BeNeLux €  7,50 Finnland €  9,50 Griechenland €  7,90 Kroatien € 9,10 / KN 68,56 Österreich €  7,10 Schweiz sfr  9,40 Slowenien

Schweiz sfr  9,40 Slowenien €  7,50 Spanien / Kanaren €  8,00 Ungarn Ft 3790,-
Dänemark dkr 69,95 Frankreich €  7,70 Italien €  8,20 Norwegen NOK  125,– Portugal (cont) €  7,50 Slowakei €  7,70 Spanien €  7,70 Tschechien Kc 229,- Printed in Germany

KLIMASCHUTZ

den Wutbürgern
Die Angst der Politik vor
Das Märchen
vom Super-Spion
PUTIN IN DEUTSCHLAND

Vitaminkapseln, Fischöl & Co.

Teuer, nutzlos – und oft gefährlich
von Kindern
BABYMACHER
Ein Mann zeugte Hunderte
DEUTSCHLAND
Nr. 23 | 3.6.2023
€ 6,40
 Bester Geschmack --
jetzt auch mit
HAUSMITTEILUNG weniger Zucker*
In eigener Sache
Der SPIEGEL hat einen neuen Chefredakteur. Dirk Kurbjuweit, 60,
arbeitet seit 1999 in der Redaktion, lange als Reporter und politischer
Autor. Er war Leiter des Hauptstadtbüros und von 2015 bis 2018 stell-
vertretender Chefredakteur. Kurbjuweit schrieb zwei Bücher über die
CDU-Politikerin Angela Merkel sowie mehrere Romane. »Das Ver-
trauen der Leserinnen und Leser unserer Website und unserer Hefte ist
das wichtigste Kapital, das wir haben. Wir wollen, dass sie schnell und
umfassend informiert sind, und wir wollen, dass sie tiefer blicken
Ole Witt

können. Wir klären auf, wir kritisieren, und wir bleiben ein Schutzschild
der liberalen Demokratie.«

Norwegen | Seite 72

Am nächsten kommt man der Nato-Grenze zu Russland

mit dem Luftkissenboot, auf dem Pasvikelva. In der Mit-
te des Flusses verläuft die Trennlinie zum norwegischen
Staatsgebiet. SPIEGEL -Reporter Walter Mayr (l.) war im
Grenzgebiet mit Frode Berg unterwegs, der wegen Spio-
nage knapp zwei Jahre Haft in Moskau verbüßt hatte.
Wie etliche seiner Landsleute befürchtet auch Berg, dass

DER SPIEGEL
der Kreml vor allem im Norden Skandinaviens künftig
verstärkt Mittel moderner hybrider Kriegsführung ein-
setzt. Mayr bekam bei seiner Recherche zwischen dem
arktischen Polarmeer und der Hauptstadt Oslo immer wieder denselben Satz zu hören: »Der Kalte
Krieg ist wieder da.«

Samenspender | Seite 46

»Ich bin Jonathan Jacob Meijer, ein 33-jähriger blonder

Mann aus Den Haag … Mein Sperma ist von hohe
kwalitat« – mit einem Onlineprofil wie diesem fing es oft
an: Mehr als 15 Jahre lang spendete der YouTuber und
Daniel Chatard / DER SPIEGEL

Musiker Meijer exzessiv sein Sperma an Frauen mit

Kinderwunsch. Bis zu 1000 Kinder hat er offenbar welt-
weit gezeugt. Sie leben in den Niederlanden, Italien,
Australien und Deutschland. SPIEGEL -Reporterin
Dialika Neufeld (l.) folgte Meijers Spuren und besuchte
Mütter und deren Kinder, unter anderem Natalie
Dijkdrenth aus der Nähe von Rotterdam. Sie und viele
andere Eltern haben sich zusammengetan, um Meijer zu stoppen. »Es macht mich krank zu
wissen, dass er weiter Kinder produziert«, sagt sie. Sie fürchte das Inzestrisiko und die psycholo-
gischen Folgen für ihren Sohn und frage sich: Warum macht jemand so was? Ist es Narzissmus?
Ein Helfersyndrom? »Meijer wäre ein spannender Fall für die Psychologie«, sagt Neufeld.

Elliot Page | Seite 104 Weniger Zucker heißt nicht, 

auf Genuss zu verzichten –
Eine halbe Stunde lang irrten Elisa von Hof und Enrico im Gegenteil: Mit Mövenpick Weniger Zucker
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

Ippolito durch das Luxushotel in Los Angeles, wo sie genießt du besten Geschmack
mit dem Schauspieler Elliot Page verabredet waren. mit 39 % weniger Zucker.
Die beiden SPIEGEL -Leute wurden von einer Suite mit
Terrasse zu einem Zimmer im siebten Stock geschickt –
und wieder zurück. Dort empfing der 36-Jährige sie
DER SPIEGEL

völlig entspannt zu einem Gespräch über sein Leben, im

Hintergrund das Verkehrsrauschen des Sunset Boule-
vard. Page hatte 2014 sein queeres Coming-out, vor zwei
Jahren war er als erster trans Mann auf dem Cover des »Time«-Magazins zu sehen. Hof und
Ippolito waren verblüfft, dass Page ganz offen darüber redete, wie repressiv Hollywood seine
Stars in Geschlechterrollen zwingt.

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 3

* 39 % weniger Zucker im Vergleich zu Konfitüre mit einem
Gesamtzuckergehalt von 54 g / 100 g.
INHALT TITEL

92 | Gesundheit Nahrungs-
ergänzungsmittel sind teuer,
nutzlos – und teilweise gefährlich
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 23 | 3.6.2023

95 | Supplementmarkt Die
Branche erzielt Traummargen

97 | Selbstversuch Können
Haaranalysen Nährstoffdefizite
aufdecken?

98 | Hobbyathleten Ernäh-
rungsexperte Martin Smollich
über den Einfluss von Protein-
drinks beim Muskelaufbau

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Die Zeit,

in der Rockstars Groupies aus-

Laurence Mouton / PhotoAlto / Getty Images

nutzen, sollte vorbei sein

8 | Union und SPD streiten über

Untersuchungsausschuss / Ab-
schiebungen aus Deutschland
stagnieren / Die Gegendarstellung

12 | Geheimnisverrat Haben
Ex-Bundeswehrpiloten ihr
Wissen an China verkauft?

16 | Parteien Der Abgeordnete

Nutzlose Mittelchen Andreas Jung will der CDU
mehr Klimaschutz nahebringen

TITEL Pflanzenextrakte, Vitamintabletten, Fischölkapseln – die Drogerieregale mit 18 | Ideen Philosoph Michael
Nahrungsergänzungsmitteln sind meterlang. Hürden bei der Zulassung gibt es kaum, Sandel fordert im SPIEGEL -Ge-
spräch einen neuen Kapitalismus
die Produktion ist spottbillig, für die Hersteller sind die Pillen ein Milliardengeschäft.
Doch meistens nützen sie nichts, manchmal machen sie krank. | 92, 95, 97, 98 22 | Geheimdienste Die
Mythen über Wladimir Putins
KGB-Zeit in Dresden

27 | Spritzmittel Agrar-
konzerne hielten Studien über
Risiken ihrer Wirkstoffe zurück

28 | Kriminalität Tricksereien
mit Aufenthaltserlaubnissen

30 | Bundestag Der Petitions-

ausschuss bearbeitet jährlich Tau-
Rober t Brembeck / DER SPIEGEL

sende Bitten und Beschwerden

34 | Gesundheit Die Kranken-

Hannes Jung / laif

hausreform verläuft stockend

Catherine Opie

36 | Bildungspolitik Warum
jeder fünfte Viertklässler nicht
richtig schreiben und rechnen kann
Elliot Page Matthias Reim Steffi Lemke
Der trans Schauspieler spricht Er lebte im Luxus, dann ging Die grüne Umweltministerin 40 | Ökologie Ministerin Steffi
über sein neues Körpergefühl er pleite. Heute ist der Musiker über polnisches Versagen beim Lemke über die zähe Aufarbeitung
und Hollywoods Zwänge. | 104 schuldenfrei und klüger. | 66 Fischsterben in der Oder | 40 des Oder-Fischsterbens

4 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.

41 | Umwelt Wiederholt sich
jetzt das Giftdrama an der Oder?
42 | Esoterik Die Popularität
moderner Hexen im Netz
REPORTER
44 | Familienalbum / Kann man
Hornissen lieben?
45 | Eine Meldung und ihre
Geschichte Warum ein franzö­
sischer Lehrer vor seiner Schule
Abiturarbeiten verbrannte
46 | Biografien Ein Samenspen­
der zeugte Hunderte Kinder –
nun wollen ihn Mütter stoppen
52 | Ortstermin Wie ein tür­
kischstämmiger Regisseur gegen
das Vergessen des Brand­
anschlags von Solingen kämpft
WIRTSCHAF T
54 | Wird Bild-TV eingestellt? /
Aldi Süd korrigiert Ernährungs-
empfehlungen
Collagen: Julius Maxim / [M] Julius Maxim / DER SPIEGEL; ver wendete Fotos: Wang Ye / picture alliance; ZUMA Press / IMAGO; Andreas Rentz / Getty Images
56 | Umwelt Bremst der Wider­
stand in Europa die Klimawende
aus?
59 | Energieversorgung Ein
Russlandfreund kontrolliert den
italienischen Konzern Enel
60 | Konsum Fragwürdige
Glücksspiele mit Rolex und Co.
62 | TV-Konzerne Der neue
CNN­Chef Chris Licht soll den
Sender wieder fit machen
65 | Finanzmärkte Ein ge­
rupfter Wirecard­Kleinanleger
klagt gegen seine Depotbank
66 | Geld Schlagerstar
Matthias Reim im SPIEGEL ­
Gespräch über seine Pleite
und miese Geldanlagen
AUSLAND
70 | Der Westen sollte sich mit
Wahlsieger Erdoğan arrangieren /
Neue Welle der Gewalt in Serbien
72 | Norwegen Russland nimmt
in arktischen Gewässern west­
liche Infrastruktur ins Visier
Titel­Illustration: Hedi Xandt für den SPIEGEL
[M] Julius Maxim / DER SPIEGEL; Ver wendete Fotos: Wang Ye / picture
76 | Einwurf Wie gefährlich
sind die Angriffe der Ukrainer
alliance; ZUMA Press / IMAGO; Andreas Rentz / Getty Images
auf russischem Territorium?
78 | USA Dutzende US­Ameri­
kaner werden in ausländischen
Gefängnissen als Geiseln gehalten
81 | Polen Die Regierungspartei
attackiert die Demokratie
82 | Indien Kaschmir soll wieder
Touristen anziehen
SPORT
Geheimnisverrat über den Wolken?
85 | Geschwindigkeitsrekorde
Ehemalige Kampfpiloten der Bundeswehr bilden in China Militär­
auf dem Wasser / Warum
flieger aus und bringen ihnen womöglich auch geheime Einsatz­
schwankt die BVB-Aktie so stark?
taktiken bei. Deutsche Sicherheitsbehörden sind alarmiert. | 12
86 | Fußball Klublegende,
Retter, Hoffnungsträger: Xavi
und der FC Barcelona
89 | Titanendämmerung Eine
Liebeserklärung an Oliver Kahn
WISSEN
90 | Gedächtnisverlust durch
Lockdowns / Analyse: Warum
Russian Archives / IMAGO
der Elektroauto-Boom die Köpfe
der Deutschen nicht erreicht
100 | Raumfahrt Wie die Nasa
das »Hubble«­Teleskop retten will
101 | Orientierungssinn Navi­ Superagent Putin?
gationsgeräte lassen unser Gehirn
Von 1985 bis 1990 schob Russlands heutiger Präsident Dienst in
einrosten
der Dresdner Außenstelle des sowjetischen KGB. Über seine Geheim­
dienstarbeit dort kursieren abenteuerliche Geschichten. | 22
KULTUR
102 | Der neue Roman von An-
drew Sean Greer / Die Wiederent-
deckung des Films »Touki Bouki«
104 | Lebenswege SPIEGEL ­
Gespräch mit Schauspieler Elliot
Page über seine Coming­outs
108 | Streaming Die Serie
Nikita Ter yoshin / DER SPIEGEL
»1923« erfindet den Western neu
110 | Kulturgüter Wie sich deut­
sche Museen während der Kolo­
nialzeit in Kamerun bereicherten
115 | Filmkritik Das gelungene
Geschwisterdrama »The Adults«
Liebesmagie und Abnehmzauber
SPIEGEL­TV­Programm | 61 Bestseller | 113 Berufshexen wie die Berlinerin Shisha Rainbow bieten ihre
Impressum, Leserservice | 116
Nachrufe | 117 Personalien | 118
mystischen Dienste im Internet an. Vor allem junge Menschen
Briefe | 120 Letzte Seite | 122 folgen ihnen. Ein gefährlicher Trend? | 42
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 5
Bad Guys und Groupies
LEITARTIKEL Gegen das Umfeld der Band Rammstein werden Vorwürfe von Übergriffen erhoben. Doch viel
gravierender ist das abstoßende System von Machtmissbrauch und Unterwerfung in der Musikszene.
Skynesher / Getty Images
Weibliche Fans bei ielleicht ist eine Autorin, deren Erfahrung mit Rock-
Konzertbesuch
V konzerten sich beschränkt auf Knaller wie Bon Jovi
im Müngersdorfer Stadion im Jahr 1996, nicht die
Richtige für dieses Thema. Aber vielleicht braucht es auch
den Blick aus einer behüteten, bürgerlichen Existenz, um
die Frage aufzuwerfen, warum zum Teufel im Jahr 2023
noch immer so viele Stars ihre weiblichen Fans so mies
behandeln. Warum die Frauen einen Umgang erdulden,
wie er jetzt im Fall der Band Rammstein berichtet wurde.
Und was das über uns alle aussagt.
Es gibt strafrechtlich relevante Vorwürfe gegen das
Umfeld einer der erfolgreichsten deutschen Bands, deren
Alben in zweistelliger Millionenzahl verkauft wurden und
die weltweit Stadien füllt. Diese Vorwürfe sind bislang
nicht bewiesen, vielleicht kommt es nie zum Prozess.
Die schwerwiegendsten Vorwürfe bisher: Weibliche
Rammstein-Fans sollen auf Partys rund um die Konzerte
heimlich unter Drogen gesetzt worden sein. Manche sol-
len in diesem Zustand sexuell bedrängt worden sein. Die
Band bestreitet alles vehement.
Vielleicht sind die möglichen Übergriffe auch nicht
das größte Problem. Viel gravierender sind die nicht
justiziablen Umstände, die Übergriffe erleichtern oder
Es ist nicht ermöglichen. Die von den Frauen geschilderten Taten
cool oder sind letztlich eine Eskalation der herrschenden Zustände
im Superstar-Kosmos. Und die sind weder neu noch
ruhmreich, von überraschend, sie werden bloß grell ausgeleuchtet. Offen-
jungen Frauen bar gab es auf Rammstein-Touren einen organisierten
Fleischmarkt. Frauen sollen von einer speziell dafür ein-
ständige gesetzten Dame nach Aussehen und »Fuckability« ge-
sexuelle castet worden sein, um dem Rammstein-Star Till Linde-
mann zugeführt zu werden, zum Kennenlernen, Feiern
Verfügbarkeit oder eben für Sex. Das dürfte keine Rammstein-Eigenheit
zu erwarten. sein, sondern vielfach geübte Praxis, die auch nicht
6 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
verboten ist. Abstoßend wären solche Zustände natürlich
trotzdem.
#MeToo prallt auf das Phänomen der Groupies, jetzt
wird es interessant. Das Groupie-Wesen ist nicht nur viel
älter als die seit 1994 musizierenden Rammsteins, es geht
auch nicht um berufliche Abhängigkeit. Hier nutzt kein
Regisseur oder Vorgesetzter die Hoffnungen einer ehr-
geizigen Jungschauspielerin oder Nachwuchsreporterin
aus. Nein, diese Welt lebt oft vom Star als Bad Guy und
den Fans, die sich gerade deshalb an ihn ranschmeißen.
Sind Groupies nicht auch Kult, die notwendige Kulis-
se der Musikszene? Die kreischenden Girls, die Stars in
ihre Hotels verfolgen und Selbstbestätigung ziehen aus
einem Zwinkern oder Lächeln von der Bühne hinab, die
von einem Kuss oder einer heißen Nacht träumen – kann
es in so einer Szene überhaupt #MeToo geben?
Ja, kann es. Niemand sollte die Augen davor verschlie-
ßen, dass dieser Fleischmarkt auf Missbrauch und Aus-
nutzung geradezu angelegt ist. Dass, wer sich als junge
Frau auf diesen Markt begibt, vielleicht nicht mehr so
leicht herauskommt oder sich nicht heraustraut. Dieses
System hat die zentrale Zutat aller #MeToo-Fälle: ein
krasses Machtgefälle. Auf der einen Seite globale Mega-
stars mit ihren Apparaten, ihrem Ruhm, ihrer Fangemein-
de. Auf der anderen Seite unbekannte Frauen und Mäd-
chen wie Shelby Lynn aus Irland, die sich in der Hoffnung
auf eine Begegnung mit ihren Rammstein-Helden in ihren
schärfsten Fummel schmeißt, aber noch lange keinen Sex
mit ihnen will. Die – so jedenfalls ihre Schilderung – eine
Nacht erlebte, in der sie sich von wem auch immer be-
drängt fühlte, in der sie den Ärger eines ihrer Stars er-
lebte, weil sie sich ihm verweigerte. Und aus der sie mit
blauen Flecken und Erinnerungslücken erwachte.
Das Traurige ist: Diese Zustände lassen sich nicht mit
schärferen Regeln beseitigen. Strukturen, die Machtmiss-
brauch befördern, müssen von den Mächtigen beseitigt wer-
den, die sie geschaffen haben – idealerweise weil diese Leu-
te erkennen, dass es nicht cool oder ruhmreich ist, von jungen
Frauen ständige sexuelle Verfügbarkeit zu erwarten. Oder
notfalls unter Zwang, wenn die Fans nicht mehr mitspielen
oder das Groupie-Wesen nicht mehr glorifiziert und ver-
harmlost wird. Aber dafür dürfte dieser Fall kaum reichen.
Vielleicht ist der erste Schritt die Erkenntnis, dass Werk
und Künstler oftmals nicht getrennt sind, sondern eine
Einheit bilden. Dass ein Sänger, der Gedichte darüber
schreibt, wie man Frauen mit Rohypnol lahmlegt, dies
auch in der Realität praktizieren könnte. Oder dass Rap-
per, die den gewaltsamen Arschfick besingen (dass man
solche Worte mal im Job verwenden würde …), diese
Fantasie auch rücksichtslos ausleben könnten. Schließlich
leben solche Stars davon, in ihrer Härte authentisch zu
sein. Hier brauchte es mehr Aufmerksamkeit, ein Um-
denken, ein Aufrütteln der Jungen und Naiven. Aber wie
nur? Vorschläge sind willkommen.
Melanie Amann n
DEUTSCHLAND

Sören Stache / dpa

Hier wird den dröhnenden Motoren der Kampf angesagt: Stephan Rodriguez installiert im Auftrag der Firma Viginoiz auf dem Mittelstreifen des
Kurfürstendamms in Berlin einen sogenannten Lärmblitzer. Das aus Frankreich ausgeliehene Gerät ist das erste seiner Art im Bundesgebiet
und soll für acht Wochen im Straßenverkehr der Hauptstadt erprobt werden. Hintergrund ist ein Forschungsprojekt der TU Berlin, in dem untersucht
wird, ob bestimmte Autos mit hohem Lärmpegel womöglich illegal sind. Der Blitzer identifiziert mit vier Mikrofonen und einer 180-Grad-Kamera
besonders laute Fahrzeuge. Halterdaten oder Gesichter werden bei den Tests in Berlin nicht erfasst, auch eine Ahndung erfolgt somit nicht.

Union will in Karlsruhe klagen

BUNDESTAG Die Auseinandersetzung um den Cum-ex-Ausschuss könnte beim Bundesverfassungsgericht landen.

I m Streit um den von der Union geplanten Cum-ex-Unter-

suchungsausschuss im Bundestag spitzt sich die Auseinander-
setzung zu. CDU und CSU wollen vor allem die Rolle von
SPD-Kanzler Olaf Scholz als damaliger Hamburger Regierungschef
beim Umgang mit den Geschäften der örtlichen Warburg-Bank
klären, die Sozialdemokraten lehnen weite Teile des vorgelegten
Fragenkatalogs ab. In der Union zeigt man sich erstaunt über die
Festlegung der SPD, an der offenbar auch die Anhörung von Sach-
verständigen zum Untersuchungsauftrag nichts ändern wird. Sie
soll vom Geschäftsordnungsausschuss am 15. Juni beschlossen wer-
den, um diese dann in dem Gremium am 22. Juni zu befragen.
»Ich gehe von einer ergebnisoffenen Anhörung der Sachverstän-
digen aus«, sagt Patrick Schnieder, Parlamentarischer Geschäfts-
führer der Unions-Bundestagsfraktion. Allerdings betont der CDU-
Politiker: »Wenn die SPD schon jetzt einen reduzierten Fragen-
katalog vorsieht, werden wir in jedem Fall in Karlsruhe klagen.«
Die Sozialdemokraten werfen CDU und CSU vor, mit dem Aus-
schuss Scholz diskreditieren zu wollen. »Die Union hat sich bislang
nicht nennenswert bewegt«, sagt Johannes Fechner, Parlamen-
tarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Die Auf-
klärung der Vorgänge in Hamburg liege in der Verantwortung des
Landes, die Fragen des Untersuchungsausschusses müssten einen
Bundesbezug haben. Fechner sagt weiter: »Wir wollen noch vor
der Sommerpause über die Einsetzung des Untersuchungsaus-
schusses entscheiden, das aber allenfalls mit deutlich reduziertem
Fragenkatalog im Rahmen unserer Zuständigkeiten.« CTE, FLO

8 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023

Holz fürs Königreich
REICHSBÜRGER Der Staats-
betrieb Sachsenforst hat ein
Problem mit Reichsbürgern.
Ein Revierleiter im Erzgebirge
versuchte offenbar, Holzge-
schäfte mit dem »Königreich
Deutschland« abzuwickeln. Die
Vereinigung wird vom Sächsi-
schen Verfassungsschutz als
»verfassungsfeindliche Reichs-
bürger-Gruppierung« einge-
stuft, die in Sachsen versuche,
»extremistische, sektenähn-
liche Siedlungsgemeinschaften«
herauszubilden. Sicherheits-
behörden sind alarmiert, weil
dem betreffenden Beamten eine
Nähe zu Reichsbürgerkreisen
unterstellt wird und er Zugang
zu Waffen habe. Der Sachsen-
Reise nach
Jerusalem?
KANZLER Die israelische Regie-
rung von Ministerpräsident
Benjamin Netanyahu pocht da-
rauf, ein gemeinsames Treffen
mit dem deutschen Bundeskabi-
nett noch in diesem Jahr ab-
zuhalten. »Wir freuen uns, den
Kanzler und sein gesamtes Ka-
binett zu empfangen«, sagte Is-
raels Botschafter in Berlin, Ron
Prosor. Anlässlich des 75. Ge-
burtstags des Staates Israel sei
es angebracht, »auf die enorme
Kooperation der Vergangenheit
zurückzuschauen und zusam-
menzuarbeiten, um Antworten
auf die Herausforderungen der
Zukunft zu geben«. In der Bun-
desregierung sieht man solch
Nachgezählt
Erbschaftsteuer in Deutschland*,
Steueraufkommen
in Mrd. Euro
4,6
2009
Steu ro; Beisp nspartne
in Eu nd Lebe
* inkl. Schenkungsteuer
S Quellen: iwd, Destatis der seitdem um über 86 Prozent gestiegen ist.
◆
forst bestätigt ein Disziplinar-
verfahren, verweist jedoch
bis zu dessen Abschluss auf die
Unschuldsvermutung. Der
Kaufvertrag mit dem »König-
reich« sei nach Überprüfung
»nicht vollzogen« worden.
Eine Sicherheitsüberprüfung
des Personals, die frühzeitig auf
eventuelle Bestrebungen hätte
hinweisen können, sei grund-
sätzlich nicht vorgesehen: Es
gebe im Betrieb »keine sicher-
heitsempfindlichen Tätigkeits-
bereiche«. Und wenn Bediens-
tete jagen, dann ausschließlich
mit privaten Waffen. Das selbst
ernannte »Königreich« hat in
Sachsen für einen Millionen-
betrag zwei Schlösser erworben,
man versucht sich seither als
Selbstversorger. MXW, STW
ein Treffen skeptisch. Man will
abwarten, wie es mit der um-
strittenen Justizreform weiter-
geht. Zudem sei schwer vorstell-
bar, religiös-nationalistische
Hardliner wie Sicherheitsminis-
ter Itamar Ben-Gvir oder Fi-
nanzminister Bezalel Smotrich
zu beehren. Denkbar ist, dass
man die Ministertreffen auf be-
stimmte Bereiche wie Verteidi-
gung und Jugendaustausch be-
schränkt. Die Entscheidung liegt
bei Kanzler Olaf Scholz. Dessen
außenpolitischer Berater spricht
dazu mit Netanyahus nationa-
lem Sicherheitsberater Tzachi
Hanegbi. Aus Berliner Regie-
rungskreisen heißt es, mit Jeru-
salem sei vereinbart worden,
sich »zu gegebener Zeit« ins
Einvernehmen zu setzen. CSC
9,2
2022
ert),
nve ränd
09 u
it 20
e (se
e träg
erfre
i b
iele r 932.
000 000
Ehe-
u 500. 746.
000
400. kind
er
n d Stief
er u
Kind Die Freibeträge wären heute
viel höher, wenn sie ab 2010 z. B. an den
Hauspreisindex gekoppelt gewesen wären,
DIE GEGENDARSTELLUNG
Der deutsche Wolf
Von Alexander Neubacher
nfang Mai war ich eine
A Woche im Wald, im
Südwesten Thüringens
an der Grenze zu Hessen und
Bayern. Früher hätte man ge-
sagt: eine Gegend, in der sich
Fuchs und Hase gute Nacht
sagen. Heute sagt man: Wolfs-
land. Ich hatte den Eindruck,
dass es kaum ein Thema gibt,
das die Menschen dort stärker
bewegt als die Rückkehr des
Raubtiers.
Wenn der Wald der Ort ist,
an dem die deutsche Seele
ruht, dann ist es der Wolf, der
sie in Wallung bringt. Schäfer,
Viehhalter und Pferdebesitzer
fürchten um das Leben ihrer
Tiere. Jäger sehen, dass der
Wolf das Wild dezimiert. In
den Hotels und Restaurants
herrscht die Sorge, die Touris-
ten könnten ausbleiben. Und
will man sein eigenes Kind
draußen spielen lassen, wenn
Isegrim ums Dorf schleicht?
Doch es gibt auch die
Romantiker, die den Wolf wie
einen Rockstar feiern, als
unzähmbaren Vertreter der
Wildnis und als Rächer der
Natur in einer vom Menschen
überformten Welt. »Wolfs-
kuschler« werden die Ökoeso-
teriker von manchen Gegnern
genannt. Wer sich darüber
wundert, dass in der Debatte
ein erotischer Unterton mit-
schwingt, möge sich an die
Geschichte erinnern, in der
sich der Wolf ins Bett legt, um
auf Rotkäppchen zu warten.
Gemessen daran, dass es in
Deutschland insgesamt weni-
ger als 200 Rudel geben dürf-
te und es zwar Wolfsrisse bei
Weidetieren, aber noch nie
einen Angriff auf Menschen
gab, ist der Wolf in der Politik
ein erstaunlich großes Thema.
000
Die AfD projiziert hier ihre
Überfremdungsängste, sie
muss nur »unkontrollierte Zu-
wanderung« durch »unkon-
trollierte Ausbreitung« erset-
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
zen. Vom Abschieben zum
Abschießen, schon ist man
vom Flüchtling beim Wolf.
In Bayern beschwört Mi-
nisterpräsident Markus Söder
eine »Gefahr für die Men-
schen« und hat seit Mai die
Hürden für die Wolfsjagd so
stark gesenkt, dass es vermut-
lich gegen EU-Recht verstößt,
aber egal: Es ist ja Landtags-
wahlkampf in Bayern.
In der Ampelkoalition
streiten Liberale und Grüne.
Der FDP-Abgeordnete Karl-
heinz Busen, Jagdscheinbesit-
zer seit 1982, sagte diese Wo-
che, die grüne Umweltminis-
terin Steffi Lemke müsse ihre
»ideologisch geprägte Politik
Die AfD projiziert
Überfremdungsangst,
bei den Wolfs-
kuschlern schwingt
Erotik mit.
im Hinblick auf den Wolf
dringend ändern«. Anlass war
der Auftakt einer »Dialogrei-
he Wolf« der Ministerin, bei
der die Jäger das Gefühl hat-
ten, sie seien nicht sehr will-
kommen, während Lemke mit
radikalen Tierschützern keine
Berührungsängste habe.
Mein Eindruck ist, dass
Überhöhungen das Problem
nicht lösen. Der Wolf ist we-
der Mörder noch Ökoheld, er
holt sich gut 100 Jahre nach
der Ausrottung einfach seinen
Platz in Deutschland zurück.
Jäger, Landwirte und Touris-
ten müssen lernen, mit ihm
zu leben. Und wo Wölfe zu
dreist werden, wo Zäune und
Hütehunde nicht reichen,
sollte man auch mal einen
erschießen, damit der Rest des
Rudels gewarnt ist.
In meiner Woche im Wald
habe ich übrigens Rot- und
Rehwild gesehen, Muffelwild
und eine Wildkatze. Ein Wolf
hat sich nicht blicken lassen,
leider.
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 9
CHAPPATTES WELT
Abschiebungen
stagnieren
MIGR ATION Entgegen der von
der Ampelregierung angekün-
digten »Rückführungsoffensive«
steigt die Zahl der Abschiebun-
gen kaum. Das geht aus einer
internen Auflistung der Bundes-
behörden hervor. Demnach
wurden im ersten Vierteljahr
2023 rund 3560 Migrantinnen
und Migranten ohne Bleibe-
recht abgeschoben. Im gesam-
ten Vorjahr waren es knapp
13.000. Relativ viele Abschie-
Lückenlose
Aufklärung
RECHTSEXTREMISMUS Juso-
Chefin Jessica Rosenthal wirft
der hessischen Landesregierung
eine mangelhafte Aufarbeitung
des Attentats in Hanau vor. Im
Februar 2020 hatte ein 43-jäh-
riger Deutscher neun Menschen
aus rassistischen Motiven er-
schossen, danach seine Mutter
und sich selbst getötet. In einem
internen Bericht der Polizei,
über den die »Frankfurter
Rundschau« berichtete, werden
Pannen und Fehler beim Ein-
satz in der Terrornacht benannt.
Von einem »katastrophalen
Vorgehen der Polizei« spricht
10 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
bungen gab es in den ersten drei
Monaten nach Georgien (358),
Nordmazedonien (276), Alba-
nien (218), Serbien (202) oder
Moldau (148). Vergleichsweise
wenige Menschen schoben die
Behörden etwa in den Irak (27),
den Libanon (17), nach Guinea
(6) oder Indien (6) ab. Nach
Syrien, Afghanistan und Eritrea
finden seit Längerem keine
Rückführungen statt. Erstmals
seit Beginn des Angriffskriegs
auf die Ukraine wurden aller-
dings wieder zwei Russen in
ihre Heimat abgeschoben, per
Rosenthal. »Vor allem die späte-
re Einstufung der Opferfamilien
als potenzielle Gefährderinnen
und Gefährder für den Vater
des Täters offenbart, wie kopf-
los und gefährlich die Polizei
handelte.« Es sei eine »politi-
sche Verantwortungslosigkeit,
dass das CDU-geführte Innen-
ministerium die Öffentlichkeit
über diese Verfehlungen im
Unklaren lassen will«, kritisiert
die Juso-Chefin. Der Abschluss-
bericht des Untersuchungsaus-
schusses im hessischen Landtag
soll erst nach der Landtagswahl
veröffentlicht werden. »Die
knapp 40 Monate anhaltende
Aufarbeitung wird damit noch
weiter verzögert.« CTE
Flug über Belgrad ohne Beglei-
tung deutscher Beamter. Der-
zeit sind rund 300.000 Auslän-
der in Deutschland ausreise-
pflichtig, rund 80 Prozent von
ihnen sind jedoch geduldet.
54.000 müssten das Land um-
gehend verlassen. Die Koalition
hofft auf Abkommen mit
Ländern, die sich sperren, ihre
Staatsbürger zurückzunehmen.
Der Sonderbevollmächtigte der
Regierung für solche Abkom-
men, Joachim Stamp (FDP),
dämpft jedoch eine Aussicht auf
schnelle Erfolge. WOW
Löchrige Grenze
KONTROLLEN Die EU-Kommis-
sion sieht weiterhin massive
Lücken im griechischen Grenz-
schutz – und hat die Regierung
in Athen schriftlich aufgefor-
dert, eine Liste mit 27 »Empfeh-
lungen« umzusetzen. Der letzte
Aktionsplan, den Griechenland
eingereicht habe, reiche selbst
für die Erfüllung grundlegender
Aufgaben nicht aus – darunter
die strategische Planung der
Grenzkontrollfähigkeiten, ein
tragfähiger Personalplan oder
eine Risikoanalyse, die alle na-
tionalen Behörden einschließe
und deren Zusammenarbeit
organisiere. Athen sollte zudem
Keine Strafe
für Mörder
AUFARBEITUNG Die schwarz-
gelbe Bundesregierung unter
Helmut Kohl (1982 bis 1998)
verzichtete nach dem Sturz des
kommunistischen Regimes in
der Tschechoslowakei darauf,
Prag um Strafverfolgung von
Verbrechen an Sudetendeut-
schen zu ersuchen. Das legen
freigegebene Akten des Aus-
wärtigen Amtes nahe. Die
»Zukunft der Nachbarschafts-
beziehungen sollte stärker in
die außenpolitische Waagschale
fallen als eine Aufarbeitung
mit strafrechtlichen Mitteln«,
schrieb die deutsche Botschaft
in Prag im August 1992 in einem
Bericht. Beide Länder hatten
kurz zuvor einen Vertrag über
gute Nachbarschaft geschlossen.
Etwa 3 Millionen Deutsche –
rund ein Viertel der Vorkriegs-
bevölkerung– waren 1945/46
aus der Tschechoslowakei ver-
trieben worden, auch als Reak-
tion auf den Zweiten Weltkrieg
und den Holocaust. Historiker
schätzen die Zahl der Toten
infolge der Vertreibung auf
30.000, möglicherweise waren
es deutlich mehr. Das KP-Re-
gime hatte jedoch auf eine Straf-
verfolgung weitgehend verzich-
tet. Und auch die Justiz der
demokratisierten Tschechoslo-
wakei zeigte kein Interesse,
wie deutsche Diplomaten beob-
achteten. Schon die Anerken-
nung der Vertreibung fiel vielen
Tschechen schwer. Von den
Tätern dürfte heute kaum noch
einer leben. KLW
»dringend« einen »nationalen
Notfallplan für massenhafte
Grenzübertretungen« beschlie-
ßen, heißt es in dem Brief von
Migrationsgeneraldirektorin
Monique Pariat an den griechi-
schen Zivilschutzminister Pana-
giotis Theodorikakos. Einige
der Defizite spreche man seit
2016 immer wieder an, kritisier-
te die Französin – und verdon-
nerte Athen dazu, binnen eines
Monats und danach zweimal im
Jahr einen Fortschrittsbericht
vorzulegen. Der erste ging Ende
März in Brüssel ein. Zwar ent-
halte er einige Verbesserungen,
sagt eine Kommissionsspreche-
rin. Zufrieden ist man in der Be-
hörde aber weiterhin nicht. MBE
»Bürger zweiter
Klasse«
Didem Aydurmuş, 38, Linken-
politikerin und Politikwissen-
schaftlerin, spricht über die
Wiederwahl des türkischen
Präsidenten Erdoğan.
SPIEGEL: Frau Aydurmuş, die
Türken haben bei der letzten
Wahl erneut mehrheitlich
für Erdoğan gestimmt. Wie
erklären Sie sich das?
Aydurmuș: Wir können hier
nicht von fairen Wahlen spre­
chen. Zum einen gab es Unre­
gelmäßigkeiten bei der Abstim­
mung. Viele Politikerinnen
der Opposition und Journalis­
ten sitzen im Gefängnis. Die
Medien berichten nicht frei. Ob
wirklich eine Mehrheit hinter
der türkischen Regierung steht,
würde ich bezweifeln.
SPIEGEL: Bei den wahlberechtig­
ten Türken, die in Deutschland
leben, schnitt Erdoğan sogar
noch stärker ab als in der Türkei.
Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Aydurmuş: Da gibt es mehrere
Dimensionen. In Deutschland
ist eine bestimmte Bevölke­
rungsgruppe eingewandert, die
der Arbeiterschaft angehört.
Die Migration in die USA aus
der Türkei ist etwa eine ganz
andere, weswegen es dort auch
ein anderes Votum gibt. Es hat
viel mit Medienkompetenz, Bil­
dung und anderen Faktoren zu
tun. Die deutsche Politik sollte
darauf reagieren. Wir werden
schließlich diskriminiert und ha­
ben nicht die gleichen Chancen.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Aydurmuş: Ich würde es ver­
gleichen mit Ostdeutschland,
wo viele Menschen für die AfD
stimmen. Bei Ostdeutschen
und in Deutschland lebenden
Türken gibt es bisweilen das
Gefühl, man sei Bürger zweiter
Klasse. Erdoğan gaukelt den
Menschen hier eine Wertschät­
zung vor, die das Selbstbewusst­
sein stärkt. Für die deutsche
Gesellschaft heißt das, man
müsste noch integrativer sein,
um genau diesen Mechanismus
zu durchbrechen.
SPIEGEL: Sie haben also Ver­
ständnis für die Erdoğan­
Wählerinnen und ­Wähler?
Aydurmuş: Natürlich bin ich
auch wütend und traurig über
die Zustimmung. Auf der
anderen Seite versuche ich als
Politikwissenschaftlerin zu ver­
stehen, was die Hintergründe
dafür sind. Dabei sollten wir es
uns nicht zu einfach machen.
Ich gebe nicht einzelnen
Menschen die Schuld. Es ist
ein politisches Problem.
SPIEGEL: Was sollte die Politik
hier noch tun?
Aydurmuş: Es braucht dringend
eine Erleichterung für Opposi­
Oliver Dietze / DER SPIEGEL
tionelle, um aus der Türkei nach
Deutschland zu kommen. Das
Auswärtige Amt ist an dieser
Stelle völlig überfordert und
müsste dafür personell aufsto­
cken. Ich kenne selbst genügend
Fälle, bei denen die deutschen
Behörden einfach zu langsam
agieren. Vor allem muss sich »Am Ende entscheidet immer
natürlich der außenpolitische
Umgang der Bundesregierung der Mensch«
mit Erdoğan endlich verändern.
Es braucht da deutliche Kritik
DER AUGENZEUGE Polizeirat Matthias Emmerich,
und endlich Konsequenzen für
Menschenrechtsverletzungen. 39, vom Polizeipräsidium Trier erklärt, wie er
Keine Gratulationen zur Wahl. Handysünder am Steuer mithilfe eines neuen
SPIEGEL: Sie selbst reisten noch
vor zehn Jahren zu den Gezi­
automatischen Scannersystems überführen will.
Park­Protesten. Wie oft sind Sie
noch in der Türkei? »Jeder will immer erreichbar führern gefüttert, die das taten.
Aydurmuş: Ich war seit 2016 sein, seine Mails oder das Die Kamera filmt dann den
nicht mehr in der Türkei, weil Bankkonto checken, auch fließenden Verkehr, die Soft­
ich Angst habe, verhaftet zu während er oder sie am Steuer ware gleicht das Geschehen
werden. Ich durfte schon zwei eines Autos sitzt. Wer er­ auf der Straße mit den Bildern
Nächte in Untersuchungshaft wischt wird, muss mit einer der Handysünder ab. Ist da
mit 150 anderen Menschen ver­ Strafe von 100 Euro und ein Mobiltelefon im Bereich
bringen. Mir ist bekannt, dass einem Punkt in Flensburg des Fahrers? Und falls ja, wird
es eine Akte über mich gibt. Ich rechnen. Uns als Polizei for­ es von einer Hand umschlos­
habe zwar die deutsche Staats­ dern die Handysünder heraus. sen? Trifft das zu, signalisiert
bürgerschaft, aber wie sicher Die Ablenkung verursacht das Programm einen Treffer.
kann ich mir sein, dass die Re­ viele Verkehrsunfälle, auch Den schauen sich dann Kon­
gierung mir hilft, wenn ich sehr schwere. Und mit un­ trollkräfte vor Ort an. Am
in der Türkei verhaftet werden seren Kapazitäten und dem Ende entscheidet immer der
würde? menschlichen Auge können Mensch, ob ein Verstoß vor­
SPIEGEL: Wie hat sich das Land wir solche Verstöße nur eher liegt oder nicht.
aus Ihrer Sicht seit den Gezi­ zufällig feststellen. Wir planen, für fünf Poli­
Park­Protesten verändert? Im vergangenen Jahr haben zeipräsidien in Rheinland­
Aydurmuş: Das war damals ein wir für sechs Monate ein nie­ Pfalz je eine Monocam zu be­
Moment der Hoffnung. Rück­ derländisches System getestet, schaffen. Aktuell schaffen
blickend muss ich sagen, dass das Handynutzung am Steuer wir eine Rechtsgrundlage für
die Proteste damals in einem vollautomatisch erfasst, an das System.
vergleichsweise freien Staat zwei Kontrollstellen in Mainz Ich denke, dass andere Bun­
stattgefunden haben. Seitdem und in Trier. 1300 Verstöße desländer nachziehen werden.
ist der Staat noch autoritärer konnten wir in diesem Zeit­ Schon während der Pilotphase
geworden. Was die Zukunft der raum dokumentieren. haben wir viele Anfragen
Türkei angeht, bin ich realis­ Das System, die Monocam, erhalten, sogar von ausländi­
tisch: Das System Erdoğan geht besteht aus einem Laptop, schen Polizeibehörden aus der
erst mal weiter. TIL einer Kamera und einer KI­ Schweiz, aus Luxemburg und
gestützten Software, die soge­ aus Frankreich. Einsprüche
nannte Ablenkungsverstöße Betroffener gegen Bußgeld­
erkennt, also wenn jemand bescheide wegen Ablenkungs­
Christian Spicker / IMAGO
am Steuer ohne Freisprech­ verstößen, die mit der Mono­
anlage telefoniert oder in sein cam festgestellt wurden,
Handy tippt. Das Programm hatten in ersten Gerichtsent­
wurde vorher mit rund scheidungen keinen Erfolg.«
20.000 Fotos von Fahrzeug­ Aufgezeichnet von Sara Wess
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 11
DEUTSCHLAND
Die gekauften Piloten
GEHEIMNISVERRAT Sie steuerten Kampfjets der Bundeswehr, nun bilden Ex-Soldaten in China Militärflieger aus –
und kassieren dafür horrende Gehälter. Die deutschen Sicherheitsbehörden sind alarmiert.
as alte Leben des Alexander
D H. scheint weit entfernt von
der undurchsichtigen Welt der
Militärspionage, einer Luftwaffen­
basis in China und der Frage nach
Geheimnisverrat. In einem ruhigen
Neubaugebiet im Rostocker Umland
mit getrimmten Hecken und gepfleg­
ten Vorgärten steht das gelb getünch­
te Einfamilienhaus. Hier wohnte H.,
ganz in der Nähe seines Arbeitsplat­
12 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
zes. Am Stützpunkt des Taktischen
Luftwaffengeschwaders 73 »Stein­
hoff« im mecklenburgischen Laage
bildete der Offizier H., Rufname »Li­
mey«, angehende Bundeswehrpiloten
im Kampfjet Eurofighter aus.
Nachbarn erinnern sich an einen
freundlichen Mann mit rotblonden
Haaren. H. sei irgendwann ausgewan­
dert mit seiner amerikanischen Part­
nerin, wahrscheinlich in die Vereinig­
ten Staaten, sagen sie. Tatsächlich
meldete Alexander H. dem Amt im
März 2013 seinen Umzug – allerdings
nicht in die USA, sondern nach Chi­
na. Als neue Adresse gab er den Flug­
1 | Eurofighter der hafen von Qiqihar an.
Bundeswehr Qiqihar ist eine entlegene Stadt im
2 | Chinesische Nordosten der Volksrepublik, in der
Luftwaffensoldaten
in Qiqihar
Provinz Heilongjiang, die an Sibirien
3 | Jian-11-Jets im grenzt. Einmal am Tag landet eine
Überflug Maschine aus Peking. Vorher stellen

cke auf Taiwan. Das alles zu einer Zeit, in der
die Töne zwischen China und dem Westen
immer rauer werden. Zwischen Washington
und Peking herrscht seit Monaten weitgehend
Funkstille. Es kann schnell heikel werden, wie
am vergangenen Freitag, als sich über dem
Südchinesischen Meer zwei Militärflugzeuge
gefährlich nahe kamen.
Das Parlamentarische Kontrollgremium des
Bundestags beschäftigte sich zuletzt in meh-
reren Sitzungen mit der »Erwerbstätigkeit von
Angehörigen des Öffentlichen Dienstes nach
dem Ende des aktiven Dienstverhältnisses«.
Die Geheimdienstkontrolleure fürchten, dass
Wissen in falsche Hände gelangen könnte. Da-
bei ging es auch um die Ex-Bundeswehrflieger
in China. Der grüne Vorsitzende des Gre-
miums, Konstantin von Notz, spricht in diesem
[M] Julius Maxim / DER SPIEGEL; Ver wendete Fotos: REUTERS; Zha Chunming / Xinhua / eyevine / ddp; E. Teister / Blickwinkel
Zusammenhang von einem »ungeheuerlichen,
empörenden und problematischen Vorgang«,
der »ein enormes Sicherheitsrisiko« darstelle,
sollte er sich bestätigen.
Der Fall passt jedenfalls in das übliche Vor-
gehen Pekings, das Sicherheitsexperten als
»Graue-Bärte-Strategie« bezeichnen: Seit Jah-
ren umgarnen die chinesischen Dienste ehe-
malige Entscheidungsträger mit privilegiertem
und oft recht aktuellem Wissen. Es locken lu-
krative Beratungsverträge, Schmeicheleien
und Einladungen zu Vorträgen. Ziel sei es,
Know-how abzuschöpfen, das auch militärisch
2 angewendet werden kann, heißt es.
Auf Anfrage bestätigte das Verteidigungs-
ministerium, »dass China über externe Agen-
turen versucht, ehemalige Nato-Piloten als
Ausbilder anzuwerben«, auch »ehemalige
deutsche Bundeswehrpiloten«. Man sehe je-
doch »die große Gefahr, dass nicht nur eine
fliegerische Grundbefähigung vermittelt wird,
sondern auch relevante Taktiken, Techniken
und Verfahrensabläufe offenkundig werden«.
Kampfpiloten der Bundeswehr gehen ge-
wöhnlich mit 41 Jahren in den Ruhestand.
Die Reflexe lassen nach, die Sehkraft schwin-
det. Wer mit Anfang 20 bei der Luftwaffe an-
geheuert hat, erhält mit 41 dann etwa 50 Pro-
die Flugbegleiter sicher, dass alle Fensterblen- zent des letzten Gehalts als Pension. Zu wenig
den geschlossen sind. Niemand soll die chi- für ein gutes Leben. Die meisten Ex-Piloten
nesischen Kampfflugzeuge vom Typ Jian-11 nehmen daher Nebentätigkeiten an.
sehen, die auf dem Rollfeld und in den Han- Vor gut zehn Jahren begannen die Enga-
gars geparkt sind. In Qiqihar unterhält die gements in Fernost: Ein früherer Bundeswehr-
Luftwaffe der Volksbefreiungsarmee einen pilot meldete einen Job bei der südafrikani-
ihrer Stützpunkte. Und dort lebte und arbei- schen Flugschule TFASA an, die chinesische
tete offenbar der ehemalige Bundeswehroffi- Flieger trainiert. Formal sei das kein Problem
zier Alexander H. Mutmaßlich bildete er hier gewesen, heißt es in Berlin. China sei damals
chinesische Flieger aus. noch nicht als autoritärer Rivale wahrgenom-
Nach Recherchen von SPIEGEL und ZDF men worden. Auch Deutschland bildete sei-
soll eine Handvoll ehemalige deutsche nerzeit ganz offiziell chinesische Offiziere aus.
Kampfpiloten als Trainer in China beschäftigt Mit dieser naiven Sicht ist es spätestens
sein. Und das wohl zu Gehältern, die sonst seit vergangenem Herbst vorbei. Im Oktober
nur im Profisport oder in Führungspositionen 2022 nahmen die Australier den amerikani-
von Konzernen bezahlt werden. schen Piloten Daniel Duggan fest. Er soll ge-
Die Sicherheitsbehörden in Deutschland nau wie seine deutschen Kollegen chinesische
halten es für sehr wahrscheinlich, dass die Kampfflieger geschult haben, was Duggan
Jimmy Emms
Piloten dabei militärisches Fachwissen ver- bestreitet. Nun sitzt er in Haft und könnte in
raten, geheime Einsatztaktiken weitergege- die USA überstellt werden.
ben und sogar Angriffsszenarien mit ihren Auch die britischen Behörden schlugen im
Auftraggebern geübt haben, etwa eine Atta- vergangenen Herbst Alarm. Wie das Vertei-
DEUTSCHLAND
digungsministerium in London bekannt gab,
sollen bis zu 30 ehemalige Offiziere der Ro-
yal Air Force in den vergangenen Jahren chi-
nesische Kampfpiloten trainiert haben –
gegen einen fürstlichen Sold von jeweils min-
destens 280.000 Euro. Da die Piloten nicht
gegen geltendes Recht verstoßen hatten, kün-
digte London eine Gesetzesreform an.
Den inhaftierten Piloten Duggan rekru-
tierte nach Erkenntnis amerikanischer Ermitt-
ler die chinesische Firma Lode-Tech. Gegrün-
det wurde sie von dem Geschäftsmann Su
Bin, dem Sohn eines Offiziers der Volks-
befreiungsarmee. Viele Jahre lang lebte Su in
Kanada und führte von dort aus ein Luftfahrt-
unternehmen mit etwa 80 Angestellten.
Nebenher spionierte er für den chinesischen
Staat, wie sich später herausstellte.
Besonderes Interesse entwickelte Su für
die Konstruktionspläne der C-17, eines von
Boeing für das US-Militär entwickelten Trans-
portflugzeugs. Im Sommer 2014 wurde Su
Bin schließlich verhaftet. Er gestand, fast
sechs Jahre lang heimlich für China Informa-
tionen gesammelt zu haben. Dabei verfügte
Su über ein verzweigtes Netz von Kontakten
in der Luftfahrtbranche. So konnte er seine
Komplizen in China auf besonders interes-
sante Ingenieure und Mitarbeiter hinwei-
sen. Mit Phishing-E-Mails drangen die Staats-
hacker dann in Unternehmensnetzwerke ein.
Insgesamt stahlen sie etwa 630.000 Dateien
zum Militärflugzeug C-17.
Im Sommer 2016 verurteilte ein US-Ge-
richt Su Bin zu 46 Monaten Haft, gut ein Jahr
später wurde er nach China abgeschoben. Der
Grund für die rasche Entlassung war ein
Faustpfand der Chinesen: Nur wenige Wo-
chen nachdem Su festgenommen worden war,
hatten die chinesischen Behörden ein kana-
disches Ehepaar wegen Spionageverdachts
aufgegriffen, um Druck aufzubauen.
Überall in den USA berichteten Medien
über den Fall, in der »New York Times«, im
»Wall Street Journal« und in der »Washington
Post«. Bereits am 1. August 2014 setzten die
amerikanischen Behörden Su Bins Firma
Lode-Tech auf ihre Sanktionsliste. Spätestens
jetzt war klar, dass man sich von diesem
Unternehmen besser fernhalten sollte. Doch
US-Kampfpilot Duggan im Cockpit um 2000
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 13
DEUTSCHLAND
mindestens drei deutsche Ex-Kampfpiloten
kamen ausgerechnet in dieser Zeit mit Su und
seiner Firma ins Geschäft.
Die Belege dafür finden sich in den »Pa-
nama Papers«, jenen Offshore-Daten der An-
waltskanzlei Mossack Fonseca, die einst der
»Süddeutschen Zeitung« zugespielt wurden
und mittlerweile auch dem SPIEGEL vorlie-
gen. In den Papieren taucht auch der Mann
aus dem Rostocker Umland auf, der ehema-
lige Luftwaffenpilot Alexander »Limey« H.
Demnach wurde er im August 2013 zunächst
alleiniger Gesellschafter der Briefkastenfirma
Phamivity Consult Ltd mit Sitz auf den Sey-
chellen. Am 8. März 2016 bestätigte ein Mit-
arbeiter von Su Bin in Peking schriftlich, dass
H. für Lode-Tech als »Aviation Consultant
Contractor« tätig sei, als Luftfahrtberater
also. Angehängt war auch eine Kopie von H.s
Reisepass, ausgestellt in einer beschaulichen
Gemeinde nahe der Ostsee.
In seinem Umfeld machte Alexander H.
kein großes Geheimnis daraus, für wen er nun
tätig war. Menschen, die ihn schon lange ken-
nen, berichten von einem »komischen Bauch-
gefühl«, das sie gehabt hätten, als »Limey«
den Job in China annahm.
Normalerweise arbeiteten Kampfpiloten im
Ruhestand bei Firmen in Deutschland, die oft
eine enge Anbindung an die Bundeswehr
hätten, sagt ein ehemaliger Kamerad, der ano-
nym bleiben will. Daher sei H.s Schritt, eine
fremde Macht zu beraten, schon »speziell«.
Dass H. den Chinesen Geheimnisse verraten
habe, halte er aber für ausgeschlossen. Ein Pa-
triot sei H., professionell und unbestechlich. Ein
Organisationstalent. Die zuständigen deutschen
Behörden habe H. vor Beginn der neuen Auf-
gabe bestimmt über seine Pläne informiert.
Trotzdem sei »Limeys« Arbeit für die Chi-
nesen bei seinen Besuchen in Deutschland
natürlich ein Thema gewesen. Alexander H.
habe versichert, nur Wissen weiterzugeben,
das man auch im Internet finden könne. »Star-
ten, landen, Formationen bilden, banale Sa-
chen«, sagt der Ex-Kamerad.
Und wie erklärt er sich Alexander H.s Ge-
halt von wohl mehreren Hunderttausend Euro
im Jahr? Na ja, ein wenig Taktik sei vielleicht
auch eingepreist, sagt er. Den Chinesen gehe
es womöglich um eine andere Mentalität ihrer
Piloten, die H. ihnen vielleicht habe vermitteln
sollen. In der Nato sei die sogenannte Auftrags-
taktik verbreitet: Ein Flieger habe bei der Er-
füllung eines vorgegebenen Ziels eine gewisse
Freiheit, Eigenverantwortung. In China stecke
dagegen die Befehlstaktik in den Köpfen –
stumpfe Ausführung der Order von oben. Die-
ses Muster sei schwer zu durchbrechen, das
habe »Limey« in Gesprächen durchblicken
lassen, so der Bekannte.
Dass H. in China offenbar mit der Firma
eines verurteilten chinesischen Spions verban-
delt war, sei ihm völlig neu, sagt der ehemalige
Kamerad. Aber »Limey« habe sich mit Sicher-
heit nichts zuschulden kommen lassen, man
solle doch direkt mit ihm sprechen. Ein Ge-
sprächsangebot sowie eine schriftliche Anfra-
14 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
1 später meldet sich aber ein PR-Berater, an-
2 TFASA, für die S. noch immer tätig ist.
3 Mitarbeiter eingesetzt worden, teilt TFASA mit.
1 | Chinas Staatschef Xi Jinping
2 | Deutscher Eurofighter beim Start
3 | Soldaten auf dem Flughafen Qiqihar
ge von SPIEGEL und ZDF zu den Vorwürfen
lässt Alexander H. jedoch unbeantwortet.
Su Bin, der Mann, der mutmaßlich im
Hintergrund die Fäden zieht, ist auch nicht
greifbar. Auf Gesprächsanfragen antwortet er
nicht. Seine Firma Lode-Tech existiert jedoch
noch immer. Offiziell befindet sich der Sitz
des Unternehmens im siebten Stock eines Ein-
kaufszentrums im Osten von Peking. Von Su
und seiner Firma will hier allerdings niemand
gehört haben.
In Berlin versucht das Verteidigungsminis-
terium schon länger herauszufinden, was die
früheren Luftwaffenpiloten ihren Flugschü-
lern genau beibringen und ob dabei auch
Dienstgeheimnisse aus der Bundeswehr ab-
fließen. »Der Militärische Abschirmdienst
(MAD) kooperiert im Rahmen seiner Ermitt-
lungen hierzu eng mit dem Bundesamt für
Verfassungsschutz, dem Bundesnachrichten-
dienst sowie internationalen Zusammen-
arbeitspartnern«, teilt das Ministerium mit.
Der MAD startete bereits eine Infokam-
pagne, die verhindern soll, dass weitere Flie-
ger in die Volksrepublik abwandern. Dazu
spricht man Soldaten an, die kurz vor der
Pensionierung stehen: Geheimnisverrat sei
eine Straftat und könne schwerwiegende Kon-
sequenzen haben, so die Botschaft. Man wer-
de »auch aktiv die weitere Anwerbung von
Piloten« verhindern, heißt es.
Wie Alexander H. alias »Limey« war auch
Peter S. Pilot des Luftwaffengeschwaders in
Laage. Wie H. zog es ihn nach China. Und wie
H. war auch Peter S. als »Aviation Consultant
Contractor« für Su Bins Lode-Tech tätig.
Gemeldet ist Peter S. immer noch in einem
Klinkerbau, den seine Ex-Partnerin als Ferien-
haus vermieten soll. Sein Name steht am
Briefkasten. Gesehen haben ihn Nachbarn
zuletzt vor vielen Monaten. »Der lebt doch
schon lange in China«, sagt eine Anwohnerin.
Jemand im Viertel hat noch eine deutsche
Handynummer von Peter S. Es klingelt. Ob
man wisse, wie viel Uhr es hier in China ge-
rade sei, schimpft S. am Telefon, es sei schon
mitten in der Nacht. Ein Gespräch über seine
Chinageschäfte lehnt er zunächst ab. Wenig
geheuert von der südafrikanischen Flugschule
Lode-Tech sei von etwa 2009 bis 2018 zur
»Erledigung von Verwaltungsarbeiten im Zu-
sammenhang mit Visa und Steuern« für einige
S. habe die Bundesregierung über seine Neben-
tätigkeit in China informiert und halte sich an
[M] Julius Maxim / DER SPIEGEL; Ver wendete Fotos: Rainer Jensen / picture alliance / dpa; Sébastien Muylaer t / action press; Staff Sgt. D. Myles Cullen / Joint Chiefs of Staff; Andreas Geber t / REUTERS; ZUMA Press / IMAGO; Wang Ye / picture alliance
die Gesetze. Er habe »keine Arbeitsbeziehung«
zu Su Bin gehabt. »Soweit TFASA bekannt ist,
verließ Herr Su Bin Lode-Tech Anfang 2014.«
Laut chinesischem Handelsregister hält Su Bin
jedoch bis heute 37 Prozent der Anteile an Lo-
de-Tech – jener Firma, die die USA schon im
August 2014 auf ihre schwarze Liste setzten.
Auch seine aktuelle Funktion ist vermerkt: Su
Bin ist »Manager«.
Noch ein dritter deutscher Pilot gehört
wohl zu Su Bins Fliegertruppe: Das Eltern-
haus von Dirk J. liegt am Ende einer Sack-
gasse, davor Kies, ein brauner Gartenzaun,
drei Stufen bis zur Haustür, natürlich rot ge-
kachelt – durchschnittsdeutsche Ordentlich-
keit. An der Klingel steht ein Nachname, wie
ihn Zehntausende Menschen im Land tragen.
Die Eltern, sein Bruder, seine Schwägerin
leben noch immer hier. Wenn es stimmt, was
sie den Reportern von SPIEGEL und ZDF sagen,
war Dirk J. selbst schon lange nicht mehr zu
Hause. Man habe sich zerstritten, der Kontakt
sei abgerissen. Seine frühere Frau, eine Ameri-
kanerin, habe sich in Deutschland nie wohl-
gefühlt. Und überhaupt habe er als Bundes-
wehrpilot die meiste Zeit im Ausland verbracht,
in den Vereinigten Staaten und Kanada.
Dirk J., so erzählt es sein Bruder, ging nach
der Schule zur Bundeswehr, wurde Marine-
flieger, dann Tornado-Pilot. Und als er mit
Anfang 40 die Wahl hatte, den Sitz im Cock-
pit gegen einen Drehstuhl im Büro zu tau-
schen, schied er aus der Truppe aus.
Danach arbeitete er für einige Jahre in Flo-
rida als Flugtrainer und Berater, wie er in sei-
nem LinkedIn-Profil notierte. Anfang April
2013 machte er sich als »Senior Aviation Con-
sultant«, als Leitender Luftfahrtberater, auf
nach China. Im Internet beschrieb er seine
neuen Aufgaben: Flugsicherheitsmanager,
Pilotenausbilder, Berater für Luftfahrtelek-
tronik, Systeme und Infrastruktur-Verbesse-
rungen. Erklärte J. den Chinesen also auch,
wie sie sich effektiver gegen den Westen rüs-
ten könnten?
Sein Bruder sagt, Dirk J. sei schon immer
ein Geheimniskrämer gewesen, der über sei-
ne Arbeit in der Volksrepublik nie habe spre-
chen wollen. Was die deutschen Piloten in
China machen, so scheint es, soll in der Hei-
mat bloß niemand erfahren.
Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, Matthias Gebauer,
Christoph Giesen, Alexander Kauschanski,
Roman Lehberger, Marvin Milatz,
Frederik Obermaier, Bastian Obermayer,
Friederike Röhreke, Fidelius Schmid n
DEUTSCHLAND
Ein stiller Aktivist
PARTEIEN Der Bundestagsabgeordnete Andreas Jung soll das Gesicht
der CDU für den Klimaschutz sein – während sich seine Partei am
Heizungsgesetz abarbeitet. Wer ist der Mann mit der unmöglichen Mission?
er CDU-Politiker Andreas Jung
D lehnt an der Bar und nippt an
einem Bier, das wird seine
hauptsächliche Beschäftigung an
diesem Abend sein. Auf der Bühne
sprechen Politikerinnen und Politiker
der Grünen im Wechsel – von Anna-
lena Baerbock über Katrin Göring-
Eckardt bis hin zu Robert Habeck.
Jung hört zu.
Die Grünen feiern an diesem
Samstagabend im Mai sich selbst, vor
30 Jahren haben sie sich mit dem
ostdeutschen Bündnis 90 vereint. Der
Bundestagsabgeordnete Jung ist
einer von wenigen aus einer anderen
Partei, die der Einladung nach Leip-
zig gefolgt sind. Er findet, das gehöre
sich so.
Seit 2022 ist Jung einer von fünf
stellvertretenden Vorsitzenden der
CDU, er ist energiepolitischer Spre-
cher seiner Fraktion und leitet die
Fachkommission Nachhaltigkeit für
das neue Grundsatzprogramm. Jung
16 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
ist der Klimamann der Union, eine
mächtige Position, mag man meinen.
Für einen Politiker aus der Führungs-
riege einer großen Volkspartei ist
Jung aber erstaunlich still, fast
schüchtern, auch an diesem Abend
in Leipzig.
Kurz vor Beginn der Feier wartet
er lieber, bis der Pulk aus Journalisten
um Grünenchefin Ricarda Lang klei-
ner wird. Erst dann nähert er sich,
gratuliert per Handschlag und über-
gibt ein Stück der Berliner Mauer
hinter Glas, mit besten Grüßen von
Parteichef Friedrich Merz.
Die CDU ringt aktuell darum, wel-
chen Stellenwert der Klimaschutz in
ihrem neuen Grundsatzprogramm
annehmen soll. Die Partei sieht sich
als konservative Wirtschaftspartei,
als Anwalt des Mittelstands, jede Ra-
dikalität in der Veränderung lehnt sie
ab. So spricht sich wohl niemand in
der Union explizit gegen Klima-
schutz aus, allerdings macht ihn auch
kaum jemand zu seiner Sache. Außer
Jung.
Er steht vor der schwierigen Her-
ausforderung, der Partei ein Thema
zu vermitteln, mit dem viele Mitglie-
der fremdeln. »Ohne Glaubwürdig-
keit beim Klimaschutz brauchen wir
bei den nächsten Wahlen gar nicht
erst antreten«, sagt er.
Er erinnert ein wenig an den
ehemaligen Umweltminister Klaus
Töpfer, der immer wieder versuchte,
ökologische Reformen anzustoßen
und dabei an Grenzen stieß, auch in
der eigenen Partei. Konservatismus
und progressive Klimapolitik schlös-
sen sich nicht aus, findet Jung. Von
der Klimapolitik der Ampel versucht
er sich allerdings abzusetzen.
Auf einer parteiinternen Tagung
im italienischen Cadenabbia am Co-
mer See hat er kürzlich seine Strate-
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL
gie durchsetzen können. Sie basiert
auf vier Säulen: erneuerbare Ener-
gien, Effizienz, Wasserstoff und CO2-
Kreisläufe, über allem stehe die
Offenheit für Forschung und Ent-
wicklung.
Das geplante Gebäudeenergie-
gesetz der Ampel hält Jung für über-
reguliert und nicht praxistauglich.
Klimafreundliches Heizen dürfe sich
nicht auf die Wärmepumpen be-
schränken, sagt er. Stattdessen müsse
»gleiches Recht für alle Öko-Heizun-
gen« gelten – also etwa für Holz-,
Biomethan- oder Wasserstoffanlagen.
Die Strategie der Bundesregierung
ist ihm zu streng, zu dirigistisch, auch
jene für die erneuerbaren Energien.
»Wir wollen uns nicht nur auf Sonne
und Wind fokussieren, sondern die
erneuerbaren Energien in aller Breite
nutzen«, sagt er und betont die Wich-
tigkeit von Holz als nachwachsendem
Rohstoff. Manchmal aber wirken sei-
ne Forderungen für einen Konserva-
tiven fast aktivistisch. Angesichts der
hochgesteckten Klimaziele und einer
drohenden Energiekrise zog Jung ver-
gangenes Jahr sogar ein temporäres
Tempolimit von 130 Kilometern pro
Stunde in Betracht – eine höchst
ungeliebte Position innerhalb der
CDU und deshalb wohl nicht durch-
zusetzen.
Jung ist kein Politiker, der lautstark
seine Meinung kundtut oder sonder-
lich polarisiert. Er setzt auf Mäßi-
gung – für den Preis, dass seine Stim-
me oft ungehört bleibt. Kann seine
Mission gelingen?
Es ist noch gar nicht so lange her,
da liebäugelten einige in der CDU mit
einer schwarz-grünen Koalition, vor
Unionspolitiker Jung:
zwei Jahren, als Armin Laschet Bun-
»Gleiches Recht für deskanzler werden wollte. Am Ende
alle Öko-Heizungen« verlor Laschet krachend die Bundes-

tagswahl, die Union landete in der Opposi-
tion, die Grünen verbündeten sich mit FDP
und SPD zu einer »Fortschrittskoalition«.
Jungs Erklärung für die Niederlage der
Union lautet: zu wenig Klimaschutz im Pro-
gramm. Dieser Fehler, findet er, dürfe sich bei
der nächsten Bundestagswahl 2025 nicht wie-
derholen. Aber wie groß ist Jungs Einfluss auf
die konservative Parteispitze, wie sehr dringt
er mit seinem Anliegen durch?
Ende April veranstaltete die CDU einen
Zukunftskongress in Berlin, bei dem es um
die Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum
und Klimaschutz gehen sollte – genau Jungs
Themen also. Doch es war CDU-Chef Merz,
der an der Seite des renommierten Direktors
des Potsdam-Instituts für Klimafolgenfor-
schung, Ottmar Edenhofer, über die Rolle des
Klimaschutzes für die Wirtschaft diskutierte
und seine Ideen zur Klimaneutralität be-
schrieb. Erst eine Stunde später kam Jung mit
Vertretern aus Wirtschaft und Forschung zu
Wort, viele hörten da schon nicht mehr zu.
Die Rollenverteilung beim Thema Klima
scheint klar: Wo große Worte gesprochen wer-
den müssen, zeigt Merz Präsenz. Um die kon-
kreten Inhalte soll sich aber gern sein Vize
kümmern, zumal Merz dem Klimaschutz
nicht die größte Dringlichkeit zuspricht.
Jung vereint viele Aspekte in sich. Er ist
konservativ, aber beim Klimaschutz schreckt
er nicht vor Veränderungen zurück. Er ist ent-
schlossen, aber zurückhaltend. Er moderiert
Transportketten optimiert und 7.200 Tonnen CO2 jährlich
eingespart. Für nur einen Kunden.
Die MHP Management- und IT-Beratung bringt Unternehmen den entscheidenden Schritt weiter: Als Technologie- und Businesspartner digitalisieren
wir die Prozesse und Produkte unserer Kunden und gestalten gemeinsam mit ihnen nachhaltig die Zukunft. Ganz im Sinne unseres Purpose:
ENABLING YOU TO SHAPE A BETTER TOMORROW. Jetzt entdecken auf mhp.com/onpurpose
»Zahlen, die sonst
ganz abstrakt scheinen,
werden plötzlich sehr
konkret.«
Konflikte lieber, als sie anzustacheln. Wohl
niemals würde er der Ampel vorwerfen, die
Energiewende »mit der Brechstange« durch-
zusetzen, wie es Jens Spahn tat, der als Frak-
tionsvize für die Themen Klima und Energie
zuständig ist. Wohl niemals würde Jung in
der Debatte über Klimaaktivisten der »Letz-
ten Generation« den Begriff »Klima-RAF«
fallen lassen, wie es Unionspolitiker Alexan-
der Dobrindt tut. Jung scheut den markigen
Spruch wie den großen Auftritt in Talk-
shows – trotz seiner fast 20 Jahre Erfahrung
im Parlament, trotz seines langjährigen Inte-
resses für Ökologie.
In Südbaden, zwischen Schwarzwald und
Bodensee, gebe es seit jeher eine besondere
Sensibilität für Umwelt und Natur, sagt Jung.
»Da wurde ich quasi hineingeboren.« Wer
den 48-Jährigen über sein Lieblingsthema
sprechen hört, dem drängt sich die Frage auf,
ob Jung bei den Grünen nicht viel besser auf-
gehoben wäre als in der Union. Er selbst habe
sich diese Frage nie gestellt, sagt Jung. »Ich
Sonja Wernich, Senior Manager Digital Supply Chain Solutions
DEUTSCHLAND
bin überzeugter Christdemokrat, in der CDU
fühle ich mich voll und ganz zu Hause.«
Außerdem wolle er den Klimaschutz nicht
allein den Grünen überlassen: »Die Zukunft
unserer Kinder muss für Christdemokraten
ein Herzensanliegen sein«, sagt er.
Jung hat selbst Kinder, sie sind fünf und
sieben Jahre alt. »Ein Kind, das heute geboren
wurde, hat eine gute Chance, das Jahr 2100
noch zu erleben«, sagt er. »Da werden Zahlen,
die sonst ganz abstrakt scheinen, plötzlich
sehr konkret.«
Ein Obst- und Gemüsehof am Rande von
Konstanz, Jung hat zum Bürgerdialog im
Wahlkreis eingeladen. Es geht um die Ener-
giewende, Wärmepumpen, um Kosten. Treue
Parteimitglieder sind gekommen, aber auch
Parteilose und eine ehemalige Grüne. Genau
um diese Gruppe geht es Jung, er soll die Par-
tei für das grünbürgerliche Milieu öffnen. Es
entsteht eine bisweilen hitzige Diskussion,
vor allem, als es um die Heizungen geht. Doch
Jung scheint sich wohlzufühlen, es ist seine
Art von Diskussion.
Mit seiner leisen Art überzeugt Jung offen-
bar auch einige in der Partei, manche sehen
ihn bereits im Ministeramt, sollte die Union
ab 2025 den Kanzler stellen. Jung weist der-
artige Überlegungen nicht zurück, er strebe
den Posten aber auch nicht aktiv an.
Kein Ja, kein Nein, Jung wählt den Mittel-
weg – einmal mehr.
Sara Guglielmino n
DEUTSCHLAND

Jacobo Medrano / DER SPIEGEL

Autor Sandel

»Wir haben zu lange der

Globalisierung gehuldigt«
SPIEGEL-GESPRÄCH Michael Sandel gilt als einer der Lieblingsphilosophen und
Ideengeber des Bundeskanzlers, seine Auftritte füllen Hallen. Nun fordert der Harvard-Professor,
den Kapitalismus radikal umzubauen und die Finanzindustrie hart zu regulieren.

Er spricht stets unaufgeregt in sanftem Ton,
und doch kommen Tausende Menschen in die
Oper von Sydney oder den New Yorker Central
Park, um ihn reden zu hören. Auf YouTube
werden seine Auftritte millionenfach ange-
sehen. Sandel, 70 Jahre und Professor an der
Harvard University, hat sich den auch für ihn
selbst überraschenden Ruf des »Rockstars unter
den Philosophen« erworben.
In der überarbeiteten Neuauflage seines
Klassikers »Das Unbehagen in der Demokra-
tie« analysiert er mit scharfem Blick, wie der
»neoliberale Finanz-Kapitalismus« der ver-
gangenen Jahrzehnte zunehmend die Gesell-
schaft in wenige Gewinner und viele Verlierer
spalte. Schuld daran, findet Sandel, seien nicht
zuletzt der einstige US-Präsident Barack Oba-
ma und Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder.
SPIEGEL: Herr Professor Sandel, die weltpoli-
tische Lage ist zweifellos angespannt in diesen
Monaten, aber Sie gehen in Ihrem neuen
Werk noch einen Schritt weiter: Es seien
höchst gefährliche Zeiten für die Demokra-
tie*. Was befürchten Sie?
Sandel: In den demokratischen Gesellschaften
hat sich eine enorme Unzufriedenheit ange-
sammelt. Sehr viele Menschen, vor allem aus
den Arbeiterklassen, haben das Gefühl, nicht
wirklich beachtet zu werden von den Eliten.
Da hat sich ein unterschwelliger Groll ent-
wickelt, der nun in vielen Gesellschaften
* Michael Sandel: »Das Unbehagen in der Demokra-
tie«.  Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter.
S. Fischer; 512 Seiten; 32 Euro.
Das Gespräch führte der Redakteur Thomas Schulz in
Madrid.
populistische Bewegungen befeuert: etwa mit
Donald Trump in den USA, Marine Le Pen
in Frankreich, der AfD in Deutschland. Diese
Entwicklung läuft teilweise seit Jahrzehnten,
aber sie wird sich weiter richtig hochschau-
keln, wenn nichts unternommen wird.
SPIEGEL: Wie ist es dazu gekommen? Wirt-
schaftlich waren es trotz aller Krisen doch
insgesamt gute Zeiten mit oft historisch nied-
riger Arbeitslosigkeit und deutlich zunehmen-
dem Wohlstand.
Sandel: Aber nicht für alle gleichermaßen.
Wir haben zu lange einer von internationalen
Finanzströmen getriebenen Globalisierung
gehuldigt, die geteilte Gesellschaften von Ge-
winnern und Verlieren hervorgebracht hat.
SPIEGEL: Sie spielen auf die immer größere
Kluft zwischen Arm und Reich an, weil Wohl-

18 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


standsgewinne zum größten Teil bei den
obersten zehn Prozent landen.
Sandel: Ja, aber vor allem sind diese Globa-
lisierungsgewinner überzeugt, sie hätten das
alles allein geleistet und damit verdient. Im
Umkehrschluss sollen alle selbst schuld sein,
die nicht so viel einstreichen. Das ist der
Hochmut der Leistungsgesellschaft: sich so
am eigenen Erfolg zu ergötzen, dass dabei
völlig vergessen wird, wie viele Menschen
dazu beitragen müssen.
SPIEGEL: Wie der CEO, der sich einen Millio-
nenbonus zahlt und gleichzeitig Tausende
Mitarbeiter entlässt?
Sandel: Zum Beispiel. So entsteht das Gefühl,
dass die Eliten auf den Rest der Bevölkerung
herabschauen. Und das vergiftet die politische
Atmosphäre.
SPIEGEL: Sie sehen also ein strukturelles Pro-
blem. Die globalisierte Wirtschaftsordnung
der vergangenen Jahrzehnte beschädigt
zwangsläufig die Demokratie?
Sandel: Nicht zwangsläufig. Die Mainstream-
Parteien müssten wieder einen echten Bezug
zur Arbeiterklasse bekommen und dieses
überzogene Erfolgsdenken ablegen. Sonst
wird der Finanz-Kapitalismus die Demokra-
tie weiter erodieren.
SPIEGEL: Allerdings hat sich auch über viele
Jahrzehnte gezeigt, dass Demokratie ohne
Kapitalismus mit freien Märkten nur schwer
funktioniert.
Sandel: Nicht der Kapitalismus als solcher,
sondern seine neoliberale Version beißt sich mit
der Demokratie. Wir müssen endlich sehen,
dass dieses in den Achtzigerjahre durch Ronald
Reagan und Margaret Thatcher begonnene
Experiment nicht funktioniert: die Behaup-
tung, dass Staat und Politik das Problem seien
und Märkte die Lösung. Als Mitte-links-Kan-
didaten an die Macht kamen – Bill Clinton,
Tony Blair, Gerhard Schröder –, dämpften sie
diesen radikalen Marktglauben nur etwas,
rüttelten aber nicht am Grundgedanken: Die
Märkte sorgen am besten für das Allgemein-
wohl, also lasst sie machen. So entstanden all
diese Ungerechtigkeiten und Ressentiments,
mit denen wir nun zu kämpfen haben.
SPIEGEL: Was empfehlen Sie?
Sandel:. Wir müssen den Kapitalismus mit
Blick auf sein Verhältnis zur Demokratie neu
entwerfen.
SPIEGEL: Das heißt was?
Sandel: Als Erstes müssen die Ungerechtig-
keiten adressiert werden. Seit Jahrzehnten
lautet die Standardantwort aller Parteien, egal
ob von rechts oder links: Bildung ermöglicht
sozialen Aufstieg. Deswegen ist das zum Slo-
gan der Globalisierung geworden: Geh stu-
dieren, dann hast du Erfolg in der Weltwirt-
schaft. Das ist aber der falsche Ansatz.
SPIEGEL: Unzählige Studien haben bewiesen,
dass es einen direkten Zusammenhang zwi-
schen Bildung und Wohlstand gibt. Was soll
daran grundsätzlich falsch sein?
Sandel: Wer studiert hat, verdient meistens
mehr, das stimmt. Aber wenn es um gesell-
schaftlichen Aufstieg geht, sind Universitäten
»Der neoliberale
Kapitalismus beißt sich
mit der Demokratie.«
wie Aufzüge, die fast nur von Menschen in den
obersten Stockwerken genutzt werden, wäh-
rend unten kaum jemand einsteigt. Der Anteil
von Studentinnen und Studenten aus schwa-
chen Einkommensschichten ist sehr klein.
SPIEGEL: Genau das soll doch durch Bildungs-
politik geändert werden.
Sandel: Alle künftig in die Uni treiben zu wol-
len ist aber keine ausreichende politische Ant-
wort auf die grundsätzliche Ungleichheit. Die
meisten Menschen haben nun mal nicht stu-
diert. Wie hoch ist der Akademikeranteil an
der deutschen Bevölkerung?
SPIEGEL: Rund 20 Prozent haben einen Hoch-
schulabschluss.
Sandel: Sehen Sie, dieses scheinbar so inspi-
rierende Angebot von Aufstieg durch Bildung
spricht viele Menschen nicht an. Und es ent-
hält auch noch eine Beleidigung: Gehst du
nicht zur Uni, ist es dein eigener Fehler, wenn
du nicht von der Globalisierung profitierst.
Jedenfalls kann es nun nicht mehr die Schuld
der Politiker sein. Von den eigentlichen struk-
turellen Ungleichheiten wird damit abgelenkt.
SPIEGEL: Haben Sie auch dem Bundeskanzler
bei einer Ihrer Unterhaltungen zu einer radi-
kalen Reform des Kapitalismus geraten?
Sandel: Wir haben darüber gesprochen, wie
die Würde der Arbeit wiederhergestellt wer-
den kann. Ich meine damit der ganz normalen
Arbeit. Zu lange ist die Finanzwelt immer
wichtiger geworden – und das hat einen kor-
rosiven Effekt für die Demokratie.
SPIEGEL: Inwiefern? Die globalen Finanzströ-
me haben auch viele und insbesondere neue
Unternehmen mit Geld versorgt und die
Bauarbeiter im Hamburger Alten Elbtunnel: »Würde der Arbeit wiederherstellen«
DEUTSCHLAND
Volkswirtschaften wachsen lassen. Dadurch
sind viele Arbeitsplätze entstanden.
Sandel: Toxisch wird es, wenn jene, die Finanz-
geschäfte machen, dafür so enorm belohnt
werden, jedenfalls weit über das Maß hinaus,
was sie zur Wirtschaft beitragen. Viele dieser
Geschäfte sind nur spekulativ, nicht produktiv.
Da wird kaum Geld in echte Jobs, Unterneh-
men, Schulen, Krankenhäuser gesteckt. Im
Vergleich zu diesen riesigen Finanzgewinnen
scheint ganz normale Arbeit wenig wert. Und
die Menschen, die sie verrichten, werden ge-
ring geschätzt. Das muss sich ändern.
SPIEGEL: Olaf Scholz scheint da inhaltlich mit
Ihnen auf einer Linie zu sein. Im Bundestags-
wahlkampf setzte er auf das Schlagwort
»Respekt« für Menschen fern der gut verdie-
nenden Eliten, was sich insbesondere auch in
einem deutlich höheren Mindestlohn aus-
drücken sollte.
Sandel: Erhöhter Mindestlohn und Tarifver-
handlungen sind sicher Wege, um die Würde
der normalen Arbeit wieder zu steigern. Aber
es geht weniger um einzelne politische Maß-
nahmen. Die Gesellschaft muss Arbeit anders
wertschätzen. Wir müssen grundlegend än-
dern, wie wir Wirtschaft verstehen.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Sandel: Wir sehen uns heute mehr als Konsu-
menten denn als Bürger. Und seit rund 50 Jah-
ren gilt die Annahme, dass Konsumieren der
alleinige Zweck der Wirtschaft sei. Das geht
zurück auf Adam Smith und John Maynard
Keynes. So eng dürfen wir die Wirtschaft aber
nicht verstehen, wir müssen den politischen
Zweck sehen. Das Bruttoinlandsprodukt darf
nicht die alleinige Messlatte sein, ob es uns
gut geht.
SPIEGEL: Nicht wenige argumentieren anders-
herum: Der vorherrschende Zweck der Poli-
tik sei, dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft
brummt und für steigenden Wohlstand sorgt.
Sandel: Ja, das ist der noch engere neolibera-
le Weltblick. Aber er ist falsch. Die Wirtschaft
Christian Charisius / dpa
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 19
DEUTSCHLAND

organisiert die Produktion, damit wir konsu-
mieren können und der Wohlstand wächst, so
weit richtig. Aber die Wirtschaft ist auch ein
Produktionssystem, das jedem, der teilnimmt,
Respekt und soziale Anerkennung verleihen
kann. Arbeit dient nicht nur als Instrument,
um den eigenen Lebensunterhalt zu verdie-
nen, sondern trägt auch zum Wohl der All-
gemeinheit bei. Deswegen brauchen wir eine
politische Ökonomie, die Wirtschaftspolitik
nicht bloß mit dem Blick auf Wachstum ge-
staltet, sondern mit Blick auf demokratische
Mitbestimmung und Selbstverwaltung.
SPIEGEL: Wie sieht Ihrer Meinung nach eine
Wirtschaftspolitik aus, die gut ist für die De-
mokratie?
Sandel: Zunächst muss die Politik wieder den
Primat über die Wirtschaft übernehmen.
Märkte und Unternehmen dürfen nicht allein
entscheiden, was gut für uns ist.
SPIEGEL: Wie sähe das konkret aus?
Sandel: Kartellrecht ist ein Beispiel. Im späten
19. Jahrhundert wurde es nicht wie heute ge-
Sandel: Wir haben derzeit zwei Formen von
Schieflage Diskurs, und beide sind toxisch. Da sind die
parteipolitischen Schreiduelle, bei denen nie-
Nettovermögen der privaten Haushalte mand dem anderen zuhört. Und da ist die
in Deutschland, in Billionen Euro
technokratische Expertenpolitik, die ohne
reichstes Zehntel 15 öffentlichen Input abläuft. Beides ist unbe-
darunter reichstes Prozent friedigend und verstärkt den Trend zum
mittlere Vermögensschicht Populismus. Wir müssen einen anderen Weg
ärmste Hälfte finden.
SPIEGEL: Viele in den USA hatten gehofft,
10 Barack Obama würde vermitteln. Aber auch
ihm wurde immer wieder vorgeworfen, er sei
reichstes als Präsident zu technokratisch, zu elitär ge-
Zehntel Q4/2021:
61,3 % wesen, um die gesellschaftliche Krise der USA
zu beenden. Stimmen Sie zu?
5 Sandel: Ja. Insbesondere weil er nach der Fi-
nanzkrise den gleichen von Finanzgeschäften
getriebenen Kapitalismus einfach wiederbe-
ärmste Hälfte Q4/2021: lebte. Die Krise gab ihm die Gelegenheit, die-
1,4 % des Gesamtvermögens sen Weg zu beenden. Aber Obama unter-
0 stützte den Bailout der Wall Street, die uns
2010 2015 2020 erst in diese Krise geführt hatte. Aus der ver-
S Quelle: Deutsche Bundesbank sprochenen Veränderung wurde Kontinuität.
◆

nutzt, um vor allem die Preise für die Konsu-
menten möglichst gering zu halten, sondern
um die politische Macht großer Konglomera-
te zu beschränken. Damals waren das Stahl-,
Öl- und Eisenbahnkonzerne, heute sind es
Tech- und Finanzriesen, die übermäßigen Ein-
fluss auf Politik und Gesellschaft haben und
damit die Demokratie schädigen. Schauen Sie
doch nur auf Facebook: Über die Social-
Media-Plattform wird Desinformation ver-
breitet. Wer da Kartellrecht einfach nur als
Instrument sieht, um preistreibende Mono-
pole zu verhindern, lässt die zivilgesellschaft-
liche Dimension von Politik außer Acht.
SPIEGEL: Sollten Facebook oder Amazon also
zerschlagen werden, um zu zeigen, dass die
Politik wieder das Ruder übernommen hat?
Sandel: Es wäre jedenfalls ein wichtiges Si-
gnal. Ein anderes wäre eine neue Debatte über
Steuern. Wenn wir wirklich an die Würde der
Arbeit glauben, warum sind dann die Steuern
auf Lohnarbeit höher als auf Kapitalgewinne?
SPIEGEL: Darüber wird schon ewig diskutiert.
Sandel: Da geht es dann aber um Fairness und
warum die Reichen weniger Steuern zahlen.
Aber mir geht es auch um Werte: Was sehen
wir als wertvollen Beitrag zu Wirtschaft und
Allgemeinwohl? Soll harte Arbeit wirklich
weniger zählen als Finanzgeschäfte? Gerech-
tigkeit hat nicht nur mit Verteilen zu tun, son-
dern wie dazu beigetragen wird. Und genau
dieses moralische Urteil darüber haben wir
an die Märkte ausgelagert: Wie viel Geld je-
mand verdient, soll bestimmen, was sein Bei-
trag zum Allgemeinwohl sei. Ein falscher Ge-
danke.
SPIEGEL: Die Zwänge der internationalen
Finanzmärkte und die Gesetze der Globali-
sierung wurden sicher immer wieder als
politisches Feigenblatt genutzt. Andererseits
Sandel: Aber wir können es uns nicht länger
ersparen, darüber zu streiten, was ein guter
Beitrag zum Allgemeinwohl ist. Das Urteil
des Marktes lautet: Der gesellschaftliche Wert
eines Hedgefonds-Managers ist 1000-mal hö-
her als der einer Lehrerin oder Kranken-
schwester. Das kann nicht sein. Oder nehmen
Sie Pflegearbeit: gesellschaftlich extrem wich-
tig, aber vom Markt gering geschätzt.
SPIEGEL: Vielleicht liegt das Problem aber
nicht nur in zu großer Marktgläubigkeit, son-
dern darin, dass die gesellschaftliche Solidari-
tät in vielen Demokratien zu bröseln scheint
und sich zu wenige Menschen noch wirklich
um das Allgemeinwohl scheren.
Sandel: Sind wir sicher, dass die Menschen
sich nicht mehr für das gemeinsame Wohl
aller und Solidarität interessieren?
SPIEGEL: Es fühlt sich jedenfalls so an. Vor al-
lem in den USA wird offenbar über Partikular-
interessen extrem unversöhnlich gestritten.
Peter Rigaud / laif
SPIEGEL: Die Rettung der Banken nicht zu
unterstützen schien damals unmöglich. Die
Finanzkrise wäre weiter eskaliert.
Sandel: Ja, das war das Argument. Und zwar
vor dem Hintergrund, dass die gesamte Wirt-
schaft von den Banken abhängt, also sozusa-
gen in Geiselhaft genommen war. Man kann
nun sagen: Okay, in so einer Notsituation
müssen wir das Lösegeld zahlen, um die
Geisel zu retten. Aber zu dieser Logik gehört
auch, dass weitere Geiselnahmen in Zu-
kunft verhindert werden müssen: indem die
Finanzindustrie so umstrukturiert wird, dass
sie die Wirtschaft nicht mehr dominieren
kann. Und diesen Schritt hat Obama nicht
gemacht.
SPIEGEL: Ob er sich mit einer radikalen Be-
schneidung der Finanzindustrie hätte durch-
setzen können, ist fraglich.
Sandel: Es gab viele Vorschläge, wie man
die großen Banken zerschlagen und den Ein-
fluss der Finanzindustrie auf das gesamte
politische System hätte minimieren können.
Es nicht zu tun hatte dann sehr hohe politische
Kosten.
SPIEGEL: Weil Obama damit den Aufstieg von
Donald Trump beförderte?
Sandel: Exakt. Der Bailout und das Versäum-
nis, die Finanzindustrie zur Rechenschaft zu
ziehen, ebneten Trump den Weg. Dabei war
die Wut über diese Ungerechtigkeit über das
ganze politische Spektrum zu sehen.
SPIEGEL: Wut und Ressentiments haben in
den USA noch zugenommen in den vergan-
genen Jahren. Dann hat Trump also beste
Chancen, wiedergewählt zu werden?
Sandel: Gut möglich. Auch Präsident Joe Bi-
den hat die Dominanz der demokratischen
Politik über die Tech- und Finanzindustrie
nicht wiederhergestellt. Er hat einige vorsich-

können sie auch gerade populistische Regie-
rungen zur Räson bringen, zuletzt etwa in
Italien. Dort gibt sich die rechtsradikale Regie-
rungschefin Giorgia Meloni nun europafreund-
lich, um keine Schuldenkrise zu riskieren.
tige Schritte in diese Richtung unternommen.
Aber es scheint fraglich, ob das reicht, damit
sich normale Bürger wieder gehört fühlen.
SPIEGEL: Herr Professor Sandel, wir danken
Bundeskanzler Scholz Ihnen für dieses Gespräch. n

20 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023

DEUTSCHLAND

Putin, die RAF

und der Dietmar
aus Dillingen
GEHEIMDIENSTE Um die Zeit des heutigen
russischen Präsidenten beim KGB in Dresden
ranken sich wilde Mythen. So soll er sogar
den Herrhausen-Mord angeregt haben.
Doch SPIEGEL-Recherchen zeigen: Putin
war wohl eher kein Topagent.
Von Sven Röbel und Wolfgang Tietze

Stasi-Unterlagen-Archiv

KGB-Offizier Putin in Sachsen

in den Achtzigerjahren

22 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


eit einigen Jahren macht eine Geschich-
S te über den russischen Präsidenten die
Runde. Sie geht so: In den Achtziger-
jahren sei Wladimir Putin als junger Offizier
des sowjetischen Geheimdiensts KGB auf
streng geheimer Mission in der DDR gewesen.
Von Dresden aus habe er Kontakte zu den
Terroristen der Rote Armee Fraktion (RAF)
in Westdeutschland gepflegt und sie mit Waf-
fen und Instruktionen versorgt.
Wiederholt soll Putin konspirative Treffen
zwischen dem KGB, dem ostdeutschen Mi-
nisterium für Staatssicherheit und der RAF
geleitet haben, bei denen auch Anschläge auf
prominente Zielpersonen besprochen worden
seien – etwa das Attentat auf den Chef der
Deutschen Bank, Alfred Herrhausen.
Die Erzählung von Putins vermeintlichen
RAF-Verbindungen hat ihren Weg in zwei
internationale Standardwerke über das Leben
des Kremlchefs gefunden – darunter in den
Bestseller »Putins Netz« der britischen Jour-
nalistin Catherine Belton. Als Zeuge diente
offenbar jeweils derselbe Informant: ein an-
gebliches früheres Mitglied der RAF, dem
Anonymität zugesichert worden sei.
Lange rätselten Fachleute, wer die ominö-
se Quelle der RAF-Geschichte wohl sein
könnte. Nun scheint die Identität geklärt: Es
handelt sich um einen gewissen Dietmar C.
aus Dillingen im Saarland.
Dieser Umstand könnte sich als ernstes
Problem für die Glaubwürdigkeit der Putin-
Story erweisen. Denn C., heute 71, war in
seinem bewegten Leben vieles: Hippie, Bank-
räuber, Kronzeuge fragwürdiger Enthüllungs-
storys – aber ganz offensichtlich niemals Mit-
glied der RAF. Der Saarländer gilt als notori-
scher Geschichtenerzähler, er ist mehrfach
vorbestraft, unter anderem wegen Falschaus-
sage.
Der Fall wirft ein Schlaglicht auf ein gene-
relles Problem bei der Berichterstattung über
Putins KGB-Vergangenheit. Seitdem der Ex-
Spion an die Spitze des russischen Staats auf-
gestiegen ist, durchkämmen Forscher, Jour-
nalistinnen und Biografen seine Dienstzeit in
der DDR von 1985 bis 1990. Im Jagdeifer
scheinen Fakten und Fiktion bisweilen zu ver-
schwimmen, der Mann aus Leningrad erlang-
te den Ruf eines sowjetischen Superagenten.
Die Literatur ist voll Spekulationen über
filmreife Spezialaufträge, an denen Putin an-
geblich beteiligt gewesen ist: an einer Geheim-
operation zum Sturz der DDR-Regierung etwa,
dem Aufbau eines Agentennetzes aus über-
gelaufenen Stasi-Mitarbeitern oder der Erpres-
sung eines Giftforschers, dem pornografisches
Material untergeschoben werden sollte.
Überzeugende Belege für diese Geschich-
ten gibt es bis heute nicht. In den bislang er-
schlossenen Stasi-Unterlagen sind es nur ein
paar Seiten, auf denen Putin überhaupt er-
wähnt wird. Darin geht es um eher banale
Vorgänge wie Geburtstagsgrüße, Verwal-
tungsangelegenheiten oder deutsch-sowjeti-
sche Freundschaftsabende, die auf leicht ver-
blassten Fotografien festgehalten sind.
DEUTSCHLAND
Die dünne Aktenlage bietet Anlass für Spe- aus der endlosen Durchsicht von Anträgen
kulationen: Waren Putins Aufträge so brisant,
dass konsequent alle Spuren aus offiziellen
Dokumenten getilgt wurden? Oder ging es
auf westdeutschen Verwandtenbesuch oder
der Suche nach potenziellen Informanten
unter ausländischen Studierenden der Dresd-
am Ende nur um Routinearbeit, die schlicht ner Universität bestanden habe (SPIEGEL
zu belanglos war, um von der Stasi archiviert 43/2003).
zu werden? Den Spekulationen um brisante Sonder-
Laut Horst Jehmlich, dem Adjutanten des missionen tat das keinen Abbruch, zumal sich
letzten Dresdner Stasi-Chefs, habe Putin in Putin selbst zu seinen Aufgaben in der DDR
der benachbarten KGB-Residentur nur eine nie dezidiert geäußert hat. Das Image des ge-
untergeordnete Rolle gespielt. Er sei eher eine heimnisumwitterten Topspions dürfte ihn
Art »Laufbursche« des Residenten gewesen, nicht sonderlich gestört haben.
sagte Jehmlich dem SPIEGEL . Zwar habe Die bis dato wildeste Erzählung – die über
Putin manchmal Anfragen an das Ministerium Putins vermeintliche Verstrickung in den
für Staatssicherheit (MfS) unterzeichnet, Terror der RAF – tauchte erstmals 2012 auf,
wichtige Angelegenheiten aber habe der so- in der Biografie »Der Mann ohne Gesicht«
wjetische KGB-Resident stets persönlich ge- von Masha Gessen. Darin schildert ein an-
klärt – mithilfe eines MfS-Dolmetschers und gebliches »früheres RAF-Mitglied«, wie An-
ohne Putin. gehörige der linksextremen Terrorgruppe
Putins früherer Büronachbar in der Dresd- »gelegentlich zu Trainingszwecken nach
ner KGB-Außenstelle berichtete Ähnliches. Dresden« gekommen seien und ihrem Kon-
Demnach sei sein Kollege »ein ausgemachter taktmann Putin Geschenke aus dem Westen
Konformist« gewesen, dessen Arbeit vor allem mitgebracht hätten – einen Kurzwellenemp-
fänger der Marke Grundig etwa oder ein ge-
stohlenes Blaupunkt-Autoradio. »Er wollte
Putin-Legenden immer etwas haben«, habe der Informant
gegenüber Gessen behauptet. Das Interview
habe im August 2011 in Bayern stattgefunden.
Offenbar dieselbe anonyme Quelle wird
Kai-Uwe Wärner / picture-alliance / dpa
in Catherine Beltons 2020 erschienenem
Bestseller »Putins Netz« zitiert. »Wir trafen
uns rund ein halbes Dutzend Mal«, behauptet
der angebliche Ex-Terrorist dort. Die RAF-
Leute seien mit dem Zug in die DDR gereist.
Am Bahnhof seien sie von Stasi-Agenten in
einer sowjetischen Limousine abgeholt und
zu einem Haus in Dresden gefahren worden.
Mord an Alfred Herrhausen in Bad Homburg Dort seien Putin und ein weiterer KGB-Kol-
1989: Der Bombenanschlag auf den Chef lege dazugestoßen und hätten mit den Extre-
der Deutschen Bank ist bis heute ungeklärt misten über Terroraktionen gesprochen. »Wir
erhielten nie direkte Anweisungen«, so der
Informant. »Es hieß immer nur: ›Wir haben
gehört, dass ihr dieses und jenes plant – wie
wollt ihr es anstellen?‹« Putin und sein KGB-
Kollege hätten den RAF-Kämpfern dann
Sächsische Zeitung / IMAGO
»Vorschläge« für Attentate gemacht und bis-
weilen »alternative Ziele« empfohlen.
Bei den Dresdner Geheimtreffen, so schreibt
Belton unter Berufung auf ihren Kronzeugen,
sei Putin »als einer der Anführer aufgetreten«.
Sogar ein Stasi-General, der ebenfalls dabei
Beerdigung von Rainer Sonntag in Dresden
1991: Der Neonazi soll einem Spionagering gewesen sei, habe seinen Befehlen gehorcht.
gedient haben und wurde von einem Zuhälter Am Ende hätten die Terroristen Wunschlisten
erschossen für Waffen überreicht. Die seien dann von
KGB-Agenten an geheime Orte geliefert und
von RAF-Mitgliedern abgeholt worden.
Laut Beltons Quelle war der Terror der
Tibor Rozsaheghi / picture-alliance / dpa
RAF damals ein »Kernelement der KGB-Stra-
tegie«, die Bundesrepublik zu destabilisieren.
Diesem Zweck habe auch das Attentat auf
Alfred Herrhausen gedient, das angeblich
ebenfalls von Putin und dem KGB initiiert
worden sei. Der Chef der Deutschen Bank
wurde am 30. November 1989 in Bad Hom-
burg bei einem bis heute ungeklärten Bom-
Prozess gegen Dietmar C. in Budapest 2001:
benanschlag ermordet.
Der gebürtige Saarländer will neben Putin »Ich weiß, dass das Ziel aus Dresden vor-
auch Osama Bin Laden kennengelernt haben gegeben wurde«, behauptet Beltons ver-
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 23
DEUTSCHLAND
meintlicher RAF-Informant. »Sie haben uns
benutzt, um den Westen zu erschüttern.«
Weitere Zeugen oder Belege für einen KGB-
Hintergrund des Anschlags auf Herrhausen
bleibt Belton in ihrem Buch schuldig. In einer
Fußnote beruft sie sich lediglich auf das »ehe-
malige RAF-Mitglied«, das sie im März 2018
gesprochen habe.
Da kursierte die Story von Putin, der RAF
und den Geheimtreffen in Dresden schon im
Internet, etwa auf dem Blog »Putinism«.
Doch anders als bei Gessen und Belton wur-
de das angebliche RAF-Mitglied dort nicht
anonymisiert, sondern genannt: Dietmar C.
Fragen des SPIEGEL , ob es sich bei dem
angeblichen RAF-Zeugen um Dietmar C. han-
delt, ließ Gessen unbeantwortet. Belton er-
klärte, dass sie sich aus Gründen des Infor-
mantenschutzes nicht zu ihrer Quelle äußern
werde. Dies wäre ein Verstoß gegen Verein-
barungen, die zur Gewährleistung der Sicher-
heit der fraglichen Person getroffen worden
seien. Sie habe jedoch Dokumente einsehen
können, »die der Aussage dieser Person
Glaubwürdigkeit verliehen«. Welche Schrift-
stücke das waren, ließ Belton offen.
Weniger diskret wurde die Quelle der ver-
meintlichen RAF-KGB-Connection in der
2022 erschienenen Biografie »Wladimir W.
Putin« des deutschen Journalisten Thomas
Fasbender behandelt. Dort ließ sich Dietmar
C. mit vollem Namen zitieren. Er habe in-
zwischen »keine Vorbehalte mehr, seine Iden-
tität zu offenbaren«, heißt es in dem Buch. Es
handle sich um dieselbe Person, die mit Ges-
sen und Belton gesprochen habe.
Bei einem Treffen mit Fasbender im Au-
gust 2021 schilderte C. dem Autor zufolge
erneut die angeblichen Terrorkonferenzen in
Dresden und garnierte sie mit weiteren De-
tails. So behauptete er, an den klandestinen
Zusammenkünften habe nicht nur Putin teil-
genommen, sondern auch Sergej Iwanow, der
spätere russische Verteidigungsminister.
Außerdem seien bisweilen auch Terroristen
der französischen Action directe dabei ge-
wesen oder der Leiter der Dresdner Stasi-Be-
zirksverwaltung, Generalmajor Horst Böhm.
Den habe Putin, der damals unter dem Na-
men »Wowa« aufgetreten sei, manchmal
»zum Kaffeeholen geschickt«.
Allerdings sei C. nie Mitglied der RAF ge-
wesen, schreibt Fasbender. Der Saarländer
habe die Terroristen lediglich begleitet und
unterstützt, etwa als Französischdolmetscher.
Man müsse C. nicht glauben, aber seine Ver-
sion sei »nicht minder plausibel als andere«,
resümiert der Autor.
Vom SPIEGEL zur Glaubwürdigkeit seiner
Quelle befragt, erklärt Fasbender, dass C.
»nicht den Eindruck eines Märchenerzählers
oder Hochstaplers gemacht« habe. Dies be-
deute jedoch nicht, dass man »jede seiner
Aussagen für bare Münze« nehmen dürfe.
Während Fasbender C. als »Mann mit
linksradikaler Vergangenheit und einem schil-
lernden Lebensweg im Dunstkreis des Terro-
24 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
rismus« und der Geheimdienste beschreibt,
haben die deutschen Sicherheitsbehörden
keinerlei Erkenntnisse über Verbindungen
des Mannes zur RAF, zum KGB oder zur
Stasi. Nach SPIEGEL -Recherchen liegen we-
der der für Terrorermittlungen zuständigen
Bundesanwaltschaft noch der Spionageab-
wehr des Bundesamts für Verfassungsschutz
oder dem Stasi-Unterlagen-Archiv entspre-
chende Hinweise vor.
Auch der letzte Leiter der Stasi-Abteilung
XXII/8, die sich auf Befehl von Minister
Erich Mielke um die Überwachung der
RAF kümmern musste, erklärt gegenüber
dem SPIEGEL , nie von dem Mann gehört zu
haben.
Gut bekannt ist C. stattdessen bei der west-
deutschen Justiz: Seit den Siebzigerjahren
wurde der Saarländer immer wieder akten-
kundig, mit Delikten wie Unterschlagung,
Diebstahl, Nötigung oder Verstößen gegen
das Waffengesetz. Wiederholt saß er in Haft,
noch 2017 verurteilte ihn ein bayerisches
Amtsgericht wegen Körperverletzung zu
einer Geldstrafe. Sein Bundeszentralregister-
auszug enthielt laut Urteil damals »zwölf
Einträge«.
Neben seiner kriminellen Karriere gab C.
gern spektakuläre Storys zum Besten – mit
sich selbst in der Hauptrolle. So erzählte er
dem Enthüllungsjournalisten Jürgen Roth
einst eine völlig andere Version seiner Bio-
grafie. Anders als bei Fasbender, dem C. be-
richtet hatte, er sei Anfang der Siebzigerjah-
re Mitglied eines anarchistischen Kampfbunds
in Süddeutschland gewesen und so in Kontakt
zur RAF gekommen, berichtete er Roth offen-
bar, »in den frühen Siebzigerjahren« als
»Söldner« in Afrika gekämpft zu haben, im
damaligen Rhodesien.
Tatsächlich kämpfte Dietmar C. nach An-
gaben eines einstmals engen Weggefährten
damals weder für die RAF noch in Rhode-
sien – sondern schob Dienst bei der Bundes-
wehr. Dort habe er eine Ausbildung zum
Sanitäter gemacht, Ausrüstung geklaut und
sei desertiert. Tatsächlich wurde C. im De-
zember 1972 vom Amtsgericht Marburg we-
gen Fahnenflucht verurteilt.
Wenige Monate später, im Mai 1973, stand
der damals 21-Jährige erneut vor Gericht. Wie
sein einstiger Vertrauter dem SPIEGEL be-
richtete, gehörte C. im Saarland einer Hippie-
gruppe an, die davon träumte, nach Kanada
auszuwandern und eine Landkommune zu
gründen. Das Startkapital sollte mithilfe von
Banküberfällen besorgt werden, doch die
Clique wurde ertappt. Ein Jugendschöffen-
Der Überläufer teilte sein
Wissen nicht nur mit der
Spionageabwehr, sondern
auch mit diversen Medien.
gericht in Saarbrücken verurteilte C. zu drei
Jahren Jugendstrafe.
Auch eine weitere Story kann so nicht stim-
men. »Anfang der Achtzigerjahre«, so heißt
es in Jürgen Roths 2016 erschienenem Buch
»Schmutzige Demokratie«, habe sich C. »ei-
nige Jahre in Afghanistan« aufgehalten und
die dortigen Mudschaheddin »im Kampf
gegen die sowjetischen Truppen« unterstützt.
»Verschiedene Male« habe sich der Saarlän-
der auch mit Osama Bin Laden getroffen, den
er als sehr »ruhige Persönlichkeit« erlebt
habe.
Die Akten erzählen eine andere Geschichte:
Statt »einige Jahre« am Hindukusch gekämpft
zu haben, verbüßte C. Anfang der Achtziger-
jahre mal wieder eine Freiheitsstrafe in
Deutschland. Im Dezember 1980 hatte er mit
einem Komplizen eine Bank im rheinland-
pfälzischen Konz überfallen, so berichtete es
der ehemalige Weggefährte. Im September
1981 verurteilte das Landgericht Trier C. des-
halb wegen räuberischer Erpressung zu sechs-
einhalb Jahren Haft. Im Oktober 1987 wurde
er erneut aktenkundig – wegen »fahrlässigen
Fahrens ohne Fahrerlaubnis«.
Den Akten zufolge verbrachte C. einen
Großteil der Achtzigerjahre in Haft oder
unter den wachsamen Augen von Polizei,
Justiz und Bewährungsaufsicht. Wie er es
fertiggebracht haben will, zwischendurch
Zeit für afghanische Mudschaheddin, KGB-
Agenten und RAF-Terroristen zu finden,
bleibt sein Geheimnis. Auch ein Strafbefehl
der Justiz in Mönchengladbach weckt Zwei-
fel an seiner Glaubwürdigkeit. Dort wurde
C. im Mai 1995 wegen uneidlicher Falschaus-
sage zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung
verdonnert.
Kurz darauf, 1996, geriet C. als mutmaß-
licher Lieferant einer Handgranate in die
Schlagzeilen, die am Tatort der Entführung
des Hamburger Millionärs Jan Philipp
Reemtsma gefunden worden war (SPIEGEL
3/1997). Später wurde er in anderer Sache in
Ungarn verhaftet und zu einer Gesamtfrei-
heitsstrafe von elf Jahren verurteilt; unter
anderem wegen illegalen Sprengstoffhandels
und Beihilfe zur Geldfälschung.
C. wurde nach Deutschland überstellt und
lebt seit Jahren in Bayern. Heute gehört er
dem Vorstand eines selbst gegründeten Ver-
eins an, für den er als »juristischer Berater«
tätig ist. In den amtlichen Registerakten fir-
miert er als »Dr. Dietmar C.«.
Wie er zu seinen akademischen Ehren ge-
kommen sein will, bleibt unklar – schriftliche
Fragen des SPIEGEL zu all den Vorgängen ließ
C. unbeantwortet. Auf telefonische Nachfrage
räumt er ein, sich mit Masha Gessen ausge-
tauscht zu haben, aber angeblich nicht über
DDR-Ausflüge der RAF. Auf die Frage, ob er
mit Catherine Belton über Putin in Dresden
gesprochen habe, antwortet er: Ȇber Putin
in Dresden? Nein.« Worüber dann? »Dazu
möchte ich nichts sagen. Das soll Frau Belton
erklären.« Auch mit dem Journalisten Fasben-

der will er nie über Reisen der RAF in
die DDR gesprochen haben. An seine
schriftliche Autorisierung der fragli-
chen Buchpassagen und die Erlaubnis
zur Nennung seines Namens, die dem
SPIEGEL vorliegt, könne er sich nicht
erinnern, sagt C. Zur Frage, ob er
selbst bei Putin in Dresden war, will
er sich nicht äußern. Auf eine Feststel-
lung aber legt C. großen Wert: Er sei
»zu keiner Zeit Mitglied der RAF« ge-
wesen.
Die vermeintliche Dresden-Con-
nection zwischen RAF und KGB ist
nicht das einzige Narrativ, das die
Fantasie von Biografen, Journalisten
und Putin-Forscherinnen beflügelte.
Die Berichte reichen von einem ge-
heimen Spionagenetz Putins bis zu
einem bekannten Neonazi, den der
KGB-Mann als Informanten geführt
haben soll. Für keine der Episoden
finden sich Belege in den bislang er-
schlossenen Stasi-Akten.
Erstmals publik wurden die aufre-
genden Geschichten Anfang 2000.
Putin war gerade russischer Staatsprä-
sident geworden, Heerscharen von
Reportern begaben sich auf Spuren-
suche in seine Vergangenheit. Die bri-
tische »Sunday Times« berichtete über
einen »Ring aus 15 Agenten«, den
Putin angeblich aufgebaut habe. Die
»Sächsische Zeitung« schrieb, dass
sich unter den geheimen Zuträgern der
berüchtigte Dresdner Neonazi Rainer
Sonntag befunden habe, der 1991 er-
schossen wurde. Und in der »Welt«
war von einem ostdeutschen Medizi-
ner zu lesen, dem Putins Agenten an-
geblich »Pornografie mit jungen Mäd-
chen« unterschieben wollten, um ihn
dazu zu bringen, falsche Daten über
»chemische Kampfführung« in ein
Computernetz einzuspeisen.
Auch das ZDF und der »Focus« be-
richteten über ein Spionagenetzwerk,
die Nachrichtenagentur Reuters mach-
te die Story im Mai 2000 quasi amt-
lich: Der Sprecher der Stasi-Unterla-
gen-Behörde, so meldete die Agentur
damals, habe bestätigt, dass Putin
1990 einen Agentenring aus ehe-
maligen Stasi-Mitarbeitern aufge-
baut habe, »der nach dem Ende der
DDR weiter für die Sowjets arbeiten
sollte«.
Das Behördentestat erwies sich
jedoch als Ente: Tatsächlich verfüge
man weder über Erkenntnisse noch
über Unterlagen »zur Tätigkeit des
früheren KGB-Offiziers Wladimir Pu-
tin in Dresden«, schrieb die Behörde
tags darauf in einer kaum beachteten
»Klarstellung«.
Die Journalistinnen und Journa-
listen verschiedener Medien hatten
sich bei ihren Recherchen vor allem
DEUTSCHLAND
auf die Angaben eines entlassenen
Betriebsvergnügen auf Stasi-Art Stasi-Mitarbeiters namens Klaus Z.
1 | KGB-Offizier Putin auf einem deutsch-sowjetischen Freund- gestützt, der unter Pseudonymen wie
schaftsabend in Dresden in den Achtzigerjahren 2 | Bei Urkunden- »Peter Ackermann« oder »Michael
verleihung mit Angehörigen der DDR-Staatssicherheit Mannstein« firmierte.
3 | Mit Genossen und Radeberger Bier auf geselligem Abend
4 | Zugangsausweis der Dresdner Stasi-Bezirksverwaltung Bei der Stasi hatte der heute
66-Jährige keine glanzvolle Karriere
1 hingelegt. Anfang der Achtzigerjah-
re war er zunächst als einfacher
Mitarbeiter in Abteilung XV der
Dresdner Bezirksverwaltung tätig,
bevor er 1988 in die weniger prestige-
trächtige Abteilung VIII versetzt
wurde. Dort befasste er sich laut Per-
sonalakte unter anderem mit »kon-
spirativen Wohngebietsermittlun-
gen«, im Jahr darauf wurde er erneut
versetzt und kümmerte sich um
»technische Sicherungen« in Stasi-
Liegenschaften.
Seine Vorgesetzten beurteilten den
jungen Leutnant zwiespältig: Einer-
seits zeichne er sich durch »hohe Ein-
satzbereitschaft und maximale Aus-
2
lastung der Arbeitszeit« aus, anderer-
seits neige er dazu, sich im Dickicht
der Informationen zu verlaufen. Weil
er stets bestrebt sei, »Sachverhalte bis
ins kleinste Detail aufzuklären«, ver-
liere der Genosse schnell den Blick
auf das große Ganze.
Eine Vielzahl von Details lieferte
Z. nach der Wende auch dem Bundes-
amt für Verfassungsschutz. Nach sei-
ner Entlassung aus der Stasi war er
an Weihnachten 1990 frustriert nach
Köln-Chorweiler gereist und hatte
sich der westdeutschen Spionageab-
wehr angeboten. Zu diesem Zeit-
punkt, ein gutes Jahr nach dem Mau-
erfall, war die Neugier der Agenten-
3
jäger auf Interna aus der Dresdner
Stasi-Außenstelle nicht mehr sonder-
lich ausgeprägt. Ihr Interesse stieg
erst, als das Gespräch auf die »Freun-
de« vom KGB kam.
Z. berichtete von einer alkohol-
reichen Feier Ende 1984, auf die ihn
seine Ehefrau mitgenommen habe,
die damals bei der DDR-Kriminal-
polizei arbeitete. Auf der Party habe
er einen gewissen Georg S., genannt
»Schorsch«, kennengelernt. Offiziell
habe dieser der Abteilung K1 der
Volkspolizei angehört, in Wahrheit
jedoch vor allem für den KGB ge-
arbeitet.
1985 will Z. beim Stasi-Betriebs-
sport dann einen Russen namens
»Wolodja« getroffen haben, man habe
sich privat besucht und Ausflüge
unternommen. Später will Z. erfahren
Stasi-Unterlagen-Archiv (4)
haben, dass »Wolodja« ein Kontakt-
mann von »Schorsch« beim KGB ge-
wesen sei. Und als sich irgendwann
das Ende der DDR abzeichnete,
habe man gemeinsam überlegt, ob Z.
4 fortan konspirativ für den KGB ar-
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 25
DEUTSCHLAND
beiten könne, was aber nie richtig umgesetzt
worden sei.
Überläufer Z. begann nach seiner Kölner
Weihnachtsbeichte 1990 ein neues Leben in
Westdeutschland, unter anderem als Security-
Mann beim ZDF. Es wurde still um ihn – bis
er sich 1999 überraschend wieder bei seinem
Fallführer beim Verfassungsschutz meldete:
Er habe »Wolodja« im Fernsehen wieder-
erkannt, jenen sowjetischen Geheimdienst-
mann, den er einst in Dresden kennengelernt
habe. Es handle sich um keinen Geringeren
als den gerade ernannten russischen Minister-
präsidenten Wladimir Putin.
Mit ihm habe er damals in Dresden Sport
getrieben und Ausflüge unternommen. Zum
letzten Mal habe er Putin im Januar 1990 ge-
troffen, in seiner Wohnung, gemeinsam mit
einem anderen KGB-Mann. Spontan habe er
selbst Papier aus dem Schrank geholt und eine
handschriftliche Selbstverpflichtung für den
KGB verfasst. Doch niemand habe sich je ge-
meldet.
Um weitere Details über Putins KGB-Ver-
gangenheit herauszufinden, sollte Überläufer
Z. offenbar versuchen, seine alten Kontakte
zu »Schorsch« zu reaktivieren, der sich in
Dresden inzwischen als Privatdetektiv durch-
schlug. Die Operation endete im Fiasko. Z.
teilte sein Wissen über »Wolodja« nicht nur
mit der Kölner Spionageabwehr – sondern
auch mit diversen Medien, die seine Angaben
zu saftigen Storys verarbeiteten.
Das ZDF etwa ließ Z. eine Szene nach-
spielen, in der er eine selbst verfasste Ver-
pflichtungserklärung für Putin unterschreibt.
Der »Focus« stellte ihn als Topquelle des Ver-
fassungsschutzes dar, der nicht weniger als
»15 deutsche Kundschafter in Moskaus Diens-
ten« habe auffliegen lassen – und früh geahnt
haben will: Aus Putin »wird noch was«.
Heute lebt Z. als Rentner in einem Plattenbau
in der sächsischen Provinz. Als Treffpunkt
schlägt er eine »griechische Nationalitäten-
gaststätte mit angenehmer Treff-Atmosphä-
re« vor. Dort beantwortet Z. bereitwillig Fra-
gen des SPIEGEL .
In dem mehr als dreistündigen Gespräch
räumt er ein, dass viele der Informationen über
Putin, die ihm diverse Medien im Lauf der Jah-
re zugeschrieben haben, gar nicht auf eigenem
Erleben beruhten. Manche Zusammenhänge
habe er nachträglich recherchiert, zum Beispiel
mithilfe von Zeitungsmeldungen, andere an-
hand von Aussagen von »Schorsch« oder an-
deren ehemaligen Kollegen »kombiniert«.
Vieles beruht zudem auf reinen Vermutun-
gen, etwa die Geschichte über den angeb-
lichen Erpressungsversuch des Giftforschers:
Dazu habe »Schorsch« lediglich »rudimentä-
re« Andeutungen gemacht, sagt Z. heute. Die
habe er nachträglich mit anderen Informatio-
nen kombiniert. Durch eine Recherche in
einer Chronik der Medizinischen Akademie
Dresden sei er schließlich auf einen Professor
gestoßen, zu dem »Schorschs« Angaben pas-
sen könnten. Ob der Mann tatsächlich mit
26 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Stasi-Unterlagen-Archiv
Stasi-Minister Mielke (2. v. l.), KGB-Mann Putin
chemischen Kampfstoffen zu tun hatte, vom
KGB erpresst werden sollte und ob Putin et-
was damit zu tun hatte, wusste Z. jedoch nicht
zu sagen. »Schorsch« kann man dazu nicht
mehr befragen, er starb 2010.
Ähnlich wie mit der Giftforscher-Geschich-
te verhält es sich bei der Sache mit Putins ver-
meintlichem Spionagering aus 15 Agenten. Laut
Z. habe er davon ebenfalls durch Andeutung
von »Schorsch« bei einer Feier in einem Bier-
zelt in Dresden kurz vor dem Mauerfall erfah-
ren. Der habe von »Truppen« in weiteren DDR-
Bezirken gesprochen. Z. verstand das so, dass
»Schorsch« damit verdeckte KGB-Kollegen
meinte. Er habe gewusst, dass in »Schorschs«
Dresdner KGB-Gruppe fünf Agenten arbeite-
ten, und habe die Zahl einfach hochgerechnet.
Auch die von manchen Medien kolportier-
te Behauptung, der Dresdner Neonazi Rainer
Sonntag habe für Putins KGB-Netz spioniert,
basiert auf einer gewagten Interpretation der
Angaben von Z. Sonntag bewegte sich zu
DDR-Zeiten im kriminellen Milieu und saß
zwischen 1972 und 1981 immer wieder in
Haft, unter anderem wegen Diebstahl und
geplanter »Republikflucht«. Im November
1985 wurde er in die Bundesrepublik abge-
schoben, wo er im Frankfurter Rotlichtmilieu
arbeitete und sich der rechtsextremen Szene
anschloss. Nach der Wende kehrte Sonntag
nach Dresden zurück und geriet in eine Aus-
einandersetzung im örtlichen Rotlichtmilieu.
1991 erschoss ihn ein Zuhälter.
»Schorsch« habe ihm damals anvertraut,
so erzählt es Z. heute, dass Sonntag einst als
Die Rolle als Bittsteller für
einen abgehalfterten Spitzel
passt nicht ganz zum
Image eines Topspions.
Polizeispitzel für ihn tätig gewesen sei. Er, Z.,
habe dann in aufwendiger Eigenrecherche
eine »Zeitschiene« erstellt. Daraus abzulei-
ten, dass Sonntag für den KGB oder Putin
gearbeitet habe, erfordert jedoch viel Fanta-
sie. Denn laut Stasi-Unterlagen wurde Sonn-
tag Ende der Siebzigerjahre lediglich als
»Kandidat« für eine Spitzeltätigkeit als »In-
offizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter«
bearbeitet – ohne Erfolg: Wegen »Dekonspi-
ration« des Kandidaten brach die Stasi die
Anwerbung ab. Auf Verbindungen zu
»Schorsch« oder dem KGB finden sich keine
Hinweise in der Akte.
Über Putin selbst sind kaum Stasi-Unter-
lagen überliefert. Zu den wenigen Blättern,
in denen sein Name auftaucht, gehört ein
Schreiben aus dem Jahr 1989, in dem er – in
Vertretung des eigentlich zuständigen KGB-
Verbindungsoffiziers – den Dresdner Stasi-
Chef um Hilfe bittet. Es geht um einen KGB-
Informanten namens Gerhard B., dem das
Telefon abgeschaltet wurde. Der ehemalige
Hauptmann der DDR-Kriminalpolizei galt
wegen Trunkenheit und Geldschulden als Si-
cherheitsrisiko und war aus dem Dienst ent-
fernt worden. Putin bat die Stasi nun im Auf-
trag seines Chefs darum, den Anschluss des
Mannes wieder freizuschalten, da er den KGB
weiter unterstütze.
Die Rolle als Bittsteller für einen abgehalf-
terten Spitzel passt nicht ganz zum Image
eines Topspions. Sie dürfte Putins Alltag in
der Dresdner KGB-Außenstelle aber treffen-
der beschreiben als die Geschichten über Ter-
roristen und geheime Waffenlager.
Tatsächlich ging es in der sächsischen
KGB-Residentur weit weniger glamourös zu
als in manch einem Sachbuch behauptet. In
einem der Arbeitsbereiche kannte sich Putin
schon seit seiner Geheimdienstzeit in Lenin-
grad bestens aus: der Unterdrückung der Op-
position. Noch im Oktober 1989 denunzierte
Putins Vorgesetzter, Generalmajor Wladimir
Schirokow, einen Studenten der Technischen
Universität Dresden bei der Stasi. »Mittels
des in seinem Besitz befindlichen Druckers«
habe der junge Mann einen Aufruf der Demo-
kratiebewegung »Neues Forum« vervielfältigt
und unter den Studierenden verteilt.
Wenige Wochen später fiel die Mauer, und
das SED-Regime war Geschichte. Am Abend
des 5. Dezember 1989 zogen Bürgerrechtle-
rinnen und Bürgerrechtler auch vor die KGB-
Filiale in der Dresdner Angelikastraße. Dort
trafen sie auf Sowjetsoldaten, die das Gelän-
de sichern sollten.
Die Szene bot die Kulisse für den letzten
Mythos über Putins DDR-Zeit: Einer Version
zufolge stellte er sich den Demonstranten hel-
denhaft entgegen, mit entschlossenem Blick
und bewaffneten Soldaten an seiner Seite.
Nach einer anderen Version stand nur ein
kleiner Mann am Eingang der nahe gelegenen
Stasi-Zentrale und beobachtete das Schau-
spiel aus sicherer Entfernung.
Dass der heutige Präsident Russlands da-
mals vor Ort war, kann nicht belegt werden. n

Erdbeeren
mit Chemie
SPRITZMITTEL Eine Untersuchung
der Universität Stockholm zeigt,
dass Agrarkonzerne immer wieder
Studien über mögliche Gefahren
ihrer Pestizidwirkstoffe bei
der EU-Behörde zurückhielten.
ie winzige Spinnmilbe ist gefürchtet.
D Das Tier webt ein feines Netz um Erd-
beerpflanzen und saugt sie aus, bis sie
absterben. Das kann die Ernte ruinieren. Bis
vor Kurzem konnten Landwirte den Schäd-
ling auf dem Erdbeerfeld mit dem Pestizid
Vertimec Pro bekämpfen, das den Stoff
Abamectin enthält. Doch nun zeigt sich: Der
Wirkstoff durfte wohl jahrelang zu leichtfertig
auf deutsches Obst gespritzt werden.
Denn als die EU 2009 Abamectin als Wirk-
stoff zugelassen hat, fehlten relevante Studien
zu dessen Bewertung. Der Agrarkonzern
Syngenta hatte zwei Untersuchungen mit
Tierversuchen nicht eingereicht. Diese hatten
gezeigt, dass Abamectin bei weiblichem Rat-
tennachwuchs zu einer verzögerten sexuellen
Entwicklung führen kann.
Erst etwa ein Jahrzehnt später erfuhr die
Europäische Behörde für Lebensmittelsicher-
heit (EFSA) von den Ergebnissen. Die Ge-
sundheitsexperten waren alarmiert und senk-
ten die erlaubten Rückstandsmengen des
Pflanzenschutzmitteleinsatz im Obstbau: Sicherheitslücke vor Augen geführt
DEUTSCHLAND
Stoffes, die sich etwa auf Gurken, Tomaten der Zulassung für die EU. In 3 der insgesamt
und Zucchini befinden dürfen. Man könne 35 untersuchten Fälle führte das Bekannt-
ein »akutes Risiko« für Menschen, die mit werden der zurückgehaltenen Untersuchun-
Abamectin behandelte Obst- und Gemüse- gen zu einer Neubewertung der Stoffe.
sorten konsumierten, nicht ausschließen, so »Wenn Firmen selbst entscheiden, welche
die Begründung der EFSA in ihrem Risiko-
bericht von 2021. Schädlinge auf Äpfeln und
Birnen sollten demnach gar nicht mehr mit
Studien sie einreichen, besteht das Risiko,
dass die entsprechenden Schlussfolgerungen
am Ende falsch sind«, sagt Axel Mie.
Abamectin bekämpft werden. Auch bei Erd-
beeren muss der Wirkstoff sparsamer einge-
setzt werden als bisher.
Studien zur Entwicklungsneurotoxität sind
im EU-Zulassungsprozess in der Regel nicht
zwingend vorgeschrieben. Die Stockholmer
Syngenta schreibt auf Nachfrage des Wissenschaftler interpretieren die geltenden
SPIEGEL, man habe stets alle Datenanforde- Regeln aber so, dass es eine »eindeutige An-
rungen der EU erfüllt. Die Studien seien im forderung« an die Hersteller gebe, alle einmal
Rahmen des Zulassungsprozesses in den USA durchgeführten Studien einzureichen. Weder
durchgeführt worden. Im EU-Verfahren seien die EFSA noch die für die Rechtsauslegung
sie damals keine »regulatorische Anforderung« zuständige EU-Kommission konnten oder
gewesen, man habe sie daher nicht »proaktiv« wollten die Frage beantworten, ob Syngenta
eingereicht. Der Konzern sei davon ausgegan- und die anderen Hersteller die Untersuchun-
gen, dass sie keine neuen Erkenntnisse bezüg- gen hätten vorlegen müssen oder nicht. Die
lich der Risiken des Wirkstoffs ergeben hätten. EU-Kommission schickte lediglich ein allge-
Wie kann es sein, dass offenbar brisante meines Statement, in dem es heißt, dass Her-
Untersuchungen über Jahre hinweg in der steller verpflichtet seien, »alle Informationen
Schublade eines Agrarkonzerns schlummern?
»Hätte Syngenta diese Studien den Be-
hörden bei der Erstzulassung des Stoffes
über potenziell schädliche Wirkungen des
Wirkstoffs« vorzulegen. Wer aber entscheidet
darüber, was potenziell schädlich ist?
vorgelegt, wären die Anwendungen bei ver- In Kommissionskreisen war man im Sep-
schiedenen Obstsorten wohl schon damals tember vergangenen Jahres dann aber offen-
eingeschränkt worden«, sagt der Chemiker bar doch alarmiert, als Hinweise über fehlen-
Axel Mie von der Universität Stockholm. de Studien eintrudelten. Das geht aus einer
Er und seine Kollegin Christina Rudén E-Mail hervor, die dem SPIEGEL vorliegt.
sind in einer aktuellen Forschungsarbeit der Wenn Hersteller Studien mit »ungünstigen
Frage nachgegangen, ob Fälle wie der von Ergebnissen« nicht einreichten, stelle das »ein
Abamectin System haben. Die Untersuchung ernstes Problem« dar, heißt es in der Mail
liegt dem SPIEGEL , dem Bayerischen Rund- eines Kommissionsvertreters.
funk, dem »Guardian«, »Le Monde« und dem Unter den Konzernen, die nicht alle Stu-
Sender SRF vor. Das Forscherteam untersuch- dien bei der EU vorgelegt haben, ist auch ein
te darin, ob Agrarkonzerne sämtliche Tier- deutsches Unternehmen. Bayer hat im EU-
versuche zu einer potenziellen Schädigung Zulassungsprozess für den Wirkstoff Fenami-
der Gehirnentwicklung bei menschlichen Fö- phos im Jahr 2004 eine Untersuchung nicht
ten und Säuglingen, die sie in den USA ein- vorgelegt. Auf Anfrage antwortet die Firma,
reichten, auch EU-Behörden vorgelegt hatten. die Studie sei parallel zum Zulassungsprozess
Dabei stellte sich heraus: In einem Viertel der gelaufen und hätte die Risikobewertung des
untersuchten Fälle fehlten diese Studien zur Wirkstoffs nicht verändert.
sogenannten Entwicklungsneurotoxität bei Der Toxikologe Martin Paparella von der
Medizinischen Universität Innsbruck arbei-
tete jahrelang in der österreichischen Zulas-
sungsbehörde für Chemikalien. »Die Unter-
suchung der Universität Stockholm zeigt eine
Sicherheitslücke auf«, sagt Paparella. »Es
kann nicht sein, dass die Industrie Studien
durchführt, die sie dann nicht einreicht.«
Die Österreicherin und Promiköchin Sarah
Wiener, die als Mitglied der österreichischen
Grünenfraktion im EU-Parlament Bericht-
Ernst Weingar tner / CHROMORANGE / picture alliance
erstatterin für die EU-Pflanzenschutzmittel-
verordnung ist, übt Kritik: »Für das Zurück-
halten von Daten muss es scharfe Konsequen-
zen geben. Wenn relevante Studien nicht
eingereicht werden, ist die Gesundheit der
Menschen in der EU gefährdet.«
Syngenta hat nach der neuen Risikobewer-
tung von Abamectin vorsichtshalber selbst
Konsequenzen gezogen. Seit Dezember 2022
darf das Mittel Vertimec Pro, das den Wirk-
stoff enthält, nicht mehr bei Erdbeeren an-
gewendet werden.
Katrin Langhans n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 27
DEUTSCHLAND
Paradies in Pirmasens
KRIMINALITÄT Ein Frankfurter Anwalt soll reichen Ausländern mit einer
raffinierten Masche Aufenthaltserlaubnisse für Deutschland verschafft
haben. Und er ist wohl nicht der Einzige, der diese Tricks beherrscht.
er Besucher aus Frankfurt am Main
D machte einen guten Eindruck in Pirma-
sens. Er zeigte angenehme Umgangs-
formen, suchte zielstrebig Kontakt zu wich-
tigen Leuten der Stadt, kam zum Neujahrs-
empfang des Oberbürgermeisters. Und: Er
brachte einen Plan mit, der genau zu den
Bedürfnissen der Kommune zu passen schien.
Pirmasens am Rande des Pfälzerwalds in
Rheinland-Pfalz ist, pro Kopf berechnet, eine
der am höchsten verschuldeten kreisfreien
Städte Deutschlands. Nach dem Niedergang
der Schuhindustrie in den Siebzigerjahren
schrumpfte die Einwohnerzahl von rund
60.000 auf 40.000. Viele Häuser und Woh-
nungen stehen leer und könnten abgerissen
werden.
Dann kam der Frankfurter Anwalt Ünal
K. und erklärte sich 2016 bereit, fünf Wohn-
blöcke einer alten kommunalen Sozialsied-
lung zu kaufen, die am Stadtrand vor sich hin
bröckelten. Er wolle die Siedlung mit 68 Woh-
nungen zu einem Ferienparadies für Erho-
lungssuchende aus Kuwait oder Katar auf-
motzen, versprach K. Die arabischen Gäste
hätten es von dort nicht weit in die schönsten
Städte Europas und könnten doch von ihren
Balkonen aus in den grünen Wald blicken. Er
werde die Blöcke sanieren, mit schicken
neuen Küchen ausstatten und mit Satelliten-
fernsehen für arabische Programme. »Happy
Forest« werde das Projekt heißen.
Die Verantwortlichen der Stadt wollten die
Geschichte vom glücklichen Forst nur allzu
gern glauben. »Das klang alles nachvollzieh-
bar«, sagt der Pirmasenser Beigeordnete
Denis Clauer (CDU). Er ist Aufsichtsratschef
des kommunalen Wohnungsunternehmens
Bauhilfe, das die größtenteils leer stehenden
Wohnblöcke loswerden wollte. Die lokale
Presse berichtete hoffnungsfroh über Ünal K.
und die Feriengäste aus »wohlhabenden ara-
bischen Bevölkerungsschichten«.
Es kam anders.
Seit Mitte April sitzt K. in Untersuchungs-
haft, nach einer großen Razzia, an der mehr
als 200 Bundespolizistinnen und -polizisten
g-k-realestate.com
beteiligt waren. Die Frankfurter General-
staatsanwaltschaft wirft dem 50-Jährigen vor,
Kopf einer Schleuserbande zu sein, die mit
deutschen Aufenthaltserlaubnissen handelte.
Und aus der Siedlung am Wald wurde kein
Urlaubsparadies, sondern ein Standort von
28 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Briefkastenfirmen und teilweise fingierten
Wohnverhältnissen, die K.s Kunden als Mel-
deadresse nutzen konnten.
15 Fälle mutmaßlicher Schleuserkriminali-
tät werfen die Fahnder Ünal K. und sieben
weiteren Beschuldigten aus seinem Umfeld
vor. Die Juristen haben sich auf wenige Per-
sonen konzentriert, angeblich gibt es deutlich
mehr Verdächtige. Der Anwalt und seine Hel-
ferinnen und Helfer sollen zahlungskräftige
Ausländer davon überzeugt haben, ihnen eine
Aufenthaltserlaubnis in Deutschland als vor-
geblich selbstständige Geschäftsleute ver-
schaffen zu können.
Die Gruppe soll in Saarbrücken noch ein
ähnliches Geschäft aufgezogen haben. Und
andere kamen offenbar auf dieselbe Idee:
Schleuser, die nach einem solchen Prinzip
Geschäfte mit Aufenthaltserlaubnissen ma-
chen, gibt es nach Aussagen von Ermittlern
inzwischen an vielen Orten der Republik. In
Frankfurt am Main arbeitet die Generalstaats-
anwaltschaft seit drei Jahren an einem Fall,
in dem offenbar etliche chinesische Staats-
bürgerinnen und Staatsbürger auf diese
Weise eingeschleust worden sein sollen. Auch
in anderen Bundesländern ermittle die Bun-
despolizei, heißt es in Sicherheitskreisen.
»Edelschleusung« nennt ein Ermittler das
Geschäftsmodell. Der Fall Ünal K. zeige, wie
die Masche funktioniert.
In der Regel beschäftigt sich die Justiz mit
Schleusern, die Menschen auf lebensgefähr-
lichen Wegen übers Mittelmeer oder über die
Balkanroute nach Deutschland bringen, wo
sie dann Asyl beantragen können.
Werbung für vermeintliches Ferienziel
Edelschleuser haben eine andere, zahlungs-
kräftigere Zielgruppe im Visier. Eine Aufent-
haltserlaubnis für Deutschland ist in vielen
Ländern heiß begehrt. Wer sie besitzt, benö-
tigt auch für Reisen in andere europäische
Länder des Schengenraums keine Visa mehr.
Ein Abstecher zum Shoppen nach Paris,
Verwandtenbesuche in Belgien oder Däne-
mark, Erholungsreisen nach Spanien, Grie-
chenland oder Italien – all das wird damit
jederzeit möglich.
Interessenten zahlten fünf- oder sogar
sechsstellige Summen für das Papier, sagen
Ermittler. Schleuser organisieren dafür bei-
spielsweise einen Scheinmietvertrag, die
Gewerbeanmeldung für einen Fakejob, sie
kommunizieren mit den Ämtern und bieten
Abholservice vom Flughafen, wann immer
die deutsche Behörde ein persönliches Er-
scheinen fordert.
K.s Anwaltsbüro bezeichnete sich als
»Kanzlei für Wirtschaftseinwanderung« mit
Repräsentanzen in Dubai, Istanbul und Te-
heran. In Deutschland, so warb der Jurist,
gebe es kostenlose Schulen und Universitäten,
kaum Kriminalität, ein erstklassiges Gesund-
heitssystem, außerdem jeden Monat 250 Euro
pro Kind vom Staat und schon nach drei Jah-
ren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Deutsche Sprachkenntnisse seien nicht nötig.
Wenn seine Kanzlei die Chancen eines poten-
ziellen Einwanderungskandidaten positiv be-
werte, könne K. den Erfolg garantieren.
Die Kunden des Anwalts seien über-
wiegend aus China, Vietnam, dem Irak, dem
Sudan und der Türkei gekommen, so die Er-
mittler. Viele hätten 15.000 bis 25.000 Euro
für den vermeintlich freien Eintritt nach Euro-
pa bezahlt, einige noch deutlich mehr. Für die
meisten von ihnen ist das Geld jetzt wohl
futsch, ebenso wie die Hoffnung auf eine un-
befristete Aufenthaltserlaubnis.
Auf Nachfrage wollten sich bislang weder
Rechtsvertreter noch Vertraute von Ünal K.
zu den Vorwürfen äußern. Seine Schwester,
die mit K. zusammen eine Unternehmens-
beratung in Frankfurt betreibt, will sich nicht
zitieren lassen. Aus Familienkreisen des An-
walts heißt es, die Vorwürfe der General-
staatsanwaltschaft seien aus der Luft gegrif-
fen. Man werde K.s Unschuld beweisen.
Die Ermittler halten es für möglich, dass
es Ünal K. anfangs ernst gemeint haben könn-
te mit den Ferienwohnungen für Golfstaaten-
gäste. Einer der fünf Wohnblöcke sei unmit-
telbar nach dem Kauf saniert worden, sagt
Ralph Stegner, Geschäftsführer der Pirma-
senser Bauhilfe. Er habe den Frankfurter An-
walt als »seriös, nahbar, interessiert und gut
informiert« in Erinnerung.
Die Raten für die vereinbarte Kaufsumme,
einige Hunderttausend Euro, habe der Anwalt
komplett gezahlt. Zudem habe K. eine Werbe-
kampagne aufgezogen. Pirmasens erschien
darin als Zentrum Europas, nicht weit entfernt
vom internationalen Frankfurter Flughafen
mit seinen Direktverbindungen in die ganze
Welt – und trotzdem mitten im Grünen.
Miriam Stanke / DER SPIEGEL
Der Touristenstrom aus der ara-
bischen Welt blieb jedoch offenbar
aus. Daraufhin habe Ünal K. den Ver-
antwortlichen der Stadt vorgeschla-
gen, das Geschäftsmodell zu ändern,
so erinnert sich der Kommunalpoli-
tiker Clauer. Die Wohnungen sollten
künftig auch an Unternehmerinnen
und Unternehmer aus dem Ausland
vergeben werden. Diese könnten
dauerhaft mit ihren Familien nach
Pirmasens ziehen, ihre Kinder zur
Schule schicken, Arbeitsplätze schaf-
fen und Steuern zahlen.
K. stellte für seine Kunden beim
örtlichen Ausländeramt dutzendwei-
se Anträge auf ein Aufenthaltsrecht
für Selbstständige. Ein aufwendiges
Verfahren, mit dem viele kommunale
Behörden außerhalb von Großstäd-
ten eher selten in Berührung kom-
men. Dafür müssen etwa Geschäfts-
prognosen erstellt und beurteilt wer-
den. Auch die Stadtverwaltung in
Pirmasens habe damit kaum Erfah-
rung gehabt, sagt Steffen Schmitt,
Chef des zuständigen Ordnungsamts.
Plötzlich hätten sich im Amt dicke
Ordner mit Businessplänen gestapelt,
die Ünal K. für seine Kunden ein-
gereicht habe, um die Bedingungen
des Aufenthaltsgesetzes zu erfüllen.
Außerdem Miet- oder Kaufbestäti-
gungen, mit denen ein Wohnsitz in
der Siedlung bescheinigt wurde.
Schließlich sollte die Behörde davon
ausgehen, dass die Stadt durch das
angekündigte Geschäft der Neubür-
ger kräftig Steuern einnehmen würde.
Die Pirmasenser Behörde stellte,
wie es das Gesetz vorsieht, zunächst
befristete Aufenthaltserlaubnisse aus.
Diese können nach drei Jahren in
dauerhafte Niederlassungserlaubnis-
se umgewandelt werden. Aber nur,
wenn die Selbstständigen und ihre
Familien von den Geschäftsideen le-
ben können.
Daran seien seinen Leuten im Aus-
länderamt bald Zweifel gekommen,
sagt Schmitt. Die Businesspläne hät-
ten sich bei genauerem Hinsehen oft
als kopierte Standardtexte erwiesen.
Manchmal seien nur die Namen der
Antragsteller und der Geschäftszweck
ausgetauscht worden. Einige hätten
angegeben, in Deutschland mit Autos
handeln zu wollen, andere mit Auto-
reifen, wieder andere mit Wein.
Auch in der Siedlung sah und sieht
es nicht nach reger Geschäftstätigkeit
aus. Nur zwei der fünf Wohnblocks
sind zumindest teilweise bewohnt, die
drei übrigen stehen augenscheinlich
leer. In einem lagern noch die Reste
abgebrochener Renovierungsarbei-
ten. An den Briefkästen pappen ver-
witterte Aufkleber mit fantasievollen
Firmennamen wie Oriental Solutions,
The Southern Sun, Global Craft oder
Janus Europa GmbH. Dazu passende
Klingelschilder gibt es meistens nicht.
Im renovierten Block in der Sied-
lungsmitte liegt immerhin ein »Busi-
ness Center« im zweiten Oberge-
schoss. Dort sitzt eine Frau hinter
einem Kopierer und sagt, dass sie
nichts sagen dürfe, man möge sich an
die Schwester von Herrn K. in Frank-
furt wenden. Am Briefkasten ihres
kleinen Büros kleben gleich acht ver-
schiedene Firmennamen.
Als das Ausländeramt K.s Kunden
zu Gesprächen vorlud und nachfrag-
te, hätten manche von ihnen zugege-
ben, nur eine oder zwei Wochen pro
Jahr in Pirmasens gewesen zu sein,
sagt Ordnungsamtschef Schmitt.
DEUTSCHLAND
bpol_koblenz / Twitter
Teilsaniertes Nachweise für ihre angeblichen Ge-
Siedlungsgebäude, schäfte seien rar gewesen. Eines Tages
Razzia im April:
Aufkleber mit
landete auf Schmitts Schreibtisch ein
fantasievollen Rundschreiben der Bundespolizei, in
Firmennamen dem vor Schleusungen mit Schein-
arbeitsverhältnissen und fingierten
Wohnungsbescheinigungen gewarnt
wurde. »Da haben wir uns gemeldet.«
Die Bundespolizisten ermittelten
monatelang, teilweise verdeckt. Sie
beobachteten K.s Kunden, protokol-
lierten ihre Ein- und Ausreisen. Dabei
zeigte sich, dass einige der von K. ver-
mittelten Familien tatsächlich dauer-
haft in Pirmasens lebten und sich be-
müht hatten, ein Geschäft aufzuzie-
hen. Immerhin rund 15.000 Euro
Gewerbesteuer hätten diese Familien
2021 gezahlt, heißt es. Es seien nur
einige wenige, aber deren Anträge auf
ein unbefristetes Aufenthaltsrecht
werde man noch einmal gesondert
prüfen, sagt Schmitt.
Die anderen werden ihr Ticket
nach Europa wohl verlieren. Einige
von ihnen, so ein Ermittler, fühlten
sich vermutlich selbst als Betrogene,
weil sie auf die Dienste von Ünal K.
vertraut und viel Geld gezahlt hätten.
Der Stadt Pirmasens dagegen sei
kein bleibender Schaden entstanden,
versichern die Verantwortlichen. Die
Siedlung sei man losgeworden, sogar
für einen angemessenen Kaufpreis,
ein Teil der Wohnungen sei jetzt re-
noviert. Selbst die Werbung für den
»Happy Forest« habe man nutzen
»Das klang können, heißt es in der Stadtverwal-
tung. Die Grafik, in der Pirmasens als
alles nach­ Mittelpunkt Europas erscheint, habe
vollziehbar.« ein Manager später leicht abgewan-
Denis Clauer, delt für eine Unternehmenspräsenta-
Beigeordneter in tion der Bauhilfe eingesetzt.
Pirmasens Matthias Bartsch n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 29
DEUTSCHLAND
Demokratie am Fließband
BUNDESTAG Der Petitionsausschuss des Parlaments bearbeitet jedes
Jahr Tausende Bürgeranliegen, vom Medikamentenskandal
bis zur Änderung des Kleingartengesetzes. Es geht um Schicksale,
Kämpfe – und oft ums Scheitern. Von Sophie Garbe
lse Meixner ist es leid, sich erinnern zu
E müssen. Sie hat ihren Schmerz oft her-
vorgekramt, ihn aufgeschrieben und
davon erzählt. Hat ihn immer wieder durch-
lebt, damit andere ihn verstehen – und ihr
vielleicht helfen.
Sechs Jahre ist es her, dass die heute
76-Jährige sich an den Deutschen Bundestag
wandte und um Hilfe bat. Sechs Jahre, das ist
wenig in einem so langen Leben und viel,
wenn man so kämpft. »Ich bin müde«, sagt
Meixner.
Am 3. April 2017 reichte Else Meixner eine
Petition beim Parlament ein, Nummer 70 948:
»Mit der Petition wird die Einrichtung eines
Entschädigungsfonds für Hunderte durch
Duogynon Geschädigte gefordert.«
Meixner hat einen Sohn, der mit schweren
Herzfehlern zur Welt kam. Noch im Kranken-
haus habe ihr eine Nonne geraten zu beten,
erzählt sie. Falls das Kind stirbt. Mit knapp
zwei Jahren wurde er das erste Mal am offe-
nen Herzen operiert – in den USA, weil er in
Deutschland schon als inoperabel galt. In den
Jahren darauf folgten weitere Operationen,
weitere Tage der Angst, ob das Kind überlebt.
Meixner ist überzeugt, dass ein Medika-
ment schuld an der Erkrankung ist. Und die
Gesundheitsbehörden, die Mutter und Kind
nicht davor schützten. Deshalb reichte Meixner
die Petition ein. Weil sie auf etwas Gerechtigkeit
hoffte. Weil sie wollte, dass der Staat ihr Leid
anerkennt und dafür um Entschuldigung bittet.
Bislang ist das nicht geschehen.
Sich mit »Bitten oder Beschwerden« ans
Parlament zu wenden ist ein Grundrecht, ver-
brieft in Artikel 17 des Grundgesetzes. Es gilt
für »jedermann«, man muss dafür weder deut-
scher Staatsbürger sein noch in Deutschland
wohnen. Das Anliegen braucht keine weiteren
Unterschriften, keine Mindestanzahl an Unter-
stützern. Jede Petition, die schriftlich eingeht
und in die Zuständigkeit der Bundespolitik
fällt, muss bearbeitet werden. Es gibt ein eige-
nes Gremium dafür: den Petitionsausschuss.
Der Petitionsausschuss ist erste Anlauf-
stelle und letzter Ausweg zugleich. Er küm-
mert sich um zornige Postulate ebenso wie
um Hilferufe von denen, die sich sonst nicht
mehr zu helfen wissen. Eine Petition kann
noch so klein, kurios oder komplex sein – der
Petitionsausschuss nimmt alles auf, stempelt
30 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
ein Aktenzeichen drauf und schickt es gege-
benenfalls einmal durch Bundestag und Re-
gierung. 2-18-15-2120-040 754 oder 3-19-05-
06-048 858, so klingt das Bitten im parlamen-
tarischen Petitionswesen.
Es ist eine Sisyphusarbeit. Ein ganzer Ap-
parat, der Schicksale in Bürokratie übersetzt,
Forderung um Forderung durch seinen Ver-
waltungsbauch schiebt, rattert, prüft, ordert,
fragt, beschließt. Man kann der Demokratie
dort bei der Arbeit zusehen. Ein Ort, an dem
greifbar wird, welche Hoffnungen Menschen
in diese Demokratie setzen – und wie auf-
reibend dieses Hoffen manchmal sein kann.
Im März dieses Jahres lädt Martina
Stamm-Fibich ins Paul-Löbe-Haus des Bun-
destags ein. Stolz tritt sie in einen kargen Bü-
roraum, runder Holztisch, ein paar Stühle.
Auf einer Anrichte steht eine einsame Pflan-
ze. »Gut, oder?«, sagt Stamm-Fibich und
meint damit wohl weniger die Inneneinrich-
tung und mehr den Raum an sich.
Andre Sommer – Petition zu Duogynon
»Ich glaube noch an
Gerechtigkeit«
DER SPIEGEL
Die SPD-Abgeordnete sitzt seit 2013 im
Petitionsausschuss, seit dieser Legislatur-
periode führt sie ihn. Lange hatte der Peti-
tionsausschuss keine eigenen Büroräume für
die Vorsitzende, anderthalb Jahre nach Be-
ginn der Legislaturperiode hat Stamm-Fibich
schließlich dieses Zimmer erkämpft. »Wir
sind das Bindeglied zwischen Parlament und
Bevölkerung. Dann brauchen wir auch einen
Ort, wohin wir die Bürgerinnen und Bürger
einladen können«, sagt die 58-Jährige.
Eigentlich ist der Petitionsausschuss ein
Schwergewicht – einer von vier Ausschüssen,
die das Grundgesetz als verpflichtend vor-
schreibt, abgeleitet aus einem Grundrecht,
»ein Seismograf der Gesellschaft«, wie
Stamm-Fibich sagt. Und doch fristet er ein
Schattendasein.
Andere Ausschüsse arbeiten an Gesetz-
entwürfen, die öffentlich im Plenum debat-
tiert werden, drehen an den großen Stell-
schrauben der Politik. Themen aus dem Pe-
titionsausschuss schaffen es dagegen selten
auf die Tagesordnung des Parlaments. Dort
geht es nicht um Gesetze, sondern Bitten, sel-
ten um das große Ganze und dafür oft ums
alltägliche Klein-Klein. »Uns beschäftigt, was
die Menschen außerhalb des Parlaments be-
schäftigt«, sagt Stamm-Fibich.
Das kann das Abbestellen von Werbepro-
spekten sein, ein Pandemie-Mahnmal, ein
Rauchverbot in Mehrfamilienhäusern, das
Bundeskleingartengesetz. Oder die Geschich-
te eines alten Medikaments.
Andre Sommer sitzt an einem Holztisch in
seinem Wohnzimmer, ein Haus in der baye-
rischen Provinz kurz vor der österreichischen
Grenze. Vor ihm liegen schlechte Nachrichten
zu Papierstapeln aufgetürmt. Er hat sie aus-
gedruckt, sortiert und wichtige Stellen mit
gelben Zetteln markiert. Gutachten, Magazin-
artikel, Briefe, die vom Versuchen erzählen
und noch häufiger vom Scheitern. Natürlich
habe er ans Aufgeben gedacht, sagt Sommer.
»Aber ich bin noch nicht bereit dazu, weil ich
noch an die Gerechtigkeit glaube.«
Der 47-jährige Lehrer kam mit Fehlbildun-
gen an Genitalien und Harnblase zur Welt.
15-mal wurde er operiert, zum letzten Mal im
Jahr 2013. Er wird ein Leben lang einen künst-
lichen Harnausgang mit Beutel tragen. Som-
mer glaubt, dass ein Medikament Ursache für
diese Fehlbildungen ist: Duogynon. Dasselbe
Präparat, das Else Meixner für die Herzfehler
ihres Sohnes verantwortlich macht.
Unter dem Handelsnamen Duogynon wur-
den Kombinationspräparate vertrieben, die
vor allem in den Sechziger- und Siebziger-
jahren unter anderem als hormoneller
Schwangerschaftstest verwendet wurden.
Hatte die Frau in den Tagen nach der Ein-
nahme keine Blutung, war sie wahrscheinlich
schwanger. Bereits in den Sechzigerjahren
wurden Berichte öffentlich, die einen mög-
lichen Zusammenhang zwischen der Einnah-
me von Duogynon und Fehlbildungen bei
Kindern vermuteten. Es gibt Hinweise, dass
die staatlichen Aufsichtsbehörden spät und

Der mögliche Weg einer Petition
Eine Person reicht eine
Petition ein
Petitions-
Petition
ausschuss
Beispiel
Forderung nach
Einführung eines generellen
Florian Boillot / SZ Photo
Tempolimits von
130 km/h
S Grafik
◆
zögerlich auf diese Warnungen re-
agierten. Bis 1981 war das Medika-
ment in Deutschland auf dem Markt.
Allein hierzulande leben Schätzun-
gen zufolge 400 bis 600 mutmaßlich
Geschädigte – Menschen, die mit offe-
nem Rücken geboren wurden, mit feh-
lenden Gliedmaßen, Schäden an Ge-
hirn, Herz, Darm oder Harnblase.
Sommer ist sicher, dass Duogynon
eine Art zweites Contergan war. 2010
klagte er gegen den Pharmakonzern
Bayer. Doch nach mehr als 30 Jahren
waren alle Ansprüche verjährt.
Meixner und Sommer lernten sich
über ein Duogynon-Netzwerk ken-
nen und schlossen sich zusammen, für
einen letzten Versuch: Der deutsche
Staat soll das Fehlverhalten seiner Be-
hörden anerkennen und die Betrof-
fenen entschädigen.
»Als ich unsere Petition eingereicht
habe, dachte ich, es dauert maximal
Beschlussempfehlung
Beispiel
Ausschuss empfiehlt Überweisung
oder Abschluss der Petition
bittet um
Stellung-
nahme zuständiges
Ministerium/ Bundestag
Behörde
Rückmeldung an
Petitionsausschuss
Abschluss
Beispiel Derzeit ist nicht beabsichtigt,
ein generelles Tempolimit auf Petition wird beendet
Autobahnen einzuführen.
ein Jahr, bis darüber entschieden
wird«, sagt Meixner. Es kam anders.
Wenn es um den Fall Duogynon geht,
beginnt Martina Stamm-Fibich ihre
Sätze häufig mit einem Seufzen.
»Mich beschäftigt die Petition zu
Duogynon sehr, vor allem als Mutter«,
sagt die Politikerin. Als Meixners Pe-
tition publik wurde, habe sie viele
Anrufe bekommen von älteren Da-
men, die das Präparat genommen
hatten. Es waren Jahre der Scham
und der Schuld, die in diesen Gesprä-
chen aufbrachen. Und jetzt, sechs 11.667
Jahre später, rufen dieselben Men- Petitionen
schen an und fragen, wann endlich
etwas passiere. gingen 2021
»Es frustriert mich ja auch, dass es
so lange dauert«, sagt Stamm-Fibich beim Bundes-
und schüttelt den Kopf. »Aber ich tag ein, im
kann es noch nicht ändern.« Manche
Petitionen brauchten Zeit. Weil es Schnitt 46 pro
viele Fragen zu klären gebe, weil sich Arbeitstag.
DEUTSCHLAND
Der Bundes-
regierung steht
offen, eine
Über- Maßnahme
weisung Bundes- zu ergreifen
regierung
Beispiel
und/oder
Die Bundes-
Fraktionen
regierung
verweist auf
den Koalitions-
vertrag, der
kein generelles
Tempolimit
vorsieht.
keine Mehrheiten im Ausschuss fän-
den. Hinzu kommt, dass der Peti-
tionsausschuss sich mit vielen Schick-
salsschlägen befassen muss.
11.667 Petitionen gingen im Jahr
2021 beim Bundestag ein, im Schnitt
etwa 46 pro Arbeitstag. Viele Anliegen
sind schnell abgehandelt. Etwa weil sie
ohne Adresse eingesandt wurden oder
keine Aussicht auf Erfolg haben. An-
dere lassen die Abgeordneten über
Monate nicht mehr los, über Jahre.
Einmal hatten sie eine Sitzung zu
medizinischem Cannabis. Der Petent
forderte die Kostenübernahme durch
Krankenkassen und Straffreiheit für
Patienten. Er war zu der Sitzung ein-
geladen, um sein Anliegen persönlich
vorzutragen. Aufgrund seiner Erkran-
kung konnte er weder laufen noch auf-
recht sitzen. Sie transportierten ihn auf
einer Trage in den Saal, legten ihn auf
den Tisch vor eines der Mikrofone. Der
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 31
DEUTSCHLAND
Bundestag ermöglichte es später, dass
Krankenkassen die Kosten für medizi-
nisches Cannabis übernehmen.
Ein andermal ging es um die Be-
stattung sogenannter Sternenkinder.
Wenn Familien eine Fehlgeburt er-
litten und der Fötus unter 500 Gramm
wog, wurde dieser früher häufig im
Klinikmüll entsorgt. Der Fötus war
nach der damaligen Regelung zu
leicht, um ins Personenstandsregister
aufgenommen zu werden. Daher be-
kam er oft keine Beerdigung. Mit
einer Petition kämpften Eltern um
das Recht, auch Kinder, die unter die-
ser Gewichtsgrenze liegen, bestatten
zu dürfen – erfolgreich.
Das Petitionsarchiv erzählt diese
Geschichten zu Tausenden, von Tragö-
dien und Wutausbrüchen, Erfolgen und
Niederlagen. Es sei kein einfacher Job,
sagt Stamm-Fibich. Auch wegen der
vielen Enttäuschungen. »Es gibt Men-
schen, die denken, wir verrichten hier
eine Dienstleistung. Und dann sind sie
sauer, wenn wir nicht liefern. Aber so
funktioniert Demokratie nicht.«
Mehr als 100 Personen sind im
Bundestag für Petitionen zuständig.
Dazu gehören die 30 Abgeordneten,
die im Ausschuss sitzen, sowie ihre
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Und der Ausschussdienst, 80 Leute
arbeiten dort. Sie bearbeiten die An-
liegen als Erste, prüfen Formalitäten,
legen Akten an, ordern Stellungnah-
men von den zuständigen Ministerien
und Behörden. Entspricht eine Peti-
tion den grundlegenden Anforderun-
gen, muss die Politik antworten.
Andreas Mattfeldt hält eine dicke
Petitionsakte in die Luft. »Von solchen
Vielschreiberakten habe ich manchmal
500 hier liegen«, sagt er und lässt sie
mit einem lauten Klatschen auf den
Tisch in seinem Büro fallen. Vielschrei-
ber, das sind Leute, die sich regelmä-
ßig mit Anliegen an den Ausschuss
wenden. Einige täglich, manche sogar
mehrmals täglich. Auch ihre Anliegen
beantwortet der Ausschuss. Immer.
Das ist die Herausforderung für
jene, die mit Petitionen arbeiten: auf-
passen, dass sie sich nicht zu lange in
den Paragrafen des Patentgesetzes ver-
lieren oder in den Details der Pflege-
arbeitsbedingungenverordnung, aber
doch nie gleichgültig werden gegenüber
den Bitten, die über ihren Tisch gehen.
»Was wir hier machen, ist Demo-
kratie pur«, sagt Mattfeldt. Aber
auch: Demokratie am Fließband.
Mattfeldt ist das dienstälteste Mit-
glied im Petitionsausschuss, seit
14 Jahren ist er dabei, inzwischen ist
er Obmann für die Unionsfraktion.
Es gibt Abgeordnete, für die der Pe-
titionsausschuss eine Zwischenstation
32 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
wieder rief sie bei Abgeordneten an,
schrieb E-Mails, versuchte, ihre Peti-
tion voranzubringen. Vergebens.
Das Anliegen bleibt im Ausschuss
hängen, Gesundheitsministerium und
Abgeordnete sind sich uneinig. In Stel-
lungnahmen erklärt das Ministerium,
es sei kein kausaler Zusammenhang
zwischen Duogynon und Fehlbildun-
gen erkennbar, ebenso wenig ein Ver-
sagen der Behörden. Man wolle daher
aktuell keine weiteren Untersuchun-
gen durchführen und auch keinen Ent-
schädigungsfonds einrichten.
Dominik Butzmann / DER SPIEGEL
Die zuständigen Abgeordneten im
Petitionsausschuss sehen das anders.
Sie führen gegenteilige Erkenntnisse
an, haken nach, fordern immer wei-
tere Erklärungen an. Zwei Jahre geht
das so. Frage, Antwort, Frage, Ant-
wort. Und irgendwann, als alles ge-
fragt und gesagt und kein Einver-
Abgeordnete ist, bevor sie einen Sitz in einem Gre- ständnis in Sicht scheint: Stillstand.
Stamm-Fibich, mium mit mehr Prestige ergattern. Andre Sommer und Else Meixner
Mattfeldt:
Ein Seismograf der Mattfeldt dagegen macht den Job mit beobachten das Verfahren weitge-
Gesellschaft ehrlicher Begeisterung. »Als ich in hend hilflos. Er stoisch, sie zuneh-
den Bundestag einzog, hatte ich Sor- mend verzweifelt.
ge, dass man hier an Bodenhaftung
verliert«, sagt der 53-Jährige. Des- Eigentlich müsste ich mit dem ›Duo-
halb: Petitionen als Anker. Man lerne gynon Skandal‹ aufgeben. Dieses
viel über Sachthemen, sagt Mattfeldt. Warten, die Wut und die Zerrissenheit
Und darüber, was Menschen bewegt. zwischen Resignation und Hoffnung
Irgendwann hätten sie angefangen, macht krank. E-Mail von Else Meix-
die eigentümlichen Anliegen zu sam- ner an eine Abgeordnete, 25. Novem-
meln, erzählt Mattfeldt. »Hol mal ber 2018
bitte den Ordner«, sagt er zu seiner Gibt es etwas Neues zur Petition?
Mitarbeiterin. Er blättert und liest Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn
vor: Man soll Leuten verbieten, ein Sie mich informieren könnten. E-Mail
Handy zu bedienen, während sie vom 28. Juni 2019
einen Kinderwagen schieben. Ein
Atommülllager in der Antarktis ein- Die meisten Petitionsverfahren wer-
richten. Das Saarland an Frankreich den eingestellt, weil der Bitte nicht
abtreten. Polygamie erlauben. Wurde entsprochen werden kann. Für viele
alles schon gefordert. Leute sei das sogar in Ordnung, sagt
»Im Laufe der Jahre begegnet Stamm-Fibich, die Ausschussvorsit-
einem natürlich auch schräges Zeug«, zende. »Denen reicht es, dass sich
sagt Mattfeldt. »Aber jedes Anliegen jemand in der Politik zumindest ein-
wird gleich behandelt, geprüft und mal ernsthaft mit ihrem Anliegen aus-
bearbeitet.« einandergesetzt hat.«
Im Jahr 2021 nahm die Bundes- Und dann gibt es die Anliegen, die
regierung 5.165-mal in Petitionsver- eine Chance auf Erfolg haben. Sieht
fahren Stellung, 1.034-mal äußerten der Ausschuss Handlungsbedarf,
sich Behörden oder Abgeordnete. kann er die Petition an die Fraktionen
60.470 Schreiben und Akten ver- oder die Regierung mit einer Emp-
schickte der Ausschuss selbst, im fehlung überweisen. »Als Material«,
Schnitt 239 jeden Tag. So wird demo- wenn das Anliegen in die Vorberei-
kratischer Anspruch bisweilen zur tung von Gesetzentwürfen einbezo-
Demokratieblockade. gen werden soll. »Zur Erwägung«,
wenn die Regierung nach Möglich-
Lieber Andre, im letzten Jahr dachte keiten der Abhilfe suchen soll. Und
Einige Bürger ich auch noch, man könnte den Fall »zur Berücksichtigung«, wenn das
Duogynon mit power vorwärtspuschen. Anliegen des Petenten begründet ist
schreiben Aber außer Stress hat es nichts ge- und etwas getan werden muss.
täglich, man- bracht. E-Mail von Else Meixner an Das passiert selten. 2021 schickte
che sogar Andre Sommer, 6. April 2018 der Ausschuss 280 von mehr als
12.000 behandelten Petitionen mit
mehrmals Else Meixner stemmte sich gegen die Empfehlung an die Bundesregierung,
täglich. Trägheit des Petitionswesens. Immer 2,2 Prozent. Nur bei einer Petition

sprach sich der Ausschuss für das höchste Vo-
tum aus: »zur Berücksichtigung«.
Die Regierung ist nicht an solche Voten
gebunden, es gilt die Gewaltenteilung. Der
Ausschuss kann raten, aber nicht erzwingen.
Das kann frustrierend sein. Für Petenten, für
Abgeordnete. Aber es gibt sie, die Fälle, in
denen eine Petition zum Erfolg wird.
Für Gohdar Alkaidy gab es das höchste
Votum. Er trinkt Cappuccino in einem Kreuz-
berger Café und spricht über den Geruch von
Leichen. Auch Jahre später habe man sie noch
gerochen, sagt er, »ein bisschen wie vergam-
melter Knoblauch«.
Alkaidy trägt ein dunkles Jeanshemd und an
der Hand einen silbernen Ring mit schwarzem
Stein. Wenn er spricht, rollt er ihn zwischen
seinen Fingerspitzen hin und her. Der 36-Jäh-
rige hat wohl eines der schnellsten erfolgreichen
Petitionsverfahren der vergangenen Jahre er-
wirkt. Petition Nummer 125 051, eingereicht am
25. Juli 2021: »Der Deutsche Bundestag möge
den Völkermord an den Jesiden durch den Is-
lamischen Staat im Jahr 2014 anerkennen.«
In Deutschland gründete Alkaidy, selbst
Jeside, die »Stelle für Jesidische Angelegen-
heiten«. »Ich hatte das Gefühl, dass das Leid
der Jesiden zunehmend vergessen wurde. Da-
bei lebt fast ein ganzes Volk immer noch in
Flüchtlingslagern im Irak.« Alkaidy versuchte,
darüber mit Abgeordneten zu sprechen. »Aber
man wird abgewimmelt. Die lächeln, klopfen
dir auf die Schulter, und sobald du den Raum
verlässt, bist du vergessen.«
Die Petition war für Alkaidy »der letzte
Trumpf«. Gemeinsam mit Unterstützern tour-
te er durch die Fußgängerzonen deutscher
Großstädte und sammelte Unterschriften.
Stuttgart, Berlin, Frankfurt, Köln, München.
Eine Petition braucht keine Unterschriften,
um im Bundestag behandelt zu werden. Aber
unterschreiben mehr als 50.000 Menschen,
werden die Petenten zu einer öffentlichen
Sitzung in den Ausschuss eingeladen. Alkai-
dys Petition wurde 57.663-mal mitgezeichnet.
Am 14. Februar 2022 darf Alkaidy deshalb
seine Petition vor dem Ausschuss vorstellen.
Ein Video der Sitzung ist noch auf der Seite
des Bundestags zu sehen. Alkaidy spricht
über den 3. August 2014, als der IS ins nord-
irakische Sindschar einfiel. Darüber, wie mehr
als 5000 Menschen getötet und über 7000
verschleppt, wie Hunderttausende Jesidinnen
und Jesiden aus ihrer Heimat vertrieben wur-
den. Über das »zermürbende Gefühl von Hilf-
und Schutzlosigkeit als Minderheit«.
Am Ende hält er zwei Fotos hoch. Darauf
Sand und weiße Schädel. Massengräber. Al-
kaidy hat die Fotos gemacht, als er 2017 selbst
in der Sindschar-Region unterwegs war. Die
Gerüche der Leichen hat er mitgenommen.
Der Ausschuss empfiehlt, die Petition zur
Berücksichtigung an die Bundesregierung zu
überweisen. Am 19. Januar 2023 bringen die
Ampelfraktionen gemeinsam mit der Union
einen Antrag in den Bundestag ein, in dem
der Völkermord an den Jesidinnen und Jesi-
den anerkannt wird. Der Antrag wird an die-
DEUTSCHLAND
vertrag festgehalten, das Petitionswesen »stär-
Post vom Volk ken« zu wollen. Aber wie genau, ist offen.
Immer wenn der Petitionsausschuss seinen
Bundesministerien, zu deren Zuständigkeits- neuen Jahresbericht im Plenum des Bundes-
bereichen die meisten Petitionen eingingen,
19. Wahlperiode von 2017 bis 2021 tags vorstellt, wird der demokratische Wert
Gesundheit des Ausschusses hervorgehoben. Er sei die
8232 »Schnittstelle zwischen dem Bundestag und
seinem Souverän, den Bürgerinnen und Bür-
Inneres, Bau und Heimat
7199 gern«, eine »Rettungsinstanz in der Not«.
Im Ausschuss verdrehen manche Abgeord-
Arbeit und Soziales
neten die Augen, wenn sie das hören. »Einmal
7161
im Jahr holen sie den Ausschuss aus der Ver-
Justiz senkung und loben ihn«, sagt einer. »Aber
6704 den Rest der Zeit beschäftigt sich das Parla-
Finanzen ment dann lieber mit wichtigeren Themen.«
4273 Zumindest auf eines haben sich die Parla-
S Quelle: Bundestag
◆ mentarier geeinigt: Der Ausschuss soll besser
ausgerüstet werden. Das Petitionsportal gilt
sem Tag einstimmig angenommen. Andert- als unübersichtlich. Und dann der ganze
halb Jahre nachdem Alkaidy seine Forderung Papierkram. Leute können online eine Peti-
eingereicht hat, ist sie umgesetzt. tion einreichen, die Eingangsbestätigung be-
Damit sei der Kampf für die Rechte seines kommen sie aber immer noch per Post. Alles
Volkes zwar nicht beendet, sagt Alkaidy. wird ausgedruckt, in Ordner geheftet.
»Aber zu sehen, dass meine Petition umge- Irgendwann soll deshalb digital aufgerüstet
setzt wird, dass das Leid der Jesiden hier an- werden. Die Abgeordneten träumen bereits
erkannt wird – das war eine große Erleichte- von elektronischen Akten, vielleicht sogar
rung.« Ein solches schnelles, erfolgreiches einer App. Aber es ist eben nicht das Silicon
Verfahren ist die Ausnahme. Valley, sondern die deutsche Verwaltung. Es
Wer an Petitionen denkt, denkt oft an pri- könnte also dauern.
vate Plattformen wie Change.org, an Aufrufe Im Sommer 2020 kommt Bewegung in den
mit Hunderttausenden Unterstützerinnen Fall Duogynon. In Großbritannien hat sich
und prominenten Fürsprechern. Das digitale eine Kommission mit dem Medikament be-
Petitionsportal des Parlaments kennen hin- fasst und veröffentlicht ihren Abschluss-
gegen 82 Prozent der Bürgerinnen und Bürger bericht. Darin heißt es, dass »viele zerstörte
laut einer Umfrage nicht einmal. Leben hätten vermieden werden können«,
Seit Jahren wird im Bundestag darüber wenn die britischen Behörden die Betroffenen
diskutiert, wie man den Petitionsausschuss ernster genommen hätten. Danach kündigt
bekannter und die Verfahren besser machen auch das Bundesgesundheitsministerium an,
könnte. Die Ampel hat sogar im Koalitions- das Verhalten der zuständigen deutschen Be-
hörden prüfen lassen zu wollen.
Der Petitionsausschuss wittert seine Chan-
Gohdar Alkaidy – Petition zur Anerkennung
des Völkermords an den Jesiden ce, das Verfahren voranzutreiben. Am 19. Mai
2021 überweist er die Duogynon-Petition end-
lich dem Gesundheitsministerium »zur Er-
»Der letzte Trumpf« wägung«. Im Juli 2021 gibt das Ministerium
die Studie offiziell in Auftrag.
Mehr als anderthalb Jahre dauert es, bis
das Gutachten im März 2023 veröffentlicht
wird. Für Andre Sommer und Else Meixner
wird es die nächste Enttäuschung. Der Gut-
achter kommt zu dem Ergebnis: Die Behör-
den hätten damals keine Handhabe gehabt,
Duogynon früher vom Markt zu nehmen.
Keine Entschuldigung, keine Entschädigung.
Die letzten Jahre haben Else Meixner zer-
mürbt. »Ich glaube nicht mehr daran, dass
ich noch Gerechtigkeit erfahre, bevor ich ster-
be«, sagt sie. Die anderen aber wollen weiter-
machen. »Bevor die Sache mit Duogynon
geklärt ist, kann ich den Bundestag nicht ver-
lassen«, sagt Martina Stamm-Fibich.
Annette Cardinale / DER SPIEGEL
Nun werden sie neue Gespräche führen,
Druck aufbauen, nach Mehrheiten suchen.
Sechs Jahre nach Beginn des Petitionsver-
fahrens wollen sie den Fall zu einem würdigen
Ende bringen.
Die Mühlen der Demokratie mahlen wei-
ter. Langsam. n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 33
DEUTSCHLAND
Lauterbachs
Level
GESUNDHEIT Der Bundesgesundheitsminister
will die Krankenhäuser in Deutschland
neu organisieren, weil viele zu schlecht und
die meisten zu teuer sind. Doch die Länder
fahren ihm in die Parade.
ampfankündigungen wirken
K weniger bedrohlich, wenn
man sie mit einem Lächeln
vorträgt. Manfred Lucha, der Vor-
sitzende der Gesundheitsminister-
konferenz, lächelte jedenfalls, als er
am Donnerstag feststellte, dass sich
Bund und Länder in einem Kern-
punkt der Krankenhausreform nicht
einig seien.
Lucha wandte sich an Karl Lauter-
bach, den Bundesgesundheitsminis-
ter von der SPD, der neben ihm
stand. »Wer sich dann durchsetzt,
werden wir sehen«, sagte der baden-
württembergische Minister für So-
ziales, Gesundheit und Integration.
Rund zweieinhalb Stunden lang
haben Bund und Länder über die
Krankenhausreform verhandelt, die
Lauterbach einmal eine »Revolu-
tion« nannte. Konstruktiv soll es ge-
wesen sein, sagen Teilnehmende, von
einem »Durchbruch« sprach Lauter-
bach gar. In Wahrheit wurden die
grundsätzlichen Probleme vertagt.
Die seit Monaten schwelende De-
batte ist kompliziert und emotional.
Kompliziert, weil es um so abstrakte
Schlagwörter wie Leistungsgruppen,
Versorgungsstufen und Vorhaltepau-
schalen geht. Emotional, weil viele
Menschen in Deutschland befürch-
ten, mit der Reform werde das Kran-
kenhaus bei ihnen um die Ecke dem-
nächst schließen. Die Bereitschaft zur
Veränderung dürfte in der Bevölke-
rung eher gering sein. Und damit
auch die Bereitschaft vieler Politiker,
eine harte Reform wirklich durch-
zusetzen.
Lauterbachs Vorhaben ist daher
ein weiteres Großprojekt der Am-
pelkoalition, das, ähnlich wie das
umstrittene Heizungsgesetz, nicht
recht vom Fleck kommt. Die Blo-
ckierer sitzen diesmal nicht in der
eigenen Koalition, sondern in den
34 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Bundesländern – allen voran Bay- sinnvoller verteilt werden können.
erns Gesundheitsminister Klaus Denn auch das ergibt der europäische
Holetschek (CSU), der sich gerade Vergleich: Deutschland hat sehr viele
im Wahlkampf befindet. Am 8. Ok- Krankenhäuser und viel Personal.
tober wählt Bayern einen neuen Trotzdem fehlen in zahlreichen Kli-
Landtag.
Eigentlich hatte Lauterbach ge-
plant, Krankenhäuser künftig in
niken die Fachkräfte.
Viele Länder aber fürchten, dass
gerade ländliche Krankenhäuser in
Versorgungsstufen (Level) zu unter-
teilen. Er will erreichen, dass nicht
alle Krankenhäuser alles anbieten,
ein niedriges Level fallen und künftig
von Patientinnen und Patienten ge-
mieden werden könnten. Der baden-
Spezialeingriffe sollen nur in dafür württembergische Gesundheitsminis-
ausgestatteten Krankenhäusern ter Lucha fasste es nach der Sitzung
stattfinden. so zusammen: »Bei den Leveln wer-
Hintergrund seiner Überlegungen den wir keine Freunde.«
sind die enormen Kosten und Quali- Lauterbach hat seine Pläne zuletzt
tätsunterschiede im Gesundheits- bereits reduziert. Die anfangs geplan-
sektor. Für Kliniken sind bestimmte ten 128 Leistungsgruppen stutzte er
Operationen attraktiv, weil sie damit auf gut 60 zurück. Ganz so, wie es
Geld verdienen. Nordrhein-Westfalen in seiner Kran-
So wurden in Deutschland 2019 kenhausreform plant. Außerdem ge-
unter den OECD-Ländern im Ver-
hältnis die meisten Hüften operiert.
Nicht alle Eingriffe seien medizinisch
steht er den Ländern zu, selbst über
die Einteilung der Level entscheiden
zu können.
notwendig, sind sich Experten einig. »Neben der Zuordnung von Leis-
Doch Hüft-OPs sind lukrativ. tungsgruppen verbleiben Möglich-
Nach Lauterbachs Reform sollen keiten für Länder, in der Fläche eine
Krankenhäuser in Zukunft bestimm- bedarfsnotwendige stationäre Ver-
te Leistungsgruppen anbieten. Darm- sorgung sicherzustellen«, heißt es
krebs soll dann etwa in einem ent- in einem neuen Eckpunktepapier.
sprechenden Zentrum operiert wer- So sollen »bundesweit einheitliche
den, die Hüfte in einem anderen Kriterien entwickelt« werden, nach
Krankenhaus. denen die Länder »bedarfsnotwen-
Viele Kliniken werden dann nur dige Leistungen« auch Kliniken zu-
Ressortchef noch eine gewisse Grundversorgung weisen können, »die nicht alle Vor-
Lauterbach:
Die grundsätzlichen
anbieten. So soll die Qualität der Ver- gaben der Leistungsgruppe erfüllen«.
Probleme sorgung insgesamt verbessert und das Die harte Reform, sie wird also auf-
wurden vertagt Personal innerhalb Deutschlands geweicht.
Bislang hat das Bundesgesund-
heitsministerium auch noch keine
komplette Aufstellung präsentiert,
welche Qualitätskriterien die rund
60
Prozent
1500 allgemeinen Krankenhäuser in
Deutschland erfüllen müssen, um
nicht nur noch eine einfache Versor-
gung anbieten zu können. Lediglich
ein paar allgemeine Modellierungen
der Kranken- seien in der Sitzung präsentiert wor-
häuser den, berichten Teilnehmende. Die
schrieben Länder sollen die Daten nun selbst
interpretieren und ihre Meinung
vergangenes dazu abgeben.
Jahr rote Immerhin hat Lauterbach in
Zahlen. einem Punkt einen Fortschritt er-
reicht. Es soll bundeseinheitliche
Standards für die Qualität der Kran-
kenhäuser geben. Und in Zukunft soll
Bürgerinnen und Bürgern transpa-
rent gemacht werden, welche Quali-
tätsstandards das Krankenhaus er-
füllt, das sie besuchen wollen. Das
hält die Länder aber nicht davon ab,
minderwertige Krankenhäuser weiter
zu finanzieren.
Andreas Chudowski
Die Frage, wie unnötige Kosten
reduziert werden können, ist damit
noch nicht beantwortet.
Milena Hassenkamp n
DEUTSCHLAND
Den Weckruf verpennt
BILDUNGSPOLITIK Rund ein Fünftel der Viertklässler in Deutschlands
Schulen sind zu schlecht im Schreiben und Rechnen,
zeigen Studien. Woran liegt das? Und was muss sich ändern?
enn Mattis gefragt wird, worunter
W er in der Schule leidet, holt er das
Mathebuch aus seinem Ranzen. Der
Zehnjährige schlägt eine Seite auf, zeigt auf
eine Aufgabe: »Nils möchte ein Hochbett
für sein Kinderzimmer haben. Es kostet
435 Euro. Sein Patenonkel gibt ihm 200 Euro.
Auf dem Sparbuch hat Nils 187,86 Euro.
Reicht das Geld?«
»Andere Kinder können das sofort, ich
brauche etwas länger, bis ich es verstanden
habe«, sagt der Junge. »Leider.« In der zwei-
ten Klasse war ihm unter anderem eine Lern-
störung mit Rechenschwäche ärztlich attes-
tiert worden.
Mattis wohnt mit seinen Eltern in einer
Doppelhaushälfte in einer niedersächsischen
Kleinstadt. Bei Apfelsaft und Kuchen sitzen
sie in der Küche und erzählen von ihrem
Schulalltag. Ihre richtigen Namen sollen nicht
in diesem Text stehen. »Wir wollen nicht
schon wieder in der Schule anecken«, sagt
die Mutter.
Mattis macht einen klugen Eindruck. Er
kann rechnen, aber seine Leistungen reichten
lange nicht aus, jedenfalls nicht nach den
Maßstäben, die im deutschen Schulsystem
gelten.
Gut drei Jahre lang bekamen seine Eltern
regelmäßig mitgeteilt, dass ihr Sohn im Ver-
gleich zu Kindern seines Alters unterhalb der
Leistungskurve bleibe, die noch als normal
gilt, in Mathe und Deutsch. Aber die Leh-
rerinnen und Lehrer haben die Familie mit
diesem Befund weitgehend alleingelassen, so
empfinden es die Eltern.
Weil Mattis nicht gut mithalten konnte,
sollte er in der dritten Klasse meistens für
sich allein eigene Aufgabenpakete bearbei-
ten, während die übrige Klasse gemeinsam
Unterricht hatte. Mattis sagt: »So konnte ich
mich nicht konzentrieren, ich hab dann nichts
gemacht, nur in den Raum geguckt.« Er galt
als Störenfried und durfte, so erzählen es die
Eltern, häufiger nicht in die Pause, wenn seine
Arbeitsblätter mal wieder leer waren. Mona-
telang sei ihr Sohn mit Bauchschmerzen in
die Schule gegangen, sagt die Mutter. Wie er
sich fühlte, beschreibt Mattis so: »Wie auf
einer kleinen Eisscholle, irgendwie allein.«
Für den Vater ist Mattis ein Kind, das um
seine Chancen gebracht wird. Für Bildungs-
forscher ist er eines der Sorgenkinder, die
36 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Leistungsvergleich von Grundschülern im
Lesen: Rund 25 Prozent der Viertklässler in
Deutschland scheitern danach an Mindest-
standards beim Lesen, deutlich mehr als 2001.
Diese Kinder sind etwa nicht imstande, zen-
trale Informationen aus einem Text zu filtern
und den Sinn gut zu verstehen.
Die Leistungen gingen insgesamt zurück,
der Zusammenhang zwischen sozialer Her-
kunft und schulischer Leistung sei aber »stark
ausgeprägt«. Ausschlaggebend sei dabei der
soziale Status – Buchbesitz, Bildungsgrad der
Eltern und ob zu Hause Deutsch gesprochen
wird –, nicht die kulturelle Herkunft, betonen
die Iglu-Forscher. Ergebnisse aus Ländern wie
beim Lernen stark hinterherhängen. Immer Dänemark oder Italien zeigten zudem, dass
mehr Kinder erfüllen die schulischen Mindest-
anforderungen nicht. Den Grundschülern
fehlen grundlegende Kompetenzen beim
der Einfluss der familiären Herkunft auf die
Lesekompetenz »kein unausweichlicher
Automatismus« ist.
Lesen, Schreiben und Rechnen. Einen ähnlichen Weckruf hatte es schon
»Der Anteil dieser Kinder steigt in im Dezember gegeben. Die Ständige Wissen-
Deutschland seit mehr als zehn Jahren«, sagt schaftliche Kommission (SWK), ein 16-köp-
der Bildungsökonom Ludger Wößmann. Die figes Expertengremium der Kultusminister-
Folgen seien gravierend. Für Einzelne, die als konferenz, veröffentlichte ein Gutachten,
Erwachsene ein erhöhtes Risiko hätten, das einer Bankrotterklärung des Schulsys-
arbeitslos oder prekär beschäftigt zu sein. tems gleichkam: Den Grundschulen gelinge
Und für die Gesellschaft, der Wohlstands- es nicht, »den Anspruch auf allgemeine Bil-
verluste aufgrund der mangelnden Bildung dung für alle Kinder gleichermaßen zu
drohten: »Ich weiß nicht, wie viele Weckrufe gewährleisten«. Mit anderen Worten: Der
die Politik noch braucht, um Konsequenzen Staat wird seinem Bildungsauftrag nicht mehr
zu ziehen.« gerecht.
Der vorerst letzte Weckruf kam Mitte Mai Die Kommission stützte sich vor allem
mit der Iglu-Studie, einem internationalen auf den Bildungstrend vom Oktober, den das
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bil-
dungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-
Was Hänschen nicht lernt Universität regelmäßig veröffentlicht: Beim
Lesen und Zuhören verfehlten nach einer
Viertklässler, die 2021 im Lesen und in Erhebung im Jahr 2021 fast ein Fünftel der
Mathematik den Mindeststandard verfehlten,
in Prozent Viertklässler die Mindeststandards der KMK.
In Orthografie ist es fast ein Drittel, in Mathe
Lesen Mathematik mehr als ein Fünftel. Der Lernerfolg hänge
Bremen 31,0 35,6 außerdem noch stärker vom Elternhaus ab
Berlin 27,2 34,5 als fünf Jahre zuvor; die Chancenungerechtig-
keit hat sich demnach verschärft.
Brandenburg 21,6 29,2 »Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass
Nordrhein- diese Ergebnisse nicht hinnehmbar sind«, sagt
Westfalen 21,6 28,1
IQB-Direktorin Petra Stanat. Mit den Auf-
Niedersachsen 21,3 21,7
gaben werde abgefragt, was alle Viertkläss-
Thüringen 19,5 18,7 lerinnen und Viertklässler in den Kernfächern
Baden- nach den KMK-Standards mindestens können
Württemberg 19,1 19,7
sollten. Bestimmte Schüler, etwa solche, die
Deutschland 18,8 21,8 noch kein Jahr in Deutschland leben, würden
(Durchschnitt)
Hamburg
dabei noch nicht einmal in die Statistik ein-
17,7 23,8
bezogen, weil die Messlatte für sie zu hoch
Saarland 17,4 19,2 liege.
Hessen 17,1 21,7 Zwar haben die meisten Kinder in der Pan-
demie gelitten, durch Schulschließungen und
Rheinland-Pfalz 16,0 17,7 Distanzunterricht. Den Abwärtstrend gab es
Sachsen-Anhalt 15,5 16,1 jedoch schon vorher. Warum so viele an den
Schleswig- Mindestanforderungen scheitern, könne man
15,0 21,9
Holstein nicht genau sagen, so Stanat. Ein möglicher
Bayern 14,1 13,2 Grund sei, dass sich die Schülerschaft verän-
Sachsen 12,9 13,4
dert habe, etwa durch einen höheren Anteil
an Kindern mit Migrationsgeschichte. Das
Für Mecklenburg-Vorpommern liegen keine
länderspezifischen Ergebnisse vor. Schulsystem habe darauf nicht ausreichend
S Quelle: IQB-Bildungstrend; Erhebungszeitraum: April bis reagiert.
August 2021; Stichprobengröße: 26.844 Viertklässler an
allgemeinbildenden Schulen in Deutschland, einschließlich
Carsten Haack erklärt sich das Problem mit
Förderschulen. mangelnder Chancengerechtigkeit. Haack lei-

tet die Theodor­Storm­Gemein­
schaftsschule (TSG) in Kiel­Welling­
dorf. Der Rotklinkerkomplex aus den
Sechzigerjahren gilt als sogenannte
Brennpunktschule. »Die Stadt Kiel
hat sich sozial so sehr segregiert«, sagt
Haack, »dass wir hier die volle Breit­
seite der Probleme abbekommen.«
Viele Familien litten unter Armut.
Einige hätten Angst, angesichts gestie­
gener Preise ihre Wohnung aufgeben
zu müssen. Gewalt spiele oft eine Rol­
le, mitunter auch Kriminalität. Häufig
lebten Eltern getrennt. Einige seien
schlicht erziehungsunfähig. »Wenn Sie
zu manchem Kind nach Hause gehen,
weil es wieder nicht zum Unterricht
erschienen ist, sitzt das mit hoher
Wahrscheinlichkeit da und spielt am
Computer.« Niemand kümmere sich
darum, dass das Kind etwas zu essen
habe, zeitig ins Bett oder regelmäßig
in die Schule gehe.
Gut die Hälfte seiner rund 660
Schülerinnen und Schüler sei in
Deutschland geboren, aber die große
Mehrheit von ihnen spreche zu Hause
nicht Deutsch. Rund ein Viertel der
Kinder hätten Flucht oder Vertrei­
bung hinter sich, viele seien trauma­
tisiert. »Als neulich ein Rettungs­
wagen vorbeifuhr, sind Schüler pa­
nisch aus dem Klassenraum gerannt«,
sagt Haack. Manche 13­Jährige steck­
ten noch im Kampfmodus, weil sie
sich bei monatelangen Fußmärschen
allein behaupten mussten. Wieder
andere säßen apathisch im Unter­
richt – andere lernten sehr ehrgeizig.
»Es ist unmöglich, eine pauschale
Aussage über diese Kinder zu tref­
fen«, sagt der Schulleiter. Nur eines
sei klar: »Das Schulsystem müsste
ganz anders aufgestellt sein, um ihnen
gerecht zu werden.« Der Anteil an
Kindern, die an den Mindeststandards
scheitern, sei an Schulen wie seiner
deutlich höher als im bundesweiten
Schnitt – weil Kinder hier mit ganz
anderen Voraussetzungen ankämen.
In einem Klassenraum der TSG
sitzen 18 Kinder der Jahrgänge eins
bis vier an Einzeltischen. Sie sind erst
seit Kurzem in Deutschland und ler­
nen die Sprache, bevor sie in Regel­
klassen gehen. »Bei uns kommen
Kinder an, die kein Wort Deutsch
können«, sagt Haack. Andere hätten
bei der Einschulung noch nie einen
Stift gehalten oder noch nie Knete in
der Hand gehabt, seien nie an der
Ostsee gewesen, und das in Kiel. Viele
hätten einen kargen Wortschatz, da­
runter auch Kinder deutscher Her­
kunft. »Sie kennen Begriffe wie ›ge­
hen‹ oder ›laufen‹, aber ›schleichen‹
schon nicht mehr.«
»Die Kinder bei uns sind genauso
klug wie andere«, glaubt Haack, »vie­
le halten in ihrem Leben Widrigkeiten
aus, an denen andere zerbrechen
würden. Aber wir fangen mit denen
in der ersten Klasse nicht bei null an,
sondern bei minus fünf.« Die üblichen
Lehrpläne, Schulbücher, auch Klas­
sengrößen seien darauf nicht ausge­
richtet und kaum geeignet, die Kinder
angemessen zu beschulen.
DEUTSCHLAND
»Dazu kommt, dass wir auf eine
Personalnot zusteuern«, sagt Haack.
Sein Kollegium bestehe zu rund
einem Viertel aus Vertretungslehr­
kräften, »sehr engagiert, aber leider
oft schnell wieder weg«. Für jene
Kinder, die nur in der Schule verläss­
liche Bezugspersonen erlebten, sei
das eine Katastrophe. »Viele machen
erst mal wieder dicht, wenn ein Leh­
rer geht.«
Umso schwieriger sei es, allen Kin­
dern in der gleichen Zeit wie anders­
wo die grundlegenden Fähigkeiten in
Deutsch und Mathematik zu vermit­
teln. So, dass sie wenigstens die Min­
deststandards erreichen.
»Kinder müssen in der Schule
einer Norm entsprechen, tun sie das
nicht, fallen sie durchs Raster«, sagt
Mattis’ Vater. Er selbst und seine drei
Kinder hätten eine Leserechtschreib­
schwäche sowie ADHS, bei Mattis
Kaja Grope / DER SPIEGEL
komme noch die Dyskalkulie hinzu.
Seine Lernschwierigkeiten haben also
besondere Gründe. Gleichzeitig zeigt
sich bei Mattis, dass sich auch da vieles
verbessern lässt, wenn Lehrerinnen
und Lehrer auf Probleme eingehen
Unterricht an können.
der Kieler Theodor- Ihm und all seinen Kindern sei zu­
Storm-Gemein-
schaftsschule: nächst unterstellt worden, sie seien
Auch bei manchen faul oder dumm, sagt der Vater. Mat­
Kindern deutscher tis etwa wurde Mitte der zweiten
Herkunft ist der Klasse sonderpädagogischer Förder­
Wortschatz gering
bedarf im Bereich Lernen attestiert.
Eine Sonderpädagogin an der Schule
habe die Diagnose gestellt, sei dann
jedoch in den Ruhestand gegangen.
In der dritten Klasse gab es zwar eine
neue Förderlehrerin, die aber wegen
Personalnot häufig woanders einge­
setzt worden sei. Mattis musste also
»Es dürfte weiterhin oft allein vor sich hin wer­
Einigkeit keln, etwa den Stoff der zweiten Klas­
se abarbeiten, während die übrigen
bestehen, Drittklässler andere Themen hatten.
dass diese Der neue Klassenlehrer habe ihren
Ergebnisse Sohn zu wenig unterstützt, findet die
Mutter.
nicht hin- Wegen Mattis’ Lernschwierig­
nehmbar keiten sei sie mit ihrem Sohn zu ex­
ternen Fachleuten gegangen. Die
sind.« hätten sie jedoch nicht ernst genom­
Petra Stanat, men. Tenor: Sie solle sich damit
IQB-Direktorin abfinden, dass nicht alle Abitur
machten, es müsse auch Menschen
geben, die später Straßen bauten.
»Natürlich muss es die geben«, sagt
Mattis’ Mutter. »Aber ich habe doch
Fabian Sommer / picture alliance / dpa
gemerkt, dass mein Kind zu Hause
meist gut lernen konnte.«
Nur auf ihr Drängen und entgegen
der Empfehlung der Schule, sagt die
Mutter, habe Mattis die zweite Klasse
wiederholen dürfen, sein neuer Leh­
rer sei super. Der halte ihn nicht für
einen Störenfried, sagt Mattis. Er be­
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 37
DEUTSCHLAND
komme seitdem in der Regel den gleichen
Stoff wie die anderen und lerne meist mit den
anderen zusammen, manchmal auch mit der
neuen Förderlehrerin in einer Kleingruppe.
Das letzte Zeugnis war bereits viel besser als
das alte, Mattis hatte lauter Dreien und eine
Vier in Mathe.
Mattis’ Eltern glauben, dass ihr Sohn sich
wegen des neuen Lehrers stark verbessert
habe, aber auch, weil sie stundenlang mit ihm
zu Hause gelernt haben – und weil er einmal
pro Woche eine spezielle »Mathe-Therapie«
macht; 270 Euro pro Monat zahlen die Eltern
dafür. Mattis gehört damit zu den wenigen
Kindern mit großen Problemen beim Lernen,
die vermutlich doch noch die Kurve kriegen –
weil ihre Eltern, beide Akademiker, ihn för-
dern können.
Von einem »pädagogischen Schlendrian«
spricht Manfred Prenzel, Leiter des Zentrums
für Lehrer*innenbildung an der Universität
Wien und einst Pisa-Koordinator für Deutsch-
land. Nach dem Pisa-Schock 2001 sei in
Deutschland zunächst sehr viel passiert. Der
Bund habe den Ausbau von Kitas und Ganz-
tagsschulen vorangetrieben, die Bildungsaus-
gaben seien erhöht worden. Die Kultusminis-
ter arbeiteten verstärkt an Bildungsstandards
und setzten auf bundesweite Leistungstests.
Mit Erfolg: »Zunächst gab es bei den Schüler-
leistungen eine rasante Entwicklung nach
oben«, sagt Prenzel, »aber dann ließ das
Problembewusstsein in der Politik und in
den Schulen stark nach. Auch deshalb setzte
ein Abwärtstrend ein.«
Die Auswertung bundesweiter Vergleichs-
tests etwa sei in den Bundesländern sehr
unterschiedlich stark vorangetrieben worden.
Die Ganztagsangebote hätten immer noch
nicht die nötige Qualität. Und von der früh-
kindlichen Bildung in Kitas profitierten bisher
überdurchschnittlich viele Kinder aus privi-
legierten Familien.
Zudem ist der Unterricht vielerorts nicht
gut genug: »Wir verschwenden im Unterricht
sehr viel Zeit damit, Kinder Regeln lernen
zu lassen, ohne dass sie die Hintergründe
verstehen«, kritisiert Susanne Prediger,
Professorin für Mathedidaktik an der TU
Dortmund. Sie nennt ein Beispiel: Wer eine
beliebige Zahl mit zehn multipliziert, soll
hinten eine Null dranhängen. »Kinder kom-
men damit zwar auf das richtige Ergebnis,
verstehen das Prinzip von Zehner-Stellen
aber nicht, das für ein mathematisches Ver-
ständnis grundlegend ist.« Wer Kindern in
Klasse zwei oder drei Basiswissen wie den
Zahlenstrahl nicht vermittele, »zieht ihnen
für den Matheunterricht der kommenden
Jahre den Boden unter den Füßen weg«, sagt
Prediger. Die Professorin kooperiert mit
mehreren Bundesländern bei Fortbildungs-
offensiven.
Mehr Fortbildungen fordert auch Michael
Becker-Mrotzek, Kölner Professor für deut-
sche Sprache und Didaktik, mit Blick auf
den Deutschunterricht. Es sei längst er-
forscht, mit welchen Methoden sich Lese-
38 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Schulleiter Haack
kompetenzen steigern ließen. »Leider wer-
den sie nicht flächendeckend und nicht sys-
tematisch eingesetzt.« Effektiv seien etwa
tägliche, verbindliche Zeiten zum Lesenüben
im Unterricht.
Ums Lesen geht es im Unterricht in
Deutschland laut Iglu-Studie im Schnitt nur
141 Minuten pro Woche; im OECD- und EU-
Schnitt ist es rund eine Stunde mehr. Zudem
nutzten die Lehrer »mehrheitlich alte und
wenig an den Interessen der Kinder orientierte
Texte«, heißt es in der Studie.
Becker-Mrotzek ist Mitglied der SWK, die
nicht nur besseren, sondern auch mehr Unter-
richt in Deutsch und Mathematik fordert.
Erste Bundesländer folgen den Empfehlungen
bereits, darunter Baden-Württemberg, wo die
Bücher mit sieben Siegeln
Entwicklung der erreichten Kompetenzstufen I
(sehr schwach) und II (schwach) bei Viert-
klässlern in Deutschland beim Lesen, in Prozent
Kompetenzstufe I
5,0
2,5
0 Schulleiter klappt seinen Laptop auf: Sein
2001 2006 2011 2016
Kompetenzstufe II
15
10
5
0 können.
2001 2006 2011 2016
Die Kompetenzstufen I (sehr schwach) bis V (sehr stark) dienen
der Einordnung schülerischen Könnens.
S Quelle: IGLU 2021
Leistungen zuletzt schlechter ausfielen als
zuvor.
Schulleiter Haack in Kiel ist allerdings
skeptisch, ob mehr Stunden in Deutsch und
Mathematik die Probleme lösen könnten.
Neben wirksamem Unterricht in den Kern-
fächern bräuchten die Kinder einen »schönen
Schultag«, findet er, inklusive Sport, Kunst
und Musik.
Was sich alles ändern müsste, damit Kinder
besser lernen und häufiger die Mindeststan-
dards erreichten, insbesondere an »Brenn-
punktschulen« wie seiner, sei »komplex«,
sagt Haack. Die nötigsten Reformen hat er
kürzlich mit sieben Schulleitungen aus
Schleswig-Holstein, Berlin, Nordrhein-West-
Kaja Grope / DER SPIEGEL
falen und Rheinland-Pfalz in einem rund
20-seitigen Papier veröffentlicht: Zugang
zu frühkindlicher Bildung in Kitas, inklusive
Sprachförderung, hochwertiger Ganztags-
angebote, mehr Kleingruppen und: sehr viel
mehr Zeit für Beziehungsarbeit werden da
gefordert.
Große Hoffnung, dass all das zeitnah und
vor allem bundesweit umgesetzt wird, hat der
Schulleiter nicht: »Es ist nicht gut, wie sehr
Politik und Gesellschaft die Probleme, die wir
hier haben, oftmals noch weitgehend ignorie-
ren, statt zielgerichtete und mit dem notwen-
digen Finanzvolumen ausgestattete Förder-
programme aufzusetzen.« Haack spielt auf
das umstrittene Startchancen-Programm der
Ampelregierung an. Bund und Länder sollen
damit 4000 ausgewählte Schulen »in heraus-
fordernder Lage« speziell fördern.
Nach jetziger Planung werde die einzelne
Schule über diesen Startchancen-Topf deut-
lich weniger Geld erhalten, befürchtet Haack,
als die TSG bereits seit Jahren über das
ähnlich konzipierte Landesprogramm »Per-
spektivschulen« für Schleswig-Holstein be-
komme: 400.000 Euro pro Jahr. Er bezahle
damit unter anderem 1,5 Sozialarbeiterstellen
zusätzlich. Das Programm sei vorbildlich
und verfolge die richtigen Ansätze, sagt der
Schulleiter. »Damit ist weitgehend gesichert,
dass uns kein Kind durch die Lappen geht,
mehr allerdings nicht. Wir bekommen
längst nicht alle Kinder gut fürs Leben auf-
gestellt.«
Aber es sollen möglichst viele sein. Der
2021 Kollegium hat eine digitale Plattform mit
einem schulinternen Curriculum für alle Klas-
senstufen erstellt, angepasst an die Zusam-
mensetzung der Schülerschaft. Den Lehrkräf-
ten ist außerdem wichtig, ihre Kinder beim
Lernen zu ermutigen. Alle Schülerinnen und
Schüler laden deshalb zweimal im Jahr ihre
Eltern in die Schule ein, um ihnen zu berich-
ten, was sie gelernt haben. Haack selbst feiert
jedes Schuljahr mit den Drittklässlern auf
einem Buchstabenfest, dass alle das Alphabet
2021 Dass anderswo die Kinder das Abc oft
schon vor dem Ende der ersten Klasse be-
herrschen, spielt dabei keine Rolle.
Silke Fokken n
DEUTSCHLAND
Grünenpolitikerin Lemke, Grenzfluss Oder beim Dorf Górzyca im August 2022: »Da gibt es nicht den einen Verantwortlichen«
»Polen muss seine
Einleitungen reduzieren«
ÖKOLOGIE Umweltministerin Steffi Lemke, 55, über
die schwierige Aufarbeitung des Fischsterbens in der Oder – und
eine Umweltkonferenz, zu der kaum einer kommt
SPIEGEL: Frau Lemke, vergangenen Sommer
erstickten in der Oder mindestens 400 Ton­
nen Fisch. Das Massensterben war die erste
Krise Ihrer Amtszeit. Wie erinnern Sie diese
Augusttage?
Lemke: Die waren äußerst bedrückend – für
mich, aber ja vor allem für die Menschen
vor Ort, die bei Sommerhitze und bestia­
lischem Gestank Fischkadaver einsammeln
und die Zerstörung ihrer Natur, ihrer Hei­
mat mitansehen mussten. Mir war wichtig,
dass ich mich auch sehr schnell mit meiner
polnischen Amtskollegin treffe, damit wir
die Aufarbeitung, die sich ja auch die Men­
schen entlang der Oder so dringend wün­
schen, schnell angehen. Mir war aber auch
klar, dass diese Aufklärung nicht einfach
werden würde.
SPIEGEL: Wieso nicht?
Lemke: Zur Katastrophe kam es ja nicht durch
ein einzelnes, schnell benennbares Ereignis.
Es war ein Mix aus verschiedenen Faktoren,
die zur Algenblüte führten: salzhaltige Ab­
wässer aus Polen, niedriger Wasserstand,
hohe Temperaturen. Da gibt es nicht den
einen Verantwortlichen.
SPIEGEL: Die Ursache des Unglücks ist klar in
Polen zu suchen. Doch auch Deutschland traf
das Debakel unvorbereitet. Warum?
40 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Hannes Jung / laif
Lemke: Dass zu viel Salz im Fluss eine
solch fatale Kettenreaktion auslösen könnte,
durch die es zu einer so massiven Algen­
explosion kam, das gab es im Süßwasser
in Europa bisher nicht. Die giftige Alge
kommt in Europa eigentlich nur im Brack­
wasser, also zum Beispiel in der Ostsee,
vor.
SPIEGEL: Trotzdem konnte die Alge in Polen
monatelang gedeihen, ohne dass Deutsch­
land informiert wurde – obwohl es seit den
Achtzigerjahren international verbindliche
Regeln gibt, wie sich Nachbarstaaten bei Ge­
wässerkatastrophen zu informieren haben.
Wie erklären Sie sich diesen Totalausfall der
Meldekette?
Lemke: Eine solche Algenblüte kam unvor­
bereitet, und es gab in Polen Behörden, die
dachten, dass alles nicht so schlimm werden
würde. Auf polnischer Seite hat die Melde­
kette leider nicht funktioniert.
SPIEGEL: Später hatten sowohl Sie als auch
Ihre polnische Amtskollegin Anna Moskwa
Aufklärung durch einen deutsch­polnischen
Expertenrat in Aussicht gestellt. Die polni­
schen Experten weigerten sich aber, ihre
Messungen zu teilen – und veröffentlichten
am Ende einen eigenen Bericht. Polen, so
scheint es, hat kein Interesse an einer ernst­
Marek Lapis / Forum / laif
haften Aufklärung. Wie wollen Sie damit
umgehen?
Lemke: Ich sehe die Zusammenarbeit zwi­
schen Deutschland und Polen auf keinen Fall
als gescheitert an. Es gibt Schwierigkeiten –
die rede ich keineswegs klein. Aber auch
Polen bestreitet nicht, dass das Salz im Fluss
aus den Tagebauen kommt. Das ist ein Fort­
schritt. Wir versuchen, weiterhin bestmöglich
mit Polen zusammenzuarbeiten, damit
sich die Katastrophe in diesem Sommer
nicht wiederholt.
SPIEGEL: Das aber gilt als wahrscheinlich.
Schon im April dieses Jahres sind in einem
Stausee entlang der polnischen Oder Fische
an der Algenblüte gestorben. In einem wei­
teren See hat das massenhafte Auftauchen
der Alge kürzlich begonnen.
Lemke: Daher kommt es darauf an, dass in
Polen die Einleitungen reduziert werden.
SPIEGEL: Ihr Ministerium hat für kommende
Woche zu einer großen Oder­Konferenz in
Schwedt geladen. Ihre polnische Kollegin hat
ihre Teilnahme kurzfristig abgesagt, »aus Ter­
mingründen«, wie es hieß, genauso wie Ver­
kehrsminister Volker Wissing von der FDP.
Mit wem wollen Sie denn reden, wenn keiner
kommt?
Lemke: Wir werden mit den Beteiligten aus
Bund, Ländern, der polnischen Seite und auch
der EU­Ebene diskutieren. Und mir ist es sehr
wichtig, mit den Vertretern der betroffenen
Kommunen zu reden und dafür zu sorgen,
dass sie gehört werden. Mit Frau Moskwa
treffe ich mich kommenden Mittwoch in
Słubice, auch mit dem Bundesverkehrsminis­
ter bin ich in regelmäßigem Kontakt. Es geht
neben den Konferenzen ja vor allem darum,
dass wir im ständigen Austausch bleiben. Für
mich steht an erster Stelle, ein erneutes Fisch­
sterben zu verhindern.
SPIEGEL: Streit gibt es auch bei der Frage des
Oder­Ausbaus für die Schifffahrt. Das Obers­
te Verwaltungsgericht in Polen hat den Aus­
bau jüngst gestoppt. Das scheint die Regie­

rung in Warschau nicht daran zu hindern
weiterzubauen. Jetzt soll der Ausbau über
eine Sondergesetzgebung legalisiert werden.
Wie bewerten Sie das?
Lemke: Ich bleibe dabei, dass ein so schwer
geschädigtes Ökosystem wie dieser Fluss sich
in allererster Linie in Ruhe erholen können
muss. Allerdings haben den Ausbau der Oder
Warschau und Berlin 2015 gemeinsam be­
schlossen. Und Polen will offenbar bisher
daran festhalten.
SPIEGEL: Hätte Verkehrsminister Wissing
überhaupt Interesse an einem Ausbaustopp?
Lemke: Flüsse wurden in Deutschland und
Europa viele Jahrhunderte lang in erster
Linie als Transportwege oder Abwasser­
kanäle behandelt, und das hat tiefe Spuren
hinterlassen. Die Oder wird auch offiziell
als Bundeswasserstraße geführt. Volker
Wissing weiß, dass der Schutz unserer
Wasserressourcen eine unserer wichtigsten
Aufgaben ist. Doch die Umsetzung dieses
Anliegens ist ein Prozess, der nicht von heu­
te auf morgen geht.
SPIEGEL: Auch deutsche Flüsse leiden unter
zu hohem Salzgehalt, etwa die Werra. Sie ist
durch die Einleitungen des Bergbauunterneh­
mens K+S stark belastet. Sterben die Fische
bald auch dort?
Lemke: An der Werra arbeiten seit vielen
Jahren Umweltminister, Naturschutzbehör­
den und Umweltverbände daran, die Ein­
leitungen zu reduzieren. Es ist schwierig,
eine in der Region stark verankerte Industrie
umzustellen. Trotzdem wenden sich an der
Werra die Dinge langsam zum Guten. Auch
wenn wir noch nicht dort sind, wo wir hin­
müssen.
SPIEGEL: Vieles spricht dafür, dass die Folgen
der Klimakrise zwar abgemildert, aber nicht
mehr verhindert werden können. Ihr »Ak­
tionsprogramm Natürlicher Klimaschutz«,
das wichtigste Projekt Ihres Hauses, harrt
bislang der Umsetzung. Warum geht nichts
voran?
Lemke: Wir haben das Aktionsprogramm im
März im Bundeskabinett beschlossen und
arbeiten jetzt mit Hochdruck an der Um­
setzung. Kern des Programms ist die Spei­
cherung von Kohlenstoff in der Landschaft,
eine Maßnahme mit maximalem Klima­
schutzeffekt. Darüber hinaus unterstützen
wir Anpassungsmaßnahmen an die Klima­
krise. Die ersten Richtlinien dafür sind
fertig …
SPIEGEL: … wobei eine zur Förderung von
Kommunen noch im Finanzministerium
festhängt.
Lemke: Ich bin zuversichtlich, dass wir im
Sommer erste Maßnahmen starten können.
Gerade die vergangenen Wochen mit katas­
trophalen Dürren und Überschwemmungen
in Oberitalien haben gezeigt, dass wir auch
in Deutschland dringend handeln müssen
Interview: Serafin Reiber n
Lesen Sie auch ‣ Wie Polens Regierung die
Demokratie attackiert | 81
DEUTSCHLAND
UMWELT
Tödliche Algen
Das Debakel in der Oder im vergangenen Sommer
war vorhersehbar. Und es scheint schon wieder
loszugehen – auch weil polnische Behörden mauern.
Ein mit dem Bauch nach oben im Schilf raturen gedeiht die Alge, die sich sonst
dümpelnder Fischkadaver ist kein schö­ nur im salzhaltigen Brackwasser ausbrei­
ner Anblick. Besonders im Sommer tet, rasant. Sie setzt unter bestimmten
nicht, wenn der Geruch der Verwesung Bedingungen ein Gift frei, das die Kie­
durch die Hitze unerträglich wird. Viele men von Fischen, aber auch Schnecken,
Menschen beidseits der Oder kennen Muscheln oder Amphibien angreift.
ihn, für sie war es der Geruch des ver­ Im vergangenen Sommer erstickten
gangenen Sommers. Eine Süßwasser­ viele der Fische, betroffen waren vor
algenblüte, so stark wie noch nie in allem die polnische Oderregion, wo viele
Europa, hatte im deutsch­polnischen Menschen von der Fischerei leben, sowie
Grenzfluss mindestens 400 Tonnen Fisch Regionen in Brandenburg und Meck­
und andere Wasserlebewesen verenden lenburg­Vorpommern. Mit primitivem
und an die Ufer treiben lassen. Gerät fischten Feuerwehrleute und viele
Es war eine Katastrophe mit Ansage – Freiwillige über Tage totes Getier aus
die sich in diesem Sommer wiederholen dem Fluss. Politikerinnen und Politiker
kann. Mehrere Hundert tote Fische beider Länder beteuerten ihre Betroffen­
sollen zuletzt im Unterlauf der Oder heit, der polnische Ministerpräsident
nahe der Stadt Stettin gesichtet worden Mateusz Morawiecki schaltete sich ein –
sein, berichten Anwohner. Die Ursache und feuerte zwei Spitzenbeamte. Die
ist noch nicht geklärt. Tote Fische sind Wut in den Regionen entlang der Oder
nichts Ungewöhnliches, und doch weckt war groß.
dieser Anblick Existenzängste in einer
teils strukturschwachen Region, die auch Schließlich wurde in beiden Ländern Auf­
vom Tourismus lebt. klärung versprochen. Doch Warschau
Schon im Frühjahr hat sich in zwei drückt sich auch nach fast einem Jahr da­
polnischen Stauseen entlang des Flusses vor, die wahren Verantwortlichen zu
die Goldalge Prymnesium parvum wie­ benennen: die Manager der polnischen
der vermehrt. Bei hohen Wassertempe­ Bergbauindustrie, die ihre salzhaltigen
Abwässer in die Oder einleitet. Das ge­
schieht zwar größtenteils legal, doch die
Katastrophe mit Ansage Kriterien für die Genehmigungen sind
nicht auf die Folgen der Klimakrise –
Wann das massenhafte Fischsterben
2022 im deutsch-polnischen Grenz-
Hitzesommer, niedrige Wasserstände –
fluss Oder entdeckt wurde abgestimmt. In der deutsch­polnischen
Expertengruppe, die zur Aufklärung
hätte beitragen sollen, kam es auch des­
Ostsee wegen zum Eklat – und zu einem schnel­
12. August len Ende der Beratungen. Die Europä­
Altwarp ische Union bleibt vorerst passiv. Sollte
Auswirkungen auch hier
MECKL.- befürchtet, vom Baden es im Sommer aber wieder zu einer
VORP. und Angeln wird vorsorglich Katastrophe kommen, stehe ein Vertrags­
abgeraten.
verletzungsverfahren im Raum, heißt
POLEN
es aus Brüssel.
BRANDEN- Od 6. August
Frankfurt (Oder)
Immerhin stellt Polen mittlerweile
BURG er
Messwerte zeigen seit einige Messdaten zur Verfügung.
Tagen stark erhöhte Doch statt die Ursache zu bekämpfen,
Salzwerte. Das Landesamt
für Umwelt tut nichts. experimentieren die polnischen Behör­
DEUTSCHLAND
den mit Chemikalien wie Wasserstoff­
5. August peroxid, das die Algenblüte verhindern
Głogów
24. bis 26. August
Weitere tote Fische, soll. Auch soll die Oder weiter für Schiffe
Rudna – Minenabwasser
erhöhter Salzgehalt laut eine Meldung an ausgebaut werden, was die lädierten
deutsche Behörden
Greenpeace-Messung
erfolgt nicht. Ökosysteme weiter belastet. In einem
42­seitigen Maßnahmenkatalog der
13. Juli polnischen Behörden wird der umstritte­
Gleiwitzer Kanal, Gliwice ne Ausbau gar als Renaturierungsmaß­
100 km Sichtung toter Fische
nahme aufgelistet.
S Grafik Serafin Reiber n
◆
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 41
DEUTSCHLAND

Zauberstab, sondern nur ein Handy. Ihr Reich

ist nicht der dunkle Wald, sondern das Internet:
Auf der Videoplattform TikTok folgen ihr mehr
als 132.000 Abonnentinnen und Abonnenten.
Rainbow erklärt in ihren Clips zum Bei-
spiel, wie sie einen Liebeszauber durchführt:
Man legt einen Kreis aus Blüten um sich,
trinkt einen Rosentee mit Honig und sagt: »Ge-
liebte Aphrodite, lass Liebe auch in mein Le-
ben treten.« Sie zeigt auch, wie man Geld
herzaubert: Man malt eine Rune auf eine Mu-
schel und wirft sie bei zunehmendem Mond
in ein Gewässer. Und sie erzählt, wie man
Wesen aus der Anderswelt kontaktiert – oder
mit Stachelschweinstacheln magische Angrif-
fe abwehrt. Auf TikTok bewirbt sie auch ihr
Buch, ihre Zauberschule, ihre Beratungen.
Damit verdient sie ihr Geld. Wie viel? Ähnlich
viel wie damals als Maskenbildnerin – und
genug, um ihr neues Buch auf einem Kreuz-
fahrtschiff schreiben zu können.
Rainbows Videokanal ist alles andere als
eine dunkle Ecke im Schattenreich des Netzes.
Genau wie andere Witchfluencer erreicht die
moderne Hexe online ein immer größeres
Publikum. Der Hashtag #WitchTok geistert
seit Jahren durch soziale Netzwerke, mehr
als 42 Milliarden Mal wurden die Videos welt-
weit auf TikTok aufgerufen. Vor allem junge
Frauen erzählen dort, wie man Tote kontak-
tiert, Tarotkarten legt oder magische Kristalle
nutzt. Die früher okkulten Rituale werden
Nikita Ter yoshin / DER SPIEGEL
nachahmbar, fast wie in Kochvideos.
Woher kommt die Faszination für das ver-
meintlich Mystische – und wer sind diese
Menschen, die sich als moderne Hexen be-
Berufshexe
zeichnen? Können sie den Userinnen und
Rainbow Usern gefährlich werden?
Dass es Hexen gibt, glauben mehr als
40 Prozent der Menschen in den 95 Ländern,
in denen dazu repräsentative Daten verfügbar
sind. Das zeigt die Studie »Witchcraft beliefs
around the world«, die Ende 2022 erschienen

Ausflug in die Anderswelt
ESOTERIK Liebesmagie, Totenbeschwörungen, Abnehmzauber:
Moderne Hexen erobern Jugendliche im Internet. Woher der Glaube kommt,
warum er so populär ist – und wann er gefährlich werden kann.
m Couchtisch ihrer Berliner Wohnung
A streckt Shisha Rainbow die Hand aus
und sagt: »Torwächter des Nordens,
ich rufe dich«, während sie eine schwarze Ker-
ze entzündet. Die Torwächter, erklärt sie,
seien Wesen, die das Ritual beschützen und
das Portal in die »Anderswelt« öffnen. Als
alle Kerzen brennen, breitet die 30-Jährige
ihre Arme aus. »Ich öffne meine Energie-
zentren, meine Chakren.«
Rainbow, die sich moderne Hexe nennt,
möchte einen Schutzzauber auf die selbst
gemachten Kerzen legen, die sie später ver-
kaufen will. Die Kerzen hat sie beklebt: Jas-
min für »positive Vibes«, Rosenblätter für
Selbstliebe, goldfarbenes Metall für Reichtum.
Rainbow schließt ihre Augen und streckt ihre
Handflächen nach vorn aus. So verharrt sie
eine Weile, bevor sie sich von den Torwäch-
tern verabschiedet. Statt die Kerzen auszu-
blasen, hält sie einen Kelch über die Flammen,
bis sie erlöschen. Das sei respektvoller.
Früher war Rainbow Maskenbildnerin, heu-
te arbeitet sie als Berufshexe. Sie sieht dabei
nicht aus wie eine Märchenfigur, eher wie ein
Punk. Statt Umhang trägt sie ein bauchfreies
Top, Haare und Brauen hat sie knallpink ge-
färbt, ihre spitz zulaufenden Fingernägel glän-
zen violett. Um in den Zimmern Tausender
Menschen aufzuleuchten, braucht sie keinen
ist. Der Glaube an Hexen ist jedoch ungleich
verteilt: In Tunesien sind es 90 Prozent der
Befragten; in Deutschland glaubt etwa jeder
Achte an den »bösen Blick«.
Der Aberglaube ist kein neues Phänomen,
er zieht sich durch die menschliche Kultur-
geschichte. Schon in der Antike glaubten die
Menschen an Orakel, Zauberei, Dämonen-
beschwörungen. Mit dem Spätmittelalter
werden angebliche Hexen zum Inbegriff
des Bösen, das mit dem Satan paktiert. Die
Verfolgung vermeintlicher Hexen und Zaube-
rer kostet in der frühen Neuzeit unzählige
Menschen das Leben – meistens Frauen. Mit
den Erzählungen der Brüder Grimm ent-
steht die Vorstellung der alten, hässlichen
Märchenhexe.
Auch heute noch sieht sich Rainbow mit
diesem Bild konfrontiert. Sie sagt: »Ich kenne
niemanden, der mit dem Teufel zusammen-
arbeitet.« Doch sie ist sich sicher, dass schwarze
Magie existiert und Flüche wirken können;
ihre Identität als Hexe ist für sie ein Glaube.
Woher die Gegenwartshexen kommen, hat
Victoria Hegner erforscht, die als Ethnologin

42 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


an der Berliner Humboldt-Universität
an etlichen Hexenzeremonien teilge-
nommen hat. Ein Foto an ihrer Büro-
wand dokumentiert ihre Erfahrungen:
Frauen tanzen darauf auf dem Berli-
ner Teufelsberg, sie tragen Felle, Blu-
menkronen und Hörner.
Hegner erzählt: Moderne Hexen
entstanden in den Fünfzigern als eso-
terische Gegenkultur. Sie wollten den
Riss kitten zwischen der »entzauberten
Großstadtrationalität« und der Sehn-
sucht nach Natur, Gemeinschaft, der
Verbundenheit zum Universum. Femi-
nistinnen deuteten dann in den Sech-
zigern das Bild der Schreckenshexe um:
Die Hexe wurde zum Symbol der er-
mächtigten Frau, die aus eigener Kraft
die Welt nach ihren Vorstellungen ver-
ändern kann. Die älteren Hexen, die
Hegner bei ihrer Forschung kennen-
gelernt habe, seien Frauen abseits vom
Mainstream gewesen, oft unverheira-
tet, kinderlos, lesbisch, feministisch.
In den Fußstapfen solcher Hexen
findet sich auch Rainbow. Sie habe
eben ihre Praktiken an das moderne
Leben angepasst, sagt sie. Die magi-
sche Energie der Walpurgisnacht kön-
ne man nicht nur nachts am Feuer im
Wald spüren, sondern auch anderswo:
tanzend im Klub oder in der Bade-
wanne bei Kerzenschein. Auf dem
Boden ihrer Wohnung liegt lila
Plüschteppich, im Regal glitzern
Kristallkugeln. Pfauenfedern sollen
»gegen das böse Auge« schützen. In
einem Glas schwimmt ein toter Baby-
oktopus in Formalin.
Rainbow nennt sich Mystikerin
sechster Generation, aber sie sah sich
nicht schon immer als Hexe. Sie wuchs
bei ihrer alleinerziehenden Mutter
auf, erinnert sich an Esoterikmessen,
an merkwürdige Besucher, Geister-
heilerinnen, Schamanen. »Ich habe es
gehasst, für absoluten Schwachsinn
gehalten.« Vor anderen habe sie die
okkulten Interessen ihrer Mutter
verheimlicht.
Doch als sie sich mit zwölf ver-
zweifelt eine Freundin gewünscht
habe, habe sie in einem Buch ihrer
Mutter mit Zaubersprüchen geblät-
tert. Inspiriert davon, habe sie ihren
Wunsch nach einer Freundin auf
einen Zettel geschrieben, an einem
Ballon in die Luft steigen lassen. Eine
Woche später habe sie das Mädchen
kennengelernt, das später ihre beste
Freundin wurde. Als Jugendliche
habe sie sich fortan in Hexenbücher
vergraben, sich mit den seltsamen
Gästen zu Hause nun auch unterhal-
ten. So erzählt sie es, überprüfen lässt
sich diese Geschichte nicht.
Beruflich wird sie Maskenbildne-
rin, spirituell zur Hexe. Mit der Pan-
demie, dem Lockdown, fallen ihr die
Aufträge weg, so erzählt sie es. Aus
Langeweile lädt sie sich TikTok
runter, postet zunächst Bodypainting-
Videos, die nur wenige Aufrufe ziehen.
Sie steuert um, hält sich das Handy
vors Gesicht – und beginnt, von
Hexerei zu erzählen.
»Mein Account ist explodiert«,
sagt Rainbow. Mittlerweile hat sie
Tausende Clips hochgeladen und sich
bei ihren Followern Autorität erarbei-
tet. In ihren Videos legt sie Beauty-
filter über ihr Gesicht, tanzt, erklärt
ihren »Abnehmzauber«: Sie schreibt
dafür auf einen Zettel »Ich nehme
ab«, zeichnet ein Pentagramm darauf
und verbrennt ihn. Die User kom-
mentieren: »kannst du zaubern oder
woher weiß man das man eine Hexe
is find sowas immer voll spannend«
oder »Energie Manipulation usw find
ich plausibler als ein Gott«.
Doch es gibt auch jene, die schrei-
ben: »Das ist Quatsch warum verbrei-
test du das?« Gerade im Netz scheint
der Grat zwischen Hexeneifer und
Verschwörungstheorie schmal. Rain-
bow stört das. Sie glaube an die Er-
kenntnisse der Wissenschaft. Und
doch behauptet sie, Zusammenhänge
zu erkennen, die Forscher nicht nach-
weisen können. Was andere für Zufall
halten, ist für sie Zauber.
Ihre Freunde scherzen manchmal,
sie solle einen freien Parkplatz, eine
offene Supermarktkasse herbeizau-
bern. Sie glauben nicht an ihre magi-
schen Kräfte, genauso wenig wie ihr
Partner. Das sei ihr nicht so wichtig,
sagt Rainbow, denn die Freunde wür-
den sie akzeptieren, wie sie ist. »Die
halten mich auf dem Boden der Tat-
sachen«, sagt sie. »Damit ich nicht
abdrifte, zu extrem werde, keine an-
deren Ansichten mehr zulasse.«
Die einen zweifeln, die anderen
glauben. In Deutschland erklären sich
immer mehr Menschen die Welt mit
Aberglauben: Etwa zwei von drei
Deutschen zwischen 18 und 24 Jahren
glauben beispielsweise an Horoskope.
Bei den über 55-Jährigen ist es nur
einer von dreien – so eine YouGov-
Umfrage von 2021.
Warum wird Esoterik zum Trend?
Die Ethnologin Hegner sagt: »Klima,
Pandemie, Krieg – die Wissenschaft
hat es nicht geschafft, die Probleme
der Welt zu lösen.« In Zeiten von Kri-
sen würden Menschen an ihren Über-
zeugungen zweifeln und sich dann
manchmal anderen Weltanschauun-
gen zuwenden. »Die Hexen gehörten
keiner Gegenkultur mehr an, sondern
einem immer vielfältigeren Main-
stream. »Besonders jungen Frauen
kann Hexerei dabei helfen, an sich
DEUTSCHLAND
»Esoterik selbst zu glauben, sich abzugrenzen –
und sich in einer Welt mit sonst eher
kommt harm- starren Regeln ermächtigt zu fühlen«,
los daher, sagt Hegner.
kann aber Das sieht die Publizistin Katharina
Nocun anders. In ihrem Buch »Ge-
massiv fährlicher Glaube« übt sie Kritik an
schaden.« der spirituellen Szene. Am Telefon
sagt sie: »Esoterik kommt harmlos
Katharina Nocun,
Publizistin daher, kann aber massiv schaden.«
Gerade verletzliche Jugendliche wür-
den Orientierung suchen – da könn-
ten magische Rituale »die Illusion von
Kontrolle herstellen, eine vermeint-
lich einfache Lösung für schwere Pro-
bleme sein«. Wenn aber jemand auf
Rat einer »Hexe« etwa in einer toxi-
schen Beziehung bleibe, sagt Nocun,
oder sich bei einer psychischen Er-
krankung keine Therapie suche, sei
das gefährlich.
Das Internet habe die Hexenwelt
verändert. »Riskant an sozialen Me-
dien ist, dass das Umfeld erst sehr spät
bemerkt, wenn jemand immer weiter
abdriftet«, sagt Nocun. Algorithmen
würden diese Sogwirkung verstärken.
Wer länger auf einem Hexenclip ver-
harre, dem würden mehr davon vor-
geschlagen. »Die Nutzerinnen landen
damit in einer Blase, die das esoteri-
sche Weltbild immer wieder bestätigt.«
Shisha Rainbow sagt, natürlich
gebe es Hexen, die die Verzweiflung
anderer ausnutzen würden. »Und ich
muss zugeben: Fast niemand in der
Szene macht auf die Gefahren auf-
merksam.« Denn damit vergraule
man potenzielle Kundinnen. Sie
selbst habe mal einer Kundin davon
abgeraten, einer anderen »Hexe« viel
Geld dafür zu bezahlen, damit sie sie
von einem Fluch befreit.
Rainbow nimmt für ihre »Healing
Sessions« 299 Euro. In dem einstün-
digen WhatsApp-Anruf lerne man
zum Beispiel, mit ihr »Blockaden zu
lösen«. Sie führt in ihr Atelier. Vor
einer Sternenleinwand filmt sie hier
ihre Videos.
Rainbow hat ihren Hexenkanal in
eine Zauberfabrik verwandelt: In der
Schule, die sie online betreibt, kann
man auch selbst das Hexen lernen,
die »vollumfängliche Hexenausbil-
dung« kostet 2222 Euro. Dort erklärt
Rainbow in Videos »die Kunst des
Knochenlesens«, prüft das erlernte
Nikita Ter yoshin / DER SPIEGEL (3)
»Hexenwissen« und verleiht dann ein
von ihr erstelltes Hexenzertifikat.
Rainbow geleitet zur Tür. Kurz
blickt sie auf ihr Smartphone, es ist
ihr Arbeitshandy. Sie schalte es nur
noch einmal am Tag an, lade neue
Clips hoch, lese keine Kommentare
Zauberutensilien,
mehr. Alles andere, sagt sie, schade
Accessoires in ihrer psychischen Gesundheit.
Rainbows Wohnung Alexander Kauschanski n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 43

REPORTER
Privat
Farbrausch, 1970
FAMILIENALBUM Wolfgang Dohmen, 76, aus Grevenbroich
D as Orangefarbene auf der Leiter, das ist
Charles Wilp, der Fotograf und Werbe-
papst der Sechziger- und Siebzigerjahre.
Was Joseph Beuys in der Kunst war, war Wilp in
der Werbung: unglaublich prominent. Ich bin
derjenige, der die Leiter hält, ich war Assistent
und Mädchen für alles bei ihm, auch hier, beim
Fototermin mit dem damaligen Außenminister
Walter Scheel. Ich kümmerte mich um das
Equipment, um die Filmkassetten für die Hassel-
blad-6 x 6-Mittelformat-Kamera, um alles.
Ich hatte Bau- und Möbelschreiner gelernt,
kam durch einen Taxifahrerjob in Düsseldorf zu
Wilp ins Studio und blieb vier Jahre lang. Ich
war dabei, als er den Kanzler fotografierte, Willy
Brandt. Ich habe kurz mit Brandt gesprochen. Ich
glaube, ich sagte zu ihm: »Sie können sich schon
mal da hinstellen. Es geht gleich los.« Mit Politi-
kern musste der Termin ja immer ruck, zuck vor-
bei sein. Entspannter war es zum Beispiel bei Jo-
sef Neckermann, dem Versandhändler. Er wurde
in seiner Villa bei Frankfurt fotografiert. Ich er-
innere mich, dass er mir einen Orangensaft anbot.
Ich nahm an, und mein Chef war nicht erbaut.
Ich, der untere Nobody, bekam einen Orangen-
saft von Josef Neckermann. Charles Wilp lief
stets in diesem orangefarbenen Overall herum, er
44 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
war ein guter Selbstvermarkter, hatte sich selbst
zur Marke gemacht. Von seinen Shootings wurde
immer mal etwas an die Presse lanciert: Seht her,
der Berühmte fotografiert die Berühmten.
Auch bei seiner Afri-Cola-Kampagne war ich
beteiligt. Das Bild wurde legendär: Man sah angeb-
liche Nonnen im »Afri-Cola-Rausch«, durch eine
vereiste Scheibe fotografiert. Ich war derjenige, der
die Scheibe vereisen musste, alle zehn Minuten.
Ich hatte Isolierhandschuhe an, es wurde ja mit tief-
gekühltem flüssigem Sauerstoff hantiert. Ich habe
viel gelernt bei Wilp im Studio. Ich weiß noch, dass
Leute, die schon Fotografen waren, bei ihm um ein
Praktikum bettelten, um ein unbezahltes. Und ich
war da einfach reinmarschiert, als Taxifahrer.
Später habe ich als Industriefotograf jahrelang
gut verdient. Ich war auch nach der großen Wen-
de zum Digitalen noch eine Zeit lang bei der ana-
logen Fotografie geblieben, die Kollegen fragten
schon: »Wat haste denn da für ’ne Kamera? Läuft
die mit Briketts?« Heute bin ich im Ruhestand.
Dank Smartphone kann heute jeder wunder-
schöne Fotos machen. Das war früher anders.
Aufgezeichnet von Barbara Supp
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
Ihre Geschichte erzählen möchten?
Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de
ARTENSCHUTZ
»Kann man Hornissen
lieben, Herr Witt?«
SPIEGEL: Warum soll ich mich
über ein Hornissenvolk im Gar-
ten freuen?
Witt: Weil Hornissen faszinierend
sind, soziale Tiere, und lernfähig
sind sie auch. Sie können zum
Beispiel Menschen wiedererken-
nen. Wenn Sie zum ersten Mal
bei denen vorbeischauen, dann
stehen Wächter in der Luft und
beschnuppern Sie. Wenn Sie je-
den Tag vorbeikommen und ganz
ruhig sind, tun sie das nicht mehr.
SPIEGEL: Wirklich?
Witt: Die Hornisse ist friedfer-
tig. Nur wenn sie in die Enge
getrieben wird oder ihr Nest
verteidigt, sticht sie zu.
SPIEGEL: Ein Hornissenstich tut
höllisch weh.
Witt: Ja, aber das Gift ist schwä-
cher als das der Honigbiene.
SPIEGEL: Kann man Hornissen
lieben?
Witt: Ja, Sie können die Hornisse
als Nützling verbuchen – sie be-
stäubt zum Beispiel Johannisbee-
ren. Sie jagt Blattläuse, sie erbeu-
tet Wespen, sie raubt nicht Ihre
Wurst, denn sie mag kein Aas.
SPIEGEL: Nun ist hier vermehrt
die Asiatische Hornisse unter-
wegs, und die jagt Honigbienen.
Witt: Ja, aber nicht in besorgnis-
erregendem Ausmaß. Sie fallen
nicht als Schwarm über Bienen-
völker her. Sie haben nicht das
Kommunikationssystem wie Bie-
nen, die mit ihrem Schwänzel-
tanz den anderen zeigen: Fliegt
dort rüber, da gibt es Futter.
SPIEGEL: Sind Hornissen be-
droht?
Witt: Die heimische Hornisse ist
zwar nicht im Bestand bedroht,
aber gesetzlich geschützt, da sie
immer noch stark verfolgt wird.
Inzwischen ist sie eine Erfolgs-
geschichte für den Artenschutz.
SPIEGEL: Warum?
Witt: Allmählich bessert sich ihr
Ruf. Inzwischen spricht sich
herum, dass das Quatsch ist,
dieser alte Spruch: »Drei Hor-
nissenstiche töten einen Men-
schen.« Das stimmt einfach
nicht. Es gibt sogar Kindergär-
ten, die darum bitten, dass man
bei ihnen ein Hornissenvolk
ansiedelt. Eben weil es so faszi-
nierende Tiere sind. BSU
Rolf Witt ist Biologe mit Schwer-
punkt Wildbienen und Wespen.

Als alles schiefging
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Warum ein französischer Lehrer
vor seiner Schule Abiturarbeiten verbrannte
achdem die Examensarbeiten
N seiner Schüler nur noch Asche
waren, machte sich Victor Im-
mordino auf den Weg nach Hause. Er
ging zu Fuß, sprach gerade in sein
Handy, da kam die Polizei. Die Beam-
ten nahmen ihn mit.
Immordino, 29 Jahre alt, Englisch-
lehrer in Paris, bis vor Kurzem jeden-
falls, ist wieder frei. Er darf seine
Schule derzeit nicht betreten, hat also
Zeit am Telefon. Für ein Gespräch
über Pädagogik, Systemfehler, eine
Nacht in der Zelle und über die Frage,
was das eigentlich war. Ein State-
ment? Nothilfe für leidende Schüler?
Selbstjustiz?
Immordino möchte seine Hand-
lung gern pädagogisch verstanden
wissen, jemand soll etwas lernen,
jemand hat Nachhilfe nötig. Es wird
schnell klar, dass er im Augenblick
nicht von seinen Schülern spricht.
Er erzählt, wie er selbst damals mit
der Schule fertig war, sein Gefühl war:
»Wir wissen nichts.« Er erzählt von
einem Unterricht, der niemanden be-
geisterte, vier Arten von Schülern
habe er erlebt: den Aussteiger, der
einfach nicht mehr hingeht. Den
Durchlavierer, den nichts interessiert.
Den Roboter, den auch nichts inte-
ressiert, der aber versteht, dass die
Schule wichtig ist, und der gute Noten
kriegt. Den Touristen, den manchmal
etwas interessiert, aber doch nicht so
sehr, dass er sich wirklich involviert.
So ziemlich alle, die er kannte,
zählte er zu einer dieser vier Kate-
gorien, sich selbst zu Nummer vier.
Ein düsterer Befund. Er brachte
ihn auf die Idee, Lehrer zu werden.
Wenn Victor Immordino über das
französische Schulsystem spricht,
dann erscheinen in seiner Erzählung
ein dunkler Berg und eine schmerz-
liche Lücke.
Der Berg: Das sind die Examen,
die am Ende des Jahres und der
Schulzeit drohen und ihren Schatten
werfen auf alles, was vorher passiert.
Die den Lernstoff bestimmen, die
Menge, das Tempo, sodass praktisch
keine Freiheit bleibt.
Die Lücke: Das ist die verpasste
Chance, einen Schüler oder eine
Schülerin als Individuum zu begrei-
fen. Als Menschen mit Neigungen,
mit Interessen.
»Sagen wir, da interessiert sich je-
mand für Elektroautos. Also fragen
wir: Wann fing das an? Wo? Womit?
Und dann sind wir schnell ...« Dann
sind wir schnell bei Robert Anderson,
der 1839 in Schottland ein erstes Elek-
trogefährt gegen eine Wand fuhr, oder
bei Gustave Trouvé in Paris, 1881, der
hatte schon ein Dreirad mit auflad-
barer Batterie. »Und schon sind wir
im Fach Geschichte.«
Immordino fing vor zweieinhalb
Jahren im Schuldienst an, erlebte
zwei Schulen und eine Unterrichts-
praxis, die nicht seinen Vorstellungen
entsprach. Dies jetzt ist seine dritte:
das Lycée professionnel Maria De-
raismes im XVII. Arrondissement
von Paris.
Lycée professionnel: Das ist in
Frankreich der praxisorientierte
Schultyp, er besteht aus Ausbildung
plus Abitur. »Le Bac« steht am Ende,
das »Baccalauréat«, ohne das in
Frankreich wenig geht.
Immordino kam im Januar 2023,
im April stand das Abitur bevor. Und
er traf auf Schüler, von denen kein
gerader Satz auf Englisch kam. Er sah
das nicht als die Schuld der Schüler
an, die Diagnose war ja bei praktisch
allen gleich. Er sah die Sache syste-
misch: Sieben Jahre Unterricht, der
wenig gebracht hatte, und auch er
hatte nicht das Gefühl, er könnte da-
ran noch etwas ändern.
Es gab eine Möglichkeit. Illegal,
aber wirksam. Im berufsorientierten
Schultyp sind beim französischen
Abitur die Prüfungsfragen und die
Korrekturen die Sache der Schule
selbst. Er wusste also, welche Klau-
surfragen kommen würden. Er konn-
te den Schülern sagen: »Entspannt
euch. Wir werden üben. Ich werde
»Ich werde euch die Aufgaben verraten.«
euch die
Aufgaben
Leider sah dann ein Kollege eine
Schülerin an einer Aufgabe arbeiten,
die Teil der künftigen Prüfung war.
verraten.« Die Prüfungsaufgaben wurden
geändert. Immordino hatte ein Ge-
spräch mit der Schulleitung, die kün-
digte ihm Konsequenzen an. Umso
erstaunter sei er gewesen, sagt er am
Telefon, dass er in seinem Fach, als
wäre nichts, die Prüfungsarbeiten sei-
ner Englischschüler zur Korrektur
vorgefunden habe.
Die Ergebnisse? »Catastrophique«.
Wenn alles schiefgeht, kann man
sich damit abfinden. Oder man kann
zu drastischeren Mitteln greifen.
Immordino holte juristischen Rat
ein. Er informierte einen freien Jour-
nalisten, dass es etwas zu sehen ge-
ben würde. Der wiederum informier-
te die Redaktion von »Le Parisien«.
Er besorgte sich hochprozentigen
Alkohol, Streichhölzer und einen
Metalleimer.
Dann stellte er sich vor seine Schu-
le, nahm 63 Abiturarbeiten, knüllte
sie, warf sie in den Eimer und fackel-
te sie ab, auf einem Video von »Le
Parisien« ist es zu sehen.
Pädagoge Immordino Was war das nun, was er da getan
vor brennendem hatte? Brandstiftung? Pädagogische
Mülleimer, Notwehr?
Screenshot aus Video
von Leparisien.fr,
Die Polizisten, sagt er, hätten erst
Textausriss von geglaubt, er hätte Feuer in einem
Tagesspiegel.de öffentlichen Abfalleimer gelegt. »Als
ich ihnen meinen eigenen Eimer zeig-
te, wurden sie entspannter.« Was er
verbrannt habe? Papier.
Er wusste zu schätzen, sagt er, dass
ihm die Polizisten keine Handschellen
anlegten und dass er eine Zelle für
sich bekam. Auch er hat nun etwas
gelernt, nämlich dass eine Nacht in
Haft sehr lang sein kann, ohne Handy,
ohne irgendetwas, auf das man star-
ren kann, außer der Wand.
Das Oberschulamt kündigte per-
sonalrechtliche Konsequenzen an,
man habe auch Anzeige erstattet.
»Gefährliche Sachbeschädigung«
wird ihm vorgeworfen. Im Oktober
Le Parisien
soll sein Prozess sein.
Victor Immordino möchte gern
Pädagoge bleiben. Es müsse, sagt er,
nicht unbedingt im Schuldienst sein.
Barbara Supp n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 45
REPORTER

Jonathan, der Schöpfer

BIOGRAFIEN Der Niederländer Jonathan Jacob Meijer hat per Samenspende Hunderte Kinder gezeugt – ohne
dass die Mütter von der Dimension wussten. Nun haben sich viele von ihnen zusammengetan,
um ihn zu stoppen. Kann man einem Mann verbieten, sich massenhaft fortzupflanzen? Von Dialika Neufeld

46 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


urz vor dem Prozess lädt der Sa-
K menspender ein neues Video auf
seinem YouTube-Kanal hoch. Er
steht in einem Hawaiihemd auf
einer Wiese, eine Milchflasche in
der Hand, und blickt in die Kamera: »Roh-
milch trinken ist wie pures Leben trinken«,
sagt er.
Seine blonden, welligen Haare fallen ihm
über die Schulter, immer wieder streicht er sie
zurecht, während er über die Vorzüge von
Rohmilch redet. Jonathan Jacob Meijer spricht
auch über den Kreislauf der Natur, über trans-
formiertes Sonnenlicht und dämonische Vega-
ner, sechs Minuten und 40 Sekunden lang.
Die Schlagzeilen über ihn reichten von In-
dien bis Australien: »Serienspermaspender
wegen Inzestrisiko verklagt«, »Bizarr: Mann
zeugte mehr als 550 – 600 Kinder welt-
weit«. In den Kommentarzeilen unter seinem
Milchvideo gratulieren ihm auch deshalb
Menschen aus der ganzen Welt: »Glück-
wunsch zu deinen Kindern, Kumpel. Du bist
eine Inspiration«, oder »Hello, Dad, in Bra-
silien könntest du locker noch ein paar Hun-
dert mehr machen.«
Meijer bedankt sich höflich für die Kompli-
mente: »Thnx man :)«. Er antwortet mit
»Haha« und lächelnden Emojis, als wäre alles
ein großer Spaß. Dann nimmt er noch eine
Anfrage entgegen: »Hi, Jonathan«, schreibt
ihm eine Frau, »wo können wir uns unter-
halten? Ich hätte Interesse.« Sie solle ihm eine
Direktnachricht schicken, antwortet er.
Wenige Wochen später, ein Donnerstag
Mitte April, 12 Uhr. Im Justizpalast von Den
Haag versammeln sich mehr als 40 Frauen,
nicht alle finden einen Platz im holzvertäfel-
ten Gerichtssaal. Es sind die Mütter von Jo-
nathan Jacob Meijers Kindern. Das nieder-
ländische Fernsehen filmt, man kann sich die
Aufzeichnungen ansehen.
Unter den Anwesenden sind auch Natalie
und Suzanne Dijkdrenth, deren Sohn inzwi-
schen zehn Jahre alt ist. Da ist Marie, die für
ihre 13-jährige Tochter gekommen ist, und da
ist Eva, die Klägerin. Das deutsche Ehepaar
Mareike und Chrissy Flory verfolgt den Pro-
zess aus der Ferne mit, aus einem Dorf in
der Pfalz. Auch sie haben zwei Kinder durch
Meijers Samenspende, Zwillinge.
Richterin: Die Klägerinnen verlangen, dass
Sie vollständig aufhören zu spenden, es sei
denn, es handelt sich um Personen, die bereits
ein Kind von Ihnen haben. Und Sie sagen, Sie
möchten die Freiheit haben, weiterhin zu
spenden?
Meijer: Ja. Oder mich dafür entscheiden kön-
nen zu sagen: Ja oder Nein.
Illustration: Xiao Feng & Mathieu
Die Klägerin, die das Verfahren initiierte,
nennt sich für die Öffentlichkeit nur »Eva«,
sie möchte sich schützen. Sie hat einen Sohn
von Jonathan Jacob Meijer, der heute drei
Jahre alt ist. Zusammen mit der Stiftung
»Donorkind«, einer niederländischen Orga-
nisation, die sich für die Rechte von Spender-
kindern einsetzt, führt sie eine Zivilklage, die
es so wohl noch nicht gegeben hat. Die Vor-
würfe: Der Spender gefährde die von ihm
gezeugten Kinder, er habe ihre Mütter be-
wusst in die Irre geführt. Außerdem habe er
gegen gesellschaftliche Sorgfaltsstandards
verstoßen – durch die Zeugung Hunderter
Jungen und Mädchen.
Verhandelt werden auch Fragen der Ethik
und der Moral: Wie viele Kinder darf ein
Mann zeugen? Kann man jemandem verbie-
ten, sich massenhaft fortzupflanzen?
Das Hawaiihemd hat Jonathan Jacob Mei-
jer für den Prozess gegen einen dunklen Anzug
getauscht. Die Richterin blickt ihn über ihre
Brille hinweg an: Meijer ist 42 Jahre alt, You-
Tuber, Musiker und nach eigenen Angaben
Berater für Kryptowährungen. In einem Frage-
bogen beschreibt er sich selbst als Träumer.
Glücklichste Momente seines Lebens, »immer,
wenn meine Mama oder eine meiner Schwes-
tern ein neues Baby auf die Welt brachten«.
Jahrelang hat dieser Mann exzessiv sein
Sperma gespendet, über Fruchtbarkeitsklini-
ken, Samenbanken und privat, in Europa und
darüber hinaus. Weit mehr als 500 Kinder
soll er weltweit gezeugt haben, nach Berech-
nungen der Klägerinnen könnten es bis zu
1000 sein. Und er hat gelogen: Wie viele
Spenderkinder er wirklich habe, hat er den
betroffenen Eltern verheimlicht, so steht es
in der 38 Seiten umfassenden Klageschrift.
Die Kinder, die aus diesen Täuschungen
hervorgingen, sind zwischen wenigen Mona-
ten und 15 Jahren alt. Sie wurden laut Meijer
in Australien, Kanada, Kenia, in der Ukraine,
in Italien und in Deutschland gezeugt. Rund
um Den Haag ist die Dichte seiner Nachkom-
men besonders hoch. Sie begegnen einander
in Schulen, auf Sportfesten, manche gehen
»Dass er weiter Kinder produziert, macht mich krank.«
Mutter Natalie Dijkdrenth (r.), Ehefrau Suzanne
REPORTER
sogar in dieselbe Kita. Und es gibt Frauen,
die heute von ihm schwanger sind.
Richterin: Sie möchten etwas hinzufügen,
Herr Meijer?
Meijer: Ich werde hier als eine Art wild ge-
wordener Stier dargestellt, der so eine Art
Fortpflanzungsdrang hat. Wer sich mein You-
Tube ansieht, weiß, dass ich nicht an die Evo-
lution glaube. Ich glaube an die Kreation.
Zwölfeinhalb Jahre zuvor, im Dezember 2010,
klickte Natalie Dijkdrenth auf der niederlän-
dischen Kinderwunschseite »Verlangen naar
een Kind« auf das Profil eines gut aussehen-
den, blonden Mannes. Auf der Website, die
ähnlich einer Datingplattform Wunscheltern
mit Spermaspendern verbindet, boten sich
etwa 20 Männer an, auf privatem Weg ihren
Samen abzugeben, so erinnert sie sich. Viele
wollten auf natürliche Weise spenden, beim
Sex. Das kam für sie nicht infrage.
Natalie Dijkdrenth sitzt mit angewinkelten
Beinen auf ihrem Sofa in einem kleinen Ort
nahe Rotterdam. Sie ist eine von fünf Müttern,
die bereit waren, dem SPIEGEL bei persönli-
chen Treffen ihre Geschichte zu erzählen. Ihre
Erinnerungen und die der anderen Mütter
sind untermauert von WhatsApp-Chats mit
Meijer, mit E-Mails und Screenshots seiner
zahlreichen internationalen Spenderprofile.
Sie sei erkältet, sagt Dijkdrenth, sie habe
Fieber. Trotzdem wolle sie von Jonathan erzäh-
len: »Zu wissen, dass er jetzt, in diesem Mo-
ment, da draußen ist und weiter Kinder produ-
ziert, das macht mich krank.« Ihre Frau Suzan-
ne, eine Managerin in einem Technologieunter-
nehmen, hat gegenüber Platz genommen.
Ihre Kinder, ein Mädchen, das Natalies
Frau mit in die Beziehung gebracht hat, und
Daniel Chatard / DER SPIEGEL
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 47
REPORTER
Thijmen, ihr Sohn, machen sich ge-
rade mit ihren Fahrrädern auf den
Weg zum Hockeytraining. Thijmen
ist zehn Jahre alt. Dass er Hunderte
Halbgeschwister habe, hätten sie ihm
schonend beigebracht, erzählt Dijk-
drenth. »Du bist jetzt Teil einer der
größten Familien der Niederlande«,
sagten sie ihm.
Sie habe schon immer ein Kind
gewollt, erzählt Natalie Dijkdrenth.
Doch als lesbische Frau sei das nicht so
einfach. Eine Klinik kam für sie nicht
infrage, einer der Gründe: Sie habe
dem Mann, dessen DNA zu 50 Prozent
ihr Kind ausmachen würde, vorher in
die Augen sehen wollen.
Auszug aus dem Spenderprofil
auf der deutschen Website
Spermaspenderinfo.net
Ich suche keine Beziehung, will gern
nur Spender sein. Kontakt zwischen
mir und dem Kind später ist mög-
lich … Mein sperma ist von hohe kwa-
litat (80 bis 100 million pro ML). Mein
Talent ist Musik, ich spiele gitarre und
viele andere instrumenten.
Meijer wollte sein Sperma in einem
Becher übergeben. Auf der nieder-
ländischen Website benutzte er nicht
seinen richtigen Namen, sondern
nannte sich Martin, was er damit be-
gründete, dass er Lehrer sei und nicht
wolle, dass seine Schüler herausfin-
den, dass er Samenspender ist.
Natalie Dijkdrenth sagt, sie habe
das nachvollziehbar gefunden. Sie ist
ebenfalls Lehrerin. Sein Profil fiel ihr
auch deshalb positiv auf, sagt sie, weil
alles so gut geschrieben war. »Die Art,
wie er sich selbst porträtierte«, sagt
sie, »alles mit Fingerspitzengefühl.«
Sie schickte Meijer eine E-Mail.
Einige Mütter haben eine Face-
book-Gruppe gegründet, um sich
über Meijer auszutauschen. Die
Gruppe heißt »Donorkind 102 JJM«.
154 Frauen aus mehreren Ländern
sind es inzwischen. Ständig kämen
neue Mitglieder hinzu, erzählt Nata-
lie Dijkdrenth. Es muss sich anfühlen,
als wären sie unfreiwillig Teil eines
großen sozialen Experiments.
Viele der Mütter wagen es nicht,
öffentlich zu sprechen. Vielleicht weil
Samenspenden immer noch schambe-
haftet sind. Aber auch weil Meijer dro-
he, den Kontakt zu ihren Kindern zu
verweigern, sollten sie mit der Presse
reden – das berichten mehrere Mütter
unabhängig voneinander. Damit hätte
er ein Druckmittel in der Hand: Für
Spenderkinder kann es psychisch ex-
trem belastend sein, ihren biologischen
Vater nicht kennenlernen zu können.
Die Frauen laden Fotos ihrer Kin-
der in die Facebook-Gruppe, eine
48 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Ist es Narzissmus? Ein Helfersyndrom?
Galerie blonder Mädchen und Jun-
gen. »Es ist fast unheimlich, wie sehr
sie sich ähnlich sehen«, sagt Natalie
Dijkdrenth.
Den meisten Müttern geht es da-
rum, Meijer zu stoppen. Es geht aber
auch darum, politische Aufmerksam-
keit für ein Problem zu schaffen, für
das der Fall des Jonathan Jacob Mei-
jer symptomatisch ist: Die Samen-
spendeindustrie ist kaum gesetzlich
über Ländergrenzen hinweg reguliert.
Es gibt weder in den Niederlanden noch
anderswo in Europa ein zentrales
Spenderregister, was Organisationen
wie die mitklagende Stiftung »Donor-
kind« immer wieder kritisieren.
In Deutschland gibt es seit 2018
zwar das bundesweite Samenspen-
derregister, aber der private Markt
lässt sich schwer kontrollieren. In un-
zähligen Facebook-Gruppen und auf
Internetplattformen kann jeder Mann,
der eine Samenspende abgeben will,
ein Profilfoto hochladen und sein
Sperma anbieten.
Beweismittel 20: WhatsApp-Verlauf
mit Klägerin Eva, am 3. Februar 2018,
19.25 Uhr
Eva: Seit wann machst du das eigent-
lich, Frauen mit Kinderwunsch zu
helfen?
Meijer: Seit 2007. Der Älteste wird
dieses Jahr 10 Jahre alt! Fall nicht
vom Stuhl hehe! P:
Eva: Haha, nein noch nicht. Wie vie-
le Spenderkinder hast du eigentlich?
Meijer: 12
Eva: Und mit wie vielen Müttern?
Meijer: 8
Eva: Gibt es für dich auch eine Gren-
ze?
Meijer: Ja, ich habe sie tatsächlich fast
für mich erreicht.
Die niederländischen Behörden wur-
den erstmals 2017 auf Meijer auf-
merksam. Eine Gruppe Mütter hatte
der Niederländischen Gesellschaft für
Geburtshilfe und Gynäkologie einen
Hinweis gegeben. Das Gesundheits-
ministerium gab eine Untersuchung
in Auftrag. Ergebnis: Neben seinen
Privatspenden hat Meijer zwischen
2007 und 2017 an mindestens elf
niederländische Kliniken gespendet,
woraus 102 Kinder hervorgingen. Da-
her der Name der Müttergruppe:
»Donorkind 102 JJM«.
Illustration: Xiao Feng & Mathieu
In den Niederlanden verpflichten
Kliniken Samenspender vertraglich,
nirgendwo sonst und nur an maximal
zwölf Familien zu spenden. Doch die-
se Zahl ist nicht gesetzlich verankert,
nur eine Richtlinie. Und Meijer wuss-
te sie zu umgehen.
Er habe schnell auf ihre E-Mail
geantwortet, erzählt Natalie Dijk-
drenth. Und er habe all das gesagt,
was sie hören wollte, zum Beispiel,
dass er höchstens an fünf Frauen
spenden würde. Sie sei Nummer drei.
Sie verabredeten sich in einem
Café im Stadtzentrum von Den Haag,
sagt Dijkdrenth. Es sei fast wie ein
Date gewesen. »Ich hatte gleich ein
gutes Gefühl.« Es sei die Art gewesen,
wie er redete. Er mache es so leicht,
sich zu unterhalten, sei jemand, der
exzellent darin sei, sein Gegenüber
zu spiegeln. »Wenn ich sage: Ich liebe
Welpen, dann liebt er sie auch«, so
beschreibt es Dijkdrenth. »Wenn ich
sage, ich bin ein Skifan, dann redet er
über Schnee.« Außerdem sagt sie: »Er
hat wirklich gute Haare.«
Meijer verkörpert einen Typ Mann,
der offenbar bei vielen Frauen ver-
fängt. Das breite Gesicht, die blonden
Locken, dieses Nordische – wie ein
Wikinger im Tropenhemd. Und alle
Frauen beschreiben ihn als ange-
nehm, empathisch, unkompliziert. Er
wirkte gesund. Er wirkte potent.
Daniel Chatard / DER SPIEGEL
Noch im selben Monat sei sie zu
ihm gefahren und habe den ersten
Becher Sperma abgeholt. Auf ihrem
Handy scrollt sie zurück in die
Zeit kurz nach der Geburt. Da ist
ein Babyfoto von ihrem Sohn. Sie
Babyfoto von
lächelt. Dann sagt sie: »Ich liebe
Dijkdrenths Sohn: mein Kind, aber er ist das Produkt
Halbgeschwister eines Typen, der sein Sperma in der

ganzen Welt verteilt. Er ist das Produkt seines
Narzissmus.«
Beweismittel 10: Facebook-Werbung
von Meijer, Juni 2017
Vor zwei Wochen bin ich zum Spenden nach
Kiew gefahren in die Biotexcom Klinik. … das
Hotel und alle Speisen und Getränke waren
inbegriffen. Das Hotel war sehr sauber und
komfortabel. Wenn jemand meine Hilfe in die-
ser Hinsicht benötigt, bin ich sehr gerne bereit,
Ihnen zu helfen.
Ist es Narzissmus, der ihn treibt? Ein fehl-
geleitetes Helfersyndrom? Größenwahn? Will
er einfach auf Kosten anderer die Welt be-
reisen? Das fragen sich Frauen von Deutsch-
land bis Australien.
Vermutlich wären seine Motive leichter zu
durchschauen, wenn er sich durch seine Spen-
den bereichert hätte. Aber bis auf Reisekosten
und Gebühren für medizinische Tests forder-
te Meijer von den Frauen in der Regel: nichts.
Auf eine Interviewanfrage des SPIEGEL
antwortet er: »Schönes Mittag ... jetzt warte
ich auf meine Gerichtsverhandlung. Können
Sie mir bitte nach diesem Termin wieder
schreiben? Ich stehe offen das mit Ihnen zu
besprechen. Herzliche Grüße, Jonathan.«
Doch auf weitere Anfragen nach dem Pro-
zess reagiert er nicht mehr.
Einblicke in seine Gedanken erlaubt er
einem dennoch: Fast jede Woche lädt Meijer
ein neues Video auf YouTube hoch, in dem
er seine Welt erklärt. Inzwischen sind es mehr
als 630 Clips.
Man lernt, dass er viel im Wald lebe und
der »Raw-Primal-Bewegung« folge, deren
Anhänger sich wie Urzeitmenschen ernähren.
Dass er die Zivilisation und die Wissenschaft
weitestgehend ablehne, dass er seit zehn Jah-
ren kein Shampoo mehr benutze und auch
sein Deo vor einem Jahr abgelegt habe.
Mal steht er in Mexiko auf einer Verkehrs-
insel, mal in Hamburg an der Alster. Er zeigt,
wie er genussvoll eine rohe Niere verspeist.
Dann wieder geht es um Gott, die heilige
Maria und das Wunder des Lebens. Manch-
mal wird es politisch: Im Flüchtlingsjahr 2015
dozierte er darüber, dass die europäischen
Grenzen geschlossen werden müssten. »Sie
können uns einfach zertrampeln«, sagte er.
Auch zum Thema Fortpflanzung teilt
Meijer eine Theorie: Die Überbevölkerung
sei nur ein Mythos, sagt er, »wir haben immer
mindestens fünf Kinder großgezogen, solan-
ge die Erde existiert hat. Wenn die Menschen
so weitermachen und kaum noch Kinder be-
kommen, ist der Endzustand das Verschwin-
den der Menschheit«. Meijer will, so scheint
es, diesen »Endzustand« verhindern.
Marie hat für das Treffen ein kleines »Mu-
ziek-Café« in einem Vorort von Den Haag
ausgesucht. Sie bestellt einen Latte macchia-
to. Ihren echten Namen möchte sie nicht in
der Presse lesen, sie möchte auch ihre Tochter
schützen, nennen wir sie Mia. Sie ist 13 und
sei mitten in der Pubertät, erzählt ihre Mutter.
Mia schäme sich ohnehin gerade für alles. Das
REPORTER
mit Jonathan sei einfach zu viel. Wenn Marie ein zweites Kind?«, erzählt Marie. Sie habe
ihn heute auf YouTube sehe, dann denke sie, das merkwürdig gefunden. Warum sollte er
dass er irre geworden sei. »Ich weiß nicht, was das tun? Er bekam ja kein Geld dafür.
in seinem Kopf vorgeht.« Sie frage sich: Ist Es gibt einen englischen Wikipedia-Ein-
das etwas Psychisches? Etwas Erbliches? Der trag: »Liste der Personen mit den meisten
Gedanke, dass ihre Tochter 50 Prozent seiner Kindern«. An erster Stelle steht Dschingis
DNA in sich trage – »fühlt sich nicht gut an«. Khan, dann kommen unter anderem: ein
Sie sagt auch: »Ich habe Schuldgefühle.« Mann, der in einer Praxis bis zu 1000 Frauen
Marie war 38 Jahre alt, als sie Meijers befruchtet haben soll, ein britischer Massen-
Spenderprofil im Internet entdeckte. Sie hat- spender, der König von Swasiland, der 70
te den richtigen Mann für sich noch nicht ge- Frauen hatte. Und dahinter: Meijer. Ist es das,
funden und nach langem Abwägen beschlos- was er wollte?
sen, trotzdem Mutter zu werden, mithilfe Mit den Jahren entwickelte er eine Effi-
einer Spende. Sie traf ihn in einem Café in zienz, die man beeindruckend finden kann.
Den Haag, so wie Natalie Dijkdrenth. Er habe Als wäre die Samenspende ein Wettbewerb.
ihr von einem Freund erzählt, der seine In mehreren Ländern und auf mehreren Platt-
Freundin nicht schwängern konnte. Deswegen formen zugleich buhlte er um Frauen mit Kin-
wolle er Frauen wie ihr nun helfen. Diese Ge- derwunsch: In den deutschen Gruppen Sa-
schichte erzählte Meijer wohl so ziemlich al- menspender, Samenspender per Becherme-
len Wunscheltern. Vielleicht ist sie wahr. Viel- thode, Spermaspenderinfo.net, Wunschkin-
leicht nicht. d4you. In den italienischen Gruppen
Damals habe er vertrauenswürdig auf sie Donatori di sperm in Toscana e Italia sowie
gewirkt, sagt Marie. »Wenn du das hier mit Donatori di seme italiani und so weiter.
mir machen willst, dann möchte ich in dein Mehrere Gruppen und Seiten verwaltete er
Haus kommen und sehen, wo das Baby leben selbst. Noch bis vor wenigen Wochen fand
wird«, habe er gesagt. Er machte den Ein- man Meijer auf Facebook unter einer italie-
druck, als wäre ihm das wirklich wichtig, sagt nischen Spendergruppe als Administrator.
Marie. Er kam zum Kaffee und sah sich bei Mal nannte er sich Lukas, mal Martin, mal
ihr um. Er habe wissen wollen, wo das Kin- Thån Dønå. Manchmal benutzte er ohne das
derzimmer sein würde. Wissen der Eltern Fotos seiner Spenderkinder
»Bei seinem nächsten Besuch ging er hoch zur Werbung.
in mein Bad und machte es in einen Becher«,
erzählt Marie. »Ich war unten, putzte im Haus Beweismittel 20: WhatsApp-Verlauf mit
rum. Ich wollte ihn bloß nicht dabei hören.« Klägerin Eva, am 1. Oktober 2019, 15.43 Uhr
Sie machte die Heiminsemination, die Selbst- Eva: Ich bin dir ewig dankbar, aber so zu lü-
befruchtung, mit einer Spritze. Im Dezember gen, um deine Gene zu verteilen, ist nicht in
2008, beim zweiten Versuch, war sie schwan- Ordnung.
ger. Meijer gratulierte. Meijer: Hoho, warte mal. Darum geht es
»Irgendwann, als Mia schon älter war, kon- mir überhaupt nicht. Ich bin auf jeden Fall
taktierte er mich und fragte, möchtest du noch übers Ziel hinausgeschossen, aber vor allem
»Möchtest du noch ein zweites Kind?«
Repro: Dialika Neufeld / DER SPIEGEL
YouTube
Samenspender Meijer als Kind, im Video auf seinem YouTube-Kanal
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 49
REPORTER
weil ich es schön finde, Menschen glücklich
zu machen ...
Der Blick, mit dem die Mütter auf Meijer
schauen, ist vielschichtig. Da ist nicht immer
nur Abscheu. Während der Recherche ruft
eine deutsche Mutter beim SPIEGEL an, um
Meijer zu verteidigen: Er sei wirklich ein net-
ter Kerl, sie und ihr Kind hätten regelmäßig
Kontakt zu ihm. Sie finde es schlimm, wie
jetzt über ihn berichtet werde: »Serienspen-
der«, das klinge wie »Serienmörder«. »Was
sollen die Kinder denken, wenn sie ihn später
mal googeln?«, fragt sie.
Einerseits sind die Eltern Opfer seiner Täu-
schungen, andererseits konnten sich viele
dank Meijer ihren größten Wunsch erfüllen.
Und Meijer scheint sich über jedes einzelne
Kind zu freuen. Nach der Geburt gratuliere
er, bitte um Fotos, er soll sogar eine Namens-
liste führen. Es ist paradox: Meijer behauptet
immer wieder, es gehe um »die Eltern, die
Kinder, die Freude«. Zugleich ignoriert er,
dass seine exzessive Fortpflanzung für viele
Kinder eine brutale soziale und psychische
Überforderung bedeutet. Wie sollen sie bei
der Anzahl an Halbgeschwistern je stabile
Beziehungen zueinander aufbauen? »Wie soll
man je wissen, wer man ist, wenn es so viele
Kopien von einem gibt?«, fragt eine Mutter.
Und dann ist da noch das Inzestrisiko. Die
Niederlande sind ein kleines Land. Ein großer
Teil der Kinder aus den privaten Spenden
stammt aus der Region rund um Den Haag.
Viele kommen gerade in die Pubertät und
begegnen einander, auf Sportveranstaltungen,
in der Schule. Ihre Mütter fragen sich: Wie
soll das werden, wenn sie sich verlieben?
Marie hat Meijer eine WhatsApp-Nach-
richt geschrieben, um ihn zu konfrontieren.
»Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist«,
schrieb er nur. Mia könne doch jeden Jungen,
den sie zu einem Date treffe, vorher fragen,
ob sie verwandt sind.
Marie scrollt auf ihrem Handy, bis sie das
Foto gefunden hat, das sie sucht. Das Bild ist
in Almere entstanden, auf einem großen Ge-
schwistertreffen. Man sieht darauf 30 Kinder,
fast alle blond, das älteste 13 Jahre. 30 Minia-
turausgaben von Jonathan Jacob Meijer. Sie
haben sich in drei Reihen aufgestellt. Die
Sonne scheint, die Kinder lächeln. Maries
Tochter steht in der Mitte und hält ein Baby
auf dem Arm. Sie habe gedacht, dass es viel-
leicht guttäte, sich auszutauschen, sagt Marie.
Doch nach dem Treffen sagte ihre Tochter:
»Ich will da nie wieder hin.«
Aussage des Beklagten Meijer vor Gericht
Warum werden die großen Kliniken nicht an-
gesprochen … Warum sitze ich hier, obwohl
ich mit allen Kindern und Eltern Kontakt pfle-
ge? Dadurch ist die Gefahr von Inzucht und
Inzest praktisch gleich null.
Am 26. September 2019 bekam die deut-
sche Mutter Mareike Flory eine E-Mail von
der weltweit größten Samenbank, Cryos
International: »Wir kontaktieren Sie, weil
50 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Sie bei uns eine Schwangerschaft mit dem
Spender ›RUUD‹ registriert haben. Uns ist
bekannt geworden, dass ›RUUD‹ in Ländern
außerhalb Dänemarks gespendet hat, damit
hat er den Vertrag gebrochen.«
Mareike Flory sitzt zusammen mit ihrer
Frau Chrissy, einer Polizistin, auf der Terras-
se ihres Hauses in einem Pfälzer Dorf. Ihre
fünfjährigen Zwillinge schaukeln in der Nest-
schaukel im Garten. Die Oma schmiert drin-
nen Brote mit Leberwurst. Flory hat einen
Ordner vor sich aufgeklappt, darin dicht be-
schriebene Seiten, auf denen sie ihre Recher-
chen über Meijer festgehalten hat.
Die Florys schauen mit einem kühleren
Blick auf Meijer. Für sie war er Teil einer ver-
traglich geregelten Transaktion: Sie sind zu
einer Klinik gegangen und haben Geld be-
zahlt, um einen vertrauenswürdigen Spender
für die Befruchtung ihrer Eizellen zu bekom-
men. Sie haben mit Meijers Sperma ein Pro-
dukt gekauft, das sie zu Eltern machte. »Ein
bisschen wie bei Amazon«, sagen sie.
Die Firma Cryos liefert von Dänemark aus
Sperma in mehr als 100 Länder. Es ist ein lu-
kratives Geschäft. Die Florys bestellten ihre
Samenspende 2017 für 1320 Euro. Das Spen-
derporträt, das sie von Cryos bekamen, haben
die Florys aufbewahrt, für den Fall, dass ihre
Kinder später mal Fragen haben sollten. Es
sind mehrere bunt bedruckte Seiten. Ruud,
erfährt man da, ähnele den Schauspielern Brad
Pitt und Chris Hemsworth. Er habe sieben
Geschwister und sei mit einer »außergewöhn-
lichen emotionalen Intelligenz« ausgestattet.
Man lernt außerdem, dass Ruud Katzen liebe,
sein Lieblingsauto ein Cabrio sei. Das Entschei-
dende aber erfährt man nicht: Ruud ist der
Massenspender Jonathan Jacob Meijer.
Zwischen 2015 und 2019 reiste Meijer nicht
nur nach Italien, Deutschland, und in die
Ukraine, sondern einmal im Monat auch nach
Dänemark, um für Cryos zu spenden. Chrissy
Flory sagt: »Es ist wirklich schwer zu begrei-
fen. Alles wird auf Europa-Ebene genormt,
»Warum sitze ich hier?«
ANP / alamy / mauritius images
Beklagter Meijer vor Gericht in Den Haag
sogar Bananen, aber bei so was gibt es keine
funktionierenden Regularien.« Sie seien nicht
von Meijer persönlich enttäuscht. »Der ist für
uns weder Vater noch Erzeuger«, sagen sie.
Sie seien enttäuscht von der Samenbank. Und
von einem System, das Spenderkarrieren wie
seine überhaupt erst möglich mache.
2017, etwa zu der Zeit als die Florys das
Sperma bestellten, wurde Meijer bereits für
niederländische Kliniken gesperrt. Aber
Cryos brauchte noch zwei weitere Jahre, um
die Familie überhaupt zu benachrichtigen. So
lange verschickte das Unternehmen weiter
Meijers Sperma. Und auch danach noch, an
Familien, die ein genetisch verwandtes Ge-
schwisterkind wollten. Eine Frau in Australien,
die als Erste die Florys darauf aufmerksam
machte, dass Ruud ein Massenspender sei,
bekam von Cryos sein Sperma auch noch für
ihr zweites Kind zugeschickt – lange, nachdem
er enttarnt war. Eine Verantwortung weist die
Samenbank von sich. »Da es keine gemeinsa-
me Datenbank für Spender gibt, haben Cryos
und andere Samenbanken derzeit keine Mög-
lichkeit zu überprüfen, ob ein Spender bereits
anderswo gespendet hat«, heißt es.
Die Florys sind inzwischen mit mehreren
deutschen Familien in Kontakt, die ebenfalls
Kinder von Meijer haben. Die nächsten leben
in Heidelberg und Mannheim, es gebe Fami-
lien in Köln und Berlin, in Haltern am See, in
Bergisch Gladbach. Die meisten jedoch seien
in Nordrhein-Westfalen, weil das nah an der
niederländischen Grenze ist. Bekannte, die
auf Spendersuche waren, hätten Meijer schon
in der engeren Auswahl gehabt, als der Skan-
dal öffentlich wurde, sagt Mareike Flory. »Die
haben es gerade noch rechtzeitig erfahren.«
Ein anderes Pärchen hat ihn ebenfalls als Pri-
vatspender ausgewählt – obwohl sie von den
Florys wussten, dass er bereits Hunderte Kin-
der hat. Auch das gibt es. »Ich glaube, der wird
noch mal Sektenführer«, sagt Chrissy Flory.
Meijer ist bis kurz vor Verhandlungsbeginn
in Kenia. Auf seinem WhatsApp-Profilbild
sieht man ihn am Strand sitzen, wie immer
im Hawaiihemd. Er blickt verträumt in die
Ferne. Bereits in der Vergangenheit hat er in
Kenia gespendet. Höchstwahrscheinlich wird
auch diesmal eine befruchtete Eizelle das
Ergebnis seiner Reise sein.
Zwei Wochen nach der Verhandlung ver-
kündet das Gericht in Den Haag das Urteil:
Jonathan Jacob Meijer wird unter Androhung
eines Zwangsgeldes von bis zu 100.000 Euro
untersagt, seinen Samen an neue Wunsch-
eltern zu spenden. Sein noch in Kliniken vor-
rätiges Sperma soll vernichtet werden.
Mareike Flory sagt, das Urteil sei hart, aber
gerecht. Natalie Dijkdrenth und ihre Frau ha-
ben mit Champagner angestoßen. Aber Dijk-
drenth sagt auch: »Er hat unserem Kind die
Möglichkeit eines normalen Lebens genom-
men. Und Jonathan ist noch jung, er ist frucht-
bar.« Wer wisse schon, was er im Ausland ma-
chen werde, vielleicht unter falschem Namen.
Sie fragt: »Wie will man das kontrollieren?« Die-
ser Prozess sei noch lange nicht das Ende. n
REPORTER
»Hier geboren, hier verbrannt«
ORTSTERMIN Vor 30 Jahren starben fünf Menschen,
weil Rechtsextreme ihr Haus anzündeten. Die Täter sind heute frei,
die Familie der Opfer lebt immer noch in Solingen. Regisseur
Bassam Ghazi kämpft mit einem Theaterstück gegen das Vergessen.
»Tagesschau«, 29. Mai 1993:
»Guten Abend, meine Damen und
Herren. Sechs Monate nach den Mor-
den von Mölln sind jetzt in Solingen
fünf Menschen umgebracht worden.
Sie wurden das Opfer von ausländer-
feindlichen Mordbrennern. Die un-
bekannten Täter zündeten in der ver-
gangenen Nacht im Stadtzentrum ein
Mehrfamilienhaus an. Das Feuer brei-
tete sich rasend schnell aus. Bei den
Opfern handelt es sich um zwei türki-
sche Frauen und drei Mädchen im
Alter von 4 bis 13 Jahren.«
Gürsün Ínce
Hatice Genç
Gülüstan Öztürk
Hülya Genç
Saime Genç
52 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
30 Jahre nach dem rassistischen An-
schlag von Solingen sind ihre fünf
Namen jetzt auf weiße Aufkleber ge-
druckt. Es ist ein Dienstagabend Ende
Mai. Der Regisseur Bassam Ghazi hat
mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus
das Theaterstück »Solingen 1993 –
Eine theatrale Busreise in die Vergan-
genheit« inszeniert. Es ist eine Zeit-
reise, die in einem Bus am Düssel-
dorfer Hauptbahnhof beginnt und die
Teilnehmer mit alten »Bravo«-Heften,
Spielkonsolen, Songs und Wende-
geschichten in die Neunzigerjahre
versetzt, um sie in die Innenstadt von
Solingen zu führen. Dort angekom-
men, sollen die Besucher auf vier ver-
schiedenen Routen in jene Vergan-
genheit geführt werden, die für die
Familie Genç nie vergangen ist.
Die Theaterbesucher folgen bunten
Pfeilen auf dem Asphalt, laufen vorbei
an Kreidesprüchen, die metergroß auf
dem Boden prangen: »Hier geboren,
hier verbrannt«, bekommen Anwei-
sungen in einem Chat auf ihren Tele-
fonen. Die Routen tragen Titel wie
»Stimmen dieser Stadt«, »Hintermän-
ner und Hintergründe«, »Tatnacht«,
»Familienstimmen«. An manchen Or-
ten stehen Zeitzeugen, an anderen
Schauspielerinnen und Schauspieler,
die mit Texten und in Dialogen
zu ihnen sprechen, die auf den Erin-
nerungen der Überlebenden beruhen.
Durmuş Genç: Ich wollte mir eigent-
lich nur ein paar Groschen zusam-
menverdienen und dann wieder zu-
rück. Einige aus unserem Dorf sind
nach Deutschland gegangen, und als
sie ein Jahr später im Urlaub zu Be-
such kamen, haben sie es in den höchs-
ten Tönen gelobt, sie fanden über-
haupt kein Ende. Ich wurde neugierig,
was das wohl für ein Land wäre, das
sie »Almanya« nannten.
Mevlüde Genç: Wie ist es in Deutsch-
land?
Durmuş Genç: Gut.
Mevlüde Genç: Dann hol mich nach.
1973 bin ich hierhergekommen. Ich bin
zu meiner Arbeitsstelle gefahren, hab
den Besen in die Hand genommen
und angefangen. Sie haben uns trotz-
dem immer als Fremde behandelt!
Szene am Tatort
Die Eheleute Genç stammen aus Mer-
cimek, einem kleinen Dorf in der
türkischen Schwarzmeerregion. In
einem Solinger Anzeigenblatt fanden
sie damals ein Haus, für 200.000
Mark, sie kauften es und holten die
Kinder nach Almanya – sie wollten
bleiben, in Solingen.
Seit Wochen führen die Darsteller
ihre Zuschauer an die Stelle, wo einst
dieses Haus der Familie stand. An die-
sem Abend ist es die zehnte Auffüh-
rung. Auf dem Weg sieht man immer
wieder die weißen Aufkleber. Regis-
seur Ghazi versprach der Familie bei
der Premiere, am Ende der Auffüh-
rung werde sich die ganze Stadt an
die Namen ihrer Toten erinnern.
Aber das scheint nicht allen in der
Stadt zu gefallen.
Angekommen an einem Spielplatz,
überklebt ein Kollege von der »taz«
zwei Naziaufkleber mit den Namens-
stickern der Toten. Bereits bei der
Premiere musste Regisseur Ghazi die
Polizei rufen, weil sich betrunkene
Rechte während des Rundgangs über
den Anschlag lustig machten.
Melanie Zanin
Auf dem Spielplatz reicht eine
Schauspielerin ein Bild von einem
verbrannten Mädchengesicht und

spricht im Namen von Güldane Ínce, die als
Dreijährige schwer verletzt überlebte.
Güldane Ínce: Die Narben waren immer da.
Solange ich denken kann. Ich habe meinen
Vater gefragt, was passiert ist. Aber er hat
dann immer geweint. Das tut mir weh, mei-
nen Papa so zu sehen. Normalerweise ist mein
Vater ein richtig starker Mann. Mein halbes
Leben habe ich geglaubt, meine Haut sei durch
heißes Teewasser verbrannt.
Baba fühlte sich verpflichtet, schnell wieder
zu heiraten. Er wollte eine Familie für mich.
Mit der Geschichte wollte er warten, bis ich
mit der Schule fertig bin. Aber ich ahnte, dass
etwas nicht stimmt. Mein Vater erzählte mir
dann von meiner Mutter. Im Bücherregal fand
ich einen Aktenordner mit Unterlagen zum
Brandanschlag.
Auch die Ohnmacht und das Schweigen in der
Familie scheint Regisseur Ghazi mit seinem
Theaterstück weiter aufzubrechen. Bei der
Premiere liefen bei Dauerregen Überlebende
mit durch die Straßen und hörten ihre eigene
Familiengeschichte, die junge Schauspieler und
Schauspielerinnen in ihrem Namen sprachen.
Hatice Genç: Eigentlich möchten wir gar nicht
daran denken. Aber wenn wir uns abends
schlafen legen, läuft natürlich alles wie ein
Film vor unseren Augen ab.
Kamil Genç: … Das ist um halb zwei passiert.
Erst nach dieser Uhrzeit … Oder erst eine Stun-
de später können wir einschlafen.
Hatice Genç: Seit 30 Jahren kann ich nicht
schlafen.
Kamil Genç: Vor halb drei schläft sie auf kei-
nen Fall. Diese Uhrzeit muss verstrichen sein.
Hatice Genç: Weil ich die Erste bin, die das
gesehen hat. Alle haben geschlafen, nur ich
hab’s gesehen. Deshalb kann ich nicht schlafen,
wenn diese Uhrzeit naht.
Hatice Genç, die Namensvetterin der an je-
nem Maiabend 1993 verstorbenen 18-jährigen
Hatice Genç, und ihr Mann Kamil Genç haben
bei dem Anschlag ihre zwei kleinen Töchter
verloren. Und auch an den Tagen, an denen
sie nicht dabei sind, erklingen ihre Stimmen
in Videobotschaften und Sprachnachrichten.
Dann stehen kleine Gruppen oder Paare bei-
einander, sitzen auf Eisentreppen und hören
gemeinsam ihre Stimmen, einige Besucher
wischen sich Tränen aus den Augenwinkeln,
andere wirken zunehmend wütend.
Cihat Genç: Meine Schwestern habe ich nie
kennenlernen dürfen, weil ein Anschlag auf
meine Familie ausgeübt wurde. Leider kann
und konnte ich nie mit meinen Eltern darüber
sprechen, wie soll das denn auch gehen? Mei-
ne Eltern haben zwei Kinder verloren. Ich
möchte meine Eltern nicht noch mehr belasten.
Das geht einfach nicht. Mein Name ist Cihat
Genç. Ich bin der Sohn von Kamil und Hatice
Genç. Meine Schwestern habe ich nie kennen-
lernen dürfen.
Darstellerinnen des Düsseldorfer Jungen Schauspiels am Bärenloch in Solingen
An diesem Abend laufen die Besucher aber
auch vorbei an Nachbarn, die mit verschränk-
ten Armen an ihren Zäunen stehen, an Män-
nern, die mit brummenden Motorrädern aus
ihrer Einfahrt vorbei an einer dicht zusam-
menstehenden Besuchermenge rasen. Sie
wollen nicht erinnert werden. Nicht in ihrer
Straße, nicht auf ihrer Einfahrt.
Eine der Schauspielerinnen sagt, dass es
immer wieder Ärger gegeben habe in den
vergangenen Wochen. Sie sagt, sie erkläre
den Menschen dann, der Bordstein gehöre
nun mal ihnen allen, das sei ihre Geschichte,
deutsche Geschichte. Regisseur Ghazi hat be-
wusst Schauspieler ausgesucht, die alle nach
1993 geboren sind. Die sich wochenlang in
die Ereignisse von damals einlasen, die Inter-
views mit der Familie Genç führten, Zeitzeu-
gen trafen und den Psychologen der Familie.
Viele der Darsteller sind selbst Kinder von
Eltern mit Migrationsgeschichte, manche sind
selbst erst einige Jahre hier. Ghazi will, dass
auch diese Generation ihren eigenen Weg der
Erinnerung findet.
An dem Ort, wo einst das Haus stand, sind
Bilder der fünf Toten aufgestellt, dahinter lie-
gen rote Rosen. Seitdem die Aufführung läuft,
wirkt der Ort wieder so, als ob die Tat neu
geschehen wäre. Nur die fünf hochgewachse-
nen Kastanienbäume erinnern an die 30 Jah-
re, die vergangen sind.
»Sie töten meine Kinder, und
ich soll ihnen verzeihen?«
REPORTER
Melanie Zanin
Die vier Routen führen alle Zuschauer am
Ende durch einen Wald, in dem eine Stimme
erklingt, die das bekannte türkische Lied
»Ayrılık« singt, Trennung.
Die Sonne geht unter, oben auf einem Hü-
gel, der den Namen Bärenloch trägt, sind alle
versammelt, es gibt türkischen Tee und Rap-
songs. Aus der Box erklingt die Stimme von
Serpil Temiz Unvar, sie ist die Mutter von
Ferhat Unvar, der mit acht weiteren Men-
schen am 19. Februar 2020 von einem Ras-
sisten in Hanau ermordet wurde. Sie sagt, sie
sei in Gedanken bei den Angehörigen in So-
lingen. Und sie sagt, ihr Leben vor der Tat
könne ihr nie wieder jemand zurückgeben.
Die vier Täter von Solingen wurden 1995
zu 10 bis 15 Jahren Gefängnis verurteilt und
sind inzwischen alle wieder frei.
Die Besucher sehen auf diesem Abend-
spaziergang auch eine Videosequenz von der
Mutter Hatice Genç, sie wird in der kurzen
Aufnahme von einer der Schauspielerinnen
interviewt.
Hatice Genç: Einer der Täter wurde wegen
guter Führung nach 7,5 Jahren entlassen. Er
läuft jetzt da draußen rum, wir wissen nicht,
wo er rumläuft, aber er läuft rum. Einer der
Täter war 15 Jahre im Gefängnis, aber was
sind denn 15 Jahre? Ein Wimpernschlag. Die
Toten kommen nie wieder.
Schauspielerin: Haben Sie den Tätern ver-
ziehen?
Hatice Genç: Niemals. Nein, ich habe ihnen
nicht verziehen. Sie töten meine Kinder, und
ich soll ihnen verzeihen? Niemals! Sie bleiben
für immer meine Feinde. So einfach ist das nicht.
Özlem Gezer n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 53
 WIRTSCHAFT
Rohölterminal in Kozmino, Russland
»Putins Devisenreserven stilllegen«
SANKTIONEN Der Ökonom Guntram Wolff fordert den Westen auf, die Moskauer Geldflüsse
besser zu kontrollieren. Das könnte der russischen Kriegsmaschine Milliardenbeträge entziehen.
Wolff ist Direktor der
Deutschen Gesellschaft für
Zsófia Pölöske / DGAP
Auswärtige Politik.
SPIEGEL: Herr Wolff, Russland
hat 2022 einen Rekordüber-
schuss in seiner Leistungsbi-
lanz erzielt. Sind die westlichen Sanktionen
zwecklos?
Wolff: Nein. Russland hat Schwierigkeiten,
an fortgeschrittene Technologie zu kom-
men. Und wegen des westlichen Ölpreis-
deckels und Importstopps sind die russi-
schen Staatseinnahmen aus Öl und Gas in
den ersten vier Monaten dieses Jahres um
mehr als 50 Prozent eingebrochen. Aller-
dings könnten die G7-Staaten mehr tun. Sie
sollten die Schraube bei den finanziellen
Sanktionen anziehen.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
54 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Wolff: Moskau hat, auch dank der hohen
Energiepreise, im vergangenen Jahr sicher-
lich über 140 Milliarden Euro an zusätz-
lichen Finanzreserven aufgehäuft. Zudem
hat der Ölpreisdeckel Löcher. Ein Teil des
Brennstoffs wird über den Pazifikhafen
Kozmino zu Preisen abgesetzt, die über den
erlaubten 60 Dollar je Fass liegen. Das hat
dem Kreml allein im ersten Quartal über
drei Milliarden Euro an Profiten oberhalb
des Preisdeckels eingebracht.
SPIEGEL: Welche Folgen hat das?
Wolff: Mit dem Geld kann Moskau im Aus-
land Waffen und Material kaufen und seine
Kriegsmaschine am Laufen halten. Es sind
Putins Schattenreserven.
SPIEGEL: Was empfehlen Sie?
Wolff: Der Westen muss die Reeder und
Versicherer, die das Öl verschiffen, zu grö-
ßerer Transparenz verpflichten. Die Endab-
Tatiana Meel / REUTERS
nehmer in China oder Indien werden mit-
spielen; denn sie sind ebenfalls an niedrigen
Preisen interessiert. Außerdem müssen die
Notenbanken und Banken mehr tun, um
die Finanzströme des Kreml offenzulegen
und seine Devisenreserven stillzulegen.
SPIEGEL: Schon jetzt überfordert der Kon-
trollaufwand Behörden und Unternehmen.
Wolff: Dagegen gibt es ein einfaches Mittel.
Der Westen hat gegenwärtig zwar viele rus-
sische Banken vom Zahlungssystem Swift
abgeklemmt, es bleiben aber viele Bezie-
hungen bestehen. Er könnte also noch wei-
tere Kreditinstitute blockieren, ohne den
Russlandhandel komplett auszutrocknen.
Das sollte der Westen tun. Je kleiner die Zahl
der beteiligten russischen Banken ist, desto
geringer wird der Kontrollaufwand. Finanz-
ströme zu unterbinden ist häufig einfacher,
als Handelsbeziehungen zu kappen. MSA
 »Bild«-Talkshow
vor dem Aus
MEDIEN Das Boulevardblatt
»Bild« erwägt offenbar die Ein-
stellung seines bekanntesten
TV-Formats. Wie es aus dem
Axel-Springer-Verlag heißt, soll
der Talk »Viertel nach Acht«
beendet werden. Grund sei die
Entscheidung der neuen Chef-
redaktion unter Vorsitz von
Marion Horn, das TV-Angebot
weiter zu kürzen. Der damalige
Chefredakteur Julian Reichelt
hatte »Bild« ab 2021 ins Fern-
sehen gebracht, der Erfolg von
Bild TV blieb stets unter den
Erwartungen. Ein »Bild«-Spre-
cher will das Talkshow-Ende
nicht bestätigen, das Format sei
derzeit »regulär« in der Som-
merpause. Man nutze die Zeit,
die Bewegtbildstrategie »grund-
legend weiterzuentwickeln«,
um neue Zielgruppen und grö-
ßere Reichweite zu gewinnen.
Intern heißt es, das Ende des
Formats sei besiegelt, niemand
rechne mit einer Rückkehr.
Gleichzeitig will sich »Bild« von
weiteren Mitarbeitern mit be-
fristeten Verträgen trennen, wie
Verlustgefahr beim
Teilverkauf
IMMOBILIEN Die sinkenden
Immobilienpreise machen den
Teilverkauf von Häusern zum
Risikogeschäft. Bei zehn Pro-
zent Rückgang erhält ein Teil-
verkäufer für seinen Restanteil
unter Umständen nur noch
66 Prozent des Ausgangswerts,
zeigt eine Studie der Beratung
Leutner-Consulting. Bei einem
Wertverlust von 25 Prozent
bliebe für die Restimmobile nur
F. Anthea Schaap / IMAGO
Einfamilienhäuser
in Teltow
Aldi Süd korrigiert Milchprodukten. Der Original-
bericht nennt diese Werte aber
Ernährungsreport innerhalb von Spannen, die bei
LEBENSMIT TEL Aldi Süd hat Fleisch, Zucker und Milch bei
nach einer SPIEGEL -Anfrage null Gramm beginnen. Die Gra-
seinen »Ernährungsreport« ge- fik widersprach damit der Aus-
ändert, der Kundinnen und sage der Planetary Health Diet,
Niels Starnick / BILD
Kunden zu einer gesunden und dass Fleisch »optional« in »ge-
nachhaltigen Lebensweise ver- ringen Mengen« konsumiert
Talkshow-Gast helfen soll. In dem Report be- werden sollte. Auf Anfrage
Peter Hahne ruft sich der Discounter auf die weist Aldi Süd »klar zurück«,
Richtlinie Planetary Health Diet einen falschen Eindruck er-
ein Sprecher bestätigt: Es gebe von Forschenden aus 16 Län- weckt haben zu wollen. Man
derzeit »keine Zeitverträge«, dern. Allerdings stellte Aldi Süd habe an anderen Stellen deut-
die »Bild« entfristet hätte. Da- die Erkenntnisse zunächst stark lich gemacht, dass eine »grund-
mit löst der Verlag auch ein Pro- verkürzt dar. In einem Dia- sätzliche Reduktion von tieri-
blem, das in der Redaktion seit gramm zur »Optimalen Ernäh- schen sowie zuckerhaltigen
Monaten für Missstimmung rung nach der Planetary Health Nahrungsmitteln« notwendig
sorgt: Bei »Bild« arbeitete bis Diet« gab das Unternehmen ge- sei. Parallel hat Aldi Süd jedoch
zuletzt Reichelts Verlobte als naue Grammwerte an. So konn- ergänzt, dass »die pflanzlichen
Reporterin, was intern als Inter- te der Eindruck entstehen, die Lebensmittel die Basis der Pla-
essenkonflikt gesehen wurde. Forschenden würden zu be- netary Health Diet darstellen«
Der Ex-Chefredakteur befindet stimmten Mengen Milchpro- und rotes Fleisch, Zucker und
sich in einem Rechtsstreit mit dukten, Fleisch oder Zucker ra- gesättigte Fettsäuren »eine
seinem früheren Arbeitgeber, ten; bei einer Zufuhr von 2500 untergeordnete bis keine Rolle
außerdem betreibt er einen Kilokalorien pro Tag etwa zu spielen« sollen. Im Text werden
YouTube-Kanal, der sich an ein einem Verzehr von 250 Gramm die Spannen nun erwähnt. KKO
ähnliches Publikum wie Bild TV
richtet. Nun wurde der Vertrag
der Journalistin nach SPIEGEL -
Informationen nicht verlängert,
ein Sprecher bestreitet einen
Zusammenhang. AKÜ, RAI
ein anteiliger Wert von 40 Pro-
zent übrig, bei 40 Prozent Ver-
lust sogar nur noch 13 Prozent.
Teilverkauf bedeutet, dass Besit-
zer einen Teil ihres Hauses an
Oliver Berg / dpa
eine Firma veräußern, die ver-
kauften Flächen jedoch gegen
Entgelt weiter nutzen dürfen. Milchregal bei Aldi
Zudem bevollmächtigen sie das
Unternehmen, die Gesamt-
immobilie später weiterzuver- »Schieflage« in Zeit nur begrenzt zur Verfügung
kaufen. »Das Verlustpotenzial stehe, sei es unausweichlich,
ist erheblich«, sagt Autor Bernd Heizungsdebatte Gebäude energetisch zu sanie-
Leutner. Kunden oder ihre WÄRMEWENDE Industriever- ren. Nur so ließen sich Heiz-
Erben könnten am Vertragsende treter und Energieberater kriti- kosten sparen und die Netze
eine böse Überraschung erle- sieren, wie die Bundesregierung schützen. Auch Wärmepumpen
ben: Die Teilverkaufsfirmen si- die Wärmewende angeht. Die könnten nur effizient arbeiten,
chern sich gegen fallende Preise Debatte über das Heizungs- wenn der Zustand der Häuser
ab – mit einer Klausel, die ihnen gesetz sei »in eine Schieflage ge- dies zulasse: Eine gute Beschaf-
beim Weiterverkauf einen Min- raten«, schreiben sechs Verbän- fenheit, etwa per Wärmedäm-
destgewinn von bis zu 17 Pro- de aus Bauwirtschaft und Ener- mung, schütze die Bewohner
zent garantiert. Zudem fällt mit- gieberatung in einem Brief an »vor ausufernden Energiekos-
unter ein Durchführungsentgelt Bundesbauministerin Klara Gey- ten«. Zuvor hatte Geywitz im
an. Das alles bedeutet: Verkauft witz (SPD) und ihre Länderkol- Hinblick auf den Klimaschutz
ein Besitzer 45 Prozent seines legen. Der Umbau der Heizun- im Gebäudesektor von zwei
Hauses im Gesamtwert von gen sei nur eine von mehreren zentralen Maßnahmen gespro-
500.000 Euro, dann träfe ihn Maßnahmen. Die Politik ver- chen: »dämmen oder anders
ein allgemeiner Preisverfall von nachlässige den zweiten zentra- heizen«. Modernere Heizungen
25 Prozent überproportional len Schritt, den Energiebedarf und stärkere Wärmenetze seien
hart. Für seinen Restanteil der Häuser zu senken, monie- »der bessere Schlüssel«, so die
erhielte er später nur noch ren die Vertreter: »So kann es Politikerin. »Dann müssen wir
108.600 Euro – 40 Prozent des nicht weitergehen.« Da erneu- nicht jedes Haus hocheffizient
ursprünglichen Anteilswerts. HEJ erbare Energie auf absehbare dämmen.« BEM
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 55
WIRTSCHAFT
Bauernproteste an der
niederländisch-deutschen
Grenze bei Oldenzaal 2022

Vincent Jannink / dpa

Die Angst vor der Wut

UMWELT Europas Klimapolitik laufen viele Unterstützer davon. Es geht
ums Geld und um kleine Unternehmen – und die Landbevölkerung fürchtet hohe Kosten.
Und die Parteien? Weichen ihre Ziele zugunsten der Wirtschaft immer weiter auf.
56 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023

aroline van der Plas weiß,
C wie man sich vom politi-
schen Establishment ab-
setzt. Als sie 2021 ins Par-
lament gewählt wurde,
fuhr sie mit dem Traktor nach Den
Haag. Und bis heute trägt die Chefin
der niederländischen Bauer-Bürger-
Bewegung (BBB) kein Business-
kostüm, sondern Strickjacke und Mo-
deschmuck. »Für viele Menschen«,
sagt die Kritikerin der europäischen
Klimapolitik, »verändert sich diese
Gesellschaft zu schnell.«
Nun sorgt sie selbst für Wandel,
nicht nur in den Niederlanden. Seit
ihre Partei bei den Provinzwahlen im
Frühjahr zur stärksten politischen
Kraft des Landes aufgestiegen ist und
weiter in sämtlichen Umfragen führt,
fürchten konservative und liberale
Politiker, dass ihnen bei den Europa-
wahlen im kommenden Jahr Ähn-
liches blühen könnte. Die Mitte-
rechts-Parteien suchen nach einer
Antwort, und wenn nicht alles
täuscht, könnte das erste Opfer die
ehrgeizige EU-Klima- und Umwelt-
politik sein.
Jahrelang konnte sich Kommis-
sionschefin Ursula von der Leyen bei
ihrer Green-Deal-Agenda auf eine
breite Mehrheit stützen. Nur hin und
wieder stimmten einzelne Länder oder
Abgeordnete gegen ihre Vorschläge.
In den vergangenen Monaten in-
des wuchs die Zahl der EU-Politiker,
die das Tempo der Brüsseler Gesetz-
gebung für zu hoch halten. Das ge-
plante neue Naturschutzpaket lehn-
ten die Mitte-rechts-Parteien jüngst
im Agrarausschuss des Europaparla-
ments ab. Gegen die neue Euro-7-
Norm für schärfere Abgasgrenzwerte
wehrt sich eine wachsende Zahl von
EU-Mitgliedstaaten. Eine neue Pes-
tizidverordnung steht auf der Kippe,
und auch die Richtlinie zur Förderung
erneuerbarer Energien ist blockiert.
Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron fordert eine »Regulierungs-
pause« – und bekommt Beifall vom
belgischen Premierminister Alexan-
der De Croo sowie EVP-Fraktions-
chef Manfred Weber. Man müsse jetzt
»erst einmal Atem holen«, sagt der
CSU-Politiker, und »nicht immer
neue Gesetze draufsatteln«.
Zugleich brechen im Mitte-links-
Lager alte Konflikte auf. Die Regie-
rung in Paris fühlt sich von ihren Ber-
liner Kollegen bei der Förderung er-
neuerbarer Energien übervorteilt und
dringt auf Gleichbehandlung der
Atomkraft. In Deutschland warnen
Umweltschützer mit wachsender
Lautstärke davor, das Klima auf Kos-
ten der Natur zu retten.
Über allem steht die Sorge, dass
dem Klimaschutz viele Unterstützer
davonlaufen. Bislang war die Energie-
wende meist ein Spezialistenthema,
nun hat sie den Heizungskeller er-
reicht, und davon fühlen sich viele
Hausbesitzer und Mieter überfordert.
Vor allem in ländlichen Regionen
wächst der Verdruss über den unab-
lässigen Strom neuer Klimagesetze,
die den Städtern, so empfinden viele,
ein heiles grünes Gewissen, den
Landbewohnern aber vor allem Kos-
ten bescheren.
Der Unmut der Menschen vom
Land ist derzeit überall in Europa zu
beobachten. Aber nirgends ist er so
groß wie in den Niederlanden, wo das
neue Angstwort nicht Wärmepumpe,
sondern Stickstoff lautet. Das Land
ist der drittgrößte Lebensmittelexpor-
teur der Welt. Es emittiert pro Hektar
mehr gesundheitsschädliche Stick-
stoffverbindungen als jeder andere
EU-Staat. Und so hat das oberste
Verwaltungsgericht des Landes schon
vor Jahren drakonische Maßnahmen
verlangt.
Geschätzt 18.000 Bauprojekte
mussten bereits in den ersten Mona-
ten nach dem Urteil auf Eis gelegt
werden, die Regierung führte wenig
später Tempo 100 auf Autobahnen
ein. Am härtesten traf die Krise die
mit Abstand größten Emittenten: die
Landwirte. Die Zahl der Milchkühe,
Mastschweine und anderer Nutztiere
soll um ein Drittel verringert wer-
den – innerhalb von sieben Jahren.
Damit nicht genug, bis zu 3000 Vieh-
zuchtbetriebe, deren Emissionen
Naturschutzgebiete besonders stark
belasten, will der Staat aufkaufen und
stilllegen. Die Eigentümer sollen
120 Prozent des Marktwerts bekom-
men. Wer sich weigert, könnte wo-
möglich zwangsweise enteignet wer-
den, fürchten die Bauern.
Das trieb sie auf die Barrikaden.
Sie versperrten mit Traktoren Auto-
bahnen, verbrannten Heuballen, blo-
ckierten Lager von Supermarkt-
ketten. Die Früchte ihres Zorns erntet
jetzt van der Plas’ Bauer-Bürger-Be-
wegung. Seit ihrem spektakulären
Provinzwahlsieg stellt sie die stärkste
Fraktion in der Ersten Parlaments-
kammer, vergleichbar mit dem Bun-
desrat, die eine zentrale Rolle bei der
Verabschiedung neuer Gesetze spielt.
Donald Trump bejubelte die Wut-
bauern als »mutige« Kämpfer im
Kampf gegen »die Klimatyrannei der
niederländischen Regierung«.
Die BBB surft geschickt auf dieser
Anti-Eliten-Stimmung. Sie will ein
Ministerium für ländliche Regionen
einrichten, dessen Sitz mindestens
WIRTSCHAFT
100 Kilometer entfernt von Den Haag
Tief gespalten
»Die Maßnahmen
für den Klimaschutz
führen bei mir zu
starken finanziellen
liegen soll. Alle Maßnahmen zur Sen-
kung der Stickstoffemissionen sollen
ausgesetzt werden. Und die Wut-
bewegung ist skeptisch gegenüber der
jetzigen Klimapolitik. So verlangt sie
Belastungen.«, in ihrem Wahlprogramm, dass »Nord-
Angaben in Prozent see und Ijsselmeer nicht vollgestellt
Nein Ja werden mit Windmühlen«. Die Ro-
49 48
toren störten »das Ökosystem«.
Umweltschützer und Wissenschaft-
ler sind entsetzt, aber die niederlän-
dischen Politiker haben längst damit
begonnen, ihre Stickstoff- und Klima-
politik aufzuweichen. Natur- und
Stickstoffministerin Christianne van
»Die Umsetzung der der Wal, die wie Regierungschef Mark
Klimaschutzmaß-
nahmen ...« Rutte der rechtsliberalen Volkspartei
... ist gerade richtig für Freiheit und Demokratie angehört,
16 will nicht mehr unbedingt an der
Jahreszahl 2030 festhalten. Und der
christdemokratische Parteichef und
Vizepremier Wopke Hoekstra fordert,
das Zieldatum 2030 »vom Tisch« zu
nehmen. Immer öfter wird nun in Den
Haag das Jahr 2035 genannt.
Der Wunsch nach einer Entschleu-
... geht ... geht nigung der Klimapolitik treibt auch
mir zu mir zu andere Regierende des Kontinents um,
langsam schnell
42 34
zum Beispiel Frankreichs Präsidenten
Emmanuel Macron. Ausgerechnet in
S Quelle: Forschungsgruppe
einer Rede zur Ökowende der Indus-
◆
Wahlen für das ZDF-Polit-
barometer, Telefonumfrage
in Deutschland vom 23. bis trie rief der französische Staatschef
25. Mai 2023; Befragte: 1257 dazu auf, sich bei der Einführung neu-
Wahlberechtigte; die statisti-
sche Ungenauigkeit liegt bei er europäischer Umweltgesetze mehr
bis zu drei Prozentpunkten;
an 100 fehlende Prozent:
Zeit zu lassen. Im Vergleich mit den
»weiß nicht«/k.A. konkurrierenden Wirtschaftsmächten
USA und China dürfe die EU sich nicht
dadurch auszeichnen, »am meisten
Regulierung und am wenigsten Finan-
zierung« zu bieten.
Selbst die eigenen Anhänger wa-
ren überrascht, zumal von »Regu-
lierungspause« im Redemanuskript
nichts gestanden hatte. Eilig versi-
cherte Macrons Premierministerin
Élisabeth Borne, Frankreich bleibe
beim Klimaschutz ehrgeizig. Pascal
Canfin, früherer Generaldirektor der
Naturschutzorganisation WWF in
Frankreich und heute Europaabge-
ordneter für Macrons Partei, glaubte
an einen Ausrutscher, »einen verun-
glückten Satz«.
Aber tags darauf legte Macron
nach und stellte klar: Bevor die EU
ihrer Wirtschaft neue Umweltpflich-
ten auferlege, solle erst einmal der
vereinbarte Green Deal angewendet
Mar tin Ber trand / IMAGO
werden. »Da brauchen wir nicht noch
mehr hinzuzufügen.« Der Präsident
zielt auf drei EU-Gesetze, die derzeit
diskutiert werden: Erstens, so heißt es
in seinem Umfeld, sei Macron der
Kommissionsentwurf zum Lieferket-
Politikerin van
der Plas: »Die tengesetz zu streng; zweitens störe ihn
Gesellschaft verän- die Neufassung des EU-Chemikalien-
dert sich zu schnell« rechts; und drittens wende sich der
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 57
WIRTSCHAFT
Staatschef gegen schärfere Abgasnor-
men für Verbrennungsmotoren – die
ohnehin verboten werden sollen.
Macron ist in jüngster Zeit auffällig
bemüht, sein Profil als Wirtschafts-
freund zu schärfen. Herzstück der
Argumentation ist stets die Atom-
kraft. Ihre kohlenstoffarme Strom-
erzeugung deckt zwei Drittel des lan-
desweiten Bedarfs und verbindet nach
französischer Lesart industrielle Wett-
bewerbsfähigkeit mit Klimaschutz.
Frankreich passt es nicht, dass
Wasserstoff aus Atomstrom in der
EU nicht als ebenso grün eingestuft
werden soll wie solcher aus Erneuer-
baren. »Deutschland will uns
sein Modell aufzwingen«, klagt ein
Vertrauter Macrons. Seine Europa-
Staatssekretärin Laurence Boone
giftete unlängst Richtung Berlin:
»Frankreich wird dafür kämpfen, dass
der Atomkraft Platz gemacht wird.
Wir respektieren die Entscheidungen
unserer Partnerländer, und sie müs-
sen unsere respektieren.«
Paris hat eine Allianz aus mehr als
einem Dutzend atomfreundlichen EU-
Staaten geschmiedet, und Macrons
EU-Botschafter stellt sich in Energie-
fragen quer. Bereits im Winter hatte
Frankreich gedroht, den geplanten Bau
einer Wasserstoffpipeline von Spanien
nach Deutschland zu vereiteln. Im Mai
nun verweigerte Frankreich in Brüssel
die Zustimmung zu einer EU-Richt-
linie, die den Ausbau erneuerbarer
Energien in Europa vorsieht.
Der deutsch-französische Atom-
streit belastet inzwischen einen Groß-
teil der wirtschaftspolitischen Vorha-
ben wie die geplante Antwort auf Joe
Bidens Inflation Reduction Act. Wäh-
rend die Deutschen die vorgesehene
Subventionsoffensive auf einen engen
Kreis grüner Technologien wie Bat-
terien, Solarzellen oder Wasserstoff-
anlagen beschränken wollen, will
Frankreich auch die Kernenergie för-
dern. Das entspreche dem »Prinzip
der Technologieneutralität«, schimpf-
te neulich Macron – und spielte damit
auf das Argument an, das die Deut-
schen jüngst bei ihrem Nein zum Ver-
brennerverbot angeführt haben.
Lange Zeit hielt von der Leyens
Green-Deal-Koalition in Europa, weil
sie allen beteiligten Kräften etwas
bot: Konservativen und Liberalen den
Emissionshandel, der politischen Lin-
ken den sozialen Klimafonds, den
Grünen das Aus für Benzin- und Die-
sel-Pkw. Nun aber, da ein Großteil
der Gesetze verabschiedet ist, bricht
die Allianz auseinander.
Und schon nimmt ein weiterer
Konflikt an Fahrt auf: der Streit zwi-
schen Klima- und Naturschützern.
58 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Schon immer galten Windräder den
einen als wichtige Instrumente im
Kampf gegen die Erderwärmung, den
anderen dagegen als Todesfallen für
schützenswerte Mäusebussarde oder
Rotmilane. Der Streit wird sogar zwi-
schen den grünen Ressorts der Bun-
desregierung ausgetragen.
Als die Ampelkoalition startete, be-
schworen Wirtschaftsminister Robert
Habeck und Steffi Lemke, seine Kol-
legin aus dem Umweltressort, noch die
gute Zusammenarbeit zwischen den
beiden Ministerien. Lemke wies bei
jeder Gelegenheit darauf hin, dass Kli-
makrise und Artensterben künftig
»zusammen gedacht« werden sollten.
Mittlerweile ist daraus fast ein kal-
ter Krieg der Ökologen geworden.
Mehrere Runden auf Leitungsebene
vermochten den Konflikt, der zusätz-
lich von den Umweltverbänden an-
geheizt wird, nicht zu entschärfen.
Lemke und Habeck, so erzählt man es
sich im Ministerium, seien wieder kurz
vor dem Sie.
Fast überall, wo klimaneutrale
Energien ausgebaut werden sollen,
stoßen die Betreiber auf den Wider-
stand der Naturschützer. Im Schwarz-
wald etwa plante der Energiever-
sorger EnBW, mit sogenannten
Pumpspeicherwerken Stromspitzen
abzufedern und stundenweise Flauten
auszugleichen. Gerade jetzt, da
Deutschland mehr als die Hälfte
seines Stroms mit schwankenden
erneuerbaren Energien erzeugt,
brauchte es mehr solcher Speicher.
Doch als EnBW zwei neue Wasser-
reservoirs anlegen wollte – mit
600 Meter Höhenunterschied, einem
unterirdischen Kraftwerk und den
nötigen Verbindungsstollen –, schei-
terte das Milliardenprojekt an plane-
rischen Auflagen und dem Wider-
stand von Naturschützern. EnBW
Schöning / IMAGO
setzte damals gut 60 Millionen Euro
Planungskosten in den Sand.
Der Konflikt schwappt inzwischen
bis nach Europa, wie sich beim um-
strittenen europäischen Naturschutz-
paket zeigte. Die EU will damit das
historische Abkommen von Montreal
umsetzen, auf das die deutsche Um-
weltministerin besonders stolz ist. Ha-
Jean-Marie Hosatte / Gamma-Rapho / Getty Images
becks Ministerium jedoch kündigte
Ende April im Ausschuss der ständigen
Vertreter an, sich bei der Abstimmung
zu enthalten – ein klarer Affront gegen
Lemke und die Umweltpolitiker der
Grünen. Ändert Habeck seine Position
nicht mehr, wird die Novelle wohl wei-
ter entschärft werden.
Kommissionschefin von der Leyen
gibt sich trotz derlei Zerwürfnissen
demonstrativ gelassen. Zu den um-
strittenen Gesetzentwürfen äußert sie
Anti-Windkraft- sich so gut wie gar nicht. Ihre Leute
Plakat in Mecklen- führen Listen, aus denen hervorgeht,
burg-Vorpommern,
Kernkraftwerk dass die konservative EVP-Fraktion
Cruas in Frankreich: von den 21 bisherigen Green-Deal-
»Deutschland Gesetzen 20 abgesegnet hat. »Selbst
will uns sein Modell der hartgesottenste Konservative will
aufzwingen«
nicht in den Geruch geraten, ein
Klimaleugner zu sein«, heißt es in von
der Leyens Umfeld.
Doch in Wahrheit hat die CDU-
Politikerin bereits angefangen, das
Ruder herumzureißen. Ab Herbst
beginnt der Europawahlkampf, bei
dem die Kommissionschefin als Spit-
zenkandidatin der Konservativen
antreten will. Fraktionschef Weber
drängt nach rechts, da will von der
Leyen den Abstand nicht zu groß wer-
60
Millionen Euro
den lassen.
Die Kommission will bis zur Som-
merpause zwar noch einige Umwelt-
gesetze einbringen, etwa die EU-Bo-
denstrategie. Anderes dagegen soll
verlor der gestrichen oder entschärft werden.
»Die Entwicklung in den Niederlan-
Stromkonzern den hat gezeigt, dass wir Geschwin-
EnBW beim digkeit herausnehmen müssen«, sagt
Planen der CDU-Abgeordnete Peter Liese,
einer der führenden Umweltpolitiker
eines Pump­ der EVP. »Wir müssen aufpassen, dass
speicher­ wir die Bürger nicht verlieren.«
kraftwerks. Claus Hecking, Leo Klimm,
Benedikt Müller-Arnold, Serafin Reiber,
Quelle: EnBW Michael Sauga, Gerald Traufetter n
 WIRTSCHAFT

ENERGIEVERSORGUNG

Melonis Mann
Italiens ultrarechte Ministerpräsidentin besetzt Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft mit
Gefolgsleuten, so auch beim Milliardenkonzern Enel – die Bräsigkeit vieler Investoren hilft ihr dabei.

Paolo Scaroni ist mit 76 Jahren längst im seiner Rolle in einem Schmiergeldskandal Mann von Melonis Gnaden. Der soll die
Rentenalter, er hat ein Faible für Öl, Gas zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis Wünsche des Alten umsetzen. Und was
und das Russland von Wladimir Putin so- verurteilt, musste die Haft aber nie antre- den Enel-Fall zusätzlich spektakulär
wie eine latent kriminelle Vergangenheit. ten. Weitere Affären kamen hinzu. macht, ist das Geschick, mit dem sich Me-
Doch was andernorts eindeutige Aus- Nun ist der »Petrol Head«, seit 2018 loni die Doppelzüngigkeit vieler Profi-
schlusskriterien wären, sorgt bei ihm für Präsident des AC Mailand, in neuer Rolle Investoren zu eigen gemacht hat.
einen Karriereschub im fortgeschrittenen zurück bei seinem alten Arbeitgeber. So verweisen die großen Fonds bei der
Alter. Denn Scaroni ist genau der richtige Einem Konzern, der 60 Milliarden Euro Geldanlage stets auf die Einhaltung stren-
Mann für Italiens ultrakonservative Regie- wert ist und die Italiener mit viel grüner ger ESG-Kriterien: E für umweltschonend
rung, um den mächtigen Verwaltungsrat Energie versorgt. Knapp 60 Prozent (Environment), S für sozial gerecht (So-
beim teilstaatlichen Versorger Enel zu lei- des Stroms gewinnt Enel aus erneuerba- cial) und G für gute, unabhängige Unter-
ten. Bizarr, aber wahr. ren Quellen, 2025 soll der Anteil schon nehmensführung (Governance).
Im Mai gelang es Ministerpräsidentin 75 Prozent betragen. Demnach hätte Scaroni, der weder für
Giorgia Meloni, Scaroni auf der Hauptver- Vor allem Letzteres dürfte Meloni, die Nachhaltigkeit noch für Unabhängigkeit
sammlung zum Topaufseher des Konzerns Parteichefin der postfaschistischen Fratelli steht, kaum Chancen gehabt, auf der
wählen zu lassen, dank des gut 23-prozen- d’Italia, wurmen. Wie ihre rechten Mit- Hauptversammlung mehr Aktionärsstim-
tigen Staatsanteils an Enel und der Bräsig- streiter in den USA, Frankreich, Deutsch- men zu bekommen als die 23 Prozent, die
keit professioneller Investoren. Die Perso- land oder Ungarn hat sie einen Kultur- beim Staat liegen. Zumal es einen Gegen-
nalie ist der neueste Beleg für den rechten kampf gegen echte oder eingebildete kandidaten gab, auf den sich mit Norwe-
Rollback, mit dem Meloni Italiens Politik, »Wokeness« ausgerufen. Zeitgeistbegriffe gens staatlichem Ölfonds und dem Hedge-
Gesellschaft und Wirtschaft überzieht. wie »grün« und »nachhaltig« lösen da fonds Covalis zwei prominente Enel-Ak-
Die Regierungschefin, die sich außen- Schnappatmung aus. tionäre geeinigt hatten.
politisch handzahm gibt, besetzt politische Dabei hat sich die Transformation auch Doch viele Investoren wie Blackrock
Schaltstellen mit Satrapen, schränkt die für Enels Aktionäre, von denen der Staat und die Deutsche-Bank-Tochter DWS
Rechte von Minderheiten ein und erhöht der größte ist, gelohnt. Unter dem lang- folgten dem Votum des einflussreichen
den Einfluss ihrer radikal rechten Dreier- jährigen Vorstandschef Francesco Starace Aktionärsberaters ISS. Das Unternehmen
koalition in staatlichen oder staatsnahen war der Konzern nicht nur ergrünt, son- – ausgerechnet eine Tochter der Deut-
Unternehmen. dern auch an der Börse erfolgreich. Dass schen Börse – bereitet für überforderte in-
Die öffentlich-rechtliche Rundfunk- jetzt mit Scaroni ein Fan fossiler und nuk- stitutionelle Anleger Hauptversammlun-
anstalt RAI baut sie gerade geräuschvoll learer Energiegewinnung über Enel gen inhaltlich vor und empfiehlt, wie sie
nach ihrem Gusto um. Bei der Rüstungs- thront, ist so gesehen auch ökonomisch abstimmen sollen.
schmiede Leonardo, dem Energiekonzern ein Treppenwitz. Zwar kam auch ISS zu dem Schluss,
ENI, dem Netzbetreiber Terna hat sie Scaroni hat schon klargemacht, dass er dass Scaroni nicht unabhängig sei und da-
unlängst neue Manager installiert. ein Comeback der Kernenergie wünscht. mit gegen Italiens Governance-Kodex ver-
Nun also Enel und Scaroni. Der neue Dabei hatten die Italiener 1987 per Refe- stoße. Zudem sitze der Meloni-Mann of-
Verwaltungsratsboss hat, immerhin, Bran- rendum den Ausstieg beschlossen, seit fenbar noch im Aufsichtsrat eines russi-
chenkenntnis, wenn auch veraltete: Von 1990 kommt das Land ohne AKW aus. schen Versicherers, auch wenn man sich
2002 bis 2005 war er Vorstandschef von Und sogar weitgehend ohne Russengas, »aufgrund der undurchsichtigen Offen-
Enel, danach bis 2014 CEO des heimi- auch dank Enels grüner Wende. legung« nicht ganz sicher sei, so ISS.
schen Konkurrenten ENI. Mittlerweile steht allerdings mit Flavio Dafür habe er genügend Fachkenntnis
Aus der Zeit gefallen wirkt er dennoch. Cattaneo auch an der Vorstandsspitze ein und bessere Wahlchancen als der Gegen-
Und das nicht nur, weil er die Versorger- kandidat – eine selbsterfüllende Prophe-
branche vor neun Jahren verlassen hat. zeiung angesichts des Einflusses, den ISS
Der Mann hat ein Russlandproblem. In hat.
seiner Zeit als ENI-Chef schloss er Deals Dass es auch anders geht, bewies
mit Gazprom, dem vom Kreml kontrollier- Union Investment. Die genossenschaft-
ten Versorger, und festigte Italiens Abhän- liche Finanzgruppe habe Scaronis Gegen-
gigkeit von russischem Gas. 2010 besuchte kandidaten gewählt, sagt Portfoliomana-
er Wladimir Putin, damals Ministerpräsi- ger Thomas Deser: »Aus zwei Gründen:
dent; die Konversation der Alphamänner Scaroni ist nicht regierungsunabhängig
war von kumpeliger Herzlichkeit geprägt. und außerdem mit 76 zu alt.«
Scaroni ist sich bis heute treu geblieben Doch diesen intellektuell leicht nach-
und wettert, der Preisdeckel des Westens vollziehbaren Kriterien schlossen sich zu
ITAR TASS / IMAGO

auf russisches Öl lasse »sein Blut kochen«,
weil er Förderländern wie Norwegen und
den USA in die Karten spiele.
Bei der Justiz ist Scaroni ein alter Kunde.
In den Neunzigerjahren wurde er wegen
wenige Profi-Anleger an – und ermöglich-
ten so der ultrarechten Koalition in Rom
den Durchmarsch beim wichtigsten Ener-
gieversorger des Landes.
Energiemanager Scaroni, Premier Putin 2012 Tim Bartz n

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 59

WIRTSCHAFT
Per Los zur Rolex
KONSUM Seit der Pandemie gelten Luxusuhren als gehypte Geldanlage.
Das ruft auch zwielichtige Gewinnspielanbieter auf den Plan,
die teure Exemplare für kleines Geld versprechen. Ist das legal?
wei Uhren trägt Danar Wida-
Z narto an diesem Dienstagvor-
mittag. Eine smaragdgrüne mit
Lederarmband am rechten Hand-
gelenk und links eine personalisierte
Uhr, deren Ziffernblatt ein Clowns-
gesicht zeigt. Beide zusammen sind
rund 15.000 Euro wert, mindestens.
Widanarto ist Concierge in einem
Kölner Luxushotel, die Uhren hat der
41-Jährige von der Uhrenmanufaktur
Behrens geschenkt bekommen.
Uhrenliebhabern ist Widanarto
besser unter den Pseudonymen »Chro-
nondo« und »Mister Watches« be-
kannt. Unter Letzterem produziert er
humoristische Videos auf der Platt-
form TikTok. Seine Markenzeichen:
schrille Farben und mit Uhren behäng-
te Outfits. Seit 17 Jahren sammelt
Widanarto Uhren, ist als Botschafter
für prominente Marken aktiv. Doch
wie seriös die Firmen hinter mancher
Werbeanfrage sind, kann der Influen-
cer nur erahnen. Zwar sagt Widanarto:
»Ich überprüfe die Webseiten der Fir-
men und ihre Produkte.« Doch weiß
er, dass das nicht ausreicht.
2020 meldete sich ein Unter-
nehmen, das unter dem Namen
»thewatchraffleuk« auftrat, bei ihm.
Die britische Firma wollte laut eige-
ner Aussage dafür sorgen, dass auch
Menschen mit normalem Einkommen
die Chance erhalten, eine Luxusuhr
zu besitzen. Das Geschäftsmodell?
Glücksspiel.
Gegen kleine Pfund-Beträge konn-
ten Kunden Lose kaufen. Der ange-
priesene Gewinn war eine Rolex
GMT-Master II im Wert von rund
15.000 Euro. Doch ob jemals ein Ge-
winner die Luxusuhr bekommen hat,
weiß Widanarto nicht. Die Firma ist
abgetaucht, hat sämtliche Posts in den
sozialen Medien gelöscht. Aber längst
locken andere Firmen ebenfalls mit
dem angeblich schnellen Weg zur
Luxusuhr per Losentscheid.
Seit Langem schon wächst der
Uhrenmarkt; in den Coronajahren
2021 und 2022 stiegen die Preise gar
um jeweils 27 Prozent. »In der Pan-
60 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
demie wurden Uhren zum Spekula-
tionsobjekt«, sagt Guido Grohmann,
Hauptgeschäftsführer des Bundesver-
bands für Schmuck und Uhren. »Der
gehandelte Preis auf dem Sekundär-
markt explodierte für bestimmte Ex-
emplare.«
Teure Marken wie Rolex, Patek
Philippe, Audemars Piguet und Va-
cheron Constantin müssen sich seit
Jahren den Vorwurf anhören, das An-
gebot gezielt zu verknappen – die
Hersteller bestreiten das und verwei-
sen auf Kapazitätsengpässe. Fest
steht: Wer einen der Zeitmesser er-
gattern möchte, braucht oft viel Ge-
duld. Bei manchen Juwelieren müs-
sen Interessenten erst eine bestimm-
te Summe ausgegeben haben, bevor
sie auf die Warteliste für die beson-
ders begehrten Exemplare kommen.
Gleich mehrere findige Unterneh-
men aus dem Vereinigten Königreich
Influencer Widanarto: »Ich habe ein schlechtes Gewissen«
versprechen eine Abkürzung: Sie ge-
rieren sich selbst als Start-up, das je-
dermann und jederfrau die Chance
auf eine Luxusuhr verschafft. Doch
das Geschäftsmodell wirft manche
Fragen auf.
Die Website Watchwinner etwa lockt
mit Marken, von denen viele Uhrenfans
träumen: Breitling, Cartier oder TAG
Heuer. »Wir sind aus dem gleichen
Grund hier wie du: Wir lieben Luxus-
uhren!«, heißt es dort. Wer die Liebe
teilt, kann für den Preis von ein paar
Pfund an einer Lotterie teilnehmen. Zu
gewinnen gab es dort etwa eine Aqua-
racer Professional 300 GMT der Marke
Wachstum
auf Zeit
TAG Heuer, deren Listenpreis Wat-
chwinner mit 3150 Pfund angibt; dazu
350 Pfund in bar obendrauf. Angesichts
Volumen des von insgesamt rund 3400 verkauften
Luxusuhrenmarktes Tickets dürfte der Betreiber mit der Ver-
weltweit, in Mrd. Euro
losung zwischen 3400 und 8500 Pfund
neu gebraucht eingenommen haben, sein Gewinn lag
101 somit maximal bei 5000 Pfund.
Den Wettbewerb gewann ein ge-
75 79 wisser Albert T. aus Spalding in Eng-
65 land, der auf einem Foto freudestrah-
56
lend lächelt. Merkwürdig nur: T.
räumte noch drei weitere Preise auf
der Seite ab. Auch seine Ehefrau Mi-
chelle gewann einen der bislang ins-
2019 20 21 22* 26* gesamt 48 Wettbewerbe. Fotos zeigen
* Schätzung sie als Gewinnerin einer Seamaster
S Quelle: BCG-Studie des Herstellers Omega. Ladenpreis
◆
laut Watchwinner: 4650 Pfund.
Hatte das Ehepaar da zufällig
wahnsinnig viel Glück – oder geht es
bei Watchwinner womöglich nicht mit
rechten Dingen zu? Die Londoner Be-
treiberfirma sagt, dass Gewinner mit
einer speziellen Software nach dem
Zufallsprinzip bestimmt würden.
»Alle Gewinner sind echt«, erklärt der
Firmenchef. Die Glückssträhne von
Albert T. erklärt er damit, dass viele
Spieler sich mehrere Tickets gekauft
hätten. Im Übrigen handle es sich bei
Watchwinner nicht um eine Lotterie,
sondern um ein »Preisausschreiben«.
Schließlich müssten die Teilnehmer
eine Frage zu Uhren beantworten, um
an der Verlosung teilzunehmen.
Wer Uhren-Influencern auf sozia-
len Medien wie TikTok folgt, stößt
auf ähnliche Wettbewerbe, bei denen
immer wieder Uhren nach Deutsch-
land verlost werden. So verspricht die
»Luxury Watch Supply Group« Teil-
nehmern »die Luxusuhr ihrer Träu-
me«, zum Ticketpreis von 15 Pfund
das Stück. Nach eigenen Angaben
Sandra Stein / DER SPIEGEL
will die Firma bislang Uhren für rund
neun Millionen Pfund verlost haben.
Darunter kürzlich etwa die begehrte
GMT-Master II von Rolex, Spitzname
»Batman«. Während Kunden bei
Uhrenhändlern teils Jahre auf das
Modell warten müssen, soll es hier für
 WIRTSCHAFT

den Gewinner sofort verfügbar sein. Die Uhren

würden auf dem Zweitmarkt bei »vertrauens- SPIEGEL TV Programm
würdigen Quellen« gekauft, heißt es bei der
Firma auf Anfrage. Ihre Echtheit lasse sich an-
hand von Dokumenten nachvollziehen. Ins-
gesamt habe man bislang Uhren für rund
200.000 Pfund nach Deutschland verlost.
Eigentlich gelten für Gewinnspiele strenge
Regeln – in Deutschland wie in Großbritan-
nien. Die Anbieter machen sich jedoch eine
Lücke in der britischen Gesetzgebung zunut-
ze. Ticketkäufer müssen eine Wissensfrage
zu Uhren beantworten, bevor sie ihr Los kau-
fen. Deswegen sprechen die Firmen von
einem »kompetenzbasierten Wettbewerb«
oder einem »kompetenzbasierten Spiel« – für
solche Wettbewerbe gelten die einschlägigen
Vorschriften nicht, wie die staatliche britische
Lotteriekommission auf Anfrage einräumt.
Mittlerweile haben britische Politiker die

Gesetzeslücke erkannt und arbeiten an einer
Reform. Nach deutschem Recht wären die Ver-
losungen der britischen Anbieter höchstwahr-
scheinlich illegal, sofern man auch aus Deutsch-
land daran teilnehmen kann, sagt der Anwalt
Nik Sarafi aus Kelkheim im Taunus, der sich
öfter mit dem Glücksspielrecht beschäftigt.
Bislang war der gemeinsamen Glücksspiel-
behörde der Bundesländer nur ein Fall von
Uhrenlotto bekannt, wie eine Sprecherin sagt.
Nach einer SPIEGEL-Anfrage will die Behör-
de nun weitere Anbieter überprüfen.
Auch wer von Deutschland aus mitspielt,
kann in juristische Schwierigkeiten geraten,
sofern der Anbieter ohne Erlaubnis der deut-
schen Behörden agiert, warnt Anwalt Sarafi.
»Wer hierzulande an solchen Wettbewerben
teilnimmt oder sie bewirbt, verstößt höchst-
wahrscheinlich gegen das deutsche Recht und
macht sich unter Umständen strafbar.«
Das ist vielen Deutschen aber egal – ent-
weder, weil sie das Risiko nicht kennen oder
es in Kauf nehmen. »Zum einen haben wir in
den letzten Jahren einen unglaublichen Hype
um Luxusuhren erlebt«, sagt der Unterneh-
mer und Influencer Marc Gebauer, zu dessen
Kunden etwa Rapstar Gzuz, Schauspieler
Elyas M’Barek und der Streamer Montana-
Black zählen. Vor allem junge Leute sähen
die Uhr wieder als Statussymbol. »Außerdem
ist die Hemmschwelle, an Glücksspielen teil-
zunehmen, seit der Pandemie erheblich ge-
sunken.« Das sei »ein massives Problem«.
Gebauer fordert, dass die Politik härtere
Maßnahmen ergreift. Er versteht nicht, war-
um Betrügern, die mit einfachsten Losmodel-
len Kunden über den Tisch ziehen, nicht das
Handwerk gelegt werden kann. »In Deutsch-
land und Europa prüfen wir alles, aber lassen
solche Geschäftsmodelle einfach gewähren?
Das ist eine absolute Frechheit.«
Uhren-Influencer »Mister Watches« bereut
heute, dass er sich für das Uhrengewinnspiel
einspannen ließ. »Ich habe ein schlechtes Ge-
Clanoberhaupt Issa Rammo im Berliner Landgericht
SPIEGEL TV
MONTAG, 5. 6., 22.35 – 0.00 UHR, RTL
Der Rammo-Clan – eine
kriminelle Dynastie
Der Einbruch in das Grüne Gewölbe
in Dresden war ihr größter Coup. Doch
schon seit Jahren begeht der Rammo-
Clan aus Berlin spektakuläre Verbrechen.
In einer 60-minütigen Sondersendung
beleuchtet SPIEGEL TV die arabische
Großfamilie mit ihren mehr als 1000 Mit-
gliedern. Eine Parallelgesellschaft mitten
in Deutschland, die ihre Macht durch
strategische Hochzeiten ausbaut und
den Rechtsstaat an seine Grenzen bringt.
Unter anderem durch schmutzige
Geschäfte mit Flüchtlingsheimen und ein
angeblich zahlungsunfähiges Clan-
oberhaupt, das privat mit 500-Euro-
Scheinen um sich wirft.
DIE SPUR
MITTWOCH, 7. 6., 22.45 – 23.15 UHR, ZDF
Ibrahim A.
Eine 17-Jährige und ihr Freund werden in
einem Regionalzug zwischen Kiel und
Hamburg erstochen. Der Messerangriff
im Januar 2023 löst bundesweit Ent-
setzen aus. Der mutmaßliche Täter, ein
Picture Alliance
SPIEGEL TV
Flüchtling aus dem Gazastreifen, war
erst eine Woche vor der Tat aus der Haft
entlassen worden, die er in Hamburg
wegen einer anderen Straftat hatte
absitzen müssen. Er war psychisch auf-
fällig und hatte schon mehrfach Men-
schen attackiert. Hätte der Tod der bei-
den Teenager verhindert werden können?
DEUTSCHLANDS GRÖSSTE
GEHEIMNISSE
SONNTAG, 4. 6., 20.15 – 22.25 UHR, KABEL 1
Folge 5
Welches lange Zeit wohlgehütete Regie-
rungsgeheimnis verbirgt sich in den
Weinbergen Nordrhein-Westfalens?
Was haben kontinentale Bewegungen
mit Einmachgläsern zu tun? In welchem
europaweit einzigartigen Zuhause wohnt
ein Ehepaar aus Sachsen? Warum zahlen
Hausbewohner in einer bayerischen
Stadt einen Mietpreis, von dem der Rest
der Republik nur träumen kann?
Die Show präsentiert 13 schräge Orte,
Rekorde, Geschichten und lädt zum
Miträtseln ein. Es gilt, Hinweise zu kom-
binieren und so die Geheimnisse zu
lüften. Zahlreiche Prominente wie Sonja
Zietlow, Janine Kunze, Aaron Troschke
und Peter Giesel knobeln mit.

wissen, weil ich nicht mehr Details zu den

SPIEGEL TV

Gewinnern wissen wollte. Ich habe mich so

vielleicht zum Mittäter gemacht.«
Luisa Bomke, Michael Brächer n Spurensicherung in Brokstedt Moderator Jörg Draeger

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 61

WIRTSCHAFT
Politiker Trump,
Moderatorin Collins
Rendezvous mit
dem Schicksal
TV-KONZERNE CNN, früher eine Ikone des Fernsehens, kämpft mit sinkenden
Quoten und fehlender Relevanz. Der neue Chef Chris Licht soll den Sender wieder
fit machen. Ein unmöglicher Job – auch wegen Ex-Präsident Donald Trump.
er zu CNN will, muss durch
W die Luxusmall auf Manhat-
tans West Side. Zwischen
einer Weinhandlung und einer Bade-
modenboutique führt eine Rolltreppe
ins Foyer des neuen CNN-Dachkon-
zerns Warner Bros. Discovery (WBD).
Keine Spur von den selbstbewussten,
knallroten CNN-Logos, die einen frü-
her vor den Sendezentralen in New
York und Atlanta begrüßten. Statt-
dessen flimmert am Empfang LED-
Werbung für »90 Day Fiancé: Love
in Paradise«, eine Datingshow des
WBD-Senders TLC.
»Chris Licht?«, wiederholt die
Pförtnerin, als man sich zum verab-
redeten Termin anmelden will. »Wel-
che Abteilung?« Sie scrollt durch eine
lange Namensliste in ihrem Compu-
ter. »Wer ist das?«
Licht ist seit gut einem Jahr Vor-
standschef und Chairman von CNN
Worldwide. Der altgediente TV-Pro-
duzent hat den wohl schwierigsten
Job in der US-Medienbranche: Er soll
die ikonische Medieninstitution mit
4000 Angestellten aus der Sinn- und
62 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Existenzkrise führen. Dass CNN heu-
te nur noch die »Abteilung« eines viel
größeren Unternehmens ist, gilt als
das geringste Problem.
Vertrauensverlust, Profiteinbruch,
Talentexodus: Kein Nachrichtensen-
der kämpft gerade so sehr mit seiner
Rolle wie CNN, der legendäre Nach-
richtensender.
Und keiner bei CNN kämpft gera-
de so sehr wie Chris Licht, der das
Steuer herumreißen will.
»Licht hat einen dampfenden
Scheißhaufen übernommen«, sagt ein
Insider, der fast seine gesamte Kar-
riere bei CNN verbracht hat.
Die Krise fühlt sich monumentaler
an als alle anderen, seit CNN im Juni
1980 auf Sendung ging. Das Network
versorgt und verbindet sechs Konti-
nente mit oft lebenswichtigen Infor-
mationen. Wie es die jetzigen Tur-
bulenzen übersteht, hat weltpoliti-
sche Konsequenzen. Lichts Boss
David Zaslav, der CEO von WBD,
macht klar, was auf dem Spiel steht:
»Dies ist unser Rendezvous mit dem
Schicksal.«
Licht, 51, will CNN ein »neues Ge-
sicht« verpassen: überparteilich,
unerschrocken, endlich wieder »new-
sy«. Doch die entscheidende Premie-
re dieser Strategie ging gleich gründ-
lich daneben. Das Desaster von Saint
Anselm, wie manche es seither scha-
denfroh nennen, wird zu einem Fanal
dafür, wie unmöglich die Herausfor-
derung ist, auf die sich Licht eingelas-
sen hat.
Drei Wochen ist es nun her. Man-
chester, New Hampshire: Vor dem
Schultheater auf dem Campus des
Saint Anselm College marschieren
zwei rivalisierende Studentengrup-
pen auf. Die einen protestieren gegen
den VIP-Gast, der auftritt, die ande-
Planet Photos / ddp
ren für ihn. Man hält höflich Abstand.
Doch drinnen ist es mit dem Anstand
schnell vorbei.
Denn der VIP-Gast, den CNN
nach Neuengland eingeladen hat,
heißt Donald Trump.
Auf der Bühne, vor rund 400 Saal-
gästen und Millionen Livezuschau-
ern, steht CNN-Moderatorin Kaitlan
Collins. Die 31-jährige Ex-Reporterin
der konservativen Website »Daily
Caller« ist die jüngste Hoffnung des
Nachrichtensenders. Sie trägt einen
weißen Hosenanzug, einst die Rüs-
tung der Suffragetten.
Es ist die erste TV-Townhall des
Vorwahlkampfs. Das handverlesene
Publikum besteht aus Republikanern
und »Unentschiedenen«, doch die
Loyalitäten sind klar. Unter lautem
Jubel tritt Trump aus der Kulisse.
»Vielen Dank, dass Sie hier sind«,
sagt Collins. »Wie nett, Sie zu sehen«,
Trump-Effekt
Zuschauer* von US-
nuschelt Trump und reicht Collins
halbherzig die Hand.
Und dann ist Schluss mit artig.
Nachrichtensendern,
in Millionen; Auswahl Trumps erster Soloauftritt seit 2016
bei dem Network, das er gern als
CNN Fox News »Fake News« tituliert, wird für CNN
MSNBC zum Debakel. Trump lügt, hetzt,
schimpft, er beleidigt E. Jean Carroll,
die tags zuvor einen Zivilprozess we-
3
gen sexuellem Missbrauch und Ver-
leumdung gegen ihn gewonnen hat.
Trump preist den Mob, der im Janu-
ar 2021 das US-Kapitol angegriffen
2 hatte, und stellt den rechtsextremen
Gewalttätern Begnadigungen in Aus-
sicht. Collins hält wacker dagegen,
hat jedoch keine Chance. Trump nennt
sie »fies«. Seine Fans grölen.
1
Licht, der Mann, der dieses Fiasko
zu verantworten hat, schaut back-
stage zu. »Viel Spaß«, soll er Trump
US-Präsidentschafts-
gewünscht haben.
0 wahlen Lichts Fehlgriff, dem Demagogen
2016 2020
Trump eine Plattform zu bieten, wird
anschließend rundum verdammt, ins-
* Durchschnittswerte zur
Hauptsendezeit besondere auch intern. Allen voran
S Quellen: Variety, Nielsen von Chef-Anchor und CNN-Urge-
◆

stein Christiane Amanpour, die seit 40 Jahren
dabei ist: »Bei allem Respekt finde ich nicht,
dass man Donald Trump hätte erlauben sol-
len, in diesem spezifischen Format aufzutre-
ten«, rügt sie, als sie eine Woche später einen
Preis der renommierten Columbia Journalism
School verliehen bekommt. »Vielleicht ist live
nicht immer die beste Idee.« Schon wird sie
als potenzielle Nachfolgekandidatin für Licht
gehandelt.
CNN werde sich vom »Gestank« dieser
Townhall »nie reinwaschen können«, prophe-
zeit der ehemalige CNN-Kommentator
Wajahat Ali.
Selbst als masochistisches Quotendoping
taugte das Experiment nicht. Zwar sahen
3,3 Millionen Menschen zu, wie Trump CNN
platt walzte, doch seitdem sind die Zahlen
wieder um 90 Prozent gesunken, auf rund
335.000 Zuschauer zur Spitzenzeit, den tiefs-
ten Stand seit acht Jahren. Selbst der ultra-
rechte Nischensender Newsmax hat mehr.
Die Zeiten sind generell schwer für Nach-
richtensender. Seit dem Chaos der Trump-
Amtszeit, die selbst Phlegmatiker zu TV-Jun-
kies gemacht hatte, und dem ersten Schock
des russischen Angriffskriegs gegen die
Ukraine hat sich das Interesse wieder spürbar
verlagert, vom »Breaking News«-Dauerstress
zur Schonkost via Streaming. Alle drei füh-
renden US-Nachrichtensender (Fox News,
CNN, MSNBC) schmieren ab, doch nirgends
ist der Sturz tiefer und generiert mehr Drama
als bei CNN.
Kein Wunder, dass Chris Licht anfangs we-
nig Lust hatte auf diesen Schleudersitz. Er
habe kein Verlangen danach gehabt, wird
kolportiert. Doch für einen Journalisten sei
das Angebot, CNN zu führen, eine »Be-
Dimitrios Kambouris / Warner Bros. Discover y / Getty Images, Brad Trent / Redux / laif, John Nacion / STAR MAX / picture alliance
rufung«, der er sich nicht habe entziehen
können.
Schon als Kind hatte Licht mit der Video-
kamera Fantasienachrichten gedreht. Als Pro-
duzent machte er später zwei US-Frühstücks-
shows zu Hits, »Morning Joe« und »CBS This
Morning«. Mit 38 erlitt er eine lebensgefähr-
liche Hirnblutung, ließ das Nachrichten-
geschäft zurück und produzierte sechs Jahre
lang »The Late Show with Stephen Colbert«,
lange Amerikas populärste TV-Talkshow.
Dann lockte ihn WBD-Chef Zaslav, ein alter
Freund aus NBC-Zeiten, zurück ins harte
Newsbusiness.
Als Licht von der lustigen »Late Show«
zum bierernsten CNN wechselte, steckte der
Sender tief im Sumpf. Die Quoten dümpelten
im Keller, man lag weit hinter dem rechten
Fox News und den linken MSNBC-Nachrich-
ten. Um das Image war es kaum besser be-
stellt. 2016 hatte CNN Trump eine massive
Livepräsenz beschert, auf Geheiß von Lichts
Vorgänger, dem charismatischen Senderboss
Jeff Zucker. »Unsere Endlosberichterstattung
über Trump verhalf dem Mistkerl wahrschein-
lich zum Wahlsieg«, empört sich ein langjäh-
riger Producer.
Nach Trumps Einzug ins Weiße Haus pro-
filierte sich CNN dann als Opposition. Trump
Die CNN-Größen
»Aus wirtschaftlicher
Sicht war es unschön,
als ich ankam,
wir gaben Geld für
alles Mögliche aus.«
Chris Licht, Vorstand bei CNN Worldwide
David Zaslav, Chef des CNN-Dach-
konzerns Warner Bros. Discovery
Jeff Zucker, Lichts Vorgänger bei
CNN Worldwide
WIRTSCHAFT
und Zucker machten ihre persönliche Fehde
zur öffentlichen Seifenoper, im Fernsehen
und bei Twitter; Zucker ließ seine Tweets von
einem Ghostwriter verfassen. Für Trumps
Basis wurde CNN zum Feindsender. Modera-
toren erhielten Morddrohungen und beka-
men Personenschutz, die New Yorker Studios
wurden 2018 einmal wegen eines vermeint-
lichen Bombenalarms evakuiert. Doch Zu-
cker hielt Kurs.
»Zucker hat unsere Marke schwer beschä-
digt«, schimpft ein CNN-Veteran. »Das hat
viele von uns kaputt gemacht, vor allem die,
die international im Kriegseinsatz sind. Sie
riskieren draußen ihr Leben und haben nun
auch zu Hause mit so einem Bullshit zu tun.«
Er zeigt auf ein Regal voller Fernsehpreise
hinter sich. »Ich weiß nicht, wie wir unsere
Glaubwürdigkeit jemals zurückbekommen«,
seufzt er. »Wo holt sich die nächste Genera-
tion ihre Informationen? Bei Facebook.«
Im Februar 2022 musste Zucker wegen
einer Büroaffäre gehen. Sein Starmoderator
Chris Cuomo war zuvor gefeuert worden, da
er mit seinem Bruder gekungelt hatte, dem
damaligen Gouverneur Andrew Cuomo. Das
Timing war kaum Zufall. Zur selben Zeit stieß
der Telekomriese AT&T den CNN-Mutter-
konzern WarnerMedia samt seiner histori-
schen Hollywoodstudios an Discovery Inc.
ab, das bis dahin vor allem Dokusender und
Themenkanäle betrieb. Durch die Fusion ent-
stand der Unterhaltungsmulti WBD, für den
CNN nur noch einer von 67 »Brands« ist,
neben Filmgesellschaften, Streamern, der
Superheldenfabrik DC Comics und dem Car-
toon Network. Kein Platz für Skandale.
Zu Beginn seiner Amtszeit pilgerte Licht
nach Montana, um bei CNN-Gründer Ted
Turner Rat zu suchen. Der 84-jährige Ex-Mo-
gul hat die Ära der Rund-um-die-Uhr-Nach-
richten begründet. Sein Mantra: »Die News
sind der Star.« Licht wiederholt das oft, mit
anderen Worten.
Sein Debüt war sofort kontrovers. Auch
weil nicht wenige ihrem alten Chef Zucker
hinterhertrauerten. In der Zucker-Ära sei
CNN so was »wie eine Sekte« gewesen, er-
innert sich einer. »Viele litten an posttrauma-
tischen Störungen, als er gehen musste.« Ein
anderer hält dagegen: »Die Einzigen, die Zu-
cker nachweinen, sind jene, die jetzt um ihre
Jobs fürchten müssen.«
Zu Recht. Licht griff hart durch. Noch be-
vor er im Mai 2022 offiziell antrat, entließ er
Hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
indem er Zuckers defizitären Streamingdienst
CNN+ killte. Dessen Premiere hatte CNN
gerade erst in einer Cocktailbar seines Wol-
kenkratzers gefeiert, in schwindelerregender
Höhe über Manhattan. »Es war ein Omen für
das, was kommen würde«, sagt ein CNN-
Mann.
WBD belegt 25 der 103 Etagen des Baus,
CNN davon 5. Lichts Büro liegt im 22. Stock,
mit Blick auf den Hudson River. Eine Wand
wird von einem enormen HD-Bildschirm
beherrscht, auf dem das CNN-Programm
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 63
WIRTSCHAFT

läuft. Am Computer hängt ein Ringlicht für
Videos. Der Manager, der mit seinem kurzen
Wuschelhaar viel jünger aussieht, als er ist,
empfängt den SPIEGEL zu einer ausführlichen
Unterhaltung, unter der Voraussetzung, dass
nicht über den Inhalt berichtet wird. Doch
Licht sagt wenig, was er nicht anderswo auch
schon gesagt hat.
Zum Beispiel im Genesis House, einem
koreanischen Restaurant im Meatpacking Dis-
trict von Manhattan. In dessen Eventsaal kam
im April eine Gruppe Branchenpromis zu-
sammen, darunter Medienmogul Barry Diller,
Ex-Regierungssprecherin Jen Psaki und VIP-
Podcasterin Kara Swisher. Die neue Polit-
Website Semafor hatte zum »Mediengipfel«
gebeten, auch CNN war vertreten, Stargast
war Licht.
Im Gespräch mit Semafor-Chefredakteur
Ben Smith versuchte er, seine Strategie zu
umreißen, es blieb jedoch bei blumigen
Klischees, die den Ernst der Lage kaschier-
ten. »Der Ton hat sich verändert«, sagte er.
CNN gebe wieder allen politischen Lagern
»eine faire Chance«. Die finanziellen und
personellen Kürzungen rechtfertigte er als
»Kernsanierung« eines morschen Hauses:
»Aus wirtschaftlicher Sicht war es unschön,
als ich ankam, wir gaben Geld für alles Mög-
liche aus.«
CNN war es in der Tat gewöhnt zu prassen,
bei lange mehr als einer Milliarde Dollar Jah-
resgewinn. Doch für 2022 wurden nur noch
750 Millionen Dollar avisiert. Licht
legte mit den Entlassungen nach, selbst Stars
wie Medienkorrespondent Brian Stelter blie-
ben nicht verschont. Der CNN-Schwester-
sender HLN wurde ganz ausgeweidet. Intern
wird damit gerechnet, dass die Gewinne des
Senders für 2023 nun wieder zwischen 850
Millionen und einer Milliarde Dollar liegen
werden.
Lichts Programmänderungen wirken aber
selbst nach einem Jahr nur kosmetisch. Er hat
Ted Turner, Medienunternehmer und
Gründer von CNN
Kaitlan Collins, Don Lemon, Poppy Harlow,
Moderatoren
strategische Degradierung, als Geistesblitz
getarnt.
Das Experiment ging daneben. Lemon
fühlte sich sichtlich unwohl, und eine krude
Bemerkung über Frauen ab 50 brach ihm
schließlich das Genick. Nach wochenlangem
Hin und Her feuerte ihn Licht fristlos. Collins
verlässt die Frühschicht ebenfalls bald: Nach
der Trump-Townhall hat Licht sie in den pres-
tigeträchtigeren Abend befördert.
Auch diese Primetime bleibt ein Sorgen-
kind. Ändern sollen das demnächst CBS-Star
Gayle King und Basketballlegende Charles
Barkley mit einer »unpolitischen« Talkshow
namens »King Charles«. Zugleich warb der
neue Boss »smarte Konservative« als Kom-
mentatoren an, um den Sender wieder in die
Mitte zu bugsieren, wenn nicht gar ein Stück-
chen weiter nach rechts. Mitch McConnell,
der Chefrepublikaner im Senat, ist auf einmal
wieder öfters zu sehen.
Stell dir vor, es regnet, sagt Licht dazu. Wir
zeigen Leute, die Regen mögen, und Leute,
die keinen Regen mögen, aber keine, die sa-
gen, dass gerade die Sonne scheint.
Aber diese Balance funktioniert nicht mehr
so in Zeiten, in denen Desinformation blüht
und die eine Seite sich immer weiter von de-
mokratischen Normen entfernt.
»Seid wahrheitsgetreu, aber nicht neutral«,
warnte auch Amanpour in ihrer Rede vor der
Columbia Journalism School. »Falsche Aus-
gewogenheit ist nicht immer Objektivität. Sie
bringt euch nicht zur Wahrheit.«
Neue Köpfe und neue Formate allein sind
ohnehin kein Ausweg aus der viel tieferen
Grube, in der CNN steckt. Immer mehr Ame-
rikaner verlieren die Lust am linearen Fern-
sehen, wechseln zum Streaming. »Früher
saßen alle zusammen vor den Nachrichten,
beim Kennedy-Attentat, bei der Space-Shut-
tle-Explosion, an 9/11«, sagt die Medien-
forscherin Amanda Lotz. »Dieses kulturelle
Gemeinschaftserlebnis passiert nicht mehr.«

Shows umbenannt, Studios aufgemotzt und
die marktschreierischen Bildschirm-Bande-
rolen entschärft, hat zu meinungsstarken Mo-
deratoren einen Maulkorb verpasst und statt-
dessen den Reporterinnen und Reportern
mehr Spielraum gegeben.
Die Krux dieser Reform findet sich drei
Etagen unter Lichts Büro. Das größte der fünf
New Yorker CNN-Studios liegt zu dieser Stun-
de im Dunkeln, es dient der Frühsendung
»CNN This Morning«. Krimskrams in der
Kulisse soll Wohnlichkeit suggerieren: Bilder-
rahmen, ein Wecker, ein Globus.
Mit »CNN This Morning« wollte Licht sein
»Morning Joe«-Erfolgsrezept reproduzieren.
Als Moderatoren verpflichtete er, neben Kait-
lan Collins noch Poppy Harlow und Don Le-
mon, zwei erfahrene CNN-Haudegen. Der
Schwarze Lemon, ein Zucker-Schützling,
hatte sich einen Namen gemacht, indem er
Trump mit messerscharfen Primetime-Mo-
nologen zerpflückte. Sein Umzug in den
»Morning«, wo er über Themen wie »Furcht
vor Zombie-Pilz« plaudern musste, war eine
AP / picture alliance, Mike Coppola / CNN / Getty Images, Vincent Tullo / The New York Times / Redux / laif
In jenen Zeiten habe CNN noch »einen Wert«
gehabt, doch jetzt sei das Fernsehen als In-
formationsquelle »ineffizient« geworden.
»Die Gans, die lange die goldenen Eier
legte, liegt im Sterben«, sagt der frühere
CNN-Präsident Jon Klein dem SPIEGEL.
Trotzdem gaben Licht und Zaslav dem Strea-
mingdienst CNN+ keine Chance, wohl auch,
weil dieser ein Geschöpf des vorherigen
Managements war. Jetzt drohen andere mit
ihren Streaming-Apps an CNN vorbeizu-
ziehen.
Nach außen hin steht WBD-Chef Zaslav
weiter hinter ihm. Bei einer CNN-Betriebs-
versammlung im März war er allerdings dif-
ferenzierter: »Es gibt kein Drehbuch für
»Falsche Ausgewogenheit Chris’ Job«, sagte er da. »Er hat viel falsch
ist nicht immer gemacht. Wir haben viel falsch gemacht.«
Für den Fall der Fälle hat Chris Licht einen
Objektivität. Plan B. Bekannten soll er anvertraut haben,
Sie bringt euch nicht dass er nicht unbedingt an dem CNN-Job hän-
ge – notfalls werde er einfach zurück ins En-
zur Wahrheit.« tertainment gehen.
Christiane Amanpour, CNN-Legende Marc Pitzke n

64 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


Herr M.
schlägt zurück
FINANZMÄRKTE Wohl erstmals klagt ein
gerupfter Wirecard-Kleinanleger gegen
seine Depotbank. Der Fall rüttelt an einem
der Grundpfeiler der Geldbranche.
ls eigentlich schon alles zu spät
A ist, am 30. April 2020, schlägt
Herr M. noch einmal zu. 312
Aktien der Wirecard AG zum Kurs
von jeweils 95 Euro wandern in das
Wertpapierdepot, das der Betriebs-
wirt seit ewigen Zeiten bei der Com-
merzbank führt; die Transaktion be-
läuft sich auf 29.640 Euro. Insgesamt
hält er damit sogar 1232 Aktien des
Zahlungsabwicklers, der seit Mona-
ten um seine Reputation kämpft –
und kurze Zeit später die spektaku-
lärste Pleite der deutschen Wirt-
schaftsgeschichte fabrizieren wird.
M.s Name ist der Redaktion be-
kannt, der glücklose Anleger will
anonym bleiben. Zwar registriert
auch er damals die Nachrichten, die
aus der Wirecard-Zentrale in Asch-
heim bei München dringen. Kurz be-
vor er seinen Bestand aufstockt, hat
Wirecard das Ergebnis einer Sonder-
prüfung der KPMG-Wirtschaftsprüfer
veröffentlicht, das der SPIEGEL ein
»Dokument des Grauens« nennt.
Dubiose Geschäfte, rätselhafte
Kreislaufbuchungen, gravierende Auf-
sichtsmängel: Die Schlinge um Wire-
card und den Chef Markus Braun
zieht sich zu. Aber M. glaubt nicht
daran, dass die Erfolgsstory des Dax-
Konzerns zu Ende ist.
Doch Mitte Juni 2020 implodiert
Brauns Bilanzkunstwerk. M., der seit
2014 immer wieder in Wirecard-
Aktien investiert hat, verliert ein einst
sechsstelliges Vermögen. Seine Aktien
verkauft er schließlich für je 83 Cent,
Erlös: 1022 Euro. So wie ihm geht es
Tausenden Kleinanlegern, die an die
Märchenonkel aus Aschheim geglaubt
und sich verzockt haben.
Bis heute lässt das Drama M. nicht
los. Vor dem Landgericht Koblenz hat
er Schadensersatzklage über 60.000
Euro eingereicht – allerdings nicht
gegen Wirecard, sondern gegen die
Commerzbank. Das macht die Klage,
die dem SPIEGEL vorliegt, so beson-
ders: Die Bank habe ihn als langjäh-
rigen Kunden, so M., nicht informiert,
dass sie selbst frühzeitig enorme
Zweifel an Wirecards Seriosität hegte;
stattdessen empfahl sie die Aktie des
Skandalkonzerns zum Kauf.
Tatsächlich galt Wirecard im
Frankfurter Commerzbank-Tower
schon lange vor der Pleite als obsku-
rer Kunde. Zwar hatten beide Kon-
zerne geschäftlich seit 2003 Kontakt.
Von 2011 an organisierte das Geld-
haus Konsortialkredite und half Bilanz-
magier Braun beim Aufstieg bis in den
Dax – aus dem er ausgerechnet die
Commerzbank verdrängte. Als Wire-
cards Hausbanken später ihre Kredit-
linie auf 1,75 Milliarden Euro auf-
stockten, steuerte die federführende
Höhenflug vor
dem Bankrott
Commerzbank 200 Millionen Euro
bei. Geld, das sie heute bei Wirecards
Wirtschaftsprüfer EY einklagt.
Aktienkurs von Aber spätestens ab Herbst 2018
Wirecard, in Euro wuchsen intern die Zweifel. Anfang
18.6.2020: 2019, nach einem Zeitungsbericht
Wirecard räumt über Geschäfte mit Scheinfirmen,
Luftbuchungen von überprüfte die Commerzbank Wire-
1,9 Mrd. Euro ein card. Ende Februar reichte sie bei der
Antigeldwäschebehörde Financial
Intelligence Unit eine Verdachtsmel-
150 dung ein: über 345 auffällige Geld-
flüsse von mehr als 350 Millionen
Euro zwischen 2013 und 2019. Im Mai
2019 beschloss der Vorstand des Ins-
100
tituts, Wirecards Konten »schnellst-
möglich« zu schließen und den Zah-
lungsverkehr zu stoppen, »um Geld-
50 wäscherisiken für die Commerzbank
auszuschließen«.
Von alldem erfuhr die Öffentlich-
keit nichts, auch Kläger M. blieb ah-
0
nungslos. Einerseits ist das verständ-
2014 2023 lich: Zweifelt eine Bank öffentlich an
S Quelle: Refinitiv Datastream ihrem Kreditnehmer, kann das sein
unternehmerisches Todesurteil be-
deuten – selbst wenn die Bedenken
grundlos waren. Andererseits, argu-
mentiert M., unterließ es die Bank,
»eine sich aufdrängende Kundenwar-
Commerzbank-Zentrale
in Frankfurt am Main
Marc-Steffen Unger
WIRTSCHAFT
nung hinsichtlich zu befürchtender
Totalverluste« zu geben. Stattdessen
habe sie die Kunden »weiterhin in
Hochrisikoanlagen« getrieben.
Mehr noch: Commerzbank-Ana-
lystin Heike Pauls jubelte die Skandal-
firma noch kurz vor deren bitterem
Ende in den Himmel. Kritische Presse-
berichte kanzelte sie als »Fake News«
ab, zudem belieferte sie Wirecards
Führung unter dem Mantel der Ver-
traulichkeit mit Informationen, die sie
aus Anlegerkreisen erhalten hatte.
Hätte die Bank ihre Analystin also
darüber informieren müssen, dass der
Vorstand den Daumen längst über
Wirecard gesenkt hatte?
Unbedingt, sagt M. – und rüttelt
mit seiner Klage an einem Grund-
pfeiler des Bankgeschäfts, den »chine-
sischen Mauern«. Sie trennen die Ana-
lyse- von der Handelsabteilung einer
Bank. Die Trader sollen nicht an ex-
klusive Informationen ihrer Analysten-
kollegen gelangen, bevor diese der
breiten Öffentlichkeit zugänglich sind.
Wie hart oder porös diese Mauern
sind, ist fraglich. Zumindest nach
außen bestehen Banken darauf, dass
die Abteilungen strikt getrennt von-
einander arbeiten, um Insiderhandel
zu verhindern.
M. sieht das anders. Das Ge-
schäftsmodell der Bank könne nicht
darin bestehen, Aktien eines Unter-
nehmens zum Kauf zu empfehlen, zu
dem parallel die Geschäftsverbindung
abgebrochen werde – weil es entspre-
chende Erkenntnisse gibt. Die Com-
merzbank habe billigend in Kauf ge-
nommen, dass ihre Kunden Schaden
erleiden, und damit ihre Treuepflicht
verletzt. Dass Analystin Pauls nichts
von der Entscheidung des Vorstands
wusste, sich von Wirecard zu trennen,
sei ein Fall von Organisationsver-
schulden. Die Commerzbank will sich
zu der Klage nicht äußern, Analystin
Pauls hat das Haus 2022 verlassen.
Ob M. Erfolg vor Gericht haben
könnte? Markus Kienle, Anwalt und
Vorstand der Schutzgemeinschaft der
Kapitalanleger, ist skeptisch. »Auch
die Analystin wird sich auf die durch-
gängig testierten Geschäftsberichte
der Wirecard AG verlassen haben«,
sagt er. Dass Anleger generell An-
spruch auf Schadensersatz haben
könnten, vermag er nicht zu erkennen.
M. ficht das nicht an. Er will sein
Geld zurück und beruft sich auf EU-
Regeln, nach denen die Bank Vorkeh-
rungen treffen muss, um Kundeninte-
ressen zu schützen. »Ich bin maßlos
enttäuscht, dass mich die Commerz-
bank als ›meine Bank‹ so hat ins Mes-
ser laufen lassen«, sagt er.
Tim Bartz n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 65
WIRTSCHAFT
»Die Leute lieben mich,
weil ich so dumm war«
SPIEGEL-GESPRÄCH In den Neunzigerjahren wurde Matthias Reim
mit seinen Schlagern zum Multimillionär, Investments
in Ostimmobilien und dubiose Firmen führten ihn in die Pleite.
Heute ist der 65-Jährige schuldenfrei. Was hat er gelernt?
SPIEGEL: Herr Reim, es ist ein Wunder, dass
Sie noch hier sitzen.
Reim: Ich war mal ganz oben und glaubte,
alles, was ich anfasse, wird zu Gold. Wie im
Rausch. Umso tiefer bin ich abgestürzt. Fi-
nanziell und gesundheitlich.
SPIEGEL: Ihr Hit »Verdammt, ich lieb’ dich«
machte Sie 1990 zum Star, zehn Jahre später
meldeten Sie Privatinsolvenz an. Heute sind
Sie schuldenfrei.
Reim: Dass ich immer wieder die Kurve ge-
kriegt habe, erstaunt mich selbst. Ich hatte
echt viel Dusel.
SPIEGEL: Dafür hat Ihr Körper einen hohen
Preis bezahlt. Im September mussten Sie
Ihre Tournee abbrechen, weil Sie nicht mehr
konnten.
Reim: Ich hatte eine Grippe verschleppt, ich
war drüber. Mein Doc hat mich gewarnt:
Wenn du jetzt nicht Stopp rufst, bekommst
du die nächste Herzmuskelentzündung. So
wie 2015, als man mich von der Bühne tragen
musste. Damals brachte meine Pumpe noch
20 Prozent Leistung, ich stand kurz vor einem
multiplen Organversagen.
SPIEGEL: Ihr Arzt scheint ein vernünftiger
Mann zu sein.
Reim: Ich habe mich dann auch auskuriert.
Seit März bin ich wieder auf Tournee, nächs-
te Woche erscheint meine neue Single, da-
nach mein Livealbum, im September spiele
ich zum Abschluss der Tour vor – hoffent-
lich – 15.000 Zuschauern mein Konzert in
der Berliner Wuhlheide. Das alles hätte ich
knicken können, wenn ich nicht auf den Doc
gehört hätte, heute ist mir das klar. Im Herbst
aber hatte ich Panik, dass alles wieder durch
die Medien wandern wird. Nach dem Motto:
Der wird immer krank, wenn er auf die
Bühne soll. Diesen Eindruck wollte ich um
alles in der Welt vermeiden. Ich bin Mat-
thias Reim, und der geht selbst mit drei
Messern im Rücken nicht nach Hause. So
dachte ich!
SPIEGEL: Ist das Stolz? Falsch verstandene
Männlichkeit?
Das Gespräch führte der Redakteur Alexander Kühn
in Berlin.
66 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Reim: Falsch verstandene Zuverlässigkeit.
Eine Tour zu verschieben kostet Hundert-
tausende Euro. Ich wollte die Menschen, die
Tickets gekauft hatten, nicht hängen las-
sen, ebenso wenig den Veranstalter und mein
Management.
SPIEGEL: Ist so eine Denkweise anerzogen?
Reim: Ja.
SPIEGEL: Von Ihrem Vater, dem Oberstudien-
direktor?
Reim: Eher von der noch strengeren Mama.
Meine Mutter hat regiert. Wir Kinder hatten
unfassbaren Respekt vor ihr. Wenn ich aus
der Schule kam, sagte sie: Staubsaugen, Mat-
thias! Quoll der Aschenbecher in meinem
Zimmer über, kippte sie den Inhalt auf den
Boden: Räum auf!
SPIEGEL: Robuste Erziehungsmethoden.
Reim: Es war eine altmodische, aber heile
Welt. Das mag seltsam klingen, doch ich moch-
te das. Meine Eltern führten eine beständige
Ehe, ein Ideal, dem ich bis heute hinterher-
laufe. Natürlich hatte ich auch Revoluzzer-
gedanken. Mit 15 habe ich meiner Mutter beim
Frühstück von meiner Idee erzählt, in eine WG
zu ziehen. Keine Sekunde später hatte ich ein
weich gekochtes Ei im Gesicht hängen.
SPIEGEL: Wow.
Reim: So war sie halt. Meine Mutter war
berechenbar: Wenn ich funktioniert habe,
herrschte Harmonie.
Melodien für Senioren
Anteil der Personen, die gern deutsche
Schlager hören, nach Altersgruppen, in Prozent
Insgesamt 45,9
14 bis 19 Jahre 16
20 bis 29 Jahre 21,6
30 bis 39 Jahre 31,9
40 bis 49 Jahre 37,6
50 bis 59 Jahre 48,6
60 bis 69 Jahre
70 Jahre und älter
S Quelle: Deutsches Musikinformationszentrum
◆
SPIEGEL: Wer pariert, wird geliebt?
Reim: Ja.
SPIEGEL: Ist das der Grund, warum Sie sich
von Ihren Beratern später so bereitwillig über
den Tisch ziehen ließen?
Reim: Oh ja. Weil ich krankhaft harmonie-
süchtig bin, habe ich es nicht geschafft, den
Gierigen in meinem Umfeld ein Nein ins Ge-
sicht zu donnern. Etwa dem Mann, der mir
geholfen hatte, »Verdammt, ich lieb’ dich« bei
der Plattenfirma unterzubringen. Eines Tages
lud er mich in seine Stammpizzeria ein. Nach-
dem wir unsere Margherita verdrückt hatten,
legte er mir einen Vertrag vor, den ich, ohne
lange nachzudenken, unterschrieb. Damit
hatte er mir 70 Prozent der Urheberrechte an
meinen ersten beiden Alben abgenommen.
Von da an stand er als Co-Autor unter Songs,
zu denen er kaum etwas beigetragen hatte,
und verdiente Millionen. Den Prozess gegen
ihn habe ich später verloren.
SPIEGEL: Tatsächlich hatten Sie dem Mann
viel zu verdanken. »Verdammt, ich lieb’ dich«
stand 16 Wochen auf Platz eins der deutschen
Charts, so lange wie kein Song davor.
Reim: Ich rief jeden Abend bei der Platten-
firma an, wie viele CDs verkauft wurden. Mal
waren es 30.000, mal 75.000, mal 160.000
pro Tag, so lief das monatelang.
SPIEGEL: Sie zogen nach Florida und führten
das Leben eines Superstars.
Reim: Ich habe mir dort erst eine Jacht ge-
kauft, später ein Haus. Parallel dazu kam das
Angebot von der Plattenfirma, den Vertrag
um drei weitere Alben zu verlängern, für fünf
Millionen Mark. Ich machte den Flugschein,
düste mal eben rüber nach Kanada und kam
auf die schöne Idee, dort ein Häuschen zu
erwerben, wohin ich vor den heißen Som-
mern Floridas entfliehen konnte. Warum auch
nicht? Ich konnte es ja.
SPIEGEL: Kommt im Leben eines Popstars
zwangsläufig der Punkt, an dem man über-
schnappt?
Reim: Ja. Bei mir war es nach einem halben
Jahr so weit.
SPIEGEL: Wozu brauchten Sie all die Status-
symbole?
Reim: Es ging nicht um Status, sondern um
Spaß. Das waren Spielzeuge. Die waren zwar
alle gar nicht so teuer, die Jacht kostete
90.000 Dollar, mein Straßenkreuzer 4000.
Aber es sah wahnsinnig dekadent aus. Ein-
mal kam ein Team von »RTL Exclusiv« und
filmte mich. Ich wirkte wie ein neureicher
Vollidiot.
SPIEGEL: Ein Vorläufer der Geissens?
Reim: Ja. Furchtbar. Ich hatte knallbunte Kla-
motten an, bewegte mich nur auf Inlineskates,
im Hintergrund sah man die Palmen.
SPIEGEL: Irgendwann ließ der Erfolg nach.
Reim: Das ging schnell. Das erste Album
hatte sich Hammer verkauft, das zweite halb
so gut. Das nächste war noch ein Drittel so
62,6 erfolgreich wie das zweite, die weiteren Al-
ben fielen in die Bedeutungslosigkeit. Ich
77,1 ging auf die 40 zu, die Teenies interessierten
sich nicht mehr für mich. Als Künstler hing

ich tot überm Zaun. Ich wollte kom-
ponieren, aber mir fiel nichts ein.
Zwanghaft überlegte ich: Was hat
die Menschen an »Verdammt, ich
lieb’ dich« so berührt? Das Ergebnis
waren unbrauchbare Kopfgeburten.
SPIEGEL: Was war Ihre größte Demü-
tigung?
Reim: Mein Konzert 1999 in Dresden.
Wir hatten mit 13.000 Zuschauern
gerechnet. Es kamen 13.
SPIEGEL: Im Januar 2000 meldete
»Bild«, dass Sie pleite sind. Ihr dama-
liger Manager, dem Sie eine General-
vollmacht erteilt hatten, hatte Sie in
den Ruin getrieben.
Reim: Ich unterstelle mal, dass er es
gut gemeint hat. Es ging nur ver-
dammt schief. Er hatte einen Musik-
verlag gegründet, eine Imbissbude,
eine Dachdeckerfirma und eine Com-
putershopkette, alles mit mir als voll
haftendem Teilhaber. Nichts davon
glückte. Er legte auch viel Geld in
wertlosen Ostimmobilien an. Da hat
er alles zusammengekauft, was zu
bekommen war, in der Hoffnung auf
subventionierte Gebäuderenovierun-
gen und wunderbare Mieteinnahmen.
SPIEGEL: Und Sie ließen ihn gewähren.
Reim: Ich hatte ja keine Ahnung von
diesen Geschäften. Er leider auch
WIRTSCHAFT
nicht, aber das war mir nicht bewusst.
Er war doch mein Kumpel. Als mein
Steuerberater mich um ein Treffen
bat, rechnete ich mit einer Million
Mark Schulden. Er sagte: »Ich gehe
mal von 26 Millionen aus.« Da wuss-
te ich: Jetzt bist du am Arsch. Für die
Medien war ich nur noch der Pleitier.
Ich habe mich so geschämt, vor allem
meine Eltern taten mir leid.
SPIEGEL: Fühlten Sie sich als Versager?
Reim: Ich war halt wieder mal zu nett
gewesen.
Musiker Reim:
»Der Gerichts­
SPIEGEL: Naiv?
vollzieher war mein Reim: Definitiv.
Dauergast« SPIEGEL: Doof?
Reim: Von mir aus.
SPIEGEL: Was Sie erwirtschafteten,
wurde von nun an gepfändet.
Reim: Die Gagen, die Tantiemen, al-
les. Der Gerichtsvollzieher war mein
Dauergast, aber bei mir war kaum
etwas zu holen.
SPIEGEL: Das Haus in Florida? Die
Hütte in Kanada?
Reim: Hatte ich längst verkauft. Aber
ich war nie auf der Flucht vor dem
Gerichtsvollzieher, wie »Bild« schrieb.
Als ich das las, musste ich mich über-
geben.
SPIEGEL: 2007 sangen Sie für eine
Kampagne des Autovermieters Sixt:
»Verdammt, ich hab’ nix«. War das
Ihr Tiefpunkt?
Reim: Nein, das war befreiend. So ein
Elend kann man nur mit Humor be-
trachten. Besser, als sich die Puls-
adern aufzuschneiden.
SPIEGEL: Hatten Sie darüber nach-
gedacht?
Reim: Nein, das war keine Option. Es
muss weitergehen, immer. Ich habe
echt geackert in den ganzen Jahren.
Mein neuer Manager hat mich mit
guten Leuten aus der Branche zusam-
mengebracht. Ich habe meinen Nie-
dergang in Songs verarbeitet: »Ich
hatte mal ’n Haus / Ich lebte echt in
Saus und Braus / Die große Welt war
mir zu klein / Was gut war, musste
besser sein«. Ich bin glaubwürdig,
wenn ich vom hoffnungsvollen Loser
singe.
SPIEGEL: Das klingt nach einem PR-
Mythos. Ein guter Künstler kann auch
mit Liedern reüssieren, die nichts mit
seinem Leben zu tun haben.
Reim: Bei mir ist das anders. Die Leu-
te glauben mir, weil sie meine Ge-
schichte kennen. Ich habe einen
unfassbaren Sympathiebonus. Die
Rober t Brembeck / DER SPIEGEL
lieben mich. Gerade, weil ich so viel
Scheiße gefressen habe und so dumm
war. Hätte ich wie die Made im
Speck gelebt, gäbe es mich als Künst-
ler nicht mehr. Mit »Verdammt, ich
lieb’ dich« bin ich wie ein Pfeil nach
oben geschnellt und habe viel Neid
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 67
WIRTSCHAFT
erfahren. Heute, bei meiner zweiten
Chance, gehe ich die Erfolgstreppe
langsam hoch, und alle sehen: Das
hat er sich erarbeitet.
SPIEGEL: Wie legen Sie heute Ihr Geld
an?
Reim: Lange Zeit habe ich alles auf
dem Girokonto deponiert, aus Angst
vor einer Fehlentscheidung. Vor
einem Jahr habe ich mir ein Haus in
Italien gekauft.
SPIEGEL: So viel Geld haben Sie schon
wieder?
Reim: Ja, die letzten vier, fünf Jahre
habe ich in vollen Hallen gespielt,
meine Alben haben Gold- und Platin-
status erreicht. Da kamen schon ein
paar Euro zusammen. Mein Bruder,
der als Banker in Mailand arbeitet,
hat mir zu der Immobilie geraten. Er
ist ganz anders als ich, extrem spar-
sam. Er fährt maximal 90 Stunden-
kilometer, um nicht zu viel Sprit zu
verbrauchen. Umso mehr habe ich
mich gefreut, dass er mir, als ich plei-
te war, ohne zu zögern eine halbe
Million Euro zur Verfügung gestellt
hat, um einen ersten Vergleich mit
den Banken zu ermöglichen und mich
freizukaufen. Wenn heute jemand mit
mir Geschäfte machen will, frage ich
meinen Bruder um Rat.
SPIEGEL: Was war das letzte Angebot?
Reim: Ich hätte in eine Solarenergie-
farm investieren können. Mein Bru-
der hat gesagt: Du hast davon keine
Ahnung, Finger weg. Neinsagen ist
eine große Qualität.
SPIEGEL: Können Sie es mittlerweile?
Reim: Besser als früher, aber ich bin
noch immer nicht gut darin. Vor allem
nicht gegenüber meinen Kindern. Ich
bin ein unfassbar liebevoller Vater,
aber pädagogisch so was von nicht
wertvoll.
SPIEGEL: Bekommen Ihre Kinder al-
les, was sie wollen?
Reim: Wenn ich dem einen zum
18.  Geburtstag ein Auto schenke,
muss ich dem nächsten auch eines
kaufen. Es macht mir eine Riesen-
freude, wirklich. Manchmal dränge
ich allerdings auf Kompromisse.
Wenn meine Tochter, die eh in einem
halben Jahr wieder aus ihrer Woh-
nung ausziehen wird, sagt: Ich habe
da eine Designerküche gesehen für
12.000 Euro. Dann sage ich: Du, ich
hab da ’ne Küche gesehen für 1200
Euro, über die können wir reden.
SPIEGEL: Sie haben sieben Kinder von
sechs Frauen …
Reim: Moment, ich muss nachzählen
… stimmt. Das jüngste ist ein gutes
Jahr alt.
SPIEGEL: Befürchten Sie, von denen
nicht mehr geliebt zu werden, wenn
der Geldregen versiegt?
68 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
len. Ich merke das bereits, wenn eine
Tournee zu Ende ist. Im Leerlauf
bekomme ich seltsame Gedanken.
Dann hocke ich zu Hause und fange
an, meinen Körper zu untersuchen,
ob ich vielleicht eine Krankheit
habe, ich bin ja Hypochonder. Ich
glaube, ich würde mich noch mit dem
Rollator auf die Bühne schleppen.
Ich spüre, wie positiv die Menschen
auf mich reagieren. Mein damals
17-jähriger Sohn Romeo kam letztes
Jahr mit 23 Klassenkameraden zu
meinem Konzert in Oberhausen,
HIPP-FOTO
die Jungs haben sich die T-Shirts
ausgezogen und mich gefeiert. Ich
habe mich wahnsinnig gefreut, und
als mein Sohn das sah, sagte er:
»Daddy, was wundert dich? Du bist
Kult!«
SPIEGEL: Aber auch Objekt von Spott.
Rober t Schmiegelt / Geisler-Fotopress / picture alliance
Vor ein paar Jahren bewarben Sie
in einem Video eine Matthias-Reim-
Jubiläumsbox …
Reim: … nein, bitte erinnern Sie mich
nicht daran!
SPIEGEL: Minutenlang packten Sie
eine Matthias-Reim-Devotionalie
nach der anderen aus, eine Vinylplat-
te, eine 3D-Figur, ein Poster – und
waren schwer begeistert …
Reim: … und ich bin dafür verkloppt
worden. Jan Böhmermann hat sich
darüber lustig gemacht. Er hatte
Sänger Reim mit Reim: Nein, daran würde sich nichts recht. Es war so peinlich. Unter uns
damaliger Ehefrau ändern. Eine meiner Ex-Frauen hat gesagt, das alles war nicht meine Idee,
Margot Scheuer-
meyer 1991, mit immer mit mir geschimpft, weil ich ich bin einfach reingefallen.
Sohn Julian im Mai die Kinder so verwöhne. Sie meinte, SPIEGEL: Die Fanbox kostete 299 Euro.
die sollten lernen, dass man für Geld Wie viele wurden verkauft?
arbeiten muss und nicht alles ge- Reim: Kaum eine. Die Firma ist in-
schenkt kriegt. Ich sage: Mein Gott, zwischen pleite, glaube ich.
wenn ich mal nicht mehr bin, müssen SPIEGEL: Wie Sie die Boulevardpres-
sie es eh lernen. se wissen ließen, haben Sie sich im
SPIEGEL: Arbeiten Sie mittlerweile vorigen Jahr einem Schönheitseingriff
hauptsächlich, um Ihr Umfeld zufrie- unterzogen.
denzustellen? Reim: Ich hatte rechts am Mundwin-
Reim: Ja. Ich selbst kann mit viel Geld kel eine tiefe Falte. Der Beautypapst
wunderbar leben, aber auch nahezu Professor Mang hat sie mir wegge-
ohne. Das habe ich gemerkt, als ich spritzt. Das muss alle halbe Jahr auf-
insolvent war. gefrischt werden. Der Professor sagt,
SPIEGEL: Reden Sie sich Ihre Pleite- er wolle dafür kein Geld. Aber wenn
zeit damit schön? er im kommenden Jahr 75 wird, soll
Reim: Nein, das ist so. Wenn Geld da ich für ihn »Verdammt, ich lieb’ dich«
ist, gönne ich mir, worauf ich Lust singen. Er hat mich gefragt, ob wir
habe. Ich habe mir gerade einen Pool gleich ein ganzes Facelift machen
in den Garten bauen lassen. Aber sollen. Er meinte, wir könnten die
wenn ich keinen Pool hätte, wäre es Wangen auftrennen, unterfüttern und
auch nicht schlimm. wieder hochziehen.
SPIEGEL: Howard Carpendale ist 77, SPIEGEL: Und, machen Sie’s?
Roland Kaiser 71, Sie sind 65 Jahre Reim: Um Gottes willen, nein. Man
»Ich kann alt. Alle drei hatten Sie mit gesund- darf meinem Gesicht ruhig ansehen,
heitlichen Problemen zu kämpfen, welche Spuren das Leben hinterlas-
mit viel Geld trotzdem stehen Sie noch immer auf sen hat.
wunderbar der Bühne. Was außer Geld treibt in SPIEGEL: Was soll man nach Ihrem
leben, aber die Jahre gekommene Schlagerbar- Tod einmal über Sie sagen?
den, immer weiterzumachen? Reim: Boah, war der gut.
auch nahezu Reim: Wenn ich nicht mehr auftreten SPIEGEL: Herr Reim, wir danken Ihnen
ohne.« könnte, würde ich in ein Loch fal- für dieses Gespräch. n
AUSLAND

Manan Vatsyayana / AFP

In Bangkok haben sie die Nase voll: Eine Passantin bestaunt eine Installation des thailändischen Künstlers Thanawat Maneenawa, bei der
Staubsauger die giftige Atemluft aus Riesen-Riechern ziehen. Das ironische Werk thematisiert das Recht des Menschen auf saubere Luft. Dank
einer Bürgerinitiative könnte der »Clean Air Act« in Thailand nun gesetzlich verankert werden. Bangkok und Chiang Mai gehören zu den
Städten mit der stärksten Luftverschmutzung weltweit, schuld sind Brandrodungen und Smog, die Feinstaubwerte sind alarmierend hoch.

müssen. Die Wirtschaftslage könnte sich ebenfalls weiter verdüs-

Schwieriger Partner
ANALYSE Warum der Westen versuchen sollte, sich
mit Wahlsieger Erdoğan zu arrangieren
Politikerinnen und Politiker nutzen Siegesreden gern, um auf
die Verlierer zuzugehen. Nicht so Recep Tayyip Erdoğan. Als
der türkische Präsident nach seinem Erfolg bei der Stichwahl am
vergangenen Sonntag vor seine Anhänger trat, spottete er
über seinen Kontrahenten Kemal Kılıçdaroğlu (»Bye-bye-bye,
Kemal«), hetzte gegen die LGBT-Community und kündigte
an, den Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş weiter im Ge-
fängnis festzuhalten. Wer gehofft hatte, Erdoğan könnte sich
nach seinem Wahlerfolg mäßigen, dürfte ernüchtert sein. Der
Präsident wirkt wie aufgepumpt.
Für die rund 48 Prozent der Türkinnen und Türken, die ihn
nicht gewählt haben, sind das keine guten Aussichten. Nicht für
Schwule und Lesben, die Angst haben müssen, Ziel von Angrif-
fen zu werden. Und auch nicht für Frauen, die durch den Einzug
islamistischer Parteien ins Parlament um ihre Rechte bangen
tern. Die Inflation liegt bei über 40 Prozent, die Lira verlor in
den ersten Tagen nach der Wahl weiter an Wert. Wenn Erdoğan
seine Niedrigzinspolitik nicht rasch korrigiert, so warnen
Ökonomen, droht dem Staat noch in diesem Jahr der Bankrott.
Für den Westen dürfte die Türkei ein schwieriger Partner
bleiben. Erdoğan hat die Außenpolitik zur Geisel seiner Innen-
politik gemacht. Er flirtet mit Wladimir Putin und trifft sich
mit Chinas Machthaber Xi Jinping, obwohl die Türkei Nato-Mit-
glied ist. Regelmäßig erpresst er die Europäer in der Flüchtlings-
politik. Das heißt aber nicht, dass man mit Ankara gar nicht zu-
sammenarbeiten kann oder sollte. Der Getreidedeal zwischen
der Ukraine und Russland im vergangenen Jahr etwa wäre ohne
Erdoğans Vermittlung nicht zustande gekommen.
Was der Westen nicht tun sollte, ist, aus Rücksicht auf
Erdoğan zu Menschenrechtsverletzungen zu schweigen. Es ist
die Pflicht des Europarats, die Regierung in Ankara zu sank-
tionieren, wenn sie trotz eindeutiger Urteile des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte Oppositionelle wie Demirtaş
weiter gefangen hält. Viele Millionen Menschen haben
nicht für Erdoğan gestimmt – auch ihnen gegenüber steht der
Westen in der Pflicht. Maximilian Popp

70 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


»Hasserfüllter Nationalismus«
SERBIEN Der Oppositionspolitiker Djordje Miketić über
die jüngsten Gewaltausbrüche in Belgrad
Miketić, 44, ist
Abgeordneter im
serbischen Par­
lament und orga­
nisiert Proteste
Braca Nadezdic
der Bewegung
»Serbien gegen
Gewalt«.
SPIEGEL: Herr Miketić, seit in
Serbien Anfang Mai bei zwei
Schusswaffenangriffen 18 Men­
schen getötet wurden, gehen
Zehntausende auf die Straße.
Warum haben diese Verbrechen
Massenproteste ausgelöst?
Miketić: Das ist eine spontane
und emotionale Reaktion. Ser­
biens Gesellschaft wurde seit
Niveauloser
Wahlkampf
SPANIEN Unbezahlbare Mie­
ten, eine Jahrhundertdürre, die
immer noch hohe Jugend­
arbeitslosigkeit: Es gäbe genug
Themen, über die spanische
Politiker debattieren könnten.
Tatsächlich aber hat ein nervö­
ser Dauerwahlkampf das Land
erfasst, in dem es vor allem um
die Herabwürdigung des politi­
schen Gegners geht. Vor den
Kommunal­ und Regionalwah­
len am 28. Mai attackierte die
konservative Opposition Pedro
Sánchez mit populistischen
Halbwahrheiten: Der Minister­
präsident werde von Sympathi­
santen der längst aufgelösten
Terrororganisation Eta unter­
stützt, tönten die politischen
Gegner, und tue zu wenig gegen
Xinhua News Agency / picture alliance
Sánchez
dem Krieg nie demilitarisiert.
Medien und Schulbücher sind
voller Gewalt, und die Ver­
harmlosung von Kriegsverbre­
chen ist alltäglich. Diejenigen,
die jetzt auf die Straße gehen,
haben das Gefühl, von hass­
erfülltem Nationalismus erstickt
zu werden. Und jetzt, wo Schul­
kinder getötet wurden, merken
die Menschen, dass sie der Ge­
walt in der Gesellschaft nicht
entkommen können. Wir müs­
sen gegen das vergiftete Klima
kämpfen, das Serbien seit Jah­
ren immer mehr beherrscht.
SPIEGEL: Was ist passiert?
Miketić: Seit Aleksandar Vučić
an der Macht ist, wurden die
Hausbesetzer. Isabel Díaz Ayuso,
die Regionalpräsidentin Ma­
drids, war wie immer die Lau­
teste. Sánchez würde sogar
vor Wahlbetrug nicht zurück­
schrecken, behauptete sie.
Der Ministerpräsident hat
lange versucht, seine Erfolge
herauszustellen. Inflation und
Arbeitslosigkeit seien auch
deshalb stark gesunken, weil er
ordentlich regiere. Doch über­
zeugen konnte er damit nicht.
Bei den jüngsten Wahlen fuhren
die Sozialisten eine krachende
Niederlage ein, verloren die
Macht in nahezu allen großen
Städten und in vielen Regionen.
Am Tag nach der Wahl setzte
Sánchez deshalb überraschend
Neuwahlen für den 23. Juli an –
und änderte seine Strategie.
Nun greift er die Opposition
frontal an, vergleicht seine Kon­
trahenten mit Donald Trump
und schürt die Angst vor einer
Koalition zwischen dem konser­
vativen Partido Popular und
der rechtsradikalen Partei Vox.
In den verbleibenden sieben
Wochen dürfte das Niveau des
Wahlkampfs kaum steigen. Die
Konservativen reagierten auf
den Wahltermin mitten im Som­
mer mit einer neuen Kam­
pagne: Sánchez vermiese den
Spaniern die Ferien. Die Jugend­
organisation stellte auf Twitter
noch ein Bild dazu. Es zeigt den
Premier in Badehose. SLÜ
demokratischen Institutionen
schwer beschädigt. Er hat alle
wichtigen Positionen in Politik,
Verwaltung und Medien mit sei­
nen Anhängern besetzt. Seine
Verbindungen zu Strukturen
des organisierten Verbrechens
und gewalttätigen Fußball­Hoo­
ligans sind dokumentiert. Aber
es wirkt, als würden seine Leute
über dem Gesetz stehen.
SPIEGEL: Sie wohnen neben der
Schule, in der ein 13­Jähriger
am 3. Mai neun Kinder ermor­
det hat. Wie haben Sie die Tat
erlebt?
Miketić: Am Tag des Massakers
war ich im Parlament, aber mei­
ne Frau lief mit unserem Baby
während der Tat an der Schule
vorbei. Ein Freund hat an diesem
3. Mai seine Tochter verloren.
Hier bei uns im Viertel war es
tagelang so still wie auf einem
Friedhof, so tief sitzt der Schock.
Für mich hat das alles auch eine
Feiernde Taliban am Jahres-
tag der Übernahme von Kabul
Konflikt um den
Helmand-Fluss
AFGHANISTAN Seit vergangene
Woche ein Streit zwischen Iran
und Afghanistan über die Nut­
zung des Wassers aus Afgha­
nistans längstem Fluss ausgebro­
chen ist, verlegen die Taliban
militärisches Gerät an die irani­
sche Grenze, zwei iranische Sol­
daten und ein Talib wurden bis­
her getötet. Was steckt dahinter?
Teheran beschuldigt Kabul,
die Wassermenge des Helmand­
Flusses durch einen Damm zu
begrenzen. Irans Präsident
Ebrahim Raisi warnte das Nach­
barland, den Zufluss nach
Iran zu blockieren. Die »Macht­
haber Afghanistans«, so Raisi,
sollten die »Frage der iranischen
Wasserrechte ernst nehmen«.
Bewohner auf beiden Seiten der
persönliche Dimension. Ich ge­
höre als Teil der Opposition
zu den Mitorganisatoren der
Proteste. Doch ich habe nicht
das Gefühl, dass es Proteste der
Opposition sind. Diese Proteste
geben die Grundstimmung der
Gesellschaft wieder.
SPIEGEL: Während Sie protestie­
ren, ist es zu gewalttätigen
Zusammenstößen zwischen Ser­
ben und KFOR­Soldaten im
Kosovo gekommen. Wie beein­
flusst das die politische Situation
in Belgrad?
Miketić: Das ist für Vučić eine
willkommene Gelegenheit, von
den Protesten gegen ihn abzu­
lenken. Und für die Serben, die
im Kosovo leben, ist es eine
sehr schwierige Situation der­
zeit. Sie sind eingekeilt zwi­
schen einer nationalistischen
Regierung in Belgrad und einer
nationalistischen Regierung in
Pristina. PAN
Kiana Hayeri / The New York Times / Redux / laif
Grenze nutzen den Fluss seit
Jahrhunderten, um ihre Felder
zu bewässern. Iran pocht auf
einen 50 Jahre alten Vertrag,
der Teheran jährlich 820 Millio­
nen Kubikmeter Wasser zu­
sichert. Die Taliban wiederum
behaupten, der Wasserpegel
sei wegen der anhaltenden
Dürre niedrig, darum komme
kaum noch Wasser in Iran an.
Die Beziehungen zwischen
Iran und Afghanistan sind seit
Langem eine abwechselnde Fol­
ge von Kooperation und Kon­
flikt: 2001 und danach profitierte
Iran von der Vertreibung der
Taliban. 20 Jahre später arran­
gierte sich Teheran mit den
Radikalislamisten. Und erst die­
ses Jahr übergab Iran die afgha­
nische Botschaft in Teheran den
Taliban, obwohl es die Regierung
offiziell nicht anerkennt. SUK
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 71
AUSLAND
Duell in der Arktis
NORWEGEN Im hohen Norden nimmt der Kreml kritische Infrastruktur des Westens ins Visier:
Russische Schiffe fahren verdächtige Manöver über Unterseekabeln, Drohnen nähern sich Satellitenanlagen,
Spione fliegen auf. Das Nato-Land Norwegen rüstet sich – wenn auch spät. Von Walter Mayr
orwegens berühmtester Kundschafter
N steht im Boot und starrt durchs Fern-
glas nach Osten. Die bewaldete Küste
der Halbinsel Kola im Nordwesten Russlands
gleitet vorbei – Stützpunkt von Wladimir
Putins nuklear bewaffneter U-Boot-Flotte.
Über das potenziell todbringende Ge-
schwader im Dienst des Kremlherrschers ist
wenig bekannt. Frode Berg sollte einst helfen,
mehr herauszufinden. Doch der pensionierte
Grenzschützer flog 2017 während seiner letz-
ten Russlandmission auf. Knapp zwei Jahre
lang saß er, vorwiegend bei Wasser und Buch-
weizengrütze, im berüchtigten Moskauer
Untersuchungsgefängnis Lefortowo ein.
Dank eines Agententauschs kam Berg vor-
zeitig frei. Er sei, behauptet der Norweger bis
heute, arglos zwischen die Fronten im neuen
kalten Krieg Nato – Russland geraten.
An diesem Morgen hat sich der enttarnte
Agent überreden lassen, gemeinsam mit dem
72 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
SPIEGEL zu einem Grenzbesuch aufzubre-
chen. Das Ziel: der nordöstliche Rand des
Nato-Gebiets. Mit einem Luftkissenboot geht
es, entlang der Demarkationslinie, über den
noch vereisten Fluss Pasvikelva. Am Horizont
tauchen die Fabrikschlote der russischen
Grenzstadt Nikel auf.
Norwegen ist das einzige europäische
Nachbarland, mit dem Moskau noch nicht
Krieg geführt hat. Inzwischen aber machen
vermehrt Meldungen die Runde über ver-
dächtige Umtriebe russischer Schiffe vor nor-
wegischen Küsten, über seltsame Drohnen
und ein erhöhtes Aufgebot russischer Lang-
streckenbomber auf dem Stützpunkt Olenja
unweit der Grenze. An der nördlichsten Naht-
stelle zwischen Putins Riesenreich und dem
westlichen Militärbündnis wächst die Unruhe.
US-Außenminister Antony Blinken unter-
strich dies am Donnerstag beim Gipfel der
Nato-Außenminister im Osloer Rathaus. Die
enge Partnerschaft mit Norwegen im Kampf
gegen »die russische Aggression« sei von »le-
benswichtiger Bedeutung«, so der amerika-
nische Chefdiplomat.
Frode Berg sagt, er sei oft dort drüben in
Russland gewesen, dienstlich. Bei den Kolle-
gen vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB
traf man sich zu Besprechungen, gefolgt von
Saunagängen und Wodka, dem Anfang des
Jahrtausends noch üblichen Programm.
»Ich hätte nicht gedacht, dass die gefürchte-
te russische Armee im konventionellen Krieg
gegen die Ukraine so in Schwierigkeiten
kommt«, gesteht Berg: »Ich halte es aber für
gut möglich, dass Putin nun umso stärker auf
hybride Kriegsführung setzt.«
Im Visier der Kremlstrategen ist dabei die
kritische Infrastruktur des Westens. Ganz
Norwegen hat zwar nur so viele Einwohner
wie die russische Metropole Sankt Peters-
burg – ist aber Europas größter Gaslieferant

2 4
und reich an Erdöl wie auch Wind-
kraft. Gas-pipelines mit einer Länge
von fast 9000 Kilometern sowie
Strom- und Kommunikationskabel
gilt es zu schützen. Spätestens seit
den ungeklärten Anschlägen auf bei-
de Nord-Stream-Pipelines ist klar,
was auf dem Spiel steht.
Wer wesentliche Nervenstränge
der Energieversorgung und der Kom-
munikation kappt, legt Hand an die
Hauptschlagadern der westlichen
Wirtschaft. An einem einzigen Tag
laufen via Unterwasserkabel Finanz-
aktionen in Höhe von Billionen Dol-
lar. Fast die komplette Kommunika-
tion weltweit wird über Tiefseeleitun-
gen abgewickelt.
Auf Betreiben Norwegens und
Deutschlands widmet sich nun eine
Nato-Taskforce mit dem deutschen
Dreisternegeneral a. D. Hans-Werner
Wiermann an der Spitze dem Thema.
Die Truppe soll sich um den verstärk-
ten Schutz von Stromnetzen, Pipe-
lines und Datenkabeln kümmern.
Wiermann spricht von der Gefahr,
russische Sprengladungen könnten
bereits an Unterwasserleitungen plat-
ziert worden sein.
Nato-Generalsekretär Jens Stol-
tenberg, Norwegens Ex-Premier,
zeigte sich im März demonstrativ mit
EU-Kommissionspräsidentin Ursula
AUSLAND
Patrick Junker & Jonathan Terlinden (3)
Patrick Junker
von der Leyen auf der weltweit größ- 1 | Norwegische einen Wolf. Während der Winterzeit
ten Gasförderplattform Troll A vor Grenzpatrouille geht es auf Skiern und Schneemobilen
der norwegischen Küste. Stoltenbergs auf dem Fluss zur Patrouille an der 198 Kilometer
Pasvikelva
Vater war es, der als Gründer der so- 2 | Brücke zwischen langen Grenze zu Russland. Wer die
genannten Barentskooperation Brü- Kirkenes und jungen Ranger am Schießplatz erlebt,
cken ins postsowjetische Russland Murmansk wo sie mit 40-Kilogramm-Ruck-
schlagen half. Der Sohn handelte 3 | Radarsystem säcken und coolen Fliegerbrillen an-
am norwegischen
dann 2010 das wegweisende Abkom- Polarmeer treten, um am Sturmgewehr HK416
men über den Grenzverlauf in der 4 | Russischer Trawler zu trainieren, der lernt eine straff or-
arktischen Barentssee aus, samt Auf- im Hafen von Kirkenes ganisierte Truppe kennen.
teilung der Fischgründe sowie der Öl- Im Gebäude der Grenzkompanie
und Gasvorkommen. Jarfjord verdeutlichen Puppen in Ori-
Doch die Zeiten des friedlichen ginaluniformen russischer Grenzer,
Miteinanders sind vorbei. Inzwischen wie der Gegner aussieht. Im März war
beklagt Jens Stoltenberg im Namen Norwegens König Harald V. hier zu
der Nato »die grundlegend veränder- Gast. Kommandeur Rozmara sagt, er
te Sicherheitslage aufgrund von Russ- sehe den Besuch des Oberkomman-
lands brutalem Krieg in der Ukraine«. dierenden als Zeichen der Wertschät-
Norwegens Armee ist seit Novem- zung – und als Beleg für die ange-
ber in erhöhter Alarmbereitschaft. spannte Sicherheitslage. Zuletzt wies
»Dass Russland in ein anderes Land die Regierung in Oslo 15 russische
einfallen könnte, war für uns undenk- Diplomaten aus. Auch die Bedingun-
bar«, sagt Oberstleutnant Michael Roz- gen für russische Trawler, die trotz zu-
mara. Der nördlichste Statthalter der nehmender Furcht vor russischer Spio-
Nato kommandiert das Jäger-Bataillon nage und Sabotage noch drei Häfen
Sør-Varanger – dort, wo der Pasvikel- des Nato-Gründungsstaats Norwegen
va-Fluss die beiden Länder trennt: anlaufen dürfen, wurden verschärft.
»Mit der Frage, was künftig alles pas- Dazu beigetragen haben Journalis-
sieren könnte, mussten wir uns erst ten des norwegischen Senders NRK.
einmal beschäftigen; für uns als Batail- Gemeinsam mit Kolleginnen und Kol-
lon ist das eine Herausforderung.« legen aus Schweden, Dänemark und
Rozmara befehligt gut 800 Män- Finnland zeichneten sie in der drei-
ner und Frauen, vorwiegend Wehr- teiligen Serie »Schattenkrieg« nach,
pflichtige. Im Wappen führen sie wie Putins Truppen den hohen Nor-
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 73
AUSLAND
den und die Gewässer von der Ostsee
bis ins Nördliche Eismeer bei Spitz-
bergen zum bevorzugten Operations-
gebiet ausbauen.
»Die Menschen nördlich des Polar-
kreises erleben die Nähe zu Russland
von jeher anders als Norweger im weit
entfernten Landessüden«, sagt im
NRK-Studio der Hafenstadt Tromsø
Håvard Gulldahl. Zusammen mit seiner
Kollegin Inghild Eriksen spürt der Re-
porter in detektivischer Kleinstarbeit
den Machenschaften des Kreml nach.
Vor allem in grenznahen Gebieten an
der Barentssee, wo Stalins Rote Armee
einst die Bevölkerung von der Nazi-
herrschaft befreite, sitze der Schock
über den Nachbarn nun tief: »Was hier
zurzeit passiert, ist eine totale Kehrt-
wende im Verhältnis zu Russland.«
Mit selbst entwickelter Software
verfolgt Gulldahl, der technisch ver-
sierte Nerd im Team, Bewegungen
von mehr als vier Dutzend verdäch-
tigen, angeblich zivilen russischen
Schiffen. Selbst zehn Jahre zurück-
liegende Routen lassen sich anhand
der Daten des Navigationssystems
AIS rekonstruieren, sofern die Kapi-
täne nicht gerade ihre AIS-Transpon-
der abgeschaltet hatten – um als
»dark ships« in geheimer Mission
keine Spur zu hinterlassen.
Wird in der Barentssee ein Kabel-
strang beschädigt, so versuchen die
NRK-Reporter, den Tatort mit den
zum Tatzeitpunkt in der Zone aktiven
Trawlern abzugleichen. Auffällig oft
bewegen sich die russischen Schiffe
in der Nähe von Windparks und mili-
tärischen Objekten – besonders wenn
dort Nato-Manöver stattfinden wie
rund um das Testgelände auf der Insel
Andøya; oder wenn, wie im letzten
Dezember, das zweieinhalb Milliar-
den Dollar teure Atom-U-Boot USS
»South Dakota« in den Hafen von
Tromsø einläuft – belauert von der
russischen »Taurus«, die offiziell als
Fischtrawler registriert ist.
Wer die Kais der 80.000-Einwoh-
ner-Stadt am Balsfjord entlangläuft,
sieht dort die russischen Trawler. Die
»Sapphire 2« aus Murmansk etwa,
821 Tonnen schwer, hat an diesem
Nachmittag festgemacht. Fang ab-
laden, auftanken, das Schiff warten
oder ins Dock legen – all das ist Rus-
sen europaweit nur noch in drei nord-
norwegischen Häfen erlaubt.
Tromsø spielt dabei eine Sonder-
rolle in der öffentlichen Wahrneh-
mung: Hier flog im Herbst der unter
falschem Namen als wissenschaftli-
cher Universitätsmitarbeiter aktive
Agent Michail Mikuschin auf. Die
norwegischen Ankläger werfen dem
mittlerweile Inhaftierten das »illega-
74 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
sensible Daten durch zwei Glasfaser-
Unheimlicher Nachbar kabel an die Restwelt weitergeleitet
werden? Kann sein, dass Jakunin ju-
Nato-Staaten nior das nicht gewusst hat. Vielleicht
Nordpol hat der fröhlich filmende Jetsetter
SPITZBERGEN*
Barentssee
auch gar nicht mitbekommen, wie zu-
Barentsburg nehmend selbstbewusst der Kreml
Kartenausschnitt
auf dem Archipel zwischen Nordkap
und Nordpol derzeit auftritt.
Kola- Spitzbergen ist entmilitarisiert
Polarkreis Halbinsel und internationales Territorium, steht
aber unter norwegischer Verwaltung.
RUSSLAND Die Inselgruppe gilt wegen ihrer stra-
FINNLAND
tegischen Lage und der in der Nähe
NORWEGEN vermuteten Rohstoffe als potenzieller
Oslo Zankapfel im Falle eines Konflikts
SCHWEDEN Sankt zwischen West und Ost.
Nato-Anwärter ESTLAND
Petersburg
Vor allem in der 400-Einwohner-
LETTLAND Siedlung Barentsburg auf Spitzbergen,
DÄNEMARK
Ostsee
LITAUEN wo Russland Kohle abbauen lässt, ver-
härten sich die Fronten. Die russische
DEUTSCHLAND POLEN
Weltkriegs-Siegesparade am 9. Mai im
Hoheitsgewässer Unterseekabel Bergbauort mit seiner Leninstatue wur-
Gas- und Ölfelder Gas- und Ölpipelines de mit patriotisch beflaggten Schnee-
mobilen bestückt und angeführt vom
Andøya Andrejewa-Bucht neuen Generalkonsul. Auch er steht
Pasvikelva nach Recherchen des oppositionellen
Dossier Centers mit dem Moskauer
Tromsø
Kirkenes Nikel Militärgeheimdienst GRU in Verbin-
Gadschijewo dung – was der Diplomat bestreitet.
Spitzbergen gleicht einem Fieber-
Murmansk
thermometer, das die Betriebstempe-
* norwegisches Hoheitsgebiet, aber nicht Nato-Gebiet ratur zwischen Russland und der Nato
S Quellen: norskpetroleum.no, TeleGeography misst. Die Inselgruppe sei von »mili-
◆
tärstrategischer Bedeutung« für den
le Ausspionieren von Staatsgeheim- Kreml, analysiert der norwegische
nissen« vor – er habe »fundamentale Auslandsnachrichtendienst. Dort sei
Interessen des Landes« gefährdet. 2023 mit verstärkter russischer Prä-
Mikuschin, der dem russischen Mi- senz zu rechnen. Der norwegische
litärgeheimdienst GRU angehören soll, Gouverneur auf Spitzbergen, der die
bestreitet die Vorwürfe. Bis zu seiner führenden Vertreter der Russen regel-
Verhaftung forschte er am Institut für mäßig trifft, räumt ein, das Klima sei
Konfliktstudien – genau in jener frostig geworden
»Grauzone« getauften Abteilung, die Dazu beigetragen hat, dass am
sich mit den Gefahren hybrider Kriegs- 7. Januar 2022 eines der zwei Unter-
führung beschäftigt. Die Wissenschaft- seekabel beschädigt wurde, die Daten
ler bemerkten nicht, dass offenbar sie in die ganze Welt transportieren. Re-
selbst es waren, die ausgeforscht wur- cherchen des Senders NRK ergaben,
den. Am Institut in Tromsø erklärt dass im Verdachtszeitraum allein der
man nun, der mit einem gefälschten Trawler »Melkart-5«, registriert in
brasilianischen Pass angetretene Mi- der russischen Hafenstadt Murmansk,
kuschin habe wohl heimlich an einem mehr als hundertmal die betroffene
Netzwerk gearbeitet, an einer »fünften Stelle westlich von Spitzbergen in
Kolonne« Moskaus. Zickzackmustern gekreuzt hatte.
Ex-Kundschafter
Auch andere Russen wurden in Unorthodoxe Fischfangmethoden
Berg: Zwischen die Tromsø auffällig. Angeklagt war hier oder gezielte Sabotage? Die Causa wur-
Fronten geraten zuletzt der Sohn des engen Putin-Ver- de nicht aufgeklärt. Der Meeresboden
trauten Wladimir Jakunin. Auf eine gleicht einer großen Dunkelkammer,
Viertelmilliarde Euro Privatvermö- kaum einsehbar – das perfekte Auf-
gen taxiert, musste der britisch-rus- marschgebiet für hybride Krieger.
sische Sprössling Andrej wegen eines Nachdem »Melkart-5« zwischen-
Drohnenflugs über dem arktischen zeitlich Kurs auf Gaspipelines und
Walter Mayr / DER SPIEGEL
Archipel Spitzbergen vor den Richter Glasfaserkabel nördlich des norwegi-
treten. Jakunin saß sechs Wochen in schen Festlands genommen hatte und
U-Haft, ehe er freikam. auch in der Nähe des Nato-Winter-
Dass auf Spitzbergen die weltweit manövers »Cold Response« aufge-
größte Satelliten-Bodenstation mit taucht war, wurde der Trawler am 17.
mehr als 100 Antennen steht, deren Juli 2022 von der Hafenbehörde in

Kirkenes an der Barentssee registriert. Was
folgte, war spektakulär: Teile der russischen
Crew setzten sich in einem kleinen Boot ab
und steuerten über den Langfjord die strate-
gisch wichtige Strømmen-Brücke an – die ein-
zige Landverbindung der isoliert gelegenen
Hafenstadt Kirkenes mit dem Rest Norwegens.
Von der örtlichen Polizei zur Rede gestellt
und bestraft, gaben die Russen sich unschul-
dig. Wenige Tage später verließen sie an Bord
von »Melkart-5« die norwegischen Gewässer
in Richtung Heimat.
»Kirkenes und die ganze Finnmark könn-
ten so etwas wie das Labor sein, in dem Russ-
land seine verschiedenen Werkzeuge für hy-
bride Kriegsführung ausprobiert«, sagt Ellen
Katrine Hætta. Die energische Polizeichefin
aus der Volksgruppe der Samen trägt zwei
Sterne auf den Schulterstücken – beim Militär
entspräche das einem hochrangigen Offizier.
Hætta hat 550 Männer und Frauen unter sich
und einen nicht unwesentlichen Teil der
grundsätzlich russlandfreundlichen Bevölke-
rung gegen sich – weil sie unmissverständlich
ausspricht, was ihr Sorgen macht.
Es seien die »Nadelstiche«, die Moskau zu-
nehmend setze: »Man will prüfen, wie Norwe-
gen reagiert«, sagt Hætta. Da sind die russischen
Seeleute, die in militärischer Tarnkleidung
durchs Stadtzentrum von Kirkenes spazieren.
Da sind schwimmende Fischfabriken wie die
»Ester« oder die »Lira«, die bei Polizeikontrol-
len im Hafen auffallen, weil sie hinter verschlos-
senen Frachttüren Funkgeräte aus sowjetischer
Herstellung verbergen. Und da sind regelmä-
ßige Störsignale von der gegenüberliegenden
Kola-Halbinsel, die den Piloten norwegischer
Zivilmaschinen zu schaffen machen.
Die Pilotin, die an diesem Morgen eine
Turboprop-Maschine nach Kirkenes steuert,
prüft während einer Zwischenlandung eigen-
händig die Propeller. Sie wirkt vergleichs-
weise locker. »High north, low tension«, lau-
tete lange die Faustregel in dieser Gegend – im
hohen Norden hielt man die Anspannung
möglichst niedrig und vermied, den mächti-
gen Nachbarn zu reizen.
Stimmt das noch, in Kirkenes?
Die Holzplastik am Rathauseingang sprä-
che dafür: Da tanzt der norwegische Löwe
noch immer Hand in Hand mit dem russischen
Bären. Schräg gegenüber aber, hinter den ver-
gitterten Fenstern der Moskauer Repräsen-
tanz, glaubt an Honeymoon niemand mehr.
Beim letzten Auftritt des Generalkonsuls zum
Jahrestag der Befreiung durch die Rote Armee
wandte die Hälfte der Zuhörer dem Redner
aus Protest den Rücken zu.
Kirkenes ist Norwegens Vorposten im
Nordosten, 400 Kilometer nördlich des Polar-
kreises gelegen. Hier leben an die 3500 Ein-
wohner, nur eine Viertelstunde Fahrt von der
russischen Grenze entfernt. Der eisfreie Ha-
fen dient als Tor zur Barentssee mit ihren ge-
waltigen Gasvorkommen – aber auch, durch
Klimawandel bedingt, als möglicher Start-
und Zielpunkt für eine ganzjährig befahrbare
Nordostpassage nach Asien.
In Kirkenes ist der Atem des EU-weit ge-
ächteten Nachbarn im Osten stärker spürbar
als anderswo. Nicht zu übersehen sind die
russischen Seeleute an den Kais und in der
Stadt, die gewaltigen Trawler in der Werft,
die teils kyrillischen Inschriften im Ort und
die frischen Kränze am Denkmal zu Ehren
der sowjetischen Befreier.
Luftlinie nur etwa hundert Kilometer ent-
fernt befindet sich im Osten einer der am
dichtesten mit Nuklearwaffen und -abfällen
bestückten Landstriche der Erde: die Kola-
Halbinsel. Tonnenweise Atommüll lagert dort
in der Andrejewa-Bucht, in Gadschijewo lie-
gen atomgetriebene U-Boote, und auch das
dem Verteidigungsminister direkt unterstell-
te Direktorat Gugi, eine Eliteabteilung für
Aufklärungs- und Spezialmissionen in Sachen
Tiefseeforschung, hat auf der Halbinsel einen
Stützpunkt.
Das Prinzip der »kleinen grünen Männ-
chen«, der irregulären Kremlkämpfer, die
2014 auf der ukrainischen Halbinsel Krim
einsickerten und die Machtübernahme Mos-
kaus vorbereiteten, könne sich auch im Nor-
den Europas wiederholen, sagt Thomas Nil-
sen vom »Independent Barents Observer«.
Egal ob konventioneller oder hybrider Krieg:
»Wir in Kirkenes sind weit weg von der Ukra-
ine, aber hier wie dort beginnt hinter der
Grenze das gleiche Russland. Alle Brücken,
die bei uns in den letzten 30 Jahren gebaut
wurden, sind wie weggespült – der Kalte
Krieg ist wieder da.«
Aufrüstung sei nun dringend nötig, heißt
es im Bericht der norwegischen Verteidi-
gungskommission vom 3. Mai. Grundsätzlich
prima, sagt dazu der Hafendirektor von Kir-
kenes: Denn eine vernünftige Armee hier im
Norden benötige auch einen vernünftigen
Hafen, und dafür müsse Geld aus Oslo her.
Bisher lebte man in Kirkenes gut von den
Russen: im Einzelhandel von den Touristen,
auf der Werft und im Hafen von der Fisch-
fangflotte. Dort ginge ein Drittel des Umsat-
zes verloren, dürften keine russischen Schiffe
mehr anlegen.
Sorgten in der Vergangenheit hier im Fjord
eher Finnwale als U-Boote für Aufsehen, so
hat sich die Stimmung nun gedreht: An die-
Patrick Junker
Protest vor dem Generalkonsulat in Kirkenes
AUSLAND
sem Nachmittag geleitet das norwegische
Minenjagdboot »Hinnøy«, ein Nato-Kriegs-
schiff, den russischen Trawler »Proekt I« bis
an den Kai. Von »einer Handvoll« notorisch
verdächtiger Schiffe spricht der Hafendirek-
tor. Im Ort herumstreunenden Matrosen
will er es künftig schwerer machen. Ab Juni
sollen die Kais eingezäunt und elektronisch
gesichert sein.
Es fehle nicht an Verdachtsmomenten
gegen russische Staatsbürger, aber es ergebe
sich noch kein zusammenhängendes Bild, sagt
der für Grenzüberwachung zuständige Beam-
te im Polizeipräsidium von Kirkenes, wo auch
die Leute vom Inlandsgeheimdienst PST sit-
zen: »Wir können vorläufig nur Puzzlestücke
sammeln, das große Ganze zusammenbauen
müssen andere; gut möglich, dass wir lange
Zeit zu naiv waren.«
»Hangover«, Katerstimmung, herrsche
nun in Kirkenes, sagt ein Wissenschaftler in
der Außenstelle der Universität Tromsø. Die
jährliche Konferenz des Arktischen Wirt-
schaftsrats findet jetzt ohne offizielle russische
Beteiligung statt, dafür mit online zugeschal-
teten russischen Oppositionellen: mit »Stim-
men von jenseits des Eisernen Vorhangs«,
wie die Veranstalter das nennen – als wäre
die Sowjetunion wiederauferstanden.
Zum 75. Jahrestag der Befreiung durch die
Rote Armee war noch Russlands Außenmi-
nister Sergej Lawrow persönlich in Kirkenes.
Nun warnt das neue Grundlagenpapier aus
Lawrows Haus vor der »Politik feindlicher
Staaten«, die auf »eine Militarisierung der
Region abzielt«. In Norwegen fühlt man sich
angesprochen: Die »Schwelle für eine atoma-
re Eskalation« drohe zu sinken, heißt es in
der Bedrohungsanalyse des Auslandsgeheim-
diensts für 2023.
Er empfehle seiner Regierung dringend,
aus dem Schicksal der Ukraine zu lernen –
also aufzurüsten und das Abschreckungs-
potenzial zu erhöhen, sagt Professor Tom
Røseth von der Norwegischen Verteidigungs-
universität. An seinem Arbeitsplatz in der
mittelalterlichen Osloer Festung Akershus
unterrichtet der ehemalige Nachrichten-
dienstler in Fragen strategischer Aufklärung.
Fürs Treffen wählt Røseth ein Innenstadt-
café, in dem urbanes Publikum vor aufge-
klappten Laptops und kostspieligen Geträn-
ken seinem Tagwerk nachgeht. Weit entfernt
erscheinen, vom satten Oslo aus besehen, die
Probleme nahe der russischen Grenze: »Nor-
wegen hat bis heute so gut wie keine Luft-
abwehr, wenig Fregatten, und unsere in
Deutschland bestellten Panzer müssen erst
noch geliefert werden«, klagt Røseth.
Und was tut sich an der Agentenfront? Hat
Norwegen aus dem Fall des enttarnten Frode
Berg gelernt? Falsche Schachzüge im Grenz-
gebiet seien gefährlich, gleichzeitig müsse
sein Land zwingend »Nachrichten an die
Nato liefern«, warnt Røseth: »Sonst tun es
die USA oder Großbritannien für uns, und
das würde die Spannungen mit Russland nur
verschärfen.« n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 75

Ausweitung der Kampfzone
EINWURF Drohnenangriffe auf Moskau, Kämpfe bei Belgorod:
Die Ukraine führt den Krieg nun auch auf russischem Boden – und sendet
damit eine Botschaft an den Westen.
er Krieg, den Wladimir Putin
D gegen die Ukraine führen lässt,
hat in dieser Woche Putins
Wohnsitz erreicht, wenn auch in eher
symbolischer Form. Gleich zwei ukra­
inische Drohnen gingen am Dienstag
unweit der Residenz des russischen
Präsidenten in Nowo­Ogarjowo nie­
der; zwei von womöglich Dutzenden,
die Moskau und seine westlichen Vor­
orte erreichten.
Dass die Trümmer ausgerechnet auf
die Villengegend an der Rubljowka
stürzten, wo neben Putin die Reichen
des Landes wohnen, hat in Russlands
sozialen Medien für Häme gesorgt.
»Die Rubljowka als unangreifbare
Insel des absoluten Wohlergehens gibt
es nicht mehr«, jubelte der rechte Phi­
losoph Alexander Dugin, der Russ­
lands Elite ohnehin für einen Haufen
Drückeberger hält.
Im Vergleich zu den massiven Ra­
ketenangriffen auf Kiew, mit denen
Russland die Bewohner der Haupt­
stadt derzeit fast Nacht für Nacht aus
ihren Betten holt, fiel die Drohnen­
welle zurückhaltend aus. Es gab Sach­
schaden, keine Verletzten.
Aber es war der erste Angriff auf
zivile Ziele in Moskau seit Russlands
Invasion vor einem Jahr, und er steht
in einer langen Reihe von Angriffen
auf russischem Boden, die diesen
Monat stattfanden. Zweimal drangen
Kämpfer in das Gebiet Belgorod
ein, um sich Gefechte mit russischen
Truppen zu liefern. Es waren russi­
sche Rechtsextreme, die faktisch in
den Reihen der ukrainischen Armee
kämpfen, auch wenn Kiew offiziell
eine Beteiligung leugnet, wie es das
bei allen Aktionen auf russischem Ge­
biet tut. Es gab Angriffe auf Ölraffi­
nerien, einen Sprengstoffanschlag auf
einen russischen Nationalisten, eine
Drohnenattacke auf den Kreml.
Der Monat Mai hat gezeigt: Die
Ukraine will den Krieg dauerhaft auf
russisches Territorium tragen, und sei
es nur symbolisch. Sie will offenkun­
dig den Boden bereiten für die an­
gekündigte Gegenoffensive, sie tastet
die Schmerzpunkte des Feindes ab,
bindet seine Kräfte, verunsichert ihn.
Die Angriffe auf russischem Boden
erfolgen gegen den Wunsch ihrer
westlichen Partner, oder soll man sa­
gen: mit deren widerstrebendem Ein­
verständnis? Die Position des Wes­
tens ist uneindeutig: Einerseits fürch­
tet er das Eskalationsrisiko. Anderer­
seits kann er von einem angegriffenen
Land nicht verlangen, dass es das
Territorium des Angreifers verschont.
»Solange keine Städte, keine Zivi­
listen, keine zivilen Bereiche attackiert
werden, wird man das notgedrungen
akzeptieren müssen. Nicht gern, aber
es gehört dazu, um Nachschubwege
beispielsweise zu unterbinden«, so
Deutschlands Verteidigungsminister
Boris Pistorius im April.
»Im Allgemeinen« unterstütze man
Angriffe innerhalb Russlands nicht,
sagte ein Sprecher des Weißen Hauses
zu den Angriffen auf Moskau. Wa­
shington liefert deshalb auch generell
keine Präzisionswaffen mit großer
Reichweite an die Ukraine. Aber das
gilt im Allgemeinen. Was gilt im Be­
sonderen?
Manche ukrainischen Aktionen
folgen klar umrissenen, militärisch
transparenten Zielen – etwa die Zer­
störung von Treibstoffdepots, die am
AUSLAND
1. April begann, oder die spektakulä­
ren Drohnenangriffe auf die Luftwaf­
fenbasis Engels­2 an der Wolga, von
wo aus Bomber Raketenangriffe auf
die Ukraine starten.
Andere Aktionen haben im Wes­
ten offenbar die Alarmglocken schril­
len lassen. Im August 2022 starb die
Nationalistin Darja Dugina – Tochter
des Philosophen – durch eine Auto­
bombe. Nicht nur die russischen Be­
hörden, auch die US­Geheimdienste
sehen die Kiewer Regierung hinter
dem Attentat, wie die »New York
Times« erfuhr. Man habe ukrainische
Stellen deshalb ermahnt, hieß es. Die
Zivilistin war das erste Opfer einer
Reihe von Anschlägen auf prominen­
te Kriegsbefürworter.
Je mehr sich die ukrainischen An­
griffe auf russischem Boden häufen,
A. Levchuk / ITAR-TASS / IMAGO
desto stärker sollte sich die Frage nach
dem Eskalationsrisiko stellen. Aber
in Wirklichkeit verhält es sich anders­
herum: Was noch vor einem Jahr als
gefährliche Ausweitung der Kampf­
zone galt, ist durch die Gewöhnung
zum Hintergrundgeräusch geworden.
Drohnenschaden
in Moskau Mit jeder überschrittenen Schwelle
wirkt die nächste niedriger.
Tatsächlich hat Wladimir Putin
kaum reagiert, zur Verblüffung vieler
Russen. Im Fernsehen murmelte er
bloß von der »ordentlichen« Arbeit
der Flugabwehr. Eine symmetrische
Antwort auf die Drohnenangriffe in
Moskau kann er ohnehin nicht ge­
ben – sie findet ja längst statt, seit
einem Monat steht Kiew unter Dauer­
beschuss.
Es ist darüber spekuliert worden,
welche Botschaft die Moskauer Droh­
nenattacke an erster Stelle schicken
sollte. Galt sie eher den zermürbten
Kiewern, die Vergeltung forderten,
wie ihr Bürgermeister Witalij Klitsch­
ko? Oder sollte sie den Moskauern
beweisen, dass die »militärische Spe­
Schutzsuchende zialoperation« in Wahrheit ein Krieg
in der Kiewer U-Bahn ist, der auch ihr Haus erreichen kann?
Aber vielleicht sind wir ja die Ziel­
gruppe – die Öffentlichkeit im Wes­
ten, die der Ukraine zwar wohlgeson­
nen ist, aber die Eskalation fürchtet.
Vielleicht sind wir der sprichwört­
liche Frosch, der im Wasser sitzt und
allmählich weichgekocht wird, weil
die Temperatur nur langsam steigt.
Schlimmer wird’s nicht, ist die Bot­
schaft aus Kiew, also gewöhnt euch
daran, ihr braucht bloß Putin anzu­
schauen. Die Eskalation, die ihr fürch­
tet, ist schon eingetreten. So denkt
Evgeniy Maloletka / AP
eine Gesellschaft im Krieg, und so
muss sie auch denken, um Kraft für
den Kampf zu haben. Alle anderen
dürfen Zweifel haben.
Christian Esch n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 76
AUSLAND
Die Vergessenen
USA Dutzende US-Amerikaner sitzen in ausländischen Gefängnissen.
Russland oder Iran nutzen die Geiseln, um Washington unter Druck
zu setzen. Ihre Familien fühlen sich im Stich gelassen. Von Marc Pitzke
ls Bahareh Amidi Shargi ihren Mann
A endlich im Arm hielt, musste sie ihren
Schrecken verbergen. Nach wenigen
Wochen im berüchtigten Evin-Gefängnis von
Teheran sah Emad Shargi auf einmal alt aus.
»Er hatte nun einen grauen Bart«, erinnert
sich seine Frau an das letzte Treffen.
Emad Shargi, 58, ein US-Geschäftsmann
iranischer Abstammung, war auf einer
Urlaubsreise im April 2018 plötzlich wegen
»Spionage« verhaftet und im November 2020
ohne Prozess zu zehn Jahren Haft verurteilt
worden. Seitdem sitzt er im Evin-Gefängnis
im Norden Teherans, als einer von mindestens
fünf Amerikanern in iranischer Haft. »Alles,
was ich mir wünsche«, sagt Amidi Shargi, 54,
eine stolze Frau mit Sorgenfalten auf der
Stirn, »ist, dass er nach Hause kommt.«
Schwester Neda Sharghi, Fami-
lienfoto: »Eine stille Gemeinschaft,
der wir nie angehören wollten«
78 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Sie blickt hoch zu einem überlebensgroßen
Schwarz-Weiß-Porträt, das an der Ziegelwand
vor ihr aufragt. Emad lächelt darauf, hinter
ihm ist ein Garten zu erkennen, die Sonne
scheint. Es war eines seiner letzten Fotos in
Freiheit, er war 53.
Seine Frau trägt ein T-Shirt mit dem glei-
chen Bild: »#FreeEMAD«.
Das Porträt von Emad Shargi findet sich
in einer Fußgängergasse im Washingtoner
Nobelviertel Georgetown. Es gehört zu einer
Galerie aus 19 Plakaten mit 19 Gesichtern –
eine monumentale Mahnung, gut 30 Meter
lang und fünf Meter hoch, seit einem Jahr
hängt sie hier.
Sie zeigt einen Bruchteil aller US-Geiseln
im Ausland. Acht, deren Gesicht hier prangt,
sind mittlerweile frei, elf noch eingesperrt.
Die Dritte von rechts ist Brittney Griner, die
im Dezember von Russland ausgetauschte
Basketballerin. Gleich links daneben lächelt
Shargi, für den ein Austausch bisher in weiter
Ferne liegt.
Wenige Meter entfernt laufen Passanten
über die M Street, die Flaniermeile von
Georgetown, vorbei an Cafés und Restau-
rants. Sie ahnen nicht, welche Tragödien in
der Gasse schlummern.
Wie viele amerikanische Geiseln im Aus-
land festgehalten werden, ist unklar, die US-
Regierung publiziert keine Statistiken. Die
von Emad Shargis Schwester Neda mitgelei-
tete Aktivistengruppe Bring Our Families
Home hat 54 namentlich identifiziert. Die
James W. Foley Legacy Foundation, gegrün-
det nach der Ermordung eines verschleppten
US-Kriegsreporters durch IS-Terroristen in
Syrien, sprach zuletzt von 59 Fällen.
»Die Dunkelziffer liegt aber viel höher«,
sagt James Foleys Mutter Diane. »Die meis-
ten Familien trauen sich nicht an die Öffent-
lichkeit.«
US-Bürger galten immer schon als begehr-
te Geiseln, da Washington in vielen Ländern
politisch und militärisch die Finger im Spiel
hat. Und in den vergangenen Jahren ist die
Zahl der Geiseln, soweit sie bekannt ist,
gestiegen.
»Wir befinden uns in einer neuen Ära der
Geiseldiplomatie«, sagt Bill Richardson, der
frühere Gouverneur von New Mexico, der
Lexey Swall / DER SPIEGEL (2)

seit Jahren hinter den Kulissen als
halb privater Unterhändler aktiv ist,
dem SPIEGEL . »Dies wird zu einem
weltweiten Problem. Ich glaube
nicht, dass die internationale Ge-
meinschaft  ausreichend darauf vor-
bereitet ist.«
Früher waren vor allem Terror-
gruppen und Gangs für Geiselnahmen
verantwortlich, heute sind es über-
wiegend staatliche Akteure wie Russ-
land oder China, aber auch Syrien,
Iran und Venezuela. Etliche promi-
nente Fälle – »Wall Street Journal«-
Korrespondent Evan Gershkovich,
Basketballerin Brittney Griner, die
Ex-Marineinfanteristen Trevor Reed
und Paul Whelan – machten zuletzt
Schlagzeilen, haben das Thema ins
Bewusstsein Amerikas katapultiert.
Am schlimmsten neben den Gei-
seln leiden die Familien – Ehefrauen,
alte Eltern, junge Kinder, von heute
auf morgen in eine Krise gestürzt.
Das Weiße Haus zwingt sie oben-
drein oft, ihre Qualen zu verheimli-
chen, um mögliche Verhandlungen
nicht zu gefährden. Manche verkrie-
chen sich, andere gehen im Allein-
gang an die Presse, wieder andere
suchen Hilfe bei Leidensgenossen.
Viele fühlen sich von der Politik im
Stich gelassen.
Eines verbinde sie aber alle, sagt
Neda Sharghi, Emads Schwester:
»Wir sind eine stille Gemeinschaft,
der wir nie angehören wollten.«
Die Odyssee der Shargis begann
am 23. April 2018.
Emad und Bahareh Amidi Shargi
sind in Iran geboren, beide kamen als
Kinder in die USA. Sie haben die dop-
pelte Staatsbürgerschaft und zogen
in Washington zwei Töchter groß,
Ariana und Hannah, in einem Haus
im Nordwesten der Stadt, wo die El-
tern bis heute wohnen. Im Garten
steht ein enormer Kirschbaum. »Je-
des Mal, wenn er im April blüht«, sagt
die 25-jährige Hannah, »weiß ich,
dass ein weiteres Jahr vergangen ist,
seit ich meinen Vater zum letzten Mal
gesehen habe.«
»Mein Dad will aber nicht, dass
ich traurig bin«, fügt sie hinzu. »Also
bemühe ich mich, möglichst normal
zu leben. Er soll nicht denken, dass
unser Leben pausiert. Aber natürlich
tut es das.«
Emad arbeitet im Import-Export-
Handel. Amidi Shargi ist Dichterin
und Psychologin. Als die Kinder aus
dem Haus waren, beschlossen die
Eltern, zu einem längeren Urlaub
nach Iran zu reisen, zurück zu ihren
Wurzeln.
Mitten in der Nacht standen in
Teheran plötzlich »rund 15 Männer
und eine verhüllte Frau« vor der Tür.
Sie durchwühlten das Haus und nah-
men Emad mit, ohne Erklärung.
Amidi Shargi rief Neda an, die in
New York wohnte, sie alarmierte
Hannah. »Ich brach zusammen«, er-
innert sich Tochter Hannah.
Jeden Tag fuhr Amidi Shargi zum
Evin-Gefängnis, wo Hunderte politi-
sche Häftlinge eingekerkert sind, um
nach dem Verbleib ihres Mannes zu
forschen. Jeden Tag bat sie um Ein-
lass, jeden Tag wurde sie abgewiesen.
Nach einem Monat sagte man ihr: »Er
wird sehr, sehr lange hier bleiben.«
»Ein Albtraum«, sagt Amidi Shar-
gi. »Ein Albtraum, der andauert.«
Nach acht Monaten hinter Gittern
kam Emad auf Kaution frei, aber sei-
ne Pässe wurden einbehalten, er
konnte nicht ausreisen. Widerwillig
flog Amidi Shargi allein nach Wa-
shington, Emad blieb zurück. Erst im
Januar 2021 erfuhren die Shargis aus
einer BBC-Meldung, dass er ohne
Prozess zu zehn Jahren Gefängnis
verurteilt worden war.
Wochen später stand Amidi Shar-
gi ihm in Evin letztmals gegenüber.
Als sie sich umarmten, flüsterte sie
ihm ins Ohr, dass die Nachbarskatze
Junge bekommen habe. Die Wärter
rissen das Ehepaar auseinander. »Die
hielten das für Code.«
Anfangs hatten die Shargis Hoff-
nung. Ein Jahr zuvor hatte US-Präsi-
dent Donald Trump, der den Publi-
city-Wert von Geiselbefreiungen er-
kannte und damit sogar Wahlkampf
machte, den erfahrenen Unterhändler
Roger Carstens zum Beauftragten für
Geiselfragen ernannt. Nachfolger Joe
Biden behielt Carstens im Amt.
Doch die Atomverhandlungen mit
Teheran machen Emads Fall komple-
AUSLAND
xer als andere. »Seine Aussichten«,
sagt Neda, »sind eng mit der Politik
verknüpft.«
Getan hat sich seitdem nichts. Im-
merhin dürfen die Shargis zwei-, drei-
mal die Woche mit Emad telefonie-
ren. Wie geht es ihm? »Das ist eine
komplizierte Frage«, sagt Neda. »Er
lebt. Er überlebt.« Er hat eine Coro-
nainfektion und im Oktober einen
Aufstand und Großbrand in Evin
überlebt, bei dem mehrere Häftlinge
umkamen. Emad rief mittendrin an:
»Sag allen, ich liebe euch.« Es klang
wie ein Abschied.
Weder Biden noch US-Außen-
Lexey Swall / DER SPIEGEL
minister Antony Blinken haben sich
mit der Familie getroffen, trotz mehr-
facher Anfragen. Als Bidens Spreche-
rin Karine Jean-Pierre im Dezember
2022 nach Emad Shargi gefragt wur-
de, sagte sie: »Ich kenne diesen spezi-
fischen Fall nicht.«
Galerie der Unterhändler Carstens sagt, ein
Geiseln in Treffen mit Biden sei für die Verhand-
Washington:
Monumentale
lungen nicht entscheidend. Tochter
Mahnung Hannah, die Internationale Bezie-
hungen studiert hat und in Brooklyn
bei einer NGO arbeitet, widerspricht.
»Es ist wichtig, dass der Präsident uns
trifft«, fordert sie. »Wie können wir
sonst glauben, dass mein Vater für ihn
Priorität hat?«
Schwester Neda hat ihre Karriere
aufgegeben – sie hat einen Doktor in
Epidemiologie – und ist nach Wa-
shington gezogen. Sie organisiert Pro-
teste und Mahnwachen, tritt bei
CNN auf, gibt Geld aus für Reisen
und PR-Aktionen. Im März war sie
als Mitglied einer Besuchergruppe im
Weißen Haus, die Biden eingeladen
hatte, um das persische Frühlingsfest
Nouruz zu feiern. Bei der Gelegenheit
steckte sie dem Präsidenten einen
persönlichen Brief zu. »Ich bitte Sie
nur um eine Sache, bitte, ich flehe
Sie an«, schrieb sie. »Bitte treffen Sie
sich mit uns.«
Das sonnendurchflutete Haus von
Diane und John Foley ist voller Erin-
nerungen an Jim. Überall Bilder, auf
denen ihr ältester Sohn strahlt: auf
dem Kaminsims, im Bücherregal, am
Fenster. Eines zeigt die gesamte Fa-
milie, als die fünf Kinder noch klein
waren, in kitschigen Achtzigerjahre-
farben. Ein anderes, viel später ent-
standen, zeigt Jim mit einer kugel-
»Trump war sicheren Weste und einer Kamera in
der Hand.
schlau, er »Jim war voller Neugier«, sagt
sah den Wert Diane Foley. »Er wollte wissen, wie
die Welt funktioniert, den Leuten hel-
der Frei­ fen, die am wenigsten haben.«
lassungen.« Die Verandatür öffnet sich zum
Diane Foley, Wald. Am Ende der Straße erahnt man
Aktivistin den Lake Winnipesaukee, den größ-
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 79
AUSLAND
ten See von New Hampshire. Neu-
england-Idylle.
James Foley – den alle nur Jim
nennen – berichtete als freiberufli-
cher Kriegsreporter aus dem Nahen
Osten und Nordafrika. 2011 wurde er
erstmals in Libyen festgenommen,
doch nach 44 Tagen wieder freigelas-
sen. Ende 2012 verschleppte ihn eine
IS-Terrorzelle in Syrien. Die Islamis-
ten folterten ihn, zwei Jahre später
enthaupteten sie ihn – der Beginn
einer ganzen Reihe solcher Morde.
Seine Eltern sind zu Schutzpatro-
nen der heutigen Geiselfamilien ge-
worden. Sie wissen, wie sie leiden.
»Wenn Böses passiert, stehen die
Guten auf«, sagt Diane Foley, eine
hagere, blasse, doch bestimmte Frau.
Als Jim Foley verschwand, gab es
in Washington noch keine Ansprech-
partner, keine Betreuung der Betroffe-
nen. »Niemand half uns«, sagt seine
Mutter. »Stattdessen wurden wir von
der Regierung bedroht und belogen.
Es war eine furchtbare Tortur.« Die
Entführer forderten unter anderem
100 Millionen Euro Lösegeld, das Wei-
ße Haus lehnte das ab, es war Jims To-
desurteil. Eine gescheiterte Rettungs-
aktion, befohlen von Barack Obama,
wurde vor den Foleys geheim gehalten.
Vom Tod ihres Sohnes erfuhren
die Foleys aus dem Fernsehen.
Alle US-Präsidenten wollen Gei-
seln heimholen, auf unterschiedliche
Weise. Obama bestand lange darauf,
keine Zugeständnisse zu machen.
Trump verkaufte jede Freilassung als
persönliche Errungenschaft. Biden
hat das Problem größtenteils ans
State Department delegiert.
»Trump war schlau«, sagt Foley,
die sich keineswegs als Trump-Fan
bezeichnet. »Er sah den Wert der
Freilassungen und kämpfte für die
Geiseln.« Selbst der sonst so kritische
»New Yorker« spendete ihm dafür
Beifall.
Der Mörder von Jim Foley wurde
2015 von einer US-Drohne getötet,
drei Mittäter wurden gefangen und
vor Gericht gestellt, einer in Groß-
britannien, zwei in den USA. Diane
Foley war in einem Verhandlungssaal
mit dabei, als einer zu lebenslanger
Haft verurteilt wurde. Der andere
hatte eingewilligt, sie zu treffen. Als
sie ihm gegenübersaß, verspürte sie
Mitleid. »Auch er ist ein junger Mann,
der seine Familie nie wiedersehen
wird«, sagt sie. »Er zeigte mir Fotos
von seinen drei kleinen Mädchen.«
Nicht alle Familien glauben, dass
ihnen unter Trump besser geholfen
wurde. »Präsident Biden hat mehr für
die Geiseln getan als alle anderen«,
sagt Joey Reed.
80 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Mutter Foley mit einem Foto ihres ermordeten
Sohnes Jim: »Von der Regierung bedroht und belogen«
Reeds Sohn Trevor kehrte im April
2022 nach 985 Tagen aus russischer
Haft heim – das Ergebnis monatelan-
ger Vermittlungen des Geiselbeauf-
tragten Carstens. Der ehemalige Ma-
rineinfanterist Reed ist heute nicht
mehr so schmal und ausgemergelt wie
auf den Fotos, die damals durch die
Presse gingen, sondern stämmig, kräf-
tig, mit einem gepflegten Bart. Seine
Eltern hatten sich unermüdlich für
seine Freiheit engagiert, jetzt trom-
meln sie gemeinsam für die anderen
Geiseln.
Auch die Biden-Regierung weist
Kritik an ihrer Strategie zurück. »Vom
ersten Tag an hat es diese Regierung
zur Priorität erklärt, Amerikaner, die
in Übersee zu Unrecht inhaftiert sind,
sicher heimzuholen«, beharrt ein hoch-
rangiger Vertreter des US-Außen-
Geraubte Freiheit
Länder, in denen US-Amerikaner als Geiseln gehalten
werden oder unrechtmäßig inhaftiert sind, 2023
Afghanistan
Belarus
Russland
Türkei Iran
Syrien
Kuba Ägypten
Saudi-Arabien VAE
Jemen
Venezuela Uganda
Mindestens 59 Personen werden in 15
unrechtmäßig festgehalten.*
* Die Dunkelziffer könnte höher liegen.
S Quelle: James W. Foley Legacy Foundation
◆
ministeriums. »Eine sehr engagierte,
sehr talentierte Expertengruppe ar-
beitet tagein, tagaus daran, alle Op-
tionen zu identifizieren und zu ver-
folgen.«
Im Sommer 2020 verabschiedete
der Kongress den Levinson Act, ein
nach dem in Iran verstorbenen Ame-
rikaner Robert Levinson benanntes
Gesetz. Das gab dem Amt des Geisel-
beauftragten Botschafterstatus. Biden
legte nach, indem er das Problem zum
nationalen Notstand erklärte und
neue Mittel zur Abschreckung und
Greta Rybus / DER SPIEGEL
Bestrafung der Täter freigab, darunter
Sanktionen gegen Russland und Iran,
die die USA im April verhängten.
Die Maschinerie des Staates – und
die Unterstützung der Familien –
läuft nur für diejenigen an, die das
State Department als »hostages and
wrongfully detained« einstuft, als zu
Unrecht inhaftiert, wie »Wall Street
Journal«-Reporter Gershkovich und
zuvor Brittney Griner. Wer nicht in
diese Kategorie fällt oder nicht pro-
minent genug ist, bleibt auf sich allein
gestellt.
»Bedeutet unser Pass überhaupt
noch etwas?«, fragt Diane Foley.
»Wozu ist die Regierung gut, wenn
sie einem nicht hilft?«
Ein Abend im Mai. Die Bring Our
Families Home Campaign hat eine
Mahnwache an der Porträtgalerie in
Georgetown organisiert. Ein Streich-
quartett auf Klappstühlen spielt, eine
Studentin singt »Ave Maria«.
Zwei Dutzend Angehörige sind da,
künstliche Kerzen in der Hand, auch
die Shargis und die Foleys. Sie fallen
einander in die Arme, einige treten
an ein Mikrofon, um ihre Geschichte
zu erzählen. Samar Hamwi beschwört
ihren Bruder Majd Kamalmaz, einen
Traumatherapeuten, seit 2017 in Sy-
rien verschollen. Harrison Li erinnert
an seinen Vater Kai, einen New Yor-
ker Geschäftsmann, der seit 2016 in
China inhaftiert ist. Die Deutsche
Melanie Berry steht mit ihren Kin-
dern am Rande und erzählt leise von
ihrem texanischen Mann Airan, der
vor drei Jahren zu einem »guten
China Job«, wie er zum Abschied gesagt
hatte, nach Venezuela verschwand
und nie heimkehrte.
Ein sanfter Nieselregen setzt ein,
Kambodscha
das Streichquartett spielt weiter. Die
meisten Geiselporträts sind längst
verwittert, abgeblättert, die Gesich-
ter kaum mehr erkennbar, auch das
von Emad Shargi. Sechs Wochen ist
es nun her, dass seine Schwester
Ländern Neda ihren Bittbrief an Biden über-
reicht hat.
Eine Antwort hat sie bis heute
nicht. n
AUSLAND
»High Noon« in
Warschau
POLEN Die Rechtsregierung holt zum heftigsten Schlag gegen
die Demokratie aus: Eine neue Kommission könnte
Oppositionspolitiker sogar von der Wahl im Herbst ausschließen.
ndrzej Duda wird seinen schlechten
A Ruf nicht los. Polens Präsident sei
nichts weiter als der »Kugelschreiber«
der regierenden Nationaldemokraten, pole-
misieren seine Gegner: Eigentlich wäre es der
Auftrag des Staatsoberhaupts, die polnische
Verfassung zu schützen. Doch Duda unter-
schreibe einfach alles, was die Mehrheit der
PiS-Partei im Parlament beschließt.
So auch wieder am Montag: Da zeichnete
er ein besonders gefährliches Gesetz ab. Das
Parlament darf jetzt eine neunköpfige Kom-
mission bestellen, die untersuchen soll, ob
Russland in den Jahren 2007 bis 2022 Einfluss
in Polen ausgeübt hat. Was zunächst nach
einem berechtigten Anliegen klingt, hat je-
doch vor allem eine innenpolitische Stoßrich-
tung: Falls die Kommission nämlich befinden
sollte, ein Politiker oder Beamter habe zum
Schaden des Landes unter dem Einfluss Mos-
kaus seine Entscheidungen getroffen, kann
sie ihn auf zehn Jahre für öffentliche Posten
sperren. Die Opposition nennt das neue Ge-
setz »Lex Tusk«. Es könnte angewandt wer-
den, um Donald Tusk, ihren wichtigsten Kan-
didaten für das Amt des Premiers, von der
Wahl im Herbst auszuschließen – denn unter
ihm schloss Warschau einst Gas- und Öldeals
mit Moskau ab.
Seit Jahren haben die PiS-Mächtigen Ärger
mit Brüssel, weil sie immer wieder versuchen,
den Rechtsstaat auszuhebeln. Kurzzeitig war
die europäische Öffentlichkeit abgelenkt
durch Polens bedeutende Rolle bei der Ver-
teidigung der Ukraine gegen den russischen
Angriffskrieg. Warschau drängte von Anfang
an auf immer mehr Waffenlieferungen, nahm
Millionen Flüchtlinge auf. Dieser Prestige-
gewinn steht jetzt auf dem Spiel. Das Gesetz
über die Verfolgung russischer Umtriebe ist
der bisher wohl eindeutigste Versuch der PiS,
demokratische Regeln zu beugen, um länger
an der Macht bleiben zu können.
Bisher hatte sich die nationalkonservative
PiS – schlimm genug – darauf beschränkt, das
Verfassungstribunal mit Getreuen zu beset-
zen, den Einfluss der Parlamentsmehrheit auf
die Wahl von Richtern zu verstärken und die-
se einem rigorosen Disziplinarregime zu
unterwerfen. In mehreren Urteilen wertete
81 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
mit dem Angriff in Georgien 2008 deutlich
gezeigt habe, welche Absichten der Kreml
verfolge.
Tusk habe aber vor allem den Russen
leichtfertig die Untersuchung der Flugzeug-
katastrophe von 2010 überlassen. Damals war
der nationalkonservative polnische Präsident
Lech Kaczyński mit seiner Entourage beim
Anflug auf Smolensk verunglückt. Er hatte
an einer Gedenkfeier für rund 22.000 Polen
teilnehmen wollen, die 1940 vom sowjeti-
schen Geheimdienst in den Wäldern um den
Ort Katyn ermordet worden waren. Viele
Parteigänger der PiS glauben bis heute, der
Flugzeugabsturz sei in Wahrheit ein Anschlag
der Russen gewesen.
Egal wie plausibel diese Vorhaltungen
sind – indem PiS die neue Kommission beruft,
der Europäische Gerichtshof dies als Verstoß versucht die Partei, antirussische Stimmungen
gegen das Prinzip der Gewaltenteilung.
Nun legt die Regierungspartei nach: Ihre
Parlamentsmehrheit hat sich ermächtigt, eine
im Land gegen die Opposition zu lenken.
Tusk und seine Mannschaft – so die Bot-
schaft – stehen im Verdacht, im Dienste frem-
politische Prüfkommission zusammenzustel- der Mächte zu handeln.
len, die sogar Oppositionskandidaten aus- »Die freie Welt verurteilt Polen«, titelt die
schließen könnte. »Faktisch wird eine von Warschauer Zeitung »Rzeczpospolita« ent-
Politikern geschaffene politische Institution setzt. Die Vizepräsidentin des Europäischen
in den Rang eines Gerichts gehoben. Das ist Parlaments, Katarina Barley, forderte: Jetzt
ein Ding der Unmöglichkeit in einem Rechts- müsse die EU-Kommission aktiv werden. Die
staat«, sagt die ehemalige Verfassungsrichte- allerdings hat schon wegen vorheriger PiS-
rin Ewa Łętowska dem SPIEGEL: »Das Gesetz Vergehen rund 35 Milliarden Euro an Corona-
verstößt so massiv gegen die Verfassung, dass hilfen eingefroren, die Polen eigentlich zu-
es schwerfällt, die einzelnen Gründe aufzu- stehen.
zählen.« Washington sei »beunruhigt« über das
»Es sieht nach Angst und Schrecken aus«, neue Gesetz, erklärte ein Sprecher des US-
kommentierte der PiS-Politiker Antoni Ma- Außenamts. Um die 10.000 Mann hat die
cierewicz die Empörung der Opposition: »Als U. S. Army bereits in Polen stationiert –
hätten sie Angst davor, was alles entdeckt eigentlich träumen die Nationalkonservativen
werden könnte.« Die Liste der nationalkon- davon, Polen mit den USA gemeinsam zum
servativen Vorwürfe an die Adresse von Tusk wichtigsten Bollwerk Europas gegen Russland
ist lang, im Schatten des Ukrainekriegs könn- hochzurüsten.
te sie ihn nun kaltstellen. In seiner Zeit als Aus der Sicht der Ukraine sei der jüngste
Ministerpräsident von 2007 bis 2014 habe er Schritt Polens sehr schädlich, fürchtet Marek
sich unentwegt um gute Beziehungen mit Mos- Prawda, ehemals Polens Botschafter bei der
kau bemüht. Seine Regierung habe Energie- EU: Warschau fordere auf der einen Seite die
deals abgeschlossen, obwohl Russland schon EU permanent heraus, setze sich aber auch
stark für einen Beitritt der Ukraine ein.
»Polen als Vorbild und Förderer der Ukraine
in der EU macht sich unglaubwürdig.«
Für Sonntag, den 4. Juni, hat Donald Tusk
zu einer Großdemonstration in Warschau auf-
gerufen. Kleinere Oppositionsparteien wollen
sich für diesen Tag seiner liberalen Bürger-
plattform anschließen.
Es ist ein hochsymbolisches Datum: An
jenem Tag im Jahr 1989 fanden die ersten
zumindest halb freien Wahlen im kommunis-
tischen Polen statt. Die Opposition gewann
und besiegelte damit das Ende der Einpar-
teienherrschaft.
Dieser Tage taucht immer wieder ein Pla-
Jaap Arriens / NurPhoto / IMAGO
kat von damals auf: Es zeigt Gary Cooper in
dem Hollywoodfilm »High Noon«. In der
Rolle des Marshals Will Kane bahnt er sich
im Kampf gegen einen Trupp Banditen einen
Weg in die Freiheit. Auf dem polnischen
Plakat hält Cooper statt eines Colts: einen
Wahlzettel.
Oppositionsführer Tusk Dariusz Kalan, Jan Puhl n
AUSLAND
Im Tal der Täuschungen
INDIEN Die Regierung bewirbt die Unruheregion Kaschmir als Tourismusziel.
Eine gute Idee. Würde nur nicht all der Stacheldraht die Aussicht versperren.
anif steht auf der Veranda sei-
H nes Hausboots inmitten des
Dal-Sees. Die Berge spiegeln
sich im dunklen Wasser. Auf den Gip-
feln liegt Schnee, Tannen säumen die
Täler. Es ist atemberaubend schön.
Sein Boot gleicht einem Palast. Die
Wände sind holzvertäfelt, auf dem
Boden liegen schwere Teppiche. Alles
glänzt: das polierte Holz, die Glitzer-
steine in den Vorhängen, der bom-
bastische Kronleuchter. Die Decke ist
aus Walnussholz geschnitzt, das Holz
angeblich mehr als 150 Jahre alt. »Ein
Boot für Maharadschas«, sagt Hanif.
Er kann sich noch an die Zeiten
erinnern, als Touristen aus aller Welt
kamen, Deutsche, Franzosen und Bri-
ten übernachteten auf seinem Haus-
boot. Sie bestaunten die Schönheit
Kaschmirs, eines Tals inmitten des
Himalaja. Geblieben sind von den
Ausländern nur alte Bücher. Auf
Deutsch hat er da liegen: »Der Clan«,
gedruckt im Jahr 1967, die Seiten sind
modrig. Hanif träumt seit Jahren von
der Wiederkehr der Ausländer; die
82 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Inder, sagt er, seien deutlich weniger
spendabel.
»Aber nun kommen sie hoffent-
lich bald«, sagt Hanif. »Denn jetzt ist
G20 in der Stadt.« In Wahrheit fand
in Kaschmir vergangene Woche nur
das Treffen einer G20-Arbeitsgruppe
statt, eine von vielen Veranstaltun-
gen, die Indien als Teil seiner G20-
Präsidentschaft dieses Jahr abhält.
61 Delegierte waren in die hoch mili-
tarisierte Region angereist, ihr Thema:
»Tourismus als Vehikel für Nachhal-
tigkeit«. Die Regierung inszenierte
das Treffen fast so, als handle es sich
um den eigentlichen G20-Gipfel.
Zum ersten Mal seit drei Jahren
ließ Neu-Delhi wieder ausländische
Journalisten ins Tal, darunter den
SPIEGEL . Voraussetzung für die Be-
richterstattung: Man dürfe nur über
G20 schreiben und die Grenzen der
Stadt Srinagar nicht verlassen.
Kaschmir ist einer der schönsten
Flecken der Welt. Doch seit mehr als
70 Jahren schwelt hier ein blutiger
Konflikt, drei Atommächte stehen
sich gegenüber. Sowohl Pakistan als
auch Indien beansprucht Kaschmir
für sich allein. China kontrolliert
ebenfalls einen Teil. Seit den Neun-
zigerjahren, als bürgerkriegsähnliche
Unruhen die Gegend erschütterten,
ist Kaschmir nur noch schwer zu be-
suchen; Hunderttausende indische
Soldaten sind dort stationiert.
Im August 2019 entzog die Regie-
rung von Premier Narendra Modi
Kaschmir die Autonomie: Sie strich
Artikel 370 der indischen Verfassung,
der den Bundesstaat Jammu und
Kaschmir mit einem besonderen
Status ausstattete. Sie schaltete mo-
natelang das Handynetz und das
Internet ab, um die massiven Protes-
te zu unterdrücken, und ließ Politiker
und Aktivisten verhaften. Sie trenn-
te den muslimischen Teil des eins-
tigen Bundesstaats vom Rest ab:
Indiens einzige mehrheitlich musli-
mische Region hat seitdem keine
eigene Regierung mehr, sondern
untersteht direkt dem Innenministe-
rium in Neu-Delhi.
G20 war das erste internationale
Treffen in der Region seit jenen ein-
schneidenden Tagen. Indiens Rivalen
Pakistan und China fassten es wenig
überraschend als Provokation auf.
Doch für die Vertreter Neu-Delhis
war es die Gelegenheit, drei Tage lang
ihre Erzählung Kaschmirs zu verbrei-
ten: Sie handelt von Frieden und wirt-
Touristen auf dem schaftlichem Fortschritt. Von der
Dal-See: Schönheit der Landschaft. Den Tul-
Besser »als alles,
was die Schweiz penfeldern Srinagars (1,5 Millionen
zu bieten hat« Tulpen, einst aus den Niederlanden
importiert) und den Skihängen Gul-
margs (mit der höchsten Gondelbahn
Asiens). Kaschmir soll einmal nicht
Unruheregion sein, sondern wieder
ganz und gar der Sehnsuchtsort, den
Hanifs Gäste einst so liebten – und,
wie ein indischer Bürokrat erklärte,
besser »als alles, was die Schweiz zu
bieten hat«.
Der Werbespruch könnte lauten:
Kaschmir – das schönste Konflikt-
gebiet der Welt.
Da sind das funkelnde Wasser, die
frische Luft, die schnuckeligen Holz-
häuser. Die Straße vom Flughafen
war gerade erst frisch geteert wor-
den, die Flusspromenade neu asphal-
tiert. Die Sandsäcke und Straßen-
sperren, die sonst allgegenwärtig
sind, hatte man für das Treffen aus
der Stadt schaffen lassen. Und die
Wachposten, die an fast jeder größe-
Yawar Nazir / Getty Images
ren Kreuzung installiert sind, mit
bunten Bildern von Gärten oder
Gletscherseen beklebt. Dahinter
schauten allerdings Paramilitärs mit
automatischen Gewehren durch ver-
gitterte Öffnungen.
 AUSLAND

verschleppten junge Männer. Der See sei im

Vergleich dazu eine »Friedenszone« gewesen,
sagt er. Hanifs Familie steckte mittendrin –
und blieb doch weitgehend draußen.
Er bete zu Gott, »dass die dunklen Zeiten
vorüber sind«, sagt Hanif.
Wie viel

Faisal Bashir / SOPA Images / Getty Images

Im Tagungszentrum am anderen Ufer wer-
den die schlechten Tage gerade offiziell für
beendet erklärt. Im indischen Fernsehen wird
abends auf vielen Sendern die Version der
Zeit bleibt
uns noch?
Regierung ausgestrahlt: blühende Landschaf-
ten, glückliche Delegierte.
Und Neu-Delhi hat hier ja auch tatsächlich
die absolute Kontrolle. Die Jugend der Stadt
liefert sich schon lange keine Straßenschlach-
Indischer Paramilitär in Srinagar
ten mehr mit den Sicherheitskräften wie noch
2019. Mehr als zwei Millionen Touristen ka-
Es sah hier nicht immer so kriegerisch aus, men vergangenes Jahr nach Kaschmir, die
auch wenn sich nur noch die älteren Bewoh- allermeisten von ihnen Inder. Und wenn die
ner daran erinnern. Hanif war Anfang zwan- Eisenbahnlinie zwischen Delhi und Srinagar
zig, als extremistische Islamisten über die erst einmal fertiggestellt ist, könnten es bald
pakistanische Grenze kamen. Die frühen viele mehr sein.
Neunziger markierten den Beginn einer neu- Es gibt jetzt eine Shoppingmall, es gibt
en heißen Phase des Konflikts. Die bewaffne- Kinos – und Mädchen, die Sport treiben. Frü-
ten Kämpfer richteten ein Massaker an der her terrorisierten die Islamisten jeden, der
hinduistischen Minderheit an, Tausende Fa- sich herausnahm, selbst zu bestimmen, was
milien flüchteten, die indische Armee rückte erlaubt ist und was nicht. Für Frauenrechte
ein und ist bis heute nicht abgezogen. Extre- ist die Lage in Kaschmir besser als noch vor
mistische Kämpfergruppen stehen indischen ein paar Jahren. Aber seit 2014 haben hier
Sicherheitskräften gegenüber. Dazwischen keine regionalen Wahlen mehr stattgefunden.
leben 13 Millionen Menschen, die in vielen Auf einem Schild am Eingang zum Ta-
Fällen beide Seiten gleichermaßen fürchten. gungszentrum steht: »Willkommen im Para-
Für Hanif war es »eine furchtbare Zeit«. dies auf Erden«. Davor stehen zwei Frauen
Seine Familie zog sich auf den See zurück, so am Ufer des Sees, sie haben die Arme um den
wie es ihre Vorfahren schon immer getan hat- Körper geschlungen und beratschlagen, wie 304 Seiten, gebunden � 22,00 €
ten. Hanif gehört zu den Hanjis, einer Grup- viel sie erzählen sollen. Unter einer Zeltplane Auch als E-Book erhältlich.
pe armer Bewohner, die seit Generationen führen sie den Gästen des Treffens Papp-
auf dem Wasser leben. Hinter dem Hausboot maschee und Walnussholzschnitzereien vor.
für die Gäste steht das der Familie: eine läng- Eine der beiden fasst Mut. »G20 macht
liche Hütte auf Stelzen mit abgewetzten Wän- uns traurig, weil das, was wir der Welt hier Wie wir das Klima,
den und zugigen Schlitzen. Bereits Hanifs zeigen, nicht dem entspricht, was unser Leben
Großvater lebte hier. ist.« Die Arbeitslosigkeit sei hoch, der Heim-
unsere Freiheit und
Hanif kann viel über sein Leben auf dem weg dauere ewig, weil die Männer an den demokratische Prozesse
Wasser klagen. Die Winter sind eisig, der Weg Checkpoints sie schikanierten. Die Bewaff- gemeinsam schützen,
zur Schule für die Kinder ist nur per Holzboot neten seien nicht zum Schutz der Bewohner
möglich. Aber die Isolation auf dem See hat- hier, sondern zu ihrer Bewachung. zeigt der preisgekrönte
te auch Vorteile, wie er zugibt. In der Altstadt Dann bemerkt sie eine Bewegung aus dem SPIEGEL-Journalist
lieferten sich Demonstranten und Sicherheits- Augenwinkel, jemand nähert sich. Sie ver-
kräfte Straßenschlachten, Steine flogen. Extre- stummt, so wie das ganze Tal verstummt ist. Jonas Schaible in diesem
misten verübten Anschläge, Sicherheitskräfte Die Stille ist neu. Selbst zu den schlimms- eindringlichen Buch.
ten Zeiten Kaschmirs gab es eine Presse, die
halbwegs frei berichten konnte. Bewohner,
Trügerisches Paradies die sich trauten, ihrem Zorn Luft zu machen.
Wer sich mit den Bewohnern Srinagars unter-
zwischen Indien, Pakistan
und China umstrittene
hält, findet nicht mehr viele von ihnen. Die »Haarscharf argumentiert,
AFGHANISTAN Region Kaschmir Strategie der Repression scheint, zumindest
für den Moment, aufzugehen.
bildgewaltig geschrieben
PAKISTAN
Noch immer sollen Hunderte im Gefängnis
sitzen. Und wenn man nicht schon bald einer
und nichts anderes als exakt
Srinagar
von ihnen sein wolle, dann halte man lieber
den Mund, sagt ein junger Mann, der eben-
am Puls der Zeit.«
LADAKH
falls anonym bleiben will. Aber man solle die Luisa Neubauer
JAMMU UND CHINA Stille nicht als Zustimmung missdeuten, ins-
KASCHMIR
geheim brodle es, und wenn sich eine Chance
biete, werde sich die Wut entladen. »Das ist
100 km INDIEN eine Gabe der Kaschmirer«, sagt der Mann.
»Abzuwarten, bis der Winter vorbei ist.«
S Grafik Laura Höflinger n
◆

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 83

www.dva.de
SPORT
511

420
Rasende Rekordboote Die »Malizia« wird ab einer
bestimmten Geschwindigkeit

Alberto Saiz /
picture alliance
Die schnellsten durch die Tragflächen an den
Rumpfseiten teilweise aus dem
bemannten Wasser gehoben. Sie erreicht so
Fahrzeuge ein höheres Tempo.
auf Wasser,
Angaben in
Kilometer pro
»S

Stunde
pir

»P

Spitzengeschwindigkeit
it o

rob

Sa
»Je

der Jachten, die beim

»V ocke
fA

ilr
Ocean Race starten
lem

nn

es t 2
us

641
yI

tas «
tra

Ch

er«
lor –
I«

ae zia
ild
lia
«

137

Se Mali
xp
»D
Seemeilen legte die
121

ec
Segeljacht »Malizia«

»
av
Ende Mai beim Ocean

ita
Race in 24 Stunden
74

tor
zurück und brach
damit den Weltrekord

«
für Einrumpfboote.
34
Rennboot Propeller- Luft- Mehr- Pedal- Einrumpf-
S Quellen: GWR, IHPVA, mit Düsen- getriebenes kissen- rumpf- betriebenes segelboot
◆

UIM, WSSRC triebwerk Boot fahrzeug segelboot Boot

Nie zuvor war ein Einrumpfboot in 24 Stunden so schnell unterwegs wie die »Malizia – Seaexplorer«. Das Team um Boris Herrmann legte auf der
fünften Etappe des Ocean Race in dieser Zeit 641,13 Seemeilen zurück. Die Hochseesegeljacht erreichte durchschnittlich 26,71 Knoten, rund
50 Kilometer pro Stunde; in der Spitze liegt die Geschwindigkeit um rund 20 Kilometer in der Stunde höher. Doch es geht noch schneller – je nach
Bootstyp. Den offiziellen Rekord auf Wasser hält seit 1978 der damalige Rennbootfahrer Ken Warby mit der selbst gebauten »Spirit of Australia«.

GUT ZU WISSEN In Deutschland gibt es zugesagt. Diese Nachricht ließ

Warum schwanken
Fußballaktien so stark?
Die Aktie von Borussia Dort-
mund erlebte zuletzt große
Schwankungen. Nach dem Sieg
in Augsburg am 33. Spieltag
(und Platz eins in der Fußball-
bundesliga) stieg der Kurs von
4,40 Euro auf 5,89 Euro – ein
Plus von 34 Prozent. Es folgten
das Drama gegen Mainz und
der Absturz auf 4,11 Euro Mit-
te der Woche (minus 30 Pro-
zent). Taugen Fußballaktien
deutsche Meisterschaft für die
Kommanditgesellschaft auf
Aktien (KGaA), so die Rechts-
form des Fußballunterneh-
mens, keine große Rolle. Des-
halb hätte die Börse nicht so
euphorisch reagieren müssen.
»Der wichtige Geldfaktor ist
die Qualifikation für die
Champions League, die war
bereits geschafft«, so Renner.
Fußballaktien unterliegen
nur einen anderen Verein, der die Aktie kurzfristig ebenfalls
an der Börse gehandelt wird:
die SpVgg Unterhaching. Der
in die Höhe schnellen, eine
Börsenerfolgsgeschichte ist es
bayerische Klub, einst in der
Bundesliga, spielt mittlerweile
trotzdem nicht.
Warum also werden Fuß-
in der Regionalliga und hatte ballaktien gekauft? »Jeden-
aus finanziellen Gründen erst falls nicht, weil es Dividenden-
kurzfristig die Teilnahme an perlen wären«, sagt Renner.
den Aufstiegsspielen zur drit- Hohe Ausschüttungen können
ten Liga (am 7. und 11. Juni) Anleger nicht erwarten, auch
weil Gewinne meist in die
Mannschaft reinvestiert wer-
den. Beim BVB befinden
sich derzeit gut 67 Prozent der
insgesamt mehr als 100 Mil-
lionen Aktien im Streubesitz.
Unter den Aktionären werden
viele Fans vermutet.
Christof Koepsel / Getty Images

überhaupt als Investment?
Thorsten Renner, Analyst
von GSC Research in Düssel-
dorf, zeigt sich vor allem vom
Anstieg vor dem Saisonfinale
überrascht. »Insgesamt war das
eine erratische Entwicklung«,
sagt er. Finanziell spiele eine
jedoch anderen Mechanismen
als sonstige Wertpapiere.
»Generell spielen die Psycho-
logie, das Fanverhalten und die
Leidenschaft bei Fußballaktien
eine größere Rolle, als wenn
ich mir beispielsweise BASF-
Aktien kaufe«, sagt Renner.
Renner rechnet in den kom-
menden Wochen mit einem
stabilen Kurs der BVB-Aktie,
auch wenn Transfers zu
Schwankungen führen können.
Ein Auslöser könnte der
Verkauf des Mittelfeldspielers
Bellingham beim Torjubel Jude Bellingham sein. KRÄ

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 85

 SPORT

FUSSBALL
Der Heilsbringer
Der FC Barcelona war tief gefallen – sportlich, wirtschaftlich, moralisch.
Trainer Xavi Hernández hat ihn nun überraschend zur Meisterschaft
geführt. Kann das Idol den verschuldeten Verein zurück in die Weltspitze bringen?
IMAGO

Meistertrainer Xavi am 20. Mai

86 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


r hat die Gegner abgeklatscht,
E so, wie er es nach vielen Spielen
macht, jetzt steht er am Rand
eines Spaliers aus Spielern und Be-
treuern, bescheiden, fast zurückhal-
tend: Xavier Hernández Creus, den
alle nur Xavi nennen, Trainer seit
anderthalb Jahren, früher Starspieler,
heute der Mann, der eine Legende
wiederbelebt hat.
Es ist das letzte Heimspiel der Sai-
son, ein Sonntag der Abschiede. Mit
Sergio Busquets und Jordi Alba ver-
lassen zwei Helden den FC Barce-
lona, außerdem wird dem Stadion
Camp Nou, dem größten Europas,
vorerst Adéu gesagt. Der Klub hat
dafür eine Feier inszeniert, voller
Grandezza und voller Wehmut.
Auf den Tribünen weinen Fans,
auch die älteren Spieler haben Tränen
in den Augen, während die jüngeren
ehrfürchtig nach oben starren, wo auf
der Leinwand ein Video mit den blau-
roten Highlights aus 66 Jahren Camp
Nou läuft. Die Torauswahl zeigt et-
liche der größten Legenden, die der
Fußball hervorgebracht hat: Johan
Cruyff. Maradona. Rivaldo. Ronal-
dinho. Lionel Messi.
Und Xavi.
Der 43-Jährige hat seinen Klub im
ersten vollen Amtsjahr zur ersten
Meisterschaft seit 2019 geführt. Gegen
jede Wahrscheinlichkeit, gegen eine
Milliarde Euro Schulden, trotz vieler
Skandale und immer neuer Engpässe.
Für den anstehenden Umbau des
Camp Nou wurde mal wieder ein Kre-
dit aufgenommen, über 1,5 Milliarden
Euro. Schon im vergangenen Sommer
wurde ein Teil der Fernseheinnahmen
der nächsten 25 Jahre und der haus-
eigenen Content-Produktion verkauft,
um Verstärkungen wie Robert Lewan-
dowski finanzieren zu können. Und
weil es bei den Gehältern in der spani-
schen Liga eine Obergrenze gibt, muss-
ten Nachwuchsstars wie Gavi und Ro-
nald Araújo in dieser Saison nicht mit
Juniorenverträgen, sondern Spieler-
pässen der zweiten Mannschaft spielen.
Für die neue Saison hat man der
Liga einen Wirtschaftsplan zugestellt
und muss jetzt abwarten, was die Ver-
antwortlichen dazu sagen. Dass Bar-
celona jahrelang Geld an einen Vize-
präsidenten des spanischen Schieds-
richterkomitees überwiesen hat,
macht die Lage nicht einfacher; ein
Ermittlungsverfahren gegen Barça
läuft, der Erzrivale Real Madrid tritt
als Nebenkläger auf.
Andererseits kamen im Schnitt
mehr als 83.000 Fans zu den Heim-
spielen der abgelaufenen Saison,
mehr als je zuvor seit der Jahrtau-
sendwende. Und auch wenn sich halb
Europa nur zu gern am Barça-Kader
bedienen würde, denken Nachwuchs-
talente wie Gavi, Araújo oder Spiel-
macher Pedri nicht daran, den Klub
zu verlassen. Selbst Kaderarchitekt
Mateu Alemany, angesichts seiner
eigentlich unmöglichen Ausgangs-
bedingungen als moderner Alchimist
gefeiert, hat seinen schon verkünde-
ten Abschied zu Aston Villa wieder
rückgängig gemacht. Obwohl der
Klub in England ihm angeblich vier-
mal so viel bezahlt hätte.
»Nano, Junge, wir sind im Wieder-
aufbau«, tönt Xavis tiefe Stimme
durchs Telefon. Er spricht von Barça,
könnte aber auch sein eigenes Leben
meinen. Sechs Jahre lang war er als
Spieler und Trainer im beschaulichen
Katar, seit November 2021 ist er wie-
der zu Hause. Eine erste Interview-
verabredung platzte, weil er seinen
Kindern einen Theaterbesuch ver-
sprochen hatte, ein anderes Mal kam
eine Besprechung mit Präsident Joan
Laporta dazwischen, dann noch eine
mit dem designierten Sportdirektor
Deco. Und, nein, sagt Xavi – er habe
im vergangenen Jahr nicht einmal
Zeit gefunden, Pilze sammeln zu ge-
hen. Dabei war das früher seine größ-
te Leidenschaft nach dem Fußball.
Bei seiner Rückkehr war Barça am
Tiefpunkt. Wenige Monate zuvor hat-
te der Verein ablösefrei seine Ikone
Lionel Messi abgeben müssen, weil
er dessen Gehalt nicht mehr bezahlen
konnte. Kurz darauf wurde Ronald
Koeman als Trainer entlassen. Im
Klub, heißt es, soll es damals Zweifel
gegeben haben, ob Xavi schon reif für
die Aufgabe sei. Doch die Lage ge-
stattete keinen Aufschub.
Die Frage ist nun: Wird er als Mär-
tyrer in die Geschichte eingehen, der
sich für sein Barça geopfert hat? Oder
als Erlöser, der den Klub zurück in
die europäische Spitze führt? 767 Par-
tien hat Xavi für den FC Barcelona
absolviert. Er steht für eine Epoche,
in der dieser Klub so hochflog wie
kaum einer davor oder danach.
Die Titel, die er in jenen Jahren
gewann, haben andere Vereine auch
gewonnen. Aber wo die anderen ra-
ckerten, da zauberte Barcelona, wo
andere sich bemühten, die Fehler zu
minimieren, suchte Barça die Perfek-
tion. Und wo andere fertige Stars
zusammenkauften, da kickten sie in
Barcelona mit Talenten aus der eige-
nen Jugend. 2010 belegten Messi,
Andrés Iniesta und Xavi bei der Wahl
zum Weltfußballer die ersten drei
Plätze, alle drei kommen aus La Ma-
sia, Barcelonas Nachwuchsschule.
Xavi, sagen seine Betreuer von da-
mals, konnte schon Barça-Fußball
SPORT
»Die Kritiken spielen, bevor er zu Barça kam. Zur
sind super-
hart und oft
großen Zeit war er dann Herz und
Hirn der Mannschaft, ein Meister des
perfekten Passes. Er sei »der beste
ungerecht, Fußballer der spanischen Geschich-
te«, das sagte Messi über ihn; ein
also musst du internationales Fachgremium für
damit leben.« Weltfußballer-Auszeichnungen wähl-
Xavi Hernández,
te Xavi vor ein paar Jahren als ein-
Coach zigen Spanier in die Top-Elf der Fuß-
ballgeschichte.
Xavi selbst würde sich vermutlich
nicht wählen. Vielleicht hat es nie
einen Fußballstar mit weniger Star-
Aura gegeben und selten zuvor einen
Spitzentrainer mit weniger Zampano-
Gehabe. Schon an seinem ersten
Schultag nach den Sommerferien
1991 soll er seinem besten Freund er-
klärt haben: »Was ich dir jetzt sage,
darfst du niemandem erzählen: Ich
habe bei Barcelona unterschrieben.«
Xavi hatte Angst, für einen Angeber
gehalten zu werden.
Xavi wuchs in Terrassa auf, der
drittgrößten Stadt Kataloniens, eine
halbe Autostunde nördlich von Bar-
celona. Am Rande von Altstadt und
Rambla liegt die Plaça del Progrés,
dorthin schickte ihn die Mutter früher
immer zum Brotholen. Oft blieb Xavi
auf dem Platz beim Bolzen hängen
und kam ohne Brot zurück, weil die
Bäckerei zwischenzeitlich zugemacht
hatte.
Seine Mutter war die Tochter des
Besitzers einer lokalen Kneipe, sein
Vater ein Fußballer, der dort häufig
zum Kickern vorbeikam. Bis Xavi
13 Jahre alt war, teilte er mit seiner
kleinen Schwester ein Stockbett. Als
die Großmutter nach dem Tod des
Großvaters bei der Familie miteinzog,
wechselte er zu ihr ins Zimmer, weil
Trophäen- er fand, dass sie nicht allein sein soll-
sammler te – und weil er seiner Schwester bei
drei älteren Brüdern ein wenig Privat-
Titel des FC Barcelona heit lassen wollte.
Einer seiner Brüder ist heute sein
Spanischer Pokal Co-Trainer. Xavi ist Familienmensch
31 geblieben, und zu seinen größten
Spanischer Meister Leistungen bei Barça gehört, auch die
27 Mannschaft trotz der komplexen Um-
Spanischer Supercup stände zu einer Familie verschworen
14 zu haben.
Europapokal der »Stimmt, er hat für gute Stimmung
Landesmeister / gesorgt«, sagt Carlos Naval, 68, als
Champions League Teamdelegierter seit den Zeiten des
5 Trainers Johan Cruyff die gute Seele
Uefa Super Cup der ersten Mannschaft. »Auf mensch-
5 licher Ebene hat er sich nicht sonder-
lich verändert. Er ist immer noch ein
Europapokal der
Pokalsieger humoriger Typ, der auch in schwie-
4 rigsten Momenten etwas findet, um
eine Situation zu entspannen.«
Fifa-Klub-Weltmeister
Xavi kommuniziere viel, sagt Na-
3
val. Als Trainer zeige er dieselben
S Grafik; Stand: Mai 2023 Qualitäten, die ihn schon als Spieler
◆
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 87
SPORT
auszeichneten: »Er wollte immer den
Ball, er versteckte sich nie. Wenn er
sah, dass die Mannschaft die Köpfe
hängen ließ, erhob er als Erster die
Stimme.« Und er sei immer noch ge-
nauso unkompliziert wie früher. »Er
hat keine Ticks. Es ist leicht, mit ihm
zu arbeiten, in jeder Hinsicht.«
Auf dem Platz bevorzugte Xavi
das nahezu körperlose Kurzpass-
spiel, das Barcelona berühmt gemacht
hat. Es war deshalb eine Überra-
schung, dass sich seine Meistermann-
schaft unerwartet pragmatisch zeigte.
Besonders, wenn Schlüsselspieler
verletzt waren, verließ sich Xavi
hauptsächlich auf Pressing und De-
fensive. Hinten parierte Marc-André
ter Stegen, vorn traf Robert Lewan-
dowski. Elfmal siegte Barça 1:0, spa-
nischer Erstligarekord.
Dennoch ist kein anderer Spitzen-
verein so stark Idealen verhaftet. Das
gilt für die gelebte Demokratie als
mitgliedergeführter Verein ebenso
wie für die Rolle als Botschafter Kata-
loniens, dieser gefühlten Nation ohne
Staat. Aber eben auch für die Spiel-
weise. »Dieser Klub ist ein Erbe der
Grundlagen von Cruyff, das können
wir nicht vergessen«, sagt Xavi am Tele-
fon. »Wir müssen sie entwickeln, aber
wie dürfen nie die Essenz verlieren.«
Dass Xavi sich dessen bewusst ist,
schützte ihn in den dunklen Momen-
ten der Saison, etwa nach dem frühen
Champions-League-Aus gegen den
FC Bayern, nicht vor Attacken. Da
war er dann plötzlich der Novize,
da wurden ihm Inkompetenz und
Vetternwirtschaft vorgeworfen. »Die-
ser Klub ist ein Schredder von Perso-
nen«, sagt Xavi. »Die Kritiken sind
superhart, unmenschlich und oft un-
gerecht, also musst du damit leben.«
Ein Trainer dürfe nie seinen Kompass
verlieren. »Du darfst dich nicht be-
einflussen lassen, du musst deine Ent-
scheidungen treffen. Ich weiß ganz
genau, was ich tun will und unter
welchen Rahmenbedingungen ich das
tun muss. Leicht sind diese Rahmen-
bedingungen nicht.«
Manchmal kann man den Ein-
druck haben, dass Xavi vor einer un-
möglichen Mission steht. Als Spieler
verkörperte er eine Exzellenz, wie sie
vielleicht nie wieder erreicht werden
wird. Umso mehr wird er als Trainer
daran gemessen. »So ist es, wenn man
Sinatra war«, schrieb die Zeitung »La
Vanguardia«: »Weder gibt es noch
mal so einen noch eine Möglichkeit,
ihn zu verbessern.«
Wegen der angespannten finan-
ziellen Lage kann Xavi sich mit Stil-
fragen ohnehin nicht lange aufhalten,
Barça ist mehr denn je zum Siegen
88 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
verdammt. Die Meisterschaft war
wichtig für seine eigene Kreditwür-
digkeit als Trainer – aber vor allem
für die des Vereins. Das aktuelle Wer-
ben um eine Rückkehr des bei Paris
Saint-Germain unglücklichen Messi
hat nicht zuletzt einen wirtschaft-
lichen Hintergrund. Die Überfigur
Messi könnte in der Phase von Um-
zug und Umbau dazu beitragen, dass
die Einnahmen nicht einbrechen.
Xavi weiß, dass es ein komplizier-
ter Sommer werden könnte, nicht
anders als im vergangenen Jahr, als
etwa Lewandowski erst einen Tag vor
dem Saisonbeginn seine Spielberech-
tigung erhielt. »Die wirtschaftliche
Lage ist sehr schwierig und verkom-
pliziert die Suche nach Neuverpflich-
tungen ungemein«, sagt er. »Ich weiß
das, und ich verstehe es.« Sollte Geld
reinkommen, etwa durch Verkäufe,
dann zählen die deutschen National-
spieler İlkay Gündoğan und Joshua
Kimmich zu den Wunschtransfers.
Wenn es nicht klappt, wird Xavi sich
andere Lösungen überlegen müssen.
»Das Wichtigste ist immer, dass die
Kabine zusammensteht«, sagt er am
Telefon. »Wir sind die Mannschaft
mit der größten Laufleistung der Liga,
die Spieler sind sehr generös in ihrem
Aufwand. Deshalb sind wir Meister
geworden. Ich bin sehr dankbar für
ihr Engagement. Sie haben ihr Leben
auf dem Platz gelassen.«
Der Journalist Edu Polo von
»Mundo Deportivo« kann aus erster
Hand erläutern, wie Xavi dafür ge-
sorgt hat, dass seine Spieler laufen
und kämpfen.
Als einer der Macher des Doku-
mentarfilms »Una Nueva Era« erhielt
Polo Zugang zum Übungsplatz. Er
schildert, wie Xavi dort nach Jahren
des Laisser-faire wieder die Zügel an-
zog: »Manchmal hat er den Spielern
gesagt: ›Wenn ihr hier nicht gut und
picture alliance
intensiv trainiert, könnt ihr gleich
nach Hause gehen.‹ Und die Spieler
wirkten beeindruckt: ›Achtung, der
meint es richtig ernst.‹«
Am meisten, sagt Polo, habe ihn
Xavis Entscheidungsfreudigkeit über-
rascht. Weil er den Ball so gut behan-
delt habe, sei sein starker Charakter
früher möglicherweise unterschätzt
worden. »Doch er ist sehr resolut.
Was er im Kopf hat, was zu tun ist,
das zieht er durch, ohne Zeit zu ver-
lieren.« Dem Rücktritt von Abwehr-
Jasper Juinen / Getty Images
spieler Gerard Piqué im November
sei wohl »ein härteres Gespräch vor-
angegangen, als es den Anschein ha-
ben mochte«. Und auch beim Abgang
von Jordi Alba habe Xavi »nicht der
Puls gerast«. Piqué wie Alba waren
früher Xavis Teamkollegen. Aber ihre
Klublegenden hohen Gehälter belasteten den Etat
Maradona, Cruyff, über Gebühr.
Bernd Schuster um
1983, Xavi, Iniesta, Der Film ist ein typisches Xavi-
Messi 2012: Projekt geworden: Eigentlich sollte
Schulden, Skandale, es um ihn gehen, aber am Ende ging
Engpässe es dann doch um alle. Angefragt als
persönliches Porträt seines ersten
Trainerjahres, modelte Teamplayer
Xavi das Ganze so weit um, dass es
den ganzen Betreuerstab und die
Sportdirektion miteinschloss.
An einem Montagmorgen nach
dem letzten Heimspiel ist das Camp
Nou nun auch offiziell eine Baustelle.
In einer weiteren Zeremonie soll der
Grundstein für das neue Stadion ge-
legt werden. Präsident Laporta nimmt
seine Sonnenbrille ab und hält eine
seiner elegischen Reden. »Wir werden
stärker denn je zurückkommen«, ver-
spricht er.
Xavi ist auch da, er legt ein Trikot
in eine gläserne Box, die als Grund-
stein in den Boden eingelassen wird.
Am Ende geht die ganze Delegation
noch einmal über den Rasen, leise
läuft dazu der Song »Everybody
Wants to Rule the World«.
»Was er im Im Mittelkreis setzt sich Xavi auf
eine Turnbank zum Gruppenfoto.
Kopf hat, das Nach und nach kommen Anzugträger
zieht er durch, hinzu, immer mehr, bis Xavi kaum
ohne Zeit zu noch zu erkennen ist. Einer unter vie-
len, so sieht er sich. Für seinen Klub
verlieren.« macht ihn das unverzichtbar.
Edu Polo, Journalist Florian Haupt, Luis Martín n

Für immer King Kahn
TITANENDÄMMERUNG Als Vorstandsvorsitzender ist
Oliver Kahn beim FC Bayern gescheitert, für SPIEGEL-Autorin Anja Rützel
bleibt er ein Held. Eine Liebeserklärung.
fffffft«, machte Oliver Kahn und voll­
B führte mit seiner Hand eine kreisen­
de  Bewegung, so als würde er sich
gerade den Oberkörper mit einem Spray ein­
nebeln.
Wir saßen zum Interview in einem Münch­
ner Café, und er demonstrierte mir die An­
wendung seines »Entemotionalisierungs­
sprays«, eines »psychologischen Tools«. Damit
sprühe er sich gedanklich vor Situationen ein,
in denen er leicht von Emotionen übermannt
werden könnte. Vor wichtigen Auswärtsspielen,
bei denen das ganze Stadion gegen ihn und
seine Bayern brülle. Aber auch im Privaten
könne man, bfffft, bffffft, diese Aufsprüh­
rüstung gut einsetzen, gab er mir mit auf den
Weg: »Bei mir war die Dose allerdings immer
sehr schnell leer.« Oder er habe sie, man
kennt’s, dann doch wieder daheim vergessen.
Das war vor 14 Jahren, und seit dieser
Sprühpantomime hat Oliver Kahn einen fes­
ten Platz in meinem Herzen. Darum schmerzt
es mich sehr, dass er nun raus ist bei Bayern
München.
Ich bin Mitglied beim FC Bayern, das soll­
te ich hier sagen, mit journalistischer Distanz
ist da nicht zu rechnen. Ich schreibe eine Ko­
lumne für das FCB­Mitgliedermagazin, und
schon als Kind taufte ich meinen Nymphen­
sittich Rummi (aus Bewunderung für Karl­
Heinz Rummenigge, der zusätzlich von einem
Haarpflege­Werbeplakat in mein Kinderzim­
mer griente) und meinen blauen Wellensittich
Pfaffi (aus Verehrung für Bayern­Torwart
Jean­Marie Pfaff).
Schon vor unserem Spraymoment hatte
mich an Kahn dieses Fleischige, mitunter auch
Fletschige fasziniert. »Ich war ja der Titan,
unzerbrechlich, unzerstörbar, King Kahn, der
Stählerne«, wie er es in unserem Interview
selbst aufzählte. Dabei sei er eigentlich ein
sensibler Mensch, sagte er. Doch auf dem Feld
zeigte sich eben doch häufig dieses ihm eige­
ne Rasende und Brausende, das mir als eher
lethargischer Person charakterlich so fremd
ist und von dem ich mich manchmal doch
mitreißen ließ.
Wie 2008 beim Uefa­Cup­Viertelfinale
gegen Getafe, als Kahn Sekunden vor Schluss
beim Stand von 2:3 in kriegerischer Entschlos­
senheit nach vorn stürmte, um im fremden
Strafraum für Verwirrung und sicherlich auch
blanke Furcht zu sorgen.
Ich hatte damals gerade eine neue Stelle
angetreten, war zum ersten Mal zum Fußball­
gucken mit den neuen Kollegen verabredet,
wollte sympathisch wirken. Was bis zu Luca
Tonis Kurzvorknappkopfballtor ganz gut ge­
lang, bis ich dann aber selbst titanesk durch
die Kneipe wütete und jedem der zuvor so
lautstark höhnenden Bayern­Hasser an den
Tischen ringsherum triumphierend meinen
Mitgliedsausweis unter die Nase hielt. Meine
neuen Kollegen führten mich bald hinaus und
brachten mich zum Taxi.
Ich liebte Kahns Emotional­Eskapaden.
Den Karatesprung in Richtung Stéphane Cha­
puisat, den angedeuteten Halsbiss bei Heiko
Herrlich. Fußball an sich ist ja absurd, wenn
man mal genau hinschaut, eine überernst­
hafte Begeisterung für eigentlich kindische
Vorgänge. Warum sollte man sich dann auf
dem Feld nicht auch absurd verhalten?
Noch mehr aber liebe ich Kahns Begabung,
seine Titanhaftigkeit in Banalitäten zu legen.
In der Amazon­Doku »FC Bayern – Behind
the Legend« kann man sein Talent für Den­
kerszenen bewundern. »Was ist der FC Bay­
ern?«, fragt er, während er in den Rängen der
leeren Allianz Arena steht, mit ein bisschen
Dirk Bruniecki
Idol Kahn
SPORT
Trockeneisnebel hätte das eine fantastische
Coverversion des Gemäldes »Wanderer über
dem Nebelmeer« von Caspar David Friedrich
werden können.
Man kennt ja seine Interpretation des Ge­
dichts »Der Panther« von Rainer Maria Rilke
aus der Doku »Oliver Kahn und die Dinge
des Lebens«, aber genauso viel Bedeutungs­
schwere kann er Alltagssätzen durch burg­
theaterreife Überbetonungen verleihen.
»Endlich wieder mal ein Test«, ruft Kahn in
der Amazon­Doku, während er vom Park­
haus zum Vereinsgebäude geht, »schon lange
keinen Test mehr gemacht«, und dann rammt
er sich das Coronateststäbchen in die Nase,
wahrscheinlich tiefer, als es der gröbste Test­
zentrumsrohling je gewagt hätte.
»Ich?«, fragte er bei unserem Interview
mehrfach, wenn ihm eine Frage seltsam vor­
kam und er sie erst auf sich scharf stellen
musste: »Ich?« Zum Beispiel als die Kollegin,
mit der zusammen ich das Interview führte,
ihn fragte, ob er lieber Princess Diana oder
Margaret Thatcher wäre, ob er also lieber
geliebt oder gefürchtet werden wolle.
Was er damals antwortete, weiß ich nicht
mehr, er strich seine Antwort später bei der
Autorisierung heraus, die Tonbänder sind ver­
schollen. Das Gespräch fand ein Jahr nach
dem Ende seiner aktiven Karriere statt, er
mache gerade seinen Business­Master, sagte
er damals. Und dass er inzwischen gelernt
habe, dass man sich nicht von den Sachen
auffressen lassen dürfe, die man liebe. Gilt
auch als Vorstandsvorsitzender, finde ich.
Ende April las ich, dass Lothar Matthäus
Kahn öffentlich vorwarf, er habe den Laden
»nicht im Griff«, weil seine Arbeit bei Bayern
München ihm nicht alles sei: »Er hat andere
Interessen, eine Familie, gerne den Kopf frei,
er spielt gern Golf.« Schön für Kahn, dachte
ich, nicht schnippisch, sondern ernst gemeint.
Wie sein Verein ihn jetzt ganz genau hi­
nauskomplimentiert hat, interessiert mich
nicht, auch nicht, ob das Gespräch ruhig ver­
lief oder ob Kahn gezetert hat. Ich hätte auch
wirklich nicht erfahren müssen, dass mein
Sittich Rummi damals nicht eigenmächtig aus
seinem Käfig auf dem Balkon ausgebrochen
und auf Nimmerwiedersehen entflogen war,
wie man mir lange Jahre weismachte, sondern
in Wahrheit von meiner (vom ewigen Ge­
kreisch genervten) Mutter aus dem Käfig ge­
schüttelt worden war.
Ob ich wirklich wissen will, was Kahn jetzt
macht? Ganz sicher wird er nicht ins »Som­
merhaus der Stars« ziehen, wie es im ver­
gangenen Jahr Mario Basler tat, nicht wie
Start­upper Michael Ballack in der »Höhle
der Löwen« sein eigenes Pflanzenstärkungs­
mittel auf Pechnelkenbasis verkosten.
Ganz bestimmt wird er seine eigene Figur
bleiben, wie er es gerade auch in der spieleri­
schen Übertreibung war. »He’s a top Mensch«,
sagt Trainer Pep Guardiola in der Amazon­
Doku über Thomas Müller. Auch das ist ein
schöner Ehrentitel. Aber der Titan  –  das
bleibt für mich für immer nur einer. n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 89
WISSEN
Gaping Gill (»klaffende Kieme«) heißt die Höhle, von deren Öffnung es per Seilwinde rund 100 Meter in die Tiefe geht. Sie ist Teil eines
weitverzweigten Netzwerks an Grotten im Südwesten des Yorkshire-Dales-Nationalparks. Die Hauptkammer ist 129 Meter lang
und 25 Meter breit. Eine Woche lang konnten sich jetzt auch neugierige Nicht-Höhlenforscher abseilen lassen, denen sonst selbst das Zelten
in der Nähe der Höhlenöffnung untersagt ist.
Freude am Verbrenner
ANALYSE E-Autos stoßen auf Skepsis –
obwohl sie technisch weiter sind als von den
meisten Menschen angenommen.
Es scheint nicht zusammenzupassen. Die Deutschen sind bereit
fürs elektrische Fahren, das zeigen die rasch steigenden Zulas-
sungszahlen von E-Autos. Umfragen jedoch weisen in die andere
Richtung: Die Deutschen hängen am althergebrachten Verbren-
nungsmotor. Stets erklärt sich nur eine Minderheit offen für den
Wechsel von Benzin und Diesel auf Stromantrieb. Zu teuer, zu
geringe Reichweite, zu lange Ladezeiten, so die gängigen Vorbe-
halte. Zunehmend auch: Ob Elektroautos wirklich umwelt-
freundlicher sind, sei fraglich.
Dabei habe die Technik in den vergangenen drei, vier Jahren
»einen enormen Sprung gemacht«, sagt Aline Scherrer, die am
Karlsruher Fraunhofer-Institut für System- und Innovations-
forschung die gesellschaftliche Akzeptanz des Wandels erforscht.
Reichweiten von gut 300 Kilometern gelten bei aktuellen E-Neu-
90 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Danny Lawson / PA Wire / picture alliance / empics
wagen eher als Mittelmaß, nicht mehr als Luxus. Den Öko- und
Klimavergleich zum Verbrenner gewinnen Batterieautos schnell,
selbst wenn man ihnen Strom aus Braunkohle und die CO2-Last
der Akkuproduktion anrechnet. Auch der hohe Kaufpreis wird
durch geringe laufende Kosten inzwischen oft ausgeglichen.
Dieses Wissen dringe aber nur schwer durch. »Von Regierung
und Medien wird Unsicherheit kommuniziert«, kritisiert Scher-
rer. »Technologieoffen – das klingt so, als gäbe es viele Optio-
nen, als käme da noch etwas Besseres.« Wie sollten Einzelne da
abwägen und das große Ganze erkennen? In der Fachzeitschrift
»Environmental Innovation and Societal Transitions« hat sie die
Wirkung von Medienberichten zum Thema untersucht. Für
Scherrer selbst überraschend: Von »Bild« bis »Handelsblatt« war
der Tenor meist positiv – bestärkte aber vornehmlich diejenigen,
die ohnehin aufgeschlossen waren. Ein relevanter Teil der Bevöl-
kerung sei eher neutral bis negativ eingestellt, auch emotionale
Vorbehalte seien im Spiel.
Erfahrung könnte das ändern, so Scherrer: »Wer E-Mobilität
einmal ausprobiert hat, will kaum zurück.« Das bestätigt eine
aktuelle Studie der Managementberatung Horváth. Von den Be-
fragten in sieben europäischen Ländern, die schon vollelektrisch
unterwegs sind, wollen 92 Prozent dabeibleiben. Arvid Haitsch
 Wie der Lockdown
das Gedächtnis beeinflusst
CORONA Wissen Sie noch, wann das Con­
tainerschiff »Ever Given« den Suezkanal
blockierte? In welchem Jahr Facebook den
Account von Donald Trump sperrte? Wenn
Sie jetzt Schwierigkeiten haben, könnte
das an dem Zeitpunkt der Ereignisse liegen.
Vermutlich saßen Sie damals nämlich zu
Hause – im Shutdown während der Corona­
pandemie. Zu Ihren Gedächtnislücken lie­
fert eine aktuelle Studie im Fachblatt »Plos
schlecht zeitlich einordnen wie Ereignisse,
die schon viele Jahre zurücklagen.
Der Grund: Im Jahr 2021 verhängten
mehrere europäische Länder Lockdowns.
Das Lahmlegen des öffentlichen Lebens
trickse das menschliche Gedächtnis prak­
tisch aus, vermuten die Forscher. Denn
um sich an exakte Zeitpunkte zu erinnern,
verknüpft das Gehirn Weltgeschehnisse
mit eigenen Erinnerungen, das kann eine
Party sein oder ein Urlaub.
Fehlen solche Ankerpunkte, weil
jeder Tag in etwa gleich abläuft, verliert
gen so ungewohnt waren, dass sie zunächst
selbst als Anker für die Erinnerung dienten.
Im Verlauf der Pandemie sei dieser Effekt
jedoch verpufft.
Übrigens: Beide Ereignisse, der im Suez­
kanal verkeilte Frachter und die Trump­
Sperre auf Facebook, ereigneten sich im
Jahr 2021. KOE

Maxar Technologies / picture alliance / AP

One« nun eine mögliche Erklärung, für
die ein Forschungsteam von der University
of Aberdeen in Großbritannien 277 Pro­
banden befragt hat.
Die Teilnehmer sollten 20 Ereignissen
die jeweilige Jahreszahl zuordnen. In den
Daten entdeckten die Wissenschaftler
eine Anomalie: Geschehnisse aus dem Jahr
2021 konnten die Probanden genauso
das Gedächtnis die Orientierung. »Wir
können uns daran erinnern, dass Ereignis­
se stattgefunden haben, wir wissen nur
nicht mehr, wann«, schreiben die Studien­
autoren.
Interessant: Im Jahr 2020, als die ersten
Lockdowns verhängt wurden, ließ die Havarierte »Ever
Erinnerung noch nicht so stark nach. Die Given« bei Suez
Forscher vermuten, dass die Beschränkun­

Oehlert: Wir stießen auf Einweg­ blieben und erst im Jahre 3000
»Es wurde viel getrunken« grills, Plastikbesteck, Grill­ ausgegraben worden wäre, sähe
wurstpackungen und Konserven­ das jedoch anders aus. Für die
dosen, das deutet auf eine ein­ Archäologen der Zukunft dürf­
GESCHICHTE Mirko Oehlert, 44, vom Landesamt für fache und fleischlastige Ernäh­ ten die Hinterlassenschaften
Archäologie Sachsen über Grabungen auf einem rung hin. Zudem wurde viel einer derart großen Veranstal­
ehemaligen Festivalgelände und die Frage, ob Bier­ getrunken: Wir fanden sehr tung aus dem Jahr 2000 äußerst
viele Bierdosen und ­flaschen, interessant sein. Vergleichbar
dosen wissenschaftlich relevant sind die uns Auskunft über die Her­ wäre es, wenn wir die Überreste
kunft einiger Besucher gaben. eines riesigen Volksfestes aus
SPIEGEL: Herr Oeh­ gedrückte Zahnpastatuben, Etliche der Behältnisse stam­ dem elften Jahrhundert fänden.
lert, zwischen 1999 Kämme und leere Deodosen. men aus dem europäischen Aus­ SPIEGEL: Waren Sie auf dem
und 2016 fand auf SPIEGEL: Wieso steckte das land, beispielsweise aus Öster­ Gelände, um gezielt nach Über­
einem Gelände in eigentlich alles im Erdreich? reich, Polen und Tschechien. resten des Festivals zu suchen?
Löbnitz nördlich Oehlert: Einige Besucher hatten SPIEGEL: Das alles ist wenig Oehlert: Nein, in Wahrheit han­
Privat

von Leipzig alljähr­
lich das Metal­ und
Hardcore­Festival »With Full
Force« statt. Sie und Ihr Team
haben dort unter anderem Hin­
terlassenschaften des Publikums
ausgegraben. Ist das nicht eher
Müllentsorgung als Archäologie?
Oehlert: Wir werden nicht alle
Entdeckungen archivieren, aber
natürlich ist das, was wir zutage
gefördert haben, archäologisch
und methodisch interessant. Die
Fundstücke erzählen ein Stück
Geschichte und zeigen auf, zu
welchen Erkenntnissen unsere
Disziplin in der Lage ist.
SPIEGEL: Was berichten die aus­
gegrabenen Objekte denn so?
Oehlert: Rein wissenschaftlich
betrachtet deuten sie vor allem
auf eine kurzzeitige, aber inten­
sive Besiedlung hin, denn wir
stießen bei unseren Grabungen
auf Unmengen von Zeltheringen
und Metallstangen von Zelten
offenbar keine Tüten dabei und
gruben Löcher, um ihren Abfall
loszuwerden. Darunter befand
sich natürlich vor allem Müll,
der mit der Nahrungsversor­
gung in Zusammenhang steht.
SPIEGEL: Wir dürfen davon
ausgehen, dass sie nicht sonder­
lich gesund ausfiel, oder?
überraschend. In der Region ist
allgemein bekannt, dass auf dem
Löbnitzer Gelände das »With
Full Force«­Festival mit bis zu
30.000 Besuchern stattfand.
Es gibt unzählige Fotos davon.
Oehlert: Für uns mag das alles
nicht sonderlich relevant sein.
Wenn der Müll im Boden ge­
Seeliger / IMAGO
delt es sich bei dem Festivalmüll
vor allem um »Beifang«. Wir
graben schon seit Jahren auf
dem Areal und haben zahlrei­
che Überreste aus dem Mittel­
alter und dem Neolithikum,
also der Zeit der ersten Bauern,
entdeckt. Unter anderem stie­
ßen wir auf zahlreiche Gräber
und Urnen.
SPIEGEL: Vom Friedhofs­
zum Festivalgelände, könnte
man sagen.
Oehlert: Auf jeden Fall wird
klar, wie sich ein Areal völlig
verändern kann und immer
wieder einer anderen Nutzung
zugeführt wird. Mittlerweile fin­
det »With Full Force« 20 Kilo­
meter weiter nördlich auf einem
anderen Gelände statt.
SPIEGEL: Gibt es irgendeine Er­
kenntnis aus dem Festivalmüll,
die Sie überrascht hat?
Oehlert: Wir fanden zahlreiche
Hinweise darauf, dass Metal­

und Gartenpavillons. Außerdem »With Full Force«-Besucher in

Fans nicht nur Bier und harte
tauchten Überreste von Hygiene­ Löbnitz-Roitzschjora 2003 Alkoholika trinken, sondern
artikeln auf, zum Beispiel aus­ auch Wein mögen. GUJ

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 91

TITEL

Gefährlicher
Hokuspokus
GESUNDHEIT Vitamine, Mineralstoffe, Pflanzen-
extrakte – das Geschäft mit Supplementen
boomt. Die Produkte haben bei normaler Ernäh-
rungsweise jedoch keinen Nutzen. Sie können
sogar schaden, weil sie Darm, Herz, Niere oder
Leber angreifen. Anders als Arzneimittel werden
die Zusätze von Behörden nicht einmal
auf Sicherheit oder Wirksamkeit überprüft.

2022
40.490

Sprunghaftes
Wachstum
Anzahl der jährlich zur Markteinführung
angemeldeten Nahrungsergänzungsmittel

Erstanmeldungen
Zweit- oder Änderungs-
anmeldungen (zum
Beispiel geänderte
Rezeptur)

2014
5.493
Jasper White / Getty Images

2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022

S Quelle: Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, angezeigte Nahrungsergänzungsmittel

92 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023


enschen mit Ge-
M wichtsproblemen
finden eine reiche
Auswahl an soge-
nannten Fettver-
brennern, darunter die »Hellburner
Black Edition«. 120 Kapseln mit
24 verschiedenen Inhaltsstoffen sind
demnach »konzipiert für massive
Abnehmphasen« und für 29,90 Euro
zu haben.
Wer sich um seine Vorsteherdrüse
sorgt, könnte versucht sein, einen Si-
rup zu trinken, der Catechine aus
Grüntee, Ellagsäure aus dem Granat-
apfel sowie andere chemische Ver-
bindungen enthält. Dieses Gemisch
namens »Prostaphytol« ist in der Mo-
natsration für 39 Euro zu haben.
Und wer seinem Denkorgan Gutes
tun will, könnte bei der »Omega-3
Brain Edition« auf den Geschmack
kommen. Die weichen Kapseln ent-
halten Seefischöl, sollen der Aufrecht-
erhaltung normaler Gehirnfunktio-
nen dienen und einen Beitrag zur
Sehkraft leisten. 30 Stück kosten
10,95 Euro.
Solche Präparate allein machen
einen weder schöner noch gesünder
oder klüger. Trotzdem nehmen fast
75 Prozent der Deutschen regelmäßig
sogenannte Nahrungsergänzungsmit-
tel, praktisch jeder ist schon einmal
damit in Berührung gekommen. 2012
wurden noch 5125 Produkte allein in
der Bundesrepublik in den Verkehr
gebracht – zehn Jahre später waren
es mehr als 40.000. Das Geschäft
brummt weltweit. Das Unternehmen
Statista sagt bis 2028 einen globalen
Umsatz von 240 Milliarden Dollar
mit Nahrungsergänzungsmitteln vo-
raus – das wäre ein Plus von mehr als
60 Prozent im Vergleich zu heute.
Kritische Ärzte und Wissenschaft-
lerinnen sehen den Boom mit Sorge.
Denn Supplemente halten fast nie,
was sie versprechen. Mehr noch, sie
können sogar schaden und das Leben
verkürzen.
»Nur wenigen Verbrauchern ist
klar, dass Nahrungsergänzungsmittel
keine zugelassenen Arzneimittel, son-
dern Lebensmittel sind und deswegen
von keiner Behörde auf Sicherheit
und Qualität geprüft werden«, sagt
Jiri Hera / picture alliance / Zoonar, MiS / IMAGO
die Internistin Monika Rau vom Uni-
versitätsklinikum Würzburg. »Daher
überwiegt der Gedanke, dass man
sich mit Nahrungsergänzungsmitteln
etwas ›Gutes‹ zuführt.« In Wahrheit
würden manche der Produkte sogar
krank machen.
Verbraucherschützer sind eben-
falls alarmiert. »Untersuchungen er-
geben regelmäßig, dass bei den auf
dem Markt erhältlichen Produkten
oft Inhaltsstoffe überdosiert sind, die
empfohlene Tagesdosis überschritten
wird und ungünstige Nährstoffkom-
binationen enthalten sind«, sagt die
zuständige Referentin Sabrina Göd-
dertz vom Verbraucherzentrale Bun-
desverband in Berlin. »Zudem wer-
den unzulässige und irreführende
Werbeversprechen genutzt.«
Nahrungsergänzungsmittel wur-
den erkennbar vor allem deshalb er-
funden, weil sie höhere Renditen
versprechen als gewöhnliche Lebens-
mittel. Es sind Konzentrate von
Mineralstoffen oder Vitaminen so-
wie Pflanzenextrakte, Fett- und
Aminosäuren. Sie werden als Am-
pullen, Kapseln, Tabletten, Pastillen,
Pulver oder Saft angeboten.
Diese von Arzneien bekannten
Darreichungsformen ändern aber
nichts daran, dass die Inhaltsstoffe
auch in ganz gewöhnlichen Lebens-
mitteln enthalten sind. Nahrungs-
ergänzungsmittel sind aus diesem
Grund nichts anderes als überteuer-
te Lebensmittel, die – von wenigen
Ausnahmen abgesehen – überflüssig
sind.
»Nahrungsergänzungsmittel sind
überhaupt nicht geeignet, bei krank-
haften Beschwerden eingesetzt zu
werden«, sagt auch die Apothekerin
Evelyn Breitweg-Lehmann vom Bun-
desamt für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit in Berlin. »Sie
unterscheiden sich von Pizza, Äpfeln
oder Brot nur dahingehend, dass die
Nährstoffe in konzentrierter Form
vorliegen.« Wenn man sich ausge-
wogen und abwechslungsreich ernäh-
re, dann stehe dem Körper in der
Regel alles zur Verfügung, was er
brauche.
Tatsächlich sind die meisten Men-
schen in Deutschland durch die nor-
male Auswahl aus dem Super- oder
Wochenmarkt ausreichend mit allen
Nährstoffen versorgt, wie verschie-
dene Verzehrstudien ein ums andere
Mal offenbart haben – eine halbwegs
abwechslungsreiche Ernährung voraus-
gesetzt. Wo aber grundsätzlich kein
Mangel herrscht, gibt es auch nichts
zu ergänzen. »Es gibt keine Hinweise
darauf, dass eine über den Bedarf hi-
nausgehende Nährstoffzufuhr für den
Menschen einen gesundheitlichen
Nutzen hätte; im Gegenteil, dies kann
in bestimmten Fällen sogar schaden«,
urteilt das Bundesinstitut für Risiko-
bewertung (BfR) in Berlin.
Denn viele Nahrungsergän-
zungsmittel enthalten grundsätz-
lich gesunde Stoffe in so abnorm
hohen Konzentrationen, dass sie
den Darm, die Leber, das Herz
oder die Nieren angreifen. Darü-
TITEL
ber hinaus kann es gefährlich werden,
wenn Menschen verschiedene
Nahrungsergänzungsmittel auf
einmal nehmen. Und das ent-
spricht dem gängigen Kon-
sumverhalten, wie eine
Umfrage im Auftrag des
Verbraucherzentrale Bun-
desverbands offenbarte:
Mehr als ein Viertel der Be-
fragten gab an, in den zu-
rückliegenden sechs Monaten
gleich mehrere Produkte gekauft
zu haben.
Ebenso drohen Probleme, weil
Supplemente häufig zusammen mit
Medikamenten eingenommen wer-
den. Substanzen aus Ginkgoblättern
etwa wirken zwar mitnichten bei De-
menz, aber sie können zusammen
mit Blutverdünnern Komplikationen
hervorrufen.
Ein weiteres Beispiel: Nach einer
Krebsdiagnose schlucken viele Men-
schen auf eigene Faust Vitamine, Mi-
neralien oder Antioxidantien, weil
sie ihre Abwehrkräfte stärken wollen.
Zu diesem Schluss kamen Paula Krej-
bich und Marc Birringer aus dem
Fachbereich Oecotrophologie der
Hochschule Fulda, nachdem sie
37  einschlägige Studien analysiert
hatten. »Patienten nahmen unaufge-
»Es werden fordert Nahrungsergänzungsmittel
unzulässige ein, ihre behandelnden Ärzte wuss-
ten das oft gar nicht. Sie konsumier-
und ten zum Teil große Mengen«, sagt
irreführende Marc Birringer.
Werbe- Doch womöglich haben die betrof-
fenen Krebspatienten dadurch ihre
versprechen Prognose verschlechtert. Denn Vita-
genutzt.« mine, Mineralien und insbesondere
Sabrina Göddertz, Antioxidantien können Krebsmedi-
Referentin der kamenten entgegenwirken und
Verbraucherzentrale Krebszellen sogar resistent machen.
Bundesverband Krejbich und Birringer haben in ihrer
Untersuchung denn auch keinen Nut-
zen der Nahrungsergänzungsmittel
während einer Krebsbehandlung ge-
funden, aber »Anzeichen für Wech-
selwirkungen bis hin zu reduzierten
Lebenserwartungen«.
Es kämen immer mehr Produkte
auf den Markt, deren genaue Zu-
sammensetzung man nicht abschät-
zen könne, warnen die deutschen
Supplemente: Verbraucherzentralen: »So werden
Zweifelhafte Produkte,
reißender Absatz
gesundheitlich fragwürdige Pflanzen-
präparate, wie beispielsweise Isofla-
vone aus Soja, Rotklee oder Kudzu-
Wurzel, als Nahrungsergänzungs-
mittel in Verkehr gebracht, die
sich im Graubereich zwischen
Arzneimitteln und Nahrungsergän-
zungsmitteln bewegen.«
Dass die zweifelhaften Produkte
reißenden Absatz finden, liegt an
den oftmals maßlosen Gesundheits-
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 93
TITEL
versprechen. Tatsächlich sind den
Herstellern bestimmte Aussagen er-
laubt, zumal es allgemein bekannt ist,
dass Nährstoffe im menschlichen Kör-
per wichtige Aufgaben haben. Auf
Verpackungen von Lebensmitteln
und damit auch von Nahrungsergän-
zungsmitteln darf deshalb entspre-
chend geworben werden.
Nach der sogenannten Health-
Claims-Verordnung des Europäischen
Parlaments sind Aussagen wie »Kal-
zium wird für die Erhaltung gesunder
Knochen benötigt« zulässig. Der Satz
»Kalzium sorgt für bruchfeste Kno-
chen« dagegen ist ein falsches Ver-
sprechen und verboten. »Biotin trägt
zur Erhaltung normaler Haare bei«
ist erlaubt, die Behauptung »Biotin
schützt vor Haarverlust« dagegen ist
unzulässig.
In einem Register der Europäi-
schen Kommission sind verschiedene
Claims, also Aussagen, aufgeführt,
aus denen die Hersteller sich bedie-
nen dürfen. Doch Stichproben zeigen
immer wieder: Viele Hersteller ver-
stoßen gegen diese Regeln und ver-
sprechen das Blaue vom Himmel.
Mitarbeiterinnen des Chemischen
und Veterinäruntersuchungsamts
Stuttgart analysierten vor einiger Zeit
die Bewerbung von Nahrungsergän-
zungsmitteln bei Instagram. 38 unter-
suchte Lebensmittelunternehmen ha-
ben im Jahr 2021 demnach 965 Posts,
also Bilder oder Videos, oft mit be-
gleitenden Texten, veröffentlicht, in
denen sie Aussagen zur gesundheit-
lichen Wirkung trafen. Die Prüfer
hielten knapp 40 Prozent dieser An-
gaben für nicht zulässig.
Zu den Fundstücken gehörte die
Aussage, dass ein flüssiges Produkt
namens »Silicium Protect« angeblich
»Blutfette vor oxidativem Stress«
schütze. Der Trank wird nicht mehr
produziert. Ein Präparat mit Stoffen
der Löwenmähne, einer Pilzart, soll-
te das »Wachstum neuer Nervenzel-
len« anregen – das ist blanker Unsinn.
Ein veganes Fruchtgummi sollte gar
gegen Haarausfall schützen – nach
der Beanstandung löschte der Her-
steller den abstrusen Satz.
»Instagram scheint eine Plattform
zu sein, die besonders anfällig für das
Werben mit unzulässigen gesund-
heitsbezogenen Werbeangaben ist«,
sagen die Prüfer. Einige Hersteller
würden im Onlineshop potenziellen
Kunden empfehlen, über »unzensier-
te Quellen im Internet« zu recher-
chieren – damit meinen sie offenbar
die oft unzulässigen Aussagen auf
Instagram. Dort richten sich Influen-
cerinnen und Influencer mit Werbung
und Beiträgen zu Nahrungsergän-
94 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
zungsmitteln in ihren Storys, Videos
und Fotoposts an ein Millionen-
publikum.
In ihrer Untersuchung fand die Be-
hörde 44 Posts von Influencern mit
Aussagen zur vermeintlich gesund-
heitlichen Wirkung der Produkte der
untersuchten 38 Firmen – von diesen
Posts wurden 90 Prozent als nicht
zulässig eingestuft. Die Influen-
cer  –  darunter solche mit bis zu
600.000 Followern – scherten sich
somit kaum um die Vorschriften.
Dass sich Web-Sternchen für sol-
che Dienste von Herstellern bezahlen
lassen, liegt nahe. Der zuständige
Minister für Ernährung, Ländlichen
Raum und Verbraucherschutz in
Stuttgart, Peter Hauk (CDU), sieht
Handlungsbedarf: »Die Lebens-
mittelüberwachung in Baden-Würt-
temberg wird diese Werbebereiche
künftig genauer unter die Lupe neh-
men – allerdings binden Recherche
und Beurteilung erhebliche Personal-
kapazitäten.«
Die Politik scheint überfordert –
die Verbraucherzentralen beklagen
bereits seit Längerem, dass es auf
dem Markt der Nahrungsergän-
zungsmittel drunter und drüber gehe.
Bei ihnen melden sich Bürgerinnen
und Bürger, weil sie sich betrogen
fühlen. Die Verbraucherzentralen
können dann Abmahnungen erwir-
ken, sodass Slogans entfernt werden
müssen. Aber bis dahin sind längst
andere unhaltbare Werbeverspre-
chen veröffentlicht worden.
Viele Werbeversprechen auf
Nahrungsergänzungsmittelver-
packungen zielen auf Menschen,
die attraktiv und fit sein wollen.
Doch grüne Superfood-Pulver kön-
nen echtes Gemüse nicht ersetzen.
Produkte mit Zink wirken genauso
wenig auf die Haut wie Biotin – alles
andere wäre glatt gelogen. Kapseln
mit Extrakten der Weintraube und
weiteren Ingredienzen sind mitnich-
ten geeignet, »die Orangenhaut zu
glätten«, wie dies ein Hersteller glau-
ben machen will. Und auch Produkte
mit Omega-3-Fettsäuren haben Stu-
dien zufolge keinen nachweisbaren
Effekt auf das Gedächtnis – Fischöl-
kapseln kann man vergessen.
Die Stiftung Warentest hat kürz-
lich 17 Nahrungsergänzungsmittel
geprüft, die sich an den älteren Herrn
richten. Das Fazit der Stiftung Wa-
rentest ist vernichtend: »Die 13 Cent
bis 2,67 Euro, die das Ganze pro Tag
kostet, kann man sich sparen. Ein
Clemens Raiber
Mittel, Doppelherz aktiv, ist ›nur‹
überflüssig, der Nutzen nicht belegt.
Die anderen 16 bergen zudem Risi-
ken, etwa durch überdosierte Vita-
Forscherin mine oder fehlende Verbraucher-
Heydenreich: hinweise.«
»Das Risiko ist hoch,
dass da was bei-
Tatsächlich kann man schon froh
gemischt wurde« sein, wenn Nahrungsergänzungsmit-
tel im Körper keinen Schaden anrich-
ten und man sie wieder ausschei-
det  –  als teuren Urin. Doch in be-
23.000
Besuche
stimmten Fällen können Präparate
zu massiven Problemen führen.
In Amerika analysierten Gesund-
heitsforscher anhand von 63 Kran-
kenhäusern, warum Menschen die
in der Not- dortige Notaufnahme aufsuchten,
aufnahme und rechneten die Zahlen auf das
ganze Land hoch. Demnach ließen
von US- sich 23.000 Besuche in der Notauf-
Kliniken nahme auf den Konsum von Nah-
gingen rungsergänzungsmitteln zurückfüh-
ren – pro Jahr.
Hochrech- Betroffen waren etwa Frauen, die
nungen Produkte zur Gewichtsabnahme kon-
sumierten; Männer, die Muskelauf-
zufolge baupräparate nahmen; alte Menschen,
2004 bis die sich an Pillen oder Kapseln ver-
2013 jähr- schluckt hatten.
Fettlösliche Stoffe wie Vitamin D
lich auf können sich im Körper anreichern
Supplemen- und so gefährliche Konzentrationen
erreichen. Wenn man jeden Tag mehr
te zurück. als 100 Mikrogramm davon zu sich
Quelle: »New England nimmt, kann das zu erhöhten Kal-
Journal of Medicine« ziumwerten im Blut (Hyperkalzämie)
führen. Die klinischen Symptome
reichten »unter anderem von Müdig-
keit und Muskelschwäche über Er-
brechen und Verstopfung bis hin
zu Herzrhythmusstörungen und
der Verkalkung von Gefäßen«, so
das BfR. »Eine andauernde
Jasper White / Getty Images
Hyperkalzämie kann zu Nieren-
steinen, Nierenverkalkungen
und letztendlich zu einer Abnah-
me der Nierenfunktion führen.«
Das BfR hat für die Verwen-
dung von Vitaminen und Mine-

SUPPLEMENTMARKT
Märchenhaft hohe Margen
Mit Nahrungsergänzungsmitteln werden Milliarden Euro umgesetzt – vor allem Apotheken verdienen mit.
Hilft der Rotwein-Inhaltsstoff Resveratrol,
eine lebensbedrohliche Aussackung der
Hauptschlagader zu verhindern? Beugt
Vitamin K2 einer Herzklappenverkalkung
vor? Vermeidet das in Haferkleie enthal­
tene Betaglucan einen Infarkt?
Die Anbieter solcher Stoffe drücken
sich um die Antworten, spielen aber
gleichwohl oft mit solchen Fragen. Für
ihre Verkäufe spielen die Details aller­
dings keine große Rolle, denn der Markt
mit Nahrungsergänzungsmitteln boomt,
trotz aller Unklarheiten.
Das Geschäft mit der Hoffnung ist al­
lein in Deutschland laut Zahlen des Markt­
forschers Iqvia rund 3,5 Milliarden Euro
pro Jahr schwer (Stand Mai 2022), und es
wächst tendenziell um rund vier Prozent
pro Jahr. Das ist zwar nur ein Bruchteil des
Arzneimittelmarkts (56,5 Milliarden
Euro). Doch sind die Konsumenten einmal
angefixt, bringen Nahrungsergänzungs­
mittel leicht verdientes Geld mit Traum­
margen von teilweise mehr als 60 Prozent.
Der Aufwand bei der Herstellung der
vermeintlichen Power­Pillen ist oft gering,
die Ausgabebereitschaft der Kundinnen und
Kunden immens. Wirkstoffe können etwa
beim chinesischen Versandhändler Alibaba
in Säcken billig eingekauft werden; in eine
Kapsel gefüllt und online angeboten, sind
fast immer zweistellige Renditen drin.
Anders als klassische Arzneimittel
müssen Nahrungsergänzungsmittel nicht
aufwendig durch Behörden zugelassen
werden. Klinische Studien braucht es auch
nicht. Wer kein Heilversprechen abgibt,
unterliegt meist dem viel simpleren Le­
bensmittelrecht. »Nahrungsergänzungs­
mittel sind weniger stark reguliert als
Arzneimittel. Dadurch sind beispielsweise
Qualitätsvorgaben geringer, und es gibt
weniger Beschränkungen, wie sie vertrie­
ben oder beworben werden dürfen«, sagt
Richard Laven, Experte bei der Pharma­
beratung Iqvia.
Die angeblich gesunden Pillen müssen
lediglich beim Bundesamt für Verbrau­
cherschutz und Lebensmittelsicherheit an­
gemeldet werden. Und wie bei Lebens­
mitteln darf der Anteil der Inhaltsstoffe
um bis zu 50 Prozent von der auf der
Verpackung angegebenen Menge abwei­
chen. Was bei Kartoffelchips nicht so
bedeutend sein mag, kann bei Ergänzungs­
mitteln wahlweise zu einer Bonsai­
dosis oder einem fulminanten Einnahme­
exzess führen.
Die Branche selbst übt sich in Geheim­
niskrämerei – was ihren Ruf nicht gerade
bessert. Große Unternehmen wie Ortho­
mol oder der Flensburger Mittelständler
Queisser (»Doppelherz«) wollen nicht re­
den; Fachverbände bestätigen kaum mehr
als die Existenz des Sektors.
Schon bei den Begriffen beginnt das
Rätselraten. Die Produkte heißen diäteti­
sche Lebensmittel, Functional und Novel
Food oder Nahrungsergänzungsmittel.
Manche Firmen wie Orthomol wollen sich
den seriösen Ruf der Apotheken zunutze
machen und erklären ihre Pülverchen kur­
zerhand als »apothekenexklusiv«. Diese
Floskel hat keinen rechtlichen Hinter­
grund, vielmehr sollen Kunden einen be­
sonderen medizinischen Nutzen dahinter
vermuten.
Drogeriemarktketten wie Rossmann
ärgert das. »Es geht den Herstellern einzig
um die Verteidigung ihrer märchenhaft
hohen Margen. Apotheken nehmen unkri­
tisch Produkte ab und müssen miese Kon­
ditionen akzeptieren«, sagt Michael Nau­
jock, Einkaufschef bei Rossmann.
Leidtragende sind die Kunden. Ortho­
mol kostet schon mal gleich rund 50 Euro
pro Packung. Die auf dem Konzept der
Bestseller
Arten von Nahrungsergänzungsmitteln, die
die Befragten in den vorherigen 12 Monaten
eingenommen haben, in Prozent
Vitamine
59
Mineralstoffe
34
Proteine
23
Kräuter oder Produkte auf Kräuterbasis
18
pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel
(z. B. Algenöl)
14
tierische Nahrungsergänzungsmittel
(z. B. Fischöl)
12
sonstige
6
Ich habe keine Nahrungsergänzungsmittel
eingenommen.
24
S Quelle: Statista; Onlineumfrage im Zeitraum Januar bis
◆
Dezember 2022, 6027 Befragte im Alter zwischen 18 und
64 Jahren, Mehrfachnennungen möglich
TITEL
orthomolekularen Medizin des Chemikers
Linus Pauling basierenden Produkte
sind medizinisch mindestens umstritten.
Unumstritten sind die damit erzielten
Umsätze. 2020 machte das Unternehmen
den höchsten Umsatz der Firmengeschich­
te und knackte mit seinen Darreichungen
fast die 130­Millionen­Euro­Marke.
Weil Produkte wie Orthomol viel Geld
verheißen, ziehen Apotheken mit, ver­
kaufen und bewerben die Mittel. Andere
Anbieter gelten ebenfalls als Umsatz­
garanten im Handel, sei es Abtei, Cen­
trum, Tetesept, Kneipp, Cevitt oder
Klosterfrau.
Im deutschen Apothekenversand­
handel ist ebenfalls ein Boom der Supple­
mente zu verzeichnen. Allein im Jahr
2020 wurden über diesen Kanal mehr als
zwei Millionen Produkte der Marke
»Doppelherz« verkauft – ungefähr die
gleiche Größenordnung wie Aspirin.
Orthomol konnte gut eine Million Packun­
gen über Versandapotheken absetzen –
mehr als doppelt so viele wie das Rau­
cher­Entwöhnungsmittel Nicorette.
Vermutlich ist der Markt der Nahrungs­
ergänzungsmittel sogar noch weit größer,
auch weil es Absatzkanäle gibt, denen sta­
tistisch schwer beizukommen ist. Bis 2022
wurden solche Produkte etwa auf Kaffee­
fahrten angeboten, neben Heizdecken
oder Magnetfeldtherapiegeräten. Auch
beim Versandgiganten Amazon werden
ungezählte Nahrungsergänzungsmittel
feilgeboten, oft zu Mondpreisen. 90 Kap­
seln, die angeblich unter anderem gegen
Müdigkeit und Erschöpfung helfen sollen,
kosten dort beispielsweise 265,98 Euro.
Iqvia­Experte Lave schätzt, dass rund
25 Prozent der Kundinnen und Kunden
direkt online vom Anbieter kaufen, was
sich schwer erfassen ließe.
Der allergrößte Teil der Nahrungs­
ergänzungsmittel wird indes über Drogerie­
märkte und den Lebensmitteleinzelhandel
abgesetzt. Bei Rossmann sind die Regale
mit den oft bunten Packungen bis zu acht
Meter lang. Gerade bei den hochpreisigen
Produkten gebe es hohe Diebstahlsquoten,
sagt Rossmann­Manager Naujock. Auch
deshalb sei das Unternehmen gar nicht
scharf darauf, teure Produkte wie Ortho­
mol ins Sortiment zu nehmen. Da man
meist nicht direkt vom Hersteller kaufen
könne, sondern über Großhändler gehen
müsse, würden die Diebstähle nahezu
die Handelsmarge auffressen.
Martin U. Müller n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 95
TITEL
ralstoffen  in  Nahrungsergänzungs-
mitteln und angereicherten Lebens-
mitteln Höchstmengenvorschläge
erarbeitet und empfiehlt für Nah-
rungsergänzungsmittel mit Vita-
min  D  eine maximale Menge von
20 Mikrogramm pro Tagesdosis eines
Produkts – allerdings sind diese
Vorschläge für die Hersteller nicht
bindend.
robleme gibt es auch bei
P magnesiumhaltigen Prä-
paraten. Die Verbrau-
cherzentralen untersuch-
ten eine Stichprobe von
42 Produkten. Das Ergebnis: 24 von
ihnen überschritten die vom BfR
noch als sicher angesehene Höchst-
menge von 250 Milligramm Magne-
sium am Tag; sie lagen im Durch-
schnitt bei 416 Milligramm pro Tag.
Wer die hoch dosierten Präparate
schluckt, dem drohen Durchfall und
Beschwerden in Magen und Darm.
Denn die im Darm siedelnden,
nützlichen Bakterien sind nicht auf
die geballte Ladung von Nahrungs-
ergänzungsmitteln eingestellt und
können dadurch verändert werden.
Die Einnahme von Proteinshakes
etwa, die beim Abnehmen helfen sol-
len, beeinflusste einer Studie zufolge
die Art und Weise, wie die Darmbak-
terien Nahrung verstoffwechseln.
Um eine ruinierte Darmflora zu
sanieren, werden wieder andere Nah-
rungsergänzungsmittel angeboten,
und zwar solche, die lebende Mikro-
organismen enthalten. Doch auch
diese sogenannten Probiotika sind
im besten Fall nutzlos und manch-
mal sogar schädlich, haben Studien
gezeigt.
Forscher vom Weizmann
Institute of Science in Israel ver-
abreichten gesunden Probanden
zunächst Antibiotika und töte-
ten damit viele nützliche Bak-
terien im Darm. Dann untersuch-
ten sie, wie man den Darm wieder
besiedeln kann. Einige der Proban-
den erhielten dazu gar keine weitere
Behandlung: Nach ungefähr drei Wo-
chen hatte die Bakterienflora sich von
allein wieder normalisiert. Andere
Probanden dagegen erhielten ein pro-
biotisches Supplement mit elf Bakte-
rienstämmen: Die Keime hielten den
Darm besetzt und störten dessen na-
türliche Rekolonisierung. Die Darm-
flora war auch fünf Monate später
noch verändert.
Häufig nehmen jedoch gesunde
Menschen die probiotischen Mittel,
um ihre intakte Darmflora zu ver-
bessern. Doch auch das funktioniert
nicht. Die künstlich eingebrachten
96 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Mikroorganismen können sich im ge-
90
Prozent
sunden Darm gar nicht ansiedeln und
werden flugs wieder ausgeschieden.
Das bedeutet: Die Konsumenten spü-
len ihr Geld gleichsam die Toilette
hinunter.
der unter- Die Leber kann durch Nahrungs-
suchten ergänzungsmittel ebenfalls überlas-
Instagram- tet und geschädigt werden. US-For-
scher haben zwischen 1995 und 2020
Influencer- die Daten von Patienten aus drei
Posts verschiedenen Zeiträumen ausge-
zur ver-
meintlichen
gesund-
heitlichen
wertet, die auf der Warteliste für
eine neue Leber standen. Der Ana-
lyse zufolge ließen sich immer mehr
Erkrankungen auf den Konsum von
Supplementen zurückführen – die
Zahl dieser Fälle stieg um das Acht-
Wirkung fache. Untersuchungen aus Austra-
lien offenbaren ebenfalls, dass Nah-
von Supple- rungsergänzungsmittel immer häu-
menten figer die Ursache von sogenannten
wurden als medikamentös-toxischen Leberschä-
digungen sind.
unzulässig Monika Rau, die Internistin vom
eingestuft. Universitätsklinikum Würzburg,
arbeitet dort im Bereich Hepatologie.
Quelle: Chemisches Sie warnt vor pflanzlichen Produkten
und Veterinär-
untersuchungsamt oder Pflanzenzubereitungen unklarer
Stuttgart Zusammensetzung und nennt als Bei-
spiel Grünteeextrakte. »Die darin
enthaltenen Catechine und insbeson-
dere das Epigallocatechingallat wer-
den als Auslöser für Leberschädigun-
gen beschrieben.«
Der genaue Mechanismus sei bis-
her noch nicht geklärt, doch in Stu-
dien an Tieren sei die Aufnahme von
Epigallocatechingallat mit Leberschä-
digungen verbunden. Auch die Ver-
bindung Curcumin aus der Kurkuma-
pflanze ist bedenklich; nach Ansicht
des BfR liegt der Stoff in manchen
Präparaten besonders bioverfügbar
vor – Leberschäden seien dann
nicht auszuschließen.
Lebensmittel und damit
auch die Nahrungsergänzungs-
mittel müssen zwar nicht be-
hördlich zugelassen werden,
aber sie dürfen die Gesundheit auch
nicht gefährden. Für die Hersteller
gilt das Vorsorgeprinzip. Damit ge-
hen viele erschreckend lax um. Von
Überdosierungen und ungenauen
Mengenangaben einmal abgesehen,
panschen sie viele Supplemente zu-
sammen und verunreinigen sie mit
gefährlichen Stoffen. Mehr noch: Da
der Handel über das Internet erfolgt,
können auch aus dem Ausland ge-
fährliche Mixturen auf den hiesigen
Markt gelangen.
Behörden und Verbraucherzen-
tralen kommen mit ihren Warnungen,
die sie im Internet veröffentlichen,
kaum hinterher. Das Schlankheits-
mittel »Trex Tea«, ein weißes Pulver,
ist demnach mit der den Appetit zü-
gelnden Substanz Sibutramin ver-
seucht, die aufgrund starker Neben-
wirkungen weltweit verboten ist. Das
Supplement »Jack’d sexual enhance-
ment liquid« ist mit Sildenafil versetzt,
dem Wirkstoff aus dem Potenzmittel
Viagra. Und die Kräutermischung
eines Anbieters aus der Oberpfalz
wurde zurückgerufen, weil sie zu viel
Pyrrolizidinalkaloide enthielt – diese
Chemikalien sind lebertoxisch und
krebsauslösend.
Manche Hersteller von Supplemen-
ten für den Muskelaufbau reichern ihre
Produkte mit Amphetaminen oder
Steroiden an. Bei Auslobungen wie
»Fat Burner« oder »Weight Gainer«
sollte man vorsichtig sein, sagt Juliane
Heydenreich von der Uni Mainz, wo
sie zur Sportlerernährung forscht.
»Wenn so etwas auf der Packung steht,
ist das Risiko sehr hoch, dass da ab-
sichtlich was beigemischt wurde, weil
das Supplement sonst nichts bringen
würde.« Ungefähr 20 bis 25 Prozent
aller Nahrungsergänzungsmittel sind
nach Heydenreichs Ansicht so verun-
reinigt, dass sie zu einem positiven
Dopingtest führen würden.
Das Chaos auf dem Markt der
Nahrungsergänzungsmittel kritisie-
ren die Verbraucherzentralen seit
Langem und fordern ein nationales
Prüfverfahren, die Festlegung von
Höchstmengen für Mineralstoffe und
Vitamine, eine Positivliste für »sons-
tige Stoffe« und eine Meldestelle, wo
Neben- und Wechselwirkungen der
Präparate erfasst werden.
Es gibt zwar eine Richtlinie der EU
zu Nahrungsergänzungsmitteln, aber
die ist auch über 20 Jahre nach dem
Inkrafttreten kaum mehr als ein Tor-
so: Viele Punkte sind noch gar nicht
geregelt.
Verbraucherinnen und Verbrau-
cher sind gut beraten, den gesunden
Menschenverstand walten zu lassen.
Denn nur in wenigen Situationen
sind Nahrungsergänzungsmittel
wirklich angebracht. Schwangere
sollten Folsäure ergänzen, um ihr
Kind vor Neuralrohrdefekten zu
schützen. Wer keine Milchprodukte
verzehrt, könnte von zusätzlichem
Kalzium profitieren. Veganer sollten
auf die Zufuhr von Vitamin B12 ach-
ten. Einen etwaigen Mangel sollte
man ärztlich abklären.
Ansonsten kann man es mit Hippo-
krates halten, dem Arzt aus der grie-
Jasper White / Getty Images
chischen Antike. »Eure Nahrung sei
eure Medizin, und eure Medizin sei
eure Nahrung.« Das gilt bis heute –
aber nur für ausgewogenes Essen und
Trinken.
Jörg Blech n

SELBSTVERSUCH
Quantenphysik mit Haaren
In sozialen Medien werden dubiose Tests zur Diagnose von Nährstoffdefiziten beworben.
Funktionieren sie wirklich, oder kurbeln sie nur das Geschäft mit Vitaminpillen an?
Instagram ist eine wunderbare Plattform,
um Menschen etwas anzudrehen, was sie
kaum brauchen. Das Netzwerk gilt als
Sammelbecken für unseriöse Gesundheits­
versprechen, Influencerinnen können dort
weitgehend unbeachtet von behördlicher
Kontrolle einen »Healthy Lifestyle« vor­
leben und allerhand Pillen und Pülver­
chen bewerben. Und darauf setzen auch
die Hersteller von Vitamintabletten und
anderen Mitteln.
Denn kaum ein Werbeversprechen ist
so wirksam wie die Suggestion eines Man­
gels an Vitaminen, Mineralstoffen oder
Spurenelementen. Deswegen bieten eini­
ge Firmen vermeintliche Mikronährstoff­
analysen an. Etwa das Unternehmen »Me­
dicross Labs«. Das Labor gehört zur DAN
Group GmbH mit Sitz in Liechtenstein
und verspricht, Mängel aufzudecken und
Unverträglichkeiten zu erkennen.
Über eine simple Haarprobe möchte
»Medicross Labs« herausfinden, wie es
um die Versorgung mit mehr als 70 ver­
schiedenen Vitaminen, Spurenelementen
oder Mineralstoffen steht – für gerade ein­
mal 39,90 Euro. Im Anschluss kann man
sich auf Grundlage der Ergebnisse eine
personalisierte Nährstoffmischung emp­
fehlen lassen.
Im Februar schickt der SPIEGEL eine
Haarprobe ein. Proband ist ein junger, ge­
sunder Mann ohne bekannte Mangel­
zustände oder Allergien. Einige Tage spä­
ter kommt das schockierende Ergebnis:
Die Testperson habe bei 19 Parametern
einen »sehr starken Bedarf«. Unter ande­
rem soll es an Vitamin B6, Kalium und
Zink mangeln.
Hinzu kommt das kuriose Ergebnis
des Unverträglichkeitstests: Es zeigt eine
»hohe Reaktivität« auf mehr als 20 ver­
schiedene Nahrungsmittel, Pflanzen oder
Tiere. Darunter Zuckerrübe, Fasan und
Goldhamster. Geht das mit rechten Din­
gen zu?
Kann man aus einer einzelnen Haar­
probe derart weitreichende Schlüsse zie­
hen? »Das wäre mir neu«, sagt Harald
Renz. Er ist Professor am Universitätskli­
nikum Gießen und Marburg sowie Präsi­
dent der Deutschen Gesellschaft für Klini­
sche Chemie und Laboratoriumsmedizin.
Diese Art der Analyse gebe es in der evi­
denzbasierten Diagnostik nicht. »Man
könnte sich schon fragen, ob hier über­
haupt etwas anderes als ein Zufallsergeb­
nis herauskommt«, sagt Renz.
TITEL
Im »Laborbericht« ist von einer profes­ den vor allem im alternativmedizinischen
sionell erprobten Methode die Rede. »Sie Spektrum für diesen Zweck missbraucht.
basiert auf einer computergestützten Puls­ Dabei ist schon die Grundidee falsch.
messung, die bei Elektrokardiogrammen »Es ist nicht sinnvoll, ohne konkreten Ver­
(EKG), Quantenphysik und bioelektri­ dacht Werte für viele verschiedene Vita­
schen Impedanzanalysen angewendet mine oder Mineralstoffe zu erheben«, sagt
wird.« Aha, Quantenphysik also. Labormediziner Renz. Die Parameter hät­
Laut einer Broschüre, die mit dem Be­ ten eine natürliche Varianz, die sich von
richt ankam, basieren die Analysegeräte Mensch zu Mensch unterscheiden könne.
auf der »Quantum­Response­Technolo­ Wenn man bei jedem gleich die gesamte
gie«. Zur Funktionsweise heißt es: »Das Bandbreite der Vitamine und Mineralstof­
Haar trägt einen Abdruck davon, wie die fe teste, sagt Renz, finde man fast immer
körpereigenen Zellen derzeit energetisch Abweichungen von der Norm. »Dass all
funktionieren. Unsere Technologie scannt diese Leute krank wären oder Vitaminpil­
dieses Feld mithilfe von quantenphysika­ len bräuchten, ist natürlich Unsinn.«
lischen Effekten und stellt durch Komple­ Am Anfang einer seriösen Untersu­
mentäre Korrelationen … eventuelle Dis­ chung stehen konkrete Beschwerden eines
harmonien im eigenen System fest.« Patienten, auf deren Basis eine möglichst
Die Haare als energetisches Abbild der zielgerichtete Diagnostik in die Wege ge­
Zellen? »Es handelt sich um kompletten leitet werden sollte. »Wir behandeln Men­
Quatsch«, sagt Martin Smollich, Professor schen, keine Laborwerte«, sagt Renz. Vor
am Institut für Ernährungsmedizin des allem die dubiosen Haaranalysen bezeich­
Universitätsklinikums Schleswig­Holstein net er als »im Sinne der medizinischen
und Leiter der Arbeitsgruppe Pharmako­ Ethik hochproblematisch«.
nutrition. So eine Technik gebe es nicht.
Überhaupt sei die Beschreibung der Funk­ Was sagt »Medicross Labs« zu den Vor­
tionsweise schlichtweg »pseudowissen­ würfen? Gibt es vielleicht doch Belege für
schaftliches Geschwurbel«, so Smollich. die Funktion der fantastischen Quanten­
Die Ergebnisse sind also buchstäblich apparate? Konkrete Fragen des SPIEGEL
an den Haaren herbeigezogen. Offenbar möchte die Firma lieber nicht beantwor­
dienen sie lediglich als Vorwand, um im ten. »Unsere Entscheidung basiert auf ne­
Nachgang teure, »personalisierte« Nah­ gativen Erfahrungen, die wir in der Ver­
rungsergänzungsmittel an den Mann oder gangenheit gemacht haben«, heißt es per
die Frau zu bringen. Auch Mikronährstoff­ E­Mail zu der Absage. Medien hätten
analysen, bei denen das Blut mit etablier­ Antworten im falschen Kontext und ver­
ten Messmethoden untersucht wird, wer­ zerrt wiedergegeben.
Ob potenziellen Kunden bewusst ist,
dass es sich bei den Haaranalysen ganz of­
fensichtlich um ein medizinisch abwegiges
Angebot handelt? Auf dem Ergebnisbogen
der Nährstoffanalyse befindet sich zumin­
dest ein klein gedruckter Absatz, der wohl
als juristische Absicherung dienen soll. Dort
39,90 heißt es unter anderem, man übernehme
»keine Haftung für direkte, indirekte oder
Euro zufällige Schäden jeglicher Art, die sich aus
der Verwendung dieser Ergebnisse ergeben.
Unsere Mikronährstoffanalysen/Unverträg­
Irina Shatilova / iStockphoto / Getty Images
lichkeitstests sind keine Medizinprodukte«.
Wer tatsächlich vermutet, an einer Un­
verträglichkeit oder einem Nährstoffman­
gel zu leiden, sollte also nach wie vor
»Es handelt sich um einen Facharzt konsultieren. Das schont
kompletten Quatsch.« nicht nur die Frisur, sondern auch den
Geldbeutel, denn eine seriöse Diagnostik
Martin Smollich, wird von der Krankenkasse übernommen.
Ernährungswissenschaftler Hokuspokus in der Regel nicht.
Julian Aé n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 97
TITEL
»Die gesundheitlichen
Risiken sind enorm«
HOBBYATHLETEN Mit Proteindrinks oder Eiweißriegeln wollen viele Freizeitsportler im Fitnessstudio
ihren Muskelaufbau beschleunigen. Ernährungsexperte Martin Smollich über
den Nutzen solcher Mucki-Booster – und den kritischen Einfluss der »Broscience«.
Martin Smollich, Jahrgang 1977, ist Leiter der
Arbeitsgruppe Pharmakonutrition am Institut
für Ernährungsmedizin des Universitätsklini-
kums Schleswig-Holstein in Lübeck.
SPIEGEL: Herr Smollich, Millionen Menschen
greifen gern zu nutzlosen Nahrungsergän-
zungsmitteln – gerade bei Freizeitsportlern
im Fitnessstudio sind Proteinshakes beliebt.
Kann man überhaupt viele Muskeln aufbauen
ohne solche Drinks?
Smollich: Natürlich. Wenn Sie drei- oder vier-
mal pro Woche für rund eine Stunde zum
Krafttraining gehen, können Sie Ihren
Proteinbedarf ohne Probleme über die ganz
normale Ernährung decken. Nicht nur Fleisch,
Fisch, Eier und Magerquark sind hervorra-
gende Eiweißlieferanten, sondern auch
pflanzliche Lebensmittel wie Hülsenfrüchte
und Nüsse. Faul auf der Couch liegen und mit
Proteinshakes zum Traumkörper kommen
funktioniert aber nicht. Entscheidend ist der
Trainingsreiz, der durch Ernährung unter-
stützt werden kann.
SPIEGEL: Warum schlucken dennoch so viele
Fitnessstudiobesucher Proteinshakes oder
Eiweißriegel?
Smollich: Einerseits ist es einfacher und
schneller, sich gleich in der Umkleidekabine
einen Shake hinunterzukippen, als etwas
Richtiges zu essen. Andererseits wirkt natür-
lich auch das Marketing der Hersteller, vor
allem über Social Media und Fitness-Influen-
cer. Außerdem sollte man den Effekt von
»Broscience« nicht unterschätzen: Ein Kum-
pel im Fitnessstudio probiert bestimmte
Proteinshakes aus, seine Muskeln wachsen,
er berichtet seinen Freunden davon, und die
übernehmen das. Ob dieser Effekt wirklich
existiert oder nur in der Einbildung, ist zweit-
rangig. Es gibt aber tatsächlich Sportler, für
die Proteinshakes sinnvoll sein können.
SPIEGEL: Welche sind das?
Smollich: Profisportler haben es aufgrund des
Menge-Zeit-Problems schwer, ihren täglichen
Proteinbedarf über die normale Ernährung
zu decken. Ein Profi-Bodybuilder etwa be-
nötigt an die 2,5 Gramm Eiweiß pro Kilo-
gramm Körpergewicht, damit er das ge-
wünschte Muskelwachstum erzielt. Bei einem
98 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Körpergewicht von 120 Kilogramm müsste
er täglich 2,5 Kilogramm Magerquark essen,
um diese Proteinmenge zu erreichen. So
etwas ist realitätsfern und bringt andere Er-
nährungsprobleme mit sich. Aber das betrifft
wirklich Profis im Leistungssport oder Men-
schen, die sehr intensiv Sport treiben. Ein
paar Stunden körperliche Aktivität pro
Woche, bei der man nicht an die Leistungs-
grenze herangeht, sind noch gar kein Sport
im engeren Sinne.
SPIEGEL: Wie bitte?
Smollich: Das hören viele nicht gern, weil sie
sich als Halbleistungssportler fühlen, sobald
sie zweimal in der Woche locker joggen ge-
hen. Es gibt zwar keine einheitliche Definition
für »Sport«, aber entscheidend ist, dass die
körperliche Reizschwelle von Bewegung und
Sport unterschiedlich ist. Bewegung ist kör-
perliche Aktivität, bei der wir maximal
30 Prozent unserer körperlichen Leistungs-
fähigkeit ausschöpfen. Erst deutlich darüber
beginnt Sport, der einen echten Trainingsreiz
setzt. Das gilt vor allem im Kraftsportbereich,
wo trainingswirksame Reize nur an der Be-
lastungsgrenze gesetzt werden. Wir müssen
uns klarmachen, wo wir evolutionär herkom-
men: Unser Körper ist darauf ausgelegt, dass
wir uns zwölf Stunden am Tag bewegen. Wer
von Montag bis Freitag nach einem Arbeitstag
im Büro eine Stunde ins Fitnessstudio oder
eine Runde laufen geht, tut seiner Gesundheit
Bewegungsmuffel
Sportpensum pro Woche in Deutschland 2022,
in Prozent
1 bis 3 Stunden kein Sport
32 20
3 bis 5 selten
Stunden Sport
14
weiß nicht/
mehr als 5 Stunden keine Angabe
6 4
S Quelle: »TK-Studie Beweg dich, Deutschland!«, 2022
◆
auf jeden Fall etwas Gutes, keine Frage. Wir
sind da aber längst nicht in dem Bereich, wo
man mit Mittelchen nachhelfen müsste, um
die Leistung zu optimieren. Und selbst bei
den Profis gibt es Grenzen.
SPIEGEL: Wo würden Sie die ziehen?
Smollich: Studien haben gezeigt, dass der
Körper etwa bis zu 2,5 Gramm Eiweiß pro
Kilogramm Körpergewicht aufnehmen kann.
Viele Kraftsportler nehmen deutlich mehr zu
sich, was dann aber keinen zusätzlichen Ef-
fekt hat. Außerdem haben wir das Problem,
dass die Stoffe mit Dopingmitteln wie Ana-
bolika kontaminiert sein können. Wer ein
verunreinigtes Präparat einnimmt, bei dem
stellen sich natürlich schnell Erfolge ein.
Der Glaube an das Präparat steigt, im Zwei-
fel nimmt der Sportler immer mehr davon.
Die gesundheitlichen Risiken sind aber
enorm, Anabolika beispielsweise können
das Risiko von Herzinfarkten und Schlag-
anfällen erhöhen.
SPIEGEL: Wie verbreitet ist dieses Problem?
Immerhin werden in Deutschland jedes Jahr
rund 10.000 neue Nahrungsergänzungsmittel
auf den Markt geworfen.
Smollich: Schätzungsweise knapp zehn Pro-
zent aller Dopingfälle sind auf kontaminierte
Nahrungsergänzungsmittel zurückzuführen.
Im Freizeitbereich könnte diese Zahl noch
höher sein, da hier keine systematischen Kon-
trollen stattfinden. Im Internet kann man die
Kölner Liste einsehen, die das Dopingprä-
ventionsnetzwerk »Gemeinsam gegen Do-
ping« mit der Nationalen Antidoping-Agen-
tur veröffentlicht und laufend aktualisiert.
Dort sind Nahrungsergänzungsmittel mit
minimiertem Dopingrisiko aufgelistet.
SPIEGEL: In der Fitnessszene ist Kreatin be-
sonders angesagt. Eine Kohlenstoff-Stickstoff-
Verbindung, die im Energiestoffwechsel eine
zentrale Rolle spielt und das Muskelwachstum
beschleunigen soll.
Smollich: Kreatin ist eines der wenigen Nah-
25
rungsergänzungsmittel, die wirklich gründlich
erforscht sind. Hier zeigt die Studienlage:
Kreatin ist in den üblichen Dosierungen ge-
sundheitlich unbedenklich und hat vor allem
einen positiven Effekt auf die Schnellkraft.
Aber es gilt dasselbe wie bei den Proteinen:

Es ist nur wirksam in Verbindung mit
wirklich intensivem Training. Wer
entspannt trainiert und denkt, er
könnte durch zusätzliches Kreatin an-
strengungslos bessere Resultate er-
zielen, der irrt.
SPIEGEL: Wie finde ich raus, ob solche
Mittel bei mir was bringen?
Smollich: Am besten mit einer zerti-
fizierten Ernährungsberaterin. Wir
haben leider das Problem, dass die
Begriffe »Ernährungsberater« und
»Ernährungstherapeut« in Deutsch-
land nicht gesetzlich geschützt sind.
Das heißt, jeder kann sich so nennen,
auch ohne irgendeine Qualifikation.
So eine Beratung kann schnell gefähr-
lich werden. Ich rate deshalb dringend
dazu, nur zertifizierte Ernährungs-
berater zu konsultieren, die auf Sport-
ernährung spezialisiert sind. Die fin-
det man einfach über die Websites
der Deutschen Gesellschaft für Er-
nährung, der Ökotrophologen und
der Diätassistenten.
SPIEGEL: Viele Hobbyläufer setzen
auf Magnesium, lösen vor dem Trai-
ning eine Brausetablette im Wasser
auf, um Krämpfen vorzubeugen. Ist
das denn sinnvoll?
Smollich: Nein, das ist nachgewiesen
unwirksam. Ein Extra an Magnesium
funktioniert weder zur Vermeidung
von Krämpfen noch zur Leistungs-
steigerung. Da sind die Empfehlungen
der Fachgesellschaften eindeutig.
Wenn das hilft, ist das auf den
Placeboeffekt zurückzuführen. Ab-
gesehen davon sind Muskelkrämpfe
im Breitensport meist kein Symptom
von Magnesiummangel, sondern von
Fehl- oder Überbelastung. Etwas an-
deres ist es, wenn im Rahmen von
großen Anstrengungen wie Mara-
thonläufen viele Elektrolyte mit dem
Schweiß verloren gehen. Da geht es
dann aber nicht nur um Magnesium,
sondern auch um Natriumchlorid,
Kalzium und Kalium.
SPIEGEL: Neben Mineralstoffen wie
Magnesium oder Kalzium scheinen
vor allem Vitaminpräparate sehr be-
liebt zu sein. In den Drogeriemärkten
quellen die Regale mittlerweile fast
über. Helfen die denn so gut?
Smollich: Anders als etwa Protein-
shakes oder Kreatin haben Vitamin-
präparate selbst bei intensiven Trai-
ningsreizen keine direkte leistungs-
steigernde Wirkung. Indirekt ist es für
die Leistungsfähigkeit aber sinnvoll,
Vitaminmangelzustände zu vermei-
den. In Deutschland weitverbreitet ist
die nicht ausreichende Versorgung mit
Vitamin D, vor allem im Winter. Das
kann dazu führen, dass man anfälliger
für Infekte ist, was dann wiederum
die sportliche Leistungsfähigkeit min-
dert. Wenn also ein nachgewiesener
Mangel vorliegt, sollte man Vitamin
D über Präparate zuführen.
SPIEGEL: Also kann ich so viel Vita-
min D zu mir nehmen, wie ich möch-
te? Ohne gesundheitliche Risiken?
Smollich: Nein, auch Vitamine kann
man überdosieren. Das Bundes-
institut für Risikobewertung hat dazu
extra eine fundierte Liste mit Höchst-
mengenempfehlungen herausge-
geben. Daran kann man sich orien-
tieren. Grundsätzlich gilt: Wer gut mit
Vitamin D versorgt ist, kann seine
Leistung durch noch mehr Vitamin D
nicht boostern.
SPIEGEL: Was passiert, wenn ich als
Sportler zu viel Vitamin D schlucke?
Smollich: Zu viel Vitamin D kann zu
Herzrhythmusstörungen führen und
die Nieren schädigen. Selbst wasser-
lösliche Vitamine wie Vitamin B6 oder
Vitamin B12 können gesundheitsschäd-
lich sein, wenn sie überdosiert werden:
In beiden Fällen kann das Krebsrisiko
steigen. Früher dachte man, wenn man
zu viel Vitamine schluckt, scheidet
man die einfach mit dem Urin wieder
aus. Heute wissen wir es besser. Auch
ist es wichtig, bei der Einnahme von
Nahrungsergänzungsmitteln mögliche
Wechselwirkungen mit Medikamen-
ten zu beachten.
SPIEGEL: Welche könnten das sein?
TITEL
Smollich: Ein typisches Beispiel sind
Kalziumpräparate, die dazu führen
können, dass Antibiotika, die man
wegen einer Infektion einnehmen
muss, nicht vom Körper aufgenom-
men werden. Dadurch können die
Medikamente unwirksam werden.
SPIEGEL: Besonders viel versprechen
sich Sportler von der Einnahme von
Antioxidantien wie Vitamin C oder
Lycopin. Sie sollen die Haut schöner
machen, Athleten aber auch vor Mus-
kelkater bewahren.
Smollich: In Bezug auf die Vermeidung
von Muskelkater zeigen Studien, dass
Antioxidantien hier geringfügige, aber
doch nachweisbare Effekte haben. Das
Problem ist aber: Der oxidative Stress
während eines intensiven Trainings
stellt einen wichtigen anabolen Muskel-
reiz dar. Wenn Antioxidantien wirksam
sein sollten, dann reduzieren sie auch
diesen erwünschten Trainingseffekt.
SPIEGEL: Wieso sind Nahrungsergän-
zungsmittel in der Welt des Sports so
verbreitet?
Smollich: Das liegt vor allem am star-
ken Marketing der Anbieter. Sie spre-
Hanna Lenz / DER SPIEGEL
chen eine Klientel an, die ohnehin
schon leistungsorientiert ist und ihre
Gesundheit optimieren möchte. Das
machen sie sehr geschickt, sie nutzen
Nachahmungseffekte. Spitzensport-
ler und Influencer nehmen ein be-
Pharmazeut stimmtes Präparat, also ist das für den
Smollich Breitensportler auch nötig – so wird
es zumindest suggeriert. Außerdem
sind viele Ernährungsmythen im Um-
lauf, die den Absatz von Nahrungs-
ergänzungsmitteln vergrößern.
SPIEGEL: Welche?
Smollich: Es wird beispielsweise im-
mer wieder verbreitet, Obst und Ge-
müse seien heute nicht mehr so nähr-
stoffreich wie früher, weil die Böden
»nährstoffverarmt« seien. Das ist
wissenschaftlich längst widerlegt.
Aber bei vielen Menschen verfängt
dieser Unsinn, und sie glauben, die
vermeintlich fehlenden Nährstoffe
mit Pillen zuführen zu müssen.
SPIEGEL: Dem ist aber nicht so?
Smollich: Nicht zwingend. Zwar sind
die wenigsten von uns bei allen Mikro-
nährstoffen optimal versorgt. Dafür
müsste man sich perfekt ernähren,
und wer tut das schon? Das heißt aber
noch längst nicht, dass ein behand-
lungsbedürftiger Mangel vorliegt. Um
den festzustellen, ist eine ärztliche
Diagnostik erforderlich. Die Basis der
»Zu viel Gesundheit ist ohnehin eine vollwer-
Vitamin D tige, frische, abwechslungsreiche und
kann die pflanzenbasierte Ernährung ohne Ka-
lorienüberschuss. Eine ungesunde Er-
Nieren nährung kann man nicht durch Vita-
schädigen.« minpillen kompensieren.
Interview: Jonas Kraus n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 99
WISSEN
Methusalem
soll länger leben
RAUMFAHRT Schon in wenigen Jahren könnte
das Weltraumteleskop »Hubble« abstürzen. Die
Nasa plant deshalb einen Rettungsflug. Wie
realistisch ist eine solche Mission – und lohnt
der Aufwand?
s war ein Abschied für immer,
E so viel schien klar. Im Mai 2009
steuerte das US-Shuttle »Atlan-
tis« ein letztes Mal das Weltraumtele-
skop »Hubble« an. Bei fünf Außen-
einsätzen baute die Crew unter ande-
rem neue Technik zur Lageregelung
ein und ersetzte Akkus, eine Kamera
und ein Spektrometer. Zum Schluss
klopfte Astronaut John Grunsfeld lie-
bevoll auf den silbrigen Torso. »Es ist
schwer, sich ›Hubble‹ nicht als etwas
Lebendiges vorzustellen«, sagte der
Raumfahrer wenig später.
Weitere Wartungsmissionen wa-
ren nicht mehr möglich, weil die Nasa
ihre Shuttle-Flotte im Sommer 2011
einmottete. Nun aber überlegt die
US-Weltraumagentur, wie sich die
Lebenszeit des über 30 Jahre alten
Methusalem-Teleskops doch noch
einmal verlängern ließe – und zwar
ohne dass die amerikanischen Steuer-
zahler für die Kosten aufkommen
müssten. Im Gespräch ist eine Privat-
mission zur Rettung des fliegenden
Observatoriums. Dabei konkurriert
ein Vorschlag mit Astronauten an
Bord mit Konzepten für rein roboti-
sche Flüge.
»Hubble« fliegt rund 530 Kilome-
ter über der Erde, gut 110 Kilometer
oberhalb der Internationalen Raum-
station. »Wie jeder Satellit im niedri-
gen Erdorbit verliert das Teleskop auf
natürliche Weise nach und nach an
Höhe«, sagt Jennifer Wiseman,
»Hubble«-Projektwissenschaftlerin
bei der Nasa. Auch wenn die Mole-
küldichte extrem gering ist, wird das
Observatorium durch Gasteilchen
und Staub langsam abgebremst – am
Ende droht der Absturz. Die Wahr-
scheinlichkeit, dass dies innerhalb der
nächsten 15 Jahre passiert, liegt laut
Nasa bei etwa 50 Prozent.
Dabei befindet sich das Teleskop
»auf dem Höhepunkt seiner wissen-
100 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
schaftlichen Fähigkeiten und Erträ-
ge«, wie Wiseman sagt. Erst in dieser
Woche berichtete ein Wissenschafts-
team von der möglichen »Hubble«-
Entdeckung eines seltenen, mittelgro-
ßen schwarzen Lochs im nur 6000
Lichtjahre von der Erde entfernten
Kugelsternhaufen M4. Insgesamt
1000 Fachartikel würden jedes Jahr
auf Basis der Teleskopdaten veröf-
fentlicht, so Wiseman. Daher wäre es
aus Sicht der Wissenschaft sinnvoll,
wenn die Bahn des Teleskops ange-
hoben werden könnte – um weitere
Beobachtungszeit zu gewinnen. Die
Technik an Bord, die Akkus, genü-
gend Gyroskope zur Lageregelung,
die Messgeräte – alles sei noch in
Form, beteuert die Nasa-Astronomin.
»Hubble« hat unser Verständnis
vom Kosmos revolutioniert. Mit sei-
Pro Jahr
erscheinen
etwa
ner Hilfe entdeckten Astronomen,
dass im Herzen der meisten Galaxien
supermassive schwarze Löcher un-
ablässig Materie verschlingen. Sie er-
1000
Fachartikel
rechneten Alter und Expansions-
geschwindigkeit des Universums mit
ungekannter Präzision. Sie beobach-
teten Planeten um ferne Sterne – und
sie schufen Bilder von betörender
auf Basis von Schönheit, wie die ikonische Aufnah-
»Hubble«- me eines Sternenkindergartens im
Daten. Adlernebel, bekannt geworden als
»Säulen der Schöpfung«.
Eine Art kosmischer Abschlepp-
wagen könnte den Absturz verhin-
dern. Die beiden Privatunternehmen
Astroscale und Momentus haben ge-
rade ihre Pläne für einen unbemann-
ten Serviceeinsatz vorgelegt: Ein mit
»Hubble« bei einer kleinen Rakete gestarteter Mini-
einer Service- satellit würde sich dem Teleskop an-
mission 1999:
»Milliardenschwere
nähern und es an den Haken nehmen.
wissenschaftliche Dafür gibt es mehrere Andockpunk-
Investition« te. Dann würde der Servicesatellit
NASA
seine Triebwerke zünden und die
Flugbahn um etwa 50 Kilometer an-
heben. Für den Schub sorgt Wasser-
dampf, der mithilfe von Mikrowellen-
strahlung erzeugt wird. »Selbst mit
33 Jahren ist Hubble voll und ganz in
der Lage, seine Mission fortzuset-
zen«, sagt Momentus-Chef John
Rood. Seine Firma habe der Nasa eine
»sehr kosteneffiziente Möglichkeit«
angeboten, ihre »milliardenschwere
wissenschaftliche Investition weiter
zu betreiben«.
Die beiden noch jungen Raum-
fahrtfirmen sind zwar klein und eher
finanzschwach; und an einer Rettung
von »Hubble« würden sie nichts ver-
dienen. Die Mission wäre für sie aber
eine spektakuläre Werbung. Das Ab-
schleppen, Auftanken und Warten
kommerzieller Satelliten gilt als Zu-
kunftsmarkt, auf dem sie sich eine
gute Position verschaffen könnten.
Andere Anbieter sind ebenfalls inte-
ressiert.
Bereits im vergangenen Herbst
hatte die Nasa erklärt, zusammen
mit dem Raumfahrtunternehmen
SpaceX von Elon Musk die Möglich-
keit einer bemannten »Hubble«-Ret-
tung zu prüfen. Zum Einsatz kom-
men könnte eine mit Astronauten
besetzte »Dragon«-Raumkapsel.
Denkbar wäre solch ein Abschlepp-
flug unter der Ägide des Milliardärs
Jared Isaacman. Er hat im Jahr 2021
ein Raumschiff von SpaceX gechar-
tert und damit die erste komplett un-
trainierte Astronautencrew durchs
All geschippert.
Der solvente All-Enthusiast kann
sich auch eine »Hubble«-Mission gut
vorstellen – »mit geringen oder gar
keinen potenziellen Kosten für die
Regierung«. Aus dem Nasa-Haupt-
quartier heißt es auf Anfrage, die
Machbarkeitsstudie sei abgeschlos-
sen. Man werte derzeit die Ergebnis-
se aus.
Nur: Wozu braucht die Forschung
das alte Teleskop überhaupt noch?
Schließlich kann das neue »James
Webb«-Teleskop viel weiter in die
Tiefe des Alls schauen. »›Hubble‹ und
›Webb‹ ergänzen sich«, sagt Nasa-
Forscherin Wiseman. Die Observato-
rien hätten unterschiedliche Wellen-
längenbereiche im Blick. Etwa bei der
Beobachtung von jungen Sternen
oder beim Blick auf die Atmosphären
von Exoplaneten könnten beide per-
fekt zusammenarbeiten.
Aktuell sei »Hubble« ohnehin
überbucht, so Wiseman: Von jährlich
etwa 1000 beantragten Forschungs-
vorhaben könne man aus Kapazitäts-
gründen nur jedes fünfte umsetzen.
Christoph Seidler n

20.000
Straßennamen
muss auswendig
können, wer in
London eine
Taxi-Lizenz
erwerben
will
Navigationsgerät im Auto: »Die Orientierungsfähigkeit fördern, statt sie zu reduzieren«
Training für den Kopf
ORIENTIERUNGSSINN GPS-Navigationsgeräte sind praktisch.
Doch wer sein Hirn fit halten will, sollte sich möglichst
oft ohne digitale Hilfe in fremder Umgebung zurechtfinden.
enn Frank Dickmann digitale Karten
W verwendet, hält er darauf nach mar-
kanten Strukturen Ausschau, etwa
Flüssen oder Brücken. »Ich möchte immer
möglichst viel über die Umgebung wissen, in
der ich mich bewege«, sagt der Wissenschaft-
ler. Meistens hat er auf Reisen auch noch eine
Karte aus Papier im Gepäck. »Das Navi ist
für mich nur eine Ergänzung«, sagt er.
Dickmann ist Professor für Kartografie an
der Ruhr-Universität Bochum, da überrascht
das nicht. Doch er findet, dass sich niemand
bei jeder Autofahrt dem Diktat der Satelliten-
navigation unterwerfen sollte. Denn der Navi-
Verzicht ist gut fürs Gehirn.
Den Beweis dafür haben Forschende längst
dank der Londoner Taxifahrer führen kön-
nen. Bewerberinnen und Bewerber müssen
mehr als 20.000 Straßennamen auswendig
lernen, um die Lizenz zu erhalten – und na-
türlich auch wissen, wie sie vom jeweiligen
Standort dorthin kommen. Die Berufsgruppe
ist deswegen seit Langem interessant für die
Hirnforschung.
Wer über Jahre einen der schwarzen Wa-
gen lenkt, so ein Ergebnis einer wissenschaft-
lichen Studie, hat im Vergleich zu anderen
Menschen mehr graue Substanz im Hippo-
campus, jener Hirnstruktur, in der wichtige
Schaltkreise von Gedächtnis und Orientie-
rungsvermögen liegen.
WISSEN
Dass wahrhaftige Karten das Gedächtnis
besser anregen als digitale, hat Dickmann be-
reits bewiesen. Einer seiner Mitarbeiter chauf-
fierte Studierende auf dem Beifahrersitz 15 Mi-
nuten lang zu einem vorher nicht bekannten
Ort im Bochumer Stadtgebiet. Eine Gruppe
verfolgte die Strecke auf einem ADAC-Stadt-
plan, die andere auf dem Navi. Danach bat
Dickmann die Teilnehmenden, eine Wegskizze
zu erstellen. »Die Zeichnungen der Kartengrup-
pe waren deutlich besser als die der Navi-Grup-
pe«, sagt Kartograf Dickmann. Sie enthielten
auch mehr Details wie etwa eine U-Bahn-
Sven Krieger / AUTO BILD / ullstein bild
Station und andere räumliche Objekte.
»Wegen solcher Wegmarken zum Beispiel
erfordert eine Karte mehr kognitive Inter-
aktion«, erklärt Dickmann. Und weil das Hirn
mehr zu tun hat, bleibt auch mehr hängen.
Diesen Effekt will der Forscher nun auf
digitale Karten übertragen – in deutlich
schlichterer Form als auf einer detailreichen
Landkarte, denn Fahrerinnen und Fahrer sol-
len ja den Straßenverkehr im Blick behalten.
Für seine hirnfreundlichen Karten will sich
Dickmann Erkenntnisse der Neurowissen-
schaft zunutze machen, die inzwischen zum
Teil enträtselt hat, wie das Gehirn innere
Landkarten erstellt.
2014 erhielt ein Forscherteam den Medi-
zinnobelpreis für die Entdeckung der soge-
nannten Gitterzellen. Sie sind gleichsam die
neuronalen Grundpfeiler des Orientierungs-
sinns. Das »innere GPS«, wie das Preiskomi-
tee den Zellverbund nannte, liegt in einem
mit dem Hippocampus eng verknüpften Hirn-
bereich. Seine Funktion wurde zunächst im
Rattenmodell enträtselt. Die Zellen sind Teil
Der Hippocampus ist auch die Formation eines inneren Rasters, das in Gehirnen von
im Hirn, die bei Alzheimer-Demenz beein-
trächtigt ist – weshalb sich Betroffene oft ver-
irren. Bereits im Frühstadium der Krankheit
Menschen und Tieren von deren Umgebung
erzeugt wird. Bestimmte Strukturen beför-
dern die Zellaktivierung – etwa eine Wand
ist bei ihnen ein geschrumpfter Hippocampus im Rattenkäfig des Versuchsaufbaus. Inzwi-
im MRT zu sehen. Schützt ein gutes Orien- schen weiß man, dass sich auch Menschen
tierungsvermögen also vor Demenz? Oder mithilfe solcher Gitterzellen orientieren.
lassen sich auf dieser Basis zumindest neue Was, so Dickmanns Überlegung, wenn di-
Tests zur Früherkennung solcher Leiden ent- gitale Karten ähnlich markante Strukturen
wickeln? Auch das wäre wichtig, denn Alz- aufböten wie die Wand im Tierversuch? Der
heimer-Medikamente wirken am besten, Geograf will Navi-Karten entwickeln, auf
wenn sie möglichst früh verabreicht werden. denen kleine Markierungen in Form von Li-
Experimentalpsychologen am University nien oder Punkten eingeblendet werden. Die
College in London untersuchen deswegen, Strukturen, hofft er, könnten auch bei flüch-
wie genau sich Hippocampus und Naviga- tigem Hinsehen die Gitterzellen im Hirn von
tionsleistungen von Londoner Taxifahrerin- Autofahrenden aktivieren, ganz so, wie die
nen und -fahrern verändern – und ob sich Begrenzungen im Rattenkäfig jene im Nager-
daraus Rückschlüsse zur Früherkennung von gehirn zum Feuern bringen.
Alzheimer ziehen lassen. Ob solche Karten das Orientierungsver-
So oder so werden derlei Erkenntnisse mögen grundsätzlich fördern und wie bei den
kaum dazu führen, dass wir künftig auf GPS- Londoner Taxifahrern womöglich sogar den
Geräte verzichten. Geograf Dickmann hat Hippocampus größer werden lassen, kann
daher einen anderen Plan: Er will nicht die Dickmann nicht vorhersagen. Auf jeden Fall
Gewohnheiten der Menschen verändern, son- dürfte eine präzisere innere Karte helfen, sich
dern die digitalen Karten. Dazu entwickelt er besser an soeben zurückgelegte Wege zu er-
neue Darstellungsformen, sodass auch der innern. Wer sich beim Wandern mit leerem
kleine Ausschnitt der Umgebung auf dem Akku im tiefsten Wald verirre, so Dickmann,
Navi-Display das Gedächtnis stimuliert. Dann habe dann eine grobe Vorstellung des zurück-
könnten Navis, hofft der Forscher, »die Orien- gelegten Wegs – und damit gute Chancen,
tierungsfähigkeit fördern, statt sie immer wei- wieder herauszufinden.
ter zu reduzieren«. Julia Koch n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 101
 KULTUR
Colin Hutton / Apple TV+
Mia san Lasso
FUSSBALL Beim FC Bayern München kriselt es, und die TV-Serie rund um den AFC Richmond biegt auf die
Zielgerade. Nur ein Zufall? Der Trainer Ted Lasso könnte den »FC Hollywood« gut übernehmen.
T ed Lasso hat ein Motto: »Be a gold-
fish«. So motiviert der einstige Trai-
ner eines US-College-Footballteams
seine fiktive Premier-League-Fußballmann-
schaft. Der Goldfisch sei das glücklichste
Tier auf Erden, erklärt Lasso, weil sein Ge-
dächtnis nur zehn Sekunden zurückreiche.
Die Menschen, die »Ted Lasso« im Corona-
Lockdown über den Streamingdienst Apple
TV+ kennenlernten, werden sich an das
Glück erinnern, das die Serie in dieser Zeit
der Sorge und des Streits verbreitete:
Lasso, gespielt von Jason Sudeikis, schaffte
es, noch die härtesten Zyniker mit seinem
Charme zu überzeugen.
Der Kern seiner Philosophie: Wichtiger,
als zu gewinnen, ist es, an sich zu glauben
und ein besserer Mensch zu werden.
Am Ende hat Lasso beim AFC Richmond
erreicht, was zu erreichen ist. Vor wenigen
102 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
Tagen erschien die letzte Folge der dritten
Staffel, sie fühlte sich an wie ein Finale.
Aber bisher fehlt die offizielle Mitteilung,
dass »Ted Lasso« tatsächlich ans Ende ge-
langt ist. Soll der Coach etwa einen neuen
Job bekommen? Er könnte den FC Bayern
München übernehmen. Der ist gerade zum
elften Mal hintereinander deutscher Meister
geworden, aber in den Jubel platzte die
Nachricht, dass Vorstandschef Oliver Kahn
und Sportvorstand Hasan Salihamidžić ent-
lassen sind. Ein Ted Lasso würde Thomas
Tuchel so umstandslos in sein Trainerteam
integrieren wie in der Serie Raubein Roy
Kent. TV-Chefkritiker Lothar Matthäus
würde umarmt, denn Uli Hoeneß’ Spruch,
Matthäus werde nicht mal mehr Green-
keeper beim FC Bayern, widerspricht allem,
wofür Lasso steht. Bei Spielern wie Kim-
mich oder Goretzka würden mit ein paar
Sudeikis (r.) in »Ted Lasso«
Anekdoten Verkrampfungen gelöst, der feh-
leranfällige Verteidiger Upamecano bekäme
die Sache mit dem Goldfisch zu hören.
Vielleicht gelänge es Lasso gar, mit ein
paar »German biscuits« die Besitzerin des
AFC Richmond an die Säbener Straße zu lo-
cken? Denn Rebecca Welton erwies sich als
durchsetzungsstark gegenüber dem Fußball-
Establishment, für das beim FC Bayern die
Aufsichtsräte Hoeneß und Rummenigge ste-
hen. Pläne zu einer Art Super League brach-
te sie in der Serie mit einem Appell an die
Grundwerte des Fußballs zu Fall. Und auch
in Technokraten wie dem neuen Bayern-
Chef Jan-Christian Dreesen würde sie, im
Charmier-Duett mit Ted Lasso, Herzens-
wärme wecken. Am Ende stünde ein ganz
anderer »FC Hollywood«, in der Tabelle
womöglich nicht mehr ganz oben – aber da-
für liebenswert und menschelnd. FEB
 Mehr über Weniger Im familiären Gefecht wickeln, trösten, vorlesen. Und
zwar gar nicht mal, weil das die
LITER ATUR Die Figur Arthur SACHBÜCHER Wer mit Kin- Mütter entlastet, sondern weil
Weniger hat ihrem Erfinder dern zusammenlebt, und dies der Nachwuchs so lernt, dass
Glück gebracht. Der Roman, nicht hinterm Mond, der hat das auch Männer können: sich
den Andrew Sean Greer womöglich schon mal darüber kümmern, zärtlich sein, weich.
über Weniger geschrieben hat, nachgedacht, wie wichtig es ist, Aber weil man all diese Ge-
»einen schwulen weißen Ro- dass Jungen weinen und Mäd- danken womöglich im Eifer des
manautor mittleren Alters, von chen wütend werden dürfen, familiären Gefechts schon mal
dem noch nie jemand gehört dass also alle Gefühle für alle da verdrängt, sind Bücher wie die-
hat«, wurde 2018 mit dem sind, so wie im Übrigen auch ses so wichtig. »Kümmern und
Pulitzerpreis ausgezeichnet. alle Kleiderfarben und alle Kämpfen« heißt es. Die Berliner
Eine ziemliche Überraschung Spielzeuge. Wie wichtig es ist, Autorin Anne Waak erklärt

Arnaud Meyer / Leemage

war das. Denn von einem
frühen Achtungserfolg abgese-
hen (»Die erstaunliche Ge-
schichte des Max Tivoli«),
schien Greer im grauen Mittel-
feld der Literaturtabelle zu spie-
len. In den USA machte die
Auszeichnung »Mister Weni-
ger« zum Bestseller. Es mag also
auch außerliterarische Gründe
dafür gegeben haben, dass
Greer nun eine Fortsetzung ge-
schrieben hat, der Titel: »Hap-
py End« (S. Fischer; 304 Seiten;
24 Euro). Tatsächlich ist Arthur
Weniger eine Figur, die in ihrer
Mischung aus Tragik und Ko-
mik mehr als nur einen Roman
trägt. »In der Flasche der Er-
niedrigung«, wie es im ersten
Buch hieß, sind eben »immer
noch ein paar Tropfen übrig«.
Flüchtete Weniger damals vor
der Hochzeit seines ehemaligen
Liebhabers um die Welt, so
verschlägt es ihn nun mit einem
Campervan in die Tiefen der
USA – auf dem Beifahrersitz
die Mopsdame Dolly. Der Er-
zähler blickt mit einer Mischung
mit Söhnen zu kuscheln und mit in ausgeruhtem Ton, warum ge-
Töchtern zu raufen, die Kinder schlechtergerechte Erziehung
nie für ihren Körper zu kritisie- das Potenzial hat, alle freier zu
ren, aber auch nicht zu loben, machen: Kinder wie Eltern,
Greer
die Vulva so selbstverständlich Frauen wie Männer. Manche
zu benennen wie den Penis. ihrer Argumentationen mögen
Angst hervorrufen würde wie Wie wichtig es ist, schon mit einem arg avanciert vorkom-
ein Ringkampf mit einem Alli- Drei-, Vier-, Fünfjährigen alters- men, andere schlicht, und einige
gator«. Zwischen den Bedro- gerecht über Liebe und Sex zu sind das womöglich auch. Am
hungen der Natur und denen sprechen. Und dass das keines- Ende aber ahnt man: Die eige-
der Zivilisation gerät Weniger in wegs eine Form der Frühsexua- nen Kinder werden einem mal
abenteuerliche Situationen. So lisierung darstellt, ganz im dankbar sein, dass man Bücher
verhindern auch die US-Fahnen Gegensatz zur grotesken Mode, wie dieses gelesen hat. TOB
am Heck nicht, dass er in einer schon Kleinkindern einen Bikini
Redneck-Bar gefragt wird, wie anzuziehen. Wie wichtig es Anne Waak: »Kümmern und Kämpfen«.
es denn wohl sei, schwul zu schließlich ist, dass auch Väter Goldmann; 256 Seiten; 18 Euro.
sein. Es ist ein Roman voller
Situationskomik und melancho-
lischer Halbsätze. Den nach
Donald Trumps Wahl geäußer-
ten Vorwurf, die Intellektuellen
an der Ost- und Westküste igno-
rierten den Rest des Landes, hat
sich Autor Greer wohl zu Her-
zen genommen und ist wie des-
sen Held auf eine Reise von San
Francisco nach Osten aufge-
brochen. Etwas Empathie hat
er mitgebracht – und in die
Nebenfiguren einfließen lassen:

Flashpop / Getty Images

aus Liebe und Verzweiflung auf
Weniger und beschreibt ihn
als jemanden, »für den das
Bestellen eines Sandwiches in
etwa ein ähnliches Maß an
»Es gibt nichts als Protagonis-
ten. Protagonisten, soweit das
Auge reicht«, heißt es einmal. Kindliches
Doch keiner ist so liebenswert Rollenspiel
wie Arthur Weniger. FEB

Globale Coolness Stück Pop-Art legte der senegalesische

KINO Mit einem Motorrad brettert Mory
(Magaye Niang) durch die senegalesische
Hauptstadt Dakar, auf den Lenker mon-
tiert ist ein Paar spitze Hörner. Das ver-
Cinegrit / Studio Kankourama / Kobal / Shutterstock
Regisseur Djibril Diop Mambéty 1973
mit »Touki Bouki« vor. Zum 50. Jubilä-
um wird der Film wiederaufgeführt und
belegt, warum er nicht nur als Klassiker
des afrikanischen Kinos gilt: Das Aus-

leiht dem Fahrzeug den Anschein eines
angriffslustigen Rinds, das keinen Hirten
mehr braucht, sondern aus eigenem
Antrieb heraus Sturm läuft – gegen ein
Land, das jungen Leuten wie Mory
nichts zu bieten hat. Gemeinsam mit sei-
ner Geliebten Anta (Mareme Niang)
will er deshalb sein Glück in Frankreich
suchen. Am nächsten Tag schon fährt ein
Schiff los. Nun muss nur noch das Geld
für die Tickets her. Ein Generationen-
Szene aus »Touki Bouki« porträt, eine Gaunerkomödie und ein
reißerpaar Mory und Anta ist von so glo-
baler Coolness, dass schon Beyoncé und
Jay-Z auf einem Motorrad mit Hörnern
posierten. »Touki Bouki« erzählt zu-
gleich von einem Senegal, der den Ein-
fluss seiner Ex-Kolonialmacht nicht ab-
schütteln kann. »Paris, Paris, Paris«, lockt
Josephine Baker auf dem Soundtrack.
Ein Sirenenruf, der für Mory und Anta
heute wohl den Tod auf dem Mittelmeer
bedeuten würde. »Touki Bouki« hält
zum Glück anderes für sie parat. HPI

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 103

KU LT U R

Catherine Opie

Filmstar Page

104 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023

 KU LT U R

»Ich wäre gern die Person

geworden, die andere
aus mir machen wollten«
SPIEGEL-GESPRÄCH Der Schauspieler Elliot Page gilt als einer der größten Stars seiner
Generation – doch jahrelang musste er kämpfen. Hier redet er über
sein Coming-out als trans Mann, Depressionen und die Doppelmoral von Hollywood.

Los Angeles, ein Luxushotel am Sun-
set Boulevard, Elliot Page blinzelt in
die Sonne. Er ist ein Hollywoodstar,
einer aus der sogenannten amerika-
nischen A-List, also berühmt, begehrt,
mit Preisen bedacht. Schon als Teen-
ager stand der aus einer kanadischen
Hafenstadt kommende Page vor der
Kamera. Seinen Durchbruch feierte er
dann 2007 als schwangere Schülerin
Juno im gleichnamigen Indiefilm, die
Rolle brachte ihm eine Oscarnominie-
rung ein; zuletzt feierte er großen Er-
folg in der absurden Netflix-Super-
heldenserie »The Umbrella Acade-
my«. 2014 hatte Page sein queeres
Coming-out, vor zwei Jahren dann
ließ er sich als erster trans Mann auf
dem Cover des »Time«-Magazins ab-
lichten. Seit der Transition zeigt er sich
auf Instagram unbeschwert, glücklich
und gern mal oberkörperfrei. Auf der
Terrasse des Hotels sitzt er nun in Polo-
shirt, Jeans und Gucci-Loafern, um
über seine Autobiografie zu sprechen.
In »Pageboy« schildert der 36-Jährige
die angespannte Beziehung zu seinen
Eltern, seine Depressionen und Ess-
störungen – und warum es für ihn ein
Privileg war, dass er sich eine ge-
schlechtsangleichende Operation leis-
ten konnte*.
SPIEGEL: Herr Page, in der Einlei-
tung Ihres Buchs schreiben Sie, dass
zu queeren Erfahrungen eigentlich
alles gesagt worden ist. Wieso haben
Sie es dann doch noch mal aufge-
schrieben?
Page: Zum einen wegen des Backlash
durch transfeindliche Gesetze in den
USA. Wir leben gerade in einem poli-
* Elliot Page: »Pageboy«. Aus dem Englischen
von Stefanie Frida Lemke, Lisa Kögeböhn und
Katrin Harlaß. S. Fischer; 336 Seiten; 24 Euro.
Das Gespräch führten die Redakteurin Elisa
von Hof und der Redakteur Enrico Ippolito.
tischen Klima, das mir Angst macht.
Jeden Tag werden wir mit Meinungen
überschwemmt, die unsere Existenz
leugnen, die Witze auf unsere Kosten
machen, die uns erniedrigen. Aus
eigener Erfahrung weiß ich, wie sehr
Bücher einem helfen, mich haben sie
verändert und geformt. Es war aber
auch ein Heilungsprozess für mich,
diese Dinge aufzuschreiben.
SPIEGEL: 2020 hatten Sie Ihr Coming-
out als trans Mann. Was ist seitdem
anders?
Page: Nach meinem ersten Outing
2014 als queerer Schauspieler wollte
ich vor allem auch queere Rollen spie-
len. Mein zweites Outing war dann
intensiver, was meine eigene Gefühls-
welt betrifft. Ich vermute, viele trans
Menschen fühlen das so. Aber ich
stehe auch immer noch am Anfang
meiner Transition.
SPIEGEL: Sie erzählen in dem Buch
viel von den Traumata vor Ihren
Coming-outs. Sie litten viele Jahre
unter Essstörungen, Panikattacken
und Depressionen. Während Sie lä-
chelnd im Scheinwerferlicht standen,
ging es Ihnen schlecht, weil Sie nicht
der sein konnten, der Sie waren.
Page: Das stimmt, aber ich hatte das
Privileg und das Glück, in Therapie
gehen zu können. Sich um seine men-
tale Gesundheit zu kümmern sollte
jedem Menschen ermöglicht sein.
Und dann hat die Transition mein
Leben komplett verändert. Heute
fühle ich mich so, wie ich es mir nie
habe vorstellen können. Klar, nicht
jeder Tag ist fantastisch, aber meine
Angststörungen, meine schwierige
Beziehung zum Essen oder zu mei-
nem Körper – all das hat sich kom-
plett verändert. Ich bin jeden Tag sehr
früh aufgewacht und habe mich da-
rauf gefreut, weiter an dem Buch zu
schreiben.
SPIEGEL: Sie haben es aus einem Zu-
stand der kompletten Freude ge-
schrieben?
Page: Nein, nicht nur, natürlich blieb
ich an manchen Stellen stecken, oder
mich plagten doch Selbstzweifel.
Selbstverständlich habe ich mich
manchmal gefragt, was ich mir dabei
bloß gedacht habe. Oder habe da-
rüber nachgedacht, was die Leserin-
nen und Leser wohl von mir denken,
wenn sie das lesen.
SPIEGEL: Wenn Sie über die Vergan-
genheit schreiben, verwenden Sie den
Namen, den Sie von Ihren Eltern be-
kamen, auch die weiblichen Prono-
men – etwas, das viele trans Männer
und Frauen vermeiden, weil es mit
einer schmerzhaften Vergangenheit
verbunden ist.
Page: Mein Buch soll keine Einladung
für andere Menschen sein, es auch so
zu tun. Ich habe mich dafür entschie-
den, weil es sich richtig angefühlt hat.
Genauso, wie es sich richtig angefühlt
hat, sich von einer chronologischen
Erzählung zu lösen. So ist das Leben
nun mal nicht, linear und geordnet.
Es setzt sich aus vielen Stückchen
zusammen.
SPIEGEL: Sicher werden auch Ihre
Eltern das Buch lesen. Die Bezie-
hung scheint nicht immer einfach
gewesen zu sein. Ihre Eltern ließen
sich scheiden, als Sie sehr klein wa-
ren, fortan mussten Sie zwischen
zwei Haushalten pendeln. Dass
Sie sich weniger mädchenhaft klei-
den und kurze Haare tragen wollten,
hat ihre Mutter nicht unterstützt,
von Ihrem Vater fühlten Sie sich
»Jetzt sieht als Kind unverstanden, Ihre Stief-
meine Mutter, mutter nannte sie eine »Plage« und
wie viel »Heulsuse«.
Page: Tut mir leid, über meinen Vater
glücklicher möchte ich nicht sprechen. Aber das
ich bin.« Verhältnis zu meiner Mutter hat sich

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 105

KU LT U R
in den vergangenen Jahren sehr ver-
ändert.
SPIEGEL: Sie danken ihr in Ihrem
Buch.
Page: Unsere Beziehung ist heute so
gut wie nie zuvor. Sie ist mir heute
eine große Verbündete. Früher wuss-
te sie es einfach nicht besser, hat es
mit mir gut gemeint. Sie dachte im-
mer: Wenn man sich anpasst, wird
schon alles gut. Damit ist sie selbst
groß geworden. Und wenn man das
immer erzählt bekommt, glaubt
man es. Jetzt sieht meine Mutter,
wie viel glücklicher ich bin und wie
wohl ich mich in meinem Körper
fühle. Das ist auch für sie eine Er-
leichterung.
SPIEGEL: Hätten Sie früher gedacht,
dass sich Ihre Beziehung so verändern
wird?
Page: Als Teenager und auch später
war das schon herausfordernd. Sie
wollte nicht, dass ich queer bin. Und
auch als sie sagte, dass sie damit okay
sei, konnte ich noch immer ihre Ent-
täuschung und Trauer spüren. Sie
hat einfach Zeit gebraucht. Was das
aber zeigt: Menschen können sich
verändern.
SPIEGEL: Sie erzählen nicht nur von
Ihren Eltern, sondern auch aus dem
Privatleben anderer, zum Beispiel aus
dem der Schauspielerin Kate Mara,
mit der Sie eine Beziehung führten.
Wie haben Sie sichergestellt, dass alle
erwähnten Personen mit Ihren Schil-
derungen einverstanden sind?
Page: Ich habe Kate das Kapitel über
unsere Beziehung geschickt, um si-
cherzugehen, dass sie sich damit
wohlfühlt. Und sie wollte nicht, dass
ich nur ein einziges Detail verändere.
Sie hat gesagt, dass sie meine Offen-
heit liebt.
106 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
SPIEGEL: Ihr Buch ist bisweilen auch
intim, zum Beispiel wenn es um Sex
geht. »Wie zutiefst befreiend, mit
einem Menschen zusammen zu sein,
der es liebte, meinen Schwanz und
meine Pussy zu ficken. Endlich er-
laubte ich mir, es zu genießen«,
schreiben Sie über sexuelle Erfahrun-
gen nach der Transition.
Page: Es war mir sehr wichtig, das zu
schildern. Wenn ich Bücher über
queere Menschen lese und es darin
auch um Sex geht, freue ich mich da-
rüber. Denn wir bekommen das sonst
nicht zu lesen. Es gibt so viele Filme
und Bücher voller Cis-hetero-Sex,
aber kaum queeren Sex. Außerdem
ist es ein wichtiger Aspekt unseres
Lebens. Sex hat ja damit zu tun, wer
wir sind, wie wir mit anderen Men-
schen umgehen und wie wir zu unse-
ren Körpern stehen.
SPIEGEL: Sie haben früh mit der
Schauspielerei angefangen, aber erst
mit Ihrer Hauptrolle in »Juno« wur-
den Sie weltweit über Nacht bekannt.
Wie war es, mit 20 Jahren ein Star
zu werden?
Page: Wahnsinnig aufregend. Die Zu-
schauerinnen und Zuschauer waren
bewegt, sie haben gelacht. Dieser
kleine Film war wegen Juno so be-
liebt. Wie sie sich gab, wie sie sich
anzog, wie sie sprach – eben nicht
stereotyp feminin. Es war toll. Aber
dann wurde es für mich schlimm.
SPIEGEL: Wie?
Page: Als ich den Film bewarb, sollte
ich Kleider, High Heels und Make-up
tragen. Sobald die Marketingmaschi-
ne Hollywoods ansprang, nahm sie
mir alle Freude an dem Film.
mptv / ddp
SPIEGEL: Als Schauspieler kann man
dieser PR-Maschine nichts entgegen-
setzen?
Schauspieler Page Page: Ich wollte nicht undankbar wir-
(l.) in »Juno« 2007 ken – und es war auch eine neue Welt
für mich. Ich war nicht an Presse und
Sichtbarkeit gewöhnt. Klar, ich hatte
mal eine kleine Rolle in einem »X-
Men«-Film, als ich 19 Jahre alt war.
Aber der Rummel war nicht ansatz-
weise vergleichbar mit dem, was um
»Juno« passierte. Ich habe auf Leute
gehört, auf die ich nicht hätten hören
sollen.
SPIEGEL: Wie genau funktioniert das?
Hat Ihnen jemand gesagt, dass Sie
gefälligst dankbar sein sollen?
Page: Ich habe mir das teilweise selbst
angetan. Das soll nicht banal klingen,
aber es war doch so: Mein Traum
wurde wahr. Dann jedoch merkte ich,
dass mein Traum so nie aussah. Ich
wollte aber auch kein Arschloch sein,
das sich sofort beschwert. Ich hatte
quasi schon die Stimmen im Kopf, die
Darsteller Page
(2. v. r.) in »The auf meine Beschwerde geantwortet
Umbrella Academy« hätten: »Buhu, du musst ein Kleid
2022: »Der Show­ tragen! Wie tragisch!« Und ich hätte
runner sagte sofort:
Lass uns die
die Stimmen auch ein Stück weit ver-
Transition in die Serie standen. Ohne das Leid, das entsteht,
einbauen« wenn man in eine Geschlechtsrolle
gedrängt wird, mit der man sich nicht
identifiziert, kann man nicht nach-
empfinden, wie sich das für mich an-
gefühlt hat.
SPIEGEL: Wie hat es sich angefühlt?
Page: Es nahm mir all die Freude, die
ich an dem Beruf hatte. Das ging so
weit, dass ich kein Schauspieler mehr
sein wollte. Ich habe mich so isoliert
gefühlt. In mir war eine riesengroße
Scham. Ich wäre gern die Person ge-
worden, die andere aus mir machen
wollten. Hätte ich mit den Fingern
schnipsen können, um mich so zu
verändern – meine Güte, ich hätte es
getan.
Christos Kalohoridis / NETFLIX
SPIEGEL: Niemand hat gemerkt, wie
unwohl Sie sich fühlten?
Page: Na ja, die Absichten der meisten
Menschen sind ja nicht per se schlecht.
Sie denken, dass ihre Empfehlungen
für meine Karriere hilfreich seien. Sie
raten dir: Du bist ein Schauspieler,

spiel deshalb diese Rolle, und spiel dieses
Spiel in der Öffentlichkeit, halte dein Privat-
leben immer privat. Das ist das Mindset in
Hollywood. Natürlich ist das nicht gesund,
sondern destruktiv und queerfeindlich. Denn
die heterosexuellen Schauspielerinnen und
Schauspieler gehen selbstverständlich Händ-
chen haltend über den roten Teppich und
sprechen in Interviews über ihre Kinder. Ir-
gendwann wurde mir klar, dass man nur zu
queeren Menschen sagt, dass sie ihr Privat-
leben verstecken sollen.
SPIEGEL: Ging es da nur um die Karriere, oder
steckte hinter solchen Ratschlägen auch ehr-
liche Sorge um Sie als Person? In der Neu-
verfilmung des Science-Fiction-Thrillers
»Flatliners« wurden Sie gebeten, figurbeton-
te Kleidung zu tragen und hohe Absätze,
so beschreiben Sie es in Ihrem Buch. Als Sie
sich weigerten, fragte der Regisseur, ob Sie
sauer seien, da Ihre Figur nicht lesbisch sei,
Sie hatten sich zuvor öffentlich geoutet. Und
Sie beschreiben auch eine Situation auf einer
Party, wo ein Hollywoodstar zu Ihnen sagte:
»Ich fick dich mal so richtig durch, dann wirst
du schon merken, dass du doch auf Männer
stehst.«
Page: Das sind nur ein paar Beispiele von
vielen, ich hätte so viele mehr nennen können.
Das ist einfach Realität. Vor allem Frauen
müssen in vielen Fällen auf eine bestimmte
Weise aussehen und sich auf eine bestimmte
Weise präsentieren. Das war auch eine Kon-
stante bei den meisten Filmen, die ich ge-
macht habe. Immer wieder wurde das von
mir gefordert. Ich habe mich aber dagegen
entschieden, den Namen des Hollywoodstars
zu nennen.
SPIEGEL: Warum?
Page: Weil es dann nur noch darum gegangen
wäre, mit dem Finger auf eine einzelne Per-
son zu zeigen. Die Frage ist für mich eher,
was wir aus solchem Verhalten lernen kön-
nen. Und es hat mich schon viel Kraft ge-
kostet, überhaupt über diese Dinge zu spre-
chen. Wenn ich den Namen nenne, dreht sich
alles nur noch um diese Person. Mir ist be-
wusst, dass manche Medien diese Art von
dramatischen Ereignissen schaffen wollen
und brauchen. Die Geschichte würde mir aus
den Händen gerissen werden, um damit
einen Konflikt zu erzeugen. Clickbait. Mir
geht es aber definitiv auch nicht darum, ir-
gendwen zu schützen. Ich habe vor einigen
Jahren auch einen Meinungsbeitrag über den
Regisseur Brett Ratner und sein furchtbares
Verhalten geschrieben. Während der Dreh-
arbeiten von »X-Men: Der letzte Wider-
stand« hat er mich vor versammelter Crew
als queer geoutet.
SPIEGEL: Warum haben Sie in solchen Mo-
menten nicht hingeschmissen?
Page: Es gab Momente, in denen ich darüber
nachdachte. Und dann gab es immer wieder
Momente, in denen ich das Gefühl hatte, was
soll ich denn sonst tun? Ich bin nie zur Uni
gegangen. Es gibt natürlich viele Dinge, die
man trotzdem machen kann, aber Schauspie-
KU LT U R
len ist das, was ich am besten kann. Heute bin
ich froh, dass ich dabeigeblieben bin.
SPIEGEL: Hat es sich trotzdem unfair ange-
ALS
fühlt, dass Sie darüber nachdenken mussten,
Ihren Traumberuf aufzugeben – nur weil
DEUTSCHLAND
Hollywood noch nicht bereit für Sie war?
Page: Das hat es. Und während ich mich selbst
KOLONIALMACHT
versteckt habe, sah ich zu, wie heterosexuel- WAR
le Schauspieler Preise für queere Rollen ge-
wannen und dafür gelobt wurden, so mutig
zu sein. Das ist frustrierend.
SPIEGEL: Kolleginnen und Kollegen wie
Jared Leto, Sean Penn, Tom Hanks und Hi-
lary Swank bekamen für ihre queeren Rollen
Oscars.
Page: Einerseits werden Menschen dazu auf-
gefordert, sich zu verstellen. Und dann gibt
es einige der berühmtesten Heteroschauspie-
ler, die von queeren Rollen profitieren und
Erfolge damit feiern.
SPIEGEL: Auf der Leinwand erzählt Holly-
wood gern Geschichten über Emanzipation
und Freiheit, hinter den Kulissen geht es aber
repressiv zu, was sexuelle Orientierung und
geschlechtliche Identität angeht?
Page: Ja, ich würde sagen, es fehlt sogar noch
immer auf beiden Ebenen an Inklusivität,
und zwar in einem erschreckenden Ausmaß.
Wenn Menschen in Machtpositionen über-
wiegend heterosexuell, cisgender und weiß
sind, werden queere Geschichten von ihnen
kontrolliert und abgemildert. Es geht letztlich
um Geld. Und es gab eben lange den Glauben, 256 Seiten mit Abb., gebunden � 22,00 €
dass queere Geschichten nicht profitabel Auch als E-Book erhältlich
sind. Das ist allerdings nicht wahr. Da wird
das Publikum unterschätzt. Offensichtlich
ändert sich das gerade ein wenig, aber nur
schrittweise. Das Deutsche Kaiserreich war
SPIEGEL: In der Netflix-Serie »The Umbrella alles andere als eine kleine oder
Academy«, in der Sie eine Hauptrolle spielen, zurückhaltende Kolonialmacht:
passte das Autorenteam Ihre Figur Ihrem
Leben an. Die hieß ab der dritten Staffel dann Nicht nur in Afrika sondern auch
Viktor. in China und Ozeanien waren
Page: Das war großartig. Ich habe Steve Black- Deutsche für Gräueltaten und
man, dem Showrunner der Serie, von meiner
Transition erzählt. Er sagte sofort: Lass es uns Ausbeutung verantwortlich.
in die Serie einbauen. Ich wünschte, jeder Dieses SPIEGEL-Buch zeichnet
wäre so. den deutschen Kolonialismus von
SPIEGEL: Netflix wird für sein Geschäfts-
modell auch kritisiert, gleichzeitig hat der den Anfängen nach und bietet
Streamer den Ruf, modern und empathisch anhand eindrücklicher
mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um- Zeitzeugenberichte Einblicke
zugehen.
Page: Na ja, ich glaube, es hatte mehr mit in den Alltag der kolonialisierten
Steve zu tun. Länder. Vor allem aber zeigt es,
SPIEGEL: Es gibt also doch nicht nur Karriere- wie dauerhaft die Folgen des
berater, sondern auch echte Freundschaften
in Hollywood? deutschen Kolonialismus zu
Page: Oh gosh, es ist schon ein ulkiger Platz, spüren sind – in den ehemaligen
Hollywood. Weil ich aus Kanada stamme, Kolonien und hierzulande.
wurde ich nie komplett von Los Angeles
absorbiert. Es gibt dieses glitzernde Image
und den Glamour, aber beides entspricht
eben nicht ganz der Realität. Auch hier ver-
suchen die Leute am Ende einfach, ihr Leben
zu leben.
SPIEGEL: Herr Page, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch. n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 107
www.dva.de
KU LT U R
Schauspieler Ford,
Mirren in »1923«
Mythos der Freiheit
STREAMING Mit »Yellowstone« schuf Taylor Sheridan eine Westernwelt,
die Millionen in den Bann zieht. Die neue Serie »1923« räumt
mit der verklärten Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten auf.
iemand würde den republikanischen
N US-Politiker Ron DeSantis eines Über-
maßes an Charisma verdächtigen.
Bei Auftritten wirkt der Konkurrent von
Donald Trump häufig wie ein Roboter, und
auch in dem Werbespot, in dem er vor Kur-
zem seine Kandidatur für die Präsidentschaft
bekannt gab, sprüht DeSantis nicht gerade
vor Lebendigkeit. Aber er braucht in dem
Clip nur 15 Sekunden bis zum Versuch, zu-
mindest wie die Westernikone John Wayne
zu klingen: »Freiheit ist es wert, dafür zu
kämpfen«, sagt DeSantis.
In den USA kommt kein Politiker, egal von
welcher Partei, am Freiheitsbegriff vorbei.
Nur reiht er sich für Konservative neben Vater-
land und Gott in einen dreifaltigen, kaum ver-
änderbaren Gründungsmythos ein, während
Progressive unter dem Freiheitslabel häufig
Chancengleichheit für alle Menschen jeder
Hautfarbe und jedes Geschlechts fordern. Der
Kampf um die Deutungshoheit über diesen
Begriff wird dabei so unerbittlich ausgetragen,
weil ein Staat wie die USA, der innerhalb
kurzer Zeit durch einen Willensakt von Ein-
wanderern entstanden ist, eine klar umrisse-
ne Idee von sich selbst noch stärker benötigt
108 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
James Minchin / Paramount+
als Länder, die sich über Jahrhunderte ent-
wickelt haben.
Es liegt wohl genau an dieser Gemenge-
lage, dass der riesige Erfolg der Westernserie
»Yellowstone« in den USA so erhitzt disku-
tiert wird. Die Serie, die das Schicksal der
Familie Dutton über Jahrhunderte spannt und
als Erzählung über den Rinderbaron John
Dutton (Kevin Costner) begann, ist mittler-
weile in der fünften Staffel angekommen. Ihr
Erfinder Taylor Sheridan stieg mit »Yellow-
1 2
stone« zu einem der mächtigsten TV-Produ-
zenten der USA auf. Gerade ist das zweite
Prequel »1923« mit Harrison Ford und Helen
Mirren in den Hauptrollen erschienen, die
darin ein alterndes Farmer-Ehepaar am An-
fang des vergangenen Jahrhunderts spielen.
In Deutschland ist »1923«, wie auch die Vor-
gängerserien, auf der Streamingplattform
Paramount+ zu sehen.
Einige Kritiker warfen »Yellowstone« vor,
eine »Seifenoper für Trumpisten« zu sein. Tat-
sächlich erzielte die Serie in jenen Bundes-
staaten, in denen die Republikaner hohe Stim-
menanteile verzeichnen, auch hohe Einschalt-
quoten. Auf den ersten Blick ist dieser Reflex
nachvollziehbar. In »Yellowstone« geht es
vordergründig um Cowboys und Pferde, um
Männer, die ihren Landbesitz verteidigen, ihre
individuelle Freiheit nötigenfalls mit Gewalt
durchsetzen – um Nationalfolklore also, die
vor allem in den Red States verortet wird.
Es ist eine Folklore, die der klassische Wes-
tern seit der Stummfilmzeit kultivierte und
pflegte wie kein anderes Filmgenre: Zwischen
Ende der Dreißiger- und Anfang der Sechziger-
jahre des letzten Jahrhunderts schuf Holly-
wood die Kulissen für diese imaginierte Ge-
schichte der USA. Die Filme von John Ford
(»Der schwarze Falke«) und Howard Hawks
(»Rio Bravo«) zeigten weiße Männer, die ihr
Leben in die Hand nahmen und die gesell-
schaftlichen Fesseln abstreiften.
An der Frontier, der sich immer weiter
verschiebenden Grenze zwischen »Wildem«
Westen und dem von europäischen Einwan-
derern besiedelten Land, erkämpften sie sich
ihre radikal individuelle Freiheit. Im Zentrum
stand immer der einzelne Held, der sich gegen
alle Widerstände durchsetzt, um endlich ganz
er selbst sein zu können.
»Yellowstone« trägt all diese Motive in
sich. Doch die Vorwürfe, es handle sich des-
halb um ein reaktionäres Serienuniversum,
greifen zu kurz. Denn Sheridans Serien sind
wesentlich komplizierter – und interessanter.
Man könnte sagen, er versucht sich damit in
einer Art Westerndialektik.
Sheridan, der auf einer Ranch in Texas auf-
wuchs und sich gern mit Cowboyhut fotogra-
fieren lässt, schwelgt vor allem in »1923« einer-
seits in einer nostalgischen Rückschau, die das
harte und vermeintlich ehrliche Leben der
picture alliance

Cowboys verklärt: Der Familienpa-
triarch Jacob Dutton (Ford) kämpft
darin mit Schafzüchtern um Weide-
land. Gleichzeitig aber arbeitet She-
ridan auch an der Dekonstruktion
dieses Selbstbilds – und damit auch
an der Dekonstruktion des Grün-
dungsmythos der USA. Denn Dutton
ist verblendet. Er verkennt, dass sein
Feind gar nicht die anderen Farmer
sind – sondern ein technischer Fort-
schritt, symbolisiert durch heiser
hupende Autos, die auch für jenen
Großindustriellen stehen, der ein
Auge auf Duttons Besitz geworfen hat.
Der Historiker Greg Grandin
schreibt in seinem 2019 erschienenen
Buch »The End of the Myth: From
the Frontier to the Border Wall in the
Mind of America«, der Mythos von
der ewig zu überschreitenden Gren-
ze habe schon im 19. Jahrhundert
dazu gedient, Auseinandersetzungen
über einen stärkeren sozialen und
wirtschaftlichen Ausgleich zu ersti-
cken. Das Bild der Frontier überdeck-
te zudem die extreme Unfreiheit, die
mit der Freiheit einiger Menschen
einherging. Es geht um Sklaverei,
Landraub, Verbrechen an den Urein-
wohnern des Kontinents. Für Gran-
din ist Amerikas Mythos deshalb eine
große Selbstlüge.
Dieser Gedanke schwingt bei
Sheridan immer mit: Schon im Jahr
1923 war das Land bis zur Westküste
in der Hand der weißen Siedler. Aber
auch Jacob Dutton fällt in »1923« auf
den Mythos rein, man müsse sich nur
zumindest gedanklich immer Rich-
tung Horizont aufmachen, um sein
Glück zu erreichen.
Sheridan seziert so die Welt, die
er geschaffen hat, immer wieder als
einen Ort, an dem viel von Freiheit
die Rede ist, während äußere Zwänge
aus den Einzelnen zynische, harther-
zige Menschen machen. Jacobs Nach-
fahr John Dutton, der Großgrundbe-
sitzer aus der im Heute angesiedelten
Serie »Yellowstone«, würde alles und
jeden für das Ziel opfern, sein Land
3 4
imago stock / United Archives
zusammenzuhalten. Glück sieht an-
ders aus.
Auch in klassischen Western wur-
den Risse im gesellschaftlichen Ge-
webe manchmal angedeutet, aber sie
waren viel stärker codiert. In »Der
schwarze Falke« spielt John Wayne
einen Mann, der von seinen rassisti-
schen Glaubenssätzen verzehrt wird.
In den psychologischen Western von
Anthony Mann, die er zwischen 1950
und 1955 drehte, gab James Stewart
Antihelden mit starken Zweifeln und
einer großen Portion Selbsthass. Der
Einzelne verzweifelte, aber das, was
ihn verzweifeln ließ, blieb implizit:
Die Massaker an den Ureinwohnern
wurden nicht gezeigt, dafür weiße
Männer, die nicht frei und allein, son-
dern einsam und verbittert waren.
Erst die Italowestern der Sechzi-
gerjahre schossen den Gründungs-
mythos mit ihren apokalyptischen
Gewaltorgien schließlich endgültig
in Fetzen – besaßen in ihrer Brachiali-
tät aber nicht die Intelligenz und die
Lust an widersprüchlichen Botschaf-
ten, mit der Sheridan seine Serien in-
szeniert.
Das »Yellowstone«-Prequel »1883«
folgt einem Trek von deutschen und
osteuropäischen Einwanderern Rich-
tung Westen, zu ihnen gesellen sich
Vorfahren des späteren Dutton-Clans.
Schwärmerische Naturaufnahmen,
die die Landschaft feiern und an die
Kulissen John Fords gemahnen, ste-
hen neben Bildern exzessiver Gewalt,
die schwer zu ertragen sind und dem
Mythos eine aufwühlende historische
Genauigkeit zur Seite stellen. Das
Leben in einer überwältigenden Natur
ist zugleich von erbarmungsloser
Brutalität geprägt, die niemanden
verschont. Und die Verbrechen an
den Menschen, die schon immer hier
lebten, fügen dem Vormarsch der
Siedler ein Ausmaß von Barbarei hin-
zu, das beim Zuschauen jede Vorstel-
lung sprengt.
Die neue Serie »1923« baut diese
gegenläufigen Erzählungen und Bil-
ddp images
KU LT U R
Neben dem der noch stärker aus. Stellenweise
wirkt sie wie eine monumentale Sei-
Kitsch steht fenoper; bei gleich zwei Liebesge-
in »1923« schichten, die ausgebreitet werden,
unvermittelt schmachten die Geigen auf dem
Soundtrack; ein Erzählstrang spielt
das Grauen. mit »Jenseits von Afrika«-Motiven
und zeigt einen Dutton, der weit weg
von zu Hause als Großwildjäger sein
Glück sucht.
Doch auch hier steht neben einer
fast schon kitschigen Erzählung stets
unvermittelt das Grauen. Ein indige-
nes Mädchen, das in einem katholi-
schen Heim von Nonnen umerzogen
werden soll, erschlägt seine Peiniger
mit einem Sack Bibeln. Im Kampf um
Weideland werden Menschen ohne
Umstände erschossen und erhängt.
Sheridan selbst sagte mal über die
neue Serie: »Es geht darin um die
Umsiedlungen von amerikanischen
Ureinwohnern und darum, wie indi-
gene Frauen behandelt wurden – und
um die Gier von Unternehmen und
die Verdrängung im Westen, um
Landraub. Und das soll eine Red-
State-Show sein?«
Tatsächlich ist »1923« von einem
Widerspruch geprägt, der die Erzäh-
lung beinahe sprengt. Die neue Serie
führt Sheridans tastenden Versuch,
den Gründungsmythos der USA mit
der historischen Wahrheit zu konfron-
tieren, so konsequent weiter, dass sie
für Zuschauerinnen und Zuschauer
aus den USA, egal aus welchem poli-
tischen Lager, eine Herausforderung
darstellen dürfte.
Und die viel gepriesene Freiheit?
Kultfilme Darf bei Sheridan anders klingen. Ge-
1 | Schauspieler bunden zu sein an die Jahreszeiten,
Wayne in »Der an die Bedürfnisse des Viehs – darin
schwarze Falke« 1956 liege wahre Freiheit, sagt die von Helen
2 | Darsteller Stewart Mirren gespielte Patriarchin ihrer jun-
(r.) als »Der Mann
aus Laramie« 1955 gen Nachfolgerin. Nicht grenzenloses
3 | Schauspieler Wachstum, sondern Hingabe an die
Clint Eastwood (r.) Natur verspricht für sie individuelle
in »Erbarmungslos« Erfüllung. Da klingen Sheridans Figu-
1992
4 | Darsteller Costner ren fast wie die den Republikanern
in »Der mit dem verhassten Klimaschützer.
Wolf tanzt« 1990 Oliver Kaever n
imago stock / United Archives
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 109
KU LT U R
Die geklaute Geschichte
KULTURGÜTER In der Kolonialzeit verschleppte die kaiserliche »Schutztruppe«
massenweise Artefakte aus Kamerun. Jetzt beschreiben Forschende erstmals
das Ausmaß des Raubs, von dem deutsche Museen bis heute profitieren.
ls die Deutschen drei Jahrzehn-
A te wie Tyrannen über Kame-
run herrschten, versetzte das
viele Museumsleute daheim regelmä-
ßig in Hochstimmung. 1897 jubilierte,
mal wieder, der Direktoralassistent
im Königlichen Museum für Völker-
kunde zu Berlin. Einem Kollegen
schrieb er, dass sich Leutnant von
Arnim »im Oktober einer neuen,
grossen Strafexpedition gegen die
Ngolo (streng secret!!) anschliessen
wird. Wir können uns da also auf ganz
brillante Dinge gefasst machen«.
Der Verfasser jener Worte war Felix
von Luschan, ein gebürtiger Österrei-
cher und nimmersatter Star der noch
jungen Völkerkunde, der im Museum
dann auch die Afrikaabteilung über-
nahm. Vor allem die hochrangigen
Mitglieder der »Schutztruppe« dien-
ten ihm als eine Art koloniales Ama-
zon, bei dem er immer neue Bestel-
lungen aufgeben konnte. Leutnant von
Arnim, so schrieb er weiter, sei »genau
informirt, was wir brauchen und wird
bemüht sein, etwas ganz ordentliches
zu leisten. Die Kosten werden dabei
vermuthlich gleich Null sein«.
An anderer Stelle deutete Luschan
an, dass ihm ein Angriff auf die Bang-
wa gelegen käme, vor allem wegen
ihres Säulenhauses. »Verdienstlich«
wäre es auch, wenn aus dem Besitz des
Königs die »großen Signal- und Tanz-
trommeln« sowie alles an »Schnitz-
werken, ›Fetischen‹ u.s.w.« möglichst
nicht »vertilgt sondern lieber einge-
sandt werden könnte«.
Der Abteilungsleiter aus dem Ber-
liner Museum war ein Großkunde,
aber bei Weitem nicht der Einzige,
der aus Kamerun beliefert wurde. Im-
mer neue Frachten wurden an deut-
sche Museen aufgegeben. Niemand
hatte den Überblick, wie viele Güter
das zentralafrikanische Land in
Richtung solcher Orte wie Stuttgart,
Mannheim oder Bremen verließen.
Irgendwann wollte man es wohl auch
nicht mehr so genau wissen.
Jetzt hat eine Gruppe von 14 For-
scherinnen und Forschern Geschich-
110 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
ten wie die von Luschan aus Archi- Menschen
ven zutage gefördert, und noch viel
mehr. In dieser Woche präsentieren wurden
sie auf einer Tagung ihren »Atlas der ermordet,
Abwesenheit«, der eigentlich eine Dörfer zer­
ganze Enzyklopädie ist und erstmals
auch beziffert, wie viel damals tat- stört, Paläste
sächlich zusammengeraubt wurde. nieder­
Den Recherchen zufolge befinden
sich 40.950 Objekte aus der ehe-
maligen deutschen Kolonie Kame-
run in 45 meist musealen Sammlun-
gen in Deutschland. Das ist mehr als
in jedem anderen Land – und vor
allem sehr viel mehr, als in Kamerun
selbst noch zu finden ist. Diese Mas-
se fiel nur nicht auf, weil sie sich auf
viele Städte verteilt und das meiste
in Depots eingemottet ist. Masken,
Armreifen, Paddel, kaum mehr als
bloße Inventarnummern.
Dem »Atlas« mit dem Untertitel Savoy: Das Wissen
»Kameruns Kulturerbe in Deutsch- zurückgeben
land« ging ein Forschungsprojekt
voraus, das der kamerunische Ger-
manist und Kulturwissenschaftler
Albert Gouaffo und die französische
Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy
leiteten. In den Handel kommt das
Buch im Juli, die darin veröffentlich-
ten Erkenntnisse zum »skrupellosen
und systematisch organisierten Raub
westafrikanischen Kulturguts« sind
so erdrückend, dass sie spätestens
dann eine Debatte auslösen und viel-
leicht zu halb leeren Museen hierzu-
lande führen werden. Das klingt
übertrieben?
2022 wurden immerhin mehr als
1000 in deutschen Museen aufbe-
wahrte Benin-Bronzen an Nigeria
übertragen, die ersten wurden bereits
zurückgegeben. Auch diese Entwick-
lung ist vor allem auf eine von Savoy
ausgelöste Diskussion zurückzu-
führen. Die Professorin für Kunstge-
schichte und Expertin für den Raub
gebrannt. von Kulturgut macht seit Jahren deut-
lich, wie viel Blut an diesen Stücken
klebt und dass man sie nicht einfach
wie übliche Museumsschätze ausstel-
len könne.
Immer wieder hat sie aber auch
betont, dass das Problem ein größeres
ist und über die Kunstwerke aus Nige-
ria hinausreicht. Am Beispiel Kame-
run wird das nun mehr als deutlich.
Das belegt schon wegen der immens
Kunsthistorikerin
hohen Stückzahl, dass die Deutschen
nie genug bekommen konnten. Ihr
Ziel war es, mehr Trophäen des ver-
meintlich Fremden anzuhäufen als
andere Nationen, weil sie wenigstens
in dieser Hinsicht eine Vorzeigekolo-
nialmacht sein wollten. Den am Buch
beteiligten Fachleuten sei es aber
nicht nur um Objekte gegangen, son-
dern auch um die geradezu vertusch-
ten Umstände der Verfrachtung, der
Dislokation, sagt Savoy. Deshalb
reiche es nicht, die Geschichte der
Museen zu erforschen, man müsse
ebenso die Geschichte des Militärs
berücksichtigen. Beides sei nicht von-
einander zu trennen.
Denn ohne die Hilfe der deutschen
»Schutztruppe« wären die vielen Mu-
seen für Völkerkunde kaum so schnell
gefüllt worden. Und oft wurden die
Stücke eben nicht einfach »erwor-
ben«, obwohl das eine bis heute gern
verwendete Vokabel für Zugänge
Christoph Soeder / picture alliance / dpa
aller Art ist. Wie das Team um
Gouaffo und Savoy beweist, wurde
betrogen, eingeschüchtert oder ein-
fach Beute gemacht, bei Kriegszügen
der Kolonialtruppe und bei Massa-
kern, die man zynisch »Strafexpedi-
tionen« nannte. Menschen wurden
ermordet, Dörfer zerstört, Paläste
niedergebrannt, deren Inhalte ab-
 KU LT U R

transportiert. An Objekten der Macht waren

die Deutschen laut Savoy besonders interes-
siert. So wirkte die Entmachtung der lokalen
Herrscher endgültiger.
Aber eigentlich war alles von Interesse.
Körbe, Flöten, Rasseln, Trinkbecher, Haar-
nadeln und vieles mehr. Die zu einem Groß-
teil nur eingelagerten Dinge, aber auch all
die Beweise für die Brutalität, mit der sie
ihren Eigentümern abgenommen wurden, 1 2
finden sich bis heute in deutschen Museen,
nur eben häufig unter der fürs Publikum
sichtbaren Oberfläche. Da gibt es etwa diese
historische Liste in einer Kölner Sammlung
mit der Anmerkung zu einer großen Trom-
mel: »(Schwer zu haben), nur mit Gewalt zu
erlangen.«
Der Gesamtumfang des geklauten Kame-
runer Kulturerbes ist gigantisch. Und der
»Atlas der Abwesenheit« stellt die angemes-
sene Frage, wozu sein Verbleib noch gut sein
soll. Und wozu er je gut war.
Heute stehen in der postkolonialen
Debatte die ehemaligen Museen für Völker-
kunde wegen dieser Vergangenheit moralisch 3 4 5
auf dem Prüfstand. Und mit ihnen das ganze
Land, das noch immer nicht so recht weiß,
wie es mit der eigenen Kolonialgeschichte
umgehen soll. Lange redete man sich da
Fotos: Dirk Scherer / Museum Stadt Braunschweig (2); Dominik Drasdow / Linden-Museum Stuttgar t (3); Landesmuseum Hannover / ARTOTHEK; Ethnologisches Museum Berlin

heraus, gern wurde argumentiert, Deutsch-

land sei eine eher kurzlebige, gar nicht so
ernst zu nehmende Kolonialmacht gewesen.
Aber die Deutschen zeigten, dass man in drei
Jahrzehnten eine Menge anrichten und mit-
gehen lassen kann. Sie hatten außerdem mehr
als andere die fixe Idee, der Unterwerfung
einen wissenschaftlichen Nutzen andichten
zu müssen.
Es war eine pervertierte Form des Sam-
melns. Nicht nur weil in manchem Paket
neben einem wertvollen Dolch auch gleich
ein paar Menschenschädel lagen, über die
man sich in den Museen ebenso freute. Son-
dern auch, weil man vom Untergang der
»Naturvölker« überzeugt war, ihn ja selbst
herbeiführte und doch gleichzeitig ihre Spu-
ren konservieren wollte.
In ihrer Gier nach immer neuem Anschau-
ungsmaterial finanzierten deutsche Museen
sogar Expeditionen mit. Auch die Politik half
aus. So schwärmte der erwähnte Abteilungs-
leiter Luschan Ende des 19. Jahrhunderts, das
»Ausw. Amt« habe eine »ganz pompöse
Sammlung überwiesen«, »Fetische und an-
deres Schnitzwerk völlig neuer Art, von der
Ngolo-Strafexpedition des Hauptm. von
Kamptz herrührend – gut 2–3000 Mark
werth, eine ganz herrliche Erwerbung«.
Weit über 100 Jahre lang wurde aber über
die mit diesen Erwerbungen verbundene
Gewalt geschwiegen. Stattdessen wurde die
Legende verbreitet, das meiste sei einfach
eingekauft worden, die Menschen hätten
ihre Schalen, ihren Schmuck gern hergege-
ben. Natürlich stimmt das nicht. Ein Händler
beklagte sich 1914 vielmehr, es sei nicht
leicht, an gute Stücke zu kommen, es müsse
eben erst durch »Machtentfaltung« des deut-
6 7
1 | Flechtteller, Städtisches Museum Braunschweig 2 | Haube, Linden-Museum Stuttgart 3 | Maske,
Landesmuseum Hannover 4 | Perlenstuhl, Linden-Museum Stuttgart 5 | Schwert, Staatliche Museen
Berlin 6 | Kriegshemd, Linden-Museum Stuttgart 7 | Federkappe, Städtisches Museum Braunschweig
schen Militärs ein gewisser Druck ausgeübt derttausende Probleme und wollen über
werden. Rückgaben doch nicht mehr als nötig spre-
War der gewisse Druck erfolgreich aus- chen. Dabei liegt aus Kamerun eine konkre-
geübt worden, ging es mörderisch weiter. te Rückforderung vor.
Zwangsrekrutierte Träger übernahmen den Eine Zeit lang versuchten die Direktoren,
ersten Teil der langen Strecke ins Kaiserreich, sich mit dem Schlagwort »Shared Heritage«
sie schleppten die Beute ihrer Unterdrücker aus der Misere zu retten. Sie nannten ihre
zu den wartenden Dampfern an den Küsten, kolonialen Bestände ein »geteiltes Erbe«, auf
heißt es im »Atlas der Abwesenheit«. »Es sind das man hier in Deutschland nur aufpasse,
im Ganzen 20 Lasten, die ca. 25 Träger er- sozusagen im Dienste der gesamten Mensch-
fordern«, so kündigte ein Offizier eine Lie- heit. Doch dann fiel auf, wie überheblich das
ferung an, zu der »zahlreiche Thürwerke, klingt. Mittlerweile geben sich die Institutio-
Thürpfosten, Stühle, Tanzmasken, Götzen, nen deutlich selbstkritischer. Zugleich horten
Gefäße usw.« gehörten. Er verschwieg übri- sie aber immer noch Hunderttausende letzt-
gens nicht, dass die Sachen »größtenteils lich geraubte Gegenstände.
erbeutet« seien. Manchmal wurden Träger Doch es geht auch anders. Aufsehen er-
erschlagen oder erschossen. regte 2022 die Restitution einer Figur aus
Der Begriff Völkerkunde gilt längst als Kamerun: Dabei handelte es sich um eine
schwierig, zu eng verknüpft mit dem kolo- geschnitzte Darstellung der Ngonnso’, die
nialen Blick auf die Welt, der aus Menschen dem Volk der Nso’ als eine Muttergottheit
exotische Subjekte machte. Dass sich viele gilt. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in
frühere Völkerkundemuseen mittlerweile um- Berlin wollte das als Akt der Großzügigkeit
benannt haben, in München zum Beispiel verstanden wissen. Betont wurde, dieses
in das Museum Fünf Kontinente, reicht als Objekt sei einst dem Königlichen Museum
Zukunftssicherung aber noch nicht. Diese für Völkerkunde geschenkt worden und auch
Häuser haben nicht nur dieses Problem, son- keine Beute einer Plünderung. Immerhin ge-
dern – je nach Umfang ihrer Bestände – Hun- stand man »ungleiche Machtverhältnisse«

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 111

KU LT U R
1 4
1 | Restituierte Ngonnso’-Skulptur 2 | Tabakpfeife, Staatliche Museen Berlin 3 | Maske, Linden-
Museum Stuttgart 4 | Kopfaufsatz, Staatliche Museen Berlin
während der Kolonialzeit und die »spirituelle
Bedeutung« der Skulptur noch für die heutige
Nation zu.
Berlin besitzt allerdings mehr als 5000 Ar-
tefakte aus Kamerun. Nur wenige Hundert
werden ausgestellt. Das zeigt ein Blick ins
Humboldt Forum im wiederaufgebauten
Stadtschloss, in dem auch Stücke aus dem
einstigen Königlichen Museum für Völker-
kunde zu sehen sind, Objekte, die bereits der
einstige Abteilungsleiter Luschan in den
Händen hielt.
Am Pfingstwochenende ist das Schloss gut
besucht. »Dit is Afrika!«, sagt eine ältere
Dame, als sie mit ihren beiden Enkelkindern
den Raum »Koloniales Kamerun« betritt,
sie geht mit ihnen zum bunten Perlenthron
des Königs Njoya von Bamum aus dem
19. Jahrhundert, der sei, sagt sie den Kindern,
»authentisch«.
Wie aber ließe sich ihren Enkeln erklären,
dass man den Kindern in Kamerun dieses
Prachtstück aus ihrer eigenen Geschichte vor-
enthält?
Offiziell gilt der Herrschersessel als harm-
loses Highlight, als Geburtstagsgeschenk
des Königs aus dem Grasland für Kaiser
112 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
2
3 Das alles wird erwähnt. Und doch, irgend-
Wilhelm II. Nur so einfach ist auch diese
Sache nicht. Denn erst besetzten die deut-
schen Kolonialherren Njoyas Land mit Waf-
fengewalt. Und als sie 1902 seinen Perlen-
thron erblickten, wollten sie den unbedingt
besitzen. Sie zwangen Njoya zu Verhandlun-
gen und versprachen ihm Waffen, bis der
König schließlich einer Übergabe zustimmte.
Doch am Ende bekam er für seinen Thron
nur eine Uniform, ein Gemälde des Kaisers
und einen mechanischen Musikautomaten.
Noch eindeutiger ist die Sache bei den
reich verzierten Türrahmen, die hier auch
stehen. Sie wurden bei der Eroberung des
Königreichs Baham im Grasland von der kai-
serlichen Truppe aus königlichen Palästen
und religiösen Bauten gerissen und dann weg-
geschafft. Die Besucher können immerhin in
Medienstationen Informationen abrufen. Auf
einer Raumtafel wird auf das »verheerende«
Ergebnis des deutschen Kolonialismus ver-
wiesen.
Doch letztlich verblasst die Kontextuali-
sierung hinter der Inszenierung, auch hinter
dem Ort. Denn es wirkt unangemessen, im
21. Jahrhundert hinter der Fassadenkopie des
Berliner Stadtschlosses koloniale Beutestücke Felix Bohr, Ulrike Knöfel
vorzuführen wie eine moderne Weltausstel-
lung imperialer Vergangenheit.
Eine andere Stadt, ein weiterer holpriger
Versuch, mit der Geschichte umzugehen:
Auch Hamburg wollte einst mithalten im
kaiserreichweiten Konkurrenzkampf um die
beeindruckendste Völkerkundesammlung.
Bis 1915 hatte man es auf 100.000 Objekte
gebracht. Nach eher provisorischen Unter-
künften gönnte man sich einen Prachtbau an
der Rothenbaumchaussee.
Der Name wurde vor ein paar Jahren
aktualisiert, das Museum für Völkerkunde
wurde zum Museum am Rothenbaum – Kul-
turen und Künste der Welt. Eine für ein junges
Publikum gedachte, mit QR-Codes angerei-
cherte Sonderausstellung erinnert derzeit an
Rudolf Duala Manga Bell, einen König der
Duala. Als er sich über die Kolonialregierung
beschwerte, wurde er 1914 wegen Hochver-
rats gehängt. Er hatte einige Zeit in Württem-
berg gelebt und geglaubt, mit Petitionen und
Reichstagseingaben etwas erreichen zu kön-
nen in diesem Land.
etwas stimmt hier nicht. Man erfährt wenig
darüber, wie die nun gezeigten Objekte nach
Hamburg kamen und welche anderen Stücke
aus Kamerun noch zum Museumsbesitz ge-
hören. Über ein bemaltes sechs Meter langes
Boot heißt es etwas ausführlicher im Katalog,
es sei ein herausragendes Stück der Sammlung.
Lange habe man geglaubt, es sei im Zweiten
Weltkrieg zerstört worden. »Umso größer war
die Freude«, als Richard Tsogang Fossi, ein
Kollege aus Kamerun, es nun in den Hambur-
ger Depots »nach langer Suche« gefunden habe.
Tsogang Fossi hat auch am »Atlas« mit-
Fotos: Eric Hesmerg / Ethnologisches Museum Berlin; Ethnologisches Museum Berlin (2); Dominik Drasdow / Linden-Museum Stuttgar t
gearbeitet. Dort schreibt er, wie Kulturen im
Grunde zerstört worden seien, denn die »mas-
sive und oft unrechtmäßige, gar gewaltbehaf-
tete Extraktion der Kulturgüter aus Kamerun
hat ohne jeden Zweifel viele Leerstellen in
den Herkunftsgemeinschaften hinterlassen«.
Wie groß die Leerstellen in Kamerun sind,
wird also erst jetzt bekannt.
Museen verschwiegen lange das Ausmaß
der von ihnen gehorteten Kulturobjekte,
sie wollten da draußen keine »Begehrlichkei-
ten« wecken. Entsprechende Äußerungen fin-
den sich in alten Dokumenten. Doch in den
Jahrzehnten der Geheimniskrämerei ist offen-
bar der Überblick über die eigenen Depots
verloren gegangen. Es wäre an der Zeit, dass
Abbildungen und Informationen zu jedem Ob-
jekt im Internet zugänglich gemacht werden.
Wenn alle wesentlichen Details für jeden nach-
zulesen sind, wäre das für Savoy eine erste
Restitution – die von Wissen.
Die Vorstellung, sich von großen Konvo-
luten zu trennen, dürfte auch aufgeschlosse-
neren Museumsleuten nicht behagen. Der
»Atlas« der internationalen Wissenschaftler-
gruppe könnte dennoch der Auftakt zur
Rückgabe von Tausenden Kulturgütern an
Kamerun sein. »Es wird ein Vorher und ein
Nachher geben«, sagt Savoy.
n
 KU LT U R

BELLETRISTIK
Der US-Schriftsteller erzählt
von Waldbränden, Über-
schwemmungen, Insekten-
plagen. Und davon, wie sich
die Mitglieder einer Familie
an den Gedanken des Welt-
untergangs gewöhnen. Ein
Klimakrisenroman. | Platz 5
DER LANGE
SACHBUCH
SCHATTEN
Die Schulleiterin will wach-
rütteln. Ihre Warnung: Selbst
Neunjährige sehen heute
DER LAGER
via Smartphone schon Pornos
und Gewaltvideos. Ihre
Forderung an die Eltern: nicht
länger wegsehen, das
Gespräch suchen. | Platz 1

1 (1) Lucinda Riley / Harry Whittaker Atlas – 1 (11) Silke Müller

Die Geschichte von Pa Salt Goldmann; 24 Euro Wir verlieren unsere Kinder! Droemer; 20 Euro

2 (–) Donna Leon 2 (1) Dirk Oschmann Der Osten – eine

Wie die Saat, so die Ernte Diogenes; 26 Euro westdeutsche Erfindung Ullstein; 19,99 Euro

3 (2) Robert Seethaler 3 (3) Brianna Wiest 101 Essays, die dein
Das Café ohne Namen Claassen; 24 Euro Leben verändern werden Piper; 22 Euro

4 (3) Martin Suter 4 (7) Katja Hoyer

Melody Diogenes; 26 Euro Diesseits der Mauer Hoffmann und Campe; 28 Euro

5 (4) T. C. Boyle 5 (2) Joachim Gauck / Helga Hirsch

Blue Skies Hanser; 28 Euro Erschütterungen Siedler; 24 Euro

6 (–) Anna Benning Dark Sigils – 6 (16) Gabriel Zuchtriegel

Wie die Dunkelheit befiehlt Fischer; 20 Euro Vom Zauber des Untergangs Propyläen; 29 Euro

7 (5) Bonnie Garmus 7 (4) Bas Kast 240 Seiten, gebunden � 22,00 €
Eine Frage der Chemie Piper; 24 Euro
Kompass für die Seele C. Bertelsmann; 24 Euro Auch als E-Book erhältlich.
8 (6) John Irving 8 (5) Yael Adler
Der letzte Sessellift Diogenes; 36 Euro
Genial vital! Droemer; 20 Euro

9 (7) Dora Heldt Liebe oder Eierlikör – 9 Gabor Maté / Daniel Maté

Fast eine Romanze
10 (–) Volker Klüpfel / Michael Kobr
Die Unverbesserlichen – Die Revanche
des Monsieur Lipaire
11 (9) Eugen Ruge Pompeji oder
Die fünf Reden des Jowna
12 (14) Ewald Arenz
Die Liebe an miesen Tagen
13 (12) Maja Lunde
Der Traum von einem Baum
14 (16) Trude Teige Als Großmutter
im Regen tanzte
15 (10) Martin Walker
Troubadour
16 (11) Simon Urban / Juli Zeh
Zwischen Welten
17 (8) Benjamin von Stuckrad-Barre
Noch wach? Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro
dtv; 15 Euro
(–) Hunger, Angst und harte Arbeit
Vom Mythos des Normalen Kösel; 29 Euro
gehörten zum Haftalltag
10 Ewald Frie
(6) der etwa 35 Millionen
Ein Hof und elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro
Ullstein; 24,99 Euro Kriegsgefangenen im Zweiten
11 (–) Martin Schulze Wessel Weltkrieg. Unter ihnen waren
Der Fluch des Imperiums C. H. Beck; 28 Euro
dtv; 25 Euro mehr als 11 Millionen Deutsche;
12 (12) Brianna Wiest When You’re Ready, die letzten kehren erst Mitte der
This Is How You Heal Piper; 22 Euro
Dumont; 24 Euro Fünfzigerjahre nach Hause
13 (8) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben, zurück. Heute hat ein Großteil
was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
btb; 24 Euro der Deutschen einen Vater,
14 (9) Kai Diekmann Großvater oder Urgroßvater,
Ich war BILD DVA; 34 Euro
S. Fischer; 22 Euro
der selbst Kriegsgefangenschaft
15 (10) Prinz Harry erlebt hat. SPIEGEL-Autor*innen
Diogenes; 26 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
spüren ihren Erlebnissen nach
16 (–) Sebastian »Curly« Moser / Willi Schlögl und zeigen, wie die Traumata
Luchterhand; 24 Euro Anleitung zum Weinsaufen Südwest; 25 Euro
viele Nachkommen bis in
17 (–) Jonas Kratzenberg / Fred Sellin die Gegenwart beschäftigen.
Schützenhilfe Yes Publishing; 22 Euro

18 (13) Jojo Moyes 18 (17) Tim Marshall

Mein Leben in deinem Wunderlich; 25 Euro Die Geografie der Zukunft dtv; 26 Euro

19 (–) Don Winslow 19 (–) Felix Lee

City of Dreams HarperCollins; 24 Euro China, mein Vater und ich Ch. Links; 22 Euro

20 (17) Julia Schoch 20 (13) Timothy Garton Ash

Das Liebespaar des Jahrhunderts dtv; 22 Euro Europa Hanser; 34 Euro
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 113

www.dva.de

Ewige Kindheit
FILMKRITIK Das gelungene Kinodrama »The Adults« erzählt von
Hass und Liebe unter Geschwistern.
ffen ausgetragene Familien-
O konflikte, das weiß fast jeder,
sind schlimm und schmerzen
beim Zusehen. Die unausgesprochen
vor sich hin schwelenden Konflikte
allerdings sind oft die noch größere
Qual. In dem Film »The Adults« spie-
len drei liebenswerte junge Menschen
die Hauptrollen – aber sie liefern sich
einen Dreikampf in der Kunst der
plötzlich abschweifenden Blicke, der
verkrampften Umarmungen, der pas-
siv-aggressiven Tonlagen.
Eric, dargestellt von Michael Cera,
ist um die dreißig, hat im Westen der
USA einen offenbar gut bezahlten
Nerd-Job und kehrt für einen Wo-
chenendtrip in seine Heimatstadt
zurück, die irgendwo nördlich von
New York City am Hudson liegt.
Die Begrüßung durch seine
Schwestern, die etwas ältere Rachel
(Hannah Gross) und die jüngere Mag-
gie (Sophia Lillis), ist so frostig wie
die Luft in den herbstlich gefärbten
Wäldern am Fluss. Am Frühstücks-
tisch in einem Café fragt Eric: »Wa-
rum fühle ich mich schuldig?« Er
bekommt aus den verstockten Ge-
sichtern erst mal keine Antwort.
Drei Jahre lang haben die drei
Hauptfiguren dieses Films allenfalls
ein paar Worte am Telefon gewech-
selt, der Vater ist schon lange tot, die
Mutter seit fünf Jahren. Nun sind sie
ein paar Tage lang verstrickt in einen
Kampf aus verdrucksten Gesten und
giftigen Worten.
In diesem Gefecht geht es um Zu-
neigung und Verrat, natürlich ums
Erbe – und um die mit dem Alter zu-
nehmende Distanz zwischen Men-
schen, die erwachsen geworden sind.
»Früher warst du lustig und geist-
reich«, klagt Eric in einem späten
Anfall von Aufrichtigkeit die große
Schwester an, die jetzt das Elternhaus
bewohnt. »Heute bist du verbittert.«
Der Film des Regisseurs Dustin
Guy Defa setzt wie viele erfolgreiche
Familiendramen, von »Jenseits von
Eden« aus dem Jahr 1955 bis »Im
August in Osage County« aus dem
Jahr 2013, auf die Wiedererkennbar-
keit der Muster, nach denen hier ge-
liebt, gelitten und gestritten wird.
Eric und seine beiden Schwestern
sind keine Frühverwaisten – und
empfinden doch spätestens seit dem
Tod der Mutter eine existenzielle Ver-
lorenheit, die ihnen das Leben und
das Arbeiten schwer macht.
Die schönsten Momente in »The
Adults« hat die Schauspielerin Sophia
Lillis als Maggie, die hier mit flackern-
der Intensität stets am Rande des
Nervenzusammenbruchs zu spielen
scheint. Ihre Verzweiflung ist von einer
Art, die auch durch noch so große
Geschwisterliebe kaum zu heilen ist.
Maggie hat ihr Studium geschmis-
sen. Die taffe Rachel verabscheut
ihren Job beim örtlichen Radiosender
und ist frisch getrennt. Der Erfolgstyp
Eric hat keine Freunde und ist ma-
nisch auf der Suche nach Mitspiele-
rinnen und Mitspielern fürs Pokern,
das er absolut spaßfrei betreibt.
»Hast du nicht gesagt, es gehe dir
gar nicht ums Geld?«, wird er einmal
von einem unterlegenen Spielpartner
gefragt. Erics Antwort: »Mir geht es
ums Gewinnen.«
Mit kühler Distanziertheit und fast
wissenschaftlicher Neugier, als würde
KU LT U R
hier eine exemplarische familiäre
Krise dokumentiert, zeigt der Film,
wie sich die Geschwister vorsichtig
einander annähern – und plötzlich,
in Erinnerung an üble alte Verletzun-
gen, erneut auseinanderdriften.
Lange bringt es keiner fertig, die
eigene Not zu formulieren. Statt-
dessen erinnert man sich an Rituale
und Anekdoten aus ferner Vergangen-
heit. Man witzelt über Eltern, die sich
nichts mehr zu sagen hatten – und
sitzt fast stumm zu dritt auf der Veran-
da, auf der schon die Alten erschöpft
in die Schönheit der Natur hinaus-
starrten.
Der Filmtitel »The Adults« scheint
fast ohne Ironie die Allgemeingül-
tigkeit der zwischenmenschlichen
Verwerfungen zu betonen, von de-
nen hier erzählt wird. Und er lässt
sich auch als eine Art Ermahnung an
die Figuren dieses Dramas verstehen,
die sich immer wieder so benehmen,
als wären sie wegen ihrer Weigerung,
sich von den Eifersüchteleien und
Neurosen der eigenen Kindheit zu
verabschieden, nicht imstande, sich
in die Welt der Erwachsenen einzu-
fügen.
In manchen Szenen ist der Film
eine Zumutung, weil Regisseur Defa
ein bisschen zu deutlich die Gemüts-
UPI Germany
verkümmerung der Geschwister de-
monstriert. Halbwegs ernsthaft mit-
einander sprechen können Maggie,
Rachel und Eric lange Zeit nur mit
Darsteller Cera verstellten Stimmen, indem sie die
in »The Adults« Radio-, Comic- und Trickfilmhelden
ihrer Kindheit nachahmen.
Wenn Eric in einer fröhlichen
Pokerrunde von dem Moment erzäh-
len soll, in dem ihm zum ersten Mal
die Sterblichkeit aller Lebewesen
richtig bewusst wurde, bricht er beim
Nacherzählen einer Episode aus »Der
König der Löwen« in Tränen aus.
Hinreißend dagegen ist es, wenn
irgendwann im Film klar wird, dass
die drei Geschwister eigentlich ver-
hinderte Showstars sind. Im Garten
ihres Elternhauses und bei einer Par-
ty führen sie ein paar Nummern vor,
die daran erinnern, dass sie in jungen
Jahren davon geträumt haben, als
Gesangs- und Tanztrio groß herauszu-
kommen.
»The Adults« ist aber kein Holly-
woodmärchen, sondern ein dem
Realismus verpflichteter Film aus der
Sie liefern Tradition des amerikanischen Inde-
sich einen pendentkinos. Deshalb, und das
macht diese Bilder herzerwärmend,
Kampf in der sieht man den Darbietungen der drei
Kunst der Geschwister schon an, warum aus
ihrer Karriere im Rampenlicht nichts
verkrampften geworden ist.
Umarmungen. Wolfgang Höbel n
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 115

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail spiegel@spiegel.de
Impressum
HER AUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002)
CHEFREDAKTION Dirk Kurbjuweit (V. i. S. d. P.),
Dr. Melanie Amann, Thorsten Dörting, Clemens Höges
LEITENDE REDAKTEURE Strategie & Operations:
Susanne Amann. Blattmacher: Judith Horchert, Juliane
von Mittelstaedt, Oliver Trenkamp. Nachrichtenchef:
Stefan Weigel. Managing Editors: Birger Menke,
Dr. Susanne Weingarten. Creative Department: Bente
Kirschstein. Redaktionelle Entwicklung: Matthias Streitz.
Investigation: Jörg Diehl
CHEFS VOM DIENST Print: Anke Jensen, Jörn
Sucher. Online: Patricia Dreyer, Anselm Waldermann;
Melanie Ahlemeier, Ina Brzoska, Lisa Erdmann, Kevin
Hagen, Björn Hengst, Olaf Kanter, Nicolai Kwasniewski,
Jonas Leppin, Florian Merkel, Charlene Optensteinen,
Dr. Dominik Peters, Dr. Jens Radü, Daniel Raecke,
Martin Wolf
AUTOREN/REPORTER DER CHEFREDAKTION
Susanne Beyer, Ullrich Fichtner, Thomas Schulz
HAUPTSTADTBÜRO
Leitung: Dr. Melanie Amann, Sebastian Fischer,
Martin Knobbe, Christoph Hickmann, Wolf
Wiedmann-Schmidt (Teamleitung Innere Sicherheit).
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sophie Garbe, Florian
Gathmann, Milena Hassenkamp, Marina Kormbaki,
Timo Lehmann, Ann-Katrin Müller, Serafin Reiber,
Anna Reimann, Sven Röbel, Jonas Schaible, Christoph
Schult, Sara Sievert, Christian Teevs, Severin Weiland.
Autoren, Reporter: Sven Becker, Markus Feldenkirchen,
Matthias Gebauer, Konstantin von Hammerstein,
Fidelius Schmid. Politik Hamburg: Benjamin Schulz
(Nachrichtenchef); Marc Röhlig
DEUTSCHL AND/PANOR AMA Leitung: Anke Dürr,
Cordula Meyer, Hendrik Ternieden, Janko Tietz,
Dr. Markus Verbeet. Redaktion: Birte Bredow, Lisa
Duhm, Katrin Elger, Silke Fokken, Maik Großekathöfer,
Hubert Gude, Kristin Haug, Armin Himmelrath,
Philipp Kollenbroich, Annette Langer, Katrin Langhans,
Gunther Latsch, Benjamin Maack, Peter Maxwill,
Christopher Piltz, Alexander Preker, Ansgar Siemens,
Swantje Unterberg, Sara Wess, Jens Witte, Jean-Pierre
Ziegler. Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp,
Julia Jüttner, Alfred Weinzierl, Dr. Klaus Wiegrefe.
Berlin: Juliane Löffler, Hannes Schrader.
Reporter: Guido Mingels
WIRTSCHAF T/NE TZWELT Leitung: Markus Brauck,
Yasmin El-Sharif, Judith Horchert (Netzwelt), Isabell
Hülsen, Stefan Kaiser, Cornelia Schmergal. Redaktion:
Dr. Philip Bethge, Benjamin Bidder, Michael Brächer,
Florian Diekmann, Kristina Gnirke, Simon Hage,
Dr. Claus Hecking, Henning Jauernig, Dr. Matthias
Kaufmann, Katharina Koerth, Matthias Kremp,
Alexander Kühn, Maria Marquart, Martin U. Müller,
Anton Rainer, Stefan Schultz.
Berlin: Patrick Beuth, Simon Book, Markus Dettmer,
Max Hoppenstedt, Michael Kröger. Autoren, Reporter:
David Böcking, Christian Reiermann, Marcel
Rosenbach, Gerald Traufetter (Chefkorrespondent)
AUSL AND Leitung: Mathieu von Rohr, Britta
Kollenbroich (stellv.), Katrin Kuntz (stellv.), Julia
Prosinger (stellv.), Özlem Topçu (stellv.). Redaktion:
Mohannad Alnajjar, Monika Bolliger, Alexander
Chernyshev, Francesco Collini, Fiona Ehlers, Lena
Greiner (Teamleitung Globale Gesellschaft), Muriel
Kalisch, Steffen Lüdke, Katharina Graça Peters, Jan
Petter, Jan Puhl, Alexandra Rojkov, Anna-Sophie
Schneider, Lina Verschwele. Autoren, Reporter:
Christian Esch, Susanne Koelbl, Nadia Pantel,
Maximilian Popp, Christoph Reuter, Thore Schröder.
Berlin: Julia Amalia Heyer, Alexander Sarovic
WISSEN Leitung: Michail Hengstenberg, Kurt
Stukenberg, Alina Schadwinkel (stellv.). Redaktion:
Marco Evers, Johann Grolle, Dr. Veronika Hackenbroch,
Arvid Haitsch, Lukas Kissel, Guido Kleinhubbert, Julia
Koch, Julia Köppe, Julia Merlot, Jörg Römer, Nils-Viktor
Sorge (Teamleitung Mobilität). Autoren, Reporter:
Rafaela von Bredow, Christoph Seidler, Olaf Stampf.
Berlin: Susanne Götze, Kerstin Kullmann, Hilmar
Schmundt. Autor: Jörg Blech
KULTUR Leitung: Stefan Kuzmany, Eva Thöne, Laura
Backes (stellv.). Redaktion: Felix Bayer, Tobias Becker,
Christian Buß, Xaver von Cranach, Nora Gantenbrink,
Oliver Kaever, Ulrike Knöfel, Carola Padtberg, Jurek
Skrobala, Katharina Stegelmann. Autoren, Reporter:
Sebastian Hammelehle, Wolfgang Höbel.
Berlin: Lars-Olav Beier, Frauke Böger, Elisa von Hof,
Philipp Oehmke, Hannah Pilarczyk, Tobias Rapp.
Autoren, Reporter: Andreas Borcholte, Enrico Ippolito
REPORTER Leitung: Özlem Gezer, Christoph
Scheuermann, Felix Dachsel (stellv.). Redaktion: Barbara
Hardinghaus, Timofey Neshitov, Dialika Neufeld,
Jonathan Stock, Antje Windmann. Autoren, Reporter:
Marc Hujer, Frauke Hunfeld, Alexander Osang,
CHEFS VOM DIENST BEWEGTBILD Dirk Schulze,
Alexander Smoltczyk, Barbara Supp
Martin Sümening
SPORT Leitung: Hauke Goos, Lukas Rilke, Jörn Meyn
(stellv.). Redaktion: Peter Ahrens, Anne Armbrecht,
Matthias Fiedler, Michael Fröhlingsdorf, Jan Göbel, Nina
Golombek, Benjamin Knaack, Marcus Krämer, Danial
Montazeri, Thilo Neumann, Gerhard Pfeil
USA: DER SPIEGEL (USPS no 01544520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Office of Publication: Data Media (A division of Cover-All Computer Services Corp.), 2221 Kenmore
Avenue, Suite 106, Buffalo, NY 14207-1306. Periodicals postage is paid at Buffalo, NY 14205, Postmaster: Send address changes to DER SPIEGEL, Data Media, P.O. Box 155, Buffalo. NY 14205-
0155, e-mail: service@roltek.com, toll free: +1-877-776-5835; Kanada: SUNRISE NEWS, 47 Silver Shadow Path, Toronto, ON, M9C 4Y2, Tel +1 647-219-5205, e-mail: sunriseorders@bell.net
116 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
INVESTIGATION Roman Höfner, Roman Lehberger,
Nicola Naber. Reporter: Rafael Buschmann.
Koordination SPIEGEL TV : Thomas Heise
STR ATEGIE & OPER ATIONS Philipp Löwe,
Johanna Röhr, Anne Seith
REDAKTIONELLE ENT WICKLUNG Friederike
Freiburg, Jonas Mielke, Franca Quecke, Maximilian Rau Großekemper, Torsten Kleinz, Benedikt Müller-Arnold,
MEINUNG & DEBAT TE Anna Clauß, Lothar Gorris,
Alexander Neubacher
NACHRICHTEN Henrik Bahlmann, Malte Göbel,
Sabrina Knoll, Florian Pütz, Sven Scharf
LEBEN Leitung: Frauke Lüpke-Narberhaus, Malte
Müller-Michaelis, Nike Laurenz (stellv.). Redaktion:
Julian Aé, Irene Berres, Antje Blinda (Teamleitung
Reise), Franziska Bulban, Markus Deggerich, Maren
Keller, Heike Klovert, Dr. Heike Le Ker, Eva Lehnen,
Marthe Ruddat, Katherine Rydlink, Sandra Schulz, Julia (Koordination Nachrichten), Martin Hesse, Rosental 10,
Stanek, Nina Weber.
Autoren: Jule Lutteroth, Marianne Wellershoff
JOB & K ARRIERE/START Leitung: Helene Endres,
Sophia Schirmer (Leitung Start). Redaktion: Benjamin
Ansari, Tanya Falenczyk, Helene Flachsenberg, Florian
Gontek, Katharina Hölter, Maren Hoffmann, Markus
Sutera, Verena Töpper
GESCHICHTE Leitung: Jochen Leffers, Dr. Eva-Maria Neukirch (Reporter Europapolitik), Michael Sauga
Schnurr. Redaktion: Dr. Felix Bohr, Solveig Grothe,
Christoph Gunkel, Dr. Katja Iken, Dr. Danny Kringiel,
Frank Patalong, Martin Pfaffenzeller, Frank Thadeusz
DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, Alexandra
Klaußner (stellv.). Redaktion: Antonia Bauer, Claudia
Beckschebe, Pelle Kohrs, Marco Wedig
SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gartred
Alfeis, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs,
Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse, NAIROBI Heiner Hoffmann, Tel. +254 111 341478,
Stefan Moos, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck,
Sebastian Schulin, Sandra Waege
PRODUKTION & TEXTPRODUCING Leitung:
Angela Ölscher, Petra Thormann; Kathrin Beyer,
Christoph Brüggemeier, Sonja Friedmann, Linda
Grimmecke, Britta Romberg, Gesche Sager, Stefan
Schütt, Martina Treumann, Holger Uhlig, Valérie
Wagner, Katrin Zabel
BILDREDAKTION Leitung: Jose Blanco, Mascha
Zuder; Claudia Apel, Nicolas Baldauf, Tinka Dietz,
Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Philine Gebhardt
(Teamleitung), Niklas Hausser, Signe Heldt, Gillian
Henn, Daniel Hofmann, Andrea Huss, Rosa Kaiser, Jan WARSCHAU Tel. +48 22 6179295,
Kappelmann, Matthias Krug, Theresa Lettner, Mareile
Mack, Nasser Manouchehri, Parvin Nazemi, Nicole
Neumann, Daniel Nide, Inka Recke, Jens Ressing,
Franziska Schade, Oliver Schmitt, Ireneus Schubial,
Erik Seemann, Maxim Sergienko, Anke Wellnitz,
Lena Wöhler, Lennart Woock
Mail: foto@spiegel.de
SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. +1 917 3998184
L AYOUT Leitung: Dagmar Nothjung, Ann-Kristin Köhn Martin Gutsch, Leo Klimm, Jonah Lemm, Jasmin
(stellv.); Michael Abke, Lisa Debacher, Lynn Dohrmann, Lörchner, Juan Moreno, Max Polonyi, Wiebke Ramm,
Bettina Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Linna Grage, Fabian
Greve, Louise Jessen, Jens Kuppi, Annika Loebel,
Kamila Ramezani, Barbara Rödiger, Marco Stede
TITELBILD Teamleitung: Johannes Unselt;
Suze Barrett, Alexandra Grünig, Pia Pritzel,
Marcus Wiechmann
DIGITALES DESIGN Elsa Hundertmark
GR AFIK & INTER ACTIVE Leitung: Ferdinand
Kuchlmayr, Dr. Matthias Stahl (stellv.); Cornelia
Baumermann, Christian Eisenberg, Alexand+er Epp,
Guido Grigat, Max Heber, Frank Kalinowski,
Anna-Lena Kornfeld, Chris Kurt, Niklas Marienhagen,
Gernot Matzke, Lina Moreno, Klaas Neumann, Dawood Niesen, Dr. Gerret von Nordheim, Sandra Öfner, Ulrike
Ohdah, Bernhard Riedmann, Lea Rossa, Alexander
Trempler
KORREKTOR AT Sebastian Hofer
DATENJOURNALISMUS Leitung: Marcel Pauly,
Patrick Stotz; Holger Dambeck, Lisa Goldschmidtböing, Dr. Marc Theodor, Andrea Tholl, Nina Ulrich, Louisa
Achim Tack, Christoph Winterbach
SOCIAL MEDIA & LESERDIALOG Leitung: Ayla
Kiran, Angela Gruber. Redaktion: Philipp Dreyer,
Ariane Fries (Teamleitung Community), Maria Herbst,
Luisa Höppner, Aleksandra Janevska, Charlotte Klein,
Sebastian Maas, Petra Maier (Teamleitung Google
Web Stories), Annina Metz, Robert Schlösser, Lara
Schulschenk, Kim Staudt, Katharina Zingerle
SEO Teamleitung: Insa Winter; Alexandra Knape,
Bastian Midasch, Heiko Stammel, Hanna Zobel
VIDEO Leitung: Anne Martin, Benjamin Braden
(stellv.), Leonie Voss (stellv.). Redaktion: Sven Christian,
Dennis Deuermeier, Benjamin Eckert, Manuel Genolet, Herstellung: Silke Kassuba
Birgit Großekathöfer, Janita Hämäläinen, Martin
Jäschke, Heike Janssen, Marco Kasang, Carolin
Katschak (Teamleitung Talk), Eckhard Klein, Andreas
Landberg, Jonathan Miske, Fabian Pieper, Rachelle
Pouplier, Christian Weber
AUDIO Leitung: Ole Reißmann, Olaf Heuser (Chef
vom Dienst), Jannis Schakarian (Chef vom Dienst).
Redaktion: Ronja Bachofer, Jelena Berner, Philipp
Fackler, Lenne Kaffka, Marius Mestermann, Sandra
Sperber, Regina Steffens, Yasemin Yüksel
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
REDAKTIONSVERTRE TUNGEN
DEUTSCHL AND
BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin,
Tel. 030 886688-100
DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4,
01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0
DÜSSELDORF Markus Böhm, Lukas Eberle, Tobias
Miriam Olbrisch. Autorin: Katja Thimm. Jägerhofstraße
19-20, 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01
FR ANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Tim
Bartz, Fellnerstraße 7-9, 60322 Frankfurt am Main,
Tel. 069 9712680
K ARLSRUHE Dietmar Hipp, Stephanienstraße 30,
76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737
LEIPZIG Peter Maxwill, Postfach 310315,
04162 Leipzig
MÜNCHEN Jan Friedmann
80331 München, Tel. 089 45459510
BADEN-WÜRT TEMBERG Christine Keck
REDAKTIONSVERTRE TUNGEN/
KORRESPONDENTENBÜROS AUSL AND
BANGALORE Laura Höflinger
BANGKOK Maria Stöhr
BRÜSSEL Markus Becker (Büroleitung), Ralf
(Autor), Rue Le Titien 28, 1000 Brüssel,
Tel. +32 2 2306108, rv.bruessel@spiegel.de
LONDON Jörg Schindler
LOS ANGELES Philipp Wittrock
MEXIKO-STADT Jens Glüsing (frei),
Tel. +52 55 56630526
MOSK AU Christina Hebel, Glasowskij Pereulok
Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Tel. +7 495 3637623
Fritz Schaap (frei)
NEW YORK Marc Pitzke, Bernhard Zand
PARIS Britta Sandberg, 4, Rue Goethe, 75116 Paris
PEKING Georg Fahrion, Christoph Giesen
ROM Frank Hornig, DER SPIEGEL , c/o Stampa
Estera, Via dell’Umiltà 83/C, 00187 Rom
SAN FR ANCISCO Alexander Demling
SAO PAULO Nicola Abé
SYDNEY Anna-Lena Abbott, Johannes Korge
TEL AVIV P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 6803466,
Israel
rv.warschau@spiegel.de
WASHINGTON Roland Nelles, René Pfister,
1202 National Press Building, Washington, D. C. 20045,
Tel. +1 202 3475222
WIEN Walter Mayr
STÄNDIGE FREIE AUTOREN Marian Blasberg,
Ann-Dorit Boy, Christo Buschek, Giorgos Christides,
Arno Frank, Christo Grozev, Oliver Das Gupta, Jochen-
Anja Rützel, Josef Saller, Ron Ulrich, Ines Zöttl
DOKUMENTATION Leitung: Cordelia Freiwald,
Kurt Jansson; Zahra Akhgar, Nikolai Antoniadis,
Dr. Susmita Arp, Lars Böhm, Eva Bräth, Viola Broecker,
Dr. Heiko Buschke, Almut Cieschinger, Johannes
Eltzschig, Klaus Falkenberg, Catrin Fandja, Dr. Matthias
Fett, Janine Große, Imko Haan, Thorsten Hapke,
Dr. Dorothee Heincke, Susanne Heitker, Carsten
Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Stefanie
Jockers, Tobias Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Ulrich
Klötzer, Anna Köster, Ines Köster, Mara Küpper, Peter
Lakemeier, Julia Lange, Rainer Lübbert, Sonja Maaß,
Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Marvin
Milatz, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Claudia
Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Sara Maria Ringer,
Friederike Röhreke, Eva-Maria Saß, Andrea Sauerbier,
Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina
Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Schumann-
Eckert, Anna Schwarz, Ulla Siegenthaler, Meike Stapf,
Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Rainer Szimm,
Uzuner, Peter Wahle, Dr. Charlotte Weichert, Peter
Wetter, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller, Malte
Zeller
NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa,
Los Angeles Times/Washington Post, New York Times,
Reuters, sid
SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN
GMBH & CO. KG
Anzeigen: Hannes Engler
Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 77 vom 1. Januar 2022
Mediaunterlagen und Tarife: www.spiegel.media
Vertrieb: Torben Sieb
GESCHÄF TSFÜHRUNG Thomas Hass
(Vorsitzender), Stefan Ottlitz
INTERNE T www.spiegel.de
T WIT TER @derspiegel
FACEBOOK facebook.com/derspiegel
Service
Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg,
www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966,
Mail: leserbriefe@spiegel.de
Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir auch
gern per Mail entgegen: hohlspiegel@spiegel.de
Hinweise für Informanten
Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informa-
tionen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende
Wege zur Verfügung: Post: DER SPIEGEL , c/o Investigativ,
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg; Telefon: 040 3007-0,
Stichwort »Investigativ«; Mail (Kontakt über Website):
www.spiegel.de/investigativ. Unter dieser Adresse finden Sie auch
eine Anleitung, wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente
durch eine PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten
können. Der dazugehörende Fingerprint lautet:
6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
Ombudsstelle
Der SPIEGEL hat für Hinweise zu möglichen Unregelmäßig-
keiten in der Berichterstattung eine Anlaufstelle eingerichtet:
ombudsstelle@spiegel.de. Sollten Sie als Hinweisgeber
dem SPIEGEL gegenüber anonym bleiben wollen, schreiben
Sie bitte an den Rechtsanwalt Tilmann Kruse unter
hinweisgeber-spiegel@bmz-recht.de
Redaktioneller Leserservice
Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
Mail: leserservice@spiegel.de
Nachdrucke in Medien aller Art
Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken oder Videos
Kontakt, Beratung: www.gruppe.spiegel.de/syndication
und Bestellung: syndication@spiegel.de,
Tel.: 040 3007-3540 für Deutschland, Österreich, Schweiz.
Für alle anderen Länder: The New York Times Licensing,
Simone Daley, Mail: simonedaley@nytimes.com,
Telefon: +44 20 7061 3507, ISSN 0038-7452
Nachbestellungen SPIEGEL -Ausgaben der letzten Jahre
sowie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE
und SPIEGEL WISSEN sind unter amazon.de/spiegel
innerhalb Deutschlands nachbestellbar.
Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn,
www.spiegel-antiquariat.de, Telefon: 0228 9296984
Abonnement für Blinde Audioversion:
Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Telefon: 06421 606265;
elektronische Version: Frankfurter Stiftung für Blinde,
Telefon: 069 9551240
Abonnementspreise
Inland: 52 Ausgaben € 306,80, Studenten Inland: 52 Ausgaben
€ 202,80, Auslandspreise unter www.spiegel.de/auslandsabo,
Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise
Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Mo.–Fr. 8.00–19.00 Uhr, Sa. 10.00–18.00 Uhr
SPIEGEL -Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
Mail: aboservice@spiegel.de
Abonnementsbestellung
bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Ich bestelle den SPIEGEL
i für € 5,90 pro gedruckte Ausgabe
i für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
E-Paper beträgt € 0,69) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe.
Der Bezug ist monatlich kündbar.
Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur
in Deutschland.
Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
Name, Vorname des neuen Abonnenten
Straße, Hausnummer oder Postfach
PLZ, Ort
Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu AGB,
Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter
www.spiegel.de/agb
Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten
SP-IMPR, SD-IMPR (Upgrade)
 Martin Reichert, 50
NACHRUFE Im weitesten Sinne bezeichnet
Kultur alles vom Menschen Ge­
schaffene. Ein Kulturjournalist,
der diesen Namen verdient,
weiß das – er wertet nicht auf,
er wertet nicht ab. Er wertet
überhaupt nicht. Sondern ver­
sucht, sich in wohlwollender
Betrachtung einen kohärenten
Reim auf die Erscheinungsfor­
men seines Daseins zu machen.
Und, bestenfalls, mit der Ma­
chete seines Geistes ein wenig
Licht ins Dunkel dieses Dschun­
gels zu bringen. Martin Reichert
hat mehr mitgebracht, als es da­
für braucht. Zu seinem scharfen
Anne-Christine Poujoulat / AFP
Verstand kam ein großes Herz.
Ab 1997 schrieb er erste Texte
für die »taz«. Eine Tätigkeit,
zu der ihn nicht nur sein Stu­
dium der Kulturwissenschaften
und Geschichte qualifizierte,
das er gern »Gedöns für Orien­
tierungslose« nannte. Auch
Peter Simonischek, 76 menschlich war Reichert ein
Als eleganter Dandy war er von 2002 bis 2009 eine Idealbesetzung Gewinn für die linke Tageszei­
für den Titelhelden im »Jedermann« bei den Salzburger Festspie­ tung in Berlin. Wann immer
len – unter anderem an der Seite von Veronica Ferres. Als ulkiger dort etwas Neues und Gewagtes
Thomas Kienzle / AP
Monstertyp mit Langhaarperücke und Faschingsgebiss kam er aus der Taufe gehoben wurde –
dann 2016 im Film »Toni Erdmann« von Maren Ade groß heraus. ein Magazin, ein Gesellschafts­
Peter Simonischek verbrachte seine Kindheit zunächst in einem teil, eine Ausgabe zum Sonn­
österreichischen Provinzort unweit von Graz. In den Schauspiel­ tag –, war Reichert mit ent­
beruf fand er an kleineren Theatern, etwa in St. Gallen. Ab 1979 scheidenden Impulsen als Autor
spielte er an der Berliner Schaubühne an der Seite von Publikums­ und Mentor beteiligt. Was nicht
lieblingen wie Jutta Lampe, Otto Sander oder Udo Samel. Im 1995 auf die Seiten einer Zeitung
an der Schaubühne produzierten und dann in zahlreichen Städten passte, daraus machte er
über viele Jahre hin gezeigten Komödienhit »Kunst« von Yasmina Bücher: In »Wenn ich mal groß
Reza war Simonischek neben Samel und Gerd Wameling einer bin« schrieb er über das ver­
der drei wunderbar komischen Hauptdarsteller. 1999 wechselte er spätete Erwachsenwerden der
ins Ensemble des Wiener Burgtheaters. Sein Arbeitsmotto formu­ »Generation Umhängetasche«.
lierte er mit fröhlicher Bescheidenheit: »Ich stehe zur Verfügung.« In »Landlust« unterzog er die
Peter Simonischek starb am 29. Mai in Wien. HÖB Sehnsucht nach dem Idyll einer
Probe aufs Exempel. Und »Die
Kapsel« erzählt vom Trauma
Ilja Kabakow, 89 der Aids­Epidemie in der Bun­
Über Jahrzehnte führte der Mann, der einer der desrepublik. Von Februar 2023
Fabian Matzerath / dpa
berühmtesten Künstler der Sowjetunion war, ein an arbeitete er im Kulturressort
Doppelleben: Im damaligen Dnjepropetrowsk des SPIEGEL . Martin Reichert
geboren, arbeitete der Illustrator als sogenannter starb am 26. Mai in Berlin. FRA
offizieller Künstler für staatliche Verlage und galt
als wichtiger Vertreter des Moskauer Konzeptualis­
mus. Gleichzeitig organisierte Ilja Kabakow in seiner Wohnung
Treffen von Dissidenten und schuf gesellschaftskritische Werke, die
nie in der Sowjetunion ausgestellt wurden. 1985 eröffnete seine erste
Einzelausstellung überhaupt in Bern, mit heimlich außer Landes ge­
schafften Werken. Kabakow fing in seinen Arbeiten einen Alltag ein,
der einerseits fantastisch enthoben erschien, andererseits von realen
Repressionen erzählte. Eine seiner berühmtesten Installationen zeigt
das Zimmer eines Mannes, der sich mittels einer riesigen Zwille in
den Weltraum geschossen hat. 1987 erhielt Kabakow ein Stipendium
des Kunstvereins Graz, das er zur Ausreise ohne Wiederkehr nutzte.
In den USA begann seine produktivste Schaffensperiode. Zusam­
men mit seiner späteren Ehefrau Emilia schuf Kabakow immersive
Jürgen Bauer
Installationen, die mit vielen Auszeichnungen bedacht wurden. Die
Arbeiten nannte sie »kleine Himmel, die wir in unseren größeren
Höllen schaffen«. Ilja Kabakow starb am 27. Mai in New York. HPI
Harald zur Hausen, 87
Wer als Wissenschaftler die
richtige Idee zu haben glaubt,
darf sich nicht von Widerspruch
schrecken lassen. Als Außen­
seiter zu gelten, »diese Rolle
kenne ich schon, das stört mich
nicht«, hat Harald zur Hausen
einst im SPIEGEL ­Interview
gesagt. Das war, nachdem er
einmal spektakulär recht behal­
ten hatte: Der Krebsforscher
postulierte in den Siebziger­
jahren, dass bestimmte sexuell
übertragbare Warzenviren –
sogenannte Humane Papillom­
viren (HPV) – Gebärmutter­
halskrebs auslösen können. Das
Zervixkarzinom ist die häufigs­
te Krebsart in mehr als 20 Staa­
ten weltweit, in Deutschland
sterben pro Jahr 1600 Frauen
daran. Trotz Skepsis der Fach­
kollegen konnte zur Hausen
den Beweis für seine Theorie er­
bringen, was zur Entwicklung
einer Schutzimpfung führte.
Diese ist vor dem ersten sexuel­
len Kontakt am wirksamsten
und wird in Deutschland für
Mädchen und Jungen von 9 bis
14 Jahren empfohlen. Zur Hau­
sen leitete zwei Jahrzehnte lang
das Deutsche Krebsforschungs­
zentrum in Heidelberg, im Jahr
2008 wurde er mit dem Medi­
zinnobelpreis geehrt. Doch statt
sich zur Ruhe zu setzen, arbei­
tete er zusammen mit seiner
zweiten Frau, der südafrikani­
schen Virologin Ethel­Michele
de Villiers, an seiner nächsten,
ebenfalls zunächst umstrittenen
Theorie. Demnach könnten
ringförmige Erbgutelemente in
Milch und Fleisch bestimmter
Rinderarten für Brust­ und
Darmkrebs verantwortlich sein.
Einen endgültigen Beweis für
die Rolle dieser sogenannten
Bovine Meat and Milk Factors,
kurz BMMF, konnte der Krebs­
pionier nicht mehr erbringen.
Harald zur Hausen starb am
28. Mai in Heidelberg. CHS
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 117
PERSONALIEN

Ein Gefühl
von Freiheit
Die Regisseurin Justine Triet,
44, hat ihren Triumph bei den
Filmfestspielen in Cannes erst
für ein politisches, dann für ein
stilistisches Statement genutzt.
Die Französin war für ihren
Beziehungsthriller »Anatomie
d’une chute« (»Anatomie eines
Sturzes«) als erst dritte Frau mit
der Goldenen Palme ausge-
zeichnet worden. In ihrer Dan-
kesrede kritisierte sie den fran-
zösischen Präsidenten, speziell
seine Rentenpolitik, scharf. Sie
verwies auch auf schlechtere
Arbeitsbedingungen, mit denen
jüngere Regisseurinnen und Re-
gisseure heute zu kämpfen hät-
ten. Im Anschluss an die Gala
zeigte sich Triet dann entspannt
und zündete sich für den Foto-
grafen der Zeitung »Libération«
sogar eine Zigarette an. Auf
Social Media gab es für das läs-
sige Foto tausendfach Zustim-
mung. Das Bild symbolisiere
Modernität und vergangene
Zeiten zugleich, erklärte der
Fotograf Martin Colombet spä-
ter. Modernität wegen der Poin-
tiertheit von Triets Rede und
vergangene Zeiten, weil es an
das Cannes erinnere, in dem es
jemand mit Durchtriebenheit
weit bringen konnte. »Ein
Gefühl von großer Freiheit stellt

Mar tin Colombet

sich ein, wenn man das Foto
betrachtet«, so Colombet. »Und
diese Freiheit vermissen die
Menschen womöglich.« HPI

Immer die Größte
von allen
Für Hollywoodstar Geena Davis,
67, ist ihre frühe Vergangenheit
dieser Tage besonders nahe.
Gerade illustriert sie ihr neu-
estes Kinderbuch, dessen Titel
lautet: »The Girl Who Was Too
Big for the Page«, wie die »New
Lumeimages / ddp
ter große Schauspielerin erzählt
in einem Interview, dass sie
von Kindheit an wegen ihrer
Körpergröße gelitten habe,
denn die machte sie zur Außen-
seiterin. Sie war größer als alle
anderen Kinder und sei sich
dessen immer bewusst gewesen:
»Meine ganze Kindheit lang
hatte ich den Wunsch, weniger
Wunsch nicht in Erfüllung ge-
gangen ist. Davis hat schon
einige Kinderbücher, auch Mal-
bücher, veröffentlicht, darunter
solche, die das Selbstbewusst-
sein von Mädchen fördern
sollen. Die Schauspielerin setzt
sich außerdem ernsthaft für
Gleichstellung und gegen Dis-
kriminierung ein. Das von

York Times« berichtet. Bei Platz in der Welt einzuneh- ihr gegründete Geena Davis
dem Mädchen, das zu groß für men.« Es ist nicht nur für ihre Institute on Gender in Media
die Seite war, handelt es sich um Kinofans und für Davis persön- feiert im kommenden Jahr sei-
Davis selbst. Die über 1,80 Me- lich ein Glück, dass dieser nen 20. Geburtstag. KS

118 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023

Auch nur Menschen
Man muss sich das Tagewerk
eines Influencer-interessierten
Menschen erfüllt von Kontrol-
letti-Arbeiten vorstellen: Will
man wissen, wie es diesen reich-
weitenstarken Inszenierungs-
künstlern und -künstlerinnen
geht, muss man regelmäßig ihre
Social-Media-Profile scannen.
So taten es vergangene Woche
die Fans von Julian »Julienco«
Claßen, 30 Jahre alt und 6,4
Millionen Instagram-Follower
auf der Uhr. Sie protokollierten
potenziell vielsagende Verän-
derungen – vor allem nach dem
Abgleich mit der Profilseite
seiner Freundin, der ehemali-
gen Profischwimmerin Tanja
Makarić, 26. Erst entfernten bei-
de den Namen des anderen
aus ihrer Kurzbiografie, in der
sich Influencerpärchen gern mit
leicht bürokratischem Roman-
tikverständnis als aktuell ver-
paart markieren. Anschließend
löschten sie Pärchenfotos – in
dieser hochsymbolischen Bil-
derwelt kommt dies fast einer
formellen Trennungserklärung
gleich. Jedes entfernte Bild, jede
Änderung in der Kurzbiografie
verheißt hier durchhechelwerte
Veränderungen, das Lapidare
verweist auf das Dramatische.
Julienco war zuvor lange Teil
eines anderen für das deutsche
YouTube-Wesen ikonischen
Paares. Bibi und Julienco, bür-
gerlich Bianca und Julian
Claßen, waren wie Minnie Maus
und Micky Maus: Seit ihrer
Schulzeit zusammen, später
Es lebe der König!
Er ist Champion darin, sich im-
mer wieder neu zu erfinden.
Wird es auch diesmal gut ge-
hen? Die französische Fußball-
legende Éric Cantona, 57, Schau-
spieler, Fotograf und Kunst-
sammler, will eine Karriere als
Musiker starten. Er werde zwei
Songs veröffentlichen, die er
selbst geschrieben und kompo-
niert habe, verkündete er in
People Picture / Raymond
einem Interview mit der Zei-
tung »Le Parisien«. Eines seiner
Lieder heißt »The Friends We
Lost«, ein anderes »Tu me di-
ras« (»Du wirst mir sagen«).
Beim Texten inspiriere ihn Poe-
verheiratet und Eltern von zwei sie von Arthur Rimbaud, verriet
Kindern. Als sie sich 2022 nach er der Zeitung. Dabei lasse er
13 Jahren Beziehung trennten, seiner Fantasie gern freien Lauf
war das für viele ihrer jungen und wisse oft selbst nicht, was
Fans der brutale Einbruch der als Nächstes kommt. Dass er
Erwachsenen- in die Mäusewelt. schon seit Jahren Liedtexte ver-
Sollte es nun mit seiner neuen fasst, war bis jetzt ein gut gehü-
Freundin auch vorbei sein, oder
war das synchrone Löschmanö-
ver nur eine gezielte PR-Maß-
nahme, um sich interessant zu
halten, wie in diversen Kom-
mentaren schnell vermutet wur-
de? So bilderstark Influencer
kommunizieren, so wackelig
sind sie oft mit Worten. Er ver-
stehe die Ungeduld der Fans,
könne daran aber aktuell nichts
ändern, schrieb Claßen auf
Instagram. Sie seien auch nur
Menschen mit Gefühlen. Zu-
mindest Makarić funkte den
Fans ein Hoffnungszeichen: Sie
schrieb Juliencos Namen wieder
in ihre Insta-Bio – versehen
mit einem weißen Herzen. ARÜ
Hat Barbie Sex?
Die Schauspielerin Margot
Robbie, 32, eine der bestbezahl-
ten Künstlerinnen der Branche,
versteht etwas von ihrem Hand-
werk. Um in ihre Rollen zu fin-
den, arbeitet sie mit einer Me-
thode, die »Tierarbeit« genannt
wird, berichtet nun die »Vogue«:
Sie legt fest, welches Tier die Fi-
gur am besten repräsentiert, um
sich den Charakter anzueignen.
Die Eiskunstläuferin Tonya
Harding etwa, die Robbie in der
Jaap Buitendijk / Warner Bros.
Filmbiografie »I, Tonya« dar-
stellte, imaginierte die Schauspie-
lerin als Pitbull im Alltag und
als Mustang auf dem Eis, die
Leistung brachte ihr eine Oscar-
nominierung ein. Doch für ihre
tetes Geheimnis. Er habe unter
anderem schon Songtexte für
seine Frau, die Schauspielerin
und Sängerin Rachida Brakni,
geschrieben, sagte Cantona. Das
sei bislang unter Pseudonym ge-
schehen, »damit die Musik ernst
genommen wird und um Vorur-
teile zu vermeiden«. Seine neu-
en Songs sollen zunächst über
Streamingdienste veröffentlicht
werden. Danach folgt eine
Tournee mit dem Titel »Canto-
na sings Éric«. Sie startet im
Oktober in Manchester, dort
also, wo er 1997 seine Karriere
als Fußballer beendete und Fans
ihn bis heute »Éric, the King«
nennen. Er sei aufgeregt und
freue sich schon auf »die Ener-
gie und Ekstase«. Seine Live-
performance werde sicher
nicht perfekt sein, prophezeit
er. »Aber ich liebe diese Aus-
rutscher. Dabei entstehen be-
sondere Momente.« PE
Fred Dugit / le Parisien / Maxppp
Rolle als Barbie in dem gleich-
namigen Film, der im Sommer
in die Kinos kommt, sei ihr kein
passendes Tier eingefallen. Ein
Flamingo habe nicht funktio-
niert. Robbie musste sich klar-
machen, dass Barbie eine Puppe
aus Plastik ist. Es habe sich dann
die Frage gestellt, wie es um
körperliche Bedürfnisse stehe.
Hat Barbie Lust auf Sex? Die
Antwort lautet logischerweise:
Nein. Robbie schlussfolgerte,
dass Barbie nie sexy aus sich he-
raus sein kann: »Ja, Barbie kann
einen kurzen Rock anziehen,
aber weil es Spaß macht – und
weil er rosa ist. Nicht, weil sie
will, dass du ihren Hintern
siehst«, erklärt Robbie ihre Auf-
fassung der Rolle. KS
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 119

BRIEFE
Sie leben nicht mehr,
um zu arbeiten
Nr. 22/2023 Titel: Wir machen uns
nicht mehr kaputt!
Das neudeutsche Work-Life-Ba-
lance-Denken ist gar nicht so neu.
Schon vor 40 Jahren propagierte
eine aufmüpfige Jugendgenera-
tion: »Wir wollen arbeiten, um zu
leben, und nicht leben, um zu
arbeiten.« Die Umsetzung solch
hehrer Ambitionen hängt freilich
immer von der normativen Kraft
des Faktischen ab.
Dr. Volker Brand, Bad Oeynhausen (NRW)
Man ertappt sich bei der Frage,
was man bei der Erziehung even-
tuell falsch gemacht hat. Mit
Sicherheit war es nicht das Ziel,
eine Generation von Egoisten
großzuziehen. Die Work-Life-
Balance steht über allem. Ge-
meinwohl gibt es für sie nicht,
von Dankbarkeit ganz zu schwei-
gen. Um die Krisen in diesem
Land zu bewältigen, müsste man
mehr statt weniger arbeiten. Aber
die Gewerkschaften sind auf
diesem Ohr taub. Und die Politik
sucht lieber im Ausland nach
Fachkräften. Gut zu wissen, dass
Z der letzte Buchstabe im Alpha-
bet ist. Schlimmer kann es also
(hoffentlich) nicht mehr werden.
Knut Kriegsmann, Ulm
Ich unterstütze diese junge Gene-
ration vollkommen. Meine Le-
benserfahrung in unserer men-
120 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
schenverachtenden und rück-
sichtslosen Arbeitswelt sagt, es
muss sich etwas ändern. Es kann
nicht weiter der Weg sein, Mit-
arbeiter durch unmenschlichen
Druck und Stress permanent an
ihre Grenzen zu bringen. Dazu
der Psychoterror der Arbeitgeber,
indem sie dem Arbeitnehmer
ständig unterschwellig mit Ar-
beitsplatzverlust bei nicht zu-
friedenstellender Arbeitsleistung
drohen. In unserer heutigen Ar-
beitswelt profitiert nur einer: der
Arbeitgeber. Sehen Sie sich die
steigenden Zahlen bei psychi-
schen Erkrankungen an. Und in
dieser asozialen zerstörerischen
Arbeitswelt soll man gar bis
70 arbeiten? Die Viertagewoche
ist ein erster, dringend nötiger
Schritt.
Ralf Brechtel, Pommelsbrunn (Bayern)
Was werden diese selbstbezoge-
nen Menschen sagen, wenn sie in
30 Jahren ihren Rentenbescheid
erhalten? Es ist erfrischend, nach
diesem Artikel die Interviews mit
dem S.-Oliver-Gründer Bernd
Freier und mit dem Tennisstar
Jan-Lennard Struff zu lesen.
Rolf Blachut, Hagen
Wir Babyboomer haben unser
Leben den nicht immer mensch-
lichen Arbeitsbedingungen ange-
passt. Damit es unsere Kinder
und Enkel »einmal besser ha-
ben«. Work-Life-Balance war uns
ein Fremdwort. Unsere Nachfol-
gegenerationen haben das beher-
zigt, was wir wollten: Sie leben
nicht mehr, um zu arbeiten. Was
uns Eltern und Großeltern jetzt
seltsamerweise verwundert. Es
sollte ihnen schon besser gehen,
ja – aber arbeiten sollten sie wie
wir. Auch um den Preis, auf dem
dieses Bessergehen beruht: der
Zerstörung unserer Umwelt, dem
Schaffen eines Klimas, welches
das Überleben der Menschen, der
Tier- und Pflanzenwelt bedroht.
Und auf einer Verarmung unserer
Mitmenschen im Globalen Süden
zugunsten unseres Wohlstands.
Eine Minderheit der Generation
Z macht darauf aufmerksam.
Schließen wir Babyboomer uns
doch dem an, unsere Versäum-
nisse bekennend.
Josef Gegenfurtner, Schwabmünchen
(Bayern)
Es sei der Generation Z gegönnt,
von einer arbeitsreduzierten Be-
rufsausübung zu träumen, um
mehr Zeit zu haben. Bedauer-
licherweise wird die Realität sie
spätestens dann einholen, wenn
sich die Auswirkungen des Kli-
mawandels in ihrer ganzen
Wucht zeigen. Sollten wir die
Klimaerwärmung nicht in den
Griff bekommen, wird das, was
wir bisher an regionalen Kata-
strophen sehen, den gesamten
Globus betreffen, und die Z-Ge-
neration wird für das nackte
Überleben mehr Arbeitseinsatz
aufbringen müssen als jemals eine
Generation zuvor. Unser heutiges
Leben wird ihr dann, trotz der
fünftägigen Arbeitswoche, wie
ein Aufenthalt im Paradies vor-
kommen.
Annemarie Fischer, Wielenbach (Bayern)
Ermüdend und
frustrierend
Nr. 21/2023 Die Schriftstellerin
Anne Rabe sieht blinde Flecke
in der aktuellen Diskussion über
Ostdeutschland
Mit großem Interesse verfolge
ich, Ostdeutscher, geboren 1950,
die aktuelle Diskussion über das
Leben der Ostdeutschen anhand
der kürzlich erschienenen Bücher
von Dirk Oschmann, Katja Hoyer
und jetzt Frau Rabe. Es mutete
schon gespenstisch an, wenn Frau
Rabe, Jahrgang 1986, über das
Leben in einem Land urteilt, das
sie gar nicht aus eigener Erfah-
rung kennen kann. Es läuft auch
bei ihr nach dem Schema ab: Es
kann nur eine Meinung über die
DDR und das Leben unter der
Diktatur des Proletariats geben.
Welche, das kolportiert Frau
Rabe eindrücklich. Differenzie-
rungen sind ihre Sache nicht,
und immerhin kann sie ja auf
die Erfahrungen ihrer vier ersten
Lebensjahre in der DDR zurück-
blicken. Ich habe es satt, dass wir
Ossis alle immer wieder in die
gleichen Schubladen gesteckt
werden: Duckmäuser, Mitläufer
oder Mittäter. Hoyer und Osch-
mann, die dieses Bild pointiert
infrage stellen, werden also nicht
zufällig immer wieder mit wüten-
den Philippiken überzogen. Man
kann wohl einfach kein vernünf-
tiges, anständiges und erfülltes
Leben im »real existierenden So-
zialismus« gelebt haben, wenn
man nicht Widerständler war.
Dr. Thomas Bernstein, Leipzig
Es ist langsam ermüdend und
frustrierend, dass Sie sich noch
immer in den Chor derjenigen
einreihen, die den »Osten«
schlechtmachen. Weder das Buch
von Herrn Oschmann noch das
von Frau Hoyer beschreiben Un-
wahrheiten, wie es im Interview
mit Frau Rabe aufscheint. Haben
Sie denn einmal recherchiert, wie
viele das eigentlich waren, die als
sogenannte Stasiopfer oder Re-
publikflüchtlinge über ihre ach
so schweren Leiden berichten?
Wie viel Prozent der 17 Millionen
DDR-Bürger sind das wohl?
Haben Sie aber auch einmal re-
cherchiert, wie viele Tausende
durch die Machenschaften der
Treuhand und anderer westdeut-
scher Einigungsgewinner ihren
Job und ihr soziales Umfeld ver-
loren haben?
Dr. Ulrich Bergk, Dresden
Das Buch von Dirk Oschmann ist
eine faktenbasierte, sachliche
Analyse. Dessen Inhalte zu zer-
reden oder zu diskreditieren zer-
stört die Grundlage eines gleich-
berechtigten Dialogs über die
bestehenden Probleme.
Volker Pischke, Michendorf (Brandenb.)
Die Sichtweise von Frau Rabe ist
im Vergleich zu den allzu stark
vereinfachenden Artikeln von
Frau Hoyer und Herrn Oschmann
wohltuend differenziert. Woher
kommt denn all diese Schwarz-
Weiß-Denke: böser Täter-Westen
versus guter Opfer-Osten? Das
sind alles denkfaule Ausreden zur
Selbstentlastung! Man muss kein
Psychologe sein, um zu erahnen,
dass die langjährige Erduldung
KORREKTUR
Zur »Hausmitteilung« in Heft
22/2023, Seite 3: Bitterfeld liegt
nicht in Sachsen, sondern in Sach-
sen-Anhalt.

Gilt die Viertage­
woche beziehungs­
weise Work­Life­
Balance auch für
Krankenhausperso­
nal, Altenpfleger,
Müllmänner, Polizei
und Feuerwehr?
Frank Suhrbier, Hamburg
Nr. 22/2023 Titel: Wir machen
uns nicht mehr kaputt!
einer Diktatur, die ihre Unterta­
nen eben nicht als mündige Bür­
ger, sondern als zu Bevormun­
dende und Befehlsempfänger
behandelt hat, tiefe kränkende
Spuren im Selbstbewusstsein hin­
terlassen hat. Selbstmitleid, das
sich in Aggression gegen Minder­
heiten, Ausländer und so weiter
ein Ventil sucht, aber in Wahrheit
eine tief sitzende, nicht erkannte
Selbstaggression wider die eigene
Wehrlosigkeit darstellt. Das lang­
jährige Erdulden der Unmündig­
keit als Trauma, für das man
»Schuldige« sucht. Nach dem
Ende des autoritären Systems
muss der Mensch auch mit dem
Selbsthass in der neuen Freiheit,
die in Wahrheit sein Menschen­
recht ist, umgehen lernen. Kein
Grund zu Selbstmitleid, sondern
zu politischem Engagement im
freiheitlichen System mit all sei­
nen veränderbaren Mängeln.
Michael Schäfer, Düsseldorf
Es gehört zur individuellen Bio­
grafie jedes Menschen, dass sich
im Lebenslauf die kulturellen,
sozialen, politischen Bezüge ver­
ändern. Das nennt sich sozialer
Wandel. Vergangenes lässt sich
nicht zurückholen. Man kann es
nicht festhalten. Dass früher alles
besser war, ist ein typisches
Denkmuster bei der Verarbeitung
des sozialen Wandels. Das Gras
auf der anderen Seite des Zauns
ist immer grüner. Dieser ganze
Prozess nennt sich Persönlich­
keitsentwicklung, Reifeprozess,
erwachsen werden, Individua­
tion. Unabhängig von Himmels­
richtungen.
Wolfgang Moselle, Much (NRW)
Das Problem wäre
ruck, zuck gelöst,
wenn jeder Konsu­
ment selbst für
die Gebühren auf­
kommen würde.
Warum der Einzel­
handel die Kosten
tragen muss,
ist mir ein Rätsel.
Maike Giebner, Stuttgart
Nr. 21/2023 Konsumenten
verzweifeln an der Debitkarte
Auf Augenhöhe gehen
Nr. 21/2023 Eine neue Weltordnung
entsteht – der Westen verliert dabei an
Einfluss
Ein hervorragender Artikel! Und
sehr differenziert. Nur eine Kor­
rektur würde ich mir wünschen:
Russland ist längst keine Welt­
macht mehr. Ein Riesenland mit
einem BIP zwischen dem von
Spanien und Portugal versucht
verzweifelt, Weltmacht zu spie­
len – das wäre als Beschreibung
wahrscheinlich angemessener.
Russland erschöpft sich zuse­
hends im Ukrainekrieg. Dies ist
für die EU von Vorteil. Außer Bo­
denschätzen hat das Land nichts
zu bieten. Keine besonderen Pro­
dukte. Eine kriegsgeile Regierung
und eine desinteressierte Bevöl­
kerung. Die multipolare Welt ist
für die EU von großem Vorteil,
wenn wir begreifen, dass wir ein
Spieler unter mehreren sind und
nichts Besonderes. Wir müssen
nur auf Augenhöhe gehen. Dies
fällt manchem Europäer nicht
leicht. Das ist alles.
Bernd Hofmann, Yaoundé (Kamerun)
Das Abstimmungsergebnis der
Weltgemeinschaft über den Ukra­
inekrieg im Rahmen von UN­
Sondersitzungen hat unmissver­
ständlich sichtbar gemacht, dass
die aktuelle geopolitische Welt­
lage noch wesentlich von den
Nachwehen des westlichen Im­
perialismus determiniert ist. Die
ehemaligen Imperialstaaten Eu­
ropas haben es bis heute ver­
säumt, ihre Kolonialgeschichte
aufzuarbeiten, und wenn, dann
nur zögerlich und partiell. Im We­
Ich war selten so
beeindruckt und
verstört von einem
Einzelschicksal.
Vielen Dank, dass in
Ihrem Magazin Platz
war für diese tra­
gische Geschichte.
McCurdys Buch
kommt in mein Regal.
Ralf Jacobs, Herten (NRW)
Nr. 22/2023 Jennette
McCurdys Memoir über ihre
Zeit als Kinderstar
sentlichen wird bis dato diese
historische Epoche, die nun ihre
fatalen Schattenseiten zeigt, ver­
drängt oder schlichtweg ver­
kannt. All dies erklärt die Un­
fähigkeit des Westens, die Ein­
schätzung des Ukrainekrieges
von großen Teilen der Weltge­
meinschaft einzuordnen.
Helmut Fian, Wien (Österreich)
Was kann ich geben?
Nr. 21/2023 SPIEGEL-Gespräch
mit Eva von Redecker über Freiheit
in Zeiten der Klimakrise
Was für eine Diskussion. In mei­
nem Leben habe ich eines begrif­
fen: Das Kollektiv ermöglicht mir
meine individuelle Freiheit. Ich
brauche den Bäcker, ich brauche
den Heizungstechniker, ich brau­
che den Arzt, um frei leben zu
können. Demzufolge stellt sich
für mich nur die eine Frage: Was
kann ich geben, damit der andere
sich frei fühlen kann?
Erich Breuer, Hagen im Bremischen
(Nieders.)
Lässt sich der Klimawandel nicht
verhindern, oder lassen sich seine
Folgen nicht aufhalten, wird der
Aufenthalt von Menschen an
vielen Orten der Welt kaum noch
möglich sein. Das ist heute wohl
weitgehend geteilte Überzeu­
gung. Was den betroffenen Men­
schen droht, lässt sich am Schick­
sal von Millionen Vertriebenen
ermessen, die heute aus anderen
Gründen ihre Heimat verloren
haben. Nun mag man dieses
Schicksal als Verlust von »Bleibe­
freiheit« definieren, doch was,
bitte, ist der Erkenntnisgewinn
dieser Definiererei?
Gerold Kraue-Junk, Buchholz (Nieders.)
Es kann nicht schaden, wenn Phi­
losophen jedweden Geschlechts
etwas biologisches Wissen besit­
zen. Frau von Redecker bezeich­
net die Schwalbe als Freiheits­
symbol – nur: Der Vogel, dessen
Fähigkeiten sie beschreibt, ist
keine Schwalbe, sondern ein
Mauersegler. Als Bauerntochter
sollten ihr die unterschiedlichen
Potenziale und Eigenschaften von
Schwalben und Seglern geläufig
sein. Inwieweit die biologische
Ignoranz sich im philosophischen
Wirken niederschlägt, kann und
will ich nicht beurteilen; Skepsis
scheint allerdings geboten.
Dr. Reinhard Scharnhölz, Kerpen (NRW)
Die menschliche
»Tatze des Bösen«
Nr. 21/2023 Oberbayern fürchtet sich
vor einem Bären. Aber ist wirklich
das Tier die Gefahr – oder der Mensch?
In Ihrem Artikel wird deutlich, wie­
so die aktuelle geologische Epoche
als »Anthropozän« bezeichnet
wird. In der Berichterstattung um
einen einzigen Bären, der aktuell
in Oberbayern vermutet wird, geht
es nur um den Menschen. Dass das
Ergebnis der Evolution eben auch
so faszinierende Geschöpfe wie der
Bär oder der Wolf sind und diese
Tiere ebenso eine Existenzberech­
tigung haben, wird mit keinem
Wort erwähnt. Stattdessen wird ein
Landwirt zitiert, der sich über sei­
ne Trauer um seine mutmaßlich
von einem der wenigen Wölfe oder
dem einzigen Bären in Bayern ge­
rissenen Weidetiere auslassen darf.
Ich bin mir sicher, wenn man die
1,1 Millionen Schafe, die jedes Jahr
in Deutschland geschlachtet wer­
den, fragen würde, ob sie gerne mit
dem geringen Risiko, durch einen
Beutegreifer getötet zu werden,
leben würden, um damit dem
sicheren Tod auf der Schlachtbank
entgehen zu können – die Antwort
wäre eindeutig. Die »Tatze des
Bösen« hat für Hunderte Millionen
an Tieren zwei Arme, zwei Beine
und einen aufrechten Gang.
Dr. med. Dr. rer. nat. Bernhard Lohr,
Günzburg (Bayern)
Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
unter SPIEGEL.de zu archivieren.
Nr. 23 / 3.6.2023 DER SPIEGEL 121
L E TZ T E S E I T E
Steiners Geständnisse
ZEITREISE Rainer Barzel sah sich 1972 schon als CDU-Kanzler, da schei-
terte das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt. Hatte die SPD Abgeordnete
bestochen? Aussagen von Julius Steiner brachten Turbulenzen.
Nr. 23/1973 »Die sind ja alle so
mißtrauisch«
Die Bonner SPIEGEL -Kol-
legen dürften verblüfft
gewesen sein, als im Mai
1973 Julius Steiner bei
ihnen vorstellig wurde.
»Jetzt muss ich Ihnen die
volle Wahrheit sagen«, gestand der CDU-
Politiker, »ich habe eine weiße Karte rein-
geworfen.« Er sei einer der beiden Unions-
abgeordneten, die sich im April 1972 beim
Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler
Willy Brandt enthalten hätten. Genau zwei
Stimmen fehlten damit ihrem Parteichef
Rainer Barzel zur scheinbar schon sicheren
Kanzlerschaft. Er habe nicht geglaubt, dass
Barzel in der Lage sei, die Bundesrepublik
zu regieren, so Steiner.
Eine Woche später behauptete der CDU-
Mann indes, SPD-Fraktionsgeschäftsführer
Karl Wienand habe ihm 50.000 Mark für
die Enthaltung gezahlt, was dieser bestritt.
Die Regierung wäre demnach 1972 nur
durch Bestechung an der Macht geblieben –
ein Skandal. Allerdings waren die Dar-
stellungen des Kronzeugen voller Ungereimt-
heiten. Die These von der Bestechung
Friede den Pellets!
SO GESEHEN Koalition nähert
sich Heizungslösung.
Im Streit um das neue Gebäudeenergiege-
setz bahnt sich eine Kompromisslösung an.
Bisher schienen die Fronten verhärtet: Der
grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck
will durchsetzen, dass neu eingebaute Hei-
zungen nur noch mit einem großen Anteil
erneuerbarer Energien betrieben werden,
der Koalitionsfeind FDP hält dagegen, dass
Habecks Gesetzentwurf Eigenheimbesitzer
allzu großen finanziellen Belastungen aus-
setze. Zudem pochen die Liberalen wie
bereits beim Streit um den Verbrennungs-
motor auf Technologieoffenheit.
Zuletzt schickte die FDP
zahlreiche für sie offene
Fragen an das Wirtschafts-
ministerium.
Diese scheinen nun
einer Klärung
näher zu kom-
men. Über die Staf-
felung staatlicher Hilfen
122 DER SPIEGEL Nr. 23 / 3.6.2023
HOHLSPIEGEL
Aus dem »Münchner Merkur«:
»Nur die Umsicht des Fahrers verhinderte,
dass das ganze glimpflich abging und kein
Unfall passierte.«
Aushang in der Toilette eines Pfarrhauses in Karlsruhe:
ZUMA / Keystone / IMAGO
CDU-Politiker Steiner
Aus der »Rhein-Lahn-Zeitung«:
stützte vor allem ein baden-württembergi-
scher Sozialdemokrat, der vorbrachte,
in seinem Beisein habe Wienand sogar bis
zu 250.000 Mark für Steiner in Aussicht
gestellt, wenn er Barzel die Stimme verwei- Aus dem amtlichen Bekanntmachungsblatt der Ver-
bandsgemeinde Bad Bergzabern, »Südpfalz-Kurier«:
gere. Doch warum hätte sich Steiner dann
mit 50.000 Mark begnügen sollen? »Die Vorsitzende berichtete darüber,
Andere argwöhnten, konservative Kreise dass die Spendenaktion ›Böller statt Bäume‹
hätten die 50.000 gezahlt, um es »der SPD wieder stattfinden soll.«
in die Schuhe zu schieben«. Dafür sprach
allenfalls die auffällig unauffällige Einzah-
Information zu einer Straßenbahn in der App der Berliner
lung der Summe in einer Bonner Bankfiliale. Verkehrsbetriebe:
Heute wissen wir, dass Steiner Geld von
der Stasi erhielt, für die auch Wienand jahre-
lang tätig war. Rainer Lübbert
zum Heizungsaustausch für Bedürftige wird
unter Hochdruck verhandelt, eine Auswei-
Von stern.de:
tung auf den Einsatz von Holzpellets ist im
Gespräch.
Als besonderes Zugeständnis an den
FDP-Spitzenmann Wolfgang Kubicki wol-
len die Grünen zudem den Heizungsbetrieb
mit heißer Luft im Gesetz verankern, auch
soll es eine »Lindner-Klausel« geben, die es
erlaubt, eine Loftwohnung mit Autoaufzug Von news.de:
mit der Klimaanlage des eigenen Porsche-
Cabrios zu heizen, sofern dieses mit E-Fuel »Mit zivilem Gehorsam in Form eines
betankt wurde. Beim ebenfalls geforderten Hungerstreiks bewegten die Umweltschüt-
Einsatz von Kerosin zeigen sie sich jedoch zer:innen Olaf Scholz zu einem Gespräch.«
hartleibig.
Nun geht es fast nur noch um den Zeit-
Aus den »Nürnberger Nachrichten«:
plan. Eigentlich hatte die Ampelkoalition
verabredet, das Gesetz noch vor der Som-
merpause des Bundestags zu beschließen,
dieses Ziel scheint allerdings nicht mehr
erreichbar zu sein. Verzögernd wirken auch
die Landtagswahlen in Bayern und Hessen
im Herbst, bei denen vor allem die FDP
Erfolge braucht.
Aus dem Finanzministerium kommt
nun ein Vorschlag, der zur allgemeinen Be- Von der Website eines Schuhversands:
ruhigung beitragen könnte: Per Koalitions-
beschluss wird der Klimawandel bis Mitte »Möchten Sie ohne Füße und Rücken-
Oktober ausgesetzt. Stefan Kuzmany schmerzen spazieren gehen?«