sympathie weckt. Wenn sein Thema wichtig und ak-
tuell ist, kann es geschehen, daß wir uns über das Scheitern eines Kunstwerks
entrüsten. Die Zeit kann das ändern. Die Zeit befreit das Kunstwerk von der mo-
ralischen Relevanz und überantwortet es der Erlebnisweise des Camp  … Eine
weitere Wirkung: die Zeit verengt die Sphäre der Banalität. (Die Banalität ist,
genaugenommen, immer eine Kategorie des Zeitgenössischen.) Was ursprünglich
banal war, kann im Laufe der Zeit phantastisch werden. Viele von denen, die heu-
te an dem von der englischen Pop-Gruppe „The Temperance Seven“ wiederbe-
lebten Stil Rudy Vallees ihr Vergnügen haben, hätten vor Vallee in seinen besten
Jahren binnen kurzem die Flucht ergriffen. Nicht ihr Altern läßt demnach die
Dinge „campy“ werden, sondern das Nachlassen unserer Teilnahme an ihnen und
unsere Fähigkeit, das Scheitern des Versuchs zu genießen, statt enttäuscht davon
zu sein. Vielleicht wird das „Method“ Acting (James Dean, Rod Steiger, Warren
Beatty) eines Tages ebenso „campy“ wirken wie heute Ruby Keelers Darstellungs-
weise – oder die der Sarah Bernhardt in den Filmen, die sie am Ende ihrer Lauf-
bahn machte. Vielleicht aber auch nicht.
(…)

15
Susan Sontag und der Stil
„Anmerkungen zu ‚Camp‘“ Auszug

„Camp ist eine Art unter anderen, die Welt als ein
ästhetisches Phänomen zu betrachten. Nicht
um Schönheit geht es dabei, sondern um den Grad
der Kunstmäßigkeit“

Prompt nach Erscheinen des Essays „Anmerkungen zu ,Camp‘“ (1964) wurde


Susan Sontag zur intellektuellen Ikone. Heute liest sich der Text fast wie ein
Evangelium für den intellektuellen Hipster. Tatsächlich jedoch handelt es sich um
eine zeitlose Einübung ins subversive Denken.

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