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Segen

Kinder

Hat ein
FIEBER
Fluch und

gekapert?
von Mariupol
BITCOIN-

Die versehrten
FRONTREPORT
des Kryptogelds

TEENIE-HACKER

17-Jähriger Microsoft

Wie das Drama in der Ukraine den Kanzler und sein Land verändert
KRIEGER WIDER WILLEN
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Nr. 13 | 26.3.2022
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HAUSMITTEILUNG

Titel | Seiten 8, 14

Wenige Kanzler waren direkt nach Amtsantritt mit einer


so extremen Krisenlage konfrontiert wie Olaf Scholz:
Krieg in der Ukraine, Flüchtlinge, explodierende Roh-

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL


stoffpreise. Wie bewältigt der unfreiwillige Kriegskanzler
diese Aufgabe – und wohin will er das Land führen?
Die SPIEGEL-Redakteure Melanie Amann und Martin
­Knobbe beschreiben, dass es zwei Kanzler gibt: Da ist der
reisende Scholz, der souverän auftreten kann, der gelöst
ist und engagiert. Und dann ist da der Heimatkanzler
Scholz, der wie eingefroren wirkt, nicht die richtigen Wor-
te für seine verunsicherten Bürgerinnen und Bürger findet.
Im zweiten Teil der Titelgeschichte geht ein Team um Susanne Beyer und Katja Thimm der F ­ rage
nach, wie der Krieg in der Ukraine auch Deutschland verändert. Eine Umfrage des ­SPIEGEL zeigt
die Erschütterung in der Gesellschaft, die alle Generationen umfasst. »In diesen Tagen sollte es
vor allem um das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer gehen«, sagt Beyer, »aber ukrainische
Politiker appellieren nicht ohne Grund an die Deutschen, sich ihrer eigenen Rolle in diesem Krieg
bewusst zu werden.« Nächste Woche
Impftote | Seite 40 im SPIEGEL:
Am 9. März vergangenen Jahres starb die 32-jährige Dana Ottmann, zwölf Tage nach der Erst-
impfung mit dem Wirkstoff von AstraZeneca – ihre Mutter fand sie morgens leblos im Badezimmer
ihrer Wohnung. Mittlerweile steht fest, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Injektion und
der speziellen Gerinnungsstörung, die zum Tod führte. Redakteur Maik Großekathöfer besuchte
die Mutter Petra Ottmann in Herford. Er traf eine Frau, die es kaum schafft, sich Fotos ihrer Toch- S-Magazin
ter anzusehen, die sich in ihrer Trauer alleingelassen fühlt von der Politik und dem Hersteller des
Impfstoffs, die nicht ertragen kann, dass ihre Tochter als Kollateralschaden der Impfkampagne
Das Stilmagazin
gilt. »Die Wahrscheinlichkeit, an einer Covid-Impfung zu sterben, ist verschwindend gering«, sagt vom SPIEGEL
Großekathöfer, »trotzdem kann man es Petra Ottmann nicht verdenken, dass sie den Glauben an
die Pharmaindustrie verloren hat und sich selbst nicht impfen lässt.«

Saporischschja | Seite 76
Emin Özmen / Magnum Photos / laif

Wohl keinen anderen Ort in der Ukraine hat der russische Angriffskrieg Themen der Ausgabe:
mit solcher Brutalität getroffen wie Mariupol am Asowschen Meer.
­Moskaus Truppen beschossen dort eine Geburtsklinik und ein Theater,
in dem auch Kinder Schutz suchten. Mariupol liegt weitgehend in Trüm- Leben ohne Angst
mern, wer kann, der flieht. Anlaufpunkt vieler Vertriebener ist Sapo- 68er-Ikone Uschi Obermaier
rischschja, eine Großstadt im Südosten des Landes. SPIEGEL-Reporter
Alexander Sarovic und der Fotograf Emin Özmen begegneten dort Kin-
übers Lieben, Reisen und
dern, die bei der Flucht mit ihren Familien beschossen wurden und nun Älterwerden
auf der Intensivstation liegen. Sie sprachen mit Armeeärzten und trafen einen Bürgermeister, der
von moskautreuen Besatzern entführt worden war. »Viele Menschen in Saporischschja machen Bollo ohne Nudeln
sich bereit für das Schlimmste«, sagt Sarovic, »sie sind besorgt, dass ihre Stadt als Nächstes dran
sein könnte, wenn Mariupol fällt.« Gut für Körper und Geist –
innovative Küche auf Sylt
Adichie | Seite 110

Ihre Bücher sind Bestseller, ihre Ted-Talks wurden millionen-


Kleider ohne Nostalgie
Olaseni Okedairo / DER SPIEGEL

fach angesehen. Dass die Autorin und Feministin Chimamanda Wie verstaubte Modemarken
Ngozi Adichie in ihrer Heimat Nigeria sehr bekannt ist, war klar. sich neu erfinden
Trotzdem war Redakteur Xaver von Cranach überrascht, wie
sehr Adichie verehrt wird. Sie ist die moralische Instanz des pro-
gressiven Nigerias, wenn es um Frauenrechte, Minderheiten
oder die einflussreiche katholische Kirche geht. Cranach be-
suchte Adichie in Lagos, begleitete sie zu einer Lesung, sprach
mit Fans. »Chimamanda ist eine großartige Schriftstellerin«, sagte ihm eine junge Frau in einem
Plattenladen, »aber mir gefällt vor allem, dass sie einfach sagt, was gesagt werden muss.«

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

8 | Regierung  Kanzler Scholz


lässt angesichts des Ukrainekriegs
Ansprache und Führung vermissen
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 13 | 26.3.2022

14 | Gesellschaft  Zwischen
Angst und Hilfsbereitschaft – wie
die Deutschen auf eine
erschütterte Welt reagieren

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel  Europa muss


mehr Selbstverteidigung wagen

22 | Abschiebung von Hoch­stap­


lerin Sorokin erneut ge­scheitert /
Immer mehr SPD-Anträge
gegen Schröder / Die da unten /
So gesehen: ­Korrekte Demo

26 | Krisen  Deutschland muss


sich auf Verzicht einstellen

Jesco Denzel / BPA / Polaris / laif


30 | Wohnen  Bauministerin
Geywitz über Folgen des Klima­
wandels für den Immobilienmarkt

32 | Seuchenschutz  Die
­Bundesländer klagen, sie
­könnten kaum noch Corona­
maßnahmen beschließen

Bedingt anführbereit 34 | Landwirtschaft  Der


­Getreidemangel gefährdet die
Agrarreform der EU
REGIERUNG  Im Wahlkampf präsentierte sich der Kandidat Olaf Scholz als optimal
gerüstet für eine Kanzlerschaft. Doch konfrontiert mit Krieg, Rohstoffmangel 36 | Parteien  Russlands fünfte
Kolonne in der AfD
und der Coronapandemie, wirkt der Regierungschef blass und unsicher. Porträt
eines Mannes, der ewig im Geschäft ist, sich aber neu erfinden muss. | 8 38 | Sicherheit  Warum
­geflüchtete Frauen
und Kinder in Deutschland
schlecht geschützt sind

40 | Schicksale  Eine
32-Jährige starb nach der
­Impfung mit AstraZeneca

DEBAT TE

46 | Ukrainekrieg  Philosoph
Olaseni Okedairo / DER SPIEGEL

Slavoj Žižek über kalten Krieg


Markus Hintzen / DER SPIEGEL

und heißen Frieden

REPORTER
Sony Music

50 | Familienalbum / Warum
sehnen wir uns nach Helden?
Rosalía Bernd Neuendorf Chimamanda Adichie
Wie es die Sängerin aus Lässt sich der zerrüttete DFB Besuch bei einem literarischen 51 | Eine Meldung und ihre
­Katalonien in die erste Reihe des ­reformieren? Der neue Präsident Weltstar und einer Ikone Geschichte  So schwer ist es, als
Pop geschafft hat | 120 erklärt, wie er es versucht. | 92 des Popfeminismus | 110 Einsiedler zu leben

4 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange hervorgehoben.
52 | Digitalwährungen  Warum SPORT
Kryptoanleger mit jähen Kurs-
ausschlägen leben müssen 91 | Die Herrenrunden im
­Spitzensport / Wie sind
59 | Homestory  Der schmerz- die Sportvereine durch die
hafte Abschied vom Pazifismus Krise gekommen?

Emin Özmen / Magnum Photos / DER SPIEGEL


92 | Fußball  spiegel-Gespräch
WIRTSCHAF T mit dem frisch gekürten DFB-
Präsidenten Bernd Neuendorf
60 | Weniger Wachstum in über den schwierigen Neustart
Europa / Warum der Dax trotz
Ukrainekrieg boomt 95 | USA  Warum Baseball die
Bedeutungslosigkeit droht
62 | Corona  Was lässt sich
aus dem Hilfsprogramm für neue
Krisen lernen? WISSEN Bei den jüngsten Opfern
Im Kinderkrankenhaus von Saporischschja im Südosten
66 | Wirtschaftspolitik  Die EU 96 | Hitzerekord in der
der Ukraine lässt sich die Brutalität des russischen Bombardements
setzt wieder auf Handelsverträge Antarktis / Analyse: Was die
besichtigen – und womöglich die Zukunft des Krieges. | 76
AKW-Laufzeitverlängerung
68 | Haushalt  Lindners in Belgien bedeutet
neue Schulden belasten das
Land auf Jahrzehnte 98 | Corona  Wie die Deutschen
das Vertrauen in ihre
70 | Immobilien  Berlin ist Regierung verloren haben
­beliebt bei Putins Freunden –
aber wem gehören 101 | Raumfahrt  Warum Robo-
die teuren Villen wirklich? tern die Zukunft im All gehört

72 | IT-Sicherheit  Auf der Spur 102 | Neuroästhetik  Der


eines 17-Jährigen, der Microsoft Stress­faktor Architektur
und Co. gehackt haben soll
104 | Klimawandel  Macht der
Krieg in der Ukraine die
AUSLAND ­Fortschritte beim Kampf gegen
akg images

den Klimawandel zunichte?


74 | Trumps Putin-Problem /
Musikverbot in der Türkei
KULTUR Wende zum Verzicht
76 | Ukraine  Reportage aus
Pandemie, Klimawandel und Krieg zwingen Politiker und Bürger
einem Kinderkrankenhaus 108 | Retrospektive der
zum Umdenken – der Staat kann nicht mehr jeden
in Saporischschja, wo Z
­ weijährige ­Fotografin Diane Arbus /
Verlust ­ausgleichen, ohne Weniger wird es wohl nicht gehen. | 26
mit Splitterwunden behandelt ­Feministisches Bier
werden
110 | Autorinnen  Besuch
80 | Russland  Interview bei Chimamanda Ngozi Adichie
mit den Putin-Expertinnen in Lagos
Masha Gessen, Nina
Chruschtschowa und Sabine 116 | Gastbeitrag  Ist der neue
Fischer über das Weltbild sanfte Großstadtmann bereit für
des Kremlherrschers die Krisen dieser Welt?

84 | Essay  Moskaus 118 | Kino  Nationalismus-Streit


­Propaganda träumt von einer unter ukrainischen Filmemachern
neuen Weltordnung
120 | Musik  Von der
Roger Kisby / Redux / laif

86 | Nothilfe  Wie das Land Flamenco-Sängerin zum Popstar


bei der Aufnahme von Schutz­ – die Spanierin Rosalía
suchenden aus der Ukraine über
sich hinauswächst 123 | Ausstellungskritik  In
Berlin will man Paul Gauguin
88 | Ungarn  Porträt des demontieren
Oppositionspolitikers Das verheißungsvolle Nichts
Péter Márki-Zay, der bei den Bestseller | 115 SPIEGEL-TV-Programm | 119 Die Marktkapitalisierung aller Digitalwährungen beträgt
Impressum, Leserservice | 124
Parlamentswahlen Premier Nachrufe | 125 Personalien | 126
inzwischen rund zwei Billionen Dollar. Ein Streit tobt, ob das
Orbán schlagen könnte Briefe | 128 Hohlspiegel / Rückspiegel | 130 segensreich oder gefährlich ist. | 52

Titel-Illustration: Tim O’Brien für den SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 5
Die Brüsseler Bombe
LEITARTIKEL  Europa wäre töricht, auf die Nato zu verzichten. Noch törichter wäre es allerdings,
sich ganz auf sie zu verlassen.

kern beschäftigen, das Versagen Angela Merkels aufzu-


arbeiten, die nach der Wahl Trumps in einer Bierzeltrede
erklärt hat, dass Europa nun auf eigenen Füßen stehen
müsse – aber nie etwas dafür getan hat, damit dies gelingt.
Die neue Bundesregierung muss das korrigieren. Natür-
lich wäre es töricht, ohne Not die Einheit des nordatlan-
tischen Bündnisses zu gefährden, das von der Aggression
Putins wieder zusammengeschweißt wurde. Noch viel
törichter wäre es indes, sich nicht auf den Fall vor­
zubereiten, dass Joe Biden nur ein europafreundliches
Washingtoner Zwischenhoch ist.
Was also ist zu tun? Europa muss in den nächsten Jah-
ren eine Verteidigungsallianz aufbauen, die die Nato
stärkt und die gleichzeitig in der Lage ist, sie im Notfall
zu ersetzen. Das ist leichter gesagt als getan, wie sich im
Sommer 2021 in Kabul gezeigt hat, wo die Europäer nicht
einmal in der Lage waren, ohne die Amerikaner ihre
eigenen Leute zu evakuieren. Es wäre das größte politi-
sche Projekt seit der Einführung des Euro.
Die Grundlage für ein solches Bündnis könnte die Bei-
NATO

standsklausel des EU-Vertrags sein, die jetzt schon zur

W
Britische Soldaten as, wenn Folgendes passiert? Im Dezember 2025 Solidarität verpflichtet, wenn ein Mitgliedsland der EU
bei Manöver an der lässt Wladimir Putin 150 000 Soldaten an der angegriffen wird. Diese Klausel könnte zu einer harten
norwegischen Küste
Grenze zu Lettland aufmarschieren. Der Kreml- Beistandspflicht ausgebaut werden – zumindest für jene
herrscher hat zwar eine Weile gebraucht, um das Kriegs- europäischen Länder, die das wollen. Das hätte den Vor-
debakel in der Ukraine abzuschütteln. Aber ihm half, dass teil, dass EU-Länder wie Schweden oder Finnland, die
er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht Teil der Nato sind, eine wirksame Sicherheitsgaran-
nach langen und blutigen Kämpfen in einen Kompromiss tie erhielten. Gleichzeitig könnte die Allianz Nicht-EU-
hineinzwängen konnte: Der Donbass und die Krim wur- Mitgliedern einen Beitritt anbieten – Großbritannien zum
den faktisch russische Hoheitsgebiete; dafür verzichtete Beispiel, dessen militärische Erfahrung und Stärke sie gut
Putin darauf, nach Mariupol und Odessa auch noch Kiew gebrauchen könnte.
in Schutt und Asche zu legen, und zog seine Truppen aus Eine Beistandspflicht wäre natürlich nur dann glaub-
der Ukraine zurück. In Moskau kam es nach dem Deal würdig, wenn die Europäer deutlich in ihre Sicherheit
zu einer kurzen Palastrevolte. Aber als zwei aufmüpfige investierten. Das ist teuer, aber machbar. Europa muss
Generäle vergiftet in ihrer Wohnung aufgefunden wurden, nicht weltweit Präsenz zeigen, wie die Vereinigten Staa-
brach der Aufstand schnell in sich zusammen. Anfang ten es tun; es braucht keine Flotte von elf Flugzeugträgern,
Oktober 2025 saß Putin wieder fest im Sattel, nachdem um einem Land wie Russland die Stirn zu bieten. Auf dem
es ihm gelungen war, den neuen US-Präsidenten Donald Papier verfügt Putin über eine der mächtigsten Armeen
Trump nach Moskau zu locken. Auf der Pressekonferenz der Welt, wirtschaftlich hingegen spielt sein Land in einer
im Kreml sagte Trump auf die Frage, ob er zur Nato ste- Liga mit Spanien – was sich im maroden Zustand der
he: »Ich wurde nicht gewählt, damit über Manhattan eine russischen Panzer und Raketenwerfer widerspiegelt, die
Atombombe explodiert.« Kurz darauf setzten sich russi- in der Ukraine oft liegen bleiben, bevor sie das Schlacht-
sche Panzer Richtung Baltikum in Bewegung. feld erreichen.
Wer glaubt, dies sei ein unrealistisches Horrorszenario, Deutlich komplizierter ist nukleare Abschreckung.
Merkel hat hat die vergangenen vier Wochen im Winterschlaf ver- Diese würde nur funktionieren, wenn Frankreich bereit
erklärt, dass bracht. Putin denkt in den Grenzen der alten Sowjetunion,
das bekommt die Ukraine gerade zu spüren. Trump wie-
wäre, seine Force de Frappe aufzustocken und in den
Dienst der europäischen Verteidigungsallianz zu stellen.
Europa auf derum giert danach, ins Weiße Haus zurückzukehren, und Oder die Allianz müsste sich dazu entschließen, eigene
eigenen Füßen die Chancen dafür stehen nicht einmal so schlecht. Inzwi- Nuklearwaffen zu entwickeln – was es nötig machen
schen ist gut belegt, dass Trump in seiner ersten Amtszeit könnte, dass Deutschland unter anderem aus dem Atom-
stehen nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, aus der waffensperrvertrag aussteigt. Man mag das alles ange-
müsse – aber Nato auszutreten. Eine zweite würde dem westlichen Ver- sichts der praktischen Probleme für unrealistisch halten.
teidigungsbündnis wohl den Todesstoß versetzen. Aber das galt bis vor Kurzem auch für einen Invasions-
nie etwas In den vergangenen Wochen war viel von einer »Zei- krieg auf dem europäischen Kontinent.
dafür getan. tenwende« die Rede. Es wird Generationen von Histori- René Pfister  n

6 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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TITEL

Kanzler der
REGIERUNG 
Reserve
Olaf Scholz eilte der Ruf eines harten Verhandlers und klugen
Strategen voraus. Doch als Kanzler wirkt er blass und getrieben.
Kann er die Deutschen durch die selbst verordnete »Zeitenwende« führen?
Von Melanie Amann und Martin Knobbe

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

Regierungschef Scholz
auf der Terrasse des
Kanzleramts

8 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


TITEL

V
on der Pforte des Kanzleramts eignet zu sein, besser jedenfalls als der un­ konferenz, aber auch Medienleute, deren Fra­
bis zu dem großen Zelt, das am ernste Armin Laschet, besser als die damals gen Scholz oft oberflächlich findet.
Südeingang des Berliner Haupt­ unsichere Annalena Baerbock. Scholz empört sich über Menschen, die sich
bahnhofs aufgestellt ist, sind es Doch die Zeiten sind nun anders, neue Ka­ auf Kosten anderer bereichern, Oligarchen
knapp 500 Schritte, zu Fuß tastrophen prägen die deutsche Gesellschaft, zum Beispiel. 2005 saß er als Obmann der SPD
braucht man etwa fünf Minuten. ein Angriffskrieg, Angst vor einer atomaren im Visa-Untersuchungsausschuss. Es ging um
Es wäre für den Kanzler der Bundesrepublik Eskalation, Sorge vor exorbitanten Heizkos­ Korruption und kriminelle Machenschaften
Deutschland kein großer Aufwand, dort vor­ ten und Benzinpreisen, vor einer Rezession bei der Vergabe von Visa an deutschen Bot­
beizuschauen, wo die Geflüchteten aus der und der größten Fluchtbewegung in Europa schaften. Vor allem ein Land stand damals im
Ukraine jeden Tag zu Tausenden ankommen, seit dem Zweiten Weltkrieg. Mittelpunkt: die Ukraine und ihre Oligarchen.
wo Hunderte von Freiwilligen die Gestran­ Von einer »Zeitenwende« hat Scholz vor Manche erklären damit, dass Scholz bis heute
deten versorgen, registrieren und zu Bussen vier Wochen im Bundestag gesprochen, er eine spürbare Distanz zu dem Land hat, ob­
bringen, die sie in die Unterkünfte fahren. hat das Wort geprägt. Doch seither blieb er wohl die Regierenden dort längst andere sind.
Es wäre ein politisches Zeichen in Tagen, in Deckung, die Kraft seiner Rede ist erlahmt. Seine fehlende Wertschätzung lässt Scholz
in denen in kurzer Zeit mehr Notleidende ins Ist er der Richtige, um die Deutschen in die andere spüren, ebenso seine Überzeugung, er
Land kommen könnten als 2015. neue Zeit zu begleiten? Was zeichnet ihn aus, durchdringe die Themen am besten. Mit dieser
Ein Bahnhofsbesuch von Scholz wäre eine woran mangelt es ihm? Kann einer wie er in Attitüde verprellt er viele, deren Unterstützung
emotionale Geste für eine Gesellschaft, in der der Krise gut führen? er im politischen Geschäft braucht. »Wenn Olaf
sich nach zwei Jahren Pandemie und gut vier Scholz jemanden nicht mag, wird er schnell
Wochen Ukrainekrieg Angst und Depression Es ist der vorvergangene Donnerstag um schulmeisterlich«, sagt Bayerns Ministerprä­
breitmachen, in der sich viele nach Zuversicht 9.23 Uhr. Der ukrainische Präsident Wolody­ sident Markus Söder, der mit Scholz in un­
sehnen, nach politischer Führung. myr Selenskyj hat gerade elf Minuten vor dem zähligen Verhandlungsrunden saß.
Der Bundespräsident war hier, die Bundes­ Bundestag gesprochen, in olivgrünem Hemd, Auf Sitzungen bereitet sich Scholz akri­
innenministerin, die Regierende Bürgermeis­ aus einem kargen Raum heraus. Er hat gelobt, bisch vor. Er lässt seine Berater Modelle
terin Berlins. Nur Olaf Scholz noch nicht. kritisiert, gefordert. Die russische Invasion durchrechnen oder Szenarien entwerfen, er
Ist man mit dem Kanzler unterwegs, habe eine neue Mauer in Europa geschaffen, holt sich Impulse aus Büchern, den Sozio­
spricht man mit ihm und Menschen, die ihn die »zwischen Freiheit und Unfreiheit« trenne, logen Andreas Reckwitz schätzt er, den US-
gut kennen, erfährt man, dass er von derarti­ sagte Selenskyj und rief dem Kanzler zu: »Zer­ Philosophen Michael Sandel, selbst in der
gen Gesten nicht viel hält. Für ihn sind sie stören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland Pandemie schaffte er es, ein Buch über Spa­
Symbolpolitik, die keine Probleme löst. Er die Führungsrolle, die es verdient.« niens Maurenherrschaft zu lesen. Am Ende
glaubt auch nicht, dass die Menschen solche Olaf Scholz blickt auf die Leinwand, eine aber verfasst er seine Thesen selbst, ent­
Zeichen von ihm erwarten. schwarze Maske verdeckt den Großteil seines scheidet allein, was wichtig ist, was nicht.
Es ist ein Grund, warum Scholz nach gut Gesichts, nur die Augen blinzeln. Er sagt nichts. Scholz mache alles mit sich aus, sagt einer
vier Monaten im Amt für viele ein unsicht­ Die Abgeordneten klatschen stehend, auch aus seinem Umfeld, bisweilen sei er bera­
barer Kanzler ist, ein politischer Igel, der sich der Kanzler, danach geht die Bundestagsvize­ tungsresistent.
selten aus seinem Stachelkleid herauswagt. präsidentin zur Tagesordnung über und gra­ Schon in Merkels Kabinett, in dem Scholz
Bekommt man ihn zu Gesicht, sieht man tuliert zwei Abgeordneten zum 60. Geburtstag. zuletzt als Finanzminister und Vizekanzler saß,
einen Mann, der in kleinen Schritten und mit Als Scholz Stunden später zu der Peinlich­ waren seine Monologe berüchtigt. Damals ent­
leicht gebeugtem Gang die roten Teppiche keit befragt wird, sagt er:  »Es steht mir als stand sein Spitzname: Schlauschlumpf. Söder
abläuft, die ihm ausgerollt werden, der meist Regierung nicht zu, Debatten zur Geschäfts­ sagte im Schlagabtausch einer Ministerpräsi­
leise in die Mikrofone spricht, die für ihn auf­ ordnung des Deutschen Bundestags zu kom­ dentenrunde einmal im Furor: »Sie brauchen
gestellt werden, und dessen Gesichtszüge mentieren.« Bürokratischer könnte eine Ant­ hier gar nicht so schlumpfig herumzugrinsen.«
selten verraten, was er denkt und wie er fühlt. wort kaum sein. Die größte Schwäche des Kanzlers sei sei­
Die Deutschen haben sich im September Scholz ist ein zutiefst rationaler Mensch, so ne Hybris, sagen sogar Verbündete. Und die
für einen Regierungschef entschieden, der für beschreiben ihn die meisten, die mit ihm zu größte Stärke? »Olaf Scholz ist extrem gre­
das Sachliche und Nüchterne steht, dessen tun haben. Emotional, sagt ein Parteifreund, mienerfahren. Er ist formalisierungssicher in
hervorstechendste Eigenschaft die Langwei­ gebe es weder Ausschläge nach oben noch der Prozessstruktur«, sagt Markus Söder. Ein
ligkeit ist und dessen Stimme das Niveau der nach unten. ganz eigenes Lob.
Zimmerlautstärke nie überschreitet. Die abgehobene Art des Kanzlers trifft vor
Bis heute gilt unter seinen Vertrauten das allem Menschen, die er intellektuell annähernd Es kommt vor, dass Olaf Scholz nach einem
»Erste Scholzsche Gesetz«, es lautet: »Wir auf seinem Niveau wähnt, die aber seine Er­ Todesfall unter Parteifreunden vorbeikommt
sind nie beleidigt, wir sind nie hyste­ wartungen nicht erfüllen. Politiker wie Hen­ und die Trauernden zum Essen einlädt. Es
risch.« Und er pflegt einen zweiten Grund­ drik Wüst etwa, den Regierungschef aus NRW heißt, er weine im Kino, bei »Gundermann«
satz, den er der britischen Queen entliehen und Vorsitzenden der Ministerpräsidenten­ etwa, jenem Musikfilm über den Lieder­
hat. »Never complain, never explain.« Be­ macher aus der DDR. Auch Bücher können
schwere dich nie, erkläre dich nie. ihn zu Tränen rühren, »Hillbilly Elegy« etwa,
Nun ist Scholz, 63, kein König, sondern ein Gespaltene Lager die Familiengeschichte des Autors J. D. Vance,
gewählter Regierungschef, der an der S ­ pitze der den zerplatzten Traum einer weißen Un­
eines verunsicherten Landes steht. Nur 19 Pro­ »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit von terschichtsfamilie in den USA beschreibt.
Bundeskanzler Olaf Scholz?«, Angaben in
zent der Deutschen blicken nach einer aktu­ Prozent »Es ist der größte Irrtum über Olaf Scholz,
ellen Allensbach-Umfrage optimistisch in die dass er keine Emotionen hat«, sagt ein Ver­
sehr zufrieden/zufrieden
nahe Zukunft, der niedrigste Wert seit 1949. trauter. »Ihm fehlt nur die Sprache dafür.«
Im Herbst haben sich die Deutschen für 42 Und Olaf Scholz findet, dass seine Gefühle
einen Kanzler entschieden, der sie aus der sehr unzufrieden/unzufrieden nur ihn etwas angehen. Also behält er sie für
Coronakrise befreien sollte, aus dem unent­ 43 sich. Die Tränen wie die Triumphe.
wegten Ausbalancieren von Infektionskurven Am Wahlabend vom 26. September ver­
und schützenden Maßnahmen. Der Jurist und S Quelle: Civey-Umfrage, Stand: 23. März; Befragte: über 5000;
die statistische Ungenauigkeit liegt bei bis zu 2,5 Prozent-
sammeln sich Genossinnen und Genossen im
Zahlenmensch Scholz schien dafür gut ge­ punkten; an 100 fehlende Prozent: »unentschieden« Willy-Brandt-Haus. Bald steht fest: Die SPD

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 9


TITEL

hat gewonnen, Olaf Scholz hat beste Chancen, Aber beide erlebten Niederlagen und An-
Kanzler einer Ampelregierung zu werden. In 100 Tage, 100 Milliarden griffe aus der SPD. Nahles, die Emotionale,
der Parteizentrale toben alle vor Freude über schmiss im Juni 2019 hin und beendete ihre
die Auferstehung ihrer totgesagten Partei. Koalition  Die Spitzen von SPD, Grünen politische Karriere. Scholz, der Rationale,
Scholz, so schildern es Vertraute, zieht sich und FDP unterwegs zur Vorstellung wollte mit Klara Geywitz den SPD-Vorsitz
irgendwann in einen Raum im sechsten Stock des Ampelkoalitionsvertrags in Berlin übernehmen, doch sie verloren das Rennen
zurück, der nur für ihn reserviert ist. Es ist gegen zwei Außenseiter. Er arbeitete danach
die ehemalige Wohnung für Parteivorsitzen- als Finanzminister weiter, als wäre nichts ge-
de, Oskar Lafontaine hat sie angeblich ein- schehen. Zumindest wirkte es nach außen so.
gerichtet. Heute dient »das Apartment«, wie Scholz weiß, dass er auf ein stabiles Netz
es im Haus heißt, als Besprechungsraum, ein aus Vertrauten zählen kann. Sie haben wie
Tisch, ein paar Stühle, ein Sofa, mehr nicht. er einen langen Atem, der sie über alle Tiefen
Minutenlang hält sich Scholz allein hier seiner Karriere trug. Davon gab es einige: Die
auf, ohne Vertraute, ohne seine Frau Britta Randale rund um den G-20-Gipfel in Ham-

marco-urban.de
Ernst. Erst dann feiert er mit den anderen burg, als Erster Bürgermeister hatte Scholz
weiter. die Lage falsch eingeschätzt. Die Cum-ex-
Andrea Nahles, früher Partei- und Frak- Affäre und seine Erinnerungslücken über die
tionschefin der SPD, ist eine der Personen, Gespräche mit einem Banker. Der Betrugs-
denen Scholz seine Gefühle zeigen kann. Sie skandal um den Finanzdienstleister Wirecard,
sind Freunde, seit sie 1998 erstmals in den unerkannt von der Aufsichtsbehörde Bafin,
Impfpflicht  Um der FDP entgegenzukom-
Bundestag einzogen. Nahles gehört zu den men, entscheiden sich Scholz und Gesund- die Scholz als Finanzminister unterstand. Sei-
Leuten, die Scholz’ Berichte über seine Fahr- heitsminister Lauterbach, die Impfpflicht ne Unterkühltheit hilft ihm, harte Angriffe
ten zur Documenta in Kassel hören, die er in die Hände des Bundestags zu legen abperlen zu lassen, sein Team verbreitet dazu
gern besucht. Und sie dürfte eine der wenigen das passende Narrativ. Sie bestärken den Bür-
sein, auf deren Rat er hört. germeister nach dem G-20-Desaster in dem
Nahles und Scholz, ein ungleiches Paar. Beschluss, nicht zurückzutreten.
»Ich weiß, viele denken, mein Gott, was ha- Es sind die alten Verbündeten aus der Par-
ben die gemeinsam?«, sagt Nahles. »Ich, ka- teizentrale, dem Hamburger Apparat, dem

Christian Spicker / AdoraPress


tholisch, aus der Eifel, sehr emotional. Er, der Finanzministerium, der Bundestagsfraktion,
Agnostiker, aus Hamburg, eher unterkühlt.« die mit ihm nun das Land regieren, meist
Was ist es also? Nahles sagt die Worte ungern, Männer, viele Juristen, alle höchst loyal, so
aber bessere fallen ihr nicht ein: das protes- war das bei Scholz immer. Wolfgang Schmidt,
tantische Arbeitsethos. sein Kanzleramtschef, der die Nüchternheit
Als junge Abgeordnete hätten sie sich in seines Chefs auszugleichen versucht, so gut
der SPD-Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales wie jeden im politischen Berlin kennt und
gefunden, weil beide sich ernsthaft für die selten vor Mitternacht das Büro verlässt. Stef-
Themen interessierten, Probleme verstehen fen Hebestreit, der Regierungssprecher, der
und lösen wollten, Rente, Sozialkassen, Diplomatie  Mitte Februar unternimmt der sich viel Zeit nimmt, um Journalisten die teils
Bundeskanzler einen Versuch, den
Arbeitsmarkt. »Olaf schaut sich Dinge so lan- russischen Präsidenten Wladimir Putin sonderbaren Sprachschöpfungen des Kanz-
ge an, bis er sie verstanden hat«, sagt Nahles. vom Kriegskurs abzubringen lers zu erklären. Jörg Kukies, sein Wirtschafts-
»Ich habe es bei niemandem sonst so erlebt, berater, den er aus dem Finanzministerium
dass auf jedes Nachbohren immer noch eine mitbrachte. Selbst Nahles’ einstige Sprecherin
Antwort kommt.« Lena Daldrup sitzt jetzt im Kanzleramt.
Nahles weiß, wie ihr Freund auf andere Im vertrauten Team verliert Scholz seine
Mikhail Klimentyev / action press

wirken kann. Aber seine »belehrende« oder Verklemmtheit, macht Witze, oft auch fiese.
»schneidende« Art sei reserviert für die Welt Seine Leute duzen ihn und drücken ihm auch
der Politik. »Er würde von einem Busfahrer als Kanzler mal einen frechen Spruch rein:
oder Elektrofachmeister nie mehr erwarten, »Was hat man dir denn heute in den Tee ge-
als dass sie einfach ihr Bestes geben.« tan?« Scholz findet das erfrischend. »Das
Seinen Wahlkampf überschrieb Scholz muss so sein«, soll er gesagt haben, als Außen-
mit »Respekt«, die Idee ist lange in ihm ge- stehende über den flapsigen Ton staunten.
reift, das Anliegen sei ihm ernst, sagt Nahles. Die über Jahrzehnte eingespielte Vertraut-
Der heutige Parteichef Lars Klingbeil be- heit und Routine ist nicht ungefährlich. Es
stätigt das: »Keiner solle sich jemals wieder Aufrüstung  Nach der russischen Invasion geht nun nicht mehr darum, die Senatskanz-
von der SPD abwenden, weil er sich von ihr kündigt Scholz ein 100-Milliarden-Euro- lei oder ein Ministerium zu managen, sondern
verraten fühlt, das ist Scholz ein großes An- Sondervermögen für die Bundeswehr an um das mächtigste Amt im Staat. Scholz ist
und ändert den bisherigen Kurs seiner Partei
liegen.« der Anführer, zuständig für die großen Linien.
Als die SPD nach der verlorenen Wahl 2017 Der Kanzler scheint seine historischen He-
wieder in eine Koalition mit Angela Merkel rausforderungen anzugehen wie früher die
ging, waren es Nahles und Scholz, die das Wohnungsnot in Hamburg oder die globale
Bündnis mit der Union am Ende schmiedeten. Mindeststeuer: lesen, verstehen, verhandeln,
Nahles wurde Fraktionschefin, Scholz Finanz- lösen. Und dann eine Pressekonferenz, damit
minister, und beide dachten längst vier Jahre alle sehen, wer die Sache geregelt hat.
weiter, in klarer Verteilung der Rollen: Er Dass die erprobten Rezepte nicht mehr
Bildgehege / IMAGO

sollte als Mann der Zukunft aufgebaut wer- reichen, dämmert offenbar auch dem Kanzler.
den. Sie sollte Fraktion und Partei mitnehmen. Am Montag nach seiner viel bejubelten Rede
Die Idee, er könnte Kanzlerkandidat werden, zur Aufrüstung der Bundeswehr mit einem
schwirrte da schon in den Köpfen. Sondervermögen von 100 Milliarden Euro

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soll sich Scholz in einer internen Run- denken, umzudenken, vernünftig zu


de über sich selbst geärgert haben: Er werden? Vielleicht sogar die Pflicht?
habe versäumt, die Leute mit ihren Anders als viele Juso-Freunde ging
Gefühlen abzuholen. Scholz nach dem Studium nicht in die
Die Deutschen hätten doch Angst, Politik, er gründete eine Kanzlei für
soll der Kanzler gesagt haben. Viel- Arbeitsrecht. Er begleitete die Ab-
leicht dachte er an seine eigene Mut- wicklung von DDR-Betrieben, ver-
ter. Für ihre Generation ist der Krieg handelte über Massenentlassungen
kein Schwarz-Weiß-Film, sondern und Sozialpläne und wandelte sich
eigenes Erleben, mit furchtbaren Er- zum Pragmatiker. »Die Praxis«, sag-
innerungen. Hätte er diese Stimmung te Scholz 2019 dem SPIEGEL, »wurde
deutlicher adressieren müssen? für mich wichtiger als die Rituale
Die Antwort gab Scholz drei Tage einer politischen Organisation.«
später. Er trat, ungewöhnlich genug, Das gilt bis heute. Grundsätze um-
in einer Talkshow auf. Doch bei zuwerfen fällt ihm nicht schwer. Es

Steffen Kugler / Bundesregierung


»Maybrit Illner« saß er wie ange- war nicht sein Plan, schon gar nicht
schraubt auf seinem Studiosessel, sein Wunsch, die SPD über Nacht von
sprach in immer gleicher Tonlage. der Friedens- zur Rüstungspartei zu
Statt den Staatsmann zu geben, ließ wandeln. Aber wenn die Welt sich
er sich in Details zur Russlandpolitik ändert, ändert Scholz seine Pläne.
der SPD oder zum Rüstungspaket Schwerer fällt es ihm, diesen Wan-
verwickeln. Die Angst kam zwar vor, del mit einer Erzählung zu füllen, was
doch von Scholz kam kein Satz, der in der Zukunft gelten soll, und die
hängen blieb. Kanzler Scholz bei bert Speer von der Weltausstellung Zweifler mitzunehmen. Was bedeutet
Ähnlich lief es diese Woche, als TV-Interview am 1937. die »Zeitenwende« außer mehr Geld
Berliner Flughafen:
sich das Parlament zur Generalaus- Kaum ein Satz, Seither nahm Scholz die Bilder in für die Bundeswehr? Werden deut-
sprache über den Haushalt traf. »Vie- der hängen bleibt jedes neue Büro mit, in die Senats- sche Soldatinnen und Soldaten mehr
le Bürgerinnen und Bürger machen kanzlei nach Hamburg, wo er Erster kämpfen? Wie beeinflusst der Krieg
sich große Sorgen«, sagte der Kanzler. Bürgermeister war, später ins Finanz- die Energiewende? Wie soll sich
Er bekomme täglich Hunderte Briefe ministerium, nun ins Kanzleramt. Deutschland in der Welt positionie-
und Mails mit der Frage: »Wird es Sie gehören zu den wenigen Kon- ren, etwa im Verhältnis zu autoritären
Krieg geben? Auch hier bei uns?« stanten seines politischen Lebens. Regimen wie China?
Aber nein, beteuerte Scholz, die Seine Überzeugungen handhabt er Die Fragen bewegen Scholz, er
Nato werde nicht Kriegspartei. »Da flexibel. Ihn umgibt, wie er es selbst mache sich, so hört man aus seinem
sind wir uns mit unseren europäi- ausdrückte, »das Charisma des Rea- Umfeld, viele Gedanken dazu. Doch
schen Verbündeten und den Vereinig- lismus«. es fehlt die Zeit, sie fertig zu denken.
ten Staaten einig.« Dann ging es wei- In den Achtzigerjahren, als Juso- Seine Krisenpolitik ähnelt der seiner
ter mit Deutschlands Gasversorgung. Vize vom linken Stamokap-Flügel, Vorgängerin. Man fährt auf Sicht.
der sich auf die marxistisch-leninisti- Jörg Kuhbier hat noch den frühen
In seinem Büro im Kanzleramt, Raum sche These des staatsmonopolisti- Olaf in Erinnerung, den aus Juso-Zei-
Nummer 7.409, hat Olaf Scholz schen Kapitalismus berief, warb ten. Lebhaft, witzig, mit wuscheligen
­wenig verändert, seit er es von Ange- Scholz für die »Überwindung der Locken und Lederjacke. Einer, der
la Merkel übernommen hat. Der kapitalistischen Ökonomie«. Später, gern und gut diskutierte, aber die
schwarze Besprechungstisch ist ge- als Generalsekretär unter Kanzler Dinge auch mal leicht nehmen konn-
blieben, der Schreibtisch auch und Gerhard Schröder, verteidigte er des- te. »Heute hat man das Gefühl, hier
die cremefarbene Sitzgarnitur. sen Agenda 2010 und die Entfesse- kommt ein von der Last seines Amtes
Merkel hat alles Persönliche, Bun- lung des Arbeitsmarktes. gebeugter Mensch«, sagt Kuhbier. Er
te mitgenommen: den schwarz-gol- Zu Scholz’ Zeiten forderten die Ju- war Vorgänger von Scholz als Chef
denen Globus, die Mitbringsel aus sos zivilen Ungehorsam für die gute der Hamburger SPD.
afrikanischen und arabischen Staaten Sache, Straßenblockaden und Haus- Zum Pragmatismus seines Partei-
auf der langen Fensterbank, die gro- besetzungen. Dann, als Innensenator freundes hat Kuhbier, heute Anwalt,
ßen Schachfiguren aus Holz, ihr Ade- von Hamburg, gab Scholz den roten ein gespaltenes Verhältnis. Als SPD-
nauer-Porträt. Sheriff und billigte erzwungene Generalsekretär habe Scholz nicht
An den Wänden hängen nun Brechmitteleinsätze gegen mutmaß- mehr für die Partei gesprochen, nur
Schwarz-Weiß-Bilder vom Deutschen liche Drogendealer, später stirbt ein für den Kanzler. »Er hat seine Rolle
Pavillon auf der Brüsseler Expo von »Heute hat Nigerianer bei einem solchen Einsatz. falsch interpretiert«, sagt Kuhbier.
1958. Architekturfotografie, nirgend- Als Juso zog Scholz noch in Auf- Damals, zwischen 2002 und 2004,
wo Menschen, dafür gerade Linien, man das sätzen über die »aggressiv-imperia- entstand der Spitzname »Scholzo-
die perspektivisch auf einen Flucht- Gefühl, hier listische Nato« her. Heute will der mat«, damals straften die Genossen
punkt hinlaufen. Vielleicht so, wie der kommt ein Kanzler die Bundeswehr aufpumpen, Scholz auf dem Parteitag mit 53 Pro-
Kanzler sich gute Politik vorstellt. um die Nato-Ziele zu erreichen. zent ab, damals trat er nicht mehr für
Scholz hat die Fotografien bei von der Last Er habe den »Ideologieschrott« den Landesvorsitz von Hamburg an,
einer Ausstellung entdeckt, als er seines Amtes seiner frühen Jahre abgeschrieben, er ging ganz in die Bundespolitik.
noch Arbeitsminister war. Ihm gefiel
die Bescheidenheit, die Transparenz
gebeugter sagte Scholz einmal. Mit diesen alten
Kamellen konfrontiert zu werden
Als er 2011 nach Hamburg als Spit-
zenkandidat für die Bürgerschafts-
dieses Gebäudes, das ein Gegen­ Mensch.« empfindet er als unfair, als intellek- wahl zurückkehrte, um die SPD aus
entwurf sein sollte zum deutschen Jörg Kuhbier, tuell anspruchslos. Hat nicht jeder der Opposition zu befreien, soll
Pavillon des Nazi-Architekten Al- Parteifreund Mensch das Recht, noch mal nachzu- Scholz sichergestellt haben, dass die

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wahrnehmung sein: Exzellent präpa-


riert, gewieft, notfalls knallhart –
stieg ihm das Bild zu Kopfe?
Mitte Februar besucht Scholz Wla-
dimir Putin in Moskau, im Gepäck
das Versprechen der ukrainischen
Regierung, endlich die Gesetze zur
Umsetzung des Friedensabkommens
von Minsk auf den Weg zu bringen.
Ist jetzt Raum für eine friedliche Lö-
sung? Trotz 150 000 russischer Sol-
daten nahe der Grenze?
Putin empfängt Scholz höflich und
respektvoll, vier Stunden lang spre-
chen sie vertraulich, die Begegnung
hatte Scholz wochenlang vorbereitet.
Er hatte mit Russlandexperten gespro-
chen, dem Politologen Ivan Krastev

Michael Kappeler / dpa


etwa, und mit Angela Merkel.
Scholz wirkt in Moskau ruhig, in
der Pressekonferenz souverän, er bie-
tet dem Despoten Paroli, erlaubt sich
gar einen Scherz auf dessen Kosten,
Partei ihn wirklich wollte. Er gewann Scholz«, das lange regungslos zuhört, Staats- und als er über das Ende seiner Amtszeit
die Wahl, regierte mit absoluter wie das Raubtier in seiner Lagune. ­Regierungschefs spekuliert. Putin lächelt säuerlich,
auf G7-Treffen
Mehrheit. Damals lernte Kuhbier den Es lässt andere reden, bis sie eine in Brüssel am
aber bietet Scholz trotzdem noch ein
Pragmatismus seines Genossen sehr Schwachstelle zeigen, dann schnappt Donnerstag: Glas Sekt an, nur die zwei Männer,
schätzen. Das Versprechen etwa, es zu. Noch nicht der unter vier Augen.
jährlich Tausende Wohnungen zu Vor seiner Kanzlerschaft hatte ­Merkel-Bonus Auf dem Rückflug dringt dem
bauen, habe Scholz voll eingehalten. Scholz Verhandlungspartner wie Ka- Kanzler die Erleichterung aus jeder
»Da hat er nichts delegiert, sich nicht tharina Fegebank. Die damalige Grü- Pore, er wirkt geradezu aufgekratzt.
rausgewunden«, sagt Kuhbier. »Das nenchefin in Hamburg ging 2015 in Träumt er schon von allen Parteien
Projekt wurde zu seinem persönli- die Koalitionsgespräche mit der SPD an einem großen Verhandlungstisch,
chen Erfolg, und dafür bewundere ich wie ein Gnu zur Einweihungsparty und sich als Moderator, der nachhal-
ihn.« bei dem neuen Krokodil nebenan. tigen Frieden aushandelt zwischen
Die SPD hatte damals die absolu- Moskau, Kiew und der Nato? Warum
Hamburg wurde die Keimzelle des te Mehrheit verloren, aber nur so nicht? Er hat doch so viele schwierige
heutigen Kanzlers, hier probierte er knapp, dass die Grünen klarer Junior- Gespräche geführt. Natürlich habe
vieles im Kleinen aus, was sich später partner waren. Fegebank sagt über man immer noch alles für möglich
im Finanzministerium oder für ein ihre Gespräche mit Scholz: »Manche gehalten, betonen Scholz und seine
Kanzler-Wahlprogramm vergrößern Momente kann man schon als intel- Berater später, auch die Invasion. Al-
ließ: Konzepte gegen Jugendarbeits- lektuelles Bullying beschreiben.« Er les andere sei ja naiv.
losigkeit und für die digitale Verwal- habe alle auf Verschwiegenheit und Bald nach der Landung in Berlin
tung, für bessere Straßen, Kitas, Unis. Anstand eingeschworen. »Aber zu- folgt die Ernüchterung. Der Kreml
In Hamburg wurde auch der My- gleich hat er die ganze Klaviatur der stockt die Truppen an der ukraini-
thos vom Angstgegner Scholz gebo- Macht ausgespielt.« schen Grenze weiter auf. Die Hoff-
ren, von dem es hieß, er sei in Ver- Geplättet und verunsichert gingen nung, sie war trügerisch.
handlungen stets einen Schritt voraus, die Grünen in die Koalition und lie-
ob im Vermittlungsausschuss, in den ßen sich von Scholz immer wieder Der Beginn der russischen Invasion
Gesprächen über die Große Koalition Themen unterjubeln. »Ich habe da- ist zweieinhalb Wochen her, als Fi-
2018 oder zuletzt über den Ampel- mals gelernt, dass für Olaf Scholz et- nanzminister Christian Lindner mit
koalitionsvertrag. was beschlossene Sache ist, wenn Olaf Scholz telefoniert. Er werde heu-
Er sei stets perfekt vorbereitet, keiner widerspricht«, sagt Fegebank. Wenn US-­ te wahrscheinlich etwas sagen zu den
heißt es unisono, habe den ganzen Aber es war nicht alles schlecht. Präsident hohen Spritpreisen, kündigt der Li-
Stoff im Kopf und immer noch einen Scholz habe seinen Senat angespornt, berale seinem Regierungschef an. Die
Kompromiss parat. Er könne seine sagt Fegebank, sie sollten die beste Joe Biden Leute brauchten dringend ein Signal,
Gegenseite lesen, sogar steuern, ohne Landesregierung in Deutschland wer- aufzählt, wen dass die Koalition sie nicht mit ihrer
dass sie es bemerke. den. Bei der nächsten Wahl verdop-
»Scholz arbeitet wie ein Staubsau- pelten die Grünen ihr Ergebnis.
er alles an- Tankrechnung im Stich lasse.
Scholz, so heißt es in Regierungs-
gervertreter«, sagt ein Ampelminis- Bürgermeister Scholz schielte da- ruft, nennt er kreisen, habe Offenheit signalisiert,
ter: Er lasse die anderen glauben, sie mals ohnehin wieder nach der Bun- nur beim zugleich aber versucht, seinen Minis-
wollten seine Lösung doch auch. Von despolitik und baute die Landesver-
»FBI-Methoden« ist die Rede, von tretung in Berlin zum Brückenkopf
Bundeskanz- ter zu bremsen. Bitte keine Ankündi-
gungen, ehe die Koalition ein Paket
einer Art Kreuzverhör, in das man aus, mit Wolfgang Schmidt, dem heu- ler das Land mit Entlastungen für die hohen Ener-
mit Scholz leicht gerate, aber auch tigen Kanzleramtschef, als Statthalter. dazu: »Olaf giepreise geschnürt habe. Man wolle
von seiner trügerisch-einschläfern- Scholz kennt die Legenden über doch vereint handeln, wie sonst auch.
den »Late-Night-Radiostimme«. seinen Verhandlungsstil, sie dürften Scholz of Wenig später meldet die »Bild«-
Und es ist die Rede vom »Krokodil deckungsgleich mit seiner Selbst- Germany«. Zeitung: Lindner plane einen Tank-

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rabatt, der Spritpreis solle mit staatlicher Hil- der großen Rede. Und doch wussten die Deut- ihren Wert hat und eine Entscheidung auch
fe unter zwei Euro sinken. Billiger tanken auf schen, dass die Kanzlerin hinter den Kulissen dann Wirkung entfalten kann, wenn viele
Steuerzahlerkosten, ist das die Antwort dieser hart führen und andere für sich einnehmen sachliche Argumente zunächst gegen sie spre-
Klimakoalition, wenn der Rohstofflieferant konnte, dass, wenn sie vom Verhandlungs- chen. In seiner Rolle als Kriegs- und Krisen-
Russland ein europäisches Land bombardiert? tisch mit Autokraten wie Wladimir Putin kanzler ist Olaf Scholz noch nicht ganz an-
Der grüne Vizekanzler Robert Habeck wi- ­aufstand, eine Lösung auf dem Tisch lag. gekommen.
derspricht öffentlich, aber Lindner bleibt hart. ­Merkel genoss deshalb hohes Ansehen im Je grausamer aber die Bilder dieses Kriegs
»Wie hoch stehen die Chancen, dass Sie das Ausland. werden, aus dem eingeschlossenen Mariupol,
am Ende durchkriegen?«, fragt man ihn im Olaf Scholz hat diesen Bonus auf der inter- dem besetzten Cherson, je dringlicher die
ZDF. »Hoch«, sagt Lindner. Es braucht tage- nationalen Bühne noch nicht. Wenn US-Prä- Appelle des ukrainischen Präsidenten Selen­
lange Sitzungen, teils bis in den Morgen, bis sident Joe Biden aufzählt, wen er wegen Russ- skyj, desto größer wird der Druck auf Scholz,
sich die Koalitionäre zusammenraufen und land alles angerufen hat, nennt er Europas noch mehr zu tun, sich klarer zu äußern, sich
ein Entlastungspaket schnüren, samt Steuer- Präsidenten oder Premierminister einfach zu positionieren und endlich zu führen. Die
rabatt auf den Spritpreis, für drei Monate. beim Namen. Nur bei dem Deutschen fügt er Erwartung hat er mit dem großen Begriff
Kanzler Scholz nimmt seine Partner nicht das Land hinzu: »Chancellor Olaf Scholz of »Zeitenwende« selbst geweckt, nun muss er
mehr hart ran wie einst in Hamburg, für ihn Germany«. Für den Fall, dass ihn noch nicht sie erfüllen.
ist der Koalitionsfriede das höchste Ziel. Jetzt alle kennen sollten. Manchmal hat Scholz ein- Am Ende könnte die Nagelprobe für die
lässt er andere sogar glänzen, wenn er die fach Pech: Zum Nato-Gipfel am Donnerstag Funktionsfähigkeit dieser Koalition aber in
Dinge gern anders hätte. »Wir alle wollen in kam er wegen der nächtlichen Ampelgesprä- einem ganz anderen Feld liegen: der Pande-
vier Jahren wiedergewählt werden«, hatte che zu spät – und verpasste das Gruppenfoto. miepolitik. Hier hat Scholz anfangs noch die
Scholz dem SPIEGEL in seinem ersten Inter- Es ist nicht Olaf of Germany, der die euro- Führung übernommen. In seinen ersten Ta-
view nach der Wahl gesagt. »Das muss eine päischen Staaten oder das G7-Bündnis in die- gen als Kanzler gab er konkrete Impfziele vor
neue Koalition jeden Tag im Blick haben.« ser Krise anführt, diese Rolle hat eher Em- und sprach sich klar für eine allgemeine Impf-
Ein Team auf Augenhöhe wollte Scholz manuel Macron übernommen, der öfter als pflicht aus.
formen, nun droht er vor lauter Rücksicht Scholz mit Putin telefoniert und die bedeu- Zunächst lief die Impfkampagne gut an,
und Taktiererei sein Profil zu verlieren. Die tungsvolleren Reden hält. Scholz’ Regierung bis zu 1,6 Millionen Menschen tauchten an
Frage könnte irgendwann nicht nur hei­ßen: agiert auf internationaler Ebene noch nicht, einem Tag in den Impfzentren und Arztpra-
Wo ist Scholz? Sondern: Was will Scholz? sie muss auf die Linie der anderen geschubst xen auf. Doch mit der Omikron-Welle und
Weder harter Hund noch geschickter Ver- werden, sei es beim Aus für die Pipeline Nord zunehmenden Impfdurchbrüchen ebbte sie
mittler – in diesen Tagen überzeugt der Kanz- Stream 2, bei den Waffenlieferungen an Kiew schnell ab. Die Ziele blieben unerreicht,
ler in keiner seiner Paraderollen. Nur als er oder dem Rauswurf russischer Banken aus Deutschlands Impfquote ist im europäischen
die 100-Milliarden-Euro-Bazooka für die dem Informationssystem Swift. Vergleich noch immer bescheiden.
Bundeswehr zog, ohne große Absprachen mit Und während andere Länder täglich stolz Nun zeichnet sich ab, dass die Ampel­
seinen Koalitionspartnern, da blitzte Ent- vermelden, welche Waffen sie an die Ukraine koalition für die Impfpflicht nur schwer eine
schlossenheit auf, da erfüllte Scholz das be- geliefert haben, dringt nur langsam an die Mehrheit in den eigenen Reihen findet. Der
rühmte Versprechen, das er vor vielen Jahren Öffentlichkeit, dass auch die Deutschen mitt- kleinste Koalitionspartner, die FDP, stellt sich
einmal gab: »Wer bei mir Führung bestellt, lerweile mehr nach Kiew verschafft haben quer, sodass Scholz ausgerechnet die Hilfe
bekommt sie auch.« als Helme, Panzerfäuste und Flugabwehrra- der oppositionellen Union braucht, wie bei
Dann aber, in der Stille nach dem Knall, keten aus der DDR, von denen viele schwere der Aufrüstung der Bundeswehr, für die das
tauchte er wieder ab. Er will jetzt planen, um- Mängel hatten. Grundgesetz geändert werden muss. CDU/
setzen, gut regieren und nur öffentlich Zu spät hat der Kanzler erkannt, dass in CSU-Fraktionschef Merz aber hat schon klar-
­auftreten, wenn es etwas zu verkünden gibt. einer Krisenlage wie dieser nicht nur der Prag- gestellt, dass seine Leute nicht »die Ersatz-
Derweil drängen andere ins Scheinwerferlicht. matismus zählt. Dass auch Symbolpolitik bank« für Scholz sein wollen.
Außenministerin Annalena Baerbock zeigt Auf Druck der FDP will die Ampelkoali-
die Gefühle, die Scholz verborgen hält, und tion nun auch die Coronamaßnahmen weit-
die Souveränität, die ihm abgeht. Wirtschafts- Luft nach oben gehend abschaffen, nur in »Hotspots« sollen
minister Habeck etabliert einen Politikstil, sie noch möglich sein. Der Bundestag soll
der wie ein Gegenentwurf zu seinem stum- Zufriedenheit mit der Bundesregierung* dafür ein neues Infektionsschutzgesetz ver-
men Kabinettschef wirkt. In Talkshows gibt »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der . . . abschieden, die Länder fühlen sich über­
er sich emotional, fast aufgewühlt und offen- . . . Bundes- . . . SPD in der gangen.
bart sein Unbehagen über den Zwiespalt der regierung?« Bundesregierung?« In der jüngsten Ministerpräsidentenkon-
deutschen Energiepolitik, gefangen zwischen . . . Grünen in der . . . FDP in der ferenz sah sich der Kanzler einhelligem Wi-
der Abhängigkeit von Putin und den Idealen Bundesregierung?« Bundesregierung?« derstand der Länderchefs ausgesetzt. Nicht
einer Klimakoalition. nur die Regierenden der Union griffen den
0
Nein, die Folgen eines Energieboykotts Kanzler für den Kurs der Ampelregierung an,
gegen Russland wären zu hart für das Land, − 20 −25
sogar die eigenen SPD-Leute, die sonst wie
seufzt Habeck. »Das verbietet der Amtseid.« −28 Prätorianer zu Scholz standen, machten
Auch als der Vizekanzler nach Katar und − 40 −38 ihrem Zorn Luft.
in die Vereinigten Arabischen Emirate reist, Scholz steckte die Prügel für die FDP ein.
um mit Regierungen Verträge für Erdgas und − 60 Selbst als die Länderchefs ihre Empörung in
−64
Wasserstoff auszuhandeln, die Menschen- − 80
drei Protokollerklärungen fassten, sich ge-
rechte missachten, hadert Habeck öffentlich sammelt gegen den Kanzler stellten, sei der
mit sich. »Selbstkritisches Kämpfen«, so ungerührt geblieben, heißt es.
Januar Februar März
nennt der Grüne diesen Politikstil. Er verleiht Olaf Scholz bedankte sich für das gute Ge-
* die Kurven berechnen sich aus den Umfragewerten,
ihm die Aura eines Schattenkanzlers. Antwortskala von sehr zufrieden (200 Punkte) bis sehr spräch. »Ich glaube, dass wir da noch was zu
In der penetranten Zurückhaltung gleicht unzufrieden (-200 Punkte) arbeiten haben«, sagte er.
Scholz seiner Vorgängerin. Auch Angela Mer- S Quelle: Civey-Umfrage, Stand: 23. März; Befragte: je mindes-
tens 5000; die statistische Ungenauigkeit liegt bei bis zu 2,5
Dann rief er den nächsten Tagesordnungs-
kel zeigte selten Emotionen, war keine Frau Prozentpunkten punkt auf. n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 13


TITEL

»So was prägt eine Nation«


GESELLSCHAFT  Der Zweite Weltkrieg und die atomare Bedrohung haben das Land tief beeinflusst.
Jetzt löst Putins Überfall auf die Ukraine neue Ängste aus – und jede Menge
Solidarität. Wie der Schock über eine erschütterte Welt alle Generationen erfasst.

M
it 57 Jahren ist Manuela Sonntag Am Abend servierte Sohn Timo den neuen Scholz drückte damit aus, was Menschen wie
noch einmal Mutter geworden, Mitbewohnerinnen Spaghetti Bolognese, die Manuela Sonntag empfinden: Die neuen Zei-
plötzlich und gleich vierfach. Sie er gekocht hatte. Um 23 Uhr lag Sonntag im ten erfordern einen Aufbruch in Deutschland,
hat bereits zwei erwachsene Söh- Bett, mit vier Fremden unter einem Dach. politisch, menschlich. Abgrenzung gegen den
ne, von denen einer, Timo, noch bei ihr wohnt. Manuela Sonntag ist Physiotherapeutin Aggressor Putin. Solidarität mit seinen Op-
Vergangene Woche, als sie die ukrainischen und Wellnesstrainerin mit einer Privatpraxis, fern.
Flüchtlinge bei sich zu Hause in Wuppertal- sie kann den geflüchteten Frauen zweieinhalb Und die Solidarität in Deutschland ist ge-
Vohwinkel aufgenommen hat, sagte sie: »Ich Zimmer, Küche, Bad bieten, eine eigene Eta- waltig: Erzieherinnen, Professorinnen, Bus-
bin jetzt eure deutsche Mutter – herzlich will- ge im Haus. Ihr ist wichtig, dass es kein Not- fahrer, Handwerker sammeln Kleidung, Le-
kommen!« Dann ging sie ein paar Stufen hoch quartier sein soll, keine Zwischenstation, sie bensmittel, Windeln, Tampons, Cremes, sie
und öffnete die Haustür. hofft, dass die Frauen so lange bleiben, bis organisieren Transporte, Helferinnen und
Am Vormittag hatte sie auf Facebook der Krieg vorbei ist. »Der Kummer der Helfer erwarten die Flüchtenden an den
einen Beitrag gelesen, veröffentlicht in der Flüchtlinge, das menschengemachte Leid, das Bahnhöfen und Busstationen. Die Bahn spen-
Gruppe »Aufnahme ukrainischer Flüchtlin- sie ertragen müssen – es ist unsere Pflicht, diert Tickets. Hoteliers stellen Zimmer zur
geDE«. Der Post, automatisch ins Deutsche Mitgefühl zu zeigen und Verantwortlichkeit«, Verfügung.
übersetzt, lautete: »Guten Tag. Guten Tag. sagt sie. Es geht ihr um Solidarität. Zu signa- 87 Prozent der Deutschen halten den rus-
Mein Name ist Aleksandra. Suche Wohnung / lisieren: Wir stehen auf derselben Seite. sischen Einmarsch in der Ukraine für einen
Zimmer in Deutschland. Jetzt sind wir in Os- Gut zwei Wochen zuvor war Olaf Scholz großen oder sehr großen Einschnitt in der
nabruck. Möchten Sie einen vorübergehen- in einer Sondersitzung ans Rednerpult des jüngeren europäischen Geschichte. Nur 7 Pro-
den Wohnsitz anmelden, da wir nach dem Bundestags getreten und hatte eine Regie- zent halten ihn für gering oder sehr gering, das
Krieg nach Hause zurückkehren wollen. Wir rungserklärung abgegeben. Das wichtigste ist das Ergebnis einer Umfrage des Online-
vier: Mädchen 18, 19 und 22 Jahre und Mama Wort seiner Rede lautete »Zeitenwende«. Es Befragungsinstituts Civey für den SPIEGEL .
44 Jahre. Wir sind aus Charkiw und Mariupol. ist der zentrale Begriff für viele geworden. Der übergroße Teil der Bevölkerung zeigt sich
Wir lieben Tiere und können im Haushalt besorgt angesichts nun möglicher Entwick-
helfen.« lungen: dass der Krieg sich ausweitet, was die
Manuela Sonntag antwortete, sie wohne SPIEGEL-UMFRAGE Folgen für Deutschland sind. 41 Prozent fühl-
in einem großen Haus, »melde dich, wenn du ten sich sogar psychisch beeinträchtigt durch
willst«. In den nächsten Minuten schickten »Wie groß ist Ihrer Meinung nach der den Krieg.
sie und Aleksandra sich Fotos, Videos und Einschnitt durch den Russland- Am vergangenen Wochenende gab es Frie-
Herz-Emojis, dann setzte Sonntag sich ins Ukraine-Krieg in der jüngeren euro- denskundgebungen in etlichen deutschen
Auto und fuhr nach Osnabrück, gut 170 Kilo- päischen Geschichte?«, in Prozent Städten, in Münster, in Düsseldorf, in Mag-
meter, um die Frauen abzuholen. sehr groß/eher groß deburg, in Hamburg, in Hannover. Das Kon-
Ihre »Vize-Kinder«, wie Manuela Sonntag 87 zert »Sound of Peace« am Sonntag vor dem
sie nennt, heißen Natalia, Aleksandra und Brandenburger Tor in Berlin war nach An-
sehr gering/eher gering
Elina, sie sind eine Familie, außerdem ist da gaben der Veranstalter »Europas größte mu-
noch Daria, eine Kommilitonin von Elina. Der 7 sikalische Kundgebung« gegen den russischen
Entschluss, die vier aufzunehmen, sei »super- Angriff auf die Ukraine. Fury in the Slaugh­
spontan« gewesen, sagt Manuela Sonntag. »Durch welche dieser Krisen wurde terhouse traten auf, Westernhagen, Clueso
Drei Tage lang hatte sie immer wieder bei Ihrer Meinung nach der größte Ein- und Silbermond auch, rund 15 000 Zuschau-
Facebook geschaut, wer eine Unterkunft schnitt in der jüngeren europä- ern waren dabei, es kamen mehr als zwölf
braucht, »bei ihnen hatte ich das Gefühl, wir ischen Geschichte verursacht?« Millionen Euro an Spenden zusammen. Das
passen gut zusammen«. Vorbereitet hatte sie Russland-Ukraine-Krieg Konzert wurde live übertragen, die Kameras
nichts. 52 fingen Ernst, Trauer, Tränen ein. Die Musiker
Als sie sich das erste Mal begegneten, hatten Mühe, ihrem Publikum auch nur ein
schloss Manuela Sonntag jede der Frauen in Coronapandemie bisschen Freude zu entlocken, von Ekstase
ihre Arme, es flossen Tränen, so erzählt sie 32 kaum eine Spur. Überall tauchten die alten
es. Auf dem Rückweg nach Wuppertal saß Klimawandel Symbole der Friedensbewegung auf: die Tau-
Natalia, die Mama, vorn. Manuela Sonntag 7
be, das Peace-Zeichen, auf Fahnen, auf Klei-
fragte, ob es okay sei, wenn sie schnell fahre. dungsstücken, als Schmuck.
Sie wollte nichts falsch machen. Die Flücht- Weltwirtschaftskrise 2008 Blau und Gelb, die Farben der ukraini-
linge erzählten nun ihre Geschichte: Neun 7 schen Flagge, sind gerade die Farben des Lan-
Tage seien sie unterwegs gewesen, mit dem S Quelle: Civey-Umfrage vom 21. bis 23. März 2022; des. An der Grundschule Westersburg in So-
Zug über Lwiw, Krakau und Breslau nach Befragte: rund 5000; die statistische Ungenauigkeit liegt
bei bis zu 2,5 Prozentpunkten; an 100 fehlende Prozent:
lingen, so es erzählt Schulleiterin Anna Fröh-
Deutschland. »unentschieden«, »weiß nicht« lich, habe ein Brief in dem silbergrauen Brief-

14 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


TITEL

Christina Kratsch / DAVIDS


kasten gelegen, der neben der Tür die 50-Jährigen wiederum haben ihre Sängerin Mia bei Alte Überzeugungen sind nicht
zum Schulleitungsbüro hängt. Eine Jugend unter dem Eindruck des Wett- Konzert für den mehr gültig, die Politik vollzieht eine
Frieden vor dem
Gruppe Drittklässlerinnen hatte ge- rüstens, der Reaktorkatastrophe von Brandenburger Tor in Kehrtwende nach der anderen. Poli-
schrieben, es sei blöd, was Putin da Tschernobyl und der Angst vor einem Berlin: Von Ekstase tikerinnen und ehemalige Diploma-
mache. Deshalb wollten sie Flaggen atomaren Vernichtungsschlag ver- kaum eine Spur ten sprechen offen über ihre Tränen
basteln, um allen Passanten zu zeigen,bracht. Sie wissen, was allen droht, und Gefühle. Wo das alles hinführt,
dass sie in Frieden leben wollen. An wenn Russland und der Westen sich kann noch niemand sagen. Wer den
den Fensterscheiben der Fledermaus- feindlich gegenüberstehen. Viele der Begriff Zeitenwende ernst nimmt,
klasse im Erdgeschoss kleben nun Jüngeren, die nach dem Mauerfall im weiß ja, dass sich erst mit der Zeit he-
Flaggen, Querstreifen in Blau und Selbstverständnis einer insgesamt rausbildet, was kommt. Wer aber hin-
Gelb, dazu eine Friedenstaube – einigermaßen stabilen europäischen sieht und hinhört, was Politiker, Au-
Buntstift auf DIN-A3-Papier. Ordnung aufgewachsen sind, muss- torinnen, Schülerinnen bewegt und
ten mit Schrecken feststellen, buch- Wissenschaftler wahrnehmen, be-
Deutschland reagiert auf einen stäblich von heute auf morgen »in kommt von diesem Anfang der Zei-
Schock. Er erfasst alle Generationen. einer anderen Welt aufgewacht« zu tenwende dann doch ein erstaunlich
Die ältesten Deutschen kennen die sein, wie es die 41-jährige Außenmi- klares Bild: das einer tiefen Erschüt-
Verheerungen des von den Deut- nisterin Annalena Baer­bock formu- terung.
schen ausgelösten Krieges aus eige- lierte. In der noch überschaubaren Es ist das erste Mal seit dem Ende
nem Erleben, die Detonationen von Lebenszeit der Kinder, Jugendlichen »Ich habe des Zweiten Weltkriegs, dass in Euro-
Bomben gehören zu ihren frühesten und jungen Erwachsenen wiederum pa eine Großmacht ein anderes Land
Erinnerungen. Die nur wenige Jahre wiegt die nun bereits zwei Jahre wäh- gerade bitter- überfällt. Nach dem Ende des sowje-
Jüngeren sind geprägt von einem rende Pandemie schwer – dass ein lich geweint. tischen Imperiums 1990/91 sah es
Nachkriegsdeutschland, in dem die Krieg in der Nähe jetzt nahtlos an
Folgen allgegenwärtig waren, auch diese Erfahrung anknüpft, dürfte bei
Es war alles zeitweise so aus, als könnte Russland
Teil des Westens werden, mit Demo-
ihnen geht das Grauen nahe, das die ihnen das in vielen Studien belegte umsonst.« kratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft.
Menschen nur einige Hundert Kilo- Grundgefühl der Unsicherheit noch Frank Elbe, ehema­ Sogar vor einer Nato-Mitgliedschaft
meter entfernt erleben. Und die um vertiefen. liger Diplomat war die Rede. Doch nun sind nicht

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und dann in Polen – und dann? Laut


der aktuellen Civey-Umfrage fürch-
ten 62 Prozent der Deutschen, dass
der Krieg in der Ukraine zu einem
dritten Weltkrieg eskalieren könnte.
So hat die kraftvolle Solidaritäts-
welle in Deutschland auch diese
Unterströmung: Angst. Das ändert
aber nichts am Wert der Hilfe.
Ein starkes Motiv für die Solidari-
tät dieser Tage ist das Gefühl der
Ohnmacht. Sich solidarisch zu zeigen
scheint derzeit der einzige Weg zu
sein, dem lähmenden Schrecken von
Putins Krieg zu begegnen – der zu-
dem in eine Zeit fällt, in der sich vie-
le Menschen nach zwei Jahren Pan-
demie ohnehin schon ausgelaugt, kri-
sengeschüttelt und verzweifelt fühlen.
Selbst aktiv zu werden erleichtert
es, sich der unvorhersehbaren Welt-
lage weniger ausgeliefert zu fühlen.
Wer hilft, handelt und bewirkt etwas.

Clemens Bilan / epa


Sich mit Deutschland und den hiesi-
gen Reaktionen auf den Krieg zu be-
schäftigen mag zynisch wirken. Soll-
te es nicht um jene Menschen gehen,
die Putins Krieg unmittelbar ausge-
nur die Grundpfeiler langjähriger habe ich nicht für möglich gehalten.« Helferinnen am Ber­ setzt sind – um die Kämpfenden, Ver-
Außen- und Sicherheitspolitik end- Der Jurist ist noch als Anwalt tätig, liner Hauptbahnhof: wundeten, Sterbenden, Flüchtenden?
Deutsche sammeln
gültig eingestürzt, sondern auch die ihm hängt der Ruf an, Mandate im Kleidung, Tampons, Doch Repräsentanten der Ukraine
Gewissheit, dass Europa nach allen Umfeld von Nord Stream 2 wahrzu- Cremes, sie orga­ appellieren seit Wochen an die Deut-
Schlachten der vergangenen Jahrhun- nehmen, nach Rechtslage darf er sich nisieren Transporte schen, sich ihrer eigenen Rolle in die-
derte ein in weiten Teilen sicherer zu seinen Mandanten nicht äußern. sem Krieg bewusst zu werden und
Kontinent geworden ist. Doch sein Urteil ist ohnehin eindeu- auch ihrer Verantwortung – und
Jahrzehntelang zählte es zu den tig: »Das ist ein Angriffskrieg, ein nicht zuletzt der Möglichkeit, noch
wichtigen Aufgaben der Politik, die- eklatanter Bruch der Charta der Ver- tiefer als bisher mit hineingezogen
sen Zustand zu bewahren. Einer, der einten Nationen und durch nichts zu zu werden.
daran mitgewirkt hat, ist Frank Elbe. rechtfertigen.« Immer wieder hat der ukrainische
Der heute 80-Jährige zählte während Schon Putins Annexion der Krim Botschafter Andrij Melnyk darauf
der Verhandlungen zur deutschen im Jahr 2014 war eine Zäsur. Doch hingewiesen, dass das Schicksal der
Einheit 1990 zu den engsten Mit- zum Entsetzen vieler Ukrainerinnen Deutschen an das der Ukraine gebun-
arbeitern des damaligen Außenminis- und Ukrainer glaubte man in Deutsch- den ist. Und der ukrainische Präsi-
ters Hans-Dietrich Genscher. Er land und andernorts weiter an das dent Wolodymyr Selenskyj hat in
glaubte, Europa habe endgültig Frie- Prinzip Wandel durch Handel, auch seiner Rede am 17. März, die per Vi-
den gefunden, »ich dachte, eine neue weil es ein Vorgehen war, von dem deo live in den Bundestag übertragen
Zeit stehe bevor«, sagt Elbe, der aus Deutschland profitierte. Längst wurde, auch das »verehrte deutsche
einer deutsch-baltischen Familie herrschte zwar Krieg im Donbass, Volk« angesprochen. Er bedankte
stammt. doch in Deutschland wurde meist von sich für die bisherige Hilfe, forderte
Peter Jülich / DER SPIEGEL

Karrierediplomaten lernen, ihre einem »Konflikt« oder einer »Krise« noch deutlich mehr ein und verwies
Gefühle zu verbergen, doch der An- gesprochen. auf die Aufgabe, gemeinsame Werte
griff Russlands am 24. Februar brach- Erst jetzt werden die Dimensionen zu verteidigen. Er deutete die Ver-
te Elbe aus der Fassung. Am Nach- dessen, was spätestens mit der Anne- brechen der Deutschen vor 80 Jahren
mittag schrieb er in einer Mail: »Ich xion der Krim begann, in Deutsch- nur an, und doch kam er mehrfach
habe gerade bitterlich geweint. Ich land begriffen, und diese Erkenntnis auf sie zu sprechen und damit auf die
werde die Rückkehr zu einer wie auch verstärkt die Erschütterung dieser Verantwortung der Nachkommen. Er
immer gearteten Normalität bei mei- Tage. Dass so viele sich getäuscht ha- »Dass da äußerte sich skeptisch zur Frage, ob
ner Lebenserwartung nicht mehr er- ben, ruft Schuldgefühle hervor und schon wieder das Bekenntnis der Deutschen, so et-
leben. Es war alles umsonst.«
Elbe hatte nach seinem Ausschei-
provoziert Ängste: Was, wenn es er-
neut schlimmer kommt als angenom-
die nächste was »nie wieder« zuzulassen, noch
gelte. Sein Schlussappell lautete:
den aus dem diplomatischen Dienst men? Putin deutete bei seiner bizar- Krise ist, das »Stoppen Sie den Krieg! Helfen Sie
2005 lange um Verständnis für den ren Rede am 18. März vor Zehntau- finde ich uns, ihn zu stoppen!«
russischen Präsidenten Wladimir Pu-
tin und die russische Sicht geworben.
senden jubelnden Menschen im Mos-
kauer Luschniki-Stadion an, er werde
wirklich Selenskyj machte klar, dass es sich
auf die Ukraine auswirken wird, wie
»Ich habe mich geirrt«, sagt er heute, zu Ende bringen, was er angefangen belastend.« die Deutschen auf den Krieg reagie-
»ich hielt Putin für einen rational den- habe. Was, wenn das bedeutet, dass Rahel, Schülerin, ren. Dass es sich auf sie selbst aus-
kenden Menschen, einen Angriff er weitermachen wird: erst in Moldau 16 Jahre wirken wird. Und auf ganz Europa.

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TITEL

Deswegen führt kein Weg daran vorbei, Deutsche Geschichte Da ist die besondere historische Verant-
sich auch mit der Gefühlslage und Position wortung der Deutschen und die geografische
der Deutschen in diesem geopolitischen Groß- Nähe zu den Ereignissen. Carola Richter, 44,
konflikt zu befassen. Wird ihre Solidarität Professorin für Kommunikationswissenschaft
halten? Wie lange? Oder wird sie jetzt schon an der Freien Universität Berlin, erforscht
brüchig? Auf welche Weise hat der Krieg unter anderem, wie die Berichterstattung
Deutschland bereits verändert? Wie wirkt über politische Krisen wahrgenommen wird.
sich die Vergangenheit auf das Heute aus? Sie sagt, wenn die Medien über einen Krieg

Jewgeni Chaldej / ITAR-TASS / dpa


Und wird die Bevölkerung mehrheitlich die berichteten, der von Berlin nur 1200 Kilo-
Entscheidungen ihrer Regierung unterstüt- meter entfernt ist, dann reagierten die Deut-
zen? Denn es geht ja jetzt um mehr als nur schen stärker darauf als auf einen Krieg in
um eine nächste Krise. Syrien oder Afghanistan: »Wir teilen das Sze-
Die Deutschen müssen jähe Kursänderun- nario einer Bedrohung und entwickeln daher
gen ihrer politischen Repräsentanten mit- eine immense Empathie«, sagt Richter.
tragen. Ein Volk, das aus guten Gründen eher »Es spielt zudem eine Rolle, dass die Ge-
pazifistisch eingestellt war, muss sich um- 1945 | Kriegsende: Ein sowjetischer Soldat hält flüchteten, zugespitzt ausgedrückt, so aus-
orientieren: Waffenlieferungen in ein Kriegs- die sowjetische Flagge auf dem Reichstag sehen wie wir. Es ist leichter, sich mit jeman-
gebiet und eine schier unfassbare Summe dem zu solidarisieren, der uns kulturell nah
von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung. zu sein scheint.« Die deutsche Willkommens-
Es muss mit Entscheidungen klarkommen, kultur im Jahr 2015, die vor allem Syrern galt,
mit denen sich kaum jemand wohlfühlen die vor dem Krieg in ihrem Lande geflohen
dürfte: Um von russischen Energielieferun- waren, war von Anfang an gebrochener.
gen unabhängig zu werden, begab sich der Dazu kommt laut Richter, dass Deutsch-
grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck in land in den Jahrzehnten seiner Teilung im
den vergangenen Tagen auf eine Reise nach Zentrum des Kalten Krieges stand. In den
Katar und in die Vereinigten Arabischen Emi- sozialen Medien werde im Moment an ein
rate – als Freunde von Menschenrechten sind tief sitzendes russlandfeindliches Narrativ an-

Peter Leibing / Hamburg


die Scheichs nicht bekannt. Die Deutschen, geknüpft: »Das Bild vom bösen Russland
im Schnitt seit Jahrzehnten an Wohlstand wurde in Westdeutschland in der Zeit des
gewöhnt, müssen sich mit dem Gedanken Kalten Krieges stark verankert.«
auseinandersetzen, wegen des möglichen Auf die Frage nach den Unterschieden der
Verzichts auf russisches Gas und Öl eventuell Reaktionen in Ost und West sagt Steffen Mau,
frieren zu müssen. Für einige könnte Auto- 1961 | Ein Soldat der DDR springt über die 53, Professor für Soziologie an der Humboldt-
fahren etwas werden, was sie sich nicht mehr Stacheldrahtgrenze von Ost- nach West-Berlin Universität zu Berlin und Spezialist für Ost-
leisten können. Die Deutschen und ihr Auto – deutschland, dass die Unterschiede zwischen
diese Liebesgeschichte wird nicht enden, Ost und West in den Zustimmungswerten zu
auch wenn die Vernunft es erfordern würde bestimmten Themen in der Regel nur gradu-
(lesen Sie auch Seite 26). Die Deutschen se- ell seien, sie lägen bei 10 bis 15 Prozent.
hen auch die wirtschaftlichen Folgen des Allerdings hätten Westdeutsche häufig
Kriegs und der Sanktionen für Deutschland eine starke Bindung an andere westliche
mit großer Sorge. Laut der Civey-Umfrage ­Nationen, sowohl ideell als auch sozial. In
fürchten 78 Prozent, dass es zu einer neuen den Jahrzehnten nach dem Krieg seien in-
Weltwirtschaftskrise kommt, knapp 80 Pro- tensive Freundschaften zwischen Westdeut-
zent befürchten einen wirtschaftlichen Um- schen und Amerikanern entstanden. Ost-
Kammerer / ullstein bild

bruch in Deutschland durch die steigenden deutsche der Generationen vor dem Mauer-
Energiepreise. fall hätten wiederum in der Schule gelernt,
Martin Endreß, 62, Professor für Allgemei- sowjetische Soldaten als Befreiungsarmee
ne Soziologie an der Universität Trier, sieht wahrzunehmen und die Besatzung als natür-
enorme Herausforderungen auf die deutsche liche Folge der Verbrechen der Nazis. »In
Politik und Öffentlichkeit zukommen: »Die- 1983 | Grüner Joschka Fischer bei Protest gegen Westdeutschland hat man viel stärker auf die
ser Krieg zeigt sehr gewaltvoll, dass wir uns die Stationierung von Pershing-2-Raketen westlichen Alliierten geschaut, die Sowjet-
nicht mehr so bequem zurückhaltend in der armee war Teil des Warschauer Pakts und
Weltgeschichte einrichten können, wie es lan- damit ein Gegner.«
ge dem deutschen Selbstverständnis entspro- An den friedlichen Abzug der Sowjetarmee
chen hat.« Die Deutschen müssten nicht nur mit ihren mehr als 300 000 Soldaten nach
wirtschaftlich und kulturell, sondern auch dem Mauerfall erinnerten sich ehemalige
sicherheitspolitisch neu denken lernen – »so- DDR-Bürger positiv, so Mau, und sie brächten
sehr es dem friedlichen Ideal und allem Freu- dies bis heute mit Russland in Verbindung.
de-schöner-Götterfunken-Denken wider- Die deutsche Einheit werde bei vielen auch
spricht«. Der Krieg setze im Gefüge der Nach- als Geschenk der Russen angesehen. Die
kriegsordnung alles außer Kraft, was die »Fernwirkung der deutschen Teilung und des
Deutschen als normal empfänden, »und wir Mauerfalls haben immer noch Einfluss auf
Volodymyr Repik / AP

haben mit dieser schamlosen Verletzung unse- die politischen Eliten«, sagt Mau und meint
rer Normalitätserwartung nicht gerechnet«. damit Michael Kretschmer (CDU) und Ma-
nuela Schwesig (SPD), die als Regierungs-
Die Erschütterung ist zwar weltweit zu spüren, chefs ihrer Bundesländer jahrelang einen
und viele Gründe dafür ähneln sich, doch 1986 | Zerstörter Reaktor im Atomkraftwerk russlandfreundlichen Kurs verfolgten. Auf
kommen hierzulande eigene Gründe hinzu. von Tschernobyl in der Ukraine solche Politikerinnen und Politiker dürfte der

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Zivilisationsbruch, für den der Krieg steht, Ampel regiert. »Ein nicht kleiner Teil unserer
»wie ein Erweckungserlebnis aus der Traum- SPIEGEL-UMFRAGE Bevölkerung ist pazifistisch eingestellt, diese
tänzerei« wirken, sagt Mau. Menschen lassen sich vermutlich eher von
»Russlands Angriff auf die Ukraine einem sozialdemokratischen Kanzler und
Ein Erweckungserlebnis – dies gilt in Abstu- hat einige meiner politischen Über- einer grünen Außenministerin überzeugen,
fungen allerdings für beinahe die gesamte zeugungen fundamental infrage jetzt auch militärisch aktiv zu werden. Wenn
politische Klasse. Die Russlandpolitik der ver- gestellt«, in Prozent in dieser Situation die CDU den Kanzler stel-
gangenen Jahre und Jahrzehnte ist gescheitert, stimme eindeutig/eher zu len würde, stünden wir vor einem Akzeptanz-
auch wenn, wie immer, nicht alles falsch da- 44 defizit und damit vor sehr großen gesellschaft-
ran gewesen ist. Aber die Grundannahmen lichen Herausforderungen.«
gelten nicht mehr: Wandel durch Handel, stimme eindeutig/eher nicht zu Die Grünen selbst tragen die Pläne für Auf-
mehr reden als drohen. Denn mit den Erlösen 47 rüstung und Abschreckung bisher erstaunlich
der Lieferungen von Gas und Öl nach klaglos mit, nur die Grüne Jugend murrt.
Deutschland finanziert Putin auch seinen Doch die neue Militarisierung des Landes ist
Krieg. »Ich habe heute eine andere Haltung nicht die einzige Überraschung für die Partei.
Kanzler Olaf Scholz verwunderte vor zum Bezug von Energie aus Russ- Der grüne Wirtschaftsminister und Vizekanz-
dem 24. Februar mit seinem zurückhaltenden land als vor dessen Angriff auf die ler Robert Habeck hatte bei Amtsantritt zwar
Russlandkurs die westlichen Verbündeten, Ukraine« ähnliche Aufgaben vor sich, wie sie jetzt auf
vor allem die USA. Der Beginn des Angriffs- stimme eindeutig/eher zu ihn zukommen, einen zähen, langwierigen
kriegs bewirkte die Wende. Auf seine SPD 53 politischen Kampf hatte er erwartet, um dem
wirkt sich das unmittelbar aus. Die Ostpolitik, Ziel eines klimaneutralen Deutschlands nä-
ein Identitätsanker der Partei, steht mit ihren stimme eindeutig/eher nicht zu herzukommen. Windkraftanlagen und Strom-
jüngsten Ausprägungen infrage. Auch andere 40 leitungen zu errichten – das garantiert keinen
Parteien müssen neu denken. Teile der Union Applaus. Was er sich jedoch nicht hätte vor-
beginnen, an Merkels Russlandpolitik zu stellen können: dass er diese Entscheidungen
zweifeln. Und die Linke ist zerrissen zwischen »Haben Sie Sorge, dass der Angriff nun vor dem tragischen Hintergrund eines
einer unverbesserlichen Russland-Apologetin Russlands auf die Ukraine zu einem Krieges trifft. Jetzt muss alles viel schneller
wie Sahra Wagenknecht und jenen, die eine Weltkrieg eskalieren könnte?« gehen mit dem Ausbau der erneuerbaren
Veränderung des bisher eher russlandfreund- ja, auf jeden Fall/eher ja Energien, sie helfen nicht nur gegen die Erd­
lichen Kurses der Partei fordern. Oskar La- 62 erhitzung, sondern seit vier Wochen ist der
fontaine, Mitgründer der Linkspartei, ist vor Umgang mit ihnen auch zu einer Frage der
einigen Tagen aus der Partei ausgetreten. Die nein, auf keinen Fall/eher nein nationalen Sicherheit geworden.
AfD, bisher ein Hort der Putin-Versteher, ist 25 Die Kehrtwende in der deutschen Energie-
sich inzwischen in der Russlandfrage uneins. politik dieser Tage hat Habeck nach Katar
Die FDP-Politikerin und neue Vorsitzende und in die Vereinigten Arabischen Emirate
des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes »Haben Sie Sorge, dass Russland gebracht. Habeck sagt, dass er erst gar nicht
Strack-Zimmermann durfte nicht im Plenum gegen die Ukraine Atomwaffen versuchen werde, die Illusion aufkommen zu
des Bundestags sitzen bei Scholz’ Zeitenwen- einsetzen könnte?« lassen, dass in diesen Entscheidungen das rei-
de-Rede, sie hatte Corona und verfolgte die ja, auf jeden Fall/eher ja ne Gute aufscheine. Jetzt müsse man das re-
Regierungserklärung mit Kopf- und Glieder- 55 lativ Bessere tun. Möglichst wenige falsche
schmerzen vor dem Fernseher. Von dem Entscheidungen zu fällen, das würde ihm in
100-Milliarden-Euro-Sondervermögen hörte nein, auf keinen Fall/eher nein einer solchen Ausnahmesituation schon ge-
sie zum ersten Mal in diesem Moment, aber 36 nügen. Den Ton moralischer Selbstvergewis-
sie ahnte, dass etwas Großes kommt, FDP- serung, der in diesen Tagen oft zu hören sei,
Parteichef Christian Lindner hatte es am Mor- könne er nicht gut ertragen.
gen in der Fraktionssitzung angedeutet. Und »Sollte die Bundesregierung der Habeck wünscht sich, dass die Politik mit
dann sagt sie etwas, was ungewöhnlich ist für Einrichtung und militärischen Durch- einem größeren Abstand auf das eigene Han-
eine Politikerin, besonders für eine so nüch- setzung einer Flugverbotszone über deln schaue und dass Zweifel erlaubt seien.
terne wie Strack-Zimmermann: »Ich hatte der Ukraine Ihrer Meinung nach Man müsse doch ein Tor sein, jetzt nicht zu
Tränen in den Augen.« Es sei noch nicht lan- zustimmen?« zweifeln, an allem, was man sehe, findet er.
ge her gewesen, da habe sie als verteidigungs- ja, auf jeden Fall/eher ja Den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck
politische Sprecherin aus der Opposition vom 25 zu vermitteln, man wisse schon, wie das alles
damaligen Finanzminister Olaf Scholz mehr endet, hält er für fahrlässig. Gleichwohl gelte
Geld für die Bundeswehr gefordert. »Und nein, auf keinen Fall/eher nein es, Zweifel auch in politisch sinnvolles Han-
jetzt steht Scholz da und vollzieht diesen 61 deln zu überführen, sich klar zu entscheiden.
Kurswechsel, und wir als FDP können nun Wie Strack-Zimmermann geht auch er of-
diese Politik in der Regierung mitgestalten.« fen mit seinen Gefühlen um. Auf seiner Reise
Strack-Zimmermann bedrückt jedoch, »Beeinträchtigt der Russland- in die Vereinigten Arabischen Emirate sagte
dass es eines schrecklichen Krieges bedurfte, Ukraine-Krieg Sie derzeit psychisch er vor laufenden Kameras: »Das ist nicht ein-
um die militärpolitische Wende möglich zu (z. B. Schlaflosigkeit, Angst, Ohn- fach im Kopf zusammenzukriegen. Dass wir
machen. Sie glaubt aber, »dass der Zuspruch machtsgefühle)?« in einer Zeit sind, wo Menschen sterben, wir
zur Bundeswehr in der Bevölkerung immer ja, auf jeden Fall/eher ja jetzt hier in der Sonne stehen, und diese Men-
größer war, als es viele in Berlin dachten«. In 41 schen frieren, keine Energie haben und ihre
der aktuellen Civey-Umfrage sagen 49 Pro- Häuser zerbombt bekommen.« Habeck
zent der Deutschen, sie hätten jetzt eine an- nein, auf keinen Fall/eher nein schaute ernst in die Objektive, die Stirn kraus,
dere Haltung als vorher zu hohen Verteidi- 50 die Krawatte locker.
gungsausgaben. Strack-Zimmermann sieht es S Quelle: Civey-Umfrage vom 21. bis 23. März 2022;
So versucht die Politik, ihre eigene Er-
als »Glück im Unglück«, dass gerade jetzt die Befragte: rund 5000; die statistische Ungenauigkeit liegt schütterung zu zeigen.

18 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


TITEL

Die Autorin Nora Bossong, 40, gilt


als die Stimme ihrer Altersklasse. Sie
hat gerade das Buch »Die Geschmei-
digen« geschrieben, sie fand einen
ahnungsvollen Untertitel dafür:
»Meine Generation und der Ernst des
Lebens«. Es erschien am Tag, an dem
die russische Armee in die Ukraine
einmarschierte. In dem Buch porträ-
tiert sie ihre Generation, die zwischen
1975 und 1985 geboren wurde – auch
Politiker und Politikerinnen sind da-
bei, wie FDP-Chef Christian Lindner
und Dorothee Bär von der CSU.
Bossong hofft jetzt, dass ihre Ge-
neration, die die Hebel der Macht
übernimmt, einerseits von der Fähig-
keit, sich anpassen zu können und
Ausgleich zu suchen, profitiere, sich
aber andererseits auch neu definieren
könne: »Das könnte unser Moment

Costa Belibasakis / DER SPIEGEL


sein«, sagt sie. »Wir könnten mit einer
Mischung aus Werte- und Realpolitik
die Verantwortung übernehmen.«
Nora Bossong selbst wird dem-
nächst für zwei Wochen zur Bundes-
wehr gehen. Sie wird einen Einfüh-
rungskurs bei der Luftwaffe machen
und lernen, wie die Armee funktio-
niert. Sie hatte sich schon vor dem Spendenanlaufstelle der- und Jugendpsychologie an der Ein Teil der Schüler und Schülerinnen
Kriegsbeginn dafür angemeldet. Jetzt für Ukrainer in Köln: Universität Witten/Herdecke. Die in ihrer Klasse im Gymnasium verließ
Solidarität hilft,
sagt sie: »Nun hat das eine noch grö- Ohnmachtsgefühle zu 32-Jährige erforscht mit ihrem Team, die Schule, sie hätten durch die Lock-
ßere Dringlichkeit bekommen.« überwinden wie Menschen krisenhafte Situatio- downs den Anschluss verpasst, sagt
nen möglichst gut bewältigen. Und Rahel. Und nun der Krieg. »Dass da
Es spricht alles dafür, dass die Bevöl- sie hat diese Erfahrung selbst ge- schon wieder die nächste Krise ist«,
kerung ihre Politikerinnen und Poli- macht: Sie stammt aus Bosnien, ihre sagt Rahel, »dass es wahrscheinlich
tiker in diesen Tagen nicht aus den Familie flüchtete vor dem Bürger- immer so weitergehen wird, das finde
Augen lässt. In Deutschland setzt sich krieg im ehemaligen Jugoslawien ich wirklich belastend.« Rahel hadert
durch den Krieg fort, was spätestens nach Deutschland, als Kaurin drei allerdings noch mehr mit der Pande-
mit der Flüchtlingskrise von 2015, Jahre alt war. »Vor allem Kinder mit mie als mit dem Krieg, das deckt sich
endgültig aber mit den Klimaprotes- Eltern, die sich selbst nicht besonders laut der Civey-Umfrage mit einem
ten von 2019 und der Pandemie seit krisenfest fühlen, fühlen sich nun wie- allgemeinen Gefühl in ihrer Alters-
2020 begann: eine allumfassende der eher mit ihren Sorgen allein ge- gruppe.
Politisierung. Sich abgekoppelt zu lassen«, sagt sie. Sie habe überall herumtelefoniert,
fühlen von den Entscheidungen der Auch die Erfahrung der Pandemie um einen Therapieplatz für ihr Kind
Mächtigen oder sich dafür nicht zu setze sich fort: Jungen und Mädchen, zu finden, sagt Rahels Mutter. In der
interessieren, dieses Gefühl war Zei- die zu Hause jemanden haben, der Regel habe man sie vertröstet: Warte-
ten vorbehalten, die weniger bedroh- ihnen zuhört und sie unterstützt, zeit ein halbes Jahr. Und selbst in den
lich waren. Vom Klimawandel aber kommen unbeschadeter durch psychiatrischen Notfallambulanzen
sind alle bedroht, von der Pandemie schwierige Zeiten. für Kinder und Jugendliche: acht Wo-
auch. Die Ältesten des Landes haben Viele Jugendliche geraten nun er- chen. »Wenn ich erklärt habe, dass
Heike Steiweg

den Zweiten Weltkrieg noch erlebt, neut ins Schleudern. Der Krieg in der meine Tochter im Lockdown eine De-
er wirkt sich auf alle nachfolgenden Ukraine ist die zweite große Katas­ pression entwickelt hat, bekam ich
Generationen aus. Selenskyjs nicht trophe innerhalb von zwei Jahren, oft zur Antwort, viel zu viele Kinder
ohne Bitterkeit gestellte Frage, ob das mitten in der Pubertät, einer Lebens- seien davon betroffen.«
»Nie wieder« der Deutschen mit Blick »Wir könnten phase, in der ohnehin alles infrage zu Rahel ging es zwischenzeitlich bes-
auf die Ukraine wirklich tragfähig sei, stehen scheint und es schwer ist, den ser, sie nimmt Medikamente, die ihr
muss das deutsche Selbstverständnis mit einer eigenen Weg zu finden. helfen, und sie schreibt gemeinsam
irritieren. Mischung aus Die 16-jährige Rahel aus dem thü- mit Freunden an einem Buch, dem
Die Betroffenheit durchzieht alle Werte- und ringischen Kirchgandern bestätigt das. sie den Titel »Lockdownsurvivors«
Generationen von den Kleinsten bis Sie hat die vergangenen beiden Jahre gegeben hat. Darin erzählt sie von
zu den Ältesten. Realpolitik die und gerade die zurückliegenden Wo- einer »wackeligen Welt, die auf Stel-
Viele Jungen und Mädchen in Verantwor- chen als schwierig empfunden. Ihr zen steht«.
Deutschland hätten derzeit Ängste, Uropa starb während des Lockdowns Sie würden in der Schule gerade
weil sie das, was sie über den Krieg
tung über­ allein in einem Altenheim. Die Mut- oft Berichte über den Krieg in der
in der Ukraine hörten, nicht einord- nehmen.« ter einer Freundin kehrte nicht mehr Ukraine analysieren, sagt Rahel.
nen könnten, sagt Aleksandra Kaurin, Nora Bossong, lebend aus dem Krankenhaus zurück: Dann mische sich ihr Mitleid mit den
Juniorprofessorin für Klinische Kin- Autorin kein Abschied, nur Infektionsschutz. Flüchtlingen mit ihrer Depression. So

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 19


TITEL

wie ihre Freunde denkt Rahel nun öfter dar­ Der Begriff der »Kriegsenkel«, die im Bann Nun ist das Ministerium, in dem sie arbei­
über nach, ob ein dritter Weltkrieg ausbricht. der Erlebnisse ihrer Großeltern stehen, hat tet, damit befasst, wie Deutschland sich un­
Und was dann passiert. sich in den Sozialwissenschaften etabliert. abhängig von russischen Rohstoffen machen
Die Erinnerung an den letzten Weltkrieg Wer etwa der Grünenpolitikerin Franziska kann – den Stopp der Gaspipeline Nord
gehört zu jenen, die kaum jemanden kalt­ Brantner zuhört, kann den Eindruck gewin­ Stream 2 hat sie mit vorbereitet. »Es ist gut,
lassen. Diejenigen, die ihn erlebt haben, ste­ nen, sie würde ohne ihre Großmutter heute dass ich dadurch wenigstens etwas tun kann
hen meist lebenslang in seinem Bann, auch einer anderen Arbeit nachgehen. und nicht nur zuschauen muss«, sagt sie.
die Nachkommen sind davon geprägt. Viele Die Großeltern kamen aus der Nähe von
der alten Deutschen würden durch die Zei­ Breslau, Niederschlesien, und die Familie Etwas tun zu können gegen die Ohnmacht,
tungs- und Fernsehbilder aus der Ukraine von ihrer Großmutter floh von dort in den letzten auch bei Brantner scheint das auf, was viele
eigenen Kriegserinnerungen geradezu über­ Kriegsmonaten. »Immer wieder hat meine Deutsche auf die Straße zu den Demonstra­
wältigt, so erzählen es deren Töchter und Großmutter von der Flucht erzählt«, sagt die tionen treibt, das sie zu Helferinnen und Hel­
Söhne, Pflegekräfte in Altenheimen berichten 42-Jährige, die mit dem Regierungswechsel fern werden lässt. Der Krieg wirkt sich auf
davon. Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsminis­ alle Generationen aus – weil sich das Krisen­
Das merkt auch Genschers ehemaliger Mit­ terium wurde. »Ich habe ihre Erzählungen gefühl der Pandemie nun noch einmal vertieft
arbeiter Frank Elbe. Das Heulen der Sirenen, als Jugendliche mit dem Kassettenrekorder und weil er Erinnerungen an den Kalten Krieg
das Dröhnen der Explosionen, das Rieseln aufgenommen, um ihre Erinnerungen festzu­ oder sogar den Zweiten Weltkrieg berührt.
des Kalks von den Wänden im Bunker, wenn halten.« Die eigenen Erfahrungen führen dazu, sich
die Bomben explodieren, all diese Szenen Dass sie sich schon immer für Osteuropa mit den Erfahrungen anderer, die es gerade
gehören zu den Erinnerungen an seine Kind­ interessiert habe, liege an diesen Erzählungen, unvergleichlich härter trifft, zu identifizieren:
heit. Er floh mit seiner Mutter in den Luft­ sagt Brantner. Sie fuhr als Mädchen zum mit den Ukrainerinnen und Ukrainern.
schutzkeller unter der Obersten Stadtkirche deutsch-polnischen Jugendaustausch, ihr Bru­ Auf den Bahnhöfen, auf den Spielplätzen,
in Iserlohn, als die alliierten Flieger 1945 den der heiratete eine Frau, die aus der unmittel­ bei Spaziergängen in diesen ersten sonnigen
Ort bombardierten. Elbe hat noch das Pferd baren Nähe des Heimatorts der Großeltern Frühlingstagen – überall sind die Geflüchteten
des Milchmannes vor Augen, das mit aufge­ stammt. Wie viele Gleichaltrige begab sich und ihre Kinder schon anzutreffen.
rissenem Bauch auf der Straße lag, als sie nach auch Franziska Brantner auf die Spuren ihrer Ob die Solidarität aber anhält, da sind die
dem Angriff aus dem Bunker kamen. Und Vorfahren, reiste in die Gegend und suchte Deutschen sich selbst gegenüber misstrauisch:
dann die Flüchtlinge aus Oberschlesien. »Da mit einem Foto in der Hand ein Haus, das Nur 47 Prozent meinen, dass die Bereitschaft,
kommen heute die alten Bilder zurück«, sagt ihrer Oma besonders wichtig war – und fand Flüchtlinge aufzunehmen, bei weiter steigen­
er, »mich ergreift das Leiden der Ukrainer.« es. »Gegen die Spaltung in den Köpfen zwi­ den Flüchtlingszahlen halten wird, 36 Prozent
In Elbes Klasse kam jeder fünfte Schüler aus schen Ost und West habe ich mich immer glauben das nicht. Abhängen wird das auch
dem Osten, von den 26 Jungen wuchsen 13 gewehrt«, sagt sie. Eine Frontstellung Ost vom politischen Management. Schon jetzt
ohne Vater auf. »So etwas prägt eine Nation«, gegen West, das habe sie nie mehr erleben zeichnet sich zwischen Kommunen, Ländern
meint er. wollen. Ihr Interesse an Sicherheitspolitik sei und Bund ein Streit ab, wer für was zuständig
Mehr als vier Millionen der heute leben­ genau darauf zurückzuführen, sagt Brantner, ist und wer am Ende dafür aufkommt.
den Deutschen sind wie Elbe bei Kriegsende die nach ihrem Studium für internationale Die Deutschen werden verstehen müssen,
alt genug gewesen, um sich heute noch an Organisationen arbeitete und außenpolitische dass die Zeit der Politikstrategie Angela Mer­
den von den Deutschen verschuldeten Krieg Sprecherin ihrer Fraktion im Europäischen kels vorbei ist, die Bevölkerung zu beruhigen
zu erinnern. Die Kinder der sogenannten Parlament war. und ihr zu suggerieren, dass sie sich um ihre
Kriegskinder wiederum sind in ein Deutsch­ Zukunft keine Sorgen machen müsse. Kaum
land hineingeboren worden, das ganz von etwas ist gut gerade, und ob es wieder gut
den Folgen des Kriegs geprägt war. Sie sahen wird, kann keiner seriös versprechen.
die Mauer in Berlin, die Stacheldrahtrollen Wie die Deutschen diese Krise, die lange
an der innerdeutschen Grenze am Ostsee­ dauern wird, durchstehen, hängt auch davon
strand. Sie waren dabei, als ihre Eltern Kaffee ab, wie sie kommuniziert wird – das ist eben­
und Nylonstrümpfe in den Weihnachtspake­ falls eine Lektion aus Corona (siehe Seite 98).
ten zu den Verwandten in der DDR schickten, Es braucht nicht nur nachvollziehbare poli­
sie haben am Wochenende stundenlang ver­ tische Strategien, die den Weg aus dem Krieg
sucht, telefonisch einen Onkel oder eine weisen, sondern auch eine angemessene Ver­
­Tante in Chemnitz zu erreichen, das damals mittlung. Es reicht nicht, 100 Milliarden für
noch Karl-Marx-Stadt hieß. Auch diese Bil­ die Rüstung bereitzustellen. Wer wie der
der kehren jetzt zurück, wenn erneut ein Ost- Bundeskanzler solche Summen für sinnvoll
West-Konflikt aufbricht. Vor allem die Er­ hält, muss daraus ein politisches Projekt ma­
innerung an die atomare Bedrohung ist wie­ chen, muss es mit einer neuen deutschen Er­
der da – Putin deutete ja an, im äußersten zählung verbinden. Das kann ein Kanzler
Fall Atomwaffen einzusetzen. Laut der ak­ nicht allein, er muss die Debatte in die Ge­
tuellen Civey-Umfrage befürchten 55 Prozent sellschaft tragen.
Theodor Bar th / DER SPIEGEL

der Deutschen, dass er damit Ernst machen Bisher lässt sich die Einschätzung von Ma­
könnte. rie-Agnes Strack-Zimmermann, die Deut­
Auch ein anderes bedrückendes Ereignis schen sähen die Notwendigkeit einer deutli­
der Achtzigerjahre wirkt nun wieder wie ein chen Aufrüstung ein, durch Umfragen decken.
neues Risiko: der Reaktorunfall von Tscher­ Doch erste Brüche zeigen sich bereits. Am
nobyl im Jahr 1986. In den ersten Tagen Dienstag veröffentlichten Hunderte Promi­
des Ukrainekriegs entging einer der 15 ukra­ nente aus Politik, Kirche, Wissenschaft und
inischen Atomreaktoren knapp einer Katas­ »Es ist unsere Pflicht, Kultur einen Appell gegen die Aufrüstung.
trophe. Unter den Erst­unterzeichnern, die mehrheit­
Die Erzählungen der Älteren können auch Mitgefühl zu zeigen.« lich zum grünen und linken Spektrum gehö­
den Lebensweg von Jüngeren beeinflussen. Manuela Sonntag, Helferin, Sohn Timo ren, finden sich unter anderem die Theologin

20 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


TITEL

Margot Käßmann, Grüne-Jugend-Sprecherin


Sarah-Lee Heinrich und der Linkenpolitiker
Gregor Gysi.
Der Soziologe Martin Endreß rechnet noch
mit anderen Brüchen: dem zwischen der jun-
gen und der alten Generation. Für die Jünge- Flexibles Jubiläumsangebot
ren sei dieser Krieg ein weiterer Beleg dafür,
dass sie die Fehler der Alten ausbaden müss- Lesen Sie den SPIEGEL,
ten. Die Alten seien unter anderem dafür ver-
antwortlich, nicht früher auf erneuerbare solange Sie möchten.
Energien gesetzt zu haben: »Wir müssen uns
wahrscheinlich wundern, wenn die jüngere Flexibel bleiben. Kurze Laufzeit, monatlich kündbar
Generation nicht viel härter mit uns ins Ge-
richt geht.« 25 % Jubiläumsrabatt. Die ersten 52 Ausgaben für nur
Endreß glaubt nicht, dass es in Deutsch- € 4,20 statt € 5,60 pro Ausgabe
land gelänge, die Gesellschaft derart für Frei-
heit und Souveränität zu mobilisieren, wie es Kostenloser Versand. Wöchentliche Lieferung frei
die Ukraine gerade vormacht. »Wir haben Haus innerhalb Deutschlands
uns eingerichtet in einer Parallelwelt, in einer Noch mehr. Inklusive der Beilagen SPIEGEL Bestseller
Komfortzone, in der ein Großteil der Men- und SPIEGEL Geld
schen Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demo-
kratie für selbstverständlich und vorausset-
zungslos hält.« Individuelle Bedürfnisse stün-
den hierzulande im Vordergrund, sagt er.
»Wir müssen in Deutschland wieder viel ge-
sellschaftsbezogener denken.« Einfach jetzt anfordern:
Die Solidarität dieser Tage ist ein Beleg
dafür, dass das prinzipiell geht. Ob es aber abo.spiegel.de/flexibel75
längerfristig möglich ist, individuelle Wün-
sche zugunsten anderer einzuschränken, das oder telefonisch unter 040 3007-2700
wird erst die Zeit zeigen. (Bitte Aktionsnummer angeben: SP22-059)
Mehr als eine Woche wohnen Natalia,
Aleksandra, Elina und Daria nun bei Manu-
ela Sonntag in Wuppertal-Vohwinkel. Der
erste Zauber der spontanen Flüchtlingshilfe 25 %
verfliegt langsam, der Alltag übernimmt. Ma- sparen im
nuela Sonntag muss Büroarbeit nachholen, ersten Jahr
Mails beantworten und Rechnungen schrei-
ben. Sie findet es nach wie vor »ganz wunder-
bar«, dass die vier Frauen bei ihr untergekom-
men sind. Aber es stört sie auch, dass die
jüngeren drei ständig aufs Handy gucken.
Dass sie nicht reagiert haben, als Manuela
Sonntag sagte, sie sollten ihr beim Umräumen
der Kleiderschränke helfen, damit sie nicht
mehr aus dem Koffer leben müssten. »Da war
ich ein bisschen stinkig. Ich habe alle zusam-
mengerufen und gesagt: Leute, so geht das
nicht.« Natalia, die Mama, unterstützt jetzt
die Caritas, Elina und Daria sind abends
schon allein losgezogen, um »nach der Jugend
Wuppertals Ausschau zu halten«, wie Manu-
ela Sonntag sagt.
Sie hat sich darüber gewundert, dass ihre
Gäste so stark heizen. Sie hat ihnen gesagt,
das sei nicht nötig, außerdem würden sie mit
dem Ölverbrauch die russische Invasion finan-
zieren. Dreimal musste sie darum bitten, die
Heizung abzustellen, beim dritten Mal wurde
sie strenger. Wie es halt so ist bei sechs Leuten
in einer Wohnung, deutsche Normalität.
»Wenn die Vizemutter mault, dann finden
sie die Vizemutter halt mal blöd. Punkt«, sagt
Manuela Sonntag. »Daran zerbricht unsere
Gemeinschaft nicht.«
Susanne Beyer, Maik Großekathöfer, Miriam
Olbrisch, Christopher Piltz, Christoph Schult,
Katja Thimm, Gerald Traufetter, Klaus Wiegrefe  n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

Hannibal Hanschke / REUTERS


Luxuskarossen im märkischen Sand: Eine Reihe Tesla-Autos parkt auf dem Gelände der neu eröffneten Fahrzeugfabrik im brandenburgischen
Grünheide. So wohlgeordnet ging es in der Bauzeit nicht immer zu, Umweltschützer warnten vor Schäden durch die Gigafactory des US-Konzerns
in der deutschen Provinz. Dort machten diese Woche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Minister-
präsident Dietmar Woidke (SPD) dem Tesla-Chef Elon Musk zur Eröffnung ihre Aufwartung. Teile des Werksgeländes sind noch eine Baustelle.

Abschiebung von Sorokin gescheitert


KRIMINALITÄT  Die in den USA lebende Deutsche entkommt erneut ihrer Rückführung.

D ie Abschiebung der deutschen Hochstaplerin Anna Sorokin


aus den Vereinigten Staaten nach Frankfurt ist erneut in letz-
ter Minute gescheitert. Die US-Einwanderungsbehörde ICE
wollte die 31-jährige Deutsche, die in den USA bereits eine Haft-
und August 2017 mehrere Zehntausend Dollar erschlichen. Soro-
kin reiste damals auch in Privatflugzeugen und lebte monatelang
in Luxushotels, ohne die Rechnungen zu begleichen. Die deutsche
Hochstaplerin war für die Betrügereien im Jahr 2019 zu einer Frei-
strafe wegen Betrug abgesessen hat, in der Nacht zum Donnerstag heitsstrafe von vier bis zwölf Jahren verurteilt worden. Sie kam al-
mit einem eigens angemieteten Gulfstream-Jet nach Deutschland lerdings wegen der zweijährigen Untersuchungshaft bereits im Fe­
bringen, da sie kein gültiges US-Visum mehr besitzt. Die Anwälte bruar 2021 auf Bewährung frei. In den USA gibt die 31-Jährige, die
der in Russland geborenen Frau hätten jedoch kurz vor dem ge- in Eschweiler zur Schule gegangen ist, derzeit regelmäßig Interviews
planten Flug erfolgreich einen Eilantrag gegen die Rückführung über ihre Lebensgeschichte. In US-Sicherheitskreisen hieß es, Soro-
eingelegt, hieß es aus US-Sicherheitskreisen. Sorokin, die durch die kin wolle die Rückführung in ihre Heimat offenbar unbedingt ver-
Netflix-Serie »Inventing Anna« weltberühmt geworden ist, sitzt hindern, da sie danach aufgrund einer lebenslangen Einreisesperre
derzeit in einer Haftanstalt der US-Einwanderungsbehörde. Sie nie wieder in die USA zurückkehren könne. Laut den US-Behör-
hatte sich unter dem Pseudonym Anna Delvey durch geschicktes den will man wegen der Klage vorerst keinen weiteren Versuch
Lügen und selbstbewusstes Auftreten zwischen November 2016 unternehmen, Sorokin nach Deutschland zurückzuführen. MGB

22 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


Weitere Anträge sich auf ein Verfahren zu eini-
DIE DA UNTEN
gen. Es wird damit gerechnet,
gegen Schröder
Die Teilzeitenwende
dass alle Anträge gemeinsam
PARTEIEN  Immer mehr SPD- behandelt werden, weil sich die
Verbände drängen auf einen Begründungen für einen Aus-
Parteiausschluss von Altkanzler schluss Schröders stark ähneln.
Gerhard Schröder. Bei der zu- Der Altkanzler steht bei den Von Anna Clauß um im Dschungel des echten
ständigen Schiedskommission Genossen schwer unter Druck, Lebens zu funktionieren?
der SPD in Hannover sind mitt-
lerweile sieben Anträge auf ein
Parteiordnungsverfahren gegen
den Sozialdemokraten anhän-
seit er sich weigert, trotz Putins
Angriffskrieg gegen die Ukraine
seine hoch dotierten Führungs-
jobs für russische Konzerne
E s ist immer leichter, Fra- Meine anfängliche Irritation
gen zu stellen, statt sie
zu beantworten. Trotz-
im Gespräch mit den Studie-
renden ist inzwischen der
dem war ich von der Ratlosig- Überzeugung gewichen, dass
gig. Zu den Antragstellern ge- niederzulegen. Schröder selbst keit überrascht, die mir ver- es unfair wäre, das Abtragen
hören nach Parteiangaben zwei hat bislang nicht vor der gangene Woche beim Ge- eines Schuldenbergs von einer
Kreisverbände sowie fünf Orts- Schiedskommission Stellung be- spräch mit Studierenden ent- Generation zu verlangen, die
vereine. Die Schiedskommis- zogen. Ob er sich in dem Ord- gegenschlug. Ich wollte von beim Auftürmen nicht betei-
sion hat intern vorgeschlagen, nungsverfahren von einem An- den Mittzwanzigern wissen: ligt war. Hinzu kommt, dass
auf ein mündliches Verfahren walt vertreten lässt, ist noch of- »Wo seht ihr euch in zehn Jah- derzeit jedes noch so teure
zu verzichten und den Fall fen. Möglicherweise verzichte ren?« Einen konkreten Plan Anliegen vom Ausbau der er-
Schröder stattdessen schriftlich er auch gänzlich darauf, sich zu hatte kaum jemand. Wichtig neuerbaren Energien bis zum
zu behandeln. Die Antragsteller äußern, heißt es in der SPD war vielen, egal wo, künftig in Wiedereinstieg in die Atom-
haben bis Anfang April Zeit, Hannover. VME Teilzeit arbeiten zu können. energie finanziell realisierbar
In zehn Jahren wäre er gern scheint, solange es uns unab-
im Urlaub, scherzte einer. Der hängiger von russischem Gas
AKW-Konzern fordert mens, das eine hundertprozen- Nächste ergänzte: »oder im und Öl macht. Warum eigent-
tige Tochter des Energiekon- Vorruhestand«. lich nicht Teilzeit für alle,
längere Laufzeiten zerns E.on ist. PreussenElektra So verständlich Eskapis-
ENERGIE  Der Betreiberkonzern kritisiert das Bundeswirtschafts- mus oder der Hang zu schwar- Warum nicht Teilzeit
PreussenElektra setzt sich dafür und Umweltministerium, die in zem Humor in Krisenzeiten
ein, die Laufzeiten der deut- einem Prüfvermerk zu einem wie diesen ist: Wenn das die
für alle, wenn
schen Atomkraftwerke zu ver- abschlägigen Urteil gegen die Generation sein soll, die einen sich dadurch auch
längern. Das Unternehmen Kernenergie gekommen waren. Großteil des 100 Milliarden Benzin und Strom
stellt sich hinter einen Brief, den Die Ressorts hätten »Vorbehalte Euro schweren Sondervermö- sparen lassen?
der Branchenverband Kerntech- in den Vordergrund gestellt«, gens Bundeswehr und die
nik Deutschland an Bundes- weshalb »die eigentliche Frage- schwindelerregende Neuver- wenn sich dadurch neben Le-
kanzler Olaf Scholz geschrieben stellung, inwieweit Kernkraft- schuldung Deutschlands zu- bensenergie auch Benzin oder
hat. Darin appellieren die werke in einer dynamischen rückzahlen soll, stellen sich Strom sparen lassen? Wäre
Atomlobbyisten, die Bundesre- Energiekrise zur Versorgungs­ mir ein paar Fragen: Sind die Gemütlichkeit das Maß aller
gierung möge ihre ablehnende sicherheit beitragen könnten, vielen Nullen in Christian Dinge in Deutschland, würde
Position überdenken und sich gänzlich aus dem Fokus« gera- Lindners Haushaltsplänen so sich zum Beispiel ein Tempo-
auf eine Notsituation »bei der ten sei. »Dabei werden auch solide wie Seifenblasen mit limit auf Autobahnen womög-
Energieversorgung unseres Lan- Argumente herangeführt, die Regenbogenschimmer? Kann lich von allein einstellen.
des« vorbereiten. Man trage wir für falsch halten«, so die Olaf Scholz’ angekündigte Kritik an der Arbeitsmoral
dieses Schreiben »inhaltlich Sprecherin. PreussenElektra be- Zeitenwende auch als Teil- junger Generationen ist auch
mit«, erklärte eine Sprecherin treibt die AKW Brokdorf zeitenwende funktionieren? deshalb unangebracht, weil
des Hannoveraner Unterneh- sowie Isar 1 und 2. GT Millennials, also Menschen, die Ampelregierung offenbar
die heute zwischen Mitte selbst an die Dschungelbuch-
zwanzig und Ende dreißig Weisheit glaubt, dass Ruhe
sind, werden oft als Teil einer und Gemütlichkeit mit Glück
Nachgezählt Generation beschrieben, die belohnt wird. Das Sonderver-
großen Wert auf Vereinbar- mögen für die Aufrüstung der
Deutschsprachige, die folgende Begriffe aus der Digitalisierung
erklären können oder deren Bedeutung ungefähr kennen.
keit, Flexibilität und Work- Bundeswehr verfügt bislang
Life-Balance legt. Offenbar jedenfalls nicht über einen Til-
wollen die jungen Leute ihr gungsplan. Im Formulierungs-
Fake News Elektronische Leben genießen, solange es vorschlag des Finanzministe-
nicht durch die Erderwär- riums für die notwendige
81% Patientenakte
69% mung, einen Nuklearkrieg Grundgesetzänderung heißt
OK Influencer:in oder die nächste Virenpande- es, dass die Bundesregierung
Algorithmus
75% 56%
mie vorzeitig beendet wird. die Milliardenverpflichtungen
»Probier’s mal mit Gemüt- »in angemessener Zeit« zu-
lichkeit«, sang Balu, der Bär, rückzahlen soll.
Bots während er sich stachelige Wann auch immer das ist:
»Fake News« konnten 92 % 33% Beeren in den Mund stopfte. Ich werde bis dahin hoffent-
der formal hoch und 62 %
der formal niedrig gebildeten Ist dieses Konzept zu schön, lich im Vorruhestand sein.
Personen erklären oder Blockchain
wussten um die Bedeutung. 25%
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
S Quelle: D21 Digitalindex 2021/22; Umfrage im Juli 2021; Befragte: 2024; an 100 fehlende
Alexander Neubacher im Wechsel.


Prozent: »weiß nicht/keine Angabe«

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 23


CHAPPATTES WELT Extraschichten bei
den Tafeln
KRIEGSFOLGEN  Die Tafeln zur
Ausgabe von kostenlosen Le-
bensmitteln an Bedürftige ver-
zeichnen einen großen Andrang
von Geflüchteten aus der Ukrai-
ne. So stellten bei der Samstags-
ausgabe an der Münchner
Großmarkthalle Ukrainerinnen
und Ukrainer 800 von insge-
samt 1250 Tafelgästen. Am Wo-
chenende zuvor waren es nur
rund 200 gewesen. »Wir haben
eine zweite Nachmittagsschicht
mit Freiwilligen eingerichtet
und mussten eine Warteliste an-
legen«, berichtet Steffen Horak,
der Sprecher der Münchner Ta-
fel. Diese kaufe derzeit pro Wo-
che vier bis fünf Tonnen Le-
bensmittel zu, weil die gespen-
dete Ware nicht ausreiche. Die
Mehrkosten liegen in München
bei 12 000 bis 15 000 Euro pro
Woche. Auch die Tafeln in
Nürnberg oder Augsburg mel-
deten gestiegene Zahlen, eben-
so die Berliner Tafel. »Die Fol-
Gründlich gelesen ken« am Manuskript. Die Kor- rer. Mittlerweile hat das IBF gen des Kriegs in der Ukraine
rekturwünsche betrafen dem- mitgeteilt, es werde sich von sind bei den Tafeln schon jetzt
NS-AUFARBEITUNG  Die Be- nach auch die Kapitel zur NS- Roth trennen und keines seiner deutlich spürbar«, sagt Jochen
hauptung der Frankfurter Spar- Zeit und zur Nachkriegszeit, um Kapitel mehr verwenden. Brühl, Vorsitzender des Dach-
kasse, sie habe »keinerlei Ein- die ein heftiger Streit entbrannt ­Allerdings soll die Sparkasse verbandes Tafel Deutschland,
fluss« auf eine geplante Fest- ist ­(SPIEGEL 12/2022). Laut der nach wochenlangem Zögern dem die Münchner Tafel nicht
schrift zur Geschichte des Mail betrachtete das IBF »die nun bereit sein, auf einen angehört. Zu den Geflüchteten
­Hauses genommen, entpuppt Überarbeitung bestimmter Pas- ­Vorschlag ihrer früheren Eigen- kämen Menschen, die sich die
sich offenbar als falsch. Laut sagen« als Voraussetzung für tümerin einzugehen, der gestiegenen Energie- und Le-
einer E-Mail des damit beauf- eine Veröffentlichung. Der Au- ­Polytechnischen Gesellschaft bensmittelkosten nicht mehr
tragten Instituts für Bank- und tor der Kapitel, der Historiker in Frankfurt. Diese hatte an­ leisten können. Brühl: »Durch
Finanzgeschichte (IBF) vom Ralf Roth, wirft dem Geldinsti- geregt, die NS-Zeit in einer se- den Zuwachs der Kundinnen
November 2021 hatte die Spar- tut und dem IBF vor, sich vor paraten Studie gemeinsam auf- und Kunden bei gleichzeitigem
kasse »nach eingehender, den einer umfassenden Darstellung zuarbeiten. Die Sparkasse Spendenrückgang sind die Ta-
Vorstand einbeziehender Lek- der NS-Jahre zu drücken, etwa ­wollte sich auf Anfrage nicht feln aktuell gefordert wie nie
türe« »grundsätzliche Beden- zur Enteignung jüdischer Spa- äußern. AMP zuvor.« FRI

Korrekte
Die Ausladung der Sängerin schaustellen der ukrainischen ­tragen. Auch seien einige in
Ronja Maltzahn durch die Landesfarben auf Veranstal- einem Anorak bei Demos er-

Demo
Hannoveraner Sektion von Fri- tungen der Klimaschützer schienen, einem bekannterma-
days for Future (FFF) hat die untersagt: »Uns ist klar gewor- ßen der Inuit-Kultur Grön-
Klimaschutzbewegung in eine den, dass nur die Ukrainer den lands entlehnten Kleidungs-
existenzielle Krise gestürzt. Krieg in ihrem Land erlebt ha- stück. Zudem handle es sich
SO GESEHEN  Fridays Maltzahn hatte über Twitter ben. Wir dürfen uns ihr Leid bei dem Organisationsnamen
for Future passt auf. ein Schreiben der Veranstalter nicht aneignen.« »Fridays for Future« offenbar
öffentlich gemacht, in dem die- Nach einer weiteren Nacht- um eine Aneignung aus dem
se ihr »kulturelle Aneignung« sitzung des Organisationsko- englischen Sprachraum.
vorwerfen, weil sie, eine Per- mitees wurden nun sämtliche Auch ein letzter Versuch,
son mit weißer Hautfarbe, eine geplanten FFF-Veranstaltungen die drohende Selbstauflösung
Dreadlock-Frisur trägt, »ohne vorerst auf Eis gelegt. Man im entspannten Gespräch
die systematische Unterdrü- habe selbstkritisch festgestellt, bei einem Bier abzuwenden,
ckung dahinter zu erleben«. dass zahlreiche junge Männer ist gescheitert: Das vermeint-
In einem am Tag darauf ver- in der eigenen Anhängerschaft lich urdeutsche Getränk,
öffentlichten Kommuniqué einen an die japanische Haar- stellte sich heraus, stammt aus
wurde sodann auch das Zur- tradition angelehnten Dutt China. Stefan Kuzmany

24 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


Mehr als 2200 nuar hat sich die Zahl der Co­
ronainfektionen unter den Poli­
Mitarbeiter infiziert zistinnen und Polizisten damit
BUNDESPOLIZEI  Die Zahl der mehr als verdoppelt. Die Be­
Dienstausfälle bei der Bundes­ hörde teilte mit, dass die Ar­
polizei aufgrund von Corona­ beits­fähigkeit trotzdem sicher­
infektionen ist deutlich gestie­ gestellt sei, »auch bei weiter
gen. Nach Angaben der Behörde steigenden Infektionszahlen«.
sind aktuell 2235 Mitarbeiterin­ Die Bundespolizei habe seit
nen und Mitarbeiter mit dem Beginn der Coronapandemie
­Virus infiziert. Dies entspricht »umfangreiche Maßnahmen

Johannes Arlt / DER SPIEGEL


4,1 Prozent der insgesamt rund zum Infektionsschutz und zur
54 000 Beschäftigten der Bun­ Gewährleistung der Einsatzbe­
despolizei. Weitere 1646 Mit­ reitschaft« getroffen. Derzeit
arbeiterinnen und Mitarbeiter sind die Polizistinnen und Poli­
sind wegen eines Coronaver­ zisten insbesondere wegen der
dachts oder Kontakts zu einer Kontrollen von Hunderttausen­
erkrankten Person derzeit in den Kriegsflüchtlingen, die aus

»Ukrainisch ist jetzt ein


häuslicher Isolation oder Qua­ der Ukraine nach Deutschland
rantäne. Im Vergleich zum Ja­ kommen, stark gefordert. WOW

Statement«
Sammeln aus Sucht C. in Aldenhoven bei Aachen
auch radioaktives Strontium-90,
DER AUGENZEUGE  Anton Sadovskyy, 36, unterrichtete
BUNDESWEHR  Der Offizier Thorium sowie Americium si­
Michael C., bei dem bei einer chergestellt. Zudem waren sie bisher Russisch an der Volkshochschule Hamburg  –
Razzia radioaktive Substanzen, auf Chemikalien und offenbar jetzt lehrt er Ukrainisch für Flüchtlingshelfer.
Gift und ein Kriegswaffenarse­ selbst hergestelltes Zyankali
nal entdeckt worden waren, gestoßen (SPIEGEL 47/2021). »Ich bin in der Westukraine sich schwer mit der Ausspra­
könnte bald aus der Untersu­ Laut Staatsanwaltschaft hat sich aufgewachsen, in Lwiw, Lem­ che, vor allem bei Konso­
chungshaft freikommen. Wie C. inzwischen »weitestgehend berg, aber wie fast alle Ukrai­ nantenfolgen wie in Lwiw.
die Staatsanwaltschaft Frank­ geständig eingelassen«: Das ner habe ich schon in der Aber wenn man sich da­mit ver­
furt am Main auf Anfrage mit­ gering strahlende radioaktive Grundschule Russisch gelernt. traut gemacht hat, kann man
teilte, hätten die Ermittlungen Material habe C. »aus gewerbs­ Auch bei uns zu Hause wurde auch Ukrainisch lernen. Es gibt
keine Hinweise auf Anschlags­ mäßig zu nutzenden Kalibrie­ viel Russisch gesprochen. Die sogar Lehnwörter aus dem
pläne ergeben. Vielmehr sei bei rungsgeräten« entnommen. Die Teilnehmer der Sprachkurse, Deutschen wie ›ryukzak‹ für
dem Hauptmann, der dienstlich sichergestellten Waffen stamm­ die ich seit 2020 an der Ham­ Rucksack oder ›tsukor‹ für
mit der Analyse von Spreng­ ten meist von anderen Samm­ burger Volkshochschule ­Zucker. In den Einführungskur­
sätzen zu tun hatte, eine »stark lern, die Chemikalien »größten­ (VHS) gebe, sind meist Men­ sen sollen die Teilnehmer ja
ausgeuferte, an Suchtverhalten teils aus Apotheken- und La­ schen, die mit den russischen erst mal nur lernen, wie sie
grenzende Sammelleiden­ borauflösungen«. Für den 28. Ehepartnern ihrer Kinder, den jemanden auf Ukrainisch
schaft« festgestellt worden. Mit­ März wurde ein Haftprüfungs­ Schwiegereltern oder Freun­ ­willkommen heißen, was gu­
te Oktober hatten Fahnder bei termin angesetzt. MGB, SRÖ den kommunizieren möchten. ten Morgen und guten Abend
Oder sie haben beruflich mit heißt oder: Wie geht es dir?
Russland zu tun, manchmal Es ist schön, wenn man den
Bundeszentrale die Ukraine, Russland und be­ haben sie einfach Lust auf Namen des Menschen richtig
nachbarte Staaten. Über die eine neue Sprache. Schon als aussprechen kann, dem man
justiert nach Ausstattung mit Stellen und die ersten Flüchtlinge aus der helfen will. Mit meinen Eltern
OSTEUROPA-KOMPETENZ  Der Mitteln laufen derzeit Verhand­ Ukraine hier ankamen, gab es oder anderen in der Ukraine
Krieg in der Ukraine wirkt sich lungen, Interimsleiterin ist die Anfragen von Flüchtlingshel­ unterhalte ich mich jetzt be­
auf den Zuschnitt der politischen bei der Bundeszentrale beschäf­ fern nach Ukra­inischkursen, wusst auf Ukrainisch, das ist
Bildung in Deutschland aus. So tigte Kulturwissenschaftlerin nun hat die VHS sie kurz ent­ für mich ein Statement: Ich
plant die Bundeszentrale für Kateryna Stetsevych. Die neue schlossen eingerichtet. Die bin Ukrainer. Meine Eltern,
politische Bildung in Bonn, eine Einrichtung knüpft an eine In­ Nachfrage ist riesengroß, bis Schwiegereltern, Verwandte
nachgeordnete Behörde des stitution an, die es zur Zeit des jetzt sind schon zwölf Kurse und Freunde sind weiter in
Bundesinnenministeriums, eine Kalten Krieges schon einmal in ausgebucht, es gibt eine War­ Lwiw, eine wunderschöne
neue Organisationseinheit, die der politischen Bildung gegeben teliste. Ich freue mich sehr, Stadt, aber die Kämpfe rü­
sich schwerpunktmäßig mit Mit­ hatte: Im Ost-West-Kolleg be­ endlich auch meine Mutter­ cken immer näher. Ich mache
tel- und Osteuropa beschäftigen schäftigten sich ab 1957 Exper­ sprache unterrichten zu kön­ mir große Sorgen. Ich kam
soll. Die Region sei »lange ein ten mit dem damaligen sowjeti­ nen. Ukrainisch ist nicht leicht 2015 nach Deutschland mit
blinder Fleck in der deutschen schen Einflussbereich, das Kol­ zu lernen. Da ist das kyrilli­ einem Stipendium, habe hier
Gesellschaft« gewesen, erklärt leg wurde 2004 abgewickelt. sche Alphabet, ähnlich wie promoviert. Es ist traurig,
Daniel Kraft, der Sprecher der Forscherinnen und Forscher mit Russisch, aber nicht gleich. dass meine Landsleute nun
Bundeszentrale. »Wir wollen Schwerpunkt Osteuropa be­ Es gibt ganz andere Buch­ als Flüchtlinge ankommen,
durch verschiedene Formate mängeln derzeit verstärkt, dass staben als im Deutschen, ein die alles aufgeben mussten.«
noch intensiver über die Region ihr Fachgebiet in den vergange­ R sieht aus wie ein P und Aufgezeichnet von
aufklären und Wissenslücken nen Jahren vom Staat vernach­ ein Z wie eine 3. Viele tun Annette Großbongardt
schließen.« Im Fokus stünden lässigt worden sei. FRI

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

Drohende Entbehrung
KRISEN  Die deutsche Politik war lange darauf bedacht, den Wohlstand zu sichern. Durch Russlands Angriff auf
die Ukraine wird der Verzicht zum großen Thema. Sind Regierung und Gesellschaft darauf vorbereitet?

D
ass sich die Dinge gewiss zum Guten ne scheint und der Wind weht«, sagt er. Der die Härten auszugleichen, zu sanktionieren,
wenden lassen, diese Botschaft wird Kanzler und der Vizekanzler lassen es so ohne der Wirtschaft zu sehr zu schaden. Aber
an diesem Dienstag in einer Auto­ ­stehen. der Krieg erschüttert Gewissheiten. Zweifel
fabrik verkündet. »Manchmal sind die Men­ Das war ja in den vergangenen Jahren das machen sich breit.
schen traurig über die Zukunft«, sagt Elon große Versprechen der deutschen Politik: dass Die Preise vor allem für Energie steigen.
Musk mit tiefer Stimme. Sie glaubten, dass die Zukunft immer eine bessere ist, dass der Schon die Pandemie hat Lieferketten unter­
Klima könne nicht mehr gerettet werden. Wohlstand beständig wächst, angetrieben brochen. Nun kommt der Krieg hinzu. Die
Aber das sei falsch. Was er meint: Er kann vom Fleiß der Menschen, wie ein Naturgesetz. Ukraine und Russland waren bislang große
es retten. Er kann ihnen die Trauer nehmen. Wenn es doch mal eine Krise gibt, bügelt die Weizenexporteure, sie dürften ausfallen.
»Glaubt an die Zukunft«, ruft er, und aus der Regierung sie schnellstmöglich aus. Auch das könnte die Inflation weiter antrei­
Masse in der Halle ertönt: »Elon, Elon!« Angela Merkel bot keine Visionen, aber ben, genauso der mögliche Verzicht auf Ener­
Elon Musk ist das Messianische nicht fremd. sie ließ die Deutschen gut schlafen, weil sie gielieferungen aus Russland.
Gäbe es Gott nicht schon, er hätte ihn gewiss bereitstand, um Krisen zu bändigen. Selbst Geht es wirklich so weiter wie bisher?
erfunden. wenn das nur ging, indem sie die bruchlose ­Können wir uns aus der Abhängigkeit von
Dafür wird er viel gefeiert, manchmal be­ Gegenwart mit umso mehr Umbruch in der Wladimir Putin unmerklich herausschleichen?
lächelt und auch an diesem Tag hofiert. Olaf Zukunft erkaufte, wie in der Klimakrise. Sie Müssten wir nicht mehr tun, um der Ukraine
Scholz und Robert Habeck hören aufmerksam hielt den Deutschen die unbequeme Wirklich­ zu helfen? Haben wir überhaupt eine Wahl,
zu, der Kanzler und der Vizekanzler, gleich keit vom Leib, und die schätzten sie dafür. oder werden uns wirtschaftliche Härten so­
beide sind nach Grünheide gekommen zur In der Finanzkrise garantierte die Regie­ wieso heimsuchen?
Eröffnung der Tesla-Fabrik. Sie machen Tesla- rung die Sicherheit der Spareinlagen. In der Wörter, die sehr lange keine Rolle mehr
Chef Musk ihre Aufwartung. Oder vielleicht Coronapandemie glich sie Verdienstausfälle gespielt haben in der deutschen Wirklichkeit,
eher dem, wofür sein Unternehmen steht. aus, unterstützte Unternehmen. In der Klima­ kehren zurück: Verzicht, Entbehrung, Opfer­
Auf dem Gelände erwartet die Gäste ein krise setzt sie auf schmerzfreien langsamen bereitschaft, Mangel. Schafft es die Regierung,
Tunnel mit gleißend hellen Lichtbögen. Da­ Wandel und neue Technologien. Den Kampf die Gesellschaft darauf einzustellen? Versucht
rin steht eine Reihe von schwarzen Autos, in gegen den Klimawandel sollten die Deutschen sie es überhaupt?
Szene gesetzt, als warteten sie darauf, ihre nur daran bemerken, dass sie mit einem Elek­ »Zur Ehrlichkeit gehört dazu zu sagen,
Insassen direkt in eine perfekte Zukunft zu troauto in den Sommerurlaub fahren statt mit dass wir nicht wissen in diesen schwierigen
fahren, schnell, bequem, stoßgedämpft. Tes­ dem Diesel. Zeiten, was alles noch auf uns zukommt. Und
la verheißt viel mehr als nur Jobs in Branden­ Auch auf Russlands Angriffskrieg gegen die dass wir wahrscheinlich nicht jede Belastung
burg und ein paar Euro Wirtschaftswachstum. Ukraine reagiert die Bundesregierung nach auffangen können«, sagt Grünenchefin Ricar­
Wir können weiter bedenkenlos Auto fahren, Merkels Muster. Sie versucht, die Verwerfun­ da Lang. Finanzminister Christian Lindner,
das strahlt Elon Musk aus: »Solange die Son­ gen möglichst fernzuhalten von Deutschland, der noch immer an einer Einhaltung der
Schuldenbremse ab 2023 festhält, formuliert
vager: »Es wird sicher für den Etat 2023 kei­
Krisenfolgen ne Wachstumsdividende geben, die man ver­
teilen kann.«
Prognostizierte Auswirkungen des Ukraine- Konkrete Forderungen kommen vor allem
kriegs auf die OECD-Länder innerhalb eines aus der Zivilgesellschaft. Der Schriftsteller
Jahres, jeweils in Prozentpunkten
Navid Kermani, einer der wichtigsten Intel­
2,0 lektuellen des Landes, hat bald nach Kriegs­
ohne finanz- beginn gefordert, die Bundesregierung solle
politische
Reaktion 1,5 Die Preise sich von russischer Energie lösen. Und er hat
würden viele Mitstreiter. Unter einem offenen Brief,
mit Reaktion* aufgrund der
1,0 erhöhten
den auch er unterzeichnet hat, stehen zahl­
Nachfrage reiche bekannte Klimaschützerinnen, Schau­
Abnahme des 0,5
durch die spieler und Autorinnen.
Staatsaus-
Wirtschafts- gaben weiter Ein Importstopp wäre ein selbst gewähltes
wachstums steigen. Opfer. Eine radikale Idee, die erstaunlich
0
populär ist. Laut der jüngsten Umfrage von
zusätzlicher Civey unterstützen 40 Prozent der Deutschen
–0,5
Einfluss auf die sie.
Inflationsrate
Julia Steinigeweg

Kermani verweist auf Berechnungen, wo­


–1,0 nach der wirtschaftliche Einbruch beherrsch­
Wirtschaftsminister Habeck * 0,5 % des BIP als gezielte Staatsausgaben bar bliebe. Er räumt aber auch ein, das nicht
S Quelle: OECD wirklich bewerten zu können. Wahrscheinlich
†

26 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


RDB / ullstein bild / picture alliance / dpa
DEUTSCHLAND

kalkulieren Boykottanhänger wie er der Sprit nicht einfach knapp, viele Ausflügler bei anderes zahlen. In diesem Fall indi-
in Wahrheit meist gar nicht, sie ver- Tankstellen wären leer. autofreiem Sonntag rekt: die Ukraine.
rechnen nicht Chancen mit Risiken, Man könnte sagen, die Koalition 1973: Sind Ein­s chrän­ »Ich sage nicht, dass wir moralisch
kungen auch
Rezession mit Kriegstoten. Sie han- glaubt, dass die Menschen nicht wirk- heute hinnehmbar? verpflichtet sind, unser letztes Hemd
deln aus einer anderen Logik, sie fol- lich mit einem Boykott umgehen kön- zu geben, aber ein paar Einschrän-
gen dem Impuls zu helfen, so gut es nen, selbst wenn sie ihn verlangen; kungen müssen doch hinnehmbar
geht. dass sie die genauen Folgen gar nicht sein«, sagt Kermani. »Wir sind doch
Was macht ihn so zuversichtlich, absehen können. Da ist aber immer sehr weit davon entfernt, unser Mög-
dass die Menschen dabei bleiben und auch die Furcht, dass das Volk nur lichstes zu tun. Wir haben unsere
nicht irgendwann das Rechnen begin- durch permanente materielle Be- ­effektivsten Mittel noch lange nicht
nen? »Ich bin nicht zuversichtlich«, schwichtigung zufriedenzustellen ist. ausgeschöpft.«
sagt Kermani, »aber ich habe Hoff- »In dem Augenblick, in dem reale Er erinnert an die Ölkrise der Sieb-
nung.« Einschränkungen zu befürchten sind, zigerjahre, als mehrere autofreie
In der Regierung denkt man an- schreckt jede Bundesregierung zu- Sonntage verordnet wurden. Es muss
ders über einen Importstopp und sei- rück«, sagt Navid Kermani. »Selbst nicht gleich der Totalboykott sein.
ne Folgen. »Wäre garantiert, dass es autofreie Sonntage sind zu viel, es Der Nabu-Präsident schlägt ein Ver-
bei einer Wirtschaftskrise auf dem darf bloß nichts kosten. Aber natür- bot von Kurzstreckenflügen vor, Tem-
Niveau der Coronakrise bleibt, wie lich fallen ständig Kosten an, sie wer- polimit und billigeren ÖPNV. Der
ihn einige Wissenschaftler vorhersa- den nur verleugnet oder verschoben, Bundesverband der Energie- und
gen, würde ich es sofort machen«, in die Zukunft, am liebsten auf die Wasserwirtschaft hat Maßnahmen zu-
sagt eine Ampelvertreterin. Doch nie-
mand kann das garantieren.
Jungen. So ist es im Klimaschutz, mit
den Schulden, und so war es in der
»Wir leben in sammengestellt, um rund die Hälfte
der russischen Gasimporte zu erset-
In der Koalition rechnet man im Pandemie, als Schulen geschlossen einer Konsum- zen, etwa durch weniger Heizen in
Fall eines Boykotts mit einem Zusam- wurden, während Baumärkte noch kultur, nicht Privatwohnungen.
menbruch ganzer Industrien, mit geöffnet waren.« Auch Wirtschaftsminister Robert
Massenarbeitslosigkeit. Es kursieren Das war die unausgesprochene, oft
in einer Ver- Habeck (Grüne) wagt es langsam, an
Beispiele wie dieses: Würde Deutsch- schmutzige Grundlage der bundes- zichtskultur.« Verzicht zu denken. »Wir reden zwar
land russisches Öl boykottieren, wür- republikanischen Kostenfreiheit. Die Philipp Lepenies, immer eine Menge über Flüssiggas und
de in großen Teilen Ostdeutschlands Rechnung musste immer irgendwer Politologe Erdöl«, sagt er. Aber natürlich sei es so:

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

Ulrich Schneider hat dafür ein


herzhaftes Lachen übrig. Er ist Haupt-
geschäftsführer des Paritätischen
Wohlfahrtsverbands und vertritt die
Ärmsten im Lande. Und die haben
oft gar kein Auto. Wer besonders viel
verbraucht, kann es sich meistens
auch leisten. »Es ist immer die Rede
von der Krankenschwester, die auf
dem Land mit dem Auto fahren muss
– die müssen alle dieselbe Kranken-
schwester kennen.« Es gebe »genug
zu sparen, weil wir eine Gesellschaft
der Verschwender sind«.
Die Union, die in der Opposition
viel fordern könnte, hält sich wenig

Steve Bauerschmidt / IMAGO


überraschend bedeckt. Als CDU-
Chef Friedrich Merz forderte, den
Import von russischem Gas durch die
Gaspipeline Nord Stream 1 zu stop-
pen, sorgte das für einen Aufschrei in
der Wirtschaft und der Union nahe-
stehenden Wirtschaftsorganisationen.
Jeder Kubikmeter Flüssiggas, das man Friedenszeichen auf alte Denken: Wie schon in der Finanz- Seitdem hält er sich zurück.
nicht verbrennen müsse, helfe enorm. Acker in Thüringen: und Coronakrise werden die Bürge- Andererseits waren die Unions-
Er sei daher nun bereit, über »Re- Ohne Getreide rinnen und Bürger entlastet. Tatsäch- parteien vorn dabei, nach einem Aus-
aus Russland und
gulatorik« zu reden, was ein ver- der Ukraine lich findet sich in dem Programm viel gleich für die hohen Spritpreise zu
druckster Ausdruck ist für Verbote, drohen steigende Kostenausgleich. Aber die Grünen rufen. Am lautesten der saarländische
von Gasheizungen, Häusern ohne Lebens­mittelpreise haben darauf gedrängt, auch Einspa- Ministerpräsident Tobias Hans, der
Solaranlage oder Autos mit Verbren- rungen vorzusehen. Es geht vor allem am Sonntag eine Landtagswahl über-
nungsmotoren. Auch das Tempolimit um mehr Effizienz, ein schnelleres stehen muss. Da sagt das politische
sei aus seiner Sicht sinnvoll, sagt Ha- Ende von reinen Gasheizungen. Lehrbuch: Geschenke versprechen,
beck. »Wie wichtig Effizienz ist, ist Außerdem heißt es: »Kurzfristig trägt Zumutungen vermeiden.
doch bei meinen Gesprächen noch vor allem eine Verbrauchsreduzierung »Die Idee, dass Politik gut ist, die
mal viel deutlicher geworden.« in allen Sektoren zur sicheren Ver- nicht verbietet, ist unfassbar stark in
Bei seinen Gesprächen in Katar sorgung bei.« Und: »Die Bundes­ den Köpfen verankert«, sagt Philipp
hat er die autoritären Herrscher ver- regierung startet eine breit angelegte Lepenies, Professor für Politik mit
gangenen Sonntag bis an die Grenze Kampagne, die bei Bürgerinnen und Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der
zur Unterwürfigkeit umgarnt, um Bürgern sowie bei der Wirtschaft für Freien Universität Berlin. »Wir leben
Deutschland von dort Flüssiggas zu Energiesparen wirbt.« Offenbar ver- in einer Konsumkultur, nicht in einer
sichern. Er versucht, das Land durch sucht man es erst einmal mit frei­ Verzichtskultur.«
neue Quellen möglichst schnell unab- willigem Verzicht. Es herrsche die Vorstellung vor,
hängig zu machen von Russland. Es »Jeder kann theoretisch über das dass eine Marktwirtschaft nur funk-
ist sein Beitrag zu einem Pakt, den er persönliche Konsumverhalten Ein- tioniere, wenn der Einzelne das Recht
zwischen Politik und Bürgern schlie- fluss nehmen«, sagt SPD-Chefin Sas- habe, beliebig zu konsumieren. Der
ßen möchte. Krisen- kia Esken. »Aber solch eine Entschei- Mensch erscheine nicht als Bürger,
»Das ist super, wenn Menschen
privat Energie einsparen«, sagt er.
stimmung dung muss man auch souverän treffen
können.« Wer kein Geld habe, lebe
sondern als Konsument, den der Staat
nicht vertrete, sondern behindere.
»Was ist das aber für eine Regierung, »Haben Sie Sorge, ohnehin oft mit kalter Heizung, sagt »Dieser Antagonismus Staat und Kon­
die sagt: Macht ihr mal, wir machen dass der Angriff Esken. »Wenn ich wiederum elek­ sument ist verantwortlich für die Ver-
Russlands auf die
gar nichts.« Habeck also hat sich zum Ukraine zu einer
trisch Auto fahre und kein Fleisch bots- und Verzichtshysterie.«
Handelsreisenden der fossilen Ener- Weltwirtschaftskrise esse, ist das eine privilegierte Ent- Der Moment für Verzicht wäre
gien gemacht. Im Gegenzug möchte führen könnte, die scheidung, der ich mir als Politikerin womöglich sogar günstig, meint Phi-
er, dass Deutschland sich aus der Ab- auch Deutschland bewusst sein muss.« lipp Hübl, Philosoph und Gastpro-
trifft?«, Angaben
hängigkeit von Putin freispart. in Prozent
Mit derart zeitgeistiger Privilegien- fessor an der Universität der Künste
Einige Grüne sehen das bereits reflexion hält sich Wolfgang Kubicki Berlin. Paradoxerweise seien Men-
länger so, zögerten aber, als die dazu- ja, auf jeden (FDP) nicht auf. Er halte es, sagt er, schen, denen es schlecht geht, oft
stehen, die zum Verzicht aufrufen. Fall/eher ja »für eine abgehobene, elitäre Sicht- eher bereit, sich einzuschränken, als
Außerdem wollten sie den Eindruck 78 weise, den Menschen jetzt zu erklären, Menschen, denen es sehr gut geht.
vermeiden, sie versuchten in der Kri- nein, auf keinen dass man ein bisschen frieren, weniger »Allen Menschen geht es seit den
se alte Forderungen durchzudrücken. Fall/eher nein Auto fahren oder weniger Fleisch essen vergangenen zwei Jahren etwas
Die eigenwillige Logik: Wenn die Ge- 14 solle, um Putin zu schaden«. Mit sol- schlechter, die Pandemie hat Spuren
schichte ihnen schon mal recht gibt, chen »wohlfeilen Appellen« seien »in hinterlassen«, sagt Hübl. Die Hilfs-
dürfen sie gerade nicht als Rechthaber S Civey-Umfrage für den der Regel diejenigen gemeint, die viel bereitschaft sei aktuell in allen


SPIEGEL vom 21. bis


auftreten. 23. März; Befragte: 5002; härter von den steigenden Energie-, Schichten besonders groß. Das habe
die statistische Ungenauig-
Das »Entlastungspaket«, das die keit der Umfrage liegt bei Kraftstoff- und Nahrungsmittelpreisen sich auch an den Rekordspenden für
Koalition in dieser Woche beschlossen bis zu 2,5 Prozentpunkten;
an 100 fehlende Prozent:
getroffen werden als diejenigen, die die Ukraine gezeigt. Verzicht macht
hat, verkündet im Namen noch das »unentschieden« solche Forderungen ausstoßen«. verzichtsfest.

28 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


MORDE,
DEUTSCHLAND

Im Alltag falle es vielen Menschen schwer, der EU angekommen, es könnten noch viel
auf Annehmlichkeiten zu verzichten. »Men- mehr werden, auch in Deutschland. Sie brau-
schen entfernen sich nur ungern vom Status
quo«, sagt Hübl. Wenn es aber gute und un-
chen Unterstützung, Wohnraum, Betreuung.
Die unvermeidlichen Kosten werfen die
ÜBER DIE
mittelbar verständliche Gründe gebe, seien
viele doch bereit, Einschränkungen hinzu-
Verteilungsfrage auf. Es geht darum, auf wen
die Regierung diese Kosten umlenkt und wen
NIEMAND SPRICHT
nehmen. Und wenig leuchtet so ein wie der sie in Schutz nimmt.
Kampf gegen einen Diktator, der Bomben auf »Es kommen keine Entbehrungen auf die
eine Geburtsklinik fallen lässt. Gesellschaft zu, sondern nur auf Teile der Ge-
Weil Verbot und Verzicht lange Zeit verpönt sellschaft«, sagt Schneider vom Paritätischen
waren, blieb vor allem der Preis als Steuerungs- Wohlfahrtsverband. »Viele Deutsche legen
instrument. Der Markt steuere effizienter, des- jeden Monat so viel Geld beiseite, die werden
halb würden sich Preissteigerungen in Grenzen höchstens weniger sparen, die müssen auf kein
halten und Zumutungen minimiert, so wurde Butterbrot und nicht einmal einen Hummer
etwa beim Thema Klimaschutz argumentiert. verzichten.« Traut sich die Regierung, das in
Und nun? Sickert so langsam eine Erkenntnis einem Land auszusprechen, in dem sich CDU-
ein: stimmt gar nicht. Die Preise steigen so Chef Friedrich Merz als Millionär der Mittel-
stark, dass sie eine Zumutung sind. schicht zugeordnet hat?
Wichtige Rohstoffe wie Nickel, Palladium Spätestens an diesem Punkt mischen sich
und Eisenerze, auch fertiger Stahl fehlen oder manifeste Parteiinteressen unter die allgemei-
kosten ein Vermögen, weil sie aus Russland ne Angst der Politik vor der Zumutung ans
oder der Ukraine kommen. Knapp sind Edel- Volk. Die Wählerinnen und Wähler der Grü-
gase, die für die Halbleiterproduktion dringend nen verdienen im Mittel eher gut, noch mehr
benötigt werden. »Wer mit Russland Geschäf- gilt das für die der FDP. Zumutungen für die
te gemacht hat, wusste spätestens seit der Ärmeren treffen eher die SPD, Zumutungen
Krimkrise, dass es Risiken gibt«, sagt CDU- für die Reichen stärker die FDP.
Parteivize Carsten Linnemann. Sozialminister Hubertus Heil (SPD) hatte
Als kürzlich die Spitzen der Wirtschaft mit in den Entlastungsgesprächen vorgeschlagen,
Habeck tagten, klagte VW-Chef Herbert dass all jene, die mehr als 4000 Euro im Mo-
Diess über Kabelbäume, die nicht aus der nat verdienen, nicht mit Tankhilfen rechnen
Ukraine geliefert werden. Die Unternehmen sollten. Die Grünen drängten auf Entlastun- 208 Seiten, gebunden � 20,00 €
könnten auf alldem sitzen bleiben. gen für Hartz-IV-Empfänger. Es gehe nun um Auch als E-Book erhältlich
Im vierten Quartal des vergangenen Jahres, »die Festlegung von Prioritäten« und darum,
noch vor dem Krieg, summierten sich die Mehr- »zunächst das Bestehende solide zu finanzie-
kosten durch gestiegene Erdgaspreise allein ren«, sagt andererseits Finanzminister Lind- Alle drei Tage wird in Deutschland
beim Chemieriesen BASF in Europa auf 800 ner über mögliche Ansprüche an seinen Haus- eine Frau von ihrem Partner
Millionen Euro. Für einen gewöhnlichen priva- halt. Lars Feld, sein ökonomischer Berater, oder Ex-Partner getötet.
ten Haushalt mit Gasheizung geht die Koalition sagte, man müsse sich fragen, ob Mehraus-
aktuell von 1000 Euro Mehrkosten im Jahr aus. gaben im Sozialen machbar seien. Als Familientragödien verharmlost,
Dazu kommen die Verwerfungen auf den Der politische Wettstreit um Positionen bleiben viele dieser Frauenmorde
Lebensmittelmärkten. Die Ukraine und Russ- und Forderungen hat also schon begonnen. verborgen und verdecken patriarchale
land gehören zu den wichtigsten Produzenten Nur der Rahmen fehlt noch, die große Linie,
Macht- und Gewaltmuster.
von Weizen, Gerste, Sonnenblumenölen so- die Orientierung.
wie von Kunstdüngern. Außerdem sind schon Gerhart Baum, Jahrgang 1932, früherer Laura Backes und Margherita Bettoni
jetzt mehr als drei Millionen Geflüchtete in Bundesinnenminister der FDP, hat als Zwölf- zeigen in ihrem aufrüttelnden Buch
jähriger die Luftangriffe auf Dresden im Zwei- über Femizide, dass die Tötung
ten Weltkrieg erlebt. Er weiß, wie es klingt,
wenn Bomben Häuser zerstören, er kennt den von Frauen aufgrund ihres
Wohlstand und die Not. Heute sagt er: »Wir Geschlechts ein Skandal ist,
werden uns für lange Zeit von unserem ge- der nicht nur ein hartes Vorgehen
wohnten Wohlstand verabschieden müssen.«
von Politik und Justiz,
Er erinnert an jene berühmte Rede, in der der
britische Premierminister seiner Bevölkerung sondern gesamtgesellschaftliches
im Kampf gegen Deutschland eröffnete, er Handeln erfordert.
habe ihr nichts anzubieten als Blut, Schweiß
und Tränen. »Churchill hat sein Land 1940
gegen Hitler aufgerüttelt. Wo bleibt die klare
Sprache unserer Politik, dass Normalität nicht
zurückkehren wird?«
Es gibt Menschen in den Regierungspar-
#alledreitage
teien, die sich diese Frage auch stellen. Sie
sind aber noch unsicher, wie man den Verzicht
weniger giftig klingen lässt und wer so eine
Rede überhaupt halten kann. Den Umgang
Andreas Chudowski

mit dem Weniger müssen sie erst lernen.


Florian Gathmann, Kevin Hagen,
Finanzminister Lindner Clara Heße, ­Helge Hoffmeister, Jonas Schaible,
Gerald Traufetter, Severin Weiland  n www.dva.de

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

aber ­können wir wirklich damit


rechnen? Städte wie Mariupol sind
nach vier Wochen Krieg bereits
weitgehend verwüstet, die Infra­
struktur ist zerstört. Ich will nicht
spekulieren, aber ich denke, viele
werden wohl länger bleiben. Wir
müssen diese Ausnahmesituation so
gut meistern, wie es eben geht. Und
wir müssen Polen und Moldau ent­
lasten. Dort kommen die meisten
Flüchtlinge an.
SPIEGEL: Der soziale Wohnungsbau
ist in den vergangenen 20 Jahren sys­
tematisch heruntergefahren worden.
Geywitz: Ja, das ist eine meiner
Hauptaufgaben. In der mittelfristigen
Finanzplanung haben wir bis 2026
zusätzlich 8,5 Milliarden Euro für den
sozialen Wohnungsbau vorgesehen.
Das ist eine riesige Summe. Wir för­
dern den Bau von 100 000 bezahl­
baren Wohnungen jährlich.

Ruper t Oberhäuser / IMAGO


SPIEGEL: Pardon, aber jeden Tag
­fallen trotzdem rechnerisch netto
mehr Wohnungen aus der Sozialbin­
dung heraus, als neue gebaut werden
können. Erwecken Sie da nicht einen
Baustelle in Hamburger HafenCity: »Wenig sinnvoll, wenn jede Generation ihr eigenes Neubaugebiet bekommt«
falschen Eindruck?
Geywitz: Es bringt nichts, die För­
derung sprunghaft noch weiter
zu erhöhen, ohne sicherzustellen,
dass das Geld abfließt, die Länder

»Auch im Städtebau geht es


also mitmachen. Denn die sind letzt­
lich zuständig, der Bund kann hier
nur Finanzhilfen gewähren. Diese

wieder um Resilienz«
100 000 Sozialwohnungen zu bauen
ist mindestens so schwer zu erreichen
wie die Marke von 400 000 Woh­
nungen insgesamt pro Jahr. Vermut­
lich schwieriger. Im Jahr 2020 sind
WOHNEN  Bundesbauministerin Klara Geywitz, 46 (SPD), über die Heraus­ 28 000 Sozialwohnungen errichtet
worden und 2021 waren 51 000 ge­
forderung, schnell, günstig und klimafreundlich Hunderttausende neue plant. Wenn wir es gemeinsam schaf­
Wohnungen zu errichten – und nebenbei auch noch Flüchtlinge unterzubringen fen, diese Zahl auf rund 100 000 Woh­
nungen zu verdoppeln, bin ich schon
froh. Wir müssen erst wieder lernen,
SPIEGEL: Frau Geywitz, die Ampel­ jeder Minister tun kann und muss. sozialen Wohnungsbau zu einer
koalition will 400 000 neue Woh­ In meinem Bereich sind ohnehin ­prioritären staatlichen Aufgabe zu
nungen pro Jahr bauen. Reicht das noch die allermeisten Ausnahme­ machen.
angesichts der massivsten Fluchtbe­ regeln der Flüchtlingskrise 2015 in SPIEGEL: Kanzler Olaf Scholz hat
wegung seit dem Zweiten Weltkrieg Kraft, etwa wenn es um den unkom­ nach dem russischen Überfall auf
noch aus? plizierten Bau mobiler Unterkünfte die Ukraine von einer »Zeitenwen­
Geywitz: Diese 400 000 Wohnungen geht. Wo das nicht reicht, vereinfa­ de« gesprochen. Was bedeutet das
sind bereits ein ehrgeiziges Ziel. Da chen wir noch weiter. Das geht diese für Sie?
kann ich nicht sagen: Wir bauen jetzt Woche durch den Bundestag. Außer­ Geywitz: Es ist etwas eingetreten, das
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

einfach noch mal 100 000 mehr. Die dem berät mein Ministerium Länder, meine Generation für schier unmög­
Kapazitäten sind begrenzt. Sinnvoller Städte und Kommunen, damit sie lich hielt. Wer hat schon an einen
ist es, Leerstände zu nutzen. Da sehe vorhandene Fördermittel nutzen und Angriffskrieg in Europa gedacht? Die
ich das Potenzial von einer Million einsetzen können, um die leer ste­ Zeitenwende ist jetzt schon da. Wir
Wohnungen. henden Wohnungen bezugsfertig zu haben Krieg in Europa. Mit dem rus­
SPIEGEL: Wie schnell können Sie machen. sischen Überfall auf die Ukraine stel­
Wohnraum für die Flüchtlinge aus der SPIEGEL: Wie lange werden die len sich auch für uns viele Fragen.
Ukraine organisieren? Sozialdemokratin Flüchtlinge bleiben? Auch im Städtebau geht es wieder
Geywitz: In der Bundesregierung ha­ Geywitz: »Ohne Geywitz: Viele wollen so schnell um Resilienz.
ben wir direkt am ersten Tag des Ordnungsrecht wird wie möglich zurück in die Ukraine, SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
es nicht gehen, wenn
russischen Überfalls auf die Ukraine wir die Klimaziele sie hoffen auf ein schnelles Ende Geywitz: Wir haben uns an das Leben
besprochen, was jede Ministerin und erreichen wollen« des Krieges. Das hoffe ich auch, im Frieden gewöhnt und viele

30 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


DEUTSCHLAND

Schutzmaßnahmen heruntergefahren. Die nicht sicher, ob dieser »Worst first«-Ansatz


Alarmstruktur etwa. Als ich Kind war, haben Unsozialer Abbau der beste ist. Denn dazu müsste man
wir im Kindergarten regelmäßig geübt, wie mit viel Kapitaleinsatz die schlechtesten
wir uns bei Alarm verhalten. Auch beim Bestand der Sozialmietwohnungen ­Gebäude zuerst sanieren. Sinnvoller ist es,
in Deutschland, in Millionen
­Bevölkerungsschutz sind Fragen offen: Wer da zu fördern, wo es am effektivsten ist. Man
kommt im Notfall wo unter? Wo werden 2,0 nimmt große Wohnkomplexe in Angriff,
Reserven gelagert? Es gibt seit Putins
­ dämmt sie und stattet sie etwa mit einem
­Überfall eine neue Bedrohung, auf die wir Blockheizkraftwerk aus. Mit überschau­
reagieren müssen. Wir können uns dabei 1,5 barem Aufwand lässt sich so deutlich mehr
nicht nur auf die Bundeswehr, die Polizei Energie einsparen. In der Zielsetzung sind
oder den Katastrophenschutz konzentrieren. wir uns mit der EU einig: Wir möchten
Wir brauchen auch in der Bauplanung 1,0 ­möglichst viel CO2 im Gebäudebereich ein­
mehr Kapazitäten, um auf Katastrophen sparen.
­vorbereitet zu sein. Schauen Sie ins Ahrtal SPIEGEL: Wird es für deutsche Eigentümer
und die Region, wo nach der Flutkatastro­ 0,5 eine Sanierungspflicht geben?
phe jetzt 30 Milliarden Euro ­bereitgestellt Geywitz: In einigen Bereichen wird es ohne
­wurden, um die Zerstörung zu beseitigen Ordnungsrecht nicht gehen, wenn wir die
und den Wiederaufbau zu leisten. Das kön­ Klimaziele erreichen wollen. Ich will nie­
nen Landkreisverwaltungen nicht allein manden aus seinem Haus vertreiben, indem
stemmen. 2006 2014 2019 ich so hohe Sanierungsauflagen schaffe,
k. A.
SPIEGEL: Wann hat sich Ihr Blick auf Russland S Quelle: Deutscher Bundestag dass Eigentümer die nicht finanzieren kön­
und Wladimir Putin verändert? nen. Aber man könnte Regeln schaffen, die
Geywitz: Ich war da nie romantisch, ich­ s­ telle mir große innerstädtische Quartiere gewisse Sanierungen vorschreiben, wenn
hatte nie diesen verklärten Blick auf Russ­ vor, mit kleineren Wohnungsgrundrissen, ein Haus an einen neuen Eigentümer über­
land. Ich bin in Brandenburg auf einem dafür mit mehr Gemeinschaftsflächen für geben wird.
Dorf aufgewachsen, neben dem auf der alle. SPIEGEL: Das wird dann für den Käufer deut­
einen Seite die Mauer war und auf der an­ SPIEGEL: Häufig leben Senioren in großen lich teurer. Planen Sie mehr Subventionen für
deren ein Truppenübungsplatz der Sowjet­ Wohnungen, während junge Familien drin­ Sanierungen ein?
armee. Außerdem fahre ich seit Jahren gend Wohnraum benötigen. Wie lässt sich das Geywitz: Die Mittel für das Förderprogramm
nach Polen. Nicht wenige haben ja bis vor lösen? der KfW stellt das Bundeswirtschaftsminis­
Kurzem gemeint, Polen und die baltischen Geywitz: Noch mal, die Politik kann und soll terium bereit. Ich stimme mich dazu eng mit
Staaten hätten übertrieben viel Angst vor nicht vorschreiben, wie die Menschen zu woh­ Robert Habeck ab. Mein Wunsch ist, dass
Russland. Nun stellt sich heraus, dass sie nen haben. Aber wir sollten die Verhältnisse wir künftig sowohl den Lebenszyklus eines
recht hatten. kreativ diskutieren. Es gibt bereits Börsen Gebäudes als auch das Baumaterial berück­
SPIEGEL: Sie sind 1976 in Potsdam geboren, zum Wohnungstausch, von denen allerdings sichtigen.
in der DDR aufgewachsen. Wie gut ist Ihr nur wenige richtig gut funktionieren. Zudem SPIEGEL: Müssen Mieter mit steigenden Mie­
Russisch? lohnt sich ein solcher Tausch für Ältere oft ten rechnen, wenn Millionen von Gebäuden
Geywitz: Ich habe es acht Jahre lang in der nicht, weil die neue Wohnung zwar kleiner, saniert werden?
Schule gelernt. Als Erwachsene habe ich mich aber auch teurer wäre. Geywitz: Klimaschutz und bezahlbares Woh­
dann mehr für Polen interessiert und die pol­ SPIEGEL: Gibt es ein Recht auf Einfamilien­ nen müssen zusammen gedacht werden. Die
nische Sprache erlernt. Ich habe so häufig haus und Neubaugebiet? Bundesländer erhalten deshalb dieses Jahr
Polnisch gesprochen, dass das verbliebene Geywitz: Der Wunsch junger Familien nach zwei Milliarden Euro, damit sie neu bauen
Russisch auf meiner Festplatte gewissermaßen einem eigenen Haus ist verständlich. Gleich­ oder sanieren können.
überschrieben wurde. zeitig ist es aber wenig sinnvoll, wenn jede SPIEGEL: Ab wann wird der Einbau von Gas­
SPIEGEL: In den Siebzigerjahren kam eine ­Generation gewissermaßen ihr eigenes Neu­ heizungen endgültig verboten sein?
Durchschnittsperson hierzulande mit baugebiet ­bekommt. Ich setze auf Anreize Geywitz: Das diskutieren wir gerade. Der An­
rund 25 Quadratmeter Wohnraum aus, h ­ eute für junge Familien, alte Häuser zu erwerben teil der Neubauten, die noch mit Gasheizun­
sind wir bei rund 50 Quadratmetern. Müssen und zu sanieren. Dafür sollten wir die Eigen­ gen geplant werden, sinkt längst deutlich.
die Deutschen wieder mehr zusammen­ tumsförderung reformieren. Wir dürfen solch ein Verbot aber nicht zu
rücken? SPIEGEL: Die EU-Kommission macht Druck schnell beschließen, damit wir keine be­
Geywitz: Das können Sie niemandem vor­ beim Klimaschutz, 15 Prozent der Gebäude stehenden Projekte gefährden. Wir können
schreiben. Doch ich halte es für richtig, mit dem schlechtesten Standard sollen saniert das erst machen, wenn wir für wirklich jedes
dass wir vor dem Hintergrund der Be­ werden. Es geht um rund 35 Millionen Ob­ Projekt in jeder Lage eine technologische
kämpfung des Klimawandels eine breite jekte in der EU. Was bedeutet das für den ­Alternative haben.
Debatte über Konsum führen: Viele Men­ deutschen Gebäudebestand? SPIEGEL: Und was halten Sie von einer Solar­
schen essen weniger Fleisch, fahren weniger Geywitz: Ich rede mit Wirtschaftsminister dachpflicht?
Auto oder verzichten auf Fernreisen. Nur Robert Habeck darüber, wie wir die Vor­ Geywitz: Im Grundsatz bin ich dafür, dass
beim Wohnen führen wir diese Debatte gaben der EU umsetzen können, bin aber künftig auf neuen Dächern eine Solaranla­
­bisher nicht. ge verpflichtend ist. Ich halte den Bau von
SPIEGEL: Sie könnten die ja anstoßen? Solaranlagen sowohl auf Wohn-, als auch
Geywitz: Fangen wir mal mit der Frage an, auf Parkplatz- oder Garagendächern für
welchen Teil einer Wohnung wir denn tat­ sinnvoll. Es gibt ein paar Lagen, wo das
sächlich benutzen. Es ist meistens das
Bett, das Bad und die Küche. Den Konsum
»Die Politik kann und soll ­keinen Sinn ergibt, etwa in einem tiefen
Tal oder in einer Nordlage. Wir werden ein
von Wohnfläche pro Kopf zu verringern nicht vorschreiben, ­G esetz machen, das solche Ausnahmen
hätte viele Vorteile. Durch moderne
­Wohnkonzepte könnte man etwa in den
wie die Menschen zu ­berücksichtigt.
Interview: Sebastian Fischer, Henning Jauernig,
Städten die Einsamkeit bekämpfen. Ich ­wohnen haben.« Christian Teevs  n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

bürokratisches Monster, bei dem ständig ein


Landtag zusammengerufen werden muss und
trotzdem die Sorge bleibt, dass Gerichte künf-
tig einen Großteil der Coronamaßnahmen
kassieren könnten.
Nicht gerade vielversprechende Aussich-
ten für die Bekämpfung der Pandemie.
Die Masken fallen in vielen Bereichen zu
einer Zeit, in der die Inzidenzen kaum Opti-
mismus zulassen. Sechs Bundesländer sind
jenseits einer Inzidenz von 2000. Die Kran-
kenhäuser füllen sich wieder: die Hospita­
lisierungsrate lag am Donnerstag bei bis
zu 19,3 Prozent. Am selben Tag wurden
300 Coronatote gemeldet. Auch der Exper-
tenrat der Bundesregierung empfiehlt die
Maskenpflicht ausdrücklich.
Doch ausgerechnet jetzt muss die Welt-
gesundheitsorganisation (WHO) ein »bruta-
les« Ende der meisten Coronamaßnahmen in
Deutschland beklagen.
So steuert das Land in sein drittes Corona­

Oliver Berg / dpa


jahr.
Um zu verstehen, was die Länder derart
umtreibt, lohnt ein Blick zurück in die Sitzung
Hinweisschild in Bonn: Ende der Maskenpflicht bei Rekordinzidenzen des Bundesrats in der vergangenen Woche.
Es war eine Sondersitzung, um das neue In-
fektionsschutzgesetz mit den Ländern zu be-
sprechen. Das Verfahren, so sehen es die Län-

Das Zerwürfnis
der, war ein einziger Witz. Um 1.18 Uhr in
der Nacht war der Gesetzentwurf etwa in
Thüringens Gesundheitsministerium einge-
gangen. Um 8.22 Uhr kam es über den Ver-
teiler der MPK im Büro des Thüringer Minis-
SEUCHENSCHUTZ Das von der Ampelkoalition beschlossene Ende der terpräsidenten an. Bis 10 Uhr hätten die Län-
der Änderungsvorschläge machen können.
Pandemiebekämpfung entzweit Bund und Länder. Wie konnte es so weit Anderthalb Stunden, um die eigenen Beam-
kommen? Und welche Coronamaßnahmen sind überhaupt noch möglich? ten um Rat zu bitten. An eine Besprechung
der Fachminister war nicht zu denken: »Mein
Kabinett brauchte ich ohne Vorlage gar nicht

E
s muss viel passieren, bis Politiker derart kanzler, der 32. seit Ausbruch der Pandemie fragen«, klagt Bodo Ramelow. Den anderen
auf die Palme gehen. Wenn Thüringens im Jahr 2020, ist das Dokument eines histo- erging es nicht besser.
Ministerpräsident Bodo Ramelow sich rischen Zerwürfnisses. Von 16 Ländern gaben Also beschloss die Bundesregierung das
»enteiert« fühlt. Sein baden-württembergi- 16 Protokollerklärungen ab, in denen mit dem Gesetz im Alleingang, dann zog der Bun­
scher Amtskollege Winfried Kretschmann neuen Infektionsschutzgesetz des Bundes ab- destag nach, und im Bundesrat hatten die
klagt, »alles ist uns aus der Hand genommen«. gerechnet wird. Was die Ländervertreterin- Länder nichts zu melden: Ihre Zustimmung
Hessens Regierungschef Volker Bouffier von nen und -vertreter wollten, war die Beibehal- war gar nicht mehr eingeplant. Sie hätten
einem »Tiefpunkt der Zusammenarbeit« tung der alten Grundlagen: weitreichende maximal den Vermittlungsausschuss anru­
spricht. Niedersachsens Regierungschef Maskenpflicht, Abstand halten, Testen. Was fen können, doch – weil am selben Tag die
­Stephan Weil in seinem Ärger gänzlich neue sie bekamen, war ein von der FDP forciertes alten Coronaregelungen ausliefen – bis zu
Worte erfindet: »Hotspotregelungs-Verhin- einer Entscheidung gänzlich ohne Schutz da-
derungsregelung«. Und ausgerechnet das gestanden.
­bayerische Alphatier Markus Söder in ge- Keine Entlastung für Kliniken »Schlichtweg unsäglich und unwürdig«
schlossener Sitzung jammert: »Sie nutzen ihre findet Hessens Regierungschef Volker Bouf-
Macht aus!« Neuaufnahmen von Covidpatienten in fier das Verfahren. 23 Jahre gehöre er dem
Krankenhäusern in Deutschland
Ein Linker, ein Grüner, ein Christdemokrat, Bundesrat an, aber so etwas habe er »noch
ein Sozialdemokrat und ein CSU-Mann. Eine 1500 Patienten nie erlebt«. In der MPK klagte Bayerns
denkbar große Länderkoalition vereint im Un- Ministerpräsident Markus Söder laut Teil-
verständnis gegenüber dem Bund: dem Kanz- nehmern: »Es trifft die Länder ins Mark.«
ler, seinem Gesundheitsminister und seinem 1000 Zwei Jahre gemeinsame Wegstrecke seien
Justizminister. Die Ampelregierung wird von ­beendet worden, »und zwar einseitig«. Der
den Ministerpräsidenten verantwortlich ge- 500
Grüne Winfried Kretschmann habe gesagt,
macht für ein handstreichartig durchgedrück- Seit dem 20. März entfallen es sei ihm »unerfindlich, was zu diesem Bruch
Coronaregeln weitgehend,
tes Gesetz, das aus Sicht der Länder nicht im lokale Beschränkungen geführt hat«. Er verstehe gar nicht, was das
Ansatz geeignet ist, auf die gerade irrwitzigen 0 durch Landesparlamente Ganze solle.
Inzidenzen im Land angemessen zu reagieren. 18. Juli 1. Jan. 23. März Parteipolitische Auseinandersetzungen
Das Protokoll der jüngsten Konferenz der 2021 2022 2022 sind normal, auch solche zwischen Bund und
Ministerpräsidenten (MPK) mit dem Bundes- S Quelle: RKI; Stand: 24. März Ländern. Doch dieser Streit geht darüber

32 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


DEUTSCHLAND

hinaus, denn da sind die praktischen Die WHO Auch Sachsen kämpft mit stabil menden Woche das komplette Land
Folgen für die Bekämpfung der Pan­ hohen Inzidenzen über 2000, Regie­ trotz Regierungsbeteiligung der FDP
demie, die sich noch immer in einer
beklagt ein rungschef Michael Kretschmer (CDU) zum Hotspot erklären.
kritischen Phase befindet. Die wich­ »brutales« hat seine Müh und Not, das Land Aus Regierungskreisen in Sachsen-
tigste strittige Frage: Können die Län­ Ende der durch die Krise zu bugsieren. Er hat Anhalt ist zu hören, für dieses Bun­
der tatsächlich Hotspots mit allgemei­ die meisten Coronatoten auf 100 000 desgesetz fühle man sich nicht zustän­
ner Maskenpflicht ausweisen? Der Maßnahmen. Einwohner in der ganzen Bundes­ dig. Von »absolutem Schwachsinn«
Jurist Bouffier hat da eine klare Mei­ republik zu verzeichnen. Und er hat ist die Rede.
nung: Man könne die jetzige Rege­ eine Bevölkerung, die zu 35 Prozent So versucht sich jedes Bundesland
lung »landläufig als Murks bezeich­ ungeimpft ist und seinem Pandemie­ durch die neue Lage zu schlängeln,
nen«. Etwa, wenn man sich nach In­ kurs in Teilen immer widerwilliger während Bundesgesundheitsminister
zidenzen richte. Was sei denn jetzt folgt. Auch Kretschmer wollte sein Karl Lauterbach (SPD) von Berlin
eine »steigende Inzidenz«? Wo gehe Land zum Hotspot erklären. Doch aus gute Ratschläge gibt: »Ich hoffe
die los? Bei 800? Bei 600? Bei 433? der Versuch nach dem neuen Gesetz sehr, dass die Länder jetzt aus dem
Um einzelne Gebiete als Hotspots scheiterte im Ansatz. Die eigene Kritikmodus kommen und in den Kri­
auszuweisen, müsse der Landtag »alle CDU-Fraktion, ohnehin ständig unter senmodus schalten.« Man solle die
drei Tage« zusammenkommen: »Weil Druck der beinahe gleich starken neuen Möglichkeiten schnell nutzen.
er ja einmal beschließen muss und AfD, versagte dem Regenten die Ge­ Er habe bei den Verhandlungen
irgendwann noch mal, ob die Lage folgschaft. Man sehe keine Überlas­ mit der FDP das Maximum heraus­
noch so ist«. tung des Gesundheitssystems. So fal­ geholt, versichert er. Die Liberalen
Und wann ist das Gesundheits­ len im Freistaat ab dem 3. April die wollten dagegen alle Basismaßnah­
system überlastet? Wenn zu viele Masken – ein Experiment mit unge­ men fallen lassen. Der Minister er­
­Coronapatienten auf den Stationen wissem Ausgang. zählt dieser Tage, er sei mit sich im
liegen? Oder auch – was derzeit viel Thüringen ergeht es kaum besser. Reinen. »Ich sende permanent die
wahrscheinlicher ist – wenn zu viele Ministerpräsident Ramelow regiert Botschaft, dass die Pandemie nicht
Krankenpflegerinnen und Kranken­
Verärgerte als einziger Landesfürst ohne eigene vorbei ist. Ich sage den Leuten ständig
pfleger sowie Ärzte erkrankt oder in Minister- Mehrheit. Wie soll er da einen Hot­ ›Seid vorsichtig!‹«
Quarantäne sind? Und können ganze präsidenten spot durch das Parlament bringen? Was einer wie Söder von der­
Bundesländer zu Hotspots erklärt Er wird es kommende Woche ver­ artigen Einwürfen hält, ist schnell zu­
werden? suchen. Der Linke hat vor allem auch sammengefasst. Der Bayer verortet
Mecklenburg-Vorpommern hat rechtliche Bedenken. Die AfD klage die Bundesregierung neuerdings im
derzeit mit etwa 2400 die höchsten gegen jede einzelne Coronaverord­ »Team Blindflug«. Allerdings, und
Inzidenzen bundesweit. In der MPK nung vor dem Verfassungsgerichts­ auch das gehört zur politischen Wahr­
hatte die Staatskanzlei angekündigt, hof. Die Gefahr eines Scheiterns wäre heit: Manche der Ministerpräsiden­
Arnulf Hettrich / IMAGO

das ganze Land gleichermaßen aus jetzt groß, und die Folgen könnten tinnen und Ministerpräsidenten pla­
Notwehr zum Hotspot zu erklären. schwerwiegend sein, wie der Chef nen trotz ihrer lauten Kritik am Bund
Im Bundesrat präsentierte Gesund­ der Bayerischen Staatskanzlei, Flo­ nicht, ihre eigenen gesetzgeberischen
heitsministerin Stefanie Drese (SPD) rian Herrmann, feststellte. Gericht­ Spielräume auszureizen. Und so ist
dafür gute Gründe. Die Situation in liche Erfolge gegen die neuen Ver­ das Agieren von Söder womöglich
den Krankenhäusern des Küstenlan­ Winfried ordnungen könnten »politisch aus­ auch der Versuch, die Schuld für stei­
des sei »dramatisch«. Mehrere Kli­ ­Kretschmann, Grüne genutzt werden, um die wirkungs­ gende Inzidenzen dem Bund zuzu­
»Alles ist uns aus der
niken hätten teilweise die Notfall­ Hand genommen« volle Arbeitsweise der deutschen schieben.
versorgung ablehnen müssen. Bis zu Landesregierungen und der Bundes­ Auch haben sich einige Länder in
30 Prozent des Personals sei ausge­ regierung zu desavouieren«. den vergangenen zwei Jahren der
fallen – bei gleichzeitigem Höchst­ Trotzdem will Hamburg (Inzidenz Pandemiebekämpfung wohl ganz
stand an Coronapatienten. über 1000) es versuchen und die gern hinter dem Bund versteckt. Und
Inzwischen klingt es aus Schwerin Stadt nach dem 2. April zum Hotspot manche haben nicht immer nur auf
C. Spicker / AdoraPress

etwas anders. Das Bundesjustizmi­ erklären, um die bisherige Masken­ Vorsicht gesetzt, sondern auch auf
nisterium habe Bedenken geäußert, pflicht in Innenräumen beibehalten Öffnungen gedrängt, mal für die Gas­
deshalb führte die Landesregierung zu können. In der kommenden Wo­ tronomie, mal für Baumärkte.
vor dem Beschluss im Landtag am che soll die Bürgerschaft dafür die Volker Bouffier sagte im Bundes­
Donnerstag nun alle Landkreise ein­ »Gefahr einer sich dynamisch aus­ rat, er wünsche sich inständig, dass
zeln an, um die »konkrete Gefahr« Bodo Ramelow, Linke breitenden Infektionslage« feststel­ man im Herbst nicht wieder zusam­
für ganz Mecklenburg-Vorpommern »Die haben uns len. Die rot-grüne Mehrheit im Rat­ menkomme und feststelle: »Schon
zu begründen. Eine Ochsentour fürs enteiert« haus gilt als sicher. Auch wenn wieder ist eine Welle da, und man
Parlament, vor der Bouffier gewarnt ­Hamburg eine hohe Impfquote habe, hätte doch …« Oder dass sich Kom­
hatte. Damit sind im Nordosten bis sagt der Erste Bürgermeister Peter mentatoren erneut mit der Frage be­
zum 27. April in Innenbereichen wei­ Tschentscher (SPD), brauche man die fassten, »ob die Politik wieder ge­
ter Masken nötig, sei es in Super­ Maske weiterhin als »niedrigschwel­ schlafen hat«.
märkten oder auf Indoor-Spielplät­ liges, einfaches und sehr effizientes Der hessische Ministerpräsident
C. Spicker / AdoraPress

zen. Außerdem gilt 3G etwa für Kul­ Mittel gegen eine Infektion«. fühlt sich jedenfalls nicht mehr zu­
turveranstaltungen, beim Friseur Rheinland-Pfalz will in den Klini­ ständig. Er sagt, die Pandemiebe­
oder im Fitnessstudio – solange der ken Zahlen zum Krankenstand des kämpfung sei nun die alleinige »Sache
Landtag nicht widerruft. Nach Kritik Personals erheben. Die starke Ver­ des Bundes«.
aus der Tourismuswirtschaft plant die breitung der Omikron-Virusvariante
Volker Bouffier, CDU Matthias Bartsch, Jan Friedmann,
Landesregierung jedoch, in der Gas­ »Man könnte die
führe zu erheblichen Ausfällen. Wenn Annette Großbongardt,
tronomie zu Ostern bereits wieder Re­gelung landläufig das die Patientenversorgung gefähr­ Milena Hassenkamp, Peter Maxwill,
zu lockern. als Murks bezeichnen« de, könne der Landtag in der kom­ Ansgar Siemens, Steffen Winter  n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 33


DEUTSCHLAND

Ernte in der ren genug Getreide für Menschen und


Ukraine 2021 Tiere hierzulande, der Selbstversor-
gungsgrad liegt bei 101 Prozent.
Um den Ausfall von ukrainischen
Importen für Tierfutter zu kompen-
sieren, hat Landwirtschaftsminister
Cem Özdemir (Grüne) den Bewuchs
auf ökologischen Vorrangflächen zur
Futternutzung freigegeben. Die Op-
tion für Extra-Nahrungsmittelanbau
nutzt er nicht. Özdemir warnt, den
Krieg gegen andere Krisen auszuspie-
len, die Klimakatastrophe und das
Artensterben seien »real existierende

Dmytro Smolyenko / Ukrinform / IMAGO


Probleme«, deren Aufschieben sich
rächen würde.
Mancher Lobbyist hingegen sieht
den Ukrainekrieg als vielleicht letzte
Gelegenheit, Kernpunkte der EU-
Agrar­reform auszuhebeln. PR-Front-
trupps wie CropLife Europe, die von
der Pestizidbranche aufgesetzt wur-
den, torpedieren den Green Deal
schon länger. Sie dürften es als Erfolg
verbuchen, dass die EU-Kommission

Weizen als Waffe


die Vorstellung ihres Fahrplans zur
zentralen Farm-to-Fork-Strategie ver-
schoben hat. Die sieht vor, dass alle
Mitgliedstaaten Gesetze zur Halbie-
rung des Pestizidgebrauchs bis 2030
LANDWIRTSCHAFT  Wegen des Ukrainekrieges fehlt weltweit Getreide. vorlegen müssen – gegenwärtig offen-
Lobbyisten stellen deshalb schon die Agrarreform der EU infrage. bar zu heikel.
Martin Häusling, Agrarexperte der
Grünen im Europaparlament, fürch-

A
nthony Lee von der Bauern- Landwirt. Flächen stillzulegen, sei ein tet: »Die Verschiebung der Reform
bewegung »Land schafft Ver- falsches Signal. Wenn die Kornkam- ist ihre Beerdigung.« CDU-Mann
bindung« ruft zum Aufstand. mer Ukraine ausfalle und Putin rus- Jahr sieht das anders. Der Krieg habe
Ihn nervt schon lange, dass die EU sische Getreidelieferungen als Waffe ein »neues Diskussionsumfeld« ge-
plant, vier Prozent der landwirt- einsetze, dann müsse man ihm zei- schaffen, um bestimmte Vorhaben
schaftlichen Fläche als ökologische gen: »Wir haben genug, um dagegen- noch einmal zu hinterfragen. Seiner
Rückzugsräume stillzulegen. Mit den zuhalten und anderen Ländern zu Rechnung zufolge könnten auf den
absehbaren Getreideengpässen infol- helfen.« bislang vorgesehenen EU-Still­
ge des Ukrainekrieges sieht er sich Russlands Angriffskrieg hat die legungsflächen 18 Millionen Tonnen
bestätigt: Solch einem »Irrsinn« müs- deutsche Agrarpolitik durchgerüttelt. Weizen produziert werden – was
se Einhalt geboten werden. In Videos Gewissheiten von gestern wanken, etwa den jährlichen Importbedarf
ruft Lee zu »zivilem Ungehorsam« Diskussionen um Klima­wandel und von Ägypten und Tunesien abdeckt,
auf. Bauern sollten sämtliche ihrer Artenschutz erscheinen plötzlich als die beide von der Ukraine und Russ-
Flächen beackern – und als Mahnung Luxusdebatten. Trog statt land abhängen.
an die Politik eine »grüne Vier« auf Agrarpolitik, so Jahr, sei inzwi- Teller Häusling fordert andere Prioritä-
ihren Äckern platzieren. schen Sicherheitspolitik. Er sieht gar ten. Fast neun Prozent des Getreides
So rebellisch, wie Landwirt Lee die europäische Selbstversorgung bei Getreideverbrauch hierzulande gehen in Energieerzeu-
in der EU 2020/21,
­seine Aktion verkauft, ist sie nicht. Lebensmitteln in Gefahr, sollte das in Prozent
gung oder Treibstoffbeimischung.
Denn Brüssel hat für das laufende langfristige Ziel von 25 Prozent öko- Rund 60 Prozent werden an Tiere
Jahr bereits die Erlaubnis zur Krisen- logisch bewirtschafteter ­Fläche und Tierfutter Nahrung verfüttert. Auch Wissenschaftler se-
produktion erteilt. Bauern dürfen 10 Prozent stillgelegter Fläche in der 62,4 22,4 hen ein Verteilungsproblem. Laut
Nahrungs- und Futtermittel auf Flä- EU umgesetzt werden. Und Bauern- Sabine Gabrysch vom Potsdam-In­
chen anbauen, die eigentlich stillge- führer Lee behauptet, dass »die wich- stitut für Klimafolgenforschung gibt
legt werden sollten. Die Umsetzung tigsten Universitäten in Europa« den insg. es trotz Krieg »mehr als genug« Nah-
hängt von den EU-Ländern ab. In Green Deal der Agrar­politik als 260 rungsmittel, um die Welt zu ernähren.
Deutschland dürfen Landwirte auf »schlechten Deal für den Planeten« Mio. t Agrarökonomen warnen davor,
den Flächen bislang nur Futter ernten. sehen. den Green Deal aufzuweichen. Die
Für Peter Jahr, der für die CDU im Propaganda von allen Seiten. Tat- EU sei weit von ihren ökologischen
Europaparlament sitzt, ist das zu we- sächlich ist die Versorgung innerhalb Bio- Maximalzielen entfernt, sagt Stephan
Sonstiges* ethanol
nig. Er will, dass die Umweltschutz- der EU erst einmal gesichert, anders 11,0 4,2 von Cramon-Taubadel von der Uni-
pläne auch für das kommende Jahr als in vielen afrikanischen Ländern, versität Göttingen. »Es gibt in der
ausgesetzt werden. »Wir ­befinden uns denen durch ausbleibende Getreide- * u. a. industrielle Ver- Debatte bei einigen eine Neigung zur
wertung (darunter Biogas
in einem Wirtschaftskrieg«, sagt der lieferungen ernsthafte Engpässe dro- oder Braumalz) und Saatgut Angstmacherei.«
Politiker, im Nebenerwerb selbst hen. Deutsche Landwirte produzie- S Quelle: EU-Kommission Nils Klawitter, Maria Marquart n
 

34 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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DEUTSCHLAND

Putin und seinem Regime angebandelt


wie die AfD. Regelmäßig reisten Spit-
zenvertreter nach Russland und ließen
sich wie Staatsgäste hofieren. Als Par-
teichef Tino Chrupalla im Winter 2020
nach Moskau flog, empfing ihn Außen-
minister Sergej Lawrow, als käme ein
deutsches Regierungsmitglied und
nicht der Vertreter einer Oppositions-
partei. Immer wieder forderten füh-
rende AfD-Politiker wie Alice Weidel
das Ende der Sanktionen gegen Russ-
land und eine »Normalisierung« der
Beziehungen zu Putins Regime. An-
dere Funktionäre reisten teils auf rus-
sische Kosten auf die besetzte Krim
und legitimierten in Staatsmedien völ-
kerrechtswidrige Wahlen.
Nun, nach Putins Angriff auf die
Ukraine, versucht die AfD-Führung
den Eindruck zu zerstreuen, die Par-

Ulf Mauder / picture alliance / dpa


tei sei eine fünfte Kolonne Moskaus.
So richtig gelingt ihr das jedoch nicht.
In einem Positionspapier, das die
Bundestagsfraktion vor zwei Wochen
auf einer Klausur beschloss, heißt es,
dass der Krieg »ein völkerrechtswid-
riger Angriffskrieg Russlands« sei,
AfD-Fraktionschefin Weidel in Moskau im März 2021: Wie Staatsgäste hofiert den man »scharf verurteile«. Aber:
Die AfD-Bundestagsabgeordneten
wollen weder Waffenlieferungen für

Putins fünfte Kolonne


die Ukraine noch irgendwelche Wirt-
schaftssanktionen gegen Russland.
Sie halten auch an der Gaspipeline
Nord Stream 2 fest und trauern mit
den »zivilen Opfern beider Seiten« –
PARTEIEN  Seit Beginn des Ukrainekriegs versucht die AfD den Eindruck zu als ob die Ukraine Moskauer Wohn-
häuser bombardieren würde.
zerstreuen, eine Marionette Moskaus zu sein. Doch in der Partei Wie Teilnehmer berichten, gab es
und ihrem Umfeld tummeln sich Kremlversteher und Putin-Propagandisten. bei der Klausur durchaus Debatten.
Einige Abgeordnete forderten, dass
Russland sich zurückziehen und die

W
enige Schritte hinter der Ber- tens«, schreibt Elsässer in der aktuel- ukrainischen Grenzen wieder an-
liner Stadtgrenze, in der len Ausgabe. erkennen soll. Andere wollten, dass
Kneipe »Mittelpunkt der Auch an diesem Abend lässt Elsäs- die Bewohner »der umstrittenen Ge-
Erde«, treffen sich Menschen, für die ser keine Zweifel aufkommen, auf biete« in einer Volksabstimmung ent-
nicht Wladimir Putin der Aggressor wessen Seite er steht. »Ich habe keine scheiden sollen, ob sie zu Russland
ist, sondern die Nato. Etwa 40 zu- Sympathie für die ukrainische Füh- oder zur Ukraine gehören wollen, wie
meist ältere Herren und einige weni- rung«, sagt er in schwäbischem Sing- es in einem Entwurf hieß.
ge Frauen sind gekommen, um über sang, um dann zur offenen Beschimp- Am Ende stand nichts davon in
den Ukrainekrieg zu sprechen. Es gibt fung überzugehen: »Dieser Selenskyj, dem Papier. Es setzten sich diejenigen
Buletten mit Senf und Toastbrot, sein Außenminister und der ukraini- durch, die Putin jeden eroberten Qua-
dazu Pils für 2,50 Euro. Von der sche Botschafter in Berlin, das sind dratmeter ukrainisches Land über-
­Decke baumelt eine Discokugel. ausgemachte Drecksäcke, Extremis- lassen wollen. »Russland gibt davon
Auf der Bühne sitzen zwei Land- ten und Brandstifter.« Applaus im nichts mehr her, da brauchen wir uns
tagsabgeordnete der AfD. Daneben, Publikum. nicht zu verkämpfen«, sagt ein Ab-
in schwarzem Hemd und Sakko, Jür- Die »Bild«-Zeitung, erzählt Elsäs- geordneter, der nicht namentlich zi-
gen Elsässer, der Hauptredner des ser, habe neulich ja behauptet, dass tiert werden will. So ähnlich lief die
Abends. Putin in Deutschland über ein Netz Debatte auch bei anderen Punkten,
Elsässer hat seine Karriere als lin-
ker Publizist begonnen und ist heute
von 2000 Agenten verfüge. »Da ge-
hören wir drei wahrscheinlich dazu«,
Der Westen ein Bekenntnis zur Nato wurde wie-
der gestrichen, dafür die Klage über
Chef des rechtsextremen Magazins sagt der Publizist und schaut zu den habe den die »zunehmenden Diskriminierun-
»Compact«. Seit Jahren trommelt AfD-Abgeordneten Gunnar Linde- »russischen gen gegenüber russischsprachigen
sein Blatt für Putin, in einer Sonder-
edition hat es dessen gesammelte
mann und Lars Günther. Es sollte wohl
ein Witz sein. Aber wie so viele Witze
Bären Mitbürgern« in Deutschland hinein-
geschrieben. Letztlich bleibt die AfD
­Reden abgedruckt. »Das Land, das er hat auch dieser einen wahren Kern. ­gereizt«. ihrer moskaufreundlichen Linie treu.
wieder stark gemacht hat, ist der Keine Partei in Deutschland hat in Eugen Schmidt, Gunnar Lindemann ist einer der
Gegenpol zur Dekadenz des Wes- den vergangenen Jahren so eng mit AfD-Abgeordneter glühendsten Putin-Apologeten in der

36 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


DEUTSCHLAND

Partei. Der Berliner AfD-Abgeordne- ganz ohne Ironie, dass es in Deutsch- den Verfassungsschutz.« Immer wie-
te hat treue Anhänger. Bereits zum land keine Meinungsfreiheit gebe. der hätten sich Vertreter der Partei
zweiten Mal wurde er direkt ins Lan- Die Bundesrepublik sei »keine Demo- als »Multiplikatoren russischer Re-
desparlament gewählt, wohl auch kratie im richtigen Sinne«. gierungsnarrative« hervorgetan.
wegen der vielen Russlanddeutschen Der AfD-Politiker gilt als einfluss- Nicht alle kommen dabei plump
in seinem Stadtteil Marzahn. reicher Strippenzieher innerhalb der daher. Jurij C. Kofner wirkt wie ein
Seit Jahren reist der AfD-Mann auf deutsch-russischen Anhängerschaft smarter junger Wirtschaftsfachmann,
die annektierte Krim und in die pro- seiner Partei. Er ist im »Zentralrat der auf Fotos trägt er gern Trachtenjanker
russischen »Volksrepubliken« im Russlanddeutschen« aktiv, ein Name, mit Einstecktuch. Im noblen Münch-
Donbass – und verbreitet in russi- der an angesehene Organisationen ner Vorort Grünwald betreibt der
schen Medien Statements im Sinne wie den Zentralrat der Juden erin- Ökonom sein eigenes »Institut für
Moskaus. 2018 trat er in den Separa- nert. In Wahrheit ist der 2019 gegrün- Marktintegration und Wirtschafts-
Rechtsextremes
tistengebieten als vermeintlich neu­ dete Verein nicht überparteilich, son- »Compact«-Magazin: politik«.
traler »Wahlbeobachter« auf und be- dern eine Art Tarnorganisation der Seit Jahren trommelt Tatsächlich verfolgt Kofner seit
hauptete, dass der illegale Urnengang AfD: Von den 16 Mitgliedern, die in das Blatt für den Jahren eine antiamerikanische, pro-
»europäischen Standards« entspro- den Protokollen der Vereinssitzungen Kremlherrscher russische Agenda. Er knüpfte Netz-
chen habe. auftauchen, gehören oder gehörten werke in Russland und rechtsradika-
In Putins Propagandakrieg spielen nach SPIEGEL -Recherchen mindes- len Zirkeln in Deutschland. Seit gut
Männer wie Lindemann die Rolle der tens 11 der Partei an. Zum Ukraine- anderthalb Jahren arbeitet er als Re-
nützlichen Idioten. Und die nimmt er konflikt will sich der »Zentralrat« ferent für Wirtschaft, Energie und
auch nach Beginn des Ukrainekriegs bislang »kein abschließendes Urteil« Digitales für die bayerische AfD-
weiter leidenschaftlich an. erlauben, heißt es auf der Website. Landtagsfraktion. Der Verfassungs-
Beim AfD-Abend Mitte März bei In den Reihen des Vereins finden schutz soll ihm nach Recherchen des
Berlin bedauert Lindemann zwar die sich schillernde Figuren. So steht Bayerischen Rundfunks bei einer Si-
Toten. Russland, beteuert er, versuche unter der Gründungssatzung die cherheitsüberprüfung den Umgang
aber alles, um zivile Opfer zu vermei- Unterschrift eines Mannes, der zwi- mit Verschlusssachen im Parlament
den, und führe in erster Linie »chirur- schenzeitlich im Vorstand des rhein- verwehrt haben. Kofner wollte sich
gische Angriffe« auf militärische Zie- land-pfälzischen AfD-Kreisverbands auf Anfrage hierzu nicht äußern, die
le. Mit der Wirklichkeit haben diese Alzey-Worms saß. Wie er der rus- AfD-Fraktion bezeichnete den Be-
Behauptungen wenig zu tun. In der sischsprachigen Zeitschrift »Berliner richt als »nicht korrekt«.
Hafenstadt Mariupol beschoss Russ- Telegraph« anvertraute, diente er in Früher hat der gebürtige Bayer
land eine Geburtsklinik, die Bilder der Sowjetunion bei der OMON, mehrere Jahre lang in Moskau gelebt,
verletzter schwangerer Frauen gingen einer berüchtigten Sondereinheit der wo er an der Hochschule MGIMO
um die Welt. Doch Lindemann will Sicherheitsorgane. Nach dem Zusam- studierte, einer Kaderschmiede für
das alles nicht wahrhaben. Das »an- menbruch der UdSSR zog er nach russische Diplomaten. Fotos aus jener
gebliche Krankenhaus« sei schon Deutschland und gründete einen Ver- Zeit zeigen ihn beim Händeschütteln
längst leer geräumt worden, behaup- ein, in dem Sambo trainiert wird – der mit Außenminister Sergej Lawrow.
tet er – Fake News, wie sie auch Putins erklärte Lieblingskampfsport von Auf einem Selfie bei einem Polit-­
Propagandakanäle verbreiten. Wladimir Putin. Debattierklub ist im Hintergrund
Im Bundestag hat die AfD einen Inzwischen werfen auch die Si- ­Putin zu sehen.
ihrer eifrigsten Kremlpropagandisten cherheitsbehörden einen Blick auf die Kofner wurde in Moskau zu einem
inzwischen verloren: Hansjörg Mül- Moskaufreunde in der AfD und ihrem aufstrebenden Kopf der »eurasi-
ler, der einst insinuierte, nicht die Umfeld. »Russland will mit Desinfor- schen« Bewegung, die von einem
Russen, sondern die USA hätten den mation und Propaganda Einfluss auf Gegenmodell zum amerikanisch-­
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny die öffentliche Meinung ausüben«, liberal geprägten Westen träumt. Er
vergiftet. Müller lebt heute in Mos- sagt der Thüringer Verfassungs- berichtete für Elsässers »Compact«-
kau – und gibt von dort bei »Compact schutzchef Stephan Kramer. »Hier Putin-Fan Elsässer: Magazin und reiste für den russischen
»Das Land ist der
TV« den Amerikanern die Schuld am sind auch Äußerungen von AfD-Poli- Gegenpol zur
Staatssender RT durch Deutschland.
Krieg. tikern und Personen aus dem neu- Dekadenz des Zwischenzeitlich betrieb er mit An-
Für Müller sind neue Putin-Ver­ rechten Spektrum von Interesse für Westens« hängern der »Identitären Bewegung«
steher in den Bundestag eingezogen. eine neurechte Denkfabrik mit Sitz
Männer wie Eugen Schmidt, ein Spät- in Moskau und München. Ihr Ziel:
aussiedler aus Kasachstan. Noch eine »Die Befreiung Europas von der US-
Woche vor der Invasion spielte er im amerikanischen Hegemonie«.
Parlament die Kriegsgefahr herunter. All das hielt die AfD nicht davon
Der Westen habe sich »arrogant über ab, Kofner im vergangenen Jahr als
russische Sicherheitsinteressen hin- Mitglied aufzunehmen. Bei Schalt-
weggesetzt« und den »russischen Bä- konferenzen der Partei zum Ukraine-
ren gereizt«, behauptete Schmidt in krieg ist der Ökonom in diesen Tagen
seiner Rede. »Wollen die Russen ein gefragter Mann. Dort rechnet er
Krieg? – Nein!« vor, welche verheerenden Folgen die
Lena Mucha / NYT / Redux / laif

Wenige Tage später marschierten Russlandsanktionen für Deutschland


Putins Truppen in die Ukraine ein – hätten. Er hoffe weiter auf einen ge-
und der deutsche Volksvertreter war meinsamen Freihandelsraum Europas
der russischen Propaganda erneut zu und Russlands – »von Lissabon bis
Diensten. Gegenüber dem kreml­ Wladiwostok«.
nahen Radioprogramm »Komsomol- Helge Hoffmeister, Ann-Katrin Müller,
skaja Prawda« beklagte Schmidt, Sven Röbel, Wolf Wiedmann-Schmidt  n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 37


DEUTSCHLAND

konkreten Projekte mehr Geld geben


wird und woher die zusätzlich benö­
tigten Fachkräfte kommen sollen.
Für die adäquate Unterbringung

Vertrieben und verletzlich


der Menschen sind grundsätzlich
Bundesländer und Kommunen zu­
ständig. Massenunterkünfte halten
Expertinnen und Experten für beson­
ders ungeeignet. »Mütter, die teils
SICHERHEIT  Am Bahnhof lauern ihnen zweifelhafte Gestalten auf, in tagelang mit ihren Kindern auf der
Flucht waren und unter den Eindrü­
Notunterkünften fehlen Schutzräume und Damenbinden: Warum ist cken des Krieges stehen, brauchen
Deutschland nicht besser auf geflüchtete Frauen und Kinder vorbereitet? dringend Ruhe«, sagt die Göttinger
Migrationsforscherin und Mitglied im
Vorstand des Wissenschaftsgremiums

Z
wei Männer fielen der Bundes­ mit dem Kinderhilfswerk Unicef und »Rat für Migration«, Sabine Hess.
polizei am Berliner Hauptbahn­ Rettung vor weiteren Partnern »Mindeststan­ »Das ist in umfunktionierten Turn­
hof auf: Ein Überwachungsvi­ dem Krieg dards« zum Schutz von Menschen in hallen oder großen Gemeinschafts­
deo zeigte, wie diese offenkundig nur Flüchtlingsunterkünften entwickelt, unterkünften kaum möglich.«
In Deutschland
allein reisende Frauen ansprachen. registrierte Geflüch-
auch Projekte zur Gewaltprävention Manche Heimbetreiber müssen
Andere Männer hätten geflüchteten tete aus der Ukraine*, wurden aufgelegt. Vieles war aber sich auch erst einmal darauf einstel­
Ukrainerinnen Geld aufdrängen wol­ kumulierte Werte zeitlich befristet – und wurde auch len, dass Frauen andere Bedürfnisse
len, damit sie ihre Zimmerangebote nicht flächendeckend eingeführt. haben als Männer. Ihnen hätten an­
250.000
annähmen, sagt eine Polizeispreche­ Bundesfamilienministerin Anne fangs Hygieneprodukte wie Damen­
rin. Manchmal schlügen auch ehren­ 200.000 Spiegel von den Grünen forderte die­ binden gefehlt, sagt der Mitarbeiter
amtliche Helferinnen und Helfer se Woche, Schutzzonen für geflüch­ einer nordrhein-westfälischen Flücht­
Alarm, wenn Leute sich dubios ver­ 150.000 tete Frauen und Minderjährige aus lingseinrichtung. Dort hätten bis vor
hielten. Dann kontrollierten die Be­ der Ukraine an den Bahnhöfen zu Kurzem vor allem Männer aus dem
amtinnen und Beamten die Papiere 100.000 schaffen. Zudem richtete sie im Aus­ arabischsprachigen Raum gewohnt.
der Verdächtigen. Bei manchen der tausch mit den Ländern eine zentrale Innerhalb weniger Stunden seien die­
befragten Männer habe sich he­ 50.000 Anlauf- und Koordinierungsstelle zur se dann aber verlegt worden, um
rausgestellt, dass sie bereits polizeilich Unterbringung von Kindern und Ju­ Platz für die Geflüchteten aus der
0
bekannt seien – etwa wegen sexueller gendlichen aus ukrainischen Waisen­ Ukraine zu schaffen, zum größten Teil
Nötigung, so die Sprecherin. In Berlin 2. März 24. März häusern ein. Ansonsten kommt aus Frauen mit Kindern. Noch nie, sagt
habe es seit Anfang März »Fälle im * überwiegend Frauen, der Behörde bisher aber wenig Kon­ der Helfer, habe er eine so »hochvul­
unteren zweistelligen Bereich« ge­ Kinder und alte Menschen; kretes, um die Situation für die ukra­ nerable Gruppe« erlebt. Die Proble­
die tatsächliche Zahl der
geben. Die Vermutung: Die Männer nach Deutschland Geflüchte- inischen Familien zu verbessern. Auf me bezüglich der Ausstattung habe
ten ist wahrscheinlich
hätten versucht, die Schutzbedürftig­ deutlich höher Anfrage schickte Spiegels Haus zwar man relativ schnell lösen können,
keit geflüchteter Frauen auszunutzen. S Quellen: »Tagesschau«/ eine lange Liste mit Projekten wie massive Sprachbarrieren erschwerten


dpa, BMI
Es handle sich zwar um keine große dem bereits bestehenden Bundespro­ aber die Verständigung.
Zahl, man habe das aber »als Problem gramm »Integrationskurs mit Kind: Es ist wenig überraschend, dass die
identifiziert«. Bausteine für die Zukunft«, über das Bundesregierung angesichts der größ­
Die Bundespolizei ist nicht die ein­ man nun auch ukrainische Erzieher ten Fluchtbewegung in Europa seit
zige Institution, die nun darauf re­ und Erzieherinnen weiterqualifizie­ dem Zweiten Weltkrieg improvisieren
agieren muss, dass plötzlich so viele Ankunftszentrum ren wolle, und verweist auf die Hilfs­ muss. Allerdings waren die Unter­
Frauen in Deutschland Schutz su­ für Geflüchtete in telefone »Gewalt gegen Frauen« und bringungsmöglichkeiten für geflüch­
chen. Im Flüchtlingsjahr 2015 waren Berlin Tegel: »Schwangere in Not«. Zudem unter­ tete Frauen schon vor der russischen
jeweils mehr als 70 Prozent der Asyl­ Heimbetreiber stütze man die Wohlfahrtsverbände Invasion in der Ukraine vielerorts
müssen sich auf
bewerber aus Syrien und Afghanistan Bedürfnisse von dabei, psychologische Hilfe zu leisten. nicht optimal.
Männer. 2021 lag der Anteil der Frauen einstellen Offen bleibt aber, inwieweit es für die In Sammelunterkünften müssten
männlichen Geflüchteten über alle eigene Bereiche für Frauen ausgewie­
Herkunftsgruppen hinweg bei knapp sen sein, damit »das Sicherheits- und
60 Prozent. Aus der Ukraine kom­ Freiheitsgefühl« der Betroffenen ge­
men nun wöchentlich Zehntausende stärkt werden könne, heißt es in einem
Frauen und Kinder. Seit Ausbruch Bericht, den mehrere Flüchtlingsorga­
des Kriegs dort haben mindestens nisationen und die Universität Göt­
246 000 Menschen hierzulande Zu­ tingen im vergangenen Jahr veröffent­
flucht gesucht, unter ihnen vergleichs­ lichten. Solche »Schutzräume« gebe
weise wenig Männer. Die meisten von es »aber längst nicht in allen Bundes­
ihnen wollten oder mussten zurück­ ländern und oft nicht in den Kommu­
bleiben, um ihr Land gegen Russland nen«. So zitiert der Bericht eine Be­
zu verteidigen. treuerin aus Bayern: Es existierten
Frauenrechtsorganisationen kriti­ zwar Frauenunterkünfte, »jedoch sind
Christophe Gateau / dpa

sieren schon lange, dass Deutschland die Kapazitäten hier ausgeschöpft und
nicht gut genug auf den Schutz und die Wartezeiten sehr lang«. Eine Be­
die Bedürfnisse geflüchteter Frauen ratungsstelle aus Baden-Württemberg
eingestellt ist. 2016 hatte das Bundes­ gab zu Protokoll: In den Städten finde
familienministerium zwar gemeinsam man so etwas eher als auf dem Land.

38 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


Gordon Welters / laif
DEUTSCHLAND

Geflüchtete Frauen und Kinder am Berliner Hauptbahnhof: Die Bundespolizei patrouilliert inzwischen häufiger an den Gleisen

Häufig mangele es an einer Sensibilisierung gerten Städten vergewaltigt zu haben. Über- privat organisierte Portal www.unterkunft-
für das Thema Gewalt an Frauen. prüfen lässt sich das nicht. Sexualisierte Ge- ukraine.de wenden, das Zimmer bei Freiwil-
Schon vor Jahren berichteten Medien über walt ist aber ein weitverbreitetes Mittel der ligen vermittelt. Nach eigenen Angaben ha-
sexuelle Übergriffe in Flüchtlingsheimen. Kriegsführung. Davon berichten Frauen aus ben Bürgerinnen und Bürger auf diesem Weg
Manchmal gingen die mutmaßlichen Über- dem ehemaligen Jugoslawien genauso wie bereits mehr als 360 000 Schlafplätze ange-
griffe nicht von anderen Bewohnern aus, son- Jesidinnen aus dem Irak oder Missbrauchs- boten. Initiator Lukas Kunert sagt: »Die Re-
dern von jenen, die sie schützen sollten, von opfer aus Ruanda. sonanz ist sehr positiv.« Nur vereinzelt habe
Sicherheitsleuten. Anfang März soll in Düssel- Viele der geflüchteten Frauen weichen oh- man Unterkunftsangebote erhalten, die bei
dorf eine 18-jährige Ukrainerin auf einem Ho- nehin lieber auf Privatwohnungen bei Ver- der Überprüfung fraglich oder unseriös er-
telschiff, auf dem Geflüchtete untergebracht wandten oder Bekannten aus. Eine von ihnen schienen. Diese habe man herausgefiltert.
worden waren, von zwei Migranten vergewal- ist die 36-jährige Zahnärztin Olha Rubtsova Wer sich erfolgreich registriert habe, heißt es
tigt worden sein. Die Polizei ermittelt. aus Odessa. Gemeinsam mit ihrer Lebens- in einer Pressemitteilung Anfang März, er-
Hätte die Stadt die junge Frau besser schüt- partnerin und ihrer 72-jährigen Mutter sei sie halte Informationen über die Züge, in denen
zen können? Allein reisende Frauen und Kin- nach fünftägiger Flucht am 3. März in Mün- die Geflüchteten reisten, und könne direkt
der seien eine »besonders schutzbedürftige chen angekommen, erzählt sie, zwei Brüder zum Berliner Hauptbahnhof fahren, um die
Gruppe«, schreibt eine Sprecherin der Stadt und der Stiefvater seien zurückgeblieben. Die Ankommenden zu empfangen.
Düsseldorf auf Anfrage. Deshalb versuche Frauen hatten Glück, Rubtsova hat Freunde Die Bundespolizei patrouilliert inzwischen
man, diese »separat von allein reisenden Män- in der Stadt, ein Bekannter bezahle ihnen häufiger an den Gleisen. Einige Male hätten
nern unterzubringen«. Allerdings schränkt aktuell eine Wohnung. Immer wieder betont die Beamtinnen und Beamten Platzverweise
sie ein: »Sofern die Unterbringungslage es Rubtsova, wie dankbar sie für die Hilfe sei. ausgesprochen. Ermittlungen seien seitens
zulässt.« Mehr als 2600 Geflüchtete aus der Dass sie sich in München sicher fühle. der Bundespolizei bisher nicht eingeleitet
Ukraine habe Düsseldorf in kurzer Zeit in Aber weil sie eng zusammenleben müss- worden. »Wir warnen aber präventiv. Sowohl
Notunterkünften einquartieren müssen. ten, gebe es mit ihrer Mutter viel Streit. Rubt- die Geflüchteten als auch die Helferinnen und
Gesa Birkmann von der Frauenrechts­ sova hadert zudem mit dem Verlust ihrer Helfer.« Per Lautsprecherdurchsagen, Flyern
organisation Terre des Femmes kritisiert: Selbstständigkeit, arbeiten darf sie erst, wenn und Warnhinweisen auf den digitalen Bild-
»Deutschland kann nach wie vor keinen um- sie sich registriert hat. »Ich habe immer für schirmen im Bahnhof – auf Englisch, Russisch,
fassenden Schutz für geflüchtete Frauen und mich selbst gezahlt. Ich war nie von jeman- Ukrainisch und Deutsch.
Mädchen leisten.« Es fehle in vielen Unter- dem abhängig, es ist so seltsam«, sagt sie im Die Maßnahmen hätten die Männer zu-
künften an Schutzkonzepten. Für viele Frauen Videogespräch. »Ich möchte mich integrieren mindest anfangs abgeschreckt, so die Spre-
auf der Flucht sei die Angst vor sexueller und wie ein normaler Mensch leben. Ich will cherin. »Leider sind in den letzten Tagen nun
­Gewalt ein ständiger Begleiter. wieder mein Leben kontrollieren.« aber doch wieder Fälle aufgetreten.«
Das ukrainische Außenministerium wirft Frauen, die nicht bei Freunden oder Ver- Birte Bredow, Katrin Elger, Tobias Großekemper,
russischen Soldaten vor, Frauen in den bela- wandten unterkommen, könnten sich an das Juliane Löffler  n

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Joanna Nottebrock / DER SPIEGEL


Familienfotos von Mutter und Tochter Ottmann: »Ansonsten hoffe ich mal, dass sich das irgendwie jetzt ein bisschen bessert – hab dich lieb«

1 zu 373 500
SCHICKSALE  Vor einem Jahr starb Dana Ottmann nach einer Impfung mit AstraZeneca. Ihre Mutter wartet
noch immer auf eine Erklärung, vor allem: auf eine Entschuldigung. Und wird das Gefühl
nicht los, der Tod ihrer Tochter sei für die Gesellschaft nur ein Kollateralschaden. Von Maik Großekathöfer

I
m Februar ist Petra Ottmann in die Woh- le, dort, wo ihr Kopf lag, befindet sich auf den Ihre Mutter sitzt an einem Montagnach-
nung ihrer toten Tochter gezogen, fast Fliesen ein kleiner Blutfleck. Das Blut muss mittag an einem Tisch mit lila Untersetzern
alles sieht dort noch so aus wie an dem Dana aus der Nase gelaufen sein, nachdem und lila Blumen darauf; Lila, Grün und Tür-
Tag vor einem Jahr, als sie Dana leblos im sie auf dem Boden aufgeschlagen war. Ihre kis, das waren Danas Lieblingsfarben. Petra
Badezimmer fand, zwölf Tage nach der Imp- Mutter bringt es nicht übers Herz, den Fleck Ottmann ist 66, eine schmale Frau, ehemali-
fung mit dem Wirkstoff von AstraZeneca. wegzuwischen. ge Sonderschullehrerin, geschieden. Dana
Im Wohnzimmer dasselbe blau-graue Sofa, Petra Ottmann sagt, sie habe das Gefühl, war ihr einziges Kind. Wenn sie von ihrer
auf dem kleinen Schreibtisch ihre Computer- wenn der Fleck weg sei, sei ihre Tochter end- Tochter erzählt und davon, wie sie starb und
tastatur und ihr Bildschirm, in der Ecke die- gültig verschwunden. was in den Wochen und Monaten danach ge-
selbe weiße Vitrine mit ihren Weingläsern Die Wohnung in Herford ist ein einziger schehen ist, macht sie immer wieder eine Pau-
und Vasen, auf dem Regal eine Manga-Figur, Erinnerungsort, nur Fotos von Dana sind nir- se, sie weint dann.
die sie gebastelt hat. Dana Ottmann wurde gendwo zu sehen. Das einzige Bild von ihr Sie hat schriftlich, dass ein Zusammenhang
32 Jahre alt, sie hatte eine Vorliebe für Japan, hängt im Schlafzimmer, gezeichnet 1998 im besteht zwischen der Impfung gegen Covid-19
für die Sprache und die Kultur des Landes. Türkeiurlaub, es zeigt ein blondes Mädchen, und Danas Tod, ihre Tochter zählt zu den
Im Badezimmer, in der Nähe der Türschwel- das lacht. Dana war damals zehn. ersten Corona-Impfopfern in Deutschland,

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gestorben am 9. März 2021. Petra Ott­ eine talentierte Radrennfahrerin, Am nächsten Tag telefonierten
mann fühlt sich alleingelassen von der sie studierte Psychologie und arbei­ Problemfall Mutter und Tochter erneut miteinan­
Politik, der Gesellschaft, von Astra­ tete als Therapeutin in einer Reha­ AstraZeneca der. Petra Ottmann erinnert sich, dass
Zeneca. klinik in Löhne. Sie wollte noch einen ihre Tochter von plötzlich auftreten­
Sie ist keine Coronaleugnerin Abschluss in klinischer Psychologie Gemeldete Verdachts- den, heftigen Kopfschmerzen gespro­
fälle* von Nebenwir-
und keine Verschwörungsgläubige, machen und träumte von einer eige­ kungen und Impfkom- chen habe. Dass sie ihre Migränemit­
sie sagt: »Das Virus ist gefährlich. nen Praxis. Wenn sie sich das Auto plikationen je tausend tel genommen habe, die aber nicht
Dana war solidarisch und hat sich ihrer Mutter lieh, um zur Arbeit zu Covid-19-Impfungen geholfen hätten. Dana habe sich nicht
impfen lassen, um niemanden an­ fahren, desinfizierte sie vorher und gesamt davon konzentrieren können und nur mit
zuste­cken – warum zeigt sich keiner hinterher das Lenkrad und den Fah­ schwerwiegend** Mühe den Arbeitstag überstanden.
ihr gegenüber solidarisch? Den Co­ rersitz, lüftete den Wagen. Ihre Oma Vaxzevria In der folgenden Woche hatte
ronatoten haben wir eine zentrale ist über 90, vor jedem Besuch isolier­ (AstraZeneca) Dana Ottmann Urlaub. Eigentlich
Gedenkfeier gewidmet. Für meine te Dana sich. So berichtet es Petra 0,5 4,0 wollte sie sich mit ihrer Mutter ein
Tochter hat niemand eine Kerze an­ Ottmann. Janssen
paar schöne Tage machen, aber sie
gezündet außer mir, ein paar Freun­ Das Impfzentrum für den Kreis (Johnson & Johnson) lag krank zu Hause. War schlapp, es
den und Kollegen. Danas Tod gilt als Herford befand sich am Rand eines 0,3 2,6 fiel ihr schwer, den Kopf zu drehen.
Kollateralschaden der Impfkampag­ Industriegebiets in Enger, am 8. Fe­ Petra Ottmann wohnte damals einen
Spikevax (Moderna)
ne. Warum? Ich würde mir wün­ bruar wurde die Oma geimpft, mit Kilometer entfernt, sie kaufte für ihre
schen, dass sich jemand bei mir ent­ Bion­tech, sie vertrug die Spritze gut. 0,1 1,9 Tochter ein und brachte ihr die Le­
schuldigt. Wenigstens das.« Dana Ottmann erhielt von ihrem Comirnaty (Biontech) bensmittel vorbei.
Man muss an dieser Stelle sagen: Arbeitgeber einen Nachweis, der sie 0,2 1,3 Am 4. März gab die Stiko bekannt,
Die Impfungen gegen Covid-19 sind zur Impfung berechtigte, und Mitte * im zeitlichen Zusammen- den Impfstoff von AstraZeneca auch
gut verträglich und haben viele To­ des Monats erfuhr sie per E-Mail, dass hang nicht zwingend ursäch-
lich ** Nebenwirkungen, die
für Menschen ab 65 Jahren zu emp­
desfälle verhindert. Zu den häufigsten es freie Termine gab. tödlich oder lebensbedro- fehlen.
hend sind, eine stationäre
Impfreaktionen gehören Fieber, Seit der Pubertät litt Dana Ott­ Behandlung oder deren Ver- Am 7. März, zehn Tage nach der
längerung erfordern, zu blei-
Kopfschmerzen, Müdigkeit und mann an chronischer Migräne, als bender oder schwerwiegen- Impfung, schickte Dana Ottmann
Schmerzen an der Einstichstelle, die­ Kind konnte sie tagelang nicht zur der Behinderung, Invalidität,
kongenitalen Anomalien oder
ihrer Mutter eine Sprachnachricht:
se Beschwerden klingen meistens Schule gehen, sie war bis zuletzt bei Geburtsfehlern führen. »Die Kopfschmerzen sind ein biss­
nach ­einigen Tagen wieder ab. Wie einem Neurologen in Behandlung. S Quelle: PEI; Stand: 31. Dez. chen besser geworden, dafür ist jetzt
nach jeder Impfung kann es aber zu Vor der Impfung gab sie auf dem 2021 Übelkeit mit Erbrechen dazugekom­
Komplikationen kommen, auch zu ­Anamnesebogen die Erkrankung an, men. Mit Essen ist bei mir heute auch
schwerwiegenden, die in extrem sel­ sie kreuzte an, allergisch gegen Haus­ nix. Ansonsten hoffe ich mal, dass
tenen Fällen tödlich sein können. staubmilben zu sein und nicht an sich das irgendwie jetzt ein bisschen
Man darf diese Tatsache nicht herun­ Blutgerinnungsstörungen zu leiden. bessert. Hab dich lieb.«
terspielen, aber auch nicht größer Dann bekam sie die Injektion, am Am 8. März ging es Dana immer
machen, als sie ist. 25. Februar 2021. noch schlecht. Als ihre Mutter gegen
Das Paul-Ehrlich-Institut über­ Zu diesem Zeitpunkt empfahl die 15 Uhr zu Besuch kam, lag sie auf dem
wacht in Deutschland die Sicherheit Ständige Impfkommission den Wirk­ Sofa, trug eine Jogginghose und
von Impfstoffen, in seinem aktuellen stoff von AstraZeneca nur für Men­ Fleecejacke. Am nächsten Morgen
Sicherheitsbericht teilt es mit, dass schen zwischen 18 und 64 Jahren, hätte Dana wieder zur Arbeit gehen
es für das Mittel von AstraZeneca bereits nach der ersten von zwei Imp­ müssen. Petra Ottmann vereinbarte
325 »Verdachtsfälle von Nebenwir­ fungen sollte er einen guten Schutz für ihre Tochter einen Termin bei der
kungen mit tödlichem Ausgang« gibt. vor einer Ansteckung mit dem Coro­ Hausärztin und versprach, sie in der
34 Menschen davon seien nach der navirus und einem schweren Verlauf Früh hinzufahren.
Impfung an einer speziellen Gerin­ bieten. Als sich Petra Ottmann am 9. März
nungsstörung mit Thrombose gestor­ »Abends habe ich mit Dana tele­ auf den Weg zu ihrer Tochter machte,
ben. Bei rund 12,7 Millionen gespritz­ foniert«, sagt Petra Ottmann. »Ich schickte sie ihr eine WhatsApp, sie
ten Dosen entspricht das einem Ver­ habe ihr gesagt, dass ich mich für sie Urnengrab in
sei gleich bei ihr, erhielt aber keine
hältnis von etwa 1 zu 373 500. freue, weil sie jetzt auf der sicheren Herford: »Nur ein Antwort. Sie rief von unterwegs
Die meisten Fälle traten nach der Seite ist.« Haufen Asche« über die Freisprechanlage auf ihrem
Erstimpfung auf. Und wenn es pas­ Handy an, Dana ging nicht ran. Sie
siert? Was dann? versuchte es auf dem Festnetz, ver­
»Ich bin entsetzt, wie wenig ein gebens. Sie parkte das Auto auf
Menschenleben wert ist«, sagt Petra dem Hof, klingelte an der Haustür,
Ottmann. Damit meint sie auch die öffnete sie mit ihrem Zweitschlüssel
Entschädigung, die sie als Angehöri­ und ging die Treppe hoch, erste Eta­
ge bekommen hat, aber nicht in erster ge. Petra Ottmann sagt, sie habe er­
Linie. Es geht ihr nicht ums Geld. »Da wartet, dass Dana ihr von oben ent­
fällt ein Mensch einfach tot um, und gegenkomme.
keiner will dafür verantwortlich sein. Die Wohnungstür war zu. Petra
Keiner will die ganze Tragik zur Ottmann schloss auf, lief ins Wohn­
Joanna Nottebrock / DER SPIEGEL

Kenntnis nehmen.« zimmer, doch da war niemand. Sie


Ist jemand verantwortlich? Wenn ging zurück in den Flur, sah, dass die
ja, wer? Wenn nicht, wie geht man Tür zum Bad offen stand, und ent­
damit um? deckte ihre Tochter. Dana Ottmann
Petra Ottmann beschreibt ihre lag auf dem Bauch, in der Jogging­
Tochter als sensibel, ehrgeizig und hose und Fleecejacke von gestern. Die
verantwortungsbewusst. Dana war Mutter sagt, sie habe sofort erkannt,

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Das Gesicht


sei dunkel angelaufen gewesen, die Augen
Sie berührte ihre amt Herford, um die Erkenntnisse des Paul-
Ehrlich-Instituts für eine Beurteilung nutzen
geschlossen. Sie berührte ihre Tochter, der Tochter, der Körper war zu können. Blutproben gingen zur laborche-
Körper war kalt und starr.
Um 10.31 Uhr ging auf Danas Handy die
kalt und starr. mischen Analyse an das Universitätsklinikum
Greifswald.
Mitteilung einer Kollegin ein: »Hey Dana, wir Petra Ottmann sagt, sie sei inzwischen
machen uns ein bisschen Sorgen. Meld Dich überzeugt gewesen, dass ihre Tochter an der
doch bitte mal!« In der Rehaklinik warteten plättchen und Blutungen in zeitlicher Nähe Impfung gestorben sei. Dana habe nicht ge-
Patienten auf sie. Dass sie nicht erschien, ohne zu Impfungen mit dem Covid-19-Impfstoff raucht, kaum Alkohol getrunken, nicht die
Bescheid zu sagen, passte nicht zu ihr. AstraZeneca« festgestellt habe. Pille genommen. Ihre Mutter wendete sich
Notarzt, Spurensicherung, Kriminalpoli- Als Petra Ottmann davon aus den Medien an Danas Neurologen, weil sie wissen wollte,
zei. Es hätte ein Suizid sein können, ein Ver- erfuhr, schrieb sie der Polizei eine E-Mail und ob die Medikamente gegen Migräne – Meto-
brechen, ein Unfall. bat »um weitere Untersuchungen zum Tod prolol und Galcanezumab – die Hirnblutung
Petra Ottmann sitzt in Herford am Wohn- meiner Tochter«, sie schrieb, für sie stelle sich verursacht haben könnten. Der Arzt schloss
zimmertisch und macht sich Vorwürfe. »Eine die Frage, »ob hier ein Zusammenhang mit das aus, nachdem er Rücksprache mit anderen
Migräne schleicht sich meistens an, die tritt der Impfung besteht«. Migräneexperten und einem Hersteller der
nicht von jetzt auf gleich so massiv auf. Ich Am Abend saß sie vor dem Fernseher und Mittel gehalten hatte.
hätte wissen müssen, dass da etwas nicht guckte »Hart aber fair«, Thema der Sendung: Am 19. März nahm Deutschland die Imp-
stimmt, ich habe ja selbst Migräne. Aber es »Stopp für AstraZeneca: Impfplan geschei- fung mit AstraZeneca wieder auf. Aus Sicht
hieß ja auch, von der Impfung kann man tert?«. Zu Gast war Karl Lauterbach, Gesund- der Europäischen Arzneimittel-Agentur wog
Kopfschmerzen kriegen. Ich frage mich im- heitspolitiker der SPD. Er sagte, es sei »über- der Nutzen der Impfung mögliche Risiken
mer: Was wäre, wenn? Warum habe ich sie wältigend wahrscheinlich«, dass der Impfstoff auf.
nicht zum Neurologen geschickt? Warum von AstraZeneca Thrombosen verursacht In der Lokalzeitung erschien eine Trauer-
habe ich ihr nicht von der Impfung abgeraten? habe, betroffen seien auch Jüngere ohne Ri- anzeige: »Plötzlich und unerwartet starb
Stattdessen habe ich gesagt: Finde ich gut, sikofaktoren, aber »trotzdem ist der Nutzen unsere über alles geliebte Tochter und Enkel-
dass du dich impfen lässt.« im Verhältnis zu dem Schaden wahrscheinlich tochter.«
Drei Tage nach Danas Tod obduzierten gut vertretbar«. Er sprach von einer »schreck- 23. März 2021. In einem Rote-Hand-Brief
Rechtsmediziner des Universitätsklinikums lichen Komplikation«. von AstraZeneca, einem Informationsschrei-
Münster die Leiche. Sie kamen zu dem Er- Lauterbach äußerte sich zurückhaltend ben zu seinem Impfstoff, hieß es: Wer nach
gebnis, dass Dana Ottmann an einer massiven und argumentierte nachvollziehbar, in der der Impfung starke oder anhaltende Kopf-
Hirnblutung gestorben war, stellten außerdem Sache richtig. Aber Petra Ottmann, auch das schmerzen bekomme oder bei wem nach ei-
eine Blutstauung in Lungen und Leber fest, ist verständlich, »hätte in dem Moment kot- nigen Tagen auf der Haut Blutergüsse auf-
dazu Einblutungen in die Bauchspeichel­drüse zen können«, wie sie sagt. träten, solle sofort zum Arzt gehen.
und die Augenbindehäute sowie einen blutig 16. März: Eine Forensikerin aus Münster 30. März. Weil es weiterhin zu Hirnvenen-
gefärbten Mageninhalt. Den Grund dafür meldete sich bei der Staatsanwaltschaft Biele- thrombosen und Todesfällen gekommen war,
konnten sie zunächst nicht klären. feld. Laut einer Aktennotiz hatte sie zunächst forderten die Leiter von fünf Unikliniken aus
Am 15. März stoppte Deutschland die Imp- erklärt, dass die Autopsie keine Anzeichen Nordrhein-Westfalen, jüngere Frauen vor-
fung mit AstraZeneca. Wie schon Dänemark, für eine Thrombose bei Dana Ottmann er- läufig nicht mehr mit AstraZeneca zu impfen.
Spanien, Italien, Frankreich, Luxemburg, Slo- geben habe. Nun korrigierte sie sich. Sie sag- Die Stiko änderte ihre Empfehlung abermals:
wenien, Portugal. Das Paul-Ehrlich-Institut te, sie habe noch einmal ausführlich in der Nur noch Menschen ab 60 sollten Astra­
schrieb auf seiner Internetseite, dass man Fachliteratur recherchiert, und es bestehe Zeneca erhalten.
»eine auffällige Häufung einer speziellen eventuell doch die Möglichkeit, dass eine »Ich hatte blindes Vertrauen in die Phar-
Form von sehr seltenen Hirnvenenthrombo- Thrombose die Hirnblutung ausgelöst habe. maindustrie. Das ist weg. Ich habe den Ein-
sen in Verbindung mit einem Mangel an Blut- Sie bat um einen Kontakt zum Gesundheits- druck, meine Tochter war ein Versuchskanin-
chen, das ein Experiment nicht überlebt hat«,
sagt Petra Ottmann. »Olaf Scholz hat das
später ja auch gesagt: Die Geimpften waren
Versuchskaninchen. Ein furchtbarer Satz.«
Der Impfstoff von AstraZeneca hatte Ende
Januar 2021 eine sogenannte bedingte Zulas-
sung erhalten – wie auch Biontech, Moderna
und Johnson & Johnson. Das ist nicht zu ver-
wechseln mit einer Notfallzulassung; bedingt
zugelassen bedeutet, dass die Nutzen-Risiko-
Bilanz positiv ausfällt, der Einsatz aber konti-
nuierlich beobachtet und wissenschaftlich be-
gleitet wird. Kann man Petra Ottmann ver-
übeln, dass sie sich fragt, ob bei der Zulassung
Fehler gemacht wurden?
Das ständige Hin und Her machte sie wü-
Joanna Nottebrock / DER SPIEGEL

tend. Sie formulierte einen Brief an Jens


Spahn, den damaligen Gesundheitsminister:
Sie wollte von ihm wissen, ob sie sich seiner
Meinung nach bedenkenlos mit AstraZeneca
impfen lassen kann. »Ich habe den Brief nicht
abgeschickt«, sagt Petra Ottmann. »Weil ich
davon ausgegangen bin, dass ich sowieso kei-
Mutter Ottmann in der Wohnung ihrer Tochter: »Ich glaube, der Kummer hört nie auf« ne Antwort erhalte.«

42 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


DEUTSCHLAND

Sie suchte einen Sarg für die Feuerbestat- Tochter geimpft hat. Sie hat nie versucht he-
tung aus und eine mit Strass besetzte Urne. rauszufinden, wer es war. Oder sie stellt sich
Dana Ottmanns Asche wurde am 14. April vor, wie sich Ärzte fragen, ob sie vielleicht
in einer Stele beigesetzt. Ihr Chef hielt eine die Spritze gesetzt haben. »Ich weiß, dass die
Rede, Petra Ottmann war dazu nicht in der Leute keine Schuld haben, aber diese Dinge
Lage, eine Sängerin sang das Lied »So wie du gehen mir durch den Kopf.«
warst« der Band Unheilig. Über ihre Anwältin machte Petra Ottmann
Die Gewissheit, dass ihre Tochter an der beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Impfung gestorben war, erhielt Petra Ottmann einen Anspruch auf Versorgung geltend, als
mit dem abschließenden Gutachten des Insti- Hinterbliebene einer Impfgeschädigten darf
tuts für Rechtsmedizin aus Münster, sieben sie das, Paragraf 60 Infektionsschutzgesetz. Im
Seiten, »Leichensache z. N. Dana Ottmann«. Juli erhielt sie Antwort: Das Amt für Soziales
Darin heißt es: »Zusammenfassend ist aus Entschädigungsrecht überweist ihr den Höchst-
rechtsmedizinischer Sicht als Todesursache betrag an »Bestattungsgeld«. 5460 Euro.
eine ausgeprägte Hirnmassenblutung des rech- »Damit war der Tod meiner Tochter für die
ten Schläfenlappens bei Covid-19 Vakzin Bundesrepublik Deutschland erledigt«, sagt

Joanna Nottebrock / DER SPIEGEL


­induzierter Immunthrombozytopenie anzu­ Petra Ottmann. Für die Beerdigung hat sie nach
sprechen.« eigenen Angaben knapp 9000 Euro bezahlt.
Das bedeutet: Die Impfung hat eine Auto- Petra Ottmanns Anwältin meldete gegen-
immunreaktion ausgelöst, die fälschlicher- über AstraZeneca Schadensersatzansprüche
weise die Blutplättchen angegriffen hat, was an. Zurück kam ein Schreiben der Wirt-
das Gerinnungssystem schädigt und zu Blu- schaftskanzlei Taylor Wessing in Frankfurt
tungen führt. am Main, datiert vom 17. September. Auf
AstraZeneca schrieb im April 2021 in einem Trauerkarte mit Danksagung
neun Seiten wird erklärt, wieso man die For-
Rote-Hand-Brief, ein kausaler Zusammenhang derung für unbegründet erachte. Seite 2: »Die
zwischen Impfung und »dem Auftreten von Land spaltet, dann hockt Petra Ottmann genau Anwendung von Arzneimitteln einschließlich
Thrombosen in Kombination mit Thrombo- in dem Riss. von Impfstoffen ist unvermeidlich mit dem
zytopenie wird als plausibel angesehen«. Die Sie hat ein Attest, dass man ihr eine Impfung Risiko unerwünschter Nebenwirkungen ver-
Abkürzung für dieses Syndrom lautet TTS. aus gesundheitlichen, psychischen Gründen bunden.« Seite 3: »Der Nutzen … überwiegt
Am 29. April, einen Tag vor ihrem 33. Ge- nicht zumuten kann. Sie sagt: »Ich finde es die mit der Anwendung verbundenen Risi-
burtstag, wäre der zweite Impftermin von schlimm, dass jemand als unsozial gilt, wenn er ken.« Seite 9: Hinweise auf ein gehäuftes Auf-
Dana Ottmann gewesen. Kurz vorher ging in sich nicht impfen lässt. Unser ehemaliger Bun- treten eines TTS hätten sich erst ergeben,
ihrem E-Mail-Account eine Nachricht ein, die despräsident Joachim Gauck hat Impfgegner nachdem mehrere Millionen Menschen ge-
sie daran erinnern sollte. »Ich war entsetzt«, als ›Bekloppte‹ bezeichnet. Ich weiß, dass ich impft werden konnten. »Bedauerlicherweise
sagt Petra Ottmann. »Ich habe geantwortet, mich auf einem schmalen Grat bewege, aber war dieses mögliche Nebenwirkungsrisiko
dass meine Tochter nicht kommen kann, weil ich bin keine radikale Impfgegnerin. Ich habe noch nicht erkennbar, als Frau Dana Ottmann
sie schon die erste Impfung nicht überlebt hat.« meine Gründe, und die sollte man akzeptieren. geimpft wurde und auch nicht vor ihrem tra-
Sie sitzt am Wohnzimmertisch und öffnet Wenn Dana nichts passiert wäre, wäre ich heu- gischen Tod am 9. März 2021.«
eine Schachtel mit Briefen und Postkarten. te geimpft.« Auch die zwei besten Freundinnen Dana Ottmann ist jetzt seit einem Jahr tot.
Ehemalige Patienten ihrer Tochter haben ihr ihrer Tochter hätten sich nicht impfen lassen, Das Todesermittlungsverfahren der Staats-
geschrieben, aber auch wildfremde Menschen, aus Angst vor möglichen Nebenwirkungen. anwaltschaft Bielefeld wurde eingestellt. Seit
die durch Presseberichte von dem Schicksal Als verbrieft war, dass ihre Tochter ein Op- dem 1. Dezember wird der Wirkstoff von
erfahren hatten. »Ich bin mir der Tatsache be- fer der Impfung ist, kondolierte der Landrat Astra­Zeneca in Deutschland nicht mehr ver-
wusst, dass Ihr Leben nie wieder so sein wird des Kreises Herford Petra Ottmann, indem impft – Petra Ottmann wertet das als Einge-
wie vorher«, schrieb ein Mann. Ein anderer die Tageszeitung ein Zitat von ihm druckte. ständnis der Stiko, des Gesundheitsministe-
schickte Geld, von dem sie eine Grabkerze Der Krisenstabsleiter, verantwortlich für die riums, des Fabrikanten. Sie will aber nicht
kaufen sollte. Eine Frau berichtet, dass sie ihre Impfkampagne im Kreis, schickte einen Brief: weiter vorgehen gegen AstraZeneca. »Das
15-jährige Tochter durch einen Arztfehler ver- »Auch wenn ich weiß, dass ich es nicht bin: kostet mich nur Geld, Zeit und Nerven. Und
loren hat. Es ist herzliche Anteilnahme. Ge- Ich fühle mich ein stückweit dafür verantwort- es bringt doch nichts. Es macht meine Tochter
meldet hat sich die Frau eines Mannes aus Bo- lich«, schrieb er. Der Gedanke an den Verlust auch nicht wieder lebendig.«
chum, der nach einer Impfung mit dem Mittel seiner eigenen Tochter wäre für ihn »nicht in An einem Dienstagmorgen läuft sie über
von Johnson & Johnson starb, »vielleicht kann Worte zu fassen«, der Schmerz »unvorstell- den Friedhof in Herford. Mindestens einmal in
man sich einfach gemeinsam austauschen«. bar«. Petra Ottmann sagt, darüber hinaus der Woche geht sie zum Grab. Am Fuß der
Geschrieben haben auch die »Christen im habe sie keine Reaktion erhalten, nicht von Stele stehen Blumen, eine Kerze, da liegt ein
Widerstand«. Sie wollen, so heißt es im Brief, der Stadt, dem Kreis, dem Land, dem Bund. herzförmiger Stein. Sie sagt, sie halte hier oft
»alles in unserer Macht Stehende tun, um Manchmal überlegt sie, wie sich der Arzt Zwiesprache mit ihrer Tochter. »Ich vermisse
weitere Impfungen mit unausgereiften Impf- oder die Ärztin fühlen muss, der oder die ihre Dana. Wenn ich überlege, welche Möglichkei-
Stoffen zu verhindern«. Die religiösen »Quer- ten sie gehabt hätte. Was vor ihr lag. Wenn ich
denker« wollten ein Video mit Petra Ottmann jetzt spazieren gehe und die Krokusse und die
drehen, »rufen Sie gern an. Herzlichen Dank Schneeglöckchen sehe – Dana hat diese Zeit
für Ihre Antwort! Gott befohlen«. so gemocht. Jetzt ist von ihr nur noch ein Hau-
Sie hat nicht geantwortet, »ich will mit sol- »Der Nutzen ... überwiegt fen Asche übrig. Ich glaube, der Kummer hört
chen Leuten nichts zu tun haben«, sagt sie. Ihr
Facebook-Profil habe sie geschlossen, weil sich
die mit der Anwendung nie auf. Ich kann nur lernen, damit zu leben.«
An dem Tag, an dem sie ihre tote Tochter
dort Impfgegner gemeldet hätten, die sie ver- verbundenen Risiken«, fand, lag auf dem Sofa in ihrer Wohnung ein
einnahmen wollten, und Menschen, die sie
beschimpft hätten, weil sie sich nicht impfen
schreiben die Anwälte von Buch. »Beratung und Therapie in Trauerfäl-
len«. Als hätte Dana es dort für sie platziert,
lassen wolle. Wenn die Impfbereitschaft das AstraZeneca. sagt Petra Ottmann.  n

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Heißer Frieden  Ein Krieg, der kein Krieg sein will,


und ein Kampf der Kulturen am Ende der Geschichte
Von Slavoj Žižek

W
as befiehlt der russische Of- befinden? Wenn in einer Konfronta- eine friedliche Integration kaum vor-
fizier seinen Soldaten? »Ras, tion jede Seite bereit ist, einen Kampf stellbar sei. Patriotismus und Arg-
dwa, ras, dwa …« Eins, zwei, auf Leben und Tod bis zum bitteren wohn gegenüber Fremden wachsen,
eins, zwei. Links, rechts, links, rechts. Ende zu führen, gibt es keinen Sieger. den USA wird unterstellt, sie wollten
Mir hat mal vor ein paar Jahren je- Weil der eine stirbt, der andere über- einen Krieg um Taiwan. Im Herbst
mand in Moskau erzählt, dass man lebt, kann es keine gegenseitige An- forderten chinesische Behörden die
Putin auch »Dwaputin« nennt. Eine erkennung geben. Die Geschichte der Bevölkerung auf, Lebensmittelvor­
Anspielung auf Rasputin, den Geist- menschlichen Kultur aber, die Kämp- räte anzulegen, für den Fall, dass die
heiler und Freund der Zarenfamilie. fe um Freiheit und Anerkennung ent- Nahrungsmittelversorgung, warum
Ras, dwa. Rasputin, Dwaputin. Wo- falten sich nur in Kompromissen, was auch immer, zusammenbrechen wür-
bei Dwaputin sicherlich übler ist, als heißt: Einer der beiden, so Hegel, de – eine seltsame Warnung, die man
es Rasputin war, der immerhin zu wird in einer Konfrontation unter als Ankündigung eines bevorstehen-
Beginn des Ersten Weltkriegs den Za- Gleichen, einer Konfrontation auf den Krieges verstehen kann.
ren warnte, dass ein Kriegseintritt Augenhöhe schließlich »die Augen Tatsächlich stellt sich die dringen-
Russlands zum Untergang des gesam- abwenden«, weil er nicht bereit ist, de Aufgabe, die Zivilisationen selbst
ten Systems führen könnte, weil die den ganzen Weg zu gehen, und somit zu zivilisieren und Solidarität und
große Mehrheit der Bevölkerung lei- zum Knecht werden. Zusammenarbeit zwischen allen
den und verarmen würde. Wie Hegel aber wusste, gibt es in menschlichen Gemeinschaften zu er-
Russlands Einmarsch in die Ukrai- zwischenstaatlichen Beziehungen zwingen, was erschwert werden dürf-
ne hat unser Verständnis von Krieg keine solchen Kompromisse: Die Ko- te angesichts der stetigen Zunahme
verändert. Es gibt nicht nur eine neue existenz souveräner Nationalstaaten sektiererisch religiöser und ethnisch
Atomwaffen-Rhetorik – Putin selbst impliziert die Notwendigkeit des »heroischer« Gewalt und der einher-
erklärte, dass er bereit sei, zuerst Krieges. Jeder Staat diszipliniert sei- gehenden Bereitschaft von Men-
Atomwaffen einzusetzen. Sondern ne eigenen Bürger und garantiert den schen, sich (und die Welt) für die
wir nähern uns einem perfekten zivilen Frieden unter ihnen. Die Be- eigene Sache zu opfern. Vor vier Jah-
Sturm, in dem sich eine Reihe von ziehung zwischen Staaten aber wird ren schrieb der französische Philo-
Katastrophen (Pandemie, globale Er- ständig von der Möglichkeit eines soph Alain Badiou: »Die Vereinigten
wärmung, Nahrungsmittel- und Was- Krieges überschattet, wobei jede Frie- Staaten und ihre westlich-japanische
serknappheit, Kriege …) gegenseitig densepoche nichts anderes ist als ein Clique auf der einen Seite, China und
so verstärken, dass es nicht mehr um vorübergehender Waffenstillstand. Russland auf der anderen, überall
Krieg oder Frieden geht, sondern da- Nach Hegel gipfelt die gesamte Ethik Atomwaffen. Wir müssen also an Le-
rum, dass wir in einem permanenten eines Staates im Akt des Heldentums, nins Ausspruch erinnern: ›Entweder
globalen Ausnahmezustand leben, der Bereitschaft der Bürger, ihr Leben wird die Revolution den Krieg ver-
der uns ständig die Setzung neuer für den Nationalstaat zu opfern, was hindern, oder der Krieg wird die Re-
Prioritäten abverlangt. Dieser Wahn- aber dazu führen kann, dass die volution hervorrufen.‹ So können wir
sinn bedarf einer Erklärung. In Zei- barba­rischen Beziehungen zwischen das maximale Ziel der kommenden
ten, in denen unser Überleben aus den Staaten als Grundlage für das Le- politischen Arbeit definieren: Zum
ökologischen und anderen Gründen ben innerhalb eines Staates dienen. ersten Mal in der Geschichte soll die
A . Cristofari / contrasto / laif

bedroht ist und wir alles tun müssten, Ist Nordkorea mit seinem unbeding- erste Hypothese – die Revolution
um dieser Gefahr zu begegnen, wird ten Streben nach Atomwaffen und wird den Krieg verhindern – verwirk-
plötzlich ein neuer Krieg zu unserer Ra­keten nicht ein perfektes Beispiel licht werden und nicht die zweite –
Hauptsorge, ein Krieg, der unseren für diese Logik einer bedingungslosen der Krieg wird die Revolution her-
Weg in den kollektiven Selbstmord nationalstaatlichen Souveränität? vorrufen. Tatsächlich wurde die
nur verkürzen kann. Wir leben in Zei- Es gibt Anzeichen dafür, dass sich zweite Hypothese in Russland im
ten, in denen der »Kampf der Kultu- auch China in diese Richtung bewegt. Kontext des Ersten Weltkriegs ver-
Žižek, geboren 1949,
ren« mit voller Wucht zurückgekehrt ist ein slowenischer
Freunde dort erzählen von Berichten wirklicht und in China im Rahmen
ist, Zeiten, in denen gängige Erklä- Philosoph, der in Militärzeitschriften, wonach Chi- des Zweiten Weltkriegs. Doch um
rungen (Das Großkapital! Staatliche an der Universität in nas Armee einen echten Krieg brau- welchen Preis! Und mit welchen
Allmacht!) nicht ausreichen. Stattdes- Ljubljana lehrt. che, um ihre Gefechtsfähigkeit zu Langzeitfolgen!«
Er hat mehr als
sen müssen wir, wie so oft, auf die testen, anders als die US-Armee habe

E
60 Bü­cher veröffent-
Philosophie Hegels zurückgreifen. licht und beschäftigt China nach einer gescheiterten Inter- in radikaler sozialer Wandel –
Zeigt nicht eine der berühmtesten sich mit so unter- vention in Vietnam jahrzehntelang eine Revolution – ist notwen-
Passagen in Friedrich Hegels »Phä- schiedlichen Themen keine Gelegenheit dazu gehabt. dig, um unsere Zivilisationen zu
wie Friedrich Hegel,
nomenologie des Geistes«, die Dia- Psychoanalyse,
Jüngst haben chinesische Medien zivilisieren. Keine Revolution im al-
lektik von Herrschaft und Knecht- Popkultur und auch behauptet, dass eine militärische ten Sinne ei­nes gewaltsamen gesell-
schaft, an welchem Punkt wir uns politische Theorie. Befreiung Taiwans notwendig sei, da schaftlichen Machtwechsels, sondern

46 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


dem Schein herauf, um das offen be-
gangene (und durch die Ideologie le-
gitimierte) Verbrechen zu verschlei-
ern. Ein oft benutzter Ausdruck für
solch eine doppelte Mystifizierung
lautet: »Die Situation ist komplex.«
Eine offensichtliche Tatsache – sagen
wir, eine brutale militärische Aggres-
sion – wird relativiert, indem eine
»viel komplexere Situation im Hinter-
grund« heraufbeschworen wird (was
die Aggression zu einem Akt der Ver-
teidigung macht). Passiert nicht genau
das in der Ukraine? Russland hat die
Ukraine angegriffen, aber viele su-
chen nach der »Komplexität« dahin-
ter. Ja, sicherlich, es gibt Komplexität,
aber die eigentliche Tatsache bleibt:
Russland hat es getan. Unser Fehler
war es, Putins Drohungen nicht wört-
lich zu nehmen – wir dachten, er wür-

Alexander Ermochenko / REUTERS


de es nicht wirklich ernst meinen,
sondern nur ein strategisch-manipu-
latives Spiel spielen.

I
ronischerweise erinnert das an
einen berühmten, von Sigmund
Freud zitierten jüdischen Witz:
»Warum sagst du mir, dass du nach
unsere gesamte globale Weltordnung Auf wen können wir uns in solch Prorussische Lemberg fährst, wenn du in Wirklich-
muss sich ändern, weil wir uns am einer Lage verlassen? Auf Künstler Soldaten ohne keit nach Lemberg fährst?« In dem
Abzeichen in
Rande eines Abgrunds befinden. Da- und Denker? Auf pragmatische Real- der Ukraine: Witz nimmt die Lüge die Form einer
für müssten breite Bevölkerungs- politik? Auch Künstler und Denker Pazifismus ist keine faktischen Wahrheit an. Zwei Freun-
schichten mobilisiert werden, die an können den Grundstein für Kriege Option de haben sich auf einen impliziten
dem laufenden Prozess der Selbst- und Verbrechen legen. Um Menschen Kodex geeinigt: Wer nach Lemberg
zerstörung nicht mehr mitwirken für Massengewalt zu mobilisieren, fährt, sagt, dass er nach Krakau fährt,
wollen. Wir können nicht hoffen, ein braucht es einen großen heiligen und umgekehrt. Insofern wäre es eine
neuer Krieg würde zu einer neuen Grund, der kleinliche individuelle Lüge, wenn man die wörtliche Wahr-
Revolution führen: Er würde viel- Sorgen über das Töten trivial erschei- heit sagt. Als Putin die militärische
mehr das Ende der Zivilisation be- nen lässt. Natürlich gibt es Fälle von Intervention ankündigte, haben wir
deuten, wie wir sie kennen. Wir soll- pathologischen Atheisten, die aus rei- Putins Aussage, er wolle die gesamte
ten uns keine Illusionen machen: In nem Vergnügen Massenmord bege- Ukraine befrieden und entnazifizie-
gewissem Sinne hat der dritte Welt- hen, aber das sind Ausnahmen. Die ren, nicht wörtlich genug genommen,
krieg bereits begonnen, auch wenn er meisten Menschen haben eine ele- sodass der Vorwurf enttäuschter Stra-
bisher hauptsächlich stellvertretend mentare Sensibilität für das Leiden tegen an Putin nun lautet: »Warum
in lokal beschränkten Kriegen aus- anderer, die betäubt werden muss. haben Sie gesagt, Sie würden Lem-
getragen wurde – je eher wir uns das Der amerikanische Physiker Steven berg besetzen, wenn Sie Lemberg
eingestehen, desto besser unsere Weinberg hat einmal gesagt, dass gute wirklich besetzen wollen?« Mit an-
Chancen, eine vollständige Eskala- Menschen mit oder ohne Religion deren Worten: diese doppelte Mysti-
tion zu verhindern. Gutes tun würden und böse Men- fikation bedeutet das Ende der Real-
Wir alle wollen Frieden, aber schen Böses. Aber damit gute Men- politik, wie wir sie kannten. »Die
­abstrakte Aufrufe zum Frieden sind schen Böses tun, bedarf es der Reli- Umsetzung oder Durchführung di­
nicht genug: »Frieden« ist ein unein- gion. Platon schlug vor, die Dichter plomatischer oder politischer Maß-
deutiger Begriff. Besatzer wollen stets aus der Stadt zu werfen – ein ziemlich nahmen«, so definiert Wikipedia
Frieden in den von ihnen besetzten nachvollziehbarer Rat, wenn man die den Begriff Realpolitik, »die in erster
Gebieten, und deshalb sagt Russland, Erfahrungen der letzten Jahrzehnte Linie auf der Berücksichtigung gege-
der Einmarsch in die Ukraine sei eine bedenkt, in denen ethnische Säube- Wir sollten bener Umstände und Faktoren be-
Friedensmission. Daher ist, wie der
französische Philosoph Étienne Bali-
rungen durch die gefährlichen Träu-
me von Dichtern und »Denkern« vor-
uns keine ruhen, anstatt sich strikt an explizite
ideologische Vorstellungen oder mo-
bar es formulierte, heute »Pazifismus bereitet wurden (in Russland bei- Illusionen ralische und ethische Prämissen zu
keine Option«. Wir müssen einen spielsweise durch die Bücher von machen – in halten.«
neuen großen Krieg verhindern, aber
der einzige Weg dazu ist die totale
Alexander Dugin und die Filme von
Nikita Michalkow). Von Dichtern und
gewissem Eine solche Realpolitik will nicht
naiv sein, nicht festhalten an morali-
Mobilisierung gegen den heutigen Denkern ist es nur ein kleiner Schritt Sinne hat der schen oder politischen Grundsätzen.
»Frieden«. Kriegszustand in Frie- zu Richtern und Henkern. dritte Welt- In einer Situation wie der gegenwär-
denszeiten. Vielleicht ist dies der Was die Realpolitik betrifft, ist die tigen aber ist eine solche Realpolitik
­Begriff, den wir für unsere heutige Sache noch schlimmer. Ideologien be- krieg bereits genau das: naiv. Weil auf ihre Grund-
Lage verwenden sollten. schwören oft eine Dimension hinter begonnen. annahme, dass die andere Seite, der

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 47


D E B AT T E U K R A I N E K R I E G

Feind, ebenfalls einen pragmatischen Deal


anstrebt, kein Verlass mehr ist.
Während des Kalten Krieges waren die Re-
geln eindeutig, garantiert durch die Mutually-
Assured-Destruction-Strategie (MAD) der
Supermächte, durch die Strategie einer gegen-
seitig angedrohten Vernichtung, die im Falle
eines nuklearen Angriffs eine Antwort mit
voller Zerstörungskraft vorsah, damit keine
Seite einen Krieg beginnen würde. Wenn heu-
te Kim Jong Un davon spricht, den USA einen
vernichtenden Schlag zu versetzen, fragt man
sich, wie er zu dieser Einschätzung kommt –
als ob er nicht wüsste, dass sein Land, ein-
schließlich seiner selbst, vernichtet würde.
Es ist, als spielte er ein Spiel namens Nu­clear
Utilization Target Selection (NUTS), übrigens
auch eine Strategie aus dem Kalten Krieg, das
auf der Annahme beruht, die nuklearen Fähig-
Cost foto / picture alliance

keiten des Gegners mit einem chirurgischen


Schlag zerstören zu können, während der eige-
ne Raketenschutzschild vor einem Gegenan-
griff schützt. In den letzten Jahrzehnten haben
sogar die USA zwischen MAD und NUTS ge-
schwankt: In ihren Beziehungen zu Russland Chinesische Sicherheitskräfte bei Training in Provinz Guizhou im Februar: Gefechtsfähigkeit testen
und China scheinen sie weiterhin der MAD-
Logik zu vertrauen, während sie gegenüber lichen Regeln und Normen zu tun, was man den zivilisierten freien Westen beschrieben
Iran und Nordkorea offenbar NUTS erwägen. will, diese Regeln und Normen auch gelegent- wird. Die neuen Kriege ignorieren nicht nur
Mit seinen Andeutungen über den möglichen lich zu verletzen, zum Beispiel in einer Re- einfach den Klimawandel, sie sind vielmehr
Einsatz von Atomwaffen folgt Putin der glei- volte; konkrete Freiheit (»liberty«) ist die eine Reaktion auf unsere globalen Probleme,
chen Argumentation. Allein die Tatsache, dass Freiheit, die durch eine Reihe von Regeln und eine Rückkehr zu einer pervertierten »Norma-
ein und dieselbe Supermacht zur gleichen Zeit Normen aufrechterhalten wird. Ich kann mich lität« von Kriegen. Die Idee dahinter: Okay,
zwei direkt widersprüchliche Strategien ver- auf einer belebten Straße frei bewegen, weil es liegen schwierige Zeiten vor uns, also lasst
folgt, zeigt, wie abwegig diese ganze Argu- ich einigermaßen sicher sein kann, dass die uns stark sein, um die kommenden Heraus-
mentation ist. anderen Menschen sich mir gegenüber höflich forderungen besser zu meistern. Der Moment
verhalten und sie bestraft werden, wenn sie jetzt ist also kein Moment der Wahrheit, in

H
eute befinden wir uns jenseits von mich angreifen oder beleidigen. dem die Dinge klar werden und in dem der
MADness: Supermächte testen sich Es gibt Momente der Krise, in denen die fundamentale Antagonismus deutlich zu er-
gegenseitig und versuchen, ihre Version abstrakte Freiheit die konkrete Freiheit erset- kennen ist. Es ist ein Moment der tiefsten Lüge.
globaler Regeln durchzusetzen. Am 5. März zen muss. Im Dezember 1944 schrieb Jean- Wie sind wir in diesen Schlamassel gera-
sagte Putin, die gegen sein Land verhängten Paul Sartre: »Nie waren wir freier als unter der ten? Wir leben in einer seltsamen Welt, für
Sanktionen seien so etwas wie eine Kriegs- deutschen Besatzung. Wir hatten alle unsere die uns noch immer ein passendes Wort fehlt.
erklärung. Er hat auch gesagt, dass der Handel Rechte verloren, vor allem unser Recht zu Die französische Philosophin Catherine Ma­
mit dem Westen normal fortgeführt werden ­sprechen. Die Résistance war eine wahre De- labou sieht in den Kryptowährungen ein Indiz
solle, Russland halte seine Verpflichtungen ein mokratie; für den Soldaten wie für seinen Vor- dafür, dass der Kapitalismus »eine anarchis-
und setze seine Gaslieferungen nach West- gesetzten die gleiche Gefahr, die gleiche Ein- tische Wendung nimmt«: »Wie sonst sollen
europa fort. Russland versucht, ein neues Mo- samkeit, die gleiche Verantwortung, die glei- wir Phänomene wie dezentrale Währungen,
dell internationaler Beziehungen durchzuset- che absolute Freiheit.« Diese Situation voller das Ende des Staatsmonopols, das Wegfallen
zen: keinen kalten Krieg, sondern heißen Angst und Gefahr war »freedom«, nicht der Vermittlerrolle der Banken und die De-
Frieden. Es ist ein Frieden, der in Wahrheit ­»liberty« – »liberty« wurde erst nach dem zentralisierung von Austausch und Trans­
ein hybrider Krieg ist, in dem militärische Krieg mit der Rückkehr zur Normalität ge- aktionen beschreiben?« Das hört sich gut an,
Interventionen als friedenserhaltende huma- schaffen. Und in der Ukraine sind heute die- aber wie Malabou sofort feststellt, Ȋndert
nitäre Missionen deklariert werden. Wir ha- jenigen, die gegen die russische Invasion kämp- die Semantik des Anarchismus, die dem Ul-
ben solche Formulierungen schon öfter gehört, fen, frei, und sie kämpfen für »freedom« – aber trakapitalismus seine neue Tonalität verleiht,
Interventionen Amerikas in Lateinamerika ist diese Unterscheidung noch aufrechtzuerhal- nichts an der Logik des Profits, die der Ultra-
oder im Irak wurden so gerechtfertigt. Russ- ten? Nähern wir uns nicht mehr und mehr einer kapitalismus nur in einer anderen Form zum
land übernimmt sie jetzt mit Verspätung. Wäh- Situation, in der Millionen Menschen meinen, Ausdruck bringt«. Mit dem allmählichen Ver-
rend in der Ukraine Städte beschossen, Zivi- sie müssten frei handeln (die Regeln brechen), schwinden des Staatsmonopols verschwinden
listen getötet, Universitäten, Entbindungssta- um ihre »freedom« zu schützen? Ist das nicht auch die Grenzen rücksichtsloser Ausbeutung
tionen und Theater bombardiert werden, der Grund, warum eine Menschenmenge am und staatlich verordneter Herrschaft. Der
sollen der internationale Handel und das nor- 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt hat? ­Anarchokapitalismus strebt nach Transpa-
male Leben im Rest der Welt weitergehen. renz, aber das Paradoxe am Diskurs über

D
Können wir in einem solchen Dilemma frei as Traurigste an dem andauernden Krieg Transparenz ist, dass er »gleichzeitig die um-
sein? Im Englischen gibt es zwei Wörter für ist, dass die globale liberal-kapitalis­ fangreiche, jedoch undurchsichtige Nutzung
Freiheit: »freedom« und »liberty«. Hegel tische Ordnung zwar offensichtlich auf von Daten, das Dark Web und die Fälschung
unterscheidet abstrakte Freiheit und konkre- vielen Ebenen auf eine Krise zusteuert, aber von Informationen zulässt«. Um den Abstieg
te Freiheit. Abstrakte Freiheit (»freedom«) die Situation jetzt fälschlicherweise als der ins Chaos zu verhindern, entwickle sich »eine
ist die Fähigkeit, unabhängig von gesellschaft- Konflikt barbarisch-totalitärer Länder gegen faschistische Form von Regierungen und der

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damit einhergehenden Aufrüstung die Ukraine betrifft, sagt Russland ganz Europas befriedigt werden
von Sicherheit und Militär«. Ein den USA: ›Nein, ihr seid nicht mehr kann; befürworten wir die volle Kon­
Staat, der seine soziale Funktion ver­ der Boss.‹ Es geht um die Frage, wer frontation, laufen wir Gefahr, einen
loren habe, werde überflüssig und die Welt beherrscht. Nur ein Krieg neuen Weltkrieg auszulösen.
rette sich durch den Einsatz von Ge­ kann das wirklich entscheiden.«

N
walt. »Der Ultranationalismus signa­ Aber was ist mit den Menschen in atürlich verdient der Kampf der
lisiert somit den Todeskampf der Syrien und der Ukraine? Können auch Ukraine unsere volle Unter­
­nationalen Autorität.« sie ihre Wahrheit, ihren Glauben wäh­ stützung, zugleich aber brau­
Was den Einmarsch in die Ukraine len, oder sind sie nur ein Spielplatz chen wir eine neue Bewegung unab­
betrifft, haben wir es nicht mit einem der großen »Bosse« und ihrer Kämp­ hängiger, sozusagen blockfreier Staa­
Nationalstaat zu tun, der einen ande­ fe? Sie zählen nicht in dieser großen ten – nicht um uns in die Neutralität
ren Nationalstaat angreift: Die Ukrai­ Aufteilung in vier Einflusssphären: zu retten, sondern um uns von der
ne wird als ein Gebilde angegriffen, Innerhalb jeder dieser Sphären gibt es Idee eines »Kampfes der Kulturen«
dessen eigene ethnische Identität von nur friedenserhaltende Interventio­ zu lösen. Samuel Huntington zufolge
Russland geleugnet und dessen Re­ nen, ein richtiger Krieg findet nur statt, wurde nach dem Ende des Kalten
gierung als eine Gruppe drogen­ wenn sich die vier großen Bosse nicht Krieges der »Eiserne Vorhang der
süchtiger Neonazis bezeichnet wird. über die Grenzen ihrer Sphären eini­ Ideologie« durch den »samtenen Vor­
Der Angriff wird mit geopolitischen gen können – ein Krieg mit der Nato hang der Kultur« ersetzt. Huntingtons
Einflusssphären begründet (wie in wäre in dieser Logik ein Krieg, nicht düstere Vision des »Kampfes der Kul­
Syrien). Den Begriff »Krieg« für die das, was jetzt in der Ukraine passiert. turen« scheint das genaue Gegenteil
militärische Intervention vermeidet Und hat China nicht auch eine frie­ von Francis Fukuyamas »Ende der
Russland nicht nur, um deren Brutali­ denserhaltende Mission in Taiwan an­ Geschichte« zu sein, die auf der pseu­
tät herunterzuspielen, sondern um gekündigt, um seine Einflusssphäre im dohegelianischen Idee beruht, mit der
deutlich zu machen, dass der Begriff Südchinesischen Meer zu sichern? kapitalistischen liberalen Demokratie
Krieg im alten Sinne einer bewaffne­ sei die bestmögliche Gesellschaftsord­

B
ten Auseinandersetzung zwischen ei aller berechtigten Kritik am nung gefunden worden. Tatsächlich
Nationalstaaten nicht passt. Russland europäischen Erbe: Was Euro­ aber zeigen die Erfahrungen der
sichert lediglich den »Frieden« in sei­ pa zum Objekt von Hass und Gegenwart, dass Fukuyama und Hun­
nem eigenen geopolitischen Einfluss­ Neid macht, ist die Vorstellung, dass tington keine Gegenpole bilden, son­
bereich, und eine solche Friedens­ »Europa« in den Augen vieler immer dern beide Theorien zusammenge­
sicherung kann sich rasch über die noch für Prinzipien wie Kooperation nommen ziemlich genau das beschrei­
Ukraine hinaus ausbreiten. Russland der Nationen, Freiheit, Wohlfahrts­ ben, was heute ist: Der »Kampf der
interveniert bereits über seine Stell­ staatlichkeit steht. Anstatt also die Kulturen« IST die Politik am »Ende
vertreter in Bosnien und im Kosovo, Ukrainer, die Teil Europas sein wol­ der Geschichte«. Ethnisch-religiöse
und Lawrow erwähnte einmal, dass len, zu belächeln und im Stich zu Konflikte passen perfekt zum globalen
die einzige vollständige Lösung darin ­lassen, sollten wir uns fragen, ob wir Kapitalismus: In unserem Zeitalter
bestünde, ganz Europa zu entmilita­ bereit sind, den Hoffnungen der Ukrai­ der »Post-Politik«, in dem Politik im
risieren, wobei Russland seine Armee ner gerecht zu werden. Selenskyj hat eigentlichen Sinne zunehmend durch
einsetzen würde, um den Frieden mit gesagt, die Ukraine sei bereit, für eine aufgeklärte, rationale Verwaltung
gelegentlichen humanitären Interven­ Europa zu sterben, jetzt wolle man von Gesellschaft ersetzt wird, sind
tionen zu erhalten. Ähnliche Ideen sehen, ob Europa bereit sei, für die kulturelle (ethnische, religiöse) Span­
sind in der russischen Presse weitver­ Ukraine zu sterben. Das war der Mo­ nungen die einzige verbleibende legi­
breitet – Dmitrij Ewstafjew, ein poli­ ment, als das Herz der europäischen time Quelle für Konflikte. Die heutige
tischer Kommentator und Meinungs­ extremen Rechten (die bis dahin Sym­ Zunahme »irrationaler« Gewalt ent­
macher, sagte in einem Interview mit pathie für die russische Intervention spricht somit der Entpolitisierung
einem tschechischen Medium: »Das gezeigt hatte) begann, für die Ukraine unserer Gesellschaften. Bleibt also die
neue Russland sieht Europa nicht als zu schlagen: Salvini, Marine le Pen Die neuen friedliche Koexistenz der Zivilisatio­
ebenbürtig. Ebenbürtig, das sind die und andere unterstützen seitdem die nen und ihrer jeweiligen »Wahrhei­
USA, China und Indien. Ihr Europä­ Aufnahme von Flüchtlingen aus der Kriege igno- ten«, wie Dugin es ausdrückt, die ein­
er seid für uns eine Trophäe, die zwi­ Ukraine. Warum? »Für das Vaterland rieren nicht zige Alternative? Sind Zwangsehen
schen uns und den Amerikanern auf­
geteilt werden muss. Das habt ihr nur
zu sterben war schon immer der
Traum von Nationalisten«, schreibt
nur einfach und Homophobie (oder die Vorstel­
lung, dass eine Frau, die sich allein in
noch nicht verstanden.« der italienische Philosoph Franco Be­ den Klima- die Öffentlichkeit wagt, eine Verge­
Dugin, der als Hofphilosoph Pu­ rardi, »auch wenn das nicht bedeutet, wandel, sie waltigung provoziert) in Ordnung,
tins gilt, argumentiert mit einem dass sie selbst sterben wollen. Sie wol­ solange sie sich auf ein anderes Land
seltsamen Relativismus: »Die Post­ len jemanden entsenden, der für ihren sind vielmehr beschränken, das ansonsten voll in
moderne zeigt, dass jede sogenannte Ruhm stirbt: Ja, das ist ihr Traum.« eine Reaktion den Weltmarkt integriert ist?
Wahrheit Glaubenssache ist. Wir
glauben an das, was wir tun, wir glau­
Wenn nur die Kriegsdrohung uns
mobilisieren kann und nicht etwa die
auf unsere Unser Kampf aber sollte universell
sein. Und wir sollten all jene unter­
ben an das, was wir sagen. Und das Bedrohung unserer Umwelt, dann ist globalen stützen, die jetzt in Russland gegen
ist die einzige Möglichkeit, Wahrheit die Freiheit, die wir bekommen, wenn Probleme, die Invasion in der Ukraine protestie­
zu definieren. Wir haben also unsere
spezielle russische Wahrheit, die sie
unsere Seite gewinnt, vielleicht nicht
lebenswert. Wir stehen also vor einer
eine Rückkehr ren: Sie sind die wahren russischen
Patrioten. Ein Patriot, ein Mensch,
akzeptieren müssen. Wenn die Ver­ Wahl, bei der beide Optionen schlecht zu einer per- der sein Land wirklich liebt, ist je­
einigten Staaten keinen Krieg begin­ sind: Gehen wir einen Kompromiss vertierten mand, der sich zutiefst schämt, wenn
nen wollen, dann sollten sie erken­ für den Frieden ein, beugen wir uns sein Land etwas falsch macht. »Mein
nen, dass sie nicht mehr der einzige dem russischen Expansionismus, der »Normalität« Land, ob richtig oder falsch« – das ist
Herrscher sind. Und was Syrien und nur durch eine »Entmilitarisierung« von Kriegen. ein widerlicher Satz.  n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 49


VORBILDER
REPORTER
»Warum sehnen
wir uns nach Helden,
Herr Wirth?«
SPIEGEL: Der ukrainische
Präsident Wolodymyr Selenskyj
wurde als »Leitfigur des freien
Westens« bezeichnet, mittler-
weile gibt es sogar Spielzeug-
figuren von ihm. Was macht ihn
zum Helden?
Wirth: Selenskyj hätte sich ins
Ausland absetzen können, aber
er ist geblieben. Er ist wie die
Figur des David, der mit einer
Steinschleuder gegen den über-
mächtigen Goliath kämpft.
Selenskyjs Steinschleuder ist die
Stinger-Rakete.
SPIEGEL: Sind Heldenerzäh-
lungen nicht ein wenig ges-
trig?
Wirth: Ja, wir leben in einem
postheroischen Zeitalter.
Aber Heldentum wandelt sich,
es passt sich an. Helden
weisen Charakteristika auf, die
in der jeweiligen Epoche
als erstrebenswert gelten. Bei
Selenskyj ist das die Verletz-
lichkeit.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Coolness, 1972
Wirth: Er lässt sich weder
abschlachten, noch flieht er.
Er bittet und fleht, das macht
ihn menschlich. Im Gegen-
satz zu Putin. Der verschanzt
FAMILIENALBUM   Reinhard Bettzuege, 75, aus Berlin sich hinter seinem Schreibtisch,
lächelt zynisch. Er steht für

D as ist Johnny Cash mit seinem Sohn John


am Düsseldorfer Flughafen, ich bin der mit
der Krawatte. Cash guckt etwas mürrisch,
er hatte einen langen Flug hinter sich. Er war
Fallen und Wiederaufstehen. Geschichten aus
dem Westen. Ich war hin und weg.
Ich studierte damals Jura und Politik und
verdiente das Geld für meinen ersten VW Käfer
eine veraltete Heldenidee. Ein
Mann, der die Glorie seiner
Nation beschwört. Seine Sol-
daten sterben für ihr Volk.
gerade aus den USA gekommen, um Konzerte in beim Radio, Willy Brandt war Kanzler, der Das kennen wir aus dem Fa-
Deutschland zu geben. Ich arbeitete als Radio- Kalte Krieg war in vollem Gange. Später ging ich schismus.
reporter und hatte den Auftrag, ihn zum Wesen zum Auswärtigen Amt, war Sprecher von Hans- SPIEGEL: Warum sehnen wir uns
der Countrymusik zu interviewen. Cash war Dietrich Genscher und dann Gesandter der Nato nach Helden?
längst ein Weltstar, aber er nahm sich Zeit für und Botschafter in Brüssel. Ich heiratete eine Wirth: Wir wünschen uns Vor-
mich. Er wirkte bodenständig und zurückhaltend. kanadische Diplomatin. Der Westen, das Libe- bilder. Es ist eine Art, mit Krieg
Er gehörte zu den Menschen, die ihrem Gegen- rale, ist mir bis heute auf die Stirn geschrieben. umzugehen. Wir vereinfachen
über allein durch ihre Ruhe ein gutes Gefühl Auf meine Frage zum Wesen der Country- ein Schlachtenbild auf Gut und
geben. Pures Charisma. Sein Sohn war ein Laus- musik antwortete Cash damals, er mache Musik Böse. Die Situation macht
bub, er spielte die ganze Zeit mit einer kleinen für die einfachen Leute, denn er sei selbst ein ein- uns wütend und ängstlich. Aber
Mecki-Figur. Neben dem Kameramann stand facher Mann. Er drücke nur aus, was er fühle. Er wir können nicht eingreifen.
Cashs Frau June, sie lächelte mich an. Ich weiß steht für mich bis heute für den amerikanischen Die Ukrainer übernehmen das
noch, dass ich dachte: Das ist die perfekte ameri- Weg, für Coolness und Souveränität. Aber auch für uns.
kanische Familie. für die dunkle Seite der Freiheit. Cash kam aus SPIEGEL: Ist Heldenverehrung
Damals war viel vom »American Way of Life« dem Dreck und verdiente Millionen. Aber er egoistisch?
die Rede, dem amerikanischen Lebensstil. Mich wäre auch beinahe daran zugrunde gegangen. Er Wirth: Schon. Helden leiden
hat das geprägt. Ich bin in Bad Godesberg auf- war jahrelang ein schwerer Trinker und abhängig und bluten stellvertretend
gewachsen, im Fernsehen liefen Western mit John von Tabletten. 2003 starb er, vier Monate nach für uns. Wenn wir ihnen zu-
Wayne. Im Radio kam amerikanische Musik, seiner Frau June. Er wurde nur 71 Jahre alt. jubeln, fühlen wir uns weniger
natürlich hörte ich Johnny Cash. »Folsom Prison Aufgezeichnet von Max Polonyi untätig. PYI
Blues« und »I Walk the Line«, diese tiefe Stim-
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
me, diese donnernden Gitarrenschläge. Seine Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: Hans-Jürgen Wirth, 71, ist
Texte erzählen von Scheitern und Schmerz, vom familienalbum@spiegel.de Psychoanalytiker in Gießen.

50 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


frustriert die Gaststätte im nächsten
Dorf betrat, hörte er, wie die Leute

Ruf der Wildnis


ihn »Räucherwurst« nannten.
Mit den Jahren lernte er zu
­überleben. Er tauschte das Tipi gegen
eine Jurte, das traditionelle Zelt der
mongolischen Nomaden, mit rundem
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE  Warum ein Mann unbedingt Holzfundament und Pfosten, über die
allein im Wald leben will – aber nicht darf Segeltuch gespannt wird. Er schnitz-
te Schalen und Teller aus Holz, ­fischte
Forellen im Fluss und buk sie in sei-

A »Gar nix
ls Marc Freukes genug von der Ruhr, wenn er Jurte sagt, klingt es wie nem Lehmofen. Er lernte, dass man
Zivilisation hatte, genug von Juchte. Er sei in einer wohlhabenden nicht neben dem Ofen schläft, son-
Berufsverkehr, Einkaufszen­ Familie aufgewachsen, sagt er. Er wird hier dern darüber, weil warme Luft nach
tren und Golf-Handicaps, zog er in habe viele Jahre lang ein Leben zwi- abgesperrt, oben steigt.
ein Tipi im Odenwald. Er grub einen
Erdkühlschrank und baute sich einen
schen Golfplatz und Bootshaus ge-
führt, zwischen Ibiza und Zermatt.
ganz klare Freukes sagt, die Einsamkeit habe
ihn geheilt. Er habe sich frei gefühlt.
Ofen aus Lehm, pflanzte Kürbisse, Doch als Freukes 38 Jahre alt war, Ansage.« Dann kam die Polizei.
Mais und Bohnen nach der Methode bekam er eine Depression. Er sei auf Jemand müsse dem Bauamt einen
des Drei-Schwestern-Ackerbaus, so der Arbeit gemobbt worden, seine Tipp gegeben haben, vermutet Freu-
wie es einst die Maya getan haben. damalige Freundin habe sich von ihm kes. Es gibt ein Video von der Räu-
Freukes sagt, er habe frei sein wol- getrennt. Er kündigte seinen Job und mung, man sieht, wie der Wagen
len wie der Held in dem Film »Into beantragte Arbeitslosengeld. Nachts eines Abrissunternehmers in den
the Wild«. In dem Film geht es um habe er nicht mehr schlafen können. Wald fährt. Die Abreißer ziehen rot-
das Leben des Studenten Christopher Also streifte er allein durch den Wald. weißes Flatterband um die Bäume,
McCandless, der seine Kreditkarten Manchmal machte er ein Feuer und Freukes ruft: »Gar nix wird hier ab-
zerschneidet und ein Leben als Aus- schaute in den Sternenhimmel, bis die gesperrt, ganz klare Ansage.« Dann
steiger führt. Am Ende isst er aus Sonne aufging, hörte die Tiere im taucht ein Mann im Jackett auf, er ist
­Versehen eine giftige Schote und stirbt Unterholz und lauschte dem Wind in von der Behörde. Es endet damit,
einsam in der Wildnis Alaskas. den Bäumen. Das habe ihn beruhigt, dass Freukes sagt, er werde seine Jur-
Freukes, 47, ist Eremit. Seit acht sagt Freukes. Irgendwann habe er te selbst abbauen.
Jahren lebt er als Aussteiger. Er ist ­gemerkt, dass er mehr Zeit in der Das Eremitentum ist jahrhunderte-
trainiert, am Gürtel trägt er ein Jagd- Wildnis verbrachte als in seiner Woh- alt, einer der berühmtesten Einsiedler
messer. Auf einer Lichtung im Wald nung. Es war, als würde der Wald war der Schriftsteller Henry David
steht ein Bauwagen aus rot gestriche- nach ihm rufen. Thoreau, der sich 1845 eine Block-
nem Holz, den er selbst gezimmert 2013 kündigte er seine Wohnung hütte in Massachusetts baute, um zu
hat. Es riecht nach Harz, in der Ferne und zog in das Tipi. Die ersten Jahre sich selbst zu finden. Er schrieb später
klopft ein Specht. Freukes blickt sich seien hart gewesen, sagt Freukes. Das ein Buch darüber, darin beschreibt er
um, er wirkt nervös. Man dürfe nicht Zelt ständig nass, im Sommer wie im seinen Kampf gegen die Natur, gegen
schreiben, wo genau sich die Lichtung Winter. Der Mais, den er nach Art der Unkraut und Kälte. Freukes hat das
befinde, sagt er. Niemand dürfe wis- Maya pflanzte, reichte ihm nicht mal Buch gelesen. Er sagt, sein größter
sen, dass er hier lebe. »Das hier ist bis an die Knie. Er schnitt Rauch­ Feind sei das Bauamt.
Krieg«, sagt Freukes. klappen ins Zelt und machte Feuer im Er steht jetzt auf seiner Lichtung
Marc Freukes hat Ärger mit den Tipi, so wie es die Ureinwohner Ame- und sieht zu, wie die Sonne hinter den
Einsiedler Freukes
Behörden, er wurde schon einmal aus rikas getan hatten. Aber anders als vor seinem Bau­
Fichten verschwindet. Jeden Morgen,
einem Wald vertrieben, im August bei den Sioux zog bei ihm der Rauch wagen, Screenshot sagt er, wache er mit dem Zwitschern
2020. Seitdem hält er sich versteckt. nicht ab, so erzählt er es. Wenn er von RNZ.de der Vögel auf, dann lege er Beete an,
Die Einsiedelei ist in Deutschland schlage Holz für den Ofen, bessere
nur eingeschränkt möglich. Niemand den Bauwagen aus. Ein paarmal im
darf sich außerhalb von Ortschaften Jahr gibt er Wildniskurse für Städter,
einfach irgendwo eine feste Behau- so verdient er sein Geld. Nachts liege
sung bauen und darin leben, selbst er hin und wieder wach. Er sorge sich,
dann nicht, wenn ihm das Land gehört dass sie ihn wieder vertreiben könn-
oder er es zuvor gepachtet hat. So ten. Manchmal denkt er dann an ­seine
steht es in Paragraf 35 des Baugesetz- alte Wohnung zurück, 60 Quadrat-
buches, »Bauen im Außenbereich«. meter, zwei Zimmer, Küche, Bad,
Wenn Freukes in seinem Bauwagen Licht und warmes Wasser.
dort dauerhaft leben will, muss er Doch Freukes hat sich entschieden.
einen Bauantrag beim Amt stellen. Er sagt, er wolle nicht zurück, nie-
Max Polonyi / DER SPIEGEL

Er müsste einen Bauvorlagenberech- mals. Auf der Lichtung hat er Holz


tigten finden, der seinen Antrag ein- gestapelt, zwischen Hämmern und
reicht. Dann müsste der Antrag ge- Nägeln liegt eine Motorsäge bereit.
nehmigt werden. Freukes sagt, er Freukes sagt, er baue gerade an etwas,
wolle einfach nur seine Ruhe. bald sei er fertig. Man kann schon er-
Eigentlich ist Marc Freukes Golf- kennen, was es werden soll. Das Fun-
lehrer von Beruf, er trainierte einst dament ist rund, das Dach auch, die
eine Bundesligamannschaft aus Hes- Wände sind mit Tuch bespannt.
sen. Er stammt aus Mülheim an der Max Polonyi n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 51


REPORTER

Im Schleudergang
DIGITALWÄHRUNGEN  Kryptoanleger sind heftige Kursausschläge
gewohnt: Mal geht es steil nach oben, mal jäh nach unten. Nun stellt der Krieg
Roger Kisby / Redux / laif

in der Ukraine eine alte Frage mit neuer Dringlichkeit:


Sind Bitcoin und Co. ein Segen für die Weltwirtschaft, ein Fluch oder beides?

52 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


V
REPORTER

ielleicht lässt sich das


Rätselhafte und Schil­
US-Senatoren ein Gesetz ein, das es
Russland erschweren soll, mittels
Die Gründung enthusiasten und Experten aller Art
verkünden und behaupten, prognos­

Foley / epa / picture alliance


lernde der Kryptowelt, Kryptowährungen die Sanktionen zu tizieren und verdammen. Regierun­
der Optimismus ebenso unterlaufen. gen denken über Besteuerung und
wie das Apokalyptische, Der ukrainische Digitalminister Regulierung nach, Umweltschützer
ganz gut am Ukraine­ Fedorow forderte die großen Krypto­ beklagen den hohen Stromverbrauch,
krieg erklären, auch wenn das zynisch börsen via Twitter auch auf, russische den das »Schürfen« neuer Coins mit

Peter Foley /
klingt. Denn von Anfang an macht Kunden nicht länger zu bedienen. Es sich bringt, während Pensionsfonds
dieser Krieg sowohl Hoffnungen als sei entscheidend, argumentierte er, damit begonnen haben, einen Teil
auch Befürchtungen, die mit digitalen nicht nur Politiker, sondern auch rus­ ihrer Einlagen in Krypto zu investie­
Währungen verbunden sind, so sicht­ sische Bürger zu treffen. Wichtige ren, weil die angestrebte Rendite mit

Los Angeles Times / Getty Images


bar wie kaum ein anderes Ereignis Handelsplätze wie Coinbase, Binance Anleihen allein nicht zu erreichen ist.
zuvor. oder Kraken lehnten einen solchen Der Milliardär und Investor John
Mychajlo Fedorow ist der Vize­ Kryptobann zunächst ab. Sie sicher­ Paulson wiederum bezeichnet sämt­
premier der Ukraine, er ist 31 Jahre ten ­allerdings zu, die Sanktionen liche Kryptowährungen als »a limited
alt und Wolodymyr Selenskyjs Minis­ gegen gelistete Personen und Unter­ supply of nothing«: ein begrenztes
ter für Digitale Transformation. Für nehmen umsetzen zu wollen. Angebot von nichts.
die Zukunft also. Eigentlich sollte er Wem die digitalen Nebenfinanz­ Kryptowährungen steigen auch
die Start-ups im Land voranbringen plätze mehr helfen, Ukrainern oder Zentrale von Lehman dann, wenn andere Anlageklassen
und die digitale Verwaltung, den Russen, ist noch nicht zu entscheiden. Brothers in New fallen, das war lange das Credo. Ge­
»Staat im Smartphone«. Nun ist auch Sicher ist nur: Der Kampf um die York 2008, falscher rade dann. Weil die Nachfrage eben
Fedorow zu einer Art Kriegsminister ­Ukraine wird auch in der Kryptowelt Nakamoto 2014: Die größer sei als das (etwa beim Bitcoin
Finanz­krise als
geworden. Unmittelbar nach Beginn gekämpft, zum ersten Mal in der Ge­ Nukleus einer neuen künstlich begrenzte) Angebot; weil
des russischen Einmarsches startete schichte. Währung Dollar und Gold die Vergangenheit
die bisher wohl größte Kryptospen­ Tatsächlich sind die Kryptowäh­ sind und Bitcoin und Co. die leuch­
denkampagne, seit es Digitalwährun­ rungen umstritten, seit sie erfunden tende Zukunft.
gen gibt. wurden. Von Beginn an stellt sich die Der Krieg in der Ukraine stellt
Zunächst ließ er über den offiziel­ Frage, ob sie Fluch oder Segen sind – diese Überzeugung nun infrage. Bis­
len Twitter-Kanal der Ukraine Spen­ oder beides. Dass es für beide Be­ her, in den ersten Wochen des Kon­
denadressen für große Währungen hauptungen zahllose Belege gibt, flikts, bewegten sich die Krypto­
wie Bitcoin und Ethereum verbreiten. macht die Sache nicht einfacher. märkte (wie schon beim Corona-
Mittlerweile betreibt das Land eine Ein kurzer Nachrichtenüberblick Crash im März 2020) weitgehend
Website, über die Nutzer aus aller also über die vergangenen Monate, parallel zu den Börsen; niemand
Welt der Ukraine in 13 verschiedenen in denen der Bitcoin zunächst auf weiß, ob sich Kryptowährungen
Digitalwährungen Geld zukommen einen neuen Höchststand von 67 559 einem allgemeinen Abwärtstrend
lassen können – gedacht für humani­ Dollar stieg und dann wieder steil ab­ entziehen könnten.
täre Hilfe und fürs Militär. Sogar stürzte, hinunter bis auf 36 495 Dollar, Manche Experten glauben mittler­
Spaßwährungen wie »Dogecoin« um sich zuletzt leicht zu erholen. Die weile sogar, dass ein Platzen der
werden akzeptiert. Schlagzeilen bilden ziemlich präzise Kryptoblase einen Crash auf den Fi­
Bis Mitte dieser Woche kamen al­ ab, wo die Welt zu den Großthemen nanzmärkten auslösen könnte, wie
lein über diesen Weg mehr als 60 Mil­ »Bitcoin-Wahnsinn« beziehungswei­ der Zusammenbruch von Lehman
lionen Dollar zusammen, darunter se »größte Blase aller Zeiten« gerade Brothers 2008. Ist der Kryptokosmos
Einzelspenden von mehreren Mil­ steht: also längst zum Systemrisiko gewor­
lionen. ‣ »Bitcoins im Wert von 3,6 Milliar­ den? Die Antwort: schwierig. Noch
Manche schicken aus Solidarität
auch »Non-Fungible Token« (NFTs),
den US-Dollar beschlagnahmt«
(golem.de);
Die dunkle immer gibt es ja keine rationalen
­Modelle für die Frage, wann ein ir­
digitale Bilder, die teils für immense ‣ »Kinderleicht – Vierjährige Bra­ Seite rationaler Markt, eine Blase also,
Summen gehandelt werden. silianerin macht 6500 Prozent platzt. Man kann auf Charts und auf
Memecoins und Sammelbilder ­Gewinn mit ihrem ersten Bitcoin« Kennzahlen starren, Linien und his­
also für Nachtsichtgeräte, medizini­ (cointelegraph.com); torische Vergleiche ziehen, am Ende
sche Erstversorgung und Waffen: di­ ‣ Bloomberg-Prognose für 2022: Bit­ weiß man erst hinterher, wann eine
Lyn Ulbricht / REUTERS

gitales Crowdfunding für den Krieg. coin auf dem Weg zur 100 000-Dol­ Party zu Ende war.
Nie zuvor war es leichter, schnell und lar-Marke; Vielleicht eine schöne Gelegenheit
grenzüberschreitend in eine Kriegs­ ‣ Finanzmathematiker: »Bitcoin ist für ein Gedankenexperiment: Was
kasse einzuzahlen. In der vergange­ genau null wert« (msn.com). wäre, wenn von der ganzen Begeis­
nen Woche unterschrieb Präsident Rund 13 Jahre nach Erfindung des terung, von Bitcoin-Rekorden, Twit­
Selenskyj ein Gesetz, mit dem er Bit­ Bitcoins ist die Welt in mindestens ter-Aufregung und NFT-Sensationen,
farmer images / Getty Images

coin und Co. in der Ukraine offiziell drei Lager geteilt: Die einen sind mit am Ende nur die Schlagzeilen übrig
legalisierte. Kryptogeld reich geworden, die an­ blieben? Was würden Archäologen
Auch in Russland erlebten die deren würden mit Kryptogeld gern und Historiker aus all dem Gerede
Kryptobörsen nach Kriegsbeginn reich werden. Wieder andere miss­ und Geraune über die Welt zu
einen Ansturm. Viele Russen ver­ trauen Kryptogeld zutiefst, verfolgen Beginn der Zwanzigerjahre des
­
suchten offenbar, die Abwertung der jeden Kursanstieg ungläubig und hof­ 21. Jahrhunderts lernen, über unsere
eigenen Währung zu umgehen, indem fen, dass das komplette Projekt mög­ Träume, unsere Ängste, unsere Sehn­
sie schnell noch Geld außer Landes lichst bald mit einem gewaltigen Silk-Road-Gründer süchte?
Ulbricht 2015,
brachten – oder es dem Zugriff der Knall in sich zusammenfällt. Partypillen: »Wir
Es war einmal ein Mann namens
Behörden entzogen. Erst in der ver­ Jeden Tag treffen neue, diffuse verändern die globale Satoshi Nakamoto, so fängt das Bit­
gangenen Woche brachten mehrere Nachrichten ein. Politiker, Krypto­ Wirtschaft« coin-Märchen an. Oder eine Frau.

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 53


REPORTER

Oder eine Gruppe von Programmie­ logie des digitalen Kassenbuchs, Andererseits ist Nakamotos An­
rern und Kryptoexperten, bis heute Zwei Wege könnte Banken, Börsen und Interme­ onymität konsequent. Das Vertrauen
weiß das niemand so genau. Wie Kryptowährungen diäre aller Art überflüssig machen, in sein System soll sich allein aus dem
Zwei Probleme galt es zu lösen, entstehen der Code dafür ist schon jetzt womög­ System selbst speisen: aus dem Code,
das war die Herausforderung: Wie lich der erfolgreichste Algorithmus den jeder sehen kann, aus den Trans­
transferiert man Wert digital? Wie 1 aller Zeiten. aktionen, die offen für jedermann
lässt sich also sicherstellen, dass ein »Proof of work« Deshalb hat John Paulson, der verzeichnet werden. Nakamotos Sys­
Betrag, der den Besitzer wechselt, z. B. Bitcoin ­Investor und Milliardär, nur beinahe tem braucht ausdrücklich keine Au­
nicht zweimal ausgegeben werden recht mit seiner Kritik. Bitcoin ist toritäten, weder die einer Regierung
kann? In der analogen Welt, die jeder nicht ein begrenztes Angebot von noch die eines Erfinders.
kennt, ist es einfach: Ein 20-Euro- nichts, sondern von fast nichts. Sato­ Möglich, dass Nakamoto gar nicht
Schein ist entweder hier oder dort, shi Nakamoto ist es gelungen, digita­ mehr lebt. Denkbar auch, dass er die
aber niemals hier und dort zugleich. le Knappheit zu erfinden. Suche nach seiner Identität verfolgt,
Und: Lässt sich vermeiden, dass Genesis-Block, so werden die ers­ irritiert und ein wenig amüsiert. Er
zwischen den Partnern einer Trans­ ten 50 Bitcoins genannt, die jemals würde sich jetzt anderen Dingen zu­
aktion zwingend ein Mittler steht, ein geschaffen wurden, ein Wort aus der wenden, schrieb er im April 2011.
Makler, eine Bank, irgendein Treu­ Neue Bitcoins Bibel. Genesis, das ist die Schöp­ Seither ist er verstummt.
händer, der in der analogen Welt über werden durch das fungsgeschichte. Diese 50 Coins sind Es war einmal ein Mann namens
Jahrhunderte hinweg dafür sorgte, Lösen komplexer unangetastet und können nicht ge­ Ross Ulbricht, so geht das Bitcoin-
Rechenaufgaben
dass der eine seine Schulden bezahl­ erzeugt (sogenann- handelt werden. »Unbefleckte Emp­ Märchen weiter. Wenn Satoshi Naka­
te und die andere ihr Geld bekam? tes Mining). Die fängnis« nennen manche Bitcoin-An­ moto die helle Seite der Blockchain-
Ein Traum war das, eine Denk­ Schürfer werden hänger diesen Umstand. Der un­ Revolution ist, dann ist Ulbricht die
sportaufgabe auch: die Suche nach für ihre Rechenleis- berührte Genesis-Block ist so etwas dunkle. Wahr ist: Ohne die Begeiste­
tung mit Bitcoins
einem dezentralen, grenzenlosen, un­ belohnt. wie der Grundstein der Kryptokirche. rung der Kriminellen wäre die neue
erhört neuen Finanzsystem, das frei Unangetastet sind auch die übrigen Technik nicht so schnell so populär
wäre von staatlicher Kontrolle und 980 000 Coins, die Satoshi Nakamo­ geworden.
Manipulation, von Eigeninteressen to »schürfte«. Nach aktuellem Bör­ Ulbricht, ein junger Texaner, hatte
und Korruption. senkurs verfügt er damit über einen es 2009 zuerst mit einem Online­
Ende Oktober 2008, die bekann­ Schatz von rund 40 Milliarden Dollar. handel für gebrauchte Bücher ver­
ten Treuhänder hatten die Welt gera­ Bildunterschrift in Dass da einer Geld nicht klaute sucht. Als der Buchhandel floppte,
de an den Rand einer globalen Finanz­ der Marginalie: mit
Nachteil: oder fälschte oder verdiente, sondern versuchte er es mit einem Darknet-
weiteren Schmuck-
Das Betreiben
katastrophe gebracht, war die Lösung zeilen und fester
einfach erfand, war neu genug. Dass Schwarzmarkt namens Silk Road, wo
gefunden, sie umfasste rund 31 000 der Rechnerfarmen, ein Unbekannter Technik- und Fi­ er unter dem Pseudonym »Dread
Höhe des Textrah-
in denen die neuen
Zeilen Code. Eine Bekanntmachung mens
Bitcoinsfür sechs Zeilen
entstehen, nanzgeschichte schrieb, ein jahrhun­ ­Pirate Roberts« auftrat. In kurzer Zeit
im Internet folgte, »White Paper« ge­ frisst viel Rechen- dertelang bewährtes System umstürz­ entwickelte sich Silk Road zu einem
nannt, und los ging’s. leistung und Energie. te und ganz offenbar völlig desinter­ wichtigen Drogenumschlagplatz im
Nakamotos Lösung ist einfach, in­ essiert an Ruhm und Reichtum schien, Netz. Das einzige Zahlungsmittel, das
tellektuell beeindruckend und ästhe­ war unerhört. 40 Milliarden Dollar Silk Road akzeptierte, war der da­
tisch ansprechend: Jede Transaktion einfach liegen zu lassen, ist eine ver­ mals kaum bekannte Bitcoin. Für je­
wird in einer Kette festgehalten, die 2 störende Geste der Verachtung und den Deal kassierte Ulbricht maximal
von allen überwacht wird und für alle »Proof of stake« ein Ausdruck großer Freiheit. Voraus­ rund zehn Prozent Provision; das
z. B. Polkadot
einsehbar ist. Eine Art Kassenbuch, gesetzt, Nakamoto hat nicht einfach machte ihn erstens reich und zweitens
aber eben digital, nicht auf Papier. die Zugangsdaten verloren. zu einem Pionier des Digitalgelds.
­Beherrscht nur von logischen Regeln, Inzwischen ist die Suche nach Na­ Weil die Silk-Road-User ein großes
von Software und Mathematik, nicht kamotos Identität ein eigenes Genre Interesse daran hatten, unerkannt zu
von den häufig politischen Motiven geworden. Experten untersuchten die bleiben, war der Anreiz groß, sich mit
der Notenbanken, auch nicht von neun Seiten des White Papers nach Bitcoin zu beschäftigen und Wallets
menschlichen Interessen. Auffälligkeiten (der Autor/die Autoren zu eröffnen, digitale Brieftaschen für
Das Kassenbuch wird ständig fort­ mischten britische und amerikanische Kryptovermögen. Bis heute ist das
geschrieben. Kein Eintrag kann je Staking-Teilnehmer Schreibweisen, fanden sie heraus, Verbrechen ein wesentlicher Treiber
verändert werden. Das Fortschreiben deponieren eigene möglicherweise war der Schreiber kein der Kryptoszene; Bitcoin, ebenso wie
dieses Kassenbuchs erfordert vor al­ Krypto-Coins als englischer Muttersprachler, oder es gab viele seiner Ableger und Nachfolger,
lem Rechenleistung; als Belohnung Sicherheit (Stakes). mehrere Autoren). Neben Shakes­ zählt zu den wichtigen Währungen
Per Zufallsverfahren
dafür, dass Netzwerkteilnehmer ihre werden Teilnehmer peare und Jack the Ripper ist Satoshi der Unterwelt. Weil die Zahlungen
Rechenleistung zur Verfügung stellen, ausgewählt, die den Nakamoto längst zur mythischen Figur vergleichsweise diskret ablaufen
erhalten sie Bitcoins. Ein genialer Ein­ nächsten Block in geworden, ein Banksy der Digitalwelt. (wenn auch alles andere als spuren­
fall: Nakamoto schuf innerhalb seines der Blockchain Zugleich ist er eine Leerstelle. Ein los), wurden Geschäftsmodelle wie
hinzufügen.
Netzwerks einen Anreiz, der die Leu­ Programmierer mit diesem Namen die Erpressung zum Massenphäno­
te dazu brachte, ebendieses Netzwerk war der Welt vor Bitcoin nicht be­ men, besonders die Erpressung von
am Laufen zu halten. kannt, die E-Mail-Adresse, die er be­ Unternehmen mithilfe von Verschlüs­
Bitcoin war 2009 die erste funk­ nutzte, ließ sich nicht zurückverfol­ selungstrojanern.
tionierende Digitalwährung, bis heu­ gen – es schien fast, als spielte er mit Das Bundeskriminalamt (BKA)
te ist sie die größte und bekannteste. der Welt ein Spiel. »Das Gesicht hin­ spricht von einem Trend. »Ohne
Ihr Erfolg gelang ausgerechnet in Das Hinzufügen ter Bitcoin« verkündete »Newsweek« Kryptowährungen könnten diese An­
einem Markt, der streng reguliert und wird mit neuen 2014 auf seinem Cover, das Foto im griffe kaum so häufig und erfolgreich
Coins belohnt.
von allen Regierungen der Erde als Artikel zeigte einen 64-Jährigen, der realisiert werden«, sagt Carsten Mey­
Hoheitsgebiet betrachtet wird. Die Satoshi Nakamoto hieß. Es war nicht wirth, Leiter der Cybercrime-Abtei­
S Grafik
Blockchain, so nennt man die Techno­ der Gesuchte. lung im BKA. In den vergangenen

54 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


REPORTER

Jahren ist die Höhe der Lösegeldforderungen


ebenso gestiegen wie der Profit, den die
Ransom­ware-Täter machen. Es trifft Kommu-
nen wie den Landkreis Anhalt-Bitterfeld und
Unternehmen wie Brenntag, aber auch Kran-
kenhäuser. Hacker schleusen dabei Schadpro-
gramme auf Computer, die verhindern, dass
der Besitzer auf seine Daten zugreifen kann.
Weil der Schaden meist höher ist als das ge-
forderte Lösegeld, zahlen die meisten Opfer
– zumal die Täter oft in Russland sitzen und
kaum dingfest zu machen sind.
Beim deutschen BKA gibt es inzwischen
spezialisierte Blockchain-Ermittler. Als dort
im vorigen Jahr die neue Abteilung Cyber-
crime eingerichtet wurde, habe das Amt erst-
mals einen eigenen Bereich geschaffen, der

Joe Raedle / Getty Images


sich mit dem Thema Kryptowährung beschäf-
tigt, sagt Abteilungsleiter Meywirth. IT-Ex-
perten und Polizeibeamte arbeiten eng zu-
sammen. Weil sich der Bereich allerdings
dynamisch weiterentwickle, sagt Meywirth,
sei »eine ständige Anpassung der Ermittlungs- Bitcoin-Pioniere Brüder Winklevoss in Miami 2021: »Es ist noch superfrüh«
methoden« notwendig.
Einer der größten Erfolge war der Schlag nische Zusammenkunft von Menschen, die und Cameron, die einst mit Mark Zuckerberg
gegen die Betreiber des bis dahin wichtigsten Optimismus für Stärke und Zweifel für Schwä- darüber gestritten hatten, wessen Idee Face-
deutschen Untergrundmarktplatzes »Wall che halten. book eigentlich gewesen war. Einen Teil des
Street Market« im Jahr 2019. Zeitweise hatte Bei der Bitcoin Conference 2021 waren es Geldes, das Zuckerberg ihnen 2008 zahlte,
die Plattform mehr als 5400 Verkäufer mit rund 12 000 Teilnehmer, die zu Vorträgen, investierten sie 2013 in Bitcoin. Der Kurs für
1,15 Millionen Kunden, über sie wurden Kamingesprächen und Jachtpartys zusam- einen Bitcoin lag damals bei 120 Dollar.
Canna­bis, Kokain und Methamphetamine in menkamen, in der ehemaligen Freihandels- Nicht auf der Rednerliste, aber trotzdem
alle Welt verkauft. zone von Miami, der Hauptstadt des Kapitals, allgegenwärtig: Elon Musk, der Tesla-Grün-
Ermittler schlüpften in die Rolle von Test- wie Miamis Bürgermeister Francis Suarez zur der, der den Bitcoin-Kurs erst in die Höhe
käufern und konnten drei mutmaßliche Be- Begrüßung sagte. »The capital of capital«, es und wenig später in die Tiefe getwittert hatte.
treiber identifizieren. Auf deren elektroni- klang ziemlich selbstbewusst. Als Max Keiser, ein Filmemacher, Blogger und
schen Geldbörsen stellte das BKA nach eige- Es ging dann, wie immer bei solchen Con- Bitcoin-Pionier, in weißem Anzug auf die
nen Angaben schließlich 2257,3 Bitcoin und ventions, um die Zukunft des Bitcoins, um Bühne tobte, schrie er: »We’re not selling!
4884,7 Monero sicher. die Zukunft Amerikas, um die Zukunft der Fuck Elon!«
Ein Zwischenerfolg, nicht mehr. Andere Menschheit: eine Art Selbstvergewisserung, Bitcoin, sagte Michael Saylor, bringe die
Anbieter füllten die Lücke rasch, sie verspre- ausgelassen und feierlich zugleich, man kann Vernunft in das Finanzsystem zurück. »Er gibt
chen den Kunden, ihre Kryptozahlungsströ- sich das auf YouTube angucken. Hinter der der Menschheit Freiheit und Eigentumsrech-
me (gegen eine Provision) so zu verschleiern, Bühne hatten die Veranstalter ein riesiges te zurück.« Bitcoin, darin waren sich alle einig,
dass Behörden keine Straftaten mehr zuord- Plakat aufspannen lassen, ein Strand unter bedeute »Hoffnung für acht Milliarden
nen können. Palmen war darauf zu sehen. In der Mitte, ­Menschen«.
Ross Ulbricht verfolgt den Siegeszug des dort wo in Kirchen das Kreuz hängt, steckte Bitcoin, sagte Tyler Winklevoss, sei »der
Bitcoins im Gefängnis. Als verdeckte Ermitt- ein riesiger Bitcoin im Sand. weltweit beste Schutz gegen Inflation«. Der
ler ihn 2013 in einer öffentlichen Bibliothek Auf der Rednerliste, unter anderen: der größte Inflationsbooster sei die Fed, rief sein
vor seinem aufgeklappten Rechner überwäl- Unternehmer Michael Saylor, dessen Firma Bruder Cameron, die US-Notenbank. Er
tigten, stellte das FBI 127 000 Bitcoins sicher. MicroStrategy Ende vorigen Jahres mehr als stand dann auf und zeigte sein T-Shirt, darauf
Insgesamt waren an Silk Road den Ermittlern 124 000 Bitcoin hielt; der ehemalige Boxer war das Gebäude der Fed gedruckt und der
zufolge sogar 614 000 Bitcoin als Provision Floyd Mayweather; der damalige Twitter- Spruch »Rage against the machine«.
geflossen. Chef Jack Dorsey; der frühere Präsident- Wut auf das Bewährte ist ein starker An-
2015 wurde Ulbricht von einem amerika- schaftskandidat und Kongressabgeordnete trieb bei allen Kryptounternehmungen. Wut
nischen Gericht zu zweimal lebenslanger Haft Ron Paul; der Bitcoin-Investor Tim Draper. auf Zentralbanken, auf Aufsichtsbehörden
verurteilt. Per aufgezeichnetem Telefoninter- Und natürlich die Winklevoss-Zwillinge Tyler oder auf Regierungen, die versagt und damit
view meldete er sich im Juni vergangenen das in sie gesetzte Vertrauen missbraucht ha-
Jahres aus dem Gefängnis zu Wort. »Wir ver- ben. Der Kurs-Chart jeder Kryptowährung
ändern die globale Wirtschaft«, sagte er. »Wir ist so immer auch eine Art Fieberkurve, an
haben den Geschmack von Freiheit und der sich ablesen lässt, wie wenig (oder viel)
Gleichheit in weit entfernte Ecken dieser Welt die Bürger gerade auf die Vernunft staatlichen
getragen. Ich weiß, dass wir auch das Justiz- Handelns vertrauen.
system ändern können.« Es war ein Gottesdienst. Missionseifer,
Am 6. April beginnt in Miami die Bitcoin Aufbruchsstimmung, Heilserwartung, alles
Conference 2022. Investoren, Spekulanten war da. Obwohl der Bitcoin ursprünglich vor
und Gläubige werden sich wieder einmal ver- allem als Zahlungsmittel konzipiert wurde,
sammeln, um das Kryptoevangelium zu pre- sehen die meisten seiner Anhänger in ihm vor
digen, und es wird sein wie in all den Jahren allem ein Spekulationsobjekt. 21 Millionen
zuvor: eine zukunftsgewisse, sehr amerika- Bitcoin wird es geben, diese Obergrenze hat

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 55


REPORTER

Nakamoto festgelegt. Je näher wir dieser


Grenze kommen, desto aufwendiger wird das
Das Krypto-Universum
Schürfen. Die Knappheit vor allem ist es, die Marktkapitalisierung BNB
den Kurs treibt. Die meisten kaufen Bitcoins, der größten Kryptowährungen*, Tether 67,3 USD Coin
um sie nach der erhofften Kursexplosion in Milliarden Dollar
80,9 52,4
gegen Dollar, Euro oder Renminbi einzutau-
schen.
»Freiheit plus Vertrauen gleich Bitcoin«,
sagte einer der Redner. Das Kursziel? 500 000,
vielleicht eine Million, gesehen auf drei, vier Ethereum
Jahre, ein Bilderteppich verknüpfte dazu die
Freiheitsstatue mit Kennedys Mond-Rede. 363,0 8. Nov. 2021
Und Tyler Winklevoss rief vergnügt: »Es ist 67.559
noch superfrüh.«
In Europa hätte der Bitcoin seine Zukunft 60.000
in diesem März beinahe hinter sich gehabt.
Im Europaparlament kursierte nämlich ein Bitcoin
Entwurf, der nach Ansicht seiner Anhänger
einem faktischen Verbot gleichgekommen 814,0 50.000
wäre.
Es ging darin um einen Rechtsrahmen und
um mehr Verbraucherschutz im Umgang mit
»Krypto-Dienstleistungen«. Grüne, Linke 40.000
und Sozialdemokraten hatten sich allerdings
für ein Verbot all jener Kryptodienstleistun-
gen starkgemacht, die nicht auf ökologisch
nachhaltigen Mechanismen beruhen. Ge- 30.000
meint war das Verfahren, mit dem unter an-
derem die Bitcoin-Blockchain arbeitet (»Proof
of work«) und das für seinen enormen Ener-
gieverbrauch verantwortlich ist. Volatile Währung Wert eines Bitcoin in Dollar* 20.000
Am Ende entschieden sich die Abgeordne-
ten des Ausschusses für Wirtschaft und Wäh-
rung für einen alternativen Vorschlag ohne
diese Passagen.
10.000
»Technologieverbote sind keine gute Idee«,
sagt der Gründungsdirektor der staatlichen
Agentur für Sprunginnovation, Rafael Lagu-
na de la Vera. »Wenn wir in Europa neue
Technologien verbieten, schneiden wir uns
auch von der weiteren Forschung daran ab. 2017 2018 2019 2020 2021 2022
* Stand: 24. März
Die klügsten und besten Köpfe und Start-ups
würden abwandern, neue und bessere An-
Digitaler Marktplatz Stromfresser
wendungen andernorts entstehen.« Die größten Kryptobörsen weltweit, Jährlicher Energieverbrauch für
Es ist eine der überraschendsten Begleit- tägliches Handelsvolumen 2021, das Schürfen von Bitcoins,
erscheinungen in der Geschichte der Digital- in Milliarden Dollar in Terawattstunden, 2021
währungen, dass Staaten und ihre Finanzauf-
sichtsbehörden dem Treiben so lange tatenlos Binance 21,1 Bitcoin 137
zugesehen haben. Ausgerechnet in einem der Huobi Global 4,3 zum Vergleich Stromverbrauch
ausgewählter Länder:
am schärfsten regulierten Lebensbereiche Coinbase
überhaupt konnte sich seit mehr als zehn Jah- Exchange
3,8 Deutschland 500
ren ein weitgehend unregulierter, globaler crypto.com 3,1
Schattenmarkt etablieren. Es sei wie im »Wil- Niederlande 111
den Westen«, sagte der Chef der US-Börsen- FTX 2,2
aufsicht fast staunend im vorigen Sommer; zum Vergleich: Schweiz 56
Frankfurter
erst im Januar dieses Jahres stellte er dann Börse 8,3 Neuseeland 41
einen »Senior Advisor« für Kryptofragen ein.
Verständlich wird die Untätigkeit, wenn
man Bitcoin und Co. als neue Technologie
begreift; bei den mittlerweile marktbeherr- Bitcoin to go Kanada Spanien Deutschland
Kryptowährungsautomaten 2394 224 40
schenden Internetkonzernen wie Facebook, weltweit, März 2022
Apple oder Google war es ja ähnlich: Der
Wunsch nach politischer Einhegung kam erst USA 32.409
auf, als diese praktisch kaum noch möglich
war. El Salvador Sonstige
205 1704
Das scheint sich nun zu wiederholen. Vor S Quellen: CoinMarketCap, Refinitiv Datastream,


Cryptoticker, Deutsche Börse, University of Cambridge, Coin ATM Radar


sieben Jahren nutzten rund 3 Millionen Men-
schen Bitcoin, heute sind es mehr als 81 Mil-

56 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


REPORTER

lionen. Mittlerweile gibt es mehr als halb und wegen der Erfahrung von Die Pioniere Rauchs für unwahrscheinlich. Der
18 000 Kryptowährungen, die von 1994 hält er Kryptowährungen für Wettstreit der Schürfer sei für das
mehr als 300 Millionen Menschen überflüssig: Weil sie so stark schwan- Netzwerk ein regelrechtes Dogma,

Photoshot / picture alliance / dpa


genutzt werden, jeden Tag werden es ken, taugten sie nicht zur Wertauf- sagt er. Und die Goldgräber hätten
mehr. bewahrung; weil sie kaum akzeptiert bei einer Abkehr von dem System ein
Aus Sicht der Bitcoin-Anhänger werden, seien sie kein geeignetes ganz praktisches Problem: »Ihre teu-
kann es wirksame staatliche Gesetze Tauschmittel. Der Bitcoin, sagt Cars- ren Computer würden praktisch wert-
oder gar Verbote gegen ihr vermeint- tens, sei nur für zwei Dinge gut: »zum los.«
lich »zensurfreies« Geld ohnehin Spekulieren und für Lösegeldzah­ Kryptojünger lassen sich von der
nicht geben. Genau dagegen habe lungen«. Klimadiskussion ohnehin nicht be-
Nakamoto seine Erfindung ja ge- Wegweisend für das weitere eindrucken: Das weltweite Banken-
schützt. Bitcoin, die man auf speziel- Schicksal der Kryptowährungen dürf- system und der Goldabbau ver-

A. Zemlianichenko / AP / dpa
len Speichermedien (und nicht etwa te sein, wie die US-Regierung sich brauchten viel mehr Energie, argu-
bei Onlinebörsen) sichere, seien der entscheidet. Anfang März ließ Fi- mentieren sie.
einzige Besitz, der nicht gepfändet nanzministerin Yellen in einer Mit- Fabian Gompf, den alle nur »Fabi«
oder beschlagnahmt werden könne, teilung durchblicken, dass auch dort nennen, empfängt in einer Berliner
glauben sie. wohl keine harten Kryptoverbote Hinterhofetage, in einem minimalis-
So einfach ist es nicht. Staaten kön- drohen. Der Bitcoin-Kurs stieg un- tisch-coolen Konferenzraum. Die
nen, so wie China im vergangenen Jahr, mittelbar danach um acht Prozent. Ukrainischer Digital­
Zentrale seines Arbeitgebers Parity
etwa das Schürfen und den Handel mit Die schöne neue Kryptowelt, das minister Fedorow, Technologies ist umgeben von Archi-
Kryptogeld auf ihrem Territorium ist bekannt, hat zudem ein schmutzi- Pussy-Riot-Aktivistin tekten, Beratern und einer Tanzschu-
untersagen. Neun Länder haben den ges Problem: Ihre Klimabilanz fällt Nadeschda Tolokon­ le. Gompf und seine Kollegen haben
nikowa: Krypto­
Kryptohandel komplett verboten, wie verheerend aus. Forscher der Univer- spenden für den Krieg
sich ein weiteres Währungssystem
aus einem Bericht der Library of Con- sität Cambridge schätzen, dass allein ausgedacht, eines der dritten Gene-
gress hervorgeht, 42 haben ihn zumin- das Bitcoin-Netzwerk jährlich mehr ration, das deutlich weniger Energie
dest eingeschränkt. El Salvador hin- Strom verbraucht als Norwegen oder verbraucht. Sie haben es Polkadot
gegen hat als erstes Land der Welt im die Ukraine, andere Kryptowährun- genannt, wie das Stoffmuster, ein
vergangenen September den Bitcoin gen noch gar nicht eingerechnet. »Der bisschen Ironie muss sein.
zum offiziellen Zahlungsmittel erklärt. Stromverbrauch riskiert zur existen- Das Berliner Start-up und sein
Ein Schwachpunkt der Kryptowelt ziellen Frage für den Bitcoin zu wer- neues Produkt sind Kryptofans welt-
sind auch die privaten Börsen  – den«, sagt Cambridge-Forscher Mi- weit ein Begriff, was an den Gründern
Unternehmen, die der Gesetzgebung chel Rauchs, der mit Kolleginnen und liegt. Gavin Wood und Jutta Steiner,
ihrer Standorte unterliegen und ohne Kollegen versucht, den Energiebedarf die inzwischen das Unternehmen ver-
deren Dienste sich die Coins nur des Bitcoins zu messen. lassen hat, gehörten auch zum Grün-
schwer wieder in Euro und Dollar Grund für den Stromhunger sind dungsteam von Ethereum, mittler-
tauschen lassen. Hier immerhin ha- die komplizierten Berechnungen, die weile nach Bitcoin die zweitwertvolls-
ben die Regierungen Regulierungen das Bitcoin-Netzwerk vor Manipula- te Kryptowährung.
beschlossen. Praktisch alle wichtigen tionen schützen sollen: »Proof of Als 2017 die ersten »Dots« ange-
Handelsplätze verlangen von ihren Work« (»Arbeitsnachweis«) heißt das boten wurden, gingen Einheiten im
Kunden inzwischen einen Identitäts- Konzept, bei dem die Bitcoin-Schürfer Wert von mehr als 144 Millionen Dol-
nachweis (»Know your customer«), beim Lösen komplizierter Rechenauf- lar weg. Aktuell liegt die Marktkapi-
ähnlich wie Banken bei der Konto- gaben wetteifern. Wer die mathema- talisierung bei mehr als 20 Milliarden
eröffnung. tischen Rätsel knackt, wird mit neuen Dollar. Wood hat es damit erneut
Besonders kritisch verfolgen all Bitcoins belohnt. Die geballte Rechen- nach ganz oben geschafft: auf Platz
jene das neue Geld, die bisher das leistung sorgt dafür, dass sich das Bit- elf von Tausenden Kryptowerten.
Monopol darauf besaßen, neues Geld coin-Netzwerk nicht einfach von An- NFTs, der Die Geschichte der Gelderfinder
zu schöpfen – die Währungshüter in
den Zentralbanken.
greifern kapern lässt – sie verbraucht
zugleich große Mengen Energie. »Je
jüngste Hype­ zieht Talente an, Leute wie Gompf.
Er hat in Aachen Wirtschaftsinge-
Agustín Carstens kennt sich aus in höher der Bitcoin-Preis steigt, desto nieurwissenschaften studiert und
dieser Welt, er weiß, was passiert, größer wird der Anreiz für die Bit­ dann in der Entwicklungsabteilung
wenn Menschen das Vertrauen in eine coin-Schürfer – und damit der Strom- von Porsche angefangen. Wie Mit-
Währung verlieren. Carstens ist Öko- bedarf«, erklärt Rauchs. Er verweist gründerin Steiner, die nach ihrer Pro-
nom, er arbeitete gerade bei der mexi­ auf Studien, wonach etwa 39 Prozent motion einst für McKinsey arbeitete,
kanischen Notenbank, als sein Hei- der Energie aus erneuer­baren Quellen hat Gompf seine Karriere in der klas-
matland während der »Tequila-Krise« stammen dürften. Das heißt aber sischen Wirtschaftswelt für das Pro-
RTFKT

ins Chaos stürzte. Eine Mischung aus auch: Die meisten Bitcoins werden jekt Kryptozukunft aufgegeben. Es ist
politischen Fehlern und unglück­lichen mithilfe fossiler Energien geschürft. ein anderer Kosmos, eine Parallelwelt.
Umständen hatte Ende 1994 eine Dabei ließe sich das energieinten- Was die Parity-Leute antreibt? Die
Kapi­talflucht ausgelöst. Die Bank von sive Kräftemessen der Bitcoin-Miner Unzufriedenheit mit dem herkömm-
Mexiko gab die Bindung des Pesos an vermeiden. Möglich macht das die lichen Web, sagt Gompf, die Unzu-
den Dollar auf, die Landeswährung sogenannte Proof-of-Stake-Methode, friedenheit mit seinen Machtstruktu-
Quelle: Twitter

verfiel. Letztlich, sagt Carstens, geht bei der Nutzer ihre Anteile als Sicher- ren: »Wir haben unser digitales Leben
es immer darum, welcher Art von heit hinterlegen, statt sich mit Re- nicht unter Kontrolle, das wollen wir
Geld die Menschen vertrauen. chenleistung zu überbieten. ändern.«
Inzwischen ist er bei der Bank für Bei Ethereum soll das neue Ver- Das Geschäftsmodell der großen
Motive von Nike,
Internationalen Zahlungsausgleich fahren noch in diesem Jahr eingeführt »Bored Ape Yacht
Digitalplattformen missfällt ihnen,
(BIZ) in Basel – eine Art Klassenspre- werden. Dass auch der Bitcoin um- Club«: Spaß an weil es viel Macht und sehr viel Geld
cher der Notenbanker der Welt. Des- schwenkt, hält Cambridge-Forscher der Übertreibung für wenige bedeutet und kaum Rech-

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 57


REPORTER

te und Mitbestimmung für die Nutzer vor- digitale Anlageobjekte verwandeln. Kunst Man kann anhand der Entstehungsge-
sieht. Der Firmenname Parity steht im Eng- und Immobilien sollen dabei nur der Anfang schichte der Digitalwährungen einiges lernen
lischen für Gleichwertigkeit. Der Einzelne sein, weitere Anlageklassen sind geplant. Köl- über die menschliche Natur: über die Lust am
soll souveräner werden, das Netz wollen sie zer ist kein Träumer, er hat schon einmal ein ­Neuen, über die Freude am Risiko, über den
gerechter machen. Unternehmen groß gemacht: Seine Devisen- Drang, Dinge zu verändern.
»We have to fix the internet«, schrieb Wal- handelsfirma 360T hatte er für 725 Millionen Und noch immer ist vieles an dieser Be-
ter Isaacson, der Biograf von Apple-Gründer Euro an die Deutsche Börse verkauft. wegung spielerisch, partisanenhaft, Happe-
Steve Jobs, kurz nach der Wahl von Donald Carlo Kölzer schwärmt von den Möglich- ning. Zugleich ist der Spaß an der Übertrei-
Trump zum Präsidenten der USA. Wir müs- keiten der »digitalen Zwillinge«. Museen bung, am Halbseidenen auch eine deutliche
sen das Internet reparieren. 40 Jahre nach könnten sich frisches Kapital verschaffen, in- Absage an die Vernunft früherer Generatio-
seiner Erfindung, so Isaacson, »hat das Inter- dem sie Token für die Werke in ihren Samm- nen, die mithilfe von Sparplänen, Bundes-
net angefangen zu korrodieren: sowohl sich lungen ausgeben und an Liebhaber verkaufen. anleihen, irgendwelchen Schatzbriefen und
selbst als auch uns«. Die Anteile sollen so leicht zu handeln sein vor allem der Macht des Zinseszinses von
Eine Art Reparaturprojekt also, angetrie- wie Aktien. Und bei jedem Weiterverkauf einem bescheidenen Wohlstand träumten.
ben durch den Kommune-Gedanken. Ein sollen die Urheber der Kunstwerke profitie- Krypto, das ist: Schnelligkeit, Smartness,
Web 3.0 soll so entstehen, dezentraler als bis- ren: »Und das nicht erst, wenn sie im Alter ein globales, digitales Monopoly. Eine Ge-
her, für alle, die ein gerechteres, besseres, an- berühmt geworden sind.« Eine Schweizer schichte der Extreme. Kreativität und Soli-
deres Internet wollen. Bank hat bereits Pablo Picassos »Fillette au darität einerseits. Aber auch kühle Berech-
Tatsächlich liegt hier das größte Verspre- béret« filetiert. Das Kunstwerk gehört den nung und Gier.
chen der Blockchain-Technologie verborgen: Käufern der insgesamt 4000 Token unmittel- Ein letztes Beispiel aus dem Ukrainekrieg.
nicht die bekannten Währungen wie Dollar bar, bleibt aber weiter in einer sicheren Lager- Digitalminister Fedorow und seine Leute
oder Euro durch etwas Neues zu ersetzen, halle. So dürften die Käufer ihren Picasso- ­hatten sich etwas ausgedacht, ein kleines
sondern das Internet selbst. Das ist das, was Anteil denn auch eher als Spekulationsobjekt branchenübliches Dankeschön an alle Spen-
Ijoma Mangold in der »Zeit« einmal den »uto- sehen – in der Hoffnung, dass der nächste derinnen und Spender. Sie alle sollten als An-
pischen Glutkern« von Bitcoin und Block- Interessent dafür noch höhere Preise zahlt. erkennung einen digitalen Token geschenkt
chain genannt hat. Während der Coronapandemie ist der bekommen – es wäre der erste sogenannte
Polkadot, sagt Gompf, könne man sich als Markt rund um die NFTs regelrecht explo- Airdrop eines Staates gewesen.
eine Art Basis vorstellen, für eine neue Web- diert – für Eigentumsnachweise auf der Block- Doch dann gingen vor dem angekündigten
Wirtschaft ohne Banken, Amazon oder Spo- chain werden irrwitzige Summen bezahlt. Stichtag plötzlich massenhaft Kleinstspenden
tify. In dieser Welt kann es beispielsweise eine Computergenerierte Bilder der comicartigen auf den Solidaritätsadressen der Ukraine ein,
Musik-Streamingplattform geben, in der Schimpansen aus dem »Bored Ape Yacht teils von unterschiedlichen Wallets derselben
Bands ihre Songs direkt an die Fans verkaufen, Club« oder den Cryptopunks wechselten für »Spender«. Augenscheinlich wollten sich
oder virtuelle Galerien für Non Fungible To- sechsstellige Dollarbeträge den Besitzer. Be- manche möglichst viele der Ukraine-Token
kens. Die eigentlichen Schöpfer, die Kreati- feuert wird der Trend durch die parallele Ent- sichern – in der Hoffnung, dass die staatlich
ven, sollen stärker von ihrer Arbeit profitie- wicklung neuer virtueller Welten wie Decen- ausgegebenen digitalen Dankesbeweise ir-
ren, die Mittelsleute (und die Provisionen) traland, wo sich mit eigenen neuen Krypto- gendwann deutlich mehr wert wären als die
fallen weg, das ist die Idee. Es geht auch um währungen ­alles Mögliche erstehen lässt: von Spenden selbst. Eine Kryptospekulation auf
neue Formen des Geldverleihs, um Finanz- Louis Vuitton über Gucci bis zum Sportartikel- Kosten der Kriegsopfer also.
produkte, Versicherungen. hersteller Nike haben Markenartikler längst Mindestens eine Gruppierung bereitete
Und neue Formen der Teilhabe. eigene NFT-Kollektionen herausgebracht. In sogar einen Fake-Token vor, der den offiziel-
Das Schlagwort heißt »Tokenisierung«: die der virtuellen Welt kann man nicht nur Grund- len Token der Ukraine imitieren und ihm zu-
(kleinteilige) Teilhabe an der Wirtschaft; an stücke kaufen, man kann mit den digitalen vorkommen sollte. Kurz vor der angekündig-
fast allem. Es geht Gompf und anderen darum, Wearables auch die eigenen Avatare ausstatten. ten Ausschüttung sagte Fedorow die Aktion
Bitcoin und die anderen Kryptowährungen 360X-Gründer Kölzer glaubt an einen deshalb wieder ab.
mal für einen Moment zu vergessen und die grundlegenden Wandel. Fast alles lässt sich Manche derjenigen, die sich bereichern
darunterliegende Technologie in den Blick zu investierbar machen, sagt er. »Wir werden wollten und dabei ertappt wurden, reagierten
nehmen, die Blockchain. Was sie bedeutet, was eine Demokratisierung von Investition und nicht etwa beschämt oder kleinlaut, sie be-
sie verbessern helfen könnte: die Überwachung Teilhabe sehen.« schwerten sich. Der erste staatliche »rug
von Kühlketten für Impfstoffe beispielsweise, Andere sind skeptischer. Die Kryptowäh- pull« sei das, ein in der Szene verbreitetes
elektronische Kataster oder die Verwaltung rungen, betont etwa der britische Fundamen- Betrugsschema, bei dem die Projektver­
von Patientendaten in Krankenhäusern. talkritiker Stephen Diehl immer wieder, hät- antwortlichen ihre Versprechen nicht ein-
Auch in der Finanzwelt werden längst ten 13 Jahre Zeit gehabt, ein Problem auszu- halten und oft mit den Erlösen spurlos ver-
Möglichkeiten durchgespielt, die weit über machen, das sie lösen könnten. Sie hätten schwinden.
Satoshi Nakamotos Bitcoin-Idee hinausge- kein einziges gefunden. Jede Kryptowährung, Auf die Zuwendungen aus der Krypto­szene
hen: Fast alles, von Fußballsammelkarten sagt Diehl, befinde sich auf einem jeweils eige- setzt das Land trotzdem weiterhin. Man wer-
über seltene Kunst bis zu Apartments, lässt nen Weg zu null. Das Web 3.0 hält er für de nach reiflicher Überlegung keine übertrag-
sich per Blockchain einem Besitzer zuordnen, »Bullshit«. baren Token ausgeben, heißt es. Stattdessen
tauschbar und damit investierbar machen. werde die Ukraine nun eigene NFTs erstellen
Tokenisierung bedeutet, dass reale Werte ein und verkaufen.
digitales Abbild erhalten, mit dem sich han- Eine Gruppe rund um eine Sängerin der
deln und spekulieren lässt. kremlkritischen Punkband Pussy Riot hat das
»Nicht jeder kann sich ein ganzes Gemäl- schon vorgemacht. Sie erlöste mit einer
de von Chagall kaufen, aber man wird sich ­Aktion, bei der man Anteile an einem NFT
ein kleines Stück davon leisten können«, sagt der ukrainischen Flagge erwerben konnte,
Carlo Kölzer, Gründer des Start-ups 360X. Anfang des Monats rund sieben Millionen
Die Frankfurter Firma, an der sich die Deut- Dollar.
sche Börse und die Commerzbank beteiligt Tim Bartz, Michael Brächer, Uwe Buse,
haben, will Gegenstände per Blockchain in Hauke Goos, Martin Hesse, Marcel Rosenbach n

58 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


REPORTER

etwas Verbotenes zu tun. Panzer­


quartett eben.
Natürlich gehörten meine Eltern
auch zu denen, die immer schon in
die DDR gefahren waren, nach Lenin-

Sowjets im Wohnzimmer
grad oder einmal bis Taschkent. Am
28. Januar 1985 (unsere Fotoalben
sind katalogisiert wie das Archiv des
Auswärtigen Amts) saßen zwei füh-
rende Mitglieder des »Komitees der
HOMESTORY  Wie in der friedensbewegten Familie von Alexander Smoltczyk Frauen der Sowjetunion« in unse-
während des Ukrainekriegs die Welt durcheinandergerät rem Wohnzimmer als »Freundschafts­
brücke« in der lebenswichtigen Frage
des Friedens. So stand es am nächsten

D
er Legende nach bekämpfte ich Tag in der Lokalzeitung.
die Wiederaufrüstung schon »Das ist das Schlimme«, sagt mei-
zur Adenauerzeit. Meine El- ne Mutter jetzt. »Dass das alles so
tern schoben mich im Kinderwagen kaputtgeht.« Sie habe sich immer
beim ersten Ostermarsch durch ­bemüht, den Kontakt zu Russen zu
Schneematsch zu einem Truppen- suchen, Pakete zu schicken. »Für
übungsplatz in der Lüneburger ­Heide. ­Berliner war das nicht einfach. Man
Mein Einsatz blieb, wie so vieles hatte uns an der Humboldt-Uni ge-
in der Militärgeschichte, vergebens. zwungen, Russisch zu lernen, auch
Heute üben auf dem Gelände Nato- als West-Berliner, was ich nie wollte.«
Panzer das Zielschießen. Das Verstö- Ganz zu schweigen von dem,
rende daran: Ich bin gerade nicht un- was eine Generation von Berliner
glücklich, dass sie das tun. Frauen, die bei Kriegsende 15, 16 Jah-
Meine Eltern sind Generation 90 re alt waren, miterleben musste. »Ich
plus. Sie haben die Nazizeit erlebt und habe immer daran geglaubt, dass
die Bombennächte in Berlin. Sie war- man die Vergangenheit mit Reden
teten während der Blockade 1948 auf und Besuchen und Ausgleich über-
die »Rosinenbomber« und erfuhren winden kann«, sagt sie. »Bis zu die-
von der Kubakrise aus der Zeitung. sem Jahr.«
Mein Vater half mit, ein Zivil- Seit dem 24. Februar hängt bei
dienstgesetz in der Bonner Republik meinen Eltern eine Pace-Regen­
durchzusetzen. Er hatte von der Al- bogenfahne im Balkonfenster. Aber
ternative zum Wehrdienst von einem mehr wie eine Erinnerung. Das Stück
englischen Besatzungsoffizier gehört, dass sie im Widerstand aktiv gewesen hat 40 Jahre lang als Sichtschutz im
Alec Dickson. Dem verdanke ich mei- waren. Das passte schon alles, und Keller gedient.
nen Vornamen. die Panzerquartette gab es bei den Meine Mutter sagt: »Es ist leicht,
Friedensbewegter als meine Fami- Kumpels. gegen den Krieg zu sein, wenn er in
lie geht kaum. Alle Kinder, die meis- Als es darum ging, Anfang der weiter Ferne stattfindet.« Sie sagt:
ten Enkel gingen später zur Aktion Achtziger die Nachrüstung zu ver- »Man muss umdenken, wenn auch
Sühnezeichen und leisteten Friedens- hindern, waren wir dabei. Meine widerwillig. Weil eine passive Gewalt-
dienst. Mutter stand in Menschenketten und losigkeit nicht durchzuhalten ist.«
Meine Mutter fuhr 1948 zu einem fuhr mit ihren »Ohne Rüstung le- Jetzt für ein Aufrüsten sein zu müs-
ersten deutsch-französischen Versöh- ben«-Freundinnen zu den Kirchen- sen und nicht mehr dagegen, Pflug-
nungscamp und las bei Antikriegs- tagen. Die lilafarbenen Halstücher scharen zu Schwertern umschmieden
feiern Gedichte von Erich Kästner: waren etwas peinlich, aber Eltern sind zu müssen, weil die im Kreml keine
»Und als der nächste Krieg begann / immer peinlich. andere Sprache verstehen: »Das ist
da sagten die Frauen: Nein / und Als Ronald Reagan Berlin besuch- eine große Enttäuschung.«
schlossen Bruder, Sohn und Mann / te, hängten wir aus Protest ein Trans- Und nun? »Never surrender«?
fest in der Wohnung ein.« Später parent an die Siegessäule (unlesbar, Oder nachgeben, um noch etwas zu
durften wir Kinder uns kein Panzer- weil im Wind verknotet) und versuch- retten, wofür es sich zu kämpfen
quartett und keine Spielzeugpistolen ten, die alliierte Militärparade durch lohnte? Ich selbst weiß es nicht, stehe
wünschen. Es gab quengelige Diskus- gewaltfreies Sitzen auf der Fahrbahn morgens als Gandhi auf und gehe
sionen, ob Wasserspritzpistolen noch zu stören. Im Nachhinein auch nicht abends als Churchill ins Bett.
unter die Kategorie »Waffen« zu zäh- ohne Peinlichkeitsmoment. Nicht so meine Mutter. Als ich sie
len seien. Derzeit widerstehe ich nur schwer anrufe, nach einer Talkshow, wo ohne
Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL

Ich erinnere mich, wie in unserer der Ästhetik eines durch die Land- Anführungszeichen vom dritten Welt-
Siedlung ein Nachbar das Bein hinter- schaft rasenden Leopard-2-Panzers. Ich stehe krieg geredet wurde, sagt sie: »Man
herzog und sich komisch steif beweg- Ich lese das tägliche Bulletin eines morgens als muss sich wehren. Man kann nicht
te. Das war »der Soldat« und damit »Institute for the Study of War« und ein ganzes Volk opfern. Es wäre eine
genauso exotisch wie die einzige ka- lerne Vokabeln wie »thermo­bari­ Gandhi auf und Schuld für Generationen, jetzt nicht
tholische Familie der Straße, die mit sche Bomben«, »Zielsuchkopf« und gehe abends einzugreifen und diese Menschen zu
den sechs Kindern. »manngestützte Boden-Luft-­Rake­ retten.«
Manchmal kamen alte Leute zu te« – nicht ohne Neugier und Inte­ als Churchill Das hat mich überrascht. Und es
Besuch, von denen ich später erfuhr, resse. Aber immer mit dem Gefühl, ins Bett. war nicht peinlich. n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

Daniel Reinhardt / dpa


Container im Hamburger Hafen

Weniger Wachstum in der Eurozone


KONJUNKTUR  Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni korrigiert seine Prognose wegen des Ukrainekriegs
nach unten – ESM-Chef Klaus Regling sieht bislang keine Verwerfungen an den Finanzmärkten.

D ie EU-Kommission erwartet wegen des Ukrainekriegs eine


spürbare Abschwächung der Konjunktur im Euroraum. Das
zeigen interne Protokolle. Er rechne mit einer Wachstums-
einbuße von 0,4 Prozentpunkten in diesem Jahr, erklärte Wirt-
die Volkswirtschaften der Eurozone durch ihre Unterstützung der
­Ukraine zu und weil sie versuchten, die hohen Energiepreise
für Wirtschaft und Bürger abzufedern. Eine beruhigende Nachricht
hatte Klaus Regling, der Chef des Europäischen Stabilitätsmecha-
schaftskommissar Paolo Gentiloni vergangene Woche beim Treffen nismus (ESM), für die Runde parat. Er berichtete, dass der bewaff-
der Eurogruppe, der Runde der Finanzminister der Währungs- nete Konflikt und seine ökonomischen Auswirkungen bislang zu
union. Kurz vor Kriegsausbruch hatte er noch ein Plus von vier Pro- keinen größeren Verwerfungen auf den Finanzmärkten geführt hät-
zent für 2022 vorausgesagt. Als Risikofaktoren benannte er an­ ten. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sicherte seinen Kol­
haltende Preissteigerungen für Energieträger und andere Rohstoffe legen trotz der unsicheren wirtschaftlichen Lage zu, dass Deutsch-
sowie Probleme bei Lieferketten. Zusätzliche Kosten kämen auf land ab 2023 die Schuldenbremse wieder einhalten werde. REI

FDP fordert bessere an der EU-Taxonomie, mit der gütern nun per se als schädlich te hervorzuheben, sollte die EU
die Staatengemeinschaft sozial definiert würde, hätte diese besser das soziale und umwelt-
Bedingungen für und ökologisch wertvolle Wirt- ­Industrie ein Finanzierungspro- bewusste Verhalten von Unter-
Rüstungsindustrie schaftsaktivitäten definieren blem.« Genau das aber sehen nehmen insgesamt bewerten«,
will. »Die europäischen Regie- Vorschläge für die Weiterent- fordert die Vizepräsidentin
NACHHALTIGKEIT  Die Libera- rungschefs haben beschlossen, wicklung der Taxonomie-Re- des EU-Parlaments. »Auch Bun-
len im Europaparlament wollen dass Europa ein starker sicher- geln vor, die bestimmten Bran- deswehrhelme können auf
wegen des Ukrainekriegs die heitspolitischer Akteur werden chen günstigere Bedingungen ­öko­logische und soziale Weise
­Finanzierungsbedingungen für soll«, sagt die FDP-Europa­ auf den Kapitalmärkten ver- hergestellt werden.« Ziel sei,
die Rüstungsbranche verbessern. abgeordnete Nicola Beer. »Falls schaffen sollen. »Anstatt also eine leistungsstarke Verteidi-
Dazu fordern sie Änderungen die Herstellung von Rüstungs- einzelne Sektoren oder Produk- gungsindustrie aufzubauen. MSA

60 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


Energiekonzerne Energie- und Wasserwirtschaft
(BDEW), die die Gespräche mit
fürchten der Bundesnetzagentur führen,
Milliardenklagen hatten zuvor deutlich gemacht,
dass sie der Behörde keine kon-
UKR AINEKRIEG  Bei einem kreten Unternehmen nennen
Stopp russischer Gaslieferungen würden, die von der Versorgung
fürchten die Energiekonzerne abgeschnitten oder rationiert
Schadensersatzklagen in Mil- werden könnten. In drei Ar­
liardenhöhe durch Unterneh- beitsgruppen wollen Verbände

Daniel Roland / AFP


men, die nicht mehr ausrei- und Behörde nun Kriterien für
chend mit Gas versorgt werden Abschaltungen erarbeiten und
können. Die Versorger sollen technische Details klären. Dabei
deshalb bei einer vertraulichen dürfte relevant sein, ob Fabri-
Sitzung von der Bundesnetz- ken heruntergefahren werden

»Im Sommer wird es an der


agentur verbindliche Kriterien können und ob es um Produkte
eingefordert haben, nach denen geht, die lebenswichtig sind

­Börse schwierig«
die Behörde über die Beliefe- oder in den Lieferketten drin-
rung der Industriebetriebe ent- gend benötigt werden. BDEW-
scheidet. Ein nationaler Notfall- Geschäftsführerin Kerstin
plan sieht bisher vor, dass bei ­Andreae hatte die Regierung
GELDANLAGE   Trotz aller Widrigkeiten legte der Dax
sinkendem Gasdruck zuerst am Donnerstag aufgefordert,
­private Haushalte versorgt wer- die Frühwarnstufe auszurufen. zuletzt stark zu. Doch die Hausse könnte bald enden.
den. Industriebetriebe müssen Der Vorstoß sollte offenbar
mit Rationierung oder Abschal- Tempo in die Vorbereitungen Henning Gebhardt, ist relativ klar, dass die Zentral-
tung rechnen. Der Bundesver- bringen. »Wir müssen Tacheles 54, ist einer der er- banken, allen voran die ameri-
band der Deutschen Industrie reden«, soll sie in einer Video- folgreichsten deut- kanische, nicht so stark die
van Lachner / VISUM

und der Bundesverband der runde gesagt haben. IH, GT  schen Fondsmana- ­Zinsen anheben können wie ge-
ger. Nach Stationen dacht, weil die Rezessionsgefahr
bei der Deutsche- für die Wirtschaft größer wird.
Tesla-Auto lenkt ten nicht. Das Lenkverhalten Bank-Tochter DWS SPIEGEL: Aber müssten wegen
bei Ein- und Ausfahrten oder und der Vermögens­ der drohenden Rezession nicht
wie ein »betrunkener Autobahnkreuzen sei schwam- verwaltungssparte bei Berenberg die Kurse sinken?
Fahranfänger« mig und gleiche dem eines ist er nun Gesellschafter und Gebhardt: Noch ist es ja nicht so
­»betrunkenen Fahranfängers«. ­Geschäftsführer der Fondsgesell- weit, zumal die Alternativen
MOBILITÄT  Der Elektroauto- Ampeln und Stoppschilder wür- schaft HollyHedge Consult. fehlen. Das sehen Sie schon da­
pionier Tesla musste vor dem den nicht erkannt. Der US-Kon- ran, dass viele Investoren aus
Landgericht Darmstadt eine zern hingegen erklärt, ihm sei SPIEGEL: Herr Gebhardt, der Anleihen aussteigen und wieder
empfindliche Niederlage einste- keine Fehlfunktion von Soft- Deutsche Aktienindex hat seit in Aktien investieren. Wenn die
cken. Der Halter eines Model-3- ware oder Hardware am Fahr- 8. März 11,4 Prozent zugelegt, Inflation steigt, sind reale Ver-
Fahrzeugs erhob gegen den zeug bekannt, die nicht durch obwohl der ­Ukrainekrieg immer mögenswerte die bessere Alter-
US-Konzern schwere Vorwürfe: eine Reparatur hätte behoben blutiger wird und die Inflation native, also Aktien, Immobilien
Sein Fahrassistenzsystem, das werden können. Die nötige davoneilt. Was ist da los? und Rohstoffe.
Tesla als »Volles Potenzial für ­Aufrüstung auf den neuesten Gebhardt: Krieg und Inflation SPIEGEL: Worauf also sollten
autonomes Fahren« vermarktet, Hardware-Stand wäre laut Tesla sind für den Markt schwer zu die Anleger in den nächsten
weise Mängel auf. Ihm sei ein kostenfrei erfolgt. Systeme verarbeiten. Es ist klar, dass sich Wochen achten?
Softwarepaket für 6300 Euro und Features funktionierten wie etwa die Inflation irgendwann Gebhardt: Vor allem, nicht ihr
verkauft worden, das mit der in vorgesehen und in Überein­ negativ in den Geschäftszahlen Geld auf dem Girokonto zu
seinem Auto verbauten Hard- stimmung mit den derzeitigen vieler Unternehmen nieder- ­lassen. Dafür ist die Inflation
ware nicht kompatibel sei. Die Regularien zum autonomen schlagen wird, aber wann ge- zu hoch. Attraktiv bleiben Ak-
Folge: Assistenzfunktionen wie Fahren in Deutschland. Das nau, ist unklar. Das Gleiche gilt tien von Unternehmen mit
das automatische Überholen ­Gericht verurteilte Tesla jedoch, für den Krieg. Niemand weiß, Preismacht, also Telekom-Kon-
von langsameren Fahrzeugen den Kaufpreis von knapp wie lange er noch dauert und zerne, Versorger oder namhafte
auf der Autobahn funktionier- 69 000 Euro zurückzuerstatten. wie schlimm es wird. Haushaltswarenhersteller, die
Der Konzern habe fahrlässig SPIEGEL: Warum hat sich die ihre steigenden Produktions­
­gehandelt, indem er »eine Soft- Stimmung ab dem 8. März ins kosten an die Verbraucher wei-
ware veräußerte, deren Funk- Positive gedreht? tergeben können. Außerdem
tion nicht verwendet werden Gebhardt: Dafür gibt es drei Unter­nehmen mit gesunden
konnte, ohne dass zumindest Gründe. Der Markt war »über- ­Bilanzen. Schwierig wird es für
eine Nachrüstung notwendig verkauft«, also sehr stark gefal- Firmen aus dem produzieren-
ist«. Tesla hat gegen das Urteil len, sodass eine Aufwärtsbewe- den Gewerbe, weil die am
Be­rufung eingelegt. Kläger­ gung beinahe zwangsläufig stärksten ­darunter leiden, dass
anwalt Christoph Lindner sieht kommen musste. Zudem ver- Liefer­ketten reißen und die
Alex Plavevski / epa

in dem Urteil ein Signal, dass dichteten sich damals die Anzei- ­Erzeugerpreise steigen. Insge-
der US-Hersteller »für selbst­ chen, dass die Widerstandskraft samt wird es im Sommer
bewusst proklamierte Produkt- der Ukraine größer sein könnte schwierig an der Börse ange-
eigenschaften auch rechtlich als angenommen. Der dritte sichts der unübersichtlichen
Tesla Model 3 einstehen muss«. SH und wichtigste Grund: Seither Nachrichten­lage. BAZ

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

Viel hilft wenig


CORONA   Vor zwei Jahren wurden die ersten Geschäfte wegen der Pandemie geschlossen,
die Bundesregierung legte das größte Hilfsprogramm der Geschichte auf. Was hat es
gebracht? Und was lässt sich daraus lernen für die nächste Krise, die ja längst begonnen hat?

Geschlossenes
Modegeschäft
2021

Michael Weber / imageBROKER / picture alliance

340
Milliarden Euro
6
Millionen Menschen
29  0 00
Unternehmen
hat die Pandemie an waren im April 2020 in meldeten 2020 und
Wertschöpfung gekostet. Kurzarbeit. 2021 Insolvenz an.

62 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


WIRTSCHAFT

E
igentlich hätte Alexander von sprünglich veranschlagten 600 Mil- schafften, deren Niedergang die
Preen, 56, keinen Grund zur liarden Euro zur Verfügung. So viel
Prinzip Volkswirtschaft aber dennoch Steuer-
Klage. Seine Intersport-Gruppe Geld, dass es nun womöglich für Fir- Gießkanne einnahmen und sozialversicherungs-
hat ihren Umsatz 2021 um 14 Prozent men umgewidmet werden könnte, die pflichtige Jobs kosteten. Und das Ar-
Coronahilfen des
auf mehr als zweieinhalb Milliarden wegen der Sanktionen gegen Russ- Bundes und der gument der nicht ausgeschöpften
Euro gesteigert, das Onlinebusiness land in Schwierigkeiten geraten. Bundesagentur für Hilfstöpfe ließe sich auch umdrehen:
brummt, und auch die mehr als 900 Worauf man im Wirtschaftsminis- Arbeit seit 2020, Wurden die Gelder nicht abgerufen,
Sportartikelhändler seiner Einkaufs- terium besonders stolz ist: wie un- in Mrd. Euro weil die Not nicht groß genug war –
genossenschaft in Deutschland schrei- bürokratisch und rasch das Ganze Zuschüsse oder waren die Zugangshürden
ben seit einigen Monaten wieder abgewickelt worden sei. Binnen Wo- (Über- schlichtweg zu hoch?
schwarze Zahlen – manch einer wirt- chen habe man eine Software in Auf- brückungs-, Die Industrie ist für künftige Kri-
Neustart- 67,4
schaftet gar besser als vor der Pande- trag gegeben, mit der Firmen Unter- und Sofort- sen wohl noch am besten gerüstet –
mie. Die Deutschen sind ja gerade stützung beantragen konnten. Die hilfen) auch wenn sie unter den hohen Ener-
sehr aktiv. bekamen dann automatisch eine ers- Kredite
giepreisen besonders leidet. Während
Und doch sitzt Preen, grauer Pul- te Abschlagszahlung ausgezahlt. So aus KfW- der Pandemie profitierten die Kon-
li, bunte Turnschuhe, in der Heilbron- etwas sei bis dahin unmöglich gewe- Sonder- 56,2 zerne fast durchgehend von vollen
ner Sonne und regt sich auf. Grund- sen, »weil die nötigen Informationen programmen Auftragsbüchern, es gab kaum Fa­
sätzlich sei man ja dankbar für die nur bei den einzelnen Finanzämtern Kurzarbeit brik­schließungen, und obendrein
Coronahilfsangebote des Staates. liegen«, erinnert sich der ehemalige (Kurzarbeiter- wurde das Kurzarbeitergeld großzü-
Nur: Reibungslos funktioniert habe Staatssekretär Ulrich Nußbaum. Er geld, Sozial- 42,0 gig gewährt. Viele Mittelständler da-
davon kaum etwas. Im Gegenteil. Die habe da Tempo gemacht, auch mal leistungen aus gegen warten noch immer darauf,
Kurzarbeit)
Soforthilfe: »Ein Flickenteppich an Verträge unterschrieben, »ohne sich dass die im Frühjahr 2021 eingeführ-
Regelungen, in jedem Land galt etwas an alle Gepflogenheiten zu halten«. WSF te Überbrückungshilfe III überhaupt
anderes«, urteilt Preen. Die Überbrü- Nun sei man durchdigitalisiert und (Wirtschafts- ausgezahlt wird. Von den Nachfolge-
stabilisierungs- 9,0
ckungshilfe: »Ein bürokratisches gut gerüstet, komme, was wolle. fonds) programmen gar nicht zu sprechen.
Monster«, das mit jeder neuen För- Klingt nach: Mission erfüllt, Wirt- Mancher Branche, etwa der Gastro-
Bürg-
derung seine Gestalt geändert habe schaft gerettet, auf zu neuen Krisen! schaften 6,5 nomie, wurden Ausfälle großzügig
und das viele noch immer nicht ge- Tatsächlich ist das Land für die vom Staat ausgeglichen, mitunter
zähmt hätten. Einzig das Kurzarbei- nächste Rezession, ausgelöst etwa S Quellen: BMWK, BA;
€ überkompensiert. Selbstständige,
Stand: 22. März 2022
tergeld sei »tatsächlich gut gelau- durch hohe Energiepreise und die Kulturschaffende oder Start-ups fie-
fen« – allerdings nur, weil viele Unter- Russlandsanktionen, schlecht gerüs- len hingegen weithin durchs Raster.
nehmer aus eigener Tasche etwas tet. Knapp 340 Milliarden Euro hat Unternehmen wie Omio. Das Ber-
draufgelegt hätten, schimpft der Ma- die Pandemie das Land an Wert- liner Start-up hätte die Hilfe des Staa-
nager. Sein nüchternes Fazit: »Ich schöpfung gekostet, so haben es For- tes dringend gebraucht. Omio ermög-
fürchte, man hat aus alldem kaum scher des Instituts der deutschen licht grenzüberschreitende Reise­
etwas gelernt.« Wirtschaft gerade ausgerechnet. Das buchungen per App, simpel, günstig –
Fast auf den Tag genau vor zwei meiste davon sei unwiederbringlich und während einer weltweiten Pan-
Jahren, am 22. März 2020, wurden verloren, weil es sich um ausgeblie- demie nahezu nutzlos. »Innerhalb
in Deutschland die ersten Geschäfte bene Konsumausgaben handelte. einer Woche haben wir 98 Prozent
wegen Corona vom Staat geschlos- Ja, die Arbeitsmärkte seien über- unserer Einnahmen verloren«, sagt
sen. Der Shutdown kam – und mit raschend »robust« gewesen, aber das Gründer Naren Shaam, mit den rest-
ihm das größte Subventionspro- Land sei immer noch nicht wirklich lichen zwei Prozent musste er das
gramm der Geschichte. Unvorstell- resistent gegen Schocks. Zu viel Büro- Unternehmen am Laufen halten –
bare 181 Milliarden Euro hat der Staat kratie, zu viel Gießkanne, keine und sich dabei durch einen Wust an
an Unternehmen gezahlt, als Sofort-, ­klaren Zuständigkeiten, ständig neue staatlichen Hilfsangeboten wühlen.
Überbrückungs- oder Neustarthilfe, Prozesse, Regeln, Vorschriften, glau- Das Ergebnis war ernüchternd:
über KfW-Kredite und den Wirt- ben Experten. Man könnte sagen: Um WSF-Mittel bemühte sich das
schaftsstabilisierungsfonds (WSF) für Deutschland ist immer noch zu Unternehmen bislang vergebens. Die
große Konzerne. Allein das Kurz- deutsch. Corona Matching Fazilität, ein Vehi-
arbeitergeld verschlang 42 Milliarden Steffen Müller vom Leibniz-Insti- kel, das die Gelder privater Investo-
Euro. Kein Unternehmen, so das Ver- tut für Wirtschaftsforschung Halle ren mit staatlichen Mitteln aufstocken
sprechen, solle aufgrund der Pande- kann den Subventionen, mit Ausnah- sollte, scheiterte schon daran, dass
mie Insolvenz anmelden müssen. me des Kurzarbeitergelds, kaum et- viele Investoren die rechtlichen Vor-
Die Bundesregierung lobt sich erst was Gutes abgewinnen. Die Instru- aussetzungen oft nicht erfüllen konn-
mal selbst. Die »umfassenden Hil- mente seien in ihrer bisherigen Form ten. Von den zur Verfügung stehen-
fen«, befindet das Wirtschaftsminis- »kaum geeignet, um künftig zielge- den 1,2 Milliarden Euro wurde nicht
terium, hätten »die Wirtschaft und nau auf konjunkturelle Großlagen zu einmal die Hälfte abgerufen – für 230
den Arbeitsmarkt stabilisiert« und reagieren, etwa auf die Folgen des Start-ups. Am Ende stemmten Privat-
»ihre Wirkung entfaltet«. Die be- Krieges für die deutschen Unterneh- leute die 100 Millionen Euro für
fürchtete Massenarbeitslosigkeit men«. Zwar sei die Zahl der insolven- Omio aus eigener Kraft. »Die einzig
durch Corona sei ausgeblieben. Auch
die niedrigen Insolvenzzahlen sowie
ten Betriebe weiterhin auf einem
niedrigen Stand – die Summe der be-
»So darf wirkliche staatliche Unterstützung,
auf die wir zählen konnten, war Kurz-
die kaum abgerufenen Nothilfsmittel troffenen Jobs 2020 jedoch so hoch das nicht arbeit«, sagt Shaam.
zieht Berlin gern als Beweis dafür
­heran, dass doch alles halb so schlimm
gewesen, wie seit der Finanzkrise
2008 nicht mehr.
noch mal So frustrierend lief es häufig. Die
zu Beginn der Krise großspurig an-
gekommen sei – den vielen Milliar- Zudem zeigen die Zahlen kaum laufen.« gekündigten Unterstützungen des
den sei Dank. Allein im WSF stehen das wahre Bild, weil es kleinere Plei- Alexander Kritikos, damaligen Wirtschafts- und des Fi-
noch mehr als 98 Prozent der ur- tiers erst gar nicht in die Statistik Ökonom nanzministers hätten sich als oft hilf-

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

14
los erwiesen, sagt Intersport-Manager Preen. das aber ist passiert.« Der Fehler sei gleich zu
Die Bazooka von Peter Altmaier und Olaf Beginn gemacht worden, als die Bundes­
Scholz – Schall und Rauch? Sehr viele seiner regierung entschieden habe, die Subventio-
Genossenschaftsmitglieder hätten in der
Corona­krise eigene Reserven einsetzen müs-
Prozent nen über das Wirtschaftsministerium abzu-
wickeln. Dort habe es für diesen Fall keiner-
sen, Firmenwagen, Immobilien, Anlagen und lei Abläufe, Prozesse und Beamte gegeben,
Sparguthaben beliehen und verpfändet, um Umsatz »da musste erst eine entsprechende Büro-
irgendwie zu überleben. »Ich verstehe etwas legte kratie aufgebaut werden«.

Bernd Weißbrod / picture alliance / dpa


anderes unter der Ankündigung der Bundes- In Ländern wie Italien, England, Belgien
regierung, niemanden alleinzulassen.« ­Intersport oder Österreich lief das Ganze über die Fi-
Preen denkt dabei an Fälle wie den von 2021 zu. nanzämter. Dort lägen alle wichtigen Daten
Christian Heinzel, der im baden-württember- schon vor, um »zielgenau und weit weniger
gischen Biberach seit 27 Jahren ein Sportge- betrugsanfällig« zu helfen, so Kritikos. »Das
schäft führt. Der Laden lief gut, die Umsatz- wäre auch für Deutschland der wesentlich
rendite genügte stets, um die Kredite zu be- Manager Preen bessere Weg gewesen.«
dienen. Im April 2020, das Geschäft war Tatsächlich wurde auch diese Idee in Ber-
gerade wenige Wochen dicht, bekam die Fir- lin diskutiert – und vom damaligen Bundes-

35
ma 30 000 Euro Soforthilfe aus Stuttgart. finanzminister Olaf Scholz (SPD) schnell ver-
Seine Frau, sagt Heinzel, sei nachts um zwei worfen. Die Finanzämter seien geübt darin,
aufgestanden, um den Förderantrag auszu- Gelder einzusammeln, aber nicht darin, sie
füllen, als das entsprechende Onlineformular
freigeschaltet war. Eine viertel Million Euro
Millionen zu verteilen. Das eigentliche Problem lag
wohl anderswo: Das Bundesfinanzministe-
hätten sie allein im ersten Shutdown verloren. Euro rium hat keinen direkten Zugriff auf die ört-
Es habe jeden Cent gebraucht. Also verhan- lichen Ämter. Sie unterstehen seit dem Zwei-
delten sie parallel mit ihren Lieferanten spä- verbrannte ten Weltkrieg den Ländern. Eine neue deut-
tere Termine für die Ware und mit der Bank sche Zentralregierung, waren die Alliierten
die einjährige Stundung der Kredite.
die Invite- wohl überzeugt, solle niemals direkt über die

Rober t Brembeck / DER SPIEGEL


Nun, so Heinzel, bekomme er für all das Gruppe finanziellen Ressourcen des ganzen Landes
»die Quittung«. Weil durch seine umsichtigen in der verfügen können.
Maßnahmen die tatsächlichen Umsatzaus- Diese Schwachstelle besteht bis heute fort,
fälle nicht so gravierend gewesen seien, wie Pandemie. weil die Länder nicht von ihrer Macht lassen
noch 2020 gedacht, muss der Unternehmer mögen – und sie behindert effiziente, digita-
Hotelier Haas
womöglich die komplette Soforthilfe an die lisierte Prozesse. Mitunter sind nicht einmal
landeseigene L-Bank zurückzahlen. So hat es die Softwareprogramme der einzelnen Län-

1Milliarde
ihm sein Steuerberater mitgeteilt. Hätte er im derfinanzdirektionen kompatibel. Mit Ab-
ersten Shutdown nichts unternommen, sich sicht, ätzt ein hoher Steuerbeamter. So ver-
»zurückgelehnt«, dürfte er das Geld wohl be- fügt der Bund auch weiterhin über keine
halten, glaubt Heinzel. Er fühlt sich von der ­Institution, mit der er den größten Teil von
Politik »an der Nase herumgeführt«. Wirtschaft und Bevölkerung direkt erreichen
Alexander Kritikos vom Deutschen Insti- Euro könnte.
tut für Wirtschaftsforschung hat die staatli- Finanzminister Christian Lindner (FDP)
chen Pandemiehilfen analysiert. Fazit: »So setzt hat das Defizit gerade in der Auseinander-
darf das nicht noch mal laufen.« Die Politik setzung um Tankrabatt, Mobilitäts- und Ener-
müsse das dringend besser aufbauen.
­Ernsting’s giegeld erlebt. Nun sollen seine Fachleute
Fünf Kritikpunkte hat Kritikos ausge- family um – eruieren, ob künftig das Bundeszentralamt
macht. Zum ersten die Verbindlichkeit. Bei zu viel für für Steuern, bisher lediglich eine Art Koordi-
jedem neuen Programm, bei jeder neuen Hil- nierungsstelle zwischen Bund und Ländern,
Staatshilfe.
Peter Wattendor ff

fe, sagt er, sei nachjustiert worden, wofür die diese Aufgabe übernehmen könnte.
Mittel verwendet werden dürfen. Bei der So- In den Tiroler Alpen zeigt sich auf 1250
forthilfe etwa habe es zuerst geheißen, sie Manager Homann Metern, wie es auch hätte laufen können. Jörg
könne auch für den Lebensunterhalt der Haas öffnet die dicke Holztür zu seiner »Haa-
Selbstständigen genutzt werden. Das wurde es viele Selbstständige, Kreative im Home­ senhütte«, einem Chalet mit riesiger Glasfront
dann wieder gestrichen. Die Gelder sollten office etwa, die statt mit 5000 Euro Umsatz und Blick auf die Berge. Zwölf solcher luxu-
zurückgezahlt werden, »manchen wurden im Monat auf einmal mit null dastanden – bei riöser Berghütten hat Haas 2017 nahe Ischgl
strafrechtliche Konsequenzen angedroht«. kaum fixen Kosten, die man ihnen hätte er- errichtet, führt sie zusätzlich zu seinen vier
Das habe dazu geführt, dass weniger als die setzen können. Hotels und dem Dutzend Restaurants in
Hälfte der Bedürftigen die ihnen zustehenden Ohnehin habe es viel zu lange gedauert, Deutschland: 65 Millionen Euro setzte seine
Hilfen beantragt hätten. bis einmal beantragte Gelder endlich auch Invite-Gruppe vor Corona um, war schulden-
Auch die Frage, wem geholfen werde, hält ausgezahlt worden seien, Punkt vier. Dabei frei, hatte sieben Millionen Euro flüssige Mit-
Kritikos für überarbeitungswürdig. Anfangs belege seine Forschung, dass jede Hilfe ihren tel. »Aber das ist in zwei Monaten weg, wenn
habe es geheißen, man lasse niemanden fal- Effekt einbüße, je länger sie brauche. Immer du 100 000 Euro am Tag verbrennst«, sagt
len – und Solo-Selbstständige dann auf Hartz neue Programme zu entwickeln, wie in Haas. Er hat den direkten Vergleich zwischen
IV verwiesen. »Fast schon zynisch« sei das. Deutschland geschehen, sei »weit weniger Deutschland und Österreich.
Dies führe zu Punkt drei, der Zielgenauig- verlässlich« als ein auf Dauer angelegter Topf. Hierzulande ließ man sich erst einmal Zeit.
keit der Hilfen. Insgesamt sei das alles »ein Sein größter und wichtigster Kritikpunkt Von der Beantragung des staatlichen Darle-
unrundes Paket«, weil man von Anfang an aber ist der Papierkram. Ein Förderregime zu hens im April 2020 bis zu dessen Auszahlung
vor allem fixe Betriebskosten ersetzt habe, bauen, das im Laufe der Monate immer büro- vergingen anderthalb Jahre. Bei der Novem-
Miete etwa oder Strom und Gas. Dabei gebe kratischer werde, sei nicht hilfreich. »Genau berhilfe, um die er im Herbst 2020 ersuchte,

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WIRTSCHAFT

dauerte es mehr als neun Monate, bevor das


Geld auf dem Konto lag.
In Österreich kamen die ersten Corona­
hilfen schon im dritten Quartal 2020. »Die
Österreicher haben erst mal gezahlt, die Deut­
Der Aufstieg
schen erst mal geprüft«, sagt Haas. Dabei
wisse jeder Unternehmer: »Liquidität ist Kö­
nig. Wir haben in 21 Monaten Pandemie
35 Millionen Euro verbrannt.« Am Ende, sagt
zur Weltmacht
Haas, seien alle Hilfen über 23 Millionen Euro
fast wie beantragt geflossen. Allein die Un­
gewissheit und das lange Warten hätten ihn
Innerhalb weniger Jahrzehnte schufen
»kirre« gemacht. Zwischenzeitlich habe er muslimische Krieger das größte Reich
sein komplettes Privatvermögen in die Firma
gesteckt. »Was da an Nerven und Unterneh­ ihrer Zeit. Und es wirkt bis heute.
mertum draufgegangen ist, sind die kaum be­
zifferbaren Kosten der Pandemie.«
Davon kann auch Timm Homann ein Lied
singen. Verzweifelt hatte der Geschäftsführer
der Kleidungskette Ernsting’s family in der
Pandemie versucht, Wirtschaftshilfen für sei­
ne 2000 zeitweise geschlossenen Filialen zu
beantragen. Vergebens. Mit einer Milliarde
Jetzt
Euro Umsatz und 12 000 Mitarbeitern sei im Handel
sein bodenständiges Coesfelder Familien­
unternehmen zu groß für die Programme,
wurde ihm beschieden. Er sei behandelt
­worden »wie ein Turbokapitalist«, klagt Ho­
mann. Man wisse ja nicht, wohin solche Hil­
fen am Ende fließen würden, habe er von
einem Bundesminister zu hören bekommen,
womöglich auf die Konten reicher Eigen­
tümerfamilien mit ihren Jachten oder gleich
in die Schweiz. »Unsäglich beleidigend«, fin­
det Homann.
Stolz liest er Dankesbriefe von Mitarbei­
tern vor, weil Ernsting’s das Kurzarbeitergeld
in der Coronakrise komplett aufstockte. In­
vestitionen wurden verschoben, die nicht
­verkäufliche Ware aus dem Winter 2020 ein­
gelagert. Das Verständnis der Bundesregie­
rung für solche Probleme sei »erschreckend
schlicht«, sagt der Manager. Ein hochrangiger
Politiker habe ihm geraten: »Storniert doch
einfach die Ware.« Als könnte ein Händler
seine Bestellung zurückschicken wie ein Paket
von Amazon. Ernsting’s Eigentümerfamilie,
sagt Homann, habe sich noch nie auf Kosten
eines Lieferanten saniert.
Nach den vielen »enttäuschenden Gesprä­
chen« mit der Politik vermisst der Manager
vor allem Ehrlichkeit. Statt von einer »Ba­
zooka« für alle zu sprechen, hätte man in
Berlin klar sagen müssen, dass auch die Wirt­
schaft Opfer bringen müsse. »Das hätten wir
verstanden und gemeinsam Wege gesucht«,
sagt Homann, der im Präsidium des Handels­
verbands HDE sitzt.
Im vergangenen Oktober gab es für Erns­
ting’s dann doch noch ein passendes Hilfs­
programm, die Überbrückungshilfe III. Einen
zweistelligen Millionenbetrag hat Homann
sogleich beantragt. Ob das Geld jemals bei
ihm ankommt? Vielleicht ja rechtzeitig zur
nächsten Krise, die sich bereits abzeichnet.
Simon Book, Markus Dettmer,
Kristina Gnirke, Anton Rainer, ­
Christian Reiermann, Gerald ­Traufetter n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

alternativen Milieu wie früher die gelb-rote


»Atomkraft? Nein danke«-Sonne.
Inzwischen macht sich Pragmatismus breit.
Zum einen ergänzt die EU ihre Vertragsent-

TTIP, aber nachhaltig


würfe neuerdings um Nachhaltigkeitskapitel,
die es den Aktivisten der Umweltbewegung
schwer machen, die Abkommen abzulehnen.
Zum anderen sind die Verträge ein wichtiges
Werkzeug der Brüsseler Geopolitik, deren
WIRTSCHAFTSPOLITIK   Handelsverträge waren lange verpönt. Bedeutung rapide gewachsen ist.
Seit dem Ukrainekrieg setzt die EU wieder auf dieses Seit Europa etwa beschlossen hat, sich im
Konflikt mit Putin vom Handel mit Russland
Instrument, auch, um die Rohstoffversorgung zu sichern. weitgehend abzukoppeln, sucht die Staaten-
union in großem Stil neue Bezugsquellen.

J
acinda Ardern ist eine Politikerin, wie sie men mit Usbekistan, und neue Verträge rasch Nicht nur für Gas, Öl und Kohle, sondern
sich viele Europäer wünschen. Die neu- zum Abschluss bringen. Mit anderen Worten: auch für wichtige Rohstoffe wie Lithium.
seeländische Premierministerin versteht Der Blockade gegen Russland folgt eine neue Kommissionsvize Dombrovskis hat seine
sich als Kämpferin für Frauenrechte und so- Öffnung zum Rest der Welt. Beamten deshalb beauftragt, alsbald einen
ziale Gerechtigkeit. Dazu passend hüllt sie Hat der frühere lettische Ministerpräsident Bericht vorzulegen, welche Länder und Re-
sich gern in traditionelle Maori-Gewänder. Erfolg, wäre es die Wende von der Wende. gionen dabei als Vertragspartner in Betracht
Das Foto, das sie nach dem Attentat von Jahrzehntelang hatte die Staatengemeinschaft kommen könnten.
Christchurch in tröstender Umarmung mit Deals mit anderen Ländern oder Handels- »Strategische Autonomie« lautet der
Angehörigen und Opfern zeigt, ging um die blöcken geschlossen, um Zölle zu senken, Schlüsselbegriff, unter dem sich die EU schon
Welt. Ardern, urteilte eine US-Zeitschrift, sei Marktbarrieren abzubauen und geistiges seit Längerem aus der Abhängigkeit einzelner
die »wahrscheinlich effektivste Führungskraft Eigentum zu schützen. Bis heute hat die EU dominanter Handelspartner befreien will.
der Welt«. mehr als 66 solcher Vereinbarungen getroffen, Brüssel soll deshalb wichtige Industrien zu-
In diese Kategorie ordnet sich auch Ursu- die rund ein Drittel des EU-Güteraustauschs rück nach Europa holen, fordert Frankreichs
la von der Leyen ein. Und so können es die ausmachen. Im vergangenen Jahrzehnt indes Präsident Emmanuel Macron.
Beamten der EU-Kommissionschefin kaum waren die Handelsabkommen plötzlich aus Eine naheliegende Idee, aber auch eine
erwarten, dass sich die beiden Politikerinnen der Mode gekommen. allzu simple, wie inzwischen selbst die pro-
voraussichtlich Ende Juli treffen werden, um Erst scheiterten die europäisch-amerika- tektionistisch ausgerichteten Beamten im
ein europäisch-neuseeländisches Handels­ nischen TTIP-Gespräche nicht zuletzt an der ­Pariser Élysée-Palast bemerkt haben. »Die
abkommen zu unterzeichnen. Inklusive Bild- Angst vor amerikanischen Agrarprodukten bessere Strategie besteht darin, sich möglichst
termin vor blau-gelbem Sternenbanner in der wie chlorgereinigten Hühnchen. Dann pro- viele Partner in möglichst vielen Teilen der
Brüsseler EU-Zentrale. testierten Tausende gegen die Investitions- Welt zu suchen«, sagt Bernd Lange (SPD),
Das Foto soll nicht nur westliche Frauen- schutzregeln im Ceta-Abkommen mit Kana- Vorsitzender des Handelsausschusses im
power demonstrieren, sondern auch eine da, das inzwischen zwar in Kraft gesetzt, aber Europaparlament. »Auch deshalb sollten wir
neue EU-Strategie im Konflikt mit den bis heute nur in Teilen ratifiziert ist. Und die Arbeit an neuen Abkommen verstärken.«
­Macho-Kriegern im Kreml. Weil die Sank- schließlich legte die EU ihr fertiggestelltes Verschärfend kommt hinzu, dass die Welt-
tionen und Gegensanktionen nach Wladimir Abkommen mit den lateinamerikanischen handelsorganisation als Schiedsrichter und
Putins Ukraine-Invasion das globale Han- Mercosur-Ländern auf Eis. Aus Protest gegen Organisator des globalen Warenverkehrs
delssystem aushebeln, wollen die Europäer die Regenwaldabholzung des brasilianischen weitgehend ausfällt. Der Westen will Russ-
wieder vermehrt zweiseitige Abkommen mit Präsidenten Jair Bolsonaro. Zeitweise war land nicht mehr als gleichberechtigten Partner
befreundeten oder rohstoffreichen L ­ ändern der »Ceta stoppen«-Button ein ebenso un- anerkennen; dagegen wehrt sich Moskau, was
schließen. Neben dem Vertrag mit Neu­ trügliches Erkennungszeichen im links­ die Arbeit der Genfer Weltbehörde seit
seeland sollen in den nächsten Monaten ­Wochen lahmlegt. Termine platzen, Gremien
­Abkommen mit Chile und Mexiko abge- sind nicht beschlussfähig, Ministerräte werden
schlossen und Gespräche mit Australien verschoben. »Solange die Organisation in der
­vorangetrieben werden, und das ist erst der Krise steckt, sind zweiseitige Abkommen die
Anfang. beste Alternative«, sagt EU-Parlamentarier
In Berlin fordert Finanzminister Christian Lange.
Lindner, die Gespräche über ein umfassendes Russland zu isolieren ist der akute Zweck
Handels- und Investitionsabkommen mit den der neuen EU-Strategie, das eigentliche Ziel
USA wiederzubeleben. In Afrika und Asien aber ist China. Die Volksrepublik hat nicht nur
geben sich europäische Politiker die Klinke klargestellt, dass sie sich mit ihrer autokrati-
in die Hand, um Öl, Gas oder Kohle einzu- schen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
kaufen. Und in Brüssel will der zuständige als Systemalternative zum Westen versteht.
Kommissionsvize Valdis Dombrovskis eine Sie baut auch ihren globalen Einfluss durch
ganze Serie von Verhandlungen starten, um geschickte Handels- und Vertragspolitik aus.
Europas Versorgung zu sichern. Vor anderthalb Jahren hat Peking den
»Wir müssen uns bei Rohstoffen wie Kup- Handelsblock RCEP mit 14 Staaten aus dem
fer oder Nickel von Russland lösen und nach asiatisch-pazifischen Raum gegründet, der
Fiona Goodall / Getty Images

anderen Lieferanten Ausschau halten«, sagt fast ein Drittel des Welthandels umfasst.
er. »Hier kommen unsere Freihandelsabkom- ­Zugleich führt die Volksrepublik weitere Ge-
men ins Spiel, die helfen können, unseren spräche, mit europäischen Ländern wie Nor-
Bedarf aus möglichst vielen Weltregionen zu wegen und Moldawien oder mit dem Han-
decken.« Brüssel werde existierende Verträge Neuseeland-Premierministerin Ardern delsblock der Golfstaaten, darunter Saudi-
überarbeiten, etwa das Partnerschaftsabkom- Arabien und Katar. Die Beziehungen zur EU

66 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


WIRTSCHAFT

Ivan Alvarado / REUTERS


haben sich dagegen merklich ver- und Verkehrswende benötigt. Vor Lithiumabbaustätte hoben hat. Schwierige Debatten ste-
schlechtert, seit sich die Handels- allem der Vertrag mit Chile sei »für in Chile: Ein neuer hen der Berliner Regierung bevor;
Pragmatismus macht
mächte im Streit um Menschenrechte die Rohstoffversorgung von großer sich breit zugleich ist unübersehbar, dass die
mit Sanktionen überziehen und Chi- Bedeutung«, sagt EU-Kommissar neue Lage in der Welt auch im linken
na Produkte aus Litauen boykottiert. Dombrovskis. Die Abkommen mit Lager die Haltung in Handelsfragen
Das Land hatte es gewagt, Taiwan die Mexiko sowie den Mercosur-Ländern verändert hat, zum Beispiel beim grü-
Eröffnung einer diplomatischen Ver- wiederum könnten der europäischen Lizenz zum nen EU-Parlamentarier Reinhard Bü-
tretung in Vilnius zu erlauben. »Han- Investitions- und Konsumgüterindus- Handeln tikofer. »Solange die Verträge euro-
delspolitik ist heute in Teilen der trie Absatzmärkte sichern, um den päische Werte wie Nachhaltigkeit,
Außenpolitik untergeordnet«, sagt Verlust des Russlandgeschäfts auszu- Länder mit EU- Demokratie und Gerechtigkeit wider-
André Sapir, der beim Brüsseler gleichen. Handelsabkommen spiegeln, wüsste ich nicht, warum wir
nach ihrem Anteil am
Thinktank Bruegel über die Globali- Solange der Rechtspopulist Bolso- Warenverkehr 2020*,
grundsätzlich dagegen sein sollten«,
sierung forscht. »Das hat die EU erst naro in Brasília regiert, wird es wohl in Prozent sagt der altgediente Außenpolitiker.
mit einiger Mühe lernen müssen.« kaum zu einem Mercosur-Deal kom- »Das muss von Fall zu Fall abgewo-
Das jüngste Ergebnis dieses Er- men. Doch wenn bei den anstehen- Schweiz gen werden.«
kenntnisprozesses ist das Comeback den Wahlen im Oktober sein sozialis­ 21,5 Die Zustimmung zu neuen Han-
der Handelsverträge, mit denen Brüs- tischer Konkurrent Luiz Inácio »Lula« Türkei delsverträgen wächst, in Brüssel wie
sel unterschiedliche Ziele verfolgt, da Silva gewinnt, könnte sich das 11,3 in Berlin. Wer eine größere geopoli-
wirtschaftliche wie außenpolitische. schnell ändern. Zu groß sind die Vor- Japan tische Rolle Europas fordert, so heißt
Der Vertrag mit dem Fünf-Millionen- teile, die eine Öffnung der Märkte in 9,4 es auf den Chefetagen von Ministe-
Einwohner-Staat Neuseeland zum Brasilien, Argentinien und Uruguay rien und EU-Kommission, darf nicht
Norwegen
Beispiel ist ökonomisch eher unbe- Europas Konzernen bringen würde. zur selben Zeit das wichtigste Instru-
7,8
deutend. Er zeigt indes, wie wichtig Das gilt auch für den Vertrag mit ment dafür aus der Hand geben.
Brüssel die Beziehungen zu anderen Kanada. Das Land ist nicht nur ein Südkorea Ein Kritiker hat seine Bedenken
westlichen Demokratien sind. verlässlicher Bündnispartner, es ver- 7,7 bereits zurückgestellt, zumindest was
So ist es auch beim Handels- und fügt auch über wichtige Rohstoffe und Kanada das Abkommen mit Neuseeland an-
Technologierat, den EU und USA ver- Vorprodukte. Über Düngemittel et­ 4,6 geht. Ende vergangenen Jahres hatte
gangenes Jahr gegründet haben. Das wa, auf deren Einfuhr Europa drin- Mexiko Frankreichs Präsident Macron einen
Gremium soll kein umfassendes Han- gend angewiesen ist, seit Russland 4,4 feierlichen Vertragsabschluss noch
delsabkommen nach TTIP-Vorbild und Belarus als Lieferanten ausfallen. verhindert, weil er fürchtete, dass ihm
aushandeln. Sondern gemeinsame Geht es nach der EU-Kommission, Singapur das im Präsidentschaftswahlkampf
3,5
Regeln und Standards für die Digital- könnte der Ceta-Vertrag zur Platt- schaden könnte. Das bereits anbe-
wirtschaft schaffen, als Gegengewicht form für eine geplante Rohstoff­ Ukraine raumte Treffen zwischen Kommis-
zu den technologiepolitischen Offen- offensive der EU werden. 3,4 sionschefin von der Leyen und der
siven Chinas. Noch ist unklar, wie sich die Ber- Marokko neuseeländischen Premierministerin
Bei den Gesprächen mit Chile und liner Ampelkoalition dazu verhält, 3,0 Ardern wurde kurzfristig abgesagt.
Australien hat Brüssel die Energie- nachdem das Bundesverfassungs­ »Das«, heißt es nun in Brüssel,
* von 67 EU-Präferenz-
und Rohstoffvorkommen im Blick, gericht jüngst keine grundsätzlichen handelspartnern »wird nicht noch mal passieren.«
die der Staatenbund für seine Klima- Einwände gegen das Abkommen er- S Quelle: EU-Kommission Michael Sauga  n


Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

beralen eher als Unmöglichkeitsmi- jeden Prozentpunkt, den das Zins-


nister in Erinnerung behalten. Vieles niveau steigt, werden in den Anfangs-
von dem, was sich spätere Regierun- jahren zusätzlich mehr als drei Mil-
gen an Ausgaben wünschen, werden liarden Euro an Kapitaldienst nötig.

Lindners halbe
sie sich schlicht nicht leisten können. Lindners Rückzahlungsraten sind
Grund dafür ist die Schuldenbrem- ohnehin nur die halbe Wahrheit. Statt
se. Sie verlangt von der Bundesregie- 11,1 Milliarden Euro könnte leicht

Wahrheit
rung nicht nur, in Normaljahren be- auch das Doppelte fällig werden. Der
reinigt von Konjunktureinflüssen Finanzminister berücksichtigt bei
höchstens 0,35 Prozent der Wirt- ­seinem Tilgungsplan bislang weder
schaftsleistung an neuen Schulden das »Sondervermögen Bundeswehr«
aufzunehmen. Die Vorgabe will Lind- noch den Ergänzungshaushalt, für
HAUSHALT   Mit seiner Verschuldung auf ner vom nächsten Jahr an wieder den in Berlin Größenordnungen von
­einhalten. bis zu 50 Milliarden Euro kursieren.
Vorrat engt Finanzminister Lindner Die Grundgesetzvorschrift ver- Zusammen ergeben sich so noch ein-
den Spielraum künftiger Regierungen massiv pflichtet die Regierung zudem dazu, mal 150 Milliarden Euro an zusätz-
ein. Allein die fälligen Tilgungen verschlingen alle Schulden, die Lindner und sein lichen Schulden, die in der nächsten
Vorgänger Olaf Scholz (SPD) per Generation zur Rückzahlung an­
20 Milliarden Euro pro Jahr. Und da sind Ausnahmegenehmigung während der stehen. Gilt auch für sie eine Tilgungs-
­steigende Zinsen nicht mal eingerechnet. Pandemie aufgenommen haben, wie- frist von 30 Jahren, fallen jährlich
der zurückzuzahlen. Nach einer in- weitere fünf Milliarden Euro an.
ternen Vorlage des Bundesfinanzmi- Nirgendwo taucht zudem der deut-

Ü
ber das Profil seines neuen Jobs nisteriums (BMF) geht es für 2020 bis sche Anteil am kreditfinanzierten Co-
pflegte Finanzminister Chris- Ungebremst 2022 um eine Summe von 344 Mil- rona-Wiederaufbauprogramm »Next
tian Lindner (FDP) von An- liarden Euro. Generation EU« auf. Dafür durfte die
Neuverschuldung des
fang an eine feste Vorstellung. »Ich Bundes, in Mrd. Euro Die Tilgung sollte eigentlich be- Brüsseler Kommission erstmals in
verstehe das Bundesministerium der reits nächstes Jahr einsetzen, doch großem Umfang Schulden aufneh-
Finanzen als ein Ermöglichungsmi- Höchstwert laut das wäre wenig komfortabel für die men, die die Mitgliedsländer durch
Schuldenbremse
nisterium«, formulierte er kurz nach Koalitionäre. So verfielen sie darauf, höhere EU-Beiträge tilgen müssen.
Amtsantritt. zusätzlich die Rückzahlung erst 2028 zu starten, Auf künftige Kassenhüter kommen
aufgenommene
Seitdem macht der FDP-Chef so Schulden angeblich steht das im Einklang mit dadurch mindestens weitere 3,4 Mil-
einiges möglich. Besonderen Eifer EU-Vorgaben. Der Vorteil: Erst die liarden Euro im Jahr zu. Alles in allem
entwickelt er, wenn es darum geht, 2022 kommende Regierung muss die Zeche muss die nächste Regierung jährlich
immer wieder frische Milliarden für 80,6* 99,7* zahlen. Im Jahr 2058 soll die letzte rund 20 Milliarden Euro für die Til-
den Bund zu mobilisieren, bei Bedarf 2021 Rate fließen. Das betrifft dann nicht gung von Altschulden aufbringen;
auch am Geist der Schuldenbremse 193,9 215,4 nur die nächste, sondern schon die Geld, das ihr für andere Zwecke fehlt.
vorbei. Die Grundgesetzvorschrift 2020 übernächste Generation. »Finanzielle Handlungsspielräume
nennt er ohne Scheu vor künstlichem 69,6 130,5 In diesem ziemlich langen Zeit- wird es auf Jahre nur in homöopathi-
Pathos »Befehl unserer Verfassung«, raum werden jährlich 11,1 Milliarden schen Dosen geben, sollten im Bun-
was den Major der Reserve aber nicht * ohne Ergänzungshaushalt Euro an Tilgung fällig, rechnet das deshaushalt die strukturellen Proble-
davon abhält, zuweilen ziemlich un- S Quelle: BMF BMF vor. Zinskosten sind in diesem me nicht gelöst werden«, bemängelt


gehorsam zu agieren. Betrag noch nicht berücksichtigt. Da- Christian Haase, Chefhaushälter der
Kaum im Amt, verschob Lindner bei dürften die Zeiten von Nullzinsen CDU/CSU-Bundestagsfraktion. »Ei­
60 Milliarden Euro an nicht genutz- bis Ende des Jahrzehnts endgültig ne Erblast in dieser Größenordnung
ten Kreditermächtigungen gegen die vorbei sein. Mit heftigen Folgen: Für ist eine schwere Hypothek für die
Coronapandemie in einen Schatten- Nachfolgeregierung.«
haushalt. Die Mittel möchte er auf- Der früher übliche Weg, mit den
sparen für Investitionen in den Klima- Schulden fertigzuwerden, indem alte
schutz. Sein Haushaltsentwurf für Verbindlichkeiten einfach durch neue
2022, den er diese Woche einbrachte, abgelöst werden, ist verbaut. Das ver-
sieht neue Schulden von 99,7 Milliar- bietet die Schuldenbremse. Auch ist
den Euro vor. Doch diese Summe nicht garantiert, dass künftiges Wachs­
wird wegen des Ukrainekriegs nicht tum für ausreichend Mehreinnah­-
reichen, weshalb Lindner zugleich men sorgen wird, um die Kredite zu
einen Ergänzungshaushalt ankündig- tilgen.
te. Wie hoch der ausfallen wird? So bleiben Lindners Nachfolgern
Schulterzucken. Dazu kommen noch vier Möglichkeiten: Sie können Aus-
jene 100 Milliarden Euro für das gaben kürzen, die Steuern erhöhen
»Sondervermögen Bundeswehr«, um oder eine Mischung aus beidem auf
in den nächsten Jahren die marode den Weg bringen. Als letzte Möglich-
Truppe besser auszustatten. keit bliebe, die Schuldenbremse ab-
Was Lindner betreibt, ist Verschul- zuschaffen.
dung auf Vorrat in großem Stil. Das Allen Varianten ist gemeinsam,
verschafft der aktuellen Koalition dass sie unpopulär sind. Tröstlich für
Andreas Chudowski

Handlungsspielraum, künftige Regie- Lindner: Wenn er so weitermacht,


rungen engt es hingegen massiv ein. muss er wohl nichts davon selbst auf
Wer immer dem FDP-Mann im Fi- Minister Lindner den Weg bringen.
nanzressort nachfolgt, wird den Li- Christian Reiermann n

68 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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Moskau an der Spree


IMMOBILIEN  Reiche Russen kauften in Berliner Nobelvierteln jahrelang Villen
und Luxuswohnungen auf. Besonders umtriebig war der Oligarch und
Putin-Freund Arkadij Rotenberg. Der hat seine Investments aber bestens kaschiert.

E
ine Villa im noblen Berliner Stadtteil Brücke vom russischen Festland auf die an- Der SPIEGEL stieß bei seinen Recherchen
Schmargendorf, umgeben von meter- nektierte Krim. Seit 2014 steht Rotenberg aber auch auf andere prominente Namen der
hohen Eibenhecken und einem Metall- auch deswegen auf der Sanktionsliste der Moskauer Elite. Die Tochter des ehemaligen
zaun. Der Innenhof wird von einer Kamera Europäischen Union. Sein Vermögen soll in Präsidenten Michail Gorbatschow, Irina Wir-
überwacht. An der Tür steht kein Name. EU-Ländern eingefroren werden. ganskaja, erwarb 2020 für 4,8 Millionen Euro
Wenn man klingelt, macht keiner auf. Das scheint ihn nicht davon abgehalten zu ebenfalls ein Grundstück im Wildentensteig,
Eine Nachbarin sagt, dass noch nie jemand haben, kräftig auf dem Berliner Immobilien- ein paar Meter von den Rotenbergs entfernt.
in dem Haus gelebt habe. Ein Gärtner und eine markt mitzumischen. Hinweise darauf gibt es Hinzu kommt eine weitere Immobilie in
Haushälterin kämen hin und wieder vorbei, auch bereits seit Jahren. Bei der unbewohnten Villa Grune­wald. Schwer aktiv auf dem Berliner
Handwerker, mehr nicht. Es habe sich aber am Wildentensteig führen die Spuren zu sei- Immobilienmarkt ist auch die Ehefrau von
herumgesprochen, wem das Anwesen im Wild- ner Tochter Lilija und einer zyprischen Firma, Jewgenij Giner, Industrieller und Präsident
entensteig gehöre. Rotenberg? Die Dame nickt. die zumindest zeitweise dem Oligarchen zu- des Zentralen Sportklubs der Armee (ZSKA)
Arkadij Rotenberg ist ein enger Vertrauter gerechnet wurde. Moskau, einem staatsnahen Fußballklub, der
von Wladimir Putin. Die beiden Männer sind Die Hauptstadt genießt den Ruf, einer der auf der US-Sanktionsliste steht.
seit ihrer Jugendzeit befreundet. Putin stieg beliebtesten Orte zu sein, an denen reiche Dass bei den Häusern häufig Ehefrauen
zum Herrscher über Russland auf, Rotenberg Russinnen und Russen ihr Geld anlegen. In oder Kinder ins Grundbuch eingetragen sind
zum »König der Staatsaufträge«, wie der den vergangenen Jahren kauften sie insbe- oder fantasievoll ersonnene Firmenkon­
­russische Ableger des Wirtschaftsmagazins sondere im Westen der Stadt große Anwesen strukte als Eigentümer herhalten, scheint Me-
»Forbes« stichelte. auf. Die extravaganten Neubauten prägen das thode zu haben. Das soll es den Behörden
Dank milliardenschwerer Geschäfte mit Bild mancher Straßen in Dahlem oder Grune- schwer machen, die wirtschaftlich Berechtig-
dem russischen Staat wurde Rotenberg mär- wald. Allein die Familie von Arkadij Roten- ten zu ermitteln.
chenhaft reich. Auf Wunsch von Putin baute berg beteiligte sich an mindestens vier Im- Jahrelang wollte es in Berlin auch niemand
seine Firmengruppe eine 19 Kilometer lange mobilienprojekten in exklusiver Lage. so genau wissen. Immobilienmakler verdien-
ten blendend an den Transaktionen, genauso
wie Anwaltskanzleien und Notare. Und na-
türlich der Senat, der Millionen an Grund-
erwerbsteuer einstrich.
Seit Putins Einmarsch in die Ukraine ist es
mit der Ruhe vorbei. Die Oligarchen und ihre
sagenhaften Reichtümer sind zum Ziel einer
weltweiten Treibjagd von Ermittlern geworden.
Als eine der begehrtesten Trophäen gilt
Arkadij Rotenberg. Wie bei so vielen Oligar-
chen begann sein Aufstieg in den wilden
Neunzigerjahren, als die Sowjetunion zusam-
mengebrochen war. Sein erstes Geld verdiente
Rotenberg mit einer Tankstellenkette und
einer Wach- und Schließgesellschaft in Sankt
Petersburg. Zusammen mit Putin, der damals
stellvertretender Bürgermeister war, gründete
er dort einen Judoklub. Rotenberg machte
Boxen und Judo zum Thema seiner Doktor-
arbeit. Kampfsportler, so schrieb er, neigten
oft zur Kriminalität. Sie seien »Repräsentan-
ten des aggressiven Teils der Gesellschaft«.
Wann genau er anfing, in Berlin zu inves-
Mikhail Svetlov / Getty Images

tieren, ist unklar. Im Jahr 2002 kaufte seine


damals 24-jährige Tochter Lilija eine Woh-
nung am Grunewald, die ihr bis heute gehört.
Zu dieser Zeit amtierte Wladimir Putin zum
ersten Mal im Kreml und festigte sein Macht-
Judofreunde Rotenberg, Putin 2019 system. Rotenberg nahm darin eine wichtige
Position ein.

70 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


WIRTSCHAFT

Er gründete mit seinem jüngeren Auf eine Anfrage hin meldet der
Bruder Boris eine Bank und bekam Mann sich und lädt zum Frühstück
im Laufe der Zeit immer mehr Staats- ins »Wiener Conditorei Caffeehaus«
aufträge zugeschanzt, etwa im Bau- am Hagenplatz ein. Zwischen älteren
und Energiesektor. Auch ein Teil der Damen mit auffällig straffer Haut und
Wodkaproduktion gelangte unter schmalen Nasen bestellt er Räucher-
seine Kontrolle. Für den Bau der lachs und Bier. Er wolle etwas klar-
­Brücke zur Krim verlieh ihm später stellen. Fragen zur Herkunft der
Wladimir Putin persönlich den Orden Kaufsumme beleidigten ihn, sagt der
»Held der Arbeit«, eine der höchsten Russe in gutem Deutsch. »Ich bin ein
Auszeichnungen des Landes. hoch bezahlter Manager, einer der
Im Jahr 2005 wurden die Roten- besten Russlands, wenn nicht sogar
bergs in größerem Stil auf dem Ber­ in Europa.« Im Übrigen habe ihm sein
liner Immobilienmarkt aktiv. Dieses früherer Arbeitgeber eine Medaille
Mal war Arkadij über seine zyprische für den Kampf gegen Geldwäsche
Firma Olpon Investments selbst be- verliehen.
teiligt. Er und Lilija erwarben von der Er greift in seine Tasche und zieht
Bundesrepublik Deutschland ein das Schreiben einer internationalen
1860 Quadratmeter großes Grund- Wirtschaftsprüfungsgesellschaft her-
stück in der Pücklerstraße, auf dem vor. Die Firma habe sein komplettes

DER SPIEGEL
sie eine strahlend weiße Luxusvilla Vermögen durchleuchtet, sagt er und
Rotenberg-Villa in Berlin
errichteten. 2016 veräußerte Arkadij präsentiert eine Tabelle mit seinem
seine Anteile an Lilija sowie an eine angeblichen Einkommen, darunter
zuvor schon beteiligte Firma seines Gesetzgebung in Deutschland, mit »Berlin ist für viele hohe siebenstellige Summen.
Bruders Boris, obwohl er zu diesem Immobilien-Deals Geld zu waschen. »Die Kaufsumme war nicht mal die
Zeitpunkt bereits auf der EU-Sank- Die reichen Russen präferierten mich und Hälfte meines Jahresgehalts.«
tionsliste stand. wieder den alten Westen der Stadt. meine Frau Nur warum hat er das Anwesen
2008 schlugen die Rotenbergs er-
neut in Berlin zu. Für 1,8 Millionen
Besonders beliebt waren die mondä-
nen Villenviertel am Grunewald und
die liebste dann nicht selbst erworben? Weil er
in Russland Geschäfte mit einfluss-
Euro erwarben sie jenes Filetgrund- Lagen rund um den Kurfürstendamm Stadt nach reichen Leuten gemacht habe, be-
stück im Wildentensteig und bauten mit seinen Nobelboutiquen und Fein- Moskau.« hauptet er. Und da könne man nie
eine Villa drauf, die heute verlassen kostläden. Die russischen Investoren wissen, ob man sich mit den Falschen
Ein russischer
daliegt. Den Kaufvertrag für die 1850 hätten vorzugsweise Grundstücke mit Banker anlege – und sein Vermögen über
Quadratmeter unterzeichnete wieder heruntergekommenen Villen oder Nacht verliere.
Tochter Lilija, aber nicht im eigenen Freiflächen gekauft, berichtet ein Als Putin die Ukraine überfiel, sei
Namen, sondern für die Firma Rotex Makler, der damals viele Objekte ver- er gerade in der EU unterwegs ge-
GmbH aus Berlin. mittelte. Kaum waren die alten Häu- wesen. Mit seinem zyprischen Pass
Arkadij Rotenberg wurde offenbar ser abgerissen, verwirklichten die könne er nun in Berlin bleiben. Seine
immer vorsichtiger. Sein Name tauchte Eigner ihre Träume von Luxusvillen Villa wird gerade fertiggestellt. »Ber-
weder im Kaufvertrag noch bei Rotex mit Säulen, Marmor und Granit. lin ist für mich und meine Frau die
auf. Doch 94 Prozent an Rotex ge- Wem genau die Protzhäuser ge- liebste Stadt nach Moskau.« Über
hörten zeitweise einer anderen zy­ hören, lässt sich bis heute nur schwer Putin und die Ukraine will er nicht
prischen Firma namens Palmoto Hol- durchschauen. Die Mitarbeiter in den reden.
dings, hinter der er stecken soll. Fra- Berliner Amtsgerichten, die die Auch den Namen Jewgenij Giner
gen dazu lässt der Putin-Vertraute Grundbücher führen, stellt das vor sucht man vergebens in Berliner
unbeantwortet. große Probleme. Sie sollen Käufer Grundbüchern. Der schwerreiche In-
Für »Businessmeni« wie den Ro­ und Verkäufer mit den Finanzsank- vestor gilt als enger Freund des Putin-
tenberg-Clan schien Berlin der per- tionslisten abgleichen. Doch was, Vertrauten Roman Abramowitsch.
fekte Ort für ihr Geld zu sein. Russi- wenn die Immobilien GmbHs gehö- Die beiden vereint eine Leidenschaft
sche Emigranten haben eine lange ren, deren Hinterleute verborgen für hochklassige Fußballvereine:
Tradition in der Stadt. Infolge der bleiben? Oder Strohmännern? Oder Während sich Abramowitsch beim
Oktoberrevolution 1917 strandeten Verwandten? Zudem machten den englischen Erstligisten FC Chelsea
über Hunderttausend Bürgerkriegs- Beamten die unterschiedlichen Schreib- einkaufte, engagierte sich Giner in
flüchtlinge an der Spree, darunter weisen der russischen Namen zu Russland beim ZSKA Moskau, der
Aristokraten, Großbürger und Intel- schaffen, heißt es aus der Verwaltung. nun von den Sanktionen des Westens
lektuelle. In den Salons von »Char- Auffällig sind die Transaktionen betroffen ist.
lottengrad« verkehrten Dichter wie eines Geschäftsmanns, der jahrelang Statt Giner taucht in den Berliner
Alpha / Agency People Image

Maxim Gorki, Vladimir Nabokov und für eine große russische Bank gearbei- Grundbuchunterlagen öfter der
Boris Pasternak. Sie waren es, die tet hat. 2015 kaufte seine Familie ein Name Marina Jaroslawskaja auf. Sie
Berlins Ruf als »Stiefmutter unter den Grundstück für 4,4 Millionen Euro in wurde in den Medien wiederholt als
russischen Städten« begründeten, wie Grunewald. Beim Notartermin er- Ehefrau des ZSKA-Präsidenten be-
es der Schriftsteller Ilja Ehrenburg schien der Banker aber nicht als Käu- zeichnet.
damals formulierte. fer, sondern »gemäß mündlich erteil- Im April 2020 kaufte sie für 3,47
Nach dem Ende der Sowjetunion ter Vollmacht« als Vertreter für seine ­Rotenbergs Ex-Frau Millionen Euro eine exklusive Immo-
lebte das russische Berlin wieder auf. Mutter. Im Grundbuch sucht man ihn Natalia in bilie unweit des Kurfürstendamms,
Der Immobilienmarkt in der Haupt- vergebens. Warum wollte er nicht als London 2017: inklusive Garagenstellplatz und frei
Gut versteckte
stadt galt in den Nullerjahren als Eigentümer auftreten? Weil das Geld Besitz­tümer stehender Badewanne. Ein Großteil
unterbewertet. Zudem half die laxe aus dunklen Kanälen stammte? ­aufgelistet des Eigentums übertrug sie vor weni-

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 71


WIRTSCHAFT

gen Monaten per Schenkungsurkunde auf


ihre Tochter, die mit Nachnamen Giner heißt.
Bis vor Kurzem war Jaroslawskaja zudem
stolze Eigentümerin eines 1953 Quadratmeter
großen Grundstücks in Berlin-Dahlem und
einer repräsentativen Villa im Grunewald.
Letztere hatte Jaroslawskaja im Juni 2011 für
3,5 Millionen Euro erworben. Laut Kaufver-
trag sei sie »verheiratet, jedoch nicht über ihr
überwiegendes Vermögen verfügend«. Von
dem idyllisch gelegenen Seegrundstück mit
Bootshaus hat sich die Frau inzwischen wie-

Kyle Johnson / The New York Times / Redux / laif


der getrennt – im Juni 2021 verkaufte sie es
für 12,5 Millionen Euro an eine bekannte
­Verlagserbin.
Eine Anfrage des SPIEGEL zu Immobilien-
geschäften und Familienverhältnissen ließ
Robert Unger, der deutsche Anwalt von Jew-
genij Giner und Marina Jaroslawskaja, un-
beantwortet. Unger ist in der russischen Com-
munity kein Unbekannter. Er verteidigte
kürzlich in einem aufsehenerregenden Pro- Schadsoftware-Analytiker bei Microsoft
zess den russischen Auftragsmörder, der im
Berliner Tiergarten einen Exil-Georgier er-
schossen hatte und dafür zu »lebenslänglich«

Der Teenie-Hacker
verurteilt wurde. Der Vorsitzende Richter
sprach bei der Urteilsverkündung von russi-
schem »Staatsterrorismus«.
Bei den Rotenbergs ist es vor allem Toch-
ter Lilija, die als Käuferin von Immobilien in
Erscheinung tritt. Vor gut drei Jahren erwarb IT-SICHERHEIT  Ein 17-Jähriger aus Oxford ist angeblich der Kopf
sie ein weiteres Objekt in Dahlem. Ob sie stets
nur als Strohfrau für ihren Vater auftrat, ist einer Gruppe, die mehrere Hightechunternehmen bloßgestellt hat. Eine
schwer zu beurteilen. Die USA haben gegen ihrer Methoden: Sie sucht unzufriedene Angestellte.
sie wegen ihrer Verbindungen zu Arkadij
mittlerweile ebenfalls Sanktionen verhängt.

D
Für eine Stellungnahme war Lilija Rotenberg er Name der Bande klingt fast niedlich, nicht politisch.« Und doch ist das nur ein Teil
nicht erreichbar. doch der Schrecken, den sie verbreitet, der Antwort. »Lapsus$«, so viel scheint mitt-
Dass überhaupt etwas über die Immobi- ist enorm. »Lapsus$« nennt sich die lerweile klar, hat einfach Spaß am Chaos und
liengeschäfte der Familie in Berlin ans Licht Hackergruppe, die sich innerhalb der ver- sucht Aufmerksamkeit. »Sie genießen es, im
kommt, hat auch mit einem Scheidungspro- gangenen zwei Monate mit mehreren Tech- Rampenlicht zu stehen«, sagt Joshua Shilko,
zess von Familienoberhaupt Arkadij zu tun. nikgiganten angelegt hat. Ganz nach dem Analyst der IT-Sicherheitsfirma Mandiant.
Die Ehe mit seiner zweiten Gattin, der frühe- Motto: Viel Feind, viel Ehr! »Kindisch« nennen andere das Verhalten der
ren Ballerina und Modeunternehmerin Na- Die Opfer zählen zur Champions League Gruppe.
talia, ging 2013 in die Brüche. Was folgte, war der globalen Techindustrie: Chiphersteller Mag sein. Andererseits arbeitet sie extrem
ein hässlicher Rosenkrieg, der vor Gericht Nvidia, Samsung, der Videospieleentwickler schnell und nutzt ein beachtliches Repertoire
ausgetragen wurde. Da das Paar zwischen- Ubisoft, Vodafone, der IT-Sicherheitsdienst- an Hackermethoden. Microsoft, dessen Such-
zeitlich in England gelebt hatte, zog Natalia leister Okta, Microsoft und offenbar auch der maschinen-Quellcode »Lapsus$« diese Wo-
vor den High Court in London, um sich ihre südkoreanische Elektronikhersteller LG. Die che zu großen Teilen veröffentlichte, hat die
Apanage zu sichern. Gruppe veröffentlichte gigabyteweise interne Techniken und Taktiken zusammengetragen.
Für Arkadij entwickelte sich der Streit Daten und Codes ihrer Opfer und lästerte
zum Albtraum. Nicht nur, dass der Unter- über deren »ziemlich schwache Schutzmaß-
nehmer für den Unterhalt der gemeinsamen nahmen«.
Kinder und Immobilien aufkommen sollte. Für die Betroffenen ist das alles hochnot-
In einem Gerichtsbeschluss von 2017 wurden peinlich. Ihre Sicherheitsvorkehrungen soll-
auch bisher gut versteckte Besitztümer auf- ten überdurchschnittlich sein, ihre Systeme
gelistet: eine »Villa Shoshana« an der Côte auf dem neuesten Stand. Wie ist es möglich,
d’Azur, eine andere auf Sardinien. Im Ab- dass eine bis vor Kurzem weitgehend unbe-
schnitt zu Rotenbergs deutschem Eigentum kannte Gruppe reihenweise Hightechkolosse
findet sich das Anwesen im Berliner Wild- bloßstellt – in einer Zeit, in der sich alle Welt
entensteig, das in die Scheidungsmasse ein- gegen verheerende Angriffe russischer Staats-
fließen sollte. hacker wappnet? Und was will »Lapsus$«
Damit traute sich das Londoner Familien- von den Konzernen eigentlich?
gericht einen Schluss zu, den deutsche Be- Das Dollarzeichen im Namen spricht für
hörden jahrelang nicht zogen: Es ordnete die ein finanzielles Motiv. Auf ihrem Telegram-
Quelle Telegram

Berliner Villa dem Oligarchen Rotenberg zu. Kanal, den mehr als 47 000 Menschen ver-
Sven Becker, Christina Hebel, Thomas Heise, folgen, behaupten die Kriminellen sogar:
­Nicola Naber, Sven Röbel, Gerald Traufetter n »Unser einziges Ziel ist Geld, wir handeln

72 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


WIRTSCHAFT

Demnach kundschaftet die Gang ihre hat, versuchte »Lapsus$« noch, ein Rund von 100 000 Dollar. Und er veröffent-

190
Opfer, deren Dienstleister und Sicher- ungewöhnliches Zugeständnis zu er- lichte die komplette Datenbank der
heitsvorkehrungen erst einmal aus. pressen: Nvidia sollte eine Funktion Seite inklusive der Passwörter aller
Sie stiehlt oder kauft Passwörter in von seinen Grafikkarten entfernen, Nutzer.
Untergrundforen – nicht nur die von
Dienstaccounts, sondern auch von
die das Schürfen von Kryptowährun-
gen verhindert. Von den letzten gro-
Gigabyte Damit wurde er selbst zum Ziel
der Doxing-Community. Die machte
privaten, schlechter gesicherten Kon- ßen Opfern hingegen verlangte die auf der Website nicht nur ­seinen Na-
ten. Dazu ruft sie auf Telegram und Gruppe überhaupt nichts mehr für interner Daten men publik, sondern auch seine An-
im Netz unzufriedene Angestellte die gestohlenen Daten. Sie kippte sie und Codes schrift, sein Geburtsdatum, seine
oder Supportmitarbeiter etwa von einfach ins Netz. Handynummern, mehrere Bilder von
Apple, IBM und Microsoft auf, gegen Eigens programmierte Werkzeuge allein von ihm beim Angeln, seine verschiede-
Bezahlung Zugangsdaten zu verraten. benötige »Lapsus$« nicht, sagt Shil- Samsung hat nen Pseudonyme, die Adresse seiner
Das ist die Eintrittskarte. Danach
nutzt die Gruppe bekannte Schwach-
ko. »Während des gesamten Angriffs-
zyklus hat die Gruppe ausschließlich
»Lapsus$« Förderschule und vieles mehr. Offen-
sichtlich soll er der maximalen Lä-
stellen aus, um sich erweiterte Zu- öffentlich verfügbare Tools verwen- im Internet cherlichkeit preisgegeben werden.
griffsrechte in Firmennetzwerken zu det.« Für Unternehmen stellt sich nun ­veröffentlicht. Reporter von »Bloomberg« standen
verschaffen. Anders als sogenannte die Frage: Wie verteidigt man sich diese Woche schon vor seiner Tür und
Ransomware-Gruppen platziert gegen solche Angreifer? redeten über die Gegensprechanlage
»Lapsus$« keine Verschlüsselungs- Sicherheitsexperten treibt darüber mit seiner Mutter, die von alldem an-
trojaner, die Dateien und Sicherungs- hinaus um, warum »Lapsus$« nicht geblich nichts wusste.
kopien unbrauchbar machen, um längst von der Polizei gestoppt wur- Auf der Website zu sehen sind zu-
dann ein Lösegeld für den Schlüssel de. Denn sie sind sich sicher, die Iden- dem Screenshots, die belegen sollen,
zu verlangen. Stattdessen greift die tität zumindest des mutmaßlichen dass W. den Telegram-Kanal von
Bande so schnell wie möglich alles an Anführers zu kennen. Allison Nixon »Lapsus$« betreibt. Ein weiterer
Daten ab, was sie in die Finger be- zufolge handelt es sich um einen Teenager, aus Brasilien, soll laut
kommt. 17-Jährigen aus Oxford, England, der »Bloomberg« ebenfalls zur Gruppe
Manchmal nutzen die Täter bei seiner Mutter lebt und offenbar gehören. Nixon sagt: »Am Anfang
schlicht das Telefon, um den IT-Sup- gern angelt. war es nur W., soweit wir wissen.
port einer Organisation zu beschwat- Nixon ist Chief Research Officer Kurz nach den ersten Ankündigungen
zen und so weitere Passwörter und des New Yorker Unternehmens Unit zu einzelnen Hacks kamen dann ein
Zugang zu Firmengeheimnissen zu 221B, das regelmäßig Strafverfolgern paar Brasilianer dazu. Die Arbeits-
erlangen. Selbst von einer Zwei-Fak- bei Ermittlungen gegen Cyberkrimi- beziehungen von W. halten allerdings
tor-Authentisierung, einem der wich- nelle hilft. Sie sagt: »Mehrere Fach- meist nicht lange.«
tigsten Mittel, sich gegen das Kapern leute, darunter mein Team sowie Palo Dass W. noch immer aktiv ist, är-
von Konten zu schützen, lassen sie Alto Networks, haben den Anführer gert Nixon: »Im kriminellen Unter-
sich nicht aufhalten: Ist der Zugang von ›Lapsus$‹ schon verfolgt, bevor grund gibt es eine kleine Anzahl an
zu einem Account von einem neuen er die Gruppe gegründet hat.« Zwar Menschen, die ein überproportiona-
Gerät aus nur möglich, wenn der Ac- habe er im Laufe der Zeit mehrfach les Maß an Schäden verursachen.« Es
countinhaber das auf seinem Smart- seine Pseudonyme gewechselt, doch sei offensichtlich, wer diese Personen
phone bestätigt, löst »Lapsus$« die es habe immer eine durchgehende seien. »Ständig wird über russische
entsprechende Benachrichtigung ein- Spur gegeben. Bereits 2021 hätten die Hacker gesprochen, die unantastbar
fach so oft aus, bis die Person von Forscher die britische Kriminalpolizei sind. Dabei gibt es auch H
­ acker inner-
einem Fehler ausgeht und genervt NCA über die Identität des Jungen halb der Grenzen westlicher Staaten,
oder unaufmerksam genug ist, um auf informiert. Die Behörde will auf An- die nicht belangt werden.« Die Lö-
»OK« zu tippen. Alternativ besticht frage weder bestätigen noch demen- sung sei nicht, Minderjährige ins Ge-
oder überredet die Gruppe Mitarbei- tieren, dass sie gegen ihn ermittelt, im fängnis zu stecken, aber es müsse
ter von Mobilfunkunternehmen, ih- Folgenden wird er hier daher nur W. »einen Mittelweg geben zwischen
nen fremde Handynummern auf ihre genannt. Gefängnis und gar nichts. Warum
eigenen Geräte zu übertragen. Durch In kriminellen Kreisen ist W. kein können die Eltern von Cyberkrimi-
dieses SIM-Swapping erhalten die Unbekannter, im Gegenteil. Nixon nellen ihre Kinder nicht kon­
Täter Bestätigungscodes für die Zwei- verweist auf eine Website, die sich auf trollieren?«
Faktor-Authentisierung gleich selbst. Doxing spezialisiert hat – auf das Ver- »Lapsus$« hat jetzt erst einmal
Alles in allem »eine einzigartige Mi- öffentlichen privater Informationen einen »Urlaub« angekündigt. In holp-
schung«, attestiert Microsoft. über Menschen ohne deren Einver- rigem Englisch hieß es am Mittwoch
Auch Mandiant-Analyst Shilko ist ständnis. Sie beschreibt, was dort zu im Telegram-Kanal: »Wir werden
beeindruckt: »Sobald sich die Gruppe lesen ist: 2021 hatte W. den ursprüng- vielleicht eine Weile ruhig bleiben,
Zugang verschafft hat, erweist sie sich lichen Betreibern die ganze Seite ab- Danke für euer Verständnis – wir
David Ryder / Bloomberg / Getty Images

als sehr einfallsreich. Sie ist technisch gekauft, für umgerechnet 75 000 Dol- werden versuchen, so bald wie mög-
in der Lage, sich in den Netzwerken lar, mutmaßlich aus seinem Bitcoin- lich neues Zeug zu veröffentlichen.«
und Systemen großer, gut ausgestat- Vermögen, das er wohl nicht zuletzt Die Londoner Polizei gab am Don-
teter Organisationen zurechtzufin- durch frühere Hacks angesammelt nerstag bekannt, sieben Personen im
den, um große Mengen an sensiblen hatte. Doch dann geriet er mit den Alter zwischen 16 und21 Jahren fest-
Daten herauszufiltern.« Verkäufern offenbar in einen heftigen genommen zu haben, im Rahmen
Vom Chiphersteller Nvidia, dem Streit, sie kauften die Seite zurück. »einer Untersuchung gegen eine Ha-
sie angeblich Informationen über be- Woraufhin W., das legen Screenshots cking-Gruppe«. Alle sieben seien vor-
stimmte Grafikkartendesigns, Quell- auf der Seite nahe, die Nutzer dazu erst wieder auf freiem Fuß, die Er-
codes sowie Zugangsdaten von Zig- aufrief, die alten Betreiber zu Microsoft-Chef mittlungen dauerten an.
tausenden Angestellten entwendet ­»doxen«, für eine Belohnung in Höhe Satya Nadella Patrick Beuth n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

Tayfun Salci / IMAGO


Vor ihrer Hochzeitstorte steht die Braut Stella Moris und blickt auf das Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Am Mittwoch hat die 38-jährige
Juristin den seit drei Jahren inhaftierten WikiLeaks-Gründer Julian Assange, 50, geheiratet. Die beiden waren bereits ein Paar, als sich Assange noch
in der Londoner Botschaft Ecuadors versteckt hielt; sie haben zwei Kinder. Der Berufungsantrag des Australiers gegen eine Auslieferung in die USA ist in
der vergangenen Woche vom obersten britischen Gericht abgelehnt worden, die formale Entscheidung obliegt jetzt der britischen Innenministerin.

Schlappe für Trump?


der großen Gruppe der Wechselwähler dürfte es der Reputation
des Ex-Präsidenten einigen Schaden zufügen. Und je mehr
­grausame Taten Putin verübt, desto größer wird der Nachteil für
Trump. Die Demokraten könnten einen möglichen Wahlkampf
ANALYSE   Der ehemalige US-Präsident verliert
gegen ihn praktisch allein mit Werbespots bestreiten, in denen
an Strahlkraft – auch wegen sie ihm seine alten Pro-Putin-Aussagen vorhalten.
früherer Äußerungen zu Wladimir Putin. Zwar ist Trump in seiner Partei weiterhin beliebt. Doch bei
Teilen der Republikaner wächst das Bedürfnis, das Kapitel seiner
Im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der US-Republi- Präsidentschaft abzuschließen. Als wichtiger Test, wie groß
kaner können sich die Rivalen von Donald Trump neue Hoff- Trumps Einfluss in der Partei noch ist, wird ein Wahlkampf im
nungen darauf machen, dass der Ex-Präsident womöglich doch Bundesstaat Georgia gesehen. Ende Mai entscheidet dort eine
nicht erneut nominiert wird. Als Alternative zu Trump werden Vorwahl, welcher Kandidat bei der Gouverneurswahl im Herbst
etwa der frühere Vizepräsident Mike Pence und Floridas Gou- für die Republikaner ins Rennen gehen soll.
verneur Ron DeSantis gehandelt. Der Auswahlprozess für die Trump möchte den amtierenden Gouverneur der Republi­
Präsidentschaftskandidatur beginnt inoffiziell im kommenden kaner, Brian Kemp, durch einen Kandidaten seiner Wahl ablösen
Jahr und endet im Sommer 2024. lassen. Kemp ist bei Trump in Ungnade gefallen, weil er nicht
Dass sich Trumps Aussichten auf eine erneute Kandidatur bereit war, seine Lüge von der gestohlenen Präsidentenwahl 2020
verdüstern, hat unter anderem mit dem Ukrainekrieg zu tun. mitzutragen. In Umfragen unter Anhängern der Republikaner
Kaum ein anderer Politiker in den USA wird so sehr als Putin- in Georgia liegt Trumps Favorit, der frühere Senator David Perdue,
Versteher gesehen wie Trump, der den Kremlchef in der Ver­ allerdings elf Prozentpunkte hinter Kemp. Sollte Perdue bei
gangenheit mehrfach als »starken Führer« gepriesen hat. Das der Vorwahl am 24. Mai gegen Kemp scheitern, kann dies auch
mag Trumps treusten Anhängern egal sein, doch gerade unter als Schlappe für Trump gesehen werden. Roland Nelles

74 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


»Nur ein Narr würde
Almarzoqi: Einiges deutet darauf verlassen. Saudi-Arabien ist bei­
hin, dass China die USA in des nicht. Aber wir hoffen, das

Washington vertrauen«
einem Jahrzehnt als Nummer Verhältnis zum Wohle beider
eins der Weltwirtschaft ablösen Seiten reparieren zu können.
wird. Unser Handel mit China SPIEGEL: Die Menschenrechts­
belief sich im Jahr 2019 auf 76 Mil­ lage in Saudi-Arabien sorgt
GEOPOLITIK  Der saudi-arabische Politikwissenschaftler
liarden Dollar, der mit den ­wieder für Entsetzen. Jüngst
Mansour Almarzoqi über Putins Krieg in der USA betrug nur 32 Milliarden. wurden 81 Menschen hingerich­
Ukraine und das zerrüttete Verhältnis zu den USA SPIEGEL: Ist China bereits der tet. Warum diese Brutalität?
bevorzugte Wirtschaftspartner? Almarzoqi: Saudi-Arabien be­
Almarzoqi, 40, meinen, Saudi-Arabien müsste Almarzoqi: Ein Hauptunter­ grüßt jeden respektvollen Dialog,
forscht am Prince- Teil dieses Konflikts sein, schied zwischen Geschäften mit einschließlich Gesprächen über
Saud-Al-Faisal-­ und zwar auf der Seite des Wes­ Washington und denen mit Pe­ Menschenrechte. Wir haben hier
Institut für Diplo- tens: Riad ist nicht Teil dieses king besteht darin, dass die ehrgeizige Ziele, und wir wer­
matische Studien Konflikts. USA hegemoniale, expansionis­ den diese zu unseren Bedingun­
privat

in Riad. SPIEGEL: China sympathisiert tische Ziele verfolgen und dann gen erreichen, nicht zu Ihren.
eher mit Russland als mit der von uns verlangen, diese Ziele Die Dinge sind hier nicht perfekt,
SPIEGEL: Herr Almarzoqi, Ukraine, vor allem um die USA mit ihnen gemeinsam zu verfol­ aber wir tun unser Bestes.
­ arum vermeidet es Saudi-­
w zu schwächen. Teilen Sie diese gen. Das erhöht die Kosten. Mit SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Arabien bisher, Putins Sichtweise? China dagegen geht es bei den Almarzoqi: Der Westen versucht,
­Angriffskrieg zu verurteilen? Almarzoqi: Ich glaube nicht, Geschäften nur ums Geschäft. dem Rest der Welt sein Wertesys­
Almarzoqi: Saudi-Arabien hat dass das Königreich Saudi-Ara­ SPIEGEL: Wie beschädigt ist das tem aufzuzwingen, und benutzt
vom ersten Tag an die Ein­ bien diese Perspektive teilt. Verhältnis zu den USA? zudem die Menschenrechtsfrage
stellung der Gewalt gefordert Noch mal, wir wollen keines­ Almarzoqi: Tiefgreifend beschä­ als Erpressungsinstrument, um
und eine Rückkehr an den falls Teil dieses Konflikts sein, digt. Die USA sind nicht ver­ wirtschaftliche und politische Zu­
­Verhandlungstisch. Aber Riad weder direkt noch indirekt. lässlich. Nur ein Narr würde geständnisse zu erhalten. Wenn
teilt nicht die Position einiger SPIEGEL: Wie wichtig ist Peking Washington vertrauen. Nur ein Sie also glauben, wir würden uns
westlicher Hauptstädte, die für Riad? Naiver würde sich auf die USA nicht wehren, irren Sie sich. SUK

Musikverbot nach Musik, ob live oder vom Band, Aufschrei in Brasília


muss jedoch weiterhin bis 24 Uhr
Mitternacht verklungen sein. BR ASILIEN  Von der Weltöffent­
TÜRKEI  Schwermütige Live­ »Niemand hat das Recht, an­ lichkeit weitgehend unbemerkt,
musik, gekühlter Raki, Sitzen dere nachts zu stören«, begrün­ versucht der brasilianische
bis in die frühen Morgenstun­ dete Erdoğan die Maßnahme. ­Präsident Jair Bolsonaro, ein
den: Präsident Recep Tayyip Kritiker sehen darin ein Einge­ ­Gesetz durch den Kongress zu
Erdoğan scheint sich am Lebens­ ständnis, dass das Musikverbot schleusen, das Bergbauunter­

Eraldo Peres / AP
stil vieler Landsleute zu stören – nichts mit der Pandemie zu nehmen, Energieproduzenten
und macht ihnen das nächtliche tun hat. »Wir haben von Anfang oder Goldschürfern die Ausbeu­
Feiern schwer. Einen weiteren an gesagt, dass die Verbote ideo­ tung natürlicher Ressourcen in
Beleg für seine Umerziehungs­ logisch motiviert sind«, kom­ den Territorien indigener Völ­ Anti-Bolsonaro-Demonstrant
maßnahmen nach islamischen mentierte Oppositionsführer ker ermöglichen soll. Als Vor­
Wertvorstellungen sehen Kriti­ Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) be­ wand, dieses alte Wahlverspre­ Reserven zu erschließen, die
ker in einem ab Mitternacht reits 2021. Seine Partei drängt chen einzulösen, dient Bolsona­ unter den von der Verfassung
­geltenden Musikverbot. Die auf ein Ende der Beschränkung. ro dabei Russlands Einmarsch geschützten Territorien der Re­
Sperre wurde bereits im vergan­ Als Grund führt der Abgeord­ in die Ukraine. Oder besser: die genwaldvölker liegen.
genen Sommer erlassen – offi­ nete Özcan Purçu die wirtschaft­ durch den Krieg verursachte Der Aufschrei in Brasília ist
ziell als Maßnahme im Kampf liche Not vieler Musiker an. Knappheit an Düngemitteln. groß: Oppositionspolitiker be­
gegen die Pandemie. Nun sind Dutzende sollen sich laut Me­ Der größte Teil der Kunst­ fürchten, dass der schon heute
erneut fast alle Coronabeschrän­ dienberichten aus Verzweiflung dünger, die brasilianische Agrar­ dramatische Verlust an Regen­
kungen in der Türkei gefallen. das Leben genommen haben. ASC betriebe beim Anbau etwa von wald eine neue Dimension er­
Soja, Mais oder Kaffee einset­ reichen könnte, und sie bezeich­
zen, kommt aus Russland und nen das Vorgehen auch als un­
Belarus. Nachdem das russische nötig. Studien haben ergeben,
Handelsministerium die Aus­ dass nur elf Prozent der Kalium­
fuhren gestoppt hat, befürchtet vorkommen in den Gebieten
Bolsonaro Preissteigerungen, der indigenen Völker liegen.
die die ohnehin starke Inflation Die andernorts schlummernden
in seinem Land weiter befeuern. Reserven reichten aus, um die
Sein Vorschlag: Um unabhängig heimische Produktion bis zum
zu werden, sollte Brasilien das Ende des Jahrhunderts zu ver­
für die Herstellung von Kunst­ sorgen. Viele Brasilianer glau­
dünger erforderliche Kalium ben, dass Bolsonaro mithilfe
Bulent Kilic / AFP

selbst schürfen. Folgerichtig be­ einer Lüge den Regenwald op­


zeichnete Bolsonaro den An­ fert, um im Präsidentschafts­
griff auf die Ukraine als »gute wahlkampf die Reihen seiner
Restaurantgäste in Istanbul Gelegenheit«, endlich all jene Unterstützer zu schließen. BLA

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AUSLAND

Im Vorhof der Hölle


UKRAINE  Im Kinderkrankenhaus von Saporischschja werden junge Kriegsopfer mit Schuss- und Splitterwunden
behandelt. Dort zeigt sich, wie brutal die russischen Truppen gegen die Menschen
vorgehen – und was als Nächstes kommen könnte. Von Alexander Sarovic und Emin Oezmen (Fotos)

U
m zehn Uhr und neun Minuten
wird Diana auf die Intensiv­
station gerollt. Drei Kranken­
schwestern, eine Ärztin und ein Pfle­
ger greifen das grüne Laken, auf dem
das Mädchen liegt. Zehn Hände, ein
Ruck, dann hieven sie den Körper von
der Rettungstrage auf ein Bett.
Diana hat ebene Gesichtszüge, ihr
dunkelbraunes Haar ragt über den
nach oben offenen Kopfverband. Ihre
Haut ist bleich, die Augen sind wie
eingefroren. Sie ist 16 Jahre alt, wirkt
aber an diesem Samstagmorgen im
Kinderkrankenhaus jünger, so wehr­
los wie ein Kleinkind.
Eine Anästhesistin tritt an Dianas
Bett, in den Händen hält sie den ersten
Befund: offenes Schädelhirntrauma,
Teilbruch des Scheitelbeins, Verschie­
bung von Teilen des Hirngewebes,
Fremdkörper im Kopf, womöglich ein
Metallsplitter. Hinzu kommen Wun­
den im Oberschenkel und am rechten
Fuß, »bis zu sieben Zentimeter« lang.
Ihr Herzschlag wird als klar und
rhythmisch beschrieben, sie ist bei
Bewusstsein. Wegen der schweren
Kopfverletzungen wird eine Behand­
lung in der Neurologie empfohlen.
Diana stammt aus Mariupol, der
Hafenstadt am Asowschen Meer. In
Friedenszeiten dauert eine Autofahrt
aus ihrer Heimatstadt zum Kinder­
krankenhaus in Saporischschja drei
Stunden. Aber Mariupol wird seit
Tagen beschossen und bombardiert,
keinen anderen Ort in der Ukraine
trifft der russische Angriff so heftig.
Vier Fünftel der Gebäude sollen zer­
stört sein, die russische Armee wirft
Bomben über Wohnhäusern ab und
liefert sich einen Häuserkampf mit
dem ukrainischen Widerstand.
Diana ist dieser Katastrophe ent­
kommen, wenn auch versehrt. Sie
liegt auf Zimmer 2 der Intensivsta­
tion. Wie es zu ihren Verletzungen
kam, ist noch nicht geklärt, ihre El­
tern berichteten den Rettungskräften
von Splitterwunden am Kopf und an
den unteren Gliedmaßen. Könnte die Verletzte Milena in Zimmer 2 der Kinder-Intensivstation in Saporischschja
16-Jährige den Kopf heben und dre­

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AUSLAND

hen, sähe sie die schnellen, präzisen Hand- liegt im Erdgeschoss, ist gut 20 Quadratmeter linken Unterschenkel hat sie auf einem Kissen
bewegungen der Ärztinnen und Pfleger, sie groß, mit vier Betten, in denen vier junge abgelegt. Ein Bettlaken verdeckt den Stummel
sähe auch, dass die Intensivstation in einen Kriegsopfer liegen. Sie heißen Diana, Mascha, auf der anderen Seite. »Traumatische Ampu-
Bunker verwandelt worden ist: Zum Schutz Milena und Artem. tation des rechten Beins« oberhalb des Knies,
vor Angriffen haben Helfer Sandsäcke in Diana stößt einen dumpfen Schrei aus, als erklärt eine der Ärztinnen. »Offener Bruch
mehreren Schichten vor die Fenster gestapelt, eine der Krankenschwestern eine Nadel in des rechten Arms, Verletzung durch Granat-
in den Raum dringt kaum Tageslicht. ihren rechten Arm sticht. Ein Pfleger flüstert splitter.« Mascha spazierte mit ihrer Mutter
Das Kinderkrankenhaus liegt im Zentrum ihr etwas zu, sie nickt. Dann verschwindet und einer Freundin durch ihren Heimatort,
von Saporischschja, einer Großstadt am die 16-Jährige im Nebel der Schmerzmittel. als drei Meter entfernt von ihr ein Geschoss
Dnepr mit einer Dreiviertelmillion Einwoh- Von den Kindern in den drei übrigen Betten einschlug.
nern. Der Weg zur Intensivstation der Klinik bekommt sie kaum etwas mit. Im Bett unter dem linken Fenster wechselt
führt über einen Innenhof, vorbei an Ret- Ihr gegenüber liegt Mascha, 15 Jahre alt, ein Chirurg die Pflaster auf den Wangen eines
tungswagen und einer Wandmalerei, die aus Polohy, einer Kleinstadt auf halbem Weg dritten Mädchens. Die Elfjährige ist narkoti-
einen fröhlichen Kinderkopf zeigt. Zimmer 2 zwischen Saporischschja und Mariupol. Ihren siert, ein Doppelschlauch ragt aus ihrem
Mund. »Milena aus Mariupol«, sagt die Ärz-
tin. »Schusswunde im Kiefer, Verletzung der
Zähne und des Gaumens.« Mit zwei Pinzetten
entfernt der Chirurg Watte aus dem Austritts-
loch der Kugel unterhalb des linken Ohrs.
Der Arzt bleibt konzentriert, trotz der
Schreie aus dem vierten Bett im Zimmer, in
dem der kleine Artem liegt. Eine Chirurgin
entfernt Splitter aus der rechten Seite seines
Körpers. Artems Familie floh aus Mariupol,
als ihr Auto in einem Vorort von Bomben-
splittern getroffen wurde. Artem hat Wunden
im Bauch, am Kopf, an Armen und Beinen.
Weitere Operationen werden folgen. Er ist
zwei Jahre und zehn Monate alt.
Natürlich sei es psychisch belastend, Kin-
der zu operieren, sagt Wladyslaw Derhaljuk,
vor allem Kinder mit derartigen Wunden.
Derhaljuk ist 30 Jahre alt und Chirurg am
Militärkrankenhaus von Saporischschja, etwa
zehn Minuten entfernt von der Kinderklinik.
Seit einer Woche unterstützt er die Ärztinnen
und Ärzte im Kinderkrankenhaus, seit Ma-
scha eingeliefert wurde, das Mädchen mit
dem amputierten Bein. Er helfe bei Opera-
tionen an Patienten mit schweren Wunden,
erzählt er. »Die Kollegen sind darin nicht ge-
übt, wir schon.« Der Krieg verwischt die
Unterschiede zwischen dem zivilen und dem
militärischen Krankenhaus, die Patienten mit
Schuss- und Splitterwunden sind nicht mehr
nur Soldaten, sondern auch Kinder.
Wie geht er mit alldem um, mit den jungen
Patienten, mit der Brutalität der Angriffe?
Derhaljuk stockt. Zum Nachdenken bleibt in
der Klinik wenig Zeit. Noch bevor er eine
Antwort findet, öffnet sich die Tür. Seine Kol-
legin Olena Ponomarenko ruft nach ihm. Er
wird in einem der anderen Säle gebraucht.
In Saporischschja in der Südostukraine
zeigt sich in diesen Tagen, was diesen Krieg
ausmacht, der mit einer russischen Großinva­
sion begann. Die Stadt ist zu einem Vorhof
der Hölle von Mariupol geworden, wo die
Emin Özmen / Magnum Photos / DER SPIEGEL

Truppen unter Putins Kommando unerbittlich


gegen die Bewohnerinnen und Bewohner der
Stadt vorgehen; wo eine Geburtsklinik und
Schutzunterkünfte für Kinder zu Schutt ge-
bombt werden; wo Massengräber ausgehoben
werden müssen.
Für viele, die es aus Mariupol herausschaf-
fen, ist Saporischschja der erste Zufluchtsort.
Vor dem Bahnhof der Stadt stehen Autos mit
»AH«-Nummernschildern, dem Kennzeichen

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AUSLAND

formierte Männer ihn am 11. März aus einem


Kulturzentrum in der Stadt zerren. Über sei­
nen Kopf ist eine Plastiktüte gestülpt.
Sechs Tage lang hielten ihn die Besatzer
im Untersuchungsgefängnis seiner Heimat­
stadt fest. Fedorow hatte sich zuvor geweigert,
den Anweisungen der neuen Machthaber zu
folgen, die Melitopol am 25. Februar besetzt
hatten, am zweiten Tag des Kriegs. Mitte ver­
gangener Woche kam er im Austausch gegen
neun russische Soldaten frei.
In seine besetzte Heimatstadt kann er nicht

Emin Özmen / Magnum Photos / DER SPIEGEL


zurückkehren. Deshalb setzt er gemeinsam
mit seinem Team die Arbeit aus Saporisch­
schja fort, zwei Autostunden nördlich von
Melitopol. Fedorow organisiert Hilfslieferun­
gen für seine Stadt und hält Kontakt mit den
Bürgern dort.
Die Gefangenschaft beschreibt er als furcht­
erregend. Er sei nachts stundenlang von rus­
sischen Geheimdienstlern befragt worden, aus
Verletztentransport im Militärkrankenhaus von Saporischschja: »Sie werden alles zerbomben«
den Räumen nebenan habe er Schreie gehört.
»Dort saßen Leute, die sie von der Straße auf­
der Region, in der Mariupol liegt. Einige der über den Dnepr geht es im Zickzack an Sand­ gegriffen hatten«, sagt Fedorow. Ihnen sei vor­
Ankommenden haben weiße Lappen an die säcken und Betonquadern vorbei. geworfen worden, »Agenten der Ukraine« zu
Seitenspiegel geknotet, in der – oft vergeb­ Das zweite, nicht weniger gefährliche Sze­ sein. »Sie folterten und schlugen sie.«
lichen – Hoffnung, vor Beschuss sicher zu nario wäre ein Patt. Denn nach zahlreichen Es gibt Kommentatoren im Westen, die
sein. An vielen Autofenstern klebt ein Appell, Verlusten und taktischen Fehlern könnten die den Ukrainern nahelegen, sich mit den An­
vier kyrillische Buchstaben, per Hand auf Kampfkraft und die Moral der russischen Ar­ greifern zu arrangieren, um noch mehr Blut­
Papier geschrieben: »Deti«, das russische mee entscheidend geschwächt sein. Die ukra­ vergießen zu verhindern. Fedorows Geschich­
Wort für »Kinder«. inischen Kräfte hätten eine erste Kampagne te zeigt, wie absurd diese Forderungen sind.
Zugleich ist Saporischschja ein guter Ort, der Russen abgewehrt, heißt es etwa in einer Die Lage in seiner Heimatstadt sei weiterhin
um in die Zukunft zu blicken. Hier lassen sich Analyse des »Institute for the Study of War«, gefährlich, erzählt er. Viele Menschen trauten
Entwicklungen beobachten, die entscheidend eines Thinktanks in Washington. sich nicht mehr auf die Straße, aus Angst da­
sein können für den Fortgang des Konflikts. Die Verfasser sehen die Kriegsparteien an vor, selbst spurlos zu verschwinden. Die rus­
Nach vier Wochen steuert der Krieg auf eine der Schwelle zu einer noch blutigeren Phase sischen Soldaten führten sich in Melitopol auf
Phase zu, die Militärexperten »Kulmination« des Konflikts. Sollte es zum Patt kommen, »wie Banditen«, sagt er. »Sie plündern Büros
nennen. Gemeint ist, dass Truppen ins Sto­ würden »die russischen Kräfte weiter ukra­ von Geschäftsleuten, stehlen ihre Dokumen­
cken geraten, weil sie keines ihrer Ziele er­ inische Städte bombardieren, verwüsten und te und ihr Geld.«
reicht haben und sich neu formieren müssen. Zivilisten töten«, schreiben die Autoren. Das Vier Wochen dauert dieser Krieg nun
Zwei militärische Szenarien scheinen der­ Ziel: die Ukrainer zermürben und so ihren schon, seit vier Wochen appelliert die ukra­
zeit am wahrscheinlichsten, in beiden nimmt Kampfeswillen brechen. inische Führung an das Gewissen und die Mo­
Saporischschja eine zentrale Bedeutung ein. Das Gebäude der Regionalverwaltung von ral des Auslands. Da sind die Reden und Bot­
Im ersten Szenario ginge die große russi­ Saporischschja ist ein enormer Klotz im Sow­ schaften des meisterhaften Rhetorikers Wo­
sche Offensive weiter, trotz aller Rückschläge. jetstil. Darin hat ein Mann ein Büro bezogen, lodymyr Selenskyj, seine Videos voller Wut
Zwar wird es Putins Truppen auf absehbare der in den ersten Kriegswochen zum Symbol und Verzweiflung, seine Appelle an die Par­
Zeit wohl nicht gelingen, die Hauptstadt Kiew geworden ist für die Zähigkeit der Ukrainer. lamentarier westlicher Länder. Bei vielen
und die strategisch wichtige Schwarzmeer­ Ein Mann, der nicht einmal dann aufgab, als Menschen in der Ukraine, den Kämpfern und
metropole Odessa einzunehmen. Doch sie die Russen schon die Kontrolle über ein Ge­ Freiwilligen, den Bürgern und Politikern,
könnten es schaffen, die ukrainischen Trup­ biet erlangt hatten. kommt zu der Entrüstung ein weiteres Gefühl
pen im Osten des Landes einzukesseln. Diese »Ich gab mir selbst eine Überlebenschance dazu: ein fast kindliches Staunen über Mos­
Truppen machen einen wichtigen Teil des von weniger als zehn Prozent«, sagt Iwan kaus Arroganz.
regulären ukrainischen Heers aus, unter ihnen Fedorow. »Ein Menschenleben bedeutet ih­ Iwan Fedorow formuliert es so: »Ich ver­
sind Zehntausende Kämpfer sowie einige der nen nichts, das war mir klar.« Er ist 33, gut stehe nicht, weshalb ich als Bürger der Ukra­
besten Einheiten. Wenn es dem russischen 1,85 Meter groß und athletisch, und spricht ine einen Teil des ukrainischen Territoriums
Militär gelingt, diese Kampfverbände vom leise. Ihm ist der Mangel an Schlaf anzusehen. an die Russische Föderation abgeben sollte.«
Rest des Landes abzuschneiden, wären die Fedorow, der Bürgermeister der südukra­ Er wisse nicht, weshalb der Kreml den künf­
Folgen für die ukrainische Seite desaströs. inischen Stadt Melitopol, war von Truppen tigen Kurs seines Landes bestimmen solle.
Putins Truppen könnten dabei auf die Stadt unter Moskaus Kommando entführt worden. Die Ukrainer weichen nicht, und die Rus­
Kryvih Rih marschieren und Saporischschja Auf einem Video ist zu sehen, wie sieben uni­ sen haben zerstörerische Waffen und keine
isolieren, um so mögliche Rückzugsrouten Skrupel, sie gegen Wohnhäuser und Kliniken
der Ukrainer zu kappen. einzusetzen – wohin steuert dieser Krieg?
Die ukrainischen Verteidiger sind sich der Ihm sei klar, sagt Fedorow, dass viele Kon­
strategischen Bedeutung von Saporischschja flikte mit Verhandlungen endeten. Nur müsse
bewusst. Autos, die sich von Westen her nä­ »Sie plündern Büros sein Land aus einer Position der Stärke heraus
hern, werden streng kontrolliert. Bewaffnete
Polizisten, Soldaten und Angehörige der Bür­
von Geschäftsleuten, stehlen Gespräche führen und mit dem Rückhalt der
EU. Diplomatie um ihrer selbst willen funk­
gerarmee patrouillieren. Auf den Brücken Dokumente und Geld.« tioniere nicht, das zeige die Vergangenheit.

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AUSLAND

Ein Sicherheitsmann öffnet die


Tür. Die Sirenen heulen. Fedorow
muss in den Schutzkeller des Verwal-
64 sehrten Kongo gesehen. Dort hat er
ab 2019 für die Uno gearbeitet. La-
chend hebt er eine Holzschildkröte
Pysanko führt durch die Gänge des
Krankenhauses, vorbei an Tragen und
Operationstischen mit sorgfältig aus-
tungsgebäudes, in dem auch das Re- von seinem Schreibtisch, die er als gelegten Scheren und Pinzetten. Er
gionalparlament untergebracht ist. Er russische Erinnerung aus einem kongolesischen legt die Hand auf einen Tomografen,
geht die Treppen hinunter, vorbei an Angriffe auf Dorf mitgebracht hat. Zuvor war er mit dem sich Splitterverletzungen
Stacheldrahtrollen im Erdgeschoss, im Kosovo stationiert, im Rahmen besser untersuchen lassen. »Ein Ge-
durch die Katakomben.
Kliniken und der dortigen Nato-geführten Mission. schenk aus Polen«, sagt er. Er nehme
Fedorow blickt mit Sorge auf die Gesundheits- Vor zwei Monaten wurde Pysanko jede Hilfe, die er bekomme.
kommenden Wochen. Er fürchtet zentren zählte in die Ukraine zurückbeordert, um In einem Trakt sitzen verwundete
eine zweite, noch schmutzigere Pha- die Leitung des Militärkrankenhauses Soldaten auf ihren Betten. Einer von
se des Krieges, mit immer heftigeren die WHO seit in seiner Heimatregion zu überneh- ihnen ist noch immer benommen und
russischen Bombardements, wenn es Kriegsbeginn. men. Seit einem Monat sind der Kom- will seine Ruhe. Andere sprechen
in den kommenden zehn Tagen keine mandant und sein Personal im Dauer- unter der Bedingung, dass ihre Nach-
diplomatische Lösung geben sollte. einsatz. In Saporischschja wurden namen nicht veröffentlicht werden.
Davor warnen auch westliche Mi- Armeeärzte und ihre zivilen Kollegen Sie sind Teil einer Einheit, die im Ge-
litärs, die vermuten, dass der russi- zusammengezogen. »Die russischen heimen operiert.
schen Armee die präzisen Raketen Truppen setzen Waffen ein, die nicht Jurij, 25, und der ein Jahr ältere
ausgehen könnten. Putins Truppen zwischen Soldaten und Zivilisten Michail heuerten schon als Teenager
wären dann gezwungen, vermehrt unterscheiden«, sagt Pysanko. bei den Streitkräften an, als 2014 der
primitivere Geschosse zu verwenden, Neun von zehn Verletzten, die im Krieg im Osten des Landes begann.
was die Zahl der Toten und Verwun- Krankenhaus behandelt werden, Jurijs linkes Bein ist eingegipst, neben
deten weiter in die Höhe treiben kommen aus vier nahe gelegenen seinem Bett stehen Krücken. Michail
könnte. In Saporischschja, sagt Fedo- Kampfgebieten: Orichiw, Polohy, im Zimmer nebenan trägt eine Arm-
row, werde es dann genauso aussehen Tokmak und Wassyliwka. Darunter schlinge. Beide stehen etwa eine
wie in Mariupol heute. sind Soldaten wie Zivilisten. Die Ver- ­Woche vor der Entlassung. Auf die
Die Folgen wären dramatisch. letzungen umfassten das ganze Spek- Frage, wo und wie genau sie verletzt
Mehr verletzte Kinder, mehr tote trum, sagt Pysanko. Knalltraumata, wurden, reagieren sie wortkarg. In
Menschen, noch mehr auf der Flucht, Schusswunden, Splitter. Er zückt sein einem aber sind sie sich einig: Sie
Zehntausende in Saporischschja, viel- Handy und zeigt Bilder aus dem Ope- wollen so bald wie möglich wieder
leicht Hunderttausende. Auch für die rationssaal: durchsiebte Körper, kämpfen.
Ärzte der Kliniken wäre es eine Ka- schwerste Verbrennungen, Gangräne Der Krieg wird weitergehen. Nach
tastrophe, für Leute wie Wladyslaw mangels rechtzeitiger Versorgung. einem diplomatischen Durchbruch
Derhaljuk und seine Kollegin Olena Die Raketen seien am schlimmsten, sieht es derzeit nicht aus. Die Fort-
Ponomarenko, die ohnehin jeden Tag sagt der Hospitalchef. Erst kürzlich schritte bei den Gesprächen blieben
an der Belastungsgrenze arbeiten. Intensivpatientin
hätten russische Soldaten einen Ort hinter dem zurück, was »die Dyna-
Derhaljuk und Ponomarenko ha- Mascha: »Verletzung vor den Toren von Saporischschja mik der Entwicklungen« von den
ben ihre Schicht im Kinderkranken- durch Granatsplitter« damit beschossen. ­Ukrainern verlange, sagte jüngst
haus beendet. Sie fahren zurück zur Kremlsprecher Dmitrij Peskow. Mit
Militärklinik, wo sie seit Kriegsbeginn den »Entwicklungen« meinte er wohl
auch übernachten. Die Route führt die Attacken auf ukrainische Städte.
über staubige Straßen zu einem rie- Wiktor Pysanko glaubt nicht an
sigen Gebäudekomplex. Die Klinik ein baldiges Ende der Kämpfe. Auf
liegt hinter drei Meter hohen Mauern, die Frage, welche Art von Krieg auf
die in den Landesfarben Blau und das Land zukomme, antwortet er mit
Gelb angemalt und mit Stacheldraht- Schlagwörtern: Tschetschenien, Sy-
kringeln gesichert sind. Neben dem rien, Artillerie. »Sie werden alles zer-
Einfahrtstor stehen Dutzende ver- bomben und dann erst in die Städte
schweißte Panzersperren, sogenann- einziehen.« Pysanko fordert, was
te Stahligel, dazu ein Haufen Lkw- viele seiner Landsleute verlangen: die
Reifen. Ein Soldat kontrolliert Pässe Schließung des Luftraums, bessere
und Papiere. Dann führt eine unifor- Waffen, auch für die Luftabwehr.
mierte Frau zum Büro des Komman- Bis vor Kurzem, sagt Pysanko, hat-
danten, wie die Mitarbeiter den Chef te er noch einen persönlichen Kontakt
des Hospitals nennen. in Mariupol, zum Leiter des dortigen
Wiktor Pysanko sitzt nicht an sei- Militärkrankenhauses. Beide hatten
nem Schreibtisch, sondern leicht zu- 2014 im Donbass als Frontärzte an-
sammengesackt in einem der anderen gefangen: Pysanko bei der 25. Luft-
Emin Özmen / Magnum Photos / DER SPIEGEL

Stühle, das Smartphone in beiden landebrigade, sein Kollege bei der 95.
Händen. An der Wand neben der Ein- Seit wenigen Tagen hört er nichts
gangstür hängt eine Karte von Sapo- mehr von ihm, die Leitungen nach
rischschja und der Region. Pysanko Mariupol sind zusammengebrochen.
ist 35 und hat die ernsten Züge eines »Wenn Mariupol fällt und wir kei-
Menschen, der in Kriegszeiten Ver- ne Hilfe bekommen, werden die Rus-
antwortung trägt. sen auch meine Stadt angreifen«, sagt
Das, was er gerade in seinem Land Pysanko. Er fürchtet, dass dann auch
erlebe, sagt er in fließendem Englisch, sein Krankenhaus zum Ziel der
habe er nicht einmal im kriegsver- ­Bomben wird. n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 79


AUSLAND

»Es war fast so etwas wie ein Putsch«


RUSSLAND  Wie so viele Experten wurden auch Nina Chruschtschowa, Sabine Fischer
und Masha Gessen von Putins Angriff gegen die Ukraine ziemlich überrascht. Nun fürchten sie
eine Brutalisierung des Kriegs – und ein Abdriften Russlands in den Totalitarismus

Nina Chruschtschowa ist die Ur­ seinem Kopf hat nichts mit der Land­ ert. Die Frage war nur, ob er stirbt,
enkelin des einstigen Kremlchefs karte von Menschen im wirklichen bevor er ihn anzetteln kann. Leider
­Nikita Chruschtschow. Sie lehrt Politik Leben zu tun. Die Vorbereitung auf war er schneller.
an der New School in New York. diesen Krieg wurde wie eine klan­ SPIEGEL: Im Moment sieht es aus, als
Sabine Fischer arbeitet als Russland­ destine Operation durchgeführt. Das herrschte ein Patt zwischen russi­

Jens Schlueter / Getty Images


expertin für die Berliner Stiftung Wirtschaftsteam wusste nicht, was schen und ukrainischen Streitkräften.
­Wissenschaft und Politik. passieren würde, der Inlandsgeheim­ Was bedeutet das für den weiteren
Masha Gessen ist Schriftstellerin und dienst FSB und die Sicherheitskräfte Kriegsverlauf?
Journa­lis­tin in New York. Ihre Putin- wussten es auch nicht, im Militär Gessen: Putin ist niemand, der zu­
Biografie »Der Mann ohne Gesicht« wussten manche etwas. Es war fast rückweicht. Und wenn doch, ist das
ist 2012 erschienen. so etwas wie ein Putsch. Der Mann, immer nur eine Pause. Wir können
Im Januar haben die drei Kreml­ der 22 Jahre lang geholfen hat, dass also mit großer Sicherheit sagen, dass
kennerinnen schon einmal mit dem das moderne Russland funktioniert, »Putin ist ein Waffenstillstand nur vorüber­
SPIEGEL über Wladimir Putin und entscheidet mit einem Mal, es auszu­ gehend wäre. Ich verstehe nicht, was
die Ukraine diskutiert. Damals hielten radieren. niemand, gerade mit der russischen Luftwaffe
sie einen Einmarsch noch für unwahr­ Fischer: In Moskau war zu beobach­ der zurück- passiert. Ich habe über beide Kriege
scheinlich. Nun sind sie erneut für
ein Zoom-Gespräch zusammenge­
ten, wie sich die Stimmung in der
­Woche vor dem Einmarsch drehte.
weicht.« in Tschetschenien berichtet, und der
Modus Operandi war stets derselbe.
kommen. Bundeskanzler Olaf Scholz wurde am Masha Gessen Es ging darum, Zivilisten zu terrori­
Dienstag noch recht wohlwollend sieren und Städte in Schutt und Asche
SPIEGEL: Haben Sie Putins Gewalt­ empfangen, und selbst Hardliner sag­ zu bomben. Ich bin froh, dass das in
bereitschaft unterschätzt? ten mir, es werde nicht zu einem Krieg Kiew noch nicht in dem gleichen Um­
Fischer: Ich sagte im Januar, dass ein kommen. In der Vorwoche des Kriegs fang geschehen ist.
Angriff nicht sehr wahrscheinlich sei, veröffentlichte das russische Außen­ Fischer: Wir sehen russische Truppen,
eine Eskalation aber sehr wohl. Es ministerium ein Antwortschreiben an die auf Mariupol vorrücken und in
gab damals noch einen intensiven di­ die Nato und die USA – und das klang Richtung Odessa, wir sehen Versu­
plomatischen Austausch zwischen nicht gut. Dann kam es zu Evakuie­ che, Kiew einzukesseln, und Bewe­
Russland und dem Westen. Und ich rungen in den beiden Provinzen im gung im Osten. Und dann natürlich
dachte, dass dieser weitergehen wür­ Donbass. Und da war klar, dass die Ukrainer, die Widerstand leisten und
de und man vielleicht einen Kompro­ Dinge außer Kontrolle geraten wür­ zu Gegenangriffen ansetzen. Die Si­
miss finden könnte. Das war ein Irr­ den. Ich würde aber nicht von einem tuation ist zu dynamisch, um von
tum. Was die Gewaltbereitschaft be­ Putsch sprechen. einem Patt zu sprechen. Eine meiner
trifft: Wir haben gesehen, was Putin Chruschtschowa: Nicht ein Putsch größten Sorgen ist, dass sich der Krieg
in Tschetschenien, in Syrien, in der gegen Putin, nein, sondern von ihm. zu einem Zermürbungskrieg entwi­
Ostukraine getan hat, da hatten wir Russland wurde in den vergangenen ckelt, in dem eine große Zahl an Zi­
wenig Illusionen. Jahren repressiver, aber auch immer vilisten ihr Leben lässt.
Chruschtschowa: Ich war absolut wohlhabender. Und das war, in ge­ Chruschtschowa: Es überrascht mich
schockiert, als es geschah. Ich dachte wissem Umfang, Putins Verdienst. überhaupt nicht, dass die Ukrainer
nicht, dass es zu einem Krieg kommen Nun dreht sich derselbe Mann um Widerstand leisten. Was mich über­
würde, weil er gegen die nationalen und sagt: Wohlstand bedeutet mir rascht, ist, wie wenig Putin, der per­
Interessen verstößt, weil es dafür kei­ nichts, ich lege mich lieber mit dem manent vom Zweiten Weltkrieg
ne öffentliche Unterstützung gibt und Westen an. Ein Mann kehrt zurück spricht, darauf vorbereitet war. Wie
weil er mit Blick auf Russlands Zu­ in die Zeit von Iwan dem Schreck­ kann er nicht wissen, dass die Ukrai­
kunft suizidal wäre. Ich war über­ lichen – oder noch weiter, in die Ära ner schon im Zweiten Weltkrieg er­
zeugt, dass Putin letztlich ein tak­ des christlich-orthodoxen Wahnsinns. bitterten Widerstand leisteten? Wie
SWP

tierender Politiker ist, offensichtlich Es waren FSB-Leute, die ihn fütterten konnte er annehmen, dass sie die rus­
autokratisch, autoritär, beinahe dik­ mit diesem ganzen Unsinn über die sischen Besatzer mit offenen Armen
ta­torisch, aber ein Politiker. Am Ukrainer, die slawischen Brüder, die
»Ich frage empfangen würden? Jeder, der die
24. Fe­bruar wurde klar, dass er anders sich sofort unterwerfen würden. Und mich, ob ein Ukrainer auch nur ein wenig kennt,
tickt.Er ist ein reiner Diktator. Diese selbst der FSB dachte nicht, dass es Kipppunkt weiß, dass sie nicht aufgeben werden.
langen Tische, an denen er sitzt, hät­ zu diesem Krieg kommen würde. Und wie Sabine beunruhigt mich das,
ten ein Indiz dafür sein müssen, dass Gessen: Mein Gefühl war immer, dass erreicht ist.« weil es auf einen langen, langen
er allein ist, isoliert. Die Landkarte in Putins großer Krieg am Horizont lau­ Sabine Fischer Kampf hinauslaufen wird. Schon jetzt

80 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


AUSLAND

Mikhail Klimentyev / AFP


Machthaber Putin: Krieg entfesselt, um die Ukraine zu zerstören

wurden 6,5 Millionen Menschen vertrieben, Gessen: Es ist in gewisser Weise konsistent, Fischer: Ich halte ein solches Szenario für un­
3,6 Millionen sind aus dem Land geflohen, wenn Putin behauptet, dass sich Russland wahrscheinlich, aber nicht für unmöglich. Es
Millionen weitere werden hinzukommen. Die nicht im Krieg mit der Ukraine befindet, son­ würde zu einer unmittelbaren Konfrontation
Ukraine ist eine Nation von mehr als 40 Mil­ dern mit den Vereinigten Staaten. Wir gehen zwischen Russland und der Nato führen – und
lionen Einwohnern. Wie viele von denen sind von einer falschen Prämisse aus. Die Frage ist das könnte eine Linie sein, die Moskau nicht
irgendwann noch übrig, um für die Ukraine nicht, ob Russland die gesamte Ukraine be­ überschreiten will. Ich denke, es wird eher
aufzustehen? setzen wird, sondern wo und auf welche Wei­ hybride Angriffe geben, die sich dementieren
SPIEGEL: Ist es nach dem bisherigen Kriegs­ se Russland den Krieg gegen die USA fort­ lassen.
verlauf noch vorstellbar, dass Russland die setzen wird. Und ich glaube, dieser Krieg wird SPIEGEL: Dürfen wir Ihnen eine private Frage
Ukraine dauerhaft kontrollieren kann? in der Westukraine weitergehen und womög­ stellen? In welcher Weise beeinträchtigt die­
Fischer: Nein, das glaube ich nicht. Bereits lich auch in Polen. ser Krieg Ihr Leben, Ihre Arbeit in Russland,
vor dem Einmarsch sagten mir meine Ge­ Chruschtschowa: Die Spielregeln werden dau­ Ihren Freundeskreis?
sprächspartner in Moskau, dass es im Kriegs­ ernd verändert. Es geht nicht so sehr um die Fischer: Ich habe zuerst einmal alle meine
fall zur Spaltung des Landes kommen würde. Ukraine, sondern um die Konfrontation mit Chats und meine Korrespondenz auf sichere
Russland würde der Ukraine einen Rumpf­ dem Westen. Kanäle umgestellt, auf Signal, Threema. Ich
staat im Westen überlassen und den Rest des SPIEGEL: Masha, was meinen Sie damit, wenn habe in Moskau zwei Jahre lang gelebt, bin
Landes, inklusive der Hauptstadt Kiew, kon­ Sie sagen: Der Krieg wird womöglich auch in regelmäßig ins Land gereist, zuletzt war ich
trollieren. Selbst das wäre für Russland extrem Polen weitergehen – einem Nato-Mitgliedstaat? kurz vor dem Krieg dort. Das wird jetzt viel
kostspielig, aber das ganze Land zu kontrol­ Gessen: Wenn Sie derzeit russisches Fernsehen schwieriger, vielleicht unmöglich.
lieren ist unmöglich. schauen, werden Sie konstant davon hören, Chruschtschowa: Ich bin Russin, ein Teil mei­
Chruschtschowa: Na ja, es hieß ja immer: Die wie polnische Militärflughäfen dazu benutzt ner Familie lebt in Russland. Eigentlich woll­
Russen werden schon nicht in die Westukra­ werden, Güter in die Ukraine zu transportie­ te ich am 10. März rüberfliegen, aber dann gab
ine vorrücken. Aber sie sind längst da. Wissen ren. Ich schließe daraus, dass der Kreml einen es eine Reisewarnung, und ich hatte Angst,
Sie, ich unterrichte an der New Yorker New Schlag gegen einen dieser Flughäfen plant. dass ich nicht nach New York zurückkomme.
School auch Propaganda und versuche, auf Natürlich stellt sich, sollte das geschehen, so­ Ich rede ständig mit meiner Familie, über Te­
Worte zu achten. Zu Beginn des Krieges hieß fort die Frage nach der Nato und ob die Alli­ legram oder Signal. Das Schlimme ist, dass
es in Moskau: Wir sind die Letzten, die an anz darin einen Schlag gegen die territoriale wir uns als Nation nach 1945 als Befreier von
Krieg denken – und er geschah. Dann sagte Integrität von Polen sieht. Nach außen könn­ Europa verstanden haben, wir haben dabei
Dmitrij Peskow, Putins Sprecher, dass es kei­ te Russland das als Angriff gegen ein ukraini­ geholfen, die Welt vom Faschismus zu be­
nen Krieg gebe, sondern eine »Spezialopera­ sches Militärziel verkaufen, das sich zufällig freien. Nun sind wir diejenigen, die Städte
tion«. Nun hieß es, es werde nie eine Beset­ auf polnischem Gebiet befindet – innenpoli­ bombardieren. Wir zerstören dasselbe Land,
zung der Ukraine geben. Ich habe sofort ge­ tisch könnte man daraus einen Angriff gegen dem mein Urgroßvater geholfen hat, aus der
dacht: Womöglich ist gerade etwas in dieser die Nato machen, der letztlich beweist, dass Asche des Zweiten Weltkriegs aufzuerstehen.
Richtung in Planung. die ganze Allianz ein Schwindel ist. Heute sind wir die neuen Faschisten von

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 81


AUSLAND

Europa. Das bricht mir das Herz, ich Fischer: Und doch gibt es Menschen, gen Medien. Es ist ein Wunschden-
schäme mich. Wir sind der Feind der die gegen den Krieg sind und das Land ken, dass wir uns umdrehen, das Land
Welt. nicht verlassen können. Die befinden gewissermaßen über Nacht deputini-
Gessen: Ich bin am 24. Februar nach sich in doppelter Isolation: Zum einen sieren und uns wieder der freien Welt
Moskau geflogen, am Tag der Inva- werden sie in einer feindlichen Um- zuwenden können.
sion, und eine Woche geblieben. Je- gebung marginalisiert und unter Gessen: Nach Putin wird es eine Pha-
der, den ich in der Stadt kenne und Druck gesetzt, zum anderen werden se tiefgreifender Instabilität geben.
der gehen konnte, hat Moskau ver- sie von einem wichtigen Referenz- Mein Problem ist, dass ich mir nicht
lassen. Meine ganze Welt ist wegge- punkt abgekoppelt, dem Westen. vorstellen kann, wie wir überhaupt

ZUMA / IMAGO
brochen – jedes Haus, in dem ich zu SPIEGEL: Wie wird dieser Krieg das an diesen Punkt gelangen, außer Pu-
Gast war, die jungen Menschen, mit Land verändern? Wird Russland zu tin stirbt. Ja, wir erleben wahrschein-
denen meine Kinder aufgewachsen einem faschistischen Staat? lich das letzte Kapitel der Ära Putin,
sind. Es gibt keine zuverlässigen Zah- Gessen: Seit Jahren sage ich voraus, aber niemand weiß, wie lange dieses
len darüber, wie viele Menschen in
»Den Leuten dass Russland zum Totalitarismus zu- Kapitel noch dauert. Ich glaube keine
diesen ersten Wochen der Invasion im Kreml rückkehrt. Es gab bereits vor dem Sekunde an die These, wonach sich
Russland verlassen haben, aber es geht es immer Krieg Terror – wie sollte man es sonst die Eliten gegen Putin stellen könn-
sind wohl mindestens eine Viertel- nennen, wenn Nervengift gegen Re- ten. Denn das System ist komplett auf
million. Die komplette russische Zivil- gut.« gimekritiker eingesetzt wird? Nur war ihn zugeschnitten. Er verteilt die
gesellschaft hat das Land verlassen, Nina Chruschtschowa der Terror eben zielgerichtet. Wenn Macht und das Geld. Und auch die
sie wurde ins Exil getrieben und Demonstranten verfolgt wurden, dann Massen werden sich wohl nicht gegen
musste die Spuren ihrer Existenz lö- meist nur einer oder zwei von Zehn- ihn erheben.
schen – Websites, YouTube-Kanäle, tausenden. Das verändert sich gerade. SPIEGEL: Wie soll der Westen künftig
Social-Media-Einträge. Das ist alles Wir erleben nun ein unökonomisches mit Putins Russland umgehen?
so niederschmetternd. Ich lebe seit Terrorregime. Es wird zunehmend Gessen: Der Wirtschaftsboykott trifft
acht Jahren im Exil und konnte im- schwierig, politische Verfolgung über- die Armen in Russland mehr als ir-
mer zwischen den USA und Russland haupt noch im Einzelnen nachzuvoll- gendjemanden sonst, und das ist die
pendeln. Nun ist es mit den verschärf- ziehen, weil es so viele Verhaftungen Hälfte der Bevölkerung. Sie spüren
ten Sanktionen sogar schwierig ge- gibt. Erst gestern habe ich von einem die Auswirkungen schon jetzt enorm,
worden, in New York russisches jungen Mann erfahren, der über Wo- etwa bei den Lebensmittelpreisen,
Staatsfernsehen zu schauen. chen eingesperrt war – niemand wuss- während Gelder an das Regime weiter
SPIEGEL: Wie viel bekommen norma- te, wo er steckte. Schließlich hat er fließen, indem Westeuropäer und die
le Menschen in Russland vom Krieg Suizid begangen. USA Energie aus Russland kaufen.
in der Ukraine mit? Fischer: Ich ertappe mich selbst dabei, Der Westen sollte aufhören, die Ver-
Gessen: Sie sehen keine Bilder der wie ich immer häufiger die Worte wüstung zu feiern, die er gerade in
Massaker, sie hören auch nicht von »Diktatur« und »Terror« verwende, Russland anrichtet. Es muss etwas
»Krieg«, sondern von einer »militäri- und das ist wirklich beängstigend. anderes geben als Rache.
schen Spezialoperation«. Eine Ope- Russland ist ja auch nicht mehr Mit- Chruschtschowa: Selbst zur Nazizeit
ration, die Feindseligkeiten beenden glied im Europarat. Dmitrij Medwe- wurde Beethoven gehört, aber in
sollte, die Frieden schafft. Am span- dew hat das zum Anlass genommen, ­sBerlin sind auf einmal Tschaikowski-
nendsten fand ich, dass wirklich nichts das Moratorium für die Todesstrafe Konzerte verboten, Puschkin-Bücher
Besonderes im russischen Fernsehen infrage zu stellen. liegen im Müll. All das bestätigt für
passierte. Zur vollen Stunde werden Gessen: Russland hat das Protokoll viele gerade Putins Propaganda, dass
fünf Minuten Nachrichten gesendet, Nummer 6 der Europäischen Men- der Westen angeblich Russland nicht
das war’s. In den Talksendungen wur- schenrechtskonvention (das die respektiere. Hinzu kommt, und das
de zwar hitzig über die Ukraine dis- Todes­strafe verbietet –Red.) nie rati- weiß ich aus meiner eigenen Familie:
kutiert – aber das machen sie seit Jah- fiziert. Man hat die Todesstrafe ledig- Den Leuten im Kreml geht es immer
ren. Hin und wieder gab es Sendungen lich ausgesetzt. Es bräuchte also nur gut, selbst wenn sich das Land zu Tode
über die Maßnahmen der Regierung, einen administrativen Akt, um sie hungert. Die Sanktionen müssten des-
die der Wirtschaft helfen sollen, weil wiedereinzuführen. halb sehr viel zielgerichteter sein.
die unter den angeblich ungerecht- Fischer: So wie sich der Krieg in der Wenn wir ganz Russland bestrafen,
fertigten, antirussischen Sanktionen Ukraine entwickelt, auch mit den wird das keine positiven Ergebnisse
leidet. Es ist surreal – in dieser Welt Sanktionen durch den Westen, frage bringen.
existiert kein Krieg. ich mich, ob zum ersten Mal seit Fischer: Putin hat diesen Krieg ent-
Chruschtschowa: Man kann sich zwar 20 Jahren Putin-Herrschaft ein fesselt, um die Ukraine als Staat zu
noch halbwegs unabhängig informie- ­Kipppunkt erreicht ist und ob ein zerstören. Wir können nicht direkt in
ren, über YouTube, Blogs und Tele- ­interner Machtwechsel unvermeid- den Krieg eingreifen, aber wir sollten
gram-Kanäle und indem man VPN- lich wird. alles tun, wirtschaftlich und politisch,
Zugänge benutzt. Aber das tun vor Chruschtschowa: Selbst ohne Putin um der Ukraine zu helfen. Gegenüber
allem Leute in Großstädten. Russland würde das FSB-Herrschaftssystem Russland geht es um Abschreckung,
ist ein weites Land, das sich über elf wohl nicht einstürzen. Die Sicher- die europäische Ordnung wandelt
Zeitzonen erstreckt, viele Menschen heitskräfte werden die Macht nicht so sich von Kooperation zu Konfron­
haben keinen Zugang zur globalen einfach abgeben. Ich habe von hoch- tation. Und wir müssen unsere Kon-
Gemeinschaft. Dazu kommt, dass sich rangigen Offiziellen erfahren, dass sie takte zur russischen Gesellschaft auf-
in einer postfaktischen Welt jeder sehr unglücklich über diesen Krieg rechterhalten, das heißt: mit der
aussucht, was er für wahr hält. Wer waren. Und trotzdem haben sie ihn ­russischen Diaspora in Westeuropa
nicht daran glauben möchte, dass wir erstaunlich schnell für ihre eigene zusammenarbeiten.
die Ukraine angreifen, glaubt, dass Agenda genutzt: die Auslöschung der Interview: Christian Esch, Maximilian
wir das Land verteidigen. Zivilgesellschaft und der unabhängi- Popp, Christoph Scheuermann n

82 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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AUSLAND

welches das große Ganze ahnen Auf die Ukraine verzichten hieße –
lässt. dass Russland aufhört zu existieren.«
Es geht um eine konservative Re­ Es sei eine nationale Erniedrigung
volution, um eine von oben. Beson­ gewesen, schrieb Akopow jüngst,
ders gern spricht man in Putins dass das russische Haus einen Teil

Das Ziel des


größtem Propagandakonzern darü­ seines Fundamentes (nämlich den
ber. »Das Russland der Zukunft« Kiewer Teil) verloren habe und man
lautet die Überschrift eines Artikels gezwungen war, sich mit der Exis­
der staatlichen Presseagentur Ria tenz von zwei Staaten abzufinden.

Mordens Nowosti, den der Kommentator


Pjotr Akopow geschrieben hat.
Akopow ist Historiker und Journa­
Wladimir Putin habe die »histori­
sche Verantwortung auf sich genom­
men, die Lösung der ukrainischen
list, seine Artikel bewegen sich meist Frage nicht späteren Generationen
nah an dem, was Putin selbst von zu überlassen«. In der nun anbre­
ESSAY  Putins Propaganda weist erschreckende sich gibt. Sein Resümee lautet: Nach chenden Epoche würden Russland,
Parallelen zum totalitären Denken Stalins dem Ende der »Kampfhandlungen« Belarus und die Ukraine geopolitisch
auf – und zielt auf eine neue Weltordnung. werde es die alte Ukraine nicht wieder als Ganzes auftreten und den
mehr geben, aber auch das jetzige Westen in die Schranken weisen.
Russland nicht mehr. »Der Geist der Das klingt fast wie Hitlers Aufruf zur

E
inen ganzen Monat dauert der russischen Geschichte gibt uns die Lösung der Sudetenfrage oder zum
Krieg in der Ukraine bereits. Chance«, schreibt der Autor, »nicht Anschluss Danzigs.
Tag für Tag sehen wir verstö­ nur die Schuld für den Zerfall der Akopow stellt zwei Fragen: ob
rende Fotos und Videoclips von zer­ UdSSR wiedergutzumachen – er man in Europas Hauptstädten allen
schossenen Panzern und zerbomb­ gibt uns auch die Chance zu einer Ernstes geglaubt habe, dass Moskau
ten Häusern, von toten und flüch­ Korrektur, indem wir erneut das auf Kiew verzichten werde. Und ob
tenden Menschen. Wir hören die große Russland errichten.« der Westen tatsächlich denke, dass
Hilferufe des ukrainischen Präsiden­ Man kann diesen Text wie auch die Beziehungen zu ihm für Russ­
ten und empören uns über den Zy­ die vielen anderen programmati­ land lebenswichtig sind. Das sei
nismus der russischen Militärs. Sich schen Artikel, die über die Ukraine schon lange nicht mehr so.
Christian Neef, 70, eine Vorstellung davon zu machen, in Moskau erschienen sind, als ek­ Die gedanklichen Bocksprünge in
arbeitete von 1991
bis 2017 für den was militärisch tatsächlich passiert, lektizistische Elaborate mit bolsche­ diesen Elaboraten sind atemberau­
SPIEGEL, unter ist trotzdem schwer. Und weil er sich wistischem, stalinistischem und na­ bend. Aber die Logik ist auf russi­
anderem lange als offensichtlich festgefahren hat, fra­ tionalsozialistischem Gedankengut scher Seite in diesem Krieg längst
Korrespondent in gen wir uns, worin das Ziel des an­ abtun. Aber es sind nicht mehr die verloren gegangen. Die auch von
Moskau.
haltenden Mordens besteht. Es ist antimodernen und antiwestlichen Putin vorgetragene These, Russen
eine Frage, die an den russischen Spinnereien russischer Nationalis­ und Ukrainer seien ein Volk, wird
Präsidenten geht. ten. Es sind Überlegungen, die zur durch das Scheitern der Blitzkriegs­
Putin ist in dieser Hinsicht vage offiziellen Staatspropaganda gewor­ strategie widerlegt. In Moskau hatte
geblieben, auch gegenüber dem den sind. Ihre zentrale Botschaft man sich wohl eingeredet, dass die
eigenen Volk. Permanent lässt er lautet: Die postsowjetische Epoche ukrainische Gesellschaft nichts als
neue Begriffe streuen, mit denen er als Epoche der Zweideutigkeiten ein Kartenhaus sei. Der ukrainische
die Invasion und ihre Auswirkungen und der Unentschlossenheit ist zu Präsident ein Comedian und der
verschleiert. Der Krieg heißt nicht Ende. Russland stellt seine Einheit Bürgermeister von Kiew ein Boxer –
Krieg, sondern »Spezialoperation«, wieder her, es kehrt zurück an sei­ das war für viele Russen lachhaft,
ukrainische Kampfeinheiten werden nen historischen Platz in der Welt. man fühlte sich der Ukraine psycho­
nicht aufgerieben, sondern »ent­ Das ist tatsächlich eine Revolu­ logisch und moralisch überlegen.
nazifiziert«, und die Übernahme aus­ tion: Russland will wieder so stark

A
ländischer Firmen durch russische wie der Westen werden. Die »atlan­ uch dass Russland auf seine
Manager in Russland, ihre De-facto- tische Epoche« – gemeint ist die Do­ Beziehungen zum Westen
Enteignung also, lässt er »externe minanz des Westens – sei vorbei, ohne Weiteres verzichten
Führung« nennen. Der russische Jour­ schrieb Akopow schon vor einem könne, ist kaum zu halten. Mit je­
nalist Michail Schewtschuk spricht Jahr. Die Wiedervereinigung Russ­ dem Erlass zur Rettung der russi­
von einer »Hypnotisierung« der lands mit der Ukraine werde zum schen Wirtschaft, den Putin jetzt
Bürger. Ihnen soll nicht die Tragweite Symbol für den russischen Aufstieg. unterschreibt, wird das klarer. Russ­
dessen bewusst werden, was Putin Im Westen ist kaum verständlich, lands Fluggesellschaften sind bereits
dem eigenen Land und den Nach­ warum die Kontrolle über die Ukra­i­ gezwungen, längst ausgemusterte
barn antut. ne für Moskau eine solch mystische ­Iljuschin-Maschinen wieder in
Umso überraschender ist, dass Bedeutung besitzt. Doch für Ako­ Dienst zu stellen, um den Inlands­
ein Wort plötzlich eine Renaissance pow und die russische Führung führt verkehr aufrechtzuerhalten.
erlebt, das in den Jahren der Putin- die Rückkehr zu einstiger Größe nur Aber die Ukraine ist nur Mittel
Herrschaft aus dem Sprachgebrauch über die Ukraine. »Wir haben keinen zum Zweck. Es geht um die künftige
verbannt worden war. Von einer anderen Weg, die Einheit der russi­ Weltordnung, sagt Russlands Außen­
»Revolution« ist die Rede, vom Ein­ schen Welt wiederherzustellen«, be­ minister Lawrow. Und Putin erklärt,
tritt Russlands in eine neue Epoche – hauptet er: »Auf die Ukraine zu ver­ dass die »jetzigen Ereignisse einen
eine Epoche, aus der es keinen zichten hieße, dass Russland Verrat Schlussstrich unter die globale Domi­
Weg zurück geben wird. Dadurch an allem übt, was die Grundlagen nanz der westlichen Staaten ziehen«.
lässt sich ein größeres Bild hinter der russischen Zivilisation und sei­ Fast noch interessanter als die
Moskaus Krieg erkennen. Eines, nen Nationalcharakter ausmacht. Begründung des russischen Über­

84 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


AUSLAND

falls auf die Ukraine ist der Blick der alles als Vorbereitung dieser »Revo­ Das ist tatsäch- In dem Text über »Das Russland
Ideologen auf das eigene Land – auf lution« verstehen. der Zukunft« malt der Autor von
jenes Russland, das aus dem (natür­ Kein Wunder, dass der Exodus lich eine Revo- Ria Nowosti ganz in Putins Sinne
lich siegreichen) Krieg gegen die russischer Unternehmer, Schauspie­ lution: Russland ein neues Zusammenleben des russi­
Ukraine hervorgehen soll. Denn ler, Regisseure und Journalisten in schen Volkes aus – er nennt es »So­
auch zu Hause sei eine »Revolu­ den letzten Wochen zugenommen
will wieder so bornost«. Der Begriff knüpft an die
tion« vonnöten, so sagen sie. Noch hat. Putins Sprecher musste am stark wie der Slawophilen des 19. Jahrhunderts
immer leide das Land unter den,
wie Akopow schreibt, »kriminellen
Mittwoch sogar dazu aufrufen, die
Abreise von Kulturstars »nicht zu
Westen werden. an, die unter Sobornost ein auf das
ursprünglich Russische bezogenes
Privatisierungen der Neunzigerjah­ dramatisieren«, die Geflohenen sei­ Gemeinwesen verstanden – in Ab­
re«. Es sei wegen seiner Abhängig­ en nur ein kleiner Teil der Elite. grenzung zu einem europäisierten
keit vom Westen verwundbar, ein Russland. »Sobornost ist das Orga­

S
Großteil der Elite habe sich mental ich der Andersdenkenden zu nisationsprinzip unseres Staates«,
an Westeuropa und Amerika orien­ entledigen ist Bestandteil jeder schreibt der Kommentator Pjotr
tiert. Diese Elite mache sich jetzt aus russischen Revolution gewesen. Akopow, »eine Form der Suche
dem Staub. Eine neue Elite müsse Stets war das weniger eine »Selbst­ nach gemeinsamem Wohl und
her – das sei eine der wichtigsten reinigung« als vielmehr eine Reini­ Schaffung einer gemeinsamen Mei­
nationalen Aufgaben, damit die Re­ gung durch die Repressionsorgane. In nung, die man Konsens nennt«.
volution gelingen könne. Scharen hatten Russlands Künstler ­Anders gesagt: Im künftigen Russ­
Putin hat das vorige Woche als bereits nach der Machtergreifung der land wird kein Platz mehr für
»natürliche und nötige Selbstreini­ Bolschewiki 1917 das Land verlassen. ­Meinungen sein, die von der vorge­
gung der Gesellschaft« bezeichnet. Die Intellektuellen galten Lenin als gebenen abweichen.
Er hat die Kritiker seines Krieges besonders unzuverlässige Zeitgenos­ Das ist das Bild, das Ideologen
nationale »Verräter« genannt und sen, weil er annahm, sie würden das für das künftige Russland entwer­
behauptet, das russische Volk werde Regime infrage stellen. Gleich nach fen. Wer in die Geschichte schaut,
»die echten Patrioten von den Lum­ dem Bürgerkrieg begann er eine wird verblüffende Ähnlichkeiten
pen und Verrätern unterscheiden Hatz auf »konterrevolutionäre Ele­ mit der stalinschen Sowjetunion fin­
können und sie einfach ausspucken – mente« und »bourgeoise Intellektu­ den. Auch Stalin versuchte Anfang
wie eine zufällig in den Mund ge­ elle«. Er heuerte mehrere deutsche der Dreißigerjahre, den Massen die
flogene Fliege«. Dampfer an und ließ mit ihnen Philo­ Idee des Patriotismus einzupflan­
Offenbar weiß er, dass beim Vo­ sophen wie Nikolai Berdjajew, Sergej zen, auch er stellte die UdSSR als
rantreiben seiner geopolitischen Bulgakow oder Iwan Iljin außer Erbe der alten Rus hin und sich
­Pläne Diskussionen aufkommen wer­ ­Landes schaffen. Die »Reinigungen« selbst als genialen Nachfolger jener
den. Deshalb gilt es, Kritik von setzten sich unter Stalin fort. »Ein Zaren, die aus Russland einen
vornherein auszuschalten. Das rigo­ Revolutionär ist der, der ohne Vorbe­ mächtigen Staat gemacht hatten.
rose Unterdrücken jeglichen Protes­ halt … dazu bereit ist, die UdSSR zu Überall zwischen Smolensk und
tes gegen den Kreml in den vergan­ verteidigen«, erklärte er 1927. Wladiwostok wurde damals die
genen Jahren und das Wegsperren ­»Demoralisierte Elemente, die die hysterische Atmosphäre einer Bela­
Alexej Nawalnys – Maßnahmen, die Gesetze verdrehen, Betrüger, Sabo­ Anhänger gerung durch äußere Feinde ge­
des Kremlchefs
Beobachtern oft sinnlos übertrieben teure, Schädlinge, Faulenzer« sollten in Moskau
schaffen, man suchte nach Schäd­
erschienen – bekommen nun eine dagegen entfernt werden. Putin klingt mit »Für Putin«- lingen und Saboteuren. Zugleich
andere Bedeutung. Man kann dies heute fast wörtlich so wie Stalin. Transparent wurde dem Volk ein Gefühl des na­
tionalen Stolzes und der Einmalig­
keit vermittelt. Einen Krieg begann
Stalin zwar nicht, beteiligte sich
aber 1939 an der Besetzung Polens,
in Absprache mit Hitler.
An einem ähnlichen Punkt steht
Russland jetzt wieder. Noch ist sein
neues Weltbild unscharf. Putin weiß
zwar, wohin er geopolitisch will.
Was das für die innere Umgestal­
tung Russlands bedeutet, ist unklar.
Verstaatlichung der Wirtschaft, Ab­
schaffung von Wahlen, Schließung
der Grenzen? Er wird das wie einst
die Bolschewiki von der konkreten
Lage abhängig machen.
Eines steht aber offenbar fest:
»Wir müssen Russland als Zentrum
Pavel Bednyakov / picture alliance / AP

der Welt begreifen«, schreibt der


Kommentator Akopow. Die »Spe­
zialoperation« sei eine entscheiden­
de Schlacht auf dem Weg zurück
zum alten Russland. Der Krieg
rechtfertigt sich damit von selbst,
weil mit ihm dieses heilige Ziel er­
reicht werden kann. n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 85


AUSLAND

Doch nun hat sich innerhalb we- funktioniert. Ihren Nachnamen


niger Tage eine erstaunliche Willkom- möchte sie nicht veröffentlicht wis-
menskultur entwickelt. Ein ganzes sen. Kurz vor Kriegsbeginn hat sie
Land, so scheint es, wächst in diesen angefangen, Russisch zu lernen. »Ich

Polens
Tagen über sich hinaus. Freiwillige habe geahnt, dass Putin einmarschie-
gleichen mit ihrem Einsatz aus, was ren würde«, sagt sie. Polen stehe als
der Staat nicht leistet. Die Frage ist, Nächstes auf seiner Liste. Sie wolle

Flüchtlings­
wie lange das noch funktioniert. kämpfen, falls es so weit kommen
Der Mann, der dabei hilft, Europas sollte. Bis dahin helfe sie den Flücht-
neue Flüchtlingskrise zu bewältigen, lingen.

wunder
hat sein Büro in das Hinterzimmer Das Gefühl, jederzeit zum nächs-
eines Bahnhofsgebäudes verlegt. ten Opfer des russischen Imperialis-
Wojciech Bakun, Bürgermeister von mus werden zu können, hat Polen in
Przemyśl, sitzt an einem kleinen diesen Tagen in eine riesige NGO ver-
Tisch und tippt auf seinem Laptop. wandelt. Auf Facebook mobilisieren
NOTHILFE  Kein Land beherbergt so viele Seinen Anzug hat er gegen eine oliv- die »Großmütter für die Ukraine«
grüne Uniform getauscht. Gleich, sagt polnische Rentnerinnen. Selbst Prä-
­ukrainische Geflüchtete wie der westliche er, habe er den Ministerpräsidenten sident Andrzej Duda lässt Geflüchte-
­Nachbar. Freiwillige übernehmen, was der Staat am Telefon. te in seinen Dienstvillen leben. Staat-
nicht leistet. Aber wie lange funktioniert das? Bakun ist in der Vergangenheit liche Unterkünfte, in denen sie meh-
nicht als Flüchtlingsfreund aufgefal- rere Monate bleiben könnten, gibt es
len, er gehörte einer kleinen rechts- dagegen kaum.

S
ie wollte nicht gehen. Erst als populistischen Partei an. Jetzt hilft er, Die ukrainische Diaspora hat das
die Bomben so nah einschlagen, wo er kann. Hinter ihm stapeln sich mit ihrer Hilfsbereitschaft bisher ka-
dass sie die Druckwellen spürt, Kinderwagen und Coronamasken. schiert. Vor dem russischen Angriff
verabschiedet sich Julija, 35, von Derzeit sucht er Übersetzer und Psy- lebten mehr als eine Million Ukrainer
ihrem Leben in Kiew. Von ihrem chologinnen. in Polen, die meisten haben nun
Café, das sie gerade erst eröffnet hat. Przemyśl hat 60 000 Einwohner, Landsleute aufgenommen. Doch im-
Piotr Malecki / DER SPIEGEL

Von ihrem Freund, der bleiben muss, zu Beginn des Krieges kamen hier an mer mehr Neuankömmlinge haben
um zu kämpfen. manchen Tagen 50 000 Geflüchtete weder Freunde noch Verwandte im
Drei Wochen nach Kriegsbeginn an. »Ich habe gar keine andere Wahl, Land. Sie steuern die großen Städte
steht Julija in einem ehemaligen Ein- als die Leute so schnell wie möglich an – und die sind schon jetzt überfüllt.
kaufszentrum in Przemyśl, einer pol- weiterzuschicken«, sagt Bakun. Die In Warschau schlafen 10 000 Ge-
nischen Stadt nahe der Grenze, und Regierung in Warschau koordiniere flüchtete auf dem Expo-Gelände in
erzählt von ihrer Flucht. Ihren Nach- »Ich habe Sonderzüge und gebe ein bisschen riesigen Hallen, die Feldbetten stehen
namen will sie nicht veröffentlicht keine andere Geld, sagt er. »Das war’s.« dicht an dicht. Nach ein paar Tagen
wissen. Vor und hinter ihr drängen Bakun kann sich auf ein Heer aus sollen sie weiterziehen. Wohin, weiß
sich 200 Ukrainerinnen und Ukrai-
Wahl, als die Freiwilligen verlassen. Im ehemaligen niemand so genau. Als die Behörden
ner. Sie alle sind mit ihr angekommen Leute weiter­ Einkaufszentrum, wo Julija angekom- zuletzt versuchten, Flüchtlinge nach
und müssen sich nun registrieren. Der zuschicken.« men ist, haben sie die Kontrolle über- Białystok zu fahren, in den Osten des
Gang ist viel zu eng für die Menschen- nommen. Die Helferinnen und Helfer Landes, weigerten diese sich auszu-
massen, die Luft stickig. Babys schrei- Wojciech Bakun, registrieren die Menschen, kochen steigen. Die Busse mussten umdrehen.
Bürgermeister
en, Hunde bellen. Vom Eingang her Suppe und bauen Feldbetten auf. Die EU-Staaten haben sich seit
ruft ein polnischer Helfer auf Ukrai- Sie teilen die Geflüchteten in kleine 2015 nicht auf feste Quoten für die
nisch in ein Megafon: »Ruhm der Uk- Gruppen mit demselben Zielort auf, Flüchtlingsaufnahme einigen können.
raine!« Frauen, Rentner und Kinder die anschließend von Freiwilligen mit Diesmal aber dürfte es ohne ein Sys-
antworten ihm im Chor: »Ruhm den Privatautos und Kleinbussen abgeholt tem zur Verteilung von Flüchtlingen
Ukrainer in Auffang­
Helden!« zentrum in PrzemyŚl:
werden. kaum gehen. Die deutsche Außen-
Europa erlebt derzeit die größte Erstaunliche Die 21-jährige Natalia kümmert ministerin Annalena Baerbock plä-
Massenflucht seit dem Ende des Zwei- ­Willkommenskultur sich darum, dass das reibungslos diert bereits für eine Luftbrücke, über
ten Weltkriegs. 3,7 Millionen Men- die Geflüchtete nach Spanien, Groß-
schen haben die Ukraine verlassen, britannien oder in die USA geflogen
seit Russland seinen Feldzug begon- werden sollen.
nen hat. Kein Land hat so viele Ge- Der Vorschlag ist nicht ganz un-
flüchtete aufgenommen wie Polen. eigennützig. Die Ukrainer können
Schon jetzt haben dort 2,2 Millionen sich in der EU frei bewegen. Bisher
Menschen Zuflucht gefunden, zehn- möchten die meisten in Polen bleiben.
mal so viele wie in Deutschland. Doch falls sie dort keine Zukunft für
Vor Kriegsbeginn schien Polen da- sich sehen, werden sie weiterziehen.
rauf denkbar schlecht vorbereitet. Die Schon jetzt kommen täglich Tausen-
nationalkonservative Regierung hat- de Menschen in Berlin an.
te in den vergangenen Jahren so gut Die Zeit dränge, sagt Bürgermeis-
Piotr Malecki / DER SPIEGEL

wie keine Schutzsuchenden ins Land ter Wojciech Bakun in seinem Büro
gelassen. Seit dem Herbst wehrt sie an der Grenze. »Ein paar Wochen
Iraker und Syrer an der Grenze zu können wir das noch durchhalten.«
Belarus mit Gewalt ab. Die Bevölke- Dann seien die Freiwilligen mit ihren
rung unterstützte den harten Kurs Kräften am Ende.
mehrheitlich. Karolina Jeznach, Steffen Lüdke  n

86 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


Die Preview-Aktion wird am
Montag, dem 4.4.2022, statt-
finden. Für zwei kostenlose
Kinokarten kannst du dich ab
sofort online registrieren:
www.spiegel.de/
startkinopreview
Ab Donnerstag, dem 31.3.2022,
wirst du per E-Mail informiert,
ob du bei der Preview dabei
bist.
Achtung: Die Tickets sind nicht
übertragbar. Missbrauch wird
zur Anzeige gebracht.

ril
am 4. Ap
Preview m 7. April QR-Code scannen
ta und online regis-
Kinostar trieren unter
www.spiegel.de/
startkinopreview

Berlin
Die exklusive Hackesche Höfe Kino
Rosenthaler Str. 40 – 41
Beginn: 20.00 Uhr
Kino-Preview!
Dresden
Präsentiert von Schauburg
Das Magazin für Studium und Berufseinstieg Königsbrücker Straße 55
Beginn: 20.00 Uhr
Jetzt zwei kostenlose Karten reservieren.

Hamburg
Abaton
Allende-Platz 3
Beginn: 20.00 Uhr
© Neue Visionen Filmverleih

»Wo in Paris die Sonne aufgeht« Köln


Cinenova
Paris, die ewige Stadt der Liebe. Hier leben sie dicht gedrängt, zwischen Sehnsüchten, Herbrandstraße 11
Abenteuern, Dramen: Émilie schlägt sich nach ihrem Elite-Studium mit billigen Gelegen- Beginn: 20.00 Uhr
heitsjobs herum, hat schnellen Sex und träumt von einer Beziehung; Camille hat als
junger Lehrer beruflich noch Illusionen, dafür keine in der Liebe, außer unkompliziertem
Sex; Nora ist in die Stadt gekommen, um ihrer Vergangenheit zu entfliehen und mit An-
fang dreißig ihr Jura-Studium wiederaufzunehmen und Louise bietet als Amber Sweet im Leipzig
Internet erotische Dienste gegen Bezahlung an – drei Frauen, ein Mann. Ihre Lebenswege Passage Kino
kreuzen sich im 13. Arrondissement in Paris. Hainstraße 17 – 19
Beginn: 20.00 Uhr
Selten wurde im Kino mit solch anarchischer Schönheit gesucht, gerungen und geliebt.
Mit seinem modernen Liebesreigen in Zeiten von Dating Apps und Sex im Internet er-
schafft Regisseur Jacques Audiard unvergleichliche Filmkunst. Rohe Poesie des Lichts in
Zeiten der Dunkelheit.
Stuttgart
Atelier am Bollwerk
Hohestraße 26
/woinparisdiesonneaufgeht www.wo-in-paris-die-sonne-aufgeht.de Beginn: 20.00 Uhr
AUSLAND

hörden, Ämter, Medien, Staatsbetrie-


be und selbst die Wirtschaft hat der
Premier mit loyalen Verbündeten
besetzt und damit das gesamte Land
auf sich ausgerichtet. Márki-Zay hat
nur deshalb eine Chance, weil ihn ein
Bündnis aus sechs Parteien unter-
stützt, das von weit rechts bis weit
nach links reicht. Eine Koalition, die
aus der Not geboren ist.
Er tritt ans Rednermikro und
spricht erst einmal über die Vergan-
genheit. Der lokale Kandidat seines
Oppositionsbündnisses stammt aus
der Partei Jobbik, die bis vor einigen
Jahren für ihre rechtsextreme, unifor-
mierte Schlägertruppe berüchtigt war,
die »Ungarische Garde«. Heute ist
Jobbik ein gemäßigt konservativer
Traditionsverein. Márki-Zay taucht
in die ungarische Geschichte ein und
spricht von Lajos Kossuth, dem unga-
rischen Nationalhelden, der in Cegléd

Akos Stiller / DER SPIEGEL


im Jahr 1848 die Bürger zum Kampf
gegen die Vorherrschaft der Habsbur-
ger aufrief. Kossuth würde sich im
Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie
der aktuelle Ministerpräsident die
ungarische Demokratie attackiert –
das ist der Tenor von Márki-Zays
Rede. Er bemüht die Geschichte
gegen Orbán.

Der Seelsorger
Zwei Stunden später in Kecske-
mét, wo Mercedes Limousinen baut
und die Menschen wohlhabender
sind, spricht er über Gleichberechti-
gung. Die Oppositionskandidatinnen
UNGARN  Der Kleinstadt-Bürgermeister Péter Márki-Zay könnte den hier stammen von den Sozialdemo-
kraten und der liberalen Bewegung
autokratischen Premier Viktor Orban bei den anstehenden Wahlen tatsächlich Momentum. Márki-Zay redet von
besiegen. Nur dessen über Jahre gewachsenes Regime wird er kaum los. gerechten Arbeitslöhnen für Frauen,
von den heruntergewirtschafteten
Kindergärten und Schulen.

E
s ist ein windiger Wahlkampftag scheu, er lässt die Bürger zu Wort Ein bekannter Reporter drängelt
in Cegléd, 80 Kilometer östlich kommen, bevor er spricht. Kein PR- sich vor und hält dem Kandidaten ein
von Budapest. Einige Dutzend Typ, sondern ein Kümmerer, ein gut Mikrofon ins Gesicht. Der Mann
Bürger sind auf den Platz vor dem gekleideter Seelsorger. In Cegléd arbeitet für einen Orbán-nahen Sen-
Rathaus gekommen, sie heften sich sucht er die Nähe zum Volk, denn sein der und versucht, Márki-Zay zu dis-
Schleifen an die Winterjacken. Euro- Gegner beherrscht die Medien, die kreditieren. Márki-Zay wolle doch
pa-Blau, das ist die Farbe der Oppo- Márki-Zay entweder ignorieren oder kranke Menschen nach Indien fliegen
sition. Sie haben sich hier versam- ein Zerrbild von ihm zeichnen. und dort operieren lassen, um die
melt, um Viktor Orbán den Kampf Márki-Zay ist Bürgermeister von Kosten im Gesundheitssystem zu sen-
anzusagen, der Ungarn seit zwölf Hódmezővásárhely, einer 43 000-Ein- ken, er lade massenhaft muslimische
Jahren beherrscht, die Demokratie wohner-Stadt im Süden Ungarns. Migranten ein und treibe Ungarn in
weiter aushöhlt und das Land immer Hier hat er vor vier Jahren gegen einen Krieg mit Russland.
tiefer in den Zwist mit der Europäi- einen Verbündeten von Orbán ge- Das sind die Mythen, die Orbáns
schen Union treibt. wonnen und vorgeführt, wie man an Journalisten verbreiten, die im ganzen
Ein Mann tritt heran, er kommt der Spitze eines Oppositionsbünd- Land gesehen, gehört und gelesen wer-
allein, als wäre er zufällig hier. Köpfe nisses das Monopol der Fidesz-Partei den. Und doch lag Márki-Zay in Um-
drehen sich zu ihm, Hände strecken brechen kann. Seine Anhänger hof- fragen sogar vor Orbán. Auch wenn
sich aus, er nickt, beantwortet Fragen fen, dass er dieses Kunststück bei den er seit dem russischen Krieg gegen die
und hört zu. Bis er das Rednerpult Parlamentswahlen am 3. April auf Ukraine schwerer durchdringt, ist
erreicht, ist fast eine Stunde vergan- nationaler Ebene wiederholen wird. doch nach zwölf Jahren in Ungarn
gen. Péter Márki-Zay ist der Kandidat Márki-Zay tritt nicht nur gegen Herausforderer wieder ein Wille zum Wechsel spürbar.
der Opposition, er soll Orbán aus dem den Ministerpräsidenten an, sondern Márki-Zay: Er tritt Ausgerechnet ein Kleinstadt-Bürger-
nicht nur gegen einen
Amt drängen. Márki-Zay ist 49 Jahre gegen ein mächtiges System, eine in Ministerpräsidenten
meister könnte Viktor Orbán zu Fall
alt, ein ruhiger, lächelnder Mann im zwölf Jahren Herrschaft hochgezüch- an, sondern gegen bringen – jenen Mann, der prototy-
Anzug. Zurückhaltend ist er, fast tete Machtmaschine. Gerichte, Be- eine Machtmaschine pisch für eine ganze Generation neu-

88 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


AUSLAND

autoritärer Herrscher steht, zu denen Kozó berichtete, wie der neue Bür- dings nicht sicher, zumal Fidesz eini-
Donald Trump zählt, Brasiliens Präsi- Kopf an Kopf germeister kurz nach der Wahl mit ge Wahlkreise neu zugeschnitten hat.
dent Jair Bolsonaro und Polens Vize- einer Zange, einem Plastiksack und Viktor Orbán reagiert auf seinen
premier Jarosław Kaczyński. »Wen würden Sie freiwilligen Helfern durch die Straßen Herausforderer, indem er ihn ignoriert.
wählen, wenn am
Orbán rühmte sich dafür, der Er- Sonntag Parlaments- streifte und Müll einsammelte. Das In öffentlichen Reden erwähnt er
finder der »illiberalen Demokratie« wahlen wären?«, größere Aufräumen begann danach: ­Márki-Zays Namen nicht. Stattdessen
zu sein. Die Gerichte sind politisiert, Angaben in Prozent Márki-Zay hatte vom Fidesz-Vorgän- warnt er vor Migranten, die das Land
und die Pressefreiheit ist ausgehöhlt, Bündnis Fidesz- ger einen Berg Schulden übernom- angeblich überrennen, vor Schwulen
weil die meisten Medien Fidesz-na- KDNP (Orbán) men. »Erst einmal musste er zahlen«, und Lesben und vor »Brüssel«, das
hen Unternehmern gehören. Selbst 33 sagt Kozó. Seine Vorgänger hatten einen »Rechtsstaats-Dschihad« gegen
die Wirtschaft kontrolliert Orbán, in- unentschieden
immer neue prestigeträchtige Projek- Ungarn führe. Im ganzen Land ließ Fi-
dem er mit Staatsaufträgen eine loya- te angefangen – und alte Rechnungen desz Plakate kleben. Sie zeigen Márki-
32
le Schicht von Unternehmern heran- offen gelassen. »Viel Geld war einfach Zay als Marionette des früheren Minis-
gezüchtet hat. Bündnis »In Einheit für verschwunden.« terpräsidenten Ferenc Gyurcsàny, eines
Ungarn« (Márki-Zay)
In seiner Heimatstadt Hódmező- Besonders undurchsichtig waren Sozialdemokraten, der von 2004 bis
31
vásárhely löste Márki-Zay vor vier die Fidesz-Machenschaften um die 2009 in Budapest regierte. Die Bot-
Jahren ein erstes kleines Beben aus, S Quelle: Umfrage von Publi-
Straßenbeleuchtung und ein Kamera- schaft: Márki-Zay ist eine Lachnummer
als er, ein politischer Neuling, einen cus Research für »Népszava« Überwachungssystem im Zentrum: und auch noch ein Linker.
vom 7. bis 11. März; Befragte:
lokalen Fidesz-Granden besiegte. Er 1001 ungarische Einwohner Sogar die EU-Korruptionsbehörde Aber das stimmt nicht, die Linke
tat das, indem er Orbáns Partei nicht ab 18 Jahren; die statistische OLAF hielt das Vergabeverfahren für in seinem Sechs-Parteien-Opposi-
Ungenauigkeit der Umfrage
von links, sondern von rechts heraus- liegt bei bis zu 3,1 Prozent- undurchsichtig, den Betrieb für zu tionsbündnis heißt Klára Dobrev, eine
punkten; an 100 fehlende
forderte. Márki-Zay ist gläubiger Ka- Prozent: andere Parteien teuer. Dennoch fiel es Márki-Zay Sozialdemokratin. Sie hat gegen
tholik, konservativ, ehrlich, mitfüh- schwer, Belege für Korruption zu fin- ­Márki-Zay bei den Vorwahlen um die
lend. Fidesz dagegen gilt offenbar den. Spuren von Vetternwirtschaft Spitzenkandidatur verloren. Außer-
selbst vielen der eigenen Wähler als waren, typisch für das System Orbán, dem ist Dobrev mit Ex-Ministerprä-
korrupt und abgehoben. gut verwischt. Eine Handvoll Leute sident Gyurcsàny verheiratet. Sie be-
Es gibt in der Kleinstadt eine auf- in der Stadtverwaltung musste gehen, grüßt auf Deutsch in einem Büro in
geräumte Fußgängerzone, die k. u. k. den Laternen ließ Márki-Zay neue der Budapester Innenstadt und sagt:
Fassaden sind mit EU-Geldern reno- Birnen einschrauben. Er habe nie- »Wir leben nicht mehr in einer Demo-
viert, bei »Kabul Kebab« ist Döner manden wegen seiner politischen Hal- kratie.« Das Sechserbündnis habe
im Angebot. Die meisten Bewohner tung gefeuert, sagt Márki-Zay. »Wir sich zusammengeschlossen, weil Or-
arbeiten im nahen Szeged. wollen den Kulturkampf, den Orbán bán anders nicht zu besiegen sei. Sie
Jeder in der Stadt weiß, wo Márki- um jede Frage inszeniert, beenden.« gibt sich betont loyal und siegesge-
Zay wohnt. Seine Frau arbeitet als Márki-Zay würde die Wiederwahl wiss: »Márki-Zay kann gewinnen.«
Hebamme, die sieben Kinder des Ehe- als Bürgermeister von Hódmezővá- Aber wie soll ein Bündnis langfris-
paars sind über die Schulen der Stadt sárhely gewinnen, glaubt der Journa- tig halten, das von links bis ganz
verteilt. Márki-Zay hat einige Jahre list Kozó. Beim Kampf um das Amt rechts reicht? »Orbán hat so viele
in Kanada und in den USA gelebt, des Ministerpräsidenten ist er aller- Probleme hinterlassen, da müssen wir
bevor er zurück nach Ungarn kam. erst einmal Grundlagenarbeit leisten,
Eine Weile war der promovierte Wirt- auf die sich alle Parteien verständigen
schaftswissenschaftler im Marketing können«, sagt Dobrev. Sie zieht einen
einer großen Firma in der Nähe an- Zettel mit einem Säulendiagramm
gestellt, er war damals auch Fidesz- hervor, es zeigt den Grad der sozialen
Anhänger. Seinen Job verlor er, als er Ungleichheit in verschiedenen Län-
sich von der Regierungspartei ab- dern der EU. In Ungarn ist sie wäh-
wandte. Er glaubt bis heute, dass die rend der Orbán-Ära stärker gestie-
Partei ihren Einfluss genutzt hat, um gen  als in anderen europäischen
ihn zu demontieren, weil er über Kor- ­Ländern.
ruption in der Stadt gesprochen hatte. »Jedes Mal, wenn Wahlen bevor-
Großen Einfluss übt Orbán mit- stehen, verteilt Orbán ein paar Ge-
hilfe der gemeindeeigenen Lokalzei- schenke«, sagt Dobrev. Um die Infla-
tungen aus, die in der Hand der Re- tion auszugleichen, hat er unlängst
gierungspartei sind. Als eine seiner die Preise für Hühnerbrust, Sonnen-
wichtigsten Amtshandlungen ließ blumenöl, Schweinekeulen, Zucker,
Márki-Zay den Chefredakteursposten Weizenmehl und Milch festschreiben
bei der Lokalzeitung seiner Stadt in lassen. Dazu zahlt er Familien bis zu
einem freien Auswahlverfahren be- einem bestimmten Deckelbetrag die
setzen. Seither tritt Attila Kozó fast Einkommensteuer zurück.
jeden Tag vor eine Kamera in einem »Das sind populistische Schritte«,
kleinen Studio und verliest Lokal- sagt Dobrev. Orbán werfe sich in die
nachrichten. Er bringt auch alle zwei Pose des Versorgers – aber Schulen,
Wochen die Zeitung »Vásárhelyi Va- Universitäten oder Krankenhäuser
Szilard Voros / eyevine / ddp

lóság« heraus. Titel diese Woche: seien notorisch unterfinanziert. »Er


»Hódmezővásárhely könnte 2022 verschenkt Geld, aber drückt sich um
zum Super-Schlachtfeld werden.« nachhaltige, sozial wirksame Struktur­
Kozó verfolgt den Kampf des neuen politik herum.« Das System Orbán
Bürgermeisters gegen das System Or- Premier Orbán ist in ihren Augen nicht nur autokra-
bán von Anfang an. tisch, sondern zutiefst unsozial. Wer

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 89


AUSLAND

le auch mit verlängerten Amtszeiten ausge-

Das Wissen stattet. Um Korruption und Vetternwirtschaft


bekämpfen zu können, muss vor allem der
Generalstaatsanwalt ausgewechselt werden:
Péter Polt, ein alter Orbán-Kumpel. Doch

der Besten auch das wird nicht leicht, denn der Mann ist
nur per Zweidrittelmehrheit abzuberufen.
Sollte er die Wahl gewinnen, werde Ungarn
als Erstes der Europäischen Staatsanwalt-
schaft beitreten, sagt Márki-Zay. »Wir erken-
nen an, dass europäisches Recht höherrangig
als nationales Recht ist.« Eine neue Regierung
brauche Rückhalt aus der EU. »Die Ungarn
sind ungebrochen proeuropäisch eingestellt.
Das konnten ihnen nicht einmal die zwölf
Jahre Orbán-Propaganda austreiben.«

Akos Stiller / DER SPIEGEL


Wird er den Zaun an der Ostgrenze des
Landes abreißen lassen, mit dem Orbán Mi-
granten abschrecken wollte? »Der Zaun
bleibt«, sagt Márki-Zay. »Aber die Frage ist,
wie wir mit Migration umgehen. Wir müssen
Sozialdemokratin Dobrev
kontrollieren, wer reinkommt.« Seine Regie-
rung wolle an der Grenze reguläre, EU-Recht-
gute Bildung oder Gesundheitsversorgung konforme Asylverfahren zulassen. Orbán
wolle, müsse das privat bezahlen. hatte diese praktisch unmöglich gemacht.
Es ist die soziale Agenda, die eine Sozial- »Flüchtlingen muss man helfen, das ist für
demokratin wie Dobrev mit dem Katholiken mich als Christen keine Frage.«
Jetzt Márki-Zay verbindet. Allerdings ahnt Do- Als Orbán nach Kriegsausbruch wie die
neu im brev: »Orbán haut jetzt Geld raus, er wird anderen osteuropäischen Länder Flüchtlinge
uns leere Kassen hinterlassen.« aus der Ukraine ins Land ließ, zollte Márki-
Handel Dem Spitzenkandidaten verdirbt das nicht Zay ihm Beifall. Ansonsten hält er dem
die Laune. Nach Tausenden geschüttelten Hän- Machthaber seine Nähe zu Russland vor. Der
den, Dutzenden Fragen aus dem Publikum staatliche russische Atomkonzern Rosatom
schaut Péter Márki-Zay noch immer freund- erweitert bis 2030 das Atomkraftwerk in
Lieblingskind? lich. Man merkt ihm an, dass er kein politischer
Profi ist, und nicht immer hilft ihm das.
Einmal kritisierte er die Coronapolitik der
Paks. Noch kurz vor dem Angriff hatte sich
Orbán mit Putin getroffen. Als ganz Europa
schon mit Sanktionen drohte, handelte
Wie weit wir es im Job bringen, Regierung, als Ungarn die höchsten Sterbe- Ungarns Ministerpräsident höhere Gasliefe-
hat mehr mit unserer Kindheit raten in der EU verzeichnete, mit den Worten, rungen aus. Derzeit verweigert er Waffen-
Fidesz dezimiere damit die eigene Wähler- transporte über ungarisches Gebiet in die
zu tun, als wir glauben. schaft. Dann wieder beteiligt er sich an Spe- Ukraine.
kulationen darüber, ob Orbáns Sohn schwul Am Tag der Parlamentswahl lässt Viktor
ist, oder er denkt laut über die Zahl der Juden Orbán auch eine Volksabstimmung über ein
in der ungarischen Politik nach. Er musste europaweit scharf kritisiertes Gesetz durch-
Weitere Themen: sich häufig entschuldigen, was die Menschen führen, das Informationen über Homo- und
in Ungarn nach zwölf Jahren Orbán nicht Transsexualität im Aufklärungsunterricht an
Talentmanagement mehr gewohnt sind. Schulen stark beschränkt.
So entfalten Mitarbeiter Nach seinem Auftritt will Márki-Zay in den Péter Márki-Zay sagt: »Als Katholik lehne
ihr volles Potenzial Wahlkampfbus steigen, aber das Gedränge ich Abtreibungen, Homosexualität und Schei-
von Referenten, Assistenten, Beratern ist zu dungen ab.« Aber das sei seine Privatsache.
groß. Also nimmt er im Auto des SPIEGEL - »Als Politiker ist es nicht meine Aufgabe, den
Fotografen Platz. Er spricht Deutsch, aber anderen meine Werte aufzuzwingen. Im
ESG-Berichte Englisch fällt ihm leichter. Er sagt, noch Gegenteil: Niemand darf diskriminiert wer-
CO2-Abdruck messen schlimmer als die leeren Staatskassen seien den.« Er werde weder das Abtreibungsrecht
ohne Greenwashing Orbáns politische Hinterlassenschaften. Denn verschärfen, noch schwulenfeindliche Geset-
Orbán hat nicht nur auf praktisch alle Macht- ze auf den Weg bringen.
positionen Verbündete gesetzt, sondern vie- Sicher ist: Wenn Márki-Zay die Wahlen
kommende Woche gewinnt, dann wohl eher
Zusammenarbeit knapp. Viele fürchten jetzt schon, dass Orbán
Wie Sie Ihr Team zurück dann den Weg seines politischen Idols gehen
ins Büro locken wird. Wie Donald Trump könnte er seine An-
Flüchtlingen müsse man hänger in die Hauptstadt holen und Proteste
helfen, sagt Márki-Zay. gegen die Niederlage anzetteln. Márki-Zay
zuckt mit den Schultern. »Klar, das kann er
manager- Aber auch er will versuchen. Aber soll uns das abhalten?« Er
Nachrichten
Jetzt App
die Ostgrenze absichern: glaubt, dass die Ungarn Hass und Korruption
satthaben – und Orbán endlich abwählen.
downloaden »Der Zaun bleibt.« Jan Puhl n

90 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


harvardbusinessmanager.de
SPORT

Nachholbedarf
Frauenanteil, in Prozent

Führungskräfte in der Geschäftsstelle

0
Geschäftsführung der Vereine
19 21
Katja Kraus war 2 6
die erste Frau im
Vorstand eines
Deutscher Deutscher Deutscher Fußball-Bundesliga-
Basketball Bund Handballbund Fußball-Bund Vereins.

2
1. Bundesliga 2. Bundesliga

7 5 8
Prozent der Geschäftsführenden der
Bundesliga-Vereine sind weiblich.
37 50 Anfang 2022 lag der Frauenanteil in den
Deutscher Deutscher Vorständen der Dax-Unternehmen bei
Leichtathletik- Eishockey-Bund 18,1 Prozent.
Verband
Deutsche Handball- Basketball-
Eishockey Liga Bundesliga Bundesliga
S Quellen: Sponsors Februar 2022 / DOSB Juli 2021, Stadionwelt August 2021
ˆ

Martin Hoffmann / IMAGO

In den 160 Unternehmen von Dax, MDax und SDax hat sich die Zahl weiblicher Vorstandsmitglieder innerhalb des vergangenen Jahres von 74 auf
94 Topmanagerinnen erhöht, das sind 13,4 Prozent. Im deutschen Sport dagegen bleiben Männer weiter gern unter sich – auch wenn jüngst auf 4 von
14 Posten im Präsidium des Deutschen Fußball-Bundes Frauen gewählt wurden. Ein noch schlechteres Bild zeigt sich in den Klubs der ersten Ligen.
Nach einer Untersuchung des Fachmediums »Stadionwelt« waren in den Geschäftsführungen der Vereine nicht einmal zehn Prozent Frauen vertreten.

GUT ZU WISSEN Nur bei den Mitglieder­ Klubs gezogen hatten, litten
zahlen erlebten viele Vereine unter Abmeldungen. Unter
Wie sind die Sportvereine einen Einbruch, er lag laut
Breuers Untersuchung bei
­Jugendlichen sei es üblich, dass
sie die Sportart wechseln, so
durch die Krise gekommen? 3,3 Prozent, das sind mehrere
Hunderttausend Menschen.
Breuer, in der Pandemie sei es
so gewesen, dass sie zwar ir­
Besonders die größeren Verei­ gendwo aus­getreten, dann aber
Die meisten Sporthallen demie auf die Sportvereine in ne, die die Deutschen in den nicht in einer anderen Sparte
sind wieder geöffnet, der Spiel­ Deutschland« erstellt. Die vergangenen Jahren mit einem wieder eingetreten seien.
betrieb kommt überall in ­Ergebnisse sind erstaunlich: reichhaltigen Angebot in die Die Folgen der Austritte
Deutschland nach der Pande­ ­Finanziell sind die Vereine sind derzeit noch nicht abseh­
mie- und der Winter­pause wie­ ­wesentlich besser durch die bar. »Sport hat besonders für
der in Fahrt. Für Deutschlands Krise gekommen als vielfach Kinder eine wichtige körper­
Sportvereine sind es wichtige erwartet. Die Hilfen des liche und psychosoziale Funk­
Wochen. »Die Vereine müssen ­Staates, die weiterlaufenden tion«, erklärt Breuer, er sei
besonders die Kinder und Ju­ Mitgliedsbeiträge bei geringe­ ­zudem ein »sozialer Kitt«, weil
gendlichen wiedergewinnen, ren Ausgaben für Trainer und der Nachwuchs dort lerne,
die sie durch ­Corona verloren Übungsleiter haben die Kassen sich in Gruppen und Gesell­
haben«, sagt Christoph Breuer, geschont, einige Klubs erlebten schaften einzufügen. Die
Leiter des Instituts für Sport­ sogar ihr finanziell erfolg­ ­Vereine müssten sich jetzt an­
ökonomie und Sportmanage­ reichstes Jahr. Besonders die strengen, wieder in den alten
ment an der Sporthochschule kleineren Ver­eine ohne Fest­ Rhythmus zu finden. Es gelte
Köln. angestellte trotzten der Krise. vor allem, »benachteiligte
Stephanie Zerbe

Mit einem Team hat ­Breuer Auch die meisten Ehrenamt­ ­Kinder und Jugendliche« zu­
im vergangenen Jahr eine lichen, das Fundament der rückzuholen, damit sie regel­
­Erhebung über die »Auswir­ ­Vereinsarbeit, blieben bei der mäßig mehrmals in der Woche
kungen der Covid-19-Pan­ Stange. Basketballerinnen in Hamburg Sport treiben. ULU

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 91


SPORT

Spieler der
Nationalelf, Trainer
Flick in Hamburg
im Oktober 2021

Mirko Hannemann / PublicAd


dorf ist kein Fußballverrückter, er hat selbst
nur bis zur C-Jugend gespielt, beim Eifel-Klub

»Ich würde Beckenbauer


FC Grenzwacht Hürtgen, dann kam ein Knie-
schaden, und es war erst mal vorbei mit dem
Fußball. Erst 2019 stieg er zum Chef des Lan-

gern mal kennenlernen«


desverbands Mittelrhein auf. Davor war er
Politiker, Sprecher der SPD in der Ära Ger-
hard Schröder, später Staatssekretär im nord-
rhein-westfälischen Familienministerium.
In der Politik hat Neuendorf gelernt, Streit
SPIEGEL-GESPRÄCH  Der neue Präsident Bernd Neuendorf über seine zu moderieren, Interessen auszugleichen. Er
versteht es, Worte zu wägen, den richtigen
Chancen, aus dem Skandalverband DFB wieder einen gesellschaftlichen Zeitpunkt dafür abzuwarten, weil sich Worte
Leuchtturm zu machen und ein Jahr im Amt zu überleben nicht wieder einfangen lassen. Neuendorf gilt
als bedächtig, zurückhaltend, auch etwas
farblos und langweilig. Vermutlich ist es ge-

A
ls beim letzten Mal ein neuer DFB- wurde geführt mit großen Egos, gnadenloser nau das, was der DFB nun braucht: einen
Präsident im SPIEGEL sein Antritts- Härte. unaufgeregten Anführer.
interview gab, war das Fritz Keller, der Am Ende verglich Keller in seiner aufge-
badische Winzer, der dem Krisenverband das stauten Wut den verhassten Vize Rainer Koch SPIEGEL: Herr Neuendorf, Sie hatten in sieben
menschliche Maß und die persönliche Glaub- mit dem NS-Richter Roland Freisler. Keller, Jahren sechs Vorgänger, Interimspräsidenten
würdigkeit zurückgeben sollte. Neben Keller der Macher, der alles besser machen wollte, eingerechnet. Warum sollten wir davon aus-
saß im Mai 2020 sein Generalsekretär Fried- hatte fertig. In dieser Lage tritt nun der Neue gehen, dass wir hier in einem Jahr nicht mit
rich Curtius; heraus kam ein Gespräch mit an, Bernd Neuendorf, 60, und gibt dem Ihrem Nachfolger sitzen?
großen Ideen, harten Urteilen, es war kraft- ­S PIEGEL eine gute Woche nach seiner Wahl Neuendorf: Haben Sie da eine Wette laufen?
voll, es war kernig, und es war maximal ver- das erste Gespräch. Er empfängt in der gera- Im Ernst: Es sind mehrere Dinge, die mich
logen. Denn die Harmonie, die beide zeigten, de bezogenen Frankfurter Zentrale des DFB, zuversichtlich stimmen, dass Sie sich den Weg
war nur eine Inszenierung. Der Grabenkrieg die noch mehr nach Baustelle als nach Neu- nächstes Jahr sparen können. Obwohl es das
zwischen Keller und seinem Generalsekretär bau aussieht; vor dem Grundstück steht ein erste Mal überhaupt in der Geschichte des
war da längst entbrannt und setzte kurz da- Schild: »Hier entsteht der neue DFB & seine DFB eine Kampfabstimmung um das Präsi-
nach den ganzen Verband in Flammen. Er Akademie«. dentenamt gab, hatte ich eine sehr breite
Es ist ein anderes Gespräch als mit Keller, Unterstützung. Nicht nur von den Amateur-
Das Gespräch führten die Redakteure Jürgen Dahl- schon weil Neuendorf ein ganz anderer Typ verbänden, auch aus dem Profibereich, von
kamp, Gunther Latsch und Udo Ludwig. ist. Tastend, vorsichtig, abwartend. Neuen- dem es ja vorher hieß, dass er komplett gegen

92 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


SPORT

mich stehe. Und mit Hans-Joachim Christian Seifert hat seinen Job auf- »Hansi Flick viel über die Gegensätze gesprochen
Watzke, dem neuen Aufsichtsratsvor- gegeben, Peter Peters ist als DFL-Auf- worden. Wir haben dabei aber ver-
sitzenden der DFL, telefoniere ich sichtsrat weg, DFB-Vize Rainer Koch kommt mit gessen, unsere gemeinsame Geschich-
fast täglich. Da herrscht ein neues scheiterte überraschend bei der Wahl seiner Art te zu erzählen: dass wir auf einem
Klima, ein gutes Miteinander. Auch ins Präsidium und sitzt nur noch im sehr gut Boden stehen, dass wir gemeinsam
mit Donata Hopfen, der neuen DFL- Vorstand. das gesamte System stärken müssen.
Geschäftsführerin. Neuendorf: Ich weiß nicht, wie ich mit ­herüber. Die DFB und DFL sind in vielen Dingen
SPIEGEL: Dass das Klima mit ihm bes- Herrn Seifert zusammengearbeitet Leute merken, einer Meinung, etwa was die Ableh-
ser würde, glaubte auch Ihr Vorgän- hätte. Ich werde mit denen arbeiten, nung der europäischen Superliga an-
ger Fritz Keller, als er anfing. Es en- die jetzt gewählt sind, und da kann
dass da geht.
dete mit Frontlinien, Grabenkämpfen, ich nur sagen: Weder bei Hans-Joa- einer beschei- SPIEGEL: Bei Geld hört die Freund-
Heckenschützen. chim Watzke noch bei Donata Hop- den und schaft bekanntlich auf. Demnächst
Neuendorf: Ich selbst war nicht dabei, fen erlebe ich ein Nachkarten, ein muss ein neuer Grundlagenvertrag
habe das nur aus der Distanz beob- Interesse daran, Gegensätze zu kul- ruhig auftritt.« zwischen DFB und DFL her. Es geht
achtet. Klar ist: Der Imageschaden, tivieren und Streitereien fortzusetzen. darum, wie viel Geld der DFB von
den der DFB erlitten hat, ist enorm. SPIEGEL: Und was ist mit Rainer der DFL dafür bekommt, dass sie die
Und deshalb haben jetzt viele ver- Koch? Er hat Ihnen als Chef der Ama- Deutsche Fußball-Meisterschaft aus-
standen, dass wir einen Punkt er- teure mit ins Amt geholfen, jetzt sieht richten darf. Die Profis wollen offen-
reicht haben, an dem es keine Gewin- es so aus, als wäre seine Zeit als wich- bar nicht viel mehr abgeben als bisher.
ner mehr gibt, wenn wir uns noch tigster Strippenzieher des DFB vor- Was ist für Sie die Untergrenze?
mehr zerlegen. Weil der Fußball ins- bei. Wirkt sich das auch auf Ihre Män- Neuendorf: Das ist für mich der fal-
gesamt verliert, egal ob Profis oder nerfreundschaft aus? sche Ansatz. Bevor ich eine Zahl nen-
Amateure. Wir alle spüren, dass ein Neuendorf: Wir hatten immer ein pro- ne, muss ich erst mal sagen, wofür die
Weiter-so die Zukunft unseres Sports fessionelles Verhältnis. Jetzt gehört Amateure das Geld benötigen, für
kaputtmacht. er dem Präsidium nicht mehr an. Das was sie es einsetzen wollen. Die Fra-
SPIEGEL: Nach dem Motto: Wer jetzt sehe ich nüchtern und pragmatisch. ge ist: Was gehört inhaltlich in einen
noch sägt, steht am Ende nur noch So ein Verband ist ja kein Wünsch- Grundlagenvertrag hinein? Und nach
vor einem Haufen Sägemehl? dir-was. Über die neue Führung ist der Einigung über die Inhalte spre-
Neuendorf: Ich sag’s mal so: Was hin- demokratisch abgestimmt worden. chen wir über die Zahl, nicht umge-
ter uns liegt, sind Dinge, die uns zu- Wir haben eine Mannschaft, mit der kehrt.
rückgeworfen haben. Um es besser ich jetzt gut zusammenarbeiten wer- SPIEGEL: Bisher bekommt der DFB
zu machen, müssen wir nach vorn de. Das haben die ersten Runden maximal 26 Millionen Euro im Jahr.
schauen und zusammenarbeiten. ­gezeigt. Betriebsprüfer des Finanzamts Frank-
Wenn wir für den Fußball gegenüber SPIEGEL: Der ehemalige DFL-Ge- furt haben erklärt, das sei viel zu we-
der Politik etwas erreichen wollen, schäftsführer Seifert hat sich mit dem nig. Der DFB müsse sich an Zahlen
dürfen wir nicht länger ein Bild wie vergifteten Gruß aus dem Amt ver- orientieren, die zwischen Konzernen
in den vergangenen drei Jahren ab- abschiedet, das Verhältnis zum DFB und ihren Tochtergesellschaften
geben. Politische Durchschlagskraft sei zerrüttet wie nie. Ein netter Herr marktüblich seien: zwischen fünf und
haben wir nur, wenn wir ein starker Watzke hin, eine nette Frau Hopfen zehn Prozent vom Umsatz. Da sind
Verband sind. her: Was trennt die Profis so von den wir schnell beim Mehrfachen dessen,
SPIEGEL: Gut gebrüllt, Löwe, aber der Amateuren? was die DFL bisher abgegeben hat.
Verband besteht aus Menschen, von Neuendorf: Ich verstehe, dass Sie wei- Neuendorf: Klar ist, dass die bisherige
denen einige wohl eher einen Thera- ter an dem Keil arbeiten, der uns an- Summe anpassungsfähig erscheint:
peuten als einen Präsidenten brau- geblich trennt. Es ist in jüngster Ver- Funktionär nach oben. Wir sind uns sicher, eine
chen. Der DFB ist nicht nur zerrissen gangenheit leider von beiden Seiten ­Neuendorf Lösung zu finden, die von den Be-
in Fraktionen, sondern auch zerfres- hörden mitgetragen wird.
sen von Misstrauen, zerstört in seiner SPIEGEL: Konfliktstoff im DFB liefern
Glaubwürdigkeit. Was konkret wol- auch immer wieder die hoch dotier-
len Sie tun? ten Posten bei der Fifa und Uefa. Sie
Neuendorf: Mein Führungsstil ist ­hatten vor der Wahl gesagt, dass Sie
kommunikativ. Wir müssen uns eini- keinen der beiden Sitze anstreben.
gen, wo der Verband in der Sache Bleibt es dabei?
stehen soll, und der Streit darum darf Neuendorf: Nach dem Bundestag
nie ins Persönliche gehen. So habe müssen wir diese Situation neu be-
ich auch im Ministerium immer wie- werten. Rainer Koch und Peter Peters,
der Akteure zusammengebracht, die unsere beiden Vertreter, haben bei
vermeintlich weit auseinanderlagen. den Abstimmungen klar verloren und
Und was die Mitarbeiter angeht: Dass haben kein Amt im Präsidium mehr.
manche persönliche Verletzungen Nun werden wir im Präsidium bespre-
davongetragen haben, mag so sein. chen, was sich daraus ergibt.
Ich werde in jede Abteilung gehen, SPIEGEL: Hören wir da heraus, dass
mit jedem sprechen, viel zuhören, Sie doch danach greifen, sobald das
Markus Hintzen / DER SPIEGEL

versuchen, das Vertrauen untereinan­ möglich ist?


der zurückzugewinnen. Neuendorf: Meine erste Priorität ist
SPIEGEL: Was Ihre Aufgabe zumin- es, den DFB in ruhiges Fahrwasser zu
dest etwas leichter macht, ist die Tat- führen und nicht daran zu denken,
sache, dass die alten Anführer nichts welche nächste Position ich einneh-
mehr zu melden haben. DFL-Chef men will. Aber unstrittig ist: Im Hin-

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 93


SPORT

zum Thema machen, bevor wir überhaupt


dorthin fahren.
SPIEGEL: Damit das Image des DFB besser
wird, müssten Sie auch ein paar dieser kaum
noch zu zählenden Ermittlungsverfahren vom
Hals bekommen. Die lassen den DFB immer
wieder nach einem Sauladen aussehen.
Neuendorf: Als DFB-Präsident kann ich auf
staatsanwaltschaftliche Verfahren natürlich
keinen Einfluss nehmen. Aber klar: Es wäre
schön, wenn die Ermittlungen sich nicht
über Jahre hinziehen würden und wir mal
einen Abschluss hätten, wie auch immer er
aussieht.
SPIEGEL: Zur Wahrheit gehört auch, dass es
im Machtkampf beim DFB zur beliebten Me-
thode wurde, die Staatsanwaltschaft gegen
die andere Seite einzuschalten. Ihr Vorgänger

Sven Hoppe / dpa


Keller etwa hat Strafanzeige wegen Untreue
gegen den Ex-Generalsekretär Curtius und
den ehemaligen PR-Berater des DFB, Kurt
Zuschauerproteste gegen den DFB in München 2020: »Noch nie Kontakt zu Beckenbauer«
Diekmann, gestellt. Beide bestreiten die Vor-
würfe.
blick auf die kommende Europameisterschaft da einer bescheiden und ruhig auftritt. Und Neuendorf: Da geht es um Vorwürfe, bei
in Deutschland 2024 und für die Bewerbung das wirkt sich positiv auf die Mannschaft aus. denen der DFB der Geschädigte wäre, wenn
der Frauen-WM 2027 brauchen wir eine star- SPIEGEL: Für das Image von Nationalmann- sie zuträfen. Aber ja, medial fällt das negativ
ke internationale Vertretung. schaft und DFB ist auch wichtig, wie man sich auf den DFB zurück. Ich bin erst ein paar Tage
SPIEGEL: Es gibt ja nicht nur die Dauerkrise politisch positioniert. Im November beginnt hier und lasse mir das gerade alles zusammen-
des DFB, sondern auch die des Profifußballs. die WM in Katar, einem Land mit viel Geld stellen. Das interessiert mich durchaus.
Die DFL hat in der Coronakrise ein ambi­ und wenig Gewissen, zumindest nach euro- SPIEGEL: Zum Schluss unsere ewig unbeant-
tioniertes Papier dazu veröffentlicht, in dem päischen Maßstäben. Wird man dort Ihre wortete Frage an jeden neuen DFB-Präsiden-
es viel um die Entfremdung der Fans vom Stimme zu kritischen Themen deutlich hören? ten: das Sommermärchen, die Frage nach den
Kommerzfußball ging, geschehen ist bisher Neuendorf: Man fährt nicht nach Katar, um dubiosen Zahlungen rund um die WM 2006.
wenig. nur im Stadion zu sitzen. Das wäre die falsche Ihr Vorgänger hat noch mal versucht, das Rät-
Neuendorf: Wir müssen genau analysieren, Botschaft. Wir haben eine Verantwortung, die sel zu lösen, wofür die ominösen 6,7 Millio-
was Corona mit dem Fußball insgesamt ge- Dinge anzusprechen, die für uns problema- nen Euro waren, die auf verschlungenen We-
macht hat. Wenn jetzt wieder volle Stadien tisch sind. gen bei einem korrupten Funktionär in Katar
erlaubt sind, die aber trotzdem nicht voll wer- SPIEGEL: Dann tun Sie es doch gleich hier: gelandet waren. Ist das Thema für den DFB
den, dann ist das ein Signal, das wir nicht Sagen Sie den Katarern, was Sie von deren nun abgeschlossen?
ignorieren können. Einstellung zu Menschenrechten halten. Neuendorf: Ich kenne den internen Bericht
SPIEGEL: Teilen Sie den Befund, dass der Fuß- Neuendorf: Es gibt mehrere Punkte, die wir des DFB dazu noch nicht, werde mir aber
ball den Menschen einfach nicht mehr so viel ansprechen müssen. Unter anderem die Lage natürlich auch hier die Unterlagen ansehen.
bedeutet wie früher, als sie das ganze Wo- ausländischer Arbeitskräfte, die der Frauen. Ich muss wissen, ob sich daraus ein Hand-
chenende an das Spiel ihrer Lieblingsmann- Das sind Themen, über die man nicht nur mit lungsbedarf ergibt. Der Staatsanwaltschaft
schaft dachten und ihr Sonntagsgefühl davon Verbands- oder Regierungsvertretern reden liegt der Bericht ja ebenfalls vor, warten wir
abhing, ob ihr Verein gewonnen hatte? sollte, sondern auch mit NGOs und Men- ab, welche Schlüsse sie daraus zieht und wie
Neuendorf: Ich glaube, wir können zu der schenrechtsaktivisten. Ich werde das schon dann der weitere Werdegang ist.
alten Begeisterung zurückfinden. Dass nicht SPIEGEL: Im Zentrum der Affäre steht Franz
alle wieder ins Stadion oder auf den Fußball- Beckenbauer, zur Aufklärung beigetragen
platz gehen, mag noch mit einem unguten Pandemiefolgen hat er wenig. Wie wollen Sie mit der einstigen
Gefühl wegen Corona zusammenhängen. Lichtgestalt des deutschen Fußballs um­
Man muss sich erst wieder daran gewöhnen, DFB-Mitglieder, Veränderung gegenüber dem gehen?
Vorjahr, in Tausend*
in großen Gruppen zusammenzusitzen oder 2016 Neuendorf: Soll ich Ihnen was sagen? Ich hat-
-zustehen. + 80 te noch nie Kontakt zu Franz Beckenbauer,
SPIEGEL: Die Zurückhaltung der Fans gilt auch würde ihn aber gern mal kennenlernen.
für die Nationalmannschaft. + 50 Grundsätzlich verschließe ich mich keinem
Neuendorf: Das sehe ich etwas anders. Ich Gespräch. Letztlich müssen wir in der Causa
finde schon, dass es mit Hansi Flick einen Sommermärchen aber zur Kenntnis nehmen,
Wandel gegeben hat. Fans und Mannschaft dass das Ganze nun 16 Jahre her ist und eini-
rücken wieder näher zusammen. Auch die ge Untersuchungen stattgefunden haben, von
Art, wie das Team spielt, kommt an. Und das 2011 unabhängigen Institutionen im In- und Aus-
− 10
gesellschaftliche Engagement. − 50 land, vor denen ich großen Respekt habe.
SPIEGEL: Fragt sich nur, warum das Image der Auch der DFB hat alles versucht, nur fehlt
Mitglieder 2021
Nationalelf so abgestürzt ist. insgesamt: leider immer noch die Auflösung. Klar ist:
Neuendorf: Das hat natürlich mit den beiden ca. 7,1 Millionen Sollte es neue Erkenntnisse geben, dann gehe
schwachen Turnieren zu tun, der WM und − 100 ich den Dingen auch entschlossen nach.
der EM. Aber Hansi Flick kommt mit seiner * Werte gerundet 2021 SPIEGEL: Herr Neuendorf, wir danken Ihnen
Art sehr gut herüber. Die Leute merken, dass S Quelle: DFB − 110 für dieses Gespräch. n

94 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


SPORT

wieder ihre Regeln ändert, um Ame-


rican Football als Familiensport zu
etablieren, blieb beim Baseball alles
beim Alten. Ideen, das Spiel attrakti-
ver zu machen, wurden verworfen.

Bedrohte Sportart
Heute ist der durchschnittliche
Baseballfan 57 Jahre alt. Auf Insta­
gram folgen Basketballikone LeBron
James rund 116 Millionen Menschen,
der größte Baseballstar Mike Trout
USA  Baseball galt lange als Synonym für amerikanische Freizeitkultur. Nun kommt gerade mal auf 1,9 Millionen.
steckt die Profiliga in einer schweren Krise. Wie konnte das passieren? Die MLB lockt zwar insgesamt im-
mer noch mehr Zuschauer in die Sta-
dien als jede andere Sportliga, doch

N
och Anfang März wackelte die jedes Team muss dafür mindestens
neue Saison der nordamerika- 162 Saisonspiele austragen – eine
nischen Baseballliga MLB. In Event-Inflation. Die Begegnungen
einem offenen Brief hatte MLB-Boss werden meistens im regionalen Fern-
Rob Manfred verkündet, dass der sehen übertragen. Als die Atlanta
Saisonstart abgeblasen sei. Zu fest- Braves im vergangenen Jahr den Titel
gefahren waren die Verhandlungen gewannen, schalteten lediglich 11,75
zwischen der Liga und der Spieler- Millionen Amerikaner den Fernseher
gewerkschaft. »Wir haben hart ge- ein, den Super Bowl im Februar ver-
arbeitet, um ein Ergebnis zu vermei- folgten 99 Millionen vor dem TV.
den, das schlecht für unsere Fans, Die Gründe des Abstiegs sind viel-
schlecht für unsere Spieler und fältig. Besonders Jüngere empfinden

Chris Bernacchi / Getty Images


schlecht für unsere Klubs ist«, schrieb die Spiele, die oft mehr als drei Stun-
Manfred. den dauern, als langweilig. Es gibt
Die Spielergewerkschaft MLBPA wenig Szenen, die sich für leicht kon-
antworte kühl. »Spieler und Fans auf sumierbare Highlight-Clips in den
der ganzen Welt, die Baseball lieben, sozialen Medien eignen.
sind angewidert, aber leider nicht Dabei sind genug finanzielle Mittel
überrascht.« da, um Reformen voranzutreiben.
Die öffentliche Eskalation war der ball ist ein Sport des 20. Jahrhun- Superstar Trout: Rund 1,96 Milliarden Dollar nimmt
vorläufige Höhepunkt eines monate- derts.« Heute interessiere sich kaum Nur 1,9 Millionen die Liga allein mit dem Verkauf der
Follower auf
langen Machtkampfes zwischen der noch jemand für die Sportart, sie habe ­Instagram Übertragungsrechte pro Jahr ein.
Baseballliga und ihrem wichtigsten sich überholt. Aber offenbar glauben viele Team­
Kapital: den Spielern. Es geht um sehr Professionell wurde Baseball besitzer nicht mehr an die Zukunft
viel Geld im Multimilliarden-Busi- schon im 19. Jahrhundert gespielt, seit von Baseball und wollen Kasse ma-
ness Baseball und um noch viel mehr: 1903 in einer Finalserie der MLB. Die chen statt zu investieren. Anders als
die Zukunft der amerikanischen Tra- Liga verstand es, die Sehnsucht nach die Los Angeles Dodgers, die ihren
ditionssportart, die in die Jahre ge- Unterhaltung zu befriedigen. Nicht Spielern in der Vorsaison noch mehr
kommen ist. mal während des Zweiten Weltkriegs als 266 Millionen Dollar zahlten,
Alle fünf Jahre verhandelt die flaute die Begeisterung ab. US-Präsi- steckten etwa die Baltimore Oriols
MLB mit der Spielergewerkschaft dent Franklin D. Roosevelt erhob den Entkoppelt nur etwas über 42 Millionen Dollar
einen neuen Tarifvertrag aus. Das ist Sport zur nationalen Angelegenheit: in ihren Kader.
gängige Praxis in amerikanischen »Ich bin ehrlich der Meinung, dass es Durchschnittlicher Das Geld wird höchst ungleich ver-
Wert der Klubs und
Sportligen, in denen die Teams Li- für das Land am besten wäre, Base- teilt. Viele junge Spieler bekommen
durchschnittliche
zenznehmer der Liga sind, sogenann- ball am Laufen zu halten.« Jeder sol- Höhe der Spielerge- das Minimalgehalt, das im vergange-
te Franchise. Dieses Mal waren die le noch mehr als bisher die Möglich- hälter in der Major nen Jahr bei 570 500 Dollar lag. Zum
Positionen der beiden Streitparteien keit haben, »sich zu erholen und von League Baseball, Vergleich: Superstar Trout kassierte
anscheinend unvereinbar. Der Haupt- der Arbeit abzulenken«. Veränderung gegen- mehr als 37 Millionen. Vor allem der
vorwurf der Spieler: Den Teamchefs Baseball wurde zum Synonym für über 2003 in Prozent sportliche Unterbau wackelt. Die
gehe es nur noch um Profit. Der amerikanische Popkultur. Die Men- Athleten in den Minor Leagues, den
Wert der Klubs
Durchschnittswert einer MLB-Fran- schen trafen sich beim Baseball, Spiel- Ausbildungsligen, leben oft in pre­
Spielergehälter
chise betrug im Jahr 2016 rund­ tage waren Festtage. Präsidenten kären Verhältnissen. Spieler werden
1,3 Milliarden Dollar, fünf Jahre spä- ­kamen zur Saisoneröffnung, um den 500 mit 500 Dollar pro Woche abgespeist,
ter waren es fast 2 Milliarden. Am ersten Ball zu werfen. Die Teams wur- nur fünf Monate lang bekommen
Durchschnittsgehalt der Spieler än- den zu globalen Marken, die Base­ 400 sie Geld. Manche schlafen auf Luft­
derte sich in dieser Zeit nichts, es stag­ ballcaps zu einem der größten Schla- matratzen in schäbigen und von Ka-
niert seit Jahren bei etwas mehr als ger der Modeindustrie. 300 kerlaken befallenen Apartments.
4 Millionen Dollar. »Aber dann wurde die Liga zu Zumindest geht es nach dem Lock-
200
Anfang Januar verhängte die Liga faul«, sagt Weiner, »den Status als out nun doch wieder los. Mitte März
sogar einen Lockout. Sie kämpft um Nationalsport hat Baseball schon lan- 100 einigte man sich zähneknirschend
jeden Dollar, und das habe einen ge verloren.« American Football und auf einen neuen Tarifvertrag. Es gibt
ernsten Hintergrund, erklärt Evan Basketball überholten ihn in der Be- 0 ­etwas mehr Geld – und dafür noch
Weiner, einer der anerkanntesten liebtheit. Während die NFL – gegen 2000 2010 2020 mehr Spiele.
­Baseballexperten Amerikas. »Base- den Widerstand vieler Fans – immer S Quelle: Statista Jonas Kraus  n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 95


WISSEN

STScI / NASA
Die schlaflosen Nächte der Nasa-Forscher sind endlich vorbei: 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, hat das milliardenteure »James Webb«-
Weltraumteleskop Position bezogen, seine Spiegel aufgespannt und ein phänomenales Testbild geliefert. Es zeigt den Stern HD 84406 in
einem Abstand von 260 Lichtjahren – und noch mehr: Viele der kleinen Punkte um ihn herum sind uralte Galaxien irgendwo tief im Weltraum, die
­bisher für Wissenschaftler unsichtbar waren. Den regulären Forschungsbetrieb soll das Teleskop im Juni aufnehmen.

Umstrittene
die vier Meiler des Kernkraftwerks Doel befinden sich im Hafen
von Antwerpen. Die ältesten Meiler Doel 1 und 2 sowie Tihange 1

Laufzeitverlängerung
haben bereits einmal eine Laufzeitverlängerung bekommen.
Sie sollen weiterhin innerhalb der kommenden drei Jahre abge-
schaltet werden, ebenso Tihange 2 und Doel 3, bei denen früher
schon feine Risse in den Druckbehältern entdeckt worden waren.
ANALYSE­  Warum zwei der viel kritisierten belgischen
Nur für die jüngsten Reaktoren, Tihange 3 und Doel 4, beide
AKW noch bis 2035 in Betrieb bleiben könnten seit 1985 in Betrieb, soll es vorerst eine Zukunft geben – falls Be-
treiber Engie Electrabel anstehende Nachbesserungen und
Belgische Atomkraftwerke haben einen miserablen Ruf. Seit ­Modernisierungen durchführt, was angesichts der notwendigen
Jahren sind die Anlagen immer wieder wegen Störungen Investitionen noch nicht ausgemacht ist.
in den Schlagzeilen – 2017 sprach Johannes Remmel (Grüne), Beide Reaktoren haben eine Leistung von jeweils etwa 1000
damals Umweltminister von Nordrhein-Westfalen, gar von Megawatt, und technisch gelten sie offenbar trotz ihres Alters
»Bröckel-­Reaktoren«. Eigentlich sollte die Ära belgischer AKW als gut beherrschbar. In den USA haben die Aufsichtsbehörden
2025 zu Ende gehen, doch daraus wird wohl nichts: Die die Gesamtlaufzeiten für baugleiche Atomkraftwerke bereits
­Regierung in Brüssel hat den Atomausstieg wegen des Ukraine- auf 80 Jahre gestreckt. Belgische Experten werden nun unter an-
kriegs und der stark gestiegenen Energiepreise jetzt auf 2035 derem abschätzen müssen, wie stark das Material der Reaktor-
verschoben. druckbehälter abgenutzt ist. Vor einer Verlängerung der Laufzeit
Wie sicher aber sind die Meiler im Nachbarland? Noch laufen durch die Atomaufsichtsbehörde ist zudem eine neue Umwelt-
dort zwei Kernkraftwerke mit insgesamt sieben Reaktoren: Das verträglichkeitsprüfung nötig. Für diese müssten die Nach­
Kernkraftwerk Tihange besteht aus drei Reaktorblöcken und barstaaten konsultiert werden – auch Deutschland, wo der Plan
liegt nur etwa 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, der Belgier bislang auf wenig Applaus gestoßen ist. Julia Merlot

96 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


Droht China der nirgendwo in der Welt beobachtet worden Sterben mit weiteren harten Lockdowns
ist; pro Tag und pro Million Einwohner für Millionenstädte zwar wohl abmildern.
Coronaschock? starben bis zu 37,6 Menschen an Corona. Aber immer klarer wird: China muss besse-
PANDEMIE  China wollte das Coronavirus Im Vergleich zu Neu­seeland, das ebenfalls re Impfstoffe einsetzen, um eine Katastro-
mit allen Mitteln an der Ausbreitung hin- lange eine Null-Covid-Strategie verfolgte, phe abzuwenden. Die derzeit verabreichten
dern. Diese Strategie hat dem Land bisher mittlerweile aber gute Impferfolge erzielt Vakzinen haben bei rund 20 Prozent der
geringe Fallzahlen eingebracht. Allerdings hat, lag die Fallsterblichkeit in Hongkong Bevölkerung zu einem wirksamen Impf-
hat der Riesenstaat deshalb ein Problem: 20-mal höher. China könnte das drohende schutz geführt.
Eine natürlich erworbene Immunität gegen Die Fachleute von Airfinity glauben, dass
Sars-CoV-2 existiert in der Bevöl­kerung Warteschlange China sich dringend auf dem Weltmarkt nach
kaum. Weil auch die Effektivität der chine- für PCR-Tests in wirksameren Boosterimpfungen umschauen
sischen Impfstoffe gegen Omikron schwach Shenyang muss. ­Gemäß ihrer Rechnung sind in den
ausgeprägt ist und zudem nur wenige ältere ­reichen Staaten und den Schwellenländern
Menschen immunisiert sind, droht China derzeit mehr als 750 Millionen geeignete
nun eine Krise. Falls die jüngste Corona­ Impf­dosen verfügbar, vom russischen Sput-
variante China so treffen sollte wie in den nik bis Biontech, Johnson & Johnson oder
vergangenen Wochen Hongkong, erwarten Astra­Zeneca. Diese Menge reiche, um fast
Experten des Londoner Analyseinstituts alle Chinesen über 35 Jahre zu vakzinieren.

VCG / Getty Images


Airfinity schlimmstenfalls allein bis Anfang Könnte China einen gleichermaßen hohen
Mai eine Million Coronatote in China. In Impfschutz wie Neuseeland erreichen,
Hongkong verursachte Omikron eine Fall- würde ein Omikron-Ausbruch dort allenfalls
sterblichkeitsrate, die in dieser Höhe noch 45000 Menschenleben fordern. ME

»Das ist atemberaubend«


dem die Ausdehnung des Som- Ich bin mit Skiern und dem
mer-Meereises in der Antarktis Schneemobil über das Fjordeis
ein neues Rekordminimum er- gefahren. Aber seit einem Jahr-
reicht hat. Dies passt ebenfalls zehnt existiert dort im März
ANTARKTIS  Auf dem südlichsten Kontinent herrschen nicht in den Trend, denn bisher kein Eis mehr, stattdessen plät-
jetzt nie gemessene Extremtemperaturen. Warum? ist das antarktische Meereis schert Wasser.
über die Jahre stabil geblieben. SPIEGEL: Tauen jetzt beide
Markus Rex, 55, ist Rex: Wir haben es mit einem SPIEGEL: Gleichzeitig hat es Pole?
Polar- und Klima- massiven Extremwetterereignis jetzt auch in der Arktis eine Rex: Die Arktis schmilzt, die
forscher am Alfred- zu tun, einem Einzelfall. Das ist Hitzewelle gegeben. In Ny-Åle- Durchschnittstemperatur steigt,
Wegener-Institut umso überraschender, weil er sund auf Spitzbergen wurde ein das Meereis schwindet rapide.
und an der Univer- nicht in die bisher beobachteten Rekord von plus 5,5 Grad Cel- Wir beobachten dort regelmä-
sität Potsdam. Trends passt. Die Zentral­ sius erreicht, 17 Grad über dem ßig solche Warmluftereignisse.
antarktis ist der einzige Bereich Normal zu dieser Jahreszeit. In der Antarktis herrschten aber
SPIEGEL: Herr Rex, die russi- unseres Planeten, der sich Gibt es einen Zusammenhang? auch jetzt während der Hitze-
sche Antarktis-Forschungs­ im Zuge der Klimaerwärmung Rex: Nach unserem Wissen ist welle stets Minusgrade. Da taut
station Wostok gilt als kältester bisher nicht erwärmt hat. das ein interessanter Zufall. nichts. Trotzdem machen wir
Ort des Planeten. Mitte März SPIEGEL: Ändert sich das jetzt? Trotzdem ist die Arktis jene uns Sorgen um die Stabilität der
wurden dort Temperaturen Rex: Wir erwarten jedenfalls, Weltregion, die sich bisher am gewaltigen Eispanzer, die auf
von minus 17,7 Grad Celsius ge­ dass die Erwärmung mit einer schnellsten wegen des Klima- der Antarktis liegen. Anders als
messen. Damit war es rund zeitlichen Verzögerung über die wandels erwärmt. Ich reise seit in der Zentralantarktis ist es
35 Grad wärmer als durch- nächsten Jahrzehnte auch in der Anfang der Neunzigerjahre im Bereich der Antarktischen
schnittlich zu dieser Jahreszeit. Antarktis eintreffen wird. Wir nach Ny-Ålesund. Früher gab es Halbinsel bereits zu einer
Was bedeutet das? müssen abwarten, ob es in Zu- dort im März tiefblaue Eisberge. ­Erwärmung gekommen. ME
Rex: Das ist atemberaubend. kunft zu einer Häufung solcher
Weltweit steht den Wissen- Anomalien kommt. Bisher lässt
schaftlern der Mund offen, mir sich aus diesem alarmierenden
auch. Seit 65 Jahren wird in Einzelereignis keine langfristige
der Antarktis die Temperatur Veränderung konstruieren.
kontinuierlich gemessen. Die SPIEGEL: Wie ist es denn dazu
bisher dort je erfasste Höchst- gekommen?
temperatur im März wurde die- Rex: Der Jetstream, jenes starke
ses Jahr um sage und schreibe Windband, das um die Antarktis
15 Grad Celsius übertroffen. So herum im Uhrzeigersinn zirku-
etwas gibt es in der Meteo­ liert, hat auf einmal eine Schlau-
rologie eigentlich überhaupt fe Richtung Süden, also in die
Francois Lepage / Hans Lucas / IMAGO

nicht. Bei neuen Temperatur­ Antarktis hinein, ausgebildet.


rekorden geht es normalerwei- Dies hat dann warme Luftmas-
se um ein paar Zehntelgrad. sen aus der Region südlich von
SPIEGEL: Die französisch-ita­ Australien zum Pol geführt.
lienische Concordia-Forschungs­ Wie es dazu gekommen ist, müs-
Concordia-­
station hat jetzt minus 11,5 Grad sen wir uns genau anschauen. Forschungsstation
­gemeldet, üblich für diese Jah- ­Auffällig ist zudem, dass dies in in der Antarktis
reszeit wären minus 58,7 Grad. einem Jahr geschehen ist, in

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 97


WISSEN

Die
Frust-Inzidenz
CORONA  Was fürchten, was hoffen, was denken die Deutschen in der Pandemie?
Erfurter ­Forscher haben zwei Jahre lang die Stimmungsschwankungen verfolgt und festgestellt:
Mehr als strenge Maßnahmen verübeln die Leute ihrer Regierung politischen Wankelmut.

Sebastian Wells / OSTKREUZ

Mittagspause im Homeoffice

98 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


WISSEN

D
ie Idee kam ihr im Yogakurs. Es war Zwei Jahre lang haben die Cosmo-For-
Ende Februar 2020, die Gedanken an Tief enttäuscht scher nun das Verhältnis der Deutschen zur
das unheimliche Coronavirus, von dem Personen, die der Bundesregierung vor dem
Gesundheitspolitik ihrer Regierung verfolgt
die Presse seit Wochen berichtete, ließen Cor- Hintergrund der Coronapandemie vertrauen, – mit ernüchterndem Ergebnis. Vor allem im
nelia Betsch nicht los. Noch gab es in Deutsch- in Prozent zweiten Jahr der Pandemie verzeichnete Cos-
land nur wenige Krankheitsfälle, viele Ge- 100
mo einen fortschreitenden Vertrauensverlust.
sundheitsämter hatten den Ernst der Lage Im April 2020 bescheinigten 58,1 Prozent
noch nicht erkannt. Doch wer zuhörte, was Neue der Befragten der Bundesregierung großes
die Virologen sagten, dem musste klar sein: Bundesregierung oder eher großes Vertrauen, bei der Befra-
Dieses Virus würde die Deutschen nicht ver- gung in der vergangenen Woche waren es nur
schonen. 50 Ostern noch 26,4 Prozent. Das Erstaunlichste dabei:
»Natürlich hatte ich keine Vorstellung vom 2021 Verübelt haben die Bürger den Politikern
Ausmaß dessen, was uns bevorstand«, sagt ­offenbar weniger die Einschränkungen ihrer
Betsch heute. Doch könne sie sich noch genau ­Freiheiten als vielmehr deren vorzeitige
erinnern, wie sie damals dachte: »Da kommt Bundestagswahl ­Lockerung.
etwas Großes auf uns zu.« 0
Es dauerte mehr als ein Jahr, bis es zur
Gleich nach dem Kurs rief sie ihr Team April Jan. Jan. richtigen Vertrauenskrise kam. Die erste
zusammen. Die Idee für Cosmo wurde ge- 2020 2021 2022 ­Covid-Welle verlief glimpflich, die Regierung
boren, ein psychologisches Studienprojekt, S Quelle: corona-monitor.de reagierte schnell und entschlossen, die Poli-
das zu einem wichtigen Instrument der Seu- tiker schienen einig in ihrer Einschätzung
chenbekämpfung werden sollte – und das Aber zunächst mussten Betsch und ihre der Seuchengefahr. Besonders die Fernseh-
Cornelia Betsch schon bald von ihrem Lehr- Leute in jenen turbulenten Märztagen des ansprache Angela Merkels machte großen
stuhl für Gesundheitskommunikation in Er- Jahres 2020 Cosmo selbst gestalten. In Ab- Eindruck.
furt auf die Berliner Politikbühne führte. Sie sprache mit dem Robert Koch-Institut (RKI) Gerade in diesen ersten Monaten verlang-
hat inzwischen Forschungspreise dafür be- konzipierten sie binnen weniger Tage ihren te die Politik den Menschen große Einschrän-
kommen, sie sitzt im Corona-Expertenrat der Fragebogen. Die Forscherin erinnert sich an kungen ab. Die Mehrheit jedoch nahm dies
Bundesregierung, und ihr Projekt hat inter- »beglückendes und intensives Arbeiten«. In in Kauf, stufte Covid als sehr bedrohlich ein.
national Nachahmer gefunden. einer Zeit, die bestimmt war vom ohnmäch- Die Zustimmung, auch das zeigen die Cosmo-
Cosmo sollte die Befindlichkeit der Deut- tigen Warten auf das Anschwellen der Pan- Daten, beruhte auf guter Sachkenntnis: Schon
schen während der Pandemie ermitteln. Im demie, »waren wir dankbar, etwas Sinnvolles bei der ersten Umfrage am 6. März 2020, als
Wochentakt befragten Betsch und ihr Team tun zu können«, sagt Betschs Mitarbeiterin das RKI noch nicht einen deutschen Covid-
dazu jeweils 1000 Probanden nach ihren Sor- Sarah Eitze. Toten gemeldet hatte, fühlten sich die Be-
gen, ihren Ängsten, ihren Hoffnungen. So ist Bald waren sich alle im Team einig: Ein fragten über die Krankheit gut informiert.
ein psychologisches Barometer entstanden, Grundstock stets gleicher Cosmo-Fragen soll- Der Stimmung förderlich war auch die Ein-
mit dem sich Stimmungen in der Bevölkerung te die Infektionsängste der Menschen, ihr mütigkeit der Politik. Alle Parteien unter-
früh erkennen lassen. Schutzverhalten und das Vertrauen in Wissen- stützten die Seuchenschutzmaßnahmen.
In der vergangenen Woche hat das Cosmo- schaft und Politik ermitteln. Das würde es Deutlich hat Psychologin Betsch noch ein
Team seine Fragebögen zum 61. und damit möglich machen, Veränderungen der Stim- Radio-Interview mit Christian Lindner in Er-
letzten Mal verschickt. Diesmal offenbarte mung rasch zu entdecken: Nimmt die Angst innerung. Der Interviewer habe ihn geradezu
die Umfrage ein paradoxes Stimmungsbild: zu? Bröckelt das Vertrauen? Werden die Leu- gedrängt, sich als Oppositionspolitiker die
Die Corona-Sorgen schwinden, obwohl die te nachlässig? Ein zweiter Fragenblock sollte Interessen der Gastwirte und Kulturschaffen-
Zahl der Infektionen steigt. Es hat sich die aktuelle Entwicklungen aufgreifen: Haben den zu eigen zu machen, die damals unter
Vorstellung durchgesetzt, dass eine Omikron- Sie Verständnis für die Schulschließungen? dem ersten Lockdown litten. »Lindner mach-
Infektion meist mild verläuft, die Anspannung Nutzen Sie die Corona-Warn-App? Verstehen te eine sehr lange Pause«, erzählt Betsch.
der Menschen hat abgenommen. Der Wider- Sie Corona-Schnelltests? »Dann, schließlich, erklärte er, die Maßnah-
stand der Impfgegner hat sich derweil ver- men seien doch verhältnismäßig.« Anders als
festigt. Wer sich bis jetzt nicht hat impfen später im Wahlkampf zog der FDP-Politiker
lassen, der wird es wahrscheinlich auch künf- damals noch die Staatsräson der parteipoliti-
tig nicht tun. Mit einer weiteren Steigerung schen Profilierung vor.
der Impfquote, prognostiziert Cosmo, sei Zwar bröckelte die Zustimmung zur Co-
ohne Weiteres nicht mehr zu rechnen. ronapolitik im Laufe der Zeit ein wenig, vor
Politiker entscheiden jetzt über die Ein- allem diejenigen, denen die Schutzmaßnah-
führung einer Impfpflicht oder die Beendi- men zu weit gingen, zeigten sich unzufrieden.
gung der Schutzmaßnahmen, sie sollten sol- Doch noch kippte die Stimmung im Land
che Befunde dabei berücksichtigen. Denn nicht. Das Vertrauen in die Regierenden blieb
Corona lässt sich nicht mit Maske und Impf- auch in der zweiten Covid-Welle recht hoch,
stoff allein bezwingen. Gewonnen wird der obwohl die Zahl der Infektionen und vor al-
Kampf gegen die Seuche vor allem in den lem nun auch die Todesrate stark anstiegen.
Köpfen der Menschen. Erst im Frühjahr 2021 – die Inzidenz war
Die wichtigste Lektion nach zwei Pande- zunächst gesunken, stieg dann aber infolge
miejahren lautet: Eine Impfpflicht wird wir- der frühzeitigen Lockerungen wieder an –
Charlotte Sattler / DER SPIEGEL

kungslos bleiben, wenn sie nicht akzeptiert kam es zum Vertrauensbruch. Die Parteien
und befolgt wird. Und Lockerungen sind dann stritten zunehmend über die Coronapolitik,
ein Fehler, wenn sie von der Bevölkerung als die Regierung zeigte sich erst unschlüssig, ver-
Fehler empfunden werden. »Eine Pandemie hängte dann eine Osterruhe, sagte diese je-
erfordert den Dialog von Regierung, Wissen- doch kurzfristig wieder ab. Dieses Hin und
schaft und Bevölkerung«, sagt Psychologin Psychologin Betsch Her erschütterte den Glauben der Menschen,
Betsch. Diesen Dialog solle Cosmo befördern. gut regiert zu werden. Auch Merkels offiziel-

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 99


WISSEN

le Entschuldigung reichte nicht, das verlorene Tiefpunkt angekommen: Nur noch 24,1 Pro- Geldbetrag an andere zu verteilen, bevor-
Vertrauen zurückzugewinnen. zent der Befragten gaben an, sich »auf jeden zugten die Geimpften ihresgleichen, die Un-
Der Bundestagswahlkampf verschärfte die Fall« impfen lassen zu wollen. geimpften ebenso.
Politisierung der Seuchenbekämpfung. Nicht Diese Skepsis, meint Betschs Mitarbeiter Bemerkenswerterweise war dabei die Be-
nur die AfD schürte den Unmut, sondern auch Philipp Sprengholz, sei jedoch keineswegs reitschaft der Geimpften, auch Ungeimpften
Lindners FDP. Die Einigkeit der Politik war irrational. Im Gegenteil: Sie zeuge davon, etwas abzugeben, geringer als umgekehrt.
endgültig dahin. dass die Menschen ihre Impfentscheidung erst Betschs Mitarbeiter Lars Korn hat dafür eine
Im Dezember schien es dann einen Mo- nach gründlicher Überlegung fällen. Die Sor- Erklärung: »Die Impfung wird als sozialer
ment lang, als kehrte das Vertrauen wieder. ge vor unerwarteten Nebenwirkungen war Vertrag zum Schutz aller betrachtet«, sagt er.
Die frisch vereidigte Ampelregierung wurde groß. Die Leute wussten, dass die neuen Impf- Wer die Spritze verweigere, verletze diesen
mit Wohlwollen begrüßt. Besonders an Karl stoffe im Eiltempo entwickelt worden waren Vertrag und werde deshalb abgestraft.
Lauterbach von der SPD als neuen Gesund- und dass sie auf einer nie zuvor erprobten Unterstützen lassen sich Umfrageinstru-
heitsminister knüpften sich große Hoffnun- Technik beruhten. Angesichts dessen sei Zu- mente wie Cosmo noch durch Mobilfunk-
gen. Doch schon nach zwei Wochen war der rückhaltung ein Ausdruck von Vorsicht, nicht technik. Das Erfurter Team hat damit bereits
Vorschuss aufgebraucht, das Cosmo-Baro­ von Angst, sagt Sprengholz. Erfahrungen gesammelt. In der Frühphase
meter sackte wieder auf die schlechten Wer- Für diese Deutung spricht, dass sich das der Pandemie zum Beispiel beobachteten
te der Vorgängerregierung. Ansehen der Impfstoffe verbesserte, je länger die Forscher sechs Wochen nach Beginn der
Angesichts einer äußeren Gefahr, so sie sich in der Praxis bewährten. Schon nach Cosmo-Studie eine auffällige Veränderung:
scheint es, missbilligen die Menschen nichts drei Monaten war die Impfbereitschaft auf 50 Mitte April 2020 ließ die Angst vor dem Co-
so sehr wie politischen Wankelmut. Und noch Prozent, acht Monate später sogar auf 80 Pro- ronavirus erstmals nach, die Gedanken der
eine Lehre lässt sich aus den Cosmo-Daten zent gestiegen. Nicht einmal die Debatte um Menschen kreisten plötzlich nicht mehr stän-
ziehen: Die Bereitschaft, einen hohen Preis mögliche Venenthrombosen nach Impfungen dig um die Seuche.
für die öffentliche Sicherheit zu zahlen, war mit der AstraZeneca-Vakzine schadeten dem Dieser Gewöhnungseffekt, den die Exper-
bei der Mehrzahl der Befragten groß. Zwar Image der Impfstoffe nachhaltig. ten als »desaster fatigue« oder »Katastrophen-
nahmen die Proteste gegen die Maßnahmen Ein kleiner Kern überzeugter Impfgegner müdigkeit« kennen, spiegelte sich auch in Han-
zu, doch nicht, weil die Unzufriedenen zahl- allerdings ließ sich von aller Aufklärung nicht dydaten wider, die die Telekom dem RKI zur
reicher, sondern weil diese lautstärker wur- überzeugen. Zehn Prozent der Cosmo-Be- Verfügung gestellt hatte: Genau zu dem Zeit-
den. Betsch sieht darin ein grundsätzliches fragten gab bis zuletzt an, ungeimpft zu sein. punkt, als die Cosmo-Umfragen den Stim-
Problem politischer Kommunikation: »Die Und von diesen erklärten 83 Prozent, dass mungsumschwung registrierten, veränderte
meisten Politiker hören vor allem die Lau- sie sich auch in Zukunft »auf keinen Fall« imp- sich auch das Bewegungsmuster der Handy-
ten«, sagt sie. »Und auch in den Medien sind fen lassen wollen. nutzer. Binnen kurzer Zeit nahm die Mobilität
die präsenter.« Umfrageinstrumente wie Cos- Die Diskussion um die »Querdenker«-Be- um 40 Prozent zu, die Deutschen waren des
mo dagegen könnten auch der schweigenden wegung hat in der Öffentlichkeit den Eindruck Hausarrests offenbar überdrüssig geworden.
Mehrheit Gehör verschaffen. entstehen lassen, dass sich die Ungeimpften In einem anderen Fall hatte das RKI die
Eine zentrale Rolle im Kampf gegen das im Zuge der Pandemie radikalisiert haben. Menschen aufgefordert, eine Datenspende-
Coronavirus spielte von Anfang an die Imp- Einen solchen Trend jedoch, sagt Betsch, kön- App auf ihre Handys herunterzuladen. An-
fung. Schon im ersten Pandemiejahr, als eine ne sie in den Cosmo-Daten nicht erkennen. hand der Messungen von Fitness-Armbän-
Vakzine noch in weiter Ferne lag, richteten Zwar lehnten diese Menschen eine Impfung dern, so die Idee, könnten sich möglicher-
sich viele Hoffnungen darauf, ein Impfstoff oft entschieden ab, und auch sonst hielten sie weise die Symptome von Covid-Infektionen
werde einen Sieg über die Seuche möglich die meisten Maßnahmen zur Corona-Be- frühzeitig erkennen lassen, sodass die For-
machen. Die Covid-Pandemie bot Betsch nun kämpfung für übertrieben. Vieles aber spricht scher die Wege des Coronavirus besser er-
die Gelegenheit, das Impfverhalten der Men- dafür, dass sich ihre Auffassungen kaum ver- fassen und verstehen könnten.
schen gründlicher denn je zu studieren. ändert haben. Impfgegner waren die meisten Nebenbei registrierte die App auch den
Anders als es die Erfurter Psychologen er- von ihnen schon vor der Pandemie. Tagesrhythmus der Datenspender, und wäh-
wartet hatten, begegneten die Menschen der Statt von »Radikalisierung« spricht Betsch rend die vierte Coronawelle durchs Land roll-
Aussicht auf einen Impfstoff zunächst mit von »Polarisierung«: Geimpfte wie Unge- te, zeigte sich hier eine markante Verände-
großem Misstrauen. Je mehr die Medien über impfte identifizieren sich mit ihrer Gruppe rung: Die durchschnittliche Schlafdauer nahm
die Fortschritte der Forscher berichteten, des- und grenzen sich von der jeweils anderen ab. im Verlauf des Novembers um fast 20 Minu-
to mehr sank die Impfbereitschaft der Bevöl- Das bestätigte sich in Experimenten der Er- ten ab. Das ist ungewöhnlich, denn normaler-
kerung. Anfang Dezember 2020, als der ers- furter Psychologen: Als die Forscher Proban- weise schlafen Menschen, wenn die Tage kür-
te Impfstoff zugelassen wurde, war sie am den die Wahl gaben, einen vorgegebenen zer werden, mehr.
Wie im Fall der Katastrophenmüdigkeit
deckte sich auch hier die Auswertung der Han-
Ärmel hoch und durch? dydaten mit den Ergebnissen der Umfrage.
Die Cosmo-Forscher verschickten Fragebögen
Personen, die sich auf jeden Fall impfen lassen wollen oder bereits geimpft sind, in Prozent an die Datenspender und stellten dabei fest:
Impfabsicht Mindestens einmal Geimpfte Die Schlaflosigkeit korrespondiert mit der Be-
100 findlichkeit. In demselben Maße, in dem die
Zulassung des ersten Nachtruhe kürzer wurde, nahm die subjektiv
Impfstoffs in Deutschland erlebte Belastung der Menschen zu.
(Biontech)
Betsch hofft, Politik und Bevölkerung mit-
50 einander ins Gespräch bringen zu können.
Einschränkung der Empfehlung Als ein Signal dafür, dass dieser Dialog be-
des AstraZeneca-Impfstoffs gonnen hat, bewertet sie, dass im Corona-
Expertenrat der Bundesregierung nicht nur
0 Ärzte, Virologen und Epidemiologen sitzen
April Juli Okt. Jan. April Juli Okt. Jan. April
2020 2021 2022 – sondern auch zwei Psychologen.
S Quellen: corona-monitor.de, RKI Johann Grolle n

100 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


WISSEN

Europa oder den Saturnmond Encela­


dus aufsuchen. Diese Himmelskörper
haben eisbedeckte Oberflächen, unter
denen sich wahrscheinlich flüssiges
Wasser befindet. Viele Experten halten
es für möglich, dass dort Leben exis­
tiert. Aber kein Astronaut könnte zu
diesen weit entfernten Monden fliegen,
die Missionen wären viel zu komplex.
SPIEGEL: Astronauten argumentieren,
dass auf erdnäheren Trabanten wie
Mond und Mars ein Mensch viel bes­
sere und schnellere Entscheidungen
treffen könnte als eine Maschine.
Rees: Das ist aktuell richtig, aber in
20 Jahren wahrscheinlich nicht mehr
der Fall. Die Robotik schreitet so
schnell voran, dass die Argumente
dafür, Menschen ins All zu schicken,
immer schwächer werden.
SPIEGEL: Das heißt, Roboter und

Jeremie Souteyrat / DER SPIEGEL


künstliche Intelligenz werden immer
besser, aber wir Menschen nicht?
Rees: Man kann das gut an den Mars­
rovern veranschaulichen. Vor zehn
Jahren fuhr »Curiosity« nur sehr lang­
sam, um nicht mit Hindernissen zu
kollidieren. Jedes Mal, wenn er sich
einem Felsen näherte, musste er sich
erst Lenkbefehle von der Erde holen.
Der neue Rover »Perseverance«, der
2021 auf dem Mars gelandet ist, kann

»Eine neue Spezies«


dank integrierter künstlicher Intelli­
genz viel schneller fahren. In 10 oder
20 Jahren wird die Technik dieser
Geräte nicht nur fähig sein, auf dem
Mars herumzufahren, sondern sie
RAUMFAHRT  Martin Rees, 79, ist Hofastronom der britischen Königin. Er fordert, wird auch genug über Geologie wis­
sen, um zu entscheiden, wo es inte­
dass künftig keine menschlichen Raumfahrer mehr das All erkunden, ressant ist, zu graben oder zu beob­
sondern Roboter – denn die seien besser, billiger und nicht so sensibel. achten. Roboter werden Forschung
auf dem Mars souverän betreiben
können, und das wahrscheinlich 100-
SPIEGEL: Mr Rees, können Sie sich Rees: Unser Leben hängt zwar in ho­ mal billiger als Menschen.
noch an Ihre Empfindungen erinnern, hem Maße vom Weltraum ab, wir SPIEGEL: Sie argumentieren streng
als Juri Gagarin im April 1961 als ers­ brauchen Satelliten für Navigation, nach der Kosten-Nutzen-Rechnung?
ter Mensch in den Weltraum flog? Kommunikation, Wettervorhersage Rees: Es gibt viele Beispiele, in denen
Rees: Ich bin sogar alt genug, um und andere Dinge. Unnötig dagegen das zu erstaunlichen Ergebnissen führt.
mich an den ersten »Sputnik«-Flug finden wir es, Astronauten für viel Etwa die Reparatur des »Hubble«-
1957 zu erinnern. Noch mehr als die­ Geld ins All zu schicken. Die meisten Teleskops, die als Meilenstein der
se beiden Ereignisse aber hat mich Aufgaben im All können inzwischen Mensch-Maschine-Kooperation gefei­
Neil Armstrongs »kleiner Schritt« auf Roboter sehr viel einfacher und billi­ ert wurde. Richtig ist: »Hubble« wur­
dem Mond im Jahr 1969 beeindruckt. ger erledigen als Menschen. de zu einer Zeit in Betrieb genommen,
Ich erinnere mich genau daran, wie SPIEGEL: Als Kosmologe beschäftigen als Roboter noch sehr primitiv waren,
ich diesen Moment auf einem Sie sich mit weit entfernten Orten im sie hätten also bei einer Reparatur
Schwarz-Weiß-Fernseher verfolgte Weltraum, zu denen ohnehin kein nicht helfen können. Aber schon da­
und wie erhebend ich ihn empfand. Mensch jemals fliegen könnte … mals fand ich die Idee absurd, Astro­
SPIEGEL: Trotzdem haben Sie nun zu­ Rees: Die wichtigste Frage, auf die ich nauten zu diesem Zweck einzusetzen.
sammen mit dem Wissenschaftsautor gern eine Antwort hätte, ist: Gibt es Mit dem vielen Geld dafür hätte man
Donald Goldsmith ein Buch darüber noch anderes Leben im Weltraum? Ich sieben Kopien von »Hubble« bauen
geschrieben, dass die Menschheit kei­ glaube nicht, dass Astronauten dazu können. Was hätte man damit alles
ne Astronauten braucht, um das All beitragen, das herauszufinden. Maschi­ entdecken können!
zu erkunden*. Warum nicht? nen wie das »Webb«-Teleskop können Kosmologe Rees: SPIEGEL: Die Europäer glauben laut
das viel besser. Zum Beispiel indem sie »Bis zum Ende des einer Umfrage, dass die Raumfahrt
das sehr schwache Licht von Planeten Jahrhunderts Steuermittel in Höhe von 245 Euro
* Donald Goldsmith, Martin Rees: »The End werden einige sehr
auffangen, die der Erde ähneln und abenteuerlustige pro Jahr und Einwohner verschlingt,
of Astronauts – Why Robots Are the F­ uture
of Exploration«. Harvard University Press; andere Sterne umkreisen. Roboter Menschen auf dem tatsächlich sind es aber 10 Euro. Sind
192 Seiten. könnten Orte wie den Jupitermond Mars leben« die Kosten also gar kein Problem?

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 101


WISSEN

Rees: Raumfahrt ist tatsächlich teuer, und der


Hauptgrund dafür ist die mangelnde Risiko-
bereitschaft der Öffentlichkeit. Wenn man
Zivilisten mit öffentlichen Geldern ins All

Das Auge chillt mit


schickt, müssen die Risiken gering sein. Das
Space Shuttle ist insgesamt 135-mal gestartet,
zweimal ging etwas schief, die Raumschiffe
wurden zerstört, die Besatzungen starben.
Zwei Fehlschläge bei 135 Starts – das ist eine
Ausfallquote von weniger als zwei Prozent. NEUROÄSTHETIK  Schlechtes Design als Gesundheitsgefahr? Die gleich­
Für Profis ist das ein akzeptables Risiko, für
die amerikanische Öffentlichkeit war es ein förmige Architektur von Gebäuden kann Stress verursachen. Forschende
Trauma. Doch Risiken in der Raumfahrt so wollen nun beruhigende Muster aus der Natur in die Städte holen.
zu minimieren, dass keine Gefahr für Astro-
nautinnen oder Astronauten besteht, ist ex­

W
trem teuer. Wären nur Maschinen an Bord, enn Richard Taylor mit seinen drei dort leben: »Es ist ein Menschenrecht, durch
könnte man mehr Risiken eingehen und viel Hunden durch die Wälder von Dor- schöne Straßen zu laufen«, schreiben sie;
Geld sparen. Bis auf die Wissenschaftler wür- ris Ranch im US-Bundesstaat Oregon ebenso wie der Schutz vor den negativen psy-
de kaum jemand einem abgestürzten Roboter streift, findet er überall Belege für seine For- chologischen Effekten langweiliger, trostloser
eine Träne nachweinen. schung. Er schaut auf die Stämme, Äste und Fassaden.
SPIEGEL: Sind die geplanten »Artemis«- Zweige der Bäume, hinauf zu den bauschigen Woran aber mangelt es modernen Städten?
Mondlandungen der Nasa eine gute Idee? Wolken am Himmel – und sieht die Muster Seit rund 20 Jahren erforscht Taylor soge-
Rees: Ich halte das für Geldverschwendung. der Natur, hochkomplex und doch leicht zu nannte Fraktale. Das sind geometrische Ge-
Es ist nicht klar, was der Nutzen sein wird. erfassen. bilde, deren Form sich in ihren einzelnen
SPIEGEL: Wie stehen Sie zur bemannten Taylor leitet den Fachbereich Physik an ­Bestandteilen in verschiedenen Größen wie-
Raumfahrt privater Unternehmen? der University of Oregon. Von zu Hause derholt. Schneekristalle sind fraktal struk­
Rees: Wenn Unternehmen wie SpaceX und braucht er mit dem Rad rund 20 Minuten turiert, aber auch Bäume, Wolken, Gebirgs-
Blue Origin Menschen ins All schicken, sollten in die Wälder um seinen Wohnort Eugene. ketten oder Küstenlinien zeigen diesen Auf-
wir diesen mutigen Abenteurern applaudie- »Ich habe Glück«, sagt der Wissenschaftler, bau, ebenso wie der Blumenkohlverwandte
ren. Ich habe kein Problem mit heldenhaften »ich kann diese Schönheit jeden Tag neu Romanesco.
Missionen, wenn sie privat finanziert werden. ­aufsaugen.« Vielen Menschen gehe das aber Auch klassische Baumeister bedienten sich
SPIEGEL: Selbst für Missionen zum Mars stün- nicht so. solcher Strukturen, Jahrhunderte vor deren
den viele Freiwillige bereit, auch wenn sie »Vor allem in Großstädten sind die Ein- wissenschaftlicher Entdeckung. Elemente go-
von dort nicht zurückkehren könnten. wohner fast pausenlos optischen Eindrücken tischer Kathedralen sind dafür Beispiele oder
Rees: Elon Musk hat gesagt, er wolle auf dem ausgesetzt, auf die ihr Gehirn entwicklungs- die in verschiedenen Größen wiederkehren-
Mars sterben. Er ist jetzt 50 Jahre alt. Viel- geschichtlich nicht geeicht ist«, sagt Taylor. den Dreiecksstrukturen im Eiffelturm in Paris.
leicht wird er in 40 Jahren eine One-Way- Die Folge: Dauerstress und damit verbunde- Und es gibt einzelne Beispiele neuerer, futu-
Reise zum Mars unternehmen. Ich wünsche ne psychische und körperliche Leiden. Die ristisch anmutender Bauten, die teils aus Frak-
ihm viel Glück! Weltgesundheitsorganisation WHO nennt talen bestehen – etwa das Gebäude der aus-
SPIEGEL: Werden Menschen irgendwann auf Stress die »Epidemie des 21. Jahrhunderts«: tralischen Rundfunkgesellschaft SBS in Mel-
dem Mars leben? Der chronische Alarmzustand kann Depres- bourne (siehe Grafik).
Rees: Ich bin zuversichtlich, dass bis zum sionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen be- In den Achtzigerjahren elektrisierte die
Ende des Jahrhunderts einige sehr abenteuer- günstigen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen Chaosforschung die Öffentlichkeit mit psy-
lustige Menschen auf dem Mars leben werden. und Magengeschwüre. chedelischen Computergrafiken, die fraktale
In ein paar Jahrzehnten werden wir Techni- Eine Mitschuld am Stadtstress trägt laut Strukturen zeigten – ein Klassiker war das
ken zur genetischen Veränderung entwickelt Taylor die moderne Architektur. »Wir Men- »Apfelmännchen«, das auf vielen Rechnern
haben, vielleicht auch Cyber-Technologien, schen haben über Jahrtausende in der Natur als Bildschirmschoner lief.
mit denen wir uns verbinden, um unsere Fä- gelebt und unsere visuellen Fähigkeiten deren Menschen sind auf diese universellen Mus-
higkeiten zu verbessern. Auf der Erde werden spezifischen Mustern angepasst«, sagt der ter geprägt. Studien zufolge hat deren Be-
derlei Technologien wohl immer umstritten Forscher: »Jetzt wohnen viele von uns in trachtung positiven Einfluss auf das Stress-
und streng limitiert sein, aber auf dem Mars Städten voller kastenförmiger Bauten und empfinden.
könnten sie eingesetzt werden, um uns besser bekommen diese Strukturen kaum noch zu Auf diesen Zusammenhang fand Taylor
an eine feindliche Umgebung anzupassen. Im Gesicht.« Hinweise bei Messungen der Hautleitfähigkeit
Laufe der Zeit könnte sich die Menschheit Das müsse sich ändern, fordert Taylor ge- von Testpersonen. Seine Probandinnen und
so in zwei verschiedene Arten aufspalten, meinsam mit Kolleginnen und Kollegen jetzt Probanden mussten Rechenaufgaben und
1000-mal schneller als durch die darwinistische im Fachblatt »Urban Science«. Der moderne ­Logikrätsel lösen; Tätigkeiten also, die das
Evolution. Säkulares intelligentes Design, wie Städtebau bedrohe die Gesundheit derer, die Stressniveau – und damit die Leitfähigkeit
ich es gern nenne, könnte innerhalb weniger der Haut durch vermehrte Aktivität der
Jahrhunderte zu einer neuen Spezies führen, Schweißdrüsen – ansteigen lassen. Dabei
die vielleicht aus Fleisch und Blut, vielleicht blickten sie jeweils auf eins von vier Bildern.
aus Elektronik besteht. Faszinierend! Die Teilnehmenden zeigten sich aber nicht
SPIEGEL: Wären Sie gern selbst Raumfahrer?
Rees: Eine Mission, bei der ich um den Mond
Büros, Krankenhäuser, gleichermaßen gestresst. Bei jenen, die das
Bild einer Savannenlandschaft mit einem
herumfliegen und dann zur Erde zurückkeh- ­Schulen, Flughäfen – ­bestimmten fraktalen Muster betrachteten,
ren würde, fände ich spannend. Aber kein all die Orte könnten in war die gemessene Stressreaktion um bis zu
Steuerzahler sollte dafür auch nur ein Pfund 44 Prozent niedriger als beim Betrachten
in die Hand nehmen müssen. fraktale Welten einer weißen Fläche, während sie bei denje-
Interview: Christoph Seidler n verwandelt werden. nigen, die auf ein unnatürliches Muster starr-

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WISSEN

dass viele Menschen, die in New York


leben, es begrüßen würden, wenn die
Architektur dort weniger erdrückend
wäre.« In Tübingen wohnt sie im
20. Stock eines Hochhauses, aus dem
Fenster jedoch blickt sie in den Wald.
»Wenn ich gestresst bin, schaue ich
eine Minute nach draußen«, sagt sie,
Exakte Fraktale entstehen durch die präzise Wiederholung »das tut immer gut.«
eines Musters in vielen Maßstäben. Fehlende Fraktale sind nicht der
einzige Grund für die stressverursa-
Fassade chende Wirkung modernen Städte-
mit fraktaler
Architektur Struktur baus, sagt Brielmann: Auch dass die
ohne Fraktale schiere Höhe der Gebäude viel Son-
nenlicht abhalte, schlage aufs Gemüt.
Lärm und Schadstoffe können eben-
falls die Gesundheit von Städtern
beeinträchtigen. Dennoch setzt sich
die Psychologin dafür ein, in den
Städten fraktal nachzurüsten. »Zu
den Effekten haben wir gute Evidenz,
und Fraktale sind relativ einfach an-
zubringen, etwa an den Fassaden«,
sagt Brielmann. Die Forderung nach
solchen Verbesserungen lässt sich
auch nicht einfach mit dem Argu­

Marcel Malherbe / arcaid / akg-images


ment  abtun, die Häuser stünden
schon da.
Büros und Krankenhäuser, Schu-
len und Flughäfen – all die Orte, an
Bei Zufallsfraktalen unterbricht der Zufall diese Wiederholung, denen sich Menschen lange Zeit auf-
nur die statistischen Eigenschaften des Musters wiederholen sich in halten, könnten mit vergleichsweise
S Grafik verschiedenen Größen. In der Natur sind diese Fraktale die Regel. wenig Aufwand in fraktale Welten
„

verwandelt werden, glaubt Taylor.


ten, um 13 Prozent höher lag als beim login Aenne Brielmann vom Tübinger Zusammen mit Psychologinnen und
Anblick des Kontrollbilds. Max-Planck-Institut für Biologische Psychologen aus Australien und den
In EEG-Untersuchungen wiede­ Kybernetik. Ihr Forschungsgebiet ist USA sowie österreichischen Designe-
rum wies Taylor nach, dass der An- die Schönheit im Alltäglichen. Bislang rinnen und Designern hat er Boden-
blick der schönen Strukturen in ver- hatte ihre relativ junge Disziplin, die beläge und andere Textilien mit Mus-
schiedenen Hirnregionen sogenannte Neuroästhetik, vor allem jene Pro- tern entworfen, auf die das mensch-
Alpha- und Betawellen fördert. Al- zesse im Blick, die im Gehirn beim liche Gehirn ebenso reagiert wie auf
phawellen drücken Entspannung aus Betrachten von Kunstwerken oder natürliche Fraktale.
und treten beim Meditieren auf, Beta- beim Musikhören ablaufen. Die Muster könnten in Innenräu-
wellen sind ein Zeichen für erhöhte »Wir können diese Mechanismen men Wände, Decken, Böden und Ja-
Aufmerksamkeit. aber auch bei viel alltäglicheren Er- lousien zieren, aber auch Mauern und
Die mühelose Analyse ihrer Um- fahrungen analysieren«, sagt Briel- Fassaden. »Wir brauchen keine Re-
welt dürfte der Menschheit einst die mann, »etwa beim Anblick von volution«, sagt Wissenschaftler Tay-
Flucht vor Gefahren erleichtert ha- Architektur.« Damit komme schließ- lor, »wir können aber langweilige
ben. In einer Umgebung voller regel- lich jeder in Berührung. Was die meis- Flächen mit Mustern versehen, von
mäßiger Strukturen fallen jene leich- ten als angenehm empfänden, sei so- denen wissenschaftlich erwiesen ist,
ter auf, die dem Muster nicht folgen. mit eine gute Richtschnur für die dass sie Stress reduzieren.« Taylor
»Unsere Vorfahren mussten den Tiger Architektur der Zukunft. und seine Mitstreitenden wünschen
im Gebüsch schnell erkennen kön- Fraktale Strukturen haben auch sich Normen für künftige Bauten:
nen«, sagt Physiker Taylor. »Über- Einfluss darauf, wie gut wir uns intui- Nicht nur für deren Form und Höhe
lebensästhetik« nennt der Wissen- tiv in einer realen Umgebung orien- sollte es Vorgaben geben, sondern
schaftler das. tieren können. Mit einer Software auch dafür, ob sie die ästhetischen Be-
Das Gehirn analysiert solche Ein- haben Taylor und andere Forschende dürfnisse ihrer Nutzerinnen und Nut-
drücke deswegen unbewusst inner- nachgewiesen, dass Strukturen ohne zer berücksichtigen.
halb von Millisekunden: schön oder fraktale Elemente, Hochhausfassaden Dann müssten die Menschen nur
Getty Images

hässlich? Harmlos oder gefährlich? etwa, sehr viel schlechter wahrge- noch hinschauen – und nicht auf
Ein erstes Urteil wird automatisch ge- nommen werden als Objekte, die sol- die Bildschirme ihrer Smartphones
fasst, lange bevor sich das Bewusst- che Eigenschaften haben. Trotz ihrer Oberflächenstruktur und Laptops. Deren virtuelle Welten
sein dazuschaltet. »Was wir rasch ver- Größe neigt das menschliche Hirn der Blumenkohlsorte sieht Taylor als weitere Stressquelle.
stehen können, beruhigt uns«, erklärt dazu, sie schlicht zu übersehen. Romanesco: Seit Abhilfe kann er aber auch hier bieten:
Forscher Taylor. Psychologin Brielmann forschte Jahrtausenden sind Gemeinsam mit seinem Team hat der
unsere visuellen
Dass positive Sinneseindrücke das bis vor Kurzem an der New York Uni- Fähigkeiten auf Forscher Bildschirmschoner mit frak-
körpereigene Belohnungssystem ak- versity. »Ich liebe den Spirit dieser solche universellen talen Mustern programmiert.
tivieren können, weiß auch Psycho- Stadt«, sagt sie, »aber ich bin sicher, Muster geprägt Julia Koch  n

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WISSEN

Aktivisten auf
Klimakonferenz
in Glasgow
im Oktober 2021

Jeff J Mitchell / Getty Images


Nur: Der massive Ausbau erneuerbarer
Energien wurde in den vergangenen Jahren
vielerorts verzögert oder scheiterte an lokalen

Aufschub bedeutet Tod


Widerständen. In etlichen EU-Ländern will
man nun zügig Versäumtes nachholen und
Verfahren beschleunigen. Optimisten glau-
ben, Putin könnte mit seinem Furor ver-
sehentlich eine grüne Revolution in Europa
KLIMAWANDEL  Läutet der Krieg in der Ukraine eine Renaissance losgetreten haben.
Pessimisten kontern: So schnell, wie man
fossiler Brennstoffe ein? Gas-Zar Putin bedroht nicht nur dem Kremlherrn den Gashahn zudrehen will,
das Schicksal eines Landes, sondern das des ganzen Planeten. werden sich Solarparks und Windfarmen
nicht errichten lassen. »Wir können nicht über
Nacht unsere Abhängigkeit von fossilen Ener-

A
ls der Krieg in der Ukraine vier Tage der Ukraine sind alle anderen Heimsuchun- gieträgern beenden«, sagt etwa Pete Ogden,
alt war, berichteten Wissenschaftler aus gen in den Hintergrund getreten. Dabei zeigt Vizepräsident für Energie, Klima und Umwelt
aller Welt über ein anderes, langsame- sich mit jedem Tag deutlicher, dass sich Putins der United Nations Foundation. »Es gibt kei-
res Sterben. Die Erderwärmung habe auf allen Krieg unmittelbar und potenziell verheerend ne kurzfristige Lösung.«
Kontinenten größeren Schaden angerichtet auf die von Guterres beschriebene Lage aus- Um den heimischen Energiebedarf für die
als bislang angenommen, warnte der Welt- wirken wird. absehbare Zukunft zu sichern, halten daher
klimarat in einem neuen Bericht zu den Fol- Es ist ein Dilemma, vor dem die Industrie- viele Staaten Ausschau nach fossilem Ersatz,
gen der Klimakrise. Polar-, Berg- und Küsten- staaten Europas und Nordamerikas am Be- der oft sogar noch klimaschädlicher ist als
regionen überall stünden vor dem Kollaps, ginn der fünften Kriegswoche stehen. Um russisches Öl und Gas – etwa Kohle und Flüs-
mit kaum noch beherrschbaren Auswirkungen Putin in die Knie zu zwingen, haben sie be- siggas. Im Angesicht der russischen Bedro-
auf den Menschen. schlossen, ihre Abhängigkeit von russischem hung droht der Klimawandel vorübergehend
»Fast die Hälfte der Menschheit lebt – Öl und Gas so schnell wie möglich zu been- zweitrangig zu werden.
jetzt  – in der Gefahrenzone«, sagte Uno-­ den. Bis Ende des Jahres will die Europäische Mehrere EU-Staaten, vor allem in Osteuro-
Generalsekretär António Guterres. »Viele Union die Importe fossiler Energieträger aus pa, haben den seit Jahren geplanten Ausstieg
Ökosysteme sind – jetzt – an einem Punkt an- Putins Reich um zwei Drittel reduzieren, spä- aus der Kohleverstromung zuletzt auf Eis
gekommen, von dem es kein Zurück mehr gibt.« testens 2030 soll ganz damit Schluss sein. Eine ­gelegt und erwägen gar, eingemottete Kohle-
Dann fügte er hinzu: »Aufschub bedeutet Tod.« »riesige Chance« sei das, die Energieversor- kraftwerke zu reaktivieren. In Teilen des Kon-
So dringend die Worte waren, so wenig gung Europas noch schneller noch grüner zu tinents schielen Regierungen zudem wieder
wurden sie an jenem 28. Februar gehört. Und gestalten, sagte Frans Timmermans, der auf Gas- und Ölfelder, deren Erschließung dem
erst recht nicht seither. Mit Putins Krieg in Green-Deal-Beauftragte der EU-Kommission. Klima zuliebe bis vor Kurzem noch tabu war.

104 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


WISSEN

Zugleich pendelten Europas Re- zu spät und zu halbherzig begonnen Zusage, CO2 zu reduzieren, nicht zu-
genten eilig auf die Arabische Halb- wurde, um weitere Jahre zurückzu- Zunahme der rücknehmen«, aber man müsse auch
insel, um demütig mehr Öl- und Gas- werfen. Die Gefahr sei groß, dass aus Alternativen »die Realität« anerkennen.
lieferungen zu erbetteln. Großbritan- der kurzfristigen Suche nach fossilen Johnsons Regierung will daher
niens Premierminister Boris Johnson Ersatzquellen wieder eine langfristige Erneuerbare Energien nicht nur den Atomstromanteil wie-
reiste jüngst nach Saudi-Arabien, das Abhängigkeit entstehe, warnte Uno- in der EU*, in Prozent der massiv erhöhen, auf 25 Prozent.
unmittelbar vor dem Besuch 81 Men- Generalsekretär Guterres diese Wo- Sie hat offenbar auch Betreiber der
22,1
schen hingerichtet hatte – an einem che. »Das ist Wahnsinn.« 20 verbliebenen Kohlekraftwerke des
Tag. Johnson werden zwar enge Be- Einer, der das dezidiert anders Landes gefragt, ob sie ihre Fabriken
ziehungen zu Kronprinz Mohammed sieht, ist der Rechtsausleger und Erz- 15 über die vereinbarten Schließungs-
bin Salman nachgesagt, aber sein Ruf populist Nigel Farage. Der ehemalige daten hinaus offen halten würden.
nach höheren Ölexporten blieb offen- Brexit-Frontmann ist unter die Klima- 10 Etliche Tories drängen mit Macht da-
bar dennoch unerhört. Stattdessen kampf-Bekämpfer gegangen und rauf, neue Öl- und Gasfelder in der
ließ bin Salman am Tag von Johnsons trommelt nun schon seit Wochen für 5 Nordsee zu erschließen. Und sogar
Besuch drei weitere Menschen exe- ein neues landesweites Referendum – das umstrittene Fracking, bei dem Öl
0
kutieren. Schlachtruf: »Vote Power Not Pover- oder Gas unter hohem Druck aus tief
2004 2020
Erfolgreicher war Deutschlands ty« (Wählt Energie statt Armut). liegenden Gesteinsschichten gepresst
Wirtschaftsminister Robert Habeck, Die britische Politik, behauptet * Durchschnitt der heutigen werden, könnte auf der Insel trotz er-
27 EU-Mitgliedstaaten, An-
der vergangenes Wochenende mit Farage, habe sich grundlos »einem teil am Brutto-Endenergie-
verbrauch, laut Richtlinie
heblicher Umwelt-, Sicherheits- und
dem Emir von Katar eine »langfris­tige Teenager namens Greta« unterwor- Erneuerbare Energien Rentabilitätsbedenken eine Renais-
Energiepartnerschaft« schloss. Man fen, die Zeche für »wahnhafte« Klima­ S Quelle: Eurostat sance erleben. Dabei hatte Johnson
müsse mit verschiedenen Partnern, schutzziele zahlten die britische Wirt- erst 2019, nach einer Serie von Erd-
»die ihre Eigenheiten haben«, spre- schaft und die Verbraucher. Noch ist erschütterungen in der Nähe von Fra-
chen, um »eine Dynamik des Besse- Farage’ Bewegung überschaubar – cking-Bohrlöchern, ein Moratorium
ren zu entfalten«, so Habeck. Mit aber das war sie auch, als er vor Jah- gegen diese Methode erlassen.
ähnlichen Beschwichtigungen hatten ren seinen Kreuzzug gegen die briti- Aber damals habe es auch noch
westliche Regierungen über Jahre sche EU-Mitgliedschaft begann. keinen Krieg in Osteuropa gegeben,
ihre Geschäfte mit Russlands Diktator Und Farage ist nicht allein. Im bri- kommentierte jüngst der Johnson-­
Wladimir Putin gerechtfertigt. tischen Parlament haben sich Dutzen- nahe »Spectator«: Wenn schon Robert
Um Putin mit einem Öl-und-Gas- de konservative Abgeordnete zu Habeck, ein Grüner, es über sich brin-
Boykott zum Einlenken zu zwingen, einer Gruppe zusammengeschlossen, ge, strategische Kohlereserven anzu-
könnten nun sogar einige Parias der sie halten den Plan der eigenen Re- legen, um das Land von russischem
Weltgemeinschaft wieder eine größe- gierung, das Land bis 2050 klimaneu- Gas zu lösen, dann könne Johnson
re Rolle spielen. Zuletzt jedenfalls tral zu machen, für überhastet, wenn sicher auch von seinem Bekenntnis
häuften sich Berichte, wonach die nicht gar unsinnig. Die Parlamenta- zu Klimaneutralität abrücken. »Es
US-Regierung erwägt, Sanktionen rier werden dabei von klimawandel- gibt nun neue Prioritäten.«
gegen ölreiche Schurkenstaaten wie skeptischen Organisationen wie der Überall in westlichen Demokra-
Venezuela und Iran zu lockern. Aus Global Warming Policy Foundation tien sehen sich Regierungen in diesen
einem nachvollziehbaren Impuls he- finanziell unterstützt. Kriegstagen einem ähnlichen Druck
raus scheinen westliche Demokratien Kurz bevor Regierungschef John- von Lobbyisten, Abgeordneten und
bereit, sich von einer gefährlichen son diese Woche seine neue Energie- erbosten Bürgern gegenüber. Und
Abhängigkeit in die nächste zu be- strategie ankündigte, hatten ihn 34 viele sind bereits eingeknickt. In Ita-
geben. Parteifreunde brieflich aufgefordert, lien etwa, das ursprünglich bis 2025
Über die einzige schnell umsetz- angesichts des Kriegs in der Ukraine aus der Kohle aussteigen wollte, ver-
bare und wirksame Alternative – neu nachzudenken. Das hatte John- Premier Johnson, kündete Regierungschef Mario Dra­
einen kollektiven Kampf gegen Ener- son, der sich noch vor vier Monaten Kronprinz bin Salman ghi kürzlich, man müsse womöglich
gieverschwendung – trauen sich in auf der Uno-Klimakonferenz in Glas- im saudischen alte Kraftwerke wieder flottmachen,
Riad am 16. März:
diesen Tagen dagegen nur wenige gow als grüner Superstar feiern ließ, Ruf nach höheren
»um ein etwaiges Defizit in der un-
Volksvertreter zu reden. Dabei hat allerdings schon vorher getan. Das Ölexporten blieb mittelbaren Zukunft auszugleichen«.
die Internationale Energieagentur ge- Königreich, befand er, werde »seine offenbar unerhört Auf Sizilien waren zuvor Fischer,
rade erst vorgerechnet, dass Europa auf Sardinien Lkw-Fahrer wegen der
seinen Gasbedarf aus Russland um exorbitanten Spritpreise auf die Stra-
sechs Prozent reduzieren könnte, ße gegangen. Lega-Chef Matteo Sal-
wenn allein die Thermostate in allen vini schrieb auf Twitter, die Preisstei-
europäischen Gebäuden nur um ein gerungen seien »außer Kontrolle«.
Grad Celsius nach unten geregelt Im Fernsehen lernten Italiener der-
würden. Auch andere Maßnahmen weil, dass ihr Land im Meer vor Re-
wie eine Eindämmung des Licht- gionen wie der Emilia-Romagna und
smogs in Städten oder ein Tempolimit den Marken sowie vor Sizilien über
auf deutschen Autobahnen wären fast 1300 erschlossene Gasfelder ver-
vergleichsweise leicht umsetzbar. füge, von denen ein Großteil brach-
Stefan Rousseau / action press

Die meisten Regierungen aber liege. Viele der Anlagen sind hoff-
scheuen diese Debatte. Zumal die nungslos veraltet, Fördertechniken
Stimmung in Teilen der Wählerschaft und Transporteinrichtungen müssten
immer schlechter wird, seit die Ener- mit großem Aufwand modernisiert
gie- und Spritpreise durch die Decke werden. Umweltminister Roberto
gehen. Putins Krieg droht den Kampf Cingolani will es nun trotzdem ver-
gegen den Klimawandel, der ohnehin suchen. Bislang sollte er vor allem

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 105


WISSEN

den grünen Umbau Italiens orga­ Zurück zum Gestern Der Krieg wird wohl auch über
nisieren. Europa hinaus die Gräben innerhalb
Auch im Öl-und-Gas-Land Nor­ der Staatengemeinschaft zwischen
wegen hat Putins Krieg der zuletzt so Klimaschützern und Klimaschädigern
stark auftrumpfenden Klimaschutz­ wieder vertiefen. Dabei sollte es nach
bewegung einen herben Dämpfer ver­ dem mühsamen Kompromiss auf der
setzt. Die dortigen Grünen waren im Uno-Klimakonferenz in Glasgow in
vergangenen Jahr die erste norwegi­ diesem Jahr richtig losgehen. Bisher
sche Partei, die einen Komplettaus­ sprachen die Staaten nur über Treib­
stieg aus der fossilen Energie forder­ hausgas-Einsparziele bis 2030 und
te – ein Tabubruch, der den Wahl­ 2050 – jetzt sollte die »Dekade des

Maciek Nabrdalik / NYT / Redux / laif


kampf im September wie nie zuvor Handelns« folgen. Es müssen Kredite
bestimmte. Nun jedoch dreht die für den Umbau der Energieversor­
Regierung die Uhren wieder zurück: gung organisiert werden, Länder
Mitte März entschied Oslo, in den müssen sich gegenseitig technische
kommenden Monaten mehr Erdgas Hilfe leisten, Städte und Landwirt­
zu fördern und ins restliche Europa schaft an die Folgen der Klimakrise
1
zu liefern. Für Umweltschützer wie angepasst werden. Auf der nächsten
Steinar Winther Christensen endet Klimakonferenz im ägyptischen
damit fürs Erste ein kurzer Traum. Scharm al-Scheich sollen dazu kon­
»Norwegen ist ein Gewinner des Ukra­ krete Schritte vereinbart werden.
inekriegs«, seufzt Christensen. Kann das funktionieren, wenn die
In Polen wiederum fühlen sich all Welt nun wieder in die Blöcke des
jene bestätigt, die Europas Abhängig­ Kalten Kriegs zerfällt? Erste Anzei­
keit von Russland immer schon skep­ chen sind bereits sichtbar: So forderte
tisch betrachteten – wenn auch nicht eine Gruppe von Ländern unter der
immer aus uneigennützigen Gründen. Führung der USA kürzlich den Raus­
Polen ist der größte Kohleförderer der wurf von Russland und Belarus aus

Andrew Testa / NYT / Redux / laif


EU. Mehr als 30 000 Menschen im den Klimaverhandlungen. Es wäre
Land sterben pro Jahr an den Folgen das erste Mal, dass ein Land aus der
von Smog, aber rund eine halbe Mil­ Klimarahmenkonvention ausge­
lion Menschen haben dank der Kohle­ schlossen wird.
industrie einen Arbeitsplatz. Nicht Beträfe ein Aus allein Russland
erst seitdem die nationalkonservative und Belarus, sei das bedauerlich, aber
Regierung an der Macht ist, tritt Polen 2 hätte keine großen Folgen, sagt Oliver
beim Klimaschutz eher auf die Brem­ Geden von der Stiftung Wissenschaft
se. Der russische Überfall auf den und Politik, einem Berliner Think­
Nachbarn Ukraine spielt nun vielen tank. »Russland allein ist kein zen­
in die Hände. Allen voran Polens Kli­ traler Player in der Klimadiploma­
maministerin Anna Moskwa. tie.« Aber: »Wenn China seine Unter­
Die ließ ihre europäischen Kolle­ stützung für Russland ausbaut oder
gen jüngst per Twitter wissen, nun sei selbst militärisch aktiv wird, etwa im
es an der Zeit, den europäischen Südchinesischen Meer oder sogar
Green Deal (»Fit for 55«) und am bes­ gegenüber Taiwan, dann haben wir
ten auch den Handel mit Emissions­ ein riesiges Problem.«
rechten auf Eis zu legen. »Wir stoppen Würde eine Allianz aus China und
Nerijus Adomaitis / REUTERS

das jetzt und kümmern uns statt­ Russland nicht mehr mitmachen, wä­
dessen um die energiepolitische Si­ ren mindestens 35 Prozent der globa­
cherheit und Unabhängigkeit der len CO2-Emissionen nicht mehr durch
EU«, so Moskwa. Dann schob sie das Weltklimaabkommen abgedeckt.
hinterher: »Wann wacht Europa end­ Schlössen sich noch mehr Länder an,
lich auf?« 3 könnte der Vertrag implodieren.
Auf die EU, die in Sanktions- und »Der Konflikt hat das Potenzial,
Flüchtlingsfragen seit Beginn des 1 | Kohlekraftwerk Deshalb hat die EU-Kommission am bestehende Probleme in der Klima­
Kriegs so einig war, kommen damit Bełchatów in Polen Mittwoch ein Aktionsprogramm vor­ diplomatie noch zu verschärfen«,
2 | Anti-Fracking-­
in den nächsten Monaten hitzige De­ Protestierende in gestellt, das die Sicherheit der Le­ warnt Patricia Espinosa, Chefin des
batten zu. »Derzeit wird an verschie­ Nordengland bensmittelversorgung ins Zentrum Uno-Klimasekretariats. Der Dialog
denen Stellen versucht, an den Klima­ 3 | Ölplattform vor der der gemeinsamen Agrarpolitik stellt. werde schwieriger. Aber die Welt
vereinbarungen zu rütteln«, sagt der norwegischen Küste So darf etwa auf Flächen, die eigent­ könne es sich nicht leisten, weitere
Energieexperte der Grünen-Europa­ lich aus Naturschutzgründen brach Zeit zu verlieren. Andere werden
fraktion, Michael Bloss. »Die Lobby­ gelassen werden sollen, kurzfristig noch deutlicher: John Podesta, der
isten wittern wegen des Kriegs ihre wieder angebaut werden. Klima­ ehemalige Klimaberater von Barack
Chance.« freundlichkeit oder Nachhaltigkeit Obama, sagt, der Krieg könnte der
Auch die mächtige Agrarlobby hat sind vorübergehend zweitrangig – internationalen Klimapolitik »einen
ihre Emissäre ausgesandt. Ihr Argu­ dabei ist die Landwirtschaft für Strich durch die Rechnung machen«.
ment: Der Krieg beeinträchtige die bis zu ein Drittel der globalen kli­ Susanne Götze, Frank Hornig,
Nahrungsmittelproduktion in der maschädlichen Emissionen verant­ Ralf Neukirch, Jan Puhl, Jörg Schindler,
Ukra­ine und in Russland erheblich. wortlich. Anna-Sophie Schneider n

106 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


S-Magazin  Leseprobe

»Ich bin ein Freigeist!« irgendwo richtig verwurzelt gefühlt, ich bin ein Freigeist. Es war also
Uschi Obermaier, 75, galt als das schönste Gesicht der 68er- Zeit für einen Neuanfang.
Revolution. Im S-Magazin spricht sie über die großen Lieben SPIEGEL: In der tiefsten Provinz in Portugal? Warum nicht etwa in
ihres Lebens, über Drogen, ihr geliebtes Pfeifchen – und über Ihrer Heimatstadt München?
ihren jüngsten Neuanfang in Portugal. Obermaier: In Topanga war ich umgeben von wunderbarer Natur.
Ich suchte nach einem Ort mit kalifornischem Klima, Deutschland
SPIEGEL: Sie sind vor Kurzem an die Algarve gezogen nach fast 40 war da keine Option. Ich war auch viel zu lange fort. In Portugal
Jahren in Los Angeles. Was hat Sie zurück nach Europa gezogen? hatte ich Bekannte. Hier ist alles einfacher, wilder, nicht so glatt
Obermaier: Mein Bauchgefühl. Auf meine Intuition konnte ich mich gebügelt. Ich komme mit Englisch und ein wenig Spanisch ganz
schon immer verlassen. Mir war klar: Ich brauchte ein neues gut durch. Und als ich mein Haus, umgeben von Obsthainen und
Leben. Dabei habe ich immer gesagt, ich bleibe bis zum Ende in Olivenbäumen, zum ersten Mal sah, wusste ich: Das ist es.
meinem Haus in Topanga. SPIEGEL: Neuanfänge hatten Sie einige in Ihrem Leben.
SPIEGEL: Was störte Sie an Ihrem alten Leben dort? Obermaier: Ich hatte schon so viele Leben im Leben! Und ich hatte
Obermaier: Es stagnierte. Und Stagnation bedeutet, nicht zu leben. auch besonderes Glück. Der Krieg war vorbei, als ich geboren
Los Angeles hat sich verändert, die Stadt ist wahnsinnig teuer wurde. Aids noch nicht da, als ich jung war. In den Sechzigern und
geworden, die Leute werden immer aggressiver. Dazu Trump, die Siebzigern veränderte sich alles nonstop, auch wir. Eine unglaub-
Waldbrände – das hat mir Angst gemacht. Und der Verkehr, ich liche Ära, alles schien möglich. Und alles war neu: Mode, Musik,
möchte nicht so viel Zeit im Stau verbringen. Die meisten Europäer Standpunkte, die Lebensentwürfe. Ich konnte mich neu erfinden,
ziehen sich zurück, wenn sie älter werden. Ich selbst habe mich nie reiste viel. Eigentlich war jede Reise wie ein Neuanfang.

Nächste Woche im SPIEGEL: Die Beilage S-Magazin zeigt, wie Neuanfänge gelingen –
im Leben, in der Mode oder auch in der Küche.

• Alles auf null: Psychologin Eva Asselmann Das S-Magazin ist die Stilbeilage des SPIEGEL. Sie
über Veränderung und ihre Wirkung informiert über aktuelle Trends in Mode, Architektur,
• Chicorée mit Bolognese: Starkoch Dietmar Design, Beauty, Kunst und Kulinarik.
Priewe verrät, wie Essen fit macht
• Auferstanden: Diese tot geglaubten Mode-
marken erleben ein Comeback
KULTUR

Umschaltspiel
LITER ATUR  Dass Andreas Ber­
nard als Feuilletonist auf Bun­
desliganiveau spielt, dürfte sei­
ner Leserschaft, sei es in der
»Zeit« oder der »Süddeutschen
Zeitung«, bekannt sein – immer
aber geisterte das Gerücht
umher, er hätte auch Fußball­
profi werden können. Nun, in
seinem neuen Buch »Wir gingen
raus und spielten Fußball«,
wird klar, warum es anders kam.
Eines Tages, der »talentierte
Linksfuß« Bernard war im zwei­
ten Jahr der A-Jugend, tauchte
er mit einem Buch auf dem
Sportplatz auf: »Maler Nolten«,
einem ziemlich apokryphen
­Roman von Eduard Mörike.
»Die Blicke der Ersatzspieler in
diesem Moment wären nicht
verstörter gewesen, wenn ich
ein Pornoheft dabeigehabt hät­
te; mein Nachbar rückte sogar
in­stinktiv ein paar Zentimeter
The Estate of Diane Arbus

zur Seite, als ich das Buch zwi­


schen uns auf die Bank legte«,
schreibt Bernard. Es ist eine von
vielen wunderbaren Szenen
eines autobiografischen Textes,
Arbus-Foto »Blaze Starr in her living room«, 1964 in dem er in kurzen Kapiteln
von einer Jugend im München

Stolz, in Pose geworfen


der Siebziger- und Achtziger­
jahre erzählt. Vom ersten Lange­
wachbleiben für das berühmte
verlorene EM-Finale 1976, vom
ersten echten Trikot (und zwar
FOTOGR AFIE  Eine Werkschau der großen Menschen-Enthüllerin Diane Arbus eines für einen bayerischen
­Buben recht exotischen Vereins,

I m Jahr 1956 wurde Diane Arbus 33, sie war


Mutter zweier Töchter und hatte sich ge­
meinsam mit ihrem Mann eine Existenz als
­Modefotografin aufgebaut. In den frühen Auf­
Geld verdiente sie zwar weiterhin mit Aufträgen
verschiedener Magazine, doch sie suchte immer
stärker das Extreme. Sie ging in New Yorker
Transvestitentreffs und holte Zirkusartisten vor
des MSV Duisburg – ihn faszi­
nierten die Streifen). Vor allem
aber davon, sich über die Be­
geisterung für den Fußball die
tragsarbeiten versuchte ­Arbus hin und wieder, die ihre Kamera, Menschen, die sie aufgrund ihrer Welt zu erschließen; so leise,
Konventionen zu brechen, statt mit erfahrenen Einzigartigkeit faszinierten. Oft schauen die Port­ eindringlich und stimmungsvoll
Models arbeitete sie gern mit Anfängern. Ein rätierten direkt in die Linse, oft tun sie das auf im Ton, dass klar wird: Hier
­erster Hinweis auf den künstlerischen Weg, den herausfordernde Art, manchmal stolz, in Pose ge­ geht es nicht allein um eine
­diese große Fotografin einschlagen würde. Das worfen. Die amerikanische Essayistin Susan Son­ Sportart, hier geht es um das
Louisiana Museum in Humlebæk nahe Kopenha­ tag schrieb: »Die Menschen, die in Arbus’ Welt Land, um eine
gen zeigt in einer umfangreichen Werkschau Foto­ angesiedelt sind, enthüllen sich immer selbst.« Epoche, um
grafien von Arbus aus den Jahren 1956 bis 1971. Zeit ihres Lebens litt Arbus unter Depressio­ das ganze Le­
»Ich glaube wirklich, dass es Dinge gibt, die nen, 1971 entschied sie sich für den Freitod. ben. SHA
niemand sähe, wenn ich sie nicht fotografierte«, Ein Jahr später wurde mit ihrem Werk erstmals
sagte Arbus über ihre eigene Arbeit. Sie hatte die Arbeit einer Fotografin auf der Biennale Andreas Bernard:
nach einem einjährigen Aufenthalt in Europa die in Venedig gezeigt. Bis heute zählt die Amerika­ »Wir gingen
Fotografen Richard Avedon und Robert Frank nerin zu den großen Künstlerinnen des 20. Jahr­ raus und spielten
Fußball«. Klett-
kennengelernt, die Freundschaften mit ihnen be­ hunderts; in Humlebæk sind bis zum 31. Juli Cotta; 160 Seiten;
stärkten sie in ihrer künstlerischen Arbeit. Ihr 150 Fotos von ihr zu sehen. CLV 20 Euro.

108 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


»Ich will wahrhaftig erzählen«
FILME  Regisseur Ryūsuke Hamaguchi, 43, über seinen
für vier Oscars nominierten Spielfilm »Drive My Car«

SPIEGEL: Herr Ha- hen Sie Ihre Regiearbeit als


maguchi, Ihr Film Umsetzung einer Schriftsteller-
erzählt sehr berüh- fantasie?
rend von einem Hamaguchi: Ich bin zwar ein be-
Theaterregisseur, geisterter Leser, aber für mich
der seine Frau beim sind Film und Literatur sehr

Rapid Eye Movies


Fremdgehen erwischt, durch ein unterschiedliche Gattungen. Ich
Unglück zum Witwer wird und finde, es sollte einem Filmregis-
Szene aus »Drive My Car«
während der Trauer durch eine seur um die Wiedergabe dessen
Chauffeurin unerwartet Bei- gehen, was er selbst empfunden
stand erhält – und dauert drei hat beim Lesen. Ich will mit und ich arbeite genauso gern ordne. Die Diskrepanzen sind
Stunden. Warum so lang? ­Filmen, die durch Literatur in­ mit Profis zusammen wie mit nicht so groß, dass es mir als
Hamaguchi: Ich bemühe mich, spiriert sind, wahrhaftig von Laien. Aber für mich ist klar: Mann schwerer möglich wäre,
Izumi Hasegawa / Hollywood News Wire / picture alliance

Geschichten vollständig zu er- den Gefühlen erzählen, die eine Bei der Schauspielarbeit darf die Gedanken und Gefühle
zählen, meine Figuren so lange Lektüre bei mir ausgelöst hat. nichts versteckt werden oder im weiblicher Figuren zu verste-
zu beobachten, bis sie in ge­ SPIEGEL: Der Held Ihres Films Dunkeln bleiben. Es geht da­ hen. Ich frage eher: Was für
wisser Weise ihre Probleme ge- arbeitet an einer Inszenierung rum, sich selbst möglichst zu eine gesellschaftliche Position
löst haben. Das dauert, so von Anton Tschechows be- zeigen, wie man ist. haben die Menschen? Das Ge-
hat sich gezeigt, manchmal ganz rühmtem Stück »Onkel Wanja«. SPIEGEL: Wie kommt es, dass in schlecht spielt dabei keine ent-
schön lang. Aber nur so bin Was fasziniert Sie am Theater? Ihren Filme die Frauenfiguren scheidende Rolle. Filme sollten
ich imstande, starke Gefühle in Hamaguchi: Die körperliche vitaler und aufrichtiger zu sein die Herzen aller Zuschauer
den Menschen auszulösen. Energie, die durch Sprache ent- scheinen als die Männer? ­öffnen. Sie sollten ihnen näher-
SPIEGEL: »Drive My Car« ba- steht. Ich habe keine feste Vor- Hamaguchi: Ich gehe nicht an kommen, vorsichtig und mit
siert auf einer Kurzgeschichte stellung davon, wie schauspiele- die Filmarbeit heran, indem ich Genauigkeit – dann ist es auch
von Haruki Murakami. Verste- rische Leistung zu definieren ist, die Figuren nach Geschlechtern egal, wie lange sie dauern. HÖB

Das Patriarchat Elegante keinen Ausweg bietet. Das ist


auch in »A Hero« so: Eine Not-
schöntrinken Unnachgiebigkeit lüge, auf die Rahim zum Schutz
GENUSS  Harte Männer auf KINO  An Rahim Soltani (Amir seiner Geliebten zurückgreift,
dem Fußballplatz, harte Män- Jadidi) ist nichts heldenhaft. Er lässt ihn in falschem Licht er-
ner auf dem Motorrad, harte sitzt im Gefängnis und hat scheinen; die Lüge zu offenba-
Männer an einem Lagerfeuer. Schulden bei seinem Ex-Schwa- ren hätte allerdings schlimme
Und da, Männer, die Arschbom- ger, die er nicht abbezahlen Konsequenzen. Wie bei Farhadi
ben in einen See platzieren und kann; seinen Verwandten bringt üblich, durchwirken die alltäg­
die todesmutig von Bühnen auf das in arge Bedrängnis. Er hat lichen Repressalien des irani-
jubelnde Fans springen. Überall einen Sohn, um den er sich we- schen Regimes die Leben seiner
Männer, die vor Kraft und nig kümmert, und eine Ge­ Figuren. Neu in »A Hero« ist,
Potenz brüllen – und ihre Bier- liebte, von der besser niemand dass er die Rolle sozialer Me-
flaschen aneinanderklirren las- ­erfahren sollte. Wegen der dien beleuchtet, durch die
sen. Bierwerbespots wie dieser Schulden droht ihm eine noch ­private Konflikte rasend schnell
Isabella Simon

(es gibt ihn wirklich, Veltins, längere Haft, aber innerhalb auf die nationale Bühne gera-
2019) verkauften das Getränk weniger Tage wendet sich Ra- ten. Mit neuer Gegenwärtigkeit
lange Zeit für eine Zielgruppe: hims Schicksal, und er wird in erzählt Farhadi von persön­
Männer – idealerweise schweiß- Muschicraft-Bierflasche
den Medien als selbstloser Held lichen Nöten, gesellschaftlichen
triefend und testosterongeladen gefeiert. Wie es dazu kommen Zwängen und medialen Dyna-
oder nachdenklich-friesisch. nistische Craft Bier« aus Wien. kann, erzählt der iranische Star- miken. HPI
Frauen? Tauchen in dieser Welt Was an einem Bier feministisch regisseur Asghar Farhadi in »A
Amirhossein Shojaei / Neue Visionen Filmverleih

höchstens als Staffage oder als sein soll? Das Flaschenetikett Hero – Die verlorene Ehre des
Bauchnabel auf, aus dem sich ziert das weibliche Geschlechts- Herrn Soltani« mit der elegan-
die Flüssigkeit prima trinken lie- organ in leuchtenden Farben, ten Unnachgiebigkeit, die ihm
ße. Vielleicht hält sich daher laut Gründerin sollen beim schon zwei Oscars eingebracht
hartnäckig das Gerücht, sie be- Trinken »patriarchale Struktu- hat: 2012 für »Nader und Si-
vorzugten Sekt. Es war also ren« reflektiert werden, ein Teil min« und 2017 für »The Sales-
überfällig, dass hier einige Gen- des Gewinns soll an Frauen­ man«, jeweils als bester fremd-
derklischees ausgeräumt wer- häuser gespendet werden. Ab- sprachiger Film. Bei Farhadi ver-
den. Ein neues Bier hat sich das warten, ob die Entmannung stricken sich die Figuren stets
nun vorgenommen – alles ande- des Biers wirklich glückt, jeden- in moralische Dilemmata, wofür
re als subtil: Muschicraft nennt falls gelingt hier ein Marketing- sie ebenso verantwortlich sind
sich das selbst ernannte »femi- Coup. EVH wie die Gesellschaft, die ihnen Jadidi in »A Hero«

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 109


KU LT U R

Olaseni Okedairo / DER SPIEGEL

Feministin Adichie
in der nigerianischen
Hauptstadt Lagos

110 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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African Hustle
AUTORINNEN  »We should all be feminists« – der Slogan hat sie zur Ikone des globalen Popfeminismus
­ emacht. Chimamanda Ngozi Adichie hat sich immer gegen Autoritäten aufgelehnt. Wie geht
g
sie damit um, jetzt selbst eine zu sein? Eine Reise nach Lagos zur bekanntesten Schriftstellerin Afrikas.

U
m zu ihr nach Hause zu kommen, müs­ auch spüren, indem sie ihm auf zugewandte, engen. Die Frage, die sich stellt, wenn man
sen wir an mehreren Wächtern vorbei. aber doch strenge Art sagt, dass er ihr schon Adichie trifft, ist also: Was ist ihre Geschichte?
Bewaffnete Uniformierte kontrollie­ sagen müsse, was sie zu tun habe, sonst funk­ Und wie kann man sie erzählen, dass sie eben
ren, wer die Gated Community Chevy View tioniere das alles nicht. »Ich kann nicht lä­ nicht single, sondern vielschichtig ist?
betritt, die so heißt, weil Chevron, einer der cheln«, sagt sie. Früher, als Mädchen, habe Im Sommer vergangenen Jahres veröffent­
weltgrößten Ölkonzerne, hier seinen nigeria­ sie sehr viel gelächelt, ständig, sie habe ein lichte Adichie einen Text auf ihrer Website,
nischen Hauptsitz hat. Der Fotograf und ich geradezu umwerfendes Lächeln gehabt. Dann der weltweit für so viel Aufsehen sorgte, dass
müssen aussteigen, werden durchsucht. Ein aber sei ihr klar geworden, dass es von Frau­ die Seite unter dem Ansturm kurzzeitig zu­
Wächter überprüft das Kennzeichen unseres en erwartet werde zu lächeln, weshalb sie es sammenbrach. In einem langen Essay ana­
Wagens, hebt die Hand, die Schranke öffnet sich absichtlich abtrainiert habe. Und jetzt, lysierte sie ihre Beziehung zu zwei jüngeren
sich. Hinter der Schranke ist es sofort ruhiger da sie berühmt ist und für Fotos lächeln soll nigerianischen Schriftstellerinnen. Ein Kon­
und übersichtlicher als alles, was wir zuvor und auch will, weil sie selbst schön aussehen flikt zwischen drei nigerianischen Autorinnen
von Lagos gesehen haben. Fast wirkt es hier möchte auf den Bildern, könne sie das nicht – eigentlich nichts, was die Welt ausflippen
wie in einer amerikanischen Vorstadtsied­ mehr so gut. »Es ist kompliziert.« lässt. Allerdings ging es um den Streit zwi­
lung. Wären da nicht die frei liegenden Ab­ Als wir uns zum Interview hinsetzen, schen zwei feministischen Generationen, um
wasserkanäle. Nach ein paar Minuten errei­ trinkt Adichie heißes Wasser mit Ingwersirup. die Frage, ob Transfrauen nun »echte« Frau­
chen wir ein türkisfarbenes Tor, mit Stachel­ Sie spricht leise. Das verleiht allem, was sie en seien oder nicht, und ganz grundsätzlich
draht gesichert. sagt, eine Dringlichkeit und Intimität. Und es um den Diskurs in sozialen Medien. Reiz­
Es ist acht Uhr abends, im Schein einer strahlt Macht aus. themen also, geschrieben in einem zwar ana­
Laterne vor dem Tor spielt eine Gruppe jun­ Warum ist sie heiser? Sie komme gerade lytischen, aber auch sehr wütenden Tonfall,
ger Männer das Brettspiel Ludo. Einer steht von einem Besuch in ihrem Heimatort zurück, alles unter dem Titel: »Es ist obszön.«
auf, überprüft unsere Ausweise und lässt uns sagt sie, wo es von allem zu viel gegeben habe. Einige Wochen nachdem Adichie ihren
durchs Tor. Die Assistentin empfängt uns, »Zu viele Worte, zu viele Tränen, zu viel Text veröffentlicht hatte, betrat sie im Sep­
führt ins Haus, zeigt das Wohnzimmer. Der Staub.« Ihre Mutter ist im vorigen Jahr ge­ tember in Düsseldorf die Bühne des Schau­
Fotograf baut seine Ausrüstung auf. Wir war­ storben, und jetzt, einige Monate später, kam spielhauses, neben ihr die damalige Bundes­
ten. Die Assistentin sagt: »Sie kommt gleich.« die ganze Familie noch einmal zusammen. kanzlerin Angela Merkel. Da saß also die
Nach etwas über einer Stunde steigt Chi­ »Es war also sehr emotional«, sagt sie, am deutsche Kanzlerin, nicht unbedingt bekannt
mamanda Ngozi Adichie die Treppe runter. schlimmsten sei aber gewesen, dass sie irgend­ dafür, sich öffentlich mit internationalen
Da ist sie, die populärste Schriftstellerin Afri­ wann komplett ihre Stimme verloren habe. Schriftstellern über die Lage der Welt zu
kas. Ihre Bücher wurden in mehr als 30 Spra­ »Das war frustrierend«, sagt sie und schiebt unterhalten, und redete mit Adichie über Fe­
chen übersetzt. Sie ist eine noch berühmtere dann einen Satz nach, bei dem nicht ganz klar minismus, die Rolle von Frauen in Macht­
Feministin. Ihr Satz »We should all be femi­ ist, ob sie sich der Doppeldeutigkeit bewusst positionen und ihre vergangenen und künfti­
nists« ist zum Slogan eines globalen Popfe­ ist, aber vermutlich schon: »Denn meine gen Afrikareisen.
minismus geworden, wurde von Beyoncé ge­ Stimme ist offensichtlich alles, was ich habe.« Am Morgen des Auftritts hatte Adichie ein
sampelt und von Dior auf T-Shirts gedruckt. paar Journalisten in einem Luxushotel emp­
Sie ist, laut einer ihrer Gegnerinnen, die be­ Auf die Frage, was sie zuerst sei, Schriftstelle­ fangen. Ihre Cousine, ihr Bruder, ihre Schwä­
rühmteste ­lebende Frau Afrikas. rin oder Aktivistin, sagt Adichie: »Ich bin eine gerin und ihre Assistentin waren auch gekom­
Chimamanda Adichie, 44 Jahre alt, trägt Geschichtenerzählerin.« Ihren ersten TED- men und bildeten einen Ring, den man erst
ein bodenlanges Seidenkleid. Es stammt von Talk haben auf YouTube über zehn Millionen durchdringen musste, um zu ihr zu gelangen.
einer nigerianischen Designerin, Akpos Oku­ Menschen gesehen. In dem Vortrag spricht sie Dieser Journalist bekam 15 Minuten, jener
du, auf deren Website steht: »Die Akpos- über »the danger of a single story«, die Gefahr 10, ein Fernsehteam war auch noch da.
Okudu-Frau ist selbstsicher und hat keine also, alles auf die eine Geschichte zu reduzie­ Sie wollte an diesem Tag vor allem über ihr
Angst, ihre weibliche Seite durch die Wahl ren, auf die eine, eigene Perspektive zu ver­ neues Buch sprechen, »Trauer ist das Glück,
ihrer Kleidung zu betonen.« Adichie möchte geliebt zu haben«, ein kurzer Text, kaum
erst das Foto machen, dann das Interview und 100 Seiten lang. Im Abstand nur weniger Mo­
wirkt nicht nur lustlos, sondern auch ange­ nate waren erst ihr Vater und dann ihre Mut­
spannt. Sie befiehlt der Assistentin, bei jedem Erst starb ihr Vater. Dann ter gestorben. Sie schrieb das Buch noch halb
Foto hinter dem Fotografen zu stehen und
den Winkel zu überprüfen. »Ich hasse es, foto­
ihre Mutter. Während im Schock, im Zustand der größten Verzweif­
lung. Es sei auch gar nicht als Buch geplant
grafiert zu werden«, sagt Adichie. ihre Brüder nicht aufhören gewesen, sagt sie. Sie habe E-Mails an ihre
Tatsächlich ist sie ziemlich steif vor der
Kamera, tut sich schwer, eine Pose einzuneh­
konnten zu weinen, Geschwister geschickt, Nacht für Nacht, um
ihre Gefühle und Gedanken zu sortieren.
men, und lässt den Fotografen ihre Ungeduld schrieb sie. »Während meine Brüder nicht aufhören konn­

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 111


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den reicheren Halbinseln, dazwischen die La-


gune, in der ein Slum auf dem Wasser errich-
tet wur­de. Ferraris und krepierte Hunde am
Straßenrand, Wolkenkratzer und Hütten,
Sternerestaurants und Hungersnot. Es ist
feucht, heiß, der Smog erschwert das Atmen.
Lagos ist eine der Städte, die die Klimakrise
besonders hart treffen wird. Als Adichie einem
europäischen Diplomaten von ihrem neuen
Haus erzählte, sagte der nur: »Es wird in
30 Jahren unter Wasser stehen.« Gleichzeitig
erzeugt diese paradoxe Stimmung des rasenden
Stillstands, des aufstrebenden Untergangs eine
ungeheure Energie. »Wenn Lagos ein Motto
hat«, schreibt Adichie in dem »Esquire«-Text,

Rolf Vennenbernd / REUTERS


»dann ist es der Hustle. Das Streben und Ver-
suchen.« Hustle lässt sich schwer übersetzen.
Ungefähr: Eile, Hastigkeit, das Vorankommen-
wollen, das Sich-nach-oben-Strampeln, gern
auch mit halb legalen oder ganz kriminellen
Mitteln. Jeder in Lagos verdiene sich etwas
Gesprächspartnerinnen Merkel, Adichie in Düsseldorf 2021: Frauen in Machtpositionen
nebenher, sagt Adichie, und versuche, dir bei
jeder Gelegenheit irgendeine Art von Geschäft
ten zu weinen, schrieb ich.« Sie habe die Mails »Wer erzählt die Geschichte? Wer ist der Er- unterzujubeln. »Branding ist ein Wort, das hier
spätnachts geschrieben, um zwei Uhr, um drei zähler, und von wem wird erzählt?« komplett ironiefrei benutzt wird.«
Uhr, um vier Uhr, und bei der ersten hätten Das gilt auch für Adichie selbst, die es ge-
die Brüder schon Angst gehabt, was denn da Vier Monate später erstrecken sich quadrat- schafft hat, sich zu einer Marke zu machen.
nun schon wieder komme. »Meine nächtlichen kilometerweise rotbraune Lehmstraßen und Im Westen heißt die Marke »Adichie«, und
E-Mails sind gefürchtet. Es ist fast schon ein Wellblechhütten unter dem Flugzeug im Lan- man kann sich damit schmücken, wenn es
Ritual. Wenn wir uns in der Familie gestritten deanflug. Ein aufgetürmter Müllberg brennt darum geht, sich weltoffen zu geben. In Lagos
haben, arbeitet das so lange in mir, dass ich und schießt eine Rauchfahne in die Luft. heißt die Marke »Chimamanda«, und sie steht
nicht schlafen kann und in der Nacht Nach- »In Lagos zu leben bedeutet, immer miss- für etwas ganz anderes. Für Hoffnung. Für
richten an alle schicke.« Um zu versöhnen? trauisch zu sein«, hat Adichie einmal geschrie- Stolz. Für Widerspruch.
»Nein! Um den Streit weiter anzufachen. Ich ben. Nigeria belegt den ziemlich schlechten Zwei Begegnungen in Lagos:
bin dann immer sehr aggressiv. Die Versöh- Platz 154 in der aufsteigend sortierten Kor- Am ersten Tag beim Frühstück, ich habe
nung kommt erst hinterher. Ein paar Tage spä- ruptionsrangliste von Transparency Interna- »Americanah« aufgeschlagen, spricht mich ein
ter versuche ich, mit weiteren, freundlicheren tional. So gut wie jeder Beamte am Flughafen, Mann an und sagt unvermittelt, das sei das
Mails alle wieder zusammenzubringen.« der Pass oder Gepäck kontrolliert, will be- schlechteste Buch von Chimamanda. Ich solle
Wahrscheinlich, meint sie, würde sie sich stochen werden. Meistens direkt unter einem doch die anderen lesen. Er trägt ein kariertes
viel Ärger ersparen, wenn sie gar keine erste von der Decke hängenden Schild, auf dem Hemd und gefälschte Gucci-Slipper, stellt sich
Mail schreiben würde. »Aber so bin ich eben.« vor Korruption gewarnt wird. Adichie wird vor, ich frage ihn, was ihn denn störe an »Ame-
Erst aufheizen, dann versöhnen. später darüber lachen und bedauernd hinzu- ricanah«, es sei das Buch, mit dem Adichie in
Über die Idee, sie in Lagos zu besuchen, fügen, dass sie »ihren Leuten« am Flughafen Europa berühmt geworden sei. Genau, sagt er,
macht sie sich lustig in Düsseldorf. Ich solle hätte Bescheid sagen können. das sei das Problem. Es sei zu westlich. Zu ame-
es doch versuchen. Für das »Esquire Magazin«, in der Rubrik rikanisch. Dabei sei Chimamanda doch durch
Nur zwei Wochen später war Adichie aller­ »Reisen & Abenteuer«, hat Adichie mal einen und durch Nigerianerin, auch wenn sie mittler-
dings schon wieder in Deutschland. Diesmal Text über ihre Stadt geschrieben. Er heißt »Im- weile ein Haus in den USA habe.
stand sie nicht mit der Bundeskanzlerin, son- mer noch im Werden«, und der erste Satz lau- Später am selben Tag sagt mir ein 30-jäh-
dern mit dem Bundespräsidenten auf der tet: »Lagos wird dich nicht umwerben.« riger Mann namens Gbolahan: »In ›America-
Bühne. Frank-Walter Steinmeier eröffnete Jeden Tag wächst die Stadt um 3000 Men- nah‹ hat Chimamanda genau das aufgeschrie-
feierlich das Humboldt Forum, das neue Eth- schen, es sind jetzt mehr als 20 Millionen, so ben, was ich gefühlt habe.« Er sitzt im hinteren
nologische Museum im wiederaufgebauten genau weiß das niemand. Ende des Jahrhun- Teil des Plattenladens Jazzhole, der in »Ame-
Stadtschloss. derts wird Lagos wohl die größte Stadt der ricanah« eine wichtige Rolle spielt, zwischen
Da saßen also die geladenen Gäste, teil- Welt sein. Der Verkehr ist kompletter Irrsinn. Platten- und Bücherstapeln und liest gerade
weise durchaus ältere Privatspender, die 10, In keiner Stadt der Welt steht man so lange die englische Version von Vergils ­»Äneis«. Er
20, 30 Jahre auf diesen Moment gewartet im Stau wie in Lagos, für manche sind das ist knapp zwei Meter groß, breit gebaut, ehe-
haben müssen, und dann marschierte Chima- 30 Stunden pro Woche. Eine kilometerlange maliger Footballspieler. Er arbeite jetzt als
manda Adichie auf die Bühne und machte das Brücke verbindet das ärmere Festland mit Banker in New York, erzählt er, er sei wie Chi-
alles wieder platt. Sie fragte: mamanda in die USA ausgewandert, komme
»Lernen die Schulkinder hier etwas über aber alle zwei Jahre wieder, um seine Familie
Namibia? Über Deutsch-Südwestafrika, über zu besuchen. Was er genau damit meint? »Die-
100 000 ermordete Herero, vergiftete Brun- Sie schrieb über den ses Gefühl, zwischen Identitäten gefangen zu
nen, über Frauen, die als Sexsklavinnen, und
andere, die in deutschen Lagern als Arbeits-
Westen, wie im Westen sein.« Der Strom fällt aus, es wird stockfinster,
und es dauert ein bisschen, bis jemand den
sklavinnen benutzt wurden?« über Afrika gesprochen Dieselgenerator anschmeißt und die Ventila-
Sie sagte, man müsse sich mit der Frage
der Macht auseinandersetzen, wenn es um
wird: mit staunender toren sich wieder drehen und das Licht angeht.
Seine Schwester kommt rein, um ihn abzu-
Geschichtsschreibung geht, und fuhr fort: ­Fassungslosigkeit. holen, denn obwohl er hier geboren ist, findet

112 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


KU LT U R

er es zu gefährlich, allein unterwegs zu sein.


Als sie hört, dass wir über Adichie reden, sagt
sie: »Chimamanda sagt einfach, was gesagt
EIN WEGWEISER
FÜR ELTERN,
werden muss. Sie ist eine großartige Schrift-
stellerin, aber mir gefällt vor allem, dass sie
die Probleme direkt anspricht.«

Adichie sagt: »Schreiben ist das, was ich liebe.


Die TED-Talks, die Fernsehauftritte, die
Podiumsdiskussionen, die sind zwar wichtig.
LEHRER
UND ERZIEHER
Aber ich liebe sie nicht.« Sie sitzt auf ihrem
Sofa, die Fotos sind gemacht, sie will nur noch
30 Minuten reden, es werden dann doch zwei
Stunden. Im Bücherregal stehen ein paar aus-
gewählte Bücher von den Obamas, von Nel-
son Mandela und von ihr selbst. Ein ganzes
Regalbrett mit »Americanah«-Ausgaben in
allen möglichen Übersetzungen.
»Americanah« erschien vor fast zehn Jah-
ren. »Wahrhaft ein Weltroman«, hieß es da-
mals in der »Zeit«, als die deutsche Überset-
zung herauskam, »ein literarischer Triumph«,
im SPIEGEL . Erzählt wird die Geschichte von
Ifemelu, die in Lagos aufwächst, dann in den
USA an der Elite-Uni Princeton studiert und
schließlich wieder zurückkehrt. Der Roman
schlug ein, weil er die Perspektive radikal um-
drehte: Eine Afrikanerin schrieb über den
Westen, wie sonst nur im Westen über Afrika
gesprochen wird. Mit einer staunenden, exo-
tisierenden Fassungslosigkeit.
Dass ihr der internationale Durchbruch
erst mit diesem Buch gelang, ist nicht über-
raschend. Sowohl »Blauer Hibiskus« als auch
»Die Hälfte der Sonne« sind großartige Ro-
mane. Sie sind zwar literarisch anspruchs-
voller als »Americanah«, aber auch weniger
anschlussfähig an eine westliche Leserschaft.
»Americanah« allein hätte allerdings nicht
gereicht, um Adichie zu der Marke zu ma-
chen, die sie heute ist. Erwähnt man Beyoncé,
rollt sie nur mit dem Augen. Bereut sie es
manchmal, dass sie auf ein so hohes Podest
gestellt wird? »Ja.« Was genau?
»Diese zweite Ebene, die Feministische- ����7IMXIR��/PETTIRFVSWGLYV�á����º�
Ikone-Ebene, die Redenhalten-Ebene, die Auch als E-Book erhältlich
führt natürlich auch dazu, dass ich ständig be-
obachtet werde.« Ihr Essay »Es ist obszön«
habe nur aufgrund dieser zweiten Ebene so
viel Aufmerksamkeit bekommen. »Die Leute
haben sich ja nicht deshalb aufgeregt, weil Chi- Wie geht es Kindern und Jugendlichen
mamanda, die Schriftstellerin, das geschrieben nach zwei Jahren Corona-Krise?
hat. Sondern weil Chimamanda, die feminis-
tische Ikone, das geschrieben hat.« Der Essay Welche Folgen hat der lange Ausnahmezustand für sie?
war wieder mal so eine Nacht­aktion gewesen. Silke Fokken lässt viele „Krisenkinder“ selbst zu Wort kommen
»Ich war wütend, es war drei Uhr oder so, und
ich habe das runtergeschrieben. Ich dachte, und zeigt auf Basis von Studien, Expertengesprächen
das wird hier in der Literaturszene von Lagos und Best-Practice-Beispielen, wo Familien, Experten,
diskutiert. Ich habe nicht damit gerechnet, dass
das so explodiert.« Nach der Veröffentlichung
Politik und Gesellschaft jetzt gefordert sind
musste Adichie bei Auftritten in den USA Per-
sonenschutz in Anspruch nehmen, weil sie so
viele Drohungen bekommen hatte.
Man nimmt es ihr aber nicht ganz ab, dass
sie so davon überrascht war. Wenn eine der
berühmtesten Feministinnen der Welt in den
Konflikt eingreift, der die ältere und die jün-
gere feministische Generation heute mehr und

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 113 www.dva.de


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mehr spaltet, dann ist klar, dass es knallt. Der im Frauenteam schwimmt und deshalb alle
Streit begann damit, dass sie 2017 in einem Rekorde bricht. Das Thema scheint sie nicht
Fernsehinterview auf die Frage, ob Trans­ loszulassen. Ich soll den Text lesen, sie möch­
frauen Frauen seien, geantwortet hatte: »Mein te da­rüber diskutieren. Am Abend darauf
Gefühl ist, das Transfrauen Transfrauen sind.« schickt sie spontan um 22 Uhr ihren Fahrer.
Eine Tautologie eigentlich, die aber von vielen Bis zwei Uhr nachts sitzen wir in der Küche.
heute als transphob interpretiert wird. Es ist das einzige Mal, dass ich sie unge­
Es ist nicht das einzige Mal, dass Adichie schminkt sehe, mit einer schlichten Frisur, ohne
ihre Leserinnen und Leser, man könnte auch Designerkleid. Sie kann so leider nicht vor die
sagen: Fans, enttäuscht hat. Denn sie ist nicht Tür gehen, weil sie keine Lust mehr hat, foto­
nur eine feministische Ikone, ihr TED-Talk grafiert und abschätzig beurteilt zu werden.
»The Danger of a Single Story« machte sie im Ihr Mann und ihre Tochter sind am Vortag in

Yui Mok / PA Wire / empics / picture alliance


postkolonialen Diskurs zu einer wichtigen die USA geflogen, sie ist allein dageblieben,
Referenzgröße. Andererseits: Von einem fran­ um in Ruhe schreiben zu können. Sie wirkt
zösischen Reporter gefragt, was sie von post­ etwas verloren in dem großen, kühlen Haus.
kolonialer Theorie halte, hatte sie einmal ge­ Warum hat sie eigentlich seit fast zehn Jahren
antwortet: »Postkoloniale Theorie? Ich weiß keinen Roman mehr geschrieben? Ihre Schreib­
nicht, was das bedeuten soll. Ich glaube, es blockade ist das einzige Thema, über das sie
ist etwas, das sich Professoren ausgedacht überhaupt nicht reden will. Es habe mit ihrer
haben, weil sie einen Job brauchten.« Mutterschaft zu tun, sagt sie, aber nicht nur.
Erst anheizen. Dann versöhnen? Es habe auch mit ihrem Dasein als feministi­
Nicht so richtig. Auf die Frage, ob sie sich Autorinnen Michelle Obama, Adichie 2018*
sches Aushängeschild zu tun, aber nicht nur.
wegen ihrer Trans-Aussagen bei jemandem
entschuldigen müsste, antwortet sie mit einer Mittlerweile pendelt Adichie zwischen den Chimamanda Adichie kommt zwei Stunden zu
Gegenfrage: Was ist denn eine Transfrau? Sie Kontinenten, hat auch ein Haus in Maryland, spät zu ihrer eigenen Lesung. In zwei SUV fährt
sagt das mit einem gewissen Spaß am Streit an der Ostküste der USA. Vorstadt, Rasenspren­ sie mit ihrem Gefolge auf das Gelände der
und wartet dann darauf, dass man sich in der ger, absolute Ruhe. Größer könnte der Kontrast ­Alliance française, einer französischen Kultur­
eigenen Antwort verheddert. Genießt sie es nicht sein zu Lagos, selbst wenn man im Chevy einrichtung auf Lagos Island. Das Publi­kum
vielleicht einfach zu provozieren? »Nein, View lebt. Sie kann sich unheimlich aufregen wartet drinnen, hauptsächlich junge Frauen.
überhaupt nicht. Aber ich habe etwas gegen über Nigeria, über Lagos, über die Korruption, Draußen stehen zwei Franzosen, sie sind sehr
Autoritäten. Ich möchte sagen, was ich denke, über die Hustler, über die ständigen Versuche, aufgeregt, weil Adichie zu spät ist. Sie wuseln
und wenn das als provokant wahrgenommen an ihr zu verdienen. Warum ist sie noch hier? um Adichie herum, geleiten sie zum Hinter­
wird, dann ist das eben so.« Als Kind sei sie Dumme Frage, weil es ihre Heimat ist. Aber eingang. Adichie, die uns angeboten hatte, sie
»anders« gewesen, »merkwürdig«. So hätten auch, sagt sie, weil es hier mehr Spaß mache zu noch einmal zu fotografieren vor der schönen
das ihre Eltern genannt. Auf Igbo gebe es ein diskutieren. »In Nigeria sind noch echte Unter­ ­Al­liance française, guckt den Fotografen und
Wort, »agwu«, es bedeute, auf eine kreative haltungen möglich. In den USA weißt du genau, mich nicht an, tut so, als hätte sie uns noch nie
Art verrückt zu sein. »Ich habe mich immer was eine Person antworten wird auf eine Frage, gesehen. Dann lässt sich die Hintertür nicht
ein bisschen ›agwu‹ gefühlt. Für mich hieß wenn du weißt welche Partei sie wählt. Hier ist öffnen, es gibt keinen Schlüssel. Ein Franzose
das, dass die Konvention infrage gestellt wer­ alles möglich. Nigerianische Politik, die nigeria­ herrscht den nigerianischen Mitarbeiter an, er
den muss, dass man dagegen ankämpfen nische Gesellschaft, ist nicht ideologisch. Weil solle den verdammten Schlüssel holen. Adichie
muss. Ich komme aus einer Kultur, in der Re­ wir es uns nicht leisten können.« steht vor der verschlossenen Tür, dreht sich um
spekt das Höchste ist, und Respekt hieß: still Ist sie nicht manchmal einsam, so hinter und sagt: »Ihr habt eine Minute für ein Foto.«
sein. Tun, was einem gesagt wird.« all den Toren und dem Stacheldraht? An Was dann folgt, ist weniger eine Lesung als
Adichie wuchs in einer kleinen Universitäts­ Sonntagen lässt sie sich von einem ihrer Fah­ eine Art Gruppentherapie. Adichie spricht
stadt auf, ihr Vater war Professor, ihre Mutter rer im schwarzen Lexus-SUV gern durch die über den Tod ihrer Eltern. Über ihre Trauer.
arbeitete ebenfalls an der Uni. Nigerianische Stadt fahren. Sie sitzt dann hinter den getön­ Aber auch über Probleme als Frau in Nigeria,
gehobene Mittelschicht, die Eltern waren ten Scheiben und schaut auf die Straßen der über das Nicht-gesehen-Werden und das
streng, aber liebevoll. Sie wollten, dass sie Me­ noblen Bezirke, manchmal möchte sie auch Nicht-widersprechen-Dürfen. Einer nach dem
dizin studiert, was sie auch tat. Dann brach sie über die Brücke, am Wasserslum vorbei, aufs anderen, eine nach der anderen greift zum
ab. Sie wollte schreiben. Der einzige Ausweg, Festland, ohne auszusteigen. Der Verkehr, Mikrofon und erzählt eigene Leidensgeschich­
den sie sah, führte in die USA. Also ging sie. sagt sie, beruhige sie. ten. Einige weinen, wenn sie sprechen. Adichie
Ärztin oder Ingenieur, das war in den Acht­ Sie bricht das Interview dann abrupt ab. hört zu, bekräftigt, tröstet, lacht, weint mit.
zigern und Neunzigern, als sich in Nigeria eine Geht hoch, ohne sich zu verabschieden. Ein Später wird Adichie noch mit dem franzö­
neue Mittelschicht bildete, der vorgezeichnete paar Minuten später lässt sie durch ihre Assis­ sischen Botschafter zu Abend essen, das war
Weg für die, die es sich überhaupt leisten konn­ tentin ausrichten, dass man zum Abendessen der Deal für den Raum in der Alliance fran­
ten zu studieren. Geld und Sicherheit. »Eine bleiben könne. Dieses Spiel wird sie öfter wie­ çaise. Danach wird sie nach Hause fahren und
ganze Generation ist für die Kunst, das Denken derholen – die kalte Schulter zeigen, um im bis fünf Uhr morgens in der Küche sitzen,
verloren gegangen«, wird mir Adichies nige­ nächsten Moment wieder Nähe zuzulassen. Wein trinken, frittierte Kochbananen essen
rianischer Verleger später sagen. Auch er hat­ Es wirkt manchmal wie eine Machtdemons­ und mit ihren Assistentinnen, ihrer Cousine,
te erst Medizin studiert, dann als Arzt gearbei­ tration. Als würde sie zeigen wollen: Die Ho­ ihrem Manager und einer Studentin aus ihrem
tet, bevor er schlechte Science-Fiction-Roma­ heit über ihre Geschichte hat immer noch sie. Unikurs diskutieren. Über Feminismus und
ne schrieb und einen kleinen Verlag gründete. Am nächsten Tag schickt Adichie eine Transfrauen, über das, was sie die »paterna­
Die Kreativen seiner Generation hätten sich Whats­app-Nachricht, halb zehn Uhr abends. listische Linke« nennt, über Cancel Culture
das alles selbst beigebracht, die Verleger, Der Link zu einem Artikel aus der »Washing­ und die Rolle der katholischen Kirche in Nige­
Schriftstellerinnen, Journalisten, Filmemache­ ton Post«, es geht um eine Transfrau, die jetzt ria. Widersprechen wird ihr niemand. Sie ist
rinnen. »Durch Chimamanda«, sagt er, »sind selbst eine Autorität geworden. Das kann ihr
Kunst und unabhängiges Denken überhaupt * In der Londoner Royal Festival Hall anlässlich der Vor- eigentlich nicht gefallen. Es ist kompliziert.
erst wieder erstrebenswert geworden.« stellung von Michelle Obamas Buch »Becoming«. Xaver von Cranach  n

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BELLETRISTIK SACHBUCH

Die Französin Léna

WAS EINEM
fährt in tiefer Trauer nach Das investigative Buch
Indien, um mit dem der Russlandexpertin
Verlust ihres Mannes zeichnet nicht nur
fertigzuwerden. Die den Aufstieg des Kreml-
Depression reist mit, chefs nach, sondern legt

IM GARTEN
doch eine Gruppe junger auch die Verflechtungen
Frauen rettet Léna. Ein westlicher Politik und
gut ­lesbarer feministi- Wirtschaft mit Putins
scher Roman. | Platz 4 System offen. | Platz 2

1 (6) Tracy Wolff


Crush dtv; 20 Euro
1 (1) Kurt Krömer
Du darfst nicht alles glauben,
was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
SO ALLES
BLÜHEN KANN
2 (1) Wolf Haas
Müll Hoffmann und Campe; 24 Euro 2 (10) Catherine Belton
Putins Netz HarperCollins; 26 Euro
3 (3) Bernhard Schlink
Die Enkelin Diogenes; 25 Euro 3 (2) David Garrett / Leo G. Linder
Wenn ihr wüsstet Heyne; 22 Euro
4 (2) Laetitia Colombani
Das Mädchen mit dem Drachen S. Fischer; 22 Euro 4 (3) Peter Hahne
Das Maß ist voll Quadriga; 12 Euro
5 (5) Nino Haratischwili
Das mangelnde Licht Frankfurter Verlagsanstalt; 34 Euro 5 (5) Christiane Hoffmann
Alles, was wir nicht erinnern C. H. Beck; 22 Euro
6 (8) Edgar Selge
Hast du uns endlich gefunden Rowohlt; 24 Euro 6 (–) Richard David Precht
Freiheit für alle Goldmann; 24 Euro
7 (–) Marah Woolf
Krone aus Asche Nova MD; 20 Euro 7 (7) Navid Kermani Jeder soll von da, wo er ist,
einen Schritt näher kommen Hanser; 22 Euro
8 (4) Yasmina Reza
Serge Hanser; 22 Euro
8 (9) Gregor Gysi
Was Politiker nicht sagen Econ; 22 Euro
9 (–) Christian Huber Man vergisst nicht,
wie man schwimmt dtv; 22 Euro
9 (4) Florian Illies
Liebe in Zeiten des Hasses S. Fischer; 24 Euro

10 (9) Susanne Abel


Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro
10 (11) Doris Dörrie
Die Heldin reist Diogenes; 22 Euro

11 (7) Carsten Henn


11 (8) Ulrike Guérot
Der Buchspazierer Pendo; 14 Euro
Wer schweigt, stimmt zu Westend; 16 Euro

12 (12) Juli Zeh 12 (6) Klaus von Dohnanyi


Über Menschen Luchterhand; 22 Euro
Nationale Interessen Siedler; 22 Euro

13 (17) Andrea Sawatzki 13 (–) Eckhard Nagel / Elke Büdenbender


Brunnenstraße Piper; 20 Euro
Der Tod ist mir nicht unvertraut Ullstein; 24 Euro
14 (10) Emmanuel Carrère 14 (17) Karl Lauterbach
Yoga Matthes & Seitz; 25 Euro Bevor es zu spät ist Rowohlt Berlin; 22 Euro Das Buch
15 (15) Sebastian Fitzek 15 (–) Gunnar Kaiser zur beliebten
Playlist Droemer; 22,99 Euro Die Ethik des Impfens Europa Verlag; 12 Euro
SPIEGEL-
16 (–) Axel Hacke 16 (12) Bettina Flitner Gartenkolumne
Ein Haus für viele Sommer Kunstmann; 24 Euro Meine Schwester Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro

17 (13) Michel Houellebecq 17 (15) Hape Kerkeling


Vernichten DuMont; 28 Euro Pfoten vom Tisch! Piper; 22 Euro

18 (20) Fatma Aydemir 18 (13) Marianne Koch


Dschinns Hanser; 24 Euro Alt werde ich später dtv; 18 Euro

19 (16) Nele Neuhaus 19 (–) Michaela May


In ewiger Freundschaft Ullstein; 24,99 Euro Hinter dem Lächeln Piper; 22 Euro

20 (19) Jussi Adler-Olsen 20 (20) David Graeber / David Wengrow


Natrium Chlorid dtv; 25 Euro Anfänge Klett-Cotta; 28 Euro
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

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Auf einmal funktioniert das selbst­


ironische Lächeln nicht mehr, gilt
eingestandene Schwäche nicht
als charmant, sondern, nun ja: als
schwach. Männlichkeit ist kultur-

Pesto schützt nicht vor Pistolen


und ortsgebunden. Der Held vom
Starnberger See ist in Kairo eine
Witzfigur, der Clanchef aus Kabul
im schwul-lesbischen Kommunika­
tionszentrum eher ein Außenseiter.
GASTBEITRAG  Der deutsche Großstadtmann kann kochen, trägt gepunktete Körperliche Kraft oder emotionale
Socken und hat sich von der Streitkultur seiner Väter verabschiedet. Fehlt ihm die Härte braucht in der westlichen
Welt kaum ein Mensch, in anderen
nötige Härte für eine Welt, in der sich nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt? Ländern liegt man ohne schnell im
Von Tobias Haberl Krankenhaus. Es gibt Situationen,
in denen Reste archaischer Männ­
lichkeit ganz nützlich sein können.

S
eit Jahren wird fast aufdring­ sind. Und ob wir vielleicht nicht nur Und wer jetzt denkt: »Wovon
lich  über die skandalöse unsere Außen- und Sicherheits­ spricht dieser Typ?«, wer noch nie
Ausstattung der Bundeswehr politik überdenken sollten, sondern die Erfahrung gemacht hat, wie
berichtet. Die frühere Verteidi­ auch unsere Vorstellung von dem, ­alles, wofür man steht, von einem
gungsministerin Ursula von der wie Männer und vielleicht auch Moment auf den anderen nutzlos,
Leyen hatte zwar die erste Bundes­ andere Menschen sein sollten, wenn ja lächerlich erscheint, kann mal
wehr-Kita eingeweiht, aber offenbar wir für die gigantischen Heraus­ ­darüber nachdenken, ob er sein
Olaf Unverzar t

verdrängt, dass eine Truppe auch forderungen der kommenden Jahre ­Leben vielleicht nur an Orten und
einsatzfähig sein ­sollte. Interes­ einigermaßen gewappnet sein mit Menschen verbringt, die genau­
Haberl, 46, lebt als santerweise fand das lange kaum wollen. Oder wie der Politologe so sind wie er selbst.
Autor in München. jemand schlimm. Im Gegenteil. Ivan Krastev kürzlich prophezeite: Erinnert sich noch jemand an die
Am 31. März Viele machten sich darüber lustig: »Stark sind fortan Gesellschaften, Kölner Silvesternacht 2015/16, als
erscheint sein Buch Panzer, die nicht fahren? Wie die Schmerz ertragen können.« Hunderte Frauen von Männern aus
»Der gekränkte
Mann. Verteidigung komisch! Ich weiß noch genau, wie Ich wohne im Münchner Glocken­ anderen Kulturkreisen belästigt wur­
eines Auslaufmo- ein Kollege damals meinte: »Also bachviertel. Und bin umringt von den? Wo waren damals eigentlich
dells« (Piper; 256 ich finde Gewehre, die nicht schie­ Männern, die gepunktete Socken die Männer und Freunde dieser
Seiten; 22 Euro). ßen, total sympathisch.« tragen und mit dem Kinderwagen Frauen? Am Ende fanden einige
Sympathisch?, dachte ich. Na ja. joggen gehen. Manche wissen mehr Frauen Schutz hinter dem Türsteher
Es sei denn, man gerät in einen über den Glutengehalt von Nudeln eines Hotels – einem im heutigen
­Hinterhalt bei Kundus. Es war der als Ernährungsberater, andere Kroatien geborenen Mann. Die Welt
Moment, in dem mir klar wurde, schlafen auf Nackenkissen mit ist kein »Safe Space«. Und sie ist
dass ein komplettes Milieu, nämlich Buchweizenfüllung, rümpfen die auch nicht so, wie sie sich Menschen
das linksliberale, akademische aus Nase über fragwürdige Alphatypen vorstellen, die in einem soziologi­
den Wohlstandsvierteln von Ham­ und nehmen doch am gleichen schen Pro­seminar sitzen. Sie ist
burg, Berlin und München, damit ­Rattenrennen um Prestige und gemeiner, unberechenbarer, wider­
begonnen hatte, sich von der Wirk­ ­Anerkennung teil, nur halt nicht mit sprüchlicher, wir wollten es nur nicht
lichkeit abzukoppeln. Dass man Senatorstatus, sondern Regen­ wahrhaben – bis in den Nachrichten
zwar fleißig twitterte, aber in einer bogen-Tweets. Ich habe nichts ukra­inische Mütter und Spitzen­
Mischung aus Naivität, Gleichgül­ gegen diese Männer. Im Gegenteil. sportler mit Gewehren auftauchten.
tigkeit und Arroganz die Augen vor Ein bisschen bin ich selbst so, mit In einem Interview erzählte der
allem verschloss, was nicht zu den einigen von ihnen bin ich befreun­ amerikanische Schauspieler Bob
eigenen Vorstellungen vom guten det. Sie sind so viel weiter als ihre Odenkirk von einem Überfall auf
Leben passte. Und dass auch der Väter und Großväter, können seine Familie: »Auch ich habe mich
urbane Mann, der mit dem E-Bike Schwächen zulassen, über Gefühle damals nicht gewehrt, sondern nur
zum Bauernmarkt radelt, um eine sprechen, Hemdkragen bügeln und versucht, meine Familie abzuschir­
Stange Bio-Lauch zu besorgen, müssen weder sich noch andere men. Die Polizei kam und hat den
sympathisch sein mag, aber halt nur quälen, um sich zu spüren. Das Pro­ bösen Mann mitgenommen. Zu­
funktioniert, wenn alle mitmachen. blem: Das gelingt so nur in ihrem rückgeblieben ist aber ein Gefühl
Nun hat Wladimir Putin, dieser Milieu, ihrem Viertel, ihrer Blase. der Unzulänglichkeit. Und das setzt
scheinbar mächtige, aber tatsächlich Manche, die wie wandelnde sich im Gehirn fest. Es nagt. Natür­
schwache, sentimentale, von der Insta­gram-Filter durch die In-Viertel lich weiß man auf einer intellektuel­
Geschichte gekränkte Mann, die flanieren, scheinen es sich nicht vor­ len Ebene, dass man richtig gehan­
Spielregeln gebrochen. Und weil auf stellen zu können, aber wenn man delt hat. Aber es fühlt sich leider
einmal wieder über autoritäre und seine Komfortzone gelegentlich nicht so an. Es fühlt sich so an, als
zeitgemäße Männlichkeit, ja sogar verlässt, in der U-Bahn fünf Statio­ hätte man seine Familie durch die
über so was Altmodisches wie nen später als sonst aussteigt oder Tatenlosigkeit gefährdet oder wo­
Helden diskutiert wird, kann man in Rio de Janeiro in die falsche Stra­ möglich sogar verletzt.« Als Mann
mal darüber nachdenken, was einen ße einbiegt, gerät man als moderner ahnt man, was er meint: dass es
Mann eigentlich ausmacht und was Mann schnell unter Druck. Auf ein­ Momente gibt, in denen man gern
nicht: welche Eigenschaften wirklich mal ­sehen alle anders aus, ziehen weniger Kultur und mehr Natur
und welche nur scheinbar ­toxisch sich anders an, verhalten sich anders. wäre, weniger domestiziert, dafür

116 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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instinktiver, ursprünglicher. Weniger


Joko Winterscheidt, mehr Zlatan
Ibrahimović, der während der Pan­
demie öffentlich prahlte: »Covid
hat den Mut gehabt, mich herauszu­
fordern. Schlechte Idee.«
Der Paartherapeut Bjørn Thors­
ten Leimbach konstatierte schon
vor Jahren, dass Männer zuneh­
mend das Interesse am Jagen und
Kämpfen verlören, auch im über­
tragenen Sinn. Sie lehnten Span­
nungen und Konflikte ab, die sie
anstrengend oder primitiv fänden,
und suchten eher Ausgleich und
Harmonie. Anders die Frauen: Sie

Craig Mclachlan / Unsplash


entdeckten die positiven Seiten des
kriegerischen Archetyps, trieben
Sport, machten Selbstverteidigung,
entwickelten Freude an Auseinan­
dersetzung und Führung. Kurz:
Frauen stärkten ihre männlichen
Anteile, Männer ihre weiblichen. drückt. Wir sollten so klug und sou­ ja sogar wahnsinnig hilfreich finden
verän sein, vermeintlich männliche – »er ist so toll mit den Kindern« –,

I
n den vergangenen Jahren wur­ Eigenschaften nicht ausschließlich aber keinerlei erotisches Interesse
de eine männliche Streitkultur negativ zu bewerten. Wir sollten mehr an ihnen haben. Oder wie
von einer weiblichen Wohlfühl­ damit rechnen, dass, wer in krisen­ die Journalistin Nina Pauer mal ge­
kultur abgelöst. Und natürlich pro­ haften Zeiten Verantwortung über­ schrieben hat: »Auf die junge Frau
fitiert unsere Gesellschaft davon, nehmen will, leuchtende Ideale und wirkt die neue männliche Innerlich­
wenn Männer ihre verletzliche Seite eine gesunde Härte gut brauchen keit, das subtile Nachhorchen in
entdecken, Privilegien überdenken, kann. Dass in den kommenden Jah­ die tiefsten Windungen der Gefühls­
Chefposten räumen, im Babybe­ ren, die eher ungemütlich zu werden regungen, schrecklich kom­pliziert.
cken rumstehen und eine Kränkung drohen, ein Amalgam aus traditio­ Und auf die Dauer furchtbar unsexy.«
nicht rächen müssen, sondern bei neller und moderner Männ­lichkeit Statt traditionelle Männlichkeit
einem Glas Merlot besprechen kön­ vorteilhaft, ja reizvoll sein könnte, wie in einem Exorzismus auszutrei­
nen. Trotzdem kann es problema­ ein bisschen wie Wolodymyr ben, sollten wir akzeptieren, dass
tisch, ja unverantwortlich sein, Selen­skyj, den wir gerade zum guten es eine männliche Energie gibt, die
wenn sie nur noch auf Yogamatten Helden stilisieren, weil er warm­ nicht verloren gehen sollte: eine
rumliegen, Pfirsiche einwecken herzig und mutig zugleich ist, weil er Lust am Konflikt, Wettbewerb und
und zugleich alle anderen Eigen­ an etwas glaubt und bereit ist, sein Widerspruch. Im Moment verküm­
schaften über Bord werfen, weil Leben dafür zu opfern. Ein bisschen mert sie, weil wir jede Regung dämo­
­ihnen zu lange eingeredet wurde, wie Robert Habeck, der sensibel ist, nisieren, die sich nicht lückenlos
dass die ausnahmslos toxisch seien. aber auch nach Macht strebt, ein kontrollieren lässt. Wer sich Aggres­
Angesichts aktueller Verwerfungen Mann, der verständnisvoll und ent­ sion nur als kämpferische Auseinan­
könnten ein paar von ihnen, von schlossen, traditionell und woke ist. dersetzung vorstelle, werde ihr nicht
denen wir dachten, dass wir sie nie Im Moment sollen Männer stän­ gerecht, hat der Soziologe Walter
mehr benötigen würden, wieder dig irgendwas beichten, den Mund Hollstein gesagt. Sie lasse sich näm­
wichtig werden: Widerstandskraft, halten oder sich schämen. Und ganz lich auch als Tatendrang kanalisie­
Risikobereitschaft, Entschlossenheit, ehrlich: Das schadet ihnen be­ ren, um Maschinen zu reparieren,
und auch wenn es problematisch stimmt nicht, wenn man die letzten Demenzkranke zu pflegen, Park­
klingt: so was wie Mut oder Wehr­ 5000 Jahre Patriarchat für drei anlagen aufzuräumen oder mit guten
haftigkeit. Entscheidend ist dann na­ ­Sekunden Revue passieren lässt. Ideen neue Projekte anzustoßen.
türlich, dass sie besonnen und diffe­ Trotzdem könnte ein verführeri­ Auf Twitter schrieb neulich je­
renziert zum Einsatz kommen, ohne sches Wesen herauskommen, wenn mand, ich glaube, es war eine Frau:
den Gleichstellungskampf von Frau­ Vorteilhaft sich nützliche Anteile traditioneller Männlichkeit ist toxisch, bis dein
en und Minderheiten, ohne unser Männlichkeit mit den Vorzügen des Land verteidigt werden muss. Im
Ziel von der ausbalancierten Gesell­ wäre ein Gegenwartsmanns verschmelzen Moment bejubeln Männer, die
schaft zu gefährden. ­Amalgam aus ließen. Männer, die Gutenacht­ es sich lange in einer Bullerbü-Welt
Der Theologe Hans Jellouschek
hat die These aufgestellt, dass der
Tradition und geschichten vorlesen, sich aber zur
Wehr setzen können, wenn ihnen
samt Grünstreifen gemütlich ge­
macht hatten, die Tapferkeit der
zu virile und der zu wenig virile ­Moderne: einer blöd kommt. Männer, die Ukrainerinnen und Ukrainer. Eben
Mann im »Ressentiment gegen ihr warmherzig ­Bärlauchpesto anrühren, aber auch noch haben sie Donald Trump ver­
eigenes Mannsein« lebe. Dass also Haltung zeigen können, nicht nur flucht, als der Deutschland auffor­
beide Gefahr laufen, sich zu verfeh­ und mutig, moralisch daherreden, sondern derte, dem Zweiprozentziel nach­
len: der Mann, der wie ein Feldherr verständnis- handeln. Nebenbei wäre die Gefahr zukommen, nun fordern sie laut­
durch sein Leben stolziert, aber ­gebannt, dass sich Frauen zu einer stark mehr Waffen für die Ukraine.
auch der, der seine widersprüchli­ voll und Art dominanter Mutter entwickeln, Es ist anzunehmen, dass sie funktio­
chen Gefühle immer nur unter­ entschlossen. die ihre Männer zwar liebenswert, nierende Waffen meinen.  n

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Szene aus Fakten. Es stärkt zudem die Ver­


Loznitsa-Film bundenheit mit der russischen Kultur
»Donbass« – der Kultur des Aggressors, der
einen unberechtigten und anlasslosen
Krieg in Zentraleuropa ausgelöst
hat«, schreibt die Filmakademie in
ihrem Statement.
Bislang sind weltweit nur wenige
Festivals dem Aufruf gefolgt. Das
Glasgower Filmfestival nahm zwei
russische Filme aus dem Programm,
Stockholm gab bekannt, man werde
keine mit staatlichem Geld finanzier­
ten Arbeiten aus Russland mehr zei­
gen. Die Europäische Filmakademie
(EFA) äußerte sich zu Kriegsbeginn
erst verhalten – so verhalten, dass
Sergei Loznitsa aus Protest aus der
EFA austrat. Wie um ein Zeichen der
Entschiedenheit auszusenden, ver­
kündete die EFA daraufhin, alle
­russischen Produktionen aus der Vor­
auswahl für den Europäischen Film­
preis 2022 zu verbannen. Auch diesen
Schritt kritisierte Loznitsa scharf.
»Kultur ist das Gegenteil von Krieg:
Sie ist schöpferisch und bringt Men­

Salzgeber
schen ins Gespräch. Ein Boykott
­dagegen vernichtet und macht Ge­
spräche unmöglich«, sagt er dem
SPIEGEL .
Für andere aus der ukrainischen

Kultur der Zerstörung


Filmbranche erscheint ein Boykott
hingegen alternativlos. »Man kann
jetzt nicht mehr dieser typische Libe­
rale sein, der auf Dialog setzt«, sagt
Victoria Leshchenko, Programmlei­
KINO   Kein
Platz für russische Filme und terin des Kiewer Dokumentarfilm­
Regisseure? Der Streit in der ­Filmbranche eskaliert. festivals für Menschenrechte Docu­
days. Am 25. März hätte die aktuelle
Ausgabe starten sollen. Doch der

F
ür viele in der internationalen schen Proteste von 2013/14 und sei­ Krieg kam dazwischen, Leshchenko
Filmbranche ist es ein Skandal, nen Spielfilm »Donbass« von 2018 flüchtete mit ihrer Mutter nach Ber­
doch Sergei Loznitsa gibt sich über Russlands Krieg im Osten des lin. Von dort aus tauscht sie sich nun
gelassen. »Ich befinde mich in keinem Landes. ständig mit Kolleginnen und Kolle­
Konflikt«, sagt der ukrainische Re­ Loznitsas Ausschluss ist ein gen in der Ukraine aus, um eine ge­
gisseur. »Zu einem Konflikt gehören ­spektakulärer Einzelfall und steht meinsame Linie zu finden, wie Filme­
zwei Parteien, die sich um eine Sache gleichzeitig für den großen Streit, machern und ihrer Arbeit am besten
streiten und dazu Argumente aus­ den die Branche seit Kriegsausbruch gedient sein könnte. Leshchenko ist
tauschen. Ich bin nur mit einer Ent­ austrägt: Welche Art von Unter­ sich sicher, dass ukrainische Stimmen
scheidung konfrontiert worden.« stützung von ukrainischen Filmen nur angemessen gehört werden kön­
Am vergangenen Wochenende hat und Filmschaffenden braucht es? nen, wenn es einen totalen Boykott
die Ukrainische Filmakademie be­ Wie mit russischen Filmen auf Fes­ russischer Produktionen gibt: »Eine
Angel Navarrete / El Mundo / IMAGO

schlossen, Loznitsa auszuschließen. tivals umgehen? Und welche Rolle Kultur, die diese Art von Zerstörung
Er habe sich nicht klar genug zur darf nationale Zugehörigkeit bei zulässt, darf keinen Platz mehr be­
­Ukraine und seiner nationalen Iden­ der Bewertung von Person und Werk kommen.«
tität als Ukrainer bekannt, lautet die spielen? So sieht es auch die Ukrainische
Begründung. Als Maximalforderung steht der Filmakademie: Loznitsa wurde aus­
Loznitsa, Jahrgang 1964, ist der Boykott russischer Filme im Raum. geschlossen, weil er sich gegen den
mit Abstand bekannteste Regisseur Erhoben hat sie die Ukrainische Film­ Boykott ausgesprochen hatte und
des Landes, seine Filme laufen in akademie zwei Tage nach Kriegs­ damit »die kollektive Verantwortung
Cannes, Venedig und Berlin, er hat beginn. Regelmäßig würden russische Filmemacher Loznitsa der Russen für den Krieg« geleugnet
mehr als 50 Preise gewonnen. Filmemacher zu Festivals eingeladen habe, begründete die Filmakademie
Als Russland die Ukraine überfiel, und viel Geld für die Bewerbung »Ein Boykott ihren Entschluss. Außerdem habe er
nahmen viele Kinos Loznitsas Filme ihrer Filme ausgegeben: »Das Er­ macht sich mehrfach als »Kosmopolit«, be­
ins Programm, um Hintergrundwis­ gebnis dieser Aktivitäten ist nicht zeichnet. Der Kern der Rhetorik von
sen zu schaffen: seinen Dokumentar­ nur die Verbreitung propagandis­ Gespräche jedem Ukrainer sollte in dieser Si­
film »Maidan« über die proeuropäi­ tischer Botschaften und verzerrter unmöglich.« tuation jedoch seine nationale Iden­

118 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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tität sein, so die Filmakademie. Loznitsa


wurde im heutigen Belarus geboren, wuchs SPIEGEL TV Programm
in Kiew auf, studierte in Kiew und Moskau
und lebt seit Langem in Berlin. Er bezeichnet
sich selbst als ukrainischen Regisseur.
Anderswo versucht man es mit weniger
absoluten Kategorien. Die Filmfestspiele von
Cannes, die im Mai eröffnen, haben erklärt,
man werde zwar keine offiziellen Delega­
tionen aus Russland empfangen. Zu Künst­
lerinnen und Künstlern, die sich gegen Ge­
walt, Ungerechtigkeit und Unterdrückung
ausgesprochen hätten, werde man aber hal­
ten. 2021 hatte das Festival unter anderem
den aktuellen Film des dissidentischen Re­
gisseurs Kirill Serebrennikow gezeigt, der
jahrelang in Moskau unter Hausarrest gestellt
war. In diesem Jahr könnte sein neuester Film
über den homosexuellen Komponisten Peter
Tschaikowsky und dessen unheilvolle Ehe

Gabriel Chaim
laufen. Weil er mit einem Reiseverbot belegt
ist, könnte Serebrennikow aber nicht zur Pre­
miere kommen. Beerdigung eines ukrainischen Soldaten
Das traditionsreiche Festival des mittel-
und osteuropäischen Kinos »goEast« in
­Wiesbaden, dessen neueste Ausgabe am SPIEGEL TV nislücken oder Atemnot: Die Beschwer-
19. April beginnt, hat sich ebenfalls dazu ent­ den sind vielfältig, die Folgen oft ver­
schieden, weiterhin russische Filme zu­ MONTAG, 28. 3., 23.25 – 0.00 Uhr, RTL heerend. Viele Betroffene sind wochen-
zeigen. »Ein Boykott bedeutet vor allem sym­ lang arbeitsunfähig, werden heraus­
bolisch-mentale Unterstützung für die Uk­ Krieg ohne Ende katapultiert aus ihrem bisherigen Leben.
raine«, sagt Festivalleiterin Heleen Gerritsen. In der Ukraine geht die Zerstörung durch Medizin und Wissenschaft stehen
»An der Lage in Russland ändert er leider Kremlchef Wladimir Putin un­ver- ratlos vor dieser Krankheit. Medi­ka­men­-
nichts.« Sollte es irgendwann wieder zu Re­ mindert weiter. Millionen Menschen te dagegen gibt es nicht, Therapie-­
formen in Russland kommen, könnten die verlassen ihre Heimat, Tausende ansätze sind in der Erprobungsphase.
nur von innen angestoßen werden, und dafür werden bei Angriffen getötet. Zurück SPIEGEL TV hat drei von Long Covid
brauchte es starke kritische Stimmen im bleibt eine traumatisierte Nation. Betroffene und deren Familien über
Land. mehrere Monate begleitet.
Verbindungen zu russischen Medien, Die Katastrophe nach der
Sponsoren und staatlichen Institutionen hat ­Katastrophe
goEast in diesem Jahr jedoch gekappt. Auf Warum bei einigen Flutopfern die SPIEGEL Geschichte
Facebook verkündete Gerritsen, im kommen­ ­Versicherung nicht zahlt
den Jahr gar keine in Russland finanzierten DIENSTAG, 29. 3., 20.15 – 21.00 Uhr, SKY
Filme zu zeigen. »Nach Februar 2022 finan­
ziert: nicht gut. Nach 2014 oder 2008 oder SPIEGEL TV REPORTAGE Tödliche Naturgewalten
2000 finanziert: geht noch?«, fragte ein Kom­ Countdown zur Katastrophe:
mentator in Anspielung auf andere Jahres­ DONNERSTAG, 31. 3., 23.10 – 0.05 Uhr, Sat.1 Inselparadies in Gefahr
tage russischer Aggressionen. Wer auch in Am 1. September 2019 trifft der ­Hurrikan
Zukunft russische Filme zeigen will, wird sich Long Covid – mein Kampf »Dorian« auf die Bahamas. Als dieser
viele solcher Fragen stellen müssen. »Wir kön­ ­zurück ins Leben Sturm der Kategorie fünf ihr Haus
nen zurzeit nichts richtig machen, aber diesen Genesen, aber noch lange nicht ­erreicht, entscheidet sich eine Familie,
Diskussionen müssen wir uns trotzdem stel­ gesund – ein Schicksal, das jeden durch brusttiefes Wasser zu waten, um
len«, sagt Gerritsen. zehnten ­Coronapatienten in sich in Sicherheit zu bringen. Jetskis
Sergei Loznitsa arbeitet zurzeit in Vilnius ­Deutschland trifft. Mehr als 1,1 Mil­- werden zur Rettung eingesetzt, und ein
an der Fertigstellung seines neuen Doku­ lionen Deutsche leiden mittler- erfahrener Sturmjäger berichtet, dass
mentarfilms. Er handelt von der Bombar­ weile unter Long Covid. Müdigkeit, »Dorian« der schrecklichste Hurrikan sei,
dierung europäischer Städte durch die Alli­ Muskelschmerzen, Gedächt- den er je erlebt habe.
ierten im Zweiten Weltkrieg. Im Sommer
wollte er in der Ukraine seinen nächsten
Spielfilm drehen, das ist nun unmöglich.
2020 WEATHER GROUP TELEVISION, LLC.

­Dennoch steht viel Arbeit an. »Nach dem


Ausschluss aus der Filmakademie habe ich
so viele Angebote wie noch nie zur Zu­
sammenarbeit bekommen«, sagt Loznitsa.
Der Titel seines neuen Dokumentarfilms:
»The Natural History of Destruction«, die
SPIEGEL TV

Naturgeschichte der Zerstörung. Er soll in


Cannes laufen.
Hannah Pilarczyk n Long-Covid-Patientin Andrea Lingg Verwüstete Häuser auf den Bahamas 2019

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eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von Bar-


celona entfernt. Ein Ort, in dessen Nähe we-
nige Jahre vor Rosalías Geburt ein Werk von
Seat den Betrieb aufnahm, dem größten Auto-

Die Verwandlung
hersteller des Landes. Arbeiter kamen aus
Andalusien nach Katalonien, die Väter von
Rosalías Freundinnen und Freunden. Sie
brachten den Flamenco mit in den Norden,
die Musik des Südens.
MUSIK  Adele, Rihanna – Rosalía? Die Sängerin aus der katalanischen Sie war 13 Jahre alt, als der Flamenco
bei ihr ankam. Als er bei ihr einschlug. Beim
Provinz hat es in die erste Reihe des weltweiten Pop geschafft, Rumhängen in einem Park, so geht Rosalías
mit Songs auf Spanisch. Der jahrhundertealte Flamenco half ihr dabei. Geschichte, machte plötzlich jemand Ca­
marón de la Isla an, einen berühmten Fla-
menco-Sänger. Ihr Kopf sei in dem Augen-

S
ie krempelt den linken Ärmel ihres »Yo me transformo«, wiederholt Rosalía blick explodiert.
Strickpullovers hoch, schnelle, genaue in der ersten Minute ihres neuen Albums. Ich Noch als Teenagerin trat sie bei einer Ta-
Gesten, und reibt mit der rechten verwandle mich. Nur wirkt die Verwandlung lentshow im spanischen Fernsehen auf, mit
Hand über die Haut ihres Unterarms. Musik, bei ihr nicht kafkaesk, sondern gewollt. »Ich einer Ballade mit Flamenco-Anklängen. Als
sagt Rosalía bei diesem Treffen in London, habe das Gefühl«, sagt Rosalía, »dass meine ein Juror sie aufforderte, Charakter zu zeigen,
sei auch das für sie: Reibung, die Gänsehaut Identität sich ständig wandelt.« sang sie einen Song von Alicia Keys.
erzeugt. Rosalía Vila Tobella, 29, stammt aus Sant So kam sie ins Finale. Dort verlor sie. Eine
Die spanische Sängerin, Songwriterin und Esteve Sesrovires im Nordosten Spaniens, Niederlage, nach der viele Teenager aufge-
Produzentin Rosalía ist der Popstar der Stun-
de. Dabei fußt ihre Geschichte auf einem
jahrhundertealten Genre aus Andalusien:
Flamenco.
In ihren Videos trifft Tradition auf Street-
Credibility, treten Toreros und Motor­
radfahrerinnen auf. Die Clips haben auf
YouTube teils mehr als eine Milliarde Auf-
rufe. »Motomami«, ihr neues Album, stieg
­Anfang dieser Woche auf Platz eins der
»Top Albums Debut Global«-Charts auf
Spotify ein.
Beyoncé und Barack Obama zählen zu
den Fans ihrer Musik. Rosalía hängt mit
den Kardashians ab, die »Vogue« und der
spanischsprachige »Rolling Stone« zeigten
sie auf dem Cover, sie spielt mit in Musik-
videos wie dem zum Selbstermächtigungs-
Hit »WAP« der Rapperin Cardi B, 450 Mil-
lionen Aufrufe. Zwei der zurzeit erfolgreichs-
ten Musiker der Welt, The Weeknd und Bil-
lie Eilish, haben Songs mit ihr aufgenommen,
und überhaupt scheint jetzt schon klar, we-
nige Jahre nachdem der Name Rosalía über
die Grenzen Spaniens hinaus bekannt ge-
worden ist, dass sie in einer Reihe steht mit
Adele, Dua Lipa, Rihanna.
Wie hat eine auf Spanisch singende Frau
aus einer Kleinstadt in Katalonien das ge-
schafft?
Rosalía sitzt im achten Stock eines Lon-
doner Hotels, sie wirkt ruhig. Doch sobald
sie spricht, kommen die genauen Gesten. Re-
det sie von Nuancen, hackt sie mit der rech-
ten Hand auf die linke Handfläche, stets ein
Stückchen weiter, als schnitte sie die Luft in
Scheiben. Sagt sie, ihr Leben habe sich kom-
plett verändert, malt sie mit der rechten
Hand einen Bogen in die Luft, von der Mitte
ihres Körpers nach außen. Der Strickpullover,
den sie trägt, hat lange Zotteln, die auf den
Boden des Hotels reichen. »Zu lang«, sagt
Sony Music

sie einmal. Als wären es neue Erweiterungen


ihrer selbst, an die sie sich noch gewöhnen
muss. Künstlerin Rosalía: Identität ist eine Konstruktion, an der jeder selbst arbeitet

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»Ich denke im Studio nie: zweiten Album ließ sie schon die Grenzen
des Genres hinter sich: »El mal querer« aus
Das ist richtig, das ist dem Jahr 2018 ließ moderne Beats auf »pal-
falsch. Sonst würde ich gar mas« stoßen, die klassischen Klatscher dieser
Musik. Toreros auf Motorradfahrerinnen.
nichts schaffen.« Leid auf Coolness. »El mal querer« war ein
Meisterwerk, eines der besten Alben expe-
rimenteller Popmusik der vergangenen
20 Jahre. Es war auch Rosalías internationa-
geben hätten. »Das war wie eine Lektion«, ler Durchbruch, den sie, verschuldet, zusam-
sagt Rosalía jetzt. »Zu erkennen, dass es nicht
men mit dem Produzenten El Guincho in
so einfach wird.« dessen Wohnung in Barcelona auf dem Lap-
Sie sang weiter. Bis ihre Stimmbänder top vorbereitet hatte.
nicht mehr konnten und sie operiert werden Ihr drittes Album »Motomami« klingt, als
musste. Ein Jahr Pause. Danach begann sie erweiterte Rosalía nun ihre Konstruktion:
erneut, den Flamenco zu lernen. Sie gab sich Zum einen um noch mehr vermeintliche Wi-
der Musik hin, die sie liebte und die sie hatte
dersprüche. Sie klingen schon im Titel des
leiden lassen. Albums an. In »Moto« und »Mami«.
Mehrere Jahre lang studierte sie diese Auf dem Cover zeigt sie sich nackt, nur mit
­Musik der vertrackten Takte, zuletzt an der einem Motorradhelm bekleidet. Das Natür-
Musikhochschule von Katalonien. Eine liche und das Künstliche. Das Weiche und das
­Musik, von der es heißt, man beherrsche Harte. Das weiblich Konnotierte und das
sie höchstens im hohen Alter. Rosalía sagt: männlich Konnotierte, neu sortiert. Das Akus-
»Flamenco, das ist wie: Du wirst niemals tische und das Elektronische. Feingliedriger
­damit fertig.« Gesang trifft auf derben Rap. Pathos trifft auf
Flamenco sei ein Teil ihrer Identität. Sieindustrielle Kälte. Schön verwirrter Jazz trifft
hat sich dafür entschieden. Hat darum ge- auf bösartig verzerrte Synthesizer. Reibt sich
rungen. auf »Motomami« aneinander. Reibung, die
Das gefällt nicht allen. Spanische Roma Gänsehaut erzeugt. »There’s always contrast«,
warfen ihr kulturelle Aneignung vor. »Sie sagt Rosalía. Ohne Kontrast geht nichts.
­haben den größten Beitrag zum Flamenco Zum anderen erweitert sie ihre Konstruk-
geleistet«, sagt Rosalía über die Roma. Aber tion um einen globalen Sound, dessen Ge-
Flamenco beruhe auf einer »Vermischung der meinsamkeiten im Spanischsprachigen liegen.
Kulturen«, erklärt sie, setze sich aus spani- Rosalía bedient sich dafür kaum noch am
schen und afrikanischen Einflüssen zusam- andalusischen Flamenco, dafür aber an afro-
men, habe Wurzeln im Judentum und eben karibischen Klängen wie dem Reggaeton. Am
bei den Roma. Vor einigen Jahren hat sie kubanischen Bolero. An der dominikanischen
in einem Interview kämpferischer auf den Bachata. In der Dominikanischen Republik
Vorwurf reagiert: Der Flamenco gehöre nicht hat sie Teile des Albums aufgenommen, in
den Roma. Puerto Rico, Miami, Los Angeles, New York
und in Barcelona.
Vielleicht löst Rosalía ein altes Versprechen
des Pop zeitgemäß ein. Weil sie es stärker als Damit hat Rosalía auch ihren Markt er-
ihre Kolleginnen verkörpert. Das Verspre- weitert. Knapp 500 Millionen Menschen auf
chen, dass Identität eine Konstruktion ist, der Welt sprechen Spanisch als Muttersprache,
an der jeder selbst arbeitet. Eine Freiheit, um
vor allem in Mittel- und Südamerika. Spa-
die man kämpfen muss. Die man sich erkämp- nischsprachige Musik ist seit Jahren Main-
fen kann. Rosalías Geschichte steht für Resi-stream, rund ein Drittel der Künstler, die bei
YouTube mehr als eine Milliarde Aufrufe ha-
lienz, ein Wort, das in den weiterhin aktuellen
Krisenjahren an Bedeutung gewonnen hat. ben, singen auf Spanisch.
Für Zähheit. Durchhaltevermögen. Übertra- Rosalía scheint sich mit »Motomami« je-
gen auf ihre Fans, wirkt ihre Erzählung wie doch in erster Linie über Fragen der kulturel-
eine Versicherung, dass man sein darf, wer len Aneignung hinwegzusetzen. Das Album
man sein will. Dass man sich verteidigen muss,
wirkt wie eine Feier der kulturellen Vermi-
wenn jemand einem sagt, man dürfe nicht so schung. Eine Idee, die aus ihrer Sicht tief im
sein. Empowerment, die Betonung liegt auf Flamenco steckt.
Power. Inhalte zu kopieren, in neue Kontexte ein-
»Wenn ich ins Studio gehe«, sagt sie, zufügen, das ist zu einer bestimmenden Kul-
»dann denke ich nie: Das ist richtig. Das ist turtechnik geworden, zur alles verbindenden
falsch. Das ist ›apropiado‹ oder unangemes- Leitkultur – die Samples in der Musikproduk-
sen. So kann ich nicht denken. Wenn ich so tion, die Remixe, die Memes in der Online-
denken würde, dann würde ich gar nichts kommunikation. In dieser Zeit wirkt Rosa­lías
schaffen.« Darbietung als große Baumeisterin der eige-
Auf ihrem Debütalbum »Los Ángeles« aus nen Identität, die sich nimmt, was sie will, so
dem Jahr 2017 trat Rosalía noch meist wie als wäre sie zur richtigen Zeit am richtigen
die Reinkarnation einer althergebrachten Ort gelandet.
»cantaora« auf, einer Sängerin des Flamenco, Oder eben an vielen Orten, mit dem Wis-
deren Stimme sich gekonnt über die Töne sen aus vielen Zeiten.
einer akustischen Gitarre bewegte. Mit ihrem Jurek Skrobala n

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schen Kolonien. Wie die meisten an-


deren Besucher störte es ihn nicht,
dass in den Pavillons Menschen wie
im Zoo ausgestellt wurden. Tahiti
kam ebenfalls vor, und wie elektri-

Ende einer Legende


siert schrieb er einem Freund, für
­Tahitianer »bedeutet das Leben, zu
singen und Liebe zu machen«. Diese
und andere Formulierungen über-
nahm er aus Broschüren, die den
AUSSTELLUNGSKRITIK  Die Alte Nationalgalerie in Berlin wirft einen neuen Franzosen ein Leben in den Kolonien
Blick auf Paul Gauguin – und entdeckt einen Kolonialerotiker. schmackhaft machen sollten. Tahiti
schien ihm auch als sicherer Ausweg
aus Karriere- und Midlifekrise. Der

B
erlin, die Museumsinsel, ein Maler war 43 Jahre alt, als er im Som-
frühlingshafter Nachmittag. mer 1891 – ohne seine Frau und die
Vor der Alten Nationalgalerie fünf Kinder – im Hafen von Papeete
spazieren Touristen, ein paar machen ankam. Und dann fand er nicht ein-

Alber tinum / GNM / SKD, Foto: Elke Estel/Hans-Peter Klut


Selfies, andere sehen sich die pink- mal die »Eingeborenenhütten« vor,
farbenen Banner an, die an der Fas- die er auf der Weltausstellung bewun-
sade hängen und für die neue Aus- dert hatte.
stellung mit Bildern des Malers Paul Gauguin nannte sich oft einen
Gauguin werben. Auch nicht zu über- »Wilden« und wähnte sich auf der
sehen ist die blau-gelbe ukrainische Seite der Einheimischen, benahm sich
Flagge, die über dem Prunkgiebel aber nicht besser als andere Europä-
weht und es wiederum absurd er- er. Denen galten die Frauen der Insel
scheinen lässt, in Zeiten wie diesen in als leichte Beute. Die aus Europa ein-
die Kunstgeschichte abzutauchen. geschleppten, tödlichen Geschlechts-
Dabei will es die Schau dem Publi­ krankheiten hatten dafür gesorgt,
kum nicht einmal leicht machen, der dass die Bevölkerung innerhalb we-
ewige Star und angeblich erste echte niger Jahrzehnte auf einen Bruchteil
Aussteiger Gauguin (1848 bis 1903) die Ausgangsfrage der Schau, die Gauguin-Gemälde geschrumpft war. Und der Maler? Der
soll entzaubert werden. Als magisch ­Museumsdirektor Ralph Gleis von der »Parau Api«, 1892 lebte bald mit einem 13 Jahre jungen
schön gelten vielen Kunstliebhabern Glyptothek in Kopenhagen übernahm Mädchen zusammen. 1893 reiste er
jene Bilder, die der Franzose von 1891 und leicht abwandelte. In Berlin könn- nach Paris, kam zwei Jahre später
an auf Tahiti schuf. Im Grunde präg- te sie eine eigene Wirkung wegen des nach Tahiti zurück, suchte sich ein
te er das bis heute dominierende Bild Standorts entfalten, denn sie findet 15 Jahre altes Mädchen. Eine gemein-
von der Südsee, und das ist das – lan- nur wenige Schritte vom Humboldt same Tochter lebte nicht lange, ein
ge ignorierte – Problem. Sein Haupt­ Forum entfernt statt, das sich beim Sohn wurde später – so berichtete
motiv waren junge Frauen, auch Mäd- Thema Kolonialismus mehrfach bla- es der SPIEGEL in den Sechzigerjah-
chen. Meistens ließ er sie auffällig miert hat. Beim berühmtesten Expo- ren – zur Attraktion für Touristen.
passiv wirken, wie geduldig Warten- nat, dem Luf-Boot aus der Südsee, Der syphiliskranke Paul Gauguin
de in einem Freiluftharem. Im offenen wollte das Forum zuerst nicht einmal war bereits 1903 gestorben, mit 54
Haar tragen sie große Hibiskusblüten, kenntlich machen, dass es sich um ko- Jahren. Und zwar auf einer der Mar-
fürs europäische Publikum war das loniale Raubkunst ­handelt. quesas-Inseln, wohin er geflüchtet
eine leicht zu entziffernde Metapher Gauguin hielt das Europa seiner war, nachdem er sich auf Tahiti mit
für sexuelle Freizügigkeit. Zeit sogar selbst für »verfault«. Als der Kolonialregierung angelegt hatte,
Falls Gauguin-Fans fürchten, der Kind hatte er einige Jahre in Südame- weil er keine Steuern zahlen wollte.
Maler werde ein Opfer heutiger poli- rika gelebt, war später zur See ge- Trotzdem stützte er das System, in-
tischer Korrektheit – in Berlin soll er fahren, damit wusste er außerdem, dem er Klischees nicht zerstörte, son-
keineswegs nach derzeitigen morali- wie die Wirklichkeit jenseits der dern noch ausschmückte, und das
schen Maßstäben beurteilt werden, Ozeane aussah. Immer wieder sehn- übrigens auch mit seinem schwülsti-
so steht es ausdrücklich im Katalog. te er sich in die Ferne, kündigte an, gen Reiseroman »Noa Noa«, den sich
Tatsächlich reicht es, daran zu erin- »das tropische Atelier zu begründen«, die Marketingexperten der französi-
nern, wie seine Kunst einst verstan- und legte dann selbst eine koloniale schen Regierung nicht besser hätten
den wurde und was das bewirkte. In Selbstherrlichkeit an den Tag. 1887 ausdenken können.
der Ausstellung hilft dabei die Gegen- hielt er sich einige Monate auf Mar- Mit seinem für damalige Verhält-
wartskunst. In Vitrinen legt die Neu- tinique auf. Geld verdiente er als Auf- nisse aufregend freien Stil brachte er
seeländerin Angela Tiatia beispiels- seher einer Obstplantage und genoss die Kunst voran, aber auf andere Wei-
weise Plastiknippes und Postkarten- es, dass Europäer behandelt würden, se warf er sie zurück. Natürlich sind
kitsch aus, der direkt auf Gauguins »als ob sie so selten wie weiße Amseln nicht alle Bilder gleich, manche geben
Bilder zurückgeht; ein Motiv zeigt wären«. Und so beschönigend wie Auf Martinique heute noch Rätsel auf. Aber letztlich
zwei Frauen, die sich an einen Mann diese Worte sind seine Gemälde von malte er die kolonialerotischen Träu-
schmiegen. Von Tiatia stammt auch der karibischen Insel. verdiente me der Europäer aus, Tahiti als Para-
ein Film, in dem sie eine der symbol- Auch auf der Weltausstellung 1889 er Geld als dies für frühe Sextouristen.
trächtigen Blüten verschlingt. in Paris begeisterten ihn – neben Buf- Alles in allem kam diese fatale Bot-
Was man der früheren Helden­ falo Bills »Wild West Show« – beson-
Aufseher einer schaft an: Eroberungen lohnen sich.
verehrung entgegenstellt, ist also ders die Beiträge zu den französi- Obstplantage. Ulrike Knöfel n

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 123


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124 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Boris Romantschenko, 96
NACHRUFE Vier Konzentrationslager hat
Nachrichten-Magazin. Durch
die damals bei Anfängern übli­
Boris Timofejewitsch Roman­ chen unerbittlichen Redigaturen
tschenko überlebt, aber nicht der Ressortleiter gestählt, er­
den russischen Angriff auf die reichte Peter Stolle einen Grad
Ukraine. Am 12. April 2015 sprach­licher Finesse, der selbst
sprach Romantschenko auf dem im SPIEGEL selten war. Fernseh­
ehemaligen Appellplatz des themen waren zunächst seine
KZ Buchenwald das Gelöbnis Domäne. Einen Nachrichten­
der Überlebenden in russischer sprecher, der eine Reisesendung
Sprache: »Der Aufbau einer – etwas unbeholfen – moderier­
neuen Welt des Friedens und te, nannte er einen »Globetrot­
der Freiheit ist unser Ideal!« tel«. Eine Geschichte über die
Aus der nordostukrainischen ZDF-»Schwarzwaldklinik« er­
Region Sumy war er 1942 nach schien mit der Zeile »Romanze
Dortmund verschleppt worden, in Mull«. Später verlegte sich
wo er unter Tage Zwangsarbeit Stolle auf espritvolle SPIEGEL -
leisten musste. Er versuchte zu Gespräche. Er wurde aber im­
fliehen, wurde gefasst und kam mer dann wieder zum Schrei­
im Januar 1943 nach Buchen­ ben verpflichtet, wenn es etwas
wald. Weitere Stationen waren durch den Kakao zu ziehen gab.
Peenemünde, wo er an der »Die Luft rauslassen« nannte
V2-Rakete arbeiten musste, und er das. Kaum jemand konnte es
die KZ Mittelbau-Dora und eleganter. Peter Stolle starb
Bergen-Belsen. Bei seiner Be­ am 18. März in Hamburg. KRO​
freiung wog er nur 34 Kilo­
gramm. Romantschenko enga­ Siegfried Steiger, 92
Chris Usher / Apix

gierte sich für das Gedenken an Der Schmerz über den Verlust
die NS-Verbrechen, er war einer seines Sohnes ließ Siegfried
der Vizepräsidenten des Inter­ Steiger zum Pionier des deut­
nationalen Komitees Buchen­ schen Rettungswesens werden.
wald-Dora und Kommandos. Im Mai 1969 hatte ein Auto den
Madeleine Albright, 84 Zuletzt wohnte er im achten achtjährigen Björn in Winnen­
Sie nannte es »Broschendiplomatie«: Mit auffälligem Schmuck si­­ Stock eines Gebäudes in Char­ den bei Stuttgart angefahren. Es
gnalisierte sie ihrem Gegenüber stets mehr als Stil. Im Irak, wo sie kiw, das am 18. März von einem dauerte knapp eine Stunde, bis
als Schlange verhöhnt wurde, trug sie eine Schlange; für die Rus­ Geschoss getroffen wurde. der Krankenwagen kam, Björn
sen, die einen Raum im State Department verwanzt hatten, trug sie starb auf dem Weg ins Kranken­
eine Wanze; und bei einem Treffen mit Palästinenserchef Jassir haus. Damals bestimmte bei
Arafat steckte sie sich eine Wespe an, denn Wespen ­stechen, und Unfällen oft der Zufall über
»ich wollte ihm eine spitze Botschaft übermitteln«. Mit brüskem ­Leben und Tod. Bundeseinheit­
Charme vertrat die erste Frau an der Spitze des US-Außenministe­ liche Notrufnummern gab es
riums die Doktrin von einem für die Welt »unverzicht­baren« Ame­ nicht. Sanitäter hörten mitunter
rika – nur um zu merken, dass die Welt immer mehr auf die Hybris den Polizeifunk ab, um Unfall­
photo2000 / IMAGO

der USA verzichten konnte und wollte. Madeleine Albright schrieb orte in Erfahrung zu bringen.
Weltgeschichte im Jetlag. Denn nur persönliches Klinkenputzen, so Der 1929 in Sachsen geborene
ihr Glaube, könnte Kritiker umstimmen. Im Namen von US-Präsi­ Ingenieur Steiger gründete mit
dent Bill Clinton versuchte sie, weltweit Krisen zu managen, in seiner Frau Ute die »Björn Stei­
­Somalia, Ruanda, Haiti, Nordirland, Bosnien und Herzegowina ger Stiftung«. Sie war maßgeb­
­sowie im Kosovo, meistens vor Ort, doch selten mit nachhaltigem ­ eine Wohnung brannte aus.
S lich beteiligt am Ausbau eines
Erfolg, was mitunter, aber nicht immer an ihr lag. Mittendrin fand »Unsägliches Verbrechen. Netzes von Notrufsäulen und
sie ­heraus, dass sie einer jüdischen Familie entstammte, was diese Überlebte Hitler, ermordet von der Schaffung der Notrufnum­
aber verheimlicht hatte. Albright wurde in Prag geboren, als Marie Putin«, twitterte der ukrai­ mern 110 und 112. Das Ehepaar
Jana Körbelová. Aus Angst vor den Nazis flohen die Eltern nach nische Außenminister Dmytro rettete Zehntausenden Unfall­
London, konvertierten 1941 zum Katholizismus, ließen ihre drei Kuleba. Zum Gedenken an opfern das Leben. Siegfried
Kinder taufen und gingen später in die USA. 26 Angehörige starben ­Boris Romantschenko erhoben Steiger starb am 17. März in
im Holocaust, Albright erfuhr das erst nach Jahrzehnten. Dieser sich die Mitglieder des Deut­ Winnenden, wenige Wochen
Lebenslauf nährte eine Karriere, die geprägt war von historischen schen Bundestags am Dienstag nach seiner Frau Ute. BHR
Feindbildern und dem Führungsanspruch der Wahlheimat USA. zu einer Schweigeminute. FEB
Franziska Kraufmann / picture alliance / dpa

Amerikas Aufgabe sei es, »den Aufstieg des Bösen« in der Welt
zu verhindern. 1988 lernte sie Bill Clinton kennen, der sie dann Peter Stolle, 80
als Präsident zur Uno-Botschafterin machte und 1997 zur Außen­ Er gehörte zu jenen SPIEGEL -
ministerin. Damals plädierte Albright für die Erweiterung der Redakteuren, denen die Spra­
Nato durch »Kooperation« mit Ex-Ostblockstaaten – darunter die che und die Kunststücke, die
­Ukraine. Zu einem Gipfeltreffen von Clinton und Putin erschien man mit ihr anstellen kann, al­
Albright im Mai 2000 mit den drei sprichwörtlichen Affen, die les und der Respekt vor Auto­
nichts hören, sehen und sagen, als Brosche. Warum Affen, fragte ritäten wenig bedeuteten. Von
Putin sie. »Wegen Ihrer Tschetschenienpolitik«, sagte sie eiskalt. den »Lübecker Nachrichten«
Madeleine Albright starb am 23. März in Washington. PIT kam er 1969 zum Hamburger

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 125


PERSONALIEN

Die Tücken
eines Hits
Der Rockmusiker Bryan Adams,
62, war etwas enttäuscht,
als er den Kevin-Costner-Film
»Robin Hood – König der
­Diebe« (1991) sah, weil sein Song
»(Everything I Do) I Do It for
You« nur im Abspann zu hören
war. »Er kann ihnen ja nicht
­besonders gefallen haben, wenn
sie ihn ans Ende gepackt ha-
ben«, habe er zu seiner Freun-
din gesagt, erzählte er nun dem
»Guardian«. Doch die Single
wurde so erfolgreich, dass seine
damalige Plattenfirma überlegt
habe, den Verkauf zu stoppen.
Sie wollte die Aufmerksamkeit
auf das gesamte Album richten.
Am Ende verkauften sich
die Single und auch das Album
»Waking Up the Neighbours«
millionenfach. »Es ist völlig un-
möglich, einen solchen Hit zu
wiederholen«, so Adams. Aber
Druck habe deshalb nicht auf
ihm gelastet. Der Kanadier wird
im April mit seinem neuen
­Album »So Happy It Hurts« auf
Tour gehen und beantwortete
nun im »Guardian« L ­ eserfragen.
Das seltsamste Konzert habe er
in der Türkei gegeben, erinnert
er sich. In den ersten 20 Reihen

Br yan Adams / Camera Press / ddp


hätten nur Lokalpolitiker
in Abendgarderobe gesessen.
»Das war ziemlich surreal.
­Hinter ihnen war die schreiende
Menge.« Auch verriet Adams,
wie er seine Stimme fit hält:
mit Tee. LOB

Guter Stern ten wurde sie von ihrer Mutter übernehmen«. Crenn wurde
verlassen und wenige Zeit 1997 in Jakarta Chefköchin und
Die französische Starköchin ­später von einem Paar aus der gründete in San Francisco ihr
­Dominique Crenn, 56, glaubt, Bretagne adoptiert. Sie hätte eigenes Restaurant. Sie habe
dass sie der Liebe ihrer Adoptiv- es nie so weit bringen können, ihre biologische Mutter inzwi-
eltern viel verdankt. Als bislang wäre sie im Heim aufgewach- schen ausfindig gemacht, wolle
einzige Frau wurde sie in den sen, ohne Halt und wärmende deren Leben aber nicht durch
USA mit drei Michelin-Sternen Liebe, erzählt sie. Ihre Adoptiv- eine Kontaktaufnahme durch­
ausgezeichnet. Dabei schien sie eltern hätten ihre positive Le- einanderbringen. »Es kommt
Frederic Neema / laif

als Kind keine guten Voraus­ benseinstellung stets gefördert. nicht darauf an, woher man
setzungen zu haben, erzählt sie Ihrer Meinung nach ist es auch kommt«, so Crenn. »Entschei-
im Interview mit der Zeitung in der Spitzengastronomie Zeit, dend ist, was man aus seinem
»Le Monde«. Mit sechs Mona- dass »Frauen das Kommando Leben machen möchte.« PE

126 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


Nerv getroffen weibliche Besetzung funktio- Betreutes Filmen
niert.« Die Komödie handelt
Die Schauspielerin und Re­ von Frauen unterschiedlichen Hollywoodregisseur Mike Mills,
gisseurin Karoline Herfurth, 37, Alters, die mit Erwartungsdruck 56, ist überzeugt, dass ihm
musste den Start ihres und Optimierungswahn zu eine ausdauernde psychothera-

Jay L. Clendenin / Los Angeles Times / Contour RA by Getty Images


­En­semblefilms »Wunderschön« kämpfen haben. Herfurth spielt peutische Betreuung hilft,
wegen der Pandemie mehrfach neben Martina Gedeck und ein besserer Künstler zu sein.
verschieben, bis er Anfang Emilia Schüle eine der Haupt- »Es verschafft mir gedankliche
­Februar schließlich anlaufen rollen. Der Film habe ein Klarheit, mit meinem Thera-
konnte. Nun ist er mit über ­Thema, das viele Menschen be- peuten zu reden«, sagt Mills.
1,3 Millionen Zuschauern die schäftige, ist Herfurth über- Schließlich erzähle er in seinen
umsatzstärkste deutsche Pro- zeugt: »Die Fragen nach der Filmen fast immer von Dingen,
duktion, die seit dem ersten eigenen Schönheit, dem eigenen die er selbst so ähnlich erlebt
Shutdown im März 2020 ins Selbstwertgefühl treiben uns habe. Exakt sein halbes Leben
Kino gekommen ist. Sie habe alle immer wieder neu um. Der gehe er bereits zum Therapeu-
nicht »zu träumen gewagt«, dies Film trifft einen generationen- ten, mit 28 habe er angefangen.
in Pandemiezeiten zu schaffen, übergreifenden Nerv.« »Wun- »Ich kann dadurch selbst besser
so Herfurth zum SPIEGEL . »Es derschön« zeige aber auch, dass zuhören und besser beobach-
freut mich zu sehen, wie sehr es sich lohne, »das weibliche ten«, glaubt Mills. In seinem
die Menschen wieder ins Kino Publikum ernst zu nehmen und jüngsten, gerade angelaufenen
wollen und wie gut deutsches abzuholen«. Das passiere im Film »Come On, Come On« dern ein Kinomensch. Mein
Kino mit dem Fokus auf eine Kino immer noch zu selten. LOB spielt Joaquin Phoenix einen eigenes Erleben ist nur die
eigenbrötlerischen Radiojour- Saat. Damit sie aufgeht, brau-
nalisten, der ein paar Wochen che ich Beistand.« Mills hat
auf seinen neunjährigen Neffen ­bereits Filme über seinen Vater
aufpassen muss; das Kind und (»Beginners«, 2010) und seine
der Erwachsene diskutieren Mutter (»Jahrhundertfrauen«,
die großen Fragen des Lebens. 2016) gedreht. Lange habe er
Laut Mills, der seit 2009 mit der darunter gelitten, nur langsam
Künstlerin und Regiekollegin voranzukommen bei der Arbeit.
Miranda July verheiratet ist, »Irgendwann habe ich begrif-
­inspirierten ihn Gespräche mit fen, dass die Menschheit ganz
dem gemeinsamen Sohn Hoo- sicher nicht dauernd noch
per, Jahrgang 2012, zum Schrei- mehr Filme braucht. Auch nicht
Mathias Bothor / Warner Bros.

ben des Drehbuchs. Dass sein von mir.« Er habe gar keinen
Film nun viele Menschen auf Grund, über seinen Output
der ganzen Welt berühre, habe ­deprimiert zu sein. Heute sehe
damit zu tun, dass er im Dialog er das ein, »aber es war harte
mit einem Fachmann sei. »Ich Arbeit für mich und meinen
bin selbst kein Psychologe, son- Therapeuten«. HÖB

Mit Klassik zum mer« rasend schnell über ihre


Geige oder mixt »River Flows
TikTok-Star in You«, eine Komposition
Die Violinistin Esther Abrami, des südkoreanischen Pianisten
25, hat eine Marktlücke ent- Yiruma, mit Britney Spears’
deckt. Die gebürtige Französin, »Toxic« auf dem Instrument.
die am Royal College of Music Als sie zum ersten Mal eine
in London und am Birmingham Violine hielt, habe sie gewusst,
Conservatoire studierte, macht dass sie Musikerin werden
Klassik auf TikTok populär. ­wolle, erzählte Abrami in ihrem
Längst entscheidet die Video- Video-Podcast. »Ich hatte nie
plattform darüber, welche Hits einen Plan B.« Nun beweist sie,
in den Charts aufsteigen. Wird dass auch Vivaldi, Clara Schu-
das Fragment eines Songs mann und Beethoven zum vira-
in dem sozialen Netzwerk tau- len Trend taugen. Sie inszeniert
sendfach geteilt, etwa als Teil Klassik massentauglich – und
einer sogenannten Challenge, nebenbei auch sich selbst. Ob
läuft es kurze Zeit später im sie damit tatsächlich Jugend­
­Radio oder wird auf Spotify ge- liche dauerhaft für das Genre
streamt. TikTok ist für die Pop- begeistern kann, bleibt abzu-
Charlotte Ellis / Sony Music

und Hip-Hop-Industrie zum warten. Ihre Videos erzielten


Trendlabor geworden. Nun bril- jedenfalls Hunderttausende
liert Abrami auf der Plattform Klicks und erregten die
mit knalligen Interpretationen Aufmerksamkeit eines Platten­
bekannter Stücke. So treibt sie labels. In diesen Tagen
ihren Bogen zu Vivaldis »Som- erscheint ihr Debütalbum. EVH

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 127


BRIEFE Auch ich habe mich geirrt, habe
den Fehler gemacht, die Dinge
von ihrem Ursprung aus zu be-
trachten, und nicht vorausschau-
end mit den gegenwärtigen Ver-
werfungen hantiert. Uns alle
hat die Intensität der Aggression
eines außerhalb aller globalen In-
den. Aber das allgemeine unkri- sischen Rohstofflieferungen ge- teressen agierenden Landesfürs-
tische Hochjubeln von Herrn Se- macht. Immer in der – leider fal- ten mit rückwärtsgewandten ter-
lenskyj geht mir gehörig auf den schen – Hoffnung, dass der russi- ritorialen Ansprüchen sprachlos
Geist. Er verheizt sein Volk und sche Präsident die Dinge, die er gemacht. Ich lasse mich, auch in
sein Land mit Durchhalteparolen, sagt, nicht so meint. Was für ein meinem eigenen Interesse, dazu
anstatt eine Alternative zu su- unglaublicher Irrtum! herab, Herrn von Dohnanyi und
chen, die noch etwas übrig lässt Michael Kaiser, Stuttgart mir selbst zu sagen: Wir haben
von Menschen und Städten. Die das weder kommen sehen noch
unaufhörliche Forderung nach Wenn ein Friedensnobelpreis ver- gewollt. Ich werde Ihr Buch also
mehr Waffen und die Versuche, liehen wird, dann bitte an Marina dennoch lesen und, wie Sie offen-
andere Länder in den Krieg zu Owsjannikowa! Warum? Weil sie sichtlich auch, die Zeichen dieser
ziehen, finde ich ebenso unerträg- für ihren fünf Sekunden dauern- Zeit erkennen.
lich wie den an amerikanische den Fernsehauftritt, bei dem sie Ulli Stein, Erlangen (Bayern)
Heldenfilme erinnernden Titel Frieden forderte, mit mehreren
»Die Unbeugsamen«. Jahren Haft in russischen Gefäng- Zugegeben, auf den ersten Seiten
Gunther Weckherlin, München nissen rechnen muss. habe ich gedacht: Oje. Was für
Rainer Zörlein, Satteldorf (Bad.-Württ.) ein Missgeschick. Aber sein Irr-
Dass das Titelbild an ein Kino- tum über die unvorhersehbare
Dies ist kein Film! plakat für einen Blockbuster er- Je länger der Krieg dauert, desto Idiotie Putins ändert doch gar
innert, ist sicherlich gewollt. Und größer sind die menschlichen und nichts an der Richtigkeit seiner
Nr. 12/2022  Titel: Die Unbeugsamen bestimmt bin ich nicht der Ein- sachlichen Verluste für die Ukrai­ Analyse des euro-atlantischen
zige, der sich daran stößt. Aber ne. Russlands Chancen auf einen Sicherheitsproblems und an den
Das aktuelle Cover spricht mir auch wenn wir uns wünschen, Waffenstillstand zu seinen Guns- von ihm dargestellten unter-
bildlich aus der Seele. Für mich dass bald der Abspann über die ten steigen hingegen. Präsident schiedlichen Interessenlagen
sind das Helden, die ums Über- Leinwand flimmert und wir uns Selenskyj möge um seines Volkes Deutschlands, Europas und der
leben ihres Landes, um ihre Ehre von den Kinosesseln erheben willen schnell Zugeständnisse USA. Und auch die Darstellung
und ihre Freiheit kämpfen. Dan- können: Dies ist kein Film! Des- machen, um eine noch größere grundsätzlicher Fehler der USA
ke auch, dass der SPIEGEL klar sen sollte sich auch der SPIEGEL Katastrophe zu verhindern. Ver- in ihrer Russlandpolitik nach
und kritisch über Putins Politik bei der Gestaltung des Titelbildes träge, die unter Bombenhagel 1990 bleibt unabhängig von der
berichtet. Es gibt zu viele »Putin- bewusst sein. geschlossen wurden, haben eine Kriminalität Putins richtig.
Versteher« – auch in unserer Ge- Christian Bartels, Gnadau (Sachs.-Anh.) Bedeutung wie Geständnisse Dr. Klaus Dreessen, Schlangenbad
sellschaft –, die selbst für Krieg, unter Folter. Niemand wird ihm (Hessen)
Unterdrückung und Vertreibung Der zu Beginn seiner Amtszeit und den Ukrainern Unredlich­
von Millionen Kindern und Frau- von vielen unterschätzte Wolo- keit oder gar Betrug vorwerfen, Sie schreiben »Seine ganze Familie
en aus ihrer Heimat noch einen dymyr Selenskyj hat sich für sein wenn sie diese Verträge später ist bekannt: Sein Vater Hans war
Rechtfertigungsgrund finden. Das Land in Kenntnis seiner Verant- ignorieren. auch im NS-Widerstand«. Hans
ist erbärmlich! wortung mächtig ins Zeug gelegt. Prof. Dr. Alfred Wirth, Melle (Nieders.) von Dohnanyi ist am 9. April 1945
Marc Straube, Potsdam Er zeigt Heldenmut und vermit- im KZ Sachsenhausen von den Na-
telt seinen Landsleuten Zuver- zis ermordet worden. Er hat seinen
Ohne den Respekt gegenüber den sicht, auch einem übermächtigen Weder gesehen noch Widerstand gegen das Naziregime
ukrainischen Widerständlern zu Gegner Paroli bieten zu können. mit seinem Leben bezahlt – dem
mindern, hat mich dennoch Ihr Er macht sich zum Grundsatz: gewollt wird Ihre Formulierung nach mei-
Titelbild unangenehm berührt. Wer kämpft, kann verlieren, wer Nr. 11/2022  Wie Klaus von Dohnanyi nem Empfinden nicht gerecht.
Ihre martialische, heroische Dar- nicht kämpft, hat schon verloren. sich in Putin getäuscht hat Stefan Endter, Hamburg
stellung in Hollywood-Rambo- Und Selenskyj kämpft! Ein be-
Manier verleiht den furchtbaren wundernswerter Zeitgenosse – Herr von Dohnanyi hat sich ge-
kriegerischen Handlungen, dem angstfrei und vorbildhaft. irrt. Er gibt diesen Irrtum zu, und Augstein würde sich
Sterben und Leiden vieler Men- Horst Winkler, Herne das ist ehrenvoll. Wir haben uns
schen einen verherrlichenden, allerdings alle geirrt. Niemand bedanken
kriegspielerischen Aspekt und Es stellt sich die Frage, warum hat geglaubt, dass Putin einen Nr. 11/2022  Kolumne Die da unten:
bringt meines Erachtens die alle deutschen Regierungen und brutalen Vernichtungskrieg be- Waren wir naiv?
Schrecken auf ein geschmacklo- »der Westen«, wer immer das ginnt, weil das unvorstellbar war.
ses Boulevardniveau. auch sein mag, nicht spätestens Am meisten geirrt aber hat sich In der Sondersitzung zum russi-
Werner Wulf, Hamburg im Jahr 2014 nach der Annexion Putin, weil er nicht gewinnen schen Überfall auf die Ukraine
der Krim gemerkt haben, wohin kann. Er kann nur die Ukraine in warf AfD-Fraktionsvorsitzende
Putin sollte schon lange als Kriegs­ sich Russland unter Putin bewegt. eine Mondlandschaft verwan- Alice Weidel der Regierung vor,
verbrecher angeklagt werden. Man hat die Ukraine viel zu lan- deln. Sollte er erkennen, dass er sich statt mit realen Problemen
Und der Ukraine muss mit allen ge allein gelassen und sich gleich- keinen Ausweg hat, wird er mit »Gender-Gaga« und ideologi-
Mitteln, die nicht zu noch mehr zeitig über viele Jahre hinweg Atomwaffen einsetzen. schen Experimenten beschäftigt
Eskalation führen, geholfen wer- zunehmend abhängiger von rus- Rainer Kollewe, Laer (NRW) zu haben. Dass der SPIEGEL in

128 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


fällen, zeitweise offenbar mit Ver-
Ich auf jeden Fall Das möchte ich im Wäre es angesichts packung gehäckselten Kantinen-
würde mein Alter mit SPIEGEL nicht lesen – der Krisen und Nöte essen oder Tierexkrementen kom-
all seinen Einschrän­ Abenteuerberichte dieser Welt nicht men per Lkw laut Kennzeichen
auch aus Cloppenburg, Vechta,
kungen viel ent­ von alten weißen langsam an der Zeit, teils von noch weiter her und meist
spannter annehmen, Männern; von einem, diesen ganzen Blöd­ nachts. Werden also eher Hunder-
wenn ich wüsste: Ich der, um der Lange­ sinn abzuschaffen? te Kilometer rangekarrt und nicht
kann mich jederzeit weile zu Hause zu Da jetten höchst­ von rund um den Kirchturm. Nach
intensivem Betrieb der letzten
würdevoll im Kreise entfliehen, trotz bezahlte Fahrer und 15 Jahre ist das Oberflächen­
meiner Familie von Warnung durch ein Teams ständig um die grundwasser dort in der Gegend
ihr und dem Leben Kampfgebiet fährt Welt und blasen (so Messungen des Wasserbeschaf-
fungsverbandes) derart belastet,
verabschieden. und dann mitleidlos Kerosin und Benzin in dass man das Gemüse im Garten
Name und Wohnort der zur Kenntnis nimmt, die Luft, um überall nicht damit gießen sollte. Wenn
Redaktion bekannt
wie seinem mali­ ein paar Runden im die Gärreste dann ausgebracht
schen Begleiter ins Kreis zu fahren. Das werden, stinkt es über Wochen im-
mer wieder erbärmlich, die Stra-
Bein geschossen und ist wirklich nicht ßenränder werden durch Kolon-
ein Ohr abgeschnitten mehr zeitgemäß. nen von breiten Schwersttraktoren
wird. Und der heute Ralf Fäckenstedt, Berlin (mit Ausnahmegenehmigung) ka-
putt gefahren. Ganz sicher würden
zu dem Schluss viele Bürger wünschen, dass diese
kommt: »Ich bereue Importgülle-Unternehmer lieber
es nicht, es war ein Schafe züchten.
Nr. 11/2022  First Lady Elke
Büdenbender und Transplanta- Abenteuer.« Michael von Klodt, Karft (Meckl.-Vorp.)

tionsmediziner Eckhard Nagel Silke Jaruszewski, Wuppertal


im SPIEGEL-Gespräch über Die Gülle aus den Massentierhal-
ein richtiges Leben und einen Nr. 11/2022  Familienalbum – Nr. 11/2022  Neue Regeln für tungen wird nach wie vor in ge-
guten Tod »Todespiste, 1991« mehr Spannung in der Formel 1 sundheitsgefährdendem Ausmaß
(Nitrit im Grundwasser, multire-
sistente Keime) als »Dünger« auf
einer missratenen Glosse nun in hausener Lokalpolitik hinabzu- Ökologisch die Felder ausgebracht, während
eine ähnliche Kerbe haut und den stoßen: Es ist Ihrer Aufmerksam- für die Entsorgung geeignete Bio-
Münchner Bürgerausschuss Au- keit anscheinend entgangen, dass kontraproduktiv gasanlagen vorwiegend mit Mais
Haidhausen für seine Anregung, der Antrag auf die Umbenen- Nr. 11/2022  Die Politik hat versäumt, gefüttert werden. Maisfelder, die
Einladungen künftig in moderner nung der Bürgerversammlung in eine nachhaltige Strategie für Biogas zu nicht nur der Nahrungsmittelpro-
Sprache zu formulieren, nicht nur Bürger*innenversammlung am entwickeln duktion entzogen werden, son-
kritisiert, sondern diesen Vorstoß 16. Februar 2022 im Bezirksaus- dern auch durch Pestizide und
angesichts der Weltkrisen seine schuss gestellt wurde. Das heißt: Warum werden bei den erneuer- Pflanzenschutzmittel ökologisch
Berechtigung wie seine Bedeutung nicht in der Zeit eines Krieges in baren Energien eigentlich immer absolut kontraproduktiv sind.
abspricht, ist – mit Verlaub – kom- Europa. Natürlich gibt es auch die Biogasanlagen vergessen? Paul Korf, Hamburg
plett daneben. Weil das Thema Amtsschimmel und alberne An- Könnten sie doch bis zu 30 Pro-
nicht verfängt, tut es auch die träge, aber hüten Sie sich, demo- zent des Bedarfs ersetzen. Und: Würden alle deutschen Agrarflä-
Schlusspointe nicht. Wo Herr kratische Strukturen ins Lächer- Übrig bleibt eine Menge guter chen, die für die Biogasproduk-
­Putin landen wird, wissen wir liche zu ziehen, nur weil Ihnen Humuserde, die den immer teurer tion genutzt werden, mit Freiflä-
nicht. Aber sicher nicht am selben ein bestimmter Antrag komisch werdenden Kunstdünger ersetzen chenfotovoltaik versehen, so
Ort wie das Gendersternchen. vorkommt. Dass Ihnen ausge- kann. Im Moment kippen viele würde das ein Drittel des gesam-
Karin Unkrig, München rechnet die gendergerechte Spra- Bauern auch mit Stroh versetzte ten deutschen Energiebedarfs de-
che komisch vorkommt, ist mei- Gülle auf die Felder, weil Kali cken. Der Energieimport könnte
An Formulierungen wie »in der ner Ansicht nach nicht besonders derzeit nicht lieferbar ist. Noch halbiert werden. Mit Solarpanee-
Hölle wäre er gut aufgehoben« originell, über dieses Thema sind ein Vorteil: Der Boden wird nicht len wird pro Hektar 40-mal so
muss man sich im führenden doch weiß Gott genug Argumen- mehr überdüngt, was ja in vielen viel Energie erzeugt wie mit Mais
deutschen Nachrichten-Magazin te ausgetauscht worden. Gebieten Deutschlands das oder Ähnlichem für die Biogas-
erst gewöhnen. Jammerschade. Kathrin Taube, München Grundwasser versaut und zu produktion. Dieser Maisanbau
Außerdem ist das eine eindeutige Strafzahlungen an die EU führt. benötigt viele Agrar- und EG-
Befürwortung katholischer Glau- Dass die Truppe in Moskau sich Joachim Kussin, Bremerhaven Subventionen, beeinträchtigt Ar-
benspositionen. Im Impressum nicht darum schert, ob wir gen- ten, Boden und Grundwasser,
des SPIEGEL steht Rudolf Aug- dern oder ob hier jemand »für Liest sich gut, scheint plausibel. In erhöht die Trinkwassergebühren
stein nach wie vor in der ersten Gleichberechtigung betet«, dürf- der Realität läuft es aber anders. und verdrängt Biolandbau. Nur
Zeile als Herausgeber. Der würde te jedem, der sich im Hier und Aus Mecklenburg ist mir ein Fall manche Landwirte loben Biogas.
sich bedanken. Jetzt der Realpolitik aufhält, klar bekannt, wo ein undurchsichtiges Wolfgang Maucksch, Herrieden (Bayern)
Rainer George, Schwalmstadt (Hessen) sein – auch dass es bei Weitem Konsortium von ehemals nieder-
nicht sicher ist, ob Putin irgend- sächsischen Güllebaronen die Bio-
Wie auch immer Sie es geschafft wann vor irgendeinem Gericht gasanlage schon lange für Stinken- Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
haben, in die »Niederungen« der sitzen wird. Wer also ist naiv? des von überallher geöffnet hat. Die gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
Münchner, ja sogar der Au-Haid- Rolf Lorenz, Stuttgart vielen Ladungen von Schlachtab- unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 13 / 26.3.2022 DER SPIEGEL 129


Einfach
HOHLSPIEGEL R Ü C KS P I E G E L

Zitate

m eh r Die »Welt« greift einen SPIEGEL-Bericht


über Verteidigungsministerin Christine

wissen
Lambrecht (SPD) auf (»Lambrechts
Truppenversprecher«, SPIEGEL.de am
21. März):

Zunächst sorgte die Meldung für Aufsehen,


dass Lambrecht bis zu 5000 deutsche Sol-
Von NRZ.de daten bereitstellen wollte. Wie der SPIEGEL
berichtet, wusste niemand in ihrem Ministe-
rium von solchen Plänen. Tatsächlich musste
Hinweis auf der Website des Bistums
Augsburg zur Nutzung der dortigen
Jetzt eine Formulierung von Lambrecht daraufhin
wieder eingefangen werden. Deutschland will
Diözesan- und Pastoralbibliothek:
»Beim Betreten der Bibliothek tragen Sie
am lediglich einen Gefechtsverband für die so-
genannte EU-Battlegroup stellen. Dabei han-
bitte ausschließlich eine FFP-2-Maske.«
Kiosk dele es sich um zwischen 1500 und 2000 Sol-
daten plus Gerät. Lambrecht hatte in ihrer
Ankündigung allerdings insinuiert, die gesam-
te Truppe zu stellen.

Die »Süddeutsche« erwähnt SPIEGEL -


Recherchen zur Uno-Landwirtschafts-
und Ernährungsorganisation FAO (»Hält
China einen brisanten Uno-Bericht unter
Verschluss?«, SPIEGEL .de am 9. März):

Dass Peking bereit ist, den Einfluss in der Or-


Aus der »Braunschweiger Zeitung« ganisation zu nutzen, zeigte Anfang März
eine Recherche des SPIEGEL . Demnach ver-
hinderte FAO-Chef Qu eine Veröffentlichung
Von der Website der »Hannoverschen Allge- eines UN-Dokuments, das vor der drohenden
meinen«: »Wie kann Deutschland seine Ener- Ernährungskrise warnte. Der Grund: Peking
gieversorgung angesichts des Krieges gegen soll kein Interesse gehabt haben, Panik auf
die Ukraine sichern? Für Niedersachsens Um- dem Getreidemarkt zu schüren. Denn dann
weltminister Olaf Lies ist der längere Betrieb hätte auch China höhere Preise zahlen müs-
von Kohlkraftwerken eine Möglichkeit.« sen. Die Presseabteilung der FAO wollte auf
SZ-Anfrage keine Stellung nehmen.

Die »Berliner Zeitung« über Reaktionen


auf eine Protestaktion der dazu vom
SPIEGEL interviewten russischen TV-
Journalistin Marina Owsjannikowa
(»Natürlich habe ich Angst«, Nr. 12/2022):
Anzeige der Firma Plantura auf Instagram
In der ganzen Welt wird die TV-Journalistin
Marina Owsjannikowa von vielen als Heldin
Aus der »Siegener Zeitung«: »Nicht nur gefeiert, am Montag trat sie während der
die Verohrung der Gesellschaft, sondern Hauptnachrichten vor die Kamera und hielt
auch das Thema Kriminalität treibt die ein Schild hoch, auf dem sie sich kritisch zum
Menschen um.« Das Krieg äußerte. Der SPIEGEL bekam ein Inter-
view, in dem sie sagte: »Ich bin jetzt der Feind
Nachrichten- Nummer eins hier«. Und auch: »Der Protest
war allein meine Idee.« Was im Laufe der Wo-
Magazin che deutlich wurde: Sie ist auch Spielball in der
russischen Propaganda-Maschine. So wurde
für Kinder auf Twitter daran gezweifelt, ob ihr Auftritt
nicht vielleicht doch inszeniert sei. Denn Russ-
Schild an einem Teich in Bad Bramstedt land könne so zeigen, dass es offen für Kritik
(Schl.-Holst.) sei und es sehr wohl Meinungsfreiheit zulasse.
Schließlich sei das Schild, das sie in die Höhe
hielt, zum Teil auf Englisch beschrieben gewe-
Aus einer Broschüre der katholischen sen: No War. Dann kamen einige Fake-Twitter-
Kirche in Oberursel und Steinbach: Accounts mit ihrem Namen hinzu, die rätsel-
»Einschulung und auch der Beginn eines Mehr erfahren: hafte Dinge posteten. Irgendwann wusste man
neuen Schuhjahres sind für Familien selbst als deutscher Zeitungsleser nicht mehr,
eine finanzielle Herausforderung.« www.deinspiegel.de was jetzt echt war und was die Fake-Russin.

130 DER SPIEGEL Nr. 13 / 26.3.2022


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¹ Stromverbrauch und Reichweite wurden auf Grundlage der VO 2017/1151/EU ermittelt.
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